Richard Powers
Schattenflucht
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Richard Powers
Schattenflucht
scanned 2004 corrected by ws
Adie Klarpol landet als Zeichnerin in einem Thinktank in Seattle: hier sollen die Computerbilder laufen lernen, um den Betrachter in den Sehnsüchten des eigenen Blicks zu fangen. In einer Höhle baut sie die Welt des Sichtbaren nach, eine Arbeit, die sie ganz in ihren Bann zieht, bis schließlich … Martin Taimur ist als Lehrer in den Libanon gekommen, von einer Zigarettenpause kehrt er nie zurück, bleibt jahrelang als Geisel in einer Höhle isoliert. Auch er schafft künstliche Welten, nicht der Technik, sondern der Fantasie, durch die er überlebt und auf die gleichen Bilder stößt wie Adie. ISBN: 3-10-059020-1 Original: Plowing the dark Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié Verlag: S.Fischer Erscheinungsjahr: 2002
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Buch Adie Klarpol landet als Zeichnerin in einem Thinktank in Seattle: hier sollen die Computerbilder laufen lernen, um den Betrachter in den Sehnsüchten des eignen Blicks zu fangen. In einer Höhle baut sie die Welt des Sichtbaren nach, eine Arbeit, die sie ganz in ihren Bann zieht. Taimur Martin ist als Lehrer in den Libanon gekommen, von einer Zigarettenpause kehrt er nicht zurück, bleibt jahrelang als Geisel in einer Höhle isoliert. Auch er schafft künstliche Welten, nicht der Technik, sondern der Fantasie, durch die er überlebt und auf die gleichen Bilder stößt wie Adie. Kunstvoll wie eine Doppelhelix verknüpft Richard Powers die beiden Geschichten zu einer genauen Vision über den Verlust der Sinnlichkeit im leeren Sog der Logarithmen und zu einer Liebesgeschichte, deren Charme und Poesie den Leser nicht mehr verlässt. »›Schattenflucht‹ ist der erste Roman, der das 21. Jahrhundert im Wappen trägt.« (Seattle Times) Richard Powers ist der Schriftsteller der technischen Zwischenreiche. Unerschrocken folgt er seinen Figuren in die virtuellen Räume der Computer und Pixel, um uns ein Bild zu geben, von dem, was uns schon längst erwartet und bald umschließt: uns eine Welt elektronischen Heimwehs.
Autor Richard Powers, 1957 geboren, lebt in Urbana, Illinois. Bisher veröffentlichte er sieben Romane, zuletzt erschien auf deutsch Galatea 2.2 (Fischer Taschenbuch 14276). Seine Bücher worden mehrfach preisgekrönt, Beiträge erschienen in der ›New York Times‹, ›Esquire‹, ›Time‹ and ›Harper’s‹.
Denn Dichtung bewirkt nicht die Tat: sie gedeiht Im Tal ihres Sagens, wo der Geschäftsmann nichts zu schaffen hat; sie fließt gen Süden … W. H. Auden, Im Gedenken an William Butler Yeats Im ersten Kriegsjahr gingen Picasso und Eve, mit der er damals zusammenlebte, Gertrude Stein und ich eines kalten Winterabends den Boulevard Raspail entlang. Auf der ganzen Welt gibt es nichts Kälteres als den Raspail an einem kalten Winterabend, wir haben ihn immer den Rückzug aus Moskau genannt. Plötzlich kam eine riesige Kanone die Straße herunter, das erste Mal, dass wir eine bemalte sahen, mit Tarnfarben bemalt meine ich. Pablo blieb stehen, wie gebannt. C’est nous qui avons fait ςa, sagte er, das ist unser Werk, sagte er. Und er hatte Recht, das war es. Von Cézanne über ihn waren sie darauf gekommen. Hier nahm Gestalt an, was er sich vorgestellt hatte. Gertrude Stein, Autobiografie von Alice B. Toklas Dieser Raum steht außerhalb der Zeit. Minuten huschen vorbei wie ein behandschuhter Dieb. Stunden vergehen und wirbeln nicht einmal Staub auf. Draußen laufen Ultimaten ab. Alarmglocken schrillen. Geschäfte werden zu ihrem fulminanten Abschluss gebracht. Aber hier, in dieser Kammer, da verschmelzen Jetzt und Allezeit. Dieser Raum bleibt ewig in der Schwebe, ewig im Hier. Das leise Zwielicht dieses Ortes hält länger als alle Tagespolitik. Er bleibt, wo er ist, zwischen Entdeckung und Fantasie. Er schwimmt im Reich der Möglichkeiten, eine Schatulle tief unten im gepanzerten Tresor. Zeit hält sich nicht an solchen Orten, und solche Orte halten keine Zeit. Zeit ist eine zu gerade Linie, sie engt zu sehr ein. Die Kapriolen von Ursache und Wirkung reichen in solche
Ferne nicht. Dieser Raum entfaltet sich unter der angehaltenen Uhr. Erst wenn man hinaus auf den Gang tritt, nimmt das Jetzt wieder seinen Lauf. Nur wenn man entflieht, nur unter dem fahlen Himmel. Draußen in der Welt geht alles seinen Gang, und noch immer öffnen Knospen sich zu Blüten. Früchte werden reif, verrotten. Noch immer sieht man urplötzlich am Wühltisch ein bekanntes Gesicht. Paare versöhnen sich und trennen sich. Süchtige schwören: Nie wieder. Kinder tun in ihren Betten nach langem Fieber ihren letzten Seufzer. Aber hier auf dieser Insel, in diesem Raum: das leise Grollen, das stete Summen eines Ortes, der höher ist als alle Vernunft. Jahre später, als sie wieder an die Oberfläche kam, konnte Adie Klarpol nicht mehr sagen, wie sie es sich zu Anfang ausgemalt hatte. Außerstande zu Papier zu bringen, was als Bild durch ihre Vorstellung gegeistert war. Ein labyrinthisches unterirdisches Gebilde, eine Tropfsteinhöhle, in der es vor Grottenolmen wimmelte. Carlsbad Caverns im Kleinformat, Übungsgelände für Höhlenforscher. Die Sommerdatscha des Bergkönigs. Die Grotte hatte Stevie es genannt. Stevie Spiegel, in einem Telefonanruf aus dem Nichts, mitten in der Nacht, wo jahrelang jeder vom anderen gedacht hatte, er sei längst tot – wenn sie überhaupt aneinander dachten. Cavern. Höhle, Grotte. Ein Name, der vor ihrem inneren Auge alle erdenklichen Bilder erscheinen ließ, nur nicht das Richtige. Am Telefon hatte sie ihn anfangs gar nicht erkannt. Ich bin’s, Steve, hatte er gesagt. Was für ein Steve? Adie tastete im Dunkeln, den Hörer in der Hand. Sie rappelte sich auf, ging in Gedanken auf die Reise, zurück zu einem Jahr, wo ein so unvermitteltes Steve ihr etwas gesagt hätte. Steve. In Amerika der zwölfthäufigste Name für Männer zwischen 5
vierundzwanzig und achtunddreißig. Steve Spiegel, sagte er, gekränkt, dass sie nicht wusste, wer er war. Madison! Wir haben zusammen gewohnt und gearbeitet. Das Mahlerhaus. Du willst doch nicht sagen, dass du deine ganze Vergangenheit verbrannt hast? Ein Bild, wie sie mit einundzwanzig gewesen war, nahm vor ihr Gestalt an, wie die Jungfrau, die slawischen Schulkindern erscheint. Erinnerung schwappte über die sorgsam aufgetürmten Sandsäcke. Steve Spiegel. Damals hatten sie sich vorgestellt, dass sie ihr ganzes Leben zusammenbleiben würden, immer zu dritt. Er, sie und der Mann, der lange genug leben sollte, um Adies Exmann zu werden. Himmel! Stevie. Ihre Stimme kippte, billige Gipsnachbildung bronzener Freude. Stevie. Mann, wo hast du denn gesteckt, all die Jahre? Gesteckt …? Adie, Schatz. Bei dir klingt das Leben immer noch wie etwas, was man sich im Sommer fürs Zeltlager vornimmt. Und stimmt das nicht? Nein, du hübsche kleine Kleckserin. Das Leben ist ein Laborexperiment, bei dem keiner weiß, ob er Wissenschaftler oder Ratte ist. Hast du das nach so vielen Jahren immer noch nicht begriffen? Ha. Ich habe das schon mit zwanzig gewusst. Du warst immer derjenige, der es nicht wahrhaben wollte. Die Jahre, die zwischen ihnen lagen, verschwanden beim Gedanken an die alten Zeiten. Gewiss, die Brüche, die Risse, die gab es. Gewiss, all die Ichs, die sie einmal gewesen waren, würden nie wieder in die Mottenkiste eines einzigen Lebens passen. Adie. Ade. Was treibst du so? Ich dachte, ich muss doch mal wieder hören, wie es dir geht. 6
Draußen vor ihrem Loft sank der Gestank von ranzigem Öl und verfaultem Gemüse allmählich zu Boden. AutoAlarmanlagen waren bis hinunter zur Battery zu hören wie ein Gebetsruf vor Sonnenaufgang. Sie klemmte sich den Hörer unters Kinn, ein Fiddler mit seiner Geige zwischen zwei Reels. Steve, ist das nicht etwas spät … Sie wuchtete das Schiebefenster über ihrem Futon in die Höhe; die Gegengewichte lagen schon lange tief unten im Schacht. Sie kletterte hinaus auf die Feuerleiter, die wahrscheinlich die größte Feuergefahr im Haus war, und machte es sich an ihrem Lieblings-Telefonplatz bequem, draußen auf dem Absatz, den Rücken an die rote Ziegelmauer gelehnt. Liebe Güte, sagte er. Das tut mir Leid. An den Zeitunterschied habe ich überhaupt nicht gedacht. Wie spät ist es bei euch – schon nach eins, oder? Ich meinte eigentlich: Ist es nicht ein wenig spät, sich jetzt noch zu versöhnen? Thema verfehlt. Denn was war Versöhnung anderes, als dass man sich mit dem ewigen Zuspätsein abfand, damit, dass man im Leben immer einen Schritt zurück war? Oh, deswegen rufe ich nicht an, Ade. Ich brauche dich hier. Sie schmetterte ihn mit einem Lachen ab, und das Spiel ging weiter. Es folgte der übliche Austausch von Geiseln, und jeder beschrieb mit ein paar Worten, wohin die Reise ihn im Lauf des vergangenen Jahrzehnts geführt hatte. Seattle, erzählte er. Kannst du dir das vorstellen? Dein Freund, der verkappte Dichter, für den es noch am Montagabend Sonntagmorgen war? Jetzt Lohnsklave der Computerindustrie auf dem Weg zur Weltherrschaft. Immer noch Lower Manhattan, erwiderte sie. Aquarellmalerin auf dem Trockenen. Im Augenblick mit dem Rücken zur Wand eines baufälligen Apartmenthauses, damit es nicht einstürzt. 7
Überrascht?, fragte er. Weswegen …? Darüber, wo wir gelandet sind? Niemand landet, sagte sie. Und wie ist es in der Welt der Software? Kurios, Ade. Ade: Als hätten sie sich gestern erst gesehen. Ich habe gelogen, damit sie mich überhaupt genommen haben. Ich habe behauptet, mich mit C++ auszukennen, dabei konnte ich es nichtmal von B-- unterscheiden. Aber dann habe ich gemerkt, dass ich es im Schlaf kann. Wie geboren dafür. Computerprogramme sind genau das, wofür ich Poesie immer gehalten habe, damals, als wir noch auf dem College waren. Klar, ausdrucksvoll, unmittelbar, umfassend. Aus vierzehn Zeilen wird etwas, das das ganze Universum füllt. Aber eine andere Art Sonett, oder? Anders gereimt? Ich weiß nicht. Manchmal bin ich mir da nicht so sicher. Deshalb, erklärte er, rufe er ja auch an. Aus dem lauschigen Kiefernwäldchen, in dem er untergekommen sei, am Ende einer kurvigen Asphaltstraße mit Blick über den Puget Sound. Er schreibe Programme für eine neue Firma namens Realization Lab, die neueste Tentakel der sagenhaft erfolgreichen TeraSys. Wobei das RL allerdings noch im Experimentierstadium sei, eher ein Abschreibungsobjekt, noch lange kein Gewinn zu erwarten. TeraSys? Das heißt, du arbeitest für diesen Typen, der schon mit fünfzehn Milliardär war? Indirekt schon. Er lachte. Das sind sie hier alle, mit fünfzehn Milliardär. Wie sieht es aus bei euch – das Gebäude, in dem du arbeitest? Wie meinst du das? Das Gebäude? Was hat denn das Gebäude damit zu tun? 8
Ich will mir vorstellen, wie es bei dir aussieht. Du rufst doch von der Arbeit aus an, oder? Ich … na ja, eigentlich schon. William Butler Spiegel! Der Mann, der schwor, dass er, wenn es ans Arbeiten ginge, bestenfalls kellnern könnte, weil alles andere seine Muse kompromittiert. Mitten in der Nacht, und sitzt immer noch im Büro. Mitten …? Wir hier, wir fangen ja meistens erst gegen zehn Uhr abends an. Erzähl mir doch einfach, wo du gerade bist. Also gut, dann mache ich den Anfang. Ich sitze im Unterhemd auf einem schwarzen schmiedeeisernen Gitter ungefähr sieben Meter über dem Dunstabzug eines italienischen Restaurants … Er spielte mit, erhöhte den Einsatz. Kakishorts und grünes TShirt mit Raglanärmeln. Zurückgelehnt in einem DesignerBürostuhl in … na, so einem Redwood-und-Zedern-Ambiente. Viel Naturstein. Lokale Materialien. Sehr geschmackvoll, befanden sie unisono. Alte Routine, auch wenn ein Dutzend verlorener Leben dazwischenlag. Also, ich weiß wirklich nicht, wie es hier aussieht, Adie. Ich hab nie drauf geachtet. Dann streng dich mal an, Dichter. Sieh dich um. Du kommst mit mir durch die Tür. Hmm. Mal überlegen. Vielleicht tausend Quadratmeter Nutzfläche, alles zu ebener Erde. Backstein, Erdfarben. Ein Irrgarten aus kleinen Verschlagen, aus solch stoffbezogenen gräulichen Trennwänden gebaut. Hübscher kleiner Innenhof und so weiter. Tonnenweise Grünzeug. Auf der Längsseite eine endlose Reihe von Passiv-Solarfenstern mit Blick auf den Mount Rainier. Verstehe. So eine Art futuristische Wildhüterhütte. Genau. Ist doch nicht schlecht? Es wird dir gefallen. 9
Moment. Es wird mir gefallen …? Nun kam er zum Thema. Wir entwickeln hier den Prototyp eines Immersions-Environments, und wir nennen es »die Grotte«. Oder eigentlich CAVERN, Computer-Assisted Virtual Environ – Hör mal, Adie, ich kann dir das nicht am Telefon beschreiben. Du musst herkommen und dir das ansehen. Sicher, Steve. In einer Stunde bin ich da. Wie wäre es mit Dienstag in einer Woche? Zu einer unverbindlichen Besichtigungstour? Kostet dich keinen Cent. Meine Güte. Hast du denen erzählt, ich könnte auch C++? Schlimmer. Ich habe ihnen erzählt, dass du die größte Illustratorin bist, seit die gegenständliche Kunst im Äther verpufft ist. Illustratorin, Stevie? Sehr schmeichelhaft. Deinen Sinn für das treffende Wort hast du nicht verloren. Nichts an ihm hatte sich verändert. Er war noch immer der Zwanzigjährige, der über alles, was ihm wichtig war, seine schützenden Arme breiten wollte. Ein kleiner Moses, der nach wie vor seinen Traum von der Künstlerkolonie träumte, wo er alle um sich versammeln wollte, die Geborgenheit vor der Welt draußen suchten. Schon seine Stimme bewies es, wenn Adie noch einen Beweis brauchte: Keiner wirft je seinen ersten Survival-Kit weg. Bestenfalls tut er einmal neue Bandagen hinein. Du bist genau, was wir hier brauchen, Adie. Wir fabrizieren die unglaublichsten digitalen Zirkustiere, und wir können sie durch jeden Reifen springen lassen, den man sich vorstellen kann. Und jetzt brauchen wir jemanden, der diese Reifen für uns zeichnet. Ich weiß nicht, was du sagen willst, Stevie. Wirklich nicht. Wir sind alle nur Programmierer hier. Technische Tüftler. Abstrakte Denker, die reale, dreidimensionale Welten schaffen 10
wollen. Was uns fehlt ist jemand, der Augen im Kopf hat. Weißt du, wie ich mir das bei euch vorstelle? BirkenstockSandalen aus Silikon. Leute aus der Boeing-Chefetage mit Dreitagebart auf Fahrrädern. Wandelnde Datenbanken und Tofu-Esser, die zusammen mit bekifften Junkies an der Fußgängerampel stehen. Siehst du? Du hast es schon vor Augen, bevor du überhaupt hier warst. Ich habe den anderen erzählt, wie du bei Suchbildern immer sämtliche Fehler gefunden hast. Ich habe ihnen den Artikel über dich im ARTFORUM gezeigt. Die Rezensionen deiner 79er Ausstellung in SoHo … Gott, Stevie, das ist doch Ewigkeiten her. Oh, ich bin sogar noch weiter zurückgegangen. Ich habe mein Dia von dem großen Gruppenporträt, das du damals von uns in Acryl gemalt hast, an die Wand geworfen. Das die Universität als bestes Bild ausgezeichnet hat, weißt du noch …? Du bist schrecklich. Wie kannst du so etwas tun! Ich habe ihnen erzählt, dass es Streit deswegen gab. Dass einer der Preisrichter behauptet hat, du hättest es mit Hilfe des Projektors gemalt. Er wollte nicht glauben, dass du sowas tatsächlich freihand … Steven. Da waren wir noch Kinder. Du musst doch keinen Fremden quer über den ganzen Kontinent fliegen lassen, nur weil du jemanden brauchst, der zeichnen kann. Gerichtszeichner machen das für zwei Dollar den Quadratmeter. Und ich habe mein eigenes Leben hier. Du bist keine Fremde, Ade. Er klang gekränkt. Das ist ja das Wunderbare. Du musst das Malen nicht dafür aufgeben. Komm einfach her und sieh zu, was du – Steve. Ich bin die Falsche. Ich mache so etwas … ich male nicht mehr. Schweigen kam vom anderen Ufer des Landes, eine ganze 11
Leitung voll. Ist etwas passiert?, fragte er dann. Allerdings. Oh, ich habe noch sämtliche Finger, wenn du das meinst. Ich male nur einfach nicht mehr. Und es ist kein großer Verlust, das kannst du mir glauben. Verlust? Adie! Wie kannst du so etwas sagen? Was … was machst du denn dann? Wie meinst du das? Ach so, die Arbeit. Dies und das. Werbung. Prospekte, solche Sachen. Buchumschläge. Du machst Buchumschläge, aber für uns willst du …? Nichts Kreatives mehr. Grafik Design zum Lebensunterhalt, das macht mir nichts aus. Auseinander nehmen, neu zusammensetzen. Kaffeebecher in Pastell, Cartoon-Autos, so viel du willst. Aber mit der Kunst bin ich fertig. Adie. Wenn du das noch kannst … Verstehst du nicht? Das wäre eine Chance, etwas vollkommen Neues … Ich bin nicht die, die du suchst, Stevie. Die größte Illustratorin, seit die gegenständliche Kunst im Äther verpufft ist. Na, du musst es ja wissen. Und etwas in seiner Stimme sagte: du hast ja schon immer gemacht, was du wolltest. Aber tu mir einen Gefallen, ja, Adie? Komm ein einziges Mal hier heraus. Einmal solltest du es gesehen haben, bevor du tot bist. Der Satz kam aus dem Hinterhalt, sie konnte nicht sagen von wo. Der Ton, der Rhythmus, die Satzmelodie. Sieh es dir an, bevor du tot bist. Die Einladung klang seltsam vertraut, und sie rührte ihre Ohren, wenn auch noch nicht die Augen. Wenn du es so siehst, hörte sie sich sagen, warum eigentlich nicht? Schön, sagte er. Schließlich hatte er nur um eine Chance gebeten, sie zu retten, jederzeit. Vorzugsweise nach zehn Uhr abends. 12
Sie spürte den harten hellroten Backstein im Rücken, Es war, als säße sie anderthalb Stock höher auf der nächtlichen Feuerleiter und blickte zu sich hinunter; und sie hörte, wie sie sagte: Dienstag in einer Woche also? Ihr zahlt. Er hatte ihr eine Adresse genannt: eine Straße, die sich am Fuße der Hügel durch die Außenbezirke der Hafenstadt schlängelte, der Metropole eines längst vergessenen Goldrausches. Vor Adies innerem Auge erschien die Grotte wie die gestrandete Arche der Kunst, angespült an einen windabgewandten Hang der Cascade Range, grün vom Regen, der dem Pazifik Tag für Tag die feuchte Brise des Vortags zurückgab. Spiegel schickte ihr die Werbebroschüren per Kurier. Hochglanzbilder führten die Ahnenreihe der Grotte bis zur Geburtsstunde der Malerei in den Höhlen der Vorzeit zurück. Auf den Bildern in blassen Farben, mit denen die Datentabellen unterlegt waren, erkannte sie die letzten Spuren paläolithischer Herden, auf die steinernen Wände gemalt, dreißigtausend Jahre bevor auch nur das Wort Kunst existierte. Geisterhände, die ihre Abdrücke auf dem Felsen hinterlassen hatten – dieselben, die einst den Rötel auftrugen –, winkten ihr zu aus der ältesten Apsis der Welt. Und wenn sie umblätterte, dann winkten dreißig Millennien darauf dreidimensionale, farbige, multiplanare, von allen Seiten betrachtbare Hologramme zurück. Adie war eben erst angekommen, nach sechs Stunden in der Konservendose einer 737. Stevie erwartete sie am Flughafen, ihr Vergil, der sie durch das Realization Lab führen würde. Ein Dutzend Jahre. Mehr sogar. Sie umarmten sich kurz in der Ankunftshalle, lachten, kamen an der Gepäckausgabe ins Stocken und fuhren gleich hinaus zum Realization Lab, sagten sich mit Belanglosigkeiten nichts. 13
Das RL verblüffte sie. Es hatte noch weniger Ähnlichkeit mit Stevies Beschreibung, als dieser Ähnlichkeit mit dem Jungen aus Wisconsin hatte, mit dem sie aufs College gegangen war. Es roch ein wenig nach Salmiak und künstlichem Zitronenaroma, die Duftspur einer spätabendlichen Putzkolonne. Sie blieb eine Weile im Atrium, befühlte das Holz der Redwood-Wände, versuchte die Vorstellung, die sie sich von dem Gebäude gemacht hatte, mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Sie wollte das Büro sehen, in dem er gesessen hatte, als er sie anrief. Steve bot ihr einen kleinen ungeduldigen Rundgang durch die neonhelle Halle. Dann führte er sie durch das Labyrinth der Gänge zu einem Raum ganz hinten, in dem nichts war als stalagmitenübersäte pechschwarze Nacht. Schwarz war ihr vertraut. Ihre Freunde in der DowntownDemimonde legten es nie ab, außer in den unvermeidlichen Augenblicken, in denen sie gar nichts anhatten. Von Schwarz umgeben fühlte sie sich wohl. Sie verstand es: Eine der großen Zwei, keine wirkliche Farbe, aber doch gut Freund mit dem tiefsten Braun, stets in der Hoffnung, sich zurück über die gut bewachte Grenze zu den Farbtönen zu schmuggeln. Doch dieses Ebenholzschwarz war ihr unheimlich: das Schwarz der Verschwörungen. Die Augen gewöhnten sich, differenzierten das Dunkel. Überall, doch ohne Ordnung, blitzte Chrom, hinterhältige kleine Duchamp-Readymades. Reihen von Kontrolllampen glommen ihr aus der Finsternis entgegen, wie die roten Knopfaugen von Roboterratten. Auf dem Boden ein Gewirr aus Steckern und Kabeln, metallene Exkremente der Elektrowesen. Sie tauchte in eine See aus digitalen Schlangen. Gedopte Videorecorder, mit Hormonspritzen aufgepäppelte Mikrowellengeräte raunten ringsum. Sie wollte einschlagen auf die Silikonschwärme – der heilige Michael, der sich der gestürzten Engel erwehrt. Wer hatte diese Gerätschaften in die 14
Welt gebracht? Wer konnte auch nur erraten, wozu sie da waren? Adie, die mit ihrem eidetischen Auge einst die Putten, Girlanden und Füllhörner eines üppigen barocken Lettners aus dem Gedächtnis wiedergeben konnte, hätte nicht gewusst, wie sie diese Kästen hätte zeichnen sollen, so sehr sie sie auch anzischten. Wenn das die gepriesene Grotte war, dann vielen Dank. Kam nicht in Frage. Hier konnte sie nicht arbeiten. Nicht in diesem Raum. Ganz gleich, was die Leute hier Großes schaffen wollten. Ganz gleich, was sie sich von ihr erhofften. Das ist sie also? fragte sie. Das ist die Grotte? Steve gluckste. Gleich da. Er wies auf etwas, das sich leuchtend vor ihnen öffnete, einen weiß schimmernden Schuhkarton, hell wie eine Theaterbühne in all dem Dunkel, das sie umgab. Das? Das ist die Grotte? Nie im Leben war ihr ein Raum begegnet, der seinen Namen weniger verdiente. Einer von den Hardware-Leuten, Spider Lim, führte ihnen den Apparat an jenem ersten Abend vor. Die letzten paar Tage ist uns der Raum ziemlich oft abgestürzt, meinte er entschuldigend. Ist ja auch nur ein Prototyp. Genau. Steve strahlte sie im Licht der Projektoren an. Ein bisschen Fantasie brauchst du schon. Aber da kennst du dich ja aus, nicht wahr, Ade? Die beiden Männer steuerten sie durch das Gewirr von elektronischen Nabelschnüren. Spiegel fasste sie im Dunkeln am Arm. Adie zuckte unwillkürlich zurück, obwohl sie jahrelang geübt hatte, genau das nicht zu tun. Aber er wollte sie nur durch das Kabelgestrüpp zum Eingang der Grotte führen. Gemeinsam traten sie durch die Öffnung ein, da wo die vierte Wand sein sollte. Einfach so: Das Publikum schritt durch den unsichtbaren Vorhang und betrat zu ebener Erde die Bühne. Adie fand sich in einem freien Raum von zwei mal zweieinhalb 15
mal drei Metern, begrenzt von fünf großen Bögen Sandpapier. Auch Boden und Decke waren Projektionsflächen. Das ist alles? Du machst Witze. Das ist doch nichts weiter als ein großer Wandschrank. Setz die auf, entgegnete Spider Lim. Eine Plastikbrille, leicht, mit gefärbten, geschwungenen Gläsern. Der neueste Schrei aus Hollywood, irgendwo zwischen wunderbar futuristisch und hoffnungslos retro. Aber da sind Drähte dran. Sie hielt sie auf Armeslänge, zwischen Daumen und kleinem Finger. Spider verzog das Gesicht. Ja und? Jahre später sollte sie ihn so zeichnen: der junge Rembrandt, der im Spiegel eine ungläubige Grimasse schneidet. Ich will keine Drähte an meinem Kopf haben. Du nimmst mich auf den Arm. Spider lachte. Was willst du denn dann hier? Die Drähte, die sind … die produzieren ein Magnetfeld oder was weiß ich. Steve versuchte zu vermitteln. Du setzt doch auch einen Walkman auf, oder? Nie im Leben setze ich so ein Ding auf. Schon das Wort ist eine Beleidigung. Spider antwortete darauf mit einem bemerkenswerten Laut: eine rasche Folge von Schnalzlauten, die Zunge an der Oberseite des Gaumens. Ein Laut, wie ihn einst die Jungs ihres Viertels gemacht hatten, indem sie Baseballkarten mit Gummibändern an. die Speichen ihrer Fahrräder befestigten. Das Rattern der geschäftigen Weltmaschine, ungeduldig bereit zur nächsten Runde. Sie setzte die Brille auf und wartete, dass die Bilder kamen, starr wie eine Südstaatendebütantin, die zum ersten Mal Acid eingeworfen hat und deren jungfräuliche Augen nun für immer 16
ihre Unschuld verlieren sollten. Sie blickte durch die gefärbten Gläser und hatte keine Ahnung, was sie erwarten würde; sie sah nicht das Geringste. Moment noch. Bin gleich so weit. Spider stand zwischen ihr und Spiegel und hatte ebenfalls eine Brille aufgesetzt, wiegte sich hin und her und drückte die Tasten an etwas, das wie eine Fernsehfernbedienung aussah. Irgendwo hängt es noch. Die drei starrten auf die leere Wand. Spider Lim machte noch einmal seinen ratschenden Laut. Adie hätte ihm am liebsten vor Vergnügen einen Boxhieb versetzt. Mach das nochmal! Was soll ich nochmal machen? Es ist doch noch gar nichts passiert. Das mit der Zunge. Spider, ganz mit der Technik beschäftigt, hörte sie schon gar nicht mehr. Das war die Essenz seines Lebens: den anderen immer einen Schritt voraus. Er spielte auf Zeit. Wir haben alles neu konfiguriert. Gerade erst diese Woche. Jede Wand hat jetzt ihren eigenen Grafikrechner. Nicht ganz einfach, die zu synchronisieren. Das Weiß ist doch schön, tröstete Adie. Da kommt es. Jetzt geht es los. Gespannt starrten sie auf die weißen Wände. Die Leere füllte sich mit einem Bild. Aus einem verborgenen Spalt im Weiß tauchte eine Steintafel auf: polierter Marmor mit einer gemeißelten Inschrift, etwas, das Herodes zur Empörung der Israeliten an einer kaiserlichen Stele aufgehängt hätte, so tief im rebellischen Judäa, wie er sich vorgetraut hätte. Die Tafel drehte sich im Raum, dann stand sie mitten in der Luft still, sodass man sie lesen konnte. Im Drehen warf der Stein sogar echte Schatten. Spider hatte die erste Tafel kaum zur Ruhe gebracht, da angelte er schon die Nächste. Die Zweite kam aus der Wand hervor, drehte ihre 17
Pirouetten und ließ sich vor Adie nieder. Am liebsten hätte sie gefühlt, ob sie echt war, aber sie nahm sich zusammen. Weitere Steintafeln schwebten aus der Höhe herab. Sie nahmen nebeneinander Aufstellung, die dreidimensionalen Knöpfe eines Auswahlmenüs. Ein Finger schwebte über dieser Liste, ein körperloser Finger, dirigiert von Spiders Zauberstab. Unter mehreren Menüpunkten wählte er die Tafel mit der Aufschrift Crayon World, Buntstiftwelt. Und weiter geht’s, sagte er. jetzt aufgepasst. Er drückte eine Taste, und der schwebende Finger regte sich. Die Marmortafel wich zurück, als sei sie tatsächlich gedrückt worden. Mit einem Piepton löste das Menü sich auf. Einen Augenblick lang wurden die Wände dunkel. Als sie wieder aufleuchteten, waren es keine Wände mehr. Adie sah nur noch einen Blizzard aus Aquamarin, einen Regen aus silberblauen Glassplittern, als zerplatze die Luft um sie. Dann formierten die Splitter sich, setzten sich zu einer blauen Decke zusammen. Sie konnte sehen, wie sie alle drei unter dem strahlend blauen Himmel standen. Zugleich schwebten sie aber auch über der Szene, die sie ansahen, und das in einem unmöglichen Winkel. Adies Knie gaben nach. Sie lehnte sich vor, um diesen Verstoß gegen die Schwerkraft auszugleichen. Als sie sich wieder aufrichtete, kam auch die Buntstiftwelt unter ihr ins Lot. Ein weiterer Wirbel von topasgrünen Tönen, dann sah Adie allmählich, wo sie gelandet waren. Sie ließ den Blick schweifen, vor und zurück, staunend wie ein Kind, dessen Augen ihren ersten Lichtstrahl in sich aufnehmen. Doch kaum hatte sie sich aufgerichtet, brachte Schwindel sie wieder ins Schwanken. Ihr war zumute, wie ihr als Kind immer auf den Fünftausend-Meilen-Flügen zumute gewesen war, wenn sie wieder einmal zu einem neuen Zuhause weiterzogen und wenn sie jedes Mal tagelang luftkrank davon war. Was sie jetzt spürte, war allerdings das genaue Gegenteil der Reisekrankheit 18
von damals; es war der Schwindel derjenigen, die stillstand, während die Landschaft um sie herum schwankte und torkelte. Adie, ein Zerrbild ihrer selbst, stand auf einem unsichtbaren fliegenden Teppich. Sie, Steve und Spider balancierten über die wogende grüne See. Doch die Planke, auf der sie balancierten, gab es nicht, und das Gras bestand nur aus Buntstiftstrichen. Sie blickte auf. Am tiefblauen Himmel über ihnen zogen nun Wolken. Sie sah hinunter zu ihren Schuhen. Sie streiften an den Wipfeln der Bäume entlang, Bäume, die bis tief unter den Boden, der sie projizierte, zu reichen schienen. Jedes gezeichnete Bild setzte sich bruchlos an den Raumecken fort, sodass der Eindruck, in einer Schachtel zu stecken, gänzlich verschwand. Ein paar Trillionen Zahlenketten, die ein paar Milliarden Jahre Evolution des Auges überlisteten: Es dauerte nur Sekunden, da nahm Adie die Tricks schon gar nicht mehr wahr, sondern glaubte, was sie sah. Hier, sagte Spider. Übernimm du mal. Und er drückte ihr die Fernbedienung in die Hand. Wo ist denn die Kupplung? Sie war noch nie mit Steuerknüppeln zurechtgekommen. Adie packte das Kästchen ungeschickt, kam mit den Fingern an die Knöpfe. Die Welt ringsum legte an Tempo zu, ein Schluckauf erschütterte die Buntstiftzeichnung. Was eben noch eine Fichtenschonung zu ihren Füßen gewesen war, kenterte und trieb nun kieloben. Sie riss das Steuer herum, und nun drohten sie und die beiden Männer auf der anderen Seite über Bord zu gehen. Was ist das?, flüsterte sie, als fürchte sie, es verscheuchen zu können. Das da drüben. Da hat sich etwas bewegt. Weiß der Himmel, seufzte Steve. Das ist ja unser Problem. Ein Millionen-Dollar-Etat, und keiner in dieser Klitsche weiß, wie man einen Zeichenstift hält. Der Stimme nach stand er gleich links neben ihr, aber ihrem Entfernungssinn würde sie nie wieder trauen. Als sie sich 19
umwandte, um ihn anzusehen, folgte die Buntstiftwelt der Bewegung. Was von Spiegel unter seiner eigenen Videobrille noch zu sehen war, grinste. Du kannst ja hingehen und nachsehen. Adie drückte den Hebel und setzte sich in Bewegung. In drei kurzen Sprüngen hatte sie eine halbe Moräne zwischen sich und die Stelle gebracht, an der Steve stand. Und trotzdem blieb er durch all die Wiesen und Sümpfe immer neben ihr. Diese Dinger hier, was sollen die darstellen? Rohrkolben? Einsen? Wie kommt denn die einzelne Douglasie da drüben hin? Steve warf den Kopf in den Nacken und stieß ein verächtliches Lachen aus. Hat wahrscheinlich einer von den Kabelaffen gemalt. Die ganze Bande hier hat den Kunstverstand eines Achtjährigen – eines kurzsichtigen Achtjährigen mit einem Defekt in der rechten Hirnhälfte und seinem ersten 64-Farben-Malkasten in der Hand. Spider Lim nahm den Spott des Programmierers mit einem Lächeln hin. Ihr von der Software, ihr habt natürlich schon in der Wiege gezeichnet. Aber es ist wunderschön, protestierte Adie. Wenn ihr da auch nur einen … einen Strich dran ändert, erwürge ich euch im Schlaf. Pixel, verbesserte Spider. Wenn wir einen Pixel ändern. Dann bringst du uns um. Voxel, setzte Spiegel noch eins drauf. Wieder mal nicht auf der Höhe der Zeit, Lim. Voxel oder Boxel. Ein dreidimensionaler Pixel. Wieso haben die Sachen denn keine Rückseite? Ich meine, schau dir diesen Baumstumpf hier an. Ein irres Mahagoni, und die kubistischen Jahresringe sind ein Gedicht. Aber wenn ich auf die andere Seite gehe, ist es weiß. 20
Das liegt am Papier, entschuldigte Spiegel sich. Am Papier? Dem Papier, auf das wir die Sachen zeichnen. Stimmt. Wir waren einfach zu faul, es auf beiden Seiten … Hardware versetzte Software einen Stoß in die imaginären Rippen. Hier bei diesem Exemplar geht es ja nicht wirklich darum, wie der Baumstumpf gemalt ist. Wir müssen es hinkriegen, dass die Bilder den Kopfbewegungen folgen … Der Kaiman-Filter … Vom menschlichen Kopf ganz zu schweigen … Bei einem so massiven Bit-Blitting von einer Grafikebene zur anderen bei einer genügend hohen Geschwindigkeit und Auflösung – Seht nur, da ist ein Haus! Habt ihr das gewusst, dass ein Häuschen hier draußen steht? Nun macht doch nicht so ein Gesicht, Jungs. Können wir mal sehen, wie es von hinten aussieht? Reicht die Welt bis dahin? Da sind sogar Blumen! Was -? Tul –, nein Iri – Jetzt schreib dir das hinter die Ohren, hier geht es nicht um deinen bescheuerten Pik-Asso … Gott!, rief Adie. Es gibt sogar Bienen. Und sie summen! Pummelige schwarz-goldene Flecken mit Flügeln aus Büroklammern tummelten sich in systematischer Unordnung. Das bewegte etwas in ihr, so klein, so gesellig, so umtriebig und roboterhaft wie das Vorbild in der wirklichen Welt. Die sind am liebsten drüben bei den Blumen. Steve wies auf eine Wiese in der Ferne. Geh mal mit dem Stab in diese Richtung. Sie tat es. Ein Schwarm von magischen Bienen folgte jeder digitalen Duftspur, die sie legte. Adie schwebte durch die Lüfte, schaukelte, schlug Purzelbäume. Die Drähte an ihrer Fliegerbrille sorgten dafür, dass die ganze Landschaft mitging, wenn sie den Kopf drehte. Mit dem Steuerknüppel dirigierte sie immer gewagtere 21
Loopings und Überschläge. Sie streifte die Baumwipfel und schlängelte sich am Boden zwischen den Grashalmen hindurch. Sie wagte sich vor bis an die äußersten Enden des Geländes und juchzte dabei, dass der ganze Raum erzitterte. Es gefällt dir also?, fragte Steve. Es macht dir wirklich Spaß? Ich hätte nie gedacht … so etwas habe ich nie zuvor gesehen. Draußen vor der Grotte, jenseits des Laboratoriums, jenseits der Zedern des Parks, in dem es verborgen lag, weit draußen im Saum des Küstenwaldes, hüpfte der Schrei einer Eule wie ein Stein über die glasklare Oberfläche der Nacht. Einzelne Sattelschlepper dröhnten über die ansonsten verlassene Küstenstraße, Laute wie Motorsensen. Doch in diesem Mutterleib der Technik zog die Fantasie ihre Brut bei Mondlicht heran. Das heißt, du bist dabei, Adie?, fragte Steve. Du machst bei uns mit? Etwas in ihr hatte nie etwas anderes gewollt, hatte sich immer gewünscht, dass es einmal auf einem solchen Spielplatz spielen könnte, selbst wenn nur eine hässliche Maschine ihn vorgaukelte. Die drei verabschiedeten sich von der papiernen Wiese und kehrten in die wirkliche Welt zurück. Sie verließen ihre Hightech-Klosterzelle und traten hinaus in die echte Nacht. Es schien Saatzeit, noch ganz zu Anfang eines neuen Lebenszyklus. Es regnete. Ein Nieselregen schlug sich auf ihren Kleidern nieder und überzog sie mit einem leisen Glanz. Ein paar aufgeschreckte Vögel piepten und schnatterten in der Nacht, damit jeder wusste, wo der andere war. Sie standen zusammen auf dem nächtlichen Parkplatz, an dem Leihwagen, der Adie zu ihrem Tipi-Touristenhotel unten am alten Highway bringen sollte. Lim spielte mit einem Mandelstein-Schlüsselanhänger. Spiegel stand an den Wagen 22
gelehnt, wartete auf ihre Antwort. Aber Adie Klarpol konnte nur lachen, sie konnte nur den Kopf schütteln vor Unglauben über das, was sie da gerade gesehen hatte. Bilder erschienen vor ihrem inneren Auge und lösten sich wieder auf. Zum ersten Mal seit ewigen Zeiten hielt die Zukunft mehr Bilder parat als die Vergangenheit. Stevie, das ist unglaublich, was ihr da habt. Aber ich kann nicht mitmachen. Ich kann es wirklich nicht. Und was heißt das konkret? Was hieß es? Selbst das Wetter an jenem ersten Abend stellte ihr die Frage, drängte sie zu sagen, was sie doch nicht sagen wollte. Der ganze Abend, der sie wie eine Schachtel umhüllte – der Tüll der Mitternacht –, verhöhnte, was sie an Antworten hatte. Du musst nicht malen, sagte er. Wir wollen dich nicht als Malerin. Kunst ist nicht gefragt, Ade. Hier draußen, da zeichnen wir mit Schablonen. Du darfst es nicht als Kunst ansehen. Es sind Berge von Daten, weiter nichts. Und was in SoHo keiner weiß, tut auch keinem weh. Sie legte ihre Einwände einen nach dem anderen dar, stellte sie zu einem imaginären Balkenmenü zusammen. Am Ende ließ sich keiner halten außer dem Letzten: einem diffusen Hass auf alles, was die verkabelte Welt einmal werden wollte. Aber etwas zerrte an ihr. Etwas munter Summendes, Gestreiftes. Diese Bienen, gab sie zur Antwort. Wie finden sie zu den Blumen? Wie macht ihr das, dass sie so fliegen? Etwas an diesen schwarz-goldenen Flecken, wie sie hierhin und dorthin flitzten, weckte verborgene Sehnsüchte in ihr, eine Sehnsucht nach Bildern. So ging es immer, mit dem Leben und seinem blassen Abklatsch. Die Dinge, denen man entsagen musste – die kleinen Akte des Verzichts, des verzweifelten Fastens –, all das gab schließlich nach. Es verpuffte, mit den eigenen Waffen geschlagen – das Einzige, was dagegen half. 23
Die verwaiste Palette meldete sich zurück, machte ihre Ansprüche geltend, forderte Aufmerksamkeit. Nichts hatte Adie sich je so sehr gewünscht, als diesen Ort mit Enzianblüten zu bevölkern, mit Waldlichtungen, mit verwunschenen Häusern, die sie aus Pappe basteln würde, als unter belebtem Himmel Halme großzuziehen, einem Himmel, der nach Bienen geradezu rief, nach von ihren Wiesen trunkenen, pollenstäubenden Papierbienen, die jeder Duftspur folgten, den der Zauberstab der Gedanken ihnen vorgab. Ihr Dreckskerle, sagte sie. Ihr verdammten Dreckskerle. Hilflos blickte sie auf, zu allem bereit, sah alles vor sich mit tränenfeuchten Augen. Im Crayon Room, dem Buntstiftzimmer, ist jeder Strich ein breiter Strich. Wachs krümelt. Manchmal kommt es zu dick aufs Papier, manchmal bleibt ein Fleck leer. Eine klare Kontur ist damit kaum zu schaffen. Wo zwei Farben sich mischen, kommt Grau heraus. Ob dick, ob dünn aufgetragen, ob hell, ob dunkel, die See aus Wachsmalkreiden und die Hafenmole dazu sind immer nur aus einer einzigen grellen Farbe. Was auch immer die Unterlage ist, sie kommt in der Zeichnung durch. Breite Zeitungspapier auf den Bürgersteig aus und male einen Fisch, und der Fisch kommt schon als Fossil in die Welt. Reibe eine braune Kreide quer über ein jungfräuliches Blatt, und die Tischplatte klont ihre Astknorren und Maserung, holt das Papier in die Welt des Holzes zurück, aus der es kommt. Alles, was man mit Wachsstift malt, ist eine zweidimensionale Fassade. Aus der Sonnenscheibe wird ihr eigenes Reklameschild. In der Fläche werden die fernen Hügel zu Mustern. Aus der Höhe, vom Krähennest des Besuchers aus gesehen, haben die Vogelscheuchen im Feld nicht mehr Tiefe 24
als das Blatt Papier, auf das sie gekritzelt sind. Überall Anzeichen, dass Menschen in der Nähe sind. Unter den Äpfeln, die unter einem Baum am Boden vor sich hinfaulen, ist ein angebissener. In einem stehen gelassenen Eimer, halb voll, schwappt noch das Wasser. Eine Stoffpuppe sitzt geduldig auf einer Bank. Ein Drachen schwebt am Himmel, an einem Zaun festgebunden, als warte er nur, dass jemand kommt und die Leine nimmt. Spuren ihrer Erzeuger bleiben in dieser Welt nicht zurück. Man begegnet niemandem im Buntstiftzimmer. Es ist ein unschuldiger Ort, unberührt, ein Ort vor dem Sündenfall. Rauchwölkchen kräuseln sich über dem bröckligen Schornstein eines Sommerhäuschens, so gemütlich, dass man gar nicht glauben mag, dass wirklich jemand darin wohnt. Hinter Schiebefenstern, die einen Spaltbreit offen stehen, schnurrt eine Katze, den Blick auf einen Goldfisch geheftet, der seine Runden in seinem grob skizzierten Glas dreht. Die Buntstiftwelt ist die Galerie einer stolzen Mutter, die erste Werkschau eines Genies in kurzen Hosen, mit bunten Magneten an den Kühlschrank geheftet. Aber nichts in dieser Welt sieht dem, wofür es steht, ähnlich. Nur das konventionelle Bild eines Hauses, das viel zu steile Satteldach, die ockerbraune Haustür, die schief in den Angeln hängt. Nur Zeichen für Katze und Apfel und Eimer und Baum und vergessene Puppe. Der Besucher erkennt bald, dass auch er nur ein Schemen ist. Wer hier spazieren geht, stößt nirgends an. Versucht man, einen Hügel zu erklimmen, spaziert man einfach hindurch. Hecken sind kaum mehr als eine Andeutung. Nähert man sich, nehmen die Büsche Gestalt an, schwimmen auf das Auge zu, bis es ganz von ihnen erfüllt ist. Dann, mit einem kleinen optischen Plopp, lösen sie sich in nichts auf, und der Blick schweift zu den angedeuteten Weiden dahinter. 25
Dann und wann vernimmt man den Schrei eines unsichtbaren Adlers. Ansonsten herrscht Stille, ausgenommen das Plätschern des Baches, der im Verborgenen fließt, und unten im Garten das Summen der Bienenschar. Mit der Schere ausgeschnitten, ziehen sie ihre Kreise auf den abenteuerlichsten digitalen Bahnen, jede gelb-schwarz gestreift, das Zeichen für eine Biene. Das Summen aus dem Zufallsgenerator, Ton ihres hektischen Fluges, steht an Stelle der schwirrenden Insektenflügel. Ein Schubkarren in scharlachrotem Wachs schräg auf einem Pfad, irgendwo unten in der Projektion eines Tals. Die Wiese schmucklos, der Wald eine freundliche Karikatur. Diese irrsinnige Perspektive, wie sie zwischen den Dimensionen driftet, genau das Richtige, um sich darin zu verlieren. Die Buntstiftwelt fühlt sich größer an, als sie ist. Ihr Raum ist gekrümmt. Sie ist eine Endlosschleife. Ein Wanderer macht sich nach Südwesten auf den Weg, auf ein Wäldchen blühender Kastanienbäume zu. Es wird eine anstrengende Wanderung, denn immer wieder tauchen neue Baumgruppen auf. Der Pfad mäandert dahin, aus Ellen werden Klafter und Ruten, aus Viertelmeilen Meilen, aus einer drei, denn wer mit dem Wachsmalstift misst, misst in den längst verlorenen Maßen alter Gutenachtgeschichten. Himmelblau verdunkelt sich zu Preußischblau, dann Kobalt. Und doch erstreckt sich vor einem die Landschaft immer weiter südwestwärts. Mehr davon, als am Anfang da war. Der Waldspaziergang droht zur panischen Flucht zu werden. Dann sagen die Zäpfchen an der Rückwand der Retina Moment! Der Baum da, der stimmt doch gar nicht. Der gehört nicht hierhin. Und an diesen mentalen Synapsen, wo aus Gekritzel Worte werden, fragt man sich: Wo habe ich den schon einmal gesehen? Und tatsächlich, nach lächerlich wenigen Schritten ist der Baum schon wieder da. An derselben Stelle aus derselben 26
Richtung ist er wieder neu zu sehen, und das, obwohl man den Kurs nicht geändert hat. Plötzlich ein Riss in seiner Mitte, und bevor man sich noch zu Ende wundert, wieso man das nicht schon längst bemerkt hat, beginnen dieselben Szenen wieder von vorn, und ein neuer Zyklus der Schleife beginnt. Die Steuerung, mit der man sich durch diese Wildnis bewegt, hat einen Knopf, mit dem man Brotkrümel ausstreuen kann. Aber wie stets in solchen Welten locken die Krümel eine Schar mörderischer Buntstiftkrähen, die alle Spuren, mit denen man den Weg zurück finden könnte, sogleich verschlingen. All die wächsernen Zeichen bieten nicht einmal für eine virtuelle Minute Orientierung. Die Spur ist nicht zu retten, und das Abenteuer in der Buntstiftwelt kennt kein Ziel außer sich selbst. Mit groben Strichen ist ein Test gemalt. Man muss beweisen, dass man hineinkommt und unversehrt wieder heraus. Als der Zorn wieder aufflammte, als du zurückfielst in das alte bittere Wie-du-mir-so-ich-dir, als du nur noch fliehen wolltest und am Ende nur noch Wurfpfeile auf die Weltkarte schleudertest, da war es dir mit einem Male klar. Es gab nur zwei Möglichkeiten: entweder zurück zu dem alten Spiel, in dem jeder Vorwurf automatisch zum Nächsten führt, in dem man die Rasierklingenschnitte der Worte betupft mit dem Alkohol der Liebe. Entweder der sanfte Sadomasochismus noch ein weiteres, seelenzerreißendes Mal. Oder du kehrst ihm den Rücken und machst dich davon. Fliehst auf dem Pfad, der in den Süden führt, dem Pfad, auf dem du einst gekommen bist. Noch einmal tränenreich versöhnen, das würde euch beide nur noch tiefer erniedrigen. Der Ort deiner Sehnsucht – das windschiefe Haus auf dem Land, dein Traum von trauter Nähe, der sie immer in helle Panik versetzte – ist nur noch ein Hirngespinst. Er weicht jenem düsteren, nächtlichen Ort, an dem das Zischen der Begierde in Misshandlungen mündet und 27
Misshandlungen neue Begierde wecken. Jeder von euch war die Sucht des anderen, immer wieder ging es zurück in den Alptraumrausch, aus dem ihr euch so verzweifelt befreien wolltet. Ein Dutzend Mal seid ihr zurückgekehrt von den Toten, nur um wieder rückfällig zu werden, schlimmer noch und wochenlang. Ihr habt das Delirium des Entzugs erlebt: einen Monat, zwei, ohne ein einziges Wort. Und dann, clean, unbefleckt, mit euch selbst im Reinen, seid ihr doch zurückgekehrt, nur um zu sehen, ob es geht. Nur um zu sehen, wer der Stärkere ist. Nur ein kleiner Nadelstich in die Vene des anderen, die bloß darauf wartete. All das hat an diesem Freitag ein für alle Mal ein Ende. Du fährst an einen Ort, an dem du sie nicht mehr bitten kannst, dir von neuem wehzutun, ein Ort, von dem es kein Zurück mehr gibt zur Fürsorge des anderen. Wo ihr unerreichbar füreinander seid, so zärtlich ihr euch auch von neuem begehrt. Dir schwindelt, wenn du nur daran denkst. Deine Freunde sind fassungslos, sie lachen, als sie es hören. »Wohin gehst du? Werden da nicht Menschen auf offener Straße erschossen, und keiner fragt, auf wessen Seite du stehst?« »Nein«, lästerst du zurück. »Das verwechselt ihr mit Washington, D.C.« Aber schließlich geht es ihnen auf, den Freunden, die sehen, wie du den schlimmsten Schlag seit Jahren einsteckst: du meinst es ernst, und sie können es nicht glauben. Du spielst es herunter. Die Schule, in der du unterrichten wirst, ist fast eine Festung. Die Spannungen sind längst nicht mehr so schlimm wie noch vor einem Jahr. Der Bürgerkrieg geht zu Ende; alle Seiten sind zu Zugeständnissen bereit. Die ausländischen Armeen sind abgezogen. Der Präsident hat endlich die Zügel in die Hand genommen. Mit dem alten Irrsinn ist es ein für alle Mal vorbei. 28
Und außerdem ist es ja nur für zwei Trimester. Acht Monate. Weniger gefährlich als der tägliche Weg zur Arbeit auf dem Edens Expressway. Du schläfst gut auf dem langen Flug, ans Fenster gelehnt, den Kopf auf einem Lappen aus Baumwollgaze, der bei den Stewardessen Kopfkissen heißt. Im Schlaf sprichst du schon fließend Arabisch. Sogar die Marionette in deinem Traum staunt, wie fremd das klingt; die gutturalen Laute, die du hervorstößt, halb Unsinn, halb Gabe des Zungenredens. Über den Bordlautsprecher kündigt der Pilot an, dass er die üblichen Ausweichmanöver beim Anflug machen muss. Kein Grund zur Beunruhigung für die Fluggäste. Die Maschine wird nur in wenigen Sekunden einige Tausend Fuß an Höhe verlieren. Viele der Passagiere kennen die Prozedur offenbar schon. Geradezu beschwingt steigst du nach der Stuka-Landung aus. Das Maschinengewehr des Wachtpostens an der Gepäckausgabe erinnert dich an einen Haute-CoutureKleiderbügel. Der Mann von der Schule erwartet dich im Terminal. Die Stadt ist dunkel und still. Du spitzt die Ohren und lauschst auf Geräusche aus den südlichen Vorstädten, aber du hörst nichts außer dem Verkehr. Der Chauffeur lacht: Was haben Sie erwartet? Granatenschleudernde Desperados hinter jedem Marktstand? Am Morgen inspizierst du das Gelände. Das Schulgebäude ist weitgehend unversehrt. Es steht auf einem Felsvorsprung mit Blick auf Corniche und Meer. Vom Balkon deines Büros aus kannst du zusehen, wie Bulldozer riesige Schuttpyramiden ins Wasser schieben. Du suchst nach der Grünen Linie, der Buschreihe im rissigen Beton, die die Stadt in zwei Hälften teilt. Aber du siehst nur eine Reihe von Hochhäusern, ihre Pockennarben kaum zu erkennen in dem Spiel von Licht und 29
Schatten. Es ist besser als erwartet. Eine weiße Stadt am Meer, und gar nicht abweisend. Eine Stadt auf dem Weg der Genesung. Ein guter Ort, um zu genesen. Die harzduftende Luft, die Olivenhaine. Trocken, azurblau, rein. Seit deiner Kindheit war deine Nase nicht mehr so frei. Diese Stadt kehrt ins Leben zurück. Hier kannst du leben. Und wie alle wichtigen Schlussfolgerungen, die du in den dreiunddreißig Jahren deines Lebens gezogen hast, ist auch diese falsch. Sie kam aus diesem Raum nicht so leicht wieder heraus, wie sie hineingekommen war. Das Little Italy, in das Adie Klarpol zurückkehrte, schien ihr nun altmodisch und verstaubt, Stoff für zweitrangige Maler wie Bellows oder Marsh. Ein einziger Besuch in jenem Hightech-Wunderland, und ihre alte Stadtlandschaft kam ihr vor wie eine Hintergrundprojektion. Ihre Freunde schrumpften zu Computersimulationen, tägliche Verrichtungen wurden Punkte, die man mit einem Druck auf die Fernbedienung abhakte. In der dritten Nacht nach ihrer Rückkehr träumte sie von einem winzigen Cottage im Puget Sound, unmittelbar vor Seattle. Am Morgen blätterte sie im Atlas und überlegte, was sie darauf gebracht hatte. Das Haus, von dem sie geträumt hatte, war ein regelrechtes Hexenhäuschen gewesen, und der Garten erstickte fast in wuchernden Bohnenranken, auch wenn sie nur grob skizziert waren. Rundum war die Insel vom schönsten Wasser umgeben gewesen, ein privater Burggraben zwischen ihr und der Kommerzwelt draußen. Aber sie fand nichts im Atlas, was diesem Flecken auch nur entfernt geähnelt hätte. Am selben Nachmittag, als sie mit zwei Gallonenflaschen Maine- »Quellwasser« vom Laden an der Ecke nach Hause 30
ging, lief sie einem Grapscher in die Arme. Genauer gesagt, griff er sich ihre wehrlosen Brüste, in jeder Hand eine. Der Lüstling war auf und davon, bevor sie ihren Ballast abwerfen und zuschlagen konnte. Vier Tage darauf riss ihr an der Houston Avenue jemand die Handtasche von der Schulter, und wie eine Anfängerin wehrte sie sich. Er stieß sie gegen ein Straßenschild und schlug ihr ins Gesicht, und im Wegrennen brüllte er: Was glaubst du denn, wer du bist, du blöde Nutte? Bettler zischten sie mit aller Dreistigkeit an. Personal beiderlei Geschlechts reichte ihr in den Läden ihre Einkäufe in zweideutige Angebote verpackt. Etwas war ihr verloren gegangen, ein Instinkt, ein Rhythmus des Überlebens. Nach einem Dutzend Jahren hatte New York sich gegen sie gewandt und jagte sie davon wie eine Landpomeranze. Eine weitere Pöbelei, diesmal von Schulkindern in Chelsea, die sie als Zielscheibe benutzten, und Adie begriff, was geschehen war. Sie vermied den Augenkontakt nicht mehr. War in die alte, fatale Angewohnheit zurückgefallen, Menschen anzusehen. Und wer in dieser Stadt jemanden ansah, der hatte schon verloren. Sie rief Spiegel an und bat ihn, ihr Immobilienangebote zu schicken. Und da fand sie es, in der zweiten Zeitung auf der vierten Seite: Gemütliches Inselheim mit Garten. Das Hexenhäuschen, das ihr im Traum erschienen war. Sie griff sofort zum Telefon, es war ihr gleich, was Steve darüber dachte. Gilt das Angebot noch? Das schallende Lachen am anderen Ende war wohl als Ja zu verstehen. Sie mietete das Haus per Telefon, unbesehen. Sie langte an einem strahlenden Nachmittag dort an, als die Pazifikluft kristallklar über die Bucht wehte, erfüllt vom Kiefernduft, und die Erde fühlte sich so blitzsauber an wie an dem Tag, an dem sie sich für ihr erstes Foto in Positur setzte. Es war das Haus 31
aus ihrem Traum, und sogar mehr noch als das. Sie hatte im Puget Sound ein Zuhause gefunden, vierzig Minuten Fährfahrt zur Arbeit. Schon eine Woche nachdem sie in ihr Häuschen gezogen war, kam die Stadt, die sie hinter sich gelassen hatte, nicht mehr in ihren Träumen vor. An jenen ersten Abenden saß sie auf der Veranda, von salziger Seeluft umhüllt. Es war der Hauch der Zukunft, der ihr um die Nase wehte, beiderseits an ihr vorbeiströmte und sich dann wieder vereinte. Sie kam sich vor wie eine alte Jungfer, deren plötzlicher neuer Verehrer blind sein musste oder ein Sadist oder ein Glücksritter auf Abwegen. Sie hatte genug Märchen gelesen und wusste, dass solche Geschichten nicht gut ausgehen. Und doch ließ sie sich umwerben und kam ihm sogar einen Schritt entgegen. Seattle übertraf alle Erwartungen. Sie strich ihr Holzhaus in einem liebevoll ausgesuchten Regenbogen aus Brauntönen. Sie kaufte einen schokoladenbraunen Labrador und taufte ihn Pinkham – der treue Gefährte, den die New Yorker Wohnung ihr immer versagt hatte. Sie ließ von einem Versandhaus ein Dutzend Rosenbüsche kommen – jeder mit einem achteckigen Blechschildchen und der Warnung »Illegale ungeschlechtliche Vermehrung dieser Pflanze ist strafbar nach dem Pflanzenpatentgesetz« – und setzte sie ein. Sie merkte bald, dass ihr zum Leben Blaubeeren, Honig und die Krabben aus der Reuse, die sie vom Bootssteg zu Wasser ließ, genügten. Der einzige Haken war ihr Arbeitgeber jenseits des Sunds, dem sie Rechenschaft schuldig war und der ihr dies Sommerhäuschen für die Mitte des Lebens finanzierte. Sie setzte mit der Fähre über und genoss die mächtigen Quinten des Nebelhorns. Sie brachte ihren zerbeulten bananengelben Volvo schneller über den Sund als früher zur ersten Ampel an den Verazzano Narrows. Ein munterer Mitarbeiter des Personalbüros machte mit Adie die offizielle Runde und führte sie bei TeraSys ein. Sie 32
besichtigten die prachtvolle neue Hauptverwaltung aus Glas und poliertem Sandstein, die sich in den Hang schmiegte wie ein Luxus-Einkaufszentrum, fünf Meilen die Straße hinunter vom Realization Lab. Spezialisten jeglicher Couleur saßen in Konferenzzimmern zum Brainstorming beisammen und gaben ihr geistesabwesend die Hand. Workstation-Designer, Betriebssystemexperten: Dutzende von Namen, die sie sofort wieder vergaß, und Gesichter, die ihr nicht mehr aus dem Sinn gingen. Nach ein paar hundert Handschlägen verstand Adie allmählich das Hyänenlachen, mit dem Spiegel ihre Frage quittiert hatte, ob das Angebot noch gelte. Wie der weltfremdeste Freizeitkleckser hatte sie nicht den geringsten Begriff von den Ausmaßen dieser jüngsten Fieberträume aus Silicon Valley gehabt. Keine Ahnung davon, wie groß der Bienenstock war und wie viele Bienen gebraucht wurden, ihn zu füllen. Einmal hatte sie eine Auftragsarbeit für eine Softwarefirma übernommen, Hersteller eines Terminkalenderprogramms, eine grauenhaft gut gelaunte Maus und Tastatur in Pastelltönen, die beide aussehen sollten, als seien sie aus Taft genäht. Nun sah sie das biedere Logo wieder, in einem Regal mit den Prospekten der zahlreichen Tochterfirmen, die zur großen TeraSys-Familie gehörten. Gleich daneben lag die Broschüre des neuesten Lieblingskindes, des Realization Lab; der Folder stellte einen Prototypen der Grotte vor, »ein experimenteller Total-Immersion-Environment-Modeler der zweiten Generation«. Die Leute von TeraSys waren anscheinend immer nur auf der Suche nach neuen Tischchen, auf denen sie das Kleingeld aus ihren tiefen Taschen ablegen konnten. Sie konnten Adies Midlife-Crisis finanzieren und sie noch auf Jahre mit Stipendien versorgen, ohne dass es sie im Mindesten kratzte. Sie stellten ihr einen endlos großen Sandkasten der Fantasie 33
auf, wie geschaffen, damit ein Mädchen sich darin verlieren konnte. Anschließend fuhr sie wieder den Berg hinauf zum Realization Lab mit seiner Wunderkammer, um die sich alles drehte. Das niedrige, schmucklose Gebäude beschäftigte sie noch mehrere Tage lang, bis sie darauf kam, woran es sie erinnerte: an eine gehobenere Zahnarzt-Gemeinschaftspraxis, in Westchester County zum Beispiel. Im Inneren des RL traten an die Stelle von Redwood und Naturstein lange olivgrüne Korridore und leinenbespannte Trennwände, und alles war von genau dem Bienensummen erfüllt, das sie ja überhaupt dorthin gelockt hatte. Die ersten beiden Wochen musste sie noch grinsen, wenn sie die neuen Kollegen sah. Mit ihrer bleichen Haut, die nie an die Sonne kam, den dünnen und zottigen Bärten, den Cordhosen und Holzfällerhemden, die sie darüber trugen, den Socken in Sandalen, den glücklichen, vom Eifer erfüllten Augen hinter Nickelbrillen kamen sie ihr wie ein emsiges Bataillon von Heinzelmännchen vor. Sie brauchte einen ganzen Monat, bis sie die Hardware- von den Software-Leuten unterscheiden konnte, die Orks von den Elfen. Diese haarigen Höhlenbewohner hatten aus ihrer Wildhüterhütte ein unterirdisches Wunderland gemacht. Überall klebten an den Wänden Flussdiagramme, Ausdrucke von Programmen, Parodien von Handbuchtexten sowie Autogrammfotos von Yoda, Mr Spock und Steve Jobs. Die in Ockertönen gehaltenen Holzverkleidungen rochen nach Zeder, frischem Gummi und nach Turnschuhen, die schon zu lange im feuchten Klima waren. Selbst die überall wuchernden Grünpflanzen konnten die Kälte von Chrom, Stahl, Rechnern und Monitoren nicht vertreiben. Hie und da fehlte an der Decke eine der schalldämmenden Platten, sodass das Schlangennest von Kabeln zu sehen war, das sonst dahinter verborgen blieb. Das Schlimmste aber war das Rauschen, das ununterbrochen in 34
der Luft lag, das Sirren der Festplatten, das Klackern der Tastaturen, der hohe, metallene Ton, der überall entsteht, wo große Datenmengen verarbeitet werden. Wie kam das alles zustande? Wer sorgte für die Koordination von Hand und Auge? Wer stellte dieses Team zusammen und sagte jedem, was zu tun war? Wie machten die Maschinen aus Elektronen bewegte Bilder? Adie konnte sich nicht vorstellen, dass sie in der Lage sein würde, die Wände der Grotte zu gestalten, solange sie nicht wenigstens eine Ahnung – den Schatten einer Ahnung – davon hatte, wie das Ganze funktionierte. Spiegel stellte ein Wunderkind ganz für sie allein ab. Einen Jungen namens Jackdaw – Jack Acquerelli. Jackdaw kam frisch aus der größten kalifornischen Informatikschmiede, obwohl er aussah, als sei er bestenfalls alt genug, seine eigenen Software-Registrierungen einzuschicken. Er war etwa so groß wie sie – einer der Gründe, weshalb er sich überhaupt auf Computer verlegt hatte. Er war nicht unattraktiv, nur dass er ständig Doritos in sich hineinstopfte und kaum einen menschlichen Kontakt verarbeiten konnte, ohne zusammenzuzucken. Adie mochte ihn auf Anhieb, schon weil sie seinen Nachnamen lustig fand. Jedes Mal, wenn sie ihn sah, knöpfte sie ihm den obersten Knopf seines Flanellhemds auf, bis sie ihn so weit hatte, dass er ihn von sich aus offen ließ. Jack, löcherte sie ihn, warum summen diese Bienen? Warum fällt das Haus nicht zusammen? Konnte man das Gras unter den Fußsohlen eines Besuchers wachsen lassen? Ein Kind dazuholen, das es mähte, für einen blitzenden Vierteldollar? Sie war schlimmer als ein Fünfjähriger, der gerade erst begriffen hat, dass jede Frage zu einer weiteren führt. Jackdaw mühte sich redlich, den Ansturm zu bewältigen. Aber er wurde nicht schlau aus ihr. Die Schnittstelle zwischen ihnen war improvisiert, das Kabel rauschte, der Durchsatz kam nur stoßweise. 35
Stell’s dir als eine Art Trick vor, sagte er. Er konnte sie nur entweder ansehen oder mit ihr sprechen. Es war ihm unheimlich, wenn er mit etwas Lebendigem sprechen sollte. Etwas lebendigem Weiblichem. Er verstand den Algorithmus nicht, nach dem sie funktionierte. Das habe ich mir gedacht. Es konnte ja nichts anderes sein als ein Trick. Aber, aber, aber: Wie funktioniert dieser Trick? Das Wichtigste ist die Flüssigkristall-Hintergrundprojektion. Ein Electrolamp-Luminox-Projektor, der alternierende doppelt gepufferte Bilder auf die fünf Flächen wirft. Der Boden kommt über einen Spiegel durch ein Loch in der Decke. Flüssig?, hauchte Adie. Kristall? Glaub mir, das einzig Wahre. Alles andere ist Stümperkram. Er wand sich unter ihrem Lachen. Sie mühte sich, es zu unterdrücken. Tut mir Leid, Jackie. Das passt einfach nicht zusammen. Aber sicher passt das. Du hast Recht, LCD schmiert ein bisschen. Doppelte Konturen. Ein anständiger Elektronenstrahl wäre heller. Und die Antwortzeiten sind auch nicht ganz das, was man sich erhofft. Aber Unschärfen lassen sich schließlich durch simultanes Multirow-Addressing korrigieren … Sicher. Natürlich! Adie schlug sich mit der Hand vor die Stirn. Wo hatte ich nur meine Gedanken? Aber jetzt verrate mir eins, Jackdaw. Wie macht ihr das, dass die Blumen in den Raum ragen? Man hat das Gefühl, dass sie … irgendwie schweben. Der Junge kam ins Stocken, auf halbem Wege zwischen zwei Zähnen des Zahnrads. Er blockierte, unfähig alles zurückzuspulen, was er schon im Stapelspeicher hatte. Er blieb hängen an dem alten Sequenzierproblem, das die MultitaskingProgrammierer so liebten: Fünf Philosophen essen zusammen, aber haben nur vier Löffel. Ein Teil von ihm hatte vergessen, 36
zwischen zwei Gängen den Löffel abzulegen, den ein anderer brauchte, und plötzlich stand alles still. Jackdaw sank zusammen, die Kinnlade fiel ihm herunter bei dem, was er gerade gehört hatte. Adie sah sich durch seine Augen: eine außerirdische Lebensform. Ein konturloser intuitiver Blob. Eine vegetative Intelligenz, nicht auf Kohlenstoffbasis. Sie konnte es auf dem Gesicht des Jungen ablesen. Sie hatten keine Muttersprache gemeinsam, auch keinen Vater. Doch selbst jetzt, aus der Bahn geworfen, wie er war, konnte Jackdaw sie nicht ansehen. Sie machte ihm Angst, ihr freier, offener Blick schlimmer als der eines Gorgonenhaupts. Der Junge ließ die Hände sinken und starrte in die Tiefe des Laboratoriums. Er fuhr mit Daumen und Zeigefinger über die Abdeckung eines Kabelschachts. Sie sah ihm an, wie ein Trupp scharfsinniger Chip-Architekten eine Versammlung in seinem Kopf abhielt, Klarheit schaffen wollte, debattierte, was mit dieser Frage gemeint sein konnte. Wie viel sie wissen, die Kinder unserer Zeit. Wie sie jeden Mechanismus kennen, nur nicht das Leben. Mit einem Ruck kam Jackdaw wieder in Gang. Du meinst den stereoskopischen Effekt? Wahrscheinlich. Sie kam sich vor wie eine Göre mit Rattenschwänzen, die zeigen soll, was sie kann. Die stereoskopische Wirkung wird durch die Brille hervorgerufen. Gläser mit Blendenverschluss. Wir haben uns für eine Hundertzwanzig-Hertz-Oszillation entschieden. Alternierend linkes und rechtes Auge, jeweils mit sechzig Schlägen. Die projizierten Bilder laufen synchron zum Verschluss. Das Auge mischt die beiden wieder. Dadurch kommt das räumliche Sehen, Stereoskopie, 3-D. Das glaub’ ich nicht! Soll das heißen, das ist nichts weiter als ein großer View-Master? Hast du mir das sagen wollen? Dass 37
ich die nächsten Jahre meines Lebens in einem riesigen ViewMaster verbringen soll? Kommt drauf an. Was soll das sein, ein View-Master? Sie lachte laut auf. Du machst Witze. Hast du nie einen ViewMaster gesehen? … nie einen in der Hand gehabt? Die zwei Scheiben, die sich drehen, mit den bunten Dias drauf? Yellowstone, Yosemite? Die vatikanische Bibliothek von innen? Goofy und Micky im Urlaub? Ein Ausdruck machte sich auf Jackdaws Gesicht breit. Es war die dreidimensionale Darstellung des kalten Grausens. Mit dieser Frau stimmte etwas nicht. Sie war krank. Etwas Ansteckendes womöglich. Nimm’s mir nicht übel, sagte sie. Der reine Übermut. Ah. Verstehe. Er warf den Kopf in den Nacken, Reset, wieder betriebsbereit. Ist ja auch egal. Jedenfalls kommt unsere Wiedergabe im Augenblick noch nicht annähernd an die sechzig Bilder pro Sekunde ran. Aber das Auge kommt auch schon mit einem Dutzend zurecht, dann lässt es sich täuschen und nimmt Einzelbilder als Bewegung wahr. Beim Film sind es nur vierundzwanzig. Alles über dreißig ist also mehr als ausreichend. Er hob die Augenbrauen. Fürs Erste. Kannst du mir noch etwas erklären? Was ist der Unterschied zwischen dir und diesem Spider? Was für ein Spider? Jackdaw hackte dabei auf seine Tastatur, als schriebe er die ganze Unterhaltung mit. Ach, du meinst Lim? Der gehört zur Hardware, könnte man sagen. Ich bin eher Software. Macht das was aus? Er ist so ’ne Art Koreaner. Ich bin eher Italiener. Du bist sein kleiner Bruder, stimmt’s? Du saugst ihm die Seele aus und steckst sie in deinen eigenen Körper, wenn er nicht da ist, hab ich Recht? 38
Er war so schockiert, dass er sie beinahe angeblickt hätte. Ernsthaft schüttelte er den Kopf: Ganz bestimmt nicht. Großes Indianerehrenwort. Ihr seid alle aus demselben genetischen Material geklont. Nun gib’s schon zu. Endlich lächelte Jackdaw. Obwohl sie noch immer nicht wusste, ob er über ihre freche Bemerkung oder über etwas lächelte, das er mit seinem Hacken auf den Bildschirm geholt hatte. Aber einen Funken Software-Loyalität sah sie doch in diesem Lächeln. Der Junge würde etwas für sie tun. Kleine Gefälligkeiten, Sachen organisieren – was immer sich im Labor ergeben mochte. Und dieser Keim einer Freundschaft gab ihr Sicherheit, hier in dieser unberechenbaren neuen Welt. Es gab ihr Sicherheit zu wissen, dass sie ihn nie um etwas anderes bitten würde als um die kleinen Gefälligkeiten. Jackdaw, sagte sie. Jackie. Er zuckte zusammen bei so viel Vertraulichkeit. Du hast meine Frage immer noch nicht beantwortet. Wo kommen diese Bilder her? Wo die Bilder herkommen? Sein ganzes Gesicht arbeitete, als er versuchte, dies neueste Rätsel zu knacken. Es probierte jeden Echtzeit-Algorithmus durch, den er in seinem Speicher hatte. Wo die Bilder herkommen? Ja. Na, wir machen die, oder? Er hatte nicht einmal Hoffnung, dass er richtig geraten hatte. Nein! Das meine ich nicht! Sie sah sich auf den Boden stampfen, Rumpelstilzchen, dessen Name gerade erklungen war. Du weißt doch, was ich meine. Du meinst, mit was für Hardware wir die Grafiken produzieren? Mit welchen Computern? Ja. Wahrscheinlich. 39
Jackdaw führte sie nach hinten, und sie sah zum ersten Mal die Monstren. Die Grafikrechner der Grotte standen in einem Raum ganz am Ende des langen Mittelgangs, der Hauptschlagader des Realization Lab. Adie trottete mit Jackdaw dahin, an Flanell- und Cordgrüppchen vorüber, die beieinander standen und sich begeistert von ihren neuesten Entdeckungen erzählten, in einer Sprache, die nichts mit der ihren gemein hatte. Wer sie überhaupt wahrnahm, winkte, und alle behandelten Adie, als sei sie schon seit Jahren dabei und knüpfe an ihren paar Quadratzoll des gemeinsamen großen Teppichs. Etwas Großes, Ganzes nahm hier Gestalt an, etwas, das man nicht sehen konnte: eine gewaltige Leiche, die sie in Stücken über diese belebte Ameisenstraße zerrten. Jeder Arbeiter, an dem sie vorüberkamen, schleppte ein wichtiges Teil davon, ein Beutestück, das ein Vielfaches seines eigenen Körpers wog, eine Beute, die mehr Masse hatte als sie alle zusammen. Hallo, sagten ihre neuen Kollegen. Hallo. Ein kurzes Nicken bestätigte, dass man zusammengehört: du arbeitest hier, ich arbeite hier. Wir sind auf dem Höhepunkt unserer gemeinsamen Macht, gemeinsam werden wir im Großen Bau der Zivilisation den krönenden Schlussstein einsetzen. Jeder dieser Wissensingenieure strahlte eine glückliche Versenkung in seine Arbeit aus, die keine Worte brauchte. Es war ein Anblick, bei dem sie es mit der Angst zu tun bekam. Jackdaw führte sie zum Ende des Korridors und in ein fensterloses Hinterzimmer. Der Raum hatte eine abgehängte Decke und einen erhöhten Fußboden und war kaum weniger eng als die Grotte. In diesem Allerheiligsten fanden sie eine Frau Mitte Zwanzig, das Haar rosa und blau wie ein FabergéEi, zwischen den Reihen der Rechner auf- und abgehen, im Zwiegespräch mit dem summenden Chrom. He, sagte Jackdaw. Sue Loque. Was macht denn eine Software-Frau hier unten im Maschinenraum? 40
Die Mischung aus Signalen, die die Frau aussandte – Motorradkluft, verbrämt mit billiger Spitze –, hätte Adie selbst im blasierten New York verunsichert. Hier, wo so viele neue Regeln auf sie einstürmten, kam sie sich geradezu lächerlich normal vor. Sue Loque warf die Hände in die Luft, ein Bild der Verzweiflung. Wenn ihr Hardware-Typen die Dinger hier am Laufen hieltet, müssten wir Software-Typen uns nicht die Hände schmutzig machen. Was meinst du denn, warum ich in die Software gegangen bin? Damit ich keine Halbleiter mehr anfassen muss. Was ist damit?, fragte Adie. Die sind hässlich und giftig. Nein, ich meine, mit den Rechnern. Ach das. Na, hübsch sind die auch nicht. Sie fragen keine Daten mehr ab. Jackdaw schüttelte den Kopf. Wie meinst du das, sie fragen keine Daten mehr ab? Sie fragen keine Daten mehr ab. Auch Adie fragte keine Daten mehr ab. Anders gesagt, für die Experten hörte sie auf zu existieren, denn die beiden machten sich nun auf in das Innere der Logik, ins ewige Eis. Sie riefen Spider Lim hinzu, und zu dritt verschwanden sie im Dickicht der Leiterplatten. Adie blickte sich um. Nichts in dieser Art hatte sie je auf einem Bild gesehen. Der ganze Raum glomm, ein gespenstischer mechanischer Brutofen, voll mit all den verborgenen Falltüren einer Frottage von Max Ernst. Doch so komplex er war, war er doch seltsam steril: so still und glatt und unheimlich wie ein türkisblauer Swimmingpool von Hockney. Scham und Staunen tanzten in ihren Gedanken einen 41
Twostepp. Dieser Raum war die unglaublichste Leistung ihrer Zeit, ihre Druckpresse mit beweglichen Lettern, ihre Karracke und Karavelle, ihr Heuwagen, ihre hängenden Gärten, ihre Basilika. Diese unauffälligen summenden Kästen beherbergten das Fantastischste, das Großartigste, das der kollektive Verstand der Menschheit bisher zustande gebracht hatte. Darin verbarg sich der tiefste Traum, das größte Tabu, alles, was die Menschen aus sich zu machen versuchten. Aber die Kunst war, nach allem, was Adie bisher gesehen hatte, Hals über Kopf davor geflohen, Rückzug auf der ganzen Linie, in die schöne sichere Burg der Verachtung, wo sie die Wunden ihrer Niederlage lecken konnte. Sie versuchte sich die arkadischen Landschaften auszumalen, die sich in diesen Kästen verbargen. Aber weiter als bis zu einer vagen Idee von Signalketten kam sie nicht, von Wellen und Wellentälern, die sich durch enge Silikonschleusen zwängten, und jede löste wieder eine neue Kaskade von Signalen aus. Diese Signale reihten sich aneinander, unzählige Punkte in einem kosmischen Halbtonverfahren, die Hämmer einer Trillion von Pianolas, die exakt berechneten Stifte auf der Trommel einer galaktischen Spieluhr. Die Schaltkreise ließen eine Megabit-Kapelle aufmarschieren, deren Musikanten für alles nur Erdenkliche stehen konnten: einen Kontoauszug, ein Flugticket, ein Foto, ein Lied, einen Brief von einem Freund, alles beweglich, alles veränderlich, alles vom einen ins andere zu wandeln. In einer anderen Zeitdimension kamen Software und Hardware siegreich wieder hervor, den zur Strecke gebrachten Drachen des Programmfehlers zwischen sich. Habt ihr ihn?, fragte Adie. Wir kriegen sie immer, erklärte Lim. Nur eine Frage der Zeit. Und eilte zum nächsten Timeshare-Notfall. Wer war der Maskierte?, fragte Sue. 42
Jackdaw grinste, den Blick auf eine sichere Stelle zwischen den beiden Frauen gerichtet. Tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat. Na, hier haben wir es jedenfalls. Das Gehirn, von dem alles gesteuert wird. Die Höhle des Löwen, fügte Sue hinzu. Soll das heißen, alle Bilder kommen von … hier? Die ganze Buntstiftwelt steckt in diesen fünf Computern? Sue schnaubte. He, das mag ich nicht, warnte Adie. Sue machte eine Handbewegung, halb entschuldigend, halb wegwerfend. Sie legte ihren Arm um Adies Schulter; es sollte freundlich sein, aber es wirkte eher, als ob jemand auf eine Sprühflasche drückt. Adie hätte ihr am liebsten einen Hieb versetzt, aber wenn es hart auf hart ginge, käme sie gegen diese Frau nicht einmal mit Jackdaw zusammen an. Alles da drin, Schätzchen. Alle Bilder dieser Welt. Alle Bilder, die man sich vorstellen kann oder je vorstellen wird. Wir müssen nur noch dahinter kommen, wie man sie rausholt. Wie heißen sie? Die Maschinen? Jackdaw witterte seine Chance. Das sind natürlich alles original TeraSys-Grafikrechner. Ursprünglich sind es 3Dbeschleunigte Power Agate-Server, mit einer Reality Engine für jede – Ich meine, was haben sie für Namen? Namen? Adie schüttelte den Kopf: Wie konnte man etwas so Wichtiges vergessen? Gut, dann nennen wir diesen hier Da Vinci, einverstanden? Leonardo war doch genau so ein Technikfreak. Unterseeboote, Spiegelschrift und so weiter. Den hier nennen wir Claude. Schließlich wollen wir ja Landschaften hektarweise malen. Den taufen wir Xie He, Verkünder der Sechs Prinzipien … Jackdaw räusperte sich. Ist das so was wie die sechs Stufen 43
der Freiheit? Und einer muss Rembrandt heißen. Weil Rembrandt sein ganzes Leben dem Spiel von Licht mit Schatten gewidmet hat. Und den Letzten sollten wir Picasso taufen, weil er – Fast ein Jahrhundert lang alles aufs Kreuz gelegt hat, was Beine hatte?, schlug Sue vor. Jackdaw fuhr bei der Obszönität zusammen. Er schlurfte zur Tür, in Sicherheit. Dann sollten wir sehen, dass wir weiterkommen. MUSS noch den Z-Order-Filter fertig machen … Sue folgte ihm hinaus. Na, hoffentlich macht Rembrandt nicht wieder schlapp, vor der Rückübersetzung morgen. Siehst du, sagte Adie. Wie nützlich es ist, wenn man weiß, wie sie heißen? Sue schnaubte wieder, der Laut, den Adie nicht ausstehen konnte. Tiefer drinnen diesmal. Ach, was liebe ich euch Tussis von der Kunstakademie. Ihr gebt dem ganzen weiblichen Geschlecht so ein – wie sagt man – gewisses Flair. Sie könnten sich zusammentun, die Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts. Die eine, die wusste, wie man aus diesen Kästen jedes Bild herausholen konnte, das man haben wollte. Und die andere, die wusste, welches Bild das war. Sue, bat Adie ihre Kollegin mit den blauroten Haaren. Kannst du mir zeigen, wie man mit diesen Dingern zeichnet? Adie Klarpol und Sue Loque standen nebeneinander, vor sich die Wand der Grotte. Jede hatte eine dieser albernen 3-DBrillen übergestülpt. Adie hatte am Rande ihres Gesichtsfelds ein Rautenmuster, das übliche Flimmern, hervorgerufen durch die Überlastung des Systems. Sue trug die Steuerbrille, deren Kabel jede Reaktion ihrer Augen verfolgten. An der Wand vor ihnen nahm auf dem jungfräulichen Weiß 44
ein Lorbeerzweig Gestalt an. Er hing in der Luft, die Blätter raschelten in einem Wind, den sie nicht spürten. An der linken Wand blätterten sich die Menüs auf. Die übrigen Wände der Grotte gaben ihnen schwarzen Kontrast, der Ruß unzähliger digitaler Lagerfeuer. Der Zweig vor ihren Augen war aus einem Samen in Adie Klarpols geistigem Blumenkasten gewachsen. Die Buntstiftwelt hatte den Quell der Bilder in ihrem Inneren wieder zum Sprudeln gebracht. Sie hatte einfach sehen müssen, wie eine Knospe entstand, vom Samenkorn an. Deshalb hatte sie sich mit ihren Grafikerkollegen zu einer Reihe von Unterrichtsstunden versammelt, in denen sie lernen sollte, wie virtuelle Blätter entstehen. Lass einen Gummibaum wachsen, hatte sie zu Spiegel gesagt. Zeig mir die Luftwurzel eines Philodendrons. Ihr schwebte eine Oberfläche vor, so üppig und reich wie die Sonne, die sie hervorbrachte. Alles, was über einen kritzeligen Buntstiftstrich hinausging, hätte ihr fürs Erste schon genügt. Hier, wies sie ihren gefallenen Dichter Stevie an. Etwas in dieser Art. Und sie hielt dem Softwarewolf ein Bild in einem Buch hin. Es war ein einfältiges buntes Bild. Überall Blätter: ein regelrechter Dschungel. Aber es waren keine Blätter, wie sie an Bäumen wuchsen, jedenfalls nicht in den Ländern, in denen Spiegel und Adie je gewesen waren. Ein Gewirr von Stängeln, Früchten, Blüten – Gewächse aus dem Reich der Fantasie. Und zwischen den Blüten eine nackte weiße Frau, ausgestreckt auf einem Sofa, das so gar nicht in den Dschungel passte; eine Frau, die den Tönen eines ebenholzschwarzen Flötenspielers tief im Unterholz lauscht. Spiegel starrte die bleiche Sonnenanbeterin an – zweidimensional, unnatürlich –, versunken in Erinnerungen. Schließlich sah er wieder auf, brach den Bann des Bildes. Er 45
sah auf zu den ihn umringenden Schülern und sprach, als sei keine Nackte im Raum: Wir haben verschiedene Möglichkeiten, ein Blatt aufzubauen. Am einfachsten geht es mit schlichter Trigonometrie. Spiegel hämmerte an einem Terminal einige kurze Formeln ein. Aus der algebraischen Kurzschrift entstanden die Punkte einer Kurve. Er schnitt ein konisches Segment aus und fügte Zacken an den Kanten ein. Er definierte ein braves Polynom, mit dem er Breite, Höhe und Länge definierte. Das X, das willige Y, das spröde Z. Bildwiederholspeicher warfen die gewonnene Zeichnung dann auf einen Schirm, damit alle es mitverfolgen konnten. Künstler und Ingenieure schwebten durch den Raum, in dem Steves Formen sich drehten. Jedes Mal, wenn der kleine Finger der rechten Hand die Eingabetaste berührte, verwandelte sich der Schirm in einen munteren Spirografen, aus dem die Blätterpracht nur so hervorquoll. Lünetten, rief Michael Vulgamott, der Architekt. Spandrillen. Maßwerk. Auch er ein Gestrandeter aus Gotham City, das hörte Adie an der Stimme. An manischen, zitternden Fingern zählte er die Begriffe ab, als stehe er an einer Kreuzung in Midtown Manhattan und versuche, einen Thesaurus anzuhalten. Bei seinen Worten gerieten die buschigen Brauen von Ari Kaladjian, dem Mathematiker, vollends in Aufruhr. Kardioide und Trikuspidale nennt man so was, Blattkurven. Das pascalsche Limaςon. In der algebraischen Flächengeometrie gibt es solche Kurven seit mindestens zweihundert Jahren. Kaladjian war vor dem Chaos des Planeten in die Sicherheit der Mathematik geflüchtet, und er hatte nicht vor, diesen sicheren Hafen den Wirrköpfen zu öffnen. Spiegel wandte sich immerhin lang genug von seiner Tastatur ab, um mit den Schultern zu zucken. Nennt sie, wie ihr wollt. Das sind Grundbegriffe der Grafik. Euklid ist der Vater aller 46
Kunst. Na, da gibt es aber einige Vaterschaftsklagen, meinte Adie. Ich liebe meine Frau, flüsterte Sue Loque dramatisch. Aber dieser Euklid! Wieso fangen wir mit Formeln an?, fragte Vulgamott. Was haben wir davon? Kaladjian schnaubte. Alles fängt mit Formeln an. Spiegel sprach geistesabwesend, ganz Programmierer. Nichts auf der Welt lässt sich so schnell und einfach realisieren wie planimetrische Kurven, und man kann Trillionen davon machen, allein durch die Iteration von ein paar Formeln. Wasser in der Wüste?, spottete Adie. Blühende Landschaften? Ja. Etwas in dieser Art. Spiegel lächelte sie an, immun gegen ihre Wut, die er noch von früher kannte. Sie betrachtete seine geometrischen Blätter und runzelte die Stirn. Wo ist denn nun das Blatt? Ich sehe nichts, was auch nur entfernt dem Rousseau ähnelt, den du als Vorlage nehmen solltest. Am ehesten sehen sie noch aus wie ein Calder-Mobile, das unter ein Auto gekommen ist. Da ist der Schwachpunkt, wenn man die Blätter aus Algorithmen generiert. Sie sind nicht echt. Die Komplexität der Natur geht verloren, man tauscht sie ein gegen etwas, das einfacher und schneller ist … und viel zu geometrisch. Viel zu vollkommen. Zu vollkommen!, rief Kaladjian. Es kann gar nicht vollkommen genug sein! Wo sind die Schatten und die Abstufungen? Adie fühlte sich betrogen. Die müssten wir noch hinzufügen. Spiegel zeigte ihr, wie es ging. Ein paar Kommandos in einem Schattierungsprogramm sorgten für die raue, wie mit dem Bleistift gezeichnete Illusion 47
von Oberfläche. Ha, sagte Adie, als aus der Kardioide die Schraffur entstand. Ha. Damit wären wir Miro drei Babyschritte näher gekommen. Moment! Geh noch einmal ein Stückchen zurück. Da. Versuch mal die ausgefransten Kanten in Bonnard-Orange. Mathematik und Kunst verstummten beide angesichts der Schnelligkeit, mit der Spiegel eine Krepppapiernelke aus dem Zylinder des Programms zauberte. Adie machte einen Schmollmund. Mit einer Handbewegung versuchte sie zu bremsen, die ausgestreckte Hand, die ihren Sturz auffangen sollte. Soll das heißen … mit ein paar Zahlen … kann man falsche Blätter dazu bringen, wie echte auszusehen? Mit ein paar Zahlen, knurrte Kaladjian, sehen sogar echte Blätter echt aus. Spiegel kam ihr zu Hilfe. Ich glaube, so hat sie das nicht gemeint. Was zum Teufel meint sie dann? Kaladjian fuhr mit der Hand durch die Luft, angewidert, ein Sensenhieb. Spiegel blickte Adie an. Ja, was meint sie denn zum Teufel? Weiß der Himmel. Ich hatte gehofft, dass ich hier etwas darüber erfahre. Was ich wissen möchte: Diese Formeln, dieser Kosinus, stecken die wirklich in den Pflanzen? Kaladjians Aber ja und Spiegels Eigentlich nicht prallten auf halbem Wege aufeinander. Der Jüngere, aus der jüngeren Disziplin, gab nach. Nun. Das kommt darauf an, was du mit »in« meinst. Etwas in Spiegels Ton gab zu verstehen, dass keine noch so lange Reihe von Prozessoren, nichts, was kleiner war als der ganze Planet, hoffen konnte, die vollkommene Formel aus dem unvollkommenen Grün zu destillieren. Zeig uns, wie die Adern hineinkommen, sagte Karl Ebesen. Er 48
musterte die Blattentwürfe mit den Augen des Grafikers. Wie wär’s mit ein paar braunen Stellen, ein paar Wurmlöchern? Die Spuren des Lebens, die Seidenblumen niemals nachahmen. Spiegel machte weiter, überzog die synthetische Oberfläche mit immer feinerer Struktur, immer neuen Nuancen. Mehr Realismus bedeutete Verzicht auf die einfachen Polynome; die Zahl der Polygone stieg ins Unermessliche. Hier, zeigte er seinen Schützlingen und wies auf das bunte Dschungelbild. Hier, und er hielt mit seinem Finger einen sicheren Abstand von den bleichen Brüsten der Frau. Hier, diese Gruppe … Feigen, sprang Adie ein. Ich glaube, das sind Feigen. Das soll ein Feigenbaum sein? Das da? Na gut. Sagen wir, es ist ein Feigenbaum. Aus diesem Büschel Feigenblätter machen wir tausend kleine Trapeze. Jeden Zacken und jede Falte setzen wir aus winzigen Dreiecken zusammen, und zwar in jede Ebene gedreht, auf die es uns hier ankommt. Ein Drahtmodell sozusagen? In seinem früheren Leben als Architekt hatte Vulgamott zahllose Entwürfe am Schirm gezeichnet – blasse Pei-Imitationen, Monolithe, zerlegt in mehr CAD-Raster, als man mit dem Kurvenlineal platt schlagen konnte. Drahtmodell. Skelett. Nenn’s, wie du willst. Elementare geometrische Formen: Dreiecke, Polygone. Der dreidimensionale Effekt kommt, wenn man die verdeckten Kanten löscht. Tausendmal echter. Aber tausendmal langsamer. Tausendmal schwerer aufzubauen. Adie räusperte sich. Das Zeichnen sollte eigentlich nicht das Problem sein. Deshalb sind wir ahnungslosen Engel doch dabei. Nein, nicht schwerer für euch. Schwerer für die Grafikrechner … Rembrandt und Claude und Xie He. Zehn Videokanäle, in Echtzeit. Wir sprechen von Systemzeit, die das Rendering braucht. Jedes Objekt, das wir zeigen wollen, ist 49
eine ganze Welt. Ein ganzes Ökosystem aus Polygonen für jede Fassette. Je besser es aussehen soll, desto kleiner die Polygone; am Ende besteht ein komplexes Objekt praktisch nur noch aus Schnittpunkten. Hunderttausende von Eckpunkten, und dann bist du ganz schnell an dem, was die Hardware dir als Limit setzt. Könnten wir nicht einfach ein echtes Blatt von allen Seiten aufnehmen? Sicher. Aber das Bild müsstest du immer noch in Daten umsetzen. Und zwar von Hand sozusagen. Wieso das?, fragte Adie. Warum soll man ein Bild zerstückeln, wenn man es auch ganz haben kann? Na weil, hob Spiegel an und ließ den Gedanken durch den eigenen Arbeitsspeicher laufen, wie Laub das Sonnenlicht filtert. Weil dein Blatt doch echt aussehen soll. Es soll sich bewegen. Wir wollen damit arbeiten. Wir wollen es Schwerkraft, Feuer, Wind aussetzen. Aus einem Foto von einem Blatt läuft nicht der Saft, wenn es zerreißt. Wir brauchen einen Klon, der alles macht, was das Original macht. Er muss Regenwasser aufsaugen, er muss in der Sonne schrumpeln. Braun werden, wenn der Winter kommt. Weniger als das war für die Grotte nicht gut genug. Zu jeder Welt aus Polygonen gehörte ein Katalog von Eigenschaften: biegsam, fleischig, feucht, brennbar, zerbrechlich, straff … Und diese Eigenschaften waren wiederum verantwortlich dafür, wie ein Objekt im Zwielicht funkelte, wie es alterte, sich veränderte, wie es schwamm auf der See der Gesetzmäßigkeiten, die es umgaben. Jedes vollständig nachgebildete Objekt wurde zur Maschine. Und jeder Wandel in den Eigenschaften des Objekts veränderte auch die Art, wie diese Maschine funktionierte. Blätter programmierten das Licht, das auf sie fiel. Und jede Spur, die das Licht hinterließ, floss wiederum in das Programm ein. Ein 50
Zweig in der Luft modellierte den Wind, der es bewegte, und der Wind bog den Zweig mit der Kurve, die er selbst bestimmte. Denn letzten Endes gab es keinen Unterschied zwischen Eigenschaft und Verhalten, zwischen Daten und Befehlen. Was für ein Wunderwerk ein Bild doch war – wie viel es umfasste. Ganze Bibliotheken hätten die Informationen nicht fassen können, die in einer einzigen Straßenkarte steckten. Die Leute aus der Abteilung Art & Design spürten das instinktiv, denn ihr Leben lang hatten sie Dinge angesehen. Die Masse eines Objektes, die Art, wie es sich anfühlte, die Summe der Scharten und Flecken, die Summe all seiner Bewegungen, all dessen, was mit ihm geschehen war: Im Teleobjektiv trafen sich all diese Strahlen in einem einzigen Brennpunkt, gemäß dem Plan des Schöpfers. Doch all das kannte die Kunst nur unter anderen Namen, anderen Methoden, die verloren gingen, wenn man sie übertragen wollte … Spiegel kam zur Sache. Es gibt auch noch eine andere Möglichkeit, ein Blatt zu machen. Die älteste überhaupt, auch wenn sie für uns noch ziemlich neu ist. Wir können die Eigenschaften eines Blattes aufbauen, genau wie es bei einem echten Blatt geschieht. Wir lassen es wachsen. Es brauchte noch mehrere Sitzungen dazu, aber er zeigte ihnen, wie man ein Blatt wachsen ließ. Er entwickelte genetische Algorithmen: fraktale, rekursive Codes, die aus ihrem eigenen Embryo gekrochen kamen. Er hegte ihren Sprössling, ein Johnny Appleseed mit RAM-Cache. Mit immer neuen Rechenschritten düngte er das zarte Gewächs, bis es Gestalt in einem lebendigen Zweig annahm. Seine Befehle beschworen jetzt keine Objekte mehr, sondern Prozesse. Das Blatt war kein Konstrukt mehr, es wuchs und verästelte sich nach den Regeln der Natur. Nichts anderes als physikalische Gesetze ließen diese Palisadenreihen entstehen. Das Drängen des Blattstiels, der 51
Schlund der Spaltöffnungen, die auf engstem Raum gepackten Chloroplasten und Cuticula, die Blattadern: der ganze Zweig mit all seinen Verästelungen entwickelte sich, so willkürlich es auch schien, aus verborgenen Naturnotwendigkeiten. Das Ad-hoc-Komitee aus Künstlern und Technikern testete seine diversen Züchtungen im Gewächshaus der Grotte. Die Schwärze, in der diese grafischen Urformen schwammen, war noch nicht die Luft. Die Ebenen des Blumenkastens begrenzten noch kein Volumen. Die Wände der Grotte waren nicht einmal leer. Sie waren das, was vor der Leere kam. Doch in diesem zweidimensionalen Nichts, vor der Mittellinie des vorderen Schirms, hing ein wirbelndes Blatt. Und da standen Adie und Sue nun, Schulter an Schulter im Simulator, wo ihr Lorbeerzweig sich im lautlosen Lüftlein wiegte. Adies Blick folgte den Drehungen des Kranzes, Sue legte den Kopf schief und manövrierte sich durch eine Kaskade von Menüs und wählte die Befehle mit einem Zwinkern ihrer vom Laser beobachteten Augen. Mit einem Doppelzwinkern wählte sie »Helligkeit« aus einem Menü mit der Aufschrift »Farbabstimmung«. Die plastische Darstellung eines Schalters erschien vor ihnen wie aus dem Nichts. Er bewegte sich genau wie ein echter Schiebeschalter, nur dass eine Kopfbewegung Sues genügte, ihn zu dirigieren. Sie schob den Regler ganz nach links. Der Lorbeer wurde schwarz, buchstäblich im Augenblick. Jede Falte, jede Ader, versank im Schatten. Düsternis legte sich über die Pflanze. Mit einer weiteren Kopfbewegung schob Sue den Regler zum anderen Extrem und tauchte den Zweig ins gleißende Licht der Mittagssonne. Tja, da hätten wir ein neues Blatt aufgeschlagen, was? Verrückt, antwortete Adie. Unglaublich. Was haben die Zahlen zu bedeuten? Wie viel ist minus 170? Was heißt plus 52
190? Die sind willkürlich. Die Skala reicht von Null bis 255. 255? Ihr seid wirklich Okkultisten hier, weißt du das? Alles binär, Schätzchen. Spar mir die Erklärung. Sue drehte den rotblauen Kopf, zog die rubingeschmückten Brauen zusammen und probierte die Einstellungen eine nach der anderen durch. Sie rief Regler für Kontrast, Farbsättigung und Farbton auf. Der Lorbeer wandelte sich zu üppigen Narzissen und Hyazinthen. Er wurde abstrakt wie eine Lithografie der Jahrhundertwende. Er schillerte wie in einer grellbunten Waschmittelwerbung. Die beiden Farbkanäle lassen sich jeder für sich einstellen. Wir können auch an einem Balkendiagramm spielen oder es in einer Kurve darstellen lassen. Adie sah ihre Kollegin ehrfurchtsvoll an. Allmählich fand sie, dass die Papagenafedern doch zu Sue Loque passten. OK. Ich glaub’s dir. Immer ein Fehler. Hier. Schau dir das an. Aus einem Menü mit der Aufschrift »Transformieren« wählte sie »Vortex«. Sue zwinkerte, und der Lorbeerzweig verschwand in einem Strudel kartesianischer Kurven. Er wrang sich aus wie ein nasses topologisches Putztuch. Und noch immer drehte er sich in der mythischen Finsternis. Nicht! Liebe Güte, was hast du angerichtet? Jetzt hast du ihn verdorben. Er sieht furchtbar aus. Halb so wild, Schätzchen. Noch nie gehört? Alles, was man macht, lässt sich auch wieder rückgängig machen. Nur ein einziges Zwinkern, und der Zweig war wieder wie neu. Bitte sehr. Alles heil. Unbefleckt von Menschenhand. Ein paar Kratzer bekam Adie von der Idee; es war, als fiele eine Partie Ziegelsteine von einem Baugerüst und erschlüge den Fußgänger vor ihr. Aber mit einem Schlag begriff sie, 53
warum der Verstand es gar nicht abwarten konnte, digital zu werden. Warum er diesen Ort so dringend brauchte, an dem es für jeden Aberwitz einen Knopf namens »Rückgängig« gab. Sue Loque bog und zerrte und knickte den armen Zweig, bis die Blätter nicht einmal mehr für einen welken Salat getaugt hätten. Sie verdrehte den Lorbeer zu Eiche, zu Ahorn. Jede Verzerrung schuf neue Parameter und Permutationen, so viele, dass sie gar nicht alle verfolgen konnten. Adie sah zu, wie ihre erfahrene Navigatorin zur Abteilung »Rahmen und Schattierungen« steuerte. Blätter wandelten sich an der Wand der Grotte zu einer gestrichelten Linie. Die gesprenkelte Oberfläche aus tausend Grüntönen verschwand im reinen Umriss, der in der imaginären Brise flatterte. Fläche reduziert zu einem Hauch von Form, einer Pfeifenreinigerskulptur, durch die Adie ihre Finger stecken konnte. Ich weiß nicht. Ich komme da nicht mehr mit … Warte. Es wird noch schlimmer. Die Natur will nicht, dass wir solche Sachen machen. Das ist nicht gut für uns. Sue Loque sah sich dieses Geschöpf aus der Vorzeit näher an. Sie spielte mit den Ketten an ihrem nietenbesetzten Rock. Das darf doch nicht wahr sein. Du hast noch nie mit einem Computer gearbeitet? Adie warf entsetzt den Kopf in den Nacken. Diese vielen kleinen Märchenprinzessinnen in Pastell, die sind doch von dir? Das sind sie, Sue. Von Hand. Jede einzelne. Du erinnerst dich noch an die menschliche Hand? So wie diese hier? Sie griff nach ihr. Unwillkürlich trat Adie einen Schritt zurück. Sue lachte, und wieder schnaubte sie, als sie sah, dass die Künstlerin rot wurde. Du hast nie Monday 54
Night Football gesehen? Die Cartoons am Samstag? Solche Sachen sieht man doch in jedem Werbespot – Wieder ein entsetztes Kopfschütteln, Ich habe keinen Fernseher. Na, was sagt man dazu! Was sind wir intellektuell! Warte nur, bis die bösen Buben von TeraSys dahinter kommen, wen sie da angeheuert haben. Adie nahm sich zusammen. Was sie nicht wissen, tut ihnen nicht weh. Oh, das dauert nicht lange, dann wissen die alles. Und weh tut denen sowieso nichts. Sue machte Schritt für Schritt rückgängig, verfolgte ihren ganzen Weg zurück. Aus dem Pfeifenreiniger machte sie wieder den ursprünglichen Zweig. Die tausend Grüntöne kehrten aus dem Exil zurück, in das sie die Transparenz für kurze Zeit verbannt hatte, und im Kontrast wirkte die Mimikry des Lebens nur umso echter. Also, Zuckerpüppchen. Klapp deinen virtuellen Fernsehsessel aus und lehn dich zurück. Bist du bereit? Wohl kaum. Soll ich noch eine Minute warten? Eher ein Leben. Ts, ts, machte Sue. Immer schön cool bleiben, kleine Pfadfinderin. Los geht’s. Fangen wir mit »Aquarell« an. Sie zwinkerte das Wort an, und der Befehl wurde ausgeführt. Was sie sahen, war nicht das Bild eines Aquarells von einem Lorbeerzweig. Es war ein Aquarell, bis in die feuchten Fasern des virtuellen Hadernpapiers hinein. Bis hin zu den simulierten Farben, die ineinander liefen, den unvollkommenen Strichen des verklebten Kamelhaarpinsels, der es gemalt hatte, auch wenn dieser Pinsel außerhalb der Softwarebibliothek nie existiert hatte. Alles war vollkommen: die Farbpalette, das halbtransparente 55
Matt, die verschwommenen Konturen, die Kleckse aus jadegrüner Tusche, die ineinander liefen wie Spiegeleier in einer zerbeulten Pfanne. Auch in dieser neuesten Inkarnation des Blattes blieben alle Unebenheiten und kleinen Fehler der Ausgangsform erhalten. Nur dass sie jetzt wie linkische, von Hand gemalte Parodien des Originals erschienen. Das Blatt bebte vor Adie an seinem Stängel, Kopie einer Kopie, Entfremdung einer entfremdeten Form. Hilf mir, flehte Adie, entsetzt und begeistert zugleich. Ich ertrinke. Kein Problem. Sofort wieder auf dem Trockenen, Boss. Was soll es sein? Pastellkreide? Wachsmalstift? Conte? Radierung? Oder hier hätten wir noch was ganz Besonderes: Buntglas. Ein Zwinkern, und der Lorbeer zerbarst zu den bleigefassten Plättchen eines im Raum schwebenden Lanzettenfensters in kühlem Chartresblau. Sie spielten wie kleine Mädchen, die auf dem Speicher einen alten Sekretär gefunden haben, bei dem alles noch in seinen Fächern steckt. Öl und Patchwork, Papierschnipselmosaik und Stickerei, Spachtelauftrag, Alufolie, Fresko. »Animierte Höhlenmalerei«? Was um alles in der Welt …? Wie in Lascaux. Den Namen hab ich mir einfallen lassen. Das ist von mir. Von dir? Moment mal. Soll das heißen, du schreibst …? Aber sicher. Was dachtest du denn? Dachtest du, ich bin hier nur das Dummchen, das ein paar Turbopascal-Kommandos eintippt? Und alles reine Mathematik, rezitierte Adie. Nichts weiter als – das größte Malen-nach-Zahlen-Set des Universums. Prinzesschen, ich würde dir ja um den Hals fallen und so weiter. Aber du musst dich schon ein bisschen am Riemen reißen, sonst schaffen wir’s nie über die Ziellinie. 56
Heißt das, es gibt noch mehr? Es gibt immer mehr. »Mehr«, das ist das, was wir hier machen. »Mehr« ist das Endprodukt von dem Laden hier. Immer gab es noch einen Unterpunkt, immer einen weiteren Zweig zu dem, auf dem sie standen, bis schließlich der immer weiter wachsende Baum den ganzen Hain ausfüllte. Untermenü Art Effects. Untermenü Filter. Untermenü Künstlerstile. Pointillismus. Seurat. Ihre gezüchteten Blätter schillerten wie etwas von der Grande Jatte. Die Ähnlichkeit war geradezu angsteinflößend – ein buntes Blatt, gemalt mit dem exakten Mittelwert jedes Farbtupfers, den der Maler im Laufe seines Lebens auf eine Leinwand gebracht hatte. Himmel! Ich kann es nicht glauben. Sue führte ihren stolpernden Lehrling durch ein Pantheon der Stile. Sie probierten Maler, wie Teenager in einem Laden Jeans anprobierten. Giotto machte aus dem Grün kreidige Saphirsplitter. Das Caravaggio-Blatt verdunkelte sich zu tenebrismo. Van der Weyden glitzerte, leuchtend und klar. Rothko schuf einen ganzen Wald von Grüntönen aus dem einen monochromen Block. Künstler, die nie im Leben ein Blatt gemalt hätten, taten es nun in perfekter Parodie ihres blattlosen Lebenswerks. Adie stand in der Grotte, starr, auf halbem Wege zwischen Verzückung und Verzweiflung. Wer hat das alles geschaffen? Wie meinst du das? Wir zwei, jetzt eben. Du hast doch zugesehen. Nein, ich meine, woher kommen diese Programme? Wer hat … Rothko geschaffen? Caravaggio? Ach so. Na, das waren auch wir. Wir? Wir. Ich, Acquerelli, Rajasundaran, Spiegel … 57
Spiegel? Der Spiegel, den ich von früher kenne? Hat denn jeder von euch mehr Ahnung von Malerei, als ich von Computern habe? Schau mal hier, kommandierte Sue. Als ob Adie noch hätte wegsehen können. Sue zwinkerte sich voran, mit knappen, zielgenauen Blicken. Wir können einen Poussin-Busch nehmen und ihn mit einer Rubens-Palette einfärben. Und das Ganze mit Mary Cassatts Pinselstrichen. Nicht. Bitte. Versteht ihr denn nicht? Das Besondere an diesen Menschen ist doch … Dass man sie nicht auf eine Formel reduzieren kann? Ja, sicher, da haben wir uns auch Gedanken gemacht. Aber hier, mogelte Sue sich an der Frage vorbei, hier, den kennst du bestimmt. Adie erkannte ihn auf den ersten Blick. Und der Nächste war noch offensichtlicher. Eine kleine Aura flammte auf, gleich hinter dem linken Auge. Der Vorbote einer Migräne von solch überirdischen Ausmaßen, dass sie die nächsten zehn Stunden im Bett verbringen würde. Gauguin, rief sie. Ich muss Gauguin sehen. Heimlicher Schwarm von dir? Oder hat der irgendwie besonderes Talent für Blätter gehabt? Adie schwieg. Der brennende Wunsch hatte nichts mit der Technik des Mannes zu tun. Sie musste die Farben hinter dem Panorama mit dem grimmigen Namen sehen, dem Namen, der so überdimensional war wie das Bild selbst: Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? Zu ihrer Erleichterung war der Gauguin nicht perfekt. Ich habe schon bessere Gauguin-Imitationen in Kreuzfahrtbroschüren gesehen. Sue wieherte. Erzähl mir mehr. Wir haben diesen tollen Filter geschrieben, und hinterher wussten wir nicht, nach wem 58
er aussieht. Marc, erklärte Adie. Franz Marc. Wenn die Expertin das sagt. Sue öffnete eine C-Shell und beschriftete das Menü neu. Aus Gauguin wurde Marc, noch leichter, als es im wirklichen Leben geschehen war. Kannst du uns einen anständigen Gauguin programmieren? Wir fangen mit diesem hier an und drehen an den Parametern, bis es stimmt. Soll das heißen, ich kann malen wie jeder, der mir einfällt? In jedem erdenklichen Stil? Mit der Hand jedes einzelnen Künstlers in der Geschichte der westlichen …? Cool bleiben, Prinzesschen. Was wir beschreiben können, können wir auch reproduzieren. Den Rest der bewilligten Rechnerzeit spielten sie noch weiter, dann kam Sybil Stance mit der Klimamodelling-Gruppe und warf sie hinaus. Als Adie und Sue die Grotte verließen, war aus ihrem Lorbeerzweig der Zwilling jenes Bouquets geworden, das auf Rousseaus Traum hinter dem Sofa zu sehen ist. Ein Blumenstrauß, der nicht existiert hatte, bis sie ihn pflückten und dorthin stellten. Die Belegschaft der Schule verbreitet einen nervösen Optimismus, den niemand durch viele Worte aufs Spiel setzen will. Du bekommst die übliche Führung, wie alle Neuen. Sie überlassen es dem Chauffeur, dich einzuweisen – das Wort orientieren wird allseits taktvoll vermieden. »Ich fahre Sie überall hin, Mr Martin. Sie sagen, ich fahre.« Er zeigt dir im geschlossenen Wagen eine wieder hergerichtete Hauptstraße. Ringsum erwachen die Geschäfte zu neuem Leben. Ihr kommt durch das Bankenviertel, vorbei an den Souks unter freiem Himmel, und überall sind wieder Menschen. Die anti-osmanischen Statuen auf dem Platz der 59
Märtyrer scheinen fast frei von Einschusslöchern, zumindest aus der Ferne. Ihr fahrt auf der Corniche an der Riviera spazieren, immer so, dass ihr nicht an die Kontrollpunkte kommt. Hie und da ragen Stahlträger aus den aufgerissenen Flanken zerbombter Gebäude, umhüllt von einem Schleier aus Betonstaub. Balkone bröckeln von Hochhausfassaden wie ausgedörrte Wespennester. Auf den noch heilen flattert frisch gewaschene Wäsche, strahlend weiße Fahnen in der levantinischen Sonne. Das ist das Paris des Ostens, die einstmals mondäne Orchidee des östlichen Mittelmeers. Vorbei an den Trümmern der Rue des Banques zu einer palmengesäumten Plaza an der türkisblauen Bucht. Nach einer Viertelstunde hebt der Chauffeur die Arme, die Handflächen nach oben gekehrt, entwaffnet. Sehen Sie? Alles ruhig. Man kann hier wieder leben. »Wo führt diese Straße hin? Nein, die da.« »Ha. Nicht gut, Mr Martin. Sehr langweilig. Nichts zu sehen.« »Können wir da hineinfahren? Ich möchte nur mal kurz einen Blick werfen.« »Später vielleicht. Inschallah.« So Gott will. Als müsse man Wunden verbergen, wenn sie heilen sollen. Aber du siehst es auch so. Siehst, was deine Freunde daheim längst wussten, noch vor deiner Abreise. Siehst, was du halb leugnen wolltest und doch halb gesucht hast. Direkt hinter der Elfenbeinfassade, direkt unter dem schimmernden Amethyst bombt sich diese Welt noch immer in Schutt und Asche. Es ist nicht zu überhören, das Grollen, das die Hügel von Metn zurückwerfen. Eine Kugel pfeift über eure Köpfe, so nah, dass selbst dein Führer zusammenzuckt. Dieser Krieg ist noch nicht zu Ende. Dieser Krieg wird niemals enden. Aber das 60
Grollen klingt wie der Donner in einem Zeichentrickfilm. Wie wenn man ein Stück Leinen über eine Sperrholztrommel zieht. Die Explosionen sind für dich nicht gefährlicher als das Rattern einer Anzeigetafel. Kraftlose Detonationen, harmlose Erschütterungen verglichen mit deiner Flucht aus Amerika. So ein Leben auf dem Pulverfass hat wirklich viel für sich, vorausgesetzt dein Fahrer kennt einen sicheren Weg zurück in die uneinnehmbare Festung des Schulgeländes. In einer Stadt, die sich selbst zerfleischt, kann man sich über Mangel an Abwechslung nicht beklagen. Die folgende Woche beschert dir eine Explosion, bei der zum ersten Mal die Zähne klappern vor Angst. Die Panik geht vorüber, und hinterher fühlst du dich lebendiger als in all den Monaten zuvor. Artilleriefeuer, eine Rauchwolke am Horizont – wie die Rauchzeichen der Indianer in alten Filmen. Dein Leben ist noch nicht vorbei, auch wenn es in den letzten zwei Jahren oft genug danach aussah. Dreiunddreißig ist kein Alter. Das Futurum bleibt dein wichtigstes Tempus. Du bist lebendig, unverletzt. Noch ist alles möglich. Das sieht man schon daran, dass du hier bist. Kein Drehbuchautor hätte sich so eine Reise ausdenken können. Sechs Jahre lang hast du dich in Chicago bemüht, japanischen Geschäftsleuten dein unerklärliches Land zu erklären, bist mit einer mörderischen Frau auf der Achterbahn der Gefühle gefahren und hast dich mit einem kaum mehr als symbolischen Gehalt über Wasser gehalten. Jetzt lebst du wie ein Sultan, mit Gefahrenzulage, an einem Ort, der noch verrückter ist als diese Frau. Es ist geradezu lächerlich: du hast die Stelle wegen deiner muslimischen Mutter bekommen. Weil du zurzeit nicht trinkst; nach dem Grund wird nicht gefragt. Weil sie im Irrtum leben, dass du die Gläubigen verstehst. Weil Libanesen, die etwas aus sich machen wollen, ohne Englisch nicht auskommen, genauso wenig wie deine japanischen Geschäftsleute. 61
Du magst sie, diese gewalterfahrenen Zwanzigjährigen, die entlang der Grünen Linie aufgewachsen sind. Sie sind mit einem Eifer bei der Sache, wie du ihn noch in keiner anderen Klasse erlebt hast. Wenn man sein Zelt im Schatten der Geschütze aufschlägt, wirkt das wahre Wunder für die Motivation. »Warum willst du dein Englisch verbessern?«, fragst du sie an deinem ersten Tag. Der diagnostische Eisbrecher, nicht allzu einfallsreich, aber bewährt. Es sei gut fürs Geschäft, erklären die Nachfahren der Phönizier. Alle Welt spreche Englisch, sagen die Flüchtlinge aus Sidon und Tyrus. Nawaf, ein lächelnder, bärtiger Schüler in der vordersten Reihe, resümiert: »Amerika kommandiert die Welt auf Englisch herum. Wir brauchen Englisch, damit wir den Amerikanern sagen können, sie sollen sich zum Teufel scheren.« Die ganze Klasse lacht. Wenn man eine fremde Sprache lernt, versteht man stets mehr, als man selbst sagen kann. So ist es, stimmt die Klasse zu. Die Amerikaner können keine einzige Fremdsprache, und doch besitzen sie alles. Die Welt muss Englisch lernen, damit sie ihrem Besitzer Widerworte geben kann. Du selbst versetzt sie in Erstaunen. »Wie kommt ein Amerikaner zu diesem Vornamen?« »Wie können Sie in einem solchen Land leben?« Am meisten magst du die, die dir erklären, was du alles nicht gesehen hast: »In Ihrem Land schlachtet man die Schwarzen ab wie hier die Schafe am Ende des Ramadan.« »Die Amerikaner bezahlen einem Mann vierzig Millionen Dollar dafür, dass er einen Ball durch einen Ring wirft. Mit dem Geld könnten sie Hamburger für vierzig Millionen hungernde Menschen kaufen.« 62
Sie wollen dir helfen mit ihren aufrechten Anklagen gegen dieses Sodom. Doch andere, stärkere Kräfte ziehen sie hin zu dem Ort des Bösen. Die eine oder andere Bemerkung in den ersten zwei Wochen zeigt dir, was sie wirklich interessiert. »Dieser Rocky, Sir? Glauben Sie, der kämpft wirklich so gut? Keine fünf Minuten würde der durchhalten gegen meinen Vetter bei den Mujaheddin.« »Dieser Terminator? So toll ist der auch wieder nicht. Ohne sein großes Gewehr …« »Der Terminator kommt aus Österreich«, erklärst du ihnen. »Für den können wir nichts.« »Mr Martin? Was heißt denn das? ›I am leaving the material world, and I am immaterial girl‹?« »Das kriegen wir alles im nächsten Trimester«, versprichst du ihnen. Diese fanatischen Kinder des Bürgerkriegs sind noch unschuldig wie am ersten Tag, es überrascht dich, wie wenig verhärtet sie sind, obwohl die Chance, dass sie überleben, nicht gerade gut ist. Sie könnten sich in der Nachmittagssonne räkeln, unten am Segelhafen bei der Sankt-Georgs-Kathedrale – wenn dieses Viertel noch existierte. Aber sie bleiben, freiwillig oder unfreiwillig, wo schon eine Million ihrer Landsleute sich eines Besseren besonnen und die Flucht ergriffen hat. Sie alle sind viel zu lange in die Schule der Zerstörung gegangen, um noch Hoffnungen zu hegen, und sind doch viel zu zornig, um alle Hoffnung zu begraben. Alle sind begierig, die Welt außerhalb dieser Stadt zu erkunden, eine Welt der Hochglanzgeschichten, stark, reich, fortschrittlich, die sie nur als Schatten von raubkopierten Videos kennen. Sie nehmen dich als Beispiel, als Botschafter der Welt dort draußen. Deine Aufgabe: reden, bis es ihnen zu den Ohren herauskommt, damit sie nicht Opfer ihrer eigenen Fantasien werden. Du willst, dass sie sich an die Regeln gepflegter 63
Konversation halten, und das in einer Stadt, die gerade erst den Versuch unternimmt, überhaupt wieder an Regeln zu glauben. Auf jeden Fall ist es der ideale Job – genau was du seit Jahren gesucht hast. Ein Traumjob. Fehlt nur noch jemand, der ein bisschen tapfer ist, ein bisschen nett, und dieses Leben mit dir teilt. »Erzählt mal, wie ihr hergekommen seid«, forderst du sie gleich zu Anfang auf. Ein Thema, das sie persönlich anspricht. Eine gute Übung für das schwierige Past Tense. Und eine Frage, die sich leicht beantworten lässt, ohne große Vokabelkenntnisse. »Wie sind Sie denn hierhergekommen, Mr Martin?«, fragt Nawaf zurück. Die ganze Klasse verwandelt sich in ein Meer einmütig nickender Köpfe. »Ja. Ja. Erzählen Sie.« »Da gibt es nichts zu erzählen«, antwortest du. »Ich bin hierher gekommen, um dafür zu sorgen, dass eure Prädikate immer zum Subjekt passen.« »Und was haben Sie vorher gemacht, bevor Sie Lehrer bei uns wurden?«, fragt Nawaf. »Was ich gemacht habe, bevor ich hierher gekommen bin, um euch zu unterrichten?« »Ja. Genau.« »Dies und das. Zuletzt habe ich asiatischen Geschäftsleuten beigebracht, wie man in Chicago überlebt.« Der gerissene Kerl lässt nicht locker. »Und warum haben Sie die Stelle aufgegeben?« »Warum um alles in der Welt interessiert euch das?« »Es ist sehr interessant, Mr Martin«, wirft die sehr interessante Zarai ein. »Nun, aus vielerlei Gründen. Aber das wollen wir hier nicht vertiefen.« 64
»Ist es ein Geheimnis?«, stichelt Nawaf. »Genau. Es ist geheim.« »Topsecret?« Zarai lächelt dich an, unter ihrem Kopftuch. Du lächelst zurück. »Oh ja, topsecret.« Es heißt, man werde nie wieder so viel über diese Stadt wissen wie an dem Tag, an dem man sie zum ersten Mal betritt. Und das stimmt. Von Tag zu Tag findest du diesen Eintopf unverdaulicher, und du verstehst immer weniger, nach welchem Rezept er gekocht wird. Du weißt, dass Schiiten gegen Sunniten kämpfen und Maroniten gegen Orthodoxe, kennst Drusen, Palästinenser, Phalangisten, AMAL, die radikale Partei Gottes und ihre fanatischen heiligen Krieger. Aber die vierzehn anderen Religionen und Splittergruppen stürzen dich in die gleiche Verzweiflung, die deine Schüler angesichts der unregelmäßigen Verben im Englischen überkommt. Al-Jumhuriyah al-Lubnaniyah: allein schon der Name ist wie ein Labyrinth. Die Politik dieses Landes gleicht einem unüberschaubaren Basar aus Ali Babas Reich, und wenn man sie überlebt, dann nur durch einen glücklichen Zufall. Hier verlieren sich die Grundregeln der Zivilisation im Nebel der Fantasie. Vereinbarungen stehen allenfalls auf tönernen Füßen und werden binnen kurzem umgestoßen; es herrscht wieder das Gesetz der bewaffneten Lager, und jede lokale Miliz besetzt ein paar zerbombte Häuserblocks. Keiner darf von einer Zone in die andere wechseln, nicht einmal der Rote Halbmond. Deine Schüler schlagen sich durch in dieser Landschaft des Zerfalls, wie in den postapokalyptischen Teenagerfilmen, die sie so sehr faszinieren. Doch trotz alledem kommen dir die Straßen hier immer noch sicherer als in Chicago vor. Das Morgen scheint weniger ungewiss, der Pulsschlag der Stadt erfüllter von Hoffnung und 65
Überzeugung. Du lernst ein paar Worte: Na’am, schukran, merhadh, khubuz. Ja, nein, danke schön, Toilette, Brot. Du träumst davon, eine Frau kennen zu lernen, vielleicht sogar eine mit Kopftuch. Stellst dir vor, wie du einen Schnellkurs ihrer Grammatik absolvierst. Und dann bekommst du einen Anruf von der real existierenden Frau. Als ob sie es geahnt hätte. Sobald einer von euch auch nur einen Anflug von Genesung verspürt, ein klein wenig Selbstachtung aufbaut, ruft der andere an und macht alles wieder zunichte. Immerhin schützen dich jetzt die zwei Dollar pro Minute auf dem Gebührenzähler und die unüberhörbaren Verzögerungen der Satellitenverbindung vor einem allzu langen Gespräch. Zumindest theoretisch, denn sie ist völlig außer sich. Die Kosten interessieren sie nicht. Ihre Worte klingen wie bellender Husten. »Taimur. Tai. Gott sei Dank, du lebst. Du musst zurückkommen. Noch heute Nacht. Sofort.« Zu viel Pathos, selbst für einen Vergeltungsschlag. Nicht einmal zu anständiger Brutalität kannst du dich aufraffen. »Das glaube ich nicht«, sagst du sanft. »Meine Periode ist ausgeblieben.« Du reagierst schneller als die Satellitenverzögerung. »Das passiert doch jeden zweiten Monat, Gwen. Du bist eine hysterische, ewig vorwurfsvolle, kreischende Primadonna, die nie ihre Periode bekommt, wenn sie sich gerade streitet. Und wann ist das mal nicht der Fall?« Zu viele Adjektive. Wieder hast du eine Runde verloren. Hast die Frau verloren. Hast dich selbst verloren. Hast die Person verloren, die du werden wolltest, als du hierher kamst, eine Person, die sich weigert, auf jeden Schlag sofort mit einem Gegenschlag zu antworten. 66
Sie fängt an zu schluchzen, aber nur ganz leise; kaum auszuhalten. Du kannst hören, wie sie alle Hoffnung auf Versöhnung begräbt. Und da willst du sie natürlich trösten. Wieder einmal wird dir der Wunsch zu helfen insgeheim zum Verhängnis. Dein schreckliches, streng gehütetes Geheimnis. »Gwen. Nicht. Nicht noch einmal. Wir haben es beide versprochen.« »Ich brauche dich, Tai. Ich stehe das nicht alleine durch.« »Hör endlich auf mit dem Theater, Gwen. Alles in Ordnung. Warte einfach noch zwei Wochen.« »Ich warte schon acht Wochen.« Und schon ist er wieder da, binnen einer Sekunde. Der alte Parasit der Liebe in deinem Inneren erwacht zu neuem Leben, er wartet nur darauf, dich auszusaugen. Ein Pfahl der Reinheit bohrt sich in deine Brust, so selbstgerecht, dass Zorn gar nicht mehr das rechte Wort dafür ist. »Solltest du dann nicht lieber den glücklichen Vater anrufen?« »Du, Taimur. Du. Erinnerst du dich nicht mehr? Unser langer Abschied?« Das Wochenendintermezzo, als sie fast glücklich schien, weil sie wusste, dass du eigentlich schon fort warst. »Kein anderer. Davor nicht und auch nicht danach …« Worte wie Peitschenhiebe. Und trotzdem: Sie muss bluffen. Überspannt, verzweifelt, sadistisch, zu viel selbst für eure Verhältnisse. »Hör mal, Gwen. Soweit ich mich erinnere, aus meinem Biologieunterricht in der Schule, müssen Sperma und Ei tatsächlich zusammenkommen, damit –« »Ach Mist. Mist. Ich weiß, wir hätten nicht … Ich hab dir gleich gesagt, dass wir nicht …« »Was du gesagt hast, war ›Sex mit der Ex bringt Ärger, sonst nix.‹ Und das mit zuckersüßer Stimme, wenn ich mich recht entsinne.« 67
Sie schreit, ihre Stimme überschlägt sich, unglaubwürdig. »Komm nach Hause, Tai. Ich kann mich bessern. Und du auch.« Der Vorwurf macht dich wütend. Du sollst dich bessern. Ausgerechnet du, auf den sie immer eingeschlagen hat, nur weil du du warst. »Ich brauche dich. Ich schaffe das nicht allein. Komm nach Hause. Jetzt.« Das jetzt ist hässlich, damit verrät sie sich. Du machst dir nicht die Mühe, ihr zu erklären, dass du zu Hause bist. Zumindest so nahe dran, wie es für die nächste Zeit möglich sein wird. Du legst den Hörer, aus dem noch immer der hysterische Wortschwall tönt, zurück auf die Gabel. Und du gehst nicht mehr ans Telefon, wenn es klingelt, mehrere Tage lang. Manchmal verlässt du das Schulgelände in der Pause, holst dir gebratene Bohnen oder schnappst ein bisschen Luft. Zigarettenpause ohne Zigarette. Der Sprung von der Klippe. Die Kollegen sehen das nicht gern, aber du kannst dich nicht immer einsperren lassen. Du bleibst ja in der Nähe, kehrst immer schon nach ein paar Minuten um. Heute lungert eine Gruppe von Männern auf dem Gehweg vor der Schule, sie sind ein bisschen jünger als du, begutachten einen platten Reifen. Jemand nähert sich, will dich um Hilfe bitten. Du gehst auf ihn zu, er zeigt dir etwas. Und dieses Etwas ist aus Metall, eine Pistole. Und dann begreifst du, dass er doch nicht um Hilfe bitten will. »Steigen Sie ein, bitte. Schnell, schnell.« Drei weitere überzeugen dich. Sie schreien lautlos durcheinander, das reinste Tohuwabohu. Verwirrung aus dem Stegreif. Einer fesselt dir die Hände hinter dem Rücken. Ein 68
anderer drückt dir den Kopf herunter, damit du dich beim Einsteigen nicht am Autodach stößt, genau wie im Krimi. Es geht so schnell, dass du nicht einmal Zeit hast, Angst zu bekommen. Ein verrücktes Missverständnis, das sich später aufklären wird. Später, wenn sie den schmierigen Lappen abnehmen, den sie dir ums Gesicht gebunden haben. Später, wenn sie alle zur Besinnung kommen. Der Motor heult auf. Das Auto macht einen Satz. Der Reifen ist überhaupt nicht platt, begreifst du, der Gedanke noch alberner als alles andere. Der neben dir drückt dir den Kopf auf den Boden. Dabei drängt er sich dicht an dein Ohr. »Keine Sorge. Keine Sorge. Nur Politik.« Der seltsame Ausdruck tröstet dich. Diese Männer sind Amateure. Du liegst auf dem Boden in einem dunklen Auto. Jemand setzt dir den Fuß auf die Schläfe, weil es ihm Spaß macht, dich zu erniedrigen. Die Fahrt dauert mindestens eine Stunde. Vielleicht zwei. Zeit genug, dich an den eigenen Pulsschlag zu gewöhnen, an das, was mit dir geschieht, an deinen tödlichen Leichtsinn. Du ergibst dich der Hitze, dem nagelbewehrten Schuh auf deinem Schädel, schweißgebadet vor Entsetzen. Du fängst an zu zittern. Der Strick um die Handgelenke verhindert, dass deine Arme aneinander schlagen. Das Auto fährt in einem riesigen Kreis. Ein verrücktes Spiel, das Entfernung vortäuschen und dir die Orientierung nehmen soll. Du willst rufen, dass sie endlich ans Ziel kommen sollen. Du weißt schon lange nicht mehr, wo du bist. Aber sobald du einen Laut von dir gibst, zischen sie dich an, und du spürst den Absatz auf deinem Kopf. Sie halten. Sie stoßen dich aus dem Auto. Du legst den Kopf in den Nacken, versuchst unter der schmierigen Augenbinde einen Blick zu erhaschen. Jemand versetzt dir einen Schlag ins Genick. Zusammengekrümmt schleifen sie dich nach drinnen. 69
Sie holen dir Schlüssel und Krimskrams aus den Taschen. Dein Schweizer Offiziersmesser erregt größeres Aufsehen, als ihm mit seinen zwei winzigen Klingen und dem Nagelschneider eigentlich zukommt. Sie konfiszieren deine Brieftasche und nehmen sie Stück für Stück auseinander. Verlangen Rechenschaft über jeden Schnipsel Papier. Deinen abgelaufenen Organspenderausweis. Das Brillenrezept. Den zehn Jahre alten Studentenausweis. Die Scheckkarten, die du im Umkreis von tausend Kilometern nirgendwo verwenden könntest. »Was ist das?«, fragt eine hohe gehässige Stimme und hält dir jedes der rätselhaften Objekte unter die Augenbinde. »Was bedeuten die Zahlen?« »Das … das sind Telefonnummern. Telefonnummern von Freunden in Amerika.« »Lüg uns nicht an!« Jemand packt dich von hinten, mehr um des dramatischen Effekts willen als um dir wehzutun. »Ein Code«, verkündet eine neutrale Stimme. »Nein, kein Code. Telefonnummern. Nur zu. Rufen Sie sie an. Richten Sie ihnen einen schönen Gruß von mir aus.« Die Stimme lacht humorlos. Eine andere körperlose Stimme nähert sich deinem Gesicht. »du Amerikaner? Warum siehst du aus wie Araber?« Du verfluchst dich, weil du dir die vierzehn Splittergruppen nicht hast merken können. Was sind das für Leute? Was wollen sie hören? Eine falsche Antwort, und es könnte deine letzte sein. Sie töten dich, weil du keine Ahnung von ihrer Politik hast. »Warum?«, brüllt der Mann, der dich verhört. »Was ist das für ein Name, Taimur Martin?« Mit der Frage bist du groß geworden. Du spürst einen Krampf im Bauch. du versuchst dein Glück: »Ich bin … halb 70
iranisch.« Hastig geschleuderte Übersetzungsfetzen von mehreren Seiten. Sie streiten, ihr Arabisch wird immer lauter, immer schärfer. Dir ist noch nie vorher aufgefallen, wie sehr du im Gespräch auf deine Augen angewiesen bist. »Wo ist Pass?« »Ich … ich habe nicht damit gerechnet, dass ich ihn brauche, als ich das Schulgelände verließ.« Einen Augenblick lang lassen sie sich erweichen, klopfen dir auf die Schulter. Sie schlurfen durch den unsichtbaren Raum und suchen deine Sachen zusammen. Gleich werden sie dich wieder ins Auto zerren und zur Schule fahren; dort werden sie dich absetzen und zurückkehren in den Schoß der Bande von Wichtigtuern, die sie zu dieser Unternehmung angestiftet hat. Stattdessen ziehen sie dich aus und durchsuchen dich. Sie zeigen kein Erbarmen. Wieder spürst du den Krampf im Bauch. Du wirst ihnen noch auf den Boden kacken. Du wirst hier sterben und nicht einmal wissen warum. »Bitte, nicht die Halskette«, bettelst du. »Die ist ein Geschenk. Ein Geschenk von einer –« »Wir sind keine Diebe.« Speicheltröpfchen auf deiner Wange. Und die Kette, Gwens Talisman, entschwindet ins Reich der Politik. Sie wollen Namen. Was für Namen? Es ist absurd. Einen Amerikaner erkennt man auf zehn Kilometer Entfernung, man muss nur die Augen aufmachen. Wozu brauchen sie Namen? Wollen sie durch die Straßen ziehen und rufen? Sie fragen immer noch, aber ohne rechtes Interesse, so als gingen sie nur die Hauptpunkte des Drehbuchs durch. »Beantworte unsere Fragen. Wir kennen uns aus mit … elektrischem Strom. Du verstehst?« Du verstehst. Du versuchst, gelassen zu wirken. Du 71
versprichst, du wirst alles tun, was sie von dir verlangen. »Was machst du hier?« Es rutscht dir einfach heraus: »Sie haben mich entführt.« Etwas Hartes trifft dich genau über dem linken Ohr. Ein Feuerwerk explodiert auf dem Vorhang deiner Augenbinde. Du beißt dir auf die Zunge. Du würgst, ein stechender Geschmack in deinem trockenen Mund. »Was machst du hier?« »Ich bin Lehrer.« Langsam, ganz langsam. »Ich gebe Englischunterricht in –« »Du bist dumm. Alles Scheiße. Du amerikanischer Spion, du CIA.« Die erste Silbe des Widerspruchs aus deinem Mund bringt den Mann, der dich verhört, in Rage. »Du lügst. Du lügst! Wir wissen, warum du hier bist. Wir kennen dein großes Geheimnis. Topsecret.« Endlich siehst du die Verbindung. Sie fällt dir wieder ein, die längst vergessene Regel aus deiner Referendarzeit in Des Moines. Die wichtigste Grundregel in jedem Klassenzimmer: Niemals, unter keinen Umständen, Ironie. Die erste Generation von imaginären Landschaften nahm gerade zu der Zeit im Simulator Gestalt an, zu der auch Adie sich in ihrer neuen Umgebung allmählich zurechtfand. Es dauerte ein paar Wochen, doch dann hatte sie begriffen, welche Vorbilder, welche Kammern diese Grotte nachahmen sollte. Sie stand in der zimmergroßen Box und sah den Strom der Bilder über die belebten Wände ziehen, der letzte dumpfe Neandertaler, der dabeisteht, wenn der Homo sapiens zur Offensive übergeht. Mit ihren olivgrünen Pullovern und den hüftlangen Haaren, die ihr in einem dicken Zopf über den Rücken hingen wie die 72
Heckleine eines Taucherboots, war sie bestenfalls ein mäßiger Erfolg bei den Computerfreaks, die bei der Arbeit ihre Donuts in sich hineinstopften. Rajan Rajasundaran und das Signalverarbeitungsteam gaben ihr zu verstehen, dass sie ihnen auf die Nerven ging. Ronan O’Reilly, der Ökonometriker, begegnete ihr mit höflicher Gleichgültigkeit. Jackdaw Acquerelli behandelte sie wie ein Programm, das im Hintergrund läuft. Sue Loque brachte bei jeder Gelegenheit an, wie überlegen sie sich den Provinzlern aus New York fühlte. Spider Lim studierte sie mit der Aufmerksamkeit eines Ethnologen. Adie für ihren Teil hielt sich an Stevie Spiegel. Doch wenn sie den alten Freund in ihm witterte, schien sie die Luft auf diesem neuen Planeten nur umso schwerer atmen zu können. Jonathan Freese, der Direktor des Realization Lab, schleppte sie in ein Café am Fuße des Hügels. Bei einem ordentlichen dreifachen Mokka ließ er sich ausführlich über Parmigianino, Tiepolo und die Baptisteriumstüren in Pisa aus. Wie einer, der dem erstbesten Schwarzen seine Duke-Ellington-Platten vorspielt. Eine wunderbare Sache, die Kunst. Das Größte, was das Leben uns beschert. Schon in Ordnung, versicherte sie ihm. Eine so große Künstlerin bin ich nicht. Freese, an die fünfzig, war gut zwanzig Jahre älter als der Durchschnitt des Labors. Er hatte sich dem üblichen Birkenstock-Look angepasst. Aber er sah doch nicht ganz so wild aus wie die Programmierer, die für ihn arbeiteten, adretter, weniger bleich, so als ob er doch noch dann und wann vor die Tür gehe. Wie wär's mit einem Vollkornmuff in?, fragte er. Die sind reich an Ballaststoffen. Adie blieb lieber bei ihrem Kräutertee mit Ingwerkeksen. 73
Jonathan, ich muss dich etwas fragen. Dann raus damit. Er hätte Konversationslexika verkaufen können oder utopische Kolonien oder Patriotisches vor Senatskomitees. Ich weiß nicht, ob ich wirklich tue, was von mir erwartet wird, erklärte sie. Ich will doch etwas leisten für mein Geld. Zunächst einmal solltest du dein erstes Jahr als eine Art Lehrzeit ansehen. Es geht nicht so sehr darum, dass wir eine Leistung für das bekommen, was wir dir zahlen. Wichtiger ist, dass du das Beste aus deiner Zeit machst. Sei ehrlich zu mir, Jonathan. Ich bin ehrlich. Die Bosse sind sehr beeindruckt von deiner Arbeit. Welche Arbeit? Ich habe doch noch überhaupt nichts getan. Deiner Mappe. Wir wollen dich einfach nur mit anderen talentierten Leuten zusammenbringen und sehen, welche Synergieeffekte sich ergeben. Was ist das eigentlich, Synergie? Er lachte, ohne dass ihm auch nur ein einziger Kleiekrümel heruntergefallen wäre. Das wüssten alle hier gern. Sie spürte die Kompetenz dieses Mannes. Die Aura des Organisationstalents umgab ihn, die energische Art dessen, der die Mechanismen begreift, nach denen Menschen sich organisieren. Sie verstand, warum Leute beiderlei Geschlechts sich so sehr um seine Anerkennung bemühten. Vorerst ist das Realization Lab nur ein Forschungsobjekt. Im Augenblick rechnet TeraSys noch nicht, ob sie für das, was sie uns zahlen, einen Gegenwert bekommen. Jedenfalls nicht konkret. Die Grotte ist ein Experiment, mit dem das Zusammenwirken einer Reihe von neuartigen Techniken erforscht werden soll. Wir wollen uns einfach ein Bild davon machen, wie die Welt in ein paar Jahren aussehen wird. 74
Aber woher kommt das Geld, das sie uns zahlen? Freese schluckte seinen Bissen Vollkornmuffin, dann lachte er wieder. Etwas an diesem Lachen quälte Adie: die Heiterkeit eines Mannes, der zu einer Lebenskette gehörte, die so viel größer war als er selbst. TeraSys hat in den letzten Jahren ein wenig unter Steuerbelastung zu leiden, für den Fall, dass du in Giverny warst und die Jahresbilanzen nicht mitbekommen hast. Wir können machen, was wir wollen, die Einkünfte übersteigen jedes Mal alle Erwartungen. Forschung und Entwicklung sind die besten Abschreibungsobjekte, die man haben kann, und selbst die machen die Sache, langfristig gesehen, nur noch schlimmer. Und was wird von dieser so genannten Forschung erwartet? Na, das Gleiche, was man von einer Expedition erwartet. Oder von einem Team, das ein Altarbild restauriert. Ich wüsste nicht, was ich da Nützliches beitragen soll. Jeder von euch weiß mehr über Kunst als ich. Ihr habt hier Leute, die können – Keiner weiß, was er mit dem Zeug anfangen soll. Wir brauchen deine Hand. Dein Auge. Aber ich probiere nur ziellos herum. Dadurch lernt man. Ich brauche eine klar umrissene Aufgabe. Warum tust du nicht einfach, was du immer tust? Das wären hübsche Entwürfe nach Kundenwünschen. Der letzte Rest Muffin und Mokka verschwand säuberlich durch die Luftschleuse. Er lächelte das Kameraschwenklächeln des Karrierediplomaten. Dann hör zu, Adie. Ich sage dir meine Kundenwünsche. Schaffe uns den schönsten Raum für die Grotte, den du dir überhaupt vorstellen kannst. Lerne etwas dabei. Hab Vergnügen daran. 75
Lernen. Vergnügen. Etwas Schönes schaffen. Der Mann kam aus einer anderen Galaxie. Einer, die Adie verlassen hatte, als sie die Kunst aufgab. Einer, die die Kunst schon um die Wende zum 20. Jahrhundert verlassen hatte. Freese fasste sie zum Abschied freundlich am Ellenbogen. Er stand auf, und schon im nächsten Augenblick war er unterwegs zu seinem eigenen Winkel des RL, mit langen Schritten seiner Siebenmeilensandalen. Sie versuchte aus Jackdaw herauszubekommen, worum es wirklich ging. Der sanfte Marsmensch war in allem das Gegenteil von Freeses glatter Kompetenz. Sie hoffte, dass sie sich aus den Auskünften der beiden Männer eine Art dreidimensionaler Erklärung zusammenbasteln konnte. Sie fand Acquerelli an seinem Schreibtisch in einem InternetChatroom. Hastig ging er offline, ertappt, als sie eintrat. Jackdaw, kannst du mir etwas erklären? Was machen wir eigentlich hier? Machen? Eifrig, ernsthaft, durch und durch perplex. Was ist unsere Aufgabe? Was ist unser Produkt? Er nickte aufmunternd mit dem Kopf. Frage: OK. Analyse: OK. Antwort im Speicher: OK. Virtuelle Welten, sagte er, noch immer nickend. Nein, ich meine, wie soll das verkauft werden, was wir hier machen? Wer kauft es? Für wen machen wir diese Räume? Jackdaw überlegte einen Moment lang, sein Blick huschte hin und her, rief einen entlegenen Video-Zwischenspeicher ab. Na, wahrscheinlich könnte man sagen, was wir hier machen, ist so eine Art Demo? Gut. Demo. Weiter. Demo für …? Für die Typen draußen. Sie hatte sie gesehen. Grüppchen eifriger Techniker mit Namensschildchen, die zu den unmöglichsten Uhrzeiten durch 76
das Labor geführt wurden. Bierernste Burschen, jeder mit einem TeraSys-Anstecker am Revers, die sich duckten und zusammenzuckten, wenn Jackdaw und Spiegel ihnen in der Grotte simulierte Achterbahnfahrten vorführten. Keiner hatte ihr das bisher in solcher Deutlichkeit gesagt. Das Realization Lab war ein sündhaft teures Klassenzimmer, ein geistiger Windkanal. Nicht dass ihr das etwas ausgemacht hätte, nun wo sie es endlich verstand. Es inspirierte sie sogar. Sie konnte nun freier die Waren des Zöllners mustern, ihren Lorbeerzweig gießen und düngen und beschneiden, bis ein üppiger Dschungel daraus wurde. Wie Kinder, die am Abend noch aus den schon erleuchteten Häusern kommen, um draußen »Reise nach Jerusalem« zu spielen, lockten die Ranken von Adies Philodendren allerlei Mitspieler aus dem Redwood-Gebälk. Im Zwielicht fanden sie sich in ihrer Büroecke ein, nächtliche Gestalten, die durchs Unterholz lugten wie Rousseaus Löwen und Affen. Jeder steuerte ein Programmteil oder eine Funktion bei. Sue Loque half beim Oberflächen-Rendering. Sogar nach Feierabend war sie immer für Adies Notrufe da. Blind steuerte sie die Neue übers Telefon, wie ein Fluglotse, der einer Stewardess die Grundbegriffe des Fliegens erklärt, nachdem eine Cessna das Cockpit gestreift hat. Keine Panik, Schätzchen. Wir halten dich schon fest. Also, wie hast du die Maus in der Hand? In welche Richtung zeigt das Schwänzchen? Sue brachte ihr alles über die oberste Ebene des visuellen Environments bei, die freundliche Paintbox, die Adie vor der komplizierten Technik darunter schützte. Adie verschmähte den Scanner, malte von Hand auf ein Tablett, das Gewicht und Druck jedes einzelnen Fingers registrierte. Kohle, Kreide, Airbrush: Die Paintbox ahmte jedes echte Werkzeug nach, mit dem sie je gearbeitet hatte, und jedes unechte dazu. Sie konnte Konturen verwischen und es wieder rückgängig machen, sie konnte klecksen oder klare Linien ziehen, mit Kartoffeln 77
drucken, Blattgold aufreiben, sie konnte Pinsel in jeder erdenklichen Form, mit allen erdenklichen Eigenschaften erfinden, Zauberpinsel, mit denen man löschen oder ausmalen konnte, einem schmalen roten Strich einen Hauch Gold hinzufügen, Pinsel, die ein Wasserzeichen anbrachten, etwas klonten, überblendeten und dabei ein Dutzend Striche eines anderen Pinsels löschten. So mussten die Engel im Himmel malen: nicht mit den Händen, sondern mit dem Geist. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass es im Leben eine solche Freiheit gab. Manches war schwieriger und mühsamer, als wenn sie es wirklich in Öl oder Acryl gemalt hätte. Anderes war das reinste Wunder, ein geschlossener Regelkreis von Hirn, Auge, Fingern und Bildschirm, etwas, das ganz in sich ruhte, eine kosmische Vervollkommnung des Lichts, visuelle Ausflüge in unauslotbare Tiefen, Folgen von Farbakkorden ohne Anfang, ohne Ende. Aber schon binnen zwei Monaten waren die Wunder alltäglich geworden, und Adie hatte sie sich zu Eigen gemacht wie einst ihren ersten Buntstiftkasten. Spiegel brachte ihr bei, wie man ein paar Blümchen zu einem dicken, dreidimensionalen Strauß band. Eine einzelne Pflanze war, für sich genommen, immer noch nur ein Bild. Aber zwei Pflanzen nebeneinander im Raum, verknüpft durch das Wurzelwerk der Daten, hatten schon etwas von belebter Natur. Vom Schirm ihrer Workstation wanderten Adies handgemalte Sträuße zu einem Object Script Packager, der sie im virtuellen Beet einpflanzte. Fehlte nur noch die Erde unter ihren Fingernägeln. Vulgamott hatte immer etwas zu mäkeln, New Yorker unter sich. Achte darauf, dass die Pflanzen nicht zu dicht gedrängt sind. Es sind ja nicht die Blätter, denen das Bild seine Wirkung verdankt. Es ist der ganze freie Kaum, den er irgendwie noch dazwischenzwängt. Keine Sorge, Michael. Luft ist einfach. Luft kann ich gut. Da 78
bleibt genug Luft in diesem Gestrüpp. Einst hätte sie sich das Original des Traums ansehen können, wann immer sie wollte. Es hing in ihrem intimsten Raum unter dem Dach, im MoMA, direkt über der Cafeteria, wo sie den Kaffee serviert hatte. Einmal hatte sie so nahe daran gewohnt, dass sie beinahe noch das Echo des Flötenspielers gehört hätte. Jetzt musste sie die Läden einer Spielzeugstadt abklappern und unter den Reproduktionen die beste aussuchen, immer im Vergleich zu dem Bild, das noch in einer Nische ihres Gedächtnisses hing. Meistens kam Karl Ebesen am Abend vorbei, zwischen halb elf und Viertel vor elf, um gute Nacht zu sagen. Jedenfalls nahm Adie an, dass er deswegen kam, denn bei diesen Besuchen sprach der Grafikchef in der Regel kein Wort. Er kam in seinem speckigen Trenchcoat, eine Requisite aus einem Robert-Mitchum-Film, die ausgefranste Mappe mit allem, was sie am Tage digitalisiert hatten, unter dem Arm. Er wuchtete sich keuchend auf den Stuhl in der Ecke gegenüber von Adies Arbeitsplatz, kapitulierte vor der Schwerkraft, gegen die er nun schon seit fünf Jahrzehnten ankämpfte, und starrte finster vor sich hin. Sie erkundigte sich nach dem architektonischen Musterbuch, das er mit Vulgamott erstellte. Ebesen antwortete mit unwirschem Brummen oder tat es mit einer Handbewegung ab. Nach ein paar Abenden gewöhnte Adie sich an, ihm sein verdrießliches Schweigen mit eigenem zu erwidern. Diese Art der Unterhaltung war ihr angenehm vertraut. Die stille Zwiesprache ihrer Kindheit. Die Abwesenheit, in der sie groß geworden war. Ebesen saß schweigend da, manchmal fünf Minuten, manchmal eine Stunde, dann schlurfte er davon wie unten an der Fähre die gutmütigen Obdachlosen, die nahmen, was man ihnen gab, aber niemals bettelten. Nach einer Weile kam ihr Ebesen wie ein als Penner verkleideter Schutzengel vor. Beim 79
kleinsten Anzeichen von Aufregung schlurfte er davon, zurück zu der christlichen Suppenküche, die ihn ausgespieen hatte. Wenn Karl da war, konnte sie laute Selbstgespräche führen, ohne dass sie befürchten musste, dass ihr jemand antwortete. Auf ein Grafiktablett zu zeichnen befremdete sie nicht ganz so, wenn Ebesen, die noch kuriosere Schnittstelle, im Raum war. Und dann, eines Abends, sagte der Penner doch etwas. Sie plapperte vor sich hin, gab einfach nur Laute von sich und mischte dabei die Farben auf ihrer elektronischen Palette, ein paar Wortkleckser, probierte Sätze durch, wie manche Leute die Skala am Autoradio durchprobieren, ohne ein bestimmtes Ziel. So viele Tiere, sagte sie. So viele Tieraugen. Was starren sie alles an? Ein Elefant, eine Schlange, zwei Vögel, zwei Löwen, zwei Affen … Wie viele Affen?, schnaufte Ebesen. Der rasselnde Atem eines Seehunds nach dem rettenden Luftröhrenschnitt. Adie, vor ihrer Workstation, drehte sich abrupt um. Sie starrte den Mann an, den sie schon seit einem halben Dutzend Abenden kaum noch wahrgenommen hatte. Er saß gebeugten Hauptes, kringelte mit einem roten Filzstift Anzeigen in einer alten Reisezeitschrift ein. Ihr Blick wanderte zu den zwanzig Reproduktionen des Bildes, mit denen sie jeden freien Quadratzentimeter ihrer Bürowand bedeckt hatte. Und sah den dritten Affen. Stückchen für Stückchen, Blüte um Blüte, baute sie den ganzen Traum nach. Alle sechs Tage ging sie mit der Arbeit der Woche zur Grotte und sah sie sich an. Dort fand Spiegel sie eines Abends, unglücklich durch ein Gebüsch von Rousseaus mannshohen exotischen Anemonen watend. Du musst mir helfen, Stevie. Nichts hat Tiefe. Alles ist so zweidimensional. Ich will echte Möbel in meinem Puppenhaus. Nicht nur Pappe. 80
Er baute ihr eine massive Raute, einen Leisten, über den sie die Oberflächen ihrer Blätter ziehen konnte. Für jede neue Blüte erfand sie nun jene Seiten hinzu, die unter der Ebene der Farbe verborgen, aber doch zu erahnen waren. Die Vorderseite ging nahtlos in die Rückseite über, und die Blüte behielt aus allen Richtungen ihre Tiefe. Nicht viel, aber doch räumliche Wirkung. Alle Koordinaten, die wir in unserem Leben haben. Ihr Schiff nahm Formen an, nach und nach, jede einzelne Platte des Rumpfes auf die Spanten des großen Gerüsts geschweißt. Adie Klarpol wurde zur Reisenden in ihrem eigenen Eden. Ihr Steuerknüppel, die 3-D-Brille, führten ihr nicht nur den Dschungel vor. Sie spionierten sie aus, registrierten den Datenstrom, der mit jedem Blick floss. Die Kamera, die ihre Kopfbewegungen umsetzte, hielt zugleich auch jede Regung ihrer Augen fest, vermerkte in Tabellen und Dateien, in welchem Winkel sie blickten, wie lange sie ein bestimmtes Blatt fokussierten, registrierte, wie lange sie ins Leere blickte, bis sie etwas ansah, wie viele Anläufe sie nahm, um durch das Dickicht der Blüten zu kommen, das selbst jetzt schon, in diesem ersten unvollkommenen Modell, sie allmählich überwältigte … Sie verließ die Grotte voll neuer Energie, hungrig nach Inspiration. Die Neugier trieb sie hinaus in die Hallen des RL, die Welt jenseits ihres kleinen Büros. In solcher Stimmung, auf der Suche nach neuem Repertoire, fand sie eines verregneten Frühlingsabends Spider Lim in einer Art Koma, zusammengesackt über seiner Workstation. Er saß reglos, starrte auf seinen Schirm, doch mit leerem Blick. Ausdruckslos, starr, die Körperfunktionen herabgesetzt, wie beim Anfall eines Zuckerkranken. Seine Finger klackten nicht mehr auf den Tasten. Er war abgetaucht in die endlosen Wiederholungen einer hängen gebliebenen Programmschleife. Adie sprach ihn an. Spider blieb reglos sitzen, die Hände 81
noch auf der Tastatur, summte kaum hörbar eine MIDI-PopSynth-Melodie. Sie stürmte den Flur hinunter, auf der Suche nach jemandem, der helfen konnte. Sie fand Steve und Rajan Rajasundaran, ins Gespräch vertieft. Seht mal nach Spider, rief sie. Irgendwas fehlt ihm. Die beiden Männer sahen sich an. Spiegel legte den Arm um sie. Halb so schlimm, Ade. Manchmal, wenn er vor einem Schirm sitzt, dann vergisst er zu atmen. Zu dritt trotteten sie zurück zu Spiders Büro. Spiegel und Raj stellten sich hinter Spider und massierten ihn leicht. Ihr Kollege saß benommen da, ein Grunge-Jünger aus Seattle, der im Eingang zur Space Needle den Nachmittag verdöst. Spider!, rief Raj. Komm zu dir, Mann. Du stürzt wieder ab. Einatmen, Spider, drängte ihn Spiegel. Nun mach schon, Junge. Ich atme doch, brummte Spider, ärgerlich über den Aufruhr. Noch immer wie in Trance, eine Unregelmäßigkeit im Prozessortakt. Ein Rätsel der Strömungsmechanik, der Luftkonvektion, die ihre Wirbel um die Tragfläche wand. Adie fasste ihn am Arm. Er fühlte sich kalt an, wie eine Eidechse im Schatten. Allmählich kam der Patient wieder zu sich; Spiegel redete weiter auf ihn ein. Was ist denn mit dir, Spidey? Ist das ’ne Art Meditation oder so was? Hat es was mit deinem Qi zu tun? Spiegel, Mann, warnte Rajasundaran. Spiel nicht mit der Unergründlichkeit des Ostens. Versuche nicht, sie zu ergründen. Es gibt Dinge, die werden Knackwurst-und-SenfLeute nie verstehen. Ich bin Koreaner, protestierte Spider. Er war schon so lange in den Staaten, dass er mit schleppendem Okie-Akzent sprach. In Korea gibt’s kein Qi. So was gibt’s nur in Kalifornien. Schön weiteratmen, Spidey, drängte Spiegel. Wir brauchen 82
dich hier noch. Raj schlug in dieselbe Kerbe. Genau, Mann. Immer brav arbeiten für den großen Vorsitzenden Gatt. Was gibt es Schöneres als reich werden? Koreaner, sagte Spider. Ich bin Koreaner, du bescheuerter Tamile. Aber psychotische Reaktionen an der Mensch-MaschineSchnittstelle waren nicht auf das asiatische Kontingent beschränkt. Die Kolonisten dieses virtuellen Landstrichs hatten allesamt eine Art, sich im Labyrinth der mikroskopisch kleinen Silikon-Boulevards zu verirren, mit weit aufgerissenen Augen vor ihren Tastaturen, die Hände bereit zum maximalen HirnFinger-Durchsatz. Doch bei Spider war der körperliche Kontakt zur Maschine extrem. Wenn er einen überlasteten Prozessor, einen überhitzten Schaltkreis testete, spürte er das Fieber, das Hyperventilieren meist noch früh genug. Aber ein Rechner, der sich aufhängte, wurde auch ihm zur Falle für sein Bewusstsein. Irgendwann finden wir dich hier, und du bist wirklich abgestürzt, tadelte ihn Spiegel. Systemstillstand. Wie ein Token-Ring, der seine Pakete nicht mehr zuordnen kann. Wie ein Anfänger in einer Do-Loop-Schleife. Und dann kriegen wir dich nicht wieder in Gang. Rajasundaran hob den Zeigefinger. Kein Teamplayer. Arbeitet und spielt nicht gut mit anderen zusammen. Das ist nicht wahr, protestierte Adie. Er ist sozialer als die meisten von euch Irren. Du musst es ja wissen, knurrte Raj. Als ob ihr Pinselschwinger in Sozialkompetenz immer eine Eins auf dem Zeugnis hättet. Spider hob beschwichtigend die Hände. Alles halb so wild. Ich habe nun mal einen Hang zur Symbiose. 83
Und genau da lag die Erklärung. Lim war wie die Autofahrer, die mit dem Radio mitsingen, und ständig das Tempo wechseln, je nachdem, ob es Boogie oder Beethoven ist. Er hielt es nie lange in der Grotte aus. Bekam regelmäßig Simulatorkrankheit. Wenn die Simulation ihn aus großer Höhe in die Tiefe stürzen ließ, gingen ihm die Ohren zu. Eine simple Projektion des Winterhimmels, und ihm wurde kalt. Er konnte nicht an einem Schaltkreis arbeiten, ohne dass er ihn in seinem eigenen Blutkreislauf nachahmte. Was dort an Daten floss, portierte er auf diese zweite Hardwarebasis, und auch die Ströme wirbelten durch Spiders Körperzellen. Nun wo der Notfall vorbei war, nutzte Adie die Gelegenheit, die versammelten Experten auszufragen. Mein Dschungel hat keine Substanz. Ich kann durch die Pflanzen einfach so hindurchgehen. An einen Gummibaum müsste ich doch anstoßen. Der Lorbeer müsste zumindest rascheln. Spiegel nickte. Da brauchst du Kollisionsdetektoren. Na, dann bau mir das ein. Sind die teuer? Die Kollision hatte das Team schon eine beträchtliche Zahl von Arbeitsstunden gekostet. Es genügte ja nicht, dass ein Champignon, der in der Grotte wuchs, einfach nur wie ein echter aussah. Selbst ein Fliegenpilz brauchte Masse und Gewicht und Widerstand. Ein simuliertes Objekt musste nachgeben oder abknicken oder Druckstellen bekommen oder sonst eine von Dutzenden von Reaktionen zeigen, die Dinge in der Wirklichkeit zeigten, wenn man dagegenstieß, in einer echten Grotte, für die die hiesige stand. Mit vereinten Kräften hatten die Programmierer schon einen beträchtlichen Teil des Grundinventars zum Thema Kollision zusammengebracht. Die Bibliothek umfasste Routinen für eine Unzahl denkbarer Zusammenstöße. Jede kalkulierte Katastrophe bekam ihr Bündel an Differenzialgleichungen, Flugbahnen, der Natur abgeschaut. Eine Reihe von Variablen 84
berechneten Masse, Geschwindigkeit, Semantik, kalkulierten die Grenze zwischen Abprallen und Abbrechen, zwischen Zerbrechen, Zerbersten und Zerplatzen. Spiegel zeigte ihr, wie sich aus diesem Katalog der Möglichkeiten Verben für jede erdenkliche Berührung programmieren ließen: Hand an Ranke, Ranke an Vogel, Vogel an Affe, Affe an Ast, Ast an Hand. Adie sah zu, wie die Software-Abteilung im Laufe einiger Wochen aus ihrem Dschungel ein Fitnessstudio machte. Der Wald wurde ein riesiger Rechner, ein knorriger Hain aus unzähligen parallelen Komputationen. Binnen Tagen lernten, stets in Zweiergruppen, die Objekte berechnen, was sie tun mussten, wenn sie einander im Raum begegneten. Aber solche Kalkulationen brauchten Rechnerleistung, der Display Code verschlang so viel Speicherplatz, dass die Berechnungen zu langsam abliefen und nicht mit den Ereignissen Schritt halten konnten. Adie warf eine Ginkofrucht in die Höhe über ihrem Blätterdach. Die samengefüllte Keule beschrieb ihre infinitesimale Bahn, bis sie an eine Ranke oder an einen Baumstamm schlug. Beim Kontakt prallte sie ab, dann blieb sie hängen. Prompt verlor der Grafikpuffer der betreffenden Wand etliche Bilder, während ihre Reality Engine die Myriaden Integrale berechnete, die notwendig waren, um die Reaktionen der beiden Objekte darzustellen. Die Ginkgofrucht hing dabei in der Luft und wartete ab, wie die Mathematik ihr Schicksal entschied. Ein solches Hängenbleiben durfte nicht sein. Das kleinste Rucken im Bewegungsablauf, und die Illusion war zerstört. Der perfekte Cray der materiellen Wirklichkeit verlor niemals Bilder. Das war ja der Beleg, dass man sich in der wirklichen Welt befand: dass alles flimmerfrei und glatt ablief. Das Ziel der Grotte – Illusion durch vollständige Immersion – war verloren, wenn ein Bild ruckelte. Spiegel und Jackdaw ließen sich Patches einfallen, clevere 85
Annäherungen, die Rechenschritte der Grotte übersprangen, Tricks, mit denen sie sich durchmogeln konnten, bis Spider und die Jungs von der Hardware für mehr Power sorgten. Den Durchbruch zur kontinuierlichen Kollisionsüberwachung erreichten sie nach zwei Wochen Dreischichtbetrieb, in denen Spider, wenn er überhaupt schlief, im Lagerraum auf einer Matratze aus zwei Zoll Endlospapier übernachtete. Eines Morgens erwachte er mit einem schwarzblauen rechten Auge, drei Schattierungen dunkler als die sepiabraune Haut. O’Reilly, der Wirtschaftsexperte aus Nordirland, warf nur einen einzigen Blick darauf und stieß einen Pfiff aus. Wow. Das nenne ich ein Veilchen. Wusste gar nicht, dass du im Augenblick eine Freundin hast. Sue Loque war fasziniert von dem schimmernden kastanienbraunen Fleck. Ooh. Ein Prachtstück. Darf ich mal fühlen? Nein, das darfst du nicht. Ihr seid wirklich Perverse. Alle zusammen. Herrgott nochmal, Spider!, rief Sue. Nun hab dich doch nicht so. Spider lachte, einen seiner Entschuldige-dass-ich-geborenbin-Lacher, ein Relikt aus seinen ersten Lebensjahren in Korea. Als Adie das blaue Auge sah, wollte sie es nicht glauben. Liebe Güte. Um Himmels willen. Schaut euch bloß an, was ich da angerichtet habe. Du? Du hast überhaupt nichts getan. Ich habe auf einer harten Unterlage geschlafen, das ist alles. Weißt du denn nicht mehr? Gestern? Als wir den Hintergrund getestet haben? Wovon redest du? Weißt du nicht mehr, wie du dich an dem Ast gestoßen hast? Sie hatte gesehen, wie er zurückgeschreckt war. 86
Oh nein nein nein. Red keinen Unsinn. Eine Nervenreaktion, etwa ein plötzliches Absacken des Blutzuckerspiegels, war durchaus denkbar. Aber ein echter Bluterguss … Das passte nicht in sein Weltbild. Aber er hatte auch keine andere Erklärung für das blaue Auge. Sie könnte schon Recht haben, meinte Raj. Er kehrte den Hindu heraus. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Hirn so etwas produziert. Spiegel schlug in die gleiche Kerbe. Warum nicht? Gib dem Verstand einen überzeugenden Sinnesreiz, und dieser Reiz wird auf der Haut seine Spuren hinterlassen. Ihr seid irre, beharrte Lim. Für ein blaues Auge braucht man einen echten Schlag. Sprach die Hardware. Ich finde, Spiegel hat Recht, beharrte Rajasundaran. Sicher, ein Programm braucht Schaltstellen, die es ausführen. Aber was die Schalter tun, bestimmt das Programm. Sue befühlte das Auge, trotz Lims Protest. Jungs, ihr macht wirklich Fortschritte mit der Realität. Spider Lim, sagte Spiegel. Der Mann, der sein eigener Kollisions-Algorithmus war. Lim lief rot an bei diesen Worten, und das so kräftig, dass der Fleck ganz mit seiner Umgebung verschmolz. In der Abgeschiedenheit ihrer Workstations nahmen die Spieler jeder für sich immer wieder Anlauf zum Sprung über die Schwelle der Realität. Der Rhythmus, nach dem das Herz des Realization Lab pochte, war stets dasselbe Paradox. Sie wollten jeden dummen Zufall vorausberechnen, den das Leben bot. Doch das Nachahmen war dabei nur der erste Schritt zu einem größeren Ziel, der Befreiung von der Materie: zum Raum, der an die Stelle dessen treten sollte, in dem das Leben in Fesseln 87
lag. Spiders blaues Auge nahmen sie zum Anlass für den ersten vollständigen Probelauf des Rousseau-Raums. Künstler und Ingenieure versammelten sich, um zu sehen, wie echt Adies mythische Zweige – die Frucht ihres gemeinsamen Schöpfungsakts – inzwischen geworden waren. Farbe mischte sich mit der Welt der Zahlen, die Realität jagte die Fantasie durch die Schatten eines Dickichts, wie die Evolution ihn nie gesehen hatte. Noch war alles reglos und still. Die Python lauerte im Baum. Die Vögel hatten die Schnäbel geöffnet, bereit zum Ruf. Der Elefant holte Luft zum Trompeten, die Muskeln der Affen spannten sich. Die Löwen legten fragend die Köpfe schief, als sie das Aufgebot an Schaulustigen sahen. Und die wuchernden Pflanzen machten aus dem weißen Mondlicht in Ölfarben so viele Grüntöne, wie der Verstand des Betrachters verarbeiten konnte. Spiegel führte Regie, präsentierte stolz den Prototypen, den Anschauungsunterricht zum Thema Anschaulichkeit. Er nahm sein Publikum mit auf einen Spaziergang in den Dschungel, so tief wie möglich, hinein. Er zeigte ihnen die Einzelheiten von Stängel und Staubgefäß, bis ins Kleinste in strukturierte Daten umgesetzt – die Schwiegermutterzungen des verrückten Franzosen ins tropische Ägypten transponiert. Er klappte die Motorhaube auf und zeigte die Mechanik, die hinter dem Diorama steckte. Er erläuterte jeden Effekt, der ihnen gelungen war. Aber was er wirklich vor sich hatte, das verstand er erst, als Adie es in Worte fasste. Das ist unser Werk, sagte sie. Sie legte die Hände aneinander, und nur Karl Ebesen erkannte in ihrer Haltung das perfekte Ebenbild der Verzückung der heiligen Theresia. Wir haben das geschaffen! Solche Schönheit. Der Rest des Teams hatte das Wort Schönheit nicht im 88
Vokabular. Anscheinend hatte es eine Bedeutung in der Realität; auf etwas musste die Neue sich ja mit diesem Wort beziehen. Vielleicht war Schönheit sogar etwas Physisches, ein Selektionsvorteil, erworben binnen der letzten Milliarde von Jahren. Doch welchen Regeln diese Eigenschaft gehorchte, welche Reaktion sie bewirken sollte, das konnte nicht einmal Spider Lim mit seinem Körper ahnen. Zeit für die Menschen, verkündete Adie. Sind wir so weit, können wir den Dschungel bevölkern? Sie wandten sich wieder den Reproduktionen des Gemäldes zu. Sie vermaßen die beiden Bewohner des Regenwalds: schwarz und weiß, vertikal und horizontal, männlich und weiblich, Musikant und Zuhörerin … Und das Pflanzenreich ordnete sich seinen menschlichen Bewohnern unter, den Formen, die dem Grün erst seine Regeln gaben. Nun reagierte Spiders Körper, führte das unbegreifliche Programm aus. So willkürlich sie sein mochte, so neu, wurde die Schönheit doch in seinem Inneren Realität. Sie wurde lesbar, eine Schrift so eindeutig phonetisch wie das reformierte Hangul in Korea. Denn die Frau ergriff allmählich Besitz von ihm. Sie machte sich so sehr in ihm breit, dass er sogar schon von ihr träumte. Nicht die wirkliche: Adie überließ er den anderen, den Bitjockeys, die ihr auf der lokalen Attraktivitätsskala einen viel zu hohen Platz gaben, nur weil sie neu war. Er ließ sie Spiegel, für den sie der Geist eines verlorenen gemeinsamen Lebens war. Die Frau aus Fleisch und Blut ließ er denen, die wussten, wie mit so etwas umzugehen war. Aber mit der imaginären, der Frau auf dem Diwan vor der geschwungenen Lehne, beschäftigte er sich jede Nacht. Derjenigen, die dies üppige Eden beherrschte und ihm seinen Namen gab. Er sah, wie Kunst und Wissenschaft gemeinsam den prallen, runden Leib zwischen den Blättern entstehen ließen. Aus dem 89
elektronischen Malkasten kam sie hervor, vom Dreieck des Gesichts abwärts über die Zöpfe, die ihr über die Schulter hingen, über den mandelförmigen Leib bis hinunter zur kuriosen Reihe der Zehen. Spider setzte eine Brille auf und ging geradewegs hinter die Couch, auf der sie lag. Sie blieb unerreichbar, hochmütig, reglos, ein Hauch von etwas, das er nicht begreifen konnte. Wir haben das geschaffen! Solche Schönheit. Hierhin hatte sie also ihr erstes gelungenes Blatt geführt, das sich in der Dunkelheit der Grotte gedreht hatte – zu diesem schmalen, lang gestreckten Körper, der sich nun ebenso im Dunkel seiner Gedanken drehte. Das Schulterprofil, die Zöpfe wie Taue. Die Rundung ihrer Hüften ein pascalsches Limaςon. Die Quadrate der Abszissen und Ordinaten ihrer Brüste summierten sich zur ganzen Zahl. Das war die Mathematik der Frauen, ein Feld, dessen Studium er längst aufgegeben hatte – weibliche Gleichungen, die so komplex waren, dass sie seine Kenntnisse in Differenzialrechnung bei weitem überschritten. Die makellosen kastanienbraunen Püppchen, die in der Grundschule in der Bank vor ihm gesessen hatten und deren brünette Haare er einst zu zählen versucht hatte. Die weißen Filmgöttinnen, die ihn heranwinkten, zu sich hinter die Leinwand. Die Sirenen aus den Zeitschriften, die Märznummer des Cosmopolitan aus seinem zweiten Jahr in Stanford, die anämische, unnatürliche, hohläugige Vision, die er zur weiteren Bearbeitung gespeichert hatte, eine Bildverknüpfung mit dem Land der Freizügigkeit, in das er, er wusste nicht wie, geraten war. Abends rekonstruierte er sie in allen Einzelheiten, auf der Fahrt hügelabwärts nach Hause, durch die Retortensiedlungen, wo er sich mit seinen dreißig Jahren in nichts von den Tausenden anderer jungfräulicher Einwanderer von jenseits des Pazifiks unterschied, die durch die Gegend von Seattle zogen. Das Konstruierte an ihr sprach etwas in ihm an – eine Gestalt, 90
die am Eingang zum undurchdringlichen Unterholz seines Lebens nach ihm rief. Eine strukturierte Fläche lag auf einem Sofa, nah und doch unerreichbar, weckte seinen Körper aus langem Vergessen. Woher kommt sie?, fragte er Adie. Aus dem Verstand eines wunderbar bizarren Zollbeamten in einem kalten Pariser Atelier. Nein. Ich meine … so wie sie aussieht. Woher hatte er sie? Sie zeigte ihm den Fluss, aus dem diese Figur sich speiste. All die ruhenden Frauengestalten, die sich, auf einen Ellenbogen gestützt, zu drei Vierteln dem Betrachter zuwandten. Die unzähligen leicht verhüllten Renaissancegeliebten auf ihren Sofas, als Venus deklariert. Tizians Göttin von Urbino, Madame Recamier, die nackte Maja, die sinnliche Olympia … Sie zeigte ihm die lange Ahnenreihe, die weit verzweigte Familie der Kunst – Fetisch, Schmeichelei, Anzüglichkeit, Laster und Liebe der Intimität, über Jahrhunderte auf Leinwand für den Blick der Voyeure ausgebreitet wie Spiegel an der Decke im Motelzimmer der Menschheit, wie immer nur für den Abend gemietet, stundenweise. So wie das sich drehende Blatt das Licht programmierte, so programmierte dieser seltsam mandelförmige Algorithmus seinen Körper, er drängte Spider Lim, sich auf eine Geschichte einzulassen, die weiter als all seine Vorstellungen zurückreichte. Dieser Frauenakt bedrängte ihn, er war eine Aufforderung in einer verlorenen Sprache, etwas, das er mit seinem Bildvokabular nicht erfassen konnte. Er sah zu, dass er die Grotte mied, wenn die DschungelGruppe dort arbeitete. Doch dies Heilmittel verstärkte nur die Symptome. Je mehr er dagegen anging, desto häufiger wurden die nächtlichen Besuche der Frau. Bald kam sie mit der Regelmäßigkeit der Fähren über den Sund, forderte ihn auf, 91
ihre Oberfläche bis ins Kleinste zu erforschen, die prachtvolle Hülle zu bewundern, in die sie gekleidet war. Nie hätte er gedacht, dass es für ihn einmal ein solches tableau vivant zu sehen gäbe … Adies belebter Garten spielte vor vollbesetztem Haus. In Quadratmetern war der virtuelle Traum kleiner als sein Vorläufer aus der Buntstiftwelt. Er hatte weniger interaktive Tricks zu bieten. Das Unterholz blieb zum größten Teil unbewegt, üppig und schimmernd im Licht des Mondes, der, stets an der gleichen Stelle, hoch oben am Himmel stand. Doch alle, die kamen, spürten, was für ein technischer Fortschritt es war, was für ein großer Schritt voran zur virtuellen Welt. Sieben oder acht Forschungsreisende zwängten sich in die Grotte und reichten die Tracking-Brille vom einen zum anderen weiter. Donnerwetter, sagte Jonathan Freese. Das fühlt sich wirklich massiv an. Und es reagiert, fügte O’Reilly hinzu. Nicht viel Raumtiefe bisher. Aber immerhin nehmen die Objekte jetzt wahr, dass man da ist. Sue Loque nickte nur mit ihrem Bürgerschreck-Haarschopf, wie ein Teenie, der sich im Rhythmus zur Musik in seinem Kopfhörer wiegt. Fast flimmerfrei, fügte Jackdaw hinzu. Ordentliches Raytracing. Nicht zu viel Verzögerung, wenn man sich bewegt. Der Mond tauchte sie alle in Stille, von oben von den höchsten Zweigen her. Eine Hand voll Abenteurer in ihrem wuchernden Gartenbeet. Steve Spiegel brach den Bann. Eins wüsste ich ja gern, Ade. Was tut die Lady eigentlich da auf dem Sofa, mitten im 92
Malariagebiet? Ha. Das passt wohl nicht zu deinen kleinbürgerlichen Vorstellungen, was? Adie knuffte ihren Collegefreund in die Rippen, ihr erster Angriff auf seinen Unterleib seit einem Dutzend Jahren. Der Bauch war weicher geworden seither. Und der Stoß auch nicht mehr so fest. Sue rasselte mit ihren schweren Armreifen. Sie hört dem Musikanten zu, das sieht man doch. Dem gespenstischen Burschen im Neonrock, schwarz wie die Nacht. Aber nein, meldete sich Spider. Sie wohnt da. Sie ist so eine Art Dschungelgeist. Genau wie der andere. Wie der Flötenspieler? Tatsächlich? Auf einem Louis-Philippe-Sofa? Ahm – Rajan zögerte. Ist eigentlich euch Hellhäutigen jemals aufgefallen, dass sie splitternackt ist? Keiner hatte gehört, wie Karl Ebesen dazugekommen war. Sie bemerkten ihn erst, als er sein Unsinn! knurrte. Die Frau ist nicht im Dschungel. Der Dschungel ist in ihrem Wohnzimmer. Er wächst zu ihrem Fenster herein, in ihrem Traum. Seltsam; wie vertraut dir das Dschungelzimmer ist. Dein Auge erkennt den Ort sofort, obwohl es noch nie dort war. Oder eigentlich doch, vor langer Zeit. Lange bevor die Kindheit jung war. Bevor dein Auge auch nur Auge war. Und seither hast du dies Wolfsmilchsgewächs in dir gehabt, Souvenir eines längst verlassenen Verstecks. Man kommt zu den Wurzeln im Dschungelzimmer. Such dir deinen Lieblingsmythos aus: Vertreibung aus dem Paradies, das ungehorsame Chromosom. So oder so, das Grün ist ein alter Bekannter. Nostalgie lugt aus überwucherten Ecken. Leben drängt sich in jede Ritze. Schlingpflanzen breiten sich im Mondlicht zum Teppich. Der Wimpel aus 93
Mangrovenzweigen begrüßt dich in der alten Heimat. Farnwedel tauchen auf mit so schockierender Klarheit, wie nur Farnwedel es können. Einst mögen sie Metaphern gewesen sein. Doch jetzt entstehen tatsächlich die Pflanzen aus ihnen, die sie zuvor nur versinnbildlichten. Der Dschungelraum wird immer mehr zum botanischen Garten: Taxonomie ohne Formaldehyd, reife Früchte, die niemals abfallen. Etwas sehnt sich danach, zu den Anfängen der Vegetation zurückzukehren, nur diesmal aus kühler Distanz. Der Körper will zurück in sein verlassenes Nest, aber mit der Freiheit zu kommen und zu gehen, wann er will, wie ein Tourist ohne alle Skrupel, nur ohne die tödliche Gefahr des Reisens; ein Tourist, der das üppige Grün von der Sicherheit des Sofas aus zu sich hinrufen kann. So sieht Wiederaufforstung aus, die in Äonen wächst. Pflege sie, diese neue Form der Pflanzungen, sie ist besser als das alte Anzuchtbeet. Gib der grünen Revolution Tempo. Nimm den lebendigen Stamm des Teakbaums und pfropfe ihm ein hölzernes Emblem auf. Verschmelze die Wirklichkeit des Zweiges mit seinem Abbild. Verbinde Stumpf und Symbol zur Einheit, zu einem Baum, den du von allen Seiten betrachten, den du beschneiden, vermehren kannst. Der Baum, von dem du einst gestiegen bist. Der, auf den du mit Freuden wieder hinaufklettern würdest. Darum geht es doch: den alten Fluch aufheben und Träume Wirklichkeit werden lassen. Hier kannst du dein hölzernes Skelett ablegen und nach Herzenslust durch die Wälder der reinen Vorstellung streifen. Hier kannst du die Bruchstücke von etwas auflesen, das schon vor langer Zeit zerbarst, als die Kindheit noch jung war. Hier kannst du alles wieder finden, was gewachsen und verloren war, und es sogar noch auf Magnetband sichern. Ungehindert fliegen Vögel durch das Dschungelzimmer. 94
Beschreibe eine Feder im Wind. Sage, wie der Federkiel sich verjüngt, der Schwerelosigkeit zustrebt. Beschreibe, wie die Fahnen sich im Winde wiegen, wie sie sich bauschen, sich plustern und kräuseln, wie die Äste ihre Purzelbäume schlagen auf der Abwärtskurve ihres elastischen Flugs. Beschreibe den Flug in aller Genauigkeit, und du beschreibst die Vögel, die dort durch den Dschungel fliegen. Beschreibe die Regeln des Apparates, und du befreist dich von der Tyrannei der Dinge. Die Essenz des Vogels schafft Vögel nach Bedarf. Ganze Schwärme bevölkern das Firmament, geboren aus der Beschreibung. Die Fantasie spielt in diesen Blättern. Eine Schlange schlängelt sich durchs Unterholz, glitzert im Licht des Mondes, der sie verfolgt. Imaginäre Rippen schieben die Python voran, Muskeln perfekt bis zur letzten Faser. Die falsche Schlangenhaut glitzert, als du hinsiehst, dein Blick erquickt. Doch diesmal täuscht die Schlange niemanden. So schön sie auch schlängelt, ganz nimmst du es ihr nicht ab. Sie bleibt eine Simulation, ihr Biss in die Ferse kann dir nicht schaden. Noch immer wächst das Dschungelzimmer, nicht minder angstgebietend als sein Vorbild. Denn vielleicht gibt es keine Rückkehr, kein Quartier, keine Ruhestätte jenseits dieser Bilder. Diese Blätter verbergen nichts außer den Zeichen des Hungers. Selbst der Mythos vom großen Verlust trifft im Grunde die Sache nicht. Vielleicht wirst du niemals an ein Zuhause glauben können, das du dir selbst geschaffen hast. Den Baum, der Herz und Glieder täuscht, gibt es wohl nirgends auf der Welt. Jetzt, wo du das Missverständnis aufgeklärt hast, werden sie dich gehen lassen. Es kann ein paar Stunden dauern, bis die Anweisung zu ihnen durchdringt, bei den verrückten Befehlshierarchien, die unter diesen Gangstern herrschen. 95
Aber du sagst es ihnen: du bist Lehrer. Ein Lehrer, der vorher einen anständigen Job in der Industrie hatte, bevor sein Privatleben in die Brüche ging. Lehrer. Kein Spion. Scherz. Schlechter Scherz. Dumm gelaufen. Deine Entführung kostet sie mehr, als sie an Lösegeld für dich erhoffen können. Du bringst keine zehn Schekel das Pfund auf dem internationalen Fleischmarkt für Terroristen. Selbst diese Amateure müssen einsehen, wie lächerlich die ganze Sache ist. Du wirst viel zu erzählen haben, wenn das alles vorbei ist. Das wird der tollste, unglaublichste Brief, den du je nach Hause geschrieben hast. Jetzt nehmen sie dir auch noch die Uhr ab. Sie stoßen dich in eine Art Kartoffelkeller, wo du nicht erkennen kannst, ob es Tag oder Nacht ist. Seit deiner Entführung sind vielleicht zweimal zwölf Stunden vergangen. Auf keinen Fall mehr als dreißig. Es kann ein paar Tage dauern, womöglich sogar eine Woche, bis alles geregelt ist. Du mimst den Mutigen, obwohl das nicht stimmt, und richtest dich ein auf unbestimmte Zeit. Das Loch, in das sie dich gesteckt haben, ist stockdunkel. Zentimeter für Zentimeter erkunden deine Fingerspitzen die neue Umgebung. Immerhin beschäftigt dich das für ein paar Stunden. Du hockst auf einem Lehmboden, in einem mehr oder weniger rechtwinkligen Raum, vielleicht drei auf zwei Meter groß. Der Raum wird fast ganz eingenommen von den fünf Treppenstufen, die sie dich hinuntergestoßen haben. Es riecht nach Ruß und Gemüse. Drei Wände sind aus Holz, die Vierte aus Stein. Von der Decke bröckelt der Putz, und sie ist so niedrig, dass du nicht aufrecht stehen kannst. Dein Herz beginnt zu rasen, trotz der erzwungenen Ruhe. Du wirst hier verrecken. Ersticken. Wirst nie wieder Tageslicht sehen. Am oberen Ende der Treppe ist eine hölzerne Falltür. Du drückst vorsichtig dagegen. Sie rührt sich nicht. 96
Nach einer Weile öffnet sich die Luke, und im hereinströmenden Licht erkennst du ein Gewimmel aus Armen und Beinen. Jemand bellt drei arabische Silben. Die Tür geht wieder zu, und ein widerlicher Gestank macht sich breit. Du tastest dich hinüber zu der Treppe. Auf der obersten Stufe steht ein Blechteller mit einer dampfenden Masse. Sie können unmöglich erwarten, dass du das isst. Das ist ein böses Spiel. Mal sehen, was der Gefangene sich so alles in den Mund steckt, da unten in der Dunkelheit. Von dem Geruch wird dir übel. Du hältst die Nase so weit weg von dem Teller, wie es dir in der Enge nur möglich ist. Jetzt, wo die unmittelbare Gefahr vorüber ist, wirst du auf einen Schlag todmüde. Die Angst hat dich auf Trab gehalten wie ein Marathonlauf. Erst jetzt putschen die Hormone deine Muskeln nicht mehr sinnlos auf. Du warst noch nie so müde. Aber du kannst nicht schlafen. Du kannst dich nicht ausstrecken, in dem kleinen, harten Raum. Du hast Schmerzen von den Schlägen. Der Gestank von dem Fraß, den sie dir vorgesetzt haben, hält dich wach. Der Schlaf würde dir das letzte bisschen Schutz rauben, den dein Bewusstsein dir noch gewährt. Der reine Unsinn: du willst wach sein, wenn sie kommen und dich freilassen. Aber vor allem fürchtest du dich vor den Träumen, die dir der Schlaf bescheren könnte. Du musst austreten; es wird unerträglich. An die Falltür schlagen oder in die Ecke pinkeln – beides scheint dir gleich demütigend, und du willst dich nicht demütigen lassen. Du versuchst, den wachsenden Druck auf die Blase zu ignorieren, dich darauf zu konzentrieren, dass sie die Falltür öffnen. Sie sollen nachgeben, bevor du es tust. Mittlerweile müssen sie in der Schule dein Verschwinden bemerkt haben. Du überlegst, wie viele Unterrichtsstunden ausgefallen sind. Deine treuen Schäfchen haben bestimmt im Sekretariat gemeldet, dass ihr Lehrer nicht zum Unterricht erschienen ist. Sicher weiß man in solch einer Stadt, in solch 97
einem Klima, dass man mit dem Schlimmsten rechnen muss. Sie werden Alarm schlagen, einen Suchtrupp losschicken … Vor dir sind schon andere entführt worden. Leute, für deren Freilassung sich mächtigere Institutionen eingesetzt haben. Noch so ein Gedanke, den du aus deinem Kopf verbannen musst. Aber bei dir ist das etwas anderes. Mittlerweile wissen deine Entführer, dass sie einen Fehler gemacht haben. Du bist nicht der, für den sie dich gehalten haben. Du bist Lehrer. Du hast keine Geheimnisse. Jedenfalls keine, die sie interessieren würden. Sie werden dich freilassen, ein paar Tage höchstens. Du pinkelst in die Ecke. Vorher versuchst du, mit den Fingernägeln den Boden aufzuscharren. Damit die Flüssigkeit versickern kann. Du vertreibst dir die Zeit damit, dass du dir deine Entführung genau ausmalst. Das Auto, die Schläger, das Verhör. Du arbeitest an den Details, machst sie bedrohlicher oder lächerlicher in der Wiederholung. Es ist die verrückteste Geschichte, die du je erlebt hast, selbst ohne schmückendes Beiwerk. Aber du wirst ein bisschen warten, nach deiner Freilassung, bevor du deiner Mutter eine bereinigte Version schickst. Bald wirst du den Darm entleeren müssen. Wenn dein Darm verrückt spielt, bevor jemand kommt, watest du in Scheiße. Noch etwas, woran du lieber nicht denken solltest. Allmählich füllt sich der ohnehin schon winzige Raum mit Gedanken, die du meiden solltest. Deine Gedanken drehen sich im Kreis und kommen nicht von der Stelle. Dann zerreißt ein Geräusch die Nebelschleier. Laute Schläge lassen die Decke über deinem Kopf erbeben. Jemand brüllt durch die Falltür: »Augen verbinden. Nicht sehen. Augen verbinden!« Du lässt dich auf den Boden fallen und suchst. Irgendwo muss der schmierige Lappen liegen, mit dem sie dir die Augen 98
verbunden haben. Du hast ihn weggeworfen, weil du dachtest, du würdest nie wieder damit gequält. Und jetzt kriechst du in der Finsternis herum und suchst ihn, damit du ihn über die Augen ziehen kannst, bevor die Luke aufgeht. Die Binde ist an Ort und Stelle, im letzten Moment, doch das Licht dringt noch unter die Falten. Eine unbekannte Stimme befiehlt dir, nach oben zu kommen. »Kein Wort«, fügt sie hinzu. »Nicht fliehen.« Du stößt dir den Kopf an einem Balken, als du die erste Treppenstufe suchst. Falsches Licht; der Aufprall jagt Blitze hinter deine geschlossenen Lider. Du beißt die Zähne zusammen, damit du nicht aufschreist. Beim Hinaufsteigen stolperst du über den Teller und verschüttest das Essen. »Warum du nicht essen?«, schreit die Stimme. Aus ihr spricht ein Irrsinn, der dein Ende sein könnte. »Schrecklich«, sagst du. »Schlechtes Essen. Nicht gut.« »Kein Wort«, schreit er und versetzt dir einen Stoß in den Rücken. Du entsteigst deinem stickigen Kokon. Der Raum über der Treppe fühlt sich warm, hell und luftig an. Ein paar Stunden hältst du noch durch. Was immer diese Männer veranstalten, um ihr Gesicht zu wahren, du wirst es über dich ergehen lassen. Dann wirst du sie fragen, ob du zur Toilette gehen darfst. Um dich ein bisschen herzurichten, dich frisch zu machen für die Freilassung. Du streckst dich, eine Wohltat. Hinter dir hörst du das fragende Knistern von Packband, das von der Rolle gerissen wird. »Nicht bewegen«, befiehlt die Stimme. »Wir fesseln dich. Zu deiner Sicherheit.« Du sprichst so leise und ruhig wie du nur kannst. Du hast es oft genug geübt, immer wenn du versucht hast, Gwen mit 99
Worten zu beruhigen, obwohl der bloße Klang deiner Stimme sie schon zur Weißglut trieb. »Ich bin Lehrer. Meine Schüler … haben einen Scherz missverstanden. Ich bin in diese Stadt gekommen, weil –« »Ja. Wir verstehen. Keine Sorge. Wir tun dir nichts. Wir fesseln dich. Zur Sicherheit. Kurze Fahrt. Dann gehst du nach Hause.« Sie packen dich ein wie eine Mumie. Sie wickeln das Band immer wieder um dich herum, eine halbe Stunde lang. Sie kleben es direkt auf deine Kleider, deine Haare, deine zerschlissene Augenbinde. Nur die Oberseite deines Kopfes lassen sie frei, und einen viel zu kleinen Schlitz für die Nase. Mit Schlägen und Stößen zwingen sie dich in die Knie. Aber das Klebeband sitzt stramm wie eine Aderpresse, und du kannst die Knie nicht beugen. Sie drängen dich mit Gewalt in eine Kiste. Die Fesseln schnüren dir das Blut ab. Du versuchst, einen Laut von dir zu geben – einen Laut der Weigerung, des Protests –, durch das Klebeband hindurch. Aber es kommt nichts als ein dumpfes Wimmern dabei heraus. Du passt nicht in die Kiste. Du kannst ihnen nicht einmal sagen, dass du nicht hineinpasst. Dir bleibt nur der freie Fall in die nackte Panik. Sie zwängen dich in die Kiste und schließen den Deckel. Das ist das Ende, begraben bei lebendigem Leib. Gemeinsam versuchen sie, die Kiste anzuheben. Das Gewicht eines typischen Amerikaners in einer Kiste erregt ihren Unmut. Jetzt wünschst du, du hättest das Essen nicht verschmäht, wenn auch nur, um es deinen Peinigern schwer zu machen. Sie lassen die Kiste eine Treppe hinunterrutschen. Dein Schädel poltert gegen die Seitenwände. Das Unterende kracht auf den Boden, und es ist, als ob dir Knöchel und Knie zersplittern. Du hörst die Geräusche der Straße, knatternde Mopeds, feilschende Straßenhändler. Und wenn du jetzt 100
schreien würdest? Eine Stimme aus einem verschlossenen Sarg, geknebelt, gedämpft, ein einziges verwischtes Phonem: ein Bravurstückchen, aber damit wäre dein Schicksal besiegelt. Nur ein wenig Geduld, bald gehst du hier wieder entlang, morgen, sehenden Auges und frei. Aus den Geräuschen und dem Aufprall und dem wenigen Licht, das durch die Ritzen dringt, reimst du dir zusammen, was vorgeht. Sie legen dich in eine verborgene Vertiefung im Boden eines Lieferwagens. Dem Motorgeräusch nach zu urteilen hängst du irgendwo im Fahrwerk. Die Straße ist ein einziges Schlagloch, von hier bis Kuala Lumpur. Jede Unebenheit versetzt deinem gefesselten Körper einen Stoß. Sie haben das Klebeband über deinem Gesicht zu fest angezogen. Die Auspuffgase, die verschlossene Kiste und die dreieckige Öffnung, die sie für deine Nase frei gelassen haben, tun alles, um dich zu ersticken. Erst Übelkeit und Schwindelgefühl, Kopf und Augen wie durch ein Sieb gepresst. Dann ein schwarzes Pochen in deinem Schädel. Blinde Verzweiflung scharrt an der Basis deines Gehirns, eine Kreatur, gefangen unter einer sich schließenden Eisdecke. Wenn du jetzt ohnmächtig wirst, wachst du nie wieder auf. Du trittst gegen die Seiten deines Sargs, damit sie anhalten. Aber das Klebeband dämpft deine Tritte, und es klingt, als ob jemand zusammengerollte Socken in einen Wäschekorb wirft. Jede weitere Aufregung erhöht den Sauerstoffmangel in deiner Lunge. Du versuchst, dein hämmerndes Herz mit Willenskraft langsamer schlagen zu lassen. Deine Pulsfrequenz abzusenken wie im Winterschlaf, ein Winterschlaf, der dich das Ende dieser endlosen Fahrt erleben lässt. Die Kiste wird immer heißer, durch den Motor, die Sonne, den trockenen Sand, der von der Straße emporwirbelt. Du ringst nach Luft, nach einem Stückchen Normalität. Der Wagen bremst. Flüsternd wechseln Stimmen ein paar Worte. 101
Du ahnst: eine Straßensperre, ein Kontrollpunkt. Du schreist. Tod durch Erschießen wäre eine Erlösung. Aber der Motor erwacht röhrend zu neuem Leben, bevor mehr als ein dumpfes Stöhnen aus deinem Mund dringt. Du stemmst die gefesselten Knie gegen den Deckel der Kiste. Mit letzter Kraft gelingt es dir, ihn einen Spaltbreit anzuheben. Ein Luftzug, schneidend scharf wie ein Messer. Du reckst die Nase empor. Ein göttlicher Duft in deinen Nasenlöchern. Der himmlische Luftspalt hält dich am Leben, bis der Lieferwagen anhält. Allgemeine Verwirrung, als sie dich aus der Vertiefung wuchten. Sie richten die Kiste auf, und deine Beine geben fast nach unter dem Gewicht. Sie heben dich in die Horizontale und öffnen den Deckel. Grobe Hände machen sich an deiner Verpackung zu schaffen. Das Klebeband zerrt beim Abreißen an Haut und Haaren. Du fällst zu Boden, ringst nach Luft. Du liegst still, saugst die Erlösung in deine Lungen. »Ihr … verdammten Hurensöhne …« »Nicht reden! Keinen Laut!« Jemand schlägt dir ins Gesicht. Eine schwarze Wand kippt nach innen, und du bist nirgendwo. Als du wieder zu dir kommst, bist du in einem weißen Raum. Selbst dieses schwache Licht blendet. Als sich deine Augen daran gewöhnt haben, erkennst du, wo du bist. Nichts zu erkennen. Eine schmutzige Kiste mit nackten Wänden. Der Raum ist vielleicht drei Meter breit und vier Meter lang. Du könntest darin aufrecht stehen – wenn du aufstehen könntest. Hie und da fettige schwarze Fingerspuren an den ansonsten kahlen Wänden. An der Ecke, in einer der längeren Wände, die einzige Türöffnung, verbarrikadiert mit einer anderthalb Meter hohen Blechplatte. An den Kanten einer wandgroßen Platte aus Wellblech, die vor die Reste einer Glastür genagelt ist, sickert Licht in den Raum. 102
Der Dielenboden ist seit Ewigkeiten nicht mehr gekehrt worden. Der Raum ist leer, bis auf eine abgewetzte Matratze und einen am schmutzigen Fußboden festgeschraubten Metallheizkörper. An dem Heizkörper befestigt: eine kurze Stahlkette. An der Kette befestigt: dein linker Knöchel. »He«, rufst du. Deine Stimme ist trocken, brüchig. »Hallo?« Diesmal lauter. Die Tür rumpelt und wird mit einem Ruck aufgerissen. Ein junger Mann, noch keine fünfundzwanzig, steht im Türrahmen. Er ist dunkelhäutig, hager, mittelgroß, schwarzäugig, hat schwarze Haare, einen glänzenden Bart, eine lange Nase, trägt ein weißes Hemd und Bluejeans. Er funkelt dich an. Du hast ganze Armeen von seinesgleichen gesehen, wie sie sich mit Handfeuerwaffen fuchtelnd aus Autofenstern lehnen und auf beiden Seiten der Grünen Linie Patrouille fahren. Er ist im gleichen Alter wie deine Englischschüler. In dem kurzen Augenblick, der dir bleibt, ihn zu mustern, gleicht er auf jämmerliche Weise einem Clip-Art-Bildchen, deiner Klischeevorstellung von einem arabischen Terroristen. »Was soll das?«, schreit er. »Augen verbinden! Nicht sehen!« Du kriechst über den Boden neben der Matratze und tastest nach der Augenbinde, die sich ausgerechnet jetzt unerlaubt aus dem Staub gemacht hat. Schreiend stürzt sich der Wächter auf dich und zerrt dir das Tuch über die Augen, das die ganze Zeit um deinen dumpfen Kopf gebunden war. Du zupfst es zurecht, bis du nichts mehr siehst. Der Junge zieht sich nicht zurück. Er ist immer noch neben dir. Du spürst seinen Atem auf deinem Nacken. Er drückt dir etwas Hartes, Kaltes, Metallisches ans Ohr. »Verstehst du, du musst Augen verbinden. Du verstehst?« Du nickst. Noch einmal. Heftiger. »Wenn du siehst, bist du tot.« 103
Im selben Augenblick, in dem er Amerikas Vorzeigeprojekt erblickte, war Ronan O’Reilly ihm auch schon verfallen. Er war als Verächter nach Ökotopia gekommen, hatte sich der isolierten, isolierenden Goretex-Rechtschaffenheit überlegen gefühlt, doch binnen kurzem war er selbst Teil davon geworden. Ein einziger Besuch in der Grotte, und er wusste, dass er nie wieder an etwas anderem arbeiten würde. Seine erste Begegnung damit hatte er auf einem Ausflug in den Nordwesten gehabt, einer auf die Schnelle ausgerichteten Verkaufstour an der Pazifikküste, wo er ein paar Programme zur Prognose wirtschaftlicher Entwicklungen an den Mann bringen wollte, an die Leute, die den Amerikanern ihre Statistiken verkauften. Kein Anbieter in Großbritannien, ganz zu schweigen von Irland und dem Kontinent, konnte gegen die Vertriebsmacht an, die in Ökotopia aufgebaut worden war. Er hoffte, dass er ein paar schnelle Dollars machen und Lizenzen für seine Algorithmen verkaufen konnte, bevor die Vormacht der Amerikaner so groß war, dass schon der schiere Gedanke lächerlich erschien. Mit dem bescheidenen Gewinn wollte er zu Hause die sozialwissenschaftliche Fakultät der Queen’s University in Belfast aus ihrer jämmerlichen Hardwarenot erlösen. An einer neuen Generation von anständigen Rechnern würde O’Reilly dann auch eine neue Generation von Prognosewerkzeugen entwickeln. Und seinen Landsleuten ins Gedächtnis rufen, dass es immer noch eine Zukunft gab. Ronan landete in Seattle mit einem ausgefeilten PrognosenProgramm und einem Akzent, den die Einheimischen, unmusikalisch wie sie waren, nicht vom altmodischen Englisch der Fernsehkomödien unterscheiden konnten. Er hielt einen bemühten Diavortrag, dessen bei Bernard Shaw geklaute Bonmots das Publikum bei Laune hielten. Amerikanische Investoren waren offenbar bereit, in alles ihr Geld zu stecken, in dem auch nur ein Krümel Silikon vorkam. Und der 104
nordirische Blickwinkel auf die visuelle Ökonometrie war immerhin so anders, dass seine amerikanischen Wettbewerber es sich nicht leisten konnten, ihn ganz zu ignorieren. Doch erst im Glaspalast von TeraSys, den Problemlosem, bekam O’Reilly sein erstes nennenswertes Angebot – ein Angebot, das seine kühnsten Hoffnungen überstieg. TeraSys hatte wenig Interesse an den Dingen, mit denen er hausieren ging. Sie wollten den Hausierer. Schon nach ein paar wenigen Blicken zweifelte er nicht mehr daran, dass die Ökotopier Großes im Schilde führten. Aber welche Ausmaße der Irrsinn annehmen würde, erriet O’Reilly nicht – sah nicht, wo die Quelle dieses Imperiums sprudelte, woher die unbekümmerten Allmachtsfantasien kamen. Erst als er die Grotte betrat, begriff er, welche Ausmaße der Größenwahn erreicht hatte. Die Amerikaner waren mit Pauken und Trompeten in die Schlacht um die elektronische Transzendenz gezogen. Die nächste große Entwicklungsstufe der Menschheit. Jesus Christ Made Seattle Under Protest: Der Merkvers für die Straßen der Innenstadt ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, als er längst schon auf seine nicht ganz so perfekte Grüne Insel zurückgekehrt war. Unter Protest: Der passende Kommentar zum gesamten Puget Sound. Man konnte sich vorstellen, dass der Schöpfer Jahrmillionen darauf verwendet hatte, die umliegende Landschaft zu gestalten, und dann unter dem Zeitdruck des Projektes die Stadt selbst verpfuscht hatte. Die Krabben, der Lachs, Mount Rainier, Mount Olympus: alles wie aus dem Bilderbuch, wenn man es durch den Regen einmal sehen konnte. Selbst an das eiskalte Bier konnte man sich gewöhnen, auch wenn die glücklosen Zwergbrauereien kein anständiges Stout zustande gebracht hätten, wenn ihr Leben davon abgehangen hätte. Aber die Einwohner: Rudel von Geheimwaffenkonstrukteuren, Technohippies mit zu viel Geld in der Tasche, die das letzte Stückchen Arkadien verteidigten, 105
das Boeing noch nicht gerodet hatte, Teleanwälte, die sich im Kampf um einen bedrohten Kauz fast überschlugen und zugleich die vielen Obdachlosen, die um einen Dollar bettelten oder unten am Pike Place Market in den verfaulten Salatköpfen wühlten, mit keinem Blick beachteten. Grässlich, erstattete er den anderen Schwarzsehern am University Square Bericht. Die ganze Nordwestküste. Langhaarig, analphabetisch und so enthusiastisch, dass es stinkt. Geblendet von ihrem Geburtsrecht, dabei haben sie alles von den Indianern gestohlen, von so vielen Stämmen, dass nicht einmal die bescheuerten Reiseführer sie alle aufführen können. Und dann: Ich fürchte, ich gehöre jetzt auch dazu. Seine Universitätskollegen vergaben O’Reilly verachtenswert schnell. Kein Grund, sich zu entschuldigen. Der große Exodus. Kämen ja selbst mit ins Rettungsboot, wenn wir könnten. Es war ihm ein Bedürfnis, das klarzustellen. Das soll nicht heißen, dass ich auch nur einer bin, der sich hier aus dem Staub macht. Aber ein angenehmer Nebeneffekt, oder? Keine Angst mehr haben, dass man niedergeschossen wird, weil der Name zu irisch klingt oder der Arbeitgeber zu englisch? Himmel nochmal, brummte er. Meint ihr denn, alles auf dem Planeten hat mit eurem blödsinnigen Bürgerkrieg zu tun? Meine Entscheidung ist ganz und gar unpolitisch. Dann ist es wohl nur die Kohle, hm? Hätten seine Kollegen auch nur geahnt, um welche Zahlen es ging! Nie wieder würde O’Reilly sich abplagen müssen, seine Sachen mit Gummibändern und Heftpflastern zusammenbasteln in der Hoffnung, dass er sie zum Laufen bekam. Aber trotzdem spielte auch das Geld dabei keine große Rolle. Wie provinziell ihm sein Zuhause nun vorkam, wie eng und beschränkt, obwohl er nur ein paar Wochen fort gewesen war. 106
Die Belfaster Luft raubte ihm den Atem, so beißend und stickig war sie. Schlecht für die Lungen, schlecht für alles, was Luft brauchte. Seine geliebte Maura war nicht einmal bereit, ihn zu besuchen. Was soll ich denn da, Ronan? Kannst du mir das verraten? Da gehöre ich nicht hin. Ich verstehe da nicht mal die verfluchte Sprache. Na, du wirst nicht behaupten, dass hier auf der Insel alles so besonders verständlich ist, oder? Wir sind hier zu Hause, Ronan. Wir nehmen ein paar Kleeblätter mit. Wie kannst du überhaupt auf so eine Idee kommen? Ausgerechnet dahin? Du kannst dir das gar nicht vorstellen, Maura. Hier sind alle wie gelähmt. Verrotten vor sich hin. Engstirnig, verbittert. Wir schmoren im eigenen Saft. Solange überhaupt einer zurückdenken kann, immer dieselbe Leier, und da wird sich nie etwas ändern, weil kein Mensch hier auch nur auf die Idee kommt, dass sich etwas ändern könnte. Ach, den Glauben, dass etwas besser wird, haben die Amerikaner jetzt exklusiv? Oh ja. Das müsstest du sehen, was die da machen. Die Leute da, die schreiben die Gesetze der Schöpfung neu, Monat für Monat. Sie schaffen ein vollkommen neues Leben. Neu wird es schon sein. Aber was die da machen, das ist doch kein Leben. Sie stritten vier Wochen lang, und das mit einer Verbissenheit, neben der ihr fünfjähriger Krieg zuvor das reinste Freundschaftsspiel gewesen war. Jeder hatte den mittelatlantischen Rücken zur Grenze erklärt, und keiner wich einen Schritt zurück. Nun sei doch vernünftig, Maura. Wir haben uns beide. Was 107
zum Teufel macht es denn da für einen Unterschied, wo wir leben? Wenn es für dich keinen Unterschied macht, dann scher dich zum Teufel. Ich geb dir noch ein paar schwefelgelbe Vorhänge für die Essecke mit. Die kannst du behalten. Aber ich kann nicht glauben, dass du so mir nichts, dir nichts alles aufgeben willst. Du willst es so, Ronan. Ich muss mitmachen, Maura. Ich will wissen, wohin die Menschheit unterwegs ist. Beim nächsten Schritt will ich dabei sein. Bleib hier, Ronan. Ich sage dir, was beim nächsten Schritt passiert. Weiß Gott, Maura. Der Streit mit dir wird mir fehlen. Aber das Tempo des amerikanischen Fortschritts war so hoch, dass O’Reilly gar nicht dazu kam, etwas zu vermissen, das älter war als sechs Wochen. Selbst die Fußballübertragungen im Fernsehen fehlten ihm längst nicht so sehr, wie er gedacht hätte. Er ging ganz in der Arbeit auf, und für nichts anderes blieb mehr Zeit. Monatelang musste er für jede Idee, die er beisteuerte, zehn neue verarbeiten. Im Grunde brachte er nur ein einziges neues Rezept mit in die Küche, aber das vermehrte sich schneller als seinerzeit Brot und Fische. Sein Gedanke war simpel, aber zentral für die Frage, wie sich verlässliche Voraussagen berechnen ließen. Es war ihm gelungen, gerade die Ungenauigkeiten ökonometrischer Darstellung für seine Zwecke zu nutzen und jenes ewige Oxymoron zu finden, den akkuraten Annäherungswert. Das Problem saß tief. Je mehr Parameter man einem Modell hinzufügte, desto präziser wurden die Voraussagen. Aber mit jeder weiteren Variablen wurden die Berechnungen um ein 108
Vielfaches komplexer. Wann war der Punkt erreicht, an dem eine immer weiter verfeinerte Schätzung echt genug war? Wann reichte die Annäherung aus? Die Modelle der Wirtschaftstheorie, die die ganze Welt auf das Wechselspiel von Angebot, Nachfrage und Preis reduzieren wollten, waren zu grob. Das Ergebnis hatte etwas von einem Streichquartett, das heroisch einer Transkription von Mahlers Achter zu Leibe rückt. Doch präzisere Modelle scheiterten am anderen Extrem, dem Übermaß. In der echten Welt gab es keine Simultangleichungen, die wirklich aufgingen. Wenn bei den klassischen Ökonomen die Funktionen nicht funktionierten, mischten sie unendlich viele immer kleiner werdende lokale Faktoren in ihre Rezeptur, berechnet zu einer immer höheren multidimensionalen Trefferquote ex post facto. Aber auch da trafen die Pfeile der Experten noch nicht ins Schwarze; die Quote lag nicht höher als bei einem x-beliebigen Stammtischbruder. Wirtschaftsprognosen stürzten mit der Regelmäßigkeit klappriger Doppeldecker ab. Der Markt? Der fluktuiert. Es war zum Lachen. Wie ein Wetterfrosch vor seiner Hintergrundprojektion einer Landkarte der Neuen Welt: Heiß und feucht über Panama, eher kühler im Nordwesten. Langsame Erwärmung bis August, dann allmähliche Abkühlung zum Winter. Genau betrachtet hatte die Realität eher etwas mit Soziologie zu tun als mit Physik. Ein Kind steht im Garten und wirft einen Ball. Wo wird die Kugel landen? Newton hatte Masse und Geschwindigkeit anzubieten, Verlangsamung durch Schwerkraft, eine spiegelbildliche Parabelkurve zurück zum Erdboden. Gut, aber nicht gut genug. Immer mehr kam hinzu: der Reibungskoeffizient, die Luftwirbel, die Drehung des Balls beim Abwurf, das Schwanken der Erde um ihre Achse, das Schwanken des Kinds auf seinen eigenen Beinen … Und schlimmer noch, die Physik musste zugeben, dass schon 109
die kleinste Änderung in der Wurfhaltung des Görs dazu führen konnte, dass das Projektil irgendwo zwischen hier und Katmandu landete. Vier Jahrhunderte brauchten die Erben der Infinitesimalrechnung, um das zu bewältigen. Dabei waren Väter in Unterägypten, die am Sonntagnachmittag am Ufer des Nils ihre Söhne mit Krokolederbällen bombardierten, schon vor sechs Jahrtausenden auf die Lösung gekommen. Die Antwort hörte keiner gern: Lass das Kind den Ball zweitausend Mal werfen und gib dich mit der Statistik zufrieden. Zufällige Abweichungen hoben einander auf, und der grobe Durchschnitt gab denen, die im Getriebe des Alltags durchkommen mussten, ihren einzigen, einsamen Anhalt für eine Vorhersage. Der Kompromiss stellte alle zufrieden außer den Technikern, den Philosophen und den Vätern, die den Ball suchen mussten. Aber wenn es darum ging, Fischereierträge für die nächsten fünf Jahre zu prognostizieren, hatte niemand zweitausend Würfe frei. Gott gab einem nicht einmal zwei. Eine extrapolierte Kurve reichte für die ersten ein, zwei Abschnitte der Grafik, aber wenn man erst einmal Extrapolationen extrapolierte, dann war die ganze Prognose bald nur noch Fantasie. O’Reillys große Neuerung bestand in dem Vorschlag, auf die Suche nach Operatoren für die Vorhersage ganz zu verzichten. Die Welt der echten Fakten ergab sich für ihn nicht aus der mechanischen Anwendung statistischer Formeln, ganz gleich wie viele Variablen diese Formeln enthielten. Die Realitäten der Welt ergaben sich im ewigen Hin und Her des beide Seiten immer wieder neu beeinflussenden Wechselspiels von Ursache und Wirkung. Er überzeugte die Ökotopier mit einem simplen Propagationsmodell, das ihnen vor Augen führte, wie weit die Komplexität sich reduzieren ließ. Er konstruierte eine Inselwelt, in sich abgeschlossen innerhalb ihrer winzigen 110
Grenzen. Die gesamte Population bestand aus nur zwei Formen von Agenzien, die auf nur zwei Substanzen wirkten und die lediglich als zweidimensionale Gebilde existierten. Jede Substanz gab es in vier Geschmacksrichtungen, und jedes Agens hatte ein Repertoire von vier Verhaltensweisen. Ein solches Marktmodell schien auf den ersten Blick zu akademisch, um wirklich Interesse zu wecken. Aber jede Veränderung in einer der Variablen wirkte sich auf all jene aus, die diese Veränderung hervorgerufen hatten. Substanzen beeinflussten Agenzien, und Agenzien schufen oder zerstörten Substanzen. Zudem änderte die Anwendung dieser Regelkreise im Laufe der Zeit die Art, in der die Variablen andere Variablen beeinflussten. Nicht nur die Elemente des Modells veränderten einander – es veränderten sich auch die Regeln der Veränderung. Dem trüben Ozean der Ingredienzien entstiegen verblüffend lebensechte Phänomene. Datensätze sprachen von Sättigung, Konditionierung, Gewöhnung, Moden, Sehnsüchten, Massenhysterie, Radikalkuren, Geschmack, Popularität, vom kleinsten gemeinsamen Nenner, von spontanem Altruismus, Erfindungsreichtum ohne Sponsoren, Gratisleistungen, von Markentreue und Markenalterung, von Wettrennen um die witzigste Werbung, von Franchising, Vorkaufsrecht, Sucht, Dumping … Ein paar iterative, unabhängige, selbstmodifizierende Prozesse schufen Märkte, die nicht minder kompliziert waren als jene in der Welt draußen. Das Leben war kein Algorithmus. Es war ein permanenter Anpassungsprozess, ein Geflecht von Assoziationen. Aber O’Reillys schönes Modell war so komplex wie die Aufgabe, die es lösen wollte. Unter seiner simplen Oberfläche flossen hochkomplizierte Gezeiten, Strömungen der Intelligenz, Wogen von Habsucht und Hunger, die in turbulenten Wirbeln durch den Datenstrom purzelten. Konnte denn wenigstens der Schöpfer dieses Simulationsmodells etwas davon in Echtzeit 111
sehen? Mit seinen Wirtschaftsdiagrammen konnte O’Reilly nicht mehr tun, als den Schöpflöffel ins Fass halten und zu Versuchszwecken ein paar Kellen voll herausholen. Er scheiterte am Problem der Visualisierung, blieb stecken in der alten Sackgasse der Erkenntnis wie ein Neurologe des 19. Jahrhunderts, der nicht weiß, wie er das menschliche Denken studieren soll, ohne dass er dabei ins lebendige Hirn schneidet. Er musste eine Möglichkeit finden, vier- oder sechs- oder achtdimensionalen Raum sichtbar zu machen, und zwar in dem Moment, in dem sich diese simultanen Datenströme entfalteten. Er brauchte Farbe, Textur und Bewegung zusätzlich zu den traditionellen Größen Höhe, Breite und Tiefe. O’Reilly spielte sogar mit dem Gedanken, ob nicht ein Betrachter durch Tonhöhe und Klangfarben den Überblick in einer Darstellung mit einem Dutzend verschiedener Ebenen behalten könnte. Und dann hörte er von dem Prototypen. Als er die Grotte erst entdeckt hatte, war kein anderer Fleck auf Mercators ärmlicher Projektion mehr gut genug. Er brauchte das Werkzeug, das nur TeraSys ihm bieten konnte. Und die Grotte brauchte jemanden, der einen Begriff davon hatte, wofür sie einmal gut sein sollte. Inmitten der Licht- und Toneffekte zu stehen, inmitten einer Flut von sich verändernden Daten, einer so übermächtigen Flut, dass man sie nur in dieser Form, mit dem ganzen Körper, erfassen konnte, für eine solche Chance hätte O’Reilly fast alles gegeben. Und tat es auch. Das Gelübde kultureller Armut legte er gern dafür ab und kehrte seiner Heimat im Neandertal den Rücken, ohne einen einzigen Blick zurück. Selbst das Schweigegelübde – der Verzicht auf jede intelligente Unterhaltung – fiel ihm leicht in Anbetracht des zu erwartenden Gewinns. Das Einzige, was ihm zu denken gab, war die Sache mit der Keuschheit. Wenn nachts der kalte Regen niederging, wälzte O’Reilly sich im Halbschlaf, suchte die großzügige Wärme Mauras und fand nur 112
eine leere Betthälfte. Mit einem Fluch drehte er sich auf die andere Seite. Sie hatte ja keine Ahnung, was sie hier verpasste. Derweil war seine son et lumière-Show auf den Wänden der Grotte zu sehen, faszinierende reine Abstraktion: das hinreißende Bild einer Stadt bei Nacht, aus großer Höhe gesehen, und der Blick des Betrachters konnte sich durch das Gewirr der Halogenlichter schwenken und zoomen bis zum kleinsten Glimmen eines Lampions hinter dem Haus. Er brauchte Wochen, bis er sich in dieser wunderbar bunten Tapisserie zurechtfand. Er musste sich zwingen, damit er nicht vergaß, dass jede dieser fantastischen, miteinander verschmelzenden fraktalen Eisschollen etwas zu bedeuten hatte – eine Transaktion, eine Veränderung, eine neue Variable in der simulierten Welt. Nur wenn er in diesen unendlichen Fluss aus Variablen eintauchte, ringsum umgeben von Daten in ständiger Rückmeldung mit sich selbst, wenn er die Offenbarung mit seinem Körper spürte, auf Tuchfühlung mit der Mathematik, bis zum Hals im Humboldtstrom der Simulation – nur dann konnte er die kalten, manifesten Fakten erahnen, die durch diese Ozeane der Weissagung strömten. Diese Arbeit war O’Reillys Bestimmung. Mit ihr war die Menschheit den Kinderschuhen entwachsen. Alle Landmassen der Erde breiteten sich vor ihm aus, in so feinem Detail, dass ihm fast schwindelte. Die ganze Karte war mit unserem Wissen erfüllt. Nun hatten wir ein Werkzeug, mit dem wir ins Innere blicken konnten. Jetzt konnte die eigentliche Erforschung beginnen. Doch einstweilen blieb O’Reilly der Einzige, der seinen stroboskopischen Laborbericht entziffern konnte. Die anderen sahen kaum mehr als ein imposantes Feuerwerk. Aber das täuschte; das echte Feuerwerk war noch gar nicht im Gang. Es blieb noch viel zu tun, bevor O’Reillys pyrotechnisches Wunder den Schleier lüften und die Zukunft enthüllen konnte. Er hatte versucht, Rajan Rajasundaran in die Geheimnisse 113
einzuweihen: wie er, ein Flüchtling von einer neokolonialen Insel, Ceylonese aus Kanada, Miterfinder von ORB, der Simulations-Programmiersprache, mit deren Hilfe O’Reilly seine Arrays an die Wände der Grotte projizieren konnte. O’Reilly war auf Rajan angewiesen, den wertvollen Verbündeten, damit der Grafikcode durch seine immer höher gehaltenen Reifen sprang. Er hielt Rajan stets in Bereitschaft, für den Fall, dass er seinen Rat in einem Notfall brauchte oder ihm auch nur einfach der Sinn nach ein wenig Unterhaltung stand. Er fand ihn an seinem Lieblingsplatz, dem armseligen Pseudolokal einen halben Mausklick den Berg hinunter. Ein Ort, dessen Originalität sich in der Wahl seines Namens erschöpfte: The Office. So wie in »Schatz, ich bin noch im Büro.« Der Name funktionierte, denn es war eine Welt, die Namen für Sachen nahm, für die sie standen. Raj saß auf einer Bank in der Ecke und sah einer FernsehTalkshow zu, der liebsten Therapieform dieses Landes. Mann, bin ich froh, dass du gekommen bist, Ronan. Schau dir das an hier, die reine Schizophrenie. Frauen, die ihren Ehemännern vor laufender Kamera beichten, dass sie eine lesbische Beziehung haben, und das im Familienprogramm der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage. Ich kann nicht anders, ich muss dich das fragen: Wer lässt sich solche Sachen einfallen? Nun, Rajan, mein Sohn. Die Wege des Herrn sind unergründbar. Dann erklär mir das. Du bist doch schließlich Sozialwissenschaftler. Ist dir noch nie aufgefallen, dass nicht überall, wo Wissenschaft draufsteht, auch Wissenschaft drin ist? Aber sind wir denn nicht alle Wissenschaftler? Rajasundaran fuchtelte mit den Armen, bezog das ganze Office ein. Ich 114
meine alle, die sich an diesem kleinen Experiment namens Leben versuchen? O’Reilly bestellte ein Bier für sich und eins für den Ceylonesen. Eine interessante Formulierung. Aber lass uns doch bei dir anfangen. Würdest du dich als Empiriker bezeichnen? Krischna sei mit uns. Du willst das doch nicht wirklich wissen. Ist mir todernst, Mann. Woran glaubst du? Rajasundaran streckte ihm die linke Hand entgegen. Sein Zeigefinger beschrieb in der Luft einen Kreis im Uhrzeigersinn. Dann einen zweiten, schnelleren, in entgegengesetzter Richtung. Was soll das nun heißen? Ist das ein ceylonesischer Geheimkult? Rajan zuckte mit den Schultern. Der Atem des Mundes und der Atem der Sonne sind beide gleich heiß. Kannst du mir das übersetzen? Die Form, die man im Auge siebt, ist dieselbe, die man in der Sonne sieht. Da ist eins wie das andere. Vulgamott erschien an ihrem Tisch. Michael, begrüßte O’Reilly den Architekten. Noch ein Abendländer, Gott sei Dank. Setz dich, Mann. Würdest du sagen, im Grunde deines Herzens bist du ein Materialist? Kann die Antwort warten, bis ich meinen Blutalkoholspiegel auf das rechte Maß gebracht habe? O’Reilly bestellte dem Amerikaner ein Bier, Marke Trappist Trippel. So jetzt raus damit. Deine innersten Überzeugungen. Vulgamott blickte misstrauisch in die Runde. Ich glaube daran, dass Gott die Welt geschaffen hat, ein hochauflösendes Bild nach dem anderen. Und beim siebten Bilde ruhte er. 115
Rajan lächelte. Und dann sagte er: »Denkt ihr etwa, ich mache dreißig davon pro Sekunde für die nächsten zehn Milliarden Jahre?« Ihr wart mir eine große Hilfe, brummte O’Reilly. Dann erzähle ich euch eben selbst, woran ihr glaubt. Das wäre einfacher, stimmte Vulgamott zu. Ihr glaubt – wie alle anständigen Laborratten –, dass die Realität letzten Endes berechenbar ist, auch wenn keiner weiß, ob wir jemals wirklich das richtige Programm dafür in die Finger bekommen. Letzten Endes kann man eure innersten Überzeugungen über die Welt als solche reduzieren auf ein Spielbankprogramm. Hört sich überzeugend an, meinte Vulgamott. Selbst Erweckungsprediger, Gott hab sie selig, arbeiten mit Statistiken. Jeder Mensch heutzutage ist mit einem Zollstock zugange, einer Stoppuhr und einem Chi-Quadrat-Test. Moment. Du willst doch nicht sagen, dass hinter alldem eine verborgene Ordnung steckt? Vulgamott ließ den Blick schweifen. Etwas, das größer ist als die Statistik? O’Reilly lächelte. Wie meinst du das, eine verborgene Ordnung? Willst du sagen, das Universum ließe sich in Formeln erfassen, nur nicht von dem Punkt aus, an dem wir stehen? Oder willst du sagen, dass es sich nicht erfassen lässt? Das ist doch ein Widerspruch in sich. Ronan Baba. Manche von uns glauben an den Widerspruch in sich. O’Reilly blickte Rajan vorwurfsvoll an. Selbst die Mystik ist nicht-euklidische Geometrie. Nein, meine Herren, die Welt ist ein Zahlenspiel, bis in ihre tiefsten Geheimnisse. Rajan trommelte auf die Sitzlehne. Weiter, mein Freund. Nicht nachlassen. Das ist besser als alle Inzestgeheimnisse der Mormonen. 116
Doch genau das war der Augenblick, in dem der Sponsor sich zu erkennen gab. Aus den Tiefen der Bar erklang plötzlich die TeraSys-Melodie. Auf dem Bildschirm gegenüber lief ein Werbespot. Die Erkennungsmusik, ein Blockflötenthema der Renaissance, durchlief – dank der Wandelbarkeit von MIDI und den gesampelten Frequenztabellen verschiedener Instrumente – binnen dreißig Sekunden das gesamte Spektrum der Weltmusik bis hin zu einem brillanten Tremolo auf den Mbira der Shona. Mit der Präzision eines Balanchine dem Soundtrack angepasst, verwandelte sich der rotierende Globus in einer Schwindel erregenden Folge von Bildern zur Fensterrose von Chartres, dem Kaleidoskop eines Puzzles, den Molekülketten eines langen Polymers, den Schriftzeichen auf einem entrollten Papyrus, Mosaikfliesen aus Iznik, Solarzellen eines Satelliten im Weltall, und schließlich zur alten Pangäa, die sich langsamen, gemessenen Schrittes in Laurasia, Gondwanaland und die übrigen Kontinente, Splittergruppen und abtrünnigen Strömungen auflöste. Rajan strahlte. Ich fürchte, daran habe ich mitgearbeitet. Sie haben mein Interpolationsverfahren für diese hübsche Morphingsequenz genommen. Aber wie um alles in der Welt kommen sie auf die Idee, den Spot auf diesem jämmerlichen Beichtkanal zu senden? Einschaltquoten, erklärte Vulgamott. Die spinnen wirklich, weißt du das? Aber ja. Und wer sind »die« diesmal, Ulstermann? Die Amerikaner. Jeder Einzelne in eurem lächerlichen Staat hier. Rajan hob die Hand. Was meinst du, wie lange kann ein Mensch hier leben, bevor er infiziert ist? Von denen hat doch keiner eine Ahnung. O’Reilly ließ nicht locker. Wie Kinder unter dem Weihnachtsbaum, ihr ganzes jämmerliches Leben lang. Jeder Einzelne, wie er da steht. 117
Macht was aus eurem Leben. Genießt es, wo ihr nur könnt. Wer sagt, dass man nicht alles haben kann? Tja. Raj suchte Bestätigung bei Vulgamott. Da wäre das Finanzamt zum Beispiel. Und der Laden, für den wir arbeiten? Das sind doch die schlimmsten Anstifter. »Lasst eure Träume wahr werden«. Die verdienen es doch, dass ein paar clevere Ausländer von denen an Ideen klauen, was sie nur können, und über die Grenze in vernünftigere Länder bringen. Aber sicher. Vulgamott sprach plötzlich mit einem erschreckend echten irischen Akzent. Dann verrate mir eins: Was weiß ein Junge aus Belfast von Vernunft? Ziemlich wenig, du Bastard. Trotzdem bin ich der Einzige in eurem obszön kreativen Haufen, der eines nicht aus den Augen verloren hat. Und was soll das sein …? Dass es eine echte Welt dort draußen gibt, unter den Paradekissen, die wir dafür sticken. Rajan rollte mit den Augen. So hört man es von den westlichen Materialisten immer wieder. A propos Welt dort draußen … Vulgamott, süchtig, auf dem Laufenden zu bleiben, wie er war, wurde allmählich nervös, weil er schon seit einer halben Stunde keine Schlagzeile mehr gehört hatte. Irgendwas Neues aus Argentinien? So viel wir wissen, antwortete Rajan, ist es immer noch da, unten am dünnen Ende von Südamerika. Belfast reichte Colombo die Hand. Du passt hier prima rein, Raj. Jetzt aber mal ehrlich. Vulgamott klang verzweifelt. Würde es euch bei eurer Assimilation zurückwerfen, wenn wir uns die Nachrichten ansähen? Aber nein, kein Problem. Rajasundaran ging mit dem 118
Wählknopf am Tisch die Kanäle durch. Wie wäre es mit »Celebrity Police«? Wahrscheinlich ein Ableger von CNN, vermutete O’Reilly. Oder Kanal 56, Sportfinanz-News? Vulgamott war inzwischen so angespannt, dass es ihn kaum noch auf seinem Stuhl hielt. Wollt ihr denn überhaupt nicht wissen, was in der Welt vorgeht? Doch, unbedingt, sagte O’Reilly. Deshalb bin ich ja dafür, dass wir den Kasten ausschalten. Jetzt komm schon, Mann. Wir leben am Abgrund. Die größte Weltkrise seit – Rajan schüttelte den Kopf. All das hat es schon viele Male gegeben, wisst ihr das nicht? Das -? Alles. Der Tamile breitete acht Arme zugleich aus. Dich und dich und mich. Die Celebrity Police. Die Lesben der letzten Tage. Und es wird immer und immer wieder geschehen, solange es – Nur einmal ganz kurz? Vulgamott zuckte, hart an der Grenze zum Delirium tremens. Nur für … zehn Sekunden? Wäre das so … schlimm? He, das ist dein Amerika hier, das Land der unbegrenzten Freiheit, falls du’s noch nicht gehört hast. Das Grüppchen Immigranten suchte sich die bestmögliche Annäherung an Information, den dieser Erdteil zu bieten hatte. Schweigend saßen sie da, lauschten dem Wortschwall der Kriegskorrespondenten. In rascher Folge, eins ins andere geblendet, zog die bunte Parade proteischer Formen vorbei, flüssiger als sie es mit ihren Bitmaps je erreichen würden. Der Raum der Wirtschaft dehnt sich endlos. In jeder Himmelsrichtung reicht er so weit, dass selbst jemand, der stundenlang immer nur geradeaus geht, kaum vom Fleck kommt. Hinter einem Einschnitt tut sich eine Bai auf und 119
hinter der Bai eine Bucht und hinter der Bucht eine Lagune und dahinter ein Meerbusen, und am Ende kommt man an den endlosen Ozean, das ewige Panthalassa, dessen Wasser ein einziges Ganzes ist, seine Brandung eine einzige große Welle, die all seine Küsten formt. Licht und Schatten tanzen über den Tiefen. Ebbe und Flut des geografischen Zufalls sind die Gene dieser Welt. Hier bestimmen Wälder den Wechselkurs. Ginster tauscht seine Energiereserven mit den Gänsen. Die Tundra ist eine veritable Großhandlung für Kohlenstoff. Ebenen, Sümpfe, Moore, Hochplateaus und Regenzonen feilschen in einem FlussPidgin, das die Grübchen und Fältchen des Mikroklimas das ganze Jahr über mit Nährstoffen versorgt. Wo liegt die nächste Karawanserei? Wer tauscht Salz gegen Ocker? Wie steht die Kaffeeernte im Süden? Beeinflusst die Panikstimmung in Johannesburg die Frankfurter Börse? Werden die Frühindikatoren sich abschwächen? Wie steht es mit dem erwarteten Exportboom bei den asiatischen Tigern? Wann kommt der Kollaps? Die Gezeiten dieses Raumes werden es uns verraten. Selbst die Decke steigt und steigt. Hoch oben, oberhalb der Baumgrenze, wo alle Farben außer dem Blau verblassen, schweben elektronische Eisvögel. Jeder schlägt im Dunkeln mit den Flügeln, fixiert an seinem Ort im Koordinatensystem. Stationäre Wandertauben, Raben, die Botschaften überbringen, jeder Vogel nur ein Teil im größten überhaupt denkbaren Ganzen. Oben in ihren geostationären Umlaufbahnen sammeln die Vögel alle erdenklichen Daten und senden sie hinunter zur Bodenstation. Dort trennt eine Billion emsiger Ameisen den Weizen der Fakten von der Spreu der Belanglosigkeiten, auch wenn sie selbst das Ergebnis ihrer unermüdlichen Arbeit nie verstehen. Der Weltwirtschaftssimulator findet eine Antwort in 120
Nanosekunden. Dieser Raum kann jedes Faktum aufspüren, das man sich wünscht, schneller als ein gut abgerichteter Jagdhund die Morgenzeitung holt. Die Facetten eines unermüdlichen Insektenauges erfassen nun ganze Himmel oberhalb dieser Decke. Nah und Fern bedeuten nichts mehr. Größenverhältnisse spielen keine Rolle. Der Wirtschaftsraum kann vom Obststand an der Ecke zu den Jahresdefiziten der G7-Staaten zoomen. Die Simulation setzt das Unbegreifliche in Bilder um. Aus der Marschmusik des Marktes macht sie muntere Ragtimes. Blättert die globalen Portfolios zur öffentlichen Inspektion auf, zum Studium en detail. Ein purpurroter Komet steuerbord voraus, knapp über dem Horizont, kündet von einem Aufschwung im dritten Quartal. Ein Sternenregen bedeutet kaum zu überwindende Arbeitslosigkeit. Verborgene Verbindungen stehen plötzlich jedem vor Augen – nur eine Frage der Darstellung. Markttendenzen schweben wie Laternen durch die Sommernacht. Im Wirtschaftsraum lässt sich ein einzelnes Bild als Standbild betrachten, oder man überspringt zehn Millionen. Auf Knopfdruck geht die simulierte Ewigkeit in den schnellen Vorlauf oder auch in den Rückwärtsgang. Die ökonomische Landkarte braucht nur vier Farben, kann aber ebenso zu vierzig oder vier Milliarden explodieren. Belebte Karten spielen uns die Kabeljaufangergebnisse an der Georgebank vor, die Kassenschlager der Woche, vier Jahrhunderte lykischer Olivenölproduktion. Dieser Raum hat mehr Tiefe, als seine Oberfläche ahnen lässt. Größer als alles, was in das Gebäude passen würde, in dem er steckt. Weltweit arbeiten die Wirtschaftsexperten rund um die Uhr und sind immer wieder selbst überrascht, was bei ihren Analysen herauskommt. Frischer Wind wirbelt den alten auf, Mistral mit Schirokko, Chinook con Ghibli, Kamsin mit 121
Bise. Ein Höhepunkt jagt den anderen. Trends entstehen so schnell, dass man mit dem Benennen gar nicht mehr nachkommt. Die Preise in Jugoslawien steigen um dreitausend Prozent. Dürre und Krieg verwüsten Ostafrika. Argentinien stürzt ins Bodenlose. China erwacht zum Leben, droht den Weltmarkt zu überschwemmen. Die Liberalisierung überschlägt sich. Und trotzdem bleibt der Mediän stabil. Auch wenn manche es noch so gern anders hätten. Etwas geht hier vor, etwas von großer Tragweite. Man muss sich nur mitten in den Raum hineinstellen und die Augen aufmachen. Die unglaublichsten Schlagzeilen springen ins Auge, recken ihre Köpfe wie kecke Krokusse im ungemähten Frühlingsrasen. Aber kein Bild kann sagen, was dies Sprießen zu bedeuten hat. Die Bedeutung bleibt obskur, im Erdinneren verborgen. Die Deutung braucht Fingerfertigkeit, ändert sich mit jedem neuen Durchgang. Bitströme verbinden sich zu einer Taschenpartitur, hochkomplex, symfonisch, doch zu klein zum Lesen. Die Daten sind da, im Überfluss. Der Strom der Farben und Töne kommt in diesem Springbrunnen nie zur Ruhe. Dinge ereignen sich so rasch, dass sie gar nicht wahrgenommen werden, bevor sie schon wieder veraltet sind. Wer könnte lange genug den Blick vom Ticker lassen, um Inventur zu halten? Aber hier ist man Lauscher im Chaos der Stimmen. Bei der nächsten Werftenkrise an der Nordsee hat man die Fakten parat. Produktion als Funktion der Arbeitszeit. Arbeitszeit als Funktion der Kursschwankungen. Kursschwankungen als Funktion der Arbeitsmoral. Arbeitsmoral als Funktion der Erwartung. Erwartung als Funktion des Einkommens. Einkommen als Funktion der Produktion. Dieser Raum bringt Ordnung in das gordische Wirrwarr. Hier kann man zusehen, wie die Revolution sich entwickelt, mit jeder Geschwindigkeit, jeder Vergrößerung, aus jedem Winkel, kann jede noch so winzig kleine Wirkung eines Faktors auf einen anderen testen. 122
Die Eisvogelsatelliten stürzen sich hinab und schnappen jede Elritze. Sie fischen die silbernen Daten aus der Tiefe, lassen sie im Finsteren zappeln, dann werfen sie ihren Fang wieder hinunter auf die Erdoberfläche, wo er sich vervielfältigt, über die Stromschnellen der Breitbandrelais und Verstärker huscht, von Sender zu Sender, immer weiter den Fluss hinunter bis hinab in die Laichgründe der Petabytes. In diesem Raum, in dem jede Prophezeiung möglich ist, blinken die Fakten wie ein Leuchtturm auf einer Landzunge. Rundum, verloren in der Fantasie der Informationen, blitzen die Suchscheinwerfer auf: verschlungene grafische Tänze, Abwertung, Arbeitskampf, Schutzzölle, Werftenstreik, G 7, Paraguay, Kabul. Die digitale Flut – selbst mit der kollektiven Verstandeskraft seiner Erfinder inzwischen nicht mehr zu bändigen – weicht zurück, eingeschüchtert vom Triumph des Analogen. Fünf Milliarden parallele Prozessoren, jeder eine Wirtschaftsmacht, steuern, beeinflussen, behindern einander, bringen das Modell zum Kentern, treiben ihr mageres Bruttosozialprodukt in Sphären jenseits der Zahlen. An dieser See scheitert jeder Steuermann. Bestenfalls zeigt die Simulation uns die Stelle, an der wir in unserer eigenen Flut ertrinken. Wer an einem Maiabend aus diesem Diorama tritt, wird spüren, wie der Wind der Fakten ihm ins Gesicht peitscht. Wie die Frühlingsbrise bläst es die Nebel davon. Daten überleben alle gelehrten Hoffnungen. Aber die Hoffnung muss auch lernen, wie sie die Daten überlebt. Eine Frau, zehn Jahre tot, steigt aus einem gelben Volvo. Kehrt zurück in ein Leben, das sich an ihre Gestalt besser erinnert als an die eigene. Natürlich suchte sie sich, um wieder neu Gestalt anzunehmen, den denkbar ungünstigsten Zeitpunkt aus. Kehrte in Karl Ebesens Leben zurück, gerade als der Scherbenhaufen 123
am größten war. Fand ihn in einem verwahrlosten Wohnwagen, auf einem Grundstück, das von Oktober bis Juni unter Wasser stand, ein Mann, der von Mikrowellenlasagne und getrockneten Äpfeln lebte, nur noch am Leben blieb, damit die Arbeit getan wurde; der seine täglichen Bußübungen mit einer Präzision verrichtete, die selbst die arbeitswütigsten Kollegen merkwürdig fanden. Ein Mann, der sich gegen das letzte Abrutschen ins Landstreicherdasein nicht mehr wehren würde. Nicht gerade der Zustand, in dem er sich gern wieder finden ließ. Ohnehin nicht der Geist, dessen Erscheinen ihm willkommen gewesen wäre, gleich in welchem Zustand. Aber genau solche Augenblicke wählten die Gespenster sich ja aus. Aufrütteln: das einzig Gute, was die Erinnerung zu geben hatte. Der Geist hatte natürlich keine Ahnung, wer er war. Wie immer bei Gespenstern. Der Geist wusste nichts von ihrem Tod und ihrer Auferstehung zur falschen Zeit. Der Volvo kehrte zurück, Tag für Tag, beharrlich gelb auf dem Asphalt des Parkplatzes. Keine Frage, die Leiche kam, um ihn zu quälen. Nur weshalb sie kam, darauf konnte Ebesen sich keinen Reim machen. Er ließ die Frau wissen, dass er da war. Er besuchte sie abends in ihrem Büro, zeigte ihr ohne Hemmungen das Wrack, das aus ihm geworden war. Er sprach so wenig wie möglich, denn ihre Stimme zerstörte die Illusion. Er saß einfach nur da, in ihrer Gegenwart, in der Deckung, die sich bot, hantierte mit Overheadfolien, strich sich mit ausgefransten Filzstiften etwas in alten Zeitungen an, alles, nur um sie nicht anzustarren. Hoffte, dass er die flüchtige Ähnlichkeit vertreiben konnte. Die Neue war ihr wandelndes Ebenbild, auch wenn die äußere Ähnlichkeit, vernünftig betrachtet, nicht groß war. Größe, Körperbau, solche Belanglosigkeiten kamen einigermaßen hin. Augen, Wange, Kinn waren bestenfalls Annäherungen, besser konnten die plastischen Chirurgen Gottes sie nicht nachbauen. Und doch war sie Gail, wie sie 124
immer gewesen war. Auch heute noch hätte Ebesen die Tote nach dem Gedächtnis zeichnen können, und die Zeichnung hätte mehr von ihr vermittelt als jedes der Fotos, die sie bei der Totenwache an den geschlossenen Sarg geheftet hatten. Aber wie die Wangenknochen dieser Neuen aussahen, hätte er sich nicht vom einen Abend bis zum Nächsten merken können. Er, dessen Malerei schon immer den Hang zu jenem peinlichen Anachronismus, der menschlichen Figur, gehabt hatte; er, der ein brillanter Porträtmaler hätte werden können, hätte er zweihundert Jahre früher gelebt: Er brachte es nicht fertig, Adies Gesicht auf seine Grundformen zu reduzieren. Sein Verstand sah sie nicht, deswegen konnte er sie nicht zeichnen. Dieselben Skrupel hatte er bei der anderen gehabt, damals, als sie noch lebte. Jeden Tag, den sie miteinander verbracht hatten, von neuem. Der quälende Verdacht, dass Gail in Wirklichkeit ihr eigener böser Geist war. Heimlich betrachtete er sie, wenn sie schlief, wenn die Muskeln nicht auf der Hut waren und die alte Natur zum Vorschein kam, wie sie vor den Schmerzen gewesen war, vor der Schwerkraft, dem Angriff des Sonnenlichts, vor den grässlichen Verzerrungen, die der Spiegel des Lebens auf alle Gesichter brachte. Er betrachtete sie im Lampenlicht, Eros über seine Frau gebeugt mit der verbotenen Kerze. Er forschte in ihren Zügen, denen der Schlaf die Maske abnahm, versuchte darin zu ergründen, wie sie früher ausgesehen hatte, suchte das Gesicht, das er kannte, in der Zeit, in der er es noch nicht gekannt hatte, das Gesicht, das sich wie ein Bilderrätsel, wie etwas von Arcimboldo, in der Landschaft seiner Synapsen ausbreitete. Ihr Gesicht war wie ein Fossil, die Wangenknochen ein Dietrich, der sich mit dem Knirschen der Erkenntnis im verrosteten Schloss von Ebesens Erinnerung drehte. Das Bild sprang ihn aus dem zerfledderten Fotoalbum seines Lebens an, tauchte auf aus den Tiefen des Marianengrabens, seine 125
Kindheit zog vorüber, alles noch erhalten, was längst Asche sein sollte. Sie tötete seinen Sinn für Sicherheit, das Gespür für Sicherheit, die Gewissheit, ob es hell war oder dunkel. Das Gespenstergesicht hatte das eigene Begräbnis überlebt. Das Zucken in den Wangen dieser Adie war wie ein Schlag. Ihre Grübchen, ihre Furchen flirteten mit einer Vertrautheit, die nie wirklich Form annahm. Er konnte es nicht auf den Begriff bringen, die Art, wie zwei Personen sich in dem einen Gesicht zeigten, fand nichts an ihren Zügen, womit er es erklären konnte. Tote Liebe und lebendiges Ebenbild: zwei Hälften eines zerrissenen Originals. Er rasierte sich wieder öfter, damit sie ihn nicht abstoßend fand. Beim Duschen hängte er die Hose über die Badezimmertür, um wenigstens die schlimmsten Falten herauszudämpfen. Mit Spülmittel und einer alten Zahnbürste rückte er den Flecken auf seinen Hemdkragen zu Leibe, und wenn er sich dabei zusah, fragte er sich, wie tief er im Namen plötzlich wieder erwachter Gefühle noch sinken sollte. Monate nach ihrer Ankunft brach der Bann. Der Anblick tat dabei nichts zur Sache. Sein Auge nützte ihm am Ende nichts. Drei einzelne Worte erlösten ihn: Sprache, das Medium, dem Ebesen von allen am meisten misstraute. Unter allen Absurditäten ausgerechnet Worte. Sie plapperte. Das war es, was Ms Klarpol bei seinen Besuchen zu tun pflegte. Redete laut vor sich hin, zu aller Welt, zu sich selbst, zu ihrem schokoladenbraunen Labrador, dem treuen Pinkham, der sie oft ins Büro begleitete. Plapperte von der geradezu lächerlich idyllischen Wohnung, die sie für sich gefunden hatte. Ein Häuschen auf einer Insel, Karl. Wie aus einem Gedicht. Morgens wecken mich die Möwen. In New York waren es immer Sirenen. »New York« und »Sirenen«, als das zusammenkam, stand 126
Gail vor ihm. Jede Faser ihres Gesichtes nahm Gestalt an, ein irrwitziges Hologramm. Er sah sich diese Adie an, die noch immer von ihrem unverschämten Glück schwärmte. Er starrte sie an, denn nun war es ihm gleich, ob sie ihn dabei ertappte. Die Lebendige nahm ihre eigene Gestalt an, sah ihr nicht im Mindesten mehr ähnlich. Nichts blieb von der Gespenstergeschichte, nur sein Bedürfnis, ihr nahe zu sein. Er wollte sie nicht mehr besuchen. Aber er kam doch wieder. Sie begrüßte ihn freudig, fragte nicht nach einer Erklärung. Er war mit seiner Rolle als griesgrämiges Maskottchen zufrieden. Er ließ die albernen Versuche, gepflegt zu erscheinen. Aber wenn er Zapfenverbindungen für Vulgamotts architektonisches Musterbuch entwarf oder quellende Gewitterwolken für den Wetterraum von Stance und Kaladjian, dann spürte er den Stich der Erinnerung, spürte zu seinem Schrecken, wie sich Gefühle in ihm regten, von denen er geglaubt hatte, dass sie längst tot und begraben seien. Er zeigte ihr, wie Zeichentrickbilder entstanden. Du musst nur ein paar Folien malen. Sagen wir: eine für jedes ZweiSekunden-Intervall. Rajasundaran hat ein Morphingprogramm geschrieben, das alle Zwischenwerte errechnet. Dann lehnte er sich zurück und sah zu, wie sie Bewegung in die starre Welt des Dschungels brachte. Schon raschelten die Blätter, und der Mond wanderte über den kindlichen Himmel. Bald würden ihre Vögel, die noch wie steif gefroren auf den Ästen saßen, flattern, die Schlange sich schlängeln, die Affen würden sich von Ast zu Ast schwingen, der Flötenspieler sich zu seinen Tönen wiegen, und die Löwen würden sich so echt an den Boden ducken, dass man nur auf ihren Sprung wartete. Er sah ihr zu, wie sie Dutzende von Einstellungen malte, Geschöpfe in allen erdenklichen Posen. Jedes davon ein zweidimensionaler Schnitt, und eins liebevoll wie das andere. Sie bündelte sie zu Zeitrafferschritten, die sich ruckfreier bewegten als er selbst. Der Traum erwachte zum Leben, der 127
Geist des toten Malers malte sein Bild mit den Händen dieser Frau, dieses Mediums. Wenn es knifflig wurde, redete sie dem Terminal gut zu. Nun sei doch nicht so störrisch, Mr Maschine. Sei doch mal lieb zu mir. Ich hab doch nichts Böses getan, außer dass ich zu den organischen Lebensformen gehöre. Karl, die Chips gehorchen mir schon wieder nicht. Was soll ich machen? Sie nehmen, wie sie sind, antwortete Ebesen. Das stärkt den Charakter. Aber es ist nicht mein Charakter, der diese Bilder zeichnen will, erwiderte sie. Er sah ihr zu, wie sie auf dem Grafiktablett hantierte. Er stand an ihrem Schirm, wenn sie mit dem Stift ihre Bewegungen vollführte. Sie setzte die Vorlage mit solcher Leichtigkeit um, dass ihm davon schwindelte. Sie fuhr mit dem Finger über die vorhandenen Formen, glücklich, dass sie sie nehmen konnte, wie sie waren. Sie war virtuos, aber sie wollte keine Freiheit. Du bist gut. Danke. Aufgepasst, zog er sie auf. Nicht zu frei werden. Sonst machen deine Tiere, was sie wollen. Sie sah ihn an. Was sie sah, war ein stoppelbärtiger Mann von fünfundfünfzig mit speckigem Kragen. Sie wandte sich wieder ihren standardisierten Zeitsequenzen zu und grüßte sie mit einem Gurren. Ganz Recht, meine Kleinen. Eines Tages reißt ihr euch los, stimmt’s? Ich sehe es schon vor mir. Etwas in dieser Schmusestimme ließ den Labrador aufhorchen, der bisher brav zusammengerollt in der Ecke gelegen hatte. Der Hund kam zu seinem Frauchen und stieß sie mit der Nase an. Oh, du auch, Pinkham, du auch. Irgendwann bist du auf und 128
davon, nicht wahr, mein Schatz? Oh ja, ich sehe es dir an. Zufrieden kehrte Pinkham an seinen Platz zurück und ließ sich von neuem nieder. Auch Ebesen bezog wieder Posten. Hast du eigentlich je an eigene Arbeiten gedacht? Etwas, das nicht anderer Leute Eigentumsrechte verletzt? Sie runzelte die Stirn, der Blick, den man einem aufdringlichen Betrunkenen auf einer Party zuwirft. Ich bin eine gute Kopistin, Karl. Jeder auf der Welt sollte das tun, was er am besten kann. Ich weiß, was du am besten kannst. Ich habe es gesehen. Ah ja! Das neue Reich der Tiere! Monsieur Rousseau, Version 2.0. Sie hielt die letzte Folie in die Höhe, das Bild eines Elefanten, der eben zum Trompeten den Kopf in den Nacken legt. Sie speicherte das Bild an der Stelle, an der sie es für die Zeichentricksequenz brauchte. ? Rousseau 2.0 meine ich nicht. Ich meine Klarpol 1.0. Unsinn. Die Sache hier, die machen wir alle gemeinsam. Die Jungs haben die Programme geschrieben. Ich klau mir das nur alles zusammen. Ich habe einfach nur Henris Caesarsalat ausgeschnitten und auf Stäbchen geklebt. Aber warte nur ab, bis – Ich meine deine Einzelausstellung. Die, mit der du so gut angekommen bist. Ihr Lächeln erstarrte, als sie die Falle sah. Gails Lächeln. Nicht dass ihr das Kräuseln, der Schwung der Lippen ähnlich gesehen hätte. Nur dies Erstarren, diese Furcht. Karminrot, bereit zum Kampf oder zur Flucht. Wie hieß der Laden noch? Gott, früher habe ich die alle auswendig gekannt. Hätte bei jedem sagen können, wie viel Provision sie nehmen. Spring Street, nicht weit vom Broadway. Francis Hinger Gallery. Francis Hinger, bestätigte Adie. Der Elefant rührte sich nicht 129
mehr. Sie setzte sich auf einen Stuhl. Wie lang ist das jetzt her? Spielt keine Rolle. Nein, warte. Ich kann es dir genau sagen. Das war im August … Was haben wir jetzt für ein Jahr? August 1979. Eröffnung im Juli, sagte sie mit zusammengekniffenen Lippen. Aber wen interessiert das denn noch? Adie Klarpol. Nur dass du dich damals noch Adia nanntest. So steht es in meinem Pass. Wie alt warst du da, gerade mal siebzehn? Siebenundzwanzig. Alt genug, um vernünftig zu sein. So alt wird keiner von uns. Die Ausstellung war ein Erfolg, für ihre Verhältnisse. Sie hatte einen grässlichen Titel … »Halationen.« Was ist daran grässlich? Was soll das überhaupt sein? Ich kenne nur Halitose. Heißt es so was wie Mundgeruch? Es bedeutet Überstrahlung. Ein Fachbegriff. Beschreibt die Technik, nach der die Bilder entstanden. Pastell-Penumbra, Lichthöfe. Fast nur kalte Farben. Nicht uninteressant. Rorschachtests unter Einfluss harmloser Drogen. Auf den ersten Blick abstrakt, auf den zweiten verbrämter Hyperrealismus. Eins hieß Unendliche Küste, wenn ich es recht im Gedächtnis habe. So eine Art handgezeichnete Mandelbrot-Menge, ein paar Jahre bevor die ganze industrialisierte Welt dem Mandelbrot-Wahn verfiel. Ich kann nicht glauben, dass du das so lange im Gedächtnis behalten hast. Und noch weniger, dass du wirklich in dieser Ausstellung warst. Damals hatte ich das Gefühl, dass kein Mensch da war. Außer meiner Mutter, und die ist nur gekommen, weil ich ihr das Flugticket bezahlt habe. Na, nun übertreib nicht. Hübscher kleiner Artikel im 130
Artforum. Die hätten alles für dich getan. Ganz heißer Tipp. Kurz vor dem Durchbruch. Karl. Bitte. Lass mich raten. Du wolltest die Welt verändern. Richtig? Alles besser machen? Habe ich Recht? Tja, was immer ich wollte … Sie lachte wieder. Die Schultern entspannten sich. Sie kehrte ans Grafiktablett zurück. Gefahr vorüber. Ich habe ja nicht gerade das Heilmittel gegen Krebs gefunden. Was meinst du, waren die Sachen gut? Jetzt ist es aber genug, Karl. Du hast sie doch gesehen. Du bist das Publikum, deine Stimme zählt. Sag du mir, ob sie gut waren. Also. Wenn du wirklich dem Publikum das Urteil überlassen wolltest, dann frage ich mich, wie du überhaupt bis siebenundzwanzig durchgehalten hast. Ebesen zupfte sich an seinem zerschlissenen Ärmel, als hätte er einen Spickzettel dort versteckt. Schönheit war wieder in Mode. Handwerk und Präzision und Gegenständlichkeit. Und es hat nicht einmal die sprichwörtlichen fünfzehn Minuten gehalten, nicht wahr? Sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Maria im Rosenhag, von Stefan Lochner. Sie wandte sich wieder der Arbeit an ihren Geschöpfen zu, unnahbar unter ihrem Heiligenschein. Weißt du, was komisch ist? Die einzigen Leute, die bereit sind, einem Geld dafür zu geben, dass man malt, sind Geschäftsleute. Die mögen eigentlich immer noch solche Sachen. Und deswegen hast du aufgegeben? Deshalb bist du aus der Szene ausgestiegen und lieber gleich ins Business gegangen? Liebe Güte. Was spielt das schon für eine Rolle? Oh, ich weiß, dass es keine Rolle spielt. Er wäre der Letzte gewesen, der gesagt hätte, dass etwas eine Bedeutung hat. Es interessiert mich nur einfach. 131
Lass mich in Ruhe, Karl. Gerade du musst so was sagen. Sie zuckte selbst zusammen, so schroff klang es. Er hielt inne. Schon gut. Ich wusste nicht, dass es immer noch ein wunder Punkt ist. Ist es auch nicht. Ich war einfach nur neugierig, wieso du … Sie lehnte sich kampflustig vor. Doch dann ging ihr die Betonung des »du« auf, und ihr Angriff verlor den Schwung. Sie lehnte sich wieder zurück, atmete durch. Kunst ist schon … wirklich krank bei uns, was? Das Leben ist krank. Kunst ist nur die Krankenschwester, die die Fieberkurve misst. Na, wie dem auch sei. Jedenfalls hatte ich keine Lust mehr, damit mein ganzes Leben zu verbringen. Er hob an zu singen, mit einer Leichtigkeit, die noch ahnen ließ, was für eine geschmeidige Tenorstimme er einmal gehabt hatte, bevor sie von Alter und Bitterkeit spröde geworden war. »I got troubles of my own.« Ganz genau. Ganz genau! Das erste mit tränenerstickter Stimme, das zweite ein schluchzendes Kichern. Hast du was dagegen, Kleiner? Sie setzte sich auf, drückte die Knie aneinander und umschlang sie mit ihren Armen. Ebesen stand immer noch da, sein schmutziges Köfferchen in der Hand, bereit, sofort die Flucht zu ergreifen, wenn sich etwas entwickelte, was auch nur im Mindesten nach Vertrautheit aussah. Mist, sagte sie. Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab. Das ist doch lächerlich. Sie riss sich zusammen, brachte ihren Körper wieder unter Kontrolle. Schon gut. Es ist nichts weiter. Hier. Setz dich her. Sie rückte zur Seite, damit er an den zweiten Arbeitsplatz konnte. Wenn du schon hier bist, dann mach dich wenigstens nützlich. Da sind die Palette und 132
die Pinsel. An die Arbeit. Lass den Affen hüpfen. Es war eine Art Gottesbeweis, jedenfalls für den Gott der Mathematiker, dass das Leben stets exakt so viele Bußen wie Sünden bereithielt. Die beiden Künstler widmeten sich schweigend ihrer Arbeit. Adies Hände bewegten sich rasch, wie kreisende Möwen. Seine regten sich nur auf engstem Raum, wie die Arme einer Gottesanbeterin. Mit kurzen, kräftigen Strichen und der Präzision eines Chirurgen trug er seine Kreuzschraffuren auf. Beide saßen sie über ihre Arbeit gebeugt, Mönche in einem Skriptorium, statteten einen Kontinent mit Blattgold und Himmelblau aus. Ebesen malte und war mit seiner Rolle als Adies Schüler gern zufrieden, so lange, bis sie sich wieder gefasst hatte. Aber keinen Herzschlag länger. Eine innere Uhr irgendwo zwischen dem lädierten Herzen und der ramponierten Leber verriet ihm exakt den Zeitpunkt, an dem er weitermachen konnte. Und was hat dir den Rest gegeben? Die Tassen und Teller, die sie auf die Leinwand geklebt haben? Nein, die fand ich noch witzig. Obwohl ich gestaunt habe, was dafür gezahlt wird … Was war es dann – die Mode, die nichts Affirmatives hochkommen lässt? Wenn ich mich recht entsinne, standen deine Werke ja nicht allzu hoch auf der Schutt-und-AscheSkala. Eher – wie soll man sagen – die gute Miene zum bösen Spiel. Sie nahm den Spott mit einem Schnauben auf. Sagen wir doch einfach, dass meine Talente … nie wirklich im Kreativen lagen. Ja und? Das könnte man vom halben ARTFORUM-Patheon sagen. Der Trick da draußen ist genau derselbe wie hier bei uns. Man muss nur eine originelle Art finden, unoriginell zu sein. 133
Da draußen gefällt’s mir nicht. Hier gefällt’s mir. Das Tänzeln des Boxers. Hier drin ist es sicherer. Ich verstehe das nicht. Wie kann denn Werbegrafik sicherer sein, wo es um Millionen Betrachter und Trillionen Dollar geht, und die hohe Kunst gefährlich, obwohl ein Bild für achttausend weggeht und dann in einem Sommerhaus auf Long Island hängt? Die hohe Kunst ist ein ziemlicher Witz, findest du nicht auch? Der ganze Modebetrieb. Die verpfuschten Leben fürs Klatschgeschäft. Kultfiguren hochgejubelt und in den Dreck gezerrt, Unsummen für Müll gezahlt. Und dann ein Wirbel drum, als wär's ein Börsengeschäft. Das ganze Theater, und das um Sachen, die sowieso nicht echt sind. Was ist schon echt? Sie zuckte mit den Schultern. Sie machte eine Armbewegung, die alle umfasste, die sie gefangen hielten. TeraSys. Exxon. GM. Die Dinge, aus denen die Welt besteht. Die Dinge, an die alle glauben. Ich kann dir verraten, was echt ist. Microsoft ist echt. Die Kunstszene ist ein Maskenball für Möchtegerne. Ebesen warf die Hände in die Höhe. Einen Augenblick lang war er der Weißbehemdete in Goyas Erschießung der Aufständischen. Warum hast du dich dann überhaupt auf die Kunst eingelassen? Warum lässt du das Bildermachen nicht ganz sein und suchst dir einen anständigen Beruf? Etwas, das reell genug ist, Verkauf oder Marketing? Da werden doch immer Leute gesucht. Dafür zu sorgen, dass ein gemalter Elefant trompetet, ist nicht gerade große Kunst. Aber es ist auch keine große Mühe. Ah ja. Bilder machen Spaß, aber wehe, wenn sie wichtig werden. Ebesen ließ diesen Ausbruch wirken, dann blickte er auf. Adie saß wieder zusammengekrümmt, starrte auf ihre Zeichenfläche. 134
Quäl mich doch nicht so, Karl. Ich verdiene mein Geld hier, genau wie du. Du hattest mehr Talent als ich. Er brummte es in Richtung Schirm. Adie reckte den Hals, musterte, was er gezeichnet hatte. Der Affe hatte Leben. Nach drei rasch hingeworfenen Einzelbildern schwang sich Rousseaus manischer Makake grazil von Baum zu Baum, der Affe par excellence. Sie blickte auf zu dem verkommenen Genie, dem traurigen Muster aller verkrachten Existenzen des RL. Und wie viel Talent hattest du? Ebesen hob die Augenbrauen und ließ sie wieder sinken. Er rappelte sich auf, als hätte der Gerichtsdiener den Saal aufgefordert, sich zu erheben. Er kraulte Pinkham, den Hund, hinter einem Ohr und war verschwunden. Doch schon am nächsten Abend kam er wieder, er konnte nicht dagegen an. Auch in diesem neuen Raum gibt es keine Stelle, wo du deine Notdurft verrichten kannst. Das stimmt dich zuversichtlich, obwohl die Zuversicht sich rasch relativiert. Lange können sie dich hier nicht festhalten, ohne eine Gelegenheit zum Pinkeln. Massiver Holzboden; verputzte Wände. Die Kette an deinem Fuß begrenzt die Möglichkeiten zum Urinieren auf einen Umkreis von knapp zwei Metern von der Stelle, wo du jetzt sitzt. Nicht einmal diese Fanatiker können erwarten, dass du dein eigenes Bett beschmutzt. Du wartest. Jetzt immerhin im Dämmerlicht. Jemand wird kommen, bevor der Druck auf die Blase dich umbringt. Jemand mit etwas zu essen und der Nachricht, dass du freigelassen wirst. Oder zumindest mit einem Gefäß zum Pinkeln. Du wartest. Das Warten wird zu einem Spiel. Das Spiel wird 135
zur Kraftprobe. Sie wollen deinen Willen brechen. Sie finden das spannend. Auch eine Art Sieg für die Unterdrückten dieser Welt, wenn sie das mächtige Amerika dazu bringen können, sich in die Hosen zu machen. So wird das Warten zur außenpolitischen Mission; du musst den Harndrang so lange unterdrücken, bis der Feind dir Respekt zollt. Der Schmerz wird unerträglich. Ballt sich zusammen wie ein Stein in der Harnröhre. Die aufgestaute Flüssigkeit quillt dir aus den Augen. Du hast verloren, verloren gegen deinen Körper, gegen die Zeit, gegen deine Entführer. Du ziehst dir die Augenbinde über den Kopf und rufst, so zerknirscht, wie es der Schmerz eben zulässt. Jemand schlägt einmal gegen die Tür, dann öffnet sie sich. Eine Stimme aus dem Nordosten der Finsternis ruft »Ja, bitte?«. Nicht der gleiche Besucher wie vorhin, nicht der, der dir mit der Pistole das Ohr gestreichelt hat. Der hier klingt kleiner, untersetzter, begriffsstutziger. »Entschuldigen Sie«, sprudelst du los. »Ich muss dringend pinkeln. Urinieren. Toilette? Sie verstehen?« Du hast das arabische Wort gelernt, aber in der Not versagen die Sprachkassetten. Du stehst da und verlegst dich auf Körpersprache. Die Hüften nach vorne gereckt, die Hand am Schritt wie das belgische Männeken, schreibst du deinen Namen in den Schnee eines imaginären westeuropäischen Landes, ein Land in einem anderen Universum. »Ja, bitte. OK. Ich weiß. Du warten.« Du lachst heftig und laut, und dabei zerreißt es dich fast. Der Mann verschwindet, verursacht einen Riesenaufstand, wie bei der Ankunft der Kreuzritter im Heiligen Land. Du musst der Erste sein, den diese Bande je angekettet hat. Dass Amerikaner Blasen haben, ist ihnen noch nie in den Sinn gekommen. Die kleine, untersetzte Stimme kehrt zurück. Er hält dir etwas 136
an den Hosenschlitz. Du schielst unter der Augenbinde hervor und siehst den abgesägten Hals einer Plastikflasche für Haushaltsreiniger. Du knöpfst dir mit den schmerzenden Daumen die Hose auf und ziehst das Unterhosengummi herunter. Aber es ist aussichtslos. Daran kann auch die Verzweiflung nichts ändern. Du konntest noch nie vor Zeugen pinkeln. »Bitte. Ich halte. Sie gehen weg.« »OK.« Der Mann drückt dir das Gefäß in die Hand. »Du nehmen.« »Danke. Sie können jetzt gehen. Auf Wiedersehen.« Er macht ein paar Schritte. Doch die Tür geht nicht zu. Das muss reichen. Unter der Augenbinde nimmst du deine ganze Willenskraft zusammen und stellst dir vor, du wärst allein im Zimmer. In deinem vernagelten Loch, kahl bis auf die Matratze und den Heizkörper. Die Schleusen öffnen sich; ein rauer Faden wird mit hoher Geschwindigkeit aus deiner Harnröhre gezogen. Erleichtert fällst du gegen die Wand. Dein Kopf sinkt schlaff nach hinten. »Merhadh.« Toilette. »Merhadh«, schluchzt du und öffnest alle Schleusen auf einmal. »Ja, ja«, lacht dein Entführer. »Merhadh, merhadh. Ich verstehe.« Nicht das Wort, das die Einheimischen benutzt hätten. Die Aussprache nicht einmal annähernd korrekt. Es fiel dir erst wieder ein, als du es eigentlich nicht mehr brauchtest. Aber er amüsiert sich über die beiden Silben aus seinem Munde. »Gut, gut. Ich lasse Flasche hier. Du nimmst … jedes Mal. Nur für Wasser. Nicht Scheiße. Scheiße nur morgens. Ich komme und hole dich. Leere Flasche. Gut? Ja, bitte?« »Hören Sie. Können Sie mir bitte etwas zu trinken bringen? Wasser. Eine andere Flasche für Wasser. Ich bin völlig ausgetrocknet …« Du machst unverständliche 137
Handbewegungen, um anzudeuten, dass du zu trinken brauchst. Staub in der Kehle. »Nicht gut. Nicht gesund. Ich brauche Wasser. Eine Flasche zum Trinken.« Du wirst dich erst einmal auf die Flüssigkeiten konzentrieren und dir die Sache mit der festen Nahrung für später aufheben. »O.K. Kein Problem. Ich bringe. Bald. Inschallah.« So Gott will. Du betest, dass der letzte Satz nur eine Floskel ist. Die Tür schließt sich, und es herrscht Stille. Du ziehst die Augenbinde ab und musterst den leeren Raum. Wie lange halten sie dich jetzt schon gefangen? Du brauchst Orientierungspunkte. Am Tag deiner Entführung hast du dich geweigert, in Zeiteinheiten zu denken, die größer waren als eine Stunde. Die Krise forderte kleine Schritte, einen Fuß vor den anderen. Selbst das Rechnen in Tagen hätte bedeutet, dass du kapitulierst. Hättest du in Wochen gerechnet, hättest du die Grenze dessen, was du glaubtest überleben zu können, schon um eine Woche überschritten. Jetzt ist das Überleben eine Frage der Seelenruhe, und die kann dir nur ein Kalender verschaffen. Entführt am Dienstag, dem elften November. Tag des Waffenstillstands, schießt es dir durch den Kopf, Ende des Ersten Weltkriegs. Danach ein langes Verhör, so lang, dass du schließlich anfingst zu fantasieren. Dann der Aufenthalt in dem Loch, wo völlige Dunkelheit den Lauf der Zeit aufhob. Die endlose Fahrt mit dem Lieferwagen, gefolgt von einer Phase der Bewusstlosigkeit. Jetzt siehst du an den Ecken des mit Blech vernagelten Fensters das letzte, brackige Tageslicht versinken in den salzigen Fluten des Dunkels. Aber welcher Tag ist heute? Du hast keine Ahnung, und das lässt dir keine Ruhe. Du hast die Orientierung verloren, und in deiner Rechnung fehlen womöglich zwei volle Tage. Du hast die Verbindung zur Welt verloren, aus der sie dich geraubt 138
haben. Markttag, Schultag, Waschtag, Feiertag, Geburtstag: du stürzt ins Bodenlose. Du kannst nicht leben ohne ein Datum, an dem du lebst. Du addierst die Stunden auf jede nur erdenkliche Weise und landest jedes Mal auf einem anderen Feld im Kalender. Du wanderst im Kettenradius um den Heizkörper, versuchst das Datum mit Gewalt herbeizuzwingen wie eine längst vergessene Telefonnummer. Hier in diesem leeren Würfel ringst du nach Luft wie ein Kind, das bei einer mitternächtlichen Massendeportation auf dem menschenübersäten Bahnsteig seine Eltern verloren hat. Du wirst schreien. Schreien, bis deine Entführer kommen. Tausche eine Tracht Prügel gegen das Datum von heute. Dann, gedämpft durch die Wand, ein schwaches Signal. Das Hintergrundrauschen des Verkehrs verändert sich. Ein unheimlicher Ruf erschüttert die Luft, dann ein Echo. Es hallt wider, eine Luftschutzübung. Eine Fuge elektronischer Muezzinrufe, hin und her, sie spielen sich den Ball zu wie barfüßige Straßenkinder. Die Lautstärke des Gebetsrufs verschafft dir Klarheit. Ein Lächeln steigt auf in deiner Kehle und macht sich breit auf deinem Gesicht. Freitag. Der heilige Tag. Freitag, der vierzehnte November. 1986. Du schließt die Finger um dieses wertvolle Stück Wissen und lässt es nicht mehr los, nicht um alles in der Welt. Tage vergehen. Mit jedem Tag schwindet die Hoffnung auf eine rasche Freilassung. Du überlegst, ob du für jeden Tag mit dem Fingernagel eine Kerbe in den weichen Putz ritzen sollst, Kolonnen von Strichmännchen, diagonal zusammengeschnürt zu gefügigen Siebenergruppen, die über die Rampe ins Schlachthaus der Zeit marschieren. Aber die Geste erscheint dir zu billig, zu filmreif, schmeckt dir zu sehr nach Kapitulation. Du hast andere Zeitmesser, und die sind zuverlässig wie ein Metronom: den vagen Wechsel von Hell und Dunkel, die Abfolge widerwärtiger Mahlzeiten, die 139
morgendlichen Ausflüge mit verbundenen Augen zum Abtritt gegenüber deiner Zelle. Die Tage sind leichter zu zählen als die Stunden. Du gehst in dich und suchst nach Zerstreuung, ein zappliges Kind aus Iowa auf dem Rücksitz eines Rambler, das auf dem Weg zum Yellowstone-Park das Repertoire des Nummernschildratens längst erschöpft hat, noch bevor es an der Westseite von Nebraska strandet. In deinem Kopf herrscht graugrüne Ebbe. Dein Verstand will um keinen Preis anerkennen, was mit dir geschehen ist. Gedanken verschwimmen. Nichts da. Nichts als ein formloses Abbild des formlosen Lochs, in das sie dich gestoßen haben. Natürlich hast du früher alles Mögliche gewusst, Dinge, die du gelernt hast, wohlvertraute Ablenkungen, die dir halfen, die brutale Endlosigkeit eines Nachmittags zu vertreiben, die Mauer der Minuten zu überwinden, eine Mauer so massiv, dass dein Puls sie nicht ermessen kann. Aber dein Verstand ist auf der Hut, will sich keinesfalls dabei ertappen lassen, wie er an etwas anderes denkt als an sofortige Freilassung. Du sprichst mit dir selbst, wie mit einem unbekannten Reisegefährten auf einem Transatlantikflug. Lässt deinen eigenen Lebenslauf Revue passieren und hoffst, dass du dabei auf ein Thema stößt, das dich interessiert. Lieblingssport. Musikinstrument. Kein Gesprächsfaden dauert länger als zehn Minuten. Und zwischen zwei Inseln glücklichen Vergessens liegen hundert mühsame Zehnminutenintervalle. Du schläfst auf der dreckigen Matratze mit dem mannsgroßen Fettfleck über die ganze Länge. Von dem Gestank wird dir übel, und selbst wenn du auf dem Rücken liegst, hast du das Gefühl, du wirst ohnmächtig davon. Aber im Laufe der Zeit gewöhnst du dich an die ekligen Ausdünstungen. Du schläfst leicht und unruhig, lernst, den Brechreiz zu unterdrücken. Am Morgen machen sie deine Kette los und bringen dich zur 140
Latrine. Du legst die Augenbinde so an, dass du an den Wangenknochen vorbei auf deine schlurfenden Füße schielen kannst. Trotzdem stolperst du wie ein Blinder, damit die Wachen nichts bemerken. Dann fängt für zehn wertvolle Minuten die Uhr wieder an zu ticken, und die plötzliche Hektik verhöhnt die steinerne Lähmung der letzten vierundzwanzig Stunden. Du zuckst wie ein elektrisierter Leichnam, spülst den Urinbehälter aus, füllst deine Feldflasche mit Wasser, kämpfst mit den riesigen Küchenschaben um eine Ecke des Waschbeckens, entleerst deinen Darm mit Schallgeschwindigkeit und benetzt in den wenigen verbleibenden Sekunden Kopf, Achselhöhlen und Unterleib, eine verstohlene Dusche, die dich nicht sauberer macht und dir stundenlang klamme Kälte beschert. Dennoch kommt es dir wie ein Akt des Widerstands vor, ein Guerillaschlag im Namen von Anstand und Schicklichkeit, ein winziges Sinnbild von Ordnung, das dich am Leben erhält. Die Mahlzeiten kommen unregelmäßig, zwei- bis dreimal am Tag. Die Qualität schwankt zwischen ungenießbar und noch schlimmer. Das Frühstück besteht meist aus gekochten OkraResten und Kichererbsenpüree. Das Mittagessen zeigt eine gewisse Tendenz zu abgenagten Suppenknochen, dazu etwas, das du in deinen optimistischeren Augenblicken für eingelegte Tomaten hältst, und ein halber khobez-Fladen. Das Abendessen ist, wenn es gut geht, eine halbherzige Imitation von baba ghanouj. Geisel: Mit jedem Tag kommt ein Buchstabe hinzu, und das Wort nimmt Gestalt an, wie der Gehängte beim Galgenraten. Es lässt sich von Stunde zu Stunde schwerer leugnen, dass du das Opfer einer Art Verbrechens geworden bist, von dem du geglaubt hättest, es gäbe sie längst nicht mehr. Wieder ein naiver Bewohner der westlichen Welt für nichts und wieder nichts aus dem Verkehr gezogen und gefangen genommen, ein nicht einlösbares Pfand, das einen Feind beeindrucken soll, der 141
nicht die leiseste Ahnung von den Regeln des Tauschhandels hat. Der Nationalfeiertag verstreicht, der Zweiundzwanzigste. Zumindest nach deiner Rechnung ist es der Zweiundzwanzigste. Auf der Straße unterhalb deiner Zelle gibt es keinerlei Anzeichen von Feierlichkeiten. »Bin ich eine Geisel?«, fragst du deinen Bewacher, den mit der messerscharfen Stimme, eines Morgens, als er den Frühstücksnapf mit fleckigen Gurkenschalen und klumpigem Jogurt bringt. »Ich weiß nicht«, antwortet er. »Wenn du willst, ich frage Chef.« »Ja bitte. Bitte fragen Sie.« Die Antwort bekommst du am Abend, zusammen mit einem Teller voller Knorpel und Fett, die dein Vorgänger verschmäht hat. »Chef sagt, du keine Geisel. Amerika lässt unsere Brüder in Kuwait frei, wir lassen dich frei. Ganz einfach. Morgen. Heute Abend.« Du hörst sein Achselzucken: Auf der Stelle, wenn Satan uns die Achtung zollt, die er uns schuldet. Oder nie. Nicht unsere Entscheidung. Liegt ganz allein bei deinen Leuten. Er überbringt seine Botschaft und verschwindet. Du klammerst dich an den Hinweis wie ein Gläubiger an seinen Gebetsteppich. Kuwait. Gefangene Brüder. Die Männer, die dir das Essen in diese Kammer bringen und die Tür wieder abschließen, sind Schiiten. Endlich hast du ein Etikett für sie. Sonst gibt es nur deine vorsätzliche Unwissenheit, deine törichte Weigerung, mehr als unbedingt nötig über diesen Krieg zu erfahren, in den du so blauäugig geschlittert bist. Etwas in dir will den Namen dieser Organisation selbst jetzt noch nicht wissen, das eine magische Wort, das ihren Lösegeldforderungen Nachdruck verleiht. Etwas in dir sträubt 142
sich noch immer gegen die Erkenntnis, dass du von der einzigen Organisation gefangen gehalten wirst, die dazu imstande ist. Keine Geisel: nur ein Pfand, ein virtuelles Druckmittel in einem Spiel, bei dem keiner weiß, worin der Sieg überhaupt bestehen soll. Die Nachricht muss sich inzwischen herumgesprochen haben, was immer die Nachricht ist. Die Leute in der Schule wissen, dass du nicht einfach den Unterricht schwänzt. Und in dieser Stadt gibt es dafür sicher nur eine Erklärung. Mittlerweile interessiert sich die Weltpresse für dein Schicksal. »Wieder ein Amerikaner«, wie in den Berichten, die du gelesen und zu den Akten gelegt hast, unvorstellbar. In Chicago kennt man längst den Namen derer, die dich gefangen genommen haben, nur du kennst ihn nicht. Die Hand zwischen Kopf und verseuchte Matratze geschoben, das freie Bein über das gefesselte geschlagen, liegst du da und konzentrierst deine Kräfte darauf, die zwei Spalten über deine Gefangenschaft auf dem rissigen Deckenputz erscheinen zu lassen. Gleichzeitig beschwörst du die gesamte Titelseite der heutigen Tribüne herauf – »World’s Greatest Newspaper« –, das erste halbwegs scharfe Bild in deinem privaten Vorführungsraum. Der blaue Schriftzug und das Netz der Überschriften. Das Wetter für Chicago und Umgebung. Vermischte Meldungen aus der Metropole, krittelnde Kommentatoren, neunmalkluge Sportreporter: Die Seiten ziehen wie auf Mikrofiche an deinen Augen vorüber. Und ganz versteckt, sagen wir auf Seite 12, an einem sicheren Ort, wo die Nachricht an Des Moines vorübergeht und nur die erreicht, denen der Schmerz wohl tut, platzierst du eine SchwarzweißAufnahme von dir aus dem College-Jahrbuch, ein Gesicht so erfüllt von einfältiger Zukunftsgläubigkeit, dass selbst du es nicht mehr erkennst. Tage vergehen ungezählt, Tage die du damit verbringst, den 143
Begleittext zu entziffern, sämtliche Details deiner irrtümlichen Gefangennahme, die Berichte über die zuversichtlichen Vorhersagen deiner Entführer, dass du, wenn alle Seiten zur Zusammenarbeit bereit sind, an Weihnachten wieder zu Hause sein kannst. Du liest die Berichte über dein Leben wie ein Fremder. Und du fragst dich, Herr im Himmel, ob deine Geschichte bis zu dem einen Menschen gelangt ist, von dem du dir geschworen hast, dass er nie wieder etwas von dir hören sollte. Du stehst am Anfang einer Straße vor einem kleinen Backsteinhaus. Karge Worte huschen über das TeraSys-Netz, in der Art des Dekrets, das alljährlich vom Kaiser Augustus ausging. Wie die ersten vier Takte von »Auld Lang Syne«. Wie das Gesicht eines Freundes, das aus dem Menschenstrom an der Passkontrolle auftaucht. Jackdaw Acquerelli, die Arbeit des Tages zu Bett gebracht und die nächtlichen Fantasien nun in einem Vordergrundfenster, schmunzelte, als er die Schrift wie von Geisterhand sah. Und jedem, der zu dieser späten Stunde noch eingeloggt war, musste ähnlich nostalgisch zumute sein. Der Absender kannte sich aus. Die Botschaft hatte keine Kopfzeile, weder Zeit- noch Absenderangabe. Nur ein nacktes Stück Text, das in den Statuszeilen von hundert Monitoren auftauchte wie eine Botschaft von Gott, Bill Gates oder sonst einem hochrangigen Systembetreiber. Jackdaw verschaffte sich rasch einen Überblick, wer noch dabei war. Sechsundachtzig User, die Mehrfachzugriffe nicht mitgezählt. Leute an allen sechs Standorten, vom Puget Sound die Küste hinunter, bis zum Valley ganz im Süden. Sieben hier im Haus, im RL. Nachteulen, lichtscheue Gestalten: Zwei Uhr morgens, genau die Zeit für ein wenig Knistern im Netz. 144
Da musste mindestens ein Dutzend Leute darunter sein, die gewitzt genug waren, so etwas zustande zu bringen. Ein paar hatten schon an dem Betriebssystem mitgeschrieben. Zu viele Zauberer dort draußen, als dass Jackdaw hätte bestimmen können, von wem die Botschaft kam. Am besten schrieb man sie allen gemeinsam zu. Jackdaw schloss die Anwendung und ging zurück zur Eingabeaufforderung. In den wenigen Sekunden hatte ein fingerfertiger Zeitgenosse – ein gewisser arjrao1, der drüben auf dem Mutterschiff an einem TG-Grafikrechner saß – bereits den nächsten Satz eingetippt, den jeder dieser nächtlichen Adepten gewusst hätte: Um dich herum ein Wald. Unter dem Haus kommt ein Bach hervor und verschwindet in einer Schlucht. Die Worte erfüllten Jackdaw mit einem großen Glücksgefühl. Das Glück kam in einem eigenen kleinen Bach aus seiner Brust hervor und floss hinunter in seine tippenden Finger. Es fühlte sich an wie ein Fetzen wehmütiger Progressive-Pop aus dem vergangenen Jahr, aus einem Autoradio über die nächtliche Bergstraße geweht. Wie eine Droge womöglich, obwohl Jackdaw nie welche genommen hatte. Wie die erste Liebe. Wie wenn man von anderen erfuhr, dass die erste Liebe einen wiederliebte. Seine Augen nahmen die Herausforderung der Worte an. Seine Hände auf der Tastatur spürten in sich noch immer die Finger des Siebtklässlers. Er starrte die Sätze an und sah seinen Vater an einem Samstagmorgen des Jahres 1977. Der kleine Jackie hatte wieder einmal schlechte Laune gehabt, und sein Daddy hatte ihn mit ins Büro genommen und vor einen leuchtenden Televideo 910 gesetzt, der durch das Wunder des Tymeshare 300-Baud-Modems mit einem Großrechner in Verbindung stand. Ein Trick, ging es Jackdaw später auf, eine ausgeklügelte 145
Ablenkungstaktik, um einen Jungen gegen seinen Willen zum – ausgerechnet – Lesen zu bringen. Der Schirm hatte ihn angefunkelt, jeder Buchstabe ein phosphoreszierender Wurm, ein paar Dutzend Nadelstiche aus grünem Licht. Du stehst am Anfang einer Straße. Vor einem kleinen Backsteinhaus. »Und?«, schmollte der elfjährige Jackdaw. »Sonst nichts?« Aber schon halb gefangen, schon halb überzeugt, dass dieser Ort bei weitem interessanter sein könnte als der größere, in dem es kaum je etwas anderes gab als Enttäuschung. »Na«, drängte der Vater. »Dann tipp mal was ein.« »Eintippen? Was soll ich denn eintippen?« »Alles, was dir einfällt. Du stehst vor einem Haus. Was machst du da?« »Alles? du meinst, ich kann tippen … was ich will?« »Meine Güte, versuch es doch, dann wirst du schon sehen, was passiert.« Mit elf Jahren glaubte man noch manches. Und diese Worte versprachen ja noch mehr. Klein Jackie las die Sätze auf dem Schirm noch einmal. Und diesmal erschienen die Straße, das Häuschen, der Wald, der Bach, der unter dem Haus hervorkam, und die Schlucht in aller Deutlichkeit vor seinem inneren Auge, füllten einen flüchtigen, unerschöpflichen, magischen Skizzenblock mit dem Bild eines Tales, das nur dazu da schien, dass man sich darin verlor. Der Gedanke, dass er in dieses Tal hineingehen könnte, riss ihn aus der Öde jenes Morgens, und er fand sich wieder am Bach. Er merkte, dass er an zwei Orten zugleich war: am Anfang einer Straße und mitten in einer Parade von Buchstaben, unter denen er mit wachsender Erregung die Taste mit dem g suchte. Geh in das Haus, tippte Jackdaw in das Dialogfeld auf seinem Bildschirm, und dann ging es los. Die Aufforderung erschien 146
wie ein Echo in der Statuszeile seines Bildschirms und als Hagel identischer Botschaften auf Videoschirmen an der gesamten Nordküste. Er war nicht der Einzige, der mit dem Floß seiner Erinnerungen auf nostalgischer Fahrt war. Offenbar hatten die meisten, die zu solch später Stunde bei TeraSys noch an ihren Plätzen saßen, die archaischen Zauberformeln, die Geografien des Vergnügens, die da aus dem Nebel eines Dutzends von Jahren auftauchten, nicht vergessen. Wie die Anrufe bei einem Radioquiz liefen die Antworten ein. Aufforderungen wie Geh in das Haus oder Betrete das Haus häuften sich am unteren Rand seines Schirmes. Sogar ein einfaches Haus und ein noch einfacheres Hinein. Ich fass es nicht!, rief Jackdaw. Das ist ein Witz. Spider Lim, der auf der Bürocouch geschlafen hatte, fuhr hoch, und die Sun-Chips auf seinem Bauch gingen zu Boden. Was ist? Was ist passiert? Irgendwas abgestürzt? Erinnerst du dich noch an Adventure? Hm? Was ist damit? Konnte man einfach »Hinein« tippen und kam dann auch ins Haus? Sicher. Klar. Ich habe das zwanzigtausend Minuten gespielt, das kann ich beweisen; ich habe immer noch sämtliche Logs und die handgezeichneten Karten dazu. Zwei Jahre lang, immer wieder. Und ich habe nie gewusst, dass man auch hineinkann, ohne dass man das Wort »Haus« tippt. Macht doch nichts. Ich bin nie an dem Drachen vorbeigekommen, der auf dem Teppich schläft. Der Drache? Den tötest du einfach. Mit bloßen Händen? Ja. 147
Mann. Spider ließ sich wieder auf die Couch fallen und schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. So was Idiotisches! Auf den Gedanken bin ich noch nie gekommen. Du bist im Inneren eines Gebäudes, der Brunnenstube einer großen Quelle. Auf dem Fußboden liegt ein Schlüsselbund. Daneben steht eine blitzende Messinglampe. Es gibt etwas zu essen. Und eine Flasche Wasser. Ein einziges Mal im Leben, und auch das nur, wenn man Glück hat, stolpert man ins Reich der unbegrenzten Möglichkeiten. Der junge Jackie stand am Anfang der Straße, brauchte nur einmal mit dem elektronischen Auge zu zwinkern, und schon war er im Inneren des Gebäudes, der Brunnenstube einer großen Quelle. Ein geduldiger Dschinn saß in diesem Plastikkasten – Schaltkreise so komplex, dass keiner sie sich vorstellen konnte – und versprach, dass er jeden Befehl befolgen werde. Du bist in einem Gebäude. Du bist in einem Buch. In einer Geschichte, die weiß, dass du in ihr bist, einer Geschichte, die bereit ist, sich in jede Richtung zu entwickeln, in die du sie lenkst. Die elf Jahre, die es auf der Welt war, hatten das Kind schon verbittert. Das Leben war nichts weiter als eine eintönige Plage, in der alles vorhersehbar war, ein sehr begrenzter Lohn für grenzenlose Entbehrungen. Fernsehen war ein sadistischer Trick, den er schon mit neun Jahren durchschaut hatte. Wozu Autos gut sein sollten, hatte er nie verstanden, schließlich bewegten sie die menschliche Dummheit nur ein wenig schneller von einem Ort zum anderen. Sport war ihm unbegreiflich, Mädchen blieben ihm ein Rätsel, Essen ein notwendiges Übel. 148
Aber dies hier: Er hätte nie gedacht, dass er so etwas einmal sehen würde, außerhalb der Privatbühne seines Verstands. Das war Erlösung. In so einer Welt hatte er immer leben wollen. Er stand am Basislager unbegrenzter Möglichkeiten, seine ferngesteuerte Marionette konnte sich im ganzen Universum bewegen, auf sein Kommando. Er blickte auf zu seinem Vater, hilflos vor Glück. Der Vater missdeutete das zerknitterte Lächeln als Erleichterung. »Versuch es mal, geh nach Westen.« Zu selig, um sich zu ärgern, tippte der Junge: Gehe nach Westen. Es ist stockfinster. Wenn du weitergehst, fällst du vielleicht in eine Grube. Natürlich war es dunkel. Warum hätte denn sonst eine Lampe auf dem Flur stehen sollen? Sein Vater war senil, jämmerlich, ein Klotz am Bein auf dieser fantastischen Reise. Wie selbstverständlich ging der Junge zurück, holte die Lampe und zündete sie an. Hol die Lampe, zünde sie an: Irgendwie wusste die Maschine, was er meinte. Die Objekte existierten, die Handlungen geschahen wirklich. Dinge hatten die Eigenschaften, die sie verkörperten. Er konnte sich in diesem Terrain bewegen, veränderte es mit jeder Handlung, zu der er sich entschloss, prägte das Land und den wandernden Geist mit seinem Willen. Das Licht flammte auf und erleuchtete einen schuttübersäten Raum. Einen niedrigen gepflasterten Gang voller Schlamm. »Wie heißt das?«, wollte er von seinem Vater wissen. »Adventure.« i »Nein!«, rief er, panisch vor Ungeduld. Zeigte auf den Schirm. »Das da, wie heißt das?« Die Stelle. Die Adresse. Die Idee. »Wie der Ort da heißt, meinst du? Das ist die Große Grotte.« Eine einfache Telnet-Sitzung, und Jackdaw hätte den ganzen 149
Klassiker herunterladen können von Hunderten von UNIXRechnern, wo die Lösung wie ein Feuer speiendes Ungeheuer nun zusammengerollt schlief und über seine alten Schätze wachte. In fünf Minuten hätte er den gesamten Durchgang auf seinem Schirm gehabt, er hätte die Sätze einfach ausschneiden und in das Eingabefenster übertragen können. Aber Jackdaw hatte keine Zeit zu mogeln. Der Echtzeit-Fehdehandschuh war geworfen. Die Kommentare flogen schneller, als er lesen konnte. Ganze Salven von Du mich auch und Wie denn, wo denn, was denn? blitzten über den Bildschirm, Humor der Pioniere. Elektronisches Raunen, Schwing den Stab und geh nach Westen, stille Erinnerung derer, die von Anfang an dabei waren, die erste Generation von Raumfahrern, die diesen Kosmos erblickt hatte, die Ersten beim Testlauf dieses fabelhaften neuen Planetariums, die immer wieder von neuem eintauchten in die unendliche Weite. Du bist durch ein paar kleine Löcher gekrochen, tippte Jackdaw ein, und stehst jetzt wieder im Hauptgang. Viermal drückte er auf die Sendetaste. Vier Exemplare dieser Botschaft gingen hinaus in den Irrgarten des nächtlichen Netzwerks. Dreißig Sekunden später hatte er die Antwort von jemandem unten in San Jose: Tausend Dank, Ja-Aqul. Als ob mir das was nützen würde. Vom ersten Augenblick an, in dem er die Eingabetaste drückte, war es dem kleinen Jackie klar gewesen, was er da vor sich hatte. Dieses Spiel war nichts anderes als der transzendentale Lego-Baukasten der menschlichen Seele, unendlich in Zahl und Vielfalt der Steinchen. Er durchstöberte den Raum, die Brunnenstube einer großen Quelle. Er holte sich die Schlüssel, das Essen, die Wasserflasche und warf keinen Blick zurück. Er verließ das Haus wieder und wanderte hinaus in den Märchenwald. Er folgte dem Bach bis zu der Stelle, an 150
der das Wasser in einem Loch mit einem kleinen Gitter verschwand. Unermüdlich mühte er sich, das Gitter zu lüpfen, das sein Geheimnis nicht preisgeben wollte. »Was zum Teufel tust du denn da?«, fragte der Vater in väterlicher Ungeduld. »Nichts.« Er sah sich um. Bekam ein Gefühl dafür, dass alles offen war, naschte von der Frucht der Möglichkeiten, bis nur noch das Kerngehäuse übrig war. »Die Grotte ist weiter da hinten. An dem gepflasterten Gang. Du hast direkt davor gestanden, du Blödmann.« Aber da hatte er schon zu viele Möglichkeiten außer Acht gelassen. Es gab zu viel zu erforschen, bevor Jackie sich den Luxus erlauben konnte, in die Grotte zu gehen. Er blieb draußen in dem üppig belaubten Tal und tippte Sieh Bäume an, Blätter, Felsen, Wasser. Binnen einer Stunde hatte er herausgefunden, wie klein dieses Abenteuer in Wirklichkeit war. Was auf den ersten Blick größer als Kalifornien schien, war bei näherem Hinsehen großenteils Pappkulisse. Er konnte zum Beispiel nicht auf einen Baum im Wald klettern und von oben Ausschau halten. Er konnte keine Erde mit einer Flasche aufschürfen und durch das kleine Gitter gießen. Er konnte keine Brotkrümel im Wald ausstreuen und wilde Tiere hervorlocken. Wenn er zu weit in eine Richtung ging, hörte der neu entdeckte Kontinent einfach auf. In diese Richtung kannst du nicht gehen. Häufiger als dass sie auf ein Kommando reagierte, antwortete die Maschine nur mit einem dummen Was? Er kam bald dahinter, dass die Maschine fast genauso beschränkt war wie sein Vater. Gewicht, Volumen, Umriss, Resonanz, Ausdehnung, Masse: Nach und nach lösten all die versprochenen Schätze der Grotte sich auf in Maschendraht und Pappmache. Die Unendlichkeit schrumpfte mit jeder Grundeigenschaft, die dies Universum verlor. 151
Unendlich waren eher die Dinge, die einen die Maschine nicht tun ließ. Die Große Grotte war ein Windei, ein aufgeblasenes Kästchenspiel, das nur mit den Antworten zurechtkam, die es im Voraus erwartete. Doch der Ort, den sie nachäffen wollte, lag so nahe an den Northwest Territories tief in Jackies Kopf, dass er die echten Bilder vor Augen hatte. Der Grundidee dieses Spiels hatte er nichts vorzuwerfen, nur der Unvollkommenheit der Umsetzung, der Prototypen-Parodie dessen, was dieses Land einmal werden wollte. Nach einer weiteren Stunde, in der er ständig an die Grenzen des Programms stieß, war die Enttäuschung zur Herausforderung geworden. Und noch eine Stunde, da war die Herausforderung schon Obsession. Endlich hatte Jackie auf dieser elenden Erde doch noch einen Ort gefunden, an dem er leben konnte. Er zwängte sich durch die gepflasterten Passagen, die sich ihm in der Computerwelt eröffneten, in jeden Tunnel, den eine Programmerweiterung freisprengte, tausend neue Programmzeilen, die nächste Generation. Denn so unvollkommen sie auch war, war die Große Grotte trotzdem endlos. So deterministisch, so stereotyp das Skript, so hölzern der Text, ließ sie ihn doch vom Opfer zum Mitarbeiter aufsteigen. Du bist in einem Raum, und in alle Richtungen gehen Flure ab. Der Raum war ja nicht mehr als ein Experiment, ein Labor, aber er bot mehr Hoffnung für die Zukunft als ganz San Jose draußen vor der Tür. Jackie flehte seinen Vater an, ein Terminal für zu Hause anzuschaffen. Danach vergingen ganze Tage, deren einzige Spuren die dünnen Bleistiftstriche auf der MillimeterpapierLandkarte seiner Expeditionen war. Er verbrachte Tage in einem Gang, in dem er nicht weiterkam, dann befreite er sich mit einem Schlag, einem Geistesblitz, einer Inspiration, die ihm im Traume kam, das Berauschendste, was das Leben zu bieten hatte. Bereit zur nächsten Expedition der Höhlenforscher. 152
Und indem er seine Kristallstäbe sammelte, seine Edelsteine so groß wie Kiebitzeier, stieß er in immer neue Dimensionen vor, fand immer verschlungenere Wege, die seinen Ehrgeiz nur umso weiter reizten. Er wollte am Ziel ankommen, die Höchstzahl an Punkten erreichen, und so grub er seinen Tunnel durch ein Labyrinth von Räumen, deren Gänge in alle erdenklichen Richtungen führten, Verästelungen nur den Bruchteil eines Mikrometers dick. Weißt du was? Das Programm hat mir das Tippen beigebracht. Die Stimme aus der Tiefe des Raums riss Jackdaw mit einem Ruck aus seinem Network-Chat. Spider, die Augen geschlossen, den Kopf auf dem Kissen, spielte den Bauchredner, genoss das Gefühl vulkanischer Telepathie, das sich bei ihm mit jedem einstellte, der binnen zwanzig Metern Umkreis an einer Tastatur saß. Jackdaw nickte, auch wenn es niemand sehen konnte. Ich hab aus dem Programm gelernt, wie man das Betriebssystem knackt. Hm? Ehrlich. Zuerst habe ich gelernt, wie man einen Hexdump für die Spieldateien bekommt, habe da nach Textstrings gesucht, die womöglich die Lösung verrieten. Alles, was mir nochmal zwanzig Punkte aufs Konto gebracht hätte. Dann habe ich mir die Assemblersprache beigebracht, damit ich das ganze Programm auseinander nehmen konnte. Sehen, wie es funktionierte. Und es am Ende überlisten. Ach so, das. Ja, das habe ich auch versucht. Nur dass ich irgendwo im Rechenwerk hängen geblieben bin. Ich wollte wissen, was in diesen Verzeichnissen passiert, wenn sie den Inhalt von zwei Speicheradressen zusammenzählten. Da habe ich dann den schlafenden Drachen und seinen blöden Perserteppich vergessen. Aber Jackdaw hatte ihn nicht vergessen. Und auch keiner der 153
sechsundachtzig anderen, die entlang der Ostpazifikküste noch vor ihren Schirmen saßen. Eine Meute von Jungen schwärmte aus, stürmte eine Höhle mit der wilden Entschlossenheit, mit der Mathematiker eine vertrackte Aufgabe in Angriff nehmen. Sie hefteten ihre Indizien an das elektronische schwarze Brett, spielten sich Hinweise über Satelliten zu, schickten sie sich über die primitive E-Mail ihrer technokratischen Väter. Sie bildeten Klubs, Netzwerke der Entfremdeten und der lächerlichen Figuren, und alle warteten sie nur, dass sie das Erbe einer Zukunft antraten, die allein die ihre war … Hat es je einer von euch bis zum Saal der Nebel geschafft? Ist da noch einer da draußen, der alle alten Hefte des *Höhlenforschers* aufgehoben hat? Unvorstellbar, wie viel Zeit er damit verbracht hatte. Eine kolossale Verschwendung von Lebenskraft. Aber für Jackie war es ja das Leben: Der dünne Erzählfaden verschwand einfach aus dem Spiel. Timesharing, Raubkopien, Wucherpreise für die neuesten Programmerweiterungen, die neuesten Sphären im großen unterirdischen Reich, das nächste Upgrade des großen Abenteuers, das man unbedingt haben musste, jedes verlockender als das davor. Welten mit einem Vokabular von zweitausend Worten, dann vier-, dann achttausend. Interaktive Romane, die groß genug wurden, dass sie ganze Sätze analysierten. Orte, an denen Glasflaschen zerbrachen und Essen verschimmelte. Wo man Bäume fällen und zu Brettern oder Papier verarbeiten konnte, zu Forts oder Fährbooten. Länder, in denen die Summe seiner Taten die Ausdauer und die Kraft und die Klugheit des Spielers beeinflussten, wo diese Veränderungen der Zahlen auch darüber bestimmten, welche weiteren Wege man einschlagen durfte. Länder, die Taten zuließen und auf eine Weise darauf reagierten, die selbst ihre Programmierer überraschte. Es dauerte nicht lange, bis die Grafik dazukam. Zuerst waren die Bilder eine Sensation, jedes neue Panorama faszinierender 154
als das vorige. Doch binnen ein, zwei Jahren fand Jack die hübschen Bildabenteuer unendlich deprimierend. Er konnte es nicht erklären, und jeder Erklärungsversuch machte ihn nur umso trauriger. Etwas Größeres, Vielfältigeres war von diesen allzu eindeutigen Bildern zerstört worden. Sein Vater verstand, was ihn bedrückte. »Mir ist das damals genauso gegangen, als das Fernsehen das Radio verdrängte. Wenn man am Lautsprecher saß und von Wesen aus der achten Dimension hörte, dann war das viel spannender, als wenn man sie auf dem Schirm zu sehen bekam.« Er wusste nicht wie, aber sein Vater war seit Jacks Kindertagen auf der Skala der Weisheit ein gutes Stück nach oben gekommen. Aber so viel sie auch verdarben, eröffneten die Grafiken doch auch ganz neue Möglichkeiten. Das visuelle Interface ließ Orte schneller entstehen, als wenn sie Zeile für Zeile beschrieben wurden. Jeder Elfjährige, der schon einmal ein Videospiel in der Hand gehabt hatte, war den Wissenschaftlern weit voraus. Die Visualisierung wissenschaftlicher Themen entstand mit der ersten Welle der Space Invaders. Sie kamen in rascher Folge auf den Markt, weder Abenteuernoch Rollenspiele, sie waren Geschöpfe, wie es sie nur hier bei diesem jungen Medium gab. Die Sandkastenspiele, die mit dem Feedback immer weiter wuchsen, unbegrenzte Möglichkeiten. Die Gott-Spiele, wo Überleben der einzige Sieg war, wo es kein Ziel gab außer dem, das Spiel immer perfekter zu beherrschen. Der junge Jack herrschte über seine aufstrebenden Metropolen. Er stellte ganze utopische Gesellschaften mit den verschiedensten, oft widersprüchlichen Bedürfnissen zusammen. Er fuhr Hopfen durch die englischen Midlands und kehrte mit Kesselwagen voller Bier nach London zurück. Er baute weit verzweigte Ameisenkolonien und intergalaktische Bergwerksunternehmen auf. Er stellte Steinbrucharbeiter und Steinmetze und Zimmerleute ein, die ihm eine Burg bauten, 155
von der aus er das umliegende Land erschloss, und dann beutete er es aus bis auf die letzte Kohlrübe. Er ließ seine Schaluppen und Pinassen durch die Karibik segeln, überfiel Nevis und St. Kitts, um damit die Wirtschaft von Curaςao zu stützen. Er bildete Botaniker und Missionare und Großwildjäger aus und schickte sie in notdürftig zusammengezimmerten Kanus den Nil hinauf. Er führte einen friedlichen Steinzeitstamm zur Renaissance, zur industriellen Revolution und ins Raumfahrtzeitalter. Dann machte er die gleiche Reise in einem anderen Winkel der Erde noch einmal und brachte mit jedem Schritt Krieg und Chaos über die Welt. Er verbrachte seine Jugend allein, in seinem Zimmer auf Reisen. Aber bei allem vergaß er nie sein großes Ziel, den Schatz tatsächlich zu finden, den ihm jenes erste Abenteuer nur vorgegaukelt hatte. Jedes neue Spiel auf dem Markt, jede verbesserte Version weckte das Fieber erneut. Aber das Näherdran beflügelte immer nur das Nicht-nahe-genug. Das Pingpongspiel des Lebens machte Jack Acquerelli zum Programmierer, und er wurde es nicht in erster Linie, um sein Brot zu verdienen, sondern um die Spielfelder zu schaffen, die es in der Welt draußen noch nicht gab. Das College war für ihn der Silikonsandkasten seiner Träume. Er forschte allein und in Teams, und die Grenze zwischen beidem verwischte sich immer mehr. Er arbeitete mit anderen zusammen, die er nie gesehen hatte, Leuten, die er nicht erkannt hätte, wenn er ihnen auf der Straße begegnet wäre, Leuten, die er nur unter Namen wie SubClinical, TopX oder BotTot kannte. Er trug sein Quantum an Gängen und Tunneln in den Drachenhöhlen bei, jede davon bevölkert mit anatomisch immer korrekter werdenden Homunkuli. Er arbeitete an der Entwicklung eines einfachen Mehrbenutzer-Talkchannels mit, eines Programms, das es ihm und anderen Software-Undergraduates erlaubte, zu allen Tageszeiten miteinander zu arbeiten, ein Schritt auf dem Weg zum Multiplayer-Spiel. 156
Seine Abschlussarbeit trug den Titel »Development«, ein Spiel zum Thema Rohstoff-Management, aber mit einer kleinen Besonderheit. Weltkarten aus dem Zufallsgenerator zeigten bestimmte Ressourcen an – Kohle, Eisen, Edelsteine, landwirtschaftliche Nutzflächen. Die Hethiter, Kreter und Phönizier dieser archaischen Erde machten sich nach üblicher Manier daran, die verborgenen Schätze zu entdecken, abzubauen und weiterzuverarbeiten und dann die Fertigprodukte zu verkaufen. Das angehäufte Kapital investierten sie in neue Technologien, und aus dem Vorrat weiterer Rohstofffunde entstanden neue Waren. Doch dann kam Jack Acquerellis eigener Beitrag zur Welt der intelligenten Spiele. Die Verarbeitungsmöglichkeiten – der Papyrus, den ein Volk aus den vorhandenen Fasern herstellen, die Metalle, die es aus Kohle und Erz gewinnen konnte – variierten von Fall zu Fall, je nach Intelligenz und Wissensstand des jeweiligen Volkes. Ein Volk konnte dazulernen, wenn es seine Sinne schärfte. Keine zwei Stämme folgten jemals genau dem gleichen Muster. Keine zwei Sitzungen von »Development« entwickelten sich nach genau demselben Muster. Und natürlich – der Heilige Gral aller Strategiespiele – musste keine Sitzung von Development je zu Ende gehen. Sie konnte unendlich sein, unberechenbar, weiterlaufen zu einem Punkt im Unendlichen, zu einem niemals zu erreichenden Ziel. Ganz im Geist des digitalen Zeitalters verschenkte Acquerelli sein Meisterwerk, stellte es kostenlos ins Netz. Je weniger das Spiel kostete, desto mehr Spieler kamen zusammen. Und je mehr Spieler dabei waren, desto ausgeklügelter der Spielverlauf. Desto mehr Strategien entwickelten sich, jede für sich wiederum ein komplexes Programm. Und je mehr Strategien, die keiner vorherberechnen konnte, in das Spiel einflossen, desto näher kam Jackdaw jenem Gefühl vollkommener Freiheit, das er seit der Zeit, als er elf war, nicht 157
mehr gespürt hatte. Das Spiel wurde zum Kult und war bald in den verschiedensten Varianten im Umlauf. Durch seine Hacker-Großzügigkeit hatte Jackdaw die Chance vertan, sich mit zweiundzwanzig zur Ruhe zu setzen. Aber immerhin war sein Erfolg die Eintrittskarte zur Welt der ComputerspielFirmen, die damals gerade anfingen, aus dem domestizierten PC Kapital zu schlagen. TeraSys wurde auf seine Arbeit aufmerksam, als Jackdaw eben seine ersten Bewerbungsunterlagen verschickte. Im Sommer 1987 nahm das »Development« -Fieber solche Ausmaße an, dass es in der Entwicklungsabteilung von TeraSys kein anderes Thema mehr gab. Das Spiel bot genau die kommerziellen Möglichkeiten, die jedes gute Simulationsspiel brauchte. TeraSys bot Jackdaw eine Stelle an, und wie immer waren sie auch dabei schneller als alle anderen. Von dem Augenblick an, als Jackdaw im ersten Prototypen der Grotte stand, gab es kein anderes Angebot mehr. Zum zweiten Mal in seinem Leben öffnete sich für ihn das Reich der unbegrenzten Möglichkeiten. Hier hatte er eine Geschichte, in der man spazieren gehen konnte, lebensgroß, und diesmal für immer. Er hätte auch für die Hälfte dessen, was sie ihm boten, Ja gesagt. Er hätte alles dafür gegeben, hätte er seinen Vater herauf auf diesen Berg fliegen können, ihn in dieses Spielzeugfort aus weißen Laken stellen. Die ganze Welt hätte er dafür gegeben, hätte er zu ihm sagen können: Du stehst vor der himmelblauen Zukunft. Hier ist die Steuerung. Tu etwas. Was du willst. Was willst du tun? Aber sein Vater konnte nichts mehr tun. Seit einem halben Jahr konnte sein Vater nichts mehr wollen. Das Abenteuer hatte ihn in ein Reich geführt, in dem er keine Maschinen brauchte. Hatte ihn an einen Ort portiert, der keine Systemanalyse brauchte, über eine Grenze, wo alle Schlagbäume der Fantasie weit offen standen. Und Jackdaw hatte die Chance verloren, je wieder 158
gutzumachen, was er für ihn getan hatte. Nur eine einzige Möglichkeit, ihm zu danken, blieb – dass er sich ganz und gar in dies neue Projekt versenkte. Selbst unter Kollegen, die im Schlaf noch an die Grotte dachten, war Jackdaw eine Ausnahme. Steve Spiegel witzelte, er solle doch das Büro als Postadresse angeben. Sue Loque schlug ein Abonnement beim Pizzaservice vor. Jon Freese stichelte, er halte ja nur dann und wann die Nase in die Sonne, um ein paar Hit-Points anzusammeln. Aber es war eine Tatsache: Nichts im Leben draußen fesselte Jackdaw auch nur halb so sehr wie das Leben drinnen. Im Wettlauf gegen die Hardware-Uhr zählte jede Echtzeitstunde. Er gab der Buntstiftwelt Tiefe. Aus schierem Spaß ließ er die Blumen duften, und er schöpfte daraus mehr neue Kraft, als es aufzehrte. Er brachte den Papierbienen bei, wie sie die Blüten aufspürten, und legte dabei die Geduld eines trappistischen Imkers an den Tag. Zusammen mit dem Biochemiker Dale Bergen rangierte er die großen dreidimensionalen Enzymmoleküle mit der Geschicklichkeit eines Wärters, der in einem großen Parkhaus die Wagen über die geschwungenen Rampen steuert. Der Grotte Leben einzuhauchen war sein eigener Lebenszweck. Die Lampe, das Essen, die Messingschlüssel führten ihn allesamt noch tiefer hinein ins Labyrinth, von einer Version zur Nächsten, stets an der Grenze des technisch Machbaren. Mit jeder Programmzeile näherte er sich den höheren Sphären der beweglichen Formen. Jedes neue Kommando, jeder Schritt im Programm brachte das Spiel näher ans wirkliche Leben heran. Er spürte, dass er an vorderster Front des menschlichen Fortschritts stand – dass er auf der Suche nach der umfassenden, letztgültigen Antwort war, was immer die Frage sein mochte. Wie viel Zeit war vergangen, wie viele Samstage, seit sein Vater ihn zuerst dorthin geführt hatte? Nicht die 159
mindeste. Ein einziger Tag. Und doch saß er an einem weitläufigen Token-Ring, der Dutzende von Usern entlang der ganzen Küste miteinander verband, zusammengesetzt aus Hardware, neben der Televideo und Tymeshare aussahen wie Faustkeile aus der Steinzeit. Hier saß die Gemeinschaft der visionären Höhlenforscher, Stunden nach Mitternacht, und tippte in ihre Tastaturen, was die Entdeckung, zu der die vorige Entdeckung geführt hatte, ihnen erlaubte, schickte nostalgische Botschaften ins Breitband, ihre Elegien auf das Ende des ersten Kapitels des Abenteuers. Er hatte gesehen, wie die Maschine sich in großen Sprüngen selbst konstruierte, jedes Jahr stärker und unglaublicher. Er hatte seine Algorithmen so weit entwickelt, dass kein Testprogramm seine Schritte zurückverfolgen konnte, und nun saß er hier, in stockfinsterer Nacht, nicht am Ende jener Straße ins Tal, sondern an deren Anfang, las die Signale, die sein Kreis von Kollegen ihm sandte, von denen er nur die wenigsten je von Angesicht gesehen hatte, vertraute seinen eigenen Beitrag zur gemeinsamen Suche der willfährigen Tastatur an- Gehe nach Norden, gehe nach Norden, gehe nach Norden-, und das gemeinsame Ziel wich gemäß Zenons Paradox stets den einen kleinen Schritt vor ihnen zurück, in eine Ferne, die sich in alle Richtungen erstreckte. Irgendwann im Laufe des Spiels war das UntergrundAbenteuer Mainstream geworden, war an die Oberfläche gekommen, Hexenmeister traten ans Licht, auch wenn kein Einzelner draußen, keiner, der nicht mitspielte, auch nur einen Begriff davon gehabt hätte, wie die neuen Regeln aussahen und wie groß der weltweite Coup war. Digitale Spielzeuge erwachten zum Leben, Lebensgeschichte, Gesundheitszustand und Bankauszug jedes Einzelnen wurden zu einer einzigen großen »Spielstand speichern« -Datei. Moores Gesetz – dass die Leistung von Computerchips sich alle achtzehn Monate verdoppelt – entwickelte sich vom Schrittmacher des 160
Fortschritts zum Hemmschuh des explodierenden Systems. An manchen Tagen hatte Jackdaw das Gefühl, dass die digitale Revolution einfach zu langsam war, als dass sie ihm das erhoffte Erbe je bescheren konnte. Er und seine Leute ritten auf einer Welle des geometrischen Wachstums, die schneller war als alles außer dem Hunger nach mehr Leistung, dem verzweifelten Streben nach der Fluchtgeschwindigkeit. Jungs, die bei einem Fantasyspiel zum Leben erwachten, hatten eine Industrie in Gang gebracht, die den gesamten Planeten verändern würde. Allein oder gemeinsam, heimatlos und doch allmächtig: ferne Avatare im Spiel eines Zauberkünstlers, den sie selbst geschaffen hatten. Monat für Monat machte die anarchische Summe ihres Erfindergeistes größere Fortschritte auf dem Weg zum letzten Gipfel als die gesamte Weltgeschichte vor Hollerith. Dabei hatte die Revolution bisher noch nicht einmal einen Fingerhut voll von ihrem Versprechen eingelöst. Selbst die neueste Generation von Rechnern konnten nicht entfernt das bieten, was die aufgestachelte, sehnsüchtige Gemeinde der kleinen Jungs von ihnen forderte. Und doch war aus diesen begehbaren Höhlen ein Spiel entstanden, so wendig, so stabil, so interaktiv, wie das Leben eigentlich sein sollte. Die Zeit war gekommen, in der es Programmierern endlich gelingen würde, das zu bauen, was das Gehirn einmal für die Welt gehalten hatte: das umfassende, kalkulierbare, gestaltbare Ur-Abenteuer, an dessen Vollendung sich Jackdaw nun für sein gespanntes Publikum gemacht hatte. Er saß über das schwache Licht seines Terminals gebeugt wie über die Glut eines Lagerfeuers in der Wüste. Er tippte seinen ganz persönlichen Beitrag ein, eigentlich ein Geheimnis, das niemand sonst am Grottenprojekt kannte. Am anderen Ende der Leitungen rezitierte seine ferne, gespenstische Gemeinschaft weiter ihre Litanei der alten heiligen Orte: Du bist im Saal der Nebel … 161
Du bist an einer komplizierten Kreuzung … Du bist an einer Klippe, unter dir ein atemberaubender Anblick … Von dem Thema angefeuert, saßen die Teilnehmer über ihre Computer gebeugt, sechshundert Meilen entfernt oder am anderen Ende des Flurs. Aber jeder von ihnen hätte ebenso gut in einer anderen Galaxie sein können, in unendlichen Weiten. In einer nostalgischen Anwandlung tippte Jackdaw: Hat es je einer von euch bis zur Auflösung geschafft? Stille kehrte ins Breitband ein. Die Stille gebar weitere Stille, ein koaxialer Störimpuls, ein Unfall auf der Datenautobahn. Aber als selbst nach einer ganzen Weile noch nichts kam, konnte das nur heißen, dass jeder dieser anonymen Adepten dem anderen den Vortritt lassen wollten. Sechsundachtzig kleine Jungs – vielleicht waren ein oder zwei verirrte Mädchen dabei – warteten, dass einer von ihnen die Lösung aller Lösungen preisgab. Zuerst komisch, dann verlegen, zog sich das Schweigen zur Peinlichkeit hin. Wie eine Flaute in der Unterhaltung auf einer Party, in der sämtliche Anwesenden in einer lähmenden Beklemmung Festhängen. Wie das Schweigen von Flüchtlingen an Bord eines Schiffes, oben auf dem obersten Deck, den Blick hinauf zu den kalten Sternen gerichtet. Deine Nacht ist so groß, o Herr, und unser Computernetz so klein. Soll das ein Witz sein?, tippte jemand ein, gefolgt von einem ganzen Schwall von Flüchen. Hundert Punkte zu wenig. Fünfzig. Zehn. Nun strömten die Geständnisse nur so herein, und die Breitbandkonferenz kam zum Schluss, gab die Systemressourcen wieder frei. Die kurze Zeit der Verbundenheit war zu Ende, die Teilnehmer würden sich nun wieder ihren eigenen persönlichen Tunnels widmen, dem Labyrinth von Gängen im unermesslichen Bienenstock.
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Der Sommer kam über die Berge. Ranken aus Wärme und Licht taten sich wie gute Nachrichten für ein oder zwei Monate zusammen und trieben den Regen hinaus aufs Meer. Unter der bunten Eierschale des Himmels wurden die Tage länger. Die blitzblanke Küstenluft erfrischte sich mit jeder Flut. Am Sund summten die Bienen wie auf der Insel von Innisfree. Auch im Bienenstock herrschte emsiges Surren, wie Bienen aus Seidenpapier. Lim und Co. vervierfachten den Datendurchsatz und verachtfachten die Leistung der Grafikprozessoren für jede Wand. Da Vinci, Claude, Xie He, Rembrandt und Picasso ließen sich ohne Proteste die Hirnoperationen gefallen, kehrten von der digitalen Italienreise zurück mit mehr bildnerischen Fähigkeiten in ihrem Rückenmark, als sie zuvor im ganzen Kleinhirn hatten. Und so ging es voran mit dem Projekt, dem neuen Angriff des Quattrocento auf den plastischen Realismus. Kaladjian nagelte die Eulerschen Winkel so gnadenlos fest, dass sie winselten. Sue Loque ließ verdeckte Linien verschwinden, machte dem Z-Puffer-Algorithmus Beine. Da Vinci und seine Freunde sortierten schneller denn je alle Punkte aus, die das menschliche Auge nicht wahrnahm, und hatten umso mehr Prozessorleistung für die sichtbaren parat. Rajan Rajasundaran widmete sich dem Problem der Sehschärfe. Nur ein kleiner Bruchteil des Auges sieht tatsächlich mit höherer Auflösung – nur etwa 5 Prozent des Gesichtsfeldes; der Rest nimmt im selben Augenblick nur vage Eindrücke wahr. Wenn das menschliche Auge mit solchem Minimalbetrieb auskam, warum sollte die Grotte sich dann mehr anstrengen? Wie alles andere im RL verdoppelte auch der Kopfbewegungs-Rückmelder alle zwei Monate seine Leistung. Der Pupillenmelder folgte und erlitt nur von Zeit zu Zeit einen Rückschlag, wenn in der Art des Midas jeder Blick des Trägers zum ungewollten Mausklick wurde. Aber von solchen Pannen abgesehen wusste die Grotte stets, was der Betrachter gerade 163
ansah. Sie erstellte sogar eine umfassende Protokolldatei über jeden Schritt der Retina. Die Grotte wertete die Blicke aus und konnte so ihre wachsenden Rendering-Kapazitäten auf den Mittelpunkt des Blickfelds konzentrieren und ein hoch auflösendes Fenster mit dem schweifenden Blick mitwandern lassen. Das schien unmöglich, wenn mehrere Betrachter gleichzeitig im Raum waren, aber Rajan war nur in seinem Element, wenn er an Aufgaben saß, die andere für unlösbar hielten. Ein paar Wochen lang entwickelte sich die Hardware der Grotte schneller als die Anforderungen, die ihre Suite von Chamäleonzimmern stellte. Die Software-Leute mussten sich sputen, um mit der Entwicklung Schritt zu halten. Es war nicht leicht, noch Rechnerzeit für die Erprobung eines neuen Prototypen zu bekommen. Termine waren für Wochen im Voraus gebucht, die Forscher standen Schlange, allesamt benommen vom Tempo des Fortschritts. Hinter den unspektakulärsten neuen Räumen verbarg sich oft die am höchsten entwickelte Software. Die MikroklimaSimulation von Stance und Kaladjian sah wie ein schlecht zusammengeklebtes Puzzle aus bunten Lollys aus. Der Betrachter schwebte allwissend über dem stilisierten Bild der Ostküste des Staates Washington, im Maßstab veränderbar von hundert Meilen pro Yard auf etwa zehn. Man konnte die Ansicht kippen und schwenken und schräg stellen, senkrecht hinunter auf die Karte blicken oder tangential darüber gleiten, und heraus kam ein grobes topografisches Relief, das am ehesten wie ein Stapel Pillboxhüte aussah. Aber die Karte war nur ein Platzhalter für das, was wirklich vorging. Unter der Oberfläche lagen sämtliche Winkel und Ecken der Gegend, Details über die Sonneneinstrahlung und das Rückstrahlvermögen des lokalen Bodens, Luftdruck und Wasserströmungen, all das zu mathematischen Daten domestiziert. Dazu kam, ins selbe Programm gepackt, das 164
ganze Spektrum der Naturgesetze – Wärmekonvektion und Wärmeleitung, hydrologische Prozesse, Wirbelbildung. Die Simulation basierte auf der Haupterkenntnis des Informationszeitalters: der Austauschbarkeit von Daten und Kommandos. Die Cascades waren ein Satz Datenpunkte, elementare Erhebungen, Regeln, die den Lüften sagten, wo sie sich zu teilen und wo sie anzusteigen hatten. Ebenso produzierten die Gesetze der adiabatischen Kühlung ihre eigenen Daten, gefasst in die Gestalt des Cascade Glacier. Ein Druck auf den linken Knopf der Steuerung färbte die Luft je nach Temperatur in einem Spektrum zwischen Rosa und Kobalt. Jede Schattierung stand für eine Isotherme. Ein Klick auf den mittleren Knopf löste einen Vektorenhagel aus – pulsierende Äolspfeile, deren Biegung und Dicke wie dahinsegelnde Sturmvögel die Launen des Windes sichtbar machten. Der rechte Knopf veränderte den Luftdruck, justierte die ausufernden Kalt- und Warmfronten, malte Wolken hinzu und bot überhaupt den Zugang zur Palette der meteorologischen Ereignisse. Mit Zeit, Geduld und einer Satelliten-Wetterkarte konnten Kaladjian und Stance die Witterungsbedingungen des Vortages reproduzieren. Dann traten sie, wie die besten deistischen Gottheiten, einen Schritt zurück und ließen dem Uhrwerk seinen Lauf. Das ganze Rund des geschundenen Horizontes geriet allmählich in Bewegung. Über dem unwirtlichen Mount Olympus, jenseits der Juan-de-Fuca-Straße, ließen die atmosphärischen Strömungen ihre Turbulenzen spielen. Lokale Stürme und plötzlicher Sonnenschein bildeten verlaufende Flecken, vermehrten sich wie Mikroben im Zeitraffer. Örtliche Bedingungen beeinflussten sich gegenseitig, breiteten sich entlang des Mittelwerts aus wie Wellen. Temperaturen stiegen. Regen fiel, Wasser verdunstete und fiel von neuem als Regen. Aus der Wetterkarte wurde Wetter. Von Ost nach West breiteten die Projektoren ein Panorama, weiter als das Auge 165
reichte. Das Rädchen an der Fernbedienung spulte diesen Film, in dem man leben konnte, schneller vor oder verlangsamte ihn zum Standbild. Ging man über Null hinaus, lief der Film rückwärts. Ein Regenguss wurde von immer weißer werdenden Kumuluswolken aufgesogen. Winde strömten zusammen, wichen hinter die Berge zurück. Für Vorhersagen war der Wetterraum nicht zu gebrauchen. Von den Rändern her kamen Störungen herein, und zwar einfach deswegen, weil diese Pseudoweit Ränder hatte. Die Welt endete, und es kam eine Terra incognita wie auf alten Landkarten, und die weißen Flächen waren nur mit Vermutungen zu füllen: jenseits die Ungeheuer. In der Mitte der Karte entwickelten die Wetterfronten sich reibungslos, genährt von den Turbulenzen ringsum. Doch weiter draußen fehlten die Daten. Stürme verloren sich an den Rändern der Simulation im angrenzenden Nichts. Wetter geriet zu sehr unter den Einfluss seines Gegenteils, und die Fehler pflanzten sich durch den Datensatz fort, bis Wolken und Regen und Wind und Temperaturen nur noch reine Fiktion waren. Als Test bestand der Wetterraum jedoch mit fliegenden Fahnen. Ozeane aus Luft konnten gerahmt und gehängt werden, und sie wirkten glaubwürdig in einer Galerie, die besser war als jeder andere Versuch, sie bildlich darzustellen. Die Landkarten wuchsen, die Zeitspannen, in denen diese lokalen Wettermodelle ihren Bezug zur Wirklichkeit bewahren konnten, wurden länger. Der Tag würde kommen, an dem ein Reisender in der Grotte sich mit forschem Schritt gen Osten aufmachen und irgendwann im Westen anlangen würde. Dann würde, wie in der Welt, für die der Raum stand, der Kreis sich schließen, und die Ränder mit ihren Verzerrungen würden verschwinden. Bis dahin blieb der Wetterraum eine brillante Illusion. Der Wind wehte vom Meer, eine Brise, die stark nach Mathematik roch. Abendrot für die Seele der analytischen Geometriker. 166
Trotz der primitiven Balkengrafiken zeigte das Hitze-KältePanorama die Apparatur von ihrer besten Seite. Und im Spinnennetz seiner Algorithmen – bei dem jeder Punkt auf der Karte alle anderen berechnete – wurde der Wetterraum zum Mikrokosmos der Weltmaschine im Großen. Nur O’Reillys Wirtschaftsraum konnte es mit ihm aufnehmen. Aber Ronan war ein Eigenbrötler, nicht bereit, seine ersten Versuche einem kritischen Publikum vorzustellen. Seine Displays blieben abstrakte Muster aus Farbe und Form, wunderbar anzusehen, aber als Diskussionsbeitrag nicht zu verstehen – eine Labansche Kinetografie, lesbar nur für den Erleuchteten. Seine komplexen Ökonomien waren wie hochbegabte autistische Kinder. Sie wussten die Antwort, konnten sie aber nicht mitteilen. Es dauerte Monate, bis O’Reilly sich das eingestand – aber wenn er seine makroökonomischen Daten wirklich vermitteln wollte, musste er vereinfachen. Nach einer Führung durch den Wetterraum, die ihn am Boden zerstört zurückließ, machte Ronan sich an die Arbeit. Das Modell bot sich von selbst an: eine Weltkugel, der ganze geopolitische Kuchen, unterteilt in subnationale Regionen; eine Kugel, deren an den Enden abgeplattete Form sich um die geneigte Achse drehte, wobei die zufällige Abweichung um 23,5 Grad von der Ekliptik genügte, um den ganzen menschlichen Zyklus von Niedergang und Erneuerung zu bestimmen, das vom Breitengrad determinierte Schicksal, das den einen zum eifernden Hindu und den anderen zum missionarischen Protestanten werden ließ. Aber selbst ein Globus war kein bloßer Globus, wenn die Grotte ihn projizierte. Von fünf Projektionsstrahlen in den Raum gestellt, schwebte er ohne jede sichtbare Stütze frei im All. Das erste Mal, als dieser Ball seine drei Dimensionen annahm, konnte selbst O’Reilly, der ihn doch nominell geschaffen hatte, seinen Spieltrieb nicht unterdrücken. Eine 167
leichte Handbewegung mit der Steuerung – etwas, das jemand aus weniger vorbelasteten Gegenden dieser Weltkugel als harmlose Geste angesehen hätte –, und schon flog das Ding durch den Raum wie ein überdimensionierter Wasserball. Er war so gefangen von diesem privaten Jai-Alai-Spiel, dass er gar nicht merkte, wie Adie Klarpols Labrador in die Grotte getrottet kam. Pinkham hielt die gespenstische Kugel für einen aus der Bahn geratenen Mond und hörte erst auf zu heulen, als Adie ihn hinauszerrte und draußen festband. Nach dem Vorbild von Stance und Kaladjian benutzte O’Reilly das Rad der Fernbedienung für eine Zoomfunktion. Ein wenig Scrollen, und die Erde schwoll an zum Medizinball oder wurde winzig wie ein Atom. Mit einer einzigen Daumenbewegung entwickelte sich Afghanistan, wie das Land es vor kurzem ja auch in den Augen der Weltöffentlichkeit getan hatte, von einem unsichtbaren Flecken zu einer Plakatwand, die das gesamte Sichtfeld ausfüllte. Wenn der Globus groß genug war, ging O’Reilly einfach hinein. Die Grotte wusste stets, wo sich sein Kopf befand, und passte ihre Koordinaten jeweils an. Von innen wirkte die von den Projektoren gezauberte Erdkruste sogar noch einladender. Aus der Perspektive des Erdmittelpunkts sah O’Reilly das gesamte Gefüge auf einen Blick, und keine Hemisphäre war auf der anderen Seite der Projektion verborgen. Die Oberfläche breitete sich über ihm in alle Richtungen aus wie der nächtliche Himmel. Mit ein paar Tastendrücken konnte er sein PlanetariumsSchaustück in die verschiedensten Hüllen stecken. Die farblichen Abstufungen drückten die Verteilung einer bestimmten Variablen in seiner Versuchsanordnung aus. Mit den gespeicherten Daten bewaffnet, machte O’Reilly mit dem Globus einen Probelauf. Bruttosozialprodukt, aufgeschlüsselt nach Jahren. Im Verhältnis zum Energieverbrauch. Zum privaten Konsum. All die klassischen Darstellungen, die ihn im 168
Grunde kaum noch interessierten, liefen als zehn Sekunden lange, stroboskopisch bunte Vorfilme, bevor der Hauptfilm begann. In dieses klare, übersichtliche Modell setzte Ronan nun sein zehndimensionales Mosaik. Eine unsichtbare Hand schaukelte die Wiege, die anschaulich genug geworden war für seine Flut von Daten. Auf der Oberfläche erleuchteten Sonnenauf- und Untergang das vertraute Puzzle der Nationen der Welt. Doch darunter wand sich ein Schlangennest aus Wettbewerb und Kooperation, in dem sich das Schicksal globaler Märkte entschied. Noch einen weiteren Kunstgriff schaute O’Reilly Stance und Kaladjian ab. Ihre rückwärts wehenden Winde gaben ihm die Idee ein, in seinem Modell auch die Zeitachse umkehrbar zu machen. Der einfachste Test für ein Zukunftsspiel war immer noch die Probe, ob es die Vergangenheit voraussagen konnte. Er stellte drei Dutzend Variablen in ein Beziehungsgeflecht, jede mit den anderen rekursiv verknüpft, eine vielstimmige Unterhaltung über den Pro-Kopf-Verbrauch von Erdöl. Als Startpunkt dienten die bekannten Zahlen für 1989. Seine Ausgangsdaten entnahm er direkt den Angaben der Industrie. Den Verbrauch stellte er farblich dar. Nordamerika leuchtete glutrot, Europa war eher rosa. China blieb tief in den Aquamarintönen, aber doch sichtlich auf dem Weg in den roten Bereich. Ein Knopfdruck setzte das verborgene Räderwerk in Gang, und der Film lief an. Er ließ die Simulation ein paar Jahre vorwärts laufen. Vom Mittelpunkt der kreisenden Welt aus sah O’Reilly zu, wie der Planet sich färbte wie im Oktober das Laub in Vermont. Alles wirkte so echt, dass er sich tatsächlich wie im Herbstwald vorkam. Drei echte Monate bestätigten offenbar, was er im Probelauf für drei Monate vorausgesagt hatte. Aber würden sich kleine Fehleinschätzungen – ein falsches Stichwort im unablässigen Hin und Her der Stimmen – 169
durch das System hindurch fortpflanzen und auf der Karte falsche Höhen und Tiefen produzieren, unsinnige Schnörkel, irreführende Wirbel von den trügerischen Rändern der Vorhersage? Ronan hatte keine Basis, um das zu beurteilen. Kurzfristige Erfolge sagten nicht das Mindeste über die langfristige Entwicklung. Und nur weil eine Simulation ein- oder zweimal oder sogar tausendmal unter verschiedenen Umständen funktionierte, sagte das noch nichts über das nie vorhersagbare nächste Mal. Die Zukunft war nichts weiter als ein Kiesel in einem Flussbett, dessen Mäander ganze Kontinente formten. Kein noch so großer Erfolg lieferte O’Reilly den Beweis, dass die Räder in seiner Maschine auch nur die mindeste Ähnlichkeit mit dem großen Räderwerk hatten, das er nachbilden wollte. Denn in Wirklichkeit drehte sich in der Welt kein Räderwerk. Nichts und niemand in ihr wusste, wie sich die Märkte der Zukunft entwickeln würden. Das Einzige, was die Welt über Rohölverkäufe wusste, waren die Zahlen vom letzten Jahr. Aber immerhin hatte O’Reilly auch die Zahlen vom letzten Jahr. Dann sollte eben die Vergangenheit seine Eintrittskarte für die Zukunft sein. Zwar waren seine Darstellungen nicht streng deterministisch, aber umkehrbar waren sie doch. Wenn eine Simulation missglückte, ließ sie sich auf der Stelle rückgängig machen. O’Reilly drückte den Reset, und die simulierte Welt sprang zurück in die Gegenwart. Er bezog seinen Beobachtungsposten im Erdmittelpunkt und sah sich die Geschichte des Erdölverbrauchs im Rückwärtsgang an. Er schaltete auf Zeitlupe und studierte das Spektrum für jede einzelne Region genauer, wie es alle Farben des Regenbogens durchlief. Nach einem Jahr ging er auf Standbild und schaltete in den Zahlenmodus. Die Abweichungen hielten sich in vertretbaren Grenzen. Er ging noch einmal drei Jahre zurück. Hie und da gab es 170
einen Ausrutscher in der Simulation, aber nichts, was die Darstellung der Daten ernsthaft unterminierte. Die Farben hielten sich bemerkenswert nahe an den tatsächlichen Zahlen für Engpässe und Überfluss. Sitzung für Sitzung drückte Ronan den Rücklaufknopf. Er befreite die Welt von einer Dekade ihres Lebens, dann einem Dutzend, ging gegen das Altern der Welt mit einer schnellwirkenden Anti-Faltencreme an. Schließlich kam er in den siebziger Jahren an, der Zeit der großen Ölkrise. Und hier trennten sich ganz plötzlich seine Wege und die der Weltgeschichte. Seine Zahlen gerieten auf die geopolitische Ölspur und schlitterten in ein alternatives Universum. Von da an stimmten Schätzung und historische Tatsachen nicht mehr überein. Einen Monat lang kam auch Ronan ins Schleudern. Sein Alkoholkonsum stieg wieder auf das Maß seiner schlimmsten Belfaster Zeiten. Alle Arbeit war vergebens gewesen. Wie konnte die Mathematik – selbst die innovative Mathematik komplexer Voraussagen – jemals hoffen, einen solchen Irrsinn in ihre Rechnung einzubeziehen? Um die Schocks eines launischen Scheichs zu verarbeiten, hätte die Simulation so viele interdependente Variablen besitzen müssen, wie es Sandkörner in der arabischen Wüste gab. Rajasundaran fand ihn im Office, am Boden zerstört. Was quält unseren irischen Freund denn so sehr? Die verdammten Araber. Und was haben sie jetzt schon wieder angestellt? Nichts als Ärger mit den Burschen, hm? Dabei hätte man gedacht, eure Kreuzfahrer hätten ihnen schon vor Jahrhunderten Manieren beigebracht. Sie machen jede, selbst die einfachste, rationale multivariable Extrapolation unmöglich. Oh. Waren das nicht schon euer Adam und eure Eva? In seiner Verzweiflung nahm Ronan Rajan und Spiegel mit in 171
die Grotte. Damit sie sahen, wie groß das Loch war, und ihm halfen, das Wasser zu schöpfen. Rajan steckte den Kopf in den sich drehenden Globus. Mann! Das ist ja großartig. Entschuldige, Ronan Baba, aber hier kriegst du mich so schnell nicht wieder raus. Spiegel stieß einen Pfiff aus. Tolle Sache, Ronan. Freese wird begeistert sein. Sicher, ihr Affen. Aber es bedeutet nichts. Es ist ein blödsinniges buntes Spielzeug, das zu nichts zu gebrauchen ist. Aber das ist doch genau, was die Neunziger wollen, meinte Spiegel. Mein Programm hat keine Rekonstruktion der letzten Ölkrise zustande gebracht. Wie zum Teufel soll es da die Nächste voraussagen? Darf ich eine Frage stellen?, sagte Rajan. Auch wenn sie vielleicht trivial ist – aber warum wollt ihr solche Sachen wissen? Die Zukunft? Warum wir die Zukunft voraussagen wollen? Du machst Witze. Darum dreht sich doch alles hier, Mann. Das Ende des Tunnels. Der Weg in die Freiheit. Was für ein Volk, diese Westler. Eine Gefahr für den ganzen Planeten. Diese Rückwärtsläufe, sagte Spiegel. Ich verstehe das nicht. Wozu brauchst du die? Das ist ein Mittel, mit dem man die Maschine kalibrieren kann. Um zu sehen, wie verlässlich die Simulation ist. Beim Blick nach vorn weiß ich ja nicht, ob die Zahlen stimmen … Nein, ich meine, wenn du 1973 voraussagen willst, warum kannst du denn dann nicht in 1968 anfangen und einfach – Beim Barte des Propheten! Das ist brillant. Schlicht und einfach brillant. Darauf wäre ich in einer Million Jahren nicht gekommen. 172
Rajan heulte wie ein Banshee. Du bist ein Mann mit Dschungelverstand, Ulstermann. Echter Dschungelverstand. Eine Woche darauf kehre O’Reilly zu ihnen zurück, zerknirschter denn je. Es hilft nichts. Ich habe es mit einer Simulation versucht und alle Daten auf drei Jahre vor dem Embargo eingestellt. Und das Programm hat die ganze Dekade simuliert, als sei nichts gewesen. Ein kleiner Preisanstieg, aber nach meinen digitalen Männchen hätte der Ölpreis um nicht mehr als ein paar Dollar pro Barrel ansteigen sollen. Dann könnt ihr mir eine Valdez-Ladung auf dem Konto gutschreiben, meinte Rajan. Tja, sagte Spiegel, Zeit, dass wir ein besseres Programm schreiben. Was hat denn damals das Embargo ausgelöst? Rajan hob die Hand. Ich glaube, das hatte etwas mit einem kleinen arabischen jungen zu tun, der seinen Finger in die – Halt den Schnabel, Raj. Mir ist das Ernst. Hör zu, Ronan. Wenn dein komplexes Simulationsmodell wirklich makroökonomische Prozesse nachahmen kann, dann sollte es auch politische Aspekte berücksichtigen. Du brauchst einen umfassenderen Dialog. Du musst weitere Faktoren einbeziehen. Wenn der Erdölverbrauch vom Ölpreis abhängt und der Ölpreis von den Beziehungen zwischen der westlichen und der arabischen Welt, und die Beziehungen wiederum … O’Reilly war schon draußen, bevor Spiegel den Satz zu Ende gesprochen hatte, war mit seinem Dschungelverstand schon bei den ersten Plänen für eine Programmerweiterung, wie die Welt sie noch nicht gesehen hatte. Es war ein Jahr, das den versammelten Programmierern reichlich Gelegenheit gab, ihre Variablen auszubauen. Von einem Dutzend lokaler Epizentren breiteten sich neue Ideen wie ein Fieber aus. Vom Inneren des rotierenden Hologramms studierte das Realization Lab einen Planeten, der fest 173
entschlossen war, sich neu zu schaffen. Die Politik schritt rascher voran, als selbst die neuesten Fassungen von Moores Gesetz vorausgesagt hätten. Der Mai stellte alles in den Schatten, was im April geschehen war, und der Juni übertraf die wildesten Maifantasien. Aus wahnwitzigen Tagen wurden wahnwitzige Wochen. Die Abendnachrichten stiegen vom Lückenbüßer zum Straßenfeger auf, und selbst die gewieftesten Kommentatoren wollten zu den Verwicklungen der Handlung keine Prognosen mehr wagen. Ereignisse hievten sich ins Blickfeld, als tauche das Knie eines Sauriers vor einem Fenster im zehnten Stock auf. Lim bastelte eine Karte zum Fernsehempfang und steckte sie in ein Servergehäuse. Jeder im Labor konnte auf seinem Terminal vierundzwanzig Stunden am Tag die Kabelnachrichten im Hintergrund laufen lassen. Selbst die größten Realitätsverächter wurden über Nacht bekehrt und waren versessen auf jede Neuigkeit. Die Gespräche in der Kantine drehten sich um die neuesten Wendungen in einer Geschichte, die so komplex war, dass man sie nur noch in ihren einzelnen Strängen verfolgen konnte. Nun sieh sich einer die Russen an. Immer noch die alten Lügenmärchen. Lassen ihre Marionette tanzen, füttern sie, ziehen sie an, bis die Scheißdemokratie aufsteht und sie einfach stehen lässt. Wunderbar. Die Mädels an der Kasse im Redi-Mart erzählen von Erich Honecker, als ob sie am Samstagabend mit ihm zur Disco verabredet wären. Wir brauchten einen Teleprompter hier. Könnt ihr mich aufklären – was ist das Stichwort der Woche? Immer noch Polen? Tschechoslowakei. Die Polen sind jetzt schon auf halbem Wege zum persönlichen Camcorder. Es tat sich etwas, und es war zu groß, um als optische 174
Täuschung durchzugehen, zu dauerhaft, als dass es nur die übliche, flüchtige Massenhalluzination sein konnte. Etwas von epochalen Ausmaßen und in so großen und häufigen Dosen, dass keiner, der Anschluss behalten wollte, daran vorbeikam. Freese ergriff das Wort für die anderen, denen es die Sprache verschlagen hatte. Da könnte man fast an den Zeitgeist glauben. Alles Elektronik, versicherte ihm Spider. Diese Studenten in China – ohne Satellitenschüsseln wäre das nicht möglich gewesen. Funktelefone. Faxgeräte, Fotokopierer. Notebooks mit Laserdruckern. Maschinen, die den Bewohnern der entlegeneren Regionen der Erde vor Augen führten, wie weit zurück sie waren, und von da an hungerten die Menschen danach, selbst auch zu dieser Welt des Informationszeitalters zu gehören. Mehr als nur eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Eine Zeit, deren Technik gekommen ist. Lim starrte auf die Bilder der Studentenmassen, als suche er nach jemand Bestimmtem. Adie marschierte im Innenhof des RL hin und her und gab verrückte Cory-Aquino-Parodien zum Besten. Alle Macht dem Volk! Alle Macht dem Volk! Spiegel lachte, als er sie so sah, entspannter und sorgloser, als sie mit einundzwanzig gewesen war. Nur dem Volk? Den Menschen? Ist das nicht arg anthropozentrisch? Seine alte Freundin war in diesem großen Erwachen selbst wieder zum Leben erwacht, war weit munterer geworden, als er hoffen konnte, als er sie vom Altenteil zurückgeholt hatte. Die resignierte Handwerkerin, die jeder Kunst außer dem Kopieren abgeschworen, sich jede Vergnügung für das Auge versagt hatte, war nun die Erste, die rückfällig geworden war, die durch die Flure lief und die neueste Wiedergeburt der Welt verkündete. Dabei hätte Spiegel nicht sagen können, was es denn nun 175
eigentlich war, was sie ins Lager der Lebenden getrieben hatte. Etwas im Experimentierfeld der Grotte hatte sie empfänglich gemacht für diese weltweite sanfte Revolution. Etwas hatte in Rousseaus 3D-Dschungel geschlummert, etwas, das nun durch die täglichen Nachrichtenbilder vom Freudentaumel der Pekinger Studenten vor den Toren des Himmlischen Friedens erwacht war. Dies Annus mirabilis, noch nicht einmal halb vorüber, hatte die, der die Kunst einst den Lebensmut genommen hatte, zu neuen Taten befreit. Die Adie, die Spiegel einmal geliebt hatte, die gelassene, willensstarke Studentin, die daran geglaubt hatte, dass ein Zeichenstift die Welt verändern kann, gab es in der Nacht, in der er sie angerufen hatte, längst nicht mehr; sie war schon lange in der Erwachsenenwelt untergegangen. Aber er hatte ihr das Angebot trotzdem gemacht, in der Hoffnung, dass ein kleiner Rest von ihr noch da war, der zu neuem Leben erwachen würde, wenn sie sah, was für einen mächtigen Stift für solche Veränderungen das RL entwarf. Aber dass die ganze Welt mithalf, ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt – so verrückt, das zu hoffen, wäre er nie gewesen. Vielleicht hatte Lim Recht. Vielleicht war das immer dichter werdende Computernetz wirklich der Katalysator für diese Massenrevolution. Vielleicht hatten die ausgestreuten Silikonsamen in der Menschheit eine Vorstellung von ihren eigenen Möglichkeiten wachsen lassen. Nach zehntausend Jahren falscher Anläufe begann die Zivilisation nun tatsächlich das zu verwirklichen, was alle Geschichte von Anfang an erstrebt hatte: einen Raum, der groß genug war für die Ruhelosigkeit des Menschen. Ein Mittel, das die Materie überlistete und Träume Wirklichkeit werden ließ. Das war es ja, was die aus ihrer Starre erwachten Studenten forderten: einen Ort, an dem die Menschen endlich leben konnten. Jeder vertriebene Bauer würde zu einem großen Maler werden. Alles verkümmerte Leben neu erblühen. 176
Dienstags und donnerstags gingen Spiegel seine pubertären Fantasien selbst auf die Nerven. Am Montag, Mittwoch und Freitag hätte er sein ganzes Geld darauf gesetzt. Aber was nun auch wirklich geschehen mochte, was am Ende auch dabei herauskam – dass die Erregung der Umbruchszeit sie alle beflügelte, stand fest. Und Spiegel hatte seine alte, für alles offene Adie zurück. Aber es ist doch schade, Stevie, findest du nicht auch? Schade? Was soll schade sein? Stell dir vor … nein, das ist Blödsinn, das kann man sich nicht einmal vorstellen. Aber es ist verrückt, oder? Alles, was hier geschieht. Adie wies auf ihr Terminal, als spielten die weltbewegenden Umwälzungen sich dort ab, in den Kabelnachrichten im Hintergrundfenster. Stell dir vor, eine freie, friedliche Welt setzt sich tatsächlich durch. Was kommt dann? Wieso, was kommt dann? Dann leben wir darin. Im Frieden? Am Ziel unserer Wünsche? Sicher. Hört sich doch prima an. Ich weiß nicht. Vielleicht sehe ich ja zu schwarz. Aber wenn tatsächlich alle einer Meinung wären, fände ich das … irgendwie traurig. Denk an die Kunst – wie die Künstler immer schockiert haben, immer die Regeln gebrochen. Masaccio, Hals, Turner, Manet, Duchamp. Und die, die auf die Barrikaden gegangen sind: Caravaggio, David, Rodtschenko, Siqueiros, Rivera … einfach alle! Wer etwas zu sagen hatte, war Bilderstürmer oder Revolutionär. Wir brauchen etwas, wogegen wir kämpfen können. Ich glaube nicht, dass ich gern in einer Welt leben möchte, in der sämtliche Schlachten geschlagen und gewonnen sind. Ich kann nicht glauben, dass du so was sagst. Das sind doch 177
genau die Sachen, die ich früher gesagt hätte, auf dem College. Damals im Mahlerhaus. Wahrscheinlich schon. Erst sagst du, Kunst ist zu nichts nütze. Und jetzt soll sie das gute Gewissen der ganzen gebeutelten Menschheit sein. Blöd von mir. Du musst dich schon entscheiden. Gut. Sie ist zu nichts nütze. Schon besser. Ich fühle mich seltsam erleichtert. Trinken wir auf Weltfrieden und Einheitskunst. Auf das Tapetenzeitalter. Prost! Aber Adie Klarpol konnte sich nicht von den Pixeln berieseln lassen, die aus der Dusche des Koaxialkabels von den tanzenden Satelliten herunterprasselten, ohne dass sich das Gefühl einstellte, dass die Menschheit eben erst wirklich begann, sich Bilder zu schaffen. Ein Grüppchen kritzelnder Kinder war der Aufsicht entwischt, hatte seine Pastellkreiden mit auf den Bürgersteig genommen, über die Bordsteinkante, auf die Straße. Bilder von dieser Gruppenausstellung der Refuses waren in den unendlichen Elektronenstrom geraten, Bilder, die unverblümter und schamloser waren als die Demoiselles, mit denen sie sich die Straße teilten. Manche kamen am nächsten Morgen in Schwarzweiß auf Zeitungspapier in Umlauf, vierfarbig sprangen sie von den Rotationsmaschinen als Höhepunkte der Woche. Diese Bilder waren Adies visuelle Läuterung. Das Portal, durch das sie ging. Sie packten sie mit Haut und Haaren, erzwangen sich ihren Blick, und dann starrten sie zurück. Die Menschenmenge, die sich auf dem größten Platz der Welt versammelt hatte – das Lager der Studenten, der erbitterte Hungerstreik –, das war der Stoff, der sie zum Mitgefühl zwang, zur Gedenkwache bei Kerzenlicht in einer Chrom-und178
Kunststoff-Cafeteria am äußersten Ende Amerikas, zehntausend Meilen weit fort, jenseits einer unendlichen See. Seht euch das an, sagte Adie zu ihren Kollegen, die wie hypnotisiert auf die Schirme starrten. Nicht zu fassen. Die größte Armee der Welt, und ein paar Collegekids bringen sie zum Stillstand. Ziemlich viele Collegekids, sagte Spiegel. Ziemlich viele, pflichtete Rajan ihm bei. Kaladjian saß grimmig dabei, verzweifelt angesichts dieses neuesten Beweises menschlicher Irrationalität. Aber die mathematische Dimension fesselte auch ihn. Tag für Tag. Spontane Clusterbildung. Ganz gleich was Freese dieser Tage sagte, er tat es nie ohne Kopfschütteln. Glaub mir, Spider, es muss schon mehr da sein als Funktelefone, bevor so etwas passiert. Spider sah sich auf dem nächsten Bildschirm nach Belegmaterial um. Ich denke, die kritische Masse ist bald erreicht. Unglaublich, sagte Adie. Die Regierung des größten Lands der Erde steht hilflos da. Sie können nichts tun. Sie haben zu lange gewartet. Langsam! Spiegel machte eine Handbewegung in Richtung Fernsehschirm. Nicht so schnell. Könnt ihr mal für ein paar Monate Ruhe geben und nach Hause gehen? Ich komme einfach nicht mehr mit. Das ist nicht die Nachkriegswelt, die ich gekannt habe. Ein kleiner Junge aus La Crosse, der gelernt hat, sich unter der Schulbank zu verstecken, wenn die Atombomben fallen. Selbst Ebesen stand da und starrte. Dass ich das noch erlebe. Mist, sagte Michael Vulgamott. Ich habe mir gerade einen neuen Atlas gekauft. Was für ein Triumph. Was für ein großartiger Triumph. Adie 179
blickte sich unter den versammelten Augenzeugen um, suchte nach Bestätigung. Und ein Triumph ist es doch, oder nicht? Daten ließen die Gesichter sämtlicher Zeugen aufleuchten. Nur O’Reilly zeigte noch die gekräuselte Lippe des Kalten Krieges. Gesegnet, wer in solcher Morgenröte lebte. Er zog die Schultern zusammen, ganz Schmerzensmann. Doch jung zu sein, das war das Paradies. Freese nahm die Herausforderung an. Kommt, Freunde! Noch ist es Zeit zu suchen eine neu’re Welt. Mit diesen Worten scheuchte der Projektleiter die anderen wieder an ihre Verschwörerarbeit. Denn in den tiefsten Tiefen des Laboratoriums, in den verborgensten Falten der Revolution, wartete eine noch um vieles neuere Welt ungeduldig auf ihr Entstehen. Dort im Land von Fichte und Zeder schuf die geschickte italienische Hand der Zeichnerin mit Unterstützung der Schnellen Fourier-Transformation ein Gestrüpp von geschlitzten Bananenblättern, lasziv und unverschämt grün. Adies Zauberwald wuchs und wurde von Tag zu Tag lebendiger. Bananenblätter spielten wie Kinder im Unterholz. Wie im Traum schwebten Bananen zum sorglosen Mond empor. Adie hängte Rousseaus merkwürdige Mandarinen an die üppig wuchernden Bäume. Orangefarbene Weihnachtskugeln zierten die Zweige. Sie baute das Blattwerk der Vorlage aus, in der Art der Landschaftsmaler des goldenen Zeitalters, die ganze Wälder nach Spargelspitzen und Broccoli gemalt hatten. Der Regenwald kehrte zurück zur Natur. Sie hielt Ausschau nach weiteren Geschöpfen, die den Garten bevölkern konnten, und erkannte sich dabei selbst kaum wieder. Zum ersten Mal seit sie einundzwanzig war, hatte Adie nicht mehr das Gefühl, dass Vergnügen etwas war, was man bereuen würde; ja, es 180
schien ihr beinahe ein moralisches Gebot. Sie trat ein in diesen Traum und rief sich Dinge zurück ins Gedächtnis, die sie lange vergessen hatte, so wie man seinen Körper nach einer langen Krankheit wieder entdeckt. Das Gebüsch teilte sich vor ihr, wenn sie mit dem Zauberstab darauf zeigte. Das Dickicht öffnete sich, lud sie ein, sich auf einem neuen Pfad im Unterholz zu verlieren. An jeder Verzweigung warteten die Tricks der künstlichen Natur, ihre Kletten hefteten sich an ihre Hosenaufschläge, wollten mit ihr zurück in die reale Welt. Im Schutz einer mächtigen Yucca tauchte aus einem kleinen Teich eine winzige Venus auf ihrem Muschelsurfboard auf, nicht größer als ein Rehkitz. Ein paar Sekunden lang stand sie aufrecht, dann versank sie in den Fluten, nur um kurz darauf von neuem zu erscheinen, ihre zweidimensionale Bitmap aus dem Scanner zu einer ewigen Endlosschleife programmiert. Pfade führten tiefer in den Wald hinein, Wege, die entstanden, weil sie immer wieder neu begangen wurden. Einer führte zu einer Lichtung. Hier, auf dem grasbewachsenen, palmengesäumten Platz, weidete eine weitere Farbkopie: Schäfer beugten sich über ein steinernes Grab mit einer geheimnisvollen Inschrift, ländliche Archäologen in der Begegnung mit einer untergegangenen Kultur, deren technisches Wissen das ihre weit in den Schatten stellte. Ein anderer Abzweig im Wald, und man stieß auf einen Bauern, der den steinigen Boden beackerte. An einen Baumstamm in der Nähe war ein konvexer Spiegel genagelt, der mit seinem Zerrbild erschreckte. Oben in den höchsten Zweigen blies ein Junge eine Seifenblase, aber sie flog nie davon, sondern bebte für alle Zeit am Halm. Ein goldblondes Mädchen beobachtete ihn, verborgen hinter Weinstöcken. Zwischen den Ästen eines mächtigen Banyan-Baums schwebte ein dunkles Etwas in der Luft. Nur unmittelbar von unten konnte der Betrachter einen Frauenschuh erkennen, der dort 181
mitten im Fluge hängen geblieben war. Durch Baumlücken im Dschungel sah man weit in der Ferne weitere Wälder, Flüsse, Küstenlandschaften, Klippen und Schluchten, die körperlos am Rande der Dschungelnacht schwebten. Jenseits der Wälder, wo die Straße die Mitternacht durchschnitt, gab es eine Tankstelle mit einem einsamen Tankwart. Von einem grob behauenen Baumstamm auf einem mit Schädeln übersäten Hügel nahmen verstohlene Gestalten den Leichnam eines Exekutierten ab und legten ihn einer trauernden Pyramide in den Schoß, weiblich und blau. Und immer so weiter: Schmuckstücke wie Belohnungen im Buschwerk versteckt, eine Schnitzeljagd aus Bildzitaten, die weder der Geschichte noch einer inneren Logik noch dem künstlerischen Wert verpflichtet waren, weder einer gemeinsamen Thematik noch sonst einem Prinzip, nach dem sie ausgewählt waren, sondern einzig den Vorlieben einer einzelnen Frau. Eine einsame Spur aus geliebten Objekten. Eine launige, begehbare Cornell-Schachtel aus überlebensgroßen Fundstücken: ihrem Leben. Jackdaw konnte nichts damit anfangen. Und was soll das ganze Zeug hier? Die Bilder? Die sind ein Sicherheitsventil, erklärte sie, damit man den Druck der Kultur aushält. Sie nahm Spiegel mit auf eine Besichtigungstour. Sie blieben stehen vor einem Paar, das eng umschlungen zwischen den Weinstöcken lag. Schieles Umarmung, sagte Spiegel. Wie viel habe ich gewonnen? Du kannst froh sein, wenn du nichts verlierst, sagte sie. Sehr erotisch. Zwei Menschen, die miteinander verschmelzen. Tatsächlich? Ich hatte immer das Gefühl, die beiden krümmen sich vor Schmerz. Weiter ging es auf dem Spaziergang durch die Bildergalerie. 182
Was bekomme ich, wenn ich die anderen auch noch weiß? Dann darfst du leben. Was? Soll das heißen, ein Mensch lebt nicht, wenn er die Meisterwerke der Malerei nicht kennt? Nein. Ich meine: du sagst mir, welche Bilder es sind, und dafür lasse ich dich am Leben. Vorerst. Eines frühen Abends tauchte Lim auf, begeistert von der Lektüre eines neuen Buches über prähistorische Kunst. Das müsst ihr lesen. Der Autor sagt, die Grotten der steinzeitlichen Höhlenmenschen waren die ersten virtuellen Räume. Sicher. Spiegel machte eine wegwerfende Handbewegung. Wie soll man sie auch sonst nennen? Nein, er meint es wörtlich. Säle so groß wie Kinos, und was sie da gemacht haben, war total immersion. Initiationsrituale. Im Licht der Fackeln haben sie die Leute hineingezerrt. Dann die Sound-and-Lightshow, der Schock des Übernatürlichen, der das Bewusstsein veränderte. Lim kam ins Stocken, verlor sich in dieser Idee. Könnt ihr euch das vorstellen? Jemand, der zum allerersten Mal ein Bild sieht – ein Bild, das ihm da aus pechschwarzer Nacht entgegenflackert? Nie im Leben hat er so etwas gesehen – die Bilder aus seinen Träumen, die plötzlich Wirklichkeit sind. Adie hob die Hand, dämmte den Strom, bis sie eine improvisierte Brücke darüber schlagen konnte. Du willst sagen, dass die Höhlenmalerei der Anfang von all dem hier ist? Sie wies auf die Wand und meinte das gesamte RL. Dass Lascaux eine Kettenreaktion in Gang gesetzt hat, die schließlich … hier ankommt? Es ist der Beweis, dass die Kunst im selben Augenblick ihren großen Sprung machte wie die Werkzeugkultur. Dass die 183
Höhlenmalerei diesen Sprung vorbereitet hat, nach anderthalb Millionen Jahren, in denen sich nichts bewegt hat. Dass Bilder das Werkzeug waren, das die Entwicklung der menschlichen Kultur in Gang gebracht hat, die Ur-Technik, die den Menschen die Idee einer eigenständigen symbolischen – Wahnsinn. Siehst du? Seht ihr es? Wenn wir diese … Linien zum Leben erwecken können, dann ist das Leben nicht mehr einfach etwas Äußerliches, das uns zustößt. Es ist etwas, von dem wir Besitz ergreifen und das wir nach unseren eigenen Vorstellungen gestalten. Spiegel schwieg, nachdenklich geworden. Ich habe irgendwo gelesen, dass Lascaux jetzt selber eine Simulation ist. Dass die Touristen die Bilder erodiert haben und die Behörden deshalb eine komplette unterirdische Kopie gebaut haben, damit-Lim schnitt ihm das Wort ab. Ihr versteht es immer noch nicht. Es waren vom ersten Augenblick an Simulationen. Das Bewusstsein, das sich zum ersten Mal selbst den Spiegel vorhält. Das Initiationsritual zum neuen Universum des symbolischen Denkens. Wenn das stimmt, dann kann ich mir nicht … dann möchte ich mir lieber nicht vorstellen, in welche neuen technischen Sphären uns der Schock der Grotte katapultieren soll. Lim malte es ihnen mit den Händen vor, wie ihr Horizont weiter und weiter werden würde. Die erste virtuelle Realität ist der Verstand. Er tastete nach dem rechten Begriff, im Licht der qualmenden Fackeln. Der Verstand formuliert, was die Welt werden soll. Die ersten Spekulationen sind der Anstoß zu allen weiteren … Das ist wahr, sagte Adie. Sie wies in Richtung Grotte, ihr Rhizom, das in der Ferne wucherte. Etwas lief ihr kalt den Rücken hinauf, breitete sich über das Kleinhirn aus. Erinnert ihr zwei euch noch an den Abend, als ihr mir die Buntstiftwelt 184
vorgeführt habt? Seht euch an, was daraus geworden ist. Liebe Güte. Spiegel schlug sich an die Stirn. Was haben wir da angestellt? Eine brave, gesetzesfürchtige Technikhasserin … Oh, die Technik hasse ich nach wie vor. Ich lerne nur allmählich, wie sie mir Spaß machen kann. Dies neue Vergnügen lockte Spider immer häufiger in ihre Nähe. Er begutachtete auch die kleinsten Veränderungen im Dschungelraum, wie der Besitzer einer Blockhütte, der den Nachbarn argwöhnisch beobachtet, weil er seinen Gartengrill zu nahe an der Grundstücksgrenze baut. Geh nur hinein, machte sie ihm Mut. Der Pfad da drüben. Der Durchgang links vom Diwan. Ach. Ich bleibe lieber hier draußen. Selbst nach einem Dutzend Soloausflügen verließ er immer noch nicht Rousseaus komfortables Vestibül, um in die Tiefe des Bauwerks vorzudringen. Erinnert sie dich eigentlich an jemanden? Wer?, bluffte er. Adie lächelte ihn an. Wies mit dem Finger auf die Frau, die mit ausgestrecktem Finger auf dem Sofa lag. Spider tat, als sehe er nichts. jemanden, den du kennst? jemanden hier? Er blickte sie an. Durch die beiden 3-D-Brillen konnte sie seine Augen nicht sehen. Er wandte sich wieder ab. Kommt drauf an, was du mit »hier« meinst. Wo bist du geboren?, fragte sie. Er zuckte mit den Schultern. Willst du es mir nicht verraten? Er drehte sich um, abrupt. Wollen ist nicht das richtige Wort. Wie alt warst du, als du … herüberkamst? 185
Wieder wandte er sich ab. Jung. Sie ließ eine Anstandspause verstreichen. Adoptiert? Weißt du, was das Verrückte ist? Er sprach zu der Frau auf dem Sofa. Ich soll noch einen älteren Bruder haben. Irgendwo. Sie ging zu ihm hin, da wo er zwischen den Blättern stand, und legte ihm den Arm um die Schultern. Er nahm seine Brille ab, aber er wollte Adie nicht ansehen. Ich wünschte wirklich, du würdest ihr mal was anziehen. Eines Tages, als Adie in der Grotte war, kam Ebesen zu Besuch. Zum ersten Mal seit ihrer Beinahe-Konversation ließ er sich wieder blicken, bereit zu reden. Er wollte sehen, wie weit sie gekommen war. Sie führte ihm die beweglichen Tiere vor, darunter der Affe, den er selbst animiert hatte. Wusstest du eigentlich, dass dein Unschuldsengel, dein malender Zöllner, seinerzeit im Santé eingesessen hat? Im Gefängnis? Ebesen sagte es, als sei sie die Übeltäterin. Nein! Unmöglich. Doch. Beihilfe zur Fälschung und Unterschlagung. Das kann ich nicht glauben. Wusste er, was er tat? Wahrscheinlich nicht. Wissen ja Leute wie ihr nur in den seltensten Fällen. Leute wie ich? Ein Fall von naiver Vertrauensseligkeit. Das ist jedenfalls der Schluss, zu dem die Behörden kamen. Nach einem Monat ließen sie ihn wieder laufen. Sie führte Ebesen in ihr Museum der gescannten Bilder. An Botticellis Venus gingen sie ohne ein Wort vorüber. Poussin streiften sie nur. Nur ein Zucken in den Mundwinkeln zeigte, dass Ebesen das Bild erkannte. Er nahm die Fernbedienung, steuerte sie durch den Dschungel, als säßen sie in einem 186
Geländewagen. Bald nahm er bei den Attraktionen am Wegesrand nicht einmal mehr Gas weg. Sie kamen ans äußerte Ende der Simulation, wo die Welt unvermittelt aufhörte. Ebesen nahm seine Brille ab und nickte. Interessant. Das ist alles? Mehr hast du dazu nicht zu sagen? Also, wenn ich nicht irgendwo eine Abzweigung übersehen habe, dann hast du etwas Wichtiges vergessen. Etwas Entscheidendes. Kein Dr. Tulp, sagte sie. Keine Klinik von Eakins. Ich nehme nichts mit aufgeschnittenen Bäuchen. Handabdrücke. In roter Farbe. Elche. Bisons. Zauberpfeile. Oh! Ja natürlich! Die Augen leuchteten, Perfektion zum Greifen nah. Sicher, was ist schon eine Höhle ohne Höhlenmalerei. Ebesen hörte sie gar nicht. Der alte Landstreicher war ganz in seine Gedanken versunken. Als er wieder sprach, richteten sich die Worte nicht mehr an sie. Ja. Das ist es. So muss man das machen. Er schlurfte aus der Grotte heraus. Sie sah ihm nach. Der Boden seiner ausgebeulten Kakihose war beiderseits der Mittelnaht durchgescheuert, zwei Flecken wie die Augen auf Schmetterlingsflügeln. Das versetzte ihr einen Stich. Der Kampf ums Überleben reduziert auf ein anständiges Paar Hosen – eine Kleinigkeit, die sie ihm doch nie schenken konnte, ohne ihn zu demütigen. Sie hatte nicht damit gerechnet, aber Ebesen kam zurück. Er schleppte einen dicken Quartband an, der Rücken längst brüchig geworden, die meisten Blätter nur noch lose eingelegt. Ein altehrwürdiges Buch, das durch Modergeruch und Wasserflecken nur umso authentischer wirkte. Ein Text, der Generationen von Studenten gequält hatte, als Jansons Augen 187
noch unwissend den Druck vom Königreich des Friedens über seinem Kinderbettchen bestaunten. Hier, sagte Ebesen und schlug den Band mit einem Knacken auf. Alle Abbildungen waren schwarzweiß. Oder früher einmal schwarzweiß gewesen. Inzwischen waren sie zu Aschgrau und Elfenbein zergangen. Er hielt Adie das Bild hin, das er ihr zeigen wollte: eine Flamencotänzerin, in dramatische Schatten getaucht. Adie legte die Stirn in Falten und blickte ihn fragend an. Kennst du das nicht? Sie schüttelte den Kopf. Du kennst es nicht. Ich bin enttäuscht. El Jaleo? Von Sargent? Aber wer Sargent war, weißt du, oder? Karl. Sei nicht so gemein. Du solltest mich mal erleben, wenn ich gemein bin. Hier. Sieh dir das an. Er hielt den Daumen genau auf die Stelle, die er ihr zeigen wollte, und nahm ihr auch noch die letzte Chance, etwas zu erkennen. Sie strengte die Augen an. Sie suchte die Wand hinter der Tänzerin ab, das Spiel der makabren Schatten, undeutlich in dem groben Druck, in Jahren des achtlosen Umgangs von Händen abgegriffen, die wahrscheinlich häufiger beteten, als sie sich wuschen. Sie hatte keine Hoffnung, etwas zu erkennen, aber sie wusste, dass er nicht lockerlassen würde. Und dann sah sie es. Auf den Putz der Wand hinter der Tänzerin gemalt: eine Kopie des ältesten Bildes der Welt. Er zitiert Altamira, erklärte Karl. Damals gerade erst von Sautuola und seiner kleinen Tochter entdeckt. Ein Jahr bevor Sargent dieses Bild malte, war es publiziert worden. Eine spanische Höhle, verstehst du? Es geht in dem Bild gar nicht wirklich um die Tänzerin. Es geht um das älteste Zeugnis der Malerei. Das Zeichen, dass Malen für uns so natürlich ist wie In-die-Hände-Klatschen. Bei den Experten dauerte es noch vier Jahrzehnte, bis sie zugestanden, dass es schon in der Steinzeit 188
Kunst gab. Keiner wollte glauben, dass diese Bisons wirklich echt waren. Nur die Maler natürlich. Sie starrte ihn an, fassungslos von dem, was sie da sah. Leg den Sargent auf den Scanner, sagte er, und stell ihn an deinem Lehrpfad auf. Dann bekommst du Altamira gratis dazu. Er betrachtete noch einmal das Bild im Bild und schüttelte ein wenig traurig den Kopf. Wenn man sich das vorstellt. Jahrhundertelang immer mehr Realismus, mehr Licht, mehr psychologische Tiefe, und trotzdem erwachte der Golem nie zum Leben. Malerei: entthront von der Technik, in Verruf gebracht, bis die Technik sie doch wieder brauchte. Und jetzt – er wies mit den Schultern auf die Wände der Grotte – kommen Wasser und Lehm und der Funke des Lebens endlich zusammen. Jetzt stehen wir tatsächlich vor dem Durchbruch … Karl. Karl. Wer war dieser Mann? Warum bist du nicht Professor für Kunstgeschichte? Er lief rot an, als hätten ihre Worte ihm eine Ohrfeige versetzt. Eine schallende Ohrfeige. Flamenco. Du mich auch, Kindchen. Ebesen packte sein vergilbtes Geschenk zusammen und nahm es vom Arbeitstisch. Er wandte ihr seinen abgewetzten Hosenboden zu – ein ausgebleichter Pavian auf dem Totenbett – und steuerte dem Ausgang zu. Karl. Halt. Bleib stehen! Das sollte ein Kompliment sein. Er drehte sich in der Tür um. Das Gesicht angespannt, als wäre er ein Besucher aus einem fremden Land, der versucht, sich an »Kompliment« zu erinnern, der überlegt, ob es ein trügerisches, zweideutiges Wort war. Hilf mir hierbei, sagte sie mit einer Bewegung, die alles einbezog, was nun nicht mehr zu sehen war. Das ist das größte Spiel aller Zeiten. Aber noch viel mehr Spaß würde es machen, wenn jemand dabei wäre, der all die Scherze versteht. 189
Er reckte das Kinn einen Nanometer vor. Scherze? Verzeih mir. »Anspielungen« wollte ich sagen. Ebesen unterdrückte ein Zucken der Lippen. Er musterte die Grottenwände, weiß, nun wo die Projektoren abgeschaltet waren. Ohne Elektronen wirkten sie karg wie Hadernpapier. Hilfst du uns im Gegenzug bei dem architektonischen Musterbuch? Sicher. Obwohl ich euch warnen muss. Ich kann einen Kragstein nicht von einer Kranzleiste unterscheiden. Und ich darf in deinem Safaripark meine eigenen Lieblingsbilder ausstellen? Aber ja. Je mehr, desto besser. Nur … Nun sag schon. Nur was? Sie wand sich. Nur dass wir … uns bessere Vorlagen besorgen sollten. Einen peinlichen Moment lang drückte Ebesen sein abgewetztes Buch an die Brust. Wenn du mich haben willst, musst du auch meine Vorlagen nehmen. Na, wir werden schon einen entlegenen Busch finden, unter den wir euch beide stecken können. So kam es, dass der zerlumpte Nestor der Grafikabteilung Adie den überwucherten Weg durch die Geschichte der westlichen Kunst wies. Ebesen murmelte bei der Arbeit vor sich hin, rezitierte Wissensfetzen und Gebetszeilen, die ihm halfen, sich auf das zu konzentrieren, was er vor sich hatte. Sie hörte vom anderen Ende ihrer Bürozelle so unaufdringlich wie nur möglich zu und machte sich mit all seinen alten, erschöpften Freunden neu vertraut. Mit neuen Augen. Der Mann hatte zu jedem Thema etwas zu sagen, vom paläolithischen Fruchtbarkeitsfetisch bis zur neuesten Sexgöttin im Siebdruck. Die Eingeborenen in Neubritannien, 190
erzählte er, glaubten, dass die Menschen zum Leben erwachen, wenn die Götter Blut auf Zeichnungen von ihnen träufeln. Oder: Picasso dachte, er hätte die Tarnbemalung erfunden. Und von da weiter, frei assoziiert: Weißt du, wie die Holländer die Nachtwache vor dem Zugriff der Nazis geschützt haben? Sie haben sie unter der Erde versteckt, in den Mergelgruben von Limburg. Er hielt zwei Abbildungen in die Höhe, nebeneinander. Ein solcher Kontrast, dass es komisch wirkte: Watteau und El Greco. Die Kunst kennt nur zwei Themen. Sie leugnet den Tod, oder sie ist besessen davon. Die großen Kunstwerke entstehen entweder aus vollkommener Gleichgültigkeit oder aus absolutem Entsetzen. Vor dem Genter Altar niedergekniet, sagte er: Weißt du, warum Maria ein schmutziges Tuch in der Hand hat? Der Engel hat sie bei ihrem Gebet überrascht. Keine Zeit mehr, für den Besuch aufzuräumen. Und weißt du, warum die Verkündigungsschrift auf dem Kopf steht? Weil Gott von oben diktiert … Karl, Karl. Wie kommst du nur auf solche Sachen? Sie fragte, was er von den internationalen Superstars der Achtziger hielt, den Leuten, die den Kunstmarkt beherrschten. Ebesen zuckte nur mit den Schultern. Sein Gedächtnis endete abrupt im Jahr von Adies Ausstellung in SoHo. Im trüben Neonlicht konnte man es für Freundschaft halten, Ebesens stockende Kommentare, die Nähe, die er suchte. Und Adie hielt ihren Teil der Abmachung. Sie räumte sich in dem Büro, das Ebesen mit Vulgamott teilte, einen Arbeitsplatz frei. Der Landstreicher und der Architekt hatten mit dem Werkzeugkasten der Grotte bereits das Grundgerüst eines Bungalows erstellt. Mit der Fernbedienung konnte der Betrachter das Innere begehen, nicht nur auf vorgefertigten Wegen, sondern in jede Richtung, die er sich wünschte. Die 191
simulierten Zimmer nahmen echten Raum ein. Die Interieurs, wenn auch kaum mehr als eilige Polygon-Platzhalter mit angedeuteter Oberfläche, bewahrten aus allen Blickwinkeln ihre Gestalt. Wände verstellten den Zugang, Türen eröffneten ihn. Licht strömte durch die Fenster von einer einheitlichen Quelle aus. Auf Treppen konnte man hinauf und wieder hinunter gehen. Blick und Gegenblick lieferten die passenden Bilder. Als Beleg für unser Konzept genügt das, sagte Vulgamott. Der eindeutige Beweis, dass die Grotte räumliche Modelle darstellen kann. Aber nur eine Fingerübung. Eine Studie für das Werkzeug, das wir hier schaffen wollen. Was ihnen vorschwebte, war ein Inventar architektonischer Grundformen: dreidimensionale Bilder, universale Bausteine, aus denen sich unzählige weitere Räume zusammensetzen ließen. Sie träumten von einem Bildkatalog von Fertigteilen, einmal entworfen, immer wieder neu zu verwenden – eine ganze Vitruv’sche Bibliothek, die jede Baukomponente umfassen sollte, die jemals ein Architekt brauchen könnte. Jedes Bauteil musste massiv und trotzdem entlang sämtlicher denkbaren Achsen variabel sein. Als Adie dazustieß, hatte Ebesen schon Wochen mit dem ionischen Kapitell verbracht. Wir dachten, wir machen die gefragtesten Sachen zuerst, erklärte er. Das dorische Inventar hatten sie zusammen. Abakus und Echinus hatten ihre Punkte, die man anklicken und an denen man ziehen konnte, um das Kapitell zu vergrößern oder zu verkleinern. Die Hohlkehlen passten sich automatisch an, Säulenhals und Kannelur reckten sich, damit sie hübsch auf jeder Säule saßen, die darunter zu stehen kam. Die ionische Variante baute diese Grundform weiter aus, erhöhte die Zahl der Kanneluren, machten aus Echinus Eierstab und Kyma und fügte variable Voluten hinzu. 192
Ebesen stellte den Stein in allen Einzelheiten dar und testete das Ergebnis auf einem Flachbildschirm. Er modellierte, examinierte, probierte, setzte wieder den virtuellen Meißel an. Diese mühsame Knochenarbeit lag so weit unter dem Niveau des Grafikers, wie Grafik unter dem Niveau eines Mannes lag, der, wie Adie vermutete, jedes Ding freihand zeichnen konnte, das es auf dieser Welt überhaupt gab. Vulgamott war am zweiten Terminal zugange und legte letzte Hand an seinen Pfeiler mit Säulenschaft. Man kann nicht gerade sagen, dass wir uns auf die korinthische Phase freuen. Akanthusblätter, in allen Dimensionen verstellbar. Ein Albtraum wird das. Für den Baukasten nahmen sie herkömmliche architektonische Beschreibungen und programmierten danach winzige ästhetische Maschinen. Eines Tages – und mit Glück vor dem Tag, an dem TeraSys die Grotte einer größeren Öffentlichkeit präsentierte – würde ein Architekt mit 3-DBrille in diesem virtuellen Büro stehen können und durch Klicken, Ausschneiden und Einfügen vor sich in der Luft einen gespenstischen maßstabgerechten Parthenon entstehen lassen, und das binnen Augenblicken. Der Architekt tauchte ganz in das virtuelle Design-Environment ein – eine Vorstellung, für die Vulgamott den Begriff V-CAD geschaffen hatte. Es war ein Gedanke, der sie faszinierte: dass sich eine Kammer der Grotte dazu verwenden ließ, etwas zu schaffen, das weitaus prächtiger war als sie selbst … So, da bin ich, sagte sie zu den beiden. Was soll ich tun? Wie wäre es, wenn wir dich zur größten Triglyphen- und Metopen-Expertin nördlich von Frisco machen würden?, schlug Vulgamott vor. Keine Vorkenntnisse erforderlich. Er sprach mit stets dem gleichen weinerlichen Ton, einer Parodie der Depression, wie nur Depressive sie zustande brachten. Selbst größte Anerkennung klang, als klage er über 193
Zahnschmerzen. Sie plagte sich mit Friesen und Giebeln ab, nur um ihm eine Freude zu machen. Doch als er kam und ihr über die Schulter blickte, brachte er nicht mehr als ein Stöhnen zustande. Er wollte etwas sagen, aber er verhaspelte sich – Einwände zu Einwänden – in seinem eigenen Satz. Was ist?, fragte sie. Sag mir, was ich falsch mache. Es liegt nicht an dir, Liebes. Er wandte sich von ihr ab, warf mit einer dramatischen Geste die Hand in die Luft. Es ist die Menschheit. Ich leide so sehr an ihr, ich kann es nicht ertragen. Michael, Michael, Michael. Wenn ich dich reden höre, denke ich, ich bin wieder im U-Bahnhof am Union Square. Wo bist du bloß groß geworden? Hattiesburg, Mississippi. Aber wen interessiert das? Vulgamott beschäftigte Adie. Sie verstand ihn nicht. Soll das eigentlich komisch sein? fragte sie Karl eines Abends. Oder ist er einfach nur ständig schlecht gelaunt? Obwohl Adie auch bei Karl nicht immer sagen konnte, welches von beiden es war. Wer, Vulgata? Der Mann klammert sich mit Zähnen und Klauen an die Vorstellung, er könne die Welt retten. Er will aus der Grotte eine riesige Arche Noah machen. Er will alles Wertvolle, das es je gegeben hat, vor der großen Sintflut retten – ein einziger Wettlauf gegen die Zeit. Und ein undankbares Geschäft, denn die Aussichten sind, gelinde gesagt, nicht allzu rosig für ihn. Für Adie war es die ideale Lehrzeit. Wenn sie nicht ihren Dschungel mit Beutestücken aus dem baufälligen Museum der westlichen Kunst bevölkerte, arbeitete sie an dem wachsenden Inventar von Legosteinchen, aus denen Michael Vulgamott eine Mauer gegen die heraufziehende finstere Nacht errichten wollte. Sie konnte sich frei zwischen den beiden benachbarten Territorien bewegen. Über Architektur hatte sie nie mehr gewusst als das, was in den Einführungen der Standardwerke 194
stand. Nun erlernte sie das Handwerk von den Grundmauern an und sah die Gemeinsamkeit. Bauwerke waren die äußere Hülle der Kunst, die Bilder, in denen wir lebten. Sie waren vielschichtige Kreationen aus Farbe, Linie und Form, Gemälde, die auch im Regen standhalten mussten. Selbst für das einfachste Gebäude waren mindestens genauso viele ästhetische Entscheidungen zu fällen wie für einen Tizian mittlerer Größe. Die Textur eines Tempels, seine Wirkung im Licht, veränderte sich mit der Tages- und Jahreszeit, mit tausendundein Blickwinkeln. Erstarrte Musik, tatsächlich. Aber auch geschmolzene Malerei: strahlende Harmonie, zur Vollendung gebracht durch die Notwendigkeiten der Ingenieurskunst. Sie war begeistert von der Idee, den programmierbaren Raum so zu programmieren, dass er seine eigenen Nachkommen im Modell bewahrte. Und noch perfekter waren die beiden Musterexemplare der kuriosen Gattung Mann, ihre Lehrmeister der Architektur. Michaels überempfindlichen Perfektionismus lernte sie immer mehr schätzen, und für den verdrießlichen Landstreicher entwickelte sie etwas wie Muttergefühle. Besitzansprüche. Entdeckerstolz. Ganz der Museumskurator, der ein zu Unrecht vergessenes Meisterwerk anpreist. Schon die Bereicherung ihres Wortschatzes war mehr als genug Lohn für die Leiharbeit. Architrav, Hauptgesims, Stylobat, Steg, Mäander, Torus, Trochilus, Plinthe, Pilaster, Apsis, Entasis, Brustwehr, Gewölberücken, Bogenzwickel, Akroterion, Kreuzblume, Kriechblume, Stirnbrett, Tympanon, Kehlleiste, Kranzgesims, Mandorla, Archivolte, Spiralsäule, Baldachin, Retabel, Triforium, Bukranion, Kassettendecke, Bossenwerk, Lanzettbogen, Anthemion, Feston, Treppengiebel, Postamentwürfel, Lünette, Muscharabie, Dachreiter, Exedra, Maßwerk, Stabwerk, Erker, Eckstein, Stoa, Loggia, Risalit, Querbalken, Trompe, Pendetif … Alles, was je ein besseres Schutzdach abgegeben hatte, hatte auch einen Namen. 195
Das kleinste Ornament, die unauffälligste Stütze, so rar sie auch sein mochten, waren genau bezeichnet in der Enzyklopädie ihres Baukastens. In ihren Träumen lief sie über einen Parcours aus frei schwebenden Bögen und Gewölben, und bei jedem machte sie einen Sprung durch das Koordinatensystem der Luft. Dieses Gefühl der Freiheit, wie ein Schwimmer im Wasser, hielt sich, wenn sie morgens erwachte. Zum ersten Mal seit dem Experiment der Kollektive, mit dem sie und Spiegel am College gescheitert waren, geriet sie am Abend in Panik, weil die Uhr so schnell raste, dass sie nie bewältigen konnte, was sie sich vorgenommen hatte. Das Leben war nicht lang genug, um all die Projekte zu Ende zu bringen, die es von ihr wollte. Damit konnte sie leben. Aber der Gedanke quälte sie, dass jedes Einzelne davon so lange brauchen konnte, dass es alles verfügbare Leben aufzehrte und immer noch nicht verwirklicht war; das schien ihr grausam, selbst nach den sadistischen Maßstäben der Schöpfung. Sie nahm eine spätere Fähre zu ihrem Inselheim – den vernachlässigten Beerensträuchern, dem unkrautüberwucherten Garten –, schwindelnd von dem vielen, was sie im Laufe eines Tages gelernt hatte. Etwas in ihrem Inneren schmerzte. Sie hatte vergessen, wie sich das anfühlte: die Knochen, die so schnell wuchsen, dass die eigenen Muskeln nicht mehr mitkamen. Doch draußen am Fuße des Laborhügels war das Weltgeschehen nach wie vor schneller als sie. Die Entdeckungen des Tages traf sie in den Abendnachrichten wieder. Wenn sie am Rand ihres Waldes ein Eckchen für eine Menschenmenge von Bruegel rodete, tauchten dieselben Gestalten am Abend im Kabelfernsehen auf, in Bildern, die ein Satellit vom Wenzelsplatz übertrug. Verbrachte sie einen Abend mit dem Faltenwurf am Gewand einer variablen Karyatide, so sah sie die Statue prompt im Frühstücksfernsehen 196
– eine surreale Göttin der Demokratie, die zehn Meter hohe nachgemachte Freiheitsstatue auf den nummerierten Pflastersteinen vor der Großen Halle des Volkes. Die Unverfrorenheit der Kunst war nichts im Vergleich zu ihrem Ursprung. Vor den Maßstäben des Originals wich die Nachahmung staunend zurück. Für Vulgamott musste der Nachrichtenhahn zu allen Tageszeiten weit offen stehen. Für Ebesen war es genauso lebenswichtig, dass er stets gut zugedreht blieb. Sie hatten eine stillschweigende Vereinbarung getroffen. Michael saß an seiner Workstation und ließ in einer Ecke seines Schirms den Strom der Umwälzungen des Tages unablässig live herein, den Ton so weit heruntergedreht, dass er ihn gerade noch hören konnte. Karl setzte sich ans andere Ende des Raums, so weit fort wie möglich, kroch fast in seinen Grafikrechner hinein und ging gegen den Fernsehton noch mit ein wenig Musik aus seinem CD-Laufwerk an – Ockeghems Missa Prolationum oder Byrds Great Service. Liebe Güte, rief Vulgamott ein paar Mal am Tag, wenn ein Bild ihn überwältigte. Ich kann’s nicht glauben. Hier, das müsst ihr euch ansehen. Ebesen zuckte mit keiner Wimper. Lass mich raten. Schockierende Bilder. Demi Moore vollständig bekleidet. Und sie lebten ruhig weiter, jeder im Angesicht des anderen. Der Kompromiss stellte die beiden Männer zufrieden, denn jeder konnte so viel von den Ereignissen wahrnehmen, wie für ihn gut war. Adie jedoch saß zwischen beiden Datenströmen, genau im Schnittpunkt ihrer Schallwellen, und die Mischung aus Politik und Polyfonie machte ihren Nerven zu schaffen, sodass sie oft nach draußen ging und eine Runde um den Parkplatz drehte, damit sie wieder zu sich kam. Die ersten Junitage, als nach dem Regen endlich der Sommer kam, verbrachte Adie in diesem Kreuzfeuer. Sie saß an ihrem 197
Schirm und zeichnete, und das Hin und Her von CNN und Kontrapunkt neutralisierte sich zur stehenden Welle. Es war eine gute, solide Arbeit, an der sie bis in alle Ewigkeit weitermachen und jeden Tag ein wenig dazulernen konnte, bis die Lektion komplett war. Wenn wir sechs perfekte Bilder hintereinander machen, dürfen wir dann beim Siebten ruhen? Das könnte dir so passen, sagte Vulgamott ohne aufzublicken. Nach sechs Millionen bekommst du eine Viertelstunde für einen Caffe latte. Und dann, mit einer ganz anderen Stimme: Nein. Oh nein. Er klang wie eine enttäuschte Mutter, die den Kleinen ausschimpft, weil er sich gerade seinen besten Sonntagsanzug mit Soße bekleckert hat. Lieber Himmel! Das darf doch einfach nicht sein! Das war der Augenblick, in dem das ganze Spiel eine neue Wendung nahm. Was ist los, Michael? Was ist geschehen? Kümmer dich nicht um ihn, sagte Ebesen. AP mit der neuesten Pseudosensation. Unser Freund glaubt, durch die pure Kraft seines Willens hält er die ganze Welt zusammen. Aber Vulgamott wiederholte nur immer seine Worte wie ein Mantra. Oh nein. Nicht das. Adie ging hinüber, lehnte sich vor, um auf seinem Monitor zu sehen, was ihn so quälte. In einem briefmarkengroßen Fenster, kaum zu erkennen, sah man Menschenmassen. Es sah nicht anders aus als die Bilder, die sie schon seit Wochen sahen. Nur dass die Menschen hier in Panik schienen. Was geht da vor? Vulgamott starrte nur auf den Schirm, nahm nichts anderes mehr wahr. Kannst du es vergrößern?, fragte sie. Er tat es, doch als das Bild sichtbare Größe erreicht hatte, war die Auflösung so grob, dass nichts mehr zu erkennen war, und im Gewimmel der Pixel 198
sahen sie weniger als zuvor. Ein Nachrichtensprecher in New York kommentierte unablässig die verschwommenen Bilder, redete etwas von Deng, der aus seinen früheren Fehlern gelernt habe und nun junge Mongolen einsetze. Informationen über die Zahl der Todesopfer liegen noch nicht vor. Liegen nicht vor?, brüllte Vulgamott die körperlose Stimme an. Hast du denn keine Augen im Kopf? Er stürmte aus dem Zimmer. Adie, noch benommen von den Neuigkeiten, folgte ihm nach. Sie kam sich vor wie seinerzeit bei den Katastrophenübungen in der Schule, wenn Tornados im Anzug waren. Erst auf dem Flur, wo sie ziellos dahintrieben wie Staubflocken, ging ihr auf, dass Vulgamott nicht wusste, wohin er ging. Spider kam ihnen entgegen. Hör mal, bat Michael. Kannst du in die Grotte ein analoges Signal reinspielen? Sicher. Aber Ronan ist gerade drin. Er will – Gott sei Dank. Jemand, der begreift, was vorgeht. Ich rede mit O’Reilly. Du spielst uns das Fernsehbild ein. Bis Lim so weit war, dass die Szenen vom Massaker auf der Grottenwand erschienen, hatte sich schon eine kleine Gruppe versammelt. Keine Brillen. Kein räumliches Bild. Nur die üblichen Videobilder vom Chaos, an die Wände eines kleinen Kinos projiziert. Kadetten, die in die Menschenmenge feuerten; Kinder, die in Gaswolken aufeinander einschlugen; ein einzelner Fahnenschwenker, der ein paar atemlose Minuten lang eine ganze Panzerkolonne aufhielt: Szenen, die die Welt sich immer und immer wieder ansehen würde, bis alle sie so oft gesehen hatten, dass sie immun dagegen waren. Eine kleine, verstörte Gemeinde hatte sich auf diesem kleineren öffentlichen Platz versammelt, auf allen Seiten von Projektionsflächen umgeben. Tiananmen bis an den Horizont, auf Augenhöhe, rundum. Und dann, als sollten sie für ihr 199
Schweigen bestraft werden, schleuderte die Projektion das Dutzend Betrachter in eine andere Menschenmenge. Ein rascher Schnitt, damit kein Fernsehzuschauer wegschaltete, und sie fanden sich umgeben von einem Meer aus schwarzem Tuch. Ein anderer Aufruhr, doch derselbe Wirbel des Albtraums. Jetzt waren keine Soldaten zu sehen, keine mongolischen Offiziersanwärter, die nur auf den Heldentod warteten. Einfach nur massenhafte Selbstverstümmelung, Trauer um den verlorenen Imam, der aus dem Exil gekommen war, die Welt zu erlösen. Adie stand wie angewurzelt in der allgemeinen Hysterie. Der Irrsinn der Massen fegte über sie hinweg, selbst in dieser Hintergrundprojektion. Nur wenn die Kameras zu den Reklamepausen abschalteten, konnte sie durchatmen. Sie ging durch die offene Wand der Grotte hinaus. Erwachte aus dem Albtraum, ohne Ketten, ohne Schlagbäume. In der Tür zum Gang drehte sie sich noch einmal um. Und da sah sie eine Szene, die sie noch verfolgte, als sie von Teheran und Tiananmen längst wieder zur Tagesordnung übergegangen war: ein Dutzend Menschen mit angehaltenem Atem, zusammengedrängt in einem Zelt aus Bildern, gefangen in der steigenden Flut der Information. Sie kehrte ganz zur Arbeit am Dschungel zurück, weitab von dem Ansturm der Realität, den plärrenden Nachrichten. Einer plötzlichen Eingebung folgend, stellte sie in einen Winkel ganz am Ende des Rousseauraums, am Ende eines Pfads, der vom Dschungeleingang aus nicht zu erreichen war, einen Ausschnitt aus der schönsten Fassung des Kindermords zu Bethlehem. Danach kam nichts Bedrückenderes mehr als Matisse, Chagall und Corot. Bäume leicht wie eine Feder, die sich im Hauch der Schöpfung wiegten. Goldfische verzückt im blitzenden Äther. Unter der Erde, erklärte sie Ebesen. Tief in den Mergelgruben. Da wird niemand nach ihnen suchen. Ihr Haus auf der Insel war ihre Zuflucht. Der Sommer jenes 200
Jahres war im Sund der sonnigste seit Menschengedenken. Sie kümmerte sich um ihre Akelei und ihre Teerosen, befreite sie vom Unkraut. Sie beschnitt die Brombeersträucher und hängte die Krabbenkörbe wieder vom Bootssteg ins Wasser, und dann lehnte sie sich zurück und wartete auf einen Frieden, der sich nicht einstellen wollte. Stattdessen suchten die Bilder der Menschenmassen sie heim, in den surrealen Stunden gegen zwei Uhr morgens, wenn der Tiefstand des Blutzuckers und pechschwarze Nacht sich verschworen zur ganz privaten Hieronymus-Bosch-Vision. Doch der Verlust an Orientierung stärkte ihr Auge nur. Sie saß im Atrium des RL, blickte hinaus durch die langen Fensterreihen auf das Bergpanorama bis zum Horizont. Sie saß da, die Augen zusammengekniffen, und betrachtete die reale Landschaft durch das Spektrum von Sue Loques Softwarefiltern. Sie gestaltete sie im Spätstil Renoirs, einen Pinsel an die Handgelenke gebunden gerade oberhalb der nutzlos gewordenen Klauen. In Gedanken schob sie einen Regler von links nach rechts und ließ die Landschaft das Spektrum der Stile durchwandern, von Patinir über Jan van Goyen, Ruisdael und Hobbema, weiter über Kensett und Cole zu Bierstadt, dann zu Millet, Sisley, Signac, und das Ende kam erst, wenn es dunkel wurde. Dieser Platz wurde ihr ureigener Beobachtungsposten, ein Ort, an dem sie unter Menschen sein konnte und sie trotzdem nicht sehen musste. Aus hundert Metern Entfernung fiel ihr ein Blatt auf, wohlgenährt von der Julisonne, und sie sah darin den Zweig, den Stevie für sie hatte wachsen lassen, vor so langer Zeit. Stundenlang konnte sie zu dem Fenster hinausstarren auf die unirdischen Varianten der Prototypen der Natur – der einzige Anblick, der groß genug war, die Gedanken an die Menschen zu vertreiben. Eines Nachmittags, als der Sommer seinen Höhepunkt schon überschritten hatte, saß sie dort und studierte dies 201
menschenleere Barbizon. Überall auf dem Bild der Landschaft spann das Leben seine Fäden. Im Mittelgrund sah sie einen Goldspecht, der von einem Zweig aufflog, und die goldenen Brustfedern blitzten. Angezogen von ihrem Blick, hielt der Vogel genau auf das RL zu. Hilflos sah sie mit an, wie er gegen die Scheibe schlug, eine gefiederte Faust, die mit dumpfem Ton von dem Glas abprallte. Bei dem schrecklichen Laut verkrampfte sich alles in Adie. Sie schrie auf, auch wenn nichts zu hören war. Sie lief zu dem Fenster, obwohl sie ja nichts tun konnte. Er lag am Boden, zerrupft, gestreift, braungelb, reglos. Ein Fettfleck auf dem Glas zeigte die Aufschlagstelle, wie die Kreidestriche rund um eine Leiche. Adie versuchte, die Schluchzer zu unterdrücken, doch damit klang sie nur umso mehr wie ein erstickendes Tier. Zum Glück war Spiegel der Erste, der sie so sah. Vor Stevie musste sie sich nicht zusammennehmen. Steve hatte sie schon in weit schlechterer Verfassung gesehen. Adie, was ist los? Was ist geschehen? Sie zeigte auf das gefiederte Häufchen Elend. Den leuchtend roten Federschopf im Gras. Spiegel betrachtete den Fleck auf der Scheibe. Tja. Den hat’s erwischt. Die Unschuldigen trifft es immer am härtesten. Er wandte sich um, blickte in die Tiefe des Raumes. Verwirrt von dem Grünzeug hier drin. Von draußen muss es aussehen, als könnte er einfach reinfliegen. Das ist meine Schuld. Meine Schuld. Deine … Aber wie willst du denn -? Ich habe gesehen, wie er kam. Ich … ich habe ihn angelockt … Adie. Er legte den Arm um sie. Sie ermunterte ihn nicht, aber sie wehrte ihn auch nicht ab. Sie sahen den toten Vogel an, 202
verwiesen das Urteil weiter an eine höhere Instanz. Und so absurd es war, suchte der Specht sich gerade diesen Augenblick aus, um wieder zum Leben zu erwachen. Er flatterte ein- oder zweimal mit den Flügeln, schlug dabei auf den Boden. Dann rappelte er sich auf, hüpfte, und im nächsten Augenblick flog er davon, als sei ihm eben erst wieder eingefallen, weswegen er unterwegs war. Gütiger Himmel, lachte Spiegel. Hat man so was schon gesehen? Die Beharrlichkeit der Natur. Adie sah ihm ungläubig nach. Ihre Muskeln spannten sich. Er hätte tot sein sollen. Spiegels Lachen erstarb, und er starrte sie an. Er zog seinen Arm zurück. Was sagst du da? Tot wäre er besser dran gewesen als so. Hast du gesehen, wie er geflogen ist? Auf und davon, als sei nichts gewesen. Aber Adie, das ist ein Vogel. Meine Güte, ein Vogel. Gerade hast du noch um ihn getrauert. Sie schüttelte den Kopf, beharrte darauf. Man konnte durch Schlimmeres umgebracht werden als durch eine optische Täuschung. Es gab schlimmere Tode als Tod durch Naivität. Im Zimmer der Fantasie gehen alle Gleichungen auf. Das ist die Grundregel dort. Nichts kommt hinein, was nicht von vornherein passt. Keine unerwartete Wendung, nur das, was im Drehbuch steht. In diesem Zimmer gibt es nichts, was blutet. Nichts verwest. Nichts zerbricht. Es gibt Schmerz hier, aber kein Leiden. Dinge wachsen, doch nur bis sie in voller Blüte stehen. Alles Fleisch hier hat von den Eidechsen gelernt, wie es sich erneuert. Der Gepard reißt der Antilope nur die halbe Flanke heraus. Dann wächst die Wunde wieder zu. 203
Grizzlybären stehen in der Strömung, schlagen mit den Tatzen nach einem Lachs. Aber sie fischen eher zum Vergnügen als aus wirklicher Not. Jeder Fang wird wieder freigelassen. Auch die Fische verstehen das. Sie wissen, dass es nur ein Spiel ist, denn ob man erwischt wird oder nicht, macht keinen großen Unterschied. Übermütig springen sie aus dem Wasser, oder sie schwimmen mit dem Bauch nach oben, überlassen dem Jäger ein Pfund Fleisch, wie ein Baum seine Früchte abgibt, dann lassen sie sich flussabwärts treiben und versuchen es am nächsten Tag von neuem. Die Rechte an den Wasserstellen regeln sich per Verhandlung. Hunde streiten sich auch hier um die Rangordnung im Rudel, aber jedes Omega-Tier kommt auch einmal nach oben. Ameisenkolonien ziehen noch zu ihren spektakulären Kriegen aus, auch wenn die Fronten bleiben, wie sie sind. Soldaten opfern sich für die gerechte Sache, und die tapfere Tat ist ihre Erfüllung. Kein Unglück richtet Schaden an. Der Wind zerzaust ein Nest, damit der Pirol seinem Bautrieb nachgehen kann. Auch hier fallen Küken zu Boden, bevor sie flügge sind, aber es findet sich immer ein fürsorglicher Zweibeiner, der sie zurück in luftige Sicherheit bringt. Die Menschen in diesem Raum werden, was sie sich immer erträumt haben. Es gibt Ärzte und Feuerwehrmänner im Überfluss. Hinter der ärmsten Hütte sprudelt eine Ölquelle. Verirrte Kinder kehren nach haarsträubenden Abenteuern zu ihren Eltern zurück. Misshandelte Waisenkinder finden Obhut bei freundlichen Onkeln und Tanten. Liebende streiten sich, knallen den Hörer auf die Gabel, wollen nichts mehr miteinander zu tun haben, dann fällt ihnen wieder ein, wie schön es war, und sie rufen doch wieder an mit einem verlegenen Lachen. Witwer werden Nacht für Nacht vom Geist der Verstorbenen besucht. Einsame Seelen, gefangen in ihrer eigenen Zaghaftigkeit, schreiben sich am 204
Ende doch noch Liebesbriefe, drei Tage bevor es zu spät gewesen wäre. Alle Nationen sind auf gutem Wege zur demokratischen freien Marktwirtschaft. Der Funke springt auf arme Länder über, und sie profitieren sogar von der Gnade der späten Geburt. Der Export kurbelt überall das Wachstum an, und trotzdem schließt jedes Land mit einer positiven Handelsbilanz ab. Krankheiten eröffnen neue Einsichten in die Funktion des Körpers. Autos laufen mit Solarantrieb. Man entdeckt, wie sich aus abgestandenem Wasser Energie gewinnen lässt. Fanatiker, auf dem Weg zu einer Lynchversammlung, stürzen von Blindheit geschlagen zu Boden und erheben sich als friedliebende Menschen. Streithähne finden zu neuen Formen des Gesprächs. Der Musik in diesem Raum kann eine gelegentliche Dissonanz nichts anhaben. Jede Kadenz führt immer wieder zurück zum Do. Revolutionen, die auf sich halten, sind auch hier vergangenheitsbewusst. Kunst erneuert sich ständig, und ein gelegentlicher Misston erweist sich, gründlich studiert, als nur eine andere Form von Schönheit. Von Zeit zu Zeit wird eine verschollene Kantate wieder entdeckt. Die gestohlene Tafel mit den Gerechten Richtern findet sich in einem Karthäuserkloster. Jahrhundertealte Streitfragen enden mit Versöhnung. Straffällige finden im Gefängnis den Roman, der ihr Leben verändert, Erzählungen in glühenden Farben, die ihnen ausmalen, dass es sich lohnt, das Leben anzupacken. Jeder Tag endet mit einem spektakulären Sonnenuntergang, erhebend oder erschütternd. Doch dieser Raum duldet weder Tiefe noch Breite. Die Dreidimensionalität ist so geschwächt, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten kann. In diesem Raum gibt es keinen Ort, an dem man sich niedersetzen und verweilen kann. Keinen 205
Fleck, an dem ein Besucher von draußen innehält und staunt. Schon ein aufmerksamer Blick wäre so schwer, dass er ihn zum Umkippen brächte; schon das brächte das empfindliche Gleichgewicht ins Wanken. Das ist der Raum, in den Sterbende in ihrer letzten Stunde gehen. Das ist der Raum, aus dem man die neugeborenen Kinder holt. Das ist der Blumenkasten der Seele, der Kasten, in den man seine fertigen Gedichte steckt. Das ist die Zuflucht der letzten Fantasie. Das Paradies des Absoluten. Der Raum, der ohne Folgen für die anderen bleibt. Der auf nichts in der wirklichen Welt einen Einfluss hat. Jeki bud. Jeki nabud. So fangen die besten Geschichtenerzähler der Welt immer an: Es war so. Und es war nicht so. Einer der wenigen persischen Sätze, die dir im Gedächtnis geblieben sind, nur ein einziger Satz aus einer ganzen Kindheit voller persischer Sätze, denen du damals keine Beachtung geschenkt hast. Irgendwo da drinnen müssen sie noch sein, eine Dachkammer voll verlorener Geschichten, du musst nur den Schlüssel finden. Es ist so, und es ist nicht so. Es gab einmal eine Zeit, und es gab keine Zeit. Es hat seine Richtigkeit, dass sie so anfangen. Oder auch nicht. Etwa so: du befindest dich in einem kleinen Raum. Darin ist eine Matratze. Vor dir ein Heizkörper. An dem Heizkörper eine Kette. Alles geht seinen geregelten Gang: entsetzlich vertraut. Zweieinhalb Mahlzeiten pro Tag, von halbwegs essbar bis absolut widerwärtig. Jeden Morgen eine zehnminütige Feuerwehrübung im Schwarzen Loch von Kalkutta, wo dein verblüffter Darm Rekordtempo vorlegen muss, wenn du den letzten Rest von Menschenwürde bewahren willst, den deine Entführer dir gestatten. 206
Oder nicht so: du bist nicht hier. Die Hoffnung verschmäht selbst diesen zeitweiligen Aufenthaltsort. Du kannst das Datum nur grob schätzen. Kannst nur vage erahnen, wie spät es ist, anhand des Wechsels von Halbdunkel zu Dunkel. Eine Zelle ist nichts gegen diese Gedanken. Dein Kopf ist klarer, jetzt wo die Klarheit dir nichts nützt. Befreit von der akuten Panik hast du viel Zeit zum Überlegen. Kannst der Sinnlosigkeit einen Sinn abgewinnen. Sie geben dir ihr Wort, dass du bald frei sein wirst. Aber inzwischen hast du eine realistischere Vorstellung, was »bald« bedeutet. Du nimmst die notwendigen Umrechnungen vor, aus der zentralarabischen Zeit in die deine. Doch selbst deine Bewacher gehen davon aus, dass du spätestens an Neujahr wieder frei bist. Und das ist am 1. Januar, erklärst du ihnen. Nicht am 21. März. Den Silvesterabend des Jahres 1987 willst du zu Hause auf der Daley Plaza verbringen, unter der monströsen Skulptur von Picasso, und dort aus vollem Halse die Nationalhymne singen. Sie haben dich gegriffen. Aus heiterem Himmel. Aus Versehen. Einen unbedeutenden Fremdsprachenlehrer, der nie im Leben für etwas Partei ergriffen hat. Einen halben Muslim obendrein. Deine Regierung hat kein Interesse an dir. Nichts, wofür man dich eintauschen könnte. Du bist ganz und gar wertlos für deine Entführer. Du bist sogar ein Verlustgeschäft, denn sie müssen dich bewachen und durchfüttern. Und wenn sie dir etwas tun, verlieren sie international an Ansehen. Sie können nur hoffen, dass sie einen Weg finden, dich freizulassen, ohne dabei das Gesicht zu verlieren. Du hast alle Zeit der Welt zum Nachdenken, und schließlich dämmert es dir: Wenn sie dich aus Versehen entführt haben, muss die Person, die sie eigentlich schnappen wollten, noch irgendwo da draußen frei herumlaufen. Der CIA-Agent, von dem bei deinem ersten Verhör dauernd die Rede war. Sobald sie ihn finden, kannst du den Albtraum hier mit heilen 207
Knochen verlassen. Du verbringst einen ganzen Tag damit, dass du dir jede einzelne Person, der du in der Stadt der Brunnen je begegnet bist, ins Gedächtnis rufst. Du musst den Spion finden, dein Leben hängt davon ab. Davon, dass du den rettenden Namen nennen kannst. Erst am Abend wird dir klar, wie widerlich das ist. Diesen Mann gibt es nicht. Und doch warst du bereit, den Kapo zu spielen. Ein Leben zu verkaufen an diese Ausgeburten des Schlafs der Vernunft. Du wachst auf, immer noch entsetzt, willst dir selbst nicht zu nahe kommen. Doch gegen Mittag kommst du doch wieder angekrochen. Du rufst dir den Irrtum erneut ins Gedächtnis, denkst wieder nach über den Spion. Immerhin vertreibt es dir die Zeit. Und die Zeit ist ein schlimmerer Feind als jeder andere Terrorist. Die Frage, wer dich verraten hat, beschäftigt dich jeden Nachmittag ungefähr zwanzig Minuten lang. Du kennst die Klassenliste immer noch auswendig. In der Gruppe muss es einen heimlichen Schiiten gegeben haben, einen, der so tat, als sei er etwas Besseres, als sei er ein sunnitischer Kaufmann, der die Sprache des Welthandels lernen wollte. Vielleicht hat dich auch einer aus der lächelnden sunnitischen Oberschicht verkauft, hat ein paar Pfund nebenbei verdient und davon sein Schulgeld bezahlt. Jeder von ihnen könnte es gewesen sein. Alle so unschuldig wie am ersten Tag. Diese Spekulationen können sich eine Ewigkeit hinziehen, wenn keine tickende Uhr die Minuten zählt. An einem einzigen Nachmittag hast du alle Zeit der Welt und kannst überlegen, wer dich in diese Lage gebracht hat. Kannst überlegen, in welche Lage du dich selbst gebracht hast. Du bist ein ganz normaler arroganter Amerikaner, einer von denen, die sich unters gemeine Volk mischen. Hast dir Wunder was darauf eingebildet, dass du bei dem Vorstellungsgespräch so gut abgeschnitten und alle mit deiner Redegewandtheit beeindruckt 208
hast. Wie ungeheuer beflügelnd, dieses Gefühl, dass man einen Sieg errungen hat. Mittlerweile ist dir klar, dass die Schule praktisch jeden genommen hätte. Vorausgesetzt er konnte Englisch. Vorausgesetzt er war nicht verrückt. Und selbst in dem Punkt waren sie zu Zugeständnissen bereit. Du bist an all dem selber schuld. Bist mit offenen Armen in einen Bürgerkrieg gestolpert. Seit deiner Kindheit hast du damit zu kämpfen, mit diesem krankhaften Hunger nach neuen Erfahrungen. Du wägst alle anderen Erklärungen ab und kommst wieder zu dem einzig möglichen Schluss. Der nette, glückliche, angepasste Junge, der noch sein ganzes Leben vor sich hatte, wollte herausfinden, wie es im Gefängnis ist. Aber das hier hätte sich selbst dein ausgeprägter Hang zur Selbstzerstörung nicht ausdenken können. Das Abendessen bewahrt dich vor weiteren Selbstvorwürfen. Aber die Gäste sind eine herbe Enttäuschung. Die Tischgespräche sind wortkarg und banal, und anscheinend kennt keiner ein Sportergebnis, das jünger als drei Monate ist. Immerhin tragen die zerstoßenen Kichererbsen zu deiner Stärkung bei. Mit etwas im Bauch fühlst du dich nicht ganz so niedergeschlagen. Du wolltest dich also umbringen, als du hierher kamst? Na wenn schon! Da helfen auch keine Selbstkasteiungen. Jetzt im Augenblick zählt die Wahrheit nicht so viel wie das nackte Überleben. Du musst den Teil von dir unterdrücken, der etwas anderes will. Du wendest dich wieder einer weniger ungesunden Obsession zu und überlegst, welcher von deinen unschuldigen Schülern dich wohl verraten hat. Aber das lieb gewonnene Thema hält nicht vor bis zum Einschlafen. Also widmest du dich einem schwierigeren Problem: der Frage, welcher Gruppe du in die Hände gespielt wurdest. Drei Millionen Menschen. Sechzehn offiziell anerkannte Religionen. Du hast einmal gelesen, dass in einem einzigen Flüchtlingslager zwanzig verschiedenen Milizen herrschen können. Zwei Dutzend autonome Armeen 209
haben dieses Land unter sich aufgeteilt und eigene Kontrollpunkte errichtet. Zwei Dutzend unabhängige Nationalstaaten, die nur ihren eigenen Gesetzen gehorchen, beherrschen das Land von der Bekaa-Ebene bis an die Küste, bewaffnet mit allem, was die Staaten im Sicherheitsrat ihnen verkaufen, die Kolben ihrer Sturmgewehre verziert mit Aussprüchen aus dem Hadith oder Abziehbildern von der Jungfrau Maria. Und du kannst höchstens fünf dieser Gruppen beim Namen nennen. Dabei hängt so viel davon ab, dass du weißt, wer dich entführt hat. Oder auch nicht. Die Möglichkeiten, es herauszufinden, sind recht begrenzt. Du nimmst dir vor, sie direkt zu fragen. Mittlerweile kannst du gut genug mit deiner Augenbinde umgehen. Sobald sich jemand blicken lässt, streifst du sie über, aber immer so, dass darunter ein breiter Streifen von der Welt sichtbar bleibt. Und deine Ohren haben sich auch so weit angepasst, dass du deine Entführer schon daran erkennst, wie sie an deinem Käfig rütteln. Es gibt mindestens drei regelmäßige Bewacher. Nach und nach machst du dir ein Bild von ihnen, setzt es Stück für Stück zusammen in der Dunkelheit unter der Binde. Einer von ihnen, der Zornige Vater, ist klein und untersetzt, mit einem dicklichen bis dicken Bauch. Er trägt eine kakifarbene PseudoUniform und muss um die Fünfzig sein, auch wenn du sein Gesicht bislang noch nicht gesehen hast. Von dem Zweiten hast du einmal einen flüchtigen Blick erhascht. Er war hereingekommen, ohne vorher anzuklopfen, und du konntest dir nicht schnell genug die Augenbinde überziehen. Im Licht der nackten Glühbirne auf dem Flur war seine Gestalt deutlich zu erkennen: Weiße Haare, mittelgroß, ein wachsames und trotzdem geistesabwesendes Gesicht. Der schiitische Walter Cronkite. Der Dritte ist der Verrückte Junge. Das ist der, der dich geschlagen und mit seiner Pistole bedroht hat. Wenn er im 210
Raum ist, hältst du den Kopf gesenkt. Du kennst ihn von den Knien abwärts: bleistiftdünne Beine, immer das gleiche Paar Jeans, und die Füße in, ausgerechnet, grellen rot-weißen Adidas-Schuhen. Du spionierst ihren Gang aus, erkennst sie am Schritt, noch ehe sie die Tür öffnen. Aber du willst auch ihre Stimmen kennen lernen. Eines Abends bringt der Schiiten-Cronkite dir das Essen. »Salam alaikum«, köderst du ihn. Er stutzt, dann antwortet er mit einem höflichen »Alaikum assalam.« Die ausführlichste Unterhaltung mit einer realen Person seit einer ganzen Woche. Du versuchst es bei dem Verrückten Jungen. »Salam alaikum«, begrüßt du ihn, als er das nächste Mal mit seinem Pistolenknauf an die Tür hämmert. »Hä? Ah so! Salam, salam! Woher weißt du. Wo hast du gelernt, salam, he?« Er kichert, ein leises, ungehobeltes Glucksen. »Wir sprechen jetzt meine Sprache?« Er stößt einen reißenden Strom von Silben hervor, und es klingt wie Beschimpfungen in jeder anderen Sprache auch. »Wer sind Sie?«, versuchst du dein Glück, ohne die leiseste Hoffnung auf eine Antwort. »Wer?« Wieder ein kehliges Kichern, diesmal langsamer. Der Junge aus den Bergen in der großen Stadt. Will sich ein bisschen amüsieren und dann ungeschoren nach Hause zurück. »Ich? Ich bin Ali.« Jetzt bist du an der Reihe mit dem Kichern. Kann sein, dass er dich gleich mit der Pistole schlägt oder Schlimmeres tut. Aber du kannst dich einfach nicht bremsen. »Moment. Lass mich raten. Ali … Smith?« »Hä?« Du wappnest dich für den Schlag. »Ali Smith?« Er lacht wie ein Schakal. »Ja, gut! Ich bin Ali Smith.« 211
»Wer sind deine Leute? Was ist das für eine Gruppe, die mich entführt hat?« Aber Ali schnalzt nur mit der Zunge: Für wie blöd hältst du mich eigentlich? Tage später, als der Zornige Vater dich wieder einmal zum morgendlichen Spurt in die Latrine treibt, versuchst du es bei ihm. »Salam alaikum. Salam alaikum.« Der Zornige Vater hüllt sich in Schweigen. Deine Barthaare sprießen. Du reibst dir die kahlen Stellen auf beiden Seiten des Mundes, die Stellen, die dich bisher davon abgehalten haben, dir im wirklichen Leben einen Bart stehen zu lassen. Zum ersten Mal kannst du dir ohne alle gesellschaftlichen Konsequenzen die Gesichtshaare wachsen lassen. Du zwirbelst die längsten Kinnhaare zu zwei Spitzen, dröselst sie wieder auf und beginnst von neuem. Das hält dich für ein paar Stunden beschäftigt – zumindest kommt es dir so vor. Du löst hinter dem Heizkörper ein Stück Putz von der Wand, so groß, dass du damit die Öffnung deiner Urinflasche zudecken kannst. Du verschließt sie immer mit diesem improvisierten Deckel. Er verhindert, dass es in dem Raum noch mehr stinkt. Du findest eine Möglichkeit, wie du dich neben den Heizkörper legen und Rumpfbeugen und Liegestütze machen kannst, ohne dass dich dabei die Kette behindert. Du springst auf der Stelle, läufst in einem winzigen Oval deine zwei Meter langen Runden. Ali hört deine Morgengymnastik. Er schlägt an die Tür, bis du aufhörst. »He, was machst du da drin?« »Ich brauche Bewegung. Wenn ich mich nicht bewege, werde ich krank und schwach.« »Du bist ein blödes Arschloch«, erklärt er. 212
Aber keiner sagt etwas, als du weitermachst, diesmal leiser. Die Nachricht, wer dich gefangen hält, kommt auf dem schlimmstmöglichen Weg. Eines Abends rüttelt der Zornige Vater an der Tür, das Signal, dass du dir gefälligst die Augen verbinden sollst. Er betritt deine Zelle und legt etwas vor dir auf den Boden. Dann stellt er sich hinter dich. »Nehmen Sie bitte das Tuch ab.« Er hat zwar einen Akzent, aber sein Englisch ist überraschend flüssig. Du nimmst die Augenbinde ab. Beim Anblick dessen, was da vor dir auf dem Boden liegt, springen dir die brennenden Augen fast aus den Höhlen. Ein Bleistift und ein Blatt Papier, das Erste seit deiner Entführung. »Sie müssen Brief schreiben«. Er klingt bestimmt, aber nicht gewalttätig. »Oh ja. Oh, wunderbar. Dem Himmel sei Dank. AI Hamdallab.« Er legt dir die Hand auf den Kopf, damit du dich nicht vor lauter Freude zu ihm umdrehst. »Nein, nein«, verbessert er, geduldig wie ein Grundschullehrer. »Ich sage, was Sie schreiben.« Er diktiert: An das amerikanische Volk. Ich lebe und bin gesund. Ich befinde mich in der Gewalt der Soldaten des heiligen Kriegs, einer Einheit, die für die Partisanen Gottes kämpft. Sie sind keine Terroristen. Sie halten mich fest, weil sie nur auf diesem Wege Gerechtigkeit erlangen können. Ich werde gut behandelt und bekomme genug zu essen. Mir wird nichts geschehen, solange die Vereinigten Staaten und ihre Politiker sich ehrenhaft verhalten. Ich werde freigelassen, sobald die Forderungen der Partisanen Gottes und die Gesetze Gottes erfüllt sind. Wenn dies nicht geschieht, liegt die 213
Verantwortung für die Konsequenzen bei den Vereinigten Staaten. Und die Konsequenzen werden bitter sein. Du schreibst einige Wörter falsch. Der Zornige Vater bemerkt es nicht. Es ist ein verzweifelter Code, die einzige Möglichkeit, wie du denen da draußen mitteilen kannst, dass der Brief nicht echt ist. Deine Mutter wird es ihnen sagen. Die Kollegen in Chicago, Gwen, jeder, der dich nur ein bisschen näher kennt. Sie alle wissen: In Rechtschreibung warst du immer perfekt. »Bitte unterschreiben Sie den Brief«, befiehlt der Zornige Vater. »Legen Sie jetzt die Augenbinde wieder an.« Er nimmt das Papier und den Bleistift und geht zur Tür. »Vielen Dank«, sagt er und lässt dich wieder allein mit dem Nichts. Schlimmer als nichts. Das Klicken des Türschlosses zwingt dich in die Knie, es stößt dich in tiefe Verzweiflung, wie das Schließen einer metallenen Grabkammer. Der heilige Krieg. Die Gruppe, die die amerikanische Botschaft zum Einsturz gebracht hat wie einen Stapel Mah-Jongg-Steine. Die Leute, die mitten in einer Menge von Libanesen, die für ein amerikanisches Visum anstanden, eine Autobombe gezündet haben. Die Organisation, der der fanatische Kämpfer angehörte, der lächelnd mit seinem Lastwagen einen bewaffneten Kontrollposten durchbrach, sich selbst mit zweitausend Pfund TNT in die Luft sprengte und dabei 241 US-Marines mit in den Himmel der Märtyrer nahm. Die eine Gruppe in diesem babylonischen Parteiengewirr, von der du inständig gehofft hattest, dass sie es nicht ist. Der heilige Krieg: Auf ihr Konto gehen so viele Anschläge, dass du für sie nicht mehr sein kannst als eine wertlose Schachfigur. Diese Männer halten die rationalen Nationen der Welt auf Trab, alle weichen zurück vor der Macht ihrer Überzeugung. Die Terrororganisation der Stunde, die gerade ihren großen Augenblick auf der geopolitischen Bühne erlebt, ihren selbstmörderischen Auftritt, der allen anderen die Schau 214
stiehlt. Dein Brief verschafft ihnen eine weitere heilige Waffe im Kampf gegen die vor Angst gelähmte Welt. Am Tag nach dem Diktat wirst du krank. Dein Körper kapituliert vor der Infektion, gegen die er sich seit Beginn deiner Gefangenschaft standhaft gewehrt hat. Eine stählerne Kälte breitet sich aus von den Gliedern bis in die Brust. Du wickelst dich in die billige Acryldecke auf der Matratze und zitterst unter dem glänzenden Lack deines eigenen Schweißes. Der Schlaf ist eine einzige Halluzination, radikale Gruppierungen reichen eine elektrische Nadel von Hand zu Hand, und jeder brennt dir mit der Spitze einen Satz aus deinem Geständnis auf den Unterleib. Am nächsten Tag reicht dir der zehnminütige Sprint durch die Latrine nicht einmal für den ganzen Morgen. Als der Schiiten-Cronkite dir dein Mittagessen bringt, das du nicht anrühren wirst, zerfleischt dir längst ein Dämon – ein heißer, gelber, flüssiger Dämon – mit seinen Klauen die Eingeweide. »Toilette«, stöhnst du. »Merhadh.« »Ich fragen Chef.« »Nicht Chef fragen. Chef sagen.« Er verschwindet. Du wartest eine Ewigkeit – 150 Sekunden oder mehr. Dann ist alles zu spät. Du kannst nicht einmal mehr nach dem Eimer rufen. Du läufst so weit wie möglich von dem Bett weg, reißt dir die Hosen herunter und zielst in die Öffnung der Urinflasche. Erstaunlicherweise trifft fast die Hälfte des schleimigen Sturzbachs ins Ziel. Den übel riechenden Rest lässt du einfach liegen und kriechst zurück ins Bett, stinkend, klebrig, niedriger als ein Insekt, ein Mistkäfer. Dein Körper geschüttelt von einem heftigen Fieber. Du wachst auf, als jemand dir ins Kreuz tritt und dich mit adidasbeschuhten Füßen anstößt. Ali brüllt: »He, Mann! Wieso hast du den ganzen Boden hier voll geschissen?« 215
Deine Augen sind verbunden. Das muss er getan haben, vor dem ersten Tritt. Du rollst dich zur Seite und hältst ihm das Gesicht vor die Füße. Er hält inne. Du spürst, dass du Macht über ihn hast, die Macht der völligen Gleichgültigkeit. »Dschihad«, sagst du »heiliger Krieg.« »He, Mann«, blökt er. »Du sollst endlich essen.« Sein Englisch klingt, als hätte er es aus der Hitparade gelernt. Essen bedeutet Tod. Was immer du jetzt isst, läuft geradewegs und ohne Zwischenstopp durch die Röhre, in die du dich verwandelt hast. Du kannst dich nur hinhocken, die Sache aussitzen und darauf hoffen, dass der Virus vor dir austrocknet. »Kein Essen«, sagst du. »Hungerstreik.« Deine Weigerung macht ihn wütend. Er brüllt aus vollem Halse. »Iss!« Er tritt dich wieder, diesmal in den glücklicherweise leeren Bauch. Er bückt sich und schiebt dir die kalte Spitze seines Pistolenlaufs in die Nase. »Iss.« Sein Knurren klingt wie eine schlechte Imitation von James Coburn. Obwohl du so erschöpft bist, musst du lachen. Er schreit erneut, noch lauter in seinem ohnmächtigen Zorn. »Was willst du? Was zum Teufel willst du?« »Medizin. Ich brauche Medizin,« »Bukrah«, sagt er kleinlaut. »Morgen.« Zwei Worte, die für dich keine Bedeutung haben. Im Traum greift Gwen dir in den Rachen, ganz tief; du hättest nie gedacht, dass man die Hand so tief da hineinstecken kann. Sie fördert allerlei Halbverdautes zutage: abgewetzte Plastikfigürchen aus Cornflakespackungen, überzogen mit fauligem Schlamm, Haare und Schleim, wie sie sich in Waschbeckensiphons sammeln. Sie hält dir eine Hand voll davon hin, und ihr beugt euch darüber und studiert sie genau. 216
Eure Köpfe berühren sich, die erste Berührung seit Monaten. Ihr beugt euch über die schleimige Masse und mustert sie. Sie wimmelt von winzigen Amphibien, rosarote Grottenolme, nicht größer als Termiten. Die Medizin wird eigens geliefert. Ob schon Morgen ist oder nicht, kannst du nicht beurteilen. Es ist stockfinster. Die Medizin ist ein gräuliches Pulver. Im Schein seiner Taschenlampe streckt dir Ali eine Hand voll davon hin und sagt, dass du es mit Wasser nehmen sollst. Es schmeckt wie Schlacke. Du musst würgen. Aber mittlerweile wird dir schon übel von der bloßen Luft im offenen Mund. »Ist das Gift? Wollt ihr mich vergiften?« »Wir töten dich nicht«, erwidert Ali. »Amerika tötet dich.« Du schläfst wieder ein. Wirst wach von dem schwachen Lichtschein an den Rändern des Wellblechs vor deinem Fenster. Du hast Hunger. Anfangs kannst du das flaue Gefühl gar nicht einordnen, so ungeheuerlich ist es, so unwahrscheinlich. Selbst nachdem du mehrmals tief eingeatmet hast, tut dir nichts weh. Du fühlst dich – wohl – ja, wohl. Du fühlst dich wie neugeboren, so wie man es nur nach einer Krankheit empfindet. Fühlst dich beflügelt, trotz allem. Du rappelst dich auf und gehst so weit, wie es die Kette gestattet. »Hallo? He! Ist da jemand?« Da ist jemand, und er öffnet die Tür. So behutsam, dass es nur der Schiitische Walter sein kann. »Was willst du?« Mit verbundenen Augen wie die Justitia zeigst du auf die schmierigen Überreste deines gestrigen Unfalls. »Etwas, womit ich das wegmachen kann.« Du beschreibst mit Gesten Lappen und Eimer. »Ja. O.K.« 217
»Und … Orangensaft, Indonesischen Hochlandkaffee und eine doppelte Portion Eggs Benedict. Aber nicht zu viel von der Hollandaise.« Dein Entführer schweigt. Stumm, bedrohlich, vieldeutig. »Essen, bitte.« »Ja. Sicher. Kein Problem.« Die Weltmaschine lief weiter, im Angesicht des Unerträglichen. Trotz Überlastung lief ihr Motor, von Engeln getrieben, nicht heiß. Jedenfalls nicht gleich. Nicht überall zugleich. Auch das neueste Massaker an Studenten im Hungerstreik stand sie durch. Sie schluckte die Augenzeugenberichte, die Luft- und die Nahaufnahmen, die Überblicke aus der Totalen, mit denen die Nachfrage auf dem freien Videomarkt restlos befriedigt war. Wissen meldete sich zurück wie ein falscher Fünfziger, selbst zu so spätem Zeitpunkt noch. In einer Endlosschleife zeigte es immer wieder dasselbe Bild: Soldaten, die auf eine unbewaffnete Menschenmenge feuerten. Nur die Größenordnung, die mechanische Perfektion, die strategisch aufgestellten Kameras ließen diesen einen Durchgang als etwas Einmaliges erscheinen. Die Geschichte und ihre Opfer legten sich in die Riemen, erschöpft, gebrochen, wie ein altes Ehepaar sein Leben lang im Würgegriff der Liebe, zu schwach, nach oben zu kommen, wo die Sonne schien. Die Zukunft, eine Bauruine, bis über die Ohren verschuldet, konnte nur vorwärts, klammerte sich an ihre Möglichkeiten. Die Hoffnung hielt sich mehr als nur hartnäckig; sie bot ein peinliches Schauspiel, ein Schulmädchen, das die Röcke fliegen ließ, schamlos entblößt. Der Herbst zog wieder ins Land. Regengüsse waren Vorboten eines frühen und langen Winters. Adie Klarpol grämte sich 218
über das Weltgeschehen, bis ihr Herz sich dagegen verhärtet hatte. Dann packte sie ein anderer Kummer, privater, lokaler. Sie war nun fast ein Jahr hier und wusste nicht das Mindeste über die Stadt. Es war, als könne sie immer nur eine Sache auf einmal erkunden. Nun wurden die Tage kürzer und leichter, bald würde es Winter sein. Sie nahm sich vor, sich ein wenig umzusehen, solange noch Zeit war. Sie machte sich ein Raster für die Innenstadt, ein nummeriertes Gitternetz, wie Archäologen es anlegten, wenn sie ein unberührtes Grabungsfeld erfassten. Sie fuhr hinauf auf die Space Needle und skizzierte sich einen Stadtplan. Aus dieser Vogelperspektive suchte sie sich Ecken aus, die sie über das nächste halbe Dutzend Samstage erobern wollte. Sie erarbeitete sich das Stadtzentrum Zoll um Zoll. Den Woodland Park Zoo erledigte sie gleich zu Anfang, ließ Gefangenschaft in allen Varianten im Sturmschritt hinter sich. Dem Museum für asiatische Kunst und dem Frye Art Museum erwies sie ihre überfällige Reverenz, eilte schuldbewusst durch die Gänge. Jefferson, James, Cherry, Columbia, Marion, Madison, Spring, Seneca … Sie hakte die Straßen eine nach der anderen ab, bergauf, bergab, und stets mit dem seltsamen Gefühl, dass sie nicht wirklich da waren, sondern dass sie mit ihrer Fernbedienung hindurchsteuerte. Der gestochen scharfe, wasserumspülte Horizont wogte und blähte sich, ohne dass die Auflösung störte oder Bilder ruckten. Sie drehte den Kopf nach links und nach rechts, und die Natur folgte den Schwenks ohne Verzögerung. Die Bootsanleger, Alki Point, Pike Place Market: alles schien ihr verblüffend massiv, mit unglaublicher Farbtiefe, selbst bei höchster Reaktionsgeschwindigkeit keine Kompromisse in der Darstellung. Wenn die Sonne einen Spalt in den Stratokumuluswolken aufstemmte und fünfzehn Sekunden lang die Stadt im höchsten Kontrast erstrahlen ließ, begriff Adie, wozu Binärcode wirklich gut war. Der größte Wert der plumpen, geistlosen, unaufhaltsamen Digitalisierung 219
lag darin, dass zum ersten Mal bewusst wurde, wie grenzenlos und unerfassbar die analoge Welt für alle Zeiten bleiben würde. An einem windigen Samstagnachmittag stöberte sie sich durch alle vier Etagen des Mindful Binding, des surrealen, voller und voller werdenden Antiquariats-Universums, in dem man sich so wunderbar verlieren konnte. Zuerst sah sie sich in der Architekturabteilung um, hoffte auf einscannbare Pläne, die sie Ebesen und Vulgamott als kleine Entschädigung dafür mitbringen konnte, dass sie sie doch wieder allein gelassen hatte. Dann ging sie – schlechte Gewohnheit von früher – zur Kunst. Die riesigen bunten Prachtbände hockten ermattet in den Regalen. Und es war niemand da, der zusah, wenn Adie sie herausnahm. Sie zog weiter zu Reise, Jahrhundertwende, Lokalgeschichte. Dann, nach verstrichener Anstandsfrist, machte sie den unvermeidlichen Besuch bei ihrer alten Liebe, den Kinderbüchern. Und ausgerechnet dort traf sie Stevie Spiegel. Der Letzte, mit dem sie in dieser Abteilung gerechnet hätte. Er sah sie und blickte sich verstohlen in alle Richtungen um, prüfte, ob er noch unbemerkt entwischen konnte. Aber sie saßen beide in der Falle. Adia Klarpol! Was bringt dich denn ans Licht des Tages? Sie lachte. Ich bin eben doch noch kein echter Vampir. Nur eine Novizin, weißt du’s noch? Im ersten Jahr darf man doch noch ab und zu nach draußen, oder? Aber ja. Alles, was gut für dich ist. Außerdem könnte ich dich dasselbe fragen. Ich? Ich bin gern draußen. Ich scheue das Licht nicht. Etwa jeden zweiten Monat komme ich an die Oberfläche, und oft ohne dass mich etwas dazu zwingt. Sie wies auf die bunten Einbände. Kinderbücher, Stevie? Da gibt es doch keine kleinen illegitimen Spiegels, von denen ich nichts weiß? 220
Er errötete. Ich will’s nicht hoffen. Es … Er überlegte, wie er es formulieren sollte. Es geht um eine Geschichte, nach der ich schon seit Jahren suche … Seit du neun warst? Seit ich sieben war, wenn du’s unbedingt wissen willst. Und die hieß? Na, wenn ich wüsste, wie die Geschichte hieß, würde ich doch wohl kaum nach so langer Zeit noch danach suchen, oder? Verfasser? Thema? Fort. Alles fort. Mein’ Tochter, mein’ Dukaten. Moment. Seit dreißig Jahren suchst du nach einem Buch und weißt nicht einmal mehr, worum es in dem Buch ging? Oh, es war eine hanebüchene Geschichte, wenn du das meinst. Ein Junge kann alles, was er sich wünscht, Wirklichkeit werden lassen, einfach indem er – und da weiß ich eben nicht mehr genau, wie er es gemacht hat – Stevie. Du bist ein hoffnungsloser Fall. War es ein älteres Buch? Amerikanisch? Englisch? Übersetzt? Etwa dieses Format. Wunderbare Illustrationen, meist in Sepia und Magenta. Oh. Warum hast du das nicht gleich gesagt? Das macht die Suche doch viel leichter. Er ließ den Kopf hängen. Sie gingen an den Regalen entlang, schweigend, jeder für sich. Jeder auf der Suche nach einem verborgenen Schatz. Keiner fand ihn. Sie gab als Erste auf. So, das reicht. Ich sehe zu, dass ich weiterkomme. Gehst du irgendwohin? Oder hast du ein bisschen Zeit? Ich habe mein ganzes Leben vor mir, sagte sie. Bis Montagmorgen. 221
Sie wanderten ziellos durch das Nachmittagslicht der Straßen, ließen sich von der Herbstluft umspielen. Sie redeten von der Arbeit, das eine Thema, das beiden Sicherheit bot. Und wie geht es mit den Hundert Meisterwerken? Sie zuckte mit den Schultern. Immer noch ein einziger Dschungel. Sie blickten auf: Pioneer Square. Sollen wir uns einen Augenblick setzen?, fragte er. Rechnete nicht damit, dass sie Ja sagen würde. Sie fanden eine freie Bank. Adie ließ sich nieder, atmete tief durch. Streckte sich. Immer wieder brach die Sonne durch und duckte sich gleich darauf wieder hinter die fliegenden Wolken. Gott, sagte sie. Verdammt nochmal. Ich komme mir vor wie diese Maulwurfsfrau. Weißt du, wen ich meine? Die, die sie in eine unterirdische Zelle gesteckt haben. Die Frau, die in so einer Art Luxushotel auf dem Grund eines Bergwerksschachts lebt, mit einem Haufen Videokameras und Mikrofonen, die sie Tag und Nacht beobachten. Wie heißt sie doch gleich? Hmmm … Doris … Singlegate? Stevie. Du überraschst mich immer wieder. Wie lange ist sie jetzt schon da unten? Gute Frage. Das muss schon mindestens ein Jahr sein. Weißt du noch, was sie dabei herausfinden wollen? Physiologische Studien. Veränderungen in der biologischen Uhr, solche Sachen. Wie sich der Körper verhält, wenn er keinerlei Außenreize bekommt. Ihr Naturwissenschaftler seid wirklich krank, einer wie der andere. Er lachte, ein wenig gekränkt. Seit wann wirfst du deinen alten Weggefährten mit der Wissenschaft in einen Topf? Seit du deine Jamben bei denen verkabelt hast. 222
Das musst du gerade sagen. Aber ich gebe zu, die Maulwurfsfrau beschäftigt mich, ob das nun krank ist oder nicht. Ich habe gehörte, sie lebt jetzt nach der Sternzeit. Ihr Körper hat sich auf einen 25-Stunden-Rhythmus umgestellt. Kann man so was glauben? Auf jeweils vier Wochen verliert sie einen ganzen Tag. Was soll das heißen, ob man das glauben kann? Wie lange arbeite ich denn schon für euch Leuteschinder? Wie viele Tage habe ich da schon verloren? Na wenigstens lassen wir dich ab und zu zum Luftschnappen nach oben. Spiegel holte aus seiner Jackentasche eine Tüte mit ein wenig angestaubten kandierten Erdnüssen hervor. Adie nahm das Minimum, das die Höflichkeit gebot. Stevie drehte den Kopf von Ost nach West, wie eine Beobachtungskamera auf ihrem Pfosten. Mit diesem Blick nahm er den ganzen Platz in sich auf. Eine Reihe von Leuten wartete, dass die nächste Seattle Underground Tour begann. Grüppchen von autonomen Agenten umschwärmten die verloren dastehende Pergola, jeder mit sich beschäftigt, mit dem, wohin er unterwegs war. Leute tun sich immer zusammen, sagte Adie. Sie wollen zu einer Meute gehören. Ist dir das schonmal aufgefallen? Er nickte. Sie sind auf der Suche nach magischen Orten. Aber sie finden keine, weil es keine mehr gibt. Orte …? Du weißt schon. Steinkreise. Hünengräber. Tempel, Kathedralen, Moscheen, Pagoden. Früher wahrscheinlich sogar die Rathäuser. Stevie. Der Dichter ist ja doch noch da. Und ich dachte schon, heute ist alles nur noch Programm und Unterprogramm bei dir. 223
Er sah sie mit seinem Damit-kannst-du-mir-nicht-wehtunLächeln an. Schließt sich nicht aus, habe ich festgestellt. Und diese magischen Orte …? Der Quell ist versiegt. Wo ist denn unser Stonehenge? Was? Steht das nicht mehr auf Salisbury Plain? Diese Vandalen. Spiegel lachte. Oh doch, das ist schon noch da. Hinter einem Maschendrahtzaun. Salisbury Cathedral, ein paar Meilen weiter, ist auch nicht besser. Zwei Pfund Eintritt und ein Büchlein mit einem nummerierten Rundgang, der die schönsten Stellen eine nach der anderen entzaubert. Adie wies auf die Attraktionen des Platzes. Und einen schönen bunten Totempfahl und die geschmackvolle Büste von Häuptling Seattle willst du nicht gelten lassen? Die Leute nehmen das doch überhaupt nicht wahr. Die rennen dran vorbei und sehen nur die Läden. Na, dann sind eben die Läden die magischen Orte. Die Einkaufszentren. Ich spreche von Orten, an denen wir uns im Bann einer höheren Macht fühlen. Hast du noch nie bei Bloomingdale’s dein Kreditkartenkonto überzogen? Orte, an denen wir uns und die Natur neu definieren können. Wo Menschen miteinander Dinge erleben, die sie verändern. Wie wär’s mit der Sportarena? Seine Lippen spannten sich, doch ohne Heiterkeit. Also gut. Adie ließ den übermütigen Ton sein. Dann eben Bücher. Wer hat denn noch Zeit zum Lesen? Bücher aus deiner Kindheit, Bilder in Sepia und Magenta. Verloren. Vorbei. 224
Filme. Das ist es. Das Kino. Nicht gesellig genug. Du sitzt anderthalb Stunden lang wie angekettet im Dunkeln. Sicher, es fesselt dich, aber die Augen blicken immer nach vorn. Deine Gefühle fahren Achterbahn, ganz wie Hollywood es will. Und schon zwei Wochen später kannst du dich nicht einmal an die Handlung erinnern. Adie warf den Vögeln ein paar kandierte Nüsse zu. Die gesamte Taubenpopulation des Pazifischen Nordwestens stürzte sich in die Schlacht. Ich habe so einen dunklen Verdacht, dass du auf etwas Bestimmtes hinauswillst. Er nickte. Da könntest du Recht haben. Ich meine – das Auto, das Flugzeug, sogar die Druckpresse. Die haben nur die Geschwindigkeit verändert, mit der Leute Dinge tun können, die sie schon vorher taten. Aber der Computer … Ha!, rief Adie und versetzte ihm einen Schlag auf den Oberschenkel. Mit dem Computer kommen neue Aufgaben. Andere Erfindungen verändern das Umfeld, in dem Menschen leben. Aber der Computer verändert den Menschen selbst. Er ist der Teil, der uns fehlt, unser Partner, unser Lebenszweck. Das, wofür alle bisherigen Erfindungen nur Platzhalter waren. Er baut uns ein vollkommen neues Haus. Aber war denn das alte so schlecht? Mir hat das alte immer gefallen. Tatsächlich? Er blickte ihr in die Augen. Sie sah als Erste weg. Na, ganz egal, was du von dem neuen hältst – du musst zugeben, dass es nicht von dieser Welt ist. Oh, das gestehe ich gern. Du weißt, woran wir in Wirklichkeit arbeiten, nicht wahr? An der Zeitmaschine, Ade. Dem Transporterstrahl. Bilder, die sich in die dritte Dimension ausbreiten; ein großes Gedicht, in dessen Innerem wir leben können. Das ist der Gral, den wir 225
suchen, seit zum ersten Mal jemand am Lagerfeuer eine Geschichte erzählt hat. Der Sieg über Zeit und Raum. Der Endsieg der Fantasie. Jetzt aber nicht übertreiben, Cowboy. Das sind vier Betttücher und ein paar Diaprojektoren. Oh, das ist nur der Anfang. Vergiss mal für einen Augenblick die Technik. Mir geht es um die Idee, die dahinter steckt. Die Vorstellung, dass man Welten schaffen könnte – ganze, in sich abgeschlossene Orte mit allen Sinneseindrücken, Orte, die weit fort sind und gleichzeitig hier. Imaginäre Welten, die auf alles reagieren, was wir tun, Welten, deren Schnittstelle man überhaupt nicht mehr spürt. Orte, an denen wir uns begegnen können, ganz gleich über welche Entfernung. Orte, an denen wir sämtliche Regeln neu schreiben können, eine nach der anderen, und einfach abwarten, was geschieht. Ein Labor der Gedanken, in dem alles, was wir uns vorstellen, dreidimensionale Gestalt annimmt. Das definiert das menschliche Leben vollkommen neu. All die kindischen philosophischen Spekulationen, die immer nur in Sackgassen führten – die sind jetzt nur noch eine Frage der Rechnerleistung. Adie legte den Kopf schief, skeptisch und zustimmend zugleich. Wieso glaubst du …? Es hat doch noch nie funktioniert. Alle Künste, alle Technik der Welt haben die Menschen noch nie zufrieden gestellt. Warum sollte es diesmal anders sein? Zunächst einmal, weil wir hier ein umfassendes Gesamt – Das gilt nicht. Das ist Wagner. Das ist Bayreuth. Und du siehst ja, was dabei herausgekommen ist. Aber die Grotte ist Oper hoch drei. Wir nehmen sie nicht mehr nur einfach passiv auf. Wir werden Figuren in unserem eigenen lebendigen Drama. Sie schüttelte den Kopf. Das ist keine Frage, die sich mit 226
mehr Technik lösen lässt. Das Problem sind wir. Es steckt in uns drin. In unserem Körper. Die Grotte ist die erste Kunstform, die ohne Umwege den Körper anspricht. Wir stehen kurz vor dem Durchbruch zur unmittelbaren, körperlichen Erfahrung. So funktioniert das nicht, Stevie. Der Mensch passt sich an. Etwas in uns will keine Vollkommenheit, jedenfalls nicht für lange. Wir können uns erneuern. Neu beleben durch die schiere Fülle … Sie ließ den Blick über den Pioneer Square schweifen, die Folie zu Stevies wahnwitziger Vision: ein realer Ort, den sie mit einem einzigen Blick erfassen konnte. Im selben Moment rissen die Wolken auf, und alles erstrahlte im Sonnenlicht. Und warum nicht das Leben?, fragte sie. Warum soll nicht das Leben selbst unsere größte Kunstform sein? Die eine große technische Errungenschaft? Das ist doch solider als alles, was wir im Lab auf die Beine stellen wollen. Interaktiv bis ins Kleinste. Hervorragende Auflösung. Aber das Leben kann man nicht sehen. Er machte eine Geste, die alle Touristen dieser Welt umfasste, wie sie durch den unerschöpflichen Reichtum an Daten hetzten und auf nichts einen zweiten Blick warfen. Man braucht einen Hintergrund, um es zu betrachten. Ein Fisch weiß erst, dass er im Ozean schwimmt – Wenn er in der Bratpfanne liegt? Spiegel schnaubte. So ungefähr. So ungefähr. Wieder brach die Sonne durch. Einen Augenblick lang erstrahlte der Himmel so hell, dass Adie unwillkürlich nach oben blickte. Etwas an diesem Licht rief so verzweifelt nach Gemeinsamkeit, dass sie die Leere in ihrem Herzen spürte, und diesen einen Sonnenstrahl lang glaubte sie daran, dass sich die Lücke füllen ließ. Ein Windhauch war stärker als alle Vernunft. Er war nur zu schnell vorbei. 227
Nichts, sagte sie, nichts, was wir machen, wird je so wertvoll sein wie das Licht der Sonne. Ein sonniger Tag ist mehr wert als alle Kunst dieser Welt. Er warf ihr einen forschenden Blick zu. Als gehörten sie zusammen. Als könnten sie sich den Luxus leisten und noch den ganzen Rest ihres Lebens brauchen, bis sie wussten, woran sie miteinander waren. Davon verstehe ich nichts. Ich lebe in Seattle. Da fallen mir ein paar Worte ein, sagte sie. Auto. Fähre. Insel. Sie erhob sich und streckte sich. Garten. Abendessen. Schlafen. Aufwachen. Arbeiten. Er stand ebenfalls auf. Wo hast du geparkt? Ich bringe dich noch zum Auto. Sie schlugen den Weg hügelaufwärts ein, durch das Gedränge der Innenstadt, vermieden mittels komplexer Kollisionsalgorithmen die zu enge Begegnung mit anderen autonomen Agenten, die auf eigenen improvisierten Bahnen unterwegs waren. Raschen Schrittes ging es die Occidental entlang, unter deren Decke es im Untergrund rumorte. Zu ihrer Linken tauchte ein Jongleur auf, der ein kleines pastellfarbenes Sonnensystem kreisen ließ. Von Süden her kamen die Klänge eines Straßenmusikanten, der sich durch »Will the Circle be Unbroken« quälte. Schnorrer aller Rassen, Farben und Glaubensrichtungen setzten ihnen mit den abstrusesten Geschichten zu – Hausfrauen hilflose Opfer von Autopannen, Missverständnisse mit Arbeitgebern, die ihren monetären Verpflichtungen nicht nachkamen, vorübergehender Verlust aller irdischen Güter – und zogen sich dann wieder zurück, einen halben Dollar reicher, wünschten ihnen einen schönen Nachmittag, so schön es eben ging. Sie bahnten sich einen Weg durch den Occidental Park, hielten die Mitte zwischen dem Totempfahl und einer jämmerlichen pseudogriechischen Gipsstatue gegenüber. Adie 228
sah sich ein paar Mal um, blickte durch die Menschenmenge zu der Statue zurück. Der lässt dir keine Ruhe, hm? Steve hatte es bemerkt. Stimmt’s nicht? Wer? Na, die Statue. Was ist denn damit? Weißt du nicht, was er vorstellen soll? Oh, ein nachgemachter Koros wahrscheinlich. Irgendein Apollo. Schwer zu sagen. Jedenfalls nicht gerade eine gelungene Kopie. Und sonst fällt dir nichts dazu ein? Überleg mal. Nein, nicht hinsehen. Sie blieb stehen, schloss die Augen. Mit der Größe stimmt etwas nicht. Zu massig. Und er hat noch sämtliche Glieder. Das haben die echten nie. Sonst nichts? Darf ich noch einmal hinsehen? Nein. Die Farbe ist nicht echt. Aber wahrscheinlich nicht leicht, Gips auf Marmor zu trimmen. Und das Gesicht passt auch nicht. Eher römisch als griechisch, würde ich sagen. Und weiter? Sie zuckte mit den Schultern. Dann schau nochmal hin. Na, dieser Umhang stört mich auch. Lächerlich! Die Prüderie hier geht doch sowieso schon weit genug. Als Nächstes hauen sie den Putten an der Met ihre kleinen Pimmel ab, so wie sie’s im Mittelalter gemacht haben. Und sonst fällt dir wirklich nichts auf? Sie stampfte mit dem Fuß. Ich weiß nicht, was du willst, Stevie. Nun sag doch endlich! 229
Komm, wir sehen ihn uns genauer an. Sie machten kehrt und gingen noch einmal zurück. Mit jedem Schritt wurde die Gipsstatue deutlicher, die Auflösung feiner, bis Adie schließlich sah, was er meinte. Mein Gott. Jawohl, sagte Spiegel. Jetzt hast du’s. Sie ging weiter, als würde noch weiteres Beweismaterial das Offensichtliche widerlegen. Sie kamen an das Podest, auf dem er stand, und betrachteten ihn aus nächster Nähe. Nahe genug, dass sie ihn blinzeln, zucken und atmen sahen. Steve sprach das Kunstwerk an. Sie findet es lächerlich von Ihnen, dass Sie sich verhüllen. Adie zerrte ihn fort, wühlte in ihrer Handtasche nach Kleingeld, das sie in den umgedrehten Diskus zu Füßen der Statue werfen konnte. Sie findet, dass das heutige Kunstpublikum erwachsen genug ist, die klassische Antike unzensiert zu genießen … Sie drehte ihm den Arm hinter den Rücken und führte ihn ab. Sie warf noch einen letzten Blick über die Schulter, wie Lots Weib. Wie Orpheus. Die Statue verzog nicht einmal ein Fältchen in den Winkeln ihrer schimmernden Augen. Auf der anderen Seite des Platzes ließ Adie den Arm ein wenig lockerer. Du hast also bessere Augen als ich. Das wolltest du mir sagen? Er befreite sich aus ihrem Klammergriff. Ihre Hände berührten sich, hielten sich ein paar verlegene Sekunden lang. Anfängerglück. Außerdem habe ich vorhin gesehen, wie er sich in Positur gestellt hat. Spiegels Zukunftsvisionen beschäftigten sie noch tagelang. Natürlich war das alles Unsinn. Aber manche seiner Formulierungen machten sie doch stutzig, und sie fragte sich, was es denn nun wirklich für ein Projekt war, für das sie 230
arbeitete. Die schiere Zweckfreiheit des elektronischen Puppenhauses hatte ihr die Freude am Leben wieder gegeben. Aber nun – musste sie zu ihrer Schande eingestehen – mehrte der Gedanke, dass es vielleicht doch einen bestimmten Zweck verfolgte, ihren Spaß daran sogar noch. An den skorpionschwänzigen Ast eines digitalen Mangobaums hängte sie das fließende, flammende Munch-Gemälde dreier nordischer Frauen, die Hände im Nacken verschränkt, halbwegs zwischen ästhetischer Verzückung und Panikattacke. Und auf die B-Seite der Bitmap, für den Fall, dass jemals jemand hinter das Bild ging, um zu sehen, was auf der anderen Seite des Blattes war, schrieb sie in Schönschrift ein Zitat des Malers: »Die Natur zeigt uns die Bilder auf der Rückseite des Auges.« Jon Freese forderte sie per E-mail zu einem Tag der offenen Tür im Dschungel auf. Ich bin noch nicht soweit, schrieb sie zurück. Er bestand darauf. Nur für die anderen Gruppen im Haus. Damit Du ein wenig offizielles Feedback bekommst. Der Schautag wurde zur Gruppenausstellung. Sue Loque führte einen gänzlich neuen Ansatz zur Konzeption von Grafikfiltern vor. Ich hatte in letzter Zeit öfter mit so einer Künstlerin zu tun, die hat mich auf die Idee gebracht. Alles von ihr, beteuerte Adie. Mich müsst ihr nicht ansehen. Statt mit Algorithmen anzufangen, die wir dann dem Stil eines Künstlers anpassen, scannen wir ein paar seiner Werke ein, und dann stellt eine automatische Analyse der Signale einen Katalog seiner Marotten auf. Marotten wohl kaum, sagte Adie. Pardonnez-moi. Seiner Eigenheiten. Wunderbar, meinte Spiegel. So eine Art umgekehrtes Malen nach Zahlen? 231
Ari Kaladjian traute seinen Ohren nicht. Soll das heißen, ihr geht von der Grundidee ab, zuerst die Funktionen zu formulieren, die dann -? Wir gehen von überhaupt nichts ab, Ari. Wir dachten einfach, wir probieren mal was Neues und sehen, was draus wird. Ich frage noch einmal: Ist es wirklich ein Fortschritt, wenn wir etwas nachmachen können, ohne dass wir es formell beschreiben können? Wir überlassen das Beschreiben nur einfach dem Rechner, sagte Sue. Dann war Adie an der Reihe. Ihre Kollegen blieben eng beisammen auf dem gewundenen Pfad durchs Unterholz und stolperten über jedes neue Bildzitat, als sei es Zufall. Sie bestaunten mit offenen Mündern die Bilder der Heiligen Familie, begrüßten mit Oh und Ah all die belebten Stillleben und lachten über die Mönche aus mittelalterlichen Handschriften, die ihre Schriftrollen mit Rankenwerk illuminierten, das aus dem umliegenden Dschungel direkt in ihr Pergament hineinwuchs. Auf einem Pfad nicht weit vom Waldrand ging Kaladjian zum Angriff über. Kann mir vielleicht jemand verraten, was dieser ganze Unsinn soll? Freese gab Adie Deckung. Komm schon, Ari. Es ist ein Demo. Genau wie eure auch. Schon. Aber für was ist es ein Demo? Hier gibt es keine 3-DVisualisierung, kein Raytracing. Die Darstellung ist rein zweidimensional. Praktisch keine Interaktion. In diesem Wald regt sich nichts, höchstens ein paar nette Tierchen. Was hier an Daten zu sehen ist, hat keinerlei Bedeutung. Gibt nicht den mindesten Begriff davon, was das Environment leisten kann. Alle verstummten, scharrten mit den Füßen auf dem Waldboden. Spider Lim stand wie ein Wächter vor seiner Frau auf dem Diwan, als fürchte er, der Mathematiker könne sich an 232
ihr vergehen. Adie begriff, dass die anderen auf ihre Verteidigung warteten. Also ich weiß nicht. Ich finde, das sieht gut aus. Nur Rajan lachte. Spiegel preschte vor, gab seiner Rekrutin Feuerschutz. Jetzt aber mal langsam, Kaladjian. Willst du zukünftigen Kunden vorschreiben, wie sie die Grotte zu nutzen haben? Wenn jemand einen Raum aufbaut, in dem die künstlerische Inspiration Gestalt annimmt, ist das genauso legitim wie eine dreidimensionale Darstellung von Kohlenwasserstoffmolekülen. Die »Inspiration«. Kannst du mir sagen, wo die hier in diesen – Schnipseln stecken soll? Kannst du mir einen einzigen Beweis geben, auch nur eine Regel, nach der man sie von Nicht-Inspiration unterscheiden kann? Da hat er irgendwie Recht. Jackdaw blickte zu Boden. Ich meine, sicher, das ist schön anzusehen und alles. Aber es passiert nichts. Es ist eigentlich nur eine Bildergalerie. Der User hat praktisch keinen … Einfluss. Adie wandte sich mit einem gequälten Lächeln ab. Was bist du doch für ein Kind. Was habe ich dir bloß getan. Wie meinst du das, keinen Einfluss? Na ja, es ist nicht gerade das, was man interaktiv nennen würde. Natürlich ist es interaktiv. Man kann aussuchen, ob man den einen Weg nimmt oder den anderen. Wenn man etwas Interessantes sieht, geht man näher hin. Was wollt ihr mehr? Ich meine, was tun denn die Kunstwerke da drin? Die wissen doch nicht mal, dass wir da sind. Wenn ein Meisterwerk mitten im Wald erblüht, hob Rajan an, und niemand ist da, es zu würdigen, ist es dann immer noch -? Und wenn der User wieder draußen ist?, beharrte Jackdaw. 233
Dann ist es, als ob er nie da gewesen wäre. Er hinterlässt keine Spuren im Datenbestand. Der Dschungel macht weiter, als ob – Genau das, fuhr Adie ihn an. Und das ist gut so. Spiegel versuchte, zwischen den beiden Rassen zu vermitteln. Jackie will sagen, Ade, dass du mehr Wechselwirkung zwischen den Menschen und den Datenstrukturen brauchst. Mehr von dem Tanz, den es nur hier in diesem Medium gibt. Ich verstehe immer noch nicht, was ihr habt. So was wie hier könnte es doch nirgendwo sonst geben. Da hat sie Recht, kam Freese ihr zu Hilfe. Das ist ein vollwertiges virtuelles Environment. Und es ist anders als jedes andere, das ich bisher gesehen habe. Jackdaw zuckte mit den Schultern. Sicher, es ist hübsch. Aber es verändert nicht gerade die Wirklichkeit. Sue legte den Arm um die Schöpferin dieser Welt. Noch nicht ganz die transzendentale Kunstform der Zukunft. Aber die baust du uns noch, oder, Schätzchen? Gott. Letzte Woche haben sie sich noch überschlagen vor Begeisterung. Jetzt ist es ihnen zu langweilig. Aus dem Stand setzte Kaladjian zum Sprint an. Ich möchte ja wirklich wissen, was wir aus dem Ding hier lernen sollen. Über Hardware, über Software, über europäische Malerei. Können wir auch nur das kleinste bisschen daraus lernen? Was wir nicht auch in einem guten Museum lernen könnten, fügte Jackdaw hinzu. Ich gehe noch weiter, legte Kaladjian nach. Was kann man denn überhaupt in einem Museum lernen? Der Haken bohrte sich tief in Adies Kiemen. Keine Sorge, du lernst da ganz bestimmt nichts. Aus der Kunst kann man nichts lernen. Darauf will ich hinaus. Sie enthält kein quantifizierbares Wissen über die Welt. Keine Hypothesen. Nichts Falsifizierbares. Nichts 234
Systematisierbares. Kunst dreht sich immer nur um sich. Um andere Kunst. Und selbst da hat sie nichts zu sagen. Adie nahm ihre 3-D-Brille ab und starrte ihn an. Mathematiker, hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, was für ein unausstehlicher Mensch du bist? Na, das Kompliment gebe ich gern zurück. Aber wenigstens sagst du, was du denkst. Das ist mehr, als die meisten Künstler tun. Ich bin keine Künstlerin. Ich habe schon seit über – Zu spät schritt Freese ein. Das ist weder der Ort noch die Zeit für persönliche Auseinandersetzungen. Das hat nicht das Geringste mit persönlichen Vorlieben zu tun!, brüllte Kaladjian. Hier geht es um Fakten, um eindeutige – Könnte mir jemand mit ein paar einfachen Worten erklären, wie man Persönliches vom Nicht-Persönlichen unterscheidet?, fragte Rajan. Und von da an war der Ring frei. Als die Schlammschlacht zu Ende war, zogen beide Parteien gleichermaßen besudelt ab, die Mathematik und die Kunst. Aber immerhin führte der hässliche Streit dazu, dass der gefährliche Parasit der größtmöglichen Innovation in der Grotte auf einen neuen Wirt überging. Der Geist des Neuen floss durch die Blutbahn der ahnungslosen Träger, gebrauchte sie für seine Zwecke und zog dann weiter. Jetzt hatte er sich bei Dale Bergen eingenistet, dem unscheinbaren Biochemiker der University of Washington, der nach dem ehernen Grundsatz lebte, niemals Aufmerksamkeit zu erregen. Bergens Dockingraum für Makromoleküle drohte der nächste Schritt auf dem Weg des Menschen zur Herrschaft über die Materie zu werden. Der Betrachter tauchte in einen Mikrokosmos ein, Galaxien verschlungener Polymere, holte sich per Zoom die Stellen zum Andocken heran, bis sie groß genug waren, um hineinzugehen und sich umzusehen. Form und elektrische Ladung bestimmten bei diesem Modell das Verhalten, genau 235
wie in der wirklichen Welt. Die virtuellen Atome gingen, geleitet von einprogrammierten elektrostatischen Kräften, die üblichen chemischen Verbindungen ein. Im Projektionsraum der Grotte schufen sich die Riesenmoleküle ihre eigenen Verhaltensregeln im Fluge. Das Klassenzimmer wurde zum Labor. Bergen träumte davon, dass eines Tages sein Spielzeug das tatsächliche Dockingverhalten von Molekülen, das es jetzt nur simulierte, steuern könnte. In der Kybernetik der Enzyme sah der graue, unscheinbare Mann die entscheidenden Schaltstellen der natürlichen Auslese. In diesen gestaltgewordenen Botschaften, die Informationen zwischen Sendern übermittelten, hörte er einen vielstimmigen Chor, der nicht zu vernehmen war, wenn er die Moleküle isolierte. Bergen stand in der Grotte und betrachtete Ms Klarpols surreale Farnwedel, wie sie der aufgebrachten Safarigesellschaft ins Gesicht schlugen. Konnte man diese statische Botanik nicht zum Wachsen bringen, nach inneren Gesetzmäßigkeiten in der Art seiner grafischen Moleküle? Konnte man nicht den Genomen dieser Pflanzen die Gelegenheit zum Wettbewerb miteinander geben, sie anstacheln, die simulierten Ressourcen Erde, Wasser, Luft und Licht zu immer verschlungeneren Dialogen zu nutzen? Die Grotte als Reagenzglas für eine simulierte Evolution: nur ein Gedanke. Die Umsetzung hätte, im Augenblick zumindest, Bergens Möglichkeiten überstiegen. Aber die Idee reizte ihn. Man lernte ja, die Räume zu bauen, die man aufsuchen wollte. Und die Ökologie war ein Raum, der sich geradezu zwingend ergab. Er fing Adie ab, als sie herauskam. Könnte ich mir die Gummibäume irgendwann mal ausborgen? Die Worte gaben ihr neue Kraft. Meine Flora und Fauna soll von nun an auch deine Flora und Fauna sein. Aber erkläre 236
dem Rechenmeister auch, woher du sie hast. Sie bekam den Verräter Jackdaw in seinem Versteck zu fassen und versetzte ihm so lange Boxhiebe aufs Brustbein, bis er um Gnade rief. Wie konntest du mir so in den Kücken fallen? Ich weiß gar nicht, wovon du redest. Du hast mich verraten. Mich hängen gelassen, als der Sturm kam. Ich? Ich habe doch überhaupt nichts getan. Langweilig? Zweidimensional? Gar nicht richtig interaktiv? Seine Finger zuckten hilflos auf der Suche nach einer Tastatur. Ist doch wahr. Die Leute können in deinem Wald spazieren gehen. Aber richtig hinein lässt du sie nicht. Was soll das heißen? Komm mit. Ich führ’s dir vor. Sie folgte Jackdaw in die Grotte, wo er ihr das Geheimnis seiner jüngsten Studien enthüllte. Sie blieb draußen vor der vierten Wand des Würfels. Er ging hinein, verkabelt mit Körpersensoren. In grauem Halbschatten erwachte der Raum zum Leben. Jackdaw hob die geöffnete Hand. Im Osten ging rot die Sonne auf. Er verlagerte sein Gewicht auf ein Bein, hob den anderen Arm, bewegte den Kopf. Am vorderen Teil des Raums erschien ein Band aus Violetttönen. Er führte ihr eine Reihe von Bewegungen vor, ein Verkehrspolizist an einer belebten Kreuzung. Mit seinen Gliedmaßen ließ er an den Wänden einen Kandinsky-Wirbel aufziehen, Farbackorde, untermalt mit atonalen MIDI-Klängen. Er hielt zwei Finger in die Höhe, und Blitze zuckten über den Horizont, wurden dichter, als er die Arme bewegte, der Flügelschlag einer Taube. Unvermittelt brach er ab. Du verstehst, wie es gemeint ist. Er nahm die Brille ab und kam wieder zu ihr nach draußen. Adie starrte ins Leere. Für einen Techniker ist das sicher sehr 237
interessant. Aber? Du sollst nicht denken, dass ich es dir nur heimzahlen will. Aber … es ist schon ein bisschen langweilig, nach den ersten fünfzehn Sekunden. Unseren Dschungel findest du zweidimensional? Aber so weit ich sehe, gibt es doch hier überhaupt keine Tiefe. Sicher, das ist eine hübsche Idee, dass man mit seinen Körperbewegungen die Farben verändern kann. Aber trotzdem sind es nur bunte Flecken. Hier. Versuch’s mal selber. Nur eine Minute lang. Skeptisch setzte sie die Trackingbrille auf. Du musst dich so präzise und eindeutig wie möglich bewegen. Klarer Anfang, klares Ende. Und voller Körpereinsatz, keine Hemmungen. Sie fing klein an. Kommas mit den Fingerspitzen. Zunächst achtete sie noch genau darauf, welche Wirkung jede Bewegung hatte. Aber das Actionpainting-Gefühl überwältigte sie so schnell, jeder Effekt folgte der Bewegung so hart auf den Fersen, dass sie binnen kurzem vergaß, dass die Explosionen, in die sie eintauchte, von ihren Bewegungen gesteuert wurden. Ihr Körper war Licht und Klang. Aus Nicken wurde Nordlicht. Jedes Kopfschütteln ließ wütende Blitze zucken. Bei jedem Hauch flossen die Bilder, sie malte mit ihrem Atem. Sie versank im Schoß der Farben – die Verschmelzung, die sie bisher bestenfalls aus Büchern kannte. Sie ging in die Wand ein, kam auf der anderen Seite wieder heraus, in Licht gebadet, von einer Aura umgeben. Sie verlor sich ganz darin. Oder fand sich wieder. Als Tänzerin in ihrem eigenen Tanz konnte sie nicht sagen, welches von beidem es war. Es war eine Art spirituelle Aerobik, der Sprung, den Sex nie ganz geschafft hatte, weil er sich nie ganz vom Bewusstsein befreien konnte. Sie verwandelte sich in Farbe, formend und geformt zugleich. 238
Schaudernd setzte sie die Brille ab. Sie senkte nur den Kopf, als der Programmiererjunge sie ansah. Sie wollte nicht darüber sprechen. Puh. Sie schüttelte sich, wie ihr Hund Pinkham, wenn er aus dem Wasser kam. Das ist, als ob man Drogen nimmt. Wie auf einem wirklich wüsten LSD-Trip. Davon verstehe ich nichts. Aber nur der, der drinsteckt, hat etwas davon. Der Zuschauer hat keine Ahnung. Man muss selbst am Steuer sein, damit man sich auch nur vorstellen kann – Er nickte ein wenig bekümmert. Das ist einer von zwei großen schwachen Punkten dabei. Der Zweite ist, dass die Grafiken … wie soll man sagen? Abstrakt sind. Früher oder später müsste etwas geschehen, was man erkennen kann. Und dabei, ließ sich aus seiner Stimme heraushören, sollte sie ihm helfen. Wenn wir das schaffen, haben wir den ersten Schritt zu einem echten Abenteuer. Einem, in dem man leben kann. Sie suchte sich einen sicheren Platz weit genug ab von der Bühne und blickte noch einmal zurück auf die Wände, auf denen die Sonate ihres Blutkreislaufs eben ihre Uraufführung erlebt hatte. Wenn das hier erst der Anfang ist, dann ist das Fernsehen im Vergleich dazu ein Laufställchen. Die Leute werden hineingehen und nie wieder nach draußen wollen. Selbst ihr Lachen klang verwirrt. Die verhungern da drin. Wie die Ratten in den Skinner-Boxen, die ihre Glücksknöpfe drücken, bis sie umfallen. Jackdaw hob erfreut den Kopf. Wollen wir das denn wirklich?, fragte sie. Wollen wir den Leuten ein solches Spielzeug in die Hand geben, in einer Zeit, die ohnehin schon süchtig ist? Ist die Welt denn nicht auch so schon schlecht genug dran? Er kniff die Augen zusammen, verstand nicht, was sie sagen wollte. Was hatte die Welt denn damit zu tun? Sie dachte eine ganze Weile darüber nach. Ich muss noch 239
einmal neu anfangen. Ganz von vorn. Kein Problem, sagte er. Fang mit was Kleinem an. Wir wissen doch jetzt, dass es nicht drauf ankommt, wie viele Bilder gleichzeitig da draußen sind. Wichtiger ist, wie gut die Bilder laufen. Etwas … Kleinem? Konzentriere dich auf etwas. Dein liebster Platz auf der Welt. Etwas, das dir wirklich wichtig ist. Etwas, wo du ganz hineinkriechen kannst. Sie schloss die Augen und ging auf Pilgerfahrt. Gut, sagte sie und schlug die Augen wieder auf. Ich weiß, was wir nehmen. Also, was soll es sein? Ein Bett. Ein Bett an den Ufern des Mittelmeers. Das ist das Zimmer, das dir das Leben zum Schlafen leiht. Schlafzimmer. Slaapkamer. Chambre a coucher. Einfache Unterkunft, aber mit allem Notwendigen. Bett, Waschschüssel, Stuhl, Fenster, Spiegel: alles, was du zum Leben brauchst. Aber du weißt nicht, ob du hier schlafen kannst, wenn du die Augen schließt. Denn dieser Raum erstrahlt in gleißender Helle. Aus allen Richtungen strömt das klare Licht der Sonne herein. Ein krummer Boden bis zur Wand, ein falscher Horizont: das Gelenk, an dem Himmel und Erde hängen, Weizengelb und Azurblau. Das Leben, das hier schläft, hat seine Schrunden im Lack der Dielen hinterlassen. Der eigentliche Bewohner ist gerade nicht zu sehen. Er lässt seine Hemden am Garderobenhaken hängen. Kurzärmelig, ausgebeult, haben sie die Form seines Körpers angenommen. Ein Strohhut, der ihn vor der südlichen Sonne schützen soll, wartet an einem weiteren Haken, dass der entblößte Kopf ihn wieder braucht. Er lässt seine Flaschen, seine Bürste, sein Buch auf dem 240
Nachttisch. Sein Handtuch, schmutzig vom Händeabwischen, hängt am Haken neben der Tür. In dem gemalten Schlafzimmer hängen die selbst gemalten Bilder des Mannes an der Wand. Die Szenen, die seine Augen belebt haben, windschief an den trunkenen Wänden. Sie geben der Wohnung weiteren Raum: ein Wohnzimmer im Miniaturformat, in die taghelle Kammer gezwängt. Die Wohnung hat sich vom Atem des Bewohners verwellt. Schon lange vor der Wissenschaft beweist er, dass der Raum gekrümmt ist. Die Stühle, das Bett, der schiefe Tisch: jedes Möbelstück hat seine eigenen Gesetze der Schwerkraft. Jedes scheinbar Massive legt seine Perspektive fest, die Fluchtpunkte wie Schrotkugeln in alle Winde verstreut. Keine zwei Stücke aus diesem ärmlichen Besitz passen in dieselben Koordinaten. Der Fuß des Bettes ragt bedrohlich in den Türrahmen. Der Boden wogt wie die stürmische See. Wände und Decke müssen sehen, wie sie zusammenfinden. Die Läden versuchen gar nicht erst, sich in die Fensteröffnung zu zwängen, der eine nach innen geneigt, der andere hinaus in die provenzalische Brise. Ist er glücklich hier? Macht die Arbeit seiner Hände ihn froh? Sehen seine Augen die Klarheit dieses Lichts, ist er dankbar, dass er es malen darf? Oder künden die Risse in diesem Wasserkrug, das aufgesprungene Flechtwerk des Stuhls, von unerträglichem Leid? Man kann sich nach dem Zimmer gut genug vorstellen, was für ein Mann das ist. Im Rasierspiegel über der Waschschüssel ist er zu sehen, so deutlich wie auf einer Fotografie. Im wackligen Bett ahnt man die Umrisse seines Körpers. Wie er die gemietete Zuflucht eingerichtet hat, sagt alles über ihn. Auf dieses Zimmer lässt sich ein Reim machen. In diesem Zimmer steckt die Erinnerung an das Leben, das es beherbergt. Das Leben dieses Mannes steigt wie ein Dunst zum Dachfenster heraus. Die Sonne setzt aus der Einrichtung das Leben zusammen. 241
Doch tritt jemand in dies gemalte Leben ein, so verändert er es. Der Blick des Betrachters beeinflusst das Bettzeug, wenn er es auch nur ansieht. Das Auge lässt einen Abdruck auf seinem Glas zurück. Seine Handtücher werden schmutzig von deinen Händen. Das Hemd bekommt bald die Konturen deines eigenen Leibs. Das soll also nun deine kamer werden, deine chambre, für wer weiß wie lange. Ein Ort, in den du nach Belieben eintreten, in dem du wohnen kannst. Ein Kasten, dessen Planken Teil deiner Geschichte ist. Dies Leben ist nun deins. Auch die Bilder gehören zu dir. Das Bett, die Stühle, das Fenster, das Weizengelb, das Azur: alles, wovon dies Schlafzimmer erzählt, soll nun dein sein, alles außer – in so gnadenlosem Licht – dem Schlaf. Wo ist es?, fragte Jackdaw. Verrat’s mir. Arles, antwortete Adie. Und wo genau wäre das? In Südfrankreich. Von Frankreich hast du doch schon gehört, oder? Keine Beleidigungen. Ich komme vielleicht nicht viel rum, aber im Net finde ich alles, was ich suche. Junge, verzeih’ mir. Da würdest du es finden, mit Sicherheit. Es ist eine alte Römerstadt in der Provence. Als ich noch ein Mädchen war, haben wir immer ein Spiel gespielt. Wir? Meine Schwester und ich. In Südfrankreich? Nein. In unserem Schlafzimmer. Ein Mittelwert aus neun Schlafzimmern, alle zwei Jahre ein neues, auf den Luftwaffenstützpunkten der westlichen Welt. Hatte deine Schwester auch einen Namen? 242
Elise. Das hat meine Mutter ihr eingebrockt. Weil sie ein wenig Glanz in ein langweiliges Leben bringen wollte. Wir lagen in unseren Betten, jede auf ihrer Seite, und das Licht war aus. Mit den fingern haben wir uns die Augen offen gehalten, bis wir im Dunkeln sehen konnten. Wir haben uns Geschichten erzählt, haben in den Rissen in der Decke die Landkarte vom Auenland gefunden, Moria, Mordor … Kenn ich. Da bin ich in jedem Winkel gewesen. Nach ein, zwei Stunden ist Elise dann eingeschlafen. Kein Stehvermögen, meine Schwester. Ich lag unter meiner Bettdecke und fühlte mich im Stich gelassen. Ich war der letzte Mensch, der auf Erden noch wachte. Das ganze, dunkle Schlafzimmer zog sich um mich zusammen. Ich lag da wie eine Steinfigur auf einem Grab, die Füße gen Osten, nach Jerusalem. Mit genug Zeit – und schlaflose Elfjährige haben alle Zeit der Welt – konnte ich aus meinem Sarg eine gemütliche Schiffskabine machen. Eine Kabine erster Klasse auf einer Atlantiküberfahrt. Jackdaw nickte, spielte den Film in seinem Privatkino ab. Wenn ich eine Weile einfach nur ins Dunkel gestarrt hatte, konnte ich durch das Bullauge an Steuerbord den nächtlichen Ozean sehen. Ich erfand eine Geschichte dazu, in allen Einzelheiten – meine Schwester und ich hatten vor kurzem unsere Eltern verloren, und nun kehrten wir zurück in die Alte Welt, in dem Luxus, den wir uns als reiche Erbinnen nun wieder leisten konnten. Ihr kamt aus Europa? Ihr hattet Geld? Keine Ahnung, wie ich auf solche Ideen gekommen bin. Nicht alle Tassen im Schrank, die Kleine. Ich bin in Deutschland groß geworden, in der Türkei und in Japan. Aber in meiner Fantasie war ich immer ein Waisenmädchen in New York. Ganz gleich, in welcher Air-Force-Kaserne wir gerade hausten, nachts war es doch immer die Luxuskabine. 243
Nussbaum und Messing. Sessel aus geprägtem Leder. Ich und meine verwitwete Schwester – Verwitwet? Hast du nicht gesagt verwaist? Verwitwet, verwaist: Das änderte sich von Nacht zu Nacht. Ihr Jungs versteht aber auch gar nichts, hm? Also. Du und deine verwitwete Schwester … Ich und meine verwitwete dreizehnjährige Schwester statteten unsere Suite mit einem Satz prachtvoller Gemälde aus, die jeder aus unseren gehobenen Kreisen auf Anhieb erkannt hätte. Im Gegensatz zu einem Proletarierjungen wie mir. Mach mir nichts vor, Acquerelli. Dir schaut doch die Mittelschicht aus allen Knopflöchern. Was war dein Vater, Universitätsdozent? Elektroingenieur. Berg and Nordstrom. Na also. Da wirst du doch wohl einem armen Mädchen seine harmlosen Fantasien gönnen. Weiter. Die Meisterwerke der Malerei. »Unsere Kunstschätze« hat Elise sie immer genannt. Moment. Ich dachte, die schlief? Manchmal habe ich sie einfach geweckt. Nach einer Weile hatte ich sie so weit, dass wir es auch am Tage gespielt haben. Ihr konntet sie auch bei Tage sehen? Die Bilder? Oh, die Bilder, die waren echt. Ihr hattet die Meisterwerke der Malerei an euren Schlafzimmerwänden? Natürlich nicht die Originale. Aber sie waren nicht eingebildet, das wollte ich sagen. Autsch. Mein Hirn. Jemand ist an die Reset-Taste gekommen. Meine Mutter hat uns für unser Zimmer Drucke von berühmten Bildern gekauft. Unsere Privatgalerie zur künstlerischen Erziehung. Billige Reproduktionen, die uns zwei 244
immer daran erinnerten, wie viel sie aufgegeben hatte, um uns auf die Welt zu bringen. Aufgegeben? Ihr Vater war Versicherungsvertreter. Halbwegs wohlhabend. Er hat sie gewarnt, sie soll keinen Soldaten heiraten. Sie glaubte, sie sei verliebt. Sie stellte es sich romantisch vor, ihre Kinder auf den Luftwaffenstützpunkten dieser Welt großzuziehen. Aber die Romantik war schnell verflogen. Raffael sollte uns entschädigen. Die Hudson River School. Das machte für sie keinen großen Unterschied, solange nur »Kultur« draufstand. Und das hat sie dir alles verraten? Auf tausend Arten, nur nicht mit Worten. Und ich glaube, ihr Plan ist aufgegangen. Wir Mädchen spielten mit Begeisterung mit. Manchmal schritten Elise und ich die Reihe der Bilder ab und sagten: »Ja, die mussten wir einfach haben. Auch wenn es uns unsere Millionen gekostet hat.« Ein anderer Planet. Einer von uns beiden stammt von einem anderen Planeten. Was willst du damit sagen? Na ich bin es nicht, Schwester. Ihr Lachen kam ihr in den falschen Hals. Dass sie sich an ihrer eigenen Spucke verschluckte, ließ sie nur umso lauter lachen. Sie wedelte mit den Armen. Er hätte ihr auf den Rücken geklopft, aber dazu hätte er sie anfassen müssen. Sie atmete tief durch. Ich lag im Dunkeln, in der Luxuskabine, und stellte mir vor, wie ich unsere Millionen aus dem Exil zurückholen würde, und zwar in der besten Münze, die es gab. Der einen Währung, die nicht mit Gold aufzuwiegen war: dem menschlichen Genie. Dinge, die es nur einmal auf der Welt gab und von denen es nie ein Zweites geben würde. Etwas Hartes kam in ihren Ausdruck. Jackdaw blickte umso 245
intensiver fort. Es fing an mit dieser verzogenen kleinen blonden Infantin, die immer in unseren Salon gestürmt kam, als ob der Laden ihr gehörte. Und dann das verschlagene hübsche Mädchen an der halb offenen Tür. Unsere Mutter ist bis an ihr letztes Stündlein nicht davon abgegangen, dass es ein Rembrandt war, selbst als die Rembrandtforschung es längst in Grund und Boden verdammt hatte. Lange Zeit hatten wir die ätherischsten frisch Verheirateten der Welt, mit ihrem unglaublichen Scheuerbürstenhund. Die Tür ihres Alkovens führte direkt zu uns ins Zimmer. Das muss ich sehen, sagte er. Oh, das hast du schon. Ich habe sie alle in den Dschungel gehängt. Jedes Bild, das in einem der vielen Zimmer gehangen hat, die ich im Laufe meines Lebens hatte. Von jedem hast du eine kleine Parodie gesehen. Von allen außer einem. Und das eine wäre …? Das Schlafzimmer in Arles. Das Bett an den Ufern des Mittelmeers. Sie sprach wie in Trance, die Augen auf einen Punkt zehn Meter jenseits der Außenmauer der Grotte geheftet, ihre Worte an etwas gerichtet, das längst außer Hörweite war. Das eine, das mich in Angst und Schrecken versetzte. Alles krumm und schief. Unsere Mutter hatte nämlich den Fehler begangen und uns verraten, dass es das Zimmer eines Mannes war, der den Verstand verloren hatte. Sie sah ihn an: Du weißt, wen ich meine? Jackdaw nickte. Aber er wusste es nicht. Das war das Zimmer meines Vaters. Mein Vater war der Verrückte. Gott, wir sind groß geworden und haben kaum etwas von ihm gesehen. So selten da, und wenn er da war, so wütend. Captain Klarpol, der schweigsame Krieger, monatelang unterwegs; flog irgendwo seine grässlichen Maschinen, die zehnmal größer waren als jedes Haus, in dem 246
wir je gelebt hatten, warf werweißwas über werweißwem ab. Und wenn er nach Hause kam, hatten wir drei immer für seinen letzten Einsatz zu büßen. Er … wir … ich habe immer gedacht: Wenn ich ihm doch nur etwas geben könnte. Wenn ich herausfinden könnte, was er brauchte … Ein stilles Zimmer irgendwo, am anderen Mittelmeer. An einem fernen Ufer, wo sie nie ihre Einsätze flogen. Der Traum von einem Sommerhaus, das alles heilen würde. Ich zog mir die Decke über den Kopf und lugte hinauf zu dem Bild. Ein Blick durchs Periskop, und ich sah eine bunte Miniaturausgabe von unserem eigenen Zimmer. Bett, Stühle, Waschschüssel, Rasierspiegel, Fußboden, Fensterläden. Selbst die Bilder des Wahnsinnigen, die in den irrwitzigsten Winkeln an der gemalten Wand hingen … Das konntest du sehen? Mitten in der Nacht? Im dunklen Zimmer? Darum geht es ja gerade. Ich wusste nie, ob ich sie wirklich sah, oder ob ich die Pinselstriche aus der Erinnerung zusammensetzte. Und damit fing es an. Das hat mich auf die Idee mit dem Spiel gebracht. Moment. Ich dachte, was du mir gerade beschrieben hast, war das Spiel. Nein, nein. Das Eigentliche kommt erst noch. Das Fensterladen-Spiel. Ozeanüberfahrten sind ziemlich stürmisch, weißt du. Irgendwann kommt man an einen bestimmten Längengrad, zwei Tage vor Ankunft in Was-weiß-ich-wo – Le Havre –, wo die See nach einem schnappt. Die Winde, der Nordatlantikstrom. Oder vielleicht nickt der Captain auch einfach um drei Uhr morgens am Ruder ein, nach einem Gläschen Aquavit. Sie starrte in die Ferne und sah einen grimmigen alten Freund. Rings um sie stiegen Bilder auf – Stillleben voller Details, die sie zwanzig und mehr Jahre lang unter Verschluss 247
gehalten hatte, kehrten zurück und nahmen Rache. Tut mir wirklich Leid, sagte er. Aber ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Ja, woher denn auch? Die Schärfe in ihrem eigenen Ton überraschte sie. Aber gleich darauf hatte sie sich wieder in der Gewalt, tat den Ausrutscher mit einer Handbewegung ab. Ozeanriesen schwanken. Das gehört dazu. Sonst wusste man ja überhaupt nicht, dass man auf einem Ozeanriesen ist. Und da fiel mir in meiner Erster-Klasse-Koje die Aufgabe zu, dafür zu sorgen, dass die Gesetze der Physik auch dort ihre Gültigkeit behielten und die Bilder sich mit der schwankenden Kabine bewegten. jetzt wird es mir aber wirklich allmählich zu viel. Na, wem kann es denn hier nicht interaktiv genug sein, Jackie? Das erste Mal, dass es passierte, war Zufall. Ich sah hin, aber ich sah es nicht wirklich, und da, na sagen wir: bebte der Rahmen unten links an der Infantin. Ich sah eine Bewegung, etwas im Augenwinkel, das nicht stimmte. Wie der Ast, der einem komisch vorkommt und sich schließlich als Spazierstock entpuppt. Der stillhält, damit die größeren Säuger ihn nicht sehen. Das war womöglich genau das, was das Bild in jenem Augenblick getan hat. Denn sobald ich genau hinsah, war nichts mehr zu sehen. Hatte es mit der Angst zu tun bekommen. So habe ich’s mir auch erklärt. Ich beschloss, dass ich mich auf die Lauer lege und warte, was geschieht. Tat so, als sei ich in Wirklichkeit mit etwas ganz anderem beschäftigt. Ich hielt den Atem an, war genauso reglos, wie diese Bilder sich gaben. Und dann habe ich es wieder gesehen. Ich wusste, dass es unmöglich war, aber ich hatte es ja schon vorher gespürt. Der Rahmen der Infantin bewegte sich von neuem. Dein Ozeanriese … 248
… hatte sich nach Backbord geneigt, und unsere Privatgalerie zur künstlerischen Erziehung neigte sich mit ihm. Untersteh dich zu lachen. Das ist alles wahr. Ich bin fast gestorben vor Angst. Das kann ich mir vorstellen. Ich lache nicht. Ich … glaube dir. Bei jeder Bewegung der Bilder an der Wand spürte ich den Ozean unter mir wogen. Gott. Nichts hat so viel Macht wie ein elfjähriges Mädchen im Dunkeln, das sich auf etwas konzentriert. Über mehrere Monate hinweg brachte ich mir bei, wie ich diese Bewegung erkennen konnte, selbst wenn ich das Bild einfach nur ansah. Zuerst spürte ich das Schwanken im Inneren meines Körpers, dann gerieten die Bilderrahmen ins Rutsehen. Nach einer Weile konnte ich die Rahmen schaukeln lassen, wie ich wollte. Natürlich nur ein paar Kamelhaare breit. Aber sie neigten sich sichtlich zur Seite, wenn ich es ihnen sagte. Da kannst du froh sein, dass du dich nicht vollends um den Verstand gebracht hast, meinte er. Und bereute es sogleich. Das Merkwürdige war, dass es mir vollkommen natürlich vorkam. Ich hätte gedacht, dass jeder es kann. Das soll nicht heißen, dass es einfach war. Es war sehr anstrengend. Manchmal brauchte ich Stunden dazu. Ich musste zuerst jeden Gedanken aus meinem Verstand verbannen. Jeden außer dem Warten. Musste mich aufs Nicht-Konzentrieren konzentrieren. Warten, bis ich die Welle in meinem Körper spürte. Warten ohne zu warten. Sie erschauderte bei diesen Worten, die alte Panik packte sie wieder von neuem. Ich musste den Bildern einen Schubs geben, aber nicht absichtlich. Sie aus den Augenwinkeln an den Rändern antippen. Sie waren in Bernstein eingeschlossen, all die zäh gewordene Zeit, seit die Maler sie gemalt hatten. Durch diese Kruste musste ich hindurchsehen, damit das Bild darunter sich bewegen konnte. Wenn ich in meinen Gedanken bei dem war, was ich tat, musste 249
ich ganz von vorn anfangen. Ich wollte sie ja nicht selbst bewegen, ich wollte dafür sorgen, dass sie sich von sich aus bewegten. Und dann eines Tages kam ich ganz plötzlich auf die nächste, geheime Ebene des Spiels. Ich ging in das windschiefe Schlafzimmer hinein. Und – du hast das Bild wirklich nie gesehen? Tut mir Leid. Zu viel zu tun. Im Inneren dieses Bildes gibt es noch ein zweites gemaltes Fenster, es schwebt über dem Bett des Verrückten. Ich konnte es von meiner eigenen krummen Koje aus sehen, auch wenn vom Zimmerfenster aus überhaupt kein Licht hereinfiel. Die gemalten Fensterläden sind viel zu groß. Sie würden nie in die Rahmen passen. Im Dunkeln wusste ich nicht mehr, ob sie vor dem Fenster schwebten oder dahinter, ob sie ins Zimmer hineinragten oder sich nach außen öffneten. Ich musste eine Möglichkeit finden, sie zu schließen, sodass sie sich in den Rahmen einfügten. Ganz unvermittelt stellte ich eines Abends fest, dass ich sie bewegen konnte. Zeit, dass du deine Schwester weckst. Bitte, weck deine Schwester auf. Überhaupt nicht. Zeit, dass ich die Scharniere öle. Jede Nacht probierte ich es mit den Fensterflügeln, und jedes Mal gingen sie ein klein wenig weiter auf. Bald wartete ich nur noch, bis Elise eingeschlafen war, und dann stahl ich mich in das Zimmer des Malers. Und sobald ich dort war, blies der Wind. Ich fand das wunderbar. Mein ganz persönliches Geheimnis, und ich war vernünftig genug und habe keiner Menschenseele etwas davon gesagt. Ich konnte Sturm heraufbeschwören und den Boden unter meinen Füßen schwanken lassen. All die Sachen, für die Mädchen dann, wenn sie älter werden, einfachere Methoden finden. Jackdaw wandte sich ab, damit sie nicht sah, wie er rot wurde. 250
Ich konnte es … zu gut. Zu viel Geschick im Animieren. Jedes Stück in diesem gemalten Zimmer wartete nur, dass es an die Reihe kam. Ich ließ den Südwind solche Böen wehen, dass das Handtuch sich wiegte und der grüne Rasierspiegel an der Wand klapperte wie ein Kahn, der an die Landungsbrücke schlägt. Ich wurde so perfekt, dass ich nicht einmal mehr Wind dazu brauchte. Auch ohne Hilfsmittel öffnete sich die Schublade in dem armseligen kleinen Nachttisch. Ich hatte Angst, dass das Geräusch Elise wecken würde, aber ich konnte nicht aufhören. Ich musste immer neue Spiele ausprobieren … Die Nacht kam, in der das Zimmer zu hüpfen begann, ganz von allein. Zu schwanken anfing, bevor ich auch nur Guten Abend gesagt hatte. Die Stühle rutschten über den schiefen Boden. Es war entsetzlich. Ich musste wegsehen. Aber sobald ich wieder hinsah, ging es von vorne los. Schlimmer noch, das Bett begann zu knarren, es bog sich unter dem Gewicht unsichtbarer Leiber. Das hatte nichts mehr mit Schwerkraft oder Wind oder dem Rollen des Ozeans zu tun. Ich wollte runter von dem Boot. Ich versuchte, unser Schlafzimmer zurück ins Trockendock zu steuern. Immer und immer wieder hämmerte ich mir ein: Die Erde ist massiv, die Farbe kann nicht vom Fleck. Sie stand mit erhobenem Zeigefinger. Johannes vom Kreuz. Dann … du hast es ja schon gesagt. Das, wovor ich mich eigentlich schon die ganze Zeit hätte fürchten sollen. Am nächsten Tag ging ich an dem Bild vorbei. Am helllichten Tage. Ich sah, wie ein Fensterladen sich bewegte. Endlich begriff ich, was los war. Es lag in der Familie. Ich würde verrückt werden. Genauso irrsinnig wie der Maler, mit dessen persönlichen Sachen ich so leichtfertig gespielt hatte, als er nicht im Zimmer war. Aber Körperteile hast du dir keine abgeschnitten? Untersteh dich, darüber Witze zu machen. Ich fragte Elise, ob ihr die Bilder jemals … seltsam vorgekommen seien. »Unsere 251
Privatgalerie zur künstlerischen Erziehung?« Sie lag ein Dutzend Spiele zurück. »Für andere vielleicht, aber doch nicht für uns! Vergiss nicht: Wir waren klug genug und haben unsere Millionen investiert …« Ich hätte ihr den Hals umdrehen können. Meine Fantasie trieb mich zum Wahnsinn. Ich ging zurück in das Zimmer des Künstlers, malte es ab, weil ich dachte, dann hört es vielleicht auf. Ich habe genau den Abstand eingehalten, den jedes Stück vom anderen hatte, mit Bleistift Härte 2 auf blau liniertem Papier. Und dann, damit die Farben an Ort und Stelle blieben, bin ich ihm mit meinem Farbkasten zu Leibe gerückt. Als ich die Falten des Handtuchs erst einmal auf Papier gebannt hatte, hielt es still. Als ich den Haken der Läden mit dem Pinsel fand, klapperten sie nicht mehr. Ihre Kinnmuskeln zuckten: Oder kaum noch. Wenn ich diesen Raum malen konnte, dachte ich … wenn ich die Farben richtig hinbekam … Sie hielt gerade lange genug inne, dass Jackdaw es hören konnte – das Knarren im unteren Stockwerk, die Läden, die zur nächtlichen Stunde an die Fenster schlugen, der uniformierte Vater, der Familienstreit in der nächsten gottverlassenen AirForce-Kaserne in einem Land, das sie nicht willkommen hieß. Als Adie weitersprach, hatte sie ihre Stimme wieder unter Kontrolle. Hysterischer Kinderkram. Mit der Pubertät ging er vorbei. Aber die ganzen Jahre lang konnte ich kein Bild ansehen, ohne dass ich es nachmalen musste. Du weißt ja, wie das mit den Albträumen der Kindheit ist. Man muss sie Dämon für Dämon bezwingen. Heute, nach zwanzig Jahren, ist es nur noch eine kuriose Geschichte. Und so hast du Malen gelernt? Adie lächelte, eine glasklare Schraffur mit einem Tuschestift. So habe ich das Kopieren gelernt. Meine Hand hat nie etwas Interessantes zustande gebracht, wenn kein Original, das mich bedrohte, in der Nähe war. 252
Aber du malst so gut. Du hast all die … Sachen hier gezeichnet! Ihr Lächeln verlief zu gewischter Kohle. Hübsche, harmlose Kleinigkeiten, die schon alles Mögliche verkauft haben, von Büchern bis zu nachgemachten belgischen Pralinen. Aber egal. Kopieren lässt die Kasse klingeln. Und es hat mir die Stelle hier eingebracht, an vorderster Front von was weiß ich, wovon wir hier die vorderste Front sind. Und deiner Schwester hast du es nie gesagt? Elise? Angedeutet. Jahre später. Da waren wir schon aus der Schule und arbeiteten beide als Kellnerinnen im MoMA. Was hat sie gesagt? Sie meinte, ich solle eine Therapie machen. Mit vereinten Kräften hätten Mam und Dad uns fürs Leben ruiniert. Sie sei zur Analyse gegangen, und das sei das Beste, was sie je für sich getan habe. Das war kurz bevor Elise nach Manhattan gezogen ist, im Kielwasser der Kunstszene. Ach, unsere Millionen! Und du, bist du jemals …? Bei einem Analytiker gewesen? Nein. Ich bin ins Village gegangen, wollte Malerin werden. Verlorene Liebesmüh’. Aber auf lange Sicht hat es Elise auch nichts geholfen, und ihre Methode war teurer als meine. Hat eure Mutter je …? Tot, erklärte Adie. Langley Air Force Base, Virginia. Ein sehr unromantischer Tod. Und dein Vater, hat der je … eins von deinen Bildern gesehen? Kommt drauf an. Sie blickte in die Ferne, sah einen mythischen Ort, an dem Geschenke tatsächlich bei ihren Empfängern ankommen. Nichts, was sie je versucht hatte – Angebote, Bestechung, Betteln, Drohen –, hatte sein Ziel auch 253
nur annähernd erreicht. Kommt drauf an, was man unter Sehen versteht. Jackdaw spürte die Gefühle, die dahinter steckten. Er sah sich im Labor um, auf der Suche nach einer Ecke, in die er flüchten konnte. Aber dazu war es längst zu spät. Dieses Bild. Dieses Schlafzimmer von dir. Bist du sicher, dass du das wirklich … animieren willst? Nein. Sicher bin ich mir nicht. Sicher bin ich mir in meinem ganzen Leben nie gewesen. Aber eins weiß ich: Es ist wunderbar da. Jackdaw nickte. Er war bereit. Es war einmal eine Melodie. Ein Musikstück. Etwas Schönes, wie du immer gesagt hast, als das Wort noch ohne Bedeutung war. Damals, als das Leben dich noch zuhören ließ. In einem anderen Leben hast du dieses Lied geliebt. Jetzt ist keine einzige Note mehr davon da. Du liegst im ewigen Dämmerlicht deiner verschlossenen Kiste und versuchst verzweifelt, dir die Melodie ins Gedächtnis zu rufen. Du spielst alle Auftaktintervalle durch, die dir einfallen, probierst im Geiste sämtliche möglichen Kombinationen, als wolltest du dich an einen Namen erinnern, indem du dir die Buchstaben des Alphabets nacheinander vornimmst. Die Jagd bleibt erfolglos. So eine Melodie kehrt nur freiwillig zurück. Ob sie kommt oder nicht, ist eine Frage der Gnade. Du kannst nur ruhig bleiben und abwarten. Du liegst da und wartest, versuchst nicht daran zu denken. Aber das Lied kommt nicht. Nicht ein einziger Takt. Nur eine holprige Folge von Tönen. Du verharrst eine Ewigkeit so im Dunkel und lockst die Melodie. Verbringst die Tage damit, dass du dich bereitmachst für ihre Ankunft. Aber was kommt, ist allein der Name: ein Dankeslied eines Genesenden an die Gottheit. 254
Du hast das Stück vielleicht dreimal im Leben gehört. Eigentlich nicht deine Art von Musik. Nicht die Art von Musik, die du normalerweise aufgelegt hast, bestenfalls in den seltenen Augenblicken, wo du plötzlich das Gefühl hattest, du könntest sie verstehen. In Augenblicken jäher Krankheit oder plötzlicher Erholung. Die Musik einer fernen Vergangenheit; eines Tages, dachtest du immer, hättest du Zeit, dich damit zu beschäftigen. Jetzt hast du Zeit, mehr als du mit solcher Beschäftigung je ausfüllen könntest. Aber jetzt hast du keine Musik. Nur das tonlose Warten. Einmal wolltest du Gwen dieses uralte Stück vorspielen, eine Musik, der du so wenig gewachsen warst wie sie dem Zuhören. Ein paar wenige verzauberte Minuten, die du mit einem anderen Menschen teilen wolltest. Sie hat es nicht fertig gebracht, so lange stillzusitzen. Konnte nicht still sitzen, obwohl du sie darum gebeten hattest. Konnte nicht still sitzen, weil du sie darum gebeten hattest. Drei Tage Streit endeten in der ewigen Sackgasse. Wieso kannst du dich nicht mal zehn Minuten lang mit mir zusammen über etwas freuen? Und sie: Wieso musst du alles bestimmen, was ich mit meinem Leben tue? Jetzt in deiner Zelle kommt dir dein Zorn lächerlich vor, grausam und mörderisch. Wie konntest du, als du noch frei warst, je etwas anderes empfinden als schuldbewusstes Staunen? Etwas anderes als die fassungslose Dankbarkeit des Genesenden, dass du überhaupt Musik hören durftest? Thanksgiving ist längst verstrichen, ein Tag wie jeder andere. Wie hättest du den Feiertag begehen können, an dem deine Gefangenschaft eigentlich enden sollte? Auch Weihnachten kommt und geht, irgendwann in der Zeit deiner langen Krankheit. Wenn davon etwas zu hören war, hast du es nicht vernommen. Wenn Feiernde mit Ud und Darabukka durch die staubigen Straßen gezogen sind – Straßen so nah bei Bethlehem, diesem Ursprung des uralten, unlösbaren Konflikts, 255
Straßen, durch die Christus selbst seinen armseligen und schließlich eingekerkerten Esel getrieben hat, mit Tritten und guten Worten –, dann sind sie nicht an deinem verbarrikadierten Fenster vorbeigekommen. Wenn Gläubige in dieser Nacht ausgezogen sind und ihren Gesang angestimmt haben unter dem engelbesetzten Firmament … Aber nein: Der heilige Krieg würde dich wohl kaum in der Nähe der maronitischen Viertel festhalten, in der Nähe dieser Bezirke jenseits der undurchdringlichen Grünen Linie, die sogar jetzt, zur Weihnachtszeit, ihre selbstlosen Artilleriegeschenke austeilen und empfangen, leuchtende, Unheil verkündende Kometenschweife, die unbeirrbar im Osten aufsteigen, tägliche Vergeltungsschläge auf ihren Parabelbahnen, blind und gleichgültig gegenüber den Leben, die sie in diesen festlichen Zeiten auslöschen. Silvester feierst du, auf die einzig mögliche Weise. Du hast keinerlei Anhaltspunkt, ob es der richtige Tag ist. Die Uhrzeit ist reine Spekulation. Den Tag aber und die Stunde weiß niemand, wie es irgendwo in der Bibel heißt, eine der wenigen Stellen, an die du dich erinnerst. Du erklärst die Minute, in der Ali dir das Abendessen bringt, für acht Uhr und arbeitest dich von da weiter vor. Du setzt eine Pulsfrequenz von sechzig Schlägen pro Minute an, dein moderates Grundtempo, und auf dieser Grundlage misst du zehn Minuten ab, einen ganzen Kontinent. Das zwei Dutzend mal, und beim letzten Mal beginnst du mit dem Count-down. An der Decke blendest du die Menge am Times Square ein. Die Kugel schwebt langsam herab. Aber unten, da wo sie den Boden berührt, wo sie auftrifft wie die Faust auf den Hebel des Haut-den-Lukas auf Jahrmärkten, die es längst nicht mehr gibt, steht nicht der 1. Januar 1987, sondern der 1. Januar 1988. Und du beobachtest den wahnsinnigen Jubel auf dem Fernsehschirm, vom Boden aus, geborgen im warmen Schoß eines nussbaumgetäfelten Hotelzimmers irgendwo auf 256
der Welt, wo du dich wie ein Opossumbaby an den bernsteinfarbenen Bauch einer Frau schmiegst, deren Gesicht du trotz aller Nähe nicht erkennst. Der Januar wird dich nicht besiegen: dein guter Vorsatz für das neue Jahr. Du brauchst alle Kraft, um deine Kräfte zu erhalten. Du kaust dein Essen, bis der Brei wie bei der Osmose durch die Membranen deiner Wangen diffundiert. Du steigerst die Zahl der Rumpfbeugen und Liegestütze, näherst dich immer weiter dem Maximum, das die magere Kost dir gestattet. Du verlegst dich auf Yoga. Du meditierst. Aus dem Scherbenhaufen, mit dem du hier angekommen bist, baust du dein Konzentrationsvermögen neu auf. Mentale Fitnessübungen bringen deinen armseligen Verstand wieder in Form. Du verfasst ein paar tröstende Sätze an deine Mutter. Du speicherst den Brief in deinem Kopf und bist glücklich, dass du am folgenden Morgen den ganzen Text und noch mehr vorfindest. Das macht dir Mut. Als Nächstes versuchst du es mit einem fünf Abschnitte langen Aufsatz, so wie du ihn immer von deinen Schülern verlangt hast. Wieso sind Sie hier? Was sind Ihre Pläne für die Zukunft? Der Aufsatz entwickelt sich zu einem Zeitungsartikel, den du dem Meistbietenden zum Abdruck überlassen wirst, sobald du hier herauskommst. Die täglichen Gedächtnisübungen befreien längst Vergessenes aus seinen finsteren Verliesen. Ich traf einen Reisenden aus einem uralten Land. Mr. Cotrell, neunte Klasse. Ah was ist nicht ein Traum bei Tag? Mrs. Hamin, siebte Klasse. Innerhalb von fünf Tagen erinnerst du dich an 90 Prozent von Robert Frosts »Töpfervogel«, ein Gedicht, von dem du noch vor einem halben Jahr nicht einmal mit Sicherheit hättest sagen können, ob es überhaupt existiert. Aufgewühlt vom Sturm des Erinnerns treiben einzelne Textzeilen an die Oberfläche, Zeilen aus Bühnenrollen, mit 257
denen du in der High School Triumphe gefeiert hast. Algy in Bunbury. Biff Loman. Fragmentarische Erinnerungen an einen Teenager, der glaubte, er könne eines Tages als Schauspieler sein Geld verdienen. Du Wand, o Wand, schmeichelst du. O süß’ und liebenswerte Wand. Zeig deine Spalte mir. Doch der Putz hinter deinem Kopf lässt sich nicht erweichen. Du hortest alles, was Rettung verspricht, das ganze Arsenal. Schmetterst die Refrains von Rocksongs, bis der Zornige Vater Ruhe befiehlt. Du bringst Ali erfundene Slangausdrücke bei, bis er in dem düsteren Flur vor deiner Zelle auf- und abstolziert und lauthals »I one shanky hamsta mushu« verkündet. Du gehst dazu über, den Schiitischen Cronkite »Walter« zu nennen. »Warum sagst du das? Was bedeutet Name?« »Es bedeutet … Vertrauenswürdiger alter Mann.« Er schnaubt verächtlich. Und doch hörbar geschmeichelt. »Gut. Kein Problem.« Wenn du merkst, wie er sich an der Tür zu schaffen macht und durch den Beobachtungsritz schielt, rufst du: »Walter? Bist du das, Walter?« »Was willst du? Brauchst du was?« »Walter, ich glaube, heute Nachmittag mache ich einen kleinen Spaziergang. An der frischen Luft. Nur ganz kurz? Zwanzig Minuten. Bin gleich zurück.« Deine Finger machen angedeutete Laufbewegungen, wie in der Reklame für die Gelben Seiten. Internationale Zeichensprache, damit dein Bewacher dich versteht. Sein Schweigen macht dem Spiel ein Ende. Holt dich zurück an den Ort, an dem es keine Spiele gibt. Am nächsten Morgen wiederholst du deine Ankündigung: »Ich drehe nur mal eben eine kleine Runde. Zehn, zwölf Minuten, mehr nicht. Ich bleibe direkt hier vor der Tür.« 258
Eine Woche lang variierst du die Ankündigung jeden Tag. Du hast einen Zahnarzttermin. Bist im Café an der Ecke mit einer schönen Frau verabredet. Ein kleines Ritual des Überlebens. Deine Bewacher reagieren nicht mehr, wenn du nach ihnen rufst. »Ali?«, rufst du eines Morgens. »Ali, bist du das? Ich muss mit dem Motorrad in die Werkstatt und die Zylinder reinigen lassen.« Wie in einem parallelen Universum, wo die Gesetze der Physik alle auf den Kopf gestellt sind, rasselt es an der Tür, und sie geht auf. Du suchst fieberhaft nach deiner Augenbinde, lachst. Es hat geklappt. Unglaublich. Deine Hartnäckigkeit hat gesiegt. Ali nähert sich der Stelle, an der du kauerst. Du hebst den Kopf und kommst blind und ahnungslos in die abwärts gerichtete Flugbahn des Pistolengriffs. Orangefarbene Lichter explodieren vor deinen Augen. Ein satter Schlag, wie ein Gefäß mit einer zähen Flüssigkeit, das auf den Asphalt klatscht. Er hat dir das Wangenbein gebrochen. Wäre das möglich? Ein Feuerball aus Schmerz blendet alle Gedanken aus. Irgendwo in der Ferne schreit jemand. Dieser Jemand bist du. »Halt dein verdammtes Maul«, brüllt Ali. Nicht nötig. Dieser Liebhaber amerikanischer Sprachkunst hat dich längst zum Schweigen gebracht. Dein Kopf ist in zwei Hälften gespalten, aber er blutet nicht, so unerklärlich das ist. Du berührst das zweite Gesicht, das aus dem Ersten hervorquillt. Es pocht wie ein Außerirdischer, der seinem Opfer gleich aus der Bauchdecke quellen wird. Die Schwellung drückt dir das linke Auge zu. Ein Graben zieht sich von der zerschmetterten Oberlippe bis hinauf zur Schläfe. Als das Staunen allmählich nachlässt, fängt der Schmerz erst richtig an. 259
Der Zornige Vater kommt und untersucht dich. Er schnalzt mit der Zunge, ungehalten, aber nicht empört. Immerhin lässt er die Wunde in Ruhe. Er legt dir einen Finger unter das Kinn und dreht deinen kubistischen Kopf hin und her, damit er in dem spärlichen Licht mehr erkennen kann. Als er weggeht, hörst du laute Stimmen auf dem Flur – Gift und Galle auf beiden Seiten, Gewalt, die einen Augenblick lang bereit zum Äußersten scheint. Du gehst in die Hocke, hoffst auf noch größere Verwirrung, einen Regen der Vergeltung, doch der bleibt aus. Der Zornige Vater ruft einen Arzt. Das öffnet dir die verbundenen Augen. Diese Organisation hat einen langen Arm, und der reicht bis in die gebildete Mittelschicht hinein. In dieser zerrissenen Stadt kann der heilige Krieg nachts Ärzte aus dem Bett holen und sie mit verbundenen Augen zu seinen amerikanischen Gefangenen führen, Gefangenen, die er direkt unter ihrer Nase gefangen hält. Der Arzt schaut dir in den Mund, in die Nase, in die Ohren, jede Bewegung verursacht entsetzliche Schmerzen. Arabische Schimpfworte fliegen hin und her. Aber er lässt keine Anweisungen da, keine Medikamente, nichts, was die Qualen lindern könnte. Klammere dich an nichts, sagst du dir. Und daran klammerst du dich. Ali verschwindet für ein paar Wochen, verbannt in ein Sibirien im Antilibanon, jenseits der Bekaa-Ebene. Die restlichen Bewacher wirken verändert, behandeln dich mit einer Art bestürztem Respekt, ein deutlicher Gradmesser für den grausigen Anblick, den das Farbenspiel auf deinem neuen Gesicht bieten muss. Sie sind eine Art virtueller Rasierspiegel, diese Männer, deren gerechte Sache sich jetzt unmittelbar mit ihren drastischen Folgen konfrontiert sieht. »Was willst du?«, fragt Walter. »Willst du was?« Du hältst dich zurück und bittest nicht um einen kurzen 260
Ausflug in den Supermarkt an der Ecke. »Ich will vierzig Minuten.« Du sagst das, als sei es ganz selbstverständlich, als sei es längst abgesprochen. Du hörst mit dem Unsinn auf. Dafür nehmen sie dir jeden Tag für vierzig Minuten die Kette ab. Vierzig Minuten. Es kann für sie doch nicht schwer sein, einen halb verhungerten, unbewaffneten, barfüßigen Amerikaner mit Augenbinde und Häftlingskleidung, der in diesem Rattenloch einer feindlichen Stadt eingesperrt ist, jeden Tag vierzig Minuten lang zu bewachen? Sie machen ein Gegenangebot, bei dem sie nicht das Gesicht verlieren: zwanzig Minuten. Ihr einigt euch auf dreißig, eine unvorstellbare Zahl. Ein Schatz, der die Schulden aller bankrotten Nationen der Welt übersteigt. Mehr als du in deinen verrücktesten, unbedachtesten Augenblicken je zu hoffen gewagt hast. Die halbe Stunde Freiheit ist deine Rettung. Sie erweitert die bekannte Welt, erschließt dir über Nacht einen neuen amerikanischen Kontinent. Staunend wanderst du umher. Von der einst unerreichbar fernen anderen Seite des Würfels blickst du zurück über das Meer aus Luft. Aus der Entfernung wirkt deine Ecke überschaubar, vertraut, erträglich – deine Matratze, der Heizkörper, die Kette: das schmutzige Land, das dich mit Haut und Haaren verschlungen hat. Dreißig Minuten ohne Kette, und das jeden Tag. Neue Welten liegen dir zu Füßen und warten auf Erschließung. Je weiter dein Kopf heilt, desto mehr kommst du in Gang. Die Zelle wird zur olympischen Aschenbahn, zum imaginären Stadion, in dem du unermüdlich deine Runden drehst, und dein aufgeregt hämmerndes Herz frohlockt vor Freude an der Bewegung. Du überschlägst, wie viele Runden einer Meile entsprechen. Läufst eine. Dann anderthalb. Schließlich zwei. Du machst Langstreckenläufe. Dann kurze Sprints. Bei jedem 261
Schritt protestiert dein gespaltenes Gesicht mit einem pochenden Schmerz. Aber die Freiheit macht den Schmerz erträglich. Tatsächlich wirkt das Laufen schmerzstillend, anregend und beruhigend zugleich. Du erträgst den Hunger, der mit diesen Anstrengungen kommt, lässt dich von dem Kalorienmangel nicht aus der Bahn des knapp bemessenen Glückstaumels werfen. Manchmal lösen sie deine Fesseln gleich am Morgen. Manchmal kommt der Augenblick der Freiheit erst sehr viel später und ist dann umso erregender, angeheizt von einem ganzen Tag Warten. An manchen Tagen betrügen sie dich und beenden deine sportlichen Übungen schon nach zehn Minuten. Du hast keine Beweise, kannst bei keiner höheren Instanz Berufung einlegen. An anderen Tagen hingegen vergessen sie dich, und du läufst bis zum Umfallen. Die Unberechenbarkeit hat etwas Dramatisches, eine unerträgliche Spannung liegt in der Ungewissheit, jeder Tag schreibt sein Drehbuch erst in dem Augenblick, in dem es laut vorgelesen wird. Das Laufen ist dein kleines Vergnügen, ein Vergnügen, das du umso intensiver empfindest, als es die vernichtenden Tage gibt, an denen sie dir, aus welchem Grund auch immer, die Fesseln nicht lösen. An solchen Tagen stürzt du in einen Abgrund, eine tiefe, scheinbar bodenlose Verzweiflung. Dagegen gibt es nur eine Waffe: du darfst am nächsten Tag nichts sagen, wenn dieser nächste Tag denn endlich kommt. Darfst dem Feind nicht zeigen, wie viel Macht er über deine Gefühle hat. Aber trotz aller Höhen und Tiefen, trotz des unvorhersehbaren Wechsels zwischen Depression und Hochgefühl kennt dein Verstand nur eine Grundlinie: Keine Stimmung, keine Einsicht, keine sportliche Betätigung reicht aus, die erdrückende Leere eines Tages auszufüllen. Die Geiselhaft kennt nur den einen Ort, an den sie immer zurückkehrt, den einen Besitzer, das alles beherrschende 262
Gefühl. Alles, was sie kennt, ist eine mit kargen Strichen skizzierte Langeweile bis zum Horizont. Wenn der Körper in Ketten liegt, gehen die Gedanken auf Reisen. In Gefangenschaft ist jede Schlussfolgerung ein freier Flug. Nichts hält deine Assoziationen auf, nichts macht sie berechenbar. Deine Gedanken überschlagen sich wie ferngesteuerte Modellflugzeuge bei einer Flugvorführung. Sie stürmen durch die zahllosen Botschaften, die ihnen vorübergehend Asyl gewähren. Ungehindert schlägt dein Verstand die verwegensten Loopings, ein Nest aus Millionen von Zweigen, ein selbst gemachtes starres Gefängnis in der reglosen Luft. Gwens Geburtstag kommt und geht, der einzige andere Feiertag, der aus dem Sumpf von Erregung und Trübsinn herausragt. Du fragst dich, ob es ihr wohl etwas ausmacht, dass du keine Karte geschickt hast, keine Blumen. Nicht ganz das Zeichen von Gleichgültigkeit, das du eigentlich geplant hattest – das lange, scharfe, unmissverständliche Schweigen, mit dem du ihren jüngsten telefonischen Überfall quittieren wolltest. Gwens Einunddreißigster: Wer weiß, vielleicht findet sie ihn noch traumatischer als den Dreißigsten. Früher waren sie deine Verbündeten, die Jahre, die ihr einen Dämpfer aufsetzten. Mit zunehmendem Alter würde ihr klar werden, welche Alternative ihr zu einem dauerhaften Waffenstillstand blieb. Früher dachtest du, du müsstest dich nur zurücklehnen und ein paar Jahre warten, bis sie zur Einsicht kam und schließlich dich dem Leben in Einsamkeit vorzog. Inzwischen bist du für sie so gut wie tot. Sie teilt ihren Geburtstagskuchen mit jemandem, der umgänglicher ist, weniger Ansprüche stellt. Einem von den Männern, die ihr stets über den Weg liefen, aus heiterem Himmel, gleich nach der neuesten Flucht aus deinem Würgegriff, gleich nachdem sie wieder einmal beschlossen hatte, dass sie solche Nähe nicht aushielt. Eine verlorene Seele, der sie im Fitnesszentrum eine 263
halbe Sekunde zu lange zugelächelt hatte. Du versuchst dir die Geburtstagsfeier auszumalen, aber es gelingt dir nicht. Du weißt nicht, wie der Kuchen aussieht, das Geschenk bleibt verschwommen, das Restaurant unbekannt, das Etikett der Weinflasche nicht zu entziffern. Du kannst dir nicht vorstellen, wie Gwen lächelt oder sich etwas wünscht. Wenn sie gelesen hat, was mit dir geschehen ist, wenn die amerikanischen Zeitungen den Brief, den der heilige Krieg dir diktiert hat, gebracht haben, dann muss sie gewiss an dich denken, wenn sie die Kerzen auspustet, wenn auch nur unfreiwillig, in einem unaufmerksamen Augenblick. Möge der Allmächtige dich aus ihren Gedanken fern halten, damit sie sich retten kann. Der Winter hält klammheimlich Einzug im Libanon. Der Heizkörper funktioniert nicht, und die Raumtemperatur fällt rapide. Es ist feucht und kalt: »Dumpfig« lautet das Wort, das aus dem Keller längst vergessener Geschichten hervorkriecht. Nacht für Nacht schlägt sich die Feuchtigkeit auf dem Boden der Zelle nieder und dringt in die haarfeinen Röhren deiner Schaumstoffmatratze. Mooriges Wasser sickert in die billige Baumwollkleidung, die du von ihnen bekommen hast. Die eine dünne Decke umhüllt deine Haut nur mit feuchtem Acryl. Bei Tag werden die Sachen nicht trocken. Jeden Morgen bei der Morgentoilette ziehst du dich aus und wringst deine Kleider aus. »Heizung«, flehst du Walter an, und überlegst verzweifelt, was du ihm dafür anbieten könntest. »Ich frage Chef«, sagt er. »Kein Problem. Bukrah.« Wie nicht anders zu erwarten, kommt dieses Morgen nie, und die Heizung bleibt kalt. Draußen muss es noch kälter und feuchter sein – aber das ist nur ein schwacher Trost. Eine Kolonie von Küchenschaben zieht bei dir zur Untermiete ein. Nicht die diskret zurückhaltende, gutbürgerliche Sorte, die du aus Nordamerika 264
kennst: nein, eine Miliz aus mindestens fünf Zentimeter langen orientalischen Riesenschaben. Sie reißen dich aus Träumen, in denen borstige Hände dich unablässig suchend betasten. Es gibt nichts, womit du sie von der Matratze und deinem ausgestreckten Körper fern halten kannst. Aus Angst vor Krankheiten brichst du einen Grenzkrieg vom Zaun. Du reißt einer Schabe den Kopf ab und lässt die enthauptete Leiche auf einer ihrer Hauptdurchgangsstraßen zurück, eine Warnung an die anderen. Aber sie sind schlechte Schüler, alle, ohne Ausnahme. Und der Kadaver lockt zu allem Überfluss noch Ameisen an. Du schlägst, quetschst und wischst, anfangs gezielt, dann immer wahlloser. Aber der Feldzug kostet mehr, als er einbringt. Der große Krieg der Arten mündet in einen erschöpften Waffenstillstand, und wie immer gehört der Sieg dem Ungeziefer. In der unendlichen Leere, die jetzt vor dir liegt, kannst du wahrscheinlich sogar einem Insektenhirn das eine oder andere beibringen. Du erinnerst dich an Gefängnisgeschichten, lässt sie vor deinem inneren Auge Revue passieren, die Erzählungen von verzweifelten symbiotischen Beziehungen zwischen Zelleninsassen und anderen Lebewesen. So weit du weißt, hat niemand vor dir dies spezielle Territorium beansprucht. Du betrittst Neuland: der Schabenmann von Beirut. Fange klein an. Lass sie im Gänsemarsch marschieren, mehr oder weniger im Gleichschritt. Lass sie einfache Formationen bilden – rotierende Quadrate und Sterne, so wie damals in deiner Schulzeit, als du im Spielmannszug der High Schools von Des Moines und Umgebung Klarinette gespielt hast. Danach können sie einfache Wörter bilden, natürlich nur einsilbige Wörter aus dem Grundwortschatz, Buchstabenkonstellationen aus Schabenkörpern, synchronisierte Formationen aus krabbelnden Kerbtieren. Sie werden es dir hoch anrechnen und dich dafür mit ihrer 265
Gesellschaft belohnen. Irgendwo hast du gelesen, dass diese Tiere sehr hohe Töne erzeugen können, indem sie die Hinterbeine aneinander reiben, so wie man mit einem Geigenbogen über die Saiten streicht; aber vielleicht gilt das nur für Grillen. Als Erstes könntest du ihnen nach der Suzuki-Methode das Lied von Old Macdonald und seiner Farm beibringen, und von da könntet ihr euch dann vorarbeiten zu populären Schlagern und vierstimmigen Chorälen, aber immer so hoch, dass nur das Ohr eines Gefangenen die Musik hören kann. Du siehst dich schon auf den Knien, wie du mit deinen sechsbeinigen Zellengenossen spielst. Sehnst du dich denn wirklich so sehr nach menschlicher Gesellschaft? Mit jedem Tag staunst du mehr über diese unvermutete Erkenntnis. Schließlich wolltest du doch Einzelhaft. Warst geradezu vernarrt in die Idee. Der einzige Grund, warum du überhaupt in dieses Land gekommen bist, war doch die Flucht vor menschlichen Bindungen. Vor der endlosen Suche nach Geburtstagsgeschenken. Den ewigen Einladungen zum Abendessen. Den gnadenlosen Empfehlungsschreiben. Du bist hergekommen, weil du hofftest, du könntest zu dir selbst finden, wolltest über den Rand der Gesellschaft hinaussegeln, ein Aufbruch in die neue Welt des Ichs. Aber die Isolation verändert dich, macht aus dir einen Menschen, den du nicht wieder erkennst. Du spürst es hart und unvermittelt: das unbezähmbare Bedürfnis, von dem du dich in deiner Naivität befreien wolltest. Die Einladung in die menschliche Gesellschaft – die ständigen Verpflichtungen, der Stapel auf dem Schreibtisch, der niemals abnahm. Der Kräfteverlust. Das ständige Rauschen in den Ohren, das dich von deinen eigenen Gedanken abhielt. Die kleine lästige Bürde. Dein Taktieren, dein Vergnügen, deine Seelenruhe, deine Gesundheit. Die anderen. Du hast dich dein Leben lang einladen lassen und immer über 266
das Essen geklagt. Genau wie ein Dieb, der alles mitnimmt, was ihm in die Finger kommt, und dann über den Geschmack seines Opfers spottet. Die Einsamkeit führt dir vor Augen, wie wenig von dir wirklich dir gehört. Alles, was du je gedacht hast, alles, was du je gefühlt hast, verdankst du der Gesellschaft derer, die du nicht ertragen konntest. Du musst dir etwas einfallen lassen, musst bessere Chancen schaffen, dass du diesen Selbstmordversuch überlebst. Der April ist der Monat, in dem du Bilanz ziehst. Mit bloßem Warten hast du einhundertfünfzig Tage totgeschlagen, Tage der Leere, Tage, die du nie zurückbekommst. Du überlegst jetzt nicht mehr, wie lange sie dich noch festhalten. Wie lang es auch dauert, es ist deine Zeit. Wenn du diesen Ort verlässt, wirst du Dinge wissen, die du bei deiner Ankunft nicht wusstest. Von jetzt an wirst du dies abhängige Ich, das du nie eines Blickes gewürdigt hast, studieren, wirst dich mit ihm beschäftigen, tagtäglich vom Morgen bis zum Abend. Du beginnst damit, dass du jedes Detail deines bisherigen Lebens, an das du dich erinnern kannst, Revue passieren lässt. Die Jahre, die du mit Ausflüchten verloren hast, musst du zurückerobern, Sekunde für Sekunde. Tief in dir muss es einen Kern geben, eine Essenz, die du nicht einfach aus der Welt der anderen aufgesogen hast. Eine grüne Oase, die nicht wieder zur Wüste wird, nun wo die Wasserzufuhr aus anderen Quellen versiegt ist. Eine Melodie, die der Dschihad dir vorsummt, ohne es zu wissen. Ein Lied auf die vergessene Quelle. Das Lied eines Genesenden. Der August war der Monat der Menschenkette, so lang, dass man sie vom Weltall aus sehen konnte. Sie nahm in Hunderten von Dörfern in einer Landschaft aus Gestrüpp und verlassenen Feldern Gestalt an, wuchs wie die grausige Schlange aus den 267
Sagen des Nordens. Sie war fünfhundert Kilometer lang und reichte über drei Staatsgrenzen hinweg, vom Finnischen Meerbusen bis hinunter zum Stausee von Kaunas und weiter. Glied für Glied kroch sie über die Landkarte, mit jedem Neuen, der dem Vorigen die Hand reichte. Die Stiefel des Juni, schien es, hatten nichts zertreten können. Das chinesische Massaker, die Rückkehr der alten Macht, hatte die weltweite Bewegung gebremst, aber nicht zum Stillstand gebracht. Das größte Weltreich aller Zeiten zerfiel. Transkaukasien war nicht mehr zu halten. Eine Hand voll befreiter Gefangener übernahm in Polen die Macht. Und quer über das Ödland von drei Pseudorepubliken hielten die Leute Händchen, und der Rest der Welt saß an den Fernsehschirmen und schaute zu. Selbst eine improvisierte Kette brauchte, wenn sie sich über drei Nationen zog, Logistik wie im Krieg. Statt der Raupenfahrzeuge kamen Gemüselastwagen zum Einsatz und brachten Dörfler an die Stellen, an denen die Front einzubrechen drohte. Alles eine Eingebung des Augenblicks. Ein Leviathan so lang, dass keine Kamera ihn festhalten konnte, entstand aus tausend Ortsversammlungen, die die Nachricht weitergaben, so mühelos und spielerisch wie die Strophen eines Lieds. Ari Kaladjian verfolgte das Spektakel von einer Ballonsonde aus und sah, wie aus verstreuten einzelnen Punkten die ganze transzendentale Kurve wuchs. Hat denn keiner von denen was anderes zu tun? Jesus, Mann!, rief O’Reilly, den Blick auf den Schirm geheftet. Weißt du eigentlich, was du da sagst? Ich sage, dass diese Leute, wenn sie bei ihrer Arbeit genauso eifrig bei der Sache wären wie hier, nie in den Schlamassel geraten wären, aus dem sie sich jetzt so melodramatisch befreien müssen. 268
Heilige Muttergottes. Du bist wirklich eine Schande für die Menschheit. Was hat die Menschheit denn mit den Teepreisen in Tallin zu tun? Mann, pack dich mal an die eigene Nase? Meinst du nicht, die Armenier sind die Nächsten auf dem Karussell? Armenien, Georgien, Ukraine, Aserbeidschan. Sind deine Leute nicht als Flüchtlinge hierher gekommen? Das ist doch nicht zu vergleichen!, rief Kaladjian. Wir sind hier, weil Gewaltherrscher aller Arten sich das ganze Jahrhundert hindurch einen Spaß daraus gemacht haben, unser Volk zu Hunderttausenden abzuschlachten. Und im Baltikum …? Das Baltikum! Was da vorgeht, ist nichts Politisches, mein Lieber. Da geht es nicht um Unterdrückung. Du bist doch Wirtschaftswissenschaftler. Du solltest das wirklich wissen. Nichts Politisches! Hier geht es nicht um die Frage, wer an die Regierung kommt und ob zu Recht oder nicht. Hier geht es um die Globalisierung von Märkten, um nichts anderes als Konsum. Deine … Menschenkette – Kaladjian spuckte beide Worthälften verächtlich aus – ist nichts weiter als ein großer Werbespot. Na, ich werde mich nicht hierhin stellen und den Zerfall des Ostblocks mit diesem Kryptofaschisten diskutieren. Wirklich verblüffend, sagte Dale Bergen zu niemand Bestimmtem. Das entwickelt sich ohne äußere Einwirkung. Michael Vulgamott schnaubte. Die Menschenkette oder der weltweite Niedergang des Sozialismus? Ich bin Biologe, nichts weiter, antwortete Bergen. Von der politischen Seite verstehe ich nichts. Aber aus dieser Entfernung sieht das Ding wirklich aus wie ein Polypeptid, das sich aus Seitenketten selbst zusammensetzt. 269
Adie stieß zu der Runde dazu. Das darf doch nicht wahr sein, sagte sie. Ist es wieder so weit? Ich dachte, den Traum hätten wir vor zwei Monaten ausgeträumt. Das halte ich nicht aus, wenn es jetzt noch einmal von vorn losgeht. System überlastet. Du fühlst dich überlastet? Jackdaw machte eine Handbewegung in Richtung Schirm, zu dem Netzwerk, in dem die neuesten Nachrichten kursierten. Du solltest mal sehen, wie überlastet das Netz ist. jedes Mal, wenn irgendwo was Neues passiert, bricht alles zusammen. Das ist wahr, bestätigte Spiegel. Das Ethernet verträgt so viel Aufregung nicht. Da geht nichts mehr. Wie die Interstate 5, Richtung Süden, am späten Nachmittag. Zu viel auf einmal. Wir generieren mehr Daten, als wir transportieren können. Das wollte Lim nicht auf sich sitzen lassen. Wir verdoppeln die Datenbreite alle – Da mach dir mal nichts vor, brummte Kaladjian. Die Ereignisse in der Welt draußen verdoppeln sich doppelt so schnell. Adie betrachtete fassungslos die fünfhundert Kilometer lange Kette. Hand in Hand wuchsen sie zusammen wie die Nervenzellen im Rückenmark eines Embryos. Kann mich einer aufklären? Bitte. Worauf hoffen wir diesmal? Wie oft sollen wir uns denn noch die Finger verbrennen? Sue Loque legte ihr den Arm um die Schulter. Was macht das denn schon, ob du es weißt oder nicht, Schätzchen? Ich will wissen, ob es diesmal echt ist. Oder auch wieder nur eine Sackgasse. Kaladjian machte eine ungeduldige Handbewegung. Die ganze Sache ist eine Sackgasse. Der Kalte Krieg war eine Sackgasse. Jalta war eine Sackgasse. Ihr wisst doch, was ich meine. Sollen wir wirklich noch einmal an so etwas glauben? Was meinst du, Ari, Mann? Rajan war ganz Agitator. Schein 270
oder Sein, Doc? Eingehende Berechnung gefragt. Er wies auf die Windungen, die Sinuskurve, den amorphen Aufwärtstrend. Diskutiere die Kurve. Schließlich ist Mathematik dein Metier. Aber Kaladjian biss nicht an. Frag unseren Freund aus Belfast. Der bastelt doch hier an seiner elektronischen Kristallkugel. Das ist wahr, Ronan Baba. Wieso hat deine Zeitmaschine uns das nicht vorausgesagt? O’Reilly reckte das Kinn vor. Ganz einfach. Ich war noch nicht so weit. Gebt mir ein oder zwei Jahre … Wenn noch so viel Zeit bleibt, sagte Vulgamott und starrte die Menschenkette an. Die Kameras schwebten hoch in den Lüften, flogen binnen knapp zwei Minuten das ganze Baltikum ab. Die Menschen reichten sich die Hände. Ganze Nationen von Händchenhaltern waren auf den Beinen, um die Löcher in der Kette zu stopfen, begeistert, dass sie Teil einer Sache waren, die größer war als sie selbst. Ihre Gesichter sprachen Bände, gerührt, tränenüberströmt, übermütig. Es fehlte nicht viel, und aus der großen logistischen Anstrengung würde eine Party werden. Eine Schönheit ist das, verkündete Spider Lim im breitesten Amerikanisch. Auch wenn ich nicht weiß, was es soll. Eine was?, fragte Adie. Was hast du da gerade gesagt? Eine … Schönheit? Sorry. Syntaxfehler. Unbekannter Befehl. Lim lächelte. Aber es stimmt doch. Sieh nur hin. Ein zartes Pflänzchen. Du weißt, dass einmal eine Blume daraus wird. Aber du kannst noch nicht sagen, welche Form, welche Farbe sie haben wird. Spiegel kam zu ihm herüber. Zu viele fremde Reize, Spidey. Zu außengesteuert. Mach mal lieber einen Tick langsamer, sonst wird noch ein Dichter aus dir. Er wollte nach Lims Hand 271
greifen, den Puls fühlen. Spider deutete es anders und reichte sie ihm zur kleinstmöglichen Menschenkette. Dem ersten Element, dem schwächsten. Doch auf halbem Wege begriff er das Missverständnis und zog sie verlegen zurück. Aber es war eine Schönheit. Ein Experiment, eine Kettenreaktion von so gewaltigen Ausmaßen, dass die Worte zu ihrer Beschreibung fehlten. Die Ereignisse liefen auf einem Analogrechner, der so groß wie der Erdball war, einem planetarischen Computer, der die notwendigen Kalkulationen durchführte und die gewünschten Ergebnisse ausspuckte. Die Welt bekam ihre Befehle von ihren kleinsten Bestandteilen, den versammelten Unterprogrammen, den wieder verwertbaren Containern, objektorientierten Modulen, die sich in einer Vorwärtsverkettung zu immer größeren autonomen Angenten verbanden und an dem Programm weiterschrieben, noch während es durch den Laufzeit-Interpreter lief. Ein Baum aus den Ästen, Früchte vom Baum, Obstgärten aus den Früchten, Staaten aus Obstgärten, bis eine Summe sommerlicher Massenbewegungen auf der Basis all dieser höheren Mathematik über den exakten Zeitpunkt entschied, zu dem sie das müde gewordene Weltreich zu Bett schickte. Im September öffnete Ungarn seine löchrige Grenze nach Österreich. Ostdeutsche Feriengäste sickerten durch dieses Leck in den Westen. Im Atelier des Realization Lab gerieten die Illuminatoren der Grotte unbewusst in einen Wettlauf, die Bilder zu ihrem Stundenbuch noch fertig zu bekommen, bevor ihr Kalender nicht mehr galt. Eines Abends waren Lim, Adie Klarpol und O’Reilly im Wirtschaftsraum versammelt und steckten abwechselnd den Kopf in die schwebende Erdkugel. Sie beobachteten vom Ruhepunkt in der Mitte aus den Regenbogen der Daten, der an ihrer Oberfläche schillerte. Der Wirtschaftswissenschaftler wandte sich an den Hardwareingenieur und fragte: Wie viele MIPS kannst du mir heute in zwei Jahren liefern? 272
Lim dachte eine Weile darüber nach. Dann nannte er eine Zahl, die als unerhört gegolten hätte, hätte die Menschheit den Begriff des Unerhörten nicht längst ad acta gelegt. Warum?, fragte Adie. Wie viele brauchst du denn? Immer zehnmal mehr als er mir gerade geben kann. Das ist bei Daten wie anderswo im Leben auch. Das Verlangen ist stets größer als das, was zur Befriedigung zu haben ist. Adie stupste den Iren an. Kriegst nie genug von den Bits und Bytes, was? O’Reilly nickte. So ist das. Man hat nie genug. Immer braucht man ein Vielfaches dessen, was man bekommen kann. Was würdet ihr sagen, wie viele Befehle pro Sekunde werden alles in allem in Ungarn gegeben? Adie sah ihn nur mit großen Augen an. Und Spider ebenfalls. Oh, ich meine nicht die versammelten Rechner. Ich meine Ungarn selbst, die ganze Maschine. Wie viel Daten verarbeiten sie? Wie groß ist der Arbeitsspeicher? Du meinst das ganze Land? Auf ein paar Paprika mehr oder weniger kommt es nicht an... Adie rollte nur mit den Augen. Ich passe. Spidey? Lim schloss die Lider, las auf dem Papierstreifen einer simulierten Turingmaschine, die im Inneren seiner Wetware schwebte. Du meinst, wie viele Daten insgesamt dabei fließen, wenn die Ungarn ihr altes Regime in die Wüste schicken? O’Reillys Nicken bestand aus einem einzigen Bit. Oh, das könnte ich nichtmal schätzen, sagte Lim. Nichtmal annähernd. Ich wüsste überhaupt nicht, wie ich so eine Frage angehen sollte. Unvorstellbar viele, schlug Adie vor. O’Reilly fasste sich mit dem einen Finger an die Nasenspitze, mit dem anderen zeigte er auf sie. Unvorstellbar viele! Damit hat die Dame einen Teddybären gewonnen. Wie viele Millionen 273
Instructions pro Sekunde und Ungar? Adie kicherte. MIPS pro U. Die MIPSPU. Eine noch unzureichend erforschte Größe. Das sind auch wieder unvorstellbar viele, meinte Lim. Mehr als dir in den nächsten paar Jahren alle Hardware liefern kann. Genau. Jede wirklich interessante Frage explodiert ins Polynomische. Und der einzige Weg, das zu vermeiden, ist die Icontologie. Stop. Die Dame möchte ihren Teddybären gegen eine Definition tauschen. Ontische Icons. Icons, die im wirklichen Leben existieren. Symbolische Agenten. Datenstrukturen, die für das Verhalten in der echten Welt leisten, was ein Icon im visuellen Bereich leistet. Wenn du die Idee Ungarn vermitteln willst, brauchst du keine genaue Karte des ganzen Landes, die werweißwieviel Speicherplatz belegt. Eine simple Umrisszeichnung reicht. Und genauso müsste es doch möglich sein, eine funktionsfähige repräsentative Darstellung – Adie wiegte den Kopf von einer Seite zur anderen, das Piktogramm der Skepsis. Der hat dich ganz schön unter Druck gesetzt, hm? Wer? Kaladjian. Der hat dich bei den Axiomen. Die Stichelei, dass du die Kettenreaktion im Baltikum nicht vorhersehen konntest. O’Reilly kräuselte die Oberlippe. Kann schon sein. Schließlich ist es ein klar umrissenes Problem. Ah ja. Mit anderen Worten, du bist vollkommen übergeschnappt. Oder? Nicht übertreiben. O’Reilly wies auf den Fleck, wo vor ihnen das bunte Trugbild Osteuropas schimmerte. Wenn die Zukunft von der Gegenwart bestimmt wird, dann sollte es auch möglich sein, sie vorauszuberechnen. 274
Ronan, Ronan. Keine neuen Zeitmaschinen. Die verbiete ich. Sie sind nicht gut für uns. Nur weil die Zivilisation sich immer so schön in Richtung Horizont entwickelt hat, müssen wir doch nicht gleich zum Fluchtpunkt vorpreschen. Und wo sollten wir deiner Meinung nach Halt machen? An einem realistischen Ort?, schlug Adie vor. Am liebsten mit einem hübschen Café. Realistisch? Das ist relativ. Jede neue Maschine – jede Programmzeile, die wir schreiben – definiert das Realistische neu. Gott. Du meinst das wirklich ernst. Du glaubst tatsächlich, dass 350 Millionen Osteuropäer in einer Art Booleschem Flipperautomat ihr Schicksal bestimmen, nicht wahr? O’Reilly nickte. Wie hast du dir den Ort, an dem das Schicksal sich entscheidet, sonst vorgestellt? Allmählich dämmert es mir. Deswegen liegt ihr euch dauernd in den Haaren, du und dieser Armenier. In Wirklichkeit seid ihr Zwillinge, zwei Seiten derselben Medaille. Überhaupt nicht. Er will die Taylorsche Reihe finden, die das Leben bestimmt. Ich will nur den Kurvenverlauf vorausberechnen. Hör mal. Dieses Ding hier … Sie tat die Grotte mit einer Handbewegung ab. Das ist Puppentheater. Alles was wir hier machen – Kasperle … Genau was ich sage. Jedes Theaterstück kann die wahre Persönlichkeit eines Menschen besser zum Ausdruck bringen, als die Computertomografie je hoffen kann. Adie zeigte hintereinander die vier bekanntesten Gesten der Verständnislosigkeit. Spidey, du musst mir helfen. Tut mir Leid, Adie, aber ich fürchte, ich bin auf seiner Seite. Der Mensch ist ein Wesen, das sich Symbole schafft. Denkst du, das weiß ich nicht? Aber deswegen werden die 275
Symbole doch nicht real. Wir bekommen mit Müh’ und Not ein Blatt hin. Aber nie im Leben die Politik. Nur weil sie so groß ist, heißt das nicht, dass man die Politik nicht auf Symbole reduzieren kann. Groß? Die Politik? Habt ihr überhaupt eine Vorstellung …? Seid ihr denn alle vollkommen – O’Reilly hob beschwichtigend die Hände. Wenn wir das Alter des Universums bestimmen, wenn wir etwas wie die Evolutionstheorie entwickeln können, wenn wir Elektronen durch Halbleiter jagen, dann sollten wir doch auch in der Lage sein zu sagen, warum eine Gruppe von Leuten sich so und nicht anders verhält? Erklären vielleicht. Hinterher. Aber das ist doch etwas anderes als Vorhersage – Pass mal auf, sagte O’Reilly. Stell dich hierhin. Kopf aufrecht. Augen geradeaus. Wenn ich »jetzt« sage, drückst du den linken Knopf der Fernbedienung. Er nahm seine eigene 3-D-Brille ab und ging zur Konsole. Er tippte etwas ein, mit zwei Fingern, Daumen für die Leertaste. Gut, sagte er. jetzt. Adie fand sich an der Erdachse wieder, und das bunte Gefüge der Nationen drehte sich um sie. Die Oberfläche des Planeten schillerte wie der Ölfilm auf einer Pfütze. Details, feine Punktierungen wie auf Elfenbeinschnitzereien, leuchteten auf und erloschen wieder. Der ganze Planet funkelte wie das nächtliche Tokio, aus dem Flugzeugfenster gesehen. Länder glitzerten wie Smaragde, mit Amethysten als Hauptstädten. Die Glut des menschlichen Lebens lud sie ein, aus der Einsamkeit des leeren Weltalls herunterzukommen und sich am Feuer zu wärmen. Von Zeit zu Zeit zuckten fahle Signale der Hoffnung und Sehnsucht wie Blitze über die Kontinente, Nachrichten, die die Lämpchen auf einer Telefonschalttafel aufleuchten ließen. Adie hielt den Atem an. Diese Lichter hatten etwas zu bedeuten, genau wie einst die Sternbilder etwas zu bedeuten 276
hatten. Über diese Lämpchen huschten mehr Blitze als durch die Nervenbahnen eines denkenden Verstands. Es war sein eigenes Ziel, das Heim, das ein heimatloser Immigrant sich nur für einen fernen Tag erhoffen kann. Was … was soll das darstellen? Die Städte der Welt. Sie unterhalten sich miteinander. Das weiß ich. Aber was sagen sie? Nur zwei Sätze. »Gib mir mehr Energie« und »Hier kommt das Gewünschte«. Handel mit petrochemischen Produkten im letzten Monat, übersetzte Lim. O’Reillys Augen funkelten wie zwei weitere Lichtpunkte im Mosaik. Nicht ganz – im nächsten Monat. Lim lehnte sich zurück. Führst du Buch? Können wir überprüfen, wie hoch die Trefferquote ist? Natürlich. Adie genoss das prachtvolle Schauspiel, das sich vor ihr in der Luft entfaltete. Sie zögerte, wollte nicht aus der Taucherglocke heraus. Dann gab sie sich einen Ruck. Als sie durch die Membran trat, war einen Moment lang ihr eigener Körper die Projektionsfläche. Das sind Lichter, Ronan. Sonst nichts. Theatralisch trat er ihr einen Schritt entgegen. Genau das. Er zeigte ihr die leeren Handflächen, dann die Handrücken. Er stellte sich an die Nordwand der Grotte, eine lebendige Silhouette, von einer Aura umgeben. Nur Licht. Aber das ließe sich von allem sagen, nicht wahr? So, meinte Lim. Jetzt raus mit euch. Von elf bis zwei bin ich an der Reihe. Steht hier auf dem Plan. Nun denn. Bühne frei. O’Reilly wandte sich Adie zu und reichte ihr die Hand. Sie nahm sie und inspizierte sie, suchte nach dem ASS im Ärmel. 277
Hast du Lust, mal was Echteres zu essen?, fragte er. Echter? Echter als Burritos, meine ich. Wer zahlt? Du. Meinetwegen. Sie fuhren den Hügel hinunter zu einer VierundzwanzigStunden-Falafelbude, die bei den Nachteulen von TeraSys hoch im Kurs stand. Nicht ganz ohne Hintergedanken, sagte er, als sie sich über ihre Teller hermachten. Brauchst du nicht dazuzusagen. Selbst hinter den offensichtlichen Motiven stecken verborgene. Einen Moment lang hielt er im Kauen inne. Stimmt. Er lachte. Da hast du Recht. Und dann aßen sie beide weiter. Worum geht es denn nun?, fragte sie nach ein paar Bissen. Hmmm? Der Grund, weshalb du mich zu diesem Rendezvous geschleppt hast. Oh. Ja. Meinst du, du kannst mal einen Blick hier drauf werfen? Natürlich nur, wenn du willst. Musste extra deswegen zur Post. Er schob ihr einen Briefumschlag über den Tisch, blaues Luftpostpapier, rot-weiß gerahmt, mit einer exotischen Briefmarke. Das Blatt, das Adie herauszog, enthielt nur eine kurze Notiz. Ronan, du Idiot. Du solltest doch längst schon wieder hier sein. Ist das eine Kraftprobe? Wenn ja, dann gebe ich mich geschlagen. Adie blickte auf. Die Unterschrift kann ich nicht entziffern. Es heißt »Maura«. 278
Deine Frau? Etwas in der Art. Wir waren fast zehn Jahre zusammen. Adie reichte das Blatt mit der Botschaft, die nun ganz anders klang, zurück. Warum zeigst du mir das? Nein, keine Angst, mir macht das nichts aus. Schmeichelt mir sogar. Aber … Ich wollte hören, was eine Frau dazu sagt. Jemand, der mir verrät, was sie wirklich sagen will. Was sie sagen will? Sie will sagen, dass du nach Hause kommen sollst. Hmm. So einfach ist das? Ja. So einfach ist das. Blödmann. O’Reilly biss ein Stück Falafel ab und schluckte es, beides in einer einzigen Bewegung. Wie würdest du das »gebe ich mich geschlagen« deuten? Heiliger … das kann doch nicht dein Ernst sein. Nichtmal bei jemandem wie dir. MUSS ich dir das wirklich erklären? Ich fürchte schon. Du musst wissen, es war nie die Rede davon, dass ich – Jetzt hör mal. Sie will, dass du zurückkommst. Sie liebt dich. Sie gibt nach. Wenn du das nicht verstehst, dann kriegst du von mir einen Tritt in den Hintern, in ihrem Namen. Ms Klarpol. Du weißt doch genau, dass ich nicht zurückgehen kann. Sie warf den Kopf in den Nacken. Das Erste, was ich höre. Du weißt, was wir hier aufbauen. Die Grotte? Ein besseres Kino. Jedenfalls bestimmt nichts, wofür man zwei Leben wegwirft. Die Grotte ist der nächste Schritt in der Entwicklung der Menschheit. Der entscheidende. Etwas Vergleichbares hat es bisher nirgends gegeben, höchstens in unserer Fantasie. Und Maura glaubt, ich gebe das alles auf. Wie lange hat die 279
Geschichte schon an dieser Sache gearbeitet? Jahrhunderte. Jahrtausende. Etwa ein Jahr, würde ich sagen. Und ich würde den Transporterstrahl genauso stehen lassen und die AntiFältchen-Lampen noch dazu, wenn mir jemand einen Brief wie den da schriebe. Den Rest ihrer Kichererbsenkroketten aßen sie schweigend. Sie standen auf, jeder fest entschlossen, nicht nachzugeben. Was ich wissen möchte, sagte O’Reilly, schon halb in der Tür, das ist, ob »gebe ich mich geschlagen« auch heißen kann, dass sie vielleicht doch her zu mir kommt. Adie biss sich vor Wut auf die Lippe. Woher soll ich das wissen, Ronan? Bau dir doch einfach ein hübsches kleines Orakel, und das fragst du dann. Den alten Fußboden verlegten sie über dem neueren, von Wand zu Wand, Zoll für Zoll. Aus synthetischen weißen Pressplatten wurden knorrige Holzdielen. Jackdaw, Adie und Spiegel maßen jeden Flecken der Maserung aus, hobelten die gebeizten Bretter wie die sorgfältigsten Schreiner. Sie probierten, passten ein, holten die Planken vom alten und praktizierten sie an ihren neuen Ort. Es war nicht ganz leicht, denn der Originalboden in Arles hatte schon allerhand durchgemacht. Das Holz war alt und krumm und oft einfach nicht zu bändigen. Aber am Ende ließen es sich die Dielen eine nach der anderen doch gefallen und machten es sich an ihrem neuen Platz bequem. Adie bestand darauf, dass sie auch den alten Anstrich beibehielten. Jede einzelne abgeschabte Stelle sollte genau dort zu liegen kommen, wo sie auch im originalen Schlafzimmer gelegen hatte. Das war harte Arbeit, denn Ursprung und Ziel dachten in unterschiedlichen Dimensionen. 280
Sie wollte einen Boden, der sich bog und schwankte wie das Original und der trotzdem fest auf seiner Unterlage, dem Grottenboden, verankert war. Sie wollte ein Arles, in dem man spazieren gehen konnte: eine hölzerne Brücke über Zeit und Raum, Nut-und-Feder-Dielen, aber mit allem, was sie an persönlicher Geschichte bargen. Spiegel beobachtete Adie, wie sie über die neu verlegten Bohlen ging. Wo immer sie ihren Fuß aufsetzte, überdeckte sie das Trugbild, wie auf einem Gemälde von Magritte. Jackdaw erfüllte ihr jeden handgezeichneten Wunsch. Spiegel schätzte den Jungen auf Anfang zwanzig: zwei oder drei Jahre älter als er selbst gewesen war, als er diese Frau kennen gelernt hatte. Damals, zu Beginn der Schöpfung, waren alle zwanzig. Warum Adie sich ausgerechnet die University of Wisconsin ausgesucht hatte, hatte Spiegel längst vergessen. Er wusste nicht einmal mehr, warum er selbst zum Studium an diesen Ort gegangen war, dem die Zeitschrift Life ein »Maximum an Lebensqualität« bescheinigte. Was ihm von Madison vor allem im Gedächtnis geblieben war, war die Kälte. Die durchschnittliche Tagestemperatur lag bei etwa minus sieben Grad. Er war einer Highschool-Liebe dorthin gefolgt, einer Frau, die er heiraten wollte. Schon Mitte des ersten Semesters verloren sie sich in der Flut der neuen Erfahrungen. Der kleine Trick, den das Leben einem so gerne spielte: Der edle Anlass löst sich in Luft auf, die Begleitumstände bleiben für alle Zeit. Stevie finanzierte sein Studium mit dem SpiegelFörderstipendium, dem Notgroschen der Familie, in zwei Jahrzehnten knauserigen Mittelschichtlebens zusammengespart. Seine Eltern investierten es, damit er einen guten Start ins Leben haben sollte: die richtigen Leute kennen lernen, Mitglied in einer Verbindung werden, ein Abschluss in Hoch- und Tiefbau. Doch binnen kurzem durchkreuzte der kleine Stevie all die schönen Pläne – das und vieles mehr. Madison hatte sich noch nicht von dem verheerenden 281
Bombenanschlag des Vorjahres erholt, bei dem radikale Studenten das Army Math Research Center, »die Kaderschmiede des amerikanischen Militarismus«, in die Luft gejagt hatten, der größte Sabotageakt in der Geschichte des Landes. Die Atmosphäre am Lathrop Drive knisterte noch davon. Ein viel versprechender junger Tieftemperaturphysiker war umgekommen, und eine der großen Universitäten Amerikas stand hilflos zwischen Aufruhr und Abscheu, zwischen Wir können alles und Was haben wir getan? Steve fuhr in die zweiten Weihnachtsferien nach Hause nach La Crosse, die schmutzige Wäsche eines ganzen Semesters im Gepäck, und ließ bei den fassungslosen Eltern seine eigene Bombe platzen. Er hatte seine wahre Berufung gefunden. Er konnte es mit seinem Gewissen nicht mehr vereinbaren, dass er auch nur ein Semester lang weiter Ingenieurswissenschaften studierte. Er wollte Dichter werden. Zwar sagte er nicht, dass er sich zum Künstler berufen fühle, aber das Wort war da, pochte tief in seinem Hirnstamm. Das war der Punkt, an dem traditionellerweise der Vater den frisch erleuchteten Filius hinter den Holzschuppen führt und ihn windelweich prügelt. Vielleicht war der alte Herr so verdattert, dass er sich nicht dazu aufraffen konnte. Vielleicht hatten auch die Überzeugungen seines Vaters bei dem ArmyMath-Anschlag solchen Schaden genommen, dass der Rest sich einfach in Luft aufgelöst hatte. Vielleicht war Stevie so begeistert, dass er es nicht übers Herz brachte. Was immer der Grund gewesen sein mochte, beide Eltern waren einfach nur aschfahl geworden und hatten ihm alles Gute gewünscht, schrieben ihn ab als einen, der seine Tage als Türsteher in einem der ärmeren Supermärkte der nördlichen Vorstadt beschließen würde. Ein letzter Rest Verstand hielt Steve davon ab, seinen Eltern den Anlass für diese Bekehrung zu verraten. Es war bei der Einführung in die englische Literatur geschehen, einem 282
lächerlichen Lektürekurs, den er belegt hatte, weil er für das Examen auch eine gewisse Allgemeinbildung nachweisen musste. Der Kursleiter – wahrscheinlich, ging ihm später auf, selbst nur ein glückloser Doktorand, der auf der akademischen Rangleiter hängen geblieben war und seiner eigenen Supermarktkarriere entgegendämmerte – war, um sich das Vorbereiten zu sparen, auf die Idee verfallen, dass jeder Teilnehmer sein Lieblingsgedicht vortragen und erläutern solle. Und so hatte Steve Spiegel im Oktober seines zwanzigsten Jahres wie vom Donner gerührt dagesessen und gelauscht, als ihm gegenüber ein Mädchen mit Stupsnase und struppigen Haaren, das im Batikshirt und auf Rollschuhen gekommen war, rezitierte: »Entfall’ ich der Natur, so nehm’ ich nie, nie wieder an lebendige Gestalt.« Die Worte, vermutete er, waren schön. Das Mädchen, beschloss er, war es beinahe. Aber die Art, wie sie es vortrug: das nahm ihn gefangen, das legte ihn in Fesseln, das war das Urteil auf lebenslänglich. Wunderwerke entströmten ihren Lippen – kleine, bewegliche Gestalten, die so winzig waren, dass schon Generationen gestaunt hatten und noch weitere staunen würden, wie der Erfinder so kleine Motoren hineinpraktiziert hatte. Entfall’ ich der Natur. Diese Folge von Silben kam dem Jungingenieur als das hoffnungslos Bizarrste vor, das ihm im Universum je begegnet war. Und dieses Menschenwesen sagte die Worte, als seien sie hübsche, Furcht einflößende Spielzeuge, die nur deswegen existierten, weil sie keinen erkennbaren Zweck auf Erden hatten. Die Worte gaben der Sprecherin nichts zu essen, keine Kleider, boten keinen Schutz vor den Elementen. Sie konnten ihr keinen Gefährten gewinnen, ihr kein Kind machen, nicht ihre Feinde bezwingen, sie konnten zumindest in keiner messbaren Form ihr Überleben auf diesem Planeten sichern. Und doch zählten sie zu den erstaunlichsten Kunstwerken, die je entstanden waren. Wozu 283
waren sie da? Wie rechtfertigte die Evolution den kolossalen Aufwand an Energie? Vor ewigen Zeiten waren rhythmische Worte vielleicht ein Zauber gewesen, der Schutz bot. Aber dieser Zauber wirkte schon lange nicht mehr. Und doch strömten die Worte aus ihrem Munde, mechanische Vögel, die sich wie lebendige gaben. Laute voller Bedeutung, doch Bedeutung ohne Zweck. Die Tür kommt hierhin, sagte der neueste Update dieses Mädchens. Setzt sie bündig in die linke Wand. Spiegel und Jackdaw, die beiden Zauberlehrlinge, nickten in Stereo. Wie die Dielen unter dem Bett aussehen, können wir nur raten. Da können wir doch einfach das Stück von hier nochmal nehmen, meinte Jackdaw in aller Unschuld. Auf keinen Fall. Gemogelt wird nicht. Wir müssen uns an die Bretter halten, die er gemalt hat, und sie in Gedanken weiterführen. Jackdaw stöhnte. Wenn es fertig ist, ist es doch nicht mehr zu sehen. Aber wir wissen, wie es aussieht. »Nur die Gestalt, wie einst der Grieche sie« – die Lippen des Mädchens waren die Werkstatt, in der die verzaubernden Phoneme entstanden – »dem Gold entrang mit hämmernder Gewalt.« Nie hatte Spiegel Worte auf solche Weise vorgetragen gehört – Legierungen aus Verwirrung und Verblüffung. Ihre Worte waren der Vogel, den sie beschrieben. Ganze Sätze aus gehämmertem Gold kamen aus ihrer Kehle. Stevie hätte sie für eine Schauspielschülerin gehalten, wäre nicht die Farbe an ihren Fingern gewesen. Die Rezitation war zu Ende, und nun kam ihre Deutung, ein Gang aus lose verknüpften Gedanken durch den Irrgarten der Bilder. Sie hatte 284
eine Reihe von Aquarellzeichnungen mitgebracht, mit denen sie ihre Ideen illustrierte. Byzanz. Ein Spiralwirbel. Der mechanische Vogel, der Stevie wie ein golden gefiedertes Schnittmodell einer Bulova-Uhr vorkam. Die Frau verströmte ein Aroma, das er seit Jahren nicht mehr gerochen hatte. Ein Duft von Unbekümmertheit und Spontaneität. Das Leben war merkwürdiger, als er je gedacht hätte. Jedes Leben hatte ein Stück Zeichenkohle in Händen, das aus der Asche des ersten Lagerfeuers gepresst war. Sie musste gespürt haben, wie er sie bei ihrem Vortrag angestarrt hatte. Denn als sie auf dem Weg nach draußen an ihm vorbeikam, fragte sie: »Das war alles reiner Blödsinn, oder?« »Du riechst nach irgendwas«, sagte er. Sie lachte. »Nach irgendwas ganz sicher.« »Nein«, erklärte er. Die Brise der schwebenden Silben, der unbestimmbare Geruch freier Assoziation umspielte ihn. Vergnügen, die man viel zu oft übersah. Andachtsübungen der Meister. »Nein. Du riechst nach etwas, was mein Vater immer im Kanister in der Garage hatte. Um Pinsel sauber zu machen.« »Terpentin, nehme ich an.« »Wieso hast du grüne Finger?« Sie studierte sie. »Das ist kein Grün. Es ist eher Türkis.« Darauf konnte er nur nicken. »Was machst du denn so?«, wollte sie wissen. Vor allem anderen. Sogar bevor sie nach seinem Namen fragte. »Oh«, improvisierte er. »Ich … schreibe.« Er legte den Kopf schief, zu der Yeats-Taschenbuchausgabe in den türkisgrünen Fingern hin. Er tippte mit dem Finger auf seine Anthologie vom Bücherkarren, als sei es eine Aufstellung der Rechnungen, die er in einem Nachtcafe anschreiben ließ. Das Bett sollte genau von der Ecke bis ungefähr hierhin 285
reichen. Die Frau, die seither in Adies Haut geschlüpft war, die Finger nun makellos sauber, stand an einem unsichtbaren Kreuz, mit dem eine Stelle auf dem Boden der Grotte markiert war, die einem Punkt auf dem darunter liegenden Koordinatensystem entsprach. Sie stand gerade, die Arme hingen herunter, sie nahm ihren ganzen Körper als Messlatte. Jackdaw visierte sie von der Konsole aus an. Er tippte ein paar Kommandos ein, und ein rötlicher rechteckiger Block erschien, reichte der Frau bis an die auch heute noch schmale Taille. Ein bisschen höher, rief sie. Damit wir die Laken und das Kopfende unterbekommen. Nichts an dieser Stimme erinnerte mehr an ihre Vorgängerin, die Stimme, die vor so vielen Jahren zu Spiegel gesagt hatte: »Na, wenn du schreibst, dann solltest du zu unseren Dienstagabenden kommen. Wundert mich, dass ich dich da noch nie gesehen habe.« »Ich bleibe meistens für mich. Die Sachen, die ich schreibe, sind nicht gerade … in Mode.« Sie machte große Augen, und er bestaunte sie in ihrer ganzen Pracht. »Dann solltest du aber auf alle Fälle kommen.« Alles, was es wert war, dass man ihm sein Leben widmete, brauchte nach Einschätzung des jungen Stevie ungefähr drei Tage, bis man es sich beigebracht hatte. Da er bis zum nächsten Dienstagabend noch fünf Tage hatte, lag er recht gut in der Zeit. Seit einem spektakulär verunglückten Sonett in der Abschlussklasse der High School hatte er keine Verse mehr geschrieben. Aber wie immer arbeitete er auch hier am besten unter Druck. Als er am Dienstag in die Wohnung des Mädchens kam – in einem muffigen, in Apartments aufgeteilten viktorianischen Pensionshaus nicht weit vom Lake Mendota –, war er mit seinen vom Koffein aufgeputschten Nerven am Ende; er drehte das Blatt mit domestizierten Knüttelversen, das selbst bei 286
großzügigster Auslegung des Gesetzes zum Schutz geistigen Eigentums wohl den Tatbestand des Plagiats erfüllte, in Händen. Das Produkt seiner manischen Dichterwut war ebenso unzusammenhängend wie unoriginell, eine »Fahrt nach Byzanz« im schwerfälligen Walzertakt. Und er kam mit diesem Machwerk in einen Salon, der schwärzer war als ein griechisch-orthodoxer Karfreitagsgottesdienst. Wieso immer Schwarz?, fragte er die Frau siebzehn Jahre später, während sie warteten, dass Jackdaw die Umrisse des Körpers definierte, aus dem bald der Stuhl neben dem Bett entstehen sollte. Das Schwarz der Kunstszene. Eine Mode, die einfach nicht totzukriegen ist. Wieso hat sich jedes Grüppchen, das schick sein will, in den letzten zwei Jahrhunderten schwarz angezogen? Sie lächelte ihn an, mit anderem beschäftigt. Damit ist man immer auf der sicheren Seite. Man nimmt Schwarz, wenn man nicht weiß, was der andere anhaben wird. Rundum konservativ, gilt trotzdem als radikal. Warum fragst du? Damals mit zwanzig hatte er dagesessen, war tausend Tode gestorben in seinem braven Oberhemd mit Button-DownKragen, als reinkarnierte Rocker und Beatniks reihum ihre »Arbeiten« präsentierten und sich den Angriffen der anderen stellten. Dichtung, Prosa, Skulptur, Musik, Malerei: Er hatte es unterschätzt, wie weit die Epidemie sich schon ausgebreitet hatte. Er war mitten in eine alte Blutsfehde hineingeraten, den Bandenkrieg um Vermächtnis und letzten Willen des arm verstorbenen Patriarchen, der Kunst. Die Regeln, nach denen gekämpft wurde, waren obskur, selbst für die, die schon seit Jahren dabei waren, als Steve aufs Schlachtfeld stolperte. Aber letzten Endes ging es wohl darum, ob das befreiende Anagramm, das er nun gerade einmal seit fünf Tagen kannte, ungehindert herrschen sollte, oder ob man es zur Verantwortung ziehen sollte für all den Missbrauch von Macht und Privilegien, der den Rest der Welt ruiniert hatte. 287
Erst da begriff Spiegel es: Die Kunst war in dieselben Konflikte verwickelt, denen das Army Math zum Opfer gefallen war. Außer dass er möglichst der Freifahrkarte nach Südostasien entgehen wollte, verfolgte Spiegel im Grunde keine politischen Ziele. Er hatte gehofft, dass diese Kunstübung keine große Sache sein würde. Nun zwang der Abend ihn dazu, Position zu beziehen, sich zu äußern zu Dingen, bei denen er nicht einmal die Fragen verstand. Nur eins war ihm klar: Er würde lieber den Kopf in den Gasherd stecken als vor diesem Tribunal seine Verse vortragen. Die Straßenkämpfe waren schon seit vierzig Minuten zugange, eben tobte ein besonders hässliches Scharmützel um die politische Verantwortungslosigkeit einer verschwommenen abstrakten Kreidezeichnung, als ein stämmiger Bursche im Sportler-T-Shirt hereingeschlendert kam, eine schmutzige Sporttasche über der Schulter. Die Stimmen verstummten, und aller Augen richteten sich auf den Abtrünnigen. Träge fasste der Bursche in seinen Sack und holte eine feuchte Unterhose hervor. »Das ist mein Beitrag«, verkündete er. »Konzeptkunst.« Kunstfreunde jeglicher Couleur schrieen den Mann nieder. Er revanchierte sich mit geistreichen Zwischenrufen, und zu Spiegels Erleichterung war damit der Diskussionsteil des Abends vorbei. Ted Zimmerman: der einzige Name, den er sich von dem Abend merken konnte. Der Einzige, mit dem er redete. Eine Studie in furchtloser Lebensfreude. Der Mann, der Spiegel davor bewahrte, das erste Gedicht seiner Erwachsenenzeit vor einer Bande gedungener ästhetischer Mörder vorzutragen, mitten im Krieg in Madison. »Das hat ihnen die Mäuler gestopft«, sagte er zu Zimmerman, als sie auf den Treppenstufen vor dem Haus frische Luft schnappten. »Bravo.« 288
»Die Mäuler gestopft?«, fragte Zimmerman. Eine kurze Schrecksekunde lang glaubte Spiegel, er habe alles missverstanden. Er wies zum Haus. »Der Krieg zwischen Kunst und Ethik.« »Oh«, nickte Ted spöttisch. »Vergesellschaftung kontra Verinnerlichung. Auf welcher Seite bist du?« »Wenn ich das wüsste. Was machst du denn so?« Er lernte schnell. »Ich spiele Handball. Nebenbei schreibe ich an einem Oktett. Bekenntnisse eines Unpolitischen. Und du?« »Ich schreibe. Gedichte.« Eine Lüge, für die er büßen musste, indem er sie Wirklichkeit werden ließ. Ted fragte ihn weiter aus, nach allem, was er je gelesen hatte. »Yeats ist schon in Ordnung. Aber man kann nicht immer nur Konfekt essen. Hast du Rilke gelesen? George?« Spiegel schüttelte wissend den Kopf und versuchte sich die Namen zu merken. Von da ging es weiter zu Romanen, Theaterstücken, Essays. Zimmerman ließ sich über Habermas und Musil aus. Er zitierte aus Mensch und Übermensch, lieferte einen kurzen Abriss des Sezessionismus und referierte über die hochabstrakten Abhandlungen der Frankfurter Schule. Die Hälfte der Namen, die der Mann in die Runde warf, hatte Spiegel noch nie gehört. Sie kamen auf die klassische Musik, Teds eigentliche Leidenschaft. Berg, Schönberg und Webern waren offenbar so etwas wie der Sinus und Kosinus der Musik. Als sie sich von der kalten Treppe wieder erhoben, hatte Spiegel nicht nur eine Verabredung zum Handball, sondern auch ein beträchtliches Lesepensum. »Zeit zum Nachhausegehen«, verkündete der Komponist. Tief sog er die Nachtluft ein. »Die zwei Stunden vor und nach Mitternacht. Meine liebste Zeit, um die Arbeit ein Stück 289
voranzutreiben.« »Geht mir genauso«, beschloss Spiegel. »Schön, mit dir zu reden«, sagte Ted. »Wir leben unser Leben in der Hoffnung auf die Gesellschaft der Frauen. Oder wenigstens eines amüsanten Manns.« Ein Jahr später stolperte Spiegel wieder über die Zeile, noch immer mit dem Abarbeiten der Lektüreliste beschäftigt, die sein Freund ihm auferlegt hatte. Sie sprang ihm entgegen, unterstrichen in Zimmermans zerfleddertem Exemplar von Liebende Frauen. Drinnen ereiferte sich die schwarz gekleidete Gesellschaft noch immer über den moralischen Wert des Gegenständlichen, genau wie ihre Genossen, die revolutionären Zellen, zu Zehntausenden debattierten, an den Lehrinstituten überall im gespaltenen Land. Es sah nicht so aus, als ob vor der Morgendämmerung mit einer Einigung zu rechnen sei. Spiegel arbeitete sich zur Gastgeberin vor und dankte ihr für die Einladung. Für den Abend, der sein Leben veränderte. »Hast du einen Freund gefunden?«, fragte Adie. Spiegel schüttelte nur benommen den Kopf. »Der Mann ist ein Genie.« Sie kniff die Augen zusammen. »Ted? Ted liebt nur sein Vergnügen.« Das Urteil klang nachsichtig, so als könne diese Krankheit selbst die Wachsamsten befallen. Spiegel spürte den Boden unter den Füßen schwanken, und es war ein schönes Gefühl. »Gib ihm mal eine Chance«, sagte er. »Man muss sich hinsetzen und mit ihm reden. Das ist unglaublich. Als wollte man mit einem ganzen Staat von Ameisen zugleich reden, die in alle erdenklichen Richtungen krabbeln.« »Oh, früher haben Ted und ich viel geredet.« Das Mädchen sah Spiegel aufmerksam an. Es war ein Blick, der ihn 290
auseinander nahm und wieder zusammensetzte. »Und dann?« »Dann haben wir miteinander geschlafen.« Sein Magen machte einen Satz. Das Offensichtliche ging ihm auf. Er würde alles Gute an diesem Abend, alles, was sein Bewusstsein verändert hatte, wieder verlieren. Schon jetzt liebte er diese beiden Fremden viel zu sehr, als dass er sich noch zwischen ihnen entscheiden konnte. Und er war zu jung, um zu wissen, dass eine solche Wahl von Anfang an unmöglich gewesen war. Wochen vergingen, bis er der Malerin und dem Komponisten einmal allein begegnete. Keiner wollte mit ihm über den anderen reden. Spiegel überlegte, ob Adie eine jener Musen schöpferischer Männer war, die die kreative Arbeit in Wirklichkeit allein taten. Aber an dieser Beziehung war mehr; etwas, das jeder dem anderen gab und das Spiegel nicht auf den Begriff bringen konnte. Selbst in Räumen voller Menschen spürte man, dass sie zusammengehörten, ohne dass einer auch nur ein einziges Zeichen gab. Ihre Nähe setzte sich durch, still, unauffällig, präzise – genau wie die Intimität, die aus beider Arbeiten sprach. Künstlerin und Komponist waren wie siamesische Zwillinge. Der Pakt, den sie mit ihrem frisch adoptierten Poeten eingingen, schloss Stevie selbst da aus, wo sie ihn einbezogen. Manchmal fragte Spiegel sich, ob es gut war, wenn zwei Leute so eng vertraut waren. Trotzdem rückte er näher, so gut er konnte, bereit, mit jedem von beiden den Platz zu tauschen oder sich auf jede Dreierkonstellation einzulassen, die sie ihm anboten, so prekär sie auch sein mochte. Ted blieb in Dutzenden von Handballspielen Sieger, bis Glück und Verzweiflung Spiegel seinen ersten Triumph mit zwei Punkten Vorsprung bescherte. Bis dahin hatten sie sich zwischen Spielen schon durch Schönbergs Pierrot und sein 291
zweites Streichquartett gearbeitet, und Spiegel spürte allmählich, wie die Luft eines fremden Planeten in ihm zu wirken begann. Als Gegengabe erwartete Zimmerman kleine Beweise der Anhänglichkeit, Forschungsberichte aus Ländern, die er noch nicht bereist hatte. Stevie lieferte sie mit Begeisterung, auswendig gelernte Passagen aus Eliot und Stevens, kleine Schmuckstücke, die sie zu zweit begutachteten und die nichts gemeinsam hatten außer der Freude des Entdeckens und dem verblüfften Staunen. Und immer wieder Yeats: Spiegel kehrte mit solcher Hartnäckigkeit immer wieder zu ihm zurück, dass Zimmerman es schließlich aufgab, ihm die Obsession auszureden. Adie zog sie damit auf. »Lest ihr zwei Intellektuellen eigentlich auch mal jemanden, der nicht schon seit Jahrzehnten tot ist?« Anderthalb weitere Jahrzehnte waren seither vergangen. Nun waren alle tot. Die Gelenke, so beweglich in jenem kurzen Frühling, waren längst erstarrt. Adie und Spiegel, ihre steifen erwachsenen Marionetten, standen auf den braunen Planken des neuesten Grottenraumes, auch wenn er eher nach einem Lagerschuppen an der Interstate aussah. Kein Land für alte Männer. Zwei Erwachsene, zwei Fossilien, mit einem Jungen, der so ganz und gar anders war als der, den sie beide geliebt hatten, einem Jungen, der nicht mehr war als der Schatten dessen, der schon mit dreiundzwanzig den Höhepunkt seines Lebens erreicht hatte. Die Grotte füllte sich mit bunten Quadern, transparenten, an der Wand gestapelten Umzugskartons. Spiegel, Adie und Jackdaw schlängelten sich zwischen den Platzhaltern hindurch, spazierten durch die gespenstischen Umrisse. Adie warf einen kalten Blick auf das Schlafzimmer. Der zweite Stuhl ist zu groß. Die Waschschüssel muss noch eine 292
Handbreit nach links. Zu dritt bahnten sie sich einen Weg, und im gleichmäßigen Rhythmus von Entwurf, Überarbeiten, Entwurf nahm der Raum Gestalt an. Seattle und Arles konnten unterschiedlicher nicht sein, und der Betrachter musste schon mit aller Macht hinsehen, wenn er das eine im anderen wieder finden wollte. Genau ein solch energischer Blick hatte Spiegel befreit, damals im Frühling, als alles möglich gewesen war. Vor jenem Mai wäre er nie auf den Gedanken gekommen, sich darauf einzulassen. Doch bald gab es keine schönere Stadt auf Erden als ihr kleines Banditennest. Überall auf dem Campus überboten die Bäume sich mit Blüten. Das Leben erwachte wieder zum Leben, und das mit einer Energie, einer Exotik, einem Charme, wie Spiegel sie nie für möglich gehalten hätte. Jetzt wo er eine eigene Adresse hatte, war jede Winzigkeit eine Postkarte wert. Plötzlich verdiente alles eine Beschreibung. Aus allem, was er erlebte, wurde Poesie. Er schrieb über das, was dort im Mittelwesten als Landschaft galt. Er schrieb über alte Kleider in einem Trödelladen. Er schrieb über die Parkplatze vor den Schnapsbuden. Er stand vor der ausgebombten Sterling Hall, und aus dem Wiederaufbau, der das Geschehene ungeschehen machen sollte, wurde ein Gedicht. Er stellte seine Staffelei vor den großen Meisterwerken auf und brachte ärmliche Imitationen auf die Leinwand, alles von Blake über Auden bis Wilbur. Das Verhältnis von Schuld zu eigenem Kapital fiel in ständiger Tilgung. Er liebte das Weihevolle, Sakrale dieser Arbeit, liebte das Gefühl, dass er, solange er mit den Versfüßen seiner stolpernden Zeilen jonglierte, nichts tat, was das Elend der Welt vermehrte, ja dass er es sogar auf seine bescheidene Weise ein klein wenig lindern konnte. Aber so gern er auch schrieb, war er doch am glücklichsten, 293
wenn er mit dem Schreiben fertig war. War das Werk vollendet, rief er in dem alten Pensionshaus an und las es der Unvergleichlichen übers Telefon vor. Oder wenn sie nicht da war, zumindest dem amüsanten Mann. Er machte ihnen beiden den Hof, jedem durch den anderen. Ihre Dreierbeziehung war selbst ein Thema, von dem er hoffte, dass er eines Tages eine Sestine daraus machen würde, irgendwann, wenn er mit dem Metrum gewiefter geworden war. Adie und Ted eröffneten ihm, dass sie im Herbst zusammenziehen wollten. Die Nachricht stürzte ihn in tiefste Depressionen. Dann fragten sie, ob er mit einzöge. Eine Gruppe verwandter Seelen war aus den Dienstagabendversammlungen hervorgegangen – ein Töpfer, eine Pianistin, ein Verfasser ultrakurzer Kurzgeschichten und eine Schauspielerin – alles Leute, die wie Spiegel um den Doppelstern im Zentrum dieses Planetensystems kreisten. Stevie sagte Ja und fragte nicht einmal, was die Miete kostete. Die sieben fanden das ideale Haus, einen windschiefen dreistöckigen Bau in Carpenter’s Gothic, dessen ausgebautes Dachgeschoss aus einem durchgängigen Raum bestand, den sie den Ballsaal nannten. Ihr Leben sollte von nun an eine einzige große Soiree sein, der Saal als 24-StundenGemeinschaftsatelier mit Konzertpodium hergerichtet werden. Adie behängte die Wände mit Kunstwerken, eine Wechselausstellung eigener Arbeiten und der Bilder anderer Studenten, mit denen sie ständig tauschte. Der Töpfer David stattete die Küche mit handdekoriertem Seladonporzellan aus. Steve verfasste ein Einsegnungsgedicht und trug es vor, Ted lieferte die Partitur für eine abendfüllende Einweihungsmusik, die Lydia, die Pianistin, mit sechs Amateur-Perkussionisten aufführte. Gemeinschaftlich wollten sie alles in Ordnung bringen, woran die menschliche Gesellschaft seit ihren Anfängen krankte. Einkaufen, Kochen und Putzen waren begeisterte 294
Gruppenunternehmungen. Was sie an Geld hatten, gaben sie in eine gemeinsame Kasse, und Zimmerman, der stillschweigende Anführer der Kommune, richtete ein gemeinsames Girokonto für das Mahlerhaus ein. Auch im Telefonbuch erschienen sie unter dem Namen des ahnungslosen Österreichers. Das immer währende Bankett kam in Gang, und Unterbrechungen gab es nur, wenn dann und wann der Besuch einer Vorlesung beschlossen wurde. Die Dienstagabende feierten unter neuer Schirmherrschaft Auferstehung. Ganze Galaxien von Besuchern drifteten durch das Haus, in Radien teils enger, teils weiter um den inneren Kreis. Aus der kollektiven Werkstatt kam der Zierrat, der dem Leben Glanz verlieh, und der einzige Antrieb ihrer Arbeit war die gemeinsame Freude daran. Die Gobelins, die in dieser Manufaktur gewebt wurden, zierte durchweg ein Millefleur-Saum aus Sex. Die Hausbewohner probierten alle denkbaren Konstellationen durch. Auf einer einsemestrigen Weinprobe kosteten sie die Geschmäcker der anderen, ohne herunterzuschlucken. Aus der Soiree wurde ein Softcore-Satyricon, sieben, zehn, dreizehn Körper lagen am Boden des Ballsaals in einem Ring, die Glieder zärtlich ineinander verschlungen. Den Dezember hindurch beehrte Lydia, die Pianistin, Spiegel in seinem Zimmer, und ihr kühler Leib wollte an vier verbotenen Orten gleichzeitig berührt werden. Im Januar war Lydia zu David weitergezogen und machte in Spiegels Koje Platz für eine Tänzerin namens Diana, der er Hopkins ins Ohr flüsterte, wenn er sich an ihre sehnigen Glieder klammerte. Manchmal saß er spätabends noch bei der Arbeit, und Adie kam und setzte sich auf seinen Schoß, strich sein Haar zurück und blickte ihm ins Gesicht. Aber über seine Annäherungsversuche lachte sie nur, wischte seine Hand von ihrer Brust wie einen Fussel vom Pullover. 295
Ted war ein Frauentyp. Er hatte Frauen, so viele er wollte. Wenn frisches Blut im Haus auftauchte, hatte der Komponist, bevor der Abend um war, dafür gesorgt, dass sie sich wie Aphrodites Zwillingsschwester fühlte. Jeden Tag neu bewies er, dass es nichts mit zwei X-Chromosomen gab, was er nicht verführen konnte. Zimmerman machte seine Eroberungen stets mit denselben altbewährten Waffen. Er fütterte die Kandidatinnen mit den besten Stücken seines Arsenals, Zitaten aus Liebende Frauen. »Dann soll die Liebe genug sein. Der Rest langweilt mich.« »Ein goldenes Licht funkelt in dir, und ich wünschte, du gäbest mir davon ab.« Und das schwerste Geschütz: »Sieh nur, welche Blume ich für dich gefunden habe.« Wenn sie dann immer noch nicht schwach wurden, spannte er Dives and Lazarus ein. Frauen, die dieser Melodie widerstanden, waren weiterer Mühe einfach nicht wert. Wenn die sinnlich-volkstümlichen Töne vom Ballsaal herunterdrangen, wussten Teds Mitbewohner, dass sie oben nicht erwünscht waren. »Ich verstehe das nicht«, fragte Spiegel ihn eines Morgens, als die Eroberung des Vorabends ins Tageslicht entschwunden war. »Du mühst dich mit dieser spröden, atonalen, streng mathematischen Musik. Wie kannst du dir da solchen altmodischen Schwulst anhören?« Ted lehnte sich über die getoasteten Bagels und legte Spiegel die Hände auf beide Schultern. »Kennst du die Geschichte von der Frau, die Oscar Wilde zum Zuhören überredete, als ihre Tochter eine Sonatine vorspielte? ›Wie gefällt Ihnen die Musik, Mr Wilde?‹ ›Oh, Musik bedeutet mir nichts. Aber das mag ich.‹« Spiegel konnte nur staunen: die Erfolgsquote, die Häufigkeit und Heftigkeit, die Schönheit der Eroberungen und stets die Bereitschaft, spurlos und ohne Widerspruch zu verschwinden, wenn die Erwartungen erfüllt waren. Nie hätte er so etwas für 296
möglich gehalten. Spiegel hätte nicht sagen können, was Ted dazu antrieb. Der Mann konnte doch wohl kaum noch mehr Bestätigung brauchen, als er schon bekam. In den Eroberungen schien genauso wenig sportlicher Ehrgeiz zu stecken wie in den Handballspielen, die er gewann. »Weißt du, was ich an der Zwölftonmusik am meisten mag?«, sagte Ted zu Steve, als sie über dem Wust von Bleistiftanmerkungen brüteten, die das in winzigen Schritten entstehende Oktett überwucherten. Typisch Zimmerman: die Notizen wuchsen, die Noten standen still. »Die klugen Zuhörerinnen, die sich solche Mühe geben, einen davon abzulenken.« Diese Zuhörerinnen machten ihre Arbeit so gut, dass die Musik selbst niemals Gestalt annahm. Wenn Begierde gegen Begierde stand, hatten die Noten gegen Hauttöne keine große Chance. »Weiß nicht, wie dir das bei deinen Versen geht, Junge. Aber Frauen sind eine große, geheimnisvolle Kraft für mich.« Adie hatte Recht gehabt. Der Mann lebte tatsächlich nur für sein Vergnügen. Und all seine unendliche, alles in sich aufnehmende Energie verfolgte im Grunde nur dies eine, manische Ziel. Wenn Adie darunter litt, dann ließ sie es sich nicht anmerken. Wenn sie sich mit eigenen Männern revanchierte, dann tat sie es so diskret, dass Spiegel nichts davon mitbekam. Einmal kam sie abends in Steves Zimmer, setzte sich auf sein Bett und begann auf einem Skizzenblock, den sie auf den Knien hielt, ihn zu zeichnen. Er saß im Erkerfenster und quälte sich durch Derridas Grammatologie. Er schlug das Buch zu, kam herüber und legte sich neben sie. Sie umfasste seinen Kopf mit der Linken, skizzierte noch mit der Rechten, ein Bild, das zusehends futuristischer wurde, jetzt wo der Porträtierte seinen Platz verlassen hatte. 297
»Macht dir das denn überhaupt nichts aus?«, fragte er. »Hmmm?« »Ted mit seinen …?« Sie setzte sich auf, legte die Skizze weg. »Teds Kolonistenfleiß?« Der Blick noch immer klar. »Das kann es nicht.« Er wartete auf weitere Erklärungen. Sie schwieg. »Wie meinst du das, ›kann nicht‹?« Sie drückte ihm den Daumen auf die Stirn und hinterließ ein Zeichen für alle Zeit. »Es darf mir nichts ausmachen. Ich kann es nicht zulassen. Das Leben ist lang.« Das war der Augenblick, in dem Spiegel begriff, dass er nie einen Menschen haben würde, mit dem er sein Leben teilen konnte. Nie wirklich, nie für längere Zeit. Als der Frühling kam, war der Traum vom Mahlerhaus vorbei, die Utopie vom Winde verweht. Die Bombe von Madison war das Ende der Weltrevolution gewesen. Und das Scheitern der Mahlerhaus-Kommune war für jeden von ihnen das Ende seines eigenen Idealismus. Jeder schloss die Tür zu seinem Zimmer hinter sich, und die Zeit der Gemeinsamkeit im Ballsaal war vorbei. »Alles zerfällt«, sagte Ted. »Die Mitte hält nicht mehr.« Aber ihm konnte anscheinend nicht einmal die Aufhebung der Zentripetalkraft etwas anhaben. Die Scheidung seiner Eltern im folgenden Jahr war in Spiegels Erinnerung nur ein schwacher Neuaufguss der Auflösung des Mahlerhauses. Inzwischen war er fast doppelt so alt wie der junge Dichter damals und konnte sich an die Einzelheiten nur noch unscharf erinnern. Nur die Scham darüber, dass das gemeinsame Leben gescheitert war, spürte er noch, den Schmerz, als sie nach ihren Höhenflügen unsanft auf dem Boden der Realität landeten. 298
Binnen kurzem war die Stimmung vergiftet. Soirees fanden keine mehr statt. Das schöne Seladongeschirr von Töpfer David verschwand aus der Küche. Die Hausbewohner lösten das gemeinsame Bankkonto auf und einigten sich unter bitteren Kämpfen über die ausstehenden Zahlungen. Streit entzündete sich an der Frage, wer den Kellerschlüssel verloren hatte. Wer den Backofen angelassen hatte. Wer seine Haare nicht aus dem Ausguss geholt hatte. Es waren Spiegels Haare, aber er stritt es ab. Ted hatte es leicht. In ganz Madison standen ihm die Türen offen, die Wohnungstüren der Frauen, die einen neuen Schuss Dives and Lazarus brauchten. »Du blöder Hund«, beschwerte Steve sich, als Ted kam, um seine Sachen zu holen. »Du lässt mich im neunten Kreis der Hölle sitzen und suchst dir einen Platz hinter dem warmen Ofen.« »Sieh es als Abenteuer.« Ted grinste. »Außerdem bist du ja nicht allein.« »Wen meinst du? Adie? Was hilft mir die schon? Die kampiert jetzt drüben in ihrem Atelier in der Kunstschule.« »Weiß ich. Aber Adie meine ich nicht.« »Wen dann? Du lässt mich hier mit dem Scherbenhaufen allein. Mir dreht sich der Magen um, wenn ich nur dran denke, dass ich hier arbeiten soll. Was soll ich denn jetzt machen?« Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung ging Zimmerman zu den geplünderten Regalen der Hausbibliothek und fand den Band mit dem roten Rücken, den niemand mitgenommen hatte, Yeats’ Gesammelte Gedichte. Er nahm das Buch, las aufmerksam, dann schrieb er etwas auf das Vorsatzblatt. Er warf das Buch Spiegel zu, der es im Fluge auffing, als hätte er es seit Monaten geübt. Zimmerman umarmte seinen Freund mit dem lässigen Schulterklopfen siegreicher Athleten. Dann ging er. Von seinem Fenster im ersten Stock sah Spiegel der Gestalt 299
nach, die durch das Blütenmeer der Bäume davonschlenderte. Erst danach schlug er das zerfledderte Taschenbuch auf und las die Widmung: Wir nährten das Herz mit Fantasien Und davon wurde es hart und kalt Unsre Liebe niemals so greifbar Wie unser Hass; o ihr Bienen kommt Nistet ein euch im leeren Starenhaus. Die Worte kamen ihm wieder in den Sinn und füllten das neue leere Haus, die jüngste restaurierte Ruine der Kunst. Adie hockte auf dem Boden vor dem bunten Block, der einmal das Bett des virtuellen Holländers werden sollte. Sie hatte die Hände ausgestreckt, fuhr über die flache Oberfläche, die bald eine Bettdecke sein würde. Dann legte sie den Kopf auf die gefalteten Hände. Wie heißt es doch gleich, das Bonmot? Das jedem berühmten Bildhauer in den Mund gelegt wird, der je gelebt hat? Wir müssen nur das Bett befreien, das in diesem Block steckt. Alles wegschlagen, was nicht nach Bett aussieht. Das taten sie und brauchten den September und Oktober dafür. Sie meißelten, bis aus den Quadern Dinge wurden. Spiegel half ihr beim Flechtwerk der Stühle, der Glasur des Wasserkrugs, den Noppen der karminroten Decke. Aber jetzt machte das Spiel nicht an der Oberfläche Halt. Jedes Stück entwickelte sich von der zweidimensionalen Illusion zu Fülle und Tiefe. Diesmal ging es um mehr als um bloße Ähnlichkeit. Das Bett ragte vor der Wand in den Raum hinein, nahm ein Viertel des Zimmers ein. Es wirkte so echt, dass selbst Freese bei seinem ersten Besuch nicht gegen den Reflex ankonnte, die Decke glatt zu streichen. Der Raum füllte sich. Er materialisierte sich, auch wenn durch die Ölfarbe der halbfertigen Untermalung die Vorzeichnung hie und da noch durchschimmerte. An die wandelbaren Wände der Grotte hängten sie eine Tapete à l’Arlèsienne. Einer nach dem anderen 300
nahmen die geometrischen Platzhalter Gestalt an. Und Woche für Woche arbeitete Jackdaw an dem Code, der das hölzerne Kunstwerk zum Leben erwecken sollte – einem Leben, das die Lebendigen als Leben anerkannten. Auch Spiegel schnitzte an dem großen Holzblock, der in dem kleinen Puppentheater steckte. Und jedes Bild, an dem er arbeitete, platzte an den Säumen auf und zeigte die Holzwolle, mit der es gestopft war. . Nach der Implosion des Mahlerhauses hatte Stevie mit äußerster Kraft an seinem nutzlosen Englischabschluss gearbeitet; er brachte es nicht fertig, den Studiengang zu wechseln, war nicht in der Lage, den Schaden der Katastrophe zu begrenzen. Die Einzigen aus dem großen Kreis geläuterter Idealisten, die er danach noch sah, waren die beiden, die ihn in dieses utopische Experiment gelockt hatten. Dieselben beiden, die ihn aus dem Paradies auch wieder vertrieben hatten. Einen Monat vor ihrem Examen rief Spiegel bei Adie an. Bei dem Mittagessen, zu dem sie sich überreden ließ, aß sie nichts und umschiffte lächelnd jede Untiefe, an die sie kamen. Steve fragte, ob er eine Kopie der Zeichnung jenes Abends haben könne, an dem sie über Ted gesprochen hatten. »Die? Die habe ich nicht mehr.« Die Worte trafen Spiegel mit einer Wucht, die in keinem Verhältnis zu dem Verlust stand. Es war ein Blick in den Abgrund, in das Nichts, in dem jedes schöpferische Bemühen endete. »Was soll das heißen, du hast sie nicht mehr?« »Zusammengeknüllt. Weggeworfen. Das meiste, was ich zeichne, endet im Papierkorb.« »Das kann doch nicht dein Ernst sein. Wieso denn das?« »Weil mir bei den meisten Sachen schlecht wird, wenn ich sie sehe.« 301
»Herrgottnochmal.« Die Wut stieg wieder in ihm auf, die Wut, die er gespürt hatte, als sie ihren Traum vom gemeinsamen Leben auf den Müll geworfen hatten. »Wieso zeichnest du denn dann überhaupt etwas?« »Gute Frage.« Sie dachte lange darüber nach. »Ich stelle mir vor, dass jeder Strich aufbewahrt wird. Irgendwo.« Mit Zimmerman traf er sich noch gelegentlich zu Handball und Strawinsky. Nach wie vor bekam Steve von Ted seine monatlichen Hausaufgaben. Bücher, die er lesen sollte und über die er dann referierte. Die Soirees schrumpften zu den Treffen der beiden an einem Ecktisch in Gino’s Pizzeria an der State Street, wo der Neujahrs-Bombenwerfer einmal gearbeitet hatte. Sie saßen über eine große Champignon-Paprika-Pizza gebeugt und diskutierten dabei über Skandierung und Polyfonie. Eines Abends tauchte Ted in der winzigen Bude auf, die Steve an der East Mifflin Street gefunden hatte. Er kam mit einer Flasche 1958er Georges de Latour Private Reserve Napa Cabernet – einem erlesenen Tropfen, weit über UndergraduatePreisklasse – und zwei guten Rotweingläsern dazu. Ted redete noch manischer als gewöhnlich. Aber er wollte nicht sagen, was es zu feiern gab, bevor sie nicht die Flasche geöffnet und getrunken hatten. Sie sprachen über die Moderne, die Kruste des Archaischen, die sich binnen so kurzem um diese radikale Ästhetik gelegt hatte. »Habe ich dir eigentlich Joyces Portrait zu lesen gegeben?«, fragte er, nicht ganz ernst. Spiegel seufzte über den Rand seines Glases hinweg. »Zweimal.« »Kann ich dir etwas sagen?«, fragte Zimmerman, ein minimaler Wechsel im Tonfall. »Scheint, dass ich MS habe. Heute Nachmittag kam der Befund.« Spiegel brauchte zu lange, er konnte nicht auf Anhieb 302
dekodieren, was der Mann ihm gerade gesagt hatte. Als er so weit war, war der Augenblick der Vertrautheit schon vorbei. Wenn Steve es recht im Gedächtnis hatte, sagte er nichts. Saß einfach nur dumm da. Kein Trost, keine Hilfe, den ganzen Abend über nicht. Zumindest in seiner Erinnerung verabschiedete Ted sich, bald nachdem er die Bombe geworfen hatte, immer noch aufgekratzt. »Oh. He. Außerdem ist mein Oktett fertig.« Das Thema löste den Bann, der über Spiegel gekommen war. »Ehrlich? Das ist ja wunderbar. Wann bekommen wir es zu hören?« »Frag mich was Leichteres. Sobald ich acht Musiker gefunden habe, die bereit sind, so was Abstruses zu lernen.« Das war sein Werk. Sein großes Meisterwerk. Soweit Spiegel wusste, niemals aufgeführt. Das Schicksal warf sie nach ihrem Schiffbruch jeden an seine eigene Küste. Adie fand ihren Weg nach New York, zur Kunstszene in Lower Manhattan, wo sie malte und in der Cafeteria des MoMA kellnerte. Ted folgte ihr im Jahr darauf, zog nach Washington Heights, arbeitete als Bedienung in einem Restaurantboot auf dem Hudson und studierte an der Columbia-Universität Kompositionslehre bei Davidovsky. Spiegel machte seinen Abschluss in Englisch und konnte vier Gedichte vorweisen, die er gelten ließ. Er zog nach San Francisco, so weit fort von New York, wie er nur konnte, ohne dass er dafür ins Warme musste. Eine Weile schlug er sich mit Lektoratsarbeiten durch, suchte Anschluss an die City-Lights-Szene, machte einen Commedia dell’arte-Clown aus sich. Ein gutes Jahr lang ließ er sich treiben, dann bekam er eine Karte von den beiden. Sie hatten sich wieder zusammengetan und lebten nun auch zusammen. Das Leben war lang. Drei Wochen darauf fand Spiegel eine Stelle als Bankkassierer und wurde fürs Erste sesshaft. 303
Von der Kasse wechselte er in die Datenverarbeitung, eine Position, die in der Rechnungsabteilung frei wurde, als ein Operator Amok lief und sich mit einer Entmagnetisierungspistole im Magnetband-Lagerraum einschloss. Zum Glück funktionierte die Pistole genauso wenig wie die Rechner, die ihn in den Wahnsinn getrieben hatten. Spiegel entwickelte ungeahntes Computertalent. Nach dem Übermaß der Worte und ihrer Vieldeutigkeit lernte er die Klarheit der Programmiersprachen schätzen. Zahlen waren einfach. Sie wussten, was sie wollten. Sie atmeten die wunderbar reine Luft der Wissenschaft. Das Surren der Antriebsspindeln, das Schnattern des Kartenlesegeräts, das Sperrfeuer des Zeilendruckers, all das vermittelte ein Gefühl der Vernunft, das Spiegel nach Monaten mit nörgelnden Kunden – von denen die meisten keine Ahnung hatten, was sie wollten, und die Bay Savings Bank nicht von ihren Eltern, Feinden oder Liebhabern unterscheiden konnten – wie ein Segen vorkam. Ein wenig Kreativität bei der Abfassung seines Lebenslaufes bescherte ihm eine Softwarestelle bei einer Finanzplanungsfirma im Valley. Er gab sich als Programmierer aus, obwohl er COBOL eher im Reich der Elfen gesucht hätte und bei einer polizeilichen Gegenüberstellung nicht hätte sagen können, welches Ada und welches Pascal war. In den ersten drei Wochen an seinem neuen Arbeitsplatz brachte er sich die Grundbegriffe bei. Und da offenbarte sich ihm das Geheimnis, die verborgene Verbindung zwischen der Realität und ihrer Beschreibung. Du musst dir das vorstellen, versuchte er der Frau begreiflich zu machen, die ihn mit den Algorithmen des Lebens bekannt gemacht hatte. Er erläuterte es ihr an einem digital fabrizierten Handtuch, zerknittert, als sei der Betrachter unerwartet zu Besuch gekommen. Liebe Güte! Märchen aus Tausendundeiner Nacht! Wieder ging ihm auf, wie unglaublich 304
das alles gewesen war, genau wie er es damals empfunden hatte, im ersten Jahr, als er diese Welt kennen gelernt hatte. Er ließ das Band noch einmal laufen, und das Wunder wiederholte sich, so wie das Wunder der Natur sich in der Simulation der Programme wiederholen ließ. Mal es dir aus: Man muss nichts weiter tun, als ein paar Eigenschaften zu formulieren – gut, eine ganze Menge Eigenschaften. Aber man tippt einfach Wörter ein, die geheimen Namen der Dinge. Man beschreibt, wie man es haben möchte. Dann ein Umriss für das Verhalten. Die Beschreibung gibst du ein, und die Idee nimmt Gestalt an. Wird Wirklichkeit in all ihrer Schönheit. Erwacht auf dem Terminal, vor dem du sitzt, zum Leben. Die erwachsene Adie betrachtete die Miniaturausgabe des Handtuchs, die sie auf ihren Schirm praktiziert hatten, mit gerunzelter Stirn. Nein, sagte Steve. Du kannst das nicht verstehen. Es liegen viel zu viele Ebenen zwischen dir und dem Produkt. Assembler, Compiler, Interpreter, Kodegeneratoren, Programmbibliotheken, Grafikprogramme. Früher war das anders. Du musst dir vorstellen, wie das ist, wenn man das Handtuch ansieht, dieses wunderbare gewebte Baumwolltuch, den natürlichen Faltenwurf, wie echter Stoff. Sieh es dir an und stell dir vor, das sind deine Worte, die da Gestalt angenommen haben, dein bildgewordener Essay darüber, wie Stoff aussieht und sich anfühlt und fällt. Pygmalion? Steckt irgendwo in den Kulissen. Orpheus vielleicht noch eher. Ich kann dir sagen, als ich meine erste Subroutine geschrieben habe … als ob man eine unbefleckte Jungfrau heraufbeschwört, einfach indem man ihr etwas vorsingt. Ein gutes, sorgfältig ausgearbeitetes Programm war genau das, was ich immer unter Dichtung verstanden hatte. 305
Stevie. Du musst eine sehr merkwürdige Vorstellung von Poesie gehabt haben. Nicht anders als jeder, der je Verse geschrieben hat. Ich wollte hineinschlüpfen in die Wirklichkeit und ihr Wesen hervorholen, ihre Essenz, wollte auf mein Blatt die magischen metrischen Worte schreiben, die laut vorgelesen zum Sesamöffne-dich werden. Sie blickte auf den Schirm, hätte gern jedem einzelnen Wort widersprochen. Aber sie nickte. Die entscheidende Formel. Sympathiezauber. Die Fingernägel des Lebens. Der Abdruck, den ein Körper im Bett hinterlässt. Aber er war so in Fahrt, dass er sie nicht hörte. Es war einmal ein junger Dichter, und er schrieb und schrieb. Er rieb die Wunderlampe, bis ihn beinahe die poetische Sittenpolizei geholt hätte. Und trotzdem kam nichts dabei heraus. In dem Zauberspruch musste ein Fehler sein. Da setzten sie den Jungen vor ein Terminal und weihten ihn in die Geheimnisse der Syntax ein. Ein paar einfache Regeln, elegant kombiniert, und zack, schon klappt es. Die Sache läuft. Die Welt dreht sich. Alles nach Plan. Die Beschreibungen gehen Schritt für Schritt vor, folgen ihrer eigenen Logik. Programmzeilen liefern neue Schalter, mehr Wahlmöglichkeiten. Kommandos werden umgesetzt. Das Wort ward Fleisch. Spiegel wand sich. Mach dich nicht über mich lustig. Das tue ich nicht. Denn so einfach ist das. Selbst wenn es nur eine Formel zur Berechnung des Zinseszinses in einem Buchhaltungsprogramm ist. Ändere eine einzige Regel, und die ganze Welt ändert sich. Setze das Komma nach links, erhöhe die Zinsen um ein Viertelprozent, und alles passt sich an. Es gibt einem ein ungeheures Gefühl – Der Macht? Das Gefühl, dass Vollkommenheit möglich ist. Programme 306
schreiben, das hat eine Realität, wie sie keine Sestine je gehabt hat. Entweder funktioniert ein Programm, oder es funktioniert nicht, und dann ist es falsch. Basta. Und das ist doch eine wunderbare Sache. Ich habe eine Menge schlechter Bilder in meinem Leben gemalt, das kannst du mir glauben. Und ich habe keine Maschine gebraucht, die mir sagte, dass sie falsch waren. Aber du hattest nie Gewissheit, welches die wirklich guten waren. Adie wickelte sich in den stillen Selbstvorwurf wie in einen Schal. Es ist schon … merkwürdig, fuhr Spiegel fort. Im Grunde hat die Kunst das alles hervorgebracht. Das ganze Digitalzeitalter. Das haben wir der Musik zu verdanken. Das Pianola hat Hollerith auf die Idee mit den Lochkarten gebracht. Der Jacquard-Webstuhl. Ich bekenne mich nicht schuldig, sagte Adie. Ich habe ein hieb- und stichfestes Alibi. Das sagen sie alle. Er fasste ihr Kinn zwischen Finger und Daumen. Sieh es einmal so: Das Programmieren hat mein Denken befreit. Mich aus meinen alten Bahnen gerissen. So unbeschwert war ich nicht mehr seit … Seit Yeats? Seit Yeats. Die Regeln, die Operatoren? Die sind in alle Richtungen offen. Stets erweiterbar. Was immer man sich vorstellen kann, lässt sich mit diesen Regeln bauen. Begreifst du: ein universaler Simulator, der jeden Gedankenfetzen herbeizaubern kann, der je einem Menschen aufgegangen ist. Nicht einfach ein Werkzeug. Das umfassendste Medium, das man sich überhaupt vorstellen kann. Sie gaben dem digitalen Handtuch seine Flecken, vergrößerten es, hielten es ans Licht, hängten es wieder an 307
seinen erst grob skizzierten Haken, der aus der Wand zur Linken ragte. Es heißt, das ganze Denken eines Programmierers wird von der ersten Sprache bestimmt, die er lernt. FORTRANDinosaurier kommen nie aus ihren alten Programmschleifen heraus. Wer mit COBOL groß geworden ist, wird immer denken, die Maschine ist zu nichts anderem gut als zum Verwalten von Außenständen. BASIC-Kids werden den GOTO-Befehl nicht mehr los. Aber bei mir, meine erste Sprache … Adie lächelte, als sie daran dachte, gegen ihren Willen. Das war ein ganz anderer Code. Willst du etwa sagen, es war dir vorbestimmt, dass du am Ende künstliche goldene Vögel programmierst? Tja, wir landen ja schließlich alle da, wo TeraSys will. Jackdaw?, fragte Adie den, der noch ein Kind war. Was war die erste Programmiersprache, die du gelernt hast? Der Junge blickte von einem Schirm voller Kommandos auf. Irgendwo entstand aus dieser Reihe von Befehlen, der unermüdlichen, vielfach verknüpften Beschreibung, wie von Zauberhand eine Schublade, die sich aus dem Nachttisch ziehen ließ. Hmm? Die Augenbrauen gehoben, in Gedanken bei der Arbeit. Er brauchte ein paar Prozessorzyklen, bis er die Frage analysiert hatte. Meine erste? Assembler. Aber eine erste Sprache kannte nie ihren letzten Satz. An seinem letzten Arbeitstag bei der Bay Savings rief Spiegel seine Freunde in New York an, um ihnen die neue Adresse durchzugeben, auch wenn sie an die Letzte nie geschrieben hatten. Ted war nicht zu Hause. Spiegel sprach mit Adie, derselben Adie, die sich an diesen Anruf nicht erinnern wollte, als die Zeit kam, sich an alles zu erinnern. »Es geht bergab mit ihm«, berichtete sie. »Er geht am Stock. Fällt oft. Dann rappelt er sich auf und tut, als sei nichts 308
gewesen.« Der Gedanke durchzuckte Steve, dass er den Mann nun endlich im Handball schlagen konnte. »Ich habe gehört, es entwickelt sich manchmal auch wieder zurück.« »Tatsächlich? Hast du auch was über die Aussichten für einen promovierten Musikwissenschaftler gehört, irgendwo hier auf diesem Planeten eine Stelle zu bekommen?« »Das heißt, er ist bald fertig?« Etwas musste er doch sagen, auch wenn es noch so dumm klang. »Oh, nur noch eine Frage von Jahren. Steve, es ist unglaublich.« Der Stimme war anzuhören, wie die Gefühle miteinander rangen. »Er hat nichts anderes mehr im Sinn als Komponieren.« »Hat er denn noch seine …?«, hob Spiegel an. Aber der Anstand gebot doch auf die Bremse zu treten, bevor jemand unter die Räder kam. »Nein. Nichts. Sitzt nur da und schreibt seine Noten auf.« »Wird etwas davon aufgeführt?« »Stevie, Stevie. In was für einer Welt lebst du? Vor fünf Monaten haben sie bei uns eingebrochen. Die Diebe haben alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war. Alles außer den Klassikplatten.« »Ist er wenigstens … glücklich?« »Was für eine verrückte Frage. Schön zu hören, dass wenigstens einer von uns sich nicht verändert hat.« »Du malst doch noch, oder?« »Da bekenne ich mich schuldig. Aber immerhin habe ich auch eine richtige Arbeit. Ich darf den Kunstkennern ihren Kaffee servieren.« Er fragte nach, und sie gestand, dass sie nach wie vor eine Mappe parat hatte, so sehr sie auch beteuerte, dass sie sich längst in die Realitäten des Lebens gefügt habe. 309
Spiegel konnte ihren Tonfall nicht mehr ertragen. Er wünschte, er hätte nie angerufen. »Lass mich wissen, wann deine Ausstellung kommt. Und sag Thaddeus, er soll sich mal melden.« Sie ließ ihn den Termin nie wissen. Aber Zimmerman rief an, mit Jahren Verspätung, als Spiegel schon bei TeraSys arbeitete, sich an die letzte Kunstform des Jahrhunderts verkauft hatte. Als Ted von sich hören ließ, war der körperliche Verfall schon weiter fortgeschritten, als Steve es sich je hätte vorstellen können. Er meldete sich aus Lebanon, einem Nest in der Einöde Südwest-Ohios. Ein altes Shakerdorf, wo eine der visionären Gemeinschaften von Mutter Ann Lee enthaltsam auf ihrem Felsen auf Erlösung und das Ende der Welt gewartet hatte. Eine Stadt, deren Hauptindustrie früher die Utopie gewesen war, die aber nun von dem benachbarten Hochsicherheitsgefängnis lebte. Es gehe ihm gut, sagte Ted. Er arbeite. Oh: Und eine Stelle habe er auch. Es war eine Stelle im Gefängnis, Teil eines vierjährigen Resozialisierungsprogramms, das Leuten, die wegen Vergewaltigung, Brandstiftung, Mord einsaßen, zu akademischen Abschlüssen verhalf. Über Jahre hinweg hatte er sich auf dem Arbeitsmarkt umgesehen und hätte beinahe einen Posten in Utah bekommen. Aber die Mormonen hatten seine Deutung des Lieds von der Erde nicht teilen können. So war er in den Ruinen der Shakerkolonie im Warren County gelandet und bot den eingekerkerten Unterprivilegierten von Dayton, Columbus und Cincinnati Grundlagen der Theorie sowie Weltkultur l und 2 an. Was sollte das denn sein, Weltkultur l? Das wisse er selbst nicht so genau, aber Spiegels Vorschläge seien ihm stets willkommen. Es machte ihm Spaß, wenn 300 Pfund schwere Männer mit Wulstnarben quer übers Gesicht 310
eine Sonate erkennen konnten. Und immerhin: Die Rückfallquote insgesamt betrug 48 Prozent. Aber bei denen, die einen Abschluss machten, nur zwölf. Sein heilsamer Einfluss? Wahrscheinlich seien diejenigen, die semesterlang Weltkultur über sich ergehen ließen, eben auch hart genug für ein Leben draußen. Ob er den Posten für länger habe? Zwanzig Jahre bis lebenslänglich. Kein Nachlass wegen guter Führung. Und wie geht’s sonst? Überhaupt nicht mehr. Aber es gibt ja Rollstühle. Wo ist Adie? Zimmerman wusste es nicht genau. Immer noch in New York, nahm er an. Sie hatte, als sie noch zusammen waren, in einer angesehenen Galerie in SoHo eine Ausstellung gehabt. Artikel waren erschienen, in Zirkeln, die zählten, sprach man über ihre Arbeit. Die Kunstmafia war bereit, sie auf die Bühne zu holen. Dann kam die Panik. Die Werke, die auf der Ausstellung verkauft worden waren, forderte sie zurück, zahlte der Galerie ihre Kommission und den Käufern noch Entschädigung dazu. Die Galerie bot eine lockere längere Zusammenarbeit an. Aber selbst so unverbindlich wollte sie die Tür nicht offen halten. Sie veranstaltete ein Autodafe. Ted konnte nicht sagen, wie viele sie verbrannte, aber die Zahl der Opfer war hoch, und die besten Bilder waren auch die, die am besten brannten. Sie nahm kommerzielle Aufträge an. Müll, sagte Ted. Werbung. Wandgemälde für Cafeterien. Markenzeichen für Fitnessklubs. Werbebroschüren für Versandhäuser, die taten, als kämen sie aus Neuengland. Das war die Zeit, als Teds Bewerbungen auf jeden 311
akademischen Posten im Land ungeöffnet zurückkamen. Die multiple Sklerose war in einer Remissionsphase, und er steckte alle Kräfte, die er vorübergehend hatte, in ein groß angelegtes Werk – ein Konzert für Klavier und Orchester. Er arbeitete gegen die Uhr, arbeitete sieben oder acht Stunden am Tag an dem Konzert, und die Hoffnungslosigkeit des ganzen Unternehmens war zu viel für Adie. Er solle aus dem Haus gehen, sagte sie, sehen, dass er Arbeit fand. Und seine Frage, was für eine Art Arbeit das sein solle, machte sie nur umso rasender. Sie stellte ihm ein Ultimatum. Entweder suche er sich Arbeit, oder ihre Beziehung sei Geschichte. Er habe immer viel Sinn für Geschichte gehabt, antwortete er. Also trennten sich ihre Wege, und sie ließ nur eine Postfachadresse zurück. Hatte er versucht, Kontakt aufzunehmen? Hatte er nicht und wollte er nicht. Wäre für keinen von beiden gut. Sie sollte frei von ihm sein. Frei von Schuldgefühlen. Und was empfand er ihr gegenüber? Darum habe er sich eigentlich nie Gedanken gemacht. Komponierte er noch? Das war der unverhoffte Trost. Gerade als die letzte Hoffnung entschwand, fiel die Rettung vom Himmel. Spiegel kannte sich doch mit Computern aus? Verdiente sein Geld damit? Dann wusste er ja auch sicher über die Erste wirklich wichtige Neuerung der Musikwelt Bescheid, seit Pan seine Flöte geschnitzt hatte. Zimmerman hatte keine Ahnung, wie es funktionierte. Irgendein digitaler Zauberkünstler, wahrscheinlich fernöstlicher Provenienz, hatte den Klang einer echten Klarinette genommen, jede Sekunde der Tonschwingung in vierundvierzigtausend Segmente zerlegt und jedes Einzelne davon in Silikon gebannt. Von dort ließ sich der Ton in jeder 312
Höhe, Länge und Lautstärke zurückholen. Keine perfekte Klarinette, das nicht. Oder besser gesagt, ein klein wenig zu perfekt. Aber Zimmerman wollte nicht über die Klangqualität klagen. Er hatte seinen Esterhazy im Kasten – jedes Instrument im Orchester tat genau das, was er wollte, rund um die Uhr, und jedes davon mit Fähigkeiten begabt, die weit über sein reales Vorbild hinausgingen. Er komponierte am Bildschirm, nicht viel anders als auf Papier, und dann spielte sein musikalischer Wunderkasten jedes Tongebilde, das er ihm beschrieb. Die Möglichkeiten übertrafen nicht nur seine kühnsten Erwartungen, sie boten mehr, als er an Erwartungen überhaupt entwickeln konnte. Zum ersten Mal im Leben konnte Ted die Konturen seiner Gedanken hören, wie sie in seinem Kopf erklangen. Der unermüdliche Kasten spielte ein Presto von Vierundsechzigstelnoten einen ganzen Tag lang, ohne einen einzigen falschen Ton und ohne ein einziges Mal auszusetzen. Er kümmerte sich nicht mehr um das spieltechnisch Mögliche und komponierte nun die Musik, die er wirklich hören wollte. Die Maschine spielte alles, Zimmerman musste es ihr nur beibringen. Er schrieb ein Stück für zwölf Pikkoloflöten in strahlendster Stimmlage. Er schrieb eine Sonate für Cello und Klavier, bei der das Klavier nur im Pianissimo spielte und der Cellopart eine einzige Folge von mörderischen Griffen war. Er schrieb ein frenetisches Solo für Bassklarinette, dreißigtausend Noten, die in irrwitzigem Tempo über alle Register hüpften, und das so erratisch, dass kein menschlicher Musiker eine Chance gehabt hätte. Er spielte es Spiegel übers Telefon vor, und selbst durch den erbärmlichen Lautsprecher war der Effekt Schwindel erregend. Als Spiegel das Schleusentor erst einmal geöffnet hatte, war das Telefon bald Teds liebstes Begleitinstrument. Wenn der Apparat in Seattle vor acht Uhr morgens oder nach Mitternacht läutete, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich am anderen 313
Ende ein munteres »Hier spricht Lebanon!« meldete. Ein Anruf konnte gut eine Stunde dauern, so sehr steigerte Ted sich in seine Begeisterung hinein. »Warte«, sagte er, die Stimme schleppend, schon weit in ihrem ein ganzes Jahrzehnt währenden Rallentando. »Jetzt hör dir dieselbe Passage gespielt von einem Bläserquintett an.« Dann die Schläge, wenn er sich mühte, das Gerät einzustellen. Daran, wie er kämpfte, spürte Spiegel, wie schlecht es ihm mittlerweile ging. »Tu dir nicht weh«, sagte Spiegel. »Schick mir ein Tonband.« Aber das war nicht dasselbe. Ted wollte die Spannung einer Liveaufführung. Und er konnte die Maschine schon noch bedienen, er brauchte nur Zeit. Steve machte sich Sorgen. »Kommst du allein zurecht? Ich meine, man hat das Gefühl, dass am laufenden Band Sachen zu Boden gehen.« »Und am meisten davon ich selber. Keine Angst. Es gibt da eine Frau, die ab und zu nach mir sieht …« Natürlich gab es eine Frau. Was hatte Spiegel anderes erwartet? Zwei sogar. Eine Kollegin, die im Gefängnis Englisch unterrichtete. Und Zimmermans verwitwete Hauswirtin, die ihm in ihrem Antebellum-Haus, einem dieser alten Herrenhäuser der Baumwollpflanzer, drei Zimmer mit meterhohen Decken für 200 Dollar im Monat vermietete. Jeder, wie er konnte. Ein gewisses Bedürfnis nach Publikum blieb, und Ted rief nun häufiger an. Eine Zeit lang war das Verhältnis wieder so eng wie in dem Frühling, in dem sie sich kennen gelernt hatten. Aber die schleppende, brüchige Stimme schockierte Spiegel bei jedem Anruf neu. Kein schleichender Verfall, eher ein Sturz kopfüber die Treppe hinunter. Ted rief an und wollte dozieren, schwadronieren, noch ein paar Hausaufgaben nachreichen, aber hauptsächlich wollte er ihm die 314
Weltpremiere der nächsten fünfzehn Takte vorspielen. Dann und wann dachte er daran und fragte Spiegel, wie es am anderen Ende der Leitung aussah. Und dann der Blitz aus heiterem Himmel. Das große Los: das, was jeder außer diesem zum Krüppel gewordenen Anachronismus als Chance seines Lebens gesehen hätte. Ein alter Freund, ein Virtuose aus Columbia-Zeiten, gab Zimmerman den Auftrag zu einem Stück für Solobratsche, aufzuführen in der Halbwelt der New Yorker Avantgarde. Davon hast du nichts gewusst?, fragte Steve Adie nun. Selbst jetzt, mit Jahren Abstand, verblüffte es ihn. Nichts. Es ist ein paar Mal gespielt worden. Einmal sogar in einem Konzertsaal bei euch in Lower Manhattan. Die Musikszene der Stadt ist ziemlich groß, Stevie. Da gibt es Hunderte von Konzerten, von denen man nie hört, jeden Tag. Er war sicher, dass du es wusstest. Dass du absichtlich nicht gekommen bist. Es hat ihn tief getroffen, dass du nicht zu dem Konzert gekommen bist. Tief getroffen? Hat er das wirklich gesagt? Na ja, nicht direkt. Das Stück war mit so vielen kleinen Bosheiten voll gestopft, wie Zimmerman nur unterbringen konnte, doch für ein Publikum, das mit schleppenden Dissonanzen groß geworden war, waren es Melodien so lang und fließend wie Dives and Eazarus. Eine Fuge, mit weniger gab er sich nicht zufrieden, ein Thema mit Variationen nach dem alten Kirchenlied »Idumea«: sehnsüchtig, mitreißend, große Gefühle und für die, vor denen es aufgeführt wurde, hoffnungslos banal. Der Auftraggeber hätte sich beinahe geweigert, es zu spielen, so unglaublich unschockierend war es, eine so große Gefahr für sein Ansehen als Avantgardist. 315
Es war seine Provokation der Provokateure. Sein Schwanengesang an die Welt der Neuerer. Du weißt schon: »Ich komme ja doch nie wieder zu denen zurück.« Idumea. Ich kann’s nicht glauben. Idumea. Er hat auch gesagt, dass du … dass du … … immer durch die Wohnung gegangen bin und diese Melodie vor mich hingesummt habe. Nackt. Das hat er dir gesagt? Wie konnte er? Wie konnte überhaupt jemand es wagen? »Idumea« erntete so viel stilles Nasenrümpfen wie seinerzeit Le Sacre schrille Pfiffe. Liederkranz, zweitrangige Volkstümelei, ein halbes Jahrhundert zu spät: Stoff für ein paar spöttische Bemerkungen eines sehr erlesenen Grüppchens eine sehr kurze Zeit lang. Aber zumindest einem Zuhörer ging die ergreifende Bratschenmelodie zu Herzen, einem Doppelagenten, der bei Tage musikalische Untermalungen für Werbespots produzierte. Der Bursche suchte schon seit längerem nach jemandem, der ihm dreißig Sekunden Pseudo-Copland liefern konnte, und der Zufall hatte ihn nun zu diesem Jemand geführt. Zimmerman zögerte keinen Augenblick. Spiegel war entsetzt, es machte ihn traurig. Aber da er selbst mittlerweile für TeraSys arbeitete, konnte er sich kaum zum Moralapostel aufschwingen. Ted hatte das Stück in knapp drei Wochen fertig. Es war das alte Shakerlied »Simple Gifts«, das an seine Ursprünge zurückkehrte. Dreißig Sekunden Hosianna vom strahlenden ersten Erntedanktag der Welt. Himmlischer Kontrapunkt, eingespannt für ein multinationales Lebensmittelkonglomerat, das seine dubiosen Agrochemieprodukte verpackt in die Unschuld der Shakergemeinschaft verkaufte. Das ist von ihm? Das hat Ted komponiert? Adie konnte es nicht glauben. Sie hatte den Werbespot noch im Ohr, hätte ihn 316
nachsingen können. Die hinterhältig nostalgische Melodie, die einem, wenn man bei geschlossenen Gardinen allein im Zimmer saß, die Tränen in die Augen trieb. Die Auftraggeber waren hocherfreut und entlohnten Zimmerman großzügig. Ted verdiente mit der Arbeit dieser drei Wochen hundertmal mehr als mit allen anderen Kompositionen seines Lebens zusammen. Als der Tag kam, half die Summe ausgleichen, was die Versicherung des Gefängniscollege ihm verwehrte, und Ted zog ins zweitbeste Pflegeheim von Warren County. Das Leben war lang, das konnte man wirklich sagen. Ted verbrachte seine Tage auf das Bett einer Anstalt in Ohio geschnallt, ein vierzig Jahre alter Avantgardekomponist umgeben von perfekten Zuhörern: stocktauben Greisen. Immerhin hatte er ein Einzelzimmer – eine aus weißen Steinen gemauerte Zelle, genauso groß wie der Raum, den anderswo eine alte Freundin gerade neu dekorierte. Ted und Steve hatten erst zweimal miteinander gesprochen, seit Adie im Westen angekommen war. Spiegel rief nicht mehr an. Ted konnte den Hörer nicht mehr halten, und selbst als einer von Teds Schutzengeln ihm einen Freisprechapparat besorgte, rief Spiegel nicht mehr zurück. Es war nicht nur Feigheit. Teds Stimme war so schwach und undeutlich geworden, dass Steve sich alles dreimal wiederholen lassen musste und trotzdem nur die Hälfte verstand. Das Hirn war noch intakt, aber es driftete nun in Bereiche ab, zu denen es Spiegel vorerst keinen Zugang gewährte. Schweigen schien unter allen Qualen die gnädigste. Spiegel hatte ihn nicht besucht, hatte auch keine Fotos gesehen. Aber das hier, das war der Ort, an dem der Mann jetzt lebte. Wo, wenn nicht in diesem archetypischen Zimmer? Dielen statt Linoleum, krumme Fensterläden statt formgepresstem Kunststoff. Das Bett in die hintere rechte Ecke der schmalen Zelle gezwängt. Gewiss war es in Wirklichkeit 317
ein Stahlrohr-Krankenhausbett mit Acryldecken. Aber er zweifelte nicht, dass der Kranke in Gedanken eher in diesem massiven Kasten aus Holz mit seinem Eidolon von Eiderdaunen lag. Und daneben der wacklige Tisch: ideal für Teds MIDISequenzer, der seine archaischen Partituren aus einer ganzen Palette digital gesampelter Instrumente spielte, mit blechern klingenden Lautsprechern, da wo van Goghs Wasserkrug stand. Vielleicht kam eine Krankenschwester und bewegte die Maus für ihn. Vielleicht verstand die Maschine, anders als Spiegel, Teds Stimme noch gut genug und ließ sich mit Worten steuern. Vielleicht steckten in den Bilderrahmen über dem Bett lasergedruckte Notenblätter, Erinnerungsstücke an Teds lange Abenteuer im Reich der Töne. Das war der Raum, den zu schaffen Spiegel half, ganz gleich, welche Kammer im sonnigen Süden Adie sich dabei vorstellen mochte. Zusammen schnitzten die beiden aus den Quadern die Objekte, die sich darin verborgen hielten. Tausende von Polygonen schwebten im Raum, wo sich die Strahlen der fünf Projektoren trafen. Der Rasierspiegel allein brauchte Millionen Bits, Dutzende für jeden einzelnen Pixel, um Ort und Farbe zu bestimmen. Hinter dem kaltblauen Glas huschten Spannungsfolgen durch eine Liste von Registereinträgen, eine Polonäse so lang, dass das menschliche Auge nur den äußeren Schein sah, das einfache Glas, das nichts von der Welt oszillierender Halbleiteraktivitäten unterhalb der Oberfläche ahnen ließ. In den Wochen, in denen Adie und Spiegel an ihrer Kammer mit alten Möbeln arbeiteten, stellte Jackdaw eine Bibliothek interaktiver Definitionen zusammen – universelle Kugellager für alles, was sich an dem Raum bewegen sollte. Durch das immer feinere Sieb der Software – untere Grenze X prüfen, untere Grenze Y prüfen, untere Grenze Z prüfen, obere Grenze …, StepRate einstellen, ShadeOffset, RotItem 180 auf 180, 318
Step-Rate anpassen, wenn ShadeOffset <X, dann … wenn … – schüttelte Jackdaw die Daten, bis auch die kleinste Kleinigkeit trillionenmal funktionierte, ohne dass es überhaupt jemand bemerkte. Es genügte nicht mehr, dass die spartanischen Einrichtungsstücke, deren kontinentbreite Bitflächen wie Gletscher über die Moränen der Bildspeicher wanderten, Massivität nur vortäuschten. Tief verankerte C-Routinen versahen nun selbst die kleinsten Boxelcluster mit Eigenschaften der realen Welt. Dieselbe Elektronik, die für den Raum Skulpturen aus bunter Luft schuf, konnte auch die Besucher spüren, die wie Engel hereinschwebten, und auf sie reagieren. Die lebendigen Hände der Besucher glitten noch immer durch alles hindurch, was sie befühlen wollten. Aber nun konnten Daumen und Zeigefinger, die nach dem Knopf der Phantomschublade griffen, sie aufziehen. Selbst die Schöpfer dieser Welt spürten, wie unheimlich es war, wenn sie die gemaserte Logik eines Objektes bewegen konnten, das sich nicht einmal fühlen ließ. So körperlos es auch war, bewegte sich das Handtuch, wenn man daran vorbeistreifte. Die Fenster schlossen sich mit einem Ruck, wenn man auch nur Anstalten machte, die Flügel zuzuziehen. Und wenn ein gedankenloser Besucher, den eine halbe Milliarde Jahre Evolution dazu gebracht hatte, seinen Augen zu trauen, im Reflex die Hand ausstreckte und die Bettdecke glatt strich, dann schlug die Decke sich wie durch Zauber auf, als warte sie nur darauf, dass die Idee eines Schläfers kam und es sich in dem Bett gemütlich machte. Wasser wartete, dass es ausgegossen wurde, Hemden warteten auf ihren Träger, Bilderrahmen auf jemanden, der sie gerade rückte. Die Kammer, die rund um ihre Gestalter entstand, wurde immer gespenstischer. Die PhantomPlatzhalter nahmen immer mehr Eigenschaften ihrer massiven 319
Originale an. Denn nun endlich beschäftigte sich der Verstand weniger mit der Materie als mit der angemessenen Reaktion darauf. Nun ging es um funktionsfähige Symbole, und je einfacher sie waren, desto besser. Tiefe, Farbe, Oberfläche, Bewegung – das Zusammenspiel aller funktionellen Teile – kündeten von einem Bewohner, der für alle Zeit nur eben mal nach draußen gegangen war. Der Besucher bewegte sich in einem möblierten Zimmer, wo alles war, wie man es erwarten konnte, nur dass der Bewohner nie zu Hause war. Je mehr das Jahr sich dem Ende zuneigte, desto konkreter wurde der Raum. Jedes Mal von neuem stand Spiegel voller Erwartung auf den Dielen und stöberte in den Dingen, die der Holländer zurückgelassen hatte. Auch für Adie hatte die Glaubwürdigkeit des Zimmers inzwischen eine kritische Masse erreicht. Die Technik erwartete etwas von ihnen. Die Bühne, von südlicher Sonne erleuchtet, war bereit für eine Enthüllung. Egal wie viel Zeit außerhalb der Grotte verging, im Schlafzimmer des Künstlers blieb es stets Mittag. Das gleißende Licht umhüllte seine Schöpfer, selbst wenn sie um Mitternacht an ihren Schirmen saßen. Die drei gewöhnten sich stillschweigend eine Routine von Hausgenossen an, eine junge Kleinfamilie in ihrem ersten lichtdurchfluteten Eigenheim. Jeder arbeitete für sich, und von Zeit zu Zeit kamen sie zum Diskutieren und Ausprobieren zusammen. Ewiger Nestbau, immer währender Frühjahrsputz. Gemeinsam arbeiteten sie an der Verschönerung ihres Heims, und Worte waren dabei überflüssig. Ade?, sagte Spiegel eines Abends und durchbrach das Schweigegelübde. Kann ich dich mal was fragen? Die Augen sagten: »Muss das sein?« Der Mund sagte Sicher. Diese Sache mit der Enthaltsamkeit. Ja? Sie zog den ersten Buchstaben in die Länge, ein Bild des Argwohns. Und was genau möchtest du über diese Sache mit 320
der Enthaltsamkeit wissen, Stevie? Er drehte ihr eine lange Nase, einer lächerlich altmodische Geste, die er irgendwo aufgeschnappt hatte, er hatte keine Ahnung wo. Nicht die Enthaltsamkeit an sich. Darüber habe ich schon mehr Daten gesammelt, als mir lieb ist, vielen Dank. Was mich interessieren würde … vermisst du es denn nie? »Es« wäre die Nicht-Enthaltsamkeit? »Es« wäre ein Mensch, mit dem du zusammenlebst. Gemeinsamkeit. Jemand, an den du dich an einem kalten Abend kuscheln kannst. Na, ich habe doch Pinkham. Sie blickte hinüber zu dem Hund, der zusammengerollt an seinem Lieblingsplatz lag, auf einem Flickenteppich in einer großen Rolle Koaxialkabel am Eingang zur Grotte. Sie schlug sich einladend auf die Schenkel. Pinkham blickte auf, vergewisserte sich, dass keine Gefahr im Verzug war, gähnte und rollte sich wieder zusammen. In den simulierten Raum kam er nie herein. Er verwirrte ihn. Fehlt es dir denn nicht, dass dich … mal etwas überrascht? Etwas, was sich nicht auf Axiome reduzieren lässt. Ein lebendiges Wesen, so groß und so komplex wie du selbst. Oh, Pinkham ist all das. Und noch vieles mehr. Genau genommen ist er ein viel komplexeres Wesen als ich. Gut, dann nenn mich anthropozentrisch. Hast du denn nie das Bedürfnis, mal mit jemandem zu sprechen? Vor dem Einschlafen? Mit einem Verstand, der nicht dein eigener ist, noch einmal die Merkwürdigkeiten des Tages durchgehen? Jemand, der dich ablenkt an den Tagen, an denen du das Gefühl hast, dass dir alles zu viel wird? Eigentlich habe ich Worten nie getraut, sagte sie. Spiegel öffnete die Fensterläden. Jackdaws akkurater Algorithmus tauchte den Raum in strahlendes provenzalisches Sonnenlicht. Stevie ließ die Fensterflügel mit 321
Handbewegungen auf- und zugehen, ohne dass er sie berührte; es war, als spielte er auf einem Theremin. Sex, Ade. Brauchst du den nicht? Kannst du wirklich ganz darauf verzichten? Kommt drauf an. Sie wandte den Blick ab, aber es hatte nichts Kokettes. Darauf, was du mit Sex meinst. Auch er wandte sich ab, damit sie die Röte in seinem Gesicht nicht sah. Hast du dich je gefragt, warum wir zwei nie miteinander geschlafen haben? Ich meine, jede andere mögliche Kombination in dem Haus hat es doch zumindest einmal probiert. Da spielte es keine Rolle … Er verhaspelte sich, aber er konnte nicht aufhören. Ob sie sich mochten oder nicht. Du hast nichts verpasst, Stevie. Glaub mir. Einen Augenblick schien sie unschlüssig, wie sie weitermachen sollte. Also. Ich weiß nicht, wie das bei dir ist. Aber für mich ist Alleinsein keine Entbehrung. Das ist für mich keine Gefängnisstrafe, Stevie, dass ich allein bin. Ich bin gern allein. Es ist besser als jedes andere Arrangement, das ich mir vorstellen könnte. Durch die Trennwände des Labors drang ein Indianergeheul, ein Grüppchen Softwareentwickler am anderen Ende des Flurs, das seinen hart errungenen Sieg über ein weiteres Stückchen unerforschten Terrains feierte. Und außerdem … Sie wies in die Richtung, aus der der Jubel kam. Keiner von uns ist auch nur annähernd so für sich, wie er sein sollte. Er verstand den Wink und sprach kein weiteres Wort. Ihre schlimmsten Ängste vor Bildern jeder Art bewahrheiteten sich. Es war ein abgefeimter Trick der Evolution, die Dinge so einzurichten, dass die Idee eines Bedürfnisses weitaus unersättlicher war als das Bedürfnis selbst. Gefühle hatten nicht im Mindesten genug Raum, in dem sie sich ausbreiten konnten. Sex war bestenfalls ein Zerrbild dessen, was die Liebe wollte. Der Ausbruch kam, bevor auch nur im kleinsten der 322
unersättliche Hunger gestillt war. In der nächsten Nacht saßen sie wieder beisammen, dem Ende aller Geschichte einen Tag näher gerückt. Adie und Spiegel waren mit einem Stuhl beschäftigt, der eine Art zu streuen hatte, wenn man ihn bewegte, und ein Phantombild seines rechten Vorderbeins zurückließ. Weißt du, was uns hier fehlt, Ade? Spiegel hatte seinen Blick auf eine Hardcopy der fehlerhaften Datenstruktur geheftet. Er brachte es vor, als sei er erst in diesem Augenblick auf die Idee gekommen. Ton. Sie brauchte einen Moment, bis sie verstand, was er meinte. Doch dann klatschte sie in die Hände. Und noch einmal, lauter. Je mehr in Fetzen liegt ihr’ sterbliche Idee. Das ist wahr. Da hast du Recht. Ton, das ist es. Dass ich darauf nicht gekommen bin! Das Zimmer ist totenstill. Deshalb kommt es einem wie ein Spukhaus vor. Zumindest einer der Gründe. Wir könnten die Fußbodenbretter knarren lassen, wenn jemand drauftritt? Genau das. Großartig. Man hört die Resonanz, wenn jemand aufs Holz klopft. Die Läden knarren. Das Glas klirrt. Jedes einzelne Stück hat sein Geräusch. Die Leute werden begeistert sein. Ihre Ohren überzeugen sie, dass die Sachen, die sie berühren, echt sind. Weißt du, was wir hier wirklich brauchen? Musik. Sie legte den Kopf schief. Überlegte, worauf er hinauswollte. Und dann ging es ihr auf. Ich glaube kaum, Stevie. Das wäre so ziemlich das Letzte, was wir hier brauchen. Musik wäre das Allerletzte. Er sah sie an, hatte es bereits im Ohr. Als erklängen im Raum schon die nie gespielten Sonaten. 323
Ihr Gesicht zeigte, dass sie verstand. Sie wehrte den Angriff ab. Du Dreckskerl. Das darf doch nicht wahr sein. Du hast mich den ganzen Weg hierher geschleppt, nach all den Jahren …? Nur damit ich … nur weil du dachtest, ich lasse mich wieder …? Sie wand sich bei dem Gedanken, dass sie den größten Malkasten verlieren würde, den ein Mädchen je bekommen hatte. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen, bis hinauf zu den Ohren. Nein, sagte sein Blick, aber sie hörte ihn nicht, so leise war er. Nicht deinetwegen. Nicht für dich. Für Zimmerman. Für Ted. Für den einen, der ihn wirklich brauchte. Den einen, den Spiegel mehr liebte als jeden anderen. Der Therapieraum steckt noch in den Anfängen. Seine Idee ist so alt wie Ideen überhaupt: das Entsetzen des Lebens besiegen, indem man es in Bilder zwängt. Höhen, die auf den Boden der Tatsachen gebracht wurden, ausgetrocknete Flutkatastrophen, Außerirdische aus Pappe: eine grässliche Geschichte, die keinem größeren Schaden zufügen kann als eine Geschichte. Vor dem Therapieraum eine Frau, weiß, vierunddreißig Jahre alt, Neurasthenikerin. Miss Muffet (Name geändert) erscheint mit akuter Arachnophobie. Nachdem die Vorgeschichte geklärt und körperliche Ursachen ausgeschlossen sind, schicken ihre Ärzte sie in die realistische Nachbildung einer Küche, die ihrer eigenen recht ähnlich sieht: eine saubere, gut beleuchtete Kenmore-Küche mit reichlich Arbeitsfläche. Gerade als M.M. sich in ihrer neuen Umgebung wohl zu fühlen beginnt, begraben Techniker sie bis zur Taille in Spinnen. Die Reaktionen der Patientin lassen die Anzeige ausschlagen. Sie schreit auf, rennt aus dem Bild, als ergreife sie vor einem echten Schrecken die Flucht. Für die nächsten zwei Stunden ist 324
M.M. nur noch ein Häufchen Elend, außerstande, auch nur in die Nähe der virtuellen Küche zu gehen. Das ist ein gutes Zeichen. Wenn der Therapieraum seine Wirkung tun soll, muss der Patient ihn so ernst nehmen, dass er sich davor fürchtet. Ihre Leichtgläubigkeit macht Miss Muffet zur idealen Versuchsperson. Sie weiß, dass die Spinnen nicht echt sind. Und hat trotzdem Angst vor ihnen. Sobald die Patientin sich halbwegs beruhigt hat, wird sie wieder hineingeschickt. Diesmal mit dem Gedanken, dass es nur ein Trugbild ist, für den Angriff gewappnet, hält sie es dreißig Sekunden lang aus. Miss Muffet lacht vor Entsetzen auf, als sie den Weg ins Freie findet. Ihr Puls braucht nur noch halb so lange wie beim ersten Mal, bis er zur normalen Frequenz zurückkehrt. Jetzt weiß sie, dass sie den Spinnen entkommen kann, wenn sie nur will. Sie kann in die Küche gehen, so entsetzlich das auch ist, und es überstehen. Echtes Exponieren hat diese pädagogische Wirkung nicht, denn die echte Furcht macht einen zweiten Versuch unmöglich. Aber der Therapieraum nutzt die Grenzen des Scheinbaren. Überzeugungen machen dem Augenschein Platz, Spinnen den spinnenartigen Objekten. Nach zwölf Sitzungen geht Miss Muffet zum Angriff auf ihren Gegner über, schlägt sie mit dem Joystick platt, zählt die Treffer wie bei einem Videospiel. Und wie durch ein Wunder macht M.M. draußen in der wirklichen Welt parallel dazu den gleichen Schritt. Denn wenn das, wovor sie solche Angst hatte, sich als reines Bild entpuppt, kann es dann draußen so gefährlich sein? Ein Modell führt ihr vor Augen, dass auch das, was sie bisher quälte, ein Modell war. Symbole kurieren sie von der Furcht, für die diese Symbole standen. Die Panik verliert die dritte Dimension, und zurück bleibt ein harmloses Zeichen. Dasselbe Verfahren kann allen helfen, denen die Wirklichkeit das Leben schwer macht. Brandopfer vergessen ihren Schmerz, werden sie in flirrendes Licht gehüllt. Wer beim Gedanken an 325
ein Flugzeug starr vor Schrecken war, wird in Zukunft keinen Anschluss mehr verpassen. Traumapatienten, bei denen jede andere Therapie versagt hat, trauen sich in die virtuellen Feuergefechte zurück, die ihnen keinen Schaden mehr zufügen können. Das nächste Mal, dass M.M. eine Spinne sieht, zerquetscht sie sie glücklich mit der bloßen Hand. Die Krankenakte schließt mit einem Happy End: Miss Muffet erfolgreich desensibilisiert. Der Mai dehnt jedes Zehnminutenintervall zur Ewigkeit. Doch kaum sind die Wochen endgültig begraben, hast du das Gefühl, dass der Monat in deiner Erinnerung auf einen halben Herzschlag zusammenschrumpft. Die Zeit benutzt dich; sie macht mit dir, was sie will. Sie nähert sich gletschergleich, schiebt sich Zoll für Zoll über die narbigen Landmassen in deinem Inneren. Und wenn sie sich wieder zurückzieht, hinterlässt sie keine Spuren, nur weiße Leere. Du schlägst die Viertelstunden tot, wanderst über die Dünen unendlich trostloser Sandwüsten, und wenn du dich umdrehst, hat der Wind jeden Kilometer mühsam eroberten Weges schon wieder verweht. Riesige Entfernungen liegen zwischen den spärlichen Oasen in dieser Einöde. Du machst Halt an jeder Karawanserei, die dir begegnet. Der Muttertag, früher höchstens Anlass zu einer Woche leichter Anspannung, gekrönt von einer telefonischen Blumenbestellung in letzter Minute, entwickelt sich zu einem Festtag himmlischer Ablenkung. Den ganzen Tag über versucht das Gesicht dieser Frau Gestalt anzunehmen. Du ringst mit den Einzelheiten, suchst nach dem ersten Bild, das deine Augen je wahrgenommen haben, so vertraut und so falsch, so beglückend und abstoßend, vernachlässigt, geliebt und misshandelt zugleich. Du verbringst Stunden damit, ihre 326
Gesichtszüge zu rekonstruieren, mehr als die groben Umrisse zu erkennen, willst deiner üblichen Kurzsichtigkeit zum Trotz die Feinheiten der Knorpel sehen, die winzigkleinen Kreuzblumen des Fleischs. Du erkennst ihre kräftige Nase, deine Nase vor der angelsächsischen Verseuchung. Die gequälten Lachfältchen rings um die Augen, tief eingegraben wie Ackerfurchen. Die Furchen auf ihrem Kinn siehst du so deutlich, wie es nur in der erzwungenen Isolation möglich sein kann. Ein gequältes Gesicht, das Gesicht einer Gejagten. Gerahmt von kupferroter Gelassenheit; erst mit zwölf Jahren begriffst du, dass das nicht ihre natürliche Farbe war. Pahlewi-Kupfer. Vorher, auf Bildern, Pahlewi-Blond. Ein typisches Opfer der Verwestlichung, des westlichen Gifts. Eine Haarfarbe, die sich nur schwer verstecken ließe, selbst heute, unter dem vorschriftsmäßigen Kopftuch. Ein Gesicht, das im Land ihrer Geburt nicht mehr willkommen war, demselben Land, das jetzt dem heiligen Krieg und seiner Armee der Gotteskrieger Geld gibt, den Leuten, die dich gefangen halten, ihr Kind, Fleisch von ihrem Fleische. Den ganzen Tag über nehmen ihre Muskeln Gestalt an, schmiegen sich um die edlen Wangenknochen, eine glückliche Grimasse lugt hinter der allesbeherrschenden Angst hervor. Jedes tapfere Lächeln kündet von Verwirrung, von den verschlungenen Pfaden, auf denen es hierher gelangt ist. Du erkennst den Pfirsichflaum auf ihrer Oberlippe. Den hatte sie schon damals, im Jahr 1951, dem Jahr, in dem der alte Tavakoli und seine Familie nach England auswanderten, nach der Verstaatlichung der Anglo-Iranian Oil Company durch Mossadegh. Drei Jahre später, nach der Rückkehr des Schahs in den Iran, wandte sich die frisch umbenannte British Petroleum erneut an deinen treuen Großvater und setzte ihn wieder auf seinen Posten im mittleren Management. Aber zu der Zeit hatte deine 327
Mutter Shanaz mit dem zarten Pfirsichflaum auf der Lippe bereits einem gut aussehenden amerikanischen Soldaten den Kopf verdreht, der in London auf seine unvermeidliche Rückkehr nach Iowa wartete, wo er für den Rest seines Lebens Vorträge über die Extensivierung der Landwirtschaft halten sollte. Bei einer grotesken anglikanischen Zeremonie, auf der die ganze vertriebene Familie nach Kräften die Farangi mimte, schwor deine weiß verschleierte Mutter mit ihren sinnlichen Lippen, diesen Amerikaner zu lieben, zu ehren, und ihn zu begleiten ins tiefste Innere eines Landes, das den Iran nicht von Indonesien unterscheiden konnte. Diese Züge, dieses Gesicht: Wie mag sie die gezähmte Prärie gesehen haben, mit ihren schwarzen, staunenden Augen? Eine Frage, die du dir niemals gestellt hast, bis jetzt, wo ein Muttertag dir so viel Zeit verschafft, dass du jede beliebige Frage stellen kannst. Isfahan ist die Hälfte der Welt, sang deine Mutter dir einst leise vor. Für sie, die in Basra, Kuwait und Doha aufgewachsen war, konnte die andere Hälfte der Welt nicht mehr viel Platz bieten für eine Stadt wie Des Moines. Trotzdem, hörst du wieder die lebhafte, lachende Stimme, trotzdem habe ich mich nie irgendwo zu Hause gefühlt, bevor ich in die Vereinigten Staaten kam. Die schwarzen Augen, deren Blick du nie standhalten konntest, huschen weg, verstrickt in den Kompromiss einer Halbwahrheit. Die Menschen im Mittleren Westen sind so freundlich. Sie nehmen einen so bereitwillig auf. Damit meinte sie wohl, dass die Bewohner von Iowa sich in ihrer Großzügigkeit schlichtweg nicht vorstellen konnten, dass jemand nicht so sein wollte wie sie selbst, wenn er auch nur halbwegs die Wahl hatte. Aber sie wollte so sein, deine Mutter mit ihren gefärbten Haaren. Wollte wirklich so gesichtslos werden wie die Einheimischen. Gesichtslos und geschichtslos wie die Hügel des Mittleren Westens. Sie lebte das Leben, auf das ihr kosmopolitischer Vater, dieser Abgesandte eines Kaiserreichs, 328
sie unwissentlich vorbereitet hatte, indem er sie als Kind von einem Ölvorkommen zum Nächsten schleppte. Sie lernte singen: We are from I-oway, I-oway! Zum ersten Mal in ihrem Leben zu Hause. ….. Das Gesicht, das du am Morgen heraufbeschwörst, ist abends alt. All die Jahre: Shahnaz umgeben von Mais aus einer anderen Welt. Ihre uralten Worte, Werte und Traditionen hat sie begraben. Nur hin und wieder ein Wort in französisch gefärbtem Farsi, ein leise gemurmeltes merci an der Supermarktkasse, ein beiläufiges khoda hafez beim Abschied von einer der wenigen Partys, auf denen sie sich wirklich entspannt amüsiert hat. Die verstohlenen Newroz-Feiern in der dritten Märzwoche, mit unechten Blumen aus dem Gewächshaus und Nugat von der Jewel Tea Company, ein blasser Ersatz für das kaiserliche Original. Abgesehen von diesen kleinen Ausrutschern taucht sie ihr Leben in Tarnfarbe, ihre olivfarbene Haut wird mit zunehmendem Alter immer blasser, sie gleicht von Jahr zu Jahr mehr einer rosigen Farmersfrau, bis du sie am Muttertag um Mitternacht für weiß halten könntest, so weiß wie dein Vater, so weiß wie dein Staat, so weiß wie deine Erziehung. Die Erscheinung sieht dich an, weder tadelnd noch flehend. Mit einem einfachen Blick wacht sie über dich. Dieser Tag im Mai erinnert dich an den Urgrund ihres Daseins. Sie brauchte keine andere Rechtfertigung, solange ihr sie noch brauchtet, du und dein Bruder, zum Überleben in einer Welt, in die der Zufall euch geworfen hatte. Ihre beiden Jungs: mehr Licht brauchten diese Augen nicht. Ihr Antlitz war das Antlitz der Liebe, zu scheu, um sich je auf einem Foto einfangen zu lassen. Dies ist die Maske der willigen Aufopferung. Das Gesicht des mütterlichsten Wesens, das ein Kind sich überhaupt vorstellen konnte. Dein Inbegriff der Sicherheit, das Bild der Fürsorge und Geborgenheit, die du für selbstverständlich hieltest. Deine Bürde, deine Schande, 329
deine Erinnerung, deine Mutter. Nach Sonnenuntergang verblassen ihre Züge. Sie entschwindet ins Dunkel deines Verlieses. Nichts bleibt von ihrer verdrängten Fürsorge als der Ausdruck von Entgegenkommen auf ihrer Stirn, ihr Mutterwitz, die Bereitschaft zum Improvisieren. Du kannst sie nicht zurückholen. Sie verwandelt sich in die Frau, die du niemals gesehen hast, die Frau, die erst zeigte, was sie konnte, als du aus ihrem makellosen Nest geflüchtet warst. Deine Fahnenflucht muss ihre Züge verändert haben, denn Augen verraten immer, wonach sie suchen. Während du in Chicago den privilegierten Spitzen der globalen Wirtschaft beibrachtest, ihr verbales Gewicht noch wirkungsvoller in die Waagschale zu werfen, während Kamran mit dem Peace Corps in Mali Häuser baute und ihr glückloser Ehemann mit jedem Tag seines Ruhestands weiter verkümmerte und immer tiefer in den Sog der Fernsehdramen um texanische Millionäre geriet – wen konnte diese Tochter anglo-iranischer Wanderungen, diese geborene Mutter da noch hegen und pflegen in den endlosen Maiswüsten von I-oway? Wo sollte sie hin mit ihrer überflüssigen Nestwärme? Sie fand einen Ersatz – so schnell, dass du eifersüchtig warst. Die Macht der Gewohnheit, die Trägheit des Mutterinstinkts ließen sie weiterkochen, und sie produzierte Nahrung, als wären immer noch Küken da, sie zu essen. Riesige Mengen eurer Lieblingsgerichte türmten sich in einem Haus, das nicht mehr genügend Mäuler beherbergte, die all das vertilgten. Schließlich machte eine Freundin, die sie von ihren freiwilligen Einsätzen in der Jugendarbeit kannte, den Vorschlag, sie könnten zusammen einen Partyservice aufmachen, Shahnaz am Herd und Rosemary, die Einheimische, an der Theke. Zwei Jahre lang funktionierte das unternehmerische Experiment der beiden Frauen dank Mundpropaganda. Sie bewirteten Konfirmationsgesellschaften mit Schweinekoteletts und 330
Kartoffelbrei und servierten Brathähnchen und Äpfel im Schlafrock zur goldenen Hochzeit. Und die ganze Zeit über war deine Mutter in ihrem tiefsten Inneren überzeugt, dass die Menschen solche Dinge nur aßen, weil sie es nicht besser wussten. Sobald sie ihren festen Kundenstamm hatte, holte die Frau zum wohlkalkulierten Angriff aus. Sie ging ganz behutsam vor, schmuggelte heimlich ein wenig mast o esfinag oder khiar zum glasierten Schinkenbraten, und keiner kam ihr auf die Schliche. Derart ermutigt, wagte sie sich an Safranreis mit Kruste und sereshkpulow für eine Party und ein Auberginenrezept mit dem Namen »Der-Imam-fällt-in-Ohnmacht« für eine andere. Schritt für Schritt brachte sie das ganze Register an kulinarischen Köstlichkeiten und Offenbarungen auf den Tisch: kabab koobideh, fesenjan, dornte sabzi. Diese Stützpfeiler der persischen Küche ergänzte sie durch einen Reigen aus Rezepten, die sie auf den Irrfahrten ihrer Jugend kennen gelernt hatte, wo es sie in sämtliche Hauptstädte des Nahen Ostens verschlagen hatte. Sie schuf eine Oase in der Maiswüste. Die Feindseligkeit der Einheimischen gegenüber allem Fremden kapitulierte vor einem köstlichen, mit Rosenwasser aromatisierten Reispudding. Als die Einwohner von Iowa sich erst einmal an diesem Quell gelabt hatten, verlangten selbst eingefleischte Steak-und-Kartoffel-Esser nach mehr. Die Kultur hatte keinen Gaumen so sehr geschädigt, dass ein paar himmlische Genüsse ihn nicht heilen konnten. Rosemary, die Geschäftsführerin, entwarf eine exotische Visitenkarte im orientalischen Stil und taufte das neugeborene Unternehmen Iranian Delights. So etwas hatte Des Moines noch nie erlebt. Es gab meilenweit keine Konkurrenz. Sie waren ein Riesenerfolg und konnten die Nachfrage kaum befriedigen. Was sie lieferten, war der Geschmack des Unbekannten, den das Leben allzeit verhieß, und das zum 331
gleichen Preis wie Bohnen mit Schweinefleisch. Nach dem November 1979 änderten sie den Namen wiederum und nannten sich nun Persian Delights, genau wie Anglo-Iranian sich seinerzeit diskret in British Petroleum verwandelt hatte. Aber im Umland von Des Moines rief man zu den Waffen und lehnte mit patriotischer Geste alles ab, was pikant und anrüchig war. Geschlagen von weltpolitischen Veränderungen räumte die multikulturelle Esskultur ihren schwachen Vorposten im hohen Mais. Iowa verleugnete die längst Eingebürgerte und machte sie wieder zur Einwanderin. Ihre Geschichte vertreibt dir in der Not für eine Stunde die Langeweile. Aber das Ausmalen schmerzt mehr als die Zeit. Die Details bringen dich um. Du würdest von teuflischer Ironie sprechen, wenn du noch an etwas so Gutartiges glauben könntest. Wie sie zum Entsetzen ihrer westlich gesinnten Eltern als junges Mädchen durch die Straßen zog und sich an die Brust schlug, Verse aus dem Koran rezitierend, die sie in unverständlichem Arabisch auswendig gelernt hatte. Wie sie den Bund fürs Leben mit ihrem amerikanischen Soldaten schloss, dessen größte Heldentat darin bestand, dass er mitgeholfen hatte, General Pattons fiktive Landungstruppen durch England zu verschieben, Tausende von Panzerattrappen aus Pappe und Bai-Ions samt Motorengeräuschen vom Grammofon, die den Nazis vorgaukeln sollten, dass die Alliierten in Calais landen würden. Wie deine Eltern in einer anglikanischen Kirche heirateten, in einem Land, in dem keiner von ihnen zu Hause war und das sie doch beide fest im kolonialen Griff hatte. Wie sie, verwestlicht und abtrünnig, beinahe ihre Muttersprache Farsi vergaß. Und wie jetzt die arabischen Texte, die sie einst gelernt hatte, von der Straße unter deinem Fenster zu dir hinaufdringen und ihrem einsprachigen Sohn ein nächtliches Ständchen bringen. Du verbringst ein ganzes Leben, einen weiteren Nachmittag, mit dem Versuch dich zu erinnern, wie es war, wenn du als 332
Kind sagtest, du seist zur Hälfte persisch. Nicht viel mehr als das beliebte nordamerikanische Gesellschaftsspiel Promenadenmischung. Ein Viertel irisch. Drei Fünftel Lappe. Nichts als ein x-beliebiges Experiment im Chemieunterricht zum Thema Verdünnung. Aber du warst immer ein bisschen stolz darauf, etwas Besonderes zu sein, eine seltene Mischung, zumindest in diesem Teil der Prärie. Deine PatchworkBiografie war immer ein gutes Thema für Referate. Sie verband dich mit einem Land, das du nie gesehen hattest, einem verlorenen Paradies, von dem du nicht das Geringste wusstest. Auch später noch, als Erwachsener, trugst du diese Zugehörigkeit zu einem Ort, der dir auf immer verschlossen war, mit dir herum. Ausgerechnet in dem Jahr, in dem du ihm endlich einen Besuch abstatten wolltest, fiel die Tür ein für alle Mal ins Schloss. Die Revolution würde die goldblonden Söhne der Pahlewis eher einkerkern als ihnen ein Visum ausstellen. Monatelang sahst du in den Abendnachrichten mehr von deinem Heimatland als in den zwei Jahrzehnten zuvor. Deine sagenhafte Heimat fern der Heimat verwandelte sich dank der unheiligen Allianz von Mullahs und amerikanischen Medien in ein wahnsinniges Zerrbild, eine Nation aufgescheuchter Hysteriker unter der Führung von fanatischen Geistlichen mit langen Bärten, die unschuldige Amerikaner gefangen nahmen und als Geiseln festhielten. Das stimmt alles nicht, versicherte deine Mutter jedem, der ihr zuhörte. Vor allem ihren Jungs. Glaubt mir, flehten die Lippen so dunkel wie Oliven. Aber ihre Augen verfolgten die diffamierenden Sendungen, von Zweifeln geplagt angesichts der Widersprüche zwischen ihren Erinnerungen und den jüngsten elektronischen Beweisen. Es ist ein altes Land, sagte sie, das fleischige Gesicht voller Angst. Älter als dieser ganze Unsinn. Die Perser waren die Herren der Welt, als die Griechen noch in den Windeln lagen. Auch das wird vergehen und nichts 333
wird bleiben als staunende Berichte. Weil du nicht zu ihm kommen kannst, kommt der Iran zu dir. Freudig exportiert er die islamische Revolution in das Vakuum dieses zerrissenen Landes. Deine Vettern finanzieren Ali, Walter, den Zornigen Vater. Dein unbekannter Halb-Ahne macht sich auf und trifft dich auf halbem Wege, in dem Tal, das euch trennt. Den ganzen Sommer über fallen dir längst vergessene Wörter ein. Beim Essen, bei deinen halbstündigen Sprints auf dem ovalen Parcours oder während des morgendlichen Toilettenrituals, das auf sieben Minuten hektischer Aktivität zurückgestutzt wurde. Vergessene Vokabeln, manchmal gesprochen von deiner Mutter, manchmal von den Großeltern, die du nur aus Erzählungen kanntest, bis auf die zwei kurzen Besuche in den Staaten, als die Briten noch das Öl pumpten und der Schah Visa erteilte. Wörter kehren zurück. Die Namen von Nahrungsmitteln. Die Primärfarben. Die Zahlen von eins bis zehn. Mehr als das: Bruchstücke aus den Lieblingsgeschichten deiner Mutter – in Übersetzung. Die Geschichte von dem weißhaarigen Kind, das zu einem mächtigen Herrscher heranwächst. Die Geschichte von dem Vogelschwarm, der auszieht, den legendären Simurgh zu suchen. Sie durchqueren sieben Täler, das Tal der Suche, der Liebe, des Verstehens, der Loslösung, der Einheit, der Verwirrung und des Nichtseins, und am Ende müssen die dreißig erschöpften Überlebenden erkennen oder besser: sich erinnern, dass Simurgh nichts anderes heißt als »dreißig Vögel«. Deine Zelle ist ein Kirchenschiff. Ein Boot, ein Nachen, der steuerlos auf der Strömung eines untergegangenen Reiches dahintreibt. Du liegst hinten im Heck, gefesselt an deinen Heizkörper, das Ruder dieses Raums. Die offene See laugt dich aus. Du treibst auf dem längsten Tag des Jahres, schwankst dem Wahnsinn entgegen, die Finsternis übermannt dich, 334
unendliche, bodenlose Zeit, länger als die Nächte in der Kinderzeit, in denen der Kerker deines Schlafzimmers überflutet war von einer Angst, so greifbar, dass Schlaf den sicheren Tod zu bedeuten schien und Tod weit besser als dies unbewegte Grauen. Und dann taucht das ängstliche Gesicht deiner Mutter neben dir auf und lacht in der Dunkelheit. Warum muss sich ein Kind nur so fürchten? Die alten Perser, deine Vorfahren, nannten ihre Mauern daeza. Und pairi war alles, was etwas umschließt. Verstehst du? Pairi daeza. Du bist ringsum von Mauern umgeben. Das, mein kleiner Tai-Jan, ist der Ursprung des Wortes Paradies. Schließlich, schon im tiefen Winter, stand die RLBelegschaft beisammen und sah mit an, wie sich erfüllte, was das Jahr versprochen hatte. Als hätte es gewartet, bis es kalt und dunkel war. Die letzte Konsequenz zurückgehalten bis zum Vespergottesdienst, bis das Licht sich hinter den Horizont verkroch und die Unausweichlichkeit sich für die Nacht die Decke über die Ohren zog. Die Höhlenforscher betrachteten die mitternächtliche Szene, Menschenmassen von Suchscheinwerfern erhellt, und sie sahen, wie ein Land aufhörte zu bestehen. Die Offenbarung kam per Video. Spätabendliche Kameras ließen den Blick über die Versammelten schweifen, eine Menge, die zu so vielen Zielen unterwegs war, wie sie Beine hatte. Menschen in dicken Wintermänteln trugen ihre hastig gepinselten Transparente hinaus in die Nacht, neben den Fackeln, den Spitzhacken, der Flasche Sekt für alle Fälle. Eine stampfende Herde im Winter stieß ihre Atemwolken aus. Tief im Hier und Jetzt, auf halbem Wege zwischen Begeisterung und Panik, sah ganz Amerika zu, wie Europa sich zur Jahrtausendfeier anschickte, zehn Jahre vor der Zeit. Früher oder später sah jeder auf dem Planeten diese Bilder, 335
wenn nicht live, dann in den Wiederholungen, wenn nicht in den Nachrichtensendungen, dann in den Gesten derer, die davon erzählten. Wieder hatten sich die Baumeister der zukünftigen Welt in der Grotte versammelt, um das Ende der vorherigen mit anzusehen. Doch alles, was jeder Einzelne von ihnen sah, sah er allein. Eine Frau, die mit geradezu religiösem Eifer ihr ganzes Erwachsenenleben lang jeder Politik aus dem Wege gegangen war, die mit Abscheu vor jedem System floh, das größer war als sie selbst, starrte voller Entsetzen die mitternächtliche Party an. Sie wartete, dass wieder die Panzer kamen, und konnte den Blick nicht abwenden. Aber diesmal, sie konnte es nicht erklären, blieben die Panzer aus. Ein Mann, der als Waisenkind nach Kalifornien gekommen war, der schon mit sieben erkannt hatte, wie absurd die Idee der Identität war, und sich deshalb nie die Mühe gemacht hatte, sich eine zuzulegen, sah der Menge zu, die die Bühne, auf der sie tanzte, unter sich in Stücke schlug, und dachte: Mein Land ist als Nächstes dran. Alle Grenzen werden fallen. Es wird wieder ein vereintes Korea geben, so wie es zu Anfang war. Meine Familie, im Chaos verstreut, wird wieder zusammenfinden. Meine Eltern werden mich zurückhaben wollen. Ich kehre in eine Heimat zurück, in der ich nie gewesen bin. Spontane Signale flossen in einem Medium, das dünner war als Luft, und zwei verfeindete Städte gingen beiderseits der Barrikade auf die Straße. Die erwartungsvolle Stimmung hatte eher etwas von einer Sportveranstaltung – ein Tumult mit einem Hauch religiöser Weihe. Instinktiv strömten alle zu dem in zwei Hälften geteilten Platz, der vierzig Jahre alten Narbe im Herzen eines Kontinents. Eine ganze Generation, die im Glauben an diese Fiktion aus Beton groß geworden war, traf sich an der Mauer und ging einfach hindurch. Wer im Zentrum der Ereignisse keinen Platz mehr fand, 336
reihte sich entlang des Saumes auf. Wie auf Kommando setzten sie den Hammer an und rückten dem graffitibemalten Stein zuleibe. Stücke splitterten ab, jeder Splitter sogleich ein Stück Geschichte, in Plastiktüten geschaufelt für den über Nacht entstandenen Souvenirmarkt. Als die imaginäre Barrikade erst einmal durchbrochen war, zog die Hälfte der vom eigenen Erfolg überwältigten Pioniere ostwärts, machte Fotos von einer Welt, die binnen kurzem verschwunden sein würde, und die andere Hälfte strömte nach Westen ins Wunderland des Konsums, stand und staunte, wie bunt die Märchenwelt in ihrer Abwesenheit geworden war. Die alte Illusion löste sich von den Rändern her auf. Kameras schwenkten die Mauer entlang, sogen die Sabotage der Massen in sich auf. Hundert glückliche Menschen arbeiteten in einem Viertel nahe der Versöhnungskirche Hand in Hand, vernähten den Schnitt, den die Politik durch die engen Gassen im Herzen der Stadt gezogen hatte. Ehrfürchtig hielten sie den Atem an. Dann begann die gemeinsame Arbeit, sie trugen die Mauer ab, wie in einem Film, der rückwärts läuft. An einer Stelle war eine Betonplatte nicht abzubekommen. Der fünf Meter hohe Block, an dem von beiden Seiten gearbeitet wurde, hing an seinen Stahlstäben, schwankte träge in der Luft wie ein feuchtes Stück Pappe. Am anderen Ende einer langen Kabelschnur durch die Erdkruste tobte ein armenischer Mathematiker, als er die Ungeschicklichkeit dieses Amateur-Abbruchkommandos sah. Er brüllte die Videobilder an, obwohl sie schon Stunden alt waren. Na, prima! Wunderbar. Das sollen also die großen Ingenieure sein? Die Söhne von Krupp und Porsche? Kann da vielleicht mal jemand hingehen, der wenigstens die Grundbegriffe der Hebelwirkung kennt, und denen erklären, wie man so was macht? Ein Mann halb so alt wie der Mathematiker, nominell italienischer Abkunft, aber keiner anderen Nation angehörig als 337
der internationalen Gemeinschaft der Softwareentwickler, stand dabei und machte große Augen, als die Membran plötzlich durchlässig wurde. Das Boylesche Gesetz, schien es ihm: Das Thermoelement herausgerissen, und schon kam es zum Druckausgleich beiderseits der Barriere. Ein Kindheitstraum fiel ihm wieder ein, der Traum von der perfekten Stadt. Zugemauerte U-Bahn-Tunnel würden wieder in Betrieb genommen, der Verkehr konnte ohne Grenzkontrollen fließen, wie die Planer es sich vorgestellt hatten. Beide Seiten würden vom Frieden ihren Nutzen haben, und am schönsten war, dass alles einfacher wurde. In der traurigen Imitation einer Eckkneipe hob ein Emigrant aus Belfast ein halb volles Glas und prostete dem Fernseher über der Bar zu, wo ein ekstatisches Bataillon den Stacheldraht durchschnitten hatte und auf dem eroberten Terrain eine Allemande tanzte. Alles Gute, ihr armen Hunde. Endlich im Land, wo Milch und Honig fließen, was? Er tat, als stoße er mit ihnen an, und trank, ein gutmütiger Versuch, auch ein wenig an der großen Abschlussfeier der Geschichte teilzuhaben. Er trank auf das Ende des lebenslangen Krieges, der Politik am Rande des Abgrunds, auf das Ende der letzten Alternative zur freien Marktwirtschaft, das Ende der Drohungen, der Sicherheit, die nur der vorgehaltenen Waffe zu verdanken war. Er trank auf das Ende künstlicher Grenzen. Er trank auf die neue Weltordnung, auf nukleares Wachstum, das Abgleiten in globale Grabenkämpfe, die Zersplitterung, die keine Machtpolitik mehr kontrollieren konnte … Als er sein Glas ansetzte, hoben die Partygäste auf dem Schirm ihre schäumenden Magnumflaschen und prosteten dem Iren zurück. Ein Architekt, der Familientradition nach halb deutsch, ein Mann, für den die menschliche Rasse ein permanenter Quell des Leidens war, ein Mann, dessen Moseskomplex ihn auf seiner lebenslangen Suche nach innerem Frieden auf eine Reise 338
geführt hatte, die mit Biofeedback begann und über EST, Joga, Kristalle, Akupressur, Akupunktur, Schiatsu, Roifing, Alexandertechnik, Aromatherapie und homöopathische Medizin schließlich bei Prozac angelangt war, saß stöhnend, wie gelähmt, vor den Livebildern auf seinem Videoschirm. Dann und wann rief er, weil er sich nicht entziehen konnte, sein Oh Gott! zu niemand Bestimmten. Das kann doch nicht wahr sein. Das ist zu viel. Was soll das denn bloß alles? Was glauben die Leute, was sie da tun? Dem heruntergekommenen Zellengenossen des Mannes, einem Amerikaner, der die letzten zwanzig Jahre nur aus Macht der Gewohnheit durchgestanden hatte, einem Mann, dessen Beitrag zum Kalten Krieg sich im Wesentlichen darauf beschränkte, dass er auf den Beinen geblieben war, blieb schließlich nichts anderes übrig als zu antworten: Weiß Gott, was die sich dabei denken. Aber sieht ganz so aus, als ob sie mit Vorschlaghämmern auf die Mauer losgehen. Und die Mauer gab schließlich nach. Das warme Zimmer bietet Schutz vor der Kälte ringsum. Drinnen findest du ein Bett und einen Stapel Decken. Jemand hat für alles gesorgt: Bettzeug, Kerzen, Öl, Handtücher. Konserven in der Speisekammer, Holz im Keller. Haken und Kleiderbügel, leere Kommodenschubladen, die nur darauf warten, dass der verirrte Flüchtling sie füllt. Draußen wütet der Wind mit all seiner Macht. Nun ist es endgültig Winter geworden. Wieder vertreibt die Welt ihre verstörten Bewohner. Aber das warme Zimmer lässt all die Heimatlosen ein. Fast scheint es, als habe das Zimmer gewusst, dass du kommst. Türen, Treppen, Fenster haben alle genau den richtigen Maßstab für dich. Im Regal stehen all die Bücher, die du in deinem Leben am meisten geliebt hast, und all jene, die 339
du immer gern lesen wolltest. Deine liebsten Aquarelle, nautische Motive und Wolkenlandschaften, schmücken den Flur. Den ganzen Nachmittag über bieten sich aus den Fenstern Blicke, die alle deine Vorstellungen übertreffen. Es ist mehr als Zufall, dass du auf dies Hotel, dies improvisierte Hospital gestoßen bist. Wäsche wartet gefaltet in den Truhen, Geschirr im Schrank. Hinter dem Badezimmerspiegel Seife, Zahnbürste, Rasierklingen in militärischer Ordnung. Von Zauberhand wird alles aufgefüllt, was du verbrauchst. All diese Dinge hat es schon lange vorher gegeben, doch niemals in dieser Form. Es scheint, dass sie in dieser Zelle einzig und allein für dich versammelt sind, zu deiner Freude daran. Dies warme Zimmer hat keine andere Existenzberechtigung als die, die du ihm gibst. Je größer das Chaos draußen, desto mehr sucht man das Heil im Inneren. Aber Gnade wird vielleicht schwerer zu ertragen sein als ihr brutales Gegenteil. Denn der warme Raum existiert nur, weil es die Kälte gibt. Berühre die hölzerne Tasse zur Linken, hebe sie auf und drehe sie um. Fahre mit dem Finger über den glatten Rand. Berühre sie mit deinen Lippen und leere sie: Dein Mund wird nichts Festeres schmecken als die Idee. Unter der Dusche wirst du nicht nass, die Handtücher trocknen dich nicht. Du kannst in deinen schönen Büchern blättern, aber du kannst sie nicht in der Hand halten. Die prachtvollen Kleider lassen sich anziehen, aber du spürst sie nicht. Erst nach und nach geht dir auf, wo du bist. Wie du durch dein eigenes hingekritzeltes Kaninchenloch gefallen bist in dieses Museum der Gedanken, und nun siehst du die Umrisse des Lebens, in das du nicht mehr zurückkannst, von der anderen Seite des geistigen Spiegels aus. Vielleicht hast du, als du nach diesem Ausweg suchtest, das Leben verloren, das dir vorbestimmt war. Oder vielleicht hast du dich auch selbst in diese Klemme gebracht, bittere Rache 340
dafür, dass das Leben dich im Stich gelassen hat. Oder vielleicht hätte das Leben dich sowieso in Stücke gerissen, und nur durch Glück bist du an diesen notdürftigen Windschutz gekommen, kurz bevor du aufgegeben hättest. Mit deinem Flüchtlingsherzen hast du dich ohnehin nie irgendwo zu Hause gefühlt, außer in diesem Raum, wo alles nur Vielleicht heißt. Gehe von dieser Holzhütte in den Bergen hinunter ins Tal, und du wirst die unerbittliche Wirklichkeit finden, die ihre letzten Deportierten zusammentreibt. Weltereignisse laufen um die Wette, denn noch sind nicht alle verurteilt. Du hast es zur Geborgenheit dieser Schweiz geschafft, als die Polizeihunde deine Waden schon fast zwischen den Zähnen hatten. Oder: du bist gestürzt, im Dunkel dort draußen an der eisigen Grenze, und der letzte Gedanke, der durch deinen schwindenden Verstand geht, ist diese Hütte mit ihrem Kaminfeuer. Alles in diesem warmen Zimmer ist nur für dich da. Das Schauspiel, auf das alle warten, sind deine Bedürfnisse, die hier nun endlich alle Register ziehen können. In dem warmen Raum geht jede Tat von dir aus, jede Handlung führt zu dir hin, der Lichtschein an den Wänden dieser Zuflucht, die Wärme, die der Kamin verströmt, die schwindende Glut, der letzte Quell von Wärme in einer Welt, die wieder bei null angelangt ist, bei Willkür und Beliebigkeit. »Brauchst du etwas?« Der schiitische Cronkite fragt es so sanft, man könnte fast glauben, dass er es heute wirklich meint. Sehen kannst du ihn nicht. Aber vielleicht musst du nur den Kopf mit der Binde in seine Richtung drehen, die Parodie eines Blickes, und er wird sich trotzdem angeblickt fühlen. »Walter«, sagst du. Schleppend, schwermütig wie ein sterbendes Tier. »Walter. Wie heißt du wirklich?« Du kannst sein Schulterzucken hören. Das Auf und Ab 341
komprimiert und dekomprimiert die Luft, ein Strom, dessen Schwingungen du so deutlich hörst wie Worte. Du streckst die Hände aus, legst sie auf deine dünn gewordenen Schenkel, die Handflächen nach oben. »Sag es mir«, bettelst du. »Ali hat mir seinen auch verraten. Walter. Bitte. Ich kann dir doch nichts tun.« Du hörst ihn, diesen Bauern, den die Dürre von seinem Land vertrieben hat, der nur hierher an die Front gekommen ist, weil er auf die Eintrittskarte zum Himmel hofft, die jedem winkt, der für die gerechte Sache stirbt. Du kannst hören, wie er den Kopf senkt. Unglaublich. Unmöglich. Aber es ist Tatsache: Dein geschärftes Ohr hört es. Leise gesteht er. Irgendwo im vergessenen Koran deiner Kindheit, daran erinnerst du dich, in dem verwässerten Hadith, den du mit der Muttermilch einsogst, gab es ein Donnerwort, das jeden Lügner verdammte. »Said«, sagt er. Sanft wie sein Schulterzucken. Verschämt. Du umarmst ihn über die unendlich weite Kluft hinweg, die euch trennt. »Said, und weiter? Wie heißt deine Familie?« »Nein, nein«, sagt er, fast schon wütend. Das geht zu weit. »Danke. Keine Sorge.« »Said. Said, du musst mir helfen. Ich brauche Bücher.« Die Luft um dich herum hellt sich auf. Er stößt einen erleichterten Seufzer aus. Bücher: sonst nichts. »Sicher. Ich sage Chef. Morgen.« »Said. Hör mir zu. Wenn ich keine Bücher bekomme, sterbe ich. Verstehst du?« »Sicher. Ich verstehe. Du stirbst.« »Said. Ich meine das ernst. Wenn ich keine Bücher bekomme, werde ich verrückt.« »Sicher. Ich weiß. Kein Problem.« Wenn du eines in dieser neunmonatigen Tragezeit gelernt 342
hast, dann, dass »kein Problem« im Saidischen Arabisch so viel wie »großes Problem« heißt. Der folgende Tag beschert keine Bücher. Und der Tag danach auch nicht. Aber diese Partie ist lang. Jeden Tag länger als du gewagt hast dir vorzustellen. Du piesackst ihn. »Said. Gestern ist vorbei. Heute ist vorbei. Morgen ist Geschichte. Und immer noch keine Bücher.« Er lacht über den Unsinn, den du redest. »Ich verstehe. Chef sagt, Bücher kommen.« »Sag Chef, Irrsinn kommt. Ich sterbe, Said. Ich sterbe, und dann habt ihr überhaupt nichts mehr von mir. Eure ganze Arbeit vergebens. Schlimmer als vergebens. Amerika wird wütend sein.« »Gut.« Ein kehliges Knurren, der erste Schritt zum Spucken. Dir geht auf, was für einen Fehler du gerade gemacht hast. »Gut. Amerika soll wütend sein. Amerika macht uns wütend.« In Wirklichkeit wird sich Amerika natürlich den Teufel darum scheren. In Amerika wird kein Hahn danach krähen. Seit einem Dreivierteljahr hat Amerika keinen Finger für dich gerührt: neun Monate, die du in Sieben-Minuten-Intervallen abgezählt hast. Wenn du tot wärest, wäre das schlechte Gewissen Amerikas eine Sorge los. Du musstest erst in Einzelhaft – vollständiger Reizentzug, kein anderer Maßstab mehr als du selbst –, bevor du zu politischer Einsicht kamst. Da keine Bücher kommen, machst du dir deine eigenen. Du erweckst deine alten Lieblinge zum Leben. Zunächst kommen nur grobe, undeutliche Fetzen. Aber Übung macht den Meister. Du lehnst dich an die Wand, so weit fort von dem Heizkörper, wie die Kette dir erlaubt. Nachdem die Apparatur den ganzen Winter über eiskalt gewesen war, ist sie nun plötzlich zum Leben erwacht und steuert ihre Joules zum sommerlichen Inferno bei. 343
Du schließt die Augen und versetzt dich in ein anderes Klima. Das Buch nimmt in deinen Händen Gestalt an, du spürst das Gewicht, das Format, den festen Einband. Du musterst dein Fundstück von allen Seiten, nimmst jedes Detail in dich auf bis hin zum Markenzeichen des Verlages auf dem Rücken. Durch geschlossene Lider betrachtest du das Umschlagbild. Du liest die Lobeshymnen auf der Rückseite, die Zusammenfassung, die ISBN, all die wertvollen Informationen, mit denen du so achtlos umgegangen bist, als du noch Informationen im Überfluss hattest. Du lässt die Seiten vor dem eigentlichen Text unter deinen wachsamen Fingern Revue passieren. Ganze Stunden mögen vergehen, und du befühlst nur das kräftige Papier, bevor du an den ersten Satz des Buches gehst. Lord Jim, verkündet die Garamond Bold in 44 Punkt dem andächtigen Ein-MannPublikum. Und dann in 36er Größe noch einmal auf dieser wundersam überflüssigen Seite. Oder Große Erwartungen. Jeder Name auf der Speisekarte verheißt ein Festmahl, und du kannst speisen in alle Ewigkeit, kostenlos. Du kommst an den ersten Satz, den Anfang, an dem noch alle Möglichkeiten offen sind. Bescheiden und grenzenlos zugleich beginnt die Geschichte mit einer Verbeugung, in der Mitte der ersten rechten Seite. Du lehnst dich zurück an die Wand deines Paradieses, dein Kissen. Du bist nichts weiter als das Instrument, das aufnimmt, ein Medium in einer Séance, das Worte von jenseits des Grabes hört. Die Politik hat dir beigebracht, wie man liest, wie man reglos wartet, ohne Hoffnung. Wartet auf einen anderen Geist als den eigenen, darauf, dass er in dich hineinfährt. Getauft wurde ich auf den Namen Philipp. Nein: Mein Vater hörte auf den Namen Pirrip, und so nannte ich mich Pip. Etwas über einen Friedhof, fünf kleine Grabsteine, so deutlich wie die Tür deiner Zelle, Erinnerungen an Brüder, die im ewigen Kampf ums Überleben schon früh auf der Strecke blieben. Jede 344
Wendung, jede weitere Verstrickung der Handlung – deine oder die des Autors – macht es leichter, Überblick zu gewinnen. Wo in der Erinnerung eine Szene fehlt, erfindest du sie. Du erkennst ihn wieder, diesen armen Waisenjungen, der sich in einer gleichgültigen Welt durchschlägt. Er war das Erste, was du ihr geschenkt hast. Ein groß aufgemachter Kunstlederband, den es in Wirklichkeit in beiden Buchladenketten für $ 12.95 in der Ramschabteilung gab. Hast es ihr zum Geburtstag geschenkt, ein halbes Jahr nachdem ihr zum ersten Mal miteinander ausgegangen wart. Damals, als du ihr noch alles zeigen wolltest, was dir wichtig war, all deine geheimen Schätze. Liebe mich, liebe meine Kindheit. Meine Bücher. Vielleicht war auch eine pädagogische Absicht dabei. Es hatte dich schockiert, dass sie es nie gelesen hatte. Aufgeregt riss sie das Geschenkpapier auf. Aber als sie sah, was es war, kamen ihr die Tränen. Der Preis, war dein erster Gedanke. Gwen kannte von allem den Preis, selbst von Sachen, die sie nie kaufte. Es war wohl einen Rang oder zwei niedriger, als sie erwartet hatte. Gekränkt schlugst du zurück. Das nächste Mal würdest du darauf achten, dass es mehr kostete. Aber nein. Darum ging es doch nicht, schluchzte sie. Ein Buch, das war nichts Persönliches. Bücher schenkte man Kollegen, Bekannten, aber doch nicht jemandem, mit dem man so eng vertraut war. Das hättest du jedem schenken können. Das ist doch nichts, was uns beide angeht. Nichts, was sagte: Keinem anderen Menschen auf der Welt hätte ich das schenken können als dir. Du hast versucht, es zu erklären. Dass es sehr wohl du sagte. Und ich. Dass es eine Geschichte war, die du im Laufe deines Lebens viermal gelesen hattest und die jedes Mal etwas Neues bedeutet hatte. Es ging sehr wohl euch beide an. Es sollte ihr sagen, dass du wolltest, dass sie die Dinge kennt, die dir etwas bedeuten. Das hättest du nie jemand anderem schenken 345
können, logst du. Sie musste ja nicht wissen, wem du es vor ihr beinahe geschenkt hättest. Ein wenig beschwichtigt schlug sie es auf, blätterte tapfer lächelnd die ersten Seiten durch, dir zuliebe. Sie gab dem Buch einen Klaps. Sagte Vielen Dank. Ich lasse dich wissen, was ich davon halte. Stellte es sorgfältig an die passende Stelle im Regal, dann kam sie und schleppte dich zu ihrem Bett, wo sie dich mit Haut und Haaren verschlang, Unterleib schlug an Unterleib, dass du dich ganz und gar verlorst im gnadenlosen Rhythmus dieses Metronoms, spürtest in diesen Stößen, wie sehr sie dich als Gegengewicht brauchte. Später entdecktest du in Gwens Kühlschrank eine frische Haschpfeife, die sie aus einem Golden Delicious geschnitzt und mit einem Stückchen Alufolie ausgelegt hatte. Eine kleine private Geburtstagsfeier vor deiner Ankunft; sie hatte nicht für nötig befunden, dir davon zu erzählen. Die Tränen, das Verzeihen, die Leidenschaft, die Wut: alles künstlich aufgeputscht, und du wie üblich der Letzte, der davon erfuhr. Die nächsten sechs Jahre stand das Buch in ihrem Regal. So viel du wusstest, fasste sie es nie wieder an, höchstens beim Staubwischen. Versuchte nie, auch nur ein weiteres Wort darin zu lesen, ob nüchtern oder high. Die Obstpfeifen tauchten auf und verrotteten, ohne erkennbaren Rhythmus, Vorläufer einer langen Reihe von kleinen Geheimnissen, deren Ausmaße du bestenfalls erraten konntest. Sie versuchte nie groß, sie zu verstecken, aber sie kündigte auch nie an, dass sie da waren. Einmal an einem Wochenende, als ihr beide am nächsten Tag nichts anderes vorhattet, botest du an, mit ihr gemeinsam zu rauchen. TaiJan!, rief Gwen, in ihrer liebsten Imitation deiner Mutter, die sie, du verstandest nie ganz weswegen, faszinierte. Mein kleiner vernünftiger Moralist will mit mir rauchen? Du fandest, dass es sich lohnte, gelassen zu bleiben. Sich 346
lohnte, es auszuhalten. Sich lohnte, ihr Auffangnetz zu sein, das Vorbild, die sichere Zuflucht, die sie nie gehabt hatte. Aber du spürtest auch etwas Verbotenes, ein mehr als nur angedeutetes Prickeln bei der Vorstellung, dass du zusammen mit dieser Frau high sein könntest, dich mit ihr im Netz eurer gemeinsamen Gefühle verlieren, ohne doppelten Boden. Eindringen in diese Wolke ihrer inneren Lust, auf die du manchmal durch das Milchglasfenster ihrer Haut einen Blick erhaschtest. Was ist dein Lieblingsbuch?, fragst du, denn dein Hirn hüpft von einem Gedanken zum Nächsten, an dem Abend, an dem ihr wirklich zusammen raucht. Die Verschmelzung, auf die du gehofft hattest, hat sich bestenfalls bewusst, als Austausch von Zugeständnissen, eingestellt. Sie starrt dich an, so lange, dass es nicht einfach nur Verwirrung sein kann. Du brauchst ungefähr drei Leben, bis du begreifst, dass sie sich über dich lustig macht. Ihre Straßenkämpfermiene: Was sagst du, von welchem Planeten warst du doch gleich? Ihr liebster Trick, dir den Kopf zurechtzurücken. Selbst jetzt noch voller Berechnung, bei diesem kurzen gemeinsamen Urlaub vom Ich. Wieso musst du immer alles bewerten? Das Größte? Das Beste? Das Meiste? Männer – irgendwann musst du mir doch mal erklären, wie die funktionieren. Du spürst den Zorn in dir aufflammen, die vertraute Wut, die du nicht herauslassen kannst, ohne ihr neue Munition zu liefern. Keine Rangliste. Ich wollte nur den Titel von einem, das dich wirklich berührt hat. Das dir etwas bedeutet hat. Du wolltest wissen, welches mein liebstes ist. Die absolute Nummer eins. Das eine, das alle anderen auf die hinteren Plätze verweist. Keine Geheimnisse. Raus damit. Schon gut. Tut mir Leid, dass ich darauf gekommen bin. Oh. jetzt ist mein kleiner Tai-Jan beleidigt. Böses Mädchen. 347
Mit ihrer rechten Hand versetzte sie der linken einen Klaps. Böse Freundin, gehässig, aggressiv. Spielt und arbeitet nicht gut mit anderen zusammen. Stimmt, hättest du so oft gern gesagt. Da hast du Recht. Das trifft den Nagel auf den Kopf. Aber du sagst es nicht. Du sagst etwas anderes. Wie immer, so auch diesmal. Ich wollte dich nur bitten, etwas mit mir zu teilen, was du gern hast. Warum kannst du denn nicht warten, dass die Freude kommt, wenn es so weit ist? Warum musst du immer alles planen? Alles kontrollieren? Und im nächsten Atemzug fragt sie durch ihren Hanfschleier hindurch, ob sie sich auf dich setzen soll, du im Sessel am Fenster zur Straße, das Licht aus – ihre Lieblingsposition, ein geheimer Ausguck, von dem aus sie die Wagen und Fußgänger im Auge behalten kann, von denen keiner ahnt, was in dem dunklen Bau vorgeht, an dem sie vorüberkommen. Wie begehrt du dich dann fühltest, wie verzweifelt – jedes Mal von neuem –, und jedes Gefühl verpackt in das Gegenteil des anderen. In deiner Erinnerung steht sie da wie eine Hindugöttin, ein Armpaar offen und einladend, das andere ausgestreckt, Handflächen nach außen, internationale Zeichensprache für »Halt«. Diese Geste hatte es dir vom ersten Tag an angetan, dem Tag im August ’78, in dem du sie in jenem Blumenladen in der Highland Street zum ersten Mal sahst. Du hast dir ein Dutzend Rosen für eine aussichtslose Sache geben lassen, schon verloren, als du sie noch mit diesem Strauß in Ordnung bringen wolltest. Sie suchte eine wilde Mischung aus pastellfarbenen exotischen Gewächsen zusammen und weigerte sich später beharrlich, dir zu sagen, an wen sie sie schickte. Du kommst in den Laden, und sie blickt auf und strahlt dich mit solcher Vertrautheit an, dass du einfach zurücklächeln musst, bluffst, 348
dir gar nicht erklären kannst, wie du ein so freundliches, einladendes Gesicht vergessen haben kannst. Fast unwillkürlich sprichst du sie an, hoffst, dass sie ein paar Indizien liefert und dir ihr Name wieder einfällt. Aber alles, was sie sagt, beweist nur, dass du diese Frau überhaupt nicht kennst. Schon beim vierten Satz möchtest du, dass sich das ändert. Eine offene, spontane Einladung – wie ein Kumpel aus der Nachbarschaft, der am Samstagmorgen mit einem Baseball und zwei Handschuhen an die Tür klopft. Wie sieht das aus?, fragt sie aufmunternd, zeigt dir ihre Kollektion. Wenn es groß wird, will es ein Blumenstrauß werden. Du stößt anerkennende Laute aus, zu mehr ist deine hilflose Kehle nicht fähig. Und was wäre das Richtige für mich? Rot, gelb oder weiß? Kommt drauf an. Abschiedsgruß oder Köder? Gute Frage. Du mimst mit einigem Erfolg den Ratlosen. Wenn ich das wüsste. Dann sollte es Elfenbein sein. Elfenbein lässt alles offen. Da kann man immer hinterher sagen, es sei ein Missverständnis gewesen. Das kannst du, und das machst du auch. Es folgt das übliche Geplänkel auf dem Anrufbeantworter. Hättest du Lust? Gerne. Sag wann. Wann’s dir passt. Ihr verabredet euch zum Kochen, bei ihr zu Hause. Gemüselasagne, deren 3,5 Gramm Fett pro Person deine Mutter als Schande für die Menschheit beschimpft hätte. Du wäschst, putzt, zerkleinerst Gemüse, und gegen deinen Willen hast du das Gefühl, als bereitetest du das Festmahl, das dich für den Rest deines Lebens nähren wird. Sie sieht zu, lacht über deine Ungeschicklichkeit. Das letzte Mal, dass sie dich ans Hackmesser lässt. 349
Ihr ewiger Gag: Vorsicht, sonst spießt du dich auf. Weiß deine Mutter, dass du einen Schaltwagen fahren willst? Jemand war so gemein und hat dir eingeredet, das ist ein Witz? Also, Freund, was deine so genannte Garderobe angeht … Das Gefühl, dass jede dieser witzigen Bemerkungen ein versteckter Angriff ist. Der Form halber geht ihr fünf- oder sechsmal miteinander aus, arbeitet auf den unvermeidlichen Test der Leidenschaft hin. Schaut den Vögeln nach, studiert den Sternenhimmel: jedes ein Abenteuer, nie zweimal dasselbe. Das quälende Warten hat auch etwas Angenehmes, aber sie ist die Geduldigere von euch beiden. Wenn ihr euch seht, ist sie immer irgendwohin unterwegs, der Taxameter läuft, sie hat ein halbes Dutzend Teller in der Luft, Haftnotizen überall an ihrem Overall, Verabredungen mit Fremden, Kulinotizen auf ihren Handflächen, die sie erst konsultieren muss, bevor sie dir sagen kann, wann sie wieder Zeit für dich hat. Aber ihre Augen sagen immer bald. Und wenn ihr euch trennt, du mit deinem ewigen albernen Wir sehen uns, gibt sie immer noch eins drauf mit einem lächelnden »Ich denke schon«. Diese wohldosierten Bestätigungen sorgen dafür, dass du ihr ganz und gar verfällst. Sie weiß, wie sie den richtigen Augenblick wählt, genau den Abend, an dem das Nachgeben sich wie von selbst ergibt und all das Warten bis dahin nichts weiter war als ein Hemmschuh, den sie mit Freuden löst. Sie wählt Zeit und Ort, gibt gnädig ihre Souveränität an der Garderobe ab und achtet dabei sorgfältig darauf, dass sie das Märkchen in die Tasche steckt. Der Stern der Nacht steigt geradewegs empor, und es kommt der Punkt, an dem die Koketterie, das leise Zupfen an den Leinen über Bord geworfen wird wie alle kindischen Dinge. Dann breitet sie sich aus; dann lässt sie ihre Masse spüren. Und die ganze Nacht hindurch erkunden eure Körper einander, 350
haben einen Ort zum Greifen nahe, den du die nächsten acht Jahre lang vergebens zurückerobern willst. In dem Augenblick, in dem sie ihre Glieder um dich schließt, ist die Hingabe ohne Kalkül: so bedingungslos wie zwischen zwei Tieren, die keine Sprache kennen. Aber sie ist auch abwesend, irgendwo weit fort, fixiert auf ein fernes Bild. Wer weiß, wessen Bild? Weit fort an einem Ort, der nicht zu dir gehört. Eure Südpole verschmelzen. Du drückst dein Gesicht an das ihre, schließt den Kreis. Du wirst ihr sagen, dass du sie liebst, hilflos, viel zu schnell, etwas, das sie längst weiß, etwas, das sie verächtlich abtun wird, eine Sache der Hormone, ein billiges Klischee, aber das Einzige, was vielleicht ein wenig gegen all das helfen wird, was das Leben noch für euch in petto hat. Du drückst dich an sie, näher an den Angelpunkt, ein Schatten, der sich enger an den Fuß seiner Mauer schmiegt, als die Sonne über den Himmel wandert, und dein Mund tastet nach ihrem Ohr. Aber sie spricht zuerst. Du kannst mit mir machen, was du willst. Das hörst du sie sagen. Oder wenn du so freundlich und großzügig wie möglich sein willst, alle Sinnestäuschungen mit einrechnen, die Fehlschaltungen eines Hirns, das von den Chemikalien des Glücks überflutet ist, als es das Ufer sieht, an das es gelangt ist: Wir können machen, was du willst. Über Jahre wird sie sich nicht daran erinnern. Sie wird abstreiten, dass sie je so etwas gesagt hat. Sie löst sich aus der Umarmung und wäscht die Spuren deines Körpers fort. Als sie wieder sauber ist, schlüpft sie in ihren Flanellpyjama – ja, selbst in dieser Hitze –, dann kommt sie zurück ins Bett. Sie lässt es zu, dass du dich an ihren Rücken drückst. Sie gestattet dir, dass du dich anvertraust, lächelt bei den Geschichten, die du ihr ins Ohr flüsterst, aber sie erwidert nichts, sie erzählt nicht weiter. 351
Sie ist vor dir auf, macht schon ihre Gymnastikübungen zu Rockmusik aus dem Radio, als du dich schließlich aus ihrem leidgeprüften Bett aufrappelst. Frühstück?, fragst du durch das Pochen des synthetischen Basses. Für mich nicht. Du requirierst eine Banane und wartest, dass sie mit ihren Übungen fertig ist. Aber der Punkt kommt nicht. Du musst sehen, dass du mit deinem Leben weiterkommst. Entscheidend ist offenbar, dass man lernt, um nichts zu bitten, zu warten ohne große Erwartungen, einfach sehen, was einem zufliegt. Sehen wir uns?, fragst du und hoffst, dass die Hoffnung in deiner Stimme nichts Forderndes hat. Ja, sagt sie und hält mitten in einem Aerobicschritt lange genug für einen Abschiedskuss inne. Ich denke schon. Und jetzt hast du hier deine eigenen sportlichen Übungen, deine eigene tägliche Routine, mit der du die brutalen Erinnerungen erträglich machst, die in deinen Eingeweiden brennen. Nur die täglichen dreißig Minuten, die du von der Kette darfst, zur Beruhigung, als Mittel, deinen allzu willigen Kummer zu beschwichtigen. Wieder an der Leine, machst du deine Rumpfbeugen nicht minder eifrig als sie, die sportliche Übung dient einem grässlichen, unerschütterlichen Zweck, dem lächerlichen Willen zum Überleben. Du kämpfst gegen den unaufhaltsamen Schwund deiner Muskeln, arbeitest, um die heimliche Hoffnung zu unterdrücken, dass du, solltest du durch einen Zufall doch noch freikommen und im Freiheitstaumel womöglich ihr begegnen, nicht abstoßend aussiehst. Du überlegst, was sie wohl von Bärten hält, von dem struppigen Pelz, der sich wie ein Tier in deine Hände schmiegt. Grundlose Sehnsucht: Hartnäckiger als das Leben, als die Liebe. Du kannst dich nicht entscheiden, ob du diese Geschichte weiterverfolgen oder ob du vor ihr fliehen sollst. Alis kleine Gemeinheiten – die Ankündigung, dass du morgen freigelassen 352
wirst, die Art, wie er plötzlich in die Zelle gestürmt kommt, wenn du deine Binde nicht umhast, die prachtvolle Orange, die er hereinwirft, gerade außerhalb deiner Reichweite – sind nichts im Vergleich zu den Qualen der Erinnerung. Mit Ali wirst du fertig, fällst nicht auf das herein, was er dir weismachen will. Aber gegen die Qual der Erwartung gibt es keine Verteidigung. Zum Glück scheinen die Ereignisse geneigt, dich zu zerstreuen. In diesen Tagen gibt es leichte Veränderungen an der Front. Eine aus dem Wust der autonomen Nationen – der Drusen, Maroniten, Phalangisten, der nomadischen Fantasten, die von Tag zu Tag schwerer auseinander zu halten sind – eine dieser Gruppen unternimmt einen Versuch, ihren Einflussbereich auszuweiten. Die taktischen Manöver spielen sich hinter dem grauen Wellblechschirm ab, der vor das blinde Auge deines Fensters genagelt ist. Aber du musst diese taktischen Veränderungen nicht sehen, um dir ein Bild von ihnen zu machen. Tag für Tag der Aufschlag der Artillerie. Du hörst den fernen Geschützdonner, zählst die Viertelsekunden und spürst den vernichtenden Schlag, wenn das Geschoss wieder am Boden ankommt. In Gedanken stellst du die entsetzlichen Berechnungen an, die komplexe Trigonometrie, die sich die Parabelbahn jeder dieser Erschütterungen ausmalt. Du misst das Auf und Ab, das Vor und Zurück mit deinem Zwerchfell, lernst am Klang des Aufschlags unterscheiden, ob es einen Souk verwüstet hat, einen Kinderspielplatz, einen Parkplatz, ob es die Fassade eines Hochhauses eingerissen hat. Said verrät dir, wer auf dem Vormarsch ist. Afwaj al Muqawamah al Lubnaniyah. Die libanesische Widerstandsfront, deren Anfangsbuchstaben den Namen Amal ergeben, das arabische Wort für Hoffnung. Hoffnung ist nicht so unschuldig, wie du früher einmal dachtest. Sie lässt sich nicht austauschen. Deine Hoffnung ist 353
etwas anderes als das, was ein anderer darunter versteht. Nicht einmal mit der Frau, die du liebtest, konntest du sie gemeinsam haben. Als du die Beziehung eingingst, warst du großzügig, freundlich, offen, und als du herauskamst, warst du mit den Nerven am Ende, der Mensch, den sie am meisten fürchtete, ein pathologischer Fall, kontroll- und manipulationssüchtig. Du konntest keinen Satz zu ihr sagen, ohne dass du dir ganze Dialoge in deinem Kopf zurechtlegtest – alles, damit bei ihr ja nicht der Eindruck aufkam, dass du sie verzweifelt brauchtest. In einem anderen Leben, an einem anderen endlosen Nachmittag, als das Bombardement weit genug nachlässt, dass du wieder in deinem hübschen Kaninchenloch verschwinden kannst, verrät sie es dir. Auf deine immer noch offene Frage antwortet sie einfach nur: Die Geliebte des französischen Leutnants. Sie blickt auf, verletzlich, will deine Reaktion abschätzen, ein wenig ängstlich, ein wenig stolz. Erleichtert, dass du es nun weißt, glücklich, dass sie dir diese Freude gemacht hat, fragt sie: Und deines? Die einfache Gemeinsamkeit, von der du früher einmal glaubtest, sie sei selbstverständlich für zwei Menschen, die einander etwas bedeuten. Du erzählst ihr alles über Große Erwartungen. Ein einfacher, vertrauensseliger Austausch von Geiseln. Gibst alles preis. Wir können einander nicht so wehtun, wie das Leben uns wehtun wird. Du erzählst ihr die ganze Geschichte, vom Friedhof bis zur Wiege. Was für verrückte Ideen!, sagst du zu ihr. Was für verrückte Ideen. Die Zeit in ihrer Unendlichkeit bringt dich dazu, dass du es komplett nacherzählst. Zwei ganze Nachmittage, die Augen fest geschlossen, brauchst du, bis dir der Name »Miss Skiffins« wieder einfällt. Aber du hast ja alle Nachmittage dieser Welt. Welt, Zeit, Konzentration und dein Erinnerungsvermögen leisten Übermenschliches. Wahnsinnstaten, wie die Reflexhandlungen von Müttern, die tonnenschwere Balken 354
stemmen, unter denen ihr Kind eingeklemmt liegt. Du hast nichts vergessen. Ganze Szenen tauchen unvermittelt vor dir auf. Ein Festzug zieht an dir vorüber, der auf jeden Blitz der Erinnerung reagiert. Und wenn Szenen ausbleiben, dann baust du sie dir neu. Aus dem Nichts, wie man sagt. Woche um Woche, und das ganze Gebäude entsteht aus der Vogelperspektive. Da haben wir eine Kirche. Und hier ist Miss Skiffins. Wie wäre es mit einer Hochzeit? Das wäre sie also, die Kontrabande, die heimliche Lektüre dieses Monats, die glückliche Banalität deines alten Lebens, all die fesselnden, überflüssigen Komplikationen, die sie unter der Nase deiner Bewacher hereinschmuggelt, deine verlorene Miss Skiffins, so anders als ihr Vorbild im wirklichen Leben, wo sie in ewiger Furcht lebte, sie müsse eines Tages dafür geradestehen, dass sie jemals jemandem etwas gegeben hatte. Wie lächerlich dir der Roman vorkommt, wie absurd und blutleer im Vergleich zu dem wochenlangen Sperrfeuer, das nun die einzige Unterhaltung deiner Tage ist. Aber wie banal der höhere Text, der sinnlose Fortsetzungsroman der Macht, wie statisch und langweilig die Szenen, wie abgedroschen und angestaubt das Thema des wirklichen Lebens, wie fantasielos ausgedacht, wie stümperhaft gemacht, wie primitiv in der Erzählhaltung, im Vergleich zur kleinsten Kleinigkeit der Liebe, der Chance einer privaten Entdeckung. Du entwickelst einen einfachen Maßstab für die literarische Qualität eines Werkes: Welche Geschichte verspricht netto das größte Vergnügen für die Gegenwart? Was wird dir helfen, die nächste Stunde zu überstehen? Alles, was dir von Dickens je wieder einfallen wird, fällt dir ein. Pip und Estella kommen Hand in Hand aus den Ruinen ihres Hauses, und du bist immer noch hier. Immer noch hier, als die Geschichte schon wieder in den Bombentrümmern deiner Gedanken verschwindet, einem Schutthaufen, den du nur deswegen wieder erkennst, weil er an der Stelle liegt, an 355
der einmal dein Haus stand. Nicht einmal leer, dein Verstand. Ein nervöses Zucken. Unruhig wie das Bein eines Vierzehnjährigen auf der Schulbank. Stundenlang gehst du im Dunkeln auf und ab, spürst nicht einmal, wie du zitterst. Jemand bringt dir zu essen. Von dem Gestank wird dir mittlerweile nicht mehr übel. Aber etwas an diesem Teller mit Abfällen, die kein Hamster fressen würde, gibt dir den Rest. Du schlägst mit der Kette an den Heizkörper, und es ist dir egal, was du damit heraufbeschwörst. Es spielt keine Rolle mehr. Entweder du stirbst an den Tritten oder du stirbst an der schlechten Ernährung. Du drischst auf die Rohre ein, als gäbest du Feueralarm. Jemand kommt in die Zelle gestürmt, will dich zum Schweigen bringen. Der Zornige Vater. Er versetzt dir einen Stoß in die Brust, wirft dich zurück auf die Matratze. Das verblüfft dich. Bisher hat er immer die anderen die Schläge austeilen lassen. Du richtest dich wieder auf, ringst nach Luft, bis dein Puls wieder langsam genug geht und du sprechen kannst. »Hören Sie.« Du wartest, selbst neugierig, was du wohl sagen wirst. »Hören Sie. Verraten Sie mir, wie Sie heißen.« Du hörst, wie sein Atem stockt. Du hast ihn erschreckt. Aber er antwortet nichts. »Kommen Sie. Wir kennen uns doch jetzt schon so lange. Fast schon ein Jahr, ehe man sich versieht. Ich war bei Ihnen zu Gast. Sie sind zu mir gekommen. Da sollten wir doch wenigstens wissen, wie der andere heißt, meinen Sie nicht auch?« Da du sein Gesicht nicht sehen kannst, könntest du den Laut, den er ausstößt, leicht für ein Kichern halten. Oder vielleicht holt er auch zum nächsten Schlag aus. »Was macht es denn für euch für einen Unterschied? ›Ali.‹ ›Said.‹ Das glaubt mir keiner. Und ihr bringt mich ja sowieso um. Wovor habt ihr Angst, wem soll ich es nicht verraten? 356
Gott?« Du bist bereit. Bereit für die eine schnelle, gnädige Kugel in die Schläfe. Und natürlich verweigert er sie dir. Du hörst ihn verlegen mit den Füßen scharren. »Muhammad. Nennen Sie mich Muhammad.« »Muhammad«, sprichst du nach. »Sind Sie Schiit?« Er stößt einen verächtlichen Laut aus. Weniger als Verachtung. Nicht einmal die Frage wert, warum du das wissen willst. »Muhammad. Ich habe einmal gelesen … dass für Schiiten das Essen eine heilige Gabe Allahs ist. Ein Sinnbild der göttlichen Gnade. Nun schauen Sie sich das hier an.« Du tastest nach dem kalten, stinkenden Zeug, fasst mit der Hand hinein, als du es ihm hochhältst. »Das ist nicht heilig. Das ist kein Essen.« Er nimmt dir den Teller aus der Hand. Geht ohne ein Wort. Nach einer Weile wird eine neue Mahlzeit gebracht. Mehr als nur heilig. Genießbar. Köstlich, würdest du sagen, wenn du nicht Angst hättest zu übertreiben. Ein dampfender Teller, die libanesische Variante eines Gerichts, das deine Mutter in der Zeit ihres kapitalistischen Experiments gern kochte. Ein bademjan, Aubergine, das Herz der Mandel, das Leben des Herzens. Ein halim bademjan mit einer himmlischen Substanz, die in der Soße schwimmt, betörend, ein Geschmack, der dir einst wohl vertraut war, aber nun musst du überlegen, was es ist. Aber je angestrengter du nachdenkst, was es sein könnte, desto hartnäckiger entzieht es sich dir. Du nimmst einen Bissen, das Wort liegt dir auf der Zunge. Die Erinnerung müht sich an die Oberfläche und verflüchtigt sich. Du legst den Löffel ab und wartest. Dann versuchst du wieder einen Mund voll. Die Vertrautheit lässt mit der Begegnung 357
nach. Mit jedem Bissen wird das Wunder kleiner. Beim letzten Stückchen musst du darauf kommen, sonst verlierst du es für immer. Dann, bevor du noch den letzten Löffel zum Munde führst, kommt dir, gestärkt von den schon verzehrten Bissen, die Erinnerung. Fleisch. Stücke vom Opferlamm. Du versuchst eine Gratwanderung zwischen Hochmut gegenüber deinen Bewachern und gar zu großer Dankbarkeit. Als Muhammad das nächste Mal kommt, gehst du geradewegs auf ihn zu. »Sind Sie der Chef? Sind Sie der, den Ali und Said immer den Chef nennen?« Er gibt sein Schweigen auf, nachsichtig. Er seufzt. Es kann nur ein Seufzer sein. »Über jedem Chef gibt es immer einen, der höher ist.« »Aber Sie haben hier etwas zu sagen. Sie haben Macht. Sie haben mir das … Fleisch gebracht.« »Etwas zu sagen hat nur Allah. Was gebracht wird, kommt von Allah. Alle Macht kommt von Ihm und kehrt wieder zu Ihm zurück.« »Das ist wahr. Wo haben Sie so gut Englisch gelernt?« »Wen interessiert das?« Obwohl aus seinem Ton herauszuhören ist, dass es das US-Außenministerium wahrscheinlich durchaus interessieren würde. »Muhammad. Sie müssen mir zuhören. Ich habe Angst, dass ich den Verstand verliere. Nicht einfach vor Langeweile. Langweilig sind die guten Tage. Aber ich werde verrückt. Mein Verstand hält es nicht mehr aus. Das spüre ich. Wie ein Tier im Zoo, das mit dem Kopf an die Käfigstäbe schlägt. Ich stehe am Abgrund, es fehlt nur noch ein kleines Stück. Bald fange ich an zu schreien, und dann müsst ihr mich umbringen und habt überhaupt nichts mehr von mir. Nichts. Ein Jahr Unterkunft und Verpflegung verloren, die Kosten für das Verbrennen kommen dazu, und kein Mensch wird euch auch 358
nur einen Penny für mich geben.« Er stellt einige Berechnungen an, wohl kaum mathematischer Natur. »Was wollen Sie haben?« Mit deinem letzten Fünkchen Kraft zwingst du die Anspannung nieder, die in dir explodiert. »Ich brauche Bücher. Ganz egal was. Bücher auf Englisch. Alles, was ihr auftreiben könnt. Meinetwegen das Telefonbuch von Lubbock in Texas. Aber ich muss etwas zu lesen haben.« »Wir werden sehen«, sagt er nach angestrengtem Überlegen. »Wir machen eine Fatwa, dann sehen wir, ob Sie ein Buch haben können.« Das klingt alles andere als gut. Er erklärt dir, wie eine Fatwa aussieht. Es ist die alte Fundiund-Spiritus-mundi-Geschichte: Man schlägt das Heilige Buch auf, und die Passage, die der Zufall auswählt, nimmt man als kosmischen Orakelspruch. Würfeln als Gottesurteil. Du hörst ihnen zu, drei Komiker mit ihrer GlückskeksNummer. Verstohlen legst du den Kopf in den Nacken, damit du unter dem Rand der Augenbinde die Konturen deines Schicksals erkennen kannst. Ali schlägt willkürlich den Koran auf. Said zeigt mit dem Finger auf eine Stelle. Muhammad, der Intellektuelle, liest, was das Ouijabrett mitzuteilen hat, und deutet die Weissagung. Entscheidet, was der Zufall zu sagen hat. »Tut mir Leid«, sagt er, und er klingt ehrlich bekümmert. »Wir haben das Buch befragt, aber es sagt Nein.« Du kommst auf sie zu, zitternd, bis ganz ans Ende deiner Kette. Dein Körper zuckt so heftig, dass es dir selbst einen Schrecken einjagt. »Lieber Himmel, dann fragt es eben noch einmal. Ich mache keine Witze, Mann. Die Antwort muss Ja sein. Ja, sonst verliere ich den Verstand.« 359
Im Handgemenge stößt dich jemand nieder. Du schlägst mit dem Kopf auf den Heizkörper. Die drei Parzen ziehen sich zurück. Du schwimmst, das Gesicht am Boden, in deinem Schmerz. Du hast nicht einmal mehr den Willen, deine Augenbinde abzunehmen. Du liegst da wie ein Embryo, zusammengekrümmt auf deiner eigenen Plazenta. Überleben ist kein Ziel mehr, wenn du überlegst, was du vom Überleben hast. Auf der anderen Seite dieses Nichts liegt nur weiteres Nichts, eine einzige immer währende Leere, die bis an die Enden des Weltalls reicht, bis hin zum Fluchtpunkt, wo alle Linien eins werden. Aber das Leben hat noch schlimmere Peitschenhiebe in petto. Jahre später, vielleicht sogar erst am nächsten Tag, dringen Menschenstimmen in dein Koma. Said wirft etwas über den bodenlosen Abgrund, und es landet neben dir auf dem Boden. »Wir haben andere Fatwa gemacht. Nochmal gefragt. Alles OK. Kein Problem.« Als du nicht reagierst, geht er wieder. Etwas Fremdes macht sich in deiner Zelle breit. Dein Körper beginnt wieder zu beben, schlimmer als zuvor. Das Zittern packt dich bei den Schultern, fest entschlossen, dich zu schütteln, bis du zu Staub zerfällst. Du traust dich nicht hinzusehen, aus Furcht vor Repressalien. Du robbst an das neue Objekt heran, drehst den Hals, inspizierst es erst einmal aus der Sicherheit der Augenbinde. Es ist das, was du befürchtest hast. Auf den dreckigen Dielen, die keiner gefegt hat, seit du hier angekommen bist, liegt das Unvorstellbare: eine künstliche Welt. Du kniest dich hin, hebst es auf. Du erstarrst, Tränen in den Augen. Du fürchtest dich, es auch nur zu berühren, deine Finger schlagen spastisch auf den Deckel. Du gibst das Buch von einer Hand in die andere, taxierst das Gewicht, argwöhnisch, dass es eine Täuschung sein könnte. Du hältst es 360
dir dicht vor die Augen, vor den Schlitz, durch den du sehen kannst. Du hältst es so nahe, dass du auf Tiefenschärfe verzichtest und dafür Detail und Auflösung bekommst. Die Fasern, die aus dem Leim des Taschenbuchs hervorlugen, werden zum Dschungel. Dein Blick wandert den Rücken entlang, buchstabiert den Titel, der über Tod oder Leben entscheidet. Terror ist nichts anderes als Sehnsucht ohne die verchromten Stoßstangen. Deinen schwachen Augen kommt die Zeile wie Hieroglyphen in einer fremden Schrift vor. Bizarrer, analphabetischer Zufall. Im Englischen gibt es keine solchen Buchstabenfolgen. Dann hörst du das Hämmern deines eigenen Herzschlags. Great. Dein Wort. Dein Titel. Du hast es tatsächlich geschafft, hast dieses Buch heraufbeschworen durch die schiere Macht wochenlanger Konzentration. Auf verschlungenen Pfaden, durch unergründlichen Ratschluss, das Wechselspiel der Kräfte, das jener Ingenieur geschaffen hat, dessen Zerrbild die Schöpfung ist, hast du bekommen, was du brauchst. Die Worte, die du liebst, haben den Weg zurück zu dir gefunden, damit du sie in Ehrfurcht bewahren kannst. Fantasie übersteht ihre eigene Grausamkeit. Dahinter, dass du in dieser Hölle gelandet bist, steckt mehr als ein Vermessen deiner Verlorenheit. Lange Zeit weigern sich deine Augen, das zweite Wort des Titels zu lesen. Stattdessen bestehen sie auf dem Wort, das an dieser Stelle einfach stehen muss. Aber das gedruckte Wort trotzt deinem Starren. Du siehst noch einmal hin, und der Titel entschwindet in Sinnlosigkeit. Du nimmst deine Binde ab und siehst es nun unvermittelt an. Expectations verwandelt sich irgendwie in Escapes. Statt der großen Erwartungen das große Entwischen. Du lässt das Buch fallen, wie vom Schlag getroffen. Wenn niemand gesehen hat, dass du danach gegriffen hast, können sie dich auch nicht dafür bestrafen. Es liegt da, unschuldig auf dem Gesicht. Unbegreiflich. Als die erste Welle des Wahnsinns 361
abebbt, gehst du die möglichen Erklärungen durch. Eine Falle. Ein Versehen. Ein blödsinniger Zufall. Ein Scherz, im Vergleich zu dem gewöhnlicher Sadismus sich wie die Regeln des Marques von Queensberry ausnimmt. Dann geht es dir auf: Vielleicht kann selbst Muhammad mit seinem perfekten Satzbau und der guten Aussprache kein Englisch lesen. Vielleicht haben sie es nur aus Film und Fernsehen gelernt. Sie haben diesen Fetzen Altpapier für ein paar Pennys gekauft, in der Stadt an einem Stand in einem ausgebombten Basar, wo es der letzte Amerikaner zurückgelassen hat, der vernünftig genug war, sich aus diesem Land der Selbstmörder abzusetzen, solange er noch eine Chance dazu hatte. Keiner von den dreien weiß, was er dir da bringt. Bei diesem Gedanken regt sich etwas in deiner Kehle. Eine Form so seltsam, dass du anfangs gar nicht weißt, was es sein könnte, und nur abwarten kannst, was daraus wird. Als du schließlich begreifst, was das für Zuckungen sind, ist es zu spät, sie noch zu unterdrücken. Du kannst nicht sagen, wie lange du lachst, ringst die Laute nieder, so gut es geht, damit keiner jenseits deiner Mauern etwas davon erfährt. Das Buch, das sie dir gebracht haben, zeigt die Spuren vielfacher Lektüre. Und allem Anschein nach erst vor kurzem. Du bist nicht der erste Gefangene, der eine Fatwa erbeten hat, der nicht lockergelassen hat, bis das Heilige Buch das richtige Ergebnis lieferte. Natürlich gibt es andere, andere Westler, die als Faustpfand festgehalten werden, sogar hier im gleichen Gebäude mit dir. Das sind die dumpfen Laute, die du zu allen erdenklichen Tageszeiten hörst, zwei Meter den Flur hinunter, auf der anderen Seite deiner eigenen Wand. Das Kommen und Gehen an der Latrine. Die gedämpften Wortwechsel. Die anderen, von denen du gehört hast, die schon vor dir entführt wurden, oder arme Seelen, die womöglich noch dümmer waren als du und sich noch haben greifen lassen, nachdem du dich 362
selbst ans Messer geliefert hattest. Du berührst den Einband, den schon andere Entflohene berührt haben müssen. Deine Hände blättern die bebenden Seiten um, die noch vor kurzem die anderen umblätterten. Titelblatt. Andere Bücher des Autors. Bibliografische Angaben. Impressum. Widmung. Nach jeder neuen Seite legst du das Buch beiseite und blickst anderswohin. Du wartest so lange wie du aushältst. Du versuchst dich zu mäßigen, es in die Länge zu ziehen, den schmerzlichen Höhepunkt hinauszuzögern, das Ende deiner langen Entbehrungen. Du schlägst die erste Seite auf, die, auf der noch alles möglich ist. Die wunderbarsten menschlichen Gedanken detonieren rings um dich im Raum, strecken Nebensätze in alle Richtungen aus wie sprießende Siedlungen für junge Familien, deren Häuser ein Hubschrauber mitten im Ödland aussetzt. Verwehre nichts. Fülle alles, was von der Welt zu haben ist, mit manischen Zeichen. Stopfe die Antworten zu diesem lebendigen Examen in jede Ritze, die zu entziffern ist. Lass jede neue Fassung die vorherige niederreißen, jedes erregte Wort weiterer Revision Platz machen. Lass die Leute reden bis in alle Ewigkeit. Wir müssen nicht wissen, was wir wollen, das spielt keine Rolle. Denn es gibt keinen Trost hier, keinen Gewinn, keinen anderen Zweck als diesen Strom überquellender Fantasie. Im wirklichen Leben würde dieses Buch dich keine fünf Minuten lang beschäftigen. Nun ist es der Schlüssel zum Weiterleben. Du hast keine Ahnung, worum es in Great Escapes geht. Ob es überhaupt um etwas geht. Jeder Satz entfaltet die ganze Freiheit menschlicher Bewegung. Das kleinste Klischee, die größten Dummheiten katapultieren dich in eine Wildnis, von der du vollkommen vergessen hattest, dass es sie gibt. Selbst bis hierhin, selbst in die finsteren Tiefen deines Gefängnisloches, reicht das immer lautere Summen des Bienenstocks. 363
Du nimmst dir vor, das erste Kapitel zu rationieren, es so einzurichten, dass es dir mindestens bis zum Ende des Sommers reicht. Great Escapes muss an jedem Tag Introitus und Graduale für dich sein. Ein einziger Absatz dient als Morgenandacht, von da ab zwei Sätze jede zweite Stunde. Die Notwendigkeit, dem Unglaublichen Dauer zu verleihen, reicht viel weiter als dein erster Impuls, alles in einem Stück zu verschlingen. Alles kommt darauf an, dass du nicht damit zu Ende kommst, sondern immer wieder neu anfängst. Wie schnell der linke Teil des aufgeschlagenen Buches dicker wird, ist ein Grund zur Panik. Du überlegst verzweifelt, wie du lesen kannst ohne dies entsetzliche Vorankommen. Aber das ganze Buch löst sich auf in Fakten, bevor du überhaupt weißt, wie du dahin geraten bist. Du blätterst die letzte Seite um, und dir schwindelt bei dem Gedanken, was du getan hast. Du bist angespannt, du erhebst dich, du gehst hin und her mit deiner Kette. Du schließt die Augen, lässt schuldbewusst die billigen Geschichten Revue passieren, die du gerade verschlungen hast. Du greifst zu dem Buch und fängst wieder von vorn an. Ein wenig Vergnügen kannst du ihm immer noch abgewinnen, aber es kann nie wieder das eine Buch sein, in dem alles möglich war. Binnen zehn Tagen wird das Gefühl der Freiheit, das jetzt noch in dir nachschwingt, abgeklungen sein, verhungert durch die Wiederholung. Great Escapes ist ausgelesen. Bald brauchst du ein anderes. Aber einen Augenblick lang, einen armseligen, kleinen, schon verrinnenden Augenblick lang dies. Als du am Abend zu Bett gehst, drehst du dich noch zu ihr um und sagst: Du wirst mir nicht glauben, was ich heute gelesen habe. Das Jahr, in dem alle Geschichte endete, ging selbst zu Ende. Die Mauer fiel, und mit ihr stürzte alle Gewissheit. Die 364
Ingenieure des Realization Lab begannen das Jahr 1990, als trieben sie in einer überschwemmten Landschaft, alle Leinen los. Wie gefällt dir das?, fragte O’Reilly und sah Adie Klarpol an - in einer Zeit zu leben, die keine festen Grundlagen mehr kennt? Haben wir je in einer anderen gelebt?, fragte sie zurück. Eine Welt ohne feste Grundlagen hätte eine Welt ohne Überraschungen sein sollen. Aber kein Tag verging, an dem ihre imaginäre Landschaft nicht neu erschüttert wurde, und jeden Tag mussten sie sich etwas Neues einfallen lassen, damit es weiterging. Die Ausstattung der Grotte mit Ton veränderte mehr, als Adie sich je ausgemalt hätte. Mehr als gut war. Die ArlesMannschaft zog Rajasundaran hinzu, der eine Zeit lang im NASA-Ames-Forschungszentrum in Mountain View gearbeitet hatte, und er gab dem sonnigen Süden eine Stimme. Jedes Ereignis in Jackdaws interaktivem Kabinett reagierte nun auch mit den dazugehörigen Lauten. Stühle lernten das Knarren, die Dielen knackten. Der Wind vor dem Fenster rauschte, ein Mistral in Stereo. Es kommt vor allem auf die Raumwirkung an, sagte Raj. Wir haben uns nunmal im Laufe unserer Geschichte angewöhnt, an Raumtiefe zu glauben, und das ist so ziemlich das Einzige, was man mit Sicherheit darüber sagen kann. Wir sind binaural. Binokular. Das sind die Tricks der Natur, damit wir in drei Dimensionen denken, und wir können nicht anders, wir fallen jedes Mal wieder neu darauf herein. 3-D ist ein Trick?, fragte Adie. Sie klang gekränkt. Sicher. Was ist schon kein Trick, letzten Endes? Sie machten sich an die Arbeit und vertonten Arles, brachten der gemieteten Kammer das Singen bei. Zu den Datensätzen 365
für Textur und Oberfläche und Raumtiefe fügten sie Klangdateien hinzu. Die Schublade öffnete sich mit einem leisen, hüstelnden Ton. Stieß man den Krug an, klang er exakt wie Porzellan. Durch das Fenster drangen von weit aus der Ferne, von der unsichtbaren Bucht im Süden her, die Schreie der Möwen. Selbst die ersten Versuche hatten schon etwas Unheimliches. Sechs Kanäle, wieder gegeben mit je fünf Lautsprechern in jeder Wandfläche, ließen selbst dem hartgesottensten Besucher die Haare zu Berge stehen. Sie steckten Spider Lim, den menschlichen Lackmusstreifen, allein in den Raum. Sie ließen eine unsichtbare Taube durchs Gebälk fliegen. Er verfolgte die imaginäre Flugbahn, und der Eindruck war glaubhafter, realer, als wenn er den Vogel tatsächlich gesehen hätte. Sie ließen eine Fensterscheibe in der Mitte des linken Flügels zerplatzen. Spider zuckte, fuhr regelrecht zusammen. Er schlug sich mit der Faust an die Brust. Macht das ja nicht noch einmal mit mir. Töne sind besser als Bilder, beschloss Steve. Unmittelbarer. Von Anfang an virtueller. Sie schweben im Raum, werden klarer in der Erinnerung. Adie ging nicht darauf ein. Sie sprach jetzt nur noch mit ihm, wenn die Arbeit es erforderte. Raj bewegte sich in diesem lautlosen Schlachtengetümmel und bekam nichts davon mit. Jede Modulation, die wir hinzufügen, quadriert die Glaubwürdigkeit. Mit jeder Erweiterung, jeder Verbindung, die wir zwischen hier drin und dort draußen herstellen können, wächst der Eindruck des Echten exponenziell. Spiegel war schon einen Schritt weiter. Wir brauchen etwas Haptisches. Irgendwas, was man anhat und was verhindert, dass wir in die Sachen hineinlaufen. Druckfühler, die einem einen blauen Flecken am Bein machen, wenn man gegen das 366
Bett stößt. Nicht nötig, sagte Lim. Er zeigte ihnen seine Schienbeine. Raj grinste. Letzten Endes, wisst ihr, letzten Endes will der Verstand getäuscht werden. Der arme Jackdaw nahm sich jeden Datensatz noch einmal vor und fügte ein weiteres Element hinzu, eine Variable, die das Scharren und Klicken definierte, das Adie jedem Objekt im Zimmer zuweisen wollte, das einen Laut von sich geben konnte. Aber er tat es ohne Murren. Rajasundarans Klangeffekte – vom Säuseln bis zum Brüllen – gaben dem Raum etwas ausgesprochen Unheimliches, und wenn Adie hineinging, nahm diese Atmosphäre sie gefangen, bevor sie überhaupt wusste, wie ihr geschah. Es überwältigte sie. Die Töne sind so deutlich! Klarer als in Wirklichkeit. Ich habe das Gefühl, dass ich die Laute regelrecht im Kopf spüren kann. Oh, das kannst du, sagte Raj. Das kannst du! Wir machen unsere Aufnahmen direkt in den knorpeligen Lappen hier. Er wackelte zur Untermalung mit den eigenen. Wir stecken jemandem ein Mikrofon ins Ohr, nehmen das Chaos, das da drin herrscht, auf und setzen es in Daten um. Schallwellen, die ineinander schlagen, die Höhen und Tiefen der Schwingungen, die sich alle gegenseitig neutralisieren. Hört sich an wie die Lower East Side, meinte Adie. Da solltest du mal Jaffna hören. Von da kommst du? Oh nein, nein. Jaffna kam zu mir. Sie schlug Löcher in die Luft, wollte schneller reden, als die Worte mitkamen. Die Hände huschten, griffen in alle Richtungen wie die Hände von Bibliotheksbesuchern fünf Minuten vor Schließungszeit, wenn sie ihre Sachen zusammensuchen und die Beute zum Ausleihschalter tragen, 367
bevor er für die Nacht geschlossen wird. Das musst du erklären. Was gibt es da schon zu erklären. Raj sprach in dem singenden Englisch des indischen Subkontinents, einer Variante, deren Sprecher an Zahl die Einwohnerschaft der britischen Inseln um ein Vielfaches übertrafen. Meine Familie und ich lebten glücklich und zufrieden in Colombo. Die Tamilischen Tiger führten oben auf der Halbinsel ihre Befreiungskämpfe. Unsere singhalesischen Tanten und Onkel fanden, dass die Toten von Jaffna Vergeltung forderten. Sie beschlossen, die ersten hundert tamilischen Häuser in Brand zu stecken, die sie fanden, und es spielte keine Rolle dabei, dass es die Häuser ihrer Freunde und Nachbarn waren. Wir haben in aller Eile den Rückzug nach Vancouver angetreten. Eine sehr schöne Stadt übrigens. Womit verdienen deine Eltern ihr Geld? Vor dem Umzug oder hinterher? Beides … Beides. Ach, das Übliche. Nicht der Rede wert. Und wie … wie hat es dich hierher verschlagen? Hierher? Er warf einen Blick hinüber zur Grotte, wo Fenster klirrten, Fußbodendielen knarrten und Tauben über die Traufen flogen. Seattle, meinst du? Der Gedanke amüsierte ihn. Eigentlich lebe ich nicht hier. Ich bin nur zu Besuch. Raj wollte eine vollständige Audio-Programmiersprache erstellen, auf dem gleichen Niveau, auf dem Jackdaw und Sue Loque ihr Werkzeug zum Bilderprogrammieren entwickelten. Er wollte schnelle Filter, die mit ein paar Tastaturbefehlen aus einem Frosch einen Chorknaben machen konnten. Er wollte, dass die Schallquellen frei im Raum schwebten und jeder Bewegung des Kopfes folgten. 368
Aber wie bei den Bildern forderte auch akustische Präzision ihren Preis an Rechenzeit. Millisekunden summierten sich. Die Verzögerung ließ nie wirklich das Gefühl realer Präsenz aufkommen. Nur von wirklich virtuosen Effekten ließ das Ohr sich täuschen. Ein Raumgefühl für das Universum der Geräusche zu schaffen und es mit der Welt der Bilder zu synchronisieren, dazu bedurfte es eines Modells der höheren Mathematik, das auf den Namen Head-Related Transfer Function hörte. Wir sollten den Armenier holen, meinte Raj. Bei Adie spannten sich sämtliche Muskeln. MUSS das wirklich sein? Nichts muss wirklich sein. Nicht wirklich. Er ist so ein schrecklich unangenehmer Mensch. Er hat Gehässigkeit zur Kunstform entwickelt. Der Hohepriester der Gehässigkeit. Sie zogen Kaladjian hinzu. Anfangs zeigte er sich von seiner besten Seite und sagte kein Wort. Er ging in van Goghs Schlafzimmer und zuckte nur mit den Schultern. Er tippte mit dem Polhemus-Sensor auf die Läden und pochte an das Porzellan, unzufrieden mit dem verzögerten Knacken und Klirren. Er kam wieder heraus und nahm die 3-D-Brille ab. Wie kommt jemand auf die Idee, so etwas zu bauen? Wie kommt überhaupt jemand auf die Idee, etwas zu bauen?, konterte Spiegel. Kaladjian zuckte noch einmal mit den Schultern, mehr Zugeständnis als Widerspruch. Binnen weniger Tage hatten die vier Männer Adie ins Abseits gedrängt. Form, Wärme, Verzauberung, das Blau des Mittelmeeres waren reduziert auf technische Probleme. Die Aufgaben waren klar umrissen, ließen sich in Formeln fassen. 369
Wozu brauchten sie da noch Künstler? Sie hatten Adies sorgsam handgezeichnete Oberflächen. Als die Verantwortlichen erst einmal ihre Bilder hatten, war die Künstlerin nur noch Ballast. Adie ging zu Sue Loque. Sie stehlen mir mein Zimmer. Dein Zimmer? Hast du das nicht auch gestohlen, von einem Holländer? Mein Konzept. Meinen Blick. Ich habe es in die dritte Dimension gebracht. Ich habe sämtliche Oberflächen neu gemalt, von Hand. Jeden Quadratzentimeter so sorgfältig, dass er selbst in Lebensgröße echt aussieht. Und jetzt lassen sie dich nicht mitspielen? Drin sitzen darf ich schon. Aber sie machen aus dem Raum einen riesigen Zauberwürfel. So ist das nun mal. Dazu sind sie da, Schätzchen. Das weiß ich. Und was mache ich jetzt? Einfach dasitzen und zuhören? So habe ich den Job hier bekommen. Ehrlich? Und was hast du vorher gemacht? Wovor? Bevor du Programmieren gelernt hast. Oh, das Programmieren habe ich mir selbst beigebracht, als ich zwölf war. Damals musste ich alles machen, was meine Eltern nicht fertig kriegten. Die kamen nichtmal mit einem Dimmer zurecht. Aber bevor ich angefangen habe, den Jungs zuzuhören – bevor ich begriffen habe, wie solche Projekte funktionieren –, da war ich … einfach nur Programmiererin. Adie ging zurück und hörte zu. Sie beobachtete die vier Männer, wie sie zuerst Probleme erfanden und dann Lösungen, die sie an diesen Problemen ausprobierten. Sie beobachtete, wie sie mit Brummen und Schweigen kommunizierten. Sie studierte Jackdaw, Steve und Raj, wie sie ihr großes 370
Tripelkonzert für Tastaturen tippten, ganz mit einem flüchtigen Algorithmus beschäftigt, und Kaladjian skizzierte dazu komplexe Funktionen mit Bleistift auf einem gelben Notizblock. Auch sie skizzierte, hielt die Männer in Trance in ihrem eigenen Medium fest. Ihre Gesichtsmuskeln erinnerten sie an die ihres Vaters, wie er auf dem Sofa in einem ihrer vielen Kasernenwohnzimmer lag und seinen Urlaubsrausch ausschlief, wie er im Traum zuckte beim Gedanken an eine letzte, besinnungslose Flucht. Doch in einer entscheidenden Hinsicht waren die Ziele dieser vier Männer anders als die ihres Vaters. Ihr Vater zog sich in eine Welt zurück, die den Lärm der Welt draußen ersticken sollte. Die vier Männer hingegen wollten eine eigene bauen, die dem Vorbild bis in den kleinsten Ton hinein glich. Die Stimmung ist ziemlich gespannt, meinte Adie zu Sue. Ich glaube, die anderen mögen Kaladjian genauso wenig wie ich. Bingo, Baby. Ein grässlicher Mensch. Das kalte Grausen. Aber er weiß unglaublich viel. Deshalb machen alle ihre Zugeständnisse, aus purem Eigennutz. Ja, aber für die anderen ist es einfach. Die kommen aus der gleichen Welt wie er. Sie sprechen seine Sprache. Nicht so richtig. Radebrechen vielleicht. Aber darum geht es nicht. Sie arrangieren sich mit ihm. Sie nutzen ihn aus. Ein Gesellschaftsvertrag, Liebes. Sie bekommen etwas von ihm, was sie nicht selber haben. Ich glaube, er denkt an mich, wenn er sich einen runterholt. Er tut was? Und wie kommst du darauf? Das wüsste ich ja gern. Oh, ich habe keine Beweise. Nur so ein sechster Sinn. Oder achter, wenn man mitzählt. Ich merke das immer, wenn ich mit 371
jemandem zusammenarbeite, der …? Das ist wie Radiowellen. Normalerweise spürt man sie nicht, aber mit der richtigen Ausrüstung … Adie, Schätzchen, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Aber das könnte jeder hier sein. Nur Rajasundaran genoss die Konflikte mit dem Griesgram der Gruppe. Jeder Sinn für das Drama menschlicher Persönlichkeit war ihm fremd, und er trat zu den Auseinandersetzungen mit dem Armenier an wie zu einem Cricketspiel. Wir sollten es so einrichten, sagte er einmal, dass die Umweltgeräusche von außerhalb des Fensters wirklich gedämpft werden, wenn man die Läden schließt. Kaladjian stürzte sich auf die leichte Beute. Unnützer Aufwand. Nur eine Vergeudung von Rechnerleistung. Nein, das ist interessant. Wie viel würde die Geräuschdämmung zum Gefühl von drinnen und draußen beitragen? Was ist denn das für eine blödsinnige Frage?, rief Kaladjian. Und wie lautet dein Algorithmus, nach dem du blödsinnige Fragen von den sinnvollen unterscheidest? Jackdaw breitete die Arme, gebot Ruhe. Bitte, Leute. Wir können uns das nicht leisten, schon wieder mit dem Philosophieren anzufangen. Kaladjian schlug das Angebot zu einem ehrenhaften Frieden aus. Eine blödsinnige Frage ist eine, die jeder erwachsene Wissenschaftler als sinnlos erkennt. Du willst dich also der Mehrheit beugen? Ausgerechnet du? Gut, dann ist es eine, deren Antwort keinen Nutzen hat. Die reiner Selbstzweck ist. Raj studierte Kaladjians Gesicht, als hätte er dessen Porträt vor sich. Wenn du dir den Satz des Pythagoras vorstellst, wenn 372
du ihn dir aufzeichnest … Wenn du tatsächlich über jeder Seite deine Kästchen zeichnest, warum sollte dann die Summe der beiden kleineren Quadrate gleich dem größeren sein? Ist das eine blödsinnige Frage? Ja. Kaladjian lächelte, obwohl die Falle schon zuschnappte. Und gleichzeitig aber auch eine tiefsinnige frage? Nun. Das käme drauf an. Spiegel fuchtelte mit den Armen, rannte ins Schussfeld. Es gibt keine blödsinnigen Fragen. Nur blödsinnige Fragesteller. Darf ich eine stellen?, fragte Adie, an Kaladjian gerichtet. Auch wenn sie blödsinnig ist. Was ist eigentlich mit dir los? Kaladjian klimperte lässig mit den Wimpern. An seinem Lächeln prallte die Attacke spurlos ab. Ich nehme an, ich komme euch ziemlich überheblich vor. Nur ein ganz klein wenig, flötete Adie. Die Art von wechselseitiger Antipathie, die einem guten Multi-User-Rollenspiel erst den rechten Biss gab, schlug Jackdaw auf den Magen, wenn er sie wirklich im Raum spürte. Sollen wir nicht diesen ganzen persönlichen Kram in die Kiste zurückstopfen und wieder an die Arbeit gehen? Die anderen gaben nach. Stunden später, als die Arbeit des Tages zu Ende war, nahm Adie Kaladjian in seinem makellosen Büro in die Zange. So, jetzt will ich es wissen. Kaladjian blickte auf, wartete ab. Und was genau möchtest du wissen? Warum du mit dem Rest der Welt im Krieg bist. Der Armenier musterte sie einen kurzen Syllogismus lang. Bin ich das denn? Ja. Er dachte eine Weile nach. Du würdest das nicht verstehen. Adie schluckte die Wut, die in ihr hochkam. Versuch es mit 373
einer Version für Blöde. Etwas an der Aufgabe reizte ihn. Er machte eine Handbewegung, sie solle sich setzen, dann blickte er zum Fenster hinaus auf den regennassen Wald. Weißt du, womit ich mein Geld verdiene? Es hat etwas mit Zahlen zu tun. Sein Lachen gefror. Das habe ich dir doch schon gesagt, Mädchen. Alles hat mit Zahlen zu tun. Über das Mädchenalter bin ich hinaus, sagte sie. Das Schweigen dauerte so lange, dass Adie schon glaubte, die Audienz sei zu Ende. Dann brach er es, an die Fensterscheibe gewandt. Stell dir einmal vor, nichts auf der Welt würde dir so viel Vergnügen bereiten wie einen Satz bunter Murmeln nach strengen und bemerkenswert wenigen Regeln zu ordnen. Weiß der Himmel warum, aber dieses Spiel fasziniert dich. Solange du nicht hungrig bist oder frierst oder dir sonst etwas fehlt, möchtest du nichts anderes tun. Malen, sagte sie. Es ist wie Malen. Die schwierigste Malerei, die du dir vorstellen kannst. Die berechenbarste. Je mehr du die Murmeln hin- und herschiebst, desto schwerer wird es, sie in eine interessante Reihenfolge zu bringen. Aber du bist nicht allein bei diesem Spiel. Eine Hand voll anderer Enthusiasten hat dasselbe Ziel. Alle haben das Werk der anderen ständig im Blick, korrigieren und erweitern es. Du lernst all die schönen Kombinationen der großen Meister auswendig. Das geht ein paar tausend Jahre lang so. Manchmal kommt jemand auf einen Kniff, den noch keiner gesehen hat, und findet eine Ordnung, die alle überrascht, etwas Neues, Besonderes, Schönes. Jeder von beiden hatte einen Altar vor Augen, den der andere nicht sehen konnte. 374
Und dann, ganz unvermutet, entdeckt jemand, dass das Murmelspiel nur die neue Variante eines Bauklötzchenspiels ist, das, ohne dass du etwas davon wusstest, Mönche vor Jahrhunderten am anderen Ende der Welt gespielt und schließlich als nutzlose Kuriosität ins Regal gestellt haben. Diese beiden unabhängig voneinander zur Vollkommenheit entwickelten Spiele erweisen sich als in ihrer Grundstruktur identisch. Sie nickte, sah die Verbindung. Der goldene Schnitt, unbemerkt und doch allgegenwärtig. Einem der Meister kommt eine wahrhaft erschütternde Einsieht. Wenn man die bunten Murmeln und die Bauklötze zusammennimmt, wird daraus ein perfektes Abbild bestimmter Phänomene in der physischen Welt. Das Muster aus Bauklötzen und Murmeln ergibt zum Beispiel eine Karte des Gezeitenzyklus, oder es zeigt die Biegungen eines Flusses. Und ein solches Abbild lässt sich nicht nur im Nachhinein, sondern auch im Voraus erstellen. Das Spiel kann Ereignisse aller Arten vorhersagen, Dinge, die sonst keiner weiß, nach denen keiner sucht, die nicht anders messbar sind … Ihre Nackenhaare sträubten sich, folgten ihrem eigenen Gesetz. So oft man es auch überprüft, ohne Ausnahme, verläuft dieses harmlose, erfundene Spiel in absolutem Gleichschritt mit den messbaren Ereignissen. Die Folgerung ist unausweichlich. Die Murmeln und die Bauklötze – die einfachen, aber strengen Regeln – verkörpern, man weiß nicht wie, die physische Realität. Der Schleier fiel, und sie stand da und blickte den Verlassenen an. Sie konnte nicht begreifen, wie er es ertragen konnte, solchen Schmerz. Diese simplen Spiele bilden die großartigsten Muster ab, die wir kennen. Schwerkraft, Zeit, Licht: Such dir eine Größe aus. 375
Die Schöpfung hält sich an ein paar einfache Grundregeln, an verknüpfte Farben und Formen, an Muster, die sich über die unglaublichsten Strecken wiederholen. Mathematiker nennen das Schönheit. Ein immer kunstvolleres Gebäude, das aus den einfachsten Symmetrien besteht. Eine Vollkommenheit, die jedem Versuch widersteht, sie zu fassen. Sie hob die offenen Hände, Bild der Verblüffung. Ist das denn schlecht? Er wandte sich zu ihr um, nun wieder hart an der Grenze zum Wutausbruch. Er erhob sich, gab ihr Zeichen, ihm zu folgen, aus dem Büro und den Gang hinunter. Sie kamen zur Grotte, wo laut Arbeitsplan nun Sybil Stance am Zug war. Das ist ein Notfall, erklärte Kaladjian. Wir brauchen die Maschine. Ari! Ich bin mitten in – Bitte. Zehn Minuten. Du kannst dafür meine Stunde morgen haben. Er lud ein Environment, das Adie nie gesehen hatte. Eine Form wie eine Kykladenfigur entstand vor ihren Augen. Kaladjian spielte auf der Steuerung eine Solopartitur. Mit der Figur vollzog sich eine Metamorphose, die Flächen verschoben sich, drehten sich, ein schillernder Zaubertrick im komplexen Raum. Alles zulässige topologische Transformationen, erklärte er. Adie nickte, fasziniert. Sie sah einen Zentauren. Den Torso einer nackten Aphrodite. Einen bizarren Stalaktiten. Ein Gewirr von ineinander geschlungenen flachen Röhren. Proteus, ohne Grenzen. Da gehen wir hinein, sagte Kaladjian. Die Figur schwoll und füllte den Raum, und sie traten ein. Als sie stehen blieben, fanden sie sich auf der inneren Spur einer verborgenen Straßenkreuzung, in den unendlich komplexen Windungen einer mutierten Helmschnecke. 376
Jetzt aufgepasst. Kaladjian drückte einen Knopf auf der Fernbedienung. Die spiegelglatten Oberflächen zerstoben zu dem Mosaik von Polygonen, aus dem sie bestanden. Splitter flogen in alle Richtungen, ein mathematischer Meteoritenschauer. Die Menge der Bilder – eine umfassende, fruchtbare, sichtbare Metapher für den inneren Zustand der Maschine – erwies sich als hybride lingua franca, mit deren Hilfe sich die verschiedenartigsten Rassen verständigen konnten. Adies Körper wuchs zur Galaxis, ihr Kopf von einer Sternenwolke umgeben. Sie vergrößerten den Maßstab, bis sie hoch über einem Spiralnebel schwebten. Sie blickte hinaus über das große interstellare Windrad, die Speichen, die sich langsam um ihre Taille drehten. Jeder Sternenschwarm breitete eine weitere Milliarde Jahre kosmischer Evolution aus. Sie wuchs weiter, bis sie so groß war wie der Engel Gottes, der am Schöpfungstag Protokoll führte. Das ist … wunderbar. Ich hatte ja keine Ahnung. Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen, aber es war ihr gleich. Es konnte keine Dummheit, keine Eitelkeit, keine Schande in dem geben, was man beim Anblick eines solchen Bildes empfand. Stimmt. Und jetzt sieh dir die Formel dahinter an. Er drückte einen Knopf, und das expandierende Universum löste sich in ein paar Polynome auf, atemberaubend einfach. Sie versuchte seinen Namen zu sagen: Ari. Aber es blieb ihr im Halse stecken. Ich kann nicht … ich weiß immer noch nicht … Die Kleinlichkeit des Mannes entsetzte sie nur umso mehr, jetzt wo er ihr das hier gezeigt hatte. Was ist denn nun das Schlimme? Das Schlimme? Das ist, dass wir immer noch hier leben. Er machte eine Geste, die die Projektoren einbezog, die BüroAnbaumöbel, die Kabelstränge und gedruckten Schaltkreise, die überall wucherten. Es dämmerte ihr. Seine Tage als 377
Wissenschaftler waren vorüber. Er hatte schon seit Jahren keine neue Mathematik, keine schöne Mathematik mehr geschaffen. Auch er hatte sich an die Industrie verkauft. Wo immer das liegen mochte, wovon die bunten Murmeln erzählten – dieser Mann konnte nicht mehr dorthin. Adie hörte sich Worte sagen, die über unvorstellbare Entfernung klangen. Dies ist kein Land für alte Männer? Dies ist kein Land für alte Männer. Er wog die Zeile, sie gefiel ihm. Vielleicht dachte er, das sei ihr gerade eingefallen. Klug von einer jungen Frau, das zu sehen. Aber sie fand es überhaupt nicht klug. Klug waren die, die es nicht gesehen und trotzdem verstanden hatten. Es war auch kein Land für Flüchtlinge, gleich welchen Alters. An manchen Abenden, wenn er wusste, dass Adie zu Hause in ihrer Inselklause war, rief Spiegel an und sprach ihr endlose Botschaften auf den Anrufbeantworter. Er redete unentwegt und wusste genau, dass sie im Zimmer war und jedes Wort mithören konnte. Kann ich dir mal was zur Begutachtung vorlegen? Es ist eine Kleinanzeige, die ich aufgeben will: »Kohlenstoffbasierte Lebensform sucht ebensolche, die ihm hilft, die unendliche Weite des Daseins zu füllen.« Was hältst du davon? Ich weiß, ich weiß – reichlich geschwollen. Wie wäre es damit: »Das Universum ist fünfzehn Milliarden Jahre alt. Ich werde auch bald vierzig. Suche weibliches Wesen in ähnlicher Notlage, Sonnensystem bevorzugt.« Anfangs hörte sie in Echtzeit zu. Nach einer Weile stellte sie den Lautsprecher leise und hörte nur noch in langen Abständen das Band ab. Schließlich stöpselte sie das Gerät ganz aus. Eines frühen Morgens in Arles kam sie endlich darauf, welche geheime Hoffnung diesen zusammengewürfelten Haufen von Heimatlosen an ein solches Projekt band. Sie stand 378
in einer zimmergroßen Zeichnung zusammen mit vier Männern, jeder mit seinen eigenen Zielen, jeder in ständiger Angst, dass die Technik selbst bei dem halsbrecherischen Tempo, mit dem sie sich entwickelte, sich als zu wenig, zu spät erweisen würde, jeder verzweifelt bemüht, aus der Grotte mehr zu machen als ein sündhaft teures, viel zu langsames, unpräzises, kaltes, unendlich umständliches Stereoskop. Sie blickte zum Fenster ihres improvisierten Sommerhäuschens am Mittelmeer heraus, den vorfabrizierten Pfad in Richtung Küste hinunter, zur fiktiven Küste und dem Meer dahinter. Und nun endlich sah sie, was die Männer schon so lange vor Augen hatten. Die Grotte bedeutete nichts. Die Grotte war nicht einmal ein Daumenkino im Vergleich zur Panovision, die nach ihr kommen würde. Die Grotte würde kleiner werden, Jahr für Jahr und jedes Jahr doppelt so schnell wie im Jahr zuvor. Ihre äußere Hülle würde schrumpfen, bis ihre sämtlichen Kabel und Rechner und Projektoren in eine Sporttasche passten. Sie würde verbessert werden, bis lebensechte Bilder auf jede Wohnzimmerwand projiziert wurden. Stecknadelgroße Laser an den Stegen gewöhnlicher Brillen würden Fantasien direkt auf die Netzhaut ihrer Träger bringen. Die Technik war letzten Endes gleichgültig. Die Technik würde verschwinden, würde unsichtbar werden. In ein oder zwei Generationen würde überhaupt niemand mehr merken, dass sie da ist. Jemand würde ein Verfahren entwickeln, nach dem sich Milliarden Transistoren direkt auf die Schläfenlappen transplantieren ließen, auf zwei kleinen Metallplättchen. Vielleicht nicht zu Adies Lebzeiten, aber doch bald danach – gleich hinter der Biegung dieser langen logarithmischen Kurve. Die Last der umständlichen Maschine würde sich in Software auflösen, in den Impuls, der sie hervorgebracht hatte. In reine Idee. Etwas nahm Gestalt an, und Adie sah, wie aus diesem 379
schwerfälligen Spiel sich das Werkzeug entwickelte, nach dem Menschen sich seit dem ersten Feuersteinbeil gesehnt hatten. Es schien der Lohn, der nach einer halben Million Jahre voller hoffnungsvoller Bocksprünge wartete. Im Grunde nicht einmal ein Werkzeug. Ein Medium eher, und zwar universal. Die Grotte war aus Substantiven errichtet worden, aber sie träumte den Traum vom unvermittelten, aktiven Verb. Sie lebte an der Stelle, an der Ideen von der Tafel des Labors ins reale Leben traten. Sie verkörperte den endgültigen Triumph des Menschen über die Tyrannei der Materie. Es war ein Missverständnis gewesen, als sie diesen variablen Raum für ein HightechSpielzeug gehalten hatte. Jetzt sah Adie darin ein hauchdünnes erstes Pergament, die Blaupause von etwas, das als Mittel, um Gedanken umzusetzen, selbst der Sprache Konkurrenz machen würde. Später würde man darin den größten Fortschritt menschlicher Kommunikation seit der Auffaltung des Kleinhirns erkennen. Die Grotte würde einmal das Radioteleskop des Körpers werden, das Experimentierfeld für jede Art von Spekulation, ein programmierbarer, begehbarer Film, das Teleobjektiv des Geistes, die Keimzelle zur Fernsteuerung aller Maschinen, ein Bildgenerator, dem nur die menschliche Fantasie Grenzen setzte, ein Videorecorder, der jede Kameraeinstellung der Weltgeschichte wiedergeben konnte, ein Netzwerk imaginärer Transporterstrahlen, mit deren Hilfe Familien, die an entgegengesetzten Enden der Welt lebten, sich als holografische Gespenster um einen Tisch versammeln konnten. Sie versprach die Wunderlampe, von der alle Kindergeschichten schrieben. Sie war das Märchenbuch, aus dem wir einst vertrieben worden waren und das uns nun einlud, wieder einzutreten. All das begriff Adie Klarpol nun mit einem einzigen Blick. All das wollten die Männer, mit denen sie zusammenarbeitete, bauen, und dann sollte es erst richtig losgehen. 380
Arles leuchtete. Aus dem Chaos des Labors strahlte der mediterrane Morgen. Sie sah den Programmierern zu, wie sie die neuesten Audio-Algorithmen testeten. Videokameras meldeten jede Bewegung im Raum und erkannten alles, was ein Geräusch erzeugen konnte. Jackdaw Acquerelli zog seine Schuhe aus. Er schob sie mit dem großen Zeh unter die Bettkante. Sie bewegten sich mit einem Schlurfen über den Boden der Grotte, einem Geräusch halb real, halb synthetisch. Die auffälligen Basketballschuhe standen wie die Geister zweier weißer Versuchskaninchen da, sichtbar durch die Illusion des Bettes, aber doch darunter. Nicht mehr lange, sagte Jackdaw, und wir sind so weit, dass hier wirklich jemand drin leben kann. Nur noch eine Frage von Jahren. Denn das war letzten Endes das Ziel. In dem Raum zu leben, den der Maler mit seinem Selbstmord freigemacht hatte. Die Seele brauchte einfach eine bessere Unterkunft. Etwas Weiträumigeres, an das man sie bannen konnte. Etwas, das mehr war als sie selbst, kein sterbendes Tier. Anderthalb Jahre hatte Adie gebraucht, bevor sie begriff, woran sie arbeitete. Die Welt draußen brauchte für den gleichen Sprung nur das Memorial-Day-Wochenende. Über Nacht explodierte das Interesse und brachte das RL in Aufruhr, als habe der Berg, auf dem sie saßen, sich just diesen Augenblick ausgewählt, um Mount Saint Helens zu spielen. Die Medien stürzten sich auf das Thema, und über Nacht war das Wort Virtual Reality in aller Munde. Die Welt machte sich die Fantasie mit einer Schnelligkeit zu Eigen, die es nur bei etwas geben konnte, dessen Umrisse sie schon vorher erahnt hatte. Die Presse setzte zum Frontalangriff an. Journalisten schlachteten die virtuelle Realität aus wie den Mord an einem berühmten Politiker. Der Luxus klösterlicher Abgeschiedenheit löste sich unter diesem Ansturm in nichts auf. Bald brauchte 381
Freese die Hälfte seiner Zeit dazu, neugierige Reporter abzuwimmeln. Die Arbeit kam fast zum Erliegen. Das entlegene Labor in den Bergen tauchte in groß aufgemachten Zeitschriftenartikeln und in den Fernsehnachrichten auf, und die Reportagen stellten die tastenden ersten Versuche als chromblitzende Realität in 3-D dar. Niemand konnte sagen, warum nach dreißig Jahren des Experimentierens in obskuren Laboratorien überall auf der nördlichen Welthalbkugel die VR über Nacht zum Covergirl des Jahres 1990 wurde. Ein paar Forscherteams ließen die Katze aus dem Sack, den Geist aus der Maschine, bevor die Zeit reif war. Hie und da führten Universitäten Projekte vor, und plötzlich tat alle Welt, als seien elektronische LSD-Trips, Cybersex und Teledildonics schon zum nächsten Weihnachtsfest in jedem Spielzeugladen zu erwarten. Zwei oder drei Jungunternehmer warfen unter Druck der Kapitalbeteiligungsgesellschaften billige Datenhandschuhe auf den Markt, einfache Headsets, sogar ganze elektronische Anzüge, die kaum mehr zu bieten hatten als schwächliche Hologramme dessen, was an Möglichkeiten in der Idee steckte. Im März fand im Sheraton von Santa Barbara ein Kongress zum Thema virtuelle Räume und Telerobotik-Schnittstellen statt, und Freese stand ganz hinten im bis auf den letzten Platz besetzten Großen Saal. Allein der Anblick dieser aufgeregten Menschenmasse schnürte ihm die Kehle zu. Die esoterische Phase seiner improvisierten Bastelstube war vorüber. Ob sie liefern konnten oder nicht, die simulierte Wirklichkeit tat den Schritt zur ausgewachsenen Industrie. Einer Welt, die auf Offenbarungen hoffte, war ein Porzellankrug auf einem wackligen Nachttisch egal. Aber die unersättliche Maschine des Marktes, die erst im Jahr zuvor die letzten Nationen des Planeten, die ihr noch Widerstand leisteten, geschluckt hatte, wusste schon, was sie sich von der Virtualität versprach. Sie wollte Videokonferenzen in 382
Surroundton. Sie wollte die Verschmelzung von Riesenrad und Spielfilm. Sie wollte Sexfantasien für sämtliche Sinne. Erzminen auf anderen Planeten, sicher und bequem ausgebeutet vom eigenen Wohnzimmer aus. Aber als Erstes wollte der Markt etwas Wichtigeres. Etwas Fundamentaleres. Die Industrie sah in der Grotte und anderen virtuellen Projekten die nächste Startrampe für die Menschheit. Seinen ersten kommerziellen Nutzen sollte der virtuelle Raum als dreidimensionale Werkbank erfahren, als Hilfsmittel zur Konstruktion jedes nur erdenklichen Objektes, vom Rührbesen bis zur Raumstation. In diesem wunderbaren Hexenkessel konnte man jedes Ding aus allen Richtungen betrachten, bevor man sich auf das Risiko der Produktion einließ. Selbst die Komponenten für die nächste Generation der Grotte ließen sich schon einem dreidimensionalen Probelauf unterziehen, wo sie im Reich der Ideen ihre optimale Form zeigen konnten, bevor sie überhaupt auf die Welt kamen. Die Geldmittel, die zur Entwicklung einer solchen magischen Werkbank zur Verfügung standen, die Summen, die nur darauf warteten, dass sie damit verdient wurden, machten ein Vielfaches des RLBudgets aus, und das für ganze Generationen. Denn das Projekt Mensch hatte noch viele Dinge zu produzieren, bevor es eines Tages ganz über die Dinge triumphierte. Man roch ihn schon: den Gestank der Zukunft. In der Stadt, ein Dutzend Blocks vom Pioneer Square, wo Spiegel und Adie ein paar Monate zuvor spazieren gegangen waren, eröffnete ein Techno-Spielsalon, wo Studenten der Washington-Universität und frustrierte Boeing-Angestellte sich für zehn Dollar in vernetzte Kabinen setzen und dreidimensionale animierte Varianten von ihresgleichen ins Vakuum des Weltalls schießen konnten. Und im Monat darauf brachte Hollywood den Ersten in einer Reihe von Sensationsstreifen auf den Markt – ein schrilles Märchen vom neuen Aladin mit seinem WunderDatenhandschuh. Die große Zukunftsvision, für die das RL 383
stand, wurde binnen kurzem in den Dreck der kollektiven Fantasie gezogen. Müsst ihr Amerikaner mit eurem Kommerz denn wirklich alles kaputtmachen?, fragte Rajasundaran. Freese mochte es, wenn jemand Farbe bekannte. Kommerz? Für das, was wir hier machen, kann es gar nicht genug Werbung geben. Was hier entsteht, das ist das Ende des menschlichen Lebens, wie wir es kennen. Nicht wie ich es kenne, weißer Mann. Aber Freese beharrte darauf: Es war das Ende einer Ära. Das Ende der Grenzen, die symbolisches Wissen setzte. Jenseits der Hysterie, über die kurzfristige Sensation hinaus, hatte die Presse so viel immerhin begriffen. Aber auch wenn sich nun alle überschlugen, hatte keiner von ihnen wirklich verstanden, wie groß diese Sache noch werden würde. Kein Einziger. Was die Grotte versprach, war das endgültige Verschwinden der Schnittstellen. Die Menschen der Zukunft würden sich in Simulationen mit der gleichen Selbstverständlichkeit bewegen wie die heutigen in ihrer materiellen Existenz: mit aller Freiheit, die ihnen die Souveränität ihres Körpers gab. Die beste Vorstellung davon, wie die immer größeren DatenSandburgen des Planeten in Zukunft bewältigt werden sollten, war, dass man einfach hineinging und sich umsah. Überall brach das Gerangel um die Finanzierung aus, und Freese ging mit seinen Ideen auf Vortragstournee. Computer würden transparent werden, unsichtbarer als alle ihre groben, beschränkten Vorläufer. Der Umgang mit Daten würde so einfach werden wie heute ein Telefonat mit einem Freund. Forscher würden sich in einem regelrechten Wald aus Zahlen bewegen, zwischen ihren hölzernen Abbildern spazieren und nach Aussehen oder Klang oder Geruch die wichtigen Bäume aussuchen, die verborgenen Haine. Freeses Techno-Erweckungspredigten hatten viel vom 384
Auftritt eines Handelsvertreters. Kein anderer Neuling in der gerade erst flügge werdenden Reality-Industrie hatte etwas von auch nur annähernd dem Format des Grotten-Protoypen vorzuweisen. Neben der Grotte, spottete Freese, würden Headsets und umständliche Handschuhe bald genauso lächerlich wirken wie Smell-O-Matic oder SensaVision oder andere Sackgassen der technischen Evolution. Er beendete seine Vorträge stets mit der koketten Empfehlung, jeder solle Acht geben, dass er lange genug am Leben bleibe, damit er noch mit eigenen Augen sehen könne, was er sich jetzt nicht einmal vorstellen könne. Doch insgeheim, auf seinen Hügel zurückgekehrt, machte er sich Sorgen. Er schickte eine alarmierende E-mail an die Chefetage von TeraSys. Die ganze Welle ist womöglich vorbei, bevor wir das Produkt auf dem Markt haben. Im gegenwärtigen Klima könnten potentielle Kunden für ImmersionsEnvironments leicht Opfer ihrer eigenen Erwartungen werden und an späteren Angeboten kein Interesse mehr haben, wenn die Seifenblase ersteinmal geplatzt ist … Die Arbeit als Projektleiter wurde für Freese zum Balanceakt zwischen Euphorie und Schwarzseherei. Hüllte er sich in Schweigen, so wurden sie von dem Wust der Spekulationen begraben. Und wenn er das Blaue vom Himmel versprach, riskierte er die spätere Enttäuschung. Schon jetzt standen ungeduldige Cybernauten mit gezückter Brieftasche beim RL Schlange. Aber das Labor war noch Welten von einem vorführbaren fertigen Produkt entfernt. Alles, was sie hatten, war der Beweis, dass ihre Idee funktionierte. Freese berief eine Vollversammlung ein. Software- und Hardwareexperten, Wissenschaftler und Designer versammelten sich im Lichthof, dem einzigen nicht-virtuellen Auditorium, das groß genug war, wenn alle gleichzeitig zusammenkamen. Ich glaube, manche von euch sehe ich heute zum ersten Mal 385
bei Tageslicht, sagte Freese. Erstaunlich, wie gesund alle in natürlichem Licht aussehen. Das ist die Monitorstrahlung, rief Sue Loque von der Galerie. Fast so gut wie Solarium. Dachte mir schon, dass es nicht an der Ernährung liegen kann. Also, als Erstes möchte ich euch allen für die Arbeit danken, die ihr bisher geleistet habt. Wenn ich überlege, wie weit wir in technischer und ästhetischer Hinsicht in den zwei Jahren gekommen sind, seit wir die Buntstiftwelt zusammengebastelt haben, fühlt sich das … er atmete tief ein und rollte mit den Augen. Es fühlt sich an wie ein Film über die Evolution, den man im Zeitraffer laufen lässt. Für diejenigen von euch, die sich Abend für Abend an ihre Workstation ketten, ist es schon selbstverständlich, dass wir jeden Monat oder sogar jede Woche einen Meilenstein erreichen. Für mich nicht, das könnt ihr mir glauben. Wenn dieses Projekt auch nur noch um einen Zahn schneller laufen würde, dann käme ich nicht mehr mit. Er will uns sagen, dass es Zeit wird, dass wir uns mal ein bisschen beeilen, flüsterte Rajan so, dass alle es hören konnten. Der ganze Raum brüllte vor Lachen. Freese verzog das Gesicht. Es wird Zeit, dass wir uns mal ein bisschen beeilen. Wieder brüllte die ganze Versammlung. Na ja, eigentlich ist es nicht so sehr das Tempo. Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer von euch noch mehr oder noch … erfolgreicher arbeiten könnte, als ihr es ohnehin schon tut. Aber was wir straffen müssen, das ist der Zeitplan für die Präsentation. Vulgamott hob die Hand. Kann der große Häuptling das noch einmal langsamer sagen? Wiederum Lachen, aber gedämpfter. Mach dir keine Gedanken um die Details, Michael. Es geht um Folgendes. Wir setzen unseren ganzen Ehrgeiz daran, die 386
Rekorde von gestern zu überbieten. Wir haben die Polygonzahl hoch geschraubt von – wie viel? – zweitausend pro Sekunde? Er sah Spider Lim an, der es mit der Andeutung eines Nickens bestätigte. Auf … wie viel haben wir im Augenblick? Das ändert sich so schnell, dass ich es mir gar nicht mehr merken kann. Spider räusperte sich. Über hunderttausend pro Wand. Von zehn hoch drei auf zehn hoch fünf. In zwei Dutzend Monaten. Das nenne ich eine Leistung. Lim, der spürte, worauf er hinauswollte, erhob sich. Wir brauchen noch einmal dieselbe Steigerung, bevor wir auch nur annähernd ohne Zeitverzögerung projizieren können. Ganz recht. Jackdaw sagte es zu seiner Rechner-Uhr. Glaubwürdig wird es in der Größenordnung von einer Milliarde. Realität … das bedeutet zehn hoch acht Polygone pro Sekunde. Mindestens, stimmte Spider zu und setzte sich wieder. Freese nickte. Seht ihr? Genau das ist das Problem. Realität ist immer ein Problem, sagte Spiegel. Die Frage lautet: Wann erklären wir die Proben für beendet und gehen mit dem Stück auf Tournee? Wenn wir weitermachen wie jetzt, lautet die Antwort: niemals. Unser Produkt wäre immer schon veraltet, bevor es überhaupt aus der Tür heraus wäre. O’Reilly hob die Hand. Das heißt, die Geldsäcke lassen uns wissen, dass sie allmählich Profit sehen wollen? Ich fürchte, sie fordern noch für das Frühjahr eine öffentliche Pressekonferenz. Nächstes Jahr zur SIGGRAPH erwarten sie dann die große Präsentation. Die populäre Presse wird zwischen heute und dem Stichtag die Erwartungen der Öffentlichkeit bis zum Irrsinn angeheizt haben. Wir müssen etwas vorweisen, damit wir auch nur halbwegs mit den 387
Gerüchten mithalten können. Hardware, Software und Design ergriffen nacheinander das Wort und meldeten ihre Bedenken an. Als sich die Versammlung auflöste, standen die neuen Spielregeln fest. Freese salutierte, als sie gingen. März ’91 also. Der Tag der Wahrheit. Das heißt, von jetzt ab verkaufen wir Elektrogeräte?, fragte Adie, als sie mit Ebesen ins Büro zurückkehrte. Es geht nur darum, dass Maschinen an den Mann gebracht werden? Der Mann im abgeschabten Flanellhemd zuckte nur mit den Schultern. Du wusstest doch, dass es eines Tages so kommen würde. Nein, sagte sie, das wusste ich nicht. Auf den Gedanken bin ich nie gekommen. Weißt du, was du machen solltest?, sagte Lim. Er weidete wieder einmal Rembrandt aus, warf die veralteten Innereien in Kartons voll mit kostbarem Schrott. Einen RAM-Raum. Verstehst du: ein riesiges vergrößertes Abbild von allem, was auf Schaltkreisebene im echten Computer gerade vorgeht, im selben Augenblick, in dem er die Simulation vorführt. Sie überlegte drei Sekunden lang. Keine gute Idee. Aus dem Haufen Altmetall schließe ich, dass wir wieder mal veraltet sind? Es heißt, die Chinesische Mauer sei veraltet gewesen, als sie halb fertig war. Eine Platine ist veraltet, bevor sie überhaupt existiert. jemand sollte mal diesen ganzen Müll sortieren, sagte sie. Man kann sich ja kaum noch bewegen. Lim sah sie entsetzt an. Davon können wir doch nichts wegwerfen. Wir … brauchen das womöglich noch. Wozu? Wozu? Sie hob einen schuhschachtelgroßen Komplex auf, einst ein Wunder der Miniaturisierung, ein ganzes Planetensystem. Jetzt mit nichts anderem mehr kompatibel. Sie 388
ließ das Bauteil wieder fallen. Wertlos. Aus manchen von den alten Hauptplatinen lassen sich serielle Anschlüsse basteln. Spider, diese Dinger sind mausetot. Umgebracht von schnelleren, größeren, besseren. Milchtüten mit dem Verfallsdatum von letzter Woche. Karten für das Konzert von gestern abend. TeraSys kann sie vielleicht noch in Länder verkaufen, die technisch weniger weit fortgeschritten sind. Du meinst, die Bulgaren wollen womöglich ihr eigenes Virtual-Reality-Labor aufbauen, jetzt wo sie Mitglied der freien Welt geworden sind? Ich dachte mehr an so was wie Arkansas. Sie erzählte Jackdaw und Rajan von dem Elefantenfriedhof. Diese weltweite Digitalisierung ist wirklich die größte Kräfteverschwendung aller Zeiten. Der Junge zeigte ihr seine leeren Handflächen. Du meinst, die Hardware ist Verschwendung? Aus dem Zeug kannst du doch wenigstens noch Türstopper und Briefbeschwerer machen. Vom millionenteuren Hightech-Computer aus dem letzten Jahr kannst du immerhin noch die Stecker abschrauben. Rajan kicherte. Stimmt. Den Goldüberzug der Stifte abschmelzen, da kriegt man zwei Dollar fünfzig wieder rein. Aber Software …?, sagte Jackdaw. Nichts ist erbärmlicher als Version 1. Die schlimmste Sickergrube des menschlichen Verstandes, die man sich vorstellen kann. Die durchschnittliche Lebensdauer einer Programmversion reicht heutzutage nicht einmal, um ihre Bedienung zu lernen. Und sobald Version 2 da ist, wird Version l zur Zeitbombe im Betriebssystem und wartet nur darauf, jede Verbesserung in neuerer Software zum Absturz zu bringen. Lass uns das mal in dein Milieu übersetzen, sagte Rajan. Stell 389
dir vor, die gesamte Weltkunst bestünde nur aus den Bildern der letzten drei Monate, jedes Mal, wenn ein Künstler ein Bild malt, werden alle anderen Darstellungen desselben Themas wertlos. Sicher. So was nennt man Werbegrafik. Das habe ich ein halbes Dutzend Jahre lang gemacht. In Wirklichkeit ist es noch schlimmer, meldete Jackdaw sich wieder. Bei den meisten Entwicklungen gibt es keinerlei Koordination. Eine Million Mal am Tag erfindet jemand das Rad neu, sogar in derselben Firma. Sogar am selben Arbeitsplatz. Ein halbes Jahrhundert hat es gedauert, bis es Programme mit wieder verwertbaren Komponenten gab. Und selbst jetzt ist es mit der Wiederverwertbarkeit nicht weit her, weil die Hardwarestandards und die Softwareschnittstellen ihnen jede Nanosekunde neu den Boden unter den Füßen wegziehen. Rajan nickte mitfühlend. Da kann man den Mut verlieren. Jede Gruppe von Unterprogrammen muss Dutzende Male neu erfunden werden, und jede macht dasselbe, nur ein klein wenig anders. Und dann wird die ganze verrückte Vielfalt aufs öffentliche Schlachtfeld geschickt, wo sich entscheidet, welche Variante der De-facto-Standard wird, und jeder, der aufs falsche Pferd gesetzt hat, muss sein Zeug wegschmeißen und von vorn anfangen. Kaladjian kam und stellte sich dazu und putzte seine Brille. Zum Glück ist für uns Verschwendung die größte Triebfeder der Kultur. Die anderen blickten auf, überrascht von seinem ungewohnt mitteilsamen Ton. Soll das ironisch sein?, fragte Raj. Kaladjian antwortete mit einem resignierten Schulterzucken. Fortschritt ist Zerstörung mit dem Kompass. Rajs Nickfrequenz erhöhte sich um einige Hertz. Da fragt 390
man sich, wie die Ziellinie aussieht. Adie, Liebes, sagte Spiegel. Du bist in einer Welt gelandet, wo selbst die Wahrheit ihr Verfallsdatum hat. Jackdaw schnitt eine Grimasse. Die obsoleten Speichermedien nicht zu vergessen. Wir haben immer noch die alten Bänder von dem Modell, das wir vor der Grotte hatten. Die kann keiner mehr lesen. Die Rechner, mit denen wir gearbeitet haben, sind längst durch andere ersetzt. Nichts ist mehr kompatibel. Und selbst wenn wir ein altes Laufwerk von Hand nachbauen, stellen wir fest, dass das Band sich aufgelöst hat; jeder dritte Datensatz endet mit einer Fehlermeldung. Die Welt verliert ihr Gedächtnis. Raj hantierte mit einem Stapel Ausdrucke, der für den Schredder bestimmt war. Ganze Bereiche des kollektiven Gehirns gehen mit alten Speichermedien zugrunde. Wir tragen einen Virus in uns, der sich langsam voranfrisst. Globaler Alzheimer. Kaladjian hob eine Schulter, sodass sie auf halbem Wege das Ohr des schief gelegten Kopfes traf. Vielleicht. Aber sieh mal, wie weit wir immerhin gekommen sind – vom Faustkeil zum integrierten Schaltkreis, bevor der Laden dichtgemacht hat. Die Grotte blieb für die nächsten Tage geschlossen, bis Lim und Konsorten der neuesten Generation von Grafikbeschleunigern die letzten Krankheiten ausgetrieben hatten. Ihrer magischen Experimentierkammer beraubt, fühlten sich die Prototypen-Entwickler der Fantasie heimatlos. Vielleicht sollten wir einen Betriebsausflug oder so was machen, schlug Vulgamott den anderen Grafikern vor. Adie prustete. Am besten in eine Blockhütte, wo wir dann gleich bleiben können. Keine Witze bitte. Ich mache mich wirklich aus dem Staub. Echte Termine, echte Demos. Aber kein echter Ort, an dem man sie testen kann. Was ist nur aus der imaginären Welt geworden? 391
Ebesen sagte nichts. Er gab ihm gern Recht – immer das Einfachste. Vulgamott besorgte ihnen tatsächlich eine Blockhütte, die TeraSys oben am südlichen Arm des Stillaguamish besaß, nicht weit vom Mount Pilchuck. Die Abteilung Kunst und Design mietete sie für einen Zweitagesausflug. Ebesens schmutziges Flanellhemd und die Cordhosen, so elend im Neonlicht, fügten sich im Freien wunderbar ein. Vulgamott legte schon nach zwei Stunden Bergluft seine nervösen Zuckungen ab und atmete tiefer. Adie füllte am ersten Nachmittag einen ganzen Skizzenblock. Danach sah sie einfach nur noch hin und versuchte gar nicht mehr, es festzuhalten. In der Wildnis wich das virtuelle Bild der Wirklichkeit. Zu dritt wanderten sie durch den Wald, ins Netzwerk des Lebendigen, zu Land, zu Luft und zu Wasser. Sie hielten ihre Füße in das markerschütternd kalte Wasser des Baches, eine Strömung, der ihr vorheriges Leben als Schnee in den Bergen noch anzumerken war. Am Abend stieg der Rauch ihres Lagerfeuers auf und verlor sich in dem weitläufigeren Wirbel der Milchstraße. Ihr Herz lauschte dem Schrei der Eulen, ohne alle Hoffnung, dass sie ihn jemals nachahmen könnten. Sie redeten über das Erreichte, über ihre laufenden Projekte, über das, was noch zu tun war, bevor sie ihre Arbeit auch nur halbwegs der Öffentlichkeit präsentieren konnten. Monatelange Mühe mit Modellen hatte ihnen nicht einmal den Grundriss für das Refektorium des Großhirns geliefert, das sie erschaffen wollten. Die Lianen von Rousseaus Traum hatten sich ausgebreitet, vielfältig und verlockend. Die Geschöpfe dieser Welt huschten in bescheidenen Programmschleifen durch das immergleiche Unterholz. Aber der Wald war nichts weiter als eine Idee, der keine Tat gefolgt war, ein bloßes Bild, flach und zweidimensional, nichts Lebendiges, eher ein Schnitt durch einen Kadaver. Ein Besucher konnte in das Mondlicht des 392
Dschungels hineinspazieren, doch nur auf vorgegebenen Pfaden, er konnte nacheinander an den Pappkulissen eines tableau vivant vorbeischlendern. Aus diesem Traum waren sie erwacht und hatten die Perspektive entdeckt. Sie hatten bessere Werkzeuge in die Hand bekommen: höhere Bildwiederholrate, größere Farbtiefe, bessere Auflösung, mehr Schärfe. Und das Schlafzimmer in Arles war mehr als nur die Summe dieser Verbesserungen. Es war eine Annäherung an jenen Ort, nach dem alle sich sehnten, den keiner gesehen hatte und den doch jeder kannte. Das Bett war eine einzige Einladung. Die Sonne strömte durch die Schlitze der Fensterläden, wurde stärker und schwächer, während der Besucher im Zimmer war. Der hölzerne Boden bog sich, wenn man über die Planken schritt. Aber auch dieser Ort, erfüllt von Leben, wie es war, war nicht mehr als ein dreidimensionales Dia. Das Schlafzimmer füllte den vorgegebenen Rahmen aus, aber es reichte nicht weiter, reichte nicht über die Grotte hinaus, die es beherbergte. Nun musste die Grafikabteilung ihren nächsten Ausfall überlegen. Unter den Bäumen, in denen schwer der Saft aufstieg, die Füße im eisigen Wirbel eines Baches aus den Cascades, wälzten die drei digitalen Künstler das Problem, weniger mit Gesprächen als mit dem gemeinsamen Zeichenstift. Die nächste Aufgabe lag auf der Hand. Sie mussten ein Mittel finden, widerstreitende Welten zu versöhnen, mussten die Träume, die hinter diesen beiden Kammern steckten, zu einem verschmelzen. Ein halbes Dutzend Monate, sagte Vulgamott immer wieder, als seine zwei Kollegen ihm schon längst nicht mehr zuhörten. Wir sitzen in der Klemme. Entweder wir stellen etwas auf die Beine oder wir können einpacken. Oder beides, sagte Ebesen. Beides ist auch eine Möglichkeit, das sollten wir nicht aus den Augen verlieren. 393
In Gedanken erkundete Adie die Schluchten, die sich in der Vielfalt der Perspektiven nur erahnen ließen, hielt Ausschau nach dem Raum, den sie erreichen mussten. Aber wie sollte sie ihn finden, ohne das kleinste Indiz? Wie sollte man sich auf einen Ort einigen, wenn man nicht wusste, wie er aussah? Jeder Vorschlag wurde schon im Augenblick abgeschmettert, in dem er aufkam. Jeder Raum, der ihnen einfiel, war entweder zu süß oder zu bitter, zu banal oder zu exzentrisch, zu einfältig oder zu ätherisch. Nichts kam ihnen in den Sinn, was der Mühe wert war und zur vorhandenen Technik passte. Keine Bilder mehr, sagte Adie. Das haben wir zweimal versucht. Wir brauchen etwas, was über den Bilderrahmen hinausreicht. Alle drei wussten, welchem Medium sie sich nun zuwenden mussten, denn es wartete schon auf sie. Der architektonische Werkzeugkasten von Vulgamott und Ebesen, der inzwischen Hunderte von modularen Komponenten enthielt, vom T-Träger bis zur Kranzleiste, war die Lösung. Die skalierbare Bildbibliothek war zu einer Enzyklopädie intelligenter Architekturelemente herangewachsen, die es jedem einigermaßen geduldigen Menschen, der ein Pfeifenputzermännchen oder ein Legohaus zustande brachte, erlaubte, sein eigenes schwenk- und vergrößerbares Versailles zu bauen. Mit diesem Satz Palladio-Werkzeuge schrumpfte die Entwicklungszeit für ein einfaches Architekturmodell von Monaten auf Wochen. Der Bausatz war eigentlich nur als Beispiel gemeint gewesen, ein Beleg für ein Konzept und kein praxistaugliches Entwicklungswerkzeug. Doch nun war er ihre einzige Chance, bis zum Stichtag etwas Vorzeigbares auf die Beine zu stellen. Selbst jetzt noch, nur einen Schrittweit vom Virtuellen entfernt, machten ihnen die absurden Beschränkungen von Zeit und praktischer Machbarkeit zu schaffen. 394
Sie beschlossen, etwas Spektakuläres zu bauen. Aber selbst nach achtundvierzig Stunden in der Abgeschiedenheit der Blockhütte war ihnen noch kein passender Kandidat eingefallen. Die Vorschläge gingen immer noch hin und her, als sie schon für die Rückkehr in die Zivilisation zusammenpackten. Vulgamott unternahm einen Anlauf, die Truppen zu sammeln. Wie wäre es mit Vierzehnheiligen? Ein unglaublicher Raum. Geheimnisvoll, sinnlich, organisch. Adie prallte zurück, wie nach einer Ohrfeige. Um Himmels willen. Alles, nur das nicht. Binnen einer Woche brauchten wir Insulinspritzen von so viel Zuckerguss. Es muss etwas Klares sein, etwas wie … Fallingwater. Völlig unpassend. Sicher, ein tolles Haus, das schon. Aber wie zum Teufel sollten wir … Zu originell, pflichtete Ebesen ihm bei. Zu einmalig. Da würden uns unsere Werkzeuge kaum etwas nützen. Und was schlägst du vor, Karl? Adie legte das Kinn in die Hände. Was haltet ihr von Troja im Zeitraffer? Vulgamott stieß ein Indianergeheul aus. Ebesen, du Wahnsinniger. Ich lasse mich scheiden. Ich lasse mich scheiden. Schon gut, schon gut. Nur keine Aufregung. Mein Vorschlag wäre der Tempel der Diana in Ephesus. Na großartig, sagte Michael. Warum etwas Reales nachbauen, wenn wir auch ein Gebäude nehmen können, das spurlos verschwunden ist? Nun, es gibt Indizien und Vermutungen … Wie wäre es denn mit dem RL?, schlug Vulgamott vor. Der perfekte Kompromiss. Alle Daten vorhanden, wir müssen nur zugreifen. 395
Nur über meine Leiche, protestierte Adie. Schlimm genug, dass wir in dem Ding leben müssen. Ganz gleich was wir aussuchen, sagte Ebesen, es muss gut gemacht sein. Und schön muss es sein, stimmte Adie zu. Vulgamott stieß einen spitzen Schrei aus. Praktikabel nicht zu vergessen. Was seid ihr nur für Leute. Unglaublich. Was für eine Vergeudung, diese ganze Fahrt ins Grüne. Zwei Tage hier draußen, und wir haben nichts zustande gebracht, worauf wir nicht auch in einer Viertelstunde zu Hause im Hamsterrad gekommen wären. Ein schönes Gebäude, gut gemacht. Dafür mussten wir esbitverseuchte Gemüsekebabs essen, dafür haben wir jetzt Sandflöhe in der Hose? Adie ließ die beiden Männer allein und machte noch einen letzten Ausflug in den Wald, bevor es zurück in menschliche Gefilde ging. Sie folgte eine Zeit lang dem Lauf des Baches, bis sie die schmale Stelle fand, die sie sich ausgemalt hatte, oder jedenfalls eine, die dem Bild ähnlich genug war. Sie sah sich um, horchte, ob etwas in der Nähe war, was größer war als eine Bisamratte. Als sie nichts hörte, zog sie sich aus. Sie glitt ins Wasser, drehte sich im Wirbel ihres eigenen nackten Körpers. Sie schwamm ein paar Züge in dem eiskalten Wasser, eine lebendige Kompassnadel, bis sie mit dem Gesicht stromaufwärts blickte. Irgendwo an der Quelle dieses Wassers lag die Lösung, die sie brauchten. Sie tauchte unter wie eine rosige Forelle. Sie blieb unter Wasser, bis sie es nicht mehr aushielt. In der Kälte fühlte die Strömung sich seltsam massiv an. Ihre Adern zogen sich zusammen, das Blut pochte in ihrem Schädel. Ihre Gedanken verschwammen, ergaben sich der eisigen Flut. Sie arbeitete sich wieder zum Ufer vor. Erst beim zweiten Anlauf schaffte sie es auf einen Felsbrocken. Als das Wasser auf ihrer Haut verdunstete, sank die Körpertemperatur noch weiter ab. Sie 396
kauerte auf ihrem Felsen, Hände um die Knie. Adie?, rief eine Stimme ganz in der Nähe. Sie stieß einen Schrei aus, kam ins Rutschen, klammerte sich an den Stein, als sie das Gleichgewicht verlor. Sie wollte nach ihren Kleidern angeln und fiel. Sie kauerte am Ufer, hielt sich das T-Shirt vor die nackte Brust. Ein Stück den Pfad hinunter, halb von Bäumen verdeckt, mit dem Rücken zu ihr und die Hände vor den Augen, stand Karl Ebesen. Sie schloss die Augen, atmete tief aus und schlug sich an die Brust, um ihr Herz wieder in Gang zu bringen. Oh je, seufzte Ebesen. Das tut mir wirklich Leid. Was soll ich jetzt nur machen? Die Entschuldigung klang so komisch, dass sie lachen musste. So verlegen hatte sie den Mann bisher noch nie gesehen. Bleib, wo du bist. Gib mir zwei Minuten. Der Schreck hatte immerhin die Kälte vertrieben. Die Kleider fühlten sich warm an, sogen das letzte Wasser auf. Sie kam hinter dem Felsen hervor. Alles wieder gut versteckt. Ebesen ließ die Hände sinken und trat vor, ein schüchterner Mitspieler in einem Nachlaufspiel, für das er längst zu alt war. Kannst du mir verzeihen? Ich dachte, wenn du hörst, wie ich mich durch die Büsche wieder davonschleiche, ist es noch schlimmer. Halb so wild. Eigentlich meine Schuld. Sie fasste ihn beschwichtigend am Ellenbogen, aber nach dem Minimum an Verweilzeit, das die Höflichkeit gebot, zog er ihn zurück. Das alte noblesse oblige, sagte er. Susanna im Bade. Ein Sujet für Genrebilder, das in letzter Zeit aus der Mode gekommen ist, ich weiß auch nicht warum. Sie lächelte. Die sehen heute nur anders aus. Sein Auto sprang nicht an. Er hatte es erst bemerkt, als Vulgamott schon längst fort war. Adie war das einzige 397
menschliche Wesen weit und breit. Deshalb bin ich dir nachgegangen, in den Wald. Und hättest nie gedacht, dass ich splitternackt im Wasser plansche. Hedy Lamarr in dem Klassiker Ekstase. Eher Dumbo der Elefant im gleichnamigen Trickfilm. Sie marschierten in forschem Tempo zurück. Karl versuchte noch einmal den Anlasser. Er gab nur einen hässlichen kratzenden Ton von sich. Sieht das denn wirklich aus wie eine Maschine, die einen unüberwindlichen Groll gegen mich hegt? Adie fand, es sah aus wie eine Maschine, die durch ein Wunder zehn Jahre über ihren natürlichen Tod hinaus gelaufen war. Hast du mal nach dem Motor gesehen? Unter der Haube, meinst du? Nach langer Suche fand er den Hebel. Beide standen da und starrten in die Öffnung. Schließlich stieß Ebesen ein bitteres Lachen aus. Wem machen wir hier eigentlich was vor? Sie fuhr ihn zu einer Werkstatt am Mount-Loop-Highway. Ein Mechaniker folgte ihnen mit einem Abschleppwagen zurück zur Hütte. Wiederbelebungsversuche zwecklos, erklärte er und nahm den Wagen an den Haken. Fahr du nach Hause, sagte Ebesen. Lass mich an der Werkstatt raus. Ich warte, bis sie ihn wieder zum Laufen gebracht haben. Karl. Mach dir nichts vor. Das kann Tage dauern. Und selbst dann wäre es ein Wunder. Nur unter Protesten stieg er wieder bei ihr ein. Während der ganzen Rückfahrt saß er auf der Kante des Sitzes. Lass mich einfach irgendwo raus, sagte er. Wo es dir passt. Jetzt hör mir mal zu, Karl. Ich bringe dich nach Hause. Und wenn dein Auto fertig ist, rufst du mich an, und ich fahre dich 398
zurück zur Werkstatt. Er stieß einen Seufzer aus und dirigierte sie in das Viertel, in dem er wohnte. Als sie näher kamen, begriff sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Die Häuser wurden zusehends zu Hütten, die Gärten waren ein einziger Trödelladen. Wenn du mich hier rauslässt, reicht es. Bis zur Türschwelle, Karl. Es stellte sich heraus, dass sein Haus keine Türschwelle hatte. Das improvisierte Gitter rund um die Grundplatte konnte den Umstand nicht verbergen, dass es ein ehemaliger Wohnwagen war. Als die Wahrheit erst einmal heraus war, entspannte er sich. Möchtest du für einen Augenblick mit reinkommen? Sicher, log sie. Gern. Innen sah es noch schäbiger aus als draußen. Der Wagen bestand aus einem einzigen langen Raum mit einer Kochnische am einen Ende und einem mit einem japanischen Wandschirm abgeteilten Schlafbereich am anderen. Er hätte komplett in die Grotte gepasst, ohne große Kompression. Aber die Grotte hätte nie die hervorstechendste Eigenschaft dieses Raums nachahmen können, den beißenden Geruch, das scharfe, pilzige Aroma des Verfalls. Den Geruchssinn würde die Simulation niemals täuschen können. Möchtest du etwas trinken? Ein Glas Wasser wäre schön. Leitungswasser in Ordnung? Hmm? Oh. Sicher. Jede Nische war voll gestopft. Kleider, zerknittertes Packpapier, zerfledderte Anthologien, alte Zeitungen, Teller und Tassen, Verpackungen längst verzehrter Tiefkühlmahlzeiten. Aber nirgends ein Zeichen von Elektronik. Nichts mit einem Knopf oder einem Stecker oder einer 399
Kontrollleuchte. Adie ging zur Längswand, angezogen von einem Feuerwerk von Bildern, das daran geheftet war. Hunderte von Fotografien bedeckten die ganze Fläche, eine einzige große Collage. früher habe ich gern fotografiert, entschuldigte Karl sich von der Küche aus. Keiner der gewellten Abzüge konnte weniger als ein Jahrzehnt alt sein. Ein Streifen in der Mitte zeigte, wo jeden Tag das Lichts durchs Fenster einfiel und sie ausbleichte. Die meisten der vergilbten Aufnahmen zeigten eine Frau, die damals etwa so alt gewesen sein musste wie Adie jetzt. Ebesen trat neben sie an den Schrein, in jeder Hand ein Glas Leitungswasser. Verrückt, nicht wahr? Wie meinst du das, verrückt? Er blickte ihr ins Gesicht. Siehst du es denn wirklich nicht? Sie wusste nicht einmal, was sie nicht sah. Ebesen verschwand in einem Raum, der wohl das Badezimmer sein musste, und kehrte mit einem Campingspiegel zurück, nicht viel anders als jener, der in Arles an der Wand hing. Er drückte ihr das blitzende Rechteck in die Hand. Darf ich? Sie nickte. Dieser Mann konnte nichts tun, was sie ihm übel nehmen würde. Sie betrachtete ihr Spiegelbild, als er ihr Haar zurückzog, bis es verschwand. Er fasste sie mit beiden Händen am Unterkiefer, als fühle er nach geschwollenen Lymphknoten. Er drückte die Hände aufwärts, langsam, behutsam, wie ein Töpfer an seiner Scheibe. Die ganze untere Gesichtshälfte hob sich, zu den Backenknochen hin. Er formte ihr Gesicht ohne Vorlage. Er brauchte keine. Adie studierte das Ergebnis im Spiegel. Sie drehte sich, senkte den Kopf, hielt das Metall so, dass sie gleichzeitig die Fotowand sehen konnte. Sie war das Ebenbild dessen, was sie sah. Sie schauderte, wandte sich ab, ließ den Spiegel sinken, befreite Gesicht und Haar. 400
Ebesen trat einen Schritt zurück und hob die Hände. Verzeih mir. Es tut mir Leid. Schon das zweite Mal in einem Tag. Nein, nicht doch. Es war nur … unheimlich, das ist alles. Das wäre das höfliche Wort dafür. In Wirklichkeit … eigentlich sehe ich ihr nicht besonders ähnlich. Nicht? Wirklich, Karl. Du musst mein Gesicht ganz verzerren. Wenn du erst einmal an die Muskulatur gehst, kannst du jeden so hindrücken, dass er wie jemand anderes aussieht. Meinst du? Meinst du, man könnte Mr Gates III. so hinbekommen, dass er wie ein Barockbild aussieht, Johannes der Täufer auf dem Silbertablett? Unwillkürlich musste sie lachen. Ebesen nahm einen Schluck von seinem Wasser. Kennst du sie? Adie wandte sich wieder den Fotos zu. Kannte sie die Frau? Der Gedanke war ihr nicht gekommen. Sie ließ den Blick noch einmal über das Mosaik wandern, wartete, dass ein Funken Wiedererkennen kam. Es kam keiner. Sollte ich? Er betrachtete die Galerie wie eine Verbrecherkartei. Gail Frank? Der Name hatte etwas Vertrautes, aber er war zu alltäglich, als dass sie etwas damit verband. Einer der 10xl5-Abzüge zeigte die Frau auf einem Platz, der aussah wie Washington Square; sie arrangierte eine Schaufensterpuppe in Embryohaltung, und ein paar neugierige Passanten waren stehen geblieben und sahen zu. Sie hat immer gern im Freien gearbeitet, sagte Ebesen. »Outstallations« nannte sie diese Sachen. Im Atelier wurde es ihr schnell zu eng. 401
In der nächsten Aufnahme hielt Ebesens Kamera Gail Frank fest, wie sie die Hände der Puppe, deren Augen nun verbunden waren, hinter dem Rücken zusammenband. Auf weiteren Polaroids sah man sie mit anderen Figuren, Puppen, Attrappen, wie sie sie in Frachtkisten packte, in Postpakete, in die Zwischenräume zwischen engen Kristallgittern. Gail … Frank. Eine Performancekünstlerin? Etwas war da. Etwas tief Vergrabenes, fast schon Vergessenes. Ebesen schüttelte den Kopf. Erinnerst du dich noch an Performances? Oder überhaupt an die Siebziger? Unglaublich, wie wir ganze Kunstrichtungen auf den Müll werfen, nicht wahr? Etwas an der Art, wie er das sagte, öffnete die Schleusen der Erinnerung. Adie schlug sich mit der Hand vor den Mund. Gail Frank. Natürlich. Die Geschichte, die die gesamte New Yorker Kunstszene in den Bann geschlagen hatte. Zumindest eine Saison lang. Die Frau, die … Mark Nyborgs …? Als der Name dieses gefallenen Engels des Minimalismus fiel, biss Ebesen die Zähne zusammen. Adie überlegte sich ihre Worte genau. Die Frau, die er umgebracht hat. Ebesen zuckte mit den Schultern. Das weiß man nicht. Karl. Was soll das heißen, das weiß man nicht? Der Mann hat sie aus einem Fenster im dreizehnten Stock gestoßen. Im Vierzehnten. Aber das spielt keine Rolle. Ein Schwurgericht hat ihn verurteilt. Zweimal lebenslänglich, wenn ich mich recht entsinne. Ebesen räumte einen Stapel Papiere von dem Polsterstuhl und setzte sich. Er ließ das Wasser im Glas kreisen, dann trank er es in einem Zug aus bis auf den kalkigen Bodensatz. Er streichelte das leere Glas wie Beuys seinen toten Hasen. Wäre das nicht unglaublich, für uns alle? Wenn wir unsere Zeit tatsächlich 402
zweimal absitzen könnten? Hast du sie gekannt? Adie schämte sich für diese banale Formulierung. Der Mann hatte dieser Frau einen Altar aus Bildern errichtet. Die einzige Zierde seines Hauses, von den Müllbergen abgesehen. Ihr wart … befreundet? Ironie ließ die Lippen schmal wie einen Briefschlitz werden. Wir waren befreundet. Sie hat mich seinetwegen sitzen lassen … ein steiler Aufstieg. Jede Antwort war unmöglich geworden. Alles eine Frage der Karriere. Gail musste immer mit Erfolgsmenschen zusammen sein. Ansehen, Rang, Einfluss. Darauf kam es an. Sie war ein schöpferischer Vampir. Ihre eigenen Arbeiten zehrten von der Aufmerksamkeit, die andere bekamen. Nach ein paar Jahren reichte ihr das, was ich an bescheidener Anerkennung in diesem Leben je erlangen würde, nicht mehr. Und so schlang sie ihre Arme um Mr Nyborg, der von Tag zu Tag berühmter wurde. Berühmt!, schnaubte Adie. Bestenfalls berüchtigt. Sie war überrascht über den Ärger, der in ihr aufkam. Ein Poseur. Ein Scharlatan. Nicht ohne Talent. Sie hatte sich verbessert, das steht fest. Adie betrachtete diesen Mann, mit dem sie zwei Jahre lang so eng zusammengearbeitet hatte. Selbst Widerspruch schien nicht mehr möglich. Ich kann nicht behaupten, dass es das reine Unglück gewesen wäre, als sie ging. Gail war eine … komplexe Persönlichkeit. Nach einer Weile kam ich darauf, dass selbst mein Kummer in gewisser Weise Erleichterung war. Adie wandte sich wieder der Fotogalerie zu. Die Frau hatte jeden Gesichtsausdruck beherrscht, den man sich vorstellen konnte, vom Hass bis zur Hilflosigkeit – die ganze unüberbrückbare Bandbreite, die man auch im wirklichen 403
Leben fand. Gail Franks Gesicht hatte etwas geradezu gespenstisch Anziehendes, der Magnetismus der Angst, die weiß, dass man sie ansehen will. Die Schönheit des Narzissmus. Ihr Gesicht sah überhaupt nicht wie Adies aus. Adie hatte keine Ähnlichkeit mit dieser Frau. Sie hörte sich sprechen, wie aus den Tiefen eines hallenden Raums. Und du meinst, dieser Mann hat sie nicht umgebracht? Nun, es ist so – selbst als sie Mark schon zu zweimal lebenslänglich verurteilt hatten, schwor er noch immer, dass Gail … selbst aus dem Fenster geklettert sei. Adie studierte die Frau, ihre öffentlichen Auftritte, die privaten Aufnahmen, die nichts verrieten. Sie schüttelte den Kopf. War da nicht auch von Misshandlungen die Rede? Auch etwas, was sie von mir nicht bekommen konnte. Und die Nachbarn im Haus, ihre Aussagen, dass sie ihn immer gehört haben, wie er im Drogenrausch gebrüllt hat, dass er sie umbringen würde? Adie wandte sich um und blickte Ebesen an. Er studierte sie, mit verblüffter Miene. Du hast von diesem Fall erstaunlich viel behalten. Sie zuckte mit den Schultern. Ich war jung, ich war Künstlerin in New York. Ebesen erhob sich. Das waren wir alle, früher. Wortlos ging er zum anderen Ende des Raums, wandte ihr den Rücken zu. Die Unterhaltung war zu Ende. Karl. Bitte. Es tut mir Leid. Er verschwand in seinem Schlafzimmer, hinter dem japanischen Schirm. Sie stand Ewigkeiten lang da, überlegte, ob sie einfach gehen sollte. Geh nicht weg, rief er schließlich. Ich muss es hier irgendwo haben. Als er wieder zurückkam, schleppte er eine Mappe aus 404
grobem Karton, in der gleichen Art wie die, die er im RL stets bei sich hatte, nur größer und abgegriffener. Er suchte sich auf dem Fußboden ein paar gleich hohe Stapel und breitete sie darauf aus. Sie stellte sich hinter ihn, als er die Blätter durchzusehen begann. Bei jedem zerknitterten Blatt wollte sie rufen, dass er innehalten sollte, zurückblättern. Aber er suchte etwas Bestimmtes, blätterte so rasch, dass er in seiner Ungeduld oft Bögen einriss. Jeder dieser Risse war eine Wunde für sie. Auf den ersten Blick hielt sie sie für Farbfotos. Meine Güte, sagte sie, als die erste Hand voll vorüber war. Was ist das für eine Technik? Das? Das ist einfach nur Acryl. Nicht zu fassen. Ist das mit Projektion gemalt? Er tat es mit einem Lachen ab. Wenn ich Projektion benutzt hätte, wären diese Dinger nach der neuesten Mode gewesen. Aber so, freihand, sind es nur Kuriositäten. Er musste unbedingt mit dem Blättern aufhören, mit dem Reden, ihr Auge brauchte eine Chance zu sehen, dass diese Bilder nicht wirklich vollkommen waren, dass es kleine Fehler gab, sie musste herausfinden, wie diese Bilder gemacht waren. Aber Ebesen wühlte nur immer schneller. Und als er schließlich innehielt, als er das Bild gefunden hatte, das er suchte, da hätte sie sich gewünscht, er hätte weitergemacht. Das Bild sprang ihr entgegen, ein obszönes Zeitungsfoto aus einem Kriminalbericht. Gail Frank lag auf dem Bürgersteig, halb so viele Beine wie eine Spinne, aber doppelt so verrenkt. Karl drehte das Blatt um neunzig Grad. Ulkig, was? Wenn man es so herum sieht, sieht es aus, als ob sie die Nordwand von einem Felsen hochklettert, über dem schieren Abgrund. Adie konnte nur starren. Die geradezu blasphemisch perfekte Technik anstarren. Das obszöne Thema, gemalt, als sei es das Herz der Stille in aller Ewigkeit. Eine Frau lag auf dem 405
Pflaster, die Glieder ausgebreitet, der Körper zermalmt. Fest auf den Grund der Welt gedrückt, an ihn geklammert, als schliefe sie am Boden eines tiefen Brunnens. Alles, was fehlte, war der Kreidestrich um den zerschmetterten Leib. Das kannst du doch nicht wirklich gesehen haben, sagte Adie. Mit Nachdruck. Hoffnungsvoll. Aber er nickte. Doch. In deiner Fantasie. Oh, so gut ist meine Fantasie nicht. Sie sah noch einmal hin, wollte es nicht glauben. Ein hyperreales reißerisches Bild aus einem Skandalblatt, das Opfer nach dem Aufprall. Adies Kopf ging vor und zurück, ein Suchscheinwerfer auf der Suche nach Gegenbeweisen. Das ist … das musst du nach einem Foto gemalt haben? Ich habe sie alle nach Fotos gemalt. Verrückt, was? Ich meine, wozu soll das gut sein? Eine fotorealistische Kopie eines realistischen Fotos. Die Kamera kann alles, was die Hand kann, millionen Mal einfacher und viel getreuer. Er hob das Blatt auf, ließ es wieder fallen. Nur diese Hand sein, das kann sie nicht. Karl. Das ist grässlich. Wie konntest du …? Wo hast du das Foto her? Das habe ich aufgenommen. Sie wich vor ihm zurück. Schlug die Hände vors Gesicht, auf denen der Abdruck des Ekels zurückblieb. Als sie sie zurückzog, war das Gesicht immer noch da. Du verstehst das nicht, sagte er. Sie ist nicht tot. Diese drei Worte kamen von einem Ort, den sie nicht ansehen konnte. Ihr Kollege, der Landstreicher, Opfer der lautlosesten Geisteskrankheit, die man sich vorstellen konnte. Ich meine hier. Da auf dem Bild ist sie noch nicht tot. Auf meinem Foto von ihr. 406
Sie wollte ihn in den Arm nehmen und ihn trösten in seinem Wahn, eine verzweifelte Pietà, auch wenn sein Körper den ihren weit überragte. Sie fasste nach seinem Ellbogen, griff wenigstens nach dem, was zu erreichen war. Er zog ihn fort. Nein. Du verstehst es immer noch nicht. Ich habe das etwa zehn Monate vor ihrem Tod gemalt. Sie schüttelte den Kopf. Nein: nein. Das ist aus einer Performance, die sie immer besonders gern aufgeführt hat. Sie suchte sich ein hübsches Stück Bürgersteig im Bankenviertel aus, besorgte sich eine polizeiliche Erlaubnis, und dann legte sie sich so hin, so lange, bis der Auflauf gar zu groß wurde. Hat den Wallstreet-Leuten einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Lieber Himmel. Das Bild löste sich vor ihren Augen auf und setzte sich zu einem gänzlich anderen neu zusammen, auch wenn es genauso aussah. Soll das heißen, ihr Tod war ein … Werk? Er sah noch einmal das vorgelegte Beweisstück an. So hat es jedenfalls ihr Freund den Geschworenen erklärt. Und du? Was hast du den Geschworenen gesagt? Ich denke mir, wir haben es zusammen inszeniert. Eine Gemeinschaftsarbeit. Ebesen schlug die Mappe mit brutaler Endgültigkeit zu. Mark, Gail und ich. Du? Aber, Karl. Du kannst dir doch nicht die Schuld an etwas geben, das … Sie verstummte, froh, dass der Gedanke sich verlief. Ich hätte das Schicksal nicht herausfordern dürfen. Man sollte nie etwas darstellen, von dem man nicht will, dass es wahr wird. Warte. Nein. Dieses Bild … das hatte nichts mit ihrem Tod zu tun. Es war doch nicht einmal dein eigenes. Du hast nur dokumentiert, wie diese Frau … Wie hättest du denn das 407
wissen sollen? Man weiß immer, was man malt. Und alles, was man malt, kommt irgendwie auch auf die Welt. Deshalb hat Gott ja die Götzenbilder verboten, nicht wahr? Er wollte nicht, dass das Publikum an etwas herumbastelt, von dem es keine Ahnung hat. Sie überwandt die Kluft zwischen ihnen. Sie legte die Arme um ihn, damit er schwieg. Er kam ihr nicht entgegen, aber er entzog sich auch seiner Strafe nicht. Es war, als umarmte sie einen einsachtzig großen Jutesack mit Reis. Sie ließ locker, ratlos, hielt ihn nur noch an der Taille. Karl, du darfst dir das nicht einreden. Dein Bild hatte nichts zu tun mit … Du bist nicht verantwortlich dafür. Du bist nicht schuld daran. Oh doch, das bin ich. Jeder muss für das geradestehen, was er tut. Sie ließ ihn los. Sie trat zurück, starrte ihn an. Er schaute weg. Jetzt passte alles zusammen – was dieser Mann hier tat, was er nicht tat. Was er alles nie wieder tun würde. Und du?, fragte er, hatte ihre Gedanken gelesen. Was ist mit dir? Welche Entschuldigung hast du? Sie schüttelte den Kopf. Gar keine. Warum hast du aufgegeben? Sie strich ihr Haar zurück, und das Blut schoss ihr ins Gesicht. Einfach weil. Weil alles Schwindel ist. Weil wir uns genauso gut eine ehrliche Arbeit suchen können. Weil Kunst nichts bewirkt. Er nahm ihr das Wasserglas aus der Hand und verschwand in der Küche, tat ihr den Gefallen und ließ sie allein. Liebst du sie noch?, fragte sie ins Blaue hinein. Nur um das Schweigen zu überbrücken. Unsichtbar, aus der Küchennische, rief er zurück. Noch …? 408
Warum fragst du? Warum fragte sie? Sie überlegte. Zählte die Gründe zusammen, suchte nach Logik. Die Bilder. Wie eine südamerikanische Grotte, ein gracias an die Heilige Jungfrau. Ach, das, rief er. Tritt mal einen Schritt zurück. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie verstand. Sie machte einen Schritt. Und? Nichts? Dann noch einen. Geh weiter zurück. Sie ging so weit zurück, wie sie konnte, bis zur gegenüberliegenden Wand. Sie blickte auf und betrachtete wieder den Pastiche der Erinnerung. Plötzlich lösten sich die einzelnen Fotografien – jede ein Muster aus Licht und Schatten – zu den abgestuften Punkten eines gerasterten Zeitungsfotos auf. Wo Hunderte von Bildern gewesen waren, war jetzt nur noch ein einziges: ein großes, starrendes Mosaik eines Frauengesichts. Wen es darstellte, ließ sich allerdings nicht sagen; dazu war die Auflösung zu grob. Etwas regte sich links von diesem Vexierbild. Sie sah nicht hin. Karl war wieder ins Zimmer gekommen, beobachtete, wie sie auf die Entdeckung reagierte. Als er sprach, da klang es, als seien alle wichtigen Entscheidungen des Lebens längst gefallen. Ich hatte eine ganze Schachtel voll mit Bildern. Die meisten von ihr. Und da kam mir eine Idee. Kommt ja dieser Tage nicht mehr oft bei mir vor. Nur ein Experiment. Kunst ließ nichts geschehen. Nur das, was geschehen musste. Übrigens, fügte er noch hinzu, von deiner Ausstellung, da war sie begeistert. »Ich brauche mehr zu lesen«, sagst du zu Said. Er versteht deine Bitte nicht. Sie haben dir doch schon ein Buch gebracht. Was hast du damit gemacht? Was meinst du 409
mit mehr? »Ich habe es gelesen. Bis zum Ende. Viele, viele Male. Ich kenne jedes Wort. Keine Überraschungen mehr.« Er nimmt das Buch mit. Es kommt kein neues an seiner Stelle. Du musst dich an Muhammad halten. Er ist deine einzige Chance. Said hat ein mitleidiges Herz. Aber er ist ein einfacher Mann, ein armer Bauer aus den Baumwollfeldern der BekaaEbene, der mehr wegen der fünfundzwanzig Dollar im Monat als aus wirklicher Überzeugung bei den Partisanen gelandet ist. In seiner Welt sind Bücher nicht einmal ein Luxus. Sie sind eine obszöne Nichtigkeit. Bei Ali ist es noch aussichtsloser. In den letzten zwei Monaten ist es wieder schlimmer geworden mit ihm. Abends kommt er zu dir in die Zelle und erzählt lang und breit, wer er ist und woher er kommt, so als säße er irgendwo am Lagerfeuer. Er will Englisch lernen, genau wie deine unschuldigen Schüler. Ein hitziger, aufschneiderischer Junge, der aus seinem Leben ein Heldenepos macht. »Weißt du, wo meine Heimat ist?«, fragt er eines Abends. »Ich komme aus Shatila.« Das Lager, in dem das Massaker stattgefunden hat. An einem anderen Abend sagt er: »Kennst du Souk al Gharb? Ich wohne in Souk al Gharb. Alle Libanesen wohnen in Souk al Gharb. Die Amis werfen ihre Scheißbomben auf Souk al Gharb. Die feigen Schweine, von Schiff aus, von draußen auf Meer! Weil sie wissen, wir machen sie tot, wenn sie an Land kommen.« »Souk al Gharb ist nicht meine Schuld«, sagst du unter deiner Augenbinde. Aber mit leiser Stimme. Du willst nicht, dass er dich schlägt. Deine Knochen sind dir lieb. Wer weiß, vielleicht kannst du sie noch einmal brauchen, in einem anderen Leben. Stück für Stück erzählt Ali seine Geschichte – reich verbrämt und ausgeschmückt und hie und da, wie durch Zufall, dennoch 410
schlüssig. »Wie ich kleiner Junge war, da habe ich die Palästinenser geliebt. Alle sind schlecht zu den Palästinensern. Sie sind meine Helden. Dann verbrennen die Palästinenser mein Dorf. Warum tun sie das? Kein Grund. Ich denke: Die Israelis kommen. Sie finden die Leute, die meinen Vater und die Schwester von meinem Vater und die Brüder von meiner Mutter umgebracht haben, und dann bringen sie die um. Aber was machen die Israelis? Was machen die?« Er versetzt dir einen Tritt ins Kreuz. »Ich weiß es nicht.« »Du weißt es nicht? Sie brennen mein Dorf noch einmal nieder. Diesmal richtig. Warum machen sie das? Warum?« Du spannst dich an. »Kein Grund?« »Schöner Grund!«, schreit er. Jemand ruft etwas Arabisches vor der Tür. Ali versichert, dass alles in Ordnung ist. Du hörst, wie er näher kommt. »Das sind keine guten Menschen«, stößt du hervor, in höchster Alarmbereitschaft. »Schlechte Menschen. Böse Menschen.« Seine Zustimmung fällt ebenso heftig aus wie sein Widerspruch. »Dann kommen syrische Soldaten. Echte Soldaten. Ich denke: Jetzt treten die den Israelis in den Arsch. Aber die lassen mich auch wieder im Stich, die Syrer. Machen Halt, bevor sie bei uns im Süden sind. Die tun überhaupt nichts. Feige Schweine.« Du lässt diesen kurzen Abriss der jüngsten Geschichte über dich ergehen und versuchst dich zu erinnern, was wirklich geschehen ist. Die tatsächlichen Ereignisse liegen unendlich weit zurück, Politik ist eine ferne, schemenhafte Abstraktion. Du kannst niemals hoffen, all das zu verstehen. Aber du musst Ali verstehen. »Dann kommt ihr Amerikaner. Und weißt du was? Es ist O.K. Sollen ruhig kommen. Vielleicht räumen die auf. Zu viele 411
Tote. Zu viele Verrückte. Aber was machen die Amerikaner? Schmeißen ihre Scheißbomben auf Souk al Gharb. Von Schiff aus, wie feiges Mädchen.« Ein langes Schweigen, und du fragst dich, ob die abendliche Schulstunde zu Ende ist. Aber dein Lehrer wechselt nur von der Geschichte zur Philosophie. »Nein. Nein. Die Welt will unseren Tod. Gut. Schön. Die ganze Welt ist unser Kerbela. Da hat die Welt Pech gehabt. Sie tut uns weh, wir tun ihr weh. Ihr tötet, wir töten. Ihr betrügt uns, wir bombardieren eure Botschaft. Ihr bombardiert unser Dorf, wir töten eure Marines. Ihr denkt, dass ihr uns wehtut? Ihr tut uns Gutes. Ihr macht uns stark. Ihr lasst Israel Shatila zerstören? Wir töten euch in dem Flugzeug. Ihr schmeißt Bomben auf Tripoli? Wir töten drei Geiseln genau wie du.« Er schweigt, und das ausgeplauderte Geheimnis hängt zwischen euch in der Luft. Ein einziger Ausrutscher, und von einer Minute zur anderen ist es mit deiner sorgsam gehüteten Unwissenheit vorbei. Dein hartnäckiges Leugnen wider alle Beweise. Jetzt wirst du bezahlen für seinen Irrtum, sein unüberlegtes Geständnis. »Wieso ich?«, stößt du hervor und willst das Spiel wieder auf die abstrakte Ebene ziehen. Ihn mit einem neuen philosophischen Problem ablenken. »Ganz einfach«, sagt er, und seine Stimme ist eiskalt von etwas, was er für Mitleid hält, »Amerika ist nicht deine Schuld.« Er hat einen neuen Ausdruck gelernt. »Aber du bist die Schuld von Amerika.« Du beschließt, das Thema Lektüre bei Ali nicht anzuschneiden. Aber bei Muhammad: Er ist der intellektuelle Kopf des örtlichen Kaders. Der lokale Zuama, der Zaim, das Gehirn. Der Chef. 412
Deine Bitte verärgert ihn nur. »Wir haben Ihnen gerade erst ein Buch gegeben. Sie lesen zu schnell. Sie müssen es besser einteilen.« »Muhammad. Ich sterbe hier im Sekundentempo. In Zehntelsekunden. Millisekunden. Nanosekunden. Mein Verstand …« Er schnauft, ein kurzes, dürres Lachen. »Was ist das, dass sie unbedingt lesen müssen?« Du verstehst ihn absichtlich falsch. »Oh ein schöner dicker Roman wäre genau das Richtige. Je dicker desto besser. Etwas mit Substanz. Etwas aus dem neunzehnten Jahrhundert. Moby Dick. Krieg und Frieden. Bleakhaus. Was immer Sie auftreiben können. Ich bin nicht wählerisch. Ich lese alles. Die Canterbury-Erzählungen, Bunyans Pilgerreise –« »Spielen Sie hier nicht den Clown.« Etwas in dir spannt sich an. Kampfbereit. Du wirst nicht um Verzeihung bitten für erlittenes Unrecht. Hier in diesem Raum wird dein Leben wahrscheinlich enden. Der Gedanke an Sicherheit ist nicht mehr von Bedeutung. Du spürst kein Verlangen nach einem sanfteren, späteren Tod. »Wenn ihr mir jedes Mal nur ein einziges Buch gebt, jedes Mal wenn ich am Boden liege und darum bettele, dann gebt mir wenigstens eins, das man ein paar Mal lesen kann. Eins, das sich lohnt.« »Sie wissen nicht, wie der größte Teil der Menschheit lebt.« »Muhammad, ein Buch kostet nichts. Ich bezahle es euch nach meiner Entlassung, mit Zins und Zinseszins.« Dein Sticheln entflammt seinen Zorn. »Sie wollen, dass wir Ihnen Geschenke machen.« »Hier. Sehen Sie sich um. Meine Luxussuite. Sehen Sie sich die Geschenke an, die ich bekommen habe.« Dir wird schwindelig von diesem Spiel am Rande des Abgrunds. Von 413
dieser Herausforderung eines Ungeheuers, das dich ohne viel Federlesens töten wird. Seine Stimme beugt sich über dich, stürzt auf dich herab. »Sie sind hier nicht in Ihrem Land. Das ist kein nettes Strandhotel für reiche weiße Ausländer. Sie sind hier aus einem bestimmten Grund.« Du spürst ein Zucken in deinen Händen, den Drang, dieser Stimme das Genick zu brechen. Die Plötzlichkeit dieses Wutausbruchs, das Auftauchen aus dem Nichts, erschreckt dich mehr als alles, was sie dir angetan haben. Es bricht aus dir hervor. Du reißt es ab wie ein Stück Brot. Drückst deine Daumen auf seinen Adamsapfel, bis er nachgibt: Sie überwältigt dich, die ewige Langeweile, die Vernichtung, die endlose, leere Hölle des Selbsthasses. »Ich bin hier, weil ich aus dem Westen komme.« Ein Selbstmordkandidat, der geglaubt hat, der Krieg könne ihm nichts anhaben. Der mit offenen Armen geradewegs auf das Schlachtfeld gelaufen ist. Sein Schweigen umspült dich, es ist erstaunlich. »Wie viele westliche Geiseln halten wir fest?« »Sagen Sie es mir.« »Sie können sie an ihren Händen und Füßen abzählen. Zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig. Sie gehören nicht alle zu unserer Gruppe. Für jede westliche Geisel sitzen hundert Libanesen im Gefängnis. Zweihundert. Sunniten, Schiiten, Drusen, Christen. Tausende von libanesischen Geiseln. Was glauben Sie, wie viele von diesen Gefangenen bekommen die Bücher, um die sie bitten?« »Wie werden sie festgehalten? Sind sie allein? Können sie sich miteinander unterhalten? Können sie sich Geschichten erzählen?« Noch mehr Schweigen. Nur eine Erklärung ist möglich. Er 414
denkt nach. Denkt nach über deine Worte. Die Hände, die ihm eben noch die Kehle eindrücken wollten, würden ihn jetzt am liebsten umarmen. Das erste Gespräch. Die erste wirkliche Unterhaltung seit mehr Monaten als du dich erinnern kannst. »Weshalb brauchen Sie die Bücher so sehr? Was können Sie daraus lernen?« Wie sollst du ihm das erklären? Auf jeder ehrlichen Seite, in jedem Buch, das einem menschlichen Bedürfnis entspringt, sei es auch noch so kraftlos, pubertär, banal oder falsch, findet sich mindestens ein Satz, in dem der Geist dahinter mehr ist als nur die schriftstellerischen Fähigkeiten, ein Satz, der das Gewicht seiner starren Bestimmung abschüttelt und sich löst aus den Fesseln bleierner Prosa, ein Satz für den Gefangenen in seiner Zelle, gefangen im Nirgendwo, Opfer des allgemeinen Scheiterns der Welt, der fleht, dass man ihm etwas zu lesen gibt. »Ich … ich kann daraus lernen, nicht ich zu sein. Für eine Stunde. Für einen Tag. Ihr erdrückt mich, Muhammad. Ich brauche Auslauf. Ich brauche etwas, worüber ich nachdenken kann. Einen anderen Menschen, einen anderen Ort.« »Hier müssen Sie hingehen«, schnauzt er und pocht auf dein Brustbein. »Denken Sie über das nach, was in Ihnen ist.« »Das kann ich nur … eine gewisse Zeit lang.« »Wir haben ein Sprichwort. Das ganze Leben ist eine Illusion. Aber trotzdem ist es wirklich. Wer das weiß, hat alles, was er braucht.« »Ich brauche … jemanden, mit dem ich reden kann. Ich brauche … die Gedanken eines anderen Menschen.« »Mr Martin, glauben Sie an Gott?« Die Silbe ist eine jener akustischen Sinnestäuschungen, geboren aus dem fernen Donner des Artilleriesperrfeuers, das die Luft draußen vor deiner Krypta erschüttert. Eine 415
Halluzination, eine bizarre Frage, so wie die, die Gwen dir bisweilen schickt, wenn du dich schlaflos auf deinem feuchten Lager wälzt. Hat er das wirklich gefragt? Du wirst ihm alles erzählen, was er hören will. Von der Jugend deiner Mutter, von den religiösen Texten in einer fremden Sprache, die sie tapfer auswendig gelernt hat, davon wie sie durch die Straßen gezogen ist und sich mit dem Koran an die Brust geschlagen hat, wie sie das Leben einer Gläubigen führte, bevor es sie nach Iowa verschlug. »Mein Staunen … ist von anderer Art.« Schweigen füllt den Raum zwischen euch. Ein kleiner Vorgeschmack auf die Zukunft, auf den Augenblick, in dem das Schweigen vollkommen ist. Das Jahr taumelt mit Riesenschritten dem Frühling zu. Dein rechter hinterer Backenzahn beginnt zu schmerzen. Der Chef, der oberste Boss, wer immer das sein mag, kümmert sich nicht um deine Bitte um einen Zahnarzt. Es gibt keine Zahnärzte mehr. Zahnärzte sind ausgestorben. Alle Zahnärzte sind aus dieser Stadt geflohen, haben sich zurückgezogen in die luftigen Höhen des Antilibanon – in die Berge hinter den Bergen. Du machst Jagd auf deine Kakerlaken und anderes Ungeziefer und schickst die Leichen mit dem schmutzigen Geschirr hinaus. In der Ecke über dem Heizkörper ist eine undichte Stelle in der Decke. Durch den stetig tropfenden Wasserfall bildet sich im Laufe der Monate ein grüner Algenstreifen, der über die ganze Länge der Wand reicht. Bald wird die schleimige Halskette deinen Nacken erreichen. Du weist das neueste Phantom auf der anderen Seite der Augenbinde darauf hin, als er dir das Essen bringt. »Sehen Sie den grünen Fleck?« Du hoffst, dass du trotz verbundener Augen annähernd in die richtige Richtung zeigst. »Sie müssen 416
ihn wegmachen. So kann ein Mensch nicht leben. In diesem Schmutz.« Aber dieser Wächter macht sich nicht einmal die Mühe zu antworten, weder mit dem traditionellen bukrah noch mit dem vernichtenden inschallah. Der Zorn ungezählter Monate wallt in dir auf und bricht aus dir hervor. »Jetzt reicht es mir aber. Ich habe die Nase voll. Ich zahle euch keinen Sou Miete mehr, bevor ihr hier nicht ein paar Sachen in Ordnung bringt.« Was folgt, ist ein Schweigen so gewaltig und so gewalttätig wie der Lauf der Geschichte. Du wappnest dich für die bevorstehende Bestrafung. Dann sagt die Stimme von Muhammad: »Wir ziehen es Ihnen vom Gehalt ab.« Eines Tages kommen sie und wollen dir die Haare schneiden und dich rasieren. Seit fast einem Jahr hast du dich nicht mehr im Spiegel betrachtet. Nicht dass das nötig wäre. Zum ersten Mal im Leben kannst du deine Haare und deinen Bart auch ohne Spiegel sehen. Du musst etwa so aussehen wie ein schlechtes Christusbild auf Samtgrund, nur ein wenig orientalischer als üblich. Es ist eine deiner wenigen Zerstreuungen: Stunden um Stunden hast du mit dem Zwirbeln eines zehn Zentimeter langen Haarbüschels zugebracht. »Nein danke«, sagst du. Die Haare sind für dich zu einem Quell der Stärke geworden, die täglich aus deinen Haarwurzeln sprießt. Wie Samson: Kraft im direkten Verhältnis zur ungestutzten Haarpracht. Wärme und Feuchtigkeit haben den Putz hinter dem Heizkörper weich werden lassen, und eines Tages wird ein wohlgezielter Stoß im rechten Augenblick den morschen Philistertempel über euch allen zum Einsturz bringen. Deine Einsiedlermähne, die gekräuselten Bartsträhnen sind zu einem privaten Symbol geworden, die einzigen Zeichen 417
von Wachstum an einem Ort, an dem nichts wächst und nichts gedeiht. Dein sichtbares Symbol des Widerstands, dein Rosenkranz der Konzentration. Das Maß deiner Gefangenschaft. »Nicht nötig. Ich brauche im Augenblick keinen Haarschnitt.« Sie kommen zu mehreren, mindestens zu viert. Eine der Stimmen hast du noch nie gehört. Die anderen sprechen im Beisein dieses Fremden Arabisch, so als kennten sie dich gar nicht. »Ganz ehrlich, meine Herren.« Du kicherst. »Ich möchte lieber nicht. Ich möchte lieber nicht.« Sie machen dich los und zwingen dich zum Aufstehen. Ihre Berührung macht dich wütend. Das werden sie nicht tun; dazu haben sie kein Recht. Du schlägst blind um dich, stößt ihre Hände beiseite. Einen Augenblick lang lassen sie ab von dir, überrascht von deinem Ausbruch. Dann der Eifer der Vergeltung, systematisch und skrupellos. Ein Knie trifft dich in den Rücken, bohrt sich in die Niere und rammt dir das Rückgrat in den Leib. Einer von ihnen schlägt dir das stumpfe Ende eines Metallgegenstands über den Schädel, und im Stürzen, als du dich schon vor Schmerzen krümmst, begreifst du, dass es eine elektrische Schere ist. Es geht alles ganz schnell. Sie zerren dich auf den Flur, unter eine Lampe. Starr vom Schmerz in deinem zerschlagenen Unterleib leistest du keinen Widerstand mehr. Drei von ihnen halten dich fest, der vierte fällt mit der ächzenden Schere über dich her. Sie schneiden deine heimliche Kraft bis auf die Schädeldecke herunter, und die elektrischen Klingen schinden dir die Kopfhaut. Dann kommt das Gesicht an die Reihe, der Bart mehr ausgerissen als gestutzt. Sie bringen dich zurück auf deine Matratze, lassen noch immer gemeinsam ihren Zorn an dir aus, als sie dir schon 418
wieder die Fesseln anlegen. Dein Schluchzen lässt nicht nach, ebenso wenig das Zucken in deinem Körper. An diesem Abend kommt kein Essen und am nächsten Tag auch nicht. Keiner macht dich von der Kette los, damit du dich bewegen kannst. Als du dir an den Kopf fasst, fühlst du nichts als nackte Haut, scheckig und wund. Zwei Tage lang liegst du da wie tot. Du kannst das linke Auge nicht öffnen. In deinem Unterleib ist etwas entzwei. Der Schmerz lahmt dich. Dein Becken fühlt sich an, als hätte ein Felsblock es zerschmettert. Schon eine Vierteldrehung auf der Matratze bringt dich fast um. Wenn du stillliegst, ist der Schmerz dumpfer, aber er hält umso länger an. Du versuchst mit Gwen zu sprechen, aber du kannst sie nicht heraufbeschwören. Ihr Bild kann dich anscheinend nicht hören und merkt nicht, dass du da bist. Und dann geht es doch. Sie weint. Offenbar deinetwegen. Oder auch nicht. Sie weint, weil sie zweiunddreißig ist und ihr Leben vorüber. Ich bin eine armselige geschiedene Kellnerin mit zehntausend Dollar Schulden. Wie kannst du es in meiner Nähe aushalten? Weißt du, was ich tun sollte? Ich sollte wieder mit Fotografieren anfangen. Ich überlege, ob ich im Herbst nicht zurück auf die Schule gehe. Auf die Kunstakademie. Weißt du, was ich immer gern lernen wollte? Schauspielerei. Überhaupt: Ich kann ziemlich gut schreiben. Ich überlege, ob ich nicht Buchkritiken für den Reader schreiben könnte. Also du kennst doch diese Anzeigen? Ausbildung zur Domina? Männer, die nur ein bisschen gezüchtigt werden wollen. Es ist völlig ungefährlich, heißt es. Und es wird unheimlich gut bezahlt. Und mich kostet es keinen Cent – bis auf die Fotomappe. Schau mal, Gwen, ich lebe in der Realität. Das hast du ihr immer gesagt, jedes Mal. Voller Entsetzen musst du es jetzt wiederholen. Ich lebe. In der Realität. Sie sieht dich an: Das ist also die Liebe, die meinem Leben 419
Glanz gibt. Was soll ich dir glauben? Wo soll ich leben? Sie hat Recht. An so einem Ort sollte man sich nicht erwischen lassen. Deine Organe bluten, aber sie bringen dich doch nicht um. Nichts erlöst dich von deiner Übelkeit. Kein Schmerz ist so groß, dass er dir das Bewusstsein raubt. Die Welt, in der du lebst, verlangt, dass du isst, dass du dich erholst, dass dein scheckiger, blutiger Flaum wieder nachwächst. Die Wachen schotten dich ab, bis auf den morgendlichen Ausflug zur Latrine. Und selbst da treiben sie dich an, beschneiden deine Zeit auf sechs Minuten, dann auf fünf. Sie schieben dir das Essen in Behältern aus Zeitungspapier durch den Türspalt. Keiner macht sich die Mühe, die fettigen Reste wieder abzuholen. Und dann, drei Wochen nachdem sie dich zusammengeschlagen haben, als du wieder gehen und sogar ein paar einfache Dehnübungen machen kannst, kommt ein Geschenk. Eine verbotene Nachahmung fällt dir in den Schoß. Entschuldigung, Züchtigung, Umerziehung, Strafe – es ist dir egal, was es bedeutet. Der Umfang genügt, die Masse, das Gewicht, die Länge. Ein Buch, das man immer und immer wieder lesen kann. Worte, die dich von dir selbst befreien können. Ein Buch für die, die an das Unsichtbare glauben. Der Weltveränderer. Das oft zu Lesende. Der heilige Koran. Adie saß bei Sue Loque im Büro, in der sicheren Zuflucht des Vormittags. Weißt du eigentlich, dass unser Direktor früher Militärpilot war? Adie wusste es nicht. Die wichtigen Sachen wusste sie nie. Keine Kampfeinsätze, so viel ich weiß. Diesen ganzen Floh im Ohr mit den virtuellen Environments, den hat er, seit er so 420
was bei der Air Force gesehen hat. Er war einer der Ersten, die mit Head’s-Up-Displays geflogen sind. Du kennst die Dinger, oder? Wo sie die Anzeigen als Grafik direkt aufs Helmvisier projizieren? Mann, für so einen Anzug würde ich glatt einen umbringen. Das Chrom, das Leder … Die Air Force? Die amerikanische Luftwaffe? Die haben solche Sachen? Sue lachte gellend. Schätzchen, wo hast du nur dein Leben verbracht? Die Air Force hat schon Simulatoren gebaut, zehn Jahre bevor du auf der Welt warst. Schon bevor alles digital wurde. Ganze Räume mit Filmprojektionen, die schwankten und sich neigten, wenn man den Steuerknüppel drückte. Die Air Force will solche Märchenbilder? Alle wollen Märchenbilder. Das beste Gegenmittel gegen Bilder aus der Wirklichkeit, das wir je bekommen werden. Inzwischen muss die Air Force Spielzeuge haben, mit denen würde sie unsere kleine Boxkamera glatt vom Himmel putzen. Aber warum … Setz deine Schaltkreise ein, Kind. Es spart enorme Kosten, wenn man die kleinen Kanoniere erst ein paar Mal in synthetischer Umgebung aufeinander losgehen lässt, bevor man sie raus zur echten Feuertaufe schickt. Hardware kostet nicht viel; es ist immer die Wetware, die den Laden ruiniert. Gütiger Himmel. Adie stieß etwas aus, was man mit gutem Willen ein Lachen nennen konnte. Ich arbeite für Dr. Seltsam. Schon wieder. Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Sie hob eine Hand wie zu einer flehenden Geste, dann ließ sie sie wieder in den Schoß fallen. Mein Dad war auch bei der Air Force. Hat er dich missbraucht? Miss -? Nein. Nein … jedenfalls nicht direkt. Wieso fragst du? 421
Du solltest es mal mit Missbrauch versuchen. Auf der Opferseite, meine ich. Adie betrachtete Sue, die Piercings, die Ketten und Armreifen, das neue Stacheldraht-Tattoo, das sich um ihren blassen Oberarm wand. Dein Vater? Sue Loque warf das flammendrote Haar in den Nacken. Ist doch das Übliche. Nein. Meiner war zu … weit weg für so was. Aber er hatte andere Methoden, mich zu quälen. Ich bin nur auf die Kunstschule gegangen, damit ich es ihm heimzahlen kann. Sue nickte wissend. So jemandem kannst du nichts heimzahlen. Gegen die Air Force kommt keiner an. Daddy hat immer schon für alles, was du ihm an den Kopf werfen kannst, die Patente in der Hand. Wie ist er denn in der Industrie gelandet? Unser furchtloser Führer Freese, meinst du? Wenn einer zu alt ist, noch was abzuknallen, kriegt er sein Gnadenbrot. Der Himmel stehe uns bei. Ein Air-Force-Pensionär. Was will er von mir? Nicht viel. Du sollst einfach nur ein Environment entwerfen, das die Leute von der Presse umhaut und gleichzeitig das große Publikum zum Kaufen animiert. Dann bin ich geliefert. Nichts, was wir hier auf die Beine stellen, kann auch nur entfernt … Im Vergleich zu dem, was die Leute jetzt schon erwarten, wird alles, was wir tatsächlich liefern können, aussehen wie eine aufblasbare Sexpuppe. Hmm. Hört sich doch wie ein Renner an. Genau was die meisten wollen. Hilf mir, Sue. Du bist meine letzte Hoffnung. Inhalte sind deine Sache, Schätzchen. Ich bin nur für das Werkzeug da. Oh je, oh je. Adie umklammerte ihren Kopf mit beiden 422
Händen. Und du sagst, unser Boss war Jagdflieger, bevor er unser Boss wurde? Sue nickte heftig, und die Nasenringe klimperten glücklich dabei. Wusstest du das mit Karl Ebesen?, fragte Adie. Was ist mit ihm? Wer er war, in seinem früheren Leben? Sie zuckte mit den Schultern. Jeder von uns erhofft sich irgendwas von der Maschine. Sie macht einen kaputt, sagte Adie. Es macht uns wirklich fertig, weißt du das? Dieses Nachbilden von Wirklichkeit. Sicher. Alles, was nicht sowieso schon im Eimer ist. Die neue Hardware hatte ihre Probe bestanden und lief. Wieder hatten sich der Durchsatz der Datenleitungen für jede Wand vervierfacht. Die überarbeitete Grafiksoftware nutzte die neuen Möglichkeiten und transportierte immer größere Datenmengen in immer weniger Zyklen. Es war der alte Ben-Hur-Trick mit den Trommeln, nur dass Halbleiter hier die Rolle der Galeerensklaven übernahmen. Termine in der Grotte waren begehrter denn je, nun wo Echtzeit ein echtes Problem war. O’Reilly war der Erste, der seine Sachen auf den neuen Maschinen zum Laufen brachte, eine überarbeitete Fassung des Preisvorhersage-Programms. Eines Tages tauchte er an den Ufern der Gesellschaft mit einer erstaunlichen Voraussage auf. Binnen der nächsten sechs Monate wird das Ölgeschäft einen schweren Schlag einstecken müssen. Rajasundaran biss an. Einen Schlag? Bei den Preisen, meinst du? Steigen sie oder fallen sie? Sie steigen. Und zwar beträchtlich. Woher weißt du das? 423
Das verraten mir die Zahlen. Ja, schon. Rajan mimte den Geduldigen. Aber aus welchem Grund sagen die Zahlen das? Oh. Der Grund? Das ist eine Frage, die das Modell noch nicht beantworten kann. Vorerst nicht. Und ebenso wenig konnte ein Modell den Schlag voraussagen, der schon bald O’Reilly traf. Er kam mit einem Brief aus Belfast, ohne Luftpost-Aufkleber, falsch frankiert. Er hatte Ewigkeiten über den Atlantik gebraucht und noch ein paar Tage in seinem Briefkasten gelegen, bis er einmal lange genug aus dem Labor zu Hause war, um hineinzusehen. Der Umschlag war in Mauras Handschrift adressiert, trug jedoch keine Absenderangabe. Er stellte ihn auf den Küchenschrank und goss sich zunächst etwas zu trinken ein. Karottentrunk: eine Delikatesse, die es nur in diesen Vereinigten Staaten gab. Er sah den Brief an, hielt ihn ans Licht, stellte ihn wieder hin und nahm noch einen Schluck Saft. Das war noch nie vorgekommen, dass Maura keinen Absender auf einen Brief geschrieben hatte. Es sei denn, sie hatte keine mehr. Vielleicht war sie ja schon auf dem Weg nach Amerika. Hatte von einem Tag auf den anderen die Wohnung aufgegeben und alles in Seekisten verpackt. Das wäre doch typisch für Maura; so war sie nun einmal. Sie hatte ein Talent für spontane Entscheidungen, eine Energie, die zu ihrer frischen Farbe passte. O’Reilly stellte den Karottensaft ab und suchte in der Besteckschublade. Schließlich fand er ein winziges Küchenmesser, das er geschenkt bekommen hatte, als er sich einmal in einem Kaufhaus eine komplette Besteckvorführung angesehen hatte. Er steckte die Klinge unter die Ecke des Umschlags und schnitt säuberlich die obere Kante auf. Dann holte er mit Zeige- und Ringfinger das eine Blatt heraus. Er strich es auf dem Küchentisch glatt und beugte sich darüber: 424
Ronan, ich werde heiraten. Das macht dir doch nichts aus, oder? Er heißt Stephen Powys und hat ein Fahrradgeschäft in der Hen’s Lane. Eine einzige dumme Bemerkung, und ich drehe dir den Hals um … Stephen ist wahrscheinlich nicht ganz deine Kragenweite, aber du bist ja auch nicht ganz deine Kragenweite. Und außerdem bist du nicht mehr da, stimmt’s? Natürlich sind wir auf deinen Segen nicht angewiesen, aber wenn du kein völliger Scheißkerl bist, wirst du ihn uns trotzdem geben. Jedenfalls dachte ich, dass es dich interessiert … Das Offensichtliche hatte er nicht vorausgesagt: eine neue Adresse, die er gar nicht mehr erfuhr. O’Reilly faltete das Blatt zusammen und steckte es wieder in den perfekt aufgeschlitzten Umschlag. Den letzten Schluck Karottensaft beförderte er mit einer sauberen Rückhand in den Ausguss. Es hielt ihn nicht im Haus. Er fand sich draußen, unterwegs nach Westen – die Richtung, die für Amerika stand. Sein Pulsschlag bestimmte das Tempo, und er passte sich an. Das wirklich Geniale an diesem Land war das System der Häuserblocks. Man konnte gehen, ohne auf den Weg zu achten, und wusste trotzdem immer, wo man war. Sie hätte es sich ansehen sollen. Eine kurze unverbindliche Informationsreise hätte er erwarten können, nur vier Tage. Wenn sie auch nur einen einzigen Blick auf das geworfen hätte, was hier entstand, dann hätte sie begriffen. Die Arbeit hier würde das menschliche Leben von Grund auf verändern. Es war seine Chance, an der Entdeckung des Feuers mitzuarbeiten. Wie hatte sie glauben können, er habe eine Wahl? Wie hatte sie ihm vorwerfen können, er sei selbstsüchtig, er vernachlässige sie? Alles, was er hier tat, hatte er doch für sie getan. 425
Sie hätten zusammen hier leben können, sich gemeinsam etwas aufbauen. Sie hätten zusammen jubilieren können, in ihrem Nest hoch oben über dem Panorama dieser prachtvollen Küstenlandschaft. Sie hätte kommen und ihm helfen sollen, das unendliche Mysterium der Möglichkeiten zu erforschen. Stattdessen tat sie ihn mit der traurigen Banalität der Tatsachen ab. Die Chancen waren gut, dass er lange genug lebte, um zumindest noch in groben Umrissen zu sehen, wie Gedanken unmittelbar körperliche Gestalt annahmen, die ersten Schritte der Menschheit in eine lebendige, aktive grafische Welt. Am Ende seiner Tage würde er vielleicht an jeden Ort seines Fantasie-Panoramas reisen können, den er sich aussuchte. Nur dass er nun niemanden mehr hatte, mit dem er auf Reisen gehen wollte. Als er zum vierten Mal wieder an der Treppe zu seiner Wohnung vorbeikam, ging O’Reilly hinauf. Er trat wieder ein in die weitläufige Höhle, die er nur deswegen ausgesucht hatte, weil sie so viel Platz für all die lächerlich nutzlosen Dinge bot, die Maura so gern um sich versammelte. Aus seinem Archiv von tausend Jahren westlicher Musik zog er die Scheibe hervor, die ihr Schlusschoral hatte sein sollen, nach dem Besuch beim Friedensrichter, dessen Adresse sie aus dem Telefonbuch herausgesucht hätten, an dem Morgen, an dem sie sich einig gewesen wären, dass sie diese Dummheit gemeinsam durchstehen wollten, für den Rest ihrer Zeit. Natürlich vom Größten überhaupt. Sie wollten den besten Segen, der zu haben war, und Maura konnte ja ihre geliebten Pennywhistles auch noch hinterher auflegen. Kantate Nummer 197, eine der Hochzeitskantaten. Eine Bassarie, nach der Trauung, erfüllt von Unschuld, gesungen von einem Bass, dessen perfekte, heitere Intonation verkündete, dass er nie anderswo gelebt hatte als im Hier und Jetzt, seine Stimmbänder überall zu Hause, so ärmlich und ungeschickt der Ort auch sein 426
mochte. Ronan lehnte sich an den Klappstuhl – er hätte ihn für sie aufgeschlagen, in dem Augenblick, in dem sie den Raum betrat – und lauschte dem Text. O du angenehmes Paar! Dir wird eitel Heil begegnen, Gott wird dich aus Zion segnen Und dich leiten immerdar. O du angenehmes Paar. Er sprach sich die Zeilen vor, übersetzte sie Wort für Wort, mühsam, aber es reimte sich. Immerdar, für ewig und für alle Zeit. Die Musik strömte dahin, und Ronan machte sich daran, all die Frauen aufzuzählen, mit denen er im Leben befreundet gewesen war, jede, mit der er geschlafen hatte, der er die Treue geschworen hatte, diejenigen, die er geliebt hatte, gleich neben denen, die er nicht ganz so sehr geliebt hatte. Diejenigen, die er verlassen hatte, schon bevor er es überhaupt wusste. Diejenigen, die ihn verlassen hatten, aus allen erdenklichen Gründen, den erklärten und den im Dunkeln gelassenen. Diejenigen, die nie wieder etwas mit ihm zu tun haben wollten. Diejenigen, die vor Wut explodiert waren, nur weil er war, wie er war. Er führte sie alle auf, säuberlich gestaffelt. Dann zählte er Mauras Liebhaber. All die Gespenster und Schatten, von denen sie ihm je erzählt hatte, und diejenigen, die er ausschließlich aus Indizien kannte. Die Männer, die sie durch andere ersetzt hatte, und diejenigen, durch die sie diese dann wiederum ersetzt hatte. Die Verrückten und die heimlichen Verehrer, die Schläger, die er zum Hausflur hinausbefördern musste, die kleinen toten Michael Fureys, mit denen er niemals mithalten konnte, diejenigen, die unter dem Fenster ihrer Erinnerung standen, im Dunkeln, im Regen, und Steinchen an ihre Scheibe warfen. Dann verfolgte er diese Liste weiter auf die nächste Ebene. All die Partner, mit denen seine Ex-Partnerinnen sich 427
zusammengetan hatten. Und dann das Gleiche bei Maura, so weit er sie kannte; er erfand niemanden, ließ niemanden aus. Paare trennten sich vor seinem inneren Auge, taten sich zusammen, vervielfältigten sich, vermehrten sich im Sonnenlicht, eine unkontrollierte Kettenreaktion. Er verlor den Überblick, fing noch einmal von vorn an. Bei hundertvierundvierzig hielt er inne, einer wunderbar teilbaren Zahl, gleich nach welcher Rechnung. Dann stellte er sie alle auf, machte nach Gutdünken zweiundsiebzig Paare aus ihnen und ließ am Altar Platz für alle Kombinationen, von denen er vielleicht nicht gehört hatte – ein Gewimmel von Bräuten und Bräutigamen, Bräuten und Bräuten, Bräutigamen und Bräutigamen – und verheiratete sie alle in einer einzigen großen Zeremonie, der großen amerikanischen Hochzeit, und der Bass sang immer weiter, die reinen, klaren Tonfolgen Bachs: O du angenehmes Paar! Dir wird eitel Heil begegnen, Gott wird dich aus Zion segnen … O’Reilly erhob seinen imaginären Pokal mit fantasiegewordener Ambrosia auf die beiden, denen diese Musik gegolten hatte, und wünschte ihnen Glück, über eine Distanz hinweg, die keine Technik dieser Welt je überbrücken würde. Etwa zur gleichen Zeit stolperte Adie Klarpol über eine andere Melodie. Die Töne segelten aus der runderneuerten Grotte wie Fledermäuse aus einer Felsspalte bei Sonnenuntergang. Note für Note gezupft, mühsam vom Blatt gespielt, ließ sich eher erahnen als wirklich hören, um was für ein Stück es sich handelte. Das, was man nur mit viel gutem Willen das Arrangement nennen konnte, bestand aus einer Folge 428
schwerfälliger Akkorde, unsicher tastende Finger, die im Taumel des letzten Salsa-Abends ihr Notenheft verloren hatten. Doch so sehr konnte der Interpret die Töne gar nicht misshandeln, dass sie diese Melodie nicht erkannt hätte. Der Dramaturg, der dies Lied inszeniert hatte, schien nicht minder tapsig als der Musiker, der es spielte. Die eigentliche Melodie war unbedeutend, austauschbar. Adie allein wusste, wie weit die Anspielungen reichten, die damit verbunden waren, welche Linie diese Intervalle nachzeichnen wollten. Etwas in dieser Amateurdarbietung ließ sie aufhorchen, etwas, das über die Musik hinausging. Mitten in einer Phrase verwandelte sich das stockende Streichorchester in ein Blechbläserensemble. Der Ton schwoll an und verlor sich wieder, im nächsten gespenstischen Korridor. Die Noten perlten von einem spekulativen Hammerklavier, die Mechanik so träge, dass es schien, als käme der Anschlag erst, wenn der Ton schon verhallte. Kein irdisches Instrument produzierte solche Töne. Sie musste wissen, was das war. Die Töne verloren sich ebenso schnell, wie der ungelenke Spieler sie hervorbrachte. Adie folgte der Melodie zum Eingang der Grotte. Sie öffnete die Tür, so leise sie konnte. Wie sie erwartet hatte, war es Spiegel, der sich durch diese Melodie tastete. Doch der Schock, als sie sah, worauf er spielte, überstieg all ihre Vorstellungen. Denn es war kein Instrument da. Stevie stand da, umspült von einer Kaskade virtueller Menüs. Aber das, worauf seine Arme und Hände spielten, war unsichtbar. Töne kamen aus den Lautsprechern in der Folge, in der seine Finger sich in dem leeren Raum vor ihm bewegten. Spiegel hatte den Blick auf die Hände geheftet, folgte ihren Bewegungen wie ein blutiger Anfänger im Notenlesen. Er starrte auf die nichtexistenten Tasten, nach denen er so linkisch die Finger ausstreckte, als könnte die Konzentration des Starrens dem Unsichtbaren seinen Willen aufzwingen. 429
Elfenbein und filzüberzogene Hämmer waren nichts als Algorithmen, sie klimperten in der leeren Luft. Adie stand in der Tür, gelähmt von dieser danse macabre. Sie stieß einen lauten Fluch aus, und Steve drehte sich um. Die Schulterbewegung löste ein ungewolltes Glissando aus. Mit einem Ruck kehrte er zurück zur imaginären Klaviatur, produzierte ein paar dissonante Töne, bis er in dem leeren Raum vor sich die Tasten wieder gefunden hatte. Sie kam zögernd näher, ein Schimpanse, der zum ersten Mal in einen Spiegel sieht. Steve tastete sich durch den Rest der Melodie und fand in der Kadenz mustergültig wieder zurück zur Tonika. Als der letzte Ton verhallte, applaudierte Adie, ein gemessenes, ernstes Klatschen nicht für die Qualitäten der Interpretation, aber für die geradezu Angst einflößende neue Technik. Spiegel verneigte sich mehrfach, ein preußischer Virtuose, der, die Hacken zusammengeschlagen, mit zackigen Gesten dem Publikum dankte. Er lud sie mit einer Handbewegung ein, hereinzukommen und die Apparatur selbst auszuprobieren. Er stülpte jedem ihrer Finger einen eigenen Positionssensor über, und dann schickte er sie ins Rennen. Auf geht’s, Wanda. Sie ertastete einen d-moll-Akkord in der ersten Umkehrung. Sie schüttelte den Kopf, spürte Bewunderung und Widerwillen zugleich. Zu anders. So anders, dass es einem Angst macht. Merken Sie es sich, meine Damen und Herren, sagte Stevie, an ein Publikum gewandt, das so unsichtbar war wie der virtuelle Steinway. Hier haben Sie es zum ersten Mal gehört. Mit ein paar Wimpernschlägen durch die schwebenden Menüs verwandelte er ihre Akkorde in den Klang einer Steelband. Aiy, aiy. Gespenstisch. »Gespenstisch«, wiederholte Spiegel der imaginären Carnegie Hall. Ein Fachausdruck. Doch bald fand sie unter ihren Fingern die vertraute 430
Anordnung aus schwarzen und weißen Tasten. Sie klimperte mit zwei Fingern das, was selbst der Vergeistigtste wenigstens einmal auf der Arp-Schnitger-Orgel der Ewigkeit probiert haben muss: den Flohwalzer. Wie wäre es mit einem Tourneebericht für unser Publikum zu Hause an den Radiogeräten? Etwas an seinem Tonfall machte sie misstrauisch. Sie sah in die Richtung, in die er bei seiner Comedynummer schaute. In einem Stillleben aus dem Goldenen Zeitalter, einem Füllhorn weltlicher Güter – Nullmodemkabel an Stelle der geschälten Zitronen, Displays statt der halb aufgegessenen Pasteten –, stand ein kleiner schwarzer Kasten und beobachtete sie. Eine Videokamera, etwa von der Größe und dem Gewicht eines alten Transistorradios. Sie starrte ihn an, ein einziger, vernichtender Vorwurf. Für wen nimmst du das auf? Spiegels Gesicht zog sich zusammen, ertappt. Für wen wohl? Für dasselbe Publikum, für das er Dives and Lazarus gespielt hatte. Er blickte in die Kamera und zeigte auf Adie. Was machen wir bloß mit dieser Frau? Sie streifte die Sensoren ab und reichte sie ihm. In derselben eleganten Bewegung war sie auch schon zur Tür der Grotte heraus. Er machte sich nicht einmal die Mühe, ihr etwas nachzurufen. Vom Flur konnte sie noch die Worte seines Monologs für die Kamera hören, bis sie in der Ferne verhallten. Die Entschuldigung kam telefonisch, spätabends, noch später als seinerzeit der Anruf in New York, mit dem er sie für diese Arbeit geworben hatte. Sie überließ den Anruf der Maschine. Das war doch keine Falle. Ich habe dich nicht gebeten … ich konnte nicht wissen, dass du hereinspaziert kommst, gerade als ich das Band aufnehme. Hör mal. Was ist denn so Schlimmes daran. Ich habe es gelöscht. Habe das Ganze noch einmal von vorn gemacht. 431
Sie nahm den Hörer ab. Eine ganze Weile lang sagte sie gar nichts. Ich hoffe nur, beim zweiten Mal hast du ein paar mehr Töne getroffen. Auch er verlangsamte sein Tempo zum Largo. Ein hoffnungsloser Fall, was? Na, dann muss er eben seine Fantasie bemühen. Und es ist ja sowieso eher so eine Art Programmmusik. Sie schnaubte, dann ließ sie es doch durchgehen. Und was soll das alles? Hört ihr jetzt wieder regelmäßig voneinander? Kommt drauf an, was man unter regelmäßig versteht. Erzählst du ihm … alles, was wir hier draußen machen? Erzählst du ihm, dass ich alt und verbraucht und hässlich bin? Schläft den halben Tag, nahm Spiegel den Tonfall auf. Sitzt am Kamin und döst. Dass eine sture alte Kuh aus mir geworden ist? Du weißt ja, dass ich immer die Wahrheit sage, Ade. In dem Augenblick war sie froh, dass sie kein Bildtelefon hatte. Sag mir eins, Stevie. Was glaubst du eigentlich, für wessen Leben du das Drehbuch schreibst? Oh, da bin ich nicht wählerisch. Hauptsache, die Geschichte hat ein Happyend? Keine Rückmeldung vom anderen Ende. Stevie? Ted geht es … nicht gut. Sein Zustand hat sich stark verschlechtert. Vor ein paar Tagen hat er angerufen, vom Pflegeheim aus. Zuerst habe ich gedacht, es ist ein obszöner Anruf. Und selbst als ich drauf kam, dass das Ted war, dachte ich erst, er macht Witze. Gar nicht seine Stimme. Nicht seine Art zu sprechen. Er hat zwei Minuten gebraucht, bis er die sechs Worte gesagt hatte. Und du wirst nicht wissen wollen, welche sechs das waren. 432
Sie schloss die Augen. Hielt sie geschlossen, als sie sagte: Doch. Das will ich. Am anderen Ende ein schweres Atmen. »Komm her, bitte. Wenn du willst.« Adie drückte sich das Schweigen der Telefonleitung ans Ohr. Bald würde sie einen Laut geben müssen, wenn sie wollte, dass derjenige am anderen Ende, wer immer er war, dranblieb. Und jedes Wort, das sie sagen konnte, war ein kleiner Tod. Spiegel sprach zuerst, seine Stimme unsicher. Ich dachte, ich mache ihm so eine Art Video, weißt du? Ein bisschen Ablenkung. Dabei weiß ich nichtmal, ob er überhaupt noch in der Lage ist, sich sowas anzusehen. Stevie? Fährst du hin? Nach da? Zu dem Heim? Die Stimme stockte bei jeder Silbe. Er hatte nicht vorgehabt zu fahren. Nach Ohio? Unbestimmter, weiter weg als jede künstliche Dimension. Ich könnte mitkommen. Sie griff seinen Ton auf, nicht minder benommen. Ich habe nachgedacht. Du hast Recht. Ganz egal, was für einen Raum wir am Ende hier schaffen – er braucht Musik. Das Flugzeug nach Cincinnati war fast leer. Sie hatten sich beeilt, um rechtzeitig da zu sein, aber dann warteten sie auf dem Flugplatz, sie warteten auf der Rollbahn und sie warteten in der Luft. Adie starrte durch ihr milchiges PlexiglasGuckloch auf die Knitterfalten der Rockys unter ihnen. Stevie sah ihr beim Starren zu. Alles Hintergrundprojektion, erklärte er. Glaub mir. Sie stellen ein paar große Wagenheber unter dieses so genannte Flugzeug, und damit machen sie die Luftlöcher und Höhenunterschiede nach, und an den Fenstern spielen sie etwas aus einem Newage-Katalog ab, heilende Kraft der 433
Landschaft. Wenn das Band zu Ende ist, werfen sie die Nebelmaschinen an. Ihre Augen blieben fest auf das Panorama geheftet. Aber Spiegel musste einfach reden. Leute sind viel zu unstet, sagte er. Weißt du was? Wir sammeln unsere Vielflieger-Punkte, als ob wir zum Bäcker gehen. Sieh dir uns beide an. Dreitausend Meilen für ein verlängertes Wochenende. Aus einer Laune heraus. Meine Eltern wären empört. Die haben drei Wochen gebraucht, bis sie sich zu einem Zweihundert-MeilenBusausflug durchgerungen hatten. Bei uns war das anders, sagte Adie. Wir sind überallhin geflogen. Langley, Khorat, Chanute, Okinawa, Ramstein. Durch die Gegend geschleudert wie Flipperkugeln, mit einer Stunde Vorwarnung. Die Hälfte der Flugzeuge, in denen ich als Kind gesessen habe, hatte nicht mal richtige Sitze. Das ist nicht gut für uns. Organisierte Schizophrenie. Du machst in Seattle die Tür hinter dir zu, und drei Stunden später öffnest du sie in Cincinnati. Wenn du das oft genug machst, schnappst du über, darauf kannst du dich verlassen. Diese unbegrenzte Mobilität, das ist nicht gut. Wir brauchen ein paar Hindernisse. Orte, die man nicht so ohne weiteres erreichen kann. Nun sah sie ihn doch an, die Stirn gerunzelt wie das Bergpanorama unten. Je, oh je. Kratze an der Oberfläche eines Technokraten, und du findest einen Ludditen darunter. Du arbeitest siebzehn Stunden am Tag an der Entwicklung eines Transporterstrahls, und dann sagst du, wir reisen zu viel? Er ließ den Kopf hängen. Man ahmt die Welt mit einer Maschine nach, weil man das Original verehrt, das ist der springende Punkt dabei. Das hier … Seine Handbewegung umfasste die ganze skandalöse Kabine. Das macht aus dem Original eine billige Kopie. Später, über einem gesichtslosen Gewirr von wie mit dem 434
Filzstift gemalten Rechtecken, fragte sie ihn: Wie hast du das gemacht? Seit einer Stunde hatten sie kein Wort mehr gesprochen. Er sah sie fragend an, wusste nicht, was sie meinte. Adie streckte beide Hände zu ihrem Ausklapptablett hin und klimperte mit den Fingern in der Luft. Eine Pantomime der Pantomime. Oh. Die Gespensterorgel? Die Spiegel-Glasharmonika? Sie wartete, nickte nicht einmal. Alle Einzelteile waren schon da. Die Positionssensoren. Die Waveform-Tabellen und Instrumentenbeschreibungen. Die Soundgeneratoren. Das Einzige, was ich neu beschreiben musste, war die Klaviatur. Du weißt schon: Wenn ein Finger durch die Ebene einer Taste fährt, x Zentimeter auf der horizontalen Achse, spiele Fis, bis der Finger sich hebt oder die Kurve ausschwingt, je nachdem, welches eher eintritt. Formelle Beschreibung? Das ist alles? Das ist eine ganze Menge. Sie streckte die Hände aus, Handflächen nach oben. So kompliziert kann das doch nicht sein. Er streckte einen Finger aus und tippte ihr ans Ohrläppchen. Sie zuckte nicht zurück. Sag mir, wie man ein Ei kocht. Ein …? Na, zuerst setzt du Wasser auf – Moment. Was? Oh. Fülle eine mittelgroße Kasserolle mit einem halben – Moment. Gut. Hol eine Kasserolle. Ah! jetzt bist du schon fast auf der Ebene einer komplexen Subroutine angekommen. Wenn eine Kasserolle existiert und besagte Kasserolle nicht anderweitig verwendet wird und Kasserolle nicht im Spülbecken steht, dann suche in Schrank unter Spüle nach Kasserolle, suche in Schrank über Spüle nach Kasserolle und so weiter, nur ein paar hundert Programmzeilen. Wenn andererseits Kasserolle … 435
Sie nickte um den Bruchteil eines Millimeters, um weitere Ausführungen zu verhindern. Und dann kam sie mit einem Satz heraus, an dessen Formulierung sie schon seit zwei Jahren arbeitete. Software ist der endgültige Sieg der Beschreibung über das Beschriebene. Er hielt sich diese These mit ausgestreckten Armen vor, betrachtete sie von allen Seiten. Bei Software sind Beschreibung und Beschriebenes ein und dasselbe. Wenn du lernen kannst, wie du ein Objekt beschreibst, dann kannst du das Objekt auch herstellen, sozusagen als Funktion der Syntax. Sagen und Schaffen … … sind die beiden Seiten derselben Medaille. Ehrfurcht und Abscheu rangen in ihrer Stimme um die Vorherrschaft. Deshalb wollen wir also in der Software alles noch einmal von vorn machen. Deshalb würden wir alle am liebsten dort arbeiten. Schlimmer als Worte ist es eigentlich nicht. Was redest du denn da? Es ist viel schlimmer als Worte. Das sind Worte hoch drei. Worte sind nicht gefährlich – gerade weil sie so uneindeutig sind. Immer leicht daneben und deshalb nie so wichtig. Gib ihnen Zähne, und jeder unausgegorene Satz, den du zu deiner Schande je gesagt hast, ist da draußen und macht die Straße unsicher, besoffen hinter dem Steuer eines Chevy. Sie redeten weiter, tauschten Worte aus, aufgeregter als alles, was sie seit jenen alten Zeiten miteinander gesprochen hatten, den Zeiten, die sie nun beide am liebsten ungeschehen gemacht hätten. Doch östlich des Mississippi wurde Adie immer stiller, überwältigt von Erinnerungen. Bald setzten sie zur Landung an, und sie kehrten zu allen Wunden, aller Feindseligkeit zurück. Die Weiterfahrt vom Flughafen war die reine Improvisation. Adie fuhr, Spiegel navigierte. 436
Weiß er, dass wir heute kommen?, fragte sie auf dem Highway in Richtung Norden. Gestern wusste er es. Das ländliche Ohio zog am Fenster vorüber, einsame Farmhäuser auf ihren Hügeln, jedes der Mittelpunkt seiner wenigen hundert Morgen. Sie betrachtete die vorbeihuschenden Maisstauden. Unablässig verfielen die Nervenzellen. Bei allem, was lebte. Es war nur eine Frage des Tempos. Das Pflegeheim stand nur hundert Meter von der Stelle, an der die Shaker einst ihre utopische Kolonie errichtet hatten. Kein Bauwerk aus dieser Zeit hatte sich erhalten. Kein einziges Brett war von ihrer schwärmerischen Schlichtheit geblieben. Adie und Spiegel stellten den Wagen ab und gingen zu dem einstöckigen Backsteinbau. Es war ein Purgatorium, das sich in nichts von den anderen geriatrischen Aufbewahrungsanstalten unterschied, die sich in jeder Stadt mit mehr als zehntausend Einwohnern irgendwo hinter einer zweieinhalb Meter hohen Hecke versteckten. Ein Wartezimmer für die Ausgesetzten: der letzte Ort, an dem ein Kranker landen wollte. Gleich hinter dem Eingangsbereich hatte sich ein Grüppchen klappriger Gestalten gebannt um einen Fernseher versammelt. Auf dem Schirm lief lautlos ein Spiel der Baseball-Amateure, der Ton war abgedreht, ohne dass die Zuschauer es bemerkt hatten. Sie standen im Kreise wie in stilles Gebet vertieft, die Häupter gesenkt, vornübergebeugt auf ihre Gehhilfen gestützt, die pergamenttrockenen Gesichter gespannt, als warteten sie auf ein Zeichen. Wie kommt es, fragte Adie leise, dass Leute immer früher zu Bett gehen, je älter sie werden? Sie segnete den verzauberten Zirkel, als sie und Spiegel vorbeihuschten. Sie fanden das Stationszimmer am Ende eines nach Ammoniak riechenden Ganges. Sie fragten nach Zimmerman. 437
Sie gingen zu seinem Zimmer und klopften, aber es antwortete niemand. Stevie drehte den Knauf und drückte. Die Tür öffnete sich und zeigte das Zimmer, das sie selbst entworfen hatten. Rechts das Bett, links der Nachttisch, das Fenster mit offenen Läden in der Mitte. Nur war in dieser Welt der Künstler noch zu Hause. Ted lag im Bett, mit dem Oberkörper am erhöhten Kopfende festgeschnallt. Seine Arme schwankten wie vertrocknete Samenhülsen im ersten Herbstwind. Das verblüffte, geschwollene Gesicht nahm sie wahr, der Mund offen, die Augen tief versunken in ihren knöchernen Höhlen. Von Alter und Unbeweglichkeit war er dick geworden und wog gut dreißig Pfund mehr als früher. Er hatte sich eine lange Mähne wachsen lassen, wie Beethoven. Ste-ven Spie-gel. Die vier Silben zogen sich in ihrer Verblüffung so lange hin, dass sie sich verloren wie die Buchstaben des Wortes »Asien« auf einem großen Globus. Dann fiel Teds Blick auf Adie. Und für ihren Namen brauchte er so lange, dass er nie ganz herauskam. Ihre Umarmungen glitten von einem Körper ab, der sie nicht mehr erwidern konnte. Teds Glieder zuckten vor Kummer und Freude. Schließlich kamen sie zur Ruhe, wie sturmgepeitschtes Wasser, das seinen Platz im Auf und Ab des Ozeans findet. Worte schienen unmöglich. Und dann gab es nichts anderes mehr als Worte. Sie erzählten von dem Flug und davon, wie sie mit Glück das Heim gefunden hatten. Wir wussten, dass wir hier richtig sind, sagte Spiegel. Das katatonische Begrüßungskommando war ein sicheres Indiz. Zimmerman lehnte sich zurück und holte Luft. Er röchelte, ein Geräusch wie ein Anlasser, der bei dreißig Grad minus seinen Geist aufgab. Adie war kurz davor, eine Schwester zu rufen. Aber Ted, in qualvoller Zeitlupe, lachte nur. 438
Was zum … Teufel. Mache … ich … in so einem … Laden? Könnt ihr euch … das … vorstellen? Adie konnte es. Sie konnte es sich vorstellen. Sie wollte ihm sagen, dass er sich nicht überanstrengen sollte. Dass er lieber nicht reden sollte. Am besten überhaupt nie mehr. Auf dem Nachttisch hatte er statt der Waschschüssel einen tragbaren Computer. Ein Rollstuhl war zum einzigen Fenster gewandt, mit Blick auf ein Vogelhaus. Drei zerzauste Spatzen wühlten in den Körnern. Aber für den, der seine Tage in diesem Zimmer verbrachte, musste ihr zänkisches Gezwitscher schöner als Verdi sein. An der linken Wand, da wo das Handtuch hätte hängen sollen, stand stattdessen ein Lesepult. Eine Acrylplatte hielt das Buch offen, präsentierte es wie einen Schmetterling in einem Museum. Eine Umblättervorrichtung unter der Platte wartete mit unendlicher Geduld auf den Anstoß, die Geschichte um ein Blatt voranzutreiben. Das Buch war aufgeschlagen bei der Kapitelüberschrift »Vierte Meditation: Was Gott wirklich geben kann.« Spiegel betrachtete den Deus ex Machina. Nein. Das kann ich nicht glauben. Don Giovanni wird auf seine alten Tage fromm? Teds Körper spannte sich wieder, der röchelnde Ton, das Zeichen der Erheiterung. Er versuchte Spiegel am Arm zu fassen und gleichzeitig zu Adie zu sprechen. Ein wenig mehr Myelin, und er hätte es vielleicht geschafft. Dieser … Mann und ich … kennen uns schon seit einer … Ewigkeit. Sie sah ihn unverwandt an. Und du und ich noch ein paar Tage länger. Die beiden Männer erzählten sich alte Geschichten. Der Komponist, der vom vergangenen Tag bestenfalls einen Schimmer im Gedächtnis behielt, holte fünfzehn Jahre alte Erinnerungen hervor, rekonstruierte all ihre alten Arien ohne 439
einen einzigen falschen Ton. Spiegel hielt mit, als ob dieser Wettbewerb darum, wer die größere Zahl von Einzelheiten der Vergessenheit entreißen konnte, ihm tatsächlich Vergnügen machte. Adie saß dabei und hörte zu, wie gelähmt. Wenn sie Ted nicht verstand, malte sie sich aus, was er sagte, und ließ ihn nicht einen einzigen Laut wiederholen. Die Männer redeten und redeten, eine Erinnerung führte zur Nächsten, und sie hatten ja nichts anderes als die eine große Schatztruhe, in der sie wühlen konnten. Eine Weile ging Adie im Zimmer auf und ab, fasste jedes Objekt an, das sie erreichen konnte. Sie musterte die kleine Sammlung von CDs, ein Medium, das noch gar nicht auf der Welt gewesen war, als Ted und sie zusammengelebt hatten. Die Melodie, nach der sie gesucht hatte, steckte dort, zwischen den anderen. Hörst du dir deine Scheiben oft an? Anderthalb Jahrzehnte ungestellter Fragen, und das war die eine, die sie stellte. Sie biss sich auf die Zunge und hoffte, dass er Ja sagte. Wenigstens ein bisschen Musik aus dem Orchestergraben zu den endlosen Nachmittagen mit den schimpfenden Spatzen. Nicht so … oft wie man denken sollte. Die sind nicht leicht zu … bedienen. Nicht leicht aufzulegen. Sie wusste, wofür »nicht leicht« stand. »Nicht leicht« war die letzte Ausrede, die ihm die Würde ließ. Das Mittagessen kam. Ein Thunfischsalat für den Patienten und ein Schälchen Wackelpudding, das sich die Gäste teilten. Steve und die Pflegerin holten Zimmerman unter dessen eifriger Mithilfe aus dem Bett und setzten ihn in seinen Stuhl. Adie sah zu. Die Roboter von TeraSys bewegten sich geschmeidiger und koordinierter. Der Körper, der sie einst gewärmt hatte, den sie gewärmt hatte, stolperte nun auf sein Ziel zu wie eine schlecht geführte Marionette. Die Pflegerin blieb in der Nähe. Soll ich dir mit dem Essen 440
helfen, Ted? Er schickte sie mit einem ungeduldigen Schlenkern des Armes fort. Ich will allein mit meinen Freunden essen. Mit denen ich schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gegessen habe. Seine Gabel vollführte unfreiwillig einen virtuosen Looping. Steve wollte ein Lachen unterdrücken und verschluckte sich an einem Bissen Thunfisch. Ted machte Anstalten, ihn auf den Rücken zu klopfen, und dabei landete die Gabel auf dem Teppich. Diesmal flogen Selleriestückchen in alle Richtungen. Die Männer waren beide hysterisch. Und dann plötzlich nicht mehr. Das lange, röchelnde Einatmen, das sich bisher immer – als Lachen erwiesen hatte, endete nun in dessen Gegenteil. Adie sprang in die Bresche, bevor sie überhaupt wusste, dass sie da war. Sie zog ihren Stuhl ganz an Teds Rollstuhl heran und hob die über Bord gegangene Gabel auf. Als hätte sie es schon immer getan, jeden Tag ihres Erwachsenenlebens lang, spießte sie ein Stück Fisch auf und steckte es ihm in den Mund, den er wie ein Vogeljunges aufsperrte. Auch Ted kannte den Trick: er öffnete, bekam etwas hineingesteckt und schluckte. Sie legte ihm ihren freien Arm um die Schulter und stabilisierte damit ihr Ziel. Na, wie findest du die Trefferquote?, fragte sie ihn. Besser als vorher, hm? Die Winkel seines kauenden Mundes hoben sich, und beide beinahe auf die gleiche Höhe. Als das Essen vertilgt war, vertraute der Komponist ihnen an, dass er ein neues Werk in Arbeit hatte. Ein Sprint in letzter Minute, etwa auf halbem Wege zwischen dem Arrangement schottischer Volkslieder und einem gewaltigen Opus 111. Das Werk schlummerte in seinem tragbaren Computer. Spiegel warf den Kasten an, um es sich anzusehen. Die Partitur erschien auf dem Schirm. 441
Spiegel räusperte sich, erschrocken. Für Kammerorchester, Ted? Wo findest du heutzutage schon ein Kammerorchester, das zeitgenössische Kompositionen spielt? Oder ist es wieder eine Waschmittelreklame? Zimmerman grölte. Sieh es dir doch an. Lies die Noten, du Philist … Adie kam und stellte sich hinter Spiegel. Zu zweit inspizierten sie die Partitur, versuchten die Armada von Zeichen in eine Sinfonie für das innere Ohr zu verwandeln. Wie gibst du das ein?, fragte sie. Offenbar konnte eine der Pflegerinnen Klavier spielen und kam dann und wann und ließ sich Noten diktieren. Ted brauchte bald eine Minute, um das zu sagen. Außerdem ist sie … durchaus … ansehnlich. Das hilft … bei der … Komposition … wenn man jemanden … beeindrucken kann. Die Besucher trauten ihren Ohren nicht. Der Mann war von der Taille abwärts tot, und der Pegel stieg. Aber etwas in ihm war selbst da noch auf Eroberungen aus, obwohl er mit den Eroberungen längst nichts mehr anfangen konnte. Ich kann etwas eingeben, wenn du willst, bot Steve an. Ted machte große Augen, starr vor Furcht: Wirklich? Du musst mich nur bei der Arbeit in Ruhe lassen. Adie erhob sich. Ich gehe spazieren. Mein Beitrag zu eurem Meisterwerk. Eine Stunde darauf war sie zurück. Stevie wandte sich um, als sie eintrat, und die Panik stand ihm im Gesicht geschrieben. Sein Blick ein einziger Vorwurf: Wo warst du so lange? Es ist hoffnungslos. Hoffnungslos. Sie ging zu ihnen und blickte auf den Schirm. Sie waren gerade einmal vier Takte vorangekommen. Wir machen einen Ausflug, verkündete sie. Draußen ist das schönste Wetter. Sie ging zu Ted und schmiegte sich an ihn. 442
Das würde dir doch Spaß machen, oder? Seine Augen fanden ihre alte Zuflucht wieder. Oh ja … das wäre … schön. Sie schoben seinen Rollstuhl über das Linoleum des Ganges, durch den Aufenthaltsraum. Der Kreis der Fernsehzuschauer saß nun andächtig vor dem erloschenen Gerät. Niemand protestierte, dass auf dem Schirm nichts mehr zu sehen war. Bei dem Anblick sog Ted Luft durch die Mundwinkel ein – iiiii … iiiii –, und Adie schob ihn umso schneller zur Tür hinaus. Aber sein gespenstisches Heulen wurde nur noch stärker, als er draußen an der frischen Luft war. Alles in dieser frommen kleinen Stadt, das auch nur halbwegs in der Lage war, ihn anzustarren, starrte ihn an. Ganz Lebanon begaffte mit offenen Mäulern diesen Mann im Rollstuhl, der vor Freude johlte, als ihm so unverhofft das Geschenk der Freiheit gemacht wurde. Adie lehnte sich vor. Sotto voce, kichernd, sagte sie Ted ins Ohr: Jetzt reiß dich mal am Riemen, Opa. Entweder du benimmst dich, oder wir fahren dich gleich wieder zurück in den Knast. Das hatte nur zur Folge, dass nun auch Stevie noch wiehernd lachte. Das erste Mal, versuchte Ted zu sagen. Erste Mal in sechs Monaten. Sie waren noch keine fünfzig Meter gefahren, da rief er: Mein Gott! Adie hielt mit einem Ruck, auf die nächste Katastrophe gefasst. Seht euch den … Baum an! Sie betrachteten den mittelgroßen Ahornbaum, auf den Teds zappelnder dürrer Arm zeigen wollte. Steve und Adie blickten hinauf in die Zweige, suchten nach etwas, das groß genug war, eine solche Aufregung zu rechtfertigen. Die Zweige wiegten sich im Wind, Arme mit tausend hellgrünen dreifingrigen Händen, die ihnen allesamt zuwinkten. 443
So etwas habe ich noch … nie gesehen. Und als sie genau hinsahen, konnten die beiden ihm nur zustimmen. Matt, glänzend, dann wieder matt, drehten sich die Blätter im Wind, jedes Einzelne davon ein kleines Signal in einer Botschaft, die zu kompliziert war, um sie ganz zu lesen. Die drei standen da, bis sie sich wieder ihrer selbst bewusst wurden und die Vision verflog. Die Zedern des Libanon, verkündete Spiegel. Adie versetzte ihm einen Stoß. Himmel, da ist noch eine! Als sie erst einmal darauf achteten, fanden sie sie überall. Simple, gefällige Wunder, so bescheiden, dass keiner zweimal hinsah. Der Rollstuhl rollte die Straße entlang, unter dem Baldachin des jungen Laubs. Es war ein weiter Weg bis in die Stadt, aber kaum waren sie in der Stadt angekommen, war sie auch schon wieder zu Ende. Es gab in den Vereinigten Staaten zweiunddreißig Orte namens Lebanon, und die Hälfte davon hatte ihr Leben als Kolonie einer utopischen Gemeinschaft begonnen. Allein in Texas gab es drei. Lebanon, Ohio, existierte – so weit man denn sagen konnte, dass es existierte – heute als Freilichtmuseum seiner selbst. Das Glendower-Shakermuseum. Müllsammlungen, die als Antiquitätenläden firmierten, billige Absteigen, die als Pensionen für die Wochenendgäste aus Columbus und Cincinnati warben. Die Main Street erstreckte sich über acht Häuserblocks, bevor sie den Geist aufgab. Die Expedition hielt an der Kreuzung Main und Broadway inne und wartete auf die göttliche Verzückung, die gewiss nicht minder spektakulär ausfallen würde als das Leben hier im Ortszentrum. Die Frequenz von Zimmermans Armbewegungen steigerte sich, die Aufforderung für Adie, in die Pleasant Avenue einzubiegen, im Bogen zurückzukehren und dann die ganze Runde noch einmal zu fahren. 444
Ich kann’s gar nicht glauben. Alles immer noch da. Lassen sie dich denn gar nicht raus?, fragte Spiegel. Nicht mal ein kleiner Ausflug? Zu viel … Armut. Sie fuhren die Reihe armseliger Läden ab, Ted kommentierte sie. Da kann man gut essen. Hier habe ich immer meine Wäsche gewaschen. Der Bursche da … macht immer noch Stiefel. Kann man sich das vorstellen? Ein Huster! Spiegel biss die Lippen zusammen, aber er prustete doch. Schuster, Freund. Es sei denn, er ist erkältet, fügte Adie hinzu. Schuster! Hab ich doch gesagt! Und es folgte wieder das rasselnde Atmen, das Iiiii unbändiger Freude über die schwarze Komödie seines Lebens. Adie wog sie gegeneinander ab: New York gegen diese Kulissenstadt, die Kulissenstadt gegen das Pflegeheim. Welches war der tiefere Fall? Sie war keine gute Rechnerin. Wenn sie zweimal etwas zusammenzählte, kam selten dieselbe Summe heraus. Aber hier war das Ergebnis eindeutig genug. Im Vergleich zum zweiten Sturz fiel der erste überhaupt nicht ins Gewicht. Und der dritte würde ihm nicht im Mindesten mehr schwer fallen. Sie machten noch einmal ihre Runde. Beim dritten Mal gab es nicht mehr viel zu sagen. Das große, himmlische, unverdiente Geschenk erschöpfte sie nun nur noch, zumindest die beiden, die zu schieben hatten. Spiegel machte als Erster schlapp. Dieser Laden, wo man gut essen kann. Möchtest du gern hin? Das möchte ich, das möchte ich wirklich. Und ich hoffe nur, dass die … Frau, die da im Fenster saß … noch da ist. Spiegel und Adie sahen sich an. Nichts war so grausam wie die Evolution. Die Leidenschaft blieb, selbst wenn sie ihren 445
Zweck schon lange nicht mehr erfüllen konnte. In dem Lokal war Adie wiederum Retterin in der Not. Sie bestellte für Ted, fütterte ihn mit dem Löffel und wischte ihm das Gesicht ab, alles ohne das geringste Zeichen der Herablassung. Sie half der Kellnerin, die Scherben des Glases aufzulesen, das Zimmermans fuchtelnde Hand vom Tisch gefegt hatte. Und dabei aß sie selbst und leistete auch noch ihren Beitrag zur Unterhaltung. Ted erkundigte sich nach ihrer Arbeit im Westen. Sie beschrieb ihm ihre Laterna magica in allen Einzelheiten. Das habe ich dir doch alles schon am Telefon erzählt, unterbrach Steve immer wieder. Weißt du das nicht mehr? Offenbar nicht. Und ebenso offensichtlich konnte er mit der Skizze nichts anfangen, die Adie nun für ihn zeichnete. Aber sie machte unbeirrt weiter – die einzig mögliche Strategie. Die Premiere für das große Publikum soll im nächsten Frühjahr sein, und ich habe immer noch keine Ahnung, was wir dafür bauen sollen. Spiegel lachte. Sie sagt das, als ob sie sagt: »Ich habe überhaupt nichts zum Anziehen.« Ted starrte seine beiden wieder gefundenen Freunde nur an, fassungslos und überglücklich. Als sie den langen Hügel hinunter zurück zum Heim rollten, war es schon dunkel geworden. Die Alten sahen sich eine Sendung mit verunglückten Szenen aus Fernsehshows an, jede mit einem Schwall Retortengelächter untermalt. Sie langten wieder in Teds Zimmer an, und im Augenblick, in dem sie die Tür hinter sich schlossen, rief er aufgeregt: Legt mich … aufs Bett. Keiner der beiden Gesunden begriff, worum es ging. Sie packten den schlecht ausbalancierten Sack, Steve unter den Schultern und Adie an den Knien. Sie strauchelten und 446
schlugen mit seinem abgestorbenen Leib gegen das Bettgitter, aber schließlich bekamen sie ihn doch einigermaßen gerade zu liegen, das Gesicht nach oben. Zieht mir die Hose runter. Spiegel knuffte ihn. Himmel, Zimmerman. Wirst du dich denn nie ändern? Schnell! Vor Panik gelähmt, verlor Adie ganze Millisekunden mit der Frage, wie er diesen Augenblick so lange hinausgezögert hatte. Sie bückte sich unters Bett, der wahrscheinlichste Ort, und zog die Bettpfanne hervor. Setzt mich einfach … setzt mich … Gemeinsam lösten sie die logistische Aufgabe. Ted wimmerte, gab die Sache schon verloren, doch Adie und Steve hoben seine nackte Taille und schoben ihm die Schale unter. Es tut mir Leid. Beschämt, gebrochen, stieß er die Worte hervor. Ihr zwei. Es tut mir so … Leid. Was tut dir Leid? Adie rieb ihm die Schulter, wandte den Blick ab von den nutzlosen nackten Lenden. Wir haben’s doch noch geschafft. Ich bin drin? Die Augen schwammen, fassungslos. Es war … nicht zu spät? Sie nickte. Oh. Seine Stimme entspannte sich, ganz Staunen. Oh! Was für ein … guter … Tag. Wie kann er sich das Einzelzimmer leisten?, fragte sie Spiegel, als sie am Abend auf dem Weg zum Motel waren. Im Augenblick, in dem sie das Heim verlassen hatten, hatte Steves Stimmung sich radikal verdüstert. Er hat ein Vermögen mit diesem erbärmlichen Fernseh-Werbespot verdient. Dem 447
kitschigen Shaker-Plagiat. Seinen dreißig Sekunden Rückfall in die Tonalität. Sie schloss die Augen, und auch wenn sie dagegen ankämpfte, hörte sie wieder diese wunderbare Melodie. Aber bald wird es mit dem Geld zu Ende sein. Mit ihm auch, sagte Steve. An der Rezeption des Motels überraschte sie ihn. Ein Zimmer, verlangte sie. Zwei Einzelbetten. Sie wandte sich an Steve. Das ist doch in Ordnung, oder? Ich will heute Nacht nicht allein in einem fremden Zimmer schlafen. Nicht nach dem, was ich gesehen habe. Nur ein Nachttisch stand zwischen ihnen. Gott, flüsterte Spiegel im Dunkeln. Der Mann kann nicht mehr allein auf die Toilette gehen. Und trotzdem … und trotzdem … Sag’s nicht, sagte sie. Sie lagen schweigend da, jeder mit dem Rücken zu seiner Wand. Weißt du was?, sagte er schließlich. Nichts, was man im Leben lernt, setzt mir mehr zu als der Spruch »das Leben geht weiter«. Und damit schlief er ein. Sie folgte nach, nur wenige Stunden später. Am nächsten Morgen trödelte Adie, zuerst unter der Dusche, dann bei dem ärmlichen Frühstück. Auch Spiegel ging es durch den Kopf, wie viele Ewigkeiten sie sich ersparen konnten, wenn sie ein paar Minuten später ankamen. Ted wartete schon auf sie, aufgeregt. Als ich aufwachte, hatte ich eine … verrückte Idee. Über das, was ihr gestern gesagt habt. Dass ihr eine Höhle baut? Adie umarmte ihn auf seinem Bett. Wir nennen es die Grotte. Oder CAVERN. Ein technischer Ausdruck, erklärte Spiegel. 448
Wie kommt ihr denn auf so eine …? Hast du dir das Band nicht angesehen, das ich dir geschickt habe? Ted fuchtelte in Richtung Fernsehraum. Ich gehe da nicht oft hin. Ich habe mich wochenlang an einer Workstation abgequält, damit ich dir das schicken kann, und das ist der Dank? Spiegel fand das Video in Teds Regal. Adie, dankbar für die Ablenkung, half gerne mit und sorgte dafür, dass Ted hinaus ins Foyer kam und das Kommando über den Fernseher übernahm. Und so kam es, dass die greise Zuschauerschar sabbernd und andächtig die Erste war, die eine Vorführung echter virtueller Realität zu sehen bekam, eine neue Galaxie, die weiter reichte als all ihre Horizonte zusammengenommen. Steve erschien auf dem Bildschirm, machte ein paar abstruse Kommentare, die offenbar niemand verstand, Ted eingeschlossen. Dann trat er in die Grotte und warf die Maschinen an. Er führte kurz die Buntstiftwelt vor, dann den Wetterraum, dann den Dschungel. Was ist das?, fragte eine blauhäutige abgehärmte Frau. Ein Reisevideo oder so was? So eins habe ich schonmal gesehen, erklärte ein Mann, der an einem Sauerstoffgerät hing. Da sind Special Effects dabei. Auf dem Schirm konnte man nun Spiegel sehen, wie er den Arles-Raum heraufbeschwor. Das ist von mir, sagte Adie und hielt Teds flatternde Hand. Ich habe … gedacht … das ist von … van Gogh. Dann startete Steve seine unsichtbare Orgel. Er spielte in der Luft, und die Töne erhoben sich. Ted beugte sich vor, saß wie gebannt. Endlich etwas, woraus man etwas lernen konnte. Sie hatten vergessen, ihm den Gurt anzulegen. Adie musste ihn fest halten, damit er nicht aus dem Rollstuhl fiel. 449
So was muss ich haben … aber eins … das ohne Hände funktioniert. Ted wollte das Instrument noch einmal sehen. Danach wollte er das Band noch ein weiteres Mal laufen lassen, aber das übrige Publikum protestierte. Er nickte mit dem Kopf, auf dem ganzen Weg zurück auf sein Zimmer. Auf so einem Ding … da werde ich spielen. Nur noch eine Frage von Monaten. Sie wussten nicht, wie es kam, aber der zweite Tag verging schneller als der Erste. Die Zeit stellte sich auf eine kleinere Blende ein, passend zum verengten Blickfeld. Steve ließ sich noch einmal diktieren. Fis … nein doch lieber ein Ges. Selbst die einfachsten Dreiklänge brauchten unzählige Anläufe. Adie sah den Vögeln zu. An der geschäftigen Futterstelle kämpften alle in der Spatzengesellschaft ständig ums Überleben, pickten, kackten, zwitscherten, balgten sich, erfanden jede Minute von Grund auf neu. Sie fuhren Ted hinaus auf die Terrasse und hofften, dass die Zellen seines Körpers ein wenig von der Welt draußen in sich aufnahmen. Er wollte eine Windjacke, obwohl es draußen so warm war. Er schien zufrieden, dass er einfach nur dasaß und alles ansah, und keine Mauern engten ihm das Gesichtsfeld ein. Spiegel, der seit Collegetagen nicht mehr so lange Zeit ohne Arbeit verbracht hatte, ging auf und ab. Er konnte es kaum erwarten, wieder auf dem Flugplatz zu sein, im Flugzeug zurück nach Seattle. Und wie verbringst du deine Tage? Was tust du gegen diese schreckliche Leere? Ted machte große Augen. Die letzten paar Wochen habe ich versucht … mich an die Namen zu erinnern … die Namen aller Frauen, die ich je … geliebt habe. Spiegel spürte jeden Zahn in seinem Kiefer. Und wie viele von diesen Frauen hast du tatsächlich … geliebt? Nicht … viele. Ted sah sie nicht an, keinen von beiden. Ich will einfach nur … meine Geschichte zusammenbekommen. 450
Wann ich … wo war. Ich weiß auch nicht. Eine halbe Minute verging. Und warum. Fertig, sagte Adie und lachte. Und ich habe nicht einmal vierzig Sekunden gebraucht. Ted starrte sie an, der Blick entmarkter Panik. du hast sie … alle gekannt? Nicht deine, Blödmann. Meine. Oh. Gegen Teds Grinsen konnte nicht einmal die Krankheit an. Oh. Wenn das so ist … meinst du, du könntest mir helfen mit … dem Namen der Katzenfrau? Spiegel legte sich die Hand vors Gesicht. Adie lächelte freundlich. Du Arschloch. Die … Katzenfrau. du weißt doch, wen ich … meine? Die drei saßen da, umschmeichelt von der Brise, und ließen all die traurigen Überreste der Vergangenheit Revue passieren, die doch trotz allem immer wieder das Aufzählen wert zu sein schienen. Diesmal riskierten sie am Abend keinen Restaurantbesuch, sondern Adie fuhr in die Stadt und holte Kerzen und Wein, einen anständigen Cabernet aus dem Napa Valley, und sie tranken ihn aus Pappbechern. Als sie mit dem Essen fertig waren, wusste anscheinend keiner mehr, was er sagen sollte. Wie immer hielt Steve als Erster die Stille nicht mehr aus. Na? Wie wäre es noch mit einem kleinen Konzert, bevor wir uns auf den Weg machen? Einem … Konzert? Teds Gesicht spannte sich, entsetzt bei dem Gedanken daran, was das bedeuten konnte. Deine Kammersinfonie, Mann. Was dachtest du denn? Die Kammer …? Wie soll das gehen? Steve wies auf den Computer und machte kreisende Bewegungen mit dem Finger – obskure Zeichensprache für schwirrende Elektronen. Die magische Wirkung der Halbleiter. 451
Wie sonst? Oh. Eine Bitterkeit sprach aus Teds Stimme, eine Bitterkeit so groß, dass nur ein Gelähmter sie überleben konnte. Oh. Ich dachte schon, du meinst ein echtes Konzert. Aber ein unechtes Konzert musste genügen, denn der billige Ersatz war alles, was sie hatten. Spiegel lud die Datei, stellte die Grundfrequenz ein, setzte den Cursor auf den ersten Takt und ließ die synthetische Musik erklingen. Noten überfluteten sie im Dunkel, Noten in Folgen, wie sie nie jemand von diesem Mann erwartet hätte. Adie war fassungslos, als sie es hörte, selbst bei dem dünnen Klang der Klarinetten und Posaunen aus dem winzigen Lautsprecher. Das war keine Musik von Ted, nicht von dem Ted, den sie beide gekannt hatten. Es gab keine Schärfe, keine Ironie, keine Kapriolen, keine Belege, dass er das akademische Metier beherrschte. Sie war tonal. Stehende Wellen aus gleichmäßigen, fest umrissenen Modulationen übertrafen selbst Dives in ihrer üppigen Archaik. Von sich aus bedeutete Musik nichts, sie bekam ihre Bedeutung erst durch Konvention. Doch dieser Ansturm rhythmischer Töne traf sie in ihrem Inneren, wie keine andere Art des Ausdrucks es gekonnt hätte. Es gab Dinge, die waren so kompliziert, dass nur das Ohr sie erkannte. Töne umkreisten einander, sinnlos und schön. Der fertige Ton zählte nicht. Er zeigte nichts. Er bewies nichts außer seinem eigenen brutalen Bedürfnis nach Erlösung, das ihm am Ende doch nur versagt bleiben konnte. Etwas war an dieser Musik bei der Transkription verloren gegangen. Durch die Krankheit war etwas zwischen Zimmermans Idee und die Ausführung getreten. Er hatte nicht schreiben können, was er wirklich wollte, als er es vom Bett aus diktieren musste. Aber ein verklärter Ausdruck kam auf Teds Gesicht. Die Musik kam der Inspiration so nahe, wie der schwerfällige Entstehungsprozess es ihm je gestatten würde. Schließlich 452
kamen sie ans vorläufige Ende des Stückes, stolperten noch durch den unvollständigen Takt, den Spiegel am Nachmittag transkribiert hatte. Und als die Töne verhallten, hing das Stück noch eine Weile in der Nacht, dann zerstreute sie es in alle Winde. Ted sah die beiden flehend an. Ein paar Augenblicke lang kamen die Worte fast ohne Stocken. Wenn ich es nur noch fertig bekommen könnte, alle vier Sätze. Es ist eine Musik, die … den Leuten vielleicht gefällt. Über die sie nachdenken könnten und etwas … spüren. Nicht wie dieser … seelenlose Kram, den wir immer gemacht haben … Du wirst das fertig bekommen, sagte Spiegel. Und dann schreibst du noch etwas anderes. Weil dieses hier dir dann nicht mehr gefallen wird. Noch nicht, verbesserte Ted. Weil es mir … noch nicht gefallen wird. So, kommandierte Adie. Es wird Zeit. Lass uns noch ein paar Minuten allein. Spiegel warf den Kopf in den Nacken. Man bittet mich, mich zu entfernen, sagte er, an Ted gewandt. Mach ’s gut. Auf bald. Pass auf dich auf. Schreib mir, wenn du Arbeit findest. Er ging, den Blick gesenkt, und kam wieder zu dem Aufenthaltsraum, wo nun ein ganzer Ballsaal voller Aristokraten mit weißen Schleifen sich zu den Klängen eines Ländlers von Strauß drehte. Nahe der Tür summte eine zusammengekauerte Frau, die zitternd in ihrem Schaukelstuhl saß, im Takt einen Diskant zur Melodie des Geistertanzes. Adie erschien wieder, mit versteinerter Miene. So. Ich bin so weit. Nichts wie raus hier. Nichts in der Welt draußen konnte sie beide anrühren. Der Leihwagen war ihr Kokon, ihre Kapsel der Geborgenheit, im Dunkeln unterwegs nach Norden. 453
Wusstest du eigentlich, sagte Stevie zum nächtlichen Ohio, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung irgendwann krank wird und stirbt? Adie starrte das Band der Straße an. Schließlich, in einem Tonfall, der die gleiche Farbe hatte wie der hypnotische Asphalt, sagte sie: Denise Girandel. Denise Girandel? Nichts. Dann: Denise Girandel! Wie in Teufels Namen bist du darauf gekommen? Sie zuckte mit den Schultern. Wie vielen Katzenfrauen begegnet man schon im Leben? Warum hast du es ihm denn nicht gesagt? Den Gefallen hätte ich dem Gauner nicht getan. Eine Meile verging. Außerdem hat er dann etwas zu tun. Er kann den ganzen Tag überlegen, wie sie hieß. Sie langten beim Motel an. Spiegel saß auf dem Beifahrersitz, den Motor ausgeschaltet. Ihr zwei hättet euch nie scheiden lassen sollen. Das weißt du, nicht wahr? Wenn du das sagst, Stevie. Dann, sanfter: Es geht ja nicht darum, dass Leute sich nicht scheiden lassen sollen. Es geht darum, dass sie es nicht können. Stunden später, schon tief in der Nacht, kam sie zu ihm ins Bett. Sie war auf der Suche nach etwas – einer Erklärung, einem Schutzwall, dem Pelz eines anderen. Ich tue dir nichts, sagte sie. Ich möchte nur hier liegen. Ich brauche einfach jemanden, den ich in den Arm nehmen kann. Das In-den-Arm-Nehmen dauerte so lange, wie es immer dauert. Aber als es an die Dinge ging, die sie brauchte, waren Verletzen und Verletztwerden nicht die geringsten darunter. Sie warf sich auf ihn, als ob das, was aus ihr herausmusste, am anderen Ende einer Mauer lag, gerade eben außerhalb ihrer Reichweite. Sie wand sich auf ihm, nicht in Lust, sondern in 454
Verzweiflung, auf der Suche nach ein wenig Gewissheit, die sie aus seinem Körper zu gewinnen hoffte. Sie bohrte sich in ihn, als wolle sie jedes seiner Sedimente zu Schiefer pressen. Er versuchte ihren Namen zu sagen, aber sie steckte ihm die Finger in den Mund, knebelte ihn mit ihrer Leidenschaft. Was sie der Begegnung an Erleichterung abrang, hatte nichts mit ihm zu tun. Er war einfach der erste Körper, der zu erreichen war, der Erste, der stillhielt. Am Ende fiel sie von ihm ab, erschöpft, hielt ihn so, dass er sich nicht umdrehen und sie umarmen konnte. Lange Zeit regte sie sich nicht, lag nur neben ihm auf dem schmalen Motelbett, kehrte zu der unerträglichen Grundfrequenz von 60 Schlägen pro Minute zurück. Dann streckte sie den Arm aus und legte ihm die Hand aufs Gesicht, ein Kind, das Blindekuh spielt. An ihren Fingerspitzen spürte Stevie, dass seine Schläfen feucht waren. Entfall’ ich der Natur, sagte er. Erinnere mich später daran. Sie rückte näher, nahe an sein Ohr. An was? Erinnere mich, dass ich mir etwas Besseres suche als diesen Körper. Sie fuhr ihm über die Schläfen, gegen den Uhrzeigersinn. Jede einzelne Drehung machte ein vergangenes Jahr ungeschehen. Und da verstand sie – da kam die Erinnerung, da wusste sie, aus welchem Gedicht die Zeile stammte. Ihre Finger spannten sich. Weiter, kommandierte sie. Verzweifelt. Sag es. Sag den Rest. Er konnte ihr nichts verwehren. Sie hatte Schlimmeres, nicht so leicht Wiedergutzumachendes von ihm in dieser Nacht bekommen. Seine Stimme kam ihm fremd vor, als er in die Nacht hinein rezitierte:
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Entfall’ ich der Natur, so nehm’ ich nie, Nie wieder an lebendige Gestalt, Nur die Gestalt, wie einst der Grieche sie Dem Gold entrang mit hämmernder Gewalt … Ihre Hand presste sich um die Haut an seinen Augen. Ihre Nägel gruben sich ein, als sie sich wieder an ihn klammerte. Er hielt still, schmerzend, bereit, sich blenden zu lassen. Das ist es, flüsterte sie in die Leere des Motelzimmers. Das ist der Raum, den wir bauen müssen. Dass von goldnem Zweig einst schallt. Der Ort, den wir suchen. Byzanz. Im Laufe der Zeit verschwinden ganze Tage. Lange hat sich dein Verstand am Kalender orientiert, dem Eierkarton mit seinen ordentlichen Reihen, der ihm zwar keine Nahrung, aber immerhin Halt bot. Jetzt wird der Karton mürbe, die Eier stoßen aneinander und zerlaufen zu einem Omelett aus Wut. Du zählst weiter die Tage, verzweifelt auf der Suche nach einer festen Form, obwohl deine Rechnung längst jede Grundlage verloren hat. Die Woche kommt, in der du es nicht mehr von einem Freitagsgebet zum nächsten schaffst, ohne dass du unterwegs den Überblick verlierst. Es reißt dich nachts aus dem Schlaf und zerrt dich vor den eiskalten Feuerwehrschlauch – dieses Versinken im blanken Entsetzen, in völliger Zeitlosigkeit. Die Tage in diesem Raum liefern nur grobe Anhaltspunkte. Mal ist es dunkel, mal noch etwas dunkler. Die einzig verlässliche Uhr ist dein Koran, Übersetzung, obwohl es nicht sein darf, dieser irdische Verrat an dem ungeschaffenen himmlischen Original. Seine Seiten erstarren zu einer festen Routine, einem strengen Trainingsplan, den du zur Vorbereitung auf einen Wettkampf genau einhalten musst. Das Lesen bestimmt deinen Tag; immer nach zehn Versen zwingst du dich bei der Lektüre zu einer Pause, ganz gleich, wo du gerade stehst. So bleiben ganze Suren kurz vor dem Ende 456
hängen, oder sie brechen gleich am Anfang unvermittelt ab. Das einzige was zählt, ist die Zahl. Du darfst die Lesung des Tages beliebig oft wiederlesen, aber nicht ein Wort darüber hinaus. Wenn sich die Stunden über ihr übliches Maß an Grausamkeit dehnen, brütest du über der einleitenden Fatiha, bis sie dir Vergessen bringt. Aber du hältst dich strikt an dein Tagespensum. Denn morgen, nach der Hast durch die Latrinen-Routine und der Rückkehr an die Kette, wird dieses System dich genau dahin zurückbringen, wo du vor deinem letzten Ausflug innegehalten hast, und du kannst an der Stelle wieder einsetzen, an die der heutige Tag dich geworfen hat. Durch dieses Ritual verschaffst du dir ein paar ruhige Augenblicke, wo du festen Boden unter den Füßen gewinnst. Es hält den Strudel der Ewigkeit an, wenn auch nur so weit die Verse tragen. Diesmal rationierst du die Lektüre, hältst dir den Fluchtweg dauerhaft offen. Die Kuh, die Biene, der Tisch: allein schon das Geheimnis der Überschriften bewahrt dich vor dem drohenden Wahnsinn. Auch wenn Jonas und Joseph und Abraham noch so verändert scheinen, gehen sie doch ihren Weg, begleitet von Donner, heraus aus der Höhle, auf die nächtliche Reise. Sprich, so beginnen die Worte des Propheten. Sprich: Wäre das Meer Tinte für die Worte meines Herrn, wahrlich, das Meer würde versiegen, ehe die Worte meines Herrn zu Ende gingen. Die Verse selbst bleiben rätselhaft. Sie geben dir ihr Geheimnis nicht preis. Aber die Flut der Worte, die sinnfreien Kadenzen genügen, um dich in Bann zu schlagen, selbst ohne einen Erzählfaden. Ihr Klangteppich überdeckt dein unaufhörliches Mahnen. Eine beiläufige Bemerkung wie »der Wasserschöpfer ließ seinen Eimer hinab« beschäftigt dich stundenlang, entfaltet sich vor deinen Augen und klingt dir im Ohr wie ein seelenrettendes Wunder, die köstlichste Idee, das gelungenste Bild, das dir je begegnet ist. 457
Aber die ungewollte Nebenwirkung, dieses heimliche Schmuggelgut muss deinen Entführern entgangen sein. Als sie dir die verbotene Übersetzung in eine fremde Sprache gaben, haben sie bereits gegen ein göttliches Gebot verstoßen. Zweifellos würden sie das heilige Buch konfiszieren, wenn sie das Ausmaß der Offenbarungen erahnten. Die abgemessenen Textpassagen verankern dich im Fluss der Zeit. Du beginnst mit der Fatiha und zählst die Verse, die du gelesen hast, dann teilst du das Ganze durch zehn und bekommst durch das wunderbare Wirken der Zahlen die Gesamtzahl der Tage, die vergangen sind, seit du das Wort Gottes erhalten hast. Das ist deine neue, vollkommenere Zeitrechnung; sie bezieht sich zwar nicht auf ein bestimmtes Jahr, berechnet aber alle Daten neu, beginnend mit deiner ganz persönlichen Hidschra. An den meisten Tagen übertrifft die wohltuende Wirkung dieses Schatzes an Worten die Qual des Rationierens. Nur manchmal liefern Wohltat und Qual sich ein totes Rennen – Anfangen und Aufhören, Sprechen und Schweigen bekämpfen einander bis aufs Blut. Wie ist es dazu gekommen, dass du dich jetzt an das gleiche Buch klammerst, das deine Mutter einst auswendig lernte, obwohl sie nicht mehr als ein Wort unter einem Dutzend verstand? Du reißt die Wunden wieder auf, die dieses Opfer sich einst selbst beigebracht hat. Hast du geglaubt, du könntest ins Paradies eingeben, ohne das Leid derer zu ertragen, die vor dir kamen? Sie nehmen dem Abgrund den Schrecken, diese Verse, wirksamer als ein Defilee fein säuberlich eingeritzter Kerben im Putz es je tun könnte. Aber deine eigene Uhrfeder können sie weder reparieren noch synchronisieren. Wenn du an den labenden Quell des Textes zurückkehrst, findest du Passagen, von denen du glaubtest, du hättest sie an aufeinander folgenden Tagen gelesen, plötzlich getrennt durch mehrere Seiten, und solche, zwischen denen in deiner Erinnerung Wochen lagen, stehen direkt nebeneinander. Die Erkenntnis trifft dich wie ein 458
Schlag, wie ein neu entdeckter Knoten im Unterleib. Ohne dass du es bemerkt hast, ist dir die Klarheit des Verstandes abhanden gekommen. Deine Gedanken lassen sich treiben von einer sanften Brise, einer schützenden Halluzination, die am Ende gnädiger ist als alles andere. Jetzt kannst du dich nur noch an die nackten Planken des Buches klammern und hoffen, dass das Holz, dem du dich anvertraut hast, nach jedem Brecher wieder an die Oberfläche treibt. Wenn der Morgen sich aus der Verankerung löst, bleibt dir nur eine Möglichkeit: Du musst ihn an die nächsten zehn Verse binden. Du hörst, wie der Erzengel Gabriel dem Propheten in seiner unterirdischen Höhle diktiert. Die Geschichte entfaltete sich nur in Andeutungen, so als ob alle Leser den Ablauf längst kennen. Aber je rätselhafter, desto besser. Jedes zehnzeilige Labyrinth lässt dich länger verweilen, als es das Kreuzworträtsel in der Sunday Times je vermochte. Du suchst in dem Buch nach einem Bauplan, nach einer Entwicklungslinie, die man als Form bezeichnen könnte. Aber die Verse sind nach einem ganz und gar erstaunlichen Prinzip angeordnet: Das Buch beginnt mit den längsten Kapiteln, und gegen Ende werden sie immer kürzer, es beginnt mit Prosa und endet im Gebet. Und dennoch entfaltet er sich, dieser atemberaubende Dialog zwischen Gott, seinem Propheten und dem gesamten Ensemble der gebrochenen Menschheit: ein Telefongespräch mit drei Teilnehmern, bei dem nur endlose Wiederholung die Worte dazu zwingt, dem zu entsprechen, was sie bedeuten, worauf sie hindeuten. Du liegst in der glitschigfeuchten Höhle des Propheten und lässt dir alles von neuem diktieren. Sprich: Ich nehme meine Zuflucht beim Herrn der Morgendämmerung, vor dem Übel dessen, was Er erschaffen, und vor dem Übel der Nacht, wenn sie sich verbreitet; und vor dem Übel derer, die auf die Knoten blasen. Sprich: Ich nehme meine Zuflucht beim Herrn der Menschen, vor dem Übel des schleichenden Einflüsterers, vor 459
den Dschinns und den Menschen. Genau das tust du. Du sagst, was das Buch dir zu sagen befiehlt. Mit lauter Stimme. Rezitierst deine Fatwas und Weissagungen live vor einem worthungrigen Publikum. Ganze Kapitel. Vorwärts und rückwärts. Keiner kommt und sagt, du sollst aufhören. Wahrlich, der Mensch ist in einem Zustande des Verlusts, außer denen, die da glauben und gute Werke tun und einander zur Wahrheit mahnen und einander zum Ausharren mahnen. Lange Zeit reicht dir das Buch als Gesprächspartner. Doch dann geht es dem Ende zu. Du beginnst noch einmal von vorn; zählst wieder die Verse im Geiste sorgfältig ab. Aber bei diesem Durchgang weißt du schon, was in den Suren steht. Und die unablässig wiederholte Aufforderung Sprich, Sprich zwingt dich schließlich, die Ideen zu erproben, im Reich der Überraschungen, vor wirklichen Zuhörern. Du wendest dich an den schlichtesten, gottesfürchtigsten unter deinen Bewachern, als er dir das nächste Mal etwas bringt und dabei ein wenig länger bleibt. »Said, sagt der Prophet nicht, du darfst nicht stehlen?« »Ja.« Die einzig mögliche Antwort. Denn Lügen ist auch verboten. »Der Dieb und die Diebin – schneidet ihnen die Hände ab, als Vergeltung für das, was sie begangen, und als abschreckende Strafe von Allah. Und Allah ist allmächtig, allweise.« Du tastest nach dem Buch, hältst es ihm offen hin, aufgeschlagen bei der Sure mit dem Titel ›Der Tisch‹. Er nimmt es dir aus der Hand, gibt dir aber die unreine, unlesbare Übersetzung sofort zurück. »Ja, Mr Taimur.« So ernst wie die Welt, um die es geht. »Aber ihr habt mich gestohlen. Ihr habt mich aus meinem Leben gestohlen, mich meiner Mutter und meiner … Familie 460
gestohlen. Das ist der schlimmste Diebstahl, den es gibt. Wie könnt ihr etwas tun, was der Prophet so eindeutig verboten hat?« Du hörst seine stumme Ratlosigkeit. Die Wogen des Glaubens branden gegen den Felsen der Pflicht. Du verfluchst dich selbst. Aber du bist zu schlimmeren Schandtaten bereit. »Mr Taimur, ich weiß nicht. Ich frage Chef. Morgen. Inschallah.« Als hättest du um einen neuen Haarschnitt gebeten. Zwei Tage später kommt er und macht deine Kette los, damit du deine Runden gehen kannst. Er sagt nichts. Du wartest, bis deine halbe Stunde Bewegungsfreiheit verstrichen ist und er dir wieder den eisernen Ring um den Knöchel legt. »Said, hast du den Chef gefragt, wie es ist mit dem … Stehlen?« Du streckst deine Hände aus, die Hände, die Allah zur Strafe abgeschlagen sehen will. »Chef sagt, nicht mit dir reden. Du denkst wie Schlange.« Eine Schlange oder Schlimmeres. Ein Tintenfisch. Ein Mistkäfer. Ein Mensch. Eine Kreatur, die um jeden Preis leben will. »Said. Walter-jan. Wie viel zahlen dir deine Leute?« Er antwortet nicht. Selbst wenn er die Worte versteht, weiß er nicht, was du sagen willst. Du spürst, wie er die Handflächen nach oben kehrt, ratlos. »Wie viel verdienst du? Fünfundzwanzig Dollar im Monat? Dreißig. Warum arbeitest du nicht für mich? Ich gebe dir vierzig.« Du kannst ihn nicht reizen, nicht einmal zu einem Wutausbruch. Zumindest im Augenblick besteht nicht die geringste Hoffnung, dass du ihn dazu bringen kannst, dich zu töten. Beinahe kommt die Rettung, und das an dem Tag, an dem du 461
die Hoffnung aufgibst. Es beginnt eines Abends, während deines dreißigminütigen Urlaubs von der Kette. Deine hageren Beine drehen ihre Runden, bis du merkst, dass du ein paar hundert Meter mehr als sonst zurückgelegt hast. Du gönnst dir ein Dutzend zusätzliche Runden, beflügelt von dem plötzlichen Kraftzuwachs, der es dir möglich macht, alle früheren Geschwindigkeitsrekorde zu brechen. Aber schon bald hast du deine alte persönliche Bestleistung so weit übertroffen, dass es nicht mit rechten Dingen zugehen kann. Du fällst in einen langsamen Trott und überlegst. Vorsichtiges Sondieren in der Nähe der Tür bringt keinerlei Aufschlüsse, keine ungewöhnlichen Geräusche draußen im Flur. Die beste Erklärung für dieses Wunder ist zugleich die banalste. Wer immer dich heute Abend wieder an die Kette legen sollte, hat seine Aufgabe vergessen. Das Ticken der Dreißig-Minuten-Uhr ist endgültig verstummt. Die grenzenlose Freiheit kommt aus heiterem Himmel und lässt dir keine Wahl: Du musst sie ergreifen. Du bleibst die ganze Nacht auf den Beinen, ein Gewaltmarsch durch die Kontrollpunkte lähmender Müdigkeit. Du kannst dieses unerwartete Geschenk nicht vergeuden, nicht solange du noch am Leben hängst. Die heroische Wanderung in der Dunkelheit führt dich in fremde und unerreichbare Gebiete. All die verborgenen Gipfel und Archipele, die du niemals in Ruhe erkunden konntest, liegen jetzt nackt und unverhüllt vor dir. Die Freiheit – eine ganze Nacht, in der du einen vollen 360-Grad-Schwenk ausführen und nach Herzenslust jede Art von Verputz umarmen kannst – ist eine solche Gnade, dass jegliche Bitterkeit darüber, dass sie irgendwann ein Ende haben muss, einer großen Ehrfurcht weicht. Das Wunder dauert die ganze Nacht. Bewegungsfreiheit ohne Einschränkung. Kauern, kantern, schlurfen, stelzen: Jede Gangart findet Aufnahme in das Repertoire. Nord und Süd 462
kehren zurück, mit ihnen Ost und West, und im Schlepptau alle anderen Himmelsrichtungen. Hier, in den pechschwarzen Stollen, ist das Staunen eine taktile Angelegenheit, es tastet sich einen Weg durch glatte Röhrengänge in offene Hohlwege des Gefühls, in die du dich seit den ersten Tagen deiner Gefangenschaft nicht hinausgewagt hast. Mit der Bewegung kommt die Erinnerung. Eine Folge von schlurfenden Wechselschritten versetzt dich zurück auf eine überfüllte Cocktailparty mit wortkargen japanischen Geschäftsleuten. Vierhundert vorsichtige Trippelschritte erinnern dich an die lehmigen Krokusbeete, die eine übereifrige Freundin einst auf deinem Rasen angelegt hat. Du legst dich mitten in diesem riesigen Ballsaal flach auf den Boden. Kontrollierst die Kante deiner blechernen Wand und suchst nach Stellen, wo sie nicht festgenagelt ist. Du kniest dich hin und schielst unter der Tür hindurch. Wenn du ganz nah herangehst, siehst du durch den Schlitz dieses Kaleidoskops das ganze Universum. Die Füße deiner Bewacher kommen und gehen; sie stehen Wache vor einer Reihe von Zellen, Zellen, in denen sich das Leben derer abspielt, die mit dir verschleppt wurden. Das Geschenk wird von Stunde zu Stunde größer. Du ergreifst Besitz von so viel Raum, dass du gar nicht mehr weißt, was du damit anfangen sollst. Ungehindert, ganz nach eigenem Ermessen durchstreifst du den gewaltigen, drei Meter großen Kontinent. Du lässt dich in der Ecke nieder, die am weitesten von dem Heizkörper entfernt ist, drückst dich gegen die abgelegenen Wände, riechst an ihrer Oberfläche. Dann treibt dich der Zweifel weiter zu neuen Entdeckungen. Ein Gefühl der Fremdheit legt sich über dich, so erschreckend, dass es fast scheint, als sei das der Grund für deine Verschleppung. Nie wieder wirst du irgendetwas bestreiten, dich über deinen begrenzten Radius beschweren oder auch nur einen Quadratzentimeter für selbstverständlich nehmen … 463
Die ersten schwachen Vorboten des Tages sind das Signal für die Rückkehr ins Basislager. Du wartest geduldig auf deinem Bett aus Stroh, bis das Frühstück kommt. Sie werden sehen, dass die Fesseln im Grunde nicht nötig sind für dieses harmlose Geschöpf. Aber der Anblick deiner Freiheit treibt deine Bewacher zum Wahnsinn. Der Raum ist erfüllt von zornig schreienden Körpern. Durch die Augenbinde erahnst du schemenhafte Marionetten; sie laufen aufgeregt hin und her, überprüfen das Schloss, durchsuchen deine Kleider, schlitzen mit dem Messer deine Matratze auf. Was glauben sie eigentlich, wie weit du bei deiner nächtlichen Exkursion hättest kommen können? Stimmen wie Peitschenhiebe; sie spucken und zischen wie Ratten, wenn man sie in die Enge treibt. Ein erregtes Raubtiergesicht nähert sich dem deinen, und sein Atem gerbt deine Wangen. »Wie hast du das gemacht? Wie bist du rausgekommen?« »Bitte. Ich habe nichts getan. Die Wache hat mich gestern Abend nicht wieder angekettet.« Sie zerren dich hoch und stoßen dich wieder zu Boden. Ein Knie rammt dir die Genitalien in den Beckenknochen. Ein zerschmetterter Hoden schmiert wie ein Schwamm über diesen knöchernen Schraubstock. Die rote Woge schießt durch dein Rückenmark und quillt aus den Ritzen in deinem Schädel. Selbst die Bewusstlosigkeit bietet keine Zuflucht. Sobald du auftauchst, zieht der Schmerz dich sofort wieder in die Tiefe. Schließlich kommst du zu dir, das Gesicht in einer Lache aus Erbrochenem, die halbverdaute Mahlzeit vom Abend der Befreiung. Der Koran kann dir nicht sagen, wie viel Zeit vergangen ist. Dutzende von Versen verstreichen, ehe du dich aufrichten und wieder stehen kannst. Dem Buch nach zu urteilen, lassen sie dich einen ganzen Monat lang angekettet. Als sie dich endlich wieder losmachen, 464
bricht dein geschwächter Körper schon nach vier schleppenden Runden zusammen. Es dauert noch einmal zwei Wochen, bis du die Knie heben kannst, ohne dich zu übergeben. Dann, eines späten Abends, als deine Laufleistung sich wieder den alten Werten annähert, geht alles von vorn los. Aus der halben Stunde wird eine Dreiviertelstunde. Wieder erlebst du den furchtbaren Zufall der Freiheit. Die Mahlzeiten des Tages sind alle serviert. Es kommt keiner mehr. Sechs Stunden Bewegung könnten leicht die Hälfte der verlorenen Muskeln wieder aufbauen. Aber diesmal ist es etwas zu beiläufig, ein zu offensichtliches Katz-und-Maus-Spiel. Ein Test, ob du deine Lektion gelernt hast. Der blanke Hohn. Ein billiger Trick, um eine neuerliche Tracht Prügel zu rechtfertigen. Schließlich könnte jederzeit einer hereingestürmt kommen, auch nachts um zwei, um dich in flagranti dabei zu ertappen, wie du deine Freiheit genießt. Schon jetzt beugen sie sich über ein verborgenes Guckloch in diesen Wänden und warten nur darauf, dass du dich freust. Krank und gedemütigt, armseliger noch als ein Tier, kehrst du zurück zu deiner Fessel und gibst dich geschlagen. Du legst dir selbst den Ring um den Knöchel. Ein metallisches Klicken, dann kommen dir die Tränen vor Erniedrigung. Dein Selbsthass ist größer als aller Hass, den du je für deine Entführer empfinden kannst. Sie haben ihre Überzeugung, du hast nichts. Hast dich mit Haut und Haaren ausgeliefert, alle Würde verkauft. Die ganze Nacht über verhöhnt dich das armselige bisschen Freiheit, das du dir versagst, in der Dunkelheit. Nach dieser Erniedrigung lieferst du dich widerstandslos der Vergewaltigung aus. Sie flogen zurück nach Seattle, wo sich in ihrer Abwesenheit viel verändert hatte. Adie zwang Spiegel dazu, am Abend der Landung mit ihr nach Hause zu kommen. Zu ihrem Inselhäuschen, ihrer sicheren Zuflucht. Einmal hätte man noch als Ausrutscher gelten lassen können. Zweimal musste etwas 465
bedeuten. Aber nach wie vor wollte sie ihm nicht sagen was. Und er wollte nicht fragen, denn er fürchtete, dass sie es ihm sagen würde. Sorgsam gehütete Unwissenheit hielt alle Möglichkeiten offen. Nur mit Berührungen öffnete sie in seinem Kopf einen Dachboden, der seit Collegezeiten vernagelt gewesen war. Er umarmte eine längst tote Fantasiegestalt, sie den einzigen Menschen, der ihren Exmann mehr liebte, als sie es tat. Miteinander zu schlafen wurde eine Mutprobe, ein Selbstmordpakt, mit dem sie auch das letzte bisschen Ballast noch abwerfen wollten und verlieren, was noch zu verlieren war. Das Verlieren zur hohen Kunst erheben. Die Erinnerung in alle Winde zerstreuen, dass von der Vergangenheit nichts blieb als reine Schönheit. Sie klammerten sich aneinander, als könne daran nichts Obszönes sein, solange keiner hinsah. Spiegel brach als Erster diesen Pakt des Schweigens. Knapp zwei Wochen nach ihrer Rückkehr aus Ohio loggte Adie sich in ihren Arbeitsplatz in der Grotte ein. Dort wartete eine Flaschenpost auf sie, eine Botschaft, die sie aus dem Hinterhalt überfiel. Sie startete automatisch aus einer Nische im Systemspeicher, die Adie für leer gehalten hatte. Sie streifte sich hastig eine 3-D-Brille über. Mehr konnte sie nicht tun, nur dastehen und es ansehen. Aus der Quelle des Nichts stiegen Farben auf. Lichtflecken stoben von mehreren Horizonten, von einer Unzahl von Fluchtpunkten aus dem All auf sie zu. Der Raum expandierte entlang sämtlicher Achsen zugleich. Ihr Körper erlag dem Sog der Schwindelgefühle, den Sternen, die ringsum am Himmel aufglühten und wieder verschwanden. Jeder Stern wanderte an seinen Ort am Firmament, wo er zu noch üppigeren Kaskaden zerstob. Die Sternschnuppen umschwirrten sie immer enger, ein Feuerwerk, das vor den Augen der ehrfürchtigen erdgebunden Zuschauerin herabregnete. Dann waren die leuchtenden Wirbel so nahe, dass sie sie identifizieren konnte: 466
Nachfahren jenes ersten Drahtmodells eines Blattes, das Lim für sie gebaut hatte. Blumen aus ihrem verlassenen Dschungel. Rundum regnete es Blütenblätter. Der Blumenstrauß bedrängte ihren Blick. Sie lachte über den Trick, verblüfft. Aber dann wurde sie wütend. Wie konnte Spiegel es wagen, sich an ihrem Werkzeugkasten zu vergreifen? Die vektorgezeichneten Blüten kamen immer näher, und in einem solchen Sturm war an Eigentum nicht mehr zu denken. Auf diese Gewächse hatte sie kein Copyright. Auch Rousseau hatte sie aus so vielen Quellen gestohlen, dass man besser mit dem Zählen gar nicht erst anfing. Auf jeder Leistung eines Menschen lastete eine unendliche Hypothek. Sie stand in diesem Blütenregen, diesem Geschenk, das ihr jemand gemacht hatte, jemand, von dem sie immer nur genommen hatte. Der Tag kam, schneller als das Feuerwerk zur Erde regnete, der Tag, an dem jeder seinem tiefsten Innersten Gestalt geben konnte und sie jemand anderem vor die digitale Haustür stellen. Alle ewige Liebe, die wir insgeheim geschworen hatten, würde zurückkehren und fordern, dass wir sie wahr machten. Die Blütenblätter schwollen an, bis sie den gesamten Raum ausfüllten. Adie stand umgeben von Staubgefäßen, die größer waren als sie selbst. Das Bukett wuchs über den Raum, der es beherbergte, hinaus. Die Wände blitzten rosa auf und sogen sie unter die Oberfläche des Gewebes. Immer tiefer wurde sie hineingezogen. Sie schwamm durch die Zellwand in ein Meer aus Zytoplasma, tiefer und tiefer, mit den spektakulärsten Phasenübergängen bei jeder neuen Vergrößerung des Maßstabs. Biochemische Molekülstränge, Motive aus Dale Bergens Raum, stiegen rings um sie auf. Schließlich fand sie sich in einem anderen Dschungel wieder, die Blüten nun gewaltige Sphären aus Aminosäuren, die gezwirbelten Stiele ein Tanz von Proteinketten. Die Molekülsträuße winkten ihr von allen Seiten freudig zu, ganz 467
gleich, in welche Richtung sie ihren Kopf drehte. Und ganz in der Nähe, in Stereo, flüsterte die Stimme des Mannes, der ihr diesen Gruß geschickt hatte: Sieh, welche Blume ich dir fand! Die Dunkelheit rief sie zurück. Als sie in ihren eigenen Körper zurückgefunden hatte, steuerte sie ihn zur Grotte hinaus, den Flur hinunter zum Büro des Mannes. Steve saß an seiner eigenen Workstation und gab Variablen ein. Das ist wunderschön, sagte sie zu ihm. Sie ließ sich auf die Plastikschale neben seinem Schreibtisch fallen, die als Stuhl galt. Die Rasse, die die Grotte geschaffen hatte, war überfordert, wenn es darum ging, einen Stuhl zu bauen, in dem ein Mensch bequem hätte sitzen können. Sie schüttelte den Kopf beim Gedanken an die Farben, die sie immer noch vor Augen hatte. Soooo wandelbar, sagte sie. So schnell. Adie! Wie lange kenne ich dich jetzt schon? Wie langsam muss es denn sein? Nein, so meine ich das nicht. Echtes Blut schoss in ihre Adern und färbte ihr Gesicht karminrot. Das nicht! Ich meine, du hast dieses … Programm so schnell geschrieben. Nur ein paar Tage. Er lehnte sich vor. Er hielt ihr die Hand vor den Mund, berührte sie mit der Handfläche wie ein Blinder, der ihr zum ersten Mal begegnete. Es besteht zu hundert Prozent aus vorgefertigten Teilen. Es kam ihnen abwechselnd heilig und profan vor. Ein Mann lag zwischen ihnen im Bett, starb zwischen ihnen, allein in einem Niemandsland, auch die letzte Kontrolle über seinen Körper verloren. Sie schliefen beide irgendwie auch mit ihm. Du bist schon so lange Teil meines Lebens, sagte er zu ihr, im Dunkeln. Mein ganzes Erwachsenenleben lang. Und je älter 468
ich werde, desto mehr habe ich das Gefühl, dass ich gar nicht mehr ich bin. Ich habe so lange an dich gedacht, dass ich allmählich das Gefühl hatte, ich werde du. Sie ließ ihn reden. Sie brachte Pinkham mit, wenn sie über Nacht bei ihm blieb. Wer mich liebt, muss auch meinen Hund lieben. Oh, dein Hund ist schon Ordnung. Nur aus dir werde ich nicht schlau. Und manchmal, im Bett, sah er sie weit fort, in Trance, wie sie wartete, fast schon außer sich, dass die Verzückung kam, ihren ganzen Körper mit telekinetischen Kräften zum Höhepunkt steuerte, wie sie sich selbst bewegte, so wie sie als Mädchen die Fensterläden in dem gemalten Zimmer bewegt hatte. Die Entspannung stürzte sie in eine postkoitale Trauer von solcher Tiefe, dass sie in Tränen ausbrach, verloren in den Abgründen der Einsamkeit, die diese Zweisamkeit auftat. Es war die größte Leere, die das Leben bereithielt, die Erfüllung. Lass nur, sagte sie dann und versuchte, ihre Verzweiflung vor ihm zu verbergen. Das hat nichts mit dir zu tun. Alles nur Chemie. Willst du, dass wir … es lassen? Wenn du mich jetzt im Stich lässt, bringe ich dich um. Und manchmal, wenn sie sich an ihre Körper verloren hatten und erschöpft nebeneinander lagen, konnte er sehen, wie sie heimlich die Fäuste ballte, wie sich die Muskeln in ihren Beinen anspannten und wieder lösten, als wollte sie sich beweisen, dass sie ihre Glieder noch bewegen konnte. Die Fähigkeit zurückerobern für den, der sie verloren hatte. Einmal, als sie sich langsam und in Erinnerungen versunken liebten, klingelte das Telefon. Der gewissenhafte Anrufbeantworter übermittelte eine Nachricht, die lallend und 469
schleppend kam, wie von einem Betrunkenen. De … nise … Giran … del!, triumphierte die versteinerte Stimme. Stevie versuchte innezuhalten, denn alle Traurigkeit des Lebens lastete auf seinen Lenden. Doch Adie bäumte sich auf und behielt ihn in sich bis zum keuchenden Ende. Sie hielt ihren privaten kleinen Gedenkgottesdienst schon vor der Zeit. Sie konnte es nicht zu Hause tun, nun wo ein anderer dort lebte. Und das Lab kam natürlich nicht in Frage. Damit blieb nur die Unendlichkeit der Natur. Sie erwarb einen batteriebetriebenen Kassettenrecorder, verstohlen, als kaufe sie Kinderpornografie. Sie versteckte ihn im Kofferraum des Volvo und fuhr damit in den Waldstreifen an der Nordwestküste ihrer Insel. Sie bog in einen Feldweg ein, fuhr, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, ein Stückweit auf Privatland, bis sie außer Hörweite war. Dort unter dem Blätterdach – Seht euch den Baum an! Seht euch den … Baum an! – hielt sie ihre wortlose Andacht. Sie spielte es einmal ganz, dies schamlose Stück hinreißender Nostalgie, das Ted so gern geschrieben hätte und doch nie würde schreiben können. Tribut, Bestechung, Kuhhandel, Ablass: Sie hätte nicht sagen können, wonach das uralte Lied klang; nur dass es nach ihm klang. Sie spielte Dives and Lazarus ein zweitesmal, und bevor es zu Ende war, hörte sie jemanden durch das Unterholz kommen. So sehr sie sich auch vorgesehen hatte, hatte es doch jemand gehört. Es gab keinen Ort auf Erden mehr, der einsam genug war, dass man ungehört sein konnte. Sie überlegte, ob sie abschalten und die Flucht ergreifen sollte. Aber es blieben noch ein paar Takte, und für die Schlusskadenz würde sie alle Folgen in Kauf nehmen. Ein knorriger, bärtiger Holzfäller in Arbeitshosen und rotkariertem Hemd kam zwischen den Bäumen hervor und sah sie finster an. 470
Er verlangsamte seinen Schritt, damit er nicht ankam, bevor das Lied zu Ende war. Sie holte schon zu ihren Entschuldigungen aus, bevor noch die letzte Note verklungen war. Es tut mir Leid. Das ist ihr Grundstück, nicht wahr? Ich wollte nur … Es wird nicht wieder vorkommen – Ich wollte Ihnen danken, unterbrach der Mann. Ich hatte ganz vergessen, dass es dieses Lied gibt. Durch ein einziges Wort waren sie auf den Raum gestoßen, den Adie für die Grotte bauen wollte. Doch weiter als bis zu diesem Wort waren sie noch nicht gekommen. Gemeinsam mit Spiegel legte sie diesen Keim zu einer Idee Vulgamott vor. Byzanz? Wie im Kaiser von Byzanz? Adie nickte, Steve schüttelte den Kopf. Byzanz wie in dem Gedicht von Yeats, sagte Spiegel. Na da müsst ihr O’Reilly fragen. Der ist doch der Ire hier. Nun. Ronan sah sie an. Nicht gerade mein Liebling unter seinen Gedichten. Und welches wäre das? »Meditations in Time of Civil War«? Gedanken in Bürgerkriegszeiten. Er sprach das civil war mit einem rollenden irischen r. Die beiden Amerikaner sahen sich an. Wir spendieren dir ein Bier, wenn du es uns aufsagst. Hättest es auch kostenlos bekommen können, mein Schatz. Jetzt natürlich nicht mehr. Sie gingen hinüber zum Office, wo die Batterie von Fernsehgeräten ihnen das ganze Spektrum der Nachrichtenprogramme bot. O’Reilly parkte sie an einem Tisch unter den Schlagzeilen im Schnelldurchgang. Anscheinend war die Weltgeschichte immer noch nicht ganz an ihrem Ende angekommen. Der größte Staat der Erde, schwerer bewaffnet 471
als jeder andere, löste sich auf, Apparatschik um Apparatschik, und verteilte seine Sprengköpfe an eine Vielzahl improvisierter Republiken. Experten aus dem Westen schwärmten im Ostblock aus, kurierten die wirtschaftliche Katastrophe mit Schocktherapie. O’Reilly brachte ihr Bier. Nach ein paar Schlucken wurde er gesprächiger. Ihr findet, das vierzehnte Jahrhundert war die reine Anarchie? Ihr meint, das Mittelalter war ein Rückfall in finstere Zeiten? Amateurtheater, Freunde. Kindervorstellung. Wir sehen jetzt die echte Show, für die das nur das Vorprogramm war. Spiegel lachte über so viel Rhetorik. Na hör mal, Ronan. Was redest du da? Der Kalte Krieg ist vorbei. Die größte Kraftvergeudung aller Zeiten. Und da fangen die Probleme erst an, mein Freund. Aber du wirst doch nicht diesen mörderischen Sandkastenspielen nachtrauern, nur weil du daran gewöhnt warst! Es war immerhin eine gewisse Ordnung unter den Mördern. Es sorgte dafür, dass die Kräfte, die du für vergeudet hältst, ihre Wirkung nicht ganz entfalten konnten. Ronan, sagte Adie, so habe ich dich ja noch nie gesehen. Ich bin auch noch nie so gewesen. Die Nachrichten machten die übliche Runde. Nun war Europas Sonnenparadies an der Reihe, Jugoslawien, bereit zum Schritt ins Unvorstellbare. Gut, das wird alles nicht ganz einfach, gestand Steve ihm zu. Aber geht dieser ganze Schlamassel nicht zurück bis aufs Osmanische Reich? Nach wie vor hielten die Irakis das reichste Ölvorkommen der Welt besetzt, von denselben Vereinigten Staaten dorthin eingeladen, die nun mit vollständiger Vernichtung drohten, 472
wenn sie nicht wieder abzogen. Steve wurde unruhig. Den Nahen Osten kann man nicht als Beispiel nehmen. Der Nahe Osten ist auf Selbstzerstörung programmiert, seit die Welt überhaupt steht. Jetzt wissen wir, warum es zu dem Anstieg im Ölpreis kam, den mein Modell vor ein paar Monaten vorausgesagt hat. Ein Jammer, dass es nicht auch den Anlass kannte. Sie müssen nachgeben, sagte Adie. Alles andere wäre Selbstmord, oder? O’Reilly zeigte mit dem Finger auf sie, dann tippte er sich an die eigene Nase. Die Nachrichten ließen keine Zeit zum Nachdenken. Der nächste Beitrag berichtete, dass die amerikanischen Gefängnisse mehr Insassen hatten als eine kleine Stadt wie Orlando Einwohner, mit Pro-Kopf-Kosten, die höher waren als die der teuersten Privatschulen. Die Gesamtzahl der Gefangenen, hieß es in dem Bericht, hatte sich in einem knappen Jahrzehnt verdoppelt, ohne dass es einen nennenswerten Einfluss auf die Kriminalitätsrate gehabt hätte. O’Reilly sah die beiden Amerikaner an und hob die Augenbrauen. Spiegel zuckte mit den Schultern. Wir sind ein Volk von Gesetzlosen, Sheriff. Schon immer gewesen. Adie schlug mit der Faust auf den Tisch. He! Du wolltest uns ein Gedicht aufsagen. Wir zahlen deine Zeche nur, wenn du auch dein Versprechen hältst. »Gedanken in Bürgerkriegszeiten«? Adie nickte. Spiegel schüttelte den Kopf. O’Reilly studierte den Schaum auf seinem Bier, als rekapituliere er noch einmal seinen Text. Es geht um die Passage gegen Ende, sagte er. Das Starennest am Fenster. Die 473
Worte, als er sie schließlich sprach, kamen stockend, als ob sie ihn selbst überraschten; wie ein Geschenk, das auf dem Tisch zurückgelassen bleibt, in einem leeren, von innen verschlossenen Zimmer. Die Bienen bauen in den Ritzen Des losen Mauerwerks, wo Vögel ihre Jungen füttern. Die Mauer bröckelt; ihr Bienen kommt Nistet ein euch im leeren Starenhaus. Keiner blickte den anderen an; jeder für sich sah einen Ort, der längst verloren war. O’Reilly dachte an seine Heimat, Spiegel an seinen Traum vom Dichterleben, Adie an die summenden Bienen der Buntstiftwelt. Wir sind gefangen im Verlies Unserer Zweifel; irgendwo Stirbt ein Mensch … Der Barmann blickte auf bei diesen Worten, dem kleinen Schock inmitten der Fernsehmassaker. … ein Haus brennt ab. Doch alles ist verschwommen nur: Nistet ein euch im leeren Starenhaus. Die Stimme des Iren versiegte, erschöpft. Wie ging es weiter? Moment. Barrikaden, gebaut aus Holz oder Stein … Er reckte das Kinn in Richtung Fernseher, wo wie auf Bestellung eine Straßensperre erschien. Für vierzehn Tage Bürgerkrieg … Von Tagen spricht der Mann! Mit bitterer Miene nahm er einen Schluck. Gestern … 474
Er suchte es sich zusammen. Gestern haben sie ihn weggeschafft Den jungen Kämpfer in seinem Blut Nistet ein euch im leeren Starenhaus. Er hielt inne, konnte nicht mehr weiter. Er saß da, suchte nach etwas: den nächsten Zeilen des Gedichts. Der nächsten Katastrophe auf dem Fernsehschirm. Dem nächsten Spielzeug, das für eine Weile weiterhalf. Der nächsten halbherzigen Deutung. Als die Strophe kam, kam sie nicht von O’Reilly. Adie fuhr verstört hoch, so unerwartet war die Stimme. Wir nährten das Herz mit Fantasien Und davon wurde es hart und kalt Unsre Liebe niemals so greifbar Wie unser Hass; o ihr Bienen kommt Nistet ein euch im leeren Starenhaus. Spiegel saß da, umgeben vom Lärm der Bar, versunken in seine ganz persönliche Rezitation. Rundum prasselte von den Videoschirmen das Maschinengewehrfeuer auf sie ein. Ronan senkte den Kopf. Wir könnten alles Mögliche bauen. Alles, was wir wollen. Das ist ja gerade das Schlimme, flüsterte Adie. Ronan sah sie an und setzte sein schönstes Lächeln auf. Ganz gleich was die Menschen hier zusammenzimmern, es dürfte so ziemlich die letzte Version sein. Aber ihr wolltet ja nicht meine Geschichtstheorien hören, sondern die von Billy Yeats. Spiegel winkte Adie zu. Unsere Künstlerin hat sich in den Kopf gesetzt, dass wir Byzanz nachbauen sollen. Das Schwierige daran ist nur, dass keiner von uns weiß, wo es liegt. Meint ihr denn, der Dichter hätte das gewusst? O’Reilly trank die letzten zwei Fingerbreit aus seinem Glas. Spiegel hielt seines in die Höhe, bestellte Nachschub. Zuerst einmal 475
muss euch klar sein, dass der Mann nicht ganz bei Verstand war. Mit anderen Worten, er war Ire. Das Land lässt einem keine große Wahl. Er ist ja dann auch die meiste Zeit im Ausland gewesen. Der Wahnsinn Irlands hat Yeats in die Poesie getrieben?, spottete Spiegel. Aber ja. Das ist die Wahrheit. Adie überlegte. Wenn die Verrücktheit eines Landes die Dichter hervorbrächte, dann könnten wir uns vor Versen nicht mehr retten statt vor Videorecordern. Der Mann hat nie einen Ort gefunden, an dem er sich niederlassen und in Frieden leben konnte. Einen Ort, an dem Herz und Verstand am selben Tisch saßen. Deshalb träumte er von Byzanz. Dem Anfang, dem Dreh- und Angelpunkt für die ganze wahnwitzige Maschine der Zivilisation. Weise, steh’nd in Gottes heil’ger Glut. Der mechanische Vogel, dem Gold entrungen mit hämmernder Gewalt – Hebel und Zahnräder –, der Vogel, der perfekt von allen Dingen singt, und das in alle Ewigkeit. Schlägt alles um Längen, was Silicon Valley sich bisher hat einfallen lassen, sagte Steve. Sogar die Japaner. Aber versteht ihr, die Grundidee ist immer dieselbe. Das ist ja das Entsetzliche daran. Das Beste am Menschen. Das, was rein und vollkommen und unvergänglich sein will, das, was nicht eher Ruhe geben wird, bis es seinen mechanischen Vogel gebaut hat … O’Reilly brach jäh ab und beugte sich vor. Er wies auf die Fernsehgeräte, die Geschichte, die über jeden Schirm flackerte, die Geschichte vom menschlichen Erfindergeist, der Amok lief, und das in einem Maße, dass keine weltumfassende Satellitenberichterstattung mehr mithalten konnte, nicht einmal auf dem kleinsten Nebenschauplatz. Wir sind überall. O’Reillys Elend machte sich noch ein zweites Mal Luft, bei 476
einer hitzigen Debatte am Wochenende. Freese hatte eine VollVersammlung einberufen, um den neuen Zeitplan für das nächste Halbjahr vorzustellen, an dessen Ende die kommerzielle Präsentation der Grotte im Frühjahr stehen sollte. Dann öffnete er die Schleusen für die überbordenden Zukunftsfantasien, in denen sich die Gespräche stets verliefen, wenn zwei oder mehr von ihnen zusammen waren. Alle waren sich einig, dass die Datenübertragungsraten weiter steigen würden und dass kein Ende in Sicht war. Lim prophezeite, dass sie bis Mitte der Neunziger in der Lage sein würden, komplexe Oberflächen in Filmqualität ohne ein einziges Rucken zu bewegen. Wenn die Kurve der Datenkompression und die Kurve der Bandbreite sich trafen, würden die Menschen visuelle Räume so leicht austauschen können, wie sie heute Rosensträuße oder eine Flasche Chardonnay überreichten. Aber wer produziert diese Räume?, wollte Vulgamott wissen. Was nützen die dicksten Leitungen, wenn wir nur Dreck durch schicken? Elitärer Ästhet!, rief Rajasundaran. Glaubst du denn, der Inhalt ist keine Frage der Technik? Warte’s nur ab, Mikey. Wenn die Grotte erst einmal ihren festen Kundenstamm hat, geht’s erst richtig los. Sue Loque ließ sich diesen Gedanken des grenzenlosen Ausbaus auf der Zunge zergehen. Wenn unsere sprachgesteuerte, benutzergeführte High End-VR-CAD erst einmal läuft, dann wird ein virtueller Raum noch im selben Augenblick entstehen, in dem ein User daran denkt. Vulgamott legte den Kopf schief. Und für wann ist dieser Durchbruch zu erwarten? Ende des Jahrzehnts, sagte Sue. Jahrhunderts, verbesserte Jackdaw. Jahrtausends, setzte Rajan noch eins drauf. 477
Warte nur, bis der virtuelle Pilot seine Welten im Fluge schafft. Es war Sue anzumerken, wie schwer ihr dieses Warten fiel. Malt es euch doch aus, was die kollektive Einbildungskraft da alles ausspucken wird. Kaladjian erstickte beinahe daran. Wer will denn in einer Welt aus ausgespuckter Fantasie leben? Wir nähern uns dem Punkt der endgültigen symbolischen Befreiung. Sue sang es beinahe, wie ein Erweckungsprediger. Unbegrenzte Möglichkeiten, spontane Geschöpfe der Fantasie. Aber wozu das alles?, fragte Ebesen. Gibt es denn wirklich immer noch nicht genug Bilder da draußen? Aber die Wirklichkeit war nie groß genug gewesen, denn der Körper war seit jeher zu eng für das, was er beherbergte. Was, wenn nicht die Fantasie, hielt ein solches Stückwerk am Leben? Die Ingenieure spekulierten weiter. Die menschliche Fantasie würde nicht bei einem gänzlich amorphen Universum Halt machen. Das begehbare Hologramm war nur noch einen Schrittweit entfernt. Ganzkörperfeedbacksensoren würden die Illusion um die entscheidende taktile Wahrnehmung bereichern. Die elektronische Haut versprach größere Freuden, als die echte bieten konnte. Nicht lange, und die vollständige räumliche Telepräsenz würde folgen und das Bewusstsein mit Roboteragenten irgendwo im Raum verbinden und die menschlichen Sinne von allen irdischen Fesseln befreien. Jackdaw brachte das Gespräch auf das neueste heiße Thema – die Projektion von Bildern unmittelbar auf die menschliche Retina. Eine Reihe von Gruppen wetteiferte darum, die Leistung von Laser-Mikroscannern so weit zu verbessern, dass sie Bilder liefern konnten, die die Netzhaut als stabil empfinden würde. Sobald es gelingt, den Durchsatz so weit zu beschleunigen, dass die Bilder verschmelzen, lässt sich das gesamte Gesichtsfeld ausfüllen … 478
Glaubwürdigkeit, sagte Adie, ist keine Frage der Bandbreite. Lim sah sie überrascht an. Nicht? Ja was ist es denn dann? Das ist doch die Variable, auf die alles ankommt. Die Frage, wie viele Daten sich gleichzeitig übermitteln lassen …? Ich nehme Wetten an, verkündete Raj. Auf das genaue Jahr, in dem eine computergenerierte Welt erstmals für NSR gehalten wird. NSR? Adie war es, die in die Falle ging. Nicht-simulierte Realität. Du weißt schon. Die Welt draußen. Dieses undurchsichtige Zeug. Sie organisierten die Wette auf der Stelle. Jeder erklärte sich bereit, ein Prozent von den Säcken voller Geld einzusetzen, die sie alle verdienen würden, wenn ihre Maschine erst einmal auf dem Markt war. Der, der den besten Tipp abgegeben hatte, würde in dem Jahr, in dem simulierte Realität zum ersten Mal nicht mehr von der Wirklichkeit zu unterscheiden war, den Jackpot gewinnen. Und mittenhinein in die allgemeine Begeisterung warf O’Reilly seine Bombe. Schön und gut, dass wir hier unsere langfristigen Pläne haben. Aber wenn ihr euch wirklich für die Zukunft interessiert, solltet ihr mal einen Blick auf meine neuesten Prognosen werfen. Seit sie ohne jedes Vorzeichen die aktuelle Ölkrise vorausgesagt hatten, standen O’Reillys Modelle hoch im Kurs. Er lud ein Grüppchen Nachzügler aus der sich schon auflösenden Vollversammlung in die Grotte ein. Sie standen im Inneren seines virtuellen Globus und blickten hinauf zur Erdoberfläche. Was ihr hier seht, ist die neueste automatisch aktualisierte Landkarte der Förderung und des Verbrauchs von Erdöl weltweit. Er erklärte ihnen kurz, wie sie die Daten zu lesen hatten, das Thermometer der Farben von kalt bis heiß. Wir fangen mit 1990 an. Fraktale Rauchwölkchen stiegen auf und 479
bildeten Formen von solcher Schönheit, dass es allen den Atem verschlug. Das sieht aus wie einer unserer Wetterräume, meinte Sybil Stance. Wie unsere Projektion von Meeresströmungen. Da kommen schon ein paar hübsche Kleinigkeiten zusammen, stimmte Freese zu. Bergen stieß einen Pfiff aus. Dieselben Kaskadeneffekte haben wir bei unserem neuen Biosimulator. Jupiter, fand Spiegel. Der Große Rote Fleck. O’Reilly spulte die Jahre ab. So, hier hätten wir 2000. Die heißen Partien werden heißer, die kalten kälter. Und jetzt 2010. Er zählte die Etappen ohne jede Regung auf, so oft hatte er den Ablauf schon gesehen. Die Farbflächen öffneten sich, verbanden sich zu bunteren Mustern. Sie breiteten sich aus wie Eisblumen auf einer winterlichen Fensterscheibe. Sie mischten sich wie die Farben eines Malkastens. Sie gingen Verbindungen ein wie die flüssigen Elemente im Inneren eines Sterns. Als 2020 kam, hatte die gesamte Erdoberfläche eine rote Färbung angenommen. Selbst die Nachzüglerländer heizten sich auf. Der ganze Planet wurde glutrot, als schäme er sich oder hielte die Luft an. Im Jahr 2030 begannen die Farben zu flimmern, schwankten, dann stürzten sie ab. Der ganze Planet befand sich im freien Fall hinunter zum Blau. Nach zwei oder drei Stabilisierungsversuchen versammelten sich die Nationen, in denen überhaupt noch etwas leuchtete um eine Hand voll Lagerfeuer. Eins nach dem anderen verloschen sie. Lim schwankte, und sie mussten ihn an der Hand nehmen und auf und ab gehen, damit er nicht das Bewusstsein verlor. Das Grüppchen virtueller Pilger stand im Dunkeln und kicherte verlegen. 480
Rajan brach das Schweigen. Verblüffend. Ich hätte es nie gesehen, wenn ich es nicht geglaubt hätte. Kaladjian machte seiner Empörung Luft. Wie kannst du so tun, als könntest du etwas akkurat voraussagen, was so weit in der Zukunft liegt? Mit falschen Voraussetzungen und Fehleinschätzungen, die du hochrechnest, bist du im Märchenland, bevor du auch nur die ersten zwei Jahre hinter dir hast. Weißt du, was das Merkwürdige daran ist?, erwiderte O’Reilly. Ich habe das jetzt schon ein paar hundert Mal laufen lassen und an allen möglichen Parametern gedreht, manche sogar dramatisch verändert. Und trotzdem kommt jedes Mal etwas wie das hier heraus. Was ist mit den ganzen unbekannten Faktoren? Politische Umwälzungen. Irrsinnige Diktatoren. Revolutionen an der Basis. Technische Errungenschaften … Berücksichtigt das Modell alles. Wie kann das Modell das berücksichtigen? Du weißt doch nicht, was kommt. Darum geht es doch gerade. Sie sind zufällig, unberechenbar. Wir kennen sie nicht, das ist wahr. Aber deswegen sind sie noch lange nicht unberechenbar. Solche Ereignisse verändern die Zahlen nicht. Sie sind die Folge veränderter Zahlen. Freese mühte sich, ein unbekümmertes Gesicht aufzusetzen. Na, Ronan, das ist doch ziemlich offensichtlich, was da geschieht. Um das Jahr 2030 finden wir die perfekte alternative Energiequelle. Warum dann die ungeheuren Spitzenwerte unmittelbar vor dem Zusammenbruch? Der Saft ist alle?, fragte Vulgamott. Das wäre die ganze Erklärung? Nachhaltiges Wachstum ist ein Widerspruch in sich? 481
O’Reilly zuckte mit den Schultern. In dem Falle würde ich einen allmählicheren Abstieg erwarten. So erging es nun einmal dem Volk, das seinen eigenen Gedankenschatten werfen konnte wie das Murmeltier am Groundhog Day. Ganz gleich wie düster die Aussichten – so trübe, dass man keine Hoffnung für die nächsten sechs Wochen mehr hatte, war es nie. In diesem Falle war es Jackdaw Acquerelli, der den nötigen Optimismus parat hatte. Wisst ihr was, 2030 ist genau die Zeit, zu der der virtuelle Mensch Wirklichkeit wird. Noch vierzig Jahre, und wir lassen das hier alles hinter uns. Verschwinden in die Realität unserer eigenen Maschinen?, fragte Spiegel. Raj gluckste. Warum nicht? Das ist doch die Ziellinie für diesen Fünftausend-Jahres- Wettlauf, oder? Mag sein, antwortete O’Reilly. Aber selbst menschengleiche Maschinen werden noch Energie brauchen. Sue Loque war die Erste, die ihre Datenbrille abnahm und die Grotte verließ. Zum Teufel damit. Was geht uns die Nachwelt an? Was hat die Nachwelt denn je für uns getan? Die anderen folgten nach und nach. Kaladjian stapfte mit geballten Fäusten davon und rief seinem Widersacher noch zu: Dir ist doch klar, dass das nicht das Geringste bedeutet, oder? Nicht das Mindeste. Rein gar nichts, stimmte O’Reilly ihm zu. Was immer sie in vierzig Jahren erwarten mochte – zuerst kamen die Kunden, die weiter vorn anstanden. Was sind das für Leute?, fragte Adie. Die Leute, für die wir das hier bauen? Wer käme denn auf die Idee, so etwas zu kaufen? Oh, die üblichen Verdächtigen, antwortete Steve. Universitäten. Vergnügungsparks. Filmindustrie. Was immer 482
es ist, was nach Film und Vergnügungsparks kommt. Die Leute, die jedes Jahr zu Weihnachten das ultimative Videospiel versprechen. Aber die kaufen den Apparat, oder? Die Wände und den Projektor und die Grafikbeschleuniger? Nicht … unsere Räume? Software verkauft Hardware. Das ist immer so. Keiner will die Kabel. Sie wollen das, was durch die Kabel kommt. Aber trotzdem. Die werden … es wird doch nicht … diese Sachen werden nicht in Massen verkauft, oder? Spiegel schürzte die Lippen. Unterschätze nie die Sehnsucht der Menschheit nach dem nächsten Weg ins Freie. Für sie öffnete sich dieser Weg wie von selbst. Was sie brauchten, landete in ihren ausgestreckten Händen, ein Vogel, der zu seinem goldenen Zweig zurückkehrte. Karl Ebesen führte sie nach Byzanz. Er sagte ihnen, wonach sie suchten, noch bevor Adie und Steve ihre mageren Indizien auf seinem Büroboden ausgebreitet hatten. Byzanz? Das war der Ort, an dem die Zivilisation an ihrem großen Wendepunkt stand. Wo das Schicksal der Welt sich beinahe anders entschieden hätte. Spiegel und Klarpol sahen sich nur hilflos an. Sicher, Karl. Da wirst du schon Recht haben. Die Hauptstadt des Reiches. Die Stadt, die Rom noch für Jahrhunderte am Leben hielt, als Rom längst tot war. Der Ort, an dem der Westen sich beinahe gen Osten gewandt hätte. Oder war es umgekehrt? Ebesen machte sich auf die Suche, und etliche seiner abenteuerlichen Stapel von Notizbüchern und Nachschlagewerken fielen. Endlich fand er die geschundene, vergilbte Anthologie der Weltkunst, ihre Blätter schon halb 483
vom Schwefel zersetzt. Hier habt ihr, was ihr braucht. Er zeigte mit dem Finger auf eine ganzseitige Schwarzweißabbildung. Beinahe tausend Jahre lang die größte Kirche der Christenheit. Und dann noch einmal für fünf Jahrhunderte die größte Moschee des Islam. Adie betrachtete die Innenansicht – gewaltig, geheimnisvoll, unbegreiflich. Das? Aber das ist doch … in Istanbul. Ebesen sah das Bild mit zusammengekniffenen Augen an. Byzanz. Konstantinopel. Istanbul. So ein Ort kann gar nicht genug Namen haben. Oder zu viele Inkarnationen, wie es scheint. Spiegel reckte sich, damit er es besser sehen konnte. Nur Kirche und Moschee? So bescheiden waren sie? Ebesen begann nickend seine Ausführungen, die noch spektakulärer waren als das, was er erklärte. Errichtet auf den Fundamenten eines heidnischen Heiligtums. Salomos Tempel wollten sie damit übertrumpfen. Nach anderthalb Jahrtausenden noch immer der viertgrößte Kirchenbau der Welt. Hagia Sophia. Die Heilige Weisheit. Adie konnte den Blick nicht abwenden, gebannt von so viel Raum. Ich bin einmal … da gewesen. In der Kirche. Als Kind. Mein Vater war … im östlichen Mittelmeer stationiert. Und einer Freundin hatte sie eine Ansichtskarte von dem überwältigenden Innenraum geschickt, mit der Zeile: »Einmal solltest du es gesehen haben, bevor du tot bist.« Sie quetschten aus Ebesen alles an Einzelheiten heraus, was er wusste. Sie stahlen ihm seine Bücher. Und dann verfolgten sie noch jede weitere Spur, auf die er sie brachte. Karl für seinen Teil hatte auf ein solches Projekt nur gewartet. Die Architekturbausteine, die er und Vulgamott aus nichts als Programmzeilen geschaffen hatten, fanden nun ihre 484
Bestimmung. Sie kehrten an die Quelle zurück, von der sie stammten. Tausend Handwerker, die zehntausend Zwangsarbeiter beaufsichtigten, brauchten ein halbes Dutzend Jahre, um das Sinnbild des Paradieses zu errichten. Die Mannschaft des Realization Lab hatte Zeit von Oktober bis Mai. Vulgamott übernahm die praktische Leitung. Das Erste, worüber wir uns verständigen müssen, ist natürlich der Maßstab. Adie starrte ihn verständnislos an. Nun komm schon, sagte er. Wie groß soll es sein? Na, ich dachte, wir machen es einfach eins zu eins. Gütiger Himmel. Vulgamott schlug sich vor die Stirn. Sie dachte, wir machen es eins zu eins. Spiegel kam ihr zu Hilfe. Wir bauen ja nicht im Erdbebengebiet. So schwer kann das doch nicht sein, ein Gewölbe zu errichten? Ich weiß nicht, sagte Ebesen. Das Modell berechnet auch das Gewicht und geht von der Schwerkraft aus. Selbst Gedanken wurden zu einer Frage der Statik. Wenn man will, dass etwas halten soll, muss man sich vorstellen können, dass es fällt. Der Raum der heiligen Weisheit breitet sein Zelt unter der Himmelskuppel. Holz ist nicht gut genug, denn der hölzerne Vorgänger ist abgebrannt. Das Werk wird mit Steinen aus den fernsten Gegenden des Reiches errichtet. Es raubt sein Material aus den großen Tempeln der Welt: Säulen aus Ephesus und aus der Orakelstätte von Delphi, aus dem ägyptischen Heliopolis und Baalbek in der Levante. Den bunten Marmor stiehlt es aus einer ganzen Palette kaiserlicher Provinzen zusammen: Rot aus Phrygien, lydisches 485
Gold, elfenbeinfarbener Stein aus Kappadokien, grüner aus Thessalien, strahlend weißer aus dem meerumspülten Prokonnesos. Behauen und poliert, breiten sich die Adern der Steine wie Fächer, erblicken an jeder Verblendung ihr Spiegelbild, greifen auf, geben ein Echo wie ein zur Ruhe gekommenes Kaleidoskop, Spuren göttlichen Wirkens und irdisches Zeichen, gemalte Beschwörungen, lebendige Gestalten, die aus dem Dschungel der Symbole brechen. Der Grundriss ist die gewagte Verbindung aus Konche und Loggia. Basilika und Rundbau – die zwei großen Stränge der Kirchenarchitektur – verschmelzen, wie man es nie zuvor gesehen hat. Und hoch über allem erhebt sich die Kuppel zu Ehrfurcht gebietender Höhe, nicht zu einer Spitze hin, sondern gewölbt wie das sanfte Firmament, ein Helm, der auf Luft ruht, von einem Kruzifix gekrönt, dem Beschützer der Welt. Die Kuppel wölbt sich über einem Raum von solcher Weite, dass kein Baumeister gewusst hätte, wie er ihn überspannen sollte. Und auch damals war der Glaube nicht stark genug, dass er den Mangel an Wissen ausgeglichen hätte. Selbst der Kaiser kann, als der Bau geweiht wird, nur benommen in die mächtige Leere der östlichen Apsis stolpern, pro forma sein Deo gratia murmeln, dann bricht es aus ihm hervor: Salomo, du bist entthront! Heiligenmosaiken wachen über strategische Punkte an den Wänden. Leuchtende Plättchen aus gehämmertem Blattgold verstreut auf einem Raster aus gläsernen Mosaiksteinen, überzogen mit Glasfluss – die ersten Bitmaps der Welt. Wenn man nahe herangeht, löst sich das Gesamtbild zu einzelnen Rechtecken auf. Doch von unten, aus dem vorgegebenen Abstand, sieht man den üppigen Faltenwurf der Gewänder, und Gesichter entgehen der Zerstörung der Zeit, finden Zuflucht in einem tieferen, stilleren Raum. Unter der gewaltigen Kuppel ballt sich das Reich zusammen zu einer versteinerten Schmetterlingspuppe. Dieser Raum wird 486
zuerst an christliche Eindringlinge fallen, wird in seinen Galerien die Gräber der Kreuzfahrer aufnehmen, die sie einst plünderten. Später werden Ungläubige ihn erobern, werden Minarette bauen und ihre Rundschilde mit arabischen Schriftzeichen aufhängen, werden an der Ostseite einen dezenten Mihrab errichten, ein wenig schräg, damit er gen Mekka blickt. Ein fremder Glaube wird fordern, dass die Heiligenmosaike zerstört werden, doch Furcht und Ehrfurcht sorgen dafür, dass sie nur unter Putz verschwinden, und sie bleiben erhalten für die gotteslästerlichen Massen, die sie Jahrhunderte später bestaunen, im Zeitalter des weltweiten Tourismus. Das Getriebe der Welt wird sich schneller drehen, wird öffentliche Bauwerke von solcher Größe schaffen, dass dieses im Vergleich zu nichts zerrinnt. Aber etwas drängt die Menschheit dazu, diesen Bau zu wagen, hier an diesem Wendepunkt, unter unerhörten Kosten, einen wahnwitzigen Teil ihres Einkommens dafür auszugeben – mehr als für jedes andere Werk ihrer Herrschaft –, etwas drängt sie, diesen Leuchtturm für die Seeleute zu errichten, die Schiffbruch im Hellespont erleiden, diese gewaltige flache Kuppel, die sich über die Ärmsten der Armen wölbt, diesen omphalos, diesen Nabel der Welt, ihre durchtrennte Nabelschnur. Rings um die Kuppel laufen, eingemeißelt von den vollkommenen Kalligrafen der neuen Herren, die Worte: Allah ist das Licht der Himmel und der Erde. Sein Licht ist wie eine Nische, darin eine Lampe, die Lampe in einer gläsernen Kugel, die gläserne Kugel ein glitzernder Stern, entzündet von einem gesegneten Ölbaum, der weder des Ostens noch des Westens ist … Die heilige Weisheit ist eine Ruine. Der größte Raum der Welt, 487
so groß wie die Ruine der Welt. Und an die geplünderten Arkaden gelehnt, unfähig dich zu erinnern, dein Erbe verloren, unfähig zu lesen in dem nicht zu lesenden Wrack, schlägst du dein Zelt auf. Der Koran hat ausgedient. Du brauchst ihn nicht mehr; hast deine Berechnungen eingestellt. Du hast alles Interesse verloren, dein Hirn lädt den Virus, der es auffrisst, zum Tee. Du betrachtest voller Verwunderung deine Arme und Beine, siehst ihr unkontrolliertes Zittern. Stunden zergehen. Deine Augen finden nirgendwo Halt. Wie aus weiter Ferne siehst du dich in diesem ewigen Dämmerlicht ins Leere starren. Eine durchscheinende Lichtkugel materialisiert sich vor deinen Augen, frei schwebend, ein Luftgeist. Erst als er dein Gesicht mit einem seidenen Faden umgarnt, fällt dir ein, was es ist: eine Spinne. Du liegst zusammengekauert wie ein Fötus, das Kinn auf die Hände gebettet. Wenn dein Fingernagel bei jedem Atemzug über den billigen Baumwollkragen reibt, so dicht neben deinem Ohr, dann klingt es wie ein Boot, das an seinen Ankertauen zerrt. Da ist ein Knarren, ein Geräusch wie von Tauen auf Holz. Ein Knarren, das nach Möwen schreit, das von Wellen spricht und vom Meer erzählt. Gestalten lösen sich aus den Schatten des Raums und verschwimmen in dem Entsetzen, das sie erzeugen. Aber da, wo die Irrlichter flackern, bleibt ein bleierner Nachgeschmack zurück. Du wirst wieder zum achtjährigen Kind, aufgeschreckt aus tiefem Schlaf, drei Stunden jenseits aller Vernunft. Ein schlaftrunkener Junge in einem Zimmer, das nicht das seine ist, die massigen Möbel ein undurchdringliches Dickicht, ohne Maß, ohne Orientierung, überall könnte Norden sein und die Wände so weit wie die Angst. Dein Leben lang bist du an diesem ortlosen Ort aufgewacht. Er ist immer gleich, immer fremd und unbekannt. Selbst als Erwachsener hast du gefühlt, wie sie dich bedrängt, diese 488
Einrichtung, die einem anderen gehört. Noch vor drei Jahren hast du laut aufgeschrieen, ein Stöhnen, entsprungen aus den tiefsten Tiefen des Schlafs, und hast die Frau an deiner Seite fast zu Tode erschreckt. Dein Bett, dein Zimmer, deine Gwen, und die fragte: Was ist, Schatz? Was hast du? Du konntest es ihr nicht sagen. Konntest ihre Frage nicht beantworten. Du wusstest es damals noch nicht. Kanntest nicht die tiefen Spuren kindlicher Ängste. Die Vorboten des Albtraums, der dich erwartete, den kurzen Ausblick auf dein letztes möbliertes Appartement, diesen Raum ohne Norden. Es ist ein und derselbe: der Raum, der dir immer den Schlaf geraubt hat, der, in dem du am Ende erwachst. Jetzt gehört dieser Ort rechtmäßig dir, mit Brief und Siegel, und es ist höchste Zeit, dass du ihn nach deinen Vorstellungen einrichtest. Du beginnst mit einem Bücherregal in dunklem Kirschbaum, daneben ein goldbraunes Ledersofa, so lang, dass man sich bequem darauf ausstrecken kann. Aus dem unheimlichen Schatten, der sich jahrzehntelang in die rechte hintere Ecke geduckt hat, wird ein Stuhl samt Schemel im spanischen Kolonialstil. Ein Plattenspieler auf einem praktischen Rolltisch taucht auf in der Nische, die einst die schlimmsten Ängste barg. Das Plattenregal biegt sich unter dem Gewicht deiner heimlichen Favoriten. Ein Telefon ist nirgends zu finden. Offenbar hast du keins, aber du vermisst es auch nicht. Hin und wieder klopft es an der Tür. Ein Signal, das du ganz nach Belieben ignorieren oder zur Kenntnis nehmen kannst. Wenn es nicht Ali oder Said mit dem Essen sind, ist es Gwen, die fragt, ob du ausgehen willst. Irgendwie ist das alles ziemlich merkwürdig. Wie nett sie auf einmal zu dir ist. Als die Minuten noch real waren, hatte sie nie zehn Minuten am Stück für dich Zeit. Jetzt lungert sie ständig hier herum, wenn auch nur aus dem Grund, dass ihre Wohnung noch immer schrecklich aussieht, ganz anders als deine, die du bequem und geschmackvoll eingerichtet hast. 489
Gern, sagst du ihr, gegen einen kleinen Spaziergang hättest du nichts einzuwenden. Nur ihr beide, draußen an der frischen Luft, bei diesem herrlichen Wetter. Und vielleicht könntet ihr euch ja sogar ein bisschen unterhalten, darüber, warum es so schwierig mit euch ist. Wie sich herausstellt, lebst du im zweiten Stock, in einer guten Wohngegend am Lincoln Park, acht Häuserblocks vom See. Das Licht tut dir in den Augen weh. Im ersten Moment siehst du überhaupt nichts. Sie versteht und nimmt deine Hand. Als hätte sie dich immer geliebt, als gebe es zwischen euch keine Angst. Ihr geht in Richtung Westen, auf einer Straße, deren Namen du nicht erkennen kannst. Die Straße wimmelt von Autos, Radfahrern und Fußgängern. Jede Eichentür, jedes Erkerfenster ist ein Grund zum Staunen. Sie erzählt dir von ihren beruflichen Plänen. Sie hat beschlossen, praktisch zu denken. In der realen Welt zu leben, so wie du. Sie will sich selbständig machen, will Werbekampagnen entwickeln und organisieren. Dann hat sie mehr Zeit. Ist nicht mehr so angespannt. Sie wird glücklicher sein, umgänglicher. Doch im gleichen Atemzug sagt sie, an all der Anspannung seiest ja du schuld. Du hättest sie nie akzeptiert. Nie so geliebt, wie sie ist. Sie hätte ihr Äußerstes gegeben. Deinetwegen sei sie am Ende mit den Nerven. Nie könne sie es dir recht machen. Du wolltest sie loswerden. Du wolltest sie verändern. Du wolltest ein unmögliches Maß an Harmonie. Du wolltest ihr das Mark aus den Knochen saugen. Eine Detonation erschüttert die Nachmittagsluft. Die Howard-Hochbahn explodiert in einem gleißenden Feuerball. Dann ein weiterer Einschlag, drüben am Lake Shore Drive, an der Corniche. Jemand beschießt die Stadt vom Grant Park aus mit Granaten. Gwen sieht dich an wie ein gehetztes Tier. Du drückst sie an dich; augenblicklich seid ihr wieder in deiner Wohnung und duckt euch gemeinsam hinter das Ledersofa. 490
Der Geruch der Gewalt – der Krieg, das Geräusch der Explosionen und der Dinge, die dabei ans Licht kommen – erregt sie. Die angstvolle Umklammerung verwandelt sich in ihr Gegenteil. Sie umarmt dich, schmiegt sich an dich, unter der dünnen Haut aus Mörtel, die durch eine einzige Laune der Weltpolitik zu deinem Grab werden kann. Rings um dich her sinkt die Stadt in Schutt und Asche, aber ihr Körper verlangt ein paar letzte Minuten. Sie ist in deinem Ohr, mit ihrer feuchten Zunge, und zieht sie nur kurz heraus, um zu sagen: Du kannst mit mir machen, was du willst. Du erwägst das Für und Wider der Selbstbefriedigung – es ist eine seltene Gelegenheit, deine Bewacher abgelenkt von dem größeren Chaos draußen. Du rechnest Aufwand gegen Nutzen, den flüchtigen Gewinn an Wohlbefinden gegen den Verlust an Energie, an diesem Ort, wo Brotkrusten und lauwarme Kichererbsen kaum so viel Kalorien enthalten, wie du zum Stillliegen brauchst. Du entscheidest dich dafür, so leise wie möglich. Du bemühst dich, sie wie eine Fremde zu sehen, dir ein Bild von ihr zu machen, du stellst sie dir in einer Vielzahl von provozierenden und aufreizenden Posen vor, in Rollen, von denen sie nie geahnt hat, dass du sie gern darin sehen würdest, in Stellungen, die sie dir übel genommen hätte, hättest du sie je von ihr verlangt. Du spürst die Fesseln, die die Begierde dir anlegt, die lebenslängliche Strafe eines jeden Mannes, den Drang, das zu besitzen, was sich weigert, dich zu kennen. Heute Nacht musst du dich befreien, brauchst die Flucht nötiger als je die Lust – und der Weg führt nicht in diese fremdartigen Fantasien, sondern von ihnen fort. Aber wohin kann das Herz fliehen, wenn nicht zu dem, was es kennt? Deine Begierde sucht sich die melancholischen Züge, die verstohlenen Kodakgesichter, die über Jahre deinen Blick geprägt, dir ihre tiefe Unsicherheit in all ihren Nuancen vor Augen geführt haben, all die schrecklich vertrauten Feinheiten, die man nur in der eigenen 491
Sprache erfasst … In dem Augenblick, in dem sie ihre Glieder an dich schmiegt, ist die Hingabe ohne Kalkül. Ihre Umarmung ist so fest, so bedingungslos wie zwischen zwei hungrigen Tieren. Aber auch leer, abwesend, weit fort irgendwo, fixiert auf ein fernes Bild. Wessen Bild? Der Geschützdonner lässt nach, die Munition ist verschossen. Ihr liegt Seite an Seite in dem wortlosen Abgrund hinter dem Gipfel der Lust. Jetzt, wo sie wieder da ist, musst du es wissen. Du fragst, wo sie war, wenn schon nicht bei dir. Wo ich war? Die Frage macht sie zornig. Sie mag es nicht, wenn man sie so bedrängt. In East Moline, antwortet sie. Hast du was dagegen? Ich war in East Moline. Allein? Nein, mit fünfzehn Dollar in der Tasche. Und die brannten mir auf den Nägeln. Warum? Jemanden besuchen, wegen einem Hund. Selbst ihre Freundlichkeit ist berechnend, ausweichend. Nichts bringt einen Mann so wirksam zum Schweigen wie ein bisschen Zärtlichkeit. Du kannst ihr neuerliches Angebot nicht ablehnen. Du ziehst sie an dich, die Ouvertüre zur nächsten Runde. Doch plötzlich erstarrt sie ganz unvermittelt. Du fragst sie, was ist. Was du diesmal falsch gemacht hast. Ich mag es nicht, wenn du so mit mir umspringst. Du bist viel stärker als ich. Du reckst die Hände ratlos gen Himmel. Für heute ist Schluss mit der Zärtlichkeit. Aber eure Körper bleiben einander nah, Seite an Seite, angstvoll gespannt, bemüht, die Kluft nicht zu vertiefen. Ich möchte, dass du glücklich bist, versicherst du ihr. Ich würde alles tun, damit du zufrieden bist. 492
Du hörst den falschen Zungenschlag, noch während du sprichst. Liebe als herablassende Beschwichtigung. Haben wir das immer noch nicht hinter uns gelassen, obwohl wir schon so weit gekommen sind auf unserem Langstreckenlauf? Ach, Gwen. Du versuchst es auf die sanfte Tour. Versuchst es mit Gelassenheit, der gute Kumpel. Ich bin ganz locker in diese Beziehung hineingegangen. Du wirst es nicht glauben, aber ich bin von Natur aus ein großzügiger Mensch. Aber nach und nach machst du mich tatsächlich zu dem autoritären, selbstherrlichen Kerl, den du in mir sehen willst. Ich glaube nicht, dass du autoritär bist, sagt sie. Ich glaube nicht, dass du mich bevormunden willst. Sie wartet nur, dass du denkst, sie gebe nach. Die ganze Welt ist ein einziger Guerillakrieg, willst du ihr sagen, nichts als Macht- und Parteienkämpfe und Rache. Es gibt keinen Ort außer dem, den wir uns selber schaffen. Nichts als Blut und Tod, bis auf uns beide. Aber selbst das hieße betteln. Ich finde, es sollte nicht nötig sein, dass ich jedes Wort auf die Goldwaage lege, wenn ich mal … was von dir will. Das finde ich auch. Dann hörst du es wieder, wie sie in Abwehrhaltung geht und die Arme verschränkt. Fest entschlossen, den Kampf für immer fortzusetzen. Friede, Liebes? Weiße Taschentücher? Treffen wir uns in der Mitte? Sie explodiert. Damit gibst du dich doch nicht zufrieden, Tai. Ich komme dir auf halbem Weg entgegen. Aber das reicht dir ja nicht. Du willst, dass ich ganz auf deine Seite komme und sogar noch fünf Schritte über dich hinaus. Schau. Eine sinnlose Silbe; du versuchst, Zeit zu gewinnen, bis das Zittern aufhört. Schau. Sag mir eins. Willst du mit mir 493
zusammen sein? Mit mir ein gemeinsames Leben aufbauen? Ist es das wirklich wert, das ganze endlose …? Schweigen. Jetzt endlich wird sie großzügig sein, wird die Unterwerfung, zu der du bereit bist, mit gleicher Münze zurückzahlen. Jetzt endlich wird sie den Absprung wagen, bereit zu dem winzigen Verzicht auf Unabhängigkeit, zu dem ersten Vertrauensbeweis, nach dem ihr euch beide so sehnt. ja, natürlich ist es das wert … Aber bei dir klingt es fast so, als ob ich nur – Dann sag es. Sag, dass du mich liebst. Nur ein einziges Mal. Ohne Wenn und Aber. Tai. Was …? Wie …? Wieder packt dich die Wut, genau wie damals, als sie diese Worte tatsächlich aussprach. Ach scher dich zum Teufel. Wieso nimmst du nicht einfach deine heilige Reisetasche und … Du holst mit der Hand aus, willst auf das Fenster zeigen, oder dahin, wo das Fenster sein müsste, wäre es nicht aus Blech. Diese vernagelte Öffnung, die auf deiner verzerrten inneren Landkarte dem einstigen Südfenster entspricht, im richtigen Leben gleich bedeutend mit … hau ab. Mein Gott. Sie weicht vor dir zurück, geduckt, wie vor dem verstummten Geschütz. Ihre Stimme klingt tonlos. Gespenstisch. Am Rande eines Ozeans, den du dir lieber nicht vorstellen magst. Du wolltest mich schlagen. Die ganze Nacht und auch noch am folgenden Tag setzt du den Vorfall immer wieder von neuem in Szene. Korrigierst deine missverstandene Geste. Du änderst den Dialog, variierst das Tempo, rückst die falsche Bewegung zurecht. Deine Strafe liegt in der Wiederholung, du versuchst alles, was sich beim Schnitt wieder gutmachen lässt. Du gibst jede nur mögliche Erklärung, die das Missverständnis ausräumen könnte. Stundenlang drehst du alles neu, versuchst sie zu überzeugen, dich selbst zu überzeugen, dass der Schlag, dem sie auswich, niemals möglich gewesen wäre. Dass die Wut, die du fühltest, 494
nicht die Wut war, die sie sah. Jemand klopft an die Tür. Du stehst auf um zu öffnen, bist erstaunt, als du sie in dem schäbigen, unbewachten Korridor stehen siehst. Sie ist zurückgekommen, Tränen in den Augen, und will einen besseren Abschied. Du stürzt hinaus, ihr entgegen. Aber die Heftigkeit deiner Annäherung erschreckt sie, und sie ergreift die Flucht. Du folgst ihr, willst ihr beweisen, dass du ihr nicht wehtun kannst. Kein Wächter, der dich aufhält; alles geht viel zu schnell. Sie flieht vor deinem Trostversuch, in panischem Entsetzen. Sie hält inne, duckt sich, die Arme schützend über den Kopf gelegt. Du ergreifst sanft ihre Arme, willst sie ihr ein für alle Mal vom Gesicht ziehen. Sie verkrampft sich, und du ziehst fester. Binnen Sekunden wird daraus bitterer Ernst. Jetzt könntest du ihr tatsächlich wehtun, ihr einen kräftigen Schlag versetzen, damit sie den Widerstand aufgibt und du sie zurück ins sichere Zimmer tragen kannst, bevor der größere Irrsinn dich hier draußen entdeckt. Und in diesem Augenblick der Gewalt erfüllst du ihre schlimmsten Befürchtungen, bist all das, wovon sie die ganze Zeit wusste, dass es in dir schlummert und nur auf diesen schrecklichen Augenblick gewartet hat, um geboren zu werden. Sie verschwindet. In dieser Dürrezeit wird sie nicht wiederkommen. Aber sie hinterlässt etwas Nützlicheres als Reue. Denn bei der unbedachten Verfolgungsjagd hat sie dich gelehrt, wie du deinem Gefängnis entfliehen und hinunter auf die Straße gelangen kannst. Du zügelst deine Ungeduld. Gehst langsam und systematisch vor. Du machst dir ein genaues Bild von dem Häuserblock am Lincoln Park, von der unmittelbaren Umgebung deines Hauses. Dein Ziel ist Großzügigkeit, Gewicht, eine Karte im Maßstab eins zu eins. Du bleibst so lange stehen, bis jeder Ziegelstein 495
und jeder Betonklotz seinen Platz gefunden hat. Lückenlos: du weigerst dich, die Straße entlangzugehen, bevor nicht jeder verschwommene Zentimeter mit Fensteröffnungen und Stuckornamenten ausgefüllt ist. Siebzehn Türen auf deiner Straßenseite. Zwölf plus zwei Läden und ein Parkhaus auf der gegenüberliegenden. Vier Stockwerke mit Wohnungen, eine an der anderen, und in jeder von ihnen leben Menschen, Menschen auf der Suche nach ein bisschen Liebe, verzweifelt bemüht, nicht den Anschluss zu verlieren. Sie kämpfen ums Überleben auf der dünnen Kruste einer im Inneren brüchigen Welt. Du wanderst durch diese erstaunliche Kulisse, ein dichteres Netz als du es je wahrgenommen hast, als du noch wirklich dort lebtest. Ein halber Häuserblock ist ein Universum von so Schwindel erregender Vielfalt, dass du nur in der Sicherheit deiner Zelle überhaupt daran zu denken wagst. Dein Koran hat Recht: Der Gott der Schöpfung ist dir ebenso nah wie deine eigene Halsschlagader. Und ebenso fern. Auch deine Zelle liegt in so einem Bienenstock, der Bienenstock ist Teil eines Labyrinths, das Labyrinth Teil eines Ortes, so vielseitig wie der, den du dir ausmalst. Du willst dir auch diesen Ort vorstellen, doch immer ohne Erfolg. Du kannst dir die Schule nicht mehr ins Gedächtnis rufen, auch nicht die Gesichter deiner Schüler. Trotz der vielen Wochen, die du dort zugebracht hast, bleibt das Beiruter Schulgebäude dir nun verschlossen. Du kannst nicht einmal sagen, in welchem Stockwerk du jetzt haust, geschweige denn, wie groß das Gebäude ist. Dem Verkehrslärm nach zu urteilen, liegt die Straße mehr als zwei Treppen tiefer. Du versuchst, dich leise auf diese Straße hinunterzuschleichen, aber es geht nicht. Du öffnest die Tür und nimmst die Treppe, aber die Stadt am Fuße des Treppenhauses ist stets eine andere. Rings um dich her pulsiert fremdes Leben, hinter diesen Mauern, auf der anderen Seite der Straßenschlucht, die die 496
Sonne warm und weit machen muss. Andere Menschen fristen ihr Dasein keine dreißig Meter von dir entfernt: Gefangene aus dem Westen wie du, Schachfiguren in einem Spiel, an dessen Sinn sich nicht einmal die Spieler mehr erinnern. Du hörst sie scharren, hörst die gedämpften Wortwechsel mit den Wächtern. Du siehst erleichtert die Spuren ihrer hastigen Körperpflege, während du selbst im Laufschritt deine Morgentoilette erledigst. Aber du kannst sie nicht sehen, kannst sie nicht erkennen. Hundert Meter weiter, zweihundert, einen halben Kilometer: die Last deines Fangs bringt die Netze zum Bersten. Hunderttausende von Libanesen aller Konfessionen leben eingekerkert in Löchern, zu denen das deine harmlos im Vergleich ist, und keine Supermacht der Welt, sei sie auch noch so machtlos, fordert Rechenschaft für ihre Behandlung. Du versetzt dich in diese Straßen, aber sie schwinden unter deinen Füßen dahin. Du hast gelernt, dich frei zu bewegen und auf Entdeckungsreise zu gehen. In Farbe und gestochen scharf. Aber immer nur in Chicago. Immer ist es die Gegend an der North Side, das Leben bevor die Leblosigkeit von dir Besitz ergriff. Mit langer Übung, angewandter Stadtsanierung, malst du dir jedes Detail deines früheren Häuserblocks aus. Dort erlebst du dein altes Leben aufs Neue, ein unsichtbarer Statist in einer Massenszene. Wie ein Inkubus suchst du die Menschen heim, auf die du angewiesen warst, Menschen, die du ausgenutzt hast, ohne dir die Mühe zu machen, ihre Namen zu lernen. Als zurückhaltenden Menschen hast du dich immer gern beschrieben, als Einzelgänger – nichts als beschönigende Worte für Schmarotzer. Jetzt wo du gern an ihre Türen klopfen, ihre Wohnzimmer betreten und mit Begeisterung deine Rolle als Kleindarsteller in dem improvisierten Drama spielen würdest, kannst du es nicht mehr tun. Deine Nachbarn gehen auf der Straße einfach durch dich hindurch. Du bist unsichtbar, 497
das Phantom, das du immer sein wolltest. Sie übergeben dir die Schlüssel der Stadt und lassen dich nach Herzenslust umherstreifen, auch weiter innen im Stadtzentrum. Du biegst auf der Clark Street links ab und gehst vorbei an der Historical Society. Du joggst nach Dearborn oder La Salle, je nachdem wie das Barometer steht. Es herrscht ewiger Frühling. Wenn du stehen bleibst, schiebt sich eine Art déco-Villa oder eine schöne Brownstone-Fassade in dein Blickfeld. Aber du bleibst nicht oft stehen, erst wenn du dein Ziel erreicht hast. Der Weg ins Zentrum, stets auf der Michigan Avenue, gewinnt immer klarere Konturen. Das John Hancock Center, der Water Tower. Auf der Brücke siehst du wieder das gesamte Panorama. Die Wolkenkratzer der Zeitungsverlage, die Türme von Marina City. Und Stück für Stück nehmen auch die Zwischenräume Gestalt an, der gedankenlos hingeklotzte Beton in den Seitenstraßen und Baulücken. Mittlerweile erinnerst du dich an Gebäude, die du in all den Jahren in dieser Stadt nie bewusst wahrgenommen hast. Aber deswegen bist du nicht hier. Du hakst die letzte Meile ab, diese großartige Promenade, auf der ihr zwei höchstens sechsmal zusammen entlangspaziert seid, obwohl ihr mindestens zweieinhalbtausendmal die Gelegenheit dazu hattet. Der See kommt ins Blickfeld. Auf der linken Seite hört die Bebauung auf, und zu deiner Rechten ragt eine steile Klippe aus Stein und Glas auf. Als vom Navy Pier her die Explosionen ertönen, behältst du sie unter Kontrolle. Kein Menschenwerk wird auch nur eine einzige Scheibe dieser Illusion zum Bersten bringen. Vor dir wachsen zwei steinerne Löwen empor, der Beweis, dass du dich bewegst. Es ist ein unheimliches Gefühl, als säßest du in einem stehenden Zug, während ein Zweiter sich auf dem Nebengleis in Bewegung setzt. Wenn du die steinernen Stufen hinaufsteigen kannst, vorbei an der 498
Garderobe, dem Buchladen und dem Kartenschalter, wenn du die prächtige Mitteltreppe hinaufsteigen kannst, unbehelligt von Detonationen auf der Straße oder der Leibesvisitation durch einen sadistischen Wächter, dann bist du in Sicherheit. Sobald du den ersten Stock erreicht hast, kann dir nichts mehr etwas anhaben. Die Zeit liegt zusammengekrumpelt unten an der Garderobe. Es ist jedes Mal ein Wettlauf; bevor du das Museum betreten kannst, musst du immer den weiten Weg von der North Side zurücklegen. Die kleinste Kleinigkeit kann dich aufhalten, in jedem Häuserblock am Weg. Aber wenn du erst einmal hier bist, verliert die allgegenwärtige Langeweile ihre Macht. Der Tag nimmt noch immer seinen gewohnten Gang, aber du spürst es nicht mehr. Dein Herz rast oder gerät ins Stocken, dreht sich um die eigene Achse, lässt sich treiben auf den Wellen, springt durch einen brennenden Reifen, es gehorcht dir aufs Wort. Es angelt im Nachmittagslicht, unterhalb einer alten Mühle. Es fährt auf zum Himmel mit der Jungfrau Maria. Es verbummelt seine Zeit in einem Café voller Freizeitkapitäne. Es dümpelt vor sich hin in einem Wasserbecken, in das du deine Füße hängst. Manchmal vergehen Stunden, bevor du zurückkehrst. Manchmal kommst du zurück, und die endlose Wüste zwischen Mittag- und Abendessen ist verschwunden. Manchmal hat der Tag sich keinen Millimeter weit bewegt, seit du weggegangen bist, und der einzige Beleg für deinen Wochenendausflug sind die geschwollenen Füße. Aber solange du hier bist, bist du sicher vor der Hoffnung und ihrem Gegenteil. Es gibt weder lang noch kurz, weder Langeweile noch Verspätung. Nur das grenzenlose Jetzt. Hier ist die Zeit gefangen, eingefroren in einem hauchdünnen Präparat, das man zum Betrachten gegen das Licht hält. In jedem bewohnten Augenblick hat jemand das Bedürfnis verspürt, solche Linien zu zeichnen, diese Chiffren für immer 499
und anderswo. Du warst zu selten hier, hast dir nicht mehr als ein paar Dutzend dieser eingefangenen Ewigkeiten eingeprägt. Aber wie viele Ewigkeiten braucht der Mensch? Füllt nicht jede von ihnen allen Raum, den man ihr gewährt? Jetzt wo du heil hier angelangt bist, kannst du dich frei bewegen. Du ruhst dich aus in einem makellos gepflegten grünen Park an einer Art Flussufer. Du stehst auf dem Bahnsteig unter dem Glasdach eines Bahnhofs, der sich langsam mit Dampf füllt. Wer hätte dir so ein Farbengedächtnis zugetraut? An die Farbe von Gwens Augen kannst du dich nicht mehr erinnern, aber in den Augen des Mädchens in der Zugtür erkennst du die kleinste Nuance. Hier, in den Galerien des Hypothetischen, offenbart dir der Koran sein wahres Gesicht. Jetzt erst begreifst du, was es auf sich hat mit jenem Prüfstein der Rechtgläubigkeit, dem Bilderverbot. Die Männer, die dich entführt haben, halten sich noch an das, was auch im Westen einst galt – das zweite Gebot, um Gottes willen. Du schlenderst vorbei an den unerlaubten Bildern, den verbotenen Früchten, dem gestohlenen himmlischen Feuer. Das ist der Krieg, der dir das Leben stiehlt. Die Front erstreckt sich direkt vor dir, weiter als das Auge reicht. Du bist in ein Parteienscharmützel geraten, eine Laune der Lokalpolitik. Aber auch die ist nur ein winziger Vorposten in dem globalen heiligen Krieg, dem Jahrtausende währenden Kampf zwischen denen, die Gott darstellen wollen, sein Abbild immer weiter verfeinern, und denen, die sich dem Unsichtbaren beugen. Allein schon die Tatsache, dass du hier bist, klagt dich an. Du bist schuldig, abgestempelt. Bist einer von denen, die Götzenbilder verehren, gefangen aus gutem Grund. Du kannst auf keine geringere Strafe hoffen als den gewöhnlichen Scheiterhaufen. Die Fantasie ist womöglich schlimmer als das, wovor sie dich schützen will. Aber wenn du etwas nicht aufgeben willst, musst du damit leben. Ein Ort jenseits aller 500
Hoffnung. Ein ortloser Ort. Eine Gegenwart, die sich nicht darum schert, was als Nächstes passiert. Du streifst durch das Labyrinth der Räume, suchst das Gemälde, das du dir nicht ausmalen kannst, den Anblick, der selbst den Tod lebenswert machen würde. In diesem oberen Stockwerk habt ihr beide zusammen gestanden. Eine Einrichtung, wie man sie sich einfacher kaum vorstellen kann. Nichts: ein offener Fensterladen, ein paar armselige Möbelstücke. Du hast dich zu Gwen umgedreht, wolltest sehen, was sie sah. Sie weinte. Starrte durch tränenfeuchte Pupillen auf den gemalten Hohn, zeitlos und still, die ihr grausam den Zutritt verweigerte. Eigentlich solltest du es dir im Schlaf vorstellen können. Aber nein; du musst dir mühsam den Weg zu der Stelle suchen, wo es hängt, und es ansehen. Es gibt keinen anderen Weg. Du musst es vor dir sehen, jeden einzelnen Pinselstrich. Es sind zu viele Galerien, die Liste alter Notwendigkeiten ist zu lang. Sie verwirren dich. Die Räume führen dich im Kreis an ihren Anfang zurück. Du hast Mühe, deinen imaginären Stellvertreter zu steuern. Die Marionette ist willig, aber die Fäden sind schwach. Die gemalten Behausungen verlieren sich in langen Fluren, ein Albtraum von einem Rokokopalast, der mit jedem Schritt größer wird, die Räume voll mit Bildern der Heiligen Familie, mit Kreuzigungen, staatlich geförderter Propaganda, schmeichelhaften Großbürgerporträts, neckischen pastellfarbenen Picknickszenen, nostalgischen Landschaften mit künstlichen Ruinen. Die Tage rollen dahin, als du glaubst, du seiest beinahe da. Fast schon am Ziel. Ein Leuchten am Ende des Flurs, drei Türbögen weiter. Du beschleunigst deine Schritte, vergisst in deiner Erregung das ursprüngliche Ziel: Zeit totzuschlagen. Sie wird da sein, wortlos und unversehrt wird sie hinter der letzten Tür stehen und dich erwarten, in dem südlichen Licht, auf den glatten, abgewetzten Holzdielen. 501
Der heilige Krieg holt dich immer wieder gewaltsam zurück. Wochenlang überlassen sie dich deinem Schicksal, dann sind sie auf einmal wieder da, wenn du sie am wenigsten gebrauchen kannst. Ali, der von seiner Schule in den Staaten träumt, stürmt in deine Zelle und will sich über Basketball unterhalten. Eine Meinungsverschiedenheit zwischen deinen Bewachern, die in ihrem klapprigen Fernseher die neueste arabisch synchronisierte Folge von Dallas oder Unter der Sonne Kaliforniens gesehen haben, eskaliert und endet um ein Haar mit einer Schießerei. Nicht ganz so heilige Kriege – ein Selbstmordpakt zwischen den Lastwagen in der engen Gasse vor dem Haus oder die Schmerzensschreie einer schwer kranken Seele – dringen durch die hauchdünnen Wände. Jede Störung wirft dich zurück an den Ausgangspunkt, und du musst wieder ganz von vorn anfangen. Eines Nachts gehst du schnurstracks auf dein Ziel zu. Du bist ihm ganz nah, und nichts bricht den Bann. Du bleibst in dem Türbogen stehen, eingetaucht in die provenzalische Sonne, die die Galerie dahinter durchflutet. Du trittst ein in dieses strohgelbe Rätsel, das Gwen einst zum Weinen brachte. In den Frieden, um den ihr beide so sehr gekämpft habt. Alles hier hat nur auf dich gewartet, eine bildgewordene Idee. Seife und Wasser und Handtuch, ein Hemd zum Wechseln, eine Wand mit schräg hängenden Bilder: Was braucht man mehr zum Leben? Das Bett ist ein bisschen schmal für zwei. Aber in so einem Zimmer wird sie deine Nähe suchen. Hier kannst du still sitzen und abwarten, bis sie dich findet. Tage vergehen; Wochen. Niemand kann sagen wie viele, denn hier herrscht ewig strahlendes Mittagslicht. Und doch gibt es so etwas wie Zeit, denn deine Gesundheit kehrt zurück, und bei jedem Blick in den Wandspiegel sieht dein Spiegelbild besser aus. Längst vergessene Wörter sind auf einmal wieder da: Sicherheit, gelb, Fürsorge. Eines Nachmittags liegt ein Zettel auf dem Waschtisch: Mache einen Spaziergang. 502
Herrliches Wetter! Warum kommst du nicht mit … Unbegreiflich und doch offensichtlich. Sie war die ganze Zeit über hier. Du warst nur zu krank, um sie zu sehen. Du gehst hinüber zu den schiefen Fensterläden und stößt sie auf. Du lehnst dich ganz weit hinaus ins Licht, ein Gedanke, auf den du noch nie zuvor gekommen bist. Du drehst dich um und suchst sie in der salzigen Meeresluft, und genau in dem Augenblick bringt eine Rakete das Haus gegenüber zum Einsturz. Die Druckwelle erschüttert dein Zimmer, die Decke stürzt ein und der umkippende Heizkörper hätte dir beinahe den Fuß zerschmettert. Die azurblauen Wände zerspringen. Holz splittert. Putz fällt von der Decke auf dich herab. Du drehst dich um und willst weglaufen, doch herabstürzende Steine versperren dir den Weg. Du trittst um dich wie ein Pferd in Panik. Die Luft ist eine einzige Staubwolke. Gebrüllte Befehle prallen aufeinander in dem hektischen Chaos – alle Muezzins der Stadt rufen auf einmal. Die Explosion wirkt wie ein Leuchtsignal, ein Zeichen für die allzeit präsente Gewalt am fernen Horizont, dass sie sich jetzt ein Ziel in nächster Nähe suchen soll. Das Getöse einer zweiten Angriffswelle ertränkt die Schreie der Opfer. Die Front hält Einzug in die Straße unter deinem Fenster. Du hörst, wie ein Trupp durch die menschenleere Straße vorrückt. Ein anderer stürmt aus deinem Haus und unternimmt einen aussichtslosen Gegenangriff. Du duckst dich in die Trümmer deiner Ecke, den Koran an die Brust gepresst, die schimmlige Matratze über den Kopf gezogen, um das Begräbnis bei lebendigem Leibe etwas abzumildern. Die Marines sind endlich gelandet. Die Navy Seals. Die Airborne Rangers. Der Generalstab und die glücklose CIA haben endlich den Ort ausfindig gemacht, wo die westlichen Geiseln gefangen gehalten werden. Endlich sind sie da, um euch alle zu befreien, Jahre zu spät. Die Kämpfe greifen um sich, Artilleriegeschosse fliegen in 503
alle Richtungen. Die wirren Laute des Chaos sind weithin zu hören. Aber die Angreifer schreien in einer unbekannten Sprache. Du lauschst, leugnest, bis es sich nicht mehr leugnen lässt: Das sind nicht die Navy Seals. Das alles hat nichts mit deiner Rettung zu tun. Die Apokalypse richtet sich ein auf ein langes Feuergefecht. Faustgroße Hummeln zischen durch die Luft und vernichten alles, was sich ihrer Flugbahn entgegenstellt. Der Tod klingt anders als alle Nachahmungen, die du je gehört hast. Er klingt wie der dumpfe Aufprall einen Seesacks auf dem Waschküchenboden, kurz und ganz und gar undramatisch. Die entleerte Hülle einer dramatischen Wendung. Über dem Generalbass der Geschütze ertönen monotone Schreie. Kurze Rufe, unterlegt vom Rhythmus der automatischen Waffen. Lauthals gebrüllte Pläne inmitten völliger Planlosigkeit. Kugeln schlagen in den Mörtel, in Beton, Metall, Stoff, Fleisch. Die Zahl der Kämpfer nimmt ab. Der Pulsschlag der Erschütterungen wird schwächer, wie das Blinken eines Leuchtkäfers. Eine Kugel reißt ein Loch in deine blecherne Fensterscheibe und lässt mehr Sonnenlicht herein, als du in zwei Jahren gesehen hast. Der Spalt zieht dich magisch an, eine obszöne Verlockung, bis du schließlich dein Auge an den schartigen Strahlenkranz presst. Hinter dem Guckloch ein unfassbares Universum. Du bist so entwöhnt, dass du keine Strukturen mehr erkennst. Es ergibt kein zusammenhängendes Bild über den schieren Sinneseindruck hinaus – ein kunstvoller, dicker Perserteppich, geknüpft von Kinderhänden, Tausende von Knoten auf einen Zoll. Schwarze Rauchschwaden wirbeln ins Bild. Aus einem der Länge nach gespaltenen Betonklotz ragt ein Gewirr von Stahlträgern, übersät mit bunten Stofffetzen. Die erstaunlichste Skulptur, die du je gesehen hast. Ein Wächter stürzt schreiend herein. Du weichst zurück von dem Loch, ertappt, und starrst ihm geradewegs ins Gesicht, 504
ohne Augenbinde. Du reißt die Hände empor, beteuerst deine Unschuld, aber er achtet gar nicht auf dich. Was immer du tust, dringt nicht zu ihm durch. Amal stößt er hervor, die Lippen verzerrt. Das arabische Wort für »Hoffnung«. Das Angriffskommando, das das Nest der westlichen Geiseln belagert: Amal? Stehen Hoffnung und Gotteskrieger denn nicht auf derselben Seite? Darauf hättest du deinen Verstand verwettet, wenn nicht gar dein Leben. Das Vorrücken der Angreifer bringt den Wächter aus der Fassung, raubt ihm fast den Verstand. Er sucht verzweifelt nach einem Versteck. Du wirfst einen Blick auf seine Hände; er ist unbewaffnet. Und es kommt noch verrückter. Du schaust hinunter auf deine Füße: Die Explosion, die den Heizkörper aus der Verankerung gerissen hat, hat auch deine Kette gesprengt. Die Freiheit kommt unbemerkt mitten im großen Sterben. Ein kurzer abschätzender Blick, nur einen Pulsschlag lang. Er ist einen Kopf kleiner als du, und auch wenn er in den letzten anderthalb Jahren mehr zu essen hatte, kann er es nicht mit dir aufnehmen. Hinter ihm liegt der verwaiste Korridor, ein Treppenhaus, eine Straße voller Menschen, die um ihr Leben laufen. Kein Risiko; kein Grund zur Vorsicht. Du bist längst mehr als tot. Ich seh euch in die Augen, und in dem Blick liegt alles, was ihr im Laufe einer Ewigkeit übereinander erfahren habt. Er durchschaut dich, sieht einen Mann, der nichts mehr zu verlieren hat. Du schüttelst den Kopf, grinsend, benommen von der Fülle der Möglichkeiten nach so langer Zeit. Er gleitet behutsam zwei Schritte rückwärts, zur Tür hinaus, und verriegelt sie hinter sich. Der Trupp, der versucht, deine Bewacher in einen Hinterhalt zu locken, zieht sich zurück oder fällt in den Trümmern. Es dauert mehrere Stunden, dann sind deine Partisanen wieder da, vollzählig und unversehrt. Du gibst dich lammfromm und unterwürfig in dem allgemeinen Durcheinander. Trotzdem ist 505
deine Strafe hart. Sie geht einher mit einem Geräusch, von dem du gehofft hattest, dass du es nie wieder hören würdest: dem Knistern von Packband, das von der Rolle gerissen wird. Begleitmusik für ein Begräbnis bei lebendigem Leibe. Sie fesseln dich erbarmungslos. Mit Mühe und Not gelingt es dir, einen Spaltbreit um Nase und Mund freizuhalten. Es scheint sie nicht sonderlich zu interessieren, ob du atmen kannst oder nicht. Das Klebeband macht die Runde, weitergereicht von Hand zu Hand spinnt es dich ein in einen Kokon, der kleiner ist als dein Körper. Sie stoßen dich die Treppe hinunter, auf der du gestern noch ein- und ausgingst. Wieder stecken sie dich in den verborgenen Hohlraum des klapprigen Todeswagens. Deine Muskeln wollen sich nicht erinnern. Es kann nicht sein. Noch einmal wirst du den abgasverseuchten Sarg nicht überleben. Dein ganzer Körper sträubt sich, aber das Klebeband macht ihn unbeweglich. Ein Schrei löst sich in der Tiefe deiner Lunge, doch der Mund bleibt verschlossen. Der Ton steigt auf bis in den Schädel und verfängt sich unter den isolierenden Schichten. Sie zwängen dich falsch herum hinein, du liegst auf dem Gesicht. Die Abgase umnebeln dein Hirn, noch ehe der Lieferwagen losfährt. Die defekten Stoßdämpfer sorgen dafür, dass dein steifer Körper jeden Stein auf der Straße spürt. Du betest. Erflehst einen schnellen Tod, Selbstmord durch Herzinfarkt, eine willentlich herbeigeführte Embolie. Alles, nur nicht dieser schleichende Erstickungstod. Nach fünfzehn Minuten in diesem abgasgeschwängerten Geheimfach gibt es keine Zukunftsvision mehr, für die sich das Durchhalten lohnt. Schließlich findest du Erlösung im Reich des Vergessens. Durch eine Falltür in deinem Sarg stürzt du in einen gewaltigen grauen Bühnenraum; alles ist leer und still. Doch dann weicht das Lagerhausgrau der Farbenpracht eines paradiesischen Zimmers. Es wird wundersam hell, und die spartanische Einrichtung heißt dich willkommen. Alles ist wieder da: das 506
Hemd, das Handtuch, die Waschutensilien und die paar schiefen Bilder an der Wand. Alles menschliche Elend ist wie vom Erdboden verschwunden. Du kuschelst dich unter das mottenzerfressene rote Federbett und willst schlafen wie einer, dem es an nichts fehlt. Ein Mund küsst dich wach. Ein Lippenpaar auf deinen Lippen, eine Lunge, die dir Atem einhaucht. Solange du noch schläfst, ist es Gwen, als du zu dir kommst, ein Mann. Ein dunkles Männergesicht, die kehligen Laute einer vertrauten fremden Sprache. Der Freudenschrei bei deiner ersten Regung schlägt rasch um in brutale Gewalt. Männer umringen dich und machen ihrer Anspannung Luft, sie traktieren dich mit Fußtritten, deinen leblosen Körper, der noch ein paar Augenblicke lang nichts spürt und gefeit ist gegen alles Menschliche. Sie schlagen dir mit der flachen Hand in den Nacken, versetzen dir Fausthiebe an den Kopf. Jeder Schlag holt dich weiter zurück ins Leben und du greifst nach den Händen, die auf dich einprasseln wie Regentropfen, um sie zu küssen. Trotz der Augenbinde siehst du, es ist Nacht. Eine Nacht unter freiem Himmel, irgendwo am östlichen Mittelmeer, irgendwo in Phönizien, unter denselben Sternen, an denen Olivenhändler sich einst orientierten, den schablonenhaften Abbildern der ältesten Mythen der Welt. Sie haben dich aus der Stadt herausgeschafft, um weitere Befreiungsversuche zu vereiteln, ein Taschenspielertrick, Teil eines größeren Spiels, eines neckischen Spielchens, das Jahrtausende währt, so lange, wie die Herrschenden von Reinheit träumen und die Gläubigen standhaft in ihren Widerstandsnestern ausharren. Sie richten dich auf und führen dich durch die frische Nachtluft. Wer hätte gedacht, dass das Leben noch solch eine Brise für dich bereithält? Derselbe Wind wehte einst aus dem Kaukasus, streifte die Andamanen und verlor sich im Ostafrikanischen Graben. Du hattest ganz vergessen, wie sich 507
Wind anfühlt. Sie schubsen dich weiter, und du stolperst. Das sind deine letzten hundert Meter im Freien, für Jahre, wenn nicht gar für immer. Mit den Wangenmuskeln schiebst du die Augenbinde ein winziges bisschen nach oben. Auch du willst eine Geisel mitnehmen in das neue Verlies, wie immer es aussehen mag. Einen flüchtigen Eindruck, der dich verankert in dem formlosen Nirgendwo, in das du eintauchst. Der fettige Stoff rutscht auf dem Nasenrücken nach oben. Du legst den Kopf so weit in den Nacken, wie du es wagst, um durch den Schlitz besser sehen zu können. Was du da siehst, raubt dir den Atem. Vor dir am Horizont – in der Dunkelheit kannst du nicht sagen wie weit entfernt – ragt die Ruine des einstigen Jupitertempels empor und die Säulen zeichnen sich klar vor dem Nachthimmel ab. Baalbek – schon damals, als die Römer dort ihre kaiserlichen Steuereinnehmer stationierten und die Stadt in ihr Militär- und Verwaltungsnetz einbezogen, seit tausend Jahren ein verschlafenes Provinznest. Eigentlich wolltest du als Tourist herkommen, damals, in einer Welt, die für immer verloren ist. Jetzt bist du hier, vergleichst die nächtliche Silhouette mit der, die du in deinem geistigen Baedeker gespeichert hast. Sechs gespenstische korinthische Kapitelle, sechs verloren wirkende Vertikalen – das ist alles, mehr ist nicht geblieben von der Religion, für die sie einst standen. Dschihad hätte keine unwirklichere Kulisse für deine Gefangenschaft ersinnen können. Dieser kurze Blick in eine Ehrfucht gebietende andere Welt wirft dich aus der Bahn. Du strauchelst, und jemand versetzt dir einen Schlag auf den Kopf. Dann ist es für dieses Leben aus mit dem Sehen. Als sie dir die Augenbinde abnehmen, siehst du nichts von deiner neuen Behausung, nur völlige Finsternis. Doch am Morgen dringt echtes Licht durch eine Million schräger Lamellen, so blendend hell, dass es dich an den blitzblanken Boden fesselt. Statt in einer glitschigfeuchten Höhle bist du 508
diesmal im luxuriösen Landhaus eines wohlhabenden Sympathisanten gelandet. Der Raum ist leer, aber strahlend weiß. Der Boden besteht aus elegantem Parkett, und das muschelförmige Stuckmedaillon an der Decke mit dem nackten Stromanschluss in der Mitte zeugt noch vom Kronleuchter, der früher dort hing. Die Klappläden vor der Glastür sind geschlossen. Das Schönste aber ist, dass es keinen Heizkörper gibt. Keine Stelle, wo man eine Fußkette befestigen könnte. Du stehst auf und gehst auf und ab. Kommst dir vor wie in einem modernen Theaterstück, wo der Protagonist in den Himmel kommt und erst im vierten Akt merkt, dass er tot ist. Du näherst dich behutsam von der Seite her den Fensterläden, die Hand schützend über die Augen gelegt gegen die gleißende Helligkeit. Als sich deine Pupillen endlich an das Licht gewöhnt haben – sich befreit haben von anderthalb Jahren Schattendasein – weigern sie sich zu glauben, was sie sehen. Vor deinem Fenster ist ein Bauernhof. Den ganzen Morgen läufst du in engen, aufgeregten Kreisen. Du lebst hier. Du lebst hier. Du bist so glücklich, dass du trällern könntest wie ein Vogel. Beim ersten Geräusch der schweren Eichentür streifst du dir die Augenbinde über und streichst dir noch schnell ein paar kanarigelbe Federchen aus den grinsenden Mundwinkeln. Aber deine Bewacher kommen mit Bohrern, Hämmern und schweren Heftapparaten. Du kauerst an einer Wand und weinst. Es spielt keine Rolle mehr, wer dich so sieht. Der Raum verdunkelt sich, begleitet von dem Geräusch von Blech, das sie vor die Glastüren nageln. Doch dann kommt es noch schlimmer: Du hörst, wie sie einen Eisenbügel am Boden montieren. Als die Raumausstatter abgezogen sind, lüftest du deine Augenbinde. Die Kette ist wieder da, befestigt an einem Bügel so massiv, dass man ein Schiff daran vertäuen könnte. Daneben auf dem Boden liegt eine dünne Matratze, deren Fleckenlandschaft dir so vertraut ist 509
wie die Landkarte von Iowa. Dieser Schlag ist schlimmer als alles zuvor. Noch nie bist du so tief gefallen, warst nie zuvor so am Nullpunkt. Der Graben der Depression ist bodenlos. Du klammerst dich an alles, was deinen unaufhaltsamen Sturz bremsen könnte – den flüchtigen Anblick einer Tempelsilhouette, den Bauernhof im Tageslicht. Ein Luftzug dringt durch die Risse in der Mauer. Ein Windhauch, der Duft von Gras, die leisen Geräusche eines Ortes, der älter ist als die Politik. Aber die Erinnerungen sind nicht stark genug, um dich hier zu verankern. Tagelang stürzt dich der Gedanke an das, was hinter deinem Blechfenster liegt, an alles, was man dir genommen hat, in einen Abgrund, in dem das Überleben nicht der Mühe wert scheint. Schlimmer noch: Deine Qualen haben keinen Sinn. Dein Leben wird geopfert, und doch macht dieses Opfer nicht ein einziges Leid ungeschehen, das deinen Entführern widerfahren ist. Selbst wenn man die halbe Welt in Geiselhaft nähme, könnte man damit vergangenes Unrecht nicht wieder gutmachen. Dieser Gedanke kappt das Tau und lässt dich noch tiefer fallen. Ein leises Klicken, kaum lauter als das Zirpen einer Grille, bremst schließlich deinen Fall. Eines Tages hörst du es; es dauert nur wenige Minuten. Es klingt wie ein Metronom, mit dem eine Klavier spielende Ratte versucht, eine Nagersonate zu bändigen. Ein zaghaftes, regelmäßiges Ticken in den Rohren dieses ländlichen Lustschlösschens. Das Zwitschern eines künstlichen Sperlings. Eine Puppenuhr. Es verhallt anderthalb Takte nachdem es begann. Dann kommt es wieder, zwei Tage später. Dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz. Der internationale Notruf aller Schiffe auf hoher See. Es entlockt dir einen Freudenschrei, dann einen zweiten, leiseren. Ein Lachen, feucht, krampfhaft und so leise, dass es unbemerkt bleibt. 510
Deine Ostwand ist eines anderen Westwand. Auf der anderen Seite dieser fünfzehn Zentimeter lebt jemand. Die Übertragung endet ebenso unvermittelt, wie sie begann. Die Sendung bricht ab, ohne Resonanz. Erst in fünfzehn Stunden, wenn du nicht mehr angekettet bist, kannst du die Wand erreichen und eine Antwort übermitteln. Voller Panik zerrst du an dem Metallbügel. Der Sender hat dich aufgegeben; er glaubt, deine Zelle sei leer. Du wirst nie wieder von ihm hören. Doch dann erinnerst du dich: Dieser Mensch wird so schnell nirgendwohin gehen. Bis du dich das nächste Mal frei bewegen kannst, kriechen die Stunden dahin wie eine Schnecke bei Gegenwind. Als der Augenblick näher rückt, gehen deine Gedanken unter in einem ekstatischen Rauschen. Von der Kette befreit, drehst du zwei quälende Runden, ein Ablenkungsmanöver, bis dein Bewacher sich zurückzieht. Dann wirfst du dich vor der Altarwand zu Boden, zuckend und stumm vor Erregung. Es ist, als sei der Himmel endlich aufgerissen und offenbare eine Botschaft von tausend Lichtjahre entfernten Wesen. Als müsse die Erde jetzt, nach der tausendjährigen Reise, selbst einen kurzen Gruß übermitteln, der wiederum ein Jahrtausend braucht, bis er seinen Adressaten erreicht. Morsezeichen stehen nicht zur Debatte. Auch keine andere Form der komprimierten Übermittlung. Dir bleibt nur der alte Trick, ein Verfahren so umständlich wie Keilschrift: einmal klopfen bedeutet A; zweimal klopfen B … Du hast keine Zeit für Belanglosigkeiten wie »Hallo«. Du klopfst einfach nur M-A-R-T-I-N, in einem nachvollziehbaren Tempo, mit deutlichen Pausen zwischen den einzelnen Buchstaben, und brauchst dafür – mitsamt den unvermeidlichen Fehlern und einem improvisierten Schnellfeuersignal für »korrigiere« – schon einen erschreckend 511
hohen Anteil der zugestandenen halben Stunde ohne Kette. Mit jedem Buchstaben riskierst du entdeckt zu werden. Du klopfst behutsam und lauschst, während du das Alphabet Revue passieren lässt, auf jedes Anzeichen von Bewegung hinter deiner Tür. Wenn sie dich jetzt entdecken, bedeutet es den Tod, wenn nicht gar Schlimmeres. Du kommst zu dem abschließenden N in deinem Namen und wartest auf Antwort. Doch die Flaschenpost treibt hinaus in die gewaltige Stille. Du wiederholst das ganze Wort, obwohl dich das nochmals wertvolle Minuten kostet. Wieder Schweigen, noch undurchdringlicher als beim ersten Mal. Tiefe Verzweiflung übermannt dich angesichts des unerklärlichen Scheiterns; das Signal verliert sich im Nichts. Aber vielleicht kann auch er nur zu bestimmten Zeiten klopfen. Der Gedanke rettet dich, und du unternimmst einen zweiten Versuch. Du ringst mit der Frage, welches Wort du als Nächstes übermitteln sollst, die zweitwichtigste Information nach der bedeutungslosen Ersten. Und obwohl sich alles in dir sträubt gegen das Unvermeidliche, dagegen, dass du etwas derart Idiotisches mitteilen musst, pochst du A-M-E-R-I-K-AN-E-R. Du hörst auf, bevor es zu gefährlich wird, ein volles Tagespensum. Als der Wächter kommt, um dich nach deinem Lauf wieder anzuketten, bist du mehr außer Atem als sonst. Einige Stunden später kommt die Antwort. Junot. Franzose. Diese Auskunft macht deinen vagen Traum zunichte, du könntest dich frei und ungehindert mit jemandem unterhalten, dessen Muttersprache Englisch ist. Du hattest von einer Kurzversion jener weitschweifigen Briefe geträumt, die dein Bruder Kamran Monat für Monat schrieb, als er im vom Peace Corps geplagten Mali festsaß: »Grüße nach Maßgabe der Technik.« Du hattest auf die Tröstungen einer gemeinsamen Sprache gehofft. Jetzt bleibt euch bestenfalls ein improvisiertes 512
Pidgin. Tags darauf telegrafierst du zurück: bien. Eine Lüge, wie ihr beide genau wisst. Deine Französischkenntnisse beschränken sich auf die pas vrais und merci deiner Mutter, diese Relikte der Pahlewi-Zeit und der kosmopolitischen Ambitionen unter den Höflingen des Schahs. Aber es ist eine harmlose Lüge, der du noch eine weitere hinzufügst: courage. Immerhin wird er, wenn er auf Französisch antwortet, es im Schneckentempo tun. Und du hast den ganzen Tag Zeit, es zu verstehen. Junots nächste Antwort umgeht das Sprachproblem. Dschihad, teilt er dir mit. Hisbollah. Obwohl du für die Antwort fünfzehn Stunden Zeit hast, fällt dir nichts anderes ein als: oui. Das Wort ist ein paar kostbare Klopfzeichen kürzer, in eurer gemeinsamen Sprache, als sein englischer Halbbruder. Dann fügst du hinzu: Ich weiß. Du suchst nach einem Signal, in das du alles hineinpacken kannst, was du in dieser Privatschule gelernt hast. Achtzehn Monate. Du? Du könntest dich treten, dass du nicht mehr zu sagen hast. Aber als er das nächste Mal an der Reihe ist, greift Junot den englischen Faden auf, als spiele das eine Rolle dabei. Sechsunddreißig Wochen. Ich weiß, und während die Worte quälend langsam Gestalt annehmen, fragst du dich, warum er so viel wertvolle Zeit vergeudet und sich so sehr in Gefahr bringt, um sie zu sagen. Wer fährt er fort. Du. Und schließlich: bist. Die Nachricht schlägt ein wie eine Bombe, und es regnet Manna vom Himmel. Dieser Mann, dieser Wildfremde in der Zelle nebenan, von dessen Existenz du bis vor wenigen Tagen noch gar nichts ahntest, hat von dir gehört. Er kennt den Namen, den du ihm genannt hast. Er hat ihn gehört, irgendwann in dem Jahr zwischen deiner Entführung und der seinen. Die Welt hat dich nicht vergessen. Du bist nicht einfach 513
verschwunden. Deine Mutter weiß, was mit dir passiert ist. Dein Bruder. Gwen. Jetzt foltert die Zeit dich auf neue Art. Der Tag hat nicht genügend Stunden, um die Worte des Franzosen zu verarbeiten und Antworten zu ersinnen. Hastig pochst du deine Botschaften, gerätst aus dem Takt, weißt nicht mehr, wie oft du schon geklopft hast, fängst wieder von vorne an. Du leidest Höllenqualen, während er buchstabiert, wünschst dir, er würde sich beeilen, und fürchtest in jeder atemlosen Pause, man hätte euch entdeckt. Nie hättest du dir träumen lassen, dass Worte so viel lähmend Überflüssiges enthalten können. Du erfindest ein Kürzel für »et cetera«, schneller und kürzer als das Erste für »korrigiere«, und Junot übernimmt es sogleich. Die Verbesserungen kommen Schritt für Schritt, spontan und ungeplant. Du verbringst ganze Nächte mit dem Ersinnen neuer, hoch effektiver Codes. Aber es würde Tage dauern, wolltest du sämtliche Regeln durchgeben. Und du kannst deinen Mitteilungsdrang nicht lange genug bremsen, um die Übermittlung zu beschleunigen. Stück für Stück, teelöffelweise, gerätst du immer tiefer in den Sog der Gespräche. Ihr seid täglich in Verbindung, doch ihr wechselt nie mehr als eine Hand voll Wörter. Eine einfache Unterhaltung dauert eine Woche. Manchmal vergeht ein Abend, ohne dass du von ihm hörst – schreckliche Sendepausen, in denen du dich unruhig auf deinem Bett hinund herwälzt wie ein eifersüchtiger Liebender. Junot berichtet, dass der englische Geistliche, der über die Freilassung der Geiseln verhandeln sollte, jetzt selber gefangen ist, womöglich sogar tot. Die Nachricht ist mindestens ein halbes Jahr alt, aber sie trifft dich wie ein Stromschlag. Er sagt, die Syrer haben West-Beirut besetzt und die Anarchie in der Stadt beendet. Aber nicht den Krieg, antwortest du einen bitteren Tag später. 514
Du sehnst dich danach, den Müll der Politik beiseite zu schieben und ihn nach den wirklich wichtigen Dingen zu fragen. Was gibt es Neues in der Musik? Wer hat im letzten Jahr die Baseball-Meisterschaft gewonnen? Irgendwelche Sensationen bei der Oscar-Verleihung? Er kann es nicht wissen, und du fragst nicht danach. Du kannst ihm auch nicht die Zerstreuung bieten, nach der er sich gewiss ebenso sehnt. Ihr tauscht alle Erkenntnisse aus, die ihr während eures langen Aufenthalts gewonnen habt, die Namen der Bewacher, ihre diversen psychischen Defekte und Schwächen. Du erfährst, wie gut es das Schicksal mit dir gemeint hat. Auch Junot hat um Lesestoff gebettelt, doch er hat nicht einen Schnipsel Papier bekommen. Du klopfst für ihn kurze Suren aus dem Koran, wie jemand, der nach dem Schlafengehen im Dunkeln singt, und freust dich, dass du wieder einmal vollständige Sätze benutzt. All das stets überschattet von der Gefahr, dass man euch entdeckt. Was du für dich selbst nicht vermochtest, das tust du für ihn. Es kann nicht lange dauern bis zu eurer Freilassung, sagst du ihm. Alle Anzeichen sprechen dafür. Ihr beide: jeder des anderen Vertrauter, jeder des anderen Arzt, jeder des anderen Clown. Du liegst nachts stundenlang wach und kicherst über seine dummen, abgedroschenen Witze, Witze, deren verspätete Schlusspointe erst nach drei Tagen eintrifft. Witze mit dem immer gleichen Anfang im Telegrammstil: Drei. Touristen. Chinese. Inder. Amerikaner. Eines Tages reißt die Verbindung ab. Anfangs scheint es nur eine kleine Störung. Schwierigkeiten gab es schon öfter. Ein Wächter hätte ihn beinahe erwischt, und er muss auf der Hut sein, bis sich die Lage beruhigt hat. Oder er muss eine längere Strafe verbüßen, gefesselt an seine Kette. Eine Zeit lang sendest du weiter Klopfzeichen in die Dunkelheit und hoffst, dass er dich hört. Aber das lange 515
Schweigen nimmt dir langsam den Glauben, dass auf der anderen Seite der Mauer etwas ist. Dieser Franzose hat dich versetzt, erst hat er deine Hoffnungen geweckt, und jetzt lässt er dich im Regen stehen. Deine Botschaften werden von Tag zu Tag kürzer, nichts sagender. Du willst dir die wichtigen Dinge aufheben bis zu seiner Rückkehr, wenn du seine Reaktion direkt hören kannst. Eines Tages musst du einsehen, dass Junot nicht wiederkommt. Du sagst Freiheit. Und Entlassung, obwohl es weniger spektakuläre Erklärungen gibt. Verglichen mit diesem Gefühl der Verlassenheit erscheint dir die Hoffnungslosigkeit des vergangenen Frühjahrs wie ein gnädiges Schicksal. Du hasst den Mann, weil er Sehnsüchte geweckt hat und alles, was damit verbunden ist. Weil er dir gesagt hat, dass die Welt noch an dich denkt. Seine Worte sind nicht besser als das Obst, mit dem Ali seine sadistischen Spielchen treibt, gerade außerhalb deiner Reichweite. In diesen Nächten träumst du, dass du dich aus einem hellen, offenen Fenster lehnst. Aber das Schiebefenster trifft deinen Nacken wie ein Fallbeil, so zuverlässig wie die altbewährte Maschinerie der französischen Politik. Die Freude hat Augen für das, was nicht ist, sagt dein Buch. Die Bitterkeit aber sieht nur sich selbst. Eines späten Abends bringt Said dir dein Abendessen, irgendwann Ende August. Es regt sich kein Lüftchen, aber hier ist es nicht so drückend wie letztes Jahr um die gleiche Zeit in der Stadt. Dieser Landsitz mit seinem subtilen Spiel von Luft und Geräuschen ist ein tausendfacher Segen, und doch ist deine Lage unverändert. Said bringt dir den üblichen Teller mit fettigen Knorpeln, und du hörst ihn weinen. Du traust deinen Ohren kaum: so viel Kummer, der nicht der deine ist. In 516
diesem rätselhaft tiefen Teich der Traurigkeit verliert sich dein eigenes Unglück. Was um alles in der Welt bringt diese verwirrte, gutgläubige Seele zum Weinen? Sein Leid lässt die Luft rings um ihn her erzittern. Du kannst dich nicht wehren: Dieser Regen weckt eine abgestorbene Wurzel in dir, ein Relikt aus früheren Jahren. Du willst wissen, was geschehen ist. Solange du lebst, wird es dich immer wieder in Bann schlagen, das unausgesprochene Wort. Du hörst, wie er den Teller abstellt und sich anschickt zu gehen. Auch er wird dich verlassen, ohne den Ursprung seiner Trauer zu enthüllen. Dann eine überwältigende Einsicht: Du kannst ihn einfach fragen. »Said.« Die Bewegung hört auf, aber nicht das gedämpfte Schluchzen. »Said. Was ist los? Was hast du?« Er sucht einen Pfad durch seine Trauer. »Husain.« Weiß nicht recht, wie er fortfahren soll. »Husain ist tot.« Ein Familienmitglied oder ein enger Freund. Wieder ein Opfer dieses endlosen selbstmörderischen Bürgerkriegs. »Das … tut mir Leid. Wann? Wann ist es passiert?« Die Frage verblüfft ihn. »Wann? In Kerbela!« Vor dreizehnhundert Jahren. Mitleid, Erstaunen und Abscheu – das ganze Sammelsurium menschlicher Reaktionen – durchzucken dich in rascher Folge. Aber die Flut der Gefühle verebbt mit Saids Abzug, und zurück bleibt eine einzige aufregende Erkenntnis: Du weißt, welcher Tag heute ist. Zum ersten Mal seit Monaten kannst du wieder deine Position in der Zeit bestimmen. Heute ist Aschura, der Jahrestag des historischen Märtyrertods. Der zehnte Tag des Monats Muharram, des Trauermonats. Ein paar rasche Überlegungen und die Formel deiner Mutter, schon hast du das Jahr: 1409. Aber wann ist der 10. Muharram? Du verbringst den Rest des Monats – beider Monate – mit diesem Problem. Es ist, als 517
wolltest du dich Jahre nach dem Algebraunterricht in der Schule an die Formel für quadratische Gleichungen erinnern. Die Umlaufbahnen von Sonne und Mond lassen sich nicht auf einen Nenner bringen. Und als du endlich zu dem Schluss kommst, dass du es im Kopf nicht umrechnen kannst, hast du längst wieder die Orientierung verloren, ganz gleich in welchem Kalender. Du erwachst aus tiefem Schlaf, weil etwas an deinem Gesicht nagt. Du schreist und schlägst um dich und schleuderst einen spitzmäuligen Vierbeiner durch den Raum. Die Wachen reagieren nicht; sie sind gewöhnt an deine nächtlichen Erscheinungen. Aber dieses Ungeheuer ist echt. Es funkelt dich an aus der Ecke, in die du es geworfen hast. Du erkennst, was es ist: eine Maus, eine struppige, schnüffelnde Maus, nicht länger als dein Daumen, wenn auch ein bisschen dicker. Jede Unze von ihr sieht mindestens ebenso bedürftig aus wie ein Mensch. Nur unendlich viel harmloser. Das verängstigte graue Ding gibt dir eine Aufgabe, die dich einen weiteren Winter lang beschäftigt hält. Es dauert Wochen, bis du den ersten schlechten Eindruck gutgemacht hast und ihr Vertrauen gewinnst. Du überlässt ihr die besten Bissen von jeder Mahlzeit, stets mehr als du dir leisten kannst. In den Augenblicken, in denen du nicht angekettet bist, legst du Nahrungsdepots an, so weit wie möglich außerhalb der menschlichen Sphäre. Wenn sie herauskommt und die Häuflein inspiziert, hilflos von der duftenden Verlockung angezogen, liegt der Menschenriese still und beobachtet einfach nur, reglos gefangen. Jede Futterstelle, die sie annimmt, wird ersetzt durch eine neue, dem Basislager des Riesen unmerklich nähere. Der Gewöhnungsprozess dauert eine Ewigkeit, aber schließlich hast 518
du alle Zeit der Welt. Du hast ganz vergessen, wie es ist, wenn man beharrlich auf ein Ziel hinarbeitet. Als sie bis auf drei Meter an dich herangekommen ist, ist sie, ohne es zu wissen, längst deine Seelentrösterin geworden, dein Glück, der Sinn deiner Tage. Aber sie bleibt vorsichtig. Vielleicht liegt es an dem Größenunterschied. Vielleicht daran, dass du sie schon quer durch den Raum geschleudert hast, noch ehe ihr einander offiziell vorgestellt wart. Dann der Tag, an dem sie fast bis auf Armeslänge herangekommen ist. Du schämst dich zuzugeben, dass du ihr längst einen Namen gegeben hast, nicht einmal dir selbst gestehst du es ein, nicht einmal nachts, wenn sie neugierig deinen reglosen Körper beschnüffelt. Begründeter Gefühlskonflikt. Ein Ausdruck, den man früher in psychologischen Fernseh-Talkshows hörte. Mit derselben Hand, mit der sie dich an sich zog, stieß sie dich auch wieder zurück. Beleidigt bei der leisesten Andeutung, ihr könntet einander etwas schuldig sein. Und doch so fest aneinander gekettet, dass ihr noch so heftig ziehen konntet, noch so sehr fluchen, einander abschwören, und es wurde doch nur umso größere Vertrautheit daraus. In den ersten Tagen nach deiner Entführung brauchtest du alle Energie zum Überleben und hattest keine Kraft für so triviale Dinge wie die Liebe. Sechs Monate lang durchliefst du eine harte Schule: Glück und Begehren waren private Ablenkungen, die es den Staaten erlaubten, unbemerkt ihren schmutzigen Geschäften nachzugehen. Nach einem Jahr musstest du verbittert erkennen, dass Staaten nicht über mehr Mittel verfügen als die boshaftesten streitenden Liebenden. Nach achtzehn Monaten waren alle Ambitionen dahin, und du wolltest nur noch essen, schlafen, kühl und trocken bleiben oder deinen Darm beruhigen bis zum nächsten Gang zur Toilette. 519
Nach zwei Jahren findest du zurück zu der alten, so unerschwinglichen Trivialität. Mehr Zeit vergeht. Sie kommt immer näher. Frisst dir aus der Hand, wenn du sie ausstreckst, die Handfläche nach oben gekehrt. Sie läuft nicht mehr weg, sobald sie alles aufgefressen hat. Spätherbst, die Wächter bringen dir einen Geburtstagskuchen. Ein flaches, multikulturelles Machwerk aus Zuckerguss und Nationalstolz, zu skurril für jede Assimilation. Du willst nicht, dass sie sehen, wie sehr du dich freust. Dass sie denken, deine absurde Verzückung hätte das Mindeste mit ihrer unbeholfenen Freundlichkeit zu tun. Dann kommen sie mit dem Geschenk, und die Freude verfliegt. Eine Videokamera thront auf der Schulter eines vermummten Söldners wie ein tragbarer Raketenwerfer. Du sollst essen und dich über den Kuchen freuen – wieder ein Tag, an dem du dich im Beirut-Hilton verwöhnen lässt –, und sie zeichnen es auf Video auf für die Lieben daheim. Du isst, damit sie nicht sehen, wie deprimiert du bist. Du isst mit der linken Hand, ein verstecktes Signal, falls ein Beamter der Nationalen Sicherheitsbehörde auf dem Video nach verschlüsselten Botschaften sucht. Du isst mit unbedecktem Gesicht; nichts deutet darauf hin, dass du je mit einer Augenbinde herumgestolpert bist. Du musterst den Mann, der dich filmt, starrst ihn unverwandt an. Trotz der Scheinwerfer und der Kamera vor dem Gesicht, trotz der provisorischen Kapuze, wirst du dich länger an seine Züge erinnern als das Videoband an die deinen. Muhammad steht an der Seite, außerhalb des Blickfelds, und sagt: »Sprechen Sie mit Ihrer Familie. Begrüßen Sie Ihre Freunde.« Stürz dich hinab von einem hohen Felsen. Verwandle Steine in Brot. Du isst langsam und genüsslich, gegen deinen Willen. Du machst ein ausdrucksloses Gesicht, 520
eine leere Maske in die die Welt hineinlesen kann, was immer sie sich einbilden möchte. Wen wollen diese unbeholfenen Filmemacher eigentlich zum Narren halten? Was versprechen sie sich davon? Und doch wird deine Familie dies sehen. Deine Freunde. Unmöglich. Eine Botschaft von jenseits des Grabes. Du stellst dir vor, wie sie dich sehen. Du siehst gerade glücklich genug aus, dass deine Mutter sich einbilden kann, es gehe dir gut. Sie wissen, wann du Geburtstag hast. Diese Märtyrer kennen dein Geburtsdatum. Und das können sie nur aus den amerikanischen Medien erfahren haben. Irgendjemand daheim hat deine Geschichte verfolgt, in diesem Jahr oder in dem davor, und hat dir im Fernsehen einen Geburtstagsgruß geschickt, aber deine Entführer haben die Glückwünsche abgefangen. Dein Geburtstag, diese Woche muss er sein. Du hattest ganz vergessen, dass du einen hast. »Danke«, sagst du in die Kamera und deine Stimme dröhnt blechern und hohl. Wer von den vielen Personen am anderen Ende wird diese Worte empfangen? »Danke. Ich bin am Leben.« Du wartest, dass deine Stimme zurückkommt, so wie du sonst auf die Maus wartest. »Ich werde gut behandelt.« Ein belogener Lügner; sie benutzen dich, und du benutzt sie. Der ewige Kompromiss verschafft dir, zumindest für den Augenblick, einen winzigen Vorteil. »Obwohl die Inneneinrichtung ein wenig geschmackvoller sein könnte.« Du zeigst nach rechts, und der Kameramann vollführt instinktiv einen Schwenk, bevor er es bemerkt. »Essen Sie Ihren Kuchen auf«, befiehlt Muhammad. Er hat dich ertappt, wie du versucht hast, ein Stückchen beiseite zu schaffen, nicht mehr als einen Fingerbreit. »Ich dachte … ich dachte, ich könnte mir ein bisschen aufheben, für … für später?« »Zeigen Sie ihnen, dass Sie alles aufessen.« 521
Du isst das Stück, das deinem einzigen Glück ein wenig Freude hätte bringen können. Dieser Pakt mit den Geiselnehmern besiegelt dein Schicksal. Das Außenministerium wird sich von dir distanzieren, weil du mit dem Feind zusammengearbeitet hast. Aber er sichert auch dein Überleben, für viele Nächte. Irgendwo da draußen, entlang der Handelsrouten der Welt, wird dein Phantombild immer wieder zurückgespult und neu abgespielt und spricht zu denen, die dich kennen und die deine Worte hören. Du verbringst ein imaginäres Halloween. Ein erfundenes Thanksgiving. Eine echte Weihnachtssimulation. Du erhebst dein virtuelles Glas auf den ungefähren Jahresbeginn. Deine Pupillen gewöhnen sich an das ständige Halbdunkel, bis dir die erdrückende Leere eines einzigen Tages so dramatisch erscheint wie eine Oper. Selbst dieses handlungslose, figurenlose, szenenlose Stück kennt die klassischen Einheiten. Seine Anfänge, Hauptteile und unabwendbaren, bescheidenen Schlussszenen eröffnen dir ein gewaltiges Panorama, einen Handlungsbogen, wie du ihn nie hättest verfolgen können, solange du frei warst. Überraschung ohne Ungewissheit. Du wirst hier den Rest deines Lebens verbringen, ein Galileo unter Hausarrest, ohne Teleskop und ohne Dachluke. Du wirst hier sterben. Du wirst deine eigene Sterbeszene sehen, atemlos, begierig auf jedes Detail, wirst du dem einzig möglichen Ausgang entgegenfiebern. Du lernst aus der genauen Beobachtung. Man kann einen Menschen lieben, einen einzigen Menschen, ihn mehr lieben als das eigene Leben, und ihn trotzdem nicht kennen. Sie machte dich fordernd, herrschsüchtig. Du machtest sie eigensinnig und verstockt. Ein einziges, lebensgroßes Missverständnis, zu Grabe getragen an diesem Ort des erzwungenen Zuhörens. Du hattest keinen Grund, so hart zu ihr zu sein, bei ihrem 522
letzten Anruf, kurz vor deiner Entführung. Keinen Grund, all die Jahre immer schon den Widerspruch zu spüren, bevor sie ein Wort gesagt hatte. Jetzt, wo ihr beide ständig vor Augen habt, was euch entgangen ist – zwei Menschen, die dem anderen Raum geben, nun wo es zu spät ist –, erblickst du jenseits der Angst einen Ort, den die Angst dich niemals erreichen ließ. Und doch wiederholt sich die Geschichte auf den verschwommenen Zelluloidbildern dieses gestochen scharfen Traums. Das Zuhause, das ihr immer aufs Neue in Brand gesetzt habt. Die ewigen Grenzscharmützel, die gegenseitige Verbannung. Nie kriegst du genug. Nie bist du zufrieden. Du saugst mir das Mark aus den Knochen. Als du noch da warst, hat sie dich nicht gekannt. Wie soll sie dich jetzt kennen, nun wo du fort bist? Und dieses Gefühl, dass du sie brauchtest – diese Liebe –, muss lähmend wirken, so erfüllt von selbstverschuldetem Elend, dass jetzt selbst die Erlösung hohl klingen würde. Vielleicht, so sagt deine einzige Lektüre, vielleicht wird Allah Liebe setzen zwischen euch und denen unter ihnen, mit denen ihr in Feindschaft lebt. Denn Allah ist mächtig und Allah ist allverzeihend, barmherzig. Die Maus kommt hervor und knabbert an den Seiten des Buches. An diesen Worten, für die, die da glauben ohne zu sehen. Du lässt sie gewähren. Überlässt diesem Wesen alles, was es von dir braucht. Als verspäteten Dank für die Hilfe bei dem Video bringen die Wächter dir deine Halskette zurück. Gwens Glücksbringer, den sie dir am ersten Tag deiner Gefangenschaft weggenommen haben. Du sitzt da und hältst ihn in der Hand, kannst nicht aufhören zu schluchzen. Du drückst die scharfe Spitze des Talismans in deine Wange, damit die Gedanken aufhören. Die Bewacher kommen und packen dich; sie zwingen dich in die 523
Knie und nehmen dir den Talisman wieder ab. »Bitte. Es tut mir Leid. Bitte, gebt ihn mir zurück. Ich werde mir nicht mehr damit wehtun.« Viel später, als die Wunde in deinem Gesicht einigermaßen verheilt ist, kommt ein Vermummter und fotografiert dich. Drei Tage später bringt Ali das Foto und sagt, dass du es unterschreiben sollst. Wieder ein Spiel aus der Provinzliga. Ein Amateurtrick, den du nicht ganz durchschaust. Sie zwingen dich, deine Unterschrift auf das Bild eines Fremden zu setzen, irgendeines Robinson, der nur entfernte Ähnlichkeit mit dir hat, hager und ausgezehrt von den Augenhöhlen bis zu den Wangen, mit grauen Strähnen in Haar und Bart, eine Fälschung, auf die keiner hereinfallen wird. Ali drängt dich zur Unterschrift, bevor du erkennen kannst, für wen genau du dich ausgibst. Es vergeht ungefähr ein Monat. Fast hast du das bizarre Ritual vergessen, an dem du beteiligt warst. Da stürmt Ali eines Tages in heller Aufregung in deine Zelle. »Rat mal, wer heute berühmt ist? Rat mal, wer heute in der Zeitung steht? Amerikanischer Filmstar! Mel Gibson!« »Gibson ist Australier«, sagst du. »Für den können wir nichts.« Er hält dir ein Stück Zeitungspapier unter die Augenbinde. Der lang ersehnte Waffenstillstand. Seite 6 des Herald Tribune; da ist das Foto des alten Mannes, und drunter steht, dass du es bist. Einer ist hier der Dumme, entweder du oder der Rest der Welt. Aber wer, das ist dir egal. »Bitte«, flehst du, »Lass es mich nur einmal … in die Hand nehmen. Nur für eine Minute.« Nicht wegen des Artikels über dich. Nur weil du ihn einmal in der Hand halten willst, den unerschütterlichen Beweis dafür, dass tatsächlich etwas geschieht. Weil du wieder einmal spüren willst, wie sich deine alte Frühstückszeitung anfühlt. 524
Er gibt sie dir nicht, vielleicht nur weil du es so sehr willst. Aber bevor er sie dir für immer wegziehen kann, erhaschst du einen Blick auf das Datum. Du nimmst die Zahl mit ins Bett und schwörst bei deinem Leben, dass du nie wieder den Überblick verlieren willst. Du bewahrst die geheime Zahl in deinem Herzen, beschützt sie vor jedem menschlichen Zugriff. Du führst umfangreiche Berechnungen durch, du addierst und multiplizierst, dividierst und ziehst Wurzeln. Das immer gleiche Resultat deiner mathematischen Bemühungen erschüttert dich. Durch einfaches Subtrahieren landest du bei einer Zahl, die so märchenhaft ist, dass du sie nicht für möglich hältst. Du zerbrichst dir den Kopf, quälst dich so lange in der Tretmühle des Kalenders, bis dein Gehirn zu bluten beginnt. Und doch führt kein Weg vorbei an diesem Ergebnis in all seiner Vollkommenheit. Wenn sie dich tatsächlich an jenem Novembertag des Jahres ’86 ergriffen haben, jenem Tag, der sich dir unauslöschlich ins Gedächtnis eingegraben hat, und wenn das Stück Zeitung, das sie dir gezeigt haben, tatsächlich von heute war, dann ist die heutige Nacht genau die tausendste. Und morgen sind es tausendundeine Nacht. Das Bauwerk wuchs wie jede andere Kathedrale, Stein um Stein. Die Blöcke, aus denen die Wände entstanden, waren nichts als Phantome, die in Reih und Glied durch eine Million dynamischer Videozyklen pro Sekunde schwebten. Doch für die, die sie behauen und verfugen wollten, waren es Steine. Das Team setzte das Modell aus groben Elementen zusammen, zuerst das Erdgeschoss mit Narthex und Exonarthex an der Westseite. Dann kam da, wo Mittelschiff und Apsis aneinander stoßen, die Galerie, darauf der Säulengang, auf dem wiederum der atemberaubende Lichtgaden saß. 525
Einen ganzen Monat brauchten sie allein für den Aufriss. Sie studierten die Monografien, die Theorien, die die Wissenschaft zur Frage entwickelt hatte, wie das Ganze überhaupt zusammenhielt. Der einzige Punkt, in dem sich jemals zwei Experten einig waren, war das Staunen darüber. Genau wie die Baumeister im wirklichen Leben brauchten auch sie mehrere Anläufe, bis sie die Kuppel an Ort und Stelle hatten. Die Fensterreihe, auf der das gesamte Gewicht lastete, schien eine schier unlösbare Aufgabe. Nach dem zweiten Versuch rief Spiegel jedes Mal Oh, the humanity!, wenn sie wieder in sich zusammenfiel. Doch aus der langen Reihe von Katastrophen erwuchs am Ende der Triumph. Der gewaltige Innenraum machte Adies Hund eine Heidenangst. An das Zimmer in Arles hatte Pinkham sich schließlich gewöhnt, hatte sich in einer Ecke zusammengerollt und höchstens einmal ein knarrendes Dielenbrett angebellt. Doch diese langen, geheimnisvollen Perspektiven waren zu viel für das Tier. Etwas an der schieren Größe dieses Raums, der wie in Wellen zu fließen schien, die rauchfarbigen Arkaden, hinter denen sich noch tieferer Raum öffnete, war ihm nicht geheuer. Er setzte nie eine Pfote hinein. Vulgamott sorgte für die Bauteile, nahm sich jedes neue Element vor und drehte so lange an den Eigenschaften, bis es passte. Ebesen feilte endlos an jedem Bogenzwickel und jeder Verzierung. Dieser Mann, der nicht ein einziges Mal, seit er dort eingezogen war, seinen Wohnwagen aufgeräumt hatte, bestand darauf, dass auch das filigranste Element, das kleinste Stückchen Maßwerk vollkommen war. Die modularen Objekte waren eingebettet in ein umfassenderes Programm, Versatzstücke, die so wandelbar waren wie die Säulen eines heidnischen Venustempels, die ihren Platz in Notre Dame gefunden hatten. Nach sechs Wochen fügte auch das Mosaik der Grottenmannschaft sich allmählich zum Bild. Persönliche 526
Differenzen wurden unbedeutend angesichts der Größe ihres Vorhabens. Lim und Jackdaw nahmen sich die Frage des Maßstabs vor und machten es möglich, dass die Grotte ein Bauwerk beherbergen konnte, das um ein Vielfaches größer war als sie selbst. Rajasundaran stellte sich der Herausforderung, den Widerhall eines solchen Raumes zu schaffen. Sue Loque steuerte das Licht der Sonne bei, deren Strahlen in ihrem Lauf in immer neuen Winkeln durch die Fenster einfielen, geheimnisvolle Fäden, gewoben am Urquell allen Lichts. Adies Aufgabe waren die Heiligenmosaiken. Spiegel konnte sich gar nicht daran satt sehen, wie sie die Steinchen zusammensetzte. Hoch auflösende Abbildungen verwandelte sie zurück in das grobe Raster der bunten Plättchen und verwischte und glättete dabei zugleich die Kanten ihrer eigenen Seele. Das muss die Arbeit sein, zu der du mich hier herausgeholt hast, Stevie. Ohne dass du es wissen konntest. Das soll nicht mystisch klingen oder so etwas … Warum nicht? Nur zu. Christus Pantokrator wird begeistert sein. Ich hatte einfach … vergessen, wie es ist, wenn man Teil eines Ganzen ist, das größer ist als man selbst. Wenn man Arbeit hat, die … Bei der man seine Bestimmung findet?, fragte er. Aber die alte Ironie war nicht mehr zu hören. Sie zuckte mit den Schultern. Für jeden Menschen gibt es etwas, wozu er auf der Welt ist. Als ich klein war, wusste ich das, dann habe ich es vergessen. Aber es fällt einem wieder ein. Das ist das Schöne: Man denkt, man hat sich verirrt. Man stolpert vor sich hin, endlos lange, und weiß nicht, welche Richtung vorwärts ist. Aber eines Tages kommt man um die Ecke und sieht seine Aufgabe vor sich. Sie steht direkt vor 527
einem. Sie verfolgt einen wie der Mond. Aber das wusstest du schon damals, als ich dich kennen gelernt habe. Da hattest du schon deine Arbeit. Sie kniff die Augen zusammen. Ich hätte es gewusst? Damals? Als du mich kennen lerntest, war ich eine verzückte Novizin. Als ich nach SoHo kam, konnte ich über nichts anderes reden als über Linie und Energie und Licht. Und ehe ich mich versah, redete ich von Kreditwürdigkeit und Publicity und positiver Marktentwicklung. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für eine Industrie das ist, was für eine … Factory? Sie schnaubte. Siehst du? Das ist die Welt, in der wir leben. Aber Rubens war auch eine Fabrik. Ingres war eine Industrie. Der Meister von Flémalle nicht. Aber ja, genau wie alle anderen. Die Kirche hat ihn für seinen Verkündigungsaltar nach Quadratmetern bezahlt. Vermeer nicht. Lakai des aufstrebenden Bürgertums. Haben Sie was in Umbra, zwanzig mal dreißig, was gut über die Anrichte im Esszimmer passt? Nein, sagte sie, fast schon heftig. Das ist nicht dasselbe. Diese Leute waren … auf der Suche nach etwas. Sie haben den äußeren Schein durchbrochen, damit sie auf die andere Seite kommen konnten. Das sieht man an jedem Pinselstrich. Na, heute gehören sie jedenfalls zur Industrie, einer wie der andere. Ganz gleich, als was sie angefangen haben. Das ist wahr. Die T-Shirts mit Munchs Schrei. KlimtKaffeebecher. Die groß beworbenen Ausstellungen, wo die Wärter die Kundschaft weitertreiben wie bei einem Viehtransport … Und dir war es lieber, als sie noch das niedere Volk an der 528
Tür des Palazzo abwiesen? Mir war es lieber, als die menschliche Seele noch mehr war als eine Ware. Und wann genau war das? Das weiß der Himmel. Wahrscheinlich nie. Deshalb habe ich ja aufgehört. Deshalb habe ich ja so ganz und gar die Orientierung verloren, all die Jahre. Du hast dich dem Kommerz verschrieben, damit du der Kommerzialisierung entgehst? Klingt seltsam, aber genau so war es. Ach, Adie … Du hast ja überhaupt keine Vorstellung davon, wie grässlich das ist. Du weihst dein ganzes Leben einer Sache, von der du glaubst, es ist das Beste, was die Menschheit zustande bringen kann, und dann siehst du, dass es dabei überhaupt nicht um Schönheit geht. Alles ist Zwang und Manipulation und Machtpolitik und Habgier und Snobismus der Herrschenden. Aber was …? Er zögerte, bevor er das Offensichtliche sagte. Vielleicht lohnte das Offensichtliche die Mühe nicht. Was ist denn … anders an dem, was wir hier machen? Schweigend setzte sie ihre Mosaiksteinchen zusammen. Blau, Rosa, Gold: Weise, steh’nd in Gottes heil’ger Glut. Das Ergebnis ist womöglich das Gleiche. Aber die Arbeit? Ich habe das Gefühl, dass hier etwas ist, was wir machen müssen. Als wären wir auf die Spur von etwas gekommen, was die Welt irgendwie … braucht. Er lachte verblüfft. Das hätte ich ja nie gedacht, dass ich noch den Tag erlebe, an dem du uns die neueste technische Errungenschaft anpreist. Nicht die Technik. Mit einem Mal war sie scheu, verschlossen. Sie sagte es nicht. Die Zuflucht. Ist dir eigentlich klar, was du da machst? Er wies mit dem 529
Kinn auf das Bild, das auf ihrem Schirm Gestalt annahm, Malen nach Zahlen. Porträtmalerei. Das, was du nie wieder tun wolltest. Sie wurde rot, ein Schulmädchen, das sich erwischen lässt, wie es einen heimlichen Liebesbrief in den Kasten steckt. Mag sein. Aber sie sind nicht von mir! Und auch nicht gerade realistisch. Wenn du an die beschädigten Teile kommst – das, was die Kreuzfahrer und die Türken abgerissen haben. Wirst du sie wieder herstellen? Habe ich mir noch nicht überlegt. Über so etwas darf man nicht zu viel nachdenken. Das verfolgt einen wie der Mond. Wir werden sehen, wenn ich so weit bin. Sämtliche Golddrosseln des Labors brachten ihnen bunte Fäden, die sie in ihr immer größer werdendes Nest weben konnten. Stiche von Orientreisenden aus dem 19. Jahrhundert, die den gewaltigen Innenraum zu bannen suchten. Fotografien, von hoch oben aus der Kuppel der Nachfolgerin der Heiligen Weisheit aufgenommen, der Sultan Ahmet Camii, Sinans Blauer Moschee. Übersetzungen der Schwindel erregenden kalligrafischen Inschrift, die das Innere des steinernen Firmaments bedeckte. Alles fühlte sich frisch an, wie in den Tagen, als die Arbeit an den Dingen noch jung war, noch nicht zu Tode geritten vom ewigen Zwang zum Erfolg. Freese schlug ein Laufband vor, um den Betrachter durch die enormen Weiten zu führen. Adie legte ihr Veto ein. Keine Maschinen da drin. Das ist ein heiliger Ort. Sie einigten sich auf ein einfacheres Transportmittel. Der Reisende musste sich nur in die Richtung neigen, in die er wollte, und das Gebäude kam von dort auf ihn zu. Je weiter man sich vorneigte, desto schneller. 530
Warum sind die Formeln so kompliziert?, fragte sie Kaladjian. Welche Formeln? Perspektive. Proportionen. Tiefe. Perspektive? Perspektive ist leicht. Nimm einfach den Kegel des Gesichtsfelds und stelle ihn auf den Kopf. Als die Italiener erst einmal die Optik der Araber kannten, stand ihnen die ganze Welt offen. Das meine ich nicht, sagte sie so schroff, dass er überrascht aufblickte. Aber er verstand sie sofort. Der schwierigste Mensch, den sie kannte, war zugleich auch einer der klügsten. Oh. Das meinst du mit Perspektive? Die Orientierung im Raum? Sie nickte. Er kritzelte mit weichem Bleistift etwas auf einen gelben unlinierten Schreibblock. Er zeichnete es ihr auf, denn nichts war so überzeugend wie ein Bild. Wenn das Leben nichts weiter wäre als eine große Rechenaufgabe – die Unendlichkeit, geteilt durch siebzig –, dann hätten wir gute Chancen, das Geheimnis unserer Existenz eines Tages zu entschlüsseln. Aber für dreißig von den siebzig Jahren gilt die Lösung einfach nicht, denn der Zähler ist unendlich. Und die Ergebnisse sehen wahrlich nicht aus wie der Quotient für dieses Jahr, für das Quartal oder für heute, geschweige denn für die nächsten dreißig Minuten. Wir leben zwischen unserem nächsten Herzschlag und der Ewigkeit. Der Mathematiker blickte auf: Wie viel weißt du? Genau das. Wir sollen alle widersprüchlichen Quotienten auf einmal lösen. Deswegen sind … die Formeln so kompliziert. Er hob die Augenbrauen, als wolle er sagen, dass er gern zu Diensten war, dies eine Mal.
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Von Arbeit zu neuem Leben erweckt, kehrte Adie auch zum Spiel ihres Körpers zurück. Sie schüttelte die alte Anspannung ab, und sie und Stevie balgten miteinander wie junge Welpen. Pinkham bellte, wenn er die Laute der fröhlichen Rauferei vernahm, kratzte an der geschlossenen Schlafzimmertür und wollte mitspielen. Sex in ihrem Alter kam ihnen irgendwie verboten vor, stumpf, traurig, korrumpiert von dem Wissen, wie wenig im Grunde einer zum Glück des anderen beitrug. Aber es konnte auch keiner die Formen, die dieses Glück nahm, abschütteln. Die Freude packte sie und ließ sie wieder los, das einzige Heilmittel gegen sich selbst. Adie eröffnete das Spiel. Sie probierte für Spiegel einen ganzen Schrank voll alter Kleider an, Kleider, die sie noch nie für jemanden getragen hatte, nicht einmal für sich selbst. Sie stellte sich in Posen zur Schau, die nicht sie waren, probierte Hüllen, die sie erst noch mit Leben füllen musste. Sie redete mit Stevie über alles, so wie sie als Kind mit ihrer Schwester geredet hatte. Sie sprach mit ihm über Ted, nun ohne Schuldgefühle oder ohne Vorwürfe. Sie sprach von all dem, was ihnen missglückt war. Von den Gleichungen mit zwei Unbekannten, die nicht aufgegangen waren. Sie erzählte von den Schrecken des Lebens in New York. Den Belästigungen in der Untergrundbahn. Von Ratten so groß wie ein gesundes Baby. Dem modischen Nihilismus und der wahllosen Vergötterung alles Neuen. Den nächtlichen Serenaden der Auto-Alarmanlagen unter ihrem Fenster. Er grinste sie an. Das fehlt dir, hm? Gib’s zu. Du spinnst. Sie sorgte dafür, dass er mehr an die Luft kam. Die Ausflüge in die Natur ließen ihn ratlos. Man hat die Altvorderen davon erzählen hören, von der Sonne. Sie brachte ihn dazu, dass er sich in ihren schon abgeernteten 532
Garten setzte, feucht und fröstelnd, ein Buch im Schoß. Sie fuhr mit ihm zur Cascade Range, zu ihrer geheimen Badestelle. Das Wasser war inzwischen zu kalt zum Baden. Das Eintauchen verschoben sie auf zu Hause. Da fiel sie über ihn her, mit einem Hunger, der mit jeder Mahlzeit größer wurde. Manchmal überraschte es Stevie, die Wildheit. Die Art, wie sie an ihm schnüffelte, ihn schmeckte, ihn ans Licht hielt, ihn inspizierte. In jedem Winkel seines Körpers nach einer sinnlichen Botschaft suchte, die sie nie ganz fand. Du bist gar nicht schlecht in Form, sagte sie. Seine Belohnung. Für einen alten Kerl. Jawoll. Das bin ich. Der graue Panther. Doch mit jeder Begegnung wurde die Frage mächtiger in ihm, die Frage, die sie auseinander bringen würde, ob er sie nun stellte oder nicht. Wenn du mit mir schläfst …? J-jaaa? Sie streichelte ihn an einer Stelle, auf eine Art, die jedes weitere Wort unmöglich machen wollte. Er schob die Hand fort. Wenn du mit mir schläfst … wen berührst du da? Sie erstarrte. Das ist ein Spiel, das ich nicht spielen will, Stevie. An das ich nicht einmal denken will. Aber nun kam sie stets zurück, selbst nach mutwilligem Streit. Sie hatte die Aura einer Frau, der nichts etwas anhaben konnte. Die Aura einer Frau, die die Arbeit gefunden, wieder gefunden hatte, die ihr bestimmt war. Spiegel sah nicht ganz so genau hin und nannte es Liebe. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Jackdaw hatte sich verlobt. Ihr zwei seid die Ersten, denen ich es erzähle. Sogar meine Eltern wissen es noch nicht. 533
Jackie, schmollte Adie. Ich dachte, du liebst mich. Etwas in seinem stotternden Protest gab zu verstehen, dass das eine das andere nicht ausschloss. Spiegel schlug ihm auf die Schulter. Großartig, Mann. Wer ist die Glückliche, die dich an die Kette legt? Sie heißt Fatima. Und weiter?, fragte Adie. Morgan. Dass du ihr ja nicht deinen Namen anhängst, drohte sie. Sonst bringe ich dich um. Lass mich raten, übernahm Spiegel. Mutter aus Tunis, Vater aus Piscataway, New Jersey. Ich … das weiß ich nicht so genau. Humor, Jackie. Adie schlang den Arm um den Jungen. Was Analoges, erklärte Spiegel. Das würdest du nicht verstehen. Und was ist sie für eine? Oh, sie ist fantastisch. Sie kennt sich überall aus. Alle zehn Minuten hat sie irgendwas Neues. Und von Männern lässt die sich nichts gefallen, das kann ich euch sagen. Habt ihr schon ein Datum festgelegt? Datum? Oh nein. Da überlegen wir noch. Aber irgendwann in den nächsten Jahren. Lass es dir schriftlich geben, flüsterte Spiegel laut. Wann bringst du sie denn mal mit her? Damit wir dir sagen können, wie wir sie finden? Sie mit Leuten wie euch zusammenbringen? Bevor wir den Trauschein haben? Ich bin doch nicht verrückt! Nun komm schon, Jackie. Wir müssen doch wissen, auf was 534
du dich einlässt. Jackdaw grinste selig. Dann lasst eure Fantasie spielen. Was macht sie beruflich?, hörte Adie sich sagen, genau die Art von Elternfrage, die sie nie hatte stellen wollen. Sie schreibt Dokumentationen. Ungeheuer sprachgewandt. Ein Mundwerk hat die! Mann! Und sowas magst du an einer Frau?, fragte Spiegel. Acquerelli nickte heftig. Wie sieht sie aus? Stevie! Adie zwickte ihn in den Arm. Kann nicht dagegen an. Ich bin nun mal ein Augenmensch. Sie ist dunkel. Dunkel und … na ja, sie sieht gut aus. Ungefähr so groß wie Adie. Adie trat auf die Bremse. Dokumentationen … für wen? Motorola. Motorola? Steve setzte einen Takt aus. Welcher Standort? Chicago. Der Groschen fiel. Wo hast du diese Frau kennen gelernt? In … in einer Multi-User-Dimension. Rollenspiel online. In einer MUD? Und du hast sie … noch gar nicht wirklich gesehen? Nein. Nicht wirklich. Bisher nicht. Steve blickte zu Boden. Adie studierte ihre Handrücken. Betretene Gesten der Nachsicht. Aber natürlich werden wir uns sehen, bevor wir … wir wollen uns FTF treffen, so bald wie möglich. Face-to-face, erklärte Steve, bevor Adie sich mit der Frage blamieren konnte. Von Angesicht. Sie sprachen darüber, als sie allein waren, im Bett, das Licht gelöscht. Aus Spiegels Stimme sprach echte Qual. 535
So ein Schuljunge. Verliebt sich in eine Figur in einem Rollenspiel. Weil sie eine freche Zunge und flinke Finger hat. Warum nicht?, fragte Adie. Das ist seine Welt. In wen soll er sich sonst verlieben? Die ganze Sache ist doch sowieso immer nur wechselseitige Projektion, oder? Tatsächlich? Aber manche Projektionen haben doch wenigstens eine Chance, dass sie im Tageslicht Bestand haben. Dann soll man sie eben nicht ans Tageslicht bringen. Was machen wir jetzt? Womit? Wie können wir Jackdaw schützen? Adie streckte die Hand aus, fasste ihn in den Nacken. Stevie. Stevie. Wer hat dir nur eingeredet, dass man sich gegen das Leben schützen kann? Die Cyber-Brautwerbung konnte es durchaus mit jeder realen aufnehmen. Router für Router, Chatroom für Chatroom handelte das junge Paar sein zukünftiges Leben aus. Sie findet fernsehen genauso grässlich wie ich, eröffnete Jackdaw den anderen. Dafür mag sie Zeitschriften. Ich denke, wenn sie erst mal da ist, werde ich auch gesünder essen. Er achtete mehr auf seine Kleidung. Er trainierte sich sogar ein paar Pfund von seinem berufstypischen Kartoffelchipbauch ab. Adie erwischte ihn in der Grotte, wo er die Steuerung schwang wie einen Tennisschläger und Bälle mit einem animierten Strichmännchen tauschte, das ein gutes Stück außerhalb der vorderen Wand der Grotte stand. Aiy. Der ewige Kampf Mensch gegen Maschine. Nicht genug, dass sie uns beim Schachspiel überlegen sind. Dass sie besser zeichnen können als wir. Musst du ihnen jetzt auch noch beibringen, wie sie uns im Tennis schlagen? Jackdaw sah sie an und verlor den Aufschlag. Oh. Das ist 536
keine Maschine am anderen Ende. Das ist Fatima. Fa -? Moment. Soll das heißen, es gibt noch eine zweite Grotte? In Chicago? Er schwang seinen elektronischen Schläger und lachte laut, weil sie so erschrocken klang. Aber nein. Sie sitzt da an einem Terminal, mit einem Joystick. Wir haben das AnwenderInterface so eingerichtet, dass es über ihren Rechner läuft. Adie sah voller Entsetzen zu: ein Leben, das nur ein Schatten war, im Spiel mit lebendigen Schatten. Eine plötzliche Angst vor dem, was sich hier gerade erst verpuppte, überwältigte sie, als sie sah, wie der Junge einen Volley schlug, an die Konsole ging, ein paar Programmzeilen neu eintippte, zurückkam und den Schlag ein zweites Mal probierte. Wie Buster Keaton als Filmvorführer, der in das Bild, das er projizierte, hinein- und wieder heraustrat. Sie wandte sich um, wollte fliehen, doch für sie gab es keinen Weg aus diesem Film. Mitte November kam Jackdaw zu ihnen ins Büro, aufgeputscht vom Adrenalin. Sie kommt her. Über Thanksgiving. Für drei Tage. Hierher? Nach Seattle? Tolle Sache. Lernen wir sie dann auch kennen? Das soll wohl ein Witz sein. Sie ist nur drei Tage da. Die vergeuden wir doch nicht mit anderen Leuten. Als er nach dem Feiertag an die Arbeit zurückkam, war er am Boden zerstört. Lass mich raten, sagte Kaladjian. Sie ist erst zwölf. Nein, meinte Freese. Hundertundzwölf. Aber noch sehr rüstig für ihr Alter. Rajan schlug in dieselbe Kerbe. Ich ahne es schon. Bei dem Namen warst du nicht auf den Gedanken gekommen, dass sie halb Ausländerin ist. 537
In Wirklichkeit heißt sie gar nicht Fatima. In Wirklichkeit ist sie ein junge. In Wirklichkeit ist sie zwei Jungen. In Wirklichkeit ist sie eine LISP-Programmroutine. Jackdaws Nasenflügel bebten, und die Mundwinkel zitterten. Ein einziges hoch konzentriertes Tröpfchen Salzwasser quoll aus dem Winkel seines rechten Auges. Er machte auf dem Absatz kehrt und ging, unter den Protestrufen der anderen, die erst jetzt, wo es zu spät war, die Wahrheit begriffen. Am nächsten Tag erhielt Freese eine E-mail, nur eine Zeile. Jack Acquerelli würde nicht mehr zum Projekt zurückkehren. Jackdaws Weggang hinterließ ein bitteres Gefühl bei der ganzen Gruppe. Du kannst doch nichts dafür, sagte Steve zu Adie. Aber sie setzte schon lange nicht mehr auf Vergebung, sondern stattdessen auf harte Arbeit. Und Arbeit gab es nun für alle mehr als genug, unterbesetzt wie sie waren, ein Spieler weniger auf dem Feld und der Ausgang noch längst nicht entschieden. Das hätte nicht passieren dürfen, sagte Lim. So kurz vor dem Ziel. Der Mann hat hundert Stunden die Woche gearbeitet. Aber achtzig davon nur gespielt, meinte Kaladjian. Macht das denn hier einen Unterschied? Adie versuchte, die verlorenen Arbeitsstunden ganz allein wettzumachen. Sie arbeitete rund um die Uhr. Mittlerweile lebte sie ganz in der Hagia Sophia, und wenn sie nicht hineinkonnte, schlug sie ihr Zelt im Schatten ihres Abbilds auf dem Bildschirm auf. Dort fand Stevie sie mit der nächsten bedrückenden Nachricht. Was ist?, fragte sie. Ein Blick genügte. Was ist passiert? 538
Erinnerst du dich noch an Doris Singlegate? Sie schüttelte den Kopf, konnte mit dem Namen nichts anfangen. Die Maulwurfsfrau. Sie spannte sich, spürte es schon in den Nackenhaaren. Was ist mit ihr? Sie haben sie rausgelassen. Nach ungefähr zwei Jahren unter der Erde. Sie haben sie wieder an die Oberfläche geholt. Die Untersuchung hat nichts weiter ergeben. Ein paar merkwürdige Veränderungen an ihrer inneren Uhr, aber nichts Ernsthaftes. Stevie. Nun sag doch schon, was los ist. Ich kenne die Frau doch gar nicht. Anscheinend hat sie sich das Leben genommen. Bei sich zu Hause. In ihrem eigenen Bett. Dein ganzer Körper sträubt sich gegen die Erkenntnis. Unmöglich. So lange kannst du noch nicht hier sein. Gelebte und erinnerte Zeit lassen sich nicht zur Deckung bringen. Die Nachmittage, die Jahre währten, schrumpfen in der trügerischen Erinnerung zu Sekunden. Ein Monat davon würde keine Stunde ausfüllen. Du kommst nur auf ein paar Dutzend Wochen, nie und nimmer auf zweidreiviertel Jahre. Du klammerst dich an die vage Berechnung wie ein Ertrinkender. Die verzweifelte Fantasie des Geschichtenerzählers in deinem Inneren hat dir in tausendundeiner Nacht das Leben gerettet. Und wenn die alte Abmachung gilt, müssen sie dir jetzt die Strafe erlassen. Aber das ist auch nur ein Märchen: das Tausendundzweite. Es macht Platz für viele hundert weitere, die qualvolle Zersplitterung einer Welt in den Klauen der Vereinheitlichung, Mythen und Fabeln, die nicht sagen, warum ausgerechnet du 539
die Hauptrolle darin spielen sollst … Immerhin hat Amerika dich nicht vergessen; das kannst du dir nicht bloß eingebildet haben. Dein Foto im Herald Tribüne, jetzt noch, nach all der Zeit, in der du dich selbst fast vergessen hast. Sie werden einen ausführlichen Bericht wollen, wenn du je dazu kommst, ihnen alles zu erzählen. Sie werden ein Buch wollen, eine Geschichte, auch wenn es gar keine gibt. Es gibt nur sinnlose Leere, so weit wie die Ewigkeit. Und dennoch: An Tagen, wo sich dein Wellblechkäfig in der Gluthitze biegt wie ein billiges Backblech, in den Nächten, wo die Feuchtigkeit durch die dünne Decke und deine noch dünnere Haut kriecht, wo sie dir tief in die Knochen dringt und das Mark erstarren lässt, da beruhigt dich der Gedanke an dieses Buch. In Gedanken schreibst du Hunderte von Seiten, in einem Zug, und liest sie dir alle noch einmal Wort für Wort vor. Denn dein Gedächtnis ist jetzt phänomenal und deine Geschichte unendlich … Manche Passagen testest du an der Maus. Du übst dich im mündlichen Vortrag, überprüfst dreimal wöchentlich deinen wankenden Verstand. An dem Tag, an dem du Chicago verlassen hast, konntest du dir keine Telefonnummer merken, nicht einmal eine Viertelstunde lang. Jetzt bist du ein wahrer Virtuose des Wortes und rezitierst gewaltige rhapsodische Erzählungen aus dem Kopf. Wen kümmert es da, wenn die brillanten Soli in Wirklichkeit wirr und zusammenhanglos sind. Tief in den gewaltigen Galerien deines Gedächtnisses türmen sich riesige Stapel von Briefen an all die, die dir einmal wichtig waren, und warten darauf, dass du sie abschickst. Die kunstvollen Rokokogärten der Erinnerung mutieren und wuchern so üppig, dass die sorgsam beschnittenen Hecken und Büsche sich in sämtliche Richtungen ausbreiten, bis alle Pfade unter dem Dickicht verschwinden. Auf dem Dachboden kommen Dinge zum Vorschein, die du 540
unmöglich dort hinaufgeschafft haben kannst. Mehr und mehr holst du hervor, Berge von Trödel, die brennen würden wie Zunder. Die Gestalten in deinem Inneren drängen ans Licht. Wollen sich befreien und geboren werden. Muhammad muss verstehen, wie schwer es für jemanden ist, der lesen und schreiben kann. »Ich brauche Bleistift und Papier«, bedrängst du ihn bei jeder nur möglichen Gelegenheit. »Etwas, worauf ich schreiben kann. Ganz egal was, sonst bringen die bösen Geister mich um. Wer soll das schon lesen? Wem sollte es gefährlich werden? Am Tag, an dem ihr mich freilasst, lasse ich alles hier zurück.« Er ist taub für vernünftige Argumente. Er behandelt dich, als seist du schon verrückt. »Sie sind doch Libanese. Liebe Güte, die Libanesen haben das Alphabet erfunden.« Die unheilvollste aller Erfindungen, diejenige, die an allem Weiteren Schuld ist. Der Hebel, der den tödlichen Felsen in Bewegung setzte. »Das Schreiben war praktisch Ihre Erfindung. Bedeutet Ihnen das überhaupt nichts?« Genau das. Nicht das Geringste. Die Geschichten nehmen kein Ende, sie treten über die Ufer und weichen zurück. Dein Gehirn ist ein Antiquariat, das mehr kauft, als es verkauft. Die Regale quellen über. Alles geschieht, selbst im kürzesten Leben. Wir leben alle ewig. An dieser einfachen Erkenntnis wirst du zerbrechen. Du brauchst jemanden, dem du alles erzählen kannst. Du brauchst jemanden, der dir zuhört. Du erzählst es der Maus, bis auch sie nicht mehr kommt. Selbst ein Mäuseleben ist vernünftiger bemessen als deines. Dann kehrt die andere zurück, das Phantom, das dir die Last dieser Gaben abnehmen wird. Du sitzt am Fußende ihres Bettes und streichelst ihr Bein, du hast so viel zu erzählen. »Du wirst es mir nicht glauben. Ich ging die Straße entlang. Ein paar 541
Männer hatten anscheinend eine Reifenpanne. Ich ging langsamer, weil ich sehen wollte, ob ich helfen konnte, und sie befahlen mir einzusteigen.« Aber sie schläft schon, bevor du auch nur sagen kannst, dass es der Auftakt zu mehr, zu anderen Geschichten ist. Du hast sie immer so gern angesehen, wenn sie schlief. Im Schlaf war sie vollkommen. Im Schlaf war sie mit sich im Reinen. Vor ihrem Fenster ziehen Nachtwolken an einem elfenbeinernen Mond vorbei, rosig angehauchte Stratuswolken, immer in Bewegung, wie Sand im Bachbett der Zeit. Sie bittet dich, im anderen Zimmer zu schlafen, weil du nachts so unruhig bist und sie weckst. Aber eins macht sie dir nicht streitig – ihren Fuß darfst du halten. Und heute Nacht, aus solcher Ferne, ziehst du Bilanz über all die Jahre, die du investiert hast, die Beherrschung und Achtung, die Ausbrüche von Selbstgerechtigkeit, die Leckerbissen, die du dir erhofftest als Lohn für deine Zugeständnisse. Die Jahre des Wartens, in denen du glaubtest, eines Tages könntest du ihr von dir erzählen, eines Tages, am Ende eines Tages. Das ist das Äußerste, was sie dir zu geben vermag, außer Tod und Kapitulation: ihren Fuß, wenn sie schläft … Und doch würdest du ihn immer wieder nehmen, zum gleichen Preis. Du spürst eine Unruhe in dir, die nur verstummt, solange du sie irgendwo berührst. Du erzählst es ihr trotzdem, obwohl sie schläft. Und die Hälfte der Geschichten, die du ihr erzählst, handeln nur hiervon: von den Augenblicken gestohlenen Friedens, den Wrackteilen eures gemeinsamen Lebens, an Land gespült nach einem Schiffbruch, geborstene Masten, nicht mehr tauglich zur Ausfahrt, aber doch das einzige Holz, das du hast. Im Schlaf sieht sie aus wie ein Engel, aber du weißt, dass sie wieder erwachen wird. Wenn es soweit ist, steht sie missmutig auf. Sie stemmt die Fäuste in die Hüften, vergewissert sich, 542
dass sie die Knochen noch spürt. Sie betrachtet sich mürrisch im Spiegel. Sie fragt dich: Gefällt dir eigentlich meine Nase? Du liebst ihre Nase. Jeden Teil von ihr: überwältigend und vergänglich. Andere Männer begehren mich. Andere Männer finden mich schön. Warum tust du das nicht? Du wirfst ihr einen finsteren Blick zu, ein hilfloses Zucken auf den Lippen. Du musterst ihre Züge in diesem Licht, Licht, das sie nicht beeinflussen kann. Ich begehre dich. Ich finde dich schön. Lass doch den Unsinn. Allzu viele Spielchen kann die Welt nicht mehr ertragen. Sie fragt dich: Meinst du, ich soll sie verkleinern lassen? Nur an der Spitze. Nur ein kleines bisschen. Vielleicht fändest du mich attraktiver, wenn ich eine schönere Nase hätte. Du kannst sie nicht mehr attraktiver finden, als du es in diesem Augenblick schon tust. Und das sagst du ihr. Ungeduldig rümpft sie den fraglichen Körperteil: Viel Unterstützung kriegt man nicht von dir. Du sagst, dass du sie unterstützen wirst, jetzt und bei allen späteren Entscheidungen. Dass du sie umwerfend findest, so wie sie jetzt ist, und dass du alles lieben wirst, was das Alter aus ihr macht. Aber wenn sie meint, dass Korrekturen nötig sind, wirst du auch das schön finden. Du sitzt am Fußende eines anderen Bettes. Sie erwacht aus der Narkose, völlig entstellt. Beide Augen blutunterlaufen, die Wangen gelblich verfärbt, die geschwollene Mitte unter einem Verband verborgen – wer sie nicht kennt, muss denken, sie ist verprügelt worden. Kaum aufgetaucht aus dem Ozean der Betäubung sieht sie dich vorwurfsvoll an: Ich hoffe, jetzt bist du zufrieden. Du bist nicht zufrieden. Dein Schmerz ist bodenlos. Von dem Schmerz könntest du ihr auch erzählen. Du 543
könntest eine Geschichte daraus machen, aus euren gemeinsamen Verrücktheiten, eine Geschichte, über die sie lachen kann, in der Sicherheit ihres nächsten Betts. Etwas, das sie erinnern würde an all die Dummheiten, die euch einst so wichtig waren; du könntest sie ihr beschreiben, so gut du dich entsinnst: deine schlimmsten Schrecken, weit in den Schatten gestellt von dem, was danach kam. Die ganze selbstquälerische Verzweiflung eines versuchten gemeinsamen Lebens, die kleinen Vergünstigungen, zunichte gemacht durch den größeren Krieg. Was hat sie gesagt, als sie das nächste Mal aufwachte? Das ist der Handlungsfaden, an dem du hängst. Das Erzählen wird dein letzter subversiver Akt. Die verbotene Lust am Erzählen, deine einzige Rache an den Dingen, die tatsächlich geschehen sind. Dann ist deine Mutter mit dem Erzählen an der Reihe. Sie hält deinen Kinderfuß und erinnert dich an Dinge, die niemals passiert sind in diesem Leben. Du hörst, wie sie vorliest aus Tausendundeiner Nacht, ein feierliches Ritual für dich und Kamran, auch als ihr längst schon zu groß dafür seid. Ihre Vorlesestimme, in der du damals schon den Hauch eines fremdländischen Akzents ausmachen konntest, der Schlussstein in der rätselhaften Kuppel jener Tage, besänftigt die grenzenlose Verwirrung der Kindheit. Wie du dich durch zwölf harte Stunden brutaler Wirklichkeit gequält hast, nur um dieser dreißig Minuten der verzauberten Schatten willen, in denen du sie lesen hörst, in deinem Bett im Vorzimmer des Vergessens. Deine Mutter mit ihrem nüchternen Realitätssinn, energisch an Herd und Putzeimer, die Frau, die einmal die Feuerwehrleute dazu brachte, sich die schmutzigen Stiefel abzutreten, bevor sie zur Hintertür hineinkamen, um das brennende Kellergeschoss zu löschen, diese Frau geht mit dir auf die Reise in ihrer wunderbaren persischen Märchenmaschine. Sie bedient die Hebel und lässt ganze 544
Königreiche erscheinen, verwunschene Harems, blutige Kriege. Sie dreht an den Knöpfen, und ihr drei erhebt euch in die Lüfte und fliegt von dannen, schneller als ein Lichtstrahl. Sie liest dir wieder vor aus einem Buch, von dem du in all den Jahren deiner Kindheit dachtest, der Titel sei in arabischen Schriftzeichen. Aber wenn du dir jetzt das Bild ins Gedächtnis rufst, ist es so klar, dass du die stilisierte Schrift entziffern kannst: Saadi. Es war so; und es war nicht so: Es war einmal ein Sklave, der sein Schicksal ändern wollte und seinem Herrn davonlief. Aber das Schicksal fing den Flüchtigen wieder ein und verurteilte ihn zu lebenslänglicher harter Arbeit beim Bau eines Hauses für seinen Herrn. Viele Jahre später erschien ein reuiger Sünder am Hofe seines Herrn, kniete nieder und gestand: Ich bin der Sklave, der dir vor vielen Jahren entflohen ist. Der Herr hörte dies mit Entsetzen. Wenn du mein entlaufener Sklave bist, wer ist dann der, den ich zu lebenslanger harter Arbeit verurteilt habe? Er ließ den unschuldigen Gefangenen holen, einen Philosophen namens Lukman. Wie kannst du mir jemals verzeihen? Ich habe dir dein ganzes Leben gestohlen. Aber Lukman antwortete dem Unglücklichen: Du musst nicht um Verzeihung bitten. Denn du hast dein neues Haus, und ich habe die einzige Lektion über das Leben gelernt, die es wert ist gelernt zu werden und die ich niemals gelernt hätte, hättest du mich nicht eingesperrt. Das ist die Botschaft, die deine Mutter dir schickt, eine Botschaft aus dem Buch, aus dem sie dir vor einem Vierteljahrhundert vorlas. Eine Fabel zur Vorbereitung auf ein Leben, das dich eines Tages zur Geisel machen würde. Wieder erzählt sie dir ihre Lieblingsgeschichte, wie immer aus dem Gedächtnis, weil ihr liebstes persisches Kinderbuch in 545
den Wirren des wiederholten Exils verloren gegangen ist. Sie improvisiert, schmückt ihre Erzählung aus, gräbt in der Tiefe wie eine Archäologin, und die fernen Länder erscheinen noch verlockender, jetzt wo sie nur noch Ruinen sind. Es war so und es war nicht so; es war einmal ein großer Naturmaler, der malte eine Landschaft, die war so vollkommen, dass sie ihn zerstörte. Jeder, der das Bild betrachtete, sah etwas anderes. Aber alle sahen Neid und alle wollten besitzen, was sie sahen. Und die, die das Bild am meisten wollten, beschlossen, seinen Schöpfer zu töten und das, was er geschaffen hatte, zu stehlen. Die Geschichte endet jedes Mal anders. Die Erinnerung spielt euch einen Streich, ob nun ihr oder dir. Einmal warnen die gemalten Geschöpfe den Maler vor der Gefahr und vereiteln den Plan. Ein andermal verwandelt der Mord an dem Maler die herrliche Landschaft in ein undurchdringliches Dickicht. Bei dem Ende, das den zwei kleinen, staunenden Jungen das Liebste war, entkommt der Maler seinen Häschern, denn als sie in sein Haus eindringen, finden sie nur das verlassene Bild, und darauf sieht man, ganz in der Ferne, eine winzige Gestalt durch die Berglandschaft fliehen. Tod ist nicht Tod, ebenso wenig wie Fantasie Fantasie. In deinem einen Leben durchläufst du alle Möglichkeiten der Existenz, so wie dein Fötus dem Fisch in seiner Ahnenreihe glich. Alle Unschuld, alle Fehler, vom ersten angstvollen Schrei bis zur spätnächtlichen Verwirrung des Erwachsenen, sind wieder gegenwärtig. Jeder Augenblick deines Lebens verdammt dich dazu, alle anderen aufzureihen und erneut zu durchleben, einen nach dem anderen. Deine Aufklärung, dein finsteres Mittelalter, die nachmittäglichen Schlachtfelder deines Hundertjährigen Kriegs. Alle Zeiten stürzen ein in dieses Jetzt, in den zum Stillstand verdammten Verstand. Einmal hat sie dir eine Pflanze geschenkt. Nicht deine Mutter: die andere. Eine verführerische, tropische 546
Hängepflanze. Ein Friedenspfand, das sie mit dem Fahrrad vorbeibrachte und bei dir vor die Tür stellte, nach einem erbitterten, fünftägigen Kampf ohne Sieger, bei dem keiner von euch sich geschlagen geben wollte. Gut drei Monate lang wuchs und gedieh sie in deiner Obhut. Nach einem neuen Zerwürfnis der üblichen Art begann sie zu welken. Die Blätter verdorrten von der Spitze her, als hätte man sie mit einem Gasfeuerzeug angesengt. Du konntest tun was du wolltest, es war alles vergebens. Die Pflanze kümmerte vor sich hin. Es war Zufall, dass sie sich gerade in dem Augenblick erholte, als Gwen wieder erste zaghafte Annäherungsversuche unternahm. Noch ein paar solche Merkwürdigkeiten, und du warst überzeugt: Diese Pflanze war ein Symbol für den Zustand eurer Beziehung. Ein magisches Geschenk, ein Talisman aus dem persischen Märchen. Sie blühte, so lang eure Liebe blühte, und sie würde unweigerlich sterben, wenn eure Liebe starb. Als ihr beide angeschlagen in die letzte Runde gingt, warf die Pflanze endgültig alle Blätter ab, bis nur noch ein paar kahle Stängel den Schatten eines Stammes zierten. Du trugst die traurigen Überreste in die Garage und ließest sie da stehen, machtest dir nicht einmal die Mühe, die Erde oder den Topf weiterzuverwenden. Ein Jahr später, bei den Vorbereitungen zum Auszug, entdecktest du sie wieder. Sie stand in ihrem Exil hinter einem Rest Maschendraht und zeigte trotz der Dunkelheit neue Triebe. Du gingst ins Haus und riefst sie an. Sie schien sich zu freuen, dass sie von dir hörte. Was dann kam, waren die drei besten Wochen in eurem gemeinsamen Leben, unbelastet, weil nichts ernst war, im Schutz deiner sicheren Abreise. Selbst dieser Traum endete im Misston, mit gegenseitigen Beschuldigungen und deinem eiligen Aufbruch. Vor deiner Abreise pflanztest du die Gewächshauspflanze in das, was als dein Garten galt, ein Stückchen Erde auf der Nordseite deines Hauses, wo sie den ersten Herbst in Chicago wohl kaum 547
überlebt hatte. Hier in diesem dunklen Raum, in dem einen gnadenlosen Lichtstrahl, der durch das Blech dringt, treibt die Pflanze neue Blüten. Sie wuchert wie ein Urwald. Wie konnte sie bei so wenig Fürsorge so üppig gedeihen? Wie ohne dein Zutun dieses Blätterdach entfalten? Auf einmal ist die Welt ganz einfach. Luft, Wasser, Licht, Wärme. Erinnern oder Vergessen. Mögen oder Nichtmögen. Das Abendessen aufessen oder nicht aufessen. Sie haben dich nicht viel geschlagen. Nicht mit Zangen oder Elektroschocks gefoltert, weder verbrannt noch verstümmelt. Es geht dir viel besser als den meisten politischen Gefangenen in den randvollen Lagerhäusern dieser Welt. Für ein paar Wochen funktioniert dein Verstand noch reibungslos wie eine mustergültige Zeitmaschine, spult in jeder beliebigen Geschwindigkeit vor und zurück – Königreiche, Kriege, Harems. Du bist ausgezogen, um die Welt zu sehen, und hast einen Blick auf einen Ort erhascht, der dir in Chicago für immer verborgen geblieben wäre. Es gibt Schlimmeres als Tod durch Einsamkeit. In der Stille dieser grenzenlosen Bibliothek wirst du zur messerscharfen Nadelspitze. Die Menschen sind undurchschaubar ineinander geschlungen, wie die wunderbaren Laugenbrezeln, für die du eine erkleckliche Zahl Gläubige in den Märtyrertod schicken würdest. Die Erkenntnis erschreckt dich nicht, macht dich nicht bitter und nicht wütend. Am Ende ist alles ganz einfach. »Der Krieg ist vorbei«, sagt Muhammad dir am 23. Oktober 1989. Montag. In christlichen Ländern, so stand es in einem längst vergessenen Text, der Tag nach dem Baseballspiel. Er sagt nicht, wie der Krieg ausgegangen ist oder wer ihn gewonnen hat. Er wirkt weder erfreut noch allzu bedrückt. Er sagt nur, dass du bald nach Hause kannst. Diesmal wirklich. 548
Dass du alles vorbereiten sollst. Das ist nicht allzu schwer. Sie schneiden dir die Haare und rasieren dich, nicht wie beim letzten Mal, sondern behutsam und sorgfältig. Es fühlt sich immer noch wie eine Falle an, bis zu dem Augenblick, als sie dir deine alten Kleider bringen, die Sachen, die du an dem Tag anhattest, an dem sie dich fortschleppten, gewaschen und gebügelt, als hättest du sie nur in der Wäscherei gelassen und den Abholzettel verloren gehabt. Deine billigen Baumwolllumpen nehmen sie zurück, geben sie an den nächsten Bewohner weiter oder verkaufen sie auf dem internationalen Markt für Terroristenbedarf. Und dann wartest du. Vier Tage, dann fünf. Im Warten bist du Weltmeister, niemand hat darin so viel Übung wie du. Aber dieser letzte Sprint kurz vor dem Ziel bringt dich fast um. Eine ganze Woche lang sitzt du da, dein Bündel geschnürt im Schoß, bereit, auf das erste Zeichen hin in See zu stechen. Muhammed erscheint, so munter, wie du ihn noch nie erlebt hast. Er löst deine Fesseln. »Kommen Sie, Mr Taimur. Wir haben eine wunderbare Überraschung für Sie.« Du bleibst stehen und fliehst zugleich in jede erdenkliche Richtung. »Lassen Sie die Sachen hier. Kommen Sie einfach mit.« Du kommst an eine Treppe, und diesmal schubsen sie dich nicht hinunter, sondern hinauf. Aber alles ist so ungewohnt, dass dir ihr Irrtum weiter keine Gedanken macht. Sie bringen dich nach oben, bis es nicht mehr höher geht. Du spürst, wie du nach draußen kommst, aufs Dach deines Gefängnisses. Die Wächter, einer an jedem Ellenbogen, führen dich an – vermutest du – die Dachkante. Erst jetzt geht es dir auf. Dein ganzes Leben war ein einziger Sprung ins Ungewisse, du hattest nie eine Wahl. »Setzen Sie sich«, befiehlt Muhammad. Seine Stimme ist freundlich, umgänglich. Aber das Kommando ist absurd. Die, 549
die mit dir hinaufgestiegen sind, nehmen hinter dir Aufstellung. Um dir in den Rücken zu schießen. Dich nun doch noch zu foltern, nach all den Jahren. Dich über die Kante zu stoßen. »Nehmen Sie die Augenbinde ab.« Du folgst seinen Anweisungen. »Nicht umdrehen.« Du könntest es nicht, selbst wenn alles in dir danach drängte. Du hebst den Blick und schaust hinauf zu einer schwarzen Wand, übersät mit Sternen. Die Nacht ist reglos und still. Ein Nachthimmel weiter als jeder, den du je gesehen hast. Du hast ganz vergessen, wie die Sterne am nächtlichen Himmel funkeln. Es verschlägt dir die Stimme, die eisige Tiefe, das Unendliche, So viele unnummerierte Punkte, nach denen sich jedes nur erdenkliche Bild malen ließe. Diese Welt ist keine Geschichte. Die Welt ist kein Werk der Fantasie. Sonst könnte es nicht so viele von ihnen geben, die dort oben ihre Bahnen ziehen. Du blickst hinauf in die klare Nacht. Das Leuchtfeuer des Mondes lässt die Flut in deinem Inneren steigen. Es ist eine Ehrfurcht in dir, größer als die, für die wir gebaut sind. Du blickst nach unten, und die Lichter selbst dieser geschundenen Stadt sind das Ebenbild derer, die die Natur ans Firmament hängt, um die Leere auszufüllen. Warum haben sie dir diesen Anblick gestattet? Das Herz geht dir über beim Gedanken an dies unbegreifliche Geschenk deiner Peiniger. Es hätte Schauspiel genug sein sollen. Doch unten flammt einige Sekunden lang ein Feuer auf, das mit dem Mond wetteifert. Ein neues, violettfarbenes Licht, das Einzige, was sich in diesem Panorama bewegt, heller, schöner als die starren Punkte, aber es hält sich nicht lange am Himmel. In einem Bogen, dem Spiegelbild seines Aufstiegs, stürzt es zurück zur Erde und geht mit einer Explosion am anderen Ende der Parabel nieder. 550
Wenn dieser Krieg wirklich zu Ende ist, dann hat der Nächste eben begonnen. Ein solches Feuerwerk hatten deine Führer nicht für dich vorgesehen. Sie verschnüren dich von neuem und bringen dich zurück in deine Zelle, bevor sich die Welt draußen noch mehr einfallen lässt. Wieder sitzt du in deiner Zelle, tagelang, wartest, dass die Lage sich klärt, dass du endlich den Marschbefehl bekommst. Nach einer Woche nimmst du dein Bündel aus dem Schoß und verstreust den Inhalt im ganzen Raum. Diesmal versuchst du gar nicht mehr, die Bitterkeit zu unterdrücken. Es ist zu viel. Zu viel, was du schon geopfert hast. Jeden Wächter, der kommt und dir zur Last fällt, fragst du. War es denn alles auch wieder nur ein fauler Trick, um in dir auch das letzte bisschen Leben, das noch geblieben war, zu töten? Keine Antwort. Tiefste Niedergeschlagenheit, das Wellental nach dem Hoch, zu dem du dich hast hinreißen lassen. Du tauchst ein in eine Finsternis so eng und bedrückend, wie der Nachthimmel weit gewesen war. Essen wird zur Last. Ebenso Bewegung. Der tägliche Stuhlgang. Jedes Mal, wenn deine Därme sich jetzt regen, riechst du, wie du innerlich verfaulst. Deine Ausscheidungen sind wie die deines Vaters. Es ist der Geruch, den du aus deiner Kindheit kennst, der Gestank der Krankheit, die den Mann im Inneren zerfraß, das Miasma, das sich noch Jahre nach seinem Tod in eurem Badezimmer hielt. Eines Morgens nimmst du auf der Toilette deine Augenbinde ab und blickst in diesem Dreckloch der Freiheit ins Auge. Direkt vor dir auf dem Bord über dem stinkenden Abtritt, auf Monaten von Unrat, den Kotspritzern von Terroristen und Geiseln, liegt ein schimmerndes schwarzes Objekt. Du hast keine Ahnung welche Marke oder welches Modell. Du weißt nur, dass du ihm den Zeigefinger in den Lauf stecken 551
kannst, ohne dass du Metall berührst. Du greifst nach dem Bösen und drückst es an dich, das erste Mal in deinem Leben, dass du eine Waffe in der Hand hältst. Du wartest, dass ein Gefühl der Macht sich einstellt, aber du spürst nur quälenden Schmerz. Alle Hoffnung ist schon vor Monaten in dir gestorben. Du hast dem Glauben an die Zukunft abgeschworen. Die Fassade ist eingestürzt, und alle Holzwürmer dieser Welt kommen aus dem Gebälk gekrochen. Gott oder ein selbstmörderischer Wächter hat dir dieses Ding in den Schoß gelegt, als sei nichts dabei, und du kannst hinausgehen und um dich schießen, der letzte Ausbruch, mit nichts weiter als der Aussicht auf Rache. Deine Hand zögert, gehemmt von einem Gefühl des Anstands, so unpassend es auch ist. Sinnlose Überzeugungen, die man nicht abschütteln kann. Die Gewohnheit der Moral lahmt dich, selbst hier wo es längst keine Moral mehr gibt. Du legst das schwarze Ding zurück auf das Brett. Deine letzte Chance zur Flucht verschwindet für immer. Du kommst ohne Augenbinde zurück vom Abort. Nichts spielt mehr eine Rolle. Said erwidert deinen Blick, zuerst überrascht, dann erschrocken. Er setzt eine zornige Miene auf und kommt auf dich zu. Eine beiläufige Handbewegung bringt ihn zum Stehen. »Du hast deine Pistole da drin vergessen.« Sein Gesicht wird weißer als Mandeln. Seine Miene erstarrt, er senkt den Kopf, als beschäme ihn die Großmütigkeit, mit der du darauf verzichtet hast, dir den Weg freizuschießen. Eine Ewigkeit lang steht ihr da und seht einander an. Dann macht er sich verstohlen davon, hastet zum Abort, damit er vor dem Engel des Herrn dort eintrifft. Du gehst zurück in deine Zelle, schließt selbst die Tür hinter dir und streifst die Augenbinde über. Von da an nimmst du sie nicht mehr ab. Wenn es für eine 552
Stunde sein muss, dann kann es auch für alle Zeiten sein. Nie, wieder wird dich jemand dafür bestrafen können, dass du sie nicht umhast. Und Blindheit wappnet dich gegen die Täuschungen der Welt. Aus dem Korridor dringen die Laute der anderen herüber, die aus ihren Zellen geholt oder zurückgebracht werden. Ein- oder zweimal entdeckst du auf dem gemeinsamen Abtritt Zeichen, wortlose Botschaften, die jene anderen Leben zurückgelassen haben – abgeschnittene Fingernägel auf den Fliesen oder Stofffetzen von ihren Hemden. Du lebst in ständiger Furcht vor dem direkten Kontakt. Dann, eines Tages, ist es so weit. Eine neue Folge von Klopfzeichen an deiner Wand zwingt dich zurück. Erregung und Verbitterung kämpfen in deinem Inneren um die Vorherrschaft. Aber das Leben gibt nicht nach. Gegen deinen Willen ordnet dein Verstand die ankommenden Daten zu Worten. Spontan erfindet der neue Insasse den Morsecode neu, mit dessen Hilfe du dich für kurze Zeit mit dem Franzosen Junot unterhalten hattest. Einmal Klopfen heißt A. Das Untergrund-Alphabet der ersten Zuflucht. Die Zeichen kommen von einem amerikanischen Journalisten, der noch länger in Gefangenschaft ist als du. Als du deinen Namen nennst, unterbricht er: Wissen wir. Er behauptet, er sei mit anderen in der Zelle, und gibt dir ihre Namen durch. Du weißt nicht, ob du es als Scherz nehmen sollst oder als Halluzination. Deine Gedanken umschwirren dich wie Bienen. Der Gesprächsfaden gleitet dir aus der Hand. Du verlierst bei den Zeichen den Überblick oder weißt nicht mehr, welches Wort du gerade übermitteln wolltest. Was der Journalist zurückmorst, ergibt keinen Sinn. Er behauptet, die Wachen ließen ihn von Zeit zu Zeit arabische Zeitungen lesen. In langen Sätzen gibt er dir die absurdesten Nachrichten durch, Journalistenfantasien: Fall der Berliner Mauer. Aufhebung der Apartheid. Freie Wahlen in der Sowjetunion. 553
Er versucht dir zu sagen, dass etliche westliche Geiseln schon freigelassen sind. Offenbar ist sein Wunsch an etwas zu glauben so übermächtig, dass er darüber den Verstand verloren hat. Und du bist so begierig auf die Morsenachrichten deines Landsmanns, dass sein optimistischer Irrsinn dich fast schon angesteckt hat. So grausam das ist, brichst du den Kontakt zu ihm ab. Du kannst ihm nicht helfen. Aber er kann alles für dich noch viel schlimmer machen. Es vergeht unermesslich viel Zeit. Auf der ganzen Welt gibt es keinen Ort, wohin sie verschwunden sein könnte. Du ziehst dich ganz in dich zurück und wartest. Wartest auf nichts. Wartest auf die einzig mögliche Befreiung. Deine Seele zerschlägt die letzten Möbel, das letzte bisschen Menschenwürde, und macht Brennholz daraus. Wenn auch das verheizt ist, bist du Fraß für die Geier. Du hast immer geglaubt, du liebtest deine Gwen und könntest mit deiner Fürsorge ihr Misstrauen besiegen, wolltest ihr zeigen, dass Glück möglich war und dass ihr es für euch beide gemeinsam erobern konntet. Jetzt erst, in dieser zerbombten Leere, begreifst du, dass du sie mit deiner Liebe immer nur manipuliert, erdrückt hast, dass du ihre Kränkung nie anerkannt, ihre Verwirrung nicht ernst genommen hast, sie zum gemeinsamen Glück zu den einzigen Bedingungen zwingen wolltest, die du dir vorstellen konntest … Deine Liebe selbst war das Diktat, dem sie sich nicht beugen konnte. Nur ihre Souveränität, ihre ganz persönliche Freiheit, konnte sie gegen deine Forderung nach bedingungsloser Gemeinschaft setzen. Du warst für sie der Unterdrücker, der Tyrann, und da spielt es keine Rolle mehr, was sie dir sonst noch unterstellen wollte. Du fühltest dich von ihr zurückgestoßen, dabei stand sie nur still und stemmte sich deinem Zerren entgegen. Sie wollte von deiner Liebe nicht mehr, als dass du sie in Frieden ließest. Genauso ist es mit deinem ruinierten Leben. Selbst wenn 554
morgen alle Kriege zu Ende gingen, bliebe deine Gefangenschaft bestehen. Sie ist alles, was deine Entführer haben, ihr einziger Beleg dafür, dass die Zukunft sie nicht mit Haut und Haaren verschlungen hat. Nur einen kleinen Unterschied gibt es: Wo die Liebe in der Umklammerung nicht bestehen kann, kann der Hass nicht loslassen, ohne zu sterben. Im Herbst 1990 fangen deine Zähne an zu bröckeln. Etwas Schreckliches geht mit ihnen vor, ein umfassender, fortschreitender Verfall, der Stücke von deinen Backenzähnen abbrechen lässt, sobald du etwas Härteres als Fladenbrot isst. Du kämpfst gegen den pochenden Schmerz an, beißt fester zu, zermalmst den Schmerz zum quälenden Dauerzustand, bis du dir in einem unaufmerksamen Augenblick fast die Zungenspitze abbeißt. Du bist wie geblendet von dem rasenden Schmerz. Tastest dich mühsam an deiner Kette entlang. Du spannst den Rücken, schnellst nach vorn und schlägst mit der Stirn gegen die Mauer. Dein Kopf prallt ab von dem Beton. Etwas gibt nach. Dein Rücken spannt sich erneut und schnellt wieder vor, mit noch größerer Wucht. Wie die nickende Spielzeugente, die immer aufs Neue den Schnabel ins Wasser taucht. Wieder und wieder. Deine Stirn rutscht ab auf dem schmierigfeuchten Fleck, der sich auf dem Stein bildet. »Es soll aufhören«, hörst du dich schreien. »Es soll aufhören. Es soll –« Und dann hört es auf. Seit Jahren krallst du dich mit aller Macht an den Rand dieses Abgrunds. Jetzt geben deine Finger nach, ihre Kraft ist erschöpft. Dein ganzes Leben war ein einziger Kampf gegen das Abgleiten ins Chaos, und jetzt fühlst du, dass du den Kampf verloren hast. Du blickst hinab in den Abgrund, lässt los und stürzt in die Tiefe.
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Der Raum ist dunkel, ohne Maß. Er hat keine Tür. Oder auch nur ein Fenster, durch das du hineingekommen sein könntest. Etwas will nicht, dass wir das tun. Bezug?, fragte Spiegel seine Gefährtin. Oder wenn nicht seine Gefährtin, dann doch die, die nachts neben ihm lag. Was ist das für ein Das? Bilder. Sieh es dir doch an. Tausend Jahre Mosaiken. Alle paar hundert Jahre haben sie es neu gemacht, vom Boden bis zur Kuppel. Und alle zwei Jahrhunderte übermalt oder alles von den Wänden gerissen Hartnäckige kleine Burschen, diese Sie. Und ganz schön wankelmütig. Wankelmütig ist wohl kaum das richtige Wort. Horden von Bilderstürmern. Dann wieder alles neu ausgemalt. Immer und immer wieder. Schlimmer als die Abtreibungsgegner. Ein totaler Krieg um unsere unsterblichen Seelen. Und wer bleibt am Ende Sieger? Das wüsste ich wirklich gern. Kommt darauf an, wo du die Uhr anhältst. Sieh in einem bestimmten Jahrhundert nach, und sie haben alles von den Wänden gerissen. Komm im Nächsten wieder, und es sieht schlimmer aus als eine Plakatwand. Moment. Du hast mir gesagt, die Figur, an der du arbeitest, stammt aus dem dreizehnten Jahrhundert und diese hier aus dem Neunten. Ich sehe keinen Unterschied zwischen den beiden. Genau der gleiche Stil. Genau das wollten die Byzantiner dir weismachen. Aber es waren auch die Byzantiner, die sie abgerissen haben? Byzantiner. Katholiken. Osmanen. Moderne Säkularisierer. Such dir deine Bilderstürmer aus. Und nicht nur Bilder. Leute 556
haben dafür ihr Leben gelassen. Viele sogar. Ich verstehe nicht … ich meine, was … was macht es denn für einen Unterschied …? Spiegels Geliebte blickte von ihren teuren Kunstreproduktionen auf, enttäuscht. Das sollte er nicht fragen müssen. Das sollte er wissen. Form entstellte die Wahrheit, die sie fest halten wollte. Jedes Bild kreuzigte die Gottheit, die es kopierte. Adies Ton wurde kühl. Nun. Schließlich hat Gott es uns verboten. Der Spott geriet ins Schleudern, zuckte zurück an seinem eigenen elektrischen Zaun. Die zweite Regel, die Er uns überhaupt gegeben hat. Ähm – stimmt. Was war doch gleich die Erste? Wir spielen hier mit dem gefährlichsten Feuer von allen. Dem einen, das unter keinen Umständen sein darf. Als hätte Gott gewusst, dass wir, wenn wir erst einmal mit dem Zeichnen anfangen … Sie brach ab, sah schuldbewusst das Beweismaterial an, das sie vor sich hatte. Dass wir? Dass wir nicht lockerlassen würden, bis das Bild fertig ist. Etwas in ihm wollte, dass sie das Thema fallen ließ. Wollte einfach nur fort. Und was machen wir da? Ich meine, wir haben hier Interieurs aus anderthalb Jahrtausenden, das ganze Spektrum von kunterbunt bis hin zu kahlen Wänden. Welchen Augenblick nehmen wir denn nun? Sie saß da, eine sprachlose Muttergottes, hielt ihre Computermaus vor der Brust wie ihr Kind, damit es wieder als Zielscheibe dienen konnte. Genau das ist die Frage. Das Gefäß entstand, Licht brach sich in der Luft. Der Blick, der durch das Erdgeschoss wanderte, schlüpfte in immer neue Torbögen, verborgene Nischen, Säulenwälder, so vieles wies 557
auf immer weiteren Raum, dass kein Grundriss auszumachen war. Alles strebte aufwärts – in die Mitte, die Kuppel des Paradieses, und in die Halbkuppeln ihr zur Seite. Spiegel arbeitete an dem Programm, das den Wanderer durch diese Skulptur der Leere führen sollte. Der Körper des Besuchers wurde zu seinem eigenen Joystick, mit dem er sich in jede Himmelsrichtung, in die er sich neigte, bewegen konnte. Und als Krönung ließ Spiegel sich etwas einfallen, das so perfekt war, dass man es schlichtweg für selbstverständlich nahm. Reckte der Besucher den Zeigefinger in die Höhe, erhob er sich in die Lüfte, empor in das gewaltige Gewölbe. So oft er das Programm auch testete, überwältigte ihn die Faszination des Fliegens doch immer wieder neu. Sich vom Boden erheben können, der Traum aller Kinder, die Freiheit des Vogels, Sehnsucht unserer Seele, mühelos zum Leben erwacht. Er hob den Finger himmelwärts. Der Boden verschwand in der Tiefe. Die Bögen der oberen Ränge näherten sich. Er schwebte schwerelos, zwanzig Meter über dem Kirchenboden, hing in der Luft wie ein mittelalterlicher Mönch, der das Wunder der Himmelfahrt Christi allein durch die Kraft seines Glaubens nacherlebte. Das ganze RL stand Schlange, um es selbst zu probieren. Selbst die hart gesottensten Hardwareleute konnten gar nicht genug vom Fliegen bekommen. Binnen kurzem war die Hagia Sophia die größte Attraktion seit dem kretischen Stierspringen, Ebesen und Vulgamott hielten sich vornehm abseits. Lim probierte es und zahlte mit heftigem Nasenbluten für seinen Flug. Adie bestand darauf, dass sie jede Kleinigkeit nachbildeten: das Theotokos-Mosaik hoch oben in der östlichen Apsis, die strenge Deesis in ihrer Galerie auf der Südempore. Ein allumfassendes Ganzes entstand aus der Anthologie von Teilen. Und doch entwickelte sich die Suche nach Zuflucht zu einem ganz und gar banalen Wettlauf: Ihr Wunsch nach 558
Vollkommenheit im Detail trat gegen den immer näher rückenden Termin der öffentlichen Vorstellung im Frühjahr an. Bei jedem einzelnen Mosaikstein im Tympanon des südwestlichen Narthex verweilte sie länger, als sie verantworten konnte: Justinian und Konstantin, wie sie die Kirche und die Stadt dem thronenden Christus darbrachten. Jeder der Mosaikherrscher hielt seine maßstabgetreue Gabe empor: einen kleinen kuppelgekrönten Kosmos im Inneren des kleinen kuppelgekrönten Kosmos, den sie zierten. Stevie sah ihr bei der Arbeit zu, erregt von der Stille, in der sie ganz und gar aufging. Das wäre also die vollkommene VR?, fragte er. Die ganze Welt in Händen halten …? Sie lächelte und nickte. Aber nicht dazugehören. Weißt du, was wir brauchen? Sag mir, was wir brauchen, Stevie. Ein Programm, das genauso brüchig wird wie der echte Mörtel. Steine, die unter dem Druck allmählich nachgeben. Krümel rieseln von den Säulen herab, wenn die Simulation einmal ein paar hundert Jahre gelaufen ist. Schutt, der nicht im Programm steht … Oh, sagte sie. Den haben wir doch längst. Der Raum war weit genug fortgeschritten, dass sie eine virtuelle Weihnachtsmesse darin feiern konnten. Adie und Spiegel verbrachten die letzten Minuten des Jahres 1990 dort und steckten Steinchen ans Himmelsgewölbe. Dann kam das neue Jahr. Später konnte sie nicht sagen, sie hätte es nicht kommen sehen. Aber sie hätte es nie geglaubt. Monatelang hatte sie die Flut der Daten, die keinerlei Information enthielten, über sich hinwegströmen lassen, die täglichen Berichte über den neuesten Konflikt in der Wüste, hatte gesehen und doch nicht 559
gesehen. O’Reilly und Kaladjian hatten sogar grimmige Wetten darauf abgeschlossen, welche Seite zuerst mit der Wimper zucken würde. Doch die Zeit des Nervenkriegs war längst vorbei. Die Welt achtete nicht mehr auf ein Wimpernzucken. In der zweiten Woche des Jahres, in dem die Grotte der staunenden Öffentlichkeit enthüllt werden sollte, brach der elektronische Sturm, der so lange nur Simulation gewesen war, schließlich los. Es war Zufall, dass Adie die ersten Schüsse mitbekam, auf einem Fernsehbild so groß wie eine Postkarte, das ihr jordanischer Gemüsehändler wie hypnotisiert anstarrte, als sie versuchte, bei ihm Endivien fürs Abendessen zu kaufen. Zwei überdrehte amerikanische Reporter, hoch oben in einem Bürohochhaus, schickten ihren hysterischen Wortschwall in den Äther, Phantom-Jäger, die kreischend über den Himmel von Bagdad schossen. In aller Eile kehrte sie zu ihrer Insel zurück, zu Stevie. Er hockte auf den Wohnzimmerdielen, direkt vor dem Fernsehschirm. Was ist geschehen?, fragte sie, dabei wusste sie es längst. Was geht vor? Als ob es auf diese Frage je eine Antwort gäbe. »Bagdad hat geleuchtet wie ein Weihnachtsbaum«, erklärte ein Pilot der Kamera. »Das war ein Feuerwerk!« »Wie am Fourth of July da unten«, bestätigte ein anderer Junge. »Wie im Kino.« »Nein«, rief sie. Lauter. Noch einmal. Unter Tränen. Keiner beachtete sie. Der ganze Planet versank im Flimmern des großen Deliriums. Dutzende von Ländern ließen sich ans Kabelfernsehen anschließen, nur um rund um die Uhr dabei zu sein. Die nördliche Welthalbkugel verbrachte den Winter vor dem Fernseher. Auf ein Zeichen, in stillschweigendem Übereinkommen, knüpfte sich das Netz tagesfüllender Berichterstattung. Kein Versteck bot Deckung vor diesem Sperrfeuer der 560
Nachrichten. Wohin Adie auch blickte, blickte sie durchs Fadenkreuz. Ihre Kollegen debattierten jeden Nachrichtenschnipsel, der auf die Schirme kam. Floh sie aus den Büros, erstickten Läden und Tankstellen sie ungefragt mit der Berichterstattung – Luftangriffe, die es wie Rabattmärkchen als Gratiszugabe gab. Stevie, süchtig vom ersten Augenblick an, drehte den Ton ab, ging durchs Haus und tat, als interessiere ihn das alles nicht. Ein Dutzend Mal am Tag nahm Adie dieselben Kabukibilder in sich auf: Zeitlupenaufnahmen der vom Himmel regnenden Vernichtung, das unheimliche Farbenspiel der Infrarotaufnahmen. Sie aß nichts mehr. Sie musste sich übergeben, zu allen erdenklichen Zeiten hinter verschlossener Badezimmertür. Intelligente Bomben übermittelten Videobilder an noch intelligentere Bomber. Kameras in der Raketenspitze verfolgten ihren Weg bis zum Augenblick der Detonation. Ein Geschoss flog präzise die Mittellinie einer sechseinhalb Meter breiten Brücke an. Ein anderes fuhr in den Kamin einer vermuteten Kommandozentrale. Laserstrahlen lenkten ihre Bombenlast über Hunderte von Meilen über Höhen und Tiefen des Erdbodens und führten sie an ein Ziel, das nicht größer war als die Stirnwand der Grotte. Die Zielgenauigkeit machte diese Bilder so betörend, dass niemand, der einmal hingesehen hatte, je wieder wegsehen konnte. Die Menschheit hatte die Vollkommenheit erreicht, von der sie seit ihren Anfängen träumte. Die Fernsehbilder feierten diesen Triumph. Aber je mehr Adie hinsah, desto weniger sah sie tatsächlich. Die Ereignisse verschwanden im Strudel der endlosen Folge von Nachrichtensendungen. Sie versuchte zu begreifen und stand mit leeren Händen. Menschen starben lautlos, blutlos, kilometertief unter dem allsehenden Auge. Über Nacht tauchten überall gelbe Schleifen auf – Zeichen der Hoffnung, dass die Eingerückten zurückkehren würden, um 561
Bäume gebunden wie eine Kompresse –, und keiner konnte sagen, woher sie kamen. Dutzende von Mega-Berühmtheiten taten sich zusammen und nahmen eine Schallplatte auf, in deren betroffenen Tönen jegliche politische Haltung zu einer Botschaft der Hoffnung und des allgemeinen Wohlwollens verpuffte. In regelmäßigen Abständen, fein abgestimmt auf die Entsendung weiterer Truppenkontingente, gaben die Stabschefs Pressekonferenzen, erklärten ihre Multimedia-Clipps Szene für Szene. Das Realization Lab schaute gebannt zu, wie der große Spielplan des Krieges sich entwickelte, dessen Ziele so weitläufig und obskur waren wie die Mittel schnell und präzise. Die Gewalt verselbständigte sich, bis sogar die Zuschauer nur noch Nebensache waren. Babylon wurde zur Bitmap. Piloten zerstreuten seine Sandkörner in alle Winde, Pixel für Pixel, ihre Soldatenleiber mit elektronischen Nabelschnüren an Waffensysteme gebunden, jede Bewegung des Joysticks über Jahre in Simulationen trainiert, die nun Wirklichkeit geworden waren. Nachtsichtgeräte registrierten die kleinste Bewegung, über unglaubliche Distanzen, im Stockdunklen. Maschinen pirschten sich an lebende Ziele heran. Algorithmen, die jede Veränderung registrierten, konnten warm von kalt unterscheiden, Freund von Feind, getarnte Waffenlager von ihrer harmlosen Umgebung. Menschliche Intelligenz ging ganz in ihren eigenen Schöpfungen auf. Es war der perfekte Krieg: einer, den man tief im Feindesland führte. Letzten Endes erzählte er keine Geschichte, er bestand nur aus seinen grausigen Bildern. Abend für Abend starrten Adie und Stevie auf den stummen Schirm, die Bettdecke bis ans Kinn gezogen, und mussten mit ansehen, was aus ihrer Arbeit geworden war. Wir haben das gemacht?, flüsterte sie. Das ist unsere Schuld? 562
Er hatte den Blick auf den Bildschirm geheftet, wollte kein noch so kleines entlastendes Indiz versäumen. Aber nein, natürlich nicht. Red keinen Unsinn. Die Bomben, die dreidimensional sehen können? Die die Silhouetten von irakischen Fahrzeugen von unseren unterscheiden können? Die Cruisemissiles, die eine ganze digitale Weltkarte in sich haben, damit sie genau wissen, wo sie explodieren sollen? Er tat es mit einem Schulterzucken ab. Zu sehr in der Defensive, um sich noch zu verteidigen. Stevie, ich muss das wissen. Die Stimme war gespannt wie der Zünder einer Bombe. Woran haben wir gearbeitet? Steckt in diesen Sachen dieselbe Elektronik wie in unseren? Nehmen sie unsere Programme? Es klang so naiv, dass er lächeln musste. Das Militär? Die Air Force hat die virtuelle Realität schon vor einem halben Jahrhundert erfunden. Gefechtstraining, Flugsimulatoren. Die Army hat die ersten Computer gebaut, damals, als noch die Nazis die Feinde waren. Vom ersten Tag an haben sie in der VR ihre Finger gehabt. ARPA hat das Internet aufgebaut, ein Militärprojekt. Sie haben den ersten Mikroprozessor in Auftrag gegeben. Wer Whirlwind sät, wird SAGE ernten. Er redete weiter, dumpf, tonlos. Auf Autopilot. Genau genommen sind wir es, die mit Militärprogrammen arbeiten. Das ganze verrückte Jahrhundert lebt ja von dem, was das Militär produziert. Sie schlüpfte aus dem Bett und schaltete den Fernseher ab. Tut mir Leid. Ich kann das nicht mehr länger ansehen. Natürlich. Du hast ja ganz Recht. Sie schmiegten sich aneinander auf der Suche nach Schutz, Wärme, Schlaf. Aber zu zweit sein genügte nicht. Sie konnte nicht stillliegen, wälzte sich alle zwei Minuten auf die andere Seite, drehte sich auf dem Bratspieß der Wahrheit. Es lag auf 563
der Hand, dass die Stabschefs wollten, was die Kunst versprach: die Fesseln der Materie sprengen, damit die Gedanken Wirklichkeit wurden. Das hast du nicht gewusst?, fragte er in der Dunkelheit, zu leise, als dass er eine Antwort erwarten konnte. Das hast du wirklich nicht gewusst? Sie schrie auf bei diesen Worten, und nichts konnte sie mehr beruhigen. Sie ging zu Jonathan Freese. Für wen arbeiten wir hier? Also, ich mache das für mich. Für wen arbeitest du? Jonathan, das ist kein Witz. Ich meine es ernst. Wer kauft die Sachen, die wir produzieren? Er sah sie an, unschlüssig, ob er darüber lachen oder sie hinauswerfen sollte. Er zeigte ihr die Liste der Interessenten, die sich schon jetzt zu den Vorführungen der Grotte im Frühjahr angemeldet hatten. Er konnte es ihr schlecht verweigern. Disney, sicher. Sony, gewiss. Ein halbes Dutzend akademischer Forschungsinstitute. Aber die Mehrzahl waren andere Einrichtungen, deren harmlose Abkürzungen die Richtung, aus der sie kamen, nicht verbergen konnten. Der Tod war ein Trittbrettfahrer, ein Virus, das sie benutzte, das RL, die Grotte nahm, um sein Genom in die Welt zu bringen. Du hast mich aufs Kreuz gelegt, nicht wahr? Wie du es vom ersten Tag an wolltest …. Kindchen, ich weiß, dass wir hier alle ziemlich unter Druck stehen. Ich werde vergessen, was du gesagt hast. Sie zeigte ihm nicht einmal den Finger. Sie ging zu Karl Ebesen. Sie fand ihn gemeinsam mit Michael Vulgamott im Büro, wo sie den Stellvertreterkrieg der SCUD- und Patriot-Raketen verfolgten. Sie zeigte mit dem Finger auf den Schirm, auf den sie starrten und wo nun ein gen 564
Norden ziehender Flüchtlingsstrom zu sehen war. Ihre Stimme klang beinahe beherrscht. Ist das unser Werk? Sie blickten auf, trauten sich nicht, sich zu regen. Das hier. Sind wir dafür verantwortlich? Ebesen sah sie an. Wir sind immer für … alles verantwortlich, was wir tun. Sie sank auf einen Platz an seinem Tisch und brach in Tränen aus. Er rückte seinen Stuhl näher, ratlos. Einen kurzen Augenblick lang schien es tatsächlich, als berühre er sie. Seit meiner Geburt?, sagte sie. Solange ich überhaupt zurückdenken kann? Alles, was ich jemals wollte? Ich wollte doch mein Leben lang etwas Schönes schaffen. Etwas, das niemandem wehtut. Er nickte. Er kannte das: etwas Gutes aus unserer Arbeit und unserem Leben machen. Der Ursprung aller Schuldgefühle. Sie konnte nichts wollen, was ihn nicht schon verbrannt hatte. Sie schüttelte den Kopf, verzweifelt. Ihr Schluchzen klang, als zerreiße ein Vorhang. Warum hast du mir das nicht gesagt? Er runzelte die Stirn. Sah sie grimmig an. Hielt hilflos die Hände in die Höhe. Ich weiß, schluchzte sie. Ich weiß. Ich habe nicht gefragt. Ihr Fehler: ihr Werk, von Anfang an, vom ersten Buntstiftstrich. Etwas in ihr musste es gewollt haben, sonst hätte sie sich nicht so tief verstrickt, ohne zu sehen, wie groß der Verrat war, der Verrat, dem sie mit ihrer liebevollen Hingabe den Weg gebahnt hatte. Der Tod aus den Lüften würde Sieger bleiben. Die Bomber flogen wieder, fern und vollkommen, an jedem Steuerknüppel ein unnahbarer Vater, sie flogen wieder, auch wenn sie noch so sehr versucht hatte, sie mit Geschenken zu befrieden. Schon einmal hatte die Air Force fortgeworfen, was sie mit Händen gemacht hatte, das, 565
was als Besänftigung gedacht war. Und jetzt war es noch schlimmer: Sie nahmen all ihre schönen Bilder und machten ihren Gebrauch davon. Der Raum hatte sich in ihr eingenistet wie ein Parasit. Das RL, die Grotte – intelligente Waffensysteme – waren nur die Skizzen zum Nächsten, größeren Projekt. Ihre Arbeit war nur der erste Entwurf für das, was kommen sollte. Die Weltmaschine hatte sie benutzt, sie allesamt ausgenutzt, und stand nun umso mächtiger da. Und das Werkzeug, das sie dazu erwählt hatte – der Hebel, der Standort, die Technik, die ihr zum Sprung in die dritte Dimension verholfen hatte –, war die schönste, anheimelndste, selbstvergessenste Flucht vor der Welt. Das, was nichts bezweckte. Der Spiegel der Natur. Die Kunst. Schließlich war der Krieg eine Berufung. Und die Kriegstreiber hatten Adie einberufen, sie zum Rädchen in ihrer Maschine gemacht. Sie hatten sie als Blindenhund des Todes angestellt, und sie hatte ihn an einen Ort gesteuert, den er nicht ohne fremde Hilfe finden konnte. All das war ihr klar, bevor der Angriff der Bodentruppen überhaupt begann. Das Mädchen mit dem Malkasten hatte gute Arbeit geleistet. Alles, was die Fantasie sich ausgemalt hatte, würde nun Wirklichkeit werden. Du bist überhaupt nicht mehr hier, klagte Spiegel. Selbst wenn du da bist. Wenn ich mit dir rede, wenn ich dich berühre. Es ist, als ginge alles einfach durch dich hindurch. Tut mir Leid, log sie, mimte die Ruhige, so gut sie konnte. Wird schon wieder. Das Leben übersteht das, wollte er sagen. Das Leben überlebt auch sein eigenes Bild. Willst du mich damit bestrafen?, fragte er stattdessen. Dafür, dass ich dich hergeholt habe? Möchtest du lieber aufhören? Sollen wir einfach den ganzen Krempel hinschmeißen? Ich bin dabei. Ich komme überallhin mit. Hauptsache, wir bleiben zusammen. 566
Und im Moment, in dem er das sagte, verwandelte sich die Straße nach Basra in ein hundert Meilen langes Krematorium. Hubschrauber filmten das Schauspiel in allen Einzelheiten, aus tausend effektvoll inszenierten Blickwinkeln. Kannst du mir Zugang zum Hauptverzeichnis verschaffen?, fragte sie, streichelte ihn dabei. Was willst du …? Kannst du mir sagen …? Aber wer vertraute, durfte nicht fragen. Brauchst du Hilfe dabei? Sie lächelte, küsste ihn, ein tiefer Zungenkuss. Lass dich überraschen. Er verriet ihr die Passwörter des gesamten Systems. Die Liebe machte ihn blind, er war der Software-Ingenieur der Liebe, der alles eintauschte für ein paar Fetzen Beziehung in Echtzeit. Zuerst löschte sie die Backup-Dateien. So viel hatte sie in den Jahren, die sie die digitale Welt nun kannte, gelernt. Eine nach der anderen rief sie die Sicherungskopien aus den Archiven auf. Datei um Datei, Ordner um Ordner löschte sie die Früchte ihrer Arbeit. Es war nicht viel, dieser Vergeltungsschlag. Er stand in keinem Verhältnis zum Schaden, der angerichtet war. Doch mit ihren beschränkten Mitteln war Adie fest entschlossen, zu töten, was sie konnte. Die Projekte, zu denen sie nichts beigetragen hatte, rührte sie nicht an. Den Wetterraum, den Molekülsimulator: Jeder Schöpfer musste selbst entscheiden, wie er mit seinen Geschöpfen verfuhr. O’Reillys Prognoseraum blieb intakt, der, der den Golfkrieg vorausgesagt hatte und den Krieg, der nach dem Golfkrieg kam. Auch Kaladjians Wunderland der reinen Mathematik ließ sie, wie es war. Selbst bei den Welten, an denen sie mitgearbeitet hatte, sparte sie die Beiträge der anderen aus. Sie riss die Fußbodendielen in Arles heraus, doch Rajs gespenstisches Knarren ließ sie zurück. Sie setzte den Dschungel ihrer Träume in Brand, doch sie 567
sorgte dafür, dass die Gewächse nicht Feuer fingen, die Karl großgezogen hatte. Alles verschwand im Orkus der gelöschten Daten: der ebenholzschwarze Flötenspieler, der dritte Affe, aus dem Unterholz aufgescheucht, die träumende Mandelfrau, deren Züge Spider Lim erkannt hatte … Sie vernichtete jede Archivkopie, so schnell sie die Löschkommandos nur tippen konnte. Dann wandte sie sich den aktuellen Stammdateien zu, den lebendigen Originalen. Wie hatte die Freude daran sie auf solche Abwege führen können? Ihr vorgegaukelt, dass sie einen Sinn darin finden konnte, im trunkenen Glauben, sie Folge einer Berufung, erfülle eine wertvolle Aufgabe, die nur ihre Hände erfüllen könnten … Aber sie konnte ihre Mappe doch nicht ohne einen letzten Blick darauf in den Abgrund schleudern. Nun, wo sie die Fakten kannte, war sie immun gegen die Verführung. Sie wollte nur fünf Minuten, um zu sehen, wie die Illusion wirkte, wenn man nicht mehr daran glaubte. Sie lud die Kathedrale und trat wieder ein. Sie neigte sich in den großen leeren Raum des Kirchenschiffs, spürte, wie sie sich wider besseren Wissens bewegte. Sie reckte den Finger in die Höhe und hasste sich dafür, als sie emporschwebte. Sie stieg hinauf bis zur halbrunden Apsis und noch höher in die oberste Kuppel, wo nun in ihren fließenden Schriftzeichen die Sure aus dem Koran prangte. Sie drehte sich in dem imaginären Raum, das Zeitlupenballett eines Astronauten, der weit draußen im luftleeren Raum ein defektes Teil repariert. Eine weitere Pirouette, dann sah sie hinunter in die Tiefe. Die Perspektive Gottes: innerhalb der Simulation, doch nicht Teil von ihr. Und tief unter ihr, da wo alles still sein sollte, regte sich etwas. Sie ließ den Finger sinken, verblüfft. Die programmierte Winde trat in Aktion. Sie stürzte zu Boden wie ein abgeschossener Vogel, kehrte zurück in die Fallgrube der Welt. Nun konnte sie das Unglaubliche erkennen: ein Mann, der zu 568
ihr in ihrem Sturz hinaufschaute, sein Gesicht eine erschrockene Bitmap, die keiner Künstlerfantasie entsprungen sein konnte. Der Raum der Höhle ist ein einziger großer Abgrund. All ihre Kammern stehen in Verbindung. Sie verschmelzen miteinander wie die Schrift der alten Griechen: keine Zwischenräume, keine Kommas, keine Punkte, nur ein einziger langer Fluss, ohne Dämme, ohne Stromschnellen, ein unterirdischer Strom, der niemals seinen Lauf ändert. Doch nie zweimal derselbe Fluss. Hier hast du seit deiner Kindheit gelebt, im Angesicht des Dunkels, hast Schatten für die Dinge gehalten, die sie warfen. An den Wänden dieses Raums entfaltet sich eine Geschichte. Plötzlich, unglaublich, taucht darin jemand auf, der genau ist wie du. Er dreht sich zum Licht, das ihn sogleich blendet. Du rufst ihm zu, er soll laufen, aber er wendet sich ab von dem gleißenden Licht, kehrt zurück in die Sicherheit der Tiefe. Deine Augen gewöhnen sich an das Licht dieses Gedankenspiels. Was du für die Unendlichkeit der Welt gehalten hast, ist vielleicht nicht mehr als die unterirdische Quelle hier. Jetzt verstehst du, dass die Peepshow einfach nur eine Peepshow ist, du erkennst es an dem Videoclip, der für dich projiziert wird. Selbst die linkischsten Marionetten sagen Schatten, sagen Geschichte. Und in dieser Erzählung – ein einziger Fluss, kein Zwischenraum –, der Erzählung, an die du seit deiner Geburt gekettet bist, erkennst du den Raum, in dem du lebst. Doch in all der Zeit, die du im Rund dieses uralten Schriftzeichens gefangen lagst, hat die Menschheit geschäftig ihre Geschichten erzählt. Jahrtausende vergehen im Kampf gegen die Materie. Jede Erfindung führt zur Nächsten. Die Geschichte geht weiter; das Denken eignet sich die Dinge 569
immer mehr an, bis es schließlich an der letzten Schnittstelle angelangt ist. Dem letzten Display, demjenigen, das die Lücke zwischen Ding und Zeichen schließt. In diesem endlosen Raum werden die Bilder Wirklichkeit. Hier kommst du schließlich zur Ruhe, in der schieren Idee eines Bettes. Du musst nur von Liebe sprechen, und sie ist da. Allein das Wort »Essen« macht dich satt. Eine aus Seife geschnitzte Pistole kann deine Feinde töten. Und schon eine grob skizzierte Auferstehung holt die Toten aus den Gräbern. Der Raum der Höhle ist mehr als nur eine Allegorie. Aber der Raum der Höhle ist auch nicht ganz die Realität. Die Schatten an den Wänden regen sich mit einem Hauch von Gegenständlichkeit, mehr als bloße Darstellung, aber doch nicht das Ding an sich. Vorstellung entspringt derselben tiefen Quelle wie die Welt draußen – was die alten Griechen, als sie ihre Wörter noch zusammenschrieben, Formen nannten. In diesem Raum, bei diesem Lichtschein, den das Feuer wirft, spürst du die Eiseskälte draußen vor der Höhle. Von hier kannst du den Wirbel der letzten Wahrheiten erkennen, kalte Kräfte, die du erst spüren konntest, als deine Finger die magische Glasscheibe berührten. Du atmest tief durch. Du beugst dich vor, und die Bilder kommen dir entgegen. Du blickst auf und steigst in die Höhe, oder du senkst den Blick und sinkst hinab. Du findest dich auf einer Felsenklippe wieder, Häuserruinen säumen die Straßen, die sich durch einen Olivenhain winden. Du fliehst bis zur vordersten Spitze der Klippe und schwingst dich in die Lüfte, achtest darauf, dass du diesmal über der Wasserfläche bleibst, aber der Sonne nicht zu nahe. Du lernst deine zerbrechliche Maschine zu steuern. Du segelst dahin, knapp über den schwarzen Wellen. Du stößt hinab zwischen die Riffe und schwimmst in der Luft, deinem Element. Du fliegst, als läsest du in einem Buch, als blättertest 570
du in tausend übermütigen Seiten, nur ohne den Hemmschuh und den Ballast eines Endes. Wohin du auch blickst, siehst du am Horizont weitere Inseln. Du fliegst über sie hinweg, doch immer neue tauchen auf. Sehnsucht treibt dich voran, hinunter zu ihnen. Du hast den Weg zurück zu der Wiege gefunden, in der dieses Projekt begann. Hie und da taucht an den sonnengebleichten Ufern ein Amphitheater auf oder ein Tempel, geweiht derselben sengenden Sonne, die deinen Flug begleitet. Im einen Augenblick sind die Lüfte herbstlich schwer, im Nächsten umweht dich der süße Hauch des Frühlings. Die Jahreszeiten folgen der entführten Göttin durch das Jahr, wie sie aus ihrem unterirdischen Gefängnis emporsteigt und wieder darin versinkt. Du fliegst zu leichtsinnig, oder die Geometrie des Landes stimmt nicht. Ein Titan vernachlässigt seinen Winkel des Himmelszelts. Oder du bist einfach nur an den Rand einer Geschichte geraten, an der selbst jetzt, so kurz vor Schluss, noch immer gebaut wird. Eine Uferböschung, blendend weiß, türmt sich vor dir auf, so schnell, dass du nicht mehr ausweichen kannst. Noch vor dem Aufprall stürzt die Szenerie in sich zusammen. Plötzlich steht die ganze Höhle still, der Datenfluss ergießt sich in den Pufferspeicher. An der Wand, wo Meer und Tempel und Oliven waren, wo die Marmorklippen vom Gipfel bis hinunter in die Brandung reichten, bleibt die Maschine hängen, die falsche Allegorie stürzt ab, der Debugger spuckt nur noch Wörter aus, eine lange Liste ohne Punkt und Komma. Nur durch diesen Riss kannst du sehen, wohin alles führt. Durch die Trümmer der Symbole trittst du hinaus ins Helle. Im Raum der gemeinsamen Erfahrungen verschwindet sie. Sie verschwindet nur Tage vor dem Termin, zu dem das 571
Team der ersten Abordnung aus der Welt draußen seine Arbeit vorführen soll. Sie ist nicht die Einzige, die sich neu orientiert. Rajasundaran, der Zauberer, hat sie bereits verlassen und sich einer Gruppe weiter oben auf dem Berg angeschlossen, einem lockeren Zusammenschluss technischer Visionäre, denen ein notorischer Spekulant die Mittel für noch tiefere Exkursionen in die Welt des simulierten Raums bereitstellen will: direkte elektromuskulare Impulsgeber, elektronische Ohr-Implantate, Digital-Endorphin-Interfaces, 3-D-Scanner, rückgekoppelte Realitätsaugmentatoren, die binnen Mikrosekunden dem Sehzentrum ganze Datensätze zur Verarbeitung ohne Zeitverzögerung liefern. Wischnu wird alle erdenklichen Formen annehmen, bevor die Welt wieder von vorn beginnt. Auch O’Reilly beschließt sich abzusetzen, kurz bevor der Vorhang sich hebt. Doch er wählt die entgegengesetzte Richtung, zurück auf die heimatliche Insel. Der Auslöser ist ein weiterer handgeschriebener Brief, der per archaischer Luftpost kommt. Ein Schock, als ihm das aufgeht: Nach wie vor fliegt die Menschheit in den Lagerräumen von Jumbojets Säcke mit gekritzelten Notizen rund um den Erdball. Hallo Ronan! Ich geb’s zu, es war gelogen. Die Hochzeit war nur ein kleiner Trick. Einer, der anscheinend nicht funktioniert hat. Und weißt du, was das Lächerlichste ist? Der Kerl, den ich erfunden habe, dieser Stephen Powys, der ist tatsächlich noch bescheuerter als du … Er hat genug von allem; mehr als genug. Was hatte er sich nur eingebildet? Geburtshelfer der Zukunft wollte er sein: Da musste man schon übergeschnappt sein. Er hatte gesehen, was aus diesem Schoß hervorkroch – die Kurven, die allesamt bei 572
null ankamen. Die Zukunft brauchte keine Hebamme. Sie brauchte jemanden, der sie abtrieb. Nach Schätzung des delphischen Orakels, geheimnisumwitterter denn je, blieben der Menschheit noch vierzig Jahre. Am besten, man verbrachte sie in der Geborgenheit des rückständigsten Volks des Planeten, da, wo alle Neuerungen erst Jahrhunderte später ankamen, an einem Ort, wo ein einziger Nachmittag sich zu einem ewigen Jetzt ausdehnen konnte. Er würde es mit dem eingebildeten Ehemann aufnehmen, ein Fantasiebild gegen das andere tauschen. Nach irischen Maßstäben ein revolutionäres Arrangement. Aber zu dritt – O’Reilly, Maura und der virtuelle Powys – würden sie schon zu einer vernünftigen Einigung kommen. Er konnte auf die Insel der Verdammten zurückkehren. Er konnte den Rest seiner Tage in einer barbarischen Welt zubringen, konnte seine Kinder in einer barbarischen Welt großziehen, er konnte die Barbareien der Zukunft abwarten, und weit und breit würde niemand sein, der vorhersagte, was aus ihrem Leben noch würde. Der Rest der Belegschaft steht zur großen Vorführung bereit. Lim, der Verwandlungskünstler, macht die Honneurs. Er sorgt dafür, dass die Kunden sich wohl fühlen, denn er spricht mit ihnen die Hardware-Sprache, die alle gemeinsam haben. Er zeigt ihnen die Wirklichkeitsmaschinen, nennt sie im Geiste Rembrandt, Claude, Xie He, doch für die anderen kennt er bei den Power Agates die aktuellen Modellbezeichnungen. So haben wir angefangen, erklärt er der Gesellschaft. Dann führt er, als komischen Kontrast, die ersten holprigen Räume vor, die sie für die Grotte erstellt hatten. Und etwas in diesen Ersten kindlichen Versuchen – die ungelenken Buntstiftstriche, nach allem, was sie seither erreicht hatten – fördert ein altes Bild in ihm zutage. Eine Tante, die ihn in ein Flugzeug setzt und ihm in einer fremden Sprache, die er damals noch verstand, sagt, dass er groß und tapfer sein muss. Sie zeigt ihm 573
Bilder: So sieht deine neue Heimat aus. Die weiße Frau mit dem seltsam kantigen Kopf wird deine Mutter sein. Diese Frau, diese Züge: die gehören jetzt zu dir. Sue Loque zeigt den Prototypen ihres visuellen Entwicklungs-Environments und genießt ihre Rolle als Paradiesvogel des Teams. Ihr jungenhaft draufgängerisches Wesen in dem gepiercten Mädchenkörper kann es gar nicht erwarten, dass Welten kommen, in denen eine Exotik wie die ihre bedeutungslos wird. Die virtuelle Welt würde alle angeborenen Merkmale hinter sich lassen. Kein Alter, kein Geschlecht, keine Rasse, keine Clübchen, keine Machtpolitik … Die Naturwissenschaftler führen ihre visuellen Werkzeuge vor, die sich schon im selben Augenblick durchsetzen, in dem sie das Licht der Öffentlichkeit erblicken. Kaladjian behandelt die zahlenden Gäste mit seiner üblichen Verachtung, weil sie selbst im Angesicht von so viel Intelligenz dieselben dummen Menschen bleiben. Er und Stance ernten für ihren Klimaraum den ersten Applaus. Bergens Biosimulator unterhält die Industrievertreter eine volle halbe Stunde lang. Freese präsidiert über allem mit dem eleganten Lächeln eines Staatsoberhaupts. Doch mit dem Herzen ist er längst anderswo. Gerade zwei Wochen zuvor hat er einen ersten Blick auf den nächsten großen Sprung der Menschheit werfen können. Er ist selbst auf einer ganz ähnlichen Vorführung gewesen und mit einem kleinen Softwareprogramm zurückgekehrt, das aus dem Net ein Medium weltweiter Kommunikation machen soll. Er hat einen Blick von dem erhascht, wohin die Menschheit unterwegs ist, seit die erste Geschichte am Lagerfeuer erzählt wurde: Jeder auf der ganzen Welt soll vierundzwanzig Stunden am Tag Server für jeden anderen sein. Bewegliche Lettern sind Kasperletheater im Vergleich dazu. Die Software, die er gesehen hat, ist bisher nur textbasiert. Aber der Durchbruch – Bilder, Videoclips und schließlich die 574
konsequente Verschmelzung mit der VR – ist nur ein paar Runden der Uhrzeiger entfernt. Der Maschinenstamm ist schon zum nächsten Wirt, zu einer neuen Spezies aufgebrochen. Wie jedes Mal wird es nicht ohne größere Turbulenzen abgehen. Aber was auch immer an Opfern für den nächsten Triumph des Fortschritts zu bringen ist, Freese will dabei sein. Der erste Schub von Kaufinteressenten der Grotte schlendert durch eine Folge von Welten, die visuell immer anspruchsvoller werden. Spiegel rührt die Werbetrommel, verspricht immer wieder, dass das Beste erst noch kommt. Hofft, dass es wirklich so ist. Er hat keine Ahnung, wie das Land aussieht, das seine Freundin ihnen hinterlassen hat. Für einen letzten Probelauf hatte niemand mehr Zeit. Alles, was er weiß, ist, dass sie fort ist, dass sie schon vorher fort war, Wochen bevor sie ging. Auf der letzten Etappe, knapp vor der Ziellinie, hatte sie wie besessen gearbeitet. Etwas war unter dieser Kuppel geschehen, eine Heimsuchung, die für alle außer der Künstlerin unsichtbar blieb. Sie zerrte verzweifelt an dem Bauwerk, als grübe sie am Eingang eines eingestürzten Bergwerksschachtes, in dessen Tiefe Menschen eingeschlossen sind. Sie ging ganz in dem Ort auf, den sie schuf. Sie versenkte sich so sehr, dass er es schließlich nicht mehr aushielt. Was ist denn nur?, fragte er. Was geht da drin vor? Stevie, es ist … ich kann es dir nicht sagen. Du würdest mir nie glauben. Glauben? Wann habe ich dir denn jemals etwas nicht geglaubt? Sie sah ihn an, wog Für und Wider ab. Dann schüttelte sie den Kopf, benommen, selbst ungläubig geworden. Es ist etwas … da drin. Etwas, das herauswill. Etwas, das wir nicht hineingesteckt haben. 575
Ich … das verstehe ich nicht. In dem Raum? Wo? Wo soll denn da etwas …? Sie wandte sich um, wollte fliehen, und er streckte den Arm nach ihr aus – dies eine Mal wollte er sie zum Bleiben zwingen. Und mit diesem Reflex verlor er sie. Sie gab der stärkeren Hand nach, stand teilnahmslos da. Er versuchte sie zu sich hin zu ziehen, ihren Kopf zu heben, damit er ihr in die Augen blicken konnte. Ade. Wenn ich … wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich denken, du betrügst mich. Und der Blick, den sie ihm zuwarf – ertappt, in die Enge getrieben; Wenn du wüsstest –, war schlimmer, als hätte sie Ja gesagt. Ich glaube dir, versuchte er es noch einmal, ins Blaue hinein. Wo immer es … was immer du … ich glaube dir. Aber sie war schon fort, verloren in der Rettungsmission in letzter Minute, die ihr überhitzter Verstand sich ausgedacht hatte. Sie arbeitete allein, hielt eine geheime Verabredung, traf sich mit einem Phantom, zu dessen Gestalt Spiegel nicht einmal Vermutungen hatte. Ihre Fluchten in diese private Geometrie waren so knapp und verzweifelt wie die Liebe. Drei Wochen vor dem Ziel traf ein Pappkarton aus einem Städtchen in Ohio ein, bekannt für Shakermuseen und sein Hochsicherheitsgefängnis. Pfleger hatten ihn, an sie beide adressiert und voll gestopft mit Büchern, Tonbändern, Fotos und einer Hand voll weiterer archaischer Medien, gefunden, als sie das Zimmer ausräumten, das sein Bewohner hatte verlassen müssen. Als einziges Stück aus diesem Nachlass behielt Adie eine Diskette, Teds letzte Komposition, die Kammersinfonie als MIDI-Datei. Seine bizarre, abwegige Vorstellung von einer Musik, die Menschen vielleicht gerne hören wollten. Das ist dein Erinnerungsstück an ihn?, fragte Steve. Mehr 576
willst du nicht als Andenken behalten? Adie nickte nur kurz und war im nächsten Augenblick mit der Datei verschwunden, eine Elster, die ein Stück Alufolie für ihr Nest in Sicherheit bringt. Sie baute rund um die Uhr an Byzanz, bis sie vor Erschöpfung nicht mehr konnte. Die anderen schickten sie mit Fieber ins Bett. Am nächsten Tag war sie wieder da, auch wenn die ganze Mannschaft protestierte. Schatz, es ist doch nur für die Vorführung, beschwor Steve sie. Die Leute kaufen das Ding sowieso, ganz egal, was wir ihnen zeigen. Unsere Maschine ist die beste, die zu haben ist. Die bringen wir schon an den Mann. Adie. Ade. Das ist es doch nicht wert, dass du dir deswegen die Gesundheit ruinierst. Sie ging zurück an die Arbeit, immer noch fiebernd, als sei Gesundheit ein Privileg für die anderen, dessen man sich schämen musste. Ein Hirngespinst. Sie nahm die Programmschnipsel, die sie gestohlen hatte, und setzte sie zu einer Landschaft zusammen. Sie arbeitete, ganz in geheime Zwiesprache mit einem Leben versunken, dessen Stimme niemand sonst vernahm. Die Arbeit an diesem Raum hätte ewig dauern können, für immer unvollendet. Doch als ihr Patchwork seine erste zusammenhängende Form annahm, war es wie eine Befreiung für Adie, und wenigstens einen Abend lang schien sie in Sicherheit. Sie tauchte auf, um frische Luft zu schöpfen, und saß noch einmal mit Stevie zusammen, schweigend, erschöpft, in der kurzen Waffenruhe des Erfolges. Er las es in ihrem Gesicht. Fertig? Fürs Erste, sagte sie. Für immer, hoffe ich. Nun komm. Ich will Lob hören. Jetzt stehe ich wirklich ganz vorn, jedenfalls für ein paar Wochen. Die Leute reißen sich um mich. Ich kann Arbeit bekommen, wo ich will. 577
Und wo wäre das? Keine Ahnung. Wenigstens wissen wir jetzt, wonach wir suchen. Wenigstens haben wir ein Modell. Sie drückte den treuen, verständnislosen Pinkham an sich. Wir werden es merken, wenn wir an der richtigen Stelle sind, stimmt’s, Kumpel? Ich komme mit, sagte Spiegel. Sie legte ihm die Hand an die Brust, die sanfteste Art, Nein zu sagen. Er fasste sie am Handgelenk, und sie zog die Hand zurück. Ade, hör mir zu. Nichts was ich hier mache … hat einen Sinn. Wenn ich niemanden habe, für den ich es machen kann. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, das Lächeln derer, die längst nichts anderes als ihre Kunst mehr kennen. Sie streckte den Finger aus, zog Linien zwischen den Sommersprossenpunkten, die sie inzwischen auswendig kannte. Wie lange sind wir jetzt schon hier oben zusammengesperrt?, fragte sie. Liebe Güte, das muss eine Ewigkeit sein. Wie der Tod. Ich muss hier raus. Richtung Süden. Mich ein bisschen in der Welt umsehen. Ist dir das eigentlich klar, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, wie es da draußen aussieht? Wir können es zu zweit ansehen. Besser. Stereo. Stevie. Ich muss … neu anfangen. Allein. Vor Ort. Er schwieg. Sie bewegte die Lippen, rang nach Worten. Gib uns einfach nur … einen Vorsprung. Ein halbes Jahr. Dann kommst du und suchst uns. Wo? Wenn ich es wüsste, würde ich es dir sagen. Sie lachte, breitete die Arme aus. Oder nein, doch nicht. Das wäre gemogelt. 578
Nicht ein einziger Anhaltspunkt? Du könntest überall sein? Sicher. Die große Schatzsuche. Wie groß kann das Spielfeld sein? Groß, Adie. So groß, dass wir uns alle darin verlieren. So klein, dass es in einen Schuhkarton passt, mein Lieber. Und jede Nanosekunde kleiner. Sie verschwindet nur wenige Tage bevor das Tor sich für das Publikum öffnet. Zeichnet eine Notluke, und durch die steigt sie aus, durch die Farbe in den negativen Raum, durch den einen Pinselstrich hindurch, den Fluchtpunkt, den die Hand erfindet, um das Auge zu täuschen. Was von der Mannschaft noch übrig ist, steht am Eingang zur Grotte und wartet auf sein Stichwort. Vulgamott geht auf und ab, flucht leise vor sich hin. Der Teufel soll sie holen. Künstlerseele. Macht sich in der letzten Minute aus dem Staub. Und wir müssen den ganzen Kram alleine machen. Ebesen steht dabei, trägt sein erstes neues Hemd seit Jahren. Auch die Hosen können nur ein Abschiedsgeschenk sein, schon deswegen, weil sie passen. Natürlich müssen wir es allein machen. Das ist doch der Witz an der falschen Realität. Vulgamott tut, als höre er ihn nicht. Ein kultivierter Mensch sah sich Neuigkeiten im Fernsehen an, er erlebte sie nicht selbst. Und wenn es nicht funktioniert? Nichts funktioniert, erinnert Ebesen ihn. Deshalb arbeiten wir ja immer dran. Aber in diesem Raum, dem Raum der gemeinsamen Erfahrungen, wird die Gruppenausstellung ein voller Erfolg. Der Raum, in dem du gefangen bist, weicht zurück. Er dehnt sich in alle Richtungen, so weit, dass du nicht vom einen Ende zum anderen blicken kannst, der größte leere Raum, den du je gesehen hast. Deine Augen brauchen Zeit, bis sie sich an die 579
Größe gewöhnt haben, die Helligkeit. Eine einzelne Kuppel wölbt sich in solcher Höhe über dir, dass ihre Hülle ebenso gut das sein könnte, wofür sie steht. Sie schwebt über einem Strahlenkranz aus vierzig Fenstern, ruht auf einer Krone aus Licht. Es ist ein Geheimnis geschlossener Räume, dass sie von innen größer wirken als von außen. Am Boden unter dem Kuppelzwickel, unter dem luftigen Lichtgaden auf seinen massiven Pfeilern, schrumpft dein Körper zu einem einzigen Bit, dem kleinsten Schalter in den Registern des Paradieses. Hier ist das Vergessen, das sich das Leben immer gewünscht hat – die Chance, wieder zu der Schuppe zu werden, aus der es entstanden ist. Anfangs sehen deine Augen nichts, doch nach und nach begreifen sie. Säulen von den vier Enden der Welt, Beutestücke oder Dauerleihgaben, schillern in allen Farben, die Stein annehmen kann. An den Wänden prangen lebendige Bilder in Emaille. Der Grundriss ist so reich gegliedert, dass ihn niemand mehr erfassen kann. Du kannst nur immer weiterwandern, tiefer hinein. Nur in der Bewegung erschließt sich die ganze Größe des Raums. Du driftest voran, setzt Luftströme in Bewegung. Die Wirbel bilden Kaskaden, sammeln sich zu Passatwinden, die durch das offene Kirchenschiff pfeifen. Die Winde schaffen Hoch- und Tiefdruckgebiete, Wetterfronten. Sie steigen an, kühlen sich ab, die Feuchtigkeit kondensiert zu winzigen Gewitterwölkchen, die schon bald in den Passagen jenseits der Nordarkade ein Unwetter im Zeitraffer heraufbeschwören. Regentropfen fallen und verdampfen wieder, bevor noch die dunklen Fliesen feucht werden. Irgendwo über dir wallen die gemeißelten Kapitelle. Auf Bogenzwickeln wuchern die Ranken. Aus dem Gewirr der in Stein gehauenen Blätter entspringen noch dichtere Gewächse. Überrascht zeigst du mit dem Finger darauf. Und der 580
Fingerzeig hebt dich empor. Du näherst dich den Steinmetzarbeiten, durchmisst mehr Raum, als du gedacht hättest. Die Weinranken gewinnen an Klarheit und Fülle. Von nahem betrachtet werden ineinander verschlungene Makromolekülstränge daraus, immer und immer wieder ineinander gewoben in den Zwischenräumen der Luft. Im Osten – die Nadel zeigt Jerusalem, die Karte Mekka – duckt sich eine Mutter unter einen Heiligenschein, hält ihr Kind vor sich wie einen Schild. Auf dem Gesicht des Jungen nimmt bereits ein Plan Gestalt an: die vollständige Unterminierung des omnipotenten Staates, Kampf gegen sämtliche Machtinteressen, endgültige Unterwerfung der Materie. Die Züge der Mutter zeigen schiere Furcht. Schon da ist ihr das Baby entglitten. Sie blickt gen Westen, in den Abgrund, der sich vor ihr auftut, der Blick auf die Zukunft ihres Sohnes, sein Schicksal als Revolutionär, sein unvermeidlicher Tod durch die Hände der Mächtigen, die kein anderes Ziel haben als Ruhe im Land. Rund um diese Kleinfamilie, deren Schicksal längst besiegelt ist, nennen große schwarze Medaillons den Namen Gottes und seiner Diener: Allah, Mohammed, Ali … Ein wenig unterhalb dreht sich in der Apsis eine gespenstische Kugel: die Nationen der Welt, deren farbenprächtige Flächen schwimmen wie Ölschlieren auf einer bewegten Pfütze. Ihre Farben flammen auf und verlöschen wieder, und nach einer langen Pause beginnt der Zyklus von neuem. Der ganze Raum ist erfüllt von Musik. Die Melodie atmet im Takt mit deinem eigenen Atem, eine Kammersinfonie, die in deinem inneren Ohr beginnt und sich nach außen fortpflanzt. Die Tonlinien folgen den Linien der Gedanken und führen dich zu weiteren Gedanken hin. Du findest eine Zuflucht gleich neben der Sakristei. Ein Eckchen, das wie für dich geschaffen ist, mit Proviant, Kleidern, ein Ort, wo du dich waschen und ausruhen kannst. 581
Du kannst für immer hier bleiben, für alle menschlichen Bedürfnisse ist gesorgt. Du sitzt auf einem geflochtenen Stuhl, und wenn du den Hals reckst, kannst du zum Fenster hinaussehen, hinaus aufs Meer, den Bosporus, das Goldene Horn. Dann vertreibt dich eine ohrenbetäubende Salve aus diesem Paradies. Du läufst zurück ins geschändete Kirchenschiff, wo nun die Phantome von Kreuzrittern und Gotteskriegern in den Säulenhallen Aufstellung zum Gefecht nehmen. Aus der mächtigen Kirche wird ein Theatersaal. Filmbilder so grobkörnig wie Mosaike flimmern an den weiß getünchten Bogenfeldern, digitale Clipps von den Feuerinseln der Welt: Menschenketten, lasergesteuerte Nachtaufnahmen von explodierenden Bunkern, Mauern aufgebaut und wieder eingerissen. Du versuchst zu fliehen. Doch nun bewegst du dich mitten im Bombenregen. Es tut nicht weh, alles ist harmlos, unschuldig wie jedes projizierte Bild. Du steigst wieder in die Höhe, schaust zu, entsetzt und doch fasziniert. In jedem Winkel tobt die Schlacht: der erste Krieg, der Bilderstreit, der Waffengang, der dir zum Gefängnis wird. Die Bomben schlagen im Namen eines Projektes ein, das so groß ist, dass man es nie ganz erfassen kann, ein Spiel, dessen Ziele sich nicht im Mindesten um die deinen kümmern. Jenseits des fiktiven Abgrunds explodieren die Granaten. Eine Detonation nach der anderen erschüttert den gewaltigen Saal, jede die Lunte für die nächste. Stein um Stein sinkt die Hagia Sophia in Schutt und Asche, eine trümmerübersäte Grotte. Rings um dich züngeln aus den Rissen grüne Blätter. Ein Dschungel wuchert empor, und in dem Dschungel kauert eine nackte Eva und zeigt mit verwunderter Miene auf die Feuer ringsum. 582
Dann hörst du ein Summen, das nur von Insektenflügeln kommen kann. Sie umschwirren dich, ein plötzlicher Schwarm von zweidimensionalen Papierbienen, nicht größer als dein Daumen, das Werk eines Kindes mit einem neuen Malkasten. Sie bilden eine Kette wie die Feuerwehrleute mit ihren Eimern, fliegen hinauf in die Galerie, und jede von ihnen hält zwischen ihren Füßen ein buntes Plättchen. Einen Mosaikstein nach dem anderen schaffen sie hinauf zu den zerschossenen Bildern: dem entstellten Christus, dem schimpfierten Täufer, der Madonna, die beim besten Willen nicht begreift, wie sie in dieses aussichtslose Unternehmen geraten ist. Die papiernen Bienen stellen das Mosaik wieder her, Stein um Stein. Im Wettlauf mit dem wuchernden Dschungel fliegen sie unermüdlich in ihren langen Reihen, kehren zum Bienenstock zurück, zu deinen Händen, holen sich neue Last. Mit dem schwerfälligen Realismus eines Kindes bauen sie die zerstörten Steinleiber wieder auf. Schließlich langen sie bei den Füßen an, setzen die Gefangenen frei. Die Bilder treten von ihren Wänden hinunter ins Grün des Kirchenschiffs, treten zu dir herüber, wo du, von der Erkenntnis überwältigt, dich im Unterholz verbirgst. Im Inneren der Kirche wird es dunkel; Neonlichter flammen auf. Transzendenz schrumpft auf die Dimensionen einer Besenkammer. Die, die mit der Zukunft ihre Geschäfte machen – die Käufer der Demoversion, die Generalstabschefs –, nehmen ihre Videobrillen ab. Sie lassen den Blick über die fremde Welt schweifen, die sie zu sich zurückruft. Sie zucken zusammen, als es hell wird, kniepen, damit sie etwas sehen können. Im Inneren dieses Raumes nimmt die Welt von neuem Gestalt an. Ob es auch draußen geschieht, weiß keiner. Gegen die Realität muss das Vielleicht sich nicht behaupten. Aber von dieser Vorführung geht keiner fort, wie er gekommen ist. 583
Am Morgen, an dem Muhammad dich holen kommt, wartest du schon auf ihn. Deine Ohren sind eingestimmt auf das Unhörbare. Du hörst die Botschaft in seinem Schritt, als er, noch meilenweit entfernt, den abgeriegelten Gang entlangkommt. Du hörst Erregung in seiner Stimme, noch ehe er den Mund aufmacht. Er glaubt, er hätte dich geweckt. »Wir Araber haben ein Sprichwort. Stehe vor der Sonne auf, denn die Stunden vor Morgengrauen stiehlt die Erde dem Paradies.« Er lässt dich dein lächerliches Bündel schnüren, wie schon so oft. Ein uraltes Spiel, dieser Terrorismus. Sie beherrschen es meisterhaft. Aber da du längst fort bist, kann es dir nichts mehr anhaben, du bist frei von Hoffnung, gefeit gegen jede Art von Glauben. Du tust, was er sagt, gehorchst ihm mit nichts als der leeren Hülle deines Körpers. In seiner Stimme schwingt Erleichterung, Mitgefühl für dich, so weit ein Mensch mit einem anderen mitfühlen kann. Seine Fürsorge macht dir Angst. Möglichkeiten, eine schrecklicher als die andere, stürmen auf dich ein. Er löst deine Kette. Panik überkommt dich, als er dich mit verbundenen Augen auf den Gang hinausführt. Fremde Männer rufen dir etwas auf Arabisch zu, berühren deinen Rücken, klopfen dir beifällig auf die Schultern. Sie geleiten dich zum sicheren Tod oder zu noch Schlimmerem. Jetzt, vor Morgengrauen, in den gestohlenen Stunden aus dem Paradies. Das Einzige, was feststeht in deinem Leben – der Augenblick, der ganz privat sein sollte, jenseits der Geschichte, jenseits von Politik –, selbst dein Tod wird auf vielen Bühnen gespielt werden, und keine davon deine eigene. Diesmal fesseln sie dich nicht mit Packband, eine kleine Vergünstigung, die schlimmer ist als jede Misshandlung. Sie legen dich unverschnürt in den Sarg, ein letztes Erstickungstraining vor dem Finale. Du betest um einen 584
gnädigen Tod, wie schon zuvor, erschüttert vom Transport in diesem Wagen, der durch die Krater der Schlaglöcher rumpelt. Du betest und weißt, dass deine Gebete nichts bewirken. Auch etwas, das in deinem Verstand gestorben ist: du fragst immer weiter, und weißt doch, es gibt keine Antworten, nur den Zufall. Der Wagen nähert sich der Stadt der Verdammten, passiert mehrere Kontrollpunkte. Du kannst dir nicht vorstellen, was sie davon haben. Sie hätten dir eine Kugel in den Kopf jagen können, draußen auf dem Land, unbeobachtet. Sie hätten das bisschen Fleisch, das du noch auf den Rippen hast, den Hunden vorwerfen können. Grausam wie Menschen nun einmal sind, holen sie dich aus dem Grab und erwecken dich zu neuem Leben. Du kannst nicht ohne fremde Hilfe stehen. Sie zwingen dich, nach drinnen zu gehen, und die Rückkehr in einen geschlossenen Raum beruhigt dich. Ein Treffen ist geplant, ein ängstliches Übergaberitual. Deine Entführer lassen dich in den Händen einer dritten Partei zurück, die du nicht kennst. Die Erde beginnt heftig zu beben. Nein, nicht die Erde, etwas viel Näheres. So nah wie die Adern in deinem Hals. Dein eigenes Fleisch und Blut. Ein Mann redet leise auf dich ein; er spricht Englisch mit fremdländischem Akzent. »Bitte nehmen Sie die Augenbinde ab. Sie sind unter Freunden.« Du weigerst dich. Spielst auf Zeit. »Vielleicht später.« Er bietet dir etwas zu essen und zu trinken an, saubere Kleidung, eine Dusche. »Sie sind frei«, sagt er. Du lachst: ein kurzes, hartes, einsilbiges Gurgeln. »Sie können nach Hause«, sagt er. Du reißt dir die Augenbinde ab, ein letztes Aufflackern von Wut. Das Spiel, die Folter muss ein Ende haben. Dafür ist kein Platz mehr in deinem Leben. 585
Du sitzt in einem schäbigen Büro, dir gegenüber, auf der anderen Seite des Metallschreibtischs, ein schmächtiger grauer Mann mit weinroter Krawatte und kurzärmeligem weißem Hemd. Er streckt dir die Hand entgegen. Du ergreifst sie, obwohl die deine auch ohne Mithilfe bebt. Du spürst die Haut eines anderen Menschen rau an der deinen. Seine Stimme dröhnt dir in den Ohren. Du berührst seinen Schreibtisch, die Papiere darauf, den Stift, die Fotos. Du kannst gar nicht aufhören, befühlst immer wieder diese kleinen Unmöglichkeiten. Deine Arme und Beine zittern, du kannst sie nicht beherrschen. Der Schmerz wird dich umbringen. Du verlierst immer weiter die Fassung. Ziehst dir die Augenbinde wieder über die Augen. Er sagt, als Erstes wirst du nach Damaskus fahren. Der Name kommt dir bekannt vor, aus einer alten Erzählung. Von da fliegst du in die Türkei, und eine Militärmaschine bringt dich nach Wiesbaden, wo alles Weitere besprochen wird. »Anfangs wird es sicher schwierig. Lassen Sie sich Zeit und überstürzen Sie nichts.« Er erzählt dir, dass die Welt sich verändert hat seit deiner Entführung. Du hebst die Hand, gebietest ihm Einhalt. Sie zittert, als wolltest du winken. »Später vielleicht.« Vielleicht nächste Woche. Vielleicht nie. Du sitzt in einem Hotelzimmer in Damaskus. Die Jalousien sind heruntergezogen. Einer deiner Aufpasser ist bei dir und achtet darauf, dass du dir nichts antust. Er fragt, ob du eine Zeitung haben möchtest. Den International Herald Tribüne. »Von letzter Woche«, sagte er entschuldigend. »Das ist schon in Ordnung«, erwiderst du. »Ich bin ohnehin ein wenig zurück.« Du wirfst einen Blick in die Zeitung, und ein Weltbild zerfällt unter deinen Händen. Der permanente Kriegszustand, das Gleichgewicht des Schreckens, die einzige Wirklichkeit, die du 586
je gekannt hast: alles verschwunden, ersetzt durch den nächsten, noch gefährlicheren Morast. In deiner Abwesenheit hat die Welt sich vernetzt und verdrahtet. Du erkennst sie nicht wieder. Jemand drückt auf den schnellen Vorlauf, und du siehst alles wie von einem fremden Stern, Lichtjahre entfernt, die fossilen Brennstoffe des Planeten längst verpufft, als der Feuerschein dich erreicht. Du hältst die Zeitung so ruhig du kannst. Auf Seite drei starrt dir dein eigenes Bild entgegen: das erzwungene Porträt des Gefangenen, das dir so gar nicht ähnlich sieht. Jede zweite Aussage ist falsch. Im Text steht, dass du bald freikommst. Dein Alter ist falsch angegeben. Es wird behauptet, deine Mutter sei tot. Und du seiest verheiratet mit einer Krankenschwester in einem Pflegeheim und hättest eine fünfjährige Tochter. Direkt darunter beschreibt ein zweiter Artikel die tausend archäologischen Stätten, die bei den örtlichen Feuergefechten des Jahres freigelegt wurden. Unter der vom Granatfeuer zerstörten Banco di Roma kam ein antikes Forum zum Vorschein … Du faltest die Zeitung zusammen und schiebst sie unter der Tür hindurch in den Wandschrank, wo sie niemandem schaden kann. Der erste offizielle Vertreter der amerikanischen Regierung heißt dich willkommen. Er umgibt dich mit einer Mauer aus wohlklingenden Floskeln. Dein Land ist stolz auf dich. Du hast ihm einen Dienst erwiesen, den man dir so schnell nicht vergessen wird. Dein Bruder ist auf dem Weg von Chicago nach Deutschland, um dich abzuholen. »Und gestatten Sie mir noch eine persönliche Bemerkung?« Er lächelt. »Wenn wir den Namen Gwen Devins erst in hundert Jahren wieder hören, ist das immer noch zu früh.« Er schüttelt den Kopf voller Bewunderung. »Die Frau ist nicht unterzukriegen. Unerbittlich. Eine solche Geißel der 587
diplomatischen Welt werden Sie so schnell nicht wieder finden.« Bei der ersten Befragung gehen sie ganz behutsam vor. Trotzdem fragen sie dich schon nach dem Wie. Wie kommt es, dass du noch da bist, nach den Jahren an jenem anderen Ort? Du erzählst es ihnen nicht, obwohl du es irgendwann tun musst. Sie werden nicht begreifen, was du zu berichten hast. Wie du vor dem letzten Abgrund kapituliert hast und in die ewige Finsternis unter deiner Augenbinde gestürzt bist. Wie du losgelassen hast und gefallen bist und doch nie unten aufschlugst. Wie du im bodenlosen Dunkel einen kurzen Blick erhaschtest, eine projizierte Szene, nicht länger als ein angehaltener Atemzug. Eine Erscheinung, die ein Jahr oder mehr überdauerte. Die keinen Sinn ergab. Die verhinderte, dass du den Verstand verlorst. Ein flüchtiger Blick in die Transithalle für Geiseln. Auf den Frieden, den die Welt nicht geben kann. Du wirst es erzählen müssen, eines Tages: wie die Wände deiner Zelle durchlässig wurden. Wie du weich gelandet bist in einem unermesslichen Raum, wo jedes Detail so deutlich zu erkennen war, als seist du schon einmal dort gewesen. Und doch ohne Zweifel eine Halluzination, die Wahnvorstellung von vier Jahren Einzelhaft. Eine bunt zusammengewürfelte Moschee, widersprüchlicher als dein eigenes zerrissenes Leben, ein Ort, wo sich all die Verse aus Bibel und Koran, die du je gelernt hattest, vermischten. Ein Tempel auf der Grünen Linie des Verstands, gespeist aus den Furcht erregenden unterirdischen Quellen in deinem Inneren, die Ausstattung zu reich, als dass sie ganz deiner Fantasie entsprungen sein konnte. Du konntest weder Stil noch Epoche bestimmen. Es hätte überall sein können: ein verlassener Hangar, groß genug für die Ruhemasse der Erlösung. Massive Lichtstrahlen durchbrachen den Stein. Du warst wie ein Nichts vor solcher Größe. Aber du 588
bist nicht verschwunden. Die Mauern trugen die Narben einer langen Schlacht. Hier war eine Entscheidung gefallen oder um Jahrhunderte aufgehalten worden. Du hast deine geschwollenen Beine gestreckt und dich in Bewegung gesetzt, und die Bewegung erhielt dich am Leben. Ein seltsames Flackern zog dich immer weiter hinein in den Lichtschein, bis du genau in der Mitte standest, direkt unter der steinernen Krone. Und dann hörtest du es, über deinem Kopf: ein Geräusch, das höher war als alle Vernunft. Du blicktest auf und sahst es, dieses Etwas, deine Rettung. Aus dreißig Metern Höhe, aus der Ehrfurcht gebietenden Kuppel, stürzte ein Engel herab. Ein Engel, dessen Gesicht keine frohe Botschaft verkündete, sondern auf dem die Angst vor dem drohenden Aufprall geschrieben stand. Ein Wesen, das vom Himmel fiel und dessen Verwirrung tatsächlich noch größer war als die deine. Der Schrecken dieses Engels war nicht zu begreifen. Er ließ dir keine Wahl: du musstest am Leben bleiben und dahinter kommen, was er von dir wollte. Eines Tages musst du es ihnen sagen. Bei einer künftigen Pressekonferenz, wenn sie wieder eher daran glauben, dass du nicht den Verstand verloren hast. Aber jetzt sitzt du im Flugzeug nach Istanbul, verängstigt und mit flatternden Lidern. Du merkst, dass du hinkst. Du merkst, dass du das Sonnenlicht nicht erträgst, ebenso wenig Bewegungen oder Geräusche oder zu viele Menschen in mehr als drei Metern Entfernung. Es gibt eine Wahrheit, die sich nur in der Einsamkeit offenbart. Eine Erkenntnis, die durch das Tun zerstört wird, die an der kleinsten Berührung mit der Welt zerbricht: das Wissen darum, dass wir verlassen sind, in der hintersten Ecke des nur flüchtig skizzierten Raums. Das ist die Wahrheit, die der Handelnde leugnet. Wie viele Jahre hast du gekämpft, um dies schreckliche Gefühl der Einsamkeit im Zaum zu halten, und 589
jetzt musst du erkennen, dass es das eine birgt, das etwas bedeutet? Du drehst dich um auf der Schwelle der Illusion, starrst den Flugzeuggang entlang und siehst es vor dir. Um Himmels willen, nenne es Gott. So haben wir es immer genannt, und es ist so billig, so wichtigtuerisch, wenn wir für alles, aber auch alles ein neues Wort erfinden müssen, jetzt noch kurz vor Schluss. Der Ort, an dem du gewesen bist, öffnet sich in deinem Inneren. Ein Raum in deinem Herzen, so weit, dass er dich umbringen muss, denn er lässt dir keine Hoffnung, du könntest seiner je würdig sein. Aber du hast die Chance. Hier. Jetzt, denn es gibt keinen anderen Ort. Du hüllst dich in deine schwindende Einsamkeit, denn nur so kannst du dich im Gleißen dieses Lichts noch selbst erkennen. Und wieder wird die Frage, wie du in der Gesellschaft eines anderen überleben kannst, zur einzigen, die zählt. Für einen kurzen Augenblick bist du dieser Engel. Umhüllt von flüchtiger Heiligkeit. Sie ist nicht von Dauer. Schon kommt das Kribbeln in den Fingerspitzen. Du spürst, wie du neu ins Leben eintauchst. Aber eine Zeit lang, kürzer als deine Gefangenschaft und nur weil es sie gab, bist du geläutert, geläutert durch alles, was du erblickst. Du verlässt das Flugzeug und siehst sie, wie auf dem Pressefoto, zu dem sie im selben Augenblick erstarren: Zwei Gestalten stürzen dir entgegen auf der Rollbahn von Istanbul. Die Frau, die dich gerettet hat, und eine zweite, kleinere Gestalt. Deine Augen suchen nach einer leeren Zelle, in der du dich verbergen kannst. Es wird Gespräche geben; Berührungen. Nichts auf der Welt kann dir helfen, das zu ertragen. Deine Liebe stürzt dir entgegen, doch dann hält sie inne, Tränen kommen ihr in die Augen beim Gedanken an die 590
wirkliche Berührung, an das, was jetzt kommt. Ihr kleiner Schatten löst sich von ihr. Du blickst hinab und siehst dein Mädchen, diese Scheherazade; der Name steht ihr im Gesicht geschrieben, und sie hält ein Bild in der Hand, das sie für ihren fremden Vater gemalt hat. Sie klammert sich an dich, als hätte sie dich schon ihr ganzes kurzes Leben lang gekannt. Begreift endlich die Legende, mit der sie aufgewachsen ist. »Da«, sagt sie und drückt dir ihre Zeichnung in die zitternden Hände. Ein Buntstiftmann, der in seine Buntstiftheimat zurückkehrt. »Da! Das habe ich für dich gemalt.« Wenn man Geiseln befreit, ist das, als entwerfe man ein Bühnenbild. Gemeinsam mit den Entführern einigt man sich über jedes einzelne Detail, und nach und nach nimmt es Gestalt an. Eine Tür lässt man offen, damit Entführer wie Entführte gleichermaßen aufrecht und mit Würde die Bühne verlassen können. Terry Waite, ABC TV, 3. November 1986, kurz vor seiner Gefangennahme Dank Für die Geschichte von Taimur Martin habe ich die Erinnerungen zahlreicher westlicher Geiseln im Libanon herangezogen. Diesen außerordentlichen Berichten verdanke ich viel.
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