MʹRaven
Sabulons Braut Version: v1.0
Der qualvolle Schmerzensschrei hallte schauerlich von den kahlen ...
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MʹRaven
Sabulons Braut Version: v1.0
Der qualvolle Schmerzensschrei hallte schauerlich von den kahlen Kellerwänden wider. Der überirdisch schöne Riese packte Moira Blackstone an der Kehle und hob sie wie eine Puppe in die Luft. Man hätte ihn auf den ersten Blick für einen hünenhaften Menschen halten können, doch die rot glühenden Augen verrieten seine dämonische Natur. »Sie ist fort?«, wiederholte er die Worte der Frau mit einschmeichelnder Süße. Sein mörderischer Griff schnürte ihr die Luft ab und drohte sie zu ersticken. Dann schleuderte er sie zu Boden. »Niemand verweigert sich mir!« Seine Stimme klirrte kälter als Eis. »Oder wollen die Blackstones
ihren Pakt mit mir lösen?«
»Nein, Meister!«, krächzte Moira angsterfüllt. »Oria ist jung und rebellisch. Sie weiß nicht …« »Dann habt ihr sie schlecht vorbereitet«, unterbrach sie der Dämon, packte sie erneut und riss sie zu sich heran, dass ihr Gesicht das seine fast berührte. »Schafft mir meine Braut herbei!«, zischte er bösartig. »Oder, bei den Flammen der Hölle, ich werde euch alle vernichten!« Mit diesen Worten verschwand er. Moira Blackstone fiel zu Boden, rang keuchend nach Luft und versuchte der Schmerzen Herr zu werden, die in ihrem Körper tobten. Wenn Sabulon, ihr Meister, verärgert war, bereitete es ihm besonders großen Spaß, Menschen Schmerzen zuzufügen. Immerhin hatte er nicht ganz Unrecht mit seinem Vorwurf. Obwohl ihre älteste Tochter Oria seit ihrer Geburt darauf vorbereitet worden war, an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag Sabulons Braut zu werden, war es Moira und dem Rest der Familie bisher nicht gelungen, dem Mädchen die Entschlossenheit auszutreiben, mit der sie gegen das ihr zugedachte Schicksal rebellierte. Dabei hing das Wohl und Wehe der gesamten Blackstone‐Dynastie von ihrer Pflichterfüllung und ihrem Gehorsam ab. Seit Jahrhunderten standen die Blackstones unter dem Schutz von Sabulon – solange sie dem Dämon in jeder Generation jene Tochter als jungfräuliche Gefährtin übergaben, die dreiunddreißig Jahre nach der letzten Übergabe als Erste einundzwanzig Jahre alt wurde. Als Gegenleistung dafür verlieh er ihnen magische Macht, die die Blackstones dazu nutzten, politischen Einfluss zu gewinnen und dadurch Reichtum zu erlangen. Der aus sechs Großfamilien bestehende Clan saß dank Sabulon wie eine Spinne in einem weltweiten Netz, dessen Fäden sie kontrollierten und manipulierten. Ihnen gehörten Banken, mehrere ergiebige Ölfelder, zwei Pharmaziewerke, fünf Textilfabriken, acht Kaffeeplantagen und eine riesige Transportflotte mit Tankerschiffen, Bahnlinien und LKWs.
Nach außen waren die Blackstones respektable Leute, integer und von untadligem Ruf. Sie unterstützen humanitäre Projekte, spendeten jedes Jahr überaus großzügig an wohltätige Vereinigungen, engagierten sich im Umweltschutz und enthielten sich jeglicher Skandale. Doch hinter der Fassade führten sie ein völlig anderes Leben als treue Diener Sabulons, dem ihr ganzes Leben geweiht war. Für jedes wohltätige Projekt, das sie unterstützten, gab es zwei oder drei illegale oder sogar verbrecherische Aktivitäten, die sie im Namen ihres Meisters ausführten: Waffenverkäufe an Terroristen, Schmuggel, Rauschgifthandel, organisierte Prostitution … Und sie nutzten ihre magischen Fähigkeiten, um ihre Spuren so gründlich zu verwischen, dass niemand ihnen je auf die Schliche kam. An jedem Neumondtag kamen sie aus aller Welt auf dem noch aus dem Mittelalter stammenden Familiensitz Blackstone Manor zusammen, in der Nähe von Kilmarnock im Südwesten Schottlands. In einem nur durch eine verborgene Tür zugänglichen Keller verehrten sie Sabulon mit schwarzen Messen und Opferzeremonien und empfingen seine Befehle. Natürlich wurde niemals ein Außenstehender in diese Geheimnisse eingeweiht. Die Blackstones heirateten immer nur innerhalb der sechs Familienzweige – Cousins und Cousinen ersten und zweiten Grades, Onkel und Nichten, manchmal sogar Tanten und Neffen. Um genetische Erbschäden zu vermeiden und frisches Blut in die Linie zu bringen, brachten sie in jeder zweiten Generation nur uneheliche Kinder hervor. Zu diesen Zeiten suchten sich alle Blackstone‐Frauen die Väter ihrer Kinder außerhalb der Familie per One‐Night‐Stands oder nur wenige Wochen dauernden Kurzbeziehungen. Auf diese Weise lief alles glatt … … bis Oria Blackstone sich entschlossen hatte zu rebellieren und sich ihrer Bestimmung als Sabulons zukünftige Gefährtin zu
verweigern. Damit brachte sie die ganze Familie in große Gefahr. Moira raffte sich vom Boden auf, nachdem die letzte Schmerzwelle abgeebbt war und kehrte aus dem Keller ins Endgeschoss zurück. Ihr jüngerer Bruder John kam ihr entgegen. »Wie siehst du denn aus?«, fragte er überflüssigerweise. »Egal!«, fauchte Moira ihn an. »Hast du Oria gefunden?« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe es mit Scrying versucht, aber die Kristallkugel blieb dunkel. Auspendeln hat auch nicht geklappt. Oria hat offensichtlich einen Tarnzauber benutzt, der verhindert, dass wir den Ort finden, an dem sie sich aufhält.« »Dann kehre ihn um, Dummkopf!«, fuhr die Matriarchin ihn an. »Finde und markiere auf der Karte die Orte, an denen sie nicht ist. Am Ende wird dann nur einer übrig bleiben. Wir wissen, dass sie das Land nicht verlassen hat.« Ihre Stimme troff vor Ironie. »Du musst also nicht weltweit nach ihr suchen. Also finde sie! Und wage nicht, mit der Suche aufzuhören, ehe du Erfolg hast!« John Blackstone machte sich nicht die Mühe, seiner Schwester zu antworten. Wenn sie in dieser Art von Laune war, ging man ihr besser so weit wie möglich aus dem Weg. Er kehrte auf dem Absatz um, um erneut mit dem Pendel an die anstrengende Arbeit zu gehen. Was hatte sich Oria nur dabei gedacht, einfach wegzulaufen? Sie musste doch wissen, dass die Familie nichts unversucht lassen würde, sie zurückzuholen. Und wenn die Blackstones sie nicht fanden – Sabulon fand sie bestimmt. Das allerdings brachte John wieder einmal zu Fragen, die er niemals laut zu stellen wagte. Weshalb holte der Meister sie nicht einfach selbst? Dank seiner Macht dürfte es ihn nicht einmal eine Minute kosten, Oria ausfindig zu machen. Und wozu brauchte ein Dämon überhaupt alle 33 Jahre eine menschliche Braut, die noch dazu Jungfrau sein musste? Wozu benötigte er menschliche Helfershelfer, die in der Welt das Böse durch Verbrechen verbreiteten? War er nicht stark genug, das selbst zu tun?
Aber natürlich stellte er diese Fragen nicht – im Gegensatz zu Oria. Seine junge Nichte war überaus kritisch und nicht bereit, sich der uralten Tradition zu unterwerfen, ohne Antworten auf ihre Fragen erhalten zu haben. Moira hatte in Johns Augen einmal zu oft den Fehler begangen, ihre Tochter mit dem Befehl ›gehorche, halte den Mund und vergiss deine Fragen‹ abzuspeisen. Das Ergebnis war Orias Flucht gewesen und mit dem von Moira vorgeschlagenen Ausschlussverfahren würde es ein hartes Stück Arbeit werden, sie aufzuspüren. Seufzend machte sich John ans Werk.
* Als er seine Schwester gegen fünf Uhr morgens weckte, konnte er sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten. »Doncaster. Woodborough Hotel.« Dann wankte er in sein Bett und überließ es Moira, ihre Bodyguards auf Oria zu hetzen.
* Oria Blackstone starrte finster aus dem Fenster ihres Zimmers in Blackstone Manor. Ihr ganzer Körper schmerzte noch immer von den Prügeln, die ihre Mutter ihr verabreicht hatte, nachdem ihre Leibwächter sie in ihrem Hotel in Doncaster aufgespürt und mit Gewalt nach Hause geschleppt hatten. Die Schläge waren von endlosen Tiraden über Gehorsam und Pflicht begleitet worden. Einschließlich der üblichen Vorwürfe, wie sehr Oria sie alle mit ihrem Egoismus in Gefahr brachte. Was die junge Frau trotz der Prügel nicht daran gehindert hatte zu fragen, wie man jemanden immer noch als Wohltäter, Herrn und
Meister verehren konnte, der das Leben der gesamten Familie bedrohte, sobald er seinen egoistischen Willen nicht bekam. Die Antwort ihrer Mutter hatte aus noch heftigeren Prügeln bestanden. Danach hatte sie Oria in ihr Zimmer eingesperrt. Hier sollte sie bleiben, bis sie in acht Tagen Sabulon als Braut übergeben werden würde. Doch Oria war eine Blackstone und wie alle Familienmitglieder gewohnt, ihren Willen gegen andere Menschen durchzusetzen. Sie hatte nicht vor, still zu halten und klein beizugeben. Auch wenn man sie eingeschlossen hatte und unter ihrem Fenster Tag und Nacht Wächter patrouillierten, die verhindern sollten, dass sie wie beim letzten Mal über den Balkon entwich. Es gab andere Möglichkeiten. Sie hatte ihre Optionen noch nicht alle ausgeschöpft. Sie wandte sich vom Fenster ab, als die Tür aufgeschlossen wurde. Ihre Zwillingsschwester Mona trat mit einem Tablett in der Hand ein, um ihr das Essen zu bringen. Auf Monas Gesicht lag derselbe Vorwurf wie auf allen Blackstone‐Gesichtern. Mona hätte Sabulons Braut sein sollen; ihr nur zehn Minuten jüngerer Zwilling wünschte sich nichts sehnlicher als das. Oria hatte ihr ganzes Leben lang unter dem brennenden Hass ihrer Zwillingsschwester gelitten. Einmal, im zarten Alter von acht Jahren, hatte Mona sogar versucht, die designierte Kandidatin zu ermorden, um an ihre Stelle rücken zu können. Sabulon persönlich hatte sie dafür bestraft. Seitdem traute sie sich nicht, etwas Ähnliches noch einmal zu versuchen. Doch ihre permanenten Sticheleien und Boshaftigkeiten machten das Leben mit ihr nicht gerade leicht. Als sie jetzt ins Zimmer trat, wappnete sich Oria innerlich gegen die nächsten verbalen Attacken. »Du verdienst es nicht!«, zischte Mona hasserfüllt, kaum dass sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Dir wird die größte Ehre zuteil, die eine von uns nur erlangen kann – und du trittst sie mit
Füßen!« »Ja, ja, ja«, antwortete Oria gedehnt und betont gelangweilt. »Du weißt genau, dass ich nicht um diese Ehre gebeten habe. Wenn es nach mir ginge, könntest du den Job bei Sabulon sofort haben. Aber falls du nicht eine konstruktive Idee hast, wie wir das bewerkstelligen könnten, schlage ich vor, du lässt mich in Ruhe. Aber bring mir vorher noch unser Grimoire.« Mona knallte das Tablett so heftig auf den Tisch, dass das Wasserglas darauf umfiel und sein Inhalt den Tisch überschwemmte. »Ich bin nicht deine Dienstmagd!«, knurrte sie ihre Schwester an. »Aber vielleicht finde ich im Grimoire eine Lösung, wie ich aus der Misere rauskomme und du an meinen Platz treten kannst. Das müsste doch ganz in deinem Interesse sein. Und da ich das Zimmer nicht verlassen darf, bin ich leider auf deine Hilfe angewiesen.« »Okay, ich hole dir das Buch.« Mona verschwand und kam kurz darauf mit dem Grimoire zurück, einem schweren, dicken, in Leder gebundenen Wälzer. Die Seiten bestanden aus altem Pergament, das durch irgendeinen Zauber unendlich haltbar gemacht worden war, sonst wäre es längst in alle Einzelseiten zerlesen worden. Wenn man der Datumsangabe der allerersten Eintragung Glauben schenken durfte, stammte es aus dem Jahr 1347. Es enthielt sämtliche Zauber und Rituale, die der ›Coven of the Black Stone‹ seit seiner Gründung erarbeitet und durchgeführt hatte. Es hatte auch einmal eine Chronik des Covens gegeben vom Tag seiner Gründung an, doch diese war seit über hundert Jahren verschollen. »Danke, Mona. Nebenbei … Wie habt ihr mich eigentlich gefunden?« Mona zuckte mit den Schultern. »Onkel John hat dich ausgependelt.« »Unmöglich! Ich hatte einen Tarnzauber benutzt.« »Tja, dabei warst du offensichtlich nicht schlau genug«, stellte
Mona schnippisch fest. »Onkel John hat alle Ort ausfindig gemacht, an denen du nicht warst – bis einer übrig blieb.« »Scheiße! Daran hätte ich denken müssen. Nächstes Mal bin ich schlauer.« Mona baute sich vor ihrem Zwilling auf, stemmte die Hände in die Hüften und fauchte sie an: »Sag mal, bist du wahnsinnig? Hast du es immer noch nicht kapiert? Sabulon bringt uns um, wenn du nicht gehorchst! Uns alle! Auch dich!« »Doch, das weiß ich!«, fauchte Oria nicht minder heftig zurück und pochte auf den Deckel des Grimoire. »Deshalb hoffe ich ja, hier etwas zu finden, um eben das zu verhindern! – Vielleicht«, fuhr sie dann etwas ruhiger fort, »gibt es sogar eine Möglichkeit, dass wir beide die Plätze tauschen. Dann bekommt jede von uns genau das, was sie will.« Monas Augen leuchteten auf. »Glaubst du wirklich, das wäre möglich?«, fragte sie eifrig. Oria zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Darum will ich im Grimoire nachschlagen. Denn einen normalen Illusionszauber, mit dem wir unsere geringfügigen äußeren Unterschiede überdecken können, durchschaut Mutter spätestens auf den zweiten Blick und Sabulon garantiert auf den ersten. Wenn es funktionieren soll, muss die Sache narrensicher sein.« Sie blickte ihre Schwester eindringlich an. »Falls ich eine Möglichkeit finde – kann ich dann mit deiner vollen Unterstützung rechnen?« Mona nickte heftig. »Ehrenwort! Wenn es eine Möglichkeit gibt, dass ich Sabulons Braut werden kann … Dafür täte ich alles! Wirklich alles! Du kannst auf mich zählen!« »Dann werde ich mich an die Arbeit machen.« Mona fasste sie am Arm und schenkte ihr zum ersten Mal im Leben einen freundlichen, beinahe liebevollen Blick. »Finde eine Möglichkeit, Oria! Das ist mein größter Traum!« »Ich werde mir Mühe geben.«
Mona ließ Oria allein, die sich an ihren Schreibtisch setzte und das Grimoire aufschlug. Falls es eine Antwort auf ihr Problem gab, war sie hoffentlich darin zu finden.
* Als die Dunkelheit hereinbrach, saß sie immer noch über ihrer Lektüre und hatte eine Menge interessanter Dinge erfahren. Bisher hatte sie sich nur widerstrebend mit Magie beschäftigt, genau genommen nur unter dem direkten Zwang ihrer Mutter. Jetzt stellte sie fest, dass ihr dadurch einiges entgangen war. Unter anderem auch ein Tarnzauber, der sie selbst für Sabulon unauffindbar machen würde. Sie war gerade dabei, ihn sich einzuprägen, als ihre Mutter ins Zimmer stürmte. »Komm mit!«, befahl sie knapp. »Sabulon will dich sehen!« »J‐jetzt?«, stotterte Oria erschrocken und verblüfft. »Ja, jetzt! Komm!« »Aber … mein Geburtstag ist doch erst in acht Tagen!«, protestierte Oria schwach. »Keine Angst, er will dich noch nicht mitnehmen«, beruhigte Moira ihre Tochter verächtlich. »Er hat dir lediglich etwas zu sagen. Also komm endlich!« Oria folgte ihr widerstrebend in den Keller, wo bereits die gesamten Kilmarnock‐Blackstones versammelt waren: Moiras Brüder John und Kevin, ihr Cousin Robert, ihre Cousinen Rachel, Isobel und Dana, deren Kinder Bill, Jenny, Ben, Caleb und Dora, Mona und ihr jüngerer Bruder Dan. Da Moiras Generation für die Blutauffrischung der Linie verantwortlich war, gab es unter ihnen keine Ehemänner oder ‐frauen. Moira ließ Oria direkt auf dem Boden vor dem Altar aus
schwarzem Naturstein niederknien. Darauf stand neben drei schwarzen Kerzen, einer flachen Schale aus schwarzem Obsidian und einem Ritualdolch die etwa einen halben Meter hohe, dunkelrot bemalte Holzstatue, die Sabulon darstellte. Sie zeigte die wohl proportionierte Gestalt eines nackten Mannes mit geschlitzten Augen aus roten Rubinen, die das Gesicht beherrschten. Oria hatte sich oft gefragt, ob Sabulon wirklich so aussah. Bisher war es ihr nicht erlaubt gewesen, an Zeremonien teilzunehmen, bei denen der Meister persönlich erschien. Ihre Mutter zündete die Kerzen an und streute ein helles Pulver in die Steinschale auf dem Altar, das sie ebenfalls in Brand setzte. Eine blaugrüne Stichflamme zuckte auf. Gleich darauf erfüllte ein betäubend süßlicher Geruch den Raum. Die Blackstones, die im Kreis um Oria herum standen, fielen ebenfalls auf die Knie. »Sabulon, wir rufen dich!«, ertönte die sonore Stimme ihrer Mutter. »Deine Diener sind bereit für dich! Erscheine, Meister!« Aus der Schale stieg jetzt dicker Nebel auf, der sich vor dem Altar zu der gut zwei Meter großen Gestalt eines Mannes verdichtete, dessen Züge denen der Statue aufs Haar glichen. Die Blackstones beugten die Köpfe. »Meister!«, murmelten sie ehrfürchtig. Lediglich Oria starrte den Dämon neugierig an. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, in dem Nebel eine andere Gestalt gesehen zu haben. Nur entfernt menschlich mit einer aus dem nackten Schädel wachsenden Krone aus Ziegenhörnern und einer Reihe scharfer Reißzähne in einem schnabelähnlichen Maul. Doch der Eindruck war so flüchtig, dass sie nicht mit Bestimmtheit sagen konnte, ob sie nicht nur verzerrte Rauchschwaden wahrgenommen hatte. Die menschliche Gestalt, in der Sabulon vor ihr stand, war jedenfalls beeindruckend schön: muskulös, schlank, ebenmäßig und einfach perfekt. Er trug eine Robe aus weich fließendem, glänzend
dunkelrotem Stoff, die bis zum Nabel offen stand und eine haarlose breite Brust entblößte. Als Mann war er rein äußerlich der Inbegriff aller Frauenträume. Und das machte Oria doppelt misstrauisch. Daran änderte auch sein gewinnendes Lächeln nichts. »Oria«, sagte er mit einer tiefen, einschmeichelnden Stimme, die sich anhörte wie zu Klang gewordener Samt. Niemand hatte ihren Namen je so ausgesprochen – verheißungsvoll, glühend, streichelnd und lockend. Auf diese Weise ausgesprochen, umfasste er ihr ganzes Wesen, ihr Inneres und Äußeres und alles, was dazwischen noch existieren mochte. Oria fühlte, wie ihr ein Schauer zugleich heiß und kalt durch jede Zelle ihres Körpers rann. »Oria«, wiederholte der Dämon. »Wie ich hörte, zeigst du bis jetzt keine Neigung, mir als Gefährtin in mein Reich zu folgen.« »M‐meister«, stotterte die junge Frau und wusste nicht, was sie zu erwarten hatte. »I‐ich wollte nicht ungehorsam sein, aber …« Dabei wollte sie genau das. Doch in der überwältigenden Gegenwart dieses wunderbaren, perfekten Wesens, wünschte sie nur, ihm zu gefallen und alle seine Wünsche zu erfüllen. Ein Teil ihres Verstandes wusste, dass er sie auf diese Weise manipulierte und wehrte sich mit aller Macht dagegen. »Ich verstehe schon«, sagte Sabulon freundlich und ging bedächtig um sie herum, um sie von allen Seiten zu begutachten. Oria fühlte sich unter diesen abschätzenden Blicken unwohl. »Du hast mich noch nie zuvor gesehen. Das heißt, du erinnerst dich nicht an unsere erste und bisher einzige Begegnung, als ich dir am Tag deiner Geburt deinen Namen gab und dich erwählte.« Das hatte sie bisher nicht gewusst. »Und ich höre, dass du Fragen hast, die niemand dir beantworten will.« »Die habe ich«, erklärte Oria fest und spürte, wie ihre plötzliche Ehrfurcht vor diesem mächtigen Wesen wieder nachließ. »Und ich frage mich auch, warum niemand sie mir beantworten kann.«
»Weil ich es ihnen verboten habe.« Sabulon ließ sich mit einer unnachahmlichen Geschmeidigkeit im Schneidersitz vor ihr auf dem Boden nieder. Selbst in dieser Position überragte er sie noch um einen guten Meter. »Es ist ein Mysterium. Und Mysterien eignen sich nicht als Alltagsgespräche. Glaube mir, ich hätte dir deine Fragen alle beantwortet, sobald du mir in mein Reich gefolgt wärst. Wie ich es zuvor schon mit all deinen Vorgängerinnen getan habe. Sie besaßen eine Geduld und Ergebenheit, die dir offensichtlich fehlt. Aber das wird sich geben. Ich bin jetzt hier, um deine Fragen zu beantworten. Was möchtest du also wissen?« Oria riss sich gewaltsam von seinem fast hypnotischen Blick los. »Wozu brauchst du eine menschliche Braut?«, platzte sie heraus. »Und noch dazu eine Jungfrau?« Zu ihrer Überraschung warf Sabulon den Kopf zurück und lachte schallend. »Die Frage ist berechtigt«, gab er zu. »Und die Antwort ist einfach: Sexualmagie. Wie du sicherlich aus deinen Studien der Magie weißt, setzt Sex eine sehr starke Energie frei. Und wenn dabei auf natürliche Weise bei der ersten Vereinigung das Blut der Jungfrau vergossen wird, verstärkt es diese Energie um das Dreifache.« Das überzeugte Oria keineswegs von Sabulons Harmlosigkeit, obwohl es vollkommen logisch klang und dem entsprach, was sie gelernt hatte. »Aber warum nimmst du dafür nicht irgendeine Jungfrau? Warum immer nur eine Blackstone? Warum alle dreiunddreißig Jahre? Und was hast du mit all meinen Vorgängerinnen gemacht? Leben sie überhaupt noch?« »Oria!«, wies ihre Mutter sie zischend zurecht. Doch Sabulon gebot ihr mit einer herrischen Geste zu schweigen. »Das ist Bestandteil des Pakts, den deine Familie vor Jahrhunderten mit mir geschlossen hat. Eine von euch stellt sich mir als Energiequelle zur Verfügung. Als Gegenleistung dafür erhalte ich euch eure weltliche Macht und schenke euch meinen Schutz. 33
Jahre sind der Zeitraum, in dem eure sexuelle Kraft am stärksten ist, zwischen Einundzwanzig und Mitte Fünfzig. Du siehst, es geht um rein biologische Fragen.« Er schenkte Oria ein gewinnendes Lächeln. »Und natürlich beenden all meine menschlichen Gefährtinnen ihr Leben in meinem Reich auf natürliche Weise, wenn sie eines Tages im hohen Alter friedlich sterben.« Das klang alles logisch und stichhaltig – aber: »Warum kehrte keine von ihnen nach Ablauf ihrer Zeit bei dir je wieder zurück?« Sabulon verstärkte sein Lächeln. »Das könnten sie natürlich tun, wenn sie wollten. Sie haben es aber sehr gut bei mir. Und deshalb hatte bisher keine den Wunsch, in diese Welt zurückzukehren. Deine Vorgängerin, die ältere Schwester deiner Mutter, ist jetzt Vierundfünfzig und wird, sobald du sie ablöst, eine neue Stellung einnehmen, in der sie über eine Macht verfügt, von der sie bisher nur geträumt hat. Diese Macht würde sie um nichts in der Welt freiwillig aufgeben. Aber das kann sie dir selbst sagen, wenn du sie in ein paar Tagen triffst.« Er beugte sich vor und strich ihr mit den Fingern leicht über das Gesicht. Im selben Moment fühlte sich Oria von einem unbeschreiblichen Verlangen nach ihm erfüllt. Sie keuchte überrascht auf und musste mit Gewalt dem Impuls widerstehen, sich ihm in die Arme zu werfen und sich und ihm die Kleider vom Leib zu reißen. Sabulon zeigte sich zufrieden. »Ein paar Tage musst du noch warten. Aber ich sehe schon: wir werden uns prächtig verstehen!« Im nächsten Augenblick war er verschwunden. Oria atmete mehrmals tief durch, um der Begierde Herr zu werden, die in ihrem Körper tobte. Ihre Mutter riss sie unsanft auf die Füße. »Bist du jetzt zufrieden?«, herrschte sie ihre Tochter an und fügte, als Oria benommen nickte, hinzu: »Dann hoffe ich, dass du uns von jetzt an keine Schwierigkeiten mehr bereitest! Geh auf dein Zimmer!«
Oria gehorchte und nahm sofort eine eiskalte Dusche, um die pochende Begierde aus ihrem Körper zu vertreiben. Hinterher fühlte sie sich ruhiger, aber auch von einer heftigen Sehnsucht erfüllt. Als sie wieder in ihr Zimmer zurückkehrte, wartete Mona auf sie und fasste sie heftig am Arm. »Wenn du es dir anders überlegt hast …«, begann sie drohend. Oria machte sich nicht minder heftig von ihr frei. »Quatsch! Natürlich nicht!« Mona starrte sie perplex an und schüttelte den Kopf. »Das glaube ich einfach nicht! Sabulon ist das … das schönste Mannsbild, das man sich denken kann! Und was er gesagt hat, klang so wundervoll! Ich begreife dich einfach nicht!« »Ja, zu wundervoll!«, schnappte Oria, verärgert über die Begriffsstutzigkeit ihrer Schwester. »Mona, denk doch mal nach! Das ist alles viel zu schön, um wahr zu sein! Zu toll, zu logisch, zu perfekt! Auf alles hatte er eine Antwort!« »Ja, weil es die Wahrheit ist!« Oria schüttelte den Kopf. »Irgendwas stimmt da nicht!«, beharrte sie. »Nach allem, was wir über Sexualmagie gelernt haben, ist deren Energie zwar ziemlich ergiebig, aber nicht so stark, dass ein Dämon wie Sabulon allein davon existieren könnte. Da muss noch etwas anderes dahinterstecken.« Sie hob abwehrend die Hände. »Mona, soweit es mich betrifft, gehört der wundervolle, perfekte Sabulon dir ganz allein. Und ich glaube, ich habe im Grimoire etwas gefunden, das uns dabei helfen könnte …«
* Eine gute Stunde später war der Plan der Zwillinge perfekt. Zum ersten Mal in ihrem Leben umarmte Mona Oria. »Ich danke dir, Oria!«, sagte sie inbrünstig. »Durch dich wird mein größter Traum
wahr.« Sie blickte ein wenig betreten zu Boden. »Tut mir Leid, dass ich dir immer das Leben vermiest habe.« Oria zuckte mit den Schultern. »Vergiss es. Ich hoffe nur, dass für dich wirklich der Traum wahr wird, den du immer geträumt hast. Nicht dass am Ende ein Albtraum daraus wird.« »Ausgeschlossen!«, war Mona überzeugt. »Wohin wirst du gehen?« Die Schwester schüttelte den Kopf. »Besser du weißt das nicht. Falls wir auffliegen, kannst du im Brustton der Wahrheit erklären, dass ich dir darüber nichts gesagt habe.« »Okay. Viel Glück, Oria!« »Gleichfalls! Wir werden es brauchen, denke ich.« Kurze Zeit später ging Oria in Monas Zimmer und begann, eine Reisetasche zu packen. Ganz unten verstaute sie das Grimoire. Mona und Sie hatten nicht nur die Kleidung getauscht, sondern auch mit einem Zauber ihre äußeren Persönlichkeitsmerkmale jeweils auf die andere übertragen. Statt einer Illusion, die das eigentliche Erscheinungsbild verdeckte, hatten sie an den wenigen notwendigen Stellen ihre Körperstrukturen direkt verändert. Er war eine schmerzhafte Prozedur gewesen, doch beide hatten sie mit Hinblick auf ihr jeweiliges Ziel bereitwillig auf sich genommen. Als Oria Monas Zimmer verließ, lief sie ihrer Mutter in die Arme. »Wo willst du hin, Mona?«, fragte Moira streng und deutete auf die Reisetasche in ihrer Hand. »Weg von hier!«, schnappte Oria in typisch Mona’scher Manier giftig. »Du glaubst doch nicht ernsthaft, ich bleibe hier und sehe zu, wie meine liebe Schwester Sabulons Braut wird!« Oria spielte Mona ganz hervorragend. »Das erlaube ich nicht!« Moira vertrat ihr den Weg. »Um Himmels Willen, Mutter, lass sie gehen!« Mona/Oria steckte genervt den Kopf aus Orias Zimmer. »Glaubst du, ich will mir die
nächsten Tage alle Naselang anhören müssen, dass ich das bekomme, was sie haben will? Das habe ich mein ganzes Leben hören müssen, mir reicht es! Und ich glaube nicht, dass Sabulon sie bei der Zeremonie großartig vermissen wird.« Mona spielte ihre Rolle als Oria ebenso ausgezeichnet. »Schlange!«, zischte Oria/Mona hasserfüllt. »Biest!«, giftete Mona/Oria zurück. »Schluss!«, donnerte Moira und ruckte, zu Oria/Mona gewandt, mit dem Kopf zum Ausgang. »Geh schon. Und nach der Zeremonie müssen wir mal ernsthaft über deine Zukunft reden. Ich erwarte, dass du einen Tag später zurück bist.« Oria/Mona brummte etwas Unverständliches und hatte es eilig, aus dem Haus zu kommen. Soweit hatte alles prima geklappt. Sie warf die Tasche in Monas Wagen, der zu ihrem Glück in der Garage stand. So konnte niemand sehen, dass sie noch ein paar Campingsachen einpackte, ehe sie mit aufheulendem Motor und quietschenden Reifen den Hof verließ. Ihr Ziel war das alte Cottage der Blackstones bei Blacklass nahe dem Loch of Toftingall im äußersten Nordosten der Highlands.
* Als Oria im Morgengrauen des nächsten Tages an ihrem Ziel ankam, fühlte sie sich genauso grau und zerfallen, wie das Cottage in Morgennebel aussah. Sie war die ganze Nacht durchgefahren und hatte sogar noch einen ziemlichen Umweg nach Süden gemacht, um an einer Tankstelle Lebensmittel und einige andere Dinge zu kaufen, die sie brauchen würde. Falls der Rollentausch aufflog und die Familie wieder nach ihr suchte, würden sie hoffentlich glauben, sie sei wie schon einmal nach Süden geflohen, wenn sie die Tankstelle fanden, wo man sich
bestimmt noch an sie erinnern würde. Schließlich zahlten nur wenige Leute mit einer Hundertpfundnote. Oria parkte den Wagen hinter dem Cottage und kletterte steifbeinig heraus. Das Gebäude machte keinen einladenden Eindruck. Das Reeddach war teilweise eingefallen, teilweise von Moos überwuchert. Die hölzernen Fensterläden hingen ebenso wie die kaputte Tür schief in den Angeln und sahen nicht sehr stabil aus. Die Mauern wiesen alte Brandspuren auf. Oria ging vorsichtig hinein und untersuchte jeden Raum, ob sich irgendein unerwünschter Gast tierischer oder menschlicher Art darin verbarg und ob es sich wenigstens für die nächsten sieben Tage wohnlich einrichten ließ. Das Cottage hatte vor etwa hundertfünfzig Jahren einem Blackstone als Refugium gedient, der sich mit seiner Familie überworfen hatte. Er hatte den Rest seines Lebens hier verbracht und war inzwischen ebenso in Vergessenheit geraten wie das Cottage selbst. Oria war nur durch Zufall vor zwei Jahren auf eine alte Besitzurkunde gestoßen und dann ohne irgendjemand ein Wort zu sagen hier heraus gefahren, um sich das vergessene Eigentum anzusehen. Sie hatte nicht nur Mühe gehabt, den Weg zu finden – sie war auch sofort wieder umgekehrt, als sie das zerfallene Gebäude gesehen hatte. Jetzt war sie froh, ihren damaligen Ausflug hierher verschwiegen zu haben. Sie wählte die ehemalige Küche, die noch am besten erhalten war, als Domizil und verbrachte einen anstrengenden Vormittag damit, Jahrzehnte alten Dreck auszukehren. Die Möbel – ein rustikaler Holztisch und zwei ebensolche Stühle – waren erstaunlich gut erhalten. Als vorläufig letzte Amtshandlung pumpte sie ihre Luftmatratze auf, verstaute sie in einer Ecke und aß ein Sandwich. Dann machte sie es sich todmüde in ihrem Schlafsack auf der Matratze bequem und schlief fast sofort ein.
* Als sie wieder erwachte, dämmerte es bereits. Sie fühlte sich einigermaßen ausgeruht, packte ihren Campinggaskocher aus und bereitete sich eine warme Mahlzeit zu. Zum Glück war Sommer, so dass sie nicht noch im Wald Holz hacken musste, um im Kamin ein Feuer zu machen, das sie warm halten würde. Sie wollte das Cottage in den nächsten Tagen so wenig wie möglich verlassen. Blacklass war nur ein winziges Dorf und etwa zehn Kilometer entfernt. Sie glaubte nicht, dass sich jemand von dort hierher verirren würde. Falls das aber doch geschehen sollte, wollte sie denjenigen nicht durch den Rauch eines Kaminfeuers auf ihre Anwesenheit aufmerksam machen. Sie beschloss, noch ein bisschen im Grimoire zu lesen, bevor sie sich für die Nacht schlafen legte, doch sie konnte sich nicht darauf konzentrieren. Ihre Gedanken kreisten darum, wie es weiter gehen sollte, wenn die Vermählungszeremonie mit Sabulon vorüber war. Wenn alles nach Plan lief, würde er Mona an ihrer Stelle mit sich nehmen und man würde nie wieder etwas von ihr hören. Das bedeutete aber auch, dass Oria dann für den Rest ihres Lebens Mona spielen musste – ein riskantes Unterfangen und eine unangenehme Aussicht noch dazu. Was passierte, wenn die Sache schief ging, daran wagte Oria nicht zu denken. Zwar war sie sicher, dass ihre Familie sie nicht finden würde, denn sie hatte sich mit einem verbesserten Tarnzauber geschützt. Doch was war mit Sabulon? Sie konnte seine Macht und seine Fähigkeiten nicht einschätzen. Wenn er trotzdem in der Lage war, sie zu finden, würde sie dem Schicksal an seiner Seite nicht entkommen können. Und wenn er sie nicht fand, sah es auch nicht viel besser aus.
Sie konnte nicht ewig hier bleiben. Sollte sie besser für alle Fälle sofort fliehen und sich nie wieder bei der Familie blicken lassen? Oder sollte sie es riskieren, darauf zu vertrauen, dass der Plan funktionierte, in sieben Tagen nach Hause zurückkehren und zumindest vorübergehend in Monas Rolle bleiben, bis sie später untertauchen konnte? Oria merkte, dass sich ihre Gedanken zu verwirren begannen. Sie vertagte die Lösung des Problems auf morgen und legte sich schlafen.
* Sie erwachte mitten in der Nacht von einem knirschenden, mahlenden Geräusch, als wäre eine Mauer kurz vor dem Einsturz. Hastig setzte sie sich auf, schaltete ihre Taschenlampe ein und sah sich um. Außer ihr war niemand im Raum. Aber an der Wand neben dem Kamin, wo sie ihren Kocher platziert hatte, war ein kleines Stück Lehmputz heraus gebrochen. Daran war sicherlich die Hitze Schuld, die der Kocher entwickelt hatte. Oria seufzte und wollte sich wieder hinlegen, als ein weiteres Lehmstück aus der Wand brach. Unwillkürlich richteten sich ihre Nackenhaare auf. Es wirkte so, als würde jemand in der Wand den Lehm nach außen drücken. Sie stand auf und ging vorsichtig hinüber. Hinter der Bruchstelle befand sich ein Hohlraum. Oria leuchtete mit der Lampe hinein. Es sah so aus, als läge darin ein Paket. Neugierig riss sie das Loch so weit auf, dass sie hineinfassen und den Gegenstand herausholen konnte. Es war ein in mehrere Schichten Wachspapier gehülltes dickes Buch vom selben Format wie das Grimoire. Aufgeregt legte sie es auf den Tisch, riss das
Papier herunter und stieß überrascht die Luft aus. Vor ihr lag die verschollene Chronik des Blackstone‐Covens. Oria zündete hastig ihre Campinglampe an, drehte den Docht hoch und schlug das Buch vorsichtig auf. Es öffnete sich beinahe von selbst auf der Seite der letzten Eintragung, die vermutlich von dem Blackstone stammte, der hier gelebt hatte. »LÜGEN! ALLES LÜGEN!«, stand dort in großen Buchstaben, denen man die Wut ansah, mit der sie geschrieben worden waren. »Sabulon hat uns alle belogen! Aber niemand will mir das glauben. Stattdessen haben sie mich in die hinterste Wildnis Schottlands verbannt und ich habe nicht die Möglichkeit, dem Ganzen Einhalt zu gebieten. Baxarod könnte das. Aber nur eine Oria könnte ihn freisetzen. Gott, vergib mir!« Danach folgte keine Eintragung mehr. Oria runzelte die Stirn. Baxarod? Eine Oria? Und ein Blackstone, der Gott um Vergebung bat? Niemand aus der Familie hatte irgendetwas mit Gott zu tun, obwohl sie zur Tarnung natürlich einmal im Monat den Gottesdienst in Kilmarnock besuchten. Sie glaubten nicht an Gott, sondern an die Macht der Magie und an Sabulon. Und der war ein Lügner … die Chronik bestätigte ihre eigenen Überlegungen völlig. Aber wieso? Oria blätterte eine Seite zurück, wo sie die Antwort zu finden hoffte. Sie wurde nicht enttäuscht. »Meiner Schwester ist die Flucht aus Sabulons Reich gelungen. Sie konnte mir die Wahrheit sagen, ehe er sie aufgespürt hat und wieder zurückholte. Sie war nur fünf Jahre bei ihm, das heißt, sie ist erst sechsundzwanzig. Aber sie sah aus wie fünfzig. Sabulon saugt ihr die Lebensenergie aus und erhält damit einen Bann um das Reich seines Erzfeindes aufrecht: Baxarod, den Dämon der Ew …« An dieser Stelle war die Schrift über mehrere Sätze zur Unleserlichkeit verwischt. Danach hieß es:
»… Name ist der Schlüssel. Deshalb muss es eine Oria sein, die dem Dämon ihre Jungfräulichkeit opfert. Wird die Kette einmal unterbrochen, kann Sabulon seinen Feind nicht mehr gefangen halten. Es ist ein komplizierter Zauber, der …« Hier folgte wieder eine unleserliche Passage. Weiter unten stand: »… ist ein Bannwort in der Sprache der Dämonen: ›Sei gebunden!‹ Rückwärts gelesen ergibt es das Lösungswort ›Airo – Sei frei!‹ Sabulon bindet Baxarod alle 33 Jahre mit dem Bannzauber und dem Vergießen des jungfräulichen Blutes. Meine Schwester vermutet, dass dasselbe Ritual in Verbindung mit dem Wort ›Airo‹ Baxarod befreien müsste. Könnten wir das doch nur tun, um endlich von Sabulons Geißel befreit zu sein! Stattdessen müssen wir ihm in jeder Generation eine junge, blühende Frau opfern, der langsam und qualvoll die Lebensenergie ausgesaugt wird. Seine Worte waren LÜGEN! ALLES LÜGEN!« Oria klappte das Buch zu, stützte den Kopf in die Hände und versuchte zu verarbeiten, was sie gerade gelesen hatte. Sie hatte mit ihrem Verdacht, dass hinter Sabulons schönen Worten noch etwas ganz anderes steckte, vollkommen Recht gehabt. Doch die Wahrheit war schlimmer, als sie befürchtet hatte. Ihr erster Impuls war, sofort zurückzufahren und Mona die Chronik zu zeigen, damit sie endlich erkannte … »Aber niemand will mir das glauben«, drängten sich die verzweifelten Worte ihres Vorfahren in ihre Gedanken. Weder Mona noch ihre Mutter noch irgendein anderer Blackstone würde die Wahrheit akzeptieren. Wahrscheinlich nicht einmal der sonst so kritische Onkel John. Weil sie sie nicht glauben wollten. Sabulon hatte ihnen über die Jahrhunderte hinweg zweifellos eine Menge Wohltaten erwiesen in Form von Macht, Einfluss und Reichtum. Aber nur deshalb, um in jeder Generation eine Frau der Familie als jungfräuliche Braut zu bekommen. Das war seine einzige Möglichkeit, seinen Feind Baxarod in Schach zu halten … – also musste seine Angst vor diesem Feind ziemlich groß sein.
»Der Feind deines Feindes ist dein Freund«, kam ihr das alte Sprichwort in den Sinn. Vielleicht konnte sie ihre Familie ein für alle Mal von Sabulon befreien, wenn sie sich mit diesem Baxarod verbündete. Die Blackstones hatten auch ohne Sabulons ›Wohltaten‹ Geld und Einfluss genug. Sie brauchten ihn nicht, im Gegenteil: Er brauchte sie! Für einen Moment wallte kalte Wut in ihr darüber auf, dass sie seinetwegen nicht einmal einen richtigen Namen hatte, sondern mit einem Bannwort behaftet war: »Sei gebunden!« Der Gedanke, sich mit Sabulons Erzfeind zu verbünden, wurde immer verlockender. Doch dazu brauchte sie noch mehr Informationen. Sie würde die Chronik von Anfang an lesen. Aber erst morgen! Jetzt forderte ihr müder Körper erst einmal nachdrücklich sein Recht auf Schlaf.
* Trotz der kurzen Nachtruhe war Oria mit den ersten Sonnenstrahlen auf den Beinen. Nach einem bescheidenen Frühstück setzte sie sich mit einer großen Kanne Kaffee an den Tisch und begann, die Chronik ihrer Familie von Anfang an zu lesen. Genau wie das Grimoire stammte auch die erste Eintragung in der Chronik aus dem Jahr 1347. Es war nicht mehr alles lesbar, denn die Zeit hatte trotz eines schützenden Zaubers ihre Spuren auf den Seiten hinterlassen. Außerdem bereitete ihr das altertümliche Englisch einige Schwierigkeiten. Doch sie erfuhr, dass sich im Jahr 1347 sechs Frauen und sieben Männer zu einem Hexenzirkel zusammengeschlossen hatten, um für ein besonderes Ritual – die Einzelheiten waren nicht mehr zu entziffern – die Hilfe eines Dämons zu erflehen. Als Ort hatten sie sich dafür einen verborgenen Platz im Wald ausgesucht, auf dem
ein schwarzer Findling einen natürlichen Altar bildete. Oria erkannte ihn anhand der Beschreibung als den steinernen Altar, der heute noch im Keller von Blackstone Manor denselben Zwecke erfüllte. An jenem Tag hatte der Dienst der Blackstones für Sabulon begonnen. Die meisten Eintragungen bestanden nur aus den grundlegenden Daten, wann die Zusammenkünfte stattgefunden und wer an ihnen teilgenommen hatte. Die Beschreibungen der einzelnen Rituale standen im Grimoire. Interessant wurde es erst einige Jahrhunderte später, als die Hexenverfolgung auch Schottland heimsuchte und die Covenmitglieder ins Visier der Hexenjäger gerieten. Oria las: »… sie haben bereits Sieben von uns hingerichtet. Heute wurde Maud verhaftet, weil jemand sie beim Sammeln von Fliegenpilzen gesehen und angezeigt hat. Morgen soll sie uns unter der Folter verraten. Wir werden noch heute Nacht Sabulon beschwören. Er muss uns jetzt helfen, sonst wird …« Das nächste Stück war über fast eine ganze Seite unleserlich. Danach hieß es weiter: »… hat sich einmal mehr als unser Wohltäter erwiesen. Er hat Maud gerettet und den Inquisitor selbst als einen Hexer hingestellt. Die Leute haben ihn mit dem größten Vergnügen auf demselben Scheiterhaufen verbrannt, den er für Maud vorgesehen hatte. Doch Sabulon hat noch mehr getan. Ich bin jetzt Bürgermeister. Und wir verfügen nun über genug Geld, um uns selbst den König vom Leib halten zu können. Das einzige, das unser Meister als Gegenleistung verlangte, ist, dass Mauds von ihm gezeugte noch ungeborene Tochter ihm an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag als jungfräuliche Braut übergeben wird. Sie soll Oria heißen.« Oria unterbrach ihre Lektüre und schüttelte den Kopf über die Ungeheuerlichkeit, die sie gerade gelesen hatte. Nicht nur, dass im
Fall der Blackstones der traditionelle Vorwurf der ›Unzucht mit dem Teufel‹ schon damals (und heute immer noch) berechtigt war. Wenn diese Eintragung der Wahrheit entsprach, dann war Sabulons erste Blackstone‐Braut – seine eigene Tochter gewesen! Unglaublich! Auf der anderen Seite konnte man von einem Dämon natürlich keine moralischen Bedenken nach menschlichem Maßstab erwarten. Sie überflog die folgenden Eintragungen, die nur die üblichen Geburts‐ und Todesdaten sowie die der schwarzen Messen enthielten und las die einundzwanzig Jahre später gemachten Notizen. Bei denen handelte es sich um die einzige Ritualbeschreibung, die in der Chronik und nicht im Grimoire verzeichnet stand. Oria prägte sich den Aufbau genau ein und las dann über das Ritual selbst: »Sabulon entjungferte Oria vor unseren Augen auf dem Altar, wobei er dreimal ausrief: ›Baxarod Oria!‹ Es muss ein mächtiger Zauber gewesen sein, denn selbst wir konnten spüren, dass er die Dimensionen durchdrang und irgendwo – wahrscheinlich im Reich der Dämonen – seine Wirkung tat. Damit war das Ritual beendet. Zum Schluss verlangte er noch, dass diejenige unserer Töchter, die von heute an in zwölf Jahren als Erste geboren werden würde, ebenfalls den Namen Oria tragen soll und in 33 Jahren seine nächste Braut sein muss. Dies soll als Tradition ununterbrochen fortgesetzt werden, solange es Blackstones gibt. Wenn wir uns daran halten, so schwor er uns bei ›Thorluks Schädel und Kallas Blut‹ (die einzige Schwurformel, an die ein Dämon sich gebunden fühlt), dass er uns bis in alle Ewigkeit Macht, Wohlstand, Einfluss und Schutz gewähren wird.« Das war interessant – und erschreckend. Besonders als Oria beim Weiterlesen feststellte, dass, wenn die Chronik in diesem Punkt die Wahrheit enthielt, Sabulon nicht nur der Vater der ersten Oria gewesen war, sondern alle Orias nach jeweils zwölf Jahren zum für
seine Zwecke richtigen Zeitpunkt gezeugt hatte, auch die Schwester des letzten Chronisten, der hier im Cottage gestorben war. Und falls Sabulon nicht irgendwann danach von dieser Praxis abgerückt war, dann … war er auch Orias eigener Vater. Er – nicht der unbekannte amerikanische One‐Night‐Stand, den ihre Mutter ihr als Erzeuger genannt hatte. Sie fühlte eine Welle von Übelkeit in sich aufsteigen. Das war abstoßend! Und ein Grund mehr, Sabulon ein für alle Mal das Handwerk zu legen. Sie nahm sich das Grimoire vor und suchte dort nach Hinweisen, die ihr dafür nützlich sein konnten. Vor allem suchte sie nach mehr Informationen über Sabulons Erzfeind Baxarod. Es gab keine. Doch in Bezug auf dessen Befreiung fand sie Einiges. Demnach musste es funktionieren, wenn sie den ursprünglichen Zauber Sabulons, mit dem er Baxarod gebunden hatte, umkehrte. Konkret hieß das, sie musste sich exakt um Mitternacht am Tag ihres Geburtstags irgendwie selbst entjungfern – was kein sonderliches Problem sein dürfte – und im selben Moment drei Mal rufen: »Baxarod Airo!« Anschließend musste sie den Dämon beschwören, um mit ihm ihren Handel abzuschließen: den Tod Sabulons. Der Plan gefiel ihr, doch er barg Risiken. Was würde geschehen, wenn es nicht funktionierte? Im günstigsten Fall passierte dann gar nichts. Im schlimmsten Fall machte sie durch den Zauber Sabulon auf sich aufmerksam und gab ihm preis, wo sie zu finden war. Zwar war sie dann keine Jungfrau mehr und somit für seine Zwecke nicht mehr von Nutzen. Doch sie hatte keinen Zweifel daran, dass er sie in seiner Wut darüber nicht am Leben lassen würde. Aber das, so entschied sie, war in jedem Fall besser, als dass er ihr langsam die Lebensenergie aussaugte …
* Mitternacht war nur noch wenige Minuten entfernt. Oria überprüfte noch einmal gewissenhaft den Ritualaufbau und ihre Vorbereitungen. Sie war zu diesem Zweck in den vergangenen Tagen sogar in die nächste Stadt gefahren, um die Dinge zu besorgen, die sie dafür brauchte. Mit einem Illusionszauber hatte sie ihr Aussehen zu einem Allerweltsgesicht verändert, an das sich niemand erinnern würde. Nun war es soweit. Besonders die zwei Schutzkreise aus Salz, die sie vor Baxarod oder Sabulon schützen sollten, hatte sie sorgfältig überprüft. Es war ein Meisterstück geworden, wie sie fand. Statt das Salz einfach nur auf den Boden zu streuen, wo es von einem unverhofften Windstoß weggefegt werden konnte, hatte sie die Kreise zuerst mit Klebstoff gezogen und das Salz danach lückenlos darauf gestreut. Die Kerzen waren aufgestellt und angezündet, die Räucherschale stand im Kreis für Baxarod, alles andere lag bereit. Das Ritual konnte beginnen. Oria schlug das Herz bis zum Hals. Trotzdem war sie entschlossen, die Sache bis zum Ende durchzustehen. Die Ziffern ihrer Quarzarmbanduhr zeigten nur noch wenige Sekunden bis Mitternacht. Als alle Zahlen auf Null sprangen, stieß sie zu und rief: »Baxarod Airo! Baxarod Airo! Baxarod Airo!« Kaum war das letzte Wort verklungen, spürte sie, wie ein Schwall unglaublicher Energie durch ihr jungfräuliches Blut schoss und irgendwohin verschwand. Es war so heftig, dass ihr für einen Moment schwindelig wurde. Doch sie riss sich zusammen, denn der nächste Schritt stand an: die Beschwörung. Sie mischte etwas Blut mit den Beschwörungskräutern, die ihre Mutter immer verwendete und von denen jeder Blackstone immer
einen Vorrat für Notfälle bei sich hatte. Sie entzündete das Gemisch, stellte sie Schale in einen der beiden Kreise, sich selbst in den zweiten und rief: »Baxarod! Ich rufe dich mit Blut und Rauch! Ich binde dich mit Blut und Rauch! Erscheine!« Eine Weile tat sich gar nichts. Oria begann schon zu zweifeln, dass die Beschwörung gewirkt hatte, als innerhalb des zweiten Kreises schwarzer Nebel aufwallte, aus dem sich eine Gestalt schälte. Wie damals, als Sabulon gekommen war, hatte sie für einen Moment den Eindruck von etwas sehr Großem, Schwarzem, entfernt Menschenähnlichen mit glühenden gelben Wolfsaugen, spitzen Tierohren, einer überdimensionalen Bullenschnauze, einem hässlichen Kahlschädel und zwei riesigen schwarzen Schatten, die Flügel sein könnten. Dann stand ein großer Mann mit pechschwarzer Haut vor ihr, der außer einer Art Lendentuch keinen Fetzen Stoff am Leib trug. Auf seine Weise war er genauso beeindruckend wie Sabulon. Seine Wolf saugen starrten Oria kalt an. »Oria Blackstone«, sagte er mit unglaublich tiefer Stimme. »Woher kennst du meinen Namen?« fragte sie, bemüht, sich ihr Erschrecken darüber nicht anmerken zu lassen. Er zuckte mit den Schultern wie ein Mensch. »Nur eine Tochter Sabulons mit dem Namen Oria konnte mich befreien«, erklärte er. »Außerdem stinkt dein Blut nach ihm. – Was willst du?« »Sabulons Tod! Und das dürfte auch in deinem Interesse sein.« Er trat dicht an den Salzkreis heran und inspizierte ihn eingehend, ohne ihn zu berühren. »Schlau!«, befand er dann anerkennend. »Sehr schlau.« Er bohrte seinen Blick in ihre Augen. »Bist du auch schlau genug, dein Ziel zu erreichen?« »Ich denke doch«, antwortete sie kühl, obwohl sie innerlich zitterte. »Wirst du ihn töten?« Baxarod fixierte sie aus seinem Bannkreis heraus wie ein lauerndes Raubtier. »Was gibst du mir dafür als Gegenleistung?«
»Deine Freiheit.« Der Dämon lachte. »Die habe ich doch schon. Dank dir. Und ohne die Hilfe deines Meisters und Vaters Sabulon kannst du mich nicht wieder bannen. Ich behalte meine Freiheit in jedem Fall.« »Aber solange ich dich in deinem Kreis halte, kannst du nicht heraus«, erinnerte sie ihn. Er zuckte wieder mit den Schultern. »Aber du kannst den Bann nicht ewig aufrecht erhalten. Irgendwann erlahmt deine Kraft. Dann hält mich nichts mehr.« Oria schluckte nervös. Das lief nicht so, wie sie gehofft hatte. »Was willst du haben?«, fragte sie gespielt gelassen und hoffte, dass Baxarod sie nicht durchschaute. Er blickte sie nachdenklich an. »Warum will eine Tochter und Braut Sabulons seinen Tod?« »Weil ich weder seine Tochter und erst recht nicht seine Braut sein will. Ersteres kann ich nicht ändern, Letzteres mit deiner Hilfe schon. Ich will, dass meine Familie frei ist von den Ketten, mit denen er uns an sich gefesselt hat. Ich will, dass nie wieder eine unserer Frauen von ihm zu seinen egoistischen Zwecken benutzt und ihrer Lebensenergie beraubt wird, bis sie daran stirbt. – Also, was willst du für deine Hilfe haben?« Sein lüsternes Grinsen ließ die Antwort ahnen, noch ehe er sie aussprach. »Ich verlange nicht viel. Du sollst mir eine Nacht in meinem Reich Gesellschaft leisten und meine Braut sein. Nur eine einzige Nacht.« Das hörte sich in der Tat nach einer Kleinigkeit an. Doch Oria war nicht dumm genug, ihm ohne weiteres zu trauen. »Warum wollt ihr Dämonen euch eigentlich immer mit Menschen vergnügen?« Baxarod grinste. »Sagen wir, es macht Spaß. Und es hat zweifellos eine lange Tradition.« »Einverstanden«, erklärte Oria nach einer Weile des Überlegens.
»Unter einer Bedingung.« Er lachte leise. »Bedingung? Glaubst du, dass du in der Lage bist, Bedingungen zu stellen?« »Ja«, erwiderte sie fest. »Ich habe dich gerufen und hier gebunden. Solange ich dich nicht wieder gehen lasse, musst du bleiben. Wenn du also dieses Haus in absehbarer Zeit wieder verlassen willst, solltest du meine Bedingung akzeptieren. Ich verlange nicht viel«, wiederholte sie seine eigene Formulierung. »Lass hören«, forderte er sie auf. »Ich will, dass du mir etwas schwörst – bei Thorluks Schädel und Kallas Blut.« Sie dachte angestrengt nach, um sich an den Wortlaut von Asimovs Robotergesetzen zu erinnern. »Du sollst mir schwören, dass du mich nicht töten oder verletzen wirst. Dass du meinen Tod oder Verletzung niemals durch dein Nichthandeln zulässt. Und dass du nicht andere veranlasst, mich für dich zu töten oder zu verletzen. Und natürlich musst du mir schwören, dass du mich wirklich nach nur einer Nacht gehen und danach in Ruhe lässt, solange ich lebe.« Hoffentlich hatte sie bei ihrer Forderung nichts vergessen oder übersehen, um sich von ihm zu schützen. Baxarod hatte die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, als sie Thorluks Schädel und Kallas Blut erwähnte. »Du bist eine wirklich schlaue junge Hexe«, stellte er dann fest. »Aber gut. Ich werde es schwören.« »Dann schwöre jetzt, Dämon.« »Ich schwöre bei Thorluks Schädel und Kallas Blut, dass ich dich niemals töten oder körperlich verletzen werde, dass ich niemals zulasse, dass du durch mein Nichthandeln körperlich verletzt oder getötet wirst. Ich schwöre, dass ich dich gehen lasse, sobald die Nacht in meinem Reich zu Ende ist, die du dort mit mir verbringen wirst. Und ich schwöre, dass du mich danach niemals wieder sehen wirst. Bei Thorluks Schädel und Kallas Blut, so sei es!« Oria fand nichts an seinem Schwur auszusetzen. Doch Baxarods
boshaftes Grinsen gefiel ihr ganz und gar nicht. »Also«, sagte der Dämon, »jetzt schwöre auch du bei Thorluks Schädel und Kallas Blut, dass du mit mir eine ganze Nacht in meinem Reich verbringen wirst.« »Warum soll ich auch diese Formel verwenden?« »Weil du Dämonenblut in dir hast. Wenn du diesen Schwur brichst, wird dein Blut dir dieselbe fürchterliche Strafe bescheren wie jedem Dämon, der in Thorluks und Kallas Namen falsch schwört.« Trotz intensiven Überlegens fand Oria in seiner Forderung keinen Pferdefuß und leistete den Schwur. »Und nachdem wir nun beide geschworen haben, solltest du mich aus dem Kreis entlassen, damit wir hier verschwinden können«, forderte Baxarod sie auf. »Ich werde dich erst in dein Reich begleiten, nachdem du Sabulon getötet hast. Und ich will dabei sein, wenn du es tust. Damit du mir hinterher nicht vorlügen kannst, er sei tot, wenn er in Wirklichkeit noch quicklebendig ist.« Baxarod lachte. »Keine Sorge! Sein Tod liegt mir ebenso sehr am Herzen wie dir. Aber vielleicht bist du doch nicht so schlau, wie du denkst. Ich hätte ihn in jedem Fall getötet, sobald ich aus diesem Kreis heraus bin. So kann ich dafür noch eine nette Belohnung einkassieren.« Oria antwortete nicht, sondern löste den Bann auf, der ihn im Kreis hielt. Als sie ihren eigenen Kreis verließ, ergriff Baxarod ihre Hand. »Dann wollen wir mal …«
* Mona Blackstone war am Ziel all ihrer Träume. In wenigen Minuten würde sie Sabulon als Braut übergeben werden. Alles war
vorbereitet. Zu diesem feierlichen Anlass waren alle Blackstones aus der ganzen Welt angereist, um dem Ritual beizuwohnen. Der Kellerraum in Blackstone Manor war beinahe überfüllt. Niemand fehlte – bis auf Oria. Und bis jetzt hatte keiner bemerkt, dass Mona in ihre Rolle geschlüpft war. Moira rief jetzt Sabulon herbei, der unverzüglich erschien und Mona ein gewinnendes Lächeln schenkte. Mit einer gebieterischen Geste befahl er sie zu sich. Sie eilte an seine Seite und nahm seine ausgestreckte Hand. Sabulon erstarrte für einen Moment, als er sie berührte. Dann wurde sein freundliches Gesicht zu einer Fratze aus Wut. Er riss Mona zu sich heran, packte sie an der Kehle, hob sie hoch und schleuderte sie wie eine Puppe von sich. Sie segelte mit einem entsetzen Aufschrei durch die Luft und prallte mit ungeheurer Wucht gegen die Kellerwand. Mit einem hässlichen Geräusch brachen alle Knochen in ihrem Leib. Im nächsten Moment war sie tot. »Verrat!«, tobte der Dämon. »Das ist nicht Oria! Wo ist meine Braut?« Alle waren vor Entsetzen wie gelähmt. Die Matriarchin begriff nur langsam, dass sie soeben die furchtbarste Katastrophe erlebte, den Super‐GAU ihres Lebens, dessen Konsequenzen sie sich nicht einmal annähernd ausmalen konnte. Sabulon ließ ihr keine Zeit für Erklärungen. Er beendete ihr Leben auf dieselbe Weise wie Monas und machte Miene, mit dem Rest der Blackstones ebenso zu verfahren. »D‐die Zwillinge … sie müssen die Rollen getauscht haben!«, stotterte John eine Erklärung. »W‐wir wussten davon nichts …« Sabulon machte einen Schritt auf ihn zu und John schloss innerlich mit seinem Leben ab. Irgendwo im Haus schlug eine Standuhr Mitternacht. Der Dämon erstarrte. »Nein!«, brüllte er dann in einer maßlosen,
absolut unmenschlichen Wut, gefolgt von einem Schrei schierer Wut und Entsetzens. Seine Gestalt zerfloss, löste sich auf und formte sich innerhalb von Sekunden neu zu einem Etwas, das seine Anhänger noch nie gesehen hatten: nur entfernt menschlich mit einer aus dem Schädel wachsenden Krone aus Ziegenhörnern, einer Reihe scharfer Reißzähne in einem schnabelähnlichen Maul und Reptilienklauen an Händen und Füßen. Dann begann das Monster unter den Blackstones zu wüten. Wer nicht schnell genug aus dem Keller entkam, fiel seinen reißenden Klauen und Zähnen zum Opfer. »SABULON!« Die donnernde Stimme stoppte den Dämon. Aus dem Nichts heraus war der verhasste Feind aufgetaucht. Und an seiner Seite … Sabulons Braut. Baxarod ließ Sabulon keine Zeit zu einem Angriff. Er schleuderte ihm eine Salve glühenden Dämonenfeuers aus seiner Faust entgegen. Sabulon verging innerhalb von Sekunden zu einem stinkenden Häufchen Asche. »Erledigt«, erklärte Baxarod zufrieden zu Oria gewandt. »Jetzt löse deinen Teil des Handels ein.« Oria sah sich entsetzt im Keller um, der nur noch ein einziges Schlachtfeld war, auf dem die meisten ihrer Verwandten tot in ihrem Blut lagen. Wer noch lebte, war mehr oder weniger schwer verletzt. Und etliche würden die nächste Stunde nicht überleben. »Was hast du getan!« Ein älterer Verwandter aus Übersee, der mit nur einem gebrochenen Arm davongekommen war, packte Oria an der Schulter und schüttelte sie. »Du hast unseren Meister verraten! Du hast uns alle verraten! Sieh, was du angerichtet hast! Das geht auf dein Konto!« Er hatte Recht. Aber: »Ich wollte uns doch nur retten! Sabulon hat uns alle belogen! Ich …« »Retten? Wovor? Sabulon hat uns immer nur Gutes getan! Und du
verbündest dich mit seinem schlimmsten Feind! Du …« Er beging den Fehler, die Hand gegen Oria zu erheben, um sie zu schlagen. Baxarod beendete ohne zu zögern sein Leben, noch ehe er den Schlag ausführen konnte. Oria fiel dem Dämon in den Arm. »Was tust du?« »Ich erfülle meinen Schwur«, erklärte er gelassen. »Du selbst hast mich doch schwören lassen, niemals durch mein Nichthandeln zuzulassen, dass du verletzt oder getötet wirst. Und jetzt sollten wir hier verschwinden.« »Das halte ich auch für besser«, stimmte John zu, der aus der Ecke gekrochen kam, in der er sich hatte verstecken können. »Verschwinde, Oria. Und lass dich nie wieder bei uns blicken. Niemals wieder!« Oria ignorierte ihn. »Ruft doch endlich jemand einen Krankenwagen!«, forderte sie entnervt. John lachte ihr bitter ins Gesicht. »Und was sollen wir erzählen, was hier passiert ist? Dank dir können wir sie gar nicht ins Krankenhaus bringen! Entweder sie überleben ohne medizinische Hilfe – oder sie sterben wie die anderen. Aber das ist nicht mehr deine Angelegenheit. Hau ab! Und solltest du je zurückkommen, bist du tot!« Baxarod ließ ihr keine Gelegenheit mehr zu antworten. Er packte sie am Arm. Im nächsten Moment waren sie in seinem Reich jenseits der Welt, einer Höhle in einem nächtlichen Wald, dessen Himmel von einem fahlen Vollmond beschienen wurde. Baxarod führte sie in die Höhle. Er machte eine kurze Handbewegung und vor ihnen stand ein breites Bett. Er deutete einladend darauf. »Ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt. Jetzt bis du an der Reihe, dasselbe zu tun.« Obwohl ihr absolut nicht der Sinn danach stand, gehorchte Oria und verschob die Lösung der neuen Probleme, die sich nun ergeben hatte, auf später. Ebenso vertagte sie ihre Schockreaktion auf den
Moment, wenn sie Baxarods Reich wieder verlassen haben würde. Da der Vollmond hoch am Himmel stand, würde das ja nur ein paar Stunden dauern …
* Eine lange Zeit später rappelte Oria sich vollkommen erschöpft von Baxarods Bett auf. Sie wusste nicht, wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Doch der Morgen konnte nicht mehr fern sein. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Seltsam. Sie war um 0.21 Uhr stehen geblieben, wohl genau in dem Moment, als sie hier angekommen war. Baxarod lag neben ihr und beobachtete sie grinsend. Sie trat an den Höhleneingang und blickte zum Himmel. Der Mond schien immer noch. Weit und breit war kein Anzeichen der Morgendämmerung zu sehen. Aber wenn ihr Zeitgefühl sie nicht täuschte, musste jeden Moment irgendwo ein Silberstreif am Horizont erscheinen. Der Mond … … stand noch exakt an derselben Stelle, wo er auch bei ihrer Ankunft gewesen war! Oria fühlte, wie ihr Mund trocken wurde. Sie wandte sich zu Baxarod um. »Müsste es nicht bald dämmern?« Der Dämon lachte. »Müsste es«, bestätigte er. »Wenn wir auf der Erde wären. Aber in meinem Reich vergeht die Zeit ein bisschen anders …« Oria starrte ihn entsetzt an. »Du … du – Teufel!«, schrie sie. »Du hast geschworen …!« »Ich habe geschworen«, unterbrach er sie kalt, »dass ich dich gehen lassen werde, wenn du eine Nacht in meinem Reich verbracht hast. Und ich werde mein Wort halten. Aber du hättest nachforschen sollen, warum man mich den Dämon der Ewigen Nacht
nennt. In meinem Reich endet die Nacht niemals.« Er bedachte sie mit einem Blick abgrundtiefer Verachtung. »Wie naiv du doch bist! Hast du ernsthaft geglaubt, du wärst schlau genug, einen Dämon austricksen zu können?« Oria begriff nur langsam das ganze Ausmaß der Bredouille, in die sich manövriert hatte. »Du hattest von Anfang an gar nicht vor, mich jemals wieder gehen zu lassen!«, warf sie Baxarod vor. Der Dämon zuckte mit den Schultern. »Doch ich werde natürlich mein Wort halten. Sollte die Nacht in meinem Reich jemals enden – bevor du irgendwann eines natürlichen Todes gestorben bist –, darfst du gehen. Doch bis dahin – bis in alle Ewigkeit! – wird Sabulons Tochter meine Braut sein und mir starke, mächtige Kinder gebären.« Das Letzte, was Oria hörte, war sein triumphierendes Lachen, bevor ihr die Sinne schwanden und sie in einer Ohnmacht versank, aus der sie nie wieder zu erwachen hoffte … ENDE