Das Buch Es ist schon eine mysteriöse Angelegenheit, als Jacques SaunáSpannér, Kurator der Londoner Nationalgalerie, er...
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Das Buch Es ist schon eine mysteriöse Angelegenheit, als Jacques SaunáSpannér, Kurator der Londoner Nationalgalerie, ermordet aufgefun den wird, erstickt an einem kapitalen Kabeljau. Noch im Todeskampf hat er geheimnisvolle Zeichen in dem Museum hinterlassen. Aber wie kommen die Fingerabdrücke des weltberühmten Anagrammologen Robert Langbeyn auf den Fisch? War hier etwa der geheimnis umwitterte Exterminator am Werk? Oder die aus der illuminierten Fachliteratur bestens bekannte Geheimorganisation der katholischen Kirche? Gemeinsam mit der Geheimagentin Sophie versucht Profes sor Langbeyn das Geheimnis zu lüften. Doch auch Sophie ist von einem dunklen Geheimnis umweht … Aber all diese Geheimnisse sind ein absoluter Klacks gegen das wirkliche, echt wahre, ultimative Ultra-Super-Geheimnis, das offenbar irgendetwas mit Leonardo da Vincis Schwester Eda zu tun hat. Und natürlich auch mit Kabeljau.
Der Autor Don Brine lebt. Nur wo? Hat ihn schon einmal jemand gesehen? Im Louvre vielleicht? Wie auch immer, Gerüchte besagen, dass er unter dem blödsinnigen Namen A.R.R.R. Roberts die Tolkien-Parodien »Der kleine Hobbnix« und »Das Stiehlnemillion« geschrieben hat und unter dem noch dämlicheren Namen A3R Roberts die Star Wars-Ulknummer »Star Warped«. Der Autor bestreitet das. Etliche Gerichtsverfahren sind anhängig, die auf der Seite www.Don BrineistnichtARRRRobertsundnichtA3RRoberts.com eingesehen werden können - das heißt, wenn Sie gerade nichts Besseres zu tun haben. Gehen Sie aber keinesfalls - unter keinen Umständen! - auf www.adamroberts.com
DON BRINE
Sapperlot!
DIE VA-DINCI-VERSCHWÖRUNG
Aus dem Englischen dechiffriert von Ronald M. Hahn
Gesponsert von Kabel-Jause® dem süffigen (mmmmmmh!) Fischgetränk Servieren Sie es Ihren Kindern – die haben nichts Besseres verdient!
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der englischen Originalausgabe THE VA DINCI COD Deutsch von Ronald M. Hahn Das Umschlagbild ist von Dirk Schulz Deutsche Erstausgabe 4/2006 Redaktion: Rainer Michael Rahn Copyright© 2005 by Adam Roberts Copyright © 2006 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH http://www.heyne.de Printed in Germany 2006 Umschlaggestaltung: Animagic, Bielefeld Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN-10: 3-453-59014-7 ISBN-13: 978-453-59014-4
Vor nicht allzu langer Zeit dachte sich jemand eine listige Theorie aus, veröffentlichte sie in einem Buch und machte sie damit ungeheuer populär: In sehr ferner Vergangenheit wird ein Mann geboren, der eine Frau hat, die ein Kind bekommt, das heranwächst und ebenfalls Kinder hat, sodass in sehr ferner Vergangenheit eine noch heute existierende Blutlinie entsteht. Leonardo Da Vinci, der all dies wusste, baute sein Wissen in seine Gemälde ein, damit auch alle anderen davon erfuhren. Doch Scharen böser Menschen wollten die ganze Angelegenheit verschleiern und so tun, als sei all dies gar nicht wahr. Aber der Mann mit der listigen Theorie entdeckte »die Wahrheit« in den Gemälden, in denen Leonardo Da Vinci sie klugerweise verbor gen hatte, und publizierte sie, damit auch alle anderen davon erfuhren. Dies erzeugte tatsächlich allgemeine Aufregung. Doch dann zeigte sich, dass die listige Theorie so listig nun auch wieder nicht war. Sie stimmte nämlich nicht. Sie stimmte nicht mal ansatzweise. Sie war sozusagen absolut unwahr scheinlich. An dieser Stelle betritt dieses Buch die Bühne. Zwar hat sich erwiesen, dass Leonardo Da Vinci rein gar nichts über eine heilige Blutlinie wusste, die sich aus der Ver gangenheit bis in die Gegenwart erstreckt, doch andererseits wusste er massenhaft über Kabeljau. Und dieses unheimliche Wissen kommt nun ans Licht …
TATSACHEN Dies ist ein parodistisches Werk. Trotz alledem sind sämtliche in diesem Buch enthaltenen Tatsachen – faktisch ausgedrückt – unecht. Einige Gelehrte bestreiten Eda Vincis Existenz. Ande rerseits gibt es wiederum Gelehrte, die eben dies in Abrede stellen. Ansonsten findet man in diesem Buch nur Tatsachen. Sogar die Witze beruhen auf Tatsachen. Auf Tatsachen beru hende Witze sind besser als dokudramatische Witze und viel besser als solche, die sich irgendwelche Autoren ausgedacht haben. In dieser Hinsicht sind wir doch wohl alle einer Mei nung. Die Conspiratio Opi Dei ist eine »echte« Organisation. Wenn sie keine ist, müsste sie »echt« eine sein. Manche Menschen würden vielleicht bestreiten, dass sie existiert. Ja, sie würden es vielleicht bestreiten, aber doch nicht im Ernst, oder? Manche Menschen sind eben so. Ich jedenfalls wette, dass irgendwo wirklich eine geheime Verschwörung zugange ist. Und wer würde es abstreiten – außer denen, die dazugehören? Was noch? Ach ja: Das geheime Zeichen des Kabeljaus, der seine Schnauze an die Nationalgalerie drückt und seinen Schwanz im Takt mit den Themse-Biegungen wedeln lässt, ist auf jedem Londoner Stadtplan zu sehen. Anagrammologie ist eine »echte« akademische Disziplin. Was die Interpretation von Leonardos Mona Lisa im vierten Kapitel anbetrifft, bitte ich Sie, die Definition des lateinischen
Wortes mōnaulēs in einem wirklich seriösen Latein-Wörterbuch nachzuschlagen. Professor Ronald Hahns umfangreiches LateinWörterbuch muss da passen. Sehr viel mehr über die Bedeutung des Fisches im Christentum und in der Philosophie kann man aus Queer Fish von John Schad erfahren. Schad ist ein Gelehr ter, der – obwohl er unter dem Namen »John Shade« in Nabo kovs Fahles Feuer auftritt – echt ist und absolut nicht von mir erfunden wurde. Wirklich nicht. Echt.
PROLOG Jacques Sauná-Spannér lag tot im Hauptgang der Nationalen Kunstgalerie der Schönen Gemälde. Selbige ragte mitten im Herzen Londons auf, einer britischen Stadt (der Hauptstadt Britanniens), die eine Bevölkerungsdichte von ungefähr 10500 Menschen pro Quadratmeile ∗ und eine Gesamtbevölkerung von ungefähr sieben Millionen Menschen hatte – es sei denn, man schließt das Gebiet Groß-Londons ein, in dem etwa zwan zig Millionen Menschen leben und das eine leicht geringere Bevölkerungsdichte pro Quadratmeile aufweist. Die Londoner Nationalgalerie gehört zu den schönsten der zahlreichen städtischen Kunstgalerien und Museen, und Jacques Sauná-Spannér hatte zwölf Jahre lang als Kurator ihrer zahlreichen Gemälde und wertvollen Skulpturen gearbeitet. Man kannte und bewunderte ihn überall, schließlich war er ein großer Gelehrter und Freund der Künste. Doch nun war er auf brutale Weise ermordet worden. Je mand hatte einen drei Fuß ∗∗ langen Kabeljau gewaltsam in seine Kehle eingeführt, der seine Speise- und Luftröhre blo ckierte. Dies war kein gewöhnlicher Mord. ∗
Gewisse Briten tun auch im 21. Jahrhundert noch so, als wäre die Meile
ein genaues Maß! Vermutlich fällt es ihnen auch leichter, 100 durch 12 statt
durch 10 zu teilen.
∗∗ Und dann auch noch Füße! Diese Briten!
Sein Mörder war nicht durch Gier, simple Bösartigkeit oder das Bedürfnis motiviert worden, sich einen Erpresser vom Halse zu schaffen. Nein, dieser Mörder war ein fanatischer Anhänger eines geheimnisvollen Kultes und hatte die fürchter lichen Absichten seiner unheimlichen und heimlichen Vorge setzten in die Tat umgesetzt. Dieser Mörder hatte schon zuvor gemordet. Und er würde es wieder tun. Er kannte beim Töten keine Gewissensbisse. Dieser Mörder wusste, dass er es sich nicht leisten konnte, im entscheidenden Moment von einem schlechten Gewissen geplagt zu werden. Außerdem war Versagen, wie er oftmals zu äußern pflegte, ein Begriff, der in seinem Wortschatz nicht vorkam. Oft fügte er auch hinzu, dass er überhaupt keine Verwendung für das Wort versagen hatte. Na ja, wenn man darüber nachdenkt, hatte er eigentlich doch eine Verwendung für das Wort – nämlich als notwendigen Bestandteil des Satzes »Ich hab überhaupt keine Verwendung für das Wort versagen«. Aber ich möchte nicht vom Thema abweichen. Dieser Mann, den man nur bei seinem nom-de-plume – oder wie die Engländer sagen »feather name« ∗ – kannte (abgesehen von jenen, die seinen echten Namen kannten und dazu neigten, ihn auch auszusprechen), schlich argwöhnisch über den Trafal gar Square, den möglicherweise bekanntesten aller tollen Lon doner Squares, den man zwischen 1820 und 1840 zur Feier von Nelsons gewonnener Seeschlacht bei Trafalgar erbaut hat. Eine interessante Tatsache, die dieses berühmte Wahrzeichen des Vereinigten Königreichs betrifft, ist die: Der Platz ist gar nicht ∗
Wir Deutschen favorisieren hingegen das Wort Künstlername.
Square ∗ . Er ist vielmehr ein längliches Trapezoid bzw. ein Trapez von topographisch unkonventionellem Erscheinungs bild. Nur wenigen Touristen fällt auf, dass das Wort »Square« in diesem Fall falsch angewendet wird. Was einer der Gründe ist, warum ich der Meinung bin, dies müsste endlich mal jemand klarstellen. Noch weniger Touristen fiel an diesem Tag um 9 p.m. (die Buchstaben p.m. sind eine Abk. für »post meridiem«, was »nachmittags« bedeutet) die massige Gestalt des Exterminators auf, der verstohlen aus einer Seitentür der Galerie der Schönen Gemälde kam und sich heimlich fortpirschte. Der Exterminator. Er war mit seinem Tagwerk zufrieden. Sein Tun war für ihn kein Morden. Für ihn war es bloßes Ausrotten. Für ihn war es nicht mal ein von extremen Vorurteilen belastetes Ausrotten, da ihm als allgemein großzügig denkendem Wesen schon die Vorstellung eines Vorurteils nicht gefiel. Dennoch war Ausrot ten sein Beruf. Totales Ausrotten. Totales Exterminieren. In gewisser Hinsicht war er von der Nation her nicht Engländer, sondern Extermi. Verstehen Sie? Natürlich gibt es so etwas wie eine Extermi-Nation überhaupt nicht. Es ist nur 'ne Redensart. In Wirklichkeit gibt es auf der ganzen Welt kein Land, das mit der Vorsilbe »Ex« anfängt, was übrigens eine interessante Feststellung ist. Das, was am nächsten rankommt, ist »Estland«; das wäre aber nur hilfreich, wenn dieser Charakter »Estlandina tor« hieße. Aber so heißt er ja nicht. Jetzt, wo ich drüber nach denke, fällt mir auf, dass das »E« als Anfangsbuchstabe im ∗
quadratisch
weltgeographischen Lexikon eigenartigerweise unterrepräsen tiert ist. Zum Beispiel gibt es nicht einen einzigen amerikani schen Bundesstaat, der mit »E« anfängt. Und die meisten Län der, die mit einem »E« anfangen, verarschen uns nur: Das »El« in »El Salvador« bedeutet nur »der« ∗ . Oder »East Timor«, wo allem Anschein nach das Land »Timor« heißt, während »East« ein (freilich nur in der englischen Sprache vorkommender) geographischer Lokator ist, falls Sie verstehen, was ich meine. Dies ist auch bei »Äquatorial-Guinea« der Fall – bzw. wäre es, wenn wir es (wie die Briten) »Equatorial Guinea« schreiben würden, und natürlich bei »Ecuador«, das eigentlich auf Spa nisch nur »Äquator« bedeutet; und den Äquator kann man (da er um die ganze Welt läuft) kaum ein Land nennen. Da bleiben nur noch Eriträa, Estland und Äthiopien ∗∗ . Und Egüpten. Und natürlich England! Wenn ich mir die Liste so anschaue, gibt es bei genauerem Nachdenken doch eine Menge Länder, die mit »E« anfangen. Vielleicht bin ich jetzt etwas vom Thema abgewichen. Keh ren wir also zu meinem Hauptthema zurück, der finster dahin schleichenden Gestalt des Exterminators, die über den Trafalgar Square flitzt. Dieser ganz in seinem Berufe aufgehende Meu chelmörder empfand nach einer Ausrottung keine Reue, denn er sah in seinen Opfern nur Kakerlaken – eben Ungeziefer. Es war gut, diese Schädlinge vom Antlitz des Globus zu fegen. Gott freute sich über solche Tätigkeiten. Deswegen fühlte er sich ∗
Oder »die« oder »das«. Wer will das bei diesen verfluchten ausländischen
Sprachen schon so genau wissen?
∗∗ … das der Brite auch mit »E« schreibt …
sauber und geläutert, als sei er in eine höhere spirituelle Ebene aufgestiegen. Er dachte über das Getane nach und freute sich. »Und deswegen«, sagte er leise vor sich hin, »geh ich jetzt zum Feiern in den Puff.«
1 Es war schon ziemlich dunkel, als Robert Langbeyn, der füh rende Anagrammologe der Universität London von einem lauten Klopfen an der Haustür geweckt wurde. Er stieg aus seinem Bett und warf sich im Schlafzimmerspiegel einen finste ren Blick zu. »Wer kann das um diese Stunde sein?«, fragte er sein Spiegelbild. Es war 21.00 Uhr. Jedenfalls besagte dies der neben dem Bett stehende Wecker. Robert war früh zu Bett gegangen. Da es ihm an allem und jedem mangelte, was man »ein Dasein« hätte nennen können, wusste er mit seiner Zeit nichts Besseres anzu fangen. Sein Spiegelbild zeigte einen großen, gut aussehenden Mann mit liebenswürdigen Zügen. Seine Schläfen waren leicht grau, beziehungsweise, wie er es auf seine drollige englische Art aussprach, leicht »grey«. Briten schreiben ja manche Worte anders als Amerikaner. Ein Yankee würde »gray« schreiben, nicht »grey«. Was aber nun nicht bedeutet, dass die Briten »gre i« sagen, wenn sie »grey« meinen. Ich weiß es, denn als ich mal in London war, hab ich einen Engländer gebeten, das Wort zwanzig- oder dreißigmal aufzusagen. Er war ein netter Mensch; ich wollte mir eigentlich seinen Namen notieren, um ihn im Quellenverzeichnis meines Buches zu würdigen, doch als ich ihm danken und eine weitere Frage stellen wollte, lief er schon die Oxford Street hinauf. Na ja.
Als Professor für Anagrammologie an der Londoner Univer sität war Robert Langbeyn in leitender Funktion tätig und galt als respektierter Fachmann für Geheimschriften und Anag ramme. War dies möglicherweise der Grund, warum diese geheimnisvollen Menschen am unteren Ende der Treppe so laut an seine Tür klopften? Brauchten sie etwa seinen Beistand, um eine geheimnisvolle Denksportaufgabe oder ein verblüffendes Bilderrätsel zu lösen? Gleich würde er es in Erfahrung bringen: Er brauchte nur die Tür zu öffnen und ein Gespräch mit ihnen zu beginnen, dann würden seine zahlreichen Fragen beantwor tet. Doch zuerst musste er den in den Spiegel geworfenen Blick beenden. Hätte ein Schauspieler Robert Langbeyn in einem Spielfilm darstellen müssen (ich will wirklich niemandem etwas aufdrän gen, ich schlage nur was vor), hätte es kein anderer sein dürfen als der junge Harrison Ford. Vielleicht auch Russell Crowe, vorausgesetzt, er könnte etwas abnehmen. Oder der Typ aus Ocean's Eleven und Solaris. Natürlich nicht der Typ aus dem sowjetischen Original-Solaris; nicht der pummelige Iwan; das brächte ja nichts; außerdem ist der inzwischen mindestens Mitte siebzig. Ich meine die Neuverfilmung. In der diese Sowie so mitgespielt hat, wie hieß sie doch gleich; die englische Schau spielerin mit dem süßen Zinken: Natasha oder Anastacia Sowie so. Natürlich hätte die nicht Langbeyns Rolle spielen können; schließlich ist sie ja eine Frau. Ich meine den Mann, der in dem Film die Hauptrolle spielt. Sie wissen schon … Er sieht sehr gut aus. Er könnte Robert Langbeyn spielen. Ich erwähne es hier überhaupt nur, damit Sie sich als Leser bzw. Leserin an irgend was visuell orientieren können. Ich komm nicht deswegen
darauf zu sprechen, um irgendwelche Besetzungsentscheidun gen zu fällen; wir haben ja noch nicht mal Verträge ausgehan delt. Außerdem hat es mit dieser Geschichte gar nichts zu tun. Vermutlich wäre der Mann ohnehin zu teuer. Aber solange nicht dieser grauenhaft allgegenwärtige Tom Hanks mit seiner Hau-mich-ich-bin-ein-Sandsack-Fresse die Hauptrolle spielt … Nun ja, trotzdem. Hmm, hm, hääähm. Dr. Robert Langbeyn schlüpfte in einen teuren BaumwollBademantel, den er nicht etwa in einem Hotel gestohlen, son dern in einem Warenhaus erworben hatte, und patschte die Treppe hinunter. »Schon gut, ich komme!«, verkündete er. Er öffnete die aus Eichenholz gefertigte Tür. Vor der Tür stand Inspektor Charles Flach von der Kriminalpolizei. Er wurde von einem Sergeanten begleitet. »Dr. Langbeyn?«, fragte der Inspektor. »Ja?«, fragte Langbeyn. »Was wünschen Sie? Es ist doch schon 21.00 Uhr durch!« »Tut mir Leid, Sie zu stören, Sir«, sagte der nicht aus der Ru he zu bringende Polizist. »Aber wir benötigen Ihr Fachwissen. Es geht um ein schreckliches Verbrechen … einen Mord … Sie können vielleicht bei der Entschlüsselung einer bestimmten uns unverständlichen Botschaft helfen, die am Tatort zurückgeblie ben ist.« »Ach, du meine Güte!«, rief Robert aus. »Wie schrecklich! Ich ziehe mich an. Ein Mord, sagen Sie? Wohin gehen wir?« »In die Nationalgalerie«, sagte Inspektor Flach. »Jacques Sauná-Spannér, das Mordopfer, wurde auf höchst elendige Weise ums Leben gebracht.«
Eine Viertelstunde später war Robert vollständig angezogen und saß auf dem Rücksitz eines neutralen Polizeifahrzeugs. Er und seine Begleiter fegten durch die engen Straßen des alten London und fuhren manchmal sogar über die Busspur (was der Polizei aber erlaubt ist, wenn gerade keine Busse unterwegs sind), damit sie nicht in den ziemlich verstopften Straßen stecken blieben. Nach kurzer Zeit erreichten sie die Nationalga lerie. Inspektor Flach half Langbeyn aus dem Wagen. Vor dem erhabenen steinernen Eingangsportikus der Galerie stand ein halbes Dutzend Streifenwagen. Einige hatten jene merkwürdigen blitzenden Dachleuchten an, von denen kein Mensch weiß, wie sie heißen oder ob sie überhaupt einen Na men haben. Der Eingang war mit Absperrband abgesperrt. Mehrere uniformierte Polizisten standen vor der Absperrung mit Absperrband stramm. Sie trugen das unverwechselbare dunkelblaue Kostüm der alten britischen »Bobbys« mit dem weithin bekannten Helm, dessen Form die britische Jugend dazu animiert, ihre Gesetzeshüter pauschal »Tittenköpfe« zu nennen. Eine kleine Gruppe neugieriger Passanten hatte sich versammelt und gaffte, doch offenbar war die Polizei nicht bereit, ihnen Zutritt zu gewähren: Immerhin war Mitternacht ∗ , und die Galerie längst geschlossen. Außerdem war sie nun ein Tatort. »Hier entlang, Dr. Langbeyn«, sagte Inspektor Flach. Er half Robert, sich unter dem Absperrband hindurchzuducken, dann führte er ihn die breite Steintreppe hinauf und in die Galerie hinein. ∗
Die Fahrt durch London hatte offenbar doch mehrere Stunden gedauert.
Langbeyn, Flach und der Sergeant schritten durch die Echos werfenden, verlassenen, grottenhaften Atrien der Galerie. Es war gespenstisch, sich nächtens in solch riesigen Räumen aufzuhalten, denn nur hier und da markierten Pfützen elektri schen Lichts den Weg, und man war überall von schattiger Dunkelheit umgeben. Doch so beunruhigend dies auch war, es war nichts im Vergleich mit dem Nichtvorhandensein von Beruhigung, das Robert empfand, als sein Blick erstmals auf Jacques Sauná-Spannérs Leiche fiel. »Oh, mein Gott!«, keuchte Robert. »Es ist wahrlich kein hübscher Anblick, Sir«, sagte der Serge ant verbissen. »Ja, bei diesem Anblick tun einem die Augen weh«, sagte Robert. »Man ist fast versucht zu sagen, sie schmerzen. Wenn man wollte, könnte man sogar noch eins draufsetzen und Aua sagen.« Jacques Sauná-Spannér lag rücklings auf dem gebohnerten Boden des Raumes. Die Deckenleuchten funkelten ihre Spiegel bilder am Boden an und verliehen der riesigen dunklen Blutla che eine plastikene, sozusagen kunststoffene Helligkeit. Das Blut hatte zu beiden Seiten des Sauná-Spannérschen Kopfes zwei schmetterlingsartige Formen gebildet. Flach, der bemerkte, wohin Robert schaute, sagte: »Das Blut ist aus zwei Schnitten seitlich am Hals des Opfers ausgetreten. Die Schnitte verlaufen unterhalb der Ohren zum Halse hin.« »Autsch«, sagte Langbeyn. »Die Schnitte waren jedoch nicht tödlich – auch wenn sie, wie Sie sehen, eine Menge Blut haben austreten lassen.« »Aber wenn die Schnitte ihn nicht getötet haben – was war es
dann?« »In seiner Luftröhre«, sagte Flach langsam, »steckt ein unge fähr meterlanger Kabeljau.« »Menschenskind, na, so was«, sagte Langbeyn und machte einen Schritt nach vorn. »Das ist mir ja noch gar nicht aufgefal len.« »Es ist Ihnen nicht aufgefallen? Aus seinem Mund ragen doch fünfundzwanzig Zentimeter Kabeljauschwanz hervor!« »Ja«, sagte Langbeyn. »Stimmt. Es ist mir doch aufgefallen. Ich wollte mich nur rückversichern. Was ich hiermit getan habe. Er ist also asphyxiliert, wie?« Der Polizist kniff die Augen zusammen und schaute Lang beyn an. »Es heißt asphyxiert, vorausgesetzt natürlich, Sie meinen erstickt.« »Hab ich doch gesagt.« »Sie haben asphyxiliert gesagt.« »Nein«, sagte Langbeyn und marschierte langsam um die Leiche herum, um sie eingehend zu begutachten. »Das Wort gibt's doch gar nicht. Ich habe ganz klar ›asphyxiliert‹ gesagt.« »Na, bitte! Schon wieder.« »Was?« »Sie haben ›asphyxiliert‹ gesagt, nicht ›asphyxiert‹.« »Machen Sie sich nicht lächerlich«, sagte Langbeyn von oben herab. »Ich weiß, was ich gesagt habe. Warum hat er den Kabel jau nicht einfach rausgezogen?« »Der Fisch hat sich verkeilt. Schuppen flutschen zwar relativ glatt in eine Kehle hinein, aber wenn man sie wieder rausziehen will, graben sie sich ins Luftröhrenfleisch.« »Rein, raus«, sagte Langbeyn. »Ach so.«
»Er wusste, dass er sterben würde, dass er ersticken würde, dass er keine Luft mehr kriegen würde«, sagte Flach. »Außer dem wusste er, dass er nichts mehr tun konnte, dass er nur noch wenige Minuten zu leben hatte …« »Aha!«, wandte Langbeyn ein. »Aber wenn das Opfer mit dem Kabeljau asphyxiliert wurde, warum hat der Mörder dann die beiden Schnitte an seinen Hals angebracht?« »Das wissen wir nicht.« »Sie wissen es nicht?« »Vielleicht war es eine rituelle Handlung«, sinnierte der Poli zist. »Mit rituell meinen Sie …?« »Rituell im Sinne der Wörterbuch-Definition.« »Ach so. Tja, ich bin leider kein Ritualologe. Kein Ritualist, meine ich. Kein Fachmann für Rituale. Ich bin Anagrammolo ge. Ich analysiere und dechiffriere Anagramme, um herauszu kriegen, was hinter ihnen stecken könnte: Botschaften, Worte, Hinweise, solche Sachen.« Flach deutete stumm auf die Museumswand. Dort hatte der Sterbende mit seinem eigenen Blute in protzigen roten Buch staben einen einzelnen Satz hingeschrieben. Es war die kaum übersehbare Aussage: DIE KATHOLISCHE KIRCHE
HAT MICH ERMORDEN LASSEN!
Langbeyn begutachtete die geheimnisvolle Botschaft endlos
lange. »Deswegen, Dr. Langbeyn«, sagte Flach, »haben wir Sie
um diese Zeit aus dem Bett geholt. Wegen dieser rätselhaften
Botschaft.« »Es könnte«, sagte Robert, »ein Anagramm sein.« »Das haben wir uns auch gedacht«, sagte Flach. »Können Sie es dechiffrieren?« Langbeyn lächelte. »Natürlich. So was ist doch mein Spezial gebiet.« Er wollte noch »Ich bin Anagramm-Meister« hinzufü gen, doch er sagte versehentlich »Ich bin Anagramm-Kleister«, was ihm so mordsmäßig peinlich war, dass er verlegen hüstelte und die beiden Polizisten anlächelte. »Warten Sie 'ne Minute«, sagte er, »ich löse den Fall im Handumdrehen.« Er nahm einen kleinen Notizblock aus der Jackentasche und zog den Filzschreiber aus der Drahtspirale hervor, die den Block zusammenhielt. Minuten später hatte er die Möglichkeiten durchgearbeitet und wandte sich zum Inspektor um. »Ich glaube, der Kurator wollte uns das hier mitteilen.« Er hob den Notizblock hoch. Auf der obersten Seite stand geschrieben: HA!
RIESENOTTO IM ANMARSCH
KISS KILLER HE HE HE
CD CD
Der Polizist schaute sich diesen verlockenden Satz sehr lange an. »Ach so«, sagte er dann. »Und was, glauben Sie, will er uns damit sagen?« »Wir müssen rauskriegen, was – oder wer – ›Riesenotto‹ ist«, sagte Langbeyn. »Und in Erfahrung bringen, ob es sich bei den beiden CDs um Daten- oder Musik-CDs handelt.« »Vielleicht«, sagte der Polizist, »handelt es sich aber auch um
DVDs. Rein äußerlich kann man diese Dinger als Laie ja gar nicht unterscheiden.« »Ist auch wieder wahr.« »Vielleicht geht es hier aber auch gar nicht um CDs im heute bekannten Sinne, sondern um die klassische Abkürzung für Corps Diplomatique, die es schon lange vor diesen drolligen kleinen Silberscheiben gab.« »Ach, wirklich?« »Ja. CD steht immer auf so kleinen Schildchen. Diplomaten bringen sie noch heute an ihren Autos an. Damit signalisieren sie dem Pöbel von der Polizei, dass er bloß nicht auf die Idee kommen soll, seine Nase in ihren Kofferraum reinzuschieben – auch dann nicht, wenn er einen Zentner Drogen darin vermu tet.« »Nun, was CD auch bedeutet: Es ist der Schlüssel zu diesem Mordfall.« »Was bedeutet das ›HA!‹?«, fragte Flach. »Ich würde mal vermuten«, erwiderte Langbeyn, »dass es sich um eine Variante von ›Pssst, he, ihr da!‹ handelt. Es ist vermutlich Mailänder Rotwelsch. Oder Lyoner Argot. Auf diese Weise zieht Sauná-Spannér einfach unsere Aufmerksamkeit auf sich. Noch wichtiger ist ›Kiss Killer‹. Es kann nur bedeuten, dass Sauná-Spannérs Mörder eine Frau ist, die versucht hat, ihn zu verführen.« »Kurz vor seinem Ableben«, sagte der Polizist mit ernster Miene, »hat sie wahrscheinlich hämisch gelacht. Etwa so: He! He! He! Wie die irren Mörder im Film es immer machen.« »Mir ist mehr oder weniger klar, dass Sauná-Spannér von einer Organisation überdimensional großer Übeltäter ermordet
wurde«, sagte Langbeyn. »Der Beweis dafür ist ›Riesenotto‹. Allem Anschein nach ist diese Organisation darauf aus, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Man ersieht es aus der Aussa ge ›Riesenotto im Anmarsch‹. Ich schlage vor, Sie konzentrieren Ihre Ermittlungen auf die üblichen Verdächtigen ab der Schuh größe 52 …« »Dr. Langbeyn«, sagte der Polizist. »Ihre Hilfe war von un schätzbarem Wert …« Genau in diesem Moment ertönte die Stimme einer Frau in der Galerie. Sie bewegte sich mit genau 331,29 Meter pro Se kunde, was der Geschwindigkeit des Schalls entspricht. Inner halb von Luft, meine ich. In Helium legt der Schall 965 Meter pro Sekunde zurück; in Kohlendioxyd beträchtlich weniger, nämlich nur 259 Meter pro Sekunde. Doch da das Innere der Londoner Galerie der Schönen Gemälde mit Luft gefüllt war, bewegten sich ihre Worte durch die wenigen sie trennenden Meter mit 331,29 Meter pro Sekunde. »Moment!«, rief sie. Langbeyn und Flach drehten sich zu ihr um.
2 Die beiden Männer erblickten eine äußerst anziehende junge Frau. »Wer sind Sie?«, fragte Inspektor Flach. »Ich heiße Sophie Nerveuse«, sagte die Frau und trat vor. »Ich bin der französischen Botschaft in London zugeteilt – und arbeite für den Süßetee, eine Spezialabteilung der französischen Polizei.« »Und was machen Sie hier?«, fragte Flach. »Man hat mich der weltberühmten Kryptologieabteilung der weltberühmten Royal Holloway an der Universität London zugewiesen, einer Fakultät, die nicht nur weltberühmt ist, sondern in einem sehr realen und existenziellen Sinne auch existiert.« Sie drehte sich zu Langbeyn um und sprach ihn in ihrer Mut terzunge an, die ebenso französisch war wie sie selbst. Womit ich sagen will, dass sie kein Englisch sprach. Englisch sprach sie natürlich auch. Aber in diesem speziellen Fall nicht. »Sie sind«, sagte sie auf Französisch, »ein an der Universität London tätiger Akademiker. Kann ich mithin davon ausgehen, dass Sie Franzö sisch sprechen?« Langbeyn war zwar ganz schön baff, doch er äußerte eine Bejahung. »Ja, mich Sprecher dem Franzosiche sehr gut – ja. Gut, aber sicher. Ist es nicht?« Er hatte nämlich in Frankreich schon oft Kaffee mit Milch und einen halben Liter Roten be
stellt. »Gut«, sagte Sophie auf Französisch. »Außerdem gehe ich davon aus, dass der plattfüßige Bulle hier kein Wort von dem versteht, was ich sage, weil er schließlich nur ein normaler Londoner Polizist ist und kein universitär erzogener und gebil deter Charakter wie Sie. Deswegen wende ich meine Sprache in diesem Fall wie eine Geheimsprache an, denn ich muss Ihnen etwas mitteilen, das er auf keinen Fall hören darf! – Dr. Lang beyn! Sie befinden sich in schrecklicher Gefahr! Man hat ihnen ein Bein und eine Falle gestellt. Man hat Sie reingelegt wie den letzten Dorftrottel. Sie müssen mir jetzt unbedingt ganz genau zuhören, da ich es nicht zweimal sagen werde. – Sobald Inspek tor Flach damit fertig ist, Ihre genialen Fähigkeiten als Code knacker abzuschöpfen, wird er Sie verhaften. Er glaubt, dass Sie diesen Mord begangen haben. Doch ich kann Ihnen helfen, einem schrecklichen Schicksal zu entgehen.« »Formidable«, erwiderte Langbeyn auf Französisch. »Mich glauben, mich verstehe der Worte. Aber mich nicht verstehen tu der Worte wo in mittleres Abschnitt, der wo Ihnen sprechen. Vielleicht … etwas weicher … Nein, das ist unstatthaftes Wort, sage ich, aber, langsam, ja, etwas langsamer, und die Wörter der Franzosen sind verständlicher auf mir.« Er schenkte der jungen Frau ein Lächeln, denn er war sehr zufrieden mit sich. Sophie schaute ihn einige Sekunden schweigend an. »Gut«, sagte sie, noch immer auf Französisch, obwohl sie ihre Worte nun sorgfältiger artikulierte. »Okay.« »Okay?«, wiederholte Langbeyn und fügte auf Englisch hin zu: »Sprechen wir jetzt Englisch?«
Flachs Blick wanderte von Langbeyn zu Sophie. »Nein«, erwiderte sie auf Französisch. »Okay heißt auf Fran zösisch zufällig auch okay.« Flach schaute von Sophie zu Langbeyn. »Mich verstanden«, sagte Langbeyn ebenfalls auf Französisch und nickte energisch. »Wie Weekend und to know what to do.« »To know what to do«, sagte Sophie ziemlich knurrig auf Französisch, »ist ursprünglich eine französische Redewendung. Aber wir wollen uns – bitte – nicht in solchen Diskussionen verzetteln. Es ist unbedingt nötig, dass ich Ihnen gewisse Dinge mitteile, ohne dass Inspektor Flach sie versteht. Er hat einen Peilsender an ihrem Rücken befestigt. Die Ein- und Ausgänge der Nationalgalerie werden bewacht. Er intendiert, Sie sofort ins Polizeigewahrsam zu verbringen, um Sie wegen dieses Verbre chens vor Gericht zu stellen und mehrere Jahrzehnte ins Ge fängnis zu stecken. Doch ich kann Ihnen helfen. In fünf Minu ten tue ich so, als würde ich gehen. Im gleichen Moment müs sen Sie darauf bestehen, die auf dieser Etage befindliche Her rentoilette aufzusuchen. Dort werde ich Sie treffen. Haben Sie verstanden?« »Genau«, sagte Langbeyn langsam. »Sie sprechen tun von der Toilette an mich, nicht von der Toilette an Ihnen. Ich werde gehabt haben worden sein rückzukehren in der Toilette an mich, nachdem Sie haben gegangen worden sein für Toilette, um zu begegnen mich in die Toilette, uwi?« »Je vous voudrais dire«, sagte Flach, »que je parle français, moi-aussi, et je vous comprends tres bien ça que vous dites.« Eine Weile herrschte Schweigen. »Ah«, sagte Sophie auf Französisch. Vielleicht sprach sie jetzt
auch Englisch. Es ist schwer zu sagen. »Oh«, sagte Langbeyn auf Englisch. ∗ »Mademoiselle Nerveuse«, sagte Flach auf Englisch. »Darf ich um Ihre Akkreditierungspapiere ersuchen?« »Sie haben keinen Grund, Dr. Langbeyn dieses Mordes zu beschuldigen!«, kreischte Sophie. »Es ist unerhört! Es ist uner hörter als unerhört! Er ist unschuldig! Es gibt nicht einen Be weis, der ihn mit diesem Verbrechen in Verbindung bringt.« »Mademoiselle«, sagte Flach. »Wir haben dem Mordfisch heute Abend einige Schuppen abgenommen.« »Sie haben ihm einige Schuppen abgenommen?«, wiederhol te Langbeyn. »Es waren ungefähr zwanzig. Sie stammen von dem Teil des Fisches, der aus der Kehle des Professors ragt. Unser Labor hat sie analysiert. Dr. Langbeyns Fingerabdrücke befinden sich auf jeder einzelnen Schuppe. Das ist ziemlich bemerkenswert, weil wir uns normalerweise schon freuen, wenn wir an einer Mord waffe nur ein bis zwei brauchbare Abdrücke finden. Doch die von Dr. Langbeyn scheinen sich auf jeder Schuppe dieses Mord fisches zu befinden.« Flach wandte sich zu Robert um. »Sie müssen den Fisch ja sehr oft angefasst gehabt haben, bevor Sie ihn dazu benutzten, Professor Sauná-Spannér zu töten. Ich meine, Sie müssen ihn sehr oft in die Hand genommen haben.« Robert schluckte schwer. Er schaute Sophie Nerveuse nervös an. »Bitte, glauben Sie mir, Sophie«, sagte er auf Englisch. »Ich habe diesen Fisch noch nie zuvor gesehen. Ich habe Professor ∗
Oder sprach er in diesem Moment gar Deutsch?
Sauná-Spannér nicht ermordet. Ich habe diesen Fisch auch noch nie angefasst. Und schon gar nicht habe ich ihn in die Hand genommen, beziehungsweise meine Hand von hier nach da und von da nach dort über seinen Leib gleiten lassen.« Robert schüttelte sich. »Wie ein Fischperverser, der sich einfach nicht dagegen wehren kann … dessen Hände immer wieder einen glibberigen, schlabberigen, kotzübel riechenden Fischleib streicheln müssen, als kneteten sie Brotteig … der ihn immer wieder anfassen und durch seine Finger glitschen lassen muss, wie ein Töpfer seinen Ton … der seine silbrig glänzende Feuch tigkeit kneten, seine fischige Festigkeit immer wieder drücken und quetschen muss … der mit der Hand auf seinen Leib klatscht und aus vollem Halse ›Igitt! Ekliger Fisch!‹ schreien muss, bis er sich in einem widerlichen Anfall von Verzückung vergisst.« Robert wischte sich den Sabber mit dem Ärmel von den Lippen. »Dergleichen zu tun würde mir nie im Leben einfallen. Ich hoffe doch, Sie glauben mir?« Sophie musterte ihn eingehend. Das Gleiche tat Inspektor Flach. »Ich gebe ja zu«, sagte Langbeyn, nun etwas nervöser, »dass ich einige Erfahrungen mit Fischen habe. Ja, was Fisch angeht, habe ich einige Erfahrungen. Mein Beruf erfordert es. Aber ich habe Professor Sauná-Spannér nicht getötet. Außerdem habe ich diesen Fisch nie angefasst.« »Wenn es so ist, haben Sie bestimmt eine Erklärung dafür, wieso Ihre Fingerabdrücke auf alle Schuppen des fraglichen Fisches gelangt sind?«, sagte der Polizist, der einen kleinen Schritt zurückgetreten war. »Ich weiß es nicht«, sagte Langbeyn nur. »Ich muss davon
ausgehen, dass mir jemand was anhängen will.« »Dann hat man aber mit dieser Anhängerei gewaltigen Auf wand getrieben«, brachte der Polizist vor. »Sophie«, sagte Langbeyn drängend. »Glauben Sie mir!« »Ich glaube Ihnen, Robert«, sagte Sophie. Sie sprach seinen Vornamen zum ersten Mal aus, wobei ihre violetten Augen sich auf die seinen richteten und ihre Blicke sich bedeutungsvoll ineinander verknäulten. »Ich muss Ihnen aber noch etwas sagen.« »Noch etwas? Was denn?« Die Frau huschte dicht an Robert heran, als wolle sie ihm et was ins Ohr flüstern. Da Inspektor Flach nicht ausgeschlossen zu werden wünschte und das Gefühl hatte, er sei berechtigt, alles mitzuhören, was in diesem Raum gesprochen wurde, beugte er sich vor. »Laufen Sie!«, schrie Sophie. Flach zuckte zusammen und fasste sich an die Ohren. Robert machte vor Schreck einen Satz, doch Sophie packte seinen Arm und schleifte ihn durch die Galerie. »Stehen bleiben!«, rief Flach. Doch die Angst verlieh Roberts Schuhen Flügel. Es waren natürlich keine echten Flügel, son dern nur metaphorische. Auch Sophie demonstrierte beeindru ckende Eile.
3 Zu zweit rannten sie durch den gewaltigen Gang der National galerie. »Da unten!«, schrie Sophie und eilte nach links. Wunder schöne Bilder blitzten seitlich von ihnen auf. Die 1824 von der britischen Regierung gegründete Nationalgalerie war 1838 an den Trafalgar Square gezogen, und zwar in ein neoklassizisti sches Gebäude, das der Architekt William Watkins entworfen beziehungsweise (wie die Denglisten sagen) »designt« hatte. Innerhalb ihrer Mauern befinden sich ungefähr 2000 Werke. Viele Kunstwerke waren in andere, später entstandene Londo ner Galerien verlegt worden, darunter die Nationale Porträtga lerie, die sozusagen gleich nebenan lag, und die Tate Britain (ein Stück die Themse rauf). Doch selbst angesichts der relativ wenigen dort befindlichen Gemälde (verglichen mit einigen anderen Galerien) halten viele Fachleute sie für eine der besten Kleinsammlungen europäischer Gemälde auf der ganzen Welt. Sie ist besonders für ihre italienischen Renaissancegemälde bekannt und kann außerdem mit beträchtlichen Sammlungen nordeuropäischer und spanischer Künstler des 15. bis 19. Jahrhunderts aufwarten. Zu diesen Künstlern gehören Leonar do, Raphael und Vermeer. Außerdem hat die Nationalgalerie einen tollen Garderobenraum, eine hübsch eingerichtete, wenn auch etwas teure Cafeteria, die es vielen Touristen ermöglicht, den Nachmittag totzuschlagen, bis sie am Abend ins Theater
gehen. Doch an der Cafeteria waren weder Sophie noch Robert interessiert. Sophie huschte stattdessen durch ein Türchen und zog Ro bert in ein schmales Treppenhaus. Sie eilten nach unten, wobei sie die finstere Treppe halb hinabstolperten und halb hinabfie len. Sie kamen in einen matt beleuchteten Gang unter der Ausstellungsfläche, in dem die Büros der höheren Angestellten der Institution lagen. Abgesehen von einem einzelnen zitronen grünen Schild mit der Aufschrift NOTAUSGANG war der Gang unbeleuchtet. Schließlich hielt Sophie an. Robert, der keine Sportskanone war, brach fast dankbar zusammen. Sie standen vor einer Tür mit der Aufschrift JACQUES SAUNÁ-SPANNÉR. »Ich verstehe nicht«, keuchte Robert. »Wie können meine Fingerabdrücke auf den Fisch gekommen sein? Und dann noch auf jede einzelne Schuppe?« »Ich fürchte, Sie hatten die richtigen Viecher«, sagte Sophie. »Viecher? Wo? Was meinen Sie damit?« »Sagt man das nicht so? Oder heißt es Tiere? Ist Tiere besser als Viecher?« »Kommt drauf an, was Sie meinen …« »Ich will damit sagen, dass Ihre Nase … dass Sie den richti gen … Riecher hatten. Man will Ihnen etwas anhängen.« »Aber warum denn?« »Jemand hat Monsieur Sauná-Spannér auf sehr deutliche und symbolische Weise ermordet. Doch gleichzeitig möchte der für den Mord Verantwortliche versteckt, geheim, im Schatten bleiben – ganz gaaaanz unten. Deswegen braucht er jemanden,
der dafür bestraft wird, einen Sündenbock.« »Einen Sündenbock?«, wiederholte Robert entsetzt. »Mich?« »Hier läuft eine verschlagene Verschwörung ab, Dr. Lang beyn. Eine Verschwörung mit tiefgründigen Wurzeln. Die sich irgendwo in der Tiefe verstecken.« »In der Tiefe«, sagte Robert. »Ach so.« »In der Tiefe«, bestätigte Sophie. »Nicht an der Oberfläche, sondern ziemlich tief unter der Oberfläche, tief in den versteck ten Nischen der westlichen Kultur und Geschichte.« »Ja, ich spüre die Wucht dieser ganzen Tiefensache ganz deutlich.« »Alles, was am heutigen Abend hier geschehen ist, ist voller Tragweite. Alles ist symbolisch. Wer Augen hat, wird es sehen. Jeder wird sich damit zufrieden geben, dass die Polizei Sie für den Übeltäter hält … Sehen Sie das auch so?« »Den Prügelknaben«, sagte Robert. Ihm war elend zumute. »Doch mit meiner Hilfe können wir Sie vielleicht nicht zum Prügelknaben, sondern zum Bügelknaben machen.« Sophie lächelte. »Ich habe einen Witz gemacht«, sagte sie dann. »Haben Sie es gemerkt?« »Ein echter Brüller«, erwiderte Robert. »Vermutlich ist er bei der Übersetzung aus dem Französischen abgesoffen.« Dann fragte er leicht verdutzt: »Soll das heißen, Sie werden mir helfen zu entkommen?« »Ja.« »Es ist vielleicht einfacher, es nur so zu sagen«, sagte Robert. »Weil es die Kommunikation erleichtert.« »Na schön. Wir müssen aus dieser Galerie raus, bevor die Polizei uns festnimmt. Dann müssen wir den – oder die –
wahren Mörder ausfindig machen. Wir müssen das Licht der Wahrheit auf diese abscheuliche Untat richten und Ihren Na men damit reinwaschen.« »Tja, das wäre – aus offensichtlichen Gründen – wunderbar. Es ist unheimlich nett von Ihnen, mir so beizustehen«, sagte Robert aufrichtig. »Ich weiß allerdings genau, dass mir nicht klar ist, wie wir das bewerkstelligen sollen.« »Monsieur Sauná-Spannér hat neben seiner ermordeten Lei che einen Hinweis hinterlassen. Ich glaube, es gibt auch noch andere Hinweise. Dies hier ist sein Büro. Vielleicht gibt es hier irgendetwas, das uns helfen kann. Aber wir müssen uns beeilen. Die Polizei wird uns sehr bald hierher folgen.« »Es ist ein wenig dunkel, um nach Hinweisen zu suchen«, gab Robert zu bedenken. Mit einem leisen Zungenschnalzen betätigte Sophie einen Stromschalter. Elektrizität, der konstante Elektronenfluss von einem Atomkern zum nächsten, eilte gemäß der Gleichung I (gleich Strom) = [dQ/dt] = nevA, wobei dQ die Ladungsmenge ist, die eine Querschnittsfläche im Zeitintervall dt durchströmt, an einem Draht mit dem Durchmesser A entlang. Licht erhellte den Korridor. Robert schnappte nach Luft. Genau gegenüber SaunáSpannérs Büro befand sich ein Wandgemälde: Leonardos berühmtes Letztes Abendmahl. Es reichte vom Boden bis zur Decke. Jesus saß wie die ausgleichende Harmonie in der Mitte hinter der mit Leckereien beladenen Tafel, während seine Jünger rechts und links von ihm herum kasperten und sich nach da und dort wandten. Ein besonders saftig aussehender Kabeljauschecke nahm den Teller gleich vor der Christusgestalt
ein. Die runden Äuglein des Fisches – beziehungsweise der Blick derselben – schienen Robert auf fast gewitzte Weise durch den ganzen Raum zu folgen. Es war nicht gerade ermutigend. »Das letzte Abendmahl«, sagte er. »Ist es das Original?« »Natürlich nicht«, fauchte Sophie. Verdruss blitzte in ihren Veilchenaugen auf. »Das Original befindet sich in der Kirche Santa Maria delle Grazie in Mailand. Das hier ist nur eine Kopie.« »Was für eine Erleichterung«, sagte Robert. »Wenn es das Original gewesen wäre, wäre es sehr schlimm, weil jemand es mit Graffiti verunziert hat.« »Nein!«, schrie Sophie. »Doch, und zwar da!« »Wo?« »Da – auf dem Haar.« »Wo auf dem Haar?« »Genau da.« Robert deutete auf das Graffito, das jemand mit roter Farbe auf die Frisur des sich in der Mitte befindlichen Jesus Christus gekritzelt hatte: 9Θ? 1 Beide schauten es lange Sekunden an. »Was soll es bedeuten?«, fragte Sophie. »Ich hab nicht die Bohne einer Ahnung«, sagte Robert. »Kei nen Anhaltspunkt. Keinen Anhaltspunkt«, wiederholte er die Floskel, als fasziniere ihn besonders das letzte Wort. »Keinen Analpunk. Keinen Anstaltzpunkt. Keinen A …« »Schon gut, schon gut«, sagte Sophie eilig. »Sie haben doch
einen Notizblock. Schreiben Sie es ab. Wir versuchen, später zu dechiffrieren, was es bedeutet.« Während Robert das eigenartige Bilderrätsel auf seinen Block kritzelte, versuchte Sophie die Tür zu Sauná-Spannérs Büro zu öffnen. Sie ging sofort auf. »Gütiger Himmel«, sagte Robert, der an ihr vorbei schaute. Das Büro sah schrecklich aus. Überall auf dem Boden waren Papiere verstreut. Man hatte Bücher aus den Regalen gezogen. Der Schreibtisch war umgekippt. Überall waren Blutflecken zu sehen. Überall war Papier verstreut – oder hab ich die überall verstreuten Papiere schon erwähnt? Nur eins war wichtig: Es sah schrecklich aus. »Riechen Sie das auch?« Sophie schnupperte in der Luft her um. »Es riecht nach Kabeljau. Also wurde der Mord hier began gen. Hier wurde Monsieur Sauná-Spannér überfallen. Man hat ihm seitlich in den Hals geschnitten, und der lange Fisch wurde in seine Kehle gestopft. Er hat sich offenbar gewehrt, doch der Angreifer war stärker als er.« »Aber die Leiche wurde oben gefunden …« »Ja. Obwohl erden Fisch nicht mehr herausziehen konnte und nur noch kurze Zeit zu leben hatte, hat er sich nicht einfach zum Sterben hingelegt. Nein, er hat den Raum verlassen. Ich nehme an, er hat den Finger in sein eigenes Blut getaucht, ist draußen durch den Korridor gegangen und hat diese seltsame Botschaft auf das Wandgemälde des Letzten Abendmahls ge schrieben.« »Aber … warum?« »Er wollte uns etwas mitteilen. Er wollte, dass wir es wissen, aber er wollte es vor seinem Mörder geheim halten. Können Sie
die Botschaft nicht dechiffrieren? Sie sind doch schließlich Fachmann für Codes, Anhaltspunkte, Anagramme, Akrosticha und Kreuzworträtsel.« »Ich denk mal drüber nach, ja?«, sagte Langbeyn fügsam. »Ich bin mir sicher, dass ich die Antwort gleich habe. Ich muss nur mein Hirn ein wenig rumbaumeln lassen. Dann bildet sich die Antwort von selbst. Glauben Sie mir, ich könnte nichts Schlimmeres anstellen, als es zu einer Antwort zu zwingen. Ich brauch nur Zeit, dann fällt es mir schon ein.« »Es ist einfach hoffnungslos«, sagte Sophie und schaute sich um. »Wie das hier schon aussieht. Wie bei Hempels unterm Sofa.« »Warum hat der Meuchelmörder Sauná-Spannér nicht gleich hier kaltgemacht?«, fragte Robert. »Warum hat er sein Opfer aus dem Raum gehen lassen, damit es eine Botschaft an die Wand gegenüber schreiben konnte?« »Er muss geistesabwesend gewesen sein«, sagte Sophie geis tesabwesend. »Vielleicht hat er etwas gesucht«, fügte sie hinzu und durchwühlte die verstreuten Papiere, als suche sie etwas, »das Jacques genug Zeit gab, den Raum zu verlassen. Es hat doch keine Rolle mehr gespielt. Sein Untergang stand bevor.« »Wonach hat er gesucht?« »Nach irgendwas, das gut versteckt war.« Sophie verließ das Büro und schaute sich das Graffito auf dem Wandgemälde an. »Er ist hier, mit dem Fisch in der Kehle, rausgewankt und hat das auf das Wandgemälde geschrieben. Er wusste, dass er keine für jedermann entzifferbare Botschaft hinschreiben konnte, denn dann hätte der Meuchelmörder sie ja gesehen und ver standen. Also hat er die Botschaft codiert. Dann ist er die Trep
pe hinauf, hat seine letzte Nachricht an die Wand der Hauptga lerie geschrieben und ist gestorben.« »Neun-Winzauge-im-Kreis«, probierte Robert aus, der nun neben ihr stand. »Frageauge? Irgendwie passt das alles nicht richtig zusammen.« »Natürlich nicht«, schnurrte Sophie und lehnte sich zu ihm hinüber. »Aber wenn es überhaupt jemand dechiffrieren kann, dann Sie.« Roberts Herz machte in seinem Brustkorb kleine pochende Aussetzer. Schäkerte diese äußerst verlockend aussehende junge Französin etwa mit ihm? Konnte es sein, dass sie ihn anziehend fand? Flogen die Funken? Schnalzte die Chemie zwischen ihnen? War dies etwa der erste Tag vom Rest ihres gemeinsa men Lebens? Konnte es sein, dass man nur eine Minute und ein Mädchen brauchte, um sich zu verlieben? Er hielt inne, denn ihm fielen keine Klischees mehr ein. Also wirklich, Robert, schalt er sich insgeheim. Jetzt schieß aber nicht über dein Ziel hinaus. Beziehungsweise mein Ziel, denn schließlich rede ich mit mir und nicht mit einem anderen. Er schaute auf Sophies wohlproportioniertes Gesicht mit den vollen französischen Lippen und veilchenblauen französischen Augen und stellte sich vor, es auf die Art der Franzosen (Sie wissen schon: mit der Zunge und so … wähhh) abzuküssen. Dann stellte er sich vor, er äße Knüppelbrot. Aus ihm unbe kannten, vermutlich nur seinem Unterbewusstsein bekannten Gründen, dachte er an »Frenchie«, eine Figur aus dem Film Grease. Dann dachte er an Olivia Newton-John. So führte eins zum anderen. Die Nähe dieses hübschen Geschöpfs berauschte ihn – sozusagen.
»Ähm«, sagte Robert schließlich. »Verzeihung, was haben Sie noch mal gefragt?« »Können Sie es dechiffrieren?«, wiederholte Sophie. »Ähm«, sagte Robert. »Das hab ich mir auch schon gedacht«, sagte Sophie spitz. »Tja, wenn Sie es nicht können, gibt es in dieser Stadt vielleicht einen anderen, der es kann. Vielleicht hat Monsieur SaunáSpannér uns sogar einen Hinweis auf eben diese Person gege ben.« Sie deutete erneut auf das Wandgemälde. Neben der Christusgestalt saß Thomas, der eine Hand an sein Gesicht erhoben hatte und mit dem Finger an die Decke deutete. Der sterbende Sauná-Spannér hatte diesem Finger eine einzelne gekrümmte Linie hinzugefügt, wie das Spiegelbild eines Fragezeichens. Es sieht aus, dachte Robert, es sieht aus wie … »Ein Haken!« »Genau«, sagte Sophie. »Zufälligerweise weiß ich, dass ein gewisser Pater Thomas Haken von der Kirche Unserer Lieben Frau mit der Silbernen Waagschale in Bankside ein guter Freund eines gewissen Jacques Sauná-Spannér war.« Das Geräusch von Schritten ertönte. Es polterte das Trep penhaus hinab und kam näher. Das heißt, das Geräusch an sich kam eigentlich nicht näher. Die Schallwellen verblieben einfach in der Luft und damit auch in Sophies und Roberts Gehör. Es blieb an Ort und Stelle, doch die das Geräusch erzeugenden Füße – die kamen wirklich näher. »Kommen Sie«, drängte Sophie. »Pater Haken wird den selt samen Code dechiffrieren können. Wir müssen zu ihm!« Sie zog Robert durch den Notausgang am anderen Ende des kurzen
Korridors und dann über eine Wendeltreppe in die Nacht hinaus.
4 Der Exterminator trat in die klare Nachtluft hinaus. Er hatte sich in dem Bordell so vergnügt, wie sich nur ein Mann vergnü gen kann, der eine erfolgreiche Ausrottung hinter sich hat. Nun musste er neue Aufgaben ausführen, die Welt von weiteren Schädlingen säubern und seine mehr oder weniger heilige Mission fortführen. Vor sich hin kichernd ging er die Straße entlang. Man muss seinem Widersacher immer einen Schritt voraus sein, dachte er. Er ging die Blackfriars Road hinauf – der Blackfriars Bridge entgegen.
5 Robert und Sophie eilten zu Fuß den Strand ∗ hinauf, in die Richtung, in der sich die Kirche Unserer Lieben Frau mit der Silbernen Waagschale befand. In Roberts Kopf wirbelte alles umher. Natürlich nicht im wörtlichen Sinne, das hätte ja viel leicht innere Beulen und Blutergüsse gegeben. Außerdem hätte es bewiesen, dass in seinem Oberstübchen allerhand locker war. Was man aber nicht sagen kann. Soweit ich weiß. Also wirbelte in seinem Kopf alles nur metaphorisch durcheinander. Vor ein paar Stunden hatte er noch im Bett gelegen und unbekümmert und friedlich vor sich hin geschlummert! Seither hatte man ihn an den Tatort eines grässlichen Mordes verbracht; er hatte eine wunderschöne Französin kennen gelernt, war eines Mordes beschuldigt worden und hatte die Kurve gekratzt. »Eigentlich ist es kaum zu fassen«, keuchte er und bemühte sich, an Sophie Nerveuses knackigen Schenkeln zu bleiben. Beziehungsweise an den Schritten, die ihre knackigen Schenkel vollführten. »Ich fass es einfach nicht, dass jemand darauf aus ist, mich in ein Komplott zu verwickeln.« »Jemand«, sagte Sophie. »Oder vielleicht auch eine Organisa tion.« ∗
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Unsere Freunde haben sich nicht aus der Handlung entfernt, um sich an der Küste in einer Sommerfri sche zu verlustieren: Der schon in der Dreigroschenoper erwähnte Strand ist der Name einer Londoner Straße.
»Diese unheimliche Verschwörung«, sagte Robert. »Ja, die, von der Sie mir schon erzählt habe … Sagen Sie mal … ähm … Miss Nerveuse … Darf ich Sie Sophie nennen?« »Na, klar doch.« Sie kamen an der rechter Hand aufragenden Waterloo Bridge vorbei und überquerten die Kreuzung zur Fleet Street. Links lagen der Königliche Gerichtshof, das Appellationsgericht, das Oberlandesgericht und das Gericht der Krone. Sie alle waren in einer schnieken gotischen 1000-Zimmer-Villa untergebracht. Entworfen hatte sie der große viktorianische Architekt George Edmund Street, nach dem auch die meisten Londoner Straßen benannt wurden, unter anderem auch die George Edmund Street Street. Als Robert nach links schaute, sah er die Statuen von Jesus Christus, König Salomon, König Alfred und Moses. Man hatte sie über dem Haupteingang des Gebäudes positio niert. »Sophie«, fragte Robert, »woher wussten Sie eigentlich, dass Sie zur Nationalgalerie kommen mussten, um mir dort zu begegnen?« »Ich war heute Abend mit Monsieur Sauná-Spannér verab redet«, erläuterte Sophie. »Um 10 p.m., in seinem Büro. Ich wollte gewisse Aspekte einer riesigen Verschwörung mit ihm besprechen, von denen ich während meiner Ermittlungen schrittweise erfahren habe. Aber ach! Die Verschwörung hatte Sauná-Spannér schon erwischt. Man hat ihn zum Schweigen gebracht.« »Das erklärt aber nicht, woher Sie wussten, dass die Polizei im Begriff war, mich zu verhaften.« »Wenn man, wie ich, zum Süßetee gehört«, sagte Sophie
hochnäsig, »hat man auch Zugang zu den Frequenzen des Londoner Polizeifunks. So habe ich von dem Mord und dem Vorhaben erfahren, Sie festzunehmen – Sie aus Ihrer Wohnung in Southwark zu holen und an den Tatort zu bringen, um Sie dort zu verhaften. Doch sobald ich davon gehört hatte, wusste ich, dass Sie unschuldig sind! Ich habe mich mit Ihrer Arbeit beschäftigt …« »Ach, wirklich?«, sagte Robert geschmeichelt. »Echt?« »So ist es. Außerdem wusste ich, dass die Verschwörung ei nen Versuch machen würde, jemandem die Sache in die Schuhe zu schieben. Diese Leute würden nie das Risiko eingehen, sich selbst in die Pfanne zu hauen. Und als ich Ihren Namen hörte …« »Was hatte ich doch für ein Schwein, dass es so gekommen ist«, sagte Robert aufrichtig. »Was für ein Schwein.« »Ist doch nicht der Rede wert.« »Nein, wirklich. Es könnte sein, dass heute mein Glückstag ist. In vielerlei Hinsicht.« »Hmm.« »Sophie«, sagte Robert nach einer kurzen Pause. »Darf ich Sie etwas fragen? Sind Sie … Sie wissen schon … gerade mit … ähm … jemandem zusammen? Sind Sie allein stehend?« »Die Kirche«, erwiderte Sophie mit ziemlich eingeübt wir kender Nonchalance, »ist gleich da vorn …«
6 Als Robert und Sophie die Kirche Unserer Lieben Frau mit der Silbernen Waagschale erreichten und in selbige hineinschlüpf ten, war es nach 22.00 Uhr ∗ . »Dies«, sagte Sophie, »ist die Kirche des bewussten Geistlichen. Wir müssen uns unbedingt mit ihm unterhalten, und zwar sofort. Wir können es nicht aufschieben! Auch die Polizei hat eine gute Chance, SaunáSpannérs ›Haken‹-Hinweis zu entziffern. Pater Thomas Haken ist als Kryptologe und Freund Sauná-Spannérs sehr bekannt. Die Polizei könnte jeden Moment hier auftauchen, um auch ihn zu verhören. Vielleicht auch, um ihn in Gewahrsam zu neh men.« »Stimmt«, sagte Robert. »Aber, ähm, warum sind wir eigent lich gekommen, um mit diesem Burschen zu reden?« »Weil er die eigenartige Botschaft dechiffrieren kann, den Sauná-Spannér auf Das letzte Abendmahl gekritzelt hat!« »Ach ja«, sagte Robert. Er schaute sich um. »Dann müssen wir also mit dem Priester reden.« »Ja, sofort«, drängte Sophie. »Suchen Sie ihn.« »Wieso ich? Warum suchen Sie ihn nicht?« »Weil Sie der Code-Experte sind. Sie können ihm sagen, was wir schon wissen. Sie können ihn fragen, was Jacques mit seiner ∗
Das wirklich Mysteriöse an dieser mysteriösen Geschichte sind die Zeitreisen im Laufe eines Abends.
eigenartigen Botschaft gemeint hat. Zeigen Sie ihm die Skizze, die Sie von den Zeichen gemacht haben.« »Stimmt«, sagte Robert. »Ähm … okay.« Er schaute sich in der matt beleuchteten Kirche um und schritt langsam durch das Schiff, was »Innenraum« bedeutet und nichts, wie viele Men schen glauben, mit Seefahrt zu tun hat. Eine ältere Dame trat aus einer großen, an der Gebäudewand aufragenden Kiste und ging zum Ausgang. »Entschuldigen Sie«, sagte Robert höflich. »Ich suche Pater Thomas Haken … Wissen Sie, wo er ist?« »Er nimmt gerade die Beichte ab«, sagte die alte Dame und deutete auf die Kiste, aus der sie gerade gekommen war. »Ach so«, sagte Robert. »Da drin?« »Genau. Die Tür zur Linken.« Sie marschierte von dannen. Sophie kam zu ihm hinüber. »Na los«, sagte sie. »Gehen Sie schon. Gehen Sie rein.« »Da rein?«, sagte Robert. »Da geh ich nicht rein. Ich habe noch nie im Leben gebeichtet. Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen soll.« »Fangen Sie damit an, indem Sie sagen: ›Vater, vergib mir, denn ich habe gesündigt.‹ Und dann erzählen Sie Pater Haken, warum wir hier sind – und machen Sie ihm deutlich, wie wich tiges ist, dass wir uns mit ihm unterhalten können.« »Machen Sie das.« »Nein«, sagte Sophie. »Sie.« »Können wir nicht warten«, sagte Robert leicht missmutig, »bis er rauskommt?« »Wir dürfen keine Zeit verlieren!«, sagte Sophie stur. Sie ver setzte ihm einen Schubs. »Gehen Sie schon.«
Robert ging nervös zum Beichtstuhl hinüber und trat ein. Im Inneren war es, wenn man davon absah, dass er ganz aus dunk lem Holz bestand, fast wie in einem Fotomaten. Statt eines Fotoapparats gab es hier ein vergittertes Fensterchen. Es gab auch keinen Schlitz, durch den man Geld einwerfen konnte, oder irgendwelche Knöpfe oder beschriftete Schilder, die einem sagten, wie man an seine Fotos kam. Aber eigentlich wollte ich nur darauf hinaus, dem Publikum zu sagen, dass es in dem Beichtstuhl sehr eng war und es in seinem Inneren eine schmale Sitzgelegenheit gab. Robert setzte sich hin. Durch das Gitter konnte er den schattenhaften Umriss von Pater Haken erkennen. »Vater, vergib mir, denn ich habe gesündigt«, sagte er, wie Sophie es ihm beigebracht hatte. In Frankreich ist die katholi sche Kirche viel weiter verbreitet als in England, deswegen ist es keine Überraschung, dass sie die Sitten und Gebräuche kannte, die man in einem Beichtstuhl pflegt. »Wie lange ist deine letzte Beichte her, mein Sohn?«, fragte der Priester. »Wie lange?«, sagte Robert leicht verdutzt. »Noch länger, würde ich sagen. Möglicherweise sogar länglich. Aber der eigentliche Grund, aus dem ich hier bin … Ich hab da so ein Schaubildchen.« Er zog sein Notizbuch hervor. »Eigentlich möchte ich mich mit Ihnen über meine Skizze unterhalten.« »Wir unterhalten uns doch schon, mein Sohn. Sprich dir al les von der Seele. Welche Sünden quälen dein Gewissen?« »Sünden?«, raunte Robert. »Ach, ja. Könnten wir vielleicht über etwas anderes reden? Ich habe da eine Skizze, die ich Ihnen zeigen …«
»Sei nicht schüchtern, mein Sohn. Erzähl mir von deinen Sünden.« »Aber wir müssen uns über andere Dinge unterhalten …« »Ich bin hier«, sagte der Geistliche mit fester Stimme, »um dir die Beichte abzunehmen, nicht, um mir irgendwelchen Tratsch anzuhören.« »Sünden«, sagte Robert. »Ach, ja. Wenn ich Ihnen also meine … ähm … Sünden beichte … Können wir danach über etwas anderes reden?« Der Geistliche verfiel urplötzlich in Schweigen. »Was meinst du mit ›etwas anderes‹, mein Sohn? Suchst du etwa nicht um die Vergebung deiner Sünden nach? Immerhin ist dies hier ein Beichtstuhl.« »Aber …« »Mein Sohn«, sagte der Priester, nun noch ernster, »ich spü re, dass du versuchst, dem auszuweichen, was dein Gewissen belastet. Du musst dich ihm ohne Umschweife stellen. Ich möchte mir deine Ausflüchte nicht anhören. Ich möchte deine Sünden hören.« Robert beschloss, eine Sünde zu beichten. Wenn er die Sache hinter sich hatte, wollte er den Priester offen heraus ansprechen. »Okay«, sagte er. »Nun ja, wenn es um Sünden geht, da muss ich … ähm …« Doch sein Kopf war leer. Ihm fiel keine Sünde ein. Er zermarterte sich das Hirn. Welche Sitten pflegte man denn in der katholischen Kirche? Seiner Meinung nach brauch te ihm nur ein klitzekleines Sündchen einzufallen; etwas, das er nutzen konnte, um das Eis zu brechen, um eine Verständi gungsfrequenz zwischen Pater Haken und ihm zu öffnen. Es durfte natürlich nur eine relativ unbedeutende Sünde sein.
Natürlich konnte er, sagen wir mal, keinen Mord in dem Glau ben beichten, damit das Vertrauen des Priesters zu gewinnen. Nein, er brauchte eine verwerfliche kleine Sünde, eine schnelle Beichte und ein ordentliches Gespräch mit dem Priester. Doch in der Panik des Augenblicks fiel Robert keine Sünde ein. Er spielte mit dem Gedanken, zu beichten, er hätte an einem Freitag Fisch gegessen. Aber war es eine Sünde, wenn man freitags Fisch aß? Oder war es eine Sünde, wenn man freitags keinen Fisch aß? Er wusste es einfach nicht mehr. »Sünden«, sagte Robert auf eine Weise, die so wirkte, als su che er nach Worten. »Sünden, Sünden.« »Mein Sohn«, sagte der Priester. Er klang verärgert. »Die Beichte ist ein heiliges Sakrament. Du darfst sie nicht verspot ten. Wenn du mir jetzt nicht deine Sünden beichtest, muss ich dich bitten zu gehen.« »Könnten Sie mir vielleicht einen Anhaltspunkt geben?«, schlug Robert vor. Das Schweigen des Geistlichen war nicht ermutigend. »An haltspunkt?«, sagte er kurz angebunden. »Was meinst du da mit?« »Tja, ich hab mich gefragt, welche Möglichkeiten ich sün denmäßig so habe. Ich meine, wenn Sie mir vielleicht eine schnelle Auflistung geben könnten, die Top Ten vielleicht … Dann könnte ich vielleicht Schlüsse ziehen, die … ähm …« »Hast du je zuvor schon mal gebeichtet, mein Sohn?«, fragte der Priester ernst. »Ja, ja, natürlich. Natürlich!« Robert versuchte ein kurzes, unbekümmertes Lachen, aber das, was er zustande brachte, war alles andere als unbekümmert. Sein Lachen klang, wenn man es
genau nahm, ziemlich bekümmert. »Ha! Ja, natürlich war ich schon mal beichten. Massenhaft oft sogar. Es ist halt nur so, dass ich so viele Sünden begangen habe, dass es mir schwer fällt, eine spezielle herauszusuchen. Könnten Sie mir keine General absolution für alles erteilen?« In Roberts Kopf entstand eine Idee. »Ja, das ist es! Wissen Sie was? Ich beichte alles auf ein mal.« Der Priester schwieg lange. »Alles?«, wiederholte er dann. »Ja, es tut mir schrecklich Leid, Pater, aber ich habe alle Sün den begangen, die es gibt. Können Sie mir die Absolution erteilen? Mir vergeben, meine ich? Eine Pauschalabsolution müsste doch alles abdecken. Und wenn wir das erst mal hinter uns haben …« »Sie sind ja eine völlig verwirrte Seele«, sagte Pater Haken mit ernster Stimme. »Irgendetwas hat Ihren Verstand durchein ander gebracht.« »Beeilung!«, zischte Sophie vom Eingang des Beichtstuhls her. »Robert, beeilen Sie sich. Ich glaube, ich höre schon Poli zeisirenen …« Plötzlich fiel Robert eine Sünde ein. »Ich habe eine«, sagte er aufgeregt. »Ich habe falsche Götzen begehrt. Reicht Ihnen das?« Hinter dem Gitterchen entstand eine unheilschwangere Pau se. »Was hast du getan?«, fragte der Geistliche. »Sie begehrt. Da waren nämlich diese Götzen, und der Drang, sie zu begehren, schwoll in meinem Inneren an. Natür lich hab ich mir gesagt, pass auf, Robert, sei stark, widersetze dich der Verlockung des Begehrens, aber die Verlockung dieser … Dings, dieser, ähm, Götzen, war zu viel für mich.«
»Beeilen Sie sich«, zischte Sophie erneut. »Haben Sie ihm die Skizze schon gezeigt?« »Pater«, sagte Robert drängend, »kriege ich nun die Absolu tion für diese Götzensache? Ich hab's nämlich ziemlich eilig.« »Wer sind Sie?«, bellte der Geistliche wütend. »Was glauben Sie, was wir hier treiben? Und wer setzt sie von außerhalb des Beichtstuhls unter Druck?« Man hörte das Geräusch des sich von seinem Sitz erhebenden Priesters, und kurz darauf war er aus dem Beichtstuhl getreten. Robert nahm an, dass die Beichte damit beendet war. Er trat aus der Kiste und kehrte in das Kirchenschiff zurück. Da stand Pater Haken und schaute Sophie fuchsteufelswild an. »Sie!«, schrie er. »Ich hab doch gesagt, Sie sollen aufhören, mir auf die Nerven zu gehen! Wollen Sie, dass ich die Polizei hole?« »Pater Haken«, flehte Sophie. »Sie müssen mich anhören … Möglicherweise ist Ihr Leben in Gefahr …« Haken wandte sich zu Robert um. »Stecken Sie mit dieser an Wahnvorstellungen leidenden Frau unter einer Decke?« Die Gestalt des Geistlichen war imposant, nämlich groß und breitbrauig. Sein Haar war rabenschwarz, obwohl Raben, wie jeder weiß, gar keine Haare haben, sondern Federn. Sein breites Gesicht wurde von einer massigen pyramidalen Nase be herrscht, über der seine beiden winzigen, fast kreisrunden Augen dicht beieinander standen, als wetteiferten sie miteinan der, sich auf ihrer Spitze niederzulassen, wie das Bild auf dem Illuminatenmonument auf der Rückseite amerikanischer Geld scheine. Ein großes Muttermal befand sich auf seiner Wange. Es wies exakt die gleiche Farbe auf wie seine lange schwarze Souta ne.
»Sie kennen sie?«, fragte Robert. »Und ob ich sie kenne. Ähm … Entschuldigen Sie, Made moiselle, aber ich muss die Wahrheit sagen.« Die Stimme des Geistlichen wurde plötzlich lauter, fast so wie die von Pastor Ian Paisley ∗ – allerdings eines katholischen Ian Paisley. Falls man sich dergleichen überhaupt vorstellen kann. Seine Stimme wurde also lauter. »Sie wühlt auf abscheulichste Weise im Dreck herum! Sie gehört zu den Revolverblatt-Schmieranten, die vom Elend der anderen leben! Eine Zeilenschinderin, die auf sensati onelle Schlagzeilen aus ist und nicht mehr Mitgefühl hat als ein Wiesel!« »Pater Haken«, sagte Sophie flehentlich, »lassen Sie mich doch auch mal was sagen.« »Sie ist Journalistin?«, wiederholte Robert. »Mir hat sie er zählt, sie arbeite für den Süßetee!« »Sie lügt!«, dröhnte Pater Haken. »Sie arbeitet für den Crotte du Diable ∗ – ein abscheuliches Pariser Revolverblatt. Sie rückt mir schon seit Monaten auf die Pelle und blubbert mir beknack ten Blödsinn über bescheuerte Verschwörer zu.« »Na, die war aber toll«, sagte Robert strahlend. »Die … ähm …«, fuhr er fort, wobei sein Lächeln angesichts des sauren Blickes des Geistlichen sichtlich verflachte, »die … ähm … Alliteration, meine ich. Die fand ich wirklich gut.« »Ganz und gar ungewollt«, erwiderte der Priester. »Ich habe zwar keine Ahnung, wer Sie sind, Sir, aber wenn Sie zu diesem ∗
Pastor Ian »Ayatollah« Paisley (*1926) ist ein berühmt-berüchtigter nordirischer Pastor und Politiker. ∗ Für Nicht-Frankophilatelisten: Kot des Teufels
schäbigen Element gehören …« »Mein Name ist Dr. Robert Langbeyn«, sagte Dr. Robert Langbeyn. »Ich komme gerade vom Tatort eines schrecklichen Verbrechens … Professor Jacques Sauná-Spannér, der Kurator der Nationalgalerie … ein Freund von Ihnen, glaube ich?« »Das ist er in der Tat«, erklärte Pater Haken. »Ein guter Freund.« Seine Augenbrauen zogen sich kurz und argwöhnisch zusammen. »Sie kennen Jacques?« »Ach, leider nicht«, sagte Robert. »Er ist tot.« »Tot? Nein!« Pater Haken wankte tatsächlich in absolutem Erstaunen zurück. Seine winzigen kreisförmigen Augen wurden noch kreisrunder. Seine Kinnlade sank herab. »Ich fürchte, er ist es doch. Miss Nerveuse und ich kommen gerade vom Tatort.« »Pater Haken«, sagte Sophie. »Ich weiß, dass wir bis jetzt eine … Reihe unglücklicher Begegnungen hatten. Aber bitte, glau ben Sie mir. Mein Job beim Crotte … ist nur eine Tarnexistenz. Eigentlich bin ich gar keine Journalistin. In Wirklichkeit bin ich, wie ich Dr. Langbeyn schon erklärt habe, Angehörige einer Eliteeinheit innerhalb des Süßetee. Wir untersuchen eine Reihe von Verschwörungen. Dabei fiel der Name Eda Vinci.« Falls es überhaupt möglich war, dass der Priester noch er staunter dreinblickte als beim Hören der Nachricht über SaunáSpannérs Tod, blickte er jetzt noch erstaunter drein. Doch natürlich war es ihm nicht möglich, noch erstaunter dreinzu schauen, da sein Erstaunen über die vorherige Nachricht voll kommen gewesen war. Und so schaute er, statt das Unmögliche zu tun und noch erstaunter dreinzuschauen, einfach nur ebenso erstaunt drein wie zuvor. »Wie Sind sie an diesen Namen ge
langt?«, fragte er leise. »Überzeugt dies Sie, dass ich mehr bin als eine simple Zeilen schinderin bei einem niveaulosen Pariser Revolverblatt?« »Ja, es überzeugt mich«, sagte der Geistliche. »Und der arme Jacques ist tot? Unglaublich. Wer ist für dieses Verbrechen verantwortlich?« »Was die Aufklärung dieses Falles anbetrifft«, sagte Sophie, »hoffen wir, dass Sie uns dabei helfen können.« »Sie hätten besser in die Sakristei gehen sollen«, sagte Pater Haken und deutete auf eine Tür an der Seite der Kirche.
7 Der Exterminator stand vor der Kirche. Die Fassade wurde von einer versilberten Statue der Jungfrau Maria beherrscht, der Mutter Gottes, die die Waagschalen der Justitia hielt. Der Exterminator kicherte vor sich hin. Im Inneren des Gebäudes, wusste er, kauerte das Ungeziefer in seinem Bau und wähnte sich in Sicherheit. Er drückte eine lederne Aktentasche an seine Brust: Sie enthielt das notwendige Werkzeug, um dafür zu sorgen, dass das Ungeziefer die nächste Morgendämmerung nicht mehr erleben würde. Seine Herren hatten ihm Anweisung erteilt. Der Extermina tor dachte nicht daran, auf eine direkte Anweisung seiner Herren mit Ungehorsam zu reagieren. Ungeziefer war nun mal Ungeziefer und musste wie Ungeziefer ausgerottet werden. Mit einem bösartigen Grinsen auf seiner bösartigen Visage trat er über die Schwelle und in das Schiff der Kirche hinein.
8 »Ich musste Sie einfach bitten, in den Beichtstuhl zu gehen«, erläuterte Sophie, als sie in der Sakristei der Kirche Unserer Lieben Frau mit der Silbernen Waagschale saßen. »Denn ich wusste, dass Pater Haken mich erkennen und jedes meiner Worte ins Reich der Mythen verweisen würde.« »Nun ja«, sagte der Geistliche. Seine Hand verschwand hin ter einem Haufen Gegenstände, die Robert sicherlich als Unter hemden beschrieben hätte, und kam mit einer Flasche Whisky wieder hervor. »Sie sind mir aber auch gehörig auf den Senkel gegangen, Mademoiselle.« Er entkorkte die Flasche, füllte den umgedrehten Schraubverschluss mit Whisky und leerte ihn in einem Zug. Diese Prozedur wiederholte er in schneller Folge sechsmal. »Entschuldigen Sie, aber Gläser habe ich nicht. Es wäre auch sehr unpassend, wenn ich in der Sakristei Whiskyglä ser aufbewahren würde. Sakristeien sind nämlich für sakrale Gegenstände da.« Äußerlich erfrischt schraubte er die Flasche wieder zu und verstaute sie hinter dem Unterhemdenstapel. »Ich muss mich entschuldigen, weil ich so ein Quälgeist war«, sagte Sophie. »Aber Sie wissen ja, wie weit die Verschwö rung reicht, und sind über ihre globalen Implikationen im Bilde …« »Nur wenige kennen sich mit der Verschwörung so gut aus wie ich«, erwiderte der Priester. »Ich erforsche ihre verborgenen Geheimnisse nun seit zwei Jahrzehnten. Jacques war während
dieser Suche mein Verbündeter. Im Laufe der Jahre sind wir beide der Wahrheit immer nähergekommen. Jacques hat sogar geglaubt, er hätte das wahre Domizil des Heiligen Grals aufge deckt.« »Der Heilige Gral!«, sagte Sophie. »Was Sie nicht sagen!« »Ich sag's trotzdem.« »Hat Jacques gesagt, wo er sich befindet?« »Leider nicht.« »Wie passt der Heilige Gral überhaupt in diesen Fall hin ein?«, fragte Robert. »Und wer ist diese Frau – diese Eda Vinci, die Sie zuvor erwähnt haben?« »Ich habe Ihnen doch schon erklärt«, sagte Sophie, »dass die se Verschwörung sehr tief geht und viele Aspekte hat. Der Heilige Gral ist einer ihrer Bestandteile: Wenn Jacques das Domizil des allerheiligsten Heiligen Grals kannte … Hat man ihn vielleicht ermordet, um ihn zum Schweigen zu bringen?« »Eine bejammernswert wirkungsvolle Strategie«, sagte der Priester. »Denn nun, da er tot ist, kann er uns nämlich nichts mehr sagen.« »Vielleicht doch!«, meinte Sophie aufgekratzt. »Er hat näm lich am Tatort gewisse Hinweise hinterlassen. Einer dieser Hinweise wurde mit Blut in Jesus Christus' Haarschopf ge schrieben und sieht so aus … Robert, zeigen Sie dem Pater doch mal die Zeichnung von Jacques' Botschaft.« Robert zückte seinen Notizblock, blätterte einige Seiten um und hielt ihn Pater Haken vor die Nase.
Nuseckcn. Nussecken.
Milch
Mikrowellentaugliches Curry (Tikka)
Eier
Speck
Klubausweis nicht vergessen!
»Oh, 'n Momentchen noch«, sagte Robert, als er die Seite sah, die der Priester begutachtete. Er blätterte noch ein paar Seiten um und zeigte ihm dann jene, auf die er die Zeichen übertragen hatte. 9Θ? 1 Der Geistliche begutachtete die Symbole eine ganze Weile. »Nein«, sagte er schließlich und kratzte an seinem Muttermal. »Es sagt mir ganz und gar nichts.« Sophie war geknickt. Sie knickte mit zehn Metern pro Quad ratsekunde ein, was für jeden Gegenstand unter dem Einfluss der Erdschwerkraft ein fatales Tempo darstellt. »Bestimmt nicht? Wir glauben nämlich, dass Jacques gerade Sie als den Menschen auserkoren hat, der diesen Code dechiffrieren kann.« »Wirklich?«, sagte der Priester. Er musterte Sophie trotz al lem noch immer mit einem beträchtlichen Residuum an Miss trauen. »Tja, es sagt mir trotzdem nichts.« »Ich frage mich«, sagte Robert, der sich den Code noch ein mal anschaute, »ob die beiden letzten Symbole zusammen Fragauge bedeuten.« Sophie Nerveuse schaute ihn an. »Und was soll Fragauge
heißen?« »Es heißt eigentlich nichts«, sagte Robert. »Es kommt mir aber sehr Französisch vor. Man muss es nur Französisch aus sprechen: Fratgoosch! Klingt das nicht wie ein typisch französi sches Wort? Vielleicht bedeutet es im Französischen etwas.« »Ich bin zufällig Französin«, sagte Sophie. »Und ich sage Ih nen, dass es so ein Wort in meiner Muttersprache nicht gibt.« »Dann ist es vielleicht Deutsch. Die Deutschen haben in ihrer Sprache auch viele komische Wörter. Zum Beispiel Sockenhal ter.« »Argh«, sagte Pater Haken. »Kommen wir zur Sache.« »Was bedeuten die beiden ersten Elemente?«, fragte Sophie. »Neun sowieso …«, sagte Robert. »Ich weiß es nicht.« »Es gibt nur einen Menschen in London, der das hier de chiffrieren könnte«, erklärte Pater Haken und stand auf. »Sir Herbert Teeboytle. Einer von Jacques' engsten Freunden – und Experte auf diesem Gebiet.« »Kennen Sie ihn?« »Meine Bekanntschaft mit ihm ist zwar nicht gerade von Harmonie geprägt«, sagte der Geistliche kummervoll, »aber die Tragödie von Jacques' Tod wird uns bestimmt in die Lage versetzen, unsere unbedeutenden Differenzen zu vergessen.«
9 Dass Pater Haken Besitzer eines Sportswagens war, fand Robert ziemlich überraschend. »Ich muss oft Hausbesuche machen – Kranke salben, wie man die Letzte Ölung heutzutage nennt, und solche Sachen. Und ein Aston Martin DB-7 kommt einem im Londoner Straßenverkehr gut zupass.« »Ich beschwere mich ja gar nicht«, sagte Robert. »Stimmt. Steigen wir also ein und … Oh, nein!« »Was ist denn?« »Der Wagenschlüssel!« Der Geistliche schaute entsetzt drein. »Ich hänge ihn immer an das Häkchen dort – doch jetzt ist er weg! Jemand hat ihn gestohlen …« »Nein!«, rief Robert. »Es ist ja fast so«, sagte Sophie entsetzt, »als wolle irgendein geheimnisvolles Individuum Sie außer Gefecht setzen, Pater. Um Sie daran zu hindern, die Kirche zu verlassen …« Sie schau te mit wachsamer Erwartung zum Kirchenportal hin …
10 »Ah, nein«, sagte der Geistliche, mit nun etwas weniger aufge regter Stimme. »Da ist er ja! Ich hatte ihn während der ganzen Zeit in der Tasche. Gehen wir also …« Sie verließen die Kirche zusammen und gingen um eine Ecke an die Stelle, an der das flotte Wägelchen abgestellt war. Sobald sie eingestiegen waren und kurz innehielten, um sich, wie das britische Gesetz es verlangt, anzuschnallen, startete Pater Haken den Motor und fuhr los. »Es dauert nicht lange«, verkündete er den beiden hinter ihm sitzenden Passagieren. »Teeboytle wohnt in Blackfriars, wir müssen nur über den Fluss.« »Wer genau ist dieser Teeboytle?«, erkundigte sich Sophie. »Mit vollem Namen heißt er Herbert Alistair Teeboytle Bart.« »Bart ist doch bestimmt auch ein Vorname«, merkte Robert an. »Ich war mal in Amsterdam, da heißen eine Million Männer Bart. Es ist eine Abkürzung von Bartholomäus.« »Nein«, erläuterte Pater Haken. »Bart ist eine Abkürzung für Baronet. Das ist ein britischer Adelstitel. Ein Baronet steht etwas über einem Ritter, aber noch unter einem Baron. Ein Baron ist ein Peer und hat das Recht, im House of Lords zu sitzen. Über dem Baron stehen rangmäßig – von unten nach oben – Viscount, Earl, Marquess und Duke. Dann kommt der Royal Duke und schließlich der Prinz, die Prinzessin, der König und die Königin. Ein Baronet wie Sir Herbert darf aber nicht bei
den Lords rumsitzen. Er wird auch nicht mit ›Lord‹, sondern mit ›Sir‹ angesprochen.« »Und dieser Baronet kann uns helfen, sagen Sie? Wie denn, zum Beispiel?« »Sir Herbert Teeboytle gehört zu Jacques Sauná-Spannérs ältesten und engsten Freunden«, erklärte Pater Haken, wechsel te vom zweiten in den dritten Gang und beschleunigte leicht, als er über die London Bridge fuhr. »Sie stimmten in einer Angele genheit haargenau überein, die sie das Eda-Vinci-Rätsel nann ten.« »Schon wieder dieser Name!« »Ja. Jacques und Teeboytle haben ihn oft am Telefon er wähnt, und Jacques war in Teeboytles Haus regelmäßig zu Gast.« Der Wagen hielt in einer stillen Straße an, nicht weit nörd lich vom Fluss, vor einem beeindruckenden, wenn nicht gar netten Stadthäuschen. Die drei Reisenden entstiegen dem Fahrzeug und arbeiteten sich an die Haustür vor. »Tja, dann klingeln wir mal.« »Bevor wir es tun, noch ein warnendes Wort«, sagte Pater Haken. »Ich habe schon mit Sir Herbert zu tun gehabt. Er leidet an einem unangenehm nervösen Zustand.« »Er ist nerveuse?«, fragte Sophie. »Er ist krank?«, fragte Robert. »Vielleicht trifft beides zu. Aber eigentlich wollte ich sagen, dass die psychiatrische Branche das, woran er leidet, als somati sches Tourettesyndrom bezeichnet. Jemand der vom normalen Tourettesyndrom befallen ist, ist geistig völlig gesund und bei Sinnen. Er kann sich nur nicht dagegen wehren, Obszönitäten
auszurufen. In Teeboytles Fall ist es viel schlimmer. Geistig gesehen ist er ein intellektueller und präziser Mensch, doch wenn er einen Anfall hat, kann er seinen Körper nicht mehr beherrschen und nichts dagegen tun, wenn dieser auf andere einschlägt.« »Wie unangenehm!«, rief Sophie. »Auf gewisse Weise kann Sir Herbert froh sein, dass er Eng länder ist. In manchen anderen Ländern werden Menschen, die am somatischen Toursettesyndrom leiden, nämlich in Heime gesperrt. Doch exzentrisches Handeln – sogar unverlangte Angriffe auf andere Menschen – ist ja ein Teil des englischen Nationalcharakters. Trotzdem müssen wir vorsichtig sein. Wenn er einen Anfall kriegt …« »Verstehe«, sagte Robert. »Außerdem«, sagte der Geistliche, »haben wir uns gestritten. Teeboytle, Jacques und ich wollten das Geheimnis der Eda Vinci eigentlich zusammen lösen. Doch dann wurde Teeboytle paranoid. Er gelangte zu der Überzeugung, ich sei ein Maulwurf und wäre ihnen von einem Mafia-Freimaurer-llluminatenKlüngel untergeschoben worden, um ihn zu meucheln. Er hat behauptet, ich sei ein Geschöpf des reinen Bösen, das sich nur als Priester verkleidet hat – ein ekelhafter Agent der Lasterhaf tigkeit.« »Und? Waren Sie es?«, fragte Robert. »Ich meine, sind Sie es?« »Nein«, sagte der Geistliche. »Recht so. Und trotzdem hat er Sie verdächtigt?« »Hat er.« »Ungefähr so«, warf Sophie süffisant ein, »wie Sie mich ver
dächtigt haben, Pater.« Diesen Worten folgte ein bedeutungsvoller Stillstand. Ich sollte vielleicht klarstellen, dass es kein still stehender Stand war. Der hätte ja auch eher auf einen Marktplatz gepasst. Nein, es war eher eine Pause. Eine Pause, die bedeutungsschwanger klang, als enthielte sie etwas, das vielleicht später erst ans Licht kam. Eine Pause, dass es einem übel werden konnte. »Da haben Sie Recht«, sagte Haken überheblich und schaute über sein beträchtliches Riechorgan auf sie herab. »Ich ent schuldige mich für meine irrtümliche Annahme, dass ich Sie für eine opportunistische Journalistin gehalten habe, nicht für eine Agentin der ekelhaftesten Verschwörung, die die Geschichte Europas je verpestet hat. Nun ja, es geht darum, dass Teeboytle, obwohl er das Herz am rechten Fleck hat, sich möglicherweise seltsam, vielleicht sogar gewalttätig aufführen könnte. Falls er einen Anfall kriegt, gibt's nur eins: Wir müssen ihn bändigen. So jedenfalls hat Jacques es immer gemacht. Rein zufällig habe ich Handschellen bei mir.« Er zog metallene Armbänder aus seiner Soutane. »Vielleicht müssen wir sie einsetzen.« Langbeyn schaute sie sich an. »Sie wissen genau, dass wir keine andere Möglichkeit haben?« »Ich fürchte, es kommt auf Sir Herbert an. Sie müssen mir vertrauen. Was ihn betrifft, so habe ich viel Erfahrung. Aber machen Sie sich keine Sorgen, selbst wenn er einen Anfall hat und gebändigt werden muss, können wir uns wahrscheinlich noch immer auf zivile Weise mit ihm verständigen. Selbst wenn er die Gewalt über seinen Körper verliert und versucht, uns anzugreifen, kann er seine höheren mentalen Einrichtungen noch immer steuern. Dies liegt in der Natur des somatischen
Tourettesyndroms. Früher hat Sir Herbert oft echtes Bedauern darüber ausgedrückt, dass er versuchte, mich sogar in dem Moment mit einem Schürhaken zu erschlagen, in dem er im Begriff war, mich mit einem Schürhaken zu erschlagen.« »Was für eine schrullige Idee!«, sagte Robert.
»Genug geredet«, sagte Sophie. »Die Zeit rast nur so dahin.«
»Ja, die Zeit«, stimmte Robert ihr zu. »Ja. Also klingeln wir.«
Sie gingen die steinernen Treppenstufen zur Sir Herbert A.
Teeboytles schwarz gestrichener Haustür hinauf. An der Tür war ein Schild befestigt, auf dem stand Das Ordnungsamt gibt bekannt: Vorsicht, alter englischer Exzentriker! Diese Bekanntmachung erfolgt auf Anordnung der Justiz Robert drückte den Klingelknopf. Die Klingel machte DingDong-Bong.
11 Nach einer kurzen Weile öffnete sich die Tür und enthüllte Sir Herbert Teeboytle. Er stand im Korridor: Ein kleiner Mann mit einem großen Kopf. Obwohl er nicht so grinste wie sie, glich er den Männern und Frauen, die in Disneyland in Enten- und Mäusekostümen herumlaufen, um den Besuchern den Weg zu weisen. Sein chinchillaartiger Körper war ganz und gar in Tweed gekleidet. Seine Oberlippe führte einen Walross schnauzbart spazieren. Im Gegensatz zu einem echten Walross schnauzbart bestand der von Sir Herbert freilich aus menschli chem Haar. Er hatte wässerige Augen, ein warziges Kinn und einen müden Gesichtsausdruck. Sein Gesicht wurde von einem Monokel zwischen der linken Wange und der linken Augen braue verzogen. »Ja?«, sagte er argwöhnisch und schaute die drei Besucher an. Dann erkannte er Pater Haken, rief »Garuh!« und wollte die Tür wieder zuschlagen. Doch der Priester hatte schon einen Fuß in der Tür. Im wahrsten Sinne des Wortes. Jetzt, wo ich drüber nachdenke, auch im metaphorischen. »Sir Herbert!«, bellte er und bahnte sich einen Weg ins Haus. Sir Herbert wankte in den Korridor zurück, dann nahm er breitbeinig am Fuß der Treppe Kampfposition ein, indem er wie ein Karatekämpfer die Arme ausstreckte. Doch an seiner Haltung war etwas, das nur allzu offensichtlich darauf hinwies,
dass er nicht die geringste Ahnung von Karate hatte. »Bleiben Sie ruhig, Sir Herbert«, rief Pater Haken und streck te abwehrend die Hände aus. »Reißen Sie sich zusammen. Wir sind nur zu einem Gespräch gekommen – nur zu einem Ge spräch. Zu sonst nichts.« »Das glauben Sie doch selbst nicht, Haken!«, erwiderte Tee boytle. »Ya! Garuh!« »Es ist in der Tat kaum zu glauben«, bestätigte Haken und machte sich Teeboytles ironische Bemerkung auf geschickte Weise zunutze. »Das hier sind Dr. Robert Langbeyn von der Universität London und Sophie Nerveuse, eine Gelehrte aus dem Lande Frankreich. Sie erforschen beide die … nun, Sie wissen schon. Sie sind der Wahrheit schon sehr nahe gekom men. Ich habe ihnen vorgeschlagen, Sie aufzusuchen und mit Ihnen zu sprechen. Deswegen sind wir hier. Wir müssen über die … Ereignisse des heutigen Abends reden. Die beiden verfü gen über einen entscheidenden Anhaltspunkt, den möglicher weise nur Sie dechiffrieren können … einen Anhaltspunkt, der uns zu Jacques' wahren Mördern führen könnte.« Teeboytle schien dort, wo er stand, zusammenzusacken. Der emotionale Schlag, den der Tod seines Freundes ihm versetzt hatte, zeichnete sich auf seinen Zügen deutlich ab. »Jacques …«, keuchte er. »Ich fürchte, er ist wirklich tot«, sagte Haken niedergeschla gen. »Ja«, sagte Teeboytle nur und ließ seine Karatehände sinken. »Ich hab es schon gehört. Ich habe es gerade erfahren. Ich war außer Haus. Aber ich hab die Schlagzeilen auf der Ahmdzeitunk gelesen … dass Jacques in seiner eigenen Galerie von jemandem
ermordet wurde …« »Es ist nur zu wahr«, sagte – beziehungsweise stammelte – Sophie. »Eine schreckliche Tragödie.« »Sie waren also aus, was?«, fragte Pater Haken in einem arg wöhnischen Tonfall. »Wo waren Sie denn, wenn ich fragen darf? Irgendwo in der Nähe der Nationalgalerie, hm? Hm?« »Und ich«, sagte Teeboytle aufgebracht, »könnte Ihnen die gleiche Frage stellen, Sie … Sie Priester.« Robert registrierte bestürzt, dass er das letzte Wort wie ein Schimpfwort aussprach, obwohl es Haken korrekt beschrieb. »Wie können Sie es wagen, nur anzudeuten, ich könnte etwas mit Jacques' Tod zu tun haben«, sagte Haken und trat vor. »Er stand mir als Freund am nächsten!« »Er stand auch mir als Freund am nächsten!«, erwiderte Tee boytle scharf. »Ich bitte Sie, meine Herren«, warf Robert ein, denn er wollte versuchen, die Situation zu entkrampfen. »Er kann doch nicht zwei Freunde gehabt haben, denen er am nächsten stand, oder?« Alle im Korridor Anwesenden schauten ihn an. »Wieso denn nicht?«, sagte Sophie spitz. »Was soll das hei ßen?« »Denken Sie doch mal nach«, erwiderte Robert beharrlich. »Die Bezeichnung ›am nächsten‹ kann man nicht übertreffen. Viele Dinge können einem ›nahe‹ sein, aber ›am nächsten‹ ist einem nur eins. Wenn Sir Herbert und Pater Haken beide behaupten, sie hätten dem kürzlich Verstorbenen beide ›am nächsten‹ gestanden, können sie doch nicht beide Recht haben. Verstehen Sie?«
»Ja, ich glaube, ich sehe da einen logischen Lapsus ∗ «, sagte Teeboytle, nun etwas weniger hysterisch. »Es geht nämlich darum, dass Jacques aus meiner Sicht durchaus der mir am nächsten stehende Freund gewesen sein kann – und aus der Sicht des Paters der ihm am nächsten stehende –, ohne dass es einen Widerspruch in diesen beiden Fakten gibt, die Jacques' Sicht betreffen.« Robert dachte eine Weile darüber nach. »Ich glaube, Sie ha ben Recht«, sagte er. »Eben. Gut, dass wir das geklärt haben. Wo waren wir stehen geblieben?« »Wir hatten uns gerade gegenseitig andeutungsweise be schuldigt, Jacques ermordet zu haben«, sagte Haken. »Ja, genau, ja, genau«, sagte Teeboytle erfreut. Dann schrie er: »Wie können Sie es wagen! Ich habe Jacques wie einen Bruder geliebt! Wir wissen doch beide, dass es nur einen gibt, der ihn höchstwahrscheinlich ermorden lassen würde, und zwar die katholische Kirche …« In Robert Langbeyns Hirn ging eine Lampe an. Die katholi sche Kirche. »Ah!«, sagte er. »Natürlich!« Er tippte sich sanft an die eigene Stirn. »Das hat auch in dem Anagramm gestanden: katholische Kirche, katholische Kirche! Das hat er an die Wand geschrieben – dass die katholische Kirche ihn ermordet hat!« Teeboytle schaute Langbeyn an. »Das hat er an die Wand geschrieben?« »Ja«, sagte Langbeyn. ∗
Oder, wie die gebildeten Stände sagen, einen Fehler.
»Das hat die Ahmdzeitunk aber nicht gemeldet.« »Ich glaube, es wird der Öffentlichkeit verschwiegen. Die Po lizei hat mich an den Tatort geholt, deswegen habe ich es mit eigenen Augen gesehen.« Robert kicherte. »Man hat mich sogar dieses Verbrechens beschuldigt! Das muss man sich mal vorstel len!« »Aber … aber … Man hat Sie beschuldigt? Warum denn?« »Tja, in Sauná-Spannérs Kehle steckte ein riesiger Kabeljau. Offenbar hat man auf dessen Schuppen meine Fingerabdrücke gefunden.« Als Robert klar wurde, wie belastend dies in Tee boytles Ohren klingen musste, wollte er ein Lachen in die Runde werfen, um zu illustrieren, wie absurd all dies war. »Da will mir doch ganz eindeutig jemand einen Mord in die Schuhe schieben. Ganz eindeutig.« Teeboytles Augen schillerten plötzlich auf irrsinnige Weise. »Sie!«, keuchte er. »Sie stecken da auch mit drin! Sie stecken alle in dieser Sache drin! Sie haben Jacques alle zusammen ermor det, und jetzt wollen Sie auch mich ermorden! Hilfe! Hilfe!« »Seine Trauer über Jacques' Tod hat ihm den Verstand ge raubt«, sagte Pater Haken sotto voce zu Robert und Sophie. Sotto voce ist Italienisch und bedeutet »leise«. Natürlich sprach er nicht Italienisch mit ihnen, da Robert kein und Sophie ver mutlich kein Italienisch verstand. Es ist halt so, dass die Englän der kein richtiges Wort für »leise« haben, sodass sie es immer irgendwie umschreiben müssen: »… sagte er mit gedämpfter Stimme« oder so. »Legen wir ihm Handschellen an und versu chen ihn zu beruhigen.« »Niemand will Sie ermorden«, sagte Sophie und ging mit ausgestreckten Armen auf den Baronet zu.
»Sir Herbert, wir kennen uns doch seit Jahren«, sagte Pater Haken besänftigend. »Sie müssen uns vertrauen! Wir wollen ermitteln, wer Jacques' Mörder ist. Deswegen sind wir hier – weil Sie uns vielleicht dabei helfen können.« Teeboytle schaute aufgeregt von einem zum anderen, dann veränderte sich sein Verhalten und wurde gänzlich bizarr. Gelassenheit legte sich auf seine Gesichtszüge. Seine Stimme klang völlig ausgeglichen. »Natürlich«, sagte er. »Bitte, ent schuldigen Sie meine übertriebene Reaktion. Es war ein übler Schock für mich, vom Ableben des armen Jacques zu erfahren. Gehen wir doch in mein Arbeitszimmer und trinken ein Glä schen. Dann können wir besprechen, was wir als Nächstes tun. – Ein Gläschen, Haken? Was halten Sie davon?« Haken strahlte. »Das gefällt mir schon besser, mein lieber Freund«, sagte er. »Ich muss schon sagen, es hat mich schon ein wenig beunruhigt, als Sie …« Zwei Geräusche ertönten gleichzeitig. Das eine war eine Art Matsch-Ton, den man eventuell zu hören bekommt, wenn ein Socken voller Eisenmünzen auf eine Wassermelone klatscht. Das andere war eine Stimme, die mit exzessiver Lautstärke sagte: »Vielleicht sogar eine Flasche, Pater? He? He?« Das letztere Geräusch, erkannte Robert, kam aus Teeboytles Mund. Der Adlige war nach vorn gesprungen und hatte Haken eine aus Holz geschnitzte Eule über den Kopf gehauen, die er von einem Regalbrett genommen hatte. Den Bruchteil einer Sekunde lang war Robert fassungslos wegen der Diskrepanz zwischen Tee boytles Worten – dem freundlichen Angebot, seinem Gast ein Glas einzuschenken – und der irrationalen Gewalt seiner Hand lung. Dann verstand er.
»Er hat einen Anfall«, rief er Sophie zu. »Sein Geist hat die Kontrolle über seinen Körper verloren! Wir müssen ihn bändi gen!« Doch Mademoiselle Nerveuse war ihm schon weit voraus. Sie hechtete sich auf die gestürzte Gestalt des Priesters, nahm die Handschellen an sich und wandte sich Teeboytle zu. Der Baronet stellte schon wieder eine eigenartige Diskrepanz zwischen seinen gesprochenen Worten und seinen Taten zur Schau. Zwar sagte sein Mund »Mich verlangt nicht danach, eine Dame zu verletzen!«, doch sein Körper drosch in deutlichem Widerspruch zu dem Gesagten mit der hölzernen Eule in ihre Richtung. »Sophie!«, rief Robert, da er den sich nähernden Schmerz schon im Voraus spürte. »Seien Sie vorsichtig!« Doch Sophie war dem ältlichen britischen Aristokraten mehr als nur überlegen. Mit einer einzelnen eleganten Bewegung tauchte sie unter seinem ausgestreckten Arm hinweg, schlug ihm die Eule aus der Hand, packte seine Ellbogen und drückte seine Hände hinter seinem Rücken aneinander. Obwohl sie kleiner und schlanker war als Teeboytle, bewies sie eine überra schende Muskelkraft. Im Nu hatte sie Sir Herbert die Hand schellen angelegt und ihn ans Treppengeländer gefesselt. Und so sehr er sich auch wehren mochte, nun hing er fest.
12 Sophie ging schnurstracks zum erschlafften Körper des Geistli chen. Robert gesellte sich zu ihr. »Er ist ohnmächtig«, sagte sie und legte ihn bequemer hin. »Er atmet zwar noch, aber er ist ohne Besinnung.« »Ach, wie ich mir wünsche, ihn nicht verletzt zu haben«, sag te Teeboytle, obwohl er in der gleichen Sekunde herumhüpfte und sich von den Handschellen zu befreien versuchte. »Wir sollten lieber einen Krankenwagen rufen«, sagte Ro bert. »Dass es sich so schrecklich entwickelt, habe ich nicht ge ahnt«, sagte Sophie missbilligend. »Wenn wir einen Kranken wagen rufen, können wir auch der Polizei sagen, wo wir sind. Denn dann müssen wir verschwinden, ohne dem schrecklichen Geheimnis näher gekommen zu sein, dessentwegen Jacques ermordet wurde.« »Vielleicht hilft Sir Herbert uns trotzdem«, sagte Robert. Sophie schaute zu Sir Herbert auf. Er war noch immer an das Geländer gefesselt, riss stinksauer und voller Wut an den Hand schellen. »Glauben Sie wirklich?« »Vergessen Sie nicht, was Pater Haken uns erzählt hat: Es ist nur ein Anfall. Obwohl Sir Herberts Körper eindeutig die Beherrschung verloren hat, ist sein Geist klar und gesund. Hakens Beschreibung des somatischen Tourettesyndroms passt auf die Symptome wie die … ähm … Faust aufs Auge.«
»Sie haben mich ans Geländer gefesselt!«, schrie Teeboytle und riss an den Handschellen. »Sie sind mit Handschellen in mein Haus gekommen und haben mich ans Geländer gefesselt!« »Sehen Sie?«, sagte Robert. »Das ist eine freimütige Darstel lung der Tatsachen, das Merkmal eines vernünftigen und deswegen gesunden Geistes.« »Tja, wahrscheinlich«, sagte Sophie skeptisch. »Rufen Sie einen Krankenwagen!«, schrie Teeboytle. Robert schaute zum Telefon im Korridor hinüber. »Schauen Sie mal«, sagte er. »Da blinkt ein Lämpchen. Was hat das zu bedeuten?« Sir Herbert Teeboytle hatte aufgehört, an seinen Fesseln zu zerren, und war offenbar in einen Zustand der Resignation verfallen. »Das ist der Anrufbeantworter«, sagte er leise. »Drü cken Sie das grüne Knöpfchen.« Robert, der sich freute, den Baronet etwas weniger anfällig reden zu hören, tat wie ihm geheißen. Ein Piepsen ertönte und eine mechanische Stimme verkündete: »Sie haben eine Nach richt erhalten. Eingang der Nachricht: Heute, 7.28 p.m.« Dann erfüllte ein Husten den Korridor. Hu-ust! Hust! Hu-ust! Hust! Hu-ust! Hu-ust! Hu-ust! Hu-ust! Hust! Hust! »Jacques!«, schrie Teeboytle und riss erneut an seinen Fesseln. »Das ist doch das Jacques' Husten … Ich würde es jederzeit erkennen! Mein armer Jacques … ermordet! Lassen Sie mich endlich frei … Lassen Sie mich frei! Nehmen Sie mir die Hand schellen ab!«
»Na, hören Sie mal, Sir Herbert«, sagte Sophie. »Ihr Verstand ist ja vielleicht ganz bei Verstand, aber Ihr Körper ist doch wohl jenseits aller geistigen Kontrolle. Sie wissen doch, dass wir Sie nicht freilassen können.« Robert sinnierte schon über die telefonische Botschaft nach. »Er hat angerufen, um Sie anzuhusten?«, sagte er verdutzt. »Das war alles? Warum hätte er das denn tun sollen?« »Er hat gequalmt wie ein Schlot«, sagte Sophie. »Er war be kannt dafür.« »Wie ein Brot?«, keuchte Robert überrascht. »Wie ein Schlot«, korrigierte Sophie. »Aber ist Ihnen über haupt klar, was das bedeutet? Die Nachricht wurde um 7.28 Uhr p.m. hinterlassen! Kurz bevor er ermordet wurde!« »Ermordet!«, schrie Teeboytle und bestätigte Sophies Aussa ge mit einer solchen Lautstärke, dass man fast den Eindruck gewinnen konnte, er sei darauf aus, die Leute auf der Straße zu alarmieren. »Einbruch! Gewalt! Mord!« Und wieder zerrte er wie irre an seinen Fesseln. Robert empfand Verwunderung darüber, dass ein so gründlicher körperlicher Anfall Teeboytles Verstand so gesund erhalten konnte, um die Ereignisse in der Nationalgalerie so prägnant zusammenzufassen. »Aber warum sollte Jacques Sir Herbert anrufen, um ihm et was vorzuhusten?«, fragte Sophie. »Vielleicht konnte er nicht sprechen. Vielleicht steckte der Kabeljau schon in seiner Kehle.« »Mit einem Kabeljau im Hals hätte er auch kaum husten können. Nein, der Anruf muss vordem Mord erfolgt sein.« »Sie meinen …?« »Ich nehme an, dass er dem Meuchelmörder schon begegnet
war. Vielleicht hat er auch mit ihm gerauft. Vielleicht hatte der Mörder da die seitlichen Schnitte an seinem Hals schon ange bracht. Aber es muss vor dem Moment gewesen sein, in dem man ihm den Kabeljau in den Hals stopfte. Sodass er zwar hätte sprechen können, es aber lieber nicht getan hat.« »Tja, vielleicht wollte er nicht sprechen, weil der Mörder mit ihm im gleichen Raum war.« »Also hat er gehustet, um die Botschaft zu übermitteln, damit der Mörder nichts verstand?«, sagte Sophie. »Genial! Doch was hat er gesagt?« »Wie oft hat er gehustet?«, fragte Robert. »Vielleicht ist der Husten eine Art Code. Vielleicht steht jeder Huster für ein Morsezeichen. Was meinen Sie, Sir Herbert? Oder haben Sie irgendwelche Worte aus dem Husten herausgehört?« »Verreckt!«, schrie Sir Herbert außer sich. »Lasst mich frei, ihr Säcke! Verreckt!« Er zerrte an seinen Fesseln und tanzte herum. »Nein, das er hat ganz bestimmt nicht gehustet«, sagte Ro bert. »Das hätte ich doch verstanden … Er hat nur etwa zehn mal Hust gemacht.« »Lasst mich frei!« »Aber auch das sind verdammt viele Buchstaben für eine Nachricht in Morsezeichen«, sagte Sophie. »Beim Morsen bestehen nämlich viele Buchstaben aus drei Elementen – zum Beispiel kurz-kurz-kurz. Und andere erfordern mehr als drei.« »Ja«, sagte Robert. »Deswegen können lumpige zehn Ele mente kaum mehr als drei Buchstaben bilden.« »Drei Buchstaben«, sagte Sophie nachdenklich. »Das sind ja fast weniger Morsezeichen als Leichen.« Robert
grinste sich eins. Sophie wirkte sonderbar unberührt von sei nem Scherz. »Es ist witzig gemeint«, erläuterte er, da er an nahm, dass sein Humor sich nicht aus dem Englischen in ihren französischen Verstand übertragen hatte. »Haben Sie's verstan den?« Er drehte sich zu Sir Herbert um. »Haben Sie's mitge kriegt? Sie haben's doch verstanden, Sir Herbert, oder?« »Verreckt!«, schrie der Baronet erneut und riss an seinen Handfesseln. »Nein, das hat er nie gehustet«, sagte Robert. »Aber die Frage ist: Welche Botschaft wird durch das Husten übermittelt?« »IchmacheuchkaltihrDumpfmeister!« »Nein«, sagte Sophie. »Dafür hätte er viel mehr als zehn Punkte und Striche gebraucht.« »Krepiert!«, schrie der Baronet. »Er ist tatsächlich krepiert«, sagte Robert ernüchtert. »Und wir sind es seinem Gedenken schuldig, seine letzte an uns gerichtete Botschaft zu entschlüsseln.« »Wenn die leiseren, wie ein Räuspern klingenden Huster Punkte darstellen«, meinte Sophie, »und die lauteren, röcheln den Striche sein sollen …« »Natürlich!«, schrie Robert. »Bimmelzerbott, ich glaube, jetzt habe ich es! Und jetzt … Warten Sie einen Moment, ich habe rein zufällig ein Kärtchen in der Tasche, auf dem alle Morsezei chen mit den dazu gehörigen Buchstaben abgedruckt sind.« Er kramte in seiner Tasche herum. »Ah, da ist es ja.«
A •B -••• C -•-• D -•• E• F ••-• G• H •••• I •• J •K -•L •-•• M --
N -• OP •• Q •R •-• S ••• TU ••V •••W• X -••Y -• Z ••
»Spielen wir die Aufzeichnung noch mal ab«, schlug Sophie vor. Robert drückte den Kopf des Anrufbeantworters. SaunáSpannérs Stimme wurde erneut hörbar. Hu-ust! Hust! Hu-ust! Hust! … Hu-ust! Hu-ust! Hu-ust! … Hu ust! Hust! Hust! »Genau«, sagte Robert und begutachtete das Kärtchen. »Tja, lang-kurz-lang-kurz ist ein ›C‹ …« »Ja«, stimmte Sophie ihm zu, die über seine Schulter blickte. »Und lang-lang-lang bedeutet ›O‹.« »Tja, wie man in Morsezeichen ein ›O‹ schreibt, weiß jeder«, sagte Robert süffisant. »Weil es der mittlere Buchstabe beim SOS ist, nicht wahr? Das weiß doch jeder.«
»Und lang-lang-kurz ist ein ›D‹.« »Sapperlot! Das heißt ja COD!« Robert schaute äußerst selbstzufrieden drein. Dann runzelte er die Stirn. »Die Waffe, mit der er ermordet wurde? ∗ Es ist aber unnötig, uns zu sagen, dass man ihn mit einem Kabeljau ermorden wollte … und auf eine so indirekte und umständliche Weise sowieso. Es ist doch unlogisch. Warum sollte sich ein im Sterben liegender Mensch die Mühe machen, die Buchstaben C-O-D in Morsezeichen zu husten? Er hätte sie doch ebenso gut aussprechen können.« »Aber woher wissen wir, ob wir die Pausen zwischen den Hustern richtig setzen und ob Jacques sich nicht zwischendurch verschluckt hat? Angenommen, der erste Buchstabe besteht aus lang-kurz-lang? Dann wäre es ein ›K‹. Anschließend hat er sich verschluckt – einmal kurz und einmal lang –, dann folgt langlang-lang, also ›O‹, und kurz-kurz, was ein ›I‹ wäre.« »KOI?«, fragte Robert. »Was ist das?« »Eine Karpfenart.« »Ähm«, sagte Robert nachdenklich. »Dann könnte es also Kabeljau oder Karpfen heißen. Beides sind Fischarten.« »Ja, aber sehr unterschiedliche Fischarten«, sagte Sophie und schüttelte hochnäsig den Kopf. »Der Kabeljau gehört zur Fami lie der Paracanthopterygii, zu der auch der Krötenfisch, die Forelle und der Flussbarsch gehören. Der Karpfen gehört einer ganz anderen Familie an, den Ostariophysi, zu denen fast sechstausend verschiedene Karpfenarten sowie Elritzen, ∗
Um Irritationen vorzubeugen, dürfte es nun an der Zeit sein, dem der englischen Sprache nicht mächtigen Leser nahe zu bringen, dass Kabeljau in der Sprache der Angelsachsen Cod heißt …
Schmerlen und Welse zählen.« Robert schaute sie eine Weile offen bewundernd und körper lich begehrend an. »Wie erstaunlich! Woher wissen Sie bloß so viel über Fische?« »Ach, das Wissen ist mir irgendwie zugeflogen«, erwiderte Sophie errötend. »Während meines geschäftigen und abenteu erlichen Lebens.« Sie errötete auf äußerst anziehende Weise. Robert ertappte sich bei dem Wunsch, er könne etwas tun, um das Erröten ihrer Wangen auf irgendeine Weise öfter hervorzurufen – vielleicht indem er etwas Peinliches oder Beleidigendes tat? Doch jetzt, ermahnte er sich, ist nicht der richtige Augenblick für romanti sche Spekulationen. Vielleicht später … »Es bringt uns aber auch nicht näher an des Rätsels Lösung heran«, sagte er. »Vermutlich wollte Monsieur Sauná-Spannér das Wort Cod auf eine solche Weise aussprechen, die der Mörder, selbst wenn er es hörte, nicht verstehen konnte«, sagte Sophie. Robert klopfte ihr auf die Schulter. »Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte er und – hoffentlich – nicht allzu sehr von oben herab. »Im Allgemeinen würde ich sagen, dass Sie die englische Sprache sehr gut und fließend beherrschen, aber das englische Wort lautet in diesem Fall ›Mister‹ – nicht ›Monsi eur‹.« Sophie schaute ihn mit finsterer Miene an. »Das weiß ich.« »Nun«, sagte Robert. »Ich wollte es nur gesagt haben. Wenn niemand Ihr Englisch korrigiert, werden Sie es auch nie weiter entwickeln. Mir ging es nur darum, darauf hinzuweisen, dass es korrekter gewesen wäre, ›Mister Sauná-Spannér‹ zu sagen. Mehr
wollte ich nicht sagen.« »Glauben Sie wirklich, das Wort ›Mister‹ wäre mir nicht ge läufig?«, fauchte Sophie. »Für wie doof halten Sie mich?« »Für eine sehr attraktive und verführerische Doofe«, sülzte Robert. Dann überdachte er, was er gerade gesagt hatte, und zog den Schluss, dass seine Worte vermutlich nicht den Effekt erzielten, den sie hatten erzielen sollen. In seinem Kopf hatten sie, bevor er sie ausgesprochen hatte, witzig und entwaffnend geklungen. Doch irgendwie hörten sie sich doch ziemlich von oben herab und eventuell sogar beleidigend an. »Tja, ähm, nun«, fügte er in einem flinken Versuch hinzu, die Lage zu retten, »eigentlich wollte ich damit sagen, dass ich Sie ganz und gar nicht für doof halte. Sie sind nicht doof. Sie sind das Gegen teil einer Doofen, was immer dies auch sein mag. Ein kluges Kind. So ungefähr sehe ich Sie. An Ihnen ist, um es noch mal zu wiederholen, nichts Doofes. Obwohl der attraktive und verfüh rerische Teil meiner Aussage noch immer gilt. Und … ähm … als ich eben ›kluges Kind‹ sagte, wollte ich damit nicht etwa andeuten, dass Sie kindlich wirken. Kindisch schon gar nicht, ha, ha!« Doch sein Gelächter klang unglaublich gezwungen. »Allem Anschein nach«, sagte er nun mit ernsthafterer Stimme, »bin ich drauf und dran, mich um Kopf und Kragen zu reden … Eigentlich wollte ich nur sagen … Tja, hören Sie, Sophie, eins wollte ich Sie schon lange fragen: Es sieht zwar so aus, als hätte das Schicksal uns zusammengeworfen, aber ich kann nicht glauben, dass ich mich irre, wenn ich eine gewisse … Wie lautet noch mal das französische Wort dafür? Können Sie mir helfen? Ich spüre einen gewissen Rappaport.« »Rapport«, korrigierte Sophie ihn eisig.
»Ja. Genau. Oder … Was hab ich denn gesagt?« »Sie haben den Namen des berühmtesten britischen Zwer gendarstellers genannt.« »Ach, wirklich? Habe ich es wirklich getan? Na, das ist aber interessant. Denn das, was ich Ihnen sagen möchte, ist nämlich in keiner Weise zwergig. Natürlich hab ich nichts gegen Zwer ge. Ich bin sogar der Meinung, dass es nicht sehr höflich ist, Zwerge als Zwerge zu bezeichnen. Eigentlich sollte man ja ›Menschen von beschränkter Körpergröße‹ sagen. Aber das kann ja jeder halten wie ein Dachdecker.« Robert räusperte sich; er wurde mit jeder Sekunde nervöser. »Eigentlich geht es mir um eine Sache, über die ich, auf der Grundlage unseres Rappa port, schon seit langem nachdenke … Tja, ich möchte Sie fragen: Hätten Sie nicht mal Lust, mit mir auszugehen? Wir könnten damit anfangen, dass wir irgendwo in einem netten Restaurant ein gemeinsames Essen planen und von da aus weitersehen … Was sagen Sie dazu?« Sophie schaute ihn gerade an und sagte: »Lang-kurz, langlang-lang.«
13 Der körperliche Anfall des Baronet schien ein wenig abgeflaut zu sein. Er hatte die Handschellen am Geländerpfahl nach unten gleiten lassen und sich, finster vor sich hin blickend, am Fuß der Treppe hingesetzt. Robert glaubte, dass sein Ge sichtsausdruck Trauer über das Ableben seines Freundes aus drückte. »Wissen Sie, warum Sauná-Spannér Ihnen diese eigenartige Botschaft hat zukommen lassen, Sir Herbert?«, fragte er. »Er war mein Freund«, erwiderte Sir Herbert Teeboytle mit elend klingender Stimme. »Ja, ja«, sagte Robert ungeduldig. »Aber dafür haben wir jetzt wirklich keine Zeit. Wir müssen die Hinweise dechiffrieren! Warum sollte er Ihnen C.O.D. vorhusten?« »Lassen Sie mich bitte frei«, flehte Teeboytle mit Tränen in den Augen. »In meinem eigenen Haus! Sie platzen einfach hier rein, greifen mich an, fesseln mich an mein eigenes Treppenge länder …« »Schauen Sie sich erst mal an, was Sie Pater Haken angetan haben!«, rief Sophie. »Er ist besinnungslos!« »Er ist gekommen, um mich zu ermorden«, sagte Teeboytle. »So wie er Jacques ermordet hat.« Robert brachte seinen Unglauben mit dem Wörtchen »Pap perlapapp!« zum Ausdruck. Er hatte es schon sehr oft in Bü chern gelesen. Der Klang dieses Wortes gefiel ihm; er wartete
seit Jahr und Tag auf eine Gelegenheit, es auszusprechen. Und dies war die perfekte Gelegenheit. »Papperlapapp!«, sagte er kopfschüttelnd. Leider war er viel zu ungeübt, um einen so komplizierten Terminus glatt über die Lippen zu bringen, deswegen klang es eher wie »Der Appel is ab«, was wiederum nach ziemlich zusammenhanglosem Geschwafel klang. Teeboytle und Sophie schauten ihn jedenfalls an, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank. »Eins kann ich überhaupt nicht verstehen«, sagte Sophie und wandte sich wieder dem Baronet zu. »Wieso sind Sie nur so fest davon überzeugt, dass Pater Haken Sie ermorden wollte?« »Wer ist dieser Appel, den Sie eben erwähnt haben?«, erkun digte sich Teeboytle. »Tut mir Leid«, sagte Robert. »Ich hab mich nur verspro chen. Ich wollte eigentlich gar nicht Appel sagen.« »Das ist doch jetzt egal«, sagte Sophie drängend. »Sagen Sie, warum sind Sie so fest davon überzeugt, dass Pater Haken Sie heiraten wollte?« »Mich heiraten?« »Nicht heiraten – ermorden.« »Sie haben aber heiraten gesagt«, sagte Teeboytle. »Hab ich das?«, sagte Sophie. »Wirklich? Das muss dann ein Freudscher Versprecher gewesen sein. Ich habe ›ermordet‹ gemeint.« »Ah«, sagte Robert. »Ein Freudscher Versprecher. Wirklich? Einer jener Anlässe, die der große österreichische Psychoanaly tiker Sigmund Freud, von dem wir alle wissen, dass er 1856 in Wien geboren wurde und 1939 in London starb, erstmals zur Sprache brachte – bei dem das Unterbewusstsein auf raffinierte
Weise das, was wir sagen wollen, in das verändert, das wir zwar nicht sagen wollen, tatsächlich aber meinen?« »Ja«, sagte Teeboytle. »Einer von denen.« »Das ist aber meiner Meinung nach ein sehr interessanter Freudscher Versprecher«, äußerte Robert seine Meinung. »Die Verwechslung von ›Mord‹ und ›Hochzeit‹. Ich würde sagen, das ist schon sehr aufschlussreich.« Sophie stampfte mit dem Fuß auf. »Mir reicht's! Wir haben keine Zeit für derlei Spielchen! Sagen Sie, Sir Herbert, warum sind Sie so fest davon überzeugt, dass Pater Haken Sie ermorden will?« Teeboytle schaute schmollend zu Boden und zog die Kette seiner Handschellen am Geländerpfosten auf und ab. »Die katholische Kirche«, murmelte er, »macht vor nichts halt, um Forscher unserer Art zum Schweigen zu bringen. Wir stehen kurz davor, das größte Geheimnis der letzten zweitausend Jahre aufzudecken … Ein Geheimnis, das die Kirche in den Grund festen erschüttern wird. Natürlich ist sie darauf aus, uns daran zu hindern … und zwar mit allen dazu nötigen Mitteln.« »Aber … auch mit Mord?«, hauchte Robert entsetzt. »Mord ist doch eine ziemliche böse, böse Sache. Vermutlich ist Mord sogar eine Sünde. Ja, je länger ich darüber nachdenke, desto mehr gelange ich zu der Überzeugung, dass Mord tatsächlich eine Sünde ist.« »Ja, glauben Sie denn, das kümmert die, wenn ihre ganze E xistenz auf dem Spiel steht?« »Aber warum Kabeljau?«, erkundigte sich Sophie. »Ich ver stehe nicht, wie der ins Bild passt.« »Jacques und ich haben über ein gewisses … Gemälde gere
det«, sagte Teeboytle. »Er hat behauptet, er sei nach langem Suchen und schwierigen Verhandlungen in seinen Besitz ge langt und hätte es irgendwo in seiner Galerie versteckt.« »Die Mona Eda …«, keuchte Sophie. Nun blickte Teeboytle auf. »Was wissen Sie denn über die Mona Eda? Wie können Sie überhaupt etwas über sie wissen?« »Weil ich eben auf der gleichen Spur war, Sir Herbert!«, platzte Sophie heraus. »Die Mona Eda ist mein Lebenswerk!« »Ich dachte, nur Jacques und ich wissen …«, sagte Sir Her bert rasselnd. Die Gefühle schienen ihn nun zu übermannen. »Dann befindet sich das Bild also in der Nationalgalerie?«, sagte Sophie über alle Maßen aufgeregt. »Ist es … auch jetzt dort?« »Ich weiß nicht genau«, sagte Teeboytle. »Jacques wollte mich eigentlich heute Abend anrufen, um mir zu sagen, ob es ihm gelungen wäre, es in die Galerie zu schmuggeln. Doch nun ist er ermordet worden.« Teeboytle sackte wieder in sich zu sammen. »Doch zuvor hat er Ihnen seine letzte Botschaft übermittelt«, erinnerte Sophie ihn. »Cod – Kabeljau. Warum hat er Ihnen das gehustet?« »Ich weiß es nicht«, sagte Teeboytle mit elend klingender Stimme. »Ich habe wirklich keine Ahnung.« »Sagt es Ihnen denn gar nichts?« »Überhaupt nichts.« »Ich nehme an«, warf Robert ein, der gern behilflich sein wollte, »er hatte nicht die Zeit, ›Ich-habe-das-Bild-erfolgreich in-die-Galerie-geschmuggelt‹ zu husten.« Er zückte die Karte mit den Morsezeichen. »Das hätte sich dann nämlich so ange
hört …« Und er fing an zu husten: Hu-ust! … Hust!-Hust!-Hust-Hust! … Hust! … Hust! Hu-ust! Hu-ust! Hust! … Hust-Hust! … Hu-ust! Hust! Hu-ust! Hust! ∗ Sophie beachtete ihn nicht. »Es muss etwas bedeuten«, sagte sie zu Teeboytle. »Sie haben darauf gewartet, dass Jacques anruft, um zu bestätigen oder zu dementieren, dass es ihm gelungen ist, die …« Sie konnte nicht verhindern, in offenem Unglauben und absoluter Verblüffung den Kopf zu schütteln. »… dass es ihm tatsächlich gelungen ist, die originale Mona Eda in die Hände zu kriegen?« »So ist es«, sagte Sir Herbert und ließ elend den Kopf hängen. »Tja, wenn wir annehmen, dass er diese Worte nicht offen aussprechen konnte, weil der Mörder mit ihm im gleichen Raum war … Wenn er davon ausgehen musste, dass der Mör der ihm den Hörer aus der Hand reißen würde, und er mithin nicht genug Zeit hatte …« Im Hintergrund hustete Robert: »Hust-Hust! … Hu-ust! Hust! … Hu-ust! … Hust-Hust-Hust-Hust! … Hust! …« »… muss das einzige Wort, das er geäußert hat, etwas bedeu ten«, schloss Sophie. »Denken Sie nach! Er wollte, dass Ihre ∗
Der geneigte Leser, der mittels in diesem Büchlein abgedruckten Morse zeichentabelle in Erfahrung bringen möchte, welche Botschaft Dr. Robert Langbeyn hier konkret verbreitet, möge bitte berücksichtigen, dass er natürlich in seiner Muttersprache hustet.
Ohren es hören … COD. COD, Sir Herbert! Überlegen Sie! COD! COD! Überlegen Sie! COD! Überlegen Sie!« »Aber es sagt mir überhaupt nichts!«, rief der Baronet mit gequälter Stimme. »Abgesehen von …« »Abgesehen von?« »Hust! … Hust! Hu-ust! Hust! … Hu-ust! Hust! Hu-ust! Hu ust!«, beendete Robert seinen Vortrag und steckte das Kärtchen mit den Morsezeichen ein. »Und das«, fügte er, mit leicht kratziger Stimme hinzu, »hätte natürlich viel zu lange gedau ert.« Er erzeugte Geräusche wie eine Fellbällchen erbrechende Katze. »Arrhh!«, keuchte er heiser. »Ich glaube, ich habe mir eine wunde Kehle geholt.« »COD«, bellte Sophie. »Es kann nur eines bedeuten«, sagte Sir Herbert. »Aber wenn Sie von der Mona Eda wissen, müsste Ihnen auch dies bekannt sein.« »Sie meinen …?« »Ja, nichts anderes als die C.O.D. – die Conspiratio Opi Dei.« »Nein!«, keuchte Sophie. »Doch«, erwiderte Sir Herbert. »Was für 'n Ding?«, fragte Robert. »Es ist eher eine Legende als ein Fakt«, erläuterte Sophie. »Die größte Verschwörung aller Zeiten. Conspiratio Opi Dei. Die Verschwörung des Werkes Gottes. Die katholische Kirche ist nur eine von mehreren Tarnorganisationen dieser uralten finsteren Clique. Sie müssen wissen, dass Konspiration – so lautet das lateinische Wort für Verschwörung – ursprünglich zusammen atmen bedeutete: eine Versammlung von Seelen. Erst später gewann das Wort die eher negative Assoziation zum
geheimen Intrigantentum, das sich zu einem bösartigen Zweck verschworen hat.« »Die katholische Kirche ist nur eine Tarnorganisation dieser speziellen Verschwörung?«, fragte Robert völlig baff. »Das ist aber eine schwerwiegende Behauptung.« »Nicht nur die katholische Kirche«, sagte Sir Herbert leise. »Sämtliche Verschwörungen der Welt sind Masken, die die C.O.D. sich absichtlich aufsetzt, um ihre Existenz zu verschlei ern. Indem die Menschen sich damit beschäftigen, die Illumina ten, die Freimaurer oder die Mafia zu jagen, werden sie von den wahren Geheimmächten dieser Welt abgelenkt.« »Die Mafia?«, sagte Robert. »Die steckt da auch mit drin?« »Eine zutiefst gläubige Organisation und seit altersher eine Filiale der katholischen Kirche«, bestätigte Sophie. »Früher hat das jeder gewusst, doch inzwischen ist es der Mafia erfolgreich gelungen, ihre Herkunft zu verschleiern.« »Die Mafia?«, wiederholte Robert. Er konnte es nicht fassen. »Wissen Sie das genau? Ich habe nie gehört, dass die Mafia eine gläubige Filiale der Kirche ist … Sind Mafiosi nicht eher … Sie wissen schon … Italiener, die teure Anzüge tragen, Menschen erschießen und alle naselang«, – er führte die Fingerspitzen seiner rechten Hand aneinander und wedelte mit dem Arm – »so was hier tun? Das ist doch die Mafia, oder? Das organisierte Verbrechen?« »Tja, genau das meine ich«, sagte Sophie. »Das sind alles nur vorgefasste Meinungen. In Wirklichkeit haben Sie, was die Mafia angeht, überhaupt keine Ahnung. Alles, was Sie wissen, wissen Sie aus Filmen wie Der Pate oder aus Fernsehserien wie Die Sopranos. Diese Darstellungen sind absichtlich so angelegt,
dass sie die Menschen auf eine falsche Fährte locken. Die Wirk lichkeit ist ganz anders. Wissen Sie, woher der Name Mafia kommt? Wissen Sie, was er bedeutet?« »Ich habe gehört, es sei ein Akronym für ›Mothers and Fathers of Italian-American Origin‹ ∗ «, sagte Robert. Sir Herbert erzeugte ein verächtliches Geräusch. »Dann hie ße der Verein ja Mafoiao«, meinte er. »Das kann man ja kaum aussprechen.« »Mafia«, sagte Sophie, »bedeutet mein Glaube – ma-fia. Es ist eine geistliche Festlegung und stammt aus der Frühzeit des Papsttums und der katholischen Kirche. Doch das besagt nur, dass sie eine Erscheinungsform einer viel weiter verbreiteten Geheimorganisation ist. Ihre Fangarme sind überall – in Holly wood, wo die Paten-Filme gedreht wurden. In der NASA, wo man die Mondlandungen gefälscht hat. Hier in Britannien, wo das Königshaus uns in ihrem Auftrag laufend Schmierenkomö dien vorführt.« »Soll das heißen, die Angehörigen der Königsfamilie sind Schauspieler?« »Schauspieler? Nein, das nicht. Aber sie gehören einer schleimigeren Spezies an als jedes andere britische Fürstenhaus … Die Theorie mit den Schauspielern ist auch nicht sooo weit von der Wahrheit entfernt.« »Es ist unfassbar!« »Es ist so offensichtlich!«, rief Sophie aufgeregt. »Natürlich … das erklärt alles! Die C.O.D. steht hinter dem Mord an Jacques Sauná-Spannér!« ∗
Mütter und Väter italienisch-amerikanischer Abstammung
»Ich fürchte, Sie haben Recht«, sagte Sir Herbert. »Jacques ist irgendwie in den Besitz der originalen Mona Eda gelangt. Die Conspiratio hat davon erfahren und ihn ermordet, bevor er es der Welt enthüllen konnte.« »Die Conspiratio hätte sicher die Macht, die Nationalgalerie zu infiltrieren.« »Um es mir dann anzuhängen?«, warf Robert ein. »Hätten sie diese Macht auch?« »Die hätten sie bestimmt«, sagte Sophie. »Sie beherrschen die meisten großen Computerfirmen, und auch die meisten Unter nehmen, die sich mit Genmanipulation beschäftigen. Es war gewiss eine Kleinigkeit für sie, an Ihren Fingerabdruck ranzu kommen, Robert. Dann haben sie einen Kabeljau genetisch so modifiziert, dass jeder seiner Schuppen Ihren Fingerabdruck auf seiner Hautpapille reproduziert und den Fisch als Mordwaf fe eingesetzt … um Sie in diesen Mordfall zu verwickeln.« »Aber warum mich?« »Vielleicht wollten sie zwei Fliegen mit einer Klappe schla gen. Vielleicht sind Sie diesen Leuten bei Ihren Forschungen zu nahe gekommen?« »Yeah«, sagte Robert. »Genau.« »Es spielt kaum eine Rolle, wem sie es in die Schuhe schie ben«, sagte Teeboytle. »Für die ist nur eins wichtig – sie wollen die Aufmerksamkeit von sich ablenken. Wenn ein Mord zu genau untersucht wird, könnte vielleicht ein Lichtstrahl in das Dunkel fallen, in dem sie sich verstecken … Da ist es doch viel besser, sie geben der Polizei ein scheinbar wasserdichtes Indiz, das Dr. Robert Langbeyn zum Killer macht.« »Wasserdicht!«, sagte Robert grinsend. »Das gefällt mir!«
Seine beiden Gefährten guckten ihn überrascht an. »Na, Sie wissen schon … Fischschuppen – und wasserdicht.« Dann fügte er etwas leiser hinzu: »Oh, ich dachte, Sie machen einen Witz.« »Kaum«, sagte Sir Herbert. »Mein bester Freund ist ermordet worden. Dies ist wirklich nicht die Zeit, um Witze zu reißen.« »Ach«, sagte Robert. »Nein, wirklich nicht. Schade.« »Jacques Sauná-Spannér ist tot«, sagte Sophie. »Aber viel leicht ist die Mona Eda noch in der Galerie. Dann ist es mögli cherweise noch nicht zu spät.« »Der Mörder – wer es auch ist – hat das belastende Bild be stimmt aus der Galerie entfernt«, sagte Sir Herbert kopfschüt telnd. »Vielleicht – vielleicht aber auch nicht! Angenommen, Jacques hat es versteckt? Und zwar so gut, dass der Mörder es nicht gefunden hat?« »Aber wenn er es nicht finden konnte«, sagte Sir Herbert. »Wie kommen Sie darauf, dass wir es finden?« »Wir haben etwas, das der Mörder nicht hatte«, sagte Sophie triumphierend. »Wir haben Jacques' letztes Wort. Wir haben COD!« »Glauben Sie, dass dies mehr ist als Jacques' Art, seinen Mör der zu identifizieren?«, fragte Sir Herbert. »Sie glauben, es könnte ein Hinweis auf das Versteck der Mona Eda in der Nationalgalerie sein?« »Ja.« »Mona Eda?«, fragte Robert mit einem Gesichtsausdruck, der in etwa dem eines Hundes ähnelte, der sich verlaufen hat, und nun einen Wegweiser betrachtet. »Das habe ich jetzt schon mehrmals gehört. Was ist das eigentlich genau?«
»Für eine Erklärung haben wir jetzt keine Zeit, Robert«, sagte Sophie. »Ich erzähle Ihnen alles auf dem Weg zur Galerie.« »Wir gehen zur Galerie?« »So schnell wie nur möglich. Wir müssen in Erfahrung brin gen, ob das Bild dort ist oder nicht.« »Aber es ist zwei Uhr morgens!« »Wir müssen einen Weg finden, um da reinzukommen. Not falls müssen wir eben einbrechen.« »Warten Sie!«, rief Sir Herbert. »Was wird aus mir? Sie kön nen mich doch nicht hier lassen!« Sophie schaute den Baronet lange und durchdringend an. »Wenn wir Ihnen die Handschellen abnehmen sollen, müssen Sie versprechen, dass Sie uns nicht angreifen.« »Ich verspreche es.« »Können wir das Risiko eingehen?«, fragte Robert besorgt. »Ich meine … Schauen Sie sich an, was er mit Pater Haken gemacht hat.« Alle schauten die am Boden ausgestreckte Gestalt des Geistlichen an. Man hörte ihn atmen. Eigentlich klang es eher so, als schnarche er. »Aber ich dachte doch, Sie wollten mich angreifen«, sagte Sir Herbert sanft. »Ich habe mich nur verteidigt.« »Ah«, sagte Robert und wies auf den Fehler in der Logik des Baronet hin. »Aber wir haben Sie doch gar nicht angegriffen. Verstehen Sie? Verstehen Sie, wo Sie sich geirrt haben?« »Jetzt verstehe ich es natürlich. Aber ich hatte doch gerade erst erfahren, dass mein bester Freund ermordet wurde – weil er dem Geheimnis der C.O.D. zu nahe gekommen war. Und ich wusste, dass die wussten, dass die C.O.D. wusste … und außer dem, dass die wussten, was ich wusste. Was die auch wussten.
Ich musste einfach mit einem Mordversuch rechnen. Da verste hen Sie doch gewiss, dass ich nervös war.« »Okay«, sagte Robert leicht skeptisch. »Außerdem«, fuhr Teeboytle fort, »bin ich hinsichtlich Pater Haken noch immer nicht ganz sicher … Wie gut kennen Sie ihn überhaupt? Woher wissen Sie, dass Sie ihm vertrauen können? Er ist schließlich Priester.« »Nicht alle Angehörigen der katholischen Kirche sind auch Mitglied der Conspiratio«, erläuterte Sophie. »Tatsächlich weiß nur eine kleine Elite von der Existenz der C.O.D. Ich bin mir sicher, dass Haken unschuldig ist.« »Das ist jetzt ohnehin nebensächlich«, sagte Sir Herbert. »Er ist doch besinnungslos.« »Ich ruf lieber einen Krankenwagen«, sagte Robert.
14 Nachdem sie eine Ambulanz gerufen und Sir Herbert von den Handschellen befreit hatten, stiegen sie in Hakens Sportwagen, um zur Nationalgalerie zurückzueilen. Zuvor hatten sie den bewusstlosen Geistlichen auf der Eingangstreppe abgelegt, damit die Sanitäter ihn fanden, und seiner Hosentasche den Autoschlüssel entnommen. Als sie fertig waren, schloss Sir Herbert sein Haus ab. »Bei den vielen Einbrechern heutzutage kann man nicht vorsichtig genug sein«, sagte er. Sein Blick fiel auf den ohnmächtigen Körper seines Freundes. »Ich hoffe, sein Kopf schmerzt nicht allzu sehr, wenn er wieder zu sich kommt«, meinte er. Teeboytle übernahm das Steuer und fuhr los. Sophie und Robert saßen hinten. »Also«, sagte Robert und nutzte die Gele genheit, um ein Stück näher an die attraktive Französin neben ihm heranzurücken. »Wie war das nun mit der Mona Eda?« »Für die Verschwörungsforscher war sie stets eine Schimä re«, sagte Sophie. »Nun ja«, sagte Robert, »das sagt mir nicht allzu viel – teil weise deswegen, weil ich nicht weiß, was Schimäre bedeutet.« »Das Wort Schimäre leitet sich vom griechischen χψαιρα ab«, erklärte Sophie, »und bezieht sich ursprünglich auf ein legendä res Ungeheuer aus dem antiken Lykien, das Feuer spie und vorn wie ein Löwe, in der Mitte wie ein Ziegenbock und hinten wie ein Drache aussah. Da ein solches Lebewesen jedoch erwiese
nermaßen nie existiert hat, meint man mit diesem Wort norma lerweise ein Phantasieungeheuer aus nicht zusammengehören den Teilen. Später bezeichnete man damit jede Art von Täu schung, Lügenmärchen oder absolut undurchführbaren – beziehungsweise nicht zu verwirklichenden – Träumen oder Zielen. Ich habe den Begriff im letzteren Sinne angewandt.« »Ach so«, sagte Robert. »Verschiedene Fachleute haben die Existenz der Mona Eda zwar theoretisch postuliert, doch nun hat es den Anschein als hätten wir die erste echte Spur.« »Spur?«, fragte Robert. »Im Sinne von Fährte oder im Sinne von gering?« Er hüstelte. »Nicht gering«, korrigierte Sophie, die glaubte, ihr leichter französischer Akzent habe ihren Gesprächspartnerin die Irre geführt. »Im Sinne von Fährte.« »Aha. Und was ist diese Mona Eda nun genau? Gehe ich recht in der Annahme, dass sie eine Art Bild ist?« »Haben Sie«, sagte Sophie, indem sie seine Frage ganz ein fach mit einer Gegenfrage beantwortete, »schon mal was von Leonardo gehört?« »Da Vinci? Natürlich.« »Leonardo ist natürlich weltberühmt. Aber eins wissen nur wenige über ihn: Er war kein Einzelkind. In Wirklichkeit hat seine Mutter Zwillinge geboren – Leonardo und ein Mädchen namens Eda. Sie sind zusammen aufgewachsen und standen sich sehr nahe. Doch obwohl fast jeder Mensch auf Erden schon von Leonardo gehört hat, kennen nur einige Spezialisten seine Schwester Eda.« »Und warum?«
»Sie lebte in einer von Männern beherrschten Welt, in der Frauen – sogar geniale Frauen – nie die Chance erhielten, ihr Potenzial auszuschöpfen. Wie Shakespeares Schwester – Sie haben doch von Shakespeares Schwester gehört?« Robert dachte kurz nach. »Die Popgruppe?«, erwiderte er. Sophie überhörte ihn einfach. »Das Italien der Renaissance war eine patriarchalische Kultur. Man schaute zum Manne auf und hielt Frauen nur für bewegliche Habe. Frauen waren zum Heiraten, zum Gebären von Kindern und für die häuslichen Pflichten da. Es überrascht wohl kaum, dass Eda, obwohl auch sie eine geniale Künstlerin war, nie eine Chance erhielt, profes sionell zu arbeiten.« Nach einer kurzen Pause fuhr Sophie fort, die Worte schwer vor emotionaler Bedeutung. »Die Menschen halten Leonardo für einen Außenseiter«, sagte sie, »für jemanden, den sein eigenes Zeitalter übersah und nicht anerkannte. Doch diese Beschreibung passt viel eher zu Eda. Leonardo gehörte zu den erfolgreichsten Künstlern seiner Epoche. Er hat in Andrea del Verrocchios Atelier gelernt, das Eda nie betreten durfte. Die florentinischen Behörden haben ihm Aufträge erteilt. Er war für Lorenzo de' Medici tätig, den mächtigsten Mann seinerzeit – und für Ludovico Sforza, der auch viel Macht hatte. Er kannte den Papst persönlich. Eda hatte keins dieser Privilegien. Sie konnte sich offenbar nicht mal die grundlegenden Materialien leisten, die man als Künstler braucht. Sie musste ihren Bruder um Leinwandreste und andere Kleinigkeiten anbetteln, wenn sie ein Bild malen wollte.« »Dann hat sie also auch gemalt?« »Sie war großartig! Sie war wohl noch besser als Leonardo. In
der Geschichte Europas ist es ein beklagenswert weit verbreite tes Ereignis, dass geniale Künstler oder Dichter ihren Ruhm ihrem Geschlecht verdanken, während die Nachwelt noch genialere Frauen übersieht. Wissen Sie etwas über Dorothy Wordsworth?« Robert merkte sofort, dass sie ihn leimen wollte. »Ob ich was über Dorothy Wordsworth weiß? Nun denn: An wie vielen Dingen, die ich über Dorothy Wordsworth weiß, sind Sie interessiert?« »William Wordsworth ist vielleicht noch heute der berühm teste englische Dichter. Er hat in der ersten Hälfte des neun zehnten Jahrhunderts zahlreiche Gedichte geschrieben. Haben Sie sein Gedicht ›Narzissen‹ vielleicht schon mal gehört? ›Ein sam marschiert' ich, Wolken gleich, wie über Tal und Berg sie ziehn …‹?« »Ja«, sagte Robert, weil er sich freute, endlich etwas Bekann tes zu hören. »Tja, das hat Dorothy geschrieben.« »Aber Sie haben doch gerade gesagt, William Wordsworth hätte es geschrieben …« »William hat das Gedicht unter seinem Namen herausge bracht und den ganzen Ruhm eingestrichen. Aber er hat es Dorothy gestohlen. Sie hat nämlich Tagebuch geführt und in diesem all ihre Beobachtungen über die Welt der Natur aufge schrieben. William hat es gelesen, hat die treffendsten Bilder und Gedanken abgeschrieben und als seine eigenen veröffent licht.« »Brüder!«, sagte Robert empört. »Das ist doch wieder mal typisch! Da fällt mir ein, als meine kleine Schwester gerade
sechs Jahre alt war, hatte sie so eine Cindy-Puppe, und ich …« »Der Fall Wordsworth«, sagte Sophie, ohne sich unterbre chen zu lassen, »ist in akademischen und studentischen Kreisen wohl bekannt. Weniger gut bekannt ist, dass viele von Leonar dos berühmtesten Gemälden nur Reproduktionen von Bildern sind, die seine Schwester Eda gemalt hat.« »Ach so.« »Die offizielle Erklärung für die Vernachlässigung von Edas Werk«, fuhr Sophie fort, »sieht so ähnlich aus wie die für die Vernachlässigung Dorothy Wordsworths: Es liegt alles am tief verwurzelten Sexismus der europäischen Kultur, einer Gesell schaft, die nur an großen Männern, aber nicht an großen Frau en interessiert ist. Doch ich vermute schon lange, dass dies nicht der wahre Grund ist. Edas Werk wurde viel konsequenter unterdrückt als das von Dorothy Wordsworth. Beispielsweise hat niemand Dorothys Tagebücher verbrannt.« »Dann hat man Edas Bilder also verbrannt?« »Man hatte es lange Zeit geglaubt. Ganz sicher hat man alle Hinweise auf Edas Existenz in Florenz und Mailand aus allen amtlichen Unterlagen dieser Zeit getilgt. Eins ihrer Gemälde aufzustöbern war mehr oder weniger ein unerfüllbarer Traum. Doch ich glaube, genau das ist Jacques Sauná-Spannér gelungen … Vermutlich wurde er deswegen ermordet!« »Damit niemand Leonardos Ruf beschmutzt?«, fragte Robert staunenden Auges. »Als Mordmotiv kommt mir das aber nicht sehr glaubwürdig vor!« »Es steckt noch mehr dahinter«, sagte Sophie. »Ich glaube, Edas Kunst enthält gewisse … Hinweise … gewisse Elemente, die Leonardo weggelassen hat, als er ihre Gemälde kopierte, um
sie an wohlhabende Mäzene zu verkaufen.« »Was meinen Sie mit Hinweise?« »Tja, das ist die Sechs-Millionen-Euro-Frage. Wenn wir es wüssten, kämen wir vielleicht auch dem Geheimnis an sich auf den Grund. Meine Hypothese lautet: Eda gehörte selbst der Conspiratio Opi Dei an. Möglicherweise hat sie – grafisch ver schlüsselt – gewisse Hinweise auf das Hauptmysterium dieser Organisation gegeben: auf das größte Geheimnis von allen! Wenn wir es je erfahren, wird es so verheerend ausfallen, dass es für die Welt verheerend wäre …« »Sie haben zweimal ›verheerend‹ gesagt«, warf Robert ein. »… denn es würde die angeblichen Klarheiten dieser Welt vernichten«, sagte Sophie. »Außerdem würde es den Gottes glauben erschüttern und alle gesellschaftlichen Konventionen untergraben.« »All das kann ein Bild tun?« »Bilder können sehr einflussreich sein. Sie können globale Reichweite haben. Sie können Menschen auf hundert unter schwellige Arten beeinflussen. Denken Sie an die Mona Lisa … Leonardos berühmtestes Gemälde.« »Ach ja«, sagte Robert nickend. »Der Ur-Smiley. Sie ist nur nicht ganz so gelb. Und nicht so rund.« »Für Gelehrte liegt das Interessante an dem Gemälde darin, dass niemand genau weiß, wen es darstellt. Man hat sie nur pro forma ›Mona Lisa‹ genannt. Mona ist eine Abkürzung für Madonna. Lisa soll sich angeblich auf Lisa Gioconda beziehen, eine Kaufmannsgattin. Doch es gibt keinen Beweis für die Richtigkeit dieser Erklärung. Diese Informationen stammen von Vasari, der möglicherweise der am wenigsten verlässliche
Historiker in der Historie der Historie war. Als Leonardo 1519 starb, war Vasari acht Jahre alt. Er hat den großen Maler nie persönlich kennen gelernt. Das meiste, was Vasari so schrieb, entstand aufgrund von Hörensagen – oder vielleicht auch aufgrund absichtlich verbreiteter Fehlinformationen. Wissen Sie, was die Encyclopaedia Britannica über Vasari schreibt?« Robert überlegte. »Ist dies eine rhetorische Frage?«, erwiderte er schließlich. »Ich meine, ist es wahrscheinlich, dass ich weiß, was die Encyclopaedia Britannica über Vasari schreibt?« »Es gibt überhaupt keinen Grund, hämisch zu werden«, fauchte Sophie. »Ich wollte nur Ihre angesehene nationale Enzyklopädie zitieren, um die Behauptung zu untermauern, dass Vasari eine unzuverlässige Quelle ist. In der Britannica steht: ›Wenn die Fakten knapp waren, zögerte er jedoch nicht, die Lücken mit Informationen zweifelhafter Herkunft zu fül len‹.« »Stimmt«, sagte Robert. »Jetzt weiß ich, was die Encyclopae dia Britannica über Vasari schreibt.« »Es geht darum, dass man Vasari nicht vertrauen kann. Wir haben keinen tatsächlichen Beweis, dass die so genannte Mona Lisa eine Frau namens Lisa darstellt.« »Warum nennt man sie dann so?« »Nach meiner persönlichen Theorie«, sagte Sophie, »ist der Titel ein unflätiges Wortspiel Leonardos. Es ist bekannt, dass er Spaß an Wortspielen und Wortverdrehungen hatte. Es ist außerdem bekannt, dass er homosexuell war – er ist mehr als einmal nur knapp einer Anzeige entgangen. Ich glaube, ›Mona Lisa‹ ist ein Spiel mit dem lateinischen Wort mônaulês, das ›Einzelflötenspieler‹ bedeutet.«
Robert überlegte. »Tja, wenn das ein Witz sein soll«, sagte er schließlich, »ist er nicht sehr komisch.« »Aber verstehen Sie denn nicht? Er hat damit etwas sehr Zweideutiges angedeutet. Die meisten römischen Flöten sahen wie Panflöten aus, bei denen mehrere Pfeifen nebeneinander liegen. Man nannte sie aulus. Die mono-aulus war hingegen eine ungewöhnliche Flöte, da sie nur aus einer Pfeife bestand. Und indem er dem Gemälde einen Titel verlieh, der wie mona lies beziehungsweise mônaulês klang, deutete er an, dass das Modell auf … nun jaaa … einer ›einpfeifigen Flöte‹ spielte.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Robert. »Sie spielt also Flöte. Na und?« »Sie spielte keine Flöte«, sagte Sophie. »Sondern die Flöte.« Ihre Zeigefinger malten kleine Anführungszeichen in die Luft. Robert überlegte. Schließlich dämmerte es ihm. »Oh!«, sagte er. »Ah! Jetzt verstehe ich allmählich! Das ist aber wirklich ziemlich unflätig. Lächelt sie deswegen so geheimnisvoll?« »Tja«, sagte Sophie. »Kann schon sein.« »Aber wenn die Mona Lisa keine Frau namens Lisa darstellt, wen bildet es dann ab?« »Man weiß es nicht. Allerdings haben viele Gelehrte eine ge wisse Ähnlichkeit der so genannten Mona Lisa mit dem Selbst porträt Leonardos erkannt.« »Doch wohl nicht aufgrund des Bartes.« »Nein, nicht aufgrund des Bartes«, räumte Sophie ein. »Auf grund ihrer kräftigen, ziemlich langen Nase und ihres wissen den Blicks. Aufgrund der Brauen. Wenn man Leonardos Selbstporträt mit diesem Gemälde vergleicht, kann man einfach nicht übersehen, wie ähnlich sie sich sind.«
»Wollen Sie damit sagen, die Mona Lisa ist in Wirklichkeit ein Selbstporträt Leonardos?« »Manche Menschen sagen es – nur, dass er eben Frauenklei der trägt. Aber ich glaube es nicht. Trotz der Ähnlichkeiten gibt es auch Unterschiede. Die untere Gesichtshälfte und der Mund unterscheiden sich beispielsweise deutlich voneinander. Ande rerseits sehe auch ich genügend Übereinstimmungen, um an eine Familienähnlichkeit zu denken.« Robert ging ziemlich verspätet ein Licht auf. »Die Mona Lisa ist Leonardos Schwester?« »So ist es. Wenn man es einmal aus diesem Blickwinkel sieht, passt alles andere plötzlich zusammen. Nun wurde dieses Bild 1500 gemalt, als Leonardo fast fünfzig Jahre alt war. Seine Schwester war also deutlich jünger als er.« »Es sei denn, er hat ihr Porträt bewusst verschönt … Viel leicht wollte er seinem Modell schmeicheln …« »Genau! Über eben dieses Thema habe ich mit Professor Sauná-Spannér korrespondiert. Am Anfang war er etwas wei send ab …« »Abweisend?« »Ja, genau. Natürlich habe ich den Grund dafür verstanden. Es gibt viele Spinner und Schwachköpfe auf diesem For schungsgebiet. Ein Mann in seiner Position kann es sich nicht leisten, Zeit mit … ähm … Zeitverschwendern zu verschwen den, die … seine ähm … Zeit nur … ähm … verschwenden. Doch vor nicht allzu langer Zeit hatte ich den Eindruck, dass er mir allmählich ein wenig vertraute. Er ging sogar so weit, mir vorzuschlagen, dass wir uns treffen. Er hat gesagt, er müsse mir etwas sehr Wichtiges zeigen.«
»Was denn? Was wollte er Ihnen zeigen?« »Ich weiß es nicht. Das Treffen hat nie stattgefunden. Und jetzt wird es auch nie mehr stattfinden. Doch wenn ich raten müsste, würde ich sagen, es stand mit der so genannten Mona Lisa in Zusammenhang – vielleicht mit einer alternativen Version des Bildes, das Eda gemalt hat.« »Sapperlot«, sagte Robert und hüpfte auf seinem Sitz auf und nieder. »Ich habe wirklich das Gefühl, dass wir der Lösung eines wirklich sehr aufregenden und geheimnisvollen Geheimnisses immer näher kommen.« »Wir sind da«, gab Sir Herbert Teeboytle bekannt. »Hier ist die Nationalgalerie.« Er ließ den Wagen vor dem schmucklosen Gebäude anhalten.
15 Die Polizei war noch immer vor der Galerie präsent. Ein Strei fenwagen stand auf der anderen Seite der Fahrbahn. Zwei uniformierte Bobbys spazierten hinter dem gelben Absperrband auf und ab. Wie der Zufall so spielt, hieß keiner der beiden Bobby, aber das nur nebenbei. »Wir müssen einen Weg in das Gebäude hinein finden«, sag te Sophie drängend. »Wir brauchen wenigstens eine Möglich keit, um rauszukriegen, ob sich die Mona Eda noch in der Galerie befindet.« »Machen Sie sich wegen der Polizisten keine Sorgen«, sagte Sir Herbert mit alarmierendem Elan. Er sprach das Wort »Poli zisten« so aus, als hätte er deren erste Silbe am liebsten mit den Füßen traktiert. »Ich lenke sie ab. Wenn sie abgelenkt sind, laufen Sie die Treppe rauf und brechen ins Haus ein.« »Ins Haus einbrechen? Wie denn?« »Schlagen Sie doch schepper-di-pepper einfach ein Fenster ein«, sagte Sir Herbert. »Bei den vielen Polizisten, die heute Abend hier herumgelaufen sind, hat man die Alarmanlage vermutlich ohnehin ausgeschaltet. Und warum sollte man sie wieder einschalten, wenn die Polizei noch vor der Haustür Wache steht?« »Da hat er Recht«, sagte Robert. »Haben Sie«, warf Sophie mit leicht besorgt klingender Stimme ein, »gerade mitten im Satz ›schepper-di-pepper‹
gesagt?« »Ich passe mich nur an den Charakter mit dem Sprung in der Schüssel an, den ich gleich spielen werde«, sagte der Baronet. »Als Ablenkungsmanöver! Damit die Polizisten Sie nicht beach ten.« Er öffnete den Verschluss seiner Tweedhosen und zog seine spaghettidünnen und spaghettifarbenen Beine aus dem Kleidungsstück wie jemand, der einen Atomsprengkopf ent schärft, indem er ihm den Urankern entnimmt und dabei aufpasst, dass er mit der Behälterhülle nicht in Berührung kommt. Schließlich stand er, von den Boxershorts bis zu den Socken unbekleidet, im Licht der Straßenlaternen. »Ich tanze an den Polizisten vorbei«, sagte er. »Wenn sie hinter mir her rennen, stürzen Sie sich auf das Fenster da drüben. Schlagen Sie es mit einem Ziegelstein ein. Oder mit etwas anderem. Steigen Sie ein – das ist das Allerwichtigste. Ich versuche, die Polizisten abzuschütteln, und stoße dann später zu Ihnen.« Sir Herbert machte sich ohne weiteres Geschwafel auf den Weg. Er hüpfte wie ein Blödmann an der Nordseite des Trafal gar Square entlang und sang zur Melodie von Una Paloma Blanca ein Lied, dessen Text er sich jedoch aus den Fingern saugte, sodass es Robert schwer fiel, seine tiefere Bedeutung zu verstehen. Sophie und erduckten sich hinter die breite Treppe, die zum Eingangsportal der Nationalgalerie hinaufführte, und lugten um die steinerne Balustrade herum auf das, was sich auf der ande ren Seite tat. »Dieser Sir Herbert«, meinte Robert, »ist ja ganz schön ex zentrisch.« »Er ist mehr als exzentrisch«, erwiderte Sophie. »Er ist gera
dezu exxxzentrisch. Käuze wie ihn sollte man eigentlich als nicht jugendfrei deklarieren.« Robert schaute sie an. »Sie haben schon wieder was Witziges gesagt.« »Hab ich«, stimmte Sophie ihm zu. »Nicht-Muttersprachler sind nur selten in der Lage, erfolg reich einen Witz zu reißen.« Sophie schaute ihn erfreut an. »Sie schmeicheln mir!« »Aber nein«, sagte Robert. »Überhaupt nicht.« »Ach«, sagte Sophie. »Verstehe.« Eine unbehagliche Pause brach aus. »Aber für einen Versuch war es ganz gut«, sagte Robert, um sie aufzumuntern. »Pssst«, machte Sophie. Sir Herbert hatte den Streifenwagen nun erreicht. Er drehte vor den beiden Gesetzeshütern eine kleine Pirouet te und sang vor sich hin. Er tänzelte und hüpfte herum. Die beiden Polizisten gafften ihn an. Ihre Miene änderte sich aber auch dann nicht, als er sich hüpfend von ihnen entfernte. Sie rührten sich nicht von der Stelle; sie blieben auf dem ihnen zugewiesenen Posten. »Tiens!«, zischte Sophie. »Sie fallen niescht darauf 'erein!« »Vermutlich«, sagte Robert, »sind Trunkenbolde oder an derweitig hirngeschädigte Fußgänger in den frühen Morgen stunden in dieser Gegend nicht allzu selten. Um sie zu provo zieren, ihren Posten zu verlassen, müsste Sir Herbert schon etwas Schockierenderes tun.« Teeboytle hüpfte nun übers Straßenpflaster zurück und kam an den Polizisten vorbei. Diesmal sang er Ian Durys beliebten
Song Hit Me With Your Rhythm Stick und reicherte den Text mit Worten an, die neu und – offen gesagt – ziemlich verletzend waren. Doch auch diesmal regten sich die Polizisten nicht auf. Ziemlich außer Atem – und mit Beinen, deren Farbe nun noch blasser war als zu Anfang seiner Possen – gesellte Sir Herbert sich hinter dem Geländer zu ihnen. »Hat nicht ge klappt«, meldete er. »Die wollen den Köder nicht schlucken – so lecker ich ihn auch angerichtet habe.« »Was machen wir jetzt?«, zischte Sophie. »Jetzt sind Sie an der Reihe, ohne Hosen rumzulaufen«, sagte Sir Herbert verdrießlich. Langsam und äußerst genau schob er die Beine in seine Tweed-Beinkleider zurück. »Ich mach das auf keinen Fall mehr. Da friert man sich ja sonst was ab.« »Ich würde nicht mal dann ohne Hose rumlaufen«, sagte So phie und demonstrierte auf beeindruckende Weise, dass sie auch gewisse ausländische Redensarten beherrschte, »wenn man mich mit der Kneifzange anfassen würde.« »Moment!«, sagte Robert. »Hört mal!« Das Funkgerät des Streifenwagens rauschte und knisterte. Einer der Bullen sprang zum Wagen, öffnete die Fahrertür und beugte sich hinein. Kurz darauf tauchte er wieder auf. »Sie hammihn«, rief er seinem Kollegen zu. »Was heißt hammihn?«, fragte Sophie leise. »Je nach Umstand und Unbildung vereinigen sich in unserer Sprache gelegentlich zwei Wörter zu einem«, erläuterte Tee boytle. »Psst«, sagte Robert. »Ich will sie belauschen.« »Wissen die dat genau?«, sagte Wachtmeister Nummer 2, der noch immer vor der ersten Treppenstufe stand.
»Joa. 'n Typ, der sich Exterminator nennt.« »Exterminator!«, sagte der zweite Polizist beeindruckt. »Genau. Mit so 'nem Spitznamen kann er praktisch nix ande res sein als jemand, der solche Dinger dreht. Sie haben ihn in der Kirche Unserer Lieben Frau mit der Silbernen Waagschale in Blackfriars festgenommen. Eine Videoaufnahme beweist, dass er zuvor auch in der Galerie war – ungefähr zur Tatzeit.« »Wirklich?« »Joa.« »Wat is dann mit dem annern Typ? Dem Professa? Dem, wo seine Fingerabdrücke auf dem ganzen Fisch sind?« »Der Hauptwachtmeister sagt, er ist weiterhin zur Fahndung ausgeschrieben. Er könnte ein Komplize sein. Aber das Format für einen Mord dieser Klasse hat er nicht. Er ist 'n Schreiberling. Der andere Kerl, sagt der Hauptwachtmeister, dieser Extermi nator, is 'n Berufskiller. Der kommt als Täter wahrscheinlich eher in Frage.« »Genau«, sagte Bobby 2. »Werden wir jetzt noch hier ge braucht?« »Nee«, sagte Bobby 1 laut und zufrieden. »Was hältste davon, wenn wir mal zu dem Café an der Chelsea Bridge Road runterdüsen, das die ganze Nacht offen ist und uns 'n Tässchen Tee reintun?« »Gute Idee!«, erwiderte sein Kollege ebenso laut. Dann klet terten sie in ihren Streifenwagen und fuhren weg. »Habt ihr das gehört?«, sagte Robert. »Sie haben einen Typen festgenommen, der sich Exterminator nennt! Ich hab doch von Anfang an gesagt, dass ich den Fisch nie in der Hand hatte!« »Und was noch wichtiger ist«, sagte Sophie, »jetzt wird die
Galerie nicht mehr bewacht! Schnell! Die Treppe rauf, bevor sie zurückkommen! Wir brechen ein und suchen in Jacques' Büro nach Anhaltspunkten!«
16 Der Exterminator war tatsächlich festgenommen worden. Beim Verlassen der Kirche hatte eine ganze Scheinwerferbatterie ihn geblendet, und drei uniformierte Polizisten hatten ihn zu Boden geworfen. »Das Spiel ist aus, Exterminator!«, rief Inspektor Charles Flach vom C.I.D. und kam breitbeinig auf den sich heftig wehrenden Terminator zu, der am Boden festgehalten wurde. »Wat, zum Kuckuck, wollnse damit andeuten?«, erwiderte der Exterminator. »Pfoten weg, Gladys!«, bellte er den Wacht meister an, der ihm gerade Handschellen anlegen wollte. Der fragliche Wachtmeister hieß natürlich gar nicht Gladys. Der Exterminator verlieh ihm nur diesen besonders weiblichen Vornamen, weil er seine Männlichkeit in Zweifel ziehen und ihn somit beleidigen wollte. »Autsch!«, schrie er, als man ihn auf die Beine hievte. »Seid doch nicht so grob!« »Bringt ihn ins Präsidium«, befahl Flach.
17 Inzwischen verschafften die drei unerschrockenen Ermittler sich Zutritt zur Nationalgalerie, indem sie mithilfe eines herren losen Einkaufswagens ein Seitenfenster aufbrachen. Der Einsatz ihrer gemeinsamen Kräfte war erforderlich, um das Wägelchen hochzuheben, und mehrere Haurucks mussten ausgerufen werden, um ihr Handeln zu koordinieren, bis das Glas zerbrach, doch am Ende waren sie erfolgreich. Es ertönte auch kein Alarm. »Hab ich's nicht gesagt?«, sagte Sir Herbert. Sie bahnten sich einen Weg durch dunkle Ausstellungsräume und über die Wendeltreppe in den kleinen Gang mit dem Wandgemälde Das letzte Abendmahl. Die Tür zu Jacques Sau ná-Spannérs Büro stand offen. Sophie schaltete das Licht ein, und das Büro enthüllte sich ihnen in seiner ganzen Unordnung. »Kommen Sie mit«, dräng te Sir Herbert mit einer geradezu manischen und recht alarmie renden Aufgekratztheit. »Hier muss es doch irgendwo Indizien geben! Denken wir an Kabeljau. Denken wir an Jacques. Wir müssen etwas finden, das der Killer übersehen hat.« Er mar schierte über die verstreuten Papiere hinweg. »Keine Sorge, Sir Herbert«, sagte Sophie zuversichtlich. »Dr. Robert Langbeyn ist doch bei uns – der beste Anagrammologe und Indiziendechiffreur in ganz London. Er kann jedes Indiz dechiffrieren – nicht wahr, Robert?« Sie musterte ihn einge hend.
»Tja«, sagte Robert nervös. Er glaubte in Sophies lobend klingenden Worten einen Anflug von Misstrauen zu entdecken, als wolle sie ihn auf die Probe stellen – als wolle sie in Erfahrung bringen, wie gut er wirklich war, wenn es um das Lösen von Rätseln ging. »Nun, man soll ja nicht prahlen …« »Quatsch!«, dröhnte Sir Herbert mit strapaziöser Ausgelas senheit. »Sagen Sie die Wahrheit, Mann! Beschreibt Miss Ner veuse Sie zutreffend?« »Nun, ich weiß nicht genau, ob ich die Bedeutung aller Indi zien entschlüsseln kann«, artikulierte Robert seine Bedenken, »aber, na ja, Sie wissen schon … Man … ähm … tut halt sein Bestes.« »Er ist Professor für Anagrammologie an der Universität London«, informierte Sophie den Baronet. »Seine typisch britische Bescheidenheit ist irreführend.« Robert schaute sie an, und sein Herz zog sich in jäher Liebe zusammen. Als sie in dem papierenen Durcheinander stand, in dem aus den Regalen gerissene Bücher den Boden ebenso bedeckten wie umgekippte Stühle, sah sie so schön aus. Fast war ihm so, als könne nur ein Chaos der gepflegten Kessheit ihres Liebreizes den richtigen Rahmen verleihen. Robert nahm an, dass sie, wenn diese verrückte Nacht vorbei und das Rätsel gelöst war, bestimmt mal mit ihm ausgehen würde. Sie setzte sich so dafür ein, das große Geheimnis dieser mysteriösen Verschwörung zu lüften. Wenn er ihr dabei half, war sie ihm bestimmt dankbar … vielleicht sogar mehr als nur dankbar … Aber … Schon wieder das schreckliche Wort! Es war zwar nur kurz, aber es behinderte einen, denn es bedeutete Dinge wie »ausge
nommen, wenn …«, »abgesehen von …«, »falls nicht …« oder »ganz im Gegenteil«. Aber, dachte Robert, ich habe ja auch ein Geheimnis. Ein Ge heimnis, dessen Wurzeln in der Vergangenheit lagen. Wenn Sophie je dieses Geheimnis enthüllte – blieb ihr dann noch etwas anderes übrig, als ihn zu verachten? Sie hielt ihn für den größten Codeknacker Londons, aber … Als Robert in dem bewussten Büro stand, spürte er, dass aus dem Teil seines Hirns, das seine Erinnerungen speicherte, selbige nach oben trieben und alles, worüber er gerade nach dachte, von vorn bis hinten in Kursivschrift darstellte …
18 Als Junge war Robert Langbeyn ein typischer Schüler gewesen. Was heißt, dass er sich kaum für die Schule interessierte. Englisch war sein bestes Fach. Wollte man dies genauer erklären, müsste man sagen, Englisch war das Fach, in dem er nicht ganz so schlecht war wie in den anderen. Robert konnte sich nie konzentrieren — es war so, als befände sich sein Geist auf einer endlosen Pilgerfahrt zu irgendeinem, stets weiter zurückweichenden intellektuellen Ziel. Er verbrachte viel Zeit damit, die Fähigkeit zu vervollkommnen, doof aus dem Fenster zu gucken. Seine Lehrer verzweifelten an ihm. Es fiel ihm schwer, dem normalen Stundenplan zu folgen. Viele Jahre lang hatte Robert geglaubt, John Fords bekannte Tragödie hieße wirklich Schade, dass sie eine Hure ist und gackern Sie da hinten nicht rum, Mr. Hahn. Den Unterschied zwischen den drei Lawrences – D. H. (Mr.), T. E. (Mr.) und Merry Christmas (Mr.) — konnte er sich nie merken. Es nervte ihn über alle Maßen, dass der Name des Dichters Keats sich nicht auf den des Dichters Yeats reimte. Er wusste nie genau, ob Joyce nun ein Nachname oder ein Vorname war. Als es dann so weit war, dass er die Universität besuchen sollte – im Vereinigten Königreich ist es eine Sache der Gesetzge bung, dass alle Schulkinder zur Universität müssen, ob es ihnen nun gefällt oder nicht –, erschien ihm Englisch als das kleinste Übel, und so nahm er ein Anglistikstudium in Angriff.
Das Wort »Studium« erweckt jedoch möglicherweise einen falschen Eindruck. Wenn ich durch diesen Begriff Ihnen suggerie re, Robert hätte studiert oder in irgendeinem positiven Sinn etwas für den anglistischen Bakkalaureus getan, für den er sich immat rikuliert hatte, habe ich Sie, fürchte ich, auf eine falsche Spur gelenkt. Nein: An der Universität war Robert vielseitig interessiert. Womit ich meine, dass er sich für alles außer Anglistik interes sierte – und hauptsächlich eigentlich fürs Fernsehen. Er war so dick, dass er aussah wie die großen weißen Ballons, die Patrick McCoohan früher immer am Strand von Port Meirion terrori sierten ∗ – er hatte die gleiche Form, die gleiche Farbe und auch ungefähr den gleichen Grad an Festigkeit —, nur hatte er an einem Ende einen breiten, oben flachen Kopf. Robert verbrachte seine gesamte Universitätszeit auf einem Sofa liegend vor einem Fernseher, beschäftigt mit dem Marathonangriff auf den amtlich nicht anerkannten Weltrekordtitel »Größter Vertilger von Schweinefleischkrüstchen innerhalb von drei Jahren«. Schließlich ging seine Universitätszeit zu Ende, und er musste entscheiden, was er nun tun wollte. Also suchte er den Berufsbe rater der Universität auf. »Langbeyn, nicht wahr?«, sagte dieses Individuum und warf einen Blick auf seinen Computermonitor. »Hier steht, Sie haben im Schnitt 'ne sechs.« »Tatsächlich?«, erwiderte Robert und setzte eine besorgte Mie ne auf. »Ja, ich fürchte, eine besonders gute Note ist das nicht. Sie wird ∗
… und zwar in der jedem Schulkind bekannten TV-Serie Nummer sechs
Ihre Möglichkeiten, einen Arbeitsplatz zu finden, natürlich einschränken.« »Aber das ist doch nur ein Fehler«, sagte Robert mit vernünftig und überzeugend dargestellter Selbstsicherheit. »Es ist ein Vertip per. Ich habe das doch schon mit dem Sekretariat durchgespro chen. Mir hat man gesagt, in meiner amtlichen Akte sei das längst berichtigt worden. Ich finde es aber nicht schön, dass ich jetzt feststellen muss, dass dem doch nicht so ist.« »Oh!«, sagte der Berufsberater angenehm überrascht. »Tipp fehler kommen natürlich manchmal vor. Was haben Sie also wirklich gekriegt?« »Im Schnitt eine eins«, sagte Robert. »Sogar 'ne Eins mit Stern chen. « »Glückwunsch«, sagte der Berußberater. »Aber«, fuhr er fort, und seine strahlende Miene verdunkelte sich kurzfristig. »Wieso steht dann in Ihrer Computerakte, Sie hätten im Schnitt 'ne sechs?« »Eigentlich ist es eine interessante Geschichte«, sagte Robert flink. »Laut Prüfungsausschuss, mit dem ich die ganze Angele genheit besprochen habe, ist alles nur auf einen simplen Hörfeh ler zurückzuführen. Im Hintergrund wurde nämlich in gewissem Maße gefeiert. Alle waren gut gelaunt und freuten sich, dass die Examina endlich vorüber waren. Die Leute haben getrunken, getanzt und Lieder gesungen. Einer der Anwesenden — und nun kommen wir zu dem alles entscheidenden Detail – war in den Besitz einer Mister-Kröte-Tröte® gelangt, die er von Zeit zu Zeit ertönen ließ. Aufgrund eines unglücklichen Zufalls ertönte die Tröte genau in dem Moment, in dem die Fakultätsbürovorstehe
rin die Liste der Abschlussnoten an die Akademieverwaltung diktierte. »Robert Langbeyn«, sagte sie, »hat eine Eins mit Stern chen«, doch das Trötentuten übertönte ihre drei letzten Worte und wurde so versehentlich in meine offizielle Akte übertragen. – Ungefähr so«, fuhr Robert fort, »wie in der Anfangssequenz von Terry Gilliams Film Brazil. Kennen Sie den?« »Nein«, sagte der Berufsberater. »Ist er gut?« »Unglaublich gut. Aber was noch wichtiger ist – er ist relevant für die gegenwärtigen Umstände. Wenn Sie die Computerdatei einfach nur von Ihrem Terminal aus korrigieren würden …« Der Berufsberater zuckte zwar die Achseln, nahm die Korrek tur aber vor. »Tja, ich muss schon sagen«, sagte er, als der das Passwort eingab und in die Tasten haute, um die legendäre Sechs zu überschreiben. »Ich muss schon sagen, das ja eine ausgezeich nete Nachricht. Ich wollte Ihnen schon eine Laufbahn im Einzel handel vorschlagen. Doch mit der Eins mit Sternchen stehen Ihnen natürlich auch alle anderen Möglichkeiten offen. Haben Sie schon mal daran gedacht, den Doktor phil. zu machen?« Robert hieß die Aussicht auf nochmals drei Jahre Sofaaufent halt mit Fernsehen und Schweinefleischkrüstchenfressen freudig willkommen. Er spielte sogar mit dem Gedanken, seine ImbissTreue auf etwas zu richten, das ihn irgendwie mehr herausforder te: Zum Beispiel auf von Hand gebackene Meersalz-Balsamico Deluxe-Kräcker! Und das hat er dann auch gemacht. Er begann ein Dr.-phil. Studium im Fach Moderne Kritische Theorie. Sein Doktorvater war damit beschäftigt, durch die Welt zu düsen, um an Konfe renzen teilzunehmen, die sich mit verschiedenen aufregenden
Entwicklungen der de-ontologischen Metaphysik beschäftigten. Deswegen konnte er ihm nicht viel Beachtung schenken. Robert schrieb sich für eine Dissertation mit dem Titel »Zizekische libidinöse Ökonomie in der post-althusserischen Textaporie« ein. Aktiv wurde er erst wieder, als er seine Arbeit abgeben musste. Dann ging er so vor, wie es ihm ein ebenso träger Kommilitone aus dem Fachbereich Philologie riet. Er baute seine Dissertation nach folgendem Muster zusammen: Er ging ins Internet und kopierte 260 Manuskriptseiten deutscher Philosophie in der Originalsprache. Diesen Text ließ er durch eine englische Recht schreibprüfung laufen, übernahm willkürlich die Vorschläge des Programms für englische Begriffe und erschuf so einen Textrie men, dessen englische Termini den deutschen in der Schreibung zwar ähnelten, aber oftmals genau das Gegenteil bedeuteten. Dann teilte er diesen syntaktisch wagemutigen Textblock in zwölf Kapitel ein und verstreute in dem ganzen Schamott ziem lich willkürlich die Titel von elf Zizek – und drei AlthusserMonographien. Dazu brauchte er einen Nachmittag. Zwei weite re Tage kostete es ihn, das Ding auszudrucken und zu binden. Dann legte er sich wieder aufs Sofa. Als seine mündliche Prüfung anstand, hatte Langbeyn erheb lich abgenommen. Dies lag nicht zuletzt an der zufälligen Mi schung aus a) der Entdeckung dass von Hand gebackene Meer salz-Balsamico-Deluxe-Kräcker ihm weniger gut schmeckten als Schweinefleischkrüstchen, und b) der Tatsache, dass er zu träge war, vom Sofa aufzustehen und sich Letztere zu kaufen. Er kaufte sich im Secondhandshop der Caritas einen Anzug und beantwor tete die ihm gestellten Fragen stets mit einem langsamen Nicken,
wobei sich seine Brauen zu einem ›~~‹ verformten, bevor er äußerst langsam die Frage des Prüfers wiederholte und mit einem »Ja, aber wir dürfen nicht vergessen, was Spinoza zu dieser Angelegenheit sagt« abrundete. Der externe Prüfer lobte den dichten und scharfsinnigen Charakter von Langbeyns engagier tem Einstieg in die poststrukturalistische Gedankenwelt. Es war auch relativ leicht für Robert, eine Stelle zu bekommen. Er bewarb sich, um die Gedankenwelt von Jacques Derrida und die moderne kritische Theorie zu lehren. Seine während des Vorstellungsgesprächs gemachte Empfehlung er könne seinen Lehrauftrag auf der »Anagrammologie« fußen lassen, war das Ergebnis seines schwachen Erinnerungsvermögens: Ihm wollte der Titel des einzigen Derrida-Buches nicht einfallen, von dem er je gehört hatte. Doch der Ausschuss, der über seine Bewerbung zu befinden hatte, fand diese neue Entwicklung in der Derrideani schen Schule sehr aufregend und gab ihm den Job. Seither war er einfach nur der goldenen Tarnstrategie des von jeglichem Wissen unbeleckten Paukers gefolgt: Er ließ alle Arbeit von seinen Stu denten machen. Doch nun … Nun hatte Robert Langbeyn sich zum ersten Mal im Leben verliebt. Da gab es eine wunderschöne Frau, die wusste, was sie wollte; eine erfolgreiche Frau; eine Frau mit Modege schmack, die im wahrsten Sinne des Wortes französisch duftete … und sie interessierte sich für ihn! Er hatte Chancen bei ihr! Aber … Aber … Aber … sie hielt ihn für jemanden, der er gar nicht war. Sie glaubte tatsächlich, er hätte das analytischste Hirn Londons.
Dabei war er nur ein Schwindler! Er hatte sich seine Position doch ohne die geringste persönliche Leistung unter den Nagel gerissen! Konnte er den Schein wahren? Oder war es besser, wenn er ihr die Wahrheit sagte … wenn er ihr alles offenbarte? Doch wenn er dies tat … Liebte sie ihn so sehr, dass sie ihm verzeihen konnte? Oder würde sie ihn wie einen verschmähenswerten Menschen verschmähen? Was sollte er nur tun? Ach, was für ein Dilemma! Was für ein schreckliches Dilemma! Es war eigentlich schon mehr als ein Dilemma – es war ein Trilemma. Der Vater aller Dilemmas. Oder Dilemmata? Dilemmen? Dilemmae? Oder die Mutter? Bleiben wir lieber bei Trilemma.
19
»Hier ist etwas!«, schrie Teeboytle.
Robert wurde abrupt aus seinem Tagtraum und seiner kursi ven Vergangenheit gerissen. »He, ihr beiden, ich habe gesagt, ich habe etwas gefunden!« »Was denn?«, schrie Sophie. »Was haben Sie gefunden?« »Hier … Einen Zettel, auf dem Ihr Name steht, Miss Nerveu se.« »Zeigen Sie mal!« Doch Robert, der Sir Herbert näher war, konnte als Erster einen Blick auf den Zettel werfen. »Das ist aber eigenartig«, sagte er, während Sophie noch durch die Papierlawine watete, um zu ihnen zu gelangen. »Es ist der Ausdruck einer Compu terdatei. Da steht Ihr Name, Sophie, und da ist auch Ihr Bild. Doch hier steht, Sie wären Computertechnikerin Erster Klasse in dem multinationalen Schweizer Unternehmen Geneticon. Das kann doch wohl nicht stimmen, oder?« »Das ist eine weitere meiner Tarnexistenzen«, erklärte So phie. »Ich war davon überzeugt, dass Geneticon tief in der großen Verschwörung mit drinsteckt, dass wir es auch hier mit einer Tarnfirma der Conspiratio Opus Dei zu tun haben.« »Und steckt die Firma mit drin?« »Ich bin zwar noch immer argwöhnisch, aber meine bisheri gen Ermittlungen waren inkonklusiv.« »Meinen Sie unkonklusiv?«, fragte Robert.
»Ist das nicht das Gleiche?« »Nichtkonklusiv?«, schlug Teeboytle vor, der in jeder Hand ein Blatt Papier hielt. »Oder diskonklusiv?«, meinte Robert. »Ich habe ein halbes Jahr dort gearbeitet, dann flog meine Tarnung auf«, sagte Sophie. »Während dieser Zeit gelangte ich immer mehr zu der Überzeugung, dass nicht nur Geneticon, sondern alle großen Computerkonzerne der Welt Tarnorgani sationen der Conspiratio sind.« »Menschenskind!«, rief Teeboytle aus. »Ich wusste es! Com puter sind die Mikrowellen des Teufels … Aber wenn die Conspiratio wirklich die geheime Macht hinter allen Rechnern auf diesem Planeten ist, sind die Implikationen Grauen erre gend …« »So sehe ich es auch«, sagte Sophie. »Inzwischen steht ja in jedem Haushalt ein Computer rum. Die Mehrheit des Globus ist mit dem World Wide Web verbunden. Jede Organisation, die sich im Zentrum dieses Netzes befindet, befände sich in einer fast unvorstellbaren Machtposition …« »Dekonklusiv«, probierte Robert aus. »Antikonklusiv. Ir gendwie klingt nichts davon richtig. Ich sage Ihnen was: Viel leicht gehen wir falsch an die Sache ran. Vielleicht ist das Ge genteil von konklusiv irgendwas wie ›klusiv‹. Was meinen Sie? Es könnte einer dieser englischen Begriffe sein, die zwar existie ren, die aber niemand verwendet – wie zum Beispiel ›delible‹ oder ›domitable‹ oder ›sipid‹. Müsste ›sipid‹ nicht das Gegenteil von ›insipid‹ – langweilig, geistlos, fade – sein? Was meinen Sie?« Sophie und Sir Herbert schauten ihn auf eigenartige Weise an.
»Warum schauen Sie mich so an?«, fragte Robert. »Was, um alles in der Welt, schwafeln Sie da?«, fragte Sophie. »Für so was haben wir keine Zeit. Wir müssen den Hinweis finden, der uns zur Mona Eda führt – und vielleicht sogar zum Heiligen Gral höchstpersönlich.« »Stimmt«, sagte Robert und stopfte den Ausdruck in seine Jackentasche. »Ja, der Hinweis.« »Ich habe den Eindruck«, sagte Sir Herbert und ließ die Pa piere, die er in den Händen hielt, zu den anderen auf den Boden fallen, »dass der Meuchelmörder sich in diesem Büro sehr gründlich umgesehen hat. Ich glaube nicht, dass wir hier etwas finden, das uns weiterhilft.« »Ach, könnten wir doch nur dieses seltsame Bilderrätsel mit der 9 und dem Auge entschlüsseln, das Jacques auf das Wand gemälde geschmiert hat!« Sie ging aus dem Büro in den Gang hinaus, um sich die selt same, auf Jesus Christus' Schopf gekrakelte Botschaft noch einmal anzuschauen. Sir Herbert und Robert folgten ihr.
20 »Imposant, nicht wahr?«, bemerkte Sir Herbert Teeboytle und deutete mit ausgestrecktem Arm auf die Reproduktion von Leonardos Abendmahl. »Ich habe es erst vorigen Monat be wundert, als ich Jacques einen Besuch abstattete. Er hat gesagt, er hätte es aus eigener Tasche bezahlen müssen, da die Galerie nicht bereit war, Kosten für etwas zu übernehmen, das nur die Büroangestellten zu sehen kriegen. Aber es war ihm gleichgül tig. Er hat gesagt, Das letzte Abendmahl sei sein liebstes Da Vinci-Bild. Es erfreue sein Herz, die perfekte Kopie jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit zu sehen.« Sophie untersuchte die Einzelheiten des Wandgemäldes, in dem sie mit der Nase dicht vor der Wand entlangging. Als sie sich die unteren Elemente der Komposition ansah, wurde es erforderlich, dass sie sich vorbeugte. Robert war durchaus zu dem Geständnis bereit, dass das Gemälde sehr anziehend war, doch er hätte nie zugegeben, dass es dem Bild, das die nach vorn gebeugte Sophie ihm bot, auch nur im Geringsten nahe kam. »Wissen Sie was?« Teeboytle kratzte sich am Kopf. »Ich habe ihn gefragt, wen er aufgetan hat, um die Kopie zu malen … es ist so gelungen und detailreich und von überragender Qualität. Aber er wollte es mir nicht sagen! Er sagte, es sei ein Geheim nis.« »He?« Sophie richtete sich zu Roberts Verdruss auf. »Was haben Sie gesagt? Haben Sie Geheimnis gesagt?«
»Ja.« »Wie faszinierend … Es gibt nämlich eine Reihe entschei dender Unterschiede zwischen dieser Reproduktion und dem Original in Santa Maria della Grazie. Schauen Sie mal auf den Tisch.« Alle schauten auf den Tisch. »Brot und Fisch«, sagte Robert. »Finden Sie, dass da irgend was nicht richtig aussieht?« »Nun, Brot und Fisch stammen beispielsweise aus einem an deren Teil des Neuen Testaments«, sagte Sophie. »Sie gehören bekanntlich zur Speisung der Fünftausend. Kann man in Mar kus, Kapitel 8, nachlesen. Und da ist noch etwas … Falls ich mich nicht irre, sieht man auf dem Originalfresko nur einen Fisch – auf Jesus' Teller. Auf dem Tisch hier zähle ich aber neun Fische … und sie gehören alle zu unterschiedlichen Arten: Hering, Seeteufel, Karpfen, Sardine, Piranha.« Sie begutachtete noch einmal die mit Blut gezeichneten Sym bole. Robert schob seine Nase dicht an das Gemälde heran, um sich die Fische anzusehen, doch er verlor das Gleichgewicht, fiel nach vorn und knallte mit dem Zinken gegen die Wand. Ein stumpfes Klatschen erklang. »Oy!«, sagte er und richtete sich auf. »Au! Aua!« »Ich hab's!«, schrie Sophie. »Sie haben's?«, jubilierte Teeboytle maßlos erfreut. »Es ist doch so offensichtlich! Natürlich nicht für das norma le Auge. Aber nicht für jemanden, der in den Methoden gehei mer Bilderrätsel ausgebildet ist.« Sie wandte sich Robert zu. »Sehen Sie es nicht? Das Theta verrät doch alles.«
9Θ? 1 »Natürlich«, sagte Robert unsicher und rieb sich die Nase. »Verrät alles. Na klar.« »Sie sehen es also auch, nicht wahr? Jetzt, nachdem ich Ihnen den Tipp gegeben habe?« In dem Moment, in dem seine angeschlagene Nase unange nehm durch das elektrische Licht gereizt wurde, beschloss Robert, Sophie reinen Wein einzuschenken: Er wollte ihr die Wahrheit sagen. Vielleicht würde sie seine Ehrlichkeit respek tieren. »Schauen Sie«, sagte er, während er seine Nase rieb, »ich glaube, meine Fähigkeiten als Rätsellöser werden im Allgemei nen ziemlich übertrieben. Ich würde ein Theta nicht mal erken nen, wenn es mich anspringt und mir in den Oberschenkel beißt.« »Wollen Sie mich veräppeln?«, fragte Sophie verdutzt. Sie deutete mit ihrem grazilen Zeigefinger auf das Theta. »Das da ist ein Theta«, sagte sie. »Echt? Ich hätte es für ein kleines ›H‹ in einem Kreis gehal ten. Etwa so wie ein Piktogramm, das auf ein Hospital hin weist.« »Das Theta ist der achte Buchstabe des griechischen Alpha bets. Es bedeutet ›th‹. Das müssen Sie doch wissen!« »Ach so. Ja, klar.« »Tja, und wenn man das erst einmal weiß«, fuhr Sophie un geduldig fort, »fällt einem der Rest des Codes sozusagen von selbst vor die Füße. Im römischen Zahlensystem heißt die ›9‹ beispielsweise …?«
Robert wartete darauf, dass sie den Satz beendete, doch dann wurde ihm klar, dass sie darauf wartete, dass er es tat. »… ha-ha-heißt«, wiederholte Sophie und nickte ihm auf munternd zu. Robert schaute an die Decke. »Heißt sie etwa ›nein‹?«, tastete er sich vor. »Machen Sie sich nicht lächerlich. Neun heißt ›IX‹. Das Fra gezeichen ist eindeutig die bildhafte Darstellung für ›why?‹ – ›warum?‹ – beziehungsweise den Buchstaben ›Y‹, den ihr Eng länder ja wie ›why‹ aussprecht. Das Auge steht ganz offensicht lich für ›see‹ – also ›sieh, sehen‹ – beziehungsweise den Buch staben ›C‹ in englischer Diktion.« »Das Auge könnte auch ›I‹ – ›ich‹ – bedeuten«, sagte Robert. »Dann ergäbe der Code aber keinen Sinn. Erst wenn man ihn richtig ausgeschrieben hat, wird deutlich, was Sauná-Spannér uns mitteilen wollte.« Sophie griff in Roberts Jackentasche, entnahm ihr das Notizbuch, zog den Filzstift aus der Spirale, schlug eine neue Seite auf und schrieb:
IXΘYC
Robert gaffte ihr Geschreibsel mit den großen Augen der ver späteten Erkenntnis an. »Ah!«, sagte er. Dann fügte er »Ahhh! Aahh! Aaaah!« hinzu, und zwar in verschiedenen Tonhöhen. Dann nieste er abrupt. Dann nahm sein Blick wieder das übli che verständnislose Glotzen an. Er stierte das Wort an. »Tja«, sagte er, nachdem zwei volle Minuten vergangen waren. »Für
mich ist das alles Griechisch.« ∗ »Sie durchschauen es also doch«, sagte Sophie erfreut. »Ich hab's doch gewusst. Ich wusste doch, dass Sie den Schussel vom Dienst nur spielen. Ich wusste doch, dass kein Mensch so blöd sein kann, wie Sie sich gestellt haben! Natürlich wissen Sie auch, dass dieses griechische Wort …« Sie schlug eine neue Seite auf und schrieb flink ein anderes Wort hin. ICHTHYS »… Ichthys heißt.« »Ja, klar«, sagte Langbeyn kopfschüttelnd. »Natürlich«, sagte Sophie, »konnte Sauná-Spannér das nicht auf die Wand schreiben. Es wäre zu offensichtlich gewesen.« »Offensichtlich«, echote Robert. »Ah!« Schon baute sich in seiner Nase der nächste Nieser auf. Er machte große Augen und öffnete den Mund. Sophie hielt dies für ein Zeichen, dass er tatsächlich sämtliche Implikationen dessen verstand, was sie gerade sagte. »Deswegen hat er es codiert. Doch dies …« Sie deutete mit dem filzigen Ende des Filzstiftes auf das Notizbuch. »… ist das …« »Haaahhhhh …« »… was er uns sagen wollte. Ichthys. Das griechische Wort für …« ∗
Wäre Dr. Langbeyn in Berlin aufgewachsen, hätte er jetzt »Ick vasteh nur Bahnhof« oder »Dat kommt mir Spanisch vor« jesagt, doch leider ist es für den Handlungsverlauf nicht ganz unwichtig, dass er »Für mich ist das alles Griechisch« sagt.
»Fschschsch!«, nieste Robert los und versuchte die Explosion zu dämpfen, indem er eine Hand vor seinen Mund hielt. Dies führte jedoch nur dazu, dass ein Haufen Schnodder daran hängen lieb. »Genau, Fisch!«, sagte Sophie. »Dieses Wort war für die Ur christen das Kürzel für ihren Glauben. Deshalb haben sie Um risse von Fischen an die Wände ihrer Katakomben gemalt, und deswegen klatschen sich manche moderne Christen ein FischSymbol auf ihre Windschutzscheibe. Weil Christus' erste Jünger aus Fischerkreisen stammten. Weil Christus zu seinen Jüngern gesagt hat, er werde Menschenfischer aus ihnen machen. Und so wurde dieses Wort …« »Chhh … tschssss«, nieste Robert erneut. »Genau – Ichthys —, ja, so wurde es in der griechischen Sprache, in der auch das Neue Testament verfasst wurde, zu einem Akrostichon. Jeder Buchstabe in ICHTHYS steht für ein griechisches Wort, und alle zusammen bilden einen wichtigen Satz: ›I‹ für Iesus, beziehungsweise Jesus, ›CH‹ für Christos, ›Th‹ und ›Y‹ für Theou Yios, ›der Sohn Gottes‹, ›S‹ für Sotor oder Erlöser. Ein griechisch sprechender Christ des ersten Jahrhun derts hätte diesen Satz so leicht gelesen wie er Luft geholt hätte. Und er hätte gewusst, dass ›Fisch‹ nichts anderes bedeutet als ›Jesus Christus ist der Sohn Gottes und der Erlöser‹.Es gab also immer eine enge Verbindung zwischen …« »Fschschschn«, machte Robert zum letzten Mal mit der Hand vor dem Mund. »… genau! Es gab eine enge Verbindung zwischen Fischen und der Christenheit: Der wunderbare Fischzug in Kapitel fünf des Lukas-Evangeliums! Jesus' Jünger waren Fischer und wur
den zu Menschenfischern gemacht!« »Genial!«, rief Sir Herbert aus. »Natürlich!« »Eine enge Verbindung zwischen Fischen und der Christen heit«, sagte Robert und rieb sich die Nase. »Eine enge Bezie hung zwischen God ∗ und Cod ∗∗ .« Er kicherte vor sich hin. »Haben Sie den auch verstanden?« Doch außer ihm schien niemand zu lachen. Sophie, die alles andere als erheitert dreinblickte, schaute ihn sogar mit einem prüden Ausdruck der Schockiertheit an. Dies wiederum ärgerte Robert. Allem Anschein nach kam er überhaupt nicht bei ihr an. »Wir haben ein tiefgründiges Geheimnis enthüllt«, sagte So phie. »Und wie hilft es uns weiter?«, sagte Robert, den Sophies und Teeboytles selbstzufriedenes Gehabe immer mehr auf die Palme brachte. »Für mich sieht es nur nach einem Haufen Fisch aus. Sauná-Spannér hustet uns übers Telefon ›Kabeljau‹ vor. Er schreibt ›Fisch‹ auf Griechisch beziehungsweise in verschlüssel tem Griechisch auf ein Wandgemälde. Er stirbt mit einem Kabeljau im Rachen. Na und? Wo ist der gerichtsverwertbare Beweis dafür, wer den Mord an ihm befohlen hat? Das wollen wir doch in Erfahrung bringen – oder haben Sie das vergessen? Die Polizei hat diesen Terminator-Typ zwar festgenommen, hält mich aber weiterhin für einen Helfershelfer. Und niemand weiß, für wen dieser Meuchelmörder gearbeitet hat! – Und«, fuhr Robert fort, wobei seine Verärgerung noch zunahm, als er ∗
Gott Kabeljau
∗∗
bemerkte, dass seine Nase dort, wo er sie angestoßen hatte, leicht blutete. »Und Sie vergeben mir bitte meinen Gedanken, dass die Polizei sicher nicht sonderlich beeindruckt sein wird, wenn ich mich stelle und sage: ›Na schön, ihr Bullen, ihr braucht mich nicht festzunehmen, weil ich nämlich einen ganzen Haufen fischig riechender Indizien habe, die meine Unschuld beweisen.‹ Also wirklich, ich frage mich: Worum geht es hier überhaupt? Dass isländische Kabeljaufischer für den Mord an Sauná-Spannér verantwortlich sind?« »Sie haben nicht aufgepasst«, sagte Sophie schnippisch. »Der Fisch ist mehr als ein Fisch. Der Fisch ist Jesus Christos Theou Yios Sotor. Vergessen Sie nicht, was Jacques oben an die Wand geschrieben hat: dass die katholische Kirche ihn hat ermorden lassen. Keine isländischen Kabeljaufischer. Fischer einer ande ren Art. Denn hat Christus nicht zu seinen Jüngern gesagt: ›Ich werde euch zu Menschenfischern machen‹? Heißt der Thron des Heiligen Petrus nicht ›der Stuhl des Fischers‹?« »Das ist auch die Bedeutung des Hakens«, sagte Sir Herbert und deutete auf den roten Dreiviertelkreis, der dem aufwärts gerichteten Zeigefinger des Heiligen Thomas hinzugefügt worden war. »Er bezieht sich gar nicht auf Pater Haken. Er bezieht sich auf einen Angelhaken.« »Ich verstehe noch immer nicht …«, wandte Robert ein und wischte sich die Nase am Ärmel ab. »Schauen Sie«, sagte Sir Herbert. »Fällt Ihnen das Detail da auf dem mittleren Fisch auf? Auf dem, der auf Jesus' Teller liegt?« Alle beugten sich vor und schauten. »Schauen Sie sich das Fischauge an«, sagte Teeboytle aufge
regt. »Es ist wie ein schwarzer Kreis mit einer winzigen weißen Lichtreflektion in der Mitte gemalt.« »Sie sieht wie ein Negativ des Θ aus!«, sagte Sophie aufgeregt. »Und die Anordnung der kleinen Pünktchen rechts um das Auge erweckt den Eindruck eines Fragezeichens …« »Sie glauben doch nicht …«, mutmaßte Sophie erschreckt.
»Lassen Sie mich mal versuchen«, sagte Teeboytle. Er streckte den Arm aus und drückte neunmal fest auf das Auge des Kabel jaus. Nach dem neunten Mal klickte es und zog sich, von einer schnurrenden mechanischen Gerätschaft angetrieben, in die Wand zurück. Dann löste sich der Bereich um die Christusge stalt – ein dreieckiger Keil des Gesamtbildes, der sich durch den Tisch zum Boden erstreckte – aus dem Bild, sank zweieinhalb Zentimeter tief in die Wand hinein und schwang auf verborge nen Scharnieren beiseite. Ein dreieckiger Eingang hatte sich mitten im Wandgemälde geöffnet. »Es ist ja so offensichtlich!«, quietschte Sophie freudig. »Die Reproduktion reicht von der Decke bis zum Boden. Doch in Santa Maria della Grazie in Mailand reicht das Original hoch über einen Eingang hinweg, durch den die Mönche ihr Refekto rium betreten oder verlassen. Die Implikation ist eindeutig:
Jacques hat dieses Wandgemälde hier platziert, um jenen, die über genügend Wissen verfügen, zu sagen: ›Es gibt einen Ein gang unter diesem Bild … eine Geheimtür, die in die geheimen unterirdischen Grüfte führt.‹« »Wie Sie schon gesagt haben«, sagte Robert und lugte in die muffig riechende Finsternis des gerade geöffneten Ganges hinein. »Es ist ganz offensichtlich.« »Kommen Sie mit«, sagte Sir Herbert. »Ich wette ein Pfund gegen einen Penny, dass die Mona Eda da unten ist … falls da unten überhaupt etwas ist.« »Wer weiß?«, sagte Sophie. »Vielleicht sogar der Heilige Gral höchstpersönlich?«
21 Sie traten nacheinander durch den Eingang. Sophie hatte glück licherweise ein Taschenlämpchen dabei, in dessen hin und her hüpfendem Schein sie sich über eine enge Wendeltreppe nach unten begaben. »Sie glauben doch nicht, dass der Meuchler auch hier unten war, oder?«, fragte Robert leicht nervös. »Ist unwahrscheinlich«, sagte Sophie. »Es sei denn, er hat Jacques' Code geknackt.« »Es wird hier unten doch wohl keine … ähm … Indiana Jones-Abwehrsysteme geben, wie?«, fragte Robert. »Aus Wandlöchern hervorschießende Giftpfeile? Riesige Steinkugeln, die uns entgegenrollen, um uns zu zerschmettern?« »Wer weiß?«, meinte Sir Herbert hinter ihm. Sein leicht irres Gelächter trug auch nicht gerade zu Roberts Beruhigung bei. Seine Fröhlichkeit warf in der Finsternis verstörende Echos. Schließlich erreichten sie das Ende der Treppe. Die Wände wichen zurück. Sie befanden sich in einem riesigen unterirdi schen Raum, der leicht nach Moder und alten Büchern roch. Außerdem war es hier pechschwarz. Nun ja, die meisten, die diese Erzählung lesen, haben bestimmt noch keine direkten Erfahrungen mit Pech gesammelt … Sagen wir, es war ungefähr so dunkel wie eine PlayStation-2-Konsole. »Hmmm«, sagte Sophie. Der Ton warf ein leises Echo. Sie leuchtete mit dem Lämp
chen hin und her, was die PlayStation-schwarze Finsternis aber nicht beeindruckte. Robert beschloss, die Ausdehnung des Raumes zu prüfen, in dem sie standen. Er tat dies mit der traditionellen und streng wissenschaftlichen Methode, indem er das Wort »Echo« in zwei deutlich hörbaren Silben in einer leicht höheren und beträcht lich lauteren Tonlage als üblich rief. » …cho«, erwiderte der Raum. »Moment mal«, sagte Sophie. »Da ist ein Lichtschalter.« Licht überflutete den grottenartigen Raum. Robert dachte auf der Stelle an das Bibelwort »Es werde Licht!«. Eintausend prächtige Kunstwerke, Skulpturen und Gemälde, Gobelins und in elegantes Leder eingebundene Wälzer waren urplötzlich zu sehen. »Mann!«, rief Sir Herbert Teeboytle. »Ich komme mir vor wie der alte Fuhrmann in Tut-Ench-Amuns Gruft.« »Ein Fuhrmann war auch dabei?«, sagte Robert, nicht ganz bei der Sache. »Wozu denn? Etwa, um die schweren Schätze aus der Gruft abzutransportieren?« »Nein«, sagte Teeboytle. »Hans-Heinrich Fuhrmann, der Spatenträger des berühmten Archäologen Howard Carter. Er war der Erste, der in Tut-Enchs Grabkammer schauen durfte. Als er gefragt wurde, ob er irgendwas sehen könne, erwiderte er: ›Ja, wunderschöne Dinge.‹« »Ach ja«, sagte Robert, der Teeboytle nicht richtig zuhörte, sondern wehmütig hinter Sophie herschaute, die durch die in diesem Raum befindlichen Schätze wanderte. »Hat er wirklich? Echt, ganze Wagenladungen voll?« Sie befanden sich in einem weiträumigen unterirdischen La
gerraum. Er war mehrere hundert Meter breit und lang und mit Statuen, Gemälden, Büchern und anderen Kuriositäten voll gestopft. »Ist das ein offizieller Lagerraum der Galerie?«, erkun digte sich Robert. »Ist es das Lager, in dem die Ausstellungsstü cke gelagert werden, für die man oben in der Galerie keinen Platz hat?« »Nein«, sagte Teeboytle. »Diesen Raum gibt es in den offi ziellen Unterlagen der Galerie überhaupt nicht.« »Eine geheime Galerie!«, sagte Robert und nahm einen stau bigen Wälzer aus einem Regal. Auf dem Rücken stand etwas, das einem Schluckauf nur förderlich sein konnte: Att. Dell. Pontif. Acad. Rom. Arch. Correc. Cod. IA xii. Dies sagte ihm ganz und gar nichts. »Wirklich erstaunlich!«, sagte er. »Verblüf fend!« »Aber wir würden Tage brauchen, um all dies genau zu un tersuchen …«, sagte Sir Herbert klagend. »Die Mona Eda könn te überall in …« »Hier«, rief Sophie vom anderen Ende des Saals. »Ich hab sie gefunden.« Die beiden Männer eilten schnell zu ihr. Sophie stand vor einer Leinwand. »Sapperlot, die echte Mona Eda«, sagte sie ehrfürchtig. »Da ist sie.«
Auf dem unteren Rand des Rahmens stand ›F.R.A.M.‹. »Das also ist sie«, sagte Sophie ehrfürchtig. »Die Mona Eda.« »Was heißt fram?«, fragte Sir Herbert. »Sie hält einen Fisch im Arm«, merkte Robert an. »Einen Kabeljau«, sagte Sophie. »Wenn man darüber nach denkt, ist es ganz offensichtlich! Jeder Kunstkritiker, der über dieses Bild geschrieben hat, hat angemerkt, es basiere auf der Tradition des Madonnengemäldes – obwohl die Madonna stets mit dem kleinen Jesus auf dem Arm dargestellt wird: Die Mut
ter Gottes und das Kind. Die Mona Lisa sitzt da. Sie lächelt geheimnisvoll. Ihre Arme liegen so, als trügen sie etwas. Trägt sie etwa nichts? Natürlich nicht! Jetzt kennen wir die Wahrheit. Leonardo hat das Bild kopiert – das Selbstporträt seiner Schwester. Er konnte jedoch den Kabeljau nicht kopieren, denn der Fisch hätte ihn in die Pfanne gehauen. Also hat er ihn einfach weggelassen, seine ›Mona Lisa‹ unpassenderweise mit leeren Armen gemalt und in seiner Komposition so eine deutli che Lücke hinterlassen.« »Aber …«, sagte Robert und raffte all sein Verständnis zu sammen. »Ich verstehe nicht. Warum einen Cod ∗ ? Bezieht er sich auf diese Conspiratio Sowieso, über die wir gesprochen haben?« »Natürlich nicht«, sagte Teeboytle. »Das Akronym COD ist ausdrücklich englisch. Im Italienischen heißt ›Cod‹ ›merluzzo‹, und so wird ›Conspiratio Opi Dei‹ ja nun mal nicht buchsta biert.« »Warum also einen Kabeljau?«, sagte Robert, dessen Frustra tion sich nun anhand der wiederholten kleinen Schlenkergesten seiner Hände zeigte. »Der Heilige Gral«, hauchte Sir Herbert Teeboytle. »Il chalice santo! Dies ist der letzte Anhaltspunkt … der uns zu ihm führen wird …« Sophie war in Schweigen verfallen und schaute sich das Bild offenbar verzückt an. Dennoch lauschte sie den Worten, die Sir Herbert sprach. Der Baronet wurde von Sekunde zu Sekunde aufgeregter … ∗
Beziehungsweise Kabeljau
»Ich vermute es schon lange … Und jetzt habe ich die finale Bestätigung! Auch Jacques muss es gewusst haben – deswegen wurde er umgebracht! Dies hat er uns mitteilen wollen, ohne dass sein Mörder etwas davon mitbekam. Das ist es!« »Was denn?«, schrie Robert. »Himmelherrgott noch mal! Werden Sie mir nun endlich erzählen, was all dies zu bedeuten hat, statt stundenlang und ohne Ende um den heißen Brei rumzureden? Warum spricht eigentlich hier niemand gerade heraus?« »Sie wollen, dass ich geradeheraus spreche?«, sagte Sir Her bert. »Na schön, dann werde ich es Ihnen mit einfachen Worten erklären.« Und während Robert und Sophie ihm zuhörten, tat er genau das.
22 Inzwischen hatte das Verhör des »Exterminators« im Verhör zimmer Nr. 1 des Polizeireviers London-Hammersmith einen Punkt erreicht, an dem jede weitere Befragung eigentlich reich lich sinnlos erschien. »Sie geben also zu«, sagte Inspektor Charles Flach müde, »dass Sie heute in den frühen Abendstunden in der Nationalga lerie waren.« »Ja!« »Aber Sie bestreiten, dass Sie irgendetwas mit dem Mord an Monsieur Jacques Sauná-Spannér zu tun haben?« »Mord? Ich habe niemanden ermordet!« »Können Sie dann noch mal erklären, was Sie in der Natio nalgalerie gemacht haben?« »Ich bin meinem Beruf nachgegangen …«, sagte der Exter minator ∗ . »In der Personalkantine, auf der hinteren Seite des Gebäudes. Die Leute da hatten 'n bisschen Ärger mit Kakerla ken, also hat man mich angerufen. Ich hatte an dem Tag viel zu tun, deswegen kam ich erst ziemlich spät in die Galerie. Aber ich hab nur Kakerlakenfallen aufgestellt, dann bin ich gegangen. Ich hab niemand nich ermordet!« »Und doch«, warf der Sergeant ein, als hätte der Mann sich ∗
Es ist nun an der Zeit, diskret darauf hinzuweisen, dass das Wort Exter minator eigentlich Kammerjäger bedeutet …
eben damit verraten, »werden Sie ›Exterminator‹ genannt.« »So heißt ehm unsere Firma, nich?«, sagte der Exterminator. »Die in der Hauptzentrale meinen ehm, 's nützt dem Geschäft, wenn wir uns so 'n bissken wie Schwarzenegger gehm. Die Leute fahrn ehm nich auf Ungeziefervernichter ab, die sich wie Warmduscher nennen, wa? Die wollen, dat-tat Viehzeuch kaltgemacht und ausradiert wird, nich in Watte verpackt und weggetragen. Ich heiß Eddie, wa? Eddie LaFinte aus South Croydon. Ich bin kein Mörder! Dat is alles 'n schreckliches Missverständnis.« Ein dritter Polizist betrat den Raum, flüsterte Flach etwas ins Ohr und verschwand. »Stimmt, Mr. LaFinte«, sagte der Inspek tor. »Ich möchte Ihnen danken, dass Sie uns bei den Ermittlun gen geholfen haben. Sieht so aus, als wäre das Band der Über wachungskamera nun ausgewertet worden. Es bestätigt Ihre Geschichte. Sie können jetzt gehen.« »Endlich!«, sagte der Kammerjäger. »Ich muss Ihnen ehrlich sagen, ich bin den Tränen nahe! Ich! Ein erwachsener Mann! Dat war ja alles ganz schön anstrengend, ehrlich!« »Tja, wie schon gesagt«, wiederholte der Inspektor müde. »Wir entschuldigen uns für jedwede Unannehmlichkeit. Aber ich weiß, angesichts der Schwere des Verbrechens, das wir untersuchen, werden Sie uns unseren Übereifer verzeihen.« Nachdem der Ungeziefervernichter gegangen war, sackte Flach auf seinem Stuhl zusammen. »Das war mal wieder alles für die Katz, verflucht!«, schimpfte er. »Tja, es sieht so aus, als sei Mr. LaFinte doch nicht für den Mord an Monsieur Jacques Sauná-Spannér verantwortlich.« »Was bedeutet«, fügte der Sergeant hinzu, »dass der Mörder
noch immer frei draußen rumläuft …« »Die ganze Schwadron soll ausrücken. Wir setzen mehr Männer auf die Galerie an. Wir müssen jetzt unseren ganzen Grips auffahren. Er könnte jederzeit wieder zuschlagen!« »Man könnte fast meinen«, sagte der Sergeant, »jemand hätte diesen Exterminatortyp als Finte ins Spiel gebracht, um uns zu foppen …«
23 »Was wissen Sie über den Heiligen Gral?«, fragte Sir Herbert Teeboytle sein zwei Köpfe zählendes Publikum. Sophie sagte nichts. Robert sagte: »Ich habe Die Ritter der Kokosnuss gesehen. Könnte uns das von Nutzen sein? Ich muss allerdings sagen, dass ich mich nicht an Einzelheiten erinnere. – Doch, das Kaninchen fällt mir ein. Und der Ritter, der die Arme und Beine abgehackt kriegt.« »Der Gral«, sagte Teeboytle etwas lauter als vielleicht nötig, »stand im Brennpunkt der legendären Suche, die die Ritter von König Arthurs Tafelrunde unternahmen.« Seine Stimme warf in der großen Kammer traurig dröhnende Echos. »Ein Gral«, fuhr er fort, »ist eine Art Kelch, ein breitrandiger, nicht sehr tiefer Behälter. Man kann auch Pokal dazu sagen. Die Gelehrten streiten sich noch darüber, wie viele Zauberkessel oder magi sche Füllhörner es in der heidnischen Mythologie gibt. Es ist gut möglich, dass die christlichen Mythen auf heidnischen basieren und nur weiter gesponnen wurden. Der Gral, um den es geht, ist angeblich jener, aus dem Christus beim Letzten Abendmahl trank und der später dazu verwendet wurde, bei der Kreuzigung sein Blut aufzufangen. Dies hat Josef von Arimatäa getan, der den Gral später nach Britannien brachte. Im Neuen Testament wird davon jedoch nichts erwähnt. Erst im 12. Jahrhundert wird dies von dem Dichter Chretien de Troyes in seiner unvollende ten Romanze Percival, oder Der Gral-Graf beschrieben. Später
haben viele andere Dichter und Künstler den Mythos aufgegrif fen, darunter auch Sir Thomas Malory in seinem aus dem 15. Jahrhundert stammenden Prosaepos Arthurs Tod. 1101 behaup tete ein Italiener namens Guglielmo Embriaco tatsächlich, er hätte den Heiligen Gral bei einem Kreuzzug ins Heilige Land entdeckt. Es sei angeblich eine breitrandige, aus einem dicken Smaragd gehauene Schale, die in der Kathedrale von San Loren zo in Genua ausgestellt wird. Spätere Ermittlungen haben jedoch ergeben, dass sein angeblicher Gral eine aus grünem Glas bestehende Fälschung war. Sie ist seither verschollen.« »Das ist ja sehr erbaulich«, sagte Robert höflich. »Die meisten Gelehrten unserer Zeit«, sagte Teeboytle und untersuchte erneut das Mona-Eda-Gemälde, »glauben nicht daran, dass der Gral wirklich ein Kelch ist. Sie sehen in ihm eher ein Symbol für die Wahrheit und das Verständnis, das man braucht, um das Heil zu erlangen. Noch genauer gesagt: Der Gral ist das Behältnis der Gnade, der göttlichen Gnade, deren Inkarnation Christus war. Anders ausgedrückt, er ist Maria … denn sie war das Christus tragende Gefäß. Der Kelch wird somit zu einem Symbol des ewig heiligen weiblichen Prinzips. Er ist das Gefäß, das das Leben und die Erlösung in sich trägt. Verstehen Sie?« »Mehr oder weniger«, sagte Robert. »Was ähm … war das noch mal im mittleren Teil?« »Maria war der Gral, Christus war der Wein, den der Gral enthielt. Die meisten Porträts der Mutter Gottes mit dem Kind sind sich dieser Symbolik bewusst. Sie zeigen eine Maria, die ihr Kind mit beiden Armen umfasst. Schaut man sich die Mona Lisa im Louvre an, erkennt man, dass sie die Arme um ihren
Schoß gelegt hat, als wolle sie etwas dichtmachen: Man denkt an eine einströmende Flüssigkeit.« Robert versuchte es sich vorzustellen. Er schaute Sophie an, doch sie sinnierte über Teeboytles Worte. »Das ist das Problem mit der Mona Lisa«, murmelte der Ba ronet vor sich hin. »In ihrer berühmten Version ist sie ein leerer Kelch. Sie ist sinnlos. Madonnen malt man immer mit einem Kind, das eine gehört einfach zum anderen. Die einzige Aus nahme von dieser Regel sind die Gemälde von Mariä Verkündi gung, als sie vom Heiligen Geist geschwängert wird, doch selbst dieses Thema ist irgendwie ›Maria mit Kind‹. Doch die Arme von Leonardos Madonna, der so genannten ›Mona‹, umfassen leeren Raum …« »Nur nicht …«, sagte Robert, der langsam verstand, was Tee boytle meinte, »… auf diesem Bild …« »Eben! Hier hat alles einen Sinn! Auf diesem Bild wiegt die Madonna ihr Kind in den Armen … Dies ist das Original! Leonardo hat es nur kopiert und von anstößigen Stellen gesäu bert …« »Ihr Kind?«, sagte Robert. »Aber es ist doch ein Fisch! Müss te es nicht Christus sein?« »Auf gewisse Weise ist es Christus«, sagte Teeboytle. »Ichthys. Ich nehme an, es ist eine Art visuelles Wortspiel … oder vielleicht …« »Ja?« »Tja … Ich vermute …« »Was denn?«, fragte Robert drängend. »Was vermuten Sie?« »Nein, die Alternative ist zu extrem, um sie auch nur in Er wägung zu ziehen.«
Nach einer geraumen Weile ergriff Sophie das Wort. »Wirk lich?«, sagte sie. »Ist sie es wirklich?« Sie drehte sich um und schaute die beiden Männer an. In ihrer rechten Hand befand sich ein Pistölchen.
24
»Sophie!«, schrie Robert.
»Mademoiselle Nerveuse!«, spritzte es aus Teeboytle heraus. ∗ »Was tun Sie da?«, fragte Robert. »Sie richten ein Schießeisen auf uns!« Er hielt kurz inne, dann sagte er: »Ich bin mir be wusst, dass es so klingt, als hätte ich eine Frage gestellt und sie dann selbst beantwortet, doch meine Aussage bezüglich der offensichtlichen Tatsache, dass Sie eine Waffe auf uns richten, beantwortet nicht meine ursprüngliche Frage, die ich hiermit wiederhole: Was tun Sie da?« »Ha!«, verkündete Sophie. »Warten Sie …«, sagte Robert plötzlich erleichtert. »Ich weiß, was passiert ist … Dies ist ein klassisches Missverständnis … Wir haben beide den Schluss gezogen, dass Sie die Waffe auf uns richten … aber in Wirklichkeit richten Sie sie auf irgendei nen Feind oder Gegenspieler, der sich heimlich von hinten an ∗
Anmerkung des Verlags: Wir möchten die Öffentlichkeit informieren, dass wir Don Brine, den Autor dieses Buches, gedrängt haben, die Formu lierung »spritzte es aus Teeboytle heraus« aus dem Manuskript zu streichen und durch »sagte der Baronet auf herkömmliche Weise und ohne jedweden nur vorstellbaren schmutzigen Hintergedanken«. Mr. Brine lehnte es ab, unseren Rat zu befolgen, und während der darauf folgenden langwierigen juristischen Auseinandersetzung entschied das Gericht zu seinen Gunsten. Die Urteilsbegründung des berühmten Spritzte-es-aus-Teeboytle-herausProzesses ist unter www.Spritzte-es-aus-Teeboytle-heraus.com einsehbar.
uns herangeschlichen hat.« Er schaute sich um, doch da war niemand. Er sah nur die umkippgefährdeten Kunstgegenstände und Bücher. Sein Blick fiel wieder auf Sophie. »Nein«, trug sie zu seiner Erleuchtung bei. »Ich richte die Waffe tatsächlich auf Sie beide. Hände hoch!« Teeboytle und Robert hoben die Hände. »Aber … aber … aber …«, sagte Robert, der nun klang wie jemand, der einen an der Waffel hat. »Aber warum denn nur, Sophie, um Himmels willen?« »Warum? Warum ich mit einer Waffe auf Sie ziele? Weil ich die Absicht habe, auf Sie zu schießen!« »Sie wollen auf uns schießen? Warum denn? Um uns zu ver letzen?« »Um sie zu töten!« Das musste Robert erst mal verdauen. »Trotz alledem«, sagte er, »bleibt Warum auch weiterhin die erste Frage, die mir einfällt.« »Meinen Sie, warum ich Sie erschieße, statt Sie auf andere Weise umzubringen? Oder warum ich Sie erschieße, statt Sie am Leben zu lassen?« »Zweiteres«, sagte Robert. »Also mich würde auch die Antwort auf die erste Frage sehr interessieren«, warf Teeboytle ein. »Tja«, sagte Sophie, trat vor und deutete mit der Pistole mal auf den einen, mal auf den anderen. »Die Antwort auf die erste Frage ist die, dass ich keinen genetisch manipulierten Fisch mehr habe, den ich euch in den Rachen stopfen kann, und diese Schusswaffe deswegen ausreichen muss.« »[Keuch] Sie haben Jacques Sauná-Spannér getötet! [keuch]«,
keuchte Robert. »Tja, ich glaube, das dürfte nun ziemlich offensichtlich sein, nicht wahr? Meine Arbeit bei Geneticon in der Schweiz, von der Jacques erst vor ganz kurzer Zeit rein zufällig erfuhr, befähigte mich, eine Fischart zu züchten, auf deren Schuppen sich Ihre Fingerabdrücke befinden. Ich habe die Eier der neuen Züchtung selbst aus dem Labor geschmuggelt. Ich habe sie persönlich in einem Teich nicht weit von hier ausgebrütet und aufgezogen. In einem Teich in einer Londoner Gartenanlage. In einem Haus, das der Conspiratio Opi Dei gehört.« »Sie gehören zu der geheimen Verschw …«, setzte Robert mit noch heftigerem Gekeuche an, doch Sophie fiel ihm ins Wort. »Ja, ja«, fauchte sie. »Ich glaube, darauf ist inzwischen jeder gekommen. Außerdem dürfte klar sein, dass sich einer dieser Fische in meiner Handtasche befand, als ich zu meiner Verab redung mit Jacques Sauná-Spannér kam. Gerade Sie, Sir Her bert, müssten wissen, dass mein Oberkörper über geradezu unmenschliche Kräfte verfügt. Ich habe Sie schließlich ohne das geringste Problem in Ihrem Hause niedergerungen.« »Ja, tatsächlich«, erinnerte sich Sir Herbert – fast wehmütig. »Bevor Sie mir die Manschetten umlegten. Mit ›Manschetten‹«, fügte er der Klarheit wegen hinzu, »meine ich natürlich die Handschellen.« »Natürlich«, sagte Robert. »Meine Fähigkeiten«, sagte Sophie mit einem Anflug von Stolz, »basieren auf dem Wissen der besten Kampflehrer der Conspiratio. Ich hatte keinerlei Schwierigkeiten, den armen Jacques zu überwältigen … aber er erwies sich als stur. Er weigerte sich, mir zu sagen, wo sich die Mona Eda befindet –
auch dann noch, als ich ihn folterte und seinen Kopf mit den Heiligen Kiemenmarkierungen kennzeichnete …« »Die Schnitte!«, sagte Robert vorwurfsvoll. »Die Schnitte, die an seiner Leiche gefunden wurden!« »In den Geheimlehren der Conspiratio haben sie eine tief ge hende mystische Bedeutung«, sagte Sophie. »Doch SaunáSpannér wollte mir nicht sagen, was ich wissen musste. Ich habe ihn in seinen Schreibtischsessel geworfen und sein Büro durch sucht. Doch als ich ihm den Rücken zuwandte, drückte er die automatische Wahl einer Nummer … Ich war wie der Blitz bei ihm und habe ihm einen Schlag auf den Brustkorb versetzt. Er hat vor Schmerzen gehustet, und zwar in den Hörer hinein. Damals wusste ich nicht, was das Husten bedeutete, doch jetzt …« Sie lächelte selbstzufrieden. »Dann habe ich ihn in die Mitte des Raumes geschleift und den Kabeljau in seinen Rachen geschoben. Er wusste, dass er nichts mehr zu bestellen hatte. Also habe ich den Raum weiter durchsucht, während er auf dem Boden langsam erstickte. Ich habe ihm den Rücken zuge wandt, weil ich seine Sturheit unterschätzt hatte. Obwohl er wusste, dass er den Kabeljau nicht mehr entfernen konnte, krabbelte er weg … Und dann hat er mit seinem eigenen Blut diese seltsame Botschaft im Korridor aufs Letzte Abendmahl geschrieben. Anschließend hat er sich die Treppe hinaufge kämpft. Ich bin ihm gefolgt, doch als ich ihn erreichte, war er tot. Also kehrte ich zum Wandgemälde zurück und habe über die eigenartige Botschaft gestaunt.« »Das würde auch erklären«, sagte Robert, »wie Sie mitten in der Nacht in der Galerie so plötzlich aus dem Nichts erschie nen, obwohl es hier von Polizisten wimmelte.«
»Natürlich. Ich habe die Polizei kommen hören. Dann hörte ich Ihre Stimme. Stellen Sie sich meine Überraschung vor! Nach dem ganzen hinter mir liegenden Ärger, um den berühmtesten Londoner Fachmann für Codes und Geheimkommunikation reinzulegen, tauchte er plötzlich höchstpersönlich hier auf. Die Polizei hatte ihn geholt. Ich musste mir spontan etwas ausden ken – also trat ich als Angehörige des Süßetee auf.« »Haben wir die Antwort auf Frage zwei eigentlich schon ge hört?«, wandte Sir Herbert ein. »Bitte?« »Sie wissen doch … Es waren zwei Dinge. Die eine lautete: ›Warum erschießen Sie uns, statt uns auf andere Art umzubrin gen?‹ Diese Frage hat Mademoiselle Nerveuse mit ihrem Bericht über die Aufzucht der neuen Kabeljauart beantwortet. Die andere Frage lautete: ›Warum erschießen Sie uns, statt uns am Leben zu lassen?‹ Und ich bin an der Beantwortung dieser Frage sehr interessiert. Offen gesagt, bin ich eher an meinem Weiter leben als an meinem Tode interessiert. Ich nehme an, das Sie nichts dagegen haben.« »Ich schon«, sagte Sophie. »Aber warum denn?«, winselte Robert. Oder fragte er einfach nur? Na ja, angesichts der Situation bleiben wir wohl lieber bei »winseln«. »Warum wollen Sie uns töten? Und wo wir schon mal dabei sind: Warum mussten Sie Jacques unbedingt töten?« »Ich fürchte«, sagte Sophie und warf einen kurzen Blick auf das Gemälde hinter ihr, »dass Sie und Sir Herbert schon zu viel erfahren haben. Monsieur Sauná-Spannér war drauf und dran, das Hauptgeheimnis der Conspiratio zu enthüllen – das Ge heimnis, auf das dieses Gemälde nur allzu beredt anspielt. Doch
geht es hier um ein Geheimnis, das meine Organisation seit zweitausend Jahren hütet. Ein Geheimnis, das zu verheerend wäre, würde die Welt es erfahren. Ein Geheimnis, dessen Be wahrung hin und wieder auch einen Mord erforderlich macht.« »Aber Sie brauchen mich doch nicht zu ermorden«, sagte Robert aufgekratzt. »Ich hab doch nicht die Bohne Ahnung, worum es bei diesem Geheimnis geht.« »Ich fürchte, ich kann mich in dieser Angelegenheit nicht auf Ihr Wort verlassen, mein lieber Robert – nicht angesichts der Vorstellung, dass sie der führende Experte auf dem Gebiet des Entzifferns von Geheimschriften und des Aufdeckens von Geheimnissen sind.« »Aber darum geht es doch gerade!«, sagte Robert erfreut. »Ich bin nur ein Schwindler! Ich hab nicht die geringste Ah nung, wie man irgendwas entschlüsselt! Ich sag's Ihnen … Diese Quizsendungen im Fernsehen, wo man anrufen kann, damit der Sender mit den Telefongebühren ein Vermögen verdient … Sie wissen schon, wo man Dinge gefragt wird wie: ›Wer hat Goethes Faust geschrieben?‹ War es a) Klopstock, b) Schiller oder c) Goethe … Also, bei der Hälfte dieser Fragen weiß ich nie, wie die Antwort lautet!« »Sie werden mir gewiss verzeihen«, sagte Sophie mit eiskalter Stimme, »wenn ich Ihnen nicht ganz glauben kann. Sie haben gewusst, dass Ichthys ein griechisches Wort ist und ›Fisch‹ bedeutet.« »Ich hab doch nur geniest!« »Sie kannten sogar die geheimste Formel, das heilige Mantra im Zentrum der Geheimen Conspiratio …« »Nein, kannte ich nicht! Kannte ich nicht!«
»Sie haben es erst vor fünf Minuten ausgesprochen! Bei Ihrer Bemerkung hinsichtlich der engen Verbindung zwischen Fisch und Christentum.« »Was«, sagte Robert schnodderig. »Das Witzchen mit Cod und God?« Das Lächeln, das er aufsetzen wollte, verblasste auf seinen Zügen. Sophie hatte seine Worte nicht witzig gefunden. Sie musterte ihn tatsächlich sehr ernst. »Deswegen muss ich Sie beide erschießen! Sie wissen zu viel. Sie kennen die sakrale Entsprechung. Unserer Organisation – der freimaurerisch illuminierten Mafia des Opus Dei Piscinum – gehören Menschen an, die seit Jahrzehnten treu gearbeitet haben, ohne je die Ebene zu erreichen, die man erreichen muss, um von der sakralen Entsprechung zu erfahren.« »Was?«, plapperte Robert. »Was? Cod und God? Das können Sie doch nicht im Ernst meinen!« »Sie haben es schon wieder gesagt! Sie haben die sakrale Ent sprechung zweimal rezitiert! Täten Sie es in einem Zeitraum von drei Minuten dreimal … bräche eine Katastrophe über uns herein. Ich weiß nicht, wie Sie hinter das Geheimnis gekommen sind … Sie sind vermutlich viel gerissener und rücksichtsloser, als ich dachte. Ich bin verlockt, Sie auf der Stelle zu erschießen, sie zu töten, bevor Sie die blasphemische Trilogie der sakralen Entsprechung aussprechen können und über uns alle die Ka tastrophe hereinbricht …« »Tu ich nicht!«, quäkte Robert. »Tu ich ja gar nicht! Nicht schießen!« »Aber Jesus ist doch nur symbolisch gesehen ein Fisch«, sagte Teeboytle. »So was nennt man Metapher. Man darf es nicht wörtlich nehmen.«
»Pah!«, sagte Sophie. »Wer die sakrale Entsprechung kennt, muss auch wissen, dass sie weit mehr ist als nur eine Metapher. Er muss wissen, dass sie buchstäblich die Wahrheit ist – das große Geheimnis, das die menschlichen Religionen und Philo sophien nur verschwommen ahnen.« »Kann ich die Arme jetzt runternehmen?«, fragte Robert. »Meine Hände fangen so komisch an zu prickeln.« »Nein!«, fauchte Sophie. »Außerdem wird es langsam ermüdend«, sagte Robert ge reizt. »Ist mir schnurz.« »Meine Muskeln tun weh.« »Soll das heißen, dass die katholische Kirche tatsächlich ei nen Kabeljau anbetet?«, sagte Sir Herbert. »Also im Sinne des Wortes? Das Zeug, aus dem man Fischstäbchen macht?« »Ja, tun Sie doch nicht so!«, sagte Sophie unwirsch. »Sie ken nen die Wahrheit doch ebenso! Sie müssen doch wissen, dass nur die höchsten Seniormitglieder der katholischen Kirche die wahre Grundlage ihres Glaubens kennen. Sobald man den Heiligen Gral sieht, kennt man die Wahrheit. Die meisten normalen Katholiken sind freilich mit der Scheinbedeutung der Kirche zufrieden. Die meisten normalen Katholiken denken nicht groß darüber nach, dass sie ganz und gar auf den Kabeljau vertrauen.« »Ich verstehe wirklich nicht …«, sagte Teeboytle. »Wie wäre es, wenn ich die Hände hinter meinen Kopf tue?«, schlug Robert vor. »Dann wären sie ja eigentlich noch immer oben, aber ich könnte die Gelenke auf meinen Schultern abstüt zen …«
»Ruhe!«, sagte Sophie. »Sie behalten die Hände dort, wo sie sind!« Sie standen stramm. Sophie umrundete sie. Sie kehrte zu dem Gemälde zurück und schaute es sich noch einmal an. Der Lauf ihrer Pistole fuhr den gewundenen Weg entlang, den der Fluss auf der linken Bildseite nahm, bevor er in die Bucht mündete. »Wasser«, sagte sie mehr oder weniger zu sich selbst. »Haben Sie sich nie gefragt, warum der christliche Glaube so viel mit Wasser zu tun hat? Mit Wasser wird der Christ getauft. Wa rum? Jesus ist übers Wasser geschritten. Wasser war sein Ele ment. Er hat es völlig beherrscht. Sie kennen natürlich die vier Elemente des aristotelischen Weltbildes – mit den vier Kreuz armen?« Sie skizzierte flink ein solches mit der Waffe in die Luft und benannte jedes Element, indem sie seinen Namen aus sprach und es mit dem Pistolenlauf markierte: LUFT FEUER WASSER
ERDE »Das Christentum ist die Religion, in der massenhaft Wasser vorkommt. Genauer gesagt: Die Christenheit ist von der Har monie zwischen Meer und Land besessen … zwischen – wie die Bibel es nennt – Brot und Fisch.« »Deswegen ist Gott doch kein Kabeljau«, warf Teeboytle ein. »Wie wäre es, wenn ich zur Wand rübergehe«, sagte Robert, »und mich mit den Händen irgendwo ranhänge … damit ich ihr Gewicht nicht mehr halten muss? So ist es wirklich sehr
anstrengend.« »Hören Sie … Wollen Sie die Hintergründe der ganzen Ver schwörung hören, bevor ich Sie erschieße?«, verlangte Sophie zu wissen. »Oder wollen Sie mir weiter die Ohren voll heulen, wie ermüdet Ihre Arme sind, damit ich Sie erschieße und Sie die wahren Hintergründe nie erfahren?« »Sapperlot!«, sagte Robert getroffen. »Ersteres. Vermute ich.« »Eben. Dann hören Sie jetzt auf zu heulen und hören zu. Damit meine ich speziell Sie, Robert. Sie nicht, Sir Herbert. Sie haben schon genug Fragen beantwortet. Ich möchte, dass Robert folgende Frage beantwortet: Was ist das Erste, das Gott laut der christlichen Bibel tut?« Robert war vielleicht als Anagrammologieprofessor eine Nie te, aber die Antwort auf diese Frage kannte sogar er. »Er schuf das Licht«, sagte er. »Das weiß doch jeder. Zuerst sagt er: ›Es werde Licht.‹ Dann scheidet er die Helligkeit von der Dunkel heit und nennt das Helle Tag und das Dunkle Nacht.« »Aber davor«, drängte Sophie. »Sie haben Recht, Robert. Je der weiß es. › Es werde Licht.‹ Fiat lux. Doch bevor er das Licht erschafft – und den Tag und die Nacht –, und bevor er die Sonne, den Mond und die Sterne, das Land, die Tiere und den Menschen erschafft … Bevor er irgendwas davon erschafft, wissen Sie, was da in der Bibel steht?« »Ich hab das Gefühl, Sie werden es mir gleich sagen.« »Ich kann es Wort für Wort rezitieren. Den Anfang der Ge nesis. ›Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. Gott sprach: Es werde Licht. Und es ward Licht.‹« Sophie schaute ihn triumphierend an. »Da ist es – das wichtigste Indiz überhaupt! Versteckt vor aller Augen ganz am
Anfang des meistgelesenen Buches dieses Planeten!« »Die Urflut …«, murmelte Robert. »Genau! Wasser hat schon existiert, bevor Gott irgendetwas erschuf! Dieser Satz beinhaltet, dass das Wasser schon vor Gott existierte! Fragen Sie sich, warum Wasser dem Christentum so wichtig ist? Wasser ist das Urmedium. Das Wasser ist Gott … und Gottes Geist bewegt sich durch das Wasser, bevor er sich übers Wasser bewegt.« »Sie meinen …?« »Dieser religiöse Mythos beinhaltet eine entscheidende Wahrheit. Das Leben begann im Wasser. Die Bibel berichtet von der Erschaffung des Lebens an Land … doch sie macht gleich zu Anfang deutlich, dass die Erschaffung des Landes der Urflut folgte. Die Wissenschaft weiß dies seit Jahrhunderten: Das Leben hat sich zuerst im Meer entwickelt.« »Noch was«, sagte Robert. »Ich meine, mal abgesehen von meinem wehen Arm, der eigentlich immer weher tut, möchte ich sagen, dass … Also, ich muss mal.« Sophie schaute ihn fassungslos an. »Auf die Toilette?« »Ja, um mich zu erleichtern«, erklärte Robert mit leicht prü der Miene. »Ich hab nämlich so einen Druck auf der Blase. Und das ganze Gerede über Wasser macht die Sache auch nicht leichter.« »Maul halten. In einer Minute sind Sie ohnehin tot.« Sophie richtete die Waffe auf ihn. »Sie haben leicht reden«, sagte Robert. »Sie sind ja auch nicht diejenige, die sich gleich ins Höschen macht.« »Was soll der Quatsch, dass sie kurz vor Ihrem Ableben noch auf die Toilette wollen?«
»Nun ja, ich möchte halt nicht mit einer vollen Blase ster ben.« »Robert«, mischte Teeboytle sich ein. »Könnten wir bitte wieder zu dem Thema zurückkehren, über das wir gerade gesprochen haben? Es ist wirklich sehr interessant …« »Ich sage doch nur, dass es kein erfreuliches Gefühl ist, wenn man eine randvolle Blase hat.« »Wenn Sie noch eine Minute warten können«, fauchte So phie, »schieße ich Sie tot, und dann werden Sie das unerfreuli che Gefühl nicht mehr haben.« »Ja, und wenn doch?« »Was reden Sie denn da?«, kreischte Sophie wütend. »Dann sind Sie doch tot!« »Aber solange ich noch lebe …« »Maul«, sagte Sophie laut, »halten!« »Mademoiselle Nerveuse«, sagte Sir Herbert, »falls ich mal kurz … Sie sagen, dass das Leben zuallererst im Meer entstand.« »Ja«, sagte Sophie und wandte sich wieder Teeboytle zu. »Aber doch kein intelligentes Leben!«, wandte Sir Herbert ein. »Es sei denn, Sie meinen Delphine …« »Delphine?«, schnaubte Sophie. »Intelligent? Doch wohl kaum. Sie sind die Hunde des Meerkönigreiches: eifrig, neugie rig, aber doch nicht intelligenter als Welpen.« »Dann …« »Denken Sie nach!«, sagte Sophie fast wütend. »Das Leben existiert seit einer halben Milliarde Jahre an Land. Würden Sie in die Vergangenheit reisen, in die Periode des Trias, würden Sie nicht damit rechnen, auf intelligentes Leben zu stoßen. Und warum nicht? Weil Sie instinktiv wissen, dass Intelligenz viele
Millionen Jahre braucht, um sich zu entwickeln. Deswegen ist der moderne Mensch intelligenter als die ersten Hominiden: Wir hatten mehr Zeit, uns zu entwickeln. Auf die Zeit kommt es an! Wir wissen es zwar nicht, aber in weiteren fünfzig Millionen Jahren entwickeln vielleicht die Pferde ein Bewusstsein.« »Hören Sie mal …«, sagte Robert. »Kann ich vielleicht ein bisschen auf der Stelle hüpfen? Wenn ich von einem Bein aufs andere springe, lenkt es mich vielleicht von …« Sophie beachtete ihn nicht. »Sie wissen, Intelligenz ist das Ergebnis der Evolution über lange Zeiträume hinweg! Sie wissen es! Und wo hat das Leben angefangen? Im Meer! Welcher Lebensbereich hatte die längste Periode ununterbrochener evolutionärer Aktivität? Das Meer! Dort hat das Leben zweimal so lange existiert wie an Land! Wenn sich im Laufe einer halben Milliarde Jahre an Land intelligentes Leben entwickeln kann, ist es dann keine logische Folgerung, dass sich im Meer in der doppelten Zeit doppelt so intelligente Wesen entwickelt haben müssen?« »Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Sir Herbert. »Aber ich glaube, ich sehe auch den Quatsch in Ihrer Argumen tation.« »Da gibt's keinen Quatsch! Oder haben Sie Matsch gesagt? Meine Argumentation steht aber nicht auf matschigem Boden, sondern auf festem – und zwar auf dem steinharten Untergrund der Wahrheit. Nicht auf Matsch!« »Der Quatsch besteht darin«, sagte Teeboytle, »dass Intelli genz sich in einem Tier auch zeigen muss – es muss Beweise dafür geben. Aber wo sind denn die unter Wasser lebenden Humanoiden? Wie oft ziehen Fischer in Netzen sprechende
Lebewesen hoch? Wo sind die unterseeischen Städte?« »Wir reden hier«, sagte Sophie leicht verschnupft, »über In telligenzen, die der Menschheit weit, weit voraus sind. Können Sie sich vorstellen, wie weit entwickelt die Menschheit in einer Milliarde Jahre sein wird? Würde ein solches Wesen durch die Zeit zurückreisen, würde es doch ganz bestimmt wie ein Gott wirken. Sie fragen, wo die Städte sind? Ich sage, sie sind gut verborgen. Sie fragen, wieso das intelligente Meeresleben den Fischern nicht ins Netz geht? Ich sage, dieses Leben ist intelli gent genug, um einem solchen Schicksal ausweichen zu können …« »Aber …«, sagte Teeboytle, »aber denkende Kabeljaus? Das ist doch unfassbar.« »Sie denken nicht nur … Sie tun viel mehr … Die Geschöpfe, die Sie Kabeljau nennen, verkörpern in Wirklichkeit die trans zendentale Weisheit. Sie sind die Götter dieser Welt. Sie haben schon vor Jahrmillionen Computer erfunden. Warum sonst, glauben Sie, arbeiten Computer mit Binärcode? Sind Sie noch nie auf die Idee gekommen, dass ein Computer, den ein Mensch mit zehnfingrigen Händen erfunden hat, auch mit einem zehn stelligen Code arbeiten müsste? Computer laufen mit Binärco de, weil Kabeljaus mit binären Zahlen rechnen. Nicht mit zehn Fingern, sondern: linke Flosse, rechte Flosse.« »Das ist ja höchst bizarr«, sagte Robert. »Aber ich möchte nur darauf hinweisen, dass meine Hände jetzt aber wirklich ganz ungeheuerlich prickeln, nachdem ich sie so lange hoch gehalten habe.« »Sie haben etwas mit uns vor«, sagte Sophie. »Sie führen uns auf dem Weg nach oben. Von Zeit zu Zeit geben sie ein Stück
neuer Technik für die Menschen frei … Computer sind ein gutes Beispiel. Sie stehen in ihrer Intelligenz so weit über uns wie Götter!« »Doch menschliche Fischer ziehen sie zu Millionen mit Net zen aus dem Meer!«, sagte Teeboytle. »Wir essen Kabeljau! Wir machen Dünger aus ihnen, bis die Schwarte kracht! Wenn die Kabeljaus wirklich so viel intelligenter wären als wir, würden sie uns dann nicht daran hindern?« »Stimmt«, sagte Sophie. »Aber die Fischlein, die die Men schen aus dem Meer holen, sind gar keine voll entwickelten Kabeljaus. Es sind eher … sagen wir mal … Spermatozoen. Sie wimmeln auf stumpfsinnige Weise durch die Meere. Doch nur einer oder zwei der vielen Milliarden eines jeden Jahres entwi ckeln sich zu einem wirklich erwachsenen, intelligenten Kabel jau – vierzig Meter lang, voller Muskeln und Hirn – und leben in den riesigen, auf dem Meeresboden versteckten Städten, deren Schönheit und Komplexität Sie nicht mal ahnen kön nen!« »Sperma?«, wiederholte Robert irgendwie angewidert, da er an all den Fisch dachte, den er in seinem Leben schon verspeist hatte. »Kümmert einen echten Kabeljau der Verlust so vieler Milli onen unreifer Fische? Kümmert es Sie, ob Sie ein, zwei oder ein paar Millionen Spermien vergeuden? Natürlich nicht.« »Aber wo sind denn die riesigen Städte, von denen Sie spre chen?«, fragte Teeboytle. »Versteckt, damit die neugierigen Blicke der Menschen sie nicht sehen«, sagte Sophie. »In den tiefen Gräben am Ozeanbo den.«
Nun trat eine Pause ein. »Das Bild da«, sagte Sophie und wandte sich dem Gemälde zu. »Würde es je das Tageslicht erblicken, würde es Scharen von Gelehrten auf den gleichen Weg führen, den Sie schon beschrit ten haben. Sie würden die Wahrheit über Eda Vinci enthüllen, ihre Mitgliedschaft in der Conspiratio Opi Dei aufdecken. Das Geheimnis im Zentrum dieser Organisation. Die sakrale Ent sprechung! Den Aufenthaltsort des Heiligen Grals. Deswegen wurde mir befohlen, das Bild zu suchen … um es mit nach Avignon zu nehmen, ins europäische Zentrum der C.O.D. Sie können sich bestimmt vorstellen, wie es mich frustriert hat, auch nach der Folterung und Tötung Sauná-Spannérs das Versteck nicht finden zu können! Deswegen muss ich Ihnen beiden danken … Ohne Ihre Hilfe wäre ich nie in diesen ge heimen unterirdischen Lagerraum vorgedrungen. Ich habe vorgegeben, ich sei ebenso interessiert und ahnungslos wie Sie. Doch nun, da die Wahrheit enthüllt ist, muss ich Sie töten.« Sophie nahm die Mona Eda von ihrem Platz an der Wand und schob sie zum Türrahmen hin. Als ihre Aufmerksamkeit kurz abgelenkt war, beugte Teeboytle sich ein Stück zu Robert vor. »Sie hat einen verhängnisvollen Fehler gemacht!«, zischte er. »Den üblichen Fehler des verbrecherischen Bösewichthirns!« »Und ich hatte schon ein Auge auf sie geworfen«, flüsterte Robert traurig. »Ich wollte sie fragen, ob sie mit mir ausgeht.« »Sie konnte nicht widerstehen, uns alles über ihren bösarti gen Plan zu erzählen! Das bedeutet, dass sie uns die Zeit gege ben hat, einen Gegenangriff zu formulieren! So dumm kann nur ein Schulmädchen sein!« »Ein Rendezvous!«, hauchte Robert. »Ich wollte wirklich mit
ihr ausgehen. Aber jetzt nicht mehr! Ich hab bei Frauen ja schon allerhand erlebt: Genörgel jämmerliche Zahnhygiene, Desinteresse an Sport, Stofftiere im Bett. Aber eins ist mir wirklich noch nicht untergekommen: Dass eine Frau versucht hat, mich zu ermorden. Also, bei so was werde ich ja pingelig.« »Das ist jetzt unwichtig«, zischte Teeboytle. »Wir müssen unseren Gegenangriff koordinieren! Bevor sie uns tötet und mit dem Bild abhaut!« »Was für einen Gegenangriff?« »Den, den wir besprochen haben, als sie damit beschäftigt war, uns das schreckliche Geheimnis hinter ihrem Verbrechen zu erzählen.« »Aber ich habe doch gar keinen Gegenangriffsplan formu liert«, sagte Robert. »Ich war zu sehr damit beschäftigt, dem zu lauschen, was sie gesagt hat – dass der Kabeljau Gott ist und in verborgenen Städten unter dem Meer lebt und so weiter. Haben Sie den Gegenangriffsplan nicht formuliert?« »Mein lieber Freund«, zischte Teeboytle, »ich halte es wirk lich nicht für gerecht, wenn Sie davon ausgehen, dass ich die ganze Arbeit mache … wo wir doch zusammen in dieser Klemme sitzen.« »Tja, was sollen wir jetzt tun?« »Vielleicht hat ihr Gerede uns genügend Zeit verschafft, dass eine dritte Gruppierung uns auf überraschende Weise retten kann … Oh, nein! Da kommt sie schon wieder zurück!« »Was«, sagte Sophie und richtete ihre Pistole auf Roberts Na senrücken, »tuschelt ihr beiden da miteinander?« »Wir haben nur«, sagte Teeboytle, »über die faszinierenden Einzelheiten diskutiert, mit denen Sie uns gerade beehrt haben.«
»Wir haben«, sagte Robert, »über Fische gesprochen. Nicht darüber, dass wir unsere Flucht planen oder so was. Wir haben eindeutig über Fische gesprochen.« »Flucht!«, sagte Sophie. »Ha! Ein Entkommen ist unmöglich. Tut mir Leid, dass ich das sagen muss.« Sie hob ihre Pistole, zielte auf Robert und übte Druck auf den Abzug aus. »Warten Sie!«, sagte Sir Herbert. »Sie können uns noch nicht erschießen! Sie haben uns zwar eine Menge über das Geheimnis der Conspiratio erzählt … aber nicht alles. Was ist mit dem Aufenthaltsort und der wahren Natur des Heiligen Grals? Darüber haben Sie uns ja überhaupt nichts erzählt, oder? Es wäre doch eine Affenschande, uns zu töten, bevor Sie uns das erzählt haben …« »Er hat echt Recht«, sagte Robert. »Das ist doch ein ungelös tes Rätsel, finden Sie nicht auch?« »Der Aufenthaltsort des Heiligen Grals«, sagte Sophie sinnie rend. Sie warf einen Blick hinter sich – auf das Gemälde. »Nun, ich würde es Ihnen gern erzählen. Aber ehrlich gesagt – mir hängt die ganze Disputiererei ziemlich zum Halse raus.« Sie richtete ihre Kanone auf Sir Herbert und betätigte den Abzug. Robert ließ die Arme sinken und zuckte zwei Schritte zurück. Der Lärm fiel in dem grottenähnlichen Raum so er schreckend und ohrenbetäubend aus, als werde eine dicke Eisenplatte von gigantischen Händen auseinander gebrochen. Es war umwerfend. Robert wankte, als wäre auf ihn geschossen worden, und verbarg das Gesicht in den Händen. Teeboytle ging wie eine Schießbudenfigur zu Boden. Er war in den Bauch getroffen worden. Robert richtete sich wieder auf, roch den ätzenden Kordit
gestank in der Luft und musterte Sophie. Kordit ist ein explosi ves Treibgas. Den beiden Hauptbestandteilen Nitrozellulose und Nitroglyzerin hat man bei den gegenwärtig meistverbreite ten Korditsorten ein wenig Nitroguanidin zugefügt. Man ver wendet es ebenso bei Feuerwaffen wie als Raketentreibstoff. Der Name stammt von einer frühen Version des Sprengstoffes, den die britischen Erfinder Sir Frederick Abel und Sir James Dewar 1889 kreiert haben, indem sie 58 % Nitroglyzerin, 37 % Schieß baumwolle und 5 % Vaseline mischten. Dieses Material wurde bei der Herstellung in spaghettiartigen Strähnen ausgestoßen und deswegen Kordelpulver genannt, was dann als Kordit abgekürzt wurde. Ist das nicht wahnsinnig interessant? Aber natürlich möchte ich den spannenden Ablauf der Handlung keineswegs unterbrechen. Robert schaute Sophie also an. Ihr Gesicht zeigte keine Re gung. Von der Pistole stieg ein schnürriemendünnes Rauch wölkchen in die Luft und fing entlang seines bleichen, sich schlängelnden Leibes das Licht ein. Dann schaute Robert zu Teeboytle hinab. Auf den ersten Blick konnte er nicht allzu viel Blut erkennen, obwohl die Weste des Adeligen da und dort – neben den beiden Bakelitknöpfen – ein wenig ferkelig aussah. Es wirkte aber nicht schlimmer als ein dunkler Soßenfleck, den ein unvorsichtiger Kellner möglicherweise in seinem Club draufgespritzt hatte. »Teeboytle!«, schrie Robert und begriff im gleichen Moment, wie blöd dieses Wort in den Ohren eines Menschen klingen musste, der gerade den Raum betrat, ohne zu wissen, wie der Baronet hieß. »Au, ich bin getroffen«, ächzte Sir Herbert und schaute zur
Decke hinauf. Seine Aussage schien ihn wütend zu machen, denn er zuckte zusammen, verzog das Gesicht und wälzte sich am Boden herum. »Wie dämlich!«, sagte er. »Was bin ich doch für ein Idiot! Ich werde sterben … Fällt mir denn wirklich nichts Besseres ein als das? Das sind doch keine berühmten letzten Worte! Ich Idiot!« »Strengen Sie sich nicht an, Teeboytle«, sagte Robert. »Wir holen einen Krankenwagen. Bleiben Sie liegen, rühren Sie sich nicht von der Stelle …« »Niemand wird den alten Teeboytle auf der Grundlage von ›Au, ich bin getroffen‹ ins Oxford-Verzeichnis der Berühmten Letzten Worte aufnehmen, nicht wahr?«, jammerte Sir Herbert. Aus seiner Nase lief Blut. Er wollte sich auf die Seite legen, doch der Schmerz ließ ihn keuchen und aufschreien, und so fiel er wieder auf den Rücken. »Also, das ist aber ärgerlich«, sagte er. »Wirklich ärgerlich!« »Seien Sie bitte still, Sir Herbert«, sagte Robert drängend. Er bewegte sich auf den hingestreckten Baronet zu, hielt jedoch aufgrund eines einzelnen Kopfschütteins Sophies und des Anblicks ihrer geradewegs auf seinen Bauch gerichteten Waffe inne. »Was Sie auch tun, sagen Sie kein Wort mehr. Und blei ben Sie still liegen!« »Da hatte ich nun mein ganzes Leben lang genug Zeit, um mir ein paar wirklich interessante letzte Worte auszudenken, und alles, was mir einfällt, ist ›Au, ich bin getroffen‹. Was für ein Elend!« »Kommen Sie, mein lieber Freund«, sagte Robert. Er ver spürte große Überraschung, denn über seine Wangen liefen Tränen. Nun sah er schon mehr Blut. Es breitete sich rasch und
schwärzlich auf dem Boden aus, wie Tinte, die aus einem Kapil largefäß auf Löschpapier läuft. Der Staub des alten Lagerraums schien Sir Herberts Blut mit unerfreulichem Eifer aufzusaugen. »Hören Sie, ›Au, ich bin getroffen‹ sind nicht Ihre letzten Wor te. Seit Sie ›Au, ich bin getroffen‹ gesagt haben, haben Sie schon ziemlich viel anderes gesagt. Die letzten Worte, die man sagt, sind laut Definition immer die letzten Worte, die man sagt.« »Sie haben vermutlich Recht«, sagte Sir Herbert etwas leiser und offenbar auch beschwichtigt. Eine wie von einem Maler gezogene rote Linie kam aus seiner Nase, bog von seinem Mund ab und zog einen Pfad über die Seite des Baronet-Gesichts. Dann zuckte Sir Herbert wieder und seine Miene verzog sich vor Abscheu. »Aber eins ist noch schlimmer: Nun werden ›Sie haben vermutlich Recht‹ meine letzten Worte sein. Das ist doch wohl kaum besser als ›Au, ich bin getroffen‹. Eigentlich ist es sogar schlechter. Es ist so fade! Also, wie wahrscheinlich ist es denn, dass die Leute in ein paar hundert Jahren zueinander sagen: ›Erinnerst du dich noch an Herbert, den siebenundzwan zigsten Baronet Teeboytle? Seine letzten Worte waren Sie haben vermutlich Recht.‹ An so was erinnert sich doch kein Mensch! – Hurz! Hurtz! Hurtz!« Der Klarheit wegen sollte ich vielleicht darauf hinweisen, dass er diese drei Worte nicht sagte. Sie stehen nur so da, um den Husten zu symbolisieren, der nicht nur seine Lungenflügel zucken, sondern auch Blutspritzer über seine Lippen fliegen ließ. »Oh, warum fallen mir nur keine berühmten letzten Worte ein, die meiner würdig sind?«, keuch te er. »Da sind sie doch!«, sagte Robert eifrig. »Das reicht doch! Sie sind vollkommen – klug und auf sie selbst bezogen, gleichzeitig
repräsentativ für den hohen Standard Ihres hinterfragenden Geistes und der postmodernen Logik der zeitgenössischen Existenz, in der es nicht auf den Tiefsinn einer Aussage an kommt, sondern auf ihre dekonstruierende Ironie, die den Geist einer Epoche verkörpert. ›Oh, warum fallen mir keine berühm ten letzten Worte ein, die meiner würdig sind?‹ – das funktio niert genial als ironischer Kommentar über die Unmöglichkeit tiefsinniger Aussagen in der Welt der Postmoderne.« Sir Herbert schien etwas sagen zu wollen, doch Robert fiel ihm ins Wort. »Nein, sagen Sie nichts mehr, alter Knabe. Ver derben Sie nicht den Augenblick … Ihnen sind die idealen letzten Worte eingefallen.« Teeboytle ächzte. »Kein weiteres Wort mehr, mein Freund«, sagte Robert ein dringlich. »Ich bestehe darauf.« Und so sagte Sir Herbert Teeboytle nichts mehr. Und wie der Zufall es wollte, sagte er nie wieder etwas. Eine unnatürliche Stille breitete sich in dem kleinen Raum aus. Robert wandte sich zu Sophie um. »Sie Ungeheuer!«, sagte er erhitzt. »Sie haben einen Baronet getötet!« Seine Empörung bezwang für einen Augenblick seine natürliche Zaghaftigkeit. »Ich lasse Sie nicht straflos davonkommen«, schwor er. »Ich werde dafür sorgen, dass …« Sophie schoss auf ihn. Als Erstes empfand Robert Langbeyn Überraschung und Entrüstung. Der Schmerz stand an zweiter Stelle. Ihm war, als hätte ihm jemand äußerst fest mit einem Baseballschläger auf den Solarplexus gehauen. Oder vielleicht auch mit einem Cri
cket-Racket, jenem langen hölzernen Schläger, der einem Baseballschläger nicht unähnlich ist, aber eben beim Cricket Verwendung findet, einem Spiel, mit dem Robert, da er ja Engländer war, allem Anschein nach gut vertraut sein musste. Er saß auf dem harten Boden. Er konnte sich zwar nicht dar an erinnern, sich hingesetzt zu haben, doch genau dort saß er. Der Schlag gegen den Bauch hatte ihm alle Luft aus dem Leib getrieben, deswegen fiel ihm das Atmen jetzt nicht ganz leicht. Er schaute zu Sophie auf, die vor ihm stand. Er war sich der Kälte der Steine unter seinen Schenkeln bewusst; er konnte sie durch den ziemlich dünnen Stoff seiner Hose spüren. Eine gewisse Feuchtigkeit breitete sich in eben diesem Stoff aus und berührte sein rechtes Bein mit einem Gefühl ziemlich klammer Nässe. Er konnte noch immer nicht richtig Luft holen. Offenbar saß er in der Blutlache, die Sir Herberts Wunde erzeugt hatte. Doch als er die Hand auf seinen Bauch legte, begegnete er dort der gleichen feuchten Schweinerei. Sie pulsierte heraus und lief über seinen Schoß und seine Beine. Wahrscheinlich saß er also in seinem eigenen Blut. Robert hätte gern »Das ist aber gar nicht gut« gesagt, aber dazu fehlte ihm die Luft. Der Schlag auf seinen Hinterkopf verdutzte ihn. Doch mit etwas Nachdenken wurde ihm klar, dass er aus der sitzenden Stellung nach hinten gefallen war und nun auf dem Rücken lag. Und das war das Letzte, woran er sich erinnerte.
25 Robert kam zu sich. Und wurde wieder ohnmächtig. Und kam wieder zu sich. In seinem Bauch breitete sich Schmerz aus. Zuerst war es nur Pein, dann ein heftiges Unbehagen. Er wollte sich hinsetzen, doch das Reißen gerissener Muskeln und zer fetzter Nerven widerhallte schmerzhaft in seinem gesamten Körper. Er keuchte und stöhnte. Alles war dunkel und von duseligem Schmerz erfüllt. Er hatte großen Durst. Alles ver schwamm und löste sich auf, doch sogar in einem Zustand, den man keinesfalls als bewusst bezeichnen konnte, war Robert sich der außergewöhnlichen Schmerzen in seiner Magengrube bewusst. Er heulte durch seinen Leib. Wieder kam er zu sich. Da war die Stimme eines Menschen, den er kannte. In seinem mitgenommenen und gequälten Zustand brauchte er einen Moment, um zu erkennen, wer es war. Pater Haken! Der Geistliche war aus der Ohnmacht er wacht und ihnen zur Nationalgalerie gefolgt. Er war gekom men, um sie zu retten. »Teeboytle!«, hörte Robert den Priester ausrufen. »Und der andere Kerl, an dessen Namen ich mich offenbar nicht mehr erinnern kann, da wir uns heute Abend zum ersten Mal begeg net sind! Beide erschossen? Oh weh – ich bin zu spät gekom men!« Robert vernahm eine zweite Stimme. Es war die melodische, leicht trällernde, nur mit einem ganz leichten französischen
Akzent versehene Stimme Sophies. »Ich fürchte, Sie sind wirk lich zu spät gekommen, Pater Haken. Zu spät für die beiden und zu spät für Sie!« Robert konnte nichts sehen. Alles war dunkel und ver schwommen. Er hatte wahnsinnigen Durst. Sein Kopf war leer. In seinem Bauch bimmelte ein abscheulicher Schmerz. »Sie!«, hörte er den Priester irgendwo ein paar Meter entfernt aufschreien – es hätten aber auch ein paar Millionen Meilen sein können. Und noch mehr Kilometer. Falls Sie verstehen, was ich meine. »Ja«, sagte Sophies Stimme. »Ich.« »Dann haben Sie Jacques also umgebracht! Und nun haben Sie auch noch Teeboytle und den anderen kaltgemacht! Sie Teufelin!« Sophie lachte nur. Robert spürte, dass ihm das Bewusstsein wieder entglitt, und kämpfte gegen das Abrutschen in die Leere an. Er musste Haken irgendwie helfen! Ihn warnen … »Aber warum haben Sie alle umgebracht?«, wollte Haken wissen. »Erzählen Sie es mir?« »Tja«, sagte Sophie. »Ich könnte alles erklären. Und eigent lich würde ich es auch sehr gern erklären. Bloß habe ich den ganzen Klumpatsch schon den beiden da erklärt … und nun, da sie tot sind, frage ich mich, warum ich mir überhaupt die Mühe gemacht habe. Denn es nimmt einen Haufen Zeit in Anspruch, alles zu erzählen, und jetzt ist meine Kehle ganz austrocknet. Ich fürchte also, ich werde nicht fähig sein, Ihnen alles zu erzählen, bevor ich …« Der Knall eines Schusses machte Robert schlagartig hellwach.
Sofort danach vernahm er das Geräusch eines zu Boden fallen den Körpers. Seine Bauchschmerzen ließen nicht nach. Mit höchster An strengung hob er die linke Hand auf sein Bäuchlein; da war alles feucht und warm. Er ließ die Hand liegen, und sein Mittelfinger flutschte in eine Vertiefung. Es war ein Einschussloch. Es tat nicht weh, den Finger in die Wunde zu schieben – zumindest nicht weher als zuvor, denn er hatte mordsmäßige Schmerzen. Aber es war ganz schön bizarr, mit dem Finger in seinem Mageninneren hin und herzu wib beln und den zerfransten Rand dieser unnatürlichen neuen Körperöffnung zu ertasten. Robert konnte an seinem Finger das Pulsieren des aus seinem Körper strömenden Blutes spüren. Er weinte. Echte, heiße Säuglingstränen strömten aus seinen Augen. Es war so ungerecht! Der Schmerz wollte einfach nicht vergehen. Er hatte eigentlich damit gerechnet, dass er nachließ; dass er irgendwann erstarb, wenn auch nur ein kleines bisschen. Aber der Schmerz brannte einfach nur vor sich hin. Man konn te ihn beschwichtigen wie nur was, er hörte einfach nicht auf. Bitte, bat Robert, obwohl er nicht mal genau wusste, wen er da bat. Bitte, lass mich einfach nur ohnmächtig werden. Er wurde wieder ohnmächtig.
26 Aber das machte es auch nicht besser, denn er kam wieder zu sich. Obwohl er eine Viertelstunde lang ohnmächtig gewesen war, hatte er das Gefühl, als sei nicht das kleinste bisschen Zeit vergangen. Der Schmerz war noch immer intensiv und tat weh, und sein Durst war noch schlimmer geworden. Ihm war auch noch schwindeliger, und er fühlte sich noch abwesender. Das war überhaupt nicht gut. Es war nicht im Geringsten gut. Robert versuchte seine Muskeln anzuspannen, um über den Boden zu robben – ohne eine klare Vorstellung zu haben, wohin er un terwegs war –, doch sie weigerten sich, ihm zu gehorchen. Der ganze Kosmos war zu einem Schmerzen ausstrahlenden kleinen Knubbel in seinem Magen zusammengeschrumpft. Erneute Stimmen. Robert brauchte diesmal länger, um in Erfahrung zu bringen, wer da sprach. Die weibliche Stimme gehörte Sophie. Das wusste er. Da war aber auch eine männli che Stimme. Sie kam ihm bekannt vor, aber er konnte sie nicht sofort zuordnen. Dann klickte es – inmitten des Pulsierens der Agonie. Der Polizist! Wie hieß er noch mal? Flach. Ja, Flach! Die Polizei war da! Robert spürte in seinem schaudernden Herzen ein An schwellen von Hoffnung. Die Polizei würde Sophie verhaften. Sie würde ihn medizinisch versorgen – Bluttransfusion, Mor phium.
Robert versuchte sich auf das einzustimmen, was da geredet wurde. »… weiß auch nicht, wo der Priester herkam«, sagte Sophie gerade. »Ich weiß nur, dass er zuletzt bewusstlos vor Teeboytles Haus lag.« »Er ist im Krankenwagen wieder zu sich gekommen«, sagte Flachs Stimme. »Jedenfalls wurde es uns so gemeldet. Er hat darauf bestanden, dass der Wagen anhält. Dann ist er ausgestie gen. Er ist auf geradem Wege hierher gekommen.« »Ich musste ihn erschießen.« »Natürlich.« »Entschuldigen Sie.« »Kein Problem«, sagte Flach. Die beiden Stimmen waren nun viel näher an Roberts Standort. »Der hier … der könnte doch auch mehr als nur einen Menschen erschossen haben.« Jemand nahm Roberts Hand, hob sie hoch und legte seine Finger um einen kalten, harten, rechteckigen Gegenstand. Es war der Griff einer Pistole! Jemand schob ihm eine Schusswaffe in die Hand! Robert bemühte sich, die Kanone zu heben und abzufeuern, doch seine Muskeln fühlten sich wie gelähmt und tot an. Dann wurde die Hand auf den Boden gelegt. »Wir haben seine Fingerabdrücke und die Kanone als Be weis«, sagte Flach. »Unsere Phantomjagd nach dem Kammerjä ger hat Ihnen genug Zeit verschafft, den dreien das Geheimnis des ganzen Codes zu entlocken. Also haben wir Sauná-Spannérs geheime Beute lokalisiert.« »Werde ich in die Ermittlungen einbezogen?«, fragte Sophies Stimme. Sie schien noch nähergekommen zu sein. Als stünden
sie und Flach über Roberts Körper. »Nein, ich glaube, dafür gibt es keinen Grund. Sie sollten das Mona-Eda-Gemälde lieber außer Landes bringen. Als Diploma tengepäck. Wir werden die Lücken in der Geschichte schon füllen, meine Liebe. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Ich bin in die Galerie zurückgekehrt. Ich habe unten Schüsse gehört, bin runtergegangen und habe entdeckt, dass Langbeyn Teeboytle und Haken getötet hat. Doch Teeboytle hat ihn vor seinem Ableben noch mit einem Schuss erwischt.« »Und die Ballistik?« »Die Leute von der Ballistik gehören ebenfalls zur Conspira tio. Die meisten Londoner Polizisten ebenfalls. Ist wie bei den Freimaurern. Dies ist schließlich die antike Stadt der Fische. Würden die Menschen sich den Stadtplan nur mal richtig anschauen, wüssten sie es!« Flach kicherte vor sich hin. »Nein, Mademoiselle Nerveuse, darüber würde ich mir keine Sorgen machen. Der Bericht der Ballistiker wird zu jeder Geschichte passen, die wir uns ausdenken.« »Dann sind wir hier fertig«, sagte Sophie. »Das glaube ich auch.« »Armer Kerl«, sagte Sophie nach einer kurzen Pause. »Er hatte wirklich keine Ahnung.« »Wie nahe ist er dem Geheimnis gekommen?«, fragte Flach. »Hat er den Aufenthaltsort des Heiligen Grals erahnt?« »Den Fram-Graben?«, sagte Sophie. »Die tiefste Senke im arktischen Ozean, die über siebentausend Meter tief und von den Menschen gänzlich unerforscht ist? – Nein. Teeboytle und er dachten stets in metaphorischen Begriffen. ›Die Madonna ist der Gral‹, ›das weibliche Prinzip ist der Gral‹, so ein Zeug eben.
Die sind überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass man die Sache nicht nur wörtlich nehmen, sondern auch im größtmögli chen Maßstab sehen muss … Einen Flüssigkeitsbehälter, ja – ein solcher, der ein ganzes Meer enthält! Einen Behälter, in dem Gott lebt … und zwar buchstäblich, da sich die Stadt des Heili gen Kabeljaus dort befindet, eine tausende von Quadratmeilen große Unterwasserstadt, in der der gewaltige Druck der Tiefsee von der fortgeschrittenen Kabeljau-Technik gezähmt wird, um der Zivilisation der Herrenspezies zu erlauben, ihr bequemes, transzendentes Leben zu leben. Die wahre heilige Stadt! Die unbegreifliche Kapitale! Die Menschen werden auch weiterhin nach einem Becher oder etwas Symbolischem suchen. Die gralförmige Ozeanvertiefung im Oceanus Hyperboräus ist ihnen viel zu offensichtlich.« Sie seufzte. »Sie tun mir fast Leid.« »Es besteht kein Grund, ihretwegen Kummer zu empfinden«, sagte Flach. »Sie sind alle tot.« Sophie lachte darüber, und Flach fiel in ihr Gelächter ein. Es war wirklich unerfreulich. Deplatziert. Das Lachen gab dann den Ausschlag. Wogen einer fast nicht auszuhaltenden Erschöpfung sowie Schmerz und Übelkeit kreisten in Roberts wehem Leib. Doch er spürte, dass sich seine Willenskraft in einem Funken sprühenden Pünktchen in sei nem Brustkorb konzentrierte. In seinen ansonsten gelähmten Armmuskeln kitzelte es. Die beiden redeten noch immer miteinander. »Hatten Sie Gelegenheit, dieses versteckte kleine Lager zu erforschen?« »Ja. In der Viertelstunde, die Sie brauchten, um herzukom men, konnte ich mich ganz gut umschauen.«
»Gibt es hier noch anderes belastendes Material? Irgendwas, das wir ins Hauptquartier der Conspiratio nach Avignon verla gern sollten?« »Eigentlich nicht. Hier ist nur die Mona Eda. Und ein Notiz buch, in dem Eda Vinci offenbar die Wahrheit über die Conspi ratio ausgeplaudert hat … was ganz schön unbesonnen von ihr war. Abgesehen von diesen Dingen habe ich nichts gesehen. Sobald wir diese Gegenstände fortgebracht haben, existiert hier hinsichtlich des wahren Charakters des C.O.D. kein Beweis mehr.« Robert strengte sich an wie noch nie zuvor in seinem Leben. Obwohl er seinen Körper kaum bewegen konnte, setzte er jedes Fitzelchen seiner Willenskraft ein. Sein rechter Unterarm zog sich kurz zusammen. Die Pein in seinem Bauch tobte weiter. »Und wo sind die beiden Gegenstände?« »Ich habe sie da drüben an der Tür abgelegt. Ich nehme sie gleich mit. Oder möchten Sie, dass der Sergeant sie für den Rest der Nacht in einen sicheren Unterschlupf bringt?« »Nein, der Sergeant ist ein normaler Polizist. Kein Mitglied der Conspiratio. Ich habe ihn angewiesen, im Wagen zu warten und Verstärkung herbeizurufen. Wir wollen doch nicht, dass er irgendwas von diesem Material sieht.« Robert konzentrierte sich erneut. Sein Unterarmmuskel zog sich etwas mehr zusammen. Das Gewicht der Waffe in seiner Hand nahm zu, als er sie millimeterweise vom Boden hob. »Dann werde ich die Gegenstände an mich nehmen«, sagte Sophie. Ihre Stimme war dicht an Roberts rechter Seite. »Es wäre sicher nicht gut, wenn die Allgemeinheit davon erführe.« »Ja, nehmen Sie sie an sich«, sagte der Polizist. »Wir müssen
um jeden Preis verhindern, dass Außenstehende über sie stol pern.« Ein leises Scharren ertönte, als der Lauf der Pistole über den Boden schrappte. Es war Robert gelungen, die Waffe in der Hand um neunzig Grad zu drehen, sodass sie nun nach oben deutete. »Sagen Sie mal, Sophie«, sagte Flach und machte sich zum Kandidaten für einen eigenen Eintrag im Buch der berühmten letzten Worte, »wissen Sie genau, dass er wirklich to …?« Die Pistole krachte einmal, zweimal, dreimal. Der Rückstoß schlug schmerzhaft gegen Roberts verdrehtes Handgelenk, doch er spürte es kaum. Seine Hand wackelte. Er hätte die Waffe beinahe fallen lassen, doch dann konnte er sie wieder hochrei ßen und ein viertes, fünftes und sechstes Mal abfeuern. Bei jedem Schuss flog sie hoch und fiel wieder herab, wodurch auf wirkungsvolle Weise der Raum über ihm von sechs verschiede nen Flugbahnen durchlöchert wurde. Dann trat eine Pause ein. Dann machte es zweimal Bums, einmal links und einmal rechts von Robert – ungefähr so, als würden zwei Leichen auf einen Steinboden klatschen. Robert ließ die Waffe fallen. Er konnte sich dem Verlangen einzuschlafen unmöglich widersetzen. Als er in die Besinnungs losigkeit überwechselte, wusste er nicht, ob das Bumsen, das er hörte, Schritte waren, die eine Treppe herunterkamen, oder ein migräneartiges Pulsieren im Inneren seines Schädels. Er glaubte etwas riechen zu können, doch es roch irgendwie nicht ganz astrein, sondern – war es überhaupt möglich? – fischähnlich … Sapperlot! – das war alles, was Robert noch denken konnte.
Leider war er nicht mehr in der Lage, diesen tiefgründigen Gedanken auszusprechen, sonst hätte das ein wirklich denk würdiges letztes Wort abgegeben.