Stan Jones
Schamanenpass Aus dem Englischen von Peter Friedrich
Unionsverlag
Die Originalausgabe erschien 2003 unte...
13 downloads
525 Views
849KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Stan Jones
Schamanenpass Aus dem Englischen von Peter Friedrich
Unionsverlag
Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel Shaman Pass bei Soho Press, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 2004 im Unionsverlag, Zürich. Aktuelle Informationen Dokumente, Materialien www.unionsverlag.com
Unionsverlag Taschenbuch 355 © by Stan Jones 2003 © by Unionsverlag 2006 Rieterstrasse 18, CH-8027 Zürich Alle Rechte vorbehalten Reihengestaltung: Heinz Unternährer, Zürich Umschlagfoto: Marc Muench/Getty Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck ISBN-10 3-293-20355-8 ISBN-13 978-3-293-20355-6
Eine Inupiat-Mumie verschwindet spurlos aus dem Ortsmuseum von Chukchi. Zwei Tage später wird der alte Victor Solomon draußen beim Eislochfischen tot aufgefunden – mit der Harpune in der Brust, die zur Mumie gehörte. Alaska State Trooper Nathan Active steht vor einem Rätsel. Erst als er die Ältesten befragt, wird ihm klar, dass er tief in die Geschichte der Siedlung eintauchen muss. Nur noch wenige Menschen wissen von den alten Zeiten, als die Schamanen alle Macht hatten und kaum einer es wagte, sich gegen sie aufzulehnen. Doch die Nachfahren der damals Beteiligten haben die alten Geschichten nicht vergessen. Die Welten prallen aufeinander, am Schamanenpass kommt es zum Showdown. »Ein vor Kälte klirrender Krimi, der mit viel Wärme und Achtung für die Inupiat geschrieben wurde. Was einem die größte Bewunderung abverlangt, ist, wie Stan Jones es schafft, aus einer Mumie langsam und immer deutlicher einen Menschen mit Gefühlen und Überzeugungen entstehen zu lassen und dadurch das Ineinandergreifen von Vergangenheit und Gegenwart verständlich zu machen. Rosemarie Altenhofer, Hessischer Rundfunk Der Autor Stan Jones wurde 1947 in Anchorage, Alaska, geboren, wo er auch heute noch lebt. Als Spezialist für Umweltfragen, Journalist und leidenschaftlicher Buschpilot hat er die Erfahrungen für seine Romane gesammelt.
Für die Menschen, die mein Leben bedeuten: Rufus, Etta, Susan, Paul und Sydnie
»In den alten Tagen erschlügen die Inupiat die Mörder ihrer Angehörigen. Ein Racheakt folgte dem anderen wie die Glieder einer Kette.« Nuligak in I, Nuligak
»Hüte dich vor dem Zorn eines geduldigen Mannes.« John Dryden
Dank
Für die Details der Fährtensuchtechnik, die in den letzten Kapiteln des Buches eingesetzt wird, bin ich meinem langjährigen Freund Bill Hess, Fotograf und Journalist der Arktis, zu Dank verpflichtet. Er beschreibt ihre Anwendung während einer tatsächlich stattgefundenen Suchaktion in Nordalaska in seinem wunderbaren und faszinierenden Buch Gift of the Whale und hat in einer Reihe von E-Mail-Interviews großzügigerweise noch viele nützliche Informationen dazu beigesteuert. Die Schilderung des Schicksals des letzten »Teufelsdoktors« von Chukchi auf Seite 132 ist den Tagebüchern von Charles Bower entnommen, einem Yankee-Walfänger, der sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Barrow niederließ und den Rest seines Lebens dort verbrachte. Der Eintrag, auf den ich mich beziehe, ist in Sadie Brower Neakok: An Inupiaq Woman von Margaret B. Blackman abgedruckt. Weiter danke ich Dr. D. P. Lyle, der mich über Ursachen, Behandlung und Pflege ausgerenkter Schultern beraten hat. Und endlich gilt meine tiefste Dankbarkeit meiner Lektorin Laura Hruska für das Können, die Einsicht und Hingabe, mit deren sie mir geholfen hat, diese Geschichte zu erzählen.
1
»Soll ich das Ding herausziehen?« Die Polizeisanitäterin von Chukchi ließ sich neben den sterblichen Überresten von Victor Solomon auf die Knie fallen und sah fragend hoch zu Nathan Active, dem Alaska State Trooper. Active steckte die Schutzkappe auf das Objektiv seiner Nikon, schob die Kamera unter den Parka, zog den Reißverschluss hoch, streifte die Fäustlinge über und dachte über die Frage der Sanitäterin nach. Sein Blick schweifte über Victor Solomons Fischfanglager auf dem Eis der Chukchi Bay. Er hasste solche Augenblicke mehr als alles andere am Schauplatz eines gewaltsamen Todes. Der Instinkt sagte ihm, dass der Ernst der Stunde ein respektvolles Vorgehen gebot und jede Frage so tiefgründig sein sollte wie das Hinübergehen einer menschlichen Seele ins Jenseits, falls es denn ein solches gab. Stattdessen lief es immer auf dieselbe Art von profanen Entscheidungen hinaus: Sollte man den Schaft, der etwa einen Meter zwanzig weit aus Victor Solomons Brust herausragte, an Ort und Stelle belassen? Dann konnte der Gerichtsmediziner, der die Autopsie durchführte, ihn persönlich entfernen und dabei alles festhalten, was in Bezug auf die Wunde und Victor Solomons Tod von Wichtigkeit sein mochte. Oder sollte man ihn lieber herausziehen, um den Transport der Leiche mittels Schneemobil und Akhio von Victors Weißlachs-Camp über zwölf Kilometer Meereis bis zur Stadt Chukchi zu erleichtern? Active wandte sich um und blickte
zurück. Der Ort war durch die milchige Luft undeutlich als eine Reihe dunkler Rechtecke am Horizont zu erkennen. Vera Jackson, die Sanitäterin, deutete auf den FiberglasAkhio, der hinter ihrem Schneemobil angekoppelt war, ein Arctic Cat in den Farben Blau und Schwarz. »Da drauf wird die Leiche ziemlich herumholpern. Dabei könnte sich die Wunde vergrößern. Oder die Harpune könnte herausrutschen und verloren gehen.« Der Wind peitschte ihr die rabenschwarzen, mit eisgrauen Strähnen durchsetzten Haare in die glänzenden, dunklen Augen. Sie blinzelte und stopfte die Haare unter die Kapuze ihres Parkas zurück. Active wandte sich wieder der Leiche auf dem Eis zu und betrachtete den Schaft der Harpune. Der obere Teil war aus dunklem, verwittertem Holz, allem Anschein nach sehr alt. Der Wind hatte ihn seit Victors Tod vor einer noch ungewissen Anzahl von Stunden mit Schnee überzuckert, aber es war noch deutlich zu erkennen, dass das Holz sorgfältig zu einem glatten und runden Schaft bearbeitet worden war. Die untere Hälfte bestand aus Elfenbein und war mit einer Art handgearbeitetem, widerstandsfähig aussehenden Riemen am Holz befestigt – Rohleder oder Sehne wahrscheinlich. Der Teil aus Elfenbein verschwand direkt unter dem Brustbein in Victors Oberkörper. Active stampfte mit seinen Sorel-Stiefeln auf dem schneebedeckten Eis, schlug die Fäustlinge gegeneinander und kehrte dem schneidenden, von Westen heranpfeifenden Wind den Rücken zu. Warum sollte jemand einen alten Mann wie Victor Solomon umbringen, und warum gerade mit einer antiken Harpune, falls es sich um eine solche handelte? Warum nicht etwas Schnelles und Sicheres verwenden, eine Pistole zum Beispiel? Und warum nicht wenigstens an einem wärmeren Tag?
»Vielleicht könnten wir die Harpune direkt oberhalb des Elfenbeinteils zerlegen«, schlug Active vor. »Den Riemen durchtrennen, der die beiden Teile zusammenhält.« Er hoffte, dass auf diese Weise gleichzeitig das Beweismaterial erhalten und der Transport erleichtert würde. »Haben Sie eine Säge dabei, Vera?« Die Sanitäterin erhob sich aus ihrer knienden Position neben Victor und rümpfte die Nase in der Inupiat-Geste für Nein. »Als ich gehört habe, dass er frei zugänglich neben seinem Weißlachs-Loch liegt, habe ich keine weitere Ausrüstung eingepackt. Wir nehmen nur dann eine Säge mit, wenn wir sie aus einem Auto oder Flugzeug herausschneiden müssen oder etwas in der Art.« Active sah zu den beiden Zivilisten hinüber, die sich in Hörweite aufhielten, und hob fragend die Augenbrauen. »Habt ihr eine Säge dabei?« Einer war ein Inupiat-Teenager namens Darvin Reed, der zum Weißlachsangeln hergekommen war. Er war es auch gewesen, der Victor tot auf dem Eis gefunden und per Handy die Polizeizentrale in Chukchi verständigt hatte. Active hatte ein leises Staunen nicht unterdrücken können, mitten auf dem Meereis ein Handy anzutreffen. Sicher, es gab keinen Grund, warum die Arktis oder die Inupiat für das Vordringen moderner Technologie weniger zugänglich sein sollten als der Rest der Welt. Oder weniger anfällig dafür. Und trotzdem. Der andere Zivilist war Darvins Anglerfreund, ein weißer Junge. Er hieß Willie Samuels. Active hatte die beiden gebeten zu warten, und sie beobachteten die Vorgänge von den Sitzen ihrer Schneemobile aus. Beide schüttelten verneinend den Kopf, als Active nach einer Säge fragte. Ein halbes Dutzend weiterer Zuschauer hielt sich in etwa fünfzig Meter Entfernung auf. Ein paar davon waren schon bei Actives und Vera Jacksons Eintreffen am Tatort gewesen. Der
Rest war nach und nach eingetrudelt. Active hatte sich ihre Namen und Telefonnummern notiert – oder die Hausnummern, wenn sie kein Telefon hatten – und sie dann weggescheucht, als sich herausstellte, dass Darvin und Willie die eigentlichen Entdecker der Leiche waren. Active überlegte, ob er bei den Gaffern nach einer Säge herumfragen sollte, als Willie ein Klappmesser herauszog und es öffnete. »Sie könnten es damit versuchen, wenn Sie wollen.« Active begutachtete das Messer. Die Klinge war mehr als zehn Zentimeter lang, viel länger als die des Leathermans an seinem Gürtel. Er sah Vera an. »Ich glaube, wenn wir es mit dem Messer da versuchen, rütteln wir so an der Harpune herum, dass wir gleich alles so lassen können, wie es ist. Die Riemen sehen mir sehr nach Ugruk-Haut aus. Extrem zäh.« Sie betrachtete Victor. »Aber ich könnte versuchen, sie herauszuziehen. Ganz langsam und vorsichtig. Vielleicht kann ich sie lockern, ohne dass die Wunde zu sehr aufgerissen wird.« »Ist sie nicht festgefroren?«, fragte Active. Vera schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, höchstens ein bisschen um das Loch herum. Er ist noch nicht sehr angefroren, wegen der warmen Kleidung. Es muss letzte Nacht passiert sein, würde ich sagen.« Active erwog ein paar Sekunden lang das Für und Wider. »Versuchen Sie, den Schaft nicht mehr zu berühren als unbedingt nötig«, sagte er schließlich. »Wir müssen ihn noch nach Fingerabdrücken untersuchen.« Darüber machte er sich allerdings keine allzu großen Sorgen. Wenn man bedachte, dass die Temperatur momentan bei etwa minus fünfzehn Grad lag und es in der Nacht noch ein paar Grad kälter gewesen war, schien es höchst unwahrscheinlich,
dass der Mörder die Harpune mit bloßen Händen geführt hatte. Fingerabdrücke waren nur eine entfernte Möglichkeit. Vera nickte und kniete sich wieder neben der Leiche hin. Sie öffnete einen Koffer, den sie zuvor neben Victor abgestellt hatte, streifte die Handschuhe ab und nahm eine Schere heraus. Der Reißverschluss von Victors schwerem Parka hatte offen gestanden, als die Harpune in seine Brust gedrungen war, aber Vera musste trotzdem noch durch eine Daunenweste, ein kariertes Wollhemd und ein Unterhemd schneiden, die alle mit gefrorenem Blut durchtränkt waren, bis sie die Eintrittswunde freigelegt hatte. Sie legte die Schere beiseite, zog die Handschuhe wieder an, packte den Schaft mit beiden Händen und ruckelte leicht daran. »Sieht so aus, als würde die Spitze festsitzen«, sagte sie. »Muss glatt durch ihn durchgegangen sein und am Rücken eine Rippe erwischt haben. Oder das Rückgrat.« Sie rüttelte abermals am Schaft, machte dann eine leichte Drehbewegung und schon ging es. Überraschend leicht glitt der Schaft mit einem feuchten Schmatzen aus Victors Brust. Vera taumelte nach hinten, fing sich aber schnell wieder. Dann sahen sie sich die fünfundzwanzig oder dreißig Zentimeter blutbeschmiertes Elfenbein an. Mit einem Ausdruck der Überraschung deutete Vera auf die Spitze, die überhaupt keine Spitze war, sondern ein gleichmäßig abgeschrägter Kegelstumpf, der aussah, als würde er in eine dazu passende Aufnahmehülse gehören. »Ich vermute, die Spitze ist in ihm stecken geblieben.« Active hörte das Brummen eines näher kommenden Motorschlittens und machte sich darauf gefasst, einen weiteren neugierigen Zivilisten verscheuchen zu müssen. Aber nein. Als er sich umdrehte, erkannte er den roten Parka und die breite, nicht mehr ganz junge Gestalt von Jim Silver, dem Chef der Stadtpolizei von Chukchi.
Der Polizeichef hielt an, stellte sein Schneemobil ab und trat zu Victor Solomons Leiche. Er deutete auf die Harpune in Veras Hand. »Darf ich mal einen Blick drauf werfen?« Active musterte einen Moment lang das pockennarbige Gesicht seines Gegenübers. »Sicher. Aber wir sind hier außerhalb der Stadtgrenze.« Silver grinste. »Immer mit der Ruhe, Nathan. Ich weiß, dass ihr Trooper hier draußen zuständig seid, aber ich hatte so ein unbestimmtes Gefühl, als ich von der Harpune hörte.« »Harpune? Aber wie…« »Bei dem Museumsdiebstahl ist eine verschwunden«, sagte Silver. »Das wissen Sie doch, oder?« Active starrte erst den Polizeichef an, dann die Harpune. »Nein, das wusste ich nicht. Ich dachte, sie hätten nur Onkelchen Frost gestohlen.« »Nee, nach den Papieren des Smithsonian Institute zu schließen gehörten noch ein paar andere Kleinigkeiten dazu«, sagte Silver. »Ein Amulett aus Mammut-Elfenbein mit dem Kopf einer Eule drauf. Und eine Harpune.« »Diese Harpune?« Silver zuckte die Achseln. »Sieht jedenfalls so aus wie auf dem Foto, das das Smithsonian geschickt hat. Heutzutage sind nicht mehr viele Harpunen im Umlauf, vor allem keine, die am gefährlichen Ende aus Elfenbein bestehen. Wie gesagt, ich hatte so ein Gefühl.« Active nickte Vera zu und sie überreichte Silver den Schaft. Er wischte Schnee und Reif von der Verbindungsstelle, wo die Teile aus Elfenbein und Holz miteinander verzurrt waren, und inspizierte mit zusammengekniffenen Augen das Rillenmuster, das er freigelegt hatte. Er grunzte und schüttelte den Kopf. »Scheiße, das hatte ich befürchtet. Es ist tatsächlich die Harpune von Onkelchen Frost. Verdammter Calvin.«
2
Onkelchen Frost war an einem windigen Morgen vor drei Tagen durch einen milchweißen Himmel eingeflogen. Zu just dieser Zeit musste sich Nathan Active nach zeitloser Eskimoart wegen seines neuen Schneemobils veräppeln lassen. »Also haben Sie sich für die Yamaha entschieden.« Jim Silver strich um die besagte Maschine herum und blieb neben dem Lenker stehen. Sein Parka stand wie üblich offen und ließ den Blick frei auf seinen hervorquellenden Bauch. Im Gegensatz zu Active schien Silver die Kälte nie zu spüren. Er rollte den Überzug vom einen Lenkergriff der Yamaha zurück und pfiff mit gespielter Bewunderung. »Beheizte Griffe, was? Yoi! Da wird Ihnen aber warm werden in der Wildnis.« Es war Silvers Rückfall ins »Village-Englisch«, das »Yoi!«, das Active hellhörig werden ließ. »Yoi!« bedeutete »So ein Glück!« oder »Ach, wie hübsch«, aber es hatte einen Beiklang jenes schlitzohrigen Inupiat-Spotts, in dem es Silver, obwohl selbst ein Weißer, während seiner langen Jahre in Chukchi zu wahrer Meisterschaft gebracht hatte. Active bewegte die Zehen gegen die Kälte und ging in die Defensive. »Die beheizten Griffe sind Standard. Ich hab sie nicht extra bestellt«, sagte er schließlich. »Aha.« Silver drehte eine weitere Runde um die Yamaha und trat dann einen Schritt zurück, ein breites, boshaftes Grinsen im Gesicht. »Aber warum gerade das Damenmodell?« Active dachte insgeheim ›Scheiße‹, laut sagte er: »Ja, na ja.« Er verkroch sich ein wenig tiefer in seinen Parka. Gegen den Wind, der über den Flugplatz von Chukchi fegte, und das, was Silver auch immer gegen ihn im Schilde führen mochte.
Silver berührte die Verkleidung der Yamaha mit den behandschuhten Fingern. »Ich sage ja nicht, dass dieser violette Farbton nicht ganz allerliebst ist, das ist er nämlich, aber…« Active wartete schicksalsergeben, während sein Atem sichtbar kondensierte. Der Wind trieb ihm die langen Deckhaare des Wolfsfells von der Krause seines Parkas in den Mund. Er blies sie weg. »Es ist nur so, hier zu Lande…« Silver legte eine Pause ein, als müsse er nachdenken, wie er den Gnadenstoß so menschenfreundlich wie möglich ansetzen konnte. »Na ja, hier zu Lande ist Violett eben die Frauenfarbe, und alles, was violett ist, läuft als Damenmodell. Violette Four-Wheeler, violette Pick-ups, violette Boote, violette Flugzeuge, violette Schneemobile. In Chukchi sind das alles Geräte für Damen. Ich dachte, Sie wüssten das.« Silver verließ seine Umlaufbahn um die Yamaha und setzte sich verkehrt herum darauf. »Der Sitz ist aber auch herrlich weich.« Er lehnte sich zurück, legte den Kopf auf den Lenker und seufzte hingebungsvoll. Dann blickte er Active an. »Normalerweise müssen die Händler die Violetten im Preis runtersetzen, damit sie sie loswerden. Hector hat Ihnen nicht zufällig einen Sonderpreis gemacht, hm?« Active zeigte Silver den Stinkefinger – einen behandschuhten Finger. Silver grinste und wackelte mit dem Kopf. »Hab ich mir gedacht. Aber ich betrachte das als gutes Zeichen. Sogar mit Rabatt ist ein neues Schneemobil für Sie eine größere Anschaffung, wenn man Ihre Sparsamkeit bedenkt. Darf ich das so interpretieren, dass Sie sich jetzt doch entschlossen haben, in Chukchi zu bleiben?«
»Nein, ich brauche nur einen fahrbaren Untersatz bis meine Versetzung durch ist. Wenn ich weggehe, stoße ich es wieder ab.« Silver grinste abermals. »So so.« Dann setzte er sich auf und schwang herum, sodass er Richtung Osten entlang der Hauptrollbahn des Flughafens von Chukchi blicken konnte. »Ich glaube, ich höre sie kommen.« Active spähte nach Osten durch den Dunst, den der Westwind im Frühjahr mit sich trug, und endlich hörte auch er das Grollen einer altmodischen Propellermaschine. Dann sah er sie, eine DC-6 der Arctic Air Cargo. Sie war nur ein Pünktchen über der Tundra östlich der kiesbedeckten Landzunge, auf der Chukchi mit seinen paar Schotterstraßen und meist ungetünchten Holzhäusern lag. Er deutete über die Lagune. »Das ist er?« Silver nickte. »Ja, wies aussieht, kommt Onkelchen Frost endlich nach Hause.« Drei Männer traten aus dem Büro der Arctic Air Cargo. Einer kletterte auf einen Gabelstapler und drückte den Anlasserknopf. Der Motor drehte ein paar Mal durch, dann sprang er vor Kälte stotternd und rumpelnd an. Die beiden anderen kamen auf die violette Yamaha zu. Ihre Stiefel knirschten auf dem schneebedeckten Asphalt. »Hallo, Billy, Horace«, sagte Silver, während die uralte Frachtmaschine sich auf die Landebahn zuplagte. Horace, der ältere der beiden, sah Actives Schneemobil an, dann Active, und wandte mit einem leisen Lächeln den Blick ab. »Horace ist zu höflich, um etwas zu sagen«, flüsterte Silver Active zu. »So sind sie, die älteren Eskimos. Sehr liebenswürdig.« Das wusste Active selbst, und Silver wusste, dass er es wusste. Er sagte nichts.
Billy andererseits war jung und nach Actives Einschätzung höchstens zur Hälfte Eskimo. »Hector hats also tatsächlich geschafft, Ihnen ein Damenmodell anzudrehen, hm? So ein Pech.« Billy verzog sein Gesicht in gespieltem Mitgefühl. »Meinem Onkel hat auch mal jemand so ein Ding verhökert. Als er schließlich rauskriegte, was das Violett bedeutet, hat er das Schneemobil aufs Eis rausgefahren, in Stücke geschossen und einfach stehen lassen.« Billy wandte sich ab, um eine Weile der einschwebenden DC-6 zuzusehen. Dann schwang er wieder zu Active herum. »Ich kann es gar nicht mit ansehen, wenn ein Naluaqmiiyaaq wie Sie auf einem Damenmodell sitzen bleibt. Wollen Sie vielleicht mein altes Polaris dagegen eintauschen? Ich könnte Ihre Yamaha meiner Freundin schenken. Sie ist ganz wild auf Violett.« Billy deutete auf ein verbeultes Wrack, das außerhalb des Maschendrahtzauns geparkt stand, der die Rollbahn umgab. Die halbe Windschutzscheibe des Polaris fehlte und der Sitz war derart mit silbernem Panzerband geflickt, dass von dem ursprünglichen Kunstlederbezug kein Fleck mehr zu sehen war. Zwei Spanngummis hielten die Motorhaube geschlossen. Horace lächelte wieder und Silver gluckste. Während die Reifen der DC-6 quietschend auf dem Asphalt aufsetzten, grübelte Active über die Ungerechtigkeit nach, dass er nach so langer Zeit immer noch als der Dorf-Naluaqmiiyaaq galt – das Inupiaq-Wort für einen Eskimo, der wie ein Weißer sein wollte. Sicher, er war in Anchorage aufgewachsen. Aber er war in Chukchi geboren und tatsächlich ein reinblütiger Inupiaq. Seine Adoptiveltern, ein weißes Lehrerehepaar, hatten ihn im Alter von achtzehn Monaten aus dem Dorf nach Anchorage
mitgenommen, weil sie die Nase voll hatten von der Wildnis und es mal mit Alaskas größter Stadt probieren wollten. Es stimmte zwar, dass er nur deshalb nach Chukchi zurückgekehrt war, weil seine Vorgesetzten bei den Alaska State Troopers ihn dorthin auf seinen ersten Posten gesetzt hatten. Und sicher, sobald seine Versetzung durch war, würde er noch am selben Tag im Flugzeug nach Hause sitzen, nach Anchorage. Aber inzwischen war er schon seit über zwei Jahren hier. Wie lange würde es noch dauern, bis er aufhörte, der Naluaqmiiyaaq zu sein? Im selben Augenblick flog ihm die richtige Entgegnung auf Billys Frotzelei zu, wie die Einflüsterung einer uralten Eskimo-Gottheit des Spottes. Er sah Billy an. »Wenn deine Freundin Violett mag, dann schenke ich es ihr vielleicht selber«, sagte Active. »Wie war das?« Er hob die Augenbrauen mit einem Grinsen, das hieß: »Du bist am Zug.« Diesmal lachte Silver lauthals und sogar Horace gluckste. Ein nachdenklicher Ausdruck überschattete Billys Gesicht, dann runzelte er die Stirn und ging hinüber zum Gabelstapler. Horace lief ihm nach und rief ihm etwas zu, das so ähnlich klang wie: »Manchmal benimmt sich dieser Naluaqmiiyaaq schon wie ein richtiger Eskimo, hä?« Aber Active war sich nicht sicher, weil der Gabelstapler im Leerlauf so laut knatterte. »Was führt Sie eigentlich bei diesem Wetter hier heraus?«, fragte Silver Active, während die DC-6 heranrollte. »Ich dachte, Onkelchen Frost geht ohne viel Trara direkt ins Stammesmuseum. Was haben die Trooper damit zu tun?« Active verzog das Gesicht. »Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass von Staats wegen eine Art Quittung und Verzichtserklärung unterschrieben werden muss, bevor Onkelchen Frost dem Museum übergeben wird. Damit alles schön legal und das Smithsonian glücklich ist. Und irgendwer
in Juneau hat anscheinend beschlossen, dass die Trooper die dafür zuständige Behörde sind. Wir haben einen Brief vom Generalstaatsanwalt bekommen mit der Anweisung, Onkelchen Frost in Empfang zu nehmen und die Papiere abzuzeichnen. Da bin ich also. In etwa fünf Minuten wird Onkelchen Frost Malcolm Aniraks Problem sein.« Er deutete auf einen roten Ford, der neben Billys Schneemobil hinter dem Maschenzaun einparkte. Ein Magnetschild an der Tür des Pick-ups besagte CHUKCHI TRIBAL COUNCIL, Stammesrat von Chukchi. Die DC-6 blieb vor dem Hangar der Arctic Air Cargo stehen und die vier großen Propeller flappten noch bis sie stillstanden. Die Ladetür schwang auf und gab den Blick auf eine Kiste frei, auf die man mittels Schriftschablone SMITHSONIAN INSTITUTE gepinselt hatte. Der Gabelstapler rollte auf das Flugzeug zu, während er gleichzeitig die Gabel hochfuhr. Roger Kennelly, der Journalist von KCHK, Chukchis öffentlicher Rundfunkstation – gemeinhin Kay-Chuck genannt –, brachte seinen Four-Wheeler am Zaun zum Stehen und kam auf das Vorfeld gerannt. Während der Gabelstaplerfahrer die Kiste auflud, zog Kennelly seine Kamera aus dem Rucksack und fing an zu knipsen, vermutlich für seinen Nebenjob als freier Mitarbeiter der Wochenzeitung Chukchi Bay Times. »Wie stehts mit Ihnen?«, fragte Active Silver. »Muss die Stadt auch für Onkelchen Frost unterschreiben?« »Nee, ich bin nur hier, damit die Inupiat Republican Army nichts Verrückteres anstellt als sonst auch. Da kommt sie schon, die IRA.« Silver ruckte mit dem Daumen in Richtung eines mageren, nervös wirkenden Inupiaq mit verspiegelter Sonnenbrille, der unmittelbar hinter dem Zaun von seinem Motorschlitten stieg. Auch ihm schien die Kälte nichts auszumachen. Er trug nicht einmal einen Parka, lediglich einen Polaranzug, ein Stirnband, das die Ohren schützte, und
Handschuhe, die für das Wetter viel zu dünn aussahen. Und sein Schneemobil wirkte viel zu alt, um beheizbare Griffe zu haben. Die Maschine – ein arg mitgenommenes Ski-Doo – sah aus wie ein Zwillingsbruder von Billys Polaris. Der hinten angekuppelte Hundeschlitten war ein wackliges Gebilde aus gesplitterten Hickoryhölzern, das mittels Treibholzstücken, Draht, Holzresten und Isolierband notdürftig geflickt war. »Ah, der berühmte Calvin Maiyumerak«, sagte Active. Silver nickte mit schiefem Grinsen. Maiyumerak erblickte die beiden Gesetzeshüter, hob die Faust zum revolutionären Gruß, ging dann zum Hundeschlitten und zog unter einer mit Spanngummis befestigten, blauen Persenning ein an eine Holzlatte genageltes Schild hervor. FREIHEIT FÜR ONKELCHEN FROST! stand in großen, roten Leuchtbuchstaben darauf. Maiyumerak legte es sich über die Schulter und ging zielstrebig auf Malcolm Aniraks Pick-up zu. »Ach du Scheiße, da muss ich dazwischengehen.« Für einen Mann seiner Größe und Masse bewegte sich Silver unglaublich schnell, während er durch das Tor im Maschendrahtzaun galoppierte und den Pick-up im selben Moment erreichte, als Maiyumerak das Schild über Aniraks Fenster auf das Wagendach knallte. Active ging näher heran, um sich die Sache anzusehen. »Freiheit für Onkelchen Frost!«, schrie Maiyumerak der geschlossenen Fensterscheibe des Pick-ups entgegen, die voller Reif war, sodass man Anirak drinnen kaum erkennen konnte. Der drückte auf die Hupe und bedeutete Silver, etwas zu unternehmen. Abermals schlug Maiyumerak mit seinem Schild auf den Pick-up ein. Anirak sprang heraus. Silver konnte gerade noch rechtzeitig dazwischengehen. Er griff mit der einen Hand nach Maiyumeraks Schild, packte ihn mit der anderen am Kragen und drängte ihn zwei Schritte
zurück. »Calvin, was habe ich dir gesagt?«, hörte ihn Active gerade fragen, als er den Zaun erreichte. Anirak knallte die Tür des Pick-ups zu und besah sich das Dach oberhalb des Fensters. »Er hat mir den Lack zerkratzt!«, sagte er. Kennelly kam angekeucht, stopfte seine Kamera in den Rucksack und zog ein Tonbandgerät heraus. Er schlang es an einem Tragriemen über die Schulter und hielt das Mikrofon zwischen Silver und Maiyumerak. Silver wischte es beiseite. »Herrgott nochmal, Roger, wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, Sie sollen mir das Ding nicht vor die Nase halten!« Kennelly ließ sich nicht davon abbringen, mit seinem Mikro dicht am Geschehen zu bleiben, diesmal aber etwas weiter von Silver entfernt. »Das hier ist eine öffentliche Einrichtung. Ich habe ein Recht darauf, die Vorgänge aufzuzeichnen«, sagte er. Silver seufzte und wirkte müde. Aber er schlug nicht mehr nach dem Mikrofon. Kennelly war ein Weißer, sehr jung, sehr ernsthaft, und Active befürchtete, dass er nach Chukchi gekommen war, um die Inupiat vor der westlichen Zivilisation zu retten. Es mangelte ihm an jeglichem Humor, allerdings mit einer bemerkenswerten, beinahe genialen Ausnahme: Soweit Active wusste, hatte Kennelly den Namen »Onkelchen Frost« für jene unidentifizierte Inupiat-Mumie aus dem Smithsonian geprägt, die soeben in Chukchi gelandet war. Jedenfalls hatte Active den Namen zum ersten Mal gehört, als Kennelly ihn bei einer Telefonsendung auf Kay-Chuck gebrauchte. Irgendwie war es Kennelly damit gelungen, sich in den heiteren Fatalismus einzuklinken, mit dem die Inupiat sich gegen die Unwägbarkeiten des Lebens wappneten, denn der Spitzname hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Von da an hieß die Mumie des Smithsonian nur noch Onkelchen Frost.
Silver wandte seine Aufmerksamkeit wieder Maiyumerak zu. »Ich hab dir das schon gestern erklärt, Calvin. Du kannst herumlaufen, deine Sprüche brüllen und mit deinem Schild herumfuchteln. Aber du darfst nicht damit auf etwas herumschlagen. Wenn du das tust, muss ich dich wegen Behinderung der Staatsgewalt festnehmen.« »Ich habe ein Recht auf freie Meinungsäußerung, und ich sage, dass man Onkelchen Frost draußen in der Tundra lassen soll, wie es bei den alten Inupiat Brauch war.« Maiyumerak schwenkte sein Schild. »Außerdem haben ihn diese Naluaqmiut von der Regierung genau dort gefunden.« »Ja, wir alle haben deine Leserbriefe gesehen und gehört, wie du mich auf Kay-Chuck beleidigt hast«, sagte Anirak. »Aber der Stammesrat hat nach dem Gesetz über indianische Gräber das Recht, Onkelchen Frosts Überreste an sich zu nehmen und sich auf die ihm am besten erscheinende Art darum zu kümmern.« Anirak, der Geschäftsführer des Stammesrates von Chukchi, war nach Actives Schätzung etwa vierzig Jahre alt, ein untersetzter Mann, der eine Brille mit schwarzem Gestell trug. Sogar heute war er in Hemd und Krawatte erschienen, lediglich mit einer Windjacke darüber. Vermutlich verließ er sich darauf, dass ihn die Heizung seines Fords für diesen kurzen Ausflug aus den Büros des Stammesrates schon vor den Unbilden der Witterung schützen würde. Active hatte ein paar Mal mit ihm über die Übergabe von Onkelchen Frost gesprochen und sich angehört, was er in einem Rundfunkinterview über die bevorstehende Ankunft der Mumie zu sagen hatte. Daraus hatte Active geschlossen, dass Malcolm Anirak vielleicht gebürtiger Inupiaq sein mochte, inzwischen aber zum reinrassigen Bürokraten mutiert war. »Kümmern! Ha!« Maiyumerak hob sein Schild, als wolle er jetzt Anirak damit eines über den Schädel ziehen, fing aber einen warnenden Blick von Silver auf und stampfte stattdessen
mit dem Stiel auf den verschneiten Schotter neben dem Zaun. »Ihr wollt Onkelchen Frost in eurem Museum in einen Glaskasten legen, damit die Naluaqmiut-Touristen ihn anglotzen können.« »Das ist der Auftrag, den mir der Rat erteilt hat, und genau das werde ich tun. Es wird ein sehr geschmackvolles und informatives Schaustück werden, nicht nur für Besucher von außerhalb. Unsere Schulkinder und auch andere Einheimische werden dadurch erfahren, wie wir gelebt haben, bevor die Naluaq…« Anirak warf Kennelly, der nicht nur weiß, sondern auch Reporter war, einen kurzen Blick zu und schaltete schnell um. »Bevor wir die westliche Art angenommen haben.« »Es ist trotzdem nicht richtig!«, schrie Maiyumerak. »Ihr müsst ihn in die Tundra legen, damit die Tiere ihn sich holen können. Das ist die Art der Inupiat. Zurück zur Erde, ein einziger großer Kreislauf.« »Das war die alte Art der Inupiat.« Anirak stieg wieder in seinen Kleinlaster und sprach durch die geöffnete Tür. »Die Dinge haben sich geändert. Wir brauchen das Geld, das Onkelchen Frost uns einbringen wird, sonst müssen wir die Stammesschule schließen. Unsere Bingorunden alleine bringen nicht genug ein, und Protestschilder schon gar nicht.« Anirak knallte die Tür zu und funkelte Maiyumerak durch die bereifte Scheibe an. Einen Moment lang sah es so aus, als wollte Maiyumerak wieder auf den Ford einschlagen, aber dann senkte er das Schild und ging zu seinem Schneemobil zurück. Kennelly trottete hinterher und interviewte ihn, während er das Schild wieder auf dem Hundeschlitten verstaute. Der Gabelstaplerfahrer deponierte Onkelchen Frost auf einem Pritschenwagen der Arctic Air Cargo, und Horace kam mit einem Klemmbrett auf Active zu. »Ich glaube, Sie müssen das hier unterschreiben.«
Active nahm das Klemmbrett, fischte unter seinem Parka nach einem Stift und unterschrieb schnell, bevor die Tinte in der kalten Luft erstarren konnte. Dann ging Horace vors Tor und reichte das Klemmbrett Anirak, der zum Unterschreiben das Fenster seines Pickups herunterkurbelte. Silver kehrte zu Active zurück und blieb neben dessen Yamaha stehen. »Kommen Sie mit rüber zum Museum? Ich glaube, Calvin hat sein Pulver noch nicht verschossen.« »Was denn, die Polizei von Chukchi wird nicht mit der IRA fertig? Sie rufen die Trooper zu Hilfe?« Silver streifte Actives violette Yamaha mit einem vernichtenden Blick, grinste und kletterte in den grün-weißen Bronco der Polizeidienststelle von Chukchi.
3
Als der Pritschenwagen mit seiner Eskorte aus Polizei, Presse und Malcolm Anirak das Museum erreichte, war Maiyumerak schon da und kettete gerade sein Ski-Doo an der Haspe fest, die die Schwingtüren zur Lagerhalle des Museums zusammenhielt. Das FREIHEIT-FÜR-ONKELCHEN-FROSTSchild hatte er mit Spanngummis aufrecht an eine Stütze seines Hundeschlittens gezurrt. Das Museum war ein braunes, buckeliges, zweistöckiges Holzgebäude, dessen Gestalt – so hatte Active jedenfalls gehört – an ein umgedrehtes Umiaq oder Walfangboot erinnern sollte. Silver kam angefahren, stellte den Dienst-Bronco ab und eilte mit dem Gesichtsausdruck eines Rekruten, den man gerade zum Latrinendienst verdonnert hat, auf Maiyumerak zu. »Hör zu, Calvin, Spaß ist Spaß, aber irgendwo muss Schluss sein. Sperr das verdammte Ding auf und geh aus dem Weg, sonst nehm ich dich auf der Stelle mit.« Kennelly stürmte mit Kamera und Mikrofon heran und Maiyumerak grinste erfreut, indem er ein schwarzes Loch entblößte, an dessen Stelle ein Schneidezahn hätte sein sollen. »Nur zu, wenn Sie einen politischen Gefangenen in Ihrem Gefängnis haben wollen. Nach der Charta der Vereinten Nationen zu den Rechten indigener Völker…« Maiyumeraks Stimme verklang, denn er sah nur noch Silvers Rücken, während dieser zu seinem Bronco stapfte. Der Polizeichef riss die Tür auf, griff sich das Mikrofon, und als die Telefonistin in der Zentrale sich meldete, schrie er hinein: »Lucy, schicken Sie jemanden von der Werkstatt mit einem Bolzenschneider zum Museum, ja! Und halbwegs
pronto bitte. Polizeimäßig eilig, nicht eilig wie irgendwann mal!« Er nahm Handschellen vom Beifahrersitz des Bronco und kam zu Maiyumerak zurück, dessen Gesichtsausdruck mittlerweile sehr beunruhigt war. »Sie dürfen die Kette nicht durchschneiden! Sie gehört Kobuk!« »Das ist Kobuks Kette?« Silver legte eine Hand darauf und seine Miene erhellte sich. »Genau, und ohne Kette müsste er im Haus bleiben«, sagte Maiyumerak. »Da habe ich ihn auch gelassen, als ich die Kette mitgenommen habe, aber er ist kein Haushund. Meine Großmutter wird nicht fertig mit ihm, sie ist zu alt.« »Kann man wohl sagen, dass er kein Haushund ist. Er ist ein gottverdammter Wolf, bloß doppelt so groß.« Silver starrte Maiyumerak an. »Aber das hättest du dir vorher überlegen sollen. Die Kette ist jetzt ein Beweisstück. Du wirst bei mir im Gefängnis stecken, während Dolly mit deinem verdammten Monster im Haus festsitzt. Und jetzt streck die Hände aus.« Maiyumerak versteckte die Hände hinter dem Rücken und wich zurück. »Warten Sie einen Moment, vielleicht könnte ich sie doch aufschließen.« Silver ließ die Handschellen sinken. »Na schön. Mach schon.« »In fünfzehn Minuten könnte ich sie aufschließen.« »Fünfzehn Minuten?« Silvers Lächeln erlosch. »Warum nicht sofort?« »Fünfzehn Minuten.« Maiyumerak schob die Lippen trotzig vor. »Das ist mein Protest. Fünfzehn Minuten.« Silver sah auf die Uhr, wollte etwas sagen, unterdrückte es aber und sah Malcolm Anirak an. Anirak, der sein Fenster heruntergekurbelt hatte und aus der Wärme seines Pick-ups heraus zuschaute, zuckte die Achseln. »Ich könnte ja solange eine Tasse Kaffee trinken gehen.«
»Gut.« Silver wandte sich zu Maiyumerak. »Du kannst deine fünfzehn Minuten haben, aber keine Sperenzchen mehr, wenn ich zurückkomme. Du nimmst die Kette weg und verschwindest, oder du wanderst ins Gefängnis. Genau wie damals, als du Robbenöl auf die Sitze des Ausflugsbusses gekippt hast, erinnerst du dich?« Maiyumerak präsentierte ihnen wieder seine Zahnlücke. »Hat gut gerochen.« »Nicht für die Touristen«, sagte Silver. »Für Touristen riecht Robbenöl wie tote Fische.« Maiyumerak grinste, dann wurde sein Ausdruck wieder verbissen. »Aber Sie müssen mich mit Ihrer Waffe bedrohen.« Silver stöhnte. »Ich ziehe meine Waffe nur, wenn ich auch schießen will. Willst du erschossen werden?« »Sie müssen mich mit Ihrer Waffe bedrohen. Dann kann ich meine Petition bei den Vereinten Nationen einreichen.« Silver fluchte und hielt die Handschellen in die Höhe. »Jetzt reichts aber, verdammt nochmal. Die Abmachung ist null und nichtig. Gib mir deine Hände.« Maiyumerak versteckte die Hände hinter dem Rücken und sah verbissener aus denn je. »Na schön, wie wärs damit?« Silver formte seine Hand zur Pistole, zielte damit auf Maiyumerak und bewegte den Daumen, als wäre er ein gespannter Hahn. »Symbolisch vorgehaltene Pistole, geht das auch?« Maiyumerak entspannte sich, grinste und hob hinter der verspiegelten Sonnenbrille die Augenbrauen zum Eskimo-Ja. Silver ließ die Hand sinken, straffte sich zu voller Größe und setzte eine gewichtige Miene auf. »Calvin Ray Maiyumerak, im Namen der Polizeibehörde von Chukchi…« »Und unter Verletzung der UN-Charta zum Schutz der Rechte indigener Völker«, sagte Maiyumerak.
»… und möglicherweise unter Verletzung der UN-Charta zu was auch immer, falls es so etwas gibt, befehle ich dir hiermit mit symbolisch vorgehaltener Waffe, dein verdammtes Schneemobil aufzusperren und das Gelände innerhalb von fünfzehn Minuten zu räumen, andernfalls wirst du festgenommen und im Polizeigebäude von Chukchi für unbestimmte Zeit festgesetzt.« Silver hob die rechte Hand, formte sie wieder zur Pistole, spannte den Daumen und setzte Maiyumerak den Zeigefinger mitten auf die Stirn. »In Ordnung?« Maiyumerak grinste und hob nochmals die Augenbrauen. Silver kniff sich kurz in die Nasenwurzel, dann wandte er sich ab und stiefelte zu seinem Bronco. »Ein ganz normaler Tag in den Annalen der Strafverfolgungsbehörde von Chukchi«, sagte er im Vorbeigehen zu Active. »Ich bin sprachlos vor Bewunderung«, meinte Active und bestieg seine violette Yamaha. Silver wandte sich auf einen letzten Blick zu Maiyumerak um, der sein FREIHEIT-FÜR-ONKELCHEN-FROST-Schild losgeschnallt hatte und über dem Kopf schwenkte, während er im Kreis vor der Lagertüre herumlief und Kennelly mit seiner Kamera drauflosknipste. Dann fuhr Silver mit einem misstrauischen Stirnrunzeln zu Active herum. »Für wen?« Active grinste und zuckte die Achseln. »Scheiß Calvin«, sagte Silver. »Wie wärs mit Mittagessen?«
Zwei Tage später, es war kurz nach Mittag, saß Active an seinem Schreibtisch im Büro, als Silver eintrat. »Scheiß Calvin«, sagte der Polizeichef. »Schon gehört?« »Was gehört?«
»Gestern Nacht wurde im Museum eingebrochen, und raten Sie mal, was fehlt?« »Was denn – Sie meinen Onkelchen Frost?« Silver nickte grimmig. »Im Ernst? Und es war Calvin?« »Wer denn sonst?« Active konnte sich ein leises Lächeln nicht verkneifen. »Und was hat er selbst dazu zu sagen? Dass er nur seine indigenen Rechte unter der UN-Charta zu was auch immer wahrgenommen hat, oder was?« »Er sagt, er wars nicht.« »Und was sagt die Beweislage?« Silver schnitt eine angeekelte Grimasse. »Herzlich wenig. So gut wie gar nichts, genau genommen. Jemand hat das Vorhängeschloss an der Lagerraumtür aufgebrochen, wahrscheinlich mit einem Brecheisen, ging rein, hat die Packbänder der Kiste gekappt, das Ding aufgestemmt, sich Onkelchen Frost geschnappt und ist abgehauen. Wahrscheinlich mit Schneemobil und Hundeschlitten, aber der Schnee um die Tür herum ist so festgestampft, dass er kaum eine Spur hinterlassen hat.« »Hat Calvin ein Alibi?« Silver kratzte sich die Kopfhaut am Haaransatz, wie es seine Gewohnheit war. »Seine Großmutter sagt, sie hätten gestern Abend zusammen ferngesehen und seien gegen elf oder zwölf ins Bett gegangen. Als sie ihm heute gegen neun seinen Morgenkaffee brachte, habe er noch schlafend im Bett gelegen.« »Hmm. Bisschen vage.« Silver nickte. »Dolly könnte uns etwas vorgeflunkert haben, um ihr Enkelchen zu schützen, wie es jede Aana mit einem Funken Selbstachtung tun würde. Oder vielleicht ist Calvin wieder weggegangen, während sie schlief, hat Onkelchen Frost
gestohlen, ihn irgendwo in der Tundra versteckt und sich wieder ins Haus geschlichen, ohne dass sie etwas gemerkt hat. Sie ist ziemlich taub, wenn sie ihr Hörgerät abnimmt.« »Und was jetzt?« »Nichts, außer es taucht jemand auf, der ihn dabei beobachtet hat. Oder Calvin hat einen Anfall von Schuldbewusstsein und legt ein Geständnis ab.« Active grinste mitfühlend. »M-hm.« Silver seufzte tief. »Scheiß Calvin.«
4
Am darauf folgenden Morgen war der Handyanruf von Darvin Reed auf der 911 eingegangen. Und deshalb stand Active jetzt, statt gemütlich durch den Freitag ins Wochenende zu gondeln, auf dem Meereis neben einem toten Mann in dessen Weißlachs-Camp. Die Identifizierung der Mordwaffe machte klar, dass der Museumsdiebstahl nicht einfach der letzte Akt in einer ungewöhnlich unterhaltsamen Aufführung des ewigen Straßentheaters von Chukchi gewesen war. Aber Calvin Maiyumerak? Silver sagte es schon wieder: »Scheiß Calvin.« Er stieß die Worte in Dampfstößen hervor, die der Wind davontrug. Dann reichte er Active die Harpune. »Sie glauben, dass Calvin das getan hat?« Active wies auf Victor Solomons Leiche, die immer noch über dem Loch im Eis lag. »Dieser Clown?« »Wissen Sie, womit sich dieser Clown seinen Lebensunterhalt verdient?« Active schüttelte den Kopf. »Unter anderem ist er Hundefänger.« »Was?« »Wir hatten hier früher ein Riesenproblem mit herrenlosen Hunden. Sie haben ständig Kinder gebissen, alte Aanas herumgehetzt und Fleisch gemopst. Irgendwann wurde es so schlimm, dass die Stadtverwaltung uns angewiesen hat, sofort zu schießen, sobald wir einen Streuner sehen. Aber Roger Kennelly hat im Rundfunk einen Bericht darüber gebracht und All Things Considered die Geschichte aufgegriffen. Danach hat
sich eine Tierschützergruppe aus der ›Außenwelt‹ eingemischt und das war das Ende vom Lied. Kein HundeKontrollprogramm mehr. Dachten wir jedenfalls. Kurz darauf zog Calvin von Ebrulik hierher. Und siehe da, plötzlich ließ das Problem mit den herrenlosen Hunden nach. Dolly verkauft seitdem angebliche Wolfspelzkrausen und -fäustlinge im Dutzend und jedermann ist glücklich.« »Calvin erschießt sie? Ist das den Leuten nicht ein bisschen unheimlich?« »Nein, er erschießt sie nicht«, sagte Silver. »Wie er es genau anstellt, sie zu fangen, ist ein ziemliches Rätsel. Er legt keine Fallen aus, sonst würde er mehr Kinder fangen als Hunde. Manche Leute sagen, er trägt in seinen Taschen fauliges Fleisch mit sich herum, um sie anzulocken, und bricht ihnen dann mit bloßen Händen das Genick.« Active zuckte zusammen, dann fiel ihm etwas ein. »Was geschieht mit den Kadavern?« »Um die kümmert sich Kobuk.« »Kobuk? Wer – ach so, der Hund, von dem er beim Museum gesprochen hat.« Silver nickte. »So geht das Gerücht. Ich bezweifle, dass selbst so ein Monster wie Kobuk mehr als ein, zwei Hunde pro Woche fressen kann, aber natürlich sind die meisten Huskys hier in der Gegend nur kompakte Mini-Schlittenhunde. Was weiß ich.« »Haben Sie das je überprüft?« »Um Gottes willen, warum sollte ich? Der Gemeinderat ist glücklich, ich bin glücklich, und was die Tierschützer nicht wissen, macht mich nicht heiß.« Active drehte und wendete die Harpune in der Hand und sah sich die Einkerbungen an. »Moment mal, haben Sie nicht gesagt, dass auf dem Amulett ein Eulenkopf war? Ist das hier nicht auch einer?«
Er drehte die Stelle so, dass Silver sie begutachten konnte. Zwei Kreise und ein senkrechter, leicht gekrümmter Strich: 0)0 »Zwei Augen mit einem Schnabel dazwischen?« »Schon möglich«, sagte Silver. »Das Smithsonian hat es als Eigentumsmarke bezeichnet, aber es sieht tatsächlich wie eine Eule aus, stimmt.« »Eigentumsmarke?« »Ja. So was wie ein Namenszug. Früher, bevor sie das Schreiben lernten, haben die Eskimos eine Art Symbole in ihre Harpunen eingeritzt. Wenn die Waffe dann in einer Robbe oder in einem Wal stecken blieb und später wieder auftauchte, wusste jeder, wem sie gehörte. Die Walfänger machen es heute noch so.« »Ja, das klingt sinnvoll«, sagte Active. »Aber warum hätte Calvin dieses Ding da benutzen sollen, um Victor Solomon umzubringen? Ich kann mir vielleicht vorstellen, dass er Malcolm Anirak harpuniert. Aber diesen alten Burschen?« »Victor Solomon ist – oder besser war – Vorsitzender des Stammesrates. Das wussten Sie nicht?« Active schüttelte den Kopf. »Der Generalstaatsanwalt hat uns Troopers deutlich gesagt, dass wir einen weiten Bogen um Stammesangelegenheiten machen sollen.« Silver grunzte zustimmend. »Ich wünschte, man würde uns Stadtpolizisten auch so eine Anweisung erteilen. Wie auch immer, Victor war derjenige, der den Rat gedrängt hat, eine Ausstellung mit Onkelchen Frost zu machen.« »Und Calvin wusste das?« »Aber klar doch. Letzten Monat hat Calvin bei einer Ratssitzung so viel Stunk gemacht, dass Victor unsere Jungs rufen musste, um ihn rauszuschmeißen. Und Victor hat mich gedrängt, Calvin wegen des Diebstahls von Onkelchen Frost einzusperren. Hat gedroht, sich beim Stammesrat zu
beschweren, sobald er vom Weißlachsangeln zurückkommt, falls Calvin bis dahin immer noch nicht hinter Gittern sitzt.« »Ich rufe wohl besser an und lasse ihn vorläufig festnehmen«, sagte Active. »Falls er noch in der Gegend ist. Haben Sie ein Funkgerät dabei? Meines habe ich schon ausprobiert, aber die Reichweite ist zu klein.« Silver brachte unter seinem Parka ein Walkie-Talkie zum Vorschein, versuchte vergeblich, die Zentrale in Chukchi zu erreichen und schüttelte den Kopf. »Zu weit weg.« »Ich hab mein Handy dabei«, sagte Darvin Reed. Er nahm es heraus, klappte es auf wie einen Kommunikator aus Raumschiff Enterprise und brachte es Active. Active sah Silver an. »Ich glaube, alle unsere Jungs sind unterwegs, außer vielleicht Carnaby. Könnten Ihre Leute sich vielleicht um Calvin kümmern?« Silver nickte und nahm das Mobiltelefon. »Wenn die Stadt mir bloß so ein Ding genehmigen würde.« Er kehrte dem Westwind den Rücken zu, während er wählte, und nestelte das Handy dann zum Sprechen unter die Kapuze seines Parkas. Während der Polizeichef der Einsatzzentrale sagte, sie solle zwei Beamte zu Dolly Maiyumeraks Haus schicken, um Calvin zur Vernehmung abzuholen, betrachtete Active wieder die Harpune in seiner Hand. Er musste sie in irgendetwas einwickeln, falls der Mörder Fingerabdrücke hinterlassen hatte, aber in seinem Koffer zur Beweisaufnahme, den er hinten auf den Gepäckträger der violetten Yamaha geschnallt hatte, war nichts groß genug dafür. »Haben Sie zufällig Müllbeutel dabei?«, fragte er Vera Jackson. Sie nickte und brachte ihm eine Rolle aus dem Akhio. Active wickelte die Harpune in zwei Müllbeutel und legte sie quer über den Sitz seiner Yamaha. »Wollen wir ihn jetzt auf den Schlitten legen?«, fragte Vera.
Active nickte und packte Victor an den Schultern, während Vera ihn an den Füßen hob. Victor lag auf dem Rücken in einer badewannengroßen Kuhle, die er in den Schnee geschaufelt hatte, um mit dem benzinbetriebenen Eisbohrer, der jetzt im Korb seines Hundeschlittens lag, sein Angelloch zu bohren. Sie hoben gleichzeitig an, aber Victors Oberkörper rührte sich nicht. Vera ließ seine Füße wieder fallen und runzelte die Stirn. »Sieht so aus, als wäre sein Parka festgefroren«, sagte Active. »Wahrscheinlich war etwas Wasser um das Loch herum.« Sie knieten sich in die Grube, bekamen den toten Mann mit Mühe aus seinem Parka heraus und trugen ihn dann zum Akhio. Vera ließ sich auf die Knie nieder, um den Körper in einen Leichensack einzupacken und auf dem Schlitten festzuschnallen. Active entdeckte eine Axt in der Kiste hinten auf Victors Schlitten und hackte damit den Parka aus dem Eis, bis schließlich das runde Loch von etwa fünfzehn Zentimeter Durchmesser zum Vorschein kam, durch das Victor seinen Weißlachs geangelt hatte. Sein Angelzeug – ein bumerangförmiges Stück Treibholz, Monofilament-Angelschnur und ein silberglänzender BalanceJig-Köder – lag noch im Schnee am Rand der Grube. Victor hatte es zum Zeitpunkt seines Todes anscheinend nicht benutzt, denn die Schnur war um das Treibholz gewickelt und der Köder mit einem seiner Haken hineingebohrt. Active schlug so viel Eis wie möglich von dem Parka weg, dann rollte er ihn zusammen, stopfte ihn in einen Müllbeutel und befestigte ihn gemeinsam mit der Harpune mittels Spanngummis am Gepäckträger seiner Yamaha. »Kann ich ihn jetzt in die Stadt fahren?«, fragte Vera.
Active nickte. »Bringen Sie ihn in die Leichenhalle im Krankenhaus, bis wir ihn zur Autopsie nach Anchorage schaffen können.« Vera zog die Augenbrauen hoch, drückte den Anlasserknopf des Sanitätsdienst-Schneemobils und fuhr davon. Immer wieder wandte sie den Kopf, um zu sehen, wie sich der Akhio im Schlepp verhielt. Silver gab Darvin Reed sein Handy zurück und hörte zu, wie Active die beiden Weißlachsangler vernahm. Sie hätten die Leiche vor etwa zwei Stunden entdeckt, sagten sie, unmittelbar vor Darvins Anruf, und nichts habe sich seitdem am Schauplatz verändert. Außer, dass noch mehrere Leute vor Actives Ankunft vorbeigekommen waren und überall ihre Fußabdrücke und Schneemobilspuren hinterlassen hatten. Active hatte kaum Hoffnung, verwertbare Abdrücke oder Fotos von Spuren des Mörders zu bekommen. Er sah Silver an. »Haben Sie noch irgendwelche Fragen an die Jungs?« Silver schüttelte den Kopf. »Gut, ihr könnt gehen«, sagte Active zu den Weißlachsfischern. »Wir sind noch gar nicht zum Angeln gekommen«, meinte Darvin. »Jaa, wir mussten den ganzen Morgen hier bei Ihnen bleiben«, sagte Willie. »Dann bohrt euch ein Loch und geht angeln.« Darvin deutete hinter Active. »Was ist mit Victors Loch? Können wir das benutzen, wenn Sie fertig sind?« Willie nickte bekräftigend. »Jaa, Victor wusste immer, wo die besten Löcher sind. Außerdem haben wir keinen Eisbohrer, und das da ist schon fertig.« Active schüttelte den Kopf. »Nein, dieses Loch ist Beweismaterial. Ihr haltet euch fern davon.«
»Und was ist mit denen? Sind das auch Beweisstücke?« Darvin deutete auf einen Stapel gefrorener Weißlachse neben Victors Zelt. »Vielleicht könnten wir die nehmen?« Es waren große Fische, zwischen sechzig und neunzig Zentimeter lang, nach Actives Schätzung. Er zählte nach – neun Stück. Sie sahen beinahe aus wie aufgestapelte Feuerholzscheite, wenn da nicht die Schwänze und die glasigen Augen gewesen wären, die blicklos übers Eis starrten. Sie waren leicht mit Schnee bestäubt, und es war offensichtlich, dass sie die ganze Nacht dort gelegen hatten, unberührt durch den Mörder oder sonst jemanden. »Victor hat hier keine Familie«, sagte Darvin. Active starrte Darvin einen Moment lang zornig an, dann ging er hin, zerrte den Stapel auseinander und überprüfte die Weißlachse nach irgendetwas, das Beweismaterial sein mochte. »Ja, gut, ihr könnt sie haben.« Darvin grinste, während er und Willie anfingen, die Weißlachse auf die Hundeschlitten hinter ihren Motorschlitten zu befördern. Active ließ den Blick über das Lager gleiten, dann trat er in Victors Zelt, das er gleich nach seiner Ankunft schon einmal durchsucht hatte. Ein Feldbett mit ein paar Karibufellen und einem Schlafsack, Kochgeschirr, eine Flinte. Nichts war durcheinander, nichts Offensichtliches fehlte, es gab kein Anzeichen dafür, dass das Zelt durchstöbert oder geplündert worden wäre. Er holte die Nikon aus seinem Parka und schoss mehrere Bilder mit Blitzlicht, dann ging er wieder hinaus und fotografierte das Eisloch, an dem Victor zusammengebrochen war. Es gab kaum Anhaltspunkte. Die einzigen Hinweise auf seine Person, die der Mörder hinterlassen hatte, waren die Harpune und das Loch in Victor Solomons Brust. Active wandte sich zu Silver: »Wir fahren am besten zurück und reden mit Calvin.«
»Was wird aus dem Zeugs?« Silver wies auf Victors Camp. Active runzelte ratlos die Stirn, dann fiel sein Blick auf Darvin und Willie, die die Weißlachse unter sich aufgeteilt und in die blauen Planen gewickelt hatten, die neben Klebeband unverzichtbarer Bestandteil des Lebens in der Wildnis sind. Gerade spannten sie die Fische mit Gummischnüren auf den Ladeflächen ihrer Schlitten fest. »He, ihr beiden. Ihr seid jetzt Hilfspolizisten. Ich möchte, dass ihr dieses Lager abbrecht und es bei den Troopers für mich abliefert.« Darvin runzelte die Stirn. »Arii, wir sind noch gar nicht zum Angeln gekommen.« »Na schön, dann heute Abend. Ihr könnt es mitnehmen, wenn ihr mit Angeln fertig seid und es mir morgen vorbeibringen. Aber macht keinen Unsinn mit Victors Sachen. Einfach nur aufladen und mitnehmen.« »Arii, Einpacken dauert zu lange. Wir müssen doch noch unser Eisloch bohren.« Darvin sah Active mit unschuldigem Blick an. Active betrachtete das Eisloch. Jetzt, da Victors Leiche weg war, würde es bald wieder zufrieren. Der Westwind fegte bereits Schneefahnen hinein und glättete die ausgezackten Kanten, die Active beim Heraushacken von Victors Parka aus dem Eis hinterlassen hatte. »Also gut, ihr könnt Victors Loch benutzen.« Active schüttelte den Kopf und versuchte, nicht daran zu denken, was seine Ausbilder an der Trooper-Akademie gesagt hätten, wenn sie von seiner arktischen Version der Tatortsicherung erfuhren. »Es ist kein Beweisstück?« »Nicht mehr.« Active schwang sich in den Sattel der Yamaha und drehte den Schlüssel. Silver tat es ihm nach und sie nahmen Kurs auf Chukchi.
5
Silver war als Erster im Ort und kam schon wieder aus dem Polizeigebäude herausgestürmt, als Active seine violette Yamaha davor anhielt. »Kein Calvin«, sagte Silver, als Active den Schlüssel herumdrehte und das Knattern des Schneemobils verstummte. »Seine Großmutter hat meinen Jungs erzählt, dass er draußen auf Karibujagd ist.« »Pfifft.« Active nahm seine Sonnenbrille ab und verstaute sie in der Hemdtasche. »Seit wann?« »Seit dem frühen Morgen.« »Pfifft.« »Ja.« »Reden wir mit ihr.« »Ja.« Active sperrte den Trooper-Suburban auf, der mit der Schnauze zum Polizeigebäude geparkt stand, langte von außen hinein und ließ ihn an. Während die alte Kiste warm lief, legte er Onkelchen Frosts Harpune und Victor Solomons Parka auf den Boden hinter dem Fahrersitz. Er zog seinen eigenen Parka aus und warf ihn vorne auf den Sitz. Anschließend schlüpfte er aus dem Refrigiwear-Overall und schmiss ihn auf die Rückbank. Als er den Parka wieder anzog, fiel ihm auf, dass Silver die Vorstellung verfolgte. »Schon mal gemerkt«, fragte Active, »dass in der Arktis auch die einfachsten Dinge kompliziert werden?« »Gehört eben dazu«, sagte Silver, während er auf der Beifahrerseite in den Suburban stieg. »Man ist so damit beschäftigt, sich um den Kleinkram zu kümmern, dass man gar
nicht dazu kommt, sich um die große Scheiße Sorgen zu machen.« »Und nach einer Weile gewöhnt man sich daran?« Active glitt hinters Lenkrad, knallte die Tür zu und schaltete die Heizung ein. Der Motor war noch zu kalt, um auch nur ein Quäntchen Wärme abzugeben, aber wenigstens kreischte der Lüfter schon lautstark. »Man ergibt sich in sein Schicksal, das trifft es besser«, schrie Silver, um den Lärm zu übertönen. »Sie hätten die Motorvorwärmung einstecken sollen.« Er deutete auf eine Reihe von Steckdosen, die entlang der Seite des Polizeigebäudes angebracht waren. »Die Trooper haben gerade Energiesparwoche«, sagte Active.
Silver dirigierte ihn zu Dolly Maiyumerak, die in einem winzigen Haus mit grüner Teerpappe an Dach und Wänden lebte. Ein Husky von der Größe eines Ponys tauchte aus einer schneebedeckten Öltonne auf, die an einem Ende aufgeschnitten war. Ein tiefes Grollen drang aus seiner Kehle, als sie aus dem Suburban stiegen. Die Reichweite seiner Kette wurde von einem kreisförmigen Archipel aus gelben Flecken markiert, gepflastert mit braunen Häufchen auf festgetrampeltem Schnee. »Das ist Kobuk?«, fragte Active. Silver nickte. »Ein MacKenzie-River-Husky. Die sind sozusagen halbe Wölfe.« Active betrachtete den riesigen Husky. Ein paar Knochensplitter lagen auf dem Harsch um seine Tonne herum. Sie hätten von allem stammen können, von Hühnern über Robben bis zu Karibus. Oder Hunden. »Langsam wird mir klar, warum es ein Problem werden könnte, ihn zu füttern.«
Silver lachte in sich hinein und sie gingen auf das Haus zu. Kobuks Grollen eskalierte zu einem zähnefletschenden Knurren, und er ging auf sie los, stoppte aber ab, kurz bevor ihn die Kette zurückgerissen hätte. Von nahem sah Active, dass der Hund einen dichten, silbergrauen Pelz und gelbe Wolfsaugen hatte. »Gott sei Dank ist die Kette nicht länger«, schrie Silver über Kobuks Getöse hinweg. Sie umgingen den Kreis des Huskys und betraten den Kunnichuk. Active klopfte an die innere Tür. Drinnen rührte sich etwas, dann eine Pause und schließlich knarrte die Tür ein paar Zentimeter weit auf. Eine alte Frau mit Zigarette und Hörgerät musterte sie abweisend. Ihr Blick wanderte von Silver zu Active und wieder zu Silver zurück, dem sie knapp zunickte. »Ich hab den anderen Kerlen schon gesagt, Calvin ist nicht da. Kommen Sie später wieder.« Active warf seine Kapuze zurück, stellte sich vor und streckte die Hand zum Gruß aus. Die Frau ergriff sie nach langem Zögern, erwiderte den Druck aber nicht. Es war, als schüttele man einen Handschuh voller loser Knochen. »Sie sind der Eskimo-Trooper, hm?« Er nickte und hob die Augenbrauen in der Hoffnung, dass diese Eskimoform des Ja ihm bei Dolly Maiyumerak ein paar Pluspunkte einbringen würde. »Sie sind genau wie Naluaqmiu-Trooper, habe ich gehört.« Ihr Blick wurde feindselig. »Dürfen wir hereinkommen, Mrs. Maiyumerak?«, fragte Active. »Um Ihnen ein paar Fragen zu stellen?« »Ich sag Ihnen, ich habe schon mit den anderen Kerlen geredet.« »Es dauert nicht lange. Dürfen wir hereinkommen?« Die alte Frau schwieg lange Zeit. Dann: »Sie können hier draußen fragen.«
Active zog seine Kapuze wieder hoch. Es war kalt im Kunnichuk. Ihr Atem gefror in der Luft. »Calvin ist heute Morgen zur Jagd gegangen, sagen Sie?« Die Frau hob die Augenbrauen. »Und wann ist er gegangen?« »Weiß nicht, halb acht vielleicht.« »Wissen Sie, wo er hin wollte?« Sie zuckte die Achseln. »Da, wo Karibus sind, würd ich sagen. Ich hab gesagt, wir brauchen Fleisch, er hat gesagt, er besorgt ein paar Karibus. Hat nicht gesagt, wohin er geht.« »Und was ist mit letzter Nacht? Haben Sie ihn letzte Nacht gesehen?« »Warum stellen Sie so viele Fragen? Er hat den anderen Bullen schon gesagt, dass er dieses Onkelchen Frost nicht hat.« Anscheinend hatte sie noch nicht von Victor Solomons Ermordung gehört. Active warf Silver einen Blick zu, und der antwortete mit einem fast unmerklichen Nicken. Einen Moment lang überlegte Active noch, dann kam er zu dem Schluss, dass es keinen Grund gab, die bereits allzu weit verbreiteten Umstände des Mordes zu verheimlichen. »Hier geht es nicht um den Einbruch. Letzte Nacht wurde Victor Solomon mit einer Harpune getötet, die zusammen mit Onkelchen Frost gestohlen wurde.« Er beobachtete Dolly Maiyumerak, während ihr Stirnrunzeln verschwand und das Gesicht zu einer unergründlichen Maske erstarrte. Sie blickte stumm zum Fenster des Kunnichuk hinaus. Active kannte diesen Ausdruck. Man begegnete ihm, wenn ein Eskimo einem Naluaqmiu gegenüberstand, der zu viele Fragen stellte. »Mrs. Maiyumerak?« Sie sog tief an ihrer Zigarette, atmete aus, nahm noch einen Zug, und als sie den Blick auf die beiden Männer richtete, waren ihre Worte in Rauch gehüllt: »Mein Enkel war gestern
den ganzen Tag zu Hause, bis vielleicht fünf oder sechs nachmittags. Dann war er drüben bei seiner Freundin, auch noch, als ich zu Bett bin. Ich glaub, ich hab ihn ein bisschen nach Mitternacht heimkommen hören, ungefähr, dann ist er gegen halb sieben aufgestanden, um zur Jagd zu gehen. Er hat Victor Solomon bestimmt nicht getötet.« Jetzt ergriff Silver das Wort. »Alle Welt weiß doch, dass sie sich nicht grün waren, Dolly. Victor hat Ihren Enkel immer Anaq genannt.« Sie zwinkerte verneinend. »Dann hat Victor es vielleicht nicht anders verdient. Aber Calvin hat es niemals getan.« »Wer ist seine Freundin?« »Diese Queenie. Wie heißt sie gleich wieder mit Nachnamen?« Die alte Frau sah Silver an. »Sie sagt die Bingozahlen im Lions Club an, wissen Sie?« »Buckland? Queenie Buckland?« Die alte Frau hob die Augenbrauen. »Dürfen wir hereinkommen, um uns Calvins Zimmer anzusehen?«, fragte Active. Sie blickte Silver an und verdrehte die Augen. Active wandte sich gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, dass Silver dasselbe tat. Sie riss die Tür weit auf und wies auf das Innere des Hauses. Es bestand aus einem einzigen nicht besonders großen Raum. Eine Ecke war mit einem Vorhang abgetrennt, der, dem Geruch nach zu urteilen, ein Campingklo verbarg. »Das da drüben ist mein Zimmer.« Dolly deutete auf ein Einzelbett an der einen Wand. »Und das ist Calvins Zimmer.« Jetzt zeigte sie mit einem glänzenden, nikotingelben Finger auf ein Sofa an der anderen Wand. »Und das ist meine Küche.« Sie wies auf einen zweiflammigen Campingkocher, der auf einem ramponierten Sperrholztisch unter ein paar ebenso
ramponierten Sperrholzhängeschränken stand. »Haben Sie jetzt genug gesehen?« Active suchte eine Weile nach Worten. ›Tut mir Leid, dass wir Ihnen Umstände gemacht haben‹, kam ihm in den Sinn, aber es schien nicht ganz zu passen. »Danke. Würden Sie uns anrufen, wenn Ihr Enkel heimkommt?« Er hielt ihr eine Visitenkarte hin. Sie zwinkerte ein Nein und schob die Karte weg. »Ich sag ihm, er soll Sie anrufen, wenn er will.« Active steckte die Karte ein und folgte Silver aus dem Kunnichuk hinaus. »Haben Ihre Leute schon mit der Freundin gesprochen?«, fragte Active, als sie wieder im Suburban saßen. Silver schüttelte den Kopf. »Nur mit Dolly. Queenie ist jungfräuliches Gebiet, sozusagen.«
Sie trafen Queenie Buckland in der Bingohalle des Lions Club an, wo sie gerade den Pepsi-Automaten in Vorbereitung für das abendliche Spiel auffüllte. Sie war groß, fett und breitschultrig, wie ein Footballspieler mit Brüsten. Ein schwerer Unterkiefer verlieh ihrem Gesicht eine gewisse bedrohliche Strenge, nur gemildert durch ihre lachenden Augen. Sie trug Turnschuhe, Jeans und ein T-Shirt mit der Aufschrift: Gefallen dir meine Scheinwerfer? Dann warte erst, bis du mein Heck siehst! Wie Maiyumerak fehlte auch ihr ein Schneidezahn, und Active fragte sich unwillkürlich, wie sich das beim Küssen auswirkte. Als sie sie fragten, ob sie ihren Freund tags zuvor gesehen habe, deckte sich ihre Antwort mit Dolly Maiyumeraks Darstellung. Calvin sei gegen sechs mit einem Weißlachs aufgetaucht, den sie zum Abendessen gekocht habe. »Wie lange ist er geblieben?«, fragte Active.
Queenie köpfte eine Pepsi und trank einen Schluck. »Mal sehen, erst haben wir die Millionärssendung geguckt, dann ein paar Stunden lang Sie-wissen-schon, und dann ist er heim, so um Mitternacht oder eins.« »Sie-wissen-schon?«, fragte Active. »M-hm.« Sie hob die Augenbrauen und lächelte ein breites Lächeln, präsentierte ihnen das Loch, wo der Zahn gesessen hatte. »Sie wissen schon. Quiyuk.« »Ein paar Stunden lang Quiyuk«, meinte Silver, als sie wieder in den Suburban stiegen. »Würde man ihm gar nicht zutrauen, dem mageren kleinen Scheißer.« Active grunzte. »Sie glauben ihr?« »Wegen der zwei Stunden?« »Wegen des Rests.« Silver zuckte die Achseln. »Sie könnte für ihn gelogen haben, genau wie auch Dolly gelogen haben könnte.« Active grübelte darüber nach, dachte an Victor Solomon, der tot auf dem Eis lag, an Calvin Maiyumeraks rostiges Schneemobil und das Einzimmerhaus von Dolly Maiyumerak. »Was ist eigentlich los mit Dolly und Calvin? Warum leben sie so? Wo sind seine Eltern?« »Sie wohnen oben in Ebrulik. Ich glaube, als Dolly zu alt wurde, um für sich selbst zu sorgen, hat ihr Sohn, Calvins Vater, ihn hergeschickt, um ihr zu helfen. Anscheinend kann Calvins Mutter die alte Dame nicht ausstehen, deshalb konnte sie nicht nach Ebrulik ziehen. Sie wissen ja, wie das so ist, mit Schwiegermüttern und Schwiegertöchtern.« »Hab davon gehört.« »Aber Calvin ist ein Halbwilder«, sagte Silver. »Er lebt so weit wie möglich nach Art der Alten und lehnt regelmäßige Arbeit ab. Bis auf diese Geschichte mit der Unabhängigkeit der Inupiat hat er wohl kaum eine Vorstellung davon, was in der Welt draußen vor sich geht.
Er stellt im Winter Fallen auf und im Sommer betreibt er Berufsfischerei. Dolly bezieht ein bisschen Rente und ein bisschen Wohlfahrt und näht Fäustlinge und Kapuzenkrausen von seinen Hundefängen und so kommen sie über die Runden. Irgendwie.« Active ließ den Suburban an und fuhr in Richtung Polizeigebäude. »Wenn man es so nennen kann.« Silver nickte. »Hartes Leben. Harte Menschen, denke ich.« »Hart genug, um Victor Solomon zu töten?« Silver schwieg und dachte nach. »Ja, ich denke schon. Ich glaube, dass Calvin den alten Victor schlicht und einfach gehasst hat. Und Sie wissen schon, es geht dieses Gerücht, dass er Hunde mit bloßen Händen tötet.« Silver schüttelte den Kopf. »Victor hat ihn immer Anaq genannt, oder?« Anaq gehörte zu Actives begrenztem, aber wachsendem Wortschatz der Inupiaq-Sprache. Es bedeutete Scheiße. »Ins Gesicht?« Silver nickte. »Und in aller Öffentlichkeit. Zum Beispiel, als Victor uns gerufen hat, um Calvin aus einer Stammesratssitzung zu werfen. ›Schafft dieses Stück Anaq hier raus, bevor ich es durchs Klo spüle‹, das hat Victor gesagt, als wir ankamen.« »Tja, typisch Eskimo.« Silver nickte. »Außerdem hat Calvin sich vermutlich gedacht, dass Victor Onkelchen Frost in der Tundra suchen und zurückbringen und dann einen Weg finden würde, Calvin wegen des Einbruchs ins Gefängnis zu bringen. Er musste wissen, dass die Angelegenheit nicht zu Ende war, solange Victor lebte.« Active dachte nach, während der Suburban sanft die Third Street entlangrollte, die einzige asphaltierte Straße in Chukchi. »Ich muss Calvin finden«, sagte er endlich. »Ja«, sagte Silver. »Das müssen Sie wohl.«
»So, das wär so ungefähr alles«, sagte Active eine Stunde später, als die Einsatzbesprechung zu Ende war. Er schloss sein Notizbuch und sah zu Captain Carnaby hoch, dem Kommandanten der Chukchi-Abteilung der Alaska State Trooper. »Wir müssen Calvin finden.« »Müssen wie, ja.« Carnaby kaute einen Moment lang auf seiner Unterlippe. »Calvin Maiyumerak, hm?« »Sie kennen ihn?« »Ein wenig. Habe ihn in der Stadt gesehen und im Radio über Inupiat-Unabhängigkeit schwadronieren hören… eine Art Hitzkopf, vermute ich.« »Es gab definitiv böses Blut zwischen ihm und Victor«, sagte Active. »Niemand lässt sich gerne die ganze Zeit Anaq nennen.« »Ja, der alte Victor konnte ein ziemlicher Saukerl sein.« Carnaby nickte, anscheinend in Gedanken verloren. »Und Silver sagt, dass Calvin Hunde mit bloßen Händen tötet, damit die alte Dolly sie zu Fäustlingen und Halskrausen für Touristen verarbeiten kann.« »Tatsächlich?«, meinte Carnaby. »Sieh mal einer an. Und wie wollen Sie Calvin finden?« »Es ist vermutlich sinnlos, ihm nachzuspüren.« »Ach?« Carnaby zog die Augenbrauen hoch, die weiße Geste des Nachfragens. Active schüttelte den Kopf. »Entweder er ist auf Karibujagd, wie Dolly behauptet, auch wenn sie vorgibt, nicht zu wissen, wo. Wenn das wahr ist, kommt er von selbst zurück.« Carnaby nickte. »Und?« »Falls er keine Karibus jagt, dann ist er auf der Flucht.« Carnaby nickte wieder und grinste. »Und wo sollte er hin?« »Genau. Ich glaube, es bleiben ihm nur drei Möglichkeiten, und keine davon taugt etwas. A, er kann sich in der Tundra verstecken, aber irgendwann werden ihm die Vorräte
ausgehen, und dann muss er in eine Ansiedlung kommen, oder vielleicht stößt auch schon vorher jemand zufällig auf ihn.« Active deutete auf eine Karte von Alaska, die an der Wand hinter Carnabys Schreibtisch hing. »B, vielleicht schafft er es mit seinem Wrack von Motorschlitten irgendwohin, wo er ein Flugzeug kriegen kann, aber da werden wir ihn schon erwarten.« Wieder ein Nicken von Carnaby. »Oder C, er kann sich bei einem Freund oder Verwandten in einem der Dörfer verstecken, vielleicht in Ebrulik, wo seine Eltern leben.« Carnaby grinste wieder. »Was heißt, dass es in ungefähr fünf Minuten das ganze Dorf weiß.« »Also können wir abwarten«, meinte Active. »Wir überwachen Dollys Haus hier. Ich habe bereits die Fluggesellschaften verständigt, die Polizeistellen in den Dörfern und die Trooper und Stadtpolizisten in Nome, Barrow, Kotzebue, Fairbanks und Galena. Und ich habe eine Meldung bei Kay-Chuck platziert, dass die Trooper mit Calvin Maiyumerak Kontakt aufnehmen müssen und jeder, der ihm begegnet, uns verständigen soll. Er muss einfach wieder auftauchen.« »Klingt gut.« Carnabys Grinsen war breiter denn je. »Unaufwändige Polizeiarbeit. Unaufwändig für unser Reisebudget, unaufwändig für die Personalsituation in diesem Büro.« Active grinste auch, weil Carnaby so geizig war. Die republikanische Regierung hämmerte den staatlichen Organen pausenlos ein, mit weniger Geld mehr zu leisten, und Carnaby schien immer Mittel und Wege zu finden, diesem sinnentleerten politischen Klischee Leben einzuhauchen. »Und noch dazu trägt die Stadtpolizei von Chukchi in diesem Fall
einen Teil der Kosten, wegen des Museumseinbruchs«, sagte Active, damit sich Carnaby noch besser fühlte. »Was ist mit der Harpune?«, fragte Carnaby. »Irgendwelche Fingerabdrücke darauf?« »Noch nicht überprüft. Möchten Sie das machen?« Carnaby nickte, grinsend vor Enthusiasmus. Die Beamten unter ihm – und über ihm – nannten ihn den Super-Trooper. Das lag nicht nur daran, dass er mit seinen knapp Einsneunzig, den breiten Schultern und dem kräftigen Kinn wie ein wandelndes Werbeplakat für den Polizeiberuf aussah. Ein weiterer Grund war, dass er für Kriminalfälle eine Art übersinnlicher Wahrnehmung besaß und polizeiinterne Politik mit der linken und gleichzeitig Lokalpolitik mit der rechten Hand jonglieren konnte. Außerdem war er Fingerabdruckexperte. Und zwar nicht nur ein Experte, sondern auch ein Enthusiast, der für Polizeizeitschriften Artikel über die Sicherung von Fingerabdrücken bei Minusgraden verfasste. Active ging in sein Büro und holte die Harpune für Carnaby. »Ich sage Ihnen in ein paar Stunden Bescheid«, meinte der Captain. Anschließend trottete Active die Treppe hinunter und machte sich auf den Weg zum GeoNord-Gebäude, um Grace Palmer zum Mittagessen im Arctic Dragon abzuholen. Zu ihrer beider Überraschung war Grace inzwischen Leiterin der Personalabteilung der Gray Wolf Mine, einer Tochterfirma der Geo-Nord-Gesellschaft, geworden. Eigentlich hatte sie nur eine vorübergehende Stelle als Verwaltungsassistentin annehmen wollen, hauptsächlich, um etwas zu tun zu haben, während sie überlegte, wie lange sie noch in Chukchi bleiben wollte. Aber wegen ihrer Intelligenz und ihrem Organisationstalent war sie schnell Büroleiterin geworden. Und dann war die Stelle an der Spitze der Abteilung frei
geworden, als ihr Vorgänger – ein Weißer aus Anchorage – zu dem Schluss kam, dass er einen weiteren sieben Monate dauernden Winter in Chukchi einfach nicht ertragen konnte, egal, was passierte. Er saß im nächsten Flugzeug nach draußen und Grace Palmer auf dem Chefsessel der Personalabteilung. Nachdem sie im Arctic Dragon angekommen waren und bestellt hatten – Rindfleisch Szechuan für ihn, Lachs Teriyaki für sie – skizzierte er ihr den Mordfall Victor Solomon. Theoretisch wurde es nicht gerne gesehen, wenn man Fälle mit jemandem besprach, der nicht zur Polizei gehörte. In der Praxis hatte er festgestellt, dass es immer hilfreich war – vor allem mit Grace. »Kennst du einen von den beiden?«, fragte er, als er fertig war. Er nahm einen Löffel Miso-Suppe und wartete auf ihre Reaktion. Sie runzelte einen Moment lang die Stirn, dann zwinkerte sie ein Nein. »Eigentlich nicht. Victor hat immer alleine gewohnt und hatte kaum Freunde, soviel ich weiß, höchstens ein paar in der Kirche. Ich glaube, er war zu – jähzornig, vielleicht? – um Freunde zu haben. Und ich glaube nicht, dass ich Calvin je begegnet bin. Hast du nicht gesagt, dass er erst vor ein paar Jahren von Ebrulik hierher gezogen ist?« Active nickte. »Und ich war eine ganze Weile weg, gelinde ausgedrückt.« »Sehr gelinde. Dann war Victor also ein Kirchgänger?« Sie nickte. »Ja, regelmäßig, jedenfalls solange ich hier war. Er war katholisch, und außerdem Gemeindediakon, glaube ich.« Active runzelte die Stirn. »Hmpf.« »Was?« »Es überrascht mich, dass er so fromm war.« »Warum?«
»Er klingt ein bisschen unchristlich. Keine Freunde, und Calvin hat er ständig als Anaq bezeichnet.« »Hat Calvin ihn deshalb getötet?« »Ich weiß nicht. Vielleicht. Glaubst du, du könntest dich ein bisschen umhören, was so in der Gerüchteküche brodelt? Manche Leute reden lieber mit jemandem, der hübsch ist und gut riecht, statt mit einem Trooper.« Er erstarrte innerlich, als ihm bewusst wurde, wie sich das für sie anhören konnte. Würde sie denken, dass am Ende doch die Sache an die Oberfläche drängte, über die sie nie offen sprechen konnten, ihre Zeit auf der Four Street in Anchorage, wo sie sich für eine Flasche Bacardi mit jedem Mann eingelassen hatte? Vielleicht tat sie das, denn die quecksilbrigen Augen verengten sich einen Moment lang. Dann lächelte sie. »Kein Problem. Ich höre mich um.« Er hob die Augenbrauen, dankbar, dass sie sein Dilemma erkannt und mit ihrem gewohnten Takt überspielt hatte. Dann brachte er das Gespräch auf das heutige Abendessen, ein unverfängliches Thema, aber es stellte sich heraus, dass Grace gar nicht zu Hause sein würde, wenn er von der Arbeit kam. Nita hatte ein Basketballspiel in der Schule, das Grace nicht verpassen wollte. Actives Stiefvater, Leroy Johnson, hatte vor einer Woche ein paar Frühjahrskaribus erlegt und gute Bratenstücke vorbeigebracht. Eines davon stand noch von gestern bei Grace in der Röhre, das konnte er sich aufwärmen. Aber er musste versprechen, auch den Salat dazu zu essen. Active hob die Augenbrauen. Wie immer fühlte er sich hilflos, wenn er sie ansah, so schön und so zerrissen. Die meiste Zeit war sie bezaubernd und beherrscht und sprühend. Aber dann wieder von Entsetzen geschüttelt und erschüttert, wann immer der Dämon ihrer Kindheit sie heimsuchte. Und trotzdem bemühte sie sich
immer, sich um seinetwillen und für ihre adoptierte Tochter Nita zusammenzunehmen, das einzig Wertvolle, was sie aus einer grässlichen Kindheit gerettet hatte. Er sah durch das Panoramafenster des Arctic Dragon auf die Beach Street und die Bucht von Chukchi hinaus. Unter dem hellen, diesigen Himmel und dem düster-roten Auge der Sonne wehte immer noch der Westwind heran. Er musste ein wenig zugenommen haben – inzwischen fegte er eine dünne Schicht Schnee vor sich her, die über dem Meereis wogte wie Nebel. »Was ist?«, fragte sie, und er merkte, dass seine Gedanken abgeschweift waren. »Nichts. Ich genieße deine Gesellschaft sehr, das ist alles.« »Mit Dank zurück«, meinte sie. Er lächelte und beschäftigte sich mit seinem Rindfleisch Szechuan. Grace senkte den Blick und konzentrierte sich auf die letzten Bissen ihres Salates, dann machte sie sich über den Lachs her. »Eine Kultur hinter Glas, in einem Museum«, sagte sie plötzlich. »Ich weiß nicht.« »Was meinst du?« »Bedeutet das nicht, dass sie tot ist?« »Keine Ahnung«, sagte er. »Ich hoffe nicht.«
6
»Es ist Jim Silver.« Active kämpfte darum, aus seinem wiederkehrenden »Schießtraum« mit der kraftlosen Revolverkugel aufzutauchen. Aber er nickte wieder ein und drückte weiter den Abzug einer nutzlosen Waffe, mit der er auf eine schemenhafte Gestalt zielte, die mit einem Schlachtermesser auf ihn zukam. Aber diesmal war das Messer nur schwer zu erkennen. Vielleicht war es etwas anderes, vielleicht… Grace Palmer stieß ihm den Antennenstummel des schnurlosen Telefons in die Schulter. »Wach auf. Es ist Jim Silver.« Er zuckte zusammen, wachte endlich ganz auf, rollte sich auf den Ellbogen und griff nach dem Apparat. »Ja, hier Nathan.« Er war wie immer nach dem Schießtraum ganz außer Atem und keuchte, was Silver am Telefon nicht entgehen konnte. »Hoffe, ich bin da nicht in irgendwas hineingeplatzt«, sagte der Polizeichef. Active brachte seine Atmung unter Kontrolle und zwang sich dann zu einem Auflachen, das, wie er hoffte, lüstern genug klang, um Silvers irrige Annahme zu bestätigen. »Nichts, was sich nicht fortsetzen lässt«, meinte er. »Was gibt es denn?« »Einer meiner Leute hat gerade eine Meldung durchgegeben«, sagte Silver. »Er ist vor einer Minute an Dolly Maiyumeraks Haus vorbeigefahren und Calvins Schneemobil stand vor der Tür.« Active räusperte sich und ging ins Badezimmer, während er sprach: »Hat Ihr Mann mit ihm gesprochen?« »Nein, er wollte weitere Anweisungen abwarten.«
Active hielt ein Glas unter den Hahn und ließ es voll laufen. Er trank zwei schnelle Schlucke. »Tut sich irgendetwas im Haus?« »Sieht nicht so aus. Die Lichter sind alle aus.« »Gut, ich fahre direkt dorthin«, sagte Active. »Bitten Sie Ihren Officer, so lange zu warten und die Dinge im Auge zu behalten, ja?« »Vielleicht fahre ich ja selber auch rüber.« »Gerne«, sagte Active. »Sie wissen ja, wie Calvin ist.« Er unterbrach die Verbindung, trat aus dem Badezimmer und sah Grace an, die ihn mit einer Mischung aus Vorwurf und Besorgnis anschaute. Er wandte den Blick ab. »Du hast wieder den Traum mit der Revolverkugel gehabt, nicht wahr? Und du wirst wieder zu Nelda Qivits gehen.« Er schwieg. Es hätte keinen Sinn gehabt, es abzustreiten. »Aber warum willst du denn nicht mit mir darüber sprechen?« Ihre Stimme war jetzt weniger herausfordernd als verletzt und besorgt. »Ich kann einfach nicht. Das weißt du doch.« Ihre fuchsgleichen Augen hielten seinen Blick einen Moment lang fest, dann rollte sie sich auf die rechte Seite und zog die Decke hoch, bis sie gerade über ihr linkes Ohr reichte. Das war ihre Schlafhaltung. Er stand wie erstarrt, wollte es nicht dabei belassen, aber ihm fiel nichts Passendes ein. Ob er es mit einem Scherz versuchen sollte? »Machst du dir keine Sorgen, dass Calvin Maiyumerak mich harpunieren könnte?« »Wie denn? Du bist doch ein Meister im Ausweichen.« Active schüttelte den Kopf und ging zurück ins Badezimmer, um sich das Gesicht zu waschen. Er betrachtete das Ergebnis im Spiegel und beschloss, dass er dem Image der Trooper keinen nicht wieder gutzumachenden Schaden zufügen würde,
wenn er sich heute mal nicht rasierte. Schließlich war Wochenende. Er verließ das Schlafzimmer und ging den Gang entlang an Nitas Zimmer vorbei, unter dessen Türspalt heimelig der Klang des samstagmorgendlichen Fernsehprogramms mit Trickserien für Kinder hindurchdrang, dann die Treppe hinunter in die Küche des Hauses, das Grace von ihren Eltern Jaron und Ida Palmer geerbt hatte. In diesem Haus fühlte er sich immer unwohl. Aber was ihm am meisten zusetzte, war der Gedanke, dass Grace in diesem Haus lebte, in demselben Haus, in dem sie vom eigenen Vater missbraucht worden war. Sie schlief sogar in seinem Bett. Active glaubte nicht, dass ihre Wunde jemals verheilen konnte, solange sie in diesem Haus wohnte. Sie glaubte, dass sie nur in diesem Haus heilen konnte. Sie sprachen nicht mehr darüber. Während er die Treppe hinunterging, grübelte er über ein Frühstück nach, das ebenso schnell zubereitet wie gegessen war. Eines, das keine größeren Anforderungen stellte als die Fähigkeit, eine Mikrowelle zu bedienen. Er durchstöberte den Kühlschrank und förderte noch eine Scheibe Karibubraten vom Vorabend zu Tage. Er legte sie auf ein Stück Zwieback, goss Ketchup darüber und wandte sich dem Kaffeeproblem zu. Im Gefrierfach des Kühlschranks war gemahlener Kaffee, das wusste er, und ein glänzender Mr.-Coffee-Automat befand sich auf der Küchentheke neben der Mikrowelle. Irgendwie zu viel Aufwand so früh am Tag. Dann erinnerte er sich, dass Grace bei früheren Gelegenheiten, wenn er über Nacht geblieben war, manchmal vergessen hatte, den Mr. Coffee nach dem Frühstück auszuleeren und abzuspülen. Er schüttelte die Kanne und tatsächlich, es plätscherte. Er goss sich eine Tasse ein,
platzierte sie in der Mikrowelle, stellte sie auf neunzig Sekunden und drückte den Startknopf. Da fiel ihm wieder ein, dass er die Schlafzimmertür nicht geschlossen hatte, und hoffte, Grace würde vom Geräusch des Mikrowellenlüfters nicht aufwachen. Ihre Stimme schwebte mit einem Hauch von Lächeln darin die Treppe herunter. »Das ist doch nicht der Kaffee von gestern, oder?« Er vermutete, es war ihre Art, das Traum-Thema auf sich beruhen zu lassen. Er betrachtete die Tasse durch das Fenster der Mikrowelle. Die ersten Dampfschwaden stiegen auf. »Nein, ich wärme mir nur das Karibu von gestern auf.« Er hielt den Atem an, während er abwartete, ob ihr Wahrheitsfindungsradar schon in Betrieb war. Als sie nach fünfzehn Sekunden nicht geantwortet hatte, begann er wieder Luft zu holen. Nach Ablauf der neunzig Sekunden schlang er den Zwieback mit Karibufleisch hinunter, ging nach draußen, stellte den Kaffee in den Getränkehalter des Suburban und ließ den Motor an. Als er das Gebläse einschaltete, begann es wie immer zu kreischen, und er fragte sich, wie viele Siebenmonatswinter die alte Karre wohl noch überstehen würde. Es war kurz vor acht, der Dunst hatte sich aufgelöst, der Westwind war eingeschlafen und der neue Tag brach an, klar und scharf wie gebrochenes Eis. Die Sonne stand knapp über dem östlichen Horizont und legte blaue und gelbe Lichtstreifen über das Dorf, während er zu Dolly Maiyumeraks Häuschen fuhr. Silver in seinem Bronco war schon da und stand Fahrerseite an Fahrerseite mit einem grünweißen Pick-up der Polizei von Chukchi. Beide Männer hatten die Fenster geöffnet und sprachen miteinander, während Active den Suburban am Straßenrand abstellte. Er ging zu Silvers Bronco, öffnete die Beifahrertür
und beugte sich hinein. »Wie ich sehe, sind die Lichter jetzt an. Sonst noch Lebenszeichen?« Silver nickte und sah auf die Uhr. »Dolly hat vor vier Minuten aus dem Fenster dort neben dem Kunnichuk gesehen und uns zugewinkt. Das ist so weit alles.« »Waren Sie an der Tür?« Silver schüttelte den Kopf. Active blickte sich um. Maiyumeraks Schneemobil stand rechts vom Kunnichuk geparkt, gerade außerhalb des Kreises, der die Reichweite von Kobuks Kette markierte. Der Schlitten war leer, wie Active feststellte, keine Spur von Blut oder Haaren auf dem Korbwerk zu sehen. »Sieh mal an«, sagte er. »Kein Karibu.« »Nee«, sagte Silver. »Die Jagd war wohl nicht so doll.« »Anscheinend«, meinte Active. Kobuk saß oben auf seinem zur Hütte umfunktionierten Ölfass und beobachtete die drei Besucher gelangweilt. Active vermutete, dass Silver und sein Beamter sich inzwischen so lange still verhalten hatten, dass Kobuk das Interesse verloren hatte. »Ich finde, wir sollten reingehen«, sagte Silver. »Das wär eine Möglichkeit«, sagte Active. »Oder?« »Oder wir könnten die Zentrale anfunken, dass sie Dolly per Telefon anklingeln und Calvin fragen, ob er zu einer kleinen Unterhaltung rauskommen möchte.« Silver verzog das Gesicht und schwieg. »Wenn man bedenkt, dass Dolly sowieso gemerkt hat, dass wir hier sind, von wegen Überraschungsmoment, hm…?«, meinte Active, um das Messer ein klein wenig in der Wunde herumzudrehen. Wegen der Geschichte mit dem Damenmodell.
Silver sagte: »Gute Idee.« Er schaltete das Mikrofon im Bronco ein und gab die Anweisungen an die Einsatzzentrale durch. Ein paar Minuten später fing das Funkgerät wieder an zu krächzen. »Dolly sagt, Calvin trinkt gerade seinen Frühstückskaffee und ihr Jungs sollt reinkommen und eine Tasse mittrinken. Sie kommt an die Tür.« Active sah Silver an, der die Augen verdrehte und zum Mikrofon griff. »Roger.« Silver machte ein Kopfbewegung zu dem Polizisten im Pickup hin. »Nathan, Sie kennen Alan Long?« Long war Inupiaq, etwa im selben Alter wie Active, mit rundem Gesicht und Hasenzähnen und ein bisschen zu viel Enthusiasmus. Wie Active sich dunkel entsann, war er als Soldat bei der Militärpolizei gewesen, außerdem war er ziemlich unbeliebt. Active nickte ihm zu und sagte: »Tag, Alan.« »Active«, erwiderte Alan seinerseits mit einem Nicken. Jetzt wusste Active wieder, was ihm Alan Long so unausstehlich machte. Hier nannte ihn jeder, der ihn auch nur oberflächlich kannte, »Nathan«, nur Long sagte »Active« zu ihm. Active zog Kopf und Schultern aus dem Bronco zurück und Silver fuhr so weit vorwärts, dass er hinter Longs Pick-up parken konnte. Der Polizeichef und Long stiegen aus und sie trafen sich bei der Heckklappe des Pick-ups auf der kompakten, spätwinterlichen Schneedecke. Active sah eine Bewegung an einem Fenstervorhang. Dolly Maiyumeraks Augen waren auf sie gerichtet, während er die Sicherungsschlaufe vom Hammer seines Revolvers löste und sie beiseite schob, damit sie beim Ziehen der Smith & Wesson nicht im Weg war. Silver lüpfte seine eigene Pistole zwei Zentimeter weit und ließ sie dann wieder ins Halfter zurückgleiten.
»Alan, haben Sie eine Flinte drüben im Pick-up?«, fragte Silver. Long nickte, ging zur Beifahrertür des Wagens und kam mit einer kurzläufigen Pump-Gun zurück. »Schrot?«, fragte Silver. Long hob die Augenbrauen und sagte: »Doppel-Null Rehposten.« Er repetierte und eine Patrone klickte in die Kammer. »Ich halte Ihnen den Rücken frei, Chef.« Silver warf Active einen verstohlenen Blick zu, schnitt eine Grimasse und verdrehte die Augen. »Vielleicht sollte er die Hintertür bewachen«, meinte Active. »In dem engen Kunnichuk kommen wir uns zu dritt nur gegenseitig ins Gehege.« »Da ist was dran«, sagte Silver. Long sagte hörbar enttäuscht »Klaro, Chef« und trottete zu einer Ecke der Hütte, von der aus er die Hintertür im Auge behalten konnte und trotzdem noch etwas Deckung hatte. Silver sah Active an und verzog abermals das Gesicht. »Ich muss unbedingt eine Frau für den Jungen finden. Er sieht zu viele Videos.« Active grinste, sagte »Klaro« und deutete auf den Schlitten, der an Maiyumeraks Schneemobil gekuppelt war. Aus einem Futteral, das an einer Strebe festgezurrt war, ragte ein Gewehrkolben. »Wäre es möglich, dass wir hier ein bisschen übertreiben?« »Vorsicht kann nicht schaden«, sagte Silver. Sein Parka stand offen, und erst jetzt bemerkte Active, dass der Polizeichef unter seinem Hemd eine dicke, kugelsichere Weste trug. Active hob die Augenbrauen zur universellen Geste des »Ich bin beeindruckt«. Silver zuckte die Achseln und sah ein wenig verlegen drein. Als sie den Kunnichuk betraten, fragte sich Active, ob er vielleicht auch eine Weste hätte anziehen sollen. Dann
bemerkte er eine langläufige Schrotflinte, die in einer dunklen Ecke des Kunnichuk lehnte, und entspannte sich etwas. Silver sagte er nichts davon. Eine gewaltige Gefriertruhe nahm den größten Teil von Dolly Maiyumeraks Kunnichuk ein. Die innere Haustür war links von der Truhe und nur eine Person hatte zwischen der Tür und der Seitenwand des Kunnichuk Platz genug, um anzuklopfen. »Ich kann das Anklopfen übernehmen«, sagte Silver. »Ich trage die Weste.« Active schüttelte den Kopf und dachte an die Flinte in der Ecke und das Gewehr draußen auf dem Schlitten. »Es ist ein Trooper-Fall«, sagte er. »Und Kevlar würde eine Harpune wahrscheinlich auch nicht aufhalten.« Er trat vor, klopfte und wich einen Schritt zurück, während Silver rechts hinter ihm an der Gefriertruhe stand. Active legte nicht direkt die Hand auf die Smith & Wesson, aber er schob seinen Parka zurück und hängte die Daumen in den Gürtel, sodass seine rechte Hand über der Waffe schwebte. Von drinnen hörte er Dolly sagen: »Anscheinend haben sie sich doch noch getraut.« Dann unverständliches Gemurmel von einer männlichen Stimme, schließlich näher kommende Schritte. Unwillkürlich krochen Actives Finger zum Griff der Smith & Wesson, als Dolly endlich die Tür öffnete und sie anfunkelte. Sie ließ die Szene auf sich wirken, schüttelte dann den Kopf und schwang die Tür weit auf, sodass sie freien Blick auf Calvin hatten. Er saß in Unterwäsche an einem kleinen und abgenutzten Klapptisch, lediglich mit einer Kaffeetasse und einer Zigarette bewaffnet. Er nahm einen Zug und sein zahnlückiges Grinsen blitzte auf. »Nur eine letzte Zigarette, bevor ihr mich erschießt.« Möglichst unauffällig nahm Active die Hände vom Gürtel und ließ den Parka über die Smith & Wesson
zurückschwingen. Hinter sich hörte er ein leises Rascheln, als Silver dasselbe tat. »Setzen Sie sich doch«, sagte Dolly. Sie setzten sich auf Campingstühlen an den Klapptisch und Dolly brachte ihnen Kaffee, während Calvin stumm seine Zigarette rauchte. Er wirkte beinahe, als würde er sich amüsieren. »Was ist mit dem anderen Typen?«, fragte er schließlich. »Welchem anderen Typen?«, erwiderte Active. »Dem, der hintenrum gegangen ist.« Silver schüttelte den Kopf. »Scheiße. Alan. Ich schicke ihn zurück.« Er stand auf und ging zur Tür hinaus. Dolly hoppelte zu dem an der Wand stehenden Einzelbett, setzte sich mit gerade ausgestreckten Beinen darauf und zog sich einen oberschenkellangen Daunenparka auf den Schoß. Eine Wolfskrause war bereits ein Stück weit an die Kapuze genäht und Dolly stach die Ahle an der Stelle wieder ein, wo sie vermutlich aufgehört hatte, als Active an die Tür klopfte. Während er sich fragte, ob die Krause wirklich aus Wolfsfell war, zog er sein Notizbuch heraus und sah Calvin an. »Ihre Großmutter hat Ihnen gesagt, warum wir hier sind?« »Sie sagt, dass Sie glauben, ich hab Victor Solomon getötet.« »Wollen Sie einen Anwalt?« »Ich hab nie jemanden getötet und brauch bestimmt keinen Anwalt.« Silver kam aus dem Kunnichuk zurück und nahm wieder Platz, während Active Calvin fragte, was er in der Nacht von Victors Ermordung getan habe. Calvins Angaben deckten sich mit Dollys und Queenies Aussagen. Alles stimmte überein, sogar der Teil mit den zwei Stunden Quiyuk mit Queenie, der Dame mit den schönen Scheinwerfern und dem noch schöneren Heck. Ein Lächeln stahl sich auf Dolly
Maiyumeraks Lippen, während sie sie vom Bett her beobachtete. »Ihr Schlitten ist leer«, sagte Active. Maiyumerak zuckte die Achseln. »Manche Leute behaupten, Sie wären ein guter Jäger. Aber Sie haben kein Karibu erlegt.« »Hab die Herde nicht gefunden. Heißt nicht, dass ich ein schlechter Jäger bin. Oder dass ich jemand getötet hab.« Active betrachtete Maiyumerak mit schief gelegtem Kopf. »Wer könnte es sonst getan haben? Wer ist denn von Victor aus der Versammlung geworfen worden? Wen hat Victor denn Anaq genannt und ihm gedroht, ihn durchs Klo zu spülen? Wer sonst hätte einen Grund gehabt, das Museum zu berauben und Victor zu töten?« Darauf ertönte ein lautes, angewidertes Grunzen vom Bett her, aber Calvin lächelte nur wieder zahnlückig. »Sie wollen wissen, wer es getan hat?« Niemand sagte etwas, aber Active hob die Augenbrauen. Dolly Maiyumerak fauchte auf ihrem Bett und rasselte in maschinengewehrartigem Inupiaq etwas herunter, was an Active völlig vorbeiging. Sie sah Calvin an, aber Active hatte das Gefühl, dass sie gleichzeitig ihn und Silver im Auge behielt. Calvin erwiderte ihren Blick und antwortete sanft etwas auf Inupiaq. Das einzige Wort, das Active verstand, war Aana. Dolly spie einen weiteren unverständlichen Inupiaq-Brocken aus und wandte sich dann wieder ihrer Arbeit an dem Parka zu. Calvin sagte zu Silver und Active: »Onkelchen Frost hats getan, das ist meine Meinung. Ich glaub, das Universum hat Onkelchen Frost eiskalt gemacht, und da ist er aus dem Museum ausgebrochen, hat Victor Solomon aufgelauert und ihn getötet, weil Victor ihn in die Vitrine stecken wollte, wo all
die Naluaqmiut-Touristen ihn angaffen können.« Er nickte, als wäre damit alles erklärt. Silver schnaubte. »Schluss mit der Zeitvergeudung, Calvin. Was würdest du dazu sagen, wenn ich dir erzähle, dass wir einen Zeugen haben, der deinen Motorschlitten in der Nacht des Mordes bei Victors Weißlachs-Camp gesehen hat?« »Das ist nicht…« Maiyumerak brach ab und langsam stahl sich ein Grinsen auf sein Gesicht. »Sie haben einen Zeugen?« »Das habe ich nicht gesagt«, antwortete Silver. »Ich habe gefragt, was du sagen würdest, wenn ich sage, dass wir einen Zeugen haben.« Maiyumerak betrachtete den Inhalt seiner Kaffeetasse. »Wenn Sie das zu mir sagen würden, würde ich antworten, dass da jemand voller Anaq steckt.« Da sein in Ehren ergrauter Polizeitrick durchschaut war, errötete Silver, sagte aber nichts. »Was war das für eine Geschichte, dass Onkelchen Frost eiskalt gemacht wurde?«, fragte Active. »Ist das…« »Das ist bloß dummes Geschwätz von ihm«, sagte Silver. »Aberglaube aus den alten Zeiten.« Calvin balancierte seine Zigarette auf dem Rand der Kaffeetasse. »Ihr Naluaqmiut seid ziemlich klug. Erfindet Schneemobile, Gewehre, Außenbordmotoren, Zigaretten. Sogar Naluaqmiiyaaqs wie Nathan hier sind klug, wahrscheinlich. Aber vielleicht wisst ihr doch nicht alles.« Er sah Active direkt ins Gesicht. Aberglaube oder Geschwätz, es war das erste Quäntchen Information oder Desinformation, mit dem Calvin freiwillig herausgerückt war. »Ich möchte mehr davon hören«, sagte Active. »Wir Naluaqmiiyaaqs müssen lernen, wo wir können.« Ein lautes Brummeln ertönte aus Dollys Richtung und Calvin grinste wieder. Schwer zu sagen, ob er damit Beifall für Actives Interesse bekundete oder Befriedigung darüber, dass
dieser leichtgläubige Naluaqmiiyaaq-Fisch den Köder geschluckt hatte. »Manchmal, wenn jemand stirbt und nicht richtig behandelt wird, dann kann er nicht in die nächste Welt weiterziehen«, sagte Calvin. »Das Universum lässt ihn eiskalt werden, so sagten die alten Eskimos dazu. Seine Ohren werden so scharf, dass er Füchse und Hasen durchs Gebüsch rennen hört. Er kann die Kälte nicht mehr spüren und sein Körper wird so leicht, dass er über die Baumwipfel wandern und über Flüsse springen kann, ohne nass zu werden.« Active beobachtete Dolly, während Calvin sprach. Ihr Blick ruhte auf der Krause in ihren Händen, aber ihre Hände waren still und ihre Körpersprache verriet, dass sie das Gespräch aufmerksam verfolgte. Calvins Hände fuhren durch die Luft, um das Baumwipfellaufen und Flussüberspringen zu untermalen, dann gab er einen langen Satz auf Inupiaq von sich und nickte abwesend. »Eiskalt gemacht vom Universum, so haben sie dazu gesagt.« »Und das soll mit Onkelchen Frost geschehen sein?« Calvin nickte wieder. »Und nun, da er Victor Solomon getötet hat, was wird jetzt?« »Jetzt legt er sich vielleicht auf der Tundra nieder, stirbt aufrichtige Art, tut niemandem mehr was zu Leide.« Dolly schien sich zu entspannen. Ihre glatt polierten alten Finger stießen die Ahle durch die Krause, und sie beugte sich vor, um die Naht zu überprüfen. Active stand auf. »Polizeichef Silver und ich müssen uns kurz im Kunnichuk besprechen«, sagte er. Er winkte Silver zur Tür, während Dolly und Calvin verwirrte Blicke wechselten.
7
»Was halten Sie davon?«, fragte Active, als sie im Windfang standen und die Haustür hinter sich geschlossen hatten. Silver zuckte die Achseln. »Seine Geschichte scheint zu stimmen. Er und Dolly und Queenie erzählen alle dasselbe über seine Aktivitäten Donnerstagnacht und Freitagmorgen.« Active nickte. »Ja, dieser Teil klingt plausibel. Aber – erinnern Sie sich, als Calvin anfing zu erzählen, dass Onkelchen Frost vom Universum eiskalt gemacht worden sei? Dolly hat ihn auf Inupiaq angeschrien und er hat etwas erwidert, was sie wieder beruhigt hat. Anschließend hat er uns erzählt, dass Onkelchen Frost über Baumwipfel schreitet und Victor Solomon getötet hat.« Silver nickte. »Haben Sie denn was davon verstanden? Für mein Inupiaq war es viel zu schnell.« Silver kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Nicht allzu viel. Für mich war es auch zu schnell. Ich glaube, sie hat ihm gesagt, er solle nicht herumblödeln und er hat erwidert, keine Sorge, wir können so viel pukuk wie wir wollen, das macht nichts.« »Pukuk?« »Ja, das bedeutet so viel wie herumstöbern, seine Nase in alles reinstecken. Wie ein kleines Kind oder eine Maus oder ein Wiesel.« Active schürzte die Lippen. »Wir müssen sie trennen. Lesen Sie Calvin seine verfassungsmäßigen Rechte vor und schaffen Sie ihn raus. Ich bleibe zurück und rede mit Dolly.«
»Wir haben nicht genug in der Hand, um ihn zu verhaften. Das Büro der Pflichtverteidiger hat ihn in dreißig Minuten wieder draußen.« »Sie verhaften ihn ja gar nicht. Sie schaffen ihn nur raus in Ihren Pick-up, während ich mit Dolly rede.« Silver blickte zweifelnd drein, dann grinste er und nickte. »Ist Ihr Fall, Kumpel. Soll ich ihn fragen, was sie da drin zu ihm gesagt hat?« Active dachte nach. »Nein, überlassen Sie die Befragung mir. Das macht es einfacher, die Aussagen zu vergleichen.« Silver nickte und sie gingen zurück ins Haus. Calvin hatte sich inzwischen angezogen, braune Kordhosen, ein verblichenes grünes Sweatshirt mit Kapuze, Reißverschluss und dem bekannten Nike-Haken. Dolly saß immer noch mit ihrem Parka und der Krause auf dem Bett. Silver befahl Calvin aufzustehen und teilte ihm mit, dass er in Verbindung mit dem Mord an Victor Solomon festgenommen sei. Dolly kam von ihrem Bett heruntergeschossen und legte ihre Hand schützend auf Calvins Ellbogen. »Er hat niemand umgebracht. Sie lassen ihn zufrieden.« »Bitte gehen Sie von Calvin weg, Mrs. Maiyumerak«, sagte Active. Er stellte sich zwischen die beiden und plötzlich war Calvin von den Beamten eingekeilt. »Ich sag Ihnen doch, ich hab nie einen mit ‘ner Harpune gestochen«, sagte Calvin, während Silver ihm seine Rechte herunterleierte. »Das ist schon wieder ‘ne Verletzung der Charta über die Rechte indigener Völker.« Silver verdrehte die Augen und nahm ein Paar Handschellen vom Gürtel. »Sind die wirklich nötig?« Calvin wirkte einen Moment lang trotzig, dann eingeschüchtert, und schließlich schüttelte er heftig den Kopf, während er Nein zwinkerte.
»Dann lass uns gehen.« Silver legte seine Hand zwischen Calvins Schulterblätter und schob ihn zur Tür. Sie betraten den Kunnichuk und gleich darauf hörte Active die äußere Tür zuschlagen. Er drehte sich zu Dolly Maiyumerak um. Sie war aufs Bett zurückgekehrt, arbeitete aber nicht an ihrem Parka, sondern saß mit geradem Rücken auf der Kante und hatte die Hände in den Schoß gelegt. Active ging auf sie zu und blieb vor ihr stehen. »Ihr Enkel könnte in ernsthaften Schwierigkeiten sein, Mrs. Maiyumerak.« Sie schob trotzig die Lippen vor, aber in ihren Augen stand die Angst. »Er ist ein guter Junge, nur ein bisschen verrückt vom Träumen von der alten Zeit, als noch keine Naluaqmiut da waren. Er hat niemand getötet. Er sorgt für mich, das ist alles, was er tut.« Active, der sich in seiner Haut gar nicht wohl fühlte, setzte sich neben sie. »Vielleicht müssen Sie nach Ebrulik zurück und bei Ihrem Sohn und seiner Frau wohnen.« Dolly zuckte zusammen. »Ich hab Calvin gesagt, er soll keine Spielchen mit euch machen. Aber er denkt immer, er ist so klug. Und jetzt stecken Sie ihn ins Gefängnis und… ah-haah, ah-haah…« Active wartete, bis ihr Schluchzen etwas verebbt war, dann tätschelte er der alten Dame die Schulter. »Es sei denn, Sie können uns etwas sagen, das uns hilft, den wahren Mörder zu finden. Falls es nicht Ihr Enkel ist.« Dolly setzte wieder die Eskimomaske auf und Active ließ sie eine Weile in ihrer Undurchdringlichkeit schmoren. Dann stand er demonstrativ auf und zog den Reißverschluss seines Parkas zu. »Kommen Sie hier alleine zurecht, während Ihr Enkel weg ist? Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen?« Die Maske bröckelte und Dolly verwandelte sich in eine verängstigte alte Frau, die ihn aus rot geränderten Augen
anstarrte. »Calvin hat gesagt: ›Red mit niemandem nich, Aana.‹« Active setzte sich wieder neben sie. »Calvin möchte bestimmt nicht, dass Sie wieder nach Ebrulik ziehen müssen.« Dolly seufzte, wischte sich die Augen mit dem Saum des roten Parka und warf Active einen furchtsamen Blick zu. »Jemand hat Calvin besucht, hat darüber gesprochen, dass Onkelchen Frost aus dem Museum gestohlen worden ist.« »Sie meinen Jim Silvers Leute? Die Stadtpolizei?« »Nein, nicht die.« »Wer denn dann?« »Sie können ja Calvin fragen.« »Aber wenn er es uns nicht erzählt?« »Whyborn Sivula.« »Wer?« »Whyborn Sivula.« Das war der seltsamste Name, den Active je gehört hatte. Er war sicher, dass ihn nie zuvor jemand in seiner Gegenwart erwähnt hatte. »Whyborn Sivula hat Ihren Enkel besucht?« Dolly hob die Augenbrauen. »Wer ist Whyborn Sivula?« »Alter Mann.« »Von hier?« Wieder hob sie die Augenbrauen. »Wann war das?« Sie dachte nach und sagte schließlich. »Mittwochnachmittag, vielleicht.« Active rechnete zurück zu Onkelchen Frosts Ankunft und wollte gerade einwenden, dass der Diebstahl am Mittwoch noch gar nicht stattgefunden hatte, als Dolly einwarf: »Nein, Donnerstag. Whiyborn war am Donnerstag hier. Donnerstagnachmittag.«
Das passte. Onkelchen Frost war Mittwochnacht aus dem Museum verschwunden, oder in den frühen Morgenstunden des Donnerstags. Die Nachricht war Donnerstagmittag auf Kay-Chuck gesendet worden. »Was hat Whyborn über den Diebstahl gesagt?« Dolly zuckte die Achseln. »Er war mit Calvin im Kunnichuk, wie Sie und Jim Silver gerade. Ich habe nichts gehört.« »Hat es Ihnen Calvin danach erzählt?« »Er hat gesagt, Whyborn wollte wissen, ob er Onkelchen Frost gestohlen hat. Er hat Whyborn gesagt, er war es nicht, und dann ist Whiyborn wieder gegangen.« »Warum hat sich Whyborn für Onkelchen Frost interessiert?« »Ich weiß nicht. Mein Enkel hat mir nichts erzählt.« Active zog sein Notizbuch heraus und schrieb Whyborn Sivulas Namen auf. »Ich danke Ihnen, Mrs. Maiyumerak.« Sie schielte mit ihren vor Sorge rot geränderten Augen zu ihm hoch. »Wird mein Enkel heute zurückkommen? Dieser Kobuk, er hat noch kein Futter.« »Ich werde für ihn tun, was ich kann.« Die alte Dame sah so aus, als wäre sie überzeugt davon, dass er sie anlog, aber sie sagte nichts. Sie wandte den Blick ab, zog etwas Zahnseide aus einer Schachtel, fädelte sie auf ihre Ahle und machte sich wieder an die Arbeit an dem roten Parka. Active verließ das Haus und ging zu Silvers Bronco. Eine Dampfwolke bildete sich in der kalten Luft über dem Auspuff, während der Motor im Leerlauf tuckerte. Calvin war gegen die Beifahrertür gesunken und schien zu schlafen. Silver hatte den Kopf gegen die Nackenstütze gelehnt, aber seine Augen standen offen. Er grinste und fuhr das Fenster herunter, als er Active näher kommen sah. »Na, haben Sie die alte Dame geknackt, Sie Teufelskerl?«
Active ging nicht darauf ein und betrachtete Calvin, der sich zu regen begann. »Gehen wir eine Minute in den Suburban.« Silver griff nach Calvins Schulter und schüttelte ihn. »Ich muss mit Nathan sprechen. Fass hier nichts an, während ich weg bin, ja?« Calvin schüttelte den Kopf und wirkte mitgenommen. »Was?« »Schlaf einfach weiter.« Calvin lehnte den Kopf gegen das Beifahrerfenster und schloss die Augen wieder. »Er war die ganze Nacht draußen in der Kälte«, sagte Silver. »Sonst geht es ihm gut.« Silver stellte den Motor des Bronco ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. Sie gingen über die Straße zum Suburban und stiegen ein. Active ließ den Motor laufen, schaltete den Lüfter an und legte die Finger über eine Düse, um zu sehen, ob die Heizung noch Wärme abgab. »Kennen Sie Whyborn Sivula?« »Sicher. Hat für das Elektrizitätswerk von Chukchi gearbeitet, ist jetzt aber im Ruhestand. Bezieht vermutlich eine Art kleine Pension. Jagt, fischt, stellt Fallen und führt auch eine Walfangmannschaft, glaube ich. Warum?« »Er hat Calvin am Tag nach dem Museumsdiebstahl besucht und gefragt, ob er es war.« »Im Ernst?« »Sagt jedenfalls Dolly. Ist sein Name jemals im Zusammenhang mit den Museumsermittlungen aufgetaucht? Sitzt er auch im Stammesrat?« Silver schüttelte den Kopf. »Nein, wir haben seine Spur noch nie gekreuzt. Was hat Calvin ihm geantwortet?« »Laut Dolly, dass er es nicht getan hat. Haben Sie irgendeine Ahnung, wo wir Whyborn finden können?«
Silver kratzte sich nachdenklich den Kopf. »Er wird vermutlich schon in sein Walfang-Camp gezogen sein.« »Können Sie mir sagen, wie ich da hinkomme?« »Sicher, es ist oben bei Cape Goodwin. Sie überqueren einfach die Bucht hier…« »Nein, nicht jetzt, erklären Sies mir später, auf der Karte. Fragen wir lieber Calvin, worum es bei dem Gespräch ging.« »Einen Moment noch«, sagte Silver. »Da ist noch etwas. Hat Dolly einen Jungen namens Lemuel Bass erwähnt?« »Wen?« »Lemuel Bass.« Active schüttelte den Kopf. »Warum?« »Während Sie bei Dolly drin waren, hat die Zentrale sich gemeldet, um mir mitzuteilen, dass Lemuel in Harrimans Laden erschienen ist und versucht hat, ein Amulett gegen ein paar Pokemon-Karten einzutauschen. Der alte Tim Harriman hat eine der Listen der gestohlenen Gegenstände, die ich verteilt habe, deshalb hat er gleich in der Zentrale angerufen, als er das Amulett zu Gesicht bekommen hat.« »Unser Amulett?« »Mammutelfenbein mit einem Eulenkopf.« »Hat der Junge gesagt, woher er es hat?« »Glaube nicht. Anscheinend hat er sich verdrückt, während Harriman telefonierte.« »Wer ist er?« »Seine Familie lebt in einem Camp oben an der Katonakmündung«, sagte Silver. »Vater Weißer, Mutter Eskimo, fünf oder sechs Kinder, hab vergessen, wie viele genau, außerdem zeitweise noch Onkel, Tante und ein oder zwei Cousins. Lemuel ist jetzt um die acht, würde ich sagen.« »Hat Calvin die Meldung gehört?« Silver schüttelte den Kopf. »Ich bin zum Suburban, um sie zu empfangen.«
»Mal sehen, was Calvin weiß«, sagte Active. Die beiden Männer kletterten aus dem Suburban und überquerten die Straße zu Silvers Bronco. Silver wollte die Fahrertür öffnen, aber Active, der sah, dass Calvin auf der anderen Seite immer noch schlief, hob abwehrend die Hand. Er ging auf die Beifahrerseite, packte den Griff und riss die Tür auf. Mit einem überraschten »Arii!« fiel Calvin in Actives Arme. Active zog ihn auf die Füße und blieb so dicht vor dem Hundefänger stehen, dass er gegen den Bronco gedrückt wurde. Active reckte den Kopf vor, bis sich ihre Nasen beinahe berührten und bekam einen kräftigen Schwall von Calvins abgestandenem Schlafatem ab. »Was haben Sie Whyborn Sivula über den Einbruch erzählt?« Calvin wischte sich einen Speichelfaden vom Kinn. »Was? Wer?« »Whyborn Sivula. Was haben Sie ihm über den Einbruch erzählt?« »Ich habs nicht…« Active schob sich noch näher und legte die Hand an die Hüfte mit der Waffe. Silver war um den Bronco herumgekommen und stand jetzt dicht neben Active, sodass Calvin eingekeilt war. »Ich habs nicht getan, das hab ich ihm gesagt.« Calvins Worte verhaspelten sich, als ob er befürchtete, Active könnte die Waffe aus dem Hüfthalfter ziehen. Active trat einen halben Schritt zurück, zog ein Taschentuch aus der Hüfttasche und hielt es Calvin hin. »Sie haben eine Stelle vergessen.« Er deutete auf Calvins Kinn. Calvin nahm das Taschentuch und wischte den Speichel weg. Er knüllte das Tuch zusammen und hielt es Active hin.
»Behalten Sies«, sagte Active. »Was haben Sie ihm noch gesagt?« »Gar nichts, ich hab ja nichts…« »Was hat er Ihnen erzählt?« »Nichts, er wollte bloß wissen…« Active rückte wieder einen halben Schritt vor. Calvin fuhr zurück und knallte mit dem Kopf gegen die Fensterscheibe des Bronco. »Er sagte, es sind Eskimoangelegenheiten aus den alten Tagen. Und inzwischen vielleicht erledigt.« »Was?« Calvin runzelte die Stirn. »Eskimoangelegenheiten aus den alten Tagen, und inzwischen vielleicht erledigt.« »Der Einbruch war eine Eskimoangelegenheit aus den alten Tagen?« »Das hat er gesagt.« »Aber was hat er damit gemeint?« »Ich weiß nicht. Mehr hat er nicht gesagt.« »Haben Sie ihn gefragt?« Calvin hob die Augenbrauen. »Und?« »Er hat nichts weiter gesagt. Er hat nur wiederholt, es sind Eskimoangelegenheiten aus den alten Tagen und ich solls wieder vergessen.« Active trat zurück, diesmal einen ganzen Schritt. »Und er hat gesagt, dass es jetzt vielleicht vorbei ist?« Calvin hob nochmals die Augenbrauen. »Was glauben Sie, hat er damit gemeint?« Calvin zuckte die Achseln und zwinkerte. Zum ersten Mal mischte sich Silver ein. »Hat er irgendwas davon gesagt, dass Onkelchen Frost vom Universum eiskalt gemacht worden und auf eigene Faust aus dem Museum ausgebrochen ist?«
Calvin wandte den Blick ab und antwortete nicht. Silver grinste. »Also hast du uns mit der Geschichte bloß verarschen wollen?« Calvin sagte immer noch nichts. Active warf Silver einen Blick zu und sie traten beide zurück. »Wie ist Lemuel Bass an das Ding aus dem Einbruch gekommen?«, fragte Active. »Wer? Ist das einer von Johnny Bass’ Jungen oben am Katonak?« Calvins Blick glitt zwischen den beiden Beamten hin und her. »Was für ‘n Ding soll er genommen haben? Er ist ziemlich jung für einen Einbrecher, was?« Calvin wirkte ehrlich verblüfft. »Sie können jetzt wieder reingehen«, sagte Active. »Ihre Großmutter wird sich freuen, Sie zu sehen.« Calvins Gesicht leuchtete auf. »Sie meinen, ich bin nicht wegen des Mordes an Victor verhaftet?« Active zuckte die Achseln. »Jedenfalls noch nicht.« Calvin ging auf das Haus zu, drehte sich aber nach ein paar Schritten noch einmal zu ihnen um. »Wenn ihr Typen nicht länger glaubt, dass ich es war, wen habt ihr dann in Verdacht?« Beide Männer zuckten die Achseln. Calvin präsentierte seine Zahnlücke. »Ich glaube immer noch, Onkelchen Frost könnte es selber getan haben.« Er blickte erst Active an, dann Silver. »Das wär wirklich ‘ne Eskimoangelegenheit aus den alten Tagen, oder?« Calvin wandte sich ab und setzte seinen Weg fort. Silver und Active sahen sich an und Silver sagte: »Scheiße.« Active hob die Augenbrauen und nickte.
8
Harrimans Handelsstation lag an der Beach Street. Es war ein langes, schmales Gebäude mit einem niedrigen Dach aus verwitterten, grauen Schindeln, das mit zunehmendem Alter immer tiefer in den Permafrostboden sank. Sein Besitzer, Tim Harriman, war einer der letzten weißen Händler alten Stils, so erklärte Silver, während sie zur Eingangstür gingen. Sie mussten sich bücken, um einzutreten. »Frau gestorben, Kinder leben in Anchorage und Seattle, hat keinen Grund, noch länger hier zu bleiben, außer, dass er nicht weiß, wohin«, sagte Silver. »Zu viele Flüge verpasst.« Harriman entpuppte sich als winziges, weißhaariges Männchen, mit Nestern von bereiftem Gras anstelle von Augenbrauen und diamantenen Stoppeln auf Wangen und Kinn. Er trug ein rotes Flanellhemd, rostfarbene Carhartt-Jeans mit Hosenträgern und hatte eine Lesebrille an einer Schnur um den Hals hängen. Als er sie hereinkommen sah, langte er zu einem Fernseher hinter dem Ladentisch, auf dem CNN lief, und schaltete ihn ab. Wände und Regale waren ein wildes Durcheinander aus Kleidung, Stiefeln, Angelzeug, Zelten, Kochern, Schrauben und Muttern, Elfenbeinschnitzereien, Eskimomasken, Körben aus Walbarten, tragbaren Stereoanlagen, CDs, Gewehren, Schrotflinten, Munition, Süßigkeiten, Popcorn, Knabberzeug und ein paar Grundnahrungsmitteln, die nicht gekühlt werden mussten. Der Laden roch nach alten Sachen, feuchter Erde, ungegerbten Fellen, Robbenöl und Trockenfisch – nach Wildnis. »Tim, Sie kennen Nathan Active von den Troopers?«
Harriman streckte seine mit Altersflecken übersäte Hand aus und nickte heftig. »Jetzt schon, Jim. Ist mir ein Vergnügen, Sie kennen zu lernen, Trooper Active.« Active ergriff die ausgestreckte Hand und sagte: »Mr. Harriman.« »Tim. Sagen Sie Tim zu mir, das tut jeder.« Harriman zog eine Schublade auf und legte das Amulett zusammen mit dem Foto, das Silver in den Geschäften von Chukchi verteilt hatte, auf den Tresen. »Das ist vermutlich der Grund Ihrer Anwesenheit. Ich hab es auf der Stelle erkannt.« Active und Silver beugten sich über das Objekt, um es näher zu betrachten. Es war ein schimmerndes, braunes Oval etwa in der Größe eines Kekses. Auf der Seite, die Harriman nach oben hingelegt hatte, war ein Eulenkopf eingeritzt. Unmittelbar darüber hatte man ein Loch durch die Scheibe gebohrt. Active verglich das Foto mit dem Amulett. »Das ist es tatsächlich.« Silver nickte. »Erzählen Sie uns von Lemuel Bass«, bat Active. Harriman sah Silver an. »Ich dachte, Sie bearbeiten den Museumseinbruch, Jim.« »Haben Sie noch nicht von Victor Solomon gehört?« Harriman nickte. »Doch, mit einer Harpune in seinem Weißlachs-Camp ermordet, so hat es auf Kay-Chuck geheißen.« Er tippte auf das Foto, das neben dem Amulett auch Onkelchen Frosts Harpune zeigte. »Mit dieser Harpune?« »M-hm«, sagte Silver. »Das erklärt das Interesse der Trooper, denke ich.« Harriman kicherte zufrieden in sich hinein. Active sagte sich, dass man als alter Mann das Recht hatte, erfreut und stolz zu sein, wenn man merkte, dass der eigene Verstand noch funktionierte.
»Hat der Junge gesagt, wie er zu dem Amulett gekommen ist?«, fragte Active. Harriman schüttelte den Kopf. »Er ist einfach mit seinem Schneemobil vorgefahren, kam rein und sagte, dass er es gegen Pokemon-Karten eintauschen möchte.« Der Händler wies auf einen Glaskasten mit Karten, oben auf dem Ladentisch. »So einen Mist muss man heutzutage anbieten! Früher kam jeder in der Stadt hierher, um die Waren einzukaufen, die er mit dem Sommerfrachter zu bestellen vergessen hatte. ›Wenn Harriman es nicht hat, dann brauchst du es auch nicht.‹ Das war mein Motto. Aber heute, na ja, da gibt es Arctic Mercantile und Luftfracht und… Scheiße, da könnte man doch ebenso gut gleich in Anchorage leben.« Er brach ab und schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, woran man merkt, dass man alt wird, Trooper Active? Wenn man anfängt, seine Vergangenheit interessanter zu finden als die Zukunft.« »Die Vergangenheit ist das Einzige, worauf man sich verlassen kann«, sagte Active. »Sie zerrinnt einem nicht unter den Händen.« Harriman starrte ihn an, Silver ebenso. »Das Einzige, worauf man sich verlassen kann!«, sagte Harriman. »Der Junge gefällt mir, Jim.« Silver zuckte die Achseln. »Er ist ganz in Ordnung, glaub ich zumindest.« »Ein Achtjähriger, der ein Schneemobil fährt?«, fragte Active. »War kein Erwachsener dabei?« »Nee«, sagte Harriman. »Lemuel fährt jetzt schon seit ein paar Jahren selber. Schlauer kleiner Scheißer. Vermutlich hat er deshalb auch gleich die Kurve gekratzt, als ich ihm gesagt hab, dass ich erst noch einen Anruf erledigen muss, bevor ich ihm seine Pokemon-Karten gebe. Brüllte ›Arii!‹ und versuchte,
sich das Amulett wieder zu schnappen, aber ich war schneller.« Wieder gab er ein zufriedenes Kichern zum Besten. »Kommt er oft her?« »Meistens nur im Sommer«, sagte Harriman. »Wissen Sie, die Bass leben in einer Art Zeltlager am Katonak auf dem Grund und Boden, den Lemuels Mutter als Ureinwohnerin zugeteilt bekommen hat. Sie sind fast das ganze Jahr da draußen, außer im Sommer, wenn John sie nach Chukchi mitbringt. Dann leben sie in der Zeltstadt am Nordende der Landzunge. John fährt gelegentlich einen Leichter für Chukchi Lighterage und ich glaube, er hat auch ein Kiemennetz in der kommerziellen Ketalachs-Fischerei laufen. Dazu die staatliche Öldividende und Sozialhilfe, damit kommen sie über die Runden.« »Johnny Bass? Er ist Lemuels Vater?« Harriman nickte. »Und kauft Lemuel oft Pokemons?«, fragte Active. »Er ist irgendwie süchtig danach, vermute ich. Ich weiß nicht, woher er das Geld nimmt, aber sobald er welches hat, kommt er her und holt sich neue Pokemons. Manchmal bringt er auch Zeugs zum Tauschen mit, aber das nehme ich nicht, außer, er hat eine Bescheinigung von seiner Mutter dabei, dass es nicht gestohlen ist.« »Hatte er diesmal eine Bescheinigung?« »Nee, aber ich hätte das Amulett sowieso nicht eingetauscht, wegen Jims Foto.« Harriman tippte wieder darauf. Active ließ das Amulett in einen Ziploc-Klarsichtbeutel gleiten und drückte den Verschluss zu, nur für den Fall, dass noch jemand außer Tim Harriman und Lemuel Bass seine Fingerabdrücke darauf hinterlassen hatte. »Was für ein Schneemobil hat er gefahren?«
Harriman runzelte vor Konzentration die Stirn und starrte ins Leere. »Es war rot und es war alt«, sagte er schließlich. »Ein Polaris vielleicht.« »Danke, Mr. Harriman«, meinte Active. Harriman nickte. »Wäre nett, wenn Sie mir Bescheid sagen, was bei der Sache rausgekommen ist.« Active wandte sich zum Gehen, kehrte dann aber noch einmal um. »Was genau wollte Lemuel haben?« »Hä?« Harriman sah verwirrt drein. Active deutete auf den Pokemon-Schaukasten auf dem Ladentisch. »Ah.« Harriman öffnete den Kasten und nahm ein Folienpäckchen heraus. »Ich glaube, das sollte die nächste Ergänzung für seine Sammlung werden.« »Ich kaufe es.« Active betrachtete das Päckchen. Ein brummiger, blassgrüner Dinosaurier starrte ihm von der Hülle entgegen. Er bezahlte Harriman die Karten und steckte sie zu dem Amulett in die Tasche. »Was ist mit diesem Johnny Bass?«, fragte Active, als sie wieder auf der Straße waren. »Ein Import aus Oregon, wenn ich mich recht entsinne«, sagte Silver. »Rumtreiberpack, würde ich sagen. Ist mit der Air Force raufgekommen, unmittelbar bevor sie die alte Radarstation zugemacht haben. Er fand Gefallen an dem Land und hing nach seiner Militärzeit weiter hier rum. Hat eines der Kimball-Mädchen geheiratet und ist auf das ihr zugeteilte Land gezogen.« »Mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten?« Silver zuckte die Achseln. »Es gab ein paar Ermittlungen, aber keine Verurteilung.« »Ermittlungen? Weswegen?« »Diebstahl. Johnny steht in dem Ruf, im ›Bergungsgeschäft‹ zu sein. Anscheinend findet er jede Menge weggeworfenes
Zeug auf dem Eis, entlang der Schlittenspur, am Fluss. Er ›birgt‹ es, schafft es in sein Lager und benutzt es entweder selbst oder verkauft es an jeden, der zufällig einen Eisbohrer, ein paar Benzinkanister oder einen Gaskocher braucht, was auch immer.« »Und manchmal ist das Zeug noch nicht so ganz weggeworfen?«, fragte Active. »Angeblich«, antwortete Silver. »Ich weiß von zwei Anzeigen, dass er Sachen aus anderer Leute Lager geklaut haben soll. Bei uns von der Stadtpolizei ist letzten Sommer eine eingegangen, während die Bass-Familie in der Zeltstadt war. Angeblich hatte er einem seiner Nachbarn eine tragbare Stereoanlage gestohlen, aber niemand hat ihn dabei gesehen und wir haben das Ding nie gefunden.« »Sie sagen, es gab zwei Anzeigen?« »Über die andere Sache weiß ich nicht viel. Das war eine Trooper-Angelegenheit. Im letzten Win… Scheiße! Ich glaube, es war Victor Solomon, der die Anzeige erstattet hat. Hat behauptet, Johnny hätte sich nachts in sein Weißlachs-Camp auf dem Eis geschlichen und Fische gestohlen. Vielleicht hat er dieses Jahr einen zweiten Versuch unternommen und Victor hat ihn dabei erwischt.« »Ja«, sagte Active. »Und ganz zufällig hatte er die Harpune dabei, die er vorher aus dem Museum gestohlen hatte und mit der er dann prompt Victor erstochen hat. Worauf er besagte Weißlachse zurückgelassen hat, die theoretisch der Grund der ganzen Übung waren.« Silver zog eine Grimasse. »Sie haben Recht, es ergibt verdammt nochmal nicht den geringsten Sinn.« »Kein bisschen«, sagte Active. »Aber wir müssen mit dem Kerl reden. Ist er schon mal gewalttätig geworden?« Silver schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Ach ja, das hab ich vergessen. Das Frauenhaus hat letzten Sommer
versucht, ihn vor Gericht zu zerren, weil er in der Zeltstadt seine Frau verprügelt hat. Aber als sie beide wieder nüchtern waren, wollte sie die Anzeige nicht aufrechterhalten. Immer dieselbe Scheiße. Manchmal hat man es so satt.« Active nickte. »Kommen Sie mit, wenn wir seinem Camp einen Besuch abstatten?« Silver runzelte die Stirn. »Ich könnte Alan Long mitschicken. Ich muss heute Nachmittag dabei helfen, ein Haus niederzubrennen.« Diesmal war das Stirnrunzeln an Active. »Ein altes Haus des Bureau of Indian Affairs«, erklärte Silver. »Die Feuerwehr zündet es für eine Löschübung an und wir müssen die Schaulustigen zurückhalten und Kinder daran hindern, sich in Grillwürstchen zu verwandeln.« »Kennt Alan den Weg zum Camp der Familie Bass?« »Glaube schon«, antwortete Silver. »Er geht da oben manchmal auf Kaninchenjagd. Es ist ungefähr sechs oder acht Kilometer hinter Victor Solomons Weißlachs-Camp. Nicht zu verfehlen.« Eine Stunde später rumpelte Active auf seinem Damenmodell übers Meereis und folgte Alan Longs Ski-Doo in nördlicher Richtung entlang einer Reihe von Fichtenschösslingen, die als Wegmarkierung in den Schnee gesetzt waren. Active hielt im Vorbeifahren Ausschau nach Victor Solomons Zelt, aber er sah keine Spur davon. Das erinnerte ihn daran, dass er Darvin Reed und Willie Samuels gebeten hatte, das Lager des toten Mannes abzubrechen. Er machte sich im Geiste eine Notiz, nach seiner Rückkehr nachzusehen, ob die Sachen schon eingetroffen waren. Ein paar Kilometer weiter hielt Long an einer Weggabelung an. Geradeaus zog sich die Spur weiter nach Nordwesten und folgte dem Schwung der Bucht von Chukchi landeinwärts.
Nach links bog der Katonak-Weg ab und schlängelte sich durch eine Reihe niedriger, mit Gestrüpp bestandener Inseln, die in der Flussmündung lagen. Long deutete auf das linke Ufer, das als flache Tundra begann, dann anstieg und etwa anderthalb Kilometer flussaufwärts in einer mehr als dreißig Meter hohen Klippe gipfelte. »Johnnys Camp ist im Wald diesseits der Klippe«, sagte Long. »Von hier aus ist es schwer zu entdecken, aber – dort drüben, Active, sehen Sie den Rauch?« Active spähte in die weiße Einförmigkeit und vermeinte, vielleicht eine Spur von Grau über dem Fichtenwald vor ihnen aufsteigen zu sehen. »Hat Johnny Bass Hunde?« Long nickte. »Jede Menge, als ich letztes Mal da war.« Active schnitt eine Grimasse. »Keine Chance auf einen Überraschungsbesuch, fürchte ich. Wir können ebenso gut mit den Schneemobilen vorfahren.« Er zog die Smith & Wesson aus dem Halfter und steckte sie in die Tasche seines Parka. Long hatte ein Gewehr über die Schulter geschlungen. Jetzt nahm er es herunter, überprüfte das Schloss, legte es quer über den Sitz seines Ski-Doo und setzte sich drauf. Er bemerkte Actives Blick. »So machen wir das bei der Karibujagd«, sagte Long. »Der beste Platz für ein Gewehr, wenn man schnell rankommen muss.« Active fühlte, wie sich die Spannung aufbaute und ihm unter dem Parka der Achselschweiß ausbrach. »Hören Sie«, sagte er zu Long. »Wir gehen kein Risiko ein. Wir haben einen Mordverdächtigen vor uns, der vermutlich weiß, dass wir kommen, dazu wahrscheinlich eine Horde Kinder und ihre Mutter und vielleicht noch ein paar Verwandte – das stinkt nach Geiseldrama. Beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten ziehen wir uns zurück und Sie holen Verstärkung, klar?« »Es sei denn, es wird auf uns geschossen«, sagte Long.
Active nickte. »Wir verteidigen uns, aber wir ziehen uns trotzdem zurück, wenn wir Bass nicht zur Aufgabe überreden können.« Sie starteten ihre Maschinen und folgten dem Pfad entlang des Katonak, bis eine Reihe von Schlittenspuren nach links auf den Rauch von Johnny Bass’ Lager zu abbog. Sie gaben Gas, schossen die Uferböschung hinauf, und hundert Meter weiter fanden sie sich mitten in Bass’ Hundehof wieder. Auf allen Seiten schossen Huskys aus Ölfässern, alten Versandkisten und Hundehütten hervor und stürzten auf die beiden Fremden los, bis sie von ihren Ketten zurückgerissen wurden. Der Radau war so ohrenbetäubend, wie Active erwartet hatte. Er nahm Gas weg und bedeutete Long, neben ihm herzufahren, während sie sich langsam einen Weg durch den Hundehof zu dem Gebilde suchten, das wohl Bass’ Haus sein musste. Zunächst sah es aus wie ein lang gezogenes, aus blauen Planen bestehendes Zelt. Aus einem metallenen Ofenrohr an der Rückseite entsprang die dünne Rauchfahne, die sie vom Fluss aus gesehen hatten. Zwei Jungen mit einem Huskywelpen bauten an einer Schneeburg, als Active und Long angefahren kamen, aber sie verdrückten sich schleunigst nach drinnen, als sie die beiden Polizisten sahen. Die verschneite Tundra vor dem Zelt war mit blechernen, rotweiß-blauen Chevron-Benzinkanistern und einer unbestimmbaren Anzahl von Plastikkanistern übersät, außerdem sah man eine Gruppe von vier runden, weißen Propangastanks und Plastikspielzeug der Bass-Kinder – Autos, Schlitten, Gewehre. Dann waren da noch ein, zwei Reihen Kiefernscheite, die vor der Wand der blauen Zeltplanenbehausung aufgeschichtet waren, dazu ein immenser Haufen leerer Bierdosen, ein fast vollständig von Schnee begrabener Johnson-Außenbordmotor und zwei Schneemobile:
ein bis zum Lenker im Schnee versunkenes Wrack mit zwei rostigen Chevron-Kanistern auf dem Sitz und ein rotes Polaris. Ein ausgetretener Pfad führte zu einem Außenklo, das sich ein paar Meter weiter unter die Kiefern duckte. Active und Long gingen auf die Zeltklappe zu, hinter der die beiden Jungs verschwunden waren. Bevor sie sie erreichten, trat eine Inupiat-Frau heraus, bekleidet mit Trainingshose und einem alten Parka. Ein etwa ein Jahr altes Baby saß auf ihrer rechten Hüfte und lutschte an einer Flasche, die Orangenlimonade zu enthalten schien.
Die Haare der Frau waren strähnig und ihr fehlte fast jeder dritte Zahn. Sie hatte ungefähr zwanzig Kilo Übergewicht, eine Prellung am linken Wangenknochen und sah nach etwa vierzig Jahren aus, auch wenn das schwer zu schätzen war. Es konnten auch verbrauchte dreißig sein. Vieles sprach dafür, dass eine Ehe mit Johnny Bass den Alterungsprozess einer Frau beschleunigte. Sie sah die beiden Männer in Uniform an und runzelte die Stirn. »Johnny wars nich«, sagte sie und überschwemmte sie mit Bierdunst. »Woher wissen Sie denn, warum wir hier sind?«, fragte Active. »Ich weiß gar nix«, sagte die Frau. »Aber egal was. Johnny wars nich. Nie nich.« »Das kann er uns selbst erzählen. Würden Sie ihn bitten, herauszukommen?« »Er is nich da. Er is weg, die Fallen anschaun, mit Billy und Gene.« Active sah sich im Camp um. Es konnte stimmen. Der einzige Hundeschlitten in Sicht war fast vollständig von Schnee begraben und der Haken vorne fehlte. Ein Leben in so
einem Lager ohne funktionierenden Hundeschlitten war kaum vorstellbar, also war Bass vielleicht wirklich nicht da. »Dann haben Sie sicher nichts dagegen, wenn wir hereinkommen und uns umsehen?« Sie runzelte abermals die Stirn. »Ich glaub, Johnny will das nich. Komm’ Sie morgen wieder, dann is er da, bestimmt.« Alan Long ergriff das Wort. »Na, wenn ers nie nich gewesen ist, dann er wird nix dagegen harn, wenn wir reinkomm’, hä?« Er baute sich vor ihr auf und sie trat einen Schritt zurück. Active warf Long einen schnellen Blick zu, überrascht von dessen hämischem »Village-Englisch«. Dann sah er wieder die Frau an, die ein wenig eingeschüchtert wirkte. Sie zuckte die Achseln, machte kehrt und verschwand in ihrer Behausung. Sie folgten ihr. Drinnen angekommen sah Active, dass das Bauwerk gar kein Zelt war. Es hatte zwar einen Boden aus gestampfter Erde, auf dem kaputte Raupenketten von Schneemobilen, Paletten und Holzbohlen als Teppiche verstreut lagen. Aber Wände und Decke bestanden aus einem mit Sperrholz verkleideten Balkengerüst, auf dem rosafarbenes Isoliermaterial festgetackert und mit Klebeband befestigt war. Wahrscheinlich dienten die blauen Planen, die das Bauwerk umhüllten, nur dazu, Wind, Regen und Schnee abzuhalten, als Ersatz für bessere Materialien wie Schindeln oder Holzbretter. Sie befanden sich in der Küche, die durch trübes Licht von einem Fenster an der Rückseite erhellt wurde. Eine nicht angezündete Campinglaterne hing über einem wackligen Esstisch neben dem holzbefeuerten Herd. Auf dem Tisch stand ein Sechserpack Budweiser. Eine Dose war aus der Plastikpackung gelöst worden und stand geöffnet daneben. Die Frau drückte sich unbehaglich am Herd herum, strich sich die Strähnen aus den Augen und wiegte das Kleine auf ihrer Hüfte. Das Baby selbst betrachtete die beiden Männer aus riesigen, schwarzen Augen, während es an seiner Limoflasche
nuckelte und auf einen Satz Zähne hinarbeitete, der zu den schwarzen Stummeln seiner Mutter passte. Active wurde bewusst, dass er und Long weder Mrs. Bass’ Vornamen kannten, noch sich ihr vorgestellt hatten. Aber jetzt schien nicht der richtige Zeitpunkt, das nachzuholen. Active blickte sich in der Behausung um. Die anderen Räume, wenn man sie so nennen konnte, waren mittels schmutziger Zeltleinwand oder der blauen Allzweckplane abgeteilt. »Wir schauen uns jetzt mal um«, teilte er der Frau mit. Sie nickte unsicher. Er und Long nahmen sich Raum für Raum vor. Einer entpuppte sich als der Stahlaufbau eines Lieferwagens, der irgendwie in den Bass-Bau integriert worden war. Drinnen, unter einer fauchenden Camping-Laterne, fanden sie zwei Jungs vor. Der eine las einen Superman-Comic, der andere tat so, als würde er schlafen. Er lag in seinem schmutzigen, blauen Schlafsack, der vor einem kleinen Bücherregal voller Schachteln mit Pokemon-Karten ausgebreitet war. Aus einem anderen Raum konnten sie Gekreische hören. Sie blickten hinein und sahen drei kleine Mädchen, von etwa drei Jahren an aufwärts. Wie die Orgelpfeifen, dachte Active. Sie stritten sich um Barbie-Puppen. »Arii, du brichst ihr den Kopf ab«, sagte die eine, als Active eintrat. Sie erstarrten und warfen den beiden Fremden aus schwarzen, furchtsamen Augen schnelle Seitenblicke zu. Dann starrten sie auf ihre blonden Püppchen und hockten immer noch regungslos da, als die Besucher weitergingen. Keine Spur von einem männlichen Erwachsenen in irgendeinem der Räume. Active flüsterte Long zu, er solle Mrs. Bass in ein Gespräch verwickeln. Dann ging er zurück in den Raum mit den beiden Jungen und kauerte sich neben dem Schlafsack hin. Der Huskywelpe von draußen hatte sich darauf zusammengerollt. Er klopfte mit dem Schwanz und lächelte,
wie Hunde eben so lächeln. Der Junge mit dem Comic lächelte auch, aber unsicher. Active schätzte ihn auf fünf oder sechs. »Ich heiße Nathan«, sagte Active und streckte ihm die Hand hin. Der Junge schüttelte sie. »Ich heiße Junior und das hier ist Siksrik.« Er strich dem Husky über den Kopf. Active wühlte in seinen Erinnerungen nach der Bedeutung von Siksrik. Endlich fiel es ihm wieder ein. »Er ist wie ein Erdhörnchen? Buddelt immer Löcher?« Junior strahlte und hob die Augenbrauen. »Und wer ist das hier drüben?« Active deutete auf den Schlafsack. »Das ist Lemuel.« »Hab ich mir gedacht.« Active stupste die Gestalt im Schlafsack. Sie regte sich nicht, daher wusste Active, dass der Schlaf nur vorgetäuscht war. Er stupste sie noch einmal. »Lemuel. Du hast etwas bei Harriman vergessen.« Active zog das Amulett aus seinem Parka und knisterte mit dem Plastikbeutel. Vom Schlafsack kam keine Antwort. Active schlug die Klappe zurück und enthüllte ein paar trotzig zusammengezogene schwarze Augen, die ihn anstarrten. »Ich hab nie nix dagelassen«, sagte Lemuel Bass. »Bin nie da gewesen.« Er schaute überallhin, nur nicht auf das Amulett und in Actives Augen, dann gab er endlich nach und betrachtete das Amulett. »Nie? Nicht einmal im Sommer, wenn ihr in der Zeltstadt lebt?« »Ein paar Mal, vielleicht.« »Du kennst den alten Naluaqmiu, der den Laden führt? Mr. Harriman?« »Bisschen vielleicht.«
»Er kennt dich ziemlich gut. Er sagt, dass du dir oft Pokemons holst.« »Gar nicht oft.« »Aber warum sollte er denn lügen?« »Weiß nich.« »Tja, er sagt, du warst heute Morgen da und hast dieses Amulett gegen ein paar Pokemon-Karten eingetauscht, die dir noch fehlen, bist aber gegangen, bevor er sie dir geben konnte.« Active zog die Pokemon-Karten mit dem Dinosaurier auf der Hülle aus der Tasche und zeigte sie Lemuel. Die Augen des Jungen wurden groß und er machte eine schnelle Bewegung, als wolle er sich die Karten schnappen und im Schlafsack verstecken. »Ich hab sie dir zwar mitgebracht, aber wenn du das gar nicht warst bei Harriman, muss ich sie wohl wieder mitnehmen.« Active steckte die Karten wieder in die Tasche. Ein klägliches »Arii, das ist Larvitar!« entschlüpfte dem Schlafsack. »Vielleicht war ich doch da«, sagte Lemuel. »Das könnten meine Karten sein, ja.« Eine schmutzige, braune Hand am Ende eines mageren braunen Armes tauchte aus dem Schlafsack auf. Active holte die Karten wieder heraus. »Aber ich muss dich etwas fragen, bevor ich sie dir geben kann.« Die Hand erstarrte mitten in der Luft. »Was, zum Beispiel?« »Zum Beispiel, wo du das Amulett herhast?« »Ich glaub, ich habs irgendwo gefunden.« »Wo?« »Weiß nich. Habs vergessen, glaub ich.« Active ließ die Karten wieder in seinen Parka gleiten und kam auf die Füße. Aus dem Schlafsack kam wieder ein leises »Arii«. Dann: »Dad hat es mir gegeben.« »Dein Vater? Wann?« »Gestern, vielleicht.«
»Vielleicht?« »Gestern Nachmittag, beim Aufwachen.« »Er hat bis nachmittags geschlafen?« »M-hm. War nachts lange weg.« »Was hat er gemacht?« »Hat er mir nie nich gesagt. Aber er hat gesagt, er hat das Amulett gefunden und ich darfs behalten, wenn ich niemand was sag.« Lemuel begann zu schniefen. »Und jetzt wird er böse sein und meine Pokemons verbrennen, wie ers immer sagt.« »Ich werde ihn bitten, das nicht zu tun.« Active gab dem Jungen die Karten und ging wieder in die Küche. Alan Long und Mrs. Bass unterhielten sich darüber, dass der Winter ein bisschen kälter als gewöhnlich gewesen sei und ob das bedeute, dass der Eisbruch dieses Jahr später einsetzen würde. »Ich hoff echt, es wird nich so spät«, sagte die Frau gerade. »Ich zieh gern so bald wie möglich inne Zeltstadt, da geh ich nämlich die ganze Zeit zum Bingo.« Active zeigte ihr das Amulett. »Mrs. Bass, wo hatte Ihr Ehemann das her?« Sie beugte sich vor und betrachtete das Amulett mit dem Ausdruck echter, unverfälschter Neugier. »Weiß nich. Nie gesehn. Wo hamses denn her, wenns Johnny seins is?« »Lemuel hat heute Morgen versucht, es bei Harriman einzutauschen.« Sie öffnete den Mund zu einer Antwort, brach aber ab und blickte in Richtung des Katonak, während im Hundehof die Hölle losbrach. Über dem Tumult konnten sie gerade noch das Geräusch eines Schneemobils ausmachen, das die Uferböschung hinauffuhr. »Das is Johnny«, sagte sie mit einem Anflug von Erleichterung. »Fragen Se ihn doch selber.«
9
Als Active und Long aus der Tür traten, stellte ein Weißer mit gewaltigem Bierbauch und struppigem schwarzem Bart gerade ein Schneemobil vor der Hütte ab. Johnny Bass schien, wie seine Frau auch, um die vierzig zu sein und hatte sehr wenige Vorderzähne. Die Haare trug er in einer scheußlichen Fußballerfrisur – vorne kurz, hinten lang –, die seit einem Monat zur Generalüberholung fällig war. Zwei Jungen zwischen dreizehn und fünfzehn wälzten sich vom Schlitten hinter ihm herunter, und ebenso wie Johnny Bass standen sie dann einfach da und starrten die beiden uniformierten Fremden an. Ein im Futteral steckendes Gewehr war an einer Strebe des Schlittens verzurrt, aber keiner der Jungen war in seiner Nähe und Johnny Bass befand sich vor dem Schneemobil. Bass sah seine Frau an, die nervös in der Tür stand, dann glitt sein Blick zwischen Active und Long hin und her, bis er schließlich an Active hängen blieb. »Kann ich Ihnen behilflich sein, meine Herren?« »Schicken Sie doch mal die Jungen und Ihre Frau nach drinnen, damit wir uns hier draußen ein bisschen unterhalten können«, sagte Active. Bass warf einen schnellen Blick über die Schulter. »Billy, Gene, nehmt die Kaninchen mit rein, damit Mom sie ausnehmen kann. Lena, sorg dafür, dass alle für eine Weile im Haus bleiben.« Einer der Jungen griff sich einen ausgebeulten Jutesack vom Schlitten und verschwand mit Mutter und Bruder in der Hütte.
Active und Long stellten sich vor, dann zeigte Active Bass das Amulett. »Würden Sie uns freundlicherweise sagen, wie Sie dazu gekommen sind?« Bass nahm den Talisman in Augenschein und schüttelte den Kopf. »Das gehört mir nicht. Hab ich noch nie gesehen.« Active stieß einen kleinen, wohl kalkulierten Seufzer aus und starrte Bass abwartend an. »Tut mir Leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann.« Bass zuckte die Achseln. »Ihr Sohn sagt, dass Sie ihm den Talisman gestern Nachmittag geschenkt haben. Würde er so etwas erfinden?« »Ich hab ihm nichts – Moment mal. Lassen Sie mich nochmal sehen.« Bass tat so, als würde er das Amulett genauer inspizieren, dann schlug er sich mit der behandschuhten Faust vor den Kopf. »Muss zu lange in der Kälte gewesen sein. Wenn ich so drüber nachdenke, ja, ich habs Lemuel gegeben. Es ist ein altes Erbstück aus der Familie meiner Frau. Sie hats mir zu unserer Hochzeit geschenkt. Sollte mich in der Wildnis beschützen, glaube ich, und hat all die Jahre ziemlich gut gewirkt. Also hab ich irgendwie gedacht, es ist an der Zeit, es an Lemuel weiterzugeben.« Active schüttelte den Kopf. »Ihre Frau hat uns gesagt, sie habe es nie zuvor gesehen. Warum sollte sie uns anlügen?« »Na ja, ich hab halt gedacht, dass es von ihr stammt. Aber ich bin mit ‘ner ganzen Menge von hübschen Chukchi-Mädels ausgegangen, bevor ich geheiratet hab. Vielleicht ist es von einer von denen.« Long hatte sich während dieser Unterhaltung hinter Bass manövriert. Jetzt schob er sich neben seine Schulter und brüllte ihm beinahe ins Ohr: »Du wirst jetzt gleich positiv auf Bockmist getestet, Johnny!« Bass machte einen Satz und Active sah Long mit heimlicher Bewunderung an. Hatte er den Spruch aus irgendeinem Video
oder einer Krimiserie, oder war es am Ende gar seine Erfindung? »Wo waren Sie vorgestern Nacht, Mr. Bass?«, fragte Active. »Ich beantworte keine Fragen mehr«, sagte Bass. »Ich will einen Anwalt.« »Dann werden Sie uns begleiten müssen«, sagte Active. Long trat hinter Bass und legte ihm Handschellen an, während Active seine Litanei herunterbetete: »Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden…« Auf den ersten Blick wirkte Gail Boxrud in Chukchi so deplatziert wie eine Palme oder ein Sonnenschirm. Hellgraue Augen, schöner Teint, ein scharf geschnittenes, klares Gesicht, die strohblonden Haare zu Zöpfen geflochten wie eine Schweizer Sennerin. Wenn man vom Gesicht mal absah, schimmerte die Pflichtverteidigerin durch. Rotes Karohemd, Carhartt-Jeans, Sorel-Stiefel, eine Carhartt-Jacke und eine Bibermütze mit Ohrenklappen. Soeben erlitt sie im Büro des Bezirksstaatsanwalts von Chukchi, Charles Hughes, einen klassischen Anfall von Pflichtverteidiger-Herzinfarkt. »Mord?«, sagte Boxrud. »Machen Sie sich nicht lächerlich! Kann sein, dass er da draußen unterwegs war und das Amulett aus dem Museumseinbruch gefunden hat. Na und? Das bringt ihn keineswegs mit Victor Solomons Tod in Verbindung.« Hughes lächelte und seine blauen Augen zwinkerten. Active hatte den Verdacht, dass er damit seine Anerkennung für Boxruds Vorstellung zum Ausdruck brachte. Andererseits zwinkerte Hughes ständig mit den Augen. »Hat sich Johnny inzwischen auf diese Geschichte geeinigt?« Hughes wandte sich an Active. »Die wievielte ist es jetzt, Nathan? Die vierte Version, oder?«
»In der Größenordnung«, bestätigte Active. »Frau Anwältin«, sagte der Bezirksstaatsanwalt, »Tatsache ist, dass Ihr Klient uns anlügt, wenn er nur den Mund aufmacht. Tatsache ist auch, dass die bei Victor Solomons Ermordung verwendete Harpune aus demselben Einbruch stammt wie das Amulett. Und ich sage, das bringt ihn sehr wohl mit dem Mord in Verbindung. Was, Nathan?« Active nickte mit einem ebenso breiten Grinsen wie Hughes. Zum einen grinste er, damit Boxrud gar nicht erst auf die Idee kam, sie gegeneinander ausspielen zu können, zum anderen, weil er froh war, zur Abwechslung mal in einem netten warmen Büro an dem Fall zu arbeiten, statt in Eis und Wind. »Ihre Theorie geht also dahin, dass Johnny das Museum ausraubt, einen Tag abwartet, anschließend aufs Eis geht und Victor mit der Harpune ersticht, selbige am Tatort lässt, dann nach Hause geht und Lemuel das Amulett als eine Art Trophäe gibt«, schnaubte Boxrud. »Ein wahres Genie des Verbrechens.« »Nun, Frau Anwältin, wenn ich noch einmal das Wesentliche zusammenfassen darf: Der langen Rede kurzer Sinn ist, dass wir in einem Fall wie diesem letzten Endes Stellung beziehen und Denkschablonen ablegen müssen«, sagte Hughes. Sein Grinsen wurde noch einen Tick breiter. »Womit Nathan in letzter Zeit sehr beschäftigt war. Was, Nathan?« Überwältigt von dieser Kette von Plattitüden starrte Active den Staatsanwalt an. Wo hatte Hughes die nur alle her, und was war nun eigentlich seine Theorie zu dem Fall? »Zunächst mal wissen wir, dass Johnny ein Dieb ist…« »Er wurde nie verurteilt!« »Nicht hier«, warf Hughes ein. »Aber er hat wegen Einbruchdiebstahls in ein Pfandhaus in Grants Pass eingesessen.«
»Ich weiß, ich kenne die Akte«, sagte Boxrud. »Aber das war in Grants Pass und er hat nur versucht, sein Schweißgerät zurückzubekommen. Wir sind in Chukchi.« Active nickte. »Hübsche Geschichte jedenfalls. Aber er ist de facto ein Dieb. Er bricht also ins Museum ein und…« »Und was?« »Nun ja, wir wissen, wie wichtig Onkelchen Frost für Victors Pläne für das Museum war, also hat er sich vielleicht gedacht, er kann Onkelchen Frost an Victor zurückverkaufen.« »Sie wollen also behaupten, er hätte eine Mumie wegen des Lösegelds gekidnappt?« Active überlegte. Irgendwie ergab das sogar einen Sinn. »Genau das meine ich.« Boxrud schüttelte den Kopf. »Nur weiter so. Ich sammle Material für ein Buch über dämliche Bullentricks in Alaska.« Hughes gluckste und Active fuhr fort: »Er nimmt also Onkelchen Frost aus dem Museum.« Er machte eine Pause, um sich das nächste Kapitel der Saga zurechtzulegen. Hughes sprang in die Bresche. »Aber er kann nicht einfach…« »Genau. Er kann nicht einfach Onkelchen Frost vor Victors Tür schleifen und sagen: ›Machen Sie mir ein Angebot.‹« »Unmöglich«, sagte Hughes. »Also geht er hin und versteckt ihn irgendwo in der Tundra«, sagte Active. »Vielleicht irgendwo in der Nähe von seinem Camp da. Dann nimmt er die Harpune und das Amulett zu Victor Solomons Weißlachs-Camp mit, als Beweis, dass er Onkelchen Frost hat.« »Genau«, sagte Hughes. »Und dann…« »Und dann sagt er: ›Machen Sie mir ein Angebot‹«, ergänzte Active. »Aber Victor…« »Victor ist nicht interessiert.«
»Nach allem, was ich gehört habe, war er ein halsstarriger alter Knochen«, sagte Hughes. »Sehr halsstarrig«, bestätigte Active. »Victor macht also kein Angebot, sondern er droht. Er sagt, dass er Johnny für den Museumseinbruch ins Gefängnis bringen und Onkelchen Frost trotzdem wieder finden wird.« »Und da…«, sagte Hughes. »Und da steht Johnny mit seiner Harpune in der Hand und er tut das Nächstliegende.« Hughes und Active sahen sich überrascht und mit gegenseitiger Bewunderung an. »Ich bin sprachlos«, sagte Boxrud. »Überwältigt. Das ist lächerlich.« Active widerstand dem Impuls, auf die inhärente Widersprüchlichkeit von Anwälten hinzuweisen, die nicht mehr weiter wussten. Stattdessen sagte er: »Es passt alles zusammen.« »Wie ein Paar alter Mukluks«, sagte Hughes. »Ende der Geschichte, Fall abgeschlossen, sauber verpackt, adressiert, frankiert und zugestellt. Ihr Klient ist geliefert, erledigt, gelackmeiert und angeschmiert. Gleich für Montag setzen wir eine Verhandlung an und Sie plädieren auf schuldig, ja?« Boxrud war inzwischen tatsächlich verstummt und wirkte nachdenklich. »Sie halten es für möglich, nicht wahr?« Hughes Grinsen war breiter denn je. »Sogar glaubhaft. Sie denken: ›Ich habe einen Naluaqmiu-Klienten, der angeklagt ist, einen Inupiat-Ältesten getötet zu haben, und ich muss ihn vor lauter InupiatGeschworenen verteidigen.‹« »Ich werde dafür sorgen, dass eine Horde vernünftiger alter Aanas als Geschworene eingesetzt wird und ihr Jungs werdet unter Hohngelächter aus dem Gerichtssaal gejagt.« »So ganz sicher sind Sie sich nicht.«
»Ich müsste noch einmal mit meinem Klienten sprechen.« »Sehr schön«, sagte Hughes. »Falls er etwas zu sagen hat, bringen Sie ihn gleich mit. Ich rufe im Gefängnis an und gebe Bescheid.« Hughes erledigte den Anruf, dann unterhielten er und Active sich fünfundzwanzig Minuten über Eishockey, das Wetter, schließlich über Hughes’ bevorstehendes Verfahren gegen eine Lehrerin an der Highschool von Ebrulik, die beschuldigt wurde, mit einem ihrer Schüler ins Bett gegangen zu sein. Hughes hoffte, dass die Gerüchte stimmten und das Paar heiraten würde, bevor der Fall vor Gericht kam, damit dem Justizsystem eine Menge Arbeit und Kosten erspart blieben. »Wenn man bedenkt, was der Bezirk für Schwierigkeiten hat, die Lehrer an den Dorfschulen zu halten, sollte man meinen, sie würden solche Vorfälle begrüßen.« Hughes wackelte bedauernd mit dem Kopf, als das Telefon klingelte. Er hob ab, lauschte einen Augenblick und sagte dann: »Schicken Sie sie rauf. Wir treffen uns im kleinen Konferenzraum.« Minuten später saßen sich Active und Hughes auf der einen, Gail Boxrud und Johnny Bass auf der anderen Seite eines Tisches gegenüber. Der mit Neonröhren erhellte Raum lag im ersten Stock und hatte ein einziges Fenster, das auf die Häuser in der Beach Street und das Eis der Bucht von Chukchi hinausging, über dem die tief stehende Sonne im Laufe des Nachmittags in den südwestlichen Himmel gewandert war. Bass war mit Handschellen gefesselt und eine Dose Kautabak beulte die Vordertasche seines orangefarbenen Gefängnisoveralls kreisrund aus. In einer Hand hielt er einen Styroporbecher. »Er hat es nicht getan«, sagte Boxrud. »Irgendwas hat er getan«, sagte Active. »Sonst hätte er das Amulett nicht gehabt.« Bass setzte an, um etwas zu sagen, dann blickte er zu Boxrud.
»Er hat weder das Museum ausgeraubt noch Victor Solomon getötet.« »Und was hat er zu sagen?«, fragte Hughes. »Nichts«, antwortete Boxrud. »Aber wenn er etwas zu sagen hätte, würde er sagen, dass er Victor tot im Weißlachs-Camp vorgefunden und ein paar von seinen Habseligkeiten in Schutzverwahrung genommen hat, bevor er wieder gegangen ist.« Active schnaubte und Hughes wedelte wegwerfend mit der Hand. »Schutzverwahrung«, sagte der Staatsanwalt. »Ich bitte Sie.« »Und er hat jemanden da draußen gesehen.« Hughes’ blaue Augen verengten sich und er legte den Kopf schief. Dann fragten er und Active wie aus einem Mund: »Wen?« Boxrud und Bass schüttelten die Köpfe. »Das weiß er nicht«, sagte Boxrud. »Na schön«, sagte Hughes. »Hören wir uns die Geschichte an. Wenn sie standhält, wird keine Anklage in Zusammenhang mit Mord erhoben. Beweismittelverfälschung vielleicht, aber nicht Mord oder Beihilfe zum Mord.« Boxrud und Bass steckten die Köpfe zusammen und flüsterten. Endlich blickte Boxrud auf. »Er wird sich des Gelegenheitsdiebstahls schuldig bekennen, wenn Sie keine höhere Gefängnisstrafe beantragen, als er schon abgesessen hat.« Hughes nickte. »Aber wenn seine Geschichte nicht standhält, kann und wird alles, was er sagt, gegen ihn verwendet werden. Et cetera, et cetera. Und er bleibt im Gefängnis, während wir die Sache überprüfen.« »Ich kann nicht im Gefängnis bleiben.« Bass spuckte einen braunen Strahl in seinen Becher. »Ich muss Karibus jagen.« »Wie lang?«, fragte Boxrud.
Hughes sah Active an. »Eine Woche«, sagte Active. Hughes nickte. »Wenn wir in einer Woche keine Mordanklage erheben können, wird er salva dignitate bis zur Verhandlung in der Diebstahlsache entlassen.« »Was heißt salva dignitate?«, fragte Bass. »Auf Ehrenwort«, sagte Boxrud. »Das heißt, Sie können ohne Kaution nach Hause gehen, wenn Sie versprechen, zur Verhandlung zu erscheinen.« »Hören wir uns die Geschichte an«, sagte Hughes. Bass spuckte wieder in den Becher und blickte zu Boxrud. Sie sagte: »Nur zu. Das geht in Ordnung.« »Ja, ich war in der Nacht da draußen«, sagte Bass. »Aber ich hatte nicht vor, Victor auszurauben. Ich kam die Schlittenspur lang, vom Katonak in die Richtung, wo er sein Lager hatte, und dann hab ich die Lichter gesehen und mir gedacht, ich schau mal vorbei, wies ihm so geht.« »Lichter?«, fragte Active. »M-hm«, sagte Bass. »Sein Zelt leuchtete von innen, wie wenn er eine Gaslaterne brennen hätte, und daneben war ein Schneemobil mit eingeschaltetem Licht geparkt, wie wenn der Motor laufen würde. Ich war noch ziemlich weit weg, aber so viel konnte ich sehen.« »Aha.« »M-hm. Aber als ich vom Hauptpfad zu Victors Camp abbog, ist dieses Schneemobil losgefahren und zurück Richtung Katonak, so ungefähr parallel zu der Spur, die ich gekommen war. Dann gingen die Scheinwerfer aus. Damals hab ich mir nicht viel dabei gedacht, aber wer immer das war, hat sein Licht ausgeschaltet und ist abseits der Spur geblieben, damit ich ihm nicht folgen kann.« »Er ist zum Katonak gefahren?«, fragte Active. »Nicht zurück nach Chukchi?«
Bass nickte. »So hats für mich ausgesehen.« »Aber Sie haben ihn nicht erkannt?« »Tja, nein. Ich konnte kaum was von ihm sehen.« »War in der Nacht nicht Vollmond?« Bass überlegte. »Ungefähr Dreiviertelmond, würde ich sagen. Ich weiß noch, dass es ziemlich klar war. Nicht so dunstig wie am nächsten Tag.« »Und was für eine Marke war das Schneemobil?«, fragte Active. »Was hatte der Fahrer an?« Bass zuckte die Achseln. »Könnt ich im Mondlicht nicht so genau sehen.« »Könnte es Calvin Maiyumerak gewesen sein?« Bass dachte nach, dann schüttelte er den Kopf. »Ich glaub nicht. Ich denke, es war eher ein alter Mann.« »Alt? Warum?« »Ich weiß nicht. Etwas an seiner Haltung, schätze ich.« »Sie haben also das Lager betreten, während dieser alte Knabe auf seinem Motorschlitten davongefahren ist.« »M-hm. Victor lag so tief in seinem Weißlachs-Loch, dass man ihn kaum sehen konnte. Nur der Harpunenschaft hat übers Eis geragt und seine Füße auf dem Rand des Lochs, das war so ungefähr alles, was man sehen konnte, bis man direkt über ihm stand.« Hughes blickte angewidert drein. »Haben Sie versucht, ihm zu helfen oder haben Sie gleich angefangen, das Camp zu plündern?« Bass wirkte beleidigt. »‘türlich hab ich versucht, ihm zu helfen. Ich bin in das Loch da runter, hab an seinem Hals nach dem Puls gefühlt und mein Ohr an seine Nase gelegt, ob er noch atmet, aber da war nix. Er war tot.« »Manchmal ist es schwer, sich sicher zu sein«, sagte Active. Bass schüttelte den Kopf. »Ich hab schon eine Menge totes Fleisch gesehen und Victor Solomon gehörte dazu.«
»Und dann haben Sie beschlossen, sein Lager auszurauben?« »Na ja, ich kannte den alten Victor ganz gut und er hatte ja keine nennenswerte Familie mehr. Ich dachte, er hätte nix dagegen, wenn ich sein Zeug verwende, wo ers doch nicht mehr brauchen konnte. Also hab ich ein paar Sachen eingepackt. Hab mir ausgerechnet, ihr Bullen würdet denken, dass sein Mörder sie mitgehen hat lassen, wer immer das ist.« »Was für Sachen?«, fragte Hughes. »Also. Einen Kanister Schneemobilsprit. Seinen Campingkocher. Außerdem lag ‘ne Dose Red Man auf seiner Pritsche da im Zelt, also hab ich sie eingesteckt. Genau gesagt hab ich sie sogar dabei.« Er klopfte auf den runden Klumpen in seinem Overall. Hughes stieß heftig den Atem aus und schüttelte den Kopf. »Geben Sie her.« Bass sah Boxrud an und sie nickte. »Sie wollen sie auf Fingerabdrücke überprüfen.« Bass übergab den Kautabak und Active steckte ihn in einen Beutel. »Was noch?« »Hm, ich hab drei von seinen Weißlachsen mitgenommen, vielleicht vier.« »Aber Sie haben einen ganzen Stapel zurückgelassen«, sagte Active. »Neun waren es, glaube ich.« Bass nickte. »Naja, ich hatte selbst schon ein paar gefangen. Mehr als vier hab ich nicht gebraucht.« Active schüttelte den Kopf. »Was noch?« Bass sann nach, dann spuckte er wieder aus. Active bemerkte, dass er das wegen seiner Zahnlücke tun konnte, ohne die Kiefer zu öffnen. »Das wars, glaub ich«, sagte Bass. »Campingkocher, Red Man, Weißlachs… Das wars.«
Jetzt schaute Boxrud angewidert drein. »Johnny, das Amulett.« Bass entblößte grinsend seine braunen Zähne. »Ach so, ja, das Amulett. Scheiße.« »Das Amulett«, sagte Active mit einem Nicken. »Naja, wie ich so sein Zeug zusammenpackte, tat mir der alte Victor doch irgendwie Leid, wie er da so in seinem Weißlachsloch lag. Er sah aus wie ein Stück totes Fleisch, aber was, wenn doch nicht? Wie Sie gesagt haben, Trooper Active, manchmal ist es schwer, sich sicher zu sein. Also ging ich raus zu ihm, um mich nochmal zu vergewissern, nur für alle Fälle. Ich hab seinen Puls gefühlt und er hatte immer noch keinen, ich hab auf seinen Atem gelauscht und er hatte keinen, und dann hab ich ihm ne Art Ohrfeige gegeben, Sie wissen schon, wie wenn man jemand wieder zu sich bringen will. Dabei ist es rausgefallen.« »Rausgefallen?« »Jaa, dabei ist das Amulett aus seinem Mund gefallen.« »Aus seinem Mund gefallen?«, wiederholte Active. Er kam sich dämlich vor als Bass’ Echo, aber er konnte nicht anders.
»Herrgott, was für ein Nonsens«, sagte Hughes, als sie wieder allein im Büro waren. »Was halten Sie von der Geschichte mit dem Amulett?« »In Victors Mund, meinen Sie? Das ist bizarr. Wie eine Art Ritual oder so. Was zum Teufel hat das zu bedeuten?« Hughes nickte. »Ja. Und was ist mit dem alten Knaben, den Johnny angeblich bei Victors Lager gesehen hat? Wer könnte das gewesen sein?« Active zählte die möglichen Verdächtigen an den Fingern ab. »Calvin Maiyumerak war vermutlich in der Nacht mit Queenie Buckland zusammen, und er ist nicht alt.«
»Und Sivula?« »Er ist alt, aber ich weiß nicht, was für einen Grund er gehabt haben sollte, zum Katonak zu fahren. Vermutlich ist er im Walfang-Camp, und das ist an der Küste, nicht den Katonak hinauf. Und wenn er selbst der Täter ist, warum sollte er dann Calvin Maiyumerak nach dem Diebstahl fragen?« Active machte eine Pause und seufzte. »Ich denke, ich werde mir Whyborn Sivula morgen mal vorknöpfen.« Hughes nickte.
10
Silver warf seinen Parka auf einen Stuhl und ging zu der Landkarte, die an der Wand des Büros hing. »Es ist verdammt früh, um an einem Sonntag schon auf den Beinen zu sein, also hören Sie genau zu«, sagte er. »Ich will das nicht zweimal erklären.« Active nickte. »Tut mir Leid, aber…« Silver seufzte müde. »Ja, ich weiß, Fälle warten nicht.« Er wandte sich der Karte zu. »Na ja, wir sind jedenfalls hier.« Er legte den Finger auf die Stelle, die die Siedlung Chukchi repräsentierte, ließ ihn dann über die Bucht von Chukchi wandern, einer hellblauen Fläche, die sich nach Westen zur Chukchi-See öffnete. »Sie folgen der Schneemobilspur – sie ist mit Fichtenschösslingen markiert – quer über die Bucht bis zu dieser kleinen Landzunge namens Tatuliq. Es sind nur fünf Kilometer.« Er tippte auf ein kleines Anhängsel, das von der Nordküste der Bucht baumelte. »Die Leute gehen dort auf Beluga-Jagd und Sie werden eine Menge Camps vorfinden – Zelte, Hütten, sogar ein paar Grassodenhütten aus den alten Zeiten. Halten Sie sich am Strand und fahren Sie an den Camps vorbei. Die Spur verläuft eigentlich auf einem alten Strandwall ein paar Meter vom Meer zurückgesetzt. Da oben ist sie dauerhaft mit Dreibeinen aus Fichtenstangen markiert – nicht mit den Schösslingen, die draußen auf dem Eis verwendet werden.« Silver zeichnete mit dem Finger den Küstenverlauf nördlich von Tatuliq nach und sah Active mit fragend hochgezogenen Augenbrauen an.
Active nickte. Er war ein paar Mal beruflich die Küste hinauf geflogen, hatte aber nie besonders auf die Geografie geachtet. Jetzt musste er sie mit dem Schneemobil befahren, wenn er mit Whyborn Sivula sprechen wollte. »Ungefähr elf, zwölf Kilometer hinter Tatuliq fängt die Küstenlinie an, nach Westen abzudrehen, zum offenen Meer hin, aber der Hauptpfad verläuft geradeaus quer über die Basis des Kaps – hier – und anschließend weiter nach Norden die Küste entlang. Aber den Weg nehmen Sie nicht. Sie biegen der Küste folgend nach Westen ab und fahren mit Ihrem komischen Damenmodell direkt raus nach Cape Goodwin.« Active grinste säuerlich, nickte aber wieder, als Silver auf die dreieckige Halbinsel tippte, die das Kap bildete. »Von da an müssen Sie improvisieren«, sagte Silver. »Die Walfang-Camps sind irgendwo hier draußen« – er deutete vage auf die Meeresfläche vor dem Kap – »entlang der Kante des Küstenfesteises.« »Irgendwo auf dem Eis? Das ist alles?« Silver nickte. »Es gibt sicher einen Weg, aber er wird nicht markiert sein. Halten sie Ausschau nach einer Stelle, wo eine Menge Schneemobilspuren vom Ufer wegschwenken. Da müsste es sein.« Der Polizeichef grinste. »Sobald Sie auf die Pressrücken stoßen, werden Sie es genau wissen.« Active verzog das Gesicht. Er kannte Pressrücken aus einer Höhe von siebenhundert Metern. Sie sahen aus wie gefrorene Brandung. Ein Durcheinander von blau-weißen Eisplatten, wo Stürme und Strömungen das Packeis in den Untiefen vor Cape Goodwin auftürmten. Wie würden diese Rücken erst aus der Nähe aussehen? »Sie meinen, die gehen mit ihrer ganzen Walfangausrüstung durch das Zeugs?« Silver nickte wieder. »Wenn man einen Grönlandwal fangen will, muss man raus zu den offenen Wasserrinnen. Und das bedeutet, dass man über das Küstenfesteis hinaus zum Rand
der Rinne muss. Sie werden auf Stellen stoßen, wo sie sich mit Äxten und Kettensägen durch die Rücken gefräst haben.« »Dann geht es wohl nicht anders.« »Harte Burschen«, sagte Silver. »Wie auch immer, wenn Sie erst mal die Pressrücken hinter sich haben, gibt es kaum mehr Zweifel über den richtigen Weg. Im Grunde genommen gibt es an jeder Stelle nur noch ein einziges Weiterkommen. Manchmal nicht mal das.« Er grinste. »Sind Sie sicher, dass Ihr Damenmodell dem gewachsen ist, Naluaqmiiyaaq? Ich könnte Ihnen einen meiner Leute als Führer mitgeben.« Active schüttelte den Kopf und zeigte mit keiner Regung, dass er den abermaligen Spott über seine violette Yamaha gehört hatte. »Ich komme schon klar.« »Aha.« Silver verstummte, als erwarte er noch etwas von Active. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Na, wenigstens ist Ihr Damenmodell gut sichtbar, wenn wir eine Such- und Rettungsaktion nach Ihnen starten müssen.« »Und wie weiter, wenn ich den Eisrand erreicht habe?« Silver zuckte die Achseln. »Gute Frage. Wenn Sie in die Nähe kommen, werden verschiedene Spuren zu den einzelnen Camps abzweigen. Nehmen Sie einfach die erstbeste und fragen Sie im nächsten Camp, wo Sie Whyborn Sivula finden.« »Herrgott«, sagte Active. »Da muss es doch einen besseren Weg geben.« Silver zuckte wieder die Achseln. »Sicher. Chartern Sie einen Hubschrauber, donnern Sie rein ins Camp, verjagen die Wale, wehen die Zelte um und machen sich Freunde. Ja, das ginge. Und billig dazu.« Active hob zustimmend die Augenbrauen. »Kennen Sie Whyborn näher?« »Ein bisschen«, sagte Silver. »Warum?«
»Ich überlege, ob ich den Harpunenschaft und das Amulett mitnehmen soll, um zu sehen, wie er reagiert.« Silver riss die Augen auf. »Ihre Beweismittel mit aufs Eis nehmen? Machen Sie Witze?« Active zuckte die Achseln. »Ich werde sie an das staatliche Labor in Anchorage schicken, aber Carnaby hat sie ja bereits nach Fingerabdrücken untersucht und absolut nada gefunden. Außerdem habe ich jede Menge Fotos.« »Carnaby hat danebengehauen?« Active nickte. »Kaum überraschend«, meinte Silver. »Ihr Täter hat wahrscheinlich die ganze Zeit Handschuhe getragen. Allein wegen der Kälte, selbst wenn er nicht an Fingerabdrücke gedacht haben sollte.« Active nickte abermals. Silver wandte sich wieder der Karte zu. »Eins sollten Sie noch wissen, bevor Sie aufbrechen. Es gibt bestimmte Benimmregeln auf dem Eis.« »Benimmregeln?« »Zum einen, fahren Sie nie mit dem Schneemobil direkt in ein Camp. Zu laut, könnte die Wale verscheuchen. Wenn Sie hinter einem Pressrücken eine Gruppe von Schneemobilen geparkt sehen, lassen Sie Ihres auch da stehen.« Active nickte. »Und zum anderen, falls Sie einen roten Parka haben, ziehen Sie ihn nicht an. Wenn ihn ein Wal zu Gesicht bekommt, hält er ihn für das Blut eines Artgenossen und haut ab nach Sibirien.« »War das alles?« »Naja, schon, bis auf die Eisbären«, sagte Silver. »Die hängen gerne bei den Walfang-Camps rum und warten, ob was für sie abfällt. Halten Sie sich einfach von ihnen fern, dann tun sie Ihnen nichts, jedenfalls meistens. Sie haben eine Art
kremweiß-gelbliche Farbe, deshalb sind sie vor dem Hintergrund von Schnee und Eis ziemlich schlecht zu erkennen, aber normalerweise sind ihre Augen und Nase deutlich sichtbar, wenn sie einem zu nahe kommen. Zwei kleine schwarze Punkte über einem größeren, gar nicht zu verkennen.« Active nickte wieder. Er war sich nicht ganz sicher, ob er auf den Arm genommen wurde. »Sonst noch was? Brauche ich ein Visum, um da rauszufahren?« Silver lächelte. »Ich weiß, ich weiß. Aber Tatsache ist, es ist einfach nicht sicher da draußen auf dem Eis. Es braucht nur ein bisschen zu viel Westwind zu haben, oder vielleicht bildet sich ein Wirbel in der Strömung, und schon schließt sich die Rinne, das Packeis schiebt sich näher und Ihr Camp ist drauf und dran, zum nächsten Pressrücken zu werden. Oder Sie bekommen Nordostwind, und plötzlich ist das Küstenfesteis gar nicht mehr so fest. Ihr Walfang-Camp schwimmt plötzlich Richtung Sibirien, auf einer Eisscholle, die jeden Augenblick auseinander brechen kann.« Er hielt inne und kratzte sich den Kopf. »Mein Schwiegervater und sein kleiner Sohn sind vor ein paar Jahren in so eine Lage geraten. Der Kleine ist nass geworden, als das Eis in der Nacht unter ihrem Lager aufbrach. Sie wissen ja, wie Eltern sind. Der alte Mann hat seinen Parka ausgezogen und dem Jungen übergestreift. Als es am nächsten Morgen hell genug war, um ihnen im Umiaq zu Hilfe zu kommen, war er bereits an Unterkühlung gestorben.« »Das Kind hat überlebt?« »Mit knapper Not«, sagte Silver. »Jedenfalls, geben Sie Acht auf sich und werden Sie nicht leichtsinnig. Das ist kein Spaß da draußen.« Active nickte und nahm seinen Parka vom Sofa, wo er ihn beim Hereinkommen hingelegt hatte.
»Ganz sicher, dass Sie niemanden dabei haben wollen?« Active schüttelte den Kopf. »Nein, wirklich. Ich werde vorsichtig sein. Ich freue mich darauf.« Silver starrte ihn einen Moment lang an. »Hören Sie, nehmen Sie meinen Hundeschlitten. Ich packe noch ein Zelt dazu, einen Schlafsack, einen Ofen und ein paar andere Kleinigkeiten. Falls Sie dann vom Weg abkommen oder ein Unwetter aufzieht, können Sie hinter einem Pressrücken in Deckung gehen und es sich halbwegs bequem machen, bis es wieder aufklart. Haben Sie ein Gewehr?« »Ich kann mir eins besorgen, von den Troopers.« »Gut, nehmen Sie es mit«, sagte Silver. Active nickte.
Zwei Stunden und zehn Minuten später fand er die Stelle, von der Silver ihm erzählt hatte, wo der Hauptweg die Küstenlinie verließ, Cape Goodwin an der Basis durchquerte und nach Norden weiterführte. Er konnte noch etwa zehn oder zwölf der Fichten-Dreibeine sehen, die die Hauptroute markierten. Danach verloren sie sich im Schneedunst, aufgewirbelt von einem frostigen Westwind, der über Nacht wieder eingesetzt hatte. Active hielt die Yamaha an, schob die Brille auf die Stirn und bewegte den steif gewordenen Daumen, während er einen Blick zurück auf Silvers Hundeschlitten aus Hickoryholz warf. Er fuhr sich problemlos im Schlepp, alle Gummispanner waren noch an Ort und Stelle. Die blaue Plane war zwar mit hochgeschleudertem Schnee von der Antriebsraupe des Schneemobils verkrustet, aber die vom Polizeichef geliehene Ausrüstung war noch sicher abgedeckt. Active wandte sich wieder der vor ihm liegende Route zu, während der Wind seine Gesichtszüge erstarren ließ und ihm
Tränen in die Augen trieb. Der Weg der Walfänger schlängelte sich als graue Spur im Schnee dahin und verlief westwärts am Rande einer hohen, bröckeligen Klippe, bevor er im Dunst verschwand. Der Strand darunter war ein Gewirr aus Eisplatten, von den Winterstürmen an Land getrieben und inzwischen vom Wind mit Schnee überzogen. Das Ergebnis war eine fantastische Landschaft blauer und weißer Skulpturen mit einzelnen schwarzen Stellen dazwischen, wo das Eis den Uferkies mitgeschleift hatte, während es an Land trieb. Von den Graten strömten Schneefahnen wie glühender Rauch im schrägen Licht der tief stehenden arktischen Sonne. Einen Augenblick lang fragte er sich, wie er auf das Eis hinunterkommen sollte, wenn er das Kap erreicht hatte, beschloss dann aber, sich keine Sorgen darüber zu machen. Die Walfänger mussten es wissen und ihr Pfad führte auf der Klippe entlang. Er schob die Brille wieder über die Augen, krümmte noch einmal den Daumen, drückte aufs Gas und bog auf die Spur ein. Sie war nicht mit Dreibeinen oder Schösslingen markiert wie der Hauptweg. Auch war sie nicht so breit und tief ausgefahren wie die viel benutzte Hauptstraße des Winters, die in Nord-Süd-Richtung entlang der Küste verlief. Aber in der baumlosen Tundra konnte man ihr problemlos folgen, sogar wenn sie von der Klippe wegführte, um einen Einschnitt oder eine steile Stelle zu umgehen. Schließlich erreichte die Spur einen weiteren Abbruch, bog aber diesmal nicht ab. Stattdessen fiel sie durch einen Saum von schneebedeckten Weidenbüschen ab bis zum Grunde der Schlucht und folgte ihrem Verlauf zum Strand. Der Weg schlängelte sich durch das am Ufer zerschellte Eis und führte dann geradewegs hinaus auf das unwegsame Uferfesteis. Active steuerte die Yamaha über die Schlittenspur, schlüpfte zunächst durch einen natürlichen Einschnitt zwischen zwei
Eisplatten des ersten Pressrückens, fuhr dann durch eine flache Mulde vergleichsweise ebenen Eises, an deren tiefster Stelle sich eine Lache gelbgrauen Schneematsches angesammelt hatte, und anschließend auf einen Spalt zu, der in den nächsten Pressrücken gehackt war. Der Schlitten rumste und schwänzelte hinter ihm her, während er die Steigung hinauf und über den Kamm fuhr, dann bockte er auf der Abfahrt und versuchte, ihn zu überholen. Anderthalb Kilometer weiter erreichte er den Kamm eines weiteren Pressrückens und stellte fest, dass es auf der anderen Seite eine fast senkrechte Klippe hinunterging. Er zog den Bremshebel, doch die Yamaha stürzte sich bereits in den Abgrund. Verzweifelt versuchte er, die Maschine gerade zu halten, während der Schlitten von hinten nachschob. Die Yamaha stellte sich trotzdem quer und rutschte seitlich den Hang hinunter, als er absprang. Beim Versuch, die TrooperWinchester, die er sich über den Rücken geschlungen hatte, zu schützen, landete er auf der linken Schulter. Die Yamaha überschlug sich, aber der Schlitten hielt sich aufrecht. Er hört ein Knacken, als die Kupplung brach. Das Schneemobil schoss in die Luft, knallte aufs Eis zurück und überschlug sich abermals. Der Schlitten sauste selbstständig weiter und bohrte sich am Fuße des Abhangs in einen zerklüfteten Eisbrocken. Die Yamaha landete am Ende des Hangs auf dem Rücken, mit aufheulendem Motor, flatternder Antriebsraupe und im Schnee vergrabenem Lenker. Active rannte hinüber, buddelte im Schnee nach dem Notschalter und legte ihn um. Der Motor kam blubbernd zum Stillstand. Er packte einen Ski mit beiden Händen und hievte daran, schrie aber auf, als seine angeschlagene linke Schulter protestierte. Er versuchte es noch einmal, ließ diesmal die
rechte Schulter den Großteil der Last tragen und schaffte es schließlich, die Maschine aufzurichten. Die Windschutzscheibe war in der Mitte beinahe vollständig durchgebrochen und das Oberteil baumelte, nur noch von ein paar Zentimetern Plexiglas auf der rechten Seite gehalten, auf den Lenker herunter. Er fluchte, riss es ab und schmiss es in den Schnee. Dann zwang er sich zur Ruhe und überprüfte die Maschine. Außer der Windschutzscheibe und der Anhängerkupplung war nichts kaputt, soweit er sehen konnte. Vielleicht war der rechte Handgriff etwas verbogen, aber wahrscheinlich nicht so stark, dass es etwas schadete. Er zog den Schulterriemen des Gewehrs über den Kopf und inspizierte die .270er. Kein Schnee im Lauf und die Hülle des Zielfernrohrs war noch an Ort und Stelle. Er schlang sich das Gewehr wieder über den Rücken und registrierte, dass seine linke Schulter abermals protestierte. Kopfschüttelnd trottete er zum Schlitten. Die Ladung unter der Plane war noch mit den Gummispannern festgezurrt und nicht verrutscht. Aber eine der Hickory-Latten an der Spitze des Schlittens war an dem emporragenden Eisbrocken zersplittert, der ihn zum Stillstand gebracht hatte. Active packte den Schlitten und hob ihn von dem Klotz herunter. Dann inspizierte er die beschädigte Latte. Sie war irreparabel und Silver würde sauer sein, aber Active hatte den Eindruck, dass der Schlitten seine Last noch würde tragen können. Wahrscheinlich würden die Troopers für die Reparatur aufkommen. Hoffte er. Das Problem war, die Yamaha ohne Anhängerkupplung dazu zu überreden, den Schlitten zu ziehen. Die Zuggabel war ein Dreieck aus Stahlrohren, das ungefähr einen Meter zwanzig von der Spitze bis zur Basis maß. Die Basis war mit den Stützen vorne am Schlitten verschraubt.
An der Spitze wurde die Zuggabel mittels eines Bolzens an einem scharniergelagerten Stahlband befestigt. Das Band war von der Yamaha abgeschert und hing immer noch an der Zuggabel. Er zog den Schlitten mit dem rechten Arm zur Yamaha hinüber und stellte im Geiste eine Liste der Sachen zusammen, die er in Chukchi aufgeladen hatte, zum Teil seine eigenen, zum Teil von Silver geborgte. Campingkocher, Zelt, Gas, eine Kiste mit Lebensmitteln, Schlafsack, eine Thermoskanne Tee, den Harpunenschaft, den Vera Jackson aus Victor Solomons Brust gezogen hatte und der jetzt für die Fahrt nach Cape Goodwin in zwei Müllbeutel gewickelt war. Aber Seil oder Draht stand nirgendwo auf der Liste. Er nahm die Gummispanner ab, zog die blaue Plane von der Ladung, sah sie durch und stellte enttäuscht fest, dass sein Gedächtnis einwandfrei funktionierte. Sicher, Silvers Zelt enthielt vermutlich ein paar kleine Schnüre und Bändsel, aber Active war nicht danach, das Zelt zu zerschneiden, nachdem er schon den Schlitten des Polizeichefs ruiniert hatte. Die Art Schnüre, die zu einem Zelt gehörten, waren wahrscheinlich sowieso zu schwach, um einen voll beladenen Schlitten durch die Pressrücken zu ziehen. Active seufzte, machte seinen Parka auf, zog den Reißverschluss des Polaranzugs herunter und tastete darunter herum. Ja, er trug einen Gürtel. Er zog ihn heraus, fädelte ihn durch die Spitze der Zuggabel, dann durch den Rahmen des Gepäckträgers der Yamaha und machte die Schließe zu. Endlich stand er auf und betrachtete sein Werk. Es wirkte nicht solide genug. Er zerrte den Schlitten näher heran, fädelte den Gürtel ein weiteres Mal durch Zuggabel und Gepäckträger und nickte dann zufrieden. Wenn er das Leder doppelt nahm, konnte es funktionieren.
Er spannte die Abdeckplane fest, setzte sich auf die Yamaha, rastete den Notschalter wieder ein, schickte eine stumme Bitte an den Gott aller Schneemobile und drückte den Startknopf. Der Motor zündete sofort und hörte sich normal an. Er gab vorsichtig Gas, setzte sich langsam durch die Mulde in Bewegung und verdrehte sich im Sattel, um zu sehen, ob seine provisorische Anhängerkupplung hielt. Der Schlitten folgte der Yamaha. Was wollte man mehr? Active schaukelte das Gefährt über zwei weitere Pressrücken, bremste dann und kam im Schnee an einer Weggabelung zum Stehen. Die eine Abzweigung führte geradeaus weiter, über den nächsten der weißen Pressrücken. Die andere bog links ab und folgte einer Art Tal zwischen den Rücken. Er überlegte noch, welchen Weg er einschlagen sollte, als eine gelblich graue Bewegung etwa fünfzig Meter weiter im Tal seine Aufmerksamkeit fesselte. Ein Eisbär! Sein Atem stockte, ihm wurde heiß und er erhob sich auf den Trittleisten, streifte das Gewehr vom Rücken und repetierte, um eine Patrone in die Kammer zu befördern. Er hob die Winchester ans Auge, konnte nichts sehen, senkte sie wieder, zerrte die Hülle vom Zielfernrohr und legte das Gewehr wieder an. Zuerst konnte er immer noch nichts sehen. Dann kam eine Inupiat-Frau hinter einer Eisplatte zum Vorschein und versenkte ein triefendes Eisbärenfell in einem Loch im Eis. An die Schnauze des Eisbären war ein Seil geknotet; ein, zwei Meter liefen ab, dann spannte sich die Leine. Sie verschwand hinter der Eisplatte, die auch die Frau verborgen hatte. Anscheinend war sie gerade dabei gewesen, das Fell aus dem Loch zu ziehen, als er die Bewegung bemerkt hatte. Er senkte das Gewehr und streifte es wieder über die Schulter, bevor sie ihn dabei erwischte, dass er auf sie zielte.
Offensichtlich hatte sie ihn nicht heranfahren hören; vielleicht, weil er sich auf ihrer windabgewandten Seite befand. Er drückte den Anlasserknopf und die Yamaha glitt vorwärts. Endlich bemerkte die Frau das Motorengeräusch, blickte auf, winkte flüchtig und sah ihm dann mit in die Hüften gestemmten Händen entgegen, wie er näher kam und den Motorschlitten abstellte. Sie war Mitte fünfzig, schätzte er, hatte einen dunklen Silberschopf, trug eine Brille mit runder, schwarzer Fassung, einen geblümten Parka mit dicker Pelzkrause, einen schwarzen Polaranzug und Sorel-Stiefel. Sie schüttelten sich die Hände und stellten sich vor. Sie hieß Rose Napana. Ihr Mann Charlie, so berichtete sie mit einigem Stolz, hatte den Eisbären zwei Tage zuvor erlegt, weil er nicht aufgehört hatte, um ihr Walfang-Camp herumzustreichen. Jetzt sah Active, dass das Seil um einen Eisblock ein paar Schritte neben dem Loch geschlungen war. Dort stand auch ein altes, schwarzes Polaris-Schneemobil mit angehängtem Hundeschlitten. Rose merkte, dass er das Arrangement betrachtete. Sie trat gegen das Seil, das sich auf dem Schnee zu ihren Füßen spannte. »Seeläuse noch nicht fertig«, sagte sie. »Wolln Sie Tee?« »Seeläuse?« Rose runzelte die Stirn und musterte ihn. »Sie sin der Naluaqmiiyaaq-Trooper, eh?« Active nickte. »Seeläuse sin kleine Käfer, leben im Wasser.« Rose sagte es langsam und geduldig, als würde sie mit einem Kind im Kindergarten sprechen. »Essen Fleisch und Fett von der Haut. Gutes Futter für sie. Erspart mir das Abschaben. Prima Geschäft, eh?« Sie grinste. »Aber sie sin noch nich fertig. Ein Tag noch, vielleicht. Wolln Sie jetzt Tee?«
Er lehnte ab und fragte, ob sie den Weg zu Whyborn Sivulas Camp kenne. Sie hob die Augenbrauen. »Ich fahr in die Richtung, Sie können malik, mit Ihrem Schneemobil.« Er kam zu dem Schluss, dass »malik« wohl »folgen« bedeutete, während Rose sich die Yamaha näher ansah und ihm dann einen bewundernden Blick zuwarf. »Yoi, is aber hübsch. Ich wollt schon immer ‘n violettes Schneemobil. Mit elektrischem Anlasser! Is ‘n Jammer, dass Sie die Scheibe zerbrochen harn.« Sie nahm eine Schneeplatte vom Eis, die zu diesem Zweck zugeschnitten zu sein schien, und schob sie über das EisbärenLoch. Um zu verhindern, dass es mit Schnee zugeblasen wurde und um das Zufrieren zu verzögern, vermutete er. Dann schwang sie sich auf ihr altes Polaris, zog die Anlasserschnur und fuhr den Pfad zurück zur Weggabelung. Er wendete die Yamaha in einem großen, sanften Bogen, um seine lederne Anhängerkupplung zu schonen, und folgte ihr, während sie sich durch die Pressrücken zur Eiskante vorarbeitete. Dort hielt sie an und fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Kehle, um ihm zu bedeuten, es ihr nachzutun. Er gehorchte und schob die Brille hoch. Die Rinne war nach Actives Schätzung achthundert Meter breit, ein indigoblauer Gürtel, mit kleinen weißen Eisschollen gesprenkelt. Der Westwind schob niedrige Wellen gegen die Kante, sieben Meter von den vorderen Skiern seiner Yamaha entfernt. Schwaden von Seerauch fegten über das Wasser auf sie zu. Jenseits der Rinne konnte er die zerrissene Front des Packeises erkennen, die durch eine perspektivische Täuschung wie eine entfernte Bergkette einen ganzen Ozean weit entfernt aussah.
»Whyborns Camp is das zweite da lang«, sagte Rose und deutete entlang der Rinne nach rechts. »Sie können es gar nich verfehln. Wiedersehen.« Sie zog die Starterschnur und folgte der Rinne nach links. Active hielt sich einen knappen Kilometer weit an der Eiskante, dann führte die Spur vom Wasser weg und zog sich um ein Gewirr von Pressrücken herum, wo die Eiskante sich zu einer Art Spitze ausbeulte. Als er weiterfuhr, sah er mehrere Schneemobile, die hinter dem Rücken geparkt waren, und einen Fußpfad, der zum Wasser führte. Das erste Camp, vermutete er.
11
Ungefähr sechshundert Meter weiter entdeckte Active noch eine Gruppe von Motorschlitten hinter den weißen Eisplatten des Pressrückens und einen weiteren Fußpfad, der durch den Rücken zur Eiskante führte. Active parkte das Damenmodell. Er war unsicher, was er von seinem Schlitten mitnehmen sollte. Alles, was er zurückließ, konnte gestohlen werden, aber es war unmöglich, alles mitzunehmen. Er entschied sich für das Gewehr, das er auf dem Rücken trug, und den Schaft von Onkelchen Frosts Harpune in den beiden Müllsäcken, die er unter der blauen Plane hervorzog. Er streifte einen Fäustling ab und griff in die Innentasche seines Parka, um sich zu vergewissern, dass der Plastikbeutel noch da war, der Onkelchen Frosts eulenköpfiges Amulett enthielt. Dann machte er sich auf den Weg durch die Pressrücken zu Whyborn Sivulas Walfang-Camp. Ein weißes Hauszelt in der Form einer kleinen Hütte war zehn Meter vom Wasser entfernt aufgebaut und die Zeltplane knatterte im Wind. Aus dem Dach ragte ein Ofenrohr und spuckte eine dünne, graue Rauchfahne aus, die einen süßlichen, öligen Geruch verbreitete, während sie nach Osten davontrieb. Scheiben von weißem Muktuk lagen neben dem Zelt gestapelt. Active wusste, dass die Walfänger die kleinen, weißen Belugawale jagten, welche im Frühjahr meistens noch vor den hoch geschätzten Grönlandwalen in den offenen Rinnen auftauchten. Das Fleisch war angeblich schmackhaft und der Muktuk ergab gutes Brennmaterial für den Ofen.
Ein ebenfalls weißes Umiaq lag auf Schneeblöcken am Ufer aufgebockt. Vom Bug aus zeigte eine Walfangkanone mit einer mit stählernen Widerhaken bewehrten Harpune wie das Gewehr eines Riesen aufs Meer hinaus. Im Boot lagen aufgerollte Seile und ein großer, weißer Schwimmer. Die Walfänger hatten neben dem Umiaq einen Windschutz aus Eisplatten errichtet. In seinem Schatten ruhten ein halbes Dutzend Männer, tranken Kaffee und plauderten gemütlich miteinander. Zwei davon spielten Cribbage auf einem Spielbrett, das aus dem Stoßzahn eines Walrosses gefertigt war. Ihr Spieltisch bestand aus einer weiß-blauen IglooKühlbox. Ein weiterer Mann stand mit einem Fernglas um den Hals auf dem Grat des nächstgelegenen Pressrückens und blickte auf die Rinne hinaus. An dieser Stelle war sie mit Eisschollen und Matsch verstopft, kein Vergleich mit der weiten, indigoblauen Fläche, auf die Active vorhin gestoßen war, als er zum ersten Mal das offene Wasser erreichte. Vielleicht lag es daran, dass der Westwind, obwohl er immer noch zunahm, hier keine Wellen aufwarf. Der Ausguck erspähte Active und rief etwas auf Inupiaq. Active glaubte, das Wort Naluaqmiiyaaq herausgehört zu haben. Einen Augenblick später trat ein Inupiaq in marineblauer Polarhose und brauner Daunenweste – aber ohne Parka und Handschuhe – aus dem Zelt. Er kam Active entgegen, während er die letzten paar Meter zum Camp zurücklegte. Der Mann zwinkerte in dem weißen Gleißen einen Augenblick lang mit zusammengekniffenen Augen, dann zog er eine verspiegelte Sonnenbrille aus der Weste und setzte sie auf. Whyborn Sivula war ein kleiner Mann, vermutlich Anfang sechzig. Sein Gesicht war von dunklem, glattem Braun mit stark mongolischen Zügen. Soweit Active sehen konnte, hatte
er noch alle Zähne und in seinen grauen Haaren fanden sich noch vereinzelt schwarze Strähnen. Aber sein Alter war schwer abzuschätzen. Sein Gang war elastisch, wie der eines Mannes mit gesunden Knien und Hüften. Also mochte er auch Anfang fünfzig sein. Inupiat-Männer, die viel Zeit im Freien verbrachten, verwitterten relativ schnell zu diesem tiefen und fast faltenfreien Mahagonibraun, wie Active bemerkt hatte. Danach schienen sie geraume Zeit gar nicht mehr zu altern. So gesehen konnte Whyborn Sivula auch Anfang siebzig sein. Active streifte seinen rechten Fäustling ab und streckte die Hand aus. »Mr. Sivula? Ich bin Nathan Active von den Alaska State Troopers.« Sivula schüttelte ihm die Hand, während sein Blick auf dem in Mülltüten gewickelten Gegenstand an Actives Seite ruhte. »Jeder weiß, wer Sie sind.« Active hielt die Harpune in die Höhe. »Wissen Sie, warum ich hier bin?« Sivula schwieg. »Ich habe mit Calvin Maiyumerak gesprochen.« Immer noch zeigte der alte Walfänger keine Reaktion. »Darf ich Ihnen das hier zeigen?« Active hob abermals die Harpune. »Gehen wir doch hinein!« Sivula führte Active ins Zelt. Drinnen standen zwei flache Lastschlitten, derzeit mit Karibufellen und Schlafsäcken bedeckt, um als Sitzbänke und Betten zu dienen. Dem Eingang gegenüber, am Ende des Ganges zwischen den Lastschlitten, bullerte ein selbst gebauter Fassofen vor sich hin. Der süße, fettige Gestank des brennenden Muktuk war hier besonders intensiv. In einem Topf auf dem Ofen blubberte es. Es roch wie Rindergulasch. Oder Fischsuppe. Oder eine Mischung von beidem.
Sivula setzte sich auf einen der Schlitten, bedeutete Active, auf dem anderen Platz zu nehmen, und fragte, ob er etwas Beluga-Stew vom Ofen wolle. Active nahm an und verdrückte eine ganze Schüssel voll, teils, weil es das Protokoll verlangte, und teils, weil er von der Fahrt die Küste entlang hungrig und durchgefroren war. Dann kehrte er Sivula den Rücken zu und legte den immer noch in seine Müllsäcke gewickelten Harpunenschaft auf den hellgrünen Schlafsack auf dem Schlitten. Anschließend angelte er die Klarsichttüte aus seinem Parka und legte sie mit dem Eulenkopf nach unten neben die Harpune. Endlich gab er das Blickfeld für Sivula frei und wandte sich ihm zu. Die Augen des alten Mannes hingen wie gebannt an den Gegenständen auf dem Schlafsack. »Haben Sie schon gehört, dass Victor Solomon ermordet wurde?« Sivula sagte nichts, den Blick immer noch auf den Schlafsack geheftet. »Er wurde mit dieser Harpune getötet.« Active deutete auf seine Schaustücke auf dem Schlafsack. »Und der Mörder hat dieses Amulett bei der Leiche hinterlassen.« Sivula sprach immer noch nicht, auch wenn Active glaubte, ein leichtes Zusammenzucken wahrgenommen zu haben. Er wusste, dass er sich auf dünnem Eis bewegte. Altere Eskimos empfanden aufdringliche Fragen als unhöflich, vor allem wenn sie von einem Fremden gestellt wurden. Aber heute hatte er keine Zeit für die gebührende Höflichkeit und Sivula wirkte von dem Amulett und dem Schaft wie hypnotisiert. »Diese Dinge waren bei den Sachen, die mit Onkelchen Frost aus dem Museum gestohlen wurden«, meinte Active. Jetzt zuckte Sivula deutlich zusammen. »Darüber weiß ich nichts«, sagte er.
Diesmal schwieg Active demonstrativ und hielt Augenkontakt, bis Sivula den Blick abwandte. Active räusperte sich, betrachtete seine Füße. Immer noch nichts. »Ich habe gehört, dass Sie zu Calvin Maiyumeraks Haus gekommen sind und ihn nach dem Einbruch gefragt haben.« Er sah Sivula nicht an, sondern im Fünfundvierzig-Grad-Winkel an seinem Mahagonigesicht vorbei in die hintere Ecke des Zeltes. Endlich sprach Sivula. »Er hat mir nichts erzählt. Er sagt, er weiß nichts über den Einbruch.« »Warum wollten Sie etwas darüber erfahren?« »Ich weiß nicht.« Active sah, wie die Maske über Sivulas Gesicht glitt, jene Maske, die bedeutete, dass ein Weißer oder eine beliebige Autoritätsperson zu viele Fragen gestellt hatte. »Was wissen Sie über den Einbruch?« Sivula kniff die Augen zusammen und antwortete nicht. Active wickelte den Harpunenschaft aus, sorgfältig darauf bedacht, ihn nur an den Enden zu berühren. Er achtete darauf, dass die eulenköpfige Eigentumsmarke nur einen Sekundenbruchteil lang sichtbar wurde, dann drehte er die Einkerbungen nach unten und sah Sivula an. Der Körper des alten Walfängers war starr und er hielt mit den Händen die Knie umklammert, als wolle er sich davon abhalten, nach der Harpune zu greifen. »Diese Dinge, die bei dem Einbruch gestohlen und dann bei Victor Solomons Leiche gefunden wurden, sind markiert«, sagte Active. Er nahm das Amulett aus der Hülle und legte es auf den Schlafsack, immer noch mit dem Eulenkopf nach unten. »Mein Freund Jim Silver – Sie kennen doch Jim Silver, den Naluaqmiu-Polizeichef?« Sivula nickte, immer noch wie erstarrt, und sein Blick ließ die Gegenstände auf dem Bett keine Sekunde lang los. »Jim Silver sagt, dass die Inupiat in der alten Zeit ihre Ausrüstung mit solchen Markierungen versehen haben, für den
Fall, dass etwas verloren ging«, sagte Active. »Aber er wusste nicht, wem die Markierungen auf den Sachen aus dem Museum gehören. Vielleicht weiß es ein Inupiaq, jemand, der über die alten Zeiten Bescheid weiß.« Sivulas Blick glitt kurz zu Active, kehrte dann wieder zu den Gegenständen auf dem Schlafsack zurück. »Vielleicht können Sie mir helfen«, meinte Active. »Vielleicht wissen Sie über die alten Markierungen Bescheid.« Sivula zwinkerte wieder ein Nein. »Dann können Sie mir nicht helfen?« Noch ein Zwinkern von Sivula. Active seufzte, dann nahm er das Amulett, steckte es wieder in die Tüte und verstaute es in der Innentasche seines Parka, ohne Sivula anzusehen. Er rollte den Harpunenschaft in seine Müllbeutel und befestigte die beiden Miniatur-Spanngummis, die die Verpackung zusammenhielten. »Sehr schade«, sagte er und blickte Sivula endlich ins Gesicht. Ein paar Sekunden lang starrten sie sich gegenseitig an. Das Zelt knatterte im Wind und der Muktuk prasselte im Ofen. Endlich hob Sivula die Augenbrauen. »Ich könnte sie mir ja mal ansehen.« Active wickelte Harpune und Amulett wieder aus. »Ich zeige sie Ihnen, aber fassen Sie nichts an. Sie müssen noch zur Analyse ins kriminaltechnische Labor in Anchorage.« Er legte Amulett und Schaft so hin, dass Sivula beide Eulenköpfe gleichzeitig sah. Sivulas Gesicht erstarrte. »Saganiq!«, stieß er hervor. Er sank auf seinen Schlitten zurück. »Was?« »Saganiq. Als kleiner Junge habe ich oft Geschichten von einem alten Angatquq gehört. Er hieß Saganiq. Sehr mächtig. Sein Kikituk-Geist war Ukpik- die Schneeeule.« Sivula beugte
sich über den Gang zwischen den Schlitten und deutete auf das Amulett auf Actives Knie. »Saganiq war der letzte Angatquq aus den alten Zeiten, bevor Jesus zu den Eskimos kam und die Teufelsanbetung aufhörte. Es gibt viele Geschichten über ihn…« Seine Stimme erstarb und er starrte das Amulett an. »Ich war nie sicher, ob Saganiq wirklich gelebt hat. Jetzt glaube ich schon. Kann ich sein Kikituk sehen?« Active hielt das Amulett über Sivulas Knie. Der Walfänger beugte sich vor und studierte es vielleicht zwei Minuten lang. »Dann ist Onkelchen Frost also Saganiq?«, fragte Active. Sivula schien darüber nachzudenken, aber da steckte der Ausguck vom Pressrücken seinen Kopf ins Zelt und sagte eindringlich ein paar Worte auf Inupiaq. Sivula hob die Augenbrauen und antwortete in derselben Sprache. Dann stand er auf und blickte Active an. »Ich muss hinaus, das Eis ansehen. Mein Junge dort, Franklin, er sagt, das Packeis kommt auf uns zu. Vielleicht müssen wir das Camp abbrechen.« »Was hat Saganiq mit Victor Solomons Ermordung zu tun?« Sivulas Gesicht schien sich nach innen zu kehren und in die Vergangenheit der Inupiat zu blicken. »Dies sind Eskimoangelegenheiten aus alten Tagen, lange her, Naluaqmiiyaaq«, sagte er. »Besser, Sie lassen sie ruhen.« »Aber war Onkelchen Frost Saganiq?« Sivulas Miene verschleierte sich wieder zur Eskimomaske, während er einen weißen Parka und weiße Fäustlinge anzog, die neben ihm auf dem Schlitten gelegen hatten. »Lassen Sie es ruhen, Naluaqmiiyaaq«, wiederholte er. »Jetzt ist sowieso alles vorbei.« Er schob sich aus der Zeltklappe und redete draußen auf Inupiaq mit Franklin.
Active packte Schaft und Amulett wieder ein und trat hinaus in den Wind. Er hatte wieder zugenommen, das Zelt knatterte heftiger denn je und der ölige Muktuk-Rauch schmierte fast waagerecht über das Eis, während er nach Osten davonjagte und zwischen den Pressrücken verschwand. Inzwischen hatte auch Schneefall eingesetzt, nur ein paar im Wind daherwirbelnde Flocken, aber der metallische Geschmack auf Actives Zunge kündigte an, dass noch mehr davon kommen würde. Whyborn und Franklin Sivula trabten über das Eis zu ihrem Ausguckpunkt. Active spähte auf die Rinne hinaus, aber es war schwer, einen Unterschied zu erkennen. Sie war schon vorher mit Eisschollen und Matsch verstopft gewesen, aber vielleicht gab es inzwischen mehr Eis und weniger Flecken mit offenem Wasser. Die entscheidende Frage war, ob das Packeis auf das Camp zutrieb. Das konnte Active überhaupt nicht beurteilen. Die Eisschollen waren so dicht, dass er nicht einmal unterscheiden konnte, wo die Rinne aufhörte und das Packeis anfing. Er drehte sich nach Whyborn und Franklin auf dem Pressrücken um. Whyborn richtete den Feldstecher auf die Rinne. Er schwenkte ihn von links nach rechts, gab ihn dann an Franklin weiter und rannte den Abhang herunter übers Eis, wobei er seine Mannschaft in einer Mischung aus Inupiaq und Englisch anschrie. »Weg hier, die Rinne schließt sich«, hörte Active ihn in einer der englischen Phasen rufen. Active sah die Walfänger zu ihrem Zelt laufen, die Eingangsklappen zurückschlagen und die beiden Lastenschlitten herauszerren. Einer von ihnen goss die Flüssigkeit aus dem Beluga-Stew in den Ofen, um das Feuer zu löschen, und schneller, als er sich hätte vorstellen können, verzurrten drei Männer das Umiaq auf einem der Schlitten,
während drei weitere das Zelt und die Campingausrüstung auf dem anderen verstauten. Zwei Männer hasteten den Eispfad entlang davon und kehrten Augenblicke später mit Schneemobilen zurück. Franklin Sivula unterbrach seine Arbeit am Umiaq und sah Active grinsend an. »Sie machen lieber, dass Sie hier wegkommen, Mann. Ist schlechter Ort für einen Naluaqmiiyaaq.« Active erwiderte das Grinsen und trabte den Weg zwischen den Pressrücken entlang zu seiner Yamaha. Er hoffte, dass die Anhängerkupplung, die er aus seinem Gürtel fabriziert hatte, wenigstens so lange halten würde, bis er Silvers Schlitten wieder auf festem Boden hatte.
12
Jim Silver kauerte neben seinem Hundeschlitten und befühlte die gesplitterte Strebe mit Daumen und Zeigefinger. Aber nicht lange, nicht bei dem kalten Wind, der von Westen heranpfiff. Er grunzte, richtete sich auf, streifte den Handschuh wieder über und sah Active an. »Keine Sorge, Nathan. Mein Schwager kann das wahrscheinlich ziemlich billig reparieren. Von unten ein kleines Stück Hickory dagegenschrauben und er ist so gut wie neu. Sieht man danach kaum noch. Carnaby wird den Betrag in Ihrer Spesenabrechnung gar nicht merken.« »Tut mir Leid, Mann«, sagte Active. »Ach, vergessen Sies. So was passiert draußen in der Wildnis. Berufsrisiko.« »Na danke«, sagte Active. »Hören Sie, ich möchte Ihnen berichten, was Whyborn Sivula mir erzählt hat, beziehungsweise nicht erzählt hat, und dann muss ich die Papiere des Smithsonian bezüglich Onkelchen Frost durchsehen. Ich bin in dieser Geschichte bis jetzt nur von einem zum anderen gehetzt…« »Sie wollen sich hinsetzen und eine Weile darüber nachdenken?« Active nickte und sie gingen die Stufen zum Polizeigebäude hinauf, während er erzählte. Whyborn Sivula hatte ihm so wenig mitgeteilt, dass Silver umfassend informiert war, noch bevor sie das Büro des Polizeichefs im zweiten Stock erreicht hatten. »Saganiq, hm?« Silver warf seinen Parka aufs Sofa, ließ sich in seinen Schreibtischstuhl fallen und bot Active den Platz gegenüber an. »Kann sein, dass ich den Namen schon mal
gehört habe, kann aber auch nicht sein. Jedenfalls klingelt im Moment nichts. Seit sie alle gute Christen geworden sind, reden die Inupiat nicht mehr gerne über ihre alten Angatquqs.« Der Polizeichef öffnete eine Schublade neben seinem rechten Knie und zog zwei grüne Hängeordner heraus, von denen jeder etwa ein halbes Dutzend braune Mappen enthielt. Er warf sie vor Active an den Rand des Schreibtischs. »Ihr Trooper könnt sie genauso gut an euch nehmen«, sagte er. »Der Mord an Victor Solomon hat ganz klar Vorrang vor meinem kleinen Einbruch, und ich denke, die Lösung des einen Falles ist auch die Lösung des anderen, hm?« Active nickte und griff nach einem der grünen Ordner. »Eine Menge Lesestoff. Da muss ich mich ranhalten.« Er nahm auch den anderen Ordner an sich und stand auf. Silver zuckte die Achseln. »Ich könnte Ihnen einen Einführungskurs geben. Ich habe die Akten ziemlich gründlich studiert, als ich versucht habe, eine Liste mit dem Inhalt von Onkelchen Frosts Kiste zu erstellen und einen Überblick zu kriegen, was bei dem Einbruch eigentlich alles verschwunden ist.« Active legte die Ordner auf Silvers Schreibtisch zurück, ließ sich in den Stuhl sinken und zog Notizbuch und Schreibstift hervor. »Also?« »Also«, sagte Silver. »Wir schreiben das Jahr 1920. Die Regierung versucht sicherzustellen, dass die Marine genügend Öl hat, falls es einen weiteren Krieg gibt. Sie erschließt ein ganzes Netzwerk von Lagerstätten unter der Bezeichnung Naval Petroleum Reserves.« »Wie auf dem…« Silver nickte. »Ja, wie zum Beispiel auf dem Arctic Slope. Sie waren über das ganze Land verteilt. Die berühmteste war der Teapot Dome in Wyoming, der Teekannenfelsen. Hat eine Hauptrolle in einem der ewigen Bestechungsskandale in
Washington gespielt. Aber, ja, wir gehören auch dazu. Die strategische Ölreserve von Alaska von 1923. Sie haben dort nie viel Öl gefunden, aber BP und Exxon suchen immer noch.« »Äußerst faszinierend«, sagte Active. »Und?« »Und Sie fragen sich, was das mit Onkelchen Frost zu tun hat?« Active nickte. »Irgendwie schon.« »Und ich weiß die Antwort«, meinte Silver lächelnd. »Bevor man eine strategische Ölreserve anlegen kann, muss man Geologen und Landvermesser ausschicken, um zu wissen, wo es überhaupt Ölvorkommen geben könnte, nicht wahr? 1920 wanderte also eine Gruppe von der U. S. Geological Survey den ganzen Sommer auf dem Arctic Slope herum. Hieß die Henderson-Gruppe, nach dem leitenden Geologen, einem Typ namens Joseph Henderson. Das Henderson-Bay-Ölfeld auf dem Arctic Slope ist nach ihm benannt.« Active nickte. »Es wird Mitte August«, fuhr Silver fort. »Der Frost setzt ein. Henderson packt zusammen und macht sich auf den Rückweg zur Küste, um das letzte Schiff zu erwischen, bevor die See zufriert. Die Gruppe befindet sich in einem großen Sattel, der den Kamm der Brooks Range vom Arctic Slope bis zum Chukchi-Becken hinunter durchschneidet.« Silver erhob sich und legte den Zeigefinger auf den entsprechenden Punkt auf der Karte hinter seinem Schreibtisch. »Einem Ort namens Schamanenpass.« Active versteifte sich und starrte den Polizeichef an. »Schamanenpass. Aber – natürlich.« Silvers Augen weiteten sich. »Verdammt, ja. Sie müssen ihn nach dem benannt haben, was Henderson da oben gefunden hat. Ich habe den Namen sicher schon hundert Mal auf KayChuck gehört, seit diese Onkelchen-Frost-Geschichte
angefangen hat, aber ich habe nie einen Zusammenhang hergestellt.« Active trat zu Silver an die Karte und starrte die Stelle an, wo Silvers Zeigefinger lag. Der Schamanenpass lag ungefähr zweihundertfünfzig Kilometer im Norden von Chukchi. Der nördliche Teil der Wasserscheide entleerte sich in den Colville River, der mehrere hundert Kilometer östlich von Barrow in die arktische See mündete. Das Wasser auf der südlichen Seite des Passes floss in den Katonak River, der sich durch die Brooks Range an Johnny Bass’ Camp vorbeiwand und ein paar Kilometer von dem Büro entfernt, in dem Active gerade stand, in die Bucht von Chukchi mündete. Die meisten Landmarken in der Gegend trugen Inupiaq-Namen, die ihm nichts sagten. Mit einer Ausnahme. Active folgte mit dem Finger dem Lauf des Flusses, der nach Süden aus dem Pass floss und sich in den Katonak ergoss. »Und das hier ist der Angatquq River, wie ich sehe.« Silver wiederholte: »Verdammt.« Er schüttelte den Kopf. Active wandte sich wieder der Karte zu und fuhr mit dem Finger den Angatquq River hinauf bis zum Scheitelpunkt des Passes. »Und hier haben sie Onkelchen Frost gefunden? Am Schamanenpass?« Silver nickte und wirkte ein wenig verdrossen, dass man ihm seine Pointe geklaut hatte. »Mehr oder weniger, ja. Henderson schlug oben am Pass sein Lager auf und sie entdeckten eine Felsenhöhle in der Nähe. In dieser Höhle war Onkelchen Frost. Die Kartografen und Geologen waren ganz aus dem Häuschen, weil sie dachten, vielleicht eine sehr alte Mumie entdeckt zu haben, eine Art anthropologischen Schatz. Deshalb haben sie Onkelchen Frost mit zur Küste genommen, nach Washington verschifft und dem Smithsonian übergeben.« »Und war er tatsächlich so alt?«
Silver schüttelte den Kopf. »Nee, die Anthropologen vom Smithsonian waren alles andere als aus dem Häuschen. Sie kamen zu dem Schluss, dass er erst zwanzig oder dreißig Jahre da gelegen hatte. Sie haben ihn konserviert und im Keller eingelagert und da ist er geblieben, bis Victor Solomon ihn nach Chukchi geholt hat.« Active überlegte stumm. »Waren Sie je da oben am Schamanenpass?« »Ein paar Mal. Einmal auf einem Ausflug mit dem Schneemobil zum Caribou Creek, als mein Schwiegervater noch lebte. Und einmal bin ich mit Cowboy Decker bei einer Such- und Rettungsaktion dort gelandet. Rettung trifft es allerdings nicht, denn das Flugzeug, nach dem wir suchten, haben wir nie gefunden. Aber Cowboy dachte, er hätte neben einem kleinen Seitenfluss Wrackteile gesehen, deshalb sind wir gelandet.« Silver schüttelte sich. »Schlimmer Ort. Hungriges Land.« »Warum?« Silver wackelte mit dem Kopf. »In diesem Teil des Landes ist der Pass die Hauptschneise durch die Brooks Range, deshalb weht da ein höllischer Wind. Es wird so schlimm, dass schon Karibus dadurch umgekommen sind, wenn man den Alteingesessenen glauben darf. Außerdem liegt direkt unter dem Scheitelpunkt eine teuflische Schlucht, die mit dem Schneemobil verdammt tückisch zu befahren ist. Und dann sind da natürlich die Inuksuks.« »Inuksuks?« »Ja, diese kleinen Steinmänner, die die Eskimos in den alten Tagen gebaut haben. Wahrscheinlich waren die Wegmarkierungen oder so was. Hin und wieder, wenn man in einem kleinen Tal in der Gegend des Schamanenpasses ist, packt einen das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden. Und wenn man sich umsieht, steht ein Inuksuk am Hang über
einem. Es klingt blödsinnig, aber es ist irgendwie gespenstisch.« Active kehrte auf seinen Stuhl zurück. »Wie ist das Smithsonian auf die Idee gekommen, dass Onkelchen Frost aus Chukchi stammt?« Silver zuckte die Achseln. »Weiß nicht. In der Akte steht nur, dass sie aufgrund von Hendersons Reisetagebuch darauf geschlossen haben. Als das Gesetz über indianische Grabstätten beschlossen wurde, hat das Smithsonian Inventur gemacht, Onkelchen Frost im Keller entdeckt und an den Stammesrat von Chukchi geschrieben, ob sie ihn haben wollen.« »Und Hendersons Aufzeichnungen? Sind die auch bei den Akten hier?« Active tippte auf die Ordner auf Silvers Schreibtisch. Silver schüttelte den Kopf. »Nee. Die sind wohl immer noch im Smithsonian. Oder bei der geologischen Bundesanstalt. Oder sonst wo.«
Als nächstgelegenes »Sonst wo« entpuppte sich das geophysikalische Institut der Universität von Alaska in Fairbanks. Das fand Active innerhalb von zwanzig Minuten produktiven Telefonierens am Montagmorgen heraus, nachdem er am Sonntagnachmittag zwei Stunden lang fruchtlos im Internet recherchiert hatte. Ein hilfsbereiter Bibliothekar namens Bruce Marion vom geophysikalischen Institut erklärte ihm, dass die Originalaufzeichnungen der Henderson-Gruppe im Nationalarchiv in Washington D. C. lagerten, das Institut in Fairbanks sich aber schon vor langer Zeit eine vollständige Kopie besorgt hatte, um an Hendersons geologische Daten über den Arctic Slope zu gelangen.
Als Active Marion darum bat, ihm eine Kopie zuzuschicken, entstand eine Pause. »Soweit ich mich erinnere, beläuft sich die Akte auf ungefähr zweitausend Seiten, hauptsächlich geologische Messdaten«, sagte Marion. »Sind Sie sicher? Ich könnte…« »Eigentliche brauche ich lediglich Hendersons Reisetagebuch«, sagte Active. »Wie umfangreich ist das?« »Bleiben Sie einen Moment dran, ich überprüfe schnell etwas«, sagte Marion. Der Bibliothekar legte den Hörer hin und Active hörte nur noch das Klacken einer Computertastatur vor dem Hintergrundrauschen der Fernleitung, während ihm sein Schießtraum vom selben Morgen wieder einfiel, der genau wie der zwei Tage zuvor verlaufen war. Der Angreifer mit dem Messer, das vielleicht kein Messer war, seine nutzlose Pistole. Er zuckte ein wenig zusammen, als Marion sich wieder meldete, und schüttelte den Kopf, um die Gedanken frei zu kriegen. »Wie ich vermutet habe«, sagte der Bibliothekar. »Haben Sie Internetanschluss, da draußen in – wo war das gleich wieder?« »Chukchi«, sagte Active. »Sie meinen, Hendersons Aufzeichnungen sind online? Ich konnte sie mit keiner Suchmaschine finden.« »Nicht alle seine Aufzeichnungen. Nur sein Reisetagebuch und eine Bibliografie.« »Aber warum…« »Es ist ein Teil unseres Bestandes, der zwar öffentlich zugänglich, aber unveröffentlicht ist, wenn das für Sie einen Sinn ergibt.« »Nicht direkt«, sagte Active. »Wir fürchten, dass unsere Computer dem Andrang nicht gewachsen wären, wenn wir all unsere Archive den Suchmaschinen öffnen würden und Anfragen aus der ganzen
Welt kämen«, sagte Marion. »Sie sind im Staatsdienst, da muss ich Ihnen ja nichts über die Haushaltslage erzählen.« Active brummte zustimmend. »Wir können es uns nicht leisten, die Computer aufzurüsten. Und darum befindet sich das Henderson-Material in dem Bereich, den wir unsere Grauen Archive nennen – nicht indiziert, aber erreichbar, wenn man die Internetadresse kennt. Ich überlasse sie Ihnen, aber bitte geben Sie sie nicht bei Google ein, ja?« Active brummte wieder, notierte sich die Reihe aus Buchstaben, Zahlen, Punkten, Schrägstrichen und Tilden und las sie Marion noch einmal vor. Dann bedankte und verabschiedete er sich und wandte sich dem Computer neben seinem Schreibtisch zu. Er rief den Internet Explorer auf, tippte die von Marion zur Verfügung gestellte Adresse ein und sah zu, wie die kleine Weltkugel in der Ecke des Bildschirms sich drehte. Er schickte ein Gebet zu den Cybergöttern, dass Bruce Marions veraltete Internetserver am Montagmorgen nicht zu überlastet waren, um die Henderson-Archive zu öffnen. Sie waren es nicht. In weniger als einer Minute sah Active ein Menü auf dem Bildschirm, das ihm zwei Artikel zur Auswahl bot: »Reisetagebuch des Joseph Henderson, USGS, Mai-August 1920«, und »Bibliografie, Henderson-Gruppe, 1920.« Active klickte das Reisetagebuch an, und bald sah er ein weiteres Menü, das das Tagebuch in wöchentliche Einträge aufteilte, angefangen mit dem 18. Mai 1920 bis zum 28. August. Er klickte auf die erste Augustwoche und fing an zu lesen. Jeder von Hendersons Einträgen war ein knapper Bericht über die Ereignisse des Tages, wo sie gelagert hatten, das Wetter, was für den nächsten Tag geplant war. Der Geologe
beschränkte sich auf trockene Fakten, außer, wenn er auf die vier Eskimos zu sprechen kam, die er in Barrow angeheuert hatte. Ihre Hauptaufgabe war es, die Expedition zu den schon lange bekannten natürlichen Sickeröl-Vorkommen zu führen, deren Existenz überhaupt erst zu der Vermutung geführt hatte, dass es unter dem Arctic Slope Öl geben könnte. Sie halfen bei den Arbeiten im Camp und beim Transport und ergänzten die Fleischvorräte, wann immer sie auf die Karibuherden stießen, die im Sommer durch die arktische Küstenebene zogen. Henderson nannte nur einen der Inupiat aus Barrow beim Namen – Iqlavik, der der Älteste und Anführer der vier zu sein schien. Die Gruppe hatte Onkelchen Frost am Montagmorgen des 16. August entdeckt, wie aus Hendersons Eintrag an diesem Abend hervorging. Einer der Geologen war auf eine kleine Höhle gestoßen, wählend er Gesteinsproben an einem Aufschluss in der Nähe des Camps am Schamanenpass abschlug. Er war hineingekrochen, um zu sehen, ob die Höhlenwände von derselben Struktur waren wie der Fels an der Außenseite des Aufschlusses, und dann hatte er plötzlich ein in Felle gewickeltes Bündel in der Hand gehalten, das sich als Onkelchen Frost entpuppte. Anschließend hatte Henderson geschrieben:
Wir bargen die Überreste aus der Höhle und nahmen eine vorläufige Untersuchung vor. Die Felle zerfielen und enthüllten den uralten Körper eines männlichen Eskimos, der anscheinend durch das trockene, kalte Klima dieser Region konserviert war. Der Mann war durch den Stoß einer Harpune in die Brust zu Tode gekommen, möglicherweise aus rituellen
Gründen, da wir ein Amulett mit einem Eulenkopf zwischen seinen Zähnen fanden. Ich ordnete an, die Mumie und ihre Habseligkeiten in Leintuch zu wickeln, sodass wir sie zur Analyse durch kompetente Anthropologen mit zurück in die Zivilisation nehmen können. Unsere Entdeckung und mein Entschluss, die Überreste zu bergen, beunruhigte zwei unserer Eskimos sehr. Sie sagten, die Mumie würde uns nur Unglück bringen, da sie den Mann für einen alten Schamanen aus dem Chukchi-Becken hielten, von dem schon lange das Gerücht ging, er sei hier getötet worden. Durch dieses Ereignis hat der Ort wohl auch seinen Namen erhalten, Schamanenpass. Aber Iqlavik, ein großer Skeptiker, eilte mir wie so oft zu Hilfe. Er spottete, dass er zum ersten Mal von so einem Gerücht höre. Überdies sei doch offensichtlich, dass dieser alte Schamane, falls es denn einer gewesen sei, niemandem Unglück bringen könne. Sonst hätte er gewiss seine eigene Ermordung verhindert, indem er den Möchtegern-Mörder mit einem ganz schlimmen Fluch belegte. Und überhaupt, sagte Iqlavik vorwurfsvoll, jetzt, da sie und alle anderen Eskimos aus Barrow Jesus als ihren Heiland angenommen und der Teufelsanbetung abgeschworen hätten, könne kein Schamane, ob tot oder lebendig, ihnen noch etwas anhaben. Und falls doch, wäre es gewiss am besten, seinen Körper von den weißen Männern wegbringen zu lassen, denn wenn er sich erst einmal im tausende von Kilometern entfernten Washington befinde, wo alle weißen Männer lebten, wie sollte er dann noch irgendjemandem in Barrow Probleme bereiten? Dies führte zu einer erregten Diskussion in der Sprache der Eskimos, der ich nicht zu folgen vermochte, aber sie endete damit, dass Iqlavik mir mitteilte, die sterblichen Überreste könnten weggebracht werden, sofern ich zustimmte, dass die
beiden Zaudernden ein Kruzifix in die Leintuchumhüllung legen durften und keiner von ihnen die Überreste berühren musste. Als dies geklärt war, fragte ich, was sie über die Ermordung des alten Schamanen wussten. Hier gab es nicht viel zu erfahren, weil die beiden, die das Gerücht verbreitet hatten, davon nur bei einem Besuch in Chukchi gehört hatten, nie jedoch in Barrow. Sie hatten sich nicht die Mühe gemacht, irgendwelche Details darüber in Erfahrung zu bringen, da sie bis jetzt wenig auf die Geschichte gegeben hatten. Er sei wahrscheinlich in den »alten Tagen« ermordet worden, bevor die »nahlogmis« oder Weißen ins Land gekommen waren, so glaubten sie.
Active überflog das Reisetagebuch bis zum Ende, fand aber nur noch einen einzigen Hinweis auf Onkelchen Frost. Der Eintrag vermerkte lakonisch, dass Henderson die Überreste an der Mündung des Colville River an Bord eines Zollkutters gebracht und zur Verschiffung nach Washington in eine Kiste verpackt hatte. Active begann damit, Hendersons Tagebuch auf Festplatte zu speiehern. Wie und warum war dasselbe eulenköpfige Amulett, das Joseph Hendersons Gruppe vor acht Jahrzehnten in Onkelchen Frosts Mund gefunden hatte, in Victor Solomons Mund gelandet? Wer hatte dieselbe Harpune, die Henderson in Onkelchen Frosts Brustwunde entdeckt hatte, in Victor Solomons Brust gerammt? Active vergrub sich in den Ordnern, die er von Silver bekommen hatte, und blätterte durch die Fotos von Onkelchen Frost. Bei einer Nahaufnahme vom Gesicht der Mumie hielt er schließlich inne. Es fehlte einiges Fleisch, aber man konnte erkennen, dass der Mund offen stand. Vielleicht kam es von
der einsetzenden Todesstarre, als die Leiche am Schamanenpass erkaltet war. Oder vielleicht war es Onkelchen Frosts Todesschrei. Active schüttelte den Kopf. Vielleicht so, vielleicht anders, aber was war die Verbindung mit Victor Solomons Tod? Falls es eine gab.
13
Die katholische St.-Markus-Kirche war ein verwittertes, graues, zweigeschossiges Bauwerk mit dem Pfarramt und den Büros der Gemeinde im Erdgeschoss, einer Kapelle mit kleinem Kirchturm darüber und einem schneebedeckten, geschotterten Parkplatz davor. Active parkte den Suburban mit dem Heck zum Wind, um die Motorwärme zu konservieren, dann ging er zum Pfarramt und klopfte. Er wartete im pfeifenden Westwind, der Schneefahnen über den Parkplatz fegte. Plötzlich kam eine etwa dreißigjährige Inupiat-Frau mit geröteten, nassen Augen zur Tür heraus. Sie warf ihm einen Blick zu, zog die Kapuze ihres Parkas hoch und huschte schweigend an ihm vorbei. Pater Sebastian James trat vor die Tür und sah der Frau nach, während sie sich auf einen roten Four-Wheeler setzte, die Starterschnur zog und in den Wind davonfuhr. »Manche Probleme löst der Herr sofort, andere dauern etwas länger«, sagte der Priester und streckte die Hand aus. »Schön, Sie wiederzusehen, Nathan.« James war ein Inupiaq um die dreißig, mit schmalem, ernsthaftem Gesicht. Die Brille mit runden Gläsern und Stahlgestell verlieh ihm einen asketischen Ausdruck. Heute war sein Beruf lediglich am Priesterkragen zu erkennen. Er stammte aus einem Dorf flussaufwärts und war auf der Notre Dame de Montreal ausgebildet worden, soweit Active gehört hatte. Sie kannten sich flüchtig, aber als Agnostiker konnte Active sich nie entscheiden, wie er den Priester ansprechen sollte. »Pater« klang ihm übermäßig formell und gekünstelt, während
»Sebastian« vielleicht zu vertraulich oder sogar beleidigend gewesen wäre, wenn er den Kragen trug. »Mr. James« kam nicht infrage. »Schön, Sie zu sehen«, sagte Active. James lächelte, als hätte er gerade die Pointe eines Witzes verstanden und führte Active durch sein Wohnzimmer, dann durch eine nach Robbenöl riechende Küche in ein kleines Arbeitszimmer. Die Wände standen voll mit Bücherregalen und zwei Diplome bezeugten, dass die Geschichte mit Notre Dame stimmte. In einer Ecke stand ein Kopiergerät, daneben ein Computer samt Drucker auf einem rollbaren Arbeitstisch. »Victors Tod war ein schrecklicher Schock«, sagte James, während er sich hinter einen schweren Schreibtisch aus zerkratztem, hellem Holz setzte. »Und nun… Sie sagten am Telefon, dass er mit einer altmodischen Walharpune getötet wurde?« Active nickte. »Ich rechne fest damit, dass die Autopsie zu diesem Ergebnis führen wird.« James schüttelte den Kopf. »Wissen Sie schon, wann Sie die Ergebnisse haben werden? Der Trauergottesdienst kann erst stattfinden, wenn die Leiche aus Anchorage zurück ist. Er war unser Diakon.« »Ende der Woche, hoffe ich.« »Kann ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten? Tee? Zwieback?« James machte eine Geste zur Küche. Active lehnte ab und überlegte schweigend, wo er anfangen sollte. »Gibt es Probleme bei den Ermittlungen?« Active seufzte. »Im Moment ist alles ziemlich konfus. Haben Sie eine Idee, wer einen Grund gehabt hätte, Victor Solomon zu ermorden? Irgendwelche Gerüchte, die in Ihrer Gemeinde herumschwirren?«
Der Priester zuckte die Achseln. »Eine Menge Gerede, viel Betroffenheit natürlich, aber keine echten Informationen. Victor lebte allein und hatte keine nahen Verwandten. Es kannte ihn niemand besonders gut; er konnte ziemlich schwierig sein.« »Das habe ich gehört«, sagte Active. »So schwierig, dass er nicht gerade christlich wirkte.« »Der Herrgott hat ein großes Iglu«, erwiderte James lächelnd. »Es gibt immer getrockneten Fisch und Robbenöl, sogar für einen griesgrämigen, einsamen alten Jäger.« Der Priester war einen Moment lang still. Dann: »Aber diese Harpune?« »Ja?« »Sagten Sie am Telefon nicht, dass sie Onkelchen Frost gehörte?« »Ja, sie wurde bei dem Museumseinbruch entwendet und ist eigentlich fast unsere einzige Spur. Aber ich kann nicht erkennen, wo sie hinführt.« »Hm?« »Sie scheint einem alten Angatquq gehört zu haben, der vor langer Zeit am Schamanenpass ermordet wurde. Sind Ihnen je derartige Geschichten zu Ohren gekommen?« Der Priester schüttelte den Kopf. »Kann mich nicht erinnern. Aber natürlich würden die Ältesten, die sich vielleicht noch an das abergläubische Gerede aus den alten Tagen erinnern, nicht mit einem Priester darüber sprechen. Nicht einmal mit einem Eskimo-Priester.« »Anscheinend war sein Name – Onkelchen Frosts Name – Saganiq.« »Tut mir Leid, auch das sagt mir ni…« James legte eine Hand vor die Augen, ließ sie wieder sinken und blickte mehrere Sekunden lang auf einen Punkt dreißig Zentimeter über Actives Kopf. »Saganiq? Warten Sie mal, wo habe ich – ich weiß doch, dass ich…«
Er schnippte mit den Fingern, drehte sich im Stuhl um und blickte auf den Friedhof, der vor seinem Fenster lag. Dann stand er auf und sagte: »Kommen Sie mit.« James führte Active wieder durch die Küche und dann zu einer Hintertür hinaus. Am ersten Grabstein blieb er einen Moment stehen, um sich zu orientieren, dann ging er einen Hauptweg entlang und musterte dabei die Reihen von Grabstätten zu beiden Seiten. Schließlich hielt er an und deutete auf einen Grabstein aus Granit, zwei Gräberreihen vom Weg entfernt. »Sehen Sie sich das an«, sagte er. Der Wind hatte die Vorderseite des Steins mit Schnee zugeweht. Active zog einen Handschuh aus der Tasche und klopfte den Stein frei. Er las: MATTHEW SOLOMON »SAGANIQ« 1860 (?) – 1918 »Dann ist Saganiq hier beerdigt? Er ist nicht am Schamanenpass gestorben?« James nickte befriedigt und zog die Schultern vor dem Wind zusammen. Er hatte keinen Mantel angezogen. »Ich wusste doch, dass ich den Namen schon einmal im Umkreis der Kirche gesehen hatte.« Active verlor sich einen Moment in seinen Gedanken. »Vielleicht ist es nicht derselbe Mann. Saganiq…« »Ist Ihnen der Nachname aufgefallen?« James warf ihm einen fragenden Blick zu. Active sah noch einmal auf den Stein, dann platzte er heraus: »Verdammt noch mal, sein englischer Name war Solomon!« Dann merkte er, was er gesagt hatte. »Entschuldigen Sie, ich… ich…« James winkte ab und grinste. »Jesus hat schon schlimmere Flüche gehört, da bin ich sicher.« »Aber wenn Saganiq Matthew Solomon war, dann war er…« James nickte wieder. »So gut wie sicher mit Victor Solomon verwandt. Ich könnte es in den Kirchenbüchern nachschlagen.«
»Danke«, sagte Active. Er betrachtete die umliegenden Gräber. Sie waren mit Holzkreuzen markiert, nicht mit Grabsteinen. Offenbar war Saganiq zu der Zeit, als er als Matthew Solomon beerdigt wurde, ein wohlhabender und bedeutender Mann gewesen. Dann fiel Active auf, dass die meisten von Saganiqs Nachbarn auf dem Friedhof im selben Jahr wie der Schamane gestorben waren. »Was ist 1918 passiert?« James hatte sich bereits auf den Rückweg zur Kirche gemacht. Er drehte sich fröstelnd um und sah die Grabinschriften aus dem betreffenden Jahr an. »Die Spanische Grippe«, sagte er. »Ein Drittel der Einwohner dieser Stadt sind innerhalb von neun Tagen gestorben, soviel ich weiß. In Brevig Mission unten bei Nome sind in fünf Tagen zweiundsiebzig von achtzig gestorben.« »Auch so ein Import der westlichen Zivilisation«, sagte Active. James lächelte sein verständnisvolles Lächeln, sagte aber nichts dazu. Er wandte sich ab und ging voraus in sein Arbeitszimmer. Dort blieb er vor einem der Bücherregale stehen, fuhr mit dem Finger die Rücken entlang und trug einen großen, grünen Band mit der Aufschrift »1917-20« zum Schreibtisch. Er blätterte die Seiten durch, bis er die gesuchte gefunden hatte, dann legte er das Buch aufgeschlagen auf den Tisch. »Hier ist Pater Hanlons Eintrag über Matthew Solomons Tod… mal sehen, er hat einen Sohn hinterlassen, Walter Solomon, der bei Matthews Tod, äh, achtzehn Jahre alt war.« Der Priester setzte die Brille ab und tippte damit mit nachdenklichem Blick auf die aufgeschlagene Seite. »Ja, ich erinnere mich, dass Victor gesagt hat, sein Vater habe Walter geheißen. Dann wäre Matthew Victors Großvater gewesen.« »Und Victor? Hatte er keine Kinder?«
James setzte seine Brille wieder auf. »Zwei, aber sie sind gestorben, als sie noch klein waren. Seine Frau auch. Sie liegen alle da draußen auf dem Friedhof.« »Was ist passiert?« Der Priester wirkte bedrückt. »Es gab einen Brand, während Victor auf der Jagd war, so hat man es mir jedenfalls erzählt. Das war lange vor meiner Zeit, aber ich glaube, seine Frau konnte die Finger nicht vom Alkohol lassen, wenn Victor nicht da war, um sie im Zaum zu halten. Anscheinend haben die Kinder das Haus in Brand gesteckt, während sie im Vollrausch war.« »Sie bekommen hier eine Menge Geschichten zu hören«, sagte Active. »Hm«, sagte James. »Zu viele.« »Und trotzdem bewahren Sie Ihren Glauben?« James sagte wieder nur: »Hm.« Das Kirchenbuch von 191720 schien seine ganze Aufmerksamkeit zu fesseln. Endlich durchbrach Active das Schweigen. »Dieser Pater Hanlon, der zur Zeit von Matthew Solomons Tod hier war, hat er Matthew bekehrt?« James blickte auf. »Höchstwahrscheinlich. Er hat die Mission 1901 begründet und war hier bis, nun, 1923 war das, glaube ich.« »Könnte man seinen Aufzeichnungen den Zeitpunkt von Matthew Solomons Bekehrung entnehmen?« »Wahrscheinlich, aber Sie müssten sich komplett durcharbeiten.« Der Priester lächelte sein belustigtes Lächeln. »Die Aufzeichnungen sind streng chronologisch. Keine Schlagworte, keine Querverweise, kein gar nichts. Das war vor den Zeiten von Yahoo und Google.« »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich es trotzdem probiere?« »Kein Problem.« James erhob sich und deutete auf das Regal, dem er den Band von 1917-20 entnommen hatte. »Bedienen
Sie sich. Ich muss einen Hausbesuch machen. Ziehen Sie einfach die Tür hinter sich zu, falls Sie fertig sind, bevor ich zurück bin.« Active nickte dankend. James fügte hinzu: »Kopieren Sie sich heraus, was Sie brauchen.« Dann verließ er das Arbeitszimmer. Active fotokopierte den Eintrag über Matthew Solomons Tod durch die Spanische Grippe, dann machte er sich auf den vorhergehenden Seiten auf die Suche nach einer Notiz über seine Bekehrung. Er hatte kein Glück, also stellte er den Band wieder ins Regal und musterte die benachbarten Bände. Es gab nur zwei ältere in der Reihe. Der eine umfasste die Jahre 1901-1910, der andere 1911-1916. Anscheinend hatte Hanlon während der ersten Zeit seines Amtes in Chukchi nicht allzu viel aufzuzeichnen gehabt, aber dann waren die Dinge in Gang gekommen. Active schlug den ersten Band auf und blätterte ihn durch, überflog Hanlons saubere Priesterhandschrift nach irgendeinem Hinweis auf Saganiq, Solomon, Schamane oder Angatquq. Doch zum Ende des Jahres 1910 hatte sich Saganiq noch außerhalb von Gottes großem Iglu befunden, soweit Active Hanlons Aufzeichnungen entnehmen konnte. Er öffnete den zweiten Band und entdeckte den Eintrag beinahe sofort. Saganiq hatte den Iglu am 3. Februar 1911 betreten: Heute kam der Eskimo Saganiq zu mir und bat darum, in die Kirche aufgenommen zu werden. Er gestand, ein großer Sünder gewesen zu sein, ein Angatquq, der sich der Hexerei und vieler anderer frevelhafter Dinge schuldig gemacht habe, obwohl es nicht wahr sei, wie Gerüchte behaupteten, dass er den falschen Propheten Natchiq ermordet hätte. Im Gegenteil, habe nicht er, Saganiq, nach Natchiqs Verschwinden in den
Bergen Natchiqs Witwe als seine dritte Frau aufgenommen, bis sie wenig später im Kindbett starb? Schließlich habe er, sagte Saganiq, die alten und sündhaften Bräuche einschließlich der Polygamie abgelegt, habe den Gott des weißen Mannes angenommen und sei bereit, den Lehren der Kirche zusammen mit seiner letzten überlebenden Frau zu gehorchen. Ich nahm ihm die Beichte ab, brachte ihn in unsere Kirche und taufte ihn auf seinen christlichen Namen, Matthew Solomon. Und so errettete der Herr den letzten Teufelsdoktor von Chukchi, da der einzig andere verbliebene Anhänger dieses barbarischen Brauchtums sich im letzten Frühjahr erhängt hatte.
Active ging zum Kopierer und legte den Eintrag mit der Schrift nach unten aufs Glas. Seine ursprüngliche Theorie war soeben von den Toten wiederauferstanden. Mit dem Unterschied, dass sie jetzt komplizierter war. Saganiq war nicht das Opfer vom Schamanenpass. Er war nicht Onkelchen Frost. Er war höchstwahrscheinlich Onkelchen Frosts Mörder. Während Active die Kopiertaste drückte und wartete, hielt er sich selbst eine Standpauke über die Gefahren des Tunnelblicks bei polizeilichen Ermittlungen. Die Harpune, die man in Onkelchen Frosts Körper gefunden hatte, konnte nicht Onkelchen Frost gehört haben. Natürlich nicht. Sie musste seinem Mörder gehört haben. Saganiq. Warum war ihm das nicht schon früher klar geworden? Weil er sich von Anfang an in den Kopf gesetzt hatte, dass die Harpune Onkelchen Frost gehörte. Er erinnerte sich sogar noch daran, dass Silver genau das neben Victor Solomons Leiche im Weißlachs-Camp gesagt hatte. »Es ist tatsächlich die Harpune von Onkelchen Frost«, hatte Silver gemeint.
Und er, Nathan Active, der gründlich ausgebildete Alaska State Trooper, hatte diese Annahme nicht ein einziges Mal in Zweifel gezogen. Er schüttelte den Kopf und versuchte, sich auf den Fall zu konzentrieren statt auf seine eigene Dummheit. Warum hatte Saganiq Natchiq getötet – falls Onkelchen Frost wirklich so geheißen hatte? Und warum hatte Saganiq etwas so Wertvolles wie eine Harpune zurückgelassen, die in unzähligen Stunden Handarbeit gefertigt worden war? Und warum sollte ein Angatquq wie Saganiq sein Amulett zurücklassen? Aber vor allem, warum sollte sich jemand die Mühe machen, Onkelchen Frost – Natchiq – zusammen mit Saganiqs Amulett und Harpune aus dem Museum zu stehlen, um dann Victor Solomon damit aufzuspießen? Active hatte gerade das Ende des Bandes 1911-16 erreicht, ohne einen weiteren Hinweis auf Matthew Solomon oder Natchiq zu finden, als Sebastian James von seinem Hausbesuch zurückkehrte. »Irgendwas gefunden?«, fragte der Priester. Active zeigte ihm Pater Hanlons Bericht über Saganiqs Aufnahme in die Kirche. »Haben Sie je von diesem Natchiq gehört?« Der Priester sah sich die Fotokopie an und schüttelte den Kopf. »Bei ihm muss es sich wohl um Onkelchen Frost handeln – wenn wir Saganiqs vorbeugendes Leugnen des Mordes richtig interpretieren«, sagte Active. James nickte. »Muss es wohl.« »Wenn dieser Saganiq wirklich ein Angatquq und Mörder war, wie ist er dann zum Christentum gekommen?« James lachte in sich hinein. »Ich glaube, Pater Hanlons Eintrag spricht für sich selbst. Saganiqs Bekehrung besiegelte das Ende der Teufelsdoktoren.«
»Glauben Sie wirklich? Dass die Angatquqs mit dem Teufel im Bunde standen? Waren sie nicht einfach die traditionelle Version eines Priesters? Wären Sie in der damaligen Zeit nicht selbst einer gewesen?« James versank in Nachdenken, als hätte er sich noch nie mit dieser Frage befasst. »Ich hoffe nicht«, sagte er schließlich. »Zu der Zeit, als die Naluaqmiut auftauchten, waren die Angatquqs so korrupt wie eine Priesterschaft nur sein kann. Manche versuchten, Gutes zu tun, vor allem die weiblichen, aber viel zu viele der männlichen Angatquqs benutzten ihre Stellung, um sich Vorteile zu verschaffen: Macht, Frauen, Privilegien. Und als dann der weiße Mann das Christentum zusammen mit seinen Gewehren und Arzneimitteln brachte, waren wir Inupiat bereit für das Wort Gottes. Die Macht der Angatquqs bröckelte ab wie Raureif. Wie auch ein Großteil unserer Kultur.« James hielt einen Augenblick inne. »Nur dass die Angatquqs es nicht anders verdient hatten, glaube ich.« »Dann hat sich Saganiq also einfach auf die Seite des Siegers geschlagen?« James nickte. »Eine Zweckbekehrung, da bin ich sicher. Ich bin nur überrascht, dass er so lange dazu gebraucht hat. 1911 war die Schlacht längst verloren. Er muss ein halsstarriger Mensch gewesen sein.« Active wollte etwas sagen, aber James hob die Hand. »Vielleicht tue ich den Angatquqs und den Inupiat, die die Ankunft des weißen Mannes erlebten, auch ein wenig Unrecht. Was wissen Sie über die Geschichte dieser Region vor dem Erstkontakt, Nathan?« »Sehr wenig, schätze ich. Die amerikanischen Walfänger sind im späten neunzehnten Jahrhundert hier aufgetaucht, nicht wahr?« James nickte. »Und sie kamen zu einem schlechten Zeitpunkt für die Inupiat. Nach Erkenntnissen der Anthropologen gab es
um diese Zeit eine unglaubliche Nahrungsknappheit im Chukchi-Becken, eine Hungersnot biblischen Ausmaßes. Zwei Jahre hintereinander gab es buchstäblich nichts – keine Karibus, keine Wale, keine Fische, keine Vögel, keine Beeren. Jedenfalls fast keine. Als es vorbei war, waren nur noch zehn Prozent der ursprünglichen Bevölkerung übrig.« »Eine Todesrate von neunzig Prozent? Das ist, das ist…« »Tot oder auf der Suche nach Nahrung fortgezogen«, sagte James. »Die Überlebenden, die es den Anthropologen in den Dreißiger- und Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts beschrieben haben, berichteten von Hungertod und Kannibalismus.« »Davon hatte ich keine Ahnung«, sagte Active. »Ich wusste, dass das Leben damals hart war, aber ich habe angenommen, dass das Land immer genug zum Überleben hergab.« »Nicht immer«, sagte James. »Als dann die Naluaqmiut auftauchten, waren die Inupiat ein Volk am Rande des Abgrunds. Nichts, was sie oder ihre Angatquqs versucht hatten, hatte die Fische und das Wild zurückbringen können. Und da erscheint der weiße Mann mit seinem Überfluss an Nahrungsmitteln am Horizont, mit neuen Technologien und einer neuen Religion. Oder vielleicht war die neue Religion Teil der Technologie.« James verzog den Mund zu einem dünnen, ironischen Lächeln. »Was immer der Naluaqmiu hatte, es schien zu funktionieren, also haben wir das komplette Set gekauft.« »Einschließlich des Schnapses, der Victor Solomons Familie umgebracht hat.« »Den auch«, sagte James. »Den auch.« Der Priester musterte ihn ein paar Sekunden lang, dann: »Und Sie?« »Ich?«
»Wie stehts mit Ihnen? Wenn ich Ihr Gesicht so betrachte, dann…« James zuckte die Achseln. »Mir geht es gut. Polizeiarbeit bringt natürlich auch Stress mit sich.« Active gab das Achselzucken zurück und versuchte, dabei nonchalant zu wirken. James lächelte. »Das ist schon in Ordnung. Der Herr hat nichts dagegen, wenn Sie Trost bei Nelda Qivits suchen. Es ist Ihr Ziel, an dem er interessiert ist, nicht der Weg, den Sie wählen.« Active starrte ihn an. Ihm fehlten die Worte. Wer wusste sonst noch alles von seinen Besuchen in der kleinen Hütte beim Krankenhaus? Vor der Kirche blieb er einen Moment lang gedankenversunken stehen, dann stieg er in den Suburban und fuhr auf der Second Street nach Norden. Neldas Wohnung lag sechs Häuser südlich vom Krankenhaus. Als er klopfte, fragte er sich wieder, warum sie die einzige Person war, mit der er über seinen Schießtraum sprechen konnte. Er wusste nur, dass es etwas mit Fragen und ihren Antworten darauf zu tun hatte. Das erste Mal, als er versucht hatte, mit Grace darüber zu reden, war sie ganz gegen ihre Gewohnheit außer Fassung geraten. Es hatte einen Hagel von Fragen gesetzt, einen Schauer von Ratschlägen. Wie lange hatte er den Traum schon? Wie häufig? Wer war die Person mit der Waffe? War sie es? Wollte er sich nicht psychologisch beraten lassen? Vielleicht eine Weile frei nehmen? Seine Adoptiveltern in Anchorage besuchen und den Spuren seiner Kindheit folgen? Er war im grellen Scheinwerferlicht ihrer Liebe zu Eis erstarrt, vor der Flamme ihrer Angst zurückgeschreckt. Und dann hatte sie ausgerechnet Martha davon erzählt, seiner leiblichen Mutter. Und die ganze qualvolle Prozedur hatte sich wiederholt, als er beim nächsten Mal am Sonntag zum Essen bei ihr eingeladen war. Mit Martha Active Johnson, der Frau,
die ihn auf der ganzen Welt am meisten einschüchterte, konnte und wollte er ganz bestimmt nicht über den Traum sprechen. Am Ende war sie genauso verletzt, frustriert und besorgt gewesen wie Grace. Immerhin, der einmütige Rat, zu einem Psychologen zu gehen, schien keine schlechte Idee zu sein. Aber es durfte auf gar keinen Fall etwas in seine Akte kommen. Kein Bulle, der noch halbwegs bei Verstand war, wollte einen Eintrag über psychische Probleme in seiner Personalakte haben. Das brachte die Oberbosse nur auf den Gedanken, dass man kurz vor einem Zusammenbruch stand oder zumindest irgendwann einen haben konnte und vielleicht nicht mehr ganz zuverlässig war. Dann, nicht lange nach seinem ersten Schießtraum, war Active in ein Dorf am Isignaq River entsandt worden, um einen Mann namens Grover Weldon nach Chukchi zu überführen, der zum dritten Mal innerhalb eines Jahres verhaftet worden war, weil er seine Frau verprügelt hatte. Im Unterschied zu den beiden anderen Malen geriet der Schläger diesmal an eine neue Richterin, eine resolute Inupiat-Frau mittleren Alters namens Charlene Plunkett. Charlene Plunkett mit ihren silbergrauen Haaren hatte nach einem einzigen Blick auf Grover Weldon befunden, dass er innerlich krank sei und ihm zur Auflage gemacht, eine Stammesdoktorin namens Nelda Qivits aufzusuchen. Das war jetzt – wie lange? – sechs, sieben Monate her. Und seitdem war Grover nicht mehr in Schwierigkeiten geraten, soweit Active wusste. Wie auch immer: »innerlich krank«. Das hatte gesessen. Und nachdem Active das nächste Mal den Schießtraum gehabt hatte, hatte er an Nelda Qivits Tür geklopft. Das Eigenartige war, dass Nelda kaum je eine Frage über den Traum stellte oder gar Ratschläge erteilte. Sie reagierte nie auf irgendetwas, was er über seinen Traum erzählte, aber irgendwie funktionierte es. Sie schnatterte drauflos wie jede x-beliebige
alte Aana und erzählte Klatsch und Tratsch, bis er plötzlich feststellte, dass er über seine Sorgen sprach. Danach fühlt er sich besser und der Traum kehrte eine Weile lang nicht zurück. Aber jetzt war der Traum zweimal innerhalb von drei Tagen gekommen, deshalb klopfte Nathan wieder an Neldas Tür. Endlich machte sie auf, blickte ihm lange in die Augen und sagte: »Komm rein, Naluaqmiiyaaq, ich koche Sauerampfertee. Ist gut, dass du gekommen bist, wies aussieht.« Sie schaltete den Fernseher ab und humpelte in ihre winzige Küche. Er folgte ihr und sah vom Esstisch aus zu, wie sie einen Stieltopf mit Wasser füllte, etwas von der Sauerampferwurzel hineinwarf, die bei den Aanas im Ruf stand, so etwas wie ein Allheilmittel zu sein, und den Herd einschaltete. Der bittere Geruch des Zeugs erfüllte den Raum, als sie zum Tisch zurückkehrte und sich ihm gegenüber hinsetzte. »Du hattest wieder den Traum, wie?« Er nickte. »Vor zwei Tagen und heute Morgen wieder, dasselbe wie immer. Und ich muss immer öfter daran denken, wenn ich wach bin.« Er erzählte von der Gestalt, die mit dem Messer oder was es auch war, zur Tür hereinkam und von seinen eigenen, fruchtlosen Versuchen, den Angreifer zu erschießen. »Und es war kein Messer, diesmal?« »Vielleicht nicht. Das konnte ich nicht genau erkennen.« »Harpune vielleicht?«, sagte sie. »Tee ist fertig.« Active erstarrte, während sie zum Herd ging, zwei Tassen füllte und zurückkam. Verdammt, das konnte sein, eine Harpune. Allein vom Nachdenken darüber wurde er unruhig und spürte, wie sein Atem sich beschleunigte. Aber war es Erinnerung oder Suggestion? »Es könnte eine Harpune gewesen sein«, sagte er zögernd. »Und ich glaube, diesmal hat er auf mich eingestochen. Aber
genau an der Stelle hat das Telefon geklingelt und Grace hat mich mit der Antenne gepiekst. Ich weiß es einfach nicht genau.« »Dieselbe Harpune, mit der der alte Victor getötet wurde, vielleicht?« Er blickte in die Starbrille der alten Dame und eine neue Welle schockartiger Erkenntnis rollte über ihn hinweg. Und dann, bevor er das Gefühl genauer einordnen konnte, war er schon dabei, alles zu erzählen, was er über die Geschichte wusste. Wie Victor Solomons Ermordung mit Onkelchen Frost in Verbindung zu stehen schien, der seinerseits ein falscher Prophet namens Natchiq gewesen war. Sie nickte und starrte in ihre leere Tasse. »Ich habe ein bisschen über Natchiq gehört, als ich ein junges Mädchen war, glaube ich, kann mich aber nicht mehr erinnern.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Du wirst es aber herausfinden, wie?« »Leider zu spät für Victor Solomon.« Nelda sah ihm noch einmal tief in die Augen. »Kein Problem mit Quiyuk, ha?« Sie griff nach den Tassen und ging zum Nachfüllen zum Herd, womit sie ihm abermals Zeit zum Nachdenken ließ. Active verspannte sich bei der Frage. Es war eine der wenigen Fragen, die Nelda ihm stellte, und das fast jedes Mal. Und es war die einzige Frage, von der er sich wünschte, sie würde sie nicht stellen. Natürlich hatte das durchaus einen Sinn. Man musste nicht Sigmund Freud sein, um die Implikationen des Schießtraums zu erkennen. Und natürlich gab es ein Problem beim Quiyuk. Das war noch vorsichtig ausgedrückt. Er brauchte Grace bloß anzufassen und schon erstarrte sie zu Eis und verfiel in einen beinahe katatonischen Zustand. Sie hatte ihm erzählt, dass sie dabei den Schrecken der Besuche ihres Vaters in ihrem
Kinderzimmer wieder durchlebte. Also war das QuiyukProblem genau genommen das Problem von Grace, aber natürlich auch sein eigenes. War er aber bereit, mit Nelda Qivits darüber zu sprechen? Eines Tages vielleicht, aber heute? Heute wünschte er sich, Nelda würde einfach den Mund halten. Aber wie sagte man das einer Aana weit über siebzig? Schließlich sagte er: »Ich weiß nicht. Vielleicht.« Ihre wissenden alten Augen bohrten sich in seine. »Deine Gracie ist ein Fall für die Klapse, was? Jedenfalls was das Quiyuk betrifft.« Sie gackerte, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. »Na, dann musst du wohl einfach deine Harpune immer schön scharf halten, Naluaqmiiyaaq. Eines Tages wird sie zu dir sagen: ›Nathan, dieser Muktuk ist heiß!‹« Sie gackerte abermals, hob die Tasse und trank von ihrem Sauerampfertee, während ihre Augen groß und fröhlich durch die Starbrille funkelten. Nicht zum erstenmal machte ihn Neldas erdverbundene Art sprachlos. Er versuchte sich von nichts mehr überraschen zu lassen, was aus dem Mund einer Aana kam, aber Nelda fand immer wieder einen Weg. Im Inupiaq gab es vermutlich ebenso viele Metaphern und Euphemismen für Sex wie in jeder anderen Sprache, und diese gehörte zweifellos dazu. Oder hatte Nelda den Ausdruck aus dem Stegreif geprägt? Aber – den Muktuk harpunieren!? Gegen seinen Willen lachte er laut heraus und entspannte sich ein wenig. »Das wäre schön, aber so einfach ist das nicht.« Ihr Gesicht wurde weicher. »Arii, das Leben ist manchmal schwer für ein hübsches Mädchen.« Er nickte wieder. »Wie gehts der kleinen Nita?« »Gut. Sie spielt im Basketballteam der Mittelschule.«
»Arigaa, ich kann das Mädel gut leiden. Ich erinnere mich noch, wie Grace sie eine Weile zum Sauerampfertee zu mir geschickt hat, nach all dem, was im letzten Jahr passiert ist.« »All dem, was passiert ist?« Active nahm an, dass das wohl auch eine Möglichkeit war, die Serie von Katastrophen zusammenzufassen, die mit einem Flugzeugabsturz in einem Dorf am Isignaq begonnen und mit der Ermordung von Grace Palmers Vater geendet hatte. Bei dem Absturz war Aggie Iktillik ums Leben gekommen, Grace Palmers Tante und Mutter der zehnjährigen Nita Iktillik. Grace Palmers Eltern nahmen daraufhin das Waisenmädchen Nita zu sich, und als auch Jaron und Ida Palmer wenig später starben, kehrte Grace nach Chukchi zurück und adoptierte ihre kleine Cousine Nita. Dies war die Geschichte, die die Öffentlichkeit erfahren hatte. Was – soweit Active es beurteilen konnte – niemand außer Grace und ihm wusste, war, dass Grace’ Adoptivtochter Nita in Wahrheit ihre leibliche Tochter war, gezeugt von ihrem eigenen Vater Jaron Palmer. Aggie Iktillik hatte Nita lediglich aufgezogen. Und dabei wäre es auch geblieben, hätte Cowboy Decker die Dinge nicht mit seinem Flugzeugunfall in Bewegung gebracht. »Hm«, sagte Active und fragte sich, worauf Nelda hinauswollte, indem sie gefährliche Themen wie Nita Iktillik und »alles, was passiert ist« anschnitt. »Hm«, sagte auch Nelda. Sie schwieg eine Weile, dann fuhr sie fort: »Die kleine Nita hat Aggie irgendwie nie sehr ähnlich gesehen. Für mich sieht sie viel mehr wie Grace aus.« Active antwortete nicht, fühlte sich plötzlich von dieser winzigen, alten Frau in die Enge getrieben und versuchte, genügend Energie aufzubringen, um aufzustehen und zu gehen. Wie viel wusste sie?
»Manchmal hat man fast den Eindruck, als wäre Gracie ihre leibliche Mutter.« Zu viel, offensichtlich. Aber worauf wollte sie hinaus? »Manche Dinge bleiben besser ungesagt«, brachte er schließlich heraus. »Ich hab noch nie mit jemandem darüber gesprochen«, sagte Nelda. »Außer mit dir und Gracie, wenn sie hin und wieder zum Sauerampfertee vorbeischaut. Was da geschehen ist, das könnte jeden in den Wahnsinn treiben.« »Sie spricht nie darüber, außer manchmal mit mir.« »Vielleicht sollte sie einmal mit jemand Neuem drüber reden.« Kopfschüttelnd verließ er die Hütte. Nelda Qivits Fähigkeit, ins Herz der Dinge zu sehen, war ihm unheimlich.
14
Er entdeckte Lucy an ihrer Konsole in der Einsatzzentrale des Polizeigebäudes, wo sie Passagen aus einem Text über Buchführung anstrich. »Du siehst heute besonders gut aus.« Sie lächelte und tätschelte ihren Bauch, der sich gerade zu wölben begann. »Ich hätte nicht gedacht, dass es so schön ist.« »Weißt du schon, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird?« Sie rümpfte die Nase zum Nein der Inupiat. »Wir lassen uns lieber überraschen.« »Wie macht sich Dan?« »Er ist noch glücklicher als ich, glaube ich. Er ist ja selber noch ein großer Junge.« »Dann freue ich mich für euch beide.« Sie hob die Augenbrauen und lächelte wieder. Ein Lächeln mit einem Anflug von – was? Nicht direkt Wehmut. Die unbeantwortbare Frage nach dem Was-hätte-sein-können, das war es. Was, wenn Grace Palmer nicht aufgetaucht wäre, was, wenn es mit Nathan Active und Lucy Generous geklappt hätte und sie nicht Frau Brophy geworden wäre? Auch er stellte sich manchmal diese Frage. Ohne Bedauern, denn es gab Grace in seinem Leben, aber die Neugier blieb, wie eine Zukunft mit Lucy wohl ausgesehen hätte. Manchmal wunderte er sich doch, wie selbstverständlich es ihm schien, Lucy mit einem anderen Mann verheiratet zu sehen, dessen Kind sie trug. Er schob diese unlösbaren Rätsel beiseite und konzentrierte sich auf das Naheliegende. »Eigentlich bin ich beruflich hier. Hast du jemals Geschichten über ein paar alte Angatquqs namens Natchiq und Saganiq gehört?«
Sie dachte einen Moment lang nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich glaube nicht. Soll ich Aana Pauline fragen?« Er nickte und sie streifte ihr Headset über und wählte die Nummer ihrer Großmutter. Er hörte zu, während sie Pauline Generous nach den beiden Schamanen ausfragte. Endlich zog Lucy das Headset ein paar Sekunden lang von einem Ohr weg und sagte zu Active: »Pauline ist in der Gegend von Nome aufgewachsen, und dort war nie die Rede von Saganiq oder Natchiq. Sie ist erst als erwachsene Frau nach Chukchi gezogen, und da war schon niemand mehr am Leben, der die beiden noch selbst gekannt hätte.« Lucy dankte ihrer Großmutter und trennte die Verbindung. »Vielleicht kennt deine Mutter jemanden, der etwas über sie weiß. Sie arbeitet doch in der Schule und trifft die Ältesten, wenn sie Unterricht über Inupiat-Kultur geben.« Active starrte sie einen Augenblick lang verblüfft an; es war ihm peinlich, dass er nicht selbst daran gedacht hatte. »Danke«, sagte er schließlich. »Ich werde es versuchen.« Er setzte zu einer Bewegung an, als wollte er sich vorbeugen und sie küssen, wie er es früher getan hatte, aber er konnte sich gerade noch zurückhalten, bevor sie etwas merkte. So hoffte er jedenfalls und wunderte sich darüber, was alte Gewohnheiten und alte Gefühle für ein Eigenleben entwickeln konnten. Es war gerade Lucys sonnige Normalität, die sie so attraktiv machte, dachte er. Dan Brophy konnte sich glücklich schätzen.
Martha Active Johnson schob gerade ihr Tablett am Büfett der Cafeteria der Chukchi Highschool entlang, als er sie fand. »Hast du eine Minute Zeit?« Sie strahlte. »Für dich, mein Süßer? Immer! Hol dir ein Tablett und wir essen in meinem Büro, ja?«
Als er ein Tablett vom Stapel am Ende der Theke holte, staunte er wieder einmal über die Jugendlichkeit seiner leiblichen Mutter. Normalerweise hatte ein erwachsener Mann eine Mutter, die ein bisschen grau und dicklich war, wie seine Adoptivmutter in Anchorage. Aber nicht Martha. Martha war bei seiner Geburt erst fünfzehn gewesen und ging jetzt gerade mal auf Mitte vierzig zu. Und nicht einmal die sah man ihr an. Keine Spur von Fett, immer noch glänzend schwarze Haare, glatte Haut bis auf die Lachfältchen um den Mund und die sprühenden schwarzen Augen. Sie bedienten sich mit Hackbraten, Kartoffelbrei, grünen Bohnen, Apfelsauce in winzigen Plastikbechern und Viertelliter-Milchkartons in Pyramidenform. Dann folgte er ihr durch die Gänge zu ihrem Büro. HILFSLEHRER PROJEKTLEITUNG, besagte ein Schild an der Tür. Ein anderes in bunten Buchstaben lautete: VORWÄRTS, HUSKIETTES! AUF ZUR MEISTERSCHAFT! Sie setzte das Tablett auf ihrer Schreibtischunterlage ab und räumte auf der anderen Seite einen Flecken für ihn frei. Er stellte sein Tablett ab, zog sich einen orangefarbenen Plastikstuhl heran und widmete sich der Mahlzeit. Das Essen schmeckte besser, als er erwartet hatte, besonders die grünen Bohnen. Vielleicht hatten sich Cafeterias seit seiner Schulzeit verändert. Oder vielleicht versorgte die Chukchi Highschool ihre Schüler einfach besser als seine alte Schule in Anchorage. Martha spießte mit der Gabel ein Stück Hackbraten auf, drehte es im Kartoffelbrei und steckte es in den Mund. Sie schluckte und grinste. »Du wolltest mir gerade sagen, wie sehr du mich vermisst und was ich für eine großartige Mutter bin, wie?« Active erwiderte das Grinsen. »Ich mag dich ganz gerne und du bist eine ganz brauchbare Mutter, auf eine gewisse Art.«
»Arii!«, sagte sie. »Wenn eine Frau vermeiden will, dass ihr das Herz gebrochen wird, sollte sie sich keine Kinder zulegen. Höchstens Hunde.« Sie saugte etwas Milch aus ihrem Karton. »Also, was willst du? Ist die Waschmaschine in der Junggesellenhütte wieder kaputt?« »Nein, nein, diesmal geht es nicht um die Wäsche, Aaka. Es ist beruflich.« Ihr Blick wurde ernst. »Oh. Du hast noch nicht herausgefunden, wer den alten Victor Solomon getötet hat, was? Ich dachte, es wäre dieser verrückte Calvin Maiyumerak.« Er schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht. Aber genau darum geht es.« »Du denkst, es war einer unserer Schüler?« Sie sah erschrocken drein. »Nein, nein, natürlich nicht. Aber ich muss etwas über ein paar Angatquqs aus den alten Zeiten in Erfahrung bringen, Natchiq und Saganiq. Hast du je von ihnen gehört?« Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich – ja, ich glaube, dein Großvater hat manchmal über sie gesprochen, als ich noch klein war.« »Jacob weiß Bescheid über sie?« »Glaube schon, ja. Aber was haben sie mit Victors Ermordung zu tun?« »Das weiß ich noch nicht. Anscheinend war Victor der Enkel von einem der beiden, nämlich von Saganiq. Was hat Jacob über sie erzählt?« Sie runzelte wieder die Stirn, dann zuckte sie enttäuscht die Achseln. »Ich kann mich nicht erinnern. Damals wollte ich nichts von dem Eskimo-Zeugs wissen. Ich schämte mich, Eskimo zu sein. Ich wollte weiß sein.« Das Gespräch nahm eine beunruhigende Wendung in Richtung Beichte. »Glaubst du, er erinnert sich noch an die
alten Geschichten?«, fragte Active. »Ich könnte ihn im Altersheim besuchen.« »Gut möglich«, erwiderte Martha. »Sein Verstand ist noch ziemlich klar, jedenfalls, was die alten Zeiten angeht. Er kann nur seit dem Schlaganfall kein Englisch mehr, das ist alles.« »Ich weiß. Ich brauche jemanden, der für mich dolmetscht. Mit seinem Inupiaq halte ich nicht mit.« Die Tränen stiegen ihr in die Augen. »Ich kann nicht für dich übersetzen. Er will mich nicht sehen.« »Warum nicht?« »Das möchte ich nicht sagen.« »Aaka, ich muss es wissen.« Sie wischte sich mit der Ecke einer Papierserviette die Augen. »Es ist deinetwegen, teilweise. Und wegen Leroy.« Leroy Johnson war Marthas Mann, Actives Stiefvater, genauer gesagt, und der Vater von Actives halbwüchsigem Bruder Sonny. »Wegen Leroy und mir? Warum?« »Dein Ataata Jacob hat Naluaqmiut nie leiden können, Nathan. Er denkt, sie zerstören unser Land mit ihren Flugzeugen, ihrem Schnaps und ihrer Wohlfahrt. Deshalb war er wütend, als ich dich an Ed und Carmen weggegeben habe, weil sie weiß waren, und dann war er wieder wütend, als ich Leroy geheiratet habe, weil Leroy weiß ist. Schließlich hat er ganz aufgehört, mit mir zu sprechen. Er sieht mich nicht einmal an, wenn ich dort bin. Gar nichts.« Eigentlich hätte er das auch selbst merken können, aber irgendwie hatte er nie darauf geachtet. Er hatte Jacob Active ein paar Mal besucht, als seine Adoptiveltern ihn bei dem großenteils fruchtlosen Versuch, den Kontakt zu seinen Wurzeln zu erhalten, nach Chukchi gebracht hatten. Und er hatte den alten Mann zweimal gesehen, seit er vor zwei Jahren in Chukchi stationiert worden war. Die Besuche hatten wegen
der Sprachbarriere, die der Schlaganfall seines Großvaters zwischen ihnen errichtet hatte, etwas Unbeholfenes und Zeremonielles an sich. Martha hatte sich während dieser Besuche immer im Hintergrund herumgedrückt. Er hatte die beiden nie ein einziges Wort miteinander wechseln hören, weder auf Englisch noch Inupiaq. »Hat er zufällig um die Zeit herum mit dir zu reden aufgehört, als er seinen Schlaganfall hatte?« »Ja, ich glaube. Aber…« »Um dieselbe Zeit, als er sein Englisch vergessen hat?« Sie nickte. »Nun, vielleicht liegt es nur an seinem Schlaganfall, dass er sich so verhält. Ein Schlaganfall kann einen alten Menschen verändern.« Seine Mutter schaute zweifelnd drein, während sie mit einem Stück Hackbraten herumspielte. »Ich weiß nicht. Er war ziemlich wütend auf mich, schon vor dem Schlaganfall.« Schweigen breitete sich aus. Dann tupfte sich Martha wieder mit der Serviette die Augen und blickte ihn an. »Manchmal befürchte ich, du bist ein bisschen wie er. Du bist immer böse auf mich, weil ich dich zur Adoption freigegeben habe.« Active hätte fast feuchte Augen bekommen. Sie war so isoliert. Vom Vater verstoßen, die Mutter schon lange tot, und mit einem Sohn belastet, der ihr nicht verzeihen konnte. Der ihr nicht dabei helfen konnte, sich einzureden, dass sie damals, als sie ihn Ed und Carmen zur Adoption übergab, das Richtige getan hatte. Er rieb sich die Augenbrauen und seufzte. Wie schaffte sie es nur, die meiste Zeit so fröhlich zu bleiben? »Ich bin nicht böse, Aaka. Es ist nur so, dass ich, na ja…« »Ich wusste, dass ich zu jung und zu wild war, um mich richtig um dich zu kümmern, und du hast dich doch gut entwickelt, oder?«
»Ich weiß, dass du dein Bestes getan hast.« Er beugte sich vor und berührte ihre Hand. Sie musterte ihn prüfend. »Du hast immer noch diesen Traum, wie?« Active rümpfte die Nase und verengte die Augen, das Inupiat-Zeichen der Bestürzung und Ablehnung. Er schwieg. Sie seufzte und warf die Serviette auf ihren Teller. »Egal, ich weiß, dass du einen Übersetzer brauchst, wenn du mit deinem Ataata sprechen willst. Wie wärs mit Gracie? Dolmetscht sie nicht manchmal?« Active nickte. »Ich frage sie.«
Auf dem Weg nach draußen blieb Active beim Büro des Direktors stehen, vor dem Wandbild von Grace aus ihren Zeiten als Schönheitskönigin. Sie stand an einem Sommertag auf einer Klippe vor dem Hintergrund der Bucht von Chukchi und hielt ein Rosenbukett im Arm. Sie trug ein Abendkleid, eine Tiara und eine Schärpe, auf der »Miss North World« stand. Im sommerlichen Licht der Schwarz-Weiß-Fotografie sah sie absolut umwerfend aus. Wie bei jedem Licht. Die elegante, gerade Nase, die dunklen Mandelaugen, fuchsgleich schräg stehend, und dieser eigenartige silbrige Schimmer in den Augenwinkeln. Zwei Gehilfen des Hausmeisters, beide Inupiat, arbeiteten gerade daran, das Bild von der Wand abzulösen, und schabten von den Rändern zur Mitte hin. Sie hörten auf, als sie bemerkten, dass Active das Bild betrachtete, und traten dann selbst einen Schritt zurück, um es anzusehen. »Na, die war schon was Besonderes«, sagte einer von ihnen. »Ist sie noch«, meinte Active. »Warum wird es abgenommen?«
»Der Direktor lässt eine große Glasvitrine aufstellen, für die ganzen Pokale, die die Kinder gewonnen haben«, sagte der andere Arbeiter. »Er denkt wohl, sie hat jetzt lange genug da oben gehangen.« Die beiden machten sich wieder an die Arbeit. »Kann schon sein«, sagte Active.
Active fuhr zum GeoNord-Gebäude und traf Grace in ihrem Büro an, wo sie gerade ein Gespräch mit einem Inupiaq mittleren Alters führte, der eine Windjacke mit dem Logo der zur Firma gehörenden Gray Wolf Mine trug. Grace verbrachte einen beträchtlichen Teil ihrer Zeit damit, Arbeiter aus der großen Kupfermine in den Ausläufern der Brooks Range nördlich von Chukchi zu betreuen. Als der Mann ging, bat sie Active ins Büro, das ebenso wie Grace immer sanft nach Lavendel duftete. »Sein Chef bewilligt ihm keinen Urlaub zum Weißlachsfang«, sagte sie. »Es ist Frühling und die Weißlachse springen, und wer will schon in einer Mine arbeiten, wenn die Lachse springen?« Er zuckte die Achseln. »Genau«, sagte sie. »Niemand. Aber irgendjemand muss doch, findest du nicht? Das habe ich ihm jedenfalls gesagt.« Er zuckte wieder die Achseln und grinste. Sie schüttelte müde den Kopf. »Ich weiß, ich weiß, es ist nicht dein Problem. Also, was ist dein Problem? Oder bist du aus reiner Zuneigung hier?« »Hauptsächlich aus Zuneigung natürlich.« Sie erwiderte sein Lächeln, aber ihre Augen verengten sich. »Aber nicht nur?« »Ich wollte nur wissen, ob du irgendwas aus der Gerüchteküche gehört hast.« Sie schüttelte den Kopf. »Der Typ, der gerade gegangen ist, hat jedenfalls nichts gehört. Und Fannie da draußen, die weiß
alles über alles und jeden.« Grace nickte zu der grauhaarigen Inupiat-Sekretärin hin, die an ihrem Schreibtisch vor dem Büro beschäftigt war. »Nicht einmal Fannie hat irgendein Gerücht aufgeschnappt, wer Victor Solomon getötet haben soll, außer, dass sie auf Kay-Chuck gesagt haben, es könnte Calvin Maiyumerak gewesen sein.« »Scheint überall dieselbe Geschichte zu sein. Niemand hat irgendwas gehört. Wenn in dieser Stadt etwas passiert, hört man es normalerweise in der Gerüchteküche, bevor es auf KayChuck kommt.« Er machte eine Pause. »Kennst du zufällig meinen Großvater?« »Ein bisschen«, sagte sie. »Als ich klein war, hat er in der Schule Unterricht über Eskimokultur gegeben und Geschichten übers Wal- und Robbenfangen erzählt und wie man auf dem Eis überlebt. Warum?« »Martha sagt, er weiß über Natchiq und Saganiq Bescheid. Aber mein Inupiaq ist nicht gut genug, um ihm folgen zu können. Sie hat gemeint, du könntest vielleicht für mich dolmetschen.« Sie runzelte die Stirn. »Jacob spricht kein Englisch? Das konnte er doch ganz gut, zumindest Village-Englisch, als er Unterricht gegeben hat. Sonst hätten die meisten Kinder nur die Hälfte von dem verstanden, was er sagt.« »Er hat sein Englisch bei einem Schlaganfall verlernt. Das sagt jedenfalls Martha.« »Kann ich machen«, sagte Grace. Sie bat Fannie, die Stellung zu halten und griff nach ihrem Parka. »Es könnte etwas unangenehm werden«, sagte Active, während er den Suburban in Richtung des Seniorenzentrums lenkte, das am Ufer der Lagune hinter dem Dorf lag. Der Westwind, der tags zuvor die Rinne geschlossen und die Walfänger vom Eis vertrieben hatte, blies immer noch unermüdlich und trieb kleine Schneefahnen und -wirbel vor
sich her, fuhr in die Wäsche, die hinter den Häusern an der Leine hing, und zwang die wenigen Fußgänger auf der Straße, die Schultern einzuziehen. »Warum?«, fragte Grace. »Jacob kann meine Mutter nicht leiden, und mich auch nicht, glaube ich. Ich glaube, er hat all die Male, die ich ihn gesehen habe, nicht mehr als zwanzig Worte mit mir gewechselt.« Grace starrte ihn an. »Wo liegt das Problem?« »Das habe ich erst heute herausgefunden, als ich Martha bat, zu übersetzen. Anscheinend hat er was gegen die Naluaqmiut im Allgemeinen, weil sie die Lebensweise der Inupiat zerstören, und gegen Martha im Speziellen, weil sie sich mit so vielen von ihnen eingelassen hat.« »Zum Beispiel Ed und Carmen.« »Und Leroy. Und mich trifft es wohl auch, weil ich bei Weißen aufgewachsen bin.« Sie lächelte und die quecksilbrigen Augen blitzten. »Überlass das mir. Wie du sagtest, ein hübsches Mädchen, das gut riecht…« Er lachte in sich hinein, fuhr die Auffahrt entlang und parkte vor dem Seniorenzentrum.
15
Wie beinahe jedes Gebäude in Chukchi prunkte das Seniorenzentrum mit billigen Sperrholzpaneelen und hatte ein Blechdach. Einige Four-Wheeler und Schneemobile standen davor geparkt, neben zwei Pick-ups und einem durchgerosteten gelben Subaru. Das Zentrum sah aus der Luft aus wie ein Rad mit drei Speichen, aber ohne Felge. Jede Speiche war ein Flügel, in dem die alten Leute ihre Zimmer hatten. Die Cafeteria, der Fernsehraum und die Büros der Verwaltung befanden sich in der Nabe. An einem Tisch saßen vier Aanas in eine Runde Snerts vertieft, jenes geheimnisvolle Kartenspiel, das nur in Chukchi und Umgebung gespielt wurde, soweit Active hatte feststellen können. Sie sprachen am Empfangstisch vor und gingen dann den Gang hinunter, der zum Zimmer von Actives Großvater führte. Nathan sah durch die halb geöffnete Tür, dass er in der Nachmittagssonne schlafend auf der Zudecke seines Betts lag, während leise Musik aus einem kleinen Radio auf dem Nachttisch erklang. Jacob Actives braune, faltige Haut spannte sich straff über den Wangenknochen und ein silberner Haarschopf stand von seinem Kopf ab wie die federleichten Fiedern des Wollgrases. Im linken Ohr trug er einen Hörapparat. Das Ohrläppchen fehlte, er hatte es sich vor langer Zeit in der Wildnis abgefroren, behauptete Martha. Seine rechte Gesichtshälfte hing seit dem Schlaganfall schlaff herunter und ein silberner Speichelfaden rann aus dem Mundwinkel. Neben dem Radio auf dem Nachtkästchen lag eine Brille mit dicken Gläsern.
Nathan wollte hineingehen, aber Grace hielt ihn am Arm zurück. »Lass mich«, sagte sie. Sie schlüpfte ins Zimmer, nahm ein Kleenex aus der Schachtel auf dem Nachttisch und wischte dem Schlafenden übers Kinn. Dann berührte sie seinen Arm und beugte sich über ihn. Die folgende Unterhaltung ging für Active im Radioprogramm unter, aber ein oder zwei Minuten später winkte Grace ihm, hereinzukommen. Jacob blickte ihn an und schleuderte ihm einen Schwall Inupiaq entgegen. Grace übersetzte nicht, sondern redete weiter auf Jacob ein. Nathan erkannte seinen eigenen Namen und das Inupiaq-Wort für Enkel. Dann beugte Grace sich vor und flüsterte etwas in Jacobs Hörgerät. Endlich hob der alte Mann die Augenbrauen und sagte: »Ee«, das Inupiaq-Wort für Ja. Grace ordnete die Kissen und half ihm, sich aufzusetzen, dann drehte sie sich um. »Er ist einverstanden, aber er möchte erst etwas Tee.« Grace gab die Bestellung telefonisch auf und setzte sich dann neben den alten Mann auf die Bettkante. Jacob sagte etwas auf Inupiaq, dann sah er Nathan an. »Er fragt, wie es deiner Mutter geht und ob sie immer noch mit diesem weißen Mann zusammen ist«, übersetzte Grace. »Sag ihm, es geht ihr gut und ja, sie ist immer noch mit Leroy verheiratet und sie liebt ihren Vater immer noch.« Grace dolmetschte. Jacob runzelte die Stirn und sah einen Moment zur Seite, bevor er wieder auf Inupiaq redete. »Er sagt, er liebt sie auch und es tut ihm Leid, dass man manche Dinge nicht mehr ändern kann, wenn man alt wird. Aber er möchte dir bei deiner Arbeit als Trooper helfen, deshalb wird er dir erzählen, was er über Saganiq und Natchiq noch weiß. Es ist ihm bewusst, dass er sich an Dinge nicht
mehr erinnern kann, die heute Morgen passiert sind, aber die Ereignisse aus seiner Jugend stehen ihm noch so klar vor Augen, als wären sie gestern geschehen. Er ist sich zwar nicht sicher, ob er sich wirklich an alles erinnern kann, was er als Junge gehört hat, aber er will sein Bestes tun.« Active nickte. »Um mehr bitte ich dich nicht, Ataata.« Er glaubte, bei dem Inupiaq-Wort ein leises Lächeln auf Jacobs Lippen gesehen zu haben, aber vielleicht hatte er es sich auch nur eingebildet. Der alte Mann sprach wieder durch Grace zu ihm und Nathan unterbrach ihn nur dann mit Fragen, wenn es unumgänglich war. Anfangs war die Erzählung noch stockend, kam dann aber zunehmend in Fluss. Es war, als ob eine Erinnerung zur nächsten führte, wie die Glieder einer Kette. »Du willst also etwas über Saganiq und Natchiq erfahren, ja? Mein Vater und andere Leute seines Alters haben oft von ihnen erzählt, als ich klein war. Ich glaube, mein Vater kannte sie noch persönlich, wenn auch nur flüchtig. Als Junge könnte er Natchiq gesehen haben. Und dieser Saganiq, der war vielleicht sogar noch bis kurz vor meiner Geburt am Leben. – Na ja, mein Vater und die anderen Leute, sie sagten, Natchiq sei vom Oberlauf des Isignaq River zu uns gekommen, aus der Gegend des Ortes, den wir jetzt Rough Creek nennen. Heute lebt niemand mehr dort, aber früher schon. Unter den Weiden könnt ihr noch die alten Gruben sehen, wo die Leute damals ihre Häuser hatten. Einmal war ich mit meinem Vater dort oben und wir gingen umher und haben in ein paar der Gruben gebuddelt. Dad hat so eine alte, zerbrochene Axt aus Jade ausgegraben und gesagt: ›Vielleicht hat Natchiq damit Bäume gefällt, was meinst du?‹ Ich weiß nicht, ob man das heute noch tun darf, seit die Weißen dort ihren Nationalpark angelegt haben. – Natchiq stammte aus der Gegend um Rough Creek. Er hatte noch eine Schwester, aber ich glaube, sie ist
gestorben, als sie noch klein war, denn ich habe weiter nichts über sie gehört. Deshalb ist er ziemlich auf sich allein gestellt aufgewachsen, allein mit seiner Mutter dort oben am Rough Creek. Als kleiner Junge half er ihr und lernte eine Menge Dinge von ihr; wie man ein Grassodenhaus baut, zum Beispiel, oder Schlingen für Hasen und Schneehühner legt, solche Dinge. Was man damals eben können musste, um zu überleben.« »Was war mit seinem Vater?«, fragte Nathan. Grace übersetzte die Frage und Jacob runzelte einen Moment nachdenklich die Stirn. »Das ist seltsam, aber Natchiqs Vater kam in den alten Geschichten nicht vor. Vielleicht ist er gestorben, als Natchiq noch klein war, oder vielleicht hat er seine Mutter aus irgendeinem Grund verlassen. Ich weiß es nicht. Die Geschichten berichten nur von seiner Mutter, und dass er ihr immer geholfen und von ihr gelernt hat. – Aber er hat sich auch selbst Dinge beigebracht, nur durch Beobachten und Zuhören, und bald war er der beste Jäger in der ganzen Gegend. Er konnte jede Art von Wild erlegen. Ob es ein Eichhörnchen war oder Karibu oder Bär, ganz egal, Natchiq konnte es erlegen. Oder vielleicht hat sich das Wild ihm einfach ergeben, weil er etwas Besonderes war. So dachten jedenfalls manche Leute. – Seine Magie, oder was immer es war, trat eines Tages zum Vorschein, als er Schlingen überprüfte, die er vorher ausgelegt hatte. Er gelangte an einen Platz am Fluss, der sehr schön war, deshalb setzte er sich zur Rast auf ein Stück Treibholz. Bald hörte er einen kleinen Vogel zwitschern. Aber als er genauer hinhörte, merkte er, dass der Vogel in der Eskimosprache sang und immer wiederholte: ›Vater und Sohn, Vater und Sohn.‹ Und so ging er nach Hause und sagte vor sich hin: ›Vater und Sohn, Vater und Sohn.‹ – Danach kehrte er so oft wie möglich zu dem Fleck
zurück, weil er großen Frieden und große Ruhe empfand, wann immer er den kleinen Vogel zwitschern hörte: ›Vater und Sohn, Vater und Sohn.‹ Dann, nach einer Weile, fing der kleine Vogel an, noch mehr zu zwitschern. Er begann zu sagen: ›Vater und Sohn, die Quelle der Weisheit. Vater und Sohn, die Quelle der Weisheit.‹ – Mittlerweile kam Natchiq jeden Abend später nach Hause, und seine Mutter fing an, sich Sorgen zu machen. Sie fragte ihn, was er so spät noch tue und er antwortete, dass er sich nur um seine Schlingen kümmere. Jener kleine Vogel hatte nämlich niemals gesagt: ›Erzähle von mir.‹ Also lief Natchiq herum und wiederholte bei sich, was der Vogel gesagt hatte – ›Vater und Sohn, die Quelle der Weisheit. Vater und Sohn, die Quelle der Weisheit.‹ Und wann immer er konnte, ging er zu seinem Ruheplatz, um dem Vogel zu lauschen.« »Was hat er damit gemeint, ›die Quelle der Weisheit‹?«, fragte Nathan. »Niemand wusste das genau, außer Natchiq. Manchmal nannte er sie seinen Vater. Seinen Vater im Himmel.« »Das klingt wie der Gott der Naluaqmiut.« »Viele Leute dachten das später auch, nachdem die Weißen schließlich in unser Land gekommen waren und anfingen, von Jesus und allem zu reden. Sie dachten, Natchiqs Quelle der Weisheit wäre Gott. Aber zu der Zeit, als Natchiq noch lebte, hatten die Eskimos noch nie von Gott gehört oder irgendwelche weißen Menschen gesehen, und Natchiq erklärte die Sache mit seinem Vater im Himmel nie.« Jacob wirkte plötzlich verwirrt und es gab eine hastige Konferenz auf Inupiaq. Dann wandte sich Grace zu Nathan. »Er weiß nicht mehr, wo wir waren. Hat er uns nicht gerade erzählt, dass Natchiqs Mutter anfing, sich Sorgen zu machen, weil er so spät nach Hause kam?«
Nathan nickte. Jacob nahm den Faden wieder auf und Grace übersetzte weiter. »Manchmal kam Natchiq die ganze Nacht überhaupt nicht nach Hause und seine Mutter machte sich immer größere Sorgen. Sie fragte immer wieder: ›Wo bleibst du so lange? Was tust du?‹ – Plötzlich entschied er, dass es an der Zeit sei, seiner Mutter Bescheid zu sagen, also erzählte er ihr, er habe einem kleinen Vogel zugehört und der habe ihm gesagt: ›Vater und Sohn, die Quelle der Weisheit.‹ Als sie ihn fragte, wo sie denn sei, diese Quelle der Weisheit, sagte er, irgendwo da oben, aber er verspüre so viel Ehrfurcht, dass er es nicht einmal wagte, emporzublicken und nachzusehen. Da wurde seine Mutter besorgter denn je. Sie fragte ihn: ›Verwandelst du dich am Ende in einen Angatquq?‹ Er sagte ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, er verwandle sich in gar nichts. Er höre nur zu und lerne. Er sagte ihr: ›Ich weiß, dass irgendetwas uns hilft, und dass der kleine Vogel uns von irgendwo her ruft. Aber ich kenne die Quelle nicht.‹ Danach beruhigte sich seine Mutter wieder und machte sich niemals mehr Sorgen. ›Ich bin nun schon fast eine Aana‹, sagte sie bei sich, ›aber ich habe noch nie von einer Quelle der Weisheit gehört.‹ – Eines Tages erzählte Natchiq seiner Mutter, dass seine Quelle der Weisheit ihm gesagt habe, er solle ein bestimmtes Mädchen heiraten. Er zog mit ein paar anderen Männern nach Norden zur Jagd, und als er zurückkehrte, fand er ein Mädchen vor, das seine Mutter besuchen wollte. Er bat sie, mit ihnen zu essen, und nach dem Essen bauten sie eine neue Grassodenhütte. Dann beugte Natchiq den Kopf und dachte lange Zeit nach. Als er wieder aufsah, sagte er, er sei an einem friedvollen Ort gewesen, in Berührung mit seiner Quelle der Weisheit. ›Es ist am besten, wenn ich dieses Mädchen heirate‹, sagte er dann und sie wurden Mann und Frau. – So lebte er am Rough Creek mit seiner Mutter und seiner Frau und sie führten ein glückliches,
friedliches Leben, denn er war ein guter Jäger und er hatte seine Quelle der Weisheit im Himmel.« »Aber Natchiq sagte, er sei kein Angatquq?« Grace begann zu übersetzen, aber Jacob hob die Augenbrauen und kam ihr zuvor, weil er Nathans Frage anscheinend auch so begriffen hatte. Grace wartete, bis er ausgeredet hatte, dann übermittelte sie die Antwort. »Er sagt, Natchiq war kein Angatquq. Er hasste die Angatquqs.« Es klopfte an der Tür. Active öffnete und eine Schwester in hellgrünem Kittel brachte ein Tablett mit Tee und einem Stapel Zwieback herein. Sie stellte es über Jacobs Schoß ab und er bediente sich mit für seine zweiundachtzig Jahre bemerkenswertem Appetit, dachte Active. Als er allen Zwieback gegessen hatte, trank Jacob einen Schluck Tee, nickte Grace zu und nahm den Faden wieder auf. »Verstehst du, bevor Natchiq kam, hatten die Angatquqs alles in der Hand. Ein paar von ihnen waren anständig. Sie versuchten den Leuten zu helfen, wenn das Leben zu schwer wurde. Aber die meisten Angatquqs benutzten ihre Macht, um sich alles zu verschaffen, worauf sie Lust hatten – Nahrung, Frauen, Boote, Pelze, Fischernetze, alles. – Sie hielten alles mittels Tabus unter Kontrolle. Wenn deine Tochter krank wurde, hieß das, dass du irgendein Tabu gebrochen hattest, selbst wenn du gar nicht wusstest, dass es das Tabu gab. Wenn man zum Beispiel Karibu mit der linken Hand statt mit der rechten aß, konnte das ein Tabu sein. Aber nur die Angatquqs wussten Bescheid. Wenn also jemand in deiner Familie krank wurde, musstest du zum Angatquq gehen. Er sprach mit seinen Geistern, fand heraus, welches Tabu du gebrochen hattest und sagte dir, was du dagegen tun solltest. Vielleicht durfte man ein Jahr lang keine Beeren esse, oder kein Masru…«
Hier fiel Grace ein und begann eine kurze Diskussion mit Jacob, an deren Ende sie – auf Englisch – erklärte, dass ihr kein englischer Begriff für die Masru genannte Pflanze eingefallen war. Aber inzwischen glaube sie, dass die Eskimokartoffel damit gemeint sei. Beim Klang dieses Wortes hellte sich Jacobs Gesicht kurzzeitig auf und er hob die Augenbrauen, während er auf Englisch wiederholte: »Eskimokartoffel, ee, Eskimokartoffel.« Dann nahm er die Erzählung wieder auf und Grace übersetzte weiter. »Vielleicht durfte man ein Jahr lang keine Eskimokartoffeln essen. Und du musstest den Angatquq bezahlen, sonst wurde deine Tochter trotzdem nicht gesund.« »Die Angatquqs ließen sich bezahlen?«, fragte Nathan. »Oh ja, so wurden sie ja reich. Manchmal war der Angatquq der reichste Mann im Dorf und er konnte drei oder vier Frauen haben. Eine Menge Tabus hatten mit den Frauen zu tun. Wenn zum Beispiel ein junges Mädchen zur Frau wurde, dachten die Leute damals, sie sei unrein. Deshalb musste sie ganz allein in einer Hütte leben, manchmal ein Jahr lang. Ein Eimer Wasser stand vor der Tür, aber niemand durfte daraus trinken, außer ihr. – Genauso war es, wenn eine Frau ein Kind bekam. Sie durfte nicht in die Nähe anderer Menschen kommen. Sie musste in eine abgelegene Hütte oder ein Schneehaus ziehen und das Baby dort ganz alleine zur Welt bringen. Niemand durfte ihr helfen oder sie während der nächsten paar Tage besuchen. Wenn es eine schwere Geburt war, konnte sie sterben, oder das Baby. – Manche Tabus dienten nur dazu, die Kinder zu erschrecken. Zum Beispiel hieß es, dass man nicht pfeifen durfte, wenn das Nordlicht leuchtete, sonst käme es herunter und schneide einem den Kopf ab, das war so ein Tabu. Und sogar heute noch pfeifen viele alte Leute nicht, wenn das Nordlicht am Himmel steht. – Andere Tabus hatten
mit Nahrung zu tun. Dass man zum Beispiel während der Fischsaison keine Karibuhaut schneiden durfte, sonst musste man sterben. Oder dass man sterben musste, wenn man gleichzeitig Belugawal und Beeren oder irgendetwas anderes auf der Erde Gewachsenes aß. Bei Neumond musste man Asche auf sein Essen streuen, sonst starb man, außer, man suchte Hilfe bei einem Angatquq.« »Die Menschen haben zugelassen, dass die Angatquqs das tun?«, fragte Nathan. »Sie haben geglaubt, was die Angatquqs sagten?« »Die Menschen damals haben eigentlich überhaupt nichts wirklich geglaubt. Sie hatten einfach Angst. Ihr ganzes Leben war auf Angst gegründet. Es gab niemanden, der sie etwas anderes hätte lehren können, bis Natchiq auftauchte.« Es klopfte an der Tür und sie verstummten. Die Schwester kehrte zurück, und diesmal brachte sie einen winzigen Pappbecher mit einer Tablette darin. »Zeit für die Blutdruckmedizin«, sagte sie. Sie wechselte mit Jacob ein paar Worte auf Inupiaq und er schluckte gehorsam die Tablette und spülte sie mit dem letzten Rest Tee hinunter. Er hob die Teetasse, sagte etwas zu ihr und sie hob die Augenbrauen und nahm sie mit hinaus. Jacob merkte, dass er den Pillenbecher immer noch in der Hand hielt und gab ihn Grace, die ihn in den Papierkorb neben dem Bett warf. Dann sah er Nathan an und sprach weiter. »Bald begann sich herumzusprechen, dass an Natchiq etwas Besonderes war, denn wo immer er hinging, sprach er von seiner Quelle der Weisheit und verhielt sich anders als andere Leute. Wenn er sein Zelt aufschlug, benutzte er Weidenzweige als Bettunterlage, statt seine Pelze auf dem Boden auszubreiten. Und er nahm Bäder und hielt sich sauber, wie wir es heute tun. Aber damals machte das sonst niemand. – Und er führte immer einen langen Stab mit sich, den er vor
seinem Zelt aufpflanzte, wo immer er lagerte. An jedem siebten Tag steckte er einen Streifen Robbenfell auf diesen Stab und ruhte von der Arbeit. Er spielte nur auf einer Trommel und sah so aus, als dächte er nach. Vielleicht war er auch in Trance. – Die Leute lachten ihn aus, wenn er das tat. Sie sagten: ›Du bist nur faul, deshalb arbeitest du nicht.‹ Aber Natchiq sagte, dass er nur das tue, was sein Vater im Himmel ihm sage. Dann fragten sie ihn: ›Und was sagt er dir?‹ Und so fing Natchiq an, gegen die Tabus reden. Er sagte den Menschen, dass sie nicht in Furcht leben müssten, und er brach selbst alle Tabus. – Wie zum Beispiel das Tabu, dass ein junges Mädchen alleine leben musste, wenn es zur Frau wurde, dieses Tabu brach er. Eines Tages kam er in ein Camp am Katonak River, und da war ein junges Mädchen ganz allein in einer Grassodenhütte. Er ging hin und trank aus dem Eimer, der vor ihrem Haus stand und alle dachten, er müsse sterben. Aber am nächsten Morgen war er so quicklebendig wie jedermann und die Menschen fingen an, sich über das Tabu Gedanken zu machen. Als er nach Chukchi kam, tat er genau dasselbe. Und er erzählte den Leuten, dass das alte Tabu, wonach Frauen ihre Kinder ganz allein auf sich gestellt bekommen müssten, ebenfalls falsch sei und bald verschwinden würde, wie all die anderen Tabus. Er brach alle nur möglichen Tabus. In Chukchi ging er an einen Ort namens Tatuliq, wo der Beluga gejagt wird. Niemand wagte es, Beluga zusammen mit Beeren zu essen oder mit jeder anderen Nahrung, die von der Erde kam, wegen des Tabus. Natchiq aber ging hin und pflückte etwas wilden Rhabarber und setzte ihn in seinem Zelt aufs Feuer. Während er kochte, ging er am Strand herum und bat die Leute um ein Stück Belugaspeck, das er zu seinem Rhabarber essen wolle. Das machte den Menschen so viel Angst, dass viele einfach in ihren Zelten verschwanden und nicht einmal mit
ihm reden wollten. Aber schließlich gab ihm jemand den Speck und er nahm ihn mit in sein Zelt und aß ihn mit dem Rhabarber und nichts geschah. Er wurde nicht krank, und am nächsten Tag war er so gesund und kräftig wie alle anderen. Danach fingen die Leute an, Beluga mit jeder anderen Nahrung zusammen zu essen, genau, wie wir es heute tun. – Er brach auch alle anderen Tabus, wann immer er konnte, und sagte den Leuten, sie müssten keine Angst haben. Er sagte: ›Wenn wir nicht an die Tabus glauben, dann haben sie auch keine Macht über uns.‹« Jacob verstummte. Grace fragte ihn etwas auf Inupiaq, und sie unterhielten sich längere Zeit. Jacob sah dabei mindestens zweimal zu Active hin, Grace grinste ihn einmal an, und er meinte, seinen Namen herauszuhören. Endlich hob Grace die Augenbrauen und sagte: »Arigaa.« »Er muss zur Toilette«, meinte sie und drückte den Rufknopf für die Schwester. Die Schwester erschien kurz darauf, half Jacob aus dem Bett, führte ihn ins Badezimmer und machte die Tür hinter sich zu. »Er hat aber lange gebraucht, um dir zu sagen, dass er zur Toilette muss.« Sie warf ihm ein Lächeln zu. »Es könnte ja auch noch um andere Themen gegangen sein.« »Zum Beispiel? Mich? Oder uns?« »Schon möglich.« »Ich bin mir ziemlich sicher, dass mein Name gefallen ist.« »M-hm.« »Wenn ich doch nur Inupiaq sprechen könnte«, sagte Active. »Kanns dir ja beibringen.« Er starrte sie an. Wenn irgendjemand seine Unbeholfenheit im Umgang mit Sprachen, die ihm nicht in die Wiege gelegt worden waren, überwinden konnte, dann war sie es. »Danke. Das würde ich gerne versuchen.«
Jacob und die Schwester kamen aus dem Badezimmer zurück und Jacob legte sich wieder ins Bett. Er redete weiter mit Grace, die sich ihrerseits an Nathan wandte. »Er möchte wissen, wo er stehen geblieben war.« »Er sprach gerade darüber, wie Natchiq alle Tabus gebrochen hat.« Grace übersetzte. Jacob hob die Augenbrauen und sagte: »Aa-ha. Neben dem Bruch der Tabus machte Natchiq auch Prophezeiungen. Er sagte, eine neue Menschenrasse, weiße Menschen, werde ins Land kommen und dann würde sich für die Inupiat alles verändern.« »Hatte damals denn noch niemand von weißen Menschen gehört?«, fragte Nathan. »Vielleicht wussten ein paar wenige davon, dass Schiffe des weißen Mannes an der Küste aufgetaucht waren, oder vielleicht berichteten die Leute aus Sibirien, wenn sie zum Handeltreiben herüberkamen, dass sie weiße Menschen gesehen hatten, aber in der Umgebung von Chukchi gab es keine und niemand hatte sie je gesehen. Das war kurz bevor die ersten Walfänger mit ihren Schiffen zu uns kamen, glaube ich. – Natchiq sagte, nichts würde für die Eskimos je wieder so sein wie zuvor, wenn die Weißen kommen. Die Leute würden andere Kleidung tragen, andere Nahrung essen. Manche Eskimos würden reich werden, andere arm. – Er sagte voraus, dass es dünne Stücke von Birkenrinde geben würde, auf die die Menschen schreiben konnten. Er sagte, von Feuer getriebene Schiffe würden durch den Himmel fahren. ›Das ist es, worin einige von euch eines Tages fahren werden‹, sagte er, ›ein von Feuer getriebenes Schiff.‹ – Und er sagte, dass es Boote geben werde, die flussaufwärts fuhren, ohne dass jemand sie staken musste oder Menschen und Hunde sie vom Ufer aus mit Seilen zogen. – Eine Menge Menschen glaubten ihm nicht. ›Das wird niemals geschehen‹, sagten sie. ›Du bist verrückt, deshalb
redest du so.‹ – Aber Natchiq antwortete lediglich, dass seine Quelle der Weisheit ihm das gesagt hatte und tat weiterhin, was er wollte. Eine weitere seiner Voraussagen war, dass die Neuankömmlinge, die Weißen, am Zusammenfluss von Walker River und Isignaq etwas finden würden, was für sie von großem Wert sei. Eine große Stadt würde dort wachsen, das sagte er, mit Lichtern, die sich bis in die Berge zu beiden Seiten des Isignaq hinaufzogen. – Später, als Natchiq verschwunden war und sich seine Vorhersagen als wahr herauszustellen begannen, so wie die mit den Weißen, die ins Land kamen, oder den Booten, die sich aus eigener Kraft fortbewegten, da fingen einige Eskimos, die sich noch an ihn erinnern konnten, an zu glauben, dass er vielleicht doch nicht verrückt gewesen war. Sie dachten, vielleicht würde er auch damit Recht behalten, dass die Weißen am Walker River etwas finden würden, das sie haben wollten. Deshalb sind sie dorthin gezogen und haben Walker Village gegründet. Sie dachten, sie würden reich werden, wenn die Weißen endlich fündig wurden. Vielleicht glauben sie das noch immer, ha?« Jacob betrachtete Nathan, während Grace übersetzte. Schließlich nickte Nathan – der Alte schien nur darauf gewartet zu haben und fuhr fort. »Aber was Natchiq noch über Walker gesagt hatte, war weniger gut. Er sagte, nachdem es eine große Stadt geworden sei, würden zwei Winter ohne Sommer ineinander übergehen und der Schnee würde so hoch liegen wie die Baumwipfel. Dann, wenn der Eisbruch kam, würde die Flut bis zu den Hügelflanken aufsteigen und ein riesengroßer Wal würde aus dem Fluss auftauchen, genau an der Stelle, wo einmal Walker gelegen hatte. Dann werde es einen Tag geben, der in zwei Hälften gespalten sei.« »Was hat er damit gemeint?«, fragte Nathan. »Das Ende der Welt?«
»Das hat er nie gesagt. Wenn die Leute ihn fragten, sah er sie nur an und sagte kein Wort. Vielleicht war er traurig, weil sein Vater im Himmel es ihm nicht erklärte, oder vielleicht wusste er, was als Nächstes geschehen würde und war nur zu traurig, um darüber zu sprechen.« Wieder gab es eine Unterbrechung, als die Schwester mit Jacobs frisch gefüllter Teetasse zurückkam. Dann fuhr er fort. »Als die Leute anfingen, wegen der Tabus auf Natchiq zu hören, waren die Angatquqs natürlich besorgt. Sie sagten: ›Glaubt nicht, was Natchiq euch erzählt – er ist wahnsinnig.‹ Aber Natchiq erwiderte, dass er mächtiger sei als die Angatquqs, weil ihre Macht von der Erde stamme, seine Macht aber von seinem Vater im Himmel komme. Damals gab es eine Menge Angatquqs in der Umgebung von Chukchi und der Name des größten unter ihnen war Saganiq. Er und die anderen Angatquqs suchten nach einem Weg, Natchiq zu töten. In diesen Tagen hatten die Angatquqs die Fähigkeit zu…« Grace unterbrach den Redefluss mit einem entschuldigenden Blick auf Nathan. »Ich weiß nicht, wie ich das übersetzen soll – das Wort ist mir neu. Ich muss es mit ihm besprechen.« Ein paar Sekunden lang flogen Inupiaq-Worte hin und her, dann sagte Grace: »Er meint Seelenreise.« Dann fuhr sie mit der Übersetzung fort. »Diese alten Angatquqs verstanden sich auf Seelenreisen. Ihre Seelen konnten den Körper verlassen und umherfliegen, wobei sie einander auf diesen Reisen sogar manchmal begegneten und heftige Kämpfe ausfochten. Jedenfalls haben die Leute das in jenen Tagen gedacht. – Saganiq beschloss, seine Seele auf die Reise zu schicken, um Natchiqs Seele zu finden und ihn zu töten. Er flog also los und schon bald kam er zu Natchiq. Natchiq saß auf seinem Stuhl und überall um ihn herum war ein helles Leuchten. Saganiq versuchte, seine Seele anzugreifen, aber das Leuchten wurde nur noch heller und
Natchiqs Stuhl begann, in die Luft zu steigen. Saganiq versuchte abermals einen Angriff, aber das Leuchten wurde immer heller und Natchiqs Stuhl stieg noch höher. Bald war das Leuchten so grell, dass Saganiq nicht mehr hinsehen konnte, und da wusste er, dass er Natchiq so nicht töten konnte. Als Saganiq in seinen Körper zurückkehrte, erwartete ihn Natchiq schon und sagte: ›Der von der Erde hat dich getäuscht. Er ist schwach, nicht stark. Nur mein Vater im Himmel ist stark.‹ – Aber Saganiq gab nicht auf. Er und zwei andere Angatquqs belegten etwas Nahrung mit einem Fluch und gaben sie Natchiq zu essen. Aber nichts geschah, als Natchiq sie verzehrte. Er lachte bloß und sagte: ›Nicht einmal das Gift, das ihr macht, kann mir etwas anhaben. Ich esse es auf. Ich könnte auch euch verschlingen, wenn ich wollte.‹ Da wurde Saganiq erst richtig zornig und er sagte: ›Ich glaube, du könntest dich daran verschlucken, wenn du es versuchst.‹ Und er zog sein Kikituk hervor, dieses Amulett mit einer Schneeeule, das er immer unter der Kleidung bei sich trug, und schwenkte es vor Natchiqs Gesicht herum. Natchiq lachte nur wieder und sagte: ›Das könnte ich auch verschlingen.‹ Er versuchte, das Amulett zu ergreifen, aber Saganiq steckte es wieder unter seine Kleider und ging davon. – Nicht lange darauf ging Natchiq auf die Jagd und fing eine junge Schneeeule, die ihre Eltern verloren hatte. Er brachte sie mit zurück, baute ihr einen Käfig aus Weidenreisern und hielt sie darin gefangen. Er zähmte die Eule und nannte sie Saganiq, und wann immer jemand vorbeikam, zeigte er ihm die zahme Eule namens Saganiq, wie sie in ihrem Käfig saß. Bis Natchiq schließlich eines Tages die Eule tötete und aufaß, um den Menschen zu zeigen, dass Saganiq und die alten Angatquqs keine Macht mehr besaßen.« Nathan erschauerte unwillkürlich. »Er hat Saganiqs Kikituk aufgegessen?«
»Genau. Natchiq hat die Eule gekocht und gegessen und jeder dachte, diesmal müsse er gewiss sterben. Aber er starb nicht, er blieb so stark wie eh und je. Und danach wollte keiner mehr auf Saganiq oder die anderen Angatquqs hören. Die Leute machten sich auch nicht mehr so viele Sorgen wegen der Tabus. Unser Volk führte endlich ein glücklicheres Leben. Sie schafften es ganz alleine, auch ohne Weiße und Christentum. – Gut, die Angatquqs hatten keine Macht mehr und Natchiq dachte, es sei an der Zeit, nach Norden zu gehen und den Menschen da oben zu erzählen, was sein Vater im Himmel über die Tabus und die Angatquqs gesagt hatte und was die Zukunft bringen würde. Eines Tages, der Frühling brach gerade an, genau wie jetzt, teilte Natchiq den Leuten mit, dass er zu dem Ort ziehen wolle, den wir heute Barrow nennen, wo es ebenfalls viele Angatquqs gab, und dann vielleicht weiter nach Kanada. Er und seine Frau machten sich auf den Weg und kehrten nie zurück.« »Was ist aus ihnen geworden?«, fragte Nathan. »Ich glaube, das hat keiner je mit Sicherheit herausgefunden. Ich habe jedenfalls nie davon gehört. Manche Leute dachten, Natchiq sei durch die Berge bis nach Barrow gelangt und anschließend nach Kanada gezogen. Andere meinten, Saganiqs Kikituk sei hinaufgeflogen und hätte Natchiqs Seele irgendwo in den Bergen getötet. Es ging wohl das Gerücht, seine Frau habe es zurück nach Chukchi geschafft, wo sie aber so geschwächt ankam, dass sie ebenfalls starb. Das war genau zu der Zeit, als die ersten Naluaqmiut-Missionare ankamen und den Leuten erzählten, sie dürften über gar nichts sprechen, was mit den Angatquqs zu tun hatte, wenn sie in den Himmel kommen wollten. Alles, was danach geschah, ist deshalb irgendwie verloren gegangen. Es wurde nicht darüber gesprochen, obwohl sich noch viele Leute an Natchiqs Schicksal erinnern konnten, als die Missionare kamen.«
Nathan schwieg lange. Die Geschichte war unbestreitbar faszinierend und wahrscheinlich mit Elementen der Wahrheit durchsetzt. Aber was hatte sie mit Victor Solomons Ermordung zu tun? »Aus welcher Familie stammte Natchiq?«, fragte er. »Gibt es heute noch Verwandte von ihm?« Grace übersetzte und Jacob zwinkerte ein Nein, bevor er auf Inupiaq antwortete. »Wie ich schon sagte, er kam vom Isignaq River oben, und dort lebt heute niemand mehr. Falls er mit irgendeiner Familie hier in der Gegend verwandt ist, habe ich nie davon gehört. Vielleicht sind seine Leute in ein Dorf weiter flussaufwärts gezogen und haben von den Naluaqmiut neue Namen bekommen, sodass sie nicht einmal mehr wissen, dass sie mit ihm verwandt sind. Oder vielleicht ist seine Linie mit ihm gestorben, falls er in der Wildnis umgekommen ist. Seine Geschichte ist nur noch Stückwerk und heute weiß niemand mehr, wer er eigentlich war.« »Irgendjemand schon, glaube ich«, sagte Nathan. Jacob warf ihm einen scharfen Blick zu, und er erkannte, dass der alte Mann zumindest den Sinn seiner Worte verstanden hatte. »Wer?«, fragte sein Großvater auf Englisch. »Hast du jemals Whyborn Sivula über Natchiq oder Saganiq reden hören?« Grace übersetzte, aber Jacob schien schon begriffen zu haben. Er redete schnell auf Inupiaq auf sie ein. »Er sagt, er habe nie etwas Derartiges gehört und möchte wissen, warum du glaubst, Whyborn könnte über Natchiq Bescheid wissen?«, dolmetschte Grace. »Sag ihm, ich werde mit Whyborn reden, um das Ende der Geschichte herauszufinden, und dann komme ich wieder und erzähle sie ihm.«
Jacob lächelte und hob die Augenbrauen und sagte: »Arigaa.« Dann legte er den Kopf in die Kissen und schloss die Augen. Während sie im Suburban zum GeoNord-Gebäude zurückholperten, legte Grace ihm die Hand auf den Arm. »Wie wars bei Nelda?« »Gut«, sagte er. Dann verstummte er. Er merkte, dass er Angst hatte, das Thema anzuschneiden. »Sie weiß über Nita Bescheid«, sagte er. Grace griff nach vorne und stellte das Radio ab. »Woher?« »Sie hat zwei und zwei zusammengezählt, vermute ich. Aus der Zeit, als Nita zu ihr gegangen ist.« »Aber Nita weiß es doch selbst nicht.« »Nelda ist eine kluge alte Aana.« Er machte wieder eine Pause. »Sie hat dich zum Sauerampfertee eingeladen.« »Ihr habt über mich gesprochen?« »Sie. Ich habe fast nur zugehört.« Grace blickte eine Zeit lang zum Seitenfenster hinaus, dann wandte sie sich wieder zu ihm. »Was hat sie gesagt?« »Dass du kommen und mit ihr sprechen sollst.« »Ich glaube nicht, dass ich jemals mit jemand außer dir darüber sprechen kann.« »Vielleicht wäre es nicht verkehrt, es einmal zu versuchen.« »Ich bezweifle, dass ich das fertig bringe«, sagte sie, als er vor dem GeoNord-Gebäude anhielt.
16
Active stellte den Suburban auf der Fifth Street vor der Hausnummer 419 ab, der Nummer, die er von Lucy in der Zentrale erhalten und in sein Notizbuch eingetragen hatte. Das Haus war klein und alt, die Farbe auf den Sperrholzpaneelen zu einem blassen Rosa verwittert, das einmal rot gewesen sein mochte. Das Bauwerk ruhte etwa einen Meter über dem Boden auf hölzernen Stützpfeilern. Diese Konstruktion war in Chukchi gang und gäbe, um zu verhindern, dass ein Gebäude den Permafrostboden unter sich antaute und von ihm verschluckt wurde. Im Fall von Hausnummer 419 schienen die Pfeiler ziemlich gut funktioniert zu haben, bis auf den in der Nordwestecke. Dort hing das Haus deutlich durch. Whyborn Sivula und sein Sohn Franklin, der Ausguck aus dem Walfanglager, arbeiteten gerade an der eingesunkenen Ecke, als Active auftauchte. Sie hatten einen Spindelwagenheber unter einem Balken angesetzt und Franklin kurbelte ihn hoch, während Whyborn an der Bodenlinie entlangvisierte, um zu sehen, wann die Ecke waagerecht war. Auf einer Schneeverwehung in der Nähe lagen Bauholzreste gestapelt. Active öffnete das Seitenfenster und sah zu, wie die Ecke langsam vom Stützpfeiler abhob und die Balken des Hauses ächzten. Die beiden Sivulas ignorierten ihn genauso wie den heranpeitschenden Westwind. Er wartete noch eine Weile länger. »Mr. Sivula. Können Sie mir etwas über Natchiq erzählen?«
Active wartete auf Sivulas Reaktion, aber es kam keine. Der Walfänger bückte sich, nahm ein Stück 5x15 cm starken Balken von dem Restestapel und schob ihn in den Spalt zwischen Ecke und Stützpfosten. Es blieb immer noch eine Lücke, die aber zu schmal für ein weiteres Holzstück war. »Franklin, kurbel ein bisschen höher und schieb dann noch ein Stück rein, ja?« Franklin schien Ende dreißig zu sein. Er war untersetzt und muskulös, mit einem eckigen Gesicht, groben Zügen und kurzen, borstigen schwarzen Haaren. Er betrachtete die Ecke stirnrunzelnd und wandte sich dann zu Whyborn. »Jetzt ist es gut. Könnte zu hoch kommen, wenn ich weitermache.« »Es darf schon ein bisschen zu hoch sein«, sagte Whyborn. »Im Sommer sinkt der Pfosten sowieso wieder ein und dann steht unser Haus waagrecht. Wenn es dann noch tiefer sinkt, müssen wir es eben im nächsten Winter wieder hochbocken.« »Arii, verdammter Permafrost.« Franklin grinste und fing wieder an, mit einem großen Universalschlüssel zu kurbeln. Whyborn wandte sich ab und nahm endlich Actives Gegenwart zur Kenntnis. »Der einzige Natchiq, den ich kenne, ist eine Robbe, Trooper Active. Natchiq, so nennen wir Eskimos Robben.« Jetzt verstand Active, warum ihm das Wort bekannt vorgekommen war, als er es in Pater Hanlons Aufzeichnungen gelesen hatte. »Das weiß ich. Aber bei meinem Natchiq handelt es sich um Onkelchen Frost, Mr. Sivula.« Sivula richtete seine schwarzen Augen auf Active und musterte ihn einen Moment lang. »Was wissen Sie von Natchiq?« »Ich weiß, dass er vor langer Zeit von Saganiq ermordet wurde, und dass das irgendwie zu Victor Solomons Tod geführt hat. Und ich glaube, Sie kennen den Zusammenhang.«
Sivula blickte nach Westen in den Wind und betrachtete das schneebedeckte Eis der Bucht von Chukchi. Endlich sagte er: »Kommen Sie rein, trinken Sie eine Tasse Tee, vielleicht unterhalten wir uns ein bisschen.« Active kletterte aus dem Suburban und folgte ihm ins Haus, wo er sich an einen kleinen Küchentisch setzte, während Sivula Wasser auf dem Elektroherd aufsetzte. Als der Kessel pfiff, brachte er zwei Tassen mit Teebeuteln zum Tisch und goss das dampfende Wasser darüber. Er gab zwei Teelöffel Zucker in seine Tasse und schob dann Active das Glas hin. Der schüttelte den Kopf und nippte an seinem Tee. »Victor Solomon und ich waren schon als kleine Jungen befreundet«, begann Sivula. »Deshalb macht es mich traurig, dass er tot ist.« Active nickte. »Können Sie mir sagen, wer es getan hat?« »Weiß nicht«, sagte Sivula. »Ich dachte, Victor war Ihr Freund.« »Vielleicht weiß ich, wer Onkelchen Frost aus dem Museum geholt hat. Aber ich glaube nicht, dass er Victor getötet hat.« »Muss es denn nicht zwangsläufig dieselbe Person sein?« Sivula legte den Kopf schief und betrachtete Active. Es war still im Haus bis auf das gelegentliche Ächzen der Balken, wenn Franklin die hängende Ecke weiter hochbockte. »Ich glaube nicht. Aber wie ich Ihnen im Camp bei Cape Goodwin gesagt habe, es sind Eskimoangelegenheiten aus den alten Tagen und heute sowieso erledigt.« Active schüttelte den Kopf. »Nicht, bevor der Mörder von Victor gefasst und bestraft worden ist – wer auch immer das getan hat.« »Der Mann, den ich meine, er ist alt, wie ich, vielleicht lebt er nicht mehr lange. Wenn ich Ihnen seine Geschichte erzähle, werden Sie sich dann überlegen, ob Sie ihm vielleicht das Gefängnis ersparen können? Sie sind doch auch Eskimo, ha?«
»Ich höre zu«, sagte Active. Sivula zuckte die Achseln und blickte in seine Teetasse. »Wenn ich Ihnen die Geschichte nicht erzähle, finden Sie ihn vielleicht nie.« »Ein paar alte Leute in der Stadt werden die Geschichte von Natchiq und Saganiq kennen.« Active stand auf und zog den Reißverschluss seines Parka hoch. »Mein Großvater Jacob Active hat mir einiges davon erzählt, und es gibt sicher andere, die den Rest ergänzen können. Ich werde…« »Sie werden ihn finden, ha?« Die schwarzen Augen maßen Active aus den Tiefen des Mahagonigesichts. »Ich oder ein anderer Trooper. Wir tun, was nötig ist.« Sivula lauschte lange in sich hinein. »Vielleicht sollte ich Ihnen was erzählen«, sagte er schließlich. »Mal sehen, was Sie davon halten.« Er trank aus seiner Tasse und sah Active an, der sich wieder hinsetzte und Notizbuch und Stift herauszog. »Vielleicht besser, wenn Sie nicht schreiben. Nur zuhören.« Active nickte und steckte das Notizbuch wieder ein. »Ich und Victor Solomon, wir sind beide hier geboren, im gleichen Jahr. Wir haben als Kinder zusammen gespielt, voller pukuk, sodass die alten Aanas uns immer angeschrien und mit Stöcken nach uns geschlagen haben.« Sivulas Wangen legten sich in Falten und er kicherte bei dem Gedanken. »Wir waren gute Jungs, aber wissen Sie, voller…« Während Sivula nach dem passenden Wort suchte, wurde Active klar, dass er es auch nicht wusste. »Voller Leben«, schlug er vor. Sivula hob die Augenbrauen und grinste. »Hm. Das stimmt. Leben. Wir waren gute Jungs, aber voller Leben. Als wir größer wurden, jagten und fischten wir zusammen, auch noch als junge Männer, aber nicht mehr so oft, nachdem Victors
Familie in dem Feuer umgekommen war. Danach war er immer zornig und wollte alleine sein.« Zum ersten Mal fiel Active auf, was für eine ausdrucksstarke Stimme Sivula hatte. Sie war tief und voll, beinahe hypnotisch. »Egal. Es gingen jedenfalls immer Geschichten im Dorf herum, was für ein großer Schamane Victors Großvater Saganiq in den alten Zeiten gewesen war. Aber Victor sprach nie darüber. Manchmal, wenn ich ihn fragte, sagte er, es gebe Dinge, über die man besser nicht spricht.« Sivula legte eine Pause ein. Active hatte schon mitbekommen, dass das bei Inupiat-Geschichtenerzählern üblich war, vor allem bei älteren. Es war außerdem üblich, sie nicht zu unterbrechen, sondern die Geschichte sich entfalten zu lassen. Er beschloss, das zu ignorieren. »Haben Sie jemals Victors Vater danach gefragt?« Sivula schüttelte den Kopf. »Er war bei Victors Geburt schon ein alter Mann und starb, als Victor und ich noch ziemlich klein waren.« Active nickte und nippte an seinem Tee. »Als ich erwachsen war, ging ich zur Armee und lernte Dieselmechaniker. Danach lebte ich lange Zeit in Nome, als Außendienstmechaniker für die Alaska-Rural-PowerKooperative. Sie wissen das?« Active nickte. »Aha«, sagte Sivula. »Einmal war ich dienstlich in Caribou Creek, um einen neuen Generator im Kraftwerk dort einzubauen. Kennen Sie Caribou Creek, Trooper Active?« Active schüttelte den Kopf. »Aber ich habe Bilder davon gesehen. Es liegt östlich von hier, in der Brooks Range?« Sivula hob die Augenbrauen. »Genau. Seltsamer Ort für Eskimos, so weit oben in den Bergen, wirklich. Keine Robben, kein Muktuk, wenig Fisch.« Er schüttelte den Kopf. »Gibt dort
vielleicht eine Menge Karibus. Aber ich, ich bin ein Salzwasser-Eskimo.« »Ich nehme an, man gewöhnt sich daran«, sagte Active. »Wahrscheinlich.« Sivula zuckte die Achseln. »Na ja, ich war jedenfalls oben in Caribou Creek, ein paar Wochen lang vielleicht. In Caribou Creek habe ich den Leiter des dortigen Kraftwerks getroffen und mit ihm an dem neuen Generator gearbeitet. Eines Tages sagte mir jemand, dass er von einer Familie aus Chukchi abstammt, also fragte ich ihn danach, und er sagte, ja, sein Vater stamme aus Chukchi, sei aber schon vor seiner Geburt nach Caribou Creek gezogen. Hat eine Frau von dort geheiratet.« Sivula machte wieder eine Pause. Active riskierte eine weitere Unterbrechung. »Wann war das?« Sivula runzelte die Stirn und dachte nach. »Er hat nie gesagt, wann sein Vater nach Caribou Creek gezogen ist.« Er zuckte die Achseln. »Lange vorher, vermute ich.« »Nein, ich meinte Sie. Wann waren Sie in Caribou Creek und sind diesem Mann begegnet?« »Ach so, wann ich da war? Vielleicht vor fünfundzwanzig Jahren, ja, mindestens. Vielleicht dreißig.« »Wie hieß er überhaupt?« Sivula starrte in seine Teetasse. »Das war vor langer Zeit. Ich kann mich nicht mehr an seinen Namen erinnern.« Active ließ ein längeres Schweigen entstehen und hoffte, dass Sivula seine Lüge noch berichtigen würde, aber dann gab er es auf. »Hat er gesagt, warum sein Vater dorthin gezogen ist?« Sivula überlegte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. »Hat er mir nie gesagt, nein.« Active nickte und Sivula nahm den Faden der Geschichte wieder auf. »Als die Arbeit fertig war und der Generator gut lief, hat er mich zur Jagd oben am Schamanenpass eingeladen.« Sivula
hob die Hände, als wolle er eine Landkarte in die Luft zeichnen, dann hielt er inne und sah Active an. »Oder vielleicht war es an dem anderen großen Pass dort oben, dem Howard Pass«, sagte er und wandte den Blick ab. »Schwer, sich in meinem Alter noch genau zu erinnern.« Active nippte an seinem Tee und ließ die zweite Lüge an sich abperlen. »Wie auch immer«, sagte Sivula schließlich, »dieser Typ besaß eine Landzuteilung für Eingeborene an einem kleinen Bach dort oben. Dort standen eine alte Grassodenhütte und ein Hauszelt, das er das ganze Jahr über aufgestellt ließ, wie so ein Camp eben aussah, bevor alle angefangen haben, Holzhütten zu bauen. Und dann habe ich gesehen, dass auf dem kleinen Hügel hinter dem Camp ein Inuksuk stand. Sie wissen, was ein Inuksuk ist?« »So ungefähr. Das waren Wegmarkierungen, Vogelscheuchen?« Sivula hob die Augenbrauen. »Ja. Die Eskimos von früher haben ständig welche aufgestellt, aber heute macht es keiner mehr. Manchmal haben sie ganze Reihen von Inuksuks für die Karibujagd gebaut. Die Karibus dachten, es wären echte Menschen, bekamen Angst und sind in einen See gerannt oder wo immer die Eskimos sie hinjagen wollten. Andere haben sie am Pfad aufgestellt, als Wegweiser. Die hatten ein Loch im Kopf, man sah hindurch und das war die Richtung, in die man gehen musste. Oder manchmal, wenn es im Lager nichts zu tun gab, haben sie einfach zum Spaß welche gebaut. Verstehen Sie, Trooper Active?« Active nickte. »Nun, dieser Typ hatte tatsächlich einen Inuksuk hinter seinem Camp. Ich hatte keinen Inuksuk mehr gesehen, seit ich ein kleiner Junge war, deshalb habe ich einen Witz darüber gemacht. Ich fragte, ob der Inuksuk da steht, um ihm ein
Telegramm zu schicken, wenn er Karibus am Pass sieht? Er grinste nur ein bisschen und sagte, dass sein Vater…« Sivula verstummte und lauschte. Active hörte die äußere Tür des Kunnichuk zuknallen, dann ging die innere Tür auf und Franklin kam herein. »Ich glaube, die Ecke ist jetzt in Ordnung, Dad. Ein paar Zentimeter zu hoch, wie du gesagt hast.« Sivulas Sohn ging wieder hinaus und der alte Mann deutete quer durchs Zimmer auf die fragliche Ecke. »Bis vor vielleicht zwei, drei Jahren ist unser Haus nie abgesackt. Dann hat einer der Pfeiler angefangen, nachzugeben, ganz plötzlich, nach all der Zeit. Glauben Sie, dass die Klimaerwärmung unseren Permafrost schmilzt?« Active zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Möglicherweise.« Sivula griff nach seiner Tasse, stellte fest, dass sie bis auf den Teebeutel leer war und goss etwas Wasser nach. »Wo war ich stehen geblieben?« »Beim Vater des Mannes und dem Inuksuk.« »Ah ja, stimmt«, sagte Sivula. »Er sagt, seine Familie habe ihn aufgestellt, als sie das erste Mal dort das Lager aufschlugen. Danach sprachen wir nicht mehr drüber. Am nächsten Tag jagten wir am Ufer eines der Flüsse diesseits des Passes. Er blieb immer wieder zurück, sah sich das Land ganz genau an, aber ich dachte, das ist eben so seine Art. Jedenfalls war die Jagd recht gut und wir erlegten sieben Karibus. Er behielt vier und ich nahm drei im Flugzeug mit nach Chukchi.« Sivula lächelte bei dem Gedanken und sprach nicht weiter. Active fragte sich, ob das bereits die ganze Geschichte gewesen war. Er hatte festgestellt, dass er oft nicht in der Lage war, die Pointe einer Inupiat-Geschichte zu verstehen. Manchmal dachte er, das liege an seiner eigenen
Begriffsstutzigkeit, oder an der kulturellen Kluft, die möglicherweise durch seine Jahre in Anchorage zu groß geworden war, um sich noch überbrücken zu lassen. Dann wieder dachte er, dass Inupiat-Geschichten vielleicht einfach keine Pointe in der »weißen« Bedeutung des Wortes hatten. Vielleicht waren es einfach nur Geschichten, und diese hier war vorbei. Aber Sivula schüttelte den Kopf, seine Heiterkeit verflog und er nahm den Faden wieder auf. »Wir luden also die Karibus auf unsere Schlitten und banden sie fest und machten uns bereit, ins Camp zurückzukehren, aber da sah ich, dass er zurückblieb und zu einer Klippe über dem Fluss ging. Es war Frühjahr, ziemlich warm, die Tage lang, und die Klippen da bekamen viel Sonne ab, sodass sie ziemlich abgetaut waren. Er fing an, Steinbrocken aufzuschichten und bald merkte ich, dass er noch einen Inuksuk baute, genau an dieser Stelle, in dem kleinen Tal.« Active nippte an seinem Tee und wünschte, es gäbe einen höflichen Weg, Whyborn Sivula zu sagen: ›Komm zur Sache!‹ Aber er wusste, dass das unmöglich war. Wahrscheinlich mussten alte Männer auf der ganzen Welt ihre Geschichten in ihrem eigenen Tempo erzählen, dachte er. Auf jeden Fall alte Inupiat-Männer. »Also fragte ich ihn danach. Er sah mich ganz ernst an und dann sagte er mir, er glaubt, dass die Leiche seines Großvaters irgendwo da oben am Pass liegt. Er versuchte immer, sie zu finden, wenn er hier zum Jagen oder Fischen war. Jedes Mal, wenn er einen der Seitenbäche erforscht hatte, baute er einen Inuksuk, damit er wusste, dass er dort schon gesucht hatte. Deshalb hatte er sich das kleine Tal so genau angesehen, als wir dort waren.« Sivula machte eine Pause und trank etwas Tee. Er bemerkte, dass Actives Tasse leer war und hielt mit fragendem Blick den
Kessel in die Höhe. Active bedeckte die Tasse mit seiner Hand und Sivula stellte den Kessel wieder hin. »Na ja, dann fragte ich, wie er das meinte, mit seinem Großvater, und er sagte nur, das sei nicht weiter wichtig, und da wusste ich, dass er nicht mehr darüber reden wollte.« Sivula legte wieder eine Pause ein und Active, dessen Geduld langsam zu Ende ging, sagte: »Und Sie denken…« Sivula hob die Hand. »Danach war er ganz still, die ganze Zeit, bis wir im Lager zurück waren, die Karibus zerlegt und zu Abend gegessen hatten. Nach dem Essen rauchte er eine Weile seine Pfeife, dann fing er einfach an zu reden, ohne dass ich etwas sagen musste. Er sagte, sein Großvater sei ein Eskimo-Prophet namens Natchiq aus den alten Zeiten gewesen. Natchiq habe versucht, gegen die Angatquqs zu kämpfen, und deshalb habe ein großer Angatquq namens Saganiq ihn am Pass getötet und seine Leiche irgendwo versteckt. So hatte der Vater dieses Mannes ihm erzählt. Deshalb suchten sein Vater und er immer nach Natchiqs Körper, wenn sie oben am Pass waren. Darum hatte seine Familie das Lager dort errichtet. Sie hofften, sie würden den alten Natchiq irgendwann finden und feststellen können, ob er wirklich von Saganiq getötet wurde. Dann wollten sie seine Leiche in die Tundra legen wie es sich gehört.« Sivula blickte Active an. »Können Sie sich auch manchmal nicht entscheiden, was Sie als Nächstes sagen sollen, Trooper Active?« »Sicher, gelegentlich«, erwiderte Active verwirrt. »Das passiert wohl jedem mal.« »Aha«, sagte Sivula. »Nun, so ging es mir, als dieser Mann sagte, dass er glaube, Saganiq habe seinen Großvater getötet. Er hatte aufgehört, seine Pfeife zu rauchen, und ich dachte darüber nach, ob ich ihm sagen sollte, dass Saganiqs Enkel mein Freund Victor Solomon aus Chukchi ist.«
»Ah«, sagte Active. »Ich verstehe das Problem.« »Aber dann redete er weiter, bevor ich etwas sagen konnte. Er fragte mich, ob ich ihn für verrückt halte, weil er oben am Pass nach seinem Großvater suchte. Ich wollte nichts dazu sagen, deshalb meinte ich, vielleicht hätten die Füchse und Raben schon vor langer Zeit Natchiqs Leiche gefunden. Er sagte mir, das wäre gut so, denn es sei die alte Art der Inupiat gewesen. Aber sein Vater hatte immer gesagt, er glaubt, Saganiq habe Natchiq irgendwo versteckt, sodass er wie in einem Käfig gefangen wäre oder so etwas.« Sivula verstummte, setzte wieder zum Sprechen an, schüttelte dann den Kopf. »Danach wollte er nicht mehr über seinen Großvater sprechen. Er fragte, ob ich Lust hätte, Cribbage zu spielen. Dann stellte er Kay-Chuck auf seinem Batterieradio ein, zog ein Karibugeweih heraus, in das er Löcher gebohrt hatte, und wir spielen die ganze Nacht Cribbage mit ein paar alten Nägeln als Stiften.« Sivula machte wieder eine Pause, und so warf Active eine Frage ein: »Haben Sie Ihrem Freund Victor davon erzählt, als Sie wieder in Chukchi waren?« Sivula nickte. »Zum Teil. Ich sagte, ich hätte in Caribou Creek so einen Typen getroffen, der behauptete, sein Großvater sei ein alter Knabe namens Natchiq gewesen. Dann beobachtete ich, wie Victor reagiert. Er sagte kein Wort. Er sah mich nur an und hob die Augenbrauen. Dann grinste er.« »Und haben Sie diesen Mann wiedergesehen?« »Ein paar Mal, ja. Einmal beim Konvent der Alaska Federation of Natives in Anchorage, und einmal bei einem Lehrgang für Kraftwerkmechaniker in Nome.« Sivula zuckte die Achseln. »Aber er hat mir nie wieder was von seinem Großvater erzählt, und ich habe ihm nie erzählt, dass ich Saganiqs Enkel kenne. Aber ich habe nie vergessen, was er mir in dieser Nacht in seiner Grassodenhütte erzählt hat.«
Noch eine Pause, möglicherweise war die Geschichte jetzt zu Ende. »Deshalb sind Sie also zu Calvin gegangen?« »Als ich hörte, dass Onkelchen Frost am Schamanenpass gefunden worden war, da dachte ich, er könnte Natchiq sein. Dann, als er aus dem Museum geraubt wurde, fiel mir Calvin ein, weil er immer Schwierigkeiten macht. Aber Calvin sagte, er hätte Onkelchen Frost nicht genommen, deshalb habe ich überlegt, vielleicht hat dieser Typ aus Caribou Creek auf KayChuck davon gehört und ist aus den Bergen gekommen, um seinen Großvater aus dem Museum zu holen. Um die Leiche in die Tundra zu legen, wie es sich gehört.« Active schwieg eine Weile, während er sich die Geschichte durch den Kopf gehen ließ. »Und an dem Tag, als ich in Ihrem Camp bei Cape Goodwin war?« Sivula hob die Augenbrauen. »Als wir vom Eis runter mussten. Vielleicht sind wir zu früh ins Camp gezogen, aber einen Salzwasser-Eskimo hälts nicht in der Stadt, wenn die Belugas in die Rinnen kommen. Vielleicht öffnen sie sich wieder, wenn dieser Sturm vorbei ist.« Active nickte. »Sie haben die Harpune und das Amulett gesehen und Sie wussten, dass sie Saganiq gehörten. War es wegen der Eigentumsmarken?« Sivula seufzte beinahe unhörbar. »Dieser Mann am Pass oben, er hat mir erzählt, dass die Schneeeule Saganiqs KikitukGeist war.« »Als Sie also die Eule in Harpune und Amulett geschnitzt sahen…« »Da wusste ich ganz sicher, dass die Sachen Saganiq gehört hatten und Onkelchen Frost Natchiq ist, genau wie dieser Mann gesagt hat«, sagte Sivula. »Und da wussten Sie, dass er Victor Solomon ermordet hatte?«
Sivula senkte den Blick. »Ich habe nie gedacht, dass er jemanden getötet hat. Ich denke, er hat Onkelchen Frost aus dem Museum gestohlen, das schon, aber er hat bestimmt nicht Victor Solomon getötet.« Active sagte gar nichts, sodass Sivula fortfuhr: »Denn wenn er Natchiq aus dem Museum gestohlen hat, warum kommt er dann am nächsten Tag zurück, um Victor Solomon zu töten? Er hat doch schon, was er haben wollte.« Active starrte mehrere Sekunden lang seine Hände an. An dem, was Sivula sagte, war etwas dran. Genau auf dieselbe Art hatte Gail Boxrud Johnny Bass vom Verdacht zu befreien versucht. »Aber nur der Mörder konnte die Harpune und das Amulett haben.« Wieder maß Sivula Active mit Blicken. »Ich glaube, dieser Typ hat Natchiq genommen und sich auf den Weg zurück in die Berge gemacht, um ihn in der Tundra abzulegen, wie seine Familie es immer gewollt hat. Aber die Harpune und das Amulett hat er unterwegs weggeworfen, weil sie Saganiq gehört haben und seiner Familie Unglück bringen konnten. Dann ist jemand gekommen, hat sie gefunden, Victor Solomon mit der Harpune getötet und auch das Amulett dagelassen.« Active schürzte die Lippen und erwiderte Sivulas Blick. »Die Person, die ganz zufällig die Harpune und das Amulett gefunden hat, hatte ganz zufällig auch vor, Victor Solomon zu töten? Zu viele Zufälle.« Sivula zuckte die Achseln. »So könnte es passiert sein.« Active spürte, dass Sivula ihn irgendwie in Richtung Calvin Maiyumerak steuern wollte, ohne dass er es direkt aussprach. »Trotzdem noch zu viele Zufälle. Wir Trooper glauben nicht an Zufälle.« »Dann glauben Sie, dieser Mann, von dem ich Ihnen erzählt habe, hat es getan?«, fragte Sivula. Active sagte nichts, hob aber die Augenbrauen.
»Selbst wenn er es getan hätte, jetzt ist es vorbei«, sagte Sivula. »Eskimoangelegenheiten aus den alten Zeiten, alles erledigt. Niemand wird mehr getötet werden. Vielleicht können Sie ihn vergessen, ha?« »Sie erinnern sich immer noch nicht an seinen Namen?« Sivula schwieg und studierte wieder die Tiefen seiner Teetasse. »Kennen Sie diesen Naluaqmiu-Buschpiloten, Cowboy Decker?« »Ja. Arbeitet für Lienhofer Aviation. Ich fliege manchmal mit ihm.« »Könnten Sie ihm beschreiben, wie man das Camp dieses Mannes am Schamanenpass erreicht?« Sivula rieb sich das Kinn und sein Blick richtete sich in die Ferne. »Wie schon gesagt, ich bin nicht sicher, wo es war. Schamanenpass, Howard Pass, keine Ahnung. Das ist lange her. Ich bin alt und mein Gedächtnis ist schlecht.« Plötzlich malte ein Grinsen Fältchen auf sein Gesicht und er kicherte. »Vielleicht hat dieser Typ Natchiq nicht gefunden, weil er sein ganzes Leben am falschen Pass gesucht hat. Sehr komisch, ha?« Dann senkten sich die höflichen, ausdruckslosen Konturen der Eskimomaske über sein Gesicht.
Eine Stunde später hatte Active in Carnabys Büro Bericht erstattet und versuchte jetzt, einen Flug zum Schamanenpass aus ihm herauszuleiern. »Jetzt warten Sie mal«, sagte der Kommandant der Trooper. »Whyborn hat den Namen des Kerls nie genannt. Woher wollen Sie dann wissen, dass es dieser Robert Keller…« »Robert Kelly.«
»Dass es Robert Kelly ist? Würden Sie mir das nochmal erklären?« »Ich habe den örtlichen Officer in Caribou Creek angerufen und gesagt, dass wir den Namen eines älteren Mannes brauchen, der früher das Kraftwerk geleitet hat, vermutlich aus einer alten Familie aus Chukchi stammt und ein Camp am Schamanenpass hatte, oder vielleicht am Howard Pass.« »Und er…« »Er brauchte ungefähr zwei Sekunden, um auf den Namen zu kommen. ›Ja, sicher‹, hat er gesagt. ›Das ist der alte Robert Kelly.‹« »Und das Camp? Woher wissen wir, wo es liegt?« »Das war schon schwieriger. Der Officer hat über CB-Funk seine Frau angerufen, diese wiederum ihre Tante, deren Schwager dann…« »Herrgott, egal. Jedenfalls war irgendjemand aus dem Genpool von Caribou Creek tatsächlich irgendwann schon mal oben?« Active nickte. »Genau. Südseite vom Schamanenpass, am Rand der Berge, zwischen zwei Bachläufen. Moose Creek und Ptarmigan Creek, glauben sie.« »Glauben sie?« Carnaby starrte ihn ungläubig an. »Das ist alles? Dieser Robert Kelly, falls es überhaupt derselbe Kerl ist, hat Whyborn Sivula vor dreißig Jahren im Karibucamp eine Geschichte erzählt, und das soll Ihr großer Durchbruch sein? Und jetzt glauben irgendwelche Leute in Caribou Creek zu wissen, wo das Camp liegt, und deshalb wollen Sie Cowboy Decker anheuern und da rauffliegen – wie weit ist es eigentlich?« »Zwo-achtzig ungefähr, meint Cowboy. Er hat mit dem Mann in Caribou Creek telefoniert, der den Ort kennt.« »Mal sehen.« Carnaby griff nach einem Stift, schob Actives Dienstreiseantrag von der Schreibtischunterlage und kritzelte
Zahlen hin. »Eine Super Cub auf Skiern schafft wie viel, ungefähr hundertfünfzig Kilometer die Stunde?« Active zuckte die Achseln und nickte. »Es sind also grob gesagt zwei Stunden hin und zwei zurück, dazu noch eine Stunde für die Suche nach einem Camp, das es vielleicht gar nicht mehr gibt, außerdem das Finden eines Landeplatzes, falls das Camp gesichtet werden sollte…« »Cowboy meint, dass er die Gegend ganz gut kennt.« »War er jemals in diesem Camp? Hat es mit eigenen Augen gesehen?« Active schüttelte den Kopf. Carnaby schnaubte. »Glauben Sie mir, Nathan, nach Plan wird das nicht verlaufen. Wir sind hier in der Wildnis. Sagen wir mal fünf Stunden hin und zurück. Was kostet Cowboy Deckers Super Cub mittlerweile? Immer noch zwo-fünfzig die Stunde?« Active seufzte. »Inzwischen sind es dreihundert.« Carnaby warf den Stift hin. »Da haben wirs. Fünfzehnhundert Dollar für einen netten Plausch mit diesem Robert Kelly, falls Sie ihn überhaupt finden.« »Wir finden ihn«, sagte Active. »Unser Mann in Caribou Creek sagt, er ist seit ein paar Wochen draußen im Camp. Ich vermute, seit er im Ruhestand ist und nicht mehr im Kraftwerk arbeitet, verbringt er die meiste Zeit dort. Seine Frau ist vor ein paar Jahren gestorben und seine Mädels leben in Barrow und Point Hope.« »Na, wenigstens haben Sie ein paar Hausaufgaben gemacht.« Carnaby starrte den Fünfzehnhundert-Dollar-Preis an, der unterstrichen und umringelt auf seiner Schreibtischunterlage stand. »Also mal angenommen, er ist dort. Angenommen, er hat sogar Onkelchen Frost gut sichtbar irgendwo herumliegen. Wie wollen Sie ihn mit der Ermordung Victor Solomons in Verbindung bringen?«
»Naja…« »Nach dem, was Whyborn Ihnen erzählt hat, ist Roberts einziges Ziel im Leben, Onkelchen Frost oder Natchiq oder wie immer man ihn nennen mag, irgendwo am Schamanenpass in die Wildnis zu legen, damit die Raben und Wölfe und Füchse auf gute alte Inupiat-Art ihre Arbeit tun können, korrekt?« »Ja, aber…« ›»Ja, aber‹ am Arsch! Sie werden keine Spur von Onkelchen Frost finden, Robert Kelly wird keine Ahnung haben, wovon Sie überhaupt reden, und Sie werden ohne die Spur eines Beweises zurückkommen, lediglich mit einem Fünfzehnhundert-Dollar-Loch in unserem Reisebudget. He, habt ihr auch noch vor, eure Gewehre mitzunehmen? Was soll das werden, eine kleine Karibujagd auf Staatskosten vielleicht?« Er stieß den Reiseantrag über die Schreibtischunterlage zurück zu Active. Active konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Was?« »Ich habe gar kein Gewehr«, sagte Active. Carnaby schüttelte den Kopf, schien sich aber zu beruhigen. »Hören Sie jetzt zu?« Carnaby zuckte die Achseln, setzte aber eine etwas weniger unheilvolle Miene auf. »Ich denke, es besteht eine gute Chance, dass Kelly noch keine Möglichkeit hatte, Onkelchen Frost in die Wildnis zu bringen…« »Und warum?« Active hob die Hand. »… und zwar wegen des Sturms. Cowboy meint, wenn man das, was wir in den vergangenen Tagen hier abbekommen haben, als Maßstab nimmt, dann herrschen am Pass wahrscheinlich Windgeschwindigkeiten von hundertzehn bis hundertdreißig Kilometer pro Stunde, bei
Schneetreiben und einer Sichtweite von höchstens fünfzehn Metern, möglicherweise sogar weniger.« »Aber wenn dieser Robert Kelly ohnehin seine ganze Zeit draußen in der Wildnis verbringt, könnte er vielleicht…« »Cowboy meint nein«, sagte Active. »Nicht bei diesem Wetter. Nicht an diesem Pass.« »Ich weiß nicht«, sagte Carnaby. »Irgendwie passt die Geschichte nicht zusammen. Angenommen, es war Robert Kelly. Er stiehlt Onkelchen Frost Mittwochnacht aus dem Museum, vielleicht in den frühen Morgenstunden des Donnerstags, richtig?« Active nickte. »Warum sollte er bis Donnerstagnacht warten oder Freitagmorgen, um Victor Solomon umzubringen? Vierundzwanzig Stunden später? Was hat er den ganzen Tag lang getrieben?« »Ich weiß es nicht«, sagte Active, dem bei dem Gedanken unwohl war, dass Carnaby den Finger auf denselben Schwachpunkt gelegt hatte wie alle anderen auch. »Aber Robert Kelly ist unsere einzige Spur. Wenn wir nicht mit ihm reden, ist der Fall praktisch gestorben, soweit ich das sehe.« Er schob den Reiseantrag wieder zu Carnaby hin. »Ich plädiere in diesem Fall immer noch für Calvin Maiyumerak«, sagte Carnaby. »Vielleicht sollten wir ihn noch ein bisschen gründlicher ausquetschen.« Active zuckte die Achseln. »Haben wir versucht. Er lässt sich nicht ausquetschen, es sei denn, irgendetwas würde sein Alibi mit Queenie Buckland erschüttern.« »Was ist mit Johnny Bass? Er hat nicht einmal ein Alibi.« »Er ist der reinste Abschaum, aber ich habe das Gefühl, er hat die Wahrheit gesagt. Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben.«
Carnaby seufzte. »Wie ist das vergangene Wochenende gelaufen? Haben Sie die Nachbarn unseres alten Victor abgeklappert?« Active nickte. »Das haben Silvers Leute erledigt. Keiner hat was gesehen. Ich habe auch sein Haus durchsucht. Ebenfalls nichts.« Carnaby runzelte die Stirn über dem Reiseantrag, machte aber keine Anstalten, zum Stift zu greifen. »Ich weiß nicht«, sagte Active. »Vielleicht sollte ich nicht alleine fliegen. Wenn dieser Kelly unser Mann ist, dann hat er bereits einmal gemordet. Das könnte gefährlich werden. Vielleicht sollte ich ein größeres Flugzeug nehmen und Dickie Nelson als Rückendeckung mitnehmen.« Carnabys Stirnrunzeln vertiefte sich zu einer Miene reinsten Misstrauens. »Cowboy sagt, das einzige andere Flugzeug, mit dem man da oben reinfliegen kann, ist wahrscheinlich die Lienhofer Beaver…« Carnaby griff nach seinem Stift. »… die acht-fuffzig die Stunde kostet.« Carnaby unterzeichnete den Reiseantrag und reichte ihn Active. »Sie sind schlimmer als Zahnschmerzen.« »Mache nur meine Arbeit.« Active faltete den Antrag zusammen und steckte ihn in eine Innentasche. »Aber mal im Ernst«, sagte Carnaby. »Es macht mich schon ein bisschen nervös, da nur einen einzelnen Mann hinzuschicken.« »Berufsrisiko«, meinte Active. Carnaby nickte. »Na gut. Aber seien Sie vorsichtig. Tragen Sie eine kugelsichere Weste, nehmen Sie eines unserer Gewehre mit, nutzen Sie jede Deckung, die Sie da oben finden können. Fliegen Sie heute Nachmittag?«
Active schüttelte den Kopf. »Der Sturm lässt zwar langsam nach, aber Cowboy meint, es hat keinen Sinn, es vor morgen früh zu versuchen.« »Bei Tagesanbruch also?« »Jep«, sagte Active. »Wir fliegen die Morgenpatrouille.«
17
Es war kurz nach sechs Uhr dreißig am nächsten Morgen, als Active das Damenmodell neben der rechten Flügelspitze der rot-weißen Lienhofer Super Cub anhielt. Das Flugzeug stand am Meeresufer von Chukchi und war an zwei metallenen Ankern vertäut, die im Eis festgefroren waren. Ein fast fünfzig Kilometer starker Westwind blies frontal gegen die Maschine. Die Nase des Flugzeugs war in eine blaue, isolierte Motorabdeckung gehüllt, deren Unterseite voller Ölflecken war. Gelegentliche Böen rüttelten die Maschine durch wie einen Flugdrachen und zerrten an den Tauen. Gleich neben dem linken Flügel stand eine Tonne mit Flugbenzin und einer Handpumpe obendrauf. Daneben parkte ein Schneemobil mit Schlitten, das Active als Cowboy Deckers Eigentum erkannte. Niedrige Schneedünen hatten sich auf der Leeseite der Tonne gebildet, hinter dem Heck des Flugzeugs und hinter jedem seiner Skier. Die Halbtüren an der Seite des Cockpits schwangen auf wie die Schalen einer Muschel – eine klappte nach oben, die andere nach unten – und Cowboy Decker kletterte aus dem Pilotensitz, eine Zigarette zwischen den gelblichen Zähnen und eine Baseballmütze auf dem Kopf. Wie Active trug er weiße Fliegerstiefel aus Armeebeständen und einen Polaranzug, allerdings keinen Parka darüber. Den hatte er achtlos auf den Rücksitz geworfen. Ein gestricktes Stirnband wärmte seine Ohren. An seiner Seite baumelten riesige Nylon-Fäustlinge von einer Schnur, die er sich über die Schulter geschlungen hatte. Er trug eine Brille mit Stahlgestell, was für die Arktis ungewöhnlich war. Die meisten Brillenträger verwendeten
Plastikgestelle, weil sie die Kälte nicht so gut leiteten. Metallgestelle, so hatte Active gehört, froren einem die Ohren ab. »Morgen, Cowboy«, sagte Active. Cowboy nickte ihm zu. »Nathan.« Der Blick des Piloten glitt zu der Yamaha. »Hübsches Schneemobil.« Active musterte den Gesichtsausdruck des Piloten, um zu sehen, ob er eine Bemerkung über die Farbe machen würde, aber Cowboy meinte nur: »Was ist mit Ihrer Windschutzscheibe passiert?« Das lieferte Active das Stichwort, von seinem Unfall auf dem Weg zu Whyborn Sivulas Walfangcamp zu berichten, der im Rückblick zu einer knapperen Begegnung mit dem Tod wurde, als er in Wirklichkeit gewesen war. Der Pilot hielt seine Luftfahrtkarte in der Hand, über die er nur einen leichten Wollhandschuh gestreift hatte, wie man ihn unter den Fäustlingen trug, wenn die Temperaturen mehr als nur ein bisschen frostig waren. Nachdem er sich von Actives Schneemobilunfall gebührend beeindruckt gezeigt hatte, bedeutete Cowboy ihm, sich mit dem Rücken zum Wind zu stellen, um die Karte mit ihren Körpern abzuschirmen, während sie sie studierten. Im Osten, der Richtung, in die sie blickten, zeigte sich ein stumpfes, orangefarbenes Glühen an der Stelle, wo die Sonne gerade über den sanften Hügeln der Tundra hinter dem Dorf aufging. Der Pilot stieß mit seinem behandschuhten Zeigefinger auf die Karte herab. »Der Typ in Caribou Creek sagt, dass Robert Kellys Camp ungefähr hier liegt.« Active neigte den Kopf, um die Stelle zu betrachten. Er sah einen Bleistiftkreis auf der Karte, südwestlich der Passhöhe des Schamanenpasses. Das Gebiet war übersät mit kleinen Tundraseen zwischen zwei Wasserläufen, die sich in den
Angatquq River ergossen, der wiederum den südlichen Abfluss des Passes bildete. »Glauben Sie, Sie können es finden?«, fragte Active. »Das ist ein ziemlich großes Gebiet.« Cowboy zuckte die Achseln. »Ich kann die Stelle exakt anfliegen. Ob ich auch das Camp finden kann? Wahrscheinlich, aber das kann eine Weile dauern. Der Typ sagte, es liege in einem Weidengehölz neben einem kleinen Bach, der nicht auf der Karte verzeichnet ist. Muss allerdings zugeben, ich bin schon ein paar Mal durch den Pass geflogen, habe aber nie ein Camp bemerkt.« »Wollen Sies versuchen oder nicht?« »Geht ja auf Staatskosten«, sagte Cowboy. »Ich kriege mein Geld, ob wir es finden oder nicht.« Active wandte sich um und sah nach Norden, die Richtung, die sie zum Schamanenpass einschlagen mussten. Die Ausläufer der Brooks Range schimmerten schemenhaft durch den Schneedunst und das Morgengrauen, das sich von der aufgehenden Sonne noch nicht ganz hatte vertreiben lassen. Der Wind blies ihm schneidend ins Gesicht und trieb ihm die Tränen in die Augen. Es hatte zwanzig Grad unter Null, wie er auf Kay-Chuck gehört hatte, während er sich rasierte, mit Windfaktor sogar über vierzig Grad minus. Winzige Schneeströme flossen über seine Stiefel wie Rauch. Über dem Brausen des Windes hörte er das schwache Zischen des Schnees, während er übers Eis fegte, über die Schneeverwehungen, die Außenhaut der Super Cub. »Was ist mit dem Wind?« »Und wer will jetzt nicht fliegen?« »Ich meine, wie wird es oben am Pass sein? Werden wir hineinfliegen können?« Cowboy sah nach Norden. »Ich glaube«, sagte er, »es lässt weiterhin nach, und manchmal ist es im Landesinneren schon
eher wieder ruhig als hier an der Küste, auch wenn der Wetterdienst sagt, dass vielleicht schon der nächste Sturm heraufzieht. Es gibt nur eine Möglichkeit: selber nachzusehen.« Er zuckte wieder die Achseln. Active sagte: »Dann lassen Sie uns aufbrechen.« Cowboy deutete auf seinen Hundeschlitten, wo zwei rechteckige Kanister in einer Holzkiste standen. »Füllen Sie die aus der Tonne auf, während ich die Maschine durchchecke.« »Der Tankinhalt reicht nicht?« »Nur knapp, besonders, wenn wir länger nach dem Camp von Kelly suchen müssten.« Cowboy schnippte seine Zigarette in die Luft. Der Wind wirbelte sie davon. »Mit vierzig Litern extra müssen wir uns jedenfalls keine Sorgen machen.« Während Active die Funktionsweise der Pumpe auf dem Fass mit Flugbenzin zu ergründen versuchte, zog Cowboy die Motorabdeckung herunter und stopfte sie durch eine Tür im Rumpf hinter dem Cockpit. Dann holte er ein kleines Heizgerät aus dem Motorraum, stöpselte es aus und verstaute es hinter dem Passagiersitz der Super Cub. Endlich überprüfte er den Motorölstand und den Treibstoffpegel in den beiden Flügeltanks und wandte sich dann zu Active, der gerade den zweiten Kanister Flugbenzin aufgefüllt hatte. »So weit fertig?«, schrie Cowboy. Active nickte und schleppte die beiden Kanister an die Seite des Flugzeugs. Cowboy brachte sie hinter dem Passagiersitz unter, schlüpfte in seinen Parka und kletterte in den Pilotensitz. Active sah die Taue, die immer noch an den Tragflächen befestigt waren, dann blickte er Cowboy an. »Wollen Sie sie nicht losbinden?« Cowboy, der mit den Steuerelementen kämpfte, wandte nicht einmal den Kopf. Er brüllte nur: »Zu viel Wind. Der könnte die Maschine glatt wegblasen. Ich lasse den Motor an und
halte sie mit dem Gas auf der Stelle, dann werfen Sie die Taue los und springen rein.« »Was? Nein! Ist das nicht gefährlich?« »Wollen Sie nun fliegen oder nicht?« Active schüttelte resigniert den Kopf und trottete um das Heck des Flugzeugs herum zum linken Flügel, während der Propeller sich zu drehen begann und der Motor hustend ansprang. Als er den Befestigungspunkt auf halber Länge der Tragfläche erreicht hatte, lief der Motor gleichmäßig. Er zerrte die Fäustlinge herunter und ließ sie an ihrer Schnur seitlich herunterbaumeln, während er den Knoten löste und das Tauende durch einen Augbolzen zog, der an der Tragflächenstrebe befestigt war. Seine wollenen Unterhandschuhe waren kein ausreichender Schutz. Als er mit der rechten Vertäuung fertig war und in den Passagiersitz hinter Cowboy krabbelte, schossen ihm schmerzhafte Stiche durch die Finger. Er schnallte sich mit Hüftgurt und Schultergeschirr an und kam sich unförmig und klobig vor in seinem Parka mit der Kevlarweste unter dem Hemd und der Smith & Wesson, die sich am Gürtelhalfter in seine Hüfte bohrte. Er setzte das Headset der Gegensprechanlage auf, zog die Kapuze seines Parka darüber und die Fäustlinge wieder an. Cowboys Stimme knisterte in seinen Ohren. »Fertig da hinten?« »Ja«, behauptete er. Der Motor heulte auf, aber das Flugzeug rührte sich nicht. Cowboy nahm Gas zurück und drehte dann wieder hoch. Immer noch regte sich nichts. »Scheiße«, sagte der Pilot durch die Sprechanlage. Er ging in den Leerlauf. »Die Skier sind festgefroren. Steigen Sie aus, packen Sie die rechte Tragflächenstrebe da und wackeln sie hin und her, bis die Kiste sich losreißt. Ich halte sie im Kriechgang, bis Sie wieder eingestiegen sind.«
Active sah sich die fragliche Tragflächenstrebe an, dann die festgefrorenen Skier zu beiden Seiten des Cockpits und betrachtete schließlich den Rücken von Cowboys Parka. Er dachte an die vielen Dinge, die es sinnvollerweise dazu zu sagen gab. Aber alles, was er schließlich herausbrachte, war: »O. k.« Er nahm das Headset ab, schnallte sich los, öffnete die Türen und kroch aus dem Flugzeug in den scharfen Propellerwind. Er ging ein paar Schritte, stemmte die rechte Schulter unter die Tragflächenstrebe und hievte. Das Flugzeug schwankte, aber die Skier rührten sich nicht. Das Landefahrwerk war irgendwie federnd aufgehängt, was auch einen gewissen Sinn ergab bei einem Flugzeug, das auf Kiesbänken und holpriger, schneebedeckter Tundra landen musste. Jedenfalls schienen Flugzeug und Skier sich quasi unabhängig voneinander bewegen zu können und die Skier klebten auf dem Schnee, egal wie heftig er die Flügel zum Schaukeln brachte. Er funkelte Cowboy an, der grinsend mit dem Daumen nach oben zeigte und Gas gab. Der Motor brüllte auf, Active rüttelte wieder an den Tragflächen und endlich riss sich der rechte Ski los. Das Flugzeug wollte nach links ausbrechen, aber Cowboy konnte es mit dem Seitenruder abfangen, und endlich kam auch der andere Ski frei. Cowboy nahm das Gas weg, als die Super Cub begann, vorwärts zu kriechen. Active rannte zur Cockpittür, hechtete mit dem Oberkörper hinein und strampelte sich dann vollständig nach drinnen. Cowboy schloss die Türen und blieb auf Kriechgeschwindigkeit, während Active seine Sicherheitsgurte wieder anlegte. Endlich schrie Active »Fertig!« in die Sprechanlage. Cowboy gab Vollgas und die Skier ratterten über die Schneeverwehungen, die das Eis der Bucht von Chukchi bedeckten. Eine Bö packte sie und der rechte Flügel begann
sich zu heben. Cowboy sägte mit dem Steuerknüppel und dann waren sie in der Luft. »Verstehen Sie jetzt, warum wir Buschpiloten so dicke Kohle verdienen?« Erst konnte Active gar nichts erwidern. »Sie sollten lieber mich bezahlen«, krächzte er dann, als sein Atem sich beruhigt hatte. »Schließlich mache ich die ganze Arbeit.« »Berufsrisiko«, sagte Cowboy. Die Sicht wurde besser, als sie über den vom Wind aufgewirbelten Bodendunst geklettert waren. Nach Westen erstreckte sich das Eis der Chukchi-Bucht, und der Wind trieb lange Bänder von Schnee auf den Ort zu. Nach Norden konnten sie über die Sulana Hills in das gefrorene Tal des Katonak River blicken, der sich wie eine weiße Schlange ins Herz der Brooks Range wand. Schneefahnen standen träge über den Graten der Sulana Hills. »Scheiße«, sagte Cowboy in den Kopfhörern. »Wird holprig. Ist Ihr Sitzgurt richtig fest angezogen?« »Und wer möchte jetzt lieber nicht fliegen?«, fragte Active. »Ich jedenfalls nicht«, sagte Cowboy. Active war noch dabei, den Sinn von Cowboys Antwort zu entschlüsseln, als die ersten Turbulenzen sie durchrüttelten. Die Benzinkanister schepperten hinter Active und er schoss geradewegs in die Höhe, bis die Schultergurten seinen Flug bremsten. Im selben Augenblick machte sein Kopf unsanft Bekanntschaft mit den Stahlrohren an der Cockpitdecke, doch seine Parkakapuze dämpfte den Aufprall und es war nicht besonders schmerzhaft. Aber es war peinlich. Active fragte sich, ob Cowboy etwas gemerkt hatte. Er zerrte seinen Hüftgurt zwei, drei Zentimeter enger und zog die Schulterriemen so straff, dass er sich wie ein Buckliger vorkam. »Und, ist Ihr Sitzgurt richtig festgeschnallt?«, fragte Decker unter lautem Gelächter Active fügte sich leidend in sein
Schicksal und war dankbar, dass er wenigstens mit einem Magen gesegnet war, der gegen Luftkrankheit unempfindlich zu sein schien. Nachdem sie erst einmal in der unruhigen Luft über die Sulana Hills geholpert waren und das breite Tal am Unterlauf des Katonak erreicht hatten, legten sich die Turbulenzen. Active lockerte Hüftgurt und Schultergeschirr und entspannte sich ein wenig. Cowboy meldete sich mit einem Knistern von Statik im Kopfhörer. »Dieser Typ, Robert Kelly. Glauben Sie wirklich, dass er Victor Solomon mit einer Harpune getötet hat?« Active rang mit sich, wie viel er Cowboy erzählen durfte. Weil es sich um eine Polizeiangelegenheit handelte, durfte der Pilot theoretisch gar nichts erfahren, außer dass die Trooper Robert Kelly in Verbindung mit einer Ermittlung vernehmen mussten. Andererseits war Robert Kelly vielleicht gefährlich. Dann musste man tatsächlich darüber reden, wie sich die Gefahr für Cowboy minimieren ließ. Und wenn Robert Kelly nicht gefährlich war – tja, dann war diese lange, kalte, mühselige Reise mit einem Flugzeug eine Verschwendung von fünfzehnhundert Dollar Steuergeldern gewesen. Genau, wie Carnaby gesagt hatte. »Könnte sein«, sagte Active endlich. »Deshalb muss ich mit ihm reden.« »Was, wenn er Sie auch harpuniert?« »Ich trage eine Schutzweste. Die Harpune wird abprallen.« »Hm«, sagte Cowboy. »Und was ist mit mir?« »Lassen Sie uns erst mal dieses Camp finden, dann sehen wir weiter. Wenn es gefährlich aussieht, landen wir zwei oder drei Kilometer entfernt und Sie können auf mich warten, während ich mit Schneeschuhen hingehe.« Cowboy schwieg ein paar Minuten lang, während die Super Cub über die Tundra zuckelte, über Bäche und die kleinen
Seen der Katonak Flats. »Gut, aber ich lass meinen Finger auf dem Anlasserknopf. Wenn irgendjemand in meine Nähe kommt, dann bin ich weg.« Wieder schwieg Cowboy ein paar Minuten lang, dann sagte er: »Und was dann?« »Wie meinen Sie?« »Was, wenn Sie nicht zurückkommen?« »Sie fliegen zurück nach Chukchi und sagen Carnaby Bescheid«, sagte Active. »Er wird sich was einfallen lassen.« »Klingt für mich nicht nach einer ungefährlichen Unternehmung.« »Berufsrisiko«, sagte Active. »Was denken Sie über das Glück, Nathan?«, fragte Cowboy nach einer Pause. »Tja, je mehr man hat, umso besser.« »Nein, im Ernst. Glauben Sie, man wird mit einem bestimmten Maß an Glück geboren, einer Quote sozusagen, und wenn man die aufgebraucht hat, ist man erledigt? Oder werden manche Leute einfach glücklich geboren und das Glück bleibt ihnen treu, bis sie alt und grau sind und vor Langeweile sterben?« »Ich habe nie darüber nachgedacht«, sagte Active. »Aber das mit der Quotenidee, ich weiß nicht.« Cowboy schwieg wieder einige Zeit. »Ja, ich auch nicht. Aber manchmal mache ich mir so meine Gedanken.« »Welche Gedanken?« »Wo das Sprichwort herkommt. Sie wissen schon. Die neun Leben der Katze.« »Ich verstehe, was Sie sagen wollen.« Cowboy nickte. »Deshalb höre ich nicht gerne, wenn jemand sagt, ich sei ein Glückspilz. Was ist, wenn ich gerade mein letztes Quäntchen aufgebraucht habe und beim nächsten Mal, wenn ich in eine Notlage gerate, schaffe ich es nicht mehr?
Letztes Jahr, bei der Geschichte mit Aggie Iktillik, müsste ich einen ganzen Haufen verbraucht haben.« Gelinde ausgedrückt, dachte Active, aber er sprach es nicht aus. »Was meinen Sie damit? Sind wir gerade in einer Notlage?« Er sah, wie der Pilot sich duckte und das Tal entlang zum Schamanenpass spähte. »Noch nicht«, sagte Cowboy. »Nicht, dass ich wüsste.« Active schüttelte den Kopf. Das musste wohl Cowboys Variante des Schießtraums sein. Er überlegte, ob der Pilot auch seine persönliche Version von Nelda Qivits hatte. Während sie dem Katonak stromaufwärts folgten, verengte sich das Tal und die Brooks Range rückte zu beiden Seiten näher. Die Gipfel steckten in den Wolken. Weiter unten wehten lange Wimpel aus Schnee von den messerscharfen weißen Graten. Wieder traf sie eine Turbulenz und die Benzinkanister hinter Actives Sitz schepperten gegeneinander, während die Super Cub an einem Dutzend nicht identifizierbarer Stellen zu klappern begann. Active straffte Hüftgurt und Schultergeschirr und schmeckte salziges Blut, als ein Hammerschlag von unten ihm die Zähne gegeneinander schlug und er sich in die Wange biss. Danach hielt er die Zähne fest zusammengepresst und hoffte, Cowboy würde in die Sprechanlage knurren und sagen, dass es jetzt wirklich reichte und sie zurückfliegen würden. Cowboy sagte gar nichts. Endlich entkrampfte Active seine Kiefer, um zu fragen, ob die Wolken tief genug hingen, um den Zugang zum Pass zu verhindern. »Nein«, sagte Cowboy. »Die Wolken sind tausend oder dreizehnhundert Meter hoch. Der Pass liegt ein paar Meter tiefer.« Weitere zwanzig Minuten lang arbeiteten sie sich entlang des Katonak voran, dann legte Cowboy die Super Cub in eine
Linkskurve und richtete die Nase auf eine weiße Furche, die nach Norden durch die Tundra mäanderte. »Der Angatquq River«, meinte Cowboy. Active wollte gerade etwas Zustimmendes sagen, als die Super Cub von einem Strudel von Turbulenzen in vertikale Seitenlage gerissen wurde und er durch das Seitenfenster plötzlich direkt auf das von Weiden gesäumte Bett des Angatquq hinabstarrte. Von Cowboy ertönte ein lautes »Scheiße!« über die Sprechanlage und dann war er mit dem Steuerknüppel beschäftigt. Als die Tragflächen wieder in die Waagrechte kamen, ließ Active den Blick über das langsam ansteigende Terrain der weißen Landschaft vor ihnen schweifen. Der Schamanenpass war, wie es aussah, ein breiter, niedriger Sattel, weiß und zerrauft vom Griff des Winters. Aus dieser Entfernung war nichts von der Schlucht unterhalb der Passhöhe zu sehen, von der Jim Silver berichtete hatte. Zu ihrer Rechten erstreckten sich niedrige Hügel nach Osten. Links staffelten sich schroffe Berge Richtung Westen. Wenn er sich richtig an Cowboys Karte erinnerte, lag Robert Kellys Camp am Fuß dieser Berge, auf der linken Seite des Passes. »Sieht so aus, als kriegen Sie was geboten für Ihr Geld«, sagte Cowboy über die Sprechanlage. Active, der die vor ihnen liegende Route studierte, versuchte erst gar nicht, Cowboys Pointe zu ergründen. »Was?« »Wir werden in den Pass hineinfliegen.« »Ja, das werden wir wohl«, sagte Active.
18
Weil sie den Wind immer noch im Rücken hatten und das Gelände vor ihnen anstieg, schien die Super Cub mit ständig zunehmender Geschwindigkeit auf den Pass zuzujagen. Unter den Flügeln verschwammen windgepeitschte Weiden im Tal des Angatquq, wurden wieder scharf und verschwammen abermals, während Wolken von Schnee über sie hinwegfegten. Abseits des Wasserlaufs bogen sich auf der Tundra vereinzelte schwarze Krüppelfichten im Sturm. Active erinnerte sich an Jim Silvers Seemannsgarn von den Winden am Schamanenpass, die Karibus töten konnten. »Was glauben Sie, wie stark der Wind hier ist?«, fragte er. »Ich weiß nicht«, knurrte Cowboy durch die Sprechanlage zurück. »Siebzig, achtzig vielleicht.« »Können Sie dabei überhaupt landen?« »Wenn wir einen geschützten Platz finden«, gab Cowboy zurück. Active wartete auf mehr, aber der Kopfhörer blieb stumm. Er schloss daraus, dass das wohl alles gewesen war, was Cowboy zum Thema sagen wollte. Sie ließen sich weiter wie ein welkes Blatt stromaufwärts wehen, bis sie einen breiten Bach erreichten, der von links in den Angatquq mündete. Cowboy hielt die Karte in die Höhe und verglich sie mit dem Gelände, dann legte er das Flugzeug in eine Kurve und folgte dem Bachlauf. Seine Stimme knackte aus der Sprechanlage. »Das ist der Moose Creek. Irgendwo zwischen hier und dem nächsten größeren Bach, Ptarmigan Creek, soll das Camp liegen. Direkt am Fuß der Berge, an
einem Bach, der zu klein ist, um auf der Karte verzeichnet zu sein.« Cowboy flog stromaufwärts bis zu der Stelle, wo der Moose Creek durch einen schmalen Felseinschnitt zwischen den Bergen herausschoss. Dort schwenkte der Pilot das Flugzeug nach rechts und flog am Fuß der Berge entlang. Sechs oder acht Kilometer weiter vorn konnte Active eine Linie erkennen, die wohl der Ptarmigan Creek war, der sich zum Angatquq schlängelte. Sie befanden sich jetzt über ansteigendem Terrain und überquerten einen kleinen Rücken, der die Wassereinzugsgebiete von Moose und Ptarmigan Creek trennte. Eine dünne Decke aufgewirbelten Schnees fegte darüber hinweg. Der Wind stand wieder in ihrem Rücken und jagte sie so schnell über die zerklüftete Landschaft, dass die Super Cub das Doppelte ihrer Normalgeschwindigkeit zu erreichen schien. Sobald sie über den Hügelrücken geglitten waren, entdeckten sie einen kleinen Bach, der im Tal zum Angatquq floss. Von hier aus war deutlich zu sehen, dass es das einzige Gewässer in dem Streifen zwischen Moose und Ptarmigan Creek war. »Das muss es sein, was?« Cowboys Stimme klang etwas nervös im Kopfhörer. »Sieht so aus«, sagte Active. »Können Sie etwas erkennen?« »Nicht zwischen hier und dem Angatquq«, sagte Cowboy. »Wenn das die richtige Stelle ist, dann muss Robert Kellys Camp ein Stück weiter oben in der Schlucht liegen.« Inzwischen hatte sie der Wind an dem Bach vorbeigetrieben und sie konnten nicht mehr in die Schlucht hineinsehen, die der Bach in die Berge geschnitten hatte. Cowboy flog eine weite Kehre über dem tieferen Terrain, das sich zum Angatquq hin erstreckte, und schwenkte dann wieder in Gegenrichtung
am Fuß der Berge ein, etwa anderthalb Kilometer auf der windabgewandten Seite vom Ausgang der Schlucht entfernt. Jetzt flogen sie beinahe direkt in den Sturmwind hinein und kamen so langsam vorwärts, dass Active das Gefühl hatte, aussteigen und nebenherlaufen zu können. Hier, so nahe an den Hügeln, wollten die Turbulenzen gar nicht mehr aufhören und zerrten an der Super Cub, dass sie rüttelte und sich schüttelte, als würde sie jeden Moment in Stücke gerissen. Cowboy folgte dem Verlauf der Berge und nahm das Gas zurück, als sie sich der Mündung der Schlucht näherten, wo Robert Kellys Camp liegen sollte. Er fuhr die Klappen aus und ihre Geschwindigkeit über dem Boden ging gegen Null, während das Flugzeug langsam am Ausgang des Canyons vorbei bockte. Dann kamen sie vollständig zum Stillstand und die Super Cub schwebte zitternd im Sturm, der über die Tundra fegte. Active erschien es wie ein Wunder, dass Cowboy in der Lage war, ein Flugzeug mitten in der Luft anhalten zu lassen. Nicht zum ersten Mal staunte er über die beiden Gesichter Cowboy Deckers: auf dem Boden ein windiger Angeber mit Baseballkappe, und in der Luft ein Zauberer mit Headset und verspiegelter Sonnenbrille. Cowboy sah es zuerst. »Sehen Sie sich das an!«, schrie er durch den Kopfhörer. »An der zweiten Biegung, da oben, rechtes Ufer, ein Stück im Gebüsch.« Active spähte durch den Schneedunst, sah die Umrisse einer Hütte zwischen windgepeitschten Weiden, ein Schneemobil, einen Hundeschlitten – dann fühlte er, wie das Flugzeug sich auf die Seite rollte, sah den linken Flügel einen Augenblick lang senkrecht nach unten auf das Bachbett zeigen, spürte, wie Cowboy mit dem Steuerknüppel rang, hörte den Piloten »Himmelarsch nochmal!« brüllen und plötzlich fanden sie sich mehrere hundert Meter bachabwärts vor dem Ausgang des Canyons wieder, das Camp außer Sichtweite.
»Mein Gott«, sagte Active ins Headset, als Cowboy wieder ein Mindestmaß an Kontrolle über das Flugzeug erlangt hatte. »Was war denn das?« »Eine höllische Druckwelle, die da aus der Schlucht kommt«, sagte Cowboy. »Eine Art von Venturieffekt, nehme ich an.« Active hatte keine Ahnung, was ein Venturieffekt war, aber das schien nicht der richtige Zeitpunkt für eine Lektion darüber zu sein. »Können wir zurückfliegen und einen zweiten Blick darauf werfen?« »Machen Sie Witze?« »Na ja, wo wir schon mal hier sind.« »Mist«, sagte Cowboy. »Mal sehen, vielleicht, wenn wir höher anfliegen.« Der Pilot flog eine weite Steigkurve über dem verschneiten Tiefland und brachte das Flugzeug wieder an den Ausgang der Schlucht heran, aber diesmal hundertfünfzig Meter höher als zuvor. Sie spürten immer noch die Druckwelle aus dem Canyon, aber nicht mehr so schlimm, und diesmal war Cowboy darauf vorbereitet. Aus dem höheren Blickwinkel konnten sie besser in das Camp zwischen den Weiden hineinsehen. »Sehen Sie etwas, das wie eine Grassodenhütte aussieht?«, fragte Active. »Null«, sagte Cowboy. »Aber Whyborn sagte etwas von einer Grassodenhütte. Könnte das das falsche Camp sein?« Genau da trat ein Mann aus der Hütte, sah zu der Piper Cub hoch, rannte zu einem Hügel im Schnee ein paar Meter weiter und verschwand darin. »Da haben Sie ihre Grassodenhütte«, sagte Cowboy. Active drückte seine Zustimmung mit einem Grunzen aus und behielt den Eingang im Auge. Während sie an der Mündung des Canyons vorbeigetrieben wurden, begann die Szene ihrem Blickfeld zu entschwinden, aber Active sah den
Mann noch mit einem leuchtend blauen, mannsgroßen Bündel in den Armen aus der Hütte kommen und es auf den Hundeschlitten werfen. »Sehen Sie sich das an!« Active fühlte, wie ihm heiß um den Magen wurde, sogar in den Lenden, was bedeutete, dass er die Linie überschritten hatte, nach der es kein Zögern und Zaudern mehr gab, sondern nur noch eine Frage: Wie? »Er haut ab! Bringen Sie mich da runter!« Cowboy leitete eine weitere seiner weiten Kehren über dem Tiefland ein. »Unmöglich«, sagte er. »Da hinten sind wir nur noch geschwebt.« »Und?« »Und das bedeutet, dass die Windgeschwindigkeit höher ist als die Abhebegeschwindigkeit dieses Flugzeugs. Es ist unmöglich, zu landen. Wir würden nur auf den Rücken geworfen werden.« Active musterte die Tundra, die unter ihnen vorbeisauste, während Cowboy das Flugzeug für einen weiteren Vorbeiflug am Ausgang der Schlucht ausrichtete. Direkt vor ihnen trieben die Böen Kaskaden von Schnee über den runden Bergrücken, der zunächst Robert Kellys Bach vor ihnen verborgen hatte. Zwischen den Böen sah die Oberfläche des Rückens glatt modelliert aus, abgesehen von ein paar daraus hervorragenden Schöpfen von Zwergweiden. »Können Sie auch über dem Rücken da schweben?«, fragte Active. Er sah, wie Cowboy den Kopf drehte, um die Oberfläche zu studieren. »Ja«, sagte der Pilot. »Wahrscheinlich schon, ein paar Sekunden lang jedenfalls. Warum?« »Dann schweben Sie mal. Ich steige einfach aus in den Schnee.«
»Kommt nicht in die Tüte. Ich möchte Carnaby nicht erklären müssen, wie Sie, wie ich…« Cowboy verstummte und Active fragte sich, ob der Pilot auch diese Hitze im Magen verspürte. »Scheiße, könnte glatt funktionieren«, sagte Cowboy. »Hab schon mal gehört, dass Leute aus einer Super Cub abgesprungen sind. Aber was wollen Sie machen, bis ich wieder zurückkomme?« »Ich werde einfach Mr. Kelly in Gewahrsam nehmen und wir werden in seiner Hütte warten.« »Einfach so, was?« »Ein Bösewicht, ein Trooper. So machen wir das.« »Der Scheißcowboy hier sind Sie«, sagte Cowboy. »Das ist Ihnen doch wohl klar?« Active antwortete nicht, aber er lächelte ein wenig in sich hinein. Cowboy lenkte die Super Cub in eine leichte Kurve und steuerte auf einen kleinen Sattel am Kamm des Rückens zu. »Immer daran denken«, sagte er über Kopfhörer. »Sie treten da in einen Wind von achtzig, hundert Stundenkilometern hinaus. Als Erstes lassen Sie sich flach hinfallen, bis Sie sich orientiert haben und wissen, ob sie dagegen ankommen können oder nicht.« Der Pilot klappte die muschelartigen Türen auf. Ein Wirbelsturm brüllte ins Cockpit herein. Active streifte das Headset ab, schnallte Schulter- und Hüftgurte los und schloss den Reißverschluss seines Parka. Dann stemmte er sich gegen die Decke, während die Super Cub der Sprungzone entgegenrüttelte. Cowboy ging langsam tiefer. Endlich waren sie über dem Sattel, die Skier vielleicht einen Meter über dem streifigen, windkomprimierten Schnee. Cowboy gab das Daumen-HochZeichen. Active packte den Türrahmen und zog sich in die
Öffnung. Er stellte einen Fuß in den metallenen Steigbügel unter der Tür, nahm seinen ganzen Mut zusammen und sprang. Noch während des Sprungs packte eine Bö das Flugzeug und riss es in die Höhe, und als sein linker Fuß die Trittstufe verließ, befanden sich die Skier dreieinhalb Meter über dem Schnee, nicht mehr nur einen. Aber es war zu spät. Während er fiel, fühlte er, wie der Wind ihn packte und dann wirbelte er sich überschlagend über den Rand des Rückens und den Steilhang hinunter. Sein Sturz endete in einer Gruppe Weiden am Rand von Robert Kellys Bach. Er hatte Mund und Augen voller Schnee, Schnee auch unter dem Kragen, wo die Kapuze seines Parkas im Fallen zurückgeschlagen worden war. Seine linke Schulter, die von dem Unfall mit dem Schneemobil noch gereizt war, protestierte wütend dagegen, schon wieder so misshandelt zu werden. Es fühlte sich an, als ob sie jemand mit einem glühenden, schartigen und rostigen Brecheisen auseinander sprengen wollte. Während Actives Atem sich beruhigte, drang langsam der Klang eines Schneemobil-Motors in sein Bewusstsein, kaum hörbar über dem Stöhnen des Windes, der über die Klippe weiter oben hinwegfegte. Er kämpfte sich zwischen den Weiden auf die Füße, und als er die Fäustlinge abstreifte und nach der Smith & Wesson in seinem Gürtel tastete, trug ihm das neuerliche Proteste seiner Schulter ein. Seine Finger fanden das Halfter, offen und leer. Hektisch buddelte er im Schnee herum, bis seine wollenen Unterhandschuhe den kalten, harten Stahl des Griffs ertasteten. Als er zwischen den Weiden hervortrat, sah er ein schwarzes Arctic Cat näher kommen, den Hundeschlitten im Schlepptau. Die Aufmerksamkeit des Fahrers war hangabwärts gerichtet, wo Cowboy in seiner Super Cub eine weitere Schleife zog und sich wieder dem Ausgang des Canyons näherte.
Active begriff, dass der Fahrer ihn noch nicht bemerkt hatte. Er schwenkte den rechten Arm, bis der Mann auf dem Schneemobil endlich in seine Richtung sah. Als der Fahrer die Smith & Wesson entdeckte, die Active immer noch in der Hand hielt, gab er Vollgas. Der Motorschlitten machte einen Satz und beschleunigte, während Active mit der Waffe den Motorraum anvisierte. Mit ein paar glücklichen Schüssen konnte er vielleicht die Maschine außer Gefecht setzen. Dann wurde ihm klar, dass der Fahrer nicht nur beschleunigte, sondern auch abschwenkte – auf ihn zu. Active verlagerte sein Ziel auf den Fahrer und feuerte zweimal, bevor das Schneemobil ihn erwischte. Er wurde auf den Rücken geworfen, verlor abermals die Pistole, fühlte einen Vorderski über seine linke Körperhälfte gleiten, dann den grobstolligen Traktorriemen aus Gummi und schließlich den Hundeschlitten. Ein Ruck fuhr durch seinen linken Arm, die linke Schulter schmerzte ärger, als er sich je hätte vorstellen können, und er erkannte, dass seine Hand im Rahmen des Schlittens gefangen war. Er wurde mitgerissen und pflügte ein paar Meter durch Schnee und Felsen und Weiden, bevor es ihm gelang, seine Hand aus der Schnur zu befreien, mit der die hölzernen Stützträger des Schlittens an der Gleitkufe verzurrt waren. Während er mit dem Gesicht im Schnee lag und darauf wartete, dass der tobende Schmerz in seiner linken Schulter nachließ und er aufstehen konnte, war er sich vage bewusst, dass das Schneemobil langsamer wurde, möglicherweise wendete – kam der Fahrer zurück, um ihm den Rest zu geben? Der brennende Schmerz in seiner Schulter wollte überhaupt nicht aufhören. Er kochte heißer und heißer. Feurige Glutwellen breiteten sich vom Gelenk her aus und strömten durch seinen Magen – diese Übelkeit! –, seinen Kopf, so warm
und entspannt jetzt, die Schulter kaum noch spürbar – was war überhaupt das Problem?
19
Jemand trat durch die Tür der Hütte, während Actives Bewusstsein verschwommen wiederkehrte. Er wusste nicht warum, aber irgendwie war ihm klar, dass er sich in der Hütte befand, und das war in Ordnung. Aber die Gestalt im Eingang war nicht in Ordnung, denn es war der Fahrer des Schneemobils und er hielt etwas in der Hand – ein Gewehr oder eine Harpune, schwer zu sagen. Active erinnerte sich deutlich, dass er den Fahrer fürchten musste, wusste aber nicht, warum. Also griff er nach seiner Waffe, die, wenn er sich recht entsann, an seinem Gürtel hängen musste. Doch er stellte fest, dass er seine rechte Hand nicht zu der Waffe heben konnte. Er zerrte und zerrte, aber sein Arm ließ sich nicht bewegen und ein Schmerz wie eine feurige Schlange kroch durch das Gelenk seiner linken Schulter. Er hörte sich selbst stöhnen, und da erkannte er, dass er sich in einer neuen Version des Schießtraums befand. Der Fahrer musste ihm einen Stich in die Schulter versetzt haben. Normalerweise wachte er auf, bevor der Bösewicht ihn erwischte. Er zog seine Waffe und versuchte, sie abzufeuern, aber die Kugel tröpfelte bloß mit einem leisen »Plop« aus dem Lauf und fiel zu Boden. Er versuchte es wieder und wieder, riss den Abzug so fest durch, wie er nur konnte und zuckte dabei konvulsivisch als würde er gerade auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet oder hätte einen Orgasmus. Aber die Kugeln tropften immer nur harmlos aus der Mündung und fielen zu Boden. Dann lachte der Bösewicht und hob sein Gewehr – und Active wachte auf und der Schießtraum war vorüber.
Aber diesmal nicht. Diesmal ging der Traum weiter. Der Bösewicht hatte ihn mit seinem Gewehr in die Schulter gestochen, was keinen Sinn ergab, es sei denn, das Gewehr hätte ein Bajonett. Hatte es das? Er versuchte, es im Zwielicht der Hütte zu erkennen – hatte der Fahrer des Schneemobils ein blutbeflecktes Bajonett auf sein Gewehr gepflanzt? Konnte es sein, dass der Fahrer ihn angeschossen hatte? Er hatte keinen Schuss gehört, aber vielleicht hatte das Gewehr einen Schalldämpfer? Er hob den Kopf, um besser sehen zu können – und dann war der Schießtraum wirklich zu Ende und er wachte auf. Er befand sich in einer Hütte, und es war die Hütte aus seinem Traum. Er lag auf dem Boden und er war gefesselt – dieser Teil hatte gestimmt. Er konnte weder Arme noch Beine bewegen. Und noch etwas war real – das Toben in seiner linken Schulter. Es fühlte sich an, als hätte jemand eine Tasse Flugbenzin in das Gelenk geschüttet und ein Streichholz drangehalten. Irgendwie kam ihm das Gefühl bekannt vor. Eishockey, das wars. Ein Hockeyspiel an der Universität von Alaska in Fairbanks. Zwei Spieler der gegnerischen Mannschaft hatten ihn auf ihren Schlittschuhen in die Zange genommen und gegen die Bande gerammt. Irgendwie war im Getümmel sein Arm eingeklemmt und verdreht worden. Er hatte den Arm umklammert, war in Ohnmacht gefallen und vom Eis getragen worden. Als er aufwachte, hatte ein Arzt ihm gesagt, er habe sich die Schulter ausgerenkt und sei von dem Schock ohnmächtig geworden. »Kein Problem, solange wir sie gleich wieder einrichten«, hatte der Arzt gemeint, während er ihm eine Spritze Demerol gab. Dann hatte er Active auf den Boden gelegt, einen Fuß in seine Achsel gestemmt und kräftig gezogen. Sogar durch den Demerol-Nebel hatte Active
geglaubt, das Ploppen zu hören, mit dem die Gelenkkugel wieder in die Pfanne schlüpfte. Und das wars dann gewesen. Wie hatte der Arzt es genannt? Eingerenkt? Nein, repositioniert, das hatte er gesagt, repositioniert. Er hatte die ausgerenkte Schulter repositioniert. Die Schulter hatte eine Weile höllisch wehgetan und Active musste eine Schlinge tragen, die den Arm an den Brustkorb fesselte, sodass er ihn nicht bewegen konnte. Er hatte etliche Wochen der Saison verpasst, war dann wieder genesen und hatte das Ganze vergessen. Bis jetzt. Jetzt fiel ihm alles wieder ein. Er wälzte sich vergeblich auf dem Boden hin und her, um eine Lage zu finden, die weniger schmerzhaft war. Dabei fand er heraus, womit seine Hände gefesselt waren: Isolierband. Ebenso seine Füße, die zusätzlich mit einem Stück grüner Nylonschnur an die Wand gebunden zu sein schienen. Mit einem weiteren Stück davon waren seine Hände am Gürtel befestigt, was wahrscheinlich erklärte, warum er im Schießtraum nicht fähig gewesen war, den Arm zu bewegen. Von irgendwoher vernahm er ein Stöhnen und bemerkte, dass an der gegenüberliegenden Wand der Hütte ein metallenes Feldbett stand, auf dem jemand mit dem Gesicht zur Wand lag und Active den Rücken zukehrte. Diese Erkenntnis und der andauernde Schmerz in seiner Schulter lichteten den Nebel zusehends. Jetzt erinnerte er sich an seinen Sprung – nein, Sturz – aus Cowboy Deckers Super Cub. Er war gefallen, weil eine Bö das Flugzeug genau in dem Moment in die Höhe gerissen hatte, als er ausstieg. Er erinnerte sich daran, wie es ihn über die Kante gewirbelt hatte, er den Hang herunterstürzte und in den Weiden landete, das Schneemobil, das auf ihn zukam, seine Schüsse auf den Fahrer, der Aufprall…
Dann war es wohl der Fahrer, vermutlich Robert Kelly, der da drüben auf dem Feldbett stöhnte. Er musste ihn in die Hütte geschleppt und auf dem Boden verschnürt haben, bevor er sich zu einem Schläfchen hinlegte. Aber das ergab keinen Sinn. Robert Kelly versuchte, mit Natchiqs Überresten in der blauen Plane zu entkommen. Warum sollte er sich die Zeit nehmen, so etwas zu tun? Befand er sich am Ende doch noch in seinem Schießtraum? Active sah sich in der Hütte um. Es war ein ganz normales Wildniscamp. Ein Gebilde aus fünf mal zehn Zentimeter dicken Balken, vorne und an den Seiten Fenster, an Wand und Decke mit weißen Styroporblöcken isoliert. Schneeschuhe, Tierfallen und andere Ausrüstungsgegenstände hingen an Nägeln von den Balken. In einer Ecke bullerte ein Ölofen, ein Coleman-Kocher stand auf einer Sperrholztheke und zwei ausgedrehte Coleman-Benzinlaternen hingen von den Deckenbalken. Dazu kamen ein einzelnes Feldbett und ein batteriebetriebenes Radio auf einem Regal daneben. Anscheinend beherbergte Robert Kelly nicht oft Gäste. Ein wackliger Holztisch stand in der Mitte der Hütte, zwischen ihm und Robert Kellys Feldbett. Er musste unter dem Tisch, zwischen den Tischbeinen hindurchschauen, um Robert Kellys Rücken erkennen zu können. Als er versuchte, über den Rand des Tisches zu spähen, sah er, was darauf stand. Eine Rolle Isolierband, eine Dose Prince-Albert-Pfeifentabak, eine Flasche mit medizinisch aussehendem Inhalt und ein Knäuel weißer Tücher mit rotbraunen Flecken. Natürlich. Er musste Kelly getroffen haben, als er da draußen zwischen den Weiden die Smith & Wesson auf ihn abfeuerte. Die Flasche enthielt wahrscheinlich Jodtinktur und die Flecken auf den Lappen waren Blut. Kelly hatte sich nicht für ein Schläfchen hingelegt, bevor er abhaute. Er war verletzt. Lag vielleicht im Sterben.
Aber offenbar hatte er Nathan Active in die Hütte geschleift und auf dem Boden gefesselt, bevor er zusammenbrach. Warum? Warum ihn nicht einfach unter den Weiden liegen lassen, damit er erfror? Wenn man der Mörder von Victor Solomon und auf der Flucht war, warum dann nicht den Trooper abservieren, der gerade vom Himmel gefallen war und auf einen geschossen hatte? Active schüttelte den Kopf. Solange seine Schulter so schmerzte, konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Die Frage war, was nun? Er war gefesselt, aber wenn er genügend Zeit hatte, konnte er dagegen etwas unternehmen. Wenn er in der Hüfte abknickte und die Knie anzog, konnte er mit den Händen das Isolierband an seinen Fußknöcheln berühren. Ein paar Minuten, und er hätte sie befreit. Seine Hände wären zwar immer noch gefesselt, aber wenigstens wäre er beweglich und könnte etwas suchen, um sie loszumachen. Sein linker Arm war zwar unbrauchbar, aber sein rechter funktionierte noch, und außerdem war Kelly verletzt und geschwächt, wenn Active richtig beobachtet hatte. Er wälzte sich auf die rechte Seite, zog die Beine an und krümmte sich, um seine Hände in die Nähe des Klebebandes an seinen Füßen zu bringen. Die feurige Schlange ringelte sich in seiner Schulter zu einem Ball zusammen und er musste aufhören, sich wieder entspannen und die Augen schließen, bis der Schmerz ein wenig nachgelassen hatte. Als sein Puls sich beruhigt hatte, holte er tief Luft und schnellte nach seinen Füßen, wie ein fettleibiger Mann, der zu beweisen versucht, dass er immer noch seine Zehen berühren kann. Diesmal ergriff die Feuerschlange von seinem ganzen Sein Besitz und sein Körper verwandelte sich in eine einzige ausgerenkte Schulter. Ein Aufschrei versuchte, aus ihm herauszubrechen. Active biss die Zähne zusammen und ließ nur ein Ächzen entweichen. Aber dann breitete sich wieder
diese warme Blase des Wohlbefindens in seinem Gehirn aus und er spürte, wie er in den Schockzustand zurückglitt.
Diesmal gab es keinen Schießtraum. Active erwachte einfach und schlug die Augen auf, vom Schmerz in seiner Schulter wieder zu Bewusstsein gebracht und endlich völlig klar im Kopf. Der Fahrer des Schneemobils saß am Rand seiner Pritsche, einen alten Karabiner vom Kaliber .30-30 über die Knie gelegt, eine Pfeife zwischen den Zähnen. Er trug gefütterte Hosen mit Hosenträgern, ein kariertes, aufgeknöpftes Wollhemd und Karibu-Mukluks. Ein schwerer Parka mit grüner Kord-Außenseite lag auf dem Feldbett neben ihm. Active glaubte, einen silbernen Schimmer unter dem Wollhemd zu erkennen, aber er wusste nicht, was das war. »Versuchen Sie nicht zu fliehen«, sagte der Fahrer. Er repetierte und eine Patrone glitt in die Kammer des Karabiners. »Ich würde Sie erschießen.« »Werde ich nicht«, sagte Active. Er entspannte sich und streckte sich vorsichtig wieder aus. Das Brennen in seiner Schulter legte sich ein wenig. Er musterte den Fahrer. Schmales Gesicht, irgendwie eiförmig, mit ledriger, geschmeidig wirkender Mahagonihaut, von derselben alterslosen Vitalität wie Whyborn Sivula. Die Andeutung einer Adlernase. Silbrige Haare, Augenbrauen und Schnurrbart. Silberne Stoppeln auf Kinn und Wangen. Ein halb verheilter Schnitt über der Braue. Und ruhige, resignierte Augen. »Sie sind Robert Kelly«, sagte Active. Der Fahrer zog die Augenbrauen hoch. »Ee.« Sein gelassener Blick ruhte unverwandt auf Active. »Und Sie?« »Nathan Active. Ich bin Alaska State Trooper aus Chukchi.«
»Ich glaube, ich weiß, wer Sie sind«, sagte Kelly. »Ich hab Sie ein paar Mal auf Kay-Chuck gehört, wenn Sie über Ihre Festnahmen berichteten. Wie sind Sie hergekommen?« »In der Super Cub. Sie haben zu uns raufgesehen, als wir Sie überflogen haben.« Kelly hob die Augenbrauen. »Aber das Flugzeug ist nicht gelandet.« »Ich bin rausgesprungen.« »Ah?« Active nickte. »Ee.« »Ohne Fallschirm?« Active schüttelte den Kopf. »Ich, na ja, ich hatte ja keinen.« Kelly schwieg. Anscheinend musste er das erst einmal verdauen. Dann: »Ziemlich mieses Wetter heute. Hab hier noch nie ein Flugzeug gesehen, wenn es so schlecht war.« »Cowboy Decker war der Pilot. Kennen Sie ihn?« Kelly blinzelte ein Nein, dann spannte sich sein Gesicht. Er schloss die Augen, legte das Gewehr auf die Pritsche, schob die Hand unter das Wollhemd und befühlte seine rechte Seite. Jetzt konnte Active erkennen, dass der silberne Schimmer ein Streifen Panzerband war, den sich Kelly um den Leib geschlungen hatte. Er zog die Hand hervor, betrachtete sie und schien mit dem Ergebnis zufrieden. Als er aufblickte, merkte er, dass Active ihn ansah. »Kein Blut mehr. Ich denke, Sie haben mich nicht zu schlimm erwischt.« Er hob den rechten Arm und bewegte ihn vorsichtig in der Schulter, prüfte seine Beweglichkeit und zuckte leicht zusammen. »Warum haben Sie das getan?« »Ich dachte, Sie wollten mich mit dem Schneemobil über den Haufen fahren.« »Und ich dachte, Sie wollten auf mich schießen.«
Danach entstand ein langes Schweigen. Active vermutete, dass Kelly, wie er selbst auch, nicht wusste, was er als Nächstes sagen sollte. Endlich fragte Active: »Warum haben Sie mich hier hereingebracht? Warum nicht einfach flüchten?« »Ich war angeschossen, also musste ich zurück in die Hütte und nachsehen, wie schlimm es ist. Mich erst verarzten. Wenn ich Sie draußen gelassen hätte, wären Sie vielleicht aufgewacht, hätten Ihre Waffe im Schnee gefunden und nochmal versucht, auf mich zu schießen.« Kelly hielt inne und lächelte schwach. »Ich war angeschossen. Es tat zu weh, um Sie in den Schlitten zu legen. Hab Sie hinten mit einem Seil angebunden und zur Hütte geschleift.« Das Grinsen wurde breiter. »Bin aber ganz langsam gefahren.« »Meine Schulter fühlt sich nicht so an, als wären Sie langsam gefahren.« Kelly zuckte die Achseln, zog dann eine Grimasse, als hätte er sich die verletzte Seite gestoßen. »Ich glaube, Ihre Schulter war schon verletzt, bevor ich Sie gefesselt habe. Sie haben geschrien, wenn ich Sie an den Armen zog, den ganzen Weg bis zur Hütte.« Wieder Schweigen. Active wartete. Schließlich ergriff Kelly wieder das Wort. »Egal, ich war wohl auch neugierig, was ein State Trooper von mir will, der den langen Weg zu meinem Camp auf sich nimmt, aus einem Flugzeug springt und mich zu erschießen versucht.« Active forschte in Kellys Augen und fragte sich, wie er die Sache anpacken sollte. Kelly schien reden zu wollen. Das war nichts Ungewöhnliches, wenn jemand etwas Schreckliches getan hatte. Einen Mord begangen, zum Beispiel. Die Anspannung wurde zu groß.
»Erinnern Sie sich an einen Mann namens Whyborn Sivula?«, fragte Active schließlich. »Sie haben ihn vor langer Zeit hierher eingeladen.« Erst blickten die ruhigen Augen verständnislos. Dann weiteten sie sich, als die Erinnerung kam. »Ah. Whyborn Sivula. Er sagte Ihnen, er sagte Ihnen… Was sagte er Ihnen?« »Wollen Sie mir von Natchiq erzählen?« »Davon weiß ich nichts.« »Sie haben Whyborn Sivula von ihm erzählt.« Kelly holte tief Luft und blickte aus dem Fenster an der Vorderseite der Hütte. Da draußen sah es aus wie Milch, Milch gemischt mit wirbelnden Flocken. Erst jetzt wurde Active bewusst, wie laut der Wind um die Hütte heulte. Er klang wilder und heftiger als zu dem Zeitpunkt, als er die Hügelflanke herunter zwischen die Weiden gerollt war und auf Robert Kelly geschossen hatte. Vielleicht baute sich der Sturm wieder auf, wie Cowboy prophezeit hatte. Er fragte sich, ob der Pilot es bis nach Chukchi zurück schaffen konnte, wenn er auf dem Rückweg gegen so starken Gegenwind ankämpfen musste. Kellys Augen begegneten Actives Blick. »Whyborn hat Ihnen von Natchiq erzählt?« »Ein bisschen. Ich weiß, dass er Ihr Großvater war. Und ich weiß, dass er gegen die Angatquqs angekämpft und Prophezeiungen gemacht hat, bevor er nach Barrow aufbrach und nie wieder gesehen wurde.« »Dieser gottverdammte Saganiq hat ihn sehr wohl wiedergesehen!« Kelly hieb mit der Hand aufs Bett und zuckte vor Schmerz zusammen. »Er hat ihn getötet, hier oben.« Active hob nur die Augenbrauen. »Es kann nicht schaden, Ihnen den Rest der Geschichte zu erzählen. Damit Sie wissen, was dieser Saganiq für ein Mensch war.« Kelly seufzte und inspizierte wieder seine Verletzung.
»Als Natchiq nach Barrow aufbrach, war seine erste Frau schon gestorben, deshalb…« »Was ist mit ihr geschehen?« »Das hat mir mein Vater nie erzählt, nur, dass sie gestorben ist. Sie und Natchiq hatten keine eigenen Kinder, aber sie hatten zwei kleine Waisen adoptiert, ein Mädchen namens Enyana und einen Jungen namens Kiana. Zu der Zeit, als Natchiq beschloss, nach Norden zu ziehen, war Kiana schon erwachsen und mit einem Mädchen aus Point Hope verheiratet, wo er mit ihr und ihrer Familie lebte und versuchte, den Menschen dort von Natchiq und seiner Quelle der Weisheit zu berichten. Diese Enyana, sie war richtig hübsch, konnte gut nähen und kochen und lachte gerne, deshalb nahm Natchiq sie zu seiner zweiten Frau. Er und Enyana zogen nach Norden, als der Frühling anbrach. Sie hatten vielleicht drei, vier Hunde dabei, aber ich weiß nicht, ob als Schlittenhunde oder Packtiere. Natchiq sagte allen, dass er nach Barrow wolle und weiter nach Kanada. Kennen Sie den Eskimo-Namen von Barrow?« »Ich glaube nicht«, sagte Active. »Ukpeagvik. Das heißt ›Ort der Schneeeule‹. Seltsam, nicht wahr?« Active hob die Augenbrauen. »Die Schneeeule war Saganiqs Kikituk und Natchiq hat sie aufgegessen, habe ich sagen hören.« »So erzählt man sich, ja«, sagte Kelly. »Nun, Natchiq hatte jedenfalls beschlossen, mit Enyana nach Barrow hinaufzuziehen und sie machten sich auf den Weg. Danach hörte man lange Zeit nichts mehr von ihnen. Der Frühling war vorbei und der Sommer fing schon an, da entdeckte jemand Enyana in der Wildnis ein paar Meilen nördlich von Chukchi. Sie war halb tot, fast verhungert. Sie hatte zwei von ihren Hunden verloren, die anderen zwei aufgegessen und dann hat
sie die Oberteile ihrer Mukluks gegessen. Man hat sie nach Chukchi zurückgebracht und sie berichtete, dass sie und Natchiq oben in Taggaqvik waren und ihr Lager aufgeschlagen hatten, weil Natchiq auf Jagd gehen wollte.« »Taggaqvik? Wo ist das?« Kelly runzelte angesichts der Unterbrechung die Stirn. »Heißt ›Ort der Schatten‹. Heute sagen wir Schamanenpass dazu.« »In den alten Zeiten haben die Leute ihn Schattenpass genannt?« »Schattenpass, hm. Sie schlugen also da oben ihr Lager auf und Natchiq nahm zwei der Hunde und ging auf Jagd. Enyana wartete und wartete auf seine Rückkehr, aber er kam nicht. Schließlich machte sie sich auf die Suche, in der Richtung, in der er gegangen war. Lange Zeit suchte sie vergeblich, ohne etwas zu finden, bis sie endlich seine Schneeschuhe im Schnee stecken sah. Aber dann musste sie aufgeben, weil sie fast nichts mehr zu essen hatte und es so aussah, als würde ein Frühjahrssturm aus dem Norden aufziehen. Dann wird es zu gefährlich am Pass. Also machte sie sich auf den Rückweg, aber sie war schon halb tot, als sie kurz vor Chukchi gefunden wurde.« Kelly erhob sich vorsichtig vom Bett, humpelte zur Tür und blickte in den Sturm hinaus. »Dann hat es Enyana also nach Chukchi zurückgeschafft?«, fragte Active. Kelly drehte sich um, nahm den Pfeifentabak vom Tisch und ließ sich vorsichtig wieder auf seiner Pritsche nieder. »Ja, aber sie hatte es sehr schwer.« Kelly verstummte, während er seine Pfeife stopfte und anzündete, dann fuhr er fort: »Sie war ein Waisenmädchen, hatte keine Familie außer ihrem Bruder Kiana, und der war weit weg in Point Hope. Und nun, da Natchiq fort war, vielleicht tot, haben sich die Leute in Chukchi nicht getraut, ihr zu helfen.«
»Wovor hatten sie Angst?« »Vor diesem Saganiq«, sagte Kelly unwirsch. »Mittlerweile stolzierte er herum wie ein Schneehuhn und erzählte allen, dass Natchiqs Magie nichts tauge. Saganiq sagte, sein Kikituk sei verschwunden und er glaube, seine kleine Schneeeule sei zum Schattenpass hinaufgeflogen und habe sich in Natchiqs Mund gesetzt, um seine Seele aufzufressen. Deshalb wollte keiner Enyana helfen. Sie glaubten, Saganiq hätte seine Macht zurückbekommen.« Kelly verfiel in ein brütendes Schweigen. »Ist Enyana nach Point Hope gegangen, um bei ihrem Bruder zu leben?«, fragte Active schließlich. »Nein, sie war zu schwach für die Reise. Sie schickte eine Nachricht, aber in diesen Zeiten dauerte es lange, bis Antwort kam. Damals gab es noch keine Telefone und Schneemobile. Deshalb hat dieser Saganiq sie zu einer seiner Frauen genommen.« Kelly schnaubte vor Abscheu. »Es gefiel ihr nicht, denn sie glaubte, Saganiq oder vielleicht sein KikitukGeist, die Schneeeule, hätten Natchiq getötet. Aber sie hatte keine Wahl und Saganiq war wieder mächtig geworden. Also wurde sie seine Frau, obwohl sie da schon wusste, dass sie Natchiqs Kind unter dem Herzen trug.« »Enyana war schwanger mit Ihrem Vater?« Kelly hob die Augenbrauen. »Ja, mit meinem Vater. Aber er hätte fast nicht überlebt. Dieser Saganiq, er war immer schlecht zu Enyana, hat sie oft geschlagen, besonders, nachdem er wusste, dass sie Natchiqs Kind trug. Er gab ihr fast nichts zu essen, bis es schließlich Zeit war, dass das Baby kam und sie gezwungen war, ganz alleine wegzugehen, wie alle Frauen es seit Natchiqs Verschwinden wieder tun mussten.« »Sie hatte niemanden, der ihr half?« Kelly schüttelte den Kopf. »Erst, als ihr Bruder Kiana endlich davon erfuhr und von Point Hope herunterkam. Er glaubte
noch an Natchiqs Lehren, und das Tabu und Saganiq waren ihm gleichgültig. Aber Enyana war schon im Schneehaus. Sie war so schwach von Saganiqs Hungernahrung und Schlägen, dass sie bei der Geburt des Kindes starb und Kiana es ganz alleine aufziehen musste. Kiana, das war der Onkel meines Vaters. Und mein Vater war Enyanas Kind.« Actives eine Hüfte wurde langsam kalt vom Liegen auf dem Hüttenboden. Er verlagerte sein Gewicht auf die andere Seite. »Was ist mit Enyanas Leiche geschehen?« »Ihr Bruder brachte sie zum Schamanenpass hinauf, ließ sie in der Tundra zurück, wie es Brauch war, sodass Tiere und das Wetter sie wieder eins mit der Erde werden ließen. Aber er baute einen Inuksuk, einen Steinmann, genau da, wo diese Hütte jetzt steht. Es war der erste Inuksuk, den unsere Familie am Schamanenpass errichtet hat, und er steht immer noch da draußen.« »Vor dieser Hütte?« Kelly deutete zur Rückwand. »Mm, auf dem Hügel da hinten. Dann beschloss Kiana, in Chukchi zu bleiben, damit die Menschen Natchiq nicht vergessen sollten und seine Quelle der Weisheit. Aber es war sehr schwer, denn Saganiq und die anderen Angatquqs waren wieder an der Macht. Sie haben allen unter Drohungen verboten, über Natchiq zu sprechen, damit er in Vergessenheit geriet. Natürlich konnte ihn keiner, der ihn gekannt hatte, vergessen, aber sie haben nicht mehr über ihn gesprochen, und deshalb weiß heute fast niemand mehr, wer er gewesen ist. Seine Geschichte ist mit ihm gestorben.« »Wie kam es, dass Saganiq der Kirche des weißen Mannes beigetreten ist?« »Nicht lange nach der Geburt meines Vaters kamen weiße Menschen ins Land«, sagte Kelly. »Die Missionare tauchten auf und fingen an, fast dasselbe zu erzählen, was Natchiq
gesagt hatte. Erst versuchten Saganiq und die anderen Angatquqs, die Missionare zu bekämpfen und die Leute bei der alten Lebensart zu halten, aber am Ende begriff Saganiq, dass er nicht gewinnen konnte. Da trat er in die Naluaqmiut-Kirche ein, wählte seinen Namen nach diesem Kerl, diesem König Salomo aus der Bibel und tat so, als wäre er ein Christ. Und dieser Kerl behauptete, mein Großvater Natchiq sei ein falscher Prophet gewesen! Ha! Er stand dem Christentum viel näher als dieser Saganiq es jemals tat! Aber für meinen Vater Joshua wurde das Leben nicht leichter…« »Er hieß Joshua?« »Genau. Als die Missionare kamen, haben sie meinen Vater so genannt. Joshua Kelly. Aber er und sein Onkel Kiana, der ihn aufzog, hatten es weiterhin schwer. Alle hatten wieder Angst vor Saganiq und wollten so wenig wie möglich mit meinem Vater und auch seinem Onkel zu tun haben.« Kelly trat ans Fenster der Hütte und spähte hinaus. »Schließlich mussten mein Vater und sein Onkel Chukchi verlassen. Sie sind nach Caribou Creek gezogen, wo Enyana und Kiana ursprünglich herstammten«, sagte er. »Dort war es besser, aber mein Vater hatte es trotzdem nicht leicht. Eine Menge Leute hatten gehört, wie seine Mutter und sein Vater gestorben waren, wussten von Saganiqs Zorn, und sie hatten ziemliche Angst vor den Angatquqs aus Chukchi. Mein Vater lebte von der Jagd und vom Fischfang, wie er es von seinem Onkel Kiana gelernt hatte, aber lange Zeit wollte niemand etwas mit ihm zu tun haben, wegen seiner Eltern. Er war schon über vierzig, als er meine Mutter heiratete, und ein paar Jahre später wurde ich geboren.« Kelly verfiel wieder in tiefes, wortloses Sinnen und Active dachte über das Gehörte nach. Es gab so viele Geschichten von Tod und Verlust und Heimatlosigkeit in der Arktis. Vielleicht erklärte sich daraus der fröhliche Fatalismus der Inupiat,
jedenfalls derjenigen, die nicht dem Suff verfielen oder Selbstmord begingen. Vielleicht hatte man einfach nur die Wahl, Witze zu reißen oder verrückt zu werden. Kelly griff den Erzählfaden wieder auf. »Mein Vater nahm mich oft mit zum Schamanenpass hinauf, als ich noch klein war, erzählte von Saganiq und Natchiq und Enyana und versuchte, das Versteck von Natchiqs Leiche zu finden. Kiana hatte nämlich gemeint, dass Saganiq Natchiq getötet und seine Leiche irgendwo an diesem Pass versteckt hatte, damit er nicht zur Natur zurückkehren konnte, wie es der Lauf der Dinge ist.« Kelly seufzte. »Mein Vater starb, als ich fünfzehn war. Danach wollte ich nichts mehr von den alten Geschichten hören und kam nicht mehr hier herauf, bis ich erwachsen war und selber Kinder hatte. Dann fingen die Träume vom Schamanenpass an und kehrten immer wieder. Deshalb kam ich so oft wie möglich wieder her, um nach Natchiq zu suchen, und stellte überall Inuksuks auf, wo ich schon mal gewesen war.« Active verlagerte sein Gewicht wieder auf die andere Hüfte und wartete ab. Statt seine Geschichte weiterzuerzählen, stand Kelly auf und stapfte in seinen Mukluks zur Tür. Ein wenig hinkend, um seine rechte Seite zu schonen. Er öffnete die Tür, klopfte seine Pfeife am Türrahmen aus und starrte in den Schneesturm hinaus. An Kelly vorbei konnte Active dessen Hundeschlitten sehen, der an das schwarze Arctic Cat gekoppelt war. Er war fahrbereit gepackt, und ganz oben auf der Ladung lag immer noch das blau eingewickelte Bündel, das er aus der Luft gesehen hatte. Das Gespann war bereits mit einer dünnen Lage Schnee bedeckt. Active fragte sich, wie lange er bewusstlos gewesen war. Kelly knallte die Tür zu, steckte die Pfeife in die Tasche und humpelte kopfschüttelnd zur Pritsche zurück. »Zu stürmisch, fürchte ich«, sagte er wie zu sich selbst und ließ sich wieder
auf der Matratze nieder. »Man kann nicht einmal aus der Schlucht hinaussehen.« »Ist das Ihr Großvater auf dem Schlitten?« »Spielt keine Rolle«, sagte Kelly. »Warum ist er immer noch hier? Warum haben Sie ihn nicht gleich nach Kanada geschafft, nachdem Sie ihn aus dem Museum geholt hatten? Dorthin wollte Ihr Großvater doch, oder?« »Spielt keine Rolle.« Active blickte sich in der Hütte um und dabei fiel ihm wieder das Radio neben Kellys Feldbett auf. »Sie haben auf KayChuck davon gehört, nicht wahr? Sie waren ganz alleine hier oben am Schamanenpass, als Sie auf Kay-Chuck hörten, dass die Naluaqmiut-Geologen Onkelchen Frost vor langer Zeit am Pass entdeckt und nach Washington mitgenommen hatten, und dass Victor Solomon ihn nach Chukchi zurückbringen wollte.« »Gott verdamme diesen Victor!« Kelly zog die Pfeife aus der Tasche und stieß damit Löcher in die Luft, während er sprach. »Ständig hat er darüber geredet, Onkelchen Frost in diesen Glaskasten zu stecken! Genau wie sein Großvater, er wollte meine Familie verhöhnen.« »Ich kann Ihre Gefühle verstehen. Also haben Sie beschlossen, nach Chukchi zu gehen und Onkelchen Frost aus dem Museum zu holen, um festzustellen, ob er wirklich Natchiq war. Und dann haben Sie Saganiqs Harpune und sein Amulett bei ihm in der Kiste gefunden und da wussten Sie Bescheid.« Kelly blieb stumm und hing seinen Gedanken nach. Irgendetwas versuchte, aus Actives Unterbewusstsein an die Oberfläche zu kommen. Dann fielen ihm die Aufzeichnungen der Henderson-Gruppe wieder ein. »Diese Naluaqmiut, die Ihren Großvater gefunden haben…« »Hm?«
»Wussten Sie, dass sie Saganiqs Amulett in seinem Mund entdeckt haben?« »Saganiq, dieses Stück Anaq! Jetzt verstehe ich, was er gemeint hat, wenn er sagte, dass sein Kikituk in Natchiqs Mund geflogen sei und seine Seele aufgegessen habe.« Kelly machte eine Pause und lächelte schwach. »Vielleicht hat Saganiq nicht vergessen können, wie mein Großvater diese Eule gegessen hat, um ihn zu verspotten.« Kelly lachte auf. Active schauderte wieder bei dem Gedanken an Natchiqs geniales Talent für psychologisches Theater. Den Inupiat der alten Zeiten hatte Natchiq – die bescheidene kleine Robbe – Nahrung und Kleidung und Öl für die Steinlampen geliefert. Sie war der Lebensbringer an sich. Natchiq hatte sich ohne Magie gegen Saganiq gestellt, nur mit Worten, und er hatte einen dramatischen Höhepunkt gesetzt, indem er eine Eule verspeiste, die Botin des Todes und Kikituk des großen Schamanen. Kelly blickte auf den am Boden liegenden Active herunter. »Sie sind doch Trooper, Sie kennen die Naluaqmiut-Gesetze über Diebstahl.« Active zog die Augenbrauen hoch. »Nachdem mein Großvater nicht mehr im Museum war, hörte ich Victor Solomon noch einmal auf Kay-Chuck. Er sagte, er kenne den Täter und er werde Onkelchen Frost finden und ihn wieder ins Museum bringen und die Polizei werde den Dieb ins Gefängnis stecken.« Kelly verstummte und sein Gesicht verdüsterte sich. »Er hält mich für einen Dieb? Wie kann man seinen eigenen Großvater stehlen? Sie sind State Trooper. Sie kennen das Gesetz der Naluaqmiut. Wie kann man seinen eigenen Großvater stehlen?« Kelly starrte Active unverwandt an und wartete auf eine Antwort.
»Er hat nicht Sie gemeint«, sagte Active. »Er hat unserem Polizeichef in Chukchi gesagt, er solle Calvin Maiyumerak wegen des Museumsraubs verhaften.« Kelly wirkte ein paar Sekunden lang verwirrt, dann nickte er. »Ich habe von ihm gehört. Er ist der, der Victor Solomon daran zu hindern versuchte, meinen Großvater auszustellen?« Active hob die Augenbrauen. »Wie auch immer, sogar ein Naluaqmiut-Gericht hätte Natchiq wahrscheinlich Ihnen zugesprochen anstatt Victors Museum, wenn Sie beweisen konnten, dass er Ihr Großvater ist.« Kelly schwieg lange Zeit. »Sie meinen, ich…« Er hielt inne und schüttelte den Kopf. »Daran habe ich nie gedacht.« »Nichts von alldem hätte passieren müssen. Sie brauchten Ihren Großvater nicht zu stehlen. Und Sie brauchten Victor Solomon nicht zu töten. Sie haben ihn doch getötet, oder?« Kelly schwieg mit zusammengepressten Kiefern. »Aber warum einen Tag warten, um ihn zu töten? Das verstehe ich nicht. Warum nicht einfach losfahren und nicht mehr zurückschauen, bis Sie in Kanada waren?« Kelly presste seine Nasenwurzel zwischen Daumen und Zeigefinger zusammen und schüttelte den Kopf. »Stattdessen haben Sie diesen zusätzlichen Tag vergeudet und seitdem sitzen Sie hier oben im Sturm in der Falle und können nicht mehr weg. Und jetzt bin ich aufgetaucht. Aber warum haben Sie gewartet?« Kellys Stimme klang heiter und sinnend, als er wieder sprach. »Victor Solomon zu töten – Sie denken, das ist schlimmer, als meinen Großvater in ein Museum zu stecken?« »So sagt es das Gesetz.« »Naluaqmiut-Gesetz.« Active zuckte die Achseln nach Art des weißen Mannes, ein halbes Achselzucken mit der gesunden Schulter. »Warum haben Sie einen Tag lang gewartet?«, wiederholte er.
Kelly schüttelte den Kopf, dann erhob er sich und humpelte zur Tür. Schnee wirbelte herein, als er sie öffnete. Die Flocken schwebten zu Boden und legten sich auf Actives Gesicht. Draußen war es trüber und weißer denn je und der Wind heulte immer noch durch den Canyon und um die Hütte herum. Active versuchte zu schätzen, wie spät es war. Er und Cowboy hatten den Schamanenpass gegen acht oder neun Uhr vormittags erreicht, nahm er an, aber wie lange war er ohne Bewusstsein gewesen? Er wusste es nicht, doch seine innere Uhr sagte ihm, dass es jetzt gegen Mittag sein musste. Kelly schüttelte den Kopf, schloss die Tür und murmelte: »Arii, geht nicht.« Er wandte sich um und setzte sich wieder, aber diesmal an den Tisch in der Mitte der Hütte. Er sah auf den gefesselten Active auf dem Fußboden herab. »Ihr Pilot, er kommt zurück, wenn das Wetter wieder besser ist?« Active hob die Augenbrauen. »Mit mehr Troopers.« Kelly befühlte seine verletzte Seite, betrachtete die Finger und seufzte. »Dann gehe ich lieber.« »Sie können bei diesem Wetter nicht gehen«, sagte Active. »Und Sie sind verletzt.« »Bleiben kann ich auch nicht.« Kelly stand auf und nahm den Karabiner von der Pritsche. Er legte die Mündung an Actives Stirn und sah mit seinen ruhigen, resignierten Augen auf ihn herab. »Und ich kann nicht zulassen, dass Sie von mir erzählen.« Active versuchte, etwas zu sagen, aber seine Zunge war wie gelähmt und geschwollen, sodass er keine Luft bekam. Kelly zog den Hammer des Karabiners zurück. »Sie wollen doch keinen Trooper töten«, brachte Active schließlich krächzend heraus. Kelly zuckte mit einer Achsel. »Victor Solomon wollte ich auch nicht töten.«
»Hören Sie«, sagte Active verzweifelt, »wenn Sie mich umbringen, werden die anderen gnadenlos hinter Ihnen her sein und Sie zur Strecke bringen.« Kelly legte den Kopf leicht schief und ließ Actives Blick nicht los. »Aber wenn Sie mich am Leben lassen, können sie Sie nicht verfolgen. Sie müssen mich erst ins Krankenhaus bringen, wegen meiner Schulter.« Kelly entspannte den Hammer. »Linke Seite, oder?« Active nickte und Kelly stieß ihm die Mündung des Karabiners gegen die Schulter. Active zuckte zusammen. Kelly drehte das Gewehr um, packte es am Lauf und hob es so hoch, wie seine Verletzung es zuließ. Die ruhigen Augen waren das Letzte, was Active wahrnahm, bevor der Kolben des Karabiners auf sein linkes Schlüsselbein herunterkrachte.
Wieder wusste Active nicht, wie lange er bewusstlos gewesen war, aber dieses Mal kam er schnell und vollständig zu sich, aus der Betäubung gerissen vom altbekannten, stechenden Schmerz in der Schulter, der schlimmer wütete als je zuvor, und von einem neu hinzugekommenen im Schlüsselbein. Gemessen am Heulen des Windes und nach allem, was er durch das Fenster über sich vom Himmel sehen konnte, würde Cowboy frühestens am nächsten Tag mit dem Flugzeug zurückkommen können. Vielleicht auch erst eine ganze Woche später, das war in der Arktis alles andere als ausgeschlossen. Wie lange konnte er hier auf dem Boden liegend überleben? Er fing bereits an, vor Kälte zu zittern. Robert Kellys Ölofen bullerte zwar noch in der Ecke, aber die Wärme in so einer Hütte verteilte sich in ganz unterschiedlich heißen Schichten: Während man in Kopfhöhe fast erstickte, konnte das Wasser in
einer Schüssel auf dem Boden gefrieren. Und in einer Woche würde das Öl im Ofen wahrscheinlich längst verbraucht sein. Er bewegte die Hände hin und her. Das verschlimmerte lediglich das Brennen in seiner Schulter, lockerte aber keineswegs das Klebeband an seinen Handgelenken. Irgendwo in seinem Gürtel steckte ein Leatherman-Universalwerkzeug, aber außer Reichweite seiner Finger. Dann, plötzlich, hatte er eine Idee. Langsam und sehr behutsam wälzte er sich auf die rechte Seite – seine gute Seite – und krümmte den Rücken so weit, bis er das Gesicht an die Hände heranbrachte. Er begann zu nagen.
20 Die nächsten zwei Tage verbrachte er damit, seine lädierte Schulter zu pflegen, dem Wind und Kay-Chuck zu lauschen und sich zu wünschen, Robert Kelly hätte etwas anderes zum Lesen dagehabt: Jagd- und Fallenstellerregeln für Alaska und eine drei Jahre alte Ausgabe der Anchorage Daily News. Es gab keine andere Möglichkeit, als das Ende des Sturms abzuwarten. Beim Abtasten seiner brennenden Schulter bemerkte er erschreckend viele Knoten und Höcker an Stellen, wo sie nicht hingehörten, und machte eine provisorische Schlinge, um den Arm ruhig zu stellen. Er trank Tee und aß etwas Zwieback mit Erdnussbutter dazu, die er in den Regalen entdeckt hatte. Als er in den Schnee hinausging, um sich zu erleichtern, fand er in einer Kühlbox, die an die Wand genagelt war, ein wenig getrockneten Fisch. Er fügte den Fisch seinem Speiseplan hinzu und stellte fest, dass er ihn innerlich erwärmte, wie ein Heizkörper im Bauch. Es kam ihm so vor, als ob sich sogar seine Schulter danach ein klein wenig besser anfühlte. Am dritten Tag schlug er die Augen auf und fragte sich, was ihn wohl geweckt hatte. Dann hörte er es wieder: das Grollen eines Flugzeugmotors, so weit entfernt, dass er das Geräusch nur in schwachen Schüben wahrnahm. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass es sich um den einzigen Laut handelte. Der Wind war verstummt und die Schachtel Sailor-Boy-Zwieback auf dem Tisch schien in einem Strahl gelben Sonnenlichts von innen heraus zu leuchten. Die verletzte Schulter schonend, rollte er sich aus dem Bett, öffnete die Tür und trat in eine blau und weiß emaillierte Landschaft von absoluter Reglosigkeit hinaus. Die Sonne
schien ihm direkt ins Gesicht, so hell, dass er ein Auge zu einem Schlitz verengen und das andere ganz schließen musste, um den Canyon entlangzublicken. Noch kein Flugzeug in Sicht, aber das Motorengeräusch schien näher zu kommen. Plötzlich standen ihm die Haare im Nacken zu Berge. Er blieb stocksteif stehen, hielt den Atem an und lauschte angestrengt. Nichts, außer dem leisen, entfernten Brummen des Flugzeugs und dem Gefühl, dass jemand ganz in der Nähe war. Er ließ den Blick durch die Schlucht schweifen. Fast ohne sein Zutun blieb er an einem eigenartig aussehenden Stapel schneebedeckter Steine am Hügel gleich stromaufwärts von der Hütte hängen. Er ging darauf zu, pflügte sich bergan durch den Schnee und hangelte sich mit der rechten Hand an den Weiden entlang. Der Steinhügel war vielleicht einen Meter hoch, ein Stapel flacher Felsstücke mit zwei längeren, die knapp unter der Spitze wie Arme an den Seiten herausragten. Und darauf thronte ein runder Stein wie ein Kopf. Er sah so aus, als stünde er schon sehr lange dort. Wo die mit weißen Flechten übersäten Steine nicht von Schnee bedeckt waren, sah man, dass Gras und Unkraut aus den Spalten wucherten. Active arbeitete sich zur Rückseite von Kiana Kellys allererstem Inuksuk vor, um in dieselbe Richtung blicken zu können, wie der Steinmann: durch die Schlucht hinaus ins Tal des Angatquq, einem weiten Feld von Weiß, das sich bis zu den sanft geschwungenen Hügeln jenseits des Flusses hinzog. Immer noch keine Spur von einem Flugzeug und jetzt auch kein Geräusch mehr. Vielleicht hatte er es sich nur eingebildet, oder es war ein Buschpilot auf dem Weg durch den Schamanenpass zum Arctic Slope gewesen. Er ging den Hügel hinunter, war schon beinahe wieder bei der Hütte angelangt, als er das Flugzeug erneut hörte, laut und nah diesmal. Er beschattete die Augen mit der Hand und
blinzelte gegen die Sonne, während er den Canyon entlangblickte. Nichts, nur seine Augen fingen in dem grellen Licht an zu tränen. Dann kreuzte ein großes, dickes, rot-weißes Ganzmetallflugzeug die Mündung der Schlucht, unter dessen Rumpf ein kombiniertes Rad-Skier-Fahrwerk wie Entenfüße herabbaumelte. Active erkannte die Lienhofer Beaver, die Maschine, die er genommen hätte, wenn Carnabys Geiz nicht die Oberhand gewonnen und er zunächst auf einer Ein-MannErkundungstour mit der Super Cub bestanden hätte. Er winkte wie wild mit dem rechten Arm und sah die Beaver zweimal mit den Flügeln wackeln, bevor sie hinter der rechten Wand der Schlucht verschwand. Während das Brummen leiser und dann wieder lauter wurde, schnallte Active sich ein Paar Schneeschuhe an, die er an der Hüttenwand hängend gefunden hatte, und machte sich auf den Weg stromabwärts. Dabei erklomm er nach und nach den Rücken, der den Bach begleitete. Die Beaver flog direkt über ihn hinweg und er winkte wieder. Das Flugzeug drehte eine weitere Schleife über der Fluss-Senke und kam dann geradewegs herunter, die Klappen zur Landung auf dem Hügelrücken ausgefahren. Active wartete, bis die Beaver auf dem Schnee zum Stillstand geholpert war und Cowboy den Sternmotor abstellte. Die Türen klappten auf und heraus kletterten Alan Long von der Polizei von Chukchi und Dickie Nelson, der Trooper, den Active schon für den ersten Flug zum Schamanenpass gerne rekrutiert hätte. Und Carnaby, der die anderen um einen halben Kopf überragte. Der Trooper-Captain streckte ihm die Hand entgegen. Active ergriff sie und Carnaby musterte ihn von Kopf bis Fuß: »Sind Sie wirklich aus Cowboys Super Cub gesprungen?«
Kein »Hallo« oder »Schön, dass Sie es geschafft haben«, sondern »Sind Sie wirklich aus Cowboys Super Cub gesprungen?« Active zögerte, aber er sah keine Möglichkeit, dem Thema auszuweichen. »So ist es.« »Haben Sie sich dabei die Schulter verletzt?« Active schüttelte den Kopf. »Das war Robert Kelly, als er mich mit dem Schneemobil überfahren hat. Dann hat er mir nochmal mit dem Gewehrkolben eins übergezogen, während ich gefesselt auf dem Boden lag.« »Während Sie gefesselt waren?«, fragte Carnaby. »Was für einen Grund hatte er dafür?« »Es war die Alternative dazu, mich umzubringen«, sagte Active. »Ich habe ihm eingeredet, dass ihr Jungs wie Bluthunde hinter ihm her sein würdet, wenn er mich umbringt. Aber wenn ich nur verletzt wäre, müsstet ihr mich erst zur Reparatur nach Chukchi zurückbringen, sodass er einen Vorsprung hätte. Vermutlich wollte er einfach sichergehen, dass ich tatsächlich verletzt bin. Hätten Sie vielleicht eine Sonnenbrille für mich? Bei dem Licht bin ich jetzt schon halb schneeblind.« Carnaby förderte eine verspiegelte Brille aus seinem Parka zu Tage und reichte sie Active, der sie mit einem innerlichen Seufzer der Erleichterung aufsetzte. »Wie gehts denn der Schulter?«, fragte Carnaby. Active brachte die rechte Hälfte eines Achselzuckens zu Stande. »Tut weh. Geschwollen. Höcker an seltsamen Stellen. Ausgerenkt, würde ich sagen. Wahrscheinlich müsste man sich wirklich bald darum kümmern.« »Wie haben eine Erste-Hilfe-Ausrüstung dabei und Alan hier ist Sanitäter. Deshalb habe ich ihn mitgebracht. Deshalb, und weil er den Pass kennt. Er war hier schon auf der Jagd.«
Active runzelte angespannt die Stirn, lehnte eine Untersuchung durch Long aber dankend ab. »Ich glaube nicht, dass ich aus dieser Schlinge und Hemd und Weste herauskomme, ohne ohnmächtig zu werden. Und dann müsste ich das meiste davon wieder anziehen, wobei ich wahrscheinlich wieder umkippen würde, also lassen wirs lieber bleiben.« »Puh«, sagte Carnaby. »Immer noch unter Schock, was?« »Ich denke schon, ja«, sagte Active. »Ich glaube, wir haben etwas Kodein und Tylenol dabei«, sagte Long und schwang seinen Rucksack von den Schultern. »Wollen Sie was davon?« Active nickte und schluckte die beiden Tabletten, die Long ihm reichte. »Sind Sie wirklich aus Cowboys Flugzeug gesprungen?«, fragte Dickie Nelson, nachdem er vom Austreten hinter der Beaver zurückgekommen war. Dickie hatte seine gesamte Laufbahn bei den Troopers in ländlichen Gegenden abgerissen. Er war klein, trug Schnurrbart und war berühmt für sein üppiges, lockiges Haupthaar, das nie länger oder grauer zu werden schien – ein steter Anlass für heimlichen Spott. Nach Actives Einschätzung war er nur ein mittelmäßiger Polizist, aber ein erklärter Liebhaber von Buschlegenden. Zweifellos witterte er hier einen Klassiker. Carnaby funkelte ihn an. »Ersparen Sie uns das, Dickie.« Carnaby verlagerte das Funkeln auf Active. »Fühlen Sie sich in der Lage, uns Bericht zu erstatten?« Active nickte und gab ihnen eine Kurzversion der Geschehnisse der vergangenen Tage. »Dann war es also kein richtiges Geständnis?«, fragte Carnaby, als Active zum Schluss kam. »Kommen Sie schon«, sagte Active. »Alles passt zusammen. Wer sollte es sonst gewesen sein?«
»Aber Sie haben Onkelchen Frost nicht wirklich auf seinem Schlitten gesehen, richtig?« »Na ja, eigentlich nicht.« Active zuckte mit der einen Achsel. »Nur ein blaues Bündel von der richtigen Größe.« »Und diese Lücke von einem Tag macht mir immer noch Sorgen. Wo war er und was hat er in diesen vierundzwanzig Stunden getan? Und warum hätte er zurückkommen sollen, wo er doch seinen Großvater schon hatte?« Carnaby verstummte und sein besorgter Ausdruck vertiefte sich. »Scheiße! Was, wenn der Museumsdieb und Victor Solomons Mörder nicht ein und dieselbe Person sind? Vielleicht hat Kelly lediglich seinen Großvater gestohlen.« »Na schön, es gibt noch ein paar lose Fäden«, sagte Active. Ihm war nicht wohl in seiner Haut. Carnaby hatte dasselbe Argument gebracht wie Whyborn Sivula. »Das gebe ich ja zu. Aber er hat mich niedergeschlagen und ist geflohen. Zumindest hat er sich seiner Verhaftung entzogen und einen Beamten tätlich angegriffen.« Carnaby erwog den Einwand, dann nickte er. »Das rechtfertigt natürlich eine Verhaftung, schätze ich. Leider eine kostspielige.« Er warf einen Blick auf Cowboy in der Beaver und schüttelte den Kopf, bevor er fortfuhr. »Sie glauben also, Kelly ist unterwegs nach Kanada?« »Das nehme ich an. Dahin wollte Natchiq, als Saganiq ihn ermordet hat.« »Höllische Strecke für ein Schneemobil.« »Kelly kennt das Land«, sagte Active. »Und nach der Ladung auf seinem Schlitten zu schließen, hatte er vermutlich genügend Sprit, um sein Ziel zu erreichen, wo immer das ist.« »Und er ist mit der Sippe vom Caribou Creek verschwägert?« Active nickte. »Tja, die haben alle Verwandte auf der kanadischen Seite. Kelly könnte wahrscheinlich dort Unterschlupf finden.«
Carnaby nagte an der Unterlippe und blickte den Abhang zum Angatquq River hinab. »Egal, als Erstes sollten wir Sie nach Chukchi zurückbringen und Ihre Schulter verarzten lassen. Cowboy, Alan, Dickie und ich können anschließend zurückkommen, um Kellys Spur aufzunehmen.« »Eine ziemlich kalte Spur«, sagte Active. »Es gab zwei Tage voller Wind und Schnee nach seiner Abfahrt.« Carnaby nickte. »Und die Sonne und warmes Wetter werden auch keine große Hilfe sein. Alles wird mehr oder weniger verharschen.« »Dann lassen Sie uns jetzt gleich suchen.« Carnaby kaute wieder auf seiner Lippe und betrachtete Active aus zusammengekniffenen Augen. »Mit Ihrer Schulter?« »Das Kodein fängt an zu wirken, glaube ich. Ein paar Stunden länger werden auch keinen großen Unterschied machen«, sagte Active. »Aber falls es zu einer Schießerei kommt, seid ihr Jungs auf euch allein gestellt.« Carnaby grinste beifällig. »Ich hatte gehofft, dass Sie es vielleicht so sehen würden.« Sie stiegen in die Beaver. Nathan nahm den Platz neben Cowboy ein, weil er der Einzige war, der Robert Kelly und sein Schneemobil kannte. Cowboy sah Carnaby fragend an. »Nathan meint, einen kurzen Flug durch den Pass kann er noch verkraften. Wir wollen sehen, ob wir Robert Kellys Spur aufnehmen können«, sagte Carnaby. »Ist gut«, meinte Cowboy. Er drückte den Starter und der alte Sternmotor sprang an, schnaubte und rülpste blauen Rauch, bis er sich auf ein kehliges Grollen eingependelt hatte. Cowboy zog ein Headset zwischen den Vordersitzen hervor und Active streifte es über.
Dann schob der Pilot den Gashebel leicht nach vorne, der Sternmotor brüllte auf und Cowboy drückte die Beaver in einen holprigen Halbkreis, bis die Nase den Hügelrücken entlang bergab zeigte. Er schob den Hebel auf Vollgas und schon nach wenigen Sekunden zog er das Steuerhorn zurück und wuchtete das Flugzeug in die Höhe. Etwa hundert, hundertfünfzig Meter über der Tundra ging er in den Horizontalflug über und folgte Robert Kellys Bach zum Angatquq River. »Ist was zu sehen?«, fragte Cowboy über das Headset. Active musterte das Gelände unter dem Flugzeug. Der Wind hatte ganze Arbeit geleistet. Lange, wellenförmige Schneedünen, Sastrugas genannt, wanden sich über die Tundra und ließen nicht erkennen, ob hier jemals ein Schneemobil mit Hundeschlitten durchgekommen war. »Ich kann nichts erkennen«, sagte er. »Einer von euch? Alan? Dickie? Chef?« Durch die Sprechanlage erklang ein Chor von Verneinungen. »Wie wäre es, wenn wir einfach ein Stück in den Pass hineinfliegen?«, fragte Carnaby. »Wahrscheinlich ist er in die Richtung gefahren, oder?« »Es ist der einzige Landweg durch die Berge weit und breit, soviel ich weiß«, sagte Cowboy. »Wir haben noch Benzin für fünfundvierzig Minuten, maximal.« Der Pilot brachte die Beaver auf eine Höhe von zweihundertfünfzig Metern, was, wie er erklärte, die ideale Suchflughöhe war. Er flog hügelab, bis sie über dem Angatquq waren, dann rollte er in eine Linkskurve und nahm direkten Kurs auf den Pass. Das Flugzeug hing in der Luft wie eine Forelle in einem klaren Teich, während die weiße Landschaft darunter wegglitt und eine blaue Kuppel sich über ihnen wölbte. Je weiter sie den Angatquq stromaufwärts kamen, desto dünner wurden die Büschel von Zwergweiden und Fichten, die aus den Sastrugas
herausragten, und der Weg zum Pass verwandelte sich in ein breites Tal aus reinstem, sanft geschwungenem Weiß. Aber in der Nähe der Passhöhe drängten die Berge von beiden Seiten näher und bald erkannte Active eine zerklüftete Schlucht mit Eiswänden unter dem rechten Flügel. »Die Angatquq-Schlucht«, sagte Cowboy über die Sprechanlage. »Dort entspringt der Fluss. Angeblich gibt es da unten eine Quelle, die das ganze Jahr über sprudelt, sogar mitten im Winter. Der Schneemobil-Pfad führt an der Kante da entlang.« Active spähte durch den Reif, der auf den Scheiben lag, und sah etwas, das wie ein kleiner Kratzer am Rand der Schlucht aussah. Zwei, drei Kilometer unterhalb der Passhöhe endete die Schlucht, und die Berge wichen wieder zu einem breiten, flachen Sattel alpiner Tundra auseinander. Ein paar Minuten, nachdem sie den Nordabhang des Passes erreicht hatten, meldete sich Alan Long aus dem Sitz hinter dem Piloten. »Ist das nicht ein Schneemobil da drunten?« Cowboy ließ einen Flügel sinken und sie starrten alle auf die Tundra hinab. Active nahm ein Aufblitzen wahr, das von einer Windschutzscheibe mit Lenkstange stammen konnte, die aus dem Schnee ragte, aber dann waren sie schon wieder vorbei. Cowboy brachte das Flugzeug in einer eleganten Sinkkurve auf Gegenkurs und sie machten einen zweiten Überflug, diesmal nur hundert, hundertfünfzig Meter hoch. Jetzt wurde das Bild deutlicher. Definitiv eine Windschutzscheibe und eine Lenkstange, wobei der Rest des Gefährts mit dem Hundeschlitten nur als seltsam geformte Schneewehe hinter der Scheibe erkennbar war. »Können Sie uns da runterbringen?«, fragte Carnaby. Cowboy legte die Beaver in eine weitere Kurve und fuhr die Landeklappen aus. In weniger als drei Minuten hüpfte das
Flugzeug über die Sastrugas und kam bei dem versunkenen Motorschlitten zum Stehen. Nacheinander stiegen sie aus und begannen, mithilfe von Schneeschuhen Kellys schwarzes Arctic Cat und den Hundeschlitten freizugraben. Active war dankbar, dass er wegen seiner Schulter nicht mithelfen musste. Die anderen vier – sogar Cowboy – ächzten und schufteten und nach wenigen Minuten war klar, dass sich der Fahrer des Motorschlittens nicht steif gefroren unter dem Schnee befand. Sie entdeckten einen provisorischen Unterstand, den Kelly gebaut hatte, indem er den Hundeschlitten auf die Seite gekippt und die Außenhaut seines Hauszeltes darüber drapiert hatte. Drinnen fanden sich Anzeichen, dass der Unterschlupf mindestens ein paar Stunden lang benutzt worden war: ein aufgerollter Schlafsack auf einem Bett aus Karibuhäuten, ein immer noch betriebsbereiter Campingofen, zwei Papiertüten mit Lebensmitteln. Von einer der Tüten war die obere Hälfte weggerissen. Draußen fanden sich drei rote Benzinkanister, ein halbes Dutzend Plastikflaschen mit Zweitaktöl, ein kleiner Werkzeugkasten, eine Gaslaterne und die Zeltstangen. Beinahe gleichzeitig drehten sich die Männer um und musterten die blendenden Hügel um sich herum. »Ich glaube, seine Kiste hat gestreikt«, sagte Dickie. »Wo ist Onkelchen Frost?«, fragte Cowboy. »Kelly muss ihn mitgenommen haben. Ein Mann mit so einer Last, wie weit hätte der… in diesem Schneesturm…« Active verstummte und schüttelte den Kopf. »Ob er das überlebt?«, fragte Cowboy. »Cowboy, Alan, ihr kennt das Land hier oben«, sagte Active. »Was meint ihr dazu? Gibt es irgendeinen Zufluchtsort in der Nähe, den er hätte erreichen können?« Cowboy antwortete zuerst. »Ich habe hier draußen nie ein Camp gesehen, außer das von Robert Kelly.« Der Pilot
schüttelte den Kopf. »Aber das habe ich ja auch erst jetzt gesehen.« Alan sprach nachdenklich, wie zu sich selbst. »Vielleicht, wenn er sich ein Schneehaus gebaut hat, so kalt war es nicht… aber er war verletzt… und in diesem Schneesturm…« Er zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Er kennt das Land, und einige dieser alten Burschen, die sind… ich weiß auch nicht.« Sie drehten sich langsam um die eigene Achse und suchten die leere Weite des Passes mit den Augen ab. Dann teilte Carnaby Alan und Dickie zur weiteren Arbeit an dem Schneemobil ein und ging alleine davon. Vermutlich wollte er sich die Dinge in aller Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Cowboy ging zum Austreten ein paar Schritte hinter den Hundeschlitten. Bei der Rückkehr stieß er mit dem Fuß gegen etwas im Schnee. »He«, schrie er. »Seht euch das an!« Als die anderen ihn erreichten, hatte er ein dreißig Zentimeter langes Stück schwarzen Gummi mit stählernen Stollen freigelegt. »Sieht aus wie die Antriebsraupe seines Arctic Cat«, sagte Cowboy. Sie gruben sie aus und untersuchten sie. Die Raupenkette war offensichtlich während der Fahrt gerissen. »Hab noch nie erlebt, dass so ein Ding kaputt geht«, sagte Cowboy. Er deutete auf den Rand der Raupenkette, wo der Riss seinen Ursprung genommen hatte. »Sieht aus wie angeschnitten. Vielleicht ist er über etwas Scharfes gefahren.« »Aha«, rief Alan Long aus. Er war zum Schneemobil zurückgekehrt und kniete daneben. »Ich glaube, Actives Schuss hat seine Antriebsraupe getroffen. Das hat den Riss verursacht.« Long deutete auf ein Einschussloch im Aluminiumchassis der Maschine, direkt über dem Trittbrett. Er setzte seine verspiegelte Brille ab, legte das Auge an das Loch und spähte
hindurch. »Ja«, sagte er. »Liegt genau auf Höhe der Laufschienen. Das war Nathans Smith & Wesson. Es hat nur eine Weile gedauert, bis die Raupenkette vollständig gerissen ist.« Alle sahen Active an. Er versuchte ein halbseitiges Achselzucken. »Was jetzt?«, fragte Cowboy. Carnaby setzte seine Gletscherbrille ab und kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in die Nasenwurzel. »Wir machen Schluss, sage ich.« Als er Actives Blick sah, hob Carnaby die Hand. »Ich weiß, ich weiß. Aber entweder ist Kelly irgendwo da draußen unter dem Schnee, oder er ist auf dem Weg nach Kanada. Vielleicht versteckt er sich tagsüber und marschiert nur bei Nacht. In beiden Fällen werden wir ihn nicht finden, außer wir fliegen eine ganze Armee ein. Wir werden eine weitere Fahndungsmeldung rausgeben, an die Cops auf dieser Seite der Grenze und an die Mounties in Kanada, damit alle die Augen offen halten. Wenn er überlebt, werden wir ihn irgendwann erwischen. Wenn nicht – gut, dann ist es vorbei. Fall abgeschlossen. Es ist unmöglich, seine Spuren unter all dem Schnee zu finden.« Cowboy, der sich gerade eine Zigarette angesteckt hatte, blickte den Trooper-Captain überrascht an. »Aber natürlich gibts die.« »Gibt es was?«, fragte Carnaby. »Eine Möglichkeit, die Spuren unter dem Schnee zu finden.« »Wie denn?« »Mit Besen.« »Mit was?«, fragte Active. »Besen?« Cowboy nickte. »Und wissen Sie auch, wer das kann?« Long, Carnaby und Active hoben die Augenbrauen zum weißen Ausdruck des Fragens.
»Whyborn.« »Whyborn Sivula?«, fragte Dickie. Cowboy sagte: »Natürlich Whyborn Sivula.« Er sah einen nach dem anderen an. »Sie glauben mir nicht? Es stimmt aber. Vor ein paar Jahren, in Ebrulik, da wurde ein Junge namens Archie Ramer vermisst. Ich war zur Suche eingeteilt. Wir haben sein kaputtes Schneemobil in der Wildnis gefunden, aber alle Spuren waren zugeweht und es gab scheinbar keine Chance, ihnen zu folgen, genau wie jetzt. Dann haben sie Whyborn hinzugezogen, er besorgte sich ein Bündel von Besen, verteilte sie an die Jungs aus Ebrulik und sie fingen an zu kehren und schon bald hatten sie Archies Spuren unter den Verwehungen entdeckt.« Cowboy verstummte und sog genüsslich an seiner Lucky Strike. Active wusste, dass er es nur tat, um sie zu ärgern und schwor sich, nicht als Erster die Geduld zu verlieren. Es war Carnaby, der schließlich aufgab. »Verdammt nochmal, Cowboy, wie ist es ausgegangen?« Der Pilot grinste. »Na ja, sie haben ein paar Tage gebraucht, aber am Ende konnten sie Archies Spuren bis zu einer Schneehöhle verfolgen, wo er die Sache abwartete. Er hatte ziemlich starke Erfrierungen an den Füßen, aber er hat überlebt und er kann auch noch laufen. Inzwischen hat er zwei eigene Kinder und sie heißen beide Whyborn.« »Ach, kommen Sie!« »Ja. Whyborn Louis Ramer und Rachel Whyborn Ramer.« »Whyborn Sivula«, sagte Carnaby und schüttelte den Kopf. »Bitten wir ihn um Hilfe, wenn wir wieder in der Stadt sind«, sagte Active. »Cowboy kann ihn einfliegen, damit er eine Besensuche durchführt.« Carnaby sah Active an und schüttelte wieder den Kopf. »Nein… Ich werde niemanden dafür bezahlen, dass er diesen
Pass mit einem verdammten Besen fegt, Nathan. Wie soll ich das denn in Juneau erklären?« »Vielleicht arbeitet Whyborn billig.« »Bei Archie Ramer hat er gar nichts verlangt«, sagte Cowboy. »Er wollte nur das Benzin für sein Schneemobil ersetzt haben.« Carnaby seufzte. »Selbst dann. Cowboy müsste eine Flugverbindung einrichten, nicht wahr? Er müsste Benzin, Verpflegung und Heizöl heranschaffen. Ab und zu herfliegen, um nach dem Rechten zu sehen. Es käme trotzdem zu teuer. Außerdem müsste zumindest ein Trooper dabei sein, und mit Ihnen auf der Krankenliste sind wir gerade etwas unterbesetzt. Ich glaube nicht, dass ich das rechtfertigen kann.« »Nennen wirs doch einfach eine Such- und Rettungsaktion«, meinte Active. Er sah Carnaby an. »Dann taucht Cowboys Rechnung nicht in Ihren Büchern auf.« Carnaby runzelte die Stirn, dann nickte er endlich. »Ja, so könnte ich es begründen. Glauben Sie, Silver würde mitmachen, Alan?« Als Polizeichef repräsentierte Jim Silver die Stadt Chukchi, wenn es um eine Such- und Rettungsaktion ging. »Könnte durchaus sein«, sagte Alan. »Das Steuerjahr ist bald abgelaufen und wir haben noch ziemlich viel übrig im Rettungsbudget. Das können wir auch ausgeben.« »Aber ich kann trotzdem keine Trooper erübrigen.« Carnaby schüttelte den Kopf. »Die flicken mich im Krankenhaus schon wieder zusammen«, sagte Active. »Es tut weh, ja, aber es ist wahrscheinlich nur ein geprelltes Schlüsselbein und eine ausgerenkte Schulter. Ich hatte mal eine ausgerenkte Schulter beim Eishockeyspielen auf dem College, und es ist kein großes Problem mehr, wenn der Arzt sie erst wieder, äh, repositioniert hat. Sie legen einem den Arm in eine Schlinge, geben einem
ein paar Schmerztabletten und Entzündungshemmer und dann schicken einen nach Hause und sagen, man soll sich ein paar Wochen lang ausruhen.« Carnaby schnaubte. »Indem man ein paar Hundert Kilometer mit dem Schneemobil durch die Kälte fährt, meinen Sie?« »Cowboy kann mich und meine Yamaha mitnehmen, wenn er die Vorräte einfliegt«, sagte Active. »Ich müsste nur kurze Fahrten vom Camp aus machen, damit komme ich schon zurecht.« Carnaby sah den Buschpiloten an. »Kriegen Sie ein Schneemobil in die Beaver?« Cowboy nickte. »Sicher, wenn ich die hinteren Sitze ausbaue.« Carnaby zupfte sich am Kinn und überlegte. »Tja, vielleicht. Aber Nathan, Sie können mit dem Arm in der Schlinge keinesfalls fegen. Braucht der alte Whyborn nicht Hilfe an seinen Besen?« »Ich komme mit«, sagte Alan. »Ich bearbeite immer noch den Diebstahl von Onkelchen Frost.« »Na schön«, sagte Carnaby. »Fliegen wir nach Hause, bringen Nathan zum Arzt und rufen Whyborn an.«
21
Am nächsten Morgen luden Cowboy, Alan Long und Whyborn Sivula das Damenmodell in die Beaver, dazu rote Benzinkanister für die Schneemobile, runde Fässchen mit Chevron-Heizöl und den größten Teil der sonstigen Vorräte, die sie im Camp brauchen würden. Dann machten sich Alan und Whyborn mit ihren Schneemobilen auf den Weg zum Schamanenpass, Hundeschlitten im Schlepp mit einem Hauszelt und genügend Ausrüstung und Lebensmitteln, um ein oder zwei Tage über die Runden zu kommen, falls eine der tausend Unwägbarkeiten der Buschfliegerei die Beaver daran hindern sollte, ihr Ziel zu erreichen. Actives Schlüsselbein hatte sich als angerissen, aber nicht gebrochen herausgestellt; die ausgerenkte Schulter war repositioniert und in einer offiziellen Krankenhausschlinge ruhig gestellt. Nachdem er Alan und Whyborn auf den Weg gebracht hatte, schluckte er noch eine Schmerztablette plus Entzündungshemmer und döste in seiner »Junggesellenhütte« vor sich hin, bis Cowboy ihn um vier mit dem Lienhofer-Van abholte. Bald saßen sie wieder in der Beaver, die Nase über die Katonak-Tiefebene auf den Schamanenpass gerichtet. Das Wetter war immer noch klar und windstill und sollte auch noch eine Weile so bleiben, wie Cowboy mitteilte, der das mit der FAA-Station abgeklärt hatte. Als Active fragte, wie lange »eine Weile« sei, grinste Cowboy ihn an. »Kann man nie wissen.« Die Beaver gondelte über die Tiefebene und stieg langsam höher zum Oberlauf des Katonak. Der weiße Sattel des Passes
tauchte vor ihnen auf, neunzig Minuten, nachdem sie Chukchi verlassen hatten. Cowboy ging tiefer, auf hundertfünfzig Meter, und sie entdeckten die schmale Spur, die die beiden Motorschlitten hinterlassen hatten. Sie folgten ihr zum Pass, während die Berge im Westen blaue Schatten auf den Schnee warfen und die Sonne sich dem nordwestlichen Horizont zuneigte. Sie flogen parallel zum verschneiten Lauf des Angatquq River und irgendwann knisterte Cowboys Stimme aus der Sprechanlage. »Sehen Sie sich das mal an.« Er senkte die Nase, schwenkte leicht nach rechts und deutete auf die Tundra. Active blickte hinunter und sah sieben obsidianschwarze, gezackte Umrisse vor sich über den Schnee segeln. Er wandte sich zu Cowboy. »Ich wusste gar nicht, dass Raben in Schwärmen fliegen. Ich habe noch nie so viele auf einem Haufen gesehen.« Cowboy lächelte. »Sehen Sie irgendwelche Schatten?« Active spähte wieder nach unten. Cowboy hatte Recht. Die Vögel warfen keine Schatten. Wie war das bei diesem Licht möglich? Das scharfe, klar umrissene Negativ der Beaver glitt über die Tundra und hatte die Raben bald überholt. Durch ein Fenster in seiner Seele, von dem Active bis dahin nichts gewusst hatte, fuhr ein kalter Windstoß und ein Schauer lief ihm über den Rücken, nur einen Moment lang. Dann wurde ihm klar, was vor sich ging, und er kam sich dumm vor, als Cowboy wieder das Wort ergriff. »Das sind keine Raben, das sind Schneehühner. Man kann sie vor dem Hintergrund des Schnees nicht sehen, nur ihre Schatten.« Active sah den Schatten nach, bis sie unter dem Flugzeug verschwanden und zurückblieben. Die weißen Vögel selbst bekam er nie zu Gesicht. »Gespenstisch«, sagte er über die Sprechanlage.
»Schon möglich«, sagte Cowboy. »Beim ersten Mal jedenfalls. Wissen Sie, so etwas bekommt man nur als Flieger zu sehen.« »Das stimmt.« »Leute, die nicht fliegen, haben keine Ahnung, wie sehr man von hier oben mit dem Land eins wird.« Active wandte sich zu dem Piloten und sah ihn an. Lauerte da etwa die Seele eines Dichters unter dem Draufgängertum? »Gut gesagt«, meinte er. Sie überholten Alan und Whyborn dicht unterhalb der Passhöhe. Cowboy wackelte mit den Flügeln. Die beiden Männer winkten zurück und deuteten in die Schlucht hinunter. »Wir fliegen voraus und treffen sie bei Kellys Schneemobil«, sagte Cowboy über die Sprechanlage. Ein paar Minuten später nahm Cowboy Gas zurück und die Beaver begann zu sinken. Die Skispuren vom Tag zuvor kamen in Sicht. Cowboy flog eine Schleife, um hangaufwärts zu landen und senkte die Beaver genau in die einen Tag alten Spuren. Sie fingen mit dem Ausladen der Ausrüstung an und brachen gelegentlich durch die verharschte Schneekruste, während sie Benzin, Lebensmittel und Ausrüstungsgegenstände aus der hinteren Kabine der Beaver holten und ein paar Meter entfernt aufstapelten. Schließlich war nur noch das Damenmodell in der Maschine. Cowboy murrte lautstark, dass er es wegen Actives Schulter alleine ausladen musste, aber dann trafen rechtzeitig Alan und Whyborn ein und stiegen mit von der langen Fahrt steifen Gliedern von ihren Schneemobilen. Eine hübsche kleine Huskyhündin mit einem blauen und einem braunen Auge sprang von Whyborns Schlitten und raste mit heraushängender Zunge und einem komischen Hundegrinsen im Gesicht auf das Flugzeug zu. Sie umkreiste
die Beaver zweimal, blieb dann vor der Ladetür stehen und bellte fröhlich. »Kibbie liebt es, hier draußen in der Wildnis zu sein«, sagte Whyborn und dehnte seine Schultern. »Sie kommt nicht mehr so oft raus.« Active sah zu, wie Kibbie losrannte, um einen kleinen Canyon zu erforschen, der von Osten in den Pass mündete. »Ich wusste nicht, dass Sie einen Hund mitbringen«, sagte er. Whyborn zuckte die Achseln. »Sie richtet ja keinen Schaden an. Und sie gibt Laut, wenn sich etwas nähert.« Active wollte gerade fragen »Was denn, zum Beispiel?«, als er den Kadaver eines Karibus auf Alans Schlitten erblickte, sauber ausgenommen. Er hatte das Gefühl, dass die Menschenjagd seiner Kontrolle entglitt und sich zu einer Urlaubsfahrt mit angeschlossener Karibujagd entwickelte. Alles auf Kosten des Such- und Rettungsbudgets. Und zu allem Überfluss auch noch ein Hund im Lager. Aber er wusste nicht, was er dagegen tun sollte, also hielt er den Mund. Active sah den drei anderen Männern zu, während sie die Yamaha aus der Beaver wuchteten und auf den vom Wind verdichteten Schnee stellten. Er schwang sich hinauf, betätigte den Anlasser und fuhr ein paar Meter zur Seite, um Cowboy nicht im Weg zu stehen. Der Pilot kletterte in die Beaver und sagte zum Fenster hinaus: »Ich komme alle drei oder vier Tage zurück, wenn es das Wetter zulässt, bis ihr ihn entweder gefunden habt oder Carnaby und Silver beschließen, die Suche einzustellen.« Active nickte ihm zu. Cowboy erwiderte den Gruß und schloss das Fenster. Der Sternmotor erwachte grollend zum Leben. Cowboy ließ das Flugzeug auf dem Schnee eine große Schleife beschreiben, bis er hügelab wieder in die inzwischen gut ausgefahrenen Spuren
kam. Die Beaver röhrte los und erhob sich in die blauen Schatten. Die drei Männer im Schnee warfen ihre Maschinen an und fuhren vierhundert Meter weit bis zur Mündung einer Seitenschlucht, wo Kibbie aufgeregt im Schnee wühlte. Whyborn erklärte, dass der Hund wahrscheinlich einen Lemming gehört habe, der durch sein Labyrinth von Tunneln unter dem Schnee huschte. Sogar Active, als ziemlicher Grünschnabel, konnte sehen, dass die Schlucht ein guter Lagerplatz war. Sie bot ein wenig Schutz vor dem Wind, falls ein weiterer Sturm über dem Schamanenpass aufzog. Sogar jetzt fegte der ewige Südwind eine dünne Schneeschicht über den Boden des Passes, aber hier im Canyon war es windstill. Ein Saum von Weiden entlang eines kleinen Baches ließ die Landschaft weniger steril und abweisend erscheinen als die sanft gewellte Schneewüste davor. Alan und Whyborn luden ihre Schlitten ab und beschlossen nach kurzer Diskussion, dass Alan den Rest der Ausrüstung heranschaffen sollte, während Whyborn das Zelt aufschlug. Active fragte, womit ein einarmiger Mann behilflich sein konnte und wurde zum Sammeln von Weidenzweigen für den Bodenbelag eingeteilt. Alan fuhr mit seinem leeren Schlitten los. Whyborn löste ein Bündel von Holzstangen aus dem Stapel der Ausrüstung und machte sich an den Aufbau des Zeltes, während Active sich zu den Weiden hinter dem Camp wühlte. Das Gebüsch war trocken und blattlos vom langen Winter, und weil die Sonne hier vom Felsrücken der Schlucht verdeckt wurde, war es kalt, minus achtzehn Grad, schätzte er. Die kleinen Bäumchen knickten ab wie Eiszapfen. Als er sein Bündel zum Lager zurückschleppte, stellte er fest, dass Whyborn inzwischen die Balken zu einem Gerüst
verbunden und die Zeltplane darüber gezogen hatte. Der alte Jäger hatte bereits seinen Hundeschlitten hineingeschleift und an einer Seitenwand aufgestellt, wo er als Sitz- und Schlafplatz dienen würde. Gerade baute er einen Campingofen auf, der aus dem oberen Drittel eines Ölfasses gefertigt war. Whyborn goss etwas Heizöl aus einem der Chevronkanister hinein, zog Streichhölzer und zusammengeknülltes Toilettenpapier aus der Tasche und bald war es im Zelt so warm wie in einem Haus. Während Whyborn die Weidenzweige auf dem Zeltboden verteilte, kam Alan mit einem Stück frischen Karibus zurück. Whyborn suchte eine Pfanne aus einer der Kisten heraus, die noch auf seinem Schlitten standen, während Active mit einem Topf hinausging, um Schnee für Teewasser hineinzuschaufeln. Und bald faltete Alan die Hände und sprach das Gebet über einem Abendessen aus Karibusteak, Zwieback und Tee, abgerundet mit getrocknetem Lachs und Robbenöl, das Whyborn beisteuerte. Zum Nachtisch entdeckten sie OreoKekse in einer der Kisten, die Cowboy zurückgelassen hatte. Als Active hineinbiss, fand er, dass das der leckerste aller denkbaren Nachtische war, jedenfalls in einem Hauszelt am Schamanenpass, und sogar, wenn er es mit zwei Männern teilen musste, die vor dem Essen auf einem Tischgebet bestanden. Später besprachen sie, wie sie zu dritt auf zwei Schlitten schlafen wollten. Active wies darauf hin, dass sich das Problem gar nicht stellte, weil ohnehin immer einer von ihnen aufbleiben und Wache halten musste. Whyborn runzelte die Stirn »Wache? Wozu?« »Robert Kelly«, sagte Active. Whyborns Miene machte klar, dass er meinte, es mit Idioten zu tun zu haben. »Überflüssig. Kibbie würde anschlagen, wenn irgendjemand in die Nähe kommt. Dieser Robert Kelly kennt
die Gegend hier oben seit seiner Kindheit. Wenn er sich anschleichen und uns erschießen wollte, würde keiner von uns ihn kommen hören, selbst wenn er wach ist. Aber Kibbie schon.« Active beugte sich dieser Logik und dem Wunsch, nicht die halbe Nacht das Mondlicht über der Tundra bewundern zu müssen. Nach weiteren Diskussionen beschlossen sie, dass Active und Alan sich einen Schlitten teilen würden, während Whyborn und Kibbie den anderen nahmen. Als das geklärt war, zündete Whyborn eine Gaslaterne an und brachte ein Spiel Karten und ein Cribbagebrett zum Vorschein, das aus Karibuhorn gefertigt war. Er und Alan fingen an zu spielen, mit Streichhölzern als Spielstiften und mit Whyborns zum Bett umfunktionierten Schlitten als Spieltisch. Alans Schlitten stand immer noch draußen. Active verließ das Zelt und stapfte an Kibbie vorbei, die sich im Schnee neben der Klappe zusammengerollt hatte. Die Hündin hob den Kopf und wuffte freundlich. Die Sonne stand jetzt schon tief hinter dem Felsrücken gegenüber dem Lager und tränkte das Zelt mit abendlichem Schatten. Aber als Active sich bückte, um den Schlitten abzukoppeln, glitt die Sonne hinter einer Felsscharte durch und überflutete die Landschaft mit Streifen horizontalen Lichts in der Farbe von Blut. Active zog den Schlitten zum Zelt, zwängte ihn durch die Eingangsklappe hinein und entrollte seine Schlafmatte und den Schlafsack. Whyborn und Alan waren in ihr Cribbagespiel vertieft und schienen von einem auf ihren Schneemobilen verbrachten Tag weniger erschöpft zu sein als Active von seinem Flug in der Beaver. Als er sich auf dem Schlitten ausstreckte, hörte er Alan fragen: »Glauben Sie, er ist irgendwo da draußen und beobachtet uns?«
»Wer?«, fragte Whyborn. »Robert Kelly?« »Nein«, sagte Alan. »Der alte Natchiq.« Vor dem Zelt knurrte Kibbie tief in der Kehle – diesmal war nichts Freundliches daran – und heulte dann gotterbärmlich. Bald darauf schob sich die schwarze Hundeschnauze durch die Zeltklappe, gefolgt von zwei flehenden Augen. Active setzte sich auf und griff nach seiner Smith & Wesson, aber Whyborn lachte nur und packte Kibbie bei den Ohren. »Wenn Amaguq in der Nähe ist, bist du gar nicht mehr so mutig, was? Kluger Hund.« Dann hob draußen der Gesang der Wildnis an, hoch und kalt und einsam, als befände sich ein Wolfsrudel in der Schlucht gleich hinter dem Lager. Kibbie, im Schutz des Zeltes wieder mutiger geworden, erwiderte das Heulen. Es war ein so durchdringender Ton, dass sie sich die Ohren zuhalten mussten, bis es aufhörte. »Werden sie, äh, Schwierigkeiten machen?«, fragte Active, während die Serenade draußen weiterging. »Vielleicht sollten Sie auf Ihren ›Kleinen Nathan‹ aufpassen, wenn Sie zum Pinkeln rausgehen«, sagte Whyborn mit derselben Art Lachen, mit der er Kibbie an den Ohren gepackt hatte. Active grinste mannhaft und Alan kicherte, während Whyborn eine neue Runde Karten austeilte. Plötzlich verstummten die Wölfe so abrupt, wie sie begonnen hatten. Kibbie ließ die Rückwand des Zeltes nicht aus den Augen, den Kopf schief gelegt, die Ohren aufgestellt, und Active fragte sich in die betäubende Stille hinein, ob die Tiere sich gerade ins Camp schlichen. Dann klappten die Ohren der Hündin in ihre normale Position zurück und sie rollte sich neben Whyborn auf dem Schlitten zusammen.
Doch plötzlich war sie wieder auf den Pfoten und ein Laut, halb Winseln, halb Knurren, drang aus ihrer Kehle. Diesmal starrte sie die vordere Wand des Zeltes an. Active wollte etwas sagen, aber Whyborn hob warnend eine Hand und hielt mit der anderen Kibbie die Schnauze zu. Das Gesicht des älteren Mannes glich einer Maske aus straff gespannten Hautflächen, die in den unterschiedlichsten Winkeln aufeinander trafen, und einmal mehr fühlte sich Active an die mongolischen Vorfahren der Inupiat erinnert. Mehrere Sekunden verstrichen, in denen nur das Zischen der Laterne am Firstbalken und das leise Bullern des Campingofens zu hören war. Endlich entspannte sich Whyborn und ließ Kibbie los, die sich ebenfalls entspannte. »Dachte, ich hätte da draußen was gehört, war aber wohl ein Irrtum.« »Sind Wölfe um uns herum?«, fragte Active. »Kann schon sein, aber ich dachte, ich hätte ein Schneemobil gehört, weit entfernt. Aber wahrscheinlich war es nur die Lampe oder der Ofen. Ja, Kibbie hat wohl wieder die Wölfe gehört, so muss es sein.« Active runzelte die Stirn. »Ein Schneemobil? Wer sollte das denn sein?« »Vielleicht Robert Kelly?«, schlug Alan vor. Whyborn zuckte die Achseln. »Er könnte ein zweites Schneemobil hier oben untergestellt haben, in einem Camp in der Wildnis irgendwo, stimmt schon. Aber wenn es so war, warum sollte er sich immer noch in der Gegend aufhalten? Dann wäre er doch jetzt längst in Kanada drüben, oder nicht?« »Vielleicht musste er seinen Großvater zurücklassen, und jetzt ist er gekommen, um ihn zu holen«, meinte Active. Er trat vors Zelt und wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Es dauerte nicht lange. Die Schneefelder waren vom Mondlicht überflutet und die blau-
grünen Bögen der Aurora borealis schimmerten im Norden. Er blickte zurück zum Pass. Dort – auf der Passhöhe! Ein Lichtschimmer? Der Scheinwerfer eines Motorschlittens, der den Pfad hinauffuhr, auf dem Whyborn und Alan zuvor heruntergekommen waren? Während er sich die Augen ein paar Sekunden lang zuhielt, um sie lichtempfindlicher zu machen, hörte er die Zeltklappe aufgehen und spürte Whyborn Sivulas Gegenwart neben sich. Er nahm die Hände von den Augen und sah noch einmal hin. »Sehen Sie etwas?«, fragte Whyborn. Jetzt sah Active kein Licht mehr, nichts als die Abhänge und Verwerfungen des Schamanenpasses, kalt und leer im Mondschein. »Vielleicht das Licht eines Schneemobils da oben am Pass. Kommen viele Leute hier vorbei?« Der Schnee knirschte unter Whyborns Füßen, während er den Blick durch das Tal hinaufwandern ließ. »Nicht viele. Zu kalt und abgelegen.« Whyborn räusperte sich und mied Actives Blicke. »Tut mir Leid, dass ich Ihnen nicht die ganze Geschichte erzählt habe, als Sie bei mir zu Hause waren. Ich glaube nicht, dass mein Freund Robert Kelly ein schlechter Mensch ist. Er hat es nicht verdient, in Ihrem Gefängnis zu sitzen.« Wieder zog ein Flackern Actives Blick auf sich, aber als er diesmal aufsah, war es eine Sternschnuppe, die eine Spur blauen Feuers durch den stillen, lachsfarbenen Himmel oberhalb des gegenüberliegenden Felsrückens zog. »Vielleicht war es doch kein Licht«, sagte er. »Vielleicht.« Active schwieg einen Moment lang, dann sah er den älteren Mann an. »Ich war überrascht, dass Sie gekommen sind.« »Wenn ich daran denke, dass Robert Kelly irgendwo da draußen verschwunden ist, dann mache ich mir Sorgen um seine Familie«, sagte Sivula. »Seine Leute sollten erfahren,
was aus ihm geworden ist, und nicht all die Jahre in Ungewissheit bleiben wie bei seinem Großvater.«
22
Am nächsten Morgen, nach einem Frühstück aus Haferflocken und Trockenfisch mit Robbenöl und Gebet, zog Whyborn Alans Schlitten aus dem Zelt und hängte ihn hinter Actives Yamaha. Dann ging er zu dem Haufen von Ausrüstung neben dem Zelt und buddelte zwei gewöhnliche Haushaltsbesen aus, dazu zwei Paar Aluminium-Schneeschuhe und warf alles auf den Schlitten. Er winkte Alan, sich in den Schlittenkorb zu setzen, stellte sich hinten auf die Kufen und drehte sich zu Active um. »Alan und ich werden das Kehren erledigen. Weil Sie mit der Schulter nicht helfen können, könnten Sie den Transport übernehmen, ja? Und uns morgens hinbringen und zum Mittagessen und abends wieder abholen, in Ordnung?« Active nickte, schwang sich auf die Yamaha, ließ den Motor an und fuhr nach Whyborns Anweisungen zu einem Punkt ungefähr fünfzig Meter vor der Stelle, wo Robert Kellys Arctic Cat in seinem Loch im Schnee stand. Die beiden anderen Männer stiegen ab, schnallten sich die Schneeschuhe unter und griffen nach den Besen. Whyborn musterte Alan Long, der seinen Besen ratlos anstarrte. »Sie haben so was noch nie gemacht, hm?« Alan schüttelte den Kopf. »Nun, wenn jemand einen Fußabdruck im Schnee hinterlässt, wird er hart wie Beton«, sagte Whyborn. »Selbst wenn er zugeweht worden ist, da unten ist er noch vorhanden.« Whyborn fing an, auf der verharschten Kruste herumzutrampeln und sie mit den Kanten seiner Schneeschuhe
aufzubrechen. Als er ein Gebiet von mehreren Metern Durchmesser pulverisiert hatte, fing er an, den zertrampelten Schnee wegzufegen, um an die ältere Schicht darunter zu gelangen. Alan sah ihm eine Minute lang zu, dann fing auch er an zu fegen. Plötzlich hielt Whyborn inne und bückte sich. »Sehen Sie sich das an«, sagte er, als Active und Alan herbeieilten. Er deutete auf zwei schwache Eindrücke, beinahe nicht vom umgebenden Weiß zu unterscheiden. »Das war Robert Kelly. Das ist der Absatz seines Stiefels und hier ist die Spitze.« Active kniete neben der Spur nieder. »Nur zu«, sagte Whyborn. »Versuchen Sie, drin herumzustochern, dann sehen Sie schon.« Active betastete den Absatzabdruck zaghaft mit dem behandschuhten Daumen. Whyborn hatte Recht. Er fühlte sich fest an, hart wie Pflasterstein. »Wir müssen ihn markieren«, sagte Whyborn, als Active aufstand. »Vielleicht könnten Sie uns ein paar von den Weiden beim Zelt bringen.« Active nickte, fuhr mit dem Schneemobil zum Zelt zurück und machte sich wieder in dem Weidengehölz an die Arbeit. Als er ein Dutzend kleiner Bäumchen auf dem Schnee liegen hatte, verfrachtete er sie in zwei einarmigen Ladungen zum Schlitten. Die Weiden abzubrechen war keine schwere Arbeit, sich durch den Schnee zu wühlen aber schon, und er schwitzte unter seiner Winterkleidung. Er stieg auf die Yamaha und verhielt einen Augenblick, um wieder zu Atem zu kommen und abzukühlen. Sein Blick richtete sich auf die Stelle, wo Whyborn und Alan mit ihren Besen arbeiteten. Der Himmel war heute Morgen hell und bedeckt, während eine Brise von vielleicht fünfzehn Kilometern pro Stunde von der Passhöhe herabstrich. Ein kalter Tag und schlechte Sicht, weiß in weiß. Die beiden
Männer waren die einzigen nichtweißen Objekte in Sichtweite. Wenn er nicht gewusst hätte, um wen es sich handelte, wäre es unmöglich gewesen, ihre Größe und Entfernung zu schätzen. Sie hätten Puppen im Schnee zu seinen Füßen sein können oder zwei Riesen jenseits des Passes. Plötzlich kam ihm ihr Vorhaben absurd vor. Winzige Menschen mit winzigen Besen, die einer winzigen Spur von Fußabdrücken durch die leere Weite des Schamanenpasses folgten. Er fühlte sich versucht, auf der Stelle alles abzublasen, mit den Schneemobilen nach Chukchi zurückzukehren und abzuwarten, bis Robert Kelly jenseits der Grenze in Kanada auftauchte oder zu Hause in Caribou Creek. Oder bis irgendein Pilot an einem Sommertag beim Durchfliegen des Passes seine Leiche auf der Tundra entdeckte. Aber Whyborn, mit der unaufdringlichen Fähigkeit des Inupiaq, das Notwendige mit jedem beliebigen verfügbaren Werkzeug zu tun, hatte bereits eine Spur entdeckt. Active schüttelte den Kopf, ließ die Yamaha an und machte sich mit seiner Ladung Markierungszweige auf den Weg zu jenem ersten Fußabdruck.
Während der nächsten vier Tage fegten Alan und Whyborn sich ihren Weg die Nordseite des Passes hinunter. Active, dessen linker Arm immer noch nutzlos in der Schlinge hing, erledigte die Arbeit im Camp, fuhr Fracht oder fungierte auf seinem Damenmodell als Chauffeur, während die Markierungsspur von Weiden langsam vorankroch. Es gab keine geheimnisvollen Geräusche oder Lichter mehr in der Nacht, und er kam zu dem Schluss, dass am Abend ihrer Ankunft die Fantasie mit ihm durchgegangen war.
Cowboy Decker tauchte kurz vor Einsetzen der Dämmerung am vierten Tag auf und zeigte sich angemessen beeindruckt von der Linie von Weiden, die inzwischen fast acht Kilometer lang war. Er lieferte Benzin für die Schneemobile, Öl für den Ofen und mehrere Kisten mit Lebensmitteln, von denen Active hoffte, dass sie frische Oreo-Kekse enthielten. Der Pilot lud ihre Abfälle und die leeren Benzinkanister in die Beaver und donnerte Richtung Süden wieder davon. In dieser Nacht zog Whyborn das Cribbagebrett hervor und mischte die Karten für die erste Spielrunde. »Nun, wir könnten wieder etwas Karibu gebrauchen«, meinte er, während er die Karten auf einem der Schlafsäcke austeilte. »Vielleicht können wir morgen auf die Jagd gehen.« Alans Miene leuchtete auf und er zeigte ein hasenzähniges Grinsen, während er seine Karten aufnahm. »Sicher, wenn wir die Hauptherde finden, könnten wir sogar genug erlegen, um etwas mit in die Stadt zu nehmen.« Active, der langsam die Regeln des Spiels erlernte, legte seine beiden Karten in den »Crib« ab und deckte die erste Karte auf. Er wollte etwas einwenden, aber er spürte, dass er nicht mit dem Herzen dabei war. Das dürre kleine Frühjahrskaribu, das Alan und Whyborn am ersten Tag mitgebracht hatten, hatte nicht viel Fleisch gehabt. Mit Kibbies Hilfe hatten sie den größten Teil davon schon verzehrt. Nur die zähen und sehnigen Stücke waren noch übrig, und auch die reichten nur noch für ein paar Tage. Danach blieb nur das Dosenfleisch aus ihren Vorräten. »Wie weit sind sie entfernt?« »Nicht mehr sehr weit«, sagte Whyborn. »Ungefähr an der Stelle, wo der Angatquq River in den Katonak mündet, vielleicht.« Warum nicht? Sie hatten vier Tage harte Arbeit hinter sich, zwölf bis vierzehn Stunden am Stück im langen Tageslicht des
Frühjahrs. Eine Pause konnte nicht schaden. Active zuckte die Achseln und sagte: »Sicher.« »Wie wärs? Sie könnten auch mitkommen, Nathan.« Whyborn blickte ihn erwartungsvoll an. Active war in Versuchung. Es wäre gut, sich den Pass und das Tal des Katonak mal aus der Nähe anzusehen, vom Boden aus. Um die Art Vertrautheit zu finden, die man aus der Luft nicht gewinnen konnte. Aber er schüttelte den Kopf. »Besser nicht, glaube ich, mit dem Arm.« Die anderen beiden nickten und dann widmeten sie sich wieder dem Spiel. Bei einem sehr späten Frühstück am nächsten Morgen schlug Whyborn vor, dass sie das Lager allmählich ein Stück weiter nach unten im Pass verlegen sollten. »Wir sind zu weit weg von der Stelle, wo wir arbeiten«, sagte er. »Kostet inzwischen zu viel Zeit, hin- und zurückzufahren. Einen knappen Kilometer von der Stelle entfernt, wo wir gestern aufgehört haben, scheint es einen geschützten Seitencanyon zu geben. Vielleicht könnten Sie ihn sich heute ansehen, Nathan. Wenn er zum Lagern taugt, könnten wir morgen dorthin umziehen, bevor wir mit der Arbeit anfangen, hm?« Active nickte. Er war froh, seinen Tag mit etwas ausfüllen zu können. »Ist mir recht«, sagte er. Whyborn und Alan verließen das Zelt und begannen, Benzin und ein Minimum an Campingausrüstung auf Alans Schlitten zu stapeln. Nachdem sie die Ladung mit Gummischnüren vertäut hatten, schlangen sie sich die Gewehre über den Rücken, schwangen sich auf die Maschinen und fuhren davon, Kibbie wie üblich mit einem Ausdruck der Glückseligkeit oben auf dem Schlitten thronend. Active blickte die Nordflanke des Passes hinunter, während die Motorengeräusche verklangen. Ein grau-weißer Streifen
zeigte sich kaum sichtbar über dem Horizont. Ansonsten war es ein herrlicher Tag, blau und weiß wie der gestrige. Sogar noch schöner: Der Südwind hatte sich gelegt und es war totenstill an diesem Morgen. Als er sich bückte, um ins Zelt zu treten, wurde ihm bewusst, dass seine verletzte Schulter aus irgendeinem Grund protestierte. Vielleicht hatte er sie sich im Schlaf verlegen? Dann fiel es ihm ein: Er hatte während der vergangenen Tage vergessen, die Entzündungshemmer aus dem Krankenhaus zu nehmen. Er suchte die Flasche aus seinen Sachen heraus und spülte zwei Tabletten mit dem Frühstückstee hinunter. Als er damit fertig war, das Durcheinander vom Frühstück wegzuräumen, setzte die vertraute, schläfrig machende Wirkung der Tabletten ein. Na schön, was sollte es. Ein Nickerchen vor der Reise zur neuen Lagerstelle konnte nicht schaden. Er wollte schon ins Zelt gehen, zögerte dann aber. Die Sonne schien so warm und einladend. Active zerrte Whyborns Schlitten aus dem Zelt und streckte sich auf den Hickorystäben des Schlittenkorbes aus. Er beschattete die Augen mit dem rechten Arm. Trägheit breitete sich in ihm aus wie heißes Öl und seine Muskeln schmolzen dahin und dann sah er sich plötzlich wieder neben Cowboy in der Beaver sitzen, an jenem Tag, als sie die Schneehühner durch den Pass hatten fliegen sehen. Die Vorstellung von einem Geschöpf, das so in seinem Element zu Hause war, dass es unsichtbar wurde, wurde plötzlich unwiderstehlich, darum schwebte er diesmal aus der Beaver hinab und wurde selbst zu einem der obsidianschwarzen Schatten. Er segelte mühelos an der Angatquq-Schlucht vorüber über die Passhöhe und glitt dann an der Nordflanke hinab. Die Freude an seinem Tun flammte so hoch und intensiv in ihm auf, dass er sie einfach hinausschreien musste. Aber dann kam nur ein gewöhnlicher
menschlicher Aufschrei heraus, nicht das Gackern eines Schneehuhns, und er musste feststellen, dass er immer noch derselbe alte Nathan Active war, nicht im Geringsten unsichtbar, der mit staubtrockenem Mund auf Whyborn Sivulas Schlitten lag, während der letzte Funke seines Schneehuhndaseins in ihm verglühte. Er setzte sich auf und sah sich um. Es war inzwischen kühler geworden und dünne Wolkenfinger zeigten aus dem Norden über den Himmel. Der Hauch einer Brise, ebenfalls erstmals aus dem Norden, zupfte an den Deckhaaren seiner Parkakrause. Er sah auf die Uhr. Schon nach zwei, was bedeutete, dass sein Nickerchen sich auf zwei, drei Stunden ausgedehnt hatte, nicht nur die paar Minuten, die er sich als Schneehuhnschatten gefühlt hatte. Er ging ins Zelt, trank seinen Tee aus und suchte in der Lebensmittelkiste nach etwas Trockenfisch und OreoKeksen. Das reichte ihm nicht, deshalb aß er noch zwei Stücke gebratenes Karibufleisch, das vom Frühstück übrig war. Anschließend fühlte er sich der Suche nach einem neuen Lagerplatz gewachsen. Er hängte Whyborns Hundeschlitten an sein Damenmodell und folgte der Linie von Weiden, die über eine Reihe von sanften, terrassenähnlichen Abhängen an der Nordflanke des Passes hinabführte. Als er auf der letzten Terrasse ankam, etwa vierhundert Meter vor dem Ende der Weidenreihe, wanderte sein Blick zu der Wolkenbank im Norden. Sie hatte sich zu einer bedrohlich anzusehenden, grauweißen Masse entwickelt, die über dem halben Himmel hing, während ihr eine dünnere Decke von Streifenwolken vorauslief. Er hatte das Schneemobil und den Mann, der den Schnee fegte, schon fast erreicht, bevor er sie bemerkte. Der Mann schmiss den Besen weg und sprintete auf seinen Motorschlitten zu. Active gab Gas und die Yamaha jagte wild bockend einen
Abbruch zwischen den Terrassen hinab, während er mit seiner gesunden Hand versuchte, sie unter Kontrolle zu halten. Der andere Fahrer riss schon an der Anlasserschnur, als Active wieder ins Flache kam und direkt auf die andere Maschine zuraste. Mit ein bisschen Glück würde er genau davor zum Stehen kommen und dem anderen Fahrer den Weg versperren. Dann sah er, dass er zu schnell war und langte mit der Rechten quer vor seinem Körper hinüber zur Bremse, die links an der Lenkstange saß, aber es war schon zu spät. Das Damenmodell krachte geradewegs in die andere Maschine hinein. Active wurde über die Windschutzscheibe hinweg gegen den anderen Fahrer geschleudert und beide landeten im Schnee, Active zuoberst. Active fummelte unter seinem Parka nach der Smith & Wesson und schrie: »State Trooper! Sie sind verhaftet!« Der Fahrer versuchte, sich freizukämpfen, als sich plötzlich eine riesenhafte Gestalt brüllend vom Schlitten der fremden Maschine auf Active stürzte. Er fühlte, wie der gigantische Hund gegen seine verletzte Schulter prallte, und dann lag er rücklings im Schnee und sein Hals steckte zwischen zwei gewaltigen Kiefern, während ihn wilde gelbe Augen anstarrten. Dank der Parkakapuze, die bis auf eine kleine Öffnung zugezogen war, floss kein Blut, aber die Kiefer schlossen sich wie ein Schraubstock um seine Kehle und er kriegte keine Luft mehr. Endlich bekam er die Smith & Wesson frei und presste den Revolver an den Hals des Hundes. Er legte mit dem Daumen den Sicherungshebel um, als jemand schrie: »Kobuk, lass los! Nicht schießen, Nathan, ich halte ihn zurück! Kobuk, lass los!« Calvin Maiyumerak warf sich auf Kobuks Rücken, zwängte einen Arm unter den Hals des Hundes und versuchte, ihn zurückzureißen. Nach und nach lösten sich die Zähne von
Actives Kehle und endlich war er frei, während sich wieder feurige Schlangen durch seine verletzte Schulter wühlten. Maiyumerak führte den zähnefletschenden Hund zu seinem maroden Schlitten, befahl ihm, sich in den Korb zu legen und sprach ihm dann leise ins Ohr. Active richtete die Smith & Wesson auf den Hund und wartete ab, bis er sich langsam beruhigt hatte und aufhörte, zu knurren. Die gelben Augen besänftigten sich, wichen aber keinen Moment von Active. Endlich richtete Maiyumerak sich auf und drehte sich zu Active um. Wie üblich war er nur dünn bekleidet. Seine hagere Gestalt war lediglich von einem Polaranzug geschützt, er hatte ein Stirnband über die Ohren gezogen, und – ja, Active musste zweimal hinschauen, um es glauben zu können – er trug knöchelhohe Turnschuhe. Maiyumerak machte den Mund auf, sah die Mündung der Smith & Wesson auf seine Brust gerichtet und hob die Hände. »Nicht schießen, Nathan. Ich ergebe mich.« Active schüttelte angewidert den Kopf. »Das war dein Scheinwerfer oben am Pass, neulich Nacht, oder? Das habe ich mir nicht nur eingebildet. Was zum Teufel hast du hier zu suchen?« »Ich war auf der Karibujagd, und da…« Maiyumerak verstummte, als er Actives Blick auf den im aufgebrochenen Schnee ein paar Meter hinter dem Hundeschlitten liegenden Besen gerichtet sah. Maiyumerak drehte sich einen Augenblick lang zu dem Besen um, dann sah er wieder Active an. »Darf ich Ihnen etwas zeigen?« Active gab keine Antwort, ließ aber die Smith & Wesson auf Maiyumeraks Brust gerichtet. »Keine Sorge, ich mach keine Dummheiten«, sagte Maiyumerak. »Sehen Sie, mein Gewehr ist dort drüben.« Er
deutete auf den hinteren Teil seines Hundeschlittens, wo der Kolben eines Gewehrs aus einem Halfter herausragte. »Gehen wir«, sagte Active. Maiyumerak führte ihn zu der freigelegten Stelle und deutete auf ein paar ovale Vertiefungen im Schnee. Für Active sahen sie aus wie Abdrücke von den Spitzen eines Paares Mukluks mit Sohlen aus Ugruk-Haut. Es war sogar ziemlich deutlich eine sägezahnartige Linie zu erkennen, wo die Sohlen an die Oberteile aus Karibuleder genäht waren. Aber es gab keine zugehörigen Fersenabdrücke, soweit er sehen konnte. Dann deutete Maiyumerak auf ein weiteres Paar Ovale im Schnee, etwa dreißig Zentimeter vor den Abdrücken der Schuhspitzen. Diese sahen anders aus. Am Grund waren sie glatt und rund, ohne die Spur eines Saums. Maiyumerak trat zurück und ließ Active die Spuren betrachten. Endlich zuckte er verständnislos die Schultern. Maiyumerak setzte die Spitzen seiner Turnschuhe in die hinteren Abdrücke und kniete nieder. Seine Knie passten genau in die vorderen Eindrücke. Er sah zu Active hoch. »Wie es aussieht, hat er entweder angehalten, um zu beten, oder er war zu Tode erschöpft.« »Ich bezweifle, dass Robert Kelly gebetet hätte.« Active betrachtete die leeren, schneebedeckten Weiten und stellte sich Kelly im Schneesturm vor, wie er auf den Knien lag und sich zwang, weiterzugehen, während eine leise Stimme in seinem Hinterkopf ihm einflüsterte, dass es der Mühe nicht wert sei. Maiyumerak stand auf. »Ich könnte Ihnen noch etwas zeigen, da oben.« Er deutete in die Richtung, die er meinte, auf die Einmündung eines Seitencanyons. Active nickte und sie schritten knirschend vorwärts, gelegentlich durch die Kruste brechend. Maiyumerak folgte den Spuren seines eigenen Schneemobils in die Schlucht hinein und dann ein paar Meter weit ein kleines Bachbett entlang. Endlich blieb er stehen und
deutete durch die Weiden, die das Ufer säumten. »Sehen Sie, da hat jemand ein Camp eingerichtet.« Zuerst konnte Active es nicht erkennen, aber nach und nach schälten sich die Umrisse mehrerer Ausrüstungsstapel unter dem Schnee heraus, durch den hie und da eine blaue Plane schimmerte. Sie schoben sich zwischen den Weiden hindurch. Maiyumerak zog die Planen zurück und legte ein Schneemobil, mehrere Kanister Flugbenzin, ein weißes Hauszelt mit Balkenrahmen, drei Wanderzelte aus Nylon, einen Fassofen und fünf wasserdichte Seesäcke mit der Aufschrift A. RIVERS – CHUKCHI frei. »Wer ist A. Rivers?«, fragte Active. »Arnie Rivers«, sagte Maiyumerak. »Naluaqmiut-Führer. Fliegt seine Kunden im Herbst zur Jagd nach Karibus und Schafen herauf, kommt manchmal im Frühjahr wieder, auf Bärenjagd. Ich glaube, das hier benutzt er als Camp.« Alles war still, bis auf Kobuks munteres Gebell irgendwo da draußen. Dem Klang nach zu schließen war er wahrscheinlich hinter einem Lemming her. Der Schnee in Arnie Rivers Lager war zertrampelt von den Spuren von Maiyumeraks Turnschuhen. »Hast du etwas mitgenommen?« »Ich habe nichts angerührt«, sagte Maiyumerak. Die Ausrüstung unter den blauen Planen sah so aus, als sagte Maiyumerak die Wahrheit. Aber Active wunderte sich trotzdem. »Warum nicht?« »Keine Zeit gehabt.« »Warum nicht?« Maiyumerak zwinkerte widerwillig und fischte Zigaretten und Streichhölzer aus einer Innentasche. »Du hattest Zeit genug, mit einem Besen da rauszugehen und dich in Trooper-Ermittlungen einzumischen?«
»Ich hab mich in gar nichts eingemischt.« Maiyumerak zündete die Zigarette an, nahm einen Zug und atmete aus. Der Rauch wurde von der Brise aus dem Norden fortgetragen. »Ich wollte nur Onkelchen Frost finden, bevor Sie ihn ins Museum zurückbringen.« »Onkelchen Frost ist ein Beweisstück in einem Mordfall. Und er gehört dem Stammesrat.« Maiyumerak schnitt eine Grimasse. »Nicht, wenn sie ihn in einen Glaskasten stecken wollen, damit Touristen ihn anglotzen.« »Das ist ihre Angelegenheit«, sagte Active. »Warum hast du bis jetzt gewartet? Du hast uns doch schon die ganze Woche beobachtet, richtig?« Maiyumerak nickte. »Ich hatte auf Kay-Chuck gehört, dass Robert Kelly seinen Großvater bei sich hatte, als er Ihnen hier oben entkommen ist. Dann habt ihr Jungs seinen Schlitten und sein Schneemobil gefunden und ich dachte, er ist wahrscheinlich tot. Ich wollte die Toten zuerst finden, vielleicht schnell Onkelchen Frost verstecken, bevor ihr Typen zurückkommt. Aber wie sollte ich sie finden? Kay-Chuck hatte bloß gemeldet, am Schamanenpass. Kein Wort, ob auf der Süd- oder Nordseite oder ob es in einem dieser Canyons war. Dann sah ich Whyborn und Alan mit ihren Schneemobilen von Chukchi losfahren und ich dachte, vielleicht sind sie hierher unterwegs. Also fuhr ich ihnen nach und hab euch Typen jeden Tag beobachtet, ob ihr was findet.« »Du hast die ganze Zeit alleine in diesen Bergen campiert?« »Ich hatte ja noch Kobuk zur Gesellschaft.« Active schüttelte den Kopf. »Dann bist du also bei Nacht heruntergekommen und hast deine eigene Suche durchgeführt?« Maiyumerak blinzelte. »Hab nie selber gefegt, bis heute. Dann hab ich Whyborn und Alan nach Süden abfahren sehen,
als wollten sie zur Jagd. Und Sie haben auf dem Schlitten geschlafen. Ich kam durch diesen kleinen Canyon hier runter und fand das Lager. Kam mir so vor, als wäre Robert Kelly hierher unterwegs gewesen, hätte es aber nicht geschafft.« Maiyumerak deutete auf die nächste Wegmarkierung in der Linie, die den Pass hinauf führte. »Robert Kelly und Onkelchen Frost müssen zwischen hier und der letzten Weide da liegen, meinen Sie nicht auch?« Active nahm die Umgebung und Maiyumeraks Logik genauer unter die Lupe. »Falls er Onkelchen Frost bei sich hatte. Vielleicht hat er ihn irgendwo unterwegs versteckt. Falls er die Stelle hier nicht im Sturm verfehlt hat und direkt dran vorbeigelaufen ist.« Maiyumerak schwieg und blickte die lange Reihe von Weiden entlang. »Könnte sein. Aber soweit ich weiß, kannte er das Land hier wie die Miluks seiner Frau, und der Hin- und Rückweg nach Caribou Creek führt hier entlang. Ich glaube, er kannte dieses Lager.« Maiyumerak wandte sich um und deutete auf die Wand der Schlucht. Genau wie die Ausrüstung war der Inuksuk unter dem Schnee zunächst kaum auszumachen, aber schließlich sah ihn Active. Der kleine Steinmann stand auf einem Sims etwa sechs Meter über dem Camp. Seine untere Hälfte war in einer Schneewehe begraben, aber von der Hüfte aufwärts war er weitgehend schneefrei. Die dunklen, bereiften Steine von Torso, Armen und Kopf waren deutlich erkennbar, sobald Actives Augen sich einmal darauf eingestellt hatten. Diesmal war es an Active, die Achseln zu zucken. »Vielleicht hat Robert Kelly den Inuksuk aufgestellt, bevor Arnie Rivers hier ein Camp angelegt hat.« Er wandte sich um und betrachtete die Reihe der Weiden, die vom Pass herabführte. Kobuk hatte inzwischen aufgehört zu bellen, aber er buddelte
immer noch wie wild im Schnee, etwa hundert Meter vor dem Eingang der Schlucht. Active schüttelte den Kopf angesichts der ebenso grenzenlosen wie ziellosen Energie des Hundes und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Problem Calvin Maiyumerak. »Ich sollte dich verhaften wegen Behinderung unserer Ermittlungen. Aber du lohnst den Schreibkram nicht. Hau jetzt ab und ich vergesse die Sache.« Maiyumerak hob die Augenbrauen, sah aber nicht überzeugt aus. Active nahm die Handschellen vom Gürtel und tippte auf Maiyumeraks Handgelenk. ›»Hau jetzt ab‹ bedeutet: Wenn ich dich noch einmal hier sehe, bevor diese Untersuchung abgeschlossen ist, gehst du in den Dingern hier nach Hause.« Maiyumerak zuckte zurück. »Arii! Da frieren mir die Arme ab.« Active zog die Augenbrauen hoch und lächelte. »Und jetzt hau… was zum Teufel ist das?« Noch während er es sagte, wurde Active klar, dass das unheimliche Heulen von Kobuk kam. Calvin schnippte seine Zigarette weg. »Scheiße!«, sagte er und wühlte sich durch den Schnee auf Kobuk zu, der abermals dieses Heulen ausstieß. Active brach durch die Weiden hindurch. Kobuk saß auf den Hinterbeinen neben seiner Ausgrabung im Schnee und seine Schnauze zeigte zum Himmel. Calvin erreichte die Stelle als Erster, blickte in den Krater und kniete sich neben dem Hund hin. Als Active herankam und sich neben ihn stellte, sah er eine mit einem grünen Kordparka bekleidete Schulter in dem Loch, das der Hund in den Schnee gebuddelt hatte. »Sieht so aus, als hätte Kobuk ihn für uns gefunden, meinen Sie nicht?«, sagte Maiyumerak. Sie machten sich daran, den Schnee um Robert Kelly herum wegzuräumen. Angefangen mit dem rechten Arm, legten sie
erst seinen Torso, dann die Beine und ein reifüberzogenes Gesicht frei, das dunklem Marmor glich, ausdruckslos, der Schnitt über der Braue immer noch sichtbar. Kellys Arme waren über der Brust zusammengelegt, die behandschuhten Hände wie im Gebet gefaltet. Als sie die linke Schulter freilegten, konnten sie einen blauen Schatten durch den umliegenden Schnee sehen. Sie machten weiter, bis sie ein mannsgroßes Etwas in Menschengestalt neben Robert Kelly ausgegraben hatten, eingehüllt in eine blaue Plane. Sie traten zurück und blieben eine Weile lang stumm, während die Brise aus dem Norden Schnee über das Plastik blies. »Das ist Onkelchen Frost, nicht wahr?«, sagte Maiyumerak endlich. »Muss wohl«, sagte Active. »Können wir nachsehen?« »Hast du ein Messer?« Maiyumerak griff unter seinen Polaranzug und brachte ein großes Klappmesser zum Vorschein. Er öffnete es und reichte es Active. Active kniete sich neben das blaue Bündel, schnitt die Schnüre durch und klappte die Plane zurück. Onkelchen Frost – Natchiq – war in ein Karibufell gehüllt. Frisches Karibufell, nach Aussehen und Geruch zu schließen. Kelly musste die Verpackung des Smithsonian – woraus immer sie bestanden hatte – entfernt und durch etwas ersetzt haben, das den Gewohnheiten seines Großvaters besser entsprach. Nur der Kopf der Mumie war sichtbar. Der größte Teil der Haare war verschwunden und die Haut war ledrig und verschrumpelt vom langen Schlaf in der kalten, trockenen Höhle am Schamanenpass und im Keller des Smithsonian. Die Augen waren geöffnet und leer, die Lippen zu einem
grässlichen Lächeln zurückgezogen, an das sich Active von der Fotografie erinnerte. Aber da war auch etwas Vertrautes. »Sie sehen sich ähnlich, nicht wahr?«, sagte Maiyumerak. Active sah zwischen den beiden Männern hin und her und grunzte zustimmend. Es stimmte. Natchiq hatte dasselbe schmale, eiförmige Gesicht wie sein Enkel. Active deckte Natchiq wieder mit seiner blauen Plane zu; dann fiel ihm ein Schimmern zwischen Kellys betenden Händen auf. Maiyumerak sah es auch. »Sieht so aus, als ob er etwas festhält.« Active fummelte mit seiner funktionierenden Hand an Kellys steifgefrorenen Händen herum, dann gab er frustriert auf. »Sieh zu, ob du es herausbekommst.« Maiyumerak kniete sich hin und zwang Kellys Hände auseinander, dann zog er einen in silbernes Klebeband gewickelten Gegenstand heraus. »Sieht so aus, als hätte er gewollt, dass wir das finden. Soll ich das Klebeband wegschneiden?« Active nickte und Maiyumerak zog wieder sein Messer heraus und schnitt an der Umhüllung herum, bis er den Gegenstand darin losbekam. Wortlos reichte er Active die Prince-Albert-Dose. Active hob mit dem Daumen den Deckel ab und blickte hinein. Alles, was er sehen konnte, war ein zusammengefaltetes Stück Papier. Er fing an, seinen Fäustling und den Unterhandschuh an der rechten Hand auszuziehen, überlegte es sich dann aber anders, als die Brise ihm die Krause des Parka in die Augenwinkel wehte. »Komm mit.« Er stand auf und stapfte zu den Schneemobilen zurück, während Maiyumerak neben ihm her eilte und fragte: »Was hat er da reingetan?« Als sie die Yamaha erreichten, kniete Active sich hin und legte die Tabakdose auf den schwarzen Kunstlederbezug des
Sitzes. Er sah Maiyumerak an. »Ich glaube, es ist eine Nachricht. Ich möchte, dass du sie herausnimmst, auf dem Sitz auseinander faltest und festhältst, während ich sie lese. Und pass auf, dass der Wind sie nicht fortbläst.« Maiyumerak blinzelte Zustimmung, entblößte die rechte Hand und nahm das Stück Papier vorsichtig heraus. Active sah, dass es von einer braunen Einkaufstüte stammte und auf beiden Seiten mit Bleistift in Blockschrift beschrieben war. Maiyumerak breitete es auf dem Sitz des Schneemobils aus und hielt es fest, während sie beide lasen. »An denjenigen, der mich findet«, begann es. Mein Name ist Robert Kelly und dieser Mann neben mir ist mein Großvater Natchiq, der Eskimoprophet, der in den alten Tagen von einem bösen Angatquq namens Saganiq getötet wurde. Mein Schneemobil ist kaputt, weil dieser Trooper Active darauf geschossen hat. Wenn Sie das hier lesen, bedeutet das, dass wir es nicht geschafft haben und ich befürchte, so wird es kommen, deshalb schreibe ich das hier. Es ist mir egal, was aus mir wird, aber bitte bringen Sie meinen Großvater nicht zurück nach Chukchi. Sie werden ihn in ihr Museum stecken, damit Naluaqmiut-Touristen ihn anstarren können, die nichts von ihm wissen oder davon, was in den alten Tagen geschehen ist. Nachdem ich meinen Großvater aus dem Museum in Chukchi geholt hatte, ging ich zurück in mein Lager am Schamanenpass und machte mich bereit, ihn nach Kanada zu bringen, denn dorthin wollte er, als Saganiq ihn umbrachte. Da hörte ich, wie Victor Solomon auf Kay-Chuck sagte, dass er wisse, wer es getan hat und sie würden ihn ins Gefängnis bringen und mein Großvater würde trotzdem in den Glaskasten kommen, damit ihn die Naluaqmiut-Touristen anstarren. Ich wusste nicht, dass er glaubte, Calvin Maiyumerak hätte es getan, ich dachte, er meint mich. Da beschloss ich, meinen Großvater im Camp zu
lassen und mit Victor zu sprechen, ob wir uns vielleicht einigen können. Ich fuhr wieder nach Chukchi und fragte eine alte Dame auf der Straße, wo ist Victor? Sie sagte mir, dass er in seinem Weißlachs-Camp ist, also fuhr ich hinaus und er trat aus dem Zelt, als ich ankam. Er war ziemlich überrascht, als ich ihm die Harpune seines Großvaters und das Eulenamulett zeigte und ihm sagte, wer ich bin. Dann fragte er, was ich von ihm will. Ich sagte ihm, es sei an der Zeit, dass unsere Familien den alten Streit beilegen, wir leben jetzt in der modernen Zeit. Ich sagte ihm, er kann Saganiqs Sachen haben und im Museum ausstellen und ich bringe meinen Großvater nach Kanada, wie er es immer wollte, und dann lassen wir die Angelegenheit auf sich beruhen und alles ist vorüber. Keine Probleme mehr für unsere Familien. Victor nahm auch die Harpune und das Amulett, aber dann sagte er, er erzählt der Polizei trotzdem alles. Er würde meinen Großvater suchen und im Museum ausstellen und die Polizei würde mich ins Gefängnis stecken. Mein Großvater und ich, wir würden beide eingesperrt sein, das sagte Victor. Da wusste ich, ich muss schnell weg, zurück zu meinem Großvater und ihn irgendwo in Kanada verstecken, bevor die Polizei mich fangen kann. Meine Hoffnung war, dass Victor ihn nie findet. Aber Victor, er versuchte, mich aufzuhalten, er schlug mich mit der Harpune seines Großvaters aufs Auge. Da nahm ich ihm die Harpune weg und plötzlich sagte mir eine Stimme, ich solle ihn damit erstechen. Also tat ich es und Victor fiel in sein Weißlachsloch und schien schon tot zu sein, bevor er noch auf dem Eis lag. Ich wollte ihn nicht töten, aber als er tot war, ließ ich die Harpune und das Amulett zurück, weil sich vielleicht noch ein paar alte Leute an die Geschichten von meinem Großvater und Saganiq erinnern und dann wissen würden, was geschehen war. Ich habe sogar Saganiqs Amulett
in Victors Mund gelassen, sodass er das Kikituk seines Großvaters aufessen muss. Ich weiß, ich bin jetzt ein böser Mensch, auch wenn ich nicht wollte, was geschehen ist. Mein ganzes Leben lang habe ich versucht, auf die neue Art zu leben. Zur Schule gehen, arbeiten, zur Wahl gehen, die Naluaqmiut-Steuern zahlen. Aber als ich da draußen mit Victor auf dem Eis stand, da erschien mir die alte Art als die richtige. Mein Großvater war ein guter Mann, hat in seinem ganzen Leben nie einen Menschen getötet oder etwas Schlimmes getan. Er hat versucht, den Eskimos zu seiner Zeit dabei zu helfen, sich auf die Ankunft der Naluaqmiut und die neue Art vorzubereiten. Darum bitte ich Sie, wenn Sie uns finden, bitte lassen Sie nicht zu, dass mein Großvater nach Chukchi zurück gebracht wird. Und bitte rufen Sie meine Töchter Louise Oomittuk in Point Hope und Geri Anne Carson in Barrow an und sagen Sie ihnen, dass ich gefunden wurde und dass ich sie geliebt habe und dass ich kein schlechter Mensch war, nur dieses eine Mal. Active faltete die Nachricht zusammen, steckte sie unter den Parka und rückte die Sonnenbrille wieder über seine Augen. »Tja, jetzt wissen wir ja, was er an dem zusätzlichen Tag getan hat«, murmelte er in sich hinein. »Was?«, fragte Maiyumerak. »Nicht wichtig.« Active schüttelte den Kopf. »Schaffen wir sie zurück ins Lager. Cowboy kann sie mit der Beaver nach Chukchi zurückfliegen.« Maiyumerak rührte sich nicht. »Beide?« Active nickte und wappnete sich gegen den Gedanken. »Wir könnten Onkelchen Frost doch hier lassen, wie Robert Kelly gesagt hat, oder? Sie haben ja Ihren Mann.« Er deutete auf den Graben, wo Robert Kelly ein paar Meter neben seinem Großvater lag.
Active schüttelte den Kopf. »Onkelchen Frost ist Eigentum des Museums und er ist ein Beweisstück in Alans Diebstahlsache und in meinem Mordfall. Er muss zurück.« »Alan muss es nicht erfahren. Ich könnte mit Onkelchen Frost losfahren und ihn irgendwo verstecken und Sie könnten sagen, dass wir nur Robert gefunden haben.« Active nahm die Sonnenbrille ab und studierte sein Abbild in Maiyumeraks verspiegelter Brille. Maiyumerak nahm sie ab und sah Active in die Augen. »Bitte, Nathan.« Active blickte zurück auf Arnie Rivers Jagdcamp und den Canyon dahinter, dann ging er zu dem Graben. »Sie brauchen ihn doch nicht mehr für Ihren Fall.« Maiyumerak blieb hartnäckig. »Und Sie sind Inupiat. Sie wollen doch nicht wirklich, dass er in dieses Museum kommt, wo die Naluaqmiut-Touristen ihn anglotzen. Er gehört nach hier draußen.« Active betrachtete das Paar im Schnee. »Es ist nicht…« Kobuk fing wieder an zu bellen, und seine Schnauze wies nach Süden auf die Passhöhe. Sie blickten in die Richtung, aber zunächst konnten sie nichts hören oder sehen. Dann nahm Active das entfernte Brummen eines Schneemobilmotors wahr und sah einen schwarzen Punkt, der sich den Abhang herunterbewegte. Maiyumerak behielt ihn angespannt im Auge, bis der Fahrer nahe genug war, dass man ihn erkennen konnte. Dann sackten seine Schultern herunter. »Jetzt ist es sowieso zu spät. Dieser Alan Long würde nie mitmachen.« Ein paar Minuten später hielt Alan vor ihnen an und stellte sein Ski-Doo ab. Er starrte Maiyumerak überrascht an. Dann ging er wortlos zu der Grube und registrierte den Anblick von Robert Kelly und dem Bündel neben ihm. »Ist das Onkelchen Frost?«, fragte er an Active gewandt.
Active nickte. »Gut.« Alan stieg in die Grube hinab, zog die Plane zurück, um zu sehen, was darunter war, dann nickte er zufrieden. »Jim Silver hat nie geglaubt, dass ich ihn finden würde. Jetzt können wir unseren Fall abschließen und dem Museum sein Eigentum zurückgeben.« Active und Maiyumerak wechselten einen schnellen Blick und verdrehten die Augen. Active zog den Fetzen von der Einkaufstüte aus dem Parka. »Den Mordfall Victor Solomon können wir auch schließen. Kelly hat eine Nachricht mit einem Geständnis hinterlassen.« »Tatsächlich?«, sagte Long. Er nahm den Zettel und las ihn durch. »Ausgezeichnet. Verdammt gute Polizeiarbeit, Active.« Active wechselte ein weiteres Augenrollen mit Maiyumerak. Long wandte sich zu Maiyumerak. »Was hast du denn hier zu suchen, Calvin? Hast du Trooper Active geholfen, diese beiden zu finden?« »Eigentlich war es Kobuk, der sie gefunden hat«, sagte Active. »Kluger Hund«, sagte Alan. Er stieg aus der Grube und mit Calvins Hilfe lud er Großvater und Enkel auf den Schlitten hinter Actives Yamaha. Active steuerte die Yamaha ins Camp zurück, während Alan und Calvin auf ihren eigenen Maschinen vorausfuhren. Als Active beim Zelt ankam, sah er vier ausgeweidete und abgehäutete Karibus im Schnee gestapelt, das rotbraune Fleisch bereits mit einer Eisschicht überfroren. Die drei anderen Männer standen eng zusammengedrängt vor dem Zelt. Calvin deutete auf die Wolkenmassen im Norden und wechselte ernste Worte mit Alan und Whyborn. »Calvin und Whyborn glauben, dass wir hier verschwinden sollten«, sagte Alan, als Active herankam.
Calvin nickte und zeigte wieder nach Norden, wo die Wolken und die Brise herkamen. »Da zieht ein Sturm auf. Ich habe gehört, es wird richtig schlimm hier, wenn es von der Nordseite kommt. Wir sollten gehen.« Active runzelte die Stirn. »Wohin denn?« »Weniger schlimm auf der Südseite«, sagte Whyborn. Active zuckte die Achseln. »Ja, na schön.«
23
Sie packten einen vollständigen Satz Campingausrüstung auf die Schlitten. Außerdem Benzin für die Schneemobile und Heizöl für den Ofen. Dazu die vier Karibus plus Kobuk und Kibbie, die auf die Schlitten ihrer Besitzer sprangen, Mulden ins Gepäck wühlten, sich mit über die Schnauzen gelegten Schwänzen zusammenrollten und die Augen schlossen. Endlich war alles verstaut, bis auf die Leichen von Natchiq und Robert Kelly, die jetzt auf einem Bett aus Weidenästen ruhten, wo das Zelt gestanden hatte. »Sieht aus, als müssten wir sie zurücklassen«, meinte Maiyumerak. »Cowboy kann sie mitnehmen, wenn er das restliche Zeug abholt.« Active schoss ihm einen schnellen Blick zu. »Kommt nicht infrage, Calvin. Es könnte ihnen etwas zustoßen, bevor Cowboy zurückkommen kann.« »Was zum Beispiel? Es weiß doch niemand, dass sie hier sind.« »Es könnte zufällig jemand vorbeikommen.« »Wie wollen Sie sie denn befördern? Sie haben keinen Schlitten.« »Wir borgen uns einen.« Active drehte sich um und deutete auf Robert Kellys verlassenen Schlitten, der immer noch mit dem Arctic Cat mitten im Pass in seinem Graben festsaß. Maiyumerak zwinkerte unglücklich mit den Augen, aber er sagte nichts. Active barg den Schlitten mit seiner Yamaha. Sie luden die beiden Toten auf und sicherten sie auf Actives Betreiben nicht nur mit Gummischnüren, sondern mit richtigen Seilen.
Trotz ihrer vier Schlitten mussten sie einen recht großen Stapel Ausrüstung zurücklassen, einschließlich einer Nachricht an Cowboy, die ihren Plan erläuterte, den Sturm an dem geeignetsten Lagerplatz abzuwettern, den sie auf der Südseite des Passes suchen wollten. Als sie zur Abfahrt bereit waren, wehte der Wind nach Actives Schätzung bereits mit dreißig Stundenkilometern, und lange Schneefahnen glitten wie zuckriger Dunst über die Oberfläche. Whyborn, der erfahrenste Jäger der Gruppe, übernahm die Führung. Als sie sich bereitmachten, die Motoren anzulassen, sah er Active an. »Sind Sie jemals in einem Sturm in einer Gruppe von Schneemobilen gefahren, Nathan?« Active schüttelte den Kopf. Der Wind peitschte ihm die Deckhaare seiner Parkakrause in die Augen. »Tja, dann fahren Sie am besten als Zweiter in der Reihe.« Active nickte und Whyborn fuhr fort: »Ich fahre voraus, dann Sie, dann Alan, dann Calvin.« Active nickte wieder. »Sie müssen mich immer in Sichtweite behalten, egal, was passiert. Wenn ich schneller fahre, fahren Sie auch schneller. Wenn ich anhalte, halten Sie an.« Noch ein Nicken von Active. »Und Sie müssen sich alle paar Minuten umsehen, um sicherzugehen, dass Sie die anderen hinter sich noch sehen können. Wenn Sie sie nicht sehen, halten Sie auf der Stelle an und warten. Wenn sie nicht kommen, dann warten Sie auf mich und wir fahren gemeinsam in unserer Spur zurück, bis wir sie gefunden haben. Alles klar?« Active nickte noch einmal mit erheblich mehr Zuversicht, als er empfand, und dann fuhren sie los. Die Temperatur fiel, während der Nordwind die Luftmassen über den Pass peitschte. Das Miniaturthermometer am Schlüsselbund der Yamaha hatte minus fünfzehn Grad
angezeigt, als Active mit Natchiq und Robert Kelly im Lager angekommen war; jetzt stand es unter minus zwanzig. Ihr einziger Vorteil war, dass der Wind von hinten kam und ihnen nicht ins Gesicht pfiff. Während der ersten Stunde fuhren sie mehr oder weniger gleich schnell mit dem Wind und brausten in einer unheimlichen Glocke scheinbar still stehender Luft dahin, durch die einzelne Schneeflocken wirbelten. Doch der Sturm nahm zu. Dann war der Wind schneller als sie und trieb immer dichter wirbelnde Wolken von Schnee an ihnen vorbei, während die Flocken im Strahl ihrer Scheinwerfer tanzten. Je dicker die Luft von Schnee wurde, desto schwieriger war es, die anderen Maschinen zu sehen, trotz eingeschalteter Lichter, und schließlich fuhren sie nur noch fünf Meter hintereinander. Whyborn reduzierte das Tempo auf fünfzehn Kilometer pro Stunde, während er seinen Weg durch den Schnee erahnen musste. Kurz nach sechs blieb Whyborns auf und ab hüpfendes Rücklicht plötzlich stehen, und Active konnte gerade noch nach rechts ausscheren und das Damenmodell zum Halten bringen, bevor er auf den Hundeschlitten der vorderen Maschine auffuhr. Sie ließen die Motoren laufen und das Licht eingeschaltet, während sie im verschwommenen Zwielicht auf Alan und Calvin warteten. Als sie angekommen waren, schalteten alle die Motoren ab und versammelten sich um Whyborns Maschine. Active kam noch rechtzeitig, um ihn sagen zu hören: »Ich glaube, wir sind vom Weg abgekommen.« Active blickte sich im Schneesturm um. Die Luft war inzwischen dick wie Milch und nun, da sie angehalten hatten, spürte er die volle Wucht des Sturms. Sechzig Kilometer pro Stunde, vielleicht sogar achtzig. Die Temperatur lag laut Schlüsselring-Thermometer bei minus fünfundzwanzig.
Windfaktor? Lieber nicht darüber nachdenken. Aber wie konnte Whyborn feststellen, ob sie noch auf dem richtigen Weg waren oder nicht? Kein einziges landschaftliches Merkmal war zu erkennen. »Ja, glaube ich auch«, sagte Calvin. »Kommt mir so vor, als wären wir da hinten nach rechts abgekommen, seitdem schneiden wir die Schneeverwehungen auch in etwas anderem Winkel.« Ein stummer Augenblick dehnte sich zu Ewigkeiten, kein Geräusch war zu hören außer dem Wind, der an den Kapuzen ihrer Parkas vorbeibrauste, und den Schneefahnen, die über den Harsch zischten. »Ich könnte ja die Führung übernehmen«, sagte Calvin. Active hätte fast protestiert, verkniff es sich aber noch rechtzeitig. Whyborn hob die Augenbrauen, und das war es dann. Wie üblich fuhr Maiyumerak lediglich mit seinem Schneemobilanzug, ein paar ledernen Arbeitshandschuhen und einem Stirnband zum Schutz, obwohl er seine Turnschuhe gegen ein paar uralte Sorel-Stiefel ausgetauscht hatte. Jetzt ging er zu seinem Schlitten zurück und zog einen Parka und Fellfäustlinge aus einer seiner Kisten hervor. Als er ihre Blicke bemerkte, teilte sich sein Gesicht zu einem zahnlückigen Grinsen, während er die Zusatzkleidung anzog. »Bisschen kalt heute.« Er übernahm die Führung und sie machten sich wieder auf den Weg. Maiyumerak wich links von der Richtung ab, in die sie gefahren waren, bevor Whyborn anhielt. Dann, nach ein paar Minuten, schwenkte er wieder leicht nach rechts. Active konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob sich irgendetwas verändert hatte, aber es kam ihm so vor, als holperten sie jetzt wieder im selben Winkel über die Sastrugas wie zuvor. Jedenfalls nahm ihre Geschwindigkeit wieder zu.
Es wurde zunehmend dämmrig, als sie kurz nach sieben die Passhöhe überquerten. Dass sie die Höhe erreicht hatten, merkte Active nur deshalb, weil Maiyumerak den Konvoi anhielt und es ihnen mitteilte. Er sagte auch, dass sie ein paar Kilometer weiter die Schlucht erreichen würden. Active sah aufs Thermometer. Minus neunundzwanzig inzwischen, bei einem Wind von mindestens achtzig mit anscheinend zunehmender Tendenz. Die Kälte brannte sich durch seinen Parka und den Refrigiwear-Overall und versuchte, sich an seine Knochen heranzunagen. »Wenn wir dort angekommen sind, halte ich wieder an, bis ihr mich eingeholt habt«, überschrie Maiyumerak den Wind. »Dann fahre ich durch den schlimmen Teil und laufe zurück, um Nathans Maschine zu holen. Anschließend können Alan und Whyborn nachkommen, okay?« Sie machten sich auf die Abfahrt über die Südflanke des Passes. Der Sturm schien leicht nachzulassen, wie Whyborn vorausgesagt hatte. Weniger Schnee in der Luft und eine Sichtweite von etwa achthundert Metern, die gelegentlich einen Blick auf das über ihnen tobende Meer der Wolken ermöglichte. Weil er die Wolken sehen konnte, wurde Active klar, dass – wenn überhaupt – nur wenig Neuschnee fallen konnte. Die Flocken, die um sie herum brodelten, musste von einem orkanartigen arktischen Schneetreiben stammen, aufgewirbelt durch den Wind, der in ihrem Rücken immer noch stärker wurde. Inzwischen musste er an die hundert Kilometer pro Stunde haben, dachte Active. Unterhalb der Passhöhe verengte sich der Pass zur Schlucht, die Felswände drängten seitlich heran und wurden steiler, bis der Pfad nur noch ein schmales Band entlang einer Felskuppe war. Als sie die Kuppe umrundet hatten, öffnete sich die Schlucht unter ihnen, senkrechte Abstürze, mit Schnee und Eis bedeckt, so weit sie im Zwielicht in die Tiefe sehen konnten.
Maiyumeraks Rücklicht hörte auf zu tanzen. Active stellte den Motor der Yamaha ab und kam neben ihm zum Stehen. Maiyumerak stieg ab, kam zu Active und legte die Öffnung seiner Kapuze an die von Active, um sich gegen den Wind verständlich zu machen. »Jetzt kommt der schwierige Teil«, schrie Maiyumerak und deutete auf eine Stelle, wo sich das Band noch mehr verengte. »Ich bringe mein Schneemobil hinüber, dann komme ich zurück und hole Ihres. Sie können hinüberlaufen. Sehen Sie die Büsche, die da aus dem Schnee ragen? Da können Sie sich festhalten, wenn es nötig ist.« Active starrte in die Düsternis und nickte. Es sah nicht so schlimm aus, wie er sich vorgestellt hatte. Das Band wurde noch ein bisschen schmaler, aber nicht so sehr, dass man ein Schneemobil nicht halbwegs sicher darüber steuern konnte, vielleicht nicht einmal dann, wenn man ein einarmiger Fahrer war. Eine weitere Legende der Arktis, die zweifellos bei jedem Erzählen wachsen würde. Maiyumerak ging zu seinem Ski-Doo zurück und Active sah ihm nach, wie er auf die schwierige Stelle zusauste. Wo das Band sich verengte, stieß Maiyumerak auf eine kleine Schneeverwehung, die quer über dem Weg lag, und sein Schlitten hinter dem Ski-Doo schwang leicht auf den Abgrund zu. Bei dem Anblick hob sich Actives Laune etwas. Maiyumerak gab Vollgas und beendete die Überquerung mit dem Schlitten in seitlichem Drift, während Schnee unter der profilierten Antriebsraupe hervorspritzte, bis er sicheres Gelände erreicht hatte und der Sims sich wieder verbreiterte. Active konnte durch den dahintreibenden Schnee gerade noch erkennen, wie er das Ski-Doo abstellte und sich zu Fuß auf den Rückweg machte, wobei er sich an der schlechtesten Stelle des Weges an den Zwergweiden im Schnee entlang hangelte.
Bald war er zurück und schwang sich auf das Damenmodell. »Ich fahre es rüber und dann komme ich zurück und begleite Sie, Nathan.« Active warf einen Blick in die Schlucht, dann auf Alan und Whyborn, die ein paar Meter weiter hinten auf ihren Schneemobilen warteten und traf eine Entscheidung. Er wandte sich zu Maiyumerak und zwinkerte ihm zu. Maiyumerak deutete fragend in die gefrorenen Tiefen der Schlucht. Active nickte. Maiyumerak war sich immer noch nicht sicher. »Ihr Schneemobil auch?« Active zog die Augenbrauen hoch und grinste. Maiyumerak grinste zurück, ließ die Yamaha an und jagte den Weg entlang. Auf halbem Weg hinüber traf der Schlitten auf die Schneewehe und schwang zum Abgrund wie zuvor. Aber diesmal schienen das Gewicht des Schlittens und seiner Ladung zu viel zu sein für das Schneemobil. Es wühlte sich ein, Schnee spritzte unter der Antriebsraupe hervor und Maiyumerak warf sich herunter und klammerte sich an einem Büschel Zwergweiden fest. Das Damenmodell und der Schlitten sausten rückwärts mit zunehmender Geschwindigkeit über den immer steiler werdenden Abhang, flogen ins Leere, wurden in der Schlucht in Stücke zerschmettert und verschwanden mitsamt Robert Kelly und seinem Großvater. Maiyumerak kehrte langsam zu Active zurück, der immer noch dastand und in die Schlucht starrte. Maiyumerak hob die Hände und zuckte hilflos die Achseln. »Tut mir Leid, Nathan, ich konnte sie einfach nicht mehr halten.« Whyborn und Alan kamen durch den Schnee angerannt. Alan sah Maiyumerak mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Empörung an. »Du hast mir meinen Diebstahlfall ruiniert«, sagte er. »Da kriegen wir Onkelchen Frost im
Moment nicht mehr raus, und beim Eisbruch wird alles weggeschwemmt.« »Diese Yamahas hatten schon immer eine schlechtere Traktion als die Ski-Doos«, warf Whyborn ein. Maiyumerak sagte: »Aber sie hatte einen verdammt hübschen Lilaton.« Active zuckte die Achseln. »Sie ist in Erfüllung ihrer Pflicht gestorben. Die Trooper werden sie mir ersetzen.« Dann fragte er Maiyumerak: »Hättest du noch eine Mitfahrgelegenheit auf deinem Schlitten neben Kobuk?«
Epilog
Nelda Qivits sah sich gerade Die dümmsten Tiere der Welt an, als sie die äußere Tür ihres Kunnichuk aufgehen und wieder zufallen hörte, dann ein Klopfen an der Innentür. »Kommen Sie reih!«, schrie sie, ohne sich aus ihrem Stuhl vor dem Fernseher zu erheben. Die innere Tür ging auf und da stand dieser hübsche Nathan Active, der Naluaqmiiyaaq-Junge mit dem Winter in den Augen. Diesmal hatte er ihr Karibu mitgebracht – ein Hinterviertel und ein Rückenstück, wie es schien. Bis jetzt hatte er ihr nie Karibu mitgebracht, nur Geld. »Arigaa, Nathan, schön dich zu sehen«, sagte sie, während sie herbeihumpelte, um ihm das Rückenteil abzunehmen. Das zarte Fleisch entlang des Rückgrats war nach ihrer Ansicht das Beste am Karibu. Ein bisschen knurrte ihr der Magen aus Vorfreude. Aber sie würde noch warten müssen, das sah sie ein. Das Fleisch war hart gefroren. Seufzend legte sie es zum Auftauen auf das Abtropfblech ihrer Spüle. »Könntest du das Hinterviertel in meinen Gefrierschrank da draußen legen, eh? Dann setzt du dich hin und ich koche uns Sauerampfertee.« Nathan verstaute das Fleisch, trat in die Hütte und schloss die Innentür. Er setzte sich an ihren kleinen Esstisch und sein Blick wanderte zwischen ihrer Teezubereitung und einem Film über eine wilde Krähe hin und her, die in irgendeinem Naluaqmiut-Dorf der Außenwelt ein Kätzchen adoptiert hatte. »Ich habe auf Kay-Chuck gehört, dass du Robert Kelly gefunden hast, und dann warst du eine Woche lang in dem Schneesturm am Schamanenpass eingeschlossen, eh?«
»Ja, der Sturm hat uns fünf Tage lang festgehalten«, sagte er. »Ich war mit Calvin Maiyumerak und Whyborn Sivula und Alan Long zusammen. Wir hatten ein gutes Zelt und einen Ofen, deshalb war es halb so schlimm.« »Hast du dort das Karibu her, vom Schamanenpass?« Sie setzte sich ihm gegenüber und nippte an ihrem Becher. »Ich habe es nicht erlegt, das waren Alan und Whyborn, unmittelbar, bevor der Sturm zugeschlagen hat. Wir hatten also reichlich zu essen, und es war immer noch eine Menge übrig, als es vorbei war. Alan hat mir etwas abgegeben.« »Was habt ihr Jungs die ganze Zeit da im Zelt getrieben?« »Gegessen und viel geschlafen, Cribbage gespielt. Alan und Whyborn haben ein paar alte Geschichten erzählt. Calvin hat uns eine Menge toller Yo-Yo Tricks vorgeführt. Und er hat viel gesungen.« »Calvin hat gesungen?« Nathan zog die Augenbrauen zum Eskimo-Ja hoch, das gefiel ihr. »Was hat er gesungen? Gospelsongs?« »Nein, eigene Lieder. Er hat darüber gesungen, wie wir Natchiq und Robert Kelly gefunden haben, und er hat darüber gesungen, wie wir sie in der Angatquq-Schlucht wieder verloren haben, mitsamt meinem Schneemobil. Irgendwie hat er alles ins Lustige gezogen.« Sie schüttelte staunend den Kopf. Dass Calvin Maiyumerak so etwas konnte, hatte sie nicht gewusst. »Er klingt wie ein echter Eskimo aus den alten Zeiten, der Junge.« »Vermutlich«, sagte Nathan. »Hat es dir Spaß gemacht?« Nathan schwieg eine Weile, als müsse er darüber nachdenken, dann sah er sie mit überraschter Miene an. »Ja, es hat Spaß gemacht«, sagte er.
Der Knoten über seinen Brauen war verschwunden, wie sie jetzt sah. Anders als sonst, wenn er gekommen war, um ihr von seinem Schießtraum zu erzählen. »Arigaa! Dann hattest du dort oben gute Träume?« Er lächelte. »Keinen Schießtraum. Aber ich habe geträumt, ich wäre ein Schneehuhn, das durch den Schamanenpass fliegt. War das ein guter Traum?« »Warst du glücklich?« Nathans Gesicht strahlte in einem breiten, entspannten Lächeln. »Sehr glücklich.« »Aha.« Sie schlürfte ihren Tee. »Wie gehts Gracie?« Sein Ausdruck wurde wachsam. »Ich weiß nicht. Ich habe sie noch nicht gesehen.« Sie neigte den Kopf zur Seite und beobachtete ihn, während der Knoten sich wieder über seinen Brauen bildete, kaum sichtbar. »Sie war zum Sauerampfertee hier, während du weg warst.« »Wirklich?« »M-hm.« »Worüber habt ihr gesprochen?« »Ich erzähle nie jemandem, worüber ich mit jemand anderem gesprochen habe. Aber wenn sie noch ein paar Mal herkommt, solltest du vielleicht deine Harpune schärfen.« Er entspannte sich wieder und sein Grinsen kehrte zurück. »Und vielleicht solltest du sie mal irgendwohin mitnehmen, zum Schamanenpass zum Beispiel, ‘ne Menge Mädchen sind viel natürlicher, wenn sie draußen im Camp sind.« Sein Blick richtete sich nach innen, während er darüber nachdachte. »Womöglich haben Sie Recht. Es ist anders da draußen.« Sie beobachtete ihn schweigend. Wie immer dauerte es eine Weile, bis er von dem Ort zurückkehrte, zu dem er bei solchen
Gelegenheiten ging, wo immer der auch sein mochte. Er trank einen Schluck Sauerampfertee und stand auf. »Danke für alles«, sagte er. »Ich gehe jetzt wohl besser. Grace und ich haben meinem Großvater eine Geschichte zu erzählen.« »Deinem Ataata Jacob?« Nathan hob die Augenbrauen. »Arigaa«, sagte sie. »Das wird ihm gefallen.«