Frances Hodgson Burnett
Sara, die kleine
Prinzessin
Aus dem Englischen von Dagmar Weischer
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Frances Hodgson Burnett
Sara, die kleine
Prinzessin
Aus dem Englischen von Dagmar Weischer
Scanned by Berryl Die Autorin: Frances Hodgson Burnett wurde 1849 in Manchester, England, geboren. Sie wanderte mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern nach dem frühen Tod des Vaters 1865 nach Amerika aus. Dort begann sie, erst siebzehnjährig, zu schreiben, wobei sie die Motive ihrer Erzählungen aus dem Erlebnisbereich ihrer englischen Heimat schöpfte. Weltruhm erlangte F. H. Burnett mit den Romanen >Der kleine Lord< und >Der geheime Garten< (beide Bücher liegen bei dtv Verlag junior vor). >Sara, die kleine Prinzessin< erschien 1905 und zählt seitdem zu den Klassikern der englischen Kinderliteratur. Titel der Originalausgabe: >A little Princess erschienen bei Puffin Books, England
Inhalt Sara...........................................................2 Eine Französischstunde……............. ….17
Ermengarde ...................... ……………23
Lottie .......................... ………………...30
Becky.......................... …………………39
Die Diamantmine ................... ……….48
Noch einmal die Diamantmine ............ 58 Auf dem Dachboden .................. ………78
Melchisedec ........................................... 89 Der Herr aus Indien .............................. 101
RamDass ............................................. 113
Auf der anderen Seite der Wand ......... 121 Ein Kind aus dem Volk ....................... 129 Was Melchisedec sah und hörte ............ 138 Die Zauberkraft .................................... 143 Der Besucher. ........................................ 166 »Es ist das Kind!« ............................... 181
»Ich wollte eine Prinzessin bleiben« ..... 188
Anne ....................................................... 200
Sara An einem dämmerigen Wintertag, als der gelbe Nebel so dick und schwer auf Londons Straßen lag, daß man schon früh am Nachmittag die Straßen und Schaufenster beleuchten mußte, saß ein kleines Mädchen mit seinem Vater in einer Pferdedroschke, die langsam durch die Straßen der großen Stadt fuhr. Sie hatte die Beine angezogen und lehnte sich schutzsuchend an ihren Vater, und mit einem Ausdruck von einer Eigenartigen, altklugen Nachdenklichkeit in ihren großen Augen starrte sie hinaus auf die vorbeiströmenden Menschen. Niemand hätte einen solchen Ausdruck in so einem kleinen Gesicht vermutet, denn Sara Crewe, so hieß das Mädchen, war erst sieben. Es verhielt sich jedoch so, daß sie oft ihren Gedanken nachhing und sich die sonderbarsten Dinge ausdachte. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals über etwas anderes nachgedacht zu haben als über die Erwachsenen und über die Welt, in der sie lebten. Manchmal hatte sie das Gefühl, als ob sie schon vor langer, langer Zeit gelebt hätte. Im Moment waren ihre Gedanken gerade bei ihrem Vater, Captain Crewe, und der Reise, die nun hinter ihnen lag. Es schien ihr eine Ewigkeit vergangen zu sein, seit sie in Bombay aufgebrochen waren. Doch die Eindrücke von der Reise waren noch frisch. Sie dachte an das große weiße Schiff, an die indischen Seeleute, an die Kinder, die auf dem Deck gespielt hatten, und an die jungen Offiziersfrauen, die immer wieder versucht hatten, mit ihr ins Gespräch zu kommen, und lachten, wenn sie etwas gesagt hatte. Sie dachte darüber nach, wie sonderbar es doch war, vor nicht zu langer Zeit in der strahlenden Sonne Indiens und in der Mitte des Ozeans gewesen zu sein und jetzt im Innern eines fremden Gefährtes zu sitzen, das durch die Straßen einer fremden Stadt fuhr, wo der Tag so dunkel war wie die Nacht. Sie fand dies so verwirrend, daß sie noch näher an ihren Vater heranrückte. »Papa«, sagte sie mit leiser, fast flüsternder Stimme. »Was gibt es, mein Liebling?« fragte Captain Crewe und legte den Arm um seine Tochter. »Woran denkt meine kleine Sara?« »Ist das der Ort?« flüsterte Sara. »Ja, kleine Sara, das ist er. Wir sind endlich angekommen.« Sara, die ihren Vater genau kannte, wußte, daß er traurig war, als er das sagte. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, seit er angefangen hatte, sie auf »den Ort«, wie sie es nannte, vorzubereiten. Ihre Mutter war bei ihrer Geburt gestorben. Aber sie hatte sie nie vermißt. Ihr schöner, liebevoller Vater schien für sie die einzige Beziehung auf der Welt zu sein. Sie hatten immer zusammen gespielt und sich liebgehabt. Daß er reich war, wußte sie nur von den Leuten, die darüber sprachen, wenn sie dachten, sie höre nicht zu; und sie hatte auch gehört, daß sie, wenn sie erwachsen wäre, ebenfalls reich sein würde. Was es wirklich bedeutete, richtig reich zu sein, wußte sie eigentlich nicht. Sie hatte immer in einem schönen Bungalow gelebt, war den Anblick von Dienern gewöhnt, die sich vor ihr verneigten, sie »Missee Sahib« nannten, und ihr jeden Wunsch von den Augen ablasen. Sie hatte Spielsachen gehabt und Haustiere und eine Ayah, ein Kindermädchen, das sie verehrte. Und sie hatte langsam
gelernt, daß Leute, die reich waren, all diese Dinge hatten. So wie man Augen, Ohren und einen Mund hat. Dies war jedoch alles, was sie über das Reichsein wußte. Es gab in ihrem kurzen Leben nur eins, was sie bisher beunruhigt hatte, und das war »der Ort«, an den sie eines Tages gebracht werden würde. Das Klima in Indien war für Europäer schlecht, und die Offiziere und Beamten, die im Auftrag der britischen Krone dort ihren Dienst taten, versuchten, ihre Kinder so bald wie möglich nach England zurückzubringen, damit sie dort zur Schule gingen. Sara hatte andere Kinder weggehen sehen. Sie hatte gewußt, daß auch sie würde gehen müssen, und obwohl die Geschichten von der Reise und dem neuen Land, die ihr Vater ihr erzählte, sie fasziniert hatten, war sie doch traurig, daß er nicht bei ihr bleiben konnte. »Kannst du denn nicht mit mir zu dem >Ort< kommen, Papa?« hatte sie ihn schon gefragt, als sie fünf Jahre alt war. »Könntest du nicht auch zur Schule gehen?« »Aber du wirst nicht lange bleiben müssen, kleine Sara«, hatte er immer wieder versucht, sie zu beruhigen. »Du wirst in einem hübschen Haus wohnen mit vielen kleinen Mädchen, und ihr werdet zusammen spielen, und ich werde dir eine Menge Bücher schicken. Du wirst so schnell wachsen, daß es dir noch nicht einmal wie ein Jahr vorkommen wird, bis du groß und klug genug bist, um zurückzukommen und dich um Papa zu kümmern.« Es war ihr ein schöner Gedanke. Für ihren Vater das Haus in Ordnung zu halten, mit ihm auszureiten und am Kopfende des Tisches zu sitzen, wenn er Dinner-Parties gab; mit ihm zu sprechen und seine Bücher zu lesen - das würde für sie das Schönste auf der Welt sein. Und wenn es dazu nötig war, erst einmal nach England zu gehen, dann mußte es wohl so sein. .Die anderen kleinen Mädchen, die es dort an dem »Ort« geben sollte, waren ihr gleichgültig. Aber die vielen Bücher, von denen der Vater gesprochen hatte, würden sie trösten. Sie liebte Bücher über alles, und sie erfand immer Geschichten von schönen Dingen, die sie sich selbst erzählte. Manchmal hatte sie sie ihrem Vater erzählt, und ihm hatten sie ebenso sehr gefallen wie ihr. »Nun gut, Papa«, sagte sie jetzt sanft, »wo wir nun einmal hier sind, müssen wir uns wohl fügen.« Er lachte über ihre altklugen Worte und küßte sie. Er selbst war anderer Meinung, wußte aber, daß er dies für sich behalten mußte. Seine wunderliche kleine Sara war ihm immer ein Teil seines Lebens gewesen, und er wußte, daß er nach seiner Rückkehr in Indien sehr einsam sein würde, wenn ihm abends kein kleiner Wirbelwind in weißem Kleid mehr entgegenlaufen würde. Captain Crewe drückte Sara noch einmal ganz fest an sich, als die Droschke in den großen flächigen Hof vor dem Haus, das das Ziel ihrer Reise war, einfuhr. Es war ein großes Backsteingebäude, genauso trist wie all die anderen, mit dem Unterschied, daß auf der Eingangstür ein Messingschild angebracht war, auf dem in schwarzen Buchstaben zu lesen stand:
MISS MINCHIN Spezialschule für junge Damen »Da sind wir, Sara«, sagte Captain Crewe und versuchte, so heiter wie möglich zu klingen. Er hob sie aus der Droschke, sie stiegen die Treppe hinauf und
läuteten. Später dachte Sara oft, daß das Haus irgendwie genauso wie Miss Minchin war. Es war alt und ehrwürdig und mit teuren Möbeln ausgestattet. Aber alles war dunkel und düster, nichts leuchtend Fröhliches sprang einem ins Auge. Sogar die roten Wangen des Mondgesichts auf der großen Standuhr in der Halle wirkten matt und ernst. Der Salon, in den sie geführt wurden, war mit einem quadratisch gemusterten Teppich ausgelegt, und die Sessel sahen schon auf den ersten Blick unbequem aus. Zögernd setzte sich Sara in einen der steifen Mahagonisessel. »Es gefällt mir nicht, Papa«, sagte sie. »Aber schließlich ziehen wohl auch tapfere Soldaten nicht wirklich gern in den Kampf.« Captain Crewe mußte bei diesen Worten lachen. Er war jung und voll Fröhlichkeit, und er wurde nie müde, sich Saras ungewöhnliche Äußerungen anzuhören. »O kleine Sara«, sagte er. »Was soll ich nur tun, wenn ich niemand mehr habe, der so bedeutsam zu mir spricht? Niemand ist so ernst und feierlich wie du.« »Aber warum bringen ernste und feierliche Dinge dich so zum Lachen?« wollte Sara wissen. »Weil es solchen Spaß macht, dir dabei zuzuhören«, antwortete er und lachte noch mehr. Und dann nahm er sie heftig in seine Arme und küßte sie ganz fest, wobei es so aussah, als habe er Tränen in den Augen. Gerade in diesem Augenblick betrat Miss Minchin das Zimmer. Sie war eine hochgewachsene, streng aussehende Frau, mit kalten Augen und einem breiten, fischigen Lächeln. Ihr Mund verzog sich beim Anblick von Sara und Captain Crewe noch mehr in die Breite. Sie hatte schon viel Erfreuliches über den jungen Soldaten gehört und wußte, daß er sehr reich und bereit war, für seine kleine Tochter viel Geld auszugeben. »Es wird mir eine Ehre sein, ein so schönes und vielversprechendes Kind in meine Obhut zu nehmen, Captain Crewe«, flötete Miss Minchin, nahm Saras Hand und streichelte sie. »Lady Meredith hat mir von ihrer ungewöhnlichen Klugheit erzählt. Ein kluges Kind ist ein großer Schatz in meinem Haus.« Sara stand still da und sah Miss Minchin ins Gesicht. >Warum sagt sie, ich sei ein schönes Kind?< dachte sie. >Ich bin überhaupt nicht schön. Colonel Granges Tochter Isobel ist schön. Sie hat rosige Wangen und Grübchen und lange, goldene Haare. Ich habe kurze schwarze Haare und grüne Augen; außerdem bin ich dünn und kein bißchen anziehend. Miss Minchin fängt an, die Unwahrheit zu sagen.< Sara täuschte sich jedoch, wenn sie dachte, sie sei häßlich. Sie ähnelte zwar Isobel Grange, die die Schönheit des Regiments gewesen war, nicht im geringsten, aber sie hatte einen eigenen, ungewöhnlichen Charme. Sie war schlank und anmutig und ziemlich groß für ihr Alter, und ihr kleines Gesicht war ernst und sympathisch. Ihr Haar war schwer und pechschwarz und an den Spitzen gewellt; sie hatte große, wundervolle graugrüne Augen mit langen, schwarzen Wimpern, und wenngleich sie selbst ihre Augenfarbe nicht mochte, fanden viele Leute sie schön. Trotzdem war sie fest davon überzeugt, daß sie ein häßliches Mädchen sei, und Miss Minchins Schmeicheleien ließen sie
deshalb unbeeindruckt. Sara blieb bei ihrem Vater und hörte dem Gespräch zwischen ihm und Miss Minchin zu. Sie sollte in diese Schule gehen, weil Lady Meredith' zwei kleine Töchter hier erzogen wurden. Und Captain Crewe gab viel auf Lady Meredith' Erfahrung. Sara sollte als sogenannter »Salongast« teilnehmen, ja, sie sollte sogar noch größere Privilegien bekommen als die anderen »Salongäste« der Schule. Sie sollte ein hübsches Schlafzimmer und ein eigenes Wohnzimmer erhalten, ein Pony und eine Kutsche bekommen und ein Kindermädchen, das ihre indische Ayah ersetzen sollte. »Ich mache mir um ihre Erziehung nicht die geringsten Sorgen«, sagte Captain Crewe gerade mit seinem fröhlichsten Lachen, während er Saras Hand tätschelte. »Es wird eher schwierig sein, sie davon abzuhalten, zu schnell und zu viel zu lernen. Sie hält immer ihre Nase in Büchern vergraben. Dabei liest sie sie nicht, Miss Minchin, sie verschlingt Bücher, als sei sie ein ... kleiner Wolf statt ein kleines Mädchen. Sie hungert geradezu nach neuen Büchern, und sie will Bücher für Erwachsene - große, dicke - französische und deutsche genauso wie englische ~ Geschichtsbücher, Biographien, Gedichte, alles mögliche. Ziehen Sie sie weg von ihren Büchern, wenn sie zuviel liest. Lassen Sie sie auf ihrem Pony reiten oder ausgehen, um sich eine neue Puppe zu kaufen. Sie sollte öfter mit Puppen spielen.« »Papa«, sagte Sara. »Weißt du, wenn ich ausgehe und alle paar Tage eine neue Puppe kaufe, habe ich zu viele, um mich darüber freuen zu können. Puppen sollten vertraute Freunde sein. Emily soll meine vertraute Freundin sein.« Captain Crewe sah Miss Minchin an, und Miss Minchin blickte fragend zu Captain Crewe. »Wer ist Emily?« wollte sie wissen. »Sag es ihr, Sara«, sagte Captain Crewe lächelnd. Saras graugrüne Augen blickten sehr feierlich und sanft drein, als sie antwortete. »Es ist eine Puppe, die ich noch nicht habe«, sagte sie. »Eine Puppe, die Papa mir kaufen will. Wir wollen zusammen losgehen und sie suchen. Ich habe sie jetzt schon Emily getauft. Sie wird meine Freundin sein, wenn Papa nicht mehr da ist. Ich möchte mit ihr über ihn sprechen.« Miss Minchin lachte breit. »Was für ein originelles Kind!« sagte sie. »Was für ein reizendes, kleines Geschöpf!« »Ja.« Captain Crewe nickte und zog Sara an sich. »Sie ist ein liebes, kleines Geschöpf. Passen Sie gut auf sie auf, Miss Minchin.« Sara blieb noch einige Tage bei ihrem Vater im Hotel, bis zum Tag seiner Rückreise nach Indien. Sie gingen zusammen aus, sahen sich viele große Geschäfte an und kauften eine Menge Dinge. Sie kauften viel mehr, als Sara eigentlich benötigte. Aber Captain Crewe wollte unbedingt, daß seine Tochter alles bekam, was ihr gefiel. Und so kauften sie Kleider, die für ein Kind von sieben Jahren eigentlich viel zu üppig waren. Samtkleider mit kostspieligen Pelzen besetzt, Spitzenkleider, bestickte Kleider, Hüte mit großen, weichen Straußenfedern, Hermelinmäntel, Schachteln voller winziger Handschuhe,
Taschentücher und Seidenstrümpfe in solchen Mengen, daß die höflichen jungen Frauen hinter dem Ladentisch sich gegenseitig zuflüsterten, daß das un gewöhnliche kleine Mädchen mit den großen, ernsten Augen mindestens irgendeine fremde Prinzessin sein müsse - vielleicht die kleine Tochter eines indischen Rajah. Und die ganze Zeit über suchten sie Emily. Sie sahen sich in vielen Spielzeugläden um und schauten sich eine Menge Puppen an, doch keine gefiel Sara. »Sie soll so aussehen, als sei sie nicht wirklich eine Puppe«, sagte sie. »Sie soll so aussehen, als ob sie mir zuhört, wenn ich zu ihr spreche. Das Problem mit Puppen ist, Papa« - und sie neigte den Kopf zur Seite und überlegte -»das Problem mit Puppen ist, daß sie anscheinend nie hören.« Also sahen sie sich weiter große Puppen an und kleine. Puppen mit schwarzen und mit blauen Augen, Puppen mit braunen Locken und Puppen mit goldenen Zöpfen, Puppen mit und ohne Kleider. Nach so vielen Enttäuschungen beschlossen sie, zu Fuß weiterzubummeln und die Droschke folgen zu lassen. Als sie dann an einen kleinen Laden kamen, hielt Sara plötzlich an und ergriff den Arm ihres Vaters. »O Papa!« rief sie. »Da ist Emily!« Ihre Wangen röteten sich, und der Ausdruck ihrer Augen war, als ob sie soeben jemanden wieder erkannt hätte, den sie sehr gut kannte und sehr gern hatte. »Sie wartet auf uns!« drängte sie. »Laß uns zu ihr hineingehen.« »Du meine Güte!« lachte Captain Crewe. »Ich habe das Gefühl, wir brauchen jemand, der uns vorstellt.« »Du mußt mich vorstellen und ich dich«, schlug Sara vor. »Aber vielleicht brauchst du das auch nicht, vielleicht kennt Emily mich bereits.« Ja, vielleicht kannte die Puppe sie tatsächlich. Denn als Sara sie in ihre Arme legte, schien es so, als würde sie sie mit intelligenten, wissenden Augen anblicken. Aber es war nur eine Puppe, eine große Puppe. Sie hatte natürlich gelocktes goldbraunes Haar, das sie wie ein Mantel umhüllte. Und ihre Augen waren von dunklem, klarem Graublau, mit weichen, dichten Wimpern, die nicht einfach aufgemalt, sondern echt waren. »Natürlich«, sagte Sara und sah ihr ins Gesicht, während sie sie auf dem Schoß hielt, »natürlich, Papa, das ist Emily.« Also wurde Emily gekauft und zu einem Kinderbekleidungsgeschäft gebracht, wo ihr Kleider angepaßt wurden, die so großartig waren wie Saras eigene. »Ich möchte, daß sie immer aussieht wie ein Kind mit einer lieben Mutter«, sagte Sara. »Ich bin ihre Mutter, auch wenn ich aus ihr eine Freundin machen möchte.« Captain Crewe hätte den Einkaufsbummel gerne genossen, aber ein trauriger Gedanke lastete auf ihm. Dies alles bedeutete, daß er bald von seiner geliebten, wunderlichen kleinen Sara getrennt sein würde ... Mitten in der Nacht stand er auf, ging an Saras Bett und sah, wie sie schlief mit Emily in den Armen. - Ihr schwarzes Haar lag ausgebreitet auf dem Kissen, und Emilys goldbraunes mischte sich mit dem ihren. Emily glich so sehr einem richtigen Kind, daß Captain Crewe froh war, daß es sie gab. Er stieß einen
langen Seufzer aus und zupfte nachdenklich an seinem Schnurrbart. »O kleine Sara!« sagte er zu sich selbst. »Ich glaube, du ahnst nicht, wie sehr dich dein Papa vermissen wird.« Am nächsten Tag brachte er Sara zu Miss Minchin, und es galt, noch einige geschäftliche Angelegenheiten mit Miss Minchin zu klären. Vor allem wollte er sicherstellen, daß Sara jeder Wunsch erfüllt würde. Dann ging er mit Sara in ihr kleines Wohnzimmer, und sie sagten einander Lebewohl. Sara saß auf seinem Schoß, hielt den Saum seines Mantels in ihren kleinen Händen und sah ihm lange und fest ins Gesicht. »Versuchst du, mich zu ergründen, kleine Sara?« fragte er und streichelte ihr Haar. »Nein«, antwortete sie. »Ich kenne dich in- und auswendig. Du bist in meinem Herzen.« Und sie umarmten und küßten sich, als ob sie sich nie trennen wollten. Als die Droschke vor der Tür losfuhr, saß Sara auf dem Boden in ihrem Wohnzimmer, das Kinn auf ihre Hände gestützt, und ihr Blick folgte der Droschke, bis sie um die Ecke des Hofes gebogen war. Emily saß bei ihr, und auch sie sah der Droschke nach. Als Miss Minchin ihre Schwester, Miss Amelia, losschickte, um nach dem Kind zu sehen, fand diese die Tür verschlossen vor, »Ich habe abgeschlossen«, rief eine in ihren Ohren seltsam höfliche Stimme von drinnen. »Ich möchte ganz alleine sein, bitte sehr.« Miss Amelia war dick und plump und hatte große Ehrfurcht vor ihrer Schwester. Sie war eigentlich die Gutmütigere von beiden, wagte aber nie, Miss Minchin zu widersprechen. Beunruhigt ging sie die Treppe hinab. »Mir ist noch nie so ein seltsames, altmodisches Kind begegnet«, sagte sie zu ihrer Schwester. »Sie hat sich eingeschlossen und gibt nicht den leisesten Mucks von sich.« »Das ist immerhin besser, als wenn sie poltern und schreien würde, so wie manche von ihnen«, antwortete Miss Minchin. »Ich habe eher erwartet, daß ein so verwöhntes Kind wie dieses das ganze Haus in Aufruhr versetzt. Wenn jemals ein Kind alles bekam, was es wollte, dann dieses.« »Ich habe ihre Koffer aufgemacht und ihre Sachen eingeräumt«, sagte Miss Amelia. »Ich habe noch nie so etwas gesehen - Mäntel mit Zobel- und Hermelinpelzbesatz, und Unterwäsche mit echter Valenciennes-Spitze. Du hast einige ihrer Kleider gesehen, was sagst du dazu?« »Ich finde sie einfach lächerlich«, entgegnete Miss Minchin scharf, »aber sonntags, wenn wir die Schulkinder zur Kirche führen, dürfte es sich gut machen, wenn sie vorangeht. Sie ist ausstaffiert wie eine kleine Prinzessin.«
Eine Französischstunde Als Sara am nächsten Morgen das Klassenzimmer betrat, sahen sie alle mit großen, neugierigen Augen an. Alle - angefangen bei Lavinia Herbert, die schon fast dreizehn war und sich ziemlich erwachsen vorkam, bis zu Lottie Legh, die erst vier und damit das Baby der Schule war - hatten vorher schon eine Menge über sie gehört. Sie wußten natürlich, daß sie Miss Minchins Musterschülerin war, und daß es für die Schule eine besondere Ehre war, sie als Schülerin zu haben. Eine oder zwei von ihnen hatten sogar schon Saras französisches Mädchen, Mariette, zu Gesicht bekommen, die am Abend vorher angekommen war. Lavinia war es beim Vorbeigehen gelungen, einen Blick durch die geöffnete Tür in Saras Zimmer zu werfen, und sie hatte gesehen, wie Mariette eine Schachtel geöffnet hatte. »Sie war voller Petticoats mit Rüschen daran - Rüschen über Rüschen«, flüsterte sie aufgeregt ihrer Freundin Jessie zu, während sie sich über das Geographiebuch beugte. »Ich habe gehört, wie Miss Minchin zu Miss Amelia sagte, so vornehme Kleider seien lächerlich für ein Kind. Meine Mutter sagt, Kinder sollten sich einfach anziehen. Sieh mal, sie hat gerade einen dieser Petticoats an. Ich habe es gesehen, als sie sich hinsetzte.« »Und sie hat Seidenstrümpfe an!« flüsterte Jessie, während sie sich ebenfalls über ihr Geographiebuch beugte. »Und was für kleine Füße sie hat! Ich habe noch nie so kleine Füße gesehen.« »Oh«, Lavinia rümpfte gehässig die Nase, »das machen bloß ihre Schuhe. Meine Mutter sagt, wenn man einen guten Schuhmacher hat, dann können auch große Füße klein aussehen. Ich finde sie überhaupt nicht hübsch. Ihre Augen haben so eine komische Farbe.« »Sie ist nicht auf die übliche Weise hübsch«, sagte Jessie und warf einen verstohlenen Blick durch den Raum, »aber irgendwie muß man immerzu hinsehen. Sie hat ungeheuer lange Wimpern, und ihre Augen sind fast grün.« Sara saß still auf ihrem Platz und wartete ab, was man ihr sagen würde. Sie war in die Nähe von Miss Minchins Pult gesetzt worden. Die vielen Blicke, die auf ihr ruhten, brachten sie nicht im geringsten in Verlegenheit. Sie war selbst neugierig und sah sich ruhig nach den anderen Kindern um. Sie hätte gern gewußt, was in ihren Köpfen vor sich ging. Ob sie Miss Minchin mochten, und ob auch nur irgendeine von ihnen so einen Papa hatte wie sie. Heute morgen hatte sie sich noch lange mit Emily über ihren Papa unterhalten. »Er ist jetzt auf See, Emily«, hatte sie gesagt. »Wir müssen ganz dicke Freunde sein und uns gegenseitig alles sagen. Emily, sieh mich an. Du hast die hübschesten Augen, die ich je gesehen habe - aber ich wünschte, du könntest sprechen.« Sara war ein Kind voller Hinfalle und absonderlicher Gedanken, und einer davon war, daß es sehr tröstlich sei, so zu tun, als wenn Emily wirklich leben, hören und verstehen könnte. Als Mariette ihr das dunkelblaue Schulkleid angezogen und ihr eine dunkelblaue Schleife ins Haar gebunden hatte, war sie zu Emily gegangen, die
auf einem ihrer Stühle saß, und hatte ihr ein Buch gegeben. »Du kannst lesen, während ich unten bin«, hatte sie gesagt, und als sie bemerkte, daß Mariette sie erstaunt ansah, hatte sie mit ernstem Gesichtsausdruck hinzugefügt: »Ich glaube, daß Puppen Dinge tun können, von denen sie uns nichts verraten. Vielleicht kann Emily wirklich lesen und sprechen und gehen, aber sie tut es nur, wenn niemand im Zimmer ist. Das ist ihr Geheimnis. Wissen Sie, wenn die Menschen wüßten, daß Puppen Dinge tun können, würden sie sie arbeiten lassen. Deshalb haben sie sich vielleicht gelobt, es geheimzuhalten.« »Comme eile est drôle!« sagte Mariette zu sich selbst, als sie hinunterging. Und sie begann, dieses kleine, sonderbare Kind, das ein so intelligentes Gesicht und so tadellose Manieren hatte, langsam zu mögen. Sie hatte vorher Kinder betreut, die nicht so höflich waren. Sara war eine sehr feine Person und hatte eine liebenswürdige, bereitwillige Art zu sagen: »Wenn ich Sie bitten darf, Mariette«, »Danke schön, Mariette«. Es klang immer charmant. »Elle a l'air d'une princesse, cette petite«, sagte Mariette dann zu sich. Und sie fand richtig Gefallen an ihrer neuen kleinen Herrin und ihrem neuen Arbeitsplatz. Als Sara einige Minuten so in Gedanken versunken auf ihrem Platz gesessen hatte, von allen Schülerinnen gemustert, klopfte Miss Minchin gebieterisch auf das Pult. »Meine Damen«, sagte sie, »ich möchte euch eure neue Klassenkameradin vorstellen.« Alle Mädchen erhoben sich von ihren Plätzen, und auch Sara stand auf. »Ich erwarte von euch allen, daß ihr besonders freundlich zu Miss Crewe seid; sie kommt von weit her, genauer gesagt, aus Indien. Sobald der Unterricht zu Ende ist, könnt ihr euch gegenseitig bekannt machen.« Die Schülerinnen verneigten sich feierlich, auch Sara machte eine kleine Verbeugung, dann setzten sie sich und musterten sich wieder gegenseitig mit neugierigen Blicken. »Sara«, sagte Miss Minchin in schulmeisterlichem Ton, »komm einmal nach vorne.« Sie hatte ein Buch vom Pult genommen und blätterte darin. Sara ging höflich zu ihr hin. »Da dein Vater ein französisches Kindermädchen für dich engagiert hat, nehme ich an, daß du speziellen Französischunterricht bekommen sollst.« Sara war ein wenig verlegen. »Ich denke, er hat sie eingestellt, weil er dachte, ich Würde sie mögen, Miss Minchin«, entgegnete Sara leise. »Ich fürchte«, sagte Miss Minchin mit säuerlicher Miene, »daß du ein sehr verwöhntes kleines Mädchen bist und dir immer vorstellst, daß alles nach deinem Wunsch getan wird. Mein Eindruck ist jedenfalls, daß dein Vater möchte, daß du Französisch lernst.« Wäre Sara älter oder wäre sie nicht so gut erzogen gewesen, hätte sie sich mit ein paar entsprechenden Worten auf französisch rechtfertigen können. Statt dessen fühlte sie, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. Miss Minchin war eine sehr strenge und beeindruckende Person, und sie war sich offenbar sicher, daß Sara kein Wort Französisch konnte. So erschien es Sara geradezu unhöflich, sie eines Besseren zu belehren. Eigentlich konnte Sara sich nicht erinnern, zu
irgendeiner Zeit nicht Französisch gekonnt zu haben. Als sie noch ein Baby war, hatte ihr Vater oft in Französisch zu ihr gesprochen. Ihre Mutter war Französin gewesen, und Captain Crewe hatte ihre Sprache geliebt, so daß Sara sie immer gehört hatte und mit ihr vertraut wurde. »Ich... ich habe nie wirklich Französisch gelernt, aber . . .«, begann sie und versuchte zaghaft, sich verständlich zu machen. Etwas, worüber sich Miss Minchin insgeheim außerordentlich ärgerte, war, daß sie selbst kein Wort Französisch sprach, und sie war bestrebt, diese peinliche Tatsache zu verbergen. Sie war deshalb nicht daran interessiert, weiter über dieses Thema zu diskutieren und sich eventuell zu verraten. »Es reicht jetzt«, sagte sie mit höflicher Schärfe. »Wenn du es nicht gelernt hast, mußt du sofort damit beginnen. Der Französischlehrer, Monsieur Dufarge, wird in wenigen Minuten hier sein. Nimm dieses Buch und sieh es dir an, bis er kommt.« Saras Wangen waren heiß. Sie ging auf ihren Platz zurück und öffnete das Buch. Mit ernster Miene sah sie sich die erste Seite an. Sie wußte, daß es unhöflich gewesen wäre, zu lächeln, und sie war sehr bestrebt, nicht unhöflich zu sein. Aber sie kam sich sehr merkwürdig dabei vor, daß man von ihr erwartete, sich einzuprägen, daß »le pere« der Vater hieß und »la mere« die Mutter. Miss Minchin blickte sie prüfend an. »Du siehst verstimmt aus, Sara«, sagte sie. »Es tut mir leid, daß dir der Gedanke, Französisch zu lernen, nicht gefällt.« »Ich tue es gern«, antwortete Sara und wollte es noch einmal versuchen, »aber...« »Du sollst nicht >aber< sagen, wenn man dir sagt, was du zu tun hast«, sagte Miss Minchin. »Sieh wieder in dein Buch.« Und Sara gehorchte und lächelte nicht, als sie las, daß »le fils« der Sohn bedeutete und »le frere« der Bruder. »Wenn Monsieur Dufarge kommt«, dachte sie, »werde ich mit ihm sprechen.« Monsieur Dufarge kam kurz danach. Er war ein sehr netter Franzose mittleren Alters, und als sein Blick auf Sara fiel, sah er sie interessiert an. »Ist dies eine neue Schülerin für mich, Madam?« fragte er Miss Minchin. »Ich hoffe, ich habe Glück mit ihr.« »Ihr Vater - Captain Crewe - ist sehr bedacht darauf, daß sie Französisch lernt. Ich fürchte jedoch, sie hat eine kindliche Abneigung dagegen. Sie will offenbar nicht lernen«, sagte Miss Minchin. »Das tut mir leid, Mademoiselle«, wandte sich Monsieur Dufarge freundlich an Sara. »Wenn wir gemeinsam mit dem Lernen beginnen, kann ich dir vielleicht zeigen, was für eine bezaubernde Sprache das ist.« Sara erhob sich von ihrem Platz. Sie war verzweifelt, gerade so, als ob sie bereits in Ungnade gefallen sei. Mit flehentlichem Blick sah sie zu Monsieur Dufarge auf. Sie wußte, er würde sie sofort verstehen. Sie begann, ihm in fließendem Französisch zu erklären, daß Madam sie nicht verstanden hatte. Daß sie Französisch nicht aus Büchern gelernt hatte, sondern daß ihr Papa und andere Leute immer französisch mit ihr gesprochen hatten, und daß sie es
gelesen und geschrieben hatte genauso wie Englisch. Sie erklärte ihm, daß sie französisch mochte, genauso wie ihr Papa. Und daß sie sich freuen würde, alles zu lernen, was Monsieur ihr beibringen werde. Als sie angefangen hatte zu sprechen, war Miss Minchln heftig zusammengezuckt und hatte sie fortwährend, fast entrüstet, über ihre Brille hinweg angestarrt. Monsieur Dufarge lächelte, und er hatte ein sehr vergnügtes Lächeln. Diese hübsche Kinderstimme in seiner eigenen Sprache so einfach und bezaubernd sprechen zu hören, versetzte ihn fast in sein Heimatland - welches ihm an dunklen Londoner Nebeltagen manchmal Welten entfernt schien. Als Sara geendet hatte, nahm er mit einem fast liebevollen Blick das Lehrbuch entgegen und wandte sich an Miss Minchin. »Nun, Madam«, sagte er, »viel kann ich ihr nicht beibringen. Sie hat nicht Französisch gelernt; sie ist Französin. Ihre Aussprache ist ausgezeichnet.« »Das hättest du mir sagen müssen«, zischte Miss Minchin gekränkt. »Ich... ich habe es versucht«, stotterte Sara. »Und ich ... ich denke, ich habe es falsch angefangen.« Miss Minchin wußte, daß Sara versucht hatte, es ihr zu erklären. Als sie bemerkte, daß die anderen Schülerinnen mitgehört und alles mitbekommen hatten und nun hinter ihren Französischbüchern versteckt kicherten, wurde sie erst richtig ärgerlich. »Ruhe, meine Damen!« rief sie streng und klopfte auf das Pult. »Sofort Ruhe!« Und von diesem Augenblick an hatte sie eine Abneigung gegenüber ihrer Musterschülerin.
Ermengarde An diesem ersten Morgen, als Sara an Miss Minchins Seite saß und die ganze Klasse sie nicht aus den Augen ließ, fiel ihr sehr bald ein kleines Mädchen auf, das ungefähr so alt war wie sie. Es war ein dickes Kind, das sie mit hellen, mattblauen Augen anstarrte. Es sah alles andere als klug aus, aber es hatte einen gutmütigen Gesichtsausdruck. Sein strohblondes Haar war zu einem festen Zopf geflochten und hinten mit einer Schleife zusammengebunden. Die ganze Zeit über hatte es den Zopf hervorgeholt, knabberte an dem Schleifenende herum und bestaunte mit aufgestützten Ellbogen interessiert den Neuankömmling. Als Sara nach vorne ging und Monsieur Dufarge in lupenrei nem Französisch antwortete, schreckte das kleine Mädchen regelrecht hoch und wurde vor ehrfürchtigem Staunen ganz rot. Für sie, die sich seit Wochen verzweifelt und unter Tränen bemühte, sich einzuprägen, daß »la mere« die Mutter hieß und »le pere« der Vater, war es fast zuviel, plötzlich ein Kind ihres Alters zu hören, das nicht nur mit diesen beiden Worten vertraut war, sondern offenbar noch eine Menge anderer Worte beherrschte, die sie untereinander mischte, als sei es ein Kinderspiel. Sie starrte so gebannt Sara an und biß so fest an ihrer Zopfschleife herum, daß sie Miss Minchins Aufmerksamkeit
erregte. »Miss St. John!« rief sie streng. »Was soll dieses Benehmen? Nimm deine Ellbogen herunter! Nimm die Schleife aus dem Mund! Setz dich sofort ordentlich hin!« Miss St. John schreckte erneut hoch, und als Lavinia und Jessie kicherten, wurde sie riefrot. Sie schämte sich so, daß es aussah, als ob sich ihre glanzlosen, kindlichen Augen mit Tränen füllten. Sara sah das und hatte so großes Mitleid mit ihr, daß sie sich beinah zu ihr hingezogen fühlte und ihre Freundin sein wollte. Eine ihrer Eigenschaften war es, all denen helfen zu wollen, die schwach waren und Hilfe brauchten. »Wenn du ein Junge wärst oder einige Jahrhunderte zuvor gelebt hättest«, hatte ihr Vater oft zu ihr gesagt, »würdest du mit gezogenem Schwert durch das Land ziehen und jeden retten und verteidigen, der sich in einer mißlichen Lage befindet. Du willst immer kämpfen, wenn du jemanden in Not siehst.« So empfand Sara auch Zuneigung zu der kleinen, dicken Miss St. John. Den ganzen Morgen über ließ sie sie nicht aus den Augen. Sie sah, daß ihr das Lernen nicht leichtfiel und sie wohl nie eine Musterschülerin sein würde. Ihre Französischleistung war mitleiderregend. Ihre Aussprache brachte sogar Monsieur Dufarge unwillkürlich zum Lachen, und Lavinia und Jessie und die anderen Mädchen kicherten oder sahen sie kopfschüttelnd oder verächtlich an. Nur Sara lachte nicht. Sie tat, als höre sie es nicht, wenn Miss St. John statt »le bon pain« »lee bong pang« sagte. Sie selbst war viel zu feinfühlig, um das Gekichere ertragen zu können. Der Anblick dieses verzweifelten Kindergesichtes versetzte Sara innerlich in Aufruhr. »Das ist überhaupt nicht lustig«, fuhr sie dazwischen. »Da gibt es gar nichts zu lachen.« Als der Unterricht vorbei war und die Schülerinnen sich in Gruppen zusammenfanden, um miteinander zu schwatzen, sah sich Sara nach Miss St. John um. Als sie sie niedergeschlagen und zusammengekauert auf einer Fen sterbank sitzen sah, ging sie hin und sprach sie an. Sie sagte eigentlich nur das, was kleine Mädchen so sagen, wenn sie eine Bekanntschaft anknüpfen wollen, nichts Außergewöhnliches also, aber Sara hatte etwas besonders Nettes und Freundliches an sich, was allgemein sofort auffiel. »Wie heißt du?« fragte sie. »Ich heiße Ermengarde St. John«, antwortete sie. »Und ich Sara Crewe«, sagte Sara. »Du hast einen sehr hübschen Namen. Er klingt wie im Märchenbuch.« »Gefällt er dir wirklich?« fragte Ermengarde erfreut. »Deiner . . . deiner gefällt mir auch.« Miss St. Johns größtes Problem war, daß sie einen klugen Vater hatte. Manchmal erschien ihr dies wie ein schreckliches Schicksal. Ein Vater, der alles wußte, der sieben oder acht Sprachen sprach, und der Tausende von dicken Büchern besaß, die er scheinbar auswendig gelernt hatte, erwartete oft, daß man wenigstens mit dem Inhalt seiner Lehrbücher vertraut war; und wahrscheinlich setzte er auch voraus, daß man in der Lage war, einige geschichtliche Ereignisse im Gedächtnis zu behalten und einen französischen
Übungstext zu schreiben. Ermengarde machte ihrem Vater viel Kummer. Er konnte nicht verstehen, wie es möglich war, daß sein eigenes Kind ein unverkennbar und auffallend dummes Wesen war, das niemals in irgend etwas glänzte. »Du lieber Himmel!« rief er allzu oft aus und starrte sie dann an. »Manchmal denke ich, du bist genauso dumm wie deine Tante Eliza!« Tante Eliza war in der Tat langsam im Lernen und schnell im Vergessen, und Ermengarde stand ihr darin in nichts nach. Sie war der größte Dummkopf der Schule, das war nicht zu verleugnen. »Man muß sie dazu bringen zu lernen«, hatte ihr Vater damals zu Miss Minchin gesagt, als er ihr seine Tochter anvertraut hatte. Doch bisher hatte es nichts genutzt. Ermengarde verbrachte die meiste Zeit ihres Lebens damit, Dinge zu lernen, um sie sofort wieder zu vergessen. Oder, falls sie sie doch im Gedächtnis behielt, verstand sie sie meist nicht. So war es nur verständlich, daß Ermengarde, als Sara sie ansprach, nur dasaß und sie in tiefer Bewunderung anstarrte. »Du kannst Französisch, nicht wahr?« fragte sie voller Respekt. Sara setzte sich zu ihr auf den großen, breiten Fenstersims, zog die Füße an und schlang die Arme um ihre Knie. »Ich kann es, weil ich es mein Leben lang gehört habe«, antwortete sie. »Du könntest es genauso, wenn du es immer gehört hättest.« »O nein, bestimmt nicht«, sagte Ermengarde. »Ich könnte es niemals sprechen!« »Warum nicht?« fragte Sara interessiert. Ermengarde schüttelte den Kopf, daß ihr Zopf schlenkerte. »Du hast mich ja vorhin gehört«, sagte sie. »Es geht mir immer so. Ich kann die Worte nicht sprechen. Sie sind so sonderbar.« Sie hielt einen Moment inne. »Du bist klug, nicht wahr?« sagte sie mit einem ehrfurchtsvollen Unterton. Sara sah hinaus auf den schmutzigen Hof, wo die Spatzen herumhüpften und zwitschernd auf dem rostbedeckten Eisengeländer und den Zweigen des Baumes saßen. Sie dachte nach. Sie hatte schon oft gehört, daß sie klug sei und fragte sich, ob das stimmte - und wenn ja, warum das so war. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich kann es dir nicht sagen.« Dann, als Ermengardes rundes, pausbäckiges Gesicht einen traurigen Ausdruck annahm, lachte sie und wechselte schnell das Thema. »Soll ich dir Emily zeigen?« fragte sie. »Wer ist Emily?« fragte Ermengarde. »Komm mit hinauf in mein Zimmer«, sagte Sara und bot ihr ihre Hand an. Sie sprangen zusammen vom Fenstersims und liefen die Treppe hinauf. »Stimmt es«, flüsterte Ermengarde, als sie durch die Halle gingen, »daß du ein eigenes Spielzimmer hast?« »Ja«, antwortete Sara. »Papa hat Miss Minchin gebeten, mir eins zu überlassen, weil - na ja, weil ich mir beim Spielen Geschichten ausdenke, die ich mir selbst erzähle. Und ich möchte nicht, daß mich jemand hört. Wenn ich denke, es hört jemand zu, würde es alles zerstören.«
Sie hatten mittlerweile den Flur erreicht, der zu Saras Zimmer führte.
Ermengarde hielt plötzlich inne und starrte sie atemlos an.
»Du erfindest Geschichten!« stieß sie staunend hervor. »Das kannst du - und
noch Französisch sprechen? Wirklich?«
Sara sah sie etwas erstaunt an.
»Natürlich, jeder kann Dinge erfinden«, sagte sie. »Hast du das nie versucht?«
Sie legte warnend ihre Hand auf Ermengardes.
»Laß uns ganz leise zur Tür gehen«, flüsterte sie, »und dann werde ich sie mit
einem Ruck öffnen; vielleicht ertappen wir sie.«
Sara lachte leise, und in ihren Augen lag ein Hauch geheimnisvoller Hoffnung,
der Ermengarde faszinierte. Doch sie hatte nicht die leiseste Idee, was das alles
bedeuten sollte und wen sie »ertappen« wollte. Was immer es auch sein würde,
Ermengarde war sich sicher, daß es etwas wunderbar Aufregendes war. So
folgte sie ihr in erwartungsvoller Erregung auf den Zehenspitzen den Flur ent
lang.
Sara drehte blitzschnell den Knauf herum und stieß die Tür weit auf. Das
Zimmer lag ordentlich und ruhig vor ihr. Ein Feuer flackerte ruhig im Kamin,
und eine wunderschöne Puppe saß daneben auf einem Stuhl, und es sah aus, als
lese sie in einem Buch.
»Oh, sie ist zu ihrem Platz zurückgerannt, bevor wir sie sehen konnten!« rief
Sara enttäuscht aus. »Natürlich, das macht sie immer. Sie ist so schnell wie der
Blitz.«
Ermengarde blickte von ihr zu der Puppe und von der Puppe zu Sara.
»Kann sie denn . . . laufen?« fragte sie atemlos.
»Ja«, antwortete Sara. »Zumindest glaube ich, daß sie laufen kann. Zumindest
tue ich so. Und deshalb kommt es mir wie wahr vor. Hast du noch nie so getan,
als ob etwas wahr wäre?«
»Nein«, sagte Ermengarde. »Nie. Ich ... erzähl mir davon.«
Ermengarde war so begeistert von dieser sonderbaren neuen Schulkameradin,
daß sie statt Emily nur Sara anstarrte - obgleich Emily die schönste Puppe war,
die sie je gesehen hatte.
»Komm, setzen wir uns« sagte Sara, »und ich erzähle es dir. Es ist so leicht,
daß du nicht mehr aufhören kannst, wenn du einmal angefangen hast. Du
machst einfach immer weiter. Und das ist wundervoll. Emily, hör zu. Das hier
ist Ermengarde St. John. - Ermengarde, das ist Emily. Möchtest du sie einmal
nehmen?«
»Oh, darf ich?« fragte Ermengarde. »Darf ich wirklich? Oh, ist die schön!«
Niemals in ihrem trostlosen, kurzen Leben hätte Miss St. John sich träumen
lassen, daß sie, noch bevor die Glocke zum Mittagessen ertönte, mit der
sonderbaren neuen Schülerin Zusammensein würde.
Sara setzte sich nun auf den Kaminvorleger und erzählte Ermengarde
merkwürdige Dinge. Sie saß zusammengekauert da, ihre grünen Augen
leuchteten, und ihre Wangen glühten. Sie erzählte Geschichten von der Reise
und Geschichten von Indien; aber was Ermengarde am meisten faszinierte, war
ihre Vorstellung von den Puppen, die laufen und sprechen konnten. Puppen, die
alles tun konnten, was sie wollten, sobald kein Mensch im Zimmer war, die
aber ihre Kräfte geheimhalten mußten und deshalb »wie der Blitz« auf ihren
Platz zurückrannten, wenn jemand ins Zimmer zurückkehrte.
Einmal, als Sara die Geschichte erzählte, wie sie und ihr Vater Emily gefunden
hatten, sah Ermengarde, wie sich ihr Gesicht plötzlich änderte. Es schien als ob
eine Wolke es überschattete, die das Licht in ihren glänzenden Augen löschte.
»Hast du ... hast du irgend etwas?« fragte Ermengarde zaghaft.
»Ja«, hauchte Sara, nachdem sie einen Moment geschwiegen hatte. »Aber nicht
so, daß mir etwas weh tut.« Dann fügte sie mit leiser Stimme hinzu: »Liebst du
deinen Vater mehr als alles auf der ganzen Welt?«
Ermengarde war sprachlos. Sie wußte, daß es für ein Mädchen aus der
Spezialschule alles andere als anständig war, zuzugeben, daß es ihr bisher
niemals in den Sinn gekommen war, so etwas wie liebevolle Gedanken für den
Vater zu empfinden, geschweige denn, man alles nur Erdenkliche tun könne,
um ja auch keine Minute ohne ihn zu sein. Sie war äußerst verwirrt.
»Ich ... ich sehe ihn selten«, stammelte sie. »Er ist immer in der Bibliothek ...
und liest.«
»Ich Hebe meinen Vater mehr als alles in der Welt und noch viel, viel mehr«,
sagte Sara. »Das ist mein Schmerz. Er ist fortgegangen.«
Sie senkte ihren Kopf leicht und saß eine Weile regungslos da. Ihre kurzen
schwarzen Locken fielen ihr ins Gesicht.
>Gleich wird sie laut losweinem, dachte Ermengarde besorgt.
Aber das tat Sara nicht. Ohne den Kopf zu heben, sagte sie: »Ich habe ihm
versprochen, tapfer zu sein. Und das werde ich. Man muß Dinge ertragen
können. Denke daran, was Soldaten erdulden müssen! Papa ist ein Soldat.
Wenn es Krieg gäbe, müßte er lange Märsche und Durst ertragen. Und er
würde nie ein Wort der Klage darüber verlieren - kein einziges.«
Ermengarde starrte sie nur an, und sie begann, sie zu bewundern. Sara war so
wundervoll und so ganz anders als die anderen.
Dann hob Sara den Kopf und warf mit einem sonderbaren Lächeln ihre
schwarzen Locken zurück.
»Wenn ich dir immer vom Geschichten-Erfinden erzähle«, sagte sie, »kann ich
es einfach besser ertragen. Man vergißt nicht, aber man denkt nicht immer
daran.«
Ermengarde wußte nicht, warum sie plötzlich einen Kloß in ihrem Hals fühlte
und ihr Tränen in die Augen stiegen,
»Lavinia und Jessie sind >beste Freundinnen«, sagte sie mit heiserer Stimme.
»Ich wünschte, wir beide wären das auch. Darf ich deine beste Freundin sein?
Du bist klug, und ich bin das dümmste Kind der ganzen Schule, aber ich ... ich
mag dich so sehr!«
»Das freut mich«, lächelte Sara. »Es gibt einem ein Gefühl der Dankbarkeit,
wenn man geliebt wird. Ja. Wir wollen Freundinnen sein. Und weißt du was« -
ihr Gesicht hellte sich plötzlich auf - »ich kann dir bei deinen Franzö
sischübungen helfen.«
Lottie Wenn Sara nicht anders als alle anderen Kinder gewesen wäre, so wäre das Leben in den folgenden zehn Jahren in Miss Minchins Schule nicht gerade angenehm für sie geworden. So aber behandelte man sie eher wie einen vor nehmen Gast als wie ein kleines Internatsmädchen. Insgeheim mochte Miss Minchin Sara nicht, aber sie war zu berechnend, als daß sie ihr Anlaß zu irgendwelchen Beschwerden gegeben hätte. Sie war sich darüber im klaren, daß Captain Crewe sie sofort von der Schule nehmen würde, wenn Sara unglücklich wäre und sich nicht wohl fühlte. Miss Minchin war nun der Meinung, daß ein Kind dann, wenn es ständig gelobt und ihm nie etwas verboten würde, sich zweifellos wohl fühlen müsse. Infolgedessen wurde Sara für ihre Schnelligkeit bei ihren Übungen gelobt, für ihre guten Manieren, für ihre Liebenswürdigkeit gegenüber ihren Mitschülerinnen, für ihre Großzügigkeit, wenn sie einem Bettler ein SixpenceStück gab. Aus dem Geringsten, was sie tat, wurde eine Tugend gemacht, und hätte sie nicht so einen festen Charakter und einen so klugen Kopf gehabt, wäre sie wohl eine sehr selbstgefällige Person geworden. Aber ihr wacher Verstand ließ sie Wahres über sich selbst erkennen. Und im Laufe der Zeit sprach sie sogar mit Ermengarde über diese Dinge. »Alles widerfährt den Menschen durch Zufall«, sagte sie oft. »Mir sind schon eine Menge erfreulicher Zufälle passiert. Es ist Zufall, daß ich immer schon gern gelernt und gelesen habe, und daß ich Dinge, die ich gelernt habe, im Gedächtnis behalten konnte. Es ist Zufall und nichts weiter, daß ich das Kind eines reichen Vaters bin, der mir alles geben kann, was ich mir wünsche. Vielleicht bin ich im Grunde gar nicht gutmütig, nur, wenn man alles hat, was man sich wünscht, und wenn alle nett zu einem sind, was bleibt einem übrig, als gutmütig zu sein? Ich weiß nicht«, und sie blickte sehr ernst drein, »wie ich jemals herausfinden soll, ob ich in Wirklichkeit ein nettes oder ein schreck liches Kind bin. Vielleicht bin ich sogar ein grauenhaftes Kind, und niemand wird das jemals erfahren, bloß weil ich nie Schwierigkeiten gehabt habe.« »Lavinia hat auch keine Schwierigkeiten«, sagte Ermengarde beharrlich, »und sie ist schrecklich genug.« Sara rieb sich bedächtig die Nasenspitze und dachte darüber nach. »Nun«, sagte sie schließlich, »vielleicht liegt das daran, daß Lavinia noch wächst.« Dabei erinnerte sie sich daran, wie Miss Amelia einmal nachsichtig gesagt hatte, Lavinia wachse so schnell, daß ihre Gesundheit und ihr Temperament darunter litten. Lavinia war in der Tat boshaft. Sie tyrannisierte die kleinen Kinder und machte sich wichtig bei den Gleichaltrigen. Und sie war äußerst eifersüchtig auf Sara. Bis zu ihrer Ankunft hatte sie sich als Anführerin der Schule betrachtet. Sie war ziemlich hübsch, und wenn alle Schüler in Zweierreihen ausgingen, war sie stets die am besten Angezogene gewesen - bis Sara mit ihren Samtmänteln, Zobelmuffs und hängenden Straußenfedern auftauchte und von Miss Minchin an den Anfang der Reihe gestellt wurde. Dies war an sich schon bitter genug für Lavinia gewesen, und im Laufe der
Zeit stellte sich dann heraus, daß auch Sara eine Anführerin war, und zwar nicht, indem sie ihren Mitschülern gegenüber unangenehm wurde wie Lavinia, sondern indem sie immer freundlich, hilfsbereit und höflich war. Jessie hatte ihre »beste Freundin« Lavinia verärgert, als sie ihr einmal sagte: »Etwas muß man Sara Crewe lassen, sie bildet sich nicht im geringsten etwas auf sich ein, und du weißt, daß sie Grund dazu hätte, Lawie. Ich glaube, mir würde es schwerfallen, nicht wenigstens ein bißchen eingebildet zu sein, wenn ich so viele schöne Sachen hätte und man so viel Wirbel um mich machen würde. Es ist geradezu widerlich, wie Miss Minchin sie vorzeigt, wenn Eltern zu Besuch kommen.« »Die liebe Sara muß unbedingt in den Salon kommen und Mrs. Musgrave von Indien erzählen«, sagte Lavinia, indem sie Miss Minchin in ihrer hohen Stimme gekonnt nachäffte. »Die liebe Sara muß mit Lady Pitkin französisch sprechen. Ihre Aussprache ist so hervorragend. Sie hat in der Schule kein bißchen Französisch gelernt. Und das weiß sie ganz genau. Sie selber sagt ja, daß sie es überhaupt nicht gelernt hat. Sie hat es einfach aufgeschnappt, weil sie es immer von ihrem Papa gehört hat. Und, was ihn angeht, was soll an einem indischen Offizier so Besonderes sein.« »Immerhin hat er einen Tiger getötet«, sagte Jessie langsam, »den, dessen Fell in Saras Zimmer liegt. Deswegen liebt sie es so. Sie legt sich darauf und streichelt seinen Kopf und spricht zu ihm wie zu einer Katze.« »Sie macht immer irgend etwas Albernes«, sagte Lavinia bissig. »Meine Mutter sagt, daß es albern ist, Dinge vorzutäuschen, so wie Sara es tut. Sie sagt, sie wird bestimmt exzentrisch.« Es stimmte, daß Sara sich nie überheblich benahm. Sie war ein freundliches Wesen und gab gerne von allem ab, was ihr gehörte und ihr vorrangig zuteil wurde. Worum sie am meisten beneidet wurde, war, daß sie die ganz kleinen Kinder, mit denen normalerweise die Zehn- bis Zwölfjährigen nichts zu tun haben wollten, rührend umsorgte. Sie war eine mütterliche kleine Person, und wenn jemand hinfiel und sich das Knie aufschrammte, lief sie herbei, half ihm auf und tröstete ihn. Nie stieß sie jemanden vor den Kopf oder demütigte ihn, nur weil er klein und unerfahren war. »Wenn man vier ist, ist man vier«, sagte sie einmal ernst zu Lavinia, als die ungerechterweise die kleine Lottie geschlagen hatte und sie eine »dumme Göre« schimpfte. »Und«, fügte sie mit funkelnden Augen hinzu, »es dauert nur noch sechzehn Jahre, bis man zwanzig ist!« »Du meine Güte!« rief Lavinia aus. »Wie gut wir rechnen können!« So kam es, daß besonders die jüngeren Kinder Sara bewunderten. Es war in der Schule bekannt, daß Sara in ihrem Zimmer Tea-Parties für die Kleinen gab. Sie durften mit Emily spielen, und sie durften süßen Tee aus den blaugeblümten Tassen von Emilys eigenem Tee-Service trinken. Noch nie hatte eine von ihnen echtes Puppengeschirr gesehen. Von da an war Sara für die Kinder aus der ersten Klasse eine richtige kleine Prinzessin. Am meisten verehrte Lottie Legh sie, und am meisten schätzte sie es, von Sara mütterlich umhegt und gepflegt zu werden. Lotties Vater hatte sie zur Schule geschickt, weil er nicht wußte, was er sonst mit ihr anfangen sollte. Ihre Mutter
war schon früh gestorben, und da das Kind von klein auf wie ein verwöhntes Schoßhündchen behandelt worden war, entwickelte es sich alsbald zu einer kleinen Nervensäge. Sobald Lottie etwas wollte oder nicht wollte, weinte und schrie sie. Und da sie immer gerade das wollte, was sie nicht bekommen konnte, war ihr schrilles Jammergeheul eine ständige Geräuschkulisse im Haus. Lottie vertrat schon sehr bald die Meinung, daß ein kleines Mädchen, das seine Mutter verloren hatte, ganz besonderes Mitleid und Anteilnahme verdiente. Wahrscheinlich hatte sie nach dem Tod ihrer Mutter, als sie noch ganz klein war, die Leute so reden hören, und so machte sie sich diese Erfahrung zunutze. Das erste Mal nahm Sara sich ihrer an, als sie eines Morgens die Stimmen von Miss Minchin und Miss Amelia hörte, die offensichtlich versuchten, ein kreischendes Kind zur Ruhe zu bringen. Das Kind widersetzte sich so, daß Miss Minchin selber fast schreien mußte, um sich Gehör zu verschaffen. »Warum um alles in der Welt kreischst du«, brüllte sie. »Hu - hu - huu!« drang es an Saras Ohr. »Ich hab' keine Mama!« »O Lottie!« schrie Miss Amelia. »Tu mir einen Gefallen und hör auf! Hör auf zu weinen! Bitte!« »Hu! Hu! Huu!« heulte Lottie noch lauter. »Hab' keine Mama!« »Man sollte sie übers Knie legen«, rief Miss Minchin. »Du kriegst ein paar hintendrauf, du ungezogenes Kind!« Lotties Geschrei wurde noch größer. Miss Amelia fing an zu weinen. Miss Minchin dröhnte mit Donnerstimme, bis sie plötzlich wütend von ihrem Stuhl aufsprang und aus dem Zimmer lief, um Miss Amelia die Angelegenheit zu überlassen. Sara war in der Halle stehengeblieben und überlegte, ob sie hineingehen sollte, denn sie hatte Lottie vor kurzem kennengelernt. Vielleicht hätte sie sie beruhigen können. Als Miss Minchin aus dem Zimmer trat und Sara erblickte, machte sie ein verärgertes Gesicht. Es war ihr sichtlich unangenehm, daß Sara sie hatte schreien hören. »Oh - Sara!« tat sie überrascht und bemühte sich, ihr freundlichstes Lächeln aufzusetzen. »Ich bin stehengeblieben«, erklärte Sara entschuldigend, »weil ich hörte, daß es Lottie war... und ich dachte, ich könnte sie vielleicht... nur vielleicht... beruhigen. Darf ich es versuchen, Miss Minchin?« »Aber natürlich. Dir wird das sicherlich gelingen. Du bist ja auch ein kluges Kind«, antwortete Miss Minchin spitz und preßte die Lippen zu einem Strich zusammen. Als sie sah, daß Sara auf ihre Schroffheit befremdet reagierte, fügte sie schnell beschwichtigend hinzu: »Aber du bist schließlich in allem klug. Ich bin sicher, du schaffst es. Geh nur hinein.« Als Sara das Zimmer betrat, lag Lottie auf dem Fußboden, schreiend und mit den Füßen um sich strampelnd, während Miss Amelia sich voll Verzweiflung und am Ende ihrer Kräfte über sie beugte. Lottie wußte von zu Hause, daß sie nur lange genug schreien und um sich treten mußte, bis man ihrem Willen nachgab. Die plumpe Miss Amelia war ihr völlig ausgeliefert. Tapfer spielte sie eine Beruhigungsmethode nach der anderen durch.
»Armes Kind!« sagte sie zuerst. »Ich weiß, daß du keine Mama hast.« Und dann, in schärferem Ton: »Hör sofort auf, Lottie, oder ich schüttle dich.« Es folgte: »Du armer kleiner Engel, du!« Und dann wieder: »Du böses, schlechtes, widerwärtiges Kind, gleich hau' ich dir eine runter! Du wirst schon sehen!« Sara ging ruhig auf sie zu. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte, aber ihr Gefühl sagte ihr, daß es nicht gut sei, aus lauter Hilflosigkeit einmal so und einmal so zu reagieren. »Miss Amelia«, sagte sie mit leiser Stimme, »Miss Minchin sagt, ich solle versuchen, sie zu beruhigen ... darf ich?« Miss Amelia wandte sich um und sah Sara verzweifelt an. »Oh, glaubst du wirklich, daß du das kannst?« keuchte sie. »Ich weiß nicht, ob ich es kann«, antwortete Sara, immer noch flüsternd, »aber ich will es versuchen.« Miss Amelia erhob sich schwerfällig und seufzte, während Lottie nach wie vor mit ihren kleinen, dicken Beinen wie wild um sich schlug. »Wenn Sie leise hinausgehen«, sagte Sara, »bleibe ich bei ihr.« »O Sara!« jammerte Miss Amelia. »Wir haben noch nie so ein schreckliches Kind bei uns gehabt. Ich glaube nicht, daß wir sie behalten können.« Sie schlich sich aus dem Zimmer und war froh, sich nicht mehr um die Kleine kümmern zu müssen. Sara stand eine Weile neben der heulenden Lottie und blickte wortlos auf sie hinunter. Dann setzte sie sich auf den Boden und wartete. Bis auf Lotties Schreien war es ganz still im Raum. Dies war neu für die kleine Miss Legh, die es gewohnt war, daß - sobald sie loskreischte - alles um sie herum auf sie einredete, protestierend und drohend oder flehend und ihr gut zuredend. Aber auf dem Boden zu liegen und zu toben, während jemand neben ihr saß, ohne sich offenbar darum zu kümmern, machte sie neugierig. Sie öffnete ihre zusammengekniffenen, verheulten Augen, um zu sehen, wen sie vor sich hatte. Aber da saß nur ein anderes kleines Mädchen. Doch es war das Mädchen, dem Emily und all die anderen schönen Sachen gehörten. Und sie schaute sie ruhig an, als ob sie einfach nur nachdachte. Lottie hielt einen Moment inne und begann dann von neuem zu brüllen, aber die Stille im Raum und Saras merkwürdiger, neugieriger Blick ließen das Ganze nur zu einem halbherzigen Versuch werden. »Ich - hab' - keine Mama!« fing sie wieder an, jedoch leiser als zuvor. Sara sah sie noch fester an, und ihr Blick drückte etwas wie Mitgefühl aus. »Ich auch nicht«, sagte sie. Dies kam so überraschend, daß Lottie erst einmal mit dem Zappeln aufhörte und sie anstarrte. Nichts bringt ein weinendes Kind schneller zur Ruhe als ein überraschender, neuer Eindruck. Hinzu kam, daß Lottie weder Miss Minchin noch Miss Amelia leiden konnte, während sie Sara gern hatte, obwohl sie sie kaum kannte. Sie dachte zwar nicht daran, mit ihrem Gejammere ein für allemal aufzuhören, fragte aber dann doch neugierig: »Wo ist sie?« Sara sagte einen Augenblick nichts. Es hieß, ihre Mutter sei im Himmel, und sie hatte sich darüber Gedanken gemacht.
»Sie ist im Himmel«, sagte sie schließlich leise. »Aber ich weiß, daß sie eines Tages herunterkommt und mich besucht - obwohl ich sie nicht sehen kann. Genauso ist es mit deiner Mama. Vielleicht können sie beide uns jetzt sehen. Vielleicht sind sie sogar in diesem Zimmer.« Lottie saß kerzengerade da und sah sie an. Sie war ein hübsches kleines Mädchen mit lockigem Haar, und ihre runden Augen erinnerten an Vergißmeinnicht. Hätte ihre Mutter sie allerdings die letzte halbe Stunde sehen können, wäre sie sicher nicht auf die Idee gekommen, daß dieses Kind mit einem Engel verwandt sein könnte. Sara sprach weiter, und was sie sagte, war so anders, so lebendig, daß Lottie unwillkürlich zuhören mußte. Man hatte ihr immer nur erzählt, daß ihre Mutter Flügel hätte und eine Krone auf dem Kopf, und man hatte ihr Bilder von Frauenwesen in schönen weißen Hemden gezeigt, die Engel hießen. Sara dagegen erzählte von einem wunderschönen Land mit leibhaftigen Lebewesen, so, als sei alles wahr. »Dort, im Himmel, gibt es unendlich viele Blumenwiesen«, sagte sie und fing wie immer an, sich selbst ganz zu vergessen und sich wie in einem Rausch zu erzählen. »Unendlich viele Wiesen mit Lilien darauf, und wenn der Wind sanft darüberstreicht, trägt er ihren Duft in die Lüfte. Und alles atmet ihn ein, denn der sanfte Wind weht immer. Und kleine Kinder laufen in den Lilienwiesen umher und pflücken ihre Arme voll davon, und sie lachen und flechten sich kleine Kränze. Und die Straßen leuchten im Son nenlicht. Und niemand ist jemals müde, auch wenn er noch so weit gelaufen ist. Jeder kann sich frei bewegen. Und die ganze Stadt ist mit Mauern aus Perlen und Gold umgeben, und sie sind so niedrig, daß sich alle daran lehnen und auf die Erde hinabschauen können, und sie lachen und senden wunderbare Botschaften hinab.« Lottie hatte sofort aufgehört zu weinen und Sara gespannt zugehört. Diese Geschichte war auch zu hübsch. Sie krabbelte neben Sara und verschlang jedes Wort, bis die Geschichte zu Ende war. Sofort schob sie ihre Oberlippe hoch und verzog bereits wieder das Gesicht. »Da will ich hin«, heulte sie. »Ich ... ich hab' keine Mama hier in der Schule.« Sara erkannte die Gefahr. Sie ergriff die kleine Hand und zog sie mit einem tröstenden Lächeln näher an sich heran. »Ich werde deine Mama sein«, sagte sie sanft. »Wir spielen, daß du mein kleines Mädchen bist. Und Emily ist deine Schwester.« »Wirklich?« fragte Lottie. Ihre Grübchen kamen zum Vorschein. »Ja«, sagte Sara und sprang auf. »Komm, wir gehen zu ihr und sagen es ihr. Und dann wasche ich dir das Gesicht und kämme dir die Haare.« Lottie war einverstanden und freute sich. Sie trabte aus dem Zimmer und folgte Sara schnell die Treppe hinauf; mit einem Mal hatte sie vergessen, daß sie das ganze Theater der letzten Stunde nur veranstaltet hatte, weil sie sich nicht fürs Mittagessen waschen und kämmen lassen wollte. Und von jetzt an war Sara eine Adoptivmutter.
Becky Nicht nur wegen ihrer wunderschönen Sachen, die sie besaß, oder weil sie »die Musterschülerin« war, wurde Sara von vielen Mitschülern regelrecht beneidet, sondern ganz besonders war es ihre Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, die alle faszinierten. Jeder, der in der Schule einen Geschichtenerzähler gehabt hat, weiß, was diese Bewunderung mit sich bringt: Er wird auf Schritt und Tritt verfolgt, und ständig um eine Kostprobe angefleht. Scharen umringen ihn, um ja nichts zu versäumen. Sara konnte nicht nur Geschichten erzählen, sondern sie selbst erfand sie auch mit Begeisterung. Wenn sie im Mittelpunkt stand und anfing, von all den wundervollen Dingen zu erzählen, die in ihrer Phantasie entstanden, wurden ihre grünen Augen groß und leuchtend, ihre Wangen begannen zu glühen, und ohne es selbst zu merken, begleitete sie ihre Stimme, die einmal lieblich und einmal bedrohlich klingen konnte, mit ausdrucksvollen Bewegungen ihres schlanken Körpers und ihrer Hände. Sie vergaß völlig, daß sie von Zuhörern umgeben war; sie sah und erlebte nur die Wesen in ihren Geschichten, die Könige und Königinnen und die schönen Frauen, von deren Abenteuern sie berichtete. »Wenn ich Geschichten erzähle«, sagte sie einmal, »kommen sie mir nicht wie erfunden vor. Sie sind für mich wirklicher als alles hier, noch wirklicher als das Klassenzimmer. Es ist, als ob ich in die Geschichten hineinschlüpfe. Es ist unbeschreiblich.« Es war an einem nebligen Winternachmittag etwa zwei Jahre später. Sara stieg gerade aus ihrer Kutsche und wollte den Schulhof überqueren, als ihr eine kleine, schmuddelige Gestalt auffiel, die unten auf der Treppe stehend den Hals emporreckte und mit großen Augen durch das Geländer spähte. Die neugierigen, furchtsamen Augen in dem schmutzigen Gesicht zogen Saras Blick an, und sie lächelte ihr zu, so wie es ihre Art war, jemanden anzulächeln. Aber die Gestalt mit dem schmutzigen Gesicht hatte offenbar Angst, man könnte sie dabei erwischen, wie sie eine dieser feinen Schülerinnen beobachtete. Blitzschnell zog sie den Kopf ein und huschte zurück in die Küche. Fast hätte Sara lachen müssen, wenn es nicht ein so kleines, hilfloses Ding gewesen wäre, dessen Zustand sie rührte. Am Abend, als Sara in einer Ecke des Klassenzimmers saß und von Zuhörern umringt eine ihrer Geschichten zum besten gab, betrat plötzlich diese kleine, furchtsame Gestalt mit einem viel zu schweren Kohlenkasten unter dem Arm den Raum. Sie kniete auf dem Kaminvorleger nieder, um Kohlen nachzufüllen und die Asche zusammenzukehren. Sie war nicht so schmutzig wie am Nachmittag, als sie durch das Geländer gespäht hatte, sah aber noch genauso verängstigt aus. Sie hatte Angst, zu den Kindern hinzusehen oder den Anschein zu erwecken, als höre sie zu. Leise und vorsichtig legte sie die Kohlen auf und hantierte mit dem Kaminbesteck, so, als ob sie jedes Geräusch vermeiden wollte. Sara merkte jedoch, daß sie sehr interessiert daran war, was um sie herum vorging, und daß sie auch aus diesem Grund so leise war, damit sie möglichst hier und da ein Wort mitbekam. Sara
erhob daraufhin ihre Stimme und sprach laut und deutlich. »Die Meerjungfrauen schwammen sanft durch das kristallgrüne Wasser und zogen ein Fischnetz hinter sich her, das aus Tiefseeperlen gewoben war«, erzählte sie. »Die Prinzessin saß auf dem weißen Felsen und sah ihnen zu.« Es war die wundersame Geschichte von einem Meeresprinzen und einer Prinzessin, die er liebte, und die mit ihm ging, um in schimmernden Höhlen auf dem Meeresgrund mit ihm zu leben. Das Aschenbrödel vor dem Kamin kehrte einmal und ein zweites Mal. Und während sie ein drittes Mal kehren wollte, wurde sie von der Geschichte so gefangengenommen, daß auch sie dem Zauber erlag und alles um sich herum vergaß. Sie kniete auf dem Kaminvorleger, und der Besen hing schlaff in ihrer Hand. Saras Stimme fuhr fort und riß sie mit in verwinkelte Höhlen am Meeresgrund, die in sanftem, strahlendblauem Licht glänzten und mit goldenem Sand ausgelegt waren. Seltsame Meeresblumen und -gräser umwehten sie, und in weiter Ferne erklang das Echo leiser Musik. Da fiel der Besen aus der Hand, und Lavinia Herbert drehte sich um. »Die hat ja zugehört«, sagte sie. Die Übeltäterin ergriff ihren Besen und rappelte sich hastig auf. Sie packte ihren Kohlenkasten und flitzte aus dem Zimmer wie ein aufgeschrecktes Kaninchen. »Ich wußte, daß sie zuhört«, brauste Sara auf, »warum auch nicht?« Lavinia warf stolz den Kopf in den Nacken. »Nun«, sagte sie, »ich weiß ja nicht, ob es deiner Mutter recht wäre, wenn du einem Dienstmädchen Geschichten erzählst, meine Mutter würde mir das jedenfalls nicht erlauben.« »Meine Mutter!« rief Sara und machte ein merkwürdiges Gesicht. »Ich glaube nicht, daß sie das nur im geringsten stören würde. Sie weiß, daß Geschichten für alle da sind.« »Ich denke, deine Mutter ist tot«, erwiderte Lavinia scharf. »Wie soll sie das also wissen?« »Denkst du, sie weiß nichts?« sagte Sara in scharfem Ton. Manchmal konnte ihre Stimme richtig böse klingen. »Saras Mutter weiß alles«, fiel Lottie ein. »Und meine Mama genauso, das heißt, Sara ist ja jetzt meine Mama. Aber meine richtige Mama, die weiß alles. Die Straßen leuchten, und da sind unzählige Wiesen voller Lilien, und alle pflücken sie. Sara erzählt mir davon, wenn sie mich zu Bett bringt.« »Du dummes Ding«, sagte Lavinia und wandte sich Sara zu. »Märchen vom Himmel zu erzählen.« »Über die Offenbarung gibt es noch viel schönere Geschichten«, entgegnete Sara. »Du kannst es ja nachlesen! Woher weißt du also, daß ich Märchen erzähle? Aber ich sage dir, du wirst nie herausfinden, ob es nun Märchen sind oder nicht, wenn du nicht bald lernst, freundlicher zu anderen zu sein. Komm, Lottie.« Und sie marschierte mit der Kleinen aus dem Raum. Sie hoffte, irgendwo das kleine Dienstmädchen zu sehen, aber es war spurlos verschwunden. »Wer ist das kleine Mädchen, das sich um das Feuer kümmert?« wollte Sara
am Abend von Mariette wissen. Mariette fing daraufhin an, lang und breit von ihr zu erzählen: »In der Tat, Mademoiselle Sara, Sie haben allen Grund zu fragen. Sie ist ein einsames kleines Ding, das gerade erst als Küchenmagd angefangen hat - obwohl sie au ßer ihren Aufgaben als Küchenmagd noch alles mögliche erledigt. Sie reinigt die Stiefel und die Feuerroste, schleppt schwere Kohleneimer die Treppen hoch und hinunter, schrubbt Fußböden und putzt die Fenster. Sie wird eigentlich von allen herumgehetzt. Sie ist vierzehn Jahre alt, aber sie ist so unterentwickelt, daß sie wie zwölf aussieht. Man muß Mitleid mit ihr haben. Sie ist so furchtsam, daß, wenn jemand sie zufällig anspricht, es scheint, als ob ihr vor lauter Angst und Schrecken die Augen aus dem Kopf springen.« »Wie heißt sie?« fragte Sara, die aufmerksam am Tisch saß und wie gebannt zugehört hatte. »Sie heißt Becky. Ich höre immer, wie es unten alle fünf Minuten ruft: >Becky, tu dies; Becky, tu jenes<.« Sara saß da und schaute ins Feuer. Sie dachte noch über Becky nach, als Mariette schon gegangen war. Es ging ihr eine Geschichte durch den Kopf, in der Becky die Heldin war. Sie hoffte, sie würde sie wiedersehen. Aber als sie sie dann gelegentlich beim Kohlenschleppen erblickte, schien sie jedesmal in solcher Eile und so voller Furcht zu sein, daß es ihr unmöglich war, sie anzusprechen. Einige Wochen später jedoch, an einem jener nebligen Nachmittage, als sie ihr Zimmer betrat, bot sich ihr ein mitleiderregendes Bild. In ihrem Lieblingssessel vor dem Kaminfeuer saß Becky und schlief fest. Sie hatte einen Kohlefleck auf der Nase und trug eine schmutzige Schürze. Ihr armseliges Häubchen fiel ihr fast vom Kopf. Der leere Kohlenkasten stand neben ihr. Becky war hinauf geschickt worden, um die Schlafzimmer für den Abend herzurichten. Es waren viele Zimmer, und sie war schon den ganzen Tag auf den Beinen. Saras Zimmer hatte sie sich zuletzt vorgenommen. Ihre Zimmer waren nicht so unscheinbar und kahl wie die der anderen. Saras gemütliches Wohnzimmer erschien der Küchenmagd wie eine Luxuslaube, obwohl es eigentlich nur ein heller kleiner Raum war. Aber es gab Bilder und Bücher, und merkwürdige Dinge aus Indien, ein Sofa und einen niedrigen, weichen Sessel. Becky hob sich Saras Zimmer immer für den Rest des Tages auf, weil es für sie wie eine Erholung war, hineinzugehen. Und sie hoffte immer, ein paar Minuten zu erhaschen, in denen sie sich in den weichen Sessel setzen und umsehen und darüber nachdenken konnte, wie glücklich dieses Kind sein mußte, dem diese Dinge alle gehörten. Als Becky sich an diesem Nachmittag in den Sessel setzte und ihre schmerzenden Beine ausstreckte, hatte sie so ein wundervolles Gefühl der Entspannung, daß es ihren ganzen Körper durchströmte, und der gemütliche, wärmende Schein des Feuers hüllte sie ein wie ein Zauber. Während sie in die glühenden Kohlen schaute, schlich sich langsam ein müdes Lächeln auf ihr schmutziges Gesicht, und ihr Kopf fiel auf die Brust, ohne daß sie es merkte. Sie hatte der Müdigkeit nicht widerstehen können. Es war erst zehn Minuten her, seit sie das Zimmer betreten hatte, aber als Sara
hereinkam, schlief sie bereits so fest, als sei sie, wie Dornröschen vor hundert Jahren, in tiefen Schlummer verfallen. Es kam Sara nicht in den Sinn, böse darüber zu sein, daß dieses Mädchen in all ihrer Schmuddeligkeit in ihrem Lieblingssessel saß, im Gegenteil, sie freute sich darüber. Wenn die Heldin ihrer Geschichte aufwachen würde, könnte sie mit ihr sprechen. Sie ging leise auf sie zu und betrachtete sie. Becky schnarchte kurz auf. »Hoffentlich wacht sie von allein auf«, dachte Sara. »Ich will sie nicht wecken. Aber Miss Minchin wird böse werden, wenn sie es herausbekommt. Ich werde noch ein paar Minuten warten.« Sie setzte sich auf den Tisch, wippte mit ihren schlanken Beinen und überlegte, was sie am besten tun sollte. Miss Amelia konnte jeden Augenblick hereinkommen, und dann würde Becky sicherlich ausgeschimpft werden. Ein glühendes Kohlestück, das von einem großen Klumpen abbrach und auf das Kamingitter fiel, riß sie aus ihren Gedanken. Auch Becky fuhr zusammen. Sie erschrak zutiefst, als sie aus ihren süßen Träumen geholt wurde und plötzlich die nette Schülerin erblickte, die ganz nah bei ihr saß. Sie sprang auf und fühlte nach ihrem Häubchen. Als sie merkte, daß es verrutscht war, versuchte sie hastig, es zurechtzurücken. In was für ungeheure Schwierigkeiten hatte sie sich bloß gebracht! Welch eine Unverschämtheit von ihr, im Sessel einer jungen Dame einzuschlafen! Auf der Stelle würde man sie entlassen. »O Miss! O Miss!« stotterte sie. »Verzeihen Sie mir bitte, Miss! O bitte, Miss!« Sara sprang vom Tisch und kam näher. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte sie, so, als ob sie es zu ihresgleichen spräche. »Das macht überhaupt nichts.« »Es war keine Absicht, Miss«, beteuerte Becky. »Es war einfach das wärmende Feuer - und ich war so müde. Es war keine Absicht!« Sara lachte freundlich und legte die Hand auf ihre Schulter. »Du warst müde«, sagte sie, »du konntest nichts dafür. Du bist auch jetzt noch nicht richtig wach.« Becky starrte sie ungläubig an. Noch nie hatte jemand so freundlich und nett zu ihr gesprochen. Sie war es gewohnt, herumgescheucht, gescholten und geohrfeigt zu werden. Und dieses Mädchen in seinem prächtigen Kleid schaute sie an, als ob sie kein bißchen schuldig sei. Als ob sie ein Recht darauf hatte, müde zu sein, ja, sogar ein Recht darauf einzuschlafen! Die Berührung der weichen, kleinen Hand auf ihrer Schulter - noch nie hatte sie so etwas erfahren. »Sind Sie ... sind Sie nicht böse, Miss?« stieß sie zögernd hervor. »Sagen Sie es nicht der Missis?« »Nein«, rief Sara. »Natürlich nicht.« Die Angst in dem rußverschmierten Gesicht erregte plötzlich solches Mitleid in Sara, daß sie es kaum ertragen konnte. Sie legte ihre Hand auf Beckys Wange. »Aber wir sind doch gleich«, sagte sie, »ich bin doch genauso ein kleines Mädchen wie du. Es ist doch nur Schicksal, daß ich nicht du bin und du nicht ich bist!« Becky verstand überhaupt nichts. Solche verwirrenden Gedanken paßten nicht in ihren Kopf, und »Schicksal« kannte sie nur als Unglücksfall, wenn jemand zum Beispiel überfahren wurde oder von einer Leiter fiel und ins Krankenhaus
gebracht werden mußte.
»Ein Schicksal, Miss«, sagte sie aufgeregt und voller Achtung, »wirklich?«
»Ja«, sagte Sara und sah sie einen Augenblick lang verträumt an. Dann
wechselte sie das Thema. Sie merkte, daß Becky nicht verstand, was sie
meinte.
»Bist du mit deiner Arbeit fertig?« fragte sie. »Traust du dich, ein paar Minuten
hier zu bleiben?« Becky schnappte nach Luft.
»Hier, Miss? Ich?«
Sara lief zur Tür, öffnete sie, sah hinaus und lauschte.
»Es ist niemand draußen«, sagte sie, »Wenn du mit den Schlafzimmern fertig
bist, kannst du vielleicht ein bißchen bleiben. Ich dachte .. vielleicht magst du
ein Stück Kuchen.«
Die nächsten zehn Minuten erlebte Becky wie im Taumel. Sara öffnete einen
Schrank und reichte ihr ein dickes Stück Kuchen. Sie schien sich zu freuen, daß
Becky ihn gierig verschlang. Sie redete und stellte Fragen und lachte, bis
Becky allmählich weniger ängstlich wurde und ein- oder zweimal den Mut
aufbrachte, selbst etwas zu fragen, so unverschämt ihr das auch schien.
»Ist das ...« Sie stockte und betrachtete sehnsüchtig das rosarote Kleid, das Sara
heute trug, um im Flüsterton fortzufahren: »Ist das dein schönstes?«
»Es ist eins von meinen Tanzkleidern«, antwortete Sara. »Es ist schön, nicht
wahr?«
Becky war fast sprachlos vor Bewunderung. Voll Ehrfurcht sagte sie: »Ich hab'
mal eine Prinzessin gesehen. Ich stand draußen auf der Straße in der Menge
und hab' die hohen Tiere in die Oper gehen sehen. Und eine haben sie alle
besonders angestarrt. Sie haben geflüstert: >Das ist die Prinzessin.< Das war
eine junge Dame, und rosa von oben bis unten - Kleid und Mantel und Blumen
und alles. Als ich Sie eben auf dem Tisch hab' sitzen sehen, Miss, haben Sie
mich an sie erinnert. Sie haben genauso ausgesehen.«
»Ich habe schon oft gedacht«, sagte Sara nachdenklich, »daß ich gerne eine
Prinzessin wäre; ich möchte wissen, wie das ist. Ich glaube, ich fange einfach
an, so zu tun, als ob ich eine wäre.«
Becky starrte sie voll Bewunderung an, obwohl sie wiederum nichts verstand.
»Becky, du hast doch diese Geschichte vom Meeresprinzen mit angehört?«
fragte Sara sie schnell.
»Ja, Miss«, gab Becky zu und wurde wieder unruhig.
»Ich weiß, das hätte ich nicht dürfen, aber es war so schon, daß ich hab'
zuhören müssen.«
»Es hat mich gefreut, daß du zugehört hast«, sagte Sara. »Wenn man
Geschichten erzählt, gibt es nichts Schöneres, als wenn Leute gerne zuhören.
Ich weiß nicht, warum das so ist. Möchtest du das Ende hören?«
Becky schnappte wieder nach Luft.
»Ich?« rief sie verwundert. »So, als wenn ich eine Schülerin wäre, Miss! Alles
über den Prinzen mit den Sternen in den Haaren?«
Sara nickte.
»Ich fürchte nur, daß jetzt die Zeit zu knapp ist«, sagte sie. »Aber wenn du mir
sagst, um wieviel Uhr du kommst, um mein Zimmer zu machen, will ich
versuchen, hier zu sein, und dir jeden Tag ein bißchen mehr davon erzählen, bis die Geschichte zu Ende ist. Es ist eine schöne, lange Geschichte - und mir fällt immer wieder etwas Neues dazu ein.« »Dann«, seufzte Becky andächtig, »ist es mir egal, wie schwer die Kohlenkästen sind - oder was die Köchin mit mir macht -, wenn ich nur weiter zuhören darf.« »Das darfst du«, sagte Sara. »Ich werde dir die ganze Geschichte erzählen.« Als Becky die Treppe hinunterging, war sie nicht mehr dieselbe Becky, die vorher hinaufgewankt und unter der Last des Kohleneimers fast zusammengebrochen war. Sie hatte ein Extrastück Kuchen in jeder Tasche, und sie hatte Wärme erfahren, nicht nur durch das Kaminfeuer. Etwas anderes war es gewesen, und dieses Etwas war Sara. Als Becky gegangen war, setzte sich Sara in ihrer Lieblingshaltung an den Tisch. Sie stellte ihre Füße auf einen Stuhl, stützte ihre Ellbogen auf die Knie und legte das Kinn in ihre Hände. »Wenn ich eine Prinzessin wäre - eine wirkliche Prinzessin«, murmelte sie, »könnte ich gute Gaben unter das Volk werfen. Aber auch so, wo ich nur so tue, daß ich eine Prinzessin bin, kann ich mir Dinge einfallen lassen, die ich für die anderen tun kann.« Zufrieden lehnte Sara sich zurück. Sie war glücklich über diesen Gedanken ...
Die Diamantmine Kurze Zeit darauf geschah etwas sehr Abenteuerliches. Nicht nur Sara, sondern die ganze Schule war in heller Aufregung, und wochenlang wurde von nichts anderem mehr gesprochen. In einem seiner Briefe hatte Captain Crewe eine aufregende Geschichte erzählt. Ein Freund, der mit ihm zur Schule gegangen war, hatte ihn überraschend in Indien besucht. Er war Besitzer einer großen Landfläche, wo man Diamanten gefunden hatte, und er war nun mit dem Bau einer Mine beschäftigt. Wenn alles wie vorgesehen verlief, würde er unvorstellbare Reichtümer mit nach Hause bringen. Und weil er seinen alten Schulfreund sehr gern hatte, hatte er ihm angeboten, sich als Partner an diesem Projekt zu beteiligen und das Vermögen mit ihm zu teilen. Das war zumindest das, was Sara den Briefen ihres Vaters entnahm. Jedes andere geschäftliche Projekt, und sei es noch so großartig, hätte sie oder die Klasse wenig interessiert; aber das Wort »Diamantmine« klang nach Märchen aus Tausendundeiner Nacht und konnte niemanden gleichgültig lassen. Sara stellte sich die Mine so geheimnisvoll vor, daß sie Bilder für Ermengarde und Lottie malte und Geschichten erfand, Geschichten von dunklen Labyrinthgängen im Inneren der Erde, wo die Wände und Decken der Gewölbe mit funkelnden Edelsteinen besetzt waren, und wo fremde, dunkle Männer sie mit schweren Spitzhacken abschlugen.
Ermengarde gefielen die Geschichten, und Lottie bestand darauf, sie jeden Abend aufs neue zu hören. Lavinia hingegen machte sich lustig darüber und sagte zu Jessie, daß sie an Geschichten von Diamantminen nicht glaube. »Meine Mutter hat einen Diamantring, der vierzig Pfund gekostet hat«, sagte sie. »Und er ist noch nicht einmal groß. Wenn es wirklich ganze Minen voller Diamanten gäbe, wären die Leute so reich, daß es schon unverschämt wäre.« »Vielleicht wird Sara ja mal unverschämt reich«, kicherte Jessie. »Sie ist auch so schon unverschämt, ohne daß sie reich ist«, sagte Lavinia hochnäsig. »Ich glaube, du kannst sie nicht leiden«, meinte Jessie. »Nein, das ist nicht wahr«, brauste Lavinia auf. »Ich glaube bloß nicht an Diamantminen.« »Aber irgendwoher müssen die Leute sie doch haben«, sagte Jessie. »Lavinia«, sie fing wieder an zu kichern, »was meinst du, was Gertrude sagen wird?« »Keine Ahnung; und es ist mir auch egal, wenn es schon wieder um diese Sara geht.« »So ist es. Eine von ihren Einbildungen ist, sie wäre eine Prinzessin. Sie spielt die ganze Zeit Prinzessin - sogar in der Schule. Sie behauptet, säe könnte dann besser lernen. Sie will, daß Ermengarde auch Prinzessin spielt, aber die findet sich zu dick.« »Stimmt ja auch«, sagte Lavinia. »Und Sara ist zu dürr.« Natürlich fing Jessie wieder an zu kichern. »Sie sagt, es käme gar nicht darauf an, wie man aussieht oder was man hat. Es käme nur darauf an, was man denkt und was man tut.« »Ich nehme an, sie denkt, sie könnte eine Prinzessin sein, auch wenn sie eine Bettlerin ist«, sagte Lavinia. »Weißt du was, wir nennen sie ab sofort Eure Königliche Hoheit.« Der Unterricht war zu Ende, und sie saßen noch vor dem Kamin im Klassenzimmer; das war für alle immer die schönste Zeit des Tages, denn Miss Minchin und Miss Amelia zogen sich dann in ihren Salon zurück und tranken Tee. Sie konnten sich nun über vieles ungestört unterhalten, und so manches Geheimnis wurde ausgeplaudert. Gerade als Lavinia etwas sagen wollte, öffnete sich die Tür, und Sara kam herein, zusammen mit Lottie, die immer wie ein treuer Hund hinter ihr hertrottete. »Da ist sie ja, mit diesem schrecklichen Kind«, raunte Lavinia. »Wenn sie sie so schrecklich gern hat, warum nimmt sie sie nicht mit auf ihr eigenes Zimmer? Gleich wird sie wieder rumheulen.« Lottie hatte plötzlich die Lust gepackt, im Schulzimmer zu spielen, und sie hatte ihre »Adoptivmutter« angebettelt, sie mitzunehmen. Sie gesellte sich zu einer Gruppe kleinerer Kinder, die in einer Ecke spielten. Sara hockte sich mit angezogenen Beinen aufs Fensterbrett, schlug ein Buch auf und fing an zu lesen. Es war ein Buch über die Französische Revolution, und bald verlor sie sich in Bildern von den Gefangenen in der Bastille. Sie war mit ihren Gedan ken so weit weg, daß sie es als unangenehm empfand, durch Lotties plötzliches Heulen in die Wirklichkeit zurückgerissen zu werden. Nichts fiel Sara so schwer, als Ruhe zu bewahren, wenn man sie beim Lesen störte. Jeder, der
gerne Bücher liest, kennt das Gefühl der Verwirrung, das ihn in so einem
Moment überkommt. Nicht unvernünftig und bissig zu reagieren ist in so einem
Fall nicht leicht.
Was war passiert? Lottie war über den Fußboden geschlittert und hingefallen
und hatte sich das Knie aufgeschlagen. Sie schrie wie am Spieß und hüpfte auf
einem Bein durchs Klassenzimmer.
»Hör sofort auf, du Jammerbaby! Hör sofort auf!« befahl Lavinia.
»Ich bin kein Jammerbaby - bin ich nicht!« heulte Lottie weiter. »Sara, Sara!«
»Wenn sie nicht aufhört, wird Miss Minchin sie hören«, rief Jessie. »Lottie-
Liebling, ich schenk' dir auch einen Penny!«
»Ich will deinen Penny nicht«, schluchzte Lottie; sie schaute auf ihr Knie
hinunter, bemerkte einen Tropfen Blut und brach von neuem in Geschrei aus.
Sara hatte ihr Buch aufs Fensterbrett gelegt und ihren bequemen Platz
verlassen. Sie eilte durchs Zimmer, kniete nieder und nahm Lottie in den Arm.
»Na komm, Lottie«, sagte sie beschwichtigend. »Was hast du Sara
versprochen?«
»Sie hat gesagt, ich bin ein Jammerbaby«, heulte Lottie Statt dessen weiter.
Sara tupfte sie ab und sagte mit ihrer ruhigen Stimme, die Lottie schon kannte:
»Aber wenn du dauernd heulst, bist du ein Jammerbaby, Lottie-Liebling. Was
hast du mir versprochen?«
Lottie erinnerte sich genau daran, was sie versprochen hatte, zog es aber vor,
aufs neue ihre Stimme zu erheben.
»Ich habe keine Mama«, rief sie. »Ich hab' gar keine Mama.«
»Doch, du hast eine«, sagte Sara aufmunternd. »Weißt du nicht mehr?
Erinnerst du dich nicht, daß Sara deine Mama ist?«
Lottie stand auf und kuschelte sich mit einem schluchzenden Schniefen an sie.
»Komm, setz dich mit mir aufs Fensterbrett«, schlug Sara vor, »dann erzähle
ich dir eine Geschichte.«
»Wirklich?« fragte Lottie. »Erzählst... du mir.. . von der Diamantmine?«
»Diamantmine?« platzte Lavinia heraus. »Dieses schreckliche, verwöhnte
Ding, am liebsten würde ich ihr eine runterhauen.«
Sara stand abrupt auf. »Also«, sagte sie nicht ohne Erregung. »Ich würde dir
gerne eine runterhauen - aber ich will es nicht! Das heißt, ich will - und ich
würde gerne -, aber ich werde es nicht tun. Wir sind keine Gossenkinder. Wir
sind beide alt genug, um besser damit fertig zu werden.«
Das war Lavinias Einsatz. »O ja, Eure Königliche Hoheit«, sagte sie. »Wir sind
Prinzessinnen, wenn mich nicht alles täuscht. Wenigstens eine von uns ist eine.
Die Schule kommt sicher groß in Mode, jetzt, wo Miss Minchin eine Prinzessin
als Schülerin hat.«
Sara fuhr auf. Es sah aus, als wollte sie Lavinia eine Ohrfeige verpassen. Ihr
Spiel, so zu tun, als sei sie eine Prinzessin, entsprang ihrem inneren Wunsch.
Und sie benötigte stets ihre ganze Vorstellungskraft und Phantasie, um sich in
diese Rolle hineinzuversetzen. Es sollte eigentlich ihr Geheimnis bleiben, und
da kam nun diese Lavinia und machte sich vor der ganzen Klasse darüber
lustig. Sie merkte, wie ihr das Blut zu Kopf stieg und in ihren Ohren prickelte.
Aber als Prinzessin bekam man keinen Wutanfall. Sie stand einen Moment
ganz still da. Dann hob sie den Kopf und sagte mit ruhiger, fester Stimme, während alle lauschten: »Es stimmt. Ich tue wirklich manchmal so, als sei ich eine Prinzessin. Ich tue so, weil ich dann versuchen kann, mich wie eine Prinzessin zu benehmen.« Lavinia wußte nicht, was sie dagegen sagen sollte. Schon öfter war es ihr passiert, daß sie nicht sofort die passende Antwort für Sara hatte. Sie sah, wie alle interessiert die Ohren spitzten, als Sara redete. Sie alle mochten nun einmal Prinzessinnen, und sie rückten näher an Sara heran in der Hoffnung, mehr darüber zu erfahren. Lavinia fiel nur noch eine Bemerkung ein, die fast unterging: »Du liebe Zeit!« sagte sie. »Ich hoffe, du vergißt uns nicht, wenn du auf deinen Thron steigst.« »Nein«, sagte Sara nur. Sie stand weiterhin ruhig da und sah Lavinia fest an, bis diese Jessie am Arm packte und sich abwandte. Diejenigen, die auf Sara eifersüchtig waren, nannten sie daraufhin nur noch verächtlich »Prinzessin Sara«, während alle anderen untereinander diese Bezeichnung als Ausdruck ihrer Zuneigung zu ihr gebrauchten. Niemand sprach sie jedoch mit »Prinzessin« anstelle von »Sara« an. Aber ihren Freundinnen gefiel der Titel, und auch Miss Minchin, die davon hörte, erwähnte ihn mehrmals, wenn Eltern sie besuchten. Sie hoffte, er würde ihrer Schule so etwas wie das Ansehen eines königlichen Internats verleihen. Becky erschien kein Titel angemessener für Sara. Ihre Freundschaft, die an jenem Nachmittag begonnen hatte, als sie in Saras Sessel aus dem Schlaf geschreckt war, hatte sich seither vertieft. Miss Minchin und Miss Amelia wußten darüber jedoch sehr wenig. Sie merkten zwar, daß Sara freundlich zu der Küchenmagd war, wußten aber nichts von den wunderbaren Augenblicken, die Becky erlebte, wenn sie mit rasender Geschwindigkeit die oberen Zimmer in Ordnung brachte, um daraufhin in Saras Zimmer zu stürzen und mit einem Seufzer der Freude und Erleichterung den schweren Kohlenkasten fallen zu lassen. Dann wurden Geschichten erzählt, die beim nächsten Mal fortgesetzt wurden. Oder es wurde etwas Nahrhaftes zubereitet und schnell in die Taschen gesteckt, um am Abend hervorgeholt zu werden, wenn Becky in ihr Bett auf dem Dachboden kroch. »Aber ich muß ganz vorsichtig essen, Miss«, sagte sie einmal, »denn, wenn ich Krümel fallen lasse, dann kommen die Ratten und fressen sie.« »Ratten«, rief Sara und erschrak. »Gibt es da oben wirklich Ratten?« »Viele«, sagte Becky wie selbstverständlich. »Auf Speichern gibt's meistens Ratten und Mäuse. Man gewöhnt sich dran, wie sie rumtrippeln. Mir machen sie nichts aus, solange sie nicht über mein Kissen rennen.« »Hh!« Sara schluckte. »Irgendwann gewöhnt man sich an alles«, sagte Becky. »Es bleibt einem nichts anderes übrig als Küchenmagd. Lieber Ratten als Küchenschaben.« »Du hast recht«, sagte Sara. »Mit einer Ratte kann man sich vielleicht eher anfreunden als mit einer Küchenschabe.« An manchen Tagen wagte Becky nicht, sich länger als ein paar Minuten in dem hellen, warmen Zimmer aufzuhalten. Sie konnten dann nur wenige Worte
wechseln. Aber immer verschwand irgend etwas Eßbares in ihrer altmodischen Tasche, die sie an einem Riemen unter ihrem Rock trug. Die Suche nach irgendwelchen nahrhaften Dingen, die sich klein verpacken ließen, war etwas Neues für Sara. Wenn sie ausfuhr oder ausging, schaute sie voll gespannter Ungeduld in die Schaufenster. Als sie das erste Mal zwei oder drei kleine Fleischpasteten mit nach Hause brachte, hatte sie ein Gefühl, als habe sie eine großartige Entdeckung gemacht. Und als Sara sie auspackte, funkelten Beckys Augen. »O Miss!« murmelte sie. »Die machen bestimmt schön satt. Die sind am besten. Kuchen ist auch gut, aber der schmilzt einfach zusammen wie... wenn Sie verstehen, Miss. Die da bleiben lange im Bauch drin.« »Na ja«, sagte Sara zögernd, »ich glaube nicht, daß es so gut wäre, wenn sie immer drin blieben, aber satt machen sie bestimmt.« Sie machten satt, und nicht nur die Pasteten, sondern auch die Brötchen und die Wurst. Mit der Zeit verlor Becky ihr ständiges Hungergefühl, und auch ihre Müdigkeit wich, so daß der Kohlenkasten ihr schon bald nicht mehr gar so unerträglich schwer vorkam. Sara zu sehen war ihr allerdings das Wichtigste, auch ohne Fleischpasteten. Wenn die Zeit auch nur für ein paar Worte reichte, so waren es doch immer freundliche, fröhliche Worte, die im Herzen blieben. Und wenn die Zeit für mehr reichte, gab es die Fortsetzung einer Geschichte. Saras Naturell entsprach es nun mal, liebend gerne anderen zu helfen, ohne daraus etwas Besonderes zu machen. Sie hatte deshalb auch keine Vorstellung davon, wieviel sie der armen Becky bedeutete und was für eine wundervolle Wohltäterin sie für sie war. Wer von Natur aus eine gebende Hand hat, hat auch ein offenes Herz. Und wenn doch einmal die Hände leer sind, das Herz bleibt offen, und er kann aus dem Herzen geben: Liebe, Trost und Fröhlichkeit. Und manchmal ist ein frohes, liebes Lachen mehr wert als alles andere. Für Becky war Lachen fast etwas Unbekanntes in ihrem armseligen und harten Leben gewesen. Erst Sara brachte sie zum Lachen und lachte viel mit ihr. Und obwohl es Becky selbst nicht bewußt war, machte sie auch das Lachen so satt wie die Fleischpasteten und andere Köstlichkeiten aus der Küche. Ein paar Wochen vor ihrem elften Geburtstag bekam Sara einen Brief von ihrem Vater, der anders war als alle bisherigen. Es ging ihm nicht besonders gut, anscheinend war er mit Arbeit überlastet, die mit der Diamantmine ver bunden war. Weißt du kleine Sara, schrieb er, dein Papa ist einfach kein Geschäftsmann, und Zahlen und Schriftstücke sind ihm lästig. Er versteht nicht viel davon, und es ist alles so überwältigend neu. Wenn ich nicht dieses Fieber hätte, würde ich nicht die halbe Nacht wach hegen und mich von einer Seite auf die andere werfen. Wenn meine kleine Missis hier wäre, würde sie mir sicher so manchen ernsten, guten Rat geben. Habe ich recht, kleine Missis? Schon immer hatte er sie scherzhaft »kleine Missis« genannt, um auf ihre altkluge Art anzuspielen. Für ihren Geburtstag hatte er die schönsten Vorbereitungen getroffen. Unter anderem hatte er in Paris eine neue Puppe in Auftrag gegeben, deren Garderobe
alles andere an Glanz übertreffen sollte. Sara hatte ein merkwürdiges Gefühl, als sie auf seinen Brief antwortete, in dem er wissen wollte, ob sie mit diesem Geschenk einverstanden sei. Ich werde ah, schrieb sie. Weißt du, ich werde nie wieder eine Puppe bekommen. Dies wird wohl meine letzte Puppe sein. Es ist wie ein feierliches Ereignis. Wenn ich dichten könnte, würde ich ein schönes Gedicht schreiben, das hieße »Eine letzte Puppe«. Aber ich kann nicht dichten. Ich habe es versucht und mußte darüber lachen. Es klang alles andere als nach Watts oder Coleridge oder Shakespeare. Niemand könnte mir jemals Emily ersetzen, aber auch eine letzte Puppe werde ich sehr verehren; und die Schulkinder werden sie sehr mögen. Sie alle haben Puppen gern, obwohl die größeren, die schon fast fünfzehn sind, behaupten, sie seien zu erwachsen dazu. Captain Crewe hatte rasende Kopfschmerzen, als er diesen Brief in seinem Bungalow in Indien las. Auf dem Tisch vor ihm stapelten sich die Papiere und Briefe, die ihn in Besorgnis und Unruhe versetzten, und dennoch mußte er so lachen wie lange nicht mehr. »Oh«, sagte er, »sie wird mit jedem Jahr lustiger. Gebe Gott, daß sich dieses Geschäft von selbst in Ordnung bringt und mich freiläßt, um sie zu besuchen. Was würde ich darum geben, wenn sie jetzt hier wäre und ihre Arme um meinen Hals schlingen würde! Was würde ich darum geben!« Es sollte eine großartige Geburtstagsfeier geben. Das Klassenzimmer sollte geschmückt werden, und es war eine Party vorgesehen. Die Geschenke sollten feierlich ausgepackt werden, und ein prachtvolles Festmahl sollte in Miss Minchins hochheiligem Salon stattfinden. Als der Tag herangerückt war, befand sich das ganze Haus in Aufregung. Es gab noch so viele Vorbereitungen zu treffen. Das Klassenzimmer wurde mit Kränzen und Stechpalmen geschmückt, die Schreibtische zur Seite geschafft und die Bänke ringsherum an der Wand aufgestellt und mit roten Bezügen versehen. Als Sara an diesem Morgen in ihr Wohnzimmer ging, fand sie auf dem Tisch ein kleines, in braunes Papier eingewickeltes Päckchen. Sie wußte, es war ein Geschenk, und sie ahnte, von wem es stammte. Sie öffnete es ganz vorsichtig. Es war ein eckiges Nadelkissen aus nicht ganz sauberem, rotem Flanell, und darin steckten schwarze Nadeln, die zusammen die Worte »Herzlichen Glückwunsch« ergaben. »Oh!« rief Sara überrascht, und ihr wurde ganz warm ums Herz. »Was hat sie sich für eine Mühe gemacht! Es gefällt mir so sehr, es ... es macht mich ganz traurig.« Mit einem Mal stutzte sie. Auf der Unterseite des Nadelkissens war eine Karte angebracht, auf der in sauberen Buchstaben stand: »Miss Amelia Minchin«. Sara drehte es immer wieder herum. »Miss Amelia!« sagte sie verwundert zu sich selbst. »Wie ist das möglich?« In diesem Augenblick hörte sie, wie jemand vorsichtig die Tür aufstieß. Becky spähte herein. Auf ihrem Gesicht lag ein liebevolles, glückliches Lächeln. Sie schlurfte herein und zupfte aufgeregt an ihren Fingern.
»Gefällt es Ihnen, Miss Sara?« fragte sie. »Ja?« »Ob es mir gefällt?« rief Sara. »Du liebe kleine Becky, du hast es ganz allein gemacht!« Becky schniefte hektisch, aber ihre Augen waren feucht vor Freude. »Es ist bloß aus Flanell, und der ist auch nicht neu. Aber ich hab' Ihnen was schenken wollen. Ich hab' es nachts gemacht und hoffe, Sie können sich vorstellen, daß es aus Samt ist mit Diamantnadeln drin. Ich hab's versucht, als ich es gemacht hab'. Und wegen der Karte, Miss«, sagte sie zweifelnd, »es war doch nicht schlimm, daß ich die aus der Mülltonne geholt hab', oder? Miss Amelia hat sie weggeschmissen. Ich hab' selber kein Papier gehabt, und ich weiß, daß es kein richtiges Geschenk ist ohne Karte dran. Deswegen hab' ich die von Miss Amelia genommen.« Sara flog ihr erleichtert um den Hals. Warum sie einen Kloß in der Kehle hatte, wußte sie selbst nicht. »O Becky!« rief sie mit einem eigenartigen Lächeln. »Ich hab' dich so lieb, Becky!« »O Miss!« stieß Becky hervor. »Danke, Miss, danke; Sie sind zu gütig. Es ... es war ja kein neuer Flanell.«
Noch einmal die Diamantmine Am Nachmittag betrat Sara das mit Stechpalmenzweigen geschmückte Klassenzimmer, gefolgt von einer Art Prozession. Miss Minchin, die Sara an der Hand führte, trug ihr vornehmstes Seidenkleid. Es folgten ein Diener mit einer Schachtel, in der sich das Geburtstagsgeschenk, die Puppe, befand, ein Hausmädchen mit einer zweiten Schachtel, und Becky, mit sauberer Schürze und einem neuen Häubchen, die einen dritten Karton vor sich hertrug. Sara wäre lieber so wie immer ins Klassenzimmer gestürmt, aber Miss Minchin hatte sie vorher noch extra zu sich gerufen, um ihr ihre Vorstellungen von diesem Tag kundzutun. »Das ist ein ganz besonderes Ereignis«, sagte sie. »Und deshalb möchte ich, daß es gebührend gefeiert wird.« Sara wurde also feierlich ins Klassenzimmer geleitet. Sie war verlegen, als die großen Mädchen sie am Eingang anstarrten und sich gegenseitig am Ellbogen stupsten. Die kleineren rutschten bereits voll Ungeduld auf ihren Plätzen hin und her. »Ruhe, meine Damen!« rief Miss Minchin, als allgemeines Gemurmel entstand. »James, leg die Schachtel auf den Tisch und nimm den Deckel ab. Emma, leg du deine auf den Stuhl. Becky!« rief sie streng. Becky stand selbstvergessen vor Aufregung da und grinste Lottie an, die vor unbändiger Erwartung herumzappelte. Sie ließ beinahe die Schachtel fallen, so sehr erschreckte Miss Minchins scharfer Ton sie. Sie knickste nervös, um sich zu entschuldigen. Lavinia und Jessie fanden dies wiederum so komisch, daß sie zu kichern anfingen.
»Es steht dir nicht zu, diese jungen Damen so anzusehen«, tadelte Miss
Minchin. »Das scheinst du wohl vergessen zu haben. Stell die Schachtel ab.«
Becky gehorchte verängstigt und eilte zur Tür.
»Ihr könnt gehen«, verkündete Miss Minchin und winkte die Diener hinaus.
Becky trat respektvoll zur Seite, um den oberen Dienern den Vortritt zu lassen.
Sie konnte dabei nicht umhin, einen sehnlichen Blick auf die Schachtel auf
dem Tisch zu werfen. Irgend etwas aus blauem Samt lugte zwischen dem
Seidenpapier hervor.
»Bitte sehr, Miss Minchin«, sagte Sara plötzlich, »darf Becky bleiben?«
Es war eine sehr verwegene Frage. Miss Minchin zuckte leicht zusammen. Sie
setzte ihre Brille auf und starrte ihre Musterschülerin verwirrt an.
»Becky?« rief sie ungläubig aus. »Ich bitte dich, liebste Sara!«
Sara ging einen Schritt auf sie zu.
»Ich möchte es gerne, weil ich weiß, daß sie die Geschenke sehen will«,
erklärte sie. »Wissen Sie, sie ist auch nur ein kleines Mädchen.«
Miss Minchin war schockiert. Sie starrte von einer zur anderen.
»Aber liebe Sara«, sagte sie. »Becky ist die Küchenmagd. Und eine
Küchenmagd - äh - ist nicht dasselbe wie ein kleines Mädchen.«
So hatte sie die Sache noch nie gesehen. Eine Küchenmagd war so etwas wie
eine Maschine, die Kohleneimer schleppte und Feuer machte.
»Aber es würde ihr so viel Freude machen«, beharrte Sara. »Bitte lassen Sie sie
bleiben, es ist doch mein Geburtstag.«
Würdevoll sagte Miss Minchin: »Wenn du es dir als Geburtstagsgeschenk
wünschst - nun gut. Rebecca, bedanke dich bei Miss Sara für ihre große
Liebenswürdigkeit.«
Becky stand in der Ecke und drehte voll freudiger Erregung an ihrem
Schürzenzipfel herum. Sie trat hervor und knickste höflich, während sie mit
Sara einen freundschaftlichen, verständnisvollen Blick austauschte.
»O bitte, Miss! Ich bin so dankbar, Miss!« Ihre Worte überstürzten sich fast.
»Ich wollte so gern die Puppe sehen, Miss. Danke, Miss. Und danke, Ma'am«,
wobei sie sich zu Miss Minchin wandte und einen verängstigten Knicks
machte, »daß Sie es mir erlauben.«
Miss Minchin machte eine gebieterische Handbewegung in Richtung auf die
Ecke neben der Tür.
»Geh und stell dich dorthin«, befahl sie. »Aber nicht zu nah bei den jungen
Damen.«
Becky ging und strahlte. Es machte ihr nichts aus, daß sie in die Ecke geschickt
wurde. Hauptsache, sie durfte im Raum bleiben, statt in die Küche zu müssen,
während oben gefeiert wurde. Es machte ihr auch nichts aus, daß Miss Minchin
sich auf unheilverkündende Art räusperte und anhub: »Nun, meine Damen, ich
habe euch ein paar Worte zu sagen . . .«
»Das klingt nach einer Rede«, flüsterte eines der Mädchen. »Wenn das bloß
schon vorbei wäre.«
Auch Sara hatte ein ungutes Gefühl. Da es ihr Geburtstag war, war
anzunehmen, daß die Rede ihr gelten würde. Es ist nicht besonders angenehm,
in einem Klassenzimmer zu stehen und sich eine Rede über sich selbst anhören
zu müssen.
»Wie ihr wißt, meine Damen«, begann Miss Minchin ihre Rede, »wie ihr wißt,
feiert unsere liebe Sara heute ihren elften Geburtstag.«
»Unsere liebe Sara!« äffte Lavinia sie nach.
»Einige von euch sind auch schon elf Jahre alt geworden, aber Saras
Geburtstage unterscheiden sich doch ziemlich von anderen Geburtstagen.
Wenn sie älter ist, wird sie Erbin eines großen Vermögens, und es wird ihre
Aufgabe sein, darüber in lobenswerter Weise zu verfügen.«
»Die Diamantmine«, flüsterte Jessie kichernd.
Sara hörte es nicht. Während sie jedoch ihre Augen mit festem Blick auf Miss
Minchin gerichtet hielt, merkte sie, wie ihr langsam heiß wurde. Denn immer,
wenn Miss Minchin das Thema Geld ansprach, haßte sie sie irgendwie.
»Als ihr lieber Herr Papa, Captain Crewe, sie von Indien hierher brachte und in
meine Obhut gab«, fuhr Miss Minchin fort, »sagte er zum Scherz zu mir: >Ich
fürchte, sie wird sehr reich werden, Miss Minchin.< Und ich antwortete ihm:
>Ihre Erziehung in meiner Schule, Captain Crewe, wird wie die Krönung ihres
Vermögens sein.< Sara ist meine beste Schülerin. Ihr Französisch und ihre
Tanzkunst sind eine Ehre für meine Schule. Ihre Manieren - die ihr zum Anlaß
genommen habt, sie >Prinzessin Sara< zu nennen - sind tadellos. Ihre
Liebenswürdigkeit stellt sie unter Beweis, indem sie für euch diese Party gibt.
Ich hoffe, ihr wißt ihre Großzügigkeit zu schätzen. Ich wünsche, daß ihr ihr
eure Anerkennung aussprecht, indem ihr alle zusammen laut ausruft: >Danke,
Sara!<«
Die ganze Klasse stand auf, genau wie an jenem Morgen, den Sara noch so gut
in Erinnerung hatte.
»Danke, Sara!« ertönte es, während Lottie dabei aufgeregt auf und ab hüpfte.
Sara war verlegen. Sie machte eine nette, höfliche Verbeugung.
»Ich danke euch«, sagte sie, »daß ihr alle gekommen seid.«
»Sehr hübsch, Sara«, sagte Miss Minchin zustimmend, »wirklich sehr hübsch.
So benimmt sich eine richtige Prinzessin, wenn das Volk applaudiert. Lavinia«,
rief sie scharf, »was ist das für ein verächtlicher Ton. Wenn du auf deine
Mitschülerin eifersüchtig bist, möchte ich dich doch bitten,
deinem Gefühl einen damenhaften Ausdruck zu verleihen. Ich werde euch
alleine lassen.«
Im selben Augenblick, in dem sie aus dem Raum gerauscht war, brach auch der
Bann, den sie wie immer um sich verbreitete. Kaum war die Tür zu, sprangen
alle von ihren Plätzen auf und rannten zu den Geschenken hin. Sara beugte sich
freudestrahlend über eine der Schachteln.
»Hier sind Bücher drin, das weiß ich«, sagte sie.
Die kleineren Kinder brachen in erstauntes Gemurmel aus, und Ermengarde
machte ein entgeistertes Gesicht.
»Schickt dein Papa dir etwa Bücher zum Geburtstag?« rief sie aus. »Der ist ja
genauso schlimm wie meiner! Laß lieber zu, Sara.«
»Aber ich mag Bücher«, lachte Sara, wandte sich jedoch dem größten Paket zu.
Als sie die kostbare Puppe herausnahm, von der ihr Vater ihr geschrieben hatte,
riefen alle verzückt »Oh!« und »Ach!« und traten vor Bewunderung einen
Schritt zurück. »Sie ist ja fast so groß wie Lottie«, stieß jemand hervor. Lottie klatschte in die Hände und fing an umherzutanzen. »Seht nur! Sie ist angezogen wie fürs Theater«, staunte Lavinia. »Und ihr Umhang hat einen Saum aus Hermelinpelz!« »Hier ist ihr Koffer«, sagte Sara. »Wir wollen mal sehen, was da alles drinnen ist.« Sie setzte sich auf den Fußboden und schloß den Koffer auf. Die Kinder umringten sie lärmend, als sie ein Fach nach dem anderen öffnete und den Inhalt herausholte. Es hatte in der Klasse noch nie so einen Aufruhr gegeben. Da waren Spitzenkragen, seidene Strümpfe und Taschentücher. Da war ein Schmuckkästchen mit einer Halskette und einem Diadem darin, die aussahen, als seien sie aus lauter echten Diamanten. Da waren ein langes Seehundfell und ein Muff. Da waren Ballkleider, Ausgehkleider und Festtagskleider, Hüte, Abendkleider und Fächer. Selbst Lavinia und Jessie vergaßen, daß sie zu alt waren für Puppen. Staunend fassten sie dieses und jenes an, um es genauer in Augenschein nehmen zu können. »Stellt euch mal vor«, sagte Sara, während sie am Tisch stand und einen großen schwarzen Samthut der gelassen lächelnden Besitzerin all dieser Herrlichkeiten auf den Kopf setzte, »- stellt euch mal vor, sie versteht uns und ist stolz, so bewundert zu werden.« »Immer mußt du dir irgendwas vorstellen«, bemerkte Lavinia von oben herab. »Stimmt.« Sara ließ sich nicht provozieren. »Es macht mir Spaß. Es gibt nichts, was mehr Spaß macht. Es ist so, als wenn man eine Fee wäre. Wenn man sich etwas ganz fest vorstellt, ist es, als ob es wahr wäre.« »Ist ja auch kein Kunststück, sich Dinge vorzustellen, wenn man alles hat«, sagte Lavinia. »Könntest du dir auch Dinge vorstellen, wenn du bettelarm wärst und in einer Dachkammer leben müßtest?« Sara hörte einen Moment auf, die Straußenfedern in Ordnung zu bringen. Sie dachte nach. »Ich glaube, ich könnte es«, sagte sie schließlich. »Wenn man bettelarm wäre, müßte man sich sogar ständig Dinge vorstellen. Wer arm ist, braucht viel Phantasie. Aber es ist bestimmt nicht leicht.« Sie hatte kaum ausgeredet, als Miss Amelia eintrat. »Sara«, sagte sie, »Mr. Barrow, der Anwalt deines Vaters, hat angerufen, um Miss Minchin aufzusuchen. Er will mit ihr unter vier Augen sprechen. Da aber das Festessen im Salon aufgetischt ist, müßte sie ihn im Klassenzimmer empfangen. Es wird also das beste sein, ihr kommt jetzt gleich herüber.« Ein Festessen war natürlich immer willkommen, so daß die Freude groß war. Miss Amelia hieß die Kinder sich ordentlich hintereinander aufstellen und ging dann mit Sara an der Spitze voran. Die Puppe, die Sara von ihrem Vater geschenkt bekommen hatte, blieb mit ihrer ganzen prachtvollen Garderobe auf einem Stuhl zurück. Becky, die für das Festmahl nicht vorgesehen war, hatte noch die Ungehörigkeit besessen, einen Moment stehenzubleiben und einen Blick auf all diese Herrlichkeiten zu werfen - es war wirklich eine Ungehörigkeit.
»Geh zurück an deine Arbeit, Becky«, hatte Miss Amelia gebieterisch gesagt; Becky war jedoch stehengeblieben, um ehrfurchtsvoll zuerst einen Muff und dann einen Mantel aufzuheben, und während sie beides bestaunt hatte, hatte sie plötzlich Miss Minchin an der Türschwelle stehen sehen. Vor Schreck und Angst, wegen ihrer Dreistigkeit ausgeschimpft zu werden, schlüpfte sie blitzschnell unter den Tisch, wo die Tischdecke sie verdeckte. Miss Minchin kam herein in Begleitung eines kleinen, farblosen Mannes mit scharfen Gesichtszügen, der ziemlich beunruhigt wirkte. Miss Minchin selbst machte ebenfalls einen verstörten Eindruck und starrte den Mann verwirrt an. Sie setzte sich mit steifer Förmlichkeit, wies auf einen Stuhl und sagte: »Bitte, nehmen Sie doch Platz, Mr. Barrow.« Mr. Barrow setzte sich nicht sofort. Saras neue Puppe und alles, was um sie herum lag, hatte offensichtlich seine Aufmerksamkeit erregt. Er rückte seine Brille zurecht und betrachtete alles mit missbilligender Nervosität. Die Puppe schien dies überhaupt nicht zu kümmern. Sie saß nur aufrecht da und starrte gleichgültig zurück. »Einhundert Pfund«, bemerkte Mr. Barrow knapp. »Alles aus teuerstem Material, angefertigt bei einer Pariser Modistin. Er hat wirklich das Geld mit vollen Händen ausgegeben, dieser junge Mann.« Miss Minchin war gekränkt. Dies bedeutete eine Herabsetzung ihres wichtigsten Klienten und war einfach eine Frechheit. Selbst Anwälte hatten nicht das Recht, unverschämt zu sein. »Entschuldigen Sie, Mr. Barrow«, sagte sie steif. »Ich verstehe nicht recht.« »Geburtstagsgeschenke«, sagte Mr. Barrow mit demselben kritischen Unterton, »für ein elfjähriges Kind! Eine verrückte Extravaganz, so nenne ich das.« Miss Minchin richtete sich noch steifer auf. »Captain Crewe ist ein Mann des Glücks«, sagte sie. »Allein die Diamantmine ...« Mr. Barrow fuhr herum. »Diamantmine!« rief er aus. »Es gibt keine! Es hat nie eine gegeben!« Miss Minchin erhob sich von ihrem Stuhl. »Was?« rief sie. »Wie meinen Sie das?« »Auf jeden Fall«, sagte Mr. Barrow bissig, »wäre es wohl besser gewesen, es hätte nie eine gegeben.« »Nie eine Diamantmine?!« stieß Miss Minchin hervor und suchte an einer Stuhllehne Halt. Es war, als ob ein herrlicher Traum zerrann. »Diamantminen bringen öfter Ruin mit sich als Reichtum«, sagte Mr. Barrow kalt. »Wer sich einem guten Freund anvertraut, ohne selbst ein Geschäftsmann zu sein, sollte sich besser nicht einlassen auf Diamantminen, Goldminen oder sonstige Minen, in die dieser gute Freund sein Geld stecken will. Der verstorbene Captain Crewe ...« Miss Minchin erschrak. »Der verstorbene Captain Crewe!« rief sie aus. »Der verstorbene*. Sie sind doch wohl nicht gekommen, um mir mitzuteilen, Captain Crewe sei...« »Er ist tot, Ma'am«, entgegnete Mr. Barrow schroff. »Starb an Dschungelfieber und geschäftlichen Sorgen. Das Dschungelfieber allein hätte er wohl überlebt,
wenn nicht die geschäftlichen Sorgen ihn verrückt gemacht hätten. Und diese
Sorgen hätten ihn nicht fertiggemacht, wenn nicht das Dschungelfieber
dazugekommen wäre. Captain Crewe ist tot!«
Miss Minchin fiel auf ihren Stuhl. Die Worte, die sie eben vernommen hatte,
versetzten sie in höchste Erregung.
»Aber... was für geschäftliche Sorgen waren das?« fragte sie. »Sprechen Sie!«
»Diamantminen«, antwortete Mr. Barrow, »und gute Freunde ... und Ruin.«
Miss Minchin war fassungslos.
»Ruin!« keuchte sie.
»Alles weg. Dieser junge Mann hatte zuviel Geld. Der gute Freund war
besessen von der Idee der Diamantmine. Er steckte sein Geld und das ganze
Geld von Captain Crewe hinein. Dann machte sich der gute Freund aus dem
Staub. Captain Crewe lag bereits im Fieber, als die Nachricht ihn erreichte. Der
Schock war zuviel für ihn. Er phantasierte von seiner kleinen Tochter und starb
im Delirium -und hinterließ keinen einzigen Penny.«
Jetzt endlich verstand Miss Minchin. Das war der größte Schock ihres Lebens.
Mit einem Schlag war es aus mit ihrer Musterschülerin und ihrem
Musterklienten. Sie hatte das Gefühl, als habe man sie geschlagen und beraubt.
Alle drei waren gleichermaßen schuldig: Captain Crewe, Sara und Mr. Barrow.
»Soll das heißen«, schrie sie, »er hat absolut nichts hinterlassen? Soll das
heißen, daß Sara kein Vermögen haben wird? Daß das Kind arm ist? Daß sie
mir als Almosenempfängerin überlassen bleibt statt als reiche Erbin?«
Mr. Barrow war ein geschäftstüchtiger Mann, und er hielt es für angebracht,
ohne Aufschub klare Verhältnisse zu schaffen, um sich weiterer Verantwortung
zu entziehen.
»Sie ist ohne Zweifel arm«, sagte er. »Und ohne Zweifel bleibt sie Ihnen
überlassen, Ma'am, denn, soweit wir wissen, hat sie nirgendwo auf der Welt
Verwandte.«
Miss Minchin sprang auf. Es sah aus, als wollte sie die Tür öffnen und
hinauseilen, um sofort die Feierlichkeiten zu beenden, die gerade in vollem
Gange waren.
»Das ist ungeheuerlich!« rief sie. »In diesem Moment benutzt sie meinen
Salon, gekleidet in Seide und Spitzenpetticoats, und gibt eine Party!«
»Wenn sie eine Party gibt, dann auf Ihre Kosten, Ma'am«, sagte Mr. Barrow
gelassen. »Barrow und Skipworth haben keinerlei Verpflichtungen mehr. Nie
ist ein Besitz so gründlich ausgelöscht worden. Captain Crewe hat nicht einmal
unsere letzte Rechnung bezahlt - und die war beträchtlich.«
Miss Minchin trat voller Entrüstung auf ihn zu. Etwas Schlimmeres konnte
wohl niemandem passieren.
»Und das passiert mir!« schrie sie. »Ich war mir seiner Zahlungen so sicher,
daß ich alle möglichen lächerlichen Einkäufe für das Kind veranstaltet habe.
Ich habe die Rechnung für diese lächerliche Puppe und ihre lächerlichen, ex
travaganten Kleider bezahlt. Das Kind sollte alles bekommen, was es wollte.
Sie hat eine Kutsche und ein Pony und ein Kindermädchen, und ich habe seit
dem letzten Scheck alles, alles selbst bezahlt.«
Mr. Barrow hatte offenbar nicht die Absicht, sich weiterhin Miss Minchins
Klagen anzuhören, jetzt, wo er seinen Auftrag erfüllt und die Tatsachen auf den Tisch gelegt hatte. Ihre Wut interessierte ihn nicht. »Sie sollten keine weiteren Ausgaben mehr auf sich nehmen, Ma'am«, bemerkte er, »außer, Sie wollen der jungen Dame alles schenken. Niemand wird es Ihnen danken. Wie gesagt, sie besitzt keinen Penny mehr.« »Was soll ich nur tun?« fragte Miss Minchin verzweifelt. So, als sei es einzig und allein Mr. Barrows Pflicht, die Sache zu bereinigen. »Was soll ich nur tun?« »Da gibt es nichts zu tun«, sagte Mr. Barrow knapp, klappte seine Brille zusammen und steckte sie in seine Tasche. »Captain Crewe ist tot. Das Kind hat nichts mehr. Niemand ist verantwortlich für die Kleine außer Ihnen.« »Ich bin nicht für sie verantwortlich, und ich weigere mich, verantwortlich gemacht zu werden!« Miss Minchin wurde krebsrot vor Zorn. Mr. Barrow machte sich daran aufzubrechen. »Ich habe damit nichts zu tun, Madam«, sagte er kühl. »Barrow und Skipworth tragen keine Verantwortung. Es tut mir leid, daß das passiert ist.« »Wenn Sie glauben, Sie könnten das Kind mir andrehen, irren Sie sich gewaltig«, keuchte Miss Minchin. »Man hat mich beraubt und betrogen. Auf die Straße werde ich es setzen!« Wenn sie nicht so wütend gewesen wäre, hätte sie sich mit ihren Äußerungen mehr zurückgehalten. Nun spürte sie bereits die Belastung, ein extravagant erzogenes Kind, dem sie eigentlich immer feindselig gegenüber gesonnen war, am Hals zu haben. Miss Minchin verlor jegliche Kontrolle über sich. Mr. Barrow ging zur Tür. »Das würde ich nicht tun, Madam«, bemerkte er. »Es würde kein gutes Licht auf Sie werfen. Internat in Skandal verwickelt. Schülerin mittellos und einsam verstoßen. Das sind keine guten Schlagzeilen.« Er war ein tüchtiger Geschäftsmann, und er wußte, was er sagte. Er wußte auch, daß Miss Minchin eine Geschäftsfrau war und weitsichtig genug, um die Wahrheit zu sehen. Sie konnte es sich nicht leisten, etwas zu tun, was ihr den Ruf einer grausamen und hartherzigen Frau einbringen würde. »Besser, Sie behalten die Kleine und machen sie sich zunutze«, sagte er. »Sie ist ein kluges Kind, glaube ich. Sie können eine Menge aus ihr herausholen, wenn sie älter ist.« »Ich werde eine Menge aus ihr herausholen, bevor sie älter wird!« rief Miss Minchin aus. »Da bin ich ganz sicher, Ma'am«, sagte Mr. Barrow mit finsterem Lächeln. »Da bin ich ganz sicher. Guten Tag!« Er verbeugte sich und ging. Miss Minchin stand regungslos da und starrte auf die Tür. Was er gesagt hatte, war ganz richtig. Das wußte sie. Es gab keine Hilfe. Ihre Musterschülerin war zu einem Nichts zusammengeschmolzen und hatte nur ein mittelloses, einsames kleines Mädchen zurückgelassen. So viel Geld hatte sie ausgelegt, das nun verloren und nicht zurückzubekommen war. Das Gefühl der Kränkung raubte ihr den Atem. Da brach eine Flut fröhlicher Stimmen über sie herein, die aus ihrem Salon kamen. Wenigstens würde sie den Festschmaus unterbinden. Aber als sie auf die Tür zumarschierte, wurde diese von Miss Amelia geöffnet,
die vor Schreck einen Schritt zurückwich, als sie Miss Minchins wütendes
Gesicht sah.
»Was ist bloß los, Schwester?« stieß sie hervor.
Miss Minchin antwortete in scharfem Ton: »Wo ist Sara Crewe?«
Miss Amelia war verwirrt. »Sara?« stammelte sie. »Na, sie ist natürlich mit den
anderen Kindern im Salon.«
»Hat sie ein schwarzes Kleid in ihrer Luxusgarderobe?« fragte Miss Minchin
mit bitterer Ironie.
»Ein schwarzes Kleid?« stotterte Miss Amelia. »Ein schwarzes!«
»Sie hat Kleider in allen möglichen Farben, ich weiß. Hat sie auch ein
schwarzes?«
Miss Amelia wurde blaß.
»Nein ... ja!« sagte sie. »Aber es ist ihr zu klein. Sie hat nur das alte Samtkleid,
und aus dem ist sie herausgewachsen.«
»Geh und sag ihr, sie soll dieses idiotische rosa Seidenkleid ausziehen und statt
dessen das schwarze anziehen, egal, ob es ihr zu klein ist oder nicht. Jetzt ist
Schluß mit diesem Theater!«
Miss Amelia fing händeringend an zu weinen.
»O Schwester!« schniefte sie. »O Schwester! Was ist bloß passiert?«
Miss Minchin redete nicht um den Brei herum.
»Captain Crewe ist tot«, sagte sie. »Er ist gestorben, ohne einen Penny zu
hinterlassen. Dieses verdorbene, verhätschelte, überspannte Kind bleibt mir als
Almosenempfängerin überlassen.«
Miss Amelia fiel schwer in den nächsten Sessel.
»Hunderte von Pfund habe ich für sie ausgegeben, für nichts als Unsinn.
Keinen Penny werde ich davon wiedersehen. Mach dieser lächerlichen Party
ein Ende. Geh und sag ihr, sie soll sofort das andere Kleid anziehen.«
»Ich?« stammelte Miss Amelia ängstlich. »Muß ich es ihr jetzt sagen?«
»Jetzt sofort!« befahl Miss Minchin grimmig. »Sitz nicht da und starre mich an
wie eine dumme Gans. Geh!«
Die arme Miss Amelia war daran gewöhnt, »dumme Gans« genannt zu werden.
Irgendwie hatte Miss Minchin darin wohl auch recht, denn Miss Amelia tat oft
genug Dinge, die ihre Schwester nicht selbst tun wollte.
Es war schon beschämend, in die Runde fröhlicher Kinder hineinzuplatzen, um
der Gastgeberin mitzuteilen, daß sie soeben bettelarm geworden sei und nach
oben gehen solle, um sich ein altes, schwarzes Kleid anzuziehen, das ihr zu
klein war. Das war sicherlich nicht der richtige Zeitpunkt, um Fragen zu
stellen.
Miss Amelia rieb sich mit dem Taschentuch die Augen, bis sie ganz rot waren.
Dann stand sie auf und ging hinaus, ohne den Mut aufzubringen, noch ein Wort
zu sagen. Wenn ihre ältere Schwester so dreinblickte und so redete wie eben,
war es das klügste, ihren Anweisungen ohne Kommentar Folge zu leisten.
Miss Minchin schritt durch den Raum. Ohne sich dessen bewußt zu sein,
sprach sie laut vor sich hin. Im Laufe des ganzen letzten Jahres hatte sie sich
Gedanken über die Diamantmine gemacht und sich Chancen für sich selbst
ausgerechnet. Warum sollten Internatsbesitzer nicht auch durch
Geschäftsanteile ihr Glück machen können, mit Hilfe von jemand, der eine
Mine besaß. Und nun blühte ihr nicht etwa Gewinn, sondern Verlust.
»Prinzessin Sara, in der Tat!« sagte sie verächtlich. »Das Kind ist doch eher
verhätschelt worden wie eine Königin!«
Sie rauschte ärgerlich am Ecktisch vorbei und fuhr im nächsten Moment
zusammen, als sie ein lautes, schluchzendes Schniefen vernahm, das unter dem
Tisch hervorkam.
»Was ist das?« rief sie wütend.
Wieder war das laute, schluchzende Schniefen zu hören. Sie blieb stehen und
hob die Tischdecke hoch.
»Wie kannst du es wagen!« schrie sie wie von Sinnen. »Was fällt dir ein!
Komm sofort heraus!«
Es war die arme Becky, die hervorkroch; ihr Häubchen war auf einer Seite
eingedrückt, und ihr Gesicht war gerötet vom unterdrückten Weinen.
»Bitte, ich bin's, Mum«, sagte Becky mit zittriger Stimme. »Ich weiß, das hätt'
ich nicht tun dürfen. Aber ich hab' mir die Puppe angeschaut, Mum - und dann
Angst gekriegt, wie Sie plötzlich reingekommen sind. Da bin ich unter den
Tisch.«
»Hast du da etwa die ganze Zeit gesessen und gelauscht?« rief Miss Minchin.
»Nein, Mum«, protestierte Becky und knickste entschuldigend. »Nicht
gelauscht, ich hab' gedacht, ich kann verschwinden, ohne daß Sie's merken.
Aber es ging nicht, und da hab' ich dableiben müssen. Aber ich hab' nicht ge
lauscht, Mum - das würd' ich nie tun. Aber ich hab' alles mitgekriegt, das ist
nicht anders gegangen.«
Plötzlich schien es, als hätte sie alle Angst vor der schrecklichen Lady verloren.
Sie brach in Tränen aus.
»O bitte, Mum!« sagte sie. »Ich kann mir denken, daß Sie mich jetzt
rausschmeißen, aber es tut mir so leid um die arme Miss Sara, es tut mir so
leid!«
»Raus mit dir!« befahl Miss Minchin.
Becky knickste noch einmal, und die Tränen rannen ihr hemmungslos über das
Gesicht.
»Ja, Mum, ich geh', Mum«, sagte sie zitternd, »aber ich möcht' noch fragen:
Miss Sara - sie ist eine so reiche junge Lady gewesen, und sie ist immer bedient
worden. Und was macht sie jetzt, Mum, ohne ein Dienstmädchen? Wenn ...
wenn Sie mir erlauben, daß ich sie bedienen darf, wenn ich die Küche fertig
hab'? Ich mach' ganz schnell in der Küche .. . wenn ich sie bedienen darf, jetzt,
wo sie arm ist.
Oh«, und die Tränen Hefen von neuem, »die arme kleine Miss Sara, Mum, die
alle Prinzessin genannt haben.«
Miss Minchin wurde noch ärgerlicher. Daß dieses Dienstmädchen sich auf
Saras Seite stellte - mehr denn je wurde ihr klar, daß sie dieses Kind nie
gemocht hatte -, das war zuviel für sie. Sie stampfte wütend mit dem Fuß auf.
»Nein, mit Sicherheit nicht!« rief sie. »Sie wird sich selbst bedienen und andere
Leute noch dazu. Verlaß jetzt sofort das Zimmer, oder du fliegst raus!«
Becky warf ihre Schürze fort und rannte hinaus. Sie raste die Treppe hinunter
in die Küche, setzte sich mitten zwischen ihre Töpfe und Kessel und weinte, daß es ihr fast das Herz brach. »Es ist genau wie in den Märchen«, schluchzte sie. »Die armen Prinzessinnen, die einfach verstoßen werden.« Wenig später wurde Sara gesagt, daß sie zu Miss Minchin kommen solle. Nie zuvor war Miss Minchins Gesichtsausdruck so hart und streng gewesen wie in dem Augenblick, als Sara eintrat. In der Zwischenzeit war es Sara erschienen, als sei ihr Geburtstag ein Traum oder etwas, was sich vor vielen Jahren im Leben eines anderen Kindes ereignet hatte. Doch jetzt waren alle Spuren des Festes bereits beseitigt. Die Stechpalmenkränze waren von den Wänden des Klassenzimmers verschwunden, die Bänke und Schreibtische wieder an ihren Platz zurückgestellt. Miss Minchins Salon sah aus wie immer - es blieb nichts übrig, was an das Fest erinnert hätte, und Miss Minchin hatte ihr normales Kleid wieder angezogen. Den Schülerinnen war aufgetragen worden, ihre Partykleider auszuziehen. Als sie dem Folge geleistet hatten, gingen sie ins Klassenzimmer, wo sie sich in Gruppen zusammenkauerten und aufgeregt miteinander flüsterten. »Sag Sara, sie soll in mein Zimmer kommen«, hatte Miss Minchin zu ihrer Schwester gesagt. »Und sag ihr klipp und klar, daß ich weder Heulszenen noch sonstiges Theater wünsche.« »Schwester«, sagte Miss Amelia, »sie ist das ungewöhnlichste Kind, das ich je gesehen habe. Sie hat noch nie irgendwelchen Wirbel veranstaltet. Noch nicht einmal, als Captain Crewe nach Indien zurückging. Als ich ihr sagte, was passiert ist, stand sie nur da und sah mich wortlos an. Ihre Augen wurden immer größer und ihr Gesicht immer blasser. Als ich fertig war, stand sie immer noch da und starrte ein paar Sekunden vor sich hin, dann fing ihr Kinn an zu zittern, und sie drehte sich um und rannte hinauf in ihr Zimmer. Ein paar von den anderen Kindern fingen an zu weinen, aber sie schien nichts um sich herum wahrzunehmen, außer, was ich ihr sagte. Ich hatte ein ganz komisches Gefühl, weil sie nicht antwortete. Wenn man jemandem etwas völlig Unvorhergesehenes mitteilt, erwartet man doch, daß er reagiert - auf welche Weise auch immer.« Niemand außer Sara selbst wußte, was sich in ihrem Zimmer abgespielt hatte, nachdem sie hinaufgelaufen war. Sie konnte sich selbst kaum erinnern, sie wußte nur noch, daß sie auf und ab gelaufen war und immer und immer wieder mit einer Stimme, die nicht die ihre zu sein schien, sagte: »Mein Papa ist tot! Mein Papa ist tot!« Auf einmal war sie vor Emily stehengeblieben, und hatte laut herausgeschrien: »Emily! Hörst du? Hörst du - Papa ist tot! Tot in Indien. Tausende von Meilen weit weg.« Als Sara auf Miss Minchins Geheiß hin zu ihr in den Salon kam, war ihr Gesicht weiß, und ihre Augen hatten dunkle Schatten. Ihr Mund schien nichts von dem verraten zu wollen, was sie erlitten hatte und noch erlitt. Nichts mehr an ihr erinnerte an das rosarote Schmetterlingskind, das im geschmückten
Klassenzimmer von einer Kostbarkeit zur anderen geflattert war. Statt dessen hatte sie das Aussehen einer fremden, verlassenen kleinen Person. Mit Mariettes Hilfe hatte sie das ausrangierte schwarze Samtkleid angezogen. Es war zu kurz und zu eng, und ihre schlanken Beine wirkten darunter lang und dünn. Da sie kein schwarzes Band gefunden hatte, fielen ihr die dicken schwarzen Haare lose ins Gesicht und standen in krassem Gegensatz zu der Blässe ihrer Haut. Sara hielt Emily fest im Arm, und auch Emily war in irgendeinen schwarzen Stoff eingehüllt. »Leg deine Puppe zur Seite«, sagte Miss Minchin streng. »Was soll das, warum bringst du sie mit?« »Nein«, erwiderte Sara. »Ich werde sie nicht weglegen. Sie ist alles, was ich habe. Mein Papa hat sie mir geschenkt.« Wie immer in Saras Gegenwart hatte Miss Minchin ein unangenehmes Gefühl. Weder war ihr Ton unhöflich, noch eiskalt, ein Verhalten, mit dem Miss Minchin nicht zurechtkam; vielleicht, weil sie wußte, daß sie sich selbst herzlos und unmenschlich verhielt. »Du wirst in Zukunft keine Zeit mehr haben für Puppen«, sagte sie. »Du wirst arbeiten und dich anstrengen und nützlich machen.« Sara hielt ihre großen Augen auf sie gerichtet und sagte kein Wort. »Es wird von nun an einiges anders sein als zuvor«, fuhr Miss Minchin fort. »Ich nehme an, Miss Amelia hat dich davon unterrichtet.« »Ja«, antwortete Sara. »Mein Papa ist tot. Er hat mir kein Geld hinterlassen. Ich bin ziemlich arm.« »Bettelarm bist du«, sagte Miss Minchin und kochte vor Wut bei dem Gedanken, was das für sie hieß. »Es sieht so aus, als hättest du weder Verwandte noch ein Heim, es gibt niemand, der für dich aufkommt.« Saras schmales, blasses Gesicht zuckte bei diesen Worten. Sie sagte jedoch nichts. »Wo starrst du hin?« fragte Miss Minchin scharf. »Bist du so dumm, daß du nichts verstehst? Ich sagte, du bist ganz allein auf der Welt und hast niemanden, der irgend etwas für dich tut, es sei denn, ich könnte mich dazu durchringen, dich aus Barmherzigkeit hierzubehalten.« »Ich verstehe«, sagte Sara mit leiser Stimme, und es klang, als schluckte sie etwas hinunter, was ihr beinah über die Lippen gekommen wäre. »Ich verstehe.« »Die Puppe da«, rief Miss Minchin und zeigte auf das wunderschöne Geburtstagsgeschenk, »die lächerliche Puppe da, mitsamt ihren albernen, extravaganten Sachen - ich habe die Rechnung für sie bezahlt!« Sara blickte zu der Puppe hin. »Die letzte Puppe«, sagte sie. »Meine letzte Puppe.« Und ihre Stimme hatte einen merkwürdig traurigen Klang. »Die letzte Puppe, sehr richtig!« rief Miss Minchin. »Sie gehört mir und nicht dir. Alles, was du besitzt, gehört mir.« »Dann nehmen Sie sie bitte fort«, sagte Sara. »Ich will sie nicht.« Wenn Sara geweint, geschluchzt oder Angst gehabt hätte, Miss Minchin hätte vielleicht mehr Geduld mit ihr gehabt. Sie war eine Frau, die es genoß, Macht
auszuüben und andere zu tyrannisieren. Doch als sie in Saras blasses, ernstes
Gesicht sah und ihre stolze Stimme hörte, hatte sie das Gefühl, als würde ihre
Macht zerbröckeln.
»Tu nicht so vornehm«, sagte sie. »Die Zeiten sind jetzt vorbei. Du bist keine
Prinzessin mehr. Deine Kutsche und dein Pony werden abgeschafft, dein
Dienstmädchen entlassen. Du wirst deine ältesten und einfachsten Kleider tra
gen - deine feine Garderobe entspricht nicht mehr deinem Status. Du bist wie
Becky, du hast für deinen Lebensunterhalt selbst zu sorgen.«
Zu ihrer Überraschung bemerkte sie einen schwachen Schimmer in Saras
Augen - einen Schimmer der Erleichterung.
»Kann ich arbeiten?« fragte sie. »Wenn ich arbeiten kann, ist es nicht schlimm.
Was kann ich tun?«
»Du kannst all das tun, was dir aufgetragen wird«, war die Antwort. »Du bist
ein aufgewecktes Kind und begreifst schnell. Wenn du dich nützlich machst,
kannst du meinetwegen hierbleiben. Du kannst gut Französisch, und du kannst
den kleineren Kindern helfen.«
»Darf ich?« rief Sara aus. »O bitte, darf ich? Ich weiß, daß ich ihnen etwas
beibringen kann. Ich mag sie, und sie mögen mich.«
»Hör mit dem Unsinn auf, daß irgendwelche Leute dich mögen«, sagte Miss
Minchin. »Du wirst schon noch mehr zu tun haben, als nur die Kleinen zu
unterrichten. Du wirst Botengänge machen und auch in der Küche helfen.
Sollte ich mit dir nicht zufrieden sein, kannst du gehen. Denke daran. Nun
geh.«
Sara stand einen Moment still da und sah sie an. Seltsame Gedanken
durchströmten ihre kleine Seele. Dann drehte sie sich um und wollte gehen.
»Halt!« rief Miss Minchin. »Hältst du es nicht für angebracht, mir zu danken?«
Sara schwieg. »Wofür?« fragte sie.
»Für meine Freundlichkeit«, antwortete Miss Minchin. »Für meine
Freundlichkeit, dir ein Zuhause zu geben.«
Sara ging auf sie zu. Ihre schmale, kleine Brust atmete schwer, und in
ungewohnt heftigem Ton sagte sie: »Sie sind nicht freundlich. Sie sind nicht
freundlich, und das hier ist kein Zuhause.« Und sie drehte sich um und lief hin
aus, ehe Miss Minchin sie aufhalten konnte. Starr vor Zorn, blickte sie ihr nach.
Sara ging langsam, aber schwer atmend die Treppe hinauf und hielt Emily fest
an sich gedrückt.
»Wenn sie doch sprechen könnte«, sagte sie zu sich selbst. »Wenn sie doch
bloß sprechen könnte!«
Sie wollte in ihr Zimmer gehen, sich auf das Tigerfell legen, mit ihrer Wange
auf dem Kopf des Tigers liegen und ins Feuer sehen und denken, denken,
denken.
Bevor sie noch den Treppenabsatz erreicht hatte, kam Miss Amelia aus ihrem
Zimmer, schloß die Tür hinter sich und blieb nervös und verlegen davor stehen.
Sie schämte sich insgeheim, weil sie dem Befehl ihrer Schwester Folge leistete.
»Du ... du darfst da nicht hineingehen«, sagte sie.
»Nicht hineingehen?« rief Sara aus und wich einen Schritt zurück.
»Es ist nicht mehr dein Zimmer«, sagte Miss Amelia und errötete leicht.
Plötzlich verstand Sara. Es wurde ihr klar, daß dies der Anfang jener Veränderung war, die Miss Minchin angedeutet hatte. »Und wo ist mein Zimmer?« fragte sie und versuchte, ruhig zu bleiben. »Du sollst auf dem Dachboden neben Becky schlafen.« Sara wußte, wo das war. Becky hatte es ihr beschrieben. Sie drehte sich um und stieg zwei Treppen hinauf. Die obere war eng und bedeckt mit alten, zerschlissenen Teppichresten. Sie hatte das Gefühl, als ginge sie fort, und als ließe sie jene Welt weit hinter sich, in der sie als Kind gelebt hatte. Dieses Kind, das da in seinem kurzen, engen Kleid die Treppen zum Dachboden hinaufstieg, war ein ganz anderes Wesen. Als sie an der Tür zum Dachboden angekommen war und sie öffnete, klopfte ihr Herz leicht. Sie schloß die Tür hinter sich, lehnte sich dagegen und sah sich um. Ja, das war eine andere Welt. Ein schräges Dach lag über dem weißgetünchten Raum. Der Putz war schmuddelig und abgebröckelt. Da waren ein verfallener Kamin, ein altes Bettgestell aus Eisen und ein hartes Bett mit einer ver blichenen Decke darauf. Einige alte Möbelstücke standen herum, die für unten zu schäbig waren. Unter dem Dachfenster, durch das nichts als ein rechteckiges Stück trüber, grauer Himmel zu sehen war, stand ein alter, lädierter Fußschemel. Sara ging hin und setzte sich. Sie weinte selten. Sie weinte auch jetzt nicht. Sie legte Emily auf ihre Knie, lehnte ihren Kopf darauf, schlang ihre Arme um sie und saß da, die schwarzen Haare auf Emilys schwarzem Gewand, ohne ein Geräusch, ohne ein Wort. Während sie in dieser Stille saß, klopfte es leise an die Tür - so zaghaft, daß sie es nicht sogleich hörte und nicht sogleich aufhorchte, bis die Tür vorsichtig aufgeschoben wurde und ein tränenverschmiertes Gesicht um die Ecke spähte. Es war Becky, und Becky hatte sich stundenlang heimlich die Augen aus dem Kopf geweint. Das sah man ihr deutlich an. »O Miss«, schniefte sie. »Darf ich ... würden Sie mir erlauben ... reinzukommen?« Sara hob den Kopf und sah sie an. Sie versuchte zu lächeln, es gelang ihr jedoch nicht. »O Becky«, sagte sie. »Ich habe dir gesagt, daß wir gleich sind - nur zwei kleine Kinder. Du siehst, wie wahr es ist. Es gibt keinen Unterschied zwischen uns. Ich bin keine Prinzessin mehr.« Becky lief auf sie zu und ergriff ihre Hand; sie hielt sie fest an ihre Brust gedrückt, kniete neben ihr nieder und schluchzte vor Liebe und Schmerz. »Doch, Miss, Sie sind eine Prinzessin«, beharrte sie, und ihre Worte klangen gebrochen. »Was auch immer mit Ihnen geschieht, Sie werden eine Prinzessin bleiben -und nichts kann daran was ändern.«
Auf dem Dachboden Ihre erste Nacht auf dem Dachboden sollte Sara so schnell nicht vergessen. Nie sprach sie später mit jemandem über den maßlosen Kummer, den sie in jenen ersten nächtlichen Stunden und in all den Nächten, die da noch folgten, erlitten hatte. Niemand hätte sie verstanden. Während sie wach in der Dunkelheit lag, flüsterte sie immer wieder: »Mein Papa ist tot! Mein Papa ist tot!« Dieser Gedanke beherrschte sie so sehr, daß sie erst viel später merkte, wie hart ihr Bett war. Und erst viel später wurde ihr bewußt, daß sie sich ständig von einer Seite auf die andere drehte, um irgendwann Ruhe zu finden, daß sie - so schien es ihr - noch nie eine so undurchdringliche Dunkelheit erlebt hatte, und daß der Wind, der hier oben durch die Schornsteine blies, sich wie lautes Jammern anhörte. Aber da war noch etwas Schlimmeres. In den Wänden und hinter den Fußleisten polterte, kratzte und quiekte es. Sie wußte, was die Geräusche verursachte. Becky hatte sie beschrieben, die Ratten und Mäuse. Ein- oder zweimal hörte sie sogar das kratzende Geräusch scharfer Krallen auf dem Fußboden und konnte sich Tage später noch genau daran erinnern, wie sie im Bett vor Schreck hochfuhr und zitterte und sich die Bettdecke über den Kopf zog. Ihr Leben hatte sich nicht allmählich, sondern von einem Moment auf den anderen geändert. »Sie muß sofort damit beginnen«, hatte Miss Minchin zu Miss Amelia gesagt: »Sie soll sofort erfahren, was für ein Leben sie zu erwarten hat.« Mariette verließ das Haus bereits am nächsten Morgen. Als Sara vom Dachboden herunterstieg und im Vorbeigehen einen Blick in ihr Wohnzimmer warf, wurde ihr endgültig klar, daß sich wirklich alles geändert hatte. Die Ge schenke ihres Vaters, ihr ganzes Hab und Gut und die luxuriöse Ausstattung waren entfernt worden. Satt dessen stand ein einfaches Bett in der Ecke; es würde das Schlafzimmer für eine neue Schülerin sein. Als Sara zum Frühstück hinunterging, sah sie, daß nun Lavinia auf ihrem Platz neben Miss Minchin saß. »Zu deinen neuen Pflichten gehört«, sprach Miss Min chin in scharfem Ton zu ihr, »daß du bei den jüngeren Kindern am kleinen Tisch sitzt. Du hast dafür zu sorgen, daß sie still sind, sich benehmen und alles aufessen. Du solltest in Zukunft früher unten sein. Lottie hat bereits ihren Tee ausgeschüttet.« Das war der Anfang, und von Tag zu Tag kamen neue Pflichten hinzu. Sara brachte den jüngeren Kindern Französisch bei und hörte ihre Hausaufgaben ab. Aber das war längst nicht alles. Es stellte sich heraus, daß man sie für viele Aufgaben einsetzen konnte. Man konnte sie jederzeit und bei jedem Wetter losschicken, um Einkäufe zu machen. Man konnte ihr Dinge auftragen, gegen die sich andere sträubten. Die Köchin und die Dienstmädchen nahmen allmählich Miss Minchins Ton und Haltung an und hatten ihre Freude daran, »die Kleine«, um die vorher so
viel Theater gemacht worden war, herumzukommandieren. Anfangs dachte Sara noch, wenn sie alles, was ihr aufgetragen wurde, nach bestem Wissen und Gewissen ausführte und einfach schwieg, wenn sie getadelt wurde, dann würde sie vielleicht nicht gar so herzlos behandelt werden. Sie wollte ihnen zeigen, daß sie keine Barmherzigkeit annehmen, sondern sich ihren Lebensunterhalt wirklich selbst verdienen wollte. Aber schon bald wurde ihr klar, daß das nichts nützte, sondern daß im Gegenteil die Hausmädchen sie um so mehr tyrannisierten und um so mehr von ihr verlangten, und die Köchin sie um so mehr schimpfte und beschuldigte, je hilfsbereiter sie war. Wenn sie älter gewesen wäre, hätte Miss Minchin ihr sicherlich die größeren Mädchen für den Unterricht anvertraut, um so den Lohn für eine Lehrerin einzusparen. Da sie aber noch ein Kind war, konnte sie »nur« als eine Art bessere Botengängerin und als »Mädchen für alles« eingesetzt werden. Ein normaler Laufjunge wäre längst nicht so tüchtig und zuverlässig gewesen wie sie. Sara konnte man ohne Bedenken mit den schwierigsten Aufträgen betrauen. Man konnte sie sogar losschicken, um Rechnungen zu bezahlen, was sie genauso gut konnte wie Zimmer saubermachen und aufräumen. Ihr eigener Schulunterricht gehörte der Vergangenheit an. Sie durfte nichts mehr lernen. Erst am Ende eines langen, arbeitsreichen Tages bekam sie die Erlaubnis, sich in dem leeren Klassenzimmer vor einen Stapel alter Bücher zu setzen und des Nachts zu lernen. »Wenn ich mir nicht selbst die Dinge ins Gedächtnis zurückrufe, die ich einmal gelernt habe, vergesse ich sie vielleicht«, sagte sie zu sich selbst. »Ich bin beinahe schon eine Küchenmagd, die nichts weiß, und ich werde bald so sein wie die arme Becky.« Am merkwürdigsten von allem war die neue Beziehung zwischen ihr und den Schülerinnen. Sie war weder »die Prinzessin« wie zuvor, noch zählte sie überhaupt zu ihrem Kreis. Sie wurde so mit Arbeit überhäuft, daß sie fast nie Gelegenheit hatte, mit einer von ihnen ein Wort zu wechseln, und es entging ihr nicht, daß Miss Minchin es geradezu darauf anlegte, sie von dem Leben der Schülerinnen auszuschließen. »Ich werde nicht zulassen, daß sie mit den anderen Kindern spricht oder Heimlichkeiten austauscht«, sagte sie. »Die Mädchen hören sich gern Klagelieder an, und wenn Sara erst einmal anfängt, abenteuerliche Dinge über sich zu erzählen, wird sie für die anderen die gepeinigte Heldin sein. Die Eltern würden einen völlig falschen Eindruck bekommen. Es ist das beste, sie führt ihr eigenes Leben, das, welches ihr angemessen ist. Ich gebe ihr ein Zuhause, und das ist wirklich mehr, als sie von mir erwarten darf.« Sara erwartete nicht viel, und sie war viel zu stolz, als daß sie versucht hätte, Gespräche mit den anderen Mädchen zu führen, die sich ihr gegenüber jetzt sehr merkwürdig und unsicher verhielten. Es war nun mal eine Tatsache, daß die meisten von Miss Minchins Schülerinnen nichts als ein Haufen dummer, oberflächlicher Geschöpfe waren. Was für sie zählte, waren Wohlstand und Komfort. Und darum drehten sich auch meistens ihre Gespräche. Saras Kleider hingegen wurden immer kürzer
und schäbiger und sahen immer komischer aus. Es war auch nicht zu überse hen, daß ihre Schuhe durchlöchert waren. Und da ihr ihr Aussehen sehr peinlich war, trug sie den Korb mit den Lebensmitteln für die Köchin doppelt so eilig durch die Straßen. »Wenn ich daran denke, daß sie die mit der Diamantmine war ...«, bemerkte Lavinia. »Jetzt ist sie nur noch ein Lakai. Und sie sieht komischer aus denn je. Ich habe sie nie besonders gemocht, aber die Art, wie sie einen so ohne ein Wort zu sagen ansieht, halte ich kaum aus. Es ist, als ob sie einen durchschaut.« »Das stimmt«, sagte Sara, als sie davon hörte. »Das ist der Grund, warum ich manche Leute so ansehe. Ich möchte über sie Bescheid wissen, und ich denke hinterher noch lange über sie nach.« In Wahrheit hatte sie sich schon öfter dadurch Ärger erspart, daß sie Lavinia im Auge behielt, da diese immer etwas im Schilde führte und ihren Spaß daran gehabt hätte, wenn es ihr gelungen wäre, die Ex-Musterschülerin her einzulegen. Sara selbst dachte nie daran, irgend jemandem zu schaden. Sie arbeitete wie ein Tier; sie stapfte mit schweren Paketen und Körben durch die regennassen Straßen; sie bemühte sich, mit den unaufmerksamen Kleinen die Franzö sischlektionen durchzuarbeiten; als ihre Kleider noch schäbiger und verwahrloster aussahen, befahl man ihr, zum Essen nach unten zu gehen. Sie wurde behandelt, als ob sie niemanden etwas anginge. Allmählich wurde ihr Herz stolz und wund zugleich. Aber nie erzählte sie jemandem, was sie fühlte. Und doch gab es Stunden, in denen sie vor Einsamkeit verzweifelt wäre, hätte sie nicht noch drei Menschen gehabt, denen sie vertrauen konnte. Einer davon war Becky. Als Sara die erste Nacht auf dem Dachboden verbrachte, hatte der Gedanke sie ein wenig getröstet, daß nebenan auf der anderen Seite der Wand, in der die Ratten trippelten und quiekten, noch jemand schlief. Und dieses Gefühl der Beruhigung wuchs von Nacht zu Nacht. Tagsüber gab es wenig Gelegenheit, mit Becky zu sprechen. Jede hatte ihren eigenen Aufgabenbereich, und jeder Versuch, miteinander zu sprechen, wäre sofort als Nachlässigkeit und Faulheit ausgelegt worden. Am ersten Morgen flüsterte Becky: »Nehmen Sie's mir nicht übel, Miss, wenn ich nichts Höfliches zu Ihnen sage. Die würden mich sonst bloß schikanieren. Ich will >bitte< und >danke< und >Entschuldigung< sagen, aber ich trau' mich nicht.« Vor Tagesanbruch schlüpfte Becky jedoch immer noch schnell in Saras Dachkammer, um ihr das Kleid zuzuknöpfen oder ihr bei sonstigen Dingen zu helfen. Und wenn am Abend ein zaghaftes Klopfen an ihrer Tür zu hören war, wußte Sara, daß Becky ihr wiederum ihre Hilfe anbot, wenn sie sie benötigte. In den ersten Wochen ihres neuen Lebens hatte Sara das Gefühl, vor Kummer nicht sprechen zu können, und so verging einige Zeit, bevor sie sich öfter sahen und sich gegenseitig besuchten. Der zweite Mensch, der zu ihr stand, war Ermengarde. Aber bevor Ermengarde ihren Platz als Saras Freundin einnehmen konnte, geschahen merkwürdige
Dinge. Erst allmählich war Sara bewußt geworden, daß es da noch eine Ermengarde gab. Sie waren immer Freundinnen gewesen, obwohl Sara stets das Gefühl gehabt hatte, um Jahre älter zu sein als sie. Ermengarde war unbestritten so dumm wie liebevoll. Auf eine liebenswert-hilflose Art klammerte sie sich an Sara. Sie kam mit ihren Hausaufgaben zu ihr, wenn sie Hilfe brauchte; bestürmte sie, ihr Geschichten zu erzählen, und hörte ihr inbrünstig zu. Aber sie selbst hatte nichts Interessantes zu erzählen, und Bücher konnte sie nicht ausstehen. Sie war in der Tat nicht gerade der Mensch, an den man dachte, wenn man von tiefstem Kummer ergriffen war. Und so hatte Sara sie einfach vergessen. Dazu kam, daß Ermengarde plötzlich für ein paar Wochen nach Hause mußte. Als sie wieder zurück war, sah Sara sie ein oder zwei Tage lang nicht bis sie unverhofft auf dem Flur zusammentrafen. Sara wollte gerade einen Stapel Kleidungsstücke zum Ausbessern nach unten bringen. Sie hatte inzwischen Nähen gelernt. Nach wie vor trug sie selbst das seltsame, zu klein gewordene Kleid, das ihre Beine so lang erscheinen ließ. Ermengarde war noch zu jung und zu wenig lebenserfahren, um so einer Situation gewachsen zu sein. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie wußte zwar, was geschehen war, hätte sich aber nie vorstellen können, daß Sara so aussah - so eigenartig und arm, fast wie eine Dienerin. Ermengarde fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut, und unbewußt brach sie in ein kurzes, hysterisches Lachen aus und rief": »Oh - Sara! Bist du das?« »Ja«, sagte Sara, und plötzlich ging ihr ein seltsamer Gedanke durch den Kopf, der sie erröten ließ. Sara hielt den Stapel Wäsche, den sie auf dem Arm trug, mit dem Kinn fest. Als sie Ermengarde so fest in die Augen sah, wußte diese erst recht nicht, was sie sagen sollte. Es war, als hätte Sara sich in ein anderes fremdes Kind ver wandelt, und als hätten sie sich nie zuvor gekannt. Vielleicht kam ihr dies auch nur so vor, weil sie jetzt plötzlich arm geworden war und Wäsche ausbessern und arbeiten mußte wie Becky. »Oh«, stammelte sie schließlich. »Wie ... wie geht es dir?« »Ich weiß es nicht«, sagte Sara. »Wie geht es dir?« »Ganz ... ganz gut«, sagte Ermengarde schüchtern. Dann überlegte sie plötzlich, daß sie vielleicht etwas sagen sollte, was freundschaftlicher klang. »Bist du ... bist du sehr unglücklich?« fragte sie schnell. Saras gebrochenes Herz wurde noch trauriger. Sie sagte sich, daß es besser sei, von jemandem abzulassen, der sich so dumm und unbeholfen benahm. »Was denkst du?« sagte sie erbittert. »Glaubst du, daß ich sehr glücklich bin?« Und sie ging ohne ein weiteres Wort an ihr vorüber. Später wurde ihr allmählich bewußt, daß sie kein Recht hatte, der armen Ermengarde ihr unreifes Verhalten vorzuwerfen. Sie war immer merkwürdig gewesen, und je mehr sie für jemanden empfand, desto schusseliger stellte sie sich an. Sara wußte, daß sie überempfindlich reagiert hatte. Aber sie hatte gedacht, daß Ermengarde genauso wie die anderen war. »Sie will eigentlich nicht mit mir sprechen. Sie weiß, daß keiner mit mir
sprechen will.« Wochenlang gingen sie sich aus dem Weg. Wenn sie sich doch zufällig begegneten, blickte Sara zur Seite, und Ermengarde brachte vor Verlegenheit kein Wort heraus. Es kam zwar vor, daß sie sich zunickten, aber oft genug grüßten sie sich überhaupt nicht. »Wenn sie überhaupt nicht mehr mit mir sprechen will«, dachte Sara, »will ich sie auch nicht mehr sehen. Miss Minchin weiß das schon zu regeln.« Miss Minchin wußte es so sehr zu regeln, daß sie sich schließlich fast gar nicht mehr sahen. Es fiel auf, daß Ermengarde noch schlechter in ihren schulischen Leistungen wurde als sonst, und daß sie lustlos und unglücklich aussah. Sie saß oft zusammengekauert auf der Fensterbank und starrte stumm hinaus. Einmal blieb Jessie vor ihr stehen und sah sie neugierig an. »Warum heulst du, Ermengarde?« fragte sie. »Ich heule nicht«, antwortete Ermengarde mit schniefender, unsicherer Stimme. »Du heulst wohl«, sagte Jessie. »Gerade ist eine riesengroße Träne über deine Nase gelaufen und runtergefallen. Da kommt schon die nächste.« »Mir geht's eben nicht gut«, sagte Ermengarde, »das geht niemand was an.« Sie drehte sich um, nahm ihr Taschentuch und drückte es fest vor ihr Gesicht. An diesem Abend ging Sara später als sonst in ihre Dachkammer hinauf. Nachdem alle Kinder schon im Bett waren, hatte sie noch arbeiten müssen. Danach war sie noch in das leere Klassenzimmer gegangen, um zu lernen. Als sie oben ankam, bemerkte sie erstaunt, daß ein schwaches Licht unter ihrer Tür hervorschien. »Niemand außer mir geht da hinein«, dachte sie, »aber irgend jemand hat eine Kerze angezündet.« Es hatte tatsächlich jemand eine Kerze angezündet. Sie steckte jedoch nicht in dem Kerzenhalter, den man ihr gegeben hatte, sondern in einem von denen, die in den Schülerschlafzimmern standen. Der Jemand saß auf dem zerschlissenen Fußschemel und trug ein Nachthemd und ein rotes Umhängetuch. Es war Ermengarde. »Ermengarde!« rief Sara aus. Sie war so überrascht, daß sie gleichzeitig erschrak. »Du wirst Ärger bekommen.« Ermengarde stand stolpernd auf. Sie schlurfte in ihren Hausschuhen, die ihr viel zu groß waren, durch den Raum. Ihre Augen und ihre Nase waren vom Weinen gerötet. »Ich weiß ... wenn sie es merken«, sagte sie. »Aber es macht mir nichts aus überhaupt nichts. O Sara, bitte sag mir, was ist denn los? Warum magst du mich nicht mehr?« Etwas in Ermengardes Stimme ließ wieder den Kloß in Saras Kehle aufsteigen. Es klang so liebevoll - genau wie damals, als die alte Ermengarde sie gefragt hatte, ob sie »beste Freundinnen« sein wollten. »Ich mag dich doch«, antwortete Sara. »Ich dachte . . . weißt du, es ist jetzt alles anders. Ich dachte, auch du ... seist anders.« Ermengarde sah sie mit großen, nassen Augen an. »Du warst es doch, die anders war!« rief sie. »Du wolltest nicht mit mir reden.
Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Du warst doch anders, als ich zurückkam.« Sara dachte einen Moment nach. Sie sah ein, daß sie einen Fehler gemacht hatte. »Ich bin anders«, erklärte sie, »wenn auch nicht so, wie du denkst. Miss Minchin will, daß ich nicht mit den anderen Mädchen spreche. Den meisten ist das auch recht. Sie wollten auch mit mir nicht sprechen. Ich dachte, du wolltest .. vielleicht. .. auch nicht. Deswegen habe ich versucht, dir aus dem Weg zu gehen.« »O Sara«, jammerte Ermengarde vorwurfsvoll und bestürzt zugleich. Dann sahen sie einander an und fielen sich in die Arme. Sara legte ihren Kopf auf Ermengardes Schulter. Sie hatte sich immer schrecklich einsam gefühlt, bei dem Gedanken, Ermengarde wolle nichts mehr von ihr wissen. Sie setzten sich zusammen auf den Fußboden, Sara mit umschlungenen Knien, Ermengarde eingehüllt in ihren Umhang. Ermengarde sah voll Bewunderung in Saras große Augen. »Ich hab' es nicht mehr ausgehalten«, sagte sie. »Du kannst sicher ohne mich leben, Sara; aber ich könnte nicht ohne dich leben. Ich wäre beinah gestorben. Heute abend, als ich weinend unter der Bettdecke lag, kam ich plötzlich auf die Idee, heraufzukommen zu dir und dir zu sagen, bitte, laß uns wieder Freundinnen sein.« »Du bist viel lieber als ich«, sagte Sara. »Ich war zu stolz, dir dasselbe zu sagen. Du siehst, jetzt, wo ich in Schwierigkeiten bin, zeigt sich, daß ich kein liebes Kind bin. Ich habe das befürchtet. Vielleicht« - und sie runzelte nachdenklich die Stirn -, »vielleicht sind Schwierigkeiten dazu da.« »Ich kann nichts Gutes in ihnen sehen«, sagte Ermengarde entschieden. »Ich auch nicht, um ehrlich zu sein«, gab Sara zu. »Aber ich könnte mir denken, daß vielleicht in allem etwas Gutes ist, auch wenn wir es nicht sehen.« Und zögernd fügte sie hinzu: »Vielleicht ist auch etwas Gutes in Miss Minchin.« Ermengarde sah sich mit einer Mischung aus Angst und Neugier in der Dachkammer um. »Sara«, sagte sie, »glaubst du, du kannst es ertragen, hier zu leben?« Sara sah sich ebenfalls um. »Ja, wenn ich mir vorstelle, daß hier alles ganz anders aussieht, als es ist«, antwortete sie. »Oder wenn ich mir vorstelle, es sei ein Zimmer, das in einer meiner Geschichten vorkommt.« Sie sprach langsam. Ihre Vorstellungskraft begann allmählich wieder zu arbeiten. Sie hatte die ganze Zeit über das Gefühl gehabt, als sei ihre Phantasie verlorengegangen. »Es gibt Menschen, die noch viel schlimmer leben mußten. Denk nur an den Grafen von Monte-Christo in den Kerkern des Château d'If. Oder denk an die Menschen in der Bastille!« »Die Bastille«, sagte Ermengarde beinah im Flüsterton, während sie Sara fasziniert beobachtete. Dank Saras packender Erzählweise konnte sie sich an die Geschichten über die Französische Revolution noch erinnern. Niemandem außer Sara wäre das gelungen.
Ein wohlbekannter Schimmer zeigte sich in Saras Augen. »Ja«, sagte sie und schmiegte den Kopf an ihre Knie. »Das ist ein interessanter Platz, den ich mir gut vorstellen könnte. Ich bin eine Gefangene in der Basille. Ich bin hier seit Jahren - seit unendlich vielen Jahren; und alle haben mich ver gessen. Miss Minchin ist die Gefängnisaufseherin - und Becky«, ihre Augen begannen noch mehr zu schimmern, »Becky ist eine Gefangene in der Zelle neben mir.« Ermengarde schaute Sara lange an. Es war wieder die alte Sara, es war wieder fast - wie früher. »Wenn ich mir das vorstelle«, sagte Sara, »wird das ein großer Trost für mich sein.« Ermengarde war sofort begeistert. »Erzählst du mir dann alles darüber?« fragte sie. »Darf ich abends, wenn niemand es merkt, zu dir kommen und hören, was du dir tagsüber ausgedacht hast? Dann ist es, als wenn wir noch mehr >beste Freundinnen< wären als zuvor.« »Ja«, nickte Sara. »Not stellt die Menschen auf die Probe, und meine Not hat dich auf die Probe gestellt und gezeigt, wie lieb du bist.«
Melchisedec Die dritte Person, die Sara blieb, war Lottie. Sie war noch klein und hatte keine Vorstellung davon, was Not bedeutete, Sie wunderte sich nur über die Veränderung, die mit ihrer »Adoptivmutter« vor sich gegangen war. Lottie hatte andere Kinder tuscheln hören, daß merkwürdige Dinge mit Sara geschehen waren. Aber sie verstand nicht, warum sie deswegen auch anders aussah als vorher, warum sie ein altes schwarzes Kleid anhatte und warum sie ins Klassenzimmer kam, um zu unterrichten, statt an ihrem Ehrenplatz zu sitzen und selbst zu lernen. Es gab viel Unruhe und Getuschel unter den kleineren Kindern, als sie herausfanden, daß Sara nicht mehr in dem Zimmer wohnte, wo Emily immer so feierlich auf ihrem Stuhl gesessen hatte. Was Lottie aber am meisten zu schaffen machte, war, daß Sara so kurz angebunden war, wenn man sie etwas fragte. - Rätsel müssen gelöst werden, wenn man sie verstehen soll. »Bist du jetzt sehr arm, Sara?« fragte Lottie vertraulich, als ihre Freundin das erste Mal die kleine Französischklasse übernahm. »Bist du so arm wie ein Bettler?« Sie schob ihre Hand in Saras und sah sie mit Tränen in den Augen an. »Ich will nicht, daß du so arm bist wie ein Bettler.« Es sah aus, als wollte sie weinen, doch Sara versuchte schnell, sie zu trösten. »Bettler haben kein Dach über dem Kopf«, sagte Sara mutig. »Ich habe immerhin eins.« »Wo wohnst du denn?« wollte Lottie wissen. »Das neue Mädchen schläft jetzt in deinem Zimmer, und es ist überhaupt nicht mehr schön.« »Ich wohne in einem anderen Zimmer«, sagte Sara.
»Ist es schön?« fragte Lottie. »Ich möchte es gerne mal sehen.« »Sei jetzt still«, sagte Sara. »Miss Minchin beobachtet uns. Sie wird böse mit mir, wenn sie merkt, daß ich dich schwätzen lasse.« Sie hatte schnell gemerkt, daß sie für jede Störung im Unterricht verantwortlich gemacht wurde. Egal, ob die Kinder unaufmerksam waren, schwätzten oder herumzappelten, sie, Sara, war es, die getadelt wurde. Aber Lottie wußte, was sie wollte. Wenn Sara ihr nicht sagte, wo sie wohnte, würde sie es eben auf andere Weise herausfinden. Sie sprach mit ihren kleinen Freundinnen, hängte sich an die älteren Mädchen und spitzte die Ohren, um mitzubekommen, worüber sie tratschten. Auf diese Weise hatte sie schon bald einiges aufgeschnappt und machte sich eines Nachmittags auf Entdeckungsreise. Sie stieg Treppen hinauf, die ihr völlig unbekannt waren, bis hinauf zum obersten Flur. Dort waren zwei Türen. Als sie eine davon öffnete, erblickte sie ihre geliebte Sara, wie sie auf einem alten Tisch stand und aus dem Fenster schaute. »Sara!« rief Lottie entgeistert. »Mama Sara!« Sie war erschrocken, weil der Dachboden so kahl und häßlich war und so weit von der Welt entfernt zu sein schien. Es war ihr vorgekommen, als seien ihre kleinen Beine Hunderte von Stufen hinaufgeklettert. Als Sara Lotties Stimme hörte, drehte sie sich um. Sie war genauso erschrocken. Was würde nun geschehen? Wenn Lottie anfing zu weinen und zufällig von jemandem gehört wurde, würden sie beide verloren sein. Sie sprang vom Tisch und lief auf Lottie zu. »Weine nicht und verhalte dich ganz still«, bat sie. »Wenn sie etwas merken, werde ich ausgeschimpft, und ich werde schon den ganzen Tag gescholten. Es ... es ist nicht so schlimm hier, Lottie.« »Wirklich nicht?« stieß Lottie hervor und biß sich auf die Lippe, während sie sich umsah. Sie war zwar ein verwöhntes Kind, aber sie hatte ihre »Adoptivmutter« sehr gern und bemühte sich, ihr zuliebe, nicht die Beherrschung zu verlieren. Und außerdem, wer sagte denn, daß es nicht da im mer schön war, wo Sara gerade lebte. »Wieso ist es nicht schlimm, Sara?« fragte sie im Flüsterton. Sara umarmte sie fest und versuchte ein Lachen. Die Warme dieses kleinen Körpers tat ihr gut. Sie hatte einen schweren Tag hinter sich; müde, aber mit vielen traurigen Gedanken im Kopf, hatte sie aus dem Fenster gestarrt. »Es gibt hier oben eine Menge zu sehen, was es unten nicht gibt«, sagte sie leise. »Was denn?« fragte Lottie mit jener Neugier, die Sara auch bei größeren Kindern zu wecken verstand. »Schornsteine zum Beispiel, ganz nah, mit Rauch, der in Kringeln und Wolken in den Himmel aufsteigt. Und Spatzen, die herumhüpfen und miteinander schwatzen, als wären sie Menschen. Und andere Dachfenster, aus denen manchmal plötzlich ein Kopf auftaucht und man gern wissen möchte, zu wem er gehört. Und alles kommt einem so hoch vor - wie in einer anderen Welt.« »Oh, laß es mich doch mal sehen!« rief Lottie. »Heb mich hoch!« Sie stiegen auf den alten Tisch, Sara hob Lottie hoch, und sie schauten
zusammen aus dem flachen Dachfenster. Wer noch nie einen Blick aus einem Dachfenster geworfen hat, kann sich nicht vorstellen, was für eine andere Welt sie vor sich sahen. Die Schieferplatten der Dächer lagen ausgebreitet in allen Richtungen vor ihnen und fielen hinab bis zu den Dachrinnen. Die Spatzen, die hier oben zu Hause waren, zwitscherten und hüpften furchtlos umher. Zwei ließen sich ganz in ihrer Nähe nieder und stritten wild miteinander, bis der eine nach dem anderen pickte und ihn vertrieb. Das Dachfenster nebenan war geschlossen, da das Haus unbewohnt war. »Ich wünschte, dort würde jemand wohnen«, sagte Sara. »Wenn ein kleines Mädchen in der Dachkammer wohnen würde, könnten wir uns durch die Fenster miteinander unterhalten und uns sogar übers Dach besuchen.« Der Himmel sah so viel näher aus, als Lottie es von der Straße her kannte. Sie war begeistert. Von hier oben aus, mitten zwischen den Schornsteinen, kamen einem die Dinge, die unten passierten, fast unwirklich vor. Man konnte sich kaum vorstellen, daß es eine Miss Minchin und eine Miss Amelia und ein Klassenzimmer gab, und das Rollen der Räder auf dem Hof hörte sich an, als käme es aus einer anderen Welt. »O Sara!« rief Lottie und kuschelte sich in ihre schützenden Arme. »Hier gefälltes mir - hier ist es schön! Viel schöner als unten!« »Sieh mal, der Spatz dort«, flüsterte Sara. »Schade, daß ich nicht ein paar Brotkrumen für ihn habe.« »Ich hab' welche!« quiekte Lottie vor Freude. »Ich hab' noch ein Stückchen Kuchen in meiner Tasche, das ich mir gestern von meinem Geld gekauft hab'.« Als sie ein paar Krümel hinauswarfen, flog der Spatz weg und ließ sich auf einem Schornstein in der Nähe nieder. Er war offensichtlich nicht an solche freundlich gesinnten Dachkammerbewohner gewöhnt, und die unverhofft herbeifliegenden Krümel erschreckten ihn. Aber als Lottie sich ganz still verhielt und Sara leise zwitscherte - fast wie ein echter Spatz -, merkte er, daß er keine Angst zu haben brauchte und die Krümel ein Zeichen der Gast freundschaft waren. Er legte den Kopf zur Seite und beobachtete mit funkelnden Augen die Krümel von seinem Schornsteinplatz aus. Lottie konnte kaum stillhalten. »Ob er wohl kommt? Ob er wohl kommt?« flüsterte sie aufgeregt. »Es sieht so aus, als ob er gleich kommt«, flüsterte Sara zurück. »Er überlegt noch, ob er sich trauen soll. Er kommt bestimmt. Jetzt, jetzt!« Der Spatz flatterte hinab und hüpfte auf die Krümel zu, hielt aber kurz davor inne und legte den Kopf zur Seite, so als ob er überlegte, ob Sara und Lottie nicht möglicherweise große Katzen wären, die sich gleich auf ihn stürzten. Er kam zu dem Schluß, daß sie ungefährlicher waren, als sie aussahen, und hüpfte näher und näher, machte einen Satz auf den größten Krumen zu, pickte ihn blitzschnell auf und trug ihn fort zu seinem Schornstein. »Jetzt weiß er Bescheid«, sagte Sara. »Und er kommt bestimmt wieder, um die anderen Krümel zu holen.« Er kam wirklich wieder und brachte sogar einen kleinen Freund mit, und der Freund flog noch einmal weg, um einen Verwandten mitzubringen. Und sie
veranstalteten ein Freudenmahl und zwitscherten, schwatzten und schimpften, wobei sie nicht vergaßen, ab und zu mit geneigtem Kopf in Richtung Lottie und Sara nach dem Rechten zu sehen. Lottie war so hingerissen, daß der Schrecken, der sie beim ersten Anblick der Dachkammer ergriffen hatte, längst vergessen war. Und Sara gelang es sogar, in all der Armut und Trostlosigkeit hier oben eine Menge Dinge zu zeigen, auf die sie bisher selbst noch nicht gekommen war oder die sie anders gesehen hatte. »Es ist so klein hier und so hoch über allem anderen«, sagte sie, »daß es fast ist wie ein Nest im Baum. Die schräge Decke ist so lustig. Schau, man kann auf dieser Seite kaum stehen. Und immer, wenn der Morgen anbricht, kann ich im Bett liegen und durch das Dachfenster genau in den Himmel sehen. Er sieht aus wie ein viereckiges Licht. Wenn es ein sonniger Tag wird, dann schweben kleine rosa Wölkchen vorbei, und es ist, als könnte ich sie berühren. Und wenn es regnet, hören sich die Regentropfen an wie ein Trippeln, als ob sie mir etwas Nettes erzählen wollten. Und wenn Sterne am Himmel sind, kann man daliegen und versuchen zu zählen, wie viele in das Viereck hineinpassen. Und das sind ganz, ganz viele. Und sieh dir den kleinen, schmutzigen Kamin dort in der Ecke an. Stell dir vor, wie schön es wäre, wenn er saubergeschrubbt wäre und man ein Feuer darin machen könnte. Du siehst, es ist wirklich eine hübsche kleine Kammer.« Sie ging in dem kleinen Raum umher und versuchte mit weitausholenden Gesten all die schönen Dinge, die sie selbst vor sich sah, zu verdeutlichen. Auch Lottie konnte sie sehen. Sie glaubte immer ganz fest an das, wovon Sara ihr in Bildern erzählte. »Stell dir vor«, sagte Sara, »auf dem Boden läge ein dicker, weicher, blauer indischer Teppich, und in der Ecke dort stände ein kleines, gemütliches Sofa mit Kissen zum Hineinkuscheln. Darüber hinge ein Regal mit lauter Büchern, und vor dem Kaminfeuer läge ein Fell. An den Wänden hingen Wandbehänge, die den abgeblätterten Putz verdecken, und Bilder. Die Bilder müßten klein sein, es wären aber schöne Bilder. Und es gäbe eine Lampe mit einem dunkelroten Schirm. In der Mitte stände ein Tisch mit Teegeschirr. Und da wäre ein kleiner, runder Kupferkessel, der auf dem Kamineinsatz pfeift. Und das Bett wäre ganz anders. Es wäre weich, und eine hübsche Seidendecke läge darauf. Es wäre sehr schön. Und vielleicht könnten wir den Spatzen gut zureden, bis sie sich mit uns anfreunden und ans Fenster picken und um Einlaß bitten.« »O Sara!« rief Lottie. »Wie gern würde ich hier wohnen!« Nachdem Sara sie dazu überredet hatte, wieder nach unten zu gehen, zeigte sie ihr noch den Weg und kehrte dann in ihre Kammer zurück. Sie stand eine Weile mitten im Raum und schaute sich um. Die Dinge in ihrer Phantasie, die Lottie so bezaubert hatten, waren verschwunden. Das Bett war hart, und die schmuddelige Bettdecke lag darauf. Die Wand zeigte die kahlen Stellen, an denen der Putz abgeblättert war, der Fußboden war kalt und leer, der Kamin verfallen und schmutzig, und der zerschlissene, schiefe Fußschemel mit dem beschädigten Bein bildete die einzige Sitzgelegenheit im ganzen Raum. Sie setzte sich ein
paar Minuten darauf und ließ den Kopf in die Hände fallen. Die einfache Tatsache, daß Lottie gekommen und wieder weggegangen war, ließ die Dinge alle ein wenig schlimmer erscheinen - so, wie sich vielleicht Gefangene wieder ein wenig verlassener fühlen, nachdem Besuch gekommen und wieder gegangen äst. »Es ist einsam hier«, sagte sie. »Manchmal ist es der einsamste Ort auf der ganzen Welt.« Während sie so saß, hörte sie plötzlich einen leisen Laut neben sich. Sie hob den Kopf, um zu sehen, wo er herrührte. Eine große Ratte saß aufrecht da und schnüffelte neugierig in der Luft herum. Ein paar von Lotties Krümeln waren auf die Erde gefallen, und ihr Geruch hatte das Tier aus dem Loch hervorgelockt. Sie sah so lustig aus und ähnelte so sehr einem graubärtigen Zwerg oder Gnom, daß Sara sie fasziniert anstarrte. Die Ratte schaute sie mit ihren hellen Augen an, als ob sie etwas fragen wollte. >lch könnte mir denken, daß eine Ratte es auch nicht gerade leicht hat, grübelte Sara. >Keiner mag sie. Alle springen auf und rennen weg und kreischen: ,Hilfe, eine abscheuliche Ratte!' Mir würde es nicht gefallen, wenn die Leute bei meinem Anblick aufspringen und schreien würden: ,Hilfe, eine abscheuliche Sara!' Ein Spatz zu sein ist ganz anders. Aber niemand hat diese Ratte gefragt, ob sie auch eine Ratte sein will, als sie in die Welt gesetzt wurde. Niemand hat gefragt: ,Oder möchtest du lieber ein Spatz sein?'< Sara hatte so still dagesessen, daß die Ratte allmählich Mut faßte. Sie hatte große Angst vor Sara, aber sie war auch sehr hungrig. Es war ein Rattenmann, und hinter der Wand warteten seine Frau und eine große Familie. Und sie alle hatten in den letzten Tagen wenig Glück gehabt. Er hatte die Kinder bitterlich weinend zurücklassen müssen und war nun bereit, für ein paar Krümel sein Leben zu riskieren. »Na komm«, sagte Sara. »Ich bin keine Falle. Hol sie dir, du armer Kerl! Die Gefangenen in der Bastille haben sich mit Ratten angefreundet. Stell dir einfach vor, ich freunde mich mit dir an.« Niemand weiß genau, wie es kommt, daß Tiere verstehen, was man sagt. Vielleicht gibt es eine Sprache, die nicht aus Wörtern besteht und die die ganze Welt versteht. Vielleicht ist in allem eine Seele versteckt, die ohne einen Laut sich jederzeit mit einer anderen Seele verständigen kann. Wie auch immer, die Ratte wußte von diesem Augenblick an, daß sie sich nicht zu fürchten brauchte. Sie wußte, daß dieses junge menschliche Wesen, das da auf dem roten Fußschemel saß, nicht aufspringen und sie mit wildem, lautem Geschrei erschrecken oder Gegenstände nach ihr werfen würde. Es war wirklich eine sehr nette Ratte, die niemandem etwas zuleide tun wollte. Als dieses geheimnisvolle Etwas in ihrem Innern ihr sagte, daß Sara sie nicht haßte, lief sie leise zu den Krümeln hin und fraß sie auf. Währenddessen spähte sie hin und wieder in Saras Richtung, genau wie die Spatzen, und ihre Augen hatten solch einen entschuldigenden Blick, daß Sara ganz gerührt war. Sie saß da und schaute ihr zu, ohne sich zu bewegen. Einer der Krümel war besonders groß - man konnte es kaum einen Krümel
nennen. Es war offensichtlich, daß die Ratte dieses Stück gern gehabt hätte, aber es lag gleich neben dem Schemel, und sie war immer noch ein wenig furchtsam. Wahrscheinlich möchte sie das Stück ihrer Familie mitbringen*, dachte Sara. >Wenn ich mich mucksmäuschenstill verhalte, kommt sie vielleicht näher und holt es sich.< Sie wagte kaum zu atmen, so gespannt war sie. Die Ratte trippelte ein wenig näher und fraß noch ein paar Krümel, hielt inne und schnüffelte bedachtsam, während sie noch einen kurzen Blick auf Sara warf. Dann machte sie einen Satz auf das Kuchenstückchen - mit fast derselben plötzlichen Dreistigkeit wie die Spatzen - und flüchtete im selben Augenblick damit zur Wand, schlüpfte in eine Spalte der Fußleiste, und weg war sie. >Ich habe gewußt, daß sie es für die Kinder wollte*, freute sich Sara, >und ich glaube, ich könnte mich mit ihr anfreunden.* Etwa eine Woche später, an einem jener seltenen Abende, als Ermengarde wagte, sich nach oben zu stehlen, und mit den Fingerspitzen an der Tür kratzte, gab Sara nicht sofort Antwort. Es war sogar so still in der Kammer, daß Ermengarde sich fragte, ob sie vielleicht eingeschlafen sei. Dann hörte sie zu ihrer Überraschung ein kurzes, leises Lachen und besänftigende Worte. »Da!« hörte Ermengarde Sara sagen. »Nimm es und geh heim, Melchisedec! Geh heim zu deinem Weibchen!« Fast im selben Augenblick öffnete Sara die Tür und sah Ermengarde mit erschrockenen Augen auf der Tür-Schwelle stehen. »Mit... mit wem sprichst du denn, Sara?« stieß sie hervor. Sara zog sie vorsichtig zu sich herein, sah dabei aber aus, als hätte sie sich gerade über etwas gefreut und amüsiert. »Du mußt mir versprechen, keine Angst zu haben - und nicht den leisesten Schrei auszustoßen, sonst weiß ich nicht, was passiert«, antwortete sie. Ermengarde war unheimlich zumute. Es beschlich sie das Gefühl, sofort losschreien zu müssen. Sie schaffte es jedoch, sich zu beherrschen. Sie sah sich in der ganzen Kammer um, konnte jedoch niemanden entdecken. Und doch hatte Sara ganz bestimmt zu jemandem gesprochen. Ermengarde dachte an Gespenster. »Ist es ... etwas, was mich erschrecken wird?« fragte sie ängstlich. »Manche Leute haben Angst vor ihnen«, sagte Sara. »Mir ist es zuerst genauso ergangen, aber jetzt habe ich keine Angst mehr.« »War es ... ein Gespenst?« fragte Ermengarde zitternd. »Nein«, sagte Sara und lachte. »Es war meine Ratte.« Ermengarde machte einen Satz und landete mitten auf dem schmuddeligen Bett. Sie zog ihre Füße unter ihr Nachthemd und den roten Umhang. Sie schrie zwar nicht, keuchte aber vor Angst. »Oh! Oh«, rief sie. »Eine Ratte! Eine Ratte!« »Ich habe befürchtet, daß du Angst haben würdest«, sagte Sara, »aber das brauchst du nicht. Ich bin dabei, sie zu zähmen. Sie kennt mich schon und kommt heraus, wenn ich sie rufe. Hast du große Angst, oder möchtest du sie sehen?« In den Tagen zuvor hatte sich nämlich die ungewöhnliche Freundschaft zwischen Sara und der Ratte so vertieft, daß sie ihr Essensreste aus der Küche
mitbrachte. Allmählich vergaß sie ganz, daß dieses vorher so furchtsame und nun so vertraute Wesen bloß eine Ratte war. Im ersten Moment konnte Ermengarde vor Angst nichts anderes tun, als sich auf das Bett kauern und die Füße einziehen, aber Saras gelassener Gesichtsausdruck und die Geschichte von ihrer ersten Begegnung mit Melchisedec weckten schließlich doch ihre Neugier. Sie beugte sich über den Bertrand und beobachtete Sara, wie sie sich vor das Loch in der Fußleiste kniete. »Sie ... sie kommt aber doch wohl nicht mit einem Satz heraus und springt aufs Bett, oder?« fragte Ermengarde vorsichtshalber. »Nein«, beruhigte Sara sie. »Sie ist genauso höflich wie wir. Sie ist wie ein richtiger Mensch. letzt paß auf!« Sie ließ einen leisen Pfeifton hören - so leise und vertraulich, daß er nur bei absoluter Stille zu vernehmen war. Sie pfiff einige Male und war dabei ganz konzentriert. Es kam Ermengarde so vor, als übe Sara eine geheime Zauber kraft aus. Und schließlich tat sich etwas: Ein kleiner Kopf mit grauen Schnurrbarthaaren und hellen Augen lugte hervor. Sara hielt ein paar Krümel in ihrer Hand. Sie ließ sie fallen, und Melchisedec kam leise hervor und fraß sie auf. Ein Stück, das ein wenig größer war, nahm er auf und trug es mit sich fort. »Siehst du«, sagte Sara, »das ist für seine Frau und die Kinder. Er ist sehr lieb. Er frißt selber nur die kleinen Stückchen. Wenn er wieder in der Wand ist, kann ich genau hören, wie seine Familie vor Freude quiekt. Es sind drei unterschiedliche Quiektöne. Der erste stammt von den Kleinen, der zweite von Mrs. Melchisedec, und der dritte von Melchisedec selbst.« Ermengarde fing an zu lachen. »O Sara!« sagte sie. »Du bist schon komisch, aber du bist trotzdem lieb.« »Ich weiß, daß ich komisch bin«, stimmte Sara vergnügt zu, »und ich versuche, Heb zu sein.« Sie rieb sich die Stirn, und ihr Blick hatte plötzlich einen nachdenklichen, aber auch zärtlichen Zug. »Papa hat immer über mich gelacht«, sagte sie, »aber ich mochte es, wenn er lachte. Er dachte wohl, daß ich komisch sei, aber es gefiel ihm auch, daß ich immer Geschichten erfand. Ich ... ich kann einfach nicht anders, ich muß einfach Geschichten erfinden. Ich glaube, ich könnte anders gar nicht leben.« Sie schwieg einen Moment und ließ ihren Blick durch die Kammer schweifen. »Ich bin sicher, ich könnte sonst hier nicht leben«, fügte sie leise hinzu. Ermengarde hörte wie immer gespannt zu. »Wenn du erzählst«, sagte sie, »ist es immer, als sei alles wahr. Du sprichst von Melchisedec, als sei er ein Mensch.« »Er ist ein Mensch«, sagte Sara. »Er kennt Hunger und Angst genauso wie wir; und er hat eine Frau und Kinder. Woher wissen wir eigentlich, ob er nicht genauso denken kann wie wir? Seine Augen sehen aus, als ob er ein Mensch wäre. Deswegen habe ich ihm einen Namen gegeben.« Sie setzte sich mit umschlungenen Knien, was ihre Lieblingshaltung war, auf den Boden.
»Außerdem«, sagte sie, »ist es eine Bastille-Ratte, die mir als Freund geschickt
wurde. Ich kann ihr immer Essensreste mitbringen, die die Köchin
weggeworfen hat, und das reicht völlig, um sie zu ernähren.«
»Ist das hier immer noch die Bastille?« wollte Ermengarde wissen. »Stellst du
dir immer noch vor, es sei die Bastille?«
»Fast ständig«, antwortete Sara. »Manchmal versuche ich mir vorzustellen, es
sei etwas anderes; aber es ist doch am ehesten die Bastille - besonders, wenn es
kalt ist.«
In diesem Augenblick sprang Ermengarde erschrocken vom Bett. Sie hatte
etwas gehört, es klang wie ein entferntes Klopfen an der Wand, das zweimal
ertönte.
»Was ist das?« rief sie aus.
Sara stand auf und sagte mit ergreifender Stimme: »Das ist die Gefangene aus
der Nachbarzelle.«
»Becky!« rief Ermengarde aufgeregt.
»Ja«, sagte Sara. »Hör doch; zweimal klopfen heißt >Gefangene, bist du da?<«
Sara klopfte daraufhin dreimal an die Wand. »Das bedeutet: >Ja, ich bin da,
alles in Ordnung.<«
Auf Beckys Seite klopfte es nun viermal.
Sara erklärte: »Das heißt: >Gut, meine Leidensgenossin, dann können wir in
Frieden schlafen. Gute Nacht,<«
Ermengarde strahlte vor Begeisterung.
»O Sara!« flüsterte sie voller Freude. »Das ist wie eine spannende Geschichte!«
»Ja, es ist eine Geschichte«, sagte Sara. »Alles ist eine Geschichte. Du bist eine
Geschichte - ich bin eine Geschichte. Und Miss Minchin ist eine Geschichte.«
Sie setzte sich wieder hin und erzählte, bis Ermengarde völlig vergaß, daß sie
selbst so etwas wie eine entflohene Gefangene war. Sara mußte sie daran
erinnern, daß sie nicht die ganze Nacht in der Bastille bleiben konnte, sondern
heimlich nach unten schleichen und in ihr eigenes verlassenes Bett kriechen
mußte.
Der Herr aus Indien Ermengardes und Lotties Ausflüge zum Dachboden waren jedoch gefährlich. Sie wußten vorher nie genau, wann Sara oben sein würde, und sie konnten nie sicher sein, ob Miss Minchin nicht nach der Zubettgehzeit noch einen Kontroll gang durch die Schlaf räume machte. Sie kamen deshalb selten zu Besuch, und Sara führte ein sonderbares, einsames Leben. Ihr Leben unten war noch einsamer als das in ihrer Dachkammer. Sie konnte mit niemandem sprechen; und wenn sie Besorgungen machen mußte und durch die Straßen ging, war sie ein verlassenes kleines Wesen mit einem Korb oder einem Paket auf dem Arm, das sich bemühte, seinen Hut festzuhalten, wenn der Wind blies, und das fühlte, wie das Wasser durch die Schuhe drang, wenn es regnete.
Als dieses Wesen noch Prinzessin Sara gewesen war, die in ihrem Wagen durch die Straßen fuhr oder in Mariettes Begleitung spazierenging, hatte der Anblick ihres freundlichen, offenen Gesichtes und ihrer kostbaren Kleidung oft die Aufmerksamkeit der Leute erregt. Jetzt schaute sie niemand mehr an, ja, es schien sie noch nicht einmal jemand wahrzunehmen, während sie durch die belebten Straßen hastete. Sie war inzwischen ziemlich gewachsen und wußte, daß sie in den unscheinbaren Kleiderfetzen, die sie trug, äußerst merkwürdig aussah. All ihre wertvollen Kleidungsstücke waren ihr weggenommen worden, und die, die man ihr gelassen hatte, mußte sie so lange tragen, bis sie überhaupt nicht mehr paßten. Manchmal, wenn sie an einem Schaufenster vorbeikam oder sich im Spiegel sah, mußte sie beinah laut auflachen, so lächerlich kam sie sich vor. Manchmal wurde sie aber auch nur rot, biß sich auf die Lippe und wandte sich traurig ab. Abends, wenn sie an den hellerleuchteten Häusern vorbeikam, warf sie einen sehnsüchtigen Blick in die warmen Zimmer, sie fand es lustig, sich dann Dinge auszudenken über die Leute, die sie am Feuer oder am Tisch sitzen sah. Einige Familien, die in Miss Minchins Viertel wohnten, waren ihr besonders vertraut, wenn auch auf ihre eigene Art. Am liebsten mochte sie diejenige, der sie den Namen »Große Familie« gegeben hatte. Sie hatte den Namen so ge wählt, weil es so viele Familienmitglieder waren. Die »Große Familie« hatte acht Kinder und eine stämmige, rotbackige Mutter, einen stämmigen, rotbackigen Vater und eine stämmige, rotbackige Großmutter und eine Unzahl von Dienern. Die acht Kinder wurden entweder spazierengeführt oder in Kinderwägen von molligen Kinderfrauen ausgefahren. Abends flitzten sie oft zur Tür, um ihren Papa zu begrüßen. Dann tanzten sie um ihn herum und rissen ihm den Mantel aus den Händen, um nachzusehen, ob kleine Überraschungen in den Taschen versteckt waren. Oder sie schauten alle aus dem Kinderzimmerfenster, stupsten sich gegenseitig und lachten. Es ging immer lustig und kunterbunt in der »Großen Familie« zu. Sara hatte sie alle gern und gab ihnen Namen aus Büchern, die sie gelesen hatte - sehr romantische Namen. Die »Große Familie« bekam somit den Zweitnamen »Mont-morency«. Die Kinder hießen Ethelberta Beauchamp Mont-morency oder Violet Cholmondeley Mont-morency oder einfach Guy Clarence, Claude Harold Hector, Veronica Eustacia und Rosalind Gladys. Eines Abends geschah etwas Lustiges - das heißt, für die »Große Familie« war es überhaupt nicht lustig. Einige von den Montmorencys waren offenbar unterwegs zu einer Kinderparty. Gerade als Sara an ihrem Haus vorbeiging, traten sie aus der Tür; sie wollten soeben in die Kutsche steigen, die vor dem Haus auf sie wartete. Veronica Eustacia und Rosalind Gladys, die weiße Spitzenkleider mit hübschen Schärpen trugen, gingen vor. Ihnen folgte der fünfjährige Guy Clarence. Er war so ein niedliches Kind und hatte so rosige Wangen und blaue Augen und so einen entzückenden Lockenkopf, daß Sara wirklich alles um sich herum vergaß und stehenblieb, um dieses Kerlchen anzusehen. Es war Weihnachtszeit, und die »Große Familie« hatte viele Geschichten von Kindern gehört, die arm waren und keinen Papa und keine Mama hatten, die
ihre Stiefel mit Süßigkeiten füllten und mit ihnen ins Weihnachtsmärchen gingen. Kinder, die dünn bekleidet waren und frieren und hungern mußten. In den Geschichten ging es immer um gute Menschen, denen ein armes Kind begegnete. Sie gaben ihm Geld oder wertvolle Geschenke oder nahmen es mit nach Hause, um ihm etwas Gutes zu essen zu geben. Guy Clarence hatte an diesem Nachmittag eine dieser Geschichten gelesen, und er war danach zu Tränen gerührt. Sein sehnlichster Wunsch war, so ein armes Kind zu finden und ihm eines von seinen Sixpence-Münzen zu schenken, damit es nie wieder Not leiden müsse. Er war sicher, daß diese Münze Reichtum auf ewig bedeutete. Und gerade, als Guy Clarence in den Wagen stieg und auf den Sitz sprang, um zu fühlen, wie das Polster nachgab, erblickte er Sara auf dem regennassen Gehweg. In ihrer ärmlichen Kleidung, den alten Korb am Arm, stand sie da und schaute ihn hungrig an. Er dachte, ihre Augen sähen so hungrig aus, weil sie seit langem nichts mehr zu essen bekommen hätte. Er wußte nicht, daß sie so aussahen, weil Sara hungrig war nach einem warmen, glücklichen Zuhause und daß sie hungrig danach war, ihn zu umarmen und zu küssen. Er bemerkte nur, daß sie große Augen und ein schmales Gesicht und dünne Beine hatte und einen einfachen Korb und ärmliche Kleider trug. Er suchte in seiner Tasche nach der Münze und marschierte festen Willens auf sie zu. »Hier, armes kleines Mädchen«, sagte er. »Hier hast du ein Sixpence-Stück. Ich schenke es dir.« Sara erschrak und wurde sich plötzlich bewußt, daß sie genauso aussah wie die armen Kinder, die früher auf dem Gehweg stehengeblieben waren, um sie zu sehen, wenn sie aus ihrem Wagen stieg. Und oft hatte sie ihnen eine Münze zugesteckt. Ihr Gesicht wurde erst rot und dann blaß, und sie hatte das Gefühl, als könne sie das liebevoll dargebotene Geldstück nicht nehmen. »Ach, nein!« sagte sie. »Nein danke, ich darf es nicht nehmen, wirklich nicht!« Da ihre Stimme überhaupt nicht wie die eines armen Kindes von der Straße klang und ihr Benehmen eher wie das eines wohlerzogenen Kindes war, wurden Veronica Eustacia, die in Wirklichkeit Janet hieß, und Rosalind Gladys, die eigentlich Nora hieß, neugierig und beugten sich mit gespitzten Ohren vor. Guy Clarence ließ sich dagegen von seinem wohltätigen Vorhaben nicht abbringen. Er drückte Sara die Münze einfach in die Hand. »Doch, du mußt sie nehmen, armes Mädchen!« beharrte er. »Du kannst dir davon etwas zu essen kaufen. Es ist ein ganzes Sixpence-Stück!« Sein Gesicht hatte etwas so Freundliches, daß Sara spürte, es würde ihm vor Enttäuschung das Herz brechen, wenn sie das Geldstück nicht annahm. Es wäre grausam gewesen, es stolz zurückzuweisen. Obwohl ihre Wangen brannten, vergaß sie ihren Stolz für einen Augenblick. »Danke«, sagte sie. »Du bist wirklich ein lieber kleiner Kerl.« Und während er glücklich in seine Kutsche stieg, ging sie weiter und versuchte zu lächeln, obwohl ihr Atem schwer ging und ihre Augen von einem Schleier bedeckt waren. Sie hatte gewußt, daß sie komisch und schäbig aussah, war aber
bis jetzt nie auf den Gedanken gekommen, daß man sie für eine Bettlerin halten könnte. Während die Kutsche der »Großen Familie« wegfuhr, unterhielten sich die Kinder, die darin saßen, aufgeregt. »O Donald« - das war Guy Clarence' richtiger Name -, rief Janet besorgt aus, »warum hast du dem kleinen Mädchen deine Sixpence-Münze gegeben? Ich bin ganz sicher, daß sie keine Bettlerin ist!« »Sie hat auch nicht wie eine Bettlerin gesprochen!« rief Nora. »Und ihr Gesicht sah auch nicht aus wie ein Bettlerinnengesicht!« »Außerdem hat sie gar nicht gebettelt«, sagte Janet. »Ich hatte solche Angst, sie könnte mit dir böse werden. Weißt du, die Leute werden ärgerlich, wenn man sie für Bettler hält und sie in Wirklichkeit gar keine sind.« »Sie war aber nicht verärgert«, sagte Donald ein wenig verdutzt, aber mit fester Stimme. »Sie hat gelächelt und mich einen lieben kleinen Kerl genannt. Und das war ich schließlich auch! Ich habe ihr ein ganzes Sixpence-Stück geschenkt!« Janet und Nora sahen sich an. »Eine Bettlerin hätte so etwas nie gesagt«, sagte Janet entschlossen. »Sie hätte höchstens gesagt: >Danke vielmals, junger Herr< - oder >vielen Dank, mein Herr und vielleicht hätte sie einen höflichen Knicks gemacht.« Sara wußte von dieser Unterredung nichts, aber von da an hatte die »Große Familie« an ihr ebensoviel Interesse wie Sara an ihr. Wenn sie an ihrem Haus vorbeiging, schauten jedesmal Kinder aus dem Fenster, und wenn die Familie am Kamin saß, wurde oft über sie gesprochen. »Sie ist so etwas wie eine Dienerin an der Mädchenschule«, sagte Janet. »Ich glaube nicht, daß sie eine Familie hat. Ich glaube, sie ist ein Waisenkind. Auf jeden Fall ist sie keine Bettlerin, auch wenn ihre Kleider schäbig aussehen.« Von nun an hieß sie bei der Familie »Das-kleine-Mädchen-das-keine-Bettlerinist«. Der Name war natürlich ziemlich lang und klang besonders lustig, wenn die Kleinsten ihn heraussprudelten. Nachdem es Sara gelungen war, ein Loch in die Münze zu bohren, hängte sie sie an einem schmalen, alten Band um den Hals. Ihre Zuneigung zu der »Großen Familie« wuchs - wie bei allem, was sie ins Herz schloß. Zum Bei spiel hatte sie Becky allmählich immer lieber, und sie freute sich schon immer sehr auf die zwei Vormittage in der Woche, an denen sie den Kleinen Französischunterricht geben durfte. Ihre Schülerinnen liebten sie auch und stritten sich darum, wer von ihnen am nächsten bei ihr stehen durfte, um seine Hand in ihre zu schmuggeln. Es tat ihrem einsamen Herzen gut, wenn sie sich an sie schmiegten. Mit den Spatzen hatte sie inzwischen dicke Freundschaft geschlossen. Wenn sie auf dem Tisch stand und aus dem Dachfenster schaute und flötete, kam sofort eine Schar grauer Stadtvögel zwitschernd herbeigeflattert und ließ sich auf den Schieferplatten nieder, um mit ihr zu plaudern und möglichst viele von den Krümeln zu erwischen, die sie ihnen zuwarf. Auch mit Melchisedec war sie mittlerweile so vertraut, daß er manchmal sogar Mrs. Melchisedec mitbrachte oder eines der Kinder.
Wenn sie mit ihm sprach, sah es so aus, als verstünde er sie ganz genau. Gegenüber Emily, die immer nur dasaß und vor sich hin schaute, bekam Sara im Laufe der Zeit ein merkwürdiges Gefühl. Es hatte angefangen, als sie sich einmal ganz besonders einsam fühlte. Sie hatte sich gewünscht, Emily würde sie verstehen und Mitgefühl zeigen. Sie sträubte sich dagegen, sich einzugestehen, daß ihre einzige Gefährtin nichts fühlte und nichts hörte. Manchmal, wenn sie sie auf einen Stuhl setzte und ihr gegenüber auf dem alten roten Fußschemel Platz nahm, starrte Sara sie so lange an und dachte sich so lange etwas über sie aus, bis ihre Augen ganz groß wurden und ein Gefühl der Angst sie beschlich. Besonders nachts, wenn alles so still und nur gelegentlich das plötzliche Trippeln und Quieken von Melchisedecs Familie in der Wand zu hören war. Eine ihrer Vorstellungen war, Emily sei eine Art gute Hexe, die sie beschützte. Manchmal, wenn sie sie so anstarrte und ihre Phantasie den Höhepunkt erreichte, richtete sie Fragen an Emily und war ganz nah daran zu glauben, daß sie sogleich antworten würde. Aber sie wartete immer vergeblich. Es folgten lange, schwere Tage - sie wurde hierhin und dorthin geschickt und mußte bei Wind, Kälte und Regen Besorgungen machen, von denen sie naß und hungrig zurückkehrte, um von neuem losgeschickt zu werden, ohne daß sich jemand Gedanken darüber machte, daß sie nur ein Kind war, dessen Beine müde waren und dessen kleiner Körper ausgekühlt war. Sie hörte nur lieblose Worte und bekam kalte, geringschätzige Dankesblicke zugeworfen. Nach solchen Tagen hatte sie nicht immer die Kraft, ihr wundes und einsames Herz mit Phantasien zu trösten. Und Emily saß weiterhin nur reglos auf ihrem alten Stuhl und starrte stumm vor sich hin. An einem solchen Abend, als Sara frierend und durchnäßt in ihre Dachkammer kam und ihre Seele zutiefst aufgewühlt war, erschienen ihr Emilys Blick so leer und ihre Arme und Beine so ausdruckslos, daß sie die Beherrschung verlor. Sie hatte auf der ganzen Welt niemanden als Emily. Und die saß nur da. »Ich sterbe, jetzt sofort«, sagte sie zuerst. Emily starrte weiter vor sich hin. »Ich kann es nicht länger aushallen«, sagte Sara zitternd. »Ich weiß, daß ich sterbe. Ich friere, ich bin naß, ich bin ausgehungert. Tausend Meilen bin ich heute gelaufen, und sie haben mich von morgens bis abends nur gescholten. Und weil ich das, was ich am Abend noch für die Köchin besorgen sollte, nicht bekommen habe, haben sie mir kein Abendessen gegeben. Ein paar Männer haben mich ausgelacht, weil ich mit meinen alten Schuhen im Matsch ausge rutscht bin. Ich bin über und über voller Dreck. Und sie lachen. Hörst du?« Sie schaute in die starren Glasaugen und das selbstgefällige Gesicht, und plötzlich überkam sie eine schmerzliche Wut. Sie holte aus, stieß Emily vom Stuhl und brach in herzzerreißendes Schluchzen aus - Sara, die niemals weinte. »Du bist einfach nur eine Puppe\« schrie sie. »Nichts als eine Puppe! Dir ist alles egal. Du bist ausgestopft mit Sägemehl. Du hast nie ein Herz gehabt. Nie im Leben könntest du etwas fühlen. Du bist eine Puppe!« Emily lag auf dem Boden, ihre Beine hingen umgeknickt über ihrem Kopf, und ihre Nasenspitze war platt; aber sie schwieg, beinahe würdevoll. Sara legte Emilys Kopf in ihre Arme. Die Ratten in der Wand fingen an zu
kämpfen, sich gegenseitig zu beißen, zu quieken und durcheinanderzurennen. Melchisedec bestrafte gerade ein paar Familienmitglieder. Saras Schluchzen ließ allmählich nach. Es war nicht ihre Art, die Nerven zu verlieren, so daß sie sich über sich selbst wunderte. Nach einer Weile hob sie den Kopf und schaute zu Emily, die sie von der Seite her anstarrte, diesmal mit einer Art glasäugigen Mitgefühls. Sara beugte sich nieder und hob sie auf. Reue überkam sie. Sie mußte fast ein wenig über sich selbst lachen. »Du kannst ja nichts dafür, daß du eine Puppe bist«, sagte sie und stieß einen versöhnlichen Seufzer aus. »Genausowenig, wie Lavinia und Jessie etwas dafür können, daß sie kein Gefühl haben. Wir sind eben nicht alle gleich. Du hast nur Sägemehl in dir, vielleicht kann ich nicht mehr von dir verlangen.« Und sie küßte sie, strich ihre Kleider glatt und setzte sie zurück auf ihren Stuhl. Sie hätte sich so gewünscht, daß jemand in das leere Haus nebenan einziehen würde, dessen Dachfenster ganz nah bei ihrem lag. Wie würde sie sich freuen, wenn eines Tages das Fenster aufginge und jemand seinen Kopf aus der viereckigen Öffnung herausstrecken würde. >Wenn es jemand Nettes wäre<, dachte sie, würde ich ,guten Morgen' sagen, und dann könnte alles mögliche geschehen. Aber es ist sehr unwahrscheinlich, daß dort jemand schlafen würde, außer einem Diener vielleicht^ Eines Morgens, als Sara vom Einkaufen kam und gerade um die Ecke des Vorplatzes bog, sah sie zu ihrer großen Freude, daß ein Möbelwagen vor dem Nachbarhaus hielt. Die Wagentüren wurden aufgestoßen, und Männer in Hemdsärmeln trugen schwere Kartons und Möbelstücke hinein. >Es hat geklappt!< dachte sie. >Es hat wirklich geklappt!« Sie hätte sich am liebsten zu den Schaulustigen dazugesellt, die auf dem Gehweg stehenblieben, um zu sehen, was alles hineingetragen wurde. Sie dachte, wenn sie ein paar von den Möbelstücken sehen würde, könnte sie sich vielleicht schon ein Bild von den Leuten machen, denen sie gehörten. Als sie später vom Gemüsehändler zurückkam, schlug ihr Herz vor freudiger Erwartung. Einige exotisch aussehende Möbelstücke waren auf dem Gehweg abgestellt worden. Da standen ein schöner Tisch aus kunstvoll gearbeitetem Teakholz, einige Stühle und ein Wandschirm, der mit reichen orientalischen Stickereien verziert war. Bei ihrem Anblick bekam sie ein seltsames Gefühl von Heimweh. Sie hatte ganz ähnliche Dinge in Indien gesehen. Eines der Dinge, die Miss Minchin ihr weggenommen hatte, war ein Teakholzschreibtisch mit Schnitzereien, den ihr Vater ihr geschickt hatte. »Das sind prächtige Sachen«, sagte sie sich. »Ich glaube, da zieht eine reiche Familie ein.« Sobald ein Möbelwagen entladen war, kam schon der nächste. So ging es den ganzen Tag. So hatte Sara mehrere Male Gelegenheit, einen Blick auf die Dinge zu werfen, die hineingetragen wurden. Sie schien recht damit zu haben, daß die neuen Nachbarn vermögende Leute waren. Alle Möbel waren wertvoll und schön, und ein großer Teil war orientalisch. Wundervolle Teppiche, Vorhänge und Ziergegenstände, viele Bilder und Unmengen von Büchern ka men zum Vorschein. Auch ein riesiger Buddha in einem herrlichen Schrein war
dabei. >Irgend jemand aus dieser Familie muß in Indien gewesen sein<, dachte Sara. >Sie haben anscheinend eine Vorliebe für indische Sachen. Ich freue mich so. Sie werden für mich wie Freunde sein, selbst wenn vielleicht niemand aus dem Dachfenster schaut.< Als sie der Köchin die Milch für den Abend bringen wollte - es gab wirklich keinen Handlangerdienst, den man ihr nicht auftrug -, geschah etwas, das die Situation noch spannender machte als zuvor. Der vornehme, rotbackige Mann, der der Vater der »Großen Familie« war, überquerte den Vorplatz mit wichtiger Miene und lief die Stufen des Nachbarhauses hinauf. Er tat dies in einer Art und Weise, als ob er sich hier zu Hause fühlte, und als ob er auch in Zukunft diese Stufen hinauf- und hinabzulaufen gedachte. Er blieb ziemlich lange in dem Haus, kam zwischendurch mal heraus, um den Möbelträgern Anweisungen zu geben, so, als ob er das Recht dazu hätte. Es gab keinen Zweifel, daß er in irgendeiner Weise mit den neuen Nachbarn zu tun hatte. >Wenn die neuen Nachbarn Kinder habem, überlegte Sara, werden die Kinder der Großen Familie bestimmt vorbeikommen und mit ihnen spielen. Und vielleicht klettern sie ja einmal zum Spaß auf den Dachboden.< Am Abend, nach getaner Arbeit, kam Becky, um ihrer »Mitgefangenen« Neuigkeiten zu berichten. »Es ist ein indischer Herr, der da nebenan einzieht, Miss«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob er braun ist oder weiß. Auf jeden Fall ist es ein indischer Herr. Er ist sehr reich, und er ist krank, und der Herr von der >Großen Familie< ist sein Anwalt. Er hat viele Sorgen gehabt, und die haben ihn krank und schwach im Kopf gemacht. Er betet Götter an, Miss. Er ist ein Heide und verneigt sich bis auf den Boden. Ich hab' gesehen, wie sie eine Figur reingetragen haben, damit er sie anbetet. Man sollte ihm ein Gebetsblatt schenken, die kosten nicht mehr als einen Penny.« Sara lachte ein wenig. »Ich glaube nicht, daß er einen Gott anbetet«, sagte sie. »Manche Leute stellen sich so eine Figur in die Wohnung, weil sie sie gerne ansehen. Mein Papa hat eine schöne gehabt, und er hat sie nicht angebetet.« Aber Becky ließ sich nicht davon abbringen zu glauben, daß der neue Nachbar ein »Heide« war. Es klang viel romantischer, als wenn er ein ganz gewöhnlicher Herr gewesen wäre, der mit einem Gebetbuch in die Kirche ging. Sie stellte lange Überlegungen darüber an, was er und seine Frau und seine Kinder - falls er überhaupt Frau und Kinder hatte - wohl für Menschen seien. Sara selbst hoffte insgeheim, sie würden alle eine dunkle Hautfarbe haben und einen Turban auf dem Kopf tragen und - wie ihr Vater - »Heiden« sein. »Ich hab' noch nie neben Heiden gewohnt, Miss«, sagte Becky. »Ich möchte schon gern wissen, wie die leben.« Es dauerte ein paar Wochen, bis ihre Neugier gestillt werden konnte und sich herausstellte, daß der neue Nachbar weder Frau noch Kinder hatte. Er lebte ganz allein und hatte überhaupt keine Familie. Und er war sehr krank und sehr unglücklich.
Eines Tages hielt eine Kutsche vor seinem Haus. Als der Lakai von seinem
Kutschbock herabkletterte und die Tür öffnete, stieg als erstes der Vater der
»Großen Familie« aus.
Ihm folgten eine Krankenschwester in ihrer Dienstkleidung und zwei Diener.
Sie sollten dem neuen Nachbarn zur Seite stehen.
Er stieg mit ihrer Hilfe aus der Kutsche - ein magerer Mann, in einen
Pelzmantel eingehüllt, mit einem verhärmten, kummervollen Gesicht. Er wurde
die Stufen hinaufgetragen, und der Vater der »Großen Familie«, der sehr be
sorgt aussah, ging mit ihm. Kurz danach hielt ein Arztwagen vor dem Haus,
und der Doktor ging hinein, offenbar, um ihn zu versorgen.
»Nebenan wohnt ein Mann, der eine ganz gelbe Gesichtsfarbe hat, Sara«,
flüsterte Lottie ihr nach der Französischstunde zu. »Meinst du, er ist ein
Chinese? Im Erdkundeunterricht haben wir gelernt, daß Chinesen gelb sind.«
»Nein, er ist kein Chinese«, flüsterte Sara zurück. »Er ist sehr krank. Lies
deinen Text weiter, Lottie: >Non, monsieur. Je n'ai pas le canif de mon
oncle.<«
So begann die Geschichte von dem Herrn aus Indien.
RamDass Manchmal gab es einen schönen Sonnenuntergang. Vom Hof aus konnte man nur einen Teil davon zwischen den Schornsteinen auf den Dächern sehen. Vom Küchenfenster aus konnte man dagegen überhaupt nichts sehen, sondern ihn nur erahnen, wenn ein warmes Licht auf die Häuserwände fiel und die Luft rosa oder gelb aussah. Es gab jedoch einen Platz, von dem aus man den Abendhimmel in seiner vollen Schönheit beobachten konnte: die rötlichen oder goldenen Wolkengebilde im Westen, die lilafarbenen, die einen strahlendhellen Saum hatten, oder die kleinen, rosa getönten Schäfchenwolken, die wie rosafarbene Taubenschwärme das Blau des Himmels durchstreiften. Dieser Platz, an dem man gleichzeitig das Gefühl hatte, von klarer, reiner Luft umgeben zu sein, war das Dachkammerfenster. Wenn der Hof plötzlich in hellem Licht erstrahlte und wundervoll aussah, trotz der rußbedeckten Bäume und Geländer, dann wußte Sara, daß am Himmel etwas in Bewegung war. Und immer, wenn es ihr möglich war, die Küche zu verlassen, stahl sie sich in solch einem Augenblick fort in ihre Kammer, kletterte auf den alten Tisch und reckte sich so weit es ging aus der Dachluke hinaus. Dann hatte sie jedesmal das Ge fühl, als gehörten der ganze Himmel und die ganze Welt ihr allein. Wenige Tage nach dem Einzug des Herrn aus Indien war wieder so ein wundervoller Sonnenuntergang. Die Nachmittagsarbeit in der Küche war getan, und Sara konnte unbemerkt nach oben in ihre Kammer gehen. Sie kletterte auf den Tisch und schaute hinaus. Es war ein herrlicher Augenblick. Flüssiges Gold strömte über den Himmel, so, als ob sich gleich eine gewaltige Flut über die Erde ergießen wollte. Ein tiefes, sattgelbes Licht erfüllte die Luft, und die
Vögel, die über die Häuser flogen, hoben sich fast schwarz dagegen ab. »Was für ein bezaubernder Himmel«, sagte Sara leise zu sich selbst, »Es macht mir fast angst. Es ist so, als ob etwas Merkwürdiges geschehen wird. So geht es mir immer, wenn ein Sonnenuntergang besonders schön ist.« Plötzlich hörte sie ein Geräusch in ihrer Nähe. Es war ein merkwürdiges Geräusch, wie ein quiekendes Schwatzen. Es kam vom Dachfenster des Nachbarhauses. Irgend jemand wollte sich dort ebenfalls den Sonnenuntergang ansehen. Ein Kopf und ein Oberkörper tauchten aus der Fensteröffnung auf, aber es waren nicht der Kopf und der Oberkörper eines kleinen Mädchens oder einer Dienstmagd. Es war die malerische, weißgekleidete Gestalt eines Inders, mit dunkler Haut, leuchtenden Augen und einem weißen Turban auf dem Kopf. Das Geräusch, das sie gehört hatte, stammte von einem Äffchen, das der Mann liebevoll im Arm hielt, und das sich schwatzend an seine Brust schmiegte. Als Sarah hinsah, blickte er zurück. Ihr erster Gedanke war, daß seine dunklen Augen Traurigkeit und Heimweh ausdrückten. Sie war überzeugt, daß er heraufgekommen war, um die Sonne zu sehen, die er in England so selten zu Gesicht bekam und nach der er sich nun sehnte. Einen Augenblick sah sie ihn interessiert an und lächelte. Sie hatte selbst erfahren, wie gut ein Lächeln tun konnte, auch wenn es von einem Fremden kam. Er schien sich über ihr Lächeln zu freuen, denn sein Gesichtsausdruck änderte sich. Er lächelte zurück, und seine weißen Zähne blitzten auf, als sei in seinem dunklen Gesicht ein Licht entfacht worden. Saras freundlicher Blick tat immer seine Wirkung, wenn jemand sich müde und matt fühlte. Als er grüßte, ließ er versehentlich das Äffchen los. Es war ein schelmischer kleiner Affe, der immer auf Abenteuer aus war. Wahrscheinlich reizte ihn auch der Anblick eines kleinen Mädchens. Er sprang heraus aufs Dach, hüpfte plappernd zu Sara hinüber, machte einen Satz auf ihre Schulter und hopste von dort in die Dachkammer hinein. Sie mußte darüber lachen und freute sich. Aber sie wußte, daß er seinem Herrchen zurückgebracht werden mußte. Angestrengt überlegte sie, was am besten zu tun sei. Sie wandte sich wieder dem Inder zu und war froh, daß ihr ein paar Worte Hindi einfielen, die sie damals gelernt hatte, als sie bei ihrem Vater lebte. »Wird er sich fangen lassen?« fragte sie. Es war, als hätte sie noch nie ein so überraschtes und hocherfreutes Gesicht gesehen wie das des Inders, als er sie in seiner Muttersprache sprechen hörte. Er glaubte, seine Götter hätten sich eingeschaltet und die freundliche helle Stimme käme vom Himmel herab. Sara merkte sofort, daß er an europäische Kinder gewöhnt war. Eine Flut ehrerbietiger Dankesworte sprudelte aus ihm heraus. Er sei der Diener von »Missee Sahib«. Der Affe sei lieb und würde nicht beißen; aber es sei nicht leicht, ihn einzufangen. Wie der Blitz würde er von hier nach dort springen. Er sei ungehorsam, aber nicht böse. Er, Ram Dass, kenne ihn so gut, als sei er sein eigenes Kind, und ihm gehorche er manchmal, aber nicht immer. Wenn Missee Sahib es ihm erlaube, könne er über das Dach zu ihr klettern, durchs Fenster steigen und den kleinen Nichtsnutz zurückholen. - Er schien jedoch zu
befürchten, daß Sara ihn für unverschämt hielte und ihn nicht einlassen würde. Aber Sara erlaubte es ihm. »Können Sie herüberkommen?« fragte sie. »Sofort«, antwortete er. »Dann kommen Sie«, sagte sie, »er springt von einer Wand zur anderen, als ob er Angst hätte.« Ram Dass schlüpfte aus seiner Dachluke und kletterte sicher und behende zu ihr hinüber, so, als ob er sein Leben lang auf Dächern herumgeklettert wäre. Er glitt durch ihr Fenster und sprang lautlos auf den Boden. Dann wandte er sich zu Sara und verneigte sich. Der Affe sah ihn und kreischte kurz auf. Ram Dass schloß vorsichtshalber schnell das Fenster, um ihn einzufangen. Die Jagd dauerte nicht lange, denn plötzlich sprang der Affe Ram Dass auf die Schulter, schwatzte drauflos und klammerte sich mit seinem kleinen, dünnen Arm an seinen Hals. Ram Dass sprach Sara seinen tiefsten Dank aus. Es war ihr nicht entgangen, daß er mit einem schnellen Blick die ganze Kargheit und Schäbigkeit ihrer Dachkammer erfaßt hatte, aber er sprach zu ihr, als hätte er die kleine Tochter eines Rajah vor sich, und tat so, als habe er nichts bemerkt. Bevor er ging, dankte er ihr noch einmal für ihre Nachsicht und verbeugte sich ehrerbietig. Dieser kleine Bösewicht, sagte er und streichelte seinen Affen, sei in Wirklichkeit nicht so böse, wie er aussähe, und er brächte sein krankes Herrchen manchmal zum Lachen. Es hätte ihn sehr betrübt, wenn sein kleiner Liebling davongelaufen und verlorengegangen wäre. Dann verneigte er sich noch einmal, kletterte mit derselben Gewandtheit wie der Affe aus dem Fenster und über das Dach. Als er fort war, war Sara sehr nachdenklich. Dieser freundliche Inder, der Anblick seines Gewandes und seine Ehrfurcht bezeugende Art hatten in ihr viele Erinnerungen an früher geweckt. Wie merkwürdig, daß sie noch vor we nigen Jahren von Menschen umgeben gewesen war, die sie behandelten, wie Ram Dass es tat; die sich verbeugten, wenn sie vorüberging, und deren Stirn fast den Boden berührte, wenn sie zu ihnen sprach. Menschen, die ihre Diener und Sklaven waren. Es kam ihr vor wie ein Traum. Alles war nun vorbei und würde nie wiederkommen. Es gab keine Hoffnung, daß sich für sie jemals etwas ändern würde. Sie wußte, was für eine Zukunft Miss Minchin für sie vorgesehen hatte. Solange sie noch zu jung war, um als richtige Lehrerin eingesetzt zu werden, würde sie weiterhin zu Botengängen und Handlangerdiensten herangezogen werden, während gleichzeitig von ihr erwartet wurde, daß sie alles, was sie jemals gelernt hatte, im Gedächtnis behielt und sogar noch mehr dazulernte. Sie mußte deshalb den größten Teil ihrer abendlichen Freizeit dem Lernen widmen, denn sie wußte, daß sie großen Ärger bekommen würde, wenn sie nicht die Fortschritte machte, die von ihr erwartet wurden. Miss Minchin wußte natürlich ganz genau, daß Sara wißbegierig genug war, auch ohne Lehrer zu lernen. Wenn man ihr Bücher gab, vertiefte sie sich so sehr darin, daß sie sie schließlich auswendig konnte. Vielleicht würde man ihr in ein paar Jahren zutrauen, selbst den Unterricht zu führen. Das war eine »Änderung«, die eintreten könnte. Wenn sie älter war, würde man von ihr erwarten, sich im Unterricht abzurackern, so wie sie sich
jetzt im Haus abrackern mußte. Sie würden ihr anständige Kleider geben müssen, die aber bestimmt einfach und häßlich genug wären, daß sie immer noch wie ein Dienstmädchen aussähe. Das war wohl alles, was sie von ihrer Zukunft erhoffen konnte. Sara stand einige Minuten ganz still da und hing ihren Gedanken nach. Dann kam ihr eine Idee. Ihre Wangen begannen zu glühen, und ihre Augen funkelten. Sie richtete sich auf und hob den Kopf. »Ganz gleich, was kommt«, sagte sie, »etwas wird sich nicht ändern. Wenn ich auch eine Prinzessin in Lumpen und Fetzen bin, so kann ich doch in meinem Innern eine richtige Prinzessin sein. Eine Prinzessin in goldenen Gewändern zu sein ist leicht, aber eine zu sein, und niemand weiß etwas davon, ist wie ein Triumph. So wie bei Marie Antoinette, die gestürzt und ins Gefängnis geworfen wurde. Sie hatte nur ein schwarzes Kleid an, ihr Haar war weiß, und sie wurde beleidigt und beschimpft. Zu dieser Zeit war sie viel mehr eine Königin als zuvor, als sie noch in Glanz und Gloria lebte. So bewundere ich sie am meisten. Sie war stärker als alle zusammen, auch wenn sie schließlich auf der Guillotine hingerichtet wurde.« Sara hatte diese Gedanken nicht zum ersten Mal. Sie hatten ihr schon an vielen schlimmen Tagen Trost gespendet, so daß Miss Minchin sich dann jedesmal über ihren Gesichtsausdruck wunderte und sich gleichzeitig darüber ärgerte, daß dieses Kind anscheinend so in seiner Gedankenwelt lebte, als stände es über allen Dingen. Sara schien dann überhaupt nicht zu hören, wenn man sie zurechtwies und mit ihr schimpfte. Manchmal, wenn Miss Minchin in besonders herrischem Ton an ihr herumkritisierte, schaute Sara sie nur mit ruhigem, festem Blick und einem fast stolzen Lächeln schweigend an. Miss Minchin konnte nicht wissen, was Sara dann dachte: >Sie wissen wohl nicht, daß Sie diese Worte zu einer Prinzessin sagen. Wenn ich könnte, würde ich jetzt meine Hand heben und Ihnen den Kopf abschlagen lassen. Ich verschone Sie nur, weil ich in meinem Herzen eine Prinzessin bin, während Sie nichts anderes sind als eine arme, alte, dumme, unfreundliche, gemeine Kreatur, und es nicht besser wissen.< Heimlich so zu Miss Minchin zu sprechen machte Sara den größten Spaß. So seltsam es auch war, es tröstete sie und tat ihr gut. »Eine Prinzessin muß auch höflich sein«, sagte sie oft zu sich selbst. Und wenn die Dienstmägde den barschen Ton ihrer Herrin übernahmen und sie herumkommandierten, hielt Sara den Kopf aufrecht und antwortete ihnen mit merkwürdiger Höflichkeit, so daß sie sie verwundert anstarrten. »Ihre Manieren sind höflicher, als wenn sie vom Buckingham Palace käme, unsere Kleine«, sagte die Köchin manchmal und grinste. »Ich bin oft genug wütend auf sie, aber ich muß sagen, sie weiß sich immer zu benehmen. >Bitte sehr, Frau Köchin< - >Wären Sie so freundlich, Frau Köchin?< - >Ich bitte um Entschuldigung, Frau Köchinx ->Darf ich Sie stören, Frau Köchin?< So redet sie, als ob es nichts wäre.« Am nächsten Morgen, nachdem sie Ram Dass und seinen Affen kennengelernt hatte, war Sara mit den kleinen Kindern im Schulraum. Nach dem Unterricht
sammelte sie die Französischbücher ein und hing ihren Gedanken nach. Sara dachte darüber nach, was passieren würde, wenn Miss Minchin herausfand, daß sie, die fast mit ihren Zehen die Stiefel durchbohrte, eine Prinzessin war - eine richtige! Saras Blick war bei diesem Gedanken genau der, den Miss Minchin am meisten haßte. Und zufällig stand sie auch noch in Saras Nähe. Das war zuviel für sie. Wütend rannte sie auf Sara zu und verpaßte ihr eine Ohrfeige. Sara fuhr zusammen. Mit einem Schlag erwachte sie aus ihrem Traum, holte tief Luft und stand einen Moment regungslos da. Weil sie nicht wußte, was sie tun sollte, lachte sie. »Was lachst du, du freches, unverschämtes Ding?« rief Miss Minchin. Sara war nahe dran, die Beherrschung zu verlieren, erinnerte sich jedoch rechtzeitig, was sich für eine Prinzessin geziemte. Ihre Wange war rot von der Ohrfeige und schmerzte. »Ich habe nachgedacht«, antwortete sie. »Entschuldige dich auf der Stelle!« rief Miss Minchin. Sara zögerte einen Augenblick. »Ich entschuldige mich dafür, daß ich gelacht habe, wenn das frech war«, sagte sie, »aber ich entschuldige mich nicht dafür, daß ich nachgedacht habe.« »Was hast du gedacht?« fragte Miss Minchin. »Wie kommst du dazu, zu denken? Sag mir, was du gedacht hast!« Jessie kicherte, und sie und Lavinia stupsten sich gegenseitig an. Alle sahen von ihren Büchern auf und lauschten. Sie fanden es immer spannend zuzusehen, wie Miss Minchin Sara angriff. Sara sagte dann immer etwas Komisches und hatte anscheinend nie Angst vor ihr. Auch jetzt hatte sie keine Angst, obwohl ihre Wange inzwischen feuerrot war und ihre Augen blitzten. »Ich habe gedacht«, antwortete sie höflich, »daß Sie nicht wußten, was Sie tun.« »Daß ich nicht wußte, was ich tue?« stieß Miss Minchin hervor. »Ja«, sagte Sara. »Und ich habe gedacht, was wohl passieren würde, wenn ich eine Prinzessin wäre und Sie mich ohrfeigten - was ich dann mit Ihnen machen würde. Und ich habe gedacht, wenn ich eine Prinzessin wäre, dann würden Sie es nie wagen, mir etwas zu tun, ganz egal, was ich sage oder tue. Und ich habe gedacht, wie überrascht und erschrocken Sie wären, wenn Sie plötzlich herausfänden ...« Sara hatte dieses Bild so klar vor Augen, daß sogar Miss Minchin von ihren Worten beeindruckt war. Ihr phantasieloser Geist sagte ihr, daß hinter dieser offenen Kühnheit irgendeine Kraft stecken müsse. »Was?« rief sie. »Wenn ich was herausfände?« »Daß ich wirklich eine Prinzessin bin«, sagte Sara, »und alles tun dürfte - alles, was ich wollte.« Alle machten große Augen, als sie das hörten. Lavinia reckte sich vor. »Geh auf dein Zimmer!« schrie Miss Minchin atemlos. »Auf der Stelle! Verlaß die Klasse! Geht an eure Aufgaben, meine Damen!« Sara machte eine kleine Verbeugung. »Entschuldigen Sie, daß ich gelacht habe, falls es unhöflich war«, sagte sie und
ging hinaus. Miss Minchin bemühte sich, ihre Beherrschung wiederzuerlangen,
und die Mädchen flüsterten hinter ihren Büchern.
»Hast du gesehen? Hast du ihren komischen Blick gesehen?« sagte Jessie
aufgeregt. »Es würde mich nicht wundern, wenn sich herausstellt, daß sie
wirklich jemand Besonderes ist. Stell dir das bloß mal vor!«
Auf der anderen Seite der Wand Wenn man in einer Häuserzeile wohnt, macht man sich gern Gedanken darüber, was wohl hinter den Wänden nebenan vor sich geht. Sara malte sich mit Vergnügen aus, was sich hinter der Wand, die die Schule vom Haus des neuen Nachbarn trennte, verbergen könnte. Sie wußte, daß das Klassenzimmer gleich neben seinem Arbeitszimmer lag, und hoffte, daß die Wand dick genug sei, damit er durch den Lärm, den die Kinder manchmal nach dem Unterricht machten, nicht gestört würde. »Ich mag ihn gern«, sagte sie zu Ermengarde. »Ich möchte nicht, daß er gestört wird. Ich habe ihn zu meinem Freund ernannt. Wenn man mit jemandem nie spricht, ihn dafür aber beobachtet, über ihn nachdenkt und Mitleid mit ihm hat, dann kann man das tun, und er kommt einem vor wie ein Verwandter. Ich mache mir oft Sorgen, wenn ich zweimal am Tag den Doktor zu ihm gehen sehe.« »Ich habe sehr wenige Verwandte«, sagte Ermengarde nachdenklich, »und bin froh darüber. Ich kann sie nämlich nicht leiden. Meine beiden Tanten sagen immer: >Du meine Güte, Ermengarde! Bist du dick, du solltest nicht so viele Süßigkeiten essen!< Und mein Onkel fragt immer: >Wann hat Eduard der Dritte den Thron bestiegen?< und »Wer starb, weil er zu viele Neunaugen gegessen hat?< oder •irgend so etwas.« Sara lachte. »Leute, mit denen man nie spricht, können einem gar nicht erst solche Fragen stellen«, sagte sie. »Außerdem glaube ich nicht, daß der Herr aus Indien das tun würde, auch wenn man mit ihm sehr vertraut wäre. Ich habe ihn gern.« Die »Große Familie« hatte sie ins Herz geschlossen, weil sie alle glücklich aussahen, den neuen Nachbarn hingegen hatte sie liebgewonnen, weil er unglücklich aussah. Er hatte sich anscheinend von irgendeiner schweren Krankheit nicht richtig erholt. In der Küche - wo natürlich die Dienstmägde alles wußten, woher auch immer - wurde viel über ihn gesprochen. Es hieß, er sei eigentlich gar kein Inder, sondern ein Engländer, der in Indien gelebt habe. Angeblich habe er viel Pech gehabt, und sein immenser Reichtum sei gefährdet gewesen, so sehr, daß er sich für immer ruiniert und blamiert geglaubt habe. Der Schock sei so groß gewesen, daß er beinahe an einer Krankheit gestorben sei. Und seitdem sei seine Gesundheit angegriffen, obwohl sich seine Vermögenslage wieder gebessert und er all seine Besitztümer wiedererlangt habe. Er habe irgendwas mit Minen zu tun gehabt. »Es waren Minen mit Diamanten drin!« wußte die Köchin. »Ich werd' mein
Geld nie in Minen stecken - schon gar nicht in Diamantminen.« Sie warf Sara einen Blick zu. »Wir wissen Bescheid darüber, nicht!« >Er muß sich gefühlt haben wie mein Papa<, dachte Sara. >Er war auch so krank wie mein Papa; aber er ist nicht gestorbene Sie fühlte sich noch stärker zu diesem fremden Mann aus Indien hingezogen als bisher. Sie war froh, wenn sie abends hinausgeschickt wurde, weil es immer sein konnte, daß die Vorhänge im Nachbarhaus noch nicht zugezogen waren und sie ihren »Freund« sehen konnte. Wenn niemand in ihrer Nähe war, blieb sie manchmal am Geländer stehen und wünschte ihm eine gute Nacht, so, als ob er sie hören könnte. Wenn sie ging, hatte sie selbst ein warmes und behagliches Gefühl. Manchmal dachte sie: >Er sieht aus, als ob er unter etwas leidet. Dabei hätte er eigentlich keinen Grund dazu, wo er doch sein Geld zurückbekommen hat und bald auch seine Krankheit ausgeheilt ist. Ich möchte wissen, welchen anderen Grund es gibt.< Wenn es wirklich einen anderen Grund gab - von dem selbst die Dienstmägde nichts wußten -, würde ihn sicherlich der Vater der »Großen Familie« kennen, der Mann, den sie Mr. Montmorency nannte. Mr. Montmorency suchte den Herrn aus Indien oft auf, und auch Mrs. Montmorency und all die kleinen Montmorencys kamen, wenn auch seltener. Besonders die beiden älteren Mädchen, Janet und Nora, schien er zu mögen. Er hatte ein Herz für alle Kinder, und er hatte die beiden Mädchen genauso lieb wie sie ihn. Janet und Nora freuten sich auf jeden Nachmittag, an dem sie hinübergehen und ihm ihre kleinen Höflichkeitsbesuche abstatten durften. Janet war diejenige, die in ihrer Familie für Ruhe und Ordnung sorgte. Sie war es auch, die bestimmte, wann es günstig war, den Herrn aus Indien zu bitten, ihnen Geschichten aus seinem Land zu erzählen. Und sie war es, die merkte, wenn er müde wurde und es Zeit war, sich davonzustehlen und Ram Dass zu sagen, daß er zu ihm kommen solle. Sie mochten Ram Dass gern. Der Herr aus Indien hieß richtig Mr. Carrisford, und Janet erzählte ihm von der Begegnung mit dem kleinen-Mädchen-das-keine-Bettlerin-war. Als er die Geschichte hörte, zeigte er sich sehr interessiert, und um so mehr, als Ram Dass ihm von seinem Abenteuer mit dem Affen auf dem Dach erzählte. Ram Dass konnte ihm die Dachkammer genau beschreiben - den kahlen Fußboden und den abgeblätterten Putz, den leeren, verkommenen Kamin und das harte, enge Bett. »Carmichael«, sagte er zu dem Vater der »Großen Familie«, als er das hörte, »ich möchte wissen, wie viele Dachkammern es hier in der Umgebung gibt, die so aussehen, und wie viele arme kleine Dienstmädchen in solchen Betten schlafen müssen, während ich mich auf meine Kissen werfe und der Reichtum mich erdrückt und mir auf die Nerven geht, Reichtum, der zum größten Teil nicht mir gehört.« »Mein lieber Freund«, sagte Mr. Carmichael vergnügt, »je eher Sie aufhören, sich zu quälen, desto besser für Sie. Selbst wenn Sie alle Reichtümer Indiens besäßen, könnten Sie nicht alle Not der Welt damit beseitigen. Und wenn Sie
alle Dachkammern in der Umgebung neu herrichten ließen, blieben immer noch all die Dachkammern übrig, die in den anderen Vierteln und Straßen der Stadt liegen. Was soll's also!« Mr. Carrisford saß da und knabberte an seinen Nägeln, während er in die glühenden Kohlen im Kamin sah. Nach einer Weile sagte er langsam: »Könnten Sie sich vorstellen, daß das andere Kind - das Kind, an das ich ständig denken muß - möglicherweise heute in einer ähnlichen Lage ist wie das arme, kleine Mädchen von nebenan?« Mr. Carmichael sah ihn beunruhigt an. Er wußte, daß sein Freund sich selbst, seinem Verstand und seiner Gesundheit nichts Schlimmeres antun konnte, als sich zu sehr mit diesem Thema zu beschäftigen. »Wenn das Kind von Madame Pascals Schule in Paris wirklich dasjenige ist, welches Sie suchen«, sagte er besänftigend, »ist es sicher bei Leuten untergebracht, die sich das auch leisten können. Sie adoptierten sie, weil sie die beste Freundin ihrer kleinen Tochter war, bevor diese starb. Sie hatten keine weiteren Kinder, und Madame Pascal sagte, es seien sehr reiche Russen.« »Und diese Frau hat wirklich nicht gewußt, wohin sie sie gebracht haben!« fragte Mr. Carrisford verzweifelt. Mr. Carmichael zuckte mit den Schultern. »Sie war eine realistisch denkende Französin, und sie war offenbar nur allzu froh, das Kind auf so einfache Art und Weise loszuwerden, als der Vater die Kleine nach seinem Tod völlig unversorgt zurückließ. Frauen ihrer Sorte küm mern sich nicht um die Zukunft von Kindern, die zur Belastung werden könnten. Die Adoptiveltern sind offenbar spurlos verschwunden.« »Aber Sie sagen, falls es das Kind ist, das ich suche. Sie sagen falls. Wir sind nicht sicher. Der Name war anders.« »Madame Pascal sprach ihn aus, als hieße er Carew statt Crewe, aber das kann einfach eine Sache der Aussprache sein. Die Umstände waren merkwürdig ähnlich. Ein englischer Offizier aus Indien hatte sein mutterloses Kind in die Schule gegeben. Er starb dann plötzlich, nachdem er sein Vermögen verloren hatte.« Mr. Carmichael schwieg einen Augenblick, als sei ihm ein neuer Gedanke gekommen. »Sind Sie sicher, daß das Kind auf eine Pariser Schule geschickt wurde? Sind Sie sicher, daß es Paris ist?« »Mein Heber Freund«, warf Mr. Carrisford unruhig und verbittert ein. »Ich bin mir überhaupt keiner Sache sicher. Ich habe weder das Kind noch die Mutter jemals gesehen. Ralph Crewe und ich waren als Kinder eng befreundet, aber seit unserer Schulzeit hatten wir uns nicht mehr gesehen, bis wir uns in Indien wiedertrafen. Ich war besessen von der Idee der Mine. Ihm erging es genauso. Das Ganze war so großartig und verlockend, daß wir fast den Kopf verloren. Wenn wir uns trafen, sprachen wir kaum von etwas anderem. Ich wußte nur, daß das Kind irgendwo in eine Schule geschickt worden war. Ich weiß noch nicht einmal mehr, wie ich es erfuhr.« Er wurde ganz aufgeregt, wie immer, wenn sein noch geschwächter Geist durch Erinnerungen an die schrecklichen Geschehnisse der Vergangenheit aufgewühlt wurde. Mr. Carmichael beobachtete ihn besorgt. Es war notwendig, ihm ein paar Fragen zu stellen, aber mit Ruhe und Vorsicht.
»Sie hatten also guten Grund anzunehmen, daß die Schule in Paris ist?« »Ja«, antwortete er, »weil ihre Mutter Französin war und ich gehört hatte, daß es ihr Wunsch war, sie in Paris erziehen zu lassen. Es war also anzunehmen, daß sie dort sein würde.« »Ja«, sagte Mr. Carmichael, »das ist mehr als wahrscheinlich.« Der Herr aus Indien beugte sich vor und schlug mit seiner großen knochigen Hand auf den Tisch, »Carmichael«, rief er, »ich muß sie finden. Wenn sie am Leben ist, muß sie irgendwo sein. Sollte sie einsam und arm sein, dann durch meine Schuld. Wie soll ein Mann gesund werden, der solch eine Schuld trägt? Diese plötzliche Wende mit der Diamantmine hat unsere phantastischen Träume zunichte gemacht, und die kleine Tochter von Captain Crewe muß womöglich bettelnd durch die Straßen ziehen!« »Nein, nein. Beruhigen Sie sich. Trösten Sie sich mit dem Gedanken, daß Sie ihr ein Vermögen übergeben können, wenn man sie findet.« »Warum war ich nur nicht stark genug, den Tatsachen ins Auge zu sehen, als unser Vorhaben zu scheitern drohte?« Mr. Carrisford seufzte schwer. »Ich glaube, ich hätte das ganze Unternehmen abgebrochen, wenn ich nicht für das Geld anderer mitverantwortlich gewesen wäre. Der arme Crewe hatte seinen ganzen Besitz in das Projekt gesteckt. Er vertraute mir, weil er mich liebte. Und er starb in dem Glauben, ich hätte ihn ruiniert - ich - Tom Carrisford, der mit ihm in Eton Kricket gespielt hat. Für was für einen Schurken muß er mich gehalten haben!« »Machen Sie sich nicht so bittere Vorwürfe.« »Ich mache mir nicht deshalb Vorwürfe, weil das Projekt gescheitert ist, sondern ich mache mir Vorwürfe wegen meiner Feigheit. Ich machte mich aus dem Staub wie ein Gauner und Dieb, weil ich es nicht fertigbrachte, vor meinen Freund hinzutreten und ihm einzugestehen, daß ich ihn und sein Kind ruiniert hatte.« Der Vater der »Großen Familie« legte Mr. Carrisford tröstend die Hand auf die Schulter. »Sie liefen weg, weil Sie den seelischen Druck nicht mehr ertragen konnten«, sagte er. »Sie befanden sich außerdem schon halb im Delirium. Wenn Sie dieses Fieber nicht bekommen hätten, wären Sie geblieben und hätten die Sache ausgefochten. Zwei Tage später kamen Sie schließlich wegen einer Hirnhautentzündung ins Krankenhaus. Sie haben die ganze Zeit phantasiert und mußten im Bett angeschnallt werden. Vergessen Sie das nicht.« Mr. Carrisford ließ den Kopf sinken. »Guter Gott! Ja«, sagte er. »Ich wurde fast verrückt von diesen Schreckensvorstellungen. Ich konnte wochenlang nicht schlafen. In der Nacht, als ich aus dem Haus taumelte, kam es mir vor, als sei die Luft voller grauenhafter Gestalten, die mich verspotteten und mir Grimassen schnitten.« »Das allein erklärt schon genug«, sagte Mr. Carmichael. »Wie kann jemand, der solch eine Krankheit hat, noch normale Entscheidungen treffen!« Mr. Carrisford schüttelte den Kopf. »Und als ich mein Bewußtsein wiedererlangt hatte, war der arme Crewe tot -
und bereits beerdigt. Und ich konnte mich an nichts erinnern. Monatelang war 'das Kind dann aus meinem Gedächtnis verschwunden. Selbst, als mir die ganze Geschichte mit Crewe und dem Mädchen langsam wieder ins Bewußtsein kam, erschien mir alles wie in einem Nebel.« Er schwieg einen Augenblick und rieb sich die Stirn. »Auch jetzt kommt mir manchmal alles verschwommen vor, wenn ich mich zu erinnern versuche. Aber irgendwann muß ich ja wohl gehört haben, wie Crewe von der Schule sprach, zu der die Kleine geschickt wurde. Meinen Sie nicht?« »Er hat vielleicht nicht direkt davon gesprochen. Sie haben ja anscheinend auch ihren Namen nie richtig gehört.« »Er gab ihr immer einen merkwürdigen Kosenamen, den er selbst erfunden hatte. Er nannte sie seine »kleine Missis<. Aber wir hatten nur immer diese verdammte Mine im Kopf. Wir sprachen von nichts anderem mehr. Wenn er doch einmal von ihr und der Schule sprach, vergaß ich es gleich wieder. Und jetzt werde ich mich nie mehr daran erinnern.« »Kommen Sie, kommen Sie«, sagte Carmichael, »wir werden sie schon finden. Wir werden die Suche nach Madame Pascals russischem Elternpaar nicht aufgeben. Sie sagte, sie könne sich vorstellen, daß sie in Moskau leben. Wir werden dieser Spur nachgehen. Ich werde nach Moskau fahren.« »Wenn ich in der Lage wäre, zu reisen, würde ich mit Ihnen kommen«, sagte Mr. Carrisford, »aber ich kann nichts anderes tun, als in meinen Pelzmantel eingehüllt vor dem Kamin sitzen. Und wenn ich in das Feuer sehe, glaube ich Crewes fröhliches, junges Gesicht vor mir zu sehen. Er sieht mich an, als ob er mich etwas fragen will. Manchmal träume ich nachts von ihm, und er steht vor mir und stellt mir immer dieselbe Frage. Können Sie sich denken, was er fragt, Carmichael?« »Nicht genau«, antwortete Mr. Carmichael mit leiser Stimme. »Er sagt jedesmal: >Tom, alter Freund, Tom - wo ist die >kleine Missis<« Er ergriff Mr. Carmichaels Hand und hielt sie fest. »Ich muß ihm eine Antwort geben, ich muß!« sagte er. »Helfen Sie mir, sie zu finden. Helfen Sie mir.« Währenddessen saß Sara auf der anderen Seite der Wand und sprach zu Melchisedec, der herausgeschlüpft war, um sich sein Abendessen zu holen. »Heute war es nicht leicht, eine Prinzessin zu sein, Melchisedec«, sagte sie. »Es wird schwieriger, wenn es draußen kälter wird und die Straßen matschig sind. Als ich Lavinia auf dem Flur begegnete und sie sich über meinen schmutzigen Rock lustig machte, wollte ich ihr erst eine passende Antwort geben. Aber ich konnte mich gerade noch rechtzeitig zurückhalten. Man kann nicht einfach so zurückschlagen, wenn man eine Prinzessin ist. Man muß sich beherrschen und sich manchmal auf die Zunge beißen. Das habe ich getan. Es war ein kalter Nachmittag, Melchisedec. Und es ist ein kalter Abend.« Plötzlich neigte sie den Kopf in ihre Schulter, wie so oft, wenn sie allein war. »O Papa«, flüsterte sie, »wie lange ist es her, daß ich deine >kleine Missis< war!« Das also geschah an diesem grauen Novembertag, diesseits und jenseits der Wand.
Ein Kind aus dem Volk Es war ein schlimmer Winter. Es gab Tage, an denen Sara auf ihren Einkäufen durch tiefen Schnee stapfen mußte. Es gab noch schlimmere Tage, an denen der Schnee schmolz und zu Matsch wurde. Und es gab Tage, an denen der Ne bel so dick war, daß die Laternen in den Straßen den ganzen Tag über brannten und London genauso aussah wie an jenem Nachmittag vor ein paar Jahren, als Sara und ihr Vater mit der Droschke durch die Straßen fuhren. An solchen Tagen sah es hinter den Fenstern des Hauses, in dem die »Große Familie« wohnte, immer besonders behaglich aus, und aus dem Arbeitszimmer, in dem der Herr aus Indien saß, drang ein warmes, Behaglichkeit ver strömendes Licht. Die Dachkammer hingegen war so trostlos, daß es mit Worten nicht zu beschreiben war. Es gab keine Sonnenuntergänge oder Sonnenaufgänge mehr zu sehen. Und wie es Sara schien, auch keine Sterne mehr. Die Wolken hingen tief und waren entweder grau oder schmutzigbraun, oder es regnete in Strömen. Um vier Uhr nachmittags wurde es dunkel, selbst wenn gerade kein Nebel war. Wenn Sara um diese Zeit etwas aus ihrer Kammer holen wollte, mußte sie eine Kerze anzünden. Die Küchenmägde waren niedergeschlagen, und ihre stets schlechte Laune verschlimmerte sich noch mehr. Becky wurde herumkommandiert wie eine Sklavin. Eines Abends, als Becky zu Sara in die Dachkammer kroch, sagte sie mit heiserer Stimme: »Wenn ich sterbe, hat es nichts zu tun mit Ihnen und der Bastille und mit Gefangensein in der Zelle nebenan. Das hier ist die Wirklichkeit, oder? Die Missis benimmt sich jeden Tag mehr wie ein Ge fängnisdirektor. Ich seh' den großen Schlüsselbund schon vor mir. Die Köchin, die ist wie eine von den Gefängniswärtern. Bitte, Miss, erzählen Sie weiter von dem unterirdischen Gang, den wir unter den Mauern durchgegraben haben.« »Ich erzähle dir lieber etwas Wärmeres«, sagte Sara, zitternd vor Kälte. »Nimm deine Decke und hülle dich darin ein, und ich nehme meine, und dann kuscheln wir uns auf dem Bett zusammen. Und ich erzähle dir vom Tropenwald, wo der Affe herkommt, der dem Herrn aus Indien gehört. Wenn er am Fenster auf dem Tisch sitzt und so traurig hinausschaut auf die Straße, dann denke ich immer, daß er jetzt bestimmt am liebsten in seinem Tropenwald wäre und sich mit seinem Schwanz an einen Kokosnußbaum hängen würde. Ich möchte wissen, wer ihn eingefangen hat, und ob er eine Familie zurücklassen mußte, der er immer Kokosnüsse nach Hause gebracht hat.« »Das ist wirklich wärmer«, sagte Becky dankbar, »aber irgendwie wird's einem auch heiß, wenn Sie von der Bastille erzählen.« Sara hüllte sich noch fester in die Decke ein, bis nur noch ihr Gesicht herausschaute. »Wenn sich der Körper schlecht fühlt, muß man sich mit den Gedanken ablenken. Das habe ich herausgefunden.« »Können Sie das, Miss?« fragte Becky zögernd und blickte sie bewundernd an. »Manchmal kann ich es und manchmal nicht«, sagte sie fest. »Aber wenn ich es kann, dann geht es mir gut. Und ich glaube, man kann es immer, man muß
nur oft genug üben. Ich habe in letzter Zeit viel geübt und gemerkt, daß es mit der Zeit leichter wird. Wenn alles um einen schrecklich ist, einfach schrecklich, dann stelle ich mir vor, so fest ich kann, eine Prinzessin zu sein.« Sara hatte genügend Anlässe, ihre Gedanken von der . Wirklichkeit abzulenken, und genügend Anlässe, sich selbst zu beweisen, ob sie wirklich eine Prinzessin war oder nicht. Eine der schwierigsten Bewährungsproben kam jedoch schon bald auf sie zu, an einem Tag, den sie wohl nie wieder würde vergessen können. Es hatte einige Tage ununterbrochen geregnet. Die Straßen waren kalt und matschig. Überall war Schlamm, und auf allem lag ein dichter Mantel aus Nieselregen und Nebel. Es waren - wie immer an solchen Tagen - mehrere ermüdende Besorgungen zu erledigen, und Sara mußte immer und immer wieder von neuem losgehen, bis ihre schäbigen Kleider völlig durchweicht waren. Die albernen Federn auf ihrem alten Hut waren schmutziger und alberner denn je, und ihre durchgetretenen Schuhe waren so naß, daß sie nur so trieften. Dazu kam noch, daß man ihr das Mittagessen verweigert hatte. Miss Minchin hatte beschlossen, sie zu bestrafen. Sara war so durchgefroren und hungrig und müde, daß ihr Gesicht ganz verhärmt aussah. Manche, die ihr auf der Straße begegneten, warfen ihr mitleidvolle Blicke zu. Aber Sara bemerkte es nicht. Sie eilte weiter und versuchte, sich abzulenken. Es mußte sein. Sie setzte ihre ganze Kraft ein, um sich andere Dinge vorzustellen. Aber diesmal war es so schwierig wie noch nie. Und als das schlammige Wasser in ihren durchlöcherten Schuhen gluckste und der Wind ihr fast die dünne Jacke vom Körper riß, redete sie mit sich selbst, ohne einen Laut und ohne eine Bewegung der Lippen. >Ich stelle mir vor, ich hätte trockene Kleider an<, dachte sie, >und ordentliche Schuhe und einen langen, dicken Mantel und Schafwollstrümpfe und einen Schirm. Und ich stelle mir vor, ich käme an einem Bäcker vorbei, der gerade frische Rosinenbrötchen hat, und ich fände ein Sixpence-Stück - das niemandem gehört. Und dann stelle ich mir vor, ich ginge in das Geschäft und kaufte mir sechs der allerfrischesten Rosinenbrötchen und äße sie alle auf einmal auf .< Manchmal geschehen seltsame Dinge auf der Welt. Und es war sicherlich seltsam, was Sara nun erlebte. In dem Moment, als sie sich das alles vorstellte, mußte sie die Straße überqueren. Der Schlamm war schrecklich, sie mußte fast darin waten. Sie ging so vorsichtig wie möglich, obwohl es nicht viel half, ständig mußte sie auf die Erde sehen und auf den Schlamm aufpassen, und plötzlich - gerade, als sie den Gehsteig erreichte bemerkte sie etwas Glitzerndes im Rinnstein. Es war tatsächlich eine Silber münze - eine ganz kleine, auf die schon viele Füße getreten waren, aber die immer noch genug Kraft besaß, ein wenig zu schimmern. Es war zwar keine Sixpence-Münze, aber doch ein Vierpenny-Stück. Blitzschnell hob ihre kleine, blaugefrorene Hand es auf. »Oh!« keuchte sie. »Es ist wahr! Es ist wahr!« Als sie aufschaute, stand sie in
unmittelbarer Nähe eines Geschäftes, und - man glaubt es kaum - es war ein Bäckerladen, und eine rundliche, rotbackige Frau mit fröhlichem Gesicht stellte soeben ein Tablett mit köstlichen, frischgebackenen und noch heißen Brötchen ins Fenster - große, dicke, glänzende Brötchen mit Rosinen drin! Sara fühlte sich einen Augenblick lang einer Ohnmacht nahe. Dieser freudige Schreck, der Anblick der Brötchen und der herrliche Duft von warmem Brot, der verlockend aus dem Kellerfenster des Bäckerladens strömte! Sie wußte, daß sie wegen des Geldstücks kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte. Es hatte bestimmt schon lange im Schmutz gelegen, und der ehemalige Besitzer war längst in der Menschenmenge verschwunden, die sich den ganzen Tag durch die Straße drängte. »Aber ich werde die Bäckersfrau fragen, ob sie etwas verloren hat«, sagte sie leise zu sich selbst. Sie ging auf das Geschäft zu und setzte den Fuß auf die Treppe. Plötzlich hielt sie inne. Da stand eine kleine, in Lumpen gehüllte Gestalt, noch verlassener und erbärmlicher als sie selbst. Nackte, schmutzige Füße lugten darunter hervor, weil die Lumpen nicht lang genug waren, sie zu bedecken. Oben schaute ein zerzauster Haarschopf heraus und ein schmutziges Gesicht mit großen, hohlen Augen. Sara sah sofort, daß es hungrige Augen waren. Sie hatte Mitleid. Leise seufzend sagte sie zu sich selbst: »Dies ist ein Kind aus dem Volk - und es leidet mehr Hunger als ich.« Das »Kind aus dem Volk« starrte zu Sara empor und trat ein wenig zur Seite, als ob es ihr Platz machen wollte. Es war gewohnt, allen Leuten Platz zu machen. Auch wenn ein Polizist es zufällig bemerkte, wußte es, daß er sagen würde: »Geh weiter!« Sara umklammerte ihr Vierpenny-Stück und zögerte einen Augenblick. Dann fragte sie: »Hast du Hunger?« Das Kind trat noch weiter zur Seite. »Warum?« fragte es mit heiserer Stimme. »Hast du kein Abendessen gehabt?« fragte Sara. »Kein Abendessen, kein Frühstück, kein Mittagessen. Nichts«, sagte das Mädchen, und seine Stimme klang noch heiserer. »Wie lange nicht mehr?« fragte Sara. »Weiß ich nicht. Hab' heut noch nichts gekriegt - nirgends. Hab' überall gefragt.« Ihr Anblick machte Sara noch hungriger und schwächer. Obwohl es ihr schlechtging, sagte sie zu sich selbst: »Ich bin doch eine Prinzessin. Und wenn Prinzessinen arm und von ihrem Thron vertrieben waren, teilten sie immer. Mit den Leuten aus dem Volk und wenn sie jemanden trafen, der ärmer und hungriger war als sie selbst. Sie gaben immer etwas ab. Rosinenbrötchen kosten einen Penny. Wenn es ein SixpenceStück gewesen wäre, hätte ich sechs essen können. Es wird für keinen von uns reichen. Aber es ist besser als nichts.« »Warte einen Moment«, sagte sie zu dem Kind. Sie ging in den Bäckerladen. Dort war es warm, und es roch herrlich. Die Bäckersfrau trug soeben neue heiße Rosinenbrötchen zum Fenster.
»Bitte«, sagte Sara, »haben Sie ein Vierpenny-Stück verloren - ein silbernes
Vierpenny-Stück?« Und sie zeigte ihr die kleine gefundene Münze.
Die Frau sah erst das Geldstück an und dann Sara.
»Du meine Güte, nein!« sagte sie. »Hast du es gefunden?«
»Ja«, sagte Sara, »im Rinnstein.«
»Dann behalte es«, sagte die Frau. »Da hat es vielleicht schon eine Woche
gelegen, und wer weiß, wer es verloren hat. Du würdest es nie herausfinden.«
»Das weiß ich«, sagte Sara, »aber ich dachte, ich frage Sie.«
»Das würde nicht jeder tun«, sagte die Frau und sah sie neugierig und gutmütig
zugleich an.
»Möchtest du etwas kaufen?« fragte sie, als sie Sara zu den Rosinenbrötchen
hinblinzeln sah.
»Vier Brötchen, bitte sehr«, sagte Sara. »Von denen, die einen Penny kosten.«
Die Frau ging zum Fenster und füllte die Papiertüte. Sara bemerkte, daß es
sechs Brötchen waren.
»Bitte nur vier«, sagte sie, »ich habe nur ein Vierpenny-Stück.«
»Ich tue noch zwei dazu, dann ist die Tüte voll«, sagte die Frau mit ihrem
gutmütigen Blick. »Irgendwann wirst du sie schon aufessen. Hast du keinen
Hunger?«
Sara spürte einen Schleier vor den Augen.
»Doch«, antwortete sie. »Ich habe großen Hunger, und ich danke Ihnen sehr für
Ihre Liebenswürdigkeit. Und . .. da draußen steht ein Kind, das noch viel mehr
Hunger hat als ich.«
In diesem Augenblick kamen zwei oder drei neue Kunden in den Laden, die es
anscheinend sehr eilig hatten, so daß Sara nichts weiter tun konnte, als sich zu
bedanken und zu gehen.
Das Bettlermädchen saß zusammengekauert am Rand der Treppe, Es sah
schrecklich aus in seinen nassen, schmutzigen Lumpen. Mit stumpfsinnigem
Blick starrte es vor sich hin, und Sara bemerkte, wie es sich plötzlich mit seiner
rauhen Hand über die Augen fuhr, um die Tränen fortzuwischen, die es
überwältigt hatten. Leise murmelte es etwas vor sich hin.
Sara nahm eines der heißen Brötchen aus der Tüte, an der sie sich ihre kalten
Hände schon ein wenig gewärmt hatte.
»Sieh mal«, sagte sie und legte ihr das Brötchen in den Schoß, »wie schön
warm. Iß es, und du wirst gleich nicht mehr so hungrig sein.«
Das Mädchen fuhr zusammen und starrte sie an, als machte ihm so ein
plötzliches Glück angst. Dann ergriff es das Brötchen und stopfte es gierig in
sich hinein.
»Oh, oh!« rief es heiser.
Sara holte drei weitere Brötchen aus der Tüte und legte sie ihm hin.
Die heisere Stimme des Mädchens klang einfach schrecklich.
>Sie hat mehr Hunger als ich<, dachte Sara. >Sie stirbt fast vor Hunger.< Aber
ihre eigene Hand zitterte, als sie ihr das vierte Brötchen in den Schoß legte.
»Ich sterbe nicht vor Hunger«, redete sie sich ein und legte ihr auch noch das
fünfte hin.
Das kleine Londoner Bettlerkind griff immer noch gierig nach den Brötchen
und verschlang sie heißhungrig. Es nahm gar nicht wahr, daß Sara sich schon umdrehte, um zu gehen. »Leb wohl«, sagte Sara leise. Auf der anderen Straßenseite sah sie sich noch einmal um. Mit einem Brötchen in jeder Hand hielt das Kind plötzlich inne und starrte zu ihr herüber. Als Sara ihm zunickte, blickte es neugierig und sehnsüchtig zurück. Das letzte Rosinenbrötchen tat Sara gut. Es war immer noch sehr warm und besser als nichts. Nach und nach brach sie kleine Stücke ab und aß sie ganz langsam, um mehr davon zu haben. »Wenn ich mir vorstelle, es sei ein Zauberbrötchen«, sagte sie, »und ein Bissen wäre soviel wie ein ganzes Abendessen, dann würde ich mich überessen, wenn ich so weitermache.« Es war schon dunkel, als sie das Viertel erreichte, in dem die Schule lag. Hinter den Fenstern der Häuser brannte überall Licht. Als Sara am Haus der »Großen Familie« vorbeikam, waren die Fenster bei ihnen noch nicht verdunkelt. Oft konnte sie um diese Zeit Mr. Montmorency, den Vater, in einem großen Sessel sitzen sehen, umringt von einer Schar Kinder, die plapperten und lachten und auf den Armlehnen oder auf seinen Knien hockten und sich bei ihm anlehnten. Auch diesmal war er von der Kinderschar umzingelt, aber er saß nicht in seinem Sessel. Es herrschte im Gegenteil einige Aufregung. Anscheinend stand eine Reise bevor. Offensichtlich wollte Mr. Montmorency sie antreten. Ein Wagen stand vor der Tür, und ein großer Handkoffer war darauf festgebunden. Die Kinder schwatzten, hängten sich an ihren Vater und tanzten um ihn herum. Sara blieb stehen und sah, wie er die Kleinen hochhob und küßte und sich dann zu den Größeren herunterbeugte und sie ebenfalls küßte. >Ob er wohl lange fortbleibe, dachte sie. >Der Koffer ist ziemlich groß. O je, wie werden sie ihn vermissen! Und ich werde ihn auch vermissen, obwohl er mich überhaupt nicht kennt.< Die Tür ging auf, und Mr. Montmorency trat heraus. Die älteren Kinder umringten ihn noch immer. »Liegt in Moskau viel Schnee?« fragte Janet. »Ist dort alles voller Eis?« »Wirst du in einer russischen Droschke fahren?« rief eines der anderen Kinder. »Wirst du den Zaren sehen?« »Ich werde euch alles schreiben«, antwortete er und , lachte. »Und ich werde euch Bilder schicken von Muschiks und anderen Sachen. Geht lieber hinein. Es ist so scheußlich kalt und neblig hier draußen. Ich würde viel lieber hierbleiben, als nach Moskau fahren. Gute Nacht! Gute Nacht, meine Süßen! Gott segne euch!« Damit lief er die Treppe hinab und sprang in den Wagen. »Wenn du das kleine Mädchen findest, grüß sie von uns«, rief Guy Clarence und hüpfte auf der Fußmatte herum. Dann liefen sie hinein und machten die Tür schnell hinter sich zu. »Hast du gesehen«, sagte Janet zu Nora, als sie ins Zimmer zurückgingen, »das-kleine-Mädchen-das-keine-Bettlerin-ist stand wieder draußen. Sie sah ganz verfroren und naß aus, und ich habe gesehen, wie sie sich nach uns um gedreht hat. Mama sagt immer, daß ihre Kleider aussehen, als ob sie sie von
jemandem bekommen hätte, der sehr reich ist. Jemand, dem sie selbst nicht
mehr schön genug waren.«
Sara überquerte den Schulhof und fühlte sich schwach und schwindelig.
>Ich möchte wissen, wer das Mädchen ist<, dachte sie, >das kleine Mädchen,
nach dem er suchen will.<
Und sie stieg die Treppe hinunter und umklammerte den Einkaufskorb, der ihr
heute besonders schwer schien.
Unterdessen fuhr der Vater der »Großen Familie« eilig zum Bahnhof, um den
Zug nach Moskau zu erreichen. Er würde dort alles in Bewegung setzen, um
die verschwundene kleine Tochter von Captain Crewe ausfindig zu machen.
Was Melchisedec sah und hörte Während Sara an diesem Nachmittag unterwegs war, geschah in der Dachkammer etwas Merkwürdiges. Es war etwas, das nur Melchisedec allein sah und hörte. Und es erschreckte und verblüffte ihn so sehr, daß er in sein Loch zurückflitzte und sich dort versteckte. Er zitterte und bebte und spähte ängstlich und vorsichtig heraus, um zu sehen, was passierte. Seit dem frühen Morgen, als Sara die Kammer verlassen hatte, war es ganz still gewesen. Nur das Prasseln der Regentropfen auf dem Dach hatte die Stille unterbrochen. Melchisedec langweilte sich. Als dann der Regen aufhörte und kein Laut mehr zu hören war, beschloß er herauszukommen und die Lage zu erkunden. Er streifte eine Weile umher, schnüffelte hier und dort und fand zu seiner Überraschung und Verwunderung noch einen Krümel von seiner letzten Mahlzeit. Plötzlich hörte er ein Geräusch auf dem Dach. Sein Herz klopfte heftig, während er lauschte. Irgend etwas schien sich auf dem Dach zu bewegen. Es näherte sich dem Dachfenster. Wie von Geisterhand ging das Fenster auf. Ein dunkles Gesicht tauchte auf und blinzelte herein. Ihm folgte ein zweites Gesicht, und beide blickten vorsichtig und neugierig in die Kammer. Zwei Männer waren auf dem Dach und machten Anstalten, leise durch das Fenster hereinzuklettern. Der eine war Ram Dass, der andere war der Sekretär des Herrn aus Indien. Aber das wußte Melchisedec natürlich nicht. Er wußte nur, daß diese Männer seine Ruhe störten und in seinen Lebensraum eindrangen. Als der eine mit dem dunklen Gesicht leicht und behende durch die Öffnung hereinkletterte, ohne das geringste Geräusch zu verursachen, entschloß sich Melchisedec zur Flucht und stürzte Hals über Kopf in sein Loch. Er war zu Tode erschrocken. Seit Sara da war, hatte er seine Furcht vor Menschen verloren. Er konnte sich darauf verlassen, daß sie ihm nie etwas anderes als Krümel zuwarf, und daß ihr Pfeifen immer sanft, leise und vertraulich war. Aber fremde Männer in der Nähe bedeuteten Gefahr. Melchisedec lag flach gleich hinter seinem Eingang und spähte mit weit aufgerissenen Augen durch die Ritze. Wieviel er von der Unterhaltung der
Männer verstand, kann niemand sagen. Aber selbst wenn er alles verstanden hätte, hätte es wohl nichts an seiner Verwirrung geändert. Der Sekretär, der jung und schlank war, schlüpfte ebenso geräuschlos wie Ram Dass durch das Dachfenster. Er erhaschte noch soeben einen Blick von Melchisedecs Schwanzspitze. »War das eine Ratte?« raunte er Ram Dass zu. »Ja, eine Ratte, Sahib«, flüsterte Ram Dass. »In der Wand gibt es viele Ratten.« »lih!« rief der junge Mann. »Es wundert mich, daß das Kind keine Angst vor ihnen hat.« Ram Dass machte eine Handbewegung und lächelte ehrfurchtsvoll. Er war hier so etwas wie Saras vertrauter Stellvertreter, obwohl sie erst einmal mit ihm gesprochen hatte. »Das Kind ist mit allen gut Freund, Sahib«, sagte er. »Sie ist anders als die anderen Kinder. Oft klettere ich nachts über das Dach und schaue nach, ob es ihr gutgeht. Ich sehe sie von meinem Fenster aus, ohne daß sie etwas davon weiß. Sie steht auf dem Tisch und schaut zum Himmel hinaus, und es ist, als ob der Himmel mit ihr spricht. Wenn sie die Spatzen ruft, kommen sie geflogen. Sie hat die Ratte gefüttert und sie in ihrer Einsamkeit gezähmt. Im Haus ist ein Sklavenmädchen, das besucht sie manchmal, und sie trösten sich gegenseitig. Und dann kommt heimlich noch ein kleines Kind, und ein älteres. Sie verehren sie, und am liebsten würden sie nie aufhören, ihr beim Erzählen zuzuhören. Das habe ich alles gesehen. Die Leiterin des Hauses ist eine böse Frau. Sie behandelt das Kind wie eine Ausgestoßene. Aber die Kleine ist so standhaft wie ein König!« »Du scheinst eine Menge über sie zu wissen«, sagte der Sekretär. »Ich kenne jeden Tag ihres Lebens«, sagte Ram Dass. »Ich weiß, wann sie fortgeht und wann sie zurückkommt. Ich weiß, wann sie allein bis Mitternacht über ihren Büchern sitzt und lernt. Ich weiß, wann ihre Freundinnen sie heimlich besuchen, und weiß, daß sie dann fröhlicher ist - so, wie eben nur Kinder sein können, auch wenn sie noch so arm sind. Wenn sie einmal krank wäre, wüßte ich es, und ich würde herüberkommen und sie bedienen, wenn das möglich wäre.« »Bist du sicher, daß außer ihr niemand hierherkommt, und daß sie nicht plötzlich zurückkehrt und uns überrascht? Sie würde erschrecken, wenn sie uns hier fände, und der Plan Sahib Carrisfords wäre zerstört.« Ram Dass schlich zur Tür und lauschte. »Niemand kommt hier herauf, außer ihr selbst«, sagte er. »Sie ist zum Einkaufen unterwegs, und das kann Stunden dauern. Wenn ich hier stehenbleibe, kann ich hören, wenn jemand kommt, bevor er ganz oben ist.« Der Sekretär holte einen Bleistift und einen Block aus seiner Hemdtasche hervor. »Horch weiter an der Tür«, sagte er. Mit langsamen Schritten ging er durch den armseligen Raum, wobei er sich über alles, was er sah, hastig Notizen auf seinem Block machte. Zuerst ging er auf das enge Bett zu. Er drückte auf die Matratze. »Steinhart«, sagte er. »Das werden wir ändern, wenn sie wieder einmal weg ist.
Wir müssen irgendwann noch einmal herkommen wegen einer neuen Matratze. Heute abend geht es nicht.« Er hob die Bettdecke und untersuchte das einzige dünne Kissen. »Bettdecke schmutzig und zerrissen, Schlafdecke dünn, Leintuch geflickt und zerlumpt«, sagte er. »Was für ein Bett für ein Kind - und das in einem Haus, das sich ehrenwert nennt! In dem Kamin dort hat schon ewig kein Feuer mehr gebrannt.« Er sah sich die alte Feuerstelle näher an. »Ich habe da noch nie ein Feuer brennen sehen«, sagte Ram Dass. »Die Leiterin des Hauses käme nie auf die Idee, daß außer ihr auch noch jemand anders frieren könnte.« Der Sekretär schrieb eilig auf seinen Block. Als er ein Blatt abriß, um es in seine Brusttasche zu stecken, blickte er auf. »Das ist schon ein merkwürdiger Plan«, sagte er. »Von wem stammt er?« Ram Dass machte eine bescheidene, entschuldigende Verneigung. »Ich muß zugeben, daß ich den Anstoß dazu gegeben habe, Sahib«, sagte er. Dabei war es zuerst nur eine Idee. Ich habe dieses Kind gern, wir sind beide einsam. Sie hat die Angewohnheit, ihre Traumbilder ihren Freundinnen zu erzählen. Eines Abends, als ich sehr traurig war, lag ich unter meinem offenen Dachfenster und hörte ihr zu. Sie erzählte davon, wie sie sich ihre armselige Kammer vorstellte, wenn sie gemütlich eingerichtet wäre. Es war so, als könne sie alles in Wirklichkeit vor sich sehen. Und ihre Stimme hörte sich immer fröhlicher und wärmer an. Am nächsten Tag erzählte ich dem kranken Sahib davon, um ihn aufzuheitern. Mir kam die Geschichte inzwischen wie ein Traum vor, aber dem Sahib gefiel sie. Es bereitete ihm Vergnügen, Dinge über das Mädchen zu hören. Sie interessierte ihn, und er fragte nach ihr. Schließlich fand er Gefallen an der Idee, ihre Traumbilder Wirklichkeit werden zu lassen.« »Glaubst du, es geht, während sie schläft? Stell dir vor, was passieren würde, wenn sie aufwacht«, überlegte der Sekretär. Man merkte, daß auch er, genau wie Sahib Carrisford, Gefallen an dem Plan fand, wie auch immer er aussehen mochte. »Ich kann mich wie auf Samtfüßen bewegen«, sagte Ram Dass, und Kinder haben einen tiefen Schlaf - selbst die unglücklichen. Ich hätte schon öfter nachts Hereinsteigen können, ohne daß sie etwas bemerkt hätte. Wenn mir je mand anderes die Sachen durch das Fenster reicht, kann ich alles weitere alleine machen. Wenn sie aufwacht, wird sie denken, ein Zauberer sei dagewesen.« Er lächelte, wie wenn es ihm unter seinem weißen Gewand warm ums Herz würde, und der Sekretär lächelte zurück. »Es wird wie ein Märchen aus >Tausendundeiner Nacht< sein«, sagte er. »So etwas kann nur ein Orientale erfinden. Der Londoner Nebel bringt niemanden auf solche Ideen.« Der Sekretär schaute sich um und stopfte seinen Block wieder in seine Brusttasche. »Ich denke, ich habe mir genügend Notizen gemacht. Wir können gehen«, sagte er. »Sahib Carrisford hat ein warmes Herz. Es ist jammerschade, daß er das verlorene Kind noch nicht wiedergefunden hat.«
»Wenn er sie noch finden sollte, wird er seine Gesundheit wiedererlangen«, sagte Ram Dass. »Vielleicht führt sein Gott sie zu ihm.« Dann entschwanden sie durch das Dachfenster, genauso lautlos, wie sie gekommen waren. Als Melchisedec mit Erleichterung feststellte, daß sie wirklich weg waren, kam er wieder aus seinem Loch hervor und schnüffelte in der Luft herum in der Hoffnung, daß selbst so gefährliche Individuen wie diese vielleicht Brotkrümel mit sich führten und vielleicht ein paar davon fallen gelassen hatten.
Die Zauberkraft Als Sara am Nachbarhaus vorbeikam, war Ram Dass gerade dabei, die
Fensterläden zu schließen, so daß sie noch einen schnellen Blick in das Zimmer
werfen konnte.
>Es ist schon lange her, seit ich ein hübsches Zimmer von innen gesehen
habe<, dachte Sara. Wie immer brannte das Feuer hell im Kamin, und der Herr
aus Indien saß davor. Sein Kopf ruhte in seiner Hand, und er sah so einsam und
unglücklich aus wie immer.
»Der Arme!« sagte Sara. »Ich wüßte zu gerne, was er gerade denkt.«
Im Haus begegnete Sara Miss Minchin, die gerade mit der Köchin geschimpft
hatte.
»Wo hast du dich herumgetrieben?« wollte sie wissen. »Es ist Stunden her, seit
du aus dem Haus gegangen bist.«
»Es war so naß und matschig«, antwortete Sara. »Ich bin kaum
vorangekommen, weil meine Schuhe so schlecht sind, daß ich immer wieder
damit ausrutschte.«
»Spar dir deine Entschuldigungen«, sagte Miss Minchin, »und erzähl keine
Märchen.«
Sara ging zur Köchin hinein. Nach Miss Minchins Gardinenpredigt war deren
Laune auch nicht gerade bestens. Sara kam ihr daher wie gerufen. Wie immer
konnte sie nun ihre Wut an ihr auslassen.
»Wieso bist du nicht gleich die ganze Nacht weggeblieben?« schnauzte sie.
Sara stellte ihren vollen Korb auf den Tisch.
»Hier ist alles«, sagte sie.
Die Köchin kontrollierte kurz, ob auch ja alles da war. Ihre Laune hätte kaum
schlimmer sein können.
»Kann ich etwas zu essen haben?« fragte Sara schüchtern.
»Teezeit ist längst vorbei«, knurrte die Köchin. »Hätte ich ihn etwa für dich
warm halten sollen?«
Sara sagte einen Moment lang nichts.
»Ich habe kein Mittagessen gehabt«, sagte sie dann mit leiser Stimme. Sie hatte
Angst, die Köchin könnte hören, daß ihre Stimme zitterte.
»In der Speisekammer ist noch Brot«, sagte die Köchin. »Was anderes gibt's
um diese Zeit nicht mehr.«
Sara ging, um sich das Brot zu holen. Es war alt und hart und trocken. Die Köchin war zu sehr in Rage, als daß sie willens gewesen wäre, Sara etwas zu dem Brot dazuzugeben. Die drei langen Treppen zur Dachkammer konnte Sara kaum bewältigen. Wenn sie müde war, kamen sie ihr immer besonders lang und steil vor. Aber an diesem Abend schien es ihr, als würde sie die obere Stufe nie erreichen. Sie mußte mehrere Male anhalten und verschnaufen. Als sie schließlich doch auf dem obersten Treppenabsatz ankam, war sie froh, unter ihrer Tür einen Lichtschein zu sehen. Das bedeutete, daß Ermengarde herauf gehuscht war, um sie zu besuchen. Es beruhigte sie ein wenig. Alleine in ihre Kammer zu gehen und sie leer und verlassen vorzufinden, war nie schön. Die Anwesenheit ihrer pummeligen, gutmütigen Freundin würde sie ein wenig aufheitern. Tatsächlich. Da saß Ermengarde mit angezogenen Füßen mitten auf dem Bett. Sie hatte sich immer noch nicht an Melchisedec und seine Familie gewöhnen können, obwohl sie sie faszinierend fand. Solange sie in der Dachkammer alleine war, zog sie es vor, möglichst weit weg vom Fußboden zu sitzen. Diesmal war es ihr ein wenig unheimlich geworden, denn Melchisedec war aufgetaucht und hatte eine ganze Weile herumgeschnüffelt. Einmal hatte sie sogar einen Schrei unterdrücken müssen, als er sie, auf seinen Hinterbeinen sitzend, beobachtet hatte und genau in ihre Richtung schnüffelte. »O Sara«, rief sie, »bin ich froh, daß du kommst. Melchy hat so herumgeschnüffelt. Ich habe versucht, ihn freundlich zurückzuschicken, aber er wollte einfach nicht gehen. Weißt du, ich mag ihn schon, aber es macht mir angst, wenn er zu mir hin schnuppert. Meinst du, er könnte womöglich einmal springen?« »Nein«, antwortete Sara. Ermengarde kroch zum Bettrand und schaute ihr ins Gesicht. »Siehst du müde aus, Sara«, sagte sie. »Du bist ganz blaß.« »Ich bin müde«, sagte Sara und ließ sich auf den schiefen Fußschemel fallen. »Oh, da ist ja Melchisedec, der Arme. Er fragt nach seinem Abendessen.« Melchisedec kam aus seinem Loch hervor, als ob er auf Saras Schritte gewartet hätte. Sara war sich ganz sicher, daß er ihren Schritt kannte. Zutraulich und erwartungsvoll sah er Sara an. Sara drehte ihre Taschen mit der Innenseite nach außen und schüttelte den Kopf. »Es tut mir so leid«, sagte sie. »Ich habe keinen einzigen Krümel. Geh heim, Melchisedec, und sag deiner Frau, daß nichts in meinen Taschen war. Ich fürchte, ich habe es vergessen, weil die Köchin und Miss Minchin so böse waren.« Melchisedec schien zu verstehen. Fügsam, fast zufrieden, zog er sich in seine Wand zurück. »Ich habe nicht damit gerechnet, daß du heute kommst, Ermie«, sagte Sara. Ermengarde wickelte sich fest in ihren roten Umhang. »Miss Amelia ist fortgegangen, um die Nacht über bei ihrer alten Tante zu bleiben«, erklärte sie. »Außer ihr kommt sonst nie jemand in die Schlafzimmer, um nachzusehen, ob wir schlafen. Ich könnte bis morgen früh hierbleiben, wenn ich wollte.«
Sie zeigte auf den Tisch unter dem Dachfenster. Sara hatte keinen Blick darauf
geworfen, als sie hereingekommen war. Ein Stapel Bücher lag darauf.
Ermengarde machte eine mürrische Geste.
»Papa hat mir schon wieder Bücher geschickt, Sara«, sagte sie. »Da sind sie.«
Sara stand auf und lief zum Tisch. Sie nahm das oberste Buch herunter und
blätterte darin. Für einen Moment vergaß sie Müdigkeit und Hunger.
»Oh«, rief sie, »wie schon! Carlyles französische Revolution^ Das wollte ich
schon immer lesen!«
»Ich nicht«, sagte Ermengarde. »Und Papa wird mir böse sein, wenn ich es
nicht tue. Wenn ich in den Ferien nach Hause fahre, wird er von mir erwarten,
daß ich alles darüber weiß. Was soll ich bloß tun?«
Sara hielt einen Augenblick inne und schaute Ermengarde voller Eifer an.
»Weißt du was«, rief sie aufgeregt, »wenn du mir diese Bücher leihst, werde
ich sie lesen - und dir hinterher alles erzählen. Und ich erzähle es dir so, daß du
es auch behalten kannst.«
»Du meine Güte!« rief Ermengarde. »Glaubst du, daß du das kannst?«
»Ich weiß, daß ich es kann«, antwortete Sara. »Die Kleinen können auch alles
behalten, was ich ihnen beibringe.«
»Sara«, sagte Ermengarde mit einem hoffnungsvollen Schimmer in den Augen,
»wenn du es schaffst, daß ich das alles behalte, dann . . . dann schenke ich dir
irgend etwas.«
»Ich will nicht irgend etwas dafür. Ich möchte deine Bücher - ich möchte sie so
gerne!« rief Sara leidenschaftlich.
»Du kannst sie haben«, sagte Ermengarde. »Ich wünschte, mir würden
sie auch gefallen. Aber es ist nicht so. Mein Vater ist klug, und ich bin es nicht,
aber er meint, ich müßte klug sein.«
Sara schlug ein Buch nach dem anderen auf. »Was wirst du deinem Vater
erzählen?« fragte sie mit leisem Zweifel.
»Ach, er braucht davon nichts zu wissen«, antwortete Ermengarde. »Er wird
denken, daß ich sie gelesen habe.«
Sara legte das Buch zur Seite und schüttelte langsam den Kopf. »Das ist fast
wie Lügen«, sagte sie. »Warum kannst du deinem Vater nicht sagen, daß ich
die Bücher gelesen habe?«
»Weil er will, daß ich sie lese«, sagte Ermengarde ein wenig enttäuscht.
»Er will, daß du weißt, was darin steht«, sagte Sara. »Und wenn ich dir alles
auf einfache Art erzählen kann, so daß du es behältst, dann - denke ich - würde
ihm das gefallen.«
»Es würde ihm gefallen, wenn ich überhaupt etwas lerne«, sagte Ermengarde
reuevoll. »Dir ginge es sicherlich genauso, wenn du mein Vater wärst.«
»Es ist ja nicht deine Schuld, daß ...« Sara unterbrach sich plötzlich. Sie hatte
sagen wollen: »Es ist ja nicht deine Schuld, daß du dumm bist.«
»Daß was?« fragte Ermengarde.
»Daß du nicht so schnell lernen kannst«, verbesserte sich Sara. »Wenn du nicht
kannst, kannst du eben nicht. Wenn ich kann - na ja, dann kann ich eben. Das
ist alles.«
Sie ging immer sehr feinfühlig mit Ermengarde um und versuchte, ihr
möglichst schonend klarzumachen, daß manche Menschen eben die Fähigkeit hatten, etwas sofort zu kapieren, und andere eben nicht in der Lage waren, überhaupt etwas zu lernen. »Schnell lernen zu können ist vielleicht nicht alles«, sagte sie. »Lieb zu sein ist für andere Menschen sehr wichtig. Wenn Miss Minchin zum Beispiel allwissend wäre und gleichzeitig so wie jetzt ist, wäre sie genauso verachtens wert. Und alle würden sie genauso hassen. Es hat viele kluge Leute gegeben, die Unheil angerichtet haben. Zum Beispiel Robespierre ...« Sara hielt inne, weil sie Ermengardes verwirrten Gesichtsausdruck bemerkte. »Erinnerst du dich nicht?« fragte sie. »Ich habe dir vor kurzem von ihm erzählt. Ich glaube, du hast es vergessen.« »Ich kann mich nicht mehr ganz an alles erinnern«, gestand Ermengarde. »Dann warte einen Moment«, sagte Sara. »Ich ziehe mir nur meine nassen Sachen aus und wickle mich in meine Decke; dann erzähle ich dir alles noch einmal.« Sie legte ihren Hut und ihren Mantel ab und hängte beides an einen Nagel an der Wand. Dann schlüpfte sie in ihre alten Pantoffeln, sprang ins Bett, zog sich die Decke über die Schultern und umklammerte ihre Knie. »Also, hör zu«, sagte sie. Und von einer Sekunde auf die nächste war sie mittendrin in der Schilderung der Französischen Revolution. Wahrscheinlich würde Ermengarde Robespierre nicht wieder vergessen. Ermengarde willigte dann schließlich ein, daß ihr Vater in Saras Plan eingeweiht würde und die Bücher vorläufig in der Dachkammer blieben. »Komm, wir erzählen uns jetzt, was wir erlebt haben«, schlug Sara vor. »Wie klappt es mit deinen Französischaufgaben?« »Es klappt jetzt viel besser, seit du mir die Konjugationen erklärt hast. Gleich am Morgen danach hat sich Miss Minchin darüber gewundert, daß ich meine Übungen so gut konnte.« Sara lachte und zog die Beine näher an sich. Während sie so zusammensaßen, hatte Ermengarde keine Ahnung davon, daß Sara schwach und ausgehungert war, und daß sie sich fragte, ob sie vor Hunger überhaupt würde schlafen können. Sie hatte das Gefühl, als sei sie noch niemals so hungrig gewesen. »Ich wünschte, ich wäre so dünn wie du«, sagte Ermengarde plötzlich. »Ich glaube, du bist noch dünner als früher. Deine Augen sehen so groß aus, und deine Ellbogenknochen stehen richtig raus!« Sara zog ihre Ärmel herab, die sich von selbst hochgeschoben hatten. »Ich war immer ein dünnes Kind«, sagte sie tapfer, »und ich hatte immer schon große Augen.« »Ich mag deine komischen Augen«, sagte Ermengarde und blickte sie mit liebevoller Bewunderung an. »Sie sehen immer aus, als wenn sie schon so viel gesehen hätten. Sie gefallen mir - auch ihre grüne Farbe, obwohl sie eher schwarz wirken.« »Es sind Katzenaugen«, lachte Sara, »aber ich kann im Dunkeln nicht damit sehen. Ich habe es versucht, und es ging nicht - aber ich wünschte, ich könnte
es.«
In diesem Augenblick bewegte sich etwas auf dem Dachfenster, was beide
jedoch nicht bemerkten. Wenn sie zufällig hochgeschaut hätten, wären sie
erschrocken, denn ein dunkles Gesicht lugte vorsichtig in die Kammer hinab,
um dann so schnell, wie es aufgetaucht war, wieder zu verschwinden. Sara
hatte jedoch ein Geräusch gehört. Sie drehte sich plötzlich um und schaute zum
Dach hinauf.
»Das hat sich nicht nach Melchisedec angehört«, sagte sie. »Es war nicht so ein
Kratzgeräusch.«
»Was?« fragte Ermengarde ein wenig erschrocken.
»Hast du denn nichts gehört?« fragte Sara.
»Nnein«, sagte Ermengarde stockend, »du?«
»Vielleicht habe ich auch nichts gehört«, meinte Sara. »Es kam mir vielleicht
nur so vor. Es klang so, als bewegte sich etwas auf dem Dach.«
»Was kann das gewesen sein?« fragte Ermengarde ängstlich. »Vielleicht
Räuber?«
»Nein«, lachte Sara. »Hier gibt es nichts zu stehlen ...«
Plötzlich hielt sie inne. Sie hörten nun beide das Geräusch. Es war nicht auf
dem Dach, sondern unten auf der Treppe. Es war Miss Minchins verärgerte
Stimme. Sara sprang vom Bett und löschte die Kerze.
»Sie schimpft mit Becky«, flüsterte sie in der Dunkelheit. »Hörst du, Becky
fängt an zu weinen.«
»Kommt sie?« flüsterte Ermengarde in panischer Angst.
»Nein. Sie wird denken, daß ich schlafe. Beweg dich nicht.«
Es kam sehr selten vor, daß Miss Minchin bis hier herauf kam. Sara konnte sich
nur an ein einziges Mal erinnern. Aber nun war sie so ärgerlich, daß sie ein
Stück die Treppe hochkam, und es hörte sich so an, als triebe sie Becky vor
sich her.
»Du unverschämtes, verlogenes Kind!« hörte Sara sie rufen. »Die Köchin hat
mir gesagt, daß ständig irgendwelche Sachen wegkommen.«
»Ich war's nicht, Mum«, sagte Becky schluchzend. »Ich hab' zwar großen
Hunger gehabt, aber ich war's nicht, bestimmt nicht!«
»Dich sollte man ins Gefängnis stecken«, rief Miss Minchin. »Plündern und
rauben! Eine halbe Fleischpastete, unglaublich!«
»Ich war's nicht«, weinte Becky. »Ich hätte eine ganze essen können, aber ich
hab' sie nicht angerührt.«
Das Treppensteigen und dazu noch ihre Wut brachten Miss Minchin außer
Atem. Die Fleischpastete hatte sie sich für den späten Abend reserviert gehabt.
Sie versetzte Becky eine Ohrfeige.
»Erzähl keine Märchen«, rief sie. »Verschwinde sofort in dein Zimmer.«
Becky rannte in ihren ausgetretenen Schuhen die Treppe hinauf in ihre
Kammer und schlug die Tür zu. Weinend warf sie sich aufs Bett.
Sara stand mitten in ihrer stockdunklen Kammer. Sie biß die Zähne zusammen
und ballte wütend die Faust. Sie hatte alle Mühe, sich ruhig zu verhalten, und
wagte nicht, sich zu bewegen, bis Miss Minchin unten war und sich nichts
mehr regte.
»Dieses böse, gemeine Weib!« rief Sara wütend. »Die Köchin läßt die Sachen verschwinden und behauptet dann, Becky hätte sie gestohlen. Aber das tut Becky nicht! Niemals ! Sie ist manchmal so hungrig, daß sie sich die Brotrin den aus dem Abfalleimer holt!« Sara preßte die Hände vors Gesicht und brach in herzzerreißendes Schluchzen aus. Ermengarde hatte sie noch nie so gesehen und wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sara weinte! Die unbesiegbare Sara! Das war etwas ganz Neues - eine völlig neue Gemütsregung, die sie an ihr nicht kannte. Sonst hieß es immer »ich stelle mir vor, daß ...« Plötzlich kam ihr, die sonst so langsam im Denken war, ein erschreckender Gedanke. Sie kroch vom Bett herab und tastete sich im Dunkeln zum Tisch, auf dem die Kerze stand. Sie steckte sie an und beugte sich vor, um Sara ins Gesicht zu sehen, deren Augen zum ersten Mal so etwas wie Angst ausdrückten. »Sara«, sagte sie mit leiser Stimme, »hast du ... ich meine ... du hast nie darüber gesprochen ... und ich will nicht grob sein ... aber . . . hast du auch manchmal Hunger?« Das war zuviel. Das Maß war voll. Sara nahm die Hände vom Gesicht. »Ja«, fuhr sie auf. »So ist es. Ich bin gerade so hungrig, daß ich dich fast aufessen könnte. Und die arme Becky zu hören macht alles noch schlimmer. Sie ist noch hungriger als ich.« Ermengarde schnappte nach Luft. »Oje! Oje!« jammerte sie. »Und ich habe nie eine Ahnung gehabt!« »Ich wollte nicht, daß du es weißt«, sagte Sara. »Ich hätte mich sonst wie eine Straßenbettlerin gefühlt. Daß ich so aussehe, genügt ja wohl.« »Nein, das stimmt nicht!« rief Ermengarde. »Deine Kleider sind ein bißchen komisch, aber wie eine Bettlerin könntest du nie aussehen! Du hast kein Bettlerinnengesicht.« »Ein kleiner Junge hat mir einmal ein Sixpence-Stück als Almosen gegeben«, sagte Sara und lachte unwillkürlich. »Hier ist es.« Sie zog das Halsband hervor. »Er hätte mir sein Weihnachtsgeldstück nicht gegeben, wenn ich nicht so notleidend ausgesehen hätte.« Irgendwie tat beiden der Anblick des kleinen Geldstücks gut. Sie lachten ein wenig, obwohl beide Tränen in den Augen hatten. »Wer war es?« fragte Ermengarde und schaute die Münze an, als ob es eine ganz besondere Münze sei. »Es war ein kleiner Junge, der gerade auf dem Weg zu einem Kinderfest war«, sagte Sara. »Er gehört zu der >Großen Familie<, es ist der Kleine mit den rundlichen Beinen, der, den ich immer Guy Clarence nenne. Ich nehme an, sein Kinderzimmer war voll von Weihnachtsgeschenken und Körben mit Kuchen und allem möglichen darin, und er sah mir an, daß ich nichts bekommen hatte.« Ermengarde machte einen Satz zurück. Als Sara das sagte, fiel ihr plötzlich ein, daß sie etwas vergessen hatte. »O Sara!« rief sie. »Wie dumm von mir, daß ich daran nicht gedacht habe!« »Woran?« »An etwas Großartiges!« rief Ermengarde aufgeregt. »Heute Nachmittag habe ich ein Paket von meiner nettesten Tante bekommen. Es sind lauter gute Sa
chen darin. Ich habe das Paket noch nicht angerührt, weil ich nach dem Essen
so viel Pudding gegessen habe und weil ich mich über die Bücher geärgert
habe, die Papa wieder mitgeschickt hat.« Ihre Worte überstürzten sich. »Es ist
Kuchen drin und kleine Fleischpasteten und Marmeladetörtchen und süße
Brötchen und Orangen und Johannisbeerwein und Feigen und Schokolade. Ich
schleiche mich sofort in mein Zimmer und hole es, und dann essen wir alles
auf.«
Sara wurde fast schwindelig. Wenn man ohnehin geschwächt ist vor Hunger,
macht der Gedanke an Essen noch hungriger. Sie packte Ermengarde am Arm.
»Meinst du ... das geht?« stieß sie hervor.
»Sicher geht es«, antwortete Ermengarde und lief zur Tür, öffnete sie leise,
reckte vorsichtig ihren Kopf hinaus in die Dunkelheit und lauschte. Dann sagte
sie zu Sara: »Die Lichter sind aus. Sie sind alle im Bett. Ich kann mich
fortschleichen, und niemand wird mich hören.«
Sie faßten sich vor Freude an den Händen, und Saras Augen leuchteten auf.
»Ermie!« rief sie. »Komm, wir stellen uns etwas vor! Wir stellen uns vor, wir
geben eine Party! Und, was hältst du davon, wenn du die Gefangene aus der
Zelle nebenan mit einlädst?«
»Au ja! Komm, wir klopfen an die Wand. Die Gefängnisaufseherin wird nichts
hören.«
Sara ging zur Wand. Sie konnte die arme Becky immer noch weinen hören. Sie
klopfte viermal.
»Das heißt: >Komm durch den Geheimgang unter der Wand zu mir herüben«,
erklärte sie. »Ich muß dir etwas mitteilen.«
Auf der anderen Seite klopfte es fünfmal.
»Sie kommt«, sagte Sara.
Im nächsten Moment öffnete sich schon die Tür, und Becky kam herein. Ihre
Augen waren rot, ihr Häubchen verrutscht, und als sie Ermengarde erblickte,
rieb sie sich mit ihrer Schürze nervös das Gesicht.
»Du brauchst keine Angst zu haben, weil ich auch da bin«, sagte Ermengarde.
»Miss Ermengarde lädt dich ein«, sagte Sara, »sie bringt gleich ein Paket mit
lauter guten Sachen herauf.«
Becky war so aufgeregt, daß ihr fast das Häubchen vom Kopf fiel.
»Mit was zu essen?« fragte sie. »Mit guten Sachen zum Essen?«
»Ja«, sagte Sara, »und wir tun so, als gäben wir eine Party.«
»Und du kannst soviel zu essen Haben, wie du willst«, fügte Ermengarde
hinzu. »Ich gehe sofort los!«
Als sie aus der Kammer schlich, ließ sie in der Eile ihren roten Umhängeschal
fallen, ohne es zu merken. Es fiel niemandem auf. Becky war zu überwältigt
vor Glück.
»O Miss! O Miss!« rief sie atemlos. »Ich weiß, daß Sie sie gebeten haben, mich
zu holen. Ich ... ich muß fast weinen, wenn ich daran denke.« Sie ging auf Sara
zu und sah sie voll Verehrung an.
Saras hungrige Augen begannen wieder zu leuchten, und alles um sie herum
verwandelte sich. Nach diesem endlosen Nachmittag in den aufgeweichten
Straßen Londons, das Bild des Bettelkindes mit dem schrecklichen,
ausgehungerten Blick immer noch vor Augen, hatte Sara in ihrer Dachkammer nun dieses einfache, glückliche Erlebnis, das ihr wie Zauberei vorkam. Sie hielt den Atem an. »Bevor etwas ganz schlimm wird«, sagte sie, »geschieht immer irgend etwas. Es ist wie Zauberei. Wenn ich mir das bloß immer vor Augen halten könnte. Es ist beruhigend. Das Allerschlimmste passiert nie.« Sie versuchte nun auch, Becky aufzuheitern. »Nein, nein! Du mußt nicht weinen!« sagte sie. »Wir müssen uns beeilen und den Tisch decken.« »Den Tisch decken, Miss?« fragte Becky und sah sich verwirrt in der Kammer um. »Womit denn?« Sara schaute sich ebenfalls um. »Na ja, viel ist nicht da«, antwortete sie lachend. Im selben Augenblick sah sie etwas auf dem Boden liegen und hob es schnell auf. Es war Ermengardes rotes Umhängetuch. »Wie wäre es mit dem Tuch«, rief sie. »Ermengarde hat bestimmt nichts dagegen. Damit haben wir ein schönes Tischtuch.« Sie zogen den alten Tisch hervor und warfen das Tuch darüber. Rot ist eine freundliche und warme Farbe. Es machte das Zimmer fast wohnlich. »Wie schön wäre jetzt noch ein roter Teppich auf dem Boden!« rief Sara. »Wir müssen uns einfach einen vorstellen.« Flink ließ sie einen Blick der Bewunderung über die kahlen Bretter schweifen. Schon war der Teppich ausgelegt. »Wie schön weich und dick er ist!« sagte sie mit diesem gewissen Lachen, das Becky schon kannte. Sie hob ihren Fuß und setzte ihn dann sachte auf, so, als ob sie auf etwas drauf trete. »Ja, Miss«, sagte Becky und beobachtete Sara ernst. Sie war immer sehr ernst. »Was jetzt?« fragte Sara, während sie still dastand und die Hände auf die Augen legte. »Irgend etwas wird sich schon einstellen, wenn ich nachdenke und abwarte«, sagte sie leise und erwartungsvoll. »Die Zauberkraft wird es möglich machen.« Eine ihrer Lieblingsphantasien war, daß »draußen« Gedanken nur darauf warteten, von den Menschen zu sich gerufen zu werden. Becky hatte schon oft miterlebt, wie Sara so dastand und abwartete. Und sie wußte, daß in wenigen Sekunden ihr Gesicht erstrahlen würde. Und so geschah es diesmal wieder. »Da!« rief sie aus. »Die Zauberkraft ist gekommen! Jetzt eben! Ich muß unter den Sachen nachsehen, die in dem alten Koffer liegen.« Sie stürzte in die Ecke und kniete nieder. Es war nicht vorgesehen gewesen, den Koffer ihr zu überlassen. Man hatte nur nirgendwo sonst Platz für ihn gehabt. Er enthielt nichts als wertloses Zeug. Trotzdem wußte sie, daß sie et was finden würde. Die Zauberkraft sorgte immer auf die eine oder andere Weise dafür, daß man etwas fand. In einer Ecke des Koffers lag ein Bündel, das so unscheinbar aussah, daß es wohl übersehen worden war. Und nachdem sie selbst es irgendwann gefunden hatte, hatte sie es als eine Art Geheimnis zurückbehalten. Das Bündel enthielt ein Dutzend kleiner weißer Taschentücher. Voll Freude zog Sara sie hervor und
lief zum Tisch. Sie ordnete sie auf dem roten Tischtuch an. Mit viel Geduld
zupfte sie jedes einzelne in Form und knickte die Spitzenenden nach außen um,
während sie unentwegt in Gedanken ihre Zauberformeln sprach.
»Das sind die Teller«, sagte sie. »Es sind goldene Teller. Und das hier sind die
reich bestickten Servietten. Nonnen in einem spanischen Kloster haben sie
angefertigt.«
»Wirklich, Miss?« fragte Becky atemlos vor Spannung.
»Du mußt es dir vorstellen«, sagte Sara. »Wenn du es dir ganz fest vorstellst,
dann wirst du es sehen.«
»Ja, Miss«, sagte Becky. Und als Sara sich wieder dem Koffer zuwandte,
versuchte sie, sich mit aller Kraft das vorzustellen, was sie sich so sehr
wünschte.
Als Sara sich umdrehte, stand Becky neben dem Tisch und sah äußerst komisch
aus. Sie hielt die Augen geschlossen und verzerrte krampfartig ihr Gesicht,
während ihre Arme herabhingen und ihre Hände zur Faust geballt waren. Es
sah aus, als wollte sie gerade etwas ungeheuer Schweres hochheben.
»Becky, was ist los?« rief Sara. »Was machst du denn?«
Becky riß erschrocken die Augen auf.
»Ich hab'... äh ... mir gerade was vorgestellt, Miss«, antwortete sie leicht
verlegen. »Ich hab' versucht, dasselbe zu sehen wie Sie. Ich war ganz nah
daran«, sagte sie mit einem hoffnungsvollen Lächeln. »Aber es ist ungeheuer
anstrengend.«
»Das kommt vielleicht, weil du es nicht gewöhnt bist«, sagte Sara mitfühlend.
»Aber du kannst dir nicht vorstellen, wie einfach es ist, wenn man es schon oft
gemacht hat. Ich würde mich beim ersten Mal nicht so anstrengen. Es kommt
nach einer Weile von selbst. Ich sage dir jetzt, was ich hier habe. Sieh mal.«
Sie hielt einen alten Sommerhut in der Hand, den sie ganz unten aus dem
Koffer hervorgefischt hatte. Der Hut trug einen Kranz aus Blumen, Sie nahm
den Kranz ab und sagte feierlich:
»Das sind die Girlanden für unser Fest. Sie werden die Luft mit Wohlgeruch
füllen. Da steht ein Becher auf dem Waschbecken, Becky. Oh - und bring die
Seifenschale mit, sie soll die Mitte des Tisches schmücken.«
Becky reichte ihr beides ehrerbietig hinüber.
»Was sollen die beiden Sachen sein, Miss?« fragte sie. »Sie denken vielleicht,
es ist beides Steingut, aber ich weiß, daß es das nicht ist.«
»Das hier ist ein Krug mit eingekerbten Verzierungen«, sagte Sara und legte
ein paar Ranken des Blumenkranzes um den Becher herum. Dann beugte sie
sich behutsam über die Seifenschale und füllte sie mit Rosen. »Und dieses«,
sagte sie, »ist reinstes Alabaster, besetzt mit Edelsteinen.«
Ihre Hand strich sanft über all diese Dinge, während ein glückliches Lächeln
auf ihren Lippen lag. Sie sah aus wie ein Wesen aus einem Traum.
»Oh, wie schön!« flüsterte Becky.
»Jetzt brauchten wir noch Bonbonschalen«, murmelte Sara. »Dort!« Und sie
sauste noch einmal zum Koffer. »Vorhin habe ich etwas gesehen.«
Es war nur ein Wollknäuel, das in rotes und weißes Seidenpapier eingewickelt
war. Sara formte das Papier in kleine Schälchen, und mit den restlichen
Blumen schmückte sie den Kerzenhalter. Die Kerze darin sollte das Fest hell
erleuchten.
Nur die Zauberkraft konnte aus einem alten Tisch mit einem roten Tuch als
Tischdecke und wertlosen Dingen aus einem schäbigen Koffer ein Festgedeck
machen.
Sara trat zurück und betrachtete es wie ein Wunder. Becky hielt vor Freude den
Atem an.
»Ist das hier«, sagte sie und blickte durch den Raum, »ist es jetzt die Bastille oder hat es sich in was anderes verwandelt?«
»Ja, ja!« rief Sara. »In etwas ganz anderes. Es ist jetzt ein Bankettsaal.«
»Oje, Miss!« stieß Becky hervor. »Ein Parkettsaal!« Sie ließ ihren Blick voll
Ehrfurcht und Verblüffung über all diese Herrlichkeiten gleiten.
»Ein Bankettsaal«, verbesserte Sara. »Das ist ein riesengroßer Raum, in dem
Feste gefeiert werden. Er hat eine gewölbte Decke und eine Brüstung für die
Spielleute und einen riesigen Kamin, in dem Scheite aus Eichenholz lodern,
und Wachskerzen, die überall ihren funkelnden Schein verbreiten.«
»Oje, Miss Sara!« stieß Becky wieder hervor.
Dann ging die Tür auf, und Ermengarde kam herein, fast torkelnd unter dem
Gewicht ihres großen Korbes. Erstaunt trat sie einen Schritt zurück und stieß
einen Freudenschrei aus. Was für eine Überraschung - ahnungslos aus der kal
ten Dunkelheit zu kommen und eine Festtafel vorzufinden, die mit rotem Stoff
bekleidet, mit weißen Tüchern geschmückt und mit Blumen umrankt war!
»O Sara!« rief Ermengarde aus. »Du bist das einfallsreichste Kind, das ich je
gesehen habe!«
»Ist es nicht schön?« sagte Sara. »Es sind Sachen aus meinem alten Koffer. Ich
habe meine Zauberkraft um Rat gefragt, und sie hat mir gesagt, ich soll in dem
Koffer nachsehen.«
»Aber warten Sie, Miss«, rief Becky, »bis sie Ihnen erzählt, was das alles ist!
Es sind nicht nur ... o Miss, bitte sagen Sie's ihr«, wandte sie sich Sara zu.
Sara sagte es ihr, und mit Hilfe ihrer bezaubernden Erzählkraft brachte sie
Ermengarde soweit, daß sie wirklich alles sehen konnte: die goldenen Teller,
den gewölbten Raum, die funkelnden Wachskerzen. Als dann die Dinge aus
dem Korb zum Vorschein kamen, Kuchen mit Zuckerguß, Früchte, Bonbons
und Wein, war es ein herrliches Festmahl.
»Es ist wie ein richtiges Fest!« rief Ermengarde begeistert.
»Es ist wie an der Tafel der Königin«, seufzte Becky.
Ermengarde hatte plötzlich eine großartige Idee.
»Weißt du was, Sara«, sagte sie. »Tu doch jetzt so, als seist du eine Prinzessin
und das hier ein königliches Fest.«
»Aber es ist ein Fest«, sagte Sara, »du mußt die Prinzessin sein, und wir sind
deine Hofjungfern.«
»Oh, das kann ich nicht«, sagte Ermengarde. »Ich bin viel zu dick, und ich
weiß nicht, wie das geht. Du sollst die Prinzessin sein.«
»Na gut, wenn du willst«, sagte Sara.
Da fiel ihr plötzlich etwas anderes ein, und sie lief zu dem alten Kamin.
»Hier liegt eine Menge Papier und Abfall!« rief sie. »Wenn wir es anzünden,
wird es ein paar Minuten brennen, und wir werden das Gefühl haben, als hätten wir ein richtiges Feuer.« Sie zündete ein Streichholz an und entfachte eine lodernde Flamme, die den ganzen Raum erhellte. »Solange es brennt«, sagte Sara, »werden wir glauben, daß es ein richtiges Kaminfeuer ist.« Sie stand im Schein der Flamme und lächelte. »Findet ihr nicht auch, daß es wie echt aussieht?« sagte sie. »Jetzt soll das Festmahl beginnen.« Sie ging voran und bat Ermengarde und Becky mit einer huldvollen Geste zu Tisch. Sie befand sich mitten in ihrem Traum. »Tretet näher, holde Jungfern«, sagte sie, »und nehmt an der Festtafel Platz. Mein edler Vater, der König, welcher auf einer längeren Reise weilt, hat mir aufgetragen, euch festlich zu bewirten.« Sie wandte ihren Blick in die Zim merecke. »So kommt herbei, ihr Spielleute! Stimmet an Geige und Fagott. Prinzessinen«, fügte sie erklärend hinzu, »hatten immer Spielleute, die bei ihren Festen aufspielten. Wir stellen uns einfach dort in der Ecke eine Brüstung vor, auf der sie spielen. - Also, laßt uns anfangen.« Kaum hatten sie sich ein Stück Kuchen genommen, da sprangen alle drei erschreckt auf, drehten sich zur Tür um und lauschten. Kein Zweifel, es kam jemand die Treppe herauf. Sie erkannten sofort den schweren Schritt und wußten, daß nun alles aus war. »Es ist... die Missis!« stieß Becky mit erstickter Stimme hervor und ließ ihren Kuchen auf den Boden fallen. »ja«, sagte Sara mit großen, erschrockenen Augen und bleich vor Schreck. »Miss Minchin ist uns auf die Spur gekommen.« Miss Minchin stieß mit einem Schlag die Tür auf. Sie war blaß vor Zorn. Sie blickte von den erschrockenen Gesichtern zum gedeckten Tisch und vom Tisch zu der verlöschenden Flamme im Kamin. »So etwas Ähnliches habe ich mir schon gedacht!« rief sie aus. »Aber eine solche Unverfrorenheit hätte ich nicht für möglich gehalten. Lavinia hat also recht gehabt!« Lavinia also war es gewesen, die irgendwie hinter ihr Geheimnis gekommen war und sie verraten hatte. Miss Minchin ging mit großen Schritten auf Becky zu und verpaßte ihr eine weitere Ohrfeige. »Du unverschämte Kreatur!« rief sie. »Noch in der Frühe verläßt du das Haus!« Sara stand regungslos da, während ihre Augen noch größer und ihr Gesicht noch blasser wurden. Ermengarde brach in Tränen aus. »Bitte, schicken Sie sie nicht fort«, schluchzte sie. »Die Sachen hat mir meine Tante geschickt. Wir... wir.. . wollten nur ein Fest feiern.« »Das sehe ich«, rief Miss Minchin mit schneidender Stimme. »Mit Prinzessin Sara auf dem Ehrenplatz.« Grimmig wandte sie sich Sara zu. »Ich weiß, das war deine Idee«, rief sie. »Ermengarde würde nie auf so einen Gedanken verfallen. Ich nehme an, du hast den Tisch gedeckt mit diesem Unsinn.« Sie stampfte mit dem Fuß auf und schrie Becky an: »Geh in deine Kammer!« Becky hielt sich schluchzend die Schürze vors Gesicht und schlich hinaus.
Nun nahm, sie sich Sara vor.
»Morgen bist du dran. Es wird für dich weder Frühstück, noch Mittagessen,
noch Abendessen geben!«
»Ich habe auch heute kein Mittag- und kein Abendessen bekommen, Miss
Minchin«, sagte Sara schwach.
»Um so besser. Das wird dir eine Lehre sein. Steh nicht rum. Tu die Sachen
alle wieder zurück in den Korb.«
Sie ging zum Tisch und wischte alles auf einmal in den Korb. Dabei fielen ihr
Ermengardes neue Bücher auf.
»Und du«, sagte sie zu Ermengarde, »hast wohl nichts Besseres zu tun, als
deine schönen neuen Bücher in diese dreckige Kammer herauf zubringen. Heb
sie auf und geh sofort ins Bett. Du wirst morgen den ganzen Tag im Bett
bleiben, und ich werde deinem Vater einen Brief schreiben. Ich bin gespannt,
was er sagt, wenn er erfährt, wo du dich heute abend herumgetrieben hast.«
Saras ernster, fester Blick brachte sie noch mehr in Aufruhr.
»Was denkst du schon wieder?« fauchte sie. »Was siehst du mich so an?«
»Ich habe überlegt«, antwortete Sara, wie damals im Klassenzimmer.
»Was hast du überlegt?«
Es war genau die gleiche Situation wie damals im Klassenzimmer. Saras
Verhalten zeigte keine Spur von Frechheit. Sie war nur traurig und still.
»Ich habe überlegt«, sagte sie leise, »was mein Papa wohl sagen würde, wenn
er wüßte, wo ich heute abend bin.«
Miss Minchin war so zornig, daß sie nicht mehr zu halten war. Sie flog auf
Sara zu und schüttelte sie heftig.
»Du unverschämtes, widerspenstiges Kind!« schrie sie. »Wie kannst du es
wagen! Was fällt dir ein!«
Sie hob die Bücher auf, fegte die restlichen Sachen mit einem Mal vom Tisch
in den Korb hinein, warf ihn Ermengarde in den Arm und schob sie vor sich
her aus der Tür.
»Du wirst noch an mich denken«, sagte sie. »Geh sofort ins Bett.« Wütend
schloß sie die Tür hinter sich und ließ Sara ganz allein stehen.
Vorbei der Traum. Der letzte Funke im Kamin war erloschen und hatte nichts
als schwarzes Pulver zurückgelassen. Der Tisch war leer, die goldenen Teller,
die reich bestickten Servietten und die Girlanden hatten sich in alte
Taschentücher, rote und weiße Papierfetzen und ausrangierte, künstliche
Blumen, die auf dem Boden verstreut lagen, zurückverwandelt. Die Spielleute
auf der Brüstung hatten sich fortgeschlichen, und der Klang der Geigen und
Fagotte war verstummt. Emily saß mit dem Rücken zur Wand und starrte vor
sich hin. Sara ging auf sie zu und hob sie mit zitternden Händen hoch.
»Es gibt kein Festmahl mehr, Emily«, sagte sie. »Und auch keine Prinzessin.
Es sind nur die Gefangenen in der Bastille Übrig geblieben.« Und sie setzte
sich nieder und verbarg ihr Gesicht.
Was wohl geschehen wäre, wenn sie statt dessen zufällig zum Dachfenster
emporgesehen hätte? Vielleicht wäre dieses Kapitel ganz anders ausgegangen.
Sie schaute jedoch nicht hinauf und sah so auch nicht das Gesicht, das sich die
Nase an der Fensterscheibe platt drückte.
Sara saß eine Weile da, den Kopf in den Armen. Sie saß immer so da, wenn sie mit etwas alleine fertig zu werden versuchte. Sie stand auf und ging langsam auf ihr Bett zu. »Ich kann mir nichts mehr vorstellen - nicht, solange ich noch wach bin«, sagte sie. »Es hätte keinen Sinn, es noch einmal zu versuchen. Wenn ich schlafe, kommt mir vielleicht ein Traum und übernimmt es für mich.« Sie war plötzlich so müde - vielleicht, weil sie so lange nichts gegessen hatte -, daß sie sich zitternd auf die Bettkante setzte. »Ein helles Feuer wäre im Kamin, mit ganz vielen kleinen tanzenden Flammen«, murmelte sie. »Ein gemütlicher Sessel stände davor, und ein kleiner Tisch, auf dem ein warmes Essen steht. Und ...« Sie zog die dünne Decke über sich. ». .. dies hier wäre ein schönes, weiches Bett mit einer flauschigen Decke und großen Federkissen. Und . . . und ...« Die Müdigkeit übermannte sie, ihre Augen fielen zu, und sie schlief fest ein. Wie lange sie geschlafen hatte, wußte sie selbst nicht. Aber sie hatte so tief und fest geschlafen, daß sie selbst das Klicken des Dachfensters nicht vernahm noch die weiße Gestalt, die hindurchgeschlüpft war, sah. Die Gestalt hatte sich jetzt auf dem Dach neben der Fensterluke niedergekauert - nahe genug, um sehen zu können, was in der Dachkammer geschah, aber entfernt genug, um selbst nicht gesehen zu werden. Und dann wachte Sara auf. Sie öffnete nicht sofort die Augen. Sie fühlte sich noch zu schläfrig und merkwürdigerweise - angenehm warm und behaglich. Im ersten Moment glaubte sie, gar nicht wach zu sein. Sie hatte sich schon lange nicht mehr so be haglich gefühlt, außer in ihrer Phantasie. »Was für ein schöner Traum!« murmelte sie. »Ich ... will... nicht. .. aufwachen.« Sie hatte das Gefühl, als läge sie unter dicken, warmen Bettdecken. Sie konnte gerade die Decken fühlen, und als sie die Hand ausstreckte, war da etwas, was sich wie ein mit Samt bezogenes Federbett anfühlte. Sie durfte nicht aufwachen, sie mußte still liegenbleiben, damit dieses Wohlbehagen nicht von ihr wich. Aber sie konnte nicht, obwohl sie ihre Augen fest geschlossen hielt. Etwas zwang sie aufzuwachen. Irgend etwas war da im Raum. Es war ein Lichtschim mer und ein Geräusch - das Geräusch eines knisternden, prasselnden Feuers. Ob sie wollte oder nicht, ihre Augen öffneten sich. Und dann kam ein Lächeln über ihre Lippen. Was sie erblickte, hatte sie in ihrer Kammer noch nie zuvor gesehen. Und sie wußte, sie würde es auch später nie wieder sehen. »Oh, ich träume noch«, flüsterte sie, stützte sich vorsichtig auf ihre Ellbogen und schaute sich im Zimmer um. »Ich träume noch.« Sie wußte, es mußte ein Traum sein, denn wäre sie wach gewesen, hätte das alles unmöglich sein können. Ist es verwunderlich, daß sie sich ganz sicher war, nicht wach zu sein? Denn sie sah die wunderlichsten Dinge: Im Kamin brannte ein loderndes Feuer. Auf dem Kaminrost stand ein kleiner, zischender Messingkessel mit kochendem Wasser. Auf dem Fußboden lag ein dicker, purpurroter Teppich. Vor dem Kamin stand
ein Klappstuhl mit Kissen darauf, daneben ein kleiner Klapptisch mit einer weißen Tischdecke. Auf dem Tisch standen kleine Schüsseln, eine Tasse, eine Untertasse und eine Teekanne. Auf dem Bett lagen warme Decken und ein Daunenbett mit Samtbezug. Am Fußende des Bettes lagen ein sonderbar wattiertes Seidengewand und ein Paar gefütterte Pantoffeln und mehrere Bücher. Das Zimmer, von dem sie immer geträumt hatte, kam ihr vor wie im Märchenland - und es war durchflutet von warmem Licht, das von einer hellen Lampe mit rosarotem Schirm herrührte, die auf dem Tisch stand. Sie setzte sich höher auf; es raubte ihr den Atem. Sie wagte kaum, sich zu bewegen. Schließlich aber warf sie die Bettdecken zur Seite, setzte die Füße auf den Boden und lächelte, außer sich vor Freude. »Ich träume, daß ich aus dem Bett steige«, hörte sie sich sagen. Und dann, als sie mitten im Raum stand und sich langsam ringsherum drehte: »Ich träume, ich fühle alles wie in Wirklichkeit. Es ist verzaubert - oder ich bin verzaubert. Ich bilde mir nur ein, daß ich das alles sehe.« Ihre Worte begannen sich zu überstürzen. »Wenn ich bloß nicht aufhöre, mir alles einzubilden«, rief sie. »Ich will nicht aufhören, ich will nicht!« Sie stand atemlos da. Das lodernde Feuer zog sie an, sie kniete nieder und streckte ihre Hände aus - so nah, daß die Hitze sie zurückschrecken ließ. »Feuer, von dem ich träume, wäre nicht heiß!« rief sie. Sie sprang auf und berührte den Tisch, die Schüsseln, den Teppich. Sie ging zum Bett und berührte die Decken. Sie nahm den gefütterten Morgenmantel hoch und hielt ihn mit einer hastigen Bewegung an ihre Brust und ihre Wangen. »Er ist so warm. Und so wunderbar weich!« sagte sie und war den Tränen nahe. »Es ist wahr. Es muß wahr sein!« Sie warf den Mantel über ihre Schultern und schlüpfte in die Pantoffeln. Sie stolperte auf die Bücher zu und schlug das oberste auf. Auf der ersten Seite stand etwas geschrieben - nur ein paar Worte: Dem kleinen Mädchen in der Dachkammer. Von einem Freund. Als sie das las, geschah etwas Ungewöhnliches: Sie legte ihren Kopf auf die Buchseite und brach in Tränen aus. »Ich weiß nicht, wer es ist«, sagte sie, »aber irgend jemand kümmert sich um mich. Ich habe einen Freund.« Sie nahm ihre Kerze, schlich aus der Kammer zu Becky hinüber und blieb neben ihrem Bett stehen. »Becky, Becky!« raunte sie. »Wach auf!« Als Becky aufwachte und entgeistert im Bett hochfuhr, stand neben ihr eine kleine Gestalt in einem wunderschönen, gefütterten Morgenmantel aus purpurroter Seide. Ein leuchtendes Gesicht schaute daraus hervor. Prinzessin Sara - so, wie sie sie in Erinnerung hatte - stand neben ihrem Bett, mit einer Kerze in der Hand. »Komm«, sagte sie. »O Becky, komm doch!« Becky verschlug es vor Schreck die Sprache. Sie stand auf und folgte Sara mit offenem Mund und großen Augen. »Es ist wahr! Es ist wahr!« rief sie, als sie in ihrer Kammer standen. »Ich habe
alles angefaßt. Es ist alles so wirklich wie wir selbst. Die Zauberkraft hat gewirkt, Becky, während ich geschlafen habe, die Zauberkraft, die immer rechtzeitig kommt, bevor etwas am allerschlimmsten wird.«
Der Besucher Es ist sicher nicht schwierig, sich vorzustellen, wie es an diesem Abend weiterging: Wie Sara und Becky vor dem Feuer hockten und den Flammen zusahen, die lustig auf und ab hüpften; wie sie die Schüsseln abdeckten und köstliche, heiße Suppe darin vorfanden, die allein schon eine Mahlzeit für sich ergeben hätte. Becky nahm den Becher auf dem Waschbecken als Teetasse, und der Tee schmeckte so köstlich, daß sie sich vorstellten, sie tränken noch etwas viel Erleseneres. Sie fühlten sich mollig warm und satt und glücklich, und nun, nachdem es keinen Zweifel mehr gab, daß dies alles Wirklichkeit war, konnte Sara dieses unverhoffte Glück in vollen Zügen genießen. Ihre Phantasievorstellungen machten einen so großen Teil ihres Lebens aus, daß sie auch in der Lage war, in demselben Maße etwas Wunderbares intensiv zu erleben. »Ich kenne niemanden auf der ganzen Welt, der mir diese Dinge gebracht haben könnte«, sagte Sara. »Aber es war jemand da. Und jetzt sitzen wir hier am Feuer. . . und ... und ... und ... es ist wahr! Wer auch immer es ist, und wo immer er sich aufhält: Ich habe einen Freund, Becky, irgend jemand ist mein Freund!« Während sie so vor dem wärmenden Feuer saßen und sich das gute Essen schmecken ließen, schauten sie einander etwas unsicher an. »Glauben Sie«, flüsterte Becky zögernd, »glauben Sie, Miss, es könnte sich vielleicht alles in Luft auflösen? Vielleicht sollten wir uns besser beeilen?« Und sie stopfte hastig ihr Sandwich in den Mund. Sollte es doch nur ein Traum sein, käme es schließlich auf Eßmanieren nicht an. »Nein, es bleibt«, sagte Sara, »dieses Milchbrötchen hier esse ich wirklich, und ich kann es schmecken. Wenn man träumt, ißt man nie richtig. Man denkt nur, daß man etwas ißt. Außerdem bin ich die ganze Zeit dabei, mich zu kneifen. Und jetzt eben habe ich mit Absicht eine glühende Kohle angefaßt.« Allmählich überkam sie ein herrlich schläfriges Wohlbehagen. Es war jene glückliche, satte Schläfrigkeit, die nur Kinder kennen. Sara warf einen Blick auf ihr Bett. Es gab genug Decken, so daß sie auch Becky ein paar abgeben konnte. Als Becky gehen wollte, blieb sie an der Türschwelle stehen und schaute sich noch einmal sehnsüchtig in der Kammer um. »Wenn es morgen früh weg ist, Miss«, sagte sie, »ist es wenigstens heute abend dagewesen, und ich werd' es nie vergessen.« Sie sah sich jedes einzelne Ding noch einmal eingehend an, als wollte sie sich alles genau einprägen. So, wie sich in der Schule und unter Dienstmädchen immer alles auf
geheimnisvolle Weise schnell herumspricht, wußte am nächsten Morgen schon jeder, daß Sara Crewe in schlimmste Ungnade gefallen war, daß Ermengarde unter Arrest stand, und daß Becky eigentlich noch vor dem Frühstück auf die Straße gesetzt werden sollte, was aber daran scheiterte, daß so schnell nicht auf eine Küchenmagd verzichtet werden konnte. Die Dienstmägde wußten ganz genau, daß Miss Minchin Becky nicht entlassen würde, weil sie so leicht nicht wieder ein so hilfsbereites, unterwürfiges Wesen finden würde, das wie ein Sklave für einen lächerlichen Lohn schuftete. Und was Sara betraf, wußten die älteren Schülerinnen genau, daß Miss Minchin sie behielt, weil sie für sie von praktischem Nutzen war. »Sie wächst so schnell und lernt so viel«, sagte Jessie zu Lavinia, »daß sie bestimmt bald selbst unterrichten kann. Und Miss Minchin weiß, daß sie sie dann nicht zu bezahlen braucht. Es war ganz schon gemein von dir, Lavinia, Sara zu verpetzen. Wie hast du herausgefunden, daß sie in ihrer Kammer feiert?« »Lottie hat es mir verraten. Sie ist noch ein dummes Baby, und ich habe es ihr entlockt, ohne daß sie etwas davon gemerkt hat. Es war überhaupt nicht gemein, es Miss Minchin weiterzusagen. Ich hab' nur meine Pflicht getan«, versuchte Lavinia sich zu rechtfertigen. »Außerdem ist es doch wohl lächerlich, sich in Lumpen und Fetzen so hervortun zu wollen.« »Was haben sie denn gemacht, als Miss Minchin hereinkam?« »Sie haben irgend etwas Blödsinniges gespielt. Ermengarde hatte ihren Geschenkkorb nach oben getragen und wollte ihn mit Sara und Becky teilen. Uns etwas abzugeben, fällt ihr nie ein. Nicht, daß ich was darum gäbe, aber es ist doch ziemlich geschmacklos, seine Sachen mit Dienstmägden, die in Dachkammern wohnen, zu teilen. Es wundert mich, daß Miss Minchin Sara nicht rausgeworfen hat - selbst wenn sie sie eigentlich lieber als Lehrerin hätte.« »Und wenn sie rausgeworfen würde, wo sollte sie denn dann hingehen?« fragte Jessie besorgt. »Woher soll ich das wissen?« fragte Lavinia schnippisch. »Wenn sie heute morgen in die Klasse kommt, wird sie ganz schön komisch aussehen, nach dem, was passiert ist. Sie hat gestern kein Mittagessen bekommen und soll auch heute keines kriegen.« Jessie war zwar ein albernes Kind, aber nicht boshaft. Ruckartig nahm sie ihr Buch hoch. »Also, ich finde es gemein«, sagte sie. »Sie haben kein Recht, sie verhungern zu lassen.« Als Sara an diesem Morgen in die Küche kam, sahen die Köchin und die anderen Mägde sie argwöhnisch an. Sie ging jedoch schnell an ihnen vorbei. Sie hatte tatsächlich ein wenig verschlafen, ebenso Becky, und sie hatten des halb keine Zeit gehabt, sich noch kurz vorher zu sehen. Nacheinander kamen sie die Treppe herab. Sara ging in die Spülküche zu Becky, die gerade heftig in einem Kessel scheuerte. Aufgeregt drehte sie sich um. »Sie war immer noch da, als ich aufgewacht bin, Miss . .. die Decke«, flüsterte
sie. »Sie war genauso echt wie gestern abend.« »Meine ebenso«, sagte Sara. »Es ist immer noch alles da - alles. Während ich mich angezogen habe, habe ich noch etwas von den Sachen gegessen, die wir übriggelassen haben.« »Ist es die Möglichkeit!« rief Becky voll Begeisterung und beugte sich schnell über den Kessel, da die Köchin hereinkam. Als Sara das Klassenzimmer betrat, erwartete Miss Minchin dasselbe Gesicht, auf das auch Lavinia gespannt war. Sara war ihr immer schon ein Rätsel gewesen. Es ärgerte sie, daß Strenge sie weder zum Weinen brachte noch ihr Angst einflößte. Wenn sie gescholten wurde, stand sie nur ruhig da und hörte höflich und ernst zu. Wenn sie zur Strafe zusätzliche Aufgaben erledigen mußte oder nichts zu essen bekam, akzeptierte sie es ohne Murren und ohne ein äußeres Zeichen von Rebellion. Die Tatsache allein, daß Sara niemals eine unverschämte Antwort gab, empfand Miss Minchin als Unverschämtheit schlechthin. Aber die heftige Szene gestern abend und die Aussicht darauf, daß sie heute wie gestern nichts zu essen bekommen würde, hatten ihr mit Sicherheit den Rest gegeben. Da war sich Miss Minchin sicher. Es würde wohl nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn sie heute morgen nicht mit geröteten Augen und bleichem Gesicht die Treppe herunterkommen würde. Miss Minchin sah Sara diesen Morgen zum ersten Mal, als sie die Klasse betrat, um die Französischaufgaben der Kleinen abzuhören und mit ihnen neue Übungen durchzugehen. Sara kam mit beschwingtem Schritt herein, und ihre Wangen waren rosig, und um die Mundwinkel spielte ein heimliches Lächeln. Damit hatte Miss Minchin diesmal nicht gerechnet. Sie war wie vom Donner gerührt. Was war das nur für ein Kind? Was bedeutete das alles? Sie rief sie sofort zu sich nach vorne. »Du siehst nicht so aus, als seist du dir dessen bewußt, wie überaus schändlich du dich benommen hast«, sagte sie vorwurfsvoll. »Bist du denn völlig abgebrüht?« Aber wenn man mitten in einem Märchen eingeschlafen ist und dieses Märchen am Morgen wahr geworden ist, dann kann man nicht unglücklich sein oder unglücklich aussehen. Und selbst, wenn man wollte, könnte man den Freudenschimmer in den Augen nicht zurückhalten. Miss Minchin verschlug es fast die Sprache bei Saras Anblick, als diese ihr äußerst respektvoll antwortete: »Ich bitte um Verzeihung, Miss Minchin. Ich weiß, daß ich mich schändlich benommen habe.« »Wieso machst du dann ein Gesicht, als hättest du ein Vermögen geerbt. Das ist einfach eine bodenlose Unverschämtheit. Denk daran, daß heute das Essen für dich ausfällt.« »Ja, Miss Minchin«, antwortete Sara. Aber als sie sich umdrehte, hüpfte ihr Herz vor Freude über das, was sie gestern erlebt hatte. >Wenn die Zauberkraft mich nicht rechtzeitig gerettet hätte<, dachte sie, >wie unvorstellbar schreck lich wäre alles ausgegangen !< »Sehr hungrig kann sie nicht sein«, flüsterte Lavinia. »Sieh sie dir doch an. Vielleicht stellt sie sich ja vor, sie hätte ein leckeres Frühstück gehabt.« Lavinia
lachte. »Sie ist anders als andere Menschen«, flüsterte Jessie, während sie Sara beobachtete. »Manchmal macht sie mir fast angst.« Den ganzen Tag über leuchteten Saras Augen und ihre Wangen glühten. Die Dienstmädchen sahen ihr verblüfft hinterher und flüsterten miteinander, und Miss Amelias kleine Augen drückten Verwirrung aus. Es ging über ihre Begriffe, wie jemand dem mißbilligenden Blick der Obrigkeit mit einem so zufriedenen Gesichtsausdruck trotzen konnte. Aber es war eben Saras besondere, hartnäckige Art. Sie schien fest entschlossen zu sein, die Angelegenheit durchzustehen. Über etwas wurde sich Sara schnell klar, als sie sich alles noch einmal durch den Kopf gehen ließ. Die Wunder, die geschehen waren, mußten nach Möglichkeit geheimgehalten werden. Wenn Miss Minchin auf die Idee kam, noch einmal zum Dachboden hinaufzusteigen, dann wäre alles verraten. Aber es war ziemlich unwahrscheinlich, daß sie in nächster Zeit noch einmal kommen würde, außer, sie schöpfte Verdacht. Ermengarde und Lottie würden so scharf bewacht werden, daß sie so schnell nicht mehr wagten, sich fortzustehlen. Ermengarde würde sie getrost in das Geheimnis einweihen können. Vielleicht würde ja auch die Zauberkraft selbst dazu beitragen, daß ihre Wunder geheim blieben. »Aber was auch geschieht«, sagte Sara immer wieder zu sich selbst, »was auch immer geschieht, irgendwo auf der Welt gibt es einen wunderbaren Menschen, der mein Freund ist. Auch wenn ich nie herausfinden sollte, wer es ist, auch wenn ich ihm vielleicht niemals danken kann - ich werde mich nie mehr ganz einsam fühlen.« In den letzten Tagen war das Wetter schon schlimm genug gewesen, aber am heutigen Tag war es noch schlechter. Und es waren noch mehr Einkäufe zu erledigen als je zuvor. Aber was macht das alles schon, wenn man eine Zauberkraft zum Freund hat? Das Essen am Abend zuvor hatte Sara neue Kraft gegeben; sie wußte, daß sie fest und warm schlafen würde, und fühlte, daß sie bis zum Frühstück am folgenden Morgen durchhalten konnte, denn ab dann würde sie sicherlich ihre üblichen Mahlzeiten wieder bekommen. Es war schon ziemlich spät, als sie endlich in ihre Kammer hinaufstieg. Man hatte ihr befohlen, sich noch bis zehn Uhr ins Klassenzimmer zu setzen, um zu lernen. Sie war dann so sehr in ihre Bücher vertieft gewesen, daß es noch später geworden war. Als sie schließlich den obersten Treppenabsatz erreichte und vor der Kammertür stand, klopfte ihr Herz heftig. »Es kann natürlich immer noch sein, daß alles fortgenommen worden ist«, flüsterte sie. Sie versuchte, tapfer zu sein. »Es kann ja auch sein, daß mir das alles nur für diese eine schreckliche Nacht geliehen worden ist.« Sie stieß die Tür auf und holte tief Luft. Langsam schaute sie sich im Zimmer um. Die Zauberkraft war wieder dagewesen. Es gab keinen Zweifel, sie hatte noch mehr gezaubert als am Abend vorher. Die kleinen Flammen im Kamin hüpften lustiger denn je auf und ab. Einige neue Sachen standen im Raum, und er sah
so verändert aus, daß Sara sich die Augen gerieben hätte, wenn sie noch Zweifel gehabt hätte, daß alles Wirklichkeit war. Auf dem niedrigen Tisch stand neues Essen. Diesmal gab es auch Tassen und Teller für Becky. Auf dem häßlichen Kaminsims lag ein helles Stück Stoff mit seltsamen Stickereien, und darauf standen einige Ziergegenstände. Alle kahlen, häßlichen Sachen waren mit den verschiedensten Stoffen bedeckt worden, um sie hübsch aussehen zu lassen. Bunte Fächer waren mit Nägeln an der Wand befestigt worden, und auf dem Teppich lagen mehrere große Kissen, so groß und fest, daß man bequem darauf sitzen konnte. Eine Holzkiste stand da, bedeckt mit einem Teppich und einigen Kissen, so daß sie wie ein Sofa aussah. Sara löste sich langsam von der Tür, setzte sich nieder und schaute sich um, immer und immer wieder. »Es ist, wie wenn etwas Märchenhaftes wahr wird«, sagte sie. »Ganz genauso. Ich darf mir etwas wünschen, Diamanten oder Säcke voller Gold, und der Wunsch geht in Erfüllung! Genauso kommt es mir vor. Ist das überhaupt meine Dachkammer? Bin ich es, die frierende, zerlumpte Sara? Daß ein Märchen einmal wahr würde, war immer schon mein größter Wunsch. Ich lebe in einem Märchen.« Sie stand auf und klopfte an die Wand, um die Gefangene nebenan herüberzurufen. Als Becky eintrat, verschlug es ihr die Sprache. »Ist es die Möglichkeit!« rief sie. »Das gibt's doch nicht, Miss!« An diesem Abend saß Becky auf einem Kissen vor dem Kamin mit einer eigenen Tasse in der Hand. Als Sara sich auf ihr Bett setzte, stellte sie fest, daß eine neue Matratze drin lag und große Daunenkissen. Ihre alte Matratze und ihr altes Kissen waren zu Beckys Bett hinübergebracht worden, so daß auch Becky somit zu unerhörtem Komfort gekommen war. »Woher das bloß alles kommt?« fragte Becky schließlich. »Wer das wohl macht, Miss?« »Wir wollen lieber nicht danach fragen«, sagte Sara. »Obwohl ich mich gerne bedanken würde, finde ich es schöner, nicht zu wissen, wer es war.« Von nun an wurde das Leben mit jedem Tag wunderbarer. Das Märchen ging weiter. Es gab fast täglich etwas Neues. Jedesmal, wenn Sara am Abend ihre Tür öffnete, fand sie irgendeine Überraschung vor. Mit der Zeit hatte sich ihre Dachkammer in ein hübsches kleines Zimmer verwandelt mit lauter sonderbaren und luxuriösen Dingen darin. Die häßlichen Wände waren allmählich vollständig bedeckt mit Bildern und Wandbehängen. Es tauchten die raffiniertesten Klappmöbel auf, ein Bücherbrett wurde aufgehängt und mit Büchern vollgestopft. Und alle möglichen Dinge, die der Bequemlichkeit und dem Wohlbehagen dienten, kamen nach und nach dazu, bis keine Wünsche mehr offenblieben. Wenn Sara frühmorgens hinunterging, ließ sie immer noch Reste des Abendessens auf dem Tisch zurück. Und wenn sie abends in ihre Kammer zurückkehrte, waren die Reste fort und statt dessen ein neues, schmackhaftes Essen auf den Tisch gezaubert. Miss Minchin war so barsch wie immer, Miss Amelia genauso mürrisch und
die Dienstmädchen genauso gemein und grob. Sara wurde bei jedem Wetter zum Einkaufen geschickt, gescholten und hierhin und dorthin gejagt. Sie durfte kaum mit Ermengarde und Lottie sprechen. Lavinia grinste spöttisch über ihre Kleider, die immer schäbiger wurden. Und die anderen Kinder starrten sie neugierig an, wenn sie im Klassenzimmer erschien. Aber was konnte ihr das schon ausmachen, wo sie doch in diesem geheimnisvollen Märchen lebte? Es war noch viel romantischer und wunderbarer als alles, was sie sich jemals ausgemalt hatte. Das Wohlbehagen und das Glück, das sie empfand, gaben ihr Kraft, und sie konnte sich immer wieder von neuem auf dieses Gefühl freuen. Es dauerte nicht lange, bis sie nicht mehr so mager aussah wie bisher. Sie bekam Farbe, und auch ihre Augen waren nicht mehr so eingefallen. »Sara sieht erstaunlich gut aus«, bemerkte Miss Minchin mißbilligend ihrer Schwester gegenüber. »Ja«, sagte Miss Amelia nachdenklich. »Sie wird immer dicker. Vor kurzem sah sie noch aus wie eine ausgehungerte Krähe.« »Ausgehungert!« rief Miss Minchin erbost. »Wieso sollte sie ausgehungert ausgesehen haben? Sie hat immer genug zu essen bekommen.« »Ja ... ja, natürlich«, stimmte Miss Amelia unterwürfig zu und erschrak, weil sie wieder einmal etwas Falsches gesagt hatte. »Da ist etwas, was mir an diesem Kind überhaupt nicht gefällt«, sagte Miss Minchin mürrisch. »Was . . . was wäre das?« fragte Miss Amelia unsicher. »Man könnte es fast Trotz nennen«, sagte Miss Minchin und ärgerte sich, weil sie wußte, daß das, was sie Sara übelnahm, mit Trotz überhaupt nichts zu tun hatte. Sie wußte aber auch nicht, wie sie es sonst nennen sollte. »Jedes andere Kind in ihrer Lage hätte längst Demut gezeigt und wäre zusammengebrochen unter der Last der Veränderung, die es erfahren mußte. Sie dagegen scheint so über den Dingen zu stehen, als ob ... als ob sie eine Prinzessin wäre.« »Erinnerst du dich«, warf Miss Amelia in ihrer einfältigen Art ein, »wie sie damals im Klassenzimmer zu dir sagte, was du wohl tun würdest, wenn du plötzlich herausfändest, daß...« »Nein, ich erinnere mich nicht«, unterbrach Miss Minchin ihre Schwester barsch. »Red keinen Unsinn.« Natürlich konnte sich Miss Minchin noch allzu gut daran erinnern. Verständlicherweise sah selbst Becky allmählich etwas rundlicher und nicht mehr so verängstigt aus. Sie konnte gar nicht anders, denn sie war ja an dem geheimen Märchen beteiligt. Sie hatte zwei Matratzen, zwei Kissen, eine Menge Bettdecken, jeden Abend ein warmes Essen und einen kuscheligen Platz vor dem Kamin. Die Bastille war zerronnen, die Gefangenen gab es nicht mehr. Zwei unbeschwerte Kinder saßen inmitten von herrlichen Dingen. Manchmal las Sara laut aus ihren Büchern, manchmal beschäftigte sie sich mit ihren Französischübungen. Oder sie saß einfach nur am Feuer und versuchte, sich ihren unbekannten Freund vorzustellen. Sie wünschte sich so sehr, sie könnte ihm etwas von den Dingen sagen, die sie in ihrem Herzen für ihn
aufbewahrt hatte. Dann geschah wieder etwas Wunderbares. Ein Mann gab mehrere Pakete an der Tür ab. Auf allen stand in großen Buchstaben: Für das kleine Mädchen in der rechten Dachkammer. Sara wurde selbst zur Tür geschickt, um die Pakete anzunehmen. Sie legte die beiden größten Pakete auf den Tisch im Flur und warf gerade einen Blick auf die Adresse, als Miss Minchin die Treppe herunterkam und sie sah. »Bring die Pakete der jungen Dame, an die sie adressiert sind«, sagte sie streng. »Steh nicht da und starre sie an.« »Sie sind für mich«, sagte Sara leise. »Für dich?« rief Miss Minchin. »Was heißt das?« »Ich weiß nicht, woher sie kommen«, sagte Sara, »aber sie sind an mich adressiert. Ich schlafe in der rechten Dachkammer. Becky schläft in der linken.« Miss Minchin kam näher und warf einen nervösen Blick auf die Pakete. »Was ist drin?« fragte sie. »Ich weiß es nicht«, antwortete Sara. »Mach sie auf«, befahl Miss Minchin. Sara gehorchte. Als sie die Pakete auspackte, änderte sich Miss Minchins Gesichtsausdruck mit einem Schlag. Was sie zu sehen bekam, waren wunderschöne Kleidungsstücke: Schuhe, Strümpfe, Handschuhe und ein warmer Mantel. Sogar ein hübscher Hut und ein Schirm waren dabei. Alles sah sehr kostbar aus, und auf der Manteltasche war ein Zettel angeheftet, auf dem zu lesen stand: Kleidung für den täglichen Gebrauch. Wird bei Bedarf ersetzt. Miss Minchin war höchst erregt. Dieser Vorfall gab ihr zu denken. Hatte sie womöglich doch einen Fehler gemacht? Hatte dieses bettelarme Kind etwa irgendeinen reichen Freund im Hintergrund? Vielleicht irgendeinen bisher unbekannten Verwandten, der sie plötzlich aufgespürt und beschlossen hatte, auf diese geheimnisvolle Weise für sie zu sorgen? Verwandte konnten manch mal recht komisch sein, besonders reiche, unverheiratete Onkel, die Kinder nicht in ihrer unmittelbaren Nähe haben wollten. So jemand zog es sicherlich vor, aus der Distanz für das Wohlergehen seiner jungen Verwandten zu sorgen. Sicher war es eine schrullige, leicht zu kränkende und schnell aufbrausende Person. Angenommen, sie existierte und sie würde von der schäbigen Kleidung, dem dürftigen Essen und der harten Arbeit erfahren, könnte das alles sehr unangenehm für sie werden. Miss Minchin hatte ein äußerst ungutes und unsicheres Gefühl. Sie warf Sara einen verstohlenen Blick zu. »Nun«, sagte sie mit einer Stimme, die Sara nur aus der Zeit kannte, als ihr Vater noch lebte, »irgend jemand meint es gut mit dir. Da dir diese Dinge nun einmal überbracht worden sind und du ohnehin irgendwann neue Sachen be nötigt hättest, kannst du hinaufgehen und dich umziehen, damit du ordentlich aussiehst. Komm dann bitte herunter und mach deine Französischübungen mit den Kleinen. Du brauchst heute nicht mehr zum Einkaufen fortzugehen.« Eine halbe Stunde später, als Sara ins Klassenzimmer trat, verschlug es allen vor Staunen die Sprache. »Das gibt's nicht!« stieß Jessie schließlich hervor und stupste Lavinia am
Ellbogen. »Sieh mal, Prinzessin Sara!« Alle starrten Sara an, und als Lavinia sie erblickte, wurde sie vor Überraschung, Zorn und Neid ganz rot. Tatsächlich, es war Prinzessin Sara. Seit der Zeit, als ihr Vater noch gelebt hatte, hatte sie nicht mehr so ausgesehen. Es war kaum zu glauben, daß dies dieselbe Sara sein sollte, die sie noch vor wenigen Stunden die Hintertreppe hatten herunterkommen sehen. Sie trug ein Kleid, das sehr ähnlich aussah wie die Kleider, um die Lavinia sie immer beneidet hatte. In den neuen Schuhen sahen ihre Füße genauso schmal aus wie damals, als Jessie sie deswegen be wundert hatte. Und ihr Haar, das ihr eher das Aussehen eines Shetland-Ponys gab, wenn es ihr offen ins Gesicht fiel, war mit einer Schleife zurückgebunden. »Vielleicht hat ihr jemand ein Vermögen vererbt«, flüsterte Jessie. »Ich hab' es immer schon im Gefühl gehabt, daß irgend etwas mit ihr passiert. Sie ist so anders.« »Vielleicht sind plötzlich die Diamantenminen wieder aufgetaucht«, meinte Laviniaspöttisch. »Starre sie doch nicht ständig an, du dummes Ding, das will sie doch bloß.« »Sara«, ertönte Miss Minchins tiefe Stimme, »komm und setz dich hierher.« Und während alle in der Klasse sie neugierig anstarrten und sich aufgeregt gegenseitig anstupsten, nahm Sara ihren alten Ehrenplatz ein und beugte sich über ihre Bücher. Am Abend, als sie mit Becky zusammen in ihrer Kammer saß, schaute sie lange Zeit mit ernstem Blick ins Feuer. »Denken Sie sich was aus, Miss?« fragte Becky vorsichtig. Wenn Sara so still dasaß und verträumt in die Glut blickte, bedeutete das normalerweise, daß sie sich gerade eine neue Geschichte überlegte. Diesmal war es jedoch nicht so. »Nein«, sagte sie. »Ich überlege, was ich tun soll.« Becky starrte sie fragend an. »Ich muß immerzu an meinen unbekannten Freund denken«, sagte Sara. »Wenn er selbst nicht erkannt sein will, wäre es nicht fair, ihn ausfindig machen zu wollen. Aber ich möchte so gerne, daß er weiß, wie glücklich er mich gemacht hat.« Sie hielt kurz inne, als ihr Blick auf etwas fiel, was auf einem Tisch in der Ecke stand. Sie hatte es vor zwei Tagen in ihrem Zimmer vorgefunden. Es war eine kleine Schreibmappe mit Papier, Umschlägen, Federn und Tinte. »Oh«, rief sie, »daß ich daran nicht eher gedacht habe!« Sie stand auf, ging zum Tisch und holte die Mappe. »Ich kann ihm ja schreiben«, sagte sie erfreut, »und ihm den Brief auf den Tisch legen. Derjenige, der die Sachen immer mitnimmt, bringt ihm dann vielleicht auch den Brief.« Sara setzte sich an den Tisch und schrieb. Ich hoffe, Sie halten mich nicht für unhöflich, wenn ich Ihnen diesen Brief schreibe. Bitte glauben Sie mir, daß ich nicht unhöflich sein will und auch nicht versuche, irgend etwas über Sie herauszufinden. Ich möchte nichts weiter, als Ihnen dafür danken, daß Sie so lieb zu mir gewesen sind - so über alle Maßen lieb - und mir alles wie ein Märchen haben erscheinen lassen. Ich bin Ihnen so
dankbar, und ich bin so glücklich — und Becky ist es genauso. Becky möchte sich ebenso bedanken wie ich. Für sie ist alles genauso schön und wunderbar wie für mich. Wir lebten in Einsamkeit, Kälte und Hunger, und jetzt... Sie haben so viel für uns getan! Bitte lassen Sie mich nur diese Worte sagen. Ich muß sie einfach sagen. Danke - danke - danke! Das kleine Mädchen in der Dachkammer. Den Brief ließ sie am nächsten Morgen auf dem Tisch liegen. Als sie am Abend nach Hause kam, war er nicht mehr da. Sie wußte, daß der Zauberer ihn jetzt bekommen hatte, und sie war glücklich darüber. Bevor sie schlafen gingen, las Sara Becky noch aus einem ihrer neuen Bücher vor. Plötzlich hörte sie ein Geräusch am Dachfenster. Auch Becky schaute zu dem Fenster hoch und lauschte angestrengt. »Da ist was, Miss«, flüsterte sie. »Ja«, sagte Sara leise. »Es hört sich an - wie eine Katze, die hereinwill.« Sie stand auf und stellte sich unter das Fenster. Es war ein merkwürdiges Geräusch, wie ein leises Kratzen. Plötzlich fiel ihr etwas ein, und sie mußte lachen. Sie erinnerte sich an einen kleinen, lustigen Eindringling, der schon einmal in ihrer Kammer Unterschlupf gesucht hatte. »Angenommen«, flüsterte sie in freudiger Erregung, »nur mal angenommen, es ist der Affe, der wieder ausgerissen ist. Oh, ich wünschte, er wäre es!« Sie kletterte auf einen Stuhl, öffnete ganz vorsichtig das Dachfenster und spähte mit zusammengekniffenen Augen hinaus. Es hatte den ganzen Tag über geschneit, und auf dem Schnee, ganz in ihrer Nähe, kauerte eine kleine, zit ternde Gestalt. Mit mitleiderregendem Stirnrunzeln schaute sie Sara an. »Es ist der Affe«, rief sie. »Er ist aus der Dachkammer des Seemanns gekrochen und hat bei uns Licht brennen sehen.« Becky lief zu Sara hin. »Lassen Sie ihn rein, Miss?« fragte sie. »Ja«, sagte Sara vergnügt. »Draußen ist es für einen Affen zu kalt. Affen sind empfindlich. Ich werde ihn reinholen.« Sie streckte vorsichtig die Hand aus und lockte ihn mit schmeichelnden Worten herbei - so, wie sie es immer mit den Spatzen und mit Melchisedec machte. »Komm her, liebes Äffchen«, sagte sie. »Ich tu' dir nichts.« Er wußte, daß sie ihm nichts tun würde. Er kannte Menschenliebe von Kam Dass' schlanken braunen Händen her. Er ließ sich von ihr durch das Fenster heben, und als er in ihren Armen war, kuschelte er sich an ihre Brust, hielt sich vertrauensvoll an ihren Haaren fest und schaute ihr ins Gesicht. »Gutes Äffchen! Gutes Äffchen!« schmeichelte Sara und gab ihm einen Kuß auf seinen lustigen Kopf. »Was wollen Sie mit ihm machen?« fragte Becky. »Er darf heute nacht bei mir schlafen, und morgen bringe ich ihn dem Herrn aus Indien wieder. Ich mag dich gar nicht weggeben, du mein kleines Äffchen, aber es muß sein. Du solltest dein Herrchen am liebsten haben und nicht mich.« Und als sie ins Bett ging, machte sie ihm am Fußende ein Nest zurecht, und das Äffchen rollte sich zusammen und schlief zufrieden wie ein Baby.
»Es ist das Kind!« Am Nachmittag des darauffolgenden Tages saßen drei Mitglieder der »Großen Familie« in der Bibliothek des Herrn aus Indien und versuchten, ihn aufzuheitern, so gut sie konnten. Er hatte sie rufen lassen. Ein Gefühl der Un gewißheit bedrückte ihn seit geraumer Zeit, und nun war er in besorgter Erwartung eines Ereignisses, das an diesem Tag noch eintreten sollte: Mr. Carmichaels Rückkehr aus Moskau. Sein Aufenthalt dort hatte sich über Wochen hingezogen. Nach seiner Ankunft in Moskau hatte es eine ganze Weile gedauert, bis er endlich eine Spur von der gesuchten Familie gefunden hatte. Als er sich schließlich sicher gewesen war, sie aufgespürt zu haben, und sich zu ihrem Haus begeben hatte, war ihm mitgeteilt worden, daß sie sich gerade auf einer Reise befände. Damit er nicht umsonst nach Moskau gefahren war, hatte er beschlossen, ihre Rückkehr abzuwarten. Mr. Carrisford saß nun in seinem Ruhesessel, und Janet hockte neben ihm auf dem Boden. Er mochte Janet sehr gern. Nora hatte sich auf einem Fußschemel niedergelassen, und Donald saß auf dem Kopf des Tigerfells, das vor dem Kamin lag, und ritt wild darauf herum. »Schnalz nicht so laut, Donald«, sagte Janet. »Man kann nicht einen kranken Mann aufheitern, indem man so laut ist. Er ist doch zu laut, nicht wahr, Mr. Carrisford?« wandte sie sich dem Herrn aus Indien zu. Mr. Carrisford klopfte ihr auf die Schulter und sagte: »Nein, es ist gut so. Es hält mich vom Grübeln ab.« »Ich bin ja schon still«, rief Donald. »Wir werden uns alle mucksmäuschenstill verhalten.« »Mäuse machen aber nicht so einen Lärm«, sagte Janet. Donald nahm sein Taschentuch als Zügel und sprang auf dem Kopf des Tigers auf und ab. »Viele Mäuse machen wohl so einen Lärm«, sagte er fröhlich. »Tausend Mäuse auch.« »Ich glaube, selbst fünfzigtausend Mäuse machen nicht so einen Krach«, rief Janet streng, »und wir müssen so leise sein wie eine einzige Maus.« Mr. Carrisford lachte und klopfte ihr wieder auf die Schulter. »Es wird nicht mehr lange dauern, bis Papa kommt«, sagte Janet. »Wollen wir uns über das kleine Mädchen unterhalten, diese Sara Crewe.« »Ja, ich glaube, über etwas anderes kann ich im Moment auch nicht sprechen«, sagte der Herr aus Indien und runzelte müde die Stirn. »Wir haben sie so gern«, sagte Nora. »Und wir nennen sie >die kleine Prinzessin, die keine Märchenprinzessin ist<.« »Warum?« wollte der Herr aus Indien wissen. Die Einfälle der Kinder seines Freundes lenkten ihn immer ein wenig von seinen trüben Gedanken ab. »Wenn man sie findet, wird sie so reich sein wie eine Märchenprinzessin. Aber in Wirklichkeit ist sie gar keine.« »Stimmt es«, fragte Nora, »daß ihr Papa sein ganzes Geld einem Freund gegeben hat, damit er es in eine Diamantmine steckt, und der Freund dann
gedacht hat, er hätte alles Geld verloren, und weglief, weil er sich wie ein Dieb
vorkam?«
»Ja, aber er war kein Dieb«, warf Janet schnell ein.
Der Herr aus Indien nahm ihre Hand und sagte: »Nein, er war kein Dieb.«
»Es tut mir leid für diesen Freund«, sagte Janet, »er kann nichts dafür. Er
wollte es nicht, und es hat ihm sicher das Herz gebrochen.«
»Du bist eine verständnisvolle junge Dame, Janet«, sagte der Herr aus Indien
und hielt ihre Hand ganz fest.
»Hast du Mr. Carrisford schon von dem kleinen-Mädchen-das-keine-Bettlerin-
ist erzählt?« fragte Donald laut.
»Hast du ihm erzählt, daß sie neue, schöne Kleider hat? Vielleicht waren sie
verlorengegangen und jemand hat sie wiedergefunden.«
»Da kommt eine Droschke!« rief Janet aufgeregt. »Sie hält vor dem Haus. Es
ist Papa!«
Sie liefen zum Fenster und schauten hinaus.
»Ja, es ist Papa«, schrie Donald erfreut. »Aber ein kleines Mädchen ist nicht
dabei«, fuhr er enttäuscht fort.
Alle drei stürmten aus dem Zimmer in den Flur, um ihren Papa zu begrüßen.
Sie sprangen um ihn rum, klatschten in die Hände und wurden hochgehoben
und geküßt.
Mr. Carrisford versuchte, sich aus seinem Sessel zu erheben, sank jedoch
kraftlos zurück.
»Ich schaffe es nicht«, sagte er verzweifelt. »Was für ein Wrack ist aus mir nur
geworden.«
Die Tür ging auf, und Mr. Carmichael trat ein. Seine Wangen waren rosiger
denn je, und er sah frisch und gesund aus. Dem fragenden Blick seines
Freundes begegnete er jedoch mit einem Ausdruck der Enttäuschung und
Besorgtheit.
»Gibt es Neuigkeiten?« fragte Mr. Carrisford. »Haben Sie das Kind gefunden,
das von dem russischen Paar adoptiert wurde?«
»Es ist nicht das Kind, das wir suchen«, antwortete Mr. Carmichael. »Es ist
viel jünger als Captain Crewes Tochter. Ihr Name ist Emily Carew. Ich habe
sie gesehen und mit ihr gesprochen. Die russischen Eltern konnten mir alle
Einzelheiten beschreiben.«
Mr. Carrisford fühlte sich matt und unglücklich. Schwer fiel seine Hand herab.
»Dann müssen wir mit der Suche von vorne anfangen«, sagte er. »Das ist alles.
Bitte, nehmen Sie Platz.«
Mr. Carmichael setzte sich. Auf irgendeine Art hatte er im Laufe der Zeit
Zuneigung zu diesem unglücklichen Menschen gefaßt. Ihm selbst ging es so
gut, und er war von soviel Fröhlichkeit und Liebe umgeben, daß Einsamkeit
und Krankheit ihm unerträglich erschienen. Man mußte etwas dagegen
unternehmen, daß Mr. Carrisford sich ständig vorwarf, einem Kind unrecht
getan und es im Stich gelassen zu haben.
»Kommen Sie, kommen Sie«, versuchte Mr. Carmichael ihn aufzuheitern, »wir
werden sie noch finden.«
»Wir müssen sofort damit anfangen. Wir dürfen keine Zeit verlieren«, drängte
Mr. Carrisford. »Haben Sie einen Vorschlag . . . irgendeine Idee?« Mr. Carmichael stand auf, schritt unruhig im Zimmer auf und ab und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Nun, vielleicht«, setzte er an. »Ich weiß nicht, ob es Zweck hat. Aber mir ist da eine Idee gekommen, als ich im Zug von Dover nach hier saß und mir alles noch einmal durch den Kopf gehen ließ.« »Was für eine Idee? Wenn sie lebt, muß sie doch irgendwo sein.« »Ja, sie ist irgendwo. Wir haben alle Schulen abgesucht, die es in Paris gibt, Lassen wir diesen Gedanken fallen und beginnen wir in London. Das war meine Idee - in London mit der Suche zu beginnen.« »Es gibt in London Schulen genug«, sagte Mr. Carrisford. Und dann fiel ihm ein: »Übrigens, es gibt sogar eine nebenan.« »Dann wollen wir doch dort anfangen. Es ist sicherlich das beste, in nächster Nähe mit der Suche zu beginnen.« »Nein«, sagte Mr. Carrisford. »Es gibt dort ein Kind, das mich interessiert, aber es ist keine Schülerin. Es ist ein kleines, einsames Wesen, aber es ähnelt dem armen Crewe nicht im geringsten.« Vielleicht war in diesem Augenblick wieder die Zauberkraft am Werk. Es hatte wirklich den Anschein. Wie sonst konnte es sein, das Ram Dass dazu brachte, mitten in diese Unterredung reinzuplatzen und sich zu verneigen, während er die Erregung in seinen dunklen funkelnden Augen kaum verbergen konnte? »Sahib«, sagte er, »das Kind ist gerade selbst hier - das Kind, mit dem der Sahib Mitleid hatte. Sie bringt den Affen zurück, der auf dem Dach wieder in ihre Kammer geklettert war. Ich habe sie gebeten zu bleiben. Ich dachte, es wäre dem Sahib recht, sie zu sehen und mit ihr zu sprechen.« »Wer ist sie?« fragte Mr. Carmichael. »Ich habe keine Ahnung«, antwortete Mr. Carrisford. »Es ist das Mädchen, von dem ich gesprochen habe. Eine kleine Dienstmagd an der Schule.« Er winkte Ram Dass. »Ja, ich möchte sie gerne sehen. Geh und hol sie herein.« Dann wandte er sich wieder an Mr. Carmichael. »Ich war verzweifelt, während Sie fort waren. Die Tage waren so lang und dunkel. Ram Dass erzählte mir von dem elenden Leben dieses Kindes, und wir faßten zusammen einen Plan, um ihr zu helfen. Irgendwie war es kindisch, aber ich hatte eine Aufgabe und etwas, worüber ich nachdenken konnte. Ohne die Hilfe von Ram Dass, der so gelenkig ist und sich so lautlos bewegen kann, wäre die Sache jedoch nicht möglich gewesen.« Dann kam Sara herein. Sie trug den Affen auf dem Arm, der keinerlei Anstalten machte, sich von ihr zu trennen. »Ihr Affe ist wieder weggelaufen«, sagte sie mit ihrer zarten Stimme. »Er kam gestern abend zu meiner Dachkammer herübergeklettert, und ich nahm ihn herein, weil es draußen so kalt war. Wenn es nicht schon so spät gewesen wäre, hätte ich ihn früher zurückgebracht. Ich weiß, daß Sie krank sind, und ich wollte Sie nicht mehr stören.« Der Herr aus Indien schaute sie neugierig und interessiert an. »Das war sehr überlegt von dir«, sagte er schließlich.
Sara blickte zu Ram Dass, der neben der Tür stand.
»Soll ich ihn dem Seemann geben?« fragte sie.
»Woher weißt du, daß das ein Seemann ist?« fragte der Herr aus Indien und
lächelte.
»Oh, ich weiß, wie indische Seeleute aussehen«, sagte Sara und übergab ihm
das Äffchen. »Ich bin in Indien geboren.«
Der Herr aus Indien setzte sich mit einem Ruck auf und machte auf einmal ein
Gesicht, daß Sara fast erschrak.
»Du bist in Indien geboren?« rief er. »Wirklich? Komm her.« Er streckte ihr
seine Hand entgegen.
Sara ging auf ihn zu und sah ihn erstaunt an. Irgend etwas ging in dem Herrn
aus Indien vor.
»Du wohnst im Nachbarhaus?« fragte er.
»Ja, ich wohne in der Schule von Miss Minchin.«
»Aber du gehörst nicht zu den Schülerinnen?«
Saras Gesicht bekam ein sonderbares Lächeln. Sie zögerte einen Augenblick.
»Ich weiß selbst nicht genau, was ich bin«, antwortete sie.
»Warum nicht?«
»Am Anfang war ich hier Schülerin und Logiergast, aber jetzt.. .«
»Du warst eine Schülerin! Und was bist du jetzt?«
Das merkwürdige, traurige Lächeln lag immer noch auf Saras Lippen.
»Jetzt schlafe ich auf dem Dachboden, neben der Küchenmagd«, sagte sie. »Ich
mache Besorgungen für die Köchin, ich mache alles, was sie mir aufträgt. Und
ich unterrichte die Kleinen.«
»Fragen Sie sie, Carmichael«, sagte Mr. Carrisford und sank wie vor
Erschöpfung zurück. »Fragen Sie sie, ich kann es nicht.«
Der Vater der »Großen Familie<< kannte sich im Befragen von kleinen
Mädchen gut aus. Sara merkte es an seiner freundlichen, ermutigenden
Stimme.
»Was meinst du mit >am Anfang<, mein Kind?« fragte er.
»Als mein Papa mich in die Schule brachte.«
»Wo ist dein Papa jetzt?«
»Er ist gestorben«, sagte Sara leise. »Er hat all sein Geld verloren, und es ist
nichts für mich übriggeblieben. Es gab niemanden mehr, der sich um mich
kümmern und Miss Minchin bezahlen konnte.«
»Carmichael!« rief der Herr aus Indien laut heraus. »Carmichael !«
»Wir dürfen ihr keine Angst machen«, raunte Mr. Carmichael ihm schnell zu.
Und laut sagte er zu Sara: »Und so kam es, daß du in die Dachkammer
geschickt und zu einer kleinen Dienstmagd gemacht wurdest? So ist es
gewesen, ja?«
»Es war niemand mehr für mich da«, sagte Sara. »Und ich hatte kein Geld. Ich
gehöre zu niemandem.«
»Wie hat dein Vater sein Geld verloren?« warf der Herr aus Indien atemlos ein.
»Er hat es nicht selbst verloren«, antwortete Sara und wunderte sich immer
mehr. »Er hatte einen guten Freund, den er sehr gern hatte. Sein Freund hat das
Geld genommen. Er hat seinem Freund zu sehr vertraut.«
Der Herr aus Indien faßte sich wieder.
»Vielleicht war es gar nicht die Absicht des Freundes, ihm zu schaden«, sagte
er leise. »Vielleicht ist alles nur durch einen dummen Fehler passiert.«
Sara merkte nicht, wie hart ihre eben noch zarte Stimme klang, als sie
antwortete. Wenn sie sich darüber im klaren gewesen wäre, hätte sie sich sicher
dem Herrn aus Indien zuliebe ein wenig zurückgehalten.
»Das Fieber war genauso schlimm für meinen Papa«, sagte sie. »Er ist daran
gestorben.«
»Wie hieß dein Vater?« fragte der Herr aus Indien. »Sag es mir.«
»Sein Name war Ralph Crewe«, antwortete Sara verwirrt. »Captain Crewe. Er
starb in Indien.«
Mr. Carrisfords verhärmtes Gesicht verzog sich, und Ram Dass sprang seinem
Herrn zu Hilfe.
»Carmichael«, keuchte Mr. Carrisford, »es ist das .. das Kind!«
Einen Augenblick lang sah es so aus, als ringe er mit dem Tod, Ram Dass holte
ein Fläschchen und verabreichte ihm ein paar Tropfen daraus. Sara stand in der
Nähe und zitterte ein wenig. Verwirrt sah sie Mr. Carmichael an.
»Was für ein Kind bin ich?« fragte sie stockend.
»Er war der Freund deines Vaters«, antwortete Mr. Carmichael. »Aber
erschrick nicht. Wir haben zwei Jahre lang nach dir gesucht.«
Sara faßte sich an die Stirn, und ihre Stimme zitterte. Sie sprach wie im Traum.
»Und ich war die ganze Zeit über in Miss Minchins Schule«, sagte sie
flüsternd. »Gleich nebenan, auf der anderen Seite der Wand.«
»Ich wollte eine Prinzessin bleiben« Es war die hübsche, sympathische Mrs. Carmichael, die für Aufklärung sorgte.
Sie wurde sofort geholt, und als sie hereinkam, nahm sie Sara liebevoll in die
Arme und erzählte ihr alles, was geschehen war.
Für Mr. Carrisford war die Aufregung über diese völlig unerwartete
Entdeckung fast zuviel.
Mr. Carmichael schlug daraufhin vor, Sara nach nebenan zu schicken.
»Um ehrlich zu sein«, sagte Mr. Carrisford mit schwacher Stimme, »ich
möchte gerne, daß sie in meiner Nähe bleibt.«
»Ich werde gut auf sie aufpassen«, erklärte Janet, »und Mama wird in wenigen
Minuten auch kommen.«
Janet reichte Sara die Hand und führte sie hinaus.
»Wir sind so froh, daß wir dich gefunden haben«, sagte sie. »Du weißt gar
nicht, wie sehr wir uns darüber freuen.«
Donald stand da, die Hände in den Taschen vergraben, und starrte Sara
nachdenklich an, gerade so, als ob er sich Vorwürfe machte.
»Wenn ich dich gleich nach deinem Namen gefragt hätte, als ich dir meine
Sixpence-Münze gab«, sagte er, »und du geantwortet hättest, daß du Sara
Crewe heißt, dann hätten wir gar nicht weiterzusuchen brauchen.«
Dann kam Mrs. Carmichael herein. Sie sah sehr bewegt aus, nahm Sara plötzlich in die Arme und küßte sie. »Du siehst verstört aus, du armes Kind«, sagte sie. »Es ist aber auch kein Wunder.« Sara hatte im Moment nur einen Gedanken. »War er«, sagte sie mit einem Blick auf die geschlossene Tür zur Bibliothek, »war er dieser böse Freund? Bitte, sagen Sie es mir!« Mrs. Carmichael weinte, während sie Sara noch einmal küßte. Sie hatte sicher schon lange keinen Kuß mehr bekommen. »Er war nicht böse, mein liebes Kind«, antwortete sie. »Er hat das Geld deines Papas nicht wirklich verloren. Er dachte nur, er hätte es verloren. Und weil er deinen Papa besonders gern hatte, machte ihn sein Kummer so krank, daß er eine Zeitlang nicht richtig bei Sinnen war. Er wäre beinahe an einer Hirnhautentzündung gestorben. Dein armer Papa starb lange, bevor er sich allmählich selbst wieder erholte.« »Und er wußte nicht, wo er mich suchen sollte«, murmelte Sara. »Dabei war ich ganz in seiner Nähe.« Es ging ihr irgendwie nicht aus dem Sinn, daß sie die ganze Zeit neben ihm gewohnt hatte. »Er glaubte, du seist auf einer Schule in Paris«, erklärte Mrs. Carmichael. »Und er ging ständig irgendwelchen falschen Spuren nach. Überall hat er nach dir gesucht. Und als er dich vorübergehen sah, so traurig und verwahrlost, wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, daß du die Tochter seines Freundes bist. Aber er hatte Mitleid mit dir und wollte dir eine Freude machen. Und deshalb bat er Ram Dass, durch dein Dachfenster zu klettern und dir deine Kammer gemütlich einzurichten.« Sara zuckte freudig überrascht zusammen. Jetzt ging ihr ein Licht auf. »Hat Ram Dass mir das alles gebracht?« rief sie. »Hat er Ram Dass zu mir geschickt? Dann hat er diesen Traum wahr werden lassen?« »Ja, meine Kleine - ja! Er ist freundlich und gut, und er hatte Mitleid mit dir, um der kleinen Crewe-Tochter willen.« Die Tür zur Bibliothek ging auf, und Mr. Carmichael kam heraus. Er winkte Sara herbei. »Es geht Mr. Carrisford jetzt besser«, sagte er. »Er möchte dich sehen.« Sara zögerte nicht. Auf Zehenspitzen ging sie in sein Zimmer. Als sie vor dem Herrn aus Indien, dem Freund ihres Vaters, stehenblieb, faltete sie in Ehrfurcht ergriffen die Hände vor der Brust, so wie sie es in Indien gelernt hatte. »Sie waren es, der mir die Sachen geschickt hat«, rief sie mit freudig erregter Stimme, »diese schönen, wunderschönen Sachen? Sie also waren es!« »Ja, mein kleines Mädchen, ich war es«, antwortete er. Er war schwach und mitgenommen von der langen Krankheit und dem Kummer, aber er sah sie an mit einem Blick, den sie von ihrem Vater her kannte. Mit einem Blick, der ihr sagte, daß er sie liebte und sie gern in seine Arme nehmen wollte. Sie kniete neben ihm nieder, genauso, wie sie immer neben ihrem Vater niedergekniet war, als sie sich so liebhatten wie niemand sonst auf der Welt. »Dann sind Sie mein Freund«, hauchte sie. »Sie also sind mein Freund!« Und sie beugte sich über seine magere Hand und küßte sie.
»In drei Wochen ist er wieder der alte«, meinte Mr. Carmichael zu seiner Frau. »Sieh doch bloß sein Gesicht an.« Mr. Carrisfords Gesicht hatte sich tatsächlich verändert. Die »kleine Missis« war wieder da, und nun gab es neue Dinge zu überlegen und zu planen. Zunächst war da Miss Minchin. Sie mußte über die neue Situation unterrichtet werden. Sara sollte nicht mehr zur Schule zurückkehren. In diesem Punkt war der Herr aus Indien fest entschlossen. Sie sollte bei ihm bleiben, und Mr. Carmichael sollte zu Miss Minchin gehen und ihr die Nachricht überbringen. »Ich bin froh, daß ich nicht zurück muß«, sagte Sara. »Sie wird sehr verärgert sein. Sie mag mich nicht. Vielleicht ist es auch meine Schuld, denn ich mag sie auch nicht.« Es kam jedoch gar nicht erst soweit, daß Mr. Carmichael Miss Minchin aufsuchte, denn sie kam selbst herüber, um ihre Schülerin zu suchen. Sie hatte in der Küche nach Sara gefragt, woraufhin ihr Erstaunliches zu Ohren gekommen war. Eines der Hausmädchen hatte gesehen, wie Sara die Stufen zum Nachbarhaus hinaufgegangen und dort hineingegangen war. »Was bedeutet das?« hatte Miss Minchin ihre Schwester angeschrien. »Ich weiß es nicht, Schwester, wirklich nicht«, hatte Miss Amelia geantwortet. »Höchstens, daß sie sich mit dem Nachbarn angefreundet hat, weil er aus Indien kommt.« »Das sieht ihr ähnlich, daß sie sich ihm an den Hals wirft und auf ihre unverschämte Art seine Sympathie zu ergattern versucht«, hatte Miss Minchin gefaucht. »Sie ist doch bestimmt schon zwei Stunden dort drüben. Eine solche Dreistigkeit werde ich zu unterbinden wissen. Ich werde hinübergehen und nach dem Rechten sehen und mich außerdem für ihre Aufdringlichkeit entschuldigen.« Sara saß neben Mr. Carrisford auf einem Fußschemel, als Miss Minchin mit strenger und würdevoller Miene eintrat. Sie war tadellos gekleidet, und ihr Verhalten war bestimmt und höflich. »Es tut mir leid, Sie zu stören, Mr. Carrisford«, sagte Miss Minchin, »aber lassen Sie mich alles erklären. Ich bin die Besitzerin der Mädchenschule nebenan.« Der Herr aus Indien musterte sie einen Augenblick, ohne ein Wort zu sagen. Er war von Natur aus hitzköpfig, versuchte aber, es nicht zu zeigen. »Sie sind also Miss Minchin?« fragte er. »Ja, Sir.« »Dann kommen Sie gerade zur rechten Zeit«, sagte der Herr aus Indien. »Mein Anwalt, Mr. Carmichael, war gerade im Begriff, Sie aufzusuchen.« Mr. Carmichael verneigte sich, während Miss Minchin einen erstaunten Blick von ihm zu Mr. Carrisford warf. »Ihr Anwalt!« sagte sie. »Ich verstehe nicht recht. Ich komme zu Ihnen aus Pflichtbewußtsein, nachdem ich feststellen mußte, daß eine meiner Schülerinnen - ein Waisenkind - so dreist war, bei Ihnen einzudringen. Sie hat sich ohne mein Wissen bei Ihnen eingeschlichen.« Und zu Sara sagte sie in gebieterischem Ton: »Geh sofort nach Hause. Du kannst mit einer saftigen
Strafe rechnen. Geh nach Hause, sofort!« Der Herr aus Indien zog Sara zu sich heran und tätschelte ihre Hand. »Sie geht nicht!« Miss Minchin hatte das Gefühl, die Besinnung zu verlieren. »Wie bitte?« rief sie. »Sie geht nicht nach Hause«, wiederholte Mr. Carrisford. »Falls Sie das ein >Zuhause< nennen, was Sie ihr geboten haben. Sie wird in Zukunft bei mir wohnen.« Miss Minchin trat vor Entrüstung einen Schritt zurück. »Bei Ihnen! Bei Ihnen, Sir! Was soll das heißen?« »Wenn Sie ihr freundlicherweise alles erklären wollen, Carmichael«, sagte der Herr aus Indien, »und sehen Sie zu, daß wir die Angelegenheit so schnell wie möglich hinter uns bringen.« Er bat Sara, Platz zu nehmen, und hielt ihre Hand, so, wie es auch ihr Papa immer getan hatte. Dann begann Mr. Carmichael mit dem ruhigen, nüchternen Ton eines Mannes, der sein Fach versteht, Miss Minchin alles zu erklären, und sie, geschäftstüchtig wie sie war, verstand sehr wohl und sehr schnell, um was es ging. »Mr. Carrisford, Madam«, sagte Mr. Carmichael, »war ein guter Freund des verstorbenen Captain Crewe. Er war sein Geschäftspartner in einem gewissen größeren Projekt. Das Vermögen, das Captain Crewe dabei investiert hatte und später verloren glaubte, konnte zurückgewonnen werden und befindet sich nun in Mr. Carrisfords Händen.« »Das Vermögen!« kreischte Miss Minchin und wurde schreckensbleich. »Saras Vermögen!« »Es wird erst noch Saras Vermögen werden«, sagte Mr. Carmichael kalt. »Es gehört ihr natürlich jetzt schon, doch aufgrund gewisser Ereignisse hat es sich enorm vergrößert und wird noch weiter anwachsen. Mit den Diamantminen ging es schließlich noch aufwärts.« »Die Diamantminen!« rief Miss Minchin außer sich. Sollte das wirklich wahr sein, dann war das das Schrecklichste, was ihr jemals widerfahren war. »Ja, die Diamantminen«, wiederholte Mr. Carmichael und konnte sich ein schadenfrohes, für einen Anwalt nicht gerade angebrachtes Lächeln nicht verkneifen. »Es gibt nicht viele Prinzessinnen, Miss Minchin, die reicher sind, als ihr kleines Waisenkind Sara Crewe demnächst sein wird. Mr. Carrisford hat fast zwei Jahre nach ihr gesucht. Jetzt, wo er sie endlich gefunden hat, möchte er, daß sie bei ihm lebt.« Daraufhin bat er Miss Minchin, Platz zu nehmen, und er erklärte ihr alles noch einmal im einzelnen. Er machte ihr klar, daß Saras Vermögen versichert war, und daß sie das Zehnfache von dem bekommen würde, was ursprünglich als verloren galt. Außerdem, so erklärte er, habe sie mit Mr. Carrisford nicht nur einen Vormund, sondern auch einen Freund. Miss Minchin stellte sich nicht besonders geschickt an, als sie in ihrer Aufregung einen verzweifelten Versuch unternahm, das zurückzubekommen, was sie - wie sie sich selbst eingestehen mußte - durch ihre eigene Dummheit verloren hatte.
»Ich protestiere!« rief sie. »Er hat sie unter meiner Obhut gefunden. Ich habe alles für sie getan. Ohne mich wäre sie auf der Straße verhungert.« Nun verlor der Herr aus Indien die Geduld. »Was das betrifft«, fuhr er sie an, »so wäre sie auf der Straße sicherlich weniger kläglich verhungert als in Ihrer Dachkammer.« »Captain Crewe hat sie meiner Obhut überlassen«, widersprach Miss Minchin. »Sie untersteht mir so lange, bis sie erwachsen ist. Ich nehme sie wieder als Internatsschülerin auf. Schließlich geht es um ihre Erziehung. Das Gericht wird auf meiner Seite stehen.« »Ich bitte Sie, Miss Minchin«, warf Mr. Carmichael ein, »das Gericht wird nichts dergleichen tun. Sollte Sara selbst zu Ihnen zurückwollen, wird Mr. Carrisford sich dem sicher nicht widersetzen. Aber das hat Sara zu entscheiden.« »Dann werde ich mich also an Sara wenden«, sagte Miss Minchin, indem sie sich etwas betreten Sara zuwandte. »Ich habe dich vielleicht nicht gerade verwöhnt. Aber du weißt, daß dein Papa stolz war auf deine Fortschritte. Und du weißt... äh ... daß ich dich immer gern gehabt habe.« Sara sah sie mit jenem ruhigen, festen Blick an, den Miss Minchin überhaupt nicht vertragen konnte. »Tatsächlich, Miss Minchin?« fragte sie. »Das habe ich nicht gewußt.« Miss Minchin errötete und richtete sich auf. »Das hättest du doch merken müssen«, sagte sie, »aber wie Kinder so sind, sie wissen nie, was das Beste für sie ist. Amelia und ich haben immer schon gesagt, daß du das klügste Kind der ganzen Schule bist. Willst du nicht deinem Papa deine Schuldigkeit erweisen und mit mir nach Hause kommen?« Sara ging einen Schritt auf sie zu und blieb stehen. Sie dachte an den Tag, an dem ihr gesagt worden war, sie gehöre zu niemandem, und sie beinahe auf die Straße gesetzt worden wäre. Sie dachte an die Stunden, die sie in ihrer Kammer frierend und hungernd zubringen mußte und niemanden hatte außer Emily und Melchisedec. Sie sah Miss Minchin fest ins Gesicht. »Sie wissen, warum ich nicht mit Ihnen gehen werde, Miss Minchin«, sagte sie. »Das wissen Sie ganz genau.« Miss Minchins Gesicht erglühte verärgert auf. »Glaube ja nicht, daß du dann jemals deine Freundinnen wiedersiehst«, sagte sie. »Ich werde dafür sorgen, daß Ermengarde und Lottie von dir ferngehalten werden ...« Mr. Carmichael unterbrach sie mit höflicher Entschlossenheit. »Verzeihen Sie«, sagte er, »aber sie wird jeden sehen, den sie sehen will. Es ist kaum anzunehmen, daß die Eltern von Miss Crewes Mitschülerinnen etwas dagegen haben, wenn sie Sara im Haus ihres Vormundes besuchen. Mr. Carrisford wird darauf achten.« Nun schreckte sogar Miss Minchin zurück. Dieser Mann war noch viel schlimmer als so ein absonderlicher, hitzköpfiger Onkel, den sie eigentlich erwartet hatte. Eine so hartherzige Frau wie sie konnte sich recht gut vorstellen, daß die wenigsten Eltern ihren Kindern den Umgang mit einer Freundin verweigern
würden, die die Erbin von Diamantminen war. Und wenn Mr. Carrisford auf die Idee käme, gewissen Eltern davon zu erzählen, in welches Unglück man Sara in ihrer Schule getrieben hatte, könnte das unangenehme Folgen haben. »Eine leichte Aufgabe haben Sie sich jedenfalls nicht aufgebürdet«, sagte sie zu dem Herrn aus Indien und drehte sich um, um zu gehen. »Das werden Sie sehr bald merken. Dieses Kind ist unehrlich und undankbar. Ich nehme an« und sie drehte sich zu Sara hin -, »du bist dir im klaren darüber, daß du nun wieder eine Prinzessin bist.« Sara senkte den Blick und errötete leicht, weil sie dachte, daß Außenstehende nicht auf Anhieb verstehen könnten, was es mit ihrer »Prinzessin« auf sich hatte. »Ich . . . ich wollte immer eine Prinzessin bleiben«, sagte sie leise, »auch, als ich Kälte und Hunger erdulden mußte.« Als Miss Minchin in ihrem Salon war, ließ sie sofort Miss Amelia kommen. Sie saß den ganzen Nachmittag hinter verriegelter Tür mit ihr zusammen. Für die arme Miss Amelia war es ein schlimmer Nachmittag, sie vergoss viele Tränen. »Ich bin nicht so klug wie du, Schwester«, sagte Miss Amelia, »und wenn ich dir etwas sagen will, habe ich immer Angst vor dir, weil du sofort wütend wirst. Wenn ich nicht so ängstlich wäre, wäre es vielleicht besser für die Schule und für uns beide. Ich muß es dir sagen: Ich habe oft gedacht, du solltest mit Sara Crewe weniger streng umgehen und ihr ordentlichere Kleider und eine bessere Ausstattung für ihre Kammer besorgen. Ich weiß, daß sie für ein Kind ihres Alters viel zu hart hat arbeiten müssen, und ich weiß, daß sie viel zuwenig zu essen bekommen hat.. .« »Was fällt dir ein!« rief Miss Minchin erbost. »Ich weiß nicht, was mir einfällt«, wagte Miss Amelia zu entgegnen, »aber wo ich nun einmal angefangen habe, kann ich auch weitermachen, egal, was passiert. Sara war ein kluges und gutes Kind, und sie hätte es dir gedankt, wenn du jemals freundlich zu ihr gewesen wärest. Aber du bist es nie gewesen. In Wahrheit war sie dir zu klug, und deshalb mochtest du sie nicht. Sie hat uns beide immer durchschaut...« »Amelia!« schnaubte ihre Schwester wütend, und es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte ihr eine Ohrfeige verpaßt oder ihr die Haube vom Kopf gestoßen, so, wie sie es oft mit Becky gemacht hatte. Miss Amelia machte ihrer Enttäuschung nun Luft. »So war es! Jawohl!« rief sie. »Sie hat mich und dich durchschaut. Sie hat genau gesehen, daß du eine hartherzige, gefühllose Frau bist und ich eine schwache Närrin.« Und von Hysterie gepackt, begann sie gleichzeitig zu lachen und zu weinen und sich in einem Maße hin und her zu werfen, daß Miss Minchin sie entgeistert anstarrte. »Und jetzt hast du sie verloren«, schrie Miss Amelia außer sich, »und eine andere Schule wird sie und ihr Geld bekommen. Und wenn sie ein Kind wäre wie alle anderen, würde sie hingehen und überall verbreiten, wie es ihr hier ergangen ist. Sämtliche Eltern würden ihre Kinder von unserer Schule
herunternehmen, und wir wären ruiniert. Und das geschähe uns recht, wobei du es mehr verdient hättest als ich, denn du bist hartherzig, Maria Minchin - du bist ein selbstsüchtiges, gefühlloses Weib!« Miss Amelia lärmte in ihrer Hysterie so herum, daß ihre Schwester sie sogar mit einem Riechfläschchen beruhigen mußte. Und von da an hatte Miss Minchin sogar etwas Ehrfurcht vor ihrer jüngeren Schwester, die offenbar gar nicht so dumm war, wie sie aussah. Als die Schülerinnen wie jeden Abend vor dem Kamin im Klassenzimmer versammelt saßen, kam Ermengarde mit einem Brief in der Hand und einem merkwürdigen Gesichtsausdruck herein. Sie sah aus, als sei sie über irgend etwas gleichermaßen freudig erregt und schockiert. »Was ist denn mit dir los?« fragten mehrere Kinder gleichzeitig. »Hat es mit dem Krach zu tun?« wollte auch Lavinia wissen. »In Miss Minchins Zimmer hat es einen Riesenkrach gegeben.« Ermengarde antwortete langsam wie in Trance. »Ich habe gerade diesen Brief hier von Sara bekommen«, sagte sie und hielt ihn in die Luft. »Von Sara!« rief es von allen Seiten. »Wo ist sie?« kreischte Jessie. »Im Nachbarhaus«, sagte Ermengarde bedächtig, »bei dem Herrn aus Indien.« »Wo? Wo? Ist sie fortgeschickt worden? Weiß Miss Minchin davon? Hat es deswegen Krach gegeben? Warum hat sie geschrieben? Sag! Sag!« Es war ein einziges Stimmengewirr, und Lottie fing wehleidig an zu heulen. Ermengarde antwortete langsam, so, als wollte sie die ungeheure Bedeutsamkeit ihrer Worte hervorheben. »Es hat wirklich eine Diamantmine gegeben«, sagte sie laut. »Es hat sie gegeben!« Alles starrte sie mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen an. »Es war alles ein Irrtum. Irgend etwas war geschehen, so daß Mr. Carrisford zuerst glaubte, sie hätten alles verloren ...« »Wer ist Mr. Carrisford?« rief Jessie. »Der Herr aus Indien. Und Captain Crewe dachte dasselbe«, fuhr Ermengarde fort, »bis zu seinem Tod. Und Mr. Carrisford bekam auch eine Hirnhautentzündung und lief fort und wäre auch fast gestorben. Und er wußte nicht, wo Sara war. Und dann stellte sich heraus, daß in der Mine Millionen von Diamanten waren. Und die Hälfte davon gehört Sara. Sie haben ihr schon gehört, als sie in der Dachkammer wohnte und niemanden hatte außer Melchisedec. Mr. Carrisford hat sie heute nachmittag gefunden, und jetzt ist sie bei ihm, und sie wird nie wieder hierher zurückkommen, und sie wird noch viel mehr eine Prinzessin sein als früher - hundertfünfzigtausendmal mehr. Und morgen nachmittag gehe ich sie besuchen. So sieht es aus!« Es entstand ein solcher Aufruhr, daß selbst Miss Minchin nichts dagegen hätte unternehmen können. Sie versuchte es auch gar nicht erst, obwohl sie den Lärm hörte. Sie wußte, daß die Neuigkeiten wie ein Lauffeuer die Runde gemacht hatten und daß die Dienstmägde und Schülerinnen über nichts anderes sprechen würden, bevor sie heute abend zu Bett gingen. Nachdem an diesem Abend niemand auf die Einhaltung irgendwelcher Regeln
zu achten schien, saßen alle Kinder bis Mitternacht um Ermengarde herum und ließen sich immer wieder Saras Brief vorlesen, der fast so wunderbar war wie die Geschichten, die sie immer erfand. Becky, die dabeisaß, stahl sich früher als sonst nach oben in ihre Kammer. Sie wollte niemanden um sich haben und sich noch einmal das kleine verzauberte Zimmer ansehen. Was damit geschehen würde, wußte sie nicht. Es würde wahrscheinlich ausgeräumt und genauso kahl und leer zurückgelassen werden, wie es vorher gewesen war. Sie freute sich für Sara, und als sie den letzten Treppenabsatz hinaufstieg, hatte sie einen Kloß in der Kehle und Tränen in den Augen. Heute abend würde kein Feuer im Kamin brennen und keine rosarote Lampe leuchten. Es würde kein Abendessen geben und keine Prinzessin, die Geschichten erzählte! Becky unterdrückte einen Seufzer, als sie die Dachkammertür aufstieß. Es war alles wie an den Abenden zuvor. Der Schein der Lampe durchflutete das Zimmer, die Flammen loderten, und das Abendessen wartete. Ram Dass stand da und schaute in ihr erschrockenes Gesicht. »Missee Sahib hat an Sie gedacht«, sagte er. »Sie hat dem Sahib alles erzählt. Sie will, daß Sie von ihrem Glück erfahren. Da ist ein Brief auf dem Tablett. Sie hat ihn geschrieben. Sie will nicht, daß Sie unglücklich schlafen gehen. Der Sahib möchte, daß Sie morgen zu ihm kommen. Sie sollen Missee Sahibs Begleiterin sein. Heute nacht werde ich die Sachen über das Dach zurückbringen.« Daraufhin machte er eine leichte Verbeugung und schlüpfte behende und lautlos durch das Dachfenster.
Anne Die Freude im Kinderzimmer der »Großen Familie« war riesengroß. Sie alle hätten sich nie träumen lassen, daß sie einmal mit dem kleinen-Mädchen-daskeine-Bettlerin-ist so dicke Freundschaft schließen würden. Sie konnten gar nicht genug davon bekommen, immer wieder die Geschichten über das, was sie erlebt und erlitten hatte, zu hören. Wenn man in einem großen, gemütlichen Zimmer vor dem wärmenden Feuer saß, war es geradezu ein Vergnügen, von der Kälte in der Dachkammer erzählt zu bekommen. Überhaupt hatte die Dachkammer einen gewissen Reiz. Kälte und Kargheit verloren wiederum an Bedeutung, wenn von Melchisedec die Rede war und von den Spatzen und all den Dingen, die man sehen konnte, wenn man auf den Tisch kletterte und sich aus dem Dachfenster reckte. Am beliebtesten war natürlich die Geschichte von dem Festmahl und dem Traum, der Wirklichkeit wurde. Sara erzählte das erste Mal davon, am Tag, nachdem sie den Herrn aus Indien kennengelernt hatte. Einige aus der »Großen Familie« waren zum Tee herübergekommen. Sie hockten auf dem Kaminvorleger und lauschten, wie Sara diese Geschichte auf die ihr eigene Art
erzählte. Als die Geschichte zu Ende war, schaute Sara zu Mr. Carrisford auf und legte die Hand auf sein Knie. »Das war mein Teil«, sagte sie. »Erzählst du jetzt deinen, Onkel Tom?« Er harte sie gebeten, ihn »Onkel Tom« zu nennen. »Ich kenne deinen Teil auch noch nicht und bin selbst ganz gespannt.« Also erzählte er von der Zeit, als er so alleine, krank und lustlos herumgesessen und Ram Dass versucht hatte, ihn zu zerstreuen, indem er ihm die Leute beschrieb, die draußen vorbeigingen. So auch Sara, die er öfter hatte vorbeige hen sehen als andere Leute. Sie hatte allmählich sein Interesse geweckt, einerseits, weil er sich in Gedanken selbst ständig mit einem kleinen Mädchen beschäftigte, andererseits, weil Ram Dass ihm von seinem Erlebnis mit dem Affen in der Dachkammer erzählt hatte. Er hatte ihm von der Trostlosigkeit berichtet und dem erbärmlichen Leben des Kindes, das so gar nicht wie eine Dienstmagd aussah. Nach und nach hatte Ram Dass mehr über ihr kümmerliches Dasein herausgefunden. Er hatte festgestellt, wie leicht es war, über das Dach bis zu ihrem Fenster hinüberzuklettern, und dies hatte ihn auf eine Idee gebracht. »Sahib«, hatte er eines Tages gesagt, »ich könnte doch hinüberklettern, während das Kind gerade Besorgungen macht, und Feuer im Kamin anzünden. Wenn sie durchnäßt und durchgefroren zurückkehrt und das brennende Feuer entdeckt, wird sie denken, ein Zauberer sei dagewesen.« Mr. Carrisford hatte diese Idee so gut gefallen, daß sich sein trauriges Gesicht etwas aufhellte. Ram Dass hatte seinem Herrn begeistert ausgemalt, was man ohne Schwierigkeiten noch alles in die Wege leiten könnte. Der Plan bereitete ihm ein kindliches Vergnügen und regte seine Phantasie an, und die Vorbereitungen gaben so manchem Tag einen Sinn, der sich sonst öde dahingezogen hätte. An jenem Abend, als das Festmahl so jäh zerstört wurde, hatte Ram Dass heimlich alles mitverfolgt. Nachdem Sara vor Erschöpfung fest eingeschlafen war, war er mit einer abgedunkelten Laterne in ihre Kammer geklettert, während sein Begleiter draußen geblieben war und ihm die Sachen hereingereicht hatte. »Ich bin so froh«, sagte Sara, als Mr. Carrisford seine Geschichte zu Ende erzählt hatte. »Ich bin so froh, daß du mein Freund bist!« Die beiden wurden von nun an die unzertrennlichsten Freunde. Noch nie zuvor hatte der Herr aus Indien jemanden so liebegehabt wie Sara. Im Laufe eines Monats war er ein völlig neuer Mensch, genau, wie Mr. Carmichael es vorhergesehen hatte. Er war wieder an allem interessiert, er war wieder lebenslustig, und er konnte nun auch den Wohlstand genießen, den er zuvor als unerträgliche Last empfunden hatte. Es machte ihm so viel Freude, für Sara Pläne zu schmieden. Er spielte oft den Zauberer, und es machte ihm Spaß, sich Überraschungen für sie auszudenken. Wunderschöne Blumen wuchsen in ihrem Zimmer, und wunderliche kleine Geschenke waren unter ihren Kissen versteckt. Einmal, als sie abends zusammensaßen, hörten sie das Kratzen einer Pfote an der Tür. Als Sara nachsah, saß da ein großer Hund, ein wunderschöner Jagdhund mit einem herrlichen goldenen Halsband, das die Aufschrift trug:
»Ich bin Boris, Prinzessin Sara zu Diensten.« Eines Abends saß Sara eine ganze Weile bei Mr. Carrisford im Zimmer und starrte stumm ins Feuer. Ihr neuer Freund sah von seinem Buch auf. »Was stellst du dir gerade vor, Sara?« fragte er. Sara sah auf, und ihre Wangen glühten. Sie fühlte sich ertappt. »Ich habe mir tatsächlich gerade etwas vorgestellt«, sagte sie. »Ich habe gerade an den Tag zurückgedacht, als ich so hungrig war und dieses Kind traf.« »Aber du hast viele hungrige Tage erlebt«, sagte der Herr aus Indien, und seine Stimme klang ein wenig traurig. »Welchen Tag meinst du?« »Ach, ich habe vergessen, daß du das nicht wissen kannst«, sagte Sara. »Es war der Tag, an dem mein Traum wahr wurde.« Dann erzählte sie ihm die Geschichte von dem Bäckerladen und von der gefundenen Vierpenny- Münze, die im Schlamm lag, und von dem Kind, das noch hungriger war als sie selbst. Sie erzählte es in wenigen einfachen Worten. Dennoch war Mr. Carrisford sichtlich gerührt. »Und nun habe ich mir so etwas wie einen Plan zurechtgelegt«, sagte Sara. »Ich habe überlegt, daß ich gerne etwas Gutes tun möchte.« »Was denn?« fragte Mr. Carrisford leise. »Du sollst alles tun, wozu du Lust hast, Prinzessin.« »Ich habe überlegt«, sagte Sara zögernd, »na ja, du sagst, daß ich so viel Geld habe ... und da habe ich überlegt, ob ich zu der Bäckersfrau hingehe und sie bitte, den hungrigen Kindern, die sich auf ihre Treppe setzen, etwas zu essen zu geben. Die Rechnung soll sie dann an mich schicken. Wärest du damit einverstanden?« »Gleich morgen früh solltest du zu ihr hingehen«, freute sich Mr. Carrisford. »Danke«, sagte Sara. »Ich weiß nämlich, was es heißt. Hunger zu haben, und wie schlimm es ist, wenn man sich den Hunger nicht einmal mit noch so viel Phantasie wegdenken kann.« »Ja, ja, meine Kleine«, sagte Mr. Carrisford. »Ja, das muß wirklich schlimm sein. Denke nicht mehr daran. Komm und setz dich neben mich auf den Fußschemel und denke nur daran, daß du eine Prinzessin bist.« »Ja«, sagte Sara und lächelte, »und ich kann dem Volk Brot und Rosinenbrötchen geben.« Sie setzte sich auf den Schemel, und der Herr aus Indien - manchmal wollte er noch gerne so genannt werden - legte ihren Kopf auf sein Knie und strich ihr sanft über das Haar. Am nächsten Morgen erblickte Miss Minchin etwas höchst Unerfreuliches, als sie aus dem Fenster sah. Die Kutsche des Herrn aus Indien hielt vor seiner Haustür, und er kam zusammen mit einer kleinen Gestalt, die in dicken, kostbaren Pelz gehüllt war, die Treppe herab, um einzusteigen. Die kleine Gestalt war ihr wohlbekannt und erinnerte sie an vergangene Zeiten. Ihr folgte eine ebenso wohlbekannte Gestalt, deren Anblick Miss Minchin jedoch äußerst verwirrte. Es war Becky, die Sara in ihrer Eigenschaft als Begleiterin und Dienerin zur Kutsche führte und Decken und anderes Gepäck trug. Auch Becky hatte inzwischen ein rundliches Gesicht und eine gesunde Farbe bekommen.
Wenig später hielt die Kutsche vor der Tür des Bäckerladens und, wie es der Zufall will, stiegen sie gerade in dem Augenblick aus, als die Bäckersfrau frische, heiße Rosinenbrötchen in das Fenster stellte. Als Sara eintrat, drehte sich die Frau nach ihr um. Sie ging hinter den Ladentisch und starrte sie eine Weile an, bis sich ihr gutmütiges Gesicht plötzlich aufhellte. »Ich kenne Sie von irgendwoher, Miss«, sagte sie. »Aber.. .« »Ja«, sagte Sara. »Sie haben mir einmal sechs Brötchen für ein VierpennyStück gegeben und ...« »Und Sie haben fünf davon dem Bettlerkind geschenkt«, erinnerte sie sich plötzlich. »Ich hatte es damals nicht sofort bemerkt, aber dann habe ich noch oft daran denken müssen.« Sie wandte sich nun dem Herrn aus Indien zu. »Ich bitte um Verzeihung, Sir, aber es gibt nicht viele junge Leute, die sich so sehr um ein Bettlerkind kümmern. Entschuldigen Sie, Miss«, sagte sie zu Sara, »aber Sie sehen viel ge sünder und ... ja, viel besser aus als damals ...« »Es geht mir besser, danke«, sagte Sara. »Und ... ich bin viel glücklicher. Ich bin gekommen, weil ich Sie um etwas bitten möchte.« »Mich, Miss!« rief die Bäckersfrau erfreut. »Oh, ja gerne! Was kann ich für Sie tun, Miss?« Und dann brachte Sara ihren Vorschlag vor, den armen, obdachlosen Kindern heiße Brötchen zu geben. Die Bäckersfrau hörte erstaunt zu. Dann sagte sie: »Aber ja, das werde ich gerne tun! Ich bin eine Geschäftsfrau und kann es mir deshalb nicht erlauben, allzuviel umsonst herzugeben. Aber seit dem scheußlichen Nachmittag damals habe ich oft ein Stück Brot abgegeben und dabei an Sie gedacht, wie Sie so durchnäßt, verfroren und hungrig waren und trotzdem Ihre Brötchen hergeschenkt haben, als ob Sie eine Prinzessin wären.« Bei diesen Worten lächelte der Herr aus Indien unwillkürlich, und auch Sara lächelte. »Sie sah so hungrig aus«, sagte sie entschuldigend. »Sie war noch hungriger als ich.« »Sie wäre fast gestorben vor Hunger«, fuhr die Frau fort. »Sie hat mir später noch oft davon erzählt - wie sie draußen im Nassen saß und das Gefühl hatte ...« »Oh, Sie haben sie noch einmal wiedergesehen?« unterbrach Sara sie heftig. »Wissen Sie, wo sie ist?« »Ja«, antwortete die Frau mit ihrem gutmütigen Lächeln. »Sie ist hier im Hinterzimmer, Miss, schon seit einem Monat. Sie ist ein anständiges, liebenswertes Mädchen geworden, und Sie können sich nicht vorstellen, was für eine große Hilfe sie mir im Laden und in der Küche ist.« Sie ging zur Tür des Hinterzimmers und rief etwas hinein. Ein Mädchen kam heraus und folgte ihr zum Ladentisch. Es war tatsächlich das Bettlerkind, und sie sah aus, als wenn sie schon lange nicht mehr hätte hungern müssen. Sie war scheu, hatte aber ein offenes, freundliches Gesicht, und der wilde Blick war aus ihren Augen gewichen.
Sie erkannte Sara sofort und schaute sie lange schweigend an.
»Wissen Sie«, sagte die Frau, »ich sagte ihr, sie sollte vorbeikommen, wenn
Sie Hunger hätte, und jedesmal gab ich ihr dafür irgend etwas zum Arbeiten.
Sie zeigte guten Willen, und ich fing an, sie zu mögen. Und schließlich habe
ich sie hierbehalten. Sie kann hier wohnen und arbeiten, und sie ist sehr
hilfsbereit und dankbar. Sie heißt Anne. Nur Anne.«
Die Kinder sahen sich an, und Sara reichte Anne die Hand.
»Ich bin froh«, sagte Sara. »Und mir ist gerade eine Idee gekommen. Vielleicht
erlaubt Mrs. Brown, daß du den armen Kindern die Brötchen gibst. Vielleicht
würde es dir Freude machen, weil du selbst weißt, was es heißt, Hunger zu
haben.«
»Ja, Miss«, sagte das Mädchen.
Und Sara fühlte, daß Anne sie verstand, auch wenn sie fast nichts sagte und nur
vor ihr stand und sie anschaute. Als Sara mit dem Herrn aus Indien hinausging,
in die Kutsche stieg und fortfuhr, schaute Anne ihr noch lange nach.