Charmed 22
Zauberhafte Schwestern
Schatten der Sphinx
Roman von Carla Jablonski
Klappentext: Paige allein zu H...
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Charmed 22
Zauberhafte Schwestern
Schatten der Sphinx
Roman von Carla Jablonski
Klappentext: Paige allein zu Hause – und schon gibt es Probleme! In Abwesenheit ihrer Schwestern wirft sie einen Blick in das Buch der Schatten und testet ihre magischen Kräfte – mit Erfolg! Denn plötzlich verwandelt sie sich in eine Katze. Doch leider hat sie versäumt, sich vorher zu erkundigen, wie sie diesen Zauber rückgängig machen kann. Piper und Phoebe wundern sich daher nicht wenig, als sie bei ihrer Heimkehr den Gast auf vier Pfoten entdecken. Kurz entschlossen bringen sie die Katze ins Tierheim zu allem Übel wird Paige dort schnell vermittelt. Sie landet in den Fängen eines obskuren Zirkels, der Katzen anbetet. Unerwartet findet sie sich mit ihrem neuen „Besitzer“ im alten Ägypten wieder … Wie soll sie ohne die Hilfe ihrer Schwestern wieder in die Gegenwart zurückfinden? Doch Piper und Phoebe haben ihre Spur inzwischen aufgenommen …
Dieses eBook ist nicht zum Verkauf
bestimmt.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche
Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Erstveröffentlichung bei Simon & Schuster, New York 2003
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
The Shadow of the Sphinx von Carla Jablonski
Das Buch »Charmed – Zauberhafte Schwestern. Schatten der Sphinx«
von Carla Jablonski entstand auf der Basis der gleichnamigen
Fernsehserie von Spelling Television ausgestrahlt bei ProSieben.
© des ProSieben-Titel-Logos mit freundlicher Genehmigung der
ProSieben Television GmbH
® und © 2003 Spelling Television Inc. All Rights Reserved.
1. Auflage 2003
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Egmont vgs Verlagsgesellschaft mbH
Alle Rechte vorbehalten.
Lektorat: Sonja Erdinann
Produktion: Wolfgang Arntz
Umschlaggestaltung: Sens, Köln
Titelfoto: © Spelling Television Inc. 2003
Satz: Kalle Giese, Overath
Druck: Clausen & Bossen, Leck
Printed in Germany
ISBN 3-8025-2997-9
Besuchen Sie unsere Homepage im WWW: www.vgs.de
1
B
» IST DU SICHER, dass du nicht mit uns zum Brunch kommen willst, Süße?« Phoebe Halliwell stand in der offenen Tür. Helles Sonnenlicht fiel in den Flur hinter ihr. »Nein, danke«, sagte Paige zu ihrer Halbschwester. »Geh ruhig.« »Du verpasst großartige Benedikteier«, lockte Phoebe. Paige schüttelte den Kopf, sodass ihre langen dunklen Haare über ihre Schulter glitten. »Was bedeutet, dass ich auch etwa eine Quintillion Kalorien verpasse.« Sie tätschelte ihren Bauch. »Es ist wahrscheinlich das Beste.« Phoebe musterte Paiges schlanke, wohl geformte Gestalt und verdrehte dann die Augen. »Als hättest du Probleme«, erwiderte sie mit funkelnden braunen Augen. »Aber okay.« Die Autohupe dröhnte. Phoebes Verlobter Cole stand neben dem Wagen, griff durch das Fahrerfenster und betätigte die Hupe. Er grinste und hob seine Hände in einer »Können-wir-endlich-fahren?« Geste. Piper steckte den Kopf aus dem hinteren Fenster des Autos. »Komm schon, Phoebe«, rief sie. »Du weißt, wenn wir nicht bald im Sylvio’s sind, wird es eine Schlange vor der Tür geben.« »Geh«, drängte Paige Phoebe. »Iss für mich einen BananenMandel-Muffin.« »Wenn du sicher bist …« Paige ergriff entschlossen die Schultern ihrer Schwester und drehte sie um. »Zisch ab.« »Okay, okay, schon kapiert.« Paige verfolgte, wie ihre Schwester über den Weg rannte – direkt in Coles Arme. Er gab ihr einen Kuss und führte sie dann zur Beifahrerseite des Wagens. Mit übertriebenem Schwung öffnete er die Tür. Kichernd schlüpfte Phoebe ins Auto. Cole trottete um die Kühlerhaube des Wagens herum und ließ sich hinter dem Lenkrad nieder.
Auch ohne hinzusehen wusste Paige, dass sich ihre andere Schwester Piper auf dem Rücksitz an ihren Mann Leo schmiegte. Dieses Wissen hatte nichts mit telepathischen Hexenkräften zu tun – es war die Intuition der jüngsten Schwester, die auf einer Menge Erfahrungen basierte. Cole hupte zum Abschied, als er den Motor anließ. Paige schenkte ihnen allen ein breites Lächeln und winkte. Als sie davonfuhren, trat sie zurück in das Herrenhaus und schloss die Tür. Sie gab einen leisen Seufzer von sich. Sie war nicht ganz ehrlich zu Phoebe gewesen. Die Kalorien waren nicht der wahre Grund für ihren Verzicht auf den Sonntagsbrunch im Sylvio’s. Okay, es stimmte, dass sie morgens nicht gerade viel aß und dass ihr von Eiern, die von einer dicken Sauce hollandaise bedeckt waren, vor vier Uhr nachmittags ein wenig übel wurde. Aber sie hätte einen der sündhaft leckeren Muffins oder Obststrudel des Sylvio’s nehmen können. Nein, sie hatte abgelehnt, weil sie eine Atempause von ihrer neuen und nicht besonders exaltierten Rolle als offizielles fünftes Rad am Wagen benötigte. Ein Mädchen brauchte hin und wieder etwas Zeit für sich. Nicht, dass sie sich nicht für Phoebe und Piper freute. Es war schön zu sehen, dass wahre Liebe und hingebungsvolle Beziehungen für eine Hexe möglich waren – selbst wenn es sich bei diesen romantischen Partnern um einen ehemaligen Dämon und einen Wächter des Lichts handelte. Um genau zu sein, die meiste Zeit machte die »Leo-undPiper/Phoebe-und-Cole«-Show ihr Hoffnung. Seit Paiges Hexenkräfte aktiviert worden waren, hatte sie festgestellt, dass ihr Schicksal, als eine der Zauberhaften den Unschuldigen zu helfen, ihr Privatleben ernsthaft beeinträchtigte. Dass Piper trotz aller Hindernisse Leo geheiratet und Phoebe sich in einen früheren Feind verliebt hatte, bedeutete vielleicht, aber nur vielleicht, dass es dort draußen auch jemanden für Paige gab, der mit der ganzen Hexerei zurechtkam. Doch wie sich ein normaler Mann, der ein zweites Rendezvous wert war, daran gewöhnen sollte, war Paige schleierhaft. Sie hatte selbst damit Probleme. Und sie wusste, ganz gleich, wie sehr sich Piper und Phoebe auch bemühten, es zu verbergen, sie hatten ebenfalls damit ihre Probleme. Es war nicht so, dass sie nicht genug Schwierigkeiten gehabt hätten, bevor sie sie trafen – ihre bis dahin unbekannte Halbschwester.
Sie hatten gerade erst in einem schrecklichen Kampf mit der Quelle des Bösen Prue verloren, die älteste Halliwell-Schwester. Traurig, zornig, bekümmert und verzweifelt hatten sie herausgefunden, dass es dort draußen eine weitere Halliwell-Hexe gab: Paige. Nach einiger Eingewöhnung – okay, einer Menge Eingewöhnung – war Paige ein offizielles Mitglied der Halliwell-Familie geworden. Sie zog, wenn auch zuerst nur widerwillig, in Halliwell Manor ein und hatte inzwischen das Gefühl, dass es ihr Zuhause war. Und sie liebte ihre neuen Schwestern, auch wenn sie sich noch immer an sie gewöhnen musste. Sie fühlte sich wohler in Phoebes Nähe, die in ihrer nicht allzu fernen Vergangenheit selbst eine recht wilde Zeit erlebt hatte. Das war etwas, das Paige definitiv nachempfinden konnte. Piper war etwas reifer und verantwortungsbewusster. Oder vielleicht verhalten sich große Schwestern nun einmal so, sinnierte Paige. Sie war als Einzelkind aufgewachsen. Der Umgang mit Geschwistern war deshalb eine neue Erfahrung für sie. Was am härtesten war und Paige die größten Schwierigkeiten bereitete, ihren Schwestern verständlich zu machen, war der Druck, den sie spürte, nicht an Prues Vorbild heranzureichen. Nicht nur als Schwester – sie wusste, dass Piper und Phoebe nie über ihren Verlust hinwegkommen würden. Es war ihre Rolle als Zauberhafte. Prue war eine sehr mächtige Hexe gewesen, sogar noch mächtiger als Piper und Phoebe. Paige hatte so viel nachzuholen! Und die Macht der Drei basierte auf ihrer Harmonie. Ihrer Einheit. Piper, Prue und Phoebe waren zusammen aufgewachsen, hatten zusammen in diesem Haus gewohnt und dann ihre Kräfte gemeinsam entdeckt und weiterentwickelt. Jetzt war Paige wie eine Zweitbesetzung eingesprungen, die von einem Moment zum anderen den Star vertreten musste. Nun, eine Möglichkeit, damit zurechtzukommen, war Vorbereitung. Piper nervte sie ständig, ihr Wissen zu erweitern. Einige Zeit allein auf dem Dachboden mit dem Buch der Schatten würde Paige erlauben, ihren Rückstand aufzuholen. »Aber zuerst«, sagte Paige zu dem leeren Haus, »mehr Treibstoff.« Paige trottete in die Küche und goss sich eine zweite Tasse Kaffee ein. Sie lehnte sich an die Anrichte und genoss die Ruhe. Friedliche Momente waren bei den Zauberhaften rar. Überall schienen Dämonen
zu lauern – und griffen ohne Vorwarnung aus dem Nichts an. Ein weiteres ernstes Rendezvousproblem. Und wenn es keine übernatürliche Bedrohung gab, war sie von ihren lärmenden, übermütigen Schwestern und deren Männern umgeben. Die Halliwells und ihre auserwählten Partner kosteten einige Nerven. Trotzdem, dachte sie, während sie die Treppe hinaufstieg, es ist schön, ein Teil von etwas zu sein. Nicht nur wieder der Teil einer Familie – Paige hatte ihre Adoptiveltern bei einem Autounfall verloren –, sondern der Teil von etwas Größerem. Eine Bestimmung zu haben. Eine Hälfte von ihr war aufgeregt, überschwänglich. Aber die andere Hälfte? Sie schüttelte mit einem bekümmerten Grinsen den Kopf. Nun, aus diesem Grund wurden lange Schaumbäder, Aspirin und Schokolade erfunden, nicht wahr? Paige öffnete die Tür zum Dachboden und trat ein. Im Gegensatz zu anderen Dachböden war dieser nicht dunkel und staubig. Nun, zumindest nicht allzu staubig, dachte Paige, als sie die Staubflusen bemerkte, die in dem hereinfallenden Sonnenlicht tanzten. Er war mit dem üblichen Kram gefüllt – ausrangierte Möbel, Truhen voll alter Kleidung und längst vergessene Souvenirs –, aber dieser Dachboden war auch ein Ort der Magie. Magie war eine alltägliche Angelegenheit im Halliwell-Haushalt und nahm jeden Winkel ein, aber oft führte sie die Schwestern hinauf auf den Dachboden. Hier bewahrten sie das Buch der Schatten auf, eine Art Leitfaden für Hexen. Hier hatten Piper und Phoebe auch ihre Kräfte entdeckt – und Paige mit den ihrigen vertraut gemacht. Paige sah auf das dicke Buch hinunter. Das Buch der Schatten enthielt ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart und womöglich auch ihre Zukunft – oder, genauer gesagt, die Hinweise, die ihnen halfen, dafür zu sorgen, dass sie auch eine Zukunft hatten. Generationen von Halliwell-Hexen hatten all ihre Zauber aufgeschrieben, zusammen mit den Rezepten für Zaubertränke, Schutzzauber, Talismane und Amulette. Es diente ihnen auch als Nachschlagewerk der Dämonenwelt: Zeichnungen von missgestalteten Kreaturen der Finsternis, Beschreibungen ihrer Lebensräume, Waffen und Fressgewohnheiten, denen mehr als einmal Hexen zum Opfer gefallen waren.
Paige fröstelte unwillkürlich. Manchmal, wenn sie sich in den frühen Morgenstunden besonders allein und verletzlich fühlte, ängstigte sie sich selbst, indem sie sich vorstellte, dass die Zeichnungen zum Leben erwachten und aus den Seiten hervorkrochen. Dann musste sie aufstehen und sich mit einer Tasse Kräutertee beruhigen und sich ins Gedächtnis zurückrufen, dass das Buch existierte, um sie zu beschützen. Diese Kreaturen waren für immer im Buch der Schatten gefangen. Es war hier, um ihr beizubringen, wie man sie besiegte. Aber es gab einige Seiten, die sich Paige stundenlang anschauen konnte. Eine frühere Halliwell aus dem 18. Jahrhundert, die offensichtlich verliebt gewesen war, hatte ein Ritual für eine Hochzeitszeremonie aufgeschrieben und mit gepressten Blumen und feinen Wasserfarben verziert. Ein paar andere Seiten, auf denen Kräuter und ihre Verwendung beschrieben wurden, enthielten wunderschöne kunstvolle Zeichnungen der Pflanzen. Die Einträge spiegelten die Persönlichkeiten der Hexen wider, die sie verfasst hatten. Einige waren nachdenklich, andere fröhlich, wieder andere schmückten lustige Illustrationen; alle knisterten vor Energie, die Paige inzwischen spüren konnte. Paige arbeitete sich langsam durch das Buch und kam zu einer Seite, die sie noch nie gesehen hatte. Ihre braunen Augen weiteten sich. »Gestaltveränderung«, murmelte sie und spürte, wie ihr Herz flatterte. Meine Hexenkräfte sind Kinderkram im Vergleich zu dem hier. Sie überflog den Eintrag. Wenn ich mich in etwas anderes verwandeln könnte, dachte sie mit wachsender Erregung, das wäre eine erstaunliche Fähigkeit. Und ich hätte damit eine, die die anderen nicht besitzen – und die auch Prue nicht besessen hatte. Es wäre etwas Einzigartiges. Paige war eine halbe Wächterin des Lichts und konnte wie Leo gedankenschnell den Ort wechseln. Diese Fähigkeit würde sie von den anderen abheben. Und ich hätte sie allein gelernt. Dann würde Piper begreifen, dass ich selbst Initiative ergreife und meine Bestimmung ernst nehme, dachte Paige in Erinnerung an ihren kürzlichen Streit mit der ältesten Halliwell-Schwester. Die Gestalt verändern zu können, würde ihr auch
beim Kampf gegen die Dämonen helfen – und die wenig schmeichelhaften Vergleiche mit Prue beenden. Paige hielt inne. Sie wusste, dass sie nicht ganz fair war. Okay, vielleicht vergleichen mich Piper und Phoebe nicht wirklich mit Prue, räumte sie ein. Vielleicht bin ich diejenige, die Vorurteile hat. Aber trotzdem … »Gestaltveränderung.« Paige fuhr aufgeregt mit dem Finger über die Seite. Etwas werden, das ich nicht bin. Ich könnte ein Vogel oder ein Stuhl sein … Sie rümpfte die Nase. Nun, vielleicht kein Stuhl. Sie kicherte bei der albernen Vorstellung. Sie las die Anweisungen. Dies war ein Zauber für die Verwandlung in ein Tier. Wer auch immer diese Formel aufgeschrieben hatte, riet einer Hexe, am Anfang ein Tier zu wählen, mit dem sie sich identifizieren konnte. Mit der Zeit sollte sie in der Lage sein, sich in alle möglichen Kreaturen zu verwandeln. Paige war überrascht, dass nur so wenige Zutaten benötigt wurden. Flammen für die Transformation. Paige sah sich auf dem Dachboden um. Hier stehen eine Menge Kerzen – das sollte genügen, dachte sie. Sie sah wieder auf die Liste. Schwarzwurz und Nesseln in einem Aufguss, Zimträucherstäbchen zum Abbrennen. Die sollten in Pipers gut sortierter Küche nicht schwer zu finden sein. Paige sprang die Treppe zur Küche hinunter, während sie die ganze Zeit fieberhaft überlegte. »Was soll ich werden?«, murmelte sie und kramte in den Schränken. Sie nahm den Krug mit Zimträucherstäbchen heraus und stellte ihn auf die Anrichte. »Schwarzwurz und Nesseln«, murmelte sie, während sie an den Einbauschränken vorbeiging und einen nach dem anderen öffnete. »Wenn ich Schwarzwurz und Nesseln wäre, wo würde ich dann sein?« Ich schätze, wenn ich erst mal richtig gut im Formwandeln bin, könnte ich mich in Schwarzwurz und Nesseln verwandeln und es herausfinden, dachte Paige und kicherte wieder. Vor Aufregung war sie ganz aus dem Häuschen. Sie liebte die Magie. Unschuldige zu retten war befriedigend und wichtig. Sie war Sozialarbeiterin geworden, weil sie anderen helfen wollte. Und das Machtgefühl – die Verbindung mit den unsichtbaren Kräften des Universums, die durch ihren Körper strömten, wenn sie zauberte – nun, es war unbeschreiblich. Die Abenteuer, die ständigen
Entdeckungen, das Vordringen ins Unbekannte. Es gab nichts Vergleichbares. Paige stellte einen Kessel auf den Herd, bevor sie weiter nach Schwarzwurz und Nesseln suchte. »Da seid ihr ja«, rief sie und griff nach einem Plastikbeutel mit der Aufschrift »Nesseln«. Sie sah sich in der Küche um und versuchte herauszufinden, was Schwarzwurz war und wo Piper es aufbewahren würde. »Oh, einen Moment …« Ihr Gesicht leuchtete auf, als sie sich erinnerte, wo Piper ihre Teevorräte deponiert hatte. Sie öffnete die Holzvitrine. »Und da bist du ja!«, sagte sie zu der Dose mit Schwarzwurzteeblättern. Hinter ihr auf dem Herd pfiff der Teekessel. »Perfektes Timing!« Paige nahm eine Keramikschüssel und stellte sie auf die Anrichte. Sie schüttete etwas von den Nesseln in die Schüssel, warf eine Hand voll Schwarzwurz hinterher und goss dann das kochende Wasser darüber. »Mach sauber, bevor du gehst«, mahnte sie sich und wiederholte damit Pipers Mantra. Paige schloss die Dose mit dem Schwarzwurz, versiegelte den Nesselbeutel und stellte beides zurück an ihre Plätze. Sie legte ihre Hände an die Seiten der Schüssel – heiß, aber nicht zu heiß zum Tragen. Sie konnte es kaum erwarten, mit dem Zauber zu beginnen. Den Krug mit den Zimträucherstäbchen unter den Arm geklemmt, nahm sie die Schüssel und ging dann langsam und vorsichtig zum Dachboden hinauf. Paige rümpfte die Nase. Die Nesseln und der Schwarzwurz verströmten einen erdigen Geruch. Hoffentlich musste sie die scharfe Mixtur nicht trinken! Sie stellte die Schüssel in der Mitte des Raumes auf den Boden und kehrte zu dem Pult zurück, um die Zauberformel noch einmal sorgfältig zu lesen. »Gut. Ich muss es nicht trinken«, murmelte sie. Sie musste nur ihre Stirn, ihre Hände und ihre Füße mit dem Aufguss einreiben. Ups. Was bedeutet, dass ich meine Schuhe ausziehen sollte! Paige streifte ihre Clogs ab und zog die Strümpfe aus. »Okay, was jetzt?«, sagte sie und sah wieder ins Buch. Kerzen. Richtig. Und etwas, in dem sie das Zimträucherstäbchen verbrennen konnte, ohne den Dachboden abzufackeln.
Paige stellte die schneeweiße Kerze hinter die Schüssel mit den ziehenden Kräutern und platzierte vor der Kerze das Zimträucherstäbchen. Sie las die Zauberformel mehrmals durch, bis sie sicher war, sie sich Wort für Wort eingeprägt zu haben. Bereit zum Rock and Roll! Paige kniete vor ihren Zauberzutaten nieder und konzentrierte sich auf das Tier, das sie sein wollte. Hmm. Sie sank auf die Fersen zurück und ließ ihre Gedanken wandern. Das Bild einer Katze formte sich in ihrem Kopf. Es ergab Sinn – Paige liebte Katzen. Sie bewunderte ihre Anmut. Ihre Unabhängigkeit. Ihre Empfindsamkeit und Verspieltheit. Sie hatte sogar einen alten Freund, der ihr einmal gesagt hatte, dass sie ihn an eine Katze erinnerte. »Perfekt«, erklärte Paige. Sie grinste. »Oder vielleicht sollte ich sagen schnurr-fekt!« Sie war bereit. Sie zündete ein Streichholz an und hielt es einige Zentimeter über den Docht der Kerze. Kleine Schmetterlinge tanzten Tango in ihrem Bauch. Dies war ein großer Schritt – ein mächtiger Zauber, den sie auf eigene Faust ausprobierte. »Also los«, befahl sie sich. Sie hielt das brennende Streichholz an den Kerzendocht und verfolgte, wie er aufflammte. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie hatte angefangen. Paige richtete ihre braunen Augen auf die Kerzenflamme. Der Zauber verlangte, dass sie sich auf das Tier konzentrieren musste, das sie werden wollte, während sie die transformierende Energie des Feuers in sich aufnahm. Sie erlaubte, dass sich in ihrem Geist das Bild einer Katze formte, ohne ihre Augen von der Kerze zu wenden. Denk an die Eigenschaften der Tiere und spüre dann diese Eigenschaften in dir, hatte die Zauberformel verlangt. Die Flamme flackerte und tanzte. Paige tauchte ihre Finger in den Schwarzwurz- und Nesselaufguss und benetzte ihre Stirn, ihre Handflächen und dann den Spann ihrer Füße. Danach hielt sie das Zimträucherstäbchen in die Flamme, während sie die Zauberformel aus dem Buch der Schatten intonierte: Ich nehme, was ich bin, Wandle es um in das, was ich sein will. Tierkraft, das Tier in mir, so still,
Tierenergie, Tierform, sodann Tiergestalt nehme ich an. Sobald das Zimträucherstäbchen brannte, legte sie es auf den kleinen Teller neben der Kerze. Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern: »Ich bin eine Katze. Ich bin eine Katze.« Sie wiederholte die Worte wieder und wieder, die Augen auf das winzige blaue Zentrum der Kerzenflamme gerichtet. Sie konnte spüren, wie sich die Macht in ihr aufbaute, und ihre kaum hörbaren Worte wurden zu einem kräftigen und lauten Singsang. Ihr Körper zitterte und ihre Haare standen unter dem Einfluss statischer Elektrizität zu Berge. Aber sie löste den Blick keine Sekunde von der Kerze und stellte sich weiter vor, wie sie die Welt durch die Augen einer Katze sah. Als ihr Singsang zu einem Crescendo anschwoll, loderte die flackernde Kerzenflamme zu einem fast zwei Meter hohen Inferno auf, um danach sofort zu erlöschen. Im selben Moment stieß Paige ein wildes Heulen aus – ein Laut, der schockartig ihre Aufmerksamkeit von der Kerze und dem Zauber lenkte. »War ich das?«, fragte sich Paige laut. Aber was sie hörte, war: »Mrrrowr?« Paige starrte ihre Pfoten an. Ihre Pfoten. Sie sprang zu dem bis zum Boden reichenden Spiegel hinüber und betrachtete staunend ihr Spiegelbild. Sie war eine Katze!
2
I
» CH HABE ES GESCHAFFT!«, rief Paige. Sie fuhr zusammen, als sie erneut dieses unheimliche und fremdartige »Mrrrowr« statt ihre eigene Stimme hörte. Dort, in dem Spiegel vor ihr, stand eine kleine, schlanke Katze. Ihr Fell hatte dieselbe dunkelbraune Farbe wie ihr Haar. Die Spitzen ihrer Ohren und ihre Nase waren pechschwarz. Ihre braunen Augen waren vollkommen rund, und ganz gleich, wie tief sie hineinsah, konnte Paige keine Spur ihres menschlichen Selbst finden. »Es hat wirklich funktioniert.« Paige machte einen Buckel. Mmm, das fühlte sich gut an. Kein Wunder, dass Katzen es so oft taten. Als Nächstes spannte sie ihre Vorderpfoten und fuhr die kleinen Krallen aus. Beeindruckend. Alles funktionierte perfekt. Sie konzentrierte sich und peitschte mit dem Schwanz. Die Bewegung überraschte sie, und sie sprang hoch und drehte sich, um nach der silbernen Spitze zu schnappen. Seht mich an! Ich bin eine Katze, die ihren Schwanz jagt! Wie albern kann ich noch werden?, dachte Paige und kicherte. Aber sie gab keinen Laut von sich – sie spürte nur ein leichtes Schaudern, das ihren Körper durchlief. Ich habe noch nie eine Katze lachen gesehen, dämmerte es Paige. Ich frage mich, ob sie Sinn für Humor haben. Paige wanderte vorsichtig durch den Raum und gewöhnte sich an ihren neuen vierbeinigen Gang. Der Boden unter ihren Fußballen fühlte sich weich an. Sie hob ein Vorderbein. »Die sind definitiv bequemer als hochhackige Schuhe«, sagte sie zu ihrer Pfote. Alle Sinne von Paige schienen geschärft zu sein. Ihre Schnurrhaare prickelten von den verschiedenen Düften der Kräuter des Zauberaufgusses, der Möbelpolitur, mit der Piper das Holzpult eingerieben hatte, und des Kaffees in dem Becher auf dem Tisch. Paige trottete zum Kaffeebecher hinüber, steckte ihren Kopf hinein und zog ihn sofort wieder heraus. Ihr bevorzugtes Suchtmittel – Koffein – wirkte jetzt, da sie eine Katze war, nicht mehr allzu verlockend. Also, das ist eine Verwandlung! Ich mag keinen Kaffee? Jesses.
Ooh, aber dieser Staubflusen sieht nach Spaß aus. Paige, die Katze, duckte sich und sprang dann. Der Staubflusen flog davon, aber das kümmerte Paige nicht. Die Spannung lag in der Hatz, der Jagd. Sie wollte wieder springen, als ein warmer Streifen Licht, der durch das Fenster fiel, sie sich überschlagen ließ. Sie drehte sich um und spürte, wie die wärmenden Strahlen ihr Fell erhitzten. Der Boden unter ihr fühlte sich angenehm und kuschelig an. Jeder Muskel entspannte sich in dem rechteckigen Flecken Sonnenlicht. Eine leichte Brise auf dem zugigen Dachboden trieb den Staubflusen an ihr vorbei, aber da sich Paige, die Katze, jetzt in dem Sonnenflecken räkelte, blinzelte sie ihn nur schläfrig an. Sie gähnte. Leben und leben lassen, dachte sie. Schließlich hat dieser Staubflusen mir nichts getan. Ein merkwürdiges grollendes Geräusch ließ sie aufspringen. Was war das? Es hörte so plötzlich auf, wie es angefangen hatte. Um genau zu sein, dachte sie, es hörte in dem Moment auf, als ich nervös wurde. Dann dämmerte es ihr. Könnte ich das gewesen sein? Habe ich geschnurrt? Sie war froh, dass niemand da war, um zu sehen, wie sie sich selbst Angst einjagte. Und, dachte sie, als sie ihre Vorderbeine streckte und ihre Krallen in den gepolsterten Stuhl in der Ecke bohrte, ich bin auch froh, dass niemand hier ist, um mich dabei zu beobachten. Sie riss mit ihren scharfen Krallen an dem Stoff und genoss das Gefühl, wie er sich dehnte. Unten fiel eine Tür zu. »Dafür wirst du bezahlen«, hörte Paige Phoebe lachend sagen. »Das werden wir noch sehen!«, konterte Cole. »Das will ich sehen«, stichelte Leo. »Wirklich?«, sagte Piper lachend. »Das ist ein Wettbewerb, an dem ich definitiv nicht teilnehmen möchte.« Uh-oh. Paige hatte das Haus nicht länger für sich allein. Ihre Familie war heimgekehrt. Und ich will definitiv nicht, dass sie mich so sehen! Paige wusste, dass sie ihre neue Fähigkeit viel besser herüberbringen konnte, wenn sie sie in menschlicher Gestalt demonstrierte, statt sich ihnen als
Katze zu präsentieren. Ihre Schwestern waren gegen jeden leichtfertigen Einsatz von Magie, vor allem Piper. Trotzdem konnte Paige kaum erwarten, es ihnen zu zeigen. Sie musste nur den richtigen Weg finden. Ich könnte sie vorher sogar um Erlaubnis fragen, entschied sie. Aber im Moment war es Zeit, sich wieder in Paige zurückzuverwandeln. Da gibt es nur ein Problem, dachte sie und kniff die runden braunen Augen zusammen, als sie das Pult anstarrte. Wie genau mach ich das? Hätte Paige es gekonnt, hätte sie sich selbst einen Tritt gegeben – mit allen vier Pfoten. Warum habe ich nicht die ganze Zauberformel gelesen? Dann wurde ihr ein neues Problem bewusst. Wie soll ich die Formel rezitieren, wenn alles, was aus meinem Mund kommt, nur Variationen von »Miau« sind? Trotzdem, es muss etwas geben, das ich tun kann. Paige sprang auf das Pult und sah ins Buch der Schatten. Es war noch immer aufgeschlagen, aber der Transformationszauber setzte sich eindeutig auf der nächsten Seite fort. Vielleicht erstreckt er sich sogar über mehrere Seiten, dämmerte Paige. Paige versuchte, das dicke Papier mit ihrer Pfote umzublättern. Sie konnte es nicht richtig packen. Das Leben ist hart ohne Daumen! Was jetzt? Paige sprang von dem Pult und rannte zur offenen Tür. In dieser Gestalt war ihr Gehör hoch empfindlich. Sie konnte jede entnervende süße Nichtigkeit hören, die Cole Phoebe zuflüsterte. Gut, dass ich den Brunch verpasst habe. Wenn sich Cole während des ganzen Essens so aufgeführt hat, hätte ich mich in meinen Milchkaffee übergeben. Sie zwang sich, ihre Lage zu überdenken. Trotz aller Warnungen, es nicht zu tun, hatte Paige unbeaufsichtigt einen sehr mächtigen Zauber gewirkt. Schlimmer noch, sie war unvorsichtig gewesen und konnte das, was sie getan hatte, nicht mehr rückgängig machen. Es ergab keinen Sinn. Sicher war der Person, die die Formel aufgeschrieben hatte, klar gewesen, dass es unmöglich war, die Seiten des Buches umzublättern, sobald eine Hexe Tiergestalt angenommen hatte. Aber vermutlich, dachte Paige düster, ist die Hexe, die die
Formel aufgeschrieben hat, davon ausgegangen, dass jeder, der einen neuen Zauber ausprobiert, den ganzen Eintrag liest, bevor er einen Versuch macht. Sie konnte jetzt schon Pipers Predigt hören. Das Schlimmste war, dass Piper absolut und total Recht haben würde. Sie hatte keine Zeit, selbst einen Ausweg zu finden. Ihre Schwestern würden sich bald Sorgen machen, was mit ihr passiert war. Sie wollte nicht, dass sie Panik bekamen und nach ihr suchten, zumal sie direkt hier war – ihr neues Haustier. Was sie wirklich nicht auf Dauer sein wollte. So sehr sie auch hasste, es zuzugeben, es war Zeit, die Katze aus dem Sack zu lassen. Sozusagen. Paige entschied, einen Moment abzuwarten, in dem Phoebe allein war. Sie war ziemlich sicher, dass Phoebe verstehen würde, warum sie es getan hatte. Phoebe war nicht gerade gut darin, Geheimnisse vor Piper zu hüten, doch zumindest konnte sie Paige wieder in Paige verwandeln – und ihr helfen, eine Möglichkeit zu finden, es Piper auf möglichst schmerzlose Weise beizubringen. Paige steckte wieder den Kopf aus der Tür. Es klang, als wären sie noch immer im Wohnzimmer. Paige schlich nach unten. Sie hatte vorher noch nie bemerkt, wie weit die Stufen auseinander lagen. Natürlich, ihre Beine waren jetzt, da sie vier von ihnen hatte, viel kürzer. Die gute Nachricht war, dass sich auf Pfoten viel leiser herumschleichen ließ als auf hohen Absätzen. Sie glitt lautlos ins Wohnzimmer und schlüpfte hinter einen großen, eingetopften Farn. Leo und Piper hatten es sich auf dem Sofa bequem gemacht und lasen die Sonntagszeitung. Sie erweckten nicht den Eindruck, als würden sie das Zimmer bald verlassen. Cole stand und streckte sich. »Es wird Zeit fürs Training«, erklärte er. »Nach dieser schweren Mahlzeit?«, protestierte Phoebe. »Du hast genug Zeit zum Verdauen gehabt«, konterte Cole. »Wir müssen dich in Form halten.« »Ich dachte, du magst meine Formen«, scherzte Phoebe.
»Jetzt versuchst du bloß, mich abzulenken«, sagte Cole, ergriff Phoebes Hand und zog sie sanft auf die Beine. Phoebe gab nach. »Okay, du hast gewonnen.« Sie wandten sich zum Keller. Paige musste sich zwingen, nicht frustriert zu miauen. Warum konnte sich Phoebe nicht entschließen, ihre Kleidung zu wechseln oder ins Bad zu gehen? Jetzt wusste Paige nicht, wie sie Phoebe allein abfangen sollte. Was für ein gemütliches Bild, dachte Paige, als sie ihren Schwanz unter ihr Kinn platzierte. Leo flegelte sich ausgestreckt auf dem Sofa und hatte seine Füße in Pipers Schoß gelegt. Piper lehnte an den weichen Sofakissen, während ihre Füße auf einem Stuhl ruhten. Und ich, das Dschungelkätzchen, spähe durch die Blätter und warte auf eine Gelegenheit zum Angriff. Paiges Schwanz peitschte hin und her. Ungeduldig wartete sie auf eine Gelegenheit, Phoebe allein zu treffen. Nach etwa einer Stunde zuckten Paiges Ohren. Aha! Könnte es jetzt so weit sein? Sie hörte Schritte die Treppe heraufkommen und machte sich sprungbereit. Die Tür zum Keller schwang auf und Cole erschien, verschwitzt und mit nacktem Oberkörper. »Deine Schwester wird allmählich zu gut«, sagte Cole lachend zu Piper. »Ich habe aufgegeben. Es wird Zeit, dass ich dusche.« »Leg dich nicht mit den Halliwell-Schwestern an«, warnte Piper mit einem Grinsen. »Wir sind zäher, als wir aussehen.« »Dem kann ich nur zustimmen«, fügte Leo hinzu. Cole wandte sich zur Treppe. Paige kam lautlos hinter der Pflanze hervor, schlich unter die Couch, widerstand der Versuchung, mit ihren Zähnen an den Fransen des Teppichs zu ziehen, und erreichte die Kellertür. Sie sprang die Treppe hinunter. In dem Moment kam Phoebe heraufgerannt. »Agh!«, schrie Phoebe, als Paige gegen die Füße ihrer Schwester prallte. Paige überschlug sich, aber es gelang ihr, aufrecht zu bleiben. Die Gerüchte stimmen also, dachte Paige. Katzen landen wirklich auf ihren Beinen.
Phoebe stolperte, fing sich wieder und nahm sofort auf der Treppe Kampfhaltung ein. Ihr Kopf ruckte herum. »Okay, ich weiß, dass du hier bist«, rief sie. »Was bist du – ein unsichtbarer Dämon?« »Ich bin kein Dämon«, versicherte Paige ihrer Schwester. Phoebes Augen fanden Paige. Ein verwirrtes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Siehst du?«, sagte Paige. »Ich bin’s nur.« Phoebe nahm Paige in die Arme. »Nun, hallo, Kätzchen. Wie bist du ins Haus gelangt?« Oh, nein. Paige hatte angenommen, dass Phoebe sie sofort erkennen würde. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie sie für eine echte Katze halten würde. Wie konnte sie Phoebe die Situation begreiflich machen? Piper spähte hinunter in den Keller. »Ist dort unten alles in Ordnung?«, fragte sie. »Piper! Sieh mal, was ich gefunden habe.« Phoebe eilte mit Paige in den Armen die Treppe hinauf. Paige wand sich, um sich zu befreien. »Nein!«, protestierte sie. »Das war nicht der Plan.« Aber nur ein indigniertes Miauen drang aus ihrem Maul. »Wem gehört die Katze?«, fragte Piper. »Ich weiß es nicht. Ich bin im Keller über sie gestolpert«, erklärte Phoebe. »Okay, ihr habt mich erwischt«, sagte Paige. »Ich bin’s.« Doch ihre Schwestern verstanden sie nicht. Das wird schwerer, als ich dachte, dämmerte es Paige alarmiert. »Dieser Schrei, den wir gehört haben, kam von Phoebe. Sie hat eine neue Freundin gefunden«, sagte Piper zu Leo und Cole, die bei Phoebes Kreischen ins Wohnzimmer zurückgekehrt waren. Phoebe kraulte Paige unter dem Kinn. »Sie ist so süß.« Piper zog eine Braue hoch. »Phoebe«, sagte sie. Paige hörte den warnenden Ton in ihrer Stimme.
»Was?«, fragte Phoebe. »Du hast diesen Ausdruck«, sagte Piper. »Welchen Ausdruck?«, fragte Phoebe unschuldig. Sie rieb ihr Gesicht an Paiges Fell. Paige konnte nicht erkennen, ob Phoebe versuchte, Pipers Blick auszuweichen. Piper verschränkte die Arme vor der Brust. »Den ›Können-wir-sie nicht-behalten‹-Ausdruck.« Phoebe barg Paige in ihrer Armbeuge und kraulte ihren flauschigen Bauch. »Nun, können wir?«, fragte Phoebe mit einem Grinsen. »Nein«, erwiderte Piper nachdrücklich. »Warum nicht?«, wollte Phoebe wissen. »Ja, warum nicht?«, fragte Paige. Sie hätte gern eine Katze im Haus. Es passte zu der ganzen Hexensache. Oh, einen Moment, dachte sie. Eine andere Katze als mich, meine ich. Piper schüttelte den Kopf. »Das ist genau das, was wir brauchen – eine Katze, die die Möbel zerkratzt und alles umstößt, während Paige ihre Kräfte erforscht und dabei irgendwelche Sachen explodieren lässt.« »He, ich bin viel besser geworden«, miaute Paige Piper zu. »Und erzähl mir nicht, dass du keine Fehler gemacht hast, als du versucht hast, deine Kräfte unter Kontrolle zu bekommen.« »Wenigstens ist Paige stubenrein«, scherzte Phoebe. »So eben«, erwiderte Piper mit einem Grinsen. »Was?« Paiges Fell sträubte sich. Phoebe lachte und kraulte Paige zwischen den Ohren. »Ich denke nicht, dass dem Kätzchen gefällt, was du sagst.« »Toll. Eine weitere Meinung, mit der wir uns herumschlagen müssen. Siehst du? Wir haben bereits zu viele Köche, die den Brei verderben.« »Wie ist sie hier reingekommen?«, fragte Leo. »Ihr wisst, dass wir vorsichtig sein müssen.«
»Hältst du dieses süße kleine Ding etwa für einen Dämon?«, spottete Phoebe. »Man weiß nie«, erwiderte Leo. »Manche Dämonen können sehr anziehend sein, bis sie sich zu erkennen geben.« »Du solltest das eigentlich wissen, Phoebe«, stichelte Cole. »Du hast mich für ziemlich unwiderstehlich gehalten, als ich noch ein Dämon war.« Phoebe verdrehte die Augen. »Ha-ha. Erinnere mich bloß nicht daran.« Cole nahm Phoebe Paige ab, sah ihr in die Augen und ließ ihre Pfoten baumeln. »Ich bin es, Cole«, miaute Paige flehend. Cole nahm Paige in seine Armbeuge. »Nein. Sie ist bloß eine Katze«, erklärte er. »Wir sollten nachsehen, ob wir irgendwo ein Loch haben. Ich will nicht entdecken, dass sich eine Ratte oder ein Waschbär in diesem alten Haus eingenistet hat.« »Cole, warum gibst du unseren Eindringling nicht im Tierheim ab?«, schlug Piper vor. »Ich traue es Phoebe nicht zu.« »He!«, protestierte Phoebe. »Von wegen«, sagte Piper. »Du würdest wahrscheinlich mit mehreren anderen Fellknäueln nach Hause kommen.« Phoebe warf die Hände hoch. »Schuldig im Sinne der Anklage. Was kann ich sagen? Ich bin eben zu weich.« Sie beugte sich zu Paige hinunter. »Tschüss, Mieze«, sagte sie. »Nein!«, heulte Paige. Sie bohrte ihre Krallen in Phoebes roten Pullover und klammerte sich an sie. »Ihr könnt mich nicht weggeben!« Phoebe warf Piper einen bittenden Blick zu. »Siehst du? Sie will bei uns bleiben.« »Phoebe.« Pipers Stimme war fest. Phoebe löste vorsichtig Paiges Klauen von ihrem Pullover. »Tut mir Leid, Kätzchen.«
»Ich hole etwas, um sie zu transportieren«, erbot sich Leo und ging in die Küche. »Danke, Schatz«, sagte Piper. »Ich bin’s!«, protestierte Paige in totaler Panik. »Phoebe, Piper. Ich bin eure Schwester. Paige.« Aber sie wusste, dass sie nur ihr verzweifeltes Miauen hörten. »Komm, Mädchen«, sagte Cole und drückte sie an seine Brust. »Es wird nicht so schlimm werden. Ein gut aussehendes Kätzchen wie du? Du wirst in kürzester Zeit ein neues Zuhause finden.« »Ich habe ein Zuhause!«, jammerte Paige. »Hier!« »Das sollte reichen«, sagte Leo, der mit einem Kühlbehälter aus Styropor und einer Rolle Klebeband wieder hereinkam. »Ich habe ein paar Löcher in den Deckel gebohrt. Das sollte für die kurze Fahrt genügen.« Fauchend und spuckend wehrte sich Paige nach Kräften. Aber eine kleine Katze war kein Gegner für einen Halbdämon, einen Wächter des Lichts und zwei entschlossene Halliwells. Sie setzten sie in den Kühlbehälter, Phoebe warf ein kleines Kissen hinein, dann wurde der Deckel geschlossen. Paige hörte, wie Klebeband abgerissen wurde, und sie wusste, dass sie in dem improvisierten Korb gefangen war. Die Löcher, die Leo in den Deckel gebohrt hatte, waren zu klein, um hindurchsehen zu können. Sie spürte, wie sie hochgehoben und aus dem Haus getragen wurde. Ein paar Momente später verrieten ihr die ruckenden Bewegungen, dass Cole den Motor angelassen hatte. Sie waren auf dem Weg zum Tierheim. Großartig, dachte Paige verzweifelt. Meine eigenen Schwestern geben mich einfach weg.
3
PIPER STELLTE EINE große Schüssel mit vegetarischem Curry auf den Esszimmertisch und genoss den Duft der scharfen Gewürze. »Abendessen«, rief sie. Als Leo, Cole und Phoebe ins Esszimmer kamen, ging Piper zurück in die Küche, um das Tablett mit den Beilagen zu holen – geriebene Kokosnuss, Chutney, Rosinen, Mandelsplitter. Lecker, dachte sie, während sie die Zutaten betrachtete. Sie stellte das Tablett neben die Schüssel mit dem aromatischen Basmatireis. Sie sah sich am Tisch um und bemerkte den leeren Stuhl. »Paige ist noch immer nicht nach Hause gekommen?«, fragte sie. Piper hatte den Großteil des Nachmittags in der Küche an den Töpfen, Pfannen und Gewürzen verbracht. Sie war professionelle Köchin gewesen, bevor sie den beliebten Club P3 eröffnet hatte, und kochte jetzt nur noch zum Vergnügen. Der lange, arbeitsfreie Sonntag war die perfekte Gelegenheit gewesen, sich beim Kochen zu entspannen. Phoebe schenkte sich Eistee aus dem Krug ein. »Sie muss andere Pläne haben.« »Sie hätte uns wenigstens Bescheid geben können«, grollte Piper, während sie sich neben Leo an den Tisch setzte. Sie schüttelte ihre Serviette aus und glättete sie auf ihrem Schoß. Sie hatte nicht vor, sich von Paiges gedankenlosem Verhalten ärgern zu lassen. Es war ein wunderschöner, entspannter Tag gewesen. Den ganzen Sonntag lang hatte Piper fast glauben können, dass sie und Leo ein normales Paar waren. Dass sie und ihre Schwester einfach mit ihren Freunden ausgegangen waren und es sich dann zu Hause gemütlich gemacht hatten. Piper hatte vor, die Stimmung so lange wie möglich zu konservieren. Sie würde Paige, wenn sie später nach Hause kam, daran erinnern, immer eine Nachricht zu hinterlassen. Jetzt wollte Piper das exotische Mahl genießen, das sie zubereitet hatte. Sie lächelte. »Greift zu.« Cole löffelte Reis und Curry auf seinen Teller. »Ich kann nicht fassen, wie hungrig ich nach diesem ausgiebigen Brunch bin.«
»Muss am Training liegen«, stichelte Phoebe. »Du verbrennst eine Menge Kalorien, während du versuchst, mit mir mitzuhalten!« Cole hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Du nimmst mich immer hart ran.« »Wenn du willst, kann ich dich nach dem Essen auf andere Weise rannehmen«, bot Phoebe an und legte ihre Hand auf seinen Oberschenkel. »Besorgt euch ein Zimmer«, flötete Piper. »Oh, richtig. Ihr habt bereits ein Zimmer. Direkt gegenüber von unserem.« Es war schön zu sehen, dass sich Phoebe und Cole wie ein normales Paar neckten. Piper griff nach Leos Hand und drückte sie kurz. Es war schön, dass sie alle ein paar Stunden der Normalität genießen konnten – auch wenn die Halliwell-Definition von normal nicht direkt der anderer Menschen entsprach. Und in der letzten Zeit war noch Paige hinzugekommen … Piper mochte Paige – liebte sie sogar –, aber sie musste sich noch immer daran gewöhnen, sie um sich zu haben. Sie musste sie erst noch richtig kennen lernen. Obendrein mussten sie Paige dabei helfen, ihre neuen Hexenkräfte zu entwickeln. Das bedeutete, dass eine Menge Druck auf dem Mädchen lastete, aber es war notwendig. Ihr Leben – und das der Unschuldigen – hing davon ab. Vielleicht sollte ich sie nicht so drängen, sinnierte Piper, während sie einen Bissen von dem scharfen Curry nahm. Ich sollte geduldiger sein. Wie heute Abend. Sie hat also keine Nachricht hinterlassen, sagte sie sich. Paige ist kein Kind mehr. Sie ist vierundzwanzig Jahre alt und hat einen Job, ein Auto … Sie hat sogar einen im Grunde guten Kopf auf den Schultern, räumte Piper ein. Trotzdem wäre es nett gewesen, wenn sie gewusst hätte, für wie viele Personen sie kochen musste. Nun, wenigstens lässt sich dieses Zeug gut aufwärmen. Curry zum Mittagessen ist keine schlechte Sache. Sie betrachtete die vollen Schüsseln. Sofern man es nicht die ganze Woche essen muss. Nachdem sich alle eine zweite Portion (und Leo eine dritte) gegönnt hatten, erklärte Piper: »Ich habe gekocht. Ihr spült ab.« Leo schob seinen Stuhl vom Tisch zurück. »Ich würde sagen, das ist ein gutes Geschäft.« Er stapelte die Teller aufeinander, sammelte
das Besteck ein und trug alles in die Küche. Cole und Phoebe nahmen die Beilagenschüsseln, während Piper nach den Servietten griff und ihnen in die Küche folgte. Sie blickte zur Küchenuhr auf. »Ich wusste gar nicht, dass wir schon nach neun haben«, sagte sie. »Hat Paige irgendwelche Pläne erwähnt?«, fragte Leo, während er die Reste der Mahlzeit von den Tellern kratzte und in den Abfalleimer gab. Piper lächelte ihn an. Er wusste genau, was sie gedacht hatte. Als ihr Wächter des Lichts war er entschlossen, sie zu beschützen, und Paige neigte dazu, den großen Bruder in ihm hervorzulocken. »Vielleicht hat jemand angerufen, während wir draußen waren«, schlug Phoebe vor. Sie knabberte die übrig gebliebenen Rosinen. »Möglich«, meinte Leo. Er füllte den Geschirrspüler, richtete sich dann auf und sah Phoebe an. »Aber mit wie vielen von ihren Freunden hat sie noch Kontakt, seit sie hier eingezogen ist?« »Nicht mit vielen«, gab Phoebe zu. »Eigentlich mit keinem.« »Die Dämonenjagd kann ein Vollzeitjob sein«, murmelte Cole verständnisvoll. Piper dachte an den Morgen zurück. Paige schien mit irgendetwas beschäftigt gewesen zu sein. »Wisst ihr, vielleicht ist sie nicht mit uns zum Brunch gegangen, weil sie die ganze Hexenkiste satt hat.« Sie hasste es, den Gedanken laut auszusprechen, aber es war inzwischen ziemlich spät und es gab noch immer keine Spur von ihrer Halbschwester. Phoebes Kinnlade fiel nach unten. »Du denkst, dass sie abgehauen ist?« Piper zuckte die Schultern. »Das ist immer eine Möglichkeit. Weißt du noch, wie widerspenstig sie manchmal war? Nun, das ist alles ziemlich neu für sie. Hin und wieder dreht sie durch.« »Wir alle drehen hin und wieder durch«, erinnerte Phoebe Piper. »Aber wir halten zusammen.« Sie nickte nachdrücklich. »Und das gilt auch für Paige.« »Aber wo ist sie dann?«, fragte Cole ruhig.
Phoebe warf entnervt die Hände hoch. »Bei einem Rendezvous? Im Kino? Jesses. Lasst euch doch auch mal was einfallen.« »Hattest du nicht auch das Gefühl, dass irgendetwas sie heute Morgen beschäftigt hat?«, fragte Piper. »Nun ja«, gab Phoebe widerwillig zu. »Aber das bedeutet nicht, dass sie die Macht der Drei im Stich gelassen hat. Wir alle haben unsere Launen«, fügte sie spitz hinzu. »Ich glaube nicht, dass sie weggelaufen ist«, sagte Leo plötzlich. Piper dämmerte, dass ihr Mann bis jetzt zu diesem Thema geschwiegen hatte. Er sah besorgt aus. »Was spürst du, Leo?«, fragte Piper ihn. Als Wächter des Lichts konnte Leo gewöhnlich – wenn auch nicht immer – erkennen, wo sich seine Schutzbefohlenen befanden. Wenn er besorgt war, dann gab es definitiv Grund zur Sorge. »Ihre Präsenz hat etwas Seltsames an sich«, erklärte Leo ihnen. »Etwas … Diffuses.« Sein Gesicht wurde grimmig. »Als würde ich sie durch einen Nebel aus Magie spüren.« »Denkst du, ein Dämon hat sie erwischt?«, fragte Phoebe. »Das kann ich nicht sagen«, gestand Leo. »Sie scheint aber nicht verletzt zu sein.« »Das ist schon mal ein Anfang.« Piper schaltete automatisch in ihren ›Ruhe-in-einer-Krise‹-Modus um. »Lasst uns nicht in Panik geraten, solange es nicht nötig ist«, fügte sie hinzu. Ihre Stimme klang dabei viel ruhiger, als sie sich fühlte. »Leo, du sagst, sie ist nicht verletzt?« Leo schüttelte den Kopf. »Soweit ich es erkennen kann, nein.« »Dann sollten wir versuchen, sie zu finden, bevor sich das ändert«, sagte sie mit grimmiger Entschlossenheit. »Wenn ein Dämon sie entführt hat, sollte es irgendwelche Spuren geben«, warf Cole ein. »Dann machen wir’s wie Nancy Drew«, befahl Piper. »Wir suchen nach Spuren.« Als sich die Gruppe verteilte, atmete Piper tief durch und versuchte, ihre Panik zu unterdrücken. Eine Hexe zu sein bedeutete,
mit der ständigen Bedrohung der Gefahr zu leben. Sie hatte sich darauf trainiert, die Angst zu besiegen, indem sie jedes Problem sofort anging und einen Schritt nach dem anderen machte. Andernfalls würde sie sie überwältigen und so lähmen, als wäre sie ein Dämon, der von ihrem Erstarrungszauber paralysiert wurde. Piper musterte die Küche. Sie hatte den Großteil des Tages hier verbracht; sie hätte es bemerkt, wenn irgendetwas fehlte. Wo also sollte sie suchen? Sie hörte, wie Phoebe oben Türen öffnete und schloss, während Cole hinter ihr hertrottete. Leo war nach draußen gegangen, um rund um das Haus nachzusehen. Piper eilte ins Wohnzimmer, wo sie sich erst vor ein paar Stunden mit Leo auf der Couch geräkelt hatte, als wäre nichts passiert. Piper legte die Hände an die Hüften und schüttelte den Kopf. Sie wusste, dass ein Teil des Ärgers, den sie spürte, von Schuld gespeist wurde. Sie konnte nicht fassen, dass sie Paige verdächtigt hatte, sich einfach abgesetzt zu haben. Und jetzt weiß ich, dass Paige in irgendwelchen magischen Schwierigkeiten steckt. Sie schlug frustriert auf die Rücklehne des Sofas. Und ich weiß nicht, wie ich ihr helfen kann. Phoebe sprang die Treppe hinunter und betrat den Raum. »In ihrem Zimmer herrscht das übliche Chaos, aber ich habe keine Spuren eines Kampfes gefunden.« »Ich auch nicht«, fügte Cole hinzu, der hinter ihr hereinkam. Phoebe drehte sich zu ihm um und ihr Gesicht leuchtete hoffnungsvoll auf. »Das bedeutet also, dass es ihr wahrscheinlich gut geht«, meinte sie. Coles starkes, markantes Gesicht war grimmig. »Nicht unbedingt. Eine einzelne Hexe ist ein leichtes Opfer für den richtigen Dämon«, sagte er. »Vielleicht hatte Paige nicht die Chance, ihm einen Kampf zu liefern.« »Oh, jetzt fühle ich mich einfach großartig«, murmelte Piper. Leo kehrte ins Herrenhaus zurück. Ungewöhnliches zu sehen«, erklärte er.
»Draußen
ist
nichts
Piper warf die Hände hoch. »Und was machen wir jetzt? Wir haben absolut keine Hinweise, wo wir die Suche fortsetzen sollen.«
Leos Miene wurde nachdenklich. »Ich muss immer wieder an diese Katze denken.« »Wir haben eine verschwundene Schwester und du machst dir Sorgen wegen einer streunenden Katze?« »Es ist wenigstens ein Anfang«, sagte Leo. »Vielleicht hat ein Dämon etwas offen gelassen – gerade lang genug, dass diese Katze hereinschleichen konnte. Als der Dämon dann verschwand, war die Katze im Haus gefangen.« »Möglich«, meinte Piper. »Aber das verrät uns nicht, wer sie in seiner Gewalt hat. Oder wie wir sie zurückholen können.« Leo trat zu Piper und wollte sie umarmen, aber sie wehrte ihn ab. Sie war zu nervös für Körperkontakt. »Sehen wir im Buch der Schatten nach«, sagte sie zu Phoebe. »Vielleicht können wir etwas finden, um wenigstens den magischen Nebel zu durchbrechen, der Leo blockiert.« »Gute Idee«, stimmte Phoebe zu. »Cole und ich werden versuchen, die Stelle zu finden, wo die Katze hereingekommen ist. Vielleicht verrät uns das etwas.« Piper führte Phoebe die Treppe hinauf und nahm bei jedem Schritt zwei Stufen. Noch vor einer kurzen Weile hatte sie ihren so genannten normalen Nachmittag genossen. Ich muss endlich aufhören, mich selbst zu verhexen. Piper öffnete die Dachbodentür und trat ein, dicht gefolgt von Phoebe. »Nun, das Buch ist aufgeschlagen«, stellte Piper fest, als sie zum Pult ging. »Vielleicht ist es eine Nachricht«, schlug Phoebe vor. »Könnte sein.« Piper streckte die Hand aus und berührte leicht das Buch der Schatten. Manchmal half das Buch den Mädchen, indem es sich öffnete und zur richtigen Zeit den richtigen Zauber präsentierte. Sie hoffte, dass es auch diesmal der Fall sein würde. Aber Piper spürte nicht das Kribbeln in ihren Fingerspitzen, das einen magischen Hinweis ankündigte.
Piper rümpfte die Nase und sah sich auf dem Dachboden um. »Riechst du auch etwas Komisches?«, fragte sie. Dann entdeckte sie in der Mitte des Raumes auf dem Boden eine Keramikschüssel. »Jemand hat hier einen Zauber bewirkt«, schlussfolgerte sie und nickte der Schüssel, der Kerze und dem Teller mit den geschwärzten Überresten eines Räucherstäbchens zu. »Die Frage ist, wer?«, sagte Phoebe, »Paige oder ein Kidnapper?« Piper warf einen Blick auf die aufgeschlagene Seite des Buches. Ihre Augen weiteten sich, als ihr plötzlich alles klar wurde. Viel zu klar. »Oh, es war Paige«, rief sie kopfschüttelnd. Ärger stieg in ihr hoch. »Ich glaub es einfach nicht. Sie ist bei weitem nicht erfahren genug, um derartige Zauber zu versuchen.« »Welche Zauber?« Phoebe eilte an Pipers Seite und sah sich den Zauber an. »Gestaltveränderung.« Sie blickte verwirrt drein. Piper verfolgte, wie sich der Ausdruck ihrer Schwester veränderte, als sie verstand. Sie starrte Piper an. »Das war kein normales Kätzchen.« »Das war unsere Schwester.« Piper schlug sich an die Stirn. »Und ich habe darauf bestanden, sie wegzugeben!« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Nun, das geschieht ihr recht.« »Piper«, schalt Phoebe sie. Ihre braunen Augen wurden ernst. »Sie hat alles gehört, was du gesagt hast«, erinnerte sie Piper. »Dass sie nicht ganz stubenrein ist …« Jetzt fühlte sich Piper schuldig. Aber es war Paiges eigene verdammte Schuld. »Sie hätte nicht mit Dingen herumspielen sollen, von denen sie nichts versteht«, sagte sie mürrisch. »Sie wusste offenbar nicht, wie man den Zauber rückgängig macht. Das ist schlimmer, als ein Haustier zu haben. Deren Hinterlassenschaften kann man mit einem starken Teppichreiniger beseitigen. Paiges Hinterlassenschaften sind komplizierter.« »Jetzt ist nicht die Zeit, den bösen Cop zu spielen«, tadelte Phoebe Piper. »Jetzt ist es Zeit, die ›Ms. Reparier-Es‹ zu spielen.« Sie runzelte besorgt die Stirn. »Können wir’s? Es reparieren?« »Mal sehen«, seufzte Piper. Sie strich ihre langen braunen Haare hinter die Ohren und beugte sich über das Buch, um festzustellen, wie sich das, was Paige getan hatte, rückgängig machen ließ.
Ein Schrei von unten alarmierte sie. Ihr Kopf schoss hoch. »Das war Leo.« Piper und Phoebe starrten sich an. Ein weiterer Schrei ließ die Schwestern vom Dachboden stürzen und die Treppe hinunterrennen. Auf halbem Weg packte Piper Phoebes Arm. Ihr Körper war kalt vor Furcht. Leo lag auf dem Boden und kämpfte mit einer schuppigen grünen Kreatur mit geifernden gelben Fängen. Zwei andere schwarz gekleidete schleimige Gestalten wichen den Energiebällen aus, die Cole so schnell nach ihnen warf, wie er sie erzeugen konnte. Pipers Herz hämmerte, während sie das Bild in sich aufnahm. Leo und Cole kämpften gegen ein Trio Dämonen!
4
C
» OLE, DUCK DICH!«, SCHRIE PHOEBE. Sie sprang über das Treppengeländer und verpasste dem nächsten Dämon einen mächtigen Tritt gegen das Kinn. Sein grün geschuppter Kopf ruckte nach hinten. Er flog durch den Raum und prallte mit voller Wucht gegen die Wand. Cole richtete sich auf. »Links von dir!«, brüllte er. Phoebe streckte ihre Hand aus, konzentrierte sich und erzeugte einen Energieball. Sie schleuderte die magische Granate nach dem nächsten Dämon. Der Ball explodierte beim Aufprall und schaltete das schleimige Wesen aus. Gut, dass sie sich einfach in nichts auflösen, wenn das geschieht, dachte Phoebe. Ich würde es hassen, ihre Überreste beseitigen zu müssen. »Phoebe!«, kreischte Piper. Sie blickte sich wild um und sah, dass ein Dämon ihre Schwester von hinten gepackt hatte und Pipers Arme festhielt, sodass sie keinen von ihnen einfrieren konnte. Leo lag noch immer auf dem Boden – und zwei weitere Dämonen waren aufgetaucht. Nicht gut. Der Dämon, den sie durch die Luft geschleudert hatte, war wieder auf den Beinen und wurde von Cole mit Schlägen und Tritten eingedeckt. Phoebe rannte los, um die neuen Dämonen zu rammen, die ihre Schwester bedrängten. Sie konnte sehen, dass einer von ihnen dabei war, seine Doppelreihe gelber Zähne in die Schulter ihrer gefangenen Schwester zu bohren. »Sucht euch jemand von eurer Größe«, fauchte Phoebe, als sie den hungrigen Dämon packte und herumriss. Was für ein Gestank! Diese Dämonen riechen noch schlechter, als sie aussehen. Und sie sehen schlecht aus! Aber sie kämpften gut – dieser blockte jeden ihrer Schläge mit geübten Bewegungen ab. Ein leuchtender Energieball pfiff an ihrem Ohr vorbei und versengte ihr Haar. Er traf die faltige grüne Stirn der Kreatur, mit der sie kämpfte. Der Dämon gab ein gepeinigtes Heulen von sich, hielt sich das Gesicht und löste sich in nichts auf.
Im nächsten Moment verschwanden auch die anderen Dämonen. Das Wesen, das Piper gepackt hatte, ließ sie so abrupt los, dass sie nach vorn fiel. »Au«, beklagte sich Piper vom Boden aus. »Es ist schon schlimm genug, von schleimigen Kreaturen angegriffen zu werden. Müssen sie mich auch noch wie einen Klotz aussehen lassen?« Sie sprang auf. »Leo!« »Mir geht’s gut«, versicherte Leo Piper. Er rutschte zum Sofa und lehnte sich an. »Bin nur zerschrammt und zerschlagen.« Phoebe hob den Kopf und schrie den verschwundenen Dämonen hinterher: »Ihr solltet besser rennen. Wir treten jedem Dämon in den Hintern, also haltet euch fern von uns.« Piper sank neben Leo auf den Boden und schmiegte sich an ihn. »Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass mich der Sonntagsbrunch in einem falschen Gefühl der Sicherheit wiegt.« Cole legte seine starken Arme um Phoebe. »Was ist mit dir? Bist du okay?«, murmelte er in ihr Ohr. Sie schloss die Augen und genoss einen Moment lang die Geborgenheit in seinen Armen. »Ich bin jetzt okay.« »Im Moment, meinst du«, fügte Piper trocken hinzu. »Wir haben diese schuppigen Kerle nicht besiegt. Nur vertrieben.« »Du denkst also, dass sie zurückkommen werden?«, fragte Phoebe besorgt. »Tun sie das nicht immer?«, klagte Piper. »Ich hoffe nur, sie verbreiten nicht die Neuigkeit, dass wir eine Schwester vermissen.« »Nach nur einem Angriff? Das bezweifle ich«, sagte Cole. »Ja, sie könnte auch einfach ausgegangen sein.« Phoebe schenkte Piper ein trockenes Grinsen. »Die Halliwell-Schwestern sind dafür bekannt, dass sie gelegentlich ausgehen.« »Tatsächlich?« Piper verengte die Augen. »Ich erinnere mich vage, ein Privatleben zu haben. Trotzdem sollten wir besser Paige zurückholen – und zwar schnell.« »Es ist nicht nur in unserem Interesse«, fügte Phoebe hinzu. »Wer weiß, wie lange sie schon eine Katze ist? Wir haben keine Ahnung,
wie die langfristigen Auswirkungen sind. Und wir sind diejenigen, die sie weggegeben haben.« Piper barg ihr Gesicht in den Händen. »Erinnere mich nicht daran«, sagte sie seufzend. Sie senkte die Hände und schenkte Phoebe ein schiefes Grinsen. »Glaubst du, sie wird hinterher einen Kater haben?« Phoebe stöhnte und warf ein Sofakissen nach ihrer Schwester. »Sagtet ihr gerade, dass Paige eine Katze ist?«, fragte Cole. »Wir werden es dir im Auto erklären«, erwiderte Phoebe. Sie hakte sich bei Cole ein. »Fahr uns zu dem Tierheim, in dem du unseren so genannten Streuner abgegeben hast.« »Ich werde hier bleiben für den Fall, dass irgendetwas an der Heimatfront passiert«, erbot sich Leo. »Wer weiß? Vielleicht findet sie sogar allein den Weg nach Hause.« Glücklicherweise hatte Cole Paige in ein Tierheim gebracht, das rund um die Uhr geöffnet hatte. Obwohl die Adoptionsstunden auf die Zeit zwischen neun und fünf Uhr beschränkt waren, entdeckte Phoebe erleichtert ein Schild, das verkündete, dass das Büro die ganze Zeit besetzt war. Cole hielt auf dem leeren Parkplatz an. Phoebe stieg aus. Kaum berührte ihr gestiefelter Fuß den Boden, tauchte vor ihr eine weitere schleimige grüne Kreatur auf. Nicht nur Tierärzte sind rund um die Uhr im Dienst, dachte sie grimmig. Dämonen sind es auch. »Nach links!«, befahl Piper durch das Fondfenster. Phoebe wich sofort nach links aus und machte den Weg für Pipers Erstarrungszauber frei. Er traf den Dämon mitten im Angriff. Piper schlüpfte aus dem Wagen, als Phoebe die Kreatur mit einem Energieball erledigte und in Fetzen riss. Cole sprang aus dem Auto, und Phoebe konnte sehen, dass er kampfbereit war. Nur gab es keine Gegner mehr. »Nur dieser eine Kerl?«, fragte Phoebe. »Nicht, dass ich enttäuscht bin«, fügte sie hastig hinzu. »Ich wollte nur sicher sein, dass wir nichts übersehen haben.« »Ich kenne diese Kerle«, warf Cole ein. »Sie reisen oft allein. Sie sind Renegatendämonen. Keine Helfer, keine Verbündeten.«
»Das ist gut, nicht wahr?«, fragte Phoebe. »Wenn sie nicht zusammenarbeiten, können wir sie leichter ausschalten.« »Es verschafft uns vielleicht etwas Zeit«, stimmte Cole zu. »Aber sie wollen unsere Kräfte, so wie alle anderen Dämonen. Sie wittern verwundbare Hexen wie Schakale. Oft tauchen sie nach einem Angriff auf, um die magische Restenergie des Kampfes anzuzapfen.« »Wundervoll«, sagte Piper und schloss ihren Mantel gegen den kühlen Nachtwind. »Ich denke, die Nachricht von Paiges Verschwinden hat sich inzwischen verbreitet«, fügte Cole hinzu. »Diese Dämonen kämpfen nicht gern gegen gefährliche Gegner. Wenn sie die Neuigkeit gehört haben, halten sie euch möglicherweise für leichte Beute.« Phoebe biss die Zähne zusammen. »Ich liebe es einfach, das Gesprächsthema in der Dämonengerüchteküche zu sein. Können sie zur Abwechslung nicht mal über jemand anders reden?« »Je schneller wir Paige zurückverwandeln, desto schneller werden wir diese grünen Kerle los«, stellte Piper fest. »Gehen wir.« Phoebes hochhackige Stiefel klapperten laut auf dem leeren Parkplatz. Ein weiterer Windstoß zerzauste ihre langen Haare. Der hell erleuchtete Empfangsbereich des Tierheims wirkte im Vergleich zu der dunklen Nacht draußen absolut fröhlich. Es war spät und es herrschte nicht viel Betrieb. Phoebe, Piper und Cole befanden sich in einem kleinen Raum mit einer Reihe von Plastikstühlen an den gelben Wänden. Auf dem Empfangspult standen Topfpflanzen und mehrere Fotos von glücklichen Tieren. Eine Frau Mitte zwanzig mit hellbraunen Haaren saß hinter dem Pult und gab Daten in einen Computer ein. Phoebe eilte an das Pult. »Wir wollen unsere Katze zurückhaben«, sprudelte sie hervor. Die junge Empfangsdame stand auf und sah sie verdutzt an. »Wie bitte? Wir geben Tiere nur am Tag heraus.« Piper warf Phoebe einen Blick zu. Phoebe kannte diesen Blick. Er bedeutete: »Halt den Mund und lass mich das erledigen.« Phoebe wich zurück, sodass Piper an das Pult treten konnte.
»Unsere Katze ist nicht zur Behandlung hier, obwohl ich sicher bin, dass sie die beste Pflege bekommt«, sagte Piper freundlich. »Es ist nur so …« Phoebe konnte erkennen, dass Piper nach einem Weg suchte, das Problem zu erklären, ohne wie eine totale Idiotin zu klingen. Ich habe keine Probleme damit, wie eine Idiotin zu klingen, entschied Phoebe. Es wäre nicht das erste Mal und wird unglücklicherweise auch nicht das letzte Mal sein. »Mein dummer Freund ist wütend auf mich gewesen und hat meine Katze hier abgegeben«, sagte Phoebe. Na also. Zur Abwechslung steht Cole wie ein Idiot da. Cole sah sie an und zog eine dunkle Braue hoch, ließ es aber durchgehen. »Diese Katze hat meinen edlen Teppich zerrissen und meine teuren Anzüge vollgehaart«, sagte er in gespielter Entrüstung. Phoebe hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Sie hielt ihre Augen auf die junge Frau gerichtet. »Bitte, können wir sie nicht einfach zurückbekommen?« Der Blick der Empfangsdame wanderte von Phoebe zu Cole und wieder zurück. Phoebe schmollte und Cole blickte schuldbewusst drein. Beide lieferten eine gute Vorstellung. Phoebe musste direkten Blickkontakt mit ihrem Freund, dem ehemaligen Dämon, meiden. Sie wusste, dass er genau wie sie Mühe hatte, nicht zu lachen. Die Situation war völlig absurd. Wenn sie nicht so ernst wäre, rief sie sich ins Gedächtnis zurück. Die Empfangsdame musterte ihre Gesichter und lächelte dann. »Ich werde sehen, was ich tun kann«, flüsterte sie. Puh, dachte Phoebe erleichtert. Die Frau hatte es ihnen total abgekauft. Nun, es war viel glaubwürdiger, als ihr zu erklären, dass wir versehentlich unsere Schwester ins Tierheim gegeben haben. »Wie ist der Name des Tieres?«, fragte die Angestellte, als sie sich wieder an den Computer setzte. »Paige«, sagte Phoebe. »Kätzchen«, stieß Cole gleichzeitig hervor. Die Empfangsdame blickte verwirrt drein. »Äh, ich nenne sie Kätzchen«, fügte Cole hinzu.
»Du hast nie eine Beziehung zu ihr entwickelt«, beklagte sich Phoebe. »Ich habe keinen Namen genannt, als ich sie abgegeben habe«, gestand Cole. »Ich habe nur gesagt, dass sie eine streunende Katze ist.« »Er ist so herzlos.« Phoebe schlug die Hände vors Gesicht und spielte weiter die Dramakönigin. »Welche Rasse?« »Eine Halliwell«, murmelte Piper. Phoebe warf ihr einen Blick zu. Piper revanchierte sich mit einem, der deutlich fragte, wie absurd diese Geschichte noch werden würde. »Sie ist ein Mischling«, erklärte Phoebe. Sie versuchte sich zu erinnern, wie Paige in Katzengestalt ausgesehen hatte. »Dunkelbraunes, glänzendes Fell«, sagte sie. »Diese Beschreibung trifft auf eine Menge Katzen zu«, meinte die Empfangsdame skeptisch. »Können wir nicht einfach reingehen und sie selbst suchen?«, fragte Piper und drängte sich an Cole und Phoebe vorbei an das Pult. »Das ist wirklich gegen die Vorschriften«, wehrte die Angestellte ab. Es wurde Zeit, die schweren Waffen einzusetzen. »Wenn wir sie nicht zurückbekommen, trennen wir uns«, sagte Phoebe dramatisch zu Cole. »Ich werde dir das nie verzeihen können.« Die Empfangsdame blickte bei dem Gedanken, dass Cole Geschichte war, wenn Phoebe nicht ihre Katze zurückbekam, entsetzt drein. Offenbar wollte die Angestellte nicht für eine Trennung verantwortlich sein. Genau darauf hatte Phoebe spekuliert. »Okay«, stimmte die Empfangsdame schließlich zu. »Aber nur einer von Ihnen. Und da die offizielle Bürozeit längst um ist, müssen wir es schnell tun.« »Je schneller, desto besser«, meinte Phoebe. Die Empfangsdame spähte den Flur hinauf und hinunter und winkte dann Phoebe zu, ihr zu folgen. Sie führte Phoebe eilig durch einen strahlend weißen Korridor. Sie zog einen Schlüsselbund aus
ihrer Tasche und öffnete eine Tür. Nach einem letzten Blick in den Korridor nickte sie, und Phoebe folgte ihr hinein. Phoebe betrat einen Raum voller Tierkäfige. Sie stellte fest, dass die meisten Käfige leer waren. »Wir haben im Moment nicht viele Streuner«, erklärte die junge Frau, als sie Phoebes Überraschung bemerkte. Phoebe nickte geistesabwesend, während sie die Käfige absuchte. Sie ging an der Reihe entlang, vorbei an einer Siamkatze, einer fetten Tigerkatze, zwei flauschigen grauen Kätzchen, einem Terrier, einem Hund, der eine Art bizarrer Mischling war … und das war es. Phoebe fuhr mit hämmerndem Herzen herum. »Sie ist nicht hier!«, rief sie. »Sie ist in keinem dieser Käfige.« Die Empfangsdame runzelte die Stirn. Sie nahm ein Klemmbrett, das bei den Käfigen hing, und überflog das oberste Blatt. »Ich weiß, was passiert ist«, sagte sie zu Phoebe. »Es tut mir Leid. Ihre Katze ist bereits adoptiert worden.«
5
PAIGES SCHWANZ ZUCKTE NERVÖS. Dies war nicht gut. Es war schon schlimm genug, dass ihre eigenen Schwestern sie weggegeben hatten. Aber wie sollten sie sie jetzt noch finden? Sofern sie überhaupt auf den Gedanken kamen, dass sie jetzt eine Katze war. Jetzt und wahrscheinlich für immer, dachte sie bedrückt. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie geweint, doch Katzen schienen keine Tränen zu produzieren. »Du bist genau das, was wir suchen.« Ein hoch gewachsener afroamerikanischer Mann kniete vor Paige nieder und streichelte ihren Kopf. Er war es, der sie im Tierheim adoptiert hatte. Paige betrachtete seine glatte dunkle Haut, die markanten Gesichtszüge und den sorgfältig gestutzten Bart, der sein kräftiges Kinn unterstrich. Seine dunklen Augen waren leicht mandelförmig, mit dichten Wimpern. Dieser Kerl muss Tiere wirklich mögen, dachte Paige. Oder vielleicht … Ein unheimlicher Gedanke ließ Paiges Fell sich sträuben. Vielleicht weiß er, dass ich ein Mensch bin. Vielleicht ist er eine Art Dämon. Sie hatte in dem Moment, als sich im Tierheim ihre Blicke getroffen hatten, eine seltsame Energie gespürt. Der Mann hob sie vom Boden auf. »Ah, was für ein süßes, niedliches Knuddelmiezekätzchen«, flötete er. Iih. Warum denken die Leute, dass sie mit Tieren wie mit Babys sprechen müssen? Es ist schon schlimm genug, dass sie es mit Babys tun. Jetzt schnitt er auch noch Grimassen. Habe ich »Dämon« gesagt? Machen wir »Dumpfbacke« daraus. Paige wand sich aus den Armen des Kerls. Sie landete auf dem Boden, rannte davon und versteckte sich hinter der Couch. Ihre Nerven lagen blank. Sie brauchte einen Moment, um nachzudenken, und das schwärmerische Getue dieses Mannes war nicht gerade hilfreich.
Einen Moment später starrten zwei große braune Augen in ihre. »Keine Angst, Bastet«, sagte der Mann. »Ich werde dir nicht wehtun.« Bastet? Was ist denn das für ein Name für eine Katze? Es klingelte, und der Kerl stand vom Boden auf. Paige verfolgte, wie seine in Freizeitschuhen steckenden Füße zur Tür tappten. Sie bemerkte, dass seine Socken nicht zu den Schuhen passten. Und da sie schon einmal dabei war, sein Hemd und seine Jacke passten auch nicht. Er war ziemlich nachlässig gekleidet. »Ich bin sofort unten«, sagte er in die Gegensprechanlage. Paige kroch zum Rand der Couch. Das waren gute Neuigkeiten. Er ging aus. Das bedeutet, dass ich die Chance haben werde, einen Weg nach draußen zu finden, ins Herrenhaus zurückzukehren und diesen ganzen Schlamassel zu bereinigen. Uh-oh. Mit einer schnellen Bewegung rückte der Kerl die Couch weg, bückte sich und hob Paige auf. Ehe sie fauchen, kratzen oder beißen konnte, hatte er sie wieder in dem Tragekorb verstaut, in dem er sie hierher gebracht hatte. Ist dieser Kerl so katzenverrückt, dass er es nicht ertragen kann, ohne mich auszugehen? Paige spähte durch die Maschendrahtklappe des Tragekorbs und fragte sich, wohin sie wohl gingen. Sie wurde die Treppe hinunter und auf die Straße getragen. Zwei Frauen, die an einem geparkten Auto lehnten, blickten auf, als Paige draußen ankam. Eine war eine kleine, plumpe Frau in den Dreißigern, mit Massen von krausen blonden Haaren, die sich hoch auf ihrem Kopf türmten. Die andere war eine viel jüngere zierliche Asiatin mit geflochtenen Haaren, die in ihrem Nacken zusammengebunden waren. Beide trugen lange weiße Kleider mit Sandalen. »Hi, Tyler«, begrüßte ihn die plumpe Frau. »Hi, Marianna«, erwiderte Tyler. Er nickte der Asiatin zu. »Tina.« »Du hast die Katze!«, quiekte Tina. Sie steckte einen Finger durch den Maschendraht des Tragekorbs.
»Hau ab«, fauchte Paige. Sie biss in Tinas Finger. »Weißt du nicht, dass es unhöflich ist, mit Fingern auf jemand zu zeigen?« »Au!« Die Frau sprang zurück. »Sie hat mich gebissen.« Tyler lachte verlegen. »Du musst Bastet mit Respekt behandeln«, erklärte er entschuldigend. Für Paige klang es, als hätte er Tina gebissen. »Sie hat ihren eigenen Willen.« »Danke, dass es dir aufgefallen ist«, knurrte Paige. »Und entschuldige dich nicht für mich.« Aber sie wusste, dass die drei Leute nur ein mürrisches Miau hörten. Und Respekt? War es etwa respektvoll, mit mir wie mit einem Baby zu sprechen? Dann rief sie sich ins Gedächtnis zurück, dass sie eine Katze war. Sie selbst neigte dazu, mit Tieren übertrieben gluckenhaft umzugehen. Tyler schlüpfte auf den Rücksitz des klapperigen Volvos und stellte Paiges Tragekorb neben sich. Mist. Paige konnte nur die Rücklehne des Fahrersitzes sehen. Kein Wunder, dass Katzen es hassen, in diese Dinger gesperrt zu werden. Paige saß angespannt in ihrem Korb und fragte sich, wohin man sie brachte. Ihr kam ein beunruhigender Gedanke. Was ist, wenn Tyler mich nicht behält? Er könnte mich jemand anderem geben. Nur damit ihre Schwestern noch größere Mühe hatten, ihrer Spur zu folgen – sofern sie sie überhaupt suchten. Den Großteil der Fahrt schwatzten die beiden Frauen auf den Vordersitzen pausenlos miteinander. Tyler warf gelegentlich eine Bemerkung ein, aber die Frauen redeten meistens einfach weiter. Wenn sie versuchten, ihn in ihr Gespräch einzuschließen, kam es zu verlegenen Pausen und seine matten Scherze verpufften wirkungslos. Er mag gut aussehen, stellte Paige fest, aber dieser Kerl kann nicht mit Menschen umgehen. Nach langem Schweigen ergriff Tina wieder das Wort. »Ich frage mich, ob die Katze genügen wird.« »Glaubt ihr, dass es funktioniert?« Tyler klang sehr unsicher. »Irgendetwas wird passieren«, erklärte die ältere Frau, Marianna. »Die Katze ist ein Experiment. Wenn nichts passiert, versuchen wir etwas anderes.«
Paiges Katzenkörper verspannte sich. Das Gespräch machte sie jetzt nervös. Sie hatten irgendeinen Plan, der von ihr abzuhängen schien. Der Wagen hielt und Paige wurde nach draußen getragen. Sie steckte ihre Nase durch den Maschendraht an dem einen Ende des Korbes und spähte hinaus. Es war ziemlich spät und die Straße menschenleer. Die wenigen funktionierenden Straßenlaternen verbreiteten trübes gelbes Licht. Für Paige sah es aus, als wären sie in einem Industrieviertel der Stadt und näherten sich etwas, das wie ein leer stehendes Lagerhaus aussah. Dadurch fühlte sich Paige auch nicht besser. Tyler öffnete eine schwere Stahltür und achtete darauf, dass Paiges Tragekorb nicht gegen den Türrahmen stieß. Die beiden Frauen folgten ihnen hinein. Paiges Katzenaugen passten sich mühelos an die Dunkelheit an. Ihr gefiel nicht, was sie sah. Der große Raum war nur von Kerzen erhellt. Brennender Weihrauch erfüllte das Lagerhaus mit beißendem Rauch. Etwa ein Dutzend Leute in langen Leinenroben malten mit Kreide seltsame Zeichen auf den Boden. Offenbar sollte hier eine Art Ritual stattfinden. Ein Ritual, bei dem eine Katze benötigt wird!, dämmerte es Paige alarmiert. Die Roben, der Weihrauch, die von unheimlichen Symbolen umgebene Pyramidenzeichnung auf dem Boden – all das konnte nur auf eine okkulte Zusammenkunft hindeuten. Und ihre Anwesenheit verriet, dass bei dem Zauber Tiere verwendet wurden. Darüber also hatten sie sich auf der Hinfahrt im Auto unterhalten. Paiges Schwanz bewegte sich nervös und das Fell an ihrem Rücken stellte sich auf. Sie hatte von einigen Gruppen gehört, die Tieropfer darbrachten! Paige fauchte und kratzte verzweifelt an den Nähten des Tragekorbs. Es war sinnlos. Das Plastik war zu stabil. Ihr Fauchen erregte die Aufmerksamkeit der Gruppe. Ein hoch gewachsener, dünner junger Mann mit langen strähnigen Haaren beugte sich nach unten und spähte in den Tragekorb. »Tyler, großartig, du hast eine Katze mitgebracht.«
»Nicht Tyler«, tadelte ein älterer Mann mit dichten grauen Haaren den jungen Mann. »Osiris. Wir müssen in dem Moment, in dem wir den heiligen Raum betreten, unsere zeremoniellen Namen benutzen.« Der junge Mann blickte verlegen drein. »Du hast natürlich Recht, verehrter Hohe Priester Talus, menschlicher Vertreter von Ra.« »Und du trägst noch deine Schuhe«, kritisierte der Hohepriester Talus Tyler. »Du musst dich reinigen. Wir wollen gleich anfangen.« Tyler zog den Kopf ein und ließ die Schultern hängen, sagte aber nichts. Er trug Paige in eine Ecke des Raumes, wo mehrere weiße Roben an Haken hingen. Große Schüsseln mit Meersalz standen neben herumliegenden Schuhen auf dem Boden. Man hatte Vorhänge angebracht und so einen improvisierten Umkleidebereich geschaffen. Tyler stellte Paiges Tragekorb auf den Boden und schob ihn an die Wand. Er zog seine Freizeitschuhe aus, ohne die Schnürsenkel zu lösen, nahm eine Robe und verschwand hinter den Vorhängen. Okay, Paige, sagte sie sich. Halt dich bereit. In dem Moment, in dem einer von ihnen den Korb öffnete, würde sie einen Fluchtversuch wagen. Du wirst nicht als zeremonielles Opfer enden. Sie hielt ihre Augen auf den Hauptraum gerichtet und hoffte auf irgendeinen Hinweis, der ihr helfen würde, ihr Leben zu retten. Sie bemerkte in der gegenüberliegenden Ecke eine Gruppe von Frauen, die Make-up auftrugen und Schmuck anlegten. Einige setzten sogar Perücken und prächtigen Kopfputz auf. Das muss der Umkleidebereich der Frauen sein, vermutete sie. Sie sehen aus, als würden sie ein Theaterstück aufführen, stellte Paige fest. Um genau zu sein, sie hatte das starke Gefühl, dass die meisten Leute hier eine Rolle spielten. Als hätten sie alle ein Amateurtheater gegründet. Ein Hoffnungsschimmer glomm auf und schenkte ihr einen Moment der Ruhe. Das konnte bedeuten, dass auch ihre Tieropfer nur inszeniert sein würden. Sie sah sich weiter um. Die meisten Männer hatten ihre Hemden ausgezogen und um ihre Hüften gebunden. Jemand sollte diesen Kerlen die Adresse eines guten Fitnessstudios geben, dachte sie. Die Frauen trugen die gleichen langen weißen Tuniken wie Marianna und Tina. Die ganze Szene sah für Paiges Geschmack zu sehr nach einer Toga-Party aus. Alle – Männer und Frauen – schienen großen Wert
auf Schmuck zu legen. Ohrringe, Halsketten, breite, perlenbesetzte Kragen und jede Menge Armreifen waren überall zu sehen. Die Bewegung des nahen Vorhangs zog Paiges Aufmerksamkeit auf sich. Tyler kam aus dem Umkleidebereich. Paige erkannte ihn kaum wieder. Er trug eine wallende Leinentunika über einem kurzen, rockähnlichen Faltengewand. Ein blauer und goldener Stoffkopfschmuck umrahmte sein Gesicht und unterstrich seine starken Wangenknochen und den dunklen Mahagoniton seiner Haut. Paige bemerkte schockiert, dass er seine Mandelaugen mit schwarzem Kajalstift betont hatte. Ein breiter goldener Kragen um seinen Hals und mehrere Ärmelmanschetten vervollständigten seine Aufmachung. Er stützte sich auf einen gebogenen blauen und goldenen Stab, der mit einem geschnitzten Kobrakopf geschmückt war, und stellte einen nackten Fuß in eine der Salzschüsseln. »Mit Nephtys Segen befreie mich von meiner Unreinheit, damit ich dieser Riten würdig bin.« Er machte dasselbe mit seinem anderen Fuß und wiederholte die Formel. Dann streifte er Ledersandalen über. Er kniete nieder und reinigte auf dieselbe Weise seine Hände. Wenn ich das jedes Mal tun müsste, wenn ich etwas unternehme, sinnierte Paige, würde ich gar nicht mehr aus dem Haus kommen. Paige stellte fest, dass alle einen Singsang anstimmten, bevor sie etwas taten. Das Betreten des Hauptraums erforderte eine Formel, das Entzünden einer Kerze erforderte eine Reihe Worte, die Begrüßung eines anderen hatte einen rituellen Klang. »Heil, Feuriger«, hörte sie wieder und wieder jemand sagen. »Sei gegrüßt, lautloser und schneller Reisender«, war die übliche Antwort. Jesses. Sogar ihr Händedruck ist mit geheimen Zeichen verbunden, bemerkte Paige. Wie albern kann man eigentlich werden? Paige hatte schon immer vermutet, dass einige der so genannten okkulten Gruppen sich nur deshalb dieser formellen Äußerlichkeiten bedienten, weil sie keine magischen Kräfte hatten. Alles Form und keine Funktion. Trotzdem, sie durfte nicht zu selbstzufrieden sein. Nur weil sie Schwindler waren, bedeutete das nicht, dass sie ihr nichts zu Leide tun konnten oder würden.
Tyler öffnete ihren Tragekorb, aber bevor sie irgendetwas tun konnte, stülpte er ihr ein Halsband über den Kopf. »W-was?«, stieß sie hervor. Es kümmerte sie nicht, dass das Halsband mit wertvollen Edelsteinen besetzt war. Sie war trotzdem an einer Leine. Wie demütigend! Sie wich vor ihm zurück und stemmte sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Leine. Aber sie war eine kleine Katze und er war ein großer Mann. Sie hatte keine Chance. »Stell dich nicht so an, Bastet«, säuselte er. »Du bist die wichtigste Person hier.« »Das siehst du richtig«, fauchte Paige. »Ich bin die Einzige, die echte magische Kräfte hat. Aber erweist man mir Respekt? Nein.« »Ich glaube nicht, dass deine Katze sehr glücklich ist«, sagte Talus mit einem spöttischen Grinsen. »Oh, sie ist nur redselig«, versicherte Tyler dem alten Mann. Tyler ist viel selbstsicherer, wenn er ein Kostüm trägt, stellte Paige fest. Sogar sein Gang hatte sich verändert; der schlurfende Trottel mit den herunterhängenden Schultern und dem hübschen Gesicht war verschwunden. Tyler – im Osiris-Modus – bewegte sich voller Kraft und Anmut. Er wirkte sogar größer. Ein Gong dröhnte und ließ Paige zusammenzucken. Sie war so unruhig wie, nun ja, eine Katze. Ihre Nerven würden nicht mehr lange mitmachen. Offenbar würde das, was passieren sollte, jetzt passieren. Alle im Raum stellten sich in der Mitte des Raumes in einem Kreis auf. Tyler gab Paiges Leine Marianna und schritt dann zum anderen Ende des Lagerhauses. »He!« Paiges Kopf ruckte herum. Sie wollte nicht in den Händen einer Fremden zurückgelassen werden. Tyler war schon schlimm genug. Der Gong dröhnte erneut und Tyler setzte sich auf eine Art goldenen Thron. Auf einer Seite des großen, prächtigen Stuhles stand ein Miniaturthron; auf der anderen Seite ein Tisch mit einer großen Platte, die von einem Tuch verdeckt wurde. Tyler schlug dreimal mit seinem blauen und goldenen Stab auf den Boden. Die Gruppe stimmte einen leisen Singsang an. »Wir, deine
Jünger, verehren dich, dreifältiger Gott Thoth, Gott des Wissens, Schöpfer der heka, der Magie des Wortes.« Marianna zog an Paiges Leine und zerrte sie mit sich, während sich die Gruppe in einem komplizierten Muster bewegte. »Passt auf, wo ihr hintretet«, fauchte Paige, als sie mehreren Paaren Sandalen tragender Füße auswich. Schließlich, nachdem sie auf ihrem Marsch durch den Raum etwa ein Dutzend Mal abgebogen waren, schlug Tyler erneut dreimal mit seinem Stab auf den Boden und stand auf. Alle verharrten. »Ich bin Osiris, Herr der Unterwelt«, erklärte Tyler. Seine Stimme hallte volltönend durch den riesigen Raum. »Ich bin Ra, der Sonnengott«, antwortete Talus von der anderen Seite des Lagerhauses. Die beiden Männer gingen durch die Gruppe aufeinander zu. Als sie sich in der Mitte des Raumes trafen, umarmte Talus/Ra Tyler/Osiris und ließ ihn dann los. Jeder Mann legte eine Hand auf die Schultern des anderen. »Wir sind Zwillingsseelen«, sagte Tyler. »Die Reise wird sicher beendet werden«, erwiderte Talus. »Der Tag wird erneut dämmern.« »Die Nacht wird die schlafenden Seelen hüten.« Talus und Tyler setzten ihr formelles Gesprächsritual fort. Es schien, als würde ihre kleine Szene niemals enden. Ho-hum. Paige legte sich zu Mariannes Füßen auf den Boden. Dies war so langweilig, dass sie fast wünschte, sie würden sich beeilen und sie opfern. Sie würde sowieso an Langeweile sterben. Tyler und Talus umkreisten einander langsam – extrem langsam, stellte Paige fest. Kann nicht mal jemand die Schnellvorlauftaste drücken? Schließlich, nach weiterem pompösen Geschwätz, nahm Tyler wieder seinen Platz auf dem Thron ein. Er klopfte dreimal mit dem Stab und Marianna zog wieder an Paiges Leine. »Zeit für eine weitere Runde Squaredance«, bemerkte Paige. Niemand hörte ihr sarkastisches Miauen über dem Singsang.
Die Gruppe ordnete sich zu einem neuen Muster an, allerdings nicht geschickter als zuvor. Es gab in dieser Truppe eine Menge Leute mit zwei linken Füßen, und wenn noch einmal jemand Paige trat, konnte man sie nicht dafür verantwortlich machen, dass sie ihm in den Knöchel biss! Tyler schlug erneut mit seinem Stab auf den Boden und die Gruppe verharrte. »Wir haben das heilige Ankh gebildet«, erklärte er. Paige spähte an den Reihen vorbei und sah, dass er Recht hatte. Irgendwie hatte es die Gruppe der groben Klötze geschafft, sich in der Form eines Ankhs aufzustellen, dem uralten ägyptischen Symbol des Lebens. Tyler hob beide Arme. »Wir rufen die Alten an und suchen das Mysterium. Wir bieten uns Euch an.« Paiges Ohren zuckten bei den Wörtern »bieten an«. Wenn sie sich selbst »anboten«, wie Tyler gesagt hatte, was wollten sie dann mit ihr machen? Uh-oh. Sie würde es gleich herausfinden. Tyler streckte seine Hand aus und Marianna ging mit Paige zu ihm hinüber. Er nahm von ihr die Leine und wickelte sie mehrmals um seinen Arm, sodass seine Hände frei waren. Marianna eilte zurück zu ihrem Platz. Tyler griff nach etwas, das auf dem kleinen Tisch lag. Es glitzerte silbern im Kerzenlicht. Paiges Fell sträubte sich alarmiert. Tyler hielt jetzt ein ziemlich tödlich aussehendes Messer in der Hand. »Mrrreroor!«, grollte Paige und fauchte Tyler an. Sie schlug mit ihren voll ausgefahrenen Krallen nach ihm. »Wir ehren dich, Bastet«, sagte er, ihren Widerstand ignorierend. »Wir bieten dir alle Köstlichkeiten an.« Und ich bin eine davon? Paige wich zurück und versuchte verzweifelt, außerhalb Tylers Reichweite zu bleiben. Tyler nahm die Platte vom Tisch und hielt sie über seinen Kopf. »Wir reinigen dich.« Er senkte sie, stellte sie auf den Tisch zurück und strich in einer rituellen Geste mit seinen Händen über sie. Tyler küsste das Messer und besprenkelte es mit Salz. »Wir reinigen dich«, wiederholte er.
Paiges Herz hämmerte dreimal so schnell wie gewöhnlich in ihrer fellbedeckten Brust. Dies war er, der Moment der Wahrheit. Sie machte einen Buckel und kreischte. »Wartet!«, schrie Paige. »Ihr legt so viel Wert auf Reinigung! Meint ihr nicht, ich sollte wenigstens ein Katzenbad nehmen? Ich habe heute Morgen nicht geduscht! Mein Fell ist ganz staubig vom Dachboden! Wer weiß, was ich mir im Tierheim geholt habe?« »Halt sie fest«, befahl der grauhaarige Talus. Zum ersten Mal, seit er die Rolle des Osiris übernommen hatte, wirkte Tyler irritiert. Nervös wechselte er das Messer in die andere Hand. Er griff nach dem Leinentuch, das die Platte verdeckte, hob das Messer … … und bohrte es in ein großes, saftiges Steak, das auf der Platte lag. Er schnitt ein Stück ab und hielt es Paige hin. Hu? Paige schnüffelte an dem Fleisch. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte Tylers Gesichtsausdruck zu lesen. War das Fleisch vergiftet? Mit Drogen versetzt? »Komm schon, Bastet«, drängte Tyler. »Iss.« Paige hätte vor Begeisterung gelacht, wenn sie es gekonnt hätte. Natürlich! Bastet! So hatte Tyler sie genannt. Diese Bande von Angebern bot ihr Opfer dar. Nun, das ist besser, dachte sie, als sie vorsichtig das Steak aus Tylers Fingern nahm. Tyler legte Paige auf ein blaues Samtkissen auf dem Miniaturthron neben seinem. »Bastet, Katzengöttin. Wir ehren deine Gegenwart unter uns.« Er fütterte sie mit etwas mehr Fleisch, setzte sich dann auf seinen Thron und schlug erneut mit seinem Stab auf den Boden. »Schmückt sie, um so eure Liebe für sie zu zeigen.« Zwei Mädchen traten mit gesenkten Köpfen vor. Jedes trug ein kunstvoll geschnitztes Kästchen. Tyler klappte die Deckel auf und
betrachtete nachdenklich die glitzernden Juwelen, die sich in ihnen türmten. Er nahm eine goldene Kette mit einem großen roten Rubinanhänger aus einem der Kästchen und hängte sie um Paiges Hals. Während er ihr Fell streichelte, spürte Paige den elektrischen Strom, den sie auch bei ihrer ersten Begegnung im Tierheim registriert hatte. War das Magie? Oder nur die gute alte Chemie? Diese Osiris-Rolle hat wirklich das Beste in Tyler hervorgebracht, sagte sie sich. Doch sobald er wieder ein Mensch war, würde sie mit ihm ein ernstes Wörtchen über diese Bande durchgeknallter Schwachköpfe reden müssen. Jetzt, da sie nicht länger fürchtete, geopfert zu werden, konnte sie dem Geschehen vor ihr größere Aufmerksamkeit widmen. Von ihrem puppengroßen Thron aus verfolgte Paige den Rest der Zeremonie. Es wurde viel gesungen. Einige salbten sich mit Ölen. Weiterer Weihrauch wurde verbrannt. Sie gab ein Katzengähnen von sich, sodass ihre angeklippten Ohrringe klirrten. Sie war schwer mit Schmuck behangen. Jedes Mal, wenn eine Person an ihrem kleinen Thron vorbeikam, erhielt sie ein neues Geschenk. Außer dem Rubinanhänger und den Ohrringen trug sie jetzt eine kleine, glitzernde Krone und drei weitere Goldketten. Außerdem lagen mehrere türkisfarbene Perlen zu ihren Füßen. Äh, Pfoten. Gerade als der öde, monotone Singsang und der Weihrauch sie einzuschläfern drohten, stand Tyler auf und hob sie mitsamt dem Kissen und allem über seinen Kopf. »Es ist Zeit«, verkündete er. Er stieg von dem Thron und trug Paige auf ihrem Kissen über seinem Kopf zu den anderen. Sie bemerkte, dass er sie jetzt in einem sehr festen Griff hatte. Er wollte kein Risiko eingehen. Sie bewegten sich in komplexen Mustern und diesmal dirigierte Tyler den Singsang. »Osiris, Isis, Seth, Horus – Hüter der ewigen Zeit. Wir rufen euch an«, intonierten sie wieder und wieder. Nach einer Weile fühlte sich Paige seltsam. Benommen. Und ihr ganzer Körper kribbelte.
Alles verschwamm vor ihren Augen. Bilder wirbelten an ihr vorbei. Pyramiden. Palmen. Falkenköpfige Männer. Frauen mit Löwenkörpern. Was ging hier vor? Was passierte mit ihr? »Es ist fast Mitternacht«, sagte Phoebe. Piper hatte Leo vom Tierheim aus angerufen, um ihn über die neueste Entwicklung zu informieren. Jetzt saßen sie, Phoebe und Cole im Auto und fuhren zu der Adresse, die die Empfangsdame ihnen gegeben hatte. »Mir ist es egal, wie spät es ist«, fauchte Piper vom Rücksitz. »Wir müssen Paige zurückholen und wir müssen es jetzt tun.« Phoebe sah in den Rückspiegel und zog eine Braue hoch. »Tut mir Leid«, entschuldigte sich Piper. »Das kam etwas schroff heraus.« »Wem sagst du das«, murmelte Phoebe. Piper blickte wieder aus dem Fenster, nahm aber nichts von der Umgebung wahr. Sie war zu tief in ihren Gedanken versunken. Schön. Sie gab es zu. Sie wurde von schrecklichen, entsetzlichen Schuldgefühlen geplagt. Sie war es gewesen, die darauf bestanden hatte, Paige wegzugeben. Und ja, Paige mochte selbst für dieses Problem verantwortlich sein, doch wenn Piper eine gute Hexe war – und wichtiger noch, eine gute Schwester –, dann hätte sie Paige irgendwie erkennen müssen. Und ich hätte niemals diese schnippischen Scherze über sie machen dürfen, dachte sie. »Also wecken wir die Nachbarschaft«, sagte Piper. »Wir sind Hexen. Wir tun, was wir tun müssen.« »Piper hat Recht«, warf Cole ein. »Wir müssen Paige finden und zurückverwandeln, bevor irgendwelche Dämonen auftauchen. Die Macht der Drei besteht nicht aus zwei Frauen und einer Katze.« »Okay, das ist das Haus.« Phoebe hielt vor einem kleinen Apartmentgebäude in einer heruntergekommenen Gegend an. Spirituosenläden, Wechselstuben und Wettbüros säumten die Straße.
»Ihr bleibt hier«, befahl Piper. »Drei Fremde, die um Mitternacht auftauchen, sind etwas zu viel.« »Sehr vernünftig«, sagte Phoebe. »Wir geben dir Rückendeckung, wenn du uns brauchst«, versicherte Cole ihr. Piper stieg aus dem Wagen, eilte die Vordertreppe hinauf und klingelte. Sie hielt den Knopf lange gedrückt, denn ihr war klar, dass dieser Mann namens Tyler Carson wahrscheinlich schon schlief. Aber dies war ein Notfall. Wenn sie auf einen verrückten Katzenliebhaber stieß, dann sollte es eben so sein. Sie durfte sich nicht einschüchtern lassen. »Komm schon, Tyler Carson«, murmelte sie. »Mach auf.« »Er ist nicht da«, rief eine Stimme zu ihr hinauf. Piper blickte nach unten. Ein Mann zog die Tür eines Buchladens zu, der direkt unter der Treppe lag. »Was haben Sie gesagt?«, fragte Piper. Sie sah auf den Mann hinunter. Er musste etwa fünfzig sein und hatte einen gewaltigen Bauch, der von seinem fleckigen T-Shirt kaum bedeckt wurde. Er trug eine kleine Baskenmütze und weite Jeans über Arbeitsstiefeln. »Sie wollen zu Tyler, nicht wahr?«, fragte der Mann. »Nun, er ist nicht zu Hause.« »Wissen Sie, wo er ist?«, fragte Piper und kam die Treppe herunter. Der Mann sah sie mit zusammengekniffenen Augen an, als versuchte er zu entscheiden, ob er es ihr verraten sollte oder nicht. »Ich war mit ihm verabredet, aber ich habe mich verspätet«, fügte Piper hinzu. »Er ist bei der Versammlung der Jünger Thoths. Er geht jede Woche hin«, erklärte der Mann. Piper wollte den Mann schon fragen, wer die Jünger Thoths waren, als ihr dämmerte, dass es besser war, wenn sie so tat, als wüsste sie genau, worüber er sprach. »Ich weiß«, behauptete sie. »Ich sollte ihn hier treffen, um zusammen mit ihm hinzugehen. Es ist mein erstes
Mal. Ich kenne die Adresse nicht. Wissen Sie, wo die Versammlung stattfindet?« Der Mann musterte sie neugierig. »Sie sind eine neue Jüngerin?« Wow. Was für ein Kerl ist dieser Tyler Carson? Eine Art Kultfreak? »Ich denke darüber nach«, sagte Piper. »Sind Sie auch ein Jünger?« »Ich wurde eingeweiht«, erklärte der Mann stolz. »Aber dann habe ich eine andere Gruppe gegründet, weil ich es für nötig hielt. Wir treffen uns hier in meinem Laden.« Der Mann deutete auf das Schaufenster hinter ihm. Piper sah jetzt, dass der Buchladen auf Bücher über Okkultismus spezialisiert war. »Als Tyler all diese Bücher über das alte Ägypten und ägyptische Rituale kaufte, wusste ich, dass er ein Anhänger der Lehren des Thoth ist. Ich führte ihn in die Gruppe ein.« »Sagen Sie mir bitte, wo die Versammlung stattfindet«, bat Piper in ihrem, wie sie hoffte, überzeugendsten Tonfall. »Ich will nicht bis zur nächsten warten. Außerdem wird sich Tyler Sorgen machen, wenn ich nicht auftauche.« Der Mann rieb sein Kinn und zupfte dann an seiner Baskenmütze. »Sicher. Sie findet an der Ecke Belmont und Carlyle statt. Nummer fünfzehn. Lassen Sie sich von dem verlassenen Eindruck des Gebäudes nicht abschrecken. Sie sind im Innern.« »Vielen Dank«, sagte Piper. »Ich freue mich immer, einen Gläubigen auf den rechten Weg zu führen.« Ja, von mir aus. Piper rannte zurück zum Wagen. Sie gab Phoebe die Adresse und sie fuhren rasch zum Ort der Versammlung. »Dieser Tyler ist Mitglied in irgendeinem unheimlichen Kult«, informierte Piper Cole und Phoebe. »Sie nennen sich die Jünger Thoths.« »Thoth?«, wiederholte Cole. »Klingt vertraut.« »Uh-oh«, machte Piper. »Wem sagst du das. Thoth ist ein berüchtigter böser Dämon.«
»Nein«, entgegnete Cole. »Ich denke, er ist ein altägyptischer Gott.« Er drehte sich auf dem Beifahrersitz um und sah sie direkt an. »Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er zu den Guten gehört.« »Endlich mal gute Neuigkeiten«, murmelte Piper. Aber sie wusste, dass nichts in Ordnung sein würde, bis Paige wieder zu Hause – und ein Mensch war. »Da ist es!«, rief Piper. »Bereit oder nicht, Thothis, wir kommen.« Sie parkten und stiegen eilig aus dem Wagen. Nach den bisherigen Erlebnissen der Nacht war Piper erleichtert, als sie in das Gebäude gelangten, ohne die Aufmerksamkeit von Dämonen oder Menschen zu erregen. Noch bevor sie das Gebäude betraten, konnte Piper einen Singsang hören. Es war eine Sprache, die sie nicht kannte. Als sie die schwere Tür öffnete, schlug ihr beißender Weihrauchgeruch entgegen und trieb ihr die Tränen in die Augen. Diese Jünger Thoths knausern nicht mit der Aromatherapie, dachte sie. Piper legte einen Finger an die Lippen, um Cole und Phoebe zu bedeuten, absolut still zu sein, und stieß vorsichtig die Tür auf. Eine erstaunliche Szene spielte sich vor ihren Augen ab. Eine Gruppe robenbekleideter Leute marschierte in einer seltsamen Prozession, sang dabei und schwenkte Schüsseln mit brennendem Weihrauch. In der Mitte der Gruppe stand ein prachtvoll gekleideter Afroamerikaner und hielt eine Katze auf einem Samtkissen über seinen Kopf. Eine Katze, von der sie ziemlich sicher war, sie schon einmal gesehen zu haben. Piper verfolgte, wie sich der gut aussehende, bärtige Mann mit der Katze im Kreis drehte, während der Singsang seinen Höhepunkt erreichte. Ein grelles Licht blitzte auf und blendete Piper vorübergehend. Sie hörte ein Kreischen, und als sie wieder sehen konnte, keuchte sie. Der Mann mit dem Kopfschmuck und die Katze waren verschwunden!
6
PHOEBES BRAUNE AUGEN WAREN RIESIG und öffneten sich fast so weit wie ihr Mund. Sie hatte Mühe, das Gesehene zu verarbeiten. Der gut aussehende junge Mann und die Katze entmaterialisierten nicht wie ein Dämon oder wie ein Wächter des Lichts. Sie verschwanden in einer Rauchwolke, wie in irgendeiner billigen Vegas-Show. »W-was ist passiert?«, stammelte Piper vor ihr. »Spezialeffekte?«, vermutete Phoebe. Trotz all ihrer Erfahrung mit magischen Abgängen hatte sie etwas Derartiges noch nie zuvor gesehen. »Nun, was immer auch passiert ist, der Rest der Bande ist so überrascht wie wir«, sagte Cole. Ihr Verlobter hatte Recht. Das Ritual hatte sich jetzt in ein totales Chaos verwandelt. Weihrauchschüsseln waren zu Boden gefallen, Gongs umgekippt und der gesamte improvisierte »Tempel« war von Fragen, Keuchen und erstaunten Bemerkungen der Jünger Thoths erfüllt. »Ich würde sagen, der zeremonielle Teil der Versammlung ist vorbei«, erklärte Phoebe. »Vielleicht haben sie nichts dagegen, wenn wir ihnen ein paar Fragen stellen.« »Dann los«, stimmte Piper zu. »Und ich werde das Gebäude nach dämonischen Aktivitäten überprüfen«, sagte Cole. Phoebe und Piper gingen auf eine Gruppe von Leuten zu. Seltsame Zeichnungen auf dem Boden erregten Phoebes Aufmerksamkeit. Es handelte sich dabei offenbar um magische Symbole, aber Phoebe kannte sie nicht. Aber sie kannte den Ausdruck des Schocks und des Staunens auf den Gesichtern um sie herum. Sie hatte diesen Ausdruck oft genug auf dem Gesicht ihrer Schwester Paige gesehen, als sie ihre Hexenkräfte entdeckt hatte.
Paige. Phoebe biss sich auf die Lippe. Wenn diese Katze Paige war, wie sollen wir sie dann zurückholen? »Verzeihung«, sagte Phoebe und tippte die Schulter einer tunikabekleideten Frau an. Die Frau drehte sich um. Wow. Jemand muss dieser Frau ein paar Make-up-Tipps geben, dachte Phoebe. Die blauen Augen der Frau waren dick mit schwarzem Eyeliner geschminkt, der sich auf beiden Seiten praktisch bis zu ihren Schläfen zog. Darüber hinaus hatte sie großzügig blauen Lidschatten aufgetragen. Unter einer schwarzen Perücke sahen blonde Haarsträhnen hervor. Diese Tussi hat den Film Cleopatra viel zu oft gesehen, dachte Phoebe. Ein Moment der Erleuchtung. Sie musterte die Gruppe. Die Kostüme, das Make-up, sogar die Katze – diese Leute hatten eine Vorliebe für alles Ägyptische. Cole hatte Recht. Hier gab es irgendeine Art ägyptischer Verbindung. »Wie sind Sie hier reingekommen?«, fragte die Frau Phoebe. »Was ist gerade passiert?«, konterte Phoebe und hoffte, die Frau so von ihrer Frage abzulenken. »Es sah erstaunlich aus.« Der Gesichtsausdruck der Frau verwandelte sich von Misstrauen in Ehrfurcht. »Ich weiß!« Sie ergriff Phoebes Arm. »Es ist einfach nicht zu fassen! Tyler hat es tatsächlich geschafft, zu den Alten zu stoßen!« »Was meinen Sie damit, ›zu den Alten zu stoßen‹?«, fragte Piper. »Tyler war großartig«, fügte ein magerer junger Mann in der Nähe hinzu und trat zu ihnen. »Ich habe schon immer gewusst, dass er etwas Besonderes ist.« »Äh, das dachten wir alle«, sagte Phoebe und musterte die strähnigen, spülwasserblonden Haare des hageren Mannes. Sie passten nicht zu seinem Augen-Make-up. »Aber was genau hat er getan?« Sie hoffte, dass sie von dem Geschehen so überwältigt waren, dass sie bereit sein würden, vor Fremden über ihre Rituale zu reden. Vor allem, wenn sie glaubten, dass die Fremden Freunde des fraglichen Mannes waren. »Oh! Seht euch die arme Tina an!« Die Frau eilte zu einer zierlichen Asiatin in der Ecke, die weinend auf ihren Fersen hockte
und hin und her schaukelte. In der Nähe kümmerten sich zwei Leute um einen grauhaarigen Mann, der ohnmächtig geworden war. Was auch immer Tyler getan hat, dämmerte es Phoebe, es war außergewöhnlich. Und er hatte Paige zu einem Teil des Rituals gemacht. »Das war Wahnsinn«, murmelte der magere Kerl an ihrer Seite. »Welchem Zweck diente das Ritual?«, fragte Phoebe. »Wir haben schon seit einiger Zeit versucht, Verbindung mit den alten Gottheiten aufzunehmen«, erklärte der Mann. »Tyler wurde zum Priester in der Gestalt von Osiris ernannt.« »Nicht, dass es irgendwelche Einwände gab.« Eine plumpe ältere Frau mit einer weiteren Cleopatra-Perücke gesellte sich zu ihnen. Sie sah kurz zu dem grauhaarigen Mann hinüber, der noch immer auf dem Roden lag. »Johnson ist Osiris gewesen, aber er wurde abgewählt, als es nach Monaten keine magischen Fortschritte gab.« »Aber was versuchte er zu tun?«, beharrte Phoebe, um wieder zum Thema zurückzukehren. »Alle Rituale haben einen Zweck. Was war Tylers? Und warum hat er eine Katze gebraucht?« »Die Katze war Tylers Idee«, erklärte der magere Mann. »Da die Katzen den alten Ägyptern heilig waren, dachte er, wir könnten das Wohlwollen der Gottheiten gewinnen, indem wir eine ihrer Vertreter bei der Zeremonie mitmachen lassen.« »Er muss Recht gehabt haben!«, fügte die plumpe Frau hinzu. »Dies war das erste Mal, dass diese Sache funktioniert hat!« Oder vielleicht lag es daran, dass eine Hexe mitgemacht hat, die Dinge verschwinden lassen kann, dachte Phoebe, obwohl sie keine der verräterischen weißen Lichter gesehen hatte, die gewöhnlich mit dem Verschwinden einhergingen. Aber vielleicht war es etwas völlig anderes, Dinge als Katze verschwinden zu lassen. »Aber was versuchte er zu tun?«, fragte Phoebe wieder. Sie kam sich allmählich wie eine gesprungene Schallplatte vor. Diese Leute waren von dem, was geschehen war, derart überwältigt, dass es ihnen schwer fiel, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Sie konnten kaum einfache, direkte Fragen beantworten. Der Mann zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht.«
Großartig. »Unsere Rolle bei dem Ritual ist es, die Kräfte der Alten zu kanalisieren, um so dem Priester bei seinem Werk zu helfen«, erklärte die plumpe Frau. »Ich weiß nicht, was Tyler vorhatte.« »Von hier verschwinden?«, murmelte Piper hinter Phoebe. »Es scheint in der Gruppe einige Spannungen gegeben zu haben.« Die Frau winkte abwehrend. »Oh, Tyler wäre nie freiwillig gegangen«, protestierte sie. »Er war mit mehr Begeisterung bei der Sache als wir alle zusammen. Wir mussten ihn manchmal zwingen, Schluss zu machen. Er hätte noch stundenlang weitermachen können.« Der dünne Mann an ihrer Seite lachte. »Ich wette, Tyler ist so überrascht wie wir. Der Zauber hat vorher noch nie funktioniert.« Was haben wir doch für ein Glück, dachte Phoebe grimmig. Zum ersten Mal funktionieren die Rituale dieser Bande von Schwachköpfen, und das ausgerechnet dann, wenn sich meine Schwester in eine Katze verwandelt hat. Cole tauchte hinter Phoebe auf und zog an ihrem Ellbogen. Sie kannte das Zeichen: Privatgespräch, aber pronto. »Nun, äh, viel Glück bei Ihren Zeremonien«, sagte sie zu den beiden Jüngern. Sie, Piper und Cole entschuldigten sich und begaben sich in eine stille Ecke. »Haben Dämonen etwas damit zu tun?«, fragte Piper. Cole schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich dämonischen Rückstände. Keine Spur des Bösen.«
nicht.
Keine
»Wir stehen also noch immer ohne Schwester da«, sagte Phoebe. »Und wir haben keine Ahnung, wohin sie verschwunden ist.« »Aber wir wissen, dass jemand, der fast nichts von Magie versteht, dafür verantwortlich ist«, fügte Piper hinzu. Phoebe seufzte. »Und das wird wahrscheinlich der Schlüssel sein, um sie zurückzuholen.«
Paiges Fell stand zu Berge. Nicht aus Angst – sondern weil der Zauber eine Menge statische Elektrizität erzeugt hatte. Sie brauchte dringend ein paar Haarpflegemittel. Was war passiert? Sie und Tyler waren allein – und an einem neuen Ort. Hier war es auch dunkel, aber menschenleer. Keine Kerzen, keine kostümierten Götzendiener. Und der Raum war sogar noch größer als der Lagerhaus-Tempel. Der Boden war gefliest, und Paige konnte dank ihrer Katzennachtsicht große Statuen, geschnitzte Säulen und Wandgemälde erkennen, die alle Oberflächen bedeckten. Tyler muss uns zu einer anderen Versammlung der Jünger Thoths transportiert haben, dachte Paige. Sie erkannte einige der Symbole, die auf den Boden des Lagerhauses geschrieben worden waren, an einigen der Wände hier wieder. Und die Gestalten auf den Gemälden waren wie Tyler gekleidet. Aber wo genau waren sie? Und wie hatte Tyler das gemacht? Vielleicht war ihr erster Instinkt richtig gewesen – dass die Elektrizität, die sie zwischen ihnen gespürt hatte, nicht nur die Folge von Hormonen war. Vielleicht verfügte er doch über irgendeine Art Macht. Tyler sah sich verwirrt um. Er wirkte benommen. »W-was ist passiert?«, murmelte er. »Nun, wenn du es nicht weißt, ich kann es dir bestimmt nicht sagen«, antwortete Paige. Von ihrem Miauen aufgeschreckt, sah Tyler auf sie hinunter. Sie saß noch immer auf dem Kissen. »Wenigstens habe ich dich noch«, meinte er. Als er ihren Kopf streichelte, konnte Paige spüren, dass seine Finger zitterten. Er stand ziemlich unter Schock. Er setzte Paige vorsichtig auf den Boden und drehte sich dann im Kreis, als wollte er seine neue Umgebung in sich aufnehmen. »Okay, ich habe es geschafft, uns irgendwohin zu transportieren«, sagte er bedächtig, während er die Puzzleteile zusammenfügte. Paige hörte ein leises Knarren, dann fiel ein Strahl hellen Sonnenlichts in den dunklen Raum. Eine Tür musste geöffnet worden sein, denn der Lichtstrahl wurde breiter und verschwand dann wieder, als wäre die Tür hinter demjenigen, der hereingekommen war, geschlossen worden. Als Nächstes hörte sie schlurfende Schritte.
Ein hoch gewachsener Mann mit einem kahl rasierten Kopf kam in ihr Blickfeld. Er trug eine Leinentunika, die schlichter war als Tylers, und keinen Schmuck, wie ihn Tyler angelegt hatte. Er trat in jede Ecke des Raumes – ohne Paige und Tyler zu bemerken – und zündete zuerst eine Kerze, dann ein Räucherstäbchen an. Paige konnte hören, wie er bei der Arbeit leise vor sich hin sang. Seine Bewegungen waren methodisch und sicher; offenbar gehörte dies zu seiner täglichen Routine. Jetzt, da die Kerzen Licht spendeten, konnte Paige eine riesige Katzenstatue an einem Ende des Tempels erkennen. Sie war so groß, dass die Katzenohren die bemalte Decke berührten. Zwischen den Pfoten der reich verzierten Statue stand die lebensgroße Gestalt einer Frau – mit einem Katzenkopf. Vor der katzenköpfigen Frau befand sich etwas, das offensichtlich ein Altar war – Kerzen, Opferschalen und weitere Ritualwerkzeuge waren auf dem eleganten Altartuch angeordnet. Flankiert wurde der Altar von zwei weiteren Statuen. Schon wieder Katzen? Diese Leute sind katzennärrisch, dachte Paige. Der glatzköpfige Mann blieb vor der Katzenfrau stehen. Er nahm ein sauberes weißes Tuch vom Altar und staubte sie vom Kopf bis zu den Zehen ab. Er nahm ihr den Kopfschmuck aus weißen Blumen ab und ersetzte ihn durch einen neuen. Dann kniete er nieder, goss frisches Wasser aus einem Krug, den er mitführte, in die glänzende goldene Schale, die zwischen den Kerzen auf dem Altar stand. Paige konnte hören, wie er die ganze Zeit Zauberformeln oder Gebete intonierte. Dann stand er auf, drehte sich um und keuchte. »Was machst du hier? Wie bist du in den innersten Schrein gelangt?«, fuhr er Tyler herrisch an. »Ich … äh … nun …«, stammelte Tyler. »Der Eingang des Heiligtums wird jede Nacht mit Wachs versiegelt«, sagte der Mann. »Ich bin der Einzige, der jeden Morgen das Siegel bricht!« »Nun, wissen Sie …« Paige krallte sich mit den Pfoten an Tylers Bein fest. Wenn er in Panik geriet und von hier verschwand, wollte sie nicht, dass er sie vergaß! Er nahm sie hoch und barg sie in seinen Armen.
»Oh, du bist auch ein Anhänger von Bastet«, sagte der Priester, während er Paige musterte. »Ein hingebungsvoller«, bestätigte Tyler. Der Priester trat ein paar Schritte näher. Paige konnte erkennen, dass er noch immer misstrauisch war, aber ihr Anblick hatte ihnen etwas Zeit verschafft. Die Augen des Priesters verengten sich. »Du bist ein Fremder.« »Woher wissen Sie das?«, fragte Tyler. Pssst, Tyler, dachte Paige. Stell dich nicht so dumm an. Hätte sie es gekonnt, hätte sie die Augen verdreht. Es war offensichtlich, dass sie von auswärts kamen. Und dass dieser Kerl keine Touristen mochte, die seinen Tempel besuchten. »Dein Bart«, sagte der Priester ausdruckslos. Tyler strich über seinen gestutzten Vandyke-Bart. »Hier hat niemand einen Bart?«, fragte er. »Das ist nicht der heilige Bart des Königtums«, sagte der Priester scharf. Paige bohrte eine Kralle in Tylers Handgelenk. Der Kerl hatte ein sehr schlechtes Urteilsvermögen. Für Paige war es klar, dass der Priester nicht nur freundlich plauderte und dass er Auswärtige nicht mochte. Doch Tyler schien es nicht zu bemerken. »Spion!«, rief der Priester. »Bist du als Meuchelmörder hier? Wer hat dich geschickt?« »Niemand hat mich geschickt«, protestierte Tyler. »Ich bin nicht hier, um irgendjemand etwas zu Leide zu tun. Ich wollte nur …« Die Tür des Tempels öffnete sich und mehrere Männer mit Speeren stürmten herein. »Ergreift ihn!« Der Priester zeigte auf Tyler. »Wir werden seinem König zeigen, was wir mit Spionen machen.« Das ist nicht gut, dachte Paige. Wenn sie Tyler packen, packen sie auch mich. Ihr Fell sträubte sich und ihr Schwanz peitschte hin und her, als Panik ihren Katzenkörper erfasste.
Kleine weiße Bälle aus Energie eruptierten um sie herum, wie es immer geschah, wenn sie orbte. Einen Moment später befanden sie sich vor dem dunklen Tempel im sengend heißen Sonnenlicht. Paige blinzelte. Ich bin georbt, dämmerte es ihr. Ich habe in dieser Gestalt noch immer meine Kräfte. Jetzt zuckte ihr Schwanz verärgert. Ich hätte aus eigener Kraft aus diesem Tierheim verschwinden und nach Hause zurückkehren können, als Cole mich abgegeben hat. Diese ganze dumme Episode wäre längst vorbei. Das bedeutet, dass dieses kleine Abenteuer jetzt enden wird – auf der Stelle! Sie hoffte nur, dass Tyler sie nicht zu weit von zu Hause wegtransportiert hatte. Sie hatte aus eigener Kraft noch nie große Strecken zurückgelegt. Nach der grellen Sonne zu urteilen, waren sie in irgendeiner Gegend mit höheren Temperaturen als daheim in San Francisco. Paige war ziemlich sicher, dass sie sie nur ein paar Schritte weit georbt hatte, direkt vor die Tempelmauern. Ihre Augen wanderten an den hohen Außenwänden des mächtigen Gebäudes hinauf. Und ihr Blick fiel auf ein noch größeres Bauwerk. Über dem Tempeldach ragte ein sehr vertrautes Monument. Die Sphinx. Und sie sah viel neuer aus als auf den Fotos, die sie zu Hause in ihren Büchern gesehen hatte.
7
I
» CH HABE ES GETAN!«, sagte Tyler mit aufgeregter Stimme. »Ich habe es wirklich und wahrhaftig getan.« Durch den Schock musste er weiche Knie bekommen haben. Tyler sank zu Boden und blickte zu einem der berühmtesten Profile der Geschichte auf. Paige war sprachlos. Nicht, dass sie überhaupt ein Wort sprechen konnte. Aber sie hätte sich nie träumen lassen, dass Tyler über die magische Kraft verfügte, sie über den halben Globus zu transportieren – und weit, weit zurück in die Vergangenheit. So weit zurück, um genau zu sein, dass ihre Schwestern sie vielleicht nicht finden würden. Was bedeutete, dass sie für immer eine Katze bleiben würde. Und sie wusste, dass sie nichts dagegen tun konnte. »Hör zu!« Paige kratzte mit einer Pfote Tylers Arm. »Du findest heraus, was du getan hast, und machst es wieder rückgängig. Sofort!« Verdutzt starrte Tyler Paige an. Dann nahm er sie in die Arme. »Und all das habe ich nur dir zu verdanken, Bastet!« Er küsste ihre Nase und kraulte sie dann unter dem Kinn. »Ich hätte es ohne dich nicht geschafft.« Er lachte. »Es ist mir vorher noch nie gelungen.« Er legte den Kopf zur Seite. »Obwohl ich meine Studien schon seit einiger Zeit betreibe.« Er setzte Paige wieder auf den Boden. Dann richtete er sich auf und streckte seine Arme aus. »Es hat sich endlich bezahlt gemacht«, erklärte er glücklich. »Und mein Wunsch, ein Teil des alten Ägyptens zu sein, muss mir die Fähigkeit verliehen haben, die Sprache zu verstehen!« Er berührte staunend seine Lippen. »Ich spreche Altägyptisch!« »Ich schätze, das hat sich auch auf mich übertragen«, bemerkte Paige. »Man stelle sich vor – ich miaue in einer toten Sprache.« Sie war nicht ganz so begeistert wie Tyler. Paige setzte sich. Dieser Kerl war so stolz auf sich, als würde er im nächsten Moment Rad schlagen. Sein Hochgefühl erinnerte sie an ihr
eigenes, als der schwierige Gestaltveränderungszauber funktioniert hatte. Ja, und sieh dir an, was es dir eingebracht hat, mahnte sie sich mit zuckenden Schnurrhaaren. Sie hoffte, dass Tylers brandneue Zauberfähigkeit nicht katastrophale Konsequenzen haben würde. Dennoch, sie kannte die tiefe Befriedigung, die er jetzt empfand. Sie würde ihn seinen Moment genießen lassen. Aber nur einen Moment. »Ich habe mir gewünscht, im alten Ägypten zu sein, und hier bin ich!«, sagte Tyler und stemmte die Hände in die Hüften. »Mann, ich bin gut.« Dieser Kerl wechselte in null Komma nichts von Ehrfurcht zu Arroganz. »Meinst du nicht, hier sind wir?«, korrigierte Paige ihn. »Du bist nicht der Einzige, der von diesem Wunsch betroffen ist.« »Und war das nicht ein gerissener Schachzug?«, sagte Tyler zu Paige. »Dass ich uns auf diese Weise aus dem Tempel geschafft habe?« »Wie bitte?« »Aber es fühlte sich anders an, als ich uns hierher transportiert habe. Ich schätze, eine Reise durch die Zeit ist etwas anderes als der simple Transport von einem Ort zum anderen.« »Nun ja«, sagte Paige. »Allerdings hast nicht du es getan, sondern ich!« Hmm. Vielleicht habe ich es auch bei diesem Ritual in San Francisco getan. Sie schüttelte den Kopf. Unmöglich. Ich hätte uns nie an diesen Ort gewünscht. Ich mag den Strand so sehr wie jedes andere Mädchen, aber diese Hitze ist abartig. Sie hatte das Gefühl, als würde sie jeden Moment schmelzen. Nun, bei über dreißig Grad ein Fell zu tragen, war nicht angenehm. Trotzdem vermutete Paige, dass das Ritual funktioniert hatte, weil sie daran teilgenommen hatte. Sie sah Tyler an und fragte sich, ob er über latente magische Fähigkeiten verfügte, die sie – und das Ritual – aktiviert hatten. »Ist das nicht toll, Bastet?« Er schmiegte sie in seine Armbeuge. »Ich kann so viel über die Magie des Thoth lernen. Über die Magie
des Osiris. Der Isis. Ich kann lernen, wie sie wirklich die Rituale durchgeführt haben, statt es nur zu vermuten.« Er kicherte. »Oder vielleicht werden sie das eine oder andere von mir lernen!« Jetzt, da der Schock nachgelassen hatte, konnte sich Paige auf ihre Umgebung konzentrieren. Sie und Tyler befanden sich in einer stillen Seitenstraße. Die wenigen Leute, die an ihnen vorbeikamen, schenkten ihnen nur wenig Beachtung trotz der Tatsache, dass sie eine Katze war, die mit mehr Schmuck behangen war als ein Starlet, und Tyler Augen-Make-up trug. Paige bemerkte einige Männer, die wie Tyler herausgeputzt waren – mit einer langen Tunika über einem kurzen Leinenfaltenrock –, aber die meisten waren viel schlichter gekleidet. Keiner trug einen blauen und goldenen Kopfschmuck oder hielt einen bemalten Kobrastab in der Hand. Alle nickten unterwürfig, wenn sie sie passierten. Sie müssen ihn für eine wichtige Persönlichkeit oder einen Adeligen halten, dämmerte es ihr. Und wenn er ein Adeliger ist, erklärt dies auch, dass seine Katze so prächtig geschmückt ist. Wenigstens werden wir nicht allzu viel Aufmerksamkeit auf uns lenken, dachte sie erleichtert. Das sollte uns genug Zeit verschaffen, um ungestört zu überlegen, was wir machen sollen. »Wohin sollen wir zuerst gehen?«, murmelte Tyler. »Wie wäre es mit nach Hause?«, schlug Paige vor. »Ich würde liebend gern die Pyramiden von Gizeh sehen.« Er schirmte seine Augen ab und blickte zu der Sphinx hinüber. »Aber sie scheinen ein paar Kilometer entfernt zu sein.« Paige konnte die Erregung spüren, die von ihm ausging. Er war völlig aus dem Häuschen. Paige gab ein frustriertes Miauen von sich. Wenn sie nur mit Tyler reden könnte. Sie wollte ihm nicht nur ihre Lage erklären, sondern sie hatte auch das Gefühl, ihn warnen zu müssen. Er war zu begeistert, um zu erkennen, dass hier auch Gefahren drohen konnten. Hatte dieser Priester ihn nicht beschuldigt, ein Spion oder ein Meuchelmörder zu sein? Für diese Art spontanes Misstrauen musste es einen guten Grund geben.
»Natürlich könnte ich uns auf magische Weise nach Gizeh transportieren. Jetzt, da meine Kräfte geweckt worden sind.« Tyler schwoll vor Stolz die Brust. »Au!«, rief er. »Bastet, warum hast du das getan?« Tyler rieb die Stelle an seinem Knöchel, wo Paige ihn gebissen hatte. Das ist genau das, was ich brauche. Ein übermütiger Novize, der sich für den Überflieger in der Zauberabteilung hält. Hmm. Ihre Schnurrhaare zuckten. An wen erinnerte Tyler sie? An mich! Es war genau diese Einstellung, die mich in diese Lage gebracht hat, dachte sie. Das machte ihr noch größere Sorgen als Tylers blinde Begeisterung. Er denkt, er kann mit allem fertig werden, doch das ist ein Irrtum. Und in dieser Katzengestalt weiß ich nicht, was ich tun kann, um ihm zu helfen. »Ich werde mich zuerst orientieren«, entschied Tyler. »Dann werde ich meine Magie einsetzen, um uns zu unserem nächsten Ziel zu bringen.« »Es gibt nur einen Ort, zu dem ich hin will, und das ist mein Zuhause!«, protestierte Paige. Aber Tyler hörte nicht zu. Er war zu neugierig darauf, sich die Umgebung anzusehen. Sie bogen um eine Ecke, und selbst Paige konnte ihre Ehrfurcht nicht unterdrücken. Eine geschäftige antike Stadt breitete sich vor dem Tempel aus. Von der Sonne gebleichte Lehmziegelgebäude standen dicht an dicht, getrennt durch schmale, sandige Gassen. Ein paar Leute ritten auf Eseln, an deren Seiten große Körbe hingen. Frauen und Männer, die Waren zum Marktplatz schleppten, gingen durch die staubigen Straßen. Die wenigen Palmen, die hier und dort wuchsen, boten nur wenig Schatten in diesem Teil der Stadt. Am Himmel kreisten große Vögel und ihre Rufe vermischten sich mit dem Klopfen von Hämmern, dem Bellen von Hunden und dem Lachen von Kindern. Paige teilte jetzt Tylers Staunen. Wir sind Tausende von Jahren in die Vergangenheit gereist, dämmerte es ihr, als sie endlich die Wahrheit begriff. Ich weiß nicht, wie er es geschafft hat, aber er hat es zweifellos getan.
Überall, wohin Paige sah, bot sich ihr ein weiterer außergewöhnlicher Anblick. Eine Gruppe von Jungen – keiner älter als zwölf – spielte in der Nähe. Alle hatten bis auf einen Zopf, der zur Seite fiel, kahl rasierte Köpfe. Paige glaubte nicht, dass sich diese Mode durchsetzen würde – nicht einmal bei den hart gesottenen Punktypen, die sich in der Umgebung der Fillmore Street herumtrieben. »Wenn das der Tempelkomplex ist«, murmelte Tyler, »müssten wir, wenn ich mich nicht irre, in der Nähe der Kunsthandwerkstätten sein.« »Was immer du sagst, Alter«, erwiderte Paige. »Du weißt offenbar mehr über diesen Ort als ich.« Ein Stück die staubige Straße hinunter arbeiteten, genau wie Tyler es vorhergesagt hatte, mehrere Handwerker in kleinen Schuppen. Einer gerbte Lederhäute, ein anderer blies fragile Glasperlen. Paige sah sich um und bemerkte, dass das beeindruckende Gebäude die Front des Tempels war, den sie soeben verlassen hatten. Zwei Reihen kleiner Sphinxstatuen säumten einen Weg, der zu einem massiven Tor führte. Obelisken mit vergoldeten Spitzen flankierten das Tor. Das ist ein gesichertes Gebäude, dachte Paige. Kein Wunder, dass der Tempelpriester so geschockt war, weil wir hineingelangt sind. Tyler trug sie durch die Kunsthandwerkstätten. Einige Handwerker arbeiteten an Tischen unter Baldachinen; andere hatten ganze Gebäude als Läden. Die meisten Leute, die sie passierten, nickten Tyler respektvoll zu. Eine junge Frau trat zu ihnen. »Bitte«, sagte sie mit gesenktem Kopf. »Wenn Ihr als Nächstes mit den Göttern sprecht, bittet um den Segen für mein neugeborenes Kind.« »Was?«, fragte Tyler. Die Frau errötete und nickte dann. »Natürlich.« Sie nahm einen Türkisreif von ihrem Arm und streifte ihn über Paiges Kopf. »Nehmt dieses Opfer für Bastet.« »Aber …«
Die Frau eilte davon und verschwand in einem der kleinen Gebäude. »Das war merkwürdig«, meinte Tyler. »Ja. Ich habe noch nie viel für Türkise übrig gehabt«, erwiderte Paige. »Sie spüren meine Macht.« Tyler lächelte breit. »Nein, du Schwachkopf. Sie halten dich für einen Aristokraten auf Besuch.« Tyler sah sie an. »Du musst teilweise eine Siam sein«, stellte er fest. »Das sind die einzigen Katzen, die so gesprächig sind.« »Für Bastet«, krächzte ihnen ein alter Mann zu. Er winkte sie in sein Zelt, wo er Goldschmuck herstellte. Er befestigte einen Ohrclip in Form eines Skarabäus an einem ihrer Ohren. Paiges Kopf neigte sich zu der Seite, an der der Ohrring hing. He! Der ist schwer!, murrte sie im Stillen. Sie musste irgendeinen Weg finden, ihn loszuwerden. »Bastet wird dich beschützen«, sagte Tyler zu dem Mann. Kurz darauf erreichten sie den Markt. Paige hätte es selbst dann bemerkt, wenn sie die Augen geschlossen hätte. Überall um sie herum priesen die Händler ihre Waren an und feilschten mit den Kunden. Sie und Tyler mussten aufpassen, dass sie nicht von den Tieren niedergetrampelt wurden, die zum Verkauf standen, und nicht mit den Männern und Frauen zusammenstießen, die große Keramikkrüge und Körbe schleppten. »Ich wünschte, ich könnte uns etwas zu essen besorgen«, murmelte Tyler. »Oh, richtig«, sagte Paige nickend. »Wir haben kein Geld.« Sie musterte Tylers Roben. »Dieses Kostüm hat keine Taschen, schätze ich.« »Mal sehen. Die alten Ägypter haben nur selten Geld benutzt. Sie hatten ein Tauschhandelssystem«, sagte Tyler nachdenklich. »Aber wir haben nichts zum Tauschen. Außer …« Er sah Paige mit zusammengekniffenen Augen an.
»Okay, das reicht!«, fauchte Paige. »Wenn ich noch ein einziges Mal weggegeben werde …« »Halt still, Bastet«, sagte Tyler mit beruhigender Stimme. Er nahm ihr den schweren Skarabäusohrring ab. Ihr Kopf fühlte sich sofort leichter an. »Ich will nicht den Schmuck eintauschen, den die Jünger Thoths dir gegeben haben, da ich ihn zurückgeben muss. Aber diese neuen Edelsteine … Du hast doch nichts dagegen, oder?« »Nicht das Geringste«, entgegnete Paige. »Ich denke, das Gefühl wird recht bald wieder in dieses Ohr zurückkehren.« »Ich weiß nicht, wie viel das wert ist, aber wir sollten es eindeutig gegen etwas Wasser eintauschen können. Man kann in diesem Klima sehr schnell austrocknen.« Tyler näherte sich einem Schuppen, in dem ganze Reihen von großen Keramikkrügen standen. »Ich komme in Frieden«, sagte er zu dem Händler und legte eine Hand an seine Brust. »In Frieden, Reisender«, antwortete der Mann. »Womit kann ich Euch dienen?« »Nur mit etwas Wasser«, erwiderte Tyler. »Ich habe Bier und Palmwein.« »Ich glaube nicht, dass meine Katzengefährtin etwas davon mag«, sagte Tyler. »Ah, für die Katze. Ich werde sehen, was ich tun kann.« Der Mann verschwand hinter der Rückwand und kehrte mit einer Schüssel voll Wasser zurück. »Nehmt dies als Geschenk für Bastet«, murmelte der Mann. Gute Idee, dachte Paige. Als ich das Trinken aufgegeben habe, habe ich nicht damit gerechnet, irgendwann Probleme zu bekommen, ein nichtalkoholisches Getränk aufzutreiben. »Und für Euch?«, fragte der Händler Tyler. »Ich werde das Bier versuchen.« Der Mann gab Tyler einen Krug und einen Strohhalm. Interessante Methode, um sich ein kühles Helles hinter die Binde zu gießen, dachte
Paige, obwohl das Bier zweifellos nicht kühl war – an diesem Erfrischungsstand gab es kein Eis. Tyler gab ihm den Skarabäus. »Das wird genügen«, sagte der Mann. »Und ich werde Euch für Eure Katze einen Beutel Wasser mitgeben.« »Sehr freundlich. Bastet wird es dir danken.« Paige fühlte sich viel besser, als sie das Wasser geschleckt hatte. Aber sie hatten noch immer nichts zu essen und sie war hungrig. Sie hob ihre Nase in die Luft. Ich könnte mir ebenso gut diese geschärften Katzensinne zu Nutze machen, sagte sie sich. Verschiedene Düfte ließen ihre Schnurrhaare vibrieren. Sie konzentrierte sich und versuchte die guten Gerüche von den schlechten zu trennen. Aha! Der Wind wehte einen deutlichen Fischgeruch in ihre Richtung. Köstlich! »Komm«, forderte sie Tyler mit einem ermutigenden Miauen auf. Sie sprang aus seinen Armen und rannte die Straße hinunter. »Bastet!«, rief er ihr nach. Sie konnte seine Schritte hinter sich hören. Gut. Er blieb nicht zurück. Paige bog um eine Ecke. Sie folgte ihrer Nase und tappte die dicken Lehmstufen zum Dach eines Hauses hinauf. »Bingo!« Haufenweise Fisch lag zum Trocknen in der Sonne. Eine Dienerin wedelte mit einem Fächer, um die Fliegen zu vertreiben. Sie bemerkte nicht, wie Paige weiterschlich, einen Fisch von einem Tablett stibitzte und zu Tyler zurückkehrte, der auf der Treppe stehen geblieben war. »Cleveres Mädchen!«, flüsterte Tyler. »Du weißt noch nicht mal die Hälfte.« Paige schlich zurück zu dem Tablett und stahl einen weiteren Fisch. Bald lag ein ganzer Haufen Fische vor Tylers Füßen. »Was würde ich ohne dich machen?«, sagte Tyler und tätschelte sie. »Gute Frage.« Sie verzehrten ihren Imbiss und beschmierten sich dabei mit Fischöl. Wo konnten sie sich waschen? Tyler wollte nicht das Wasser in dem Beutel benutzen – es war viel zu kostbar dafür.
»Wir können unsere Hände – oder Pfoten – im Nil waschen!«, schlug Tyler vor. Er stand auf und schirmte seine Augen ab, sodass sich Paige fragte, was er da tat. »Konzentriere dich«, befahl er sich selbst. »Nil, zeige dich mir.« Oh, großartig. Jetzt denkt er, er kann Magie einsetzen, um den Weg zu weisen. Typisch Mann, dachte Paige. Warum kann er nicht einfach nach dem Weg fragen? Paige stieg wieder hinauf aufs Dach. Diesmal entdeckte die Dienerin sie. Die Frau lächelte sie an. »Geheiligte, bist du gekommen, um unser Essen zu segnen?« »Sicher, warum nicht«, meinte Paige. Sie ging zu der Frau, die sie streichelte und ihr einen weiteren Fisch gab. Paige sprang auf die Mauer. Sie kniff die Augen zusammen, um nicht von der untergehenden Sonne geblendet zu werden, reckte den Kopf und suchte nach dem mächtigen Strom. »Du siehst zum Nil?«, fragte die Dienerin. »Liegen dort die guten Fischgründe?« Das beantwortet meine Frage, dachte Paige. Nil, wir kommen. Sie sprang wieder auf den Boden und lief zurück zu Tyler. Er stand noch immer auf der Treppe und hielt Zwiesprache mit dem Nil oder so ähnlich. »Komm, du Genie«, miaute Paige ihn an. »Ich kenne den Weg.« »Bastet?« Tylers Augen öffneten sich abrupt. Paige lief die Treppe hinunter. Sie wusste, dass er ihr folgen würde. Sie hatte Recht. »Du hast mich bis jetzt noch nie in die Irre geführt«, sagte Tyler. Er sprang hinter ihr die Treppe hinunter. Kurz darauf erreichten sie das Hafenviertel am Ufer des Nils. Erneut stockte Paige bei dem Anblick, der sich ihr bot, der Atem. Auf dem glitzernden blauen Nil herrschte reger Verkehr. Kleine Fischerboote aus zusammengebundenem Schilf trieben vorbei. Ihre Besitzer benutzten lange Stöcke zur Steuerung. Überall an den Docks wurden größere Boote entladen, die Arbeiter schleppten Säcke mit
Getreide und Weizen zum Markt. Auch andere Waren wurden vom Hafen weggekarrt: riesige Steine zum Bauen, Käfige mit Enten. Tiere streiften am Ufer umher und Pyramiden erhoben sich majestätisch über dem breiten Fluss. »Das war genau die Richtung, die ich gespürt habe«, behauptete Tyler. »Und hast du gesehen, wie mich alle behandeln? Sie können es erkennen. Meine Kräfte wachsen. Wer hätte sonst auf diese Weise zurück in die Zeit reisen können? Dies ist erst der Anfang …« Bla-bla-bla, dachte Paige. Sie hatte es allmählich satt, dass Tyler ständig mit seinen so genannten Kräften prahlte. »Ich sollte beim nächsten Mal etwas Größeres versuchen. Meine Macht ist grenzenlos.« Wollen wir wetten? Paige machte plötzlich kehrt und schlüpfte zwischen Tylers Füße. »Aah!«, schrie er, als er nach vorn stolperte. Dann verlor er das Gleichgewicht, fiel von dem Dock und landete klatschend im Fluss. »Du wolltest den Nil sehen«, stichelte Paige mit ihrer Katzenstimme. »Ich würde sagen, du hast ihn jetzt aus nächster Nähe kennen gelernt.« Das sollte ihm eine Lehre sein. Macht? Tut mir Leid, Alter. Die Einzige mit magischen Kräften hier ist diese kleine Miezekatze. Tyler planschte im Wasser. Seine lange Robe bauschte sich um ihn. Er schien allerdings nicht in Gefahr zu sein zu ertrinken. Er genoss es offenbar sogar. Unglaublich. Ich versuche ihm einen Dämpfer zu verpassen und er landet einfach auf den Füßen wie eine … nun, wie eine Katze!, staunte Paige. Sie musste zugeben, dass Tyler niedlich war. Er freute sich wie ein kleiner Junge. Und selbst jetzt, trotz dieses Missgeschicks, hatte er Spaß. Der Tyler im alten Ägypten unterschied sich völlig von dem linkischen und schüchternen Tyler, den sie im Tierheim getroffen hatte. Sie musste unwillkürlich lächeln – innerlich. Äußerlich gab sie ein zufriedenes Schnurren von sich. Sie hatte beim Schnurren etwas
gelernt: Es war nicht nur ein Ausdruck des Wohlbehagens; es fühlte sich auch noch gut an. Dann blieb ihr das Schnurren im Halse stecken. Ein Krokodil hielt direkt auf Tyler zu!
8
T
» YLER! PASS AUF!«, schrie Paige. Aber natürlich kam nur ein Katzenheulen aus ihrem Maul. Paige schloss ihre runden Katzenaugen und versuchte Tyler mit ihren magischen Kräften aus dem Fluss zu holen. Nichts geschah! Wie habe ich es im Tempel gemacht?, fragte sie sich. Darüber kannst du später nachdenken, schimpfte sie. Du musst sofort etwas tun! Bevor Tyler ein Krokosnack wird. Sie hob ihr Vorderbein und hoffte, einen Energieball werfen zu können. Die Ballen an der Unterseite ihrer Pfote prickelten, als versuchten sie, die Energie für einen Ball zu erzeugen, aber nichts materialisierte. Außerdem konnte sie so nicht zielen, wenn sie versuchte, das Ding zu schleudern. Sie lief auf dem Pier auf und ab. Alle waren beschäftigt; niemand hatte Tyler bemerkt und sie würde man bestimmt nicht beachten. Sie musste ihm helfen. Sie hatte ihn in den Nil befördert. Wenn dieses Krokodil ihn verschlang, würde es ihre Schuld sein. Tyler hatte das Krokodil entdeckt und versuchte verzweifelt, ans Ufer zu schwimmen, doch die Robe zog ihn in die Tiefe und machte es schwer für ihn, vorwärts zu kommen. Er hatte schon größte Mühe, seinen Kopf über Wasser zu halten. Sein Gesicht verzerrte sich vor Angst und Anstrengung. Paige dachte daran, in den Fluss zu springen, aber ihr Katzeninstinkt wehrte sich dagegen. Außerdem war sie kein Gegner für dieses Wasserreptil. Plötzlich erstarrte sie. Es war, als hätte etwas in ihr Gehirn gegriffen und es gepackt. Sie sah Tyler in die Augen und erkannte, dass sie seine Gedanken spürte. Er hatte telepathisch nach ihr gegriffen. Sie konnte eine mächtige Verbindung zwischen ihnen spüren. Furcht stieg in ihr hoch, und sie wusste, dass es nicht ihre eigene war. Langsam transformierte sich diese Furcht in tiefe Konzentration. Tyler ignorierte das näher kommende Krokodil hinter ihm und starrte weiter Paige an.
Macht der Katze, hallte es in Paiges Kopf. Es klang wie Tylers tiefe Stimme. Macht der Katze vereinige dich mit mir. Entferne diesen Feind von hier. Es war bizarr. Tyler zapfte irgendwie ihre Hexenkraft an und setzte sie dann aktiv ein. Sie kam sich praktisch wie eine Energieleitung vor, und diese Energie strömte in Tyler. Macht der Katze, vereinige dich mit mir. Entferne diesen Feind von hier. Tyler hielt die Augen weiter auf sie gerichtet, setzte aber irgendwie die Magie gegen das Krokodil hinter ihm ein. Paige konnte sehen, wie die Kreatur verharrte und langsam abdrehte. Kurz darauf schwamm das Tier weit entfernt von ihnen den Nil hinunter. Tyler war gerettet. Paige wich stolpernd zurück, als wäre eine Schnur gekappt worden, die sie mit Tyler verband. Sie fühlte sich erschöpft wie nach einem erbitterten Kampf gegen einen Dämon. Sie sank zu Boden und lag keuchend auf dem Dock. Das ist neu, dachte sie. Tyler muss doch über magische Kräfte verfügen. Tyler zog sich auf das Dock. Er kniete tropfnass vor Paige nieder. »Vielen Dank für deine Hilfe, Bastet«, sagte er förmlich. Wasser rann aus seinen Haaren und bildete eine Pfütze. Paiges Schwanz zuckte. Sie fühlte sich schuldig. Sie hatte Tyler in den Nil geworfen und jetzt bedankte er sich bei ihr. Doch vor allem war sie verwirrt. Was hatte Tyler getan? Was bedeutete es? Mit wem hatte sie es hier zu tun? Und konnte es ihr bei der Zurückverwandlung in einen Menschen helfen? Sie versuchte ihm eine Botschaft zu schicken. Tyler, ich bin keine Katze. Ich bin eine Frau namens Paige. Tyler stand auf. »Diese Klamotten wiegen eine Tonne, wenn sie nass sind«, beklagte er sich. Oh, nun ja, dachte Paige. Die Kommunikation kann nur einseitig sein.
Er streifte die zeremonielle Robe ab, sodass er nur noch den leinenen Faltenrock trug. Paiges Schwanz zuckte erneut. Seine dunkle Haut hob sich scharf von dem weißen Leinen ab. Er war schlank und hatte den durchtrainierten Körper eines Schwimmers. Jetzt unterscheidet er sich kaum noch vom Rest der ägyptischen Bevölkerung, dämmerte es Paige. Die meisten Männer liefen in diesen kurzen Röcken herum. Tyler hängte die Robe an einen nahen Ast. »In dieser Hitze sollte sie schnell trocknen.« Er blickte zum Himmel hinauf. »Allerdings wird die Sonne bald untergehen. Wir sollten uns besser einen Unterschlupf für die Nacht suchen«, fuhr Tyler fort. »Es wird schrecklich kalt, sobald es dunkel wird.« Paige schauderte. Ganz zu schweigen von all den unheimlichen Wüstenkreaturen, die vielleicht aus der Wüste kriechen werden, wenn es dunkel ist. »Ich nehme an, wir könnten einen Teil deines Schmucks gegen ein Bett tauschen«, sinnierte Tyler. »Aber ich würde ihn lieber für einen Notfall aufsparen.« Ist es nicht ein Notfall, im Jahr 1200 v. Chr. festzusitzen?, fragte sich Paige. Aber ihr Schmuck würde sie nicht nach Hause bringen. Sie nahm an, dass der Notfall, den Tyler meinte, etwas mit Essen und Wasser zu tun hatte. Tyler ging am Dock entlang. Paige trottete neben ihm her und achtete darauf, ihn nicht erneut zu Fall zu bringen. Tyler blieb abrupt stehen und trat fast auf eine von Paiges Pfoten. Er schnippte mit den Fingern. »Ich hab’s!« »Was?«, fragte sie. »Was hast du? Nur weil ich eine Katze bin, heißt das nicht, dass ich nicht verdiene, in deine Pläne eingeweiht zu werden. Was dir widerfährt, widerfährt auch mir, verstehst du?« Aber natürlich antwortete er nicht. Er hob sie auf, nahm seine Robe von dem Ast, drehte dem Nil den Rücken zu und kehrte zurück ins Herz der Stadt. Er steuerte direkt den Tempel an, in dem sie ursprünglich angekommen waren. »Äh, Tyler«, sagte Paige mit einem zögernden Miauen, »hast du Probleme mit deinem Kurzzeitgedächtnis? Wir sind von dort
verschwunden, um nicht von einer Horde Wachen mit Speeren durchbohrt zu werden.« »Keine Sorge, kleine Katze«, säuselte Tyler. »Ich weiß, dass sie dir hier Angst gemacht haben. Aber du hast nichts zu befürchten.« »Ja, genau«, erwiderte Paige. »Das glaube ich sofort.« Tyler klopfte an der Tür. Paige bereitete sich auf einen Angriff vor. Ein kleiner, stämmiger Mann mit einem kahl rasierten Kopf öffnete die Tür. Paige schätzte, dass er etwa fünfzig Jahre alt war. »Ja, Fremder?«, fragte der Mann. »Ich würde gern euer Haus des Lebens betreten«, sagte Tyler. Huch? Paige reckte den Kopf, um zu Tyler aufzusehen. Wovon redete er? Und warum klang er so selbstsicher? Oh, richtig, fiel es ihr ein, das ist Tyler. Seit er in Ägypten ist, ist er viel selbstsicherer. In der kurzen Zeit, die sie mit ihm verbracht hatte, hatte sie diese Lektion gelernt! Der Mann blickte skeptisch drein. »Warum sollten wir dich hereinbitten, Fremder?« »Ich bin Tyler … Tyleramses. Ich war der Schüler eines Meisters. Ich habe viele Fähigkeiten und ich habe mein Leben Bastet gewidmet. Dort will ich sein und meine Dienste anbieten.« »Wir haben viele begabte Schreiber«, erklärte der Mann. »Warum sollten wir dich aufnehmen?« »Meine Fähigkeiten sind etwas Besonderes. Ich kenne die geheimsten Kräfte der Schrift. Ich kann die Energie der Zeichen und Symbole nach meinem Gutdünken nutzen.« Er ging viel zu weit. Er wird dafür sorgen, dass wir eingesperrt oder getötet werden. Oder wenigstens wird er uns die Chance auf ein warmes Bett vermasseln. »Das sind große Behauptungen, Fremder. Kannst du beweisen, was du sagst?« »Mit der Hilfe von Bastet, ja, ich kann es.« Paige spürte, wie erneut seine Gedanken nach ihren griffen:
Macht der Katze, vereinige dich mit mir. Bring mir Papyrus für diesen Schreiber hier. Paige spürte ein Prickeln, wie sie es immer spürte, wenn sie Objekte versetzte. Einen Moment später tauchte in Tylers ausgestreckter Hand schimmernd eine Papyrusrolle auf, das Papier, auf dem die alten Ägypter schrieben. Der ältere Mann verneigte sich sofort. »Du darfst eintreten. Wir fühlen uns geehrt, einen derart begabten magischen Schreiber in unsere Gruppe aufzunehmen.« »Vielen Dank. Ich bin nur hier, um zu lernen.« Okay, dachte Paige, was geht hier vor? Tyler hatte erneut ihre magischen Kräfte angezapft. Er verfügt offenbar über irgendeine latente Macht, vermutete sie. Was bedeutet, dass es irgendeinen Weg geben muss, wie wir uns verständigen können. Paige griff mit ihren Gedanken nach Tyler und versuchte eine Verbindung herzustellen. »Tyler«, sagte sie, »ich bin es, Paige. Nur kennst du mich als Bastet, deine Katze.« Sie sah, wie Tylers Blick zu ihr huschte. Aber er antwortete nicht, sondern folgte nur dem Priester in den Tempel. Auch wenn Paiges Experiment nicht richtig funktioniert hatte, hatte sie … etwas bemerkt. Sie war entschlossen, es erneut zu versuchen. Ich werde nicht aufgeben, schwor sie sich. Das Haus des Lebens, stellte Paige fest, war kein richtiges Haus, sondern ein Teil des Tempels, in dem die Schüler untergebracht waren, die zu Schreibern ausgebildet wurden. Es gab sowohl Klassenzimmer als auch Schlafgemächer. Der Mann führte Tyler und Paige in einen sehr gemütlich aussehenden Raum. »Dies ist für unsere Ehrengäste«, erklärte der Mann. Paige sah sich in dem wunderschönen Zimmer um. Es gab nicht viele Möbel – nur ein langes, schmales Bett, auf dem sich Kissen türmten, eine bemalte Truhe und zwei kleine Tische –, aber der geflieste Boden und die bemalten Wände waren erstaunlich. Öllaternen standen auf dem Boden, exotische Blumen waren in Vasen
auf den Tischen arrangiert und verzierte Zeremonienmesser hingen an einer Wand. Ihre Begleitung zeigte Tyler die Krüge mit Wasser und die Platte mit Feigenkuchen neben dem Bett und verließ dann den Raum. Einen Moment später tauchte eine Magd mit Leinen für das Bett, Handtüchern und mehreren eleganten Roben auf, die sie auf die frisch gemachte Schlafstätte legte. Sie ging rückwärts aus dem Raum, ohne Tyler aus den Augen zu lassen. Paige konnte nicht erkennen, ob sie Ehrfurcht vor seinen so genannten Kräften hatte oder ihn einfach nur süß fand. Tyler schlüpfte aus seiner feuchten Tunika und zog eine der hauchfeinen Roben an. Er band sie zu und wanderte dann durch das geräumige, luftige Zimmer. »Ich werde über diesen Ort herrschen«, sagte Tyler. »Ich bin Ehrfurcht gebietend!« Mal sehen, was du dazu sagst!, dachte Paige. Sie sprang auf das Bett und riss eine seiner neuen Roben in Fetzen. »Warte nur ab«, warnte sie. »Ich werde nicht immer das brave Kätzchen bleiben.« Sie sagte sich, wenn sie ihm bewies, dass er nicht einmal eine Katze kontrollieren konnte, dann konnte er auch nicht erwarten, das Universum zu kontrollieren! Aber Tyler schien es nicht zu bemerken. Er legte sich auf das luxuriöse Bett und blickte zu den aufgemalten Sternen an der Decke auf. »Oh, Bastet, ist das nicht toll?« Er streckte die Hand aus und biss in einen der Feigenkuchen, die für ihn zurückgelassen worden waren. Er hielt ihn Paige hin, damit sie ebenfalls einen Bissen nehmen konnte, aber sie starrte ihn nur an. Ihr gefiel die Richtung, die diese Unterhaltung nahm, wirklich nicht. Er steckte den Rest des kleinen Feigenkuchens in den Mund. »Hast du je das Gefühl gehabt, fehl am Platz zu sein?« Er sah sie an und lachte. »Wie könntest du? Katzen sind so unabhängig. Sie fühlen sich überall zu Hause.« Er beugte sich zur Seite, zog Paige zu sich heran und legte sich dann wieder rücklings aufs Bett. »Aus irgendeinem Grund habe ich
mich immer mehr von alten Kulturen angezogen gefühlt, als von meiner eigenen. Jeder Ort erschien mir besser, als der, an dem ich mich gerade befand. Jetzt bin ich ein Schreiber im Haus des Lebens. Erstaunlich! Das ist viel besser als dieser öde Mechanikerjob, den ich nicht mehr habe.« Er nahm einen weiteren Feigenkuchen. »Warum sollte ich zurückkehren? Hier gehöre ich hin. Hier könnte ich glücklich werden. Und du könntest hier auch glücklich werden«, sagte er zu Paige, während er ihr dunkles Fell streichelte. Er rollte sich auf den Bauch und drückte Paige sanft an sich. »Katzen sind hier heilig. Du wirst so ehrerbietig wie ich behandelt. Wahrscheinlich noch ehrerbietiger.« Er grinste glücklich. »Vielleicht werde ich gar nicht herauszufinden versuchen, wie sich der Zauber rückgängig machen lässt. Vielleicht werde ich einfach hier bleiben. Für immer.«
9
PIPER
TROMMELTE MIT DEN FINGERN auf den Esszimmertisch. Zum zehnten Mal sprang sie von ihrem Stuhl auf, sah nach oben und fragte: »Warum dauert das so lange?« »Er wird kommen, wenn er kommt«, sagte Cole. Piper verschränkte die Arme. »Das ist hilfreich.« Phoebe legte eine Hand auf Pipers Schulter. »Cole will damit nur sagen, dass Leo zurückkehren wird, wenn er alle Informationen hat.« »Ich hoffe, seine Quellen sind gut informiert«, meinte Piper. »Denn im Moment haben wir keine Hoffnung, Paige aus eigener Kraft zu finden.« Sie sank wieder auf ihren Stuhl. Komm endlich, Leo, dachte sie. Als hätte er sie gehört, materialisierte Leo. Piper sprang auf und ergriff den Arm ihres Mannes. »Nun? Hast du herausgefunden, wo sie ist?« Leo nickte. »Ihr werdet es nicht glauben.« Piper trat einen Schritt zurück und zog eine Braue hoch. »Mir gefällt nicht, wie das klingt.« »Die Jünger Thoths haben euch gesagt, dass der verwendete Zauber auf die Intentionen des Priesters reagiert, nicht wahr?« »Richtig«, sagte Piper vorsichtig und wappnete sich für den Schock, den Leo ihnen versetzen würde. »Und seine Intentionen waren …?« Leo holte tief Luft. »Nun, es scheint, dass unser Katzenliebhaber Tyler in die Zeit zurückreisen wollte.« Seine blauen Augen wanderten zu Piper. Sie wusste, dass er damit sagen wollte, dass sie sich auf eine erschütternde Enthüllung gefasst machen sollte. »Ins alte Ägypten«, erklärte er. »Was?«, rief Piper. Alle Warnungen der Welt hätten Piper nicht auf diese Neuigkeit vorbereiten können. »Cool«, entfuhr es Phoebe. Piper warf ihr einen Blick zu. »Wie bitte?«
Phoebe zuckte die Schultern und schenkte Piper ein verlegenes Grinsen. »Ich habe schon immer eine alte Kultur kennen lernen wollen. Ägypten ist erstaunlich.« »Es gab damals eine Menge mächtige Magie«, fügte Cole hinzu. »Einige ihrer Inschriften erzählen von außergewöhnlichen Fähigkeiten.« »Hallo?« Piper warf die Hände hoch. »Bin ich die Einzige, die diese Neuigkeit ein wenig gespenstisch findet?« »Tut mir Leid«, sagte Phoebe. Sie umarmte Piper kurz. »Schätzchen, wir machen uns alle Sorgen um Paige. Du solltest dich nicht so unter Druck setzen, nur weil du darauf bestanden hast, sie wegzugeben.« »He!« Piper verpasste Phoebe einen Schlag gegen den Arm. »Musstest du mich daran erinnern?« »Hier ist eine gute Neuigkeit«, unterbrach Leo. Das war eine gute Sache, denn Piper war inzwischen ziemlich verärgert. »Gott sei Dank. Ich könnte eine gebrauchen«, sagte Piper. »Meine Freunde konnten die genaue Zeit und den Ort feststellen, an den Paige versetzt wurde.« »Sofern sie noch immer da ist«, warnte Cole. »Wenn Tyler diese Art Macht hat, wer weiß, wo sie jetzt sind?« Phoebe nickte. »Wir könnten in Schwierigkeiten geraten, wenn ihn plötzlich Mesopotamien fasziniert hat.« »Ein Grund mehr, rasch zu handeln«, stimmte Leo zu. »Wir sollten in der Lage sein, uns mit demselben Zauber dorthin zu transportieren, wenn wir uns auf die Reise in die Stadt Bastetium an den Ufern des Nils im Jahr 1245 v. Chr. konzentrieren.« »Du meinst, du hast nicht die genaue Adresse herausfinden können?«, stichelte Piper. Sie fühlte sich unendlich erleichtert. Sie würden Paige am Ende doch finden und diesen ganzen Schlamassel bereinigen. Der Rat der Ältesten hatte sich sehr oft in ihr Leben eingemischt, was Piper häufig gestört hatte, aber diesmal kam es ihr wirklich gelegen.
Sie wandte sich an Phoebe. »Warum schreibst du den Zauber nicht auf, damit er wirksamer wird?«, schlug sie vor. »Wir werden den Ort und die Zeit hinzufügen, in die sie versetzt wurde.« Phoebe nickte. »Gute Idee. Wir wollen keine Zeit damit verschwenden, die ganze Stadt zu durchsuchen.« »Cole«, sagte Leo, »du solltest hier bleiben. Für den Fall, dass Paige zurückkehrt oder der Rat der Ältesten neue Informationen hat.« »Verstanden.« »Kommst du mit uns?«, fragte Piper. Leo nickte. »Wir wissen nicht mit Sicherheit, ob dieser Zauber rückgängig gemacht werden kann. Ich will die Möglichkeit haben, euch von dort wegzubringen, wenn es sein muss.« »Ja«, fügte Phoebe hinzu. »Wir wissen auch nicht, ob Paige als Katze entmaterialisieren kann.« Piper sank zurück auf ihren Stuhl. Eine Zeitreise. Und sie machten sich Sorgen, ob ihre Schwester in einem Katzenkörper zaubern konnte oder nicht. Überaus gespenstisch. Aber nur ein ganz normaler Tag im Leben einer Hexe. Phoebe setzte sich mit Kugelschreiber und Papier an den Tisch. Nach ein paar Minuten blickte sie von ihrem Schreibblock auf. »Erledigt.« Leo, Piper und Phoebe drängten sich zusammen. Phoebe hielt das Blatt Papier so vor sich, dass Piper es sehen konnte. Getrennt von der Zeit, Getrennt vom Raum, Vereinige uns drei dort An unserer Schwester Ort. Piper sah Phoebe an. Phoebe zuckte die Schultern. »Es ist nicht mein bestes Werk. Ich war in Eile.« »Konzentriert euch auf den Ort, wo ihr sein wollt«, wies Leo sie an. »Ich komme dazu, wenn ihr Tylers Formel wiederholt.« Piper war froh, dass Leo sich entschlossen hatte, mit ihnen zu kommen. Sie fühlte sich immer sicherer, wenn er bei ihr war.
Piper konzentrierte sich und rief sich die Bilder des alten Ägyptens, die sie aus der Schule, aus den Museen und den Dokumentationen im Fernsehen kannte, ins Gedächtnis zurück. Sie konnte spüren, dass Phoebe dasselbe tat. Sie öffnete ihre Augen, als sie registrierte, wie Phoebe ihr das Blatt mit dem Spruch hinhielt. Sie stimmten die Zauberformel an, wiederholten sie immer wieder, und diesmal stellte sich Piper Paige vor. Dann fragte sie sich, ob sie sich sie als Katze vorstellen sollte, da dies im Moment ihre Gestalt war. Leos Stimme ließ ihre Gedanken wieder zu der Zauberformel zurückkehren. Zusammen sprachen sie die Worte, die sie im Tempel gehört hatten: Ihr weisen Alten, folgt meinem Willen. Meinen größten Wunsch Müsst ihr erfüllen. Wieder und wieder intonierten sie den Singsang. Wird es funktionieren?, sorgte sich Piper. Es muss! Piper spürte ein seltsames Rauschen – ganz anders als bei der Entmaterialisation mit Leo. Sie hatte das Gefühl, mit dem schnellsten Flugzeug, mit dem sie je geflogen war, abzuheben. Obwohl ihre Augen geschlossen waren, wirbelten Bilder an ihr vorbei. Sie keuchte. Sie wurde Zeugin, wie die Welt zurück in die Vergangenheit wanderte – wie ein Video, das zurückgespult wurde. Ein Brüllen erfüllte ihre Ohren. Dann Stille. Piper riss die Augen auf. Sie stand in einem dunklen Tempel mit bunt bemalten Wänden. Es war kühl hier, fast kalt. Sie sah sich um. Mächtige Säulen, in die komplizierte Muster geschnitzt waren, überragten sie. Der Raum war riesig. Eine lebensgroße Statue einer Frau mit einem Katzenkopf stand vor ihr. Dahinter ragte eine riesige Katzenskulptur in die Höhe. Ihre Augen gewöhnten sich an die dunkle Umgebung und sie sah, dass ein Altar vor der Katzenfraustatue stand. Und auf dem Altar saß eine kleine, dunkle Miezekatze.
»Da ist sie!«, rief Piper. Sie rannte los. Als sie sich dem Altar näherte, bemerkte sie, dass die Katze ein prächtiges Halsband trug. »Du führst ja ein richtiges Luxusleben«, sagte Piper zu der Katze. Sie nahm sie von dem Altar. Die Katze wehrte sich. »Paige, komm schon«, drängte Piper. »Ich weiß, dass du wütend auf mich bist, aber willst du nicht nach Hause?« Piper sah sich um und fragte sich, wo Tyler war. »Wo ist dein Reisegefährte?«, sagte sie. Die Katze starrte sie an. »Was ist los, hat die Katze deine Zunge gefressen?«, scherzte Piper. Sie seufzte. Sie sollten wohl besser nicht ohne Tyler von hier verschwinden. Nach dem, was die Jünger Thoths gesagt hatten, verfügte Tyler nicht über besonders viel magische Erfahrung. Am Ende würde er hier noch stranden. »Okay«, sagte sie zu der Katze, »wir werden versuchen, ihn zu finden. Und ich hoffe, du weißt, wo er ist.« Piper stieg die kurze Treppe hinunter, die zum Altar führte. Als ihr Fuß den gefliesten Boden berührte, gab die Katze ein lautes, klägliches Miauen von sich. »Hör zu, wir können alles klären, wenn wir zu Hause sind, okay?« Piper ging zu Leo und Phoebe. Die Katze miaute wieder, diesmal sogar noch lauter. Plötzlich tauchten zwei mit Speeren bewaffnete Wachen aus den Schatten auf. Einer von ihnen zeigte auf Piper und schrie etwas Unverständliches. »Ich verstehe vielleicht die Sprache nicht«, sagte Piper zu der Katze, »aber ich weiß genau, was sie meinen.« Ehe sie reagieren konnte, fiel von der Decke ein Netz auf sie. Sie war gefangen. »Piper!«, schrie Phoebe. »Transportiere uns zu Leo!«, schrie Piper der Katze zu. Die Katze starrte sie nur an, als wäre sie verrückt.
Großartig. Paige kann in dieser Gestalt nicht entmaterialisieren. Piper versuchte die näher kommenden Wachen einzufrieren, aber da sie das sich windende Tier in den Armen hielt, konnte sie nicht richtig zielen. Sie verfehlte die Wachen und ließ stattdessen zwei Moskitos im Flug erstarren. »Jetzt gib endlich Ruhe!«, brüllte sie die Katze an. »Hör auf, dich zu wehren.« Sie spuckte eine Masche des Netzes aus und rief Leo und Phoebe zu: »Paige lässt sie mich nicht einfrieren!« »Wir kommen!«, schrie Phoebe. Sie und Leo rannten zu Piper. Piper zerrte verzweifelt an dem Netz, was mit der fauchenden, spuckenden, kratzenden Katze in ihren Armen nicht einfach war. Sie blickte auf und sah, wie Phoebe herumwirbelte und mit einem wuchtigen Tritt eine Wache ausschaltete. Als sich Phoebe auf die andere Wache stürzte, rannte Leo an ihnen vorbei und half Piper, sich von dem Netz zu befreien. »Jetzt, Phoebe!«, rief Leo. Phoebe sprintete über die zusammengebrochene Wache zu Leo und Piper. Sie schlang ihre Arme um sie. »Hör auf, mich zu kratzen«, fauchte Piper die Katze an. Die Katze fauchte zurück. »Pass bloß auf«, knurrte Piper, »oder wir lassen dich, wie du bist, und geben dich wieder weg.« Piper spürte, wie Leos magische Kräfte sie zurück in ihre Zeit versetzten. Sie ließ die Katze sofort auf den Boden fallen. Das Tier rannte unter die Couch. »Es ist auch besser, wenn du dich versteckst«, warnte Piper sie. Sie betrachtete ihren Arm. Er war von Katzenkratzern übersät. »Was ist los mit ihr?«, klagte Piper. »War das, was ich gesagt habe, so schrecklich?« »Vielleicht hat der Gestaltveränderungszauber sie auch in anderer Hinsicht verändert«, schlug Phoebe vor. »Liebling, ich bin so froh, dass du in Sicherheit bist«, sagte Cole und nahm Phoebe in die Arme.
»Ich auch. Aber vor allem bin ich froh, dass Paige in Sicherheit ist.« Piper schnaubte. »Ich bin mir im Moment dessen nicht so sicher.« »Wirken wir den Rückverwandlungszauber.« Phoebe ließ sich auf allen Vieren nieder und spähte unter die Couch. »Komm schon, Paige. Es ist Zeit, wieder deine alte Gestalt anzunehmen.« Sie setzte sich auf ihre Fersen. »Ich glaube nicht, dass sie herauskommen will.« »Ich werde sie nicht holen«, erklärte Piper. Sie hielt ihren zerkratzten Arm hoch. »Ich bin in Ausübung meiner Pflicht bereits verwundet worden.« »Lasst mich es versuchen.« Leo kniete nieder und streckte eine Hand aus. »Komm, Kätzchen, sei ein braves Mädchen.« Er sprach in einem sehr beruhigenden Tonfall. Wenn das nicht Paige unter der Couch hervorlockte, dann wusste sie nicht, was sie noch tun sollten. »So ist es gut. Ich werde dir nichts tun.« Piper sah, wie Paiges kleiner Katzenkopf unter dem Sofa hervorkam. Was auch immer Leo machte, es funktionierte. Die Katze kroch hervor, ohne die Augen von Leo zu wenden. »Gute kleine Katze«, säuselte er. Er hob sie auf und barg sie in seiner Armbeuge. »Seht ihr? Man muss nur wissen, wie man mit ihr reden muss.« Piper sah Leo an und zog eine Braue hoch. »Nun, normalerweise genügt die Tatsache, dass wir Schwestern sind.« Leo zuckte die Schultern. »Vielleicht ist ihr ›Wächter-des-Lichts‹ Anteil in dieser Gestalt stärker, sodass sie auf mich reagiert.« »Nun, wir können sie fragen, sobald sie wieder einen menschlichen Mund hat und sprechen kann«, sagte Phoebe. »Erledigen wir die Sache, bevor unsere kleine Ruhepause vor den Dämonen vorbei ist.« »Gute Idee.« Sie gingen hinauf zum Dachboden, während Cole unten zurück auf Dämonenpatrouille blieb. Piper fand den Eintrag für
Gestaltveränderung im Buch der Schatten, blätterte weiter und suchte den Rückverwandlungszauber. Hmm. Da war einer, mit dem sich der Zaubernde selbst zurückverwandeln konnte. Warum hat Paige das nicht gemacht?, fragte sich Piper. Sie schüttelte den Kopf. Natürlich. Paige war vermutlich so erpicht darauf gewesen, den Zauber zu versuchen, dass sie die zweite und dritte Seite nicht einmal gelesen hatte. »He«, sagte sie, »hier steht, dass das Ritual der Hexe die Macht der Tiertransformation verleiht. Sie kann sich dann auch in andere Tiere verwandeln, bis die Magie verbraucht ist.« »Warten wir nicht, bis ihre Batterien leer sind«, erwiderte Phoebe und trat zu Piper an das Pult. »Erledigen wir die Sache jetzt.« »Okeydokey.« Es gab eine weitere Formel, mit der ein anderer den Zauber rückgängig machen konnte. Muss eine Art Rückversicherung sein, sinnierte Piper, für den Fall, dass die Hexe Probleme hat, es selbst zu tun. Werde wieder zu dem, der du warst, Erinnere dich, wer du bist. Sei nicht länger ein Tier Werde zum Menschen hier. Piper und Phoebe intonierten die Formel, während Leo die Katze hielt. Nach der dritten Wiederholung wehte ein rauschender Wind durch den Dachboden, was immer auf magische Energie hindeutete. Von einem Moment zum anderen verwandelte sich die Katze in Leos Armen in eine Frau. Eine wunderschöne Frau. Nur diese Frau war nicht Paige.
10
PHOEBES KINNLADE FIEL NACH UNTEN. Ihr Irrtum war nur zu offensichtlich. Sie hatten die falsche Katze mitgebracht! »Unten ist alles klar«, sagte Cole, als er den Dachboden betrat. »Wie läuft es hier oben? Hallo, was ist denn das?« Alle im Raum starrten Leo und die hinreißende Frau in seinen Armen an. Sie hatte dunkle Haut, tief liegende braune Augen, hohe Wangenknochen und volle, sinnliche Lippen. Sie trug eine weiße Robe, die der Kleidung ähnelte, die sie bei der Versammlung der Jünger Thoths gesehen hatten. Sie hatte etwas Katzenhaftes an sich, bemerkte Phoebe. Nun ja. Sie war vor nicht allzu langer Zeit eine Katze. Irgendwie hatten sie eine Katze in eine Frau verwandelt! Gestaltveränderung war definitiv eine komplizierte Kunst. Nur für fortgeschrittene Hexen geeignet. Die Frau sah Leo bewundernd an. Dieser starrte zurück – nicht bewundernd, sondern voller Verwirrung. Piper war die Erste, die sprach. »Äh, Leo … vielleicht solltest du das Kätzchen absetzen. Jetzt, da sie nicht mehr ein Kätzchen ist?« Phoebe unterdrückte ein Grinsen. Sie kannte ihre Schwester gut genug, um diesen Ton zu kennen. Piper unterdrückte nur mühsam ihren Ärger. Nicht nur, weil sie einen Fehler gemacht hatten. Ohh neeeiiin. Dieser Ärger wurde von einem klitzekleinen Quäntchen nichtmagischer Eifersucht gespeist. Die ehemalige Katze war einfach atemberaubend. Leo lief bis zu seinem Haaransatz puterrot an. Hastig stellte er die barfüßige Frau auf den Boden. »Tut mir Leid.« Die Frau sagte etwas zu Leo, das Phoebe nicht verstand. Leo auch nicht. »Hu?«, machte er. Die Frau wiederholte ihre unverständlichen Worte in derselben geheimnisvollen Sprache. Phoebe und Piper wechselten einen verwirrten Blick.
»Wie gut ist euer Altägyptisch?«, fragte Cole. »Ich denke, das ist es, was sie spricht.« »Was?« Phoebe starrte ihn an. »In meiner Zeit als Dämon bin ich ein paar Leuten begegnet, die auch diese Sprache gesprochen haben.« »Und was hat sie gesagt?«, fragte Piper. Cole zuckte die Schultern. »Ich habe nur die Sprache erkannt. Das bedeutet nicht, dass ich sie beherrsche.« Die Frau stand da und beobachtete sie, offenbar genauso verwirrt wie sie. »Warum wirkt ihr nicht einen Übersetzungszauber?«, schlug Leo vor. Phoebe nickte. »Äh, mal sehen.« Sie nahm Pipers Hand und schloss dann die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Besucherin aus einem anderen Land Mach uns mit deiner Sprache bekannt. Lass unsere Worte verständlich sein, Wenn wir sprechen, klar und rein. »Was ist mit mir passiert?«, fragte die Frau mit rauer Stimme.
Fast wie ein Schnurren, dämmerte es Phoebe. »Wo bin ich?«
»Wir haben’s irgendwie vermasselt«, erklärte Phoebe, obwohl die
Frau zu Leo gesprochen hatte. »Eigentlich wollten wir unsere Schwester zurückbringen. Stattdessen haben wir dich erwischt.« »Zurückbringen?«, fragte die Frau. »Aus deiner Zeit. Um sie zurückzuverwandeln«, sagte Piper. »Sie ist auch eine Katze. Im Moment.« »Wir haben dich in die Zukunft gebracht«, erklärte Leo. »In unsere Zeit.« Die Augen der Frau weiteten sich. »Wie aufregend. Du musst ein sehr mächtiger Zauberer sein«, sagte sie zu Leo. »Eigentlich hatte er nicht viel damit zu tun«, warf Piper ein. »Aber jetzt müssen wir dich in deine Zeit zurückbringen.«
»Nein!« Die Frau wich zurück. »Ich will hier bleiben.« »Darauf wette ich, Kitty«, murmelte Piper. »Konferenz«, erklärte Phoebe und ergriff Pipers Hand. Sie zog sie in eine Ecke des Dachbodens. Pipers Augen huschten immer wieder zu Kitty und Leo hinüber. »Hör zu«, sagte Phoebe. »Ich glaube nicht, dass wir sie sofort zurückbringen können. Wir können keine Zeit damit verschwenden herauszufinden, wie sich der Zauber rückgängig machen lässt, der die Katze in eine Frau verwandelt hat.« Piper verschränkte die Arme vor der Brust. Sie sah aus, als müsste sie noch immer überzeugt werden. »Wir müssen Paige zurückholen, bevor in der Vergangenheit etwas passiert, das wir nicht mehr rückgängig machen können. Was ist, wenn sich Tyler entschließt, weiter durch die Zeit zu reisen? Das können wir nicht riskieren.« »Oh, okay«, stimmte Piper widerwillig zu. Sie kehrten wieder zu Kitty zurück, die sich neben Leo auf einer alten Truhe zusammengerollt hatte. Cole wartete in der Tür. »Einverstanden«, sagte Piper. »Du wirst hier bei Leo bleiben.« »Oh, gut«, sagte die Frau lächelnd. »Gewöhn dich nur nicht daran«, warnte Piper. »Sobald wir zurückkehren, landest du wieder im alten Ägypten. Und in deinem Katzenkörper.« Phoebe ergriff wieder den Arm ihrer Schwester und zog sie zurück in die Ecke. Cole folgte ihnen. »Was?«, fauchte Piper. »Reg dich nicht auf«, flüsterte Phoebe Piper zu. »Wir wollen nicht, dass sie uns davonläuft. Wer weiß, was aus ihr wird, wenn sie sich dort draußen ohne uns herumtreibt?« »Ich mache mir mehr Sorgen wegen dem, was sie hier versuchen wird«, fauchte Piper zurück.
»Leo kommt damit schon klar. Sie scheint ihn zu mögen«, räumte Phoebe ein. »Muss an der Löwen-Assoziation liegen.« Piper starrte sie verständnislos an. »Du weißt schon. Leo. Der Löwe. Kapiert?« Piper funkelte sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Oh, ich hab’s kapiert. Ich fand es nur nicht komisch.« »Tut mir Leid.« »Ich werde hier bleiben und den Anstandswauwau spielen«, bot Cole an. Phoebe stellte fest, dass Piper ein wenig erleichtert wirkte. Nicht viel. Aber zumindest würde es zu keinem Streit zwischen ihr und der ehemaligen Katze kommen. »Seid ihr sicher, dass ich euch nicht begleiten soll?«, fragte Leo. »Ich schätze, wir schaffen das schon alleine«, versicherte Piper Leo. »Unsere Magie hat gut funktioniert. Wir können aus eigener Kraft zurückkehren.« »Wir versprechen, dass wir dich rufen werden, wenn wir in Schwierigkeiten geraten«, fügte Phoebe hinzu. Sie wiederholten den Zauber, den sie beim ersten Mal benutzt hatten, und fanden sich an demselben Ort wieder wie zuvor. Nur dass die Wachen diesmal auf sie warteten. »Ergreift sie!«, schrie einer von ihnen. Bevor eine der Schwestern reagieren konnte, hatten die Wachen ihre Arme ergriffen und machten es Phoebe unmöglich, ihre Energiebälle zu werfen. Und Piper schaffte es nicht mehr, sie einzufrieren. »Ich schätze, dieser Übersetzungszauber funktioniert auch im alten Ägypten«, bemerkte Piper. So viel zu der Annahme, dass wir allein zurechtkommen können, dachte Phoebe.
11
PAIGE
HATTE IHRE dreieckigen Katzenohren gespitzt. Sie konnte nicht glauben, was sie hörte. Hier bleiben? Auf keinen Fall! Sie sprang auf Tylers Brust und miaute ihm ihren Protest ins Gesicht. »Was ist los, Bastet?«, fragte er. »Was ist in dich gefahren?« »Was in mich gefahren ist?«, kreischte Paige. »Was ist in dich gefahren? Wie kommst du auf den Gedanken, dass es okay ist, hier zu bleiben?« Sie bohrte ihre Klauen in seine Robe. »Ich wünschte, ich könnte dich verstehen«, sagte Tyler in einem besänftigenden Tonfall. »Dann könnte ich dir vielleicht helfen.« »Ach ja, Alter?«, fauchte Paige. »Das Gefühl ist gegenseitig.« Mürrisch zog sie ihre Klauen aus seiner Robe und ging auf dem Bett auf und ab. »W-was hast du gesagt?« Tyler setzte sich auf und ergriff sie. Er starrte ihr ins Gesicht. »Hast du etwas gesagt?« »He, drück nicht so hart zu«, beschwerte sich Paige mit einem kläglichen Miauen. »Tut mir Leid.« Tyler ließ sie los. Beide wichen abrupt zurück. »Hast du gerade …?«, stieß Paige hervor. »Das kann nicht möglich sein«, keuchte Tyler. Er packte sie erneut und hielt sie so, dass er ihr ins Auge sehen konnte. »Sag etwas«, befahl er. »Kannst du mein Miauen wirklich verstehen?«, fragte Paige langsam. Tylers Mandelaugen weiteten sich. Dann nickte er. »Ja, Bastet. Ich kann deine Sprache verstehen.« »Nun, das wurde auch Zeit!« Paige schlug nach Tyler, damit er sie losließ. Sie landete mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden. »Okay, Tyler, wir müssen ernsthaft miteinander reden.« »Du hast Recht!«, rief er aufgeregt. »Das bedeutet, dass ich wirklich immer mächtiger werde. Jetzt kann ich die Sprache der Tiere verstehen. Es gibt keine Grenzen für meine …«
Paige biss in seinen Fußknöchel. Das brachte ihn zum Schweigen. »Lass es mich anders formulieren. Ich habe dir eine Menge zu sagen. Ich habe dir den ganzen Tag zugehört. Jetzt bist du an der Reihe, mir zuzuhören.« Tyler setzte sich wieder aufs Bett. »Okay«, sagte er. Paige konnte erkennen, dass er ein wenig verwirrt war, weil er von einer kleinen Katze herumkommandiert wurde. Nun, damit musste er eben fertig werden. »Erstens, ich bin keine Katze. Ich bin eine Hexe. Und mein Name ist nicht Bastet. Sondern Paige.« Er starrte sie fasziniert an. »Äh, freut mich, dich kennen zu lernen, Paige. Aber warum …« Paige hielt eine Pfote hoch. »Wir kommen viel schneller ans Ziel, wenn du mich nicht unterbrichst.« »Okay, okay, Hauptsache, du beißt mich nicht mehr.« Paige lief vor dem Bett auf und ab. »Ich habe mich in eine Katze verwandelt, als ich einen Gestaltveränderungszauber ausprobiert habe, und bevor ich herausfinden konnte, wie ich mich zurückverwandeln kann, haben mich meine Schwestern ins Tierheim gebracht.« »Wo ich dich gefunden habe«, nickte Tyler. »Genau. Als Nächstes hast du uns dann zurück in die Zeit in einen Cecil B. DeMille-Film versetzt. Und jetzt müssen wir zusammenarbeiten, damit wir wieder nach Hause kommen. Und zwar flott.« Tyler rutschte nervös auf dem Bett hin und her. »Ich … ich glaube nicht, dass ich weiß, wie man das macht«, gestand er. »Ich weiß nicht einmal, warum der Zauber funktioniert hat. Ich habe Dutzende davon ausprobiert, und dies war das erste Mal, dass etwas passiert ist.« »Ich denke, es hatte mit mir zu tun«, erklärte Paige. Tyler blickte perplex drein. »Wie meinst du das? Es war nicht meine Macht?« »Ich hasse es, dich zu enttäuschen, aber nein. Du hast es selbst gesagt – vorher hat nichts funktioniert. Bis du mich ins Spiel gebracht hast.«
»Oh«, sagte er leise. »Habe ich uns wenigstens aus dem Tempel geschafft, als sich die Wachen auf uns gestürzt haben?«, fragte er hoffnungsvoll. »Tut mir Leid. Das war auch ich. Es gehört zu meinen Fähigkeiten.« Tyler sah so niedergeschlagen aus, dass Paige sogar Mitleid mit ihm hatte. Er war so stolz auf sich gewesen, und jetzt kam er sich wie eine große Null vor. Sie sprang zu ihm aufs Bett. »Hör zu, ich denke, du hattest auch etwas damit zu tun. Die … Verbindung zwischen uns wirkt wie eine Art Kanal für die Magie. Ich glaube, du verfügst über latente Macht, und wenn wir zusammenarbeiten, bringe ich sie in dir hervor.« Sie erzählte ihm, dass sie seine Gedanken am Nil hatte hören können, als er sich vor dem Krokodil gerettet hatte, und dass etwas Ähnliches passiert war, als die Papyrusrolle bei ihrer Ankunft im Haus des Lebens erschienen war. »Und gerade hast du dir gewünscht, mich verstehen zu können, und jetzt verstehst du mich.« Tylers Gesicht leuchtete auf. »Du hast Recht. Ich habe dich in eine sprechende Katze verwandelt. Das ist immerhin etwas.« Sie entschied sich, ihm nicht zu erzählen, dass sie als Hexe über viel mehr Macht verfügte als er und dass es weitaus wahrscheinlicher war, dass ihre Versuche, mit ihm zu kommunizieren, endlich Erfolg gehabt hatten. Sie wollte das Ego das Mannes nicht völlig zerstören. »Wenn wir zusammenarbeiten, können wir vielleicht nach Hause zurückkehren«, sagte Paige. »Ich weiß es einfach nicht«, murmelte Tyler. »Ich weiß nicht, ob wir das ganze Ritual wiederholen müssen, damit es funktioniert. Und ich würde es hassen, versehentlich irgendwo anders zu landen.« Paige streckte sich aus und legte ihren Kopf auf ihre Pfoten. »Du hast Recht. Wir müssen die Sache sorgfältig durchdenken.« Sie gab ein leises Miauen von sich. »Werde ich je wieder ein Mensch sein?« Tyler streichelte ihr Fell. »Kannst du dich nicht einfach zurückverwandeln?« Jetzt war Paige an der Reihe, verlegen zu sein. »Ich habe mir die Zauberformel nicht bis zum Ende angesehen. Ich war so darauf
erpicht, die Gestaltveränderung auszuprobieren. Wie soll ich als Katze Magie bewirken? Außerdem erfordern die meisten Zauber den Gebrauch meiner Hände und meiner Stimme.« »Du sprichst jetzt«, erinnerte Tyler. Paige legte den Kopf zur Seite. »Du hast Recht, ich kann sprechen.« Dann sank sie wieder zu Boden. »Aber ich weiß nicht, was ich sagen muss. Phoebe ist diejenige, die Zauberformeln aufschreiben kann. Außerdem habe ich meistens zusammen mit meinen Schwestern gezaubert. Ihre Macht hilft mir. Das ist die größte Sache, die ich je aus eigener Kraft gemacht habe. Und ich habe es vermasselt. Wieder einmal.« Es wurde laut an die Tür geklopft, und bevor Tyler antworten konnte, betrat ein Diener den Raum, begleitet von einer Wache. »Ja?«, fragte Tyler. »Werde ich irgendwo gebraucht?« »Man will Euch befragen«, erwiderte der Diener. »Ihr seid des Betrugs beschuldigt worden.« »Oh, großartig«, stieß Paige hervor. »Genau das, was wir brauchen.« Sie und Tyler erstarrten und warteten darauf, wie der Diener und die Wache auf eine sprechende Katze reagieren würden. Die Wache trat vor. »Jetzt«, befahl er. Tyler und Paige wechselten einen Blick. »Sie können mich nicht verstehen«, sagte sie. »Ich bin also doch keine sprechende Katze. Es ist wieder diese Verbindung.« »Kann ich meine Katze mitnehmen?«, fragte Tyler die Wache. »Wie du sehen kannst, ist sie aufgebracht. Sie spürt es immer, wenn es Konflikte gibt.« »Natürlich«, nickte die Wache. »Wir respektieren stets die Wünsche einer Katze.« »In diesem Fall wünsche ich mir, dass du häufiger badest«, sagte Paige zu dem Wächter, da sie wusste, dass er sie nicht verstehen konnte. Sie sah, wie Tyler ein Grinsen unterdrückte.
»Also gut, klären wir die Angelegenheit«, brummte Tyler. Er schenkte der Wache ein charmantes Lächeln. »Ich bin sicher, dass alles nur ein Missverständnis ist.« Sie wurden durch die Wohnquartiere und dann in die Verwaltungsräume geführt. Tyler trug Paige in eine große Kammer. Wie überall waren auch hier die Wände prächtig bemalt und die Säulen so gehauen, dass sie wie Bäume aussahen. An einem Ende saß ein Mann auf einem hohen Stuhl. Ein Schreiber kniete mit einem Stift an seiner Seite und hatte seine Utensilien auf einem niedrigen Tisch ausgebreitet, der neben ihm stand. Männer in Roben saßen in einer Reihe an einer Wand. Am Ende der Reihe hockte ein weiterer Schreiber, der offenbar bereit war, sich Notizen zu machen. Die Flammen in den Öllampen flackerten und verbreiteten einen stechenden Geruch. Er ließ Paiges Schnurrhaare prickeln. »Du bist der Fremde namens Tyleramses?«, fragte der Mann auf dem Stuhl. »Ja, das bin ich.« »Ich bin Kuthra, königlicher Schreiber. Ich habe von deinen« – Kuthra schwieg, als würde er nach dem richtigen Wort suchen – »Tricks gehört.« Uh-oh. Der abfällige Ton des königlichen Schreibers bei dem Wort »Tricks« verriet Paige, dass sie in Schwierigkeiten waren. »Ich fühle mich geehrt, den königlichen Schreiber kennen zu lernen«, erwiderte Tyler. »Allerdings ist mir nicht klar, warum derartige Berichte dazu führen, dass ich vor dieses Tribunal zitiert werde.« Paiges Schwanz zuckte besorgt. Das Wort »Tribunal« hatte einen sehr ernsten Klang. Zum Glück sollten ihnen Tylers Kenntnisse des alten Ägyptens helfen, diese prekäre Situation zu meistern. »Wir nehmen unsere Pflichten ernst«, erklärte Kuthra. »Wir verurteilen alle Handlungen, die unserem Ruf der Integrität schaden.« »Ich würde etwas Derartiges niemals tun«, protestierte Tyler. »Taschenspielertricks«, höhnte Kuthra. »Fingerfertigkeit. Das alles ist unter der Würde des Schreibers. Und sich mit Betrug Zutritt in
diese heiligen Mauern zu verschaffen – das ist in der Tat ein schweres Verbrechen.« »Meine magischen Fähigkeiten sind keine Taschenspielertricks«, ereiferte sich Tyler. »Diese Magie ist real. Genau wie deine – sofern du die Fähigkeiten hast.« »Großartig, Tyler«, fauchte Paige. »Bring ihn ruhig noch mehr in Rage.« »Wie du sehen kannst, findet meine verehrte Katze, die Vertreterin der Göttin Bastet, deine Anschuldigung beleidigend.« »Und ich finde dein Verhalten unverschämt«, donnerte der königliche Schreiber. »Du scheinst deine Kräfte über meine zu stellen.« »Lass dich nicht auf einen magischen Wettstreit ein«, warnte Paige. »Wir wissen nicht, was wir können und was nicht, schon vergessen?« Aber Tyler schien in seiner eigenen Welt verloren zu sein. Er hatte sich so in seine Rolle des Altägypters hineingesteigert, dass er sie voll auskostete. Als wäre er wirklich ein Schreiber mit magischen Fähigkeiten und kein arbeitsloser Mechaniker mit einer Leidenschaft für Ägypten. »Ich freue mich darauf, meine Fähigkeiten zu demonstrieren«, sagte Tyler. Er setzte Paige auf den Boden und richtete sich dann wieder auf. »Falls du von meiner früheren Demonstration gehört hast, wirst du wissen, dass ich Gegenstände nach meinem Gutdünken erscheinen lassen kann.« »Das also hast du vor«, stellte Paige fest. »Ich weiß nicht, ob ich als Katze richtig zaubern kann.« Das schien Tyler Sorgen zu machen; dies war nicht die Zeit für Experimente. Er schaltete um. »Ich kann außerdem um Ecken sehen«, erklärte er. Er blickte auf Paige hinunter und zwinkerte ihr zu. Schon besser. »Ich bin bereit, wenn du es bist.« Sie schlich an der Wand entlang, bereit, sich aus dem Raum zu stehlen. »Sage uns, was sich in dem Raum hinter dieser Wand befindet«, befahl der königliche Schreiber. Er deutete auf die Wand zu seiner Linken.
Paige schlich aus dem Raum. Sobald sie sicher war, dass niemand sie beobachtete, versuchte sie zu orben. Es funktionierte. Sie sah sich in dem Raum um und orbte erneut. Sie rannte zurück zu dem Tribunal. Tyler hatte seine Augen geschlossen und summte tiefe Töne. Sie schlug mit ihrer Pfote nach seinem Bein. Tyler öffnete die Augen. »Oh, habe ich dich ignoriert?«, fragte er. Er hob Paige hoch und hielt sie dicht an sein Ohr. »Swimmingpool. Drei hinreißende Frauen, die nackt baden. Zwei Stühle. Drei Palmen«, berichtete sie Tyler. »Nun?«, fragte Kuthra. »Du hast lange genug gezögert.« »Zuerst muss ich dem königlichen Schreiber dafür danken, dass er vorgeschlagen hat, ich soll mir diesen Raum ansehen, denn er ist eine Freude für das Auge«, sagte Tyler. »Aber hättest du nicht um die Erlaubnis dieser drei wunderschönen Damen bitten müssen? Ich hasse es, ihre Privatsphäre zu verletzen.« »W-was?«, stotterte Kuthra. »Vielleicht war dir nicht klar, dass der Raum besetzt ist?«, fragte Tyler. »Das wusste ich nicht, nein«, erwiderte Kuthra. »Du zögerst deine Antwort noch immer hinaus. Was befindet sich in diesem Raum?« »Ein Schwimmbecken. Die Palmen geben diesem Raum eine luftige Atmosphäre. Ein brillanter Dekorationseinfall. Du könntest allerdings noch ein paar zusätzliche Stühle gebrauchen«, fügte Tyler hinzu. »Ich weiß nicht, wer die drei Schönheiten sind, die dort baden, aber wenn du das nächste Mal jemand aufforderst, in diesen Raum zu sehen, solltest du sie warnen, damit sie die Chance haben, sich anzuziehen.« Ein Keuchen ging durch den Raum. »Der Fremde hat Recht! Er verfügt über magische Fähigkeiten.« »Ist er ein Zauberer oder ist er ein Schreiber?«, fragte Kuthra. »Wenn er ein Zauberer ist, der Bastet schaden will, muss er getötet werden.«
»Wenn du mir Stilus und Papyrus leihen würdest, könnte ich dir meine Kunstfertigkeit zeigen. Das wird beweisen, dass ich ein Schreiber – und loyal – bin.« Die beiden Schreiber sahen Kuthra an. Sie wussten offenbar nicht, was sie tun sollten. Tyler trat zu dem nächsten und nahm ihm Stift und Papier ab. Paige sah nervös zu. Das war ein Test, bei dem sie ihm nicht helfen konnte. Eine Minute später hielt Tyler ein mit Hieroglyphen bedecktes Stück Papyrus hoch. »Dies ist meine Lieblingspassage aus dem Totenbuch«, erklärte Tyler. Er ging zu Kuthra hinüber und übergab es ihm. »Wie du weißt, ist die Schrift selbst magisch.« Er drehte sich zu den anderen um. »Als Schreiber haben wir Zugriff auf die Symbole, die Macht enthalten«, sagte er. »Ich bin sicher, dass meine Fähigkeiten nichts im Vergleich zu jenen sind, über die diese verehrte Gruppe verfügt.« »Viel zu bescheiden«, sagte Paige zu Tyler. »Ich denke, ich sollte dich wegen Betrugs einsperren.« Tyler bückte sich und hob sie wieder auf. »Ist das alles?«, fragte er die Gruppe. »Denn wie ihr sehen könnt, würde meine Katze gern in ihren Raum zurückkehren.« »Das ist alles. Im Moment.« Kuthra funkelte Tyler an. Paige wusste, dass die anderen Schreiber beeindruckt waren, aber sie hatten den wichtigsten Mann im Raum zutiefst erzürnt. Das konnte sich noch negativ auswirken. Tylers ganzer bescheidener Auftritt konnte sich noch als Rohrkrepierer erweisen. Ein Mann in den Schatten trat vor. »Wesir«, rief Kuthra. »Ich hatte keine Ahnung, dass Ihr hier seid.« »Wesir?«, wiederholte Paige. »Ein hochrangiger Regierungsbeamter«, flüsterte Tyler. »Ich bin von unserem neuen Schreiber tief beeindruckt«, sagte der Wesir. »Ich möchte, dass er an allen königlichen Versammlungen teilnimmt.«
Ein weiteres Raunen ging durch den Raum. Das muss eine große Sache sein, dämmerte es Paige. Und eine, die Kuthra nicht glücklicher machte. »So wird es geschehen«, versicherte Kuthra. Er verbeugte sich knapp. Tyler ebenfalls. »Geh mit mir«, forderte der Wesir Tyler auf. »Wie Ihr wünscht«, antwortete Tyler. »Ein rechtzeitiger Abgang«, meinte Paige. »Ich denke, Kuthra steht kurz vor einer Explosion.« Der Wesir führte sie in den Nebenraum. »Ich war auf dem Weg zu meinem nächtlichen Bad. Möchtest du dich zu mir gesellen?« Tyler grinste. »Und ob!« »Nach der Beschreibung des Schwimmbades hätte ich darauf gewettet«, bemerkte Paige trocken. Der Wesir öffnete die Tür zu der großen Kammer. Paige sah sich um. Keine Nackten in Sicht. Die Frauen lagen jetzt um das gekachelte Becken herum und hatten sich in Handtücher gewickelt. Paige fielen fast die Augen aus dem Kopf, als der Wesir sein Lendentuch fallen ließ und ins Becken sprang. Ich schätze, sie haben hier etwas andere Moralvorstellungen, dachte sie. Trotz seines dunklen Teints konnte man erkennen, dass Tyler errötete. »Nun, worauf wartest du?«, stichelte Paige. »Ich dachte, du wolltest baden.« »Ich sollte besser nicht schwimmen gehen«, sagte Tyler zu dem Wesir. »Ich habe gerade gegessen, wisst Ihr. Meine Mutter hat mir eingeschärft, nach dem Essen mindestens eine halbe Stunde zu warten, bevor ich schwimmen gehe.« »Ganz wie du meinst«, erwiderte der Wesir. »Das Becken hier steht allen hochrangigen Beamten und ihren Familien zur Verfügung.« »Ein anderes Mal«, sagte Tyler. Er eilte so schnell aus der Kammer, dass Paige Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. »Langsamer, mein Junge«, rief sie. »Ich mag vier Beine haben, aber sie sind viel kürzer als deine.«
Tyler blieb stehen und wartete, bis Paige ihn einholte. »Ich schätze, du stehst Nacktbadestrände«, sagte Paige.
auch
nicht
besonders
auf
»Okay, ich bin eben ein wenig schüchtern«, gab Tyler zu. »Und jetzt, da ich weiß, dass du keine richtige Katze bist …« »Ich verspreche dir, dass ich mich umdrehe, wenn du deine Kleidung wechselst«, erklärte Paige. »Aber wir haben etwas viel Wichtigeres zu besprechen.« »Und das wäre?« »Das wäre die Tatsache, dass du den königlichen Schreiber erzürnt hast. Ihm hat es überhaupt nicht gepasst, dass du Punkte bei dem Wesir gesammelt hast.« »Ich weiß nicht. Diese Ämter werden lebenslänglich vergeben«, entgegnete Tyler. »Es ist nicht so, dass ich ihn ersetzen könnte.« »Vielleicht. Aber wäre es nicht besser, sich Freunde in hohen Positionen zu schaffen?« »Ich glaube nicht, dass das ein Problem ist«, versicherte Tyler ihr. »Ich werde eben hart arbeiten müssen, um ihn für mich zu erwärmen.« Sie betraten ihr Zimmer. Eine raschelnde Bewegung unter dem Bett ließ Paiges Fell zu Berge stehen. »Ein Skorpion!«, rief sie. »Nicht nur einer«, murmelte Tyler. Paiges Augen huschten die Wand hinauf zu der Stelle, auf die Tyler deutete. Sie entdeckte eine weitere der tödlichen Kreaturen auf der Bank des schmalen, hohen Fensters über dem Bett. Sie suchte den Raum ab und fand drei weitere der hässlichen Wesen. »Rühr dich nicht«, wies Tyler sie an. »Ein Skorpionstich kann dich binnen Minuten töten.« Paige musste das nicht zweimal gesagt werden. Sie erstarrte. Aber ihre Gedanken überschlugen sich. Was sollen wir jetzt tun?
12
KEINE PANIK«, SAGTE TYLER ZU PAIGE.
»
»Du hast leicht reden. Du bist viel größer als ich.« »Unterdrücke den Katzeninstinkt, dich auf bewegliche Beute zu stürzen«, wies Tyler sie an. »Keine Sorge«, versicherte Paige ihm. »Ich habe bestimmt nicht vor, diese Viecher anzugreifen. Ich mache mir viel mehr Sorgen darüber, dass sie mich angreifen.« »Es gibt Zauber, mit denen sich Skorpione abschrecken lassen«, murmelte Tyler. »Ich glaube, ich kann mich an einen erinnern.« »Aber, Tyler, du bist nicht wirklich ein magischer Schreiber«, kreischte Paige. »Das war nur vorgetäuscht, um zu verhindern, dass wir getötet werden.« »Ich muss es versuchen. Du sagtest, dass ich vielleicht über latente Kräfte verfüge.« »Das habe ich nur gesagt, damit du dich besser fühlst«, gestand Paige. »Toll. Zerstör ruhig mein Selbstvertrauen.« »Schön. Versuch’s. Ich werde dir nach Kräften helfen.« Erneut spürte Paige, wie Tylers Gedanken in ihren Geist eindrangen. Macht der Katze, vereinige dich mit mir. Verbanne diese Skorpione von hier. Er machte einige seltsame Bewegungen mit seinen Fingern, als würde er Symbole in die Luft schreiben. Dabei wiederholte er die ganze Zeit die Formel, zapfte Paiges Macht an und zeichnete wieder und wieder die unsichtbaren Symbole. Nacheinander krochen die Skorpione zu dem hohen Fenster hinauf und verschwanden nach draußen. Kurz darauf war der Raum wieder eine skorpionfreie Zone. Paige starrte Tyler an. »Wie hast du das …?«
Er schnitt ihr das Wort ab. »Warte.« Er stieg aufs Bett, befeuchtete seine Finger und zeichnete Symbole rund um das Fenster. Dann machte er dasselbe am Boden und am Türrahmen. »So. Das sollte sie abschrecken.« »Was hast du getan?«, fragte Paige, sobald er sie den Satz beenden ließ. »Ich habe mich an die Hieroglyphen des Schutzes und der Skorpione erinnert. Also habe ich beide zusammengefügt, um diesen Raum vor Skorpionen zu schützen.« »Das war sehr gerissen.« Paige war beeindruckt. Und jetzt wusste sie mit Sicherheit, dass Tyler über magische Fähigkeiten verfügte; sonst hätte der Schutzzauber nicht funktioniert. »Kannst du uns auch vor dem königlichen Schreiber schützen?«, fragte sie. »Vielleicht schickt er das nächste Mal etwas, das sich nicht so leicht bezwingen lässt.« »Ich denke, du irrst dich, was ihn angeht«, sagte Tyler. »Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass Kuthra hinter dem Anschlag mit den Skorpionen steckt.« »Mir fallen mehrere Gründe ein«, konterte Paige. »Der wichtigste ist, dass er seine Stellung schützen will. Politische Gegner haben sich in den alten Zeiten immer bekämpft. Hast du jemals Shakespeare gelesen?« »Paige, wir können nicht Kuthra die Schuld an der Skorpioninvasion geben«, sagte Tyler. »Skorpione sind in Ägypten so weit verbreitet, dass es sogar offizielle Skorpionbekämpfer gibt. Warum sollte es sonst so viele Zauber und Amulette zum Schutz vor ihnen geben?« »Vielleicht …«, räumte Paige widerwillig ein. »Aber solange wir hier festsitzen, möchte ich, dass du sehr vorsichtig bist. Ich will nicht ein einziges meiner neun Leben verlieren.« »He, nicht so grob!«, beschwerte sich Piper. »Wir kommen freiwillig mit.« Pipers Handgelenke waren wund vom schraubstockartigen Griff der Wache. Im Eiltempo wurden sie irgendwohin gebracht.
Sie hatten eine große Eskorte. Sie und Phoebe wurden nicht nur von je einer Wache begleitet, die ihre Handgelenke mit einem kratzigen Strick gefesselt hatte, sondern es gab noch weitere Wachen vor, neben und hinter ihnen. Alle trugen Speere. »Es ist, als wären wir die Staatsfeinde Nummer eins«, flüsterte Phoebe. »Wir werden keinen Fluchtversuch wagen«, versprach Piper dem Wächter, der ihre Stricke hielt. »Könntest du die Fesseln vielleicht ein wenig lockern?« Der Wächter grunzte. »Wir hatten vorher noch nie unbefugte Eindringlinge im Tempel, aber seit gestern hatten wir drei. Wir gehen kein Risiko ein.« Piper und Phoebe wurden durch einen langen, von leeren Zellen mit dicken Eisengittern gesäumten Korridor geführt. Der Zellenblock war dunkel und muffig. Die einzigen Fenster waren schmale Schlitze in den Lehmziegeln unter der Decke. Ein paar auf dem Boden stehende Öllaternen verbreiteten flackerndes Licht, warfen seltsame tanzende Schatten und erhellten den sandigen Staub, den ihre Füße aufwirbelten. Piper rümpfte die Nase. Welches Öl auch immer in diesen Laternen verbrannt wurde, es erfüllte den engen Raum mit einem durchdringenden Geruch. Die Wachen stießen Phoebe und Piper in die allerletzte Zelle und warfen die eiserne Gittertür zu. Als sich die Wachen abwandten, rief Piper: »Wartet! Warum werden wir eingesperrt?«, fragte sie zum etwa hundertsten Mal. »Wir wollten nicht unbefugt eindringen.« Einer der Wächter – der große, stämmige – blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Er trat einen Schritt näher. Der Rest hielt sich im Hintergrund. Sie schienen Angst zu haben, denn sie hielten weiter ihre Speere auf Piper und Phoebe gerichtet und drängten sich dicht zusammen. Der stämmige Wächter funkelte sie an. »Unbefugtes Eindringen ist das geringste eurer Verbrechen.« »Wie meinst du das?«, fragte Phoebe. »Was haben wir denn getan?«
»Wir haben euch beobachtet«, knurrte der Wächter. »Ihr habt die heilige Tempelkatze gestohlen.« »Aber …«, wollte Piper protestieren, doch der Wächter schnitt ihr das Wort ab. »Einer Katze etwas zu Leide zu tun, ist ein schreckliches Vergehen. Es wird mit dem Tod bestraft.« Pipers Augen weiteten sich. Sie steckten also in derart großen Schwierigkeiten? Weil sie das schändliche Verbrechen des Katzennappings begangen hatten? Er musste Witze machen. Okay, nach diesem grimmigen Gesichtsausdruck zu urteilen, ist er kein Mann, der Scherze macht, dämmerte es Paige. »Wir würden einer Katze niemals etwas zu Leide tun«, sagte sie und klammerte sich an die Gitterstäbe. »Wir lieben Katzen«, erklärte Phoebe. »Um genau zu sein«, fuhr Piper fort, lehnte einen Ellbogen an den Gitterstab und bemühte sich um einen ruhigen, freundschaftlichen Tonfall, »du wirst es vielleicht nicht glauben, aber ich schwöre, dass es stimmt.« Sie lachte kurz. »Wir waren in dem Tempel, weil wir auf der Suche nach unserer eigenen Katze waren.« »Das ist die reine Wahrheit!«, fügte Phoebe hinzu. »Wir waren am Boden zerstört, als unsere Katze verschwand, und jemand hat uns gesagt, dass er sie hier im Tempel gesehen hat.« »Sie sieht genau wie unsere Katze aus. Es war nur eine Verwechslung«, sagte Piper. »Ehrlich«, bekräftigte Phoebe. Der Wächter kaufte es ihnen nicht ab. Er kniff vor Zorn die Lippen zusammen. »Haltet ihr mich etwa für einen Narren? Fügt nicht noch Lügen zur Liste eurer Vergehen hinzu! Seht euch doch an!« Piper strich selbstbewusst ihre langen Haare glatt. »Nun, wir waren beschäftigt und ich hatte keine Gelegenheit, mein Make-up aufzufrischen oder mein Haar zu kämmen.« »Wie ihr gekleidet seid. Wie ihr redet. Und eure Magie!«
»Magie?« Piper zuckte zusammen. Sie hoffte nur, dass er nicht bemerkt hatte, wie sie materialisiert und wieder entmaterialisiert waren. Der Wächter umklammerte seinen Speer so heftig, dass seine dunklen Knöchel weiß wurden. »Das kann nur eins bedeuten. Ihr beide seid Dämonen, die gegen unsere große Katzengöttin Bastet kämpfen.« »Wir sind keine Dämonen!«, protestierte Piper. »Du hast keine Ahnung, wie sehr du dich irrst!« »Wir gehören zu den Guten!«, rief Phoebe. »Die königlichen Priester werden wissen, was man mit Kreaturen wie euch macht«, knurrte der Wächter. Er fuhr herum und klatschte in die Hände. Alle Wachen marschierten den Korridor hinunter. »Wartet! Bitte! Wir haben noch immer nicht unsere Katze gefunden!«, schrie Phoebe ihnen nach. »Gib’s auf.« Piper sank bedrückt auf die harte Pritsche. Sie wand sich, während sie versuchte, eine bequeme Position einzunehmen. Es war nicht einfach. Das Bett bestand nur aus einem Holzgestell, das kreuz und quer mit Lederstreifen bespannt war. Sehen alle Betten im alten Ägypten so aus, oder ist diese Pritsche ein Teil der Strafe für die Gefangenen?, fragte sie sich. An einem Ende der Pritsche befand sich eine harte, hölzerne Kopfstütze. Sie lehnte ihren Ellbogen darauf und stützte ihren Kopf auf ihre Hand. »Und was machen wir jetzt?«, fragte Phoebe, während sie sich auf den Boden setzte und sich an die Pritsche lehnte. »Paige muss hier irgendwo sein«, sinnierte Piper. »Wir müssen sie finden und dann von hier verschwinden.« »Das ist nicht gerade eine Neuigkeit«, brummte Phoebe. »Wie machen wir das, bevor wir zum Tode verurteilt werden, weil wir einer Katze etwas angetan haben?« Sie blickte zu Piper auf. »Meinst du nicht auch, dass sie die Tierrechte etwas extrem auslegen?« Piper hörte nicht mehr zu. Ihre Aufmerksamkeit war auf etwas anderes gerichtet. »Sieh dir all diese Zeichnungen an«, sagte sie. Die gesamte Zelle war von ihnen bedeckt. »Glaubst du, die Gefangenen haben sie gemacht, um sich die Zeit zu vertreiben?«
Phoebe zuckte die Schultern. »Ich frage mich, wie viel Zeit von der Verhaftung bis zum Vollzug des Todesurteils vergeht. Du hast gehört, dass man uns zum Tode verurteilen wird, nicht wahr, Piper?« »Ja, Phoebe, das habe ich gehört.« Piper stand auf und streckte sich. »Ich habe mir nur eine kleine Atempause gegönnt und die Graffiti angesehen. Okay. Ich bin wieder im Krisenmodus.« Piper wanderte durch die Zelle. Überall entdeckte sie noch mehr Zeichnungen, noch mehr Symbole, noch mehr Bilder von wild aussehenden Fantasiekreaturen. Sie waren irritierend. Piper wandte sich Phoebe zu, um sie nicht mehr sehen zu müssen. »Wir sollten in der Lage sein, uns mit unseren magischen Kräften zu befreien. Sobald wir das getan haben, suchen wir Paige.« »Klingt nach einem Plan!« Phoebe richtete sich auf. »Also … was ist deiner Meinung nach der beste Weg, hier auszubrechen?« »Schade, dass es Paige ist, die verschwunden ist«, grübelte Piper. »Sie würde uns hier herauszaubern oder den Schlüssel herbeizaubern.« »Ich kann mich nicht erinnern, dass der Wächter die Tür abgeschlossen hat«, sagte Phoebe. »Vielleicht wurde er von unserer schrecklichen Erscheinung abgelenkt! Oh, es kann nicht so einfach sein!« Piper trat an die Tür und stemmte sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen. Sie gab nicht nach. »Okay. Es ist also nicht so einfach.« »Wie wäre es mit einem Zauber?«, schlug Phoebe vor. »Sei mein Gast«, erwiderte Piper und winkte ihre Schwester zur Tür. »Äh, mal sehen. Okay.« Phoebe räusperte sich. »Öffne die Tür, öffne das Tor. Dies ist eine Krise. Wir müssen von hier fort.« »Auf den Punkt gebracht«, bemerkte Piper. Phoebe wiederholte die Zauberformel und Piper fiel ein. Ein kleiner Magiestoß schoss durch ihren Körper. »Au!« Sie schrie auf und wich zurück. Sie hatte das Gefühl, einen elektrischen Schlag bekommen zu haben! Phoebe wirkte ebenfalls benommen. Ein dünner Rauchfaden stieg von der Tür auf und Piper
roch etwas, das sie an ein durchgeschmortes Stromkabel zu Hause erinnerte. »Es ist, als hätte der Zauber einen Kurzschluss erzeugt«, sagte Phoebe. Piper trat an die Tür und achtete darauf, sie nicht zu berühren. Sie sah sich um. Die Seitenwände und das Wandstück über der Tür waren ebenfalls mit Hieroglyphen bedeckt. »Weißt du, ich habe das komische Gefühl, dass das keine gewöhnlichen Graffiti sind.« »Wie meinst du das?« Piper drehte sich zu ihrer Schwester um. »Ich halte diese Zeichnungen für Zauber. Ich denke, wir befinden uns in einer Zelle, die speziell für Hexen gebaut wurde.« »Das ist nicht so gut«, stöhnte Phoebe. »Das kannst du laut sagen.« Als Phoebe ihren Mund öffnete, hob Piper eine Hand. »Aber tu mir einen Gefallen und mach es nicht.« Phoebe ließ sich auf die Pritsche fallen. »Au!« »Tut mir Leid«, sagte Piper. »Ich hätte dich vor dem Bett warnen sollen.« Phoebe rieb sich das Gesicht. »Ich weiß, dass es einen Witz gibt, in dem es darum geht, das Bett zu machen und sich hineinzulegen, aber er fällt mir im Moment nicht ein.« »Danke für deine Zurückhaltung«, brummte Piper. »Denn in einer antimagischen Zelle gefangen zu sein, ist nicht besonders komisch.«
13
PHOEBE WAR ENTSCHIEDEN GELANGWEILT. Sie war es leid, die Hieroglyphen der unheimlich aussehenden Kreaturen zu studieren, die die Zellwände bedeckten. Einige von ihnen waren an den unmöglichsten Stellen angebracht, und ihr ganzer Körper war verspannt vom Herumkriechen und dem Versuch, ihre Bedeutung herauszufinden. Und sie hatte es endgültig satt zu schwitzen. Ihr Zwölfstundendeo machte zweifellos Überstunden. Und ich wäre glücklich, wenn ich in meinem ganzen Leben keinen Sand mehr sehen müsste, dachte sie, als sie den Dreck von ihren Handflächen wischte. Sand war in ihren Haaren, ihren Augen, ihrem Mund und ihrer Kleidung. Es würde einige Zeit dauern, bis sie wieder an den Strand gehen würde. Phoebe richtete sich ächzend auf. Sie sah zu Piper hinüber, die auf dem unbequemen Bett hockte. Ihre Schwester saß schon seit über einer Stunde bewegungslos da. »Äh, Piper, bist du okay?«, fragte Phoebe. »Wir sitzen schon eine ganze Weile hier fest«, sagte Piper ins Leere starrend. »Ich bin überzeugt, dass Paige nichts passiert ist«, versicherte Phoebe ihrer Schwester. Piper errötete. »Ich dachte eher daran, dass Leo die ganze Zeit mit Kitty allein ist.« »Oh, Schätzchen.« Phoebe setzte sich zu Piper auf die Holzpritsche. »Du hast absolut keinen Grund, dir Sorgen zu machen.« »Hast du gesehen, wie sie sich ihm an den Hals geworfen hat?«, protestierte Piper. »Sie kann sich ihm an den Hals werfen wie sie will, Leo wird nicht darauf eingehen«, beruhigte Phoebe sie. »Und sobald wir nach Hause kommen, werden wir sie wieder in ein Kätzchen verwandeln.« »Und das wird keinen Moment zu früh sein«, knurrte Piper. »Denn Leo scheint wie Katzenminze auf sie zu wirken.« Phoebe runzelte die Stirn. »Etwas ist seltsam hier.«
»Hier ist alles seltsam«, sagte Piper. »Ich meine zu Hause.« »Ich weiß. Ich habe mir gerade deswegen Sorgen gemacht, schon vergessen?« »Der Zauber.« Phoebe erhob sich und ging auf und ab. »Der Zauber hätte eine Katze nicht in einen Menschen verwandeln dürfen.« Piper sah Phoebe einen Moment an und kniff die Augen zusammen, während sie sich die Worte der Zauberformel zurück ins Gedächtnis rief. »Du hast Recht. Er diente dazu, nach einer Transformation jemand zurück in seine Originalgestalt zu verwandeln.« Phoebe nickte. »Genau. Das bedeutet, dass Kitty ursprünglich ein Mensch war.« »Also haben wir gar nicht eine Katze in einen Menschen verwandelt«, sagte Piper bedächtig. »Wir haben eine Frau gesehen, die eine Katze war und sich wieder in ihr altes Selbst zurückverwandelte.« Piper schnaubte. »Ich frage mich, ob sich auch irgendeine altägyptische verantwortungslose Schwester versehentlich in eine Katze verwandelt hat.« Phoebe lachte. »Schwer vorstellbar, dass so etwas häufig geschieht.« Ein Krachen auf dem Gang ließ sie zusammenzucken. Phoebe spähte durch die Gitterstäbe ihrer Zelle. Eine junge Frau – kaum mehr als ein Teenager – stand auf dem Korridor, umgeben von den Scherben eines zerbrochenen Tonkrugs. Der Krug, den sie fallen gelassen hatte, musste Wasser enthalten haben, denn auf dem Boden war eine größer werdende Pfütze zu sehen. Sie starrte Phoebe mit aufgerissenen dunklen Augen an. »Bist du okay?«, fragte Phoebe die Frau. »Habt ihr eben gesagt, dass ihr gesehen habt, wie eine Katze in eine Frau zurückverwandelt wurde?«, fragte die junge Frau mit bebender Stimme. »Eine Katze aus unserem Tempel?«
»Ja«, bestätigte Phoebe. »Warum? Weißt du etwas über diese Katze?« Die Frau blickte verängstigt drein. »Was ist los?«, fragte Piper und sprang von der Pritsche auf. »Warum ist diese Neuigkeit so beunruhigend?« »Wir müssen es sofort der Hohe Priesterin Tipket erzählen!«, sagte die junge Frau. »Aber warum?«, fragte Phoebe. »Bitte«, flehte Piper. »Wir haben sie mit meinem Mann allein gelassen. Wenn sie eine Gefahr darstellt, müssen wir es wissen.« Die junge Frau ging vorsichtig um die Tonscherben herum und trat zu Piper und Phoebe. »Ich sollte nicht einmal mit euch sprechen. Ihr seid Gefangene.« »Vielleicht können wir helfen«, sagte Phoebe zu ihr. »Wer ist Tipket?« »Tipket ist die Hohe Priesterin des Tempels der Bastet, der Katzengöttin. Unsere Gemeinde dient ihr.« »Kein Wunder, dass es in dieser Stadt so strenge Gesetze für den Umgang mit Katzen gibt«, stellte Piper fest. »Diese Frau – die eine Katze gewesen ist – ihr Name ist Hoptith. Sie ist furchtbar böse. Tipket hat sie in eine Katze verwandelt, um unsere Stadt und die Götter selbst zu beschützen.« »Oh, jetzt fühle ich mich nicht unbedingt besser.« Piper setzte sich auf das Bett. Sie zog ihre Knie an die Brust und legte ihren Kopf auf ihre Arme. Phoebes Aufmerksamkeit konzentrierte sich derweil auf etwas ganz anderes. Die wunderschöne Frau, die Phoebe zum letzten Mal auf ihrem Dachboden gesehen hatte, stand plötzlich in dem Korridor hinter der jungen Magd und lächelte verschlagen. Zu allem Überfluss war sie nicht allein. Sie hatte einen schleimigen grünen Dämon mitgebracht.
14
PIPER«, ZISCHTE PHOEBE. »Steh auf, sofort.«
»
»Was?«, stöhnte Piper und drehte sich auf der Pritsche um. »Kann ich mich nicht mal eine Minute ausruhen?« »Nein, denn wir haben ein großes Problem direkt vor uns.« Pipers Kopf ruckte hoch. Sie starrte die Frau an, die noch vor kurzem eine Katze gewesen war. Sie sprang von der Pritsche. »Was hast du mit Leo gemacht?«, schrie Piper die Frau an. Wie hatte sie nur ihren Mann mit dieser Zauberin allein lassen können? »Wenn du ihm irgendetwas angetan hast, werde ich …« Die Frau gab ein tiefes, kehliges Lachen von sich. »Du wirst was? Mich mit einem Zauber belegen? Das denke ich nicht.« Die Magd presste sich vor Furcht zitternd an die Lehmwand. Piper nickte ihr knapp zu, um ihr zu bedeuten, dass sie davonlaufen und Hilfe holen sollte, zum Beispiel diese Frau namens Tipket. Aber die Magd hatte zu viel Angst. Sie sank auf den Boden, barg ihr Gesicht in den Händen und wimmerte. Hoptith und der Dämon ignorierten sie und sahen weiter Piper und Phoebe an. Hoptith trat zu der Zelle und blieb zwei Schritte vor Piper stehen. »Keine Sorge. Ich habe deinem Gefährten nichts getan.« »Ehemann«, korrigierte Piper. Aber die Tatsache, dass er ein verheirateter Mann war, würde diese Frau natürlich nicht abschrecken. Hoptith strich ihren langen schwarzen Zopf zurück. »Dein Leo ist überaus anziehend. Es wäre eine Schande, ihm etwas zu Leide zu tun. Ich habe ihn nur … aus dem Weg geräumt.« Sie warf ihren Zopf über die Schulter. »Ich denke, wenn ich in eure Zeit zurückkehre, werde ich ihn behalten. Zweifellos wird er mich dir vorziehen.« »Darauf würde ich nicht wetten«, fauchte Piper. Die Frau lachte leise. »Ich bin unwiderstehlich; er wird mir danken.«
Sie schnippte mit den Fingern und ein verzierter, mit glitzernden Edelsteinen besetzter Spiegel erschien in ihrer Hand. Sie lächelte ihr Spiegelbild an. »Ja. Wie in meiner Erinnerung. Und meine Kräfte sind nach der langen Zeit nicht eingerostet.« Sie senkte abrupt den Spiegel und ließ ihn wieder verschwinden. »Es war richtig von mir, mich dir anzuschließen, Hoptith«, sagte der Dämon. Er trat näher an die Zelle. Instinktiv wich Piper zurück. Sein fauliger Gestank stieg ihr in die Nase. »Du hast gute Arbeit geleistet.« Hoptiths Blick wanderte von Piper zu Phoebe. »Das sind also diejenigen, die du die Zauberhaften nennst, Kraken. Komisch, sie sehen so gewöhnlich aus.« »Lass dich nicht von unserem Aussehen täuschen«, fauchte Piper. »Wir können böse zuschlagen.« »Ich dachte, du sagtest, es gibt drei von ihnen«, wandte sich Hoptith an Kraken. »So ist es auch«, nickte Kraken. »Aber zwei sind genug für meine Zwecke.« »Und auch für meine.« Sie sah den Dämon an. »Du wirst dein Versprechen halten.« »Gewiss. Du lieferst mir die Hexen aus und ich verleihe dir neue Kräfte.« Piper grinste höhnisch. »Was für Kräfte könntest du ihr schon verleihen?« Sie erinnerte sich an die Einzelheiten, die ihnen Cole über diese Dämonenspezies erzählt hatte. »Er hat keine eigenen Kräfte«, sagte sie zu Hoptith. »Das stimmt!«, bekräftigte Phoebe. »Er treibt sich nur in der Nähe von stärkeren Wesen herum, um ihre Magie anzuzapfen.« Piper sah den winzigen Funken eines Zweifels in Hoptiths gelb gefleckten Augen aufglimmen. Ihre Worte zeigten Wirkung. Wenn wir einen Keil zwischen Hoptith und diesen Dämon treiben können, haben wir vielleicht eine Chance, dachte Piper.
Sie lächelte spöttisch. »Ich weiß nicht, woher du deine Information hast, aber dieser Kerl und seine Kumpel sind alles machtlose Kleingeister.« »Hör nicht auf sie«, knurrte der Dämon. »Da haben wir wohl einen Nerv getroffen, Fischgesicht?«, stichelte Phoebe. »Still!«, befahl Hoptith. Sie zeigte mit ihrem kleinen Finger auf Kraken. Funken knisterten, als sie ihn vom Boden hob. Wenigstens hat das die Magd aufgeschreckt, bemerkte Piper. Die junge Frau kroch so schnell wie möglich auf Händen und Knien davon. Der Dämon hing in der Luft. »Welche Kräfte kannst du mir anbieten?«, donnerte Hoptith. »Bitte, lass mich runter«, flehte Kraken mit erstickter Stimme. Das, was ihn in der Luft hielt, schien ihm die Kehle zuzuschnüren. »Ich frage dich – sagen diese Hexen die Wahrheit?« Der Dämon griff nach seinen zuckenden Kiemen. »Ich habe vielleicht kein Prestige und keinen hohen Rang, aber ich versichere dir, ich verfüge über Kräfte. Gestohlene, ja. Doch ich kann sie weitergeben.« Hoptith stellte ihn wieder auf den Boden. Sie ging dabei nicht sanft mit ihm um. Er landete mit einem dumpfen Aufschlag, fiel auf den Rücken und schnappte nach Luft. Hoptith stand über ihm und funkelte ihn an. »Wenn ich herausfinde, dass du gelogen hast, werden du und deine Brut es bereuen. Hast du verstanden?« »Ja«, murmelte Kraken. »Ja was?« Hoptith trat ihn. »Ja, Ehrwürdige und Verehrte, deren Macht die Sonne verdunkelt, Hoptith, Königin des Chaos.« »Wow. Das ist mal ein einfallsreicher Titel«, kommentierte Piper.
»Glaubst du, dieser Titel passt auf eine Visitenkarte?«, murmelte Phoebe. Hoptith erlaubte Kraken, wieder auf die Beine zu kommen, aber sie wirkte noch immer verärgert. »Ich mache mir Sorgen, dass dein niederer Rang meine hohe Position unterminiert«, klagte sie. »Aber Königin des Chaos«, protestierte Kraken, »sobald ich diese Hexen vernichtet habe, werde ich der Herr der Unterwelt sein.« »Hmm.« Hoptith legte ihren Kopf zur Seite und musterte ihn. »Außerdem bin ich der Einzige, der dich zu dieser neuen Welt zurückbringen kann. Wo dich niemand in eine Katze verwandeln wird.« Hoptith nickte. »Du bist also doch von Nutzen. Und was für eine Welt«, schnurrte sie. »So viel zu erobern. So viel Macht, die sich anzapfen lässt.« Interessant. Hoptith kann nicht aus eigener Kraft durch die Zeit reisen. Piper speicherte diese Information für den späteren Gebrauch. Hoptith lächelte zufrieden und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Piper und Phoebe. »Ich nehme an, ich sollte euch danken«, sagte sie zu ihnen, »dass ihr mir meine natürliche Gestalt zurückgegeben habt.« Sie lächelte mit glitzernden gelb gefleckten Augen. »Ich bin wirklich atemberaubend, nicht wahr?« Sie drehte sich vor der Zelle im Kreis. Offenbar genoss sie es, wieder ein Mensch zu sein. Piper wich vor der Frau zurück. Sie konnte das Böse spüren, das von ihr ausging. Warum hatte sie es vorher nicht bemerkt? »Wenn du so dankbar bist, warum lässt du den Dämon nicht fallen und arbeitest mit uns zusammen?«, schlug Piper vor, noch einmal an Hoptiths Machthunger appellierend. »Oh, das würde nichts bringen«, sagte Hoptith. »Ich muss mich wieder an die Arbeit machen. Gute Hexen würden da nur stören.« »Was für eine Arbeit ist das?« Jetzt versuchte Piper nur Zeit zu schinden, während sie fieberhaft überlegte, wie sie Hoptith und Kraken bekämpfen konnten. Sie hoffte, dass Phoebes Verstand besser funktionierte als ihrer.
»Diese törichte Tipket, die Hohe Priesterin, hat sich mir in den Weg gestellt. Ich sollte etwas gegen sie unternehmen, solange ich hier bin.« »Wie hat sie sich dir in den Weg gestellt?«, fragte Phoebe. »Ich habe mit hochrangigen Dämonen zusammengearbeitet«, erklärte Hoptith stolz. »Mich in den schwarzen Künsten geübt. Tipket ertappte mich bei einem meiner Rituale. Mein Ziel war es, die Götter der Ordnung zu stürzen und meine Herrschaft des Chaos zu errichten. Und ich hätte gesiegt – wäre ich nicht gestört worden. Jetzt kann ich meinen Plan doch noch verwirklichen.« »Dein Plan wird Erfolg haben«, versicherte Kraken ihr. Was für ein Speichellecker, dachte Piper. »Ich spüre Macht in diesen beiden«, sagte Hoptith. »Sie sind stark.« »Sie haben viele Dämonen getötet«, warnte Kraken. »Dann werden wir sie aus sicherer Entfernung erledigen«, erwiderte Hoptith. »Was hast du vor?«, fragte der Dämon. »Wir werden die Zauberformeln so anwenden, wie sie angewendet werden sollen. Siehst du diese Zeichnungen?« Hoptith wies auf die Bilder, die die Zellenwände bedeckten. »Ja.« Kraken nahm jedes ihrer Worte gierig in sich auf. Genau wie Piper, doch sie tat es aus einem ganz anderen Grund. »Wenn ich sie in Verbindung mit dem richtigen Ritual benutze, kann ich die Macht entfesseln, die in diesen Symbolen steckt«, erklärte Hoptith. Der Dämon rieb sich die mit Schwimmhäuten versehenen Hände. »Das würde ich gern sehen.« »Ermutige sie nicht«, fauchte Piper den Dämon an. Sie hatte es gewusst! Sie hatte gewusst, dass diese Hieroglyphen nicht nur der Dekoration dienten. »Ho Tyranto Klepanth, Wehsk calorinto sei«, sang Hoptith.
Piper griff nach Phoebes Arm. Die Wände der Zelle schienen zu schwanken. »W-was passiert?«, stotterte sie. »Ich denke, diese Zelle wird gleich völlig überfüllt sein«, erwiderte Phoebe. Piper konnte es nicht glauben. Sie starrte die Zeichnung vor ihr an: Die fremdartige Kreatur hatte den Körper eines Menschen, aber den Kopf eines Wolfes. Sie verfolgte, wie sich das Bild wand und veränderte. Es wurde größer und größer, und während es sich ausdehnte, wurde es dreidimensional. Die Kreatur sprang von der Wand und fletschte die Zähne. Geifer tropfte von ihren spitzen Zähnen und ein fauliger Gestank erfüllte die Zelle. Die Zeichnungen an den Wänden erwachten zum Leben!
15
M
» ANN, DU SOLLTEST ETWAS gegen deinen Mundgeruch tun«, sagte Piper zu dem Wolfsmenschen. Sie streckte die Hände aus und zerschmetterte die Kreatur augenblicklich. Jetzt, da sie die Fähigkeit hatte, Moleküle derart schnell zu beschleunigen, dass sie explodierten, konnte sie Monster erledigen, ohne hinterher sauber machen zu müssen. »Nach links!«, schrie Phoebe. Piper warf sich zur Seite und entging knapp einem leuchtenden Energieball. Er sauste an ihr vorbei, prallte aber von der Zellentür ab und schoss als Querschläger durch den kleinen Raum. »Jesses!« Piper ließ sich zu Boden fallen und schützte ihren Kopf mit den Händen. »Die Inschriften!«, rief Phoebe. »Sie lenken die Energiebälle ab.« »Dann hör auf, sie damit zu bewerfen!«, befahl Piper vom Boden aus. »Was soll ich denn dann …?« Phoebe brach ab. »Über dir!« Piper warf sich herum und blickte gerade rechtzeitig auf, um eine Schlange von der Decke auf sie fallen zu sehen. Sie war zu nah, um sie zu zerschmettern – sie wollte nicht, dass sie von herumfliegenden Schlangensplittern verletzt wurde – und so fror sie sie ein. Sie blieb dicht über ihrem Kopf in der Luft hängen. Die Zelle war eine Masse aus wirbelnden Kreaturen. Die Zeichnungen schimmerten und wuchsen, und während sie zum Leben erwachten, verstärkte eine ohrenbetäubende Kakophonie aus tierischem Geheul und Geschrei Pipers Entsetzen noch. Phoebe schmetterte ein Monster mit zwei eingedrückten Schweineköpfen gegen die Wand. Beim Aufprall ging es – in Flammen auf, die kurz darauf wieder erloschen. »Ich habe noch nie erlebt, dass ein Dämon so etwas getan hat«, brüllte Phoebe über das Heulen und Schreien. »Das sind keine normalen Dämonen«, brüllte Piper zurück.
Piper blies ihre Haare aus den Augen, denn sie wagte es nicht, ihre Hände für etwas anderes als für den Kampf zu benutzen. Ein Falke mit dem Gesicht einer verrückten Frau schlug ihr seine Schwingen ins Gesicht, und sie sah, dass seine Krallen rasiermesserscharf waren. Sie riss eine Hand hoch und schleuderte ihn durch den Raum, doch er fing sich und griff sie erneut an. Sie duckte sich und fuhr herum, und diesmal gelang es ihr, ihn zu zerschmettern. Sie wirbelte herum und sah, wie ein Miniaturalligator Phoebe mit seinem peitschenden Schwanz von den Beinen riss. Kaum lag Phoebe auf dem Boden, sprang ein bösartiger Affe mit durchsichtigen Augen auf sie. Phoebe stieß einen Schrei aus, und Piper kroch zu ihr aus Angst, dass sie in dem engen Raum ihr Ziel verfehlte und die Energie, die sie schleuderte, wie die Energiebälle abprallte und Phoebe verletzte. Piper rammte den Affen und Phoebe trat dem Alligator wuchtig gegen die Schnauze. Er richtete sie auf, krachte dann zu Boden und verfehlte Phoebe nur knapp, als sie zur Seite rollte. »Wir haben nicht genug Platz zum Kämpfen!«, keuchte Piper. Sie fror weiter die Kreaturen ein, statt sie explodieren zu lassen. Doch die Magie, die diese gnadenlosen Monster erschuf, schwächte ihre Kräfte. Die Wesen blieben nur vorübergehend erstarrt. Aber wenn sie versuchte, sie explodieren zu lassen, detonierten sie mit Wucht – und gingen in Flammen auf. Eine gefährliche Sache in dem winzigen Raum. Phoebe kämpfte auf altmodische Weise – mit Tritten, Bissen und Schlägen, wann immer sie welche landen konnte. Es schien die Kreaturen zu verwirren, als wären sie an magische Schlachten und nicht an Kämpfe mit Gegnern aus Fleisch und Blut gewöhnt. Piper wünschte, sie hätte wie Phoebe einen Selbstverteidigungskurs absolviert – diese Fähigkeiten wären ihr in diesem Kampf auf engstem Raum gelegen gekommen. Ein gedrungenes, geflügeltes Nilpferd erschien, und Piper wich zur Zellentür zurück. »Yow!«, schrie sie, als sie einen Stromschlag erhielt, als hätte sie einen elektrischen Zaun berührt. Genau das war auch der Zweck der Schutzzauber. Sie hörte hinter sich einen Singsang. Ihr Mut sank. Oh, nein. Ist Hoptith zurückgekommen? Was wird sie uns jetzt antun?, fragte sie sich im Stillen.
Das Nilpferd löste sich aus seiner Erstarrung, griff sie wieder an und drückte sie gegen die Tür. Aber diesmal erhielt sie keinen Stromschlag. Stattdessen schwang die Zellentür auf und Piper fiel rücklings auf den Boden des Korridors. »Hört nicht auf, gegen sie zu kämpfen«, sagte eine Frau hinter ihr. »Es wird ein paar Minuten dauern, sie in Zeichnungen zurückzuverwandeln.« »Verstanden«, erwiderte Piper. Sie wusste nicht, was die Frau getan hatte, um ihnen die Flucht aus der Zelle zu ermöglichen, aber sie war dankbar. »Phoebe! Komm zur Tür! Wir können raus!« Phoebe rollte zur Seite und wich einem weiteren bösartigen Affen aus, und diesmal schleuderte Piper einen Energieball nach der Kreatur. Direkter Treffer. Phoebe rannte aus der Zelle. »Versucht, sie am Verlassen der Zelle zu hindern«, befahl die Frau. Piper konnte aus den Augenwinkeln sehen, dass die Magd zurückgekehrt war und jemand mitgebracht hatte. Eine hoch gewachsene, kräftige Frau mittleren Alters stand im Gang, gestikulierte mit der Hand und intonierte einen gebieterischen Singsang. »Wir werden unser Bestes tun!«, versprach Phoebe. Sie und Piper arbeiteten zusammen, um die Monster zurückzuschlagen, die aus der Zelle zu entkommen versuchten. Piper fror einige ein und zerschmetterte andere, während Phoebe einen Energieball nach dem anderen abfeuerte. Sie ist praktisch eine Energieballfabrik, stellte Piper fest. Nacheinander schimmerten die Kreaturen auf, schrumpften und kehrten an die Zellenwände zurück. Einen Moment lang waren die einzigen Laute die keuchenden Atemzüge der beiden Halliwells. Nach den ohrenbetäubenden Tierschreien dröhnte die Stille in Pipers Ohren. Allmählich normalisierte sich ihre Atmung wieder. »Danke«, sagte sie zu der Frau. »Wer bist du?« »Ich bin Tipket, Hohe Priesterin der Bastet.« Sie legte schützend einen Arm um die Magd. »Mailin hat mir eure Geschichte erzählt. Wenn Hoptith frei ist, sind wir alle in großer Gefahr.«
»Wir wollten deine Magie nicht unwirksam machen«, entschuldigte sich Piper. »Wir haben versucht, die Magie unserer Schwester unwirksam zu machen.« »Ich glaube euch, dass ihr nicht mit Dämonen im Bunde seid«, versicherte Tipket ihr. »Der Zauber, mit dem ich Hoptith belegt habe, konnte nur durch gute Magie aufgehoben werden. Ich wollte sicher gehen, dass das Böse sie nicht befreien konnte, aber ich wollte ihr auch die Chance geben, sich zu ändern. Offenbar ist dies nicht der Fall. Wir müssen Hoptith finden, ehe es zu spät ist.« »Ich denke, sie ist in unsere Welt zurückgekehrt«, erklärte Piper. »In ein völlig anderes Land und eine völlig andere Zeit.« »Sie wird neue Welten erobern wollen. Sie ist dort genauso gefährlich wie hier. Aber hier kann ich sie kontrollieren, wenn ich sie finden und wieder mit dem Zauber belegen kann.« »Wir würden dir sehr gern helfen, aber wir müssen vorher unsere Schwester finden«, sagte Phoebe. »Wir können ohne sie nicht zurückkehren.« »Ja, eure Schwester.« Tipket wirkte verwirrt. »Mailin sagte, der Fehler wäre passiert, weil ihr Hoptith für eure Schwester gehalten habt. Eure Schwester ist eine Katze?« Piper verstand die Verwirrung der Frau. Die ganze Sache war ein großes, unheimliches Missverständnis. »Sie hat sich selbst in eine verwandelt«, erklärte sie, »und kann sich wahrscheinlich nicht mehr zurückverwandeln. Sie wollte nicht hierher kommen. Ein junger Mann hat sie aus unserer Zeit hierher gebracht.« »Wir denken, dass auch das ein Versehen war«, fügte Phoebe hinzu. »Sind irgendwelche Fremden im Tempel aufgetaucht? Wir sind ziemlich sicher, dass sie dort angekommen sind.« Mailin berührte Tipkets Arm. »Es befindet sich ein Fremder mit magischen Fähigkeiten im Haus des Lebens«, sagte sie. »Es heißt, dass er eine Katze bei sich hat.« »Ist er gut aussehend? Mit einem kurzen, gestutzten Bart?«, fragte Phoebe.
Mailin senkte den Kopf, um ihre Verlegenheit zu verbergen. »Einige der Frauen haben sein hübsches Gesicht und seinen wohl geformten Körper erwähnt.« »Klingt nach unserem Tyler. Wo ist er?« »Er befindet sich in den Quartieren der Edlen im Haus des Lebens. Es ist ein Teil des Tempelkomplexes.« »Kannst du uns dorthin führen?«, fragte Piper. Endlich hatten sie die Möglichkeit, Paige zu finden und möglicherweise dieses Fiasko zu beenden. »Ja, aber wir müssen vorsichtig sein«, warnte Tipket. »Wenn wir ertappt werden …« »Was dann?« »Gefangenen bei der Flucht zu helfen, ist ebenfalls ein todeswürdiges Verbrechen.« Piper nickte, um der Frau zu verstehen zu geben, dass sie ihr Risiko kannte. »Dann werden wir dafür sorgen, dass ihr nicht ertappt werdet.« Tyler lag mit dem Kopf auf einem großen Kissen und hatte neben sich einen Teller mit Oliven stehen. Eine hübsche Magd war soeben gegangen. Sie hatte ihm eine Massage mit duftenden Ölen verpasst, seine Trauben geschält, ihm Luft ins Gesicht gefächert und sozusagen für ihn das Essen vorgekaut. Sie hätte das wahrscheinlich wirklich getan, wenn er sie darum gebeten hätte, dachte Paige. Paiges Schwanz zuckte. »Okay, Alter. Jetzt reicht es. Wann kümmerst du dich endlich um den Fall?« Tyler hob einen kobaltblauen Kelch zu seinen Lippen und trank einen Schluck Wein. »Welchen Fall?« »Den ›Wie-kommen-wir-nach-Hause‹-Fall. Schon vergessen? Wir leben hier nicht wirklich, wie du weißt.« »Ich weiß …«, sagte Tyler. »Du genießt das alles viel zu sehr«, klagte Paige. »Nun, mir gefällt es hier. Ist das ein Verbrechen?«
»Nun, mir gefällt es hier nicht. Mir gefällt es nicht, eine Katze zu sein. Und mir gefällt es nicht, dass du die Lorbeeren für die Magie erntest!« »He, ich verfüge auch über Kräfte«, fauchte Tyler. Er sah sich im Raum um und zeigte auf den Wasserkrug in der Ecke. »Krug, fülle dich selbst.« Der Krug zitterte leicht. Tyler ging hinüber und hob ihn auf. Er war jetzt merklich schwerer. »Siehst du?« Er grinste Paige selbstgefällig an. »Noch vor einem Moment war er fast leer. Jetzt ist er fast voll.« »Du meinst, er ist zu voll«, entgegnete Paige und verfolgte, wie das Wasser aus dem schmalen Trichter des Krugs floss. Tylers Selbstgefälligkeit verwandelte sich in Ärger, als das Wasser den Saum seiner Leinentunika benetzte. »Wasser, halt!«, befahl Tyler. »Krug, leer!« »Brauchst du Hilfe?«, fragte Paige. »Ich kann das«, murmelte er. »Äh, kein Wasser mehr?« Paige sprang aufs Bett, damit ihre Pfoten nicht nass wurden. »Ich schätze, du kennst deine eigene magische Stärke nicht«, sagte sie sarkastisch. »Dieser Krug denkt, dass du eine nilwassergroße Wassermenge wolltest.« Sie leckte ihre Vorderpfote und wusch gelassen ihr Gesicht. »Krug, halt! Hör auf damit.« Tyler ging im Zimmer herum. Er rutschte auf dem nassen Fliesenboden aus, sein Fuß verfing sich in seiner tropfenden Tunika, und er fiel hin. Sobald der Krug auf den harten Fliesen aufschlug, zerbrach er und das Wasser verschwand. Paige blickte von ihrer Katzenwäsche auf. »Ich schätze, das ist eine Möglichkeit, den Zauber aufzuheben.« Tyler stand langsam auf und wrang den Saum seiner nassen Leinenrobe aus. »Also, du Genie«, stichelte Paige, »ist die Amateurstunde vorbei?« Tyler rieb sich das Gesicht mit den Händen. Dann funkelte er Paige an. »Ich wünschte, ich würde dich nicht mehr verstehen.« Paige funkelte ihn ebenfalls an und fragte sich, ob dieser Wunsch funktioniert hatte. »Nun? Kannst du mich verstehen?«
Tyler ließ sich wieder auf den Kissen nieder. »Nur zu gut.« Paige sprang auf Tylers Brust. »Hör zu, mir ist klar, dass diese königliche Behandlung einem Mann zu Kopfe steigen kann. Aber jetzt reicht es.« »Hast du dich je gefragt, warum ich so viel Zeit damit verbracht habe, mit dir zu reden, bevor ich wusste, dass du in Wirklichkeit ein Mensch bist?« »Wechsel nicht das Thema.« »Das ist das Thema.« Tylers Gesicht wurde ernst. »Mein ganzes Leben lang hatte ich Schwierigkeiten, Freunde zu finden. Ich fühlte mich viel wohler, wenn ich mich in einen Haufen Bücher vergrub und so tat, als würde ich in früheren Zeiten leben.« Paige legte den Kopf zur Seite. »Das fällt mir schwer zu glauben. Ich meine, schau dich doch an.« »Was meinst du damit?« »Du bist klug. Du siehst toll aus. Und ich denke, ich habe sogar erlebt, dass du charmant sein kannst.« Er wirkte ehrlich überrascht. »Glaubst du wirklich?« »Definitiv. Also warum hast du dir dieses Verliereretikett aufgeklebt?« Tyler zuckte die Schultern. »Ich schien nirgendwo hineinzupassen. Als Kind war ich in Sport nicht gut und zu … seltsam, um von den Klassenstrebern akzeptiert zu werden. Nachdem meine Mutter starb, wurde ich von einer Pflegefamilie zur anderen weitergereicht. Es fiel mir schwer zu glauben, dass ich irgendjemand lange genug kennen würde, um eine echte Beziehung zu entwickeln. Ich habe mich in meiner Fantasie oder in einem Museum viel mehr zu Hause gefühlt.« »Wir alle haben Orte, an die wir uns zurückziehen«, versicherte Paige ihm. »Und du bist kein linkischer Teenager mehr.« Sie wusste durch ihre Arbeit im Sozialdienst, was diese Art Erfahrung einem Kind antun konnte. Aber es erklärte nicht alles. »Diese Sache geht noch tiefer«, sagte Tyler. Er setzte sich zu ihr aufs Bett. »Viel tiefer.«
Paige hatte das Gefühl, dass Tyler versuchte, ihr etwas anzuvertrauen. »Wie das?« »Ich habe mich schon immer mit dem alten Ägypten verbunden gefühlt. Deshalb habe ich mich den Jüngern Thoths angeschlossen. Ich fragte mich, ob ich vielleicht eine richtige Verbindung zu Ägypten hatte.« Er holte tief Luft. »Eine magische.« »Das würde eine Menge von dem erklären, was hier passiert ist«, räumte Paige ein. »Aber hast du einen vernünftigen Grund für diese Annahme?« »Mein Vater verschwand, als ich noch klein war. Und da waren ein paar Dinge, die meine Mom sagte, bevor sie starb – nun, ich hatte das Gefühl, dass er nicht wie andere Dads war. Und dass er vielleicht verschwand, weil er nicht hierhin gehörte.« Er grinste. »Ich meine dorthin. In die Zukunft.« »Du meinst in unsere Gegenwart«, berichtigte Paige. Tyler stand auf und wies auf die Bilder an den Wänden. »Sieh dir das an. Diese Leute. Erinnern sie dich an jemand?« »An mein Geschichtsexamen.« »Im Ernst. Sieh dir diese Gestalten mal genauer an.« Paige konnte erkennen, dass Tyler es ernst meinte. Sie sprang vom Bett, trottete zur Wand und richtete sich auf. Sie stützte sich dabei mit einer Pfote an der Wand ab. Das Wandgemälde zeigte Handwerker bei der Arbeit. Einer war ein Schreiber, ein anderer ein Schmied, ein dritter ein Schneider. Während das Gemälde sehr detailreich war, waren sich die Leute ziemlich ähnlich. Eigentlich genau wie Tyler – ohne Bart. »Bist du … denkst du, dass du ein direkter Nachfahre der alten Ägypter bist?«, fragte Paige. »Das ergibt Sinn. Vielleicht habe ich deshalb diese Kräfte. Natürlich nicht so starke wie du.« Er zwinkerte Paige zu. »Aber immerhin. Vielleicht war mein Vater auch ein Zeitreisender. Und deshalb konnte er nicht bleiben. Und deshalb fühlt sich all das für mich so richtig an.«
Dieser Gedankengang besorgte Paige. Sie empfand Mitgefühl für ihn; sie wusste genau, wie man sich fühlte, wenn man ausgeschlossen wurde und nicht dazu gehörte. Sie wusste außerdem, wie stark Familienbande waren – vor allem, wenn man das Gefühl hatte, sie gerade erst zu entdecken. Wenn der Zauber für die Rückkehr nach Hause von den Wünschen des Priesters abhing, würde sie vielleicht nie nach Hause kommen. Nach allem, was Tyler sagte, würde er niemals freiwillig heimkehren. Wie konnte sie ihn vom Gegenteil überzeugen? Sie glaubte nicht, dass die Aussicht auf ein Rendezvous mit ihr für ihn verlockender war als eine Welt, die ihn faszinierte. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, gestand Paige. »Ich weiß nur, dass wir nicht hier bleiben können. Auch wenn du denkst, dass du hierher gehörst, bist du nur ein Besucher.« Sie sprang wieder aufs Bett. Ihr Schwanz zuckte nervös. »Außerdem weißt du doch, wie es ist. Im Urlaub scheint alles toll zu sein. Aber sobald du dich niederlässt, musst du dich mit Dingen wie Skorpionen und diesem feisten Kuthra herumschlagen, der dich hasst, und …« »Paige, es ist okay.« Er legte eine Hand auf ihren felligen Rücken und streichelte sie, um sie zu beruhigen. »So sehr es mir hier auch gefällt, ich weiß, dass ich nicht das Recht habe, dich hier bei mir zu behalten. Aber bis jetzt habe ich es nur geschafft, Zauber zu wirken, nicht sie aufzuheben. Ich weiß nicht, ob ich uns nach Hause bringen kann oder nicht. Aber ich verspreche dir, dass ich es versuchen werde.« Paige leckte seine Nase. »Das ist alles, worum ich bitten kann. Und sobald wir zurückgekehrt sind, werden wir dir eine richtige Katze besorgen. Eine, die innerlich und äußerlich nur Katze ist.« Es klopfte leise an der Tür. »Noch mehr Bedrohungen?«, fragte Paige. Tyler durchquerte den Raum und öffnete die Tür. »Meine Schwestern!«, rief Paige. Sie rannte zur Tür und sprang in Phoebes Arme. »Ich würde sagen, wir haben sie gefunden!«, grinste Phoebe.
»Phoebe! Piper!« Paige war so aufgeregt, dass sie kaum stillhalten konnte. Sie schmiegte sich an Phoebe und berührte Piper mit der Pfote. »Du bist also Phoebe«, stellte Tyler fest. »Und du bist Piper.« »Woher weißt du das?«, fragte Piper. »Paige hat es mir gerade gesagt.« »Du kannst sie verstehen?«, fragte Phoebe. »Sieht so aus. Aber im Vertrauen, manchmal wünsche ich mir, ich könnte es nicht.« Paige schlug mit der Pfote nach Tylers Arm, fuhr aber ihre Krallen nicht aus. Sie wusste, dass er scherzte. »Ich weiß, was du meinst«, sagte Piper trocken. »He!« Paige starrte Piper an. War das ein Scherz oder nicht? Egal. Sie war so erleichtert, dass sie sie gefunden hatten, dass sie ihr diese bissige Bemerkung durchgehen ließ. Im Moment. »Du bist der neue Schreiber«, sagte eine hoch gewachsene Frau und trat ins Zimmer. Diese Dame hat keine Probleme mit dem Selbstwertgefühl, stellte Paige fest. Sie war stark, selbstsicher und imposant. Paige bewunderte ihre gebieterische Haltung. Sie sah wie eine Königin aus. Tyler verneigte sich knapp. »Das bin ich. Und deine Robe verrät mir, dass du eine Hohe Priesterin bist.« »Tipket«, stellte sich die Frau vor. »Dies ist Mailin, meine Akoluthin. Ich weihe sie in die Lehren des Tempels ein.« Mailin sah nervös aus. Sie blickte immer wieder den Gang hinauf und hinunter. »Kommt herein.« Tyler bedeutete Mailin mit einem Wink einzutreten. Sie tat es eilig und schloss hinter sich die Tür. »Ich denke, wir haben einiges zu besprechen.« »Könnt ihr mich in einen Menschen zurückverwandeln?«, fragte Paige aufgeregt ihre Schwestern. »Für eine Katze redet sie tatsächlich viel«, bemerkte Piper.
»Sie hat nur gefragt, ob ihr sie zurückverwandeln könnt«, übersetzte Tyler. »Oh, wir beherrschen diesen Zauber definitiv. Nur zu gut.« Phoebe berichtete, wie sie den Zauber versehentlich bei Hoptith benutzt hatten. »Und jetzt hat sich Hoptith mit Dämonenunterwelt verbündet«, sagte Piper.
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Abschaum
der
Phoebe drückte Paige an sich. »Je schneller wir Paige in einen Menschen zurückverwandeln, desto schneller können wir den Dämonen in den Hintern treten.« »Ich bin dafür!«, rief Paige. Phoebe lachte. »Ich schätze, ich kann mir diesmal denken, was sie gesagt hat.« Phoebe setzte Paige auf den Boden zwischen sich und Piper. Paige konnte es kaum erwarten, wieder ein Mensch zu sein. Sie schloss die Augen, als ihre Schwestern den Rückverwandlungszauber intonierten. Hat es funktioniert? Paige öffnete die Augen. Sie sah die Welt nicht mehr mit den Augen einer Katze, deren Kopf sich fünfundzwanzig Zentimeter über dem Boden befand. Sie blickte jetzt direkt in Tylers hübsches Gesicht. Tylers Mandelaugen Bewunderung. »Wow.«
weiteten
sich
in
offensichtlicher
»Da staunst du, was?«, scherzte Paige. »Hätte ich gewusst, dass du so schön bist, hätte ich mich vielleicht mehr bemüht, den Zauber rückgängig zu machen«, stichelte Tyler. »Äh, es hätte sowieso nicht funktioniert. Du hättest mich versehentlich in etwas ganz anderes verwandelt.« »Wahrscheinlich«, gab Tyler mit einem verlegenen Grinsen zu. Paige strich mit den Händen über ihre Arme und genoss ihre menschliche Gestalt. »Es hat funktioniert! Ich bin wieder ich. Nur zwei Beine! Kein Fell!« Sie schlang ihre Arme um ihre Schwestern. »Danke, danke, danke.«
Piper löste Paiges Arm von ihrem Hals. »Wir müssen ein paar Dinge klären«, sagte sie tadelnd. »Ich weiß, ich weiß.« Paige ließ den Kopf hängen und hob ihn dann wieder ruckartig. »He! Du hast mich weggegeben! Deine eigene Schwester.« Sie sagte sich, dass Angriff die beste Verteidigung war. »Ich habe nicht gewusst, dass du es bist!«, protestierte Piper. »Du sagtest, ich wäre nicht einmal richtig stubenrein!« Jetzt, da sich Paige daran erinnerte, war sie wieder wütend. Wäre sie noch immer eine Katze gewesen, hätte sie Piper angefaucht. »Äh, lasst uns nicht jetzt darüber reden«, mahnte Phoebe. »Ja, warten wir, bis wir zu Hause sind«, nickte Paige. »Und wenn kein Dämon hinter dir steht«, fügte Phoebe hinzu. Paige wirbelte herum. Und blickte zu einem totenschädelähnlichen Gesicht auf, das sie drohend überragte. Und da war noch eins. Und noch eins. Der Raum füllte sich mit Dämonen.
16
H
» ABT IHR GEDACHT, Hoptith würde eure Flucht nicht bemerken?«, krächzte der größte Totenschädeldämon. Paiges Magen zog sich zusammen, als sie sah, wie sich seine superlange gespaltene Zunge beim Sprechen hin und her bewegte. Die Kreaturen schienen keine Haut zu haben, als wären sie wandelnde Skelette. »Sie ist nicht erfreut«, fügte ein anderer hinzu. »Ich hasse es, die Pläne der Dame zu ruinieren«, sagte Piper, »aber sie sollte daran gewöhnt sein. Schließlich ist sie die Königin des Chaos und all das.« »Ich dachte, ihr dämonischer Begleiter sagte, es wären nur zwei Hexen«, warf ein anderer Dämon ein. Paige fand, dass er nervös klang. »Weißt du nicht, dass man Gerüchten keinen Glauben schenken sollte?«, fragte Phoebe. Paige wusste, zu was sie und ihre Schwestern fähig waren, aber sie hatte keine Ahnung, wie sich Tipket, Mailin und Tyler bei einem Angriff der Dämonen verhalten würden. Doch sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. »Dolch!« Paige zauberte die Waffe in ihre Hand und bohrte sie in den Dämon zu ihrer Rechten. Er zersprang in tausend Stücke. Gut. Sie war nicht sicher gewesen, ob ein Dolch jemand verletzen konnte, der kein Fleisch hatte. Sie duckte sich zur Seite, als sich ein Dämon auf sie stürzte. Seine blaue Zunge schoss aus seinem Mund und verschwand wieder. Sie wirbelte herum und versetzte ihm einen wuchtigen Tritt in den Bauch. Er stolperte zurück und lief direkt in einen von Phoebes Energiebällen. »Treffer!«, jubelte sie. Mann, es fühlt sich gut an, wieder meine Glieder benutzen zu können, dachte Paige. Verblüfft stellte sie fest, dass Tyler einen Energieball erzeugt hatte. Er warf ihn nach dem Dämon, der ihm am nächsten war, aber er
verfehlte sein Ziel und schleuderte einen Krug zu Boden, wo er zersprang. »Piper!«, rief sie, um die Aufmerksamkeit ihrer Schwester zu erregen. Sie nickte in Tylers Richtung, der in einer Ecke gefangen war. Piper fror die Kreatur, mit der er es gerade zu tun hatte, ein und schmetterte dann den Dämon, gegen den sie gekämpft hatte, gegen die Wand. »Agh!« Ein Dämon rammte Paige. Sie fiel zu Boden und die Luft entwich aus ihrer Lunge. Sie trat hart zu und spürte, wie sie wieder und wieder Knochen traf. Es gelang ihr, sich umzudrehen und dem Dämon ins Gesicht zu sehen. Mit aller Kraft packte sie die klauenähnlichen Hände, die sich um ihren Hals gelegt hatten, und versuchte verzweifelt, ihn daran zu hindern, sie zu erwürgen. Sie konnte hören, wie Tipket und Mailin fremdartige Worte sangen. Der Skelettdämon, mit dem sie kämpfte, schimmerte und schrumpfte. Sie riss im Schock den Mund auf, als er flach wie ein Blatt Papier wurde und am Boden von Tylers Raum kleben blieb. Benommen rappelte sie sich auf. Oh, nein. Phoebe! »Laterne!«, befahl Paige. Sie machte eine heftige Bewegung, und die Lampe traf den Dämon, der Phoebe im Würgegriff hatte. Er ließ sie los und ein paar Sekunden später verlor auch er seine dritte Dimension, transformiert durch Tylers Zauber. Paige hörte, wie Tyler hinter ihr aufschrie. Einer der Dämonen hatte seine blaue Zunge um ihn geschlungen. Von seinen beiden Zahnreihen tropfte Blut. »Er hat Tyler gebissen!«, rief Paige. Sie schleuderte einen Energieball nach dem Dämon. Beim Aufprall zischte die Kreatur und verschwand, hinterließ nur einen faulen Geruch in der Luft. Tyler brach auf dem gefliesten Boden zusammen. »Helft mir!«, schrie Paige. »Er ist verletzt!« Sie beugte sich über Tyler und ergriff seine Hand. Seine Finger waren eiskalt, aber sein Gesicht war schweißbedeckt, als würde er innerlich verbrennen. Sie drehte den Kopf und sah, wie Phoebe den letzten der Dämonen erledigte. »Bitte«, flehte Paige. Blitzartig kniete Piper an ihrer Seite.
»Es wird alles gut«, sagte Paige zu Tyler, als Piper seine Wunden untersuchte. Sie hoffte, dass er ihr mehr glaubte als sie sich selbst. Seine dunkle Haut war aschgrau. Er sah schrecklich aus. »Du hast dich großartig geschlagen«, versicherte sie ihm mit vor Besorgnis und Furcht brüchiger Stimme. »Du hast wie ein Löwe gegen eine Horde Dämonen gekämpft.« »D-danke«, keuchte Tyler. Sein Atem war flach und Paige konnte erkennen, dass ihn das Sprechen viel Kraft kostete. »Er ist vergiftet worden«, sagte Piper leise zu Paige. »Er hat außerdem eine Menge Blut verloren.« Paiges Herz zog sich zusammen, als sich Tylers Griff lockerte und seine Hand aus ihrer glitt. Seine Augen wurden glasig, starr. Paige wusste, dass er sie nicht sehen konnte. Er sah nichts mehr. »Wir müssen ihn von hier wegschaffen«, sagte Paige. »Wir müssen ihn zu Leo bringen. Oder Leo herholen!« »Ich weiß nicht, ob Leo ihm noch helfen kann, wenn wir ihn zu ihm gebracht haben«, murmelte Piper. »Außerdem müssen wir uns noch immer um Hoptith kümmern«, erinnerte Phoebe sie. »Es ist unsere Schuld, dass sie wieder frei ist. Wir müssen die Sache bereinigen.« Paige spürte, wie ein Schluchzen in ihrer Brust hochstieg. Sie wusste, dass ihre Schwestern Recht hatten. Und sie wusste, dass sie nicht für Tylers Tod verantwortlich war. Schließlich war er es gewesen, der sie hierher gebracht hatte. Aber in der kurzen Zeit, die sie ihn gekannt hatte, war er wichtig für sie geworden. Sie hatte das Gefühl, einen engen Freund verloren zu haben. Sie hatten zusammen eine Menge erlebt – auch wenn sie den Großteil ihrer gemeinsamen Zeit eine Katze gewesen war. Paige spürte eine kühle Hand auf ihrer Schulter. »Sein ka hat ihn verlassen«, hörte sie. Paige blickte zu Tipkets markantem Gesicht auf. Die Augen der Frau waren sanft. »Er ist jetzt bei Horus. Er war tapfer und hat auf der Seite des Guten gekämpft. Er wird in seinem ewigen Leben im Jenseits belohnt werden.«
»Er hat es geliebt, hier zu sein«, flüsterte Paige. Sie schien nicht lauter sprechen zu können. »Er wollte hier bleiben.« »Möchtest du gerne sehen, wo er jetzt ist?«, bot Tipket an. »Damit du unbelastet deinen Weg fortsetzen kannst?« »Kannst du … kannst du das tun?« »Schließe deine Augen.« Paige schloss ihre Augen. Sie spürte, wie Tipkets Finger Zeichen auf ihre Stirn, dann auf ihre Lider malte. Sie hörte einen leisen Singsang in einer Sprache, die sie nicht verstand. Dann, irgendwie, ohne das Gefühl, sich bewegt zu haben, war sie an einem anderen Ort. Sie war in einer uralten Gruft – in einer der inneren Kammern einer Pyramide. Die Wände waren mit Hieroglyphen bedeckt und der Raum war mit Hunderten von Miniaturstatuen gefüllt – von Leuten, Tieren, Gegenständen. Es waren alles Opfergaben für die Toten zum Gebrauch im Jenseits. Vor ihr befand sich ein riesiger See, und ihr dämmerte, dass er von einem unterirdischen Fluss gespeist wurde. »Wo … wo bin ich?«, fragte sie. Sie hörte Tipkets Stimme in ihrem Kopf, obwohl sie die Hohe Priesterin in der Szenerie vor ihr nicht sehen konnte. »Der letzte Halt auf der Reise zu den Schönheiten des Jenseits. Dies ist die Halle der Zwei Wahrheiten, wo alle Toten sich dem Befrager stellen müssen. Wir sind in Duat, der Unterwelt.« An der Seite der Kammer öffnete sich eine Tür. Tyler trat ein und blieb wartend stehen. Er schien Paige nicht zu bemerken. Eine Furcht erregende Kreatur erschien vor ihr. Paige machte sich kampfbereit. Die Gestalt hatte den Kopf eines Schakals, aber den Körper eines Menschen. »Das ist kein Dämon«, beruhigte Tipket sie. »Das ist Anubis, Gott der Toten.« Paige nickte, obwohl sie nicht glaubte, dass Tipket sie sah. Trotzdem, man weiß nie, dachte sie. Sie bemerkte, dass Tyler vor diesem fremdartigen Gott keine Angst hatte.
Eine neue Gestalt materialisierte auf einem goldenen Thron. »Osiris, Herr der Unterwelt«, erklärte Tipkets Stimme. Paige war verblüfft. Das war der Charakter, den Tyler bei den Zeremonien der Jünger Thoths dargestellt hatte. Sie hätten Zwillinge sein können! Osiris trug eine prächtige Krone, eine reich verzierte Tunika und Schmuck und hielt dieselbe Art Stab in der Hand, den Tyler bei dem Ritual benutzt hatte, das sie nach Ägypten gebracht hatte. Vielleicht hatte Tyler Recht. Vielleicht war er ein direkter Nachfahre dieser alten Kultur. »Thoth, der Gott der Weisheit, wird die Ergebnisse der Prüfung aufschreiben.« »Prüfung?«, wiederholte Paige nervös. »Er muss eine Prüfung bestehen?« Schon das Wort flößte ihr Angst ein. »Alle Seelen werden geprüft, bevor sie ihre Reise fortsetzen können.« »Wer ist das?« Paige starrte ein hässliches Untier an. Sein Körper war halb Löwe, halb Nilpferd, und es hatte einen Krokodilkopf. »Du willst mir doch nicht einreden, dass dieses Monster kein Dämon ist!« »Das ist unsere verehrte Ammut.« »Was macht sie bei dieser Zeremonie?«, fragte Paige, während sie versuchte, die Ruhe zu bewahren. »Sie wird die Herzen jener essen, die unwürdig sind.« Paige schluckte. Okay, die Sache mit dem Ruhe bewahren funktioniert nicht mehr. »Das Herz deines Freundes wird gegen die Feder von Maar gewogen«, erklärte Tipket ihr. »Sie ist die Göttin der Wahrheit, der göttlichen Ordnung und des Gerichts.« Paige hielt den Atem an. Sie verfolgte, wie Tyler vor Osiris niederkniete, während eine Feder in eine große Waagschale hinter ihm gelegt wurde. Die hässlich aussehende Kreatur Ammut sah für Paiges Geschmack viel zu hungrig aus. Thoth trat vor und schrieb etwas auf eine Papyrusrolle. Osiris hob seinen Stab und Tyler stand auf. »Das war’s? Es ist erledigt?«, fragte Paige.
»Es ist erledigt. Dein Freund wird eine glückliche Ewigkeit genießen.« Tyler entfernte sich von der Waage und ging zu dem See, wo ein goldenes Boot voller lachender und singender Leute auf ihn zu glitt. Kurz bevor er an Bord des glänzenden Schiffes ging, drehte er sich zu Paige um. Diesmal wusste sie, dass er sie sah. Er lächelte breit und winkte ihr zum Abschied zu. Er stieg in das Boot, wo eine junge Frau ein Blumengebinde auf seinen Kopf setzte. Paige spürte wieder einen Druck an ihrer Stirn und ihren Lidern. Die Szene vor ihr verschwand. Sie öffnete die Augen und blinzelte mehrmals. »Danke«, sagte sie zu Tipket. Piper und Phoebe umarmten sie. »Mir geht’s gut«, versicherte sie ihnen und wischte eine Träne von ihrer Wange. »Nein, wirklich. Er ist jetzt sehr glücklich.« Sie holte tief Luft. »Okay. Wir sollten jetzt Hoptith suchen. Wisst ihr, wo sie ist?« »Wir glauben, dass sie in unsere Zeit zurückgekehrt ist«, antwortete Phoebe. »Vielleicht sogar in unser Haus.« »Sie mochte Leo«, sagte Piper. Der Tonfall ihrer Schwester verriet Paige, dass ihr das nicht gefiel. »Sie reiste mit einem zeitgenössischen Dämon«, fuhr Piper fort. »Von einer Spezies, gegen die wir schon gekämpft haben.« »Laut Cole gehört die Bande, mit der sie herumhängt, zum Abschaum.« »Das ist gut, richtig?«, fragte Paige. »Im Moment ja«, bestätigte Phoebe. »Wir müssen sie erledigen, bevor sie herausfindet, wer in der Dämonenwelt das Sagen hat, und sich mit mächtigeren Kreaturen verbündet.« »Was sollen wir tun?«, fragte Mailin. »Wir werden hier bleiben«, erklärte Tipket. »Vielleicht ist sie noch immer in Ägypten. Sie hat hier noch einige Rechnungen offen.« Sie verriet den Halliwells die Zauberformel, mit der sich Hoptith auf Dauer in eine Katze verwandeln ließ, und küsste dann die Mädchen zum Abschied.
Paige ergriff die Hände ihrer Schwestern. »Ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen.« Von Tipkets Kräften unterstützt, reisten die Hexen zurück – vorwärts, um genau zu sein – ins San Francisco der Gegenwart. Paige sah sich im Wohnzimmer um. Sie war in ihrem ganzen Leben noch nie so glücklich gewesen, einen Raum zu sehen! Leo lag ausgestreckt auf dem Sofa, während Cole im Lehnstuhl schnarchte. Piper rannte zu Leo und Phoebe eilte zu Cole. Einen Moment später waren die Männer hellwach. Benommen, aber wach. »Ich wollte euch schon abholen.« Leo gähnte. »Aber ich bin eingeschlafen.« Cole streckte sich. »Ich bin auch eingepennt.« Seine geröteten Augen wanderten zu Paige. »Oh. Hi, Paige. Willkommen in der Menschenwelt.« »Danke«, sagte Paige zu ihm. »Sind sie okay?«, fragte sie ihre Schwestern. »Es sieht aus, als hätte Hoptith sie nur mit einem einfachen Schlafzauber belegt«, meinte Piper. »Zauber?« Leo blickte verwirrt drein. »Das war kein Kätzchen, das war eine Zauberin«, erklärte Piper. Sie drückte ihren Mann an sich. »Zum Glück für dich warst du ihr Typ. Wahrscheinlich hat sie dich deshalb verschont.« »Sie muss mich auch gemocht haben«, warf Cole ein. »Ich meine, ich weile noch immer unter den Lebenden.« Phoebe küsste ihn und lachte. »Keine Sorge, Schatz. Ich halte dich für unwiderstehlich, selbst wenn sie anderer Meinung war.« »Es ist also vorbei. Alles ist wieder normal?«, fragte Leo. »Normal für eine Hexe«, erwiderte Paige. »Uh-oh.« Cole starrte sie an. »Was bedeutet das?« »Das bedeutet, dass wir Hoptith besiegen müssen, indem wir sie wieder in eine Katze verwandeln«, erklärte Phoebe. »Wir haben sie auf die Welt losgelassen. Wir müssen sie wieder unter Kontrolle bringen.«
»Seid ihr sicher, dass sie hier ist?«, fragte Leo. »Es gibt eine Möglichkeit, das herauszufinden.« Piper stand von Leos Schoß auf. »Wir können mit unseren magischen Kräften nach ihr suchen.« »Gute Idee«, stimmte Phoebe zu. »Wenn sie in unserer Welt ist, sollten wir in der Lage sein, sie zu finden. Und sie uns dann schnappen.« Sie fand eine Weltkarte und legte sie auf den Couchtisch. Piper zog eine Kommodenschublade auf und nahm einen Kristallanhänger heraus. Die drei Schwestern setzten sich auf den Boden. Piper hielt den Kristall so, dass er ein paar Zentimeter über der Karte baumelte. »Also, wie ist diese Tussi so?«, fragte Paige. Sie hoffte, dass ihr ein paar Informationen über den Feind helfen würden, wenn es zum Kampf kam. »Sie ist eine richtige …«, begann Piper. »Piper!« Phoebe schnitt ihr mit einem warnenden Ton das Wort ab. »Ich wollte nur sagen, dass sie eine richtige Schönheit ist«, behauptete Piper unschuldig. »Sie ist mächtig, sie ist schön und sie ist überhaupt nicht nett«, sagte Phoebe zu Paige. »Klingt wie die meisten Dämonen, gegen die wir kämpfen«, meinte Paige. »Ein Kinderspiel.« »Sie hat ein ernstes Egoproblem«, fügte Piper hinzu. »Wir können das vielleicht zu unserem Vorteil nutzen.« »Wenn wir sie finden«, sagte Phoebe. Die drei Augenpaare der Schwestern richteten sich auf den Anhänger. Phoebes Herz klopfte laut, während sie in den Kristall sah, der ihnen verraten würde, wohin die Dämonin verschwunden war. Und dann mussten sie entscheiden, was sie mit ihr tun sollten, wenn sie sie gefunden hatten. »Sucht ihr mich?«, fragte eine kehlige Stimme. Paiges Kinnlade fiel nach unten. Eine schlanke, hoch gewachsene Schönheit stand vor ihnen. In ihren goldgefleckten Augen blitzte Ärger auf. Wie ist das
passiert?, fragte sie sich. Wir haben sie nur gesucht, nicht herbeigezaubert. »Danke, dass du gekommen bist«, sagte Phoebe. »Du hast es uns erspart, all unsere Bonusflugmeilen zu verbrauchen.« Hoptith lächelte bedächtig. »Ich mag keine unerledigten Dinge. Und Hexen, die meine Identität kennen, gehören zu den unerledigten Dingen. Deshalb bin ich hergekommen, um euch auszuschalten.« Paige stand kampfbereit auf. »Äh, was ist mit deinen Haaren los?«, fragte sie. Piper und Phoebe starrten sie an. Sie zuckte die Schultern. »He, wenn sie so ichbezogen ist, wird sie das vielleicht verunsichern«, flüsterte sie. »Was stimmt mit meinen Haaren nicht?« Hoptith hob die Hände zu ihren langen dunklen Locken. Wow. Es funktionierte wirklich. »Äh … die Frisur ist vom letzten Jahr«, improvisierte Paige. »Leo ist auch dieser Ansicht«, sagte Piper. »Nicht wahr, Leo?« »Ihre Kleidung ist auch altmodisch«, stimmte Leo zu. Hoptith fuhr herum und funkelte Leo und Piper an. Pipers Hände flogen hoch und froren sie ein. »Schnell! Der Zauber.« Phoebe ergriff Paiges Hand und zog sie zu Piper. Leo und Cole hielten sich bereit für den Fall, dass jemand angreifen würde, um Hoptith zu retten. Was sich als ziemlich gute Idee erwies!
17
PAIGE
BLICKTE ZUR DECKE AUF. Der Dämon, der erschienen war, war so riesig, dass sein Kopf fast gegen die Lampe stieß. Seine hervorquellenden Augen sahen auf sie hinunter. »Ich bin hier, um Hoptith zurückzubringen!«, donnerte er. Seine mächtige Brust schwoll an, als würde er sich aufblasen. Die Halliwell-Schwestern und ihre Männer standen da und starrten schweigend den Dämon an. Nun, Schweigen wird uns auch nicht helfen, dämmerte es Paige. »Zaubert weiter!«, sagte sie. Nach Paiges Befehl traten alle in Aktion. Cole und Leo bewarfen den Dämon mit Gegenständen, um ihn von Hoptith und den Halliwells abzulenken. Paige wusste, dass die Männer versuchten, ihnen Zeit zu verschaffen, um den Zauber zu beenden. Aber was wird das nutzen?, fragte sie sich besorgt. Der Dämon wird sie einfach nach Ägypten zurückbringen und Tipket foltern, bis sie den Zauber aufhebt! Oder er wird Hoptith packen, bevor wir den Zauber dauerhaft machen können. Paige intonierte den Singsang so schnell wie möglich, aber die ganze Zeit überlegte sie fieberhaft und suchte nach Alternativplänen. Ich sollte mich wieder in eine Katze verwandeln, dachte Paige. Das dürfte ihn verwirren. Sie waren mit dem ersten Teil des Zaubers fast fertig – der auf Dauer bindende Teil kam als Nächstes. Leo und Cole hatten keine Möglichkeit mehr, den Dämon weiter abzulenken. Das Monstrum bückte sich und schleuderte Cole durch den Raum. Der Zwillingskatzenplan würde funktionieren, davon war Paige überzeugt. Ich sollte es tun. Ich sollte mich wieder in eine Katze verwandeln, dachte sie. Noch während sie die letzten Worte der Zauberformel sprachen, spürte Paige, wie sie sich verwandelte. Die Welt um sie herum wurde größer, als sie kleiner wurde. Ihr Körper pochte, als ihr zwei weitere Beine wuchsen und Fell ihre Haut bedeckte.
Ich habe es getan, dachte Paige. Wie ist das möglich? Habe ich es wirklich getan? Konnte der Zauber, mit dem sie Hoptith belegt hatten, auch bei ihr gewirkt haben? Weil sie beide Katzen gewesen waren? Es war keine Zeit, darüber nachzudenken. Der riesige Dämon funkelte sie an. Genau wie Paige gehofft hatte, verwirrte es ihn, zwei Katzen zu sehen. Die Größe seines Dämonenkörpers sagte nichts über die Größe seines Gehirns aus. »Wo ist Paige?«, schrie Piper und sah sich verzweifelt um. »Wenn wir je die Macht der Drei gebraucht haben, um einen Dämon zu bezwingen, dann jetzt!«, sagte Phoebe. »Oh, nein!«, keuchte Piper, als ihr Blick auf Paige fiel. »Wir haben sie wieder in eine Katze zurückverwandelt!« »Ah, das also ist die Hexe. Das bedeutet, dass die andere Katze Hoptith ist.« Der Dämon streckte eine seiner mächtigen Hände nach Hoptith aus. »Verzeih mir«, sagte Paige zu Piper. Sie sprang ihre Schwester an und fauchte und kratzte. »Au!« Piper riss die Hände hoch, um ihr Gesicht zu schützen. »Falsche Katze!« Der Dämon hielt einen Moment inne. Sein Blick wanderte von Hoptith zu Paige. Ich schätze, wenn Dämonen so groß sind, können sie sich nur langsam bewegen, stellte Paige fest. Wie riesige Dinosaurier. Sie fauchte Phoebe an und biss sie. Komm schon, Mr. Big, schluck den Köder. Er tat es. Seine gigantische Hand schloss sich um Paiges kleinen Katzenkörper. Sie spürte das Rauschen der Zeitreise und fand sich Momente später im alten Ägypten wieder. Um genau zu sein – sie bemerkte, dass sie sich in demselben Tempel befand, in den Tyler sie gebracht hatte. »Ich werde dir deine alte Gestalt zurückgeben«, versprach der Dämon. »Wir werden uns an Tipket rächen. Und dann werden wir unsere Herrschaft« – der Dämon kraulte sie unter dem Kinn – »des Chaos errichten.«
Der Dämon stapfte zu der Statue der Bastet, der Katzenfrau. »Meine Feindin. Deine Tage sind gezählt.« Er hob seine Arme und stimmte eine Zauberformel an. Paige wusste, dass sie schnell handeln musste. Er würde gleich seinen Irrtum erkennen, und sie war ziemlich sicher, dass er darüber nicht glücklich sein würde. Paige nahm wieder menschliche Gestalt an. Der Dämon drehte sich zu ihr um. Das breite Lächeln auf seinem Gesicht verschwand sofort. »Tut mir Leid, Hoptith hat es nicht geschafft«, erklärte Paige. »Sie ist noch immer in der Gewalt meiner Schwestern. Ich würde sagen, sie ist inzwischen Toast.« »Ich werde mich von dir nicht zum Narren machen lassen!«, donnerte der Dämon. »Wollen wir wetten?« Er stürzte sich auf sie. Ich muss meine tierischen Kräfte anzapfen, dachte Paige. Zu etwas werden, das so stark wie er ist. Ihr Körper pulsierte, und plötzlich war sie ein Löwe! Sie schüttelte ihre dichte Mähne und brüllte. Der Dämon blieb abrupt stehen. Paige rannte auf ihn zu, bereit, seine Kehle zu zerfetzen. Sie sprang den Dämon an und grub ihre Zähne in sein Fleisch. Der Dämon heulte vor Schmerz auf, schüttelte sie aber mühelos ab. Er stürzte sich erneut auf sie. Ich darf mich nicht von ihm erwischen lassen, dachte Paige. In dem Moment, als ihr die Idee kam, war sie auch schon ein Vogel. Sie flog hoch und setzte sich auf die geschnitzte Lotusblüte an der Spitze einer Säule. Trotz seiner Größe war der Dämon jetzt weit unter ihr. Ich habe das Gefühl, dass ich mich aus eigener Kraft in eine Katze zurückverwandelt habe. Und dass ich in der Lage bin, mich in alles zu verwandeln. Was für ein Plan, dachte sie. Aber allmählich ergab es Sinn. Sie hatte nie richtig versucht, den Zauber umzukehren. Sie hatte einfach angenommen, dass sie es nicht konnte. Das Ritual musste die Fähigkeit der Transformation geweckt haben, und sobald das geschehen war, konnte sie sich nach Belieben verwandeln.
Paige schwor sich, niemals wieder einen Zauber auszuprobieren, ohne ihn zu Ende gelesen zu haben. Nur hatte sie jetzt keine Zeit, darüber zu nachzudenken – unter ihr waren soeben ihre Schwestern, Leo und Cole materialisiert. »Wir wollen unsere Schwester zurückhaben!«, schrie Phoebe dem Dämon zu. Piper setzte Hoptith – die Katzenversion – auf den Boden. »Ja, wir sind mit deiner Freundin hier fertig. Du wirst diesen Zauber in absehbarer Zeit nicht aufheben können.« »Paige ist hier«, sagte Leo. »Irgendwo.« Der Dämon stapfte langsam auf sie zu. Er war fuchsteufelswild. Paige flog von der Säule, landete neben Piper und verwandelte sich wieder zurück. »Hi. Braucht ihr eine Dritte? Um die Macht der Drei zu komplettieren?« »Ich werde euch vernichten!«, donnerte der Dämon. Er packte Cole mit seiner mächtigen Hand. Cole wand sich im Griff der Kreatur, aber es war sinnlos. Es war, als würde ein Spielzeugsoldat gegen King Kong kämpfen. »Der Bezwingungszauber, schnell!«, schrie Phoebe. Coles Gesicht wurde röter und röter, als der Dämon das Leben aus ihm quetschte. Piper warf eine Glasflasche mit einem Bezwingungszaubertrank auf den Boden. Wir müssen die ganze Zauberformel bis zum Ende aufsagen, um dieses Monster zu besiegen, dachte Paige besorgt. Cole wird bis dahin tot sein. »Lass den Sterblichen los!« Eine neue Stimme hallte durch den Tempel. Paige drehte den Kopf. Ihr bot sich ein erstaunlicher Anblick. Die Katzenfraustatue war zum Leben erwacht. Und der große, böse Dämon schien Angst vor ihr zu haben. Das verschaffte ihnen die Zeit, die sie brauchten. Kreatur des Chaos, Wir bezwingen dich.
Während sie die Formel intonierten, ließ der Dämon Cole fallen. Er rannte zu Leo und den Mädchen hinüber. Jetzt, da Cole in Sicherheit war, wurde Phoebes Stimme kräftiger. Dämon, hebe dich hinweg, Sodass das Gute wird befreit Durch die Macht der Drei. Wir bezwingen dich. Die Gefahr ist nun vorbei, Dank der Macht der Drei. Der Dämon heulte, geiferte und schmolz zu einer Pfütze aus zäher Flüssigkeit auf dem Boden. Sie hatten gesiegt. Die Frau mit dem Katzenkopf nahm Paiges Hand. »Du warst sehr tapfer. Ich habe alles beobachtet, was du getan hast. Du bist meine würdige Vertreterin.« »Und du bist …?« Paige war noch immer verwirrt von der Tatsache, dass die Statue zum Leben erwacht war. »Ich bin Bastet, die Katzengöttin, Göttin der glücklichen Zeiten.« »Wir könnten eine glückliche Zeit gebrauchen«, sagte Phoebe. Sie legte ihren Arm um Cole, der sie küsste. »Ihr werdet sie erleben«, versprach Bastet. Tipket betrat den Tempel. Sie verbeugte sich, als sie Bastet sah. »Ehrwürdige«, grüßte sie. »Treue Freundin«, sagte Bastet. »Du hast meinem Namen Ehre gemacht. Ich bin dankbar.« »Wir haben Hoptith«, erklärte Piper. »Sie ist verzaubert und alles.« »Danke.« »Nein, wir danken dir«, sagte Piper zu Tipket. »Für alles, was du für uns getan hast.« »Das waren erstaunliche Tiertricks«, wandte sich Phoebe an Paige. »Hervorragende Idee.« »Du neigst noch immer dazu, Zauber zu wirken, die du nicht wirken solltest«, tadelte Piper.
»Ich weiß. Ich habe einen ziemlichen Schlamassel angerichtet«, gestand Paige. Sie entschloss sich, alles zuzugeben. »Dass ich mich in all diese Tiere verwandelt habe, war nicht gerade ein durchdachter Plan«, sagte sie. »Ich habe es einfach gewollt und es ist passiert. Es war wie beim Transportzauber, bevor ich ihn unter Kontrolle bekam.« »Du hast nicht gewusst, dass das Ritual das ermöglicht, nicht wahr?«, fragte Piper. »Du hast nicht mal die zweite Seite gelesen.« Paige zog die Brauen hoch. »Du wusstest es?«, rief sie. »Und du hast es mir nicht gesagt?« »Wer hatte die Zeit dafür?«, erwiderte Piper. »Schließlich mussten wir uns mit Hoptith und ihren Dämonenkumpeln herumschlagen.« Phoebe trat zwischen sie. »Ich denke, das Wichtigste ist, dass Paige aus eigener Kraft eine große Leistung vollbracht hat.« Paige dachte über die Transformationen nach. »Ich hatte sehr starke Intentionen«, sagte sie. »Ich denke, es hat auch geholfen, dass ich mehr Selbstvertrauen hatte«, fügte sie hinzu. Piper warf Paige einen langen Blick zu. »Ich schätze, Selbstvertrauen lässt sich nur durch Erfahrung erwerben.« »Du meinst durch Herumexperimentieren?«, schlug Paige vor. »Aber mit Vorsicht«, sagte Piper. »Unter Aufsicht.« »Du hast also die ganze Zauberformel gelesen«, stellte Paige fest. »Bedeutet das, dass ich jederzeit die Gestalt verändern kann?« »Nur solange das ursprüngliche Transformationsritual wirkt«, antwortete Piper. »Es ist eine gute Sache, dass seine Wirkung einige Zeit anhält«, meinte Phoebe. »Du hast gute Arbeit geleistet.« Paige legte ihre Arme um die Schultern ihrer Schwestern und grinste Leo und Cole an. »Können wir jetzt endlich nach Hause? Ich habe einen ganz sonderbaren Appetit auf eine Schüssel Milch.«