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Schamanenkult
So leise wie möglich drehte sich der Reporter Bill Conolly auf die rechte Seite, um die Bettkante zu ...
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Schamanenkult
So leise wie möglich drehte sich der Reporter Bill Conolly auf die rechte Seite, um die Bettkante zu erreichen. Dabei fiel sein Blick automatisch auf die roten Zahlen der digitalen Uhr. Die dritte Morgenstunde war angebrochen. Um diese Zeit lagen die meisten Menschen noch im Tiefschlaf. Dazu gehörte auch Bills Frau Sheila. Bill wollte sie auf keinen Fall wecken. Ein Geräusch hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Ein fremdes Geräusch außerhalb des Hauses. Bill hatte es nicht identifizieren können. So wusste er nicht, ob er einen Schrei, ein Poltern oder einen dumpfen Aufschlag wahrgenommen hatte. Möglicherweise war es auch nur eine Stimme in der Nacht gewesen... In der Nacht waren oft lichtscheue Gestalten unterwegs. Einbrüche nahmen zu in der dunklen Jahreszeit, davon war auch die Gegend, in der die Conollys lebten, nicht gefeit. Zudem gehörten die Conollys seit Jahren zu den Personen, die auf den Todeslisten gewisser dämonischer Kreise standen. Auch Johnny Conolly, Bills Sohn, schlief. Er war ziemlich spät von einer Weihnachtsfete gekommen, bei der es nicht nur Milch zu trinken gegeben hatte. Umso müder war er gewesen und würde nur durch eine Explosion zu wecken sein. Der fremde Laut hatte sich mehrmals wiederholt. Jetzt allerdings tat sich nichts. Bill ließ seinen Blick noch einmal über den Monitor streifen. Als er wieder nichts Verdächtiges sah, zog er sich zurück. Nicht wieder ins Schlafzimmer, denn der Reporter war jemand, der der Sache auf den Grund gehen wollte. Wenn er im Haus nichts fand, dann möglicherweise draußen. Im Pyjama wollte er nicht in die Kälte gehen. In seinem Zimmer lagen noch einige Klamotten, worüber Sheila sich immer aufregte, aber Bill ging oft später ins Bett als sie. Dann zog er' sich in seinem Arbeitszimmer aus, um Sheila nicht zu stören. Jetzt zog er normale Kleidung über seinen Pyjama an. Er wollte einen Blick in den Garten werfen. Möglicherweise hatte er Glück und entdeckte etwas, auch wenn sich draußen die Schatten der Nacht zusammenballten. Bevor sich Bill auf den Weg machte, um einen Blick in den Garten zu werfen, zog er die Schreibtischschublade auf, nahm eine Taschenlampe heraus und holte seine mit geweihten Silberkugeln geladene Beretta hervor. Wehrlos wollte er nicht in die Dunkelheit des Gartens gehen. Bevor er die Hintertür aufschloss, lauschte er noch, dann zog er sie auf und schauderte leicht zusammen, weil ihn die nächtliche Kälte traf. Er hatte nicht gedacht, dass es so tief abgekühlt war. Die Temperaturen lagen im frostigen Bereich. Mit sehr leisen Schritten bewegte er sich an der schmalen Hausseite entlang. Die Conollys wohnten in einem Bungalow. Es war leicht möglich, dass sich jemand auf dem flachen Dach aufhielt. Deshalb warf der Reporter hin und wieder einen Blick in die Höhe, aber es gab dort nichts zu sehen. Wie auch im Garten nicht. Zumindest nicht in dem Teil, den Bill von seiner Position aus überblikken und mit der Taschenlampe anleuchten konnte. Da bewegte sich kein Fremdkörper. Nur einige leichte Zweige wippten hin und wieder im schwachen Wind, das war alles. Bill hätte zufrieden sein können, war es jedoch nicht. Er wusste selbst nicht, was ihn störte. Die nächtliche Stille konnte es nicht sein. Vielleicht einfach nur ein gewisser Sinn für das Unheimliche. Er schwenkte die Hand mit der Taschenlampe in die entgegengesetzte Richtung - und stoppte mitten in der Bewegung. Da war etwas! Nein, das war jemand! Eine Gestalt! ¶ Bill Conolly hielt den Atem an und hielt dabei den Strahl der Lampe unbeirrbar auf das neue und
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auch fremde Ziel gerichtet. Die Gestalt stand vor oder zwischen den Büschen. So genau erkannte Bill das nicht. Aber er war sicher, dass er sich nicht geirrt hatte. Ein Fremder, der in seinem Garten stand. Aus welchen Gründen auch immer. Der Fremde bewegte sich nicht. Das Licht machte ihm nichts aus, obwohl es das Gesicht traf. Er drehte den Kopf nicht zur Seite und zwinkerte auch nicht mit den Augen. Er nahm das Licht einfach hin, und für einen Moment hatte Bill den Eindruck, dass der helle Strahl die Gestalt sogar durchschneiden würde, als wäre sie tatsächlich ein Geist oder Gespenst. Soweit Bill erkennen konnte, handelte es sich bei ihr um einen Mann. Er schien einen hellen Umhang zu tragen. Das konnte möglicherweise auch am Licht liegen, das einfach zu bleich und kalt war. Der Mann bewegte sich nicht. Er zuckte nicht mal zusammen. Er rührte keinen Finger. Er stand ebenso da wie Bill Conolly, nur dass er nicht zum Haus gehörte. Irgendwie fühlte sich Bill besser und auch beruhigter, dass er die Entdeckung gemacht hatte. So hatte ihm das Schicksal keinen Streich gespielt. Er konnte sich nach wie vor auf seine Sinne verlassen, und seine innere Unruhe war auch nicht besonders groß, weil er einfach den Eindruck hatte, keinen Feind vor sich zu sehen. Der Mann dort hatte ihm nichts getan. Er machte zudem nicht den Eindruck, als wollte er sich im nächsten Moment auf den Reporter stürzen. Er stand einfach nur da und wartete. Das tat auch Bill. Oder noch. Lange wollte er nicht mehr auf der Stelle stehen. Seine rechte Hand legte er auf den Griff der Beretta. Dass die Waffe da war, beruhigte ihn. Er würde sie sehr schnell ziehen können. Dann ging er weiter. Mit kleinen Schritten. Er wollte dem anderen noch Gelegenheit geben, etwas zu sagen, zu erklären oder etwas zu unternehmen. Da tat sich nichts. Der Eindringling blieb stehen. Je näher Bill an ihn herankam, um so unheimlicher wurde ihm der Mann. So etwas hatte er noch nie erlebt. Da stand dieser Typ und bewegte sich nicht, wobei ihn nicht mal das Licht störte. Je näher Bill der Gestalt kam, umso mehr wunderte er sich darüber. Das Licht erreichte den Mann, und es war auch normal, dass dies passierte. Eine andere Sache war nicht normal. Das Licht wehte hindurch. Die Gestalt bildete kein Hindernis. Sie stand bewegungslos da, und auch in ihrem Gesicht regte sich nichts. Das war nicht mehr normal. Bill, der noch einen Schritt vorging und jetzt nahe genug herangekommen war, sah alles überdeutlich und hatte für einen Moment das Gefühl, der Boden wäre ihm unter den Füßen weggezogen worden. Er wusste Bescheid. Vor ihm stand tatsächlich ein Gespenst! ¶ Gespenster gibt es nicht. Geister auch nicht. Das jedenfalls behaupten viele Menschen und sind auch hundertprozentig davon überzeugt. Bill sah die Dinge anders. Es gab die Gespenster oder die Geister, denn eine solche Erscheinung stand vor ihm. Ein tiefer Atemzug vertrieb seine Starre. Trotz der Kälte war ihm warm geworden, und das Blut rauschte in seinen Ohren. Er konzentrierte sich auf die Gestalt. Sie sah aus wie ein Mensch, aber sie war keiner. Nur eben ein Umriss, wie von zahlreichen Strichen einfach dahingezeichnet. Es war ein Körper, und es war doch keiner. Der Reporter spürte deutlich, dass sich vor ihm Energien aufgebaut hatten. Sie wurden zusammen mit der Kälte zu ihm transportiert. Er hatte trotz allem nicht das Gefühl, hier einem Feind gegenüberzustehen. Aber er war davon überzeugt, dass dieses Gespenst ihn nicht rein zufällig ausgesucht hatte, sondern bewusst erschienen war.
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Beide starrten sich an. Obwohl der andere keine normalen Augen besaß, kam Bill sich wie angestarrt vor. Er bemerkte auch den feinen Nebel oder den Dunst, der sich gebildet hatte und den Besucher ausfüllte, der trotzdem noch geisterhaft blieb. Dann hörte Bill ihn. Es war eine Stimme, und zugleich war es doch keine. Er wurde zunächst damit nicht fertig, denn er musste sich scharf konzentrieren, um überhaupt etwas verstehen zu können. Dabei war er sich nicht sicher, ob er die Stimme akustisch vernahm oder ob sie nur in seinem Kopf zu hören war. Zudem war jedes Wort von einem leichten Zischen begleitet. »Gefahr... ich... spüre sie...« Bill stand da und gab keine Antwort. Die Warnung hatte er begriffen, allein ihm fehlte der Glaube. Er wollte den anderen noch reden lassen und blieb deshalb still. Der Nebel oder der Rauch, vielleicht auch ein Ektoplasma hatte sich innerhalb des Mannes verdichtet und schien ihm neue Energien zugeführt zu haben, denn seine Stimme wurde deutlicher. »Eine alte Gefahr. Sie lauert noch. Sie ist nicht ganz weg. Ich kann sie spüren...« »Wo?« Es war das erste Wort, das der Reporter hervorbrachte, seit er im Garten war. »Hier...« »Im Garten?« »Ja...« Bill schüttelte den Kopf, weil er einfach nicht nachvollziehen konnte, was ihm hier erklärt worden war. Er fühlte sich nicht in einer Gefahr, doch er musste auch zugeben, dass diese Gestalt nicht von einer direkten gesprochen hatte. »Kannst du es nicht genauer sagen?« flüsterte er der Erscheinung zu. »Nein, ich spüre sie nur.« »Wie denn?« »Sie ist da. Sie kommt. Sie wird dich bald erreichen...« Bill hatte seine Überraschung endgültig überwunden. Er wollte es genauer wissen und trat näher an die einsame Gestalt heran. Bill schob seine Hand mit der Lampe vor. Dabei merkte er, dass der unheimliche Besucher eine sehr starke Kälte ausstrahlte. Er fühlte sich abgestoßen und angezogen zugleich. Die Furcht war noch vorhanden, und sein Herz klopfte noch immer schneller als gewöhnlich. Auf seiner Stirn lag Schweiß, und seine Hände begannen zu zittern. »Nicht... nicht...« Bill zog die Hand zurück. Er bedauerte es, zu neugierig gewesen zu sein. Die Ummantelung der Lampe war feucht geworden. Darum kümmerte sich Bill nicht, weil er ein anderes Phänomen erlebte. Vor ihm löste sich die Gestalt auf. Sie glitt weg, als hätte man gegen sie geblasen. Der innere Nebel oder Dunst verschwand. Sie wurde so durchscheinend wie bei der ersten Entdeckung. Danach sah Bill nur eine kurze, zuckende Bewegung, und einen Moment später war die Gestalt fort. Der Reporter wusste nicht, was er denken sollte. Er blickte zum Himmel, doch dort sah er nichts. Der Geist oder die Erscheinung hatte sich längst aufgelöst und war wieder zurück in ihre Welt getaucht. In ihre Welt? Bill dachte nach. Wo war das? Wo lag sie? Vielleicht hatte er einen Besucher aus dem Jenseits erlebt. Aber was hätte ein Geist hier zu suchen gehabt? Warum hätte er ihn warnen sollen? So sehr Bill sich auch bemühte, er konnte sich nicht daran erinnern, die Gestalt jemals gesehen zu haben. Auch nicht in einem menschlichen Aussehen. Als auch zwei Minuten später nichts mehr passiert war und Bill die Kälte jetzt wirklich als unangenehm empfand, drehte er sich um und ging den Weg wieder zurück. Diesmal sehr nachdenklich und nicht mehr erfüllt von Misstrauen und Spannung. Als er die Seitentür erreichte, war nichts passiert. Keiner hatte versucht, ihn aufzuhalten, und ihm war auch keine Warnung zugeschickt worden. Aber er hatte sich die Gestalt nicht eingebildet, und er wusste auch, dass die Nacht für ihn gelaufen war. Schlafen würde er nicht mehr können, denn Bill fühlte sich innerlich aufgewühlt. Auch wenn
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er in seinem Leben schon manches erlebt hatte, war er nicht so abgebrüht, einfach über gewisse Dinge hinwegzugehen. Sheila wollte er nicht wecken. Leise schloss er hinter sich die Tür und war wieder froh, von der Wärme des Hauses umfangen zu werden. Noch einige Male schauderte er zusammen, dann endlich hatte er sein Büro erreicht, das er im Dunkeln betrat. Ohne Licht zu machen setzte er sich an seinen Schreibtisch und legte die Pistole wieder zurück in die Schublade. Trotz der bulligen Wärme, die er jetzt spürte, war noch die leichte Gänsehaut vorhanden, die seinen gesamten Körper bedeckte. Den Pullover zog er wieder aus und warf ihn auf einen Sessel. Er blieb nachdenklich hinter dem Schreibtisch sitzen und drückte beide Handflächen gegen die Wangen. Die Ellenbogen berührten die Schreibtischplatte. Er schaute in die Dunkelheit hinein und grübelte nur. Was hatte dieser unheimliche Besuch zu bedeuten? Wie mit Leuchtschrift geschrieben, stand die Frage vor seinem geistigen Augen. Er fand keine Antwort. Er blieb immer nur an einem Punkt hängen, und das war die Warnung des Unheimlichen. Sie hatte ihm nicht direkt gegolten, sondern der Umgebung, auf der auch sein Haus gebaut worden war. Etwas musste hier sein. Etwas Altes. Oder etwas, das er längst vergessen hatte. Natürlich war dies kein Haus wie jedes andere gewesen. Die Familie Conolly war manches Mal in einen bösen Kreislauf hineingeraten. Sie hatte den Horror finsterer Mächte am eigenen Leibe verspürt, aber sie hatte es auch geschafft, zu überleben. Er hörte ein Geräusch. Seine Gedanken wurden unterbrochen, und auch seine Haltung veränderte sich. Bill drehte sich nach links. Dort lag die Tür, die nicht ganz geschlossen war. Vom Flur her fiel noch ein restlicher Lichtschein in sein Büro hinein, und durch ihn bewegte sich ein Schatten. Es war nicht der Geist aus dem Garten, den Beweis erhielt Bill Sekunden später, als er die Stimme seiner Frau hörte. »Bist du in deinem Büro?« »Ja, Sheila, komm rein...« ¶ Sie drückte die Tür auf, blieb verwundert auf der Schwelle stehen und schüttelte leicht den Kopf. »Willst du im Dunkeln bleiben, Bill?« »Nein, das nicht.« Er schaltete die Lampe ein, deren Helligkeit sich über den Schreibtisch ergoss, der bis auf ein paar Fotokopien recht aufgeräumt aussah. Sheila hatte ein Weihnachtsgesteck auf die Platte gestellt. Aus dem Grün der Tannenzweige schauten zwei dicke Kerzen mit angekokelten Dochten hervor. Das Licht war dem Reporter im ersten Moment zu grell. Er drückte sich zurück und schaute Sheila an, wie sie um den Schreibtisch herumging und sich dann in seine Nähe auf die Schreibtischkante setzte. Sie hatte ihren flauschigen Bademantel angezogen. Ihr forschender Blick sprach Bände. Er teilte Bill mit, dass sie sich darüber wunderte, ihn mitten in der Nacht angezogen zu sehen. Sie stellte die typische Frage, die jeder gestellt hätte. »Konntest du nicht schlafen?« »So ist es.« »Und warum nicht?« Bill sah in das besorgte Gesicht seiner Frau. »Das ist so ein Problem«, gab er zu. »Träume?« »Wie kommst du darauf?« Sie strich über sein Haar. »Weil ich ebenfalls unter gewissen Träumen gelitten habe, Bill. Ich wurde plötzlich wach, fasste nach rechts, und da fand ich das Bett leer vor.« »Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken.« »Du bist draußen gewesen, nicht?« Es hatte keinen Sinn, das abzustreiten, und deshalb nickte der Reporter. Sheila legte die Stirn in Falten. »Freiwillig bist du bestimmt nicht in die Kälte gegangen. Welchen
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Grund hast du gehabt, das zu tun?« Bill überlegte, was er Sheila sagen sollte. So einfach abspeisen lassen würde sie sich nicht. Da musste er schon bei der Wahrheit bleiben. Er hob die Schultern und sagte: »Ich bin wach geworden, weil ich ein Geräusch gehört . habe. Es war so laut, dass es mich geweckt hat. Natürlich bin ich aufgestanden, um nachzuschauen.« »Du hast es nicht hier im Haus gehört?« »Nein. Draußen.« »Und was war das für ein Geräusch?« Bill lächelte bei seiner Antwort. »Das weiß ich bis jetzt noch nicht, Sheila. Ich habe es nicht herausfinden können, tut mir wirklich leid.« »Der Wind?« »Kann sein.« Sheila atmete sehr hörbar ein und ließ auch ein leises Seufzen hören. »Bill, warum sagst du mir nicht die Wahrheit? Ich sehe dir doch an, dass etwas passiert ist. Auf mich brauchst du wirklich keine Rücksicht zu nehmen. Ich denke nur daran, was wir alles zusammen durchgemacht haben.« »Ja, du hast Recht. Es ist nur so unwahrscheinlich und unglaublich, was ich erlebt habe.« »Und was?« »Es war jemand im Garten!« Jetzt hatte Bill es gesagt, und es gab auch kein Zurück mehr für ihn. »Bei uns im Garten?« flüsterte Sheila. »Ja, genau.« »Und wer?« »Das ist mein Problem, Sheila.« »Das du mit mir teilen solltest.« Der Platz auf dem Schreibtisch war ihr zu unbequem. Deshalb rutschte sie herab und ging zu Bills Ledersessel, in den sie sich hineinfallen ließ und die Beine anzog. »Jetzt bin ich mal gespannt, was du mir zu sagen hast.« Bill lehnte sich zurück. In den folgenden Minuten berichtete er Sheila von seinem Zusammentreffen mit der unheimlichen Gestalt und vergaß auch nicht, darauf hinzuweisen, welche Warnung sie ihm mit auf den Weg gegeben hatte. Sheila hatte es gelernt, zuzuhören. Sie sagte zunächst auch nichts, doch ihr Gesicht, das etwas im Schatten lag, nahm einen starren Ausdruck an. Sie hatte sehr genau zugehört, gab keinen Kommentar ab und drehte sich nur zur Tür hin, als Bill seinen Bericht beendet hatte. Aber dort ließ sich niemand sehen. Es wehte auch kein eisiger Luftzug in den Raum. Dennoch zog Sheila fröstelnd die Schultern hoch. »Das ist mir passiert, Sheila.« Sie strich durch das blonde Haar und schaute ins Leere. »Was hast du dir denn gedacht, wovor die Erscheinung dich oder uns gewarnt haben könnte?« »Das weiß ich nicht. Sie hat sich nicht näher ausgedrückt und die Warnung allgemein ausgesprochen.« »Beunruhigt dich das, Bill?« »Dich nicht?« »Doch.« Sie blickte zum Fenster hin. Dahinter bewegte sich nichts. Nur die Finsternis der Nacht war dort zu sehen. »Ich denke nur darüber nach, was diese Erscheinung denn gemeint haben könnte.« »Es gibt nichts Konkretes.« »Ja, das kann gut sein. Er hat weder dich, mich, noch Johnny damit gemeint, sondern von einer allgemeinen Gefahr gesprochen. Würdest du mir da zustimmen?« »Unbedingt.« »Dann hängt es mit dem Haus zusammen. Mit dem Grundstück, womit auch immer.« Bill runzelte die Stirn. »Ich will gar nicht daran denken, was uns hier alles widerfahren ist. Da kam in den vergangenen Jahren viel zusammen. Zu viel, würde ich sagen.« »Ob es mit Johnny und Nadine zusammenhängt?«
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»Ja - auch. Kann sein. Darüber habe ich auch nachgedacht.« Es war die alte Geschichte. Nadine Berger war damals in eine Wölfin mit der Seele eines Menschen verwandelt worden. Sie hatte bei den Conollys gelebt wie ein treuer Hund, und sie war vor allen Dingen die Beschützerin des Jungen gewesen. Diese Zeiten waren vorbei. Nadine Berger hatte ihre menschliche Gestalt zurückerhalten und lebte jetzt in einer anderen Welt. Auf der geheimnisvollen und rätselhaften Nebelinsel Avalon. Das Reich war für sie zu einem Zufluchtsort geworden. »Ich glaube es nicht«, meinte Sheila. »Warum nicht?« Sie zuckte mit den Schultern. »Dann hätte diese Erscheinung zumindest etwas andeuten können. So hat sie eigentlich mehr angerichtet, als sie wohl verhindern wollte.« »Das kann auch sein.« »Was willst du tun?« Trotz der Spannung und ihres Wachseins hatte Sheila Mühe, ein Gähnen zu unterdrücken. »Wir können nichts tun. Zumindest nichts, was uns weiterbringt.« »Demnach willst du darauf warten, dass etwas passiert?« »Nein, auch das nicht. Zumindest nicht lange. Ich werde dem Spuk nachgehen.« »Und mit unserem Freund John darüber sprechen.« »Das denke ich mir.« Sheila war einverstanden. Aber sie fügte noch etwas hinzu und meinte mit leiser Stimme: »Möglicherweise sollten wir Johnny darüber informieren. Man weiß nicht, was kommt.« »Tja, das ist die Frage.« »Du bist nicht dafür?« »Nein, nicht so direkt. Ich will ihn jetzt nicht wecken. Aber es wäre zu überlegen, ob wir ihn später aufklären sollen.« »Wenn du mit John gesprochen hast.« »Zum Beispiel.« »Es ist deine Entscheidung, Bill. Du hast diese Gestalt gesehen. Ich mische mich nicht ein.« Sie schaute auf die Uhr. »Es ist eigentlich noch zu früh, um wach zu bleiben. Ich jedenfalls lege mich wieder ins Bett. Du auch?« »Ja. Was soll ich hier am Schreibtisch hocken und mir den Kopf zerbrechen.« »Das wird auch im Bett nicht anders sein.« »Da hast du Recht. Nur dort ist es dann bequemer. Da kann ich liegen.« Bill schaltete das Licht aus. Zusammen mit seiner Frau verließ er das Büro. Sie waren leise, um Johnny nicht aufzuwecken, aber sie gingen auch auf Nummer sicher und schauten im Zimmer ihres Sohnes nach, ob dort alles in Ordnung war. Ja, es war alles klar. Johnny lag in seinem Bett und schlief tief und fest. Beide gingen beruhigter in ihr Schlafzimmer. Sie lagen auf dem Rücken, schauten zur Decke und dachten daran, dass innerhalb kurzer Zeit wieder alles anders geworden war. Das war ihr Leben. Trotz der Überraschungen hätte Bill mit keinem tauschen wollen, und Sheila wohl auch nicht. »Hast du nicht von einem Traum gesprochen?«, fragte Bill nach einer Weile. »Stimmt.« »Wie war er?« »Nicht gut.« »Hm. Hing er mit dem zusammen, was ich draußen erlebt habe?« Sheila fasste nach der Hand ihres Mannes. »Das weiß ich nicht genau, Bill. Es war jedenfalls kein schöner Traum. Ich war allein auf weiter Flur, und über meinem Kopf bildete sich eine dunkle Wolke, die immer größer wurde. Sie breitete sich aus, aber sie stieg auch in die Höhe, um sich schließlich immer tiefer zu senken. Sie wollte mich erdrücken.« »Hat sie es geschafft?« »Nein, denn ich wachte auf, bevor sie auf mich niederfallen konnte. Und du bist nicht im Bett gewesen.«
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»Ich hatte eben draußen zu tun.« »So kann man es auch sagen«, flüsterte Sheila und fragte: »Was kommt da auf uns zu, Bill?« »Ich weiß es nicht - leider...« ¶ Alltag eines Geisterjägers, der für mich damit anfing, dass ich mit der U-Bahn ins Büro fuhr. Zusammen mit meinem Freund und Kollegen Suko, der wacher war als ich, denn ich hatte in der vergangenen Nacht nicht gut geschlafen. Geträumt hatte ich von den Kreaturen der Finsternis, die mich umzingelt hatten. Aus ihrem Kreis war dann ein gewisser Brian Mills erschienen. Bewaffnet mit zwei Revolvern. Er hatte auf mich gefeuert und mich mit mehreren Kugeln niedergestreckt. Danach war er-lachend in den Kreis der Dämonen eingetaucht und hatte sich zusammen mit ihnen einfach aufgelöst. Mein Traum war noch nicht beendet, denn plötzlich war die blondhaarige Staatsanwältin Purdy Prentiss erschienen. In einer Hand hielt sie den abgeschlagenen Kopf des jungen Mannes und warf ihn neben mir zu Boden, bevor sie sich niederkniete und um mich, den Toten, weinte. Erhebend war der Traum nicht eben gewesen, denn er hatte mich noch am Morgen beschäftigt. Es schien kein guter Tag zu werden, und das Ungute setzte sich noch fort, denn als wir das Vorzimmer betraten, war von Glenda Perkins nichts zu sehen. Es wies auch nichts darauf hin, dass sie schon da gewesen war und das Büro nur mal kurz verlassen hatte. Alles sah so aus wie am vergangenen Abend verlassen. »Wo ist Glenda?« fragte ich. »Bald ist Weihnachten«, meinte Suko lapidar. »Das weiß ich. Aber was hat das mit Glenda zu tun?« »Sie hat sich den heutigen Morgen freigenommen, um Geschenke einzukaufen. Wovor du dich ja gedrückt hast«, hielt Suko mir noch vor. »Den Auftrag hat Shao übernommen. Sie hat mehr Zeit als ich und auch als du.« »Ich war wenigstens einmal mit ihr weg.« »Und? Hat es dir gefallen?« »Nein.« Ich lachte und hatte mich längst an die Kaffeemaschine gestellt, um die braune Brühe und den Wachmacher zu kochen. Ohne meinen Bürokaffee war ich nur ein halber Mensch. Suko wollte keinen Kaffee. Er ging bereits in unser Büro, während ich noch im Vorzimmer wartete und über den Tag nachdachte, der noch vor uns lag. Wir hatten keinen bestimmten Fall am Hals, aber wir würden auch nicht im Büro bleiben, sondern in der Stadt unterwegs sein. Drei Tage lang trafen sich die Schamanen in London. Sie wollten über ihre Künste reden, sich präsentieren und auch verdienen. Denn es gab allerlei zu kaufen, was mit ihrem Metier zu tun hatte. Vom Buch über Fetische und Kräuter bis hin zu Steinen und Stickereien. Alles natürlich mit magischer Bedeutung und von ihnen beseelt. Menschen konnten sich in Seminaren treffen, die natürlich bezahlt werden mussten, und sie konnten sich mit Psychotherapeuten über ihre intimsten Probleme unterhalten. Alles war ein riesiges Geschäft, aber nicht nur das. Es gab eben auch das Unerklärliche, mit dem manche Schamanen behaftet sind. Ein besonders starker Zauberer war angekündigt worden. So etwas wie ein König der Schamanen. Er hieß Mongush oder nannte sich zumindest so. Wie ich gelesen hatte, lag seine Heimat in den Steppen Sibiriens. Angeblich sollte er schon über hundert Jahre alt sein. Jedenfalls wollten wir uns mal dort umschauen. Aus rein beruflichem Interesse. Aber erst nach dem Kaffee. Ich hatte mir die erste Tasse vollgeschenkt und wollte sie in mein Büro tragen, als die Tür zum Vorzimmer geöffnet wurde. Ich drehte mich um und staunte. Bill Conolly war gekommen! »Welch seltener Besuch, Bill. Willst du auch eine Tasse Kaffee?«, fragte ich. »Klar, auch wenn du den Kaffee gekocht hast. Glenda scheint ja nicht hier zu sein.«
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»Stimmt, du Schnellmerker.« Ich ging schon vor und sagte beim Eintreten. »Bill Conolly ist gekommen.« Suko, der etwas las, ließ das Magazin sinken. »Das habe ich schon gehört. Was will er denn?« »Keine Ahnung.« »Nur mal guten Morgen sagen?« »Eher nicht. Da kenne ich ihn besser.« Ich warf einen Blick auf das Magazin. Das Titelblatt zeigte einen sehr alten Mann, der ein braunes Gewand trug und einen hellblauen Gürtel um seine Taille geschlungen hatte. Auf seinem Kopf saß ein Hut, der mehr einer Kappe glich und acht Ecken aufwies. Ich las auch den Namen des Mannes. Er lautete Mongush. »Das ist der Star des Kongresses, wie?« »Muss wohl so sein. Sonst hätten sie ihn nicht aufs Titelblatt gebracht.« Ich musste lächeln. »Sieht irgendwie stark aus, der Mann. Die Augen finde ich sogar faszinierend. Der Blick geht durch und durch.« »Du wirst ihn ja heute noch persönlich erleben«, meinte Suko und schaute zur Tür, die von Bill aufgestoßen wurde. Mit der vollen Tasse Kaffee betrat er das Büro. Bill stellte die Tasse ab, nahm sich einen Stuhl und setzte sich. Er begrüßte Suko mit einer lässigen Handbewegung, dann stand er noch mal auf und schlüpfte aus seiner braunen Lederjacke. »Du siehst nicht gut aus«, stellte ich fest. »Hat dich der Weihnachtsstress zu stark gefordert?« Bill schüttelte den Kopf, trank Kaffee ab und meinte: »Das ist es nicht gewesen.« »Sondern?« »Ich habe schlecht geschlafen.« »Kann passieren. Ich auch.« »Ja, aber ich hatte meinen Grund.« Er trank wieder. »Und deshalb bin ich zu euch gekommen. Ich kann mal wieder sagen, dass es mich erwischt hat, Freunde.« »Wieso?« »Jemand war in der Nacht in unserem Garten. Er stattete uns einen unangemeldeten Besuch ab, was ich nicht eben nett fand. Aber ich muss damit fertig werden.« »Wer war es denn?« »Ein Geist.« Wir blieben ruhig. Weder Suko noch ich verzogen das Gesicht. Wenn Bill hier am recht frühen Morgen erschien und uns das mitteilte, hatte er seine Gründe. Er war kein Spinner. »Ich denke«, sagte Suko, »du solltest alles mal von Beginn an erzählen.« »Klar, deshalb bin ich ja hier.« In der nächsten Zeit hörten wir gespannt zu. Bill war ein flüssiger Erzähler, der seine Emotionen unter Kontrolle hatte, dennoch rann mir ein leichter Schauer über den Rücken, als ich mir vorstellte, wie Bill in der Nacht durch seinen Garten gelaufen war und die Gestalt gesehen hatte. »Sie wollte nichts von mir. Sie griff mich nicht an. Sie wollte mich nur warnen. Man kann sie auch als Geist oder Gespenst ansehen. Das ist mir egal.« »Feinstofflich, also?« »Klar.« »Ektoplasmisch?« »Auch möglich.« »Ein Zweitkörper? Ein Astralleib?« erkundigte sich Suko. Bill Conolly hob die Schultern und auch die Arme an. »Ehrlich, ich kann nichts ausschließen. Alles ist drin, wie man so schön sagt. Und ich weiß nicht mehr weiter. Man hat mich gewarnt. Aber wovor? Was ist auf meinem Gelände los?« Das konnten wir ihm auch nicht sagen. Suko stellte eine weitere wichtige Frage. »Hast du diese Erscheinung erkannt? Ich meine, wenn wir davon ausgehen, dass es sich dabei um einen Astralleib gehandelt hat, dann muss dieser eine große Ähnlichkeit mit dem stofflichen Körper haben.« Bill kratzte sich am Kopf. »Wenn du mich so fragst, Suko, kann ich nur den Kopf schütteln und dir
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sagen, dass ich es nicht weiß. Ich kenne ihn nicht. Ich habe ihn nie zuvor gesehen. Ich weiß auch nicht, was er mit mir oder meiner Familie zu tun hat. Hinzu kommt das Haus, das Grundstück auch. Seine Warnung hat sich angehört, als befände sich dort die Wurzel allen Übels.« »Was du dir nicht vorstellen kannst«, sagte ich. »John, das sagst ausgerechnet du. Man kann sich vieles, was vorhanden ist, nicht vorstellen. Dann ist es plötzlich da und man schaut mit großen Augen hin. Das ist mir passiert, dir ebenfalls, und es wird auch vielen anderen Menschen so ergehen. Nichts ist auf dieser Welt absolut, wie der olle Einstein schon sagte.« »Er sprach aber auch davon, dass es leichter ist, ein Atom zu zertrümmern als ein Vorurteil«, sagte ich. »Du bist ja super.« »Fiel mir nur gerade so ein.« »Und welches Vorurteil hast du gegen mich?« »Im Prinzip keines, aber dieser Geist ist nicht grundlos bei dir erschienen. Da muss es in der unmittelbaren Nähe deines Hauses etwas geben, das ihn angelockt hat.« »Das würde ich gern wissen.« Bill leerte jetzt seine Tasse. »Soll ich loslaufen und einen Wünschelrutengänger holen, der mein Grundstück abgeht?« »Wäre nicht schlecht.« »Ja, ja, später. Ich hätte dann nicht zu euch kommen brauchen.« »Dann sollen wir also dein...« Es hatte keinen Sinn, noch etwas zu sagen, denn Bill hörte nicht zu. Er schaute auch keinen von uns an, sein Blick klebte auf dem Titelbild des Schamanen-Magazins. Suko und ich konnten sehen, wie das Blut allmählich aus seinem Gesicht wich. »Was hast du?« fragte ich. Bill deutete auf das Titelblatt. »Das Bild, John, das ist er. Das ist genau der Mann oder die Gestalt, die mich in der letzten Nacht besucht hat. Suko und ich waren ganz Ohr. »Bist du sicher?« fragte ich den Reporter. »Ja, völlig.« »Aber du hast ihn nur als eine nebelhafte Gestalt zu Gesicht bekommen. Das hier ist eine Fotografie.« »Weiß ich alles. Aber ich bin nicht blöd, nicht verrückt und bilde mir auch nichts ein. Diese Gestalt ist mit der identisch, die mich als Geistkörper in der letzten Nacht besucht und gewarnt hat.« »Das ist Mongush«, sagte Suko. »Kenne ich nicht. Und weiter?« »Ein Schamane. Gewissermaßen so etwas wie ein König der Schamanen. Er ist aus dem asiatischen Russland nach London gekommen, um sich hier bei einem Schamanenkongress feiern zu lassen. Der läuft über drei Tage.« »Ja, davon habe ich gehört«, flüsterte Bill. Er nahm das Magazin an sich und blätterte es durch. Immer wenn er ein Foto entdeckte, das Mongush zeigte, schaute er länger hin, lachte des Öfteren und schüttelte den Kopf. »Frappierend diese Ähnlichkeit.« Er legte das Magazin zur Seite. »Ich bin mir hundertprozentig sicher.« »Das nehmen wir dir auch ab«, sagte ich. Bill, der sich in seinen eigenen Gedanken verlor, sagte mir leiser Stimme: »Und weshalb liegt das Magazin hier und nicht...« »Wir wollten dem Kongress heute einen Besuch abstatten«, erklärte Suko. »Zufall?« »Eher Schicksal.« »Das denke ich auch.« Bill lehnte sich zurück und konnte wieder lächeln. »Jetzt bin ich noch fester davon überzeugt, dass diese Begegnung etwas zu bedeuten hat. In oder an meinem Haus muss es etwas geben, das diesen Schamanen störte. Er muss es gefühlt haben und hat mich deshalb besucht.« Wir konnten es weder bestätigen noch ablehnen, auch wenn Bill uns auffordernd anschaute.
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»Ja«, sagte ich. »Das wird es wohl sein.« »Wann wollt ihr denn zu diesem Kongress?« Ich schaute auf die Uhr. »So schnell wie möglich. Wie wir wissen, wird er schon ziemlich früh eröffnet.« »Da bin ich dabei.« Wir hätten uns auch gewundert, wenn die Antwort anders ausgefallen wäre. Bill war es sich einfach schuldig, mit uns zu kommen. Auch für Suko und mich hatte dieser Fall, der eigentlich noch keiner war, eine andere Dimension bekommen. Besonders wenn wir dabei mit Schamanen umgingen, die sich auf keinen Fall als normale Menschen ansahen, sondern als Doppelwesen - halb Geist und halb Mensch. Der Mensch hält sich in den sichtbaren Regionen auf, der Geist kann auf Wanderschaft gehen, Kräfte dabei von überall herholen und sie für die Menschen als Heilung nutzen. Mir war bekannt, dass Schamanen mit Psychologen und auch Psychotherapeuten zusammenarbeiteten und auch einige Heilungen erzielt hatten. Ich stand auf. »Geht es los?«, fragte Bill. »Ich denke schon.« Er schnappte seine Jacke und streifte sie über. Unseren Chef, Sir James, brauchten wir nicht zu informieren. Er war an diesem Tag außer Haus. In Notfällen war er natürlich erreichbar, aber als einen Notfall sah ich das hier nicht an. Suko und ich hatten eigentlich vorgehabt, recht locker mit dem Kongress umzugehen. Das konnten wir uns jetzt abschminken. Wir würden alle drei mehr als wach sein. Und besonders gespannt waren wir auf Mongush, den König der Schamanen... ¶ Sheila hatte ihrem Sohn noch geraten, sich einen Schal umzubinden, was Johnny nach einigem Zögern und Meckern schließlich getan hatte. Er sah sich schließlich als einen harten Burschen an, und da waren dicke Schals eigentlich überflüssig, zumal eine blasse Wintersonne vom Himmel her strahlte. Er hatte es schließlich doch getan und war froh darüber, denn auf dem Roller wehte ein eisiger Wind. Erst als Johnny nicht mehr zu sehen war, trat Sheila wieder fröstelnd zurück in das Haus, das ihr plötzlich so leer vorkam, denn Bill war schon seit über einer Stunde weg, um zu seinen Freunden John und Suko zu fahren. Es lag auf der Hand, dass die Vorkommnisse der vergangenen Nacht bei Sheila noch nachwirkten. Das steckte man nicht so leicht weg, auch wenn gerade sie in ihrem Leben schon die ungeheuerlichsten Dinge erlebt hatte. Es passierte immer wieder. Die andere Seite schnitt in ihr Leben hinein. Davon wurden weder sie noch ihr Sohn verschont. In der letzten Zeit war es zum Glück ruhiger geworden. Darauf verlassen, dass es so blieb, konnte sich Sheila jedoch nicht. Zudem war ihr Mann ein Mensch, der nach gewissen Fällen und nicht erklärbaren Phänomenen suchte, um Artikel und Berichte darüber zu schreiben. Ein leeres, aber auch ein teilweise erhelltes Haus, denn am klaren Himmel zeigte sich eine ebenso klare Wintersonne, deren Strahlen im flachen Winkel durch die Fenster fielen und das Haus erhellten. Zwar war es Sheila gewohnt, allein zu sein, doch an diesem Tag sah sie es anders. Wenn Bill unterwegs war, hatte auch sie zu tun, aber heute hatte sie sich nicht mit irgendwelchen Dingen beschäftigen und ablenken können, weil die innere Unruhe einfach • zu stark war und sie belastete. Sie ging mehrmals durch ihren Bungalow, schaute in die verschiedenen Zimmer hinein, ohne dort etwas zu entdecken und war trotzdem nicht beruhigter. Als sie sich in Bills Arbeitszimmer befand, meldete sich dort das Telefon. Nach dem zweiten Klingeln hob sie ab. Es war Bill. »Alles klar?« fragte Sheila.
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»Bei mir schon. Und bei dir?« »Auch.« »Deine Stimme hört sich seltsam an.« »Ich bin müde, Bill.« »Dann versuche zu schlafen.« Sie lachte nur. »Ich rufe dich aus einem anderen Grund an. Wenn ich dir den gleich erzähle, wirst du nur den Kopf schütteln. Es war unser Glück, dass ich John und Suko besucht habe... Sheila hörte sehr konzentriert zu. Sie fand auch heraus, dass Bill von seinem Handy aus telefonierte, denn im Hintergrund waren Fahrgeräusche zu hören. Was Bill ihr dann sagte, war schwer zu fassen. Es gab diesen unheimlichen Besucher als Menschen und zugleich als eine feinstoffliche Gestalt. Er war Schamane und hieß Mongush. Ihn prägte sich Sheila ein und hörte Bill leise lachen. »Du kannst dir vorstellen, Sheila, dass die Dinge jetzt anders liegen als zuvor. Ich bin fast geil darauf, mich mit dem Mann zu unterhalten, der mich als Astralleib besucht hat. Das ist wirklich der reine Wahnsinn.« »Bitte, sei nur vorsichtig.« »Darauf kannst du dich verlassen. Aber ich bezweifle, dass er mir feindlich gegenübersteht. Hätte er mich sonst gewarnt?« »Du weißt aber nicht genau, welche Motive ihn leiten.« »Okay, Sheila, ich melde mich wieder. Und noch schöne Grüße von John und Suko.« »Danke. Gib sie von mir zurück.« Bills Stimme verschwand, es wurde wieder still, und Sheila fühlte sich abermals so allein in dem großen Haus. Sie hatte eigentlich vorgehabt, Geschenke einzupacken, doch der Wunsch und die innere Ruhe waren bei ihr nicht mehr vorhanden. Zwar hatte sie das Haus innen etwas weihnachtlich geschmückt - zumeist mit verzierten Girlanden über den Türen und auch kleinen Gestecken, aber die Stimmung war ihr vergangen. Sie fühlte sich wie in einer unsichtbaren Falle. Bin ich allein oder nicht? Diese Frage stellte sich Sheila immer öfter, obwohl sie keinen Besuch empfangen hatte. Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los. Und wieder durchstreifte sie ihr Haus, ohne jemand zu sehen, aber die Ungewissheit blieb. Sie ging in die Küche, weil sie Durst hatte. Das Mineralwasser aus dem Kühlschrank schmeckte fad, aber das konnte auch an ihr liegen. Sie war eben nicht wie sonst. Ein kühler Hauch streifte sie, als sie die Küche verließ. Es stand nirgendwo ein Fenster offen. Demnach hatte es auch keinen Durchzug geben können. Trotzdem war der Hauch da... Sie blieb stehen und schaute sich um. Es war nichts zu sehen. Nur das Sonnenlicht schuf an einigen Stellen Streifen. Sheila wartete einige Sekunden ab, bis sie sich wieder in Bewegung setzte. Sie hatte sich jetzt entschlossen, in ihr Zimmer zu gehen und doch mit dem Verpacken der Weihnachtsgeschenke zu beginnen. Es waren nur Kleinigkeiten, die auch ein Normalverdiener kaufte. Wie jedes Jahr hatten die Conollys eine größere Summe an wohltätige Vereine gespendet. Dort wusste man eher, wo man mit Geld helfen konnte. Und dem Überfluss noch die Sahnehaube aufzusetzen, dazu war Sheila nicht die richtige Person. In ihrem Zimmer war es kühler. Die Sonne schien nicht hinein. Auf einem Tisch hatte sie die gekauften Präsente gestapelt, und auch die Papierrollen lagen bereit. Sie warf einen Blick durch das Fenster in den winterlichen Garten. Da sah sie den Mann! Sheila erschrak, als er so plötzlich aufgetaucht war. Er stand im Garten, aber zugleich tiefer, als wären seine Füße in einem Grab oder einer Grube verschwunden. Sie sah sein Gesicht, struppiges
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Haar und starre Augen. Sie sah aber auch die Schaufel in seinen Händen und das schimmernde Gebein der Totenköpfe, das vor ihm lag. Hinter ihm wuchs ein breiter und knorriger Baumstamm hoch, in dessen Stamm es glühte, als wäre er mit zwei Augen bestückt. Dieses Bild faszinierte Sheila so sehr, dass sie nicht in der Lage war, sich zu bewegen. Seit sie hier lebten, hatten sie schon manch ungeheuerlichen Vorgang erlebt, aber nicht so etwas. Da war jemand erschienen, um einen Teil des Gartens umzugraben. Er stand in dieser Welt, er war vorhanden, doch es kam Sheila in den Sinn, dass sie nur eine Halluzination erlebte. Sie schloss die Augen, zwang sich, bis zehn zu zählen, und schaute erst dann wieder hin zu dieser bestimmten Stelle. Der Mann mit der Schaufel war nicht mehr da! Sheila ließ sich nach vorn fallen. Sie drückte ihre Stirn gegen die Scheibe, und ihr Atem hinterließ auf dem Glas einen feuchten Fleck. Ich bin nicht verrückt! dachte sie. Ich bilde mir doch nichts ein! Sie trat zurück und schaute wieder in den Garten. Da war nichts Fremdes mehr. Sheila Conolly ging zurück und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Sie brauchte jetzt eine kurze Pause, aber lange konnte sie nicht sitzen. Die innere Nervosität war einfach zu groß und trieb sie wieder in die Höhe. Aber auch zum Fenster hin, um in den Garten zu blicken, der sich nicht wieder verändert hatte. Sheila drehte sich um. Eine Hand hielt sie gegen die Stirn gepresst, als sie das Zimmer verließ. Sie war keine Person, die sich nach einem derartigen Vorfall in ihre eigene Furcht zurückzog. Sie war es gewohnt, die Dinge in die Hände zu nehmen, und das wollte sie auch hier tun, obwohl es ihr lieber gewesen wäre, Bill bei sich zu haben oder seine beiden Freunde Suko und John, die auch ihr nahe standen. Von der Garderobe holte sie die dicke Jacke mit dem Innenfutter und streifte sie über. Nur im Pullover hinauszugehen, war ihr doch ein wenig zu kalt. Sheila wollte es jetzt genau wissen und sich die Stelle ansehen, an der sie den unheimlichen Graber mit seiner Schaufel gesehen hatte. Man konnte bei den Conollys um das Haus gehen, aber man konnte den Garten auch vom geräumigen Wohnzimmer aus erreichen. Da brauchte nur die Schiebetür geöffnet zu werden. Das tat Sheila. Eine Mischung aus Sonnenwärme und kalter Luft empfing sie. In der offenen Tür blieb sie zunächst stehen. Das Bild veränderte sich trotzdem nicht. Ein Garten im Winter lag vor ihr. Die Sonne hatte den morgendlichen silbernen Glanz des Raureifs weggetaut. Von manchen Zweigen tropfte es. Wasserperlen benetzten das ebenfalls nicht mehr zu grün aussehende Gras. Sie ging quer durch den Garten, um die linke Seite zu erreichen. Auf ihrem Gesicht lag ein angespannter Ausdruck. Sie dachte daran, was Bill in der vergangenen Nacht erlebt hatte, und rechnete auch damit, eine Stimme zu hören oder jemand zu sehen, dessen Körper feinstofflich war Sheila hatte das Glück, oder das Pech nicht. Sie konnte unbehelligt über den Winterrasen gehen und näherte sich der Stelle, an der es passiert war. Dass ihr Herz schneller klopfte als gewöhnlich, ärgerte sie schon. Reiß dich zusammen! befahl sie sich selbst immer wieder, aber das harte Klopfen verschwand nicht. Um diese winterliche Zeit herum lebte keiner in der Nähe wie auf einer Insel. Das war im Sommer anders, wenn die Bäume und Büsche ihre Blätter trugen und so einen dichten Wald bildeten, der zugleich auch ein Sichtschutz war. Sie hätte gern den einen oder anderen Nachbarn in seinem Garten gesehen. Das wäre wieder ein Stück Realität gewesen, aber sie konnte sich leider keinen Menschen zaubern, mit dem sie über alltägliche Probleme sprach. Sheila war nur noch wenige Schritte von der Stelle entfernt, an der dieser Mann aufgetaucht war. Sie hatte ihn sehr deutlich gesehen und sich sein Aussehen eingeprägt. Er selbst war eigentlich nicht unheimlich gewesen. Nur sein unerwartetes Erscheinen war ihr so vorgekommen. Er hatte gegraben,
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er hatte etwas aus der Erde hervorholen wollen. Aber was war das gewesen? Sheila ging weiter. Sie reckte sich und schaute dabei nach vorn und zu Boden. Die Erde war weder eingestochen noch aufgewühlt. Das gab ihr zunächst eine gewisse Sicherheit zurück. Sheila blieb stehen und stellte den Kragen ihrer warmen Jacke hoch. Sie schaute sich den Boden noch mal vor ihren Füßen an und wollte sich schon abwenden, weil sie nichts entdeckt hatte, da fiel ihr etwas auf. In der Nähe eines Rosengestrüpps war der Boden zwar nicht unbedingt aufgeworfen, aber man hatte sich doch mit ihm beschäftigt, denn es schaute etwas aus ihm hervor, das am gestrigen Tag noch nicht vorhanden war. Halbrund und gelblich... Sheila schauderte, obwohl sie den Gegenstand noch nicht identifiziert hatte. Sie zögerte auch mit dem Weitergehen und musste sich überwinden, um den nächsten Schritt zu tun. Jetzt war sie nahe genug! Der Gegenstand lag schräg im Boden. Sie schaute auf eine glatte, halbrunde Fläche, auf der noch eine dünne Schmutzschicht klebte. Viel mehr erkannte sie nicht, aber es stieg bereits ein schrecklicher Verdacht in ihr hoch. Sie hatte den Eindruck, dass sich über ihr das Sonnenlicht zurückzog und es immer kälter wurde. Unsinn, mach dir nichts vor! So trieb sie sich selbst an und stemmte einen Fuß schräg in den Boden, um den entsprechenden Halt zu finden. Dann beugte sie sich vor, drehte den Kopf etwas nach links - und sah es genauer. Halb im Boden vergraben steckte ein Totenschädel! ¶ Also doch! Mehr dachte sie in diesem so langen und zähen Augenblick nicht. Er hat es also doch geschafft. Alles, was ich gesehen habe, entsprach der Wahrheit. Hier hatte sich jemand mit einer Schaufel in ihrem Garten aufgehalten und den Boden aufgegraben, um den Schädel frei legen zu können. So weit, so schlecht, denn wenn das alles eingetroffen wäre, dann hätte sie auch die Spuren der Grabung sehen müssen. Aber hier war keine Erde aufgewühlt. Hier lag auch nichts herum. Kein Lehm, keine Krumen, nur der im Boden schräg feststeckende Totenschädel mit seinem schmutzig-gelben Gebein. Was war hier passiert? Sheila Conolly verstand im Moment die Welt nicht mehr. Sie stand noch immer in ihrer schrägen Lage und schaute auf den Kopf. Sie hütete sich davor, ihn mit den Händen zu berühren, aber mit dem Fuß, das war etwas anderes. Mit der linken Schuhspitze trat sie dagegen. Hörte allerdings kein hohl klingendes Geräusch und erlebte auch keinen zu starken Widerstand. . Woher kam der Schädel? Wie lange lag er schon in der Erde? Als die Conollys vor einigen Jahren ihr Haus gebaut hatten, war Erde aufgeworfen worden, da war er noch nicht da gewesen. Sheila erinnerte sich allerdings noch gut daran, welche Schwierigkeiten es damals beim oder kurz vor dem Einzug gegeben hatte. Damals waren sie mit Destero, dem Dämonenhenker, aneinander geraten, und sogar Asmodina hatte noch ihre Hände mit im Spiel gehabt. Sollte dieser gelbe Totenkopf ein Relikt aus dieser Zeit sein, das jemand vergessen hatte? Wenn ja, wer hatte ihn dann vergessen? Und wem gehörte er? Destero bestimmt nicht. Also musste sich hier noch jemand anderer herumgetrieben haben, denn' jetzt musste Sheila davon ausgehen, dass dieser Platz hier in ihrem Garten ein magischer Ort war. Und für eine gewisse Zeit hatte auch Nadine Berger, die Wölfin mit der menschlichen Seele und den menschlichen Augen, hier gelebt. All ihre Geheimnisse hat sie selbst Johnny, ihrem damaligen Schützling, nicht preisgegeben. Dass der Schädel wichtig war, stand für Sheila fest. Ebenso wie das Erscheinen der feinstofflichen Gestalt mitten in der Nacht. Möglicherweise kannte Bill den Besucher jetzt und konnte anders mit
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ihm umgehen. Sie aber nicht. Ich bin allein, dachte sie und richtete sich aus ihrer leicht gebückten Haltung wieder auf, weil auch ihr Rücken anfing zu schmerzen. Der Kopf war noch prall gefüllt mit zahlreichen Gedanken und Folgerungen. Sheila dachte daran, dass sie jetzt möglicherweise das letzte Rätsel ihres Hauses oder Grundstücks löste, das bisher noch in der Schwebe gestanden hatte. Etwas erwischte sie von hinten. Es war ein kalter Hauch, aber es war kein normaler Windstoß. Sie fror trotzdem, und diese Kälte drang nicht von außen an sie heran, sondern von innen. Sheila wusste genau, dass sie sich umdrehen musste, aber sie fürchtete sich davor, denn die Kälte traf sie noch intensiver. Sie drehte sich wie ein Kranz um ihren Kopf herum. Gleichzeitig sträubten sich die feinen Härchen im Nacken, und das genau war so etwas wie ein Startschuss. Sheila fuhr herum! Der Schrei blieb ihr im Hals stecken, obwohl sie am liebsten losgeschrieen hätte. Vor ihr stand der Unheimliche. Er sah aus wie beim ersten Mal. Die hochgestellten grauen Haare, der irre Blick. Hose, Hemd und auch die Weste. Und natürlich die verdammte Schaufel. Die hatte er in die Höhe gerissen und war bereit, sie gegen Sheilas ungeschützten Kopf zu schlagen... ¶ Die Kongressteilnehmer hatten sich eine kleine Halle gemietet, die wiederum in verschiedene Räume unterteilt war, wo Workshops abgehalten werden konnten und Foren eröffnet wurden. Das alles hatte ich in der Broschüre gelesen, denn Suko fuhr den Rover, und Bill hatte es sich auf der Rückbank bequem gemacht. Von dort hatte er auch mit Sheila telefoniert und ihr von seiner Entdeckung berichtet. Er war nicht glücklich über das Gespräch gewesen, das gab er uns gegenüber zu. Zum anderen machte er sich auch Sorgen, weil er Sheila allein im Haus gelassen hatte. Ich wollte Bill beruhigen. »Das musst du etwas lockerer sehen, Bill. Diese Gestalt wollte etwas von dir und nicht von Sheila.« »So kann ich aber nicht denken. Ich erinnere dich, John. Sie hat mich gewarnt. Ich weiß nicht wovor, aber bestimmt nicht vor dem Weihnachtsmann. Also muss es in der Nähe meines Hauses eine Gefahr geben, von der wir bisher nichts gewusst haben. Sollte sie zum Ausbruch kommen, wenn Sheila allein ist, werde ich mir mein Leben lang Vorwürfe machen.« »Du hast selbst nie etwas entdeckt und auch nicht gespürt?« »Nein, John, und du ja auch nicht. Oder hat bei einem deiner zahlreichen Besuche schon mal dein Kreuz eine Warnung abgegeben?« »Das nicht.« »Eben.« »Dann kann sie neu sein.« »Und wo soll sie hergekommen sein?« Darauf wusste ich leider keine Antwort. Es war noch alles recht kompliziert. Für uns war wichtig, dass wir mit dem Schamanen Mongush zusammentrafen, dem alten Mann, der seine Heimat in der sibirischen Steppe hatte und als großer Guru der Szene verehrt wurde. Ich erinnerte mich daran, mal gelesen zu haben, dass das Wort Schamane aus dem ostsibirischen Sprachraum stammte. Wer oder was waren denn Schamanen? Man konnte sie auch als Zauberer oder Medizinmänner bezeichnen, und es gab sie von altersher bei allen Völkern, in Australien oder Neuguinea ebenso wie in Afrika oder bei den Indianerstämmen in Nordamerika. Sie stellten den Kontakt zwischen den Lebenden und den Toten her, denn bei den Naturvölkern war der Tod immer ein naher Geist. Wenn jemand ein Tier erlegte oder auch einen Menschen getötet hatte, dann lebte der Geist dieser Kreatur weiter, und es wurde der Schamane geholt, um ihn zu besänftigen. Die Toten waren in einer anderen Form stets gegenwärtig. Wer das bezweifelte, wurde als Narr
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ausgelacht oder mit Schimpf und Schande fortgetrieben. Jeder Stamm hatte einen dieser weisen Männer, die Könner oder Zauberdoktoren. Der Schamane ist Obermagier, Regenmacher, Heilkundiger, Wahrsager und Beschützer vor dem Bösen. Schamanen teilen ihre Magie in zwei Hauptgebiete ein. Zum einen gibt es die demonstrierende Magie, einen sogenannten Analogiezauber. Das kann das Spritzen von Wasser beinhalten, um dafür zu sorgen, dass es endlich wieder regnet. Die kontagiöse Magie ist etwas anderes. Da wird es schon gefährlicher. Sie ist mit dem rätselhaften Zauber des Voodoo vergleichbar. Man besorgt sich zum Beispiel das Haar eines Feindes oder etwas anderes aus seinem persönlichen Besitz und belegt es mit einem Fluch, um dann dem Feind zu schaden. Dabei spielt es keine Rolle, aus welcher Schicht der kommt. Es kann Könige und Bettler treffen. »Was bist du so nachdenklich?«, fragte Bill. »Haben dich meine Überlegungen so stark erschüttert?« »Das eigentlich nicht, Bill. Ich bin nur dabei, über das Schamanentum nachzudenken.« »Zerbrich dir nicht den Kopf, John. Es ist schon sehr rätselhaft, muss ich gestehen.« »Wieso? Weißt du mehr?« Wir hatten genügend Zeit für eine Unterhaltung, denn Suko lenkte den Rover durch den dichten Weihnachts- und Vormittagsverkehr. Längst nicht alle Briten waren nach Germany gefahren, um dort für das hochstehende Pfund die Stände auf den Weihnachtsmärkten leerzukaufen. »Mehr weiß ich auch nicht«, sagte Bill. »Es gibt wirklich Geheimnisse, das können dir Ethnologen bestätigen, die bei diesen Séancen gewesen sind. Die Schamanen versetzen sich in einen Trancezustand und sind so in der Lage, mit den Geistern Verbindung aufzunehmen. Das ist von der Wissenschaft noch nicht geklärt worden, obwohl .man sich darum bemüht. Psycho- und Neurologen machen sich stark, aber sie haben die Grenze noch nicht überwinden können. Bei anderen Phänomen ist das einfacher.« »Bei welchen denn?«, fragte ich. »Denk an die Heilungen, die von Schamanen durchgeführt worden sind. Da hat man herausgefunden, dass sie sich sehr wohl in der Kräuterkunde auskennen. Das basiert auf einem oft Jahrhunderte altem Wissen, und diese Kräuter sind hochwirksame Heilmittel.« »Bravo!«, lobte ich ihn vom Beifahrersitz her, »du kennst dich gut auf diesem Gebiet aus.« »Wir haben schon selbst damit zu tun gehabt, John. Außerdem habe ich mal einen Bericht über den Schamanenkult geschrieben. Da bleibt eben etwas hängen.« Die gemietete Halle lag direkt an einem kleinen Park, in dem Bäume aus dem winterlichen Rasen hochwuchsen. Wir konnten sie bereits sehen. Die laublosen Kronen schickten bereits die ersten Grüße zu uns herüber, aber leider war es uns wegen des dichten Verkehrs nicht möglich, schnell an das Ziel heranzukommen, denn wir waren nicht die Einzigen, die Ausstellung und Kongress besuchen wollten. Hinzu kam noch die Suche nach einem Parkplatz, die sich möglicherweise noch mehr hinziehen würde. Zum Glück entdeckte ich einen Bobby, der den Verkehr in eine bestimmte Richtung leitete. Als wir neben ihm stoppten und damit auch andere Fahrer aufhielten, wurde sein Gesicht vor Zorn hochrot. »Fahren Sie weiter!« »Nein«, sagte ich und hielt meinen Ausweis aus dem offenen Fenster. »Wir brauchen einen Parkplatz.« Er lachte. »Den brauchen die anderen Besucher auch.« »Okay, ich sehe einen Wagen von Ihnen oder von Ihren Kollegen hier auf dem Rasen. Wir werden unseren dort abstellen. Wir sind nicht zum Spaß hier, sondern dienstlich.« Mein Ton war bestimmend gewesen, und der Bobby nickte nur. Er war froh, dass er uns los war. Im Streifenwagen saßen noch zwei Uniformierte. Sie wollten natürlich protestieren, aber auch hier zeigte mein Ausweis die durchschlagende Wirkung, und so konnten wir unseren Rover endlich abstellen.
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Um das Gebäude zu erreichen, mussten wir zu Fuß quer über das Rasenstück gehen. Wer davon ausging, dass die Fläche bei diesen Temperaturen leer war, der irrte sich. Die Gläubigen, die Jünger, die Besucher, wer auch immer, wollten die Kräfte der Natur erleben und mit ihnen kommunizieren. Es wurde Zwiesprache mit der Natur gehalten. Es gab keine freien Bäume mehr im Park. Jeder Baum war besetzt. Mancher sogar doppelt. An einen besonders dicken Stamm pressten sich sogar vier Menschen, um mit dem Baum Kontakt zu bekommen. Keiner ließ sich stören: Die Menschen waren in ihrer Seligkeit versunken, das sahen wir ihren Gesichtszügen an. Sie freuten sich. Das Lächeln wirkte wie eingefressen, und die Augen, wenn sie nicht geschlossen waren, glänzten. An bestimmten Stellen lagen Heuhaufen auf dem Boden. Sie waren als Betten für Paare genommen worden. Dick angezogen kuschelten sich die Menschen zusammen, um eins zu sein mit der Natur. Was sie davon hatten, war mir nicht bekannt, aber wem es Spaß machte, der sollte seine Bäume umarmen oder im Heu liegen und den Duft einatmen, auch wenn es draußen etwas kühler war. Auch Bill konnte ein Lächeln nicht verkneifen, und Suko sah sich die Jünger ebenfalls indigniert an. Das war sein Fall auch nicht. Schon vor dem offiziellen Eingang waren die ersten Stände aufgebaut. Dort wurden Broschüren und Bücher verkauft. Auch hier froren die Verkäufer, aber sie harrten aus. Wir betraten den Bau. Immer wieder schwappten die Türen auf, wenn Menschen Kontakte unterbrachen, und auch vor uns schwangen sie zur Seite. So abgefahren die Leute auch auf uns wirkten, die Gesetze der Marktwirtschaft wurden trotzdem eingehalten. Wer in die eigentlichen Ausstellungsräume hineinwollte, der musste an einer der beiden Kassen zahlen. . Das übernahm Bill für uns. Wir wollten nicht offiziell als Polizisten auftreten, denn so etwas hätte sich einfach zu schnell herumgesprochen. Erst als bezahlt worden war, konnten wir das Gebiet der Stände betreten. Man hatte sie nicht willkürlich hingestellt, sondern wie bei einer normalen Messe oder Ausstellung. Es gab richtige Gänge, durch die wir als Besucher gehen konnten. Voll war die Halle nicht, aber schon gut gefüllt. Wir sahen keinen Stand, an dem nicht irgendwelche Interessenten standen und sich für die angebotenen Artikel interessierten. Da wurden Steine, Glücksbringer, Kristalle, Bücher und Ratgeber ebenso verkauft wie auch bestimmte Tücher und Schmuck. Es gab abgeteilte Boxen, in denen sich der Suchende bei Fachleuten Rat holen konnte. Schilder wiesen auf Ruheräume hin, man konnte sich hypnotisieren lassen und Vorträge über das Schamanentum hören. Die Fotos der Stars waren ebenfalls aufgehängt worden. Nur wenige Europäer zählten zu den Cracks, die meisten Schamanen stammten aus Asien oder Afrika. Wer hier herumsuchte und sich orientierte, gehörte oft zu den alternativen Menschen, die sich der Natur verschrieben hatten und gewissen Phänomenen auf den Grund gehen wollten. Ungefähr in der Mitte der Ausstellungshalle gab es so etwas wie ein Infozentrum. Es war kreisförmig errichtet worden. Dahinter arbeiteten eine junge Frau und ein junger Mann, um den Fragenden Auskünfte zu erteilen. Uns ging es darum, Mongush zu finden. Gesehen hatten wir ihn öfter. Allerdings nur auf den großen Bildern, mit denen die Wände bestückt waren. Ich wusste jetzt wie er aussah, aber als lebendige Person war er uns nicht über den Weg gelaufen. Auch Bill hatte sich die Bilder betrachtet und bei jedem Anblick stets genickt. »Ja, das ist er gewesen. So hat der verdammte Geist in meinem Garten ausgesehen.« »Geist und Mensch sahen gleich aus?« Darüber konnte ich mich nur wundern. »Nicht direkt, John, das weißt du selbst. Aber ich habe die Gesichtszüge erkannt.« »Irgendwo muss er ja stecken«, sagte Suko. Er ließ uns stehen und ging auf den Infostand zu, an dem im Moment nur ein Kunde stand. Suko konnte mit dem jungen Mann sprechen, der sich seine Haare leuchtend gelb gefärbt hatte. Es wurde ein längeres Gespräch. Dann bedankte sich Suko und kehrte zu uns zurück.
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»Und? Ist der Meister da?« »Ja, Bill. Aber er ist nicht für uns zu sprechen. Er hat bestimmte Zeiten, zu denen er die Rat suchenden Menschen und Jünger empfängt. Angeblich soll er jetzt meditieren.« »Hier?« fragte ich. »Ja.« Ich schaute Bill an. Wir dachten beide das Gleiche, und Suko sicherlich auch. So leicht wollten wir uns nicht abweisen lasen. Es konnte uns egal sein, ob er meditierte. Wir wollten etwas aufklären, bei dem er eine wichtige Rolle spielte. »Weißt du denn, wohin er sich zurückgezogen hat?«, fragte Bill. »Er ist noch hier.« »Dann lass uns gehen.« Den Weg zum Meister mussten wir uns nicht erfragen. Es gab Hinweisschilder, die uns in den Hintergrund des Ausstellungsgebäudes trieben. Hier gab es die mehr oder minder großen Räume, in denen sich die Gruppenveranstaltungen abspielten. Da musste man für Vorträge natürlich extra bezahlen. Die Natur und du! Das Leben von innen erfassen. Nie mehr Angst vor dem Tod. Mit Geistern sprechen über den Meister des Channeling. So und ähnlich lautete der Titel der Vorträge und kleinen Workshops. Wer hineinwollte, hatte schon vorher eine Eintrittskarte gelöst und musste sie an der Tür vorzeigen. Mongush residierte wirklich im Hintergrund. Es war der letzte Raum, in dem wir ihn fanden. Es war etwas enttäuschend, denn wir standen zunächst vor einer hellen, völlig normal aussehenden, zweiflügeligen Holztür. Hinein konnten wir auch nicht. Zum einen war die Tür geschlossen, zum anderen wurde sie von zwei kräftigen jungen Männern bewacht, die aussahen, als kämen sie frisch aus dem Fitnesscenter. Die helle Kleidung lag eng an. Statt der Gürtel trugen sie rote Schärpen um die Hüften. Die Männer hatten kurz geschnittene dunkle Haare und sonnengebräunte Gesichter. Sie schauten uns nicht eben freundlich an, als wir stehen blieben. Suko, der Bill den Vortritt gelassen hatte, runzelte die Stirn. Er sah aus wie jemand, der sich auf Ärger einstellt. Der Reporter lächelte freundlich und deutete auf die Tür. »Wir möchten zum Meister.« Er wurde angeschaut, als hätte er soeben eine Todsünde begangen. Zugleich schüttelten die beiden die Köpfe »Unmöglich! »Warum?« »Der Meister meditiert.« Der andere fügte hinzu: »Außerdem musst du dir einen Termin geben lassen, Bruder, und ich sage dir jetzt schon, dass der Meister völlig ausgebucht ist.« »Wir werden ihn trotzdem sprechen müssen, denn wir haben unsere Gründe.« »Das sagen viele.« Es war Zeit, dass Suko und ich eingriffen. Als wir uns heranschoben, da sahen die zwei Wächter immer weniger glücklich aus. Sie nahmen eine Haltung an, die darauf hindeutete, dass sie uns auch mit Gewalt fern halten würden. Ich drängte Bill ein wenig zur Seite und zeigte meinen Ausweis. Bevor die Knaben den Text lesen konnten, erklärte ich ihnen, wer wir waren. Dann fragte ich: »Können wir jetzt hinein?« »Nein!« lautete die Antwort. »Die Ruhe des Meisters muss jedem heilig sein.« Wenn ich so etwas höre, bekomme ich die Krise, aber ich riss mich zusammen. Neben mir schnaufte Bill wütend, und auf Sukos Lippen lag ein angespanntes Lächeln. »Wir werden hineingehen«, erklärte ich, »und Sie beide werden uns nicht daran hindern. Es sei denn, Sie wollen wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt angeklagt werden. Das hier ist ein öffentliches Gebäude, und wir sind nicht gekommen, um mit dem Meister irgendwelchen Hokuspokus zu diskutieren. Wenn wir mit ihm sprechen, haben wir handfeste Argumente vorzuweisen.« Die beiden wurden unsicher. Sie sprachen davon, dass der Meister sie zu seinem Schutz ausgesucht
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hatte. »Wir wollen ihn ja nicht umbringen. Außerdem muss er Verständnis dafür haben, dass die Polizei des Gastlandes einige Worte mit ihm reden will.« Wären wir keine Gesetzeshüter gewesen, sie hätten sicherlich versucht, uns mit mehr oder weniger sanfter Gewalt zu verscheuchen, so aber mussten sie einen Kompromiss finden. Der Typ, der etwas größer war als sein Freund und mir direkt gegenüberstand, nickte. »Ja, das sehen wir ein. Bitte, ich werde hineingehen und nach dem Meister sehen.« »Warum das?« fragte Bill. »Er muss vorbereitet werden.« »Nichts da!« Ich schüttelte den Kopf. »Wir werden Ihren Meister überraschen, und er wird uns bestimmt nicht aus dem Raum werfen. Verzieht euch in irgendeinen Ruheraum und macht mal Pause.« Sie schauten sich an. Nach einer Weile hoben sie die Schultern. Schweigend zogen sie dann ab. »Na bitte«, sagte Bill. »Der Meister scheint wirklich sehr wichtig zu sein«, sagte Suko. Er stand schon direkt vor der Tür und schaute sich den Hebel an, mit dem die Tür geöffnet werden konnte. »Alles klar?« fragte er. Wir nickten. Dann öffnete Suko die Tür... ¶ Ich konnte nur von mir sagen, dass mich eine gewisse Spannung erfasst hatte, als ich einen Schritt über die Schwelle und in die fremde Welt hineinsetzte. Wir bewegten uns sehr vorsichtig und schauten uns auch sofort nach dem Eintreten um. Es war tatsächlich eine andere und auch fremde Welt. Die kleine Halle oder der große Raum war nur schwach beleuchtet. Dieses Licht fiel von der Decke her nach unten, aber es waren keine normalen Lampen, die es abgaben, sondern funkelnde Lichter, die aussahen wie Sterne, und die Decke glich dabei einem Firmament, auf das sich die Dunkelheit gelegt hatte. Es war eine kuppelartige Form erreicht worden, und die Farbe bestand aus einem tiefen Blau, das aus der Unendlichkeit zu kommen und auch in sie hineinzureichen schien. An den Wandseiten gab es ebenfalls Lichtquellen. Die Helligkeit dort erinnerte mehr an Totenlichter, die man auf irgendwelche Gräber gestellt hatte. Nachdem sich unsere Augen an die Verhältnisse gewöhnt hatten, sahen wir, dass der große Raum nicht leer war. Man hatte aus Stühlen verschiedene Reihen aufgebaut. Vier insgesamt. Sie umgaben einen Mittelpunkt. Zwischen den Reihen war Platz genug, um jeden Platz bequem erreichen zu können. Aber wo steckte der Meister? Lange brauchten wir nicht zu suchen. Wir sahen ihn in der Mitte. Er saß nicht, er stand nicht, er lag. Zuerst sah es aus, als hätte er sich auf den blanken Steinboden gelegt. Beim genaueren Hinschauen erkannten wir, dass er auf einer Decke oder einer dünnen Matratze lag und den Kontakt mit dem Boden auf direkte Art und Weise mied. »Der liegt da wie ein Toter«, flüsterte Bill. Ich musste ihm Recht geben, denn beim ersten Hinschauen sah es wirklich so aus. Wenn er ein Toter war, dann ein besonderer oder er war dazu gemacht worden, denn der Mann war vom Kopf bis zu den Füßen in helles Tuch eingewickelt. Der Stoff sah aus wie ein Totenhemd, das der Schamane eng um seinen Körper gewickelt hatte. Wir blieben am Beginn einer der Gänge stehen. Es war wirklich ungewöhnlich, das zu sehen. So etwas hatten wir noch nie erlebt, und es stellte sich die Frage, ob die beiden Typen vor der Tür eine Leiche bewacht hatten. Daran glaubten wir nicht. Schamanen oder Gurus sind Menschen, die es oft schaffen, die Naturgesetze zu überwinden. So war es manchen möglich, sich tagelang begraben zu lassen. Oder Monate ohne Nahrung auszukommen. Andere legten sich auf Nagelbretter oder stießen sich scharfe Gegenstände durch das Fleisch ihrer Wangen. Es war nicht unsere Welt, aber wir waren es gewohnt, mit
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dem Fremden konfrontiert zu werden. »Schauen wir ihn uns mal aus der Nähe an«, schlug der Reporter flüsternd vor. Wir gingen mit möglichst lautlosen Schritten auf das Zentrum der kleinen Meditationshalle zu. Von oben her fiel das Licht und malte seinen Schein auf den Boden. Es erreichte auch den eingepackten Mann, der mehr auf dem Bauch als auf der Seite lag und die Beine leicht angezogen hatte, als wollte er aus seiner Haltung im nächsten Moment aufspringen. Die Arme waren nicht zu sehen, die Füße ebenfalls nicht, und auch von seinem Gesicht sahen wir nichts. Jeder Teil seines Körpers war durch das helle Tuch verdeckt. Der Schamane hatte sich straff darin eingewickelt. Es war für uns auch nicht zu sehen, ob er atmete, denn das Tuch bewegte sich weder in Höhe des Kopfes noch der Brust. »Was tut er?« flüsterte Bill. Suko gab die leise Antwort. »Abgesehen davon, dass er meditiert, sucht er den Kontakt zu den Geistern. Er will ihre Stimmen hören, um sich von ihnen leiten zu lassen.« »Super, Suko. Woher weißt du das?« »Ich habe auch mal gelernt.« Suko hatte damit auf seine Zeit in einem Kloster angespielt. Nur selten redete er darüber. Meistens behielt er das Thema für sich. Ich konnte mir vorstellen, dass er noch von zahlreichen Geheimnissen umweht wurde. Ob der Schamane uns Störenfriede bemerkt hatte oder nicht, das war für uns nicht feststellbar. Er machte jedenfalls nicht den Eindruck, als hätte er uns gehört. Er blieb bewegungslos unter dem umgewickelten Tuch liegen. »Wir sollten ihn wecken«, sagte ich. »Das übernehme ich!« »Okay, Suko.« Bill und ich blieben zurück, als sich unser Freund dem Schamanen näherte. Etwa in Kopfhöhe kniete sich Suko neben die Gestalt und senkte seinen eigenen Kopf sehr tief. Sein Mund schwebte dicht über dem Ohr des Eingepackten. Wenig später hörten Bill und ich die geflüsterten Worte, die aus Sukos Mund strömten. Was er sagte, verstanden wir nicht, aber Suko musste wissen, was er tat. Möglicherweise hatte er sich an die Jugendzeiten in diesem Kloster und an seine erste Erziehung durch die Mönche erinnert. Er richtete sich nach einer Weile wieder auf, blieb jedoch mit angezogenen Beinen auf dem Boden dicht neben dem Schamanen knien und wartete. Im Hintergrund standen Bill und ich. Um uns herum war es beklemmend still. Man hätte das Aufschlagen der berühmten Nadel hören können. Ich wusste nicht, wie viel Zeit verging. Es konnten zwei oder auch drei Minuten gewesen sein, bevor etwas geschah. Da zeigte es sich, dass Suko Erfolg gehabt hatte, denn durch die Gestalt unter der Decke lief ein Zucken. Suko schaute uns an. Er lächelte, und wir lächelten zurück. Die Gestalt, die es unter dem Tuch wohl nicht mehr aushielt, begann sich zu strecken. Das Tuch spannte sich dabei am Oberkörper und auch an den Beinen. Die Füße zuckten, und sie waren es, die wir als erste sahen. Nackte Füße schauten unter dem Rand des Tuches hervor. Leicht gebräunte Haut zog sich über Zehen, die sich bewegten und dabei zuckten, als wären sie von Stromstößen erwischt worden. Keiner von uns half ihm. Der Meister wickelte sich allein aus dem Tuch. Zuerst im Liegen, später hob er den Oberkörper an und tat es im Sitzen. Wir sahen ihn immer mehr. Von den Füßen ging es hoch bis zum Kopf. Das hätte auch eine Mumie sein können, die sich der alten Tücher entledigen wollte, um anschließend in die Welt zu gehen, wo sie Angst und Grauen verbreitete. Es war ein sehr dünner Körper, der uns da präsentiert wurde. Aber er war nicht völlig nackt, denn der Meister trug einen Lendenschurz um die mageren Hüften. Mager war er. Oder dünn. Kein Gramm Fett zu viel. Ein alter Männerkörper mit kleinen Wülsten in
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Höhe der Brust. Knochige Schultern, der magere Hals und zuletzt bekamen wir sein Gesicht zu sehen. Bill, der neben mir stand, stieß mich an. »Verdammt, John, Volltreffer. Das ist er. Das ist genau die feinstoffliche Gestalt, die ich in der letzten Nacht in meinem Garten gesehen habe. Aber als Geist, nicht als Festkörper.« Ich gab dem Reporter keine Antwort, sondern konzentrierte mich auf das Gesicht des Schamanen. Ich kannte es inzwischen von den Plakaten her, und jetzt fiel mir auf, dass die Fotos dort geschönt waren. Der Schamane musste älter sein, denn das Gesicht war ein Gebilde aus Falten, Runzeln und dünner Haut. Wobei die Falten nicht mal irritierten, denn sie gehörten einfach dazu. Auf dem Kopf wuchsen nur wenige Haare, und sie sahen aus wie struppige Strähnen, die nach links und rechts wegfielen. Eine hohe Stirn fiel uns auf, dazu dunkle Augen und ein schmallippiger Mund. Er beschwerte sich nicht. Er sagte nichts. Er sah uns nur an. Zuerst war Suko an der Reihe, über den Mongush seinen prüfenden Blick gleiten ließ. Es war ihm anzusehen, dass er dem Inspektor nicht feindlich gesonnen war, denn er lächelte ihm sogar dünn zu. Dann war Bill an der Reihe. Der Reporter räusperte sich leise. In seiner Rolle fühlte er sich unwohl, und besonders unter dem forschenden Blick. »Er kennt mich noch«, wisperte mir der Reporter zu. »Er weiß um die alte Gefahr in meinem Garten...« »Warte es ab.« »Er kann auch reden. Ich muss ihn fragen und...« »Gleich, Bill, gleich...« Ich hatte gesehen, dass sich der Schamane von meinem Freund abgewandt hatte, denn nun war die dritte Person, ich, mit der Musterung an der Reihe. Die Augen hatten wir nicht genau erkennen können. Wir sahen nur, dass sie sehr dunkel waren. Damit fixierte er mich, schüttelte leicht den Kopf und sah so aus, als wollte er einen Schritt von mir zurückweichen. »Wer bist du?« fragte er, und er redete mich dabei in meiner Sprache an. »Kein Feind«, sagte ich. »Du hast gestört.« »Wieso?« Mongush blickte zu Boden. »Ja, du hast gestört. Nicht direkt du als Mensch, sondern etwas, das du bei dir trägst. Ich habe es gemerkt und die Geister ebenfalls.« »Geister?« »Sie sind geflüchtet. Sie wollten plötzlich nicht mehr bei mir bleiben, weil sie sich gestört fühlten. Und das passiert mir äußerst selten. »Welche Geister waren es?« »Totengeister. Das Jenseits. Sie haben sich gemeldet.« Er breitete die Arme aus. »Aber dann waren sie plötzlich weg. Wie ein Sturmwind sind sie davongebraust.« Ich wusste, was er meinte, aber ich ließ mein Kreuz stecken, wollte es nicht offen präsentieren. Schließlich waren wir gekommen, um das Rätsel in Bills Garten zu lösen. Er streckte mir seine dünnen Arme entgegen und natürlich auch •die Hände. »Lass mich dich anfassen...« »Bitte.« Ich ging auf ihn zu, und er nahm meine Hände in die seinen. Zunächst passierte nichts. Ich stellte nur fest, dass seine Finger kälter waren als meine. Aber das blieb nicht lange so, denn nach einer gewissen Weile merkte ich den sanften Strom der Wärme, der durch meine Finger floss, sich den Weg in die Gelenke hinein bahnte und auch die Unterarme erreichte. Von dort strömte die Kraft weiter und geriet in einen Kreislauf hinein, der nicht, nur den Körper erreichte, sondern auch den Kopf und dort etwas in Bewegung brachte. Die Kälte war jetzt verschwunden. Ich fühlte mich innerlich warm. Ich fing sogar an zu schwitzen, und in meinem Kopf war etwas in Bewegung geraten, als säße dort eine kleine Maschine.
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Meine Freunde hatte ich vergessen. Es gab nur noch den Schamanen und mich, der es tatsächlich schaffte, mich in seine andere Welt zu holen. Der Strom hatte meine Brust erreicht, und genau dort hing auch das Kreuz. Es »meldete« sich. Nicht der harte Wärmestoß, nein, es war ein weiches und trotzdem ein warmes Gefühl, das sich in meinem Körper ausbreitete. Ich war zwar noch ich selbst, aber ich hatte meine Umwelt vergessen und war voll in den Bann des Schamanen geraten. Ich ließ mich einfach treiben, und die Bilder vor meinen Augen verschwammen. Die Welt, die mich hier umgab, trat allmählich zurück. Ich geriet hinein in eine andere. Ich konnte plötzlich sehen, etwas anderes sehen. Ich schwebte weg, und dabei wusste ich nicht mal, ob ich es selbst war oder mein Bewusstsein. Alles war anders und fremd geworden. Ich sah auch Mongush nicht mehr, sondern nur eine neblige Welt, die von hellen Schatten durchwandert wurde. Mongush hatte auf dem Boden gelegen und den Kontakt mit den Geistern der Verstorbenen gesucht. Wir hatten ihn gestört. Da war der Kontakt abgebrochen. Aber jetzt war er dabei, ihn wieder aufzubauen, und das mit meiner Hilfe. Ich wollte etwas sagen und auch zugleich aus dieser Lage herauskommen, aber ich brachte kein Wort über meine Lippen. Alles was ich mir vorgenommen hatte, blieb in den Gedanken stecken. Dieser erste Angriff war sehr überraschend gekommen, und ich versuchte, wieder zu mir selbst zurückzufinden. Ich wollte mich einfach nicht von dem Schamanen beherrschen lassen und meinen freien Willen behalten. Vielleicht lag es auch an meinem Kreuz, dass ich so stark in die andere Welt hineingezogen wurde, die ich ebenfalls mit anderen Augen sah. Es gab andere Dinge zu sehen. Neblige Welten, geheimnisvolle Schatten. Und ich hatte zugleich das Gefühl, Stimmen zu hören, die weit entfernt aufklangen. Dann hörte ich eine Stimme. Sie klang neutral, aber ich wusste trotzdem, dass sie dem Schamanen gehörte. Er warnte vor einer Gefahr, und er sagte auch einen Namen Sheila...? Hatte ich ihn richtig verstanden? Sollte er tatsächlich Sheila gemeint haben? Ich wollte ihn fragen, aber meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich wunderte mich, dass ich überhaupt noch atmen konnte. »Gefahr... bleib bei mir... löse nicht den Kontakt. Wir können sie retten...« Die Stimme war da. Ich verstand auch die Worte, aber ich konnte sie nicht begreifen. Bis ich plötzlich sah, obwohl ich die Augen geschlossen hielt. Ein Bild erschien und damit eine Umgebung, die mir alles andere als fremd war. Ein Garten mit einer blonden Frau darin. Sheila. Sie stand gebückt da. Hinter ihr hatte sich jemand aufgerichtet, der mit seinen Händen eine Schaufel festhielt und bereit war, sie ihr gegen den Kopf zu schlagen... ¶ Für Sheila stand fest, dass der Unheimliche, wo immer er auch hergekommen sein mochte, sie immer treffen würde. Er war so nah, dass er sie nicht verfehlen konnte, und sie war auch nicht in der Lage, sich zur Seite zu werfen. Der Schock hatte sie stumm und zugleich bewegungsunfähig gemacht. Sie sah das leichte Zittern der Arme, und zugleich verzog sich sein Gesicht zu einer bösartigen Grimasse. Dann schlug er zu! Sheila hörte sich selbst schreien. Sie wunderte sich auch darüber, dass sie sich bewegen konnte, denn sie riss zum Schutz beide Arme in die Höhe. Dabei erwartete sie den Aufprall der Schaufel, aber das trat nicht ein. Sekunden vergingen. Sheila wurde erst allmählich klar, dass sie Glück gehabt hatte, was sie kaum fassen konnte. Erst jetzt und sehr langsam ließ sie die angewinkelten Arme wieder sinken. Was sie sah, war unglaublich. Im tatsächlich hellen Licht der Wintersonne sah sie die Gestalt hinter der anderen stehen. Sie war hell und durchscheinend, und sie war ein Mann. Der gleiche Mann, von
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dem Bill berichtet hatte. Eine Erscheinung, die im Licht stand und einfach nur zugriff. Sie hielt den anderen fest und drückte ihn so zur Seite, dass es ihm nicht mehr möglich war, mit der Schaufel zuzuschlagen. Der Täter wurde herumgedreht und zu Boden gedrückt. Plötzlich war er nicht mehr da. Etwas riss ihn weg, und Sheila spürte noch mal den eisigen Hauch, der über ihr Gesicht fuhr. Dann gab es nichts mehr zu sehen. Beide Gestalten waren verschwunden. Sheila Conolly stand da und verstand die Welt nicht mehr. Sie schaute auf den bleichen Totenschädel, nahm ihn jedoch gar nicht wahr... ¶ Starke Hände umklammerten mich und drückten mich zurück. Ich hörte die Stimme meines Freundes Bill. Nur erreichte sie mich aus einer weiten Entfernung, als stünde er in einem anderen Raum, und sie hallte auch in meinen Ohren nach. »Was hast du gesagt, John? Du hast Sheila gerufen? Verdammt, was ist mit ihr?« Ich hätte ihm gern eine Antwort gegeben, aber ich musste zunächst mit mir selbst zurechtkommen und wieder zurück in die Wirklichkeit finden. Ja, Bill hatte Recht. Ich erinnerte mich auch, den Namen seiner Frau gerufen zu haben. Das allerdings nicht grundlos, denn ich hatte gesehen, was da geschehen war. Sheila, die in ihrem Garten stand, und der Mann, der eine Schaufel gegen ihren Kopf hatte schlagen wollen. Das hatte mich dazu veranlasst, Sheilas Namen zu rufen. Ich hätte es gesehen. Ich hatte Meilen überbrücken können durch völlig neue Fähigkeiten. Ich war in diesen Momenten zu einem Seher geworden, aber das lag nicht an mir. Das hatte ich nicht aufgrund meiner eigenen Kraft geschafft, denn da hatte ich mich auf die des Schamanen verlassen müssen. Allmählich klärte sich mein Blick und wurde die Erinnerung sehr plastisch. Sheila war nicht getroffen worden. Jemand war plötzlich erschienen und hatte den anderen davon abgehalten, die Frau mit der Schaufel zu erschlagen. Ich kannte den Helfer. Er war bei mir gewesen, und er hatte mich sogar angefasst. Er hieß Mongush, er war ein Schamane, und er hatte den direkten Kontakt mit mir gesucht. Und nun? Ich war durcheinander. Aber ein Bild konnte ich nicht vergessen. Der Fremde hatte es nicht geschafft, Sheila zu erschlagen, und genau dieses Wissen brachte mich wieder zurück in die Realität. Auch etwas anderes trug dazu bei. Es war Bill, der mich noch immer festhielt und mich dabei durchschüttelte. Dabei schrie er mich an. »Verdammt noch mal, John! Was ist mit meiner Frau? Was ist mit Sheila?« »Sheila lebt«, sagte ich. Dieser schlichte, aber doch bedeutungsvolle Satz stoppte Bills Aktivität. Er schüttelte mich nicht mehr durch. Dafür schaute er mich fassungslos an. Und allmählich nahm ich die Realität wieder besser und klarer wahr. Ich sah Bills Gesicht dicht vor dem meinen und im Hintergrund den Schamanen, der auf dem Fleck stand wie festgefroren. Suko war bei ihm und ließ ihn nicht aus den Augen. Bill Conolly ließ mich los, als ich meinen rechten Arm hob. Mit der flachen Hand wischte ich durch mein Gesicht und schaute dabei ins Leere. »Mongush hat sie gerettet, Bill. Er hat es nicht zugelassen, dass Sheila getötet wurde.« Der Reporter schnappte nach Luft. Er rang nach Worten. »Verdammt, wie kommst du darauf, John? Wer hat sie denn töten wollen? Wer, zum Teufel?« »Ich kann es dir nicht sagen«, erwiderte ich, so matt wie ich mich auch fühlte. »Ich habe ihn zwar gesehen, aber ich kenne ihn nicht. Er war mir völlig unbekannt.« »Und er war im Garten?« »Ja.« Bill schüttelte den Kopf. »Alles der Reihe nach«, flüsterte er. »Du hast Sheila im Garten gesehen, und hinter ihr stand ein Fremder, der sie mit einer Schaufel erschlagen wollte. Ist das richtig?«
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Ich nickte. »Gut, ich frage jetzt nicht nach den Gründen. Ich will noch nicht wissen, warum du das alles gesehen hast und ich nicht. Aber Sheila wurde gerettet. Und zwar von dem Schamanen - oder?« »So habe ich es gesehen!« Bill schaute mich scharf an. »Aber das ist unmöglich, denn Mongush war hier! Ich habe ihn gesehen und...« Er unterbrach sich. Den Grund kannte ich nicht. Es konnte sein, dass es an meinem langen Blick gelegen hatte, den ich Bill zuwarf. Es war aber auch möglich, dass er selbst nachgedacht hatte, denn plötzlich nickte er. »Ja, so muss es gewesen sein. nicht er war es, der hier bei uns ist, sondern sein Astralleib. Oder ist das falsch?« »Ich glaube nicht.« Bill ging zur Seite. Er musste sich jetzt einfach setzen und schlug die Hände vors Gesicht. Trotz der großen Freude über Sheilas Rettung hatte er seine Probleme, und die konnte ihm auch niemand abnehmen. Als ich den Schamanen ansprechen wollte und mich ihm zuwandte, schüttelte Suko den Kopf. Er stand noch immer bei ihm und wusste besser Bescheid. Der Mann schien noch nicht in der Lage zu sein, Antworten geben zu können. Deshalb ging ich zu Bill und setzte mich auf den Stuhl neben ihn. »Wir haben es geschafft. Zumindest jetzt oder vorerst. Ich denke, dass Sheila in Sicherheit ist.« »Ich weiß es nicht.« Bill zuckte mit den Schultern. »Warum das alles? Warum in unserem Garten? Was ist da los? Hatten wir all die Jahre nicht schon genug Ärger? Was hat der verdammte Garten mit allem zu tun?« »Sorry, aber ich kann dir die Antwort nicht geben.« »Ja, ich weiß. Ich müsste Mongush fragen.« »Genau.« Bill schüttelte den Kopf. »Aber was hat der Schamane mit uns zu tun? Was mit dem Gebiet, mit dem Haus, in dem wir wohnen? Klar, es war nie so richtig normal. Das stimmt auch. Da brauche ich nur an Nadine Berger zu denken, als sie noch eine Wölfin gewesen ist. Das ist vorbei. Wir sind auch später nie richtig sicher gewesen, das muss ich dir nicht alles sagen, aber woher kommt die Gestalt, die Sheila so brutal erschlagen wollte?« »Die Frage kann ich dir nicht beantworten, Bill. Da musst du dich schon an Mongush wenden.« Bill war mit seinen Gedanken woanders. »Und du hast alles ebenfalls gesehen?« »Er hat mich festgehalten. Er hat mich förmlich gesucht, Bill. Er wollte, dass ich mit ihm zusammen eine Verbindung herstelle, und da hat mir wohl das Kreuz geholfen. Er hat sofort gemerkt, dass ich anders bin.« »Hast du deinen Geist lösen und einen Astralkörper bilden können«, fragte Bill flüsternd. »Nein, das ist mir nicht gelungen. Ich musste mich schon auf Mongushs geistige Ebene verlassen. Da hat er mich dann mitgenommen. Ich habe mich wie weggetreten gefühlt. Ich hatte mich auch nicht vorbereiten können. Es ist alles so plötzlich über mich gekommen, und jetzt sitze ich wieder völlig normal neben dir.« »Ja, zum Glück.« Bill blies die Luft aus. Er bewegte sich einige Sekunden nicht und zuckte dann zusammen. »Himmel, wir reden hier die ganze Zeit über Sheila. Ich... ich... muss sie doch anrufen und ihr sagen, dass es mir gut geht.« Er holte sein Handy hervor, aber so sehr sich Bill auch bemühte, er bekam keine Verbindung. Bevor er anfing zu fluchen, schaltete ich mich ein. »Denk immer daran, wer sich hier trifft, Bill. Die Schamanen und ihre Gäste haben für eine Handy freie Zone gesorgt. Sie wollen sich nicht durch andere Energien und Ströme ablenken lassen.« »Ja«, sagte er und nickte. »Das scheint wohl so zu sein. Aber wir müssen trotzdem hin. Ich kann einfach nicht hier sitzen und warten, dass etwas passiert.« »Das verstehe ich. Fahr du los.« »Und ihr?«
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»Wir kommen nach.« Bill überlegte nicht lange. »Okay«, sagte er dann. »Ich werde mir ein Taxi nehmen.« »Und ruf von unterwegs aus an.« Er war schon aufgestanden. »Darauf kannst du dich verlassen, John. Das werde ich auf jeden Fall tun...« ¶ Suko und ich kümmerten uns um den Schamanen. Mongush saß auf einem der Stühle und hielt den dünnen Oberkörper nach vorn gebeugt. Er war in das gleiche Tuch eingewickelt, in dem er am Boden gelegen hatte. Auf mich wirkte er erschöpft und wie, jemand, der eine lange Ruhepause benötigt, um wieder zu Kräften zu kommen. Es lag auf der Hand, dass es ihn wahnsinnig angestrengt hatte, seinen Zweitkörper zu produzieren. Ich wusste, dass dies immense Kraft erforderte. Ich sprach ihn noch nicht an. Er atmete tief, als wollte er mit jedem Atemzug neue Energien tanken. Da er seinen Kopf gesenkt hatte, war es mir nicht möglich, einen Blick in sein Gesicht zu werfen. Die Hände hatte er wie zum Gebet gefaltet und auf seine zusammengedrückten Knie gelegt. Mit Suko trat ich ein paar Schritte zur Seite. Ich brauchte ihm nicht viel zu erklären, denn er hatte das Gespräch zwischen Bill und mir zum größten Teil mitgehört. »Und wie geht es weiter, John?«, fragte er. »Wir müssen zunächst herausfinden, warum das alles so geschehen ist.« »Da kann uns nur Mongush eine Antwort geben. Er hat diesen Ort ausfindig gemacht. Dass es ausgerechnet der Garten der Conollys ist, das kann ich fast nicht begreifen, wenn ich daran denke, wie viele Gärten es in dieser Stadt gibt. Und was hast du erlebt?« Ich erzählte es ihm. Suko war nach meinen Worten recht nachdenklich. »Dann muss er dich oder dein Kreuz als Hilfe genommen haben. Hast du denn etwas in dieser Richtung gespürt?« Ich schüttelte den Kopf. »Das Kreuz hat sich nicht so gemeldet, wie es normalerweise der Fall ist, wenn du das meinst. Ich hatte eben nur das Gefühl, zwar noch hier zu sein, mich zugleich aber an einem anderen Ort zu befinden, ohne dass es mir gelungen wäre, meinen Astralleib zu produzieren.« »Du hast dann nur gesehen. Hellgesehen, gewissermaßen.« »Ja.« »Und hast du den Mann erkannt oder gekannt?« »Überhaupt nicht.« Ich beschrieb ihn noch einmal und kam auf die Augen zu sprechen. »Sie waren so anders. So starr. Sie waren verdreht, und ich denke, dass ich in ihnen auch einen bösen Ausdruck erkannt habe. Möchte mich aber nicht genau festlegen.« »Kann ich verstehen. War er eine Erscheinung?« »Keine Ahnung, Suko, ob man bei ihm von einer Erscheinung sprechen kann. Aber er besaß eine Waffe, ein Werkzeug, diese Schaufel, und die war verdammt echt. Damit hätte er Sheila töten können.« »Wie ist er danach verschwunden?« fragte Suko. »Er war einfach weg.« »Seltsam.« »Hier stimmt einiges nicht. Ich glaube auch nicht mehr an einen Zufall, Suko. Dass diese Dinge in Bills Garten geschehen sind, hängt damit zusammen, dass der Schamane nach London gekommen ist. Er muss einiges in Bewegung gesetzt haben. Es muss eine Verbindung zwischen dem Garten und dem Schamanen geben, und ich glaube auch, dass er sie uns sagen wird, wenn wir ihn danach fragen.« »Er muss uns helfen«, sagte Suko. »Denk mal daran, wie oft wir im Garten der Conollys gewesen sind und nichts passiert ist. Wir haben dort gegessen, getrunken, gefeiert, aber der Geist mit der Schaufel hat sich nie gezeigt.« »Seine Zeit war noch nicht reif«, mutmaßte ich. »Das ist erst jetzt passiert, nachdem der Schamane hier eintraf. Er muss etwas erweckt haben, das lange Zeit im Finstern verborgen geblieben war.
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Mehr kann ich dazu auch nicht sagen.« Es kam auf den Schamanen an. Ich hoffte, dass er uns auch weiterhin zur Seite stehen würde. Suko und ich hatten die gleichen Gedanken und schauten zu ihm herüber. Der Schamane saß nicht mehr so geknickt auf seinem Stuhl. Er hatte den Kopf gehoben und den Rücken durchgedrückt. Zudem schaute er in unsere Richtung. »Geht es dir wieder besser?« fragte Suko. Mongush hob seine Hände und nickte. Auf seinem faltigen Gesicht erschien ein Lächeln. »Wir haben etwas Wunderbares geschafft«, sagte er mit fester Stimme. »Es ist uns gelungen, ein Menschenleben zu retten. Das ist für mich das Höchste.« »Wobei wir nicht davon ausgehen können, dass die Gefahr grundsätzlich gebannt ist«, sagte ich. »Das ist wohl wahr.« »Wir wissen leider zu wenig«, sagte ich. »Du könntest uns helfen. Du weißt Bescheid. Du kennst die Gestalt, die im Garten der Conollys erschienen ist. Willst du sprechen?« »Ich werde es versuchen. Ich weiß nicht viel, aber ich weiß, dass es ein gefährlicher Ort ist, an dem eure Freunde leben. Ein Ort, der eine Vergangenheit hat, eine sehr alte sogar...« ¶ Sheila wusste nicht mehr, wie sie überhaupt vom Garten her ins Haus gelangt war. Es war alles so schnell gegangen, und sie hatte es wie einen schnell vorbeifließenden Traum erlebt. Aber sie fand sich in der Wärme wieder und stellte fest, dass sie auf der Couch im Wohnzimmer saß. Leicht zitternd, noch immer frierend, obwohl sie noch die dicke Jacke trug. Ein Schock erwischte sie nicht mehr. Trotzdem musste sie einiges verarbeiten, und das fiel ihr nicht leicht. Sie wusste jetzt, dass etwas Böses und zugleich Fremdes Einfluss auf den Garten genommen hatte. Es war nicht mehr ihre Welt wie zuvor, sondern eine völlig andere, obwohl sich äußerlich nichts verändert hatte, wie sie feststellte, als sie durch die breite Scheibe schaute. Und doch hatte sie dort ein schreckliches Erlebnis gehabt, das beinahe zu ihrem Tod geführt hätte. Das Wissen darüber ließ sie zittern. Die Bilder der Erinnerungen schlugen wieder über ihr zusammen, und automatisch kamen ihr die Tränen. Dennoch spürte sie keine große Erleichterung. Zwar war die unmittelbare Gefahr gebannt, aber sie befand sich allein im Haus. Ohne Schutz, ohne Hilfe. Okay, sie konnte mit einer Waffe umgehen, aber ob das die Rettung war, wusste Sheila auch nicht, weil die Feinde von einem besonderen Kaliber waren. Sie stand auf, legte die Jacke ab und ließ sie auf der Couch liegen. Aus der Küche holte sie ein Taschentuch, und in diesem Raum blieb sie auch stehen. Die Sonne war gewandert. Sie schickte ihr helles Licht durch die Fenster in das Haus. Als Sheila die Nase geputzt und die Tränen getrocknet hatte, dachte sie an Bill. Himmel, er war unterwegs zu diesem Schamanen, den sie als Astralleib gesehen hatte! Ob er wusste, was geschehen war? In der Nähe lag das Telefon auf der Station. Sheila hob es ab und wählte Bills Handy-Nummer. Sie bekam keine Verbindung. Alles war tot. Ihr Mann nicht erreichbar. Plötzlich fing wieder das Zittern an. Sie schwitzte, aber sie fühlte sich zugleich auch sehr kalt. Und auch wie in einem Gefängnis. Es war so still. Unheimlich still. Sie lauschte in die Stille hinein. Sie war bereit, nach irgendwelchen Geräuschen zu fahnden. Es konnte durchaus sein, dass die Feinde es längst geschafft hatten, in das Haus einzudringen, um es ebenfalls in Besitz zu nehmen. Wie angewachsen stand sie in der Küche und lauschte. Dabei blieb es auf ihrem Rücken kalt, und diese Kälte zog sich sogar hinein bis in die Fingerspitzen. War jemand da? Es gab jetzt Geräusche. Irgendwo bewegte sich immer etwas. Die Geräusche konnten auch von draußen her stammen. Sheila war durcheinander. Sie sah Licht, sie sah auch Schatten, wenn sie durch die offen stehende Tür in den Flur schaute, und sie musste wieder an den verdammten Toten-
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schädel in ihrem Garten denken. Ihn hatte dieser Andere ausgegraben. Der Schädel wies die Form eines menschlichen Kopfes auf. Er musste für den Fremden ungemein wichtig sein. Möglicherweise ein Fetisch oder ein mit Kraft gefüllter magischer Gegenstand. Sheila hatte das Gefühl, dass die Zeit der Angst noch nicht vorbei war. Es konnte durchaus sein, dass sie erst den Anfang erlebt hatte. Was dann folgte, das wollte sie sich gar nicht erst vorstellen. Sie schrak zusammen, als das Telefon klingelte. Sheila schnappte das Telefon, als wäre ihre Hand eine Raubtierpranke. »Ja... ja...?« »Sheila - endlich!« »Bill! « Sie sprach den Namen aus wie ein Jubelschrei. Selten hatte der Anruf ihres Mannes sie so erfreut. In ihr stieg Optimismus auf. Sie wollte sagen, dass sie noch da war, dass alles gut werden würde, aber sie kam nicht dazu, weil die Kehle plötzlich zusaß. »Sag was, Sheila.« Sie schluckte. Sie holte Luft und weinte. »Okay, Bill, es geht mir gut. Jetzt zumindest. Ich... ich... weiß, dass du auch da bist. Aber ich fühle mich so allein.« »Keine Sorge«, versprach er ihr. »Das wird sich ändern. Ich habe mir ein Taxi nehmen müssen. Die Gründe erzähle ich dir später. Warte noch zwanzig Minuten.« »Ja, Bill, ja. Ich habe auch versucht, dich zu erreichen, aber ich bekam keine Verbindung.« »Da waren wir noch in dem Center. Es wurde dafür gesorgt, dass niemand - ach, ist auch egal. Wir sehen uns gleich.« »Ja. Bill, ich liebe dich.« »Ich dich auch.« Der letzte Satz hatte sein müssen. Auch nach einer schon langen Ehe. Sheila hatte ihn gebraucht. Er war für sie so etwas wie ein seelischer Brennstoff. Sie legte das Telefon wieder auf die Station. Jetzt ging es ihr besser. Der Druck im Magen war verschwunden, auch wenn die Unruhe nach wie vor in ihr steckte. Sheila traute sich auch wieder, in den Garten zu schauen. Als sie dort nichts Auffälliges entdeckte, ging sie durch das Haus, um die Zimmer zu durchsuchen. Sie waren leer. Kein Vertreter einer fremden Macht hatte sich dort eingenistet. Immer wieder blickte sie auf die Uhr. Der Zeiger schien zu kriechen. Die Warterei entwickelte sich zu einer Folter, und der Herzschlag wollte sich nicht beruhigen. Wann kam er - wann? Schließlich blieb sie neben der Haustür stehen und beobachtete auf dem Monitor den Eingangsbereich des Hauses. Als das Taxi erschien, bekam sie vor Erleichterung weiche Kniekehlen... ¶ Selten in der letzten Zeit war Sheila ihrem Mann mit einer derartigen Inbrunst in die Arme gefallen. Sie hatte ihn schon vor der Haustür erwartet, und beide waren irgendwie froh, dass sie noch lebten, obwohl sie nicht darüber sprachen. Bill trug seine Frau über die Schwelle und stellte sie im Haus ab. Sie schauten sich an, sie küssten sich, und irgendwann kamen sie auch wieder zu sich. »Du kannst jetzt sagen, was du willst, Sheila, aber jetzt brauche ich einen Schluck.« »Ich auch.« »Super. Whisky?« »Ja.« Sheila folgte ihrem Mann ins Wohnzimmer, in dem sich auch eine gut bestückte Bar befand. Bill suchte den besten Scotch aus, der wenig später in schmalen Gläsern schimmerte und sein Aroma entfalten konnte. Sie stießen an und tranken. Selbst Sheila nahm einen großen Schluck. Dann stellte sie das halb leere Glas zur Seite. Sie schaute ihren Mann an, der sein Glas bis auf einen geringen Rest austrank und
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tief ausatmete. »Wir haben es noch nicht überstanden, Sheila.« »Ich weiß.« Bill spähte in den Garten. Er sagte nichts. Jede Frage schien ihm sinnlos zu sein. »Suchst du den Schädel?« Der Reporter fuhr herum. »Wie? Ist er noch hier?« »Ja. Aber der Mann nicht.« Sheila sagte nichts. Nach einer Weile schüttelte sie den Kopf. »Woher weißt du davon?« »John hat es mir gesagt.« »John?« Sheila schüttelte den Kopf. »Aber das ist unmöglich, Bill. Das kann nicht sein...« »Doch. Er hat es gesehen.« Bill ging zu seiner Frau und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Er ist in dieses magische Wunder, sage ich mal, mit hineingeraten. Er hat gesehen, wie du von einem Astralleib gerettet worden bist. Es war doch genau der Leib, der mich in der vergangenen Nacht gewarnt hat. Er gehört einem Schamanen mit dem Namen Mongush.« »Den habe ich noch nie in meinem Leben gehört.« »Ich vorher auch nicht.« »Aber warum hat er die Verbindung zwischen uns hergestellt, Bill? Was haben wir getan? Welche Brücke ist da zwischen uns gebaut worden? Wieso kommt alles so plötzlich auf uns zu?« Der Reporter konnte nur die Achseln zucken. »Es ist leider noch alles in der Schwebe, aber wir werden es aufklären.« »Wer ist in diesem Fall denn wir?« »John, Suko und der Schamane. Ich bin nur vorgefahren. Sie werden bald hier sein.« »Und was passiert dann?« »Müssen wir alles Mongush überlassen.« Sheila schauderte es. »Welch ein Name«, sagte sie leise. »Woher kommt der Mann?« »Aus Sibirien.« Sheila bekam große Augen, als sie die Antwort wiederholte. »Sibirien, Bill? Und dann merkt er, dass etwas mit unserem Garten nicht in Ordnung ist?« »So sieht es aus.« »Weißt du mehr?« »Nein. Aber ich werde in den Garten gehen, darauf kannst du dich verlassen.« Sheila konnte ihr Erschrecken nicht unterdrücken. »Was willst du dort tun?« »Hast du nicht von einem Totenschädel gesprochen, der dort liegt? Den der Unheimliche mit Hilfe seiner verdammten Schaufel aus der Erde geholt hat?« »Er wird dort noch liegen.« »Nicht mehr lange.« Sheila kannte den Tatendrang ihres Mannes, und nicht immer war sie damit einverstanden. Sie hatte Angst um ihren Mann. »Willst du nicht lieber warten, bis die anderen hier sind?« »Nein, will ich nicht.« Es hatte keinen Sinn, zu widersprechen. Auch bei Bill gab es Grenzen. Noch im Wohnzimmer überprüfte er seine mit geweihten Silberkugeln geladene Beretta. Sheila sah seinem düsteren Blick an, dass in Bills Innern eine Hölle tobte. »Willst du ihn zerschießen, Bill?« »Wenn es sein muss, schon.« »Dann ist der Beweis weg!« »Ich lasse es darauf ankommen.« Es hatte wirklich keinen Sinn, wenn sie versuchte, ihren Mann aufzuhalten. Wenn Bill sich zu etwas entschieden hatte, ließ er sich nicht davon abbringen. Er öffnete die Tür. Trotz des Sonnenscheins schwappte ein Schwall kalter Luft in den Raum. Bill blieb für einen Moment in der offenen Tür stehen, um seinen Blick durch den Garten schweifen zu
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lassen. Sheila hatte ihre Jacke wieder übergezogen und sich dicht hinter ihrem Mann aufgestellt. Sie sah das gleiche wie Bill. Vor ihnen lag der winterlich gefärbte und leere Garten. Der abgedeckte Pool. Es gab keine Gartenmöbel mehr, die draußen standen. Nur zwei Liegen hatte Sheila an der Seite des Hauses mit einer Plane aus Plastik abgedeckt. Letzte Erinnerungen an einen Sommer. Die Sonne schien auch jetzt in den Garten hinein. Aber es gab auch Schatten. Seine Stellen sahen kalt aus und ließen die spärliche Vegetation noch dunkler wirken. »Wo lag der Schädel?« »Er liegt links, Bill. An der Grundstücksgrenze.« »Grenze?« »Ja. Warum?« »Wenn er auf der Grenze liegt, dann muss er nicht automatisch zu uns gehören. Da kann es sein, dass der Nachbar etwas damit zu tun hat. Meine ich.« »Die Taylors?« »Ja.« »Weiß nicht, Bill. Wie gut kennst du sie denn?« »So gut wie überhaupt nicht. Wann haben denn die alten Besitzer ihr Haus verkauft?« »Das war in diesem Jahr.« »Genau. Im Sommer. Sie wollten sich eine altersgerechte Wohnung nehmen. Dann sind die Taylors eingezogen, die wir so gut wie nicht kennen. Die haben sich nicht mal vorgestellt. Ich sah sie nur mal kurz im Garten.« »Mir ist es auch nicht anders ergangen. Ich erinnere mich nur daran, dass sie im Haus etwas umgebaut haben.« »Gut, wir behalten das im Auge, Sheila. Jetzt will ich sehen, wo der verdammte Schädel liegt.« »Ich gehe mit dir.« Bill warf seiner Frau einen schrägen Blick zu, enthielt sich allerdings eines Kommentars. Außerdem war er jetzt bei ihr, und er nahm sie sogar bei der Hand. Sie gingen nach links auf die seitliche Grenze des Grundstücks zu. An einigen Stellen, die von den Strahlen der Sonne nicht erreicht wurden, war der Boden noch von den Minustemperaturen der vergangenen Nacht gefroren. Manche Büsche sahen aus wie kahl gefressen und erinnerten an dünne Gespenster. Die beiden blieben auf den Fliesen und stoppten ihre Schritte, als sich der Boden leicht absenkte. »Genau hier war es, Bill! Der Reporter schaute vor seine Füße. »Du meinst, dass hier der Schädel gelegen hat?« Sheila gab keine Antwort. Sie schluckte nur. Der Schädel lag nicht mehr an seinem Platz! »Das verstehe ich nicht«, flüsterte Sheila und schüttelte immer wieder den Kopf. »Er ist nicht mehr da! « Sie fasste Bill mit beiden Händen an. »Bitte, glaubst du mir denn, dass er hier gelegen hat?« Bill drehte kurz sein Gesicht nach links. »Ich glaube dir alles, Sheila. Ich glaube ja auch John. Ich weiß ja, was er gesehen hat. Aber der Schädel ist weg.« »Ja.« Bill holte tief Luft. »Hast du nicht auch davon gesprochen, dass der Boden um ihn herum aufgewühlt war?« »Das war er auch!« »Jetzt ist er platt!« Sie bückte sich. »Zu platt, Bill. Als wäre er flach geklopft worden. Man hat den Schädel weggeholt, und ich weiß nicht, wie das geschehen konnte, denn ich bin voller Panik ins Haus gerannt.« Sie richtete sich wieder auf. »Ja, und dieser seltsame Typ verschwand«, murmelte Bill. »Wer ist das gewesen?« »Ich kenne ihn nicht!« Bill schaute über die Grundstücksgrenze hinweg, die von keinem Zaun gebildet wurde, sondern nur
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von knie- und hüfthohen Büschen. »Hätte das dieser Taylor sein können?« »Jeder, Bill. Aber wir beide kennen ihn nicht.« »Ja, ja«, murmelte der Reporter. »Wir kennen ihn nicht. Ich denke, dass ich ihn kennen lernen werde.« »Was heißt das?« Er sah sie kurz an. »Ganz einfach. Ich mache mich auf den Weg und statte ihm einen Besuch ab.« »Nein!« Sheilas Reaktion war spontan erfolgt, doch Bill ließ sich nicht beirren. »Ich gehe auf jeden Fall. Ich muss einfach Bescheid wissen, verdammt noch mal! « »Dann gehe ich mit!« »Auf keinen Fall. Du bleibst im Haus. Einer muss schließlich dort sein, wenn John, Suko und der Schamane eintreffen. Keine Angst, ich werde vorsichtig sein.« Sheila wusste nicht, wohin sie ihren Blick wenden sollte. Mal sah sie Bill ins Gesicht, mal zum Nachbargrundstück hinüber. Schon immer hatte sie die neuen Bewohner für komische Leute gehalten, die sehr für sich lebten. Nun, das musste kein Fehler sein, aber es gab auch Menschen, die etwas zu verbergen hatten und deshalb allein blieben. »Geh wieder zurück ins Haus«, sagte Bill. »Sollte ich etwas entdecken, melde ich mich über Handy.« »Aber bitte, Bill, tu nichts Unüberlegtes.« Er grinste und zwinkerte ihr zu. »Habe ich das schon jemals getan?« »Muss ich darauf antworten?« »Nein«, sagte Bill, küsste sie kurz auf den Mund und machte sich auf den Weg... ¶ Dem Schamanen war es von Minute zu Minute besser gegangen, was wir als Vorteil ansahen. Er akzeptierte uns auch ohne Widersprüche und hatte sogar meinem Vorschlag zugestimmt, das Gelände hier zu verlassen, um den Ort des Geschehens zu erreichen. Er stand vor uns, wie jemand, der sich etwas eintrichtern will. Seine gespreizten Finger hielt er gegen den Kopf gepresst und flüsterte immer wieder: »Es ist etwas da. Etwas Grauenvolles. Etwas Uraltes, das noch dabei ist, seine Kraft auszustrahlen. Ich habe es gespürt, ich habe es gesehen, und es ist feindlich.« »Auch alt«, sagte ich. »Ja, sehr alt.« »Weißt du mehr darüber?«, fragte Suko. »Was kann in einer bestimmten Phase der Vergangenheit dort geschehen sein, das bis heute noch nachwirkt?« Auch mir hatte die Frage auf der Zunge gelegen, aber ich hatte Suko den Vortritt gelassen und wartete gespannt auf die Antwort. Mongush ließ sich Zeit. Er sah zwar geradeaus, aber der Ausdruck in seinen Augen kam uns vor, als würde er direkt in sein Inneres sehen, um dort etwas zu erforschen. Schließlich sagte er mit leiser Stimme: »Es hängt mit dem Tod und dem Leben zusammen. Es ist der Anfang und das Ende. Aber es steht auf der anderen Seite.« »Du meinst das Böse?« »Ja, die dunklen Kräfte. Es gab sie, es gibt sie, und es wird sie immer geben.« Er hob jetzt den Kopf, um mich anzusehen. »Du weißt es, du spürst es, denn du besitzt etwas, das sehr wertvoll ist und es schafft, sich gegen die dunklen Mächte zu stellen. Ich weiß das genau.« »Ja, das denke ich mir. Aber du kennst den Mann nicht, der Sheila Conolly töten wollte?« »Nein, nicht mit Namen.« Seine Stimme verlor sich etwas. »Aber ich spüre seine Macht.« »Wie sieht das aus?« »Er ist wie ich.« »Ein Schamane?« fragte Suko. »Ja, ich nehme an, dass man es so sagen kann. Ein Schamane, der sich dem Bösen verschrieben hat. Aber er ist zugleich einer, der sich nicht offen zeigt. Er lebt hinter einer Maske versteckt, weil die Welt nichts von ihm erfahren soll. Er will niemand helfen, er will mit Menschen nur so wenig Kon-
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takt wie möglich...« »Was will er dann?«, fragte ich dazwischen. »Weißt du es? Kannst du es sagen?« »Er will Macht. Er will sie nicht teilen. Er will sie nur für sich, und er ist jetzt aus seiner Höhle oder seinem Versteck ins Freie gekommen, weil er sich stark genug fühlt. Begreift ihr das? Er ist auf die Menschheit losgelassen worden, und wahrscheinlich weiß er über mich ebenso Bescheid wie ich über ihn. Ich habe ihn gespürt, und bei ihm wird das Gleiche geschehen sein. Und er ist einer der wenigen Schamanen aus dem mitteleuropäischen Raum. Er hat gelernt. Er kam in der Welt herum. Während ich auf dem Boden lag und die Verbindung zu den Totengeistern herstellte, bin ich in seine gefährliche Aura gelangt. Es gelang mir, einen Widerstand aufzubauen. Er wird alle töten, die sich ihm in den Weg stellen oder auch nur einen Rest seines Geheimnisses erfahren. So wollte er mit Sheila Conolly vorgehen. Sie hat ihn gestört. Er wollte an etwas Bestimmtes herankommen. Deshalb hat er auch den Boden aufgegraben. Für ihn war die Zeit reif, es hervorzuholen.« »Ich sah einen Totenkopf«, flüsterte ich. »Ja, das ist es gewesen.« »Und du weißt nicht, wem er gehörte?« »Nein, aber er ist mächtig. Noch immer. Ich müsste ihn richtig sehen und auch anfassen können.« Da hatte er mir ein Stichwort gegeben. »Deshalb sollten wir auch nicht länger warten und sofort losfahren.« Ich deutete auf Mongushs Kleidung. »Willst du dir nicht etwas anderes überziehen? Es ist ziemlich kalt in diesem Land.« »Nein, das brauche ich nicht. Es ist gut gemeint, aber vergesst nicht, woher ich komme.« Da hatte er Recht. In Sibirien war es wesentlich kälter als bei uns. Wir verließen den Raum mit dem künstlichen Himmel, auf dem mir die Sterne jetzt verblasst vorkamen. Aber das konnte auch Einbildung sein. Sicherlich würden einige seiner Junger enttäuscht sein, weil Mongush den kleinen Kongress verließ, aber dieser Fall war wesentlich wichtiger als irgendein Vortrag. Die beiden Aufpasser standen noch immer draußen und hielten Wache. Ihre Augen weiteten sich, als sie den Schamanen sahen. Dann senkten sie ehrfurchtsvoll die Köpfe, als er stehen blieb und ihnen mit leiser Stimme erklärte, dass er den Kongress verlassen und auch nicht wusste, wann er wiederkommen würde. Sie nahmen es hin, verbeugten sich wieder, und dann konnten wir endlich gehen. Ich wartete voller Inbrunst darauf, dass wir endlich den Park erreichten und ich wieder freien Empfang für mein Handy hatte. Inzwischen war es in der Halle noch voller geworden, und auch im Park trieben sich mehr Jünger herum. Alle, die den Schamanen sahen, warfen ihm ehrfurchtsvolle Blicke zu. Bills Nummer hatte ich gespeichert und rief ihn an. Nicht er meldete sich, sondern Sheila. Da ihre Stimme ein wenig atemlos klang, ahnte ich sofort, dass etwas passiert war. »Ich bin es nur. Freut mich, deine Stimme zu hören, Sheila.« »John, meine Güte! Dann hast du mich gerettet.« »Unsinn. Aber darüber können wir später reden. Ist Bill mittlerweile bei dir eingetroffen?« »Ja, ist er.« »Dann gib ihn...« Sheila ließ mich nicht ausreden. »John, das geht nicht. Er ist wieder weg.« »Nein.« »Doch, wenn ich es dir sage.« Ihre Stimme klang noch immer gehetzt. »Er wollte sich bei einem Nachbarn umschauen.« Er wollte sich umschauen. Über diesen Satz stolperte ich, denn er ließ einiges an Deutungen zu. Bill war also nicht normal zu seinem Nachbarn hingegangen. »Was ist los mit ihm?« »Er hat einen Verdacht«, flüsterte Sheila. »Hängt es mit dem Fall zusammen?« »Womit sonst?«
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»Und wie heißt der Nachbar?« »Taylor. Avery Taylor, glaube ich.« »Den Namen hast du nie erwähnt.« »Die wohnen erst seit einigen Wochen richtig bei uns. Sie haben sich auch nicht vorgestellt. Sie bleiben ziemlich für sich. Geheimniskrämer. Und der Schädel war ebenfalls verschwunden, als Bill und ich nachschauten.« Sie sprang jetzt von einem Thema zum anderen. Mir rann es kalt den Rücken hinab. Was Sheila mir da berichtet hatte, passte auch zu dem, was wir von dem Schamanen gehört hatten. Dass sich in der Nähe etwas aufgebaut hatte, ohne dass normale Menschen etwas hatten dagegen tun können. »Bist du noch dran, John?« »Sicher. Wir werden so schnell wie möglich bei dir sein. Wie lange ist Bill denn schon weg?« »Noch nicht lange. Ein paar Minuten höchstens.« »Okay, wir fliegen.« Ich schaltete den flachen Apparat ab und lief hinter Suko und dem Schamanen her, die den Rover schon beinahe erreicht hatten. Mongush blickte mich an und sagte: »Ich spüre deine Aura. Sie ist nicht mehr so gut.« »Kann man wohl sagen. Wir sollten so schnell wie möglich bei den Conollys sein. Ich denke sogar, dass ich die Lösung weiß...« ¶ Es wäre Bill lieber gewesen, im Sommer über das Grundstück eines Nachbarn zu streifen. Da war der Bewuchs dichter, und da hätte er auch bessere Deckungen finden können. Zu dieser Jahreszeit sah es anders aus. Obwohl die Vorbesitzer das Grundstück gut bepflanzt hatten, kam es Bill vor, dass es nur aus irgendwelchen Lücken bestand, durch die er sich schieben musste, um an das Ziel zu gelangen. Das Haus der Taylors lag nicht auf gleicher Höhe mit dem der Conollys. Es war tiefer in das Gelände hineingebaut worden, und anfahren musste man es von der anderen Seite her. Es war nicht von der Straße her zu erreichen, die an Bills Grundstücksrand vorbeiführte. Das Nachbargrundstück war zwar nicht so breit, aber länger. Wie ein langer Teppich schnitt es in das Gelände hinein und berührte dabei mehrere andere Grundstücke. Wo der Schädel gelegen hatte, war praktisch schon eines der Ende gewesen. Bill gab Acht. Er sah zu, dass er möglichst hinter Baumstämmen und Heckenstucken verschwinden konnte. Die Beete sahen ungepflegt aus und waren erst gar nicht für den Winter hergerichtet worden. Das war bei den Vorbesitzern anders gewesen. Bill hielt die Augen auf und hielt auch nach Taylor Ausschau. Es war durchaus möglich, dass sich der Mann noch auf seinem Grundstück aufhielt, weil er dort etwas zu erledigen hatte. Er musste ja nicht alles an einer bestimmten Stelle vergraben haben. Das Haus lag hinter Bäumen. Aber nicht so, dass man es als versteckt ansehen musste. Die drei schlanken Birken gaben nur einen geringen Sichtschutz. Und jetzt, im Winter, war der so gut wie gar nicht vorhanden. Bill blieb hinter einem der Stämme stehen. Er hatte sich den breitesten der drei Bäume ausgesucht und richtete seinen Blick auf das Haus der Taylors. Es war ein älterer Bau. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg errichtet, bestand er aus grau geputztem Mauerwerk, nahezu quadratisch, mit normalem Dach, nur eingeschossig. In den Fenstern spiegelte sich schwacher Sonnenschein, sodass Bill nichts erkennen konnte. Außerdem war die Entfernung zum Haus noch recht groß. Eine etwas erhöht liegende Terrasse war angebaut worden. Darauf standen noch die abgedeckten Sommermöbel. Das Fenster zur Terrasse hatten die Vorbesitzer vor Jahren einbauen lassen und aus zwei kleinen ein großes Fenster gemacht, um einen besseren Ausblick zu haben. Bill konzentrierte sich auf die große Scheibe und suchte dahinter nach einer Bewegung, die er aber leider nicht sah. Ihm blieb nichts anderes übrig, als näher und dann sehr nahe an das Haus heranzugehen, um etwas herausfinden zu können. Da er die Beretta bei sich trug, fühlte er sich recht sicher. Je mehr er sich
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mit dem Fall beschäftigte, um so weniger glaubte er daran, dass die neuen Nachbarn harmlos waren. Er kannte sie nicht. Er wusste nur, dass sie Taylor hießen. Ein Allerweltsname, der durchaus falsch sein konnte. Bill hatte bis jetzt noch keinen Grund gehabt, sich mit den neuen Nachbarn näher zu beschäftigen. Dass sie nicht zu Sheila und ihm gekommen waren, um sich vorzustellen, war eine Sache. Dass sie allerdings mit Dämonen in Verbindung standen, eine andere. Noch war nichts bewiesen. Bill war trotzdem bis unter die Haarwurzeln gespannt. Er hatte die Taylors nicht gesehen, und er hatte auch nicht mit anderen Nachbarn über sie gesprochen. Die Conollys waren keine Klatschmäuler. Für sie gab es keinen Grund, über andere Personen zu sprechen. Es war vielleicht eine Minute vergangen, während dem Reporter diese Gedanken durch den Kopf geschossen waren. Inzwischen war nichts passiert. Das Haus vor ihm lag still im winterlichen Sonnenschein, und ein Hund hielt sich auch nicht im Garten auf. Wäre das der Fall gewesen, hätte er längst gebellt. Zu lange wollte Bill nicht mehr warten. Er hatte sich den besten Weg zum Haus bereits ausgesucht. Auf Deckungen wollte er jetzt verzichten und dafür schneller laufen. Wenig später lief er über den leicht gefrorenen Boden und erreichte das Haus, ohne seiner Meinung nach gesehen worden zu sein. Er duckte sich schnell in den Schatten der Terrasse und atmete auf. Sollte er trotzdem entdeckt worden sein, hatte er sich schon eine Ausrede zurechtgelegt. Er würde von einem fremden Hund sprechen, der dabei war, die Gärten zu durchstöbern. Aber es passierte nichts, und das war auch in Bill Conollys Sinn. Die Spannung nahm zu. Er war wild darauf, die Taylors kennen zu lernen. Er fragte sich, ob Taylor so aussah wie der Mann, der ihm beschrieben worden war. Komischerweise suchte er nach einer Schaufel, aber auch davon war nichts zu sehen. Klar, Taylor war bestimmt nicht so verrückt, sie einfach irgendwo liegen zu lassen. Es passierte nichts. Da stand kein Fenster offen, und er hörte auch keine Stimme nach draußen dringen. Die Terrasse lag ein wenig erhöht. Man konnte sie über eine kleine Treppe erreichen. Darauf verzichtete Bill. Diesen offiziellen Zugang wollte er nicht nehmen. Er hatte sich entschlossen, um das Haus herumzugehen. Einbrechen wollte er nicht. Sollte es zu keinem Kontakt mit den Taylors kommen, würde er ganz normal klingeln und sich vorstellen. Obwohl er damit rechnete, dass die Leute ihn kannten. An der Seite führte ein schmaler Weg entlang. Links wurde er von der Hauswand begrenzt, rechts begleiteten einige Sträucher die Wegstrecke. Noch immer entdeckte Bill kein offenes Fenster. Diejenigen, die er passierte, lagen zu hoch. Schließlich erreichte er den normalen Eingangsbereich und war schon ein wenig enttäuscht, keinen Erfolg gehabt zu haben. Er hatte irgendwie damit gerechnet, Taylor oder wen auch immer auf frischer Tat zu ertappen, aber das war leider nicht so. Jetzt sah er eine Zufahrt, eine große Garage und auch einen Zaun, der das Grundstück zur Straße hin. abtrennte. Die Eingangstür war dunkelblau angestrichen. In Augenhöhe gab es ein rautenförmiges Guckfenster. Auch hier war eine kleine Treppe vorhanden, an deren linker Seite sich ein ebenfalls blau gestrichenes Geländer befand. Bill kam sich schon komisch vor, als er die drei Stufen hochschritt. Etwas Sand scheuerte unter seinen Sohlen. Zu klingeln brauchte er nicht, denn plötzlich wurde die Tür von innen her aufgezogen, was Bill überraschte, denn so schnell hatte er damit nicht gerechnet. Vor ihm stand eine Frau und lächelte. Sie gab sich überrascht und sagte: »Oh, wir haben Besuch.« »Ja«, sagte Bill nur. Er glaubte ihr nicht. Die Frau spielte ihm etwas vor. Wahrscheinlich hatte sie ihn schon die ganze Zeit über beobachtet, denn ihr Lächeln war alles andere als echt. Darin kannte sich Bill aus. Die Frau war ungefähr 40 Jahre alt. Das Haar war pechschwarz, mit dunkelroten Strähnen. Es musste gefärbt sein. Voluminös umwuchs es ihren Kopf und reichte ihr fast bis auf die Schultern. Sie hatte ein etwas breites Gesicht mit unreiner Haut, was auch von der Schminke nicht übertüncht wer-
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den konnte. Bekleidet war sie mit einem hellgrünen Twinset und einem schwarzen wadenlangen Rock. In ihren Ohrläppchen funkelten zwei goldene Ringe. Sie lächelte mit ihren rot geschminkten Lippen, die im Farbton zum Nagellack passten. »Guten Tag«, sagte Bill. »Mein Name ist...« »Bill Conolly.« »Sie kennen mich?« »Ich bin Livia Taylor. Natürlich kennt man seine Nachbarn mittlerweile.« »Da sind Sie mir ein Stück voraus, Mrs. Taylor. Ich sehe sie zum ersten Mal.« »Das darf doch nicht wahr sein. Haben Sie mich nie über den Gartenzaun gesehen?« »Nein.« »Umso mehr freue ich mich, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben. Möchten Sie nicht hereinkommen? Es ist recht kalt draußen. Ich habe Tee gekocht...« »Ein paar Minuten hätte ich Zeit.« »Wunderbar, kommen Sie.« Bill wusste nicht, ob die Taylors das Haus innen umgebaut hatten. Er konnte es sich allerdings vorstellen, weil der Eingangsbereich recht geräumig war. Da gab es keine störenden Wände mehr und auch keine Türen, die verschlossen waren. Unter einem gemauerten Bogen konnte der Besucher direkt in den Wohnraum gelangen, in den Livia Taylor Bill führte. Es war ein Zimmer, das erst dort endete, wo die Terrasse begann. Sehr lang und weniger breit. Bill schaute sich unauffällig um. Und wieder wunderte er sich. Die Einrichtung konnte man als spärlich betrachten. Es gab zwar alles, was man in einem Wohnzimmer benötigte, trotzdem war es anders. Hier gab es keine persönliche Atmosphäre. Alles wirkte zusammengestellt, als befänden sich die Bewohner auf der Durchreise und hätten das Haus nur eben für kurze Zeit gemietet. Es gab eine zweite Tür. Bill sah sie an der linken Seite und eingeklemmt zwischen zwei fast leeren Regalen. Die Tür konnte aufgeschoben werden, aber sie war geschlossen. Bill, der zwar aufgefordert worden war, Platz zu nehmen, blieb trotzdem stehen. Er lächelte Livia spärlich zu und fragte sie dann: »Ist Ihr Mann nicht da?« »Doch, aber er arbeitet. Warum?« »Nun ja, ich hätte ihn gern kennen gelernt. Schließlich sind wir Nachbarn.« »Das stimmt, Mr. Conolly. Avery wird auch gleich kommen, da bin ich mir sicher. Zuvor müssen Sie leider mit mir vorlieb nehmen.« »>Leider< ist übertrieben.« Sie lachte, aber der Ausdruck ihrer Augen blieb kalt, wie Bill feststellte. Das machte ihn misstrauisch. Er traute dieser Person nicht über den Weg. Was sie hier aufführte, war ein Spiel und keinesfalls ehrlich. Bill erhielt die zweite Aufforderung, doch Platz zu nehmen und setzte sich in einen Sessel aus dunkelgrünem und schon recht abgeschabtem billigem Leder. Livia Taylor nahm nicht Platz. Sie sprach davon, Tee zu holen, und Bill nickte. »Gut, dann eine Minute, Mr. Conolly. « Mrs. Taylor verschwand. Das kam dem Reporter sehr entgegen. Er wartete, bis auch die Schritte nicht mehr zu hören waren und stemmte sich dann hoch. Es kam ihm sehr gelegen, dass Livia Taylor ihn allein gelassen hatte, da konnte er das tun, was er schon seit dem Eintritt vorgehabt hatte. Bill interessierte sich für die Schiebetür und besonders das, was dahinter lag. Um sie zu erreichen, ging er über einen dünnen Flickenteppich und blieb zunächst vor der Tür stehen. Er lauschte. Das Holz war nicht besonders dick. Irgendwelche Laute wären ihm schon aufgefallen, aber er hatte Pech. Hinter der Tür rührte und bewegte sich nichts. Das wollte der Reporter einfach nicht glauben. Er senkte den Blick und sah die mit Metall ausgeschlagene Griffmulde. Dort hinein legte er zwei Finger, hielt den Atem an und zog die Tür behutsam auf. Er freute sich, dass sie so gut wie kein Geräusch verursachte. Leise glitt sie auf der Schiene zur Seite. Bill war gespannt, welcher Raum sich dahinter verbarg und ob er dort den Hausherrn sah.
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Der Raum war kleiner als das Wohnzimmer und auch ungewöhnlicher eingerichtet. Bill fielen zuerst die Masken und auch die Waffen auf, die entweder an den Wänden hingen oder davor in Haltern standen. Es waren Lanzen und auch schwertähnliche Gegenstände. Einen Menschen sah er nicht, doch er spürte, dass sich jemand im Raum befand. Er konnte es nicht riechen, nur fühlen. Bill öffnete die Tür weiter. Er sah einen Schreibtisch, der mitten im Zimmer stand. Dahinter saß ein Mann, der ihm den Rücken zuwandte. Der Mann trug eine dunkle Lederweste und ein helleres Hemd. Er war mit etwas beschäftigt, das Bill nicht erkannte, denn er hatte sich weit vorgebeugt. Der erste Anblick hatte ihm bereits klar gemacht, dass er hier richtig war. Der Mann, der Sheila mit einer Schaufel hatte niederschlagen wollen, war ebenfalls mit einer Weste bekleidet gewesen, und er hatte auch struppiges grauschwarzes Haar wie der Typ am Schreibtisch gehabt, wie John Sinclair das Aussehen beschrieben hatte. Für Bill war alles klar. Er nahm sich vor, die Tür weit zu öffnen und das Zimmer als Überraschungsgast zu betreten. Die Überraschung aber erlebte er und nicht der andere. Hinter ihm klang spöttisch Livia Taylors Stimme auf. »Ich wusste gar nicht, dass wir so neugierige Nachbarn haben...« Bill fühlte sich ertappt. Das Blut schoss ihm in den Kopf. Dann drehte er sich um. Livia stand vor ihm. Sie hielt mit beiden Händen einen kurzläufigen Revolver fest, dessen Mündung auf die Brust des Reporters zielte... ¶ Der Reporter sagte in den nächsten Sekunden nichts. Er hob die Arme ein wenig an und konzentrierte sich auf das von einem falschen Lächeln verzogene Gesicht der Frau, in deren Augen ein Glitzern stand. »Überrascht, Mr. Conolly?« »Ein wenig. Ich wusste nicht, dass man in dieser Gegend seine Nachbarn neuerdings mit einer Waffe bedroht, wenn sie einen Antrittsbesuch machen.« »Soll ich jetzt lachen, Conolly? Halten Sie mich für so dumm, dass ich Ihnen das abnehme? Antrittsbesuch! Wer soll Ihnen das glauben? Ich bestimmt nicht.« »Da haben Sie Recht.« »Gut. Die Fronten sind geklärt. Sie wollten schnüffeln, denke ich mir. Keine gute Angewohnheit. Eigentlich widerlich. Außerdem hassen wir Schnüffler. Aber Sie haben es uns gleichzeitig leicht gemacht. So können wir Sie locker aus dem Verkehr ziehen.« »Und warum wollen Sie das tun?«, fragte Bill. »Gehen Sie hinein. Sie sollen nicht frustriert in den Tod gehen. So großzügig bin ich.« Der Reporter hatte sich den Verlauf seines Besuchs zwar anders vorgestellt, aber es blieb ihm keine Wahl. Er musste tun, was die Person hinter ihm verlangte. Um die Schwelle übertreten zu können, musste er die Tür noch weiter aufschieben. Er ging den ersten Schritt, hatte freien Blick und staunte darüber, was sich ihm da alles präsentierte. Abgesehen davon, dass die beiden Fenster fast zugezogen waren, bot dieser Raum eine wirklich exotische Ausstattung. Es gab den normalen Schreibtisch als Mittelpunkt, aber die Wände waren mit dem bestückt, was sich mancher Reisende aus fernen Ländern mitbrachte. Ausgestopfte Tiere. Eine Schildkröte, eine Schlange, ein Warzenschwein, ein Ameisenbär und einige Vögel, die Bill noch nie zuvor gesehen hatte. Sie alle hatten ihre Plätze zwischen den Waffen, den Masken und auch den beiden auf Lanzen steckenden Schrumpfköpfen gefunden, die möglicherweise diesen ekligen Geruch abgaben, der das Zimmer erfüllte. Ein paar Mal las Bill den Namen Borneo. Er ging davon aus, dass alles, was er hier sah, von der Insel stammte. Auf dem Schreibtisch brannte eine Tütenlampe. Sie schickte ihren Lichtkreis auf eine Fläche in der Mitte des Schreibtisches. Dort arbeitete Avery Taylor an einem Gegenstand, den Bill wegen seines schlechten Blickwinkels nicht erkannte. Bis jetzt hatte Avery Taylor seine Haltung nicht verändert. »Gehen Sie ruhig näher! «, befahl die Frau mit leiser Stimme. »Es passiert nichts.« »Weiß man es?«
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Sie stieß ihn mit der Waffe an, und Bill durfte zwei weitere Schritte in den Raum hineingehen, bevor er wieder still stehen musste. Erst jetzt bewegte sich Avery Taylor. Er räusperte sich, bevor er sich auf seinem Stuhl herumdrehte, um Bill Conolly anzuschauen. »Aha, der Nachbar, wie schön.« Bill gab keine Antwort, Er konzentrierte sich auf das Gesicht mit den kalten Augen und dachte daran, was Sheila ihm beschrieben hatte. Jetzt hatte er den endgültigen Beweis bekommen. Dieser Mann war genau die Erscheinung im Garten, da gab es keinen Zweifel mehr. »Er ist neugierig, Avery.« »Das ist eine Eigenschaft und ein Laster zugleich, denke ich.« »Das hin und wieder tödlich sein kann.« »Stimmt!« Taylor stemmte seine Füße kurz gegen den Boden und fuhr dann mit seinem Stuhl ein Stück zurück, sodass Bill jetzt den gesamten Schreibtisch überblicken konnte. Was da an kleinen Instrumenten herumlag, von der Pinzette bis zum Federmesser, interessierte ihn nicht. Wichtig für ihn war einzig und allein der gelbliche Totenschädel, der praktisch den Mittelpunkt bildete. Damit hatte er den letzten Beweis. Er konnte nicht sagen, dass er sich deswegen wohler fühlte. Im Gegenteil, er spannte seine Muskeln an und fühlte sich wie auf dem Sprung. Wenn er daran dachte, dass dieser Mensch seine Frau mit einer Schaufel hatte erschlagen wollen, war er nahe daran, sich auf ihn zu stürzen. Aber Bill riss sich zusammen. Er musste es tun, denn hinter ihm stand die Frau mit der Waffe. Avery ließ ihm Zeit, den Schädel zu betrachten. Er sagte dabei kein Wort und lächelte nur wissend. Schließlich bewegte er sich auf seinem Drehstuhl zum Schreibtisch hin, um eine bessere Position zu erreichen. Er streckte eine Hand aus und nahm den Schädel an sich. Er stellte ihn auf seine Oberschenkel und strich fast liebevoll mit der linken Hand darüber hinweg.« »Ist er nicht wunderbar?« »Da kann man geteilter Meinung sein.« »Ja, ich weiß. Und er hat auf meinem Grundstück gelegen. Direkt an der Grenze zu Ihrem. Ich musste ihn holen. Nur seinetwegen habe ich das Haus hier erworben.« »Dann wussten Sie Bescheid?« »Natürlich, Mr. Conolly. Dieser Schädel ist etwas ganz Besonderes. Er hat einem mächtigen Mann gehört, den man hier begraben hat. Das geschah zu einer Zeit, als diese Gegend noch leer und öde war. Ein Sumpf- und Überschwemmungsgebiet, in dem wilde Tiere lebten und Menschen tagtäglich um ihr Leben kämpfen mussten. Sie waren sehr naturverbunden und glaubten an Götter und an alte überlieferte Rituale. Sie lebten nach bestimmten Regeln, die zumeist von ihren Zauberern oder Schamanen bestimmt wurden. Mächtige Männer, und zu diesen Mächtigen gehörte auch derjenige, dessen Schädel ich auf meinem Schoß habe. Ich habe ihn ausgegraben, denn ich wusste, dass es ein besonderer Schädel ist. Lange genug habe ich mich in Südost-Asien herumgetrieben und die Sitten und Gebräuche der Naturvölker studiert. Ich lebte im Dschungel, und ich habe mich mit den Gebräuchen vertraut gemacht. Ich lernte einen Schamanen kennen, zu dem mich eine tiefe Freundschaft verband. Er weihte mich in die Geheimnisse seiner Zauberkunst ein, und ich habe ihm mit diesem Raum eine Stätte der Erinnerung eingerichtet. Ich bin das, was er in seiner Heimat war, denn ich habe es geschafft, mir eine große Macht aufzubauen. Am wichtigsten aber war der Schädel. Den musste ich finden, und ich habe ihn gefunden. Als der Mensch lebte, war er ein Schamane. Jetzt ist er tot, denken Sie - oder...?« Taylor wollte, dass Bill antwortete, doch der hob nur die Schultern. Damit gab sich Taylor nicht zufrieden. »Glauben Sie, dass dieser Schädel tot ist?« »Es weist vieles darauf hin!« Taylor musste lachen. »So kann nur jemand reden, der nicht Bescheid weiß. Nein, Conolly, der Schädel lebt. Er existiert. Er sieht nur eben anders aus, verstehen Sie?« »Mag sein, aber...«
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»Aber, sagen Sie? Gerade Sie? Ausgerechnet Sie?« Jedes Wort blaffte er Bill entgegen. »Ich will Ihnen was sagen. Als ich hier einzog, habe ich Erkundigungen über meine Nachbarn eingezogen. Ich habe auch einiges über Sie und Ihre Frau gehört. Sie beide sind alles andere als harmlos. Sie gehören zu den Wissenden und damit zu den Menschen, die gern hinter die Dinge schauen. Nein, nein, Conolly, mir können Sie nichts vormachen, mir nicht. Ich habe Pech gehabt oder Sie, wie man es nimmt. Ich hätte nicht gedacht, dass man mir auf die Spur kommen würde, aber Ihre Frau war zu neugierig.« »Sie haben sie erschlagen wollen.« »Stimmt!« gab er zu. »Sie war eine Zeugin, die ich nicht gebrauchen konnte. Aber es kam nicht dazu. Plötzlich war alles anders. Ich erinnere mich noch, dass mich eine gewaltige Kraft erreichte, die mich wegzerrte. Sie war ebenso stark wie die Kraft des alten Druiden-Schamanen, dessen Schädel ich hier in den Händen halte. Ich kann mir das schlecht erklären. Sie haben damit nichts zu tun, das weiß ich. Es muss jemand geben, der ebenso stark ist wie mein blanker Freund hier. Aber ich kenne ihn nicht und...« »Denk an das Treffen, Avery.« »Gut, Livia, sehr gut. Das wird es wohl gewesen sein. Das Treffen der Schamanen. Der Kongress, der drei Tage dauert. Störungen der Kraft meines Freundes. Können Sie damit leben, Conolly?« »Vielleicht.« »Also doch. Demnach habe ich Feinde. Oder einen großen Feind, der mir zumindest ebenbürtig ist.« Er lächelte. »Schön, es wird einen Kampf geben, dem ich nicht ausweichen werde. Ich komme endlich dazu, meine Kraft zu beweisen.« »Was wollen Sie mit einem alten und toten Schädel, Taylor?« fragte Bill. »Alt und tot? Alt ja, aber nicht tot.« Er streichelte ihn wieder. »Darin steckt die Magie eines sehr weisen und alten Volkes. Auch die Kelten kannten ihre Schamanen. Sie nannten sie Druiden, und dieser Kopf hat einmal einem Druiden gehört. Der Körper ist längst zu Staub geworden, doch der Kopf hat überlebt. Sagen Sie selbst, Conolly, das ist etwas Besonderes.« »Ich stimme Ihnen zu.« »Sehr gut. Er hat seine Macht behalten. Nichts ist vergangen, und Sie werden seinen Zauber erleben.« Er nahm 'den Schädel hoch und hielt ihn Bill entgegen. »Da, nehmen Sie ihn. Fassen Sie ihn an. Spüren Sie, was in ihm steckt.« Bill deutete ein Kopfschütteln an. Dass Taylor die Wahrheit sagte, glaubte er. Für ihn stand fest, dass von diesem alten Totenkopf noch immer eine gewisse Gefahr oder Macht ausging, die auch auf ihn übergreifen konnte. »Sie werden ihn nehmen! « Bill hatte vergessen, dass sich Livia Taylor noch hinter ihm aufhielt. Sie war bewaffnet und drückte die Mündung des Revolvers jetzt gegen Bills Nacken. »Überzeugt?« »In gewisser Weise schon.« Avery stand auf. Er brauchte nicht weit zu gehen, um Bill zu erreichen. Zum ersten Mal sah der Reporter die verdrehten Augen aus der Nähe. Er konnte den Ausdruck schlecht deuten, der sich dort festgesetzt hatte, aber es war kein normaler. Dieser Mann musste in die Zauberwelt der Schamanen abgesackt sein und war nun' von ihr übernommen. Avery Taylor drückte Bill den Schädel in die Hände. Er wollte ihn zuerst fallen lassen und sehen, wie er auf dem Holzboden zersplitterte, ließ es jedoch bleiben, denn dann erhielt Livia einen Grund, um abzudrücken. »Nun?« Bill gab keine Antwort. Er spürte das Gewicht des Schädels, aber er spürte noch mehr. Der Totenschädel war nicht tot, er lebte auf eine unheimliche Art und Weise... ¶ Auf der Fahrt zu den Conollys hatte Mongush so gut wie nicht gesprochen. Ich hatte Suko das Lenkrad überlassen und mich zu dem Schamanen auf den Rücksitz gesetzt. Ich wollte wissen, was
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passierte, denn seine Warnungen musste ich verdammt ernst nehmen. Er hielt die Augen geschlossen. Manchmal bewegte er seinen Mund, aber es war nichts zu hören, und er machte auf mich den Eindruck, als würde er mit sich selbst sprechen. Ich rechnete damit, dass er in eine geistige Verbindung mit jemandem getreten war, von dem ich nichts wusste. Es gab diesen Feind, es gab die Gestalt aus dem Garten, doch ich war nicht in der Lage, sie auf übersinnliche Art und Weise zu fangen. Je näher wir dem Ziel kamen, umso mehr erlebte ich die Veränderung des Schamanen mit. Er verlor seine Ruhe. Er sprach jetzt, mit sich selbst in einem Dialekt, den ich nicht verstand. Manchmal schüttelte er auch den Kopf. Zweimal berührte er mich mit der Hand. Ich stellte fest, dass sie eiskalt war. Ich sah nicht, was draußen vorbeihuschte. Die normale Gegend hatte sich für mich in Schatten und Schemen aufgelöst. Es gab für mich nur den Innenraum des Rovers, der jetzt zum Mittelpunkt der Welt geworden war. Mongush schaute mich nach einer raschen Drehung des Kopfes an. Ich blickte direkt in seine Augen, die so starr und leicht verdreht waren. Er schien mich nicht zu sehen, sondern eine fremde und andere Welt, in die seine Seele eingetaucht war. »Möchtest du sprechen?«, flüsterte ich ihm zu. Der Mann aus Sibirien gab keine Antwort. Er war in seinen Sitz hineingesunken und wirkte noch kleiner und kälter als zuvor. »Er ist da!« »Und weiter?« »Er hat Macht, viel Macht! « Auf seinem Gesicht malte sich plötzlich der Schrecken ab. »Wahnsinn«, flüsterte er. »Das ist eine irrsinnige Macht...« »Was tut er?« »Nichts, noch nichts. Aber er wird etwas tun. Er bringt einem Menschen große Gefahr. Er ist so schrecklich alt. Er hätte tot sein müssen, aber er lebt noch. Man hat ihn erweckt und aus seinem tiefen Grab geholt.« Ich wollte weitere Fragen stellen, sah aber, dass der Schamane nicht mehr fähig war, etwas zu sagen. Er starrte einfach ins Leere, und seine, Augen waren so verdreht, dass ich schon Angst um ihn bekam. Sein Mund stand offen, das Gesicht wirkte zerfallen und von noch mehr Furchen durchzogen. Er zitterte. Die Hände rutschten über seine Oberschenkel, und er schüttelte einige Male den Kopf, als wollte er irgendwelche Bilder vertreiben. Wir waren noch nicht am Ziel. Wir konnten auch nicht fliegen. Ich verfluchte wieder mal den Londoner Verkehr, in dem wir trotz Blaulicht und Sirene kaum vorankamen. Das Licht klebte auf dem Dach des Rovers und drehte sich. Suko fuhr schon wie ein Lebensmüder. Nur knapp waren wir mehrmals einer Kollision entgangen, und wir wurden auf dem Rücksitz immer wieder durcheinander geschüttelt. Mongush senkte den Kopf. Mit einem schlürfenden Geräusch holte er Atem. »Da... da...«, sagte er. »Der alte Geist ist zurück. Der Schamane ist da. Sein Fluch wird alle treffen. Er ist so hart und brutal. So grauenvoll.« »Was ist mit Bill und Sheila?«, fragte ich. Mongush schüttelte den Kopf. »Nichts?« »Ich sehe und spüre nichts. Die andere Kraft ist zu mächtig. Sie hat meine Welt übernommen. Sie befehligt die Geister. Sie ist überall vorhanden...« Ich sah jetzt, wie er abermals den Kopf schüttelte und dabei in ein Meer von Verzweiflung versank. Er konnte nicht mehr anders. Die andere Macht musste ihn voll im Griff haben. Suko tat sein Bestes. Er schaffte die Strecke wirklich in einer Rekordzeit, und trotzdem dauerte es sehr lange, bis wir endlich die Gegend erreicht hatten, in der die Conollys wohnten. Hier kannten wir uns aus. Hier jagte Suko mit wimmernden Reifen um die Ecken, und als er schließlich in die Auffahrt zum Haus der Conollys einbog, fühlte ich mich etwas besser.
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Sheila stand in der offenen Tür. Sie schaute uns entgegen, als Suko und ich aus dem Wagen sprangen. Der Schamane konnte sich nicht so flink bewegen. Er kletterte nach draußen und wirkte wie ein Betrunkener. Suko eilte zu ihm und stützte ihn, während ich schon bei Sheila stand. Auch sie war aufgeregt. Auf ihrem Gesicht sah ich hektische rote Flecken. »Gut, dass ihr hier seid. Ich. ..« Ich ließ sie erst gar nicht zu Wort kommen und fragte nur: »Wo ist Bill?« »Drüben!« »Bitte?« »Ja, bei den Nachbarn, den Taylors. Er wollte sich nur kurz dort im Garten umschauen. Er hätte eigentlich schon wieder zurück sein müssen, aber jetzt...« Ich drängte sie ins Haus und ärgerte mich zugleich über meinen Freund Bill. Auf der anderen Seite konnte ich ihm keinen Vorwurf machen. Ich an seiner Stelle hätte ähnlich gehandelt. Auch Suko und der Schamane hatten mittlerweile das Haus betreten. Der alte Mann musste noch immer gestützt werden. Sein geistiger Ausflug in den Kreis des anderen hatte schwer an seinen Kräften gezehrt. Ich sah, dass Tränen in seinen Gesichtsfalten nasse Spuren hinterlassen hatten. Mit zwei Sätzen erklärte ich Suko, was ich von Sheila erfahren hatte. Sie hörte zu und war dabei, ihre dicke Jacke überzustreifen. »Keinen Widerspruch, John, ich gehe mit.« »Okay.« »Zeit«, flüsterte Mongush, »es wird Zeit für uns...« ¶ Der Schädel hatte seinen Platz auf Bills Händen gefunden, und der Reporter schaute ihn an. Es war für ihn wie ein Zwang, der ihn nicht anders hatte handeln lassen. Er musste einfach in die fremden Augenhöhlen hineinsehen. Augenhöhlen? Nein, das waren keine normalen Augenhöhlen mehr. Wäre der Schädel normal gewesen, so hätte Bill in diese leeren Löcher hineinschauen müssen. Das stimmte hier nicht. Die Löcher waren nicht leer. Er sah in eine Tiefe, und die Öffnungen kamen ihm vor wie die Eingänge zu irgendwelchen Höhlen. Über seinen Rücken rann ein eisiger Schauer, während zugleich noch etwas anderes passierte, was ihn geistig durcheinander brachte. Das alte Gebein war nicht kalt. Es war auch nicht handwarm, wie man hätte annehmen können. Es strahlte selbst eine ungewöhnliche Wärme aus, die sich auf den Handflächen des Reporters verteilte. Bill wunderte sich nicht darüber, denn er war einfach nicht in der Lage, hier genauer nachzudenken, weil ihn eine andere Macht regelrecht überschwemmt hatte. Es war die Vergangenheit. Es war die Zeit, in der hier so gut wie keine Menschen gelebt hatten. Unheimliche Gedanken, fremde Ideen, etwas Böses, das wie Gift in seinen Geist hineindrang und ihn vollkommen übernahm. Zugleich blieb Bills Blick auf die Augenhöhlen gerichtet. Sie waren zwar dunkel, aber sie waren nicht mehr so leer wie zu Beginn. Es tat sich etwas in den Höhlen. Bill konnte es nicht genau sehen. Er ahnte es mehr. Innerhalb des Schädels bildete sich eine Masse, die ihm vorkam wie dunkles Gelee. Er hörte die leisen, köchelnden Geräusche, und die Wärme des Schädels nahm zu. Zugleich drangen die fremden Gedanken in den Kopf des Reporters. Er hörte leise Stimmen, konnte aber nicht verstehen, was sie sagten. Sie waren zu fremd, und sie redeten in einer Sprache, die dem Reporter unbekannt war. Stimmen und Gedanken, die von einer gewissen Bösartigkeit erfüllt waren. Bill konnte sich nicht dagegen wehren. Er rutschte immer tiefer in diesen Zauber hinein. Er hielt die Augen offen. Er hätte seinen Nachbarn erkennen müssen, der aber war mehr zu einem Schemen geworden. Dafür sah er den Hintergrund besser. Er saß genau in der Fluchtlinie der beiden Schrumpfköpfe und hatte dabei den Eindruck, dass auch sie nicht mehr so ruhig auf den Stangen hockten.
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Ein Schatten entstand vor seinem Gesicht. Avery Taylor hatte sich vorgebeugt. Sein Gesicht sah wie zerlaufen aus. Der Mund war nur noch ein breites Loch. Bösartigkeit strahlte in den Augen. Die Haare standen in die Höhe wie Stacheln bei einem Igel, und über das Gesicht hatte sich ein Schatten gelegt, der bläulich schimmerte. »Nichts ist verloren gegangen«, flüsterte Taylor. »Gar nichts. Es gibt noch alles: Es ist konserviert worden, verstehst du? Es ist nicht im Strom der Zeiten untergegangen. Im Schädel saß die Macht. Im Schädel hockte der Geist, und der konnte nicht getötet werden, auch nicht über die lange Zeit hinweg.« Bill hörte die Stimme. Er verstand jedes Wort und hatte trotzdem das Gefühl, nichts mehr zu begreifen. Er war eingekesselt in einen Zustand, den er gedanklich und mit dem Willen nicht mehr beeinflussen konnte. Er spürte Finger auf seiner Stirn. Kalte Finger. Wie feuchte Lianen glitten sie über sein Gesicht hinweg. Sie streichelten die Wangen, sie berührten sein Kinn und legten sich schleimig auf seine Lippen. »Du wirst von ihm erfasst, Conolly. Du wirst von ihm gefressen. Er holt dich. Er frisst sich in deine Seele hinein. Er ist jemand, der dich töten wird, aber er wird es auf seine eigene Art und Weise tun. Das wirst du bald merken.« Taylor zog seine Hände wieder zurück. Bill schaute über den Schädel hinweg auf ihn. Alles wurde anders. Der Reporter wusste nicht, ob das, was er sah, auch den Tatsachen entsprach. Etwas anderes hatte seine Psyche übernommen. Er konnte etwas sehen, was eigentlich nicht da war. Gestalten wie Schatten. Wie riesige Schlangen, Würmer oder dunkle Nebelstreifen bewegten sich vor seinen Augen, und der verdammte Schädel in seiner Hand blieb dort liegen wie festgemeißelt. Bill sah das Grauen. Er hörte Schreien. Er duckte sich, als etwas auf ihn zuflog. Es zerplatzte dicht vor seinem Gesicht und bespritzte ihn mit Blut. Erst jetzt sah er, dass es ein menschlicher Kopf war, der von einem Axthieb in zwei Stücke gehauen worden war. Wie auf einer Bühne im Hintergrund malte sich die Gestalt des Avery Taylor ab. Er stand dort wie der große Regisseur und Erklärer. Seine Stimme übertönte alles. Sie hallte in Bills Ohren nach, der die Worte wie Hammerschläge empfand. »Er ist wieder da. Sein Geist, der Geist des alten Druiden hat den Menschen die dunkle Seite ihrer Seele gezeigt. Jeder Mensch hat sie, auch du. Er ist in dich hineingekrochen. Er zeigt dir die Fantasien, die normalerweise im Verborgenen blühen. Er ist ein wahrer Meister seines Fachs. Ein Schamane und Zauberer, wie es ihn lange nicht gegeben hat. Jetzt ist er wieder da. Jahrhunderte mussten vergehen, doch er hat nichts von seiner Macht eingebüßt.« Bill konnte nicht antworten. Er merkte nicht mal, dass er schwankte. Für ihn drehte sich das Zimmer, und die tote Materie wurde mit Leben gefüllt. Die alten Schrumpfköpfe auf den Lanzen grinsten und zwinkerten ihm zu. Oder war es nur Einbildung? Lebten die ausgestopften Tiere wirklich? Rissen sie ihre Mäuler auf, oder bildete er sich das alles nur ein? Bill konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er war in einer anderen Welt gefangen, die nichts mehr mit seinem Leben zu tun hatte. Und er war auch nicht mehr in der Lage, sich zu wehren. Zu stark war die Gegenseite. Dann hörte er wieder Taylors Stimme. Sie klang jetzt noch lauter als zuvor. »Er will dich, Conolly. Er will mit dir das Gleiche machen, was mit ihm geschehen ist, verstehst du? Er hat seinen Körper verloren, und nur sein Kopf ist übrig geblieben. Nur sein Kopf, begreifst du das? Auch dein Kopf soll übrig bleiben. Ich will ihn haben. Ich werde ihn bekommen. Ich werde ihn präparieren, und ich werde ihn als meine Trophäe hier in das Zimmer stellen. Aber nicht nur deinen, auch der Kopf deiner Frau wird dieses Zimmer schmücken, und so habe ich meine Nachbarn immer vor Augen. Ich werde danach der Meister sein, der neue Schamane, der neue Druide, und ich werde Wege finden, um in das geheimnisvolle Reich Aibon zu gelangen. Der Weg ins Paradies der Druiden, er steht dann für mich offen...«
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Bill wunderte sich selbst darüber, dass er alles so klar und deutlich verstanden hatte. Da war nichts Trennendes mehr zwischen ihm und Taylor. Der Nachbar trat zurück. Keine Stimme mehr, nur das Fremde in Bills Kopf. Diese Gedanken, die ihn quälten. Der Geist des Druiden, der die lange Zeit überlebt hatte. Bill war benommen. Er starrte auf den Totenkopf. Er sah die Augenhöhlen. Waren sie tatsächlich leer oder bewegte sich darin diese geleeartige Masse? Bill fand es nicht heraus, aber er hörte hinter sich einen wilden Fluch. Livia hatte ihn ausgestoßen. Bill hörte, wie sie aus dem Zimmer eilte, doch das war für ihn von geringer Bedeutung. Etwas anderes war viel schlimmer. Avery Taylor hatte sich in seinem Wahn umgedreht und nach einer Waffe gegriffen. Er holte sie von der Wand und hielt sie mit beiden Händen fest. Bill sah den Mann und die Waffe nur verschwommen, aber er hatte den Eindruck, dass sie eine Machete war, mit der man sich im dichten Dschungel freie Bahn verschaffte. Taylor lachte. Die Augen funkelten. Bill, der sich beinahe an dem alten Schädel festklammerte, konnte seinen Blick nicht von der Gestalt wenden, die jetzt die Machete schräg vor ihr Gesicht hielt und mit der Zunge über den blanken Stahl leckte. Taylor war zufrieden. Er nickte zufrieden und flüsterte dann: »Sie wird dir mit einem Schlag den Kopf vom Körper trennen...« ¶ Als ich näher darüber nachdachte, sah ich es als positiv an, dass uns Sheila begleitete. Sie warum Unverdächtigsten. Sie brauchte nur nach dem Verbleib ihres Mannes zu fragen, das hätte jede Frau getan: Auf dem kurzen Stück hatten wir mit Sheila darüber gesprochen, und sie war auch einverstanden. Suko, der Schamane und ich nahmen einen Umweg. Sheila ging direkt auf den Eingang zu und baute sich vor der Tür auf. Als nichts passierte, huschte auch ich in ihre direkte Nähe, während Suko und der Schamane noch warteten. Aber auch sie konnten von der Tür nicht gesehen werden. Ebenso wenig wie ich, denn ich hielt mich im toten Winkel an der Tür auf. Sheila hatte schon drei Mal geschellt. Ich sah es ihrem gequälten Gesichtsausdruck an, wie stark sie darunter litt, hier vor der Tür zu stehen und nicht zu wissen, was mit Bill passiert war. »Du musst Geduld haben«, flüsterte ich. Sheila wollte etwas sagen. Dazu kam es nicht mehr. Das Klingeln hatte Erfolg gehabt. Jemand zog die Tür auf. Sheila hatte sich schon zuvor auf eine Begegnung einstellen können und war deshalb nicht so überrascht. Ich bewunderte sie, mit welch ruhiger Stimme sie sprach. »Guten Tag, Mrs. Taylor. Mein Name ist Sheila Conolly...« »Ich weiß, wer Sie sind.« »Umso besser. Ich suche meinen Mann. Er hat mir gesagt, dass er zu Ihnen gehen will. Aber das ist schon etwas länger her. Da wir einen Termin haben, möchte ich Sie bitten...« »Komm rein!« Der Ton gefiel mir nicht. Was genau passiert war, bekam ich nicht mit, aber Sheila gab mir insofern ein Zeichen, indem sie die Arme hob. Das konnte nur bedeuten, dass man sie mit einer Waffe bedrohte. Welchen Grund hätte sie sonst haben können, die Arme zu heben? »He, was ist los?« fragte Sheila. »Rein mit dir!« Das tat Sheila nicht. Sie wich einen Schritt zurück, um die Frau nach draußen zu locken. »Verdammt noch mal!«, hörte ich den Schrei. Dann sah ich eine Waffe und eine Hand. Eine Mündung zielte auf Sheilas Kopf, die jetzt starr stehen geblieben war. Ich griff von der Seite her ein. Noch hatte die Taylor nicht nach links oder rechts geschaut, und
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meine Handkante jagte von unten nach oben. Ich erwischte den ausgestreckten Arm, der in die Höhe schnellte. Sie kam nicht mal dazu abzudrükken. Die Waffe flog ihr aus den Fingern, und bevor sich die Frau von ihrem Schrecken erholt hatte und auch Schmerzen durch ihren Arm jagten, war ich bei ihr. Mein Schlag trieb sie zurück. Sie würgte und presste ihre Hände gegen den Leib. Aus großen Augen glotzte sie mich an und dann genau in die Mündung der Beretta, die ich gezogen hatte. Aus dem Mund fegte mir ein Keuchen entgegen. Das Gesicht zeigte einen verzerrten Ausdruck aus Wut und blankem Hass. Sheila war nicht mit in das Haus gegangen. Ich hörte hinter mir ihre leise Stimme und dann die Stimmen der beiden anderen, um die ich mich nicht kümmerte. Mir ging es um Bill. »Wo ist er?« »Wer?« Sie wusste genau, wen ich meinte. Dennoch bekam sie eine Antwort von mir. »Bill Conolly.« Sie schüttelte den Kopf. Einen Moment später berührte die kalte Mündung der Beretta ihre Stirn. »Hinten.« »Wo genau?« »Neben dem Wohnzimmer. Da ist eine Tür!« »Sehr gut.« Ich zog die Waffe zurück. Die Frau sah ihre Chance gekommen. Sie griff mich nicht an, aber sie riss den Mund weit auf, um einen Warnschrei auszustoßen. Ich war schneller. Frauen können so schlimm wie Männer sein. In gewissen Momenten darf man kein Kavalier sein.. Und diese Situation erlebte ich im Haus der Taylors. Ich schlug ihr den Waffenlauf gezielt gegen den Kopf. Der Schrei verließ den Mund nicht mehr. Nur ein dumpf klingendes Gurgeln war zu hören, dann gaben ihre Knie nach, und sie brach zusammen. Ich fing sie auf und legte sie in eine Ecke dicht an der Wand. Dort hing eine alte Maske, die aus großen leeren Augen auf sie niederschaute. Hinter mir wurde die Tür leise geschlossen. Jetzt hatten auch Suko und der Schamane das Haus betreten. Der kleine Mann aus dem tiefsten Sibirien wirkte plötzlich nicht mehr so klein und schlapp. Er war in meinen Augen gewachsen, und er hatte dabei seine Hände wie Fühler vorgestreckt. »Das Böse ist nahe. Es umgibt uns bereits. Es ist da. Ich spüre es deutlich...« »Ja, ich weiß. Komm mit.« Ich wollte ihn an der Hand mitziehen, doch er schüttelte den Kopf. Allein ging er los, und wir wussten, dass er mit traumwandlerischer Sicherheit den Weg zum Ziel finden würde... ¶ Da war nichts mehr zu machen. Da gab es nicht die Spur einer Chance, das wusste der Reporter sehr genau. Er war nicht mehr fähig, der verdammten Machete zu entwischen, die ihm mit einem Schlag den Kopf vom Körper trennen würde. Er würde sterben, und er würde dabei noch den verdammten Totenschädel festhalten, als wäre dieser ein Rettungsring. Taylor war in seinem Element. Er hatte sich in einen archaischen Typen verwandelt und seinen Platz an Bills linker Seite gefunden. Von dort wollte er zuschlagen, um Bill zu enthaupten. Er holte weit aus. Bill dachte nichts mehr. Sein Kopf war plötzlich leer. Nur der warme Schädel lag noch auf seinen Händen, als wäre er ein besonderes Geschenk. Er würde das Pfeifen hören, wenn der Stahl die Luft zerschnitt. Aber nur für einen kurzen Moment, dann würde ihn die Klinge treffen. Vielleicht ein Zupfen am Hals, aber sicherlich keine Schmerzen mehr. Bill dachte komischerweise daran, ob sein Gehirn noch für eine gewisse Zeit weiterleben würde.
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Möglicherweise konnte er noch denken, und auch etwas sehen und mitbekommen, wenn sein Kopf auf dem Boden lag. Warum schlug Taylor nicht zu? Er war so davon überzeugt gewesen, aber jetzt tat er nichts. Bill schielte nach rechts. An seiner Haltung hatte sich nichts verändert. Trotzdem war mit Taylor etwas geschehen. Er blickte zur Tür hin, die nicht geschlossen war. Etwas musste in dem anderen Raum passiert sein. Bill hörte nichts. Es konnte auch sein, dass sein Gehör geschädigt war. In dem Augenblick als Avery Taylor einen Zischlaut ausstieß, erschien eine kleine Gestalt in der offenen Tür. Der alte Mann war aus Sibirien gekommen, um in London an einem Kongress der Schamanen teilzunehmen. Doch jetzt hatte er eine andere Aufgabe übernommen. Er wirkte trotz seiner geringen Körpergröße wie ein Riese, und seine Stimme klang laut und deutlich. »Du wirst ihn nicht töten!« ¶ Darauf wollte Bill sich nicht verlassen. Er war jedoch noch froher, als sich hinter Mongush Suko und John in den Raum hineinschoben. Auch Sheila sah er, die allerdings nichts sagte und ihre Hände gegen die Lippen presste, als sie Bills Lage sah. »Du wirst ihn nicht töten!« wiederholte der Schamane seinen Befehl. »Du nicht!« Es war eine Situation, in der die Spannung für alle förmlich spürbar war. John und Suko hatten ihre Berettas gezogen. Sie zielten auf den Mann mit der Machete, der nach wie vor erstarrt war. Mongush ging weiter. In seinen Augen stand ein Ausdruck, den man sogar mit dem Begriff Licht umschreiben konnte. So etwas hatte Bill bei ihm noch nicht gesehen. Das war schon- verrückt und irgendwie nicht von dieser Welt. Als hätten ihm die Geister der Toten diesen hypnotischen Blick verliehen, der auch Taylor bannte. Er tat nichts. Er stand ebenso starr auf der Stelle wie auch Bill Conolly. Der kleine Schamane blieb stehen. Er war in seine alte Decke eingewickelt und wirkte wie ein Toter, der nach zwei Tagen als faltiger Zombie wieder aus seinem Sarg gestiegen war. Aber in dem Menschen steckte eine Kraft, die schon einmalig war. Mit fester Stimme gab er seinen nächsten Befehl. »Du wirst die Waffe jetzt fallen lassen!« Niemand sprach danach. Selbst das Atmen schienen die Anwesenden eingestellt zu haben. Sheila hatte ihre Arme wieder sinken lassen. Ihr fiebriger Blick wechselte zwischen ihrem Mann und Taylor hin und her. Taylor bewegte sich. Er stöhnte. Er zitterte. Sein Gesicht war in Schweiß gebadet. In ihm kämpften zwei Seelen. Auf der einen Seite hatte er sich an die unheimliche Macht der Druiden angebiedert, auf der anderen musste er merken, dass es etwas gab, das noch stärker war. Dann bewegte er sich. Und er bewegte auch seine Machete. Aber nicht auf Bill Conolly zu, sondern in eine andere Richtung. Er ließ die Waffe sinken. Es passierte sehr langsam. In Etappen. Zuckend. Tiefer und tiefer sank die Machete, bis . sie ungefähr seine Bauchhöhe erreicht hatte. Da streckte Mongush seine Hand aus. »Halt!« Taylor stoppte. Mongush schaute ihn an. »Unwürdige Menschen sollten sich nicht die Mühe machen und andere Welten und Reiche erforschen. Ich weiß, dass es nicht einfach ist, wenn man die Chance hat. Du hast sie gehabt, aber du bist den falschen Weg gegangen. Du wirst nie mehr in deinem Leben den richtigen finden. Das weiß ich. Da kenne ich mich aus. Du wirst für die anderen Menschen stets eine Gefahr sein, und genau das möchte ich nicht. Ich will nicht in Verruf gebracht werden, denn auch ich zähle mich zu den Schamanen. Deshalb wirst du jetzt das tun, was für alle am besten ist...« Avery Taylor sagte nichts. Er wartete auf die nächsten Worte des Alten. Der schaute ihn zunächst nur an. Er brannte seinen Blick in die Augen des Mannes. »Weil das alles so ist«, sagte Mongush mit fester Stimme, »und weil es kein Zurück mehr für dich
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gibt, befehle ich dir, dich selbst zu töten...« ¶ Jetzt war es heraus. Wir alle hatten diesen Befehl gehört. Aber Suko und ich waren Polizisten, und ich fragte mich, ob wir das zulassen konnten. Nein, das ging nicht. Wir waren an Recht und Gesetz gebunden. Dieser Avery Taylor war kein Dämon, er war ein Mensch, auch wenn er den falschen Weg gegangen war. Aber noch zählte er nicht zu den Dämonen und schwarzmagischen Kreaturen. Ich schaute Suko an. Er hob die Schultern. Hatte er Zweifel? »Nein!«, sagte ich laut und deutlich in die Stille hinein, damit jeder es hören konnte. »Nein, das kann ich nicht zulassen. Avery Taylor ist ein Mensch und keine Kreatur der Hölle. Ich bin Polizist und muss mich dagegen verwahren, weil...« »Hör auf, John Sinclair!« sagte der Schamane. »Wer sich mit den mächtigen Geistern anlegt und versucht, sie für sich zu gewinnen, der muss sich auch an die Regeln halten. Sie sind nicht von Menschen und für Menschen gemacht worden...« Es war mir egal. Ich wollte nicht diskutieren und damit Zeit verlieren. Ich ging einen Schritt zur Seite und dann nach vorn, aber es war zu spät. Möglicherweise hatte Taylor nur auf diese Lage oder Chance gewartet. Vielleicht dachte er auch daran, dass er sein Leben so nicht mehr weiterführen konnte, wie er es sich eigentlich vorgestellt hatte. Jedenfalls gehorchte er. Er brauchte seine Machete nicht mal zu drehen. Er konnte sie schräg nach vorn stoßen. Und dann steckte sie in seinem Körper. Es war so schnell gegangen, dass wir nicht hatten eingreifen können. Vielleicht hätte Suko durch den Einsatz seines Stabs noch die Chance gehabt, aber er dachte wohl nicht daran. Wir alle waren geschockt. Wir alle konnten nichts tun, und nur der Schamane nickte. Für ihn war es der richtige Weg. Taylor blieb auf den Beinen, aber er torkelte zurück. Seine Füße schleiften dabei über den Boden. Der Körper schwankte, aber er fiel nicht. Er erreichte mit dem Rücken die Wand, und die Waffe steckte noch immer in seinem Körper. Er hielt den Griff der Machete fest, als wollte er sie wieder aus dem Körper ziehen, doch auch das war nicht möglich. Sie blieb stecken. Dann sahen wir das Blut. Rechts und links der Klinge drängte es hervor. Dick und dunkelrot. Seine Beine gaben nach. Avery Taylor sackte zu Boden. Plötzlich bewegte sich sein Mund. Er wurde so weit geöffnet, als sollte er an den Mundwinkeln eingerissen werden. Dann erst löste sich der Laut aus seiner Kehle. Es war der letzte in seinem Leben. Und es war kein schriller Todesschrei, sondern ein furchtbares Röcheln, das durch die Stille drang. Dann kippte er zur Seite und stieß sich die Waffe noch tiefer in den Leib. Das merkte Avery Taylor nicht mehr, denn sein Blick war der eines Toten... ¶ Die Stille hatte sich wie eine schwere Last über uns gelegt. Ich hatte es nicht geschafft, obwohl ich in der ersten Reihe gestanden hatte. Hier waren wir bis auf eine Person zu Statisten degradiert worden, und nur einer hatte die Macht an sich gerissen. Dieser kleine Mann aus Sibirien, dessen Macht über Menschen allerdings ungebrochen war. Er bedachte Taylor mit keinem Blick, als er auf Bill Conolly zuging. Ich stand nahe genug, um alles sehen zu können. Mongush sprach mit Bill kein einziges Wort. Das hatte er nicht nötig. Er nahm ihm nur den Schädel aus den Händen und hielt ihn hoch über seinen Kopf, den er eine Sekunde später in den Nacken drückte. Wir alle waren gespannt, was er mit dem Fundstück vorhatte. Er schaute auf den Schädel und hielt ihn leicht schräg, um in die leeren Augenhöhlen blicken zu können. Zunächst geschah nichts, weil der Schamane sich noch sammeln musste. Dann flüsterte er dem To-
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tenschädel Worte zu, die in einer Sprache gesprochen wurden, die wir noch nie im Leben gehört hatten. Es war sein Dialekt. Die alte sibirische Sprache. Gefüllt mit Zaubersprüchen und Beschwörungen. Davon ging ich zumindest aus. Der Schädel veränderte sich nicht. Er blieb so gelblich wie er war. Aber ich glaubte trotzdem, in den Augenhöhlen eine weiche Masse zu sehen, was ich allerdings nicht mit Sicherheit unterschreiben konnte. Die Zeit war für uns nebensächlich geworden. Sie rann dahin, doch wir schauten nicht auf die Uhr. Zumindest ich hatte das Gefühl, in einem luftverdünnten Raum zu stehen. Hier waren nicht wir die Herrscher, sondern der kleine und alte Schamane. Der plötzlich aufhörte zu sprechen. Ich wusste nicht, weshalb er überhaupt den Schädel besprochen hatte. Er sah noch aus wie immer, und der Schamane ließ ihn auch jetzt sinken. Er blickte uns der Reihe nach an und sagte nur einen Satz, den wir ihm sogar glaubten. »Es ist vorbei mit ihm!« Ich nickte. Aus dem Hintergrund meldete sich Sheila mit zittriger Stimme. »Was geschieht mit ihm?« Es schien, als hätte Mongush nur auf diese Frage gewartet. Die Antwort erhielten wir ohne Zögern. »Das!«, sagte er, hob seine Hände und damit auch den Schädel und schleuderte ihn auf die Wand zu. Wir konnten seinen Flug verfolgen. Wir sahen auch den Aufprall. Wir hörten ihn. Die Knochen zersprangen mit hohl klingenden Geräuschen, und plötzlich fegte ein Blitz dort auf, wo er gegen die Wand geprallt war. Kein Feuer loderte auf. Der Blitz war eher mit dem kurzen Abbrennen einer Wunderkerze zu vergleichen. Und er war so stark oder so heiß, dass er den Gegenstand verbrannte und nichts mehr von ihm zurückblieb. Nicht einmal Asche. Wie Mongush das geschafft hatte, war uns ein Rätsel. Ich dachte nur an seine letzten Worte. Da musste er diesen alten Schädel beschworen haben, und seine Macht war stärker. Erst nickte er uns zu. Dann lächelte er und schließlich sagte er etwas, das uns überraschte. »Meine Freunde warten. Sie hoffen auf mich. Sie haben viele Fragen und haben es verdient, die entsprechenden Antworten zu bekommen. Deshalb möchte ich einen von euch bitten, dass er mich wieder zurück zu meiner eigentlichen Aufgabe bringt.« »Das übernehme ich«, sagte Suko. »Gut.« Der Schamane verbeugte sich zum Abschied und wünschte uns noch ein langes Leben. Dann ging er und drehte sich nicht ein einziges Mal um. Er war wie ein Phantom in unser Leben getreten und ebenso schattenhaft wieder verschwunden. ¶ Sheila und Bill lagen sich in den Armen, während ich mich um Mrs. Taylor kümmerte. Sie war noch immer nicht bei Bewusstsein, deshalb verzichtete ich auf Handschellen. Die Kollegen hatte ich schon angerufen. Einen Arzt auch. Der sollte Livia Taylor in ein Krankenhaus bringen. Sie würde später noch den Tod ihres Mannes verkraften müssen. Die Conollys waren ins Wohnzimmer gegangen. Ihre Gesichter hatten wieder etwas Farbe bekommen. »Das Haus braucht einen neuen Käufer oder Mieter«, sagte Bill und schaute mich an. »Wäre das nichts für dich, John?« »Nein!« Ich winkte mit beiden Händen ab. »Du wirst es kaum glauben, aber ich fühle mich in meiner Wohnung verdammt wohl. Außerdem fehlt mir das Geld für ein Haus.« »Darüber könnte man reden«, sagte Sheila. »Kauft das Haus doch für Johnny.« Sheila blickte ihren Mann an. »Ob der so was will?« »Wollen schon«, sagte ich und grinste Sheila an. »Dann aber stünde er genauso unter deiner Kontrolle wie ich.«
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»Du bist ein Ekel, John.« »Besser das als gar nichts«, erwiderte ich lachend. ENDE
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