Orania Papazoglou
Süß wie der wilde Tod
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Orania Papazoglou
Süß wie der wilde Tod
scanned 03/2008 corrected 05/2008 Wahl-New Yorkerin Patience McKenna verdient ihre Miete mit dem Verfassen von Liebesromanen – und ihre Lorbeeren mit Artikeln für anspruchsvollere Medien. Doch als ErfolgsSchnulzenautorin Myrra Agenworth ermordet wird, sieht sich Patience in einer ganz anderen Sparte gefordert – wobei die Polizei ihre Beiträge nicht besonders schätzt … ISBN: 3-88619-542-2 Original: Sweet, Savage Death Übersetzer: Inge Kahlix Verlag: Argument Verlag Erscheinungsjahr: 1993 Umschlaggestaltung: Johannes Nawrath
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!
Orania Papazoglou
Süß wie der wilde Tod Aus dem Amerikanischen von Inge Kahlix
Ariadne Krimi 1042 Argument
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Sweet, Savage Death © 1984 Orania Papazoglou Lektorat: Else Laudan
Deutsche Erstausgabe Juli 1993 Alle Rechte vorbehalten © Argument Verlag 1993 Rentzelstraße 1, 20146 Hamburg Telefon 040 / 45 36 80 – Telefax 040 / 44 51 89 Titelgraphik: Johannes Nawrath Signet: Martin Grundmann Texterfassung durch die Übersetzerin Fotosatz: Mößner und Steinhardt oHG, Berlin Druck: Clausen & Bosse, Leck ISBN 3-88619-542-2
Meinen Eltern Für moralische, seelische und manchmal finanzielle Unterstützung Meinem Bruder Xenophon Und meiner Schwägerin Joan Sowie Andrea, Jeremy und Nicholas Möge es ihnen lange gutgehen!
FIRES OF LOVE Allgemeine redaktionelle Richtlinien Liebe Romance-Autorin: Farret Original-Paperback freut sich, Ihnen eine völlig neue Konzeption auf dem Gebiet des Liebesromanes vorzustellen – Fires of Love. Zielgruppe ist die Frau von heute, die sich mehr Romantik, mehr Leidenschaft, mehr erotische Details wünscht, als die traditionellen Liebesromanreihen bieten. In Fires of Love werden lebensechte Charaktere mit Herausforderungen konfrontiert, welche die Probleme und Chancen der modernen Frau widerspiegeln. Für Fires of Love zu schreiben, verlangt von Ihnen nicht nur Leidenschaft und Einfühlungsvermögen, um alle Facetten zeitgemäßer Liebe und Erotik auszuloten, sondern auch die Bereitschaft, sich auf die wunderbare Phantasiewelt eines Liebesromanes einzulassen. Unsere Stories sind intellektuell-anspruchsvoll, doch niemals negativ; sie sind sinnlich, aber nie klinischnüchtern. In erster Linie sollen sie den Leserinnen Freude beim Lesen und Ihnen, der Autorin, Freude beim Schreiben bereiten. Bitte lesen Sie aufmerksam folgende Punkte, bevor Sie uns Ihr Manuskript vorlegen. Es sind die grundlegenden Prinzipien für Fires of Love:
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Die Heldin: Die Hauptperson eines Fires of Love-Romanes ist älter als die traditionellen Liebesroman-Heldinnen (25 bis 35 Jahre), sie ist eine vitale, moderne, verantwortungsbewußte junge Frau, die mit beiden Beinen fest im Leben steht. Wir wollen Heldinnen mit einem Beruf, für den sie sich voll einsetzen, oder zumindest mit einem ungewöhnlich starken außerberuflichen Engagement. Eine Fires of LoveHeldin weint nicht bei der ersten Schwierigkeit und errötet auch nicht bei der kleinsten Anzüglichkeit. Sie geht das Leben positiv an. Auch wenn sie ihre Fehler hat, so sind diese nicht gravierend, und insgesamt gesehen strahlt sie eine weit über ihr Alter hinausgehende Reife aus. Sie hat Sinn für Humor und eine gewisse Selbstironie, weiß jedoch sehr gut, wann sie sich selbst ernstnehmen muß. Ganz sicher ist sie kein Heimchen am Herd; auch läßt sie sich weder vom Helden noch von sonst jemandem dazu machen. Es ist von allergrößter Wichtigkeit, daß eine Fires of Love-Heldin die aktive Rolle bei ihren Affären spielt – ebenso, wie sie die Richtung ihres Lebens selbst bestimmt. Eine Fires of Love-Heldin muß nicht unbedingt Jungfrau sein, auch wenn sie noch nicht verheiratet war. Dieses Thema kann schlicht übergangen werden. Ihre Einstellung zur Sexualität ist dennoch nicht freizügig – sie weiß sehr wohl, daß Sex in der Liebe zwischen Mann und Frau eine entscheidende Rolle spielt. Unsere Hel6
din hält jedoch nichts von Promiskuität. Auch ist ihr bewußt, daß Sex und Liebe nicht immer wie Roß und Reiter zusammengehen – obgleich sie weiß, daß sie für die Ehe beides braucht. Die Fires of Love-Heldin kann verwitwet oder geschieden sein. Wenn sie geschieden ist, muß klar zum Ausdruck kommen, daß es nicht ihre Schuld war. Im allgemeinen ist es günstig, wenn ein Ehemaliger unserer Heldin im Vergleich zu ihrem neuen Liebhaber schlechter wegkommt. Der Held: Der Held ist der Traum jeder Frau – wenn er nicht mit Reichtum gesegnet ist, dann ist er außergewöhnlich erfolgreich bei allem, was er in Angriff nimmt, außerdem gutaussehend, fürsorglich, leidenschaftlich und natürlich unwiderstehlich sexy. Er sollte älter sein als die Heldin, so zwischen 30 und 45, und in seinem Beruf etabliert. Wir wollen den prototypischen Mann: keine muskelstrotzende Monstrosität, sondern ein athletisches maskulines Ideal. Er sollte willensstark sein, aber nicht autoritär, und sollte die Heldin sowohl ihrer Schönheit als auch ihrer Vielseitigkeit wegen bewundern. Obgleich es ihm möglicherweise nicht leicht fällt, seine Gefühle zu zeigen, sehnt sich der Fires of Love-Held zutiefst nach einer festen Beziehung zu unserer Heldin.
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Der Schauplatz: Eine Fires of Love-Liebesgeschichte kann in den Vereinigten Staaten oder im Ausland spielen, in einer hektischen Großstadt oder auf einer einsamen Insel. Stellen Sie den Schauplatz so phantasievoll wie möglich dar – und nutzen Sie ihn, um den Handlungsrahmen mit Details und Verwicklungen anzureichern. Die Liebesszenen: Fires of Love bietet den Leserinnen mehr und ausführlichere Liebesszenen als jeder andere traditionelle Liebesroman, allerdings darf eine Fires of Love-Szene niemals technisch und nüchtern geschrieben sein! Richten Sie Ihr Augenmerk lieber auf die Gefühle und Gedanken der Heldin, wenn sie mit dem Helden schläft. Erzählen Sie uns, was in ihrem Kopf vorgeht, beschreiben Sie, wie sich die rosigen Brustwarzen der Heldin unter den fordernden Händen des Helden erregt aufrichten, wie die liebkosende Zunge des Helden leidenschaftliche Schauer durch ihr Innerstes schickt. Lassen Sie uns diesen großen Moment, den Gipfel der Ekstase, gemeinsam mit der Heldin erleben – und vergessen Sie nie, daß es in einer Fires of LoveLiebesszene immer in erster Linie um Liebe und nicht nur um Leidenschaft geht. Der Handlungsrahmen: Ein Fires of Love-Handlungsrahmen beschreibt 8
ausschließlich die sich entwickelnde Beziehung zwischen dem Helden und der Heldin. Denken Sie immer daran, daß es sich um einen schönen Traum handelt. Konfliktbeladene Themen wie Alkohol, Drogen, Abtreibung, mißhandelte Frauen, Inflation, Arbeitslosigkeit und Kriminalität sind hier fehl am Platz. Keine Elemente des Kriminalromanes, keine übertriebene Spannung, und auch nicht andeutungsweise Horror und Grusel. Ein Fires of Love-Roman ist in erster Linie die Geschichte eines Mannes und einer Frau auf dem Weg zueinander. Ihre Aufgabe, liebe Autorin, ist es, eine Story zu entwerfen, in der wahre Liebe alle Unterschiede überwindet – und die mit der Eheschließung endet. Das Manuskript sollte ungefähr 60000 Wörter umfassen. Bedingt durch das inflationäre Ansteigen von Liebesromanen auf dem amerikanischen Markt sind einige Handlungsrahmen und Konfliktstrategien bedauerlicherweise hoffnungslos überstrapaziert. Nach Möglichkeit sollte die Fires of LoveAutorin folgende Situationen vermeiden: 1. Die Heldin gibt sich dem Helden nicht hin, weil sie glaubt, daß er mit zu vielen anderen Frauen schläft und nichts von einer monogamen Beziehung hält. 2. Die Heldin gibt sich dem Helden nicht hin, weil dieser der Meinung ist, daß Frauen im Berufsleben nichts zu suchen haben und weniger 9
kompetent sind als Männer. 3. Der Held gibt sich der Heldin nicht hin, weil er alle Frauen für Huren hält. 4. Der Held gibt sich der Heldin nicht hin, weil er sie für ein verwöhntes reiches Mädchen hält – das stört ihn, weil er selbst sich von ganz unten hocharbeiten mußte. Da Fires of Love eine zeitgemäße Reihe ist, lehnen wir Geschichten über Kuppelei jeder Art und Vernunftehen ab. Der Stil: Ein Fires of Love-Roman sollte in der dritten Person geschrieben sein, jedoch aus der Sicht der Heldin. Rückblicke sollten sich auf ein Minimum beschränken und Aussichten auf eine ferne Zukunft ganz vermieden werden. Die Bücher sollten jenseits von konkreten Zeiträumen ihre Bedeutung haben – als spielten sie heute, gleichgültig, wann dieses Heute ist. Aus diesem Grund sollten Hinweise auf irgendwelche Ereignisse oder Daten vermieden werden, die die Story auf eine bestimmte Zeit festlegen – zum Beispiel der Koreaoder Vietnamkrieg. Ein Fires of Love-Roman soll den Eindruck erwecken, jederzeit und zu allen Zeiten zu spielen. Konzentrieren Sie sich auf sinnliche Einzelheiten. Der Held und die Heldin sollten häufig und in al10
ler Ausführlichkeit beschrieben werden – das bezieht sich auch auf die Kleidung, die Mahlzeiten und das Ambiente in jeder einzelnen Szene. Versetzen Sie die Leserin in die Welt Ihres Romanes. Lassen Sie sie Ihre Welt fühlen, schmecken, riechen, sehen und hören! Wir hoffen, daß Sie sich mit uns über Fires of Love freuen – und wir freuen uns auf Ihr Manuskript. Viel Glück und gutes Gelingen! Janine Williams Cheflektorin Fires of Love
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1 Ich hatte einmal einen Freund, der war der Meinung, man könnte alles, was man über eine Person wissen wollte, an ihrer Kleidung erkennen – an der Art, wie der Stoff fällt, an den Farben und am Schnitt. Hätte er mich auf der Beerdigung von Myrra Agenworth zum ersten und letzten Mal gesehen, dann hätte er mich für eine jener hochgewachsenen Frauen gehalten, die Angst vor ihrer eigenen Körpergröße haben – für ein verklemmtes Arbeitstier oder ein verhuschtes Aschenbrödel. Er hätte in einem Punkt absolut recht gehabt: Hier bei Myrras Begräbnis fühlte ich mich so unsicher wie seit der sechsten Klasse nicht mehr. Ich bin einsdreiundachtzig groß, wiege zweiundsechzig Kilo und wirke noch länger, als ich tatsächlich bin. Im Augenblick stand ich im hinteren Teil der People’s Nondenominational Church, einer Trauerhalle für Konfessionslose, Ecke Vierunddreißigste Straße West und Tenth Avenue und sah in meinem nagelneuen kleinen Schwarzen von Saks aus wie ein Storch. Mein volles blondes Haar, das mir bis zur Taille reicht, hatte ich zu einem Zopf geflochten. Ich klammerte mich an die Bank vor mir und hielt mich mühsam aufrecht. Gleichzeitig gab ich mir alle Mühe, nicht zu lachen. Drei Tage eisernes Fasten hatten mir Schwindelgefühle eingebracht, und ich war nahe daran, die Kontrolle zu verlie12
ren. Drei Tage Hungern – und das nur wegen eines unwiderstehlich schrillen Badeanzugs Größe 34 bei Bloomingdale, in den ich vergeblich versucht hatte, mich hineinzuzwängen. Der Prediger hob den Blick zum Himmel und sprach: »Gütiger Gott, nimm diese Deine geliebte Tochter an Dein Herz.« Seine Stimme klang so fröhlich, als wäre er ein Eichhörnchen, das gerade auf einen unbewachten Haufen Nüsse gestoßen ist. Ich legte den Kopf in die Hände und spähte durch die Finger auf die vordersten drei Bankreihen, fest entschlossen, mich ausschließlich auf den gesellschaftlichen Aspekt dieser Inszenierung zu konzentrieren. Nichts leichter als das. Myrra Agenworth war einem Straßenräuber zum Opfer gefallen, als sie ganz allein um halb drei am Morgen des 7. Dezembers ihren Hund im Riverside Park ausführte. Warum sie mit dem Cockerspaniel ausgerechnet um halb drei in der Früh im Riverside Park spazierenging, konnte nie hinreichend geklärt werden. Irgendwie schien das zum damaligen Zeitpunkt auch nicht von Bedeutung zu sein. Die Frau war sechsundsiebzig Jahre alt, zerbrechlich, als exzentrisch bekannt und zu reich, um so ohne weiteres für unzurechnungsfähig erklärt zu werden. Wenn sie behängt mit Diamant-Ohrringen, Rubinschmuck, der wie ein Kettenhemd auf ihren Brüsten lag, und einem bodenlangen Chinchilla-Cape durch das nächtliche Manhattan spazieren wollte, dann war das 13
einzig und allein ihre Sache, und der Portier hätte sie auf keinen Fall daran gehindert. Es war allerdings von Bedeutung, daß sie allein lebte. Ihre Kinder waren tot. Die einzige Enkelin lebte in England, hatte gerade ihr Studium in Oxford abgeschlossen und ihre Großmutter so selten wie möglich besucht. Zwischen den beiden hatte es einige Spannungen gegeben, aber das war kein Wunder. Wußte ich doch, daß der Sohn einer anderen mir bekannten Autorin von Liebesromanen seinen Freunden erzählt, daß seine Mutter ihr Geld in Heimarbeit mit Tippen verdient. Jede Ausrede ist ihm recht, wenn er nur die peinliche Tatsache vertuschen kann, daß er mit einer Frau verwandt ist, die »diese schnulzigen Liebesschmonzetten« schreibt. Myrra hatte den Ablauf ihrer Trauerfeier in allen Details schriftlich festgelegt. Sie hatte sich für die People’s Nondenominational Church entschieden und alle Requisiten bestimmt. Ihren Verlegern blieb es überlassen, dreizehn Dutzend Rosen aufzutreiben, dreizehn Tauben, einen Pfau und einen herzförmigen Sarg. Das mit dem Sarg kriegten sie nicht hin. Sie mußten sich mit einem gewöhnlichen Modell begnügen, einem Sarg, in den ein gebrochenes Herz genau über der Stelle ins Holz geschnitzt war, wo Myrras Kopf zu liegen kam. Die Feierlichkeiten hatte man wohlüberlegt auf den 10. Dezember gelegt, den Donnerstag vor dem Sonntag, an dem die Dritte Jahrestagung der 14
Amerikanischen Liebesroman-Autorinnen eröffnet werden sollte. Alles, was Rang und Namen hatte bei Autorinnen und Lektorinnen, wurde für den Freitag im Cathay-Pierce Hotel erwartet. Die Lektorinnen von Farret Original-Paperback hatten es so arrangiert, daß die Teilnehmerinnen schon am Donnerstag angereist waren, und hatten die vordersten drei Kirchenbankreihen mit Spitzenautorinnen aus zweiundzwanzig Bundesstaaten und drei Nationen vollgestopft. Barbara Cartland war anwesend, mit einem winzigen schwarzen Schleier auf ihren unglaublich hochtoupierten Haaren. Rosemary Rogers gab sich gramgebeugt. Selbst Bertrice Small verteidigte tapfer ihren winzigen Platz in der Kirchenbank und sah dabei ein bißchen gefaßt, ein bißchen traurig und ein bißchen verloren aus. In die vierte Reihe hatte man die einflußreichsten Lektorinnen der Sparte Liebesroman gesteckt: Vivian Stephens von Harlequin, Karen Solem von Silhouette, Anne Gisonny von Candlelight at Dell, Ellen Edwards und Leslie Kazanjian von Berkley Jove, Carolyn Nichols von Bantam. Und mittendrin Janine Williams von Farret. Auf ihrem kleinen braunen Dutt thronte ein schwarzes Netz – exakt fünf Zentimeter über dem Kragen ihrer schwarzen Kostümjacke. Ihr Rückgrat war kerzengerade, die Schulter gestrafft, und ihr Kostüm ein Harve Bernard Modell, für das sie sich besser nicht in Unkosten gestürzt hätte. Bestimmt war es sündhaft 15
teuer gewesen, aber es saß nicht. Allerdings sah sie darin aus wie die Inkarnation der Lektorin an sich, und das war im Augenblick wichtiger als jede Demonstration von Trauer. In der Lobby lauerte ein Fernsehteam von CBS. »Pralinen«, flüsterte Phoebe an meiner Taille. »Sie verteilen Pralinen.« Ihre Stimme klang freudig und angewidert zugleich – freudig bei der Aussicht auf eins dieser kleinen sahnegefüllten Schokoladeherzen von Godiva, angewidert, weil sie von Amelia Samson verteilt wurden. Laut Phoebe gehörte Amelia Samson zur »alten Garde«, so als wären die Liebesroman-Autorinnen eine Armee, die sich gerade im Umbruch von der Kavallerie zur modernen Panzertruppe befindet. Amelia war Anfang sechzig, so einiges über neunzig Kilo schwer und »Autorin« von mehr als zweihundert Liebesromanen. Sie hatte sogar eine eigene Reihe, die bei Farret erschien und sich »Amelia Samsons Liebesgeflüster« nannte. Was Phoebe Amelia Samson übelnahm, war die Tatsache, daß sie in Wirklichkeit überhaupt nichts selber schrieb – und das seit beinahe zwanzig Jahren. Sie hatte sich in einem Vierzig-Zimmer-Haus in Rhinebeck, genannt »Die Burg« verschanzt, umgeben von zwölf angejahrten, unterwürfigen Frauen, die Monat für Monat von ihr mit jeweils einem festumrissenen Handlungsrahmen und einer groben Charakterskizze abgefüttert wurden. Diese Frauen waren 16
es, die die Romane schrieben. Und das für Kost und Logis und ein absolut lächerliches Honorar. Phoebe war ein halbes Jahr jünger als ich, einsfünfzig groß, Sechsundsechzig Kilo schwer und eine Frau von Charakter. Sie hatte feste Prinzipien, und das stand ihr gut. Überflüssig zu erwähnen, daß sie ihre Romane eigenhändig schrieb. Es waren sehr umfangreiche Bücher und so gut wie nie reine Liebesromane. Außerdem brachte es Phoebe immer noch auf zwei OriginalTaschenbuchausgaben im Jahr. Sie hatte ihren Namen von Weiss in Damereaux geändert und ihre Zehnzimmerwohnung in verschiedenen Samtnuancen tapezieren lassen. Das Magazin People hatte Fotos von ihr gebracht, die sie in einem bodenlangen Samtkaftan zeigten, behangen mit einer sechsreihigen Diamantkette, schweren birnenförmigen Diamant-Klunkern, die ihr die Ohrläppchen langzogen, und nicht weniger als zwei Amethyst-Ringen pro Finger. Die Ex-Frau ihres Versicherungsagenten, die People im Abonnement bezog, hatte ihrem Verflossenen eine Kopie des Artikels in die Hauptgeschäftsstelle der Versicherung geschickt. Sechs Wochen später, nach peinlich genauer Prüfung der Angelegenheit durch unzählige gequält dreinschauende junge Männer in braunen Leinenanzügen, hatte man Phoebe die Diebstahl-, Hausrat- und Lebensversicherung gekündigt. »Keine Pralinen«, stellte Phoebe traurig fest. 17
»Orchideen.« Amelia blieb an unserer Bank stehen und ließ den Korb, eine alpenländische Imitation mit roten und weißen Bändern, herumgehen. Als er bei mir angelangt war, nahm ich mir eine Blume, überlegte, ob ich sie mir ins Haar stecken sollte und beschloß dann, sie lieber in der Hand zu halten. Es war wirklich nicht nötig, auch noch wie ein Storch mit Indianerfeder auszusehen. Ich ließ die Kirchenbank los, um den Korb weiterzureichen, und schwankte. Zu meinem Hunger kamen noch die ungewohnten, schwindelerregend hohen Absätze meiner Schuhe. »Du hungerst mal wieder«, zischte mir Phoebe zu. »Damit bringst du dich noch um.« »Es ist nur eine Entschlackungskur.« »Weißt du eigentlich, was passiert, wenn du zu wenig ißt? Dein Körper verzehrt sich selbst. Du nagst an deiner eigenen Leber.« Eine kleine, bieder gekleidete Frau in der Bank vor uns wandte sich um und fuchtelte mißbilligend mit ihrer Orchidee in Richtung Phoebe. Dann drehte sie sich wieder nach vorn und wischte mit einem riechbar lavendelgetränkten, blau bestickten Taschentuch über ihre tränenlosen Augen. Eine kleine Dame aus Westchester, entschied ich. Hausfrau oder ehemalige Bibliothekarin, die ihre Zeit damit totschlug, Sechzigtausend-Wörter-Traktate über die »wahre Liebe« zu verfassen. 18
Der Geistliche schlug das Kreuzzeichen über den Köpfen einiger verängstigter Tauben, die unter dem Altar hockten, und die Trauergemeinde setzte sich. »Lydia Wentward ist wieder voll auf Koks.« Diesmal flüsterte Phoebe in mein Ohr. »Großartig, nicht?« Ich brummte und war mir nicht sicher, ob ich es großartig oder nicht finden sollte. Vor meinen Augen begann sich wieder alles zu drehen. Diesmal nicht, weil ich gehungert hatte. Mitten in diesem endlosen, lächerlichen Spektakel wurde mir allmählich bewußt, daß Myrra Agenworth tot war. Sie würde mir fehlen. In vielerlei Hinsicht war sie eine oberflächliche Frau gewesen, eitel, verwöhnt und sentimental. Geld war ihr immer sehr wichtig gewesen, und sie hatte es für Dinge ausgegeben, die ich mir nicht einmal gewünscht hätte. Manchmal war sie auch spitzzüngig und kleinlich und zynisch gewesen, aber auch rücksichtsvoll und gütig und liebenswürdig. Während unserer fünfjährigen Bekanntschaft hatte ich sie oft um ihre Hilfe gebeten. Sie hat sie mir nie verweigert. Ich steckte die Hände tief in die Taschen meines Kleides und biß die Zähne zusammen, fest entschlossen, bis zum Ende der Trauerfeier Haltung zu bewahren. »Patience. Patience, Liebes. Ich habe schon überall nach dir gesucht.« 19
Eine hohe, quengelige Stimme, in der die Amphetamine kreischten. Auf halber Höhe der Kirchentreppe blieb ich stehen und blickte mich nach der Frau um, die zu dieser Stimme gehörte. Ich sah jedoch nur öde, verlassene Gebäude, die Ruß in die kalte Dezemberluft ausdünsteten, und eine lange, dünne Schlange von Trauergästen, die alle gekommen waren, um den Leichnam zu sehen. Dabei war mir klar, daß man nichts zu sehen bekommen würde. Der Räuber hatte bei Myrras Gesicht ganze Arbeit geleistet, und dem Leichenbestatter war es nicht gelungen, sie wiederherzurichten. Das wußten die Trauernden nicht. Es waren Fans, Frauen aus Iowa und Kansas und dem tiefen Süden, die angereist waren, um sich von der beliebtesten, meistgelesenen und bekanntesten Liebesromanautorin aller Zeiten zu verabschieden. Die Reihe wand sich den Häuserblock entlang und verschwand um die Ecke. Zwei Anhänger der Moon-Sekte arbeiteten sich Pamphlete verteilend immer näher an die Treppe heran. Die Frauen nahmen die Broschüren entgegen, lächelten und bedankten sich womöglich noch höflich. In ein paar Tagen würden sie auf den Kanten der imitierten Louis Quinze-Stühle in einem der Empfangsräume des Cathay-Pierce sitzen und wieder lächeln und sich wieder bedanken, wann immer sie jemand bemerkte und ihnen ein Glas Sherry anbot. 20
»Gott sei Dank, Patience. Ich habe dich überall gesucht.« Es war Mary Allard. Sie stand plötzlich vor mir. Ihr strahlendes kleines Gesicht wirkte unter einer dicken Schicht Make-up seltsam stumpf, so wie der milchige Spiegel in einem Werbespot für Haushaltsreiniger. Ich konnte Mary Allard nicht ausstehen. Sie war Cheflektorin der Reihe Passion Romance bei Acme und ließ nichts aus – Appetithemmer und Aufputschmittel, starken türkischen Mokka und chinesischen Abführtee, Wodka und Marihuana und Gott weiß was sonst noch alles. Myrra hatte einmal einen Roman für Passion geschrieben und dann über Julie Simms, ihre Agentin, die Honorarabrechnung prüfen lasen. Der Acme-Verlag war sowieso berüchtigt wegen niedriger Vorschüsse, Tantiemenbetrügereien und nicht ganz fairer Copyright-Geschäfte mit Büchern unerfahrener Autoren. Myrra hatte sich mit Acme angelegt wie Siegfried mit dem Drachen. Sie hatte Privatdetektive angeheuert und damit gedroht, die ganze Buchhaltung von Acme auf den Kopf zu stellen. Sie hatte Mary Allard zum Duell in der Plaza-Bar herausgefordert und mit einer gerichtlichen Verfügung die Offenlegung der Bücher von 1975 bis 1978 erzwungen. Acme hatte einen Vergleich angeboten, aber das war Myrra nicht genug gewesen. Sie wollte Beweise und ließ erst locker, als sie ihr Ziel erreicht hatte. Dann hatte sie die fünftausend Dollar eingestrichen, die der 21
Verlag ihr schuldete, und seitdem kein Wort mehr mit Mary Allard gesprochen. »Du und Phoebe«, bemerkte Mary Allard nun. »Sicher sagt ihr jetzt wieder, ihr hättet keine Zeit, aber wie wär’s, wenn wir heute abend zusammen essen?« »Ich bin schon verabredet«, erwiderte ich und blickte mich hilfesuchend um. Phoebe war nirgends zu sehen, aber sie mußte irgendwo stecken. Für die Trauerfeier hatte sie sich in ihr typisches Phoebe-Damereaux-Outfit geworfen (diesmal ein Kaftan aus tiefschwarzem Samt), und jetzt hielt sie nach Reportern Ausschau. Reporter bedeuteten Publicity, und davon konnte sie nicht genug kriegen. Ganz im Gegensatz zu mir. Ich blieb lieber im Hintergrund. Von den Liebesromanen bezahlte ich die Miete. Mein Ego jedoch stützte sich auf Artikel in anspruchsvollen HochglanzFrauenzeitschriften wie Sophistication und alternativen Zeitungen wie Left of Center. Ich schrieb über den wachsenden Alkoholkonsum berufstätiger Frauen, die skandalöse Vertuschung der Umweltgefährdung durch Chemiemüll, die problematische Rolle von Frauen in Chefetagen und die Bedrohung durch die wiedererstarkende Neue Rechte. Diese Artikel würde ich so lange verfassen, bis jemand dahinterkam, daß ich auch Liebesromane schrieb. Ich sah, wie sich Janine Williams gerade aus der Konversation mit einer Frau um die Vierzig 22
löste, die bewaffnet mit einem Manuskript und durchdringendem Blick angereist war. Ich winkte. Mary hielt mich am Ärmel fest. »Es heißt, Phoebe schreibt jetzt auch für Fires of Love«, flötete sie zuckersüß. »Stimmt«, entgegnete ich. Fires of Love war die neue »sinnliche« Reihe von Farret. Seit letzten Weihnachten waren monatlich sechs Romane auf dem Markt erschienen. Von Januar an sollten es acht sein. Jede Ausgabe versprach »mehr Liebe, mehr Romantik, mehr Erotik« – im Klartext also mehr Sex. »Wenn Phoebe damit anfängt, Liebesromane für eine Serie zu schreiben –«, begann Mary. Sie brachte den Satz nicht zu Ende. Janine war zu uns getreten, setzte ihr liebenswürdigstes Lächeln auf und hängte sich demonstrativ bei mir ein. Es sah wie eine freundschaftliche Geste aus, war aber in Wirklichkeit etwas ganz anderes. Janine empfand Mary Allard gegenüber dasselbe, das Ärzte Leuten gegenüber empfinden, die ohne Approbation praktizieren. Mary war keine ausgebildete Lektorin und hätte sich nicht so nennen dürfen. Sie war also keine »richtige« Lektorin und hätte nicht bei offiziellen Tagungen zugelassen werden dürfen. Sie war es Janines Meinung nach nicht wert, von Mitarbeitern angesehener Verlage auf der Straße gegrüßt zu werden. Janine hatte sich nur an meinen Arm geheftet, um mich als 23
willkommenen Vorwand für eine weitere Salve von Gehässigkeiten zu benutzen. »Phoebe sucht dich«, verkündete Janine und starrte dabei Mary Allard provozierend an. »Ich habe sie mit Julie Simms allein gelassen. Du weißt, was das bedeutet.« »Du liebe Güte.« Ich versuchte, mich von Janine freizumachen. Hoffentlich gelang es mir, so schnell wie möglich ihrem unausweichlichen Streit mit Mary und dem unerbittlich näherrückenden CBSNachrichtenteam zu entkommen. Wenn ich mich beeilte, könnte ich mit Phoebe in einem Taxi unterwegs zu Luchow’s sein, bevor irgend jemand überhaupt mitbekam, daß ich da war. Aber Janine hielt sich eisern an meinem Arm, genauso eisern, wie sie an ihrem Lächeln festhielt. »Unsere erfolgreichste Reihe«, erzählte sie Mary Allard. »Wir kommen im ersten Jahr bestimmt auf hundert Millionen Bruttoeinnahmen.« »Wie schön«, konterte Mary Allard. »Höchste Zeit, daß Farret mal eine Reihe herausbringt, die Gewinn macht.« »Puh! Ich bin total erledigt.« Julie Simms brach in unsere kleine Gruppe ein. Sie zog Phoebe hinter sich her. Die sah so rosig und glücklich aus, als hätte sie gerade die Spitze der TimesBestsellerliste erklommen und wäre dafür mit Schokolade bezahlt worden. Ihr kleiner runder Körper hüpfte und wogte unter dem schwarzen 24
Samt, und ihre an sich schon dunklen Augen wirkten beinahe schwarz. »Ist es nicht schrecklich«, bemerkte Julie Simms. »Kein einziger Verwandter. Nicht einmal die Enkelin.« »Ach ja«, sagte Janine. »Sie hat das ganze Geld geerbt. Zwanzig Millionen Dollar – sagt man.« »Zwanzig Millionen«, bestätigte Julie. »Wußtet ihr, daß sie Leslie Ashe heißt? Die Tochter der Tochter, glaube ich.« »Klingt nach jemandem, der Liebesromane schreibt«, meinte ich. »Oh, nein, nein, nein.« Julie rümpfte die Nase und sah Doris Day noch ähnlicher als sonst. Sie zog ein Taschentuch hervor und tupfte sich die Stirn. »Ich mußte mich vor Lydia in Sicherheit bringen. Sie ist wie immer auf irgendeinem Trip, und sie glaubt, sie braucht mich, und ich muß zum Dinner mit Hazel Ganz, und sie glaubt, ihr Buch bringt nicht genug Geld. Immer glauben alle, ihre Bücher brächten nicht genug Geld.« »Bücher bringen nie genug Geld«, behauptete Phoebe. »Das stimmt doch.« Julie tätschelte ihren Arm. »Nicht doch. Eines schönen Tages bringen wir auch dich groß heraus. Filmverträge. Apartments im ›Dakota‹. Ferien auf Tahiti. Wart’s nur ab.« Sie drehte sich um und wurde im nächsten Augenblick von einem Rudel Bildreporter verschluckt, das nach einem Star Ausschau hielt. Es 25
hatte Barbara Cartland erwischt und verschonte uns. Ich wollte weder abwarten, bis die Reporter anfingen sich zu langweilen, noch bis Mary Allard und Janine neue Munition gefunden hatten. Ich packte Phoebe am Arm und zerrte sie die Treppe hinunter. Wenn es östlich des Flusses ein freies Taxi gab, wollte ich es mir nicht entgehen lassen.
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2 Ich kam spät nach Hause, weit nach Mitternacht, und war ein bißchen betrunken. Am Briefkasten blieb ich stehen und holte vier Briefe hervor, zwei von Janine, einen von Sophistication und einen von der Anwaltskanzlei Hoddard, Marks, Hewitt and Long, die ihre Büros auf dem Broadway hatte. Diesen Brief hätte ich am liebsten auf der Stelle gelesen, aber hier im Hausflur war es kalt, und die Tür zur Straße ließ sich nicht richtig schließen. Außerdem war in diesem Winter schon einmal jemand überfallen worden. Ich schloß die Innentür auf und stieg langsam die engen Treppen zum dritten Stock hoch. In jedem der beiden Briefe von Janine steckte ein Scheck über 2500 Dollar. Das war jeweils die zweite Hälfte des Vorschusses für zwei Fires of Love-Romane, die ich vor beinahe vier Monaten abgeliefert hatte. Für jedes Buch hatte ich ungefähr eine Woche gebraucht, beide hatte ich direkt in die Maschine getippt und außer der Rechtschreibung nichts korrigiert. Auch in dem Brief von Sophistication lag ein Scheck, das volle Honorar für einen Artikel über die Aufstiegsmöglichkeiten für Frauen in der Luft- und Raumfahrt, der mich ungefähr sechs Monate Recherchen und Schreibarbeit gekostet hatte. Es war ein Scheck über eintausend Dollar. Auf dem ersten Treppenabsatz blieb ich stehen 27
und drehte und wendete den Brief der Anwaltskanzlei in den Händen. Mir war kalt und flau, und ich hatte Gliederschmerzen, so als ob außer dem unvermeidlichen Kater auch noch eine Grippe im Anmarsch wäre. Der Brief der Anwälte steckte in einem sehr weißen, sehr formellen Umschlag, und er beunruhigte mich. Vielleicht hatte ich in einem Artikel eine Behauptung aufgestellt, wegen der man mich nun belangte. Oder womöglich hatte eine Redakteurin bei Sophistication in einem meiner Texte etwas verändert, und man zog mich dafür zur Verantwortung. Wie die Verträge für Zeitschriftenartikel nun mal waren, hätte ich die Prozeßkosten zahlen müssen, gleichgültig, bei wem der Fehler lag und wer letztendlich vor Gericht gewinnen würde. Ich lehnte mich an das eiserne Treppengeländer und strich mit den Fingerspitzen über die erhabenen Buchstaben in der linken Ecke des Umschlags. Dann steckte ich ihn mit der anderen Post in die Manteltasche. Auf dem zweiten Absatz blieb ich stehen und klopfte an die Tür von 2B, dem Apartment, das direkt unter meinem lag. Das Gedröhn einer Punk-Band geriet für einen Augenblick aus dem Rhythmus, heulte noch einmal auf und verstummte. Ich rief ein »Danke«, das wahrscheinlich niemand hörte und ging weiter nach oben. Auf dem dritten Absatz stellte ich meine Handtasche, ein Weihnachtsgeschenk aus dem Jahr 69, das ich erst zum zweiten Mal in Ge28
brauch hatte, auf den Boden. Ich tastete meine Manteltaschen ab, bis ich die Wohnungsschlüssel fand. Auch wenn noch nicht Silvester war – ich faßte dennoch gute, genauso sinnlose Vorsätze: Ich würde mich gleich auf die Couch legen und auf der Stelle einschlafen. Morgen würde ich früh aufstehen und mich an die Korrekturfahnen für Gefährliche Wege der Liebe setzen. Das war mein Fires of Love-Roman für Juni. Eine ganze Woche lang würde ich weder Alkohol trinken noch fasten. Ich steckte meinen Schlüssel ins Türschloß, drehte ihn zweimal und drückte gegen die Tür. Sie öffnete sich einen kleinen Spaltbreit, dann ging nichts mehr. Die Tür war von innen verriegelt. »Ich brauche keinen Schlüsseldienst«, erklärte ich Carlos. »Es geht nicht um das Schloß, es ist der Riegel.« Widerwillig stieg er hinter mir die Treppe hoch und beschwerte sich, dies wäre nicht sein Problem. Wahrscheinlich hatte er recht. Carlos kümmerte sich um vier Häuser in der Zweiundachtzigsten Straße West. Dafür durfte er umsonst in seinem Apartment wohnen und bekam so etwas wie ein Taschengeld. Er bekämpfte nach Kräften die Küchenschaben, wechselte die Glühbirnen im Treppenhaus und überpinselte die Graffiti an den Wänden. Bei Bedarf wartete er auf 29
den Stördienst vom Fernmeldeamt, wenn die Mieter zur Arbeit waren oder aus anderen Gründen nicht zu Hause sein konnten. Ich bezweifelte, daß es in meinem Mietvertrag irgendeine Klausel gab, die ihn dazu verpflichtete, Türen aufzubrechen, wenn sich jemand selbst eingeschlossen hatte. Er blieb vor der Tür stehen. »Wieso ist sie verriegelt, wenn Sie hier draußen sind?« »Das muß Barbara sein.« Ich wies unbestimmt in die Richtung von 3C. »Sie hat einen Schlüssel. Wenn ich nicht zu Hause bin, sieht sie bei mir fern. Ich habe Kabelanschluß.« Carlos drehte am Türknauf und rüttelte an der schweren Eisentür. Sie war blaßrosa gestrichen, mit weißen Streifen. Auf dem Boden lag abgetretenes" pinkfarbenes Linoleum. Hinter der Tür befand sich eine Art Besenkammer, die mich monatlich fünfhundert Dollar Miete kostete und die von periodisch wiederkehrenden Küchenschabeninvasionen heimgesucht wurde. »Das verstehe ich nicht«, sagte er. »Der Riegel ist von innen vorgeschoben, sie muß da drin sein.« »Das nehme ich an.« »Warum hat sie die Tür verriegelt, wenn sie fernsieht?« Ich zuckte die Achseln. »Barbara«, meinte ich. »Sie kennen Barbara doch.« Barbara war die einzige Mieterin im Haus, de30
ren Tür drei Schlösser besaß. Und sie schloß sie alle ab, auch wenn sie nur über den Flur ging, um sich eine Tasse Zucker zu borgen. An ihrer Tür zu klingeln war ein Abenteuer für sich. Sie fragte von drinnen nach dem Namen, wartete die Antwort ab, und dann setzten sich vor der Nase des Besuchers quietschend und rasselnd die Schlösser und Eisenriegel in Bewegung. »Wenn sie da drin ist, warum macht sie dann nicht auf?« fragte Carlos. »Vielleicht ist ihr schlecht geworden.« Ich ging zur Treppe und hockte mich auf die Stufen. Dabei zog ich die Beine unter das Kleid, um die Laufmasche in meinen Strümpfen zu verstecken. Der Whiskey, den ich nach dem Abendessen getrunken hatte, fing an mir zuzusetzen. Der Ärger mit der Tür und die Sorgen um Barbara machten alles noch schlimmer. Ich hatte schon eine ganze Weile vor meiner Tür gestanden, bevor ich über die Straße gegangen war und Carlos geholt hatte. Und ich war sicher, daß hier irgend etwas ganz und gar nicht stimmte. Durch den Türspalt hatte ich gesehen, daß kein Licht brannte. Und vom Fernseher war nichts zu hören. Ich holte ein Päckchen Zigaretten aus der Manteltasche und zündete mir eine an. Das Streichholz warf ich durch das Geländer ins Treppenhaus. Es hätte mich ja nicht überrascht, wenn sich Barbara in meinem Apartment eingeschlossen und womöglich sogar den Schreibtisch aus der 31
Ecke geholt und vor die Tür geschoben hätte. Nie im Leben jedoch hätte sie sich in meiner Wohnung eingeschlossen und gleichzeitig alle Lampen ausgemacht. Ich rieb die Handflächen am rauhen Stoff meines Kleides und malte mir aus, was alles passiert sein konnte: Barbara mit einer Lebensmittelvergiftung, Barbara ausgeraubt und vergewaltigt von einem Eindringling, der über die drei Mauervorsprünge zum Fenster hochgeklettert war, Barbara, die sich nach einem Überfall auf der Straße sterbend in meine Wohnung geschleppt hatte. Ich trat die halbgerauchte Zigarette mit dem Absatz aus. »Womöglich ist sie krank«, sagte ich. »Brechen Sie die Tür auf.« »Das ist eine Eisentür«, erwiderte Carlos. »Die kann ich nicht so einfach eintreten. Ich muß den Holzrahmen aufstemmen.« »Es ist nur ein kleiner Riegel. Keine große Sache.« Unentschlossen kickte er mit dem Fuß gegen die verflixte Tür. »Dafür zahlen die keinen Penny. Sie kommen einfach daher und wollen, daß ich Ihre Tür eintrete, das werden die nicht bezahlen.« »Dann eben nicht. Spätestens wenn ich ausziehe, müssen sie es tun.« »Sie werden das Geld von der Kaution abziehen.« »Die behalten sie sowieso. Machen Sie auf!« Er wühlte in seinen Taschen nach einer Ziga32
rette, die er seit einiger Zeit nicht mehr im aufgerollten Hemdsärmel aufbewahrte. Jemand muß ihm gesagt haben, daß das schon seit 1954 aus der Mode ist, überlegte ich gerade. Plötzlich erstarrte ich. Mit großen Augen blickte ich auf die Tür von 3C. Die schweren Riegel ächzten und quietschten. Metall rieb sich an Metall. Barbaras Tür wurde geöffnet – Schloß für Schloß. Als die Polizei endlich eintraf, klingelte das Telefon. Barbara hockte neben mir auf den Stufen, sie war inzwischen vollständig bekleidet, mit Jeans und einem Rollkragenpullover. Als sie das erste Mal aus ihrer Wohnung gekommen war und uns im Flur stehen sah, hatte sie einen blaßgrünen Morgenmantel getragen. Dann aber, als ich von ihr aus beim Zwanzigsten Revier anrief, hatte sie sich umgezogen. Sie hatte sich gekämmt, eine dünne Goldkette angelegt und die Handgelenke mit einem dezenten Parfum betupft. »Du mußt Daniel anrufen«, hatte sie mir geraten. »An deiner Stelle würde ich Daniel anrufen.« Statt dessen hatte ich drei neue Zigaretten angezündet. Ich hatte auf den Stufen gesessen und zugesehen, wie Carlos vor sich hinschwitzte. Wir hatten alle dasselbe gedacht: die Tür war verriegelt, irgendwer befand sich in der Wohnung, eine Person, die keiner von uns kannte. Carlos hatte sich ein Stück über uns auf der Treppe niederge33
lassen. Sollte der Unbekannte da drin eine Waffe haben, wollte er auf keinen Fall zu nahe am Geschehen sein. Ich hatte auf die Risse im Linoleum gestarrt, auf die Risse im Verputz und auf das trübe Treppenhauslicht zwischen Barbaras Apartment und meinem. All meine Gedanken hatten sich darum gedreht, wie sehr ich diese Wohnung haßte und wie leid ich das Fasten war und wie übel mir wurde bei jedem Versuch aufzustehen. Ich hatte an alles Mögliche gedacht, nur nicht daran, was sich hinter meiner Wohnungstür abspielen mochte. Wenn jemand den Fernseher gestohlen hätte, könnte ich damit leben. Auch eine neue Schreibmaschine wäre kein Drama. Diese Investition stand sowieso an. Aber ich wußte nicht, ob ich noch in diesem Apartment würde wohnen können, jetzt, nachdem jemand eingedrungen war. Das Telefon fing genau in dem Moment an zu läuten, als die Türklingel verstummte. Barbara lief über den Flur zu ihrem Apartment und öffnete alle Schlösser. Sie drückte auf den Türöffner und ließ die Polizei ins Haus. »Ist jemand verletzt?« Einer der Polizisten rief das Treppenhaus hinauf. Ich hörte, wie über und unter uns Türen geöffnet wurden, die alle vorsichtshalber mit Ketten gesichert waren. Genauso hatte es sich bei dem Überfall auf Maria in der Eingangshalle abgespielt. Sie hatte geschrien, und 34
niemand war gekommen. Als die Polizei eingetroffen war, hatten sich alle Türen einen Spaltbreit geöffnet, hinter ihren Sicherheitsketten hatten die Hausbewohner gestanden und gelauscht. »Rosetti«, sagte der Polizist. Schnaufend vor Anstrengung erschien er auf der Treppe. »Das hier ist Officer Marsh.« Officer Marsh war ein blasser Knabe, der zu jung zum Mopedfahren aussah. Er lächelte schüchtern und kratzte mit den Füßen an dem fleckigen Putz an der Wand. Ich lauschte auf das Klingeln des Telefons, während Carlos und Barbara ihre jeweilige Version der Ereignisse zum Besten gaben. Die beiden fielen sich gegenseitig ins Wort, warfen die Fakten durcheinander, und ihre Stimmen wurden zunehmend lauter. Carlos beharrte auf der genauen Schilderung meines Zustands, als ich ihn aus dem Bett geholt hatte. Barbara wollte über die juristischen Aspekte beim gewaltsamen Offnen einer Wohnung sprechen. Schließlich meinte ich: »Wenn doch da drin endlich mal jemand ans Telefon gehen würde!« Alle drehten sich zu mir um und starrten mich an, und ich errötete. »Es macht mich wahnsinnig«, erklärte ich. »Es klingelt und klingelt.« »Klingelt und klingelt«, wiederholte Officer Rosetti. Offenbar hatte er weder an mir noch an meiner Tür besonderes Interesse. Er war ein kleiner, dunkelhäutiger Mann mit dichtem, krausen 35
Haar und tiefen Sorgenfalten auf der Stirn. Ich hatte ihn schon in der Gegend gesehen, also mußte er seit längerem beim Zwanzigsten Revier arbeiten. »Wer sind Sie?« fragte er mich. »Wie heißen Sie?« »Pay McKenna«, antwortete ich. Das Telefon hörte auf zu klingeln, und wir blickten beide rasch und etwas verwirrt auf die Tür. Wie auf Kommando wandten wir uns wieder ab und vermieden dabei, uns in die Augen zu sehen. »Patience Campbell McKenna.« Ich nannte ihm meinen vollen Namen. »Ich wohne in diesem Apartment.« »Können Sie mir bitte sagen, worum es eigentlich geht?« Das bitte klang nicht besonders freundlich, aber ich ließ es dabei bewenden. Ich berichtete ihm von meinem Nachhausekommen nach dem Dinner mit Phoebe, von der verriegelten Tür und von Barbaras Erscheinen auf dem Flur. Es war keine große Geschichte. Sie besaß nicht einmal ansatzweise soviel Dramatik und Gewalt wie ein schlichter Überfall auf der Straße. Es gab einfach nur diese verriegelte Tür und das unheimliche Gefühl, das sie bei uns allen hervorrief. »Hat noch jemand anders die Schlüssel dazu?« erkundigte sich Rosetti. »Niemand«, erwiderte ich. Myrra hatte ein zweites Paar Schlüssel besessen, rötliche Metallschlüssel, die sie zusammen mit ihren eigenen 36
aus Sterlingsilber an einem rubinbesetzten Schlüsselring getragen hatte. Aber das war bestimmt nicht von Bedeutung. Was interessierte es Rosetti, daß ich Myrra die Schlüssel gegeben hatte, damals, als wir uns das dritte Mal begegneten, oder daß sie, als sie die Schlüssel an sich genommen hatte, nicht wußte, was sie tat. Ich hatte sie auf der Columbus Avenue aufgelesen, als sie im Nieselregen auf und ab spazierte, ohne Hut und Mantel und ohne Regenschirm. Sie hatte ein dünnes grünes Seidenkleid getragen, das am Hals zur Schleife gebunden war, und einen zerknüllten Bogen Luftpostpapier in der Hand gehalten. Das Luftpostpapier war ein Brief von einer Freundin aus London gewesen mit der Mitteilung, daß Myrras Tochter gestorben war. Vielleicht hatte ich geglaubt, daß Myrra einen Ersatz suchte, ein armes Waisenkind, das sie anstelle der nunmehr für immer verlorenen Joan hätte bemuttern können. Möglicherweise hatte ich selbst auch jemanden nötig, der sich um mich kümmerte – meine Familie stellt ein so seltsames Sammelsurium an angelsächsisch-protestantischen Sonderlingen und New England-Exzentrikern dar, daß ich unter allen nur denkbaren Mangelerscheinungen hätte leiden können. Aus welchen Gründen auch immer – ich hatte nach Myrras Arm gegriffen und angefangen, das heimatlose Kind zu spielen. Myrra hatte meine Hand und meine Wohnungsschlüssel genommen und uns beide mit dem Ver37
sprechen in ihr Apartment gebracht, mir Kräutertee mit Honig zu kochen. Die Schlüssel hatte sie für den Fall behalten, daß ich mich selbst ausschloß und sie mir helfen müßte. So etwas würde jede Mutter tun, und für mich war es damals nach so kurzer Bekanntschaft die einzige Möglichkeit gewesen, Myrra eine länger dauernde Beziehung zu versprechen. Sie hatte alt und klein und verloren und halbtot ausgesehen. Ich hatte sie nicht verlassen wollen, ohne ihr irgend etwas von mir dazulassen. Ich hob den Blick und bemerkte, wie Officer Rosetti das Gesicht verzog und mich schräg ansah. Nein, er war ganz sicher nicht an Myrra interessiert. Er wußte gar nicht, wer das war. »Hat noch jemand ein Paar Schlüssel?« erkundigte er sich noch einmal. »Niemand«, wiederholte ich und gab mir Mühe, lauter und überzeugender zu sprechen. Meine Stimme klang jedoch nur rauh, und ich kam mir eher lächerlich vor. Dann sagte Barbara: »Ich habe einen Satz Schlüssel.« Alle fuhren herum und starrten sie an. Sie hielt die Schlüssel zwischen Daumen und Zeigefinger und ließ sie pendeln wie ein Hypnotiseur seine Uhr. Officer Rosetti fing sich als erster. »Sie stehen aber hier draußen.« »Gewiß«, erwiderte Barbara. »Waren Sie da drin? Heute abend?« 38
»Nein, heute abend nicht.« »Bestimmt nicht? Sie sind nicht zufällig in die Wohnung gegangen, haben sie wieder verlassen und sich selbst ausgeschlossen …« Rosetti gab auf. Die Tür war von innen verriegelt. Es mußte jemand in der Wohnung sein. Er wandte sich an mich. »Haben Sie einen Freund?« »So könnte man es nennen.« »Hat er Schlüssel zur Wohnung?« »Nein.« »Könnte er sich die Schlüssel verschafft haben? Hätte er sie sich nicht heimlich nachmachen lassen können?« »Warum sohlte er?« Rosetti zuckte die Achseln und blickte auf die Tür. Langsam kam auch ihm die Sache nicht geheuer vor. »Zum Teufel, was weiß ich?« Er verdrehte die Augen zur Decke. »Woher soll ich wissen, warum die Leute die verrücktesten Dinge tun? Sie tun sie eben.« »Er hätte es gekonnt, wenn er gewollt hätte«, stellte ich fest und war davon überzeugt, daß Daniel es gar nicht wollte. »Aber er hätte sie auch von mir haben können, wenn er mich darum gebeten hätte. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.« Rosetti nickte nur. Das war nicht gerade das, was er hören wollte. »Habe ich Ihre Erlaubnis, die Tür einzutreten?« 39
»Natürlich. Deswegen habe ich Sie ja gerufen.« Carlos sah aus, als wollte er widersprechen, aber ich trat ihm leicht gegen den Knöchel, und er hielt den Mund. Er stellte sich in die Ecke und verschränkte die Arme vor der Brust. Rosetti ging einen Schritt zurück, holte mit dem rechten Bein aus und trat zu. Holz krachte und splitterte, es gab einen metallischen Schlag, und die Tür flog nach innen auf. »Zum Teufel!« rief Rosetti. »Was haben Sie gemacht? Die Fensterscheiben schwarz gestrichen? Man sieht ja nicht die Hand vor den Augen!« Er beugte sich vor und tastete suchend an der Wand nach einem Lichtschalter. Die Neonröhre in der Nische über der Spüle flackerte kurz auf und erlosch, flackerte auf und erlosch wieder, um dann in ihr gewöhnliches Flimmern überzugehen. Rosetti trat einen Schritt vor und erstarrte. »Großer Gott! Jemand hat Doris Day umgebracht. Im Kinderzimmer!«
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3 Es war die Katze, die mich letztendlich aus der Fassung brachte – das klitzekleine Kätzchen von dem Punk-Rock-Fanatiker aus 2B. Dieser hatte wohl seine Tür aufgemacht, um zu sehen, was los war, oder war sogar ins Treppenhaus rausgekommen, um der Polizei zuzuschauen. Die Katze spazierte geradewegs durch die Beine von Officer Marsh hindurch in mein Apartment hinein. Sie kam bis zur Mitte des beige-goldenen Teppichs, dann blieb sie stehen, sträubte das Fell und fauchte. Wir drehten uns alle um und starrten gebannt hin, so als gäbe es weder das Blut, das in die Ritzen des ehemals noblen Parketts sickerte, noch die Glasscherben unter meinem Schreibtisch, Überreste einer häßlichen weißen Lampe, die meinem Hauswirt gehörte. Detective Martinez, einer der Beamten von der Mordkommission bückte sich, packte die Katze am Genick und hob sie auf. Er machte das recht sanft. Offenbar war er nicht so brutal, wie er aussah. Er war ein stämmiger Mann mit Falten unter den Augen und auf den Handrücken. Wäre ich zu logischem Denken fähig gewesen, hätte ich erkannt, daß er jünger war als ich, womöglich zu jung für diesen besonderen Mordfall. Aber ich dachte nicht logisch. Durch den Schleier aus Schmerz, Angst und Übelkeit hindurch kamen mir die Falten in seinem Gesicht riesenhaft vergrößert vor. 41
Er hielt mir die Katze vor die Nase. »Ist das Ihre?« Ich schüttelte den Kopf. Ich war einem Zusammenbruch nahe, und mir kamen die Tränen. Sie brannten in meinen Augen wie sonst nur kurz vor der Periode oder nach einem Glas Scotch zuviel. Am liebsten hätte ich meine Wohnung verlassen und mich auf die Treppe gesetzt, aber ich konnte mich nicht rühren. Ich wollte diesem Geruch entfliehen, der von Minute zu Minute stärker wurde, fühlte mich jedoch wie gebannt. Krampfhaft konzentrierte ich mich auf die Fotos von meinem Bruder und meiner Schwägerin, meiner Nichte und den zwei Neffen, die auf einem kleinen Teil der ansonsten kahlen Wand hingen. Die Personen standen vor einer postkartengrünen Wiese und lächelten in den Spätnachmittag eines vorstädtischen Julitages in Connecticut. Detective Martinez ging hinaus und brachte die Katze zu Officer Marsh. Als er zurückkehrte, hielt er den Terminkalender von Julie Simms in der Hand, ein abgegriffenes rotes Lederbuch mit goldenen Lettern auf dem Rücken. »So.« Er hatte es an einer Stelle weit hinten aufgeschlagen. »Vielleicht können wir rüber in das Apartment Ihrer Freundin gehen. Ich habe da ein paar Fragen an Sie –« Martinez war absolut höflich, absolut respektvoll und absolut furchteinflößend. Er war kleiner als ich, tat aber so, als sei er größer. Sein massiger 42
Körper schien den Ausgang zu versperren. Offenbar glaubte Martinez ernsthaft, ich hätte Julie Simms neun Messerstiche in Gesicht, Hals und Brust versetzt und dabei irgendwann die Halsschlagader durchtrennt. Jedenfalls würden die Männer vom gerichtsmedizinischen Institut später feststellen, daß die Arteria carotis durchtrennt worden war. Ich fröstelte und trat ein paar Schritte von Martinez zurück; ich hatte keine Ahnung, was ich denken oder fühlen sollte. »Wir können nicht in Barbaras Apartment«, sagte ich zu ihm. »Es ist auch nur ein einziger Raum. Wo soll sie dann hin?« »Es dauert höchstens ein paar Minuten.« Martinez ließ nicht locker. »Und ihr macht es nichts aus.« Ich nickte und trottete gehorsam hinter ihm her zur Tür hinaus und über den Flur. Er hatte also irgendwann mit Barbara gesprochen, aber ich hatte das nicht mitbekommen. Ich ging durch die Tür von 3C, durch die winzige Kochecke, und setzte mich auf Barbaras makellos weiße Couch. Ich erinnere mich noch, daß ich mich zum zehntausendsten Mal fragte, wie jemand es fertigbrachte, daß eine Couch so weiß blieb. Martinez setzte sich mir gegenüber in einen grünen Plastiksessel aus den frühen Beständen des Vermieters. »Erzählen Sie mir alles«, forderte er mich auf. »Von Anfang an.« 43
»Ich habe mit einer Freundin zu Abend gegessen und bin spät nach Hause gekommen«, begann ich und berichtete alles noch einmal – zum dritten Mal in dieser Nacht. Das Herunterbeten dieser Geschichte war zu einem Ritual geworden, das etwas von einer religiösen Zeremonie hatte. Alles war darin gebannt und aufgehoben – Julies Leiche in einer Lache aus Blut, Urin und Fäkalien, Martinez abstruse Verdächtigungen, das wahnsinnige Brummen in meinem Kopf. Ich gab Martinez Phoebes Namen und Telefonnummer. Ich berichtete ihm von der Beerdigung und zählte – soweit ich mich erinnerte – alle Leute auf, mit denen ich dort gesprochen hatte. Als ich zu der Stelle kam, an der ich meine Tür verriegelt vorgefunden hatte, unterbrach er mich. »Können Sie sich vorstellen, wie man das fertigbringt?« fragte er. »Wie konnte jemand die Tür von innen verriegeln?« »Keine Ahnung. Ich bin davon ausgegangen, daß jemand in der Wohnung war. Julie muß …« Er schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Miss Simms ist in Ihrem Apartment gestorben. Selbst wenn der Gerichtsmediziner morgen behauptet, daß sie obendrein vergiftet wurde – mit diesen Verletzungen hätte sie keine drei Schritte mehr laufen können. Es muß in Ihrem Apartment gewesen sein, wo man ihr die Messerstiche versetzt hat. Da taucht natürlich die Frage auf, wo ist das Messer geblieben?« 44
Ich mußte an all meine blitzblanken neuen Küchenmesser in dem Messerblock denken, den ich bei Macy’s gekauft hatte. »Jemand muß durchs Fenster eingestiegen sein«, behauptete ich und wußte, daß das ziemlich unsinnig klang. Martinez schüttelte nur wieder den Kopf und sah mich mit großen traurigen Hundeaugen an. »Beide Fenster sind geschlossen. Niemand ist durch die Fenster eingestiegen oder abgehauen.« Ich hatte auf einmal den Wunsch, mich an irgend etwas festzuhalten – am liebsten an einem Drink, je stärker desto besser. Statt dessen zündete ich mir eine Zigarette an und hielt dann Martinez die Schachtel hin. »Es ist einfach lächerlich«, sagte ich, als er ein Päckchen Camel ohne Filter aus der Jackentasche zog und sich eine anzündete. »Das Ganze ist so mysteriös, als wäre es von Agatha Christie. Da wird jemand umgebracht, und das Zimmer ist von innen verriegelt.« »Ja, bei Julia Simms war das so.« »Julie.« Ich korrigierte ihn. »Sie hieß Julie Simms und war Literaturagentin für Liebesroman-Autorinnen. Ich kannte sie nicht einmal näher. Aber das wissen Sie ja schon alles.« »Und Sie haben keine Ahnung, wieso sie mit neun Messerstichen in Ihrem Apartment verblutet ist?« Das war mehr eine Feststellung als eine Frage. 45
»Nein. Ich weiß es nicht.« »Und Sie wissen auch nicht, wie es kommt, daß die Tür von innen verriegelt war.« Noch eine Feststellung. Martinez schien weder von der einen noch von der anderen überzeugt zu sein. »Nein«, wiederholte ich. »Ich habe keine Ahnung, wieso die Tür verriegelt war. Ich weiß nicht, wie jemand in mein Apartment eindringen, die Tür zuschließen, den Riegel von innen vorschieben und wieder hinausgelangen konnte. Ich wünschte, ich wüßte es.« Er schwieg und starrte mich nur lange an. Den Trick kannte ich. Darauf würde ich nicht hereinfallen. Ich selbst hatte ihn oft genug benutzt, wenn ich jemanden interviewte, der das nicht wollte, oder wenn ich an Informationen gelangen wollte, die mich nichts angingen. Die meisten Menschen können Schweigen nicht lange aushalten. Wenn man ihnen lange genug wortlos in die Augen sieht, reden sie wie ein Wasserfall. Manchmal sagen sie einem auch alles, was sie niemals preisgeben wollten. Nach einer Weile schlug Martinez Julies Terminkalender auf und betrachtete nachdenklich eine Seite. »Sie haben Miss Simms also heute nachmittag gesehen? Auf einem Begräbnis?« »Genau. Bei der Beerdigung von Myrra Agenworth. Myrra Agenworth war Serienautorin, in Liebesromanen. Julie –« 46
»Was ist eine Serienautorin in Liebesromanen?« »Eine Frau, die Liebesromane für eine Reihe schreibt. So wie Harlequin. Diese Romane dürfen nicht lang sein und werden nach einem bestimmten Strickmuster geschrieben. Myrra verfaßte allerdings auch Familien-Sagas, bloß –« »Schon gut.« Martinez unterbrach mich. »Wann war diese Beerdigung? Wie lange dauerte sie?« »Von halb fünf bis gegen sechs Uhr«, antwortete ich. »Es war eine sehr lange Trauerfeier. Aber eigentlich habe ich Julie nicht bei der Feier gesehen, sondern erst hinterher, auf den Stufen vor der Kirche. Sie war mit Phoebe Weiss zusammen, der Frau, mit der ich anschließend zu Abend gegessen habe.« Martinez zückte sein Notizbuch. »Ich habe hier eine Phoebe Damereaux. Keine Weiss.« »Das ist ein und dieselbe Frau.« Er hob die Brauen, und ich wurde etwas verlegen. »Es ist nicht üblich, Liebesromane unter dem eigenen Namen zu schreiben«, erläuterte ich. »Phoebe Damereaux ist das Pseudonym von Phoebe Weiss.« »Na schön.« Er nickte. »Kennen Sie irgendeine der anderen Frauen? Hazel Ganz?« »Julie war mit einer Hazel Ganz verabredet. Einer Klientin, nehme ich an. Ich kenne sie nur vom Sehen.« 47
»Amelia S.« »Amelia Samson. Sie ist –« »Ich weiß, wer Amelia Samson ist. Die Frau mit der Burg.« »Stimmt. Ich glaube, ihr richtiger Name ist Joan Wroth, aber da bin ich mir nicht ganz sicher.« »Was ist mit einer Mary A.? Daneben ist so eine kleine obszöne Zeichnung –« »Nun ja«, meinte ich. »Wundert mich nicht. Das ist Mary Allard, sie ist die Lektorin der Reihe Passion Romance bei Acme. Julie wollte allerdings geschäftlich nichts mehr mit ihr zu tun haben, jedenfalls im Augenblick nicht.« »Und wieso?« »Weil diese Mary Allard einige von Julies Klientinnen übers Ohr gehauen hat, und Julie dahintergekommen ist. Nachforschungen und Prozesse waren die Folge. Zudem hatte die ganze Sache fatale Konsequenzen für den Verlag. Da nicht ein einzelner Liebesroman, sondern die ganze Serie das große Geld bringt, muß alles getan werden, um die Autorinnen bei Laune und bei der Stange zu halten. Nachdem Julie herausbekommen hat, daß Mary oder sonst jemand vom Verlag an den Honorarabrechungen gedreht hatte, verlor Passion ihre besten Autorinnen.« »Und diese Allard wurde nicht gefeuert?« »Oh, nein«, erwiderte ich. »Acme ist ziemlich berüchtigt – also, sagen wir, wahrscheinlich be48
kam sie eher Schulterklopfen dafür, wenn Sie mir folgen können.« Martinez starrte tief in Gedanken versunken ins Leere. Es konnten keine guten Gedanken sein. Ich schwor mir, in Zukunft vorsichtiger und weniger geschwätzig zu sein. Damit, daß er im nächsten Moment eine Bombe hochgehen ließ, hatte ich allerdings nicht gerechnet. »Was ist mit dieser hier?« erkundigte er sich. »Leslie Ashe.« »Leslie Ashe?« Meine Stimme klang schrill, und ich spürte förmlich, wie mir die Augen aus dem Kopf traten. »Aber das ist völlig unmöglich!« »Warum?« »Leslie Ashe ist Myrras Enkelin. Sie lebt in England und ist überhaupt nicht hier in den Staaten. Sie war nicht auf der Beerdigung.« Martinez spähte in Julies Terminkalender. »Leslie Ashe«, las er vor. »Frühstück im Hotel Plaza, sieben Uhr, Freitag, elfter Dezember. Das ist in ungefähr drei Stunden.« Das erste, was Daniel sagte, war: »Hast du ihnen etwa die Nummer gegeben? Wenn du jetzt gleich herkommen willst, hast du ihnen doch sicher meine Nummer gegeben.« Ich hockte mit angezogenen Beinen auf dem scheußlichen grünen Plastiksessel und trank aus einer von Barbaras weißen Porzellantassen sehr starken Tee mit Zitrone und Zucker. Es war kein 49
besonders gutes Porzellan, aber für so etwas gibt Barbara auch nicht viel Geld aus. Eher schon für Tee, und dieser hier war aromatisch und schwarz und belebend. Allmählich wurde ich wach, obwohl es fünf Uhr morgens war. »Komm her, wenn du willst«, hörte ich Daniel sagen. »Ich lasse dich doch nicht auf der Straße schlafen.« Sein hohes Lachen klang angestrengt und gekünstelt. »Ich muß um halb acht zur Arbeit, aber du kannst wenigstens duschen.« »Na schön.« Hätte ich doch bloß Phoebe angerufen! Ich hatte geglaubt, im Augenblick Daniel dringender zu brauchen, oder jedenfalls das, was Daniel vorgab zu sein, aber nicht war. Nach drei Jahren hätte ich es wissen müssen, und genau genommen wußte ich es auch. Heute nacht lag eine Leiche in meinem Apartment, und draußen auf dem Flur wartete ein Polizist. Ich brauchte Trost. Sollte ich Daniel etwa daran erinnern, wie oft ich ihm schon Trost gespendet hatte? »Also gut.« Er hüstelte. »Du kannst herkommen und dich meinetwegen den ganzen Tag hier ausweinen. Das geht schon in Ordnung. Es sei denn …« Seine Stimme wurde lebhaft. »Es sei denn, du hast irgendwelche Verabredungen? Ist das so?« »Keine Ahnung«, sagte ich. »Sicher muß ich zur Polizei und meine Aussage unterschreiben. Ich weiß nicht, ob das schon morgen ist.« »Ich bin erst nach neun zu Hause«, meinte Da50
niel unschlüssig. »Weißt du, es geht jetzt ums Ganze. Gleich nach Neujahr dürfte sich die Sache mit der Partnerschaft entscheiden.« »Ich weiß.« Daniel arbeitete schon ewig bei der Anwaltskanzlei Cravath, Swaine and Moore. Entweder schaffte er im nächsten Jahr die Partnerschaft, oder er war aus dem Rennen. Ich schickte ein kleines Stoßgebet zum Himmel, daß sich irgendwie, irgendwo das ganze Geld rentieren würde, das für Saint Paul und Amhurst und die Harvard-Rechtsakademie investiert worden war – und wenn es nur ein Zwei-Zimmer-Büro drei Stockwerke über der Hauptstraße von Akron in Ohio sein sollte. »Warum gehst du nicht zu Phoebe?« schlug Daniel munter vor. »Sie schläft doch immer lange.« »Vielleicht wäre das auch besser.« Ich legte den Hörer auf, ohne mir die Mühe zu machen, mich zu verabschieden. Es war ungewöhnlich, daß sich Daniel so offen gefühllos zeigte. Normalerweise kaschierte er seinen Egoismus mit philosophischen Gemeinplätzen. Keiner von uns hatte den Schlüssel vom anderen, weil Daniel der Meinung war, daß sich zwei eigenständige Existenzen nicht vermischen ließen. Er hielt auch nichts von Zwangsveranstaltungen wie dem Notieren von Geburts- und Jahrestagen und auch nichts von dem, was er die Kommerzialisierung des Weihnachtsfestes nannte – eine Einstellung, die 51
als höchstes an Gefühlen einen Ausflug zum Lichterbaum im Rockefeller Center zuließ. Ich war seit drei Jahren mit diesem Mann zusammen und wußte immer noch nicht, warum. Er war ausgesprochen attraktiv, schlank und dabei doch athletisch. Ich hatte mich an ihn gewöhnt. Ich wühlte in meinen Manteltaschen nach den Zigaretten und förderte statt dessen die Briefe zutage. Die Umschläge ließ ich in meinen Schoß fallen und machte mir nicht die Mühe, den Scheck aufzuheben, der zu Boden geflattert war. Dafür widmete ich dem Brief der Kanzlei Hoddard, Marks, Hewitt und Long meine ganze Aufmerksamkeit. Er erinnerte mich an Daniel. Ich zupfte so lange an einer Ecke, bis der Umschlag aufriß. Eine schlechte Nachricht zieht immer noch zwei andere hinterher, dachte ich. Bringen wir’s hinter uns. Ich zog den Bogen mit dem pompösen Briefkopf heraus und entfaltete ihn. »Sehr geehrte Miss McKenna«, las ich. »Hiermit möchte ich Sie als eine der Begünstigten zur Testamentseröffnung von Susan Marie De Ford alias Myrra Agenworth einladen, am Montag, den 14. Dezember um 14.30 Uhr in den Räumen der Anwaltskanzlei …«
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4 Julie Simms hatte ein Baby. Es war ein Mädchen, achtzehn Monate alt, und lebte bei Julies Mutter in einem Apartment in Gramercy Park. Es gab auch einen Ehemann, sehr jung und immer noch äußerst lebendig – zur Zeit lag er entweder in irgendeiner Entziehungsklinik oder in einem Hauseingang in der Bowery. Der Ehemann hatte Geld, aber keine Familie. Die Chase Manhattan Bank überwies regelmäßig die Zinsen aus seinem Aktienvermögen auf ein Girokonto, und dieses wurde ebenso regelmäßig von den Dämonen der Sauforgien geplündert. Oder den Branntweinteufeln. So weit die erste, mit gehässigen Randbemerkungen verzierte Version der Leidensgeschichte – Originalton Lydia Wentward. Ich rächte mich für ihre Bosheiten und nannte sie Ellie (ihr richtiger Name war Elspeth Hoag), dann legte ich den Hörer auf. Ich sollte mir jetzt besser Gedanken darüber machen, wie ich den Rest des Nachmittages zu verbringen gedachte. Ich war in Phoebes Apartment und theoretisch völlig ungestört. Phoebe drehte gerade ihre Runde durch die Verlage, Agenturen und italienischen Restaurants. Ich stocherte in den KäseBlintzes, gefüllten Pfannkuchen, die sie für mich im Backofen warmgestellt hatte, und bediente das Telefon. Die Leidensgeschichte frei nach Amelia Sam53
son: Julies Ehemann war in der Tat noch am Leben und in der Tat Alkoholiker. Letzteres war auch nicht anders zu erwarten gewesen, schließlich war Julie viel erfolgreicher als ihr Mann. Er wollte die Scheidung, um endlich ein normales Leben zu beginnen, aber sie weigerte sich. Sie war katholisch und liebte ihn insgeheim doch. Ein schweres Kindheitstrauma (Papa betrog Mama) hatte sie laut Amelia unfähig gemacht, Männern zu vertrauen. Deshalb brauchte Julie auch beides, Karriere und Mann, und genau das hatte dieser nicht ertragen können. Er hatte sie in mein Apartment gelockt und erstochen, damit er mit dem Trinken aufhören und noch einmal von vorn beginnen könnte – mit einer Frau, die ihre Berufung als Ehefrau und Mutter ernstnahm. Die Leidensgeschichte frei nach Mary Allard: Julie Simms war nie und nimmer verheiratet gewesen. Das Baby war unehelich, weil sie erst mit vierunddreißig schwanger geworden war und fürchtete, nie wieder eine Chance zu haben. Das hatte nichts mit ihrer Ermordung zu tun. Julie Simms war entweder von Janine Williams oder von Lydia Wentward umgebracht worden. Beide steckten bis zum Hals in der Tinte, Mary wußte allerdings nicht, warum. Sie wußte von diesen Problemen auch nur, weil Julie diesbezüglich letzte Woche bei einer Verabredung zum Mittagessen Andeutungen gemacht hatte. Die Leidensgeschichte frei nach Melissa ›Muf54
fy‹ Arnold Whitney (Rye Country Day School, 1969 Abschlußklasse Farmington, 1973 Vassar, Studentenparlament, Westchester Debütantinnenball, Cosmopolitan Club und jetzt Chefredakteurin von Sophistication, übrigens genau wie ihre Mutter 1951, als sie feststellte, daß sie mit Muffy schwanger ging und ›selbstverständlich‹ das alles aufgeben mußte): Ich habe es gerade eben erst erfahren, das ist ja schrecklich, du tust mir so leid, bestimmt ist es sehr unangenehm, in diesem Zusammenhang in den Zeitungen erwähnt zu werden, für uns ist es natürlich eine sensationelle Story, jetzt, wo wir uns gerade an diese Karrierefrauen-Mordserien rangehängt haben, diese Männer hassen einfach Frauen mit Aktenköfferchen, ich persönlich fasse nie mehr eins an, aber Sheree Hyland arbeitet an der Story, die hat auch keine Angst und würde dich gern interviewen. Könntest du also am Donnerstag um elf vorbeikommen und auch gleich den Artikel ›Frauen in die Lüfte‹ mitbringen? Ich weiß, er hat Zeit bis nach Neujahr, aber ich habe da dieses Loch in der Märzausgabe, diese Autorinnen aus Kalifornien sind so entsetzlich unprofessionell, jedenfalls kann ich dir nicht genug danken und bis dann also. Die Leidensgeschichte frei nach Phoebe (Weiss) Damereaux (telefonisch übermittelt aus Mamma Leone’s Restaurant während der Mittagstisch-Rush hour): »Die ganze Stadt fragt sich, 55
wo du steckst, und du darfst auf keinen Fall ans Telefon gehen. Diese Leute hetzen dich zu Tode. Noch etwas, mach dir das Hühnchen in der blauweißen Kasserolle warm, es steht im Kühlschrank in der dritten Etage, wenn du nämlich weiter nur von schwarzem Kaffee und diesen elenden Zigaretten lebst, stirbst du noch vor Hunger, bevor wir mit dieser Sache durch sind. Und noch etwas, also, ich habe mit meinem Juristen-Freund gesprochen, und wir erwarten dich um halb acht zum Dinner im Oenophilia. Der Tisch ist auf den Namen Carras reserviert. Halt, noch etwas, hör zu, Lydia hat angerufen (wieder mal auf dem Höhenflug von irgendwelchen Aufputschmitteln) und behauptet, Julies Mann wäre ein Säufer und sei durch das Fenster deines Apartments eingestiegen und habe Julie mit einer abgebrochenen Whiskeyflasche erstochen. Das hört sich ganz anders an als das, was du mir erzählt hast.« »Nein, nicht der Alkohol«, meinte Janine Williams, nachdem ich mich endlich vom Telefon losgerissen und zu unserer Verabredung bei Farret gekommen war. »Parkinson. Die Parkinsonsche Krankheit.« Sie hob die Hand, ordnete ihr Haar. Einem komplizierten Brettspiel, das in der Eingangshalle stattfand, schenkte sie keine Beachtung. Ein paar hellwache Jungs aus der Marketing-Abteilung hatten es konzipiert. Soviel ich davon mitbekommen hatte, bestand es aus Stäben, die wie 56
kleine bleistiftdünne Taschenlampen aussahen und die, wenn man sie der Oberfläche der Plexiglasabdeckung näherte, runde Scheibchen dazu brachten, wie fliegende Untertassen durch die Luft zu schweben. »Dieser ganze Tratsch ist so gemein«, bemerkte Janine auf dem Weg zu ihrem Büro. Sie mußte um ein paar Werbeaufsteller für Liebesromane herumgehen. Einer davon war ein dreidimensionales Pappkonterfei von Amelia Samson mit depressivem Blick. »Alkoholismus und Scheidung und dieser ganze Quatsch. Wenn man Lydia Glauben schenken soll, dann schläft der Mann sogar in Hauseingängen in der Bowery, das ist absolut lächerlich. Julie hat ihn letztes Jahr überhaupt zum ersten Mal in eine Klinik gebracht.« »Wie, Mr. Simms ist im Krankenhaus?« Janine nickte vage. »In einem Sanatorium irgendwo in Westchester.« Sie starrte auf das Namensschild an der schlichten furnierten Tür ihres Büros. Für einen Moment blieb sie völlig reglos. In diesem Augenblick, der viel zu lang dauerte, kehrte das Unbehagen zurück, das ich glaubte, in Phoebes Apartment zurückgelassen zu haben. Auch die Übelkeit beim Anblick von Julie Simms auf meinem Fußboden kam wieder in mir hoch. Es war gleich wieder vorbei. Janine stieß die Tür zu ihrem Büro auf und trat zurück, um mich hineinzulassen. »Es soll eine sehr teure Klinik sein«, sagte sie, in Gedanken immer noch bei Julies 57
Ehemann. »Solange sie das Geld heranschaffte, war das kein Problem. Keine Ahnung, was jetzt passieren wird.« Ich setzte mich in einen ausgesprochen unbequemen Sessel und zog die Füße unter mich. Dabei ließ ich den Blick von dem Stapel Computerausdrucke auf Janines Schreibtisch zu einer Pinnwand mit bunten DIN-A5 Merkzetteln gleich neben dem einzigen Aktenschrank im Raum wandern. Auf einem davon stand der Abgabetermin für die Druckfahnen von Gefährliche Wege der Liebe, die schon mehr als eine Woche überfällig waren und in einem versiegelten braunen Umschlag auf dem Zwanzigsten Revier lagen. Es war Blut auf den Korrekturfahnen, und die Polizei wollte wissen, von wem. »Ich kann gar nicht verstehen, warum alle Leute solche Schwierigkeiten mit diesen Geschäftsberichten haben.« Janine tätschelte auf den Stapel Computerausdrucke, »Sie werfen einen Blick darauf, sagen Computer, und das war’s dann. Dabei soll es uns doch den Durchblick erleichtern.« »Ich lese diese Berichte nie«, gestand ich. »Ich verstehe auch nicht, warum irgend jemand überhaupt Lust dazu haben sollte.« »Klar, du natürlich nicht. Ich kenne keine Autorin, die etwas liest, wo nicht ihr Name draufsteht. Ich habe meine Lektorinnen gemeint. Davon habe ich drei, und hier liegen Geschäftsberichte, die ihnen schwarz auf weiß belegen, was 58
sich verkauft und was nicht. Wo es sich verkauft und wo nicht. Und sie tun so, als wäre das völlig ohne Bedeutung. Ausgerechnet für eine RomanceSerie!« Ich beugte mich vor und warf einen Blick auf die oberste Seite des Stapels. Sie lag verkehrt herum. »Da steht, welche Bücher sich wo, wann und wie verkaufen? Das könntest du mir alles auf einen Blick sagen?« »Ja. Und die Hauptgeschäftsstelle kann das auch. Meine Lektorinnen hingegen hätten es gern in Leder, mit Goldrand und handschriftlich signiert. Und das noch auf einem Silbertablett.« »Ich auch«, sagte ich. »Aber schick mir bloß keins.« »Keine Angst. Es sei denn, du verlangst ausdrücklich danach. Du oder deine Agentin.« »Ich habe keine Agentin. Ich habe ein Problem.« Ich holte meine Zigaretten heraus, zündete mir eine an und kramte dann in dem Durcheinander auf Janines Schreibtisch nach dem VassarAschenbecher. Am liebsten hätte ich Janine gefragt, ob sie Muffy Arnold Whitney kannte, aber ich hielt mich zurück. Janine war in Vassar das gewesen, was Phoebe in Greyson gewesen war: das arme Mädchen auf der Schule der Reichen, die unbequeme Erinnerung an Klassenunterschiede inmitten der Privilegierten. Phoebe hatte 59
diese Rolle frohgemut akzeptiert und lebte ohne Probleme damit – unsere Arroganz und Vorurteile zerriß sie mit Freuden in der Luft, wann immer ihr danach zumute war. Janine hingegen strahlte eine angespannte Abwehrhaltung aus. Sie war an die zehn Jahre älter als Phoebe oder ich, und seit zwanzig Jahren aus dem College. Aber jedesmal, wenn wir uns trafen, mußte sie uns freundlich aber nachdrücklich ihre elitäre Schulbildung und ihre Referenzen unter die Nase reiben. Im Augenblick bestand die Vorführung aus einem heillosen Durcheinander an Plaketten, Fotografien und Erinnerungsstücken auf ihrem Schreibtisch. Die meisten Fotos waren signiert, und alle steckten in silbernen Rahmen. Ich betrachtete geistesabwesend eins von Janine in einem Abendkleid, das eher wie ein Hemd aussah, umringt von Phoebe, Amelia, Lydia, Myrra und Julie – eine üppiger und prachtvoller gewandet als die andere. Ich war drauf und dran, Janine nach dieser Aufnahme zu fragen, doch da sah ich ihr Gesicht. Sie schaute mich mit übertrieben besorgter Miene an, so wie eine Frau, die liebend gern Anteilnahme zeigen möchte, sich aber mit einem Problem konfrontiert sieht, das so exotisch ist, daß es ihre Vorstellungskraft übersteigt. Wäre ich zu Janine gekommen mit einem Text, aus dem nichts werden wollte, einem geplatzten Vertrag oder einer Copyright-Angelegenheit, dann hätte ich mir ihres Engagements und ihres Mitgefühls 60
sicher sein können. Janines aufopferungsvoller Einsatz für ihren Beruf als Lektorin stellte Thomas Beckets Hingabe an die römisch-katholische Kirche weit in den Schatten. Der Mord an einer Literaturagentin in einem Upper West SideApartment hingegen brachte sie an ihre Grenzen. Ich selbst fühlte mich reichlich verwirrt. Beides, Mangel an Schlaf und nagende Schuldgefühle – obwohl ich keine Ahnung hatte, weshalb ich mich schuldig fühlen sollte – trieb mir die Tränen in die Augen. Ich sah alles nur noch verschwommen. So klar, wie es gerade noch ging, versuchte ich, Janine die Sache mit den Druckfahnen zu erklären, und warum ich sie nicht hatte. Dann ließ ich mich zurücksinken und blickte mich um. Wie die meisten großen Verlage hatte auch Farret seine Romance-Abteilung in die hinterste und unzugänglichste Ecke des Hauses verbannt. Janine und ihre Mitarbeiterinnen mußten sich den Platz nicht nur mit der Marketing-Abteilung und dem Versand teilen, man mutete ihnen auch noch die engen, fensterlosen Kammern im Innenbereich des Erdgeschosses zu. Statt des Ausblicks auf den Gramercy Park hatte Janine eine gerahmte Grafik vor Augen, welche die Rentabilitätsentwicklung der vier Farret Romance-Serien unter ihrem Lektorat zeigte. Die rote Linie für Fires of Love war kürzer als alle anderen, aber sie stieg bedeutend höher. »Sieht doch nett aus, oder?« meinte Janine. 61
»Ohne Fires of Love wäre Farret womöglich längst aus dem Romance-Geschäft.« »Die Blaue geht offenbar nicht so gut.« Ich mußte die Augen zusammenkneifen, um überhaupt etwas zu erkennen. »Sieht aus, als wäre sie auf ihrem Höhepunkt gekappt worden.« »Romantic Life.« Janine rümpfte angewidert die Nase. »Wir ließen es ungefähr zu der Zeit sterben, als wir mit Fires of Love anfingen. Die Serie war wirklich eine Katastrophe. Naive Jungfrauen, die schon in Ohnmacht fielen, wenn ein Mann sie nur ansah, und die sich in der Hochzeitsnacht womöglich auch noch als frigide entpuppten! Zwei Monate, nachdem diese Reihe in den Supermärkten erschienen war, brachte in einem der Machwerke die keusche Maid farbige Drillinge zur Welt, während ihr Ehemann zwecks Geschlechtsumwandlung in der Schweiz weilte.« »Ich hätte nie gedacht, daß es überhaupt eine Romance-Reihe gibt, die kein Geld bringt«, bemerkte ich. »Sie bringen alle Geld. Manche jedoch nicht genug. Du kennst die Weiber doch. Wenn du nicht auf mindestens 40 Prozent Profit kommst, jammern sie, daß ihre literarische Reputation grundlos in den Dreck gezogen wurde.« »Vielleicht sollte ich lieber für die Werbung schreiben.« Ich lehnte mich zurück und schloß die Augen. »Oder Drehbücher für Soft-Pornos.« »Nicht doch.« Janine fing an, die Papiere auf 62
ihrem Schreibtisch zu sortieren. »Geh lieber bei der Redaktion vorbei und hol dir deine Korrekturfahnen ab. Dann tu das, was du sowieso tun wolltest. Leb einfach weiter wie bisher.« »Gut. Bevor jemand auf die Idee kam, Julie Simms auf meinem Parkett umzubringen, hatte ich eigentlich vor, ins Tierheim zu fahren und mir eine Katze zu holen.« »Was?« »Eine Katze.« Ich schlug die Augen auf und wünschte, ich hätte es nicht tun müssen. »Ich habe mir schon immer eine Katze gewünscht. Ich wollte mir sowieso eine besorgen.« Janine sah etwas verwirrt aus, aber sie fiel nicht aus der Rolle. Sie schenkte mir das strahlendste Lächeln, das sie im Augenblick zustande brachte, und schlug krampfhaft einen aufmunternden Ton an. »Wie nett. Eine Katze. Vielleicht bringst du sie am Sonntag mit auf die CocktailParty?«
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5 Bei der Redaktion gab es keine Druckfahnen für mich. Die kleine, verhuschte Redaktionsassistentin, die mannhaft ihren Posten hielt, zeigte sich nicht geneigt, danach zu suchen. Also nahm ich mir ein Leseexemplar von Phoebes Wilder Ruf des Verlangens und wanderte damit durch die Halle zur Marketing-Abteilung. Laut InsiderGeheimdienstinformationen war die erste ›heiße Stelle‹ auf Seite dreißig. Angeblich war sie nicht ganz so scharf wie die auf Seite hundertsechs. Letztere, so hatte mir jedenfalls eine fromm aussehende, sehr junge Frau berichtet, die ich bei B. Dalton’s in der Fifth Avenue traf, war einfach »unbeschreiblich«. Das glaubte ich sofort. Noch nie hatte ich den Mut besessen, Phoebe zu fragen, ob sie diese Sachen erfand oder tatsächlich praktizierte. »Was würdest du tun, wenn ich mich von diesem Stuhl herab direkt in deine Arme stürzen würde?« erkundigte sich Martin Caine. »Dich auffangen, absetzen und dir eine runterhauen.« »Dachte ich mir.« Er bemühte sich gerade, ein rotes Kreppband oberhalb der Tür zu befestigen und scheiterte kläglich. Selbst auf einem Stuhl stehend wirkte Marty Caine klein. Er war perfekt gebaut, ausgesprochen attraktiv und strahlte den Charme 64
des jungenhaften, leicht zynischen Frank Sinatra aus, aber er maß einsfünfundsechzig. Höchstens. Als ich ihn das erste Mal sah, saß er. Um ein Haar hätte ich mich an ihn herangemacht. Dann stand er auf, und ich mußte sehr an mich halten, um ihm nicht die braunen Locken zu zausen und ihm einen Teddybären zu versprechen. Ich streckte den Arm aus und hielt ihm das Kreppband. Er pinnte das Titelblatt von Cashelmara fest und sprang zu Boden. »Himmel«, sagte er. »Letztes Jahr wollte ich schon Trauerflor aufhängen. Kannst du dir das vorstellen?« »Du hast also nicht daran geglaubt, daß sich Fires of Love verkauft?« Ich ging in sein Büro und setzte mich auf den Schreibtisch. Marty arbeitete in der Marketing-Abteilung, also hatte er auch ein Fenster. Als Vertriebsleiter für die Romance-Serien stand ihm eins zu – aber auch nur eins. »Du liebe Güte.« Er kam herein. »Wer weiß schon, was läuft oder nicht? Willst du die Wahrheit wissen? Nein. Ich hätte niemals gedacht, daß Fires of Love ein Renner wird. Die Idee des Beratungskomitees war schon okay – die Autorinnen für die Titelgestaltung und die Werbung zu gewinnen. Das hat mir gut gefallen. Janine hat dann allerdings keinen dieser Vorschläge umgesetzt, und sie hatte einen Haufen Reinfälle. Ich dachte immer, wenn zwanzig oder dreißig Serien draußen auf dem Markt sind, von denen ungefähr die 65
Hälfte genau im Stil von Fires of Love geschrieben ist, warum sollten die Leute dann ausgerechnet unsere kaufen? Aber eigentlich habe ich mir auch keine großen Gedanken gemacht. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, unsere letzte Katastrophe zu überleben.« »Ach ja, Romantic Life! Gott habe es selig.« »Gutes, altes Romantic Life.« Marty lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück und legte die Füße auf den Schreibtisch. Er deutete auf mein Exemplar von Wilder Ruf des Verlangens. »Bist du schon bis Seite hundertsechs?« »Ich habe es mir gerade erst geholt.« »Weißt du, was ich in meinem nächsten Leben werde? Phoebes PR-Agent. Nie wieder arbeiten bis tief in die Nacht hinein, nie mehr am Wochenende, nie mehr zu hören bekommen: ›Warum verkauft sich das Buch nicht so gut wie erwartet?‹ Phoebes Bücher gehen immer gut, die Illustrierten reißen sich um sie, und sie ist immer nett. Wie ich gehört habe, bekocht sie einen sogar.« »Aber nur koscher.« Ich verschwieg ihm, daß Phoebes koschere Lebensweise sie noch kein einziges Mal daran gehindert hatte, bei Mamma Leone’s zu speisen. »Warum regt ihr euch eigentlich immer so auf? Eine Romance-Reihe bringt fünf Prozent und nicht fünfzig, na und? Solange sie keine Verluste macht –« Marty rang nach Luft. »Großer Gott. Du hast bestimmt mit Janine gesprochen. Diese Frau ver66
steht es perfekt, die Fassade zu wahren. Ich will dir mal was sagen. Romantic Life hat uns nicht nur in die roten Zahlen gebracht, wir wären fast pleite gegangen! Die Reihe hat uns Riesenverluste eingebracht. Sie war so abgrundtief schlecht, daß es jetzt noch Buchhändler gibt, die nicht mehr mit uns reden. Ich war schon drauf und dran, organisierte Schlägertrupps anzuheuern, um einige von ihnen davon zu überzeugen, Fires of Love in ihr Sortiment zu nehmen.« Er sprang von seinem Stuhl auf. »Vor Romantic Life hatten wir einen so guten Ruf, daß ich unsere Liebesromane sogar in Buchhandlungen unterbringen konnte, die normalerweise diese Art von Literatur ablehnen. Es war einfach großartig. Kleine snobistische Buchläden in Westchester, Öko-Bücherstuben in Vermont. Für das Genre eine phantastische Sache!« »Immer geht es nur darum, was für das Genre phantastisch ist«, unterbrach ich ihn. »Mich ödet das alles an. Ist dir nie der Gedanke gekommen, daß es sich einfach um ein Schund-Genre handelt? Schund, der eben in die Supermärkte gehört? Und daß das gar nicht unbedingt etwas Schlechtes ist?« »Möglich.« Marty lief im Büro auf und ab. »Aber betrachten wir’s doch mal realistisch, Pay. Es gibt guten Schund, und es gibt schlechten Schund. Jedes andere Genre hat das längst für sich erkannt. Es gibt großartige Krimis. Großartige Horrorromane. Und großartige Science67
Fictions. Die Leser von Liebesromanen hält man immer für dumm und gibt ihnen das, was sie sich vermeintlich wünschen – also verkauft man ihnen so was wie Romantic Life.« »Schon gut. So viel Verachtung ist kränkend, da stimme ich dir zu.« »Es ist einfach lachhaft. Vielleicht sind die Leser nicht in der Lage, dir zu sagen, warum etwas gut ist oder schlecht, aber sie wissen es. Sie greifen womöglich zu einem schlechten Buch, wenn es das einzige ist, das es gibt. Aber wenn du Verlage dazu bringen kannst, neunzig Bücher im Monat auf den Markt zu werfen, von denen viele den Qualitätsstandard mit jeder Ausgabe um Lichtjahre heben, werden die Leser nicht mehr gezwungen sein, sich an das niedrigste Niveau anzupassen. Sieh dir doch nur Phoebe an. Phoebe schreibt …« »Marty.« Ich packte sein Handgelenk und versuchte, ihn dazu zu bringen, stehenzubleiben. »Du mußt mir nichts verkaufen. Ich schreibe das Zeug doch.« »Stimmt.« Er setzte sich und legte die Füße wieder auf den Schreibtisch. »Entschuldige. Aber ich verstehe die Verleger einfach nicht. Sie werfen nur einen kurzen Blick auf ein Buch, das sich gut verkauft, und reagieren wie Hunde, die man mit der Nase in ihre eigene Scheiße gestoßen hat.« Ich stand auf und fing an, meine Sachen einzusammeln. Wenn Phoebe nicht unbedingt einen 68
Juden hätte heiraten wollen und Marty nicht ausschließlich auf Einsachtzig-Blondinen abgefahren wäre, hätte ich die beiden gut verkuppeln können. Diese Phantasie hatte mich schon viel Zeit gekostet. »Ich mache, daß ich hier rauskomme«, sagte ich. »Kommst du zur Konferenz?« »Muß ich ja wohl.« Er wirkte auf einmal unsäglich gelangweilt. »Lydia Wentward war letzten Herbst auf dieser Asientour, erinnerst du dich? Sie hat Fotos gemacht und will davon Riesenvergrößerungen. Einsachtzig mal einsfünfzig. Im Ernst.« »Typisch Lydia.« »Ja.« Ich war schon auf halbem Weg zurück zur Redaktion, da rief er hinter mir her: »Pay? Ich glaube übrigens nicht, daß du es warst.« Die Druckfahnen waren jetzt da. Sie steckten in einem großen Versandumschlag. Die Redaktionsassistentin kehrte mir den Rücken zu. Sie hielt zornig den Nacken steif, wie alle Absolventinnen der Mädchen-Colleges in New England, die gerade festgestellt haben, daß mit oder ohne Phi Beta Kappa die Arbeit im Verlagsgeschäft mit Tippen anfängt. Ich steckte den Umschlag in meine Handtasche, holte mir eine Ausgabe von Romantic Times und blieb vor dem großen Ölgemälde stehen, das oben auf einer Gruppe niedriger Bücherregale an 69
der Betonwand lehnte. Offensichtlich handelte es sich bei dem Schinken um »Cover Art« für ein Fires of Love-Buch. In keiner anderen RomanceSerie wären der Held und die Heldin in so eindeutig schlüpfriger Pose dargestellt worden. Was mich an dem Bild interessierte, war der liebevoll ausgestaltete Zweimastschoner im Vordergrund. Irgend jemand hatte ihm einen winzigen Außenbordmotor aufs Hinterteil geklebt. Ich fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoß. Bei Farret gibt es einen dieser Zeitungsstände, die alle Zeitschriften aus vier Kontinenten führen, jede Zeitung, die in den Vereinigten Staaten vertrieben wird, außerdem noch die London-Times sowie eine gutsortierte Auswahl an Taschenbüchern. Ich erstand sechs Romane von Agatha Christie, neun von Nicholas Blake und jedes Buch von Dorothy L. Sayers, P.D. James und Emma Lathen, das es hier gab. Ich kaufte auch den gesamten Bestand der New York Post auf – die Ausgabe mit der Schlagzeile »Da war sie baff«. Ich steckte die Bücher in meine Tasche und klemmte mir die Zeitungen unter die Arme. Dann trat ich hinaus in den grauen Spätnachmittag der Madison Avenue und warf die Zeitungen in den erstbesten Mülleimer. Ich stand gerade im leichten Schneetreiben an der Nordostecke der Fünfunddreißigsten Ost und Madison und versuchte, ein Taxi herbeizuwinken. Da wandte sich neben mir eine Frau mit 70
braunen Haaren an ihren Begleiter, bei dem sie sich eingehakt hatte. »Vielleicht ist das der Grund, warum Julie Simms tot ist. Ich sag’s dir, Bobby, da ist was faul. Das weiß ich.« Im gleichen Moment hielt ein Taxi, und ich ließ mich hineinfallen. Wir waren schon auf halbem Weg stadtauswärts zum Tierasyl, da ging mir plötzlich auf, wer die Frau gewesen war. Hazel Ganz.
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6 »Oh«, tönte das Mädchen im Tierheim erfreut. »Das da. Ehrlich gesagt haben wir dem da kaum eine Chance gegeben.« Sie steckte die Hände in den Käfig und holte ein winziges Kätzchen heraus, das ganz wacklig auf den Beinen und vor Angst wie gelähmt war. »Es ist entwöhnt«, meinte das Mädchen. »Aber auch gerade erst. Und eigentlich sollten sie ja alle stubenrein sein. Für dies hier ist es wohl noch etwas zu früh.« Sie hielt sich das Kätzchen vors Gesicht und schüttelte den Kopf. »Und es ist irgendwie schlapp. Ich glaube kaum, daß wir hier irgendwas für es tun können. Aber es ist so klein.« »Und so schwarz.« Ich nahm das Kätzchen in meine Hände. Es gefiel ihm gar nicht, so in der Luft zu hängen, und das sagte es auch, also steckte ich es in die Brusttasche meiner Bluse. Wenn Babys einen Herzschlag hören, sind sie ruhiger. Warum sollte man diesen Trick nicht auch auf Katzen anwenden? »Sie müssen noch die Papiere ausfüllen.« Das Mädchen zerrte mürrisch an seiner schmalen Krawatte. »Und natürlich bezahlen. Wenn sie alt genug zum Sterilisieren ist, bringen Sie sie einfach her, wir sorgen schon dafür. Die Leute sind so verantwortungslos. Sie haben ja keine Ahnung, wie viele Tausende von ungewollten Katzenbabys jedes Jahr in dieser Stadt geboren werden.« 72
Sie warf mir einen zornigen Blick zu, als wäre ich für mindestens ein Drittel dieser Katzen persönlich verantwortlich, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und stolzierte davon. Sie war gekleidet wie der Prototyp einer alten Jungfer, dabei war sie weit unter Dreißig. Ihre Schnürschuhe gingen bis zu den Knöcheln. Auf ihrem Baumwollkleid blühten kitschige Kornblumen. Es reichte ihr über die Waden und mußte ihr halb die Gurgel abschnüren. Ein ausladendes Spitzenjabot wallte über ihrer kleinen Brust. Selbst ihre Nickelbrille schien direkt vom Dachboden ihrer Großtante zu kommen. Ich ließ sie gehen und fing an, mich auf eigene Faust umzusehen. Außer einer Katzenmutter, die sechs Kätzchen säugte, hatte jede Katze einen eigenen Käfig – jeder mit einem Haufen Sägespäne in der Ecke, jeder mit dem gleichen Freßnapf aus Blech und der gleichen Trinkschale. Die Katzen sahen zum Erbarmen aus. Wohlgenährte, gut gepflegte, verhätschelte Katzen tragen normalerweise so etwas wie selbstzufriedene Arroganz zur Schau. Läßt man sie allerdings vierundzwanzig Stunden nur mit einer Überlebensration an Futter und einem Stück Teppich zum Krallenwetzen allein, verhalten sie sich wie Vierjährige, die man ohne Abendessen ins Bett schickt. Im Vorübergehen strich ich einigen besonders unansehnlichen Exemplaren über die Köpfe. Wer adoptiert schon eine häßliche Katze aus dem Tierasyl? Wer 73
wünscht sich schon nach dem Abendessen eine triefäugige, weißhaarige, plattnasige Monstrosität um die Füße? Der Himmel weiß, was aus diesen Kreaturen wird. Ich bog um die Ecke und landete in einem großen Hundezwinger. Die Tiere in den niedrigen Verschlägen kläfften schrill vor Aufregung, und ihre Augen waren voll verzweifelter Hoffnung. Ich streichelte nur die kleineren. Obwohl ich mit großen Hunden aufgewachsen bin – mein Vater konnte sich das Leben nicht ohne eine aufrechte Dänische Dogge neben seinem Sessel vorstellen, die ihm bei den Sechs-Uhr-Nachrichten Gesellschaft leistete – habe ich mich stets vor ihnen gefürchtet. Mein Umgang beschränkte sich auf Beagles und Bassets und Collies, obgleich letztere verdammt tückisch sein können. Einmal mußte ich mitansehen, wie ein Collie einem Kätzchen, das nur mit ihm spielen wollte, den Kopf abbiß. Ich war damals erst dreizehn, und es war mein Lieblingskätzchen, und eigentlich hätte dieses Ereignis dazu führen müssen, daß ich ein für allemal die Nase von Collies voll hatte. Aber dem war nicht so. Als Kind durfte ich als erstes und einziges Fernsehprogramm Lassie sehen. Es war wie ein Zauber, der noch heute wirkte. Ich kraulte gerade den Kopf eines ganz und gar nicht lassiehaften Collies, da sah ich den Co kerspaniel. Er kauerte halb in den Sägespänen vergraben in der hintersten Ecke eines Käfigs, 74
den ich auf den ersten Blick für leer gehalten hatte, und zitterte wie Espenlaub. Trotz der lautstarken Proteste des Kätzchens an meiner Brust beugte ich mich vor und streckte die Hand nach dem Hund aus. Ich gurrte und zirpte dabei wie ein geistesgestörter Babysitter. Der einzige Effekt war, daß das Tier noch stärker zitterte. Ich mußte mich ganz weit vorbeugen, um an seinen Kopf heranzukommen. Sobald ich den Hund berührte, hörte das Zittern auf. Er schniefte kurz, stupste mit der Nase gegen meine Finger, schüttelte sich das Sägemehl wie Wassertropfen aus dem Fell und kroch dann durch den Käfig auf mich zu. Die Straß-Steine auf seinem Halsband funkelten in dem grellen Licht, das von oben kam. Die rosa Schleifen an seinen Ohren hingen traurig bis zum Boden. An seiner Kehle blitzte es rot und weiß auf. Myrras Hund. Mit einem von Myrras Ohrringen, der in seinem Halsband hing. Ich drückte auf den Klingelknopf. »Bei diesem Hund«, bemerkte die Schreckschraube, »handelt es sich um ein Weibchen, das bereits geworfen hat.« Sie warf mir wieder jenen finster-anklagenden Blick zu, bei dem ich an einen moralisierenden Wanderprediger denken mußte. »Ja, es waren sechs Welpen«, berichtete ich. 75
»Und alle fanden ein sehr nettes Zuhause in Westchester.« »Gewiß doch. Und bestimmt bekamen diese Hündchen wiederum Junge, die auch alle ein sehr nettes Zuhause fanden. Die Tiere, die wir zwischen den Mülltonnen aufgreifen, entstehen einfach so aus dem Nichts.« »Schon recht. Ich weiß, was Sie meinen.« Esmeralda, die in einer Mülltonne rumwühlte – das war ohnehin unvorstellbar. Myrra hatte diesen Hund mit all der Liebe und all dem Luxus überschüttet, den sie ihrer Tochter nicht hatte geben können – damals, als diese ein kleines Mädchen, Myrra frisch geschieden und ganz am Anfang ihrer schriftstellerischen Karriere gewesen war. Nie hatte Myrra sich selbst auch nur annähernd so verwöhnt wie den Hund. Esmeraldas Geschmack war so erlesen, daß sie trotz ihrer Liebe zu Kaviar ausschließlich Beluga und an Schokolade nichts anderes als Himbeersahnepralinen von Godiva akzeptierte. Das Tier besaß ein Nerzmützchen mit dem dazu passenden Jäckchen. In die handgeschnitzten Holzknöpfe waren seine Initialen eingraviert. Außerdem hatte es ein Daunenkissen mit täglich wechselnden Seidenbezügen in diversen Pastelltönen und ein Eßservice aus Steuben-Glas. Im Augenblick hatte Esmeralda nichts außer einem ramponierten Nervenkostüm und meinem klitzekleinen Kätzchen. Das Kätzchen hatte sich 76
auf Esmeraldas Kopf zum Schlafen zusammengerollt, beide Tiere schien das zu beruhigen. »Die Hündin gehört auf der Stelle sterilisiert«, meinte die alte Jungfer. Ich nahm den Füller, den sie mir hinhielt und schüttelte den Kopf. »Das kann ich Ihnen nicht versprechen. Ihre frühere Besitzerin wäre damit sicher nicht einverstanden.« »Die hat da gar nichts zu sagen. Sie hat sich das arme Tier einfach vom Leib geschafft. Wir können nicht zulassen, daß diese Stadt von domestizierten Kreaturen überschwemmt wird, die absolut unfähig sind, in der freien Wildbahn zu überleben –« »Den Central Park kann man wohl kaum als Wildnis bezeichnen«, gab ich zurück. »Und Myrra hat sich den Hund nicht vom Leib geschafft. Sie ist mit ihm spazierengegangen und wurde im Riverside Park überfallen. Wir suchen Esmeralda schon seit über einer Woche.« »Überfallen«, wiederholte die Frau. »Überfallen und ermordet.« Ich lächelte grimmig. »Einen Augenblick.« Sie verschwand durch eine niedrige, enge Tür und kehrte gleich darauf mit einem Schuhkarton zurück. »Sie müssen das verstehen, die Situation ist höchst ungewöhnlich. Wir haben diesen Hund vor etwas mehr als einer Woche bekommen. Wie Sie sehen, trägt er keine Marke.« 77
»Das ist mir schon klar. Sonst hätte doch jemand versucht, Myrra oder die Familie zu benachrichtigen. Oder?« »Ganz bestimmt. Das Tier trug aber keine Marke, sondern nur diese lächerlichen Klamotten –« Sie riß das Mützchen und das Jäckchen aus dem Schuhkarton. »Außerdem hatte man es sehr sorgfältig an unserer Eingangstür angebunden. Wir fanden es sozusagen wie den kleinen Moses im Binsenkörbchen.« »Vielleicht haben irgendwelche Leute Esmeralda aufgelesen, als sie herumirrte. Und gedacht, daß sie hier am besten aufgehoben wäre.« »Wohl kaum. Die meisten Einwohner New Yorks frönen dem schauerlichen Irrglauben, daß wir hier die Tiere vergasen.« »Aber immerhin –« . »Aber immerhin, ja. Aber immerhin habe ich höchstpersönlich an jenem Morgen um sechs hier aufgeschlossen. Ich habe natürlich das Büro nicht fürs Publikum geöffnet, ich war hergekommen, weil ich einiges zu erledigen hatte. In der Nacht zuvor ist das Haus kurz nach drei abgeschlossen worden. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß irgendein guter Samariter zwischen drei und sechs an einem Dezembermorgen durch unsere Nachbarschaft spaziert ist und den Hund mit einem Doppelknoten am Türknauf festgebunden hat.« »An welchem Dezembermorgen war das?« Ich 78
fühlte mich etwas wacklig auf den Beinen. »Wann genau?« Sie zog eine Karteikarte hervor und rückte die Brille auf der Nase zurecht, mit der altehrwürdigen Geste von Mrs. Grundy und allen möglichen anderen damenhaften Sozialkunde-Lehrerinnen. »Das war am Zweiten«, stellte sie fest. »Am zweiten Dezember.« »Stellen Sie sich vor, Sie hätten gerade einen Mord begangen, und das Opfer hätte einen Hund bei sich gehabt – hätten Sie den Hund klammheimlich zum Tierasyl gebracht?« fragte ich den Taxifahrer. »Wenn ich gerade einen Mord begangen hätte?« Wir steckten knapp oberhalb des World Trade Centers im Stau. Ich versuchte, das Beste aus der Situation zu machen. Esmeralda saß in einem Hundekorb auf dem Boden des Taxis. Camille (das Kätzchen) steckte in meiner Tasche, ihr leerer Korb stand neben mir auf dem Sitz. Ich mußte mich irgendwie davon ablenken, dauernd auf die Uhr zu sehen. Schließlich hatte ich Mr. Grandison, dem Seniorpartner von Hoddard, Marks, Hewitt and Long und Testamentsvollstrecker von Myrras Nachlaß zugesagt, um sechs in seinem Büro zu sein. »Wenn Sie ein Ganove wären und hätten jemanden im Riverside Park überfallen«, fuhr ich fort. »Und Sie hätten diese Person umgebracht. 79
Würden Sie den Hund, den sie bei sich gehabt hätte, mitnehmen, zum Tierheim bringen und ihn dort anbinden?« »Schreiben Sie Kriminalromane?« erkundigte sich der Taxifahrer. »Meine Frau mag solche Mordgeschichten. Mir sind Detektivromane lieber. Philo Vance. Kennen Sie den?« »Schon möglich.« Der letzte Krimi, den ich gelesen hatte, war von Agatha Christie gewesen. Ich hatte ihn auf dem Mailänder Flughafen erstanden, als ich nach dem Collegeabschluß auf der obligatorischen Rucksacktour durch Europa war. Ich war durchgeschwitzt, ungewaschen und völlig erledigt gewesen und hatte mitten im Juli versucht, einen Standby-Flug mit der Alitalia nach Rom zu ergattern. Der Agatha Christie-Krimi war eine französische Übersetzung gewesen, und die letzten beiden Seiten hatten gefehlt. Jetzt hatte ich die Tasche voller Kriminalromane, aber noch keinen davon gelesen. »Diese Straßenräuber sind meistens kleine Würstchen mit nichts auf den Rippen«, verkündete der Taxifahrer. »Nur Haut und Knochen. Sozusagen Eunuchen. Das kommt von all dem Dope. Könnten Ihnen kaum gefährlich werden.« »Die bringen also Ihrer Meinung nach keinen um?« »Und ob! Ich kann mir nur nicht vorstellen, wie.« »Ach so.« 80
In der Schlange tat sich eine Lücke auf, eine ausgesprochen kleine Lücke, aber sie reichte aus. Der Fahrer trat aufs Gaspedal, jagte den Wagen hindurch und manövrierte geschickt auf die fast leere südliche Seite des Broadway. »War das nicht beim Tierheim, wo Sie eingestiegen sind?« erkundigte er sich. »Doch. Es ist gleich um die Ecke gewesen.« »Und Sie erzählen mir die ganze Zeit von einem Überfall im Riverside Park?« »Ja, im Riverside Park in Höhe der achtziger Hausnummern.« »Sie behaupten also, dieser Ganove bringt einen Burschen im Riverside Park in Höhe der Achtziger um, spaziert dann mit einem Hund zur Zweiten Ecke Neunundfünfzigsten und bindet ihn vorm Tierheim an.« »Genau das«, entgegnete ich. »Ganz genau das.« Wir hielten vor einem klotzigen schmutzigbraunen Bauwerk, das wie eine Kreuzung zwischen pseudo-italienischem Mausoleum und Monument zu Ehren der alten Griechen" aussah. »Quatsch«, meinte der Taxifahrer. »Wie schon gesagt, diese Straßenräuber sind kleine verhungerte Bürschchen. Puertoricaner. Halbe Portionen. Mit Hunden haben die nichts am Hut.« Ich gab ihm einen Dollar Trinkgeld. Seine guten Ratschläge hätte er sich sparen können, aber das sagte ich ihm nicht. Kein Straßenräuber wür81
de einen Cockerspaniel im Nerzjäckchen, mit straßbesetztem Halsband und einer Leine aus feinstem Wildleder den ganzen weiten Weg durch die Stadt spazierenführen, um ihn dann am Türgriff des Tierasyls anzubinden. Und das auch noch um drei Uhr morgens. Nein, das würde keiner tun. Zumindest glaubte ich das.
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7 Hoddard, Marks, Hewitt and Long residierten auf der 14., 15., 16. und 17. Etage des Hogarth Building – so hieß das Mausoleum – und zu jedem Stockwerk führte ein eigener Fahrstuhl. Diese Aufzüge hatten Messingtüren und wurden von müde aussehenden alten Männern in blauer Uniform bedient. Alle Lifte waren voll mit Sekretärinnen und Hilfsjuristinnen auf dem Weg nach draußen in die U-Bahn und dann nach Hause, die einen nach Queens, die anderen zur Upper East Side. Beide Gruppen sahen aus, als würden sie eine Menge Zeit mit der Lektüre von Mademoiselle verbringen – wenn auch aus Interesse für ziemlich unterschiedliche Rubriken. Ein Blauuniformierter gab mir ein Zeichen, und ich zwängte mich in einen Käfig aus poliertem Messing und rotem Damast. Ich hatte mich dafür entschieden, Hoddard, Marks, Hewitt and Long aufzusuchen, weil ich glaubte, daß der Ohrring aller Wahrscheinlichkeit nach wertvoll war und von Rechts wegen zum Nachlaß gehörte. Wie die meisten Frauen, denen der Reichtum nicht in die Wiege gelegt worden war, hatte sich Myrra nicht mit billigem Tinnef umgeben. Auch wenn sich ihr Geschmack unerschütterlich an bekannten Namen orientierte, machte das ihre Besitztümer nicht weniger wertvoll. Ihr Schmuck war von Harry Winston, das Kristall von Steuben. 83
Aus der gesamten Geschichte der europäischen Malerei waren bei ihr lediglich Degas und Bosch zu finden, aber jedes einzelne Kunstwerk war ein unersetzliches Original, versehen mit einer Expertise, die es durchaus mit der FBI-Akte über Eldridge Cleaver hätte aufnehmen können. Zweifellos würde das alles irgend jemand erben. Der Anwalt würde wissen, wer. Und doch fühlte ich mich während der Fahrt im Lift unbehaglich. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, daß die Polizei längst davon überzeugt sein mußte, daß Myrras Tod nicht auf einen normalen Überfall zurückzuführen war. Sogar für mich lagen die Unstimmigkeiten auf der Hand. Eine Frau in Myrras Alter ging nicht nachts um drei mit ihrem Hund in den Park. Das war einfach lachhaft und obendrein nicht Myrras Art. Sie hatte immer in der Morgendämmerung gearbeitet. Seit nunmehr zwanzig Jahren war sie an jedem Abend ihres Lebens um elf Uhr ins Bett gegangen. Sie hatte ihre Gäste immer für sieben Uhr zum Abendessen eingeladen und um Viertel nach zehn ohne große Umstände hinauskomplimentiert. Warum hätte sie sich viereinhalb Stunden nach ihrer normalen Schlafensgehzeit in volle Montur werfen und zum Riverside Park wandern sollen? Ich blinzelte. Irgendwie mußte ich wohl den Lift verlassen haben, denn ich stand nun inmitten eines riesigen Fünfzigtausend-Dollar84
Perserteppichs. Die Frau hinter dem ausladenden Kirschbaum-Schreibtisch war sehr jung und sehr dünn und sehr gereizt. Ich nahm es ihr nicht übel. Es war Freitag. »Ich habe einen Termin bei Mr. Grandison«, erklärte ich. »Mein Name ist Pay McKenna.« »Gewiß.« Das hörte sich an, als wüßte sie nur allzu gut, wer ich war und um wieviele Minuten ich mich verspätet hatte. Da ich nie eine Armbanduhr trage, hatte ich selbst keine Ahnung. »Mr. Grandison telefoniert gerade«, sagte sie. »Nehmen Sie doch so lange Platz, er kommt gleich zu Ihnen.« Ich sah mir die Sitzmöbel an, überwiegend schwarze Ledersessel, die so gewienert waren, daß sie wie poliertes Ebenholz glänzten. Ich konnte mir kaum vorstellen, daß Esmeralda ihnen guttun würde, und sagte das auch. »Rein formal gesehen«, meinte das Mädchen, »dürften Sie überhaupt keinen Hund mit hierherbringen. Es sei denn, es wäre ein Blindenhund. Ist das ein Blindenhund?« »Nein, natürlich nicht.« »Das dachte ich mir.« »Sie gehört zu den Sachen, die ich Mr. Grandison aushändigen will. Sie war Eigentum einer seiner Klientinnen.« An ihrem Telefon blinkte ein Lämpchen auf, und sie wandte sich ab, um den Hörer abzunehmen. 85
»Ein Hund«, bemerkte sie. »In einem Tragekorb.« Für einen Moment herrschte Stille. Ihre Nase zuckte ein paar Mal wie die eines Kaninchens. »Selbstverständlich«, sagte sie schließlich. »Selbstverständlich. Sofort.« Sie stand auf und schenkte mir jenes Lächeln, mit dem Sekretärinnen den Beginn einer lebenslangen Feindschaft zu signalisieren verstehen. »Wenn Sie bitte mitkommen würden.« Sie führte mich aus dem Empfangsbüro hinaus auf einen langen Flur mit vielen KirschholzTüren, auf denen jeweils ein einzelnes Namensschild aus Messing prangte. Die Namen auf den Türschildern tönten wie aus einer angelsächsischprotestantischen Walhalla: Hewitt, Alden, Ingersoll, Winthrop, Whitney, Renfrew, Standish, Hayes. In dieser erlauchten Gesellschaft hörte sich McKenna ein wenig fremd an, und Weiss/Damereaux war schlicht undenkbar. Die Sekretärin blieb vor einer Tür mit »Grandison« auf der Messingplatte stehen und klopfte dezent an. Ich konnte zwar nichts hören, aber sie hatte bestimmt angeklopft, denn sie drehte den Knauf und steckte den Kopf zur Tür hinein. »Mr. Grandison? Ich habe hier Miss McKenna.« Gemurmel. Wie umständlich mochte sich dieses Ritual wohl noch gestalten? Würden wir noch in einer Woche hier stehen und unsichtbare Bücklinge vor 86
einer Festung aus Kirschholz und Messing machen? Plötzlich trat sie zur Seite und stieß die Tür weit auf. Hinter einem Schreibtisch, der viel zu groß für ihn war, thronte ein sehr kleiner und sehr fetter Mann. Er erhob sich mit ausgestreckten wurstfingrigen Händen und einem dick aufgetragenen, nervösen Lächeln, um mich zu begrüßen. Dicke Lippen, dicker Wanst und Triefaugen, registrierte ich. Diesen Mann hatte Myrra ganz bestimmt gehaßt. Obwohl sie sich nie dazu äußern wollte, ob eine ihrer Freundinnen nun hübsch oder eher unscheinbar war, hatte sie, was Männer anbetraf, eiserne Maßstäbe gehabt. »Miss McKenna.« Grandison rang sich ein strahlendes Lächeln ab. »Setzen Sie sich doch. Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Nachmittag.« Ich nickte. Darauf wußte ich nichts zu sagen. Er ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder, wo er wie ein machthungriger, leicht psychotischer Gnom aussah. »Wen haben wir denn da?« säuselte er. »Haben Sie etwa Miss De Fords Hund gefunden?« Ich brauchte eine volle Minute, bis mir einfiel, daß Myrras richtiger Name Susan Marie De Ford gewesen war, und ich mir sicher sein konnte, daß ich nicht am falschen Ort gelandet war und mit einem Mann redete, der kein Wort verstand. Ich stellte Esmeraldas Korb auf den Schreibtisch und öffnete ihn. Esmeralda zitterte vor Panik und 87
schnappte zweimal nach mir, bis es mir endlich gelang, sie auf Mr. Grandisons Schreibunterlage abzusetzen. »Den Hund und den Ohrring«, berichtete ich. »Ehrlich gesagt hat mich der Ohrring mehr beschäftigt als der Hund.« Ich sagte ihm nicht, daß ich durchaus in der Lage gewesen wäre, den Hund zu versorgen. Ich ließ die Hand über Esmeraldas Halsband gleiten und öffnete den Verschluß des Ohrrings. Das war nicht einfach. Der Haken hatte sich im Fell des Cockerspaniels verfangen, und die Edelsteine hingen in den Vertiefungen an der Schnalle. Schließlich legte ich die Birne aus Rubinen und Diamanten vor Mr. Grandison auf den Schreibtisch. Er warf nicht einmal einen Blick darauf. »Natürlich kann ich zum jetzigen Zeitpunkt zum Inhalt des Testamentes keine Auskunft geben.« »Das macht nichts«, erwiderte ich. »Ich warte bis Montag. Ich möchte aber mit Ihnen über –« »Eins kann ich Ihnen heute schon sagen – es ist ein sehr weit zurückliegendes Testament.« Grandison unterbrach mich. »Vor nahezu vier Jahren verfaßt. Es sah Miss De Ford so gar nicht ähnlich, vier Jahre verstreichen zu lassen, ohne ein neues Testament aufzusetzen.« »Ich weiß. Sie konnte nicht einmal einen Mo88
nat abwarten, ohne eine neue Beerdigungszeremonie zu entwerfen. Nein, Mr. Grandison, es geht mir nur um diesen Ohrring –« »Es ist ein höchst ungewöhnliches Testament«, erklärte Grandison gedankenverloren. Er starrte zur Decke. Weder der Ohrring schien ihn zu interessieren noch Esmeralda, die sich anschickte, seine Schreibtischauflage aus Filz für alle Zeiten mit ihrem Markenzeichen zu versehen. »Selbstverständlich hat sie ihre eigenen Angehörigen nicht benachteiligt. Miss De Ford besaß einen ausgeprägten Familiensinn. Immer noch der beste Beweis für eine gute Kinderstube, meinen Sie nicht auch?« Offenbar wartete er auf meine Antwort. »Gewiß«, sagte ich. Myrra war die Tochter eines ungelernten Handlangers und der Ex-Frau eines Hafenarbeiters gewesen, aber das wollte Grandison bestimmt nicht wissen. »Sie besaß auch ein ausgeprägtes Pflichtbewußtsein«, fuhr er fort. »Sie engagierte sich für alle möglichen Probleme. Für recht unterschiedliche Probleme, wenn ich das mal sagen darf. Und dann ihr ausgeprägter Sinn für Aufrichtigkeit. In geschäftlichen Dingen legte sie in punkto Ehrlichkeit höchste Maßstäbe an. Wenn ich daran denke, wie diese bemerkenswerte Frau zur Furie werden konnte, wenn sie auch nur die kleinste geschäftliche Indiskretion witterte –« »Mr. Grandison.« Ich war fest entschlossen, 89
das Gespräch wieder auf die Gegenwart zu lenken. »Was den Hund anbelangt –« »Habe ich Ihnen das nicht schon genauestens erklärt? In der Angelegenheit kann ich Ihnen einfach nicht helfen. Das Verfahren einer Testamentseröffnung ist seit Jahrhunderten festgelegt. Ich kann Ihnen den Inhalt von Miss De Fords letztem Willen nicht vor Montag offenlegen.« »Mr. Grandison. Bitte. Im Augenblick will ich wirklich nicht wissen, was in Myrras Testament steht.« Er sah mich fassungslos an. »Aber das verstehe ich nicht. Was wollen Sie denn?« Ich nahm den Ohrring vom Schreibtisch und vergaß dabei nicht, Esmeralda mal eben zu streicheln. Sie sah nicht mehr so aus, als wäre sie in Panik, wirkte aber immer noch sehr verloren. »Dieser Ohrring hat Myrra gehört, jetzt muß sich doch jemand darum kümmern«, beharrte ich. »Und dieser Hund. Wissen Sie irgend etwas über die näheren Umstände bei Myrras Tod? Was ist damals mit dem Hund passiert?« »Ich verstehe das nicht«, entgegnete Mr. Grandison. »Warum machen Sie sich Sorgen um einen Hund?« »Ich mache mir Sorgen um das, was diesem Hund widerfahren ist in der Nacht, in der Myrra starb. Und ich dachte, der Ohrring wäre womöglich sehr wertvoll. So wie Myrras anderer Schmuck.« 90
»Wollen Sie damit sagen, Sie sind gar nicht wegen der Wohnung gekommen?« fragte Mr. Grandison. »Sie wollen die Bedingungen gar nicht wissen, die Sie zu erfüllen haben, bevor Sie in Miss De Fords Apartment einziehen können?«
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8 »Noch einmal«, forderte mich Martinez auf. »Fangen Sie nochmal von vorn an.« Seufzend schloß ich die Augen und versuchte, den Raum mit den hellen kahlen Betonwänden zu vergessen. Seit vier Stunden war ich nun schon in Martinez’ Büro. Es war nach elf. Zum Abendessen war ich auch nicht gekommen. Ich wollte nichts anderes mehr als nach Hause fahren und mich in Bett legen, aber nicht einmal das war möglich. Die Polizei hatte mein Apartment versiegelt. »In der Nacht zum zweiten Dezember war ich gerade mitten in einem Marathon«, wiederholte ich. »Das heißt, daß ich einen ganzen Roman in fünf oder sechs Tagen schreiben mußte. Es war der letzte Tag meines damaligen Marathons. Ich bin so gegen zehn oder halb elf aufgestanden, habe mir eine Tasse Kaffee gekocht und mich an die Schreibmaschine gesetzt. Bis zum Morgengrauen habe ich durchgearbeitet, dann bin ich schlafen gegangen.« »Sie waren die ganze Zeit allein?« »Selbstverständlich. Beim Schreiben kann ich keinen Menschen um mich herum ertragen. Allein schon das Atmen eines anderen würde mir auf die Nerven gehen.« »Hat Sie jemand angerufen?« erkundigte sich Martinez. »Hat Sie jemand besucht?« »Hätte jemand angerufen, wäre er mit dem 92
Anrufbeantworter verbunden gewesen. Möglicherweise hat es jemand versucht. Hätte jemand geklingelt, hätte ich nicht aufgemacht. Aber es hat niemand geklingelt. Die ganzen fünf Tage nicht.« Martinez seufzte. »Ist es Ihnen denn nicht möglich, irgendwas von dem, was Sie mir da erzählen, zu beweisen?« »Wenn Sie gesehen hätten, wieviel ich in dieser Woche – was heißt Woche, den ganzen Monat in der Zeit vom zweiten November bis zum zweiten Dezember – zusammengeschrieben habe, würden selbst Sie den Verdacht absurd finden, daß ich in der Gegend herumgelaufen sein und Leute ermordet haben sollte. Offenbar geht es nicht in Ihren Kopf, daß ich zum Jahresende immer die meiste Arbeit habe. Mehr als die Hälfte der Artikel, die ich im Jahr schreibe, fallen in die Zeit von Mitte September bis Weihnachten. In den letzten drei Monaten habe ich zwei Liebesromane geschrieben, drei umfangreichere Artikel für amerikanische Zeitschriften und nicht weniger als fünfzehn Ratgeber-Kolumnen über alles mögliche – angefangen beim Einrichten eines Girokontos bis zu den Auswahlkriterien für einen Neurochirurgen. Ich hätte überhaupt keine Zeit gehabt, jemanden umzubringen.« »Ich glaube kaum, daß Sie damit durchkommen«, meinte Martinez. »Sie wollen sagen, Sie hätten Myrra Agenworth nicht getötet, weil Sie zu beschäftigt waren?« 93
»Ach, zum Teufel.« Ich holte Camille aus meiner Handtasche und ließ sie auf Martinez Schreibtisch herumspielen. »Fragen Sie doch Barbara. Vielleicht hat sie mich tippen gehört.« »Vielleicht. Gehen wir noch einmal die vergangene Nacht durch.« Um ein Haar wäre ich aus der Haut gefahren. »Das haben wir doch bereits sechsmal getan! Sie haben die Zeugenaussage des Taxifahrers. Phoebe hat ausgesagt. Sogar Sie haben behauptet, daß es von der Zeit her nicht möglich war.« »Ich habe gesagt, die Zeit war knapp.« »Nach Ihren eigenen Berechnungen hatte ich genau sechs Minuten Zeit zwischen dem Verlassen des Taxis vor dem Haus und dem Augenblick, in dem ich Carlos aufweckte, damit er mir beim Offnen der Tür half. In diesen sechs Minuten hätte ich mein Apartment betreten, neunmal auf eine kerngesunde Frau einstechen sollen, ohne daß irgend jemand etwas gehört hätte, die Wohnung wieder verlassen, es fertigbringen, die Tür von außen zu verriegeln, Carlos zu holen und die gekränkte Unschuld vom Land zu spielen. Hören Sie doch auf!« Martinez starrte an die Decke. Das Kätzchen fing an, sich an seiner Krawatte hochzuhangeln. »Ohrringe«, sagte er. »Lassen Sie uns über Ohrringe reden.« 94
»Was für Ohrringe?« fragte Phoebe. »Wessen Ohrringe?« »Myrras.« Ich lehnte mich zurück, damit der pensionsreife griechische Kellner einen Teller mit Shish Kebab auf den weißen Plastiktisch stellen konnte. Es war nach Mitternacht. Das Trio war das einzige Restaurant in der Gegend, in dem man um diese Zeit noch etwas Anständiges zu essen bekam. Im Trio bekam man immer Abendessen, Frühstück und Mittagessen, vierundzwanzig Stunden am Tag, an sieben Tagen in der Woche. Auf dem Fußboden lag schäbiges Linoleum, und die Tische hatten Aluminiumkanten, es gab eine altmodische Getränketheke an der Wand. Aber das Essen war heiß und gut und reichlich. Ich zog dieses Restaurant allen noblen Glas- und Chromtempeln der Gastronomie vor, die im vergangenen Jahr auf der Columbus Avenue eröffnet hatten. Allerdings hatte ich etwas Mitleid mit den Kellnern. Sie gingen anscheinend nie nach Hause. Es drängte mich heftig danach, mich bei Phoebes Freund, dem Anwalt, zu erkundigen, ob Griechen überhaupt jemals schliefen. Phoebes Freund, der Anwalt, hieß Nicholas George Carras. Er hatte überaus dichtes, pechschwarzes Haar in einer Länge, die zu Kennedys Zeiten als liberal gegolten hätte, blaue Augen und ein Gesicht wie aus den erotischen Phantasien einer Liebesromanheldin sowie lange, feingliedrige Finger, wie man sie gemeinhin nur mit Safe95
Knackern in Verbindung brachte. Außerdem war er der größte Mann, den ich jemals außerhalb des Profi-Basketballs gesehen hatte. Tatsächlich war er sogar größer als etliche Profi-Basketballspieler. Wenn ich in Gedanken nicht so damit beschäftigt gewesen wäre, mir genüßlich den Mord an Detective Martinez auszumalen, wäre ich jetzt Phoebe an den Hals gegangen. »Myrras Ohrringe fehlten, als die Leiche gefunden wurde.« Ich schrie fast, weil ich Nicks Konversation (auf griechisch) mit dem Kellner an Lautstärke übertreffen wollte. »Genauso wie die Kette. Dieses Ding mit den Rubinen.« »Ursprünglich sollte der Schmuck auf der Tagung zur Schau gestellt werden«, berichtete Phoebe. »In einer gläsernen Vitrine. Juwelen der Liebe.« »Juwelen der Liebe!« Ich vergrub den Kopf in den Händen. Fang ganz von vorne an, befahl ich mir. Nichts paßt mehr zusammen. Das Kätzchen hockte ganz unten in meiner Tasche und zerfetzte eine American Express Quittung. Zwei Menschen waren tot. Phoebe hatte einen Anwalt angeheuert, allerdings in erster Linie mit dem Ziel, mich unter die Haube zu bringen. Die Polizei hatte Myrras Hund dabehalten, wahrscheinlich zur Vivisektion. Als ich den Kopf hob, begegnete ich dem Blick von Nick Carras. Im Augenblick sah Nick aus96
gesprochen klug aus. Er hatte die Augen eines Mannes, der sich selbst nur allzugut kennt. Er war ein angenehmer Gesprächspartner, auch wenn es hart zur Sache ging und er unangenehme Dinge zu hören bekam. Wir lächelten uns zu. Beide wußten wir genau, daß wir einander aus eher oberflächlichen, pragmatischen Gründen anziehend fanden. Er maß mindestens zwei Meter, und ich mochte Männer, die so groß waren, daß ich mir klein vorkam. Ich war die intellektuelle Tochter einer begüterten WASP-Familie aus dem Fairfield County, und irgendwie wünscht sich offenbar jeder Italo-, Deutsch- und sonstiger Bindestrich-Amerikaner auf dem Weg nach oben eine wie mich zur Frau. Die meisten können eine New England-Hochschulabsolventin nicht von der anderen unterscheiden. Sie gehen auch nicht mit einer Frau ins Bett, sondern mit ihrem Traum vom gesellschaftlichen Aufstieg, und fühlen sich am Ende frustriert und von ihren eigenen Kindern verraten. Aber von dieser Sorte schien mir Nick Carras nicht zu sein. Langsam wurde er mir richtig sympathisch. »Eines verstehe ich nicht«, begann er. »Warum glaubt die Polizei, daß du diese Agenworth umgebracht hast? Was die Simms betrifft kann ich es ja noch verstehen.« »Ich dachte, man hätte Myrra überfallen«, warf Phoebe gereizt dazwischen. »Das Apartment und die Ohrringe.« Ich sah 97
Nick Carras noch immer in die Augen. Es ist erstaunlich, wieviel Zeit man damit verbringen kann, jemandem in die Augen zu sehen, besonders, wenn es sich um tiefblaue, hellwache und sehr intelligente Augen handelt. »Myrra wollte mich in ihrem Testament mit einer Kleinigkeit bedenken. Zwölf Zimmer im Braedenvorst mit Dienstbotentrakt einschließlich des gesamten Inventars zum Zeitpunkt ihres Todes.« »Himmel!« rief Phoebe aus. »Das Apartment!« »Zwölf Zimmer im Braedenvorst. So was ist seine zwei bis drei Millionen Dollar wert.« Nick sah aus wie vom Donner gerührt. Offensichtlich war seine Phantasie von einer imaginären reichen Zukünftigen auf eine äußerst reale Erbin geprallt. Ich konnte nicht anders, ich mußte dem noch eins draufsetzen. »Und dann noch diese vielen Gemälde. Und der ganze Schmuck, den Myrra überall herumliegen ließ. Vier Degas. Originale. Die herzförmige Badewanne. Und nicht zu vergessen – der Inhalt ihrer Papierkörbe.« »Schön.« Nick hatte den Schock überwunden, aber er hatte Mühe, alles auf die Reihe zu bringen. Mir ging es nicht anders, aber im Gegensatz zu ihm war ich daran gewöhnt. Es ist unmöglich, längere Zeit unter Liebesroman-Autorinnen zu leben, ohne daraus die Lehre ziehen zu müssen, daß hinter allem im Leben der blanke Wahnsinn steckt. Für Nick Carras war alles auf der Welt rational 98
und logisch erklärbar. Das versuchte er auch jetzt. »Schön«, wiederholte er. »Du und diese Myrra Agenworth, ihr wart also gute Freundinnen.« »So würde ich es nicht nennen.« Ich schüttelte den Kopf. An dem Punkt wurde es schwierig. »Für mich war sie eine Freundin, aber ich war es nicht für sie. Nicht wirklich. Sie adoptierte junge Frauen, die schrieben. Und ich war eine davon.« »Junge Liebesroman-Autorinnen.« »Nein! Ich bin eigentlich keine RomanceAutorin. Ich habe mit Recherchen und feministischen Artikeln für die alternative Presse angefangen. Nach und nach bin ich bei einigen Hochglanzmagazinen eingestiegen. Von alldem läßt sich nicht mal die Miete bezahlen. Von Liebesromanen schon. Myrra vermittelte mich in die Branche, dasselbe tat sie mit einer Menge anderer Frauen. Jede zweite Radikalfeministin in Manhattan schreibt mittlerweile nebenher Liebesromane.« »Und vertuscht es.« Phoebe rümpfte die Nase. Das war der einzige Ausdruck von Verachtung, den ich an ihr kannte. »Sie schreiben jedes Jahr vier Bücher für eine von den Reihen, und dann laufen sie durch die Gegend und verkünden, wie scheußlich das alles ist und daß etwas dagegen getan werden müßte, daß Liebesromane so viel Platz in den Buchhandlungen einnehmen. Caroline Hesse ist nicht mal zur Beerdigung aufgetaucht.« »Caroline Hesse hat doch den Pulitzerpreis für 99
Journalismus bekommen«, protestierte Nick. »Für seriösen Zeitungsjournalismus!« »Caroline Hesse schreibt als Maura Sands für die Reihe Passion Romance bei Acme«, erklärte Phoebe. »Keine von denen war auf der Beerdigung. Dabei hätten sie zu Dutzenden da sein müssen.« Nick wandte sich an mich. »Du warst aber da. Also hast du ihr doch näher gestanden als die anderen.« »Weiß nicht.« Ich schob eine gegrillte grüne Pepperoni auf dem Teller hin und her. »Ich glaube, ich mochte sie wirklich. Ich habe nicht nur von ihr profitiert, wie viele Leute um sie herum, wenn ihr mich fragt. Und ich schäme mich nicht für meine Fires of Love-Romane. Sie sind schwachsinnig, weil die Maßstäbe des Genres, so wie es im Moment ist, nur Schwachsinniges zulassen, andererseits gehören sie nicht zu den schlechtesten ihrer Gattung. Schön, ich kann mir nicht leisten, daß alle Welt weiß, was ich da schreibe, aber der Grund dafür ist nicht, daß ich mich schäme.« »Gewisse andere Leute hätten wenig Verständnis dafür«, meinte Nick. »Gewisse andere Leute finden, es ist die Ausgeburt der Hölle.« Ich zuckte die Achseln. »Myrra fand dich wunderbar«, stellte Phoebe fest. »Sie hielt dich für ein Genie.« »Na, wenn sie das dachte, habe ich jedenfalls nie etwas davon mitgekriegt.« 100
»Wenn sie das dachte, haben es vermutlich alle anderen mitgekriegt, nur du nicht.« Nick richtete sich auf seinem Stuhl auf. Er hatte sich gefaßt und strahlte wieder Zielstrebigkeit und Selbstvertrauen aus. Ich fragte mich, wie er es wohl hingekriegt hatte, meine Welt für sich begreiflich zu machen – und ob es mir helfen oder mich verletzen würde. »Nun gut, die Polizei hat ein Motiv«, räumte er ein. »Aber es braucht mehr als ein Motiv.« »Martinez hat mehr als ein Motiv«, sagte ich. »Er hat die Ohrringe.« Ich hob den Blick zur De ke. Es war nicht Zeit und Stunde, in tiefblauen Augen zu versinken. Die Dinge lagen viel schlimmer, als Phoebe oder Nick wissen konnten, viel schlimmer, als ich selbst jemals gedacht hätte. Jedesmal, wenn ich an das letzte Verhör bei Martinez dachte, hatte ich das Gefühl, mir würde eine Motorsäge an die Kehle gesetzt. »In der Nacht, in der sie umgebracht wurde, trug Myrra ein Paar Rubinohrringe und eine Rubinkette«, fuhr ich fort. »Als die Leiche gefunden wurde, war der Schmuck weg. Wie schon gesagt – einen Ohrring habe ich im Tierheim an Esmeraldas Halsband entdeckt. Ich bin die einzige, die ihn da überhaupt gesehen hat. Der andere Ohrring – sie haben den anderen Ohrring in Julies Handtasche gefunden, nachdem sie ermordet wurde. Sie lag gleich neben ihr auf dem Boden meines Apartments.« 101
Die beiden starrten mich erschrocken an. Ich lächelte schwach und muß dabei ausgesehen haben wie eine Seekranke, mit der es zu Ende geht. »Wir wissen doch alle, was Martinez denkt«, sagte ich. »Julie wußte etwas über Myrras Tod. Julie versuchte, mich zu erpressen. Vielleicht wollte sie mich auch nur zur Rede stellen. Julie wurde ermordet aufgefunden. In meiner Wohnung.«
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9 »Dein Bild ist in der Post«, verkündete Daniel. »Hast du das gesehen? Ausgerechnet in der Post! Du liebe Zeit.« Ich klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr, streckte den Arm quer über das Bett und versuchte, Camille meine Zigaretten abzunehmen. Wir lieferten uns ein kurzes Gefecht. Sie hatte meine Zigaretten stibitzt und machte sich damit auf den langen Marsch Richtung Handtasche. Meine Anstrengungen, in den Genuß auch nur einer einzigen Zigarette zu kommen, gefielen ihr ganz und gar nicht. »Hörst du mir überhaupt zu?« insistierte Daniel. »Warum sagst du nichts? Ich habe dir gerade erzählt, daß dein Bild in der gottverdammten New York Post ist.« Ich seufzte. »Seit wann liest du denn die Post? Ich dachte, es wäre dir schon peinlich, damit nur gesehen zu werden.« »Ich habe rein zufällig die Titelseite gesehen. Die sehe ich zwangsläufig jedesmal, wenn ich an einem Zeitungsstand vorbeikomme.« Endlich erwischte ich eine Zigarette und zündete sie an. »Schön. Du hast also mein Gesicht auf der Titelseite der New York Post gesehen, als du an einem Zeitungsstand vorbeigekommen bist. Na und? Halb Manhattan hat mein Gesicht an den Zeitungsständen gesehen.« 103
»Das ist es doch gerade.« Daniel stöhnte. »Patience, in drei Tagen fällt die Entscheidung über meine Partnerschaft.« »Ich dachte immer, so etwas wäre geheim. Ich hätte nie geglaubt, daß sie dich informieren, wenn –« »Natürlich sagt man dir nichts. Aber man hat doch Ohren. Nach nunmehr acht Jahren habe ich so meine Verbindungen.« »Das kann ich mir denken.« »Und noch was, Patience. Letztes Jahr habe ich dich auf die Dinnerparty meiner Kanzlei mitgenommen. Man kennt dich. Was ich damit sagen will ist, jeder hat dich gesehen, und wer dich einmal gesehen hat – also, Patience, so wie du aussiehst, du fällst schon auf. Ich finde, du mußt jetzt etwas unternehmen.« Eigentlich hätte ich Mitleid mit ihm haben müssen. Wenn auch nur deshalb, weil ich in den letzten Jahren viel Zeit dafür investiert hatte, Daniels großen Traum von der Sozietät, seine Hoffnungen und Ängste zu hegen und zu pflegen. Mein Herz sollte jetzt für ihn bluten. Aber das tat es nicht. »Hör zu. Es tut mir aufrichtig leid, daß du wegen mir in diese peinliche Situation geraten bist.« War das wirklich ich, die da sprach? »Ich hoffe, das mit der Partnerschaft klappt. Aber ich wüßte einfach nicht, was ich für dich tun könnte, Daniel.« 104
»Willst du mir weismachen, du kannst der Polizei nicht sagen, wo du gesteckt hast, als diese Frau getötet wurde? Oder soll das heißen, sie haben Gründe für ihren Verdacht?« »Keiner weiß, wann genau diese Frau getötet wurde, wie du es auszudrücken beliebst. Wie soll ich sie davon überzeugen, daß ich nicht dabeigewesen sein kann?« »Oh, mein Gott! Also doch. Du warst da! Die Sache kommt vor Gericht.« »Irgendwann, irgendwie kommt diese Geschichte bestimmt vor Gericht.« Ich konnte ihm nur beipflichten. »Oh, mein Gott«, wiederholte Daniel. Dann hängte er ein. Ich legte den Hörer auf und sah mich in dem großen neumodisch-barocken Schlafzimmer nach meinem Morgenmantel um. Das Schlafzimmer gehörte zu einer Suite im Cathay-Pierce. Für die Tagung mietete Phoebe immer eine Suite im Cathay-Pierce, obwohl ihr Apartment gleich gegenüber vom Park lag. Sie wollte »allzeit bereit sein für Geschäftstermine«, im Klartext hieß das für die Partys. Ich hatte den Morgenmantel erspäht und wollte gerade aufstehen. Da klingelte wieder das Telefon. »Phoebe?« Die Frau am anderen Ende der Leitung sprach mit starkem Akzent. »Phoebe ist nebenan«, erklärte ich. »Einen Moment. Ich hole sie.« 105
»Sie sagen es Nick. Er hat das Haus verlassen und hat seine Pillen nicht genommen. Die orangenen. Sie sagen es ihm.« Der Hörer wurde aufgelegt. Ich zog den Morgenmantel an, packte Camille in die Tasche und ging nach nebenan in das Wohnzimmer der Suite. Nick und Phoebe saßen nebeneinander auf der Couch und schauten drein, als wäre gerade der Atomkrieg ausgebrochen. Ich nahm mir einen Käsekrapfen vom Frühstückstablett und setzte mich auf den Boden. »Du hast deine orangenen Pillen vergessen«, sagte ich zu Nick. »Eine Frau hat gerade angerufen. Ich soll dich daran erinnern.« »Vitamin C. Das war meine Mutter. Sie ist aus New Jersey zu Besuch hier.« Ich setzte Camille auf den Boden und ließ sie spielen. »Daniel denkt allen Ernstes, ich hätte es getan«, berichtete ich Phoebe. »Da kennt er mich nun seit drei Jahren und glaubt, ich hätte den Mord begangen.« »Welchen?« fragte Nick. »Beide, nehme ich an. Gesprochen haben wir nur über Julie.« »Daniel Harte!« Phoebe schnaubte gereizt. »Daniel Harte traut dir alles zu. Weshalb hat er denn angerufen? Hat er etwa Angst, du könntest seiner Karriere schaden?« »So was Ähnliches.« Ich legte mich auf den 106
Boden und ließ Camille auf meinen Bauch klettern. Sie fing an, sich an meine Taschen heranzupirschen. »So wie die Dinge liegen, ist Martinez von der Idee, ich hätte zwei Menschen ermordet, nur abzubringen, indem wir rauskriegen, wer es getan hat.« Ich gab mir Mühe, so überzeugend wie möglich zu klingen. »Ich will damit sagen –« »An so etwas darfst du nicht einmal denken.« Nick stand von der Couch auf und begann, mit schlaksigen, ungelenken Schritten durchs Zimmer zu wandern. »Das habe ich alles schon hinter mir. Immerhin habe ich für Nader gearbeitet. Weißt du, was passiert, wenn die Beteiligten in einem Fall anfangen, auf eigene Faust nachzuforschen? Sie geraten nur noch tiefer in den Schlamassel. Immer sind sie zur falschen Zeit am falschen Ort. Sieh doch nur mal, was aus deinem Ausflug zum Tierheim geworden ist.« »Ich bin doch nicht zum Tierheim gefahren, um Nachforschungen anzustellen«, erwiderte ich. »Ich wollte mir nur eine Katze holen.« Ich setzte mich auf. »Hast du wirklich bei Nader gearbeitet? Wie beeindruckend.« »Im Washingtoner Büro«, sagte Nick. »Drei Jahre. Wenn du mich fragst, du hast die Gabe, immer zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort zu sein. Es fehlt nur noch, daß du in einen neuen Mordfall hineinschlitterst oder das Messer findest –« »Außerdem habe ich all diese Bücher in deiner Tasche gesehen«, meldete sich Phoebe. »Im rich107
tigen Leben gibt es keinen Hercule Poirot. Du wirst diesen Fall nicht lösen können, indem du die gesammelten Werke von Arthur Conan Doyle liest.« »Dorothy L. Sayers.« Mir fielen die Haare ins Gesicht, und ich steckte sie an einer Seite fest. »Ich wollte mich einfach nur mit der Materie vertraut machen. Und ihr müßt zugeben, daß dieser Fall hier von Agatha Christie sein könnte. Außerdem könnte mich Martinez, wenn er wollte, wahrscheinlich auf der Stelle verhaften lassen. Keine Ahnung, worauf er noch wartet.« »Er wartet nicht.« Nick beugte sich vor und stieß mir sein Gesicht entgegen. In seinen blauen Augen entdeckte ich dunkle Flecken, aber keine Illusionen. Für ihn war die Situation eine Realität, der man weder ausweichen konnte noch sollte. Irgendwie nahm ich ihm das übel. Es war einfacher für mich, mich als Heldin eines DreißigerJahre-Krimis zu sehen, wo alle Ereignisse von vornherein darauf angelegt waren, den wirklichen Mörder zu entlarven. Ich betrachtete sein nüchternes Strategiengewälze mit Widerwillen. Er fuhr fort: »Mein Freund bei der Bezirksstaatsanwaltschaft meint, daß du schon sehr bald eine Vorladung bei der Grand Jury bekommen wirst.« »Wie reizend.« »Und beim augenblicklichen Stand der Dinge –« Nick setzte sich wieder neben Phoebe auf die Couch. »Beim augenblicklichen Stand der Dinge 108
wird man gegen dich Anklage erheben, und du kommst vor Gericht. Du kannst es dir nicht leisten, an dem Fall herumzupfuschen.« »Ich kann es mir nicht leisten, es nicht zu tun.« Jetzt war ich an der Reihe aufzuspringen und herumzulaufen. Camille hüpfte in meiner Tasche auf und ab wie ein Känguruhbaby. »Kapiert ihr das denn nicht? Die ganze Sache ist absurd! Straßenräuber, die wertvolle Ohrringe wieder rausrücken! Verschlossene Räume! Hunde, die am Tierheim angebunden werden. Und was hatte Julie überhaupt in meinem Apartment zu suchen? Könnt ihr mir das sagen? Sie war vorher noch nie in meiner Wohnung. Ich glaube, sie kannte nicht einmal meine Adresse.« »Das ist unser schlagendstes Argument.« Nicks Stimme klang auf einmal ganz lebhaft und professionell. »Wie wurde die Tür verschlossen? Wenn wir die Jury dazu bringen, sich darüber Gedanken zu machen, darüber, wie diese Tür verschlossen wurde –« »Nicht wie!« wandte ich ein. »Warum. Warum um alles in der Welt dieser Aufwand? Ich meine, na schön. Jemand mag gewußt haben, daß Barbara einen Schlüssel hatte, und wollte vielleicht verhindern, daß sie die Tote entdeckt. Ich sollte die Leiche finden. Aber warum ausgerechnet ich? Warum wurde Julie nicht im Central Park getötet? Mein Apartment ist für so was doch nicht mal geeignet!« 109
»Kein schlechter Gedanke«, meinte Nick. »Wer wußte, daß diese Barbara einen Schlüssel zu deinem Apartment hatte?« »Halb Manhattan«, sagte Phoebe. »Sie erzählt immerzu die tollsten Barbara-Anekdoten.« »Und wie sind die überhaupt in mein Apartment reingekommen? Die Polizei behauptet, das Schloß sei nicht aufgebrochen gewesen. Schön, sie könnten sich irren, schließlich haben sie die Tür eingetreten, aber trotzdem.« Ich holte tief Luft. »Ich weiß, es hört sich verrückt an, aber allmählich glaube ich, jemand will mir etwas anhängen.« Ich betrachtete die beiden, wie sie da einträchtig nebeneinander auf der Couch saßen. Sie würden mir keine Hilfe sein. Vielleicht würde es mir gelingen, Phoebe in einem späteren Gespräch zu überzeugen, aber im Augenblick war ich auf mich gestellt. Ich zog den Gürtel an meinem Morgenmantel fester und wandte mich in Richtung Schlafzimmer. »Ich muß mich anziehen. Um halb elf muß ich zur Tagung.« »Augenblick noch.« Phoebe hielt mich zurück. So, wie die beiden sich ansahen, war irgend etwas äußerst Unangenehmes im Busch. Ich blieb in der Tür zum Schlafzimmer stehen. »Eigentlich wollte ich es dir nicht sagen«, fuhr Phoebe fort. »Aber Myrras Kette ist aufgetaucht, vermutlich die, die sie in der Mordnacht anhatte. 110
Sie kam heute morgen mit der Post, in einem einfachen braunen Umschlag, der an die Vorsitzende des Komitees ›Juwelen der Liebe‹ adressiert war. Soviel ich weiß, hat Amelia ihn aufgemacht.«
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10 Auf der Fahrt nach unten traf ich Hazel Ganz. Im ersten Moment hatte ich sie nicht bemerkt. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, mir in allen Einzelheiten auszumalen, wie Amelia Samson ihre Haussperlinge wie ein Geschwader winziger Flugsaurier ausgesandt hatte, damit sie ihre beste Freundin und ihre Agentin ermordeten. Hazel baute sich jedoch so vor mir auf, daß ich sie nicht übersehen konnte. »Sie bringen uns um«, erklärte sie mir. »Sie bringen uns alle um.« »Wer?« Ich nahm sie wörtlich. »Die Lektorinnen.« Hazel gestikulierte in Richtung Aufzugtür. »Die Verleger. Neunzig Neuerscheinungen monatlich in diesem Jahr. Hundertachtzig im nächsten. Wie lange, glaubst du, soll das noch so weitergehen?« »Nun ja«, entgegnete ich. »Seit zwei Jahren wird schon von Gesundschrumpfung in der Branche gemunkelt. Bis jetzt ist noch nichts passiert.« »Das ist nur eine Frage der Zeit. Was wird dann aus uns? Ich habe zwei Kinder. Sie sollen aufs College. Ich habe keine Lust, mich wieder um die Instrumentenschränke beim Kieferchirurgen Dr. Harold Shenshorn jagen zu lassen.« »Das kann ich dir nicht verdenken«, murmelte ich. 112
»Was weißt du denn schon? Hattest du es jemals nötig, als Zahnarzthelferin zu arbeiten? Natürlich nicht. Hast du dir jemals Sorgen darüber machen müssen, woher das Geld kommt? Mach dich nicht lächerlich. Sieh dich doch nur an.« Die Lifttüren öffneten sich im Erdgeschoß. »Fires of Love geht den Bach runter«, meinte Hazel Ganz. »Die Reihe ist einfach zu schlaff.« Ich wartete, bis sie gegenüber bei den Fahrstühlen zum West Tower verschwunden war. Dann ging ich quer durch die Lobby zu der gläsernen Anzeigetafel mit dem Tagungsprogramm, weiße Plastikbuchstaben auf schwarzem Grund. Ich fragte mich, ob ich allen Ernstes glauben sollte, daß Amelias spitzschnäbelige Sperlingsschar zwei Menschen ermordet hatte. Mir kam diese Möglichkeit so gut und so schlecht vor wie jede andere. Zwar hielt ich die Sperlinge für zu ängstlich, andererseits war Lydia Wentward zu zugeknallt, Janine Williams zu heikel, und Phoebe hatte ein felsenfestes Alibi (durch mich). Mary Allard käme noch in Frage, aber ich konnte die Frau nicht leiden. Eins hatte ich aus meiner intensiven nächtlichen Lektüre von Alibi gelernt, daß nämlich diejenige Person am allerwenigsten als Mörder in Frage kam, die einem am unsympathischsten war. Ich hatte gerade den Sitzungsraum der Jury für Charlotte/Erstling (was übersetzt bedeutet, Verleihung des Charlotte-Brontë-Preises und Ver113
leihung der Trophäe für den besten Erstlingsroman der Kategorie Romance) gefunden, da spürte ich, wie mir jemand auf die Schulter klopfte. Hinter mir hörte ich eine Art schrill-heiseres Todesröcheln. Ich drehte mich um und blickte in die Gesichter von zwei Gestalten, die aussahen, als seien sie geradewegs aus dem Film Pink Flamingos entlaufen. Die eine war lang, die andere kurz. Die Lange war spindeldürr und hatte tintenschwarz gefärbtes, stacheliges Haar, das ihr bis zur Schulter reichte, und ein totenbleich geschminktes Gesicht mit knalligem Rot auf Wangen und Lippen. Die Kurze war kugelrund und hatte ihre strohblonden Haare in zwei winzige, wie Mauseohren abstehende Zöpfchen gequält. Alle beide lächelten mich an. »Sind Sie Jeri Andrews?« erkundigte sich die Lange. Ihr Kopf wackelte bedrohlich hin und her, so als säße er nur locker auf dem Hals. »Ich bin sowohl Jeri Andrews als auch Andrea Nicholas.« Ich brachte tatsächlich ein Lächeln zustande. Wenn es ein Gebot im Liebesromangeschäft gibt, dann dies: DU SOLLST DEINE FANS EHREN! Alle Autorinnen befolgen es – ausnahmslos. Die Lektorinnen biedern sich an und machen die zukünftige Richtung ihrer Serien von der Meinung ihrer Leserinnenschaft abhängig. Die Marketing-Direktoren schmeißen LeserinnenPartys in obskuren Städten, Sekt und Anwesen114
heit der Autorinnen inbegriffen. Die Autorinnen erlauben zähneknirschend der Romantic Times, Details aus ihrem Privatleben zu veröffentlichen. Bei den Liebesromanen gibt es weder eine Emily Dickinson noch einen Thomas Pynchons. So etwas würden die Fans nie hinnehmen. Die beiden hier waren nicht nur Fans, sie waren auch Aspirantinnen. Beide trugen blaue, herzförmige Abzeichen mit dem Aufdruck »Schriftstellerin«. So beliebt der Verband Amerikanischer Liebesroman-Autorinnen diejenigen zu bezeichnen, die noch nichts veröffentlicht haben. Die anderen, die schon Romane herausgebracht haben, werden »Autorinnen« genannt. »Das haben wir uns gedacht«, sagte die Lange. Sie starrte mich an wie Lydia, wenn sie sich die Nase zu stark von innen gepudert hat, aber ich nahm nicht an, daß diese Frau ein Drogenproblem hatte. Viel mehr verwirrte mich die Vorstellung, daß sie von Natur aus so unkoordiniert war. Es half mir auch nicht, daß sie in einer weißen Kreation aus Bändern und Schleifen steckte und im Haar eine weiße Rose trug mit einem Stiel, der lang genug war, daß sie bequem daran kauen konnte. »Es ist wegen Miss Simms«, erklärte die Kurze. »Die Agentin, ja? Die gestorben ist, ja?« Sie langte in ihre Handtasche, zog ein dickes, wattiertes Kuvert heraus und stieß es mir in die Magengegend. »Sie sagte, wir sollten Ihnen das hier geben. Sie nannte Sie –« 115
»Wer?« »Miss Simms«, antwortete die Große. »Sie wollte meine Agentin werden. Sie hat meinen Roman gelesen und fand ihn einfach umwerfend. Ich würde sehr klar und deutlich schreiben, hat sie gesagt. Immer, wenn meine Heldin etwas denkt, achte ich darauf, ›dachte sie‹ dazuzuschreiben.« »Letzten Mittwoch«, sagte die Kurze. »Wir sind zum Büro von Miss Simms gefahren, weil wir einige Unterlagen für Gamble abholen –« »Gamble Daere.« Die Große unterbrach sie. »Ich fand, das hat einen erlesenen Klang. Ich wollte keinen Allerweltsnamen.« »Es geht darum«, bemerkte die Kurze. »In dem Umschlag waren nämlich gar keine Unterlagen für Gamble. Und als wir ihn öffneten, fanden wir –« Ihre Wangen färbten sich zinnoberrot. »Wenn Sie mich fragen – na ja, es ist intim und persönlich und geht mich nichts an. Nehmen Sie es. Sie bat uns, es Ihnen zu geben.« »Aber darauf wäre man nie gekommen«, sagte Gamble Daere. »Da sieht man’s mal wieder –« »Wann hat Julie Sie gebeten, mir die Sachen zu geben?« erkundigte ich mich. »Sie ist am Donnerstag gestorben!« »Donnerstagnacht«, bestätigte die Kurze. »Wir haben am Donnerstagmorgen mit ihr telefoniert. Da wir im Norden wohnen –« »In Goshen«, fiel die Lange ein. 116
»Deshalb konnten wir auch nicht direkt zu ihr ins Büro kommen und ihr den Umschlag zurückgeben. Wir haben sie angerufen und gefragt, ob wir ihr die Sachen schicken sollen, aber das wollte sie auf keinen Fall. Also haben wir den Umschlag mit zum Begräbnis gebracht. Sie bat uns, nach Ihnen Ausschau zu halten. Wenn wir Sie auf der Beerdigung nicht finden würden, sollten wir nach einer riesigen, hellblonden Frau suchen, die höchstwahrscheinlich eine Hose tragen würde.« »Sie haben uns nicht reingelassen.« Die Lange schniefte. »Wir mußten auf der Treppe stehenbleiben, auch noch ziemlich weit unten. Da war eine endlose Schlange um den ganzen Block, und man hat uns einfach da draußen in der Kälte stehenlassen.« Die Kurze warf der Langen einen Blick voll erlittener Entbehrungen und Enttäuschungen zu. Dann rammte sie mir wieder den Umschlag in den Magen. »Sie nehmen das jetzt an sich. Wir sollten es Miss Simms geben oder Ihnen, damit Sie es ihr geben. Keine Ahnung, was Sie damit anfangen, jetzt, wo sie tot ist, aber ich will keine Sekunde länger dafür die Verantwortung tragen.« »Ich weiß auch nicht, was ich tun soll, jetzt, wo sie tot ist«, meinte die Lange. »Miss Simms gehörte zu den wenigen Frauen in den Verlagen, die sich nicht von persönlichen Vorurteilen leiten lassen, sondern ein Talent auch als solches erken117
nen.« Sie fixierte mich mit einem wissenden, finsteren Blick. »Hier stecken doch alle unter einer Decke«, verkündete sie unheilsschwanger. Die Kurze zog die Lange an dem bebänderten Ärmel. »Wir wollen Sie nicht länger aufhalten.« Sie versuchte, Gamble Daere nach hinten zu schieben. »Nehmen Sie das und machen Sie damit, was Sie für richtig halten.«
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11 »Du liebe Zeit«, sagte Janine. »Es tut mir leid. Ich hätte merken müssen, was vor sich geht. Aber ich war so mit dem Unsinn beschäftigt, den diese Allard von sich gibt, ich hätte ebensogut auf dem Mond sein können. Sie haben dich hoffentlich nicht fertiggemacht, Liebes.« Sie drückte auf den Knopf für den Lift und brachte es fertig, gleichzeitig besorgt und geschäftig auszusehen. Sie sah auch zufrieden aus, so zufrieden wie die Katze, die gerade den Kanarienvogel gefressen hat, sicher hinter ihrem Ich-gehörehierher-Schutzwall. So gab sie sich immer, wenn sie mit ›Outsidern‹ zusammentraf, egal, wie oft und über welchen Zeitraum. Es war, als entspräche ihr Job als Liebesromanlektorin in etwa dem Rang der High School-Cheerleader: Die bloße Tatsache bedeutete die Garantie, etwas Besonderes zu sein. Niemand konnte sie mit einer der armen Sterblichen da draußen verwechseln. Ich wandte mich von ihr ab. »Das waren nur zwei Fans. Nichts Besonderes.« »Sieht aus, als hätten sie dir einen ManuskriptEntwurf angedreht.« Sie wies auf den Umschlag in meiner Hand. Ich drehte und wendete ihn, dann versenkte ich ihn in meiner Handtasche. »Kann schon sein. Ist auch egal.« Am liebsten wäre ich in die nächste Damentoilette gestürzt, um ganz allein und in aller Ruhe nachzusehen, 119
was sich in diesem Kuvert befand. Aber ich traute mich nicht. Was auch immer für Julie Simms so dringend gewesen war, daß sie sich mit diesen zwei Vogelscheuchen ein weiteres Mal hatte treffen wollen – es mußte warten, bis ich mich in Phoebes Suite einschließen konnte. Das, was Julie ihnen tatsächlich hatte mitgeben wollen, war kein Geheimnis – eine ›StandardInformationsbroschüre für Liebesromanschriftstellerinnen‹, ein furchtbar pessimistischer Abriß des Genres, so abschreckend wie möglich in der Hoffnung, daß sich die Unbegabtesten lieber von sich aus nach einem anderen Betätigungsfeld umsahen. Die Lifttüren öffneten sich, und wir betraten den Aufzug. »Was stellt denn Mary wieder mit dir an?« fragte ich Janine. »Mit mir stellt sie gar nichts an. Ich habe natürlich protestiert, aber außer mir tut das ja niemand. Sie ist doch tatsächlich zum Organisationskomitee gegangen und hat behauptet, Julie hätte sie bei der Jury für den Serienpreis als ihre Stellvertreterin vorgeschlagen.« »Aber Julie konnte die Frau nicht ausstehen.« Die Jury für den Serienpreis, oder mit anderen Worten den Charlotte-Brontë-Preis für die beste Romance-Reihe des Jahres, war das wichtigste Komitee dieser Tagung. Die Serie, die den Preis gewann, durfte im kommenden Jahr das Emblem, 120
eine kleine Goldstatue von Charlotte Brontë, auf allen Büchern und in allen Fernsehspots verwenden. Janines Reihe Fires of Love war nominiert, genauso wie Candlelight Ecstasy von Dell und Silhouette Desire von Simon und Schuster. Das waren die erotischsten Serien auf dem Markt, über die sich die eher traditionellen Liebesromanautorinnen aufs Höchste erregten. Sie bezichtigten diese ›Grünschnäbel‹ der Pornographie. Bei den Romanen handelte es sich keineswegs um Pornos, sie hatten jedoch mehr heiße Stellen pro Quadratzentimeter als jedes andere Buch. »Nicht, daß irgend jemand Mary Allard ernst nähme«, sagte Janine. »Wer will sie schon in der Jury haben? Aber anscheinend hat sie einen Brief von Julie, in dem steht, daß, falls Julie Simms jemals etwas zustoßen sollte … Du verstehst mich?« »Julie Simms hat tatsächlich dem Organisationskomitee einen Brief geschrieben für den Fall, daß ihr etwas zustoßen würde?« Janine zuckte die Achseln. »Den Brief müssen wir natürlich der Polizei übergeben. Die schnüffelt sowieso schon seit Donnerstag hier herum, und das wird jetzt noch schlimmer.« »Seltsam. Es hört sich an, als ob Julie –« »Ja, ich weiß. Es hört sich an, als hätte sie gewußt, daß sie bald stirbt. Natürlich ist das lächerlich. Wahrscheinlich machte sie sich Sorgen, sie könnte krank werden und wollte auf Nummer 121
Sicher gehen, daß, wer auch immer ihren Platz in der Jury einnähme, in ihrem Sinn handeln würde. Vermutlich dachte sie, Mary würde aus lauter Dankbarkeit absolut loyal sein. Wie Julie so etwas auch nur denken konnte, ist mir unbegreiflich.« »Mary wäre niemals loyal. Loyalität ist für Mary Allard ein Fremdwort.« »Der Meinung sind wir anderen auch. Und wir haben keine Ahnung, wie wir uns heute ihr gegenüber verhalten sollen. Wir haben uns nämlich schon für eine Nachfolgerin für Julie entschieden. Ich selbst gehöre selbstverständlich nicht der Jury an, aber als dein Name fiel, haben sie mich nach dir gefragt, und –« »Ich soll auf Julies Platz in der Jury sitzen?« Janine sah zu Boden und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. »Es ist so … Wir dachten alle … da die Polizei nicht aufhört, auf ihrem lächerlichen Verdacht herumzureiten … wir wußten, du hättest niemals …« »Also eine Art Vertrauensbeweis.« Ich wünschte, all die Leute, die nur ›mein Bestes‹ wollten, würden mich endlich in Ruhe lassen. Die Mitgliedschaft in einer Jury zieht unweigerlich eine Großoffensive der Cheflektorinnen nach sich. Die Liebesromane quellen nur so aus dem Briefkasten. Poster, auf denen halbnackte Männer und Frauen sich inbrünstig in die Augen sehen, stapeln sich in Haufen wie die Sunday Times beim Streik der Müllabfuhr. Doppelgängerinnen von 122
Sandra Dee mit durchdringendem Blick belagern einen in Restaurants und halten Vorträge über die Notwendigkeit von Fairness und Objektivität – und deshalb sollten Sie Ihre Stimme unbedingt für … »Wir haben uns das so gedacht. Wenn wir dich in die Jury nehmen, wäre ein für allemal klargestellt, daß wir nicht glauben, du hättest irgend etwas mit Julies Tod zu tun«, sagte Janine. »Außerdem bist du für diesen Job wirklich am besten geeignet. Damit will ich sagen, es darf keine Lektorin sein, deren Reihe nominiert ist, und Lydia kommt auch nicht in Frage, weil Lydia seit Myrras Beerdigung ununterbrochen high ist. Also.« »Wenn ihr meint.« »Mach dir um nichts Sorgen. Du kommst einfach heute abend runter zu der Versammlung und wartest ab, was mit Mary passiert. Falls uns nichts anderes übrig bleibt, und wir ihren Brief berücksichtigen müssen, werden wir das tun. Aber dann setzen wir dich auf Julies Stelle in die Jury für Einzelreihen.« Die Lifttüren öffneten sich auf der siebzehnten Etage, und sie trat hinaus. Die Türen wollten sich schon wieder schließen, da hielt ich meine Hand dazwischen. »Einen Augenblick noch.« Ich errötete. Ich wußte, was ich fragen wollte, hatte aber keine Ahnung, warum. Janine war direkt vor der Lifttür stehengeblieben und tat neugierig. »Hazel 123
Ganz hat da was gesagt«, stammelte ich. »Irgendwas über Fires of Love. Und Gesundschrumpfung …« »Ach, das.« Janine rieb sich die Nase. »Wir hatten nach der Sache mit Romantic Life ein paar kleine, unwesentliche Probleme. Das heißt, die ersten paar Monate für Fires of Love –« Sie zuckte die Schultern. »Ich habe mich darum gekümmert. Sollte es jemals zu einer Gesundschrumpfung kommen, wird unsere Reihe als einzige übrig bleiben. Fires of Love ist einfach unübertroffen gut.« »Stimmt.« »Überlaß das Kopfzerbrechen getrost mir.« Sie winkte mir verhalten zu. »Und meinem Computer.« Wäre ich eine echte Liebesromanautorin gewesen, so wie Phoebe, hätte ich jetzt geschrieben »sagte sie lüstern«.
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12 »Nummer achtzehn. Liebesgeflüster von Leyla Johns.« »Oh, mein Gott.« »Dieser Roman spielt von Anfang bis Ende in einer Sauna. Nachdem sie geschlagene zwei Wochen zusammen in dieser Sauna verbracht haben – ich scherze nicht, sie tun nichts anderes – fällt er über sie her, und sie wird ohnmächtig.« »Und der Held heißt Bryce Cannon. Also, entweder hat sie damals die Nachrichten mißverstanden, oder sie hat irgendwelchen abartigen psychoanalytischen Quatsch über Kanonen gelesen.« »Hört euch das an: ›Amelia vernahm das Klopfen an ihrer Tür und sprang erschrocken auf. Sie sprach sich selbst Mut zu und konzentrierte sich auf das Geräusch ihrer bleistiftdünnen hohen Absätze auf dem rot, blau und goldenen Mosaikfußboden des Foyers, während sie zu der Eichentür eilte‹.« »Gütiger Himmel.« »Können wir nicht einfach die Sachen weglassen, von denen wir genau wissen, daß sie unmöglich sind? Wir haben hundertzwanzig Titel auf der Liste.« »Was ist das hier eigentlich, ein Horrorroman?« »Nummer neunzehn. Glut der Leidenschaft von Marianna Brand.« »Erbarmen!« Ich ging zu dem einzigen freien Stuhl am Tisch und blickte Hazel Ganz über die Schulter, um zu 125
sehen, was los war. Neunzehn Eintragungen, neunzehnmal »ganz bestimmt nicht« waren auf den Rand ihrer Stimmkarte gekritzelt. Hazel sah grimmig drein, grimmig und angewidert. Sie sah aus, als würde sie am liebsten alles hinschmeißen, um in Zukunft ein Leben als Berufskiller zu führen. »Wie stehst du eigentlich zu den Pseudonymen?« wollte sie wissen und drehte sich auf ihrem Stuhl um, damit ihr der Anblick von Glut der Leidenschaft, einem Fires of Love-Roman erspart blieb. Auf dem Cover mühten sich eine zierliche, halbnackte Blondine mit enormen Brüsten und ein großer, schwarzhaariger Exot in akrobatischen Verrenkungen. »Was meinst du damit?« »Du mußt doch unter einem Pseudonym schreiben, nicht wahr? Und dieses Pseudonym gehört dem Verlag und nicht dir, oder? Ich meine, wenn der Verleger dich wie Dreck behandelt und du zu einem anderen Verlag wechseln möchtest, kannst du dein Pseudonym nicht mitnehmen. Du bist ein Nichts, völlig machtlos.« »Da hast du recht«, antwortete ich. »Das Pseudonym müßte Eigentum der Autorin sein.« »Sie sollten einfach alle unter ihrem richtigen Namen schreiben«, sagte Hazel. »Für deinen Namen kann niemand das Urheberrecht erwerben. Würde John Irving etwa unter einem Pseudonym schreiben? Oder Norman Mailer? So wie 126
mit uns verfahren wird, kommen wir nie zu unserem Recht. Mit uns können sie machen, was sie wollen. Und sie machen mit uns, was sie wollen!« Die Vorsitzende klopfte mit ihrem Hammer auf den Tisch, um für Ruhe zu sorgen. Ich nutzte die kurze Pause aus und angelte mir rasch eine Handvoll herzförmiger Valentins-Pralinen aus der Schale. Leider war es die Sorte mit den aufgedruckten Sprüchen, die wie Sand zwischen den Zähnen knirschte. »Ich darf doch sehr bitten«, rief die Vorsitzende. »Wir sind bei Nummer neunzehn. Können wir jetzt über Nummer neunzehn abstimmen?« »Oh, Roger, wie kannst du nur glauben, daß ich so eine bin?« quiekte es im Auditorium. »Bitte«, mahnte die Vorsitzende. »Hier geht es nur um eine Nominierungsliste. Wir müssen sie für die Cocktail-Party am Sonntagabend fertighaben. Das ist morgen, Leute!« »Wir sollten diese blöde Liste auf vier Vorschläge beschränken«, schlug eine der Anwesenden vor. »Dann kommen wir hier nie mehr heraus«, ließ sich eine andere vernehmen. »Nummer zwanzig«, verkündete die Vorsitzende. »Juwel der Begierde, von Anastasia Smythe.« »Hört mal her!« Hazel Ganz war aufgesprungen und schwang das Buch in der Luft. »Sie spürte seine harten, muskulösen Schenkel, als er sie an sich 127
preßte. Sein Atem ging heiß und klang rauh in ihren Ohren, während seine Hände über jeden Zentimeter ihres Körpers glitten und schließlich ihre feuchte Tiefe erforschten.« »Allmächtiger!« rief die Vorsitzende. »Das ist ja praktisch Pornographie.« »Das ist der Trend, auf den wir uns einlassen sollten«, beharrte Hazel Ganz. »Wir haben bereits zwei Beispiele für absoluten Quatsch auf unsere Liste gesetzt, aus albernen, sentimentalen Gründen. Genau deswegen lachen sich die Leute da draußen über uns tot. Laßt uns zumindest einen Titel auf die Liste setzen, der exemplarisch zeigt, wie ein guter Liebesroman sein könnte.« Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß ein wirklich guter Liebesroman jemals in einer dieser Serien erscheinen würde. Die Verleger haben viel zuviel Angst, den SerienWiedererkennungseffekt aufs Spiel zu setzen, den sie hochtrabend ›instant identification‹ nennen, und der ihnen soviel Geld einbringt. Aus diesem Grund sind die Richtlinien für die Autorinnen so detailliert und die Schablonen so starr. Daraus ergibt sich gewöhnlich eine wenig originelle Mischung aus unsinnigem Gefasel und Sentimentalitäten, aufgemotzt durch langatmige Beschreibungen der Wege, die Seine Männlichkeit zurücklegt, um zum Kern Ihrer Weiblichkeit vorzudringen. Auf der anderen Seite war mir klar, daß Hazel 128
eine großangelegte Verschleppungstaktik verfolgte. Ich sank in meinen Stuhl und fand mich damit ab, daß ich eine Valentins-Praline nach der anderen essen würde, bis die Veranstaltung vorbei wäre. Ich kramte in meiner Tasche nach den Zigaretten und förderte statt dessen Camille und den wattierten Umschlag hervor, den mir die schrägen Vögel in der Lobby aufgedrängt hatten. Das alles kam zusammen ans Tageslicht, weil Camille sich in den Umschlag verbissen hatte. Den Computervordruck für die Bezahlung meiner Stromrechnung hatte sie schon hinter sich. Zugegeben, es war natürlich mein Fehler (wer will schon gern eine halbe Stunde lang mutterseelenallein unten in einer Handtasche hocken?), also setzte ich Camille samt ihrem Spielzeug auf den Tisch. Ich fand die Zigaretten und zündete mir eine an. Entschlossen ignorierte ich den vorwurfsvollen Blick meiner Nachbarin zur Rechten, einer jungen Frau in rosa-grüner Aufmachung. Camille hatte inzwischen das Interesse an dem Umschlag verloren und machte sich über die Schale mit den Valentins-Pralinen her. Ich nahm den Umschlag vom Tisch und fing an, den Inhalt herauszuholen – ein dickes Bündel Papiere, einige zusammengefaltet, andere einzeln. Ganz hinten fand ich einen Packen Schnappschüsse, randlose Fotos, wie sie für die Sofortentwicklungs-Labors in Supermärkten typisch sind. Die meisten waren sowohl unterbe129
lichtet als auch nichtssagend, unter miserablen Lichtverhältnissen in irgendeinem Restaurant aufgenommen. Sie zeigten Amelia Samson beim Essen mit einer Frau, die wie einer von ihren Sperlingen aussah, an einem Tisch für vier. Vor Amelia stand ein Teller mit irgendeiner Art von Geflügel, zwei Folienkartoffeln, von denen saure Sahne mit Schnittlauch tropfte, ein großes Baguette-Brötchen, Spargel mit holländischer Sauce und ein mit Wein gefüllter Kognakschwenker. Vor ihrer Begleiterin stand ein großer Salatteller. Ich betrachtete noch einige unterschiedliche Fotos, die alle in Restaurants aufgenommen waren, dann kamen drei Bilder zum Vorschein, die vollkommen weiß waren. Ich konnte allenfalls die Umrisse der Deckenlampe des Tagungsraumes auf dem glänzenden Papier ausmachen. Ich drehte das letzte dieser Bilder wieder und wieder in den Händen und betrachtete es von allen Seiten. Es ergab keinen Sinn. So steckte ich es unter den kleinen Stapel und sah mir das nächste an. Um ein Haar hätte ich mich vor Schreck übergeben. Der heftige Schwindelanfall ging gleich wieder vorüber, statt dessen kroch mir die Angst in die Arme und hoch bis in den Nacken. In weniger als einer Minute war ich völlig erstarrt. Aus irgendeinem verrückten Grund war ich felsenfest davon überzeugt, daß ich mich auf keinen Fall bewegen durfte, weil ich dadurch zwangsläufig die Auf130
merksamkeit auf das Foto lenken würde. Dabei konnte meine Nachbarin zur Rechten die Aufnahme sowieso nicht sehen, da ich die Tasche als Schutz vor meinem Zigarettenrauch zwischen uns auf den Tisch gestellt hatte. Und Hazel Ganz stand viel zu weit entfernt, um irgend etwas auf dem verschwommenen Foto erkennen zu können. Es brachte nichts, die Aufnahme hinter die anderen zu stecken, es gab noch eine vor der Sorte. Auch diese steckte ich schnell unter den Stapel und schob dann alles zurück in den Umschlag. In der untersten Ecke lag noch ein Bündel kleinerer Fotos, aber die wollte ich mir erst gar nicht ansehen. Da waren auch noch einige bedruckte Zettel. Mühsam versuchte ich, mich zu beherrschen. Endlich ließ der Anflug von Panik nach. Als ich wieder klar denken konnte, begriff ich allmählich, daß ich etwas in der Hand hielt, wovon selbst Martinez nicht die leiseste Ahnung haben konnte: ein Motiv für den Mord an Julie Simms. Martinez mochte der Theorie anhängen, daß ich Myrra ihres Geldes wegen umgebracht hätte und Julie, weil sie dahintergekommen war. Aber diese Theorie stand auf wackligen Füßen, das wußte auch er. Zum Beispiel war Myrras Tod bis zu dem Mord an Julie Simms offiziell als Raubmord deklariert worden. Warum hätte ich, oder jemand anders, einen zweiten Mord begehen sollen, um einen hinreichend gedeckten ersten Mordfall zu vertuschen? 131
Das, was sich in diesem Umschlag befand, hatte keine Schwachstellen. Der Inhalt dieses Kuverts würde annähernd die gleichen verheerenden Auswirkungen auf eine berufliche Karriere und zwei gute Namen haben wie seinerzeit die Bomben der Alliierten auf Dresden. Ich griff wieder in den Umschlag und angelte die Papiere heraus. Dann, als ich spürte, wie mir ein Anfall von Verfolgungswahn unter der Haut brannte, zog ich den Pullover über den Kopf und schirmte mich mit ihm und meiner Tasche gegen neugierige Blicke nach allen Seiten hin ab. Die Kleine in Pink und Grün erkundigte sich, ob mir heiß sei, aber ich ignorierte sie. Die großen, gefalteten Bögen waren Fotokopien, hauptsächlich von Hotel-Gästelisten aus Orten wie Northfield in Vermont und Mystic in Connecticut. Für sich allein betrachtet, hatten sie keinerlei Bedeutung. Genauso wenig wie die beiden Briefe in Amelias spinnenartiger Schrift auf steifem, mit Briefkopf versehenen Papier von Cartier, obwohl sie reichlich ungewöhnlich waren. Mehr aber auch nicht. Hätte ich nur sie gefunden, hätte ich kaum Schlüsse daraus gezogen. Eine andere Person hingegen hatte es getan. Die einzelnen Zettel waren Überweisungsformulare für Amelias Konto bei der New York Guaranty Trust. Jedes war auf tausend Dollar in bar ausgestellt, und das Auszahlungsdatum war der erste, zweite oder dritte Tag jeweils aufeinan132
derfolgender Monate. Insgesamt waren es zwölf. Erster Januar, zweiter Februar, erster März, so ging das weiter für das ganze nächste Jahr. Verwirrt betrachtete ich sie wieder und wieder. Es machte keinen Sinn. Die naheliegendste Erklärung dafür wäre, daß irgendwer (Julie Simms?) Amelia wegen dieser Fotos erpreßte. Das Geld müßte dann jedoch von Amelias Konto abgebucht und nicht darauf eingezahlt werden. Die Rechnung ging nicht auf. Ich bündelte die Überweisungsformulare und steckte sie zurück in den Umschlag. Eine Frau, die Phoebe und ich noch vom College kannten, arbeitete bei der New York Guaranty. Sobald ich dazu käme, würde ich sie anrufen. Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf die Fotos. Jetzt, da ich wußte, worauf ich zu achten hatte, sah die Frau mit dem Salatteller nicht länger wie einer von Amelias Sperlingen aus. Ich blätterte die Restaurant-Aufnahmen noch einmal durch und kam zu den glänzenden weißen Abzügen, die mir nunmehr wie Quittungen irgendwelcher Art vorkamen. Dann gelangte ich zu den beiden letzten Aufnahmen. Diesmal war das, was ich da sah, nicht mehr so schockierend, aber doch traurig. Zwei Frauen – mit etwas beschäftigt, das für beide sehr schwer zu beginnen und noch schwerer fortzuführen gewesen sein mußte. Zwei Frauen, die alt, müde und einsam geworden waren, auf der Suche nach einer Alternative zu etwas, 133
das sie früher als ebenso unumgänglich wie unerquicklich erlebt hatten. Zwei Frauen, aber auf das Grausamste in so unästethische Stellungen gezwungen, daß ich nur abgestoßen sein konnte. Amelia und Myrra.
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13 »Du bist wahnsinnig«, erklärte Marian Pinckney. »Weißt du auch nur im entferntesten, um was du mich da bittest? Ich kann doch nicht einfach in fremden Konten herumschnüffeln, nur weil du ein Bündel Überweisungsformulare gefunden hast.« »Marian. Das haben wir doch schon hinter uns. Es handelt sich nicht um gewöhnliche Überweisungen.« Ich kehrte Nick den Rücken zu. Er drückte sich die Nase am Glas der Telefonzelle platt und schnitt mir Grimassen. Eine geschlagene Stunde stand ich schon in dieser Kabine, und seit einer halben Stunde gab er sich größte Mühe, mich da herauszulocken. »Hör zu«, beschwor ich Marian. »Du hast das Recht, Nachforschungen anzustellen, wenn du ein Verbrechen vermutest. Ist es nicht so?« »Für ein Verbrechen habe ich keinen Anhaltspunkt«, entgegnete Marian. »Und du hast auch keinen.« »Ich habe Fotos von zwei Frauen in mehr als kompromittierenden Stellungen«, wiederholte ich zum hundertsten Mal. »Ich habe Fotos von belastenden Dokumenten. Ich habe einen heimlich entwendeten Liebesbrief –« »Wer regt sich schon über irgendwelche Affären auf? Kein Mensch. Wie hast du mich überhaupt gefunden? Meine Nummer steht nicht im Telefonbuch.« 135
»Ich habe Sharon Hewitt angerufen.« »Etwa in Kansas?« »Kansas City in Missouri.« »Du liebe Zeit. Was treibt sie denn so? Ich habe ihr damals prophezeit, daß es ihr verdammt dreckig gehen würde, wenn sie diesen Idioten heiratet. Höchstwahrscheinlich ist das auch so. Kansas City in Missouri. Mist. Dieses Kuhdorf. Außerdem kennt sie meine Nummer nicht.« »Aber sie hatte Tania Griswalds Nummer, und Tania hatte deine.« »Tania Griswald lebt auf den Bahamas.« »Ich weiß.« »Gütiger Gott.« Ich hörte, wie ein Streichholz angezündet wurde, einige heftige Züge und kurzes, pfeifendes Ausatmen. »Dir scheint es wirklich ernst zu sein. Auf den Bahamas anzurufen! Gütiger Himmel.« »Marian, bitte, wenn ich nicht genau wüßte, daß du dein Examen mit Auszeichnung abgeschlossen hast, würde ich dich für vollkommen verblödet halten. Hör mir jetzt endlich mal zu! Ich stehe hier mit einem Umschlag voller anrüchiger Fotos, Hotel-Gästelisten und Liebesbriefe, und einem guten Dutzend Überweisungsformulare, alle für den Monatsanfang und alle auf tausend Dollar in bar. Und wenn sich das für dich nicht nach Erpressung anhört, weiß ich nicht, was ich dir sonst noch alles bieten muß.« 136
»Warte mal. Ich nehme alles zurück. Was hast du gesagt? Tausend Dollar im Monat?« »Bar auf die Hand.« »Immer am ersten eines Monats?« »Am ersten oder am zweiten oder dritten. Wahrscheinlich wegen der Wochenenden.« »Wegen der Wochenenden«, wiederholte Marian. »Das mit den Wochenenden können wir uns schenken. Bei uns läuft alles über EDV.« »Was heißt das?« »Schon gut. Bleib einfach, wo du bist. Bleib einfach am Telefon und leg nicht auf. Ich bin gleich wieder da.« Es knackte in der Leitung, und eine außerordentlich blecherne Band fing an, ›McArthur Park‹ in mein Ohr zu schmettern. Ich klemmte den Hörer gegen die Schulter, zündete mir eine Zigarette an und fischte Camille aus meiner Handtasche. Draußen lehnte Nick immer noch an der Tür. Langsam fing er an, verärgert auszusehen. Ich wandte ihm wieder den Rücken zu. Ich würde ihm nachher alles erzählen, und wenn ich ihn beruhigt hätte, würde ich ihn überreden müssen, mir zu helfen. Über die Schulter hinweg warf ich ihm einen verstohlenen Blick zu. Die Vorstellung, Seite an Seite mit ihm an der Aufklärung eines Verbrechens zu arbeiten, war seltsam aufregend … Wie in einem Liebesroman. Ich zog an meiner Zigarette und inhalierte tief. 137
Weder Miss Marple noch Hercule Poirot hätten jemals zugelassen, daß ihnen bei ihren kriminalistischen Untersuchungen erotische Impulse in die Quere kamen. Besonders, wenn diese Impulse scheinbar keinen anderen Auslöser hatten als – Sinn für Schönheit. Die Musik brach abrupt ab. »Marian?« fragte ich. »Bist du das?« Ein tiefer Atemzug. Scharfes pfeifendes Ausatmen. Ein kleines Schnauben. »Allerdings, ich bin hier. Also, auf welchen Namen, sagtest du, läuft dieses Konto?« »Ich habe überhaupt noch nichts gesagt. Aber es ist Amelia Samson.« »Amelia Samson? Die Autorin? Jungfräuliche Liebe? Die etwa?« »Genau.« »Mist. Erste Sahne. Phantastisch. Wie ist die Kontonummer?« Ich las sie ihr vor. »Verflixt. Verflixt und zugenäht.« »Was hast du?« Ich war so aufgeregt, daß ich es kaum schaffte, an der Zigarette zu ziehen. »Ist was mit dem Konto? Weißt du was über Amelia?« »Das einzige, was ich von Amelia Samson weiß, ist, daß sie mit ihrem Stil in Greyson durch die Englischprüfung gefallen wäre. Nein, mit ihrem Konto ist nichts. Ich habe noch nie davon gehört.« 138
»Ja, aber –« Ich war enttäuscht. »Du klingst so aufgeregt. So, als wüßtest du irgend etwas.« »Ich weiß überhaupt nichts. Aber ich sollte etwas wissen. Und wie ich etwas wissen sollte. Diese Angelegenheit ist so verquer –« »Ich muß dir was sagen. Diese Angelegenheit ist tatsächlich völlig verrückt. Ich meine –« »Ist dir eigentlich bekannt, daß ich der einzige geschäftsführende Vizepräsident aller Banken auf der ganzen Welt bin, der zufällig eine Frau ist? Weißt du, was das bedeutet? Kannst du dir vorstellen, was das für eine Verantwortung ist? Wenn diese Sache das ist, was ich vermute, dann wird auch das kleinste Arschloch behaupten, daß so was nur bei der New York Guaranty passieren konnte, weil die New York Guaranty so blöd war, eine Frau an die Spitze zu setzen. Du wirst schon sehen.« »Bevor du von deinem Gipfel kippst, hörst du mir vielleicht erst einmal zu«, bat ich sie. »So einfach, wie du denkst, ist die Sache nicht. Ich bin sicher, es geht um Erpressung, ich habe allerdings keine Ahnung, wer wen erpreßt. Die Frau auf den Fotos ist Amelia Samson, und es ist anzunehmen, daß sie es ist, die erpreßt wird, aber das Konto –« »Kein Problem«, meinte Marian. »Ich weiß, wie so was läuft.« Sie gab mir keine weiteren Erklärungen. »Wo bist du heute abend? Nach neun?« 139
Ich dachte nach. Die Sitzung der Jury sollte um halb neun beginnen. »Ich muß zu einem Arbeitsessen und zu einer Konferenz«, erwiderte ich. »So gegen elf bin ich zurück.« Ich nannte ihr die Telefonnummer. »Das ist eine Suite im Cathay-Pierce. Solltest du die Nummer verlieren, frag nach Miss Damereaux.« »Damereaux«, wiederholte Marian. »In Ordnung. Du bist noch immer so verrückt wie damals. Hör zu, ich muß den Computer mit den ganzen Daten füttern. Ich rufe dich später an und sage dir alles, was ich weiß.« »Fein.« »Um elf also.« »Ich werde da sein.« »Sharon geht es bei den Kühen bestimmt drekkig«, murmelte Marian. »Kühe, um Himmels willen. Hast du jemals eine Frau gekannt, die bei Kühen glücklich geworden wäre?« Bevor ich ihr erklären konnte, daß Kansas City eine großräumige urbane Region ohne eine einzige Kuh (oder wenigstens ohne viele Kühe) ist, hatte sie aufgelegt. Ich glaubte jedenfalls nicht, daß es da Kühe gab. Die Tür der Telefonzelle wurde aufgerissen. Nick steckte den Kopf hinein, griff sich Camille und drückte mir ein Stück Baklava in die Hand. »Ich gebe auf.« Er seufzte. »Sagen Sie mir nur eins. Wer erpreßt Sie eigentlich?« 140
14 »Wenn ich dir raten würde, die Finger davon zu lassen«, sagte Nick, »würdest du nicht auf mich hören, habe ich recht?« »Ja.« Die Bedienung brachte ein Gläschen Jack Daniels auf einem schwarzen Plastiktablett. Nick nahm es und kippte es in meinen Kaffee. Wir saßen an einem Fenstertisch mit Blick auf die Fifth Avenue der Castle Walk Lounge, einer Bar im Erdgeschoß des Cathay-Pierce mit überhöhten Preisen für ahnungslose Touristen und Spesenritter. Auf der Straße posierten viel zu teuer gekleidete fünfzigjährige Frauen unter den Straßenlaternen und gierten nach Publicity. »Trink deinen Kaffee«, befahl Nick. »Du zitterst immer noch.« Ich trank einen großen Schluck der heißen Flüssigkeit, die wie bittere Medizin schmeckte, und stellte die Tasse zurück. Draußen wurde es dunkel, das Licht wechselte unmerklich in die graue Dämmerung des New Yorker Winters, die jeden Tag wie einen endlos sich dahinziehenden Abend erscheinen läßt. Wir hatten Phoebe angerufen, und sie war auf dem Weg in die Bar. Unter anderen Umständen hätte es eine erholsame, ruhige Stunde sein können. Wenn ich die Hände um die Kaffeetasse legte, schwappte die Flüssigkeit darin hin und her und 141
schlug Wellen. Meine Finger zitterten so, daß ich die Tasse kaum halten konnte. Nick saß im Schatten, sein Gesicht war im Dunkeln kaum zu erkennen, seine Stimme tönte wie die von Gottvater bei der Verkündigung der zehn Gebote. Seine Vergangenheit war mir ein Rätsel. Phoebe behauptete, ihn seit ihrer Kindheit zu kennen. Union City, New Jersey. Er war nach Harvard gegangen und hatte die Rechtsakademie besucht, ein Jahr vor Daniel. Er war in der Armee und in Vietnam gewesen, allerdings nicht lange. Er hatte zu Naders Stoßtrupp im Kampf gegen den Konsumentenbetrug gehört. Phoebe nannte Daten, aber keine Zusammenhänge. Das half mir nicht, meine Gefühle Nick gegenüber zu verstehen. Ebensowenig sein Verhalten. Er war anscheinend schlicht und ergreifend ein ausgesprochen netter Mann. Ich konnte Camille gerade noch daran hindern, einen der kostbaren Hotel-Serviettenringe in meiner Tasche verschwinden zu lassen. »Das entwickelt sich zu einer Macke«, gestand ich. »Sie stiehlt alle möglichen Sachen und versteckt sie in meiner Handtasche.« »Warum erzählst du mir nicht einfach, was dich bedrückt?« fragte Nick. »Wenn du allerdings auf Phoebe warten willst, warten wir eben auf Phoebe.« »Ich will nicht auf Phoebe warten. Und das eigentliche Problem ist, daß ich nicht durchblicke. 142
Ich weiß nur, daß irgend etwas oberfaul ist.« Ich schob Camille in die Tasche und hoffte, sie würde für eine Weile drin bleiben. »Wir haben Myrras Tod und Julies Tod. Soviel wir bis jetzt wissen, haben die beiden Morde etwas miteinander zu tun. Und es gibt diesen Umschlag. Nach Aussage der Leute, von denen ich ihn habe, war er in Julies Besitz. Da muß es also einen Zusammenhang geben, Nick. Aber kannst du mir sagen, welchen?« Nick zuckte die Schultern. »Amelia hat Myrra erpreßt. Myrra hat gedroht, sie auffliegen zu lassen. Amelia hat Myrra umgebracht. Julie hat das entdeckt. Amelia hat Julie getötet.« »Und warum in meinem Apartment?« »Amelia wußte, daß du Myrras Wohnung erben solltest.« »Nein, das haut nicht hin.« Ich schüttelte den Kopf. »Keiner außer Myrra und ihren Anwälten wußte etwas davon. Egal, welche Beziehung auch immer Myrra zu Amelia hatte – sie hätte niemals einer Menschenseele erzählt, was in ihrem Testament steht. Du hast Myrra nicht gekannt.« Ich seufzte. »Aber ich. Und das ist leider eins meiner größten Probleme.« »Im Augenblick ist dein größtes Problem, daß die Grand Jury Anklage wegen Mordes erhebt.« Ich winkte ab. »Allein schon die Erpressung. Gleichgültig, was Myrra auf dem Kerbholz hatte, wenn jemand versucht hätte, sie deswegen zu erpressen, wäre sie zur Furie geworden. Wenn es 143
um Sex ging, hatte Myrra keine Bedenken, wenn es sich aber um Geld drehte, wurde sie zur flammenden Moralistin. Hätte jemand versucht, Myrra zu erpressen, wäre sie zur Polizei gegangen. Oder es hätte Mord und Totschlag gegeben. Auf keinen Fall hätte sie gezahlt.« »Beweist das denn nicht meine Theorie?« »Nein. Wenn sie gewußt hätte, daß Amelia erpreßt wird, hätte sie verhindert, daß Amelia zahlt. Wir wollen uns doch nichts vormachen. Wenn sie sich nicht gegenseitig erpreßt haben, muß es eine dritte Person geben, die beide erpreßt hat.« »Was hältst du davon? Myrra erpreßt Amelia«, schlug Nick vor. »Amelia bringt sie deswegen um. Julie kommt ihr auf die Schliche. Amelia tötet Julie.« »Warum sollte Myrra Amelia erpressen? Myrra war zwanzig Millionen Dollar schwer.« »Sechsundzwanzig.« Phoebe schlüpfte neben Nick auf die Bank. Heute war ihr Samtkaftan purpurrot. Ihre Augen waren tiefschwarze Seen inmitten einer grauen und aquamarinblauen Wüste. Sie strahlte uns beide hocherfreut an. Sie hatte Nick und mich einträchtig plaudernd und allein hier angetroffen. Jetzt würden unweigerlich Liebe, Heirat und ein Haus in Westchester folgen. »Eine gewisse Barbara Gilbert hat angerufen«, berichtete sie. »Ist das diese Barbara von nebenan? Sie hörte sich an, als wäre sie hysterisch.« 144
Ich schob ihr den Umschlag zu. Sie warf einen Blick hinein, wurde eine Spur blaß und legte ihn zurück auf den Tisch. Sie sah kein bißchen überrascht aus. »Mir ist unbegreiflich, wie man solche Fotos machen kann«, sagte sie. »Du bist überhaupt nicht schockiert«, stellte Nick fest. »Wegen Amelia und Myrra?« Phoebe griff mit den winzigen Händchen in ihr Haar. »Ich dachte mir schon so was, als du mich angerufen hast. Was soll daran befremdlich sein? Die beiden standen sich sehr nahe. Und jede enge Freundschaft basiert auf sexueller Anziehung.« »Du liebe Zeit«, entfuhr es Nick. Phoebe lächelte uns an wie eine Zehnjährige, die sich nach ihrem ersten Klaviervortrag für den Beifall bedankt. Sie meinte es ganz ernst. »Diese besagte Barbara behauptet, daß jemand um dein Apartment herumschleicht«, erzählte sie. »Jemand, der aussieht wie Ben Hur. Tatsächlich hat sie gesagt, es ist Ben Hur! Aber natürlich wußte ich, was sie meinte. Er sah aus wie –« »Sicher ein Polizist.« Ich unterbrach sie. »Wenn überhaupt. Barbara sieht überall Leute lauern.« »Es war kein Polizist«, sagte Phoebe. »Er war im Haus und lungerte direkt vor deiner Wohnungstür herum, bis Barbara den Hausmeister angerufen und dieser ihn rausgeschmissen hat. 145
Und an dem Punkt wurde sie richtig hysterisch. Am Telefon natürlich. Der Hausmeister schaffte den Mann aus dem Haus, und er fiel auf den Bürgersteig und konnte nicht wieder aufstehen. Dabei hat er die ganze Zeit geschrien, er hätte nicht mehr viel Zeit, und es war furchtbar. Glaube ich wenigstens.« »Es ist kalt draußen«, bemerkte ich. »Vielleicht war es irgendein Penner.« Ich nahm den Umschlag vom Tisch und drehte und wendete ihn in den Händen. Nick hielt sich immer noch im Schatten, aber er beobachtete mich. Ich verspürte den unwiderstehlichen Drang, mich zu kämmen. Oder etwas zu essen. Normalerweise machte ich mir keine großen Gedanken wegen meiner Frisur, und ich neige eher dazu, aus Prinzip zu verhungern. »Was sollen wir jetzt machen?« fragte ich. »Nichts«, antwortete Nick. »Am besten warten wir ab, bis deine Freundin von der Bank sich wieder meldet.« »Sei nicht albern«, sagte Phoebe. »Wir fahren hoch und reden mit Amelia. Sie hat zum Tee geladen. Wegen der bevorstehenden Wahlentscheidung für die Präsidentschaft des Verbandes.« Als Nick blinzelte, erklärte sie: »Amelia kandidiert. Gegen Lydia.«
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15 »Lydia Wentward ist ein Ferkel,« verkündete Amelia Samson. »Sie schreibt Pornographie.« Ich erwog, ihr zu sagen, daß sie wie ein Transvestit aussähe. Prachtvoll wie dereinst Madame Pompadour hielt sie flankiert von ihren Sperlingen hof. Die Haare hatte sie zu gelackten erdbeerroten Löckchen aufgetürmt. Der Ausschnitt ihres Gewandes aus schwerem, silbergrauen Brokat reichte fast bis zum Nabel. Ihre Brüste, neben denen Dolly Parton wie ein Bügelbrett ausgesehen hätte, waren unter einem goldenen, reich mit funkelndem Straß verzierten Harnisch verborgen, der in einem Stachelhalsband endete, das dem ihrer Siamkatze Amanuensis täuschend ähnlich war. Die Sperlinge neben Amelia trugen eher schlichte, braune Baumwollkleider und ein zierliches Sträußchen aus Schleierkraut und Flieder im Haar. Alle saßen mit gekreuzten Füßen kerzengerade da. Als Amelia »Pornographie« sagte, blickten sie äußerst schockiert drein und kicherten. »Was meinst du dazu?« Amelia blickte mich an. »Glaubst du nicht auch, daß Lydia Wentward Pornographie schreibt?« »Keine Ahnung«, entgegnete ich. »Ich habe noch kein Buch von ihr gelesen. Hingegen kenne ich alle Bücher von Phoebe, und die hören nicht unbedingt vor der Schlafzimmertür auf.« »Unsinn«, sagte Amelia. »Das kann man nicht 147
vergleichen. Phoebe schreibt ihre Liebesszenen mit Taktgefühl und gutem Geschmack.« Phoebe strahlte. Nick und ich warfen ihr einen ungläubigen Blick zu. Phoebes Liebesszenen waren dafür berühmt, daß sie nicht nur ›romantisch‹, sondern auch weitaus komplizierter waren als die verschlungensten Stellungen in More Joy of Sex. »Das Problem mit Lydia ist«, fuhr Amelia fort, »daß sie ihre Arbeit nicht ernst nimmt. Ihr geht es nur ums Geld. Sie versteht einfach nicht, daß wir den Frauen in diesem Land gegenüber eine Verantwortung haben.« Sie hob die Teetasse mit zwei beringten Fingern, dabei spreizte sie den kleinen, der mit einem winzigen Granat und einem riesigen Amethyst verziert war, herausfordernd ab. »Historien-Pornos«, äußerte sie giftig. »Vergewaltigungsphantasien.« »Möglicherweise ist das der Grund, warum Julie einige von Lydias Bücher abgelehnt hat«, meinte Phoebe und versuchte, hilfsbereit und unschuldig auszusehen. »Ich erinnere mich an einen Roman vor ein paar Jahren –« »Der Liebe heißer Atem«, fiel ihr Amelia ins Wort. »Letztendlich hat Acme ihn herausgebracht. Das war vielleicht eine Katastrophe! Überhaupt keine Spannung. Im ganzen Buch nicht. Davon hängt nämlich alles ab, von der Spannung.« Sie fixierte ihre Sperlinge ringsum. »Erotische Spannung!« Die Sperlinge gackerten. 148
»Aber das war nicht der Grund, weshalb Julie mit dem Buch nichts zu tun haben wollte«, fuhr Amelia fort. »Julie war nicht dumm. Sie wußte über Lydia Bescheid. Sie hätte niemals zugelassen, daß diese Schmierereien weiter verbreitet würden.« Die Sperlinge nickten unisono. »Wirklich ein Jammer, daß es nicht diese Lydia erwischt hat«, flüsterte Nick mir ins Ohr. Es wollte ihm nicht gelingen, so auszusehen, als würde er sich auf einem steifen, imitierten Ludwig XVIStuhl ohne Armlehne behaglich fühlen. »Dann wüßten wir genau, wo wir den Mörder zu suchen hätten.« »Das ist noch gar nichts«, flüsterte ich zurück. »Sie hat noch nicht mal angefangen.« Aber Amelia hatte nicht nur schon angefangen, sie war auch schon fertig. Sie schwang ihre Teetasse in der Luft und ließ das Thema Lydia fallen. »Mary Allard.« Sie wandte sich an mich. »Du hast sicher schon davon gehört, daß sie die Brontë-Jury mit ihrer Person beglücken will.« »Sie eignet sich hervorragend dafür«, wandte ich ein. »Ihre Reihe ist nicht auf der Liste. Keine einzige Serie aus ihrem Verlag ist für den Preis nominiert. Und wenn es Julies Wunsch gewesen ist –« »Das glaube ich nicht«, sagte Amelia. »Dieser Brief muß eine Fälschung sein.« 149
»Schon möglich. Aber ich bin mir nicht so sicher, ob ich überhaupt in diese Jury will. Erstens habe ich die ganzen Romane nicht gelesen. Und zweitens schreibe ich für Fires of Love und noch zwei andere Serien bei Farret. Sollte Fires of Love den Preis gewinnen, und ich war mit in der Jury, dann wird es bestimmt Proteste geben.« »Aber Fires of Love wird den Preis nicht gewinnen«, behauptete Amelia. »Das ist unmöglich.« »Unmöglich?« Phoebe wurde selbst unter der dicken Schicht Make-up ein bißchen blaß. »Gewiß. Fires of Love ist eine fürchterliche Serie. Das ist doch allgemein bekannt.« »Ist das nicht ein bißchen übertrieben?« fragte ich freundlich. »In diesem Jahr soll sie hundert Millionen brutto einbringen. Viele Leute halten Fires of Love für eine großartige Reihe.« »Ach ja«, sagte Amelia. »Das Geld.« Sie nestelte an ihrem Brustpanzer. »Selbstverständlich mußt du dich am Geld orientieren, immerhin ist es der Maßstab für das, was deine Leserinnen wollen. Der anfängliche Erfolg von Fires of Love hat wohl niemanden überrascht. Aber das kann nicht so weitergehen, liebe Patience. Die ganze Sache wird ein Flop.« »Wieso? Ich sitze an meinem dritten Fires of Love-Roman. Und da ist alles drin.« »Natürlich. Aber doch nichts Neues. Es gibt nichts, aber auch gar nichts, was diese Reihe von einem Dutzend anderer unterscheidet. Und es 150
gibt Dutzende anderer Serien. Sogar die PassionReihe von dieser Allard hat etwas – eine gewisse Klasse, einen charakteristischen Stil. Fires of Love bringt nur antiquierte Liebesromane schlimmster Sorte nach Schema F!« Phoebe lachte. »Und ob das ein Schema ist. Die Gebrauchsanweisung ist fünf Druckseiten lang.« »Die gibt es doch bei jeder Reihe«, gab ich zurück. »Um Himmels willen, Phoebe. Ohne diese Anweisungen könnte ich die Romane doch gar nicht schreiben.« »Das hört sich an, als fehlte es dir in deinem Leben an Liebe.« Amelia seufzte. »Wie so vielen jungen Menschen heutzutage. Keine Liebe. Keine Leidenschaft. Wofür lebst du eigentlich?« Sie warf Nick einen so lüsternen Blick zu, daß er auf seinem Stuhl zusammenzuckte. Dann erhob sie sich schwerfällig. »Ich muß mal eben verschwinden. Ich bin gleich wieder da.« Sie hinkte vorsichtig davon und schlingerte dabei wie ein havariertes Segelschiff. Phoebe, Nick und ich saßen ganz still, lauschten und warteten. Hier schien sich uns die einmalige Gelegenheit zu bieten, aber wir mußten ganz sicher sein. Auf keinen Fall wollten wir von den Sperlingen überrascht oder belauscht werden. Dann vernahmen wir das Geräusch von fließendem Wasser und das kaum wahrnehmbare Klirren von Glas. »Sie hat hier ein kleines Nebenzimmer«, sagte Phoebe. 151
»So eine Art Garderobe«, meinte ich. »Mit einem Waschbecken.« »Und einem Kühlschrank«, fügte Nick hinzu. »Vielleicht sollte ich nachsehen, ob sie Hilfe braucht«, sagte ich laut und stand auf. »Vielleicht kann ich Amelia tragen helfen.« »Oh, nein!« rief einer der Sperlinge, während seine Schwestern entsetzt dreinschauten. »Oh, nein, Miss McKenna, bitte. Das ist wirklich nicht nötig. Miss Samsons Gäste brauchen sich nicht zu bemühen, auf gar keinen Fall. Ich sehe selbst nach ihr –« »Nein, nein.« Ich bewegte mich rasch rücklings auf die am nächsten gelegene Tür zu. »Das macht mir keine Mühe, wirklich nicht. Ich gehe nur mal schnell hier hinein.« Dabei stieß ich eine zinnoberrot lackierte, gepolsterte Doppeltür auf. »Es dauert nicht lange!« Schon war ich auf der anderen Seite. Hinter der Doppeltür lag ein kleiner, abgedunkelter Salon, der zu einem schmalen Flur führte. An dessen Ende schimmerte ein schwacher Lichtschein. Ich vernahm das Geräusch von fließendem Wasser und ein dumpfes Poltern, als irgend etwas gegen die Fliesen schlug. Auf Zehenspitzen schlich ich durch den Flur und erblickte an seinem Ende Amelia. Sie stand in der offenen Tür des hinteren Raumes und goß irgend etwas in einen kleinen durchsichtigen Plastikbecher. »Amelia!« rief ich leise und schob mich weiter den Gang entlang. 152
Sie fuhr herum und starrte mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Was gibt’s?« fragte sie schroff. »Kann ich nicht mal in Ruhe einen Augenblick allein sein?« »Tut mir leid, daß ich dich hier störe.« Ich drückte mich an ihr vorbei in die weißgekachelte quadratische Kammer. Das Deckenlicht war strahlend weiß und grell und ließ Amelias Haut selbst unter dem dick aufgetragenen Make-up und kirschrotem Rouge totenbleich aussehen. Ich lehnte mich gegen den Mauervorsprung neben dem hohen schmalen Kühlschrank. »Aber ich wollte nicht vor den … Damen mit dir reden.« Beinahe hätte ich Sperlinge gesagt. Amelia nippte an ihrem Plastikbecher und stierte mich an. Sie schwieg. Ich wußte nicht, wie ich anfangen sollte. Was, wenn sie diesen Umschlag niemals gesehen hatte? Was, wenn sie vorgab, nichts davon zu wissen? Ich konnte mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, ihr diese Fotos zu beschreiben. In allen Romanen von Amelia Samson war die Heldin immer noch Jungfrau gewesen, niemals wurde zwei Menschen der Weg ins Bett bereitet, ohne daß eine anschließende Belohnung in Form einer Hochzeitsfeier mit mindestens tausend Gästen gewinkt hätte. In der Welt von Der Liebe edelste Blüte gab es weder Verbrechen noch Tod noch Perversion. Und erst recht keine Erpressung. 153
Ich räusperte mich. »Es geht um einen Umschlag. Julie –« Bevor ich wußte, wie mir geschah, wurde ich hochgerissen und mit dem Rücken gegen die Wand gedrückt. Mein Kopf knallte in den Spalt zwischen der Wand und dem Kühlschrank. Meine Arme wurden emporgerissen und an die rauhen Kanten der Kacheln gestoßen. »Wo ist er?« zischte Amelia und schüttelte mich heftig. »Wer hat ihn dir gegeben? Was hast du damit gemacht?« »Laß mich runter, Amelia!« Statt dessen packte sie noch fester zu und schüttelte mich wieder. »Ich will ihn wiederhaben. Aus mir holst du nichts raus. Ich zahle dir keinen Cent.« »Amelia«, krächzte ich. »Um Himmels willen, laß mich sofort los. Du sollst mir nichts zahlen. Ich habe diesen Umschlag und weiß nicht, was ich damit anfangen soll.« Sie starrte mich immer noch drohend an, ließ aber los. Dann drehte sie sich um, holte den Plastikbecher und die Ginflasche und hatte im Handumdrehen den Becher wieder gefüllt. Da erst entdeckte ich hinter ihr die brennende Zigarette in dem Aschenbecher. Der Rauch war im grellen Licht der Deckenlampe kaum wahrzunehmen. Amelia verzog den Mund zu einem schwachen Lächeln. »Du hast also nicht gewußt, daß ich 154
trinke. Und du hast auch nicht gewußt, daß ich rauche. Es gibt da noch ein paar andere Dinge, von denen du nichts gewußt hast.« »Amelia, ich habe nach diesen verdammten Fotos nicht gesucht. Sie wurden mir von einer Frau zugesteckt.« »Wer war das?« »Ein Fan.« Ich errötete leicht. »Irgendein Fan gab Julie ein Manuskript, und Julie wollte ihr eins von diesen Info-Paketen mitgeben. Aus Versehen gab sie ihr den falschen Umschlag. Wie dem auch sei, diese Frau –« »Lüg mich nicht an! Julie Simms hat diesen Umschlag nie besessen. Julie Simms hat ihn nie zu Gesicht bekommen. Julie Simms wußte nicht einmal, daß es ihn gibt. Die einzigen, die davon wußten, waren Myrra und ich.« »Und von wem hattet ihr ihn?« »Das spielt keine Rolle. Ich will wissen, wo du ihn herhast.« Ich holte tief Luft. »Es tut mir leid. Es tut mir so leid, Amelia, aber so und nicht anders ist es gewesen. Zwei Frauen sind in der Lobby zu mir gekommen.« »Dir tut es also leid.« Sie ließ sich auf einen niedrigen Stuhl sinken, und ihre monströsen Beine spannten den Stoff ihres Kleides. Sie hielt die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger. Der Rauch stieg mir in die Augen. »Weißt du, wieviel ich wert bin?« 155
»Nein«, erwiderte ich. »Nein, das weiß ich nicht.« »Ich auch nicht. Aber es ist eine Menge Geld, Miss Patience Campbell McKenna, du kleine Klugscheißerin. Glaub ja nicht, du könntest dir auf deine piekfeine Herkunft und auf deine ScheißElitekarriere von der Foxcroft School zum Greyson College etwas einbilden.« »Ich war’s nicht. Emma Willard ist es gewesen«, entfuhr es mir unwillkürlich. »Ist dir klar, daß ich bis zum Ende meines Lebens kein einziges Wort mehr zu Papier bringen muß? Ich habe genug Geld, um ganz Connecticut aufzukaufen und es als meine eigene, private Monarchie neuzugründen, wenn ich wollte. Ihr kommt euch alle so verdammt großartig vor. Du und diese Jüdin Phoebe Weiss. Du und diese Möchtegern-Schönheitskönigin Julie Simms. Du und diese kleine Williams mit ihrem Gouvernantengesicht. Weißt du, wo wir herkommen, Myrra und ich?« »Amelia –« »Ich will’s dir sagen.« Sie leerte ihr Glas und schenkte sich ein neues ein. »Ich will’s dir sagen, du Urmutter aller Feministinnen. Wo ich herkommen, waren es die Jungs, die aufs College durften. Ich bin mit vierzehn von der Schule und habe in einer Wäscherei an der Dampfmangel gestanden, weil wir das Geld brauchten, um meinen Bruder auf die gottverdammte Universität zu 156
schicken. Die Universität von Nebraska. Ein Bauern-College. Eins von der billigen Sorte, nicht wahr? Leider war es mitten in der Depression, und der Laden meines Vaters ging bankrott, und seinen Job hat er dann auch verloren, aber wir haben zehn Jahre lang Bohnen gefressen, damit mein Bruder aufs College konnte. So war meine Familie. Damals waren die meisten Familien so. Es spielte keine Rolle, ob die Mädchen eine Ausbildung erhielten, weil die meisten sowieso verheiratet wurden. Ich habe auch geheiratet. Ich war sechzehn und hatte zwei Jahre lang geschuftet wie ein Pferd. Ich hatte die Schnauze voll. Weißt du, wie es in einer Wäscherei zugeht? Dir ist immer heiß, und du bist immer naß, und das Wasser dringt dir durch die Klamotten, und die billige Farbe läuft aus. Sie dringt dir in alle Poren, bis deine Haut die Farbe deiner Kleidung angenommen hat – blau und grün und gelb. So kam es, daß ich geheiratet habe. Ich hatte eine wunderbare Hochzeit in der Kirche, weil das auch zu dem gehörte, was die Familie bezahlte, eine große Hochzeit für die Tochter. Ich stand da mit einem weißen Schleier und sagte ›ja‹ zu dem nettesten und charmantesten Mann meines Lebens, und erst zwei Jahre und zwei Babys später ging mir auf, daß es nicht an der Depression lag. Der Bastard fand keinen Job, wollte keinen finden und hielt es sowieso nirgendwo 157
lange aus. So brachte ich die Babys meiner Mutter und ging zurück in diese gottverdammte Wäscherei. Und dann passierten zwei Dinge.« Sie warf mir einen bösen Seitenblick zu. »Zwei Dinge passierten«, wiederholte sie. »Erstens, mein Bruder lief auf und davon in den Krieg und ließ sich während einer Übung totschießen. Das war das Ende des brillanten jungen Mannes, der uns von allem Übel erlösen sollte. Dann kam ich eines Abends mit grüngesprenkelten Armen und dem Geld im Strumpf heim, und ich beschloß, es nicht zu tun. Diesmal würde ich das Geld diesem kleinen Whiskey-Säufer mit den schönen Augen und dem Verstand eines eingelegten Herings nicht geben. Ich würde es ihm nicht geben, damit er es in irgendeiner Bar versaufen könnte, nein, diesmal nicht. Ich gab’s ihm nicht. Und er haute mir ein blaues Auge.« Amelia warf den Kopf zurück und lachte, laut und tief und bittersüß. »Weißt du, was meine Mutter zu mir sagte? Sie sagte, es sei meine Pflicht. Sie sagte, Gott gibt den Frauen die Männer, damit sie sie behüten und beschützen und ihnen zu ihrem Seelenheil verhelfen, immer und ewig, bis daß der Tod euch scheidet. So war meine Mutter, eine gute alte Wanderprediger-Fundamentalistin aus dem Mittleren Westen. Aber ich war anders.« Sie erhob sich von dem Stuhl und lehnte sich haltsuchend an das Waschbecken. 158
»Ich gehe jetzt zurück zu meinem Tee. Zurück in die allerfeinste Suite mit dem allerfeinsten Porzellan. Und zurück in mein eigenes gottverdammtes Leben. Wenn du glaubst, ich würde dir auch nur einen roten Heller für das zahlen, was in dem Umschlag ist, dann hast du deinen neunmalklugen Verstand verloren. Von mir aus kannst du die Fotos in die Lobby ans Schwarze Brett hängen. Es ist mir scheißegal.«
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16 Ich war so schnell draußen, daß selbst Phoebe meinen Abgang nicht mitbekam. Ich brauchte dringend frische Luft. Als ich auf die Straße trat, fing es gerade an zu schneien. Ich eilte in westliche Richtung gegen den Strom der Weihnachtseinkäufer. Es war später Nachmittag, die Dämmerung setzte ein, und von den Straßenlampen war im Nebel nur ein schwacher Strahlenkranz zu sehen. Diese Jahreszeit war mir in Manhattan die liebste: das Gedränge auf den Hauptgeschäftsstraßen, der glitzernde künstliche Schnee und die flimmernden Lichter in den Schaufenstern, die Engel im Rockefeller Center. Ich ging gerade an einem Chor auf den Stufen der Saint Patricks Cathedral vorüber, der in vollkommener Harmonie Adeste fidelis sang, als mir bewußt wurde, daß ich in diesem Jahr möglicherweise nicht zu meinen Nichten und Neffen in Connecticut heimfahren würde. Vielleicht würde ich am Weihnachtsmorgen nicht wie sonst viel zu früh aufwachen, um einen Strumpf zu betasten, der vor Altersschwäche schon ganz ausgeleiert war und durch dessen löchrige Ferse Hershey’s Kisses herausfielen. Höchstwahrscheinlich würde ich im Gefängnis sein. Amelia und Myrra, dachte ich und fragte mich, ob eine Dreißigjährige, die sich immer noch auf den Weihnachtsstrumpf ihrer Mutter freute, 160
noch alle Tassen im Schrank haben konnte. Offenbar war es mir nicht möglich, mich auf irgend etwas zu konzentrieren. Gedanken und Bilder kamen und gingen: Julie und Myrra, Camille, Nick Carras, eine College-Freundin, die Selbstmord begangen hatte, indem sie sich in ihrem Zimmer an dem Heizungsrohr an der Decke erhängte. Ich bog in die Sixth Avenue ein und überlegte, daß alles irgendwie zusammenpassen mußte. Und ich war schon ein gutes Stück Richtung Times Square, bevor mir bewußt wurde, daß ich nicht bei klarem Verstand sein konnte. Es war nicht später als fünf, aber schon dunkel. Um diese Tageszeit ist es am Times Square voller Menschen und Geräusche aufregend wie auf einer Achterbahn, atemberaubend und trotzdem sicher. Ich hielt mich an den Hauswänden, betrachtete Plakate für Broadway-Shows und Pornofilme und versuchte, durch die flackernden Neonlichter und die schmierigen Scheiben in das Innere eines billigen Theaters zu schauen, das sich lediglich »Live! Girls! Live!« nannte und »Ladies Night am Donnerstag – freier Eintritt für Damen« versprach. Der schmale Eingang wurde von einem überlebensgroßen illuminierten Santa Claus aus Plastik verstellt, über dem eine Lichterkette aus blauen und gelben Lämpchen »Noel« verkündete. Aus einem Impuls heraus verließ ich die Hauptgeschäftsstraße und bog in eine Seitenstra161
ße mit winzigen Läden, die Anstecker oder Plaketten oder erotische Männerunterwäsche feilboten – was auch immer, wenn es nur exotisch und klein genug war, um in Unmengen auf schwarzem Samt in den Schaufenstern präsentiert werden zu können. In dieser Straße hockten müde, alte und betrunkene Männer in den Hauseingängen; Frauen, die ein halbes Dutzend Pullover übereinander trugen, schlenderten auf und ab und führten Selbstgespräche. Ich ging bis zum Ende des Häuserblocks und bestellte mir in einem Imbiß eine heiße Schokolade zum Mitnehmen. Durch das Fenster blickte ich in die Dunkelheit hinaus, die zum Fluß hinführte. Mich überlief ein Kälteschauer. Zum ersten Mal seit Myrras Ermordung hatte ich wirklich Angst. Irgend etwas ging da draußen um. Ich meinte, es zu sehen, obwohl ich es in den Schattenbildern der trüben Straßenlampen und dem flackernden Widerschein der Neonlichter vom Broadway nicht identifizieren konnte. Ich nahm die heiße Schokolade, fest entschlossen, zum Square zurückzukehren und das erstbeste Taxi zu nehmen. Jemand hatte mir einmal erzählt, daß sich in der Nähe des Flusses wilde Hundemeuten herumtrieben, gefährlicher als Wölfe, voller Haß auf Menschen. Ich trat in die Dunkelheit hinaus und sprach mir Mut zu. Der Fluß war weit genug entfernt, noch viele Häuserblocks, und es gab keinen Grund, weiter dieser 162
Straße zu folgen auf der Suche nach etwas, das ich gar nicht finden wollte. Ich wurde das Gefühl nicht los, daß ich es bereits gefunden hatte. In meiner Vorstellung hatten sich die Betrunkenen in den Hauseingängen in Morast verwandelt, der die krakenhaften Alpträume meiner Kindheit zu neuem Leben erwachen ließ. Unter meinen Füßen waberte und wucherte es, lautlos. Rasch überquerte ich die Straße und zwang mich dazu, fast in der Mitte des Häuserblocks stehenzubleiben, vor dem Fenster eines Ladens, in dem es ›Sexartikel‹ zu kaufen gab. Ich nippte an der heißen Schokolade und betrachtete die mit Stacheln besetzten Lederpeitschen, nägelstrotzende Gesichtsmasken aus Leder, eine Lederhose, an die vorne ein Dildo geschnallt war, von dem sich nach allen Seiten dünne Metallborsten sträubten. Das ganze Sado-Maso-Repertoire, ein Riesenspaß in College-Schlafräumen überall auf der Welt, wenn Studentinnen in Nachthemd und Morgenmantel die Nacht durchmachen und aus Kaffeetassen Gin und Fruchtsaft trinken. Das Geräusch von Schritten, hohe Absätze, Lederschuhe. Langsam und weit hinter mir. Ich wandte mich Richtung Square dem Lichterschein zu und ging los, schlängelte mich durch die alten Frauen mit ihren vielen Pullovern und ihren Selbstgesprächen. Ein halber Häuserblock, ein kurzer Block, eine Seitenstraße, keine Hauptstraße, und was auch immer hinter mir herlief, 163
war jung und weiblich, vielleicht eine Nutte, nichts, wovor ich Angst zu haben brauchte, niemand, den ich kannte. Ich bog um die Ecke der Ninth Avenue und blieb atemlos in der Schaufensterbeleuchtung eines Schallplattengeschäftes stehen. Es war jetzt stockdunkel und bitterkalt, in der Kälte fühlten sich meine Lippen und Hände trocken und rauh an. Ich las jedes einzelne Wort auf dem Cover eines Albums von Kim Carnes, dann hörte ich sie wieder. Die Schritte einer Frau in hohen Lederpumps, langsam, unregelmäßig, näher und näher. So schnell ich vermochte, eilte ich dem Zentrum, den Lichtern entgegen. Alle paar Meter drückte mir ein anderer Mann mit anderer Mütze einen anderen Zettel in die Hand. Ich konnte sie unmöglich ablehnen, und so füllten sich meine Taschen mit Handzetteln in billigen Pastelltönen und mit glänzenden Broschüren, in denen Frauen mit Gewichten hantierten. Schwangerschaftstest und Prospekte für Kurorte, Kino-Freikarten, Sonderangebote für Männerunterwäsche – alles landete in meinen Taschen. Ich hatte weder Zeit stehenzubleiben, noch Zeit einen Blick darauf zu werfen. Plötzlich fand ich mich unterhalb der Zweiundvierzigsten Straße in einem Teil der Ninth Avenue wieder, in dem es an einem Samstag so öde und verlassen war wie in einem In164
dustriegebiet. Weit und breit nichts als vergitterte Ladenlokale und der Klang dieser Schuhe. Ich stolperte über einen Betrunkenen hinweg in den Schutz eines Hauseinganges. Ich würde hier warten, obwohl ich genau wußte, daß es ein Fehler war. Ich hätte hinaus auf die Fahrbahn rennen, mich in den Verkehr stürzen, einem Taxi oder einem Streifenwagen winken sollen. Statt dessen drückte ich mich in diesen Hauseingang und fühlte mich klein, winzig, ein Nichts. Und am Rande der Hysterie. Ich schloß die Augen und lauschte angestrengt, die Schuhe kamen näher, wurden schneller, die metallenen Absätze klangen auf dem Pflaster als würde eine Gabel gegen Glas geschlagen. Ich wartete bis zum allerletzten Augenblick. Ich wartete, bis ich ihren Atem hören konnte, heftige, kurze Atemzüge in der kalten Luft. Dann streckte ich den Arm aus und hielt sie am Mantelärmel fest. Die Frau schrie auf. Und ich blickte direkt in das Gesicht von Lydia Wentward.
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17 »Das ist es, was ich brauche«, gurrte Lydia. »Keinen stört’s. Keiner sieht’s. Genau das, was ich brauche.« Sie richtete das Ende des silbernen Röhrchens auf die schmale weiße Spur Kokain auf dem dunklen Holztisch im Restaurant und zog sie durch die Nase hoch – zuerst durch ein Nasenloch, dann durch das andere. Es ging so schnell, daß ich es kaum mitbekam. »Sterlingsilber.« Sie schwang das Röhrchen in der Luft. »Habe auch ein Etui aus Sterlingsilber. Beides von einem Nobel-Juwelier in Philadelphia. Niemanden schert’s. Hier stechen sie sich auf der Toilette Nadeln in die Arme.« »Es ist nicht dasselbe.« Das mit der Toilette zweifelte ich keinen Augenblick lang an. »Aber wenn er dich sieht, muß er die Polizei rufen.« »Das würde er nicht tun. Er würde die Polizei auch dann nicht rufen, wenn ich jemanden an der Bar niederstechen würde.« Sie zwinkerte mir zu und kicherte. »Totstechen! Totstechen! Wir denken doch alle zur Zeit an nichts anderes. Totstechen.« »Leider.« Der Kellner tauchte auf, und ich winkte ihm. Ich brauchte dringend irgendeinen starken Drink, bevor ich versuchen würde, herauszubekommen, was Lydia am Times Square zu suchen gehabt hatte. Warum war sie mir gefolgt? Warum hatte sie mich nicht beim Namen 166
gerufen und sich bemerkbar gemacht? Aber vielleicht war sie mir gar nicht gefolgt. Vielleicht war es ein Zufall gewesen. Damit wollte ich mich nicht abfinden. Ich wollte mich auch nicht mit dieser Bar abfinden, einem düsteren Loch mit billigem Whiskey und verwässerten Drinks gleich vor der Sex- und Pornomeile der Zweiundvierzigsten Straße. Der Kellner trat an den Tisch, die Fäuste in den Taschen seiner schmutzigen weißen Schürze, den Blick auf Lydia gerichtet. Er grinste anzüglich. »Johnnie Walker Red Label on the Rocks«, bestellte ich in der Hoffnung, dem fast unvermeidlichen Jack Daniels vorzubeugen. »Und für sie eine Flasche Bier. Heineken.« »Gibt’s nicht«, sagte er. »Budweiser, Miller, Molson’s.« »Dann eben Molson’s.« »Molson’s.« Er verbeugte sich übertrieben und entfernte sich ein wenig schwankend und ohne sonderliche Eile. »Totstechen. Nur darum geht es«, meinte Lydia. »Ist es das, was du heute abend vorhattest? Wolltest du mich da draußen am Times Square erstechen?« Ihre Augen schienen immer größer zu werden, bis sie in einem Anfall von hemmungslosem Gekicher die Lider schloß. »Wie könnte ich dich erstechen? Dafür müßte 167
ich erst so ein Ding kaufen, wie’s die kessen Väter tragen, und so was würde ich sowieso nicht tun. Das ist doch nur das Zweitbeste. Nein, das Drittbeste. Das Zweitbeste sind Männer, und das hier ist das Allerbeste.« Sie wedelte mit ihrer Handtasche. »Weißt du, daß es hundertvier verschiedene Ausdrücke für Bumsen gibt?« »Und du kennst sie alle.« »Ich habe eine Liste angelegt. In einem Notizbuch.« Sie beugte sich weit über den Tisch, so daß ich ihren Knoblauchatem riechen konnte. »Willst du wissen, wo ich war? Ich war bei Chappie’s.« »Was ist das?« »Das weißt du doch am besten. Du bist auch dagewesen. Ich habe dich in der Straße gesehen.« »In dieser Straße habe ich mir nur eine heiße Schokolade gekauft. Ich war nicht bei Chappie’s.« Lydia setzte sich zurück und schmollte. »Sie hätte mir niemals erlaubt, da hinzugehen. Sie sagte, es sei nicht gut für mich. Aber das stimmt nicht.« »Wer hätte dir verboten, da hinzugehen?« »Julie. Julie sagte, ich würde eingesperrt oder den Verstand verlieren, aber das war Blödsinn. Wenn ich bis jetzt noch nicht verrückt bin, werde ich es nie sein.« »Vielleicht bist du es längst«, meinte ich. »Was hast du dir dabei gedacht, mich zu verfolgen? Warum hast du nicht einfach gerufen? Ich dachte, du wolltest mich umbringen.« 168
»Das tun sie da auch.« Ihre Augen blitzten. »Auf der obersten Etage. Keiner weiß das, aber ich.« »Was machen sie da?« »Leute umbringen und dabei filmen«, entgegnete Lydia seelenruhig. »Mädchen.« Automatisch griff ich nach meinen Zigaretten. Was Lydia da gerade behauptet hatte, konnte ich nicht glauben, aber es erschien mir auch nicht unmöglich. Ich wußte nicht, was ich davon halten oder wie ich reagieren sollte. Ich hatte keine Ahnung, ob Lydia stoned oder übergeschnappt war. Ich zündete mir eine Zigarette an und warf ihr das Päckchen zu, weil sie so aussah, als wollte sie es haben. Und dann erschien der Kellner mit den Getränken. Der Scotch war verwässert und das Molson’s wurde mit einem schmutzigen Glas serviert, aber es war eine willkommene Unterbrechung. »Vierfünfzig«, sagte der Kellner. Ich gab ihm einen Fünfer. »Stimmt so.« Er machte wieder eine übertriebene Verbeugung. »Zu fett«, stellte Lydia fest. »Sie sind alle zu fett.« »Wer?« »Sie heißen alle John. Jedenfalls haben wir sie immer so genannt. Vielleicht nennt man sie jetzt auch noch so. Es ist lange her.« Sie schlürfte gedankenverloren an ihrem Bier. »Habe ich dir 169
schon gezeigt, was ich heute gekriegt habe? Heute habe ich was wirklich Feines bekommen. Erste Sahne.« Sie rollte ihren Ärmel hoch und schwenkte den Arm vor meinem Gesicht, dann legte sie ihn auf den Tisch. Ich nahm einen großen Schluck und starrte auf die Striemen, die Einstiche, die rasiermesserfeinen S-förmigen Linien aus getrocknetem Blut. »Überall auf mir«, sagte sie befriedigt. »Überall – auch auf den Titten.« Sie brach in kreischendes Gelächter aus und mußte husten, als ihr der Schwefel von ihrem Zündholz in die Nase stieg. Sie warf es brennend in den Aschenbecher und entzündete ein neues. »Sieh mal.« Sie schob die Haare im Nacken hoch und zeigte mir etwas, das wie eine Kreuzung zwischen Narbe und Tätowierung aussah, ein kleines schwarzes Herz mit einem S in der Mitte. »Das habe ich mir 1944 machen lassen, damals war ich achtzehn. Jetzt bin ich fünfundfünfzig. Wußtest du das?« »Nein.« Ich überlegte fieberhaft. Phoebe. Ich muß unbedingt Phoebe anrufen. »Ich bin fünfundfünfzig. Ich bin die einzige alte Hure, die du jemals kennenlernen wirst, die nicht in der Gosse gelandet ist. Das ist ein Geheimnis. Sie behauptete, meine Bücher würden nicht mehr veröffentlicht, wenn es herauskäme. Aber sie ist tot, oder?« 170
»Julie? Ja, Julie ist tot.« »Wegen ihr habe ich mir die Haare wachsen lassen. Selbst damals in den Sechzigern, als alle eine Frisur wie Mia Farrow hatten. Sie bestand immer darauf, daß ich sie lang trug. Um das hier zu verdecken.« Sie ließ die Haare wieder über die Narbe fallen. »Mir gefällt das. Ich war damals achtzehn. Und hübsch.« »Da bin ich ganz sicher.« Phoebe würde nicht da sein. Phoebe war auf der Tagung und anschließend zum Abendessen. »Nein, das bist du nicht«, erklärte Lydia. »Ich sehe aus wie ein Stück Scheiße. Ich bin fünfundfünfzig und sehe wie hundertsechs aus, und es ist mir verdammt egal. Mir ist es auch völlig egal, daß ich mal eine Nutte war. Scheißegal.« Sie schlürfte den Rest ihres Bieres aus der Flasche und knallte sie verkehrt herum auf den Tisch. »Soll ich dir mal was sagen? Ich war nicht einmal wirklich hübsch. Nicht so hübsch wie die anderen Mädchen, die für die Serien schreiben. All diese netten Mädchen aus diesen netten kleinen Häusern an der Durchgangsstraße – sie suchen doch nichts anderes als den idealen Mann und die ideale Faltencreme.« »Janine«, schlug ich vor. »Laß uns Janine anrufen.« Lydia verzog das Gesicht. »Die Frau im grauen Flanell. Da sah Gregory Peck aber besser aus.« 171
»Gregory Peck erwartet dich aber nicht zum Dinner im Hotel.« Lydia hob die Schultern. »Irgendwann ziehe ich los und kaufe mir ein niedliches, anständiges Kleid. Mit kleinen Blümchen, schmalem Gürtel und rundem Krägelchen. Dann sehe ich aus wie ihr alle.« »Bestell dir noch ein Bier«, befahl ich. »Ich bin gleich wieder da.« Ich legte einen weiteren Fünfer auf den Tisch und eilte in den hinteren Teil der Bar, vorbei an der einzigen halboffenen Tür, auf der »Toilette« stand, zu einer engen Nische neben der Küche, wo ich einen Münzfernsprecher vermutete. Ich hatte recht, und der Apparat funktionierte sogar. Das Freizeichen klang laut und beruhigend. Ich grub ein Zehncentstück aus der Tasche und wählte die Nummer des Cathay-Pierce. »Könnten Sie bitte Miss Janine Williams ausrufen lassen?« bat ich, als endlich jemand ans Telefon kam. »Versuchen Sie’s auf 1406.« »Einen Augenblick bitte.« »Pay? Pay McKenna?« Ich blickte auf. Lydia kam auf mich zugewankt, mit offenem Haar, hängenden Schultern und wackligen Beinen. Mit einem Arm stützte sie sich an der Wand und bewegte sich so langsam auf mich zu, als würde sie sich durch Sirup hindurchkämpfen. »Ich wollte nur sehen, ob du noch da bist«, lallte sie. »Wollte ganz sicher sein.« 172
»Ich bin noch da.« »Du darfst doch jetzt nicht weggehen. Nicht jetzt. Kein guter Zeitpunkt.« Sie brachte ein Lächeln zustande, das all ihre Zähne und noch mehr Zahnfleisch entblößte, dann sackte sie vor meinen Füßen zusammen.
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18 Ich kippte ihr ein Glas Wasser ins Gesicht und brachte es irgendwie fertig, sie solange wieder wach zu kriegen, bis ich sie auf die Füße gestellt, durch die Bar hinaus zum Broadway geschafft und in ein Taxi verfrachtet hatte. Ihre Haare waren naß, als wir hinaus auf die Straße traten, und ich hoffte, daß der starke eiskalte Wind dafür sorgen würde, daß sie bei Bewußtsein blieb. Weit gefehlt. Kaum hatte ich dem Taxifahrer das Fahrtziel genannt, da schloß sie auch schon die Augen und versank wieder in Schlaf. Das Makeup rann ihr in dicken roten, schwarzen und braunen Strömen übers Gesicht, so daß es aussah wie ein von Pfadfinderinnen gebasteltes topographisches Gipsrelief. Ich zündete mir eine Zigarette an und hielt durch das Fenster hindurch Ausschau nach einer Uhr. Dieses Taxi hatten wir viel zu schnell gefunden. Es war bestimmt schon spät. Der Fahrer hielt vor dem Seiteneingang des Cathay-Pierce in der Achtundfünfzigsten Straße. Ich zahlte, öffnete die Tür, die der Bordsteinkante am nächsten war, stieg auf der Straßenseite aus und ging um den Wagen herum. Lydia lag wie ein nasser Sack quer über dem Sitz, eine Reihe falscher Wimpern war ihr auf die Wange gerutscht. Auf ihren Lippen lag ein seliges Lächeln. Ich begann, sie an den Beinen hinaus in die 174
schmale schneebedeckte Rinne am Rand des Bürgersteigs zu zerren. »Herrgott!« ertönte eine Stimme. »Da bist du ja endlich! Wo hast du gesteckt?« »Was ist eigentlich los, Lady?« Der Fahrer wurde ungeduldig. »Soll ich noch ein halbes Jahr hier am Bürgersteig warten? Wenn ja, stelle ich die Uhr wieder an.« Ich blickte auf und in das offene, markante Gesicht von Nick Carras. Was, um alles in der Welt, machte er hier? »Ich brauche Hilfe«, sagte ich. »Sie ist fix und fertig, schwer wie Blei und völlig außer Gefecht. Bist du immer noch daran interessiert, meinen Fall zu übernehmen?« »Warum?« »Weil das hier unter die Rubrik ›streng vertraulich‹ fällt.« »Streng vertraulich.« Er bückte sich und hievte Lydia vom Sitz. Als er sie auf dem Arm hielt, sah er aus wie eine Karikatur des guten Jungen auf dem alten Boy’s Town Poster. Ich gönnte mir einen Augenblick, Nick in Jeans zu bewundern, dann knallte ich die Taxitür zu. »Gibt es irgendeine Möglichkeit, sie unbemerkt raufzuschaffen? Einen rückseitigen Lift? Wenn wir ihren Arzt anrufen könnten –« »Sie braucht keinen Arzt. Sie schläft.« Nick hielt mir Lydia unter die Nase. »Hör doch. Reguläre Atmung. Gleichmäßig und tief.« 175
»Und Bier, Kokain und wer weiß was noch alles. Ganz zu schweigen von der Time, Newsweek und dem halben Team von den CBSAbendnachrichten. Wenn sie Lydia in diesem Zustand erwischen, weiß es bald alle Welt.« »Na und?« »Unsere Leserinnen sind biedere Hausfrauen in Iowa, Kansas und Missouri. Was glaubst du, was die von einer Überdosis Koks in einem zwielichtigen Schuppen in der Zweiundvierzigsten Straße halten?« »Schon gut«, sagte Nick. Er trug Lydia zum Hoteleingang, quetschte sich mit ihr durch einen Drehtürflügel und wartete drinnen auf mich. »Ich schaffe sie dir nach oben«, versprach er und ging mir voraus durch die verlassene rückwärtige Halle hinter der Lobby. »Aber es wird dir kaum gelingen, die Sache absolut geheimzuhalten. Martinez mußt du es ohnehin erzählen.« Er drückte den Aufzugknopf und schien genauso überrascht zu sein wie ich, als sich die Tür gleich darauf öffnete. Wir traten in die Kabine. »Vierzehnter«, sagte ich zu Nick. »Was will Martinez?« »Aus dem Grund habe ich dich gesucht. Auf Befehl einer gewissen Phoebe Weiss, jetzt Damereaux, soll ich dich finden, herausbekommen, wo du gesteckt hast, und mir etwas ausdenken, wie ich Martinez davon überzeugen kann, daß du die Wahrheit sagst.« Die Tür glitt auf der achten Eta176
ge auf, aber es war niemand zu sehen. »Gott sei Dank.« Nick seufzte. »Solange uns keiner sieht, geht alles gut.« Die Tür öffnete sich auf dem vierzehnten Stock. Ich hielt sie Nick auf, bis er Lydia hinaus und auf den Flur bugsiert hatte. Dann folgte ich ihm und kramte in Lydias Handtasche nach dem Zimmerschlüssel. Ich fand vier rezeptpflichtige Fläschchen Quaalude, eins mit Luminal, ein Döschen Kokain, ein Röhrchen Amphetamine, ein paar Gramm Marihuana und einen silbernen Flachmann mit Gin. »Da wären wir.« Mit zitternden Fingern schloß ich die Tür auf. »Du liebe Güte!« entfuhr es mir. »Was hat sie denn hier angestellt?« Nick trat ins Zimmer und blickte verwirrt auf das Durcheinander von Unterwäsche, Zeitschriften, Zigarettenschachteln, Liebesromanen, Bonbonpapier und Filmmagazinen auf dem Fußboden. »Das Zimmermädchen kommt doch täglich.« Er war fassungslos. »Wie kriegt sie das an einem einzigen Tag hin?« »Woher soll ich das wissen? Schaff sie ins Schlafzimmer. Ich hole Janine. Sie soll den Arzt rufen.« Nick legte Lydia auf die Couch. »Du kannst Janine jetzt nicht holen. Sie ist unten und spricht mit der Polizei.« Ich blieb wie angewurzelt stehen und starrte 177
ihn an. Mein Magen krampfte sich zusammen, und ich spürte, wie die Betäubung, die mich in Notsituationen immer überkommt, allmählich nachließ. »Janine spricht mit der Polizei? Warum?« Nick setzte sich auf den Boden, den Rücken gegen die Couch gelehnt, auf der Lydia lag, und streckte die Beine aus. Mehr denn je sah er aus, wie sich eine Bennington-Studentin im ersten Semester einen griechischen Gott vorstellt. Als er sprach, klang seine Stimme wie die des Todes im mittelalterlichen Mysterienspiel. Irgend etwas war schlimm und wurde immer schlimmer. Nicks wachsenden Pessimismus empfand ich wie einen Vorwurf. »Ich weiß selbst noch nicht so genau, was eigentlich passiert ist«, erklärte er. »Nachdem Phoebe und ich uns endlich von Amelia losgeeist hatten, machte ich einen Spaziergang. Vor ungefähr einer halben Stunde kam ich zurück. Als ich durch die Tür ins Hotel trat, öffnete sich auf der anderen Seite der Lobby die Lifttür und dieser Bursche stürzte heraus und schrie, jemand ist tot. Wir rannten alle auf den fünften Stock. Phoebe kam aus einer anderen Richtung. Sie warf nur einen einzigen Blick auf diese Frau, dann sagte sie, ich müßte dich finden. Wo warst du überhaupt?« »Am Times Square.« Ich wies auf Lydia auf der Couch. »Ich bin auch spazierengegangen. Dabei traf ich Lydia. In dem Zustand.« 178
»Genau so?« Nick warf Lydia einen raschen, prüfenden Blick zu. »In dem Zustand? Auf der Straße?« »Natürlich nicht. Sie war betrunken oder stoned oder sonstwas. Ich brachte sie in eine Bar in der Zweiundvierzigsten und spendierte ihr ein Bier. Wie ich dir schon erzählt habe, hat sie sich da noch ein bißchen mehr Koks genehmigt.« »Und ist umgekippt.« »Umgekippt oder von einer Überdosis ohnmächtig geworden oder ins Koma gefallen oder noch schlimmer.« Ich sah unruhig zu Lydia hinüber. »Ich meine, wir sollten im Krankenhaus anrufen. Ich habe keine Ahnung, was sie noch alles geschluckt oder geschnüffelt hat.« »Du bist also während der letzten fünfundvierzig Minuten mit ihr zusammen gewesen?« »In der letzten Dreiviertelstunde war ich wohl ausschließlich damit beschäftig, sie in ein Taxi rein und wieder rauszuschaffen.« »Um welche Zeit hast du das Hotel verlassen?« »Du hast mich doch gesehen. Du hast doch mitbekommen, wie ich mich von Amelia abgesetzt habe. Ich bin direkt nach draußen gegangen.« »Hat sonst jemand gesehen, wie du das Hotel verlassen hast?« »Keine Ahnung«, entgegnete ich. »Du und Phoebe. Amelia. Was macht das für einen Unterschied?« 179
Er schloß die Augen und legte stirnrunzelnd den Kopf zurück. »Womöglich besteht überhaupt kein Zusammenhang. Aber das glaube ich nicht.« Er holte eine braune Papiertüte aus der Tasche seiner Daunenjacke und warf sie mir zu. »Baklava. Das gleiche wie heute morgen.« Ich nahm mir ein größeres Stück aus dem Wachspapier. »Laß uns eins klarstellen«, sagte er. »Du hast Phoebe also nicht heute abend um Viertel nach sechs angerufen und sie gebeten, dich um halb sieben auf dem fünften Stock in diesem Hotel zu treffen?« »Natürlich nicht. Ich war –« Ich deutete in Richtung Lydia, die immer noch schlaff auf der Couch lag. »Wir haben ja schon vermutet, daß irgend jemand dich belasten will.« Er seufzte. »Warum sollte es heute anders gewesen sein? Du marschierst über die Sixth Avenue – ein netter, gemütlicher Spaziergang, um frische Luft zu schnappen. Eine großartige Idee. Du kannst nichts davon beweisen. Während du dich draußen herumtreibst, ruft eine Frau Phoebe an, gibt sich für dich aus und erzählt ihr, daß sie unbedingt um halb sieben auf die fünfte Etage kommen muß. Wenn sie da ankommt, hat jemand Leslie Ashe traktiert. Mit einem Messer.« »Leslie Ashe? Myrras Enkelin? Leslie Ashe?« »Ich kannte die Frau nicht«, sagte Nick. »Ich 180
hätte nicht gewußt, daß es diese Leslie Ashe war.« »Ich hätte Leslie Ashe auch nicht erkannt. Ich habe sie nie zuvor gesehen.« Ich betrachtete Lydia, wie sie da lag – bleich und schmutzig und abgewrackt. »Ich rufe besser doch den Arzt«, meinte ich. »Und vielleicht sollte ich mich mit Phoebe in Verbindung setzen. Und herausbekommen –« Ich brach ab. Hinter meinen Augen baute sich ein unerträglicher Druck auf. Auf einmal hatte ich keine Kraft mehr. »Leslie Ashe«, stammelte ich. »Um Himmels willen! Nick! Was ist passiert?«
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19 Stimmen auf dem Flur, hysterisch und rauh, schneidend und weinerlich und schrill. Am Türrahmen zwei Polizisten, die Arme vor der Brust verschränkt. »Warmes Wasser und Seife, damit kriegst du das Blut am besten raus. Warmes Wasser und Kernseife.« »Mineralwasser tut’s auch, bevor es getrocknet ist.« »Die Scherben dürfen nicht in den Staubsauger. Da geht der Beutel kaputt.« »Das ist die Farret-Suite«, erklärte ich und legte die Hand auf Nicks Arm. Er ging langsamer, und ich hatte Zeit, mir einen Überblick zu verschaffen: Eine Gruppe junger Frauen in Pastelltönen, dicht gedrängt wenige Zentimeter vor der Polizeiabsperrung, Mary Allard, Hände und Rücken an die hintere Wand gepreßt, Janine in Tränen aufgelöst auf dem Boden inmitten eines Haufens Papier. Als wir näherkamen, konnte ich das Blut sehen, eine schmale Spur, die aus der Dunkelheit der Suite kam. Es fing bereits an zu gerinnen. Ich wurde am Arm gepackt und herumgerissen. »Wo warst du?« zischte Phoebe. »Martinez wird jeden Moment hier auftauchen. Hast du Nick gesehen?« Sie entdeckte ihn und nickte erleichtert. »Ich bin bald wahnsinnig geworden, du 182
hast ja keine Ahnung, und dann konnte ich dich nirgends finden.« »Was fehlt Janine denn?« erkundigte ich mich und drängte mich durch die Frauen hindurch nach vorn. Es war verdammt schwer. Wie die Zuhörer bei einem Open-air Konzert hatten sie ihre Plätze besetzt und behaupteten sie eisern. »Janine?« rief ich ein wenig lauter als nötig und direkt ins Ohr einer dicken jungen Frau mit einer Kolonie frischerblühter Pickel auf dem Kinn. »Janine, bist du in Ordnung?« Sie erhob sich, dabei flatterte das Endlospapier aus ihren Händen zu Boden. Es war getränkt mit Blut. Endlich war ich bei ihr. Ich legte ihr beruhigend den Arm um die Schultern, denn bestimmt befand sie sich am Rand der Hysterie. Sie blickte auf die Papiere am Boden. »Es ist jetzt sieben«, sagte sie. »Ich brauche sie um acht. In der kurzen Zeit bekomme ich niemals einen neuen Ausdruck, niemals.« Sie wischte sich mit dem Handrücken die Augen. »Die hier könnte ich sowieso nicht gebrauchen, selbst wenn sie nicht voller Blut wären.« Sie sah mich an. »Es sind Beweisstücke. Jemand hat versucht, das Mädchen umzubringen, und jetzt sind es Beweisstücke.« Sie brach erneut in eine Tränenflut aus. Ich drückte sie enger an mich, so daß ihre Wange an meiner Schulter lag. »Ist ja gut. Komm schon. Alles ist gut.« 183
»Nein, ist es nicht«, schluchzte Janine. »Wir sind aus dem Rennen. Und das nach der ganzen Arbeit, nach all der Mühe, die es gekostet hat, die Suite zu schmücken, und dann stirbt dieses Mädchen … sie stirbt bestimmt, sie lassen keinen hinein, der Raum soll dunkel bleiben.« Sie blickte böse in Richtung Polizei. »Alles ist gut«, wiederholte ich und zog sie von der Tür weg hinein in die Menge. Sie hielt verbissen an ihren Ausdrucken fest, das Papier schleifte hinter uns her wie das, was in den Werbespots immer verschämt als »weich und doppellagig fürs Bad« bezeichnet wird. Ich lotste Janine durch die Zuschauer und hin zu Phoebe. »Janine glaubt, sie ist tot«, sagte ich. »Sie blutet nicht einmal mehr«, berichtete Phoebe. »Die Leute sind einfach nur hysterisch.« »Jemand hat auf sie eingestochen.« Janine schniefte. »Wieder und wieder. Alles ist aufgeschlitzt.« Sie schluckte vernehmlich. »Das ganze Gesicht. Der Arm. Überall Blut.« »Soviel war’s gar nicht«, sagte Phoebe. »Eine kleine Pfütze, mehr nicht.« »Jemand hat einen Krankenwagen gerufen«, bemerkte Janine. »Aber der kommt doch nie! Und sie ist nicht bei Bewußtsein. Sie liegt einfach nur da.« Wir hörten metallisches Scheppern und Poltern. Jemand schrie: »Machen Sie bitte Platz«, und wir wurden von der zurückweichenden Menge flach gegen die Wand gepreßt. Zwei Männer in 184
weißen Anzügen stürzten aus dem Lift, schoben etwas vor sich her, das wie eine Trage aussah, und schafften Platz für einen kleinen alten Mann in schmutziggrauem Anzug mit einer Arzttasche in der Hand. »Einen Augenblick.« Ich hatte eine Lücke in dem Gewühl entdeckt und steuerte darauf zu, dabei nutzte ich das allgemeine Durcheinander, um in die Nähe der Tür zu gelangen. Es war einfacher, als ich erwartet hatte. Alle Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die Männer von der Ambulanz und den Arzt. Selbst die beiden Polizisten beobachteten gebannt die Prozedur der Mediziner und vergaßen darüber die Menge. Mit angehaltenem Atem schlüpfte ich hinter einem von ihnen vorbei durch die Tür. Im Raum war es dunkel, die Deckenlampe bestand nur noch aus ein paar stromführenden Drähten und zerbrochenem Glas. Die Tischlampen lagen zertrümmert auf dem Boden. Irgend jemand zog die Vorhänge zurück, so daß das fahle Licht der Straßenbeleuchtung ins Zimmer drang, und in diesem Licht konnte ich die umgestürzten Stühle sehen, die Beistelltischchen, von denen keines mehr an seinem Platz stand, und den Haufen Bücher und Papiere auf dem Boden. Jemand hatte den Raum durchsucht und war dabei wenig professionell zu Werk gegangen. »Licht«, ertönte eine Stimme. Im Raum wurde es unvermittelt so hell wie in einem Studio zum 185
Auftakt einer Talk-Show. Ich bewegte mich langsam rückwärts auf die Tür zu und ließ dabei die Hände in meinen Taschen. Hier in diesem Zimmer wollte ich auf keinen Fall Fingerabdrücke hinterlassen. Das hätte Martinez gerade noch gefehlt. Es hätte ihn wenig Mühe gekostet, herauszufinden, daß ich vor heute abend noch nie in diesem Raum gewesen war. Unbemerkt von der Polizei gelangte ich aus der Tür hinaus und wieder in das Gedränge. Ich kämpfte mich zu Phoebe, Nick und Janine durch. Die Frauen waren weiter vorgerückt und drängten sich noch enger aneinander, jede versuchte, einen Blick durch die Tür zu erhaschen. Ich stolperte gegen die Frau mit den Pickeln und hörte, wie sie sagte: »Sie hat um ihr Leben gekämpft. Wie mutig!« Ich war drauf und dran die kleine Närrin zu fragen, was jemand denn ihrer Meinung nach sonst tun sollte, wenn er von irgendeinem Wahnsinnigen mit einem Messer attackiert würde, aber dann sparte ich mir die Mühe. Ich hatte nicht den Eindruck, daß die Frau in dem Zimmer tatsächlich um ihr Leben gekämpft hatte. Der Raum sah nicht so aus, als hätte darin ein Kampf stattgefunden. Kein zerbrochenes Mobiliar, keine heruntergerissenen Vorhänge. Die Deckenlampe konnte unmöglich während eines Handgemenges zu Bruch gegangen sein. Sie hing in einer Höhe von über vier Metern. 186
Ich versetzte der Frau noch einen Schubs, dann arbeitete ich mich auf die Wand zu. Phoebe würde bestimmt da auf mich warten. Aber die Ecke, wo sie gestanden hatte, war leer. Einen Augenblick lang blickte ich etwas ratlos auf eine Stelle, wo die Farbe anfing, von der Wand abzublättern, dann drehte ich mich um. Was auch immer ich von hier aus hätte überbli ken können – mir wurde die Sicht von der Menschenmenge verstellt, die wieder zurückwogte. Einer der weißgekleideten Männer hatte die Leute von der Tür weggescheucht. »Zurücktreten!« brüllte jemand. »Treten Sie zurück! Machen Sie den Weg frei. Zurücktreten!« »Wirklich ein ausgesprochen höflicher Verein«, ertönte eine Stimme an meinem Ohr, während die Leute gehorsam eine Gasse bildeten. »Die vergessen nie ihre guten Manieren.« Ich drehte mich um und sah in das kleine Fuchsgesicht von Mary Allard. Ihre von Natur aus zarten Gesichtszüge hatte sie mit einem kräftigen Schlag Rouge auf Wangen und Lippen erfolgreich bekämpft. Ich deutete mit einem Kopfnicken auf die Tür. »Hast du eine Ahnung, was da passiert ist? Ist sie tot?« »Nein, sie ist nicht tot.« Sie richtete den Blick ihrer funkelnden Äuglein auf die Türöffnung. Außer Bosheit lag noch ein anderer, schwer zu 187
beschreibender Ausdruck darin. »Ich weiß, was eigentlich hätte passieren sollen.« »Ich wüßte lieber, was tatsächlich geschehen ist.« Mary zuckte die Achseln. »Nichts leichter als das. Miss Ashe spazierte um halb sieben in die Gästesuite von Farret, als niemand da war, und ein schreckliches Ungeheuer folgte ihr, schlug sie zusammen und schlitzte sie auf und ließ das Messer für jeden sichtbar auf dem Boden liegen. Es sei denn, alles wäre anders gewesen. Miss Ashe kam nicht um halb sieben. Sie kam schon um sechs.« Mary biß sich mit winzigen, spitzen Zähnen auf die Unterlippe. »Ich bin mit ihr im Lift hochgekommen.« Ich sah sie argwöhnisch an, sprach jedoch die Verdächtigung nicht aus, die sie offenbar von mir erwartete. »Du fühlst dich wohl jetzt, als hättest du mal wieder mächtig für Wirbel gesorgt«, sagte ich. »So wie neulich. Hattest du da nicht etwas Ähnliches im Sinn?« »Ich?« Sie fuhr herum und packte mich am Arm. »Ich? Der Brief ist echt, damit du es nur weißt. Das kann ich beweisen. Das werde ich auch beweisen, du wirst schon sehen.« »Laß mich los.« »Ihr versucht doch alle, mich abzuservieren. Und womöglich gelingt euch das auch, aber nicht, weil dieser Brief nicht echt wäre. Er ist echt. 188
Es ist Julie Simms eigene Handschrift. Und außerdem lasse ich mir das alles nicht länger gefallen. Ich lasse nicht zu, daß ihr mich weiterhin beim Dinner schneidet und mich beim Lunch kalt abfahren laßt und mich auf Konferenzen ignoriert.« »Du leidest unter Verfolgungswahn.« Sie ließ abrupt meinen Arm los. »Ich habe die Nase gestrichen voll, euch in den Arsch zu kriechen, wie ein Hündchen Männchen zu machen und so zu tun, als wäre mir das alles scheißegal. Es ist mir nicht scheißegal. Und auf keinen Fall lasse ich dieses kleine Biest damit durchkommen.« »Wen? Leslie Ashe? Was hat sie dir getan?« »Du weißt ganz genau, daß ich nicht von Leslie Ashe spreche.« Sie warf mir einen letzten langen Blick zu, dann drehte sie sich auf ihren hohen Hacken um und stolzierte davon. Ich ließ mich mit dem Rücken gegen die Wand fallen und schloß die Augen. Auf dem Flur war es immer noch laut. Phoebe und Janine und Nick steckten da irgendwo in der Menge, eine Frau lag womöglich im Sterben. Ich konnte nicht mehr, die Situation wuchs mir über den Kopf. Jemand trat mir auf den Fuß, und ich wich zur Seite. Unwillkürlich öffnete ich die Augen. Die Männer von der Ambulanz kamen mit einer Trage über den Flur, sie hielten sie wie in alten Zei189
ten Feuerwehrmänner den Wassereimer in einer Eimerkette. Die dicke junge Frau mit den Pickeln rammte mir den Ellbogen in die Rippen. Ich versetzte ihr einen Stoß, der sie gegen die Frau neben sich taumeln ließ. Das kurze Gerangel brachte mich unversehens in die vorderste Reihe. Ich blickte nach unten und erwartete nichts anderes zu sehen als eine Trage und ein Tuch, unter dem sich der darunter liegenden Körper abzeichnete. Ich sah schwarzes Haar, ein bleiches, übermäßig geschminktes Gesicht, einen Hals, der nicht richtig zur Schulter zu passen schien. Ich sah Spuren von trockenem, geronnenen Blut, sah, wie sich die Brust rhythmisch hob und senkte. Was ich sah, war Gamble Daere.
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20 Eigentlich hätte ich zur Konferenz der BrontëJury gemußt, aber ich ging nicht. Ich gab Phoebe ein Schreiben mit, in dem ich meine Kandidatur zurückzog, schüttelte Nick ab und kehrte in die Suite zurück. Alles, was ich jetzt brauchte, war Ruhe und Frieden und ein heißes Bad. Ich mußte ungestört über die Tatsache nachdenken, daß die Zeitangaben nicht zusammenpaßten. Ganz und gar nicht. Um Viertel nach sechs hatte eine Frau bei Phoebe angerufen, sich für mich ausgegeben und sie gebeten, um halb sieben auf der fünften Etage zu sein. Leslie Ashe war um sechs auf den fünften Stock gekommen. Wenn mir jemand den Mordversuch an Leslie Ashe in die Schuhe schieben wollte, dann mußte diese Person gewußt haben, daß das Opfer schon da war. Wirklich? Oder sollte mir etwas ganz anderes angehängt werden? Außerdem, was hatte Leslie Ashe in der Gästesuite von Farret um halb sieben an einem Samstagabend zu suchen gehabt? Die Gästesuiten würden erst am Montagnachmittag der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ich streute die halbe Packung von Phoebes Wessingham’s Uralt-Lavendel Badesalz auf den Boden der Badewanne und drehte den Hahn voll auf. Camille kauerte auf dem Rand der Badewanne und beobachtete interessiert die Schaum191
bläschen. Es gefiel mir, wie diese Katze es schaffte, gleichzeitig ängstlich und tollkühn zu sein. Und es gefiel mir noch mehr, welche Erinnerungen sie bei mir weckte – Weihnachten im Haus meiner Eltern, Schnee auf dem Rasen vorm Haus und Tiere in der Küche, die Kinder meines Bruders in ihrem Versteck, dem Geheimgang neben dem Kamin im Wohnzimmer. Die Sechs-UhrNachrichten hatten das Neueste über den Mord an Julie gebracht. Zu Hause hatten sie es bestimmt gesehen. Ich fragte mich, was sie sich wohl dabei gedacht hatten. Camille machte Anstalten, sich in den Schaum zu stürzen. Ich schnappte sie mir, nahm sie auf den Arm und setzte mich mit ihr auf den Boden, den Rücken gegen die Wand gelehnt. Der Badezimmerteppich war rauh und kratzig, aber nicht unangenehm an meinen nackten Beinen. Arme und Schultern taten mir weh. Ich rufe am besten meinen Bruder George an, überlegte ich, legte den Kopf nach hinten und schloß die Augen. Meine Mutter machte mir nur Angst, und mein Vater, der seit Jahren ganz darin aufging, miserables Tennis zu spielen, würde mir auch keine große Hilfe sein. George und ich verstanden uns jedoch gut. Er war drei Jahre jünger als ich, und Retter in höchster Not war schon immer sein Traumberuf gewesen. Wenn ich nicht zu Myrras Begräbnis gewollt hätte, wäre ich in Connecticut gewesen, als Julie 192
ermordet wurde. Ich hatte vorgehabt, nach Hause zu fahren. Jetzt wünschte ich, ich wäre dort. Auch wenn ich Angst vor meiner Mutter hatte und mein Vater mehr Charme als praktische Intelligenz besaß – im Vergleich zu dem großen weißen Haus im Schutz der hohen Hekken war der Garten Eden nur ein Paradies zweiter Wahl. Camille machte es sich auf meinen Beinen bequem. Sie rollte sich zusammen und schickte sich an, einzuschlafen. Ich fragte mich, warum Myrras Ohrring in Julies Handtasche gewesen war, warum Julie den Erpresserbrief gehabt hatte, und warum sie jetzt tot war. Ich durfte nicht vergessen, das Wasser abzudrehen, bevor es überlaufen würde. Ob Nick wohl allein lebte? Oder war er mit einer Frau zusammen, die Phoebe nicht gefiel? Mein Rücken schmerzte. Das Klingeln des Telefons weckte mich. Als ich die Augen aufschlug, sah ich das erste dünne Rinnsal über den Rand der Wanne laufen. Ich ließ die Katze auf den Boden plumpsen und sprang auf, um den Hahn abzudrehen. Das Telefon klingelte immer noch. Mir blieb wohl nichts anderes übrig, als den Hörer abzunehmen. Ich holte den Bademantel vom Türhaken und steckte Camille in die Tasche. Sie reckte sich und machte es sich gemütlich. Als ich durchs Wohnzimmer ging, schlug sie bei jedem Schritt leicht gegen meinen Körper. Das Telefon sollte endlich 193
still sein. Aber es klingelte immer weiter und tat mir in den Ohren weh. »Hallo«, meldete ich mich und erwartete am anderen Ende Phoebe oder Nick, oder womöglich Mary Allard. Statt dessen war es Marian Pinckney. Marian Pinckney machte endgültig Schluß mit meinem Wunsch nach Ruhe und Frieden. Ihre Stimme kam durch die Leitung mit der Wucht einer Planierraupe. »Entschuldige«, sagte sie. »Zu früh. Der helle Wahnsinn. Konnte nicht warten.« Ich setzte mich auf den Boden und lehnte mich mit dem Rücken an die Couch. Da ich mir vorgenommen hatte, mich über den Anruf zu ärgern, konnte ich mich jetzt kaum darüber freuen. Dabei war mir klar, wie wichtig er war. Möglicherweise hatte Marian Pinckney Informationen, die ich dringend brauchte. Ich sollte froh sein, daß sie so entgegenkommend war und mich so bald schon anrief. »Ich dürfte dich deswegen nicht anrufen«, erklärte Marian. »Es verstößt gegen das Gesetz. Ich wollte schon zu einer Telefonzelle gehen, aber das hätte zu lange gedauert.« »Dein Telefon wird bestimmt nicht abgehört.« Ich beruhigte sie. Am anderen Ende der Leitung raschelte Papier. »Okay. So. Wegen des Kontos der Samson. Es wurde am zweiten April eingerichtet, theore194
tisch von Miss Samson höchstpersönlich, mit hundert Dollar bar als Einzahlung. Seitdem werden darauf monatlich tausend Dollar überwiesen, jeweils am ersten Werktag. Abgebucht werden –« »Warte mal. Was meinst du mit theoretisch von Amelia selbst? Müssen sich in eurem Laden die Kunden etwa nicht ausweisen?« Marian seufzte. »Natürlich. Aber weißt du, wie leicht es ist, sich eine falsche Identität zu beschaffen? Lies nur mal irgendeinen Spionageroman. Es gibt Millionen Möglichkeiten. Ein Kinderspiel. Selbst die Regierung hilft dir dabei. Außerdem geht es hier um ein ganz normales Konto. Für uns uninteressant. Keine große Sache. Ich habe in der Akte eine American Express-Nummer gefunden, das bedeutet, kein Bild. Wir fragen die Leute nicht nach dem Führerschein oder dem Paß, weil viele so was überhaupt nicht haben. Und ich glaube kaum, daß sich jemand die Mühe gemacht hat, die Amex-Karte zu überprüfen.« »Aber die wenigsten Menschen geben ihre American Express-Karte einem Erpresser.« »Wie auch immer. Der Grund für meine Aufregung ist, daß wir noch ein anderes Konto haben, eins mit dem wir ein wenig Ärger hatten. Aus den Daten geht hervor, Bareinzahlung am Bankschalter von tausend Dollar monatlich an jedem ersten Werktag. Derselbe Betrag wurde in drei Raten von jeweils dreihundertfünfzig, drei195
hundertfünfzig und dreihundert Dollar vom Vierundzwanzig-Stunden-Automaten in der Zweigstelle Zweiundachtzigste Straße West an jeweils drei aufeinanderfolgenden Montagen nach der Einzahlung abgehoben. Außer in diesem Monat. Kapiert?« »Ich glaube schon. Jemand geht an den Schalter und zahlt tausend bar ein. Dann geht jemand zu einem dieser Automaten und hebt das Geld in drei Raten ab. Warum in drei Raten?« »Dreihundertfünfzig ist der Höchstbetrag, den du an einem Tag vom Automaten ziehen kannst.« »Okay.« »Okay. Weiter. Jetzt kommt das, was nicht in Ordnung ist. Zuallererst wäre am Montag von diesem Konto wieder eine Abhebung fällig gewesen, aber es ist nichts geschehen. Am Donnerstagmorgen hat jemand versucht, die Karte zu benutzen, dabei allerdings den falschen Kode eingegeben. Zweimal, dann hat der Computer die Karte gefressen. Den Vorgang hatte ich am Freitagmorgen als Teil eines Sicherheitsberichtes auf meinem Schreibtisch. So was lese ich sonst nie. Dieser hier lag einfach zuoberst auf meinem Schreibtisch, und es war der Anfang des Alphabetes, und –« »Myrra Agenworth«, entfuhr es mir. Mein Magen krampfte sich zusammen. »Woher hast du das gewußt?« Marians Stimme klang argwöhnisch. Kein Wunder. 196
»Allmächtiger!« sagte ich. Etwas anderes fiel mir nicht ein. »Laß den Allmächtigen aus dem Spiel! Oder willst du etwa einen heiligen Eid leisten? Hör mir lieber weiter zu. Als Adresse für das AgenworthKonto ist ein Postfach im FDR-Postamt angegeben. Die Anschrift für das Samson-Konto ist dasselbe Postfach. Ich habe den Computer mit der Adresse gefüttert und ihn die ganze Datenbank durchsuchen lassen. Weißt du, was ich gefunden habe?« »Nein.« »Ich fand sieben – zähl mit, sieben! – aktive Konten mit dieser Postanschrift. Alle mit hundert Dollar in bar eröffnet. Für alle dieselbe Kreditkarte zur Identifikation. Alle mit demselben Muster wie das Agenworth-Konto, tausend eingezahlt, dreihundertfünfzig, dreihundertfünfzig, dreihundert abgehoben. Bei allen erfolgte die Einzahlung am ersten dieses Monats und seitdem keine Abhebungen. Alle am ersten Werktag im April eröffnet.« »Ich verstehe das nicht. Willst du mir weismachen, irgendwer hätte sieben Leute dazu veranlaßt, in eine Zweigstelle der New York Guaranty Trust zu spazieren, ein Konto zu eröffnen, regelmäßig Geld einzuzahlen und dann Kopien von der Computerkarte und die Geheimnummer herauszurücken?« »Nein, nein. Ich glaube, unser Erpresser hat das alles selbst gemacht. Das ganze Geld wurde 197
von der Zweiundachtzigsten West aus abgebucht, die Konten jedoch überall in der Stadt eingerichtet, jedesmal bei einer anderen Zweigstelle. Die Einzahlungen wurden außerdem auch in der ganzen Stadt verstreut vorgenommen. Der Erpresser oder die Erpresserin geht zu einer Zweigstelle, eröffnet ein Konto auf den Namen des Opfers und läßt die Auszüge an das Postfach schi ken. Dann –« »Dann braucht er oder sie nur noch Kopien ihrer belastenden Informationen und einen Stapel vordatierter Einzahlungsvordrucke an das Opfer zu schicken, und das Opfer weiß nicht, von wem es überhaupt erpreßt wird.« »Unsere Erpresserperson kann auch nicht gefaßt werden«, meinte Marian. »Wenn sie eine gefälschte Kreditkarte benutzt oder eine gestohlene, gibt es nichts, was sie mit den Konten in Verbindung bringen würde.« »Ich glaube, ich bekomme Kopfschmerzen.« »Hol dir etwas zu schreiben«, befahl Marian. »Ich gebe dir die Namen der Kontoinhaber durch. Wenn du irgendwas rausfindest –« »Sage ich dir Bescheid«, versprach ich. »Okay. Erstens – Agenworth, Myrra. Zweitens – Wentward, Lydia. Drittens – Simms, Julie. Viertens – Williams, Janine. Fünftens – Samson, Amelia. Sechstens – Caine, Martin. Siebtens – Damereaux, Phoebe, in Klammern Weiss.« Es entstand eine Pause. »Kennst du irgendeine von diesen Frauen.« 198
»Alle«, erwiderte ich. »Ich kenne sie alle.« Phoebes Name klang mir in den Ohren. Phoebe war meine beste Freundin. Warum hatte sie es mir nicht erzählt, wenn sie erpreßt wurde? »Pay?« fragte Marian Pinckney. »Diese Phoebe Klammer auf Weiss Klammer zu, ist das die Phoebe Weiss vom Greyson?« »Ja.« Was hatte Phoebe angestellt? Was war ihr überhaupt zuzutrauen? »Die kleine Phoebe Weiss mit all den Lebensmitteltüten auf dem Zimmer? Mit diesem ganzen koscheren Fraß? Die ist die verrückte Autorin mit den Diamanten?« »Ja.« Ich hörte ihr kaum zu. »Ja, das ist sie.« »Wahnsinn! Ich muß sofort los und mir ein paar von ihren Büchern besorgen. Weiß der Himmel, hier bekommst du sie an jeder Ecke zu kaufen. Sag ihr, wenn sie einen persönlichen Bankberater braucht, Steuerberater, Investitionsberater, irgendwas in der Art, sag ihr, sie soll mich anrufen.« »Mach ich.« »Gut. Wunderbar. Phantastisch. Jetzt muß ich zurück und die Sache irgendwie geradebiegen. Oder zumindest überlegen, wie ich es dem Chef beibringe, ohne daß er mich zur Schnecke macht.« Es klickte an meinem Ohr. Marian hatte aufgelegt. Ich nahm es kaum wahr. Was, um alles in der Welt, hatte Phoebe angestellt? 199
21 Als Phoebe in die Suite zurückkehrte, befand ich mich immer noch in dem antiquierten viktorianischen Badezimmer und war gerade dabei, Camille zu retten. In dem Versuch, Schaumbläschen zu fangen, hatte sie sich mit einem tollkühnen Satz in die Badewanne mit den altertümlichen Klauenfüßen gestürzt. Ich erwischte sie gerade noch rechtzeitig, bevor sie zum letzten Mal unterging, tunkte sie noch einmal ein, um das Uralt Lavendel aus ihrem Fell zu waschen, und trocknete sie dann auf einem flauschigen gelbgoldenen Badelaken mit gesticktem blauen CP unter einer roten Krone ab. Dann zog ich einen Frotteebademantel über und steckte die Katze in die Tasche. Phoebe saß auf der Couch im Wohnzimmer und wickelte sich aus ihren Diamanten, Kette für Kette. Sie sah müde aus. Dieses Mal lag das nicht am verunglückten Eye-liner und auch nicht daran, daß ihr das Rouge verrutscht war. Es war Viertel nach elf, und sie sah so fertig aus, als käme sie geradewegs von einer nächtelangen Martini-Sauftour. »Wie war die Sitzung?« Ich ging zu ihr und setzte mich neben sie auf die Couch. Sie zuckte die Achseln. »Ich bin nicht bis zum Ende geblieben. Sie werden Mary in die Jury aufnehmen, obwohl ich nicht verstehe, warum du 200
zurückgetreten bist. Janine würde dich am liebsten erwürgen.« »Ich vergaß, daß Janine das Messer auf Mary geschliffen hat und sie auf gar keinen Fall in der Jury haben will.« Das stimmte. Als ich meinen Rücktritt niederschrieb, hatte ich überhaupt nicht mehr an Janines stürmische Ambitionen hinsichtlich einer Aufwertung der Brontë-Jury gedacht. Auch jetzt war es mir ziemlich egal. »Was soll’s«, äußerte Phoebe. »Du kennst doch Janine. Wer einmal einen Fehler macht, ist in alle Ewigkeit verdammt. Gott sei Dank hat sie keine Kinder.« »Noch ist nicht aller Tage Abend. Sie ist erst zwei- oder dreiundvierzig. Und außerdem –« Ich holte tief Luft. »Irgendwann muß sie etwas angestellt haben, wofür sie jetzt erpreßt werden kann.« Phoebe blickte mich neugierig an. »Ach ja, Marian hat angerufen. Ich war da unten so beschäftig, daß ich es völlig vergessen hatte. Was hat sie gesagt?« Ich erklärte ihr das Erpressungsmuster, so wie Marian es mir erklärt hatte. Phoebe begriff schneller als ich. Sie nickte mehrmals heftig. »Die Erpresserin wurde also nur ein einziges Mal beim Eröffnen des Kontos gesehen, und auch da nur von dem Bankangestellten. Es gibt niemanden, der sie wiedererkennen würde. Also weiß keiner, wer sie ist.« 201
»Genau.« Ich konnte den Impuls, sie anzustarren, kaum unterdrücken. Da saß sie seelenruhig neben mir, als ginge sie das alles nichts an. Wie konnte sie so tun, als hinge sie nicht selber mittendrin? »Ich bin derselben Meinung wie du heute morgen.« Phoebe schüttelte den Kopf. »Myrra hätte sich nie im Leben erpressen lassen. Und Amelia behauptet, sie würde keinen Cent zahlen. Jedenfalls hat sie dir das gesagt.« »Es hilft alles nichts, Amelia muß gezahlt haben. Noch Anfang des Monats gingen auf das Konto, das unter ihrem Namen läuft, Zahlungen ein, das war kurz vor dem Mord an Julie. Dasselbe bei Julies Konto.« Phoebe ließ sich in die Polster zurücksinken, teils aus Müdigkeit, teils aus Verblüffung. »Julie? Was sollte Julie angestellt haben, daß man sie erpreßt hat?« »Noch vor einer Woche hätte ich mir nicht träumen lassen, daß überhaupt eine von den Frauen Gründe für eine Erpressung liefern könnte. Jetzt wissen wir, daß Myrra und Amelia Geliebte waren. Lydia war lange Zeit eine Nutte. Das sind drei von sieben. Weiß der Himmel, was die anderen für dunkle Geheimnisse haben.« »Aber doch nicht Janine! Das ist albern. Sie ist die Personifizierung der alten Jungfer. Sie trinkt nicht mal.« »Janine zahlt seit neun Monaten – und nicht zu 202
knapp. Tausend Dollar im Monat ist jedenfalls ein ganz nettes Sümmchen.« »So ein Blödsinn!« widersprach Phoebe. »Du weißt doch, was eine Lektorin in der Liebesroman-Branche verdient. Fünfundzwanzigtausend im Jahr, wenn’s hoch kommt. Wo soll Janine das Geld herhaben?« »Keine Ahnung. Aber sie zahlt. Seit April tausend Dollar bar jeden Monat.« »Unmöglich.« Phoebe wiegte den Kopf und nuschelte in den Samt ihres Kaftans hinein. »Absolut unmöglich. Um so viel Geld zu zahlen, müßte sie mit Kokain handeln. Außerdem sieht sie nicht aus, als wäre sie am Verhungern. Sie hat teure Klamotten. Sie geht regelmäßig Essen. Sie hat ein schönes Apartment und ein Abonnement für die Metropolitan Oper.« Ich stand von der Couch auf und fing an, auf dem Teppich hin- und herzulaufen. Camille ließ ich auf meiner Schulter reiten, wo sie sich vorkam, als wäre sie die Größte. Ich war unendlich müde. Farben und Konturen verschwammen mir vor den Augen. »Du behauptest also, Marian würde sich bei Janine irren,« sagte ich. »Deiner Meinung nach wird Janine nicht erpreßt.« »Vielleicht ist es eine andere Janine Williams«, entgegnete Phoebe. »Vielleicht ist es auch eine andere Phoebe Damereaux.« 203
Sie warf mir einen Blick zu, plötzlich hellwach und argwöhnisch. »Was soll das heißen?« wollte sie wissen. »Mich hat niemand versucht zu erpressen. Niemals.« »Schön. Beweise mir, daß es zwei Phoebe (Weiss) Damereaux gibt.« »Aber das ist doch totaler Schwachsinn!« Phoebe war außer sich. Sie sprang von der Couch auf und fing an, neben mir herzulaufen. Dabei warf sie theatralisch die Hände in die Luft und rief: »Für nichts, was ich jemals getan habe, könnte ich erpreßt werden. Das müßtest du doch wissen. Gott verdammt, du kennst meine ganze Lebensgeschichte. Seit neun Jahren leben wir praktisch wie siamesische Zwillinge. Was habe ich jemals angestellt? Nenn mir eine Sache, eine einzige nur, wegen der ich erpreßt werden könnte!« »Woher soll ich alles von dir wissen?« rief ich. »Was weiß ich, was du alles getrieben hast. Und was dir heute vielleicht schlaflose Nächte bereitet. Vielleicht bist du mit einem Schwarzen ins Bett gegangen, und deine Eltern dürfen es nicht wissen. Vielleicht war es ein Jude, und er wollte dich nicht heiraten, und du hattest eine Abtreibung, und das dürfen deine Eltern auch nicht erfahren. Vielleicht war es ein Araber –« »Niemand kann mich wegen irgendwelcher Liebhaber erpressen«, gab Phoebe aufgebracht 204
zurück. »Ich hatte überhaupt keine. Ich bin noch Jungfrau, du Arschloch.« Nach dem Wort »Jungfrau« herrschte absolute Stille. Wir starrten uns an. Phoebe verlegen und mit hochroten Wangen, ich schockiert. Dann warf ich mich in den erstbesten Sessel. »Du liebe Güte, Phoebe. Du kannst doch unmöglich noch Jungfrau sein!« »Und warum nicht?« »Es ist einfach nicht möglich, das ist alles.« »Nenne mir einen einzigen guten Grund.« »Also gut.« Ich trat näher. »Das Erbe der Catewalls, Seite zweihundertsiebenundsiebzig bis dreihunderteins.« Ich schrie beinahe. »Ach«, sagte Phoebe, »das.« Sie stolzierte hocherhobenen Hauptes zur Couch, ließ sich graziös nieder, kreuzte sittsam die Füße und legte die Hände in den Schoß. »Das habe ich alles frei erfunden.« »Das hast du erfunden? Phoebe, in diesen Liebesszenen stehen Sachen, die kannte ich nicht einmal vom Hörensagen.« »Ich habe eben eine ausgesprochen lebhafte Phantasie.« »Du untertreibst.« »Und ich habe recherchiert«, fuhr sie fort. »Ich bin in Buchhandlungen gegangen und habe mich durch diese Ratgeber gelesen. In meinem Buch steht nichts, was du nicht auch bei Barnes and Noble finden könntest.« 205
Ich schloß die Augen und seufzte. »Darauf wäre ich nie gekommen. Und wie hast du es geschafft, mit dreißig noch Jungfrau zu sein? In New York!« Phoebe fing wieder an, auf und abzugehen. »In meiner Collegezeit fand ich mich zu fett. Das tue ich eigentlich jetzt auch noch. Allerdings spielt es jetzt keine Rolle mehr, weil ich so viel zu tun habe. Damit will ich sagen, noch vor fünf Jahren habe ich mit meiner Schreiberei auf den Cent genau viertausend Dollar im Jahr verdient, und damit konnte ich kaum die Miete bezahlen.« »Und du hast dich nicht getraut.« »Ja, ich hatte Muffen«, stimmte sie mir zu. »Hab’ ich immer noch.« »Schon gut.« Ich stemmte mich aus dem Sessel. »Aber du könntest deswegen erpreßt werden. Du als Amerikas schärfste Autorin …« »Sei nicht albern. Wenn jemand behauptet, ich sei noch Jungfrau, würde ich es einfach abstreiten. Es würde sowieso keiner glauben.« »Stimmt. Das würde dir niemand zutrauen, selbst wenn man dich kennen würde. Aber Phoebe, irgend jemand hat die letzten neun Monate alle vier Wochen tausend Dollar in deinem Namen auf ein Konto gezahlt.« »Und in Myrras Namen«, ergänzte Phoebe. »Außerdem in Lydias, Janines, Julies, Amelias und Marty Caines.« »Amelia ist sicher schon im Bett.« Phoebe sah mich an. 206
»Lydia ist außer Gefecht«, sagte ich. »Janine will sich nach der Sitzung mit Marty in der Castle Walk treffen«, erzählte Phoebe unschuldig. »Die Sitzung ist bestimmt noch nicht zu Ende.« »Sie geht wahrscheinlich noch bis Mitternacht. Das heißt …« »Marty sitzt allein in der Bar.« Ich stürzte ins Schlafzimmer, um meine Strümpfe zu suchen.
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22 Ich war halb in der Hose, da rief Barbara an. Es entwickelte sich eins dieser wenig informativen, mißverständlichen und sich im Kreis bewegenden Gespräche, deretwegen ich mir einen Anrufbeantworter zugelegt habe. »Er ist gerade gegangen«, berichtete Barbara. »Das heißt, ich bin ihn gerade eben erst losgeworden. Ich mußte die Polizei rufen.« »Was hat er denn gemacht?« Camille pirschte sich an einen der Knöpfe auf meiner Bluse heran und zerrte mit aller Kraft. Ich machte sie los, rettete einen Socken, der unter dem Nachtschränkchen lag, und setzte mich aufs Bett. Phoebe stand in der Tür, hüpfte von einem Bein auf das andere und deutete auf die Armbanduhr, die sie gar nicht trug. »Diesmal hat er eine Nachricht hinterlassen«, sagte Barbara. »Auf deiner Tür, mitten drauf.« »Hast du sie denn gelesen? Was steht denn da?« »Denkst du, ich gehe da raus, solange dieser Kerl draußen im Flur herumlungert?« »Ist er denn immer noch da?« »Nein.« »Also, warum holst du mir nicht einfach diesen Zettel. Jetzt gleich. Du kannst ihn mir am Telefon vorlesen.« Es entstand eine Pause. 208
»Einen Augenblick«, sagte Barbara schließlich. Ich legte den Hörer aufs Bett. Bei all den Schlössern, die sie öffnen und sichern mußte, würde ich mindestens fünf Minuten auf diese Notiz warten müssen. »Warum habe ich bloß die ganze Zeit über das Gefühl, daß Nick hier jeden Moment einfällt und uns den Hals umdreht?« »Nick ist zurück in seine Wohnung gefahren«, sagte Phoebe. »Wenn er wüßte, was wir vorhaben, würde er bestimmt ausrasten. Er kann es auf den Tod nicht ausstehen, wenn wir auf eigene Faust recherchieren. Ich verstehe nicht –« Am anderen Ende der Leitung hörte ich Geräusche. Ich hob den Hörer ans Ohr. »Hallo?« ertönte Barbaras Stimme. »Pay? Bist du noch da?« »Ich bin noch da.« »Es ist genau genommen keine richtige Nachricht.« Ich hörte Papier rascheln. »Nur eine Telefonnummer.« Sie las sie mir vor. »Moment mal.« Ich stand auf, um in meiner Handtasche nach Stift und Papier zu kramen. Ich förderte eine Rechnung von Saks zutage und einen Kuli, der offensichtlich schon Monate vor sich hinkleckerte und überall Spuren hinterlassen hatte. »Lies sie nochmal vor«, bat ich Barbara. Sie tat es. 209
»Hast du eine Ahnung, was das für eine Vorwahl ist?« fragte ich. »Ich glaube nicht, daß es West Side ist.« »Ich dachte, du kennst die Nummer. Er hat sie auf deiner Tür hinterlassen. Sonst hat er nichts geschrieben.« Sie holte tief Luft. »Ich finde es nicht richtig, daß er so durch die Gänge schleicht. Das heißt, eigentlich torkelt er. Dieser Kerl torkelt immer.« »Hast du nicht gesagt, er lungert herum?« »Er tut eben beides. Und du mußt ihn kennen, Pay. Niemand, den du nicht kennst, würde sternhagelvoll zwei Tage lang um dein Apartment schnüffeln und dann eine Telefonnummer hinterlassen.« »Bist du ganz sicher, daß es nicht Daniel war?« »Ganz sicher. Klar doch. Diesen Mann habe ich noch nie gesehen.« »Es muß ja nicht unbedingt jemand sein, den ich kenne. Vielleicht ist es nur ein Psychopath, der in der Zeitung von dem Mord gelesen hat und mich belästigen will. Ich an deiner Stelle würde Martinez den Zettel geben.« »Mach ich. Kann ich morgen abend bei dir Maria Stuart sehen?« »Ist die Wohnung denn nicht mehr versiegelt?« »Dafür werde ich schon sorgen.« »Dann laß dich nicht aufhalten.« »Vielen Dank.« 210
Barbara hängte ein, ohne sich zu verabschieden. Auch ich legte auf und starrte auf den Zettel mit der Nummer. Nur ein armer Irrer, redete ich mir ein. Sicher nur ein hirnloser Penner, dem die Privatsphäre anderer Leute egal war. Warum sollte ich die Nummer wählen? Und überhaupt, wer zwang mich dazu, jemals wieder in die Zweiundachtzigste Straße West zurückzukehren? Ich stellte mir Barbara im Dunkeln auf meiner Couch sitzend vor, wie sie Maria Stuart zusah, die den Hals auf einem Stein langmachte und auf das Beil des Henkers wartete. Ob wohl auf meinem Teppich immer noch Blut war? Oder Kreidemarkierungen auf dem Boden? Wenn das alles vorüber wäre, würde ich mir eine neue Wohnung suchen und völlig unbelastet Einzug halten. Mein alter Vermieter könnte von mir aus die Schreibmaschine und den Schaukelstuhl behalten, auch meine beiden Calvin Klein-Röcke. Außerdem den Geruch von Blut und Urin, der an den Sachen haftete. Ich fand meine Schuhe und zog sie an. Marty und Janine, rief ich mir ins Gedächtnis zurück. Wir sollten uns jetzt auf Marty und Janine konzentrieren. Wir entdeckten Marty ganz allein an einem Fenstertisch in der Castle Walk Bar, ohne Schuhe, die Beine auf einem freien Stuhl ausgestreckt. Der fünfte Scotch pur war nur noch eine kleine bernsteinfarbene Pfütze auf dem Boden seines Glases. 211
Phoebe blickte vorwurfsvoll auf die Gläser und schnalzte mißbilligend. Aber ich stieß sie in die Seite. Für so etwas war jetzt keine Zeit. Schließlich wurde die ganze Angelegenheit immer rätselhafter. Marty war unsere einzige Chance, den Schlüssel zur Lösung zu finden, im Augenblick jedenfalls. Er hatte die Bedienung und im selben Augenblick auch uns gesehen. Er sagte etwas zu der Kellnerin und winkte uns. »Ist diese Konferenz endlich vorbei?« fragte er. »Eigentlich wollte die Chefhexe mit mir etwas trinken, aber es sieht nicht danach aus.« Er grinste Phoebe lüstern an. »Willst du mich heiraten?« Phoebe räusperte sich. Ich rutschte mit dem Stuhl auf dem Teppich hin und her. Wie sollte ich bloß anfangen? Sollte ich Marty einfach so fragen, ob er seit neun Monaten erpreßt wurde? Mit welchen unverfänglichen Nettigkeiten könnte ich eine solche Frage einleiten? Nie zuvor hatte ich Marty betrunken erlebt, nie zuvor hatte ich gehört, daß er Janine »Chefhexe« nannte. Ich wußte einzig und allein, daß er uns alle insgeheim haßte, und daß er ebenso wenig geneigt war uns zu helfen wie Martinez. Außerdem sah er aus, als sei er so besoffen, daß er nicht einmal wußte, wann er geboren war. Die Bedienung brachte drei Gläser Scotch. Pur. Marty zahlte. »Ihr zwei seht aus wie drei Tage Regenwet212
ter«, stellte er fest. »Ihr solltet lieber feiern. Diesmal hat die Inszenierung nicht hingehauen. Leslie Ashe lebt. Leslie Ashe lebt und tönt überall herum, daß sie nicht von Patience Campbell McKenna angegriffen worden ist.« »Wo hast du das her?« Ich richtete mich kerzengerade auf. »Hast du mit der Polizei gesprochen?« »Nein, aber mit der Chefhexe«, lallte Marty. »Die Frau hat sie angerufen. Haltet ihr einen Platz beim Dinner morgen abend frei, Zitat, Zitatende. Sie kommt zur Cocktail Party. Es war nur ein Kratzer. Oder so ähnlich.« »Das war nicht nur ein Kratzer«, widersprach Phoebe. »Alles war voll Blut.« Marty zuckte die Schultern. »Ich habe nichts mitgekriegt. Die Chefhexe hat alles gesehen. Aber die kennt doch nichts anderes als ihre Computerausdrucke. Himmel, die Frau ist ein Phänomen. Marty, tu dies. Marty, tu das. Marty, fahr zurück und mach sie noch einmal. Ist euch klar, daß ich es tatsächlich getan habe? Ich bin sogar für ihre dämliche Präsentation mit den neuen Ausdrukken rechtzeitig wieder hiergewesen. Phänomenal.« Mit einem großen Schluck leerte er das halbe Glas und glotzte Phoebe wieder lüstern an. Ich nippte an meinem Drink. Meine Halsmuskeln krampften sich ein paar Mal zusammen, als der Scotch meine Kehle hinunterrann, dann spürte 213
ich, wie meine Arme und Schultern sich entspannten. Warum war ich nicht schon früher darauf gekommen? Ich hätte mich in Phoebes Suite einschließen und mich das ganze Wochenende lang nur betrinken sollen. Phoebe goß einen Hauch Scotch in ein großes Glas mit Wasser und nippte vorsichtig. Sie verzog das Gesicht. »Das bringt’s auch nicht«, stellte sie fest. Dann sah sie Marty an. »Kannst du noch ein paar Fragen beantworten? Oder bist du schon zu betrunken?« Er hob eine Braue. »Fragen? Worüber?« »Über Erpressung«, entgegnete Phoebe. Beinahe hätte ich sie unter dem Tisch gegen das Schienbein getreten. Sie saß da wie die kleine Unschuld in der Tanzstunde, die Hände brav im Schoß gefaltet, die Füße höchstwahrscheinlich übereinandergelegt und nicht ganz auf dem Boden. »Wir wollen wissen, ob du monatlich tausend Dollar auf ein Konto bei der New York Guaranty Trust zahlst.« Martys Verblüffung hielt knapp eine Minute vor. Danach stieß er einen Schrei aus, der wie ein Schlachtruf klang. Er war völlig aus dem Häuschen. »Tausend Dollar im Monat! Du liebe Zeit, soviel bringe ich nicht mal nach Hause im Monat. Ich habe auch keine tausend Dollar auf einmal. Unmöglich. Soviel Kredit bekomme ich nicht mal auf meine VISA-Karte.« 214
»Danach habe ich dich nicht gefragt«, sagte Phoebe. »Ich will wissen, ob du erpreßt wirst.« Marty blinzelte. »Dir ist es tatsächlich ernst.« Offenbar war er überrascht, daß Phoebe überhaupt etwas ernst meinen konnte. Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich zahle keine tausend Dollar im Monat auf ein Konto bei der New York Guaranty Trust. Ich werde nicht erpreßt. Basta.« Er sah uns eine nach der anderen an. Er wirkte jetzt etwas ernüchtert und nachdenklich. »Wollt ihr beiden mir bitte erzählen, was das soll?« Ich wollte Phoebe schon den Mund zuhalten, aber es war nicht nötig. Offenbar war sie zu der Überzeugung gelangt, daß sie genug preisgegeben hatte. Sie rührte in ihrem Wasser mit Scotch und blickte stirnrunzelnd auf den Tisch. »Ich dachte immer, Leute wie du würden eine Menge Geld verdienen«, bemerkte sie. »Marketing. Verkauf.« »Oh ja«, sagte Marty. »Die Jungs vom Verkauf kommen ganz gut weg mit ihren Provisionen. Bei der Werbung hängt es davon ab, wer du bist. Ich bin der allerletzte Arsch.« Er lachte. »Außerdem war ich bis vor kurzem nicht allzu erfolgreich. Zuerst Romantic Life. Dann kam die alte F of L nicht vor Februar auf Touren. Tatsächlich hat sie erst ab März nennenswerten Umsatz gebracht. Ich dachte schon, wir würden alle an die Luft gesetzt. Manchmal hab’ ich immer noch das Gefühl.« 215
»Und das bei hundert Millionen im ersten Jahr?« Ich war skeptisch. Marty hob die Schultern. »Hundert Millionen und jede Menge Probleme. Eins muß man der Chefhexe ja lassen. Sie weiß genau Bescheid, wo die Schwierigkeiten liegen. Sie weiß sogar, wie sie zu bewältigen sind.« Er klopfte anerkennend auf den Tisch. »Mögen wir die kleine goldene Statue gewinnen.« Ich entschied bei mir, ihm nicht zu erzählen, daß Amelia davon überzeugt war, Fires of Love würde niemals den Brontë-Preis gewinnen. Ich entschied außerdem, daß es Zeit war zu gehen. Ich war müde, und die Unterhaltung führte zu nichts mehr. Mit Janine konnten wir morgen noch reden. Phoebe war so tief in Gedanken versunken, daß ich sie regelrecht auf die Füße stellen mußte. Sie lächelte Marty an und nickte ihm zu. Sie wirkte so echt wie ein Zinnsoldat. Ich drängte sie aus der Castle Walk hinaus und in die Lobby. »Wach auf«, zischte ich ihr ins Ohr. »Du kannst schlafen, wenn wir wieder auf dem Zimmer sind.« Die Lifttüren öffneten sich. Ich schob Phoebe in die Kabine und drückte auf den Knopf für unsere Etage. »Was ist los mit dir?« erkundigte ich mich. »Du benimmst dich, als wärst du bekifft.« »Es ist Fires of Love«, sagte Phoebe. »Das muß 216
es ein.« Plötzlich sah sie überhaupt nicht mehr verträumt aus, sondern klein und blaß und sehr aufgeregt. »Irgendwas stimmt nicht mit Fires of Love«, wiederholte sie. »Wie kommst du darauf?« »Die Liste. Die Liste der Konten.« Sie kicherte und bekam einen Schluckauf. »Es sind das Fires of Love-Beratungskomitee und der Fires of LoveMarketing-Leiter und die Fires of LoveCheflektorin.« Die Aufzugtüren schlossen sich. »Weißt du, es war meine Idee«, sagte Phoebe. »Das mit dem Beratungskomitee. Ich habe es Janine vorgeschlagen.« Im Dunkeln hätte die Primrose Suite im Cathay-Pierce ebenso gut unser altes CollegeZimmer in Greyson sein können. Gewöhnlich müssen sich in Greyson nur die ersten Semester ein Zimmer teilen. Die fortgeschrittenen Studentinnen residieren in ›splendid privacy‹ auf den oberen Etagen der College-Häuser. Phoebe und ich blieben drei Jahre zusammen, bis zum letzten Semester, als uns die Hausordnung vorschrieb, ins Hauptgebäude umzuziehen. Da besiegelte das Los unser Schicksal. Mir wurde ein Zimmer im prestigeverdächtigen Nordturm zugewiesen, und Phoebe wurde auf die vierte Etage verbannt. »Das Beratungskomitee«, sagte Phoebe. »Anlaß dafür war eine Anzeige von einer privaten Schriftsteller-Schule. Kennst du diese Anzeigen?« 217
»Und ob! Wir finden heraus, ob Sie ein literarisches Talent sind.« »Du hältst nichts davon. Ich auch nicht. Sie machen den Leuten was vor.« Sprungfedern ächzten und quietschten. »Wie dem auch sei, ich las eine dieser Anzeigen, und dann fing ich an, mir Gedanken über Fires of Love zu machen. Weißt du, Janine hatte mich gerade gefragt, ob ich nicht einen Roman für die Reihe schreiben wollte. Ich hatte noch nie einen Serienroman geschrieben, aber Farret steckte bis zum Hals in Schwierigkeiten, und Myrra wollte auch einen schreiben, und da dachte ich –« »Du wolltest mal wieder nett und hilfsbereit sein.« Ich stellte mir einen Cathay-PierceAschenbecher auf den Bauch und zündete mir eine Zigarette an. Camille lugte unter der Bettdecke hervor, beäugte die Glut der Zigarette und beschloß, wieder schlafen zugehen. »Du gibst dir doch immer die größte Mühe, nett zu sein.« »Mich interessiert im Moment eigentlich nur, warum jemand ausgerechnet alle Mitglieder des Fires of Love-Beratungskomitees erpreßt. Mir fällt dazu nichts ein. Es ergibt keinen Sinn. Überhaupt keinen.« »Möglicherweise geht es um etwas, das noch bevorsteht. Ihr alle sollt dazu gebracht werden, irgend etwas zu tun. Dafür die ganze Inszenierung.« »Welche Inszenierung? Ich bin nicht erpreßt worden. Wozu das Ganze?« 218
»Keine Ahnung.« Ich zog heftig an etwas, das der Filter meiner Zigarette sein mußte und warf es in den Aschenbecher. »Schlaf jetzt. Morgen früh überlegen wir weiter.« Phoebe seufzte. »Es war nur ein PublicityTrick. Jede Menge berühmte Autorinnen und eine Agentin. Die Leute würden die Anzeigen lesen und denken, es müsse eine tolle Sache sein, mit all den klingenden Namen. Du weißt, was ich meine.« »Ja.« »Pay?« Sie hatte auf einmal eine dünne, sehr hohe, sehr angespannte Stimme. »Pay, meinst du, ich bin berühmt?« Ich dachte darüber nach. Zum ersten Mal dachte ich darüber nach. Phoebe war für mich immer Phoebe gewesen. Sie kümmerte sich um streunende Katzen. Sie hatte eine Schwäche für mittelmäßige Touristen-Restaurants. Sie hatte nach dem College in einer Lower East SideMietskaserne auf dem dritten Stock ohne Aufzug und mit Badewanne in der Küche angefangen. Daraus waren zehn Zimmer in Central Park West, neunziger Hausnummern, geworden, sowie eine Diamantkette nach der anderen. In weniger als zehn Jahren. »Nicht so berühmt wie Myrra«, antwortete ich. »Noch nicht. Aber auf dem besten Weg.« Wieder ächzten und quietschten die Sprungfedern. »Da ist noch was«, sagte sie mit diesem 219
kleinen Stimmchen. »Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Verstehst du? Wie soll ich mich dabei fühlen?« »Freu dich doch darüber.« »So einfach ist das nicht.« Einen Augenblick später vernahm ich das gleichmäßig sägende Pfeifen ihrer tiefen Atemzüge. Phoebe schlief. Schon immer habe ich mir gewünscht, so einschlafen zu können.
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23 Phoebe verkündete: »Im Wohnzimmer wartet Ben Hur auf dich. Und Nick.« Sie saß auf dem Bett hinter meinem Kopf, den ich unter einem blau, rot und goldenen CathayPierce Quilt vergraben hatte. Ich war gerade dabei, mich zu erholen. Schon um neun Uhr hatte mich Nicks Mutter aus dem Schlaf gerissen – und das an einem Sonntagmorgen. Sie hatte am Telefon darüber lamentiert, daß Nick nicht bei ihr war und demzufolge auch nicht zur Kirche ging. »Jeden Sonntagmorgen. Sein Leben lang«, hatte sie gejammert. »Jeden Dienstag- und Donnerstagnachmittag in der griechischen Schule. Kaum bildet er sich ein, erwachsen zu sein, geht er nicht mehr zur Kirche. Finden Sie das in Ordnung?« »Nein.« »Sagen Sie ihm, ich stecke ihm eine kleine Tüte in die Tasche. Kaum meint er, er ist erwachsen, ißt er auch nichts Anständiges mehr.« »Höchste Zeit, daß du endlich wach wirst«, befahl Phoebe. Langsam kroch ich unter der Decke hervor. Ich kniff die Augen zusammen und stellte sie auf größte Sehschärfe ein. Es half nichts. Phoebe sah immer noch aus wie ein riesiger gelber Wasserball. »Deine Freundin Barbara hatte recht«, meinte sie. »Es war Ben Hur. Natürlich nicht der echte –« 221
Ich langte nach meinen Zigaretten, fand auch eine, die Camille noch nicht malträtiert hatte, und zündete sie an. Phoebe trug einen gelben FrotteeBademantel, der ungefähr so voluminös war wie eine Mönchskutte. Mit dem Wasserball hatte ich gar nicht so verkehrt gelegen. »Nicks Mutter will wissen, warum er nicht in der Kirche ist«, berichtete ich. »Kann ich mir vorstellen.« Phoebe hockte mit angezogenen Füßen auf dem Bettrand. Keine Spur mehr von der kleinen Stimme von gestern nacht. Ihre Augen blitzten hellwach. Die Haare hatte sie auf dem Kopf zu einem verrückten, äußerst phantasievollen Knoten aufgetürmt. Bestimmt war sie schon seit Stunden auf. »Er ist da draußen und futtert Nicks Baklava«, fuhr sie fort. »Mit Nick und mir will er nicht reden. Nur mit dir.« Sie beugte sich vor und sah mir prüfend in die Augen. »Glaubst du, du kannst jetzt aufstehen?« Ich nahm einen tiefen Zug und blickte zur Decke. Phoebe hatte nicht nur ausgesprochen gut geschlafen, sie war wie immer morgens voller Energien. Wenn sie zum ersten Mal die Augen aufschlug, hatte sie ihre fünf Sinne besser beisammen als ich nach sechs Tassen Kaffee. »Ich stehe erst auf, wenn du vernünftig mit mir redest. Ben Hur! Ben Hur sitzt doch nicht im Wohnzimmer einer Cathay-Pierce-Suite.« »Nein, nicht Ben-Hur-Ben Hur.« Phoebe stand 222
vom Bett auf und eilte in Richtung Wohnzimmer. »Es ist Jaimie-Hallman-Ben Hur.« Sie hatte schon die Tür hinter sich geschlossen, als ich endlich begriffen hatte. »Um Himmels willen. Phoebe! Jaimie Hallman ist doch tot!« Jaimie Hallman war nicht tot. Er hatte kaum noch Ähnlichkeit mit dem achtzehnjährigen Jungen, der bei den Olympischen Sommerspielen 1960 drei Goldmedaillen gewonnen hatte, geschweige denn mit dem Strahlemann, der noch zwanzig Jahre später Amerikas beliebtester Filmstar gewesen war. Aber er war nicht tot, und wie ich ihn da in den Polstern auf Phoebes bequemer blauer Samtcouch sitzen sah, lässig und zugleich voll innerer Anspannung, hatte er auf den ersten Blick immer noch das gutgeschnittene, beinahe zarte Gesicht eines Mannes, den Leute schön finden würden. Die Story von seinem angeblichen Tod war 1980 der Renner gewesen. Und Zeitungen wie dem National Enquirer brachte sie heute noch eine Menge Geld ein. Es war alles drin – Liebe, Tod, Verbrechen und Gewalt – und Filmstars. Irgendein Reporter hatte das Boot fotografiert, mit dem Hallman vor seinem Verschwinden gesegelt war. Wie ein Gespensterschiff war es an der Mole eines exklusiven Yachthafens gedümpelt. Natürlich hat man die Leiche niemals gefunden. Jetzt hatte die Leiche uns gefunden. Sie sah 223
mich und versuchte aufzustehen. Irgendwie ging das daneben. Ihre Arme zitterten und schnellten unkontrolliert hoch. Sie lächelte. »Das kommt von der ganzen Rumrennerei«, sagte Hallman mit klarer und deutlicher Stimme. »Das L-Dopa vollbringt eben auch keine Wunder.« »Mr. Hallman hat mir soeben dargelegt, weshalb man ihn allgemein für tot hält, obwohl es nicht so ist«, bemerkte Nick. Er hörte sich förmlich und distanziert an. Ich ärgerte mich darüber. Es war ja höchst lobenswert, daß er versuchte, Sinn in das Ganze zu bringen. Aber wenn er in dieser absurden Situation, nachdem ein Toter in Phoebes Hotel-Wohnzimmer hereinspaziert war, so tat, als hielte er eine Rede vor der Anwaltskammer, machte er sich nur lächerlich. »Ruf lieber deine Mutter an«, sagte ich zu ihm. »Sie will wissen, warum du nicht in der Kirche bist.« Auf der Stelle wurde Nick zu Rasputin. Seine Augen schleuderten Blitze. Er sah aus, als wollte er mir im nächsten Augenblick an die Gurgel. Offenbar hatte es sich seine Mutter zur Gewohnheit gemacht, ihn zu kontrollieren. »Um auf Mr. Hallmans Angelegenheit zurückzukommen«, fing er an, gestelzt wie eine alte Jungfer. »Es war ein Fehler«, Jaimie Hallman fiel ihm ins Wort. 224
»Ihr seid nicht zum Aushalten.« Phoebe hängte Hallman fürsorglich eine Bettdecke um die Schultern, schenkte ihm eine Tasse voll mit irgendeinem Getränk vom Frühstückstablett und fing an, kleine Kuschelkissen aus Samt um ihn herumzustopfen. In allerkürzester Zeit sah Jaimie Hallman aus wie ein Berg aus Gänsedaunen, aus dem ein Kopf mit blonden Haaren herausragte. Er lächelte Phoebe zu. Dann sah er uns an. »Die Lady weiß, was man braucht. Ich trete ins Zimmer, bekomme, wenn ich mich recht entsinne, als erstes einen Tee. Dann Croissants und Käse und Lachs. Außerdem Baklava und Kekse.« Er blickte in seinen Schoß. »Jetzt habe ich noch einen Tee bekommen, eine Kuscheldecke und obendrein eine Katze.« »Auch das noch«, entfuhr es Nick. Den verklärten Ausdruck auf Jaimie Hallmans Gesicht kannten wir beide nur zu gut. So sah auch Marty Caine immer aus, wenn er von Phoebe sprach. Alle sahen so aus, spätestens fünf Minuten nachdem sie Phoebe zum ersten Mal erlebt hatten. Erst wenn man mit Phoebe länger befreundet war, ging einem auf, daß sie nicht dem Klischee der Jiddischen Mutter nacheiferte. Jaimie Hallman war alles andere als ein enger Freund. Außerdem war er körperlich völlig erledigt. Kein Wunder, daß er Phoebe im Augenblick für eine Heilige hielt. »Seit Tagen ist Mr. Hallman immer wieder zu 225
deinem Apartment gelaufen«, berichtete Phoebe. »In seinem Zustand! Er braucht jetzt unbedingt Ruhe.« »Ich kann mich nicht ausruhen«, sagte Jaimie Hallman. »Seit Freitag versuche ich, irgend jemandem die Sache zu erzählen. Die Polizei ist nicht interessiert. Und Sie waren nie zu Hause.« »Die haben mein Apartment versiegelt.« Ich erzählte ihm nichts von dem Geruch nach Blut und Urin und auch nichts von meiner Flucht aus meinem Apartment mit allem, was sich jetzt darin befand. Ich wollte Jaimie Hallman nicht unnötig mit Details quälen. Jaimie Hallman war sowieso fix und fertig. Er ließ den Kopf auf die Rückenlehne der Couch sinken und schloß die Augen. Auf beiden Seiten seines Mundes hatten sich tiefe Falten eingegraben. Er sah eher aus wie siebzig als wie vierzig. »Es ist einfach verschwunden«, stellte er fest. »Was ist einfach verschwunden?« fragten Nick und ich gleichzeitig. »Das Messer, mit dem Julie umgebracht wurde. Ich hatte es.« Ich fürchtete, Nick würde so lange husten, bis ihn der Schlag traf. Er sprang auf und fing an, mit beängstigend unkontrollierten Bewegungen herumzurennen. Es sah aus, als suchte er nach einem Grund, sich mit aller Gewalt körperlich auszutoben und so lange zu verausgaben, bis er uns alle geschafft hätte. So hatte ich ihn noch nie gesehen, aber ich 226
fragte dennoch nicht, was los war. Ich war selbst nervös und gereizt. Es war schließlich Sonntagmorgen. Um mich herum ballte sich alles zusammen. Wenn es noch ein paar Stunden so weiterging, würde selbst ich die Fassung verlieren. »Großer Gott!« rief Nick. »Wann haben Sie es verloren? Und wo?« »Es muß vor gestern nacht passiert sein«, warf ich ein. »Vor Leslie.« »Auf Leslie Ashe hat man mit einem Küchenmesser aus dem Hotel eingestochen«, erläuterte Nick. »Myrra und Julie wurden mit einem langen dünnen, mit doppelter Schneide getötet.« Er blieb stehen und sah Jaimie Hallman scharf an. Hallman starrte uns an und versuchte offenbar zu verstehen, was los war. Die allgemeine Verwirrung machte ihm angst. Auf seiner Stirn erschienen Falten. »Entschuldigen Sie«, sagte Nick. »Es war nicht so gemeint.« »Es ist heute morgen weggekommen«, berichtete Hallman. »Hier im Hotel. Ich hatte es in Papierservietten eingewickelt. Als ich das Hotel betrat, steckte es in meiner Tasche. Und hier habe ich dann gemerkt, daß es nicht mehr da ist.« »Haben Sie mit jemandem gesprochen?« erkundigte ich mich. »Waren Leute im Lift?« »Ich habe mit allen möglichen Leuten gesprochen«, antwortete Jaimie Hallman. »Der Laden ist ja rappelvoll. Bis unters Dach. Würde ich sie nicht 227
alle kennen, wäre es im Lift gewesen wie in der UBahn zur Rush-hour. Janine Williams. Hazel Ganz. Amelia Samson. Julies halbe Klientenliste –« »Woher kannten Sie Julie?« fragte ich. Jaimie Hallman machte große Augen. »Ich war mit ihr verheiratet. Seit 1979. Kurz bevor –« Er wedelte mit dem zittrigen Arm in der Luft. »Parkinson. Das ist auch der Grund, weshalb wir nichts gegen die Meldungen von meinem Tod unternommen haben.« »Mr. Hallman hatte 1980 einen Segelunfall«, erklärte Phoebe, so als hätte noch nie jemand etwas von Jaimie Hallmans angeblichem Tod durch Ertrinken gehört. »Er war einige Tage lang vermißt. Das Schwimmen ist ihm ziemlich schwergefallen.« »Dies hier«, Jaimie Hallman schwenkte wieder den Arm, »hatte nämlich gerade angefangen. Die Tageszeitungen haben als erste die Falschmeldung über meinen Tod verbreitet. Niemand wußte, daß ich mit Julie verheiratet war. So, wie mein Geld angelegt war, spielte das auch keine Rolle.« Er dachte nach. »Ich bin nicht offiziell tot, nur als vermißt gemeldet.« »Na, so ein Glück«, bemerkte ich. Jaimie Hallman seufzte. »Über kurz oder lang wäre es sowieso herausgekommen. Wir haben vor anderthalb Jahren das Baby bekommen. Jemand muß sich um die Kleine kümmern. Ich nenne mich jetzt Jay Simms, aber ich glaube, die228
ser Polizist ist mir auf der Spur. Oder er hat was anderes vor.« Er zuckte die Schultern. »Mit dem ganzen Schwindel hatten wir einfach Glück. Wundert mich sowieso, daß es so lange gut ging.« »Kommen wir zum Wesentlichen«, insistierte Nick. »Das Messer. Wie sind Sie an das Messer geraten?« »Wenn Sie glauben, ich hätte sie umgebracht, vergessen Sie’s lieber«, antwortete Jaimie Hallman. »In meiner Verfassung könnte ich das Messer gerade noch halten. Darüber hinaus geht nichts mehr. Es war in der Post.« »Was?« Genau drei »was«, unisono. »Es war in der Post. Am Morgen nachdem Julie ermordet wurde. Der Briefträger hat es nicht gebracht, und der Portier hat auch niemanden gesehen.« Er hielt inne. »Wissen Sie, es muß ziemlich früh am Morgen angekommen sein. Weit vor neun. Um halb neun wären Leute in der Nähe gewesen –« »Möglicherweise waren auch Leute da«, sagte Nick. »Vielleicht hat jemand gesehen, wie es gebracht wurde. Vielleicht –« »Nach halb neun haben wir zwei Portiers«, sagte Jaimie Hallman. »Einer ist immer an der Tür. Keiner hat gesehen, daß jemand mit einem Päckchen hereingekommen wäre. Niemand hat einen Fremden bemerkt. Als ich jedoch zu den Paketfächern kam, war es da. Und am Donnerstag war es noch nicht dagewesen.« 229
»Das hat überhaupt nichts zu sagen.« Nick schüttelte den Kopf. »Wenn es eine nette, weiße Durchschnittsamerikanerin war, würde es niemandem aufgefallen sein.« »Doch. Nach halb neun wäre es bestimmt aufgefallen.« Nick seufzte. »War es ein langes, dünnes, zweischneidiges Messer?« »Es war eine Machete aus Stahl mit einem Griff aus Ebenholz und Elfenbein.« »Allmächtiger«, stöhnte Nick auf. Die beiden Männer saßen sich stumm gegenüber und sahen gleichermaßen müde aus. Phoebe lief geschäftig durchs Zimmer. Ich zündete mir eine neue Zigarette an. Es wäre über kurz oder lang sowieso herausgekommen, hatte Jaimie Hallman gesagt. Irgend etwas fing an, mir zu dämmern. Logik ist eine wunderbare Erfindung. So wunderbar, daß sie oft mit Vernunft verwechselt wird. Vernunft jedoch basiert auf Verstand. Logik nur auf Konsequenz. Irgend etwas war ausgesprochen konsequent – bei dem, was Phoebe und Amelia Samson nicht zugestoßen war. Wenn dasselbe auch Julie Simms nicht zugestoßen war, dann hätte ich eine Erklärung für zumindest die Hälfte des ganzen Unsinns, auf den ich an diesem Wochenende gestoßen war. Ich wandte mich an Jaimie Hallman. »Wie wichtig war es für Sie, Ihren Tod vorzutäuschen? 230
Hätten Sie sich dafür, daß der Schwindel nicht auffliegt, erpressen lassen?« Jaimie Hallman kniff die Augen zusammen. Phoebe, die gerade ein Tablett mit irgendeinem undefinierbaren Gebäck an mir vorübertrug, trat mir gegen den Knöchel. »Es war alles nur ein Scherz«, entgegnete Jaimie Hallman. »Da gibt es doch dieses Medium, das für den National Enquirer arbeitet.« Er wurde rot. »Sie kennen bestimmt solche Geschichten. Jaimie Hallman spricht aus dem Jenseits. Alles authentisch. Ich gehe zu diesem Medium und – puff, erscheine. Wenn Sie verstehen, was ich damit sagen will.« Er hob versuchsweise die Schultern. »Na ja, dabei kommt eben regelmäßig etwas Honorar rein.« »Kein Lösegeld, das rausgeht?« »Keinesfalls. Wenn die Sache auffliegen soll, fliegt sie eben auf. Seit einiger Zeit ist es mir auch ziemlich egal. Anfangs –« Er starrte auf seinen rechten Daumen, der zuckte und sich drehte, als hinge er an unsichtbaren Schnüren. »Julie und ich hatten eine schöne Zeit zusammen«, fuhr er schließlich fort. »Sie sorgte sich, aber es machte ihr nicht wirklich etwas aus. Für sie gab es auch noch einen anderen Jaimie Hallman als den Filmstar. Als es anfing, wäre ich am liebsten gestorben. Sie hat mir geholfen, darüber hinwegzukommen.« »Das habe ich mir gedacht«, sagte ich. 231
24 Irgendwelche Leute, wahrscheinlich die Anwälte, hatten die Schlösser an Myrras Apartment auswechseln lassen. Ich hätte es wissen müssen. Zumindest hätte ich mit einem Brecheisen in der Tasche herkommen können. Nichts war mehr in Ordnung, alles ging drunter und drüber, nichts klappte. Warum sollten da nicht auch Myrras Schlösser ausgewechselt worden sein? Zweimal probierte ich es mit meinen Schlüsseln. Dann zückte ich die Kreditkarte. »Das hat Phoebe mir beigebracht«, sagte ich zu Nick. Er stand in dem engen hinteren Flur, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und kochte vor Wut. Ich konzentrierte mich auf die Tür. Ich sollte froh sein, daß er überhaupt mitgekommen war. Es mißfiel ihm, hier zu stehen. Es hatte ihm schon mißfallen, sich durch den Personaleingang ins Braedenvorst einzuschleichen und mit einem Lastenaufzug in den zwölften Stock zu fahren. Nur dem lebenslangen Einfluß von Phoebe Damereaux war es zu verdanken, daß er sich auf dieses Unternehmen eingelassen hatte. »Es gibt da ein paar Dinge, die mir ganz und gar nicht gefallen«, meinte er. »Erstens verschaffen wir uns gewaltsam Zutritt. Zweitens könnte jemand in der Wohnung sein. Drittens –« »Ich kann nicht in eine Wohnung einbrechen, 232
die mir gehört«, erwiderte ich. Der Riegel ruckte kurz und schnappte dann erneut ein. Ich fing wieder an, mit der Kreditkarte herumzufummeln. »Außerdem kommen wir von hinten. Und es ist Sonntagnachmittag. Es wird schon gutgehen.« »Es wäre alles halb so schlimm, wenn du mir nur sagen würdest, was du vorhast«, knurrte Nick. Das Schloß sprang auf. Ich griff nach dem Knauf und öffnete die Tür. Sie führte in einen anderen engen Flur, die sogenannte ›Dienstboten‹Diele in Myrras altertümlichem, eichengetäfelten Apartment. Ich spähte in die Dunkelheit. Wenn Martinez mich nicht des Mordes überführte, würde dieses Apartment mir gehören mit allem, was sich seit dem Tag, an dem Myrra Agenworth starb, darin befand. Allein um die laufenden Kosten zu zahlen, würde ich die Gemälde und die Möbel verkaufen müssen. Ich packte Nick am Handgelenk und zerrte ihn in die Wohnung. »Stell dir einfach vor, du wärst Myrra«, forderte ich ihn auf und schlich vor ihm her durch den Flur. Nick blieb stehen und zog die Schuhe aus. Wie er dann auf Socken weitertappte, sah er einfach zum Anbeißen aus. »Was soll das eigentlich alles?« fragte er. Wir traten durch eine Schwingtür auf einen größeren, aufwendiger und teurer ausgestatteten Flur. Auf beiden Seiten lagen riesige dunkle Räume. 233
Ich steckte den Kopf in jeden. Ein Himmelbett nach dem anderen. Ein dekorativ drapierter Damastbaldachin nach dem anderen. »Betrachte die Sache mal andersrum«, schlug ich Nick vor. »Laut Marian Pinckney gibt es sieben Erpresserkonten bei der New York Guaranty. Eins gehörte Myrra. Eins Julie. Mit vier von den anderen fünf Kontoinhabern haben Phoebe, du und ich einzeln oder gemeinsam gesprochen. Von Lydia weiß ich nichts, aber Amelia, Marty Caine und Jaimie Hallman behaupten mit aller Entschiedenheit, daß sie niemals erpreßt worden sind. Was Janine betrifft, haben Phoebe und ich uns ausgerechnet, daß sie das Geld nicht hat, um jemandem tausend Dollar im Monat zu zahlen.« »Also lügt jemand.« »Nicht unbedingt.« Der letzte Raum auf der linken Seite war Myrras Arbeitszimmer. Ich knipste den Messingkronleuchter an, der von der Mitte der sechs Meter hohen Decke herabhing. Auch dann war das Zimmer noch dunkel. Blutrote Vorhänge verdeckten die Fenster. Ein blutroter Teppich bedeckte gerade eben das dunkle Parkett. Die Wände waren vollgestellt mit schweren Leuchtern und üppigen Polstersesseln. Myrras Schreibtisch war ein verschnörkelter Rosenholz-Sekretär von der Sorte, die sechs oder sieben Geheimfächer hat. Auf der glänzenden polierten Holzplatte hatte sicher noch nie eine 234
Schreibmaschine gestanden. Myrra hatte ihre Romane aus der in den Boden eingelassenen herzförmigen Badewanne heraus diktiert – jedenfalls hatte sie das behauptet. Alle suchten sie sich die sonderbarsten Plätze zum Schreiben oder Diktieren aus: Das Bett, das Flugzeug. Einige schrieben nur, wenn sie gerade mit einem Mann geschlafen hatten. Phoebe würde sich irgend etwas in der Art einfallen lassen müssen. Einfach nur an einem Schreibtisch zu arbeiten hatte keinen Stil. Neben mir trat Nick von einem Fuß auf den anderen. Er war nervös, ungeduldig und gereizt. »Wenn du sowieso alles schon weißt, was ist dann mit dem Messer? Wie ist Jaimie Hallman dazu gekommen?« »Nichts leichter als das. Ehemänner töten Ehefrauen. Für den Fall, daß ich außer Verdacht geriet, hätte sich doch Jaimie Hallman als ErsatzSündenbock geradezu angeboten.« Ich fuhr mit der Hand über die Unterseite des obersten Faches, ertastete einen Knopf und zog daran. Nichts geschah. Ich drückte ihn. Nichts. »Es muß hier irgendwo sein«, murmelte ich. »Was denn?« Seiner Stimme nach zu urteilen hatte Nick Lust, mich zu erwürgen, aber ich beachtete ihn nicht. Es war Sonntagnachmittag. Sollte irgendwer außer uns sich in dieser Wohnung herumtreiben, war er oder sie mit Sicherheit unbefugter als wir. Wie ich dauernd versuchte, 235
Nick beizubringen, war ich zumindest die rechtmäßige Erbin. »Versetze dich an Myrras Stelle«, bat ich ihn. »Was hast du in der Hand? Du weißt, daß irgend etwas mit Fires of Love nicht stimmt. Wir haben keine Ahnung, wie sie es herausbekommen hat, aber sie wußte, daß etwas faul ist. Mit Fires of Love.«. »Aber das wissen wir doch gar nicht«, protestierte Nick. »Es gibt keinen einzigen Anhaltspunkt dafür, daß bei Farret etwas nicht stimmt.« »Es geht nicht um Farret. Es geht um Fires of Love. Fires of Love steht für das Beratungskomitee, das Lektorat und die Leute von der Werbung. Und wir wissen, daß es Fires of Love ist, wegen der Erpresserliste. Das ist Phoebe gestern aufgefallen. Gestern nacht. Ist ja auch egal. Jedenfalls sollst du dir jetzt vorstellen, du wärst Myrra. Du bist eine Fanatikerin, wenn es um Ehrlichkeit im Geschäft geht. Du willst die Übeltäterin festnageln, bist dir aber nicht ganz sicher, wer es ist und weißt keinen Weg, es herauszufinden. Möglicherweise ist es so: Du weißt, die Sache ist nicht illegal, aber sie ist anrüchig. Oder sie ist illegal, aber du weißt nicht, ob es sich nicht irgendwie hinbiegen läßt. Oder du kannst es einfach nicht beweisen. Was auch immer – auf den üblichen Wegen kann es nicht aus der Welt geschafft werden. Du als Myrra würdest es natürlich mit dem Rechtsweg angehen wollen, wenigstens zunächst.« 236
»Ich als Nick würde es in jedem Fall mit dem Rechtsweg angehen«, stellte Nick trocken fest. »Von mir aus. Aber du bist jetzt Myrra. Und der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Aus irgendeinem Grund würde er nicht funktionieren. Wer auch immer hinter der Sache steckt, ist also drauf und dran, zu entwischen. Das willst du aber auf keinen Fall zulassen. Der bloße Gedanke macht dich rasend. Jeder von diesen sieben Leuten könnte es gewesen sein. Und wenn du herausgefunden hast, wer es ist, wirst du zuschlagen. Klar?« »Du erpreßt also sieben Menschen, einschließlich dich selbst?« »Aber nein. Du erpreßt niemanden. Du bist Myrra, vergiß das nicht. Du würdest niemals so etwas tun.« »Jemand muß es aber getan haben. Sieben Bankkonten laufen frei in der Gegend herum.« »Weiß ich. Aber niemand hat irgendwen erpreßt. Wir haben keine einzige Person gefunden, die zugegeben hätte, erpreßt worden zu sein.« »Genau.« Nick hob den Zeigefinger. »Nicht eine, die es zugegeben hat.« »Phoebe wird nicht erpreßt. Wenn Phoebe nicht erpreßt wird, und das Geld trotzdem auf ihr Konto eingezahlt und wieder abgehoben wird, dann ist das bei den anderen Konten womöglich genauso. Oder glaubst du, jemand anders zahlt das Geld für Phoebe?« 237
Nick schüttelte den Kopf. »Nein. Das glaube ich nicht. Das wäre zu weit hergeholt, selbst bei Phoebe.« Ich lächelte. Liebend gern hätte ich weiter mit ihm über Phoebe geplaudert, unser einziges neutrales Gesprächsthema. Doch da stieß ich mit der Hand an etwas unter dem zweiten Fach. Ich fühlte mit den Fingern über die rauhen Kanten eines Holzstiftes, dann drückte ich diesen langsam und vorsichtig nach hinten. Wie ein Springteufel schnellte eine Klappe an der Vorderseite des Sekretärs heraus. Auf die lackierte Schreibplatte ergoß sich ein Schwall von Plastikkärtchen. In der Doppeltür zum Wohnzimmer tauchte Leslie Ashe auf. »Ach du – verflixt.«
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25 Leslie Ashe war im Gesicht unverletzt. Ihr rechter Arm lag in einer Schlinge, und am linken trug sie einen Verband bis zum Handgelenk. Sie sah blaß aus, aber im Gesicht hatte sie keine Verletzungen. Wer hatte mir bloß erzählt, daß man sie ins Gesicht gestochen hatte? Ich kam nicht drauf. Außerdem war ich völlig verwirrt, daß Leslie Ashe überhaupt nicht aussah wie Gamble Daere. Doch Leslie Ashe und Gamble Daere waren ein und dieselbe Person. Daran gab es keinen Zweifel. Sie hatten identische Gesichtszüge. Gamble Daere war eine ausgeflippte Vogelscheuche, so wie sie sich gab und bewegte. Leslie Ashe hingegen war eine kerngesunde, stämmige, fast schon dralle, durch und durch englische junge Frau von der Sorte, die lange Wandertouren liebt. Ihr Gesicht war saubergeschrubbt, keine Spur von Make-up. Die Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihr Kopf saß fest und solide auf dem Hals. Ich hätte ihr am liebsten zu ihren Verwandlungskünsten gratuliert, war mir aber nicht sicher, auf wessen Seite sie stand. So trat ich nur einen Schritt zur Seite, und sie blickte über meine Schulter auf die Plastikkärtchen. »Oh«, sagte sie nur. »›Oh Scheiße‹ wäre wohl angebrachter«, entgegnete ich. 239
»Diese Dinger bringen Sie auch nicht weiter«, sagte sie. »Ich habe mir schon den Kopf darüber zerbrochen. Ich kann mir nicht denken, daß Tante Myrra –« Sie dehnte die Silben, wie wir es in Connecticut tun. Phoebe spricht sie kürzer und zerkauter aus. »Ich auch nicht. Ich glaube auch nicht, daß sie es war. Ich glaube überhaupt nicht, daß irgendwer irgendwen erpreßt hat.« Wir nickten uns feierlich zu. »Entweder hat keine erpreßt, oder alle«, meinte Leslie. »Das eine ergibt genausowenig Sinn wie das andere.« »Würde mir bitte mal jemand erklären, was hier eigentlich Sache ist?«. Wir wandten uns beide Nick zu und blinzelten. Er wirkte so unangemessen wütend, als stände er hier vor einer Katastrophe, von der weder Leslie noch ich überhaupt etwas ahnten. Wir waren völlig in unsere Spekulationen vertieft, so als gäbe es nichts Wichtigeres. Schließlich hatten wir beide Myrra gekannt. Das verband uns. Ich machte mir klar, daß ich Leslie Ashe überhaupt nicht kannte. Hätte sie nicht aus England herübergekommen sein können, um Myrra zu ermorden? Ich glaubte nicht daran – dafür kam sie mir zu gnadenlos vernünftig vor. Aber sie würde immerhin eine Erbschaft antreten, gut zehnmal soviel wert wie dieses Apartment. Grund genug, mich in die Pfanne zu hauen. 240
Wenn ich als Myrras Mörderin überführt würde, bekäme ich die Wohnung nicht. Sie würde wieder zu einem Teil des De Ford-Vermögens und somit Leslie gehören. Ich schaute Nick an. Er war immer noch durcheinander und sah langsam aus wie sieben Tage Regenwetter. »Niemand ist erpreßt worden«, erklärte ich. »All die Konten hat Myrra eröffnet. Der Umschlag für Amelia ist von ihr, möglicherweise gibt es noch andere. Myrra hat das Geld eingezahlt und es auch wieder abgehoben.« »Und wozu?« Nick legte den Kopf in die Hände. Zwischen seinen Fingern lugten wirre schwarze Haarbüschel hervor. »Warum um alles in der Welt würde jemand –« »Um sich an einer anderen Person zu rächen«, rief Leslie. »Um jemanden zu überführen! Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.« Sie nickte heftig. »Das muß ich unbedingt Teri erzählen. Zum ersten Mal, seit wir hergekommen sind, ergibt überhaupt etwas Sinn.« »Wer ist Teri?« erkundigte ich mich. Leslie errötete. »Die blonde Frau. Neulich bei der Tagung. Tut mir leid, daß ich Sie in so große Schwierigkeiten gebracht habe –« »Sie wollten einfach nur den Erpresserbrief loswerden. Er war hier in der Wohnung?« »Ja, bei den Karten. Außerdem noch eine Liste mit Geheimnummern. Selbstverständlich war der 241
Umschlag nie in Julie Simms’ Besitz. Ich brauchte nur einen Vorwand, um ihn Ihnen zu geben …« Sie scharrte verlegen mit den Füßen. »Ich habe Myrras Karte versuchsweise in den Automaten gesteckt. Aber ich habe es mit den falschen Nummern probiert, und es hat nicht geklappt.« Sie zupfte an der Schlinge um ihren Arm und runzelte die Stirn. »Ich habe hier alles abgesucht. Ich habe Myrras Tantiemen überprüft und diese Computerausdrucke, die man ihr zugeschickt hatte. Ich habe ihre Post gelesen. Und habe nichts, aber auch gar nichts gefunden.« »Die Tantiemen können es nicht gewesen sein«, behauptete ich. »Damit kannte sich Myrra aus. Sie konnte eine Abrechnung aus hundert Metern Entfernung lesen.« »Vermuten Sie etwa, Tante Myrra wurde getötet, weil sie herausbekommen hatte, daß jemand krumme Dinger gedreht hat?« fragte Leslie. Ich nickte. »Schön«, sagte sie. »Und warum hat sie dafür neun Monate gebraucht?« Wir schrieben alle Ereignisse seit November auf, die möglicherweise Myrra bei der Suche nach wem auch immer wegen was auch immer als Hinweis hätten dienen können. Wir stellten eine Liste auf von allem, was womöglich wen auch immer darauf aufmerksam hätte machen können, daß Myrra der Sache nachging. Wir zählten alles auf, was bei Fires of Love hätte schiefgehen können. Leslie kochte Kaffee in Myrras scheunenarti242
ger Küche. Nick verteilte Baklava. Niemand von uns kam auch nur einen Schritt weiter. »Wir müssen davon ausgehen, daß Myrra gewußt hat, um was es geht«, schlug Leslie vor. »Oder zumindest war sie ganz nah an der Sache dran.« »Gehen wir besser davon aus, daß sie etwas, aber nicht alles wußte«, meinte Nick. Er rettete einen silbernen Kaffeelöffel aus den Zähnen von Camille, die gerade dabei war, ihn in meine Handtasche zu verschleppen. Nick nahm die Katze hoch und drückte sie an seine Brust. »Uns fällt auch nicht eine verdammte Sache ein, zu der all diese sieben Leute fähig wären.« »Im Zusammenhang mit Fires of Love«, fügte ich hinzu. »Klar, im Zusammenhang mit Fires of Love«, pflichtete er mir bei. »Versuchen wir es von einer anderen Seite.« Er wandte sich Leslie zu. »Konzentrieren wir uns auf gestern abend. Sie haben Martinez gesagt, es könne nicht Pay gewesen sein, die auf Sie eingestochen hat.« »Es war eine kleine Frau«, entgegnete Leslie. »Kleiner als ich. Sie ging mir nur ungefähr bis zur Schulter. Ich bin einsfünfundsiebzig.« »Mary Allard«, entfuhr es mir. »Amelia.« »Mary Allard könnte es gewesen sein. Amelia nicht. Das wüßte ich, wenn es eine so dicke Frau gewesen wäre. Es hätte Teri gewesen sein können, aber die hätte ich sicherlich erkannt. Und Te243
ri war vermutlich schon auf dem Weg aus der Stadt.« »Könnte es ein Mann gewesen sein?« forschte ich. »Marty Caine?« »Ja, schon möglich. Oder Janine Williams. Oder Phoebe Damereaux.« Ich erbleichte, aber sie nahm es nicht wahr. »Es hätte auch die Kleine sein können, die immer mit Vorträgen über Verträge und Pseudonyme nervt –« »Hazel Ganz.« »Hazel Ganz. Ich hatte keine Chance, irgend etwas zu sehen. Ich ging hinein, hob die Hand zum Lichtschalter und das nächste, woran ich mich erinnere, ist die Polizei und ein verwüstetes Zimmer. Ich habe keine Ahnung, wie es passiert ist.« Nick goß etwas Sahne in den blauen Porzellanunterteller seiner Kaffeetasse, setzte Camille daneben und sah ihr zu, wie sie genüßlich schleckte. Er bekam schon Schatten unter den Augen und feine rote Linien auf der Nase. »Aus welchem Grund sind Sie überhaupt da hochgefahren?« erkundigte er sich. Leslie zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich dachte, es wäre vielleicht jemand da. Ich – ich glaubte immer noch, daß Myrra die Leute erpreßt hat. Es ergab keinen Sinn, aber ich glaubte es trotzdem. Und Janine Williams und Marty Caine gehörten zu diesen Leuten.« »Mary Allard wußte, daß Sie da rauf wollten«, 244
sagte ich. »Warum haben Sie’s ihr gesagt? Sie ist mit Ihnen im Lift hochgefahren.« »Und weitergefahren. Tatsächlich habe ich niemandem etwas gesagt. In der Farret Suite haben sie jede Menge Bücher von Myrra gestapelt. Ich sagte, ich wolle hinauffahren und sie mir holen.« »Zu wem haben Sie das gesagt?« erkundigte sich Nick. »Ach, zu vielen Leuten. Amelia Samson besorgte Getränke. Ein ganzer Tisch saß voller Leute von der Konferenz. Alle, über die wir gesprochen haben. Phoebe war, glaube ich, nicht dabei.« Wir sahen uns an – müde, niedergeschlagen und ziemlich verzweifelt. Camille tappte in den Teller und machte Sahnespuren kreuz und quer über den Tisch. Ich zündete mir eine Zigarette an und sah zu, wie es draußen vor dem Küchenfenster immer dunkler wurde. Es gibt einen Punkt, an dem man einfach nicht mehr denken kann. Ich war längst darüber hinaus. Außerdem wurde ich beim AWRCocktailempfang um halb acht im Starlit Room des Cathay-Pierce erwartet. Leslie auch. Und auch Nick. Auch Mary Allard, die als erste festgestellt hatte, daß das Messer, mit dem man auf Leslie Ashe eingestochen hatte, nicht dasselbe war wie das bei Julie oder Myrra. 245
26 Wenn ich in Gedanken nicht ganz woanders gewesen wäre, hätte ich es bemerkt. Aber ich hatte mich auf Nick konzentriert – einen Nick, der während der kurzen Taxifahrt durch den Park eine grundlegende Wandlung durchgemacht zu haben schien. Er überließ es mir, den Fahrer zu bezahlen, und eilte im Laufschritt ins CathayPierce. Die Frauen, die vor den Liften warteten, blickte er so böse an, als hätten sie ihn persönlich angegriffen. Er schob mich in eine volle Aufzugkabine, in der sich die Leute sowieso schon wie Sardinen in der Dose zusammendrängten. Eingekesselt von Janine, Marty Caine, Hazel Ganz – praktisch von allen, die ich oder Phoebe ihm im Lauf der Tagung vorgestellt hatten – starrte er entschlossen ausschließlich zur Decke. Auch ich starrte die Decke an. Die Atmosphäre war so vergiftet, daß ich unwillkürlich die Luft anhielt. Als wir die Suite erreicht hatten, marschierte er geradewegs durchs Wohnzimmer, verbarrikadierte sich in Phoebes Schlafzimmer und fing an zu telefonieren. Phoebe sah ihm achselzuckend nach. »Was ist passiert?« erkundigte sie sich. Ich erzählte es ihr. Ich berichtete ihr alles einschließlich der Szene im Lift. Dann ließ ich mich in einen Sessel fallen, um Camille zu beobachten. Sie probierte gerade, die Couch abzuschleppen. 246
Camille hatte es sich nämlich zur Gewohnheit gemacht, alles zu stehlen, was ihr in die Pfoten kam. Allerdings bevorzugte sie im allgemeinen Gegenstände, die so klein waren, daß sie in meine Handtasche paßten. Phoebe lief auf dem Teppich hin und her, blieb stehen, lief weiter und blieb wieder stehen. Sie starrte auf die Schlafzimmertür, hinter der Nick am Telefon hing. »Was soll das? Es ist doch nichts passiert. So ist Nick sonst nur, wenn die Karre total in der Scheiße steckt.« Sie überlegte. »Mindestens.« »Die Situation ist nicht anders als vorher. Außer, daß Myrra Gott weiß was alles unternommen hat. Aus Gott weiß was für Gründen. Und ich kann ihre unwichtigen sinnlosen Aktionen nicht von den wirklich wichtigen unterscheiden.« »Kümmere dich lieber um deine Wohnung«, riet Phoebe. Ich konzentrierte mich jedoch darauf, mich für die Cocktail Party herzurichten. Ich duschte lange und ausgiebig und dachte an gar nichts, nicht einmal mehr an Zuhause und Connecticut und meinen Weihnachtsstrumpf. Ich zog eine schwarze Satinhose an. Ich bürstete meine Haare – fünfhundert Mal mit der Drahtbürste. Ich ließ mich am Toilettentisch nieder, um mir alle Zeit der Welt für mein Make-up zu nehmen. Für mein Make-up brauche ich immer viel Zeit. Da ich mich nur schminke, wenn ich ge247
zwungen bin, Abendgarderobe zu tragen, weiß ich eigentlich nicht, wie es geht. Ich starre angestrengt in den Spiegel und pinsele hier ein wenig und kleckse da ein wenig. Ich lasse meinen Gedanken freien Lauf und vergesse völlig, was ich tue. Ich fange an zu träumen. Diesmal träumte ich meinen Lieblingstraum: Ich sitze aufrecht in einem überdimensionalen Bett mit einem Dutzend Daunenkissen im Rücken. Die Laken sind gestärktes, blütenweißes irisches Leinen. Die Bettdecke ist mit allerfeinsten Gänsedaunen gefüllt. Auf dem Nachttisch zu meiner Rechten steht ein Glas Bailey’s Old Irish Cream. In den Händen halte ich einen guten, gediegenen Krimi oder einen spannenden Gruselroman. Draußen schneit es. So könnte es immer und ewig weitergehen. Ich hatte mir bereits dreimal mein Gesicht geschminkt und wieder verworfen, da kam Nick herein. Er sah wild und zornig aus. Anscheinend hatte ihn die sonderbare, tiefsitzende Verärgerung noch nicht verlassen, deren erste Anzeichen ich heute früh an ihm bemerkt hatte. Seine Wut schien ziellos und unauflösbar zu sein. »Ich habe nur eine Sekunde lang nicht telefoniert«, sagte er vorwurfsvoll. »Da war auch schon Amelia Samson am Apparat.« »Was wollte sie?« »Woher soll ich das wissen? Ich habe ihr ge248
sagt, du wärst nicht da.« Er stapfte zurück ins Schlafzimmer. Ich lief ihm nach, das Gesicht dick mit Cold Cream zugekleistert. Er saß schon wieder auf der Bettkante und hing über dem Telefon wie ein Spieler, der alles auf eine Karte gesetzt hat. Etwas später hängte er den Hörer ein. Ich hatte mich inzwischen am anderen Ende des Zimmers hingesetzt und eine Zigarette angezündet. Ich sah nur Nicks Rücken, aber er drehte sich auch nicht um. »Diese verflixte Wohnung!« knurrte er. »Ich hatte keine Ahnung, in was für Schwierigkeiten wir stecken, bis ich diese Wohnung sah. Ich habe gerade mit Martinez telefoniert.« »Was hat er gesagt?« Die Vorstellung, daß Nick mit Martinez sprach, machte mir Bauchschmerzen. Es kam mir ein bißchen vor wie Friedensgespräche und Generäle und zwei verfeindete Nationen, die einen ehrenvollen Weg suchen, aus einem Krieg herauszukommen. Ich hatte kein Interesse, diesen speziellen Krieg zu beenden. »Wir können nicht mit ihm feilschen«, erklärte Nick. »Eigentlich wußte ich es. Jetzt, wo ich es weiß, weiß ich es.« »Ich will gar nicht feilschen.« Er gab mir keine Antwort. Meine Worte hingen in der Stille und brannten mir plötzlich in den Augen. Vierundzwanzig Stunden lang hatte ich Nick Carras wie eine Ausschneidepuppe aus 249
Pappe behandelt, gut genug, mit Drogen vollgepumpte Liebesroman-Autorinnen durch Hotelflure zu schleppen und in versiegelte Wohnungen einzubrechen. Und jetzt saß er hier und kehrte mir den Rücken zu. Er, mein einziger Schutz vor Martinez. Der einzige Mensch, der sich nicht nur um mich sorgte, sondern auch tatsächlich etwas für mich tun konnte. Ich mußte an meine Eltern denken, an meine Nichten und Neffen, meinen Bruder und meine Schwägerin. Seit das alles begonnen hatte, hatte ich sie nicht einmal angerufen. Ich hatte auch noch keine Weihnachtsgeschenke gekauft. Ich war viel zu müde, um vernünftig zu überlegen. Mein Verstand befand sich in Auflösung. Es war einfach lächerlich anzunehmen, ich hätte mich in einen Mann verliebt, den ich erst seit gestern kannte, und den ich vor fünf Minuten zum ersten Mal richtig wahrgenommen hatte. »Ich habe Julie Simms nicht umgebracht,« sagte ich. »Und Myrra auch nicht.« »Ich weiß.« Jetzt wandte Nick sich um und sah mich an, aber er stand nicht vom Bett auf. Mir schoß der verrückte Gedanke durch den Kopf, daß er einer Mörderin nicht zu nahe kommen wollte. »Martinez hat das ganze Wochenende gearbeitet«, berichtete er. »Die Staatsanwaltschaft auch. Nächste Woche bringen sie dich vor die Grand Jury. Vielleicht auch schon morgen. Und man wird Anklage erheben.« 250
»Was hat das schon zu bedeuten.« »Wenn morgen die Gerichtsverhandlung wäre, würdest du wegen Mordes verurteilt.« »Aber sie ist nicht morgen.« Jetzt war ich den Tränen wirklich sehr nahe, den Tränen und einer tiefen Erschöpfung. Am liebsten hätte ich mich mit einer Decke und dem Kätzchen in einer dunklen Ecke verkrochen. »Wir haben noch monatelang Zeit«, sagte ich. »Noch alle Zeit der Welt.« »Und unsere Fingerabdrücke haben wir überall in der Wohnung von Myrra Agenworth. Überall auf ihrem Schreibtisch. Überall auf ihren privaten Unterlagen.« Nick seufzte. »Wir hätten das nicht tun sollen.« »Warum denn nicht? Wir können doch nicht einfach nur rumsitzen und Däumchen drehen. Martinez sucht nicht einmal nach anderen Verdächtigen.« »Ich weiß. Du hast aber weder Julie Simms getötet noch Myrra, und er muß seine Hypothese erstmal beweisen. Der Zeitfaktor ist unser Trumpf.« »Mordverdächtige kommen nicht auf Kaution frei. Sie werden mich Weihnachten nicht nach Connecticut fahren lassen.« »McKenna –« Wir wußten beide, daß ich mich einfach weigerte, Vernunft anzunehmen. Ich wußte genau, daß Nick mir nur helfen wollte. Ich wollte aber nicht hören. Ich sprang auf und eilte in den Ankleideraum. 251
»Du ziehst dich jetzt besser um«, rief ich Nick zu. »Es wird höchste Zeit für uns runter zufahren.« »McKenna!« Ich schloß hinter mir die Tür. Dann setzte ich mich vor den Spiegel und betrachtete meine Augen. Sie waren rot und geschwollen – wie immer, wenn ich den Tränen auch nur nahe war. Seltsam, ich fürchtete mich und war gleichzeitig voller Groll. In meiner Angst hätte ich mich am liebsten in Nicks Arme geworfen. Andererseits hätte ich ihm am liebsten den Hals umgedreht. Warum, um alles in der Welt, konnten wir den Fall nicht auf eigene Faust untersuchen? Warum, um alles in der Welt, konnten wir ihn nicht selbst lösen. Ich stellte meine Handtasche auf den Schoß. Sie war voller Lippenstifthüllen und Rougedöschen – alles Schätze, die Camille angeschleppt und darin gehortet hatte. Als ich den ganzen Kram herausholen wollte, protestierte sie, indem sie mir ihre Krallen in die Finger grub. Ich zerrte sie aus der Tasche und setzte sie auf den Tisch. Sogleich pirschte sie sich an eine von Phoebes Puderdosen aus Sterlingsilber heran. Ich konnte endlich mit der Suche nach meinem Lidschatten beginnen. Beim dritten Versuch fand ich ihn. Spitzes Metall stach mich in den Finger. Rasch zog ich die Hand aus der Tasche und sah auf das Blut. Ich konnte unmöglich wissen, 252
woran ich mich gestochen hatte. Aber ich wußte es. Wirklich. Ich hatte damit gerechnet. Es klopfte an der Tür, und ich hörte Nicks Stimme. »Ich wollte dich nicht ärgern.« »Schon gut«, rief ich. »Bin gleich da.« Wieder steckte ich die Hände in die Tasche. Ich ertastete ein Häkchen. Ich schloß die Finger um das Metall. Im gedämpften Licht der Glühbirnen um den Toilettenspiegel funkelte und blitzte es auf. Myrras rubinbesetzter Schlüsselring! Der mit den Schlüsseln zu meinem Apartment. Der, den sie in der Nacht bei sich hatte, in der sie gestorben war. Ein gefundenes Fressen für Martinez! Die Schlüssel zu Myrras Wohnung waren aus Sterlingsilber, extra für sie bei Tiffany angefertigt. Meine Schlüssel waren Dutzendware und rot. In meiner Handfläche sahen sie aus wie Blut.
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27 Ich erzählte Nick nichts von den Schlüsseln. Ich ließ mich von ihm nach unten begleiten – er sah steif und etwas nervös aus in seinem DinnerJackett –, und sobald wir den Starlit Room betraten, schickte ich ihn los, Champagner holen. Ich wollte ihn los sein. Ich mußte unbedingt mit Phoebe reden. Eigentlich hätte ich es mir denken können. Im Starlit Room brannten tausende und abertausende Kerzen. Sie waren in Leuchter gezwängt und mit Bedacht so im Saal verteilt, daß sie einerseits für ein höchst stimmungsvolles, schummriges Licht sorgten und andererseits höchste Gefahr bedeuteten für all die rotweißen Bänder aus Kreppapier, die von Wänden, Fenstern und Tischen hingen. Mitten im Saal stand eine mit rotweißer Zuckerglasur verzierte herzförmige Torte, so groß wie ein Eßzimmertisch. Aus diesem Kuchen würden irgendwann im Lauf des Abends völlig überraschend und unerwartet die Queen of Court und ihr Prince Charming herausspringen. Dieser Prince Charming war ein MöchtegernMafioso mit fliehendem Kinn und Sonnenbrille. Als Queen of Court hatte das Los eine üppig gepolsterte Matrone aus Lansing in Michigan bestimmt, die leidenschaftlich gern Barbara Cartland las. Es sollte eine große Gala sein. Tatsächlich war 254
es ein Abschlußball der älteren Semester ohne Jungs. Selbst die angejahrtesten Frauen hatten sich in pastellfarbene Rüschen und Jabots geworfen. Nicht wenige hatten blasses rosa Make-up gewählt, wie es sich Mütter für ihre unschuldigen sechzehnjährigen Töchter wünschen. Die Band spielte die Titelmusik aus Herzen im Fieber. Immer und immer wieder. Eine Frau mit pinkfarbenen Haaren und einem Kleid wie grüne Limonen steuerte mit einem Karton, der mit rosa Papierservietten ausgeschlagen war, auf mich zu. »Miss McKenna«, flötete sie. »Dürfte ich um Ihre rosa Stimmkarte bitten?« Ich kramte in meiner Handtasche, störte Camille bei ihrem Nickerchen und fand einen rosa Umschlag mit aufgedrucktem Herz und Pfeil. STIMMZETTEL stand darauf. QUEEN OF HEARTS. Die Queen of Hearts ist das, was der Verband Amerikanischer Liebesromanautorinnen ihre Präsidentin nennt. Ich überging die Favoritinnen Lydia und Amelia und schrieb Phoebes Namen. »So.« Ich stopfte den Zettel in den Wahlkarton. Die Frau schniefte. Sie drehte sich auf dem Absatz um und stöckelte davon, laut nach rosa Stimmzetteln rufend. Ich schlenderte herum. In dem schummrigen Licht und dem aufgeregten Gemurmel war es unmöglich, irgend etwas deutlich zu sehen oder 255
jemanden an der Stimme zu identifizieren oder genau auszumachen. »Ich habe meiner Agentin erklärt, ich würde auf keinen Fall weniger als siebentausend für das neue Buch verlangen«, hörte ich eine Frau sagen. »Und diesmal fordere ich neunzig –« »Wenn du die Verlagsanweisung liest, denkst du, es ist eine Serie, die nur aus einer einzigen endlosen Sexszene mit wechselnden Requisiten besteht, aber sie soll praktisch bis zur allerletzten Seite Jungfrau sein, wie willst du also –« Jemand packte mich am Arm und riß mich herum. »Gewerkschaften«, bellte Hazel Ganz mit heißem Atem und einer Champagnerfahne. »Was hältst du von Gewerkschaften?« »Ich weiß nicht.« »Solltest du aber! Hafenarbeiter können sich gewerkschaftlich organisieren. Musiker auch. Sogar Schauspieler können eine Gewerkschaft gründen. Wart’s nur ab! Wenn wir in dreißig Jahren Kohl und Katzenfutter bei der Heilsarmee fressen, können wir uns gegenseitig auf die Schultern klopfen und uns dazu beglückwünschen, was wir doch immer für untadelige kleine Ladys gewesen sind.« Sie wirbelte davon und verschwand im Getümmel. »Da bist du ja endlich«, rief Janine. »Phoebe hat jetzt einen Hund. Wir haben dich schon überall gesucht.« 256
Sie zog mich in eine kleine Gruppe hinein, die aus Phoebe mit Esmeralda auf dem Arm bestand, aus einem jetzt schon volltrunkenen Marty Caine, sowie aus Amelia und Lydia mit Werbeaufstellern neben sich. Der von Amelia zeigte sie an einem Chippendale-Schreibtisch sitzend in dem vergeblichen Versuch, gediegene Würde auszustrahlen. Lydia schwebte über den Köpfen von mindestens einer Million Japanern. »Die Fernost-Kampagne«, verkündete Lydia und schwenkte ihre grell lackierten Fingernägel in der Luft. »Wußtest du, daß ich die Nummer Zwei auf der Bestsellerliste in Japan bin?« »Das hängt bestimmt damit zusammen, daß dort kaum jemand Englisch lesen kann«, bemerkte Amelia. »Ich war den ganzen September über da«, berichtete Lydia. »Und habe so viele Bücher signiert, daß mir die rechte Hand eingegipst werden mußte.« »Rede keinen Unsinn«, meldete sich Janine. »Du bist doch Linkshänderin.« Lydia funkelte sie böse an. Amelia holte tief Luft und posaunte: »Ich bin felsenfest davon überzeugt, daß der Ausgang dieser Wahl den Kurs der Liebesromanliteratur in diesem Jahrhundert entscheidend beeinflussen wird.« »Es ist nicht zum Aushalten.« Phoebe stöhnte. »So geht das schon seit Stunden! Paß auf, jetzt ist Lydia wieder dran –« 257
»Bei den Liebesromanen zeichnet sich ein völlig neuer revolutionärer Trend ab.« Lydias Augen leuchteten. Sie zog die Hand aus ihrer Tasche und fuchtelte mit einer braunen Pillenflasche aus Plastik. Sie warf zwei gelbe Kapseln ein und spülte sie mit Champagner herunter. »Der springende Punkt ist der –«, Amelia schleuderte theatralisch die Arme zur Seite und versetzte mir dabei einen Rippenstoß. »Liebe ist eben mehr als die Befriedigung gewisser Instinkte, die man höchst zutreffend nur als niedrig bezeichnen kann.« »Der Liebe heißer Atem«, verkündete Lydia. »Zwei Millionen verkaufte Auflage.« »Süßes Versprechen«, konterte Amelia. »Dreieinhalb Millionen.« »Die Heilige Schrift!« Phoebe schwenkte ihr Champagnerglas. »Fünfzig Millionen verkaufte Auflage.« Alle starrten sie an, und sie hob die Schultern. »Von mir aus auch hundert Millionen. Wer zählt da noch?« Sie hielt Esmeralda ihr Glas unter die Nase und ließ den Hund trinken. Esmeralda nieste. Phoebe hob das Glas, trank den Rest und griff sich sogleich ein neues vom nächstbesten Tablett. Ich erinnerte mich, daß ich Phoebe vor kurzem überhaupt zum ersten Mal mit einem Drink in der Hand gesehen hatte, und der hatte überwiegend aus Wasser bestanden. Ganz bestimmt hatte ich sie nie zuvor betrunken erlebt. Wie mochte es 258
wohl sein, eine halbbesoffene Phoebe auf ihr Zimmer zu schaffen, derweil sie Lobeshymnen auf den Umsatzerfolg der Bibel sang? Mir blieb jedoch keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen. Zuerst verlor Janine in dem Gedränge das Gleichgewicht, taumelte und fiel volle Breitseite gegen meine Handtasche. Dann fing die Katze in der Tasche an zu kreischen und zu toben. Bei dem Versuch, sie herauszuholen, schnitt ich mich an irgend etwas in die Finger. Und als ich Camille gerade in die Tasche meiner Bluse steckte, erloschen die Kerzen. Keine Ahnung, wie sie es zustande brachten, aber sie gingen tatsächlich alle auf einmal aus. Das einzige Licht im Saal kam vom Podium – von einem Ding, das wie ein riesiger, mit Wunderkerzen gespickter Wasserball aussah. Bei genauerem Hinsehen entpuppte sich der Ball als ein Herz, allerdings ausgesprochen verfettet und nahe daran auseinanderzubrechen. Nick stand unmittelbar darunter. »Meine Damen und Herren«, ertönte eine weibliche Stimme. Ich nahm an, es war Miriam Schaff, die amtierende Queen of Hearts, die unter dem Namen Emalaya Marchband historisch verbrämte Schnulzen schrieb. »Herzlich Willkommen zum Dritten Jahreskongress der Amerikanischen Liebesromanautorinnen.« Die Menge applaudierte heftig, und irgend jemand schrie: »Nächstes Jahr am Valentinstag!« 259
Noch mehr Beifall. Ich fing an, mich durch die Leute zu kämpfen. Ich wollte zu Nick. »Diesen denkwürdigen Abend eröffnen wir am Ende des erfolgreichsten Jahres in der Geschichte des Liebesromanes«, fuhr Miriam Schaff fort. »Ein Jahr der großen Erfolge in Vielfalt, Kreativität und Anerkennung. Ein Jahr, in dem wir ein für allemal bewiesen haben, daß der Liebesroman und seine Autorinnen das eigentliche Rückgrat der Literatur in diesem Lande sind.« Riesiger Applaus. Wild, laut, beängstigend. Ich stolperte über irgendwelche Füße und fiel Nick in die Arme. »Großer Gott!« rief Nick, als er mich aufgefangen hatte. »Was geht hier eigentlich vor? Sind die alle durchgedreht?« »Hast du Phoebe jemals Alkohol trinken sehen?« fragte ich ihn. »Wie bitte?« »Sie säuft.« Ich deutete irgendwo in die Menge. »Sie schüttet den Champagner eimerweise in sich hinein. Sie gibt ihn sogar dem Hund.« Nick wurde leicht grün im Gesicht. »Nein. Nicht doch«, entfuhr es ihm. »Das habe ich befürchtet.« Ich wandte mich von ihm ab und stürzte mich wieder in das Gewühl. Dabei wäre ich besser bei ihm geblieben und hätte ihm die Sache mit dem Schlüsselbund erzählt. Nein, ich hätte es ihm gleich sagen sollen, denn jetzt war dafür absolut keine Zeit. Ich mußte 260
Phoebe finden und vom Champagner trennen, bevor es eine Katastrophe gab. »Die Queen of Hearts ist die bedeutendste Position in unserem Verband«, sagte Miriam Schaff. »Sie ist von uns allen die wichtigste Frau. Sie ist Trägerin unserer höchsten Ehren. Im vergangenen Jahr hatte ich das große Glück, dieses Amt unter Ihnen innezuhaben.« Ich hatte eine freie Stelle an der Wand entdeckt und lehnte mich dagegen. Die Menge drängte erwartungsvoll und ungeduldig nach vorn. Keine Chance, da hindurchzukommen. Am besten ruhte ich mich hier aus, wartete das Wahlergebnis ab und knöpfte mir Phoebe vor, wenn das Licht wieder anging. »Unter den Kandidatinnen bei dieser Wahl heute abend befinden sich zwei Frauen, deren Verdienste um das Genre des Liebesromanes von unschätzbarem Wert sind«, tönte Miriam Schaff. »Die Bücher von Amelia Samson haben Millionen von Frauen in Amerika, Europa und Asien Trost und Hoffnung gespendet. Lydia Wentward hat dem Liebesroman eine neue Gestalt verliehen, indem sie unbekannte und erregende Bereiche zur Erforschung eröffnet hat.« »Und unbekannte und erregende Techniken«, kicherte jemand hinter mir. »Doch Sie haben sich anders entschieden. Ihre Wahl ist auf keine dieser beiden bemerkenswerten Frauen gefallen.« Im Saal wurde es still. »Völ261
lig überraschend haben Sie eine dritte Frau zur Queen gewählt, eine Frau, deren Name nicht auf dem Wahlzettel steht, eine Frau, die noch nicht so lange unter uns weilt, wie die meisten von Ihnen, aber deren Arbeit unserem Beruf zu großem Ansehen verholfen hat. Sie hat sich um dieses ehrenvolle Amt nicht beworben, aber ich bin davon überzeugt, daß sie es mit all der Anmut annehmen wird, die ihr zu eigen ist. Meine Damen und Herren, darf ich Ihnen nun Ihre neue Queen of Hearts vorstellen, die Frau, die für unsere Organisation und für die ganze Welt die hohen professionellen Maßstäbe und die tiefempfundene moralische Verpflichtung der Amerikanischen Liebesromanautorinnen symbolisiert. Miss Phoebe Damereaux.« Die Lichter gingen an. Phoebe, die es genau in der Mitte des Saales und mitten im Champagnertrinken erwischte, verschluckte sich. Amelia und Lydia standen da, als hätte eine Granate eingeschlagen. Leslie Ashe strahlte. Janine reichte Phoebe ein neues Glas Sekt. Phoebe kippte es runter. »Großartig!« rief eine Frau neben mir aus. »Ich habe für sie gestimmt, einfach weil mir ihre Bücher gefallen.« »Was hätten wir auch sonst tun sollen?« meinte eine andere. »Diese beiden alten Drachen, die mit Klauen und Zähnen aufeinander losgehen, sind doch nur peinlich.« 262
Phoebe tauchte plötzlich über den Köpfen der Menge auf. Sie thronte auf den Schultern von Amelia Samson und vier ihrer Sperlinge. Sie griff in ihre Taschen, förderte eine Handvoll Halva hervor und warf es in die Menge. Jemand reichte ihr einen Drink, und sie leerte das Glas. Kurz vor dem Podium wurde ihr noch ein Glas Champagner in die Hand gedrückt, und sie trank auch dieses. Amelia und die Sperlinge hievten sie auf die Bühne. Irgend jemand kam mit einem dritten Glas rosa Champagner. Ich fing an, mich durch die Menge zu arbeiten. »Oh«, hauchte Phoebe ins Mikrofon. »Oh, das ist einfach wunderbar. Das hätte ich nie im Leben erwartet.« Sie schwankte. »Danke!« rief sie. »Einen besonderen Dank an Myrra, auch wenn sie nicht mehr unter uns ist. Und ich werde mich bemühen, Sie nicht zu enttäuschen. Und so weiter. Wo ist Pay?« »Ich bin hier!« schrie ich. »Noch nie habe ich mich so wunderbar gefühlt«, fuhr Phoebe fort. »Ich möchte mich bei allen bedanken, die jemals etwas für mich getan haben, aber das würde zu lange dauern. Ist das nicht lustig? Da habe ich all diese Zweihunderttausend-Wörter-Bücher geschrieben, und jetzt fällt mir nichts mehr ein. Pay? Wo bist du?« »Hier!« schrie ich wieder. Um zum Podium zu gelangen, mußte ich auf Hazel Ganz’ Fuß treten. Ich tat es nicht ohne Vergnügen. 263
»Ich möchte noch einmal allen das Motto dieses Verbandes ins Bewußtsein rufen«, sagte Phoebe feierlich. »Auch ich habe mich der Überzeugung verschrieben, daß Liebe alles überwindet.« Das gab ihr den Rest. Ich war in der Sekunde bei ihr, in der sie zusammenklappte.
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28 Mary Allard stand am nächsten. Ich schob ihr Phoebe in die Arme. »Zur Toilette«, befahl ich. »Sofort.« Sie nickte, ganz redaktionelle Effizienz – die Art von Professionalität, bei der ich mich frage, wieso gerade diese Leute immer meine Manuskripte verkramen, die Druckfahnentermine an der falschen Stelle im Vertrag verstecken und vergessen, die Schecks loszuschicken. Sie packte Phoebes Arme und ich die Beine. So schafften wir Phoebe durch die Menge und in die Lobby – mit einem Minimum an Kollisionen und einem Maximum an (wie ich hoffte) gutgemeintem Spott. Sonst habe ich kaum mitgekriegt, was um uns herum alles ablief. Newsweek hatte zwei Reporter im Saal. CBS eine Video-Aufzeichnungsanlage. Wir schafften es ohne Panne durch die mit rotem Teppich ausgelegte Lobby hindurch in die Damentoilette. Phoebe wurde fast im selben Moment wach, als wir sie unsanft auf dem gekachelten Fußboden absetzten. »Patience?« fragte sie kläglich. »Ist es eine Lebensmittelvergiftung?« »So was Ähnliches. Zweieinhalb Flaschen Champagner.« »Dann habe ich morgen einen Kater«, prophezeite sie düster. Sie taumelte auf die Füße, wankte in die näch265
ste Kabine und schlug mir die Tür vor der Nase zu. Ich kehrte zurück in den Vorraum und leistete Mary Allard Gesellschaft, die sich auf einem schreiend roten Sofa ausgestreckt hatte und eine Zigarette rauchte. »Geht’s ihr gut?« »Dem Zustand entsprechend«, erwiderte ich. Dann suchte ich in meiner Handtasche nach den Zigaretten. Ich griff in etwas Spitzes, zog kurz die Hand zurück und wühlte dann weiter. Da ertastete ich die Klinge. Ich nahm die Hand heraus und fing an, Camille in meiner Bluse zu streicheln. Dieses Mal also keine Papiere. Keine Fotos. Auch sonst nichts, keine neue Ausgabe nahezu perfekter Erpressungsunterlagen. Camille biß mich in die Finger. Meine ganze Hand mußte nach diesem Ding riechen. Ich hatte mich gerade dafür entschieden, es herauszuholen, egal ob Mary nun dabei war oder nicht, da wurde die Tür aufgestoßen, und Amelia rauschte herein, eine Horde Sperlinge in pastellblauem Chiffon im Schlepptau. »Wo ist sie?« verlangte sie zu wissen. Mary und ich zeigten andeutungsweise in Richtung Toiletten. Amelia polterte an uns vorbei, die Sperlinge trippelten hinterher. Gleich darauf hörte ich Amelias Stimme. »Miss Damereaux. Sie vernachlässigen Ihre Pflichten als Queen of Hearts.« 266
»Wo ist sie?« Lydia trottete herbei, einen Joint zwischen den Lippen. »Sie warten schon mit der Krone und den Rosenblüten –« »Sie haben die Wasserphiolen vergessen!« Janine kam hereingeschossen. »Ich habe ihnen gesagt, sie sollen die Blumen in Phiolen stellen und jetzt –« »Der Saal tobt«, sagte Hazel Ganz. Sie sah zerknautscht und gereizt aus. »Da wartet ein Mann. Draußen. Sieht wütend aus.« Janine verdrehte die Augen und entdeckte dabei Mary Allard. Sie verzog ihren Mund, so als hätte sie gerade in eine Zitrone gebissen. »Buchhändlerinnen«, sagte sie giftig. »Wir müssen uns beeilen!« Leslie Ashe stürzte herein. Sie marschierte geradewegs zu den Toiletten, und die anderen liefen hinter ihr her. Amelia ermahnte Phoebe, ihr selbstsüchtiges, kindisches Verhalten abzulegen und sich ihrer ehrenvollen Position würdig zu erweisen. Lydia bot allen eine ›kleine Prise‹ an, und Leslie wies sie scharf zurecht. Ich wartete, bis ich mir sicher sein konnte, daß alle voll und ganz beschäftigt waren. Dann nahm ich meine Tasche und trug sie zu der Couch, auf der Mary gelegen hatte. Von der Toilette aus konnten sie mich nicht sehen. Und falls jemand von außen in den Vorraum kam, konnte ich es rechtzeitig erkennen. Das war auch gut so. 267
Was auf dem Grund in meiner Tasche lag, war eine Machete mit einem Griff aus Elfenbein und Ebenholz und einer rostfreien Stahlklinge, über und über voll getrocknetem und verkrustetem Blut. »Sie will, daß du zu ihr kommst«, sagte Amelia. Das Messer lag noch in meiner Hand auf der Sitzfläche des Sofas. Da ich die Beine übereinandergeschlagen hatte, konnte Amelia es nicht sehen. Ich ließ es aus den Fingern gleiten. »Komm schon«, rief Amelia. »Sie wartet auf dich.« Die Tür zum Vorraum wurde aufgerissen, und Marty Caine tauchte mit großen Augen und wirren Haaren auf. »Wo steckt sie? Da draußen ist die Hölle los. Dieser Hund läuft Amok und frißt die Blumengirlanden.« »Wenn Miss McKenna uns freundlicherweise einen Augenblick ihrer kostbaren Zeit schenken würde, wären wir gleich soweit«, sagte Amelia bissig. Ich stand auf. Das Messer steckte in dem Spalt zwischen den Polstern. Ich war ziemlich sicher, daß weder Marty noch Amelia es gesehen haben konnten. Ich durchquerte den Vorraum, ging wieder in den gekachelten Toilettenbereich und zwängte mich mühsam durch die Anwesenden zu der Ka268
bine, vor der ich Phoebe verlassen hatte. Als ich dem Blick von Mary Allard begegnete, schüttelte ich nur den Kopf. »Phoebe?« Ich klopfte an die verriegelte Tür. »Ich bin’s. Pay.« »Bist du allein?« »Moment.« Ich blickte mich im Waschraum um und zuckte entschuldigend die Schultern. Alle starrten mich an. Dann bückte sich Lydia, schnüffelte das letzte Quentchen Kokain ein, das sie auf der Metallablage unter dem Spiegel ausgestreut hatte, holte tief Luft und verkündete: »Also gut. Kommt, Frauen. Nichts wie raus hier.« Wie eine Herde gehorsamer Lämmer trabten sie hinaus – um sich draußen wieder zusammenzurotten. Phoebe stieß die Tür auf und spähte hinaus. »Wie konnte ich nur so bescheuert sein«, sagte sie. »Du warst schon okay.« Ich bückte mich und half ihr beim Aufstehen. »Bring dich jetzt lieber in Ordnung. Sie warten alle auf dich. Für die Krönung.« Sie kam auf die Füße. »Mir geht’s, glaube ich, ganz gut. Ich fühle mich nicht mal mehr beschwipst.« »Wie solltest du auch. Du kannst keinen Tropfen Alkohol mehr in dir haben. Auch sonst nichts mehr.« 269
Sie sah mich an und rümpfte die Nase. Dann trat sie an den Spiegel, wusch sich das Make-up vom Gesicht und fing an, es ruhig und systematisch wieder aufzutragen. »Ist mit dir alles in Ordnung?« Sie blickte mich im Spiegel mit zusammengekniffenen Augen prüfend an. »Du siehst irgendwie – komisch aus.« »Mir geht’s gut. Dir kommt im Moment wahrscheinlich alles irgendwie komisch vor. Wenn du weißt, was ich meine.« »Nein. Allerdings habe ich Angst, daß Amelia mich umbringt.« »Ich werde nichts dergleichen tun«, tönte Amelia aus dem angrenzenden Raum. »Jedenfalls nicht, sofern du dich beeilst.« Alle lachten. Phoebe richtete sich auf, raffte ihren Kaftan wie eine königliche Schleppe und schritt majestätisch nach draußen. »Wenn ich gewußt hätte, daß ich gewählt werde, hätte ich diesen Abend nicht für mein erstes Experiment mit Alkohol ausgesucht.« »Du liebe Zeit.« Mary Allard stöhnte auf. »Noch keine halbe Stunde im Amt – und schon redet sie wie Amelia.« »Nach der nächsten halben Stunde spricht sie bestimmt wie Lydia«, meinte Janine. »Gehen wir. Kommst du, Pay?« »Gleich.« Ich beugte mich über die Couch, hob meine Tasche auf und tastete mit der Hand in den Spalt zwischen den Polstern. Ich förderte nur ei270
nen Kugelschreiber zutage, der nicht aus meinen Beständen stammte. Dann begann ich eine gründliche Durchsuchung meiner Handtasche. Jede Menge Gegenstände, die sich fremd anfühlten, offenbar Opfer von Camilles zunehmender Kleptomanie. Aber keine Machete mit ElfenbeinEbenholzgriff und rostfreier Stahlklinge. Sie war spurlos verschwunden.
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29 Wäre da nicht die Sache mit der Blumengirlande gewesen, hätte mich schon viel früher die Panik überkommen. Tatsächlich bestand diese Girlande aus zwei zentnerschweren Würsten aus Maßliebchen, eine auf jeder Seite des Aufganges, den Phoebe für die Krönung zur Queen of Hearts hinaufschreiten mußte. Sechzehn junge Frauen in schneeweißen süße-sechzehn-Hängerchen hielten die Girlanden hoch. An einer dieser Frauen hing Esmeralda. Und an Esmeralda zerrte Nick. Die junge Frau war sichtlich hin- und hergerissen zwischen der Sorge, ihr Kleid könnte ruiniert werden, und der Anstrengung, die es erforderte, unentwegt mit den Wimpern zu klimpern. »Laß sie einfach los«, riet ich Nick. »Sie glaubt sonst, es sei ein Spiel. Und das liebt sie.« Ich beschloß bei mir, daß das hinreichend doppeldeutig war und wollte mich verdrücken. Aber Nick ließ mich nicht. »Warte. Wo ist Phoebe?« Ich wies unbestimmt in den hinteren Teil des Saales. »Sie macht sich für ihren Auftritt fertig. Natürlich wird sie es auch alleine schaffen.« »So?« »Für so was gibt es nie eine Eskorte.« »Ach ja.« Er ließ Esmeralda los, und Esmeralda ließ vom Kleid der jungen Frau ab. Die sah erst mich, dann 272
Nick, dann wieder mich an, dann kniete sie sich hin und streichelte das nunmehr liebe Hündchen. Das gab mir ein schwer zu definierendes Gefühl von Befriedigung. »Ich suche dich schon überall. Seit einer Viertelstunde«, behauptete Nick und sah etwas überfordert drein. »Mal bist du da, gleich darauf bist du wieder verschwunden. Ihr wart alle weg! Euer ganzer Verein!« Das Licht ging aus. »Es geht los. Du versperrst mir die Sicht.« Ich schubste ihn in die Dunkelheit. Die Band stimmte ›Bewitched, Bothered and Bewildered‹ an. Ganz hinten öffneten sich die großen Flügeltüren, und Phoebe schritt mit einem Bukett aus Schleierkraut und Lavendel herein. Hinter ihr die Queen of Court und ihr Prinz, beide mit Rosen. Ihnen schlossen sich die Frauen mit der Girlande an. Ich spähte in die Dunkelheit und versuchte, Amelia oder Lydia oder Janine oder irgendeine Frau, die ich kannte, ausfindig zu machen. Mein Blick blieb auf einem kleinen fünf- oder sechsjährigen Mädchen hängen, das mit einem Korb voller Rosenblätter im Arm auf die Bühne stolperte. Vor den Augen der Zuschauerinnen überquerte sie verlegen das Podium und stellte sich dann mit feierlichem Ernst neben Miriam Schaff, die ihre Hand senkte und der Kleinen das Köpfchen streichelte. Nun hatte auch Phoebe die Bühne erreicht, 273
und Miriam beugte sich herab und half ihr hinauf und neben das Mikrofon. »Phoebe Damereaux, nehmen Sie Ihre Wahl zur Queen of Hearts an?« »Jawohl«, sagte Phoebe. Im Hintergrund der Bühne bewegte sich etwas. Kaum wahrnehmbar und sehr schnell. Ich drängte mich in Richtung Nick und versuchte, mehr zu sehen. Was auch immer da oben war – es bewegte sich wieder. Ich fing an, mich langsam nach vorn vorzuarbeiten. Nick würde wohl glauben, daß ich mir nur einen besseren Überblick auf das Geschehen da oben verschaffen wollte. Auf dem Podium stand so viel Krempel herum – Scheinwerfer und Mikrofone und die Instrumente der Band. Miriam überreichte Phoebe gerade das vergoldete Szepter mit der herzförmigen Spitze und den rot-weißen Bändern. Phoebe nahm es und trat einen Schritt zurück. Miriam beugte sich vor und tauchte mit einer einzelnen Rose in der Hand wieder auf. »Nehmen Sie diese Rose an als Symbol der unsterblichen Kraft und Schönheit der Liebe zwischen Mann und Frau?« »Jawohl«, versprach Phoebe. Sie nahm die Rose. Jetzt hatte sie beide Hände voll, und ich wußte von früheren Gelegenheiten, daß die Zeremonie nicht mal zur Hälfte vorüber war. Miriam hob die Hände und nahm die Krone vom Kopf. Hierbei handelte es sich um eine Art 274
Nachbildung der englischen Krone, allerdings mit einem Herz an der Stelle, wo auf dem Original das Kreuz saß, und von oben bis unten dicht an dicht mit Rosen gespickt. Eigentlich sah sie eher aus wie die Dornenkrone nach einer kräftigen Portion Blumendünger und einer Gießkanne voll Wasser. »Ich überreiche Ihnen diese Krone, so wie sie mir von der letzten Queen of Hearts eigenhändig überreicht wurde, mögen Sie sie in Ehren tragen, und mögen Sie sie an Ihre Nachfolgerin weiterreichen.« Phoebe hatte anscheinend keine Ahnung, was sie jetzt zu tun hatte. Da bemerkte sie das kleine quadratische Kissen aus purpurrotem Samt und kniete nieder, wie Anne Boleyn zum Zwecke ihrer Enthauptung. Ich bemerkte, wie der Kameramann von Newsweek sich zur Bühne hin vorarbeitete. »Nehmen Sie diese Krone an?« fragte Miriam Schaff. »Ja.« Miriam setzte sie auf Phoebes Haupt. Sie rutschte ihr über ein Ohr. Phoebe hob die Hände und rückte sie zurecht. »So erheben Sie sich denn«, sprach Miriam Schaff feierlich. »Laßt die neue Queen of Hearts hochleben.« »Lang lebe die neue Queen of Hearts«, riefen alle. 275
Phoebe ließ den Blick für einen Moment über die Menge schweifen, sah mich direkt unter sich stehen und zwinkerte mir zu. Dann drehte sie sich um und begab sich gemessenen Schrittes zum Thron, drehte sich wieder um und ließ sich nieder. Irgend jemand ließ einen Champagnerkorken knallen. Jemand anders zündete eine Wunderkerze an. Dann gingen die Lichter wieder an, und ich konnte sie sehen. Im Hintergrund der Bühne stand Mary Allard. Sie hatte sich in den Kabeln verfangen. Ich überlegte fieberhaft. Mary Allard hatte dahinten nichts zu suchen. Da hatte keiner außer den Elektrikern etwas zu suchen. »Nick!« schrie ich, bevor mir bewußt wurde, daß er überhaupt nicht in meiner Nähe war. Aber da war ich schon halb auf der Bühne, taumelte gegen Miriam, stolperte über Drähte und Kabel, und warf das Mikrofon um, als die Sängerin gerade in der Mitte des Refrains von ›What the World Needs Now Is Love, Sweet Love‹, angelangt war. Die ersten paar Meter hatte ich noch Licht, dann nichts mehr, nicht einmal Schatten, einfach nur Finsternis. Hinter mir hörte ich Nick schreien: »McKenna! McKenna! Wo willst du hin?« »Vielleicht sucht sie den Hund«, rief jemand anders. Ich ertastete eine Tür, eine dieser schweren Feuertüren aus Stahl und trat hindurch. Um mich 276
herum war es immer noch stockfinster, aber ich wußte, wo ich war. In einem der hinteren Gänge, die Hotelgäste nie zu sehen bekommen, die nur gut genug sind für Lieferungen, zum Verbergen der Heizungsrohre und zum Einsparen der Farbe, wenn das Geld nicht reichte. Ich pirschte mich zur Wand und fing an, mich langsam daran entlang zu tasten. Ich hörte auf das Geräusch der Schritte, die von allen Seiten zu kommen schienen. Schritte von oben. Schritte von unten. Ich blieb stehen und lauschte angestrengt. Es war nicht nur eine Person, es waren zwei. Das Geräusch von Stöckelschuhen auf Metall. Die anderen Schuhe, nicht näher bestimmbar, auf Holz. Ich löste mich von der Wand und bewegte mich ganz langsam und lautlos in die haltlose Dunkelheit hinein. Die Absätze hielten inne. Noch ein Tappen, dann war nichts mehr zu hören. Die anderen Schritte schleppten sich schlurfend weiter. Sie kann mir nichts tun. Ich sprach mir Mut zu. Da draußen sind tausend Leute. Sie würde mir nichts tun. Ich streckte die Hand aus und spürte kühles Metall. Es war das rohe Eisengeländer einer Treppe, und während ich weitertastete, stellte ich fest, daß auch die Stufen aus Eisen waren. Meine Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt, trotzdem fiel es mir schwer, mehr als 277
nur Schatten zu erkennen. Ich streckte versuchsweise den Fuß aus und fand die unterste Stufe. Mit den Händen tastete ich die Stufen ab und stellte fest, daß es sich um eine Wendeltreppe handelte. Meine Finger glitten durch dünne Rinnsale einer klebrigen Flüssigkeit. Ich befand mich immer noch unten an dieser Treppe, als Nick mit einem Polizisten, einem Wachmann vom Hotel und einer Taschenlampe ankam. Sowie sie bei mir waren, hob ich die Hände in das Licht und starrte ein wenig begriffsstutzig auf meine rotverschmierten Finger. »Gütiger Himmel!« rief Nick. »Ist alles in Ordnung? Was hattest du vor? Was ist hier los?« »Da oben.« Ich deutete hinauf. »Da oben ist jemand.« »Wer?« »Ich weiß nicht.« Sie drängten an mir vorbei, ihre Schritte hallten auf den Metallstufen. Kurz darauf hörte ich Nicks Stimme. »O Gott.« Mehr nicht. Sie kamen wieder herunter, diesmal sehr langsam. Nick war weiß. Der Angestellte, der aussah, als hätte man ihm soeben die Rente gestrichen, war grün. »Hast du eine Ahnung, was da oben passiert ist?« fragte mich Nick. »Ich war nicht oben.« 278
»Geh nicht rauf.« Er kniete sich neben mich und nahm mein Gesicht in seine Hände. Er versuchte, mich zu trösten, zwar unbeholfen, aber gutgemeint. Zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort hätte ich seine Anteilnahme vielleicht akzeptiert. Im Augenblick allerdings hatte ich Skrupel, überhaupt irgend etwas zu akzeptieren. Es war so hoffnungslos. »Wir müssen ein ziemlich großes Polizeiaufgebot rufen«, sagte Nick. »Es ist wohl besser, wenn du mir alles erzählst.« Ich wich seinem Blick aus und sah die Treppe hoch. Es war nicht nur hoffnungslos, es war einfach absurd. »Ich erzähl’s dir«, seufzte ich. »Aber du wirst mir nicht glauben.«
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30 Von der Bezirksstaatsanwaltschaft in Manhattan war ein Mann da: ein kleiner, verschüchterter, knochiger Kerl im abgetragenen braunen Anzug mit der Ausstrahlung eines begnadeten Drückebergers. Keiner, der gern im Rampenlicht stand. Kein aggressiv-übereifriger Senkrechtstarter auf der Karriereleiter zum Senat. Eben nur ein Mann, der in der Öffentlichkeit auftreten mußte, eine mittelmäßige Nummer bei der Staatsanwaltschaft. Er war drei Jahre jünger als ich und sah mindestens zehn Jahre älter aus. Obendrein war er der Chef von Detective Martinez. Bloß war der nicht da. Aber einer seiner Hilfssheriffs. Der war offenbar leidenschaftlicher Datensammler, und jetzt leierte er herunter, was er für die statistisch wahrscheinlichste Schilderung des Tatbestandes hielt. Demnach war Mary Allard tot, vermutlich innerhalb der letzten Stunde gestorben, vermutlich an den Folgen von Messerstichen. Es gab neun sichtbare Verletzungen in ihrem Gesicht, Hals und Brustkorb. Tatort war die Stelle, an der sie gefunden wurde, der oberste Absatz einer Service-Wendeltreppe, die Zugang zu Sicherungskästen und Heizungssystemen unter der Decke ermöglichte. Keine Handtasche oder Aktentasche wurde bei der Leiche gefunden. 280
Kein Schmuck wurde bei der Leiche gefunden. Kein Geld wurde bei der Leiche gefunden. Leiche wurde gefunden von Nicholas George Carras (Rechtsanwalt), Howard Elsen Roth (Sicherheitspersonal Cathay-Pierce Hotel) und Sergeant Thomas Belgaddio (NY Police Department) um 22.43 Uhr. Miss Patience Campbell McKenna (Schriftstellerin) wurde in der Nähe des Tatorts in sichtlicher Verstörung aufgefunden. Die mutmaßliche Mordwaffe, eine Machete mit Ebenholzgriff und Stahlklinge, ca. zwölfeinhalb Zentimeter lang, wurde in der Kehle des Opfers steckend gefunden. Ich würde sagen, er sparte sich das Beste für den Schluß auf, es sei denn, er hielt es gar nicht für nötig, das Beste von allem überhaupt in seinem Bericht festzuhalten. Bei der Wendeltreppe handelte es sich um eine dieser Metallgitterkonstruktionen. Marys Blut tropfte von oben durch die Trittroste auf meine Hände. Nun saß ich hier am Fuß der Treppe, hielt die Augen geschlossen und die Arme vor der Brust verschränkt und versuchte, durchzuatmen. Es wollte mir kaum gelingen, weil Nick mich unverwandt anstarrte. Er war immer noch wütend, seit ich ihm die ganze Geschichte erzählt hatte, angefangen bei dem Punkt, an dem ich Myrras Schlüssel gefunden hatte bis hin zu Marys Tod. 281
Ich bekam erst recht keine Luft, wenn ich an das Messer dachte. Wenn es nicht irgend jemand abgewischt hatte, waren meine Fingerabdrücke überall. Für Martinez die willkommene Gelegenheit, auf die er nur gewartet hatte. Nick, der neben mir saß, war so angespannt, daß er wahrscheinlich wie ein Eisbrocken zersprungen wäre, hätte ich ihn nur mit den Fingernägeln angetippt. Ich hatte ihm alles erzählt, und er hatte mir geglaubt. Er hatte auch aufgehört, mit mir zu sprechen. Ich wäre ein Lemming, hatte er als letztes gesagt, eine Selbstmordkandidatin. »Sag bloß nichts«, zischte er mir jetzt ins Ohr. »Kein einziges Wort!« »Was sollte ich schon sagen. Ich wußte nicht einmal, wer die Tote war, bis du es mir gesagt hast.« »Nicht hier.« Er fiel mir ins Wort. »Darüber unterhalten wir uns ein anderes Mal und an einem anderen Ort. Außerdem regelst du das besser mit deinem Anwalt. Ich werde das ganz bestimmt nicht sein.« »Vielen Dank.« »Sprich nicht mit mir, McKenna. Ich meine es ernst. Sprich weder mit mir noch mit Martinez, und auch nicht mit dem Richter, wenn wir zum Gericht fahren. Ob es dir nun klar ist oder nicht – gegen dich wird noch heute abend Anklage erhoben.« 282
Ich öffnete die Augen. »Der Mann von der Staatsanwaltschaft.« »Genau.« Ich blickte die Stufen hinauf, wo sich eine kleine Armee postiert hatte. Es schien von Polizisten und Kriminalbeamten nur so zu wimmeln – es waren viel mehr als damals in meinem Apartment. Männer mit kleinen schwarzen Plastiktüten waren da und Männer mit Fotoapparaten sowie eine Polizeibeamtin mit einem Gesicht, für das Medusa ihre Seele verkauft hätte. Wo hatten sie die bloß herbekommen? Die Polizistinnen, die ich bis jetzt auf den Straßen gesehen hatte, waren alle hübsche, junge Frauen gewesen. Hatte das System? »Was ist das eigentlich, eine Anklageerhebung?« erkundigte ich mich. Nick schnaufte. »Bei der Anklageerhebung fragen sie dich, ob du schuldig oder nicht schuldig bist.« »Allmächtiger! Dabei bin ich noch nicht einmal verhaftet.« »Wart’s nur ab.« Ich drehte mich um und schaute wieder auf die Polizeiarmee. Ich dachte an meinen Vater und meine Mutter und meinen Bruder in Connecticut. Über kurz oder lang würde ich ihnen etwas erzählen müssen. Aber was? Daß ich unentwegt über Leichen stolperte, so wie andere Menschen über die Stufen in der U-Bahn? Daß alles gut aus283
gehen würde und ich mit dem dicksten Buchvertrag in der Geschichte des Kriminalromans aus dieser Sache herauskäme? Daß ich im Augenblick von Glück sagen könnte, wenn sie mich in die geschlossene Anstalt für kriminelle Psychopathen stecken würden? Wäre Nick doch bloß noch so anteilnehmend wie früher gewesen! Ich wünschte, er würde meine Hand halten. Aber er saß nur da, die Arme vor der Brust verschränkt und die Hände unter die Ellbogen geschoben. Eine Tür wurde aufgerissen. Martinez kam auf leisen Sohlen herein oder auch hereingetrampelt – wie man’s nimmt. »Miss McKenna«, begann er. »Miss McKenna, ich muß mit Ihnen ein offenes Wort reden.« Er klang alles andere als offen, dennoch kam ich irgendwie auf die Füße. Auch Nick stand auf. Er klopfte sich irgendwelche Flusen von der Hose und musterte gleichzeitig seine Fingernägel (sie waren schmutzig). »Ich nehme an, Sie sind ihr Anwalt«, sagte Martinez. »Im Augenblick ja.« »Ich hatte mal mit Leuten zu tun, die auch immer mit ihrem Anwalt unterwegs waren. Der Bonanno-Clan, wenn ich mich recht entsinne –« »Aber Lieutenant –« »Vergessen Sie’s«, sagte Martinez und drehte sich auf dem Absatz um. 284
Die Polizei hatte einen der Konferenzräume mit Beschlag belegt, ein Denkmal abgeschmackter Arroganz mit protzigem goldenen Eichenlaub und rotem Samt, mit einem falschen Mahagonitisch, achtzehn Kapitänsstühlen, einer Tafel und einer ausgerollten Wandkarte von Texas. Nick und ich saßen uns an jeweils einer Seite des Tisches gegenüber. Am Kopfende thronte Martinez wie ein viktorianisches Familienoberhaupt. »Muß ich sie über ihre Rechte aufklären?« fragte Martinez. »Wollen Sie meine Klientin verhaften?« »Ich nicht«, gab Martinez zurück. »Mr. McReady –« Als hätte er nur auf sein Stichwort gewartet, eilte der kleine Mann von der Bezirksstaatsanwaltschaft geschäftig herbei. Seine Krawatte hing ihm verdreht über die Schulter, und die wenigen Haare, die er noch besaß, klebten schweißnaß auf seinen pickligen vernarbten Wangen. Er setzte sich ans äußerste Ende des Tisches und hielt damit demonstrativ Abstand vom Geschehen. »So.« Martinez sah mich an. »Haben Sie irgendeine Erklärung für das, was vorgefallen ist? Können Sie überhaupt irgend etwas erklären?« »Gib ihm keine Antwort«, riet Nick. »Die ganze Sache ist nichts anderes als ein einziges, großes Mißverständnis«, äußerte ich. »Oh, um Himmels willen!« Nick stöhnte. 285
»Eine Leiche in Ihrem zugesperrten Apartment kann man wohl kaum als Mißverständnis bezeichnen«, bemerkte Martinez. »Eine zweite Leiche, über die Sie rein zufällig stolpern, wohl auch nicht.« »Nichts als Vermutungen«, sagte ich. »Sie gehen davon aus, daß es kein Straßenräuber war, der Myrra ermordet hat. Wenn es nämlich so wäre, hätten Sie auch nicht die kleinste Andeutung eines Tatmotivs –« »Halt den Mund!« rief Nick. »Du brauchst meine Ratschläge nicht anzunehmen, wenn du nicht willst. Aber dann mußt du auf mich als deinen Anwalt verzichten. Wenn du willst, daß ich dich vertrete, setzt du dich hin, hältst den Mund und beantwortest nur die Fragen, die ich dir erlaube.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Martinez seufzte. »Die Handtasche. Ich möchte mal sehen, was in der Tasche ist. Haben Sie etwas dagegen, Mr. Carras –« Nick zögerte. »Oh, zum Teufel!« Ich öffnete auf dem Tisch die Handtasche und ließ mein Leben herausfallen, die Katze und alles, was sonst noch drin war. Martinez blickte ungläubig auf das Chaos. »Was ist das alles?« erkundigte er sich. »Drei Brieftaschen? Wozu brauchen Sie drei Brieftaschen?« »Eine davon gehört Phoebe«, antwortete ich. 286
Dann nahm ich eine braune aus Wildleder in die Hand und schaute hinein. »Die hier gehört Hazel Ganz.« »Würden Sie mir jetzt bitte erklären, was Sie mit der Brieftasche von Miss Damereaux wollen? Und mit der von Miss –« »Hazel Ganz«, sagte ich. »Sie stiehlt.« »Hazel Ganz stiehlt.« »Nein. Die Katze.« Ich zeigte auf Camille, die ihre Zähne in Martinez Dienstausweis geschlagen hatte und ihn gerade pflichtschuldig in Richtung Handtasche zerrte. »Ich hatte meine Tasche in der Damentoilette abgestellt, als wir alle da versammelt waren, und ich nehme an –« Martinez nahm Camille den Ausweis ab. »Eine kleptomanische Katze! Was interessiert mich eine diebische Katze!« Er wedelte mit der Hand über den Haufen auf dem Tisch. »Was können Sie mir sonst noch erzählen?« Nick räusperte sich. »Ich denke, das reicht, Lieutenant. Dürfte meine Klientin jetzt bitte dieses Durcheinander beseitigen und die Sachen wieder einpacken –« »Nichts da«, sagte Martinez. »Woher, zum Teufel, soll ich wissen, was davon für uns wichtig ist?« »Was meinen Sie wohl, was hiervon wichtig ist? Das hier etwa?« Nick hielt einen Korkenzieher hoch. »Oder das? Soweit ich es beurteilen kann, ist das ein Lippenstift. Wie wär’s mit der 287
Taschenlampe? Nirgends eine Spur von Blut, oder?« Er stand da und wedelte mit der winzigen Taschenlampe direkt unter Martinez Nase. Ich griff in die Tasche, kramte meine Zigaretten hervor und versuchte, das Zittern meiner Hände zu unterdrücken. Seit Tagen hatten wir danach gesucht und uns gegenseitig verrückt gemacht, dabei war der Schlüssel zu allem die ganze Zeit über zum Greifen nah gewesen. Die einzig mögliche Erklärung. Die einzig sinnvolle Erklärung. Nick stand nur ein paar Schritte von mir entfernt und hielt die kleine Taschenlampe wie einen Zauberstab in der Hand. Bestimmt würde er im nächsten Augenblick den Schalter betätigen und Martinez eröffnen, was ich schon wußte. Er hatte keine Chance. Martinez stand auf und schwenkte seinerseits etwas durch die Luft. Den Haftbefehl. »Patience Campbell McKenna. Hiermit verhafte ich Sie –« Ich langte über den Tisch und fing an, die Sachen zurück in meine Handtasche zu stopfen. Als erstes die Taschenlampe. Denn natürlich war es alles andere als eine Taschenlampe. Es war ein Magnet.
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31 Die Polizistin mit dem Gesicht der Medusa hatte ihre Liebe zu Katzen entdeckt. Sie hielt Camille auf dem Schoß und streichelte sie die ganze Zeit über, in der meine Personalien aufgeschrieben, meine Fingerabdrücke abgenommen und ich gedreht und gewendet und nach allen Regeln der Kunst aktenkundig gemacht wurde. Die Polizistin gurrte Camille zärtlich in die Ohren. Camille, die sich zuerst wohlig geräkelt und sich zufrieden schnurrend ihren Liebkosungen hingegeben hatte, beendete nun das Idyll, indem sie die Frau in den rechten Daumen biß. Ich beantwortete derweil jede Menge idiotischer Fragen nach Angehörigen und Familienstand. Dabei kreisten meine Gedanken um diesen Magneten. Ich dachte so intensiv darüber nach, bis mir der Kopf zu platzen drohte. Und doch gelang es mir immer noch nicht, mir auf alles einen Reim zu machen. Ich wußte jetzt, wie es jemand fertiggebracht hatte, Julie Simms’ Leiche in meinem Apartment einzuschließen. Und somit wußte ich auch, wer es gewesen war. Unglücklicherweise gab es überhaupt kein vorstellbares Motiv dafür, was diese Person veranlaßt haben könnte, nicht nur eine, sondern gleich drei Frauen aus ihrer Bekanntschaft umzubringen. Wohlgemerkt Frauen aus ihrem Bekanntenkreis, keine Freundinnen. 289
Mit Fires of Love stimmt etwas nicht, sagte ich mir immer und immer wieder. Was könnte da nicht in Ordnung sein? Was hätte jede der Personen auf Myrras Liste anstellen können? Jedesmal, wenn ich versuchte, darauf eine Antwort zu finden, war das Ergebnis: Fehlanzeige. Ich war mir lediglich sicher, was es nicht sein konnte. Es konnte sich weder um krumme Dinge bei den Honoraren noch bei dem Verkauf der Rechte ins Ausland handeln, weil Amelia und Phoebe und Julie mit solchen Dingen nichts zu tun hatten. Es konnte auch nicht um einen skandalösen Fall von Plagiat gehen. In dem Fall müßten eine der Autorinnen und/oder Farret darin verwickelt sein. Auf keinen Fall jedoch Marty Caine. Womöglich gab es eine Verschwörung, aber das konnte ich mir nicht vorstellen. Und was war mit Julie? Was konnte eine Agentin anstellen, das auch eine Autorin, eine Lektorin und ein Marketing-Leiter hätten tun können, zumindest in Form wirtschaftskrimineller Machenschaften? Nichts, nichts, rein gar nichts! Nichtsdestoweniger saß ich jetzt hier beim Erkennungsdienst und mußte einem peinlich berührten Jüngling in blauer Uniform erklären, daß ich im Moment keine schwere ansteckende Krankheit hatte, noch nie eine schwere anstekkende Krankheit gehabt hatte und auch nicht vorhatte, jemals irgendeine schwere ansteckende Krankheit zu bekommen. Er nickte, ohne mich 290
dabei anzusehen, und ging über zu ›körperliche Gebrechen‹. Nick stand an dem Telefon, von dem aus Inhaftierte normalerweise das einzige Gespräch führen dürfen, nämlich das mit ihrem Anwalt. Er fütterte es mit Zehncentstücken und gab seinem Sozius halb schreiend und halb flüsternd ein Bündel äußerst komplizierter Anweisungen. Er kehrte ungefähr im selben Augenblick zurück, als der Jüngling bei ›lebenserhaltende, vom Arzt verschriebene Medikamente‹ angelangt war. »Geschafft«, verkündete Nick. »Phoebe hat ihren Bankdirektor aus dem Bett geholt.« »Du weißt doch noch gar nicht, ob ich auf Kaution rauskomme.« Nick starrte den Jüngling finster an. Der wurde rot, stammelte Entschuldigungen, raffte seine Unterlagen zusammen und verzog sich. Ein schwacher Sieg, aber mehr war im Moment nicht drin. »Ich kann’s nicht glauben«, fuhr Nick mich an. »Schlüssel. Messer. Sogar Brieftaschen. Warum, um alles in der Welt, hast du mir nichts davon erzählt?« »Hast du die Mini-Taschenlampe gesehen?« fragte ich ihn. »Es ist gar keine. Es ist ein Magnet.« »Was hat das nun wieder zu bedeuten?« »Ich versuche gerade, dir alles zu erklären. Das Ding, das aus meiner Handtasche gefallen ist, ist 291
überhaupt keine Taschenlampe. Sondern ein Magnet. Ein sehr kleiner Elektromagnet. Mit Batterien.« »Und weiter?« »Und weiter bedeutet das, ich weiß jetzt, wie Julie Simms in meinem Apartment eingeschlossen wurde.« Nick sah auf einmal interessiert aus. Er sah so interessiert aus, daß ich wieder unvorsichtig wurde. »Ich weiß, wer Myrra umgebracht hat«, legte ich los. »Ich weiß nicht, wie ich es beweisen soll, aber zumindest –« Schon war er auf den Füßen und ging weg. Ich ließ mich auf den Stuhl zurücksinken. Die Anklagebehörde in Manhattan arbeitet vierundzwanzig Stunden am Tag. Jeden Moment konnte ich wegen Mordes angeklagt und sogar ins Gefängnis gesteckt werden, ohne die Möglichkeit, gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt zu werden. Und Nick würde mir nicht mehr zuhören. Ich ging hinüber zu dem Schreibtisch, an dem der uniformierte Jüngling inzwischen an meinen Unterlagen arbeitete. »Steht mir immer noch ein Telefonat zu?« erkundigte ich mich bei ihm. »Wie bitte?« »Steht mir immer noch ein Telefongespräch zu? Wissen Sie, mein Anwalt ist hier, aber er ist mit mir zusammen hergekommen, ich mußte ihn nicht anrufen. Deshalb –« »Ach so«, meinte der Jüngling. »Klar doch. Machen Sie nur.« 292
Ich lieh mir das Zehncentstück von einem Schwarzen mit einem Rubin im Ohr und Jasminduft im Haar. Dann wartete ich zehn Minuten hinter einer Prostituierten in hüftlangen LegWarmers und einer roten Skimütze. Als ich endlich zu Phoebe durchgedrungen war, hörte sie sich beschwipst an. »Alle sind sie hier«, rief sie über den Lärm im Hintergrund hinweg. »Janine, Amelia, Lydia, sogar Hazel Ganz. Wir hecken gerade einen Plan aus.« Ich fragte sie lieber nicht, was das zu bedeuten hatte. Ich bat sie, an den Apparat im Schlafzimmer zu gehen, die Tür zu verschließen und keinen hineinzulassen. Es dauerte ein wenig, aber schließlich hörte ich ihre Stimme, diesmal ohne Hintergrundgeräusche. »Wo steckst du?« fragte sie. »Haben sie dich rausgelassen?« »Ich bin beim Erkennungsdienst. Und sie lassen mich nicht gehen, zumindest heute nacht nicht. Hör zu, Phoebe, ich habe nicht viel Zeit. Sag mir nur eins – was hat das Fires of LoveBeratungskomitee eigentlich gemacht?« »Wie bitte?« Ich seufzte. »Phoebe, ich will dir keine langen Erklärungen liefern, ich will nur wissen, was das Fires of Love-Beratungskomitee getan hat. Vorträge gehalten? Public-Relations-Reisen unternommen?« 293
»Bist du übergeschnappt?« zwitscherte Phoebe. Es war immer ein schlechtes Zeichen, wenn Phoebe so zwitscherte. »Um Himmels willen, du bist wegen Mordverdacht festgenommen! Was interessiert dich das Beratungskomitee? Stehst du unter Drogen? Schlägt man dich?« »Phoebe, bitte.« »Schon gut.« Sie hielt inne. Ich glaubte zu hören, wie sie Champagner schluckte. »Dir ist es völlig ernst?« »Phoebe, um Himmels willen, ich habe nur drei Minuten an diesem Telefon.« »Richtig.« Noch eine Pause. Schlucken. Noch mehr Champagner. Ich schwor mir, ihr eine Flasche auf den Kopf zu schlagen, wenn ich sie das nächste Mal sehen würde. »Wir entwarfen Waschzettel«, berichtete Phoebe endlich. »Für nichts und wieder nichts. Janine hat sowieso wieder alles umgeschmissen. Wir gaben jede Menge Interviews, redeten mit Reportern von Romantic Times, all solche Sachen. Jede von uns schrieb ein Buch für die Serie, vielleicht auch zwei, und dann gab es die Leserinnen-Partys und das Abklappern der Buchhandlungen und –« »Warte. Was heißt das, die Buchhandlungen abklappern?« »Wir wollten die Buchhändler dazu bringen, wieder Farret-Liebesromane zu verkaufen. Nach dem Reinfall mit Romantic Life wollten sie eigent294
lich nicht. Gelegentlich brachten die Leserinnen ihre Buchhändler dazu, für eine von uns eine Party zu geben. Und wir fuhren da raus und verhökerten Bücher, und wenn dann alles gut lief, fingen die Buchhändler an, Fires of Love in ihr Programm aufzunehmen. Manchmal bist du da rausgefahren, um einen Laden abzuklappern, und die Fans hatten noch ein paar mehr auf der Liste. Omaha zum Beispiel. Orte wie dieser.« Ich hing am Telefon und strengte meinen Verstand an. »Was passierte, wenn du wegen einer Buchhandlung nach Omaha kamst und statt dessen wurden sechs daraus?« »Na ja, wir hatten jede Menge Bücher dabei«, erwiderte Phoebe. »Da hat Marty Caine schon für gesorgt. Einmal, draußen in Cleveland, stand ich da mit zweitausend Exemplaren. Unglaublich. Wenn du Läden außer der Reihe hattest, nahmst du die Bücher und diese kleinen Computerkarten, wie die Anmeldekarten im College, erinnerst du dich? Und dann hast du alle Daten über diese Buchläden auf der Karte eingetragen und auch, wieviel Bücher du verkauft hast. Und Marty hat sich dann mit ihnen in Verbindung gesetzt.« »Heiliger Strohsack!« »Was?« fragte Phoebe. »Mach Schluß, ich muß telefonieren«, sagte jemand hinter mir. Krachend splitterte Holz. Ich ließ den Hörer fallen und fuhr herum. 295
Wenn ich nicht so müde gewesen wäre, hätte ich vielleicht versucht, mich unter der Holzbank neben dem Telefon zu verstecken. Vielleicht wäre ich sogar hysterisch geworden. Statt dessen war ich so ruhig, als würde vor mir die Szene in einem Film ablaufen. Der Schwarze mit dem Rubin im Ohr nahm die Wache auseinander. Er hatte schon das Geländer zwischen den Schreibtischen und dem Publikumsbereich eingetreten. Jetzt machte er gerade Brennholz aus dem Schreibtisch irgendeines Beamten. Ungefähr fünfzig Polizisten hatten sich um ihn gedrängt und schwangen Handschellen. Es kamen noch mehr hinzu. Keiner achtete auf mich. Einer hatte die Tür offengelassen. Worauf wartete ich eigentlich noch?
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32 Es war nicht gerade die raffinierteste Flucht in der Kriminalgeschichte New Yorks. Weder versteckte ich mich in Heizungsschächten, noch verwandelte ich mich in ein Stück Seife, noch entkam ich durch die Kanalisation. Ich tat das, was jede gute New Yorkerin – besonders eine aus Manhattan – tun würde. Ich trat aus dem Haus und winkte mir ein Taxi. Als ich beim Cathay-Pierce ankam, wurde ich vorsichtiger. Auf keinen Fall sollte mich die Mörderin von Myrra Agenworth sehen. Ich nahm einen Seiteneingang und benutzte den Personalaufzug. Ich wußte jetzt, wer es getan hatte, warum die Morde geschehen waren und was ich beweisen mußte. Dazu brauchte ich unbedingt zwei Papiere. Eins davon hatte ich schon. Phoebe schlief auf der Couch, als ich die Suite betrat. Auf Zehenspitzen schlich ich an ihr vorbei ins Schlafzimmer, zog den eleganten Abendanzug aus und Jeans und Pullover an und schlich dann auf Zehenspitzen wieder hinaus. Sie sah mich und kreischte. »Um Himmels willen! Warum hast du nicht angerufen? Warum hast du mich nicht geweckt?« Das Telefon klingelte. Ich legte meine Hand auf Phoebes. 297
»Ich bin nicht hier. Wer auch immer das ist, was auch immer sie wollen, ich bin nicht hier.« Sie warf mir einen argwöhnischen Blick zu, hob den Hörer ab und zuckte zusammen. Kein Wunder. Nicks Stimme wäre noch in New Jersey zu hören gewesen. Er wollte keine Informationen. Er war derjenige, der sie gab. »Ich bin nur noch so lange der Anwalt dieser Frau, bis ich sie erwischt und ihr den Hals umgedreht habe!« schrie er. »Hast du das verstanden, Weiss? Bis ich ihr den Hals umgedreht habe!« Phoebe rieb sich die Stirn. Ich zündete mir eine Zigarette an. Nick sagte irgend etwas in der Richtung, er wäre auf dem Weg hierher und hängte ein. »Du bist aus dem Gefängnis ausgebrochen«, sagte Phoebe. »Ich kann’s nicht glauben.« »Ich bin nicht ausgebrochen«, erwiderte ich. »Ich bin einfach gegangen. Die Tür stand weit offen.« Ich nahm einen tiefen Zug. »Nick wird mir nicht mehr helfen. Du mußt das jetzt tun. Ich weiß, wer es war, ich weiß, warum, und ich glaube, ich kann es beweisen. Dafür müssen wir aber unbedingt diese Sachen in die Hände bekommen – auf der Stelle.« »Gut, ich höre.« Ich erzählte ihr die ganze Geschichte. Ich berichtete ihr alles, was mir auf der Taxifahrt hierher klargeworden war und fügte auch noch die 298
eine oder andere Hypothese hinzu, damit es glaubwürdiger klang. An der Stelle, wo es darum ging, wie der ganze Schwindel funktioniert hatte, argumentierte ich sehr sorgfältig, Schritt für Schritt. »Es waren diese Bücherstuben-Partys«, erklärte ich Phoebe. »Das hat Myrra so verunsichert. Alle seid ihr zu diesen Veranstaltungen rausgefahren. Alle hattet ihr Zugang zu diesen Computerkarten. Jede von euch hätte auf einer dieser Fahrten gut und gern fünf oder sechs Karten zusätzlich ausfüllen können, die bewiesen, daß ihr Hunderte von Büchern mehr verkauft hättet –« »Aber das würde doch irgend jemand herausbekommen«, wandte Phoebe ein. »Es müßte doch auffallen, daß kein Geld reinkommt, oder daß nicht mehr Bücher ausgeliefert wurden –« »Bestimmt käme es heraus. Und zwar frühestens in einem Jahr. Beim Jahresabschluß. Möglicherweise. In der Zwischenzeit – wann, glaubst du, hat der Rechnungsprüfer von Farret das letzte Mal mit einer der Lektorinnen gesprochen?« Phoebe verzog das Gesicht. »Sie sitzen nicht mal im selben Gebäude.« »Jede von euch hätte die Fires of Love-Zahlen manipulieren können, für jedes x-beliebige Buch. Ein Motiv dafür hätte es für jede von euch gegeben. Die Autorinnen sind an besseren Verkaufszahlen und höheren Tantiemen interessiert. Für Julie gilt das gleiche – je besser sich eine Autorin 299
verkauft, desto höher sind die Vorschüsse für das nächste Buch und die Prozente für die Agentin. Für Janine und Marty war der Gesamterfolg der Serie von größter Bedeutung.« »Aber du sprichst von einer Riesenbetrügerei«, sagte Phoebe. »Ich weiß.« Ich zündete mir eine neue Zigarette an. Die Zeit drängte. Wir mußten uns beeilen. Wenn ich mich jedoch verständlich machen wollte, ging es beim besten Willen nicht schneller. »Alle Welt hat unentwegt uns gegenüber davon geredet. Alle haben es wieder und wieder und wieder gesagt. Wir hätten es längst wissen müssen. Für Myrra war es von Anfang an klar.« »Daß Fires of Love keine hundert Millionen im Jahr einbringen würde.« »Nicht einmal annähernd soviel. Ich denke, sie wußte spätestens seit Juni, wer es war. Keine Ahnung, warum sie mit der Erpressungsgeschichte bei euch allen weitermachte – vermutlich zur Absicherung für den Fall, daß sie das nicht beweisen konnte, was sie beweisen mußte. Dann kamen im Oktober die Geschäftsberichte heraus. Myrra erhielt eine Honorarübersicht und einen allgemeinen Geschäftsbericht über die Serie. Du hast wahrscheinlich auch einen bekommen. Vielleicht wurden sie an alle Mitglieder des Beratungskomitees geschickt. Ich habe an diesem Wochenende ein paar Exemplare hier herumgeistern sehen.« »Manipulierte Geschäftsberichte«, sagte Phoebe. 300
»Nein. Ausgesprochen korrekte Berichte. Deshalb hat Myrra auch gewußt, wer dahintersteckte. Weißt du, unsere Mörderin brauchte nicht vor aller Öffentlichkeit zu lügen. Unsere Mörderin brauchte nur einen sehr ausgewählten Personenkreis zu belügen – höchstens zwei oder drei Leute.« »Zu denen Myrra nicht gehörte.« Phoebes Gesicht war spitz geworden. »Jedenfalls dachte unsere Mörderin das. Nur die Personen mußten belogen werden, für die die geschönten Berichte bestimmt waren. Alle anderen erhielten eine ganz korrekte Abrechnung. Nur zwei Personen waren in der Lage, so etwas zu bewerkstelligen. Und nur eine davon war darauf angewiesen.« »Du bist nicht ganz bei Trost.« Die Haut unter Phoebes Augen war straff gespannt. In ihrem Inneren kämpften Erschrecken und wachsender Zorn miteinander – Zorn über das ungeheuerliche Verbrechen. Etwas von meiner eigenen Spannung begann sich zu lösen. Wenn Phoebe derart zornig war, dann würde sie auf meiner Seite sein. Aber zunächst mußte ich sie restlos überzeugen. »Weißt du eigentlich, was du da behauptest?« fragte sie mich. »Drei Morde. Du willst mir weismachen, daß ein völlig gesundes menschliches Wesen drei Morde begangen hat –« »Es war nur folgerichtig«, antwortete ich ruhig. »Es hätte bei Myrra bleiben können, wenn da 301
nicht die Konferenz und die Preisverleihung gewesen wären. Falls Farret den Preis gewinnen würde, müßten noch mehr Leute in den Schwindel einbezogen werden –« »Nichts von alldem kannst du mit Sicherheit wissen«, sagte Phoebe. »Wir brauchen nur nach unten zu fahren und nachzusehen«, gab ich zurück. Draußen war es sehr dunkel und sehr klar und sehr naß. Auf dem Flur im fünften Stock war es nur einsam. Bei Nacht haben alle Hotelflure etwas Unheimliches. Türen öffnen sich, kaum daß du an ihnen vorüber bist. Unbekannte Wesen verfolgen dich, ihre Schritte durch dicke Teppiche gedämpft. Der Henker ist direkt hinter dir. Wenn du dich umdrehst oder über die Schulter siehst, ist er verschwunden. Unbeeindruckt tappte Phoebe den Flur entlang. Als sie über die Schulter blickte, galt es mir. Sie runzelte die Stirn. »Beeil dich.« Ich beeilte mich. Die Tür, zu der wie kamen, war wie alle Türen in diesem Hotel. Die Zimmernummer war an der Stelle ins Holz geprägt, wo man wohl die Augenhöhe vermutete. Die eines Liliputaners, dachte ich und rüttelte am Türknopf. »Vielleicht ist schon jemand drin«, sagte ich. »Dann erwischen wir sie auf frischer Tat«, meinte Phoebe. »Um so besser.« 302
»Du wärst nicht so ruhig, wenn du mir glauben würdest.« Als sie keine Antwort gab, rüttelte ich wieder am Türknopf. Dann lieh ich mir von Phoebe eine Haarnadel und bückte mich zum Schlüsselloch. Ich verfluchte insgeheim den Perfektionismus der Hotelverwaltung, der sie daran gehindert hatte, Schlösser einzubauen, die mit Kreditkarten zu öffnen waren. Ich spürte, wie etwas nachgab und drehte, so weit ich konnte. Es war nur ein erster kleiner Erfolg, aber zumindest ein Fortschritt. Ich versuchte, mir einen Plan zurechtzulegen für den Fall, daß ich nicht in das Zimmer gelangen könnte, oder daß das, was wir haben wollten, nicht da war. Die Papiere. Wer hatte welche? Wessen Papiere waren von Bedeutung? Das Beratungskomitee hatte mit Sicherheit gefälschte Berichte erhalten. Die mußte ich finden. Ich nahm an, daß sie an Farret zurückgegeben worden waren und deshalb in dieser Suite sein mußten. Ich konnte mich aber auch irren. Phoebe und ich konnten einer Sache nachspüren, die auch nicht im entferntesten existierte. Ich hätte mich sogar in allem geirrt haben können. Ich rüttelte am Schloß, stocherte wild mit der Haarnadel und rüttelte erneut. Fünf Minuten lang kam ich weder vor noch zurück. Ich war mir sicher, ich hatte etwas zugeschlossen, das ich zuvor 303
schon einmal aufgeschlossen hatte, um es nun wieder aufzuschließen. »Um Himmels willen«, zischte Phoebe. »Bestimmt gibt es hier Wachpersonal. Nick ist wahrscheinlich auch schon da.« Sie stieß mich beiseite, steckte noch eine Haarnadel ins Schloß und rüttelte zweimal. Der Türknopf bewegte sich in ihrer Hand. Ich sah fassungslos zu. Wer hätte gedacht, daß sich diese Schlösser mit Haarnadeln öffnen lassen! Und das auch noch beim ersten Versuch. »Komm schon«, drängte Phoebe. »Sonst werden wir noch erwischt.« Ich folgte ihr ins Zimmer und schloß hinter uns die Tür. Unwillkürlich hob ich die Hand zum Lichtschalter. Dann hielt ich inne. Durch das Fenster zur Straße hinaus sah ich auf die Lichter des nächtlichen Manhattan. »Wir dürfen kein Licht machen«, sagte ich. »Jemand könnte uns vom Flur aus bemerken.« »Ich kann die Hand nicht vor den Augen sehen«, beschwerte sich Phoebe. »Pst.« Ich lauschte angestrengt. Ich war mir sicher, von irgendwo anders in der Suite ein Geräusch gehört zu haben. Aber da war nichts. Ich packte Phoebe am Handgelenk und zog sie weiter. Das, wonach wir suchten, war bestimmt nicht im Salon. Hier würden wir nichts anderes finden als Buchauslagen und Werbematerial. Ich stolperte gegen einen Tisch, fiel zu Boden 304
und ließ Phoebe los. Ich hörte, wie irgendwo in der Dunkelheit die Schlafzimmertür aufglitt. »Wer ist da?« rief ich. »Wer sind Sie?« Ich wollte aufstehen, aber der Schmerz in meinem Knie war unerträglich. Ich fing an, über den Teppich zu robben. Ich mußte hier weg, zur Wand und in die Dunkelheit hinein. Ich hörte Türangeln quietschen. Ich hörte das Tappen nackter Füße auf dem Teppich. »Phoebe?« Ich wußte, ich hätte besser den Mund gehalten. Ich hätte mich auch nicht bewegen dürfen. Ich hätte mucksmäuschenstill sitzenbleiben und den Atem anhalten sollen. Aber es ging nicht. Ich kam mir vor wie in einer Gespenstergeschichte mit allem Drum und Dran, mit heulenden Geistern und rasselnden Ketten. Ich mußte an die Türen draußen auf dem Flur denken. Niemand kümmerte sich um die Flure. Unbekannte Kreaturen entflohen den Türen und marschierten die Treppe hinunter in die Ballsäle. Wenn Klasse Haltung in Extremsituationen bedeutet, dann habe ich wahrlich wenig davon. Ich kroch wie betäubt näher an das kleine Stückchen Wand heran, horchte auf die Schritte auf dem Teppich und fühlte, wie sich mein Verstand auflöste. In der Mitte des Zimmers liefen Leute herum, suchten mich, lauerten mir auf, und ich hätte nicht sagen können, wo sie sich befanden. Phoebe und noch jemand. Ich konnte mich nicht konzentrieren. 305
Am liebsten hätte ich laut geschrien. Über mir ein Luftzug und ein kleiner Laut, beinahe wie ein kurzes Auflachen. »Phoebe?« fragte ich ohne nachzudenken. »Nein«, sagte jemand anders. Nein. Ich hörte es und begriff nicht. Ich war erstarrt wie ein Kaninchen auf der Straße im aufgeblendeten Fernlicht eines Autos. Über meinem Kopf, im schwachen Schein der Straßenlampen, blitzte die Klinge eines Messers auf. Und noch etwas anderes, rund und messinggolden. An diesem Punkt der Geschichte schmetterte Phoebe den Fuß einer ein Meter zwanzig hohen Porzellantischlampe auf den Kopf von Janine Williams.
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Epilog Am Abend des Tages, an dem Myrras Möbel zu Sotheby Parke Bernet abtransportiert wurden, rief Daniel an. Er hatte es in meinem alten Apartment versucht und war an Myrras Wohnung weitervermittelt worden. Als das Telefon klingelte, stand ich in der Küche, die ohne ihren Refektoriums-Tisch leer wirkte, und versuchte gerade, beim Licht einer Myrtenwachs-Kerze einen gestrichenen Eßlöffel Zucker abzumessen. Phoebe hatte recht gehabt. Ich hätte wenigstens eine Lampe behalten sollen. »Hör mal«, sagte Daniel. »Ich wollte einfach wissen, wie’s dir so geht.« Ich gab meine Meßversuche auf und schüttete den Zucker großzügig in die Milch. Schokoladenfondue muß einfach süß sein. »Wir sollten uns mal treffen«, schlug Daniel vor. »Es ist lange her, daß wir das letzte Mal abends ausgegangen sind.« »Zehn Tage«, stellte ich fest. »Seit Julie Simms in meinem Apartment ermordet wurde.« Daniel hustete. Aus dem Wohnzimmer konnte ich Phoebe und Nick hören. Es klang, als würden sie Luftballons platzen lassen. Angesichts der Summe, die mich diese Ballons gekostet hatten (immerhin hatte ich das Mobiliar durch irgend etwas anderes ersetzen müssen), kam mir der Gedanke, die beiden umzubringen. 307
»Weißt du«, säuselte Daniel, »im Rockefeller Center brennen die Lichter am Weihnachtsbaum. Du hast doch immer –« »Wie hat sich die Sache mit der Partnerschaft entwickelt? Hast du sie?« »Patience, bitte«, sagte Daniel. »Nach drei Jahren –« Ich hängte ein. Phoebe und Nick lagen ausgestreckt auf dem Boden des Wohnzimmers, das ohne Möbel aussah wie der große Ballsaal im alten Waldorf-Astoria. Phoebe hatte mit Schneiderkreide einen Kreis auf den Teppich gemalt, und sie warfen mit Pennys. Ich überlegte, was ich eigentlich von Nick wußte. Er war größer als ich. Er war nett zu seiner Mutter. Er bewahrte seine Socken im Kühlschrank auf. Ich stellte das Schokoladenfondue auf einen Topflappen auf dem Boden. »So«, erklärte ich. »Und jetzt zurück zum Thema. Es war im Grunde kinderleicht –« Nick stöhnte. »Wenn es kinderleicht gewesen wäre, hättest du Martinez nicht an den Rand des Selbstmordes getrieben.« »Aber es war wirklich so. Kinderleicht.« Ich griff nach den Zetteln, die ich während des Abendessens vollgeschrieben hatte. »Seht her. Was wußten wir alle über Fires of Love?« »Hundert Millionen Dollar in diesem Jahr.« »Und niemand konnte das so recht verstehen«, 308
bemerkte ich. »Amelia hat immer behauptet, es wäre Unsinn, und ich habe nicht auf sie gehört. Tatsächlich gab es kaum jemanden, dem die Reihe besonders gut gefallen hätte. Sogar Hazel Ganz hat auf der Tagung gegen jedes Buch von Fires of Love gestimmt. Und dabei schreibt sie für die Serie!« »So?« meinte Nick. »Ich dachte immer, diese Verlagsleute wären grundsätzlich nicht in der Lage, eine gute Sache zu erkennen, selbst wenn man sie mit der Nase hineinstößt.« »Das ist auch so. In diesem Fall jedoch war es keine Lektorin von irgendeinem zwielichtigen Verlag, die behauptete, daß irgend etwas keine Chance hätte. Es war immerhin Amelia Samson, die nicht viel vom Schreiben versteht, dafür jedoch mehr Gespür für Marketing hat als Burger King und McDonald zusammen. Fires of Love hatte nichts zu bieten, was andere Reihen nicht schon besser gebracht hätten. Außerdem war der Markt längst ausgereizt, als Fires of Love zum ersten Mal herauskam. Seht euch das doch nur mal an. Romantic Life, die letzte Serie von Farret vor Fires of Love, lief so schlecht, daß die Verlagsleitung damit gedroht hat, alle rauszuschmeißen und den ganzen Romance-Laden dichtzumachen. Auch Fires of Love ging im ersten Monat eher miserabel. Dann, auf einmal, wurde die Serie ein Riesenrenner. Und Myrra wurde mißtrauisch. 309
So, wie die Dinge liegen, muß sie die Zahlen schon Anfang April gekannt haben. Als Mitglied des Beratungskomitees hatte sie den Überblick. Ich glaube, anfangs dachte sie, nur Amelia oder Lydia oder auch Phoebe hätten die Verkäufe vor Ort frisiert. Du fährst einfach raus nach Omaha und behauptest, du hättest in drei Buchhandlungen verkauft anstatt in einer, füllst einen Stoß Extra-Karten aus und zahlst die Differenz für ein paar hundert Bücher aus der eigenen Tasche. Rein finanziell wäre es Phoebe und Lydia und Amelia möglich gewesen. Julie auch.« »Aber warum hätte das jemand tun sollen?« wandte Nick ein. »Oh, alle hatten einen Grund«, sagte Phoebe schnell. »Für mich hätte es wichtig sein können, daß mein erster Serien-Roman ein Erfolg wird, weil das all meine anderen Bücher auch sind, und ich nicht mit einem Reinfall konfrontiert sein wollte. Amelia verkaufte sich schon seit einiger Zeit nicht mehr so gut. Sie kommt mit den SexSzenen einfach nicht zurecht. Auch Lydia steckt in einer Flaute. Die Nachfrage nach Softpornos am Hofe König Ludwigs ist nicht mehr so groß, wie sie mal war.« »Und Julie mußte an ihre Klientinnen denken«, fuhr ich fort. »Bei Janine und Marty Caine wird die Sache schon heißer. Da riecht es nach großangelegtem Betrug.« »Das war’s wohl auch, allerdings anders, als 310
zu erwarten wäre. Janine hat nicht versucht, zu Geld zu kommen, sondern sie wollte einfach nur ihren Job nicht verlieren. Der größte und kostspieligste Reinfall in der Verlagsgeschichte von Farret war bereits auf ihr Konto gegangen. Sie hatte nur die Wahl, aus Fires of Love einen Riesenerfolg zu machen oder zu kündigen. Und so einen guten Job hätte sie nie wieder gefunden. So weit, so gut. Sie mußte lediglich den Computer unter ihre Kontrolle bringen. Wenn man den Code für Myrra oder Julie oder Phoebe eingab, erhielt man eine ganz korrekte Information, wo, wann und in welcher Anzahl Bücher verkauft worden waren. Wenn man hingegen den Code der Geschäftsleitung eintippte oder den von Janine oder Marty, erhielt man die geschönten Zahlen. Die Leitung der Rechnungsabteilung erhielt ebenfalls manipulierte Zahlen, das Geld war von anderen Abteilungen zusammenergaunert. Der Lakai im Vertragsbüro, der die Schecks ausstellte und der Bürohengst, der sein Okay dazu geben mußte, bekamen korrekte Zahlen. Wenn du keine Ahnung hattest, wonach du suchen mußtest, hättest du Jahre gebraucht, ihr auf die Schliche zu kommen. Selbst bei alldem, was ich herausgefunden habe, mußte mir Marty Caine noch auf die Sprünge helfen.« »Hat Marty Caine es eigentlich schon früher gewußt?« erkundigte sich Phoebe. »Er wirkte überhaupt nicht – überrascht.« 311
»Ich glaube, das war er auch nicht«, erwiderte ich. »Er hat uns gegenüber doch ständig Andeutungen gemacht. Hat er nicht immer behauptet, es gäbe Probleme? Und er betonte immer wieder, daß Janine wüßte, wie man die Probleme löst. Aber für Janine stellte Marty keine Bedrohung dar. Er hatte schließlich die gleichen Sorgen. Demgegenüber war Myrra eine Katastrophe. Kaum hatte sie einen vagen Verdacht geschöpft, fing sie an zu wühlen. Und wühlte und wühlte. Und wenn sie einmal loslegte, dann fand sie auch etwas. Ich denke, Janine muß gewußt haben, daß die Zeit knapp wurde.« »Wie hat sie es denn geschafft, die alte Frau frühmorgens um halb drei in den Riverside Park zu locken?« fragte Nick. »Sie hat Myrra angerufen und sich als Pay ausgegeben«, erklärte Phoebe. »Dasselbe machte sie bei mir an dem Abend, an dem Leslie Ashe niedergestochen wurde. Wahrscheinlich hat sie gesagt, hier ist Pay, und ich bin in Schwierigkeiten, und bitte bring die Schlüssel mit, und Myrra –« »Diese Schlüssel!« Nick stöhnte auf, als hätte er soeben selbst ein Messer zwischen die Rippen bekommen. »Die Schlüssel, von denen keiner wußte, daß sie existierten! Warum hast du Martinez nicht gleich von Anfang an davon erzählt? Es hätte mir zwei Tage auf dem Zwanzigsten Revier erspart.« »Damals erschien es mir nicht wichtig«, sagte 312
ich. »Im übrigen hatte Janine den Schlüsselbund ja eigentlich nicht mitgenommen, um in meine Wohnung zu kommen, sondern um in Myrras Wohnung zu gelangen.« Ich blickte im Raum umher. »Ich meine, in diese Wohnung. Ach, ihr wißt schon, was ich meine. Wie dem auch sei Janine, so wie Janine eben ist, wollte lieber noch ein Weilchen auf freiem Fuß sein und brachte Esmeralda zum Tierheim, damit der Hund nicht zu Myrras Wohnung lief und den Portier aufstörte. Janine behielt das meiste von Myrras Schmuck, vergaß allerdings einen Ohrring an Esmeraldas Halsband. Mit der Kette wußte sie offenbar nichts anzufangen, also hat sie sie an das Komitee ›Juwelen der Liebe‹ geschickt. Also, an Myrras Beerdigung kam Julie zu ihr gelaufen und sagte, Hazel Ganz würde sich darüber beklagen, daß ihr Buch nicht genügend Geld brachte. Janine geriet in Panik. Julie gehörte zu den wenigen Leuten auf der Welt, die hätten erkennen können, was mit den Berichten an die Verlagsleitung nicht stimmte. Janine wollte auf gar keinen Fall, daß Julie Hazels Abrechnungen Punkt für Punkt prüfte und sie anschließend bei der Brontë-Jury mit den Geschäftsberichten an die Verlagsleitung verglich. Und Janine war gezwungen, diese Berichte vorzulegen. Sie brauchte sie außerdem dringend, um den weitgehend negativen Beurteilungen der Buchhändler etwas entgegenzusetzen. 313
Entweder rief Janine Julie auch an und gab sich für mich aus, oder sie verstellte sich nicht und behauptete, in meinem Namen zu sprechen. Jedenfalls bat sie Julie, in mein Apartment zu kommen. Höchstwahrscheinlich gab sie sich für mich aus, weil sie kein Risiko eingehen wollte. Und es mußte mein Apartment sein, weil sie, wenn nötig, eine Verbindung zwischen Myrra und Julie herstellen wollte. Daß Myrra mir ihre Wohnung hinterlassen würde, konnte sie ja nicht voraussehen. Möglich schien ihr aber, daß jemand zufällig ihren Anruf in der Nacht von Myrras Tod mitbekommen hatte. Wie dem auch sei, sie benutzte Myrras Schlüssel, um in mein Apartment zu gelangen. Julie kam herein, Janine erstach sie, steckte ihr Myrras Ohrring in die Handtasche, machte alle Lampen aus und schloß ab. Dann nahm sie diese komische Taschenlampe und verriegelte damit von außen die Tür. Wie ihr jetzt wißt, war das nicht weiter schwierig. Der Elektromagnet ist zwar nicht besonders stark, aber der Riegel an meiner Tür ist auch nicht viel mehr als ein Stück Blech. Und heute Nachmittag habe ich es selbst versucht –« »Mit der Tür der Gästetoilette.« Phoebe seufzte. »Wir haben es geschafft, sie von außen zu verriegeln. Wir haben sie nur nicht wieder aufbekommen.« »Wißt ihr, auch da hatte Marty Verdacht geschöpft. Dieses Ding, das aussieht wie eine Ta314
schenlampe, gehört nämlich zu einem Spiel, das die Jungs von der Marketing-Abteilung bei Farret in der Eingangshalle aufgebaut haben. Damit bringt man kleine Scheiben dazu, wie fliegende Untertassen durch die Luft zu segeln. Draußen in der Halle, direkt gegenüber von Janines Büro. Am Tag nach Julies Ermordung sah ich ein paar Typen damit spielen. Jedenfalls verhinderte der Riegel, daß Barbara in die Wohnung kommen und die Leiche finden konnte. Damit hatte ich mit Sicherheit kein Alibi, und genau das wollte Janine. Ich glaube, ich rede in Zukunft besser nicht mehr in aller Öffentlichkeit über Barbara. Ich war auf jeden Fall zu schnell. Ich holte Carlos und ließ gleich die Wohnung aufbrechen. Falsches Timing. In der Zwischenzeit jedoch legte Janine eine falsche Spur. Sie nahm das Messer, das sie nicht mehr brauchte – jedenfalls glaubte sie das – und schaffte es rüber zu Julies Mietshaus, irgendwann am frühen Morgen nach dem zweiten Mord. Da hat es Jaimie Hallman dann auch in die Hände bekommen. Er hatte Angst, man würde ihn verdächtigen, also versuchte er, es mir zu überbringen. Er dachte wohl – ich weiß nicht, was er sich dachte. Jedenfalls interessierte sich die Polizei nicht dafür. Aber dann, am Samstag, traf Janine fast der Schlag. Sie wußte, daß Mary Allard bei der Fires of Love-Geschichte Lunte gerochen hatte, aber das 315
beunruhigte sie nicht weiter. Mary Allard hatte Kontakt zu Buchhändlern. Sie hielt ein wachsames Auge auf ihre eigene Reihe und auch auf alle anderen. Aber niemand war an ihrer Meinung interessiert. Seit dieser Buchprüfung damals wurde sie wie eine Aussätzige behandelt. Und jetzt erschien also Mary Allard mit einem Brief von Julie auf der Bildfläche, in dem diese darum bat, sie in die Brontë-Jury aufzunehmen. Ich glaube, Julie wußte sehr viel mehr, als sie zeigte. Wenn ich nur an diesen Satz ›wenn mir etwas zustoßen sollte‹ denke, bekomme ich eine Gänsehaut. Nun steckte Janine wirklich in der Klemme. Mary wünschte sich nichts sehnlicher, als eine dieser ›Rosa-Grünen‹, wie sie es nannte, bei einer Unkorrektheit zu überführen. Und sie mußte wissen, daß Fires of Love nicht so gut lief, wie Janine immer behauptete. Obendrein hatte Janine auch noch Leslie Ashe im Nacken. Leslie schleppte eine Kopie von Myrras Honorarabrechungen mit sich herum und versuchte, irgendwie an diese Computerausdrucke heranzukommen. Am Samstagabend bat Leslie darum, sich oben in der Farret-Suite einige Exemplare von Myrras Büchern holen zu dürfen. Janine rief Phoebe an, gab sich für mich aus und verabredete sich dort mit ihr für halb sieben. Als Leslie den Tisch verließ, nahm Janine ein Hotel-Küchenmesser, folgte ihr, wartete, bis sie im fünften Stock durch die 316
Tür trat und fing dann an, auf sie einzustechen. Sie hatte nicht viel Zeit, und sie machte ihre Sache nicht besonders gut. Das war auch nicht so wichtig. Sie brauchte Leslie sowieso nicht umzubringen, sie mußte sie nur bis zum Ende der Tagung außer Gefecht setzen. Mary hingegen mußte sie töten. Und sie mußte mich mit Haut und Haaren in die Sache hineinziehen. Ihr wißt ja, den ganzen Sonntag über, jedesmal, wenn ich Janine traf, tauchte etwas anderes in meiner Handtasche auf. Die Schlüssel. Das Messer, sogar die tatsächliche Mordwaffe.« »Wie ist sie überhaupt wieder an das Messer gekommen?« fragte Nick. »Ich dachte, Jaimie Hallman hätte es erst gehabt und dann verloren.« »Sie nahm es ihm heimlich weg, als er im Aufzug auf dem Weg zu Phoebes Suite war. Ein netter Schachzug, aber völlig überflüssig. Sie hätte jedes x-beliebige Messer benutzen können. Jedenfalls hörte sie nicht auf, ständig irgendwelche Dinge in meine Handtasche zu stecken. Das Messer ließ sie bei dem allgemeinen Durcheinander auf dem Empfang hineinfallen. Camille haßte es. Und wie. Ich mußte sie herausholen und in die Tasche meiner Bluse stecken. Ich hatte gedacht, Janine hätte mich lediglich aus Versehen angerempelt und die Katze erschreckt. Das Messer entdeckte ich erst später. Ich fand es, als ich versuchte, Phoebe wieder nüchtern zu bekommen. Ich holte es aus meiner 317
Handtasche und legte es auf die Couch. Da muß Janine es gefunden und wieder an sich genommen haben. Dann tat sie etwas wirklich Raffiniertes. Sie verabredete sich nicht etwa mit Mary. Nein, sie zog einen Stapel Computerausdrucke aus ihrer Tasche – wohlgemerkt nicht die, auf die es ankam – und tat so, als wollte sie die verschwinden lassen. Mary ging hinter ihr her. Wie nicht anders zu erwarten.« »Über die Bühne«, sagte Phoebe. »Genau. Da sah ich sie. Ich sprintete hinter Mary her. Janine bekam den allgemeinen Tumult mit und fing an zu laufen. Mary rannte hinterher. Keine Ahnung, wie Janine Mary die Treppe hochgekriegt hat, aber sie hat es geschafft. Ich erreichte die Treppe eine halbe Minute, nachdem Janine abgehauen war.« »Und das soll kinderleicht sein?« Nick stöhnte. »Du machst mir Kopfschmerzen.« Ich betrachtete die brennenden Kerzen und die Schatten, die sie warfen. Ich mußte mich um Möbel kümmern. Bald. Das Geld aus dem Verkauf von Myrras Einrichtung würde ich anlegen und so den laufenden Unterhalt der Wohnung finanzieren – bis in alle Ewigkeit. Aber in der Zwischenzeit könnte ich mir durchaus ein paar praktische skandinavische Möbel leisten. Oder etwas Antikes im Stil der Upper West Side. Oder wenigstens ein Bett. 318
»Wo ist Camille?« Ich gähnte. »Im Fondue«, sagte Phoebe. Ich sah in den Topf. Ein schwarzer Wuschelkopf duckte sich unter den Rand, eine kleine Zunge leckte Schokoladenpfoten. »Du liebe Güte«, sagte ich. »Heute morgen hat sie versucht, sich in eine Dose Thunfisch zu setzen. Ich glaube, sie ist bei mir neurotisch geworden.« »Du mußt sie da rausholen und saubermachen«, meinte Phoebe. »Das schafft sie schon allein«, erklärte Nick. »Wer macht noch eine Flasche Wein auf?« Ich gab ihm die Flasche und sagte, das könne er selber tun. Hier war ich nun, in Myrras Wohnung, die jetzt mir gehörte, mit ihren sechs begehbaren Wandschränken, der vollen Speisekammer und den Stauräumen unter der Decke. Nachts spukte es bestimmt. Gegenstände würden sich bewegen. Ich nahm Nick die Weinflasche ab und öffnete sie selbst. Vielleicht gelang es mir ja, die beiden so betrunken zu machen, daß sie diese Nacht mit mir in der endlosen Weite dieser Säle kampieren würden.
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