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Die Autorin Elise Title hat über zwanzig Jahre als Psychotherapeutin gearbeitet, davon viele Jahre im Sicherheitsvollzug mit Schwerkriminellen. Die Autorin lebt in Neuengland
Klappentext Dr. Melanie Rosen, eine bekannte Psychiaterin wird ermordet aufgefunden. Alles deutet auf einen Serienmörder, dessen Profil sie für die Polizei in San Francisco analysiert hat. Als ihre Schwester Sarah Blätter aus dem Tagebuch der Ermordeter erhält, riskiert sie ihr eigenes Leben, um den Mörder ans Licht zu locken.
Dieses eBook ist nicht zum Verkauf bestimmt.
Special thanks an Yfffi fürs klesen
Elise Title
ROMEO Roman Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Scherz Die Originalausgabe erschien unter dem gleichnamigen Titel bei Bantam Books, New York. Erste Auflage 1997 Copyright © 1996 by Elise Title Alle deutschsprachigen Rechte beim Scherz Verlag, Bern, München, Wien. Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
Für meinen Mann Jeff – ein Mann nach meinem Herzen!
Prolog Lustlose Hingabe ist Taubheit, Leere, ein schwarzes Loch. Aber es gibt eine andere, absolut verlockende Form der Hingabe: den Akt der völligen Unterwerfung. M. R. Tagebuch Die gespannte Erwartung ist spürbar. Unter der Haut. Im Kopf. Prickelt an ihrem ganzen Körper – an den Fußsohlen, zwischen den Schenkeln, den Brüsten, auf der Zunge, sogar auf den Augenlidern. Bringt das Schlafzimmer zum Vibrieren. Dringt durch ihren kühlen, mauve- und cremefarbenen Kokon. Sie spürt, wie das elektrisierende Pochen einem unerbittlichen Beben weicht. Das Chaos, dem sie nicht entfliehen kann, setzt sich in Bewegung. Würde sie ihm entfliehen, wenn sie könnte? Nein. Ohne diese Erregung würde sie sich wie amputiert fühlen. Wie tot. Das einzige Problem ist die Schuld. Heimtückisch schleichend, nagend, eitrige Wunden fressend. Natürlich getarnt, denn sie ist eine Meisterin der Täuschung wie der Wahrnehmung. Eine eingeschlossene Kraft, die sorgsam in ihren vorgegebenen Grenzen gehalten wird. Grenzen, die sie vorgibt. Sie summt eine Melodie aus Kindertagen – irgendein Wiegenlied – und zieht währenddessen ihre blutroten Fingernägel langsam über ihre kleinen Brüste. Der Schmerz ist ihr Aphrodisiakum, denn nur er gebietet den Gedanken Einhalt, die ihr durch den Kopf wirbeln. Nur der Schmerz bringt die Kritik ihrer verletzten Psyche zum Schweigen. Ihre glänzenden, manikürten Nägel gleiten über ihre weichen Brüste. Dann über die Brustwarzen. Hinterlassen brennend rote Streifen auf elfenbeinfarbener Haut. Ihre Brustwarzen sind hart, prickeln erwartungsvoll. Sie dreht sie leicht zwischen Zeigefinger und Daumen. Sie schnappt nach Luft und spürt einen unerwartet stechenden Schmerz, als sich ihre Lungen mit Luft füllen. Mit sechsunddreißig kann das kein Herzanfall sein. Sie ist in tadelloser Form, trainiert jeden Tag, spielt Squash, Tennis, ernährt sich fettarm. Vor noch nicht einem Monat hat sie ihren
alljährlichen Check-up machen lassen, und man hat ihr eine blendende Gesundheit attestiert. Was dann? Sie weiß es. Ein Anfall von Gewissensbissen. Er erfaßt sie wie ein Sturm. Ein Gefühl, das sie haßt. Paß auf, Melanie! Du willst dich ganz dicht am Rand des Abgrunds bewegen und nicht wirklich Schaden nehmen. Stürz nicht ab dabei. Allmählich trocknet der Schweiß auf ihrer Haut. Ein kühler Hauch des Spätoktobers weht durch das offene Fenster. Die Geräusche von der Straße dringen herein, während der Abendnebel San Francisco einhüllt. Viertelmond. Der Himmel leuchtet unheimlich. Ein resolutes Klingeln an der Haustür. Alles stockt. Selbst ihr Atem. Dann reißt sie sich rasch zusammen. Sie verharrt vor dem großen Spiegel im Schlafzimmer und mustert sich kühl, distanziert. Sie hat ihre Garderobe sorgfältig zusammengestellt. Maßgeschneiderte rosafarbene Seidenbluse. Weich fließende, schwarze Seidenhose. Schwarze Sandaletten an den nackten Füßen. Zwar elegant, aber mit einer verführerischen, aufreizenden Note. Sie fährt sich mit dem Kamm durch ihr dichtes, glattes kastanienbraunes Haar, das ihr stumpf geschnitten bis auf die Schultern fällt. Noch ein kurzer kritischer Blick. Ja, sie ist bereit. Ein ironisches Lächeln umspielt ihre Lippen, selbst dann noch, als sie ein Schwindelgefühl überkommt und taumeln läßt, so daß sie sich an der Wand abstützen muß. Es vergeht schnell wieder. Durch die Kraft ihres Willens. Sie kann das. Alles in Ordnung. Sie lächelt. Sie geht in ihr Wohnzimmer und mustert den Raum mit dem kritischen Blick einer Frau, die sich ständig bewußtmachen muß, was sie erreicht hat. Wie alles in ihrem viktorianischen Stadthaus in Pacific Heights ist auch dieser Raum stilvoll und elegant. Nicht die Spur überladen. Die verputzten Wände zart pfirsichfarben. Vor den Fenstern Teakholz-Jalousien. Marokkanischer Teppich in dunklen Farbtönen – Braun, Umber, Grau – auf dem weißgestrichenen Dielenboden aus Eichenholz. Ein Paar zweisitzige Sofas mit blaßkaramelfarbenem Seidenbezug steht sich gegenüber. Auf dem Couchtisch aus Kiefernholz eine Vase mit Chrysanthemen, zwei Sektgläser aus Kristallglas. Ein
großes Erkerfenster bietet sich für Pflanzen an, aber es sind keine da. Sie hat keine glückliche Hand dafür und will nicht zusehen müssen, wie etwas Lebendiges unter ihren Händen langsam dahinstirbt. Trauer oder Verzweiflung über das Versagen? Sie ist nicht sicher. Beides verfließt häufig ineinander. Es klingelt nicht noch einmal, aber sie weiß, daß er draußen im Flur steht, geduldig wartend. Wissend, daß sie die Vorfreude auskostet. So wie er. Dessen ist sie sich sicher. Schon allein der Gedanke daran erregt sie. Sie lächelt, als sie die Tür öffnet. Hastig setzt sie wieder ihre Maske auf und spürt doch, daß sie leicht verrutscht ist. Er rührt sich nicht und mustert sie unverhohlen, mit ausdruckslosem Gesicht. Ihr Blick fällt auf die Verpackung in seiner Hand. Champagner. Interessant. Provozierend. Ein Ausdruck von Verspieltheit. Sie zügelt sich selbst. Sie will nicht analysieren. Sie sitzen auf einem der Sofas. Sie beobachtet ihn, während sie aus ihren Kristallglaskelchen den Champagner trinken. An seinen Augen kann sie ablesen, daß er sich wohl fühlt. Sie hat sanfte Jazzmusik aufgelegt – Branford Marsalis. Die Beleuchtung ist gedämpft, Kerzenlicht, die Stimmung entspannt und romantisch. Er spielt mit ihrem Haar, während er an seinem Glas nippt. Sie versucht, sich nicht anmerken zu lassen, daß sie es kaum noch erwarten kann. Jetzt, wo er da ist, hat sie keine Angst mehr. Sie vertraut ihm. Sieht ihn als Meisterdirigenten einer großen Sinfonie. Und sie ist sein Orchester. Er streicht ihr federleicht über die Wange. Sie empfindet die Liebkosung fast wie eine Explosion. »Heute abend siehst du aus wie ein kleines Mädchen«, sagt er. Sie ist überrascht. Aber insgeheim erfreut. »Ein kleines Mädchen?« »Du willst es verbergen, aber es gelingt dir nicht.« Er legt seinen Arm um sie und zieht ihren Kopf sachte an seine Schulter. So sitzen sie in zärtlichem Schweigen, bei flakkernden Kerzen, und lauschen Marsalis’ klagendem Tenorsaxophon.
Vorspiel. Vor der Stereoanlage. Sie weiß nicht recht, welche CD sie nehmen soll. Er tritt von hinten an sie heran. Sie will sich zu ihm umdrehen, aber er legt ihr die Hände auf die Schultern und hält sie fest. Als er sie losläßt, bleibt sie ergeben stehen. Seine Finger gleiten verführerisch über ihren Rücken, ihr Gesäß. Sie stellt sich vor, daß er lächelt, als er feststellt, daß sie unter ihrer seriösen Kleidung weder BH noch Slip trägt, aber sie will sich nicht bewegen – nicht mal den Kopf –, um zu sehen, ob sie recht hat. Gehorsam zu sein, ist einfach zu erregend. Er zieht ihr die Bluse aus der Hose, schiebt seine kühlen Hände darunter und legt seine gespreizten Finger flach auf ihren Rücken. Sie steht ganz still, erwartungsvoll. »Such irgendwas aus. Irgendwas mit einem heißen Rhythmus«, flüstert er ihr ins Ohr. Sie will sich gegen ihn lehnen, sich an ihn schmiegen, spüren, ob er erregt ist, aber ihr gefällt das träge Tempo, das er bestimmt. Zwischen ihnen herrscht stilles Einverständnis. Sie entscheidet sich für Bob Marley. Die erotische Spannung des Reggae strömt aus den Lautsprechern. Sie wiegt sich im Rhythmus. Schließt die Augen. Wissend, daß sie sich nicht verlieren wird. Er ist der perfekte Führer auf ihrer Reise. Er wiegt sich nicht mit ihr, aber seine Hände bewegen sich langsam nach vorn über ihre Rippen, schieben sich zu ihren Brüsten hinauf. Sein Mund an ihrer Halsbeuge. »Zieh deine Hose aus.« Der Befehlston ist kühl und verlockend zugleich. Sein jäher Tempowechsel trifft sie unvorbereitet. Sie hat den Verdacht, daß ihn das freut. Ihre Hände verraten, wie nervös und begierig sie ist, doch es gelingt ihr, den Knopf zu lösen, und sie öffnet den Reißverschluß. Jetzt lächelt er. Dessen ist sie sicher, auch wenn sie noch immer mit dem Rücken zu ihm steht. Ihre Hose fällt um ihre Füße zu Boden. Er bleibt hinter ihr stehen, knetet ihren nackten Hintern, während sie sich weiter im Rhythmus der Musik wiegt. »Du hast ein Grübchen.«
Leichte Beunruhigung. Ein Makel? »Ist das gut oder schlecht?« Ihre Stimme bebt. Er lacht leise. »Sehr gut.« Warme Lust durchströmt sie. Ein Sieg. In ihrem Sessel, jetzt völlig nackt. Er kniet zwischen ihren weit gespreizten Beinen. Sie kann sein Gesicht nicht sehen. Zwischen ihren Brüsten vergraben. Sie holt tief Atem, rekelt sich, greift nach ihm. »Noch nicht«, sagt er leise, und seine Zunge gleitet an ihr hinunter. »Jetzt geht es nur um dich. Aber du darfst dich nicht bewegen.« Seine Großzügigkeit treibt ihr Tränen in die Augen. Es ist eine Ewigkeit her, daß ein Mann ihre Bedürfnisse wichtiger genommen hat als seine. Er drückt sie nach hinten, schiebt seine Hände unter ihren Hintern, zieht sie zu sich heran, eine kostbare Gabe. Seine Segnungen sind geschickt, wundervoll. Ihre Lust ist so intensiv, daß es beinahe schmerzt, ein Gefühl, das ihren ganzen Körper erschauern und vibrieren läßt. Er hebt den Kopf, sieht zu ihr auf, seine Lippen glänzen naß von ihr. »Hast du Phantasien von uns gehabt?« fragt er mit einem so jungenhaften Lächeln, daß ihr Herz sich verkrampft. Das überrascht sie. Ihr Herz hatte doch damit nie etwas zu tun. Ein wohlbehütetes Organ. Bis jetzt. »Hast du?« fragt er wieder. »Ja.« Sie lächelt scheu. Mädchenhaft. Die Frau in ihr beginnt, sich zu verflüchtigen. »Ja.« Sie antwortet, diesmal ungefragt. Nebeneinander auf der Bettkante. Seine Augen sind nicht auf sie gerichtet, sondern auf den Kommodenspiegel gegenüber. Sein Blick ist noch immer aufmerksam und distanziert zugleich. Ein Anflug von Frustration. Sie will, daß er sich auszieht. Aktiver teilnimmt. »Erzähl mir deine Lieblingsphantasien.« Seine Stimme ist leise, verführerisch drängend. Sie wird rot. »Das ist aber sehr persönlich.« Über die Absurdität dieser Bemerkung muß sie lachen.
»Vor mir mußt du nichts verbergen«, sagt er mit dieser lokkenden, betörenden Stimme. Ihre Verlegenheit ebbt ab, es ist einfach zu unanständig, als daß sie widerstehen könnte. Sie beginnt zögernd. »Ich habe irgendwo auf einem Highway eine Autopanne. Nachts. Ein Lastwagenfahrer hält an. Er kommt näher, aber es ist so dunkel, daß ich ihn nicht genau sehen kann. Autos zischen an uns vorbei. Ich kann die Abgase riechen. Die Scheinwerfer erfassen uns, aber irgendwie fällt das Licht nur auf mich. Er bleibt im Schatten.« »Was macht er?« »Er sieht sich den Motor an, sagt aber, daß der Wagen nicht zu reparieren ist. Dann knallt er die Haube runter. Er steht ganz dicht neben mir.« Ihre Atmung hat sich verändert. Ist schneller. Heftiger. »Hast du Angst?« »Ja. Er hat etwas Brutales an sich.« Ihr Herz rast. »Aber ich bin auch erregt«, gesteht sie. Sie sagt nicht, warum, aber es ist die Gefahr, das Ausgeliefertsein, die Furcht, das verbotene Verlangen, sich gegen ihren Willen hinzugeben. »Was macht er?« »Er zieht mich aus. Direkt am Straßenrand. Während die Autos vorbeifahren. Ich wehre mich, aber er schlägt mich ein paarmal ins Gesicht und droht, daß er mir noch mehr weh tun wird, wenn ich nicht mache, was er will. Als ich ganz nackt bin, hebt er mich auf die Motorhaube und drückt mich nieder. Er drückt meine Beine weit auseinander. Er ist sehr grob. Die Autos fahren jetzt langsamer vorbei. Ich flehe ihn an, mit mir ins Auto zu gehen, wo uns keiner sehen kann.« »Willst du das wirklich?« »Nein, nein, nein. Mittlerweile bin ich richtig heiß. Ich will ihn. Es ist aufregend, so ausgeliefert zu sein, so hilflos.« Genauso fühlt sie sich jetzt. Die Phantasie verwandelt sich in Wirklichkeit. »Weiter.« »Er ist auf mir, nimmt mich auf der kalten Motorhaube. Harte, wilde Stöße. Hände, die meine Handgelenke umklammern. Ein
Wagen hält an. Drei junge Männer steigen aus. O Gott, mir wird klar, daß sie mich alle nehmen werden…« Sie redet jetzt hastig, die Worte kommen wie von selbst. Sie kann sich nicht mehr auf sein Bild im Spiegel konzentrieren. Sie kann sie beide nicht mehr erkennen. Alles löst sich auf. Zusammengerollt auf ihrem Bett. Sie lächelt sittsam – die Novizin, die Unschuldige –, während er über ihr steht und auf sie herabblickt. »Sag mir, was ich tun soll«, flüstert sie. »Wie kann ich dir gefallen?« Er lächelt, und seine Augen wandern ihren Körper auf und ab. »Du hast kleine Titten.« »Ich hasse sie«, gibt sie zu, spürt, wie die Scham sie erfaßt. Auf gar keinen Fall möchte sie ihm mißfallen. Sachte streichelt er ihre Brüste. Beruhigt sie. Sie lächelt verunsichert. Bis er zu ihren Brustwarzen gelangt und sie kneift, die Finger wie eine Zange. Sie zuckt zusammen, aber sie spürt einen Adrenalinstoß. Ja, ja, tu mir weh. Das habe ich verdient. In der Badewanne. Er wäscht sie. Er ist sehr sanft, besonders an den Stellen mit den Blutergüssen. Seine Fürsorge erregt und rührt sie gleichermaßen. Seine Zärtlichkeit verstärkt die Lust, die Spannung. »Bist du Daddys kleines Mädchen?« fragt er, seine Stimme ist liebevoll, zärtlich. Ein neues Spiel. Das ungezogene kleine Mädchen ist jetzt die reine Unschuld. »Ja, Daddy.« Sie steht in der Wanne, das gehorsame Kind, die Arme an den Seiten, während er sie abreibt und untersucht. So genau betrachtet zu werden, erregt sie ebenso wie die Berührung. »Du willst doch ganz sauber sein, nicht?« Ja, es stimmt. Wasch die Sünde ab. Reinige meinen Körper. Mach mich wieder neu. Er wäscht jetzt ihren Bauch, immer weiter nach unten. »Gefällt dir das, wenn ich dich da wasche?« Er fängt an, sie mit seinen seifigen Fingern zu massieren. Grob. Genau wie sie es mag. »Und hier?« Er stößt kurz in ihre Vagina. Sie ist sehr
erregt, aber wie ist es mit ihm? Er ist noch angezogen, sein Körper ganz dicht an der Wanne, so daß sie nicht sehen kann, ob er eine Erektion hat. »Ja, ja.« Sie muß sich an der gefliesten Wand abstützen. Unvermittelt hört er auf, dreht sie jäh herum. Fast wäre sie ausgerutscht, aber sie kann sich noch auffangen. Er scheint es gar nicht zu merken. Er fängt an, ihren Rücken und Hintern zu schrubben. »Fester«, befiehlt sie. Das macht ihn wütend. Er will von seinem kleinen Mädchen nicht herumkommandiert werden. Mit einer Scheuerbürste bearbeitet er ihren Hintern. Sie schreit auf, als er sie hart mit der Borstenseite schlägt. Einmal, zweimal… Ja, bestraf mich. Mach, daß ich wieder gut bin. Ich will wieder gut sein. Auf dem Teppich am Fußende des Bettes, Arme und Beine gespreizt, die Hände umklammern die Messingstange des Bettgestells. Sie ist nicht gefesselt, aber er hat befohlen, daß sie nicht loslassen darf. Sie spielt das willige Opfer – eine Rolle, die zu ihr paßt wie eine zweite Haut. Inzwischen schmerzt und pocht ihr ganzer Körper vor Verlangen – Verlangen, Verlangen. Er zwingt sie, es immer wieder zu sagen: »Ich will dich. Ich will dich. Ich will dich.« In seinem Lächeln liegt nichts Jungenhaftes mehr. Es ist verschlagen, amüsiert. Die Grenze zwischen Phantasie und Realität verschwimmt. Keine Täuschung mehr möglich. Er hat die geheimen Winkel ihres Denkens und Fühlens erobert, in Besitz genommen. Er schlägt sie auf die Brust. Sie empfindet den Schmerz kaum noch, als sie sich ihm entgegenbäumt, die Knöchel weiß, so fest umklammert sie die Stange. Er schlägt sie wieder. »Bist du eine Hure?« »Nein.« Den Aufschrei erzwingt er mit dem zweiten Schlag auf ihre Brust. Diesmal zuckt sie zusammen, aber sie ist dabei, sich im Schmerz zu verlieren. »Bist du eine Hure?« »Nein, nein.«
Wieder schlägt er sie. »Du lügst. Du lügst.« Noch während in ihr Panik aufsteigt, daß er die Kontrolle verliert, verschließt heiseres Verlangen ihr die Kehle. Sie starrt zu ihm auf, die braunen Augen weit aufgerissen und feucht schimmernd vor Lust. Sie will ihn in sich haben. Soll sie darum bitten? Fordern? Flehen? Sie hat ein wenig Angst. Sein Vergnügen daran, ihr Schmerzen zu bereiten, hat zugenommen. Sie sieht es in seinem Gesicht, seinen Augen. Wenn er zu heftig wird, muß sie die Sache beenden. Und die perfide, schreckliche Wahrheit ist, daß sie das gar nicht will. Über seinen Knien. Das Gesicht nach unten auf dem Bett. Atemnot. Wachsender Schmerz, aber steigendes Verlangen. Unerträglich. Etwas Weiches, Seidiges streift über ihren Hintern. Sie wendet den Kopf, kann es kurz sehen. Ein Schal. Ein weißer Seidenschal. Erschrecktes Aufkeuchen. Bilder schießen ihr durch den Kopf – vier junge Frauen, ihre einst hübschen Gesichter brutal zugerichtet, ihre Körper gefesselt, vergewaltigt, verstümmelt. So gräßlich. So grauenhaft. Und doch – diese Faszination. Einem anderen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein. Gezwungen zu sein, jede Kontrolle aufzugeben. Jede Verantwortung. Sie dreht den Kopf. Er lächelt, als ob er wüßte, was tief in ihr lauert. »Du kannst mir vertrauen, Melanie. Und gleichzeitig deine Neugier befriedigen.« Sie will widersprechen, aber die Worte bleiben ihr im Halse stecken. Er lächelt sanft, während er ihr den Schal wie ein Geschenk darbietet. Ihr Blick trifft seinen nur einen kurzen Moment. Aber er weiß, daß das neue Spiel eröffnet ist. Ein schreckliches Dröhnen in ihrem Kopf. Die verdrehte Haltung ihres gefesselten Körpers wird unerträglich. Ihr Kiefer pocht; sie hat das Gefühl, als hätten sich sämtliche Zähne unter seinen brutalen Schlägen gelockert. Was noch schlimmer ist, er
quält sie beharrlich bis an den Rand des Orgasmus mit seinen Händen, seinem Mund – aber nie mit seinem Penis. Sie fühlt sich zutiefst erniedrigt. Und gedemütigt, weil sie selbst diese widerwärtige Behandlung akzeptiert, weil sie davor zurückschreckt, ihr ein Ende zu machen. Aber das muß sie jetzt. Sonst, das weiß sie, wird sie vollends den Kontakt zur Wirklichkeit verlieren, in den Abgrund stürzen. »Bitte, bind mich los. Das tut weh.« »Ich dachte, du wolltest ihre Schmerzen erleben, Melanie.« Etwas in ihrer Brust zieht sich zusammen. Sie war sicher, daß er kooperieren würde. »Das macht uns doch beide nicht an.« Diese Lüge spricht sie ganz sachlich aus. Er lächelt. Er kennt die Wahrheit. Keuchend und zitternd auf dem marokkanischen Teppich im Wohnzimmer, noch immer gefesselt, Knöchel und Handgelenke fast gefühllos, die Spannung im Rücken unerträglich. Ihre Haut ist rot und wund. Striemen. Entsetzliche Striemen zeichnen sich auf ihrem Körper ab. »Sag es mir«, flüstert er und läßt seine Finger über ihre blutunterlaufene Wange gleiten. »Willst du mich immer noch, Melanie? Sag die Wahrheit.« Sie kann nicht antworten. Sie weiß nicht mehr, was wirklich ist. Sie ertrinkt in Verwirrung. »Noch etwas Champagner?« fragt er fast im Plauderton. Sie schüttelt den Kopf. Der Alkohol würde auf ihren blutigen Lippen brennen. Hysterie breitet sich zitternd auf ihrer Haut aus. »Wie wär’s mit einer Pause?« sagt sie und zwingt sich zu einem Lächeln. »Mal ein Weilchen abkühlen? Wir haben noch gar nichts gegessen. Wir essen was und dann…« Er achtet nicht auf sie. Er kniet neben ihr, preßt ihr das Sektglas gegen die Lippen. Sie will wieder den Kopf schütteln. »Bitte…« Er packt sie fest im Nacken, schüttet ihr den Champagner in den Mund. Sie würgt, hustet, spuckt ihn aus. Jetzt ist sie wütend.
Er lächelt sie herzlich, liebevoll an, aber in seinen Augen liegt nichts. Wenn die Augen Spiegel der Seele sind, dann hat seine Seele ihn heute abend verlassen. Er steht auf, geht zur Stereoanlage und sieht ihre CDs durch. Als er die CD findet, die er sucht, legt er sie auf. Er dreht sich zu ihr um, noch immer lächelnd, während die ersten Takte von Gershwins Rhapsody in Blue den Raum erfüllen. »Die Musik hast du schon öfter gespielt, nicht wahr, Melanie? Wieso hat Romeo sie jedem seiner Opfer vorgespielt? Das hast du dich doch gefragt, oder?« »Ja, das habe ich mich gefragt.« Ihre Stimme ist kaum noch ein Krächzen. Er wechselt das Thema. »Sie haben alle seine dunkelsten Phantasien mit ihm geteilt. So willig, wie du es getan hast. Es hat sie angeturnt. Genau wie dich, Melanie.« Was redet er da? Er kann nicht wissen, was diese Frauen mit dem Serienmörder erlebt haben, bevor er sie tötete. Er spielt noch immer mit ihr. Aber genug ist genug. Erst in diesem Augenblick sieht sie, daß er durchsichtige, dünne Gummihandschuhe trägt. Wann hat er die angezogen? Sie war so weggetreten, daß er sie praktisch schon die ganze Zeit getragen haben kann. »Nein«, wimmert sie, klammert sich ans Leugnen wie an eine Rettungsleine. Ich kenne diesen Mann. Ich vertraue ihm. Es ist ein Spiel. Bloß ein Spiel. Er beugt sich so dicht zu ihr hinab, daß sie den Champagner in seinem Atem, seine Erregung riechen kann. »O Romeo! Warum denn Romeo?« flüstert er und legt ihr dabei sacht eine Hand unter das Kinn. »Romeo ist hier, bei dir, Melanie.« Der Todesstoß. Der letzte Schlag, der ihren Selbstbetrug entlarvt. Sie hat nichts mehr unter Kontrolle. Ein leises Stöhnen schierer Angst dringt aus ihrem Mund. Sie kann nicht atmen. Kaltes, nacktes Grauen – ein Blitzschlag, der sie durchbohrt. Ihre Knie graben sich schmerzhaft in den Teppich. Er sitzt auf einem der Sofas. Mit der Hand umschließt er seinen Penis, wäh-
rend er ihren Kopf gegen seine Schenkel preßt. Sie ist zu schwach, um sich zu wehren. Es würde auch nichts nützen. »Ich war ganz gerührt, als du mich im Fernsehen ›Romeo‹ getauft hast. ›Romeo. Ein brutaler Psychopath, der seine Opfer umwirbt und ihre Herzen stiehlt.‹« Er hält inne, lacht. Ein Lachen ohne jeden Humor. »Im Fernsehen siehst du toll aus, Melanie. Ich habe mir keinen deiner Auftritte in Cutting Edge entgehen lassen.« Er betrachtet sie nachdenklich. »Was würdest du diesen neugierigen Gaffern wohl jetzt über mich erzählen? Das wäre doch eine echte Sensation, Melanie. Ein Zeugenbericht aus erster Hand. ›Meine Nacht mit Romeo‹. Ich wette, die Einschaltquoten wären astronomisch.« Er streichelt sich selbst wie in Trance. Sie bleibt ganz ruhig. Will ihn weiter reden lassen. Will mehr hören, mit dem sie arbeiten kann. »Deine Theorie über die Herzen meiner Opfer fand ich richtig gut. Daß ich sie mitnehme, um die Frauen in meinem perversen Geist weiter am Leben zu halten. Bis sie anfangen, zu verwesen. Bis ich gezwungen bin, ein stinkiges altes Herz gegen ein schönes frisches einzutauschen.« Er grinst. »Das war gut, Melanie. Totaler Quatsch, aber sehr guter Quatsch.« »Im Grunde geht es um Verletzungen«, sagt sie leise. »Verletzungen, die in Wut umschlagen und in das verzweifelte Verlangen danach, sich mächtig zu fühlen – die Situation zu beherrschen.« Sie weiß, daß sie jetzt nicht nur ihn analysiert. »Aber dann hast du neulich abend diesen ganzen abgedroschenen Scheiß von wegen Ödipuskomplex und so weiter erzählt. Absolut billig, Melanie.« Er lächelt zynisch, aber als sie den Kopf dreht, um sein Gesicht zu sehen, weiß sie, daß er in einen Zustand gleitet, wo er unerreichbar ist. »Kinder sind verletzlich. Viele Menschen können ihnen weh tun«, sagt sie. »Und dieser Schmerz staut sich auf…« Er hat sich neben sie auf den Teppich gleiten lassen. Geistesabwesend stochert er mit den Fingern zwischen ihren Schenkeln. Sie versucht, keine körperliche Reaktion zu zeigen. Er preßt die Lippen auf ihr feuchtes Haar. Seine Finger finden den Weg in sie hinein. Entsetzt und verzweifelt wird ihr klar,
daß sie noch immer naß ist. Er lächelt sie an. Als hätte er es erwartet. »Du bist genau wie die anderen Schlampen.« »Nein. Nein, das bin ich nicht.« Sie kann den flehentlichen Tonfall in ihrer Stimme hören. Das ist nicht gut, aber sie kann nichts dagegen machen. »Du kennst mich. Du empfindest… etwas für mich. Das willst du mir nicht antun… nicht mir.« Er stößt sie abrupt weg. Schweißnaß lehnt er sich gegen das Bein des Sofas und lächelt zu ihr herab. Einen Augenblick denkt sie, daß er gekommen ist. Ein lautloser, selbstgemachter Orgasmus. Sie denkt, daß ihr ein Aufschub gewährt wird. Er packt sie am Kinn und reißt ihren Kopf zu sich herum. »Sag es. Romeo. Ich will es aus deinem Mund hören, du Nutte.« Sie sieht die Wut in seinen Augen aufflammen. Sie findet keinen Zugang zu ihm. Panik durchflutet sie. Vor Schmerz und Angst ist sie halb wahnsinnig. Aber sie darf nicht aufgeben. Sie kann einen Weg finden. Sie hat immer einen gefunden. Jetzt muß sie es. »Ich habe mich sehr gut amüsiert«, sagt sie ruhig. »Ich weiß. Das haben sie alle.« Das sagt er so beiläufig, daß ein Schauder ihren nackten, geschundenen Körper ergreift. »Eine Zeitlang. Dann wollten sie aufhören. Genau wie du. Spielverderber. Wer A sagt, muß auch B sagen.« Ein Gefühl von Resignation erfaßt sie, aber sie reißt sich zusammen. Ist es ihr verbissener Überlebenswille oder das Kräftemessen ihrer beider Willen, das sie zwingt, weiterzumachen? Nicht mal das weiß sie mehr. »Du bist müde«, sagt sie leise, obwohl doch sie von physischer Erschöpfung gezeichnet ist. »Jedesmal denkst du ans Aufhören. Du willst aufhören. Hinterher verachtest du dich selbst.« Er ist amüsiert. »Wir haben ein Rendezvous, Frau Doktor, keinen Termin.« »Mir liegt etwas an dir. Ich weiß, wie sehr du leidest.« Er lacht leise. »Du hältst dich für so clever, so schlau, so scharfsinnig. Du denkst, du kennst die Wahrheit über mich. Einen Dreck weißt du, du Luder.«
Er rückt näher an sie heran. Sein Schwanz drückt gegen ihren Schenkel. Hart, kalt, feucht. Er lehnt sich zurück gegen das Sofa, schließt die Augen, summt die Musik mit. »Ist das nicht romantisch?« säuselt er. Der Hohn eines Irren. Ihr ist übel, vor Entsetzen kommt ihr der Champagner hoch. »Mir ist schlecht.« Er überhört sie. Geht weg. Kommt summend zurück. Liebkost ihre Schenkel. Streichelt ihr Haar. Sie riecht etwas Fauliges. Widerwärtiges. Das Echo seiner Stimme in ihrem Kopf. Bis sie anfangen, zu verwesen. Bis ich gezwungen bin, ein stinkiges altes Herz gegen ein schönes frisches einzutauschen… »Bitte. Mir ist wirklich schlecht…« Ihr ganzer Körper wird von heftigem Zittern geschüttelt. »Armes Baby«, sagt er tröstend. »O Gott…« Sie erbricht sich auf den Teppich. Das Würgen will kein Ende nehmen. Fürchterliches Schluchzen. Er wischt sie mit einem Schwamm ab. Muß ihn aus der Küche geholt haben. Sie ist so weggetreten, sie hat nicht mal gemerkt, daß er draußen war. »Sag es, Melanie«, drängt er sanft, während er das Erbrochene von ihr abwischt. Tränen strömen ihr übers Gesicht. »Tu’s nicht. Laß mich dir helfen. Ich kann dir helfen.« »Du hilfst mir jetzt schon, Melanie.« Sie spürt, wie es passiert. Etwas Dunkles senkt sich herab. Sie sucht nach etwas in sich, an dem sie sich festhalten kann, aber da ist nichts. Er steht vor ihr. Ein Messer in seiner behandschuhten Hand. Auf der silbrigen Klinge spiegeln sich schimmernd die Chrysanthemen in der Bronzevase auf dem Couchtisch. Er tritt näher. Ihre Augen gleiten von dem Messer zu seinem Penis. Sie kann die Augen nicht davon abwenden. »Willst du ihn?«
Ihr Herz rast. Ihre Haut prickelt. Zu ihrem eigenen Entsetzen und Ekel ist ihr ganzer Körper wie elektrisiert. Sie hat sich verloren. In ihm verloren. Das Zimmer ist dunkel. Sie kann ihn nicht sehen. Sie kann ihn nur spüren. Sein Penis pulsiert an ihrer Hüfte. Die geschliffene Messerspitze auf ihrer Brust. »Sag es. Sag: ›Ich will dich, Romeo.‹« Sein Arm liegt um ihre Taille, wiegt sie zu den Klängen von Rhapsody in Blue. Selbst mit dem Tod vor Augen bleibt sie die Voyeurin. Hat sie nicht schon seit einer Ewigkeit mit dem Tod getanzt? »Sag es, Melanie. Sag es, und du wirst erlöst«, raunt er lokkend. Ja, erlöst. Nicht aufgeben, nicht wirklich, sondern alles zurückfordern, was ich verloren habe. »Ich will dich, Romeo.« Kaum hat sie ihr letztes Geständnis gehaucht, fällt sie tief nach innen. Nichts anderes existiert mehr als dieser letzte Akt des Loslassens, die ungeheure Erregung und das paradoxe Gefühl von Macht, das sie verzehrt. Die Musik erreicht ein Crescendo, als das Messer herabstößt. Melanie kann den Schrei nicht hören. Sie ertrinkt darin. Er starrt auf sie herab und lächelt ehrfürchtig. Er kommt mit einem heftigen, heißen Strahl, als er in sie eindringt, die Explosion seines Samens und ihr Blut auf immer in seiner Psyche verschmolzen. In einem Herzschlag. Melanies letztem.
1 Romeos Zwang zu töten, bevor er vergewaltigen kann, ist ein Schlüsselelement seines Rituals. Denn wenn er zum Orgasmus kommt, verliert er – wie wir alle – die Kontrolle und zeigt seine Verletzlichkeit… Und er kann nicht zulassen, daß seine Opfer Zeugen dessen werden, weil er Angst hat, daß sie es gegen ihn verwenden würden. Nur tot stellen diese Frauen keine Bedrohung dar. Dr. Melanie Rosen in Cutting Edge Das letzte Mal, daß Sarah Rosen mit ihrer Schwester Melanie sprach, war früh am Morgen jenes Tages, an dem Melanie ermordet wurde. Normalerweise wäre Sarah stinksauer gewesen, noch vor dem Weckerklingeln geweckt zu werden, aber sie hatte einen so fürchterlichen Alptraum gehabt – eine riesige, drohende Hand mit dicken, haarigen Fingern, die sich um ihren Hals legte, eine Stimme im Dunkeln, die heiser »Sarah, Sarah« rief –, daß der Anruf im Grunde eine Erlösung war. Bis sie hörte, wer am anderen Ende der Leitung war. »Ich hätte mir denken können, daß du es bist«, sagte Sarah benommen und schob sich eine Strähne ihres kurzgeschnittenen, borstigen kastanienbraunen Haars aus der Stirn. Sie tastete auf dem Nachttisch nach ihrer Brille, die irgendwo mitten in dem Wirrwarr von Illustrierten, Zeitungen, Wecker, Büchern und einem halbvollen Glas Weißwein liegen mußte, wobei sie letzteres versehentlich umstieß. Ungeachtet der Pfütze setzte sie ihre Suche fort. Die goldgeränderte Brille, deren John-Lennon-Rahmen leicht verbogen war, befand sich wundersamerweise unter ihrem Kopfkissen, gemeinsam mit einem leeren Dessertteller, von dem sie ihren Mitternachtsimbiß gegessen hatte. Als sie die Brille hervorzog, fiel der Porzellanteller auf den Holzboden und zersprang. »Was war das denn?« fragte Melanie. »Nichts. Ein Teller«, sagte Sarah und setzte die Brille auf. Immer wenn Sarah es mit schwierigen Leuten zu tun hatte oder,
um fair zu sein, mit Leuten, deren Art ihr Schwierigkeiten bereitete, fühlte sie sich sicherer, wenn sie klar sehen konnte. »Du bist und bleibst eine Schlampe«, sagte Melanie tadelnd. »Ich funktioniere nun mal am besten im Chaos.« Tatsächlich sah ihr Schlafzimmer aus wie nach einem Einbruch: Sämtliche Kommodenschubladen standen offen, Strickjacken, Socken und Unterwäsche hingen schichtweise heraus, als ob ein Einbrecher hektisch nach versteckten Wertgegenständen gesucht hätte. Der einzige Sessel, ein alter hölzerner Schaukelstuhl für die Veranda, den der Vormieter zurückgelassen hatte, verschwand fast unter den vielen Kleidungsstücken, die sich darauf angesammelt hatten. Die Unordnung wurde noch verstärkt durch die Kartons, die an der gegenüberliegenden Wand gestapelt waren und die sie seit ihrem Einzug in diese Zweizimmer-Parterre-Wohnung in San Franciscos Mission District vor fast einem Jahr nicht mehr angerührt hatte. Melanie war über den Umzug ihrer Schwester entsetzt gewesen. Im Mission District waren Schießereien auf offener Straße fast an der Tagesordnung. Sie hatte Sarah ein masochistisch fahrlässiges Verhalten vorgeworfen. In Wahrheit war Sarah sehr ängstlich, doch wenn sie sich darüber Gedanken machen mußte, was draußen vor sich ging, hatte sie keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, was in ihr selbst vor sich ging, was sie noch weit mehr ängstigte. »Sarah, du kannst dein Leben nicht in Ordnung bringen, wenn du keine Ordnung in dein Leben bringst«, sagte Melanie schneidend. »Jahrelanges Psychologiestudium, und alles, was du mir zu bieten hast, ist eine Moralpredigt?« entgegnete Sarah trocken. »Aber es ist ja noch früh am Tag, Melanie. Vielleicht bist du ja bloß noch nicht richtig in Schwung.« »Es ist fast sieben. Mußt du nicht um neun im Büro sein?« »Ja. Und das bedeutet, daß ich noch eine gute halbe Stunde hätte schlafen können.« Sie würde ihrer Schwester nicht dafür danken, daß sie sie aus dem Alptraum gerissen hatte. »Ich habe nicht viel Zeit«, sagte Melanie energisch. »Mein erster Patient kommt in zehn Minuten.«
Das war Sarah nur recht, denn sie konnte ihre große Schwester nur in ganz kleinen Portionen verkraften. »Was willst du?« »Das weißt du doch, Sarah. Ich will, daß du Dad besuchst.« Sarah ließ sich aufs Kissen zurückfallen und zog ihre karierte Bettdecke bis unters Kinn. Ein Schuh, der sich in der Tagesdekke versteckt hatte, fiel polternd zu Boden. »Es ist noch zu früh am Tag.« »Eigentlich wollte ich dich heute abend einfach zu ihm mitnehmen, aber ich bin verabredet. Laß uns morgen über den Mittag hinfahren. Ich komme bei dir im Büro vorbei und hole dich ab.« »Nein«, sagte Sarah. »Ich werde allein hinfahren.« Es fiel ihr schon schwer genug, ihren Vater im Pflegeheim zu besuchen, aber ein regelrechtes Familientreffen würde das Ganze für sie noch schlimmer machen. »Wann denn, Sarah? Du warst schon seit Wochen nicht mehr da«, nervte Melanie. »Neulich abend hat er nur davon geredet, daß er dich überhaupt nicht mehr sieht. Daß du ihn vergessen hast.« »Red mir keine Schuldgefühle ein, Mellie.« Sarah wußte, wie sehr es ihre Schwester ärgerte, wenn sie anders genannt wurde als Melanie. Melanie, nach der berühmten österreichischen Psychoanalytikerin Melanie Klein. Den Namen hatte ihr Vater ausgesucht. Natürlich. »Laß gut sein, Sarah.« »Du bist die liebe Tochter, ich bin der letzte Dreck. Das wissen wir doch.« »Ich will dir keine Schuldgefühle einreden. Du hast ein schlechtes Gewissen und läßt es an mir aus. Dafür habe ich keine Zeit. Wann besuchst du ihn?« »Samstag.« Sarah hoffte, daß sie ihren guten Freund Bernie überreden konnte, mitzukommen. Zur moralischen Unterstützung. Sie seufzte. »So. Bist du jetzt glücklich?« »Glücklich? Nein, Sarah, ich bin nicht glücklich. Wie soll ich glücklich sein, wenn mein Vater, der einmal einer der angesehensten Psychiater der Welt war, meint, ich wäre fünf Jahre alt, und möchte, daß ich mich auf seinen Schoß setze, damit er mich mit einem Wiegenlied in den Schlaf singen kann?«
Sarah zuckte zusammen. Aber als sie sprach, war ihr Tonfall bewußt kühl und gleichgültig. »Der Mann hat Alzheimer. Hast du mir nicht immer Vorträge darüber gehalten, daß man sich der Realität stellen muß? Ich glaube sogar, du hast das von Dad übernommen. Er hat ja auch nicht mehr viel Verwendung dafür.« »Empfindest du denn gar nichts für deinen Vater? Himmel, Sarah, du bist kein Kind mehr. Du kannst nicht alles darauf abwälzen, daß ich Daddys Liebling war.« Sarah schob ein Buch beiseite, damit sie einen Blick auf ihren Wecker werfen konnte. »Es ist drei vor sieben, Melanie. Du willst doch deinen Patienten nicht warten lassen.« »Ich rufe dich morgen an«, sagte Melanie eher resigniert als verärgert. »Nachdem ich Dad besucht habe. Ich kann dir dann aber nur ganz kurz Bericht erstatten, weil ich um zwei einen Termin mit Feldman habe.« »Bestell ihm schöne Grüße«, sagte Sarah trocken. »Dad oder Feldman?« »Das mußt du selbst rausfinden, Schwesterlein. Du bist schließlich die Psychotante.« Es war fast Mittag an diesem letzten Donnerstag im Oktober. Ein Nieselregen setzte ein, als Sarah sich nach ihrem Vormittagstermin auf den Weg in ihr Büro machte. Es hatte seit Wochen nicht geregnet. Der Regen schlug auf ihre Stimmung. Ein Bild schoß ihr durch den Kopf. Sie sah sich selbst als aufgeschossenes, schlaksiges Mädchen – gerade dreizehn geworden –, wie sie am Fenster ihres Zimmers stand, kurz nachdem sie in das weitläufige viktorianische Haus an der Scott Street gezogen waren. Sie preßte das tränenüberströmte Gesicht gegen die kühle Glasscheibe und starrte in den Regen hinaus auf die Bucht mit der Golden Gate Bridge, die sich undeutlich im Nebel abzeichnete. Damals hatte sie das Haus in Pacific Heights gehaßt. Und das tat sie noch immer. Das Haus ihres Vaters. Jetzt das ihrer Schwester. Es war Sarah nur recht. Sie wollte es nicht. Sie hatte nur schlimme, traurige Erinnerungen daran. Eigentlich war es paradox, denn sie waren von Mill Valley dorthin gezogen, um
anderen schlimmen, traurigen Erinnerungen zu entfliehen. Manchen Dingen konnte man nun mal nicht entfliehen. Außer, wenn man sie verdrängte. Sarah beherrschte das Vergessen wie eine regelrechte Kunst. Meistens. Heute wollte es nicht klappen, wahrscheinlich weil sie sich so bedrückt fühlte. Ständig blitzten Erinnerungen auf, wie gelbe Warnlampen. Sarah gab dem Regen die Schuld an den beunruhigenden Bildern. An dem blöden Alptraum. An dem Telefonanruf ihrer Schwester heute morgen. War Melanie wirklich ihrem Vater im Pflegeheim auf den Schoß geklettert? Sarah schloß die Augen, als sie spürte, wie ein unangenehm heißes Gefühl sie durchlief, trotz des feuchten Windes, der böig auffrischte, während der Nieselregen dichter wurde. Eine Frau, die ihren Wagen vor der Davies Hall in eine enge Parklücke manövrierte, kam versehentlich mit dem Ellbogen an die Hupe. Sarah riß die Augen auf. Eine Möwe, die etwas zu weit von der Bucht abgekommen war, schwebte über ihr, die Flügel weit ausgebreitet, durchschnitt den dunkler werdenden Himmel. Fliegen, fliegen, weit weg. Völlig durchnäßt und durchgefroren erreichte sie das Amt des Sozialdienstes für Rehabilitation, das in einem architektonisch nichtssagenden Wolkenkratzer an der Ecke Van Ness Avenue/Hayes Street untergebracht war. Sie arbeitete seit sechs Jahren dort, seit sie an der San Francisco State University ihren Abschluß als Sozialarbeiterin gemacht hatte. Die Bezahlung war lächerlich – weit unter dem, was sie, eine Rosen, nach Ansicht ihres Vaters und ihrer Schwester hätte verdienen können –, aber Sarah hatte nicht den teuren Lebensstil der beiden, geschweige denn deren Hang zum Leistungsdenken. Jedenfalls machte ihr die Arbeit Spaß, wenn bloß der Papierkram nicht gewesen wäre. Sie fand ihre Tätigkeit sinnvoll. Sie hatte das Gefühl, gebraucht zu werden. Und sie mochte die meisten ihrer Schützlinge, derzeit vierzig Körperbehinderte oder körperlich Benachteiligte, wie es politisch korrekt hieß. Der Mehrzahl von ihnen war es völlig egal, wie man sie nannte. Sie wollten bloß ihr Leben wieder in den Griff bekommen, eine
Arbeit finden, die sie erlernen konnten, um damit wieder den eigenen Lebensunterhalt bestreiten zu können, und ansonsten ihre Ruhe haben. Sarah erging es ganz ähnlich. Als sie die trostlose Eingangshalle des Bürogebäudes betrat, knurrte ihr Magen. Es passierte oft, daß sie völlig vergaß, etwas zu essen. Sie machte auf dem Absatz kehrt und steuerte den Coffee Shop gleich um die Ecke an, um sich etwas zum Mittagessen zu holen. Vorne auf der Theke lagen fertig zubereitete und verpackte Sandwiches aus. Sie kaufte ein Putensandwich und warf es in ihre Umhängetasche, um es mit ins Büro zu nehmen. Als sie das Wechselgeld einsteckte, entdeckte sie ihren Kollegen und besten Freund Bernie Grossman. Bernie hatte seinen Rollstuhl an einen der grauen Tische hinten im Coffee Shop gerollt und verschlang eine Schüssel Chili con carne. Als sie näher kam, blickte er auf. »Du bist naß«, sagte er. Bernie, Anfang Vierzig, hatte ein Gesicht, bei dem Sarah immer an einen Cherub denken mußte. »Es regnet.« Er tupfte ihr das feuchte Gesicht mit seiner Serviette ab. Sie schob seine Hand weg und setzte sich auf den Stuhl neben ihm. »Heb sie dir auf. Du brauchst sie dringender als ich. Meine Güte, du hast überhaupt keine Manieren, Bernie!« Sein dichter grauer Bart war mit Chili bekleckert. Er grinste. »Weiß ich. Das macht Tony völlig wahnsinnig. Er ist so etepetete.« Sarah fischte ihr Sandwich aus der Umhängetasche, stockte dann aber, um ihren Freund argwöhnisch zu mustern, bevor sie es auspackte. »Hast du ›Tony‹ gesagt?« Bernie wischte sich die Essensreste vom Jeanshemd, dessen Knopfe sich über seinem Bauch spannten. »Habe ich dir noch nichts von Tony erzählt?« Sarah packte ihr Sandwich aus und untersuchte es genauer. Scheiße. Auf dem Etikett stand Putenfleisch mit Mayonnaise, aber das Roggenbrot war mit Senf beschmiert. Egal, so viel Hunger hatte sie nun auch wieder nicht. »Bernie, du hast gesagt, Tony wäre ein verdammter Idiot und der letzte, mit dem du dich je einlassen würdest.«
»Okay, man kann ja seine Meinung auch einmal ändern. Jedenfalls, als ich gestern mit einer widerlichen Magenverstimmung daniederlag, was meinst du, wer da plötzlich auftauchte, um sich um mich zu kümmern?« »Florence Nightingale höchstpersönlich?« »Tony ist zufällig ein staatlich geprüfter Krankenpfleger.« »Der seinen Beruf nicht mehr ausüben darf, weil er seine Finger zu tief ins Medikamentenschränkchen gesteckt hat. Hör doch auf, Bernie. Du kannst nun wirklich keinen Typen gebrauchen, der mit Drogen rummacht.« Niemand wußte das besser als Sarah. Außer vielleicht Bernie. Bernie Grossman war einer von Sarahs ersten Fällen gewesen. Ein studierter, homosexueller, jüdischer Drogenabhängiger, der vor einer Schwulenbar auf der Castro Street so brutal zusammengeschlagen worden war, daß er mit mehreren gebrochenen Rückenwirbeln in der Notaufnahme landete. Nach sechsmonatiger physischer Rehabilitation, verbunden mit einem zwei Monate dauernden Entzug, war Bernie in ihre Abteilung gekommen, clean, an den Rollstuhl gefesselt, noch immer schwul – und in der Hoffnung, daß er vielleicht im Alter von fünfunddreißig Jahren endlich der Mensch werden könnte, zu dem ihn seine eingewanderten Eltern, die in Pasadena lebten, erzogen hatten. Gut zwei Jahre später, mit einer ständig nörgelnden Sarah im Rücken, schaffte er seinen Abschluß als Sozialarbeiter, und dank Sarahs Fürsprache wurde er auf Probe und unter ihrer Aufsicht in der Rehabilitationsabteilung eingestellt. Weitere sechs Monate später war er noch immer clean, legte seine letzte Prüfung ab und wurde fest angestellt. Das war nun mittlerweile vier Jahre her, und er hatte sich in dieser Zeit zu einem erfolgreichen Mitarbeiter gemausert. »Wie soll ich mich denn von solchen Leuten fernhalten, Sarah?« fragte Bernie, nachdem er einen weiteren Löffel Chili gegessen hatte. »Fast all meine Fälle sind Exdrogenabhängige.« »Ich rede nicht von deinen Klienten«, sagte Sarah spitz. »Tony ist seit sieben Monaten sauber, Süße. Ich schwöre dir bei meiner Ehre, sobald er irgendwas anderes schluckt als Aspirin, befördere ich ihn sofort mit einem Tritt vor die Tür.« Er
grinste. »Natürlich im übertragenen Sinne. Jedenfalls, liebste Sarah, bin ich noch immer kein Mönch, Gott sei Dank, aber eben auch kein Idiot. Wie mein guter alter Dad immer gesagt hat, manche von uns Trotteln müssen erst ordentlich auf die Schnauze fallen, bevor sie was kapieren.« »Apropos gute alte Dads…« Bernies verschwörerisches Grinsen ließ Vorderzähne sehen, die auch nach dreijähriger zahnorthopädischer Behandlung noch nicht gerade waren. »Du haßt deinen Dad.« »Habe ich tatsächlich gesagt, daß ich ihn hasse?« Sein Grinsen wurde noch breiter. »Ja.« Sarah seufzte. »Man sagt nicht immer genau das, was man denkt.« »Oder nicht alles, was man denkt«, fügte Bernie hinzu. »Was soll das? Willst du mich heute völlig fertigmachen?« »Du bist aber auch empfindlich«, erwiderte er, fuhr ihr aber gleichzeitig liebevoll mit der Hand durch das kurze feuchte Haar. »Erzähl Onkel Bernie, was los ist.« »Also, meine Schwester liegt mir in den Ohren, daß ich meinen Dad besuchen soll. Er hat nach mir gefragt.« Bernie strich Butter auf eine Scheibe Brot und tunkte sie in sein Chili. »Letztes Mal, als du bei ihm warst, hat er dich doch nicht mal erkannt.« »Hat er auch nicht. Aber hin und wieder gibt es lichte Momente. Manchmal ist er erstaunlich klar.« Sie seufzte. »Ich weiß nicht, was schlimmer ist.« Bekümmert dachte sie an ihren Besuch vor einem Monat, als er sich nur allzu gut an sie erinnert hatte. An jenem Nachmittag war sie quälende dreißig Minuten bei ihrem Vater gewesen und hatte in eisigem Schweigen seine verbalen Attacken über sich ergehen lassen. Er hatte sie als inkompetent bezeichnet, als faul, unaufrichtig und – seltsamerweise – als moralisierend. Diese Tirade war nicht durch seine Krankheit zu entschuldigen, denn die gleichen Vorwürfe hatte Sarah auch in den Jahren, als er bei absolut klarem Verstand war, oft zu hören bekommen. Als sie noch jünger war und ihr Vater in Topform, hatte er sie gelegentlich heruntergeputzt, um ihr schließlich den Gnaden-
stoß zu verpassen. Er hatte ihr einen »Cinderella-Komplex« unterstellt und verlangt, daß sie eine Psychoanalyse machen sollte, um mit ihren neurotischen Minderwertigkeitsgefühlen und ihrer Paranoia fertig zu werden. Sarah, nie um eine Antwort verlegen, hatte gekontert, wenn sie Cinderella wäre, wo zum Teufel dann der Märchenprinz steckte. Sie war der festen Überzeugung, daß die meisten Männer in ihrer Umgebung, wenn sie keine Schweine waren, es höchstens zum Frosch gebracht hatten. Auch wenn sie sich die Lippen wund küßte, sie würde keinen von ihnen in einen Prinzen verwandeln können. »Im Ernst, Sarah, willst du ihn wirklich besuchen?« Bernie bedachte sie mit einem seiner unnachahmlichen Ichdurchschaue-dich-Blicke, bei denen Sarah immer unbehaglich zumute wurde. Obgleich sie Bernie als ihren besten Freund betrachtete und ihm mehr über sich erzählt hatte als je einem anderen Menschen, war sie doch auch ihm gegenüber zurückhaltend. Es gab vieles, über das sie mit niemandem sprechen würde. »Ich habe Melanie versprochen, daß ich Samstag hinfahre.« Bernie schüttelte den Kopf, brach ein Stück von dem durchweichten Brot ab und stopfte es sich in den Mund. »Laß dich doch nicht immer von den beiden rumkommandieren, Süße. Verdammt, du bist zweiunddreißig Jahre alt. Und ich kann dir sagen, was dein Problem ist. Sarah, wann hast du das letzte Mal eine gute Nummer geschoben?« »Sex wird überbewertet.« Bernie grinste. »Nein, wird er nicht. Komm schon, plaudern wir ein bißchen aus dem Nähkästchen. Willst du wissen, wann ich das letzte Mal eine Nummer geschoben habe?« »Nein. Ich will wissen, ob du am Samstag mit zu meinem Vater kommst.« »Meinetwegen, schon gut. Ich komme mit. Darf ich dir jetzt die köstlichen Einzelheiten meiner gestrigen amourösen Eskapade mit Tony schildern? Er ist nämlich seit Monaten der erste Lover, bei dem ich nicht die Augen schließen und mich netten, dreckigen Phantasien hingeben muß, um wirklich meinen Spaß zu haben.«
Gegen neun Uhr abends stand Sarah vor dem offenen Kühlschrank in ihrer kleinen Küche und nahm sich endlich die Zeit, über ihr Abendessen nachzudenken. Die Auswahl war nicht gerade berauschend: einige Pizzareste, eine Scheibe Käse, von der sie zuvor den schimmeligen Rand würde abschneiden müssen, ein halbvoller Plastikteller mit Chop-suey vom Chinesen, das sie am meisten reizte, bis ihr einfiel, daß es schon gut zwei Wochen alt sein mußte. Zum erstenmal fragte sich Sarah, mit wem sich ihre Schwester heute abend traf. Ein Neuer? Hatte Melanie am Telefon seinen Namen genannt? Sie glaubte nicht. Melanie erzählte ihr ohnehin nicht viel von ihrem Privatleben. Sie Melanie allerdings auch nicht. Zugegeben, allzuviel hätte sie auch gar nicht zu erzählen gehabt. Doch Melanie wäre die letzte, der sie sich anvertrauen würde. Sie waren sich nie sehr nah gewesen, obwohl Melanie in den schwierigen Zeiten für sie dagewesen war. Aber eher als Psychiaterin denn als Schwester. Sarah wollte weder über Melanie noch über ihr eigenes klägliches gesellschaftliches Leben nachdenken und konzentrierte sich wieder auf das dringliche Problem. Was sollte sie essen? Sie entschied sich für ein Stück Pizza und wärmte es rasch in der Mikrowelle auf. Dadurch wurde der Rand weich und matschig, aber die Pizza hatte ohnehin nicht besonders gut geschmeckt. Nachdem sie ihre Pizza gegessen hatte, grübelte Sarah darüber nach, ob sie das schmutzige Geschirr der Woche, das sich im Spülbecken türmte, in Angriff nehmen, eine Freundin anrufen, sich einen Spätfilm reinziehen oder ein heißes Bad nehmen und früh zu Bett gehen sollte. Eine Viertelstunde später ließ sie sich in ihre altmodische Badewanne mit den geschwungenen Füßen gleiten. Mit ihren einszweiundsiebzig paßte sie nicht ganz rein, also ließ sie die Beine über den Rand baumeln. Sarah betrachtete ihren Körper nur selten, aber als sie sich so in der Wanne aalte, unterzog sie sich selbst einer genauen Inspektion. Sie war etwas zu dünn, zugegeben, aber sie wirkte dennoch gelenkig und athletisch. Eigenartig, denn abgesehen
von langen Fußmärschen, die sie häufig absolvierte, hatte sie nie viel Sport getrieben. Hatte wohl mit ihrer Angst vor Wettkämpfen zu tun, wie ihr Vater diagnostiziert hatte. Natürlich war ihre große Schwester Melanie während ihrer gesamten Schulzeit eine Sportskanone gewesen – Captain des Hockeyteams in der High-School, drittbeste Tennisspielerin in der College-Mannschaft. Seit kurzem spielte Melanie leidenschaftlich Squash, und ihr Lieblingsgegner war niemand anderes als ihr Exgatte und Psychiaterkollege Bill Dennison. Obwohl sie vor fast zwei Jahren geschieden worden waren, hatten Melanie und Bill noch immer engen beruflichen Kontakt und übernahmen füreinander die Patienten, wenn einer von beiden in Urlaub oder auf einer Tagung war. Und offenbar machte es ihnen noch immer Spaß, gegeneinander anzutreten. Zumindest auf dem Squash-Court. Einmal hatte Sarah ihnen zugesehen – sie und Melanie hatten anschließend eine ihrer seltenen Verabredungen zum Abendessen –, und während sie Melanie in Aktion sah, drängte sich Sarah der Gedanke auf, daß in der Art und Weise, wie ihre Schwester sich gänzlich dem Spiel hingab, etwas beunruhigend Wildes und Erotisches lag. Sie machte Kleinholz aus Bill und schien es zu genießen, ihn fertigzumachen. Sarah überlegte, ob sie auf jeden Widersacher so reagierte oder ob sie noch immer ungelöste Probleme mit ihrem Exmann verarbeitete. Schließlich wußte Sarah nur allzu gut, daß ihre Schwester nicht die einzige war, die mit Dr. Bill Dennison noch einiges zu klären hatte. Sarah ließ die Hände über die Rundungen ihrer Hüften gleiten und streckte dabei nacheinander beide Beine hoch in die Luft, wie eine Ballettänzerin. Schöne Beine. Die Beine ihrer Mutter. Ihre Mutter hatte davon geträumt, Tänzerin zu werden, und diesen Traum dann auf ihre jüngere Tochter übertragen. Sarah lachte wehmütig auf und wackelte mit den Zehen. Schöne Beine, aber zwei linke Füße. Nach sechs Unterrichtsstunden hatte die Ballettlehrerin ihrer Mutter nahegelegt, daß die Tochter es doch vielleicht besser mit Steptanz versuchen sollte. Sarah quälte sich drei Monate lang durch die Tanzstunden, bevor ihre Mutter schließlich einsah, daß sie absolut kein Talent besaß, und sie aufhören ließ. Ganz gegen den Willen ihres Vaters. Er
war der Ansicht, daß seine jüngere Tochter Durchhaltevermögen entwickeln müßte und nicht so leicht aufgeben dürfte. Ihre Eltern hatten tatsächlich Krach deswegen. Es war der erste, den Sarah je miterlebte. Und der letzte. Sie wusch sich rasch und gründlich, stieg aus der Wanne, trocknete sich ab, schlüpfte in einen weißen, übergroßen Frotteebademantel und tappte ins Wohnzimmer. Nach einem heißen Bad fühlte sie sich normalerweise wohlig müde, doch heute abend war sie nervös und unruhig. Sie ließ sich aufs Sofa plumpsen und wühlte in den Kissen herum, bis sie die Fernbedienung fand. Sie schaltete den Fernseher ein. Der Empfang war miserabel. Schattenbilder, Schneegestöber. Wahrscheinlich gab die Bildröhre allmählich den Geist auf. Irgendwann in nächster Zeit würde sie sich dazu aufraffen müssen, ein neues Gerät zu kaufen. Träge und desinteressiert schaltete sie die Kanäle rauf und runter. Bis sie eine vertraute Stimme zusammenfahren ließ. »Denn wenn er zum Orgasmus kommt, verliert er – wie wir alle – die Kontrolle und zeigt seine Verletzlichkeit.« Sarah fummelte an der Fernbedienung herum und versuchte, das Bild heller zu stellen. Mit gegenteiligem Effekt. Mittlerweile zeigte die Kamera nicht mehr ihre Schwester, sondern die Großaufnahme einer dunkelhäutigen Frau mit kurzgeschnittenem Haar und riesigen Kreolenohrringen. »Ich bin Emma Margolis, und Sie sehen gerade Cutting Edge. Nach einer kurzen Pause wird die bekannte Psychiaterin Dr. Melanie Rosen weiter mit den beiden Detectives vom Morddezernat, John Allegro und Michael Wagner, über den Serienkiller Romeo diskutieren, der ›die Herzen der Frauen stiehlt‹. Das Gespräch wurde heute nachmittag live in den Räumen des Morddezernats der Polizei von San Francisco aufgezeichnet.« Fast hätte Sarah umgeschaltet. Obwohl sie gehört hatte, daß Melanie mehrfach in dem abendlichen Nachrichtenmagazin Cutting Edge interviewt worden war, hatte sie es geflissentlich vermieden, sich eine der Sendungen anzuschauen. Sie fand die Faszination, die ihre Schwester im Hinblick auf diesen perversen Killer Romeo an den Tag legte, gelinde gesagt, skurril.
Nicht nur, daß Melanie von diesem sensationsgierigen Magazin angeheuert worden war, um den Wahnsinnigen zu analysieren, der die ganze Stadt in Angst und Schrecken versetzte, nein, sie war auch als sachverständige Beraterin für die Sonderkommission tätig, die zu seiner Ergreifung aufgestellt worden war. Doch schließlich gewann Sarahs Neugier die Oberhand. Anstatt umzuschalten, stellte sie den Ton ab und ließ die Werbespots über sich ergehen. Als die Sendung weiterging, wurde das Gespräch zwischen Melanie und den beiden Detectives fortgesetzt. Ihre Namen wurden unten eingeblendet, während die Kamera sie in Großaufnahme zeigte, zuerst Melanie, dann den jüngeren Cop, Detective Wagner, schließlich den älteren, Detective Allegro. Wegen des miserablen Empfangs waren ihre Gesichtszüge nicht genau zu erkennen. Als Sarah den Ton wieder einschaltete, sprach gerade John Allegro. »Unserer Erfahrung nach konzentrieren sich Serienmörder meist auf sogenannte ›schlechte Frauen‹ – Prostituierte, Drogensüchtige, Obdachlose. Oder sie gehören in die Kategorie von Ted Bundy und machen sich an Schulmädchen heran – jung, wehrlos, beeinflußbar. Aber dieser Bursche geht anders vor. Er sucht sich erfolgreiche, intelligente, äußerst attraktive Karrierefrauen aus. Zu seinen Opfern zählen eine Anwältin, eine Börsenmaklerin, eine Finanzberaterin und eine Professorin. Und es gibt nicht einmal nennenswerte physische Übereinstimmungen zwischen den Opfern.« »Vielleicht erscheint es Romeo zu leicht oder es reizt ihn weniger, Macht über eine Prostituierte oder ein Schulmädchen auszuüben.« Melanies Stimme hatte den selbstsicheren, knappen Tonfall einer Autoritätsperson. »Der Reiz liegt für ihn darin, Frauen zu beherrschen, die Macht haben und Kontrolle ausüben.« »Und in Wirklichkeit?« mischte sich Detective Wagner ein. »Ich nehme an, Sie beziehen sich darauf, daß zwei der Opfer unseren Ermittlungen nach mit Sicherheit eine Vorliebe für gewisse Sadomaso-Praktiken hatten.«
Melanie sah ihm direkt ins Gesicht. »Ich glaube, daß ein Bedürfnis, ein Verlangen, eine heimliche Sehnsucht danach, sexuell beherrscht zu werden, diese Opfer zu diesem Mann getrieben hat. Sie haben mitgemacht… bis zu einem gewissen Punkt.« Wagner beugte sich vor. »Wieso? Wieso sollte sich eine Frau wünschen, gepeinigt zu werden?« »Manche Frauen haben so wenig Selbstachtung, Detective Wagner, daß sie das Gefühl haben, die Mißhandlung zu verdienen«, erwiderte Melanie mit ihrer Dozierstimme. Wieder konzentrierte sich die Kamera auf ihr Gesicht. »Mißhandlung kann zur Obsession werden. Wie eine Droge. Romeo konnte diesen Frauen sozusagen den ›Schuß‹ setzen, nach dem sie sich verzweifelt sehnten. Ihre wildesten und geheimsten Wünsche erfüllen. Ohne sie zu verurteilen.« »Nein, er hat sie nicht verurteilt«, knurrte Allegro. »Er hat sie bloß abgeschlachtet.« Eine kurze Stille trat ein, die von Detective Wagner durchbrochen wurde: »Was können Sie uns noch über diesen Perversling erzählen?« »Das ist das Problem«, entgegnete Melanie kühl. »Sie würden nie darauf kommen, daß Romeo pervers ist, wenn Sie ihm gegenüberständen; selbst wenn Sie einige Zeit mit ihm verbrächten. Äußerlich betrachtet, könnte er sogar recht attraktiv sein.« »Gutaussehend?« fragte Wagner. Melanie zuckte die Achseln. »Das Aussehen ist subjektiv, Detective. Ich würde eher sagen, faszinierend, charmant. Ganz gleich, wie brutal es am Ende für die Opfer wurde, zunächst war Romeo in der Lage, ihr Vertrauen zu gewinnen. Den Tatorten nach zu urteilen, fingen all diese Begegnungen als Rendezvous an. Bei drei der vier Opfer war sogar der Tisch für ein romantisches Abendessen gedeckt. Kerzenschein und Champagner.« »Sie wollen also damit sagen, daß es nicht möglich ist, den Typen als Psychopathen zu erkennen?« fragte Allegro. »Wenn Sie mit ›Psychopath‹ meinen, daß er unzurechnungsfähig ist«, sagte Melanie erneut mit der Stimme einer anerkannten Autorität, »dann liegen Sie falsch. Romeo ist ein sexueller Psychopath. Nach dem Gesetz würde er niemals für unzurech-
nungsfähig erklärt werden. Der echte sexuelle Psychopath hat keinerlei Schwierigkeiten, richtig und falsch zu unterscheiden. Hier geht es um einen Zwang, einen unerbittlichen Trieb. Insgeheim fühlt sich Romeo machtlos – wie alle sexuellen Gewalttäter. Nur mit Hilfe von Wut und Zorn kann er dieses Gefühl abwehren. Das ritualisierte Töten und Verstümmeln gibt ihm das Gefühl von Macht. Und sein verzweifeltes Bedürfnis nach Macht geht noch über seine Opfer hinaus. Ich denke, daß ihn auch jene Macht erregt, die er über Menschen mit einer gewissen Autorität hat, wie zum Beispiel die Polizei.« »Ja, ja«, sagte Allegro unwirsch. »Vier Frauen wurden vergewaltigt, mißhandelt und verstümmelt, und es ist uns nicht gelungen, auch nur den Hauch einer Spur zu finden. Was meinen Sie, Doc? Ist Romeo wirklich so clever, oder hat er bis jetzt einfach nur unverschämtes Glück gehabt?« »Ein bißchen von beidem, würde ich sagen«, antwortete Melanie. »Ein Jammer, daß man das nicht von seinen Opfern sagen kann«, bemerkte Wagner bitter. Zum erstenmal klang Melanies Stimme bewegt. »Ein Jammer? Detective, ich würde sagen, das ist eine Tragödie.« Sarah stellte den Fernseher ab. Sie fand diese ganze RomeoGeschichte absolut widerwärtig. Die Vorstellung, daß ein derartig verrücktes, sadistisches Wesen existierte, bereitete ihr Übelkeit. Daß es Frauen gab, die nach außen hin so ausgeglichen wirkten und doch ein krankhaftes, verzweifeltes Verlangen nach Unterwerfung hegten. Daß ihre eigene Schwester diesen wahnsinnigen Killer zu ihrer höchstpersönlichen Cause célèbre erkoren hatte.
2 Du allein verstehst meinen Kampf. Wenn ich dich verliere, verliere ich mich selbst. M. R. Tagebuch Um acht Uhr zwanzig am Freitag morgen trafen Detective John Allegro und sein Partner Detective Michael Wagner vor dem Haus von Dr. Melanie Rosen an der Scott Street ein. Der Bereich vor dem Haus war bereits abgesperrt. Der uniformierte Polizist vor der Haustür nickte ihnen zu und trat zur Seite. Im Foyer wurden sie von Johnson und Rodriguez begrüßt, die Detectives vom Morddezernat, die Dienst gehabt hatten, als die Leiche entdeckt wurde. Die Leute vom Rettungsdienst waren auf dem Weg nach draußen. Hier gab es nichts mehr zu retten. »Wer weint denn da?« wandte sich Allegro, der von oben Schluchzen hörte, an Rodriguez. Rodriguez, ein drahtiger Mann Mitte Dreißig, zuckte die Achseln. »Der Bursche, der sie gefunden und angerufen hat. Er ist ziemlich von der Rolle. Bislang haben wir so gut wie nichts aus ihm rausbekommen, nur seinen Namen. Perry. Robert Perry. Und daß er einer ihrer Patienten war. Vielleicht könnt ihr beide ihn ja ein bißchen aufmuntern, während wir die Nachbarschaft abklappern. Scheint ziemlich spät letzte Nacht passiert zu sein. Wir wollen nachfragen, ob irgendwer in der Gegend jemanden hat kommen oder gehen sehen. Man weiß ja nie. Vielleicht haben wir diesmal Glück, was?« In Allegros Nicken lag keine Spur von Optimismus. Vier tote Frauen. Jetzt fünf. Keine Zeugen. Endlose Stunden, Wochen, Monate suchten sie bereits nach Hinweisen, und noch immer tappten sie im dunkeln. Jede mögliche Spur – und nicht gerade viele davon waren vielversprechend gewesen – war überprüft worden und hatte doch nur wieder in einer Sackgasse geendet. Romeo führte sie an der Nase herum. Nachdem Rodriguez und sein Partner losgezogen waren, gingen Allegro und Wagner die Treppe hinauf dem Schluchzen nach und fanden Robert Perry. Er lag bitterlich weinend und in
Embryonalhaltung zusammengerollt auf dem beigen Teppich des Flurs, genau vor dem Bogeneingang zum Wohnzimmer der Psychiaterin. »Großer Gott«, sagte Allegro heiser, und Galle stieg ihm in die Kehle, als er Dr. Melanie Rosens nackte, gefesselte und entstellte Leiche auf einem der karamelfarbenen zweisitzigen Sofas im Wohnzimmer liegen sah. Ihre offenen Augen starrten in den Raum. Der Gestank von Blut und Erbrochenem drang in seine Nase. Es war ein Geruch, der ihm nur allzu vertraut war, aber das machte es ihm nicht leichter. Besonders diesmal. Wagner spürte, wie sich alles in ihm zusammenzog, als er in den Raum blickte, aber er sagte kein Wort. Statt dessen wandte er rasch den Blick ab und konzentrierte sich auf Robert Perry. Mit weichen Knien ging der Detective neben dem schluchzenden Mann in die Hocke. »Gehen wir runter, Mr. Perry. Da unten läßt es sich leichter reden.« Perry reagierte nicht auf den Vorschlag. Er hatte die Hände zwischen die Oberschenkel geklemmt, seine Gesichtsfarbe war kalkweiß, sein struppiges sandfarbenes Haar schweißfeucht. Obwohl er einen furchtbaren Anblick bot, war nicht zu übersehen, daß er im Grunde ein gutaussehender Mann war. Wagner mußte an den jungen Robert Redford denken, sogar die sportliche Kleidung paßte dazu: rotkariertes Flanellhemd, Blue Jeans und Wanderschuhe. Während Wagner sich um Perry kümmerte, zog Allegro ein Paar Gummihandschuhe über und ging entschlossen auf die Leiche zu. Er beugte sich über den Körper und stellte die gleiche Methode wie bei allen vier früheren Opfern Romeos fest – das klaffende Loch in der Brust, der weiße Seidenschal, mit dem Handund Fußgelenke hinter dem Körper gefesselt waren. Und dann das verschrumpelte Herz auf der linken Brust. Zweifellos würde im Autopsiebericht stehen, daß dieses Herz Opfer Nummer vier gehört hatte, Margaret Anne Beiner. Was hatte Melanie noch gesagt? Der Killer läßt am Tatort immer etwas von sich zurück, und er nimmt etwas mit. Wie wahr. Immer hatte er das Herz seines Opfers mitgenommen. Was Melanie als das Totem des Killers oder sein Souvenir be-
zeichnet hatte. Und was er zurückgelassen hatte, war das alte Totem gewesen. Bislang war er so clever gewesen, an keinem einzigen Tatort irgendwelche Fingerabdrücke zu hinterlassen. Allegro war sicher, daß die anderen Erkennungszeichen des Killers – die Flasche Perrier-Jouët auf dem Couchtisch, die CD-Hülle von Gershwins Rhapsody in Blue auf dem Boden neben der Couch, die CD selbst im CD-Player – auch diesmal keine Abdrücke aufweisen würden, wie immer. Und all diese Gegenstände konnten in irgendeinem der unzähligen Läden in San Francisco gekauft oder geklaut worden sein. Zahllose Getränkeläden, Boutiquen und Plattengeschäfte waren bereits von Ermittlern überprüft worden, ohne Ergebnis. Es war zwar ein leichtes für Romeo, keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Die Spermaspuren jedoch, die bei jeder toten Frau gefunden worden waren, konnte er nicht abwischen. Die DNSUntersuchung der Spermaproben, die den vier früheren Opfern entnommen worden waren, erwies hundertprozentig, daß ein und derselbe Mann alle vier brutalen Morde begangen hatte. Das Problem war nur, daß der deutliche, aus den DNSUntersuchungen gewonnene »genetische Fingerabdruck« sie zu keinem Verdächtigen geführt hatte. Auch der Vergleich mit der FBI-Kartei hatte nichts erbracht. Aus keinem anderen Staat und keiner anderen Stadt wurden Morde gemeldet, die nach demselben Schema begangen worden waren. Romeo blieb in San Francisco – zumindest fürs erste. Das Ergebnis der DNS-Untersuchung war ein eindeutiger Beweis, doch zunächst mußte der Täter gefaßt werden. Und dafür brauchten sie irgendeinen Hinweis auf seine Identität – einen glaubwürdigen Augenzeugen oder zumindest etwas, das er am Tatort zurückgelassen hatte und das mit ihm in Verbindung zu bringen war. Allegro starrte nach unten auf die Klinge mit Rosenholzgriff, die neben der Leiche auf dem Boden lag. Die Mordwaffe war ein Tranchiermesser. Nichts Besonderes oder Einzigartiges. Und bestimmt ohne Fingerabdrücke. »John!« rief Wagner vom Flur aus. »Du mußt mir hier helfen.«
Allegro war über diese Unterbrechung dankbarer, als er je zugegeben hätte. Die Sache ging ihm sehr viel näher als sonst – die Ermordete war nicht bloß irgendein Opfer. Er hatte eng mit Melanie Rosen zusammengearbeitet, hatte viel für sie empfunden. Stumm und grimmig dreinblickend ging er zurück auf den Flur, um seinem Partner zu helfen, den verstörten, schluchzenden jungen Mann halb tragend, halb schleifend nach unten zu bringen. Sie wollten Perry den entsetzlichen Anblick seiner Therapeutin nicht länger zumuten und ihn wegschaffen, bevor die Gerichtsmediziner mit der Arbeit anfingen. Kaum zwei Minuten nachdem Allegro und Wagner Perry ins Wartezimmer von Melanie Rosens Praxis geschafft hatten, trafen die übrigen Tatortspezialisten ein: der Polizeifotograf mit seiner Nikon und einer Videokamera, zwei Männer von der Spurensicherung und der Gerichtsmediziner. Alle machten sich an die Arbeit. Es war immer das gleiche Verfahren – das Opfer und die Wohnräume mit Staubkamm, Pinzette und einem Spezialstaubsauger untersuchen, nach Fingerabdrücken, Waffen, Fäden, Knöpfen, nach irgendeinem Indiz Ausschau halten, das sie weiterbringen könnte. Sofakissen, Bettlaken, Handtücher wurden für die Laboranalyse sorgfältig in Plastiktüten verpackt und etikettiert. Ebenso wie die Mordwaffe und die Gegenstände, die Romeo vermutlich zu dem »Rendezvous« mitgebracht hatte. Jeder Untersuchungsbeamte und Cop im Haus wußte, daß die Nachricht von Dr. Rosens Ermordung wie eine Bombe einschlagen würde. Die Psychiaterin war in den letzten Monaten, in denen sich die Panik vor dem Mörder immer stärker ausgebreitet hatte, zu einer Art Lokalstar geworden. Der Bürgermeister, die Staatsanwaltschaft, der Polizeichef – alle würden sie unter Druck geraten und diesen Druck nach unten weitergeben. Die Sensationspresse würde ihren großen Tag haben. In den letzten Monaten war Romeo das Thema in der Stadt gewesen. Nun würde er landesweite Berühmtheit erlangen. Und die schon jetzt kaum noch zu kontrollierende Panik würde ganz San Francisco erfassen, bis Romeo geschnappt war. Es kursierte sogar
das Gerücht, daß bereits ein Fernsehfilm über ihn in Vorbereitung war. »Mir ist schlecht«, stammelte Perry jämmerlich, als er im Wartezimmer in einen Sessel sank. »Müssen Sie brechen?« erkundigte sich Allegro. »Möchten Sie auf die Toilette?« Perry schüttelte den Kopf. Wagner reichte ihm einen Pappbecher mit Wasser aus dem Wasserspender. Perry winkte ab, und Wagner kippte das Wasser in einem einzigen Schluck selbst hinunter. Allegro holte einen Kaugummi aus der Tasche seines zerknitterten grauen Wolljacketts und hoffte, damit den säuerlichen Geschmack im Mund überdecken zu können. Perry fing wieder an zu weinen, lautlos. »Mr. Perry, wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen.« Allegro ließ sich in einem Sessel neben dem schluchzenden Patienten nieder. Perry schüttelte den Kopf und hob abwehrend eine Hand. Allegro schaute zu Wagner hinüber, der an dem großen Erkerfenster stand. Wagner zuckte die Achseln, nahm eine Packung Camel aus der Innentasche seines blauen Sakkos, öffnete sie und zog mit der routinierten Geschicklichkeit eines langjährigen Rauchers eine Zigarette heraus. »Ich dachte, du hättest aufgehört«, sagte Allegro. »Tja, das dachte ich auch«, sagte Wagner und zündete die Zigarette an. »Mr. Perry sagt, daß er kurz vor acht hier eingetroffen ist.« Er sah zu Perry hinüber. »Stimmt doch, oder?« Perry reagierte nicht. »Und daß die Haustür unverschlossen war«, fuhr Wagner fort. »Das haben Sie doch gesagt, nicht wahr?« Diesmal schaffte Perry ein schwaches Nicken. »Wieso sind Sie nach oben gegangen?« fragte Allegro. »Sie… ist nicht… runtergekommen… um mich zu begrüßen.« Allegro fuhr sich mit der Hand über das stoppelige Kinn. »Also haben Sie beschlossen, rauf zugehen und sie zu begrüßen?« »Sie ist… immer… pünktlich. Zuerst bin ich… über den Flur.« Durch den geschwungenen Eingang zum Wartezimmer konnte Allegro auf der anderen Seite des Flurs die geschlossene Maha-
gonischiebetür zu Dr. Rosens Sprechzimmer sehen. »Haben Sie gedacht, daß Sie vielleicht noch mit einem anderen Patienten beschäftigt war?« Perry schüttelte den Kopf, noch immer lautlos schluchzend. »Nein. Ich bin ihr… erster… freitags.« Die Detectives wechselten einen Blick. Beiden war aufgefallen, daß in der Art, wie Perry »erster« gesagt hatte, so etwas wie Stolz mitschwang. Als ob es ihm das Gefühl gab, jemand Besonderes zu sein. »Und was haben Sie dann gemacht?« fragte Allegro. »Nachgesehen, ob sie da drin war?« Perry nickte. Mit dem Ärmel seines Flanellhemdes fuhr er sich über das nasse Gesicht, dann klemmt er seine Hand erneut zwischen die fest zusammengepreßten Oberschenkel. »Und nachdem Sie gesehen haben, daß sie nicht drin war?« drängte Wagner. »Da habe ich… mir allmählich… Sorgen gemacht. Ich habe gedacht… daß sie vielleicht… krank geworden ist… oder hingefallen… oder so.« »Haben Sie angeklopft, bevor Sie in ihre Wohnung gegangen sind?« fragte Allegro. Perry warf ihm einen raschen Blick zu. »Natürlich habe ich angeklopft.« Und ein Anflug von Feindseligkeit schlich sich in seine Stimme. »Sind Sie vorher schon mal in der Wohnung gewesen?« In Perrys Gesicht fing ein Kiefermuskel an zu zucken. »Nein.« Er stieß das Wort hervor, ohne die Lippen zu bewegen. »Sie müssen noch eine Weile hierbleiben«, erklärte Allegro. »Möchten Sie vielleicht bei Ihrer Arbeitsstelle anrufen und Bescheid sagen, daß Sie…« »Ich habe… keine Arbeit. Ich bin entlassen worden. Ich bin Computerspezialist. Ein verdammt guter«, sagte Perry schneidend. Angeberhaft. Allegro warf Wagner einen Blick zu. Was ging in dem trauernden Patienten vor? »Und Ihre Familie?« fragte Allegro.
»Meine Frau hat mich sitzenlassen.« Perry klang aufgebracht. »Ihre Scheißfreundinnen haben ihr eingeredet, ich wäre eine Flasche.« »Hat Ihre Frau das gesagt?« »Ich will nicht über sie reden. Sie hat nichts damit zu tun – gar nichts. Hören Sie auf. Ich kann nicht mehr. Kann ich nicht einfach nach Hause gehen? Ich habe Ihnen alles gesagt. Sie haben kein Recht…« »Haben Sie eine neue Beziehung?« wollte Allegro wissen. Perrys Gesicht schien förmlich zu verfallen und wurde wieder zu einer Landschaft der Angst. »Es gibt im Moment niemanden. Niemanden. Okay? Zufrieden?« Wieder wurde er von Schluchzen geschüttelt, während er vor und zurück wippte und die Arme fest um seinen Körper schlang. Wagner, der seine Zigarette fast bis zum Filter geraucht hatte, blickte sich suchend nach einem Aschenbecher um. Es gab keinen. Er erinnerte sich daran, daß Melanie einmal gesagt hatte, sie erlaube ihren Patienten nicht, im Warte- oder Sprechzimmer zu rauchen. Er hatte fast ein schlechtes Gewissen, weil er gegen die Regel verstoßen hatte, doch was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Er drückte die Zigarette auf seiner Schuhsohle aus und steckte den kümmerlichen Filterrest nach kurzem Zögern in die Tasche. Allegro beschloß, Perry im Augenblick keine Fragen mehr zu stellen. Er gab Wagner einen kleinen Stoß, und die beiden gingen hinaus auf den Flur. »Überall Romeos Unterschrift. Soweit ich sehen kann, ist niemand mit Gewalt eingedrungen.« »Was bedeutet, daß sie das Schwein reingelassen hat«, sagte Wagner barsch. »Was bedeutet, daß es so was wie eine Verabredung gewesen sein muß.« Wie bei den anderen sprach keiner der beiden aus. Sie standen bloß da, bedrückt und befangen, und keinem von beiden gelang es, seine Betroffenheit zu verbergen. »Hör mal«, murmelte Wagner. »Ich will damit nicht sagen, daß sie – ich meine nicht – na ja, du weißt schon. Daß die Opfer auf Sadomaso standen, eine perverse…«
»Verdammt, es gibt jede Menge Möglichkeiten«, fauchte Allegro. Seine Stimme war lauter, als ihm lieb war. »Wer weiß, vielleicht war es einer von den Spinnern, die sie behandelt hat. Womöglich ist sie ihm auf die Schliche gekommen und hat gedacht, sie könnte ihn dazu bringen, daß er gesteht.« »Ohne einem von uns ein Wort zu sagen?« »Ärztliche Schweigepflicht. Wenn sie gedacht hat, einer ihrer Patienten war’s, dann hätte sie ihn nicht verraten dürfen. Sie hätte ihn dazu bringen müssen, daß er sich selbst stellt.« Wagner blickte skeptisch drein. »Wieso hätte sie ihn mit nach oben nehmen sollen, wenn er ihr Patient war?« »Vielleicht hat sie gedacht, das wäre die einzige Möglichkeit, sein Vertrauen zu gewinnen. Verdammt, woher soll ich denn wissen, wie sie gearbeitet hat?« sagte Allegro aufgebracht. Wagner drehte sich zu Perry um. »Denkst du, daß unser Computerspezialist der Täter ist? Er hätte sie abends umbringen können und wäre dann einfach hier geblieben.« »Wir brauchen einen minuziösen Bericht über jeden Schritt, den er in den letzten vierundzwanzig Stunden gemacht hat. Wenn uns dabei irgendwas komisch vorkommt, machen wir dasselbe im Hinblick auf die anderen vier Opfer. Und wir werden uns ein wenig mit seiner Exfrau unterhalten.« »Was ist mit den Unterlagen von Dr. Rosen? Vielleicht hat sie irgendwas über Perry aufgeschrieben, das uns weiterbringt. Und wenn nicht Perry, dann vielleicht irgendein anderer von ihren Fällen.« Allegro schüttelte den Kopf. »An die Unterlagen dürfen wir nicht ran. Das weißt du genau, Mike. Die sind für uns tabu, ganz gleich ob sie lebt oder tot ist. Wenn wir uns darüber hinwegsetzen, würde kein Beweis, den wir ohne Durchsuchungsbefehl gefunden haben, vor Gericht zugelassen werden. Ganz zu schweigen davon, daß man uns drankriegen würde, wenn wir erwischt werden.« »Wir könnten eine Sondergenehmigung beantragen.« »Klar, aber dafür brauchen wir eine bessere Begründung. Als erstes stellen wir am besten eine Liste der Patienten aus ihrem Terminkalender auf. Selbst wenn wir nicht an die Akten ran-
kommen, können wir zumindest die Patienten selbst überprüfen. Und mit Perry fangen wir an.« »Ich meine, wir sollten da reingehen und ihn in die Mangel nehmen«, sagte Wagner mit grimmiger Entschlossenheit. »Nein. Lassen wir ihn noch ein bißchen schmoren.« Allegro rieb sich mit dem Daumen über die stoppelige Oberlippe. Er war noch unrasiert. Als der Anruf vom Dezernat gekommen war, hatte er noch im Bett gelegen. Mit einem Kater ersten Ranges. Innerhalb von nur fünfzehn Minuten nach dem Anruf hatte er sich auf der Toilette übergeben, was seine Kopfschmerzen ein wenig linderte, den verknitterten grauen Anzug angezogen, den er schon die ganze Woche über getragen hatte, ein paar Schlucke kalten, abgestandenen Kaffee runtergewürgt, der noch vom Vortag auf dem Herd stand, und war zur Tür raus. In seinem verbeulten roten 78er MG, den er spottbillig von einem Dealer gekauft hatte, den er vor sieben Jahren eingebuchtet hatte, war er zum Tatort gerast. Der Wagen hatte, wie sein derzeitiger Besitzer, dringend eine Generalüberholung nötig. »Wie dem auch sei«, fügte Allegro hinzu, »wir wissen nicht, ob es ein Patient war. Sie kann das Schwein auch auf einer Party oder auf einem Kongreß oder über Bekannte kennengelernt haben. Vielleicht ist er aber auch durch ihre Fernsehauftritte auf sie aufmerksam geworden. Sie hat gesagt, er wäre richtig intelligent. Vielleicht wollte er feststellen, wie clever sie war.« Wagners Gesichtsmuskulatur spannte sich an. »Nicht clever genug.« Allegro unterdrückte einen Fluch. Ein Streifenpolizist kam die Treppe herunter und näherte sich den finster dreinblickenden Detectives. »Morgan sagt, daß von einem Messerset in der Küche das Tranchiermesser fehlt. Die Tatwaffe paßt dazu. Ich frage mich, was der Scheißkerl wohl macht, wenn er sich mal ein Opfer sucht, das nicht kocht. Ob er wohl eins dabei hat, nur für alle Fälle?« »Sonst noch was?« Allegro war nicht nach Lachen zumute. Der Cop beäugte ihn skeptisch und zuckte dann die Achseln. »Kelly ist soweit, die Lady ins Leichenschauhaus zu schaffen. Will wissen, ob ihr noch einen Blick auf sie werfen wollt.«
Doch keiner von beiden war imstande, sich die verstümmelte Leiche von Dr. Melanie Rosen noch einmal anzusehen. Allegro antwortete für seinen Partner mit. »Nein. Sag Kelly, er soll die Leiche durch den Hinterausgang abtransportieren. Wir sollten versuchen, möglichst wenig Aufsehen zu erregen«, sagte er tonlos. »O ja, wenigstens für die nächsten sechzig Sekunden«, entgegnete der Streifenpolizist trocken. »Komiker«, grollte Allegro. Er sah seinen Partner nicht an, als sich der Polizist abwandte. »Ich lache nicht«, sagte Wagner und zündete sich eine weitere Zigarette an. Allegro starrte auf das brennende Streichholz. »Meinst du, er?« Wagner nahm einen tiefen Zug. »Wer? Der Cop?« »Nein. Romeo.« Wagner stieß eine lange Rauchfahne aus. »Wir müssen diesen Wahnsinnigen finden, John.« Allegro nickte finster, und die Furchen in seinem wettergegerbten Gesicht vertieften sich. Einer der Streifenpolizisten von der Straße steckte seinen Kopf zur Tür herein. »Draußen ist eine Frau. Will ihren Namen nicht nennen, aber wissen, was hier los ist. Sagt, sie hätte einen Termin für neun Uhr bei Dr. Rosen.« »Scheiße.« Wagner sah zu Allegro hinüber. »Daran hätten wir denken sollen. Sie hatte vermutlich für den ganzen Tag Patiententermine. Da kommt jetzt jede Stunde jemand.« Allegro nickte. »Geh raus und sprich mit der Frau, Mike. Ich sehe in Dr. Rosens Büro nach, ob ich den Terminkalender finde, und dann soll einer von unseren Jungs die anderen Patienten anrufen, die für heute vorgesehen waren.« Ein kurzer Blick ins Wartezimmer zeigte Allegro, daß Perry noch immer völlig aufgelöst war; er hatte den Kopf in die Hände gestützt und wimmerte leise vor sich hin. »Schick am besten jemand rein, der für unseren Freund hier den Babysitter spielt.« Wagner nickte, aber er zögerte noch. »Was ist mit ihrem Exmann? Dennison? Der ist doch auch Psychiater. Vielleicht wäre es besser, wenn er ihre Patienten anrufen würde und nicht einer
von uns. Für manche von ihnen könnte es ein verdammt schwerer Schlag sein.« »Ruf Dennison an, wenn du mit der Patientin draußen gesprochen hast«, sagte Allegro. »Aber wahrscheinlich können wir nach dieser Nachricht nicht sofort mit ihm rechnen.« Wagners Augen verengten sich. »Ja. Außer er ist unser Mann. Wie du gesagt hast, John, es könnte jemand gewesen sein, den sie kannte. Weißt du noch, wie er sie vor ein paar Wochen vom Präsidium abholen wollte? Wie er sie angesehen hat, bevor und nachdem sie ihm eine Abfuhr erteilt hatte? Wir haben doch beide gesehen, daß er noch scharf auf sie war. Er könnte in Frage kommen.« »Verdammt, jeder könnte in Frage kommen«, stieß Allegro wütend hervor. »Das macht mich ja gerade so wahnsinnig.« »Was ist mit ihren Angehörigen? Sollten wir sie nicht informieren, bevor sie es aus den Nachrichten erfahren?« »Um wen handelt es sich?« Allegros Kopf war völlig leer, obwohl er wußte, daß die Psychiaterin ein paar enge Verwandte hatte. Verdammter Kater. »Da wäre ihr Dad«, antwortete Wagner, »aber ich glaube, sie hat gesagt, daß er in einem Pflegeheim ist. Ich weiß nicht, ob er so gut beieinander ist, daß…« »Hat Melanie nicht auch mal eine Schwester erwähnt?« fragte Allegro, froh, daß er sich wenigstens an etwas erinnern konnte. Wagner sah seinen Partner fragend an. Das war das erste Mal, daß er den Vornamen der Psychiaterin benutzte. Bei den Treffen mit ihr hatten sie sie immer nur »Dr. Rosen« oder »Doc« genannt. Und das auch, wenn sie zu zweit über sie gesprochen hatten. Allegro räusperte sich. Auch ihm war der Versprecher aufgefallen. Wagner, der das Unbehagen seines Partners bemerkte, wandte den Blick ab und tat so, als betrachtete er die japanische Zeichnung eines Tigers an der gegenüberliegenden Wand. »Ja, sie hat mal eine Schwester erwähnt. Wir sollten wirklich Dr. Rosens Adreßbuch suchen. Das brauchen wir sowieso für unsere Ermittlungen.«
»Frag nach, ob oben eins gefunden wurde. Wenn nicht, sieh im Telefonbuch nach.« Wagner nickte und zog los. Allegro blieb im Foyer stehen. Er wollte nicht hinaufgehen, wo seine Leute jeden Winkel der Wohnung durchstöberten. Sämtliche Einzelheiten über das Leben und den grauenhaften Tod von Dr. Melanie Rosen würden genauestens untersucht, analysiert, hinterfragt und beurteilt werden. Ein klatschendes Geräusch im Wartezimmer ließ Allegro aufhorchen. Er sah, daß Perry sich mit der Faust in die Handfläche schlug. Perry hörte abrupt damit auf, als er Allegro bemerkte. »Sie wissen ja nicht, wie das ist…« wimmerte er. »Nur noch ein paar Minuten. Sie wollen uns doch bestimmt helfen, so sehr Sie können, nicht wahr?« Perry bewegte schwach den Kopf, aber Allegro konnte nicht erkennen, ob es ein Nicken oder ein Schütteln war. Helen Washington, eine junge Polizistin in Zivil, betrat den Raum. Allegro musterte sie rasch. Sie war hübsch, brünett und trug einen schlichten grauen Leinenblazer, einen engen schwarzen Rock und schwarze Schuhe mit nicht zu hohem Absatz. Sie wirkte professionell und sehr tüchtig. »Detective Wagner hat gesagt, ich soll herkommen und…« Sie brach ab und blickte zu dem in sich zusammengesunkenen Perry hinüber. Allegro trat näher an sie heran. »Bleiben Sie ein paar Minuten hier bei Mr. Perry. Wenn er Lust hat zu reden, vergessen Sie nicht, es aufzunehmen«, sagte er leise und gab ihr seinen Minirecorder, den er in der Jackettasche hatte. »Und für den Fall, daß er beschließt, uns das Leben zu erleichtern und ein Geständnis abzulegen, vergessen Sie nicht, ihn über seine Rechte aufzuklären.« Washingtons sarkastisches Lächeln ließ weiße Zähne aufblitzen – für wen hielt er sie, eine Anfängerin, der man sagen mußte, was sie zu tun hatte? Sie ließ das Gerät in ihre Jackentasche gleiten und setzte sich in den Sessel neben Perry. Allegro überquerte den Flur. Er erreichte den Eingang zum Sprechzimmer der Psychiaterin genau in dem Augenblick, als Frank Kelly von der Gerichtsmedizin, ein kleiner Mann mit
beginnender Glatze und Stupsnase, der ständig zu grinsen schien, die Treppe herunterkam. Hinter ihm trugen zwei Männer eine Bahre, auf der ein dunkelgrüner Leichensack aus Plastik lag. Allegro wurde erneut übel, als er die traurige Prozession betrachtete. Seine Hände begannen zu zittern. Er vergrub sie tief in den Jackettaschen, zu Fäusten geballt. Er erinnerte sich an ihre erste Begegnung, erinnerte sich, daß er gedacht hatte, wie schwer es für ihre Patienten sein müßte, sich nicht durch ihre Schönheit ablenken zu lassen. Sie war sehr schön gewesen. Es war schwer, diese Erinnerung festzuhalten, als der Gerichtsmediziner, die Polizisten und der Leichnam im Leichensack an ihm vorbeizogen. Kelly blieb stehen und bestätigte, was Allegro bereits wußte, daß es ganz nach einem Werk Romeos aussah. Die Knoten im Seidenschal, mit dem Hand- und Fußgelenke des Opfers zusammengebunden worden waren, entsprachen haargenau denen, die man bei den anderen Opfern gefunden hatte. Und wieder gab es Spermaspuren, die zum DNS-Test ins Labor gebracht werden würden. »Kommst du diesmal auch zur Obduktion, John?« Kellys Gesicht war nichts anzusehen, aber Allegro hörte den ungewöhnlich traurigen Klang der Stimme des Gerichtsmediziners. Für keinen von ihnen war die Ermordete nur irgendein unbekanntes Opfer. »Nein«, sagte Allegro brüsk. »Schick mir den Bericht so schnell wie möglich.« Der Gerichtsmediziner nickte, aber sie alle waren sich darüber im klaren, daß die Chance gering war, bei dieser Autopsie mehr herauszufinden als bei den anderen. Mit unbewegtem Gesichtsausdruck sah Allegro zu, wie der Leichenzug sich die Treppe hinab und durch den Gang zur Hintertür bewegte, wo ein Wagen vom Leichenschauhaus bereitstand. Sobald sie verschwunden waren, wandte er sich zum Sprechzimmer der Psychiaterin um und schob die schweren Mahagonitüren auf. Als er in das mit Kirschholz vertäfelte Zimmer trat, wanderte sein Blick von der moosgrünen Liege und dem Eames-Sessel
auf der einen Seite des Raums zu den beiden schwarzen Ledersesseln gegenüber einem schlichten Schreibtisch am hinteren Ende. Er hatte damals in dem rechten Ledersessel gesessen. Ungewöhnlich nervös. Und unkonzentriert. Aber er hatte sich nichts anmerken lassen. Er riß sich aus seiner Erinnerung, drehte sich um und schloß die schwere Schiebetür, wobei er einen kurzen Blick von Helen Washington aufschnappte, die im Wartezimmer auf der anderen Seite des Flurs saß. Er grinste sie verlegen an, dann schlossen sich die Türen. Eine unheimliche Stille umgab ihn. Er mußte an ein Mausoleum denken. Er konnte bloß seinen eigenen Atem hören. Er schauderte und dachte, daß er jetzt einen Drink vertragen könnte. Noch vor wenigen Monaten hätte er unauffällig einen Flachmann aus der Innentasche seines Jacketts ziehen können. Aber er hatte ungefähr zur selben Zeit aufgehört, den Flachmann bei sich zu tragen, wie Wagner das Rauchen aufgegeben hatte. Nicht nur, daß Wagner ihm wegen seiner Trinkerei ständig die Hölle heiß gemacht hatte. Allegro wußte auch, daß es nur noch eine Frage der Zeit war, bis sein Chef ihm »nahelegen« würde, ein paar Sitzungen beim Polizeipsychologen zu absolvieren. Also hatte er damit aufgehört, im Dienst zu trinken. Meistens. Nach Dienstschluß sah die Sache anders aus. Ein paar Bier zum Abendessen, im Laufe des Abends dann etliche Gläser Jim Beam zum Nachspülen. Nicht jeden Abend, aber wenn, dann so viele, daß er sich oft nicht mehr erinnern konnte, wie er ins Bett gekommen war. In den letzten Monaten hatte er sich häufig vorgenommen, weniger zu trinken, aber jetzt – nach diesem Schlag – war ihm klar, daß sich in nächster Zukunft keine wesentliche Besserung einstellen würde. Er zwang sich, den Wunsch nach einem Drink zu unterdrükken, riß sich zusammen, vergeudete keine Zeit mehr im Sprechzimmer, sondern ging zielstrebig zu der offenen Tür, die in das Privatbüro von Melanie Rosen führte. Er betrat den rechteckigen Raum, der sich über die gesamte rückwärtige Front des Hauses erstreckte und ursprünglich wohl die Küche gewesen war. Als er auf den schweren Eichen-
schreibtisch vor den eingebauten Bücherregalen zuging, die vom Fußboden bis zur Decke reichten und mit Fachliteratur gefüllt waren, hatte er den Mund entschlossen zusammengepreßt. Auf Anhieb entdeckte er gleich neben dem Computer das Kalenderblatt mit den Terminen für diesen Monat und überprüfte den Freitag. Melanie hatte von acht bis zwölf Patiententermine eingetragen. Perry war tatsächlich für acht Uhr vorgesehen gewesen. Zwölf bis zwei war durchgestrichen, dann eine Notiz über eine Konferenz im »Institut«. Vermutlich das Bay Area Psychoanalytic Institute, mit dem sie eng zusammengearbeitet hatte. Er nahm das Kalenderblatt an sich, damit Mike es Dennison geben konnte, dann fiel sein Blick auf den Computer. An die Unterlagen dürfen wir nicht ran. Das weißt du genau, Mike… Ganz zu schweigen davon, daß man uns drankriegen würde, wenn wir erwischt werden. Mit zusammengepreßten Lippen setzte sich Allegro an den Schreibtisch und drückte den Einschaltknopf. Es gab Dinge, die wichtiger waren als Dienstvorschriften. Der Bildschirm wurde hell, und nachdem das Startprogramm durchlaufen war, zeigte er das Inhaltsverzeichnis der Festplatte an. Allegro rief eine bestimmte Datei auf und tippte dann einen Namen ein: GRACE ALLEGRO. Nun erschienen Dr. Rosens Notizen zu dem Fall auf dem Bildschirm. Patientin: Grace Allegro Adresse: 1232 Bush Street, S.F. Tel.: 555-7336 Familienstand: Getrennt lebend Geburtsdatum: 25.4.53 Diagnose: Schwer depressive Phasen, periodisch auftretend Erstes Gespräch 15. Januar – Patientin kam mit ihrem Mann, John Allegro, 44, Detective im Morddezernat der Polizei von San Francisco. Leben getrennt. Patientin sehr erregt und in sich gekehrt, seit einem, wie ihr Mann es ausdrückt, gescheiterten Selbstmordversuch. Ehemann, wohn-
haft Washington Street, kaum fünf Minuten von seiner Frau entfernt, gibt an, am Vorabend kurz vor Mitternacht einen »hysterischen« Anruf von Grace bekommen zu haben, sie habe damit gedroht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Als er fünf Minuten später in ihrer Wohnung eintraf, hatte sie ein kleines Taschenmesser in der Hand und ein paar oberflächliche Schnittwunden an beiden Handgelenken. Sie übergab ihm das Messer widerstandslos und erklärte sich bereit, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, falls ihr Gatte mit zur ersten Sitzung käme… Allegros Blick wanderte weiter nach unten, bis er eine kurze Notiz fand, die Dr. Rosen über ihn angelegt hatte. John fühlt sich in dieser Umgebung nicht wohl. Er wirkt nervös. Als ob er lieber in der nächsten Bar säße. Wirft mir verstohlene Blicke zu. Findet mich offensichtlich attraktiv, was seine Befangenheit verstärkt. Allegro lächelte wehmütig. Und er hatte sich tatsächlich eingebildet, daß er seine Gefühle an jenem Tag vor ihr hatte verbergen können. Er las weiter. John macht sich offensichtlich Sorgen um seine Frau, betont aber, daß eine Versöhnung zwischen ihnen ausgeschlossen ist. Sie leben nun mit kleineren Unterbrechungen seit fast zwei Jahren getrennt, aber aufgrund von Grace’ Labilität hat er davon abgesehen, die Scheidung voranzutreiben. Er gibt an, daß seine Frau seit sechs Jahren »in einem schlechten Zustand« sei, seit das einzige Kind der beiden, ein elfjähriger Junge, gestorben ist. John will nicht über den Jungen reden… Dr. Rosen hatte richtig erkannt, daß er nicht bereit war, über Daniels Tod zu reden. Er wollte auch nicht darüber nachdenken, und deshalb hatte er mit dem Trinken angefangen. Was nicht hieß, daß es nicht noch weitere Gründe gab, warum er seine Sinne betäuben mußte.
Die Datei über Grace war nicht lang, gerade mal fünf Seiten. Sie hatte im Januar und Anfang Februar acht Einzelsitzungen bei Dr. Rosen gehabt. Allegro las nicht die gesamte Datei. Es ging ihn nichts an. Und eigentlich wollte er auch gar nicht wissen, was in Grace vorgegangen war. Diesen Wunsch hatte er schon vor langer Zeit aufgegeben. Oder vielleicht hatte er auch Angst davor, es herauszufinden. Vielleicht wollte er sich nicht noch schuldiger fühlen, als er es bereits tat. Wegen seiner Frau, seinem Sohn, seinem ganzen beschissenen, verpfuschten Leben. Grace’ letztem Termin bei Dr. Rosen war ein weiterer Selbstmordversuch vorausgegangen – diesmal mit den Antidepressiva, die ihr verschrieben worden waren. Dr. Rosen hatte darauf bestanden, daß Grace sich in eine psychiatrische Privatklinik in Berkeley einweisen ließ. Nach einer zweiwöchigen Beobachtungsphase hatten die Psychiater eine dreißigtägige Therapie in der Klinik empfohlen. Grace hatte sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, doch dann war ihre Depression noch schlimmer geworden, und sie hatte zugegeben, daß sie im Falle einer Entlassung versuchen würde, sich umzubringen. Das war Ende Februar gewesen. John erinnerte sich daran, daß Dr. Rosen ihn zu Hause angerufen hatte. Sie hatte ihn gebeten, noch am Abend zu ihr zu kommen, und erklärt, daß sie ihre Notizen durchsehen und ihm Gelegenheit geben wollte, Fragen zu stellen, falls er noch welche hatte. Sie hatte sich sehr vage ausgedrückt. Als er kurz nach dem Anruf zu ihr ins Büro fuhr, hatte er gedacht, daß er eigentlich gar keine Fragen hatte. Das einzige, was er empfand, war Erleichterung darüber, daß Grace sich wenigstens noch einen Monat länger in der Obhut anderer Menschen befand, ein Gefühl, das er Dr. Rosen bestimmt nicht mitteilen wollte. Sie sollte ihn nicht für einen Dreckskerl halten. Warum fuhr er also hin? Warum hatte er vorher nichts getrunken? Sogar extra ein frisches Hemd angezogen und seine Schuhe geputzt? Wem zum Teufel versuchte er was vorzumachen? Allegro starrte auf den Monitor. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Er sah Melanie. Wie sie an jenem Tag ausgesehen hatte. Und er dachte daran, wie er sich gefühlt hatte.
Sie bittet ihn aus dem Wartezimmer zu sich. Sie trägt wieder ein schickes Designerkostüm. Schiefergrau, der zweireihige Blazer mit dem breiten Revers betont ihre schlanke Taille. Sie trägt hochhackige Schuhe und blaßgraue Seidenstrümpfe, die leicht glänzen, so daß ihre schönen Beine besonders gut zur Geltung kommen. An jenem Tag schimmerte alles an ihr, und er ist kaum in ihrem Sprechzimmer, als er auch schon erregt ist. Und sie weiß das verdammt gut. Er hat stark den Eindruck, daß sie so etwas als selbstverständlich betrachtet. Wie zum Teufel können sich ihre männlichen Patienten bloß auf die eigenen Probleme konzentrieren? Dann fällt ihm ein, daß er sie beim ersten Gespräch, als er seine Frau begleitet hatte, zwar ebenso attraktiv fand, aber nicht wirklich erregt war. Er kann sich nicht erklären, warum es diesmal anders ist. Aber dann dämmert es ihm. Es liegt nicht nur daran, daß sie jetzt allein sind – bei diesem zweiten Mal sendet die Frau Doktor völlig andere Signale aus. Vibrationen. Oh, sie sind sehr subtil, aber sein Penis hat die Botschaft sofort kapiert. Nur sein Gehirn hat ein bißchen länger gebraucht. Ein Klopfen an der Tür ließ ihn zusammenfahren. »Einen Moment«, rief er, löschte rasch die Datei seiner Frau und schaltete den Computer aus. Dann fiel sein Blick auf einen ledergebundenen Terminkalender, der unter einem Zeitungsstapel hervorlugte. Hastig steckte er ihn in die Innentasche seines Jacketts. Mit finsterer Miene öffnete er die Tür. Helen Washington, Perrys Babysitter, stand davor. Ihre Augen leuchteten aufgeregt. Allegro betrachtete sie skeptisch. »Sie wollen mir doch wohl nicht erzählen, daß er gestanden hat?« »Nein. Nicht direkt.« »Was dann?« fragte er ungeduldig. »Er brabbelt nur jede Menge verrücktes Zeug vor sich hin.« »Was heißt das?« »Tja, also, er sagt, daß er und Dr. Rosen…« Sie stockte. »Er behauptet, daß er ihr Liebhaber war.«
3 Romeo empfindet ein sadistisches Vergnügen dabei, seinen Opfern, diesen beruflich erfolgreichen, unabhängigen Frauen, zu zeigen, wie machtlos sie in jeder Hinsicht sind – körperlich, psychisch, sexuell. Je tiefer ihre Erniedrigung, desto größer seine Erregung. Dr. Melanie Rosen in Cutting Edge Michael Wagner spürte das Zittern seiner Hände sogar noch, als er das Lenkrad seines flotten, zwei Jahre alten silbernen Firebird so fest umklammerte, daß die Knöchel weiß hervortraten. Er schaltete das Radio ein. Eine kratzige Aufnahme von Billie Holiday, die ihre Trauer hinausschrie. Wie bestellt. Er fuhr die Mission Street hinunter, während der ergreifende Gesang ihn umhüllte. Tränen rannen ihm über die Wangen. Er fuhr an einem mit Brettern verschlagenen Wohnhaus vorbei, das gleich neben einem mit riesigen bunten Wandgemälden geschmückten Gebäude stand. Aggressiv gekleidete Punks in schwarzem Leder, die an Armen und Oberschenkeln nietenbesetzte Gürtel trugen, lehnten an der bemalten Wand und unterhielten sich mit zwei wasserstoffblonden Frauen, die stolz ihre Nasenringe zur Schau trugen. Echt San Francisco. Wagner kannte sich gut in diesem heruntergekommenen Teil der Stadt aus. Als er noch bei der Sitte war, hatte er oft hier zu tun gehabt. Er bog rechts in die Valencia Street ein. Vor einem dreistökkigen Haus, dessen abblätternder gelber Anstrich nicht zu den aufgemalten, knalligen orangefarbenen Mustern paßte, hielt er an. Dieses schäbige Mietshaus, das eingezwängt zwischen einem Sexshop und einer mexikanischen Bodega stand, war zweifellos das genaue Gegenteil von Melanies piekfeinem Wohnsitz in Pacific Heights. Er drückte auf den Knopf neben Sarah Rosens Namen, aber niemand betätigte den Türöffner. Also versuchte er es eins tiefer. Vickie Voltaire. Der Türöffner summte, er drückte die Tür auf und trat in den Hausflur.
Eine attraktive Frau Mitte Dreißig trat aus der Wohnungstür von Apartment 1c. Sie war gut einsfünfundsiebzig groß, trug das leuchtendrote Haar hochgesteckt, und sexy aussehende Ringellocken umrahmten ihr knochiges, exotisches Gesicht. Die vollen Lippen waren grellrosa angemalt. Sie war aufreizend gekleidet: ultrakurzer schwarzer Lederrock, flauschiger, tief ausgeschnittener Wollpullover und goldfarbene Slipper. Sie lächelte verführerisch, als der Detective näher kam, doch das Lächeln war nichts im Vergleich zu dem Blick aus ihren stark geschminkten Augen. »Hallo, Süßer. Kann ich was für dich tun?« Die tiefe, rauchige Stimme veranlaßte Wagner, die Frau etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Sie hatte eine Hand auf der aufreizend vorgeschobenen Hüfte plaziert, die andere anmutig an den Hals gelegt. Jetzt erst erkannte er, daß diese beeindrukkende Sie in Wahrheit ein Er war. Ein Schauer durchlief Wagner. Trotz seiner jahrelangen Arbeit bei der Sitte war er noch immer erstaunt, wie leicht man sich täuschen konnte. Er mußte an die tolle kleine Blondine denken, die er vor knapp einem Monat in einer Bar kennengelernt hatte. Erst als sie gemeinsam tanzten, hatte er den Unterschied bemerkt. »Ich heiße Vickie Voltaire. Wenn du möchtest, kannst du mich ›Miss Vickie‹ nennen, du Hübscher«, sagte sie tuntenhaft. Wagner lächelte freundlich, bemüht, sein Unbehagen nicht zu zeigen. »Ich möchte zu Sarah Rosen.« Er warf einen Blick auf die Tür zu Apartment 1b. »Sarah? Bin ganz vernarrt in diese Frau.« Der aufreizende Transvestit kam ein wenig näher. Wagner mußte zugeben, daß er gut roch. »Aber bei Gott, was gäbe ich darum, wenn ich sie mal richtig von oben bis unten neu einkleiden könnte. Sie könnte eine ganz heiße Nummer sein. Sie hat einfach alles, sie weiß bloß nichts damit anzufangen. Eine Bekannte von dir?« »Nein. Nicht direkt.« »Hmmm. Bulle, stimmt’s?« »Ich möchte mich bloß mit ihr unterhalten«, erklärte Wagner. »Sie ist in keinen Schwierigkeiten.«
Vickie schenkte dem Detective einen langen abschätzenden Blick, schüttelte langsam den Kopf und ließ ein verführerisches grellrosa Lächeln aufblitzen. »Aber du wirst ihr welche bringen, nicht wahr, Schätzchen?« Sarah stand vor den Aufzügen und wollte sich gerade auf den Weg zu ihren Nachmittagsbesuchen machen, als ihr Vorgesetzter sie ansprach. Andrew Buchanon war ein magerer, dünnlippiger Mann Anfang Vierzig. Vor sechs Jahren, als Sarah neu im Amt war, hatte er als ihr Kollege versucht, bei ihr zu landen. Sie hatte ihm die kalte Schulter gezeigt. Kurz nachdem er befördert worden war, hatte er es erneut bei ihr versucht, wohl in dem Glauben, daß er als Vorgesetzter bei ihr bessere Karten hätte. Sarah hatte mit dieser Fehleinschätzung rasch kurzen Prozeß gemacht, indem sie drohte, ihn wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz anzuzeigen. Kurze Zeit später kursierte im Amt das Gerücht, sie sei lesbisch. Was Sarah nicht weiter störte, weil es ihr andere Verehrer vom Leibe hielt. Als sie einmal allein mit Buchanon im Fahrstuhl war, hatte sie ihm sogar dafür gedankt. Es sprach für ihn, daß er einen kurzen Moment lang sehr irritiert wirkte. Der gleiche Ausdruck stand jetzt in seinem Gesicht. »Sarah, würden Sie bitte mal in mein Büro kommen?« Buchanons Stimme klang seltsam besorgt. Und er konnte ihr nicht in die Augen sehen. »Was ist los?« fragte sie mißtrauisch. Ihr Vorgesetzter preßte nervös die verschwitzten Handflächen zusammen. »Bitte, Sarah. Ich möchte nicht hier…« Der Rest des Satzes blieb ungesagt. Etwas Schlimmes war passiert. Dessen war sich Sarah sicher. Was es auch sein mochte, das einzige, was sie denken konnte, war, daß sie es nicht von diesem Trottel erfahren wollte. Wie sich herausstellte, wurde ihr dieser Wunsch erfüllt. Buchanon führte sie schweigend zu seinem Büro, öffnete die Tür und bedeutete ihr, einzutreten. Er folgte ihr nicht. Mike Wagner stand hastig von seinem Sessel auf, als Sarah das Büro betrat. Seine Verblüffung hätte größer kaum sein können.
Er hatte zwar nicht erwartet, daß Sarah Rosen ein Abbild ihrer Schwester sein würde, dafür hatte er Melanie Rosen für zu einmalig gehalten, aber diese Frau hatte absolut nichts an sich, weder im Aussehen noch im Auftreten, was auf eine Blutsverwandtschaft hingewiesen hätte. Nicht, daß sie auf ihre Art nicht attraktiv war. Er mußte an die Bemerkung des Transvestiten denken, daß Sarah einfach alles hatte, aber nicht wußte, was sie damit anfangen sollte. Genau so war es. Sarah Rosen war einfach geschmacklos gekleidet; sie trug einen viel zu großen blaßblauen Baumwollpullover und einen altmodischen indischen Wickelrock, der ihr bis zur Mitte der Waden reichte. Trotz des fürchterlichen Outfits sah Wagner sofort, daß sie eine Schönheit war, deren schlankes, kantiges, leicht knabenhaftes Äußeres durch den kurzen Schnitt ihres kastanienbraunen Haares noch verstärkt wurde. Und er staunte über den direkten, fast herausfordernden Blick in ihren braunen Augen. Auch Melanies Augen waren braun gewesen. »Sind Sie Sarah Rosen?« Sie war so anders, als er erwartet hatte, daß Wagner sich vergewissern wollte. »Ja. Wer sind Sie?« fragte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Mann kam ihr irgendwie bekannt vor, aber sie wußte nicht, wo sie ihn einordnen sollte. Stachlig wie ein Kaktus, dachte Wagner. Er zögerte, sich ihr vorzustellen, denn ihm war klar, daß sie, sobald er sich als Polizist zu erkennen gegeben hatte, wissen würde, daß etwas Schlimmes geschehen war. Und wie er sehen konnte, ahnte sie bereits, daß es ziemlich schlimm sein mußte. Er ertappte sich dabei, daß er kühl überlegte, wie sie die Nachricht wohl aufnehmen würde. Oft genug konnte er vorhersagen, wie jemand reagieren würde, aber bei ihr war er sich nicht sicher. »Möchten Sie sich nicht setzen, Sarah?« Seine Stimme war sanft. Er hatte sie nicht mit ihrem Vornamen anreden wollen. Es war ihm einfach rausgerutscht. Vielleicht aufgrund seiner Gefühle für ihre Schwester. Oder vielleicht, weil er hinter Sarah Rosens aggressivem und trotzigem Auftreten große Zerbrechlichkeit vermutete. Sie rührte sich nicht. Ihre Augen huschten verstohlen hin und her, so wie sie des öfteren in Buchanons zweckmäßig eingerich-
tetem Büro mit dem trostlosen Beamtenmobiliar nach einem Fluchtweg Ausschau gehalten hatte. »Bitte, Sarah«, sagte Wagner leise und deutete auf den Stuhl, auf dem er zuvor gesessen hatte. »Setzen Sie sich. Ich fürchte, ich muß…« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein«, sagte sie scharf. Sie spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte, als schreckliche Erinnerungen in ihr aufstiegen. Als ob sie wieder dreizehn Jahre alt wäre und im Büro der Direktorin in der Mill Stream Middle School stehen würde. Damals hatte ihr kein junger Mann gegenübergestanden. Damals war es eine Dame mittleren Alters mit dünnem graumelierten Haar, etwas zu dunklem Lippenstift und besorgten Augen gewesen. Wein ruhig, Liebes, es tut dir bestimmt gut… Und Sarah, die wütend war und sich überrumpelt fühlte, hatte geschrieen: Verdammt, woher wollen Sie denn wissen, was mir guttut? Wagner machte einen Schritt auf Sarah zu, aber sie wich zurück. »Vielleicht sollten wir uns woanders unterhalten. Wie wär’s mit einem Spaziergang…« Er hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als sie schon schnurstracks zur Tür hinauseilte und den Flur hinunterrannte. Wagner, verblüfft durch ihren überstürzten Abgang, hastete ihr nach. Sie lief die sieben Stockwerke so schnell hinunter, daß er sie erst einholte, als sie unten auf dem Bürgersteig stehenblieb, um Luft zu holen. Er hielt mit ihr Schritt, als sie sich auf der Van Ness Avenue nach rechts wandte und in Richtung Norden auf die City Hall zuging. Große und rasche Schritte, die Arme weit schwingend, die Augen geradeaus gerichtet. Ihre offenen Sandalen klapperten auf dem Asphalt, und ihre langen silbernen Delphinohrringe baumelten bei jedem Schritt hin und her. An der ersten Kreuzung trat sie, ohne sich umzusehen, auf die Straße – direkt vor einen Lieferwagen. Wagner riß sie zurück auf den Bürgersteig, und der Laster donnerte mit einem langen, wütenden Hupen vorbei. Sarah blickte dem Wagen zornig nach und zeigte dem Fahrer den erhobenen Mittelfinger. Wagner lächelte und ließ sie los.
Sie ignorierte ihn und, auch diesmal ohne auf den Verkehr zu achten, marschierte quer über die Straße. Schweigend gingen sie an ein paar Häuserblocks entlang. Allmählich fragte er sich, ob sie die schlechte Neuigkeit nicht vielleicht schon irgendwie vernommen hatte. »Wie weit gehen wir denn?« Sie antwortete ihm nicht. Sie gab nicht einmal zu erkennen, ob sie ihn überhaupt gehört hatte. Sie kamen an einem Café vorbei. »Hören Sie, wie wär’s mit einem Espresso?« schlug er vor. Sie ging weiter, den Mann neben ihr nur als einen Schatten wahrnehmend, den sie nicht abschütteln konnte. Wagners Frustration nahm zu. »Sarah, Sie müssen mir zuhören.« »Ich muß überhaupt nichts«, fauchte sie. Er sah ein, daß es sinnlos war, mit ihr zu streiten. Irgendwann würde sie stehenbleiben müssen. Sie bog in die McAllister Street ein. Wagner zündete sich eine Zigarette an und setzte eine Fliegersonnenbrille mit braunem Gestell auf, als sie in die Sonne traten. Sarahs Schläfen pochten. Sie hatte das Gefühl, ihr Kopf würde jeden Augenblick zerplatzen. Und sie wußte mit absoluter Sicherheit, daß es nur noch schlimmer werden würde. Wie hatte er in Buchanons Büro angefangen? Ich fürchte, ich muß… Was immer er fürchtete, es war schlimm. Und sie wollte verdammt noch mal nichts davon wissen. Genau vor ihnen, auf der Rückseite der City Hall, befand sich ein Park. Rasen, Bäume, ein paar Bänke, die meisten davon von Obdachlosen und Pennern besetzt. Sie eilte geradewegs auf eine der wenigen leeren Bänke zu und ließ sich darauf niedersinken. Wagner blieb stehen und betrachtete sie neugierig. Das kämpferische Funkeln war aus ihren Augen verschwunden. Sie wirkte eigenartig gefaßt. Der jähe Umschwung in ihrem Verhalten war beunruhigend und faszinierend zugleich. »Erzählen Sie es mir jetzt«, sagte sie ausdruckslos und starrte zu ihm hoch.
Nein, korrigierte er sich, als er neben ihr auf der Bank Platz nahm und sie genauer beobachtete. Nicht gefaßt. Trotzig. Er trat seine Zigarette aus. »Es geht um Ihre Schwester.« Eine beklemmende Pause trat ein. »Melanie.« Er nahm seine Sonnenbrille ab. »Sie ist ermordet worden. Ihre Leiche wurde heute morgen entdeckt.« Zunächst schien Sarah es überhaupt nicht in sich aufzunehmen. Sie wurde ganz ruhig. Er suchte nach winzigen Rissen in ihrer Fassade, aber es waren keine zu sehen. »Wann ist es passiert? Wo?« wollte sie wissen. »Irgendwann letzte Nacht. Bei ihr zu Hause. Oben im Wohnzimmer.« Er stockte. »Ich fürchte, es war sehr brutal.« Sarah hatte weggesehen, bevor er den letzten Satz aussprach, und er war nicht sicher, ob sie ihn gehört hatte. Er war nicht sicher, ob er wollte, daß sie ihn hörte. Warum hatte er das Bedürfnis gehabt, dieses grausige Detail nachzuliefern? Um eine Reaktion zu provozieren? Ein Zeichen von Trauer? Angst? Irgendwas? Sarah hatte seine letzte Äußerung gehört. Gehört und gelöscht. Sie legte die Hände übereinander in ihren Schoß. Tiefe, gleichmäßige Atemzüge. Beruhige dich. Du weißt, wie das geht. Eine Stimme aus der Vergangenheit hallte in ihr wider. Brichst du denn nie zusammen? Die Frage kam von Dr. Feldman, ihrem in Budapest geborenen Therapeuten mit dem starken ungarischen Akzent. Ständig, hatte sie mit einem sarkastischen Lachen geantwortet. Ich habe bloß gelernt, es mir nicht anmerken zu lassen. Und Feldman meinte leicht tadelnd, ganz wie Melanie sie zurechtwies – was kein Wunder war, da Feldman Melanies Mentor gewesen war: Nur wenn du das Gefühl zuläßt, Sarah, kannst du es überwinden. Wagner war sich nicht sicher, ob Sarah Rosen überhaupt bewußt war, daß er noch immer neben ihr saß. Zum Teufel, sie schien völlig weggetreten zu sein. In einer anderen Welt. »Ich habe mich noch nicht mal vorgestellt«, sagte er, bloß um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Wagner. Detective Michael Wagner, Polizei von San Francisco, Morddezernat.«
In dem Augenblick, als Sarah seinen Namen hörte, fuhr sie herum. Ihre Augen fixierten ihn feindselig. »Wagner? Sie sind einer von den Cops, die mit diesem Killer zu tun haben. Romeo.« Er war der junge Detective, den sie gestern abend in der Nachrichtensendung im Gespräch mit Melanie nur undeutlich hatte sehen können. O Gott, war ihre Schwester etwa ermordet worden, während sie in ihrem schäbigen Zimmer gesessen und sich diese miese Aufzeichnung angesehen hatte? »Ich bin einer der Polizisten, die versuchen, ihn zu fassen«, präzisierte Wagner. Und er fügte mit eindringlicher Stimme hinzu: »Jetzt mehr denn je.« Sarah wurde schwindlig, während ihr gleichzeitig alles seltsam klar wurde: »Dann war er es? Romeo?« »Es besteht natürlich die Möglichkeit, daß es einen Nachahmer gibt. Aber der Meinung sind wir nicht. Wir glauben, daß Romeo sich Ihre Schwester ausgesucht hat, weil sie ihn allmählich durchschaute und er es mit der Angst bekam. Sie war gut. Sie war verdammt gut. Wenn das nicht passiert wäre…« Der Rest des Satzes blieb ihm im Hals stecken. »Es tut mir leid«, sagte er schließlich lahm. Eine unerklärliche Wut durchfuhr Sarah wie ein Blitz. Sie stieß ein kurzes, rauhes Lachen aus. »Romeo. Typisch Melanie, sich für ein Ungeheuer so einen Namen einfallen zu lassen. Sie hat einen perversen Sinn für Humor.« Wagner fiel auf, daß sie in der Gegenwart sprach, er sagte aber nichts. »Liegt in der Familie«, fuhr Sarah fort, eher zu sich selbst. »Wir sind alle ein bißchen pervers.« »Hat Melanie je mit Ihnen über Romeo gesprochen?« »Nein, niemals.« »Das kann ich verstehen«, sagte er. Sie warf ihm einen neugierigen Blick zu. »Was?« »Ich meine, daß das Thema wahrscheinlich nicht gerade…« »Wir hatten nicht viele Themen.« »Sie hatten kein enges Verhältnis zu ihr?« »Was soll das heißen?« zischte sie.
Wagner fühlte sich überrumpelt. »Ich weiß nicht recht. Ich war ein Einzelkind.« »Hatten Sie ein enges Verhältnis zu ihr?« Sie fixierte ihn. »Zu Melanie.« Ihre Stimme klang spöttisch. Als ob sie die Antwort schon zu kennen glaubte. Er hielt ihrem Blick stand. »Wir kannten uns kaum.« »Wie fanden Sie sie?« »Ich fand sie brillant.« »Brillant. Und weiter?« beharrte sie. Wagner mißfiel der Rollentausch. Er wollte hier nicht über seine Gefühle reden. Trotzdem fand er, daß er Sarah eine Antwort schuldete. »Sensibel, dynamisch, intelligent.« »Sie waren doch nicht etwa Ihr Patient, oder?« Die Frage verblüffte ihn. »Das nun nicht gerade«, sagte er und sah ihr direkt ins Gesicht. »Wir haben nur zusammen gearbeitet.« »Das sollte keine Beleidigung sein.« »Das ist mir klar.« »Melanie meinte, daß jedem eine Psychoanalyse guttäte.« »Ich denke, das trifft auf viele Menschen zu. Bloß eben nicht auf mich. Ihre Schwester und ich haben uns vor zwei Monaten kennengelernt, als sie mit ihrer Tätigkeit als Beraterin für die Sondereinheit begann. Wie schon gesagt, wir hatten das Gefühl, daß sie sehr gut erkannte, wie Romeos Verstand funktioniert.« »Offenbar nicht gut genug«, sagte Sarah verbittert. Wagner versuchte, seine Wut und Frustration zu unterdrükken, doch jetzt brach es trotz aller Anstrengung aus ihm heraus. »Jetzt hören Sie mal, ich weiß, daß das für Sie schwer ist. Aber das ist es auch für uns. Seit Monaten versuchen wir, diesen Irren zu schnappen. Meinen Sie, es macht uns Spaß, daß er uns immer und immer wieder reinlegt? Wenn Sie es genau wissen wollen, es macht mich völlig fertig.« »Klar.« Was sie mit dieser Bemerkung meinte, konnte er weder aus ihrem Tonfall noch aus ihrem Gesichtsausdruck schließen. Er sah weg und richtete den Blick auf eine liegengelassene Zeitung auf der Nebenbank. Morgen würden die Namen Dr. Melanie Rosen und Romeo ganz oben auf der ersten Seite prangen. Zei-
tungen, Radio, Fernsehen. Eine Titelstory, der man sich nicht entziehen konnte. »Die beratende Sachverständige der RomeoSonderkommission wird das fünfte Opfer des Serienkillers.« Wie Sarah gesagt hatte, warf das kein gutes Licht auf den Sachverstand der Psychologin. Oder auf jenen der Sonderkommission. Seine Augen schauten irgendwohin ins Leere, vermieden bewußt den Blickkontakt mit Sarah. Er wollte weiter, wollte hier fertig werden, mit ihr fertig werden. Sarah Rosen machte ihn nervös. »Wo ist sie jetzt?« fragte Sarah unvermittelt. Wagner schaute sie verständnislos an. Dann begriff er, was sie meinte. »Ich denke, es wäre besser, Sie würden sie nicht sehen.« »Ich will bloß wissen, wo sie ist.« »Im Leichenschauhaus. Der Pathologe…« »Wann kann sie beerdigt werden?« unterbrach sie ihn. »Es wird noch zwei Tage dauern, bis wir die…« Er wollte sagen, »Leiche«, erkannte jedoch, wie gefühllos das klingen mußte. Er war nicht gefühllos. »- Ihre Schwester freigeben können«, beendete er den Satz schließlich. Sarah starrte Wagner offen an. Es kam ihm so vor, als nähme sie ihn zum erstenmal wahr. Ihre Augen wanderten seinen Oberkörper hinunter, aber in diesem prüfenden Blick lag nichts Verführerisches. Ganz im Gegenteil. Es war wie bei einer militärischen Inspektion. Als ob sie nach einem Verstoß gegen die Kleiderordnung suchte. Oder wie seine Mutter, die überprüfte, ob er auch sauber und ordentlich aussah, bevor sie ihn zur Schule schickte. Sie betrachtete den großen, schlanken Detective mit seinem akkurat geschnittenen, hellbraunen Haar, der grauen Stoffhose mit der tadellosen Bügelfalte, dem blauen Jackett mit den glänzenden Goldknöpfen, an denen kein loser Faden hing, und den samtig glänzenden Korduanlederschuhen. Michael Wagner war nicht im herkömmlichen Sinne gutaussehend, aber seine Augen waren faszinierend, mit blauen und grauen Farbtupfern, intelligent und irgendwie ein wenig unschuldig – für einen Cop. Sie vermutete, daß er Anfang Dreißig war, wie sie.
Sie beendete ihre gründliche Betrachtung und stand unvermittelt auf. Wagner, erleichtert darüber, die Inspektion überstanden zu haben, sprang auf und eilte ihr nach. »Kann ich irgendwas für Sie tun?« fragte er unbeholfen. Ihre Lippen verzogen sich leicht, doch das war kaum als Lächeln zu bezeichnen. »Das fragen sie immer«, sagte sie ausdruckslos. »Und die Antwort ist immer ein Nein.« »Wen meinen Sie mit ›sie‹?« Jetzt lächelte sie wirklich, aber mit einem Anflug von Wehmut. »Das spielt keine Rolle.« »Ich denke, es spielt eine Rolle«, sagte er sanft, »aber Sie wollen nicht darüber reden.« Sarahs Lächeln vertiefte sich. »Melanie hat Sie bestimmt gemocht.« Dem Detective stieg die Röte ins Gesicht. »Wie bitte?« Ihr Lächeln erlosch. »Jetzt haben Sie es verdorben.« »Tut mir leid.« Er begann, sich über Sarah zu ärgern. Sie spielte mit ihm, provozierte ihn sogar. Jetzt wünschte er sich, er hätte Sarah Rosen Allegro überlassen. »Hören Sie, es war ein entsetzlicher Schock für Sie«, sagte er und preßte dabei die Hände vor dem Körper zusammen, ganz versessen darauf, sich endlich zu verabschieden. »Gehen Sie doch nach Hause, rufen Sie eine Freundin an, bitten Sie vielleicht jemanden, mit Ihnen zu Ihrem Vater zu gehen, um ihm die Nachricht beizubringen.« »Vater«, wiederholte Sarah und wurde plötzlich aschfahl. Das war das erste sichtbare Anzeichen dafür, daß ihr die Tragödie unter die Haut ging. Sie fing sogar an zu taumeln. Gerade, als er den Arm ausstreckte, um sie zu stützen, gewann sie ihr Gleichgewicht wieder. Ihre Gesichtsfarbe blieb jedoch unverändert. »Gott, ich muß es meinem Vater sagen«, keuchte sie, als ob ihr diese Erkenntnis gerade selbst gekommen wäre. Das kann ich nicht. Das schaffe ich nicht ohne dich, Melanie. Ich weiß nur, wie man schlechte Nachrichten aufnimmt. Nicht, wie man sie überbringt. Wie soll ich es ihm sagen? Wie wird er es aufnehmen? Du bist die Sonne seines Lebens. »Armer Daddy«, sagte sie und sah geradewegs durch Wagner hindurch. »Er hat alles getan, um seine Töchter zu seinen Ab-
bildern zu machen. Melanie war sein größter Erfolg, ich sein größter Fehlschlag.«
4 Selbst während wir hier sitzen und durch einen Abgrund getrennt sind, spüre ich, wie du in mich eindringst, und vor Lust und Schmerz muß ich aufschreien. Manchmal habe ich Angst, daß mein Leben mehr dir gehört als mir. M. R. Tagebuch Nachdem Detective Wagner gegangen war, blieb Sarah auf der Bank im Park sitzen und grübelte darüber nach, ob sie ins Büro zurückkehren und Bernie bitten sollte, mit ihr zum Pflegeheim Bellavista Lodge in den Berkeley Hills zu fahren. Aber schließlich beschloß sie, allein hinzugehen, um ihrem Vater die schreckliche Nachricht beizubringen. Ein Wachmann mit rotem Gesicht gewährte ihr Einlaß, und als sie durch die Sicherheitstore und über eine gewundene Straße hinauf zu dem exklusiven Pflegeheim fuhr, fühlte sie sich seltsam unbeteiligt. Um sich herum sah sie eine weite Parkanlage, kunstvoll beschnittene Bäume und deutlich markierte Spazierwege, die von Zypressen und Eukalyptusbäumen gesäumt wurden. Das Gebäude selbst, das inmitten des riesigen Grundstücks in den sanft geschwungenen Hügeln stand, erinnerte an einen stattlichen englischen Landsitz. Das Haus hatte dreißig luxuriöse Suiten, die individuell mit wunderschönen Antiquitäten und den persönlichen Erinnerungsstücken des jeweiligen »Gastes« eingerichtet waren. In Bellavista wurden selbst diejenigen »Gäste«, die bettlägerig waren, an Inkontinenz litten und weder ihre Umgebung wahrnahmen noch sich an ihren eigenen Namen erinnerten, niemals als »Patienten« bezeichnet. Was das Personal anging, so konnte man beispielsweise einen Arzt gelegentlich im weißen Tennisdreß sehen, nie jedoch im weißen Kittel. Sarah hatte die Maskerade im Pflegeheim schon immer als verlogen empfunden. Denn trotz des Scheins, den alle Mitarbeiter aufrechterhielten, war es eine Tatsache, daß die dreißig erlauchten »Gäste«, die derzeit in Bellavista residierten, sich alle
in unterschiedlichen Stadien der Alzheimer-Krankheit befanden und die meisten von ihnen, wenn nicht alle, letztlich dort sterben würden. Etliche waren bereits »verschieden«, wie die Mitarbeiter mit gedämpfter Stimme gesagt hatten, als ihr Vater sich an diesem »Erholungsort« niederließ. Derlei Todesfälle wurden mit äußerster Diskretion behandelt, wie Melanie einmal voller Stolz Sarah gegenüber bemerkt hatte. Die reinste Farce. Als Sarah auf den Besucherparkplatz rechts neben dem Anwesen fuhr, spürte sie, daß ihre schützende Mauer in sich zusammenfiel, wie ein Kartenhaus. Sie stellte den Motor ab, blieb aber noch etliche Minuten im Wagen, in der Hoffnung, daß sie, wenn sie nur lange genug sitzen blieb, den Mut aufbringen würde, ihren Vater mit der Tragödie zu konfrontieren. Ob es schlimmer sein würde, wenn er einen seiner »schlechten« Tage hatte und diese Nachricht nicht einmal aufnehmen konnte? Und falls er fähig wäre, das zu verstehen, was sie ihm sagen mußte, wie würde er es aufnehmen? Unausweichlich wurde Sarah fast zwanzig Jahre zurückversetzt, in die Zeit des anderen schwerwiegenden Verlustes im Leben ihrer Familie. Dem Tod ihrer Mutter. Dieser hatte sie geprägt, all ihre späteren Entscheidungen beeinflußt, sich in ihre Träume gedrängt und sich auf ihr Liebesleben ausgewirkt. Nein, Feldman. Ich gebe ihr dafür nicht die Schuld. Na schön, vielleicht dafür, daß sie gestorben ist. Sonnenlicht fiel schräg durch die Bäume auf die Windschutzscheibe von Sarahs Wagen. Sie spürte die Wärme auf ihrem Gesicht, doch plötzlich stockte ihr das Blut in den Adern. Schuldgefühle durchführen sie, weil sie an ihre Mutter dachte, wo sie doch in diesem Augenblick an Melanie und ihren Vater denken sollte. Und Romeo. Vergiß Romeo nicht. Jetzt war auch er ein Teil ihres Lebens geworden. Wenn auch uneingeladen, ungebeten, ungewollt. Verdammt, Melanie, es ist deine Schuld. Du hast dieses Ungeheuer gerufen. Und jetzt bin ich es, die Romeo nie wieder aus dem Kopf bekommen wird. Und du weißt doch verdammt gut, wie schlecht ich mit Ungeheuern fertig werde.
Sie spürte ein Brennen auf der Haut. Erst als sie sich mit der Hand übers Gesicht fuhr, bemerkte sie, daß ihr Tränen über die Wangen strömten. Sie hatte seit Jahren nicht mehr geweint. Und sie empfand nicht bloß Trauer. Da war noch mehr. Schuld? Scham? Angst? Sie stieß die Wagentür auf. Ihr gesamter Körper fühlte sich plötzlich eigenartig taub an, während sie über die Kiesauffahrt schritt. Als sie zum Haupteingang hinaufstieg, mußte sie sich an dem dicken, geschnitzten Geländer festklammern. Die imposante eichenholzvertäfelte Eingangshalle des Heims erinnerte Sarah stark an einen exklusiven Männerclub – ohne den Zigarrenrauch. Rauchen war hier überall streng untersagt. Eine mit Gabardinekleid und Spitzenkragen adrett gekleidete Dame, die aussah, als habe sie die Sechzig bereits überschritten, saß in einem Rollstuhl neben dem gemauerten Kamin, in dem jedoch kein Feuer brannte, und strickte an einem blau-gelb gestreiften Wollschal. Als sie Sarah entdeckte, raffte sie ihren ungemein langen Schal hastig zusammen und stopfte ihn ängstlich in ihren Strickkorb. Am Fenster war ein älterer Herr in leisem Selbstgespräch versunken. Jeweils nach ein paar Sätzen stockte er, als ob er einer Antwort lauschte, und redete dann weiter. Er bemerkte nicht, daß Sarah eingetreten war. Vor der rückwärtigen Wand der Eingangshalle saß eine attraktive Frau mittleren Alters hinter einem schönen alten Sekretär. Ihr braunes Haar war modisch kurz geschnitten, und sie trug ein maßgeschneidertes Tweedkostüm mit blauer Seidenbluse. Sie wirkte von Kopf bis Fuß wie die Empfangsdame eines Nobelhotels, doch in Wahrheit war Charlotte Harris die Oberschwester von Bellavista. Als Sarah näher kam, zeichnete sich auf dem freundlichen Gesicht der Frau plötzlich nicht nur Wiedererkennen, sondern auch Mitgefühl ab. Sofort stand sie auf, eilte um den Schreibtisch herum und kam Sarah entgegen. »Es tut mir so furchtbar leid«, sagte Charlotte Harris leise und schob einen Arm unter Sarahs. Ein Schreck durchfuhr Sarah. So furchtbar leid? War ihrem Vater auch etwas zugestoßen? Hatte sie das bißchen Familie, das ihr geblieben war, mit einem Schlag verloren?
»Mein Vater…« »Er weiß es noch nicht«, beruhigte die Schwester sie eilig. »Dr. Feldman hält es für das beste, wenn…« Sarah warf Charlotte Harris einen durchdringenden Blick zu: »Feldman?« »Er ist vor zehn Minuten gekommen und erwartet Sie im Woodruff-Zimmer.« Widerwillig ließ Sarah sich wie eine Blinde durch die große Halle und einen schmalen, mit pastellfarbenem Teppichboden ausgelegten Flur führen. Auf dem Messingschild an der eichenvertäfelten Tür stand »Woodruff-Zimmer«, wodurch die Tatsache verschleiert wurde, daß es sich um den Aufenthaltsraum der Ärzte handelte. Dr. Stanley Feldman war allein im Raum. Sobald Sarah eintrat, erhob er sich aus einem Windsor-Sessel und durchquerte das geräumige Zimmer, um sie zu begrüßen und entschlossen nach ihrem freien Arm zu greifen. Nachdem sie sicher übergeben war, ließ Charlotte Harris sofort Sarahs anderen Arm los und zog sich zurück. Einige Augenblicke standen sie still da. Sarah nahm den vertrauten Duft des aromatischen Pfeifentabaks wahr, der an Feldmans Kleidung und Haut haftete. Obwohl er gut fünf Zentimeter kleiner war als sie, hatte Sarah wie immer das eigenartige Gefühl, daß der anerkannte ungarische Psychoanalytiker auf sie herabblickte. In dieser Hinsicht erinnerte Feldman sie an ihren Vater. Aber ansonsten wiesen die beiden, was ihr Aussehen betraf, keine weiteren Ähnlichkeiten auf. Feldman war – ganz im Gegensatz zu ihrem großen, kultivierten, klassisch gutaussehenden Vater – ein gemütlicher, beinahe dürrer, kleiner Mann mit krausem angegrauten Haar. Sein Gesicht war von Narben übersät, die eine schwere Pubertätsakne bei ihm zurückgelassen hatte. Er kleidete sich absolut geschmacklos. Heute trug er einen schlechtsitzenden braunen Anzug mit abgewetzten Lederaufsätzen an den Ellbogen. Und dennoch genoß Feldman aufgrund seines großen Charismas in den ehrwürdigen psychoanalytischen Kreisen einen nahezu legendären Ruf. Selbst daß er mittlerweile auf die Sechzig zuging, tat seiner Aura und Vitalität keinen Abbruch.
Sarah suchte in Feldmans Gesicht nach irgendwelchen Anzeichen seiner Reaktion auf die Tragödie, doch wie immer konnte sie sich kein klares Bild machen. Psychiater, so dachte sie, waren geeignete Pokerspieler. Und Feldman hatte das Zeug zum größten Falschspieler aller Zeiten. »Wie hast du es erfahren?« fragte sie schroff. Ihre Kehle war trocken. »Bill Dennison hat mich angerufen«, sagte Feldman und führte sie mit sanfter Bestimmtheit zu einem der Sessel, die sich vor dem großen Butzenscheibenfenster mit Blick auf die üppigen Gärten gegenüberstanden. »Schlechte Neuigkeiten verbreiten sich wahrlich schnell.« »Einer der Polizisten am Tatort hat ihn angerufen und gebeten, Melanies Patienten zu benachrichtigen. Bill hat mich im Büro angerufen. Ich habe ihm gesagt, daß ich mit dir reden würde.« Feldman verstummte und wartete offensichtlich darauf, daß sie Platz nahm. Sie tat es, pflichtergeben, obwohl ihr gar nicht danach zumute war. Sie war zu nervös, wie er sehr wohl wußte. Feldman wußte viel zu gut, wie ihr unsteter Verstand funktionierte. Das war jedoch nur eines der Probleme zwischen ihnen. »Wir haben uns lange nicht gesehen, Sarah.« Sie lachte bitter auf. »Und ich habe tatsächlich gedacht, du würdest immer die richtigen Dinge im richtigen Augenblick sagen.« Er setzte sich ihr gegenüber, beugte sich vor und stützte seine Ellbogen auf seine knorrigen Knie. »In Wirklichkeit willst du nicht mich angreifen, Sarah.« »Schon besser. Das ist der Feldman, wie ich ihn kenne und liebe.« »Meinst du, das wird dir helfen?« »Hör auf mit dem Scheiß, Feldman. Meine Schwester ist tot. Abgeschlachtet. Da hilft gar nichts mehr.« »Die Wirklichkeit läßt sich nicht mehr ändern, aber es gibt ein paar Dinge, die dir helfen könnten.« »Du Schwein!« stieß sie hervor, und eine fürchterliche Wut stieg in ihr auf. Sie konnte tatsächlich hören, wie sich die Wellen in ihrem Kopf brachen. Ehe Sarah recht wußte, was sie tat,
trat sie heftig mit dem Fuß nach ihm; die Korksohle ihrer Sandale prallte gegen Feldmans rechtes Schienbein. Der Psychoanalytiker verzog das Gesicht eher aus Überraschung denn aus Schmerz. Seine gedämpfte Reaktion machte Sarah nur noch wütender. Sie schnellte in dem Sessel nach vorn, streckte die Arme aus, packte ihn mit beiden Händen am Revers und schüttelte ihn: »Wieso bist du nicht wenigstens so taktvoll und spielst die Rolle des trauernden Liebhabers?« Seine Hände legten sich fest um ihre beiden Handgelenke. »Sarah…« Sie schüttelte ihn noch fester, rutschte vom Sessel, sank auf die Knie. »Gib es zu. Gib wenigstens zu, daß du sie geliebt hast.« »Hör auf, Sarah«, sagte er scharf. Sie konnte nicht aufhören. Eine dämonische Macht hatte Besitz von ihr ergriffen. Sie schlug ihm gegen die Brust, ins Gesicht, immer und immer wieder. Sie schloß die Augen, aber alles, was sie sah, war eine riesige Leinwand ganz in Rot. Sie riß die Augen wieder auf. Während Feldman erfolglos versuchte, ihre Schläge abzuwehren, betrachtete er sie zunächst, als wäre sie verrückt geworden, doch dann zog sich sein Mund zusammen, als hätte er in eine besonders saure Zitrone gebissen. Sie schlug noch immer auf ihn ein, als sie verblüfft merkte, daß er lautlos weinte und dicke Tränen über seine vernarbten Wangen rollten. Ihre fliegenden Hände verharrten mitten in der Luft. Langsam schlossen sich seine Arme um sie. »Sarah«, flüsterte er und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. Ein erstickter Aufschrei entrang sich ihren Lippen. Sie riß sich aus seiner Umarmung los, fiel rückwärts gegen die Armlehne ihres Sessels und landete auf dem Fußboden. Sie rappelte sich wieder auf, zog sich an der Lehne hoch und ließ sich in den Sessel fallen. Nach einer Weile blickte sie verunsichert zu Feldman hinüber. Der Psychiater war völlig gefaßt. Selbst die Tränen in seinem Gesicht waren wie durch ein Wunder bereits getrocknet. Ihre Wut schlug in Verwirrung um.
Ihr Ausbruch, seine Umarmung, war das wirklich passiert? Hatte er wirklich »Sarah« geflüstert, mit derselben melodischen Stimme, mit der sie ihn einst »Melanie« hatte flüstern hören? Nichts an Feldman deutete darauf hin, daß irgend etwas Ungewöhnliches geschehen war. Aber Feldman ließ sich niemals etwas anmerken. »Wir werden noch ein paar Tage warten, bis wir es deinem Vater erzählen, Sarah«, sagte er mit seinem starken ungarischen Akzent. »Es geht ihm im Augenblick nicht gut. Außerdem brauchst du selbst erst mal etwas Zeit, um mit deiner Trauer fertig zu werden, bevor du dich seiner Reaktion stellst.« »Was ist mit der Beerdigung? Er wird doch wohl zur Beerdigung kommen?« »Das kommt darauf an. Das könnte zu schwer für ihn werden.« Feldman musterte sie abschätzend, ein unnachgiebiger Blick, den sie nie aus ihrem Gedächtnis hatte streichen können. »Es wird auch für dich schwer werden, Sarah.« »Ich komme schon klar damit.« Sie zwang sich, seinem Blick standzuhalten, weil sie wußte, wie er jedwedes Ausweichen ihrerseits beurteilen würde. Es half nichts. Es machte keinen Eindruck auf ihn. »Ich wünschte, du würdest wieder zwei Monate lang Prozac nehmen.« »Nein«, sagte sie vehement, als ob er verlangt hätte, daß sie Gift schluckte und nicht das Antidepressivum, das sie schon einmal über ein Jahr lang genommen hatte. »Sarah, du brauchst keine…« Sie schoß aus ihrem Sessel hoch. »Leck mich doch, Feldman!« Er seufzte resigniert auf und warf ihr einen mitleidigen Blick zu. »Komm wenigstens wieder ins Institut«, schlug er vor. »Um Trauerarbeit zu leisten. Du mußt ja nicht zu mir kommen. Ich kann das für dich regeln, daß du…« »Ich will nicht, daß du irgendwas für mich regelst. Ich brauche keinen von euch.« Sie funkelte ihn verächtlich an und wandte sich dann Richtung Tür. »Wohin gehst du, Sarah?« »Meinen Vater besuchen.«
»Warte.« »Melanie wollte, daß ich ihn besuche, also werde ich das jetzt tun. Ich werde ihm nicht erzählen, was passiert ist, solange du es nicht für richtig hältst. Ich werde bloß ein Weilchen bei ihm bleiben. Danach fahre ich nach Hause und…« Feldman erhob sich und kam zu ihr herüber. Wieder umgab sie der süßliche Duft seines Pfeifentabaks. »Und was, Sarah?« »Und schlitze mir die Pulsadern auf. Das meinst du ja wohl, oder? Keine Bange, Feldman. Ich lege großen Wert darauf, mich nie zu wiederholen«, sagte sie mit einem ironischen Lächeln. Der Psychiater lachte nicht. »Was willst du machen, Sarah?« »Ich weiß es wirklich nicht.« Ihre Kehle fühlte sich trocken an. Er legte eine Hand sacht auf ihre Schulter. »Ich habe immer gedacht, daß Melanie und ich uns vielleicht eines Tages näherkommen würden«, sagte sie und zuckte bei ihren eigenen Worten zusammen. Danke, Feldman. Es ging mir ganz gut, bis du mich in die Mangel genommen hast. Sie riß die Tür auf. »Ich rufe dich später an, Sarah. Solltest du deine Meinung ändern wegen der Medikamente, der Therapie, egal was…« Sie drehte sich um und fixierte ihn mit einem kalten, vorwurfsvollen Blick. »Aber du und Melanie, ihr seid euch nähergekommen, nicht wahr, Feldman?« Ihr Vater saß in einem Gartensessel auf der Sonnenterrasse an der Südseite des Heims mit Blick auf die Berge und die verstreut liegenden Bilderbuchhäuser. Er trug ein blaßblaues Baumwollhemd, das am Kragen offenstand, eine blaßgraue Stoffhose und eine dunkelgraue Kaschmirweste. In dem fleckigen Sonnenlicht, das Schatten auf sein Gesicht malte, wirkte er auf Sarah fast so wie damals, als sie noch ein Kind war. Gutaussehend, imposant, gottähnlich. Als die Fliegentür sich schloß, blickte Simon Rosen zu seiner Tochter hinüber und lächelte, während sie näher kam.
Sarah sah seinen erfreuten Gesichtsausdruck – ein selbst in den besten Zeiten für sie seltenes Ereignis – und dachte erleichtert, daß er heute doch wohl einen seiner guten Tage hatte. Als sie näher kam, sah sie jedoch sogleich, daß sein Lächeln schwächer wurde und sein Gesicht sich verfinsterte. Sie kannte diesen Blick so gut. Er erfüllte sie mit Selbstverachtung. Trotzdem fühlte sie sich jetzt auf seltsame Weise entspannter. Daran war sie mittlerweile gewöhnt. Es war selten anders zwischen ihnen gewesen. Je näher sie kam, desto finsterer wurde seine Miene. Er musterte sie mit einem angewiderten Ausdruck. »Was in Gottes Namen hast du mit deinem Haar angestellt?« erkundigte er sich in dem schneidenden Ton, der nur für sie reserviert zu sein schien. »Ich… nichts«, stammelte sie, völlig überrascht, da sie ihre Frisur schon seit mehreren Jahren nicht mehr verändert hatte. Er erinnert sich nicht. Er ist irgendwo in der Vergangenheit. »Red dich nicht raus, Cheryl.« Cheryl? Sarah spürte einen Kloß im Hals. Er hielt sie für ihre Mutter. Er war wirklich irgendwo in der Vergangenheit und erinnerte sie daran, daß sie doch nicht die einzige war, bei der er diesen barschen, mißbilligenden Ton angeschlagen hatte. Jahrelang hatten sie und ihre Mutter abwechselnd als Zielscheibe für das Mißfallen und die Enttäuschung ihres Vaters herhalten müssen. Er warf den Kopf zurück, wie er es immer tat, wenn er ungeduldig wurde. »Ist Melanie schon von der Schule nach Hause gekommen? Sag ihr, daß ich sie sofort sehen will. Ich habe erst um vier wieder einen Patienten.« Sarahs jahrzehntealte Eifersucht wallte in ihr auf. Sie war so verletzt, daß sie ihm fast in diesem Augenblick die schreckliche Nachricht entgegengeschleudert hätte. Sie kommt nicht nach Hause, du Dreckskerl. Sie kommt nie wieder nach Hause. Deine liebste Melanie ist ermordet worden. Sie ist tot. Du hast sie für immer verloren. Ich bin alles, was dir geblieben ist, du selbstsüchtiges Monstrum. Ironie des Schicksals, was? Seine Augen huschten unruhig umher, um schließlich mit vorwurfsvollem Ausdruck auf Sarah zu verweilen. »Wo ist
mein Terminkalender, Cheryl? Immer räumst du alles weg. Wie oft habe ich dir schon gesagt…« Er brach mitten im Satz ab, verwirrt und desorientiert. Er blinzelte mehrmals und starrte sie dann aus glasigen Augen an. »Ich kenne Sie irgendwoher.« Ein verschlagenes Lächeln erhellte sein Gesicht und ließ ihn lebendig, fast jungenhaft aussehen. »Sie sind meine Masseuse, stimmt’s? Die junge Frau mit den wunderbaren Händen. Möchten Sie, daß ich mich entkleide, meine Liebe?« Sarah durchfuhr ein Schaudern. Hinter ihr wurde die Fliegentür geöffnet und wieder geschlossen. Ihr Vater winkte sie abfällig beiseite und schaute über ihre Schulter hinweg die junge Schwester an, die auf die Sonnenterrasse gekommen war. »Melanie, bist du das? Komm doch mal kurz zu mir rein, Schatz…« Es dämmerte bereits, als Sarah ihren Wagen wenige Häuser von ihrer Wohnung entfernt in eine Parklücke manövrierte. Gleich hinter einem Übertragungswagen von Channel 7. Als sie aus dem Wagen stieg, sah sie, daß über ein Dutzend Reporter und Kameraleute vor dem Eingang zu ihrem Haus standen. Scheiße. Die Geier warten schon. »Miss Rosen?« Sie fuhr herum, bereit, zuzuschlagen, und stand einem Mann gegenüber, der etwa genau so groß war wie sie. Sein dunkelbraunes Haar mußte dringend geschnitten, sein grobknochiges Gesicht dringend rasiert und seine Kleidung dringend gebügelt werden. Seine Augen waren grau, melancholisch und wehmütig. Diese Augen lösten bei Sarah ein Gefühl von Seelenverwandtschaft aus. Vielleicht zögerte sie deshalb, zuzuschlagen. Er hob eine Hand. »Alles in Ordnung, ich bin kein Reporter.« »Woher wissen Sie, wer ich bin?« »Mein Partner hat Sie mir beschrieben. Mein Name ist John Allegro.« »Allegro?« Sie brauchte nur zwei Sekunden, um zu wissen, woher sie den Namen und das Gesicht kannte. Aus dem Fernsehen. »Oh, prima. Der andere Romeo-Bulle.«
»Hören Sie, ich will Sie nicht nerven. Ich habe mir schon gedacht, daß hier der Teufel los sein würde.« Er zeigte auf die Reporter, die die beiden noch nicht bemerkt hatten. Sarah schielte zu den Presseleuten hinüber. »Ich kann bis hierher hören, wie sie sich gierig die Lippen lecken.« »Wollen Sie vor denen eine Stellungnahme abgeben?« »Machen Sie Witze?« Er lächelte. »Das habe ich mir gedacht. Kommen Sie. Ich halte Ihnen den Rücken frei.« Mit Hilfe zweier Polizisten in Uniform tat Allegro sein möglichstes, um ihr die Presse vom Leibe zu halten, doch die Reporter schrieen ihnen Fragen zu, hielten ihnen Mikrophone und Kameras vors Gesicht. Sarah schützte ihre Augen vor den Blitzlichtern und den grellen Scheinwerfern, während der Detective sie hastig durch die Menge bugsierte. »Leute, das reicht«, rief Allegro. »Schluß jetzt. Sie gibt heute keinen Kommentar ab.« Ein junger Mann zwängte sich durch die Menge – untersetzt, aschblondes Haar, Brille, Jeans, weißes Hemd, marineblaue Strickjacke. Er winkte mit Notizblock und Stift. »Sie sind Dr. Rosens Schwester, richtig? Bekomme ich ein Autogramm, Sarah?« Allegro stieß ihn zurück. Aber der Mann setzte entschlossen nach. »Was ist Romeos Geheimnis? Hat Ihre Schwester es Ihnen erzählt, Sarah? War sie dem Knaben auch hörig? Hat er sie deshalb aufgeschlitzt?« »Mein Gott«, keuchte Sarah. »Du mieses Stück Scheiße!« Allegro wollte den Autogrammjäger packen, der duckte sich jedoch und verschwand im Gedränge. Mit zitternden Händen versuchte Sarah, die Haustür aufzuschließen. Allegro schob sie mit dem Ellbogen zur Seite und übernahm diese Aufgabe, während die beiden anderen Cops die wildgewordene Menge daran hinderten, noch näher zu rücken. Nachdem Allegro die Tür geöffnet hatte, folgte er Sarah über den Flur bis zu ihrer Wohnung. Dort blieb sie stehen. »Sie müssen diese Leute ignorieren, Miss Rosen. Die tauchen überall auf. Miese kleine Scheißer, die sich an so etwas aufgei-
len. Wollen überall mit der Nase dabeisein. Am besten, man nimmt sie gar nicht wahr.« »Es ist widerlich.« »Das alles muß schlimm für Sie sein. Und es wird garantiert noch schlimmer werden. Tut mir leid.« Sein Tonfall war sachlich, aber nicht ohne Mitgefühl. Sarah nickte. Sie fühlte sich leer, ausgelaugt und zugleich wie unter Hochspannung. Und sie fühlte sich so allein. Sie sah zu dem Detective hinüber, der sich bereits zum Gehen wandte. »Die Bedingung ist, keine Fragen, aber wenn Sie auf eine Tasse Kaffee reinkommen möchten…« Er zögerte, rieb sich mit der Handfläche über das stoppelige Gesicht. »Vielleicht möchten Sie etwas Stärkeres als Kaffee«, sagte sie. »Eigentlich sollte ich das zu Ihnen sagen«, erwiderte er und beugte sich dabei ein wenig zu ihr vor. Sie musterte den Detective. Sein Gesicht war voller Ecken und Kanten – die tiefen Falten in den Mundwinkeln, die seltsam winkligen Brauen, die zerschlagene Nase, diese müden grauen Augen. Allegro sah aus wie Ende Vierzig, aber vielleicht würde er etwas jünger wirken, wenn man ihn ein wenig auf Vordermann brachte. »Ich denke, Sie brauchen es vielleicht noch dringender als ich«, sagte sie impulsiv. Seine Mundwinkel zuckten. »Die Sache hat mich wirklich sehr getroffen. Ich habe Ihre Schwester gemocht.« »Ich glaube, ich habe noch eine Flasche Scotch…« »Nein, danke. Aber ich leiste Ihnen gern Gesellschaft, wenn Sie sich ein Gläschen genehmigen wollen.« »Nein. Ich trinke eigentlich nicht gern.« Die Wahrheit war, daß Alkohol bei ihr nicht die gleiche Wirkung hatte wie bei den meisten Menschen. Er half ihr nicht, zu vergessen, ihre Sorgen zu ertränken, sondern verstärkte ihre negativen Gefühle nur noch. Sie drehte den Schlüssel im Schloß und öffnete die Tür. Allegro räusperte sich. »Aber falls das Kaffeeangebot noch gilt…« »Klar«, sagte sie, plötzlich erleichtert.
»Und wissen Sie was? Ich werde ihn sogar selber kochen.« »Gut. Mein Kaffee ist nämlich miserabel«, sagte Sarah, ließ den schmuddeligen Detective herein und führte ihn durch ihr kleines unaufgeräumtes Wohnzimmer in die Küche. Sie war dankbar, daß er die Unordnung in ihrer Wohnung ignorierte. Ja, er schien es sogar als ganz selbstverständlich hinzunehmen. Wahrscheinlich war er genauso schlampig wie sie. Das Telefon klingelte. Sie zuckte zusammen. Allegro stand in der Küchentür und sah sie an. Ihre Blicke trafen sich. Sie nickte, er hob den Hörer vom Telefon an der Küchenwand gleich neben der Tür. Der Anrufer hatte kaum ein paar Worte gesprochen, da bellte Allegro auch schon los: »Sie gibt zur Zeit keine Interviews. Rufen Sie nicht mehr hier an. Sie wird sich bei Ihnen melden, wenn sie soweit ist.« Er knallte den Hörer auf die Gabel. »Lassen Sie Ihren Anrufbeantworter den Rest erledigen«, befahl er und stellte die Klingel ab. Während Allegro in der Küche beschäftigt war, sank Sarah müde auf die Couch. Da fiel ihr auf, daß der Läufer in der Diele gleich vor der Wohnungstür verschoben war und die Ecke eines Briefumschlags darunter hervorragte. Sie erhob sich, ging hinüber und nahm ihn auf. Der nach Geschäftsbrief aussehende Umschlag war unbeschriftet und nicht zugeklebt. Vermutlich eine Benachrichtigung über eine Mieterhöhung, dachte sie, während sie ein einzelnes Blatt herauszog, das zweifach gefaltet war. Es war keine Mieterhöhung. Es war ein kurzes Schreiben auf einfachem Briefpapier. Liebste Sarah, Du sollst wissen, daß Du nicht allein bist. Niemand teilt Deine Trauer mehr als ich. Niemand versteht Dich besser als ich… Die Zeilen waren ohne Unterschrift. Mein Gott, dachte Sarah, es geht schon los mit den dämlichen Beileidsschreiben. Noch ein aufdringlicher Kerl? Vielleicht
derselbe, der vor der Tür versucht hatte, ein Autogramm von ihr zu bekommen. Ein Schauer des Ekels erfaßte sie, und sie knüllte das Blatt zusammen, ohne den Text zu Ende gelesen zu haben. Nimm die Spinner gar nicht erst wahr, wie der Detective gesagt hat. Guter Ratschlag. »Milch?« rief Allegro aus der Küche, was sie erschreckt zusammenfahren ließ. »Nein«, antwortete sie mit einer Stimme, die ihr selbst fremd vorkam. Der anonyme Brief hatte sie arg mitgenommen. Sie fand ihn so unverschämt, so kitschig und unheimlich zugleich. »Zucker?« »Nein, schwarz.« Als der Detective mit zwei dampfenden Kaffeetassen aus der Küche kam, warf sie den zerknüllten Brief auf das kleine Tischchen in der Diele. Sie setzten sich nebeneinander auf die Couch und nippten schweigend an ihrem Kaffee. Als Sarah sah, daß der Detective seine Tasse fast ausgetrunken hatte, wurde ihre Angst stärker. Gleich würde er gehen und sie allein zurücklassen. »Ich muß los«, hörte sie ihn sagen. »Noch eine Tasse?« »Nein, danke.« Er betrachtete sie, sah, daß ihr Gesicht etwas an Farbe verloren hatte. »Haben Sie jemanden, den Sie anrufen können, damit er herkommt?« Sie nickte stumm. Sie konnte ja Bernie anrufen. Sie sah zu, wie Allegro aufstand und durch den Raum in Richtung Wohnungstür ging. »Mir ist da gerade was eingefallen…« Er blieb wie angewurzelt stehen. »Ja?« »Melanie. Ich habe gestern mit ihr gesprochen.« Er wartete ab. »Mein Gott, war das erst gestern?« Sie lächelte ihn schwach an. »Ich war so fies zu ihr. Sie hatte früh morgens angerufen und mich geweckt.« »Ich bin morgens auch immer schlecht gelaunt.« »Melanie gegenüber bin ich zu jeder Tageszeit so. Ich meine, ich war es. Ich war nie sehr nett zu ihr.«
»Jeder von uns wünscht sich, er könnte etwas noch ungeschehen machen, wenn es bereits zu spät ist. Machen Sie sich deswegen nicht selbst fertig.« »Sie haben recht. Geschehen ist geschehen.« Sie lachte, es klang traurig, gequält. »Und ich habe sie angestänkert, weil sie mir eine Moralpredigt halten wollte.« »Weswegen?« »Weiß ich nicht mehr. Aber ich erinnere mich, daß sie gesagt hat, sie hätte am Abend eine Verabredung.« Eine angespannte Stille trat ein. »Mit wem?« fragte Allegro. »Ich weiß es nicht. Das hat sie nicht gesagt.« »Vielleicht ein Typ namens Perry? Ein arbeitsloser Computerspezialist. Gegen die Dreißig, blond, gutaussehend.« »Nein. Der Name sagt mir gar nichts.« Sie zögerte. »Das ist ziemlich jung. Melanie war sechsunddreißig. Ich glaube nicht, daß sie sich für jüngere Männer interessiert hat. Aber andererseits habe ich eigentlich nie recht gewußt, welchen Männertyp sie bevorzugte. Abgesehen von Bill.« »Dr. Bill Dennison? Der Exmann Ihrer Schwester?« »Ja. Er ist Ende Vierzig. Sie waren drei Jahre verheiratet.« »Robert Perry ist ein Patient Ihrer Schwester.« Sarah starrte ihn an. »Ach.« Er zögerte. »Miss Rosen, glauben Sie, daß Ihre Schwester je die Grenze, die den Arzt von seinen Patienten trennt, überschritten hat?« »Wollen Sie damit andeuten, daß sie mit ihren Patienten ins Bett gegangen sein könnte?« »So was kommt schließlich vor, oder? Ich meine, man hat schon davon gehört. Priester, Anwälte, Ärzte, Psychologen.« Er zuckte die Achseln. »Keiner bleibt unversucht.« Sarah ließ die Frage einige Augenblicke im Raum stehen, bevor sie erwiderte: »Gilt das auch für Cops, Detective Allegro?« »Sie sind sauer.« Sie sah ihn grimmig an. »Allerdings.« »Perry behauptet, daß sie ein Verhältnis miteinander hatten.« »Und Sie denken, daß meine Schwester gestern abend mit ihm verabredet war?«
»Möglich wär’s.« »Dann denken Sie also, daß er es ist? Daß Perry dieser Romeo ist?« »Wir haben nichts gegen ihn in der Hand. Noch nicht.« Er stockte und blickte verunsichert drein. »Das mit Ihrer Schwester tut mir sehr leid.« Sie nickte. »Ich kann so was nicht gut«, murmelte er. »Ich auch nicht«, sagte sie ausdruckslos. Er hatte schon den Türgriff in der Hand, als er das zerknüllte Blatt auf dem kleinen Tisch in der Diele bemerkte. »Was ist das?« Sie mußte beinahe lachen, daß ihm in dem Durcheinander in ihrer Wohnung ausgerechnet jenes merkwürdige Beileidsschreiben ins Auge sprang. »Ach… nichts.« Schüttle es ab. Je früher du damit anfängst, diesen Mist zu ignorieren, desto besser. Er sah sie noch einen Moment lang an, dann gab er ihr seine Visitenkarte. »Da steht auch die Nummer von meinem Piepser drauf. Sie können mich jederzeit erreichen. Jederzeit.« »Detective?« »Ja?« »Warum nimmt er ihre Herzen mit?« Allegro stand mit dem Rücken zu ihr in der Tür, den Kopf gesenkt. Schließlich wandte er sich um. Ihre Augen trafen sich. »Ich weiß es nicht, Miss Rosen. Vielleicht, weil er selbst kein Herz hat.« Sie starrte ihn an. »Ja. Herzlos. Das wird es sein.« Als Allegro aus dem Haus trat, stürzte sich die Presse erneut auf ihn. Kameras surrten. Blitzlichter blendeten ihn. Man brüllte und kreischte ihm Fragen entgegen. Der Detective sagte ein paarmal »Kein Kommentar«, vergewisserte sich, daß der widerliche Typ, der ein Autogramm von Sarah hatte haben wollen, nicht mehr vor dem Haus herumlungerte, und bahnte sich dann mit den Ellbogen den Weg zu seinem Wagen. Er fuhr die Straße hinunter in Richtung Morddezernat. Aber als er das Präsidium erreichte, verlangsamte er nicht das Tem-
po, sondern fuhr einfach weiter. Schließlich parkte er den Wagen im Halteverbot vor dem Bay Wind Grill, einer schäbigen Kneipe auf der Polk Street. Eine von vielen Bars dieser Sorte in einer Gegend, vor der Touristen eindringlich gewarnt wurden. Zeke, der Barkeeper, der so heruntergekommen aussah wie seine verräucherte Kneipe, stellte wortlos einen Jim Beam und ein Bier vor Allegro hin, als der seinen Stammplatz an der Theke einnahm. Als erstes kippte er den Whiskey in einem einzigen, wohltuenden Zug hinunter, dann nahm er sich das eiskalte Budweiser vor. »Noch einen?« fragte Zeke. Am liebsten hätte Allegro ihm gesagt, er solle ihm gleich die ganze Flasche dalassen, aber es war noch früh und er mußte wieder an die Arbeit. Dennoch signalisierte er Zeke, ihm noch einen Whiskey einzugießen, und überlegte sich, daß er ein wenig seine Wohnung aufräumen könnte, bevor er zurück ins Dezernat fuhr. Den zweiten kippte er noch schneller hinunter als den ersten. »Muß ja ein beschissener Tag gewesen sein«, mutmaßte Zeke. »O ja«, sagte Allegro und wischte sich den Mund mit dem Jackettärmel ab. »Ein beschissener Tag.« Nachdem Detective Allegro sich verabschiedet hatte, war Sarah noch eine Weile reglos in ihrem Sessel sitzen geblieben. Dann seufzte sie, erhob sich und nahm den zerknüllten Brief in die Hand. … Du darfst keine Angst vor mir haben, Sarah. Ich würde Dir nie weh tun. Wir sind Seelenverwandte, Du und ich. Du bist so stark, Sarah. Ich brauche Deine Stärke. Öffne mir Dein Herz. Als ob diese Mitteilung nicht schon grotesk genug gewesen wäre, hatte der anonyme Schreiber unten auf der Seite noch einen kurzen Nachtrag hinzugefügt: Später mehr, meine Liebe.
Sarah schlug mit der Faust auf das Blatt, dann riß sie es in Fetzen. »Nein, verdammt noch mal, du Kretin. Das wirst du mir nicht antun. Du wirst mich nicht in den Wahnsinn treiben!« Sie riß die Wohnungstür auf und stürmte hinaus auf den Flur. Als ob sie denjenigen, der diesen Mist unter ihrer Tür durchgeschoben hatte, tatsächlich noch erwischen könnte. Ihn verjagen könnte. Ihr ganzes Leben lang war sie von Schatten umgeben gewesen. Jetzt war es ein für allemal genug. Der Flur war leer und still. Bis auf das dröhnende Pochen ihres eigenen Herzens.
5 … daß Romeo als Kind selbst ein Opfer von sadistischem und masochistischem Verhalten war. Vielleicht hat er sich an Tieren oder Spielkameraden abreagiert, seine brutalen Ausfälle als völlig berechtigt empfunden… Dr. Melanie Rosen in Cutting Edge Romeo summt die Anfangstakte der Rhapsody in Blue mit, während er sein Abendessen zubereitet. Normalerweise macht er sich keine große Mühe mit seinen Mahlzeiten, aber heute hat er die Kerzen auf dem Tisch angezündet, zwei Teller und zwei Weingläser hingestellt. Ein Gedeck ist für ihn. Das andere für Sarah Rosen. Sie wird ihm im Geiste Gesellschaft leisten. Er lächelt, als sein Blick auf Melanies Tagebuch auf dem Tisch neben seinem Teller fällt. Das war eine echte Sonderzulage. Eine köstliche, unerwartete Wendung. Er fühlt sich neu belebt, energiegeladen, voller Vorfreude und Erwartung. Melanie, das würde dir gefallen. Er läßt das sautierte Fleisch auf einen großen Teller gleiten, dekoriert es mit einem Sträußchen Petersilie, setzt sich an den Tisch und öffnet das Tagebuch an einer der markierten Stellen, die er mittlerweile schon mehrmals gelesen hat. Sarah hat so viel Zeit ihres Lebens damit verbracht, mich zu beneiden, daß sie für meinen Neid auf sie vollkommen blind ist. Ich bin für sie die Unbesiegbarkeit in Person, aber das ist alles bloß eine dünne Fassade. Sarah ist es gelungen, eine wesentlich dickere Mauer zu errichten. Ich habe vergeblich versucht, diese zu durchbrechen. Um an ihr verletztes Herz zu gelangen, wäre unendlich viel Geschick erforderlich…
6 Jene andere Kraft ist da, pocht wie ein zweiter Herzschlag in mir, treibt mich voran und hält mich zugleich zurück. M. R. Tagebuch Die Wirkung der Drinks, die Allegro am frühen Abend im Bay Wind Grill konsumiert hatte, war längst verflogen. Wieder im Morddezernat, kurz vor Mitternacht, packte Allegro seinen handschriftlichen Bericht zusammen und legte ihn in einem schwarzen Ordner ab, direkt vor das Blatt, das Wagner am späten Nachmittag auf seiner fünfzehn Jahre alten elektrischen Schreibmaschine runtergetippt hatte – ein Geschenk seiner Mutter zum High-School-Abschluß. Allegro überflog die Berichte der anderen Beamten, die heute morgen am Tatort gewesen waren, sowie den vorläufigen Autopsiebericht, der aus Kellys Büro rübergeschickt worden war. Dr. Melanie Rosen war kaum vierundzwanzig Stunden tot, und schon füllte sich ihre Akte an. Mit einem lauten Fluch klappte er den Ordner wieder zu. Mehr konnte er heute nicht mehr verkraften. Er wußte, daß Wagner noch immer irgendwo unterwegs war und ermittelte, aber Allegro wollte sich jetzt nur noch in den sanften Nebel des Vergessens flüchten. Jake’s Bar, nur wenige Häuserblocks vom Präsidium entfernt, stank nach abgestandenem Zigarettenrauch, Fusel und billigem Parfüm. Das Dröhnen der laufenden Fernsehübertragung eines Autorennens wetteiferte mit Willie Nelsons weinerlichem Country-Blues aus der Musikbox. Allegro setzte sich auf einen Hocker am hinteren Ende der Bar und bestellte das Übliche. Eine dralle Blondine, deren Haarwurzeln dringend nachgefärbt werden mußten, kam zu Allegro herübergeschlendert. Sie stemmte die Hände in die Taille und blinzelte ihm zu. Allegro schielte zu ihr rüber, musterte sie rasch und winkte dann Freddie, dem Barkeeper. »Einen Pink Lady für meine Freundin Dee Dee.«
»Danke, Johnny.« Dee, Dee, die im Massagesalon von gegenüber ihre Brötchen verdiente, seufzte müde und setzte sich auf den Barhocker neben ihm. In ihrem hautengen kurzen Lederrock, der wie eine zweite Haut ihre breiten Hüften und Oberschenkel umspannte, war das gar nicht so einfach. »Wie läuft’s denn so, Dee?« fragte Allegro, nachdem er zwei Gläser Jim Beam in rascher Folge runtergekippt hatte. »Wenn du mich mal etwas genauer ansiehst, weißt du, wie’s läuft.« Er betrachtete sie eingehender, sah die zahlreichen Schichten Make-up, welches unter den Augen besonders dick aufgetragen war. Nicht bloß, um die Tränensäcke zu verbergen, sondern auch ihre beiden Veilchen. Dennoch, die Augen selbst hatten eine hübsche grüne Farbe. Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Bierglas. »Du wirst allmählich zu alt für dieses Leben, Dee.« Der Barkeeper goß ihm noch einen Jim Beam ein. Sie lachte freudlos. »Du auch, Johnny. Du siehst aus wie ausgekotzt.« Er kippte den dritten Whiskey runter, aber heute nacht half ihm der Alkohol überhaupt nicht. »Ja, ich weiß.« Sie versetzte ihm einen freundschaftlichen Stoß in die Rippen. »Trotzdem machst du mich immer noch an, Süßer.« »Na, wenigstens etwas, worüber ich mich freuen kann«, sagte er ohne eine Spur von Sarkasmus. Dee Dee tätschelte seinen Arm. »Armer Junge. Diese Typen im Fernsehen machen euch ja total runter, dich und deinen Kumpel. Als ob ihr diesen Irren irgendwie aus dem Hut zaubern könntet oder so. Ich sage dir, dieses eine Mal habe ich auch etwas, worüber ich mich freuen kann.« »Und das wäre?« »Seien wir ehrlich, Johnny. Ich bin nicht gerade der Typ, auf den Romeo steht.« Der Barkeeper stellte einen randvollen, mit einem Papierschirmchen geschmückten Pink Lady vor Dee Dee. »Noch einen?« fragte er Allegro. Allegro zögerte und schüttelte dann den Kopf.
Dee Dee lächelte. »Du trinkst weniger, Johnny? Das ist gut.« Sie zupfte das Schirmchen aus ihrem Drink und leckte den nassen Zahnstocher ab, der als Ständerchen diente, bevor sie es behutsam schloß und in ihre straßbesetzte Handtasche warf. »Für meinen Enkel.« Ihr Lächeln wurde links etwas zu breit und enthüllte einen fehlenden Backenzahn. »Ich hab schon eine richtige Sammlung.« Sie nahm gierig einen großen Schluck. »Hast du Lust auf einen Mitternachtsimbiß bei mir zu Hause?« »Okay«, sagte er, nachdem er auf seine Uhr geschielt und gesehen hatte, daß es fast ein Uhr morgens war. »Ich könnte einen Happen gebrauchen.« »Ich kann uns ein paar Eier in die Pfanne hauen.« Er warf ihr einen wehmütigen Blick zu. »Tu mir einen Gefallen, Dee.« »Klar, Johnny. Jeden. Das weißt du doch.« »Hau die Eier nicht. Rühr sie einfach nur.« Darüber mußte Dee Dee nun wirklich lachen. Wagner nickte, als er sich dem riesigen Aufpasser mit der rötlichen Gesichtsfarbe näherte, der vor dem Honey’s stand. Der Laden gehörte zu einer ganzen Kette von Sexclubs, die sich in den Gassen und kleineren Straßen südlich der Market Street niedergelassen hatten. Kurz nach ein Uhr morgens, und der Schuppen war brechend voll. »Alles klar, Cal?« Wagners Blick glitt von dem Rausschmeißer an der Tür zu den Fotos nackter Frauen, mit denen eine Ziegelwand, die zum Club hin verlief, tapeziert war. Eines im Plakatformat zeigte eine üppige Brünette, die mit gespreizten Beinen auf einem Bett lag. Hand- und Fußgelenke waren an die Bettpfosten gefesselt. Darunter prangte der Schriftzug: »Sklavin für eine Nacht.« Cal zuckte die Achseln, während er die Tür für zwei grinsende, betrunkene Jugendliche öffnete, die an Wagner vorbeitorkelten. Eine Woge von lautem Gegröle und heißer Stripmusik drang auf die Straße. »Kann nicht klagen, Mike.« Sie kannten sich noch aus jenen Tagen – oder besser gesagt, Nächten –, als der Detective bei der Sitte gearbeitet hatte. Da-
mals hatte Wagner von Calvin Amis so manchen nützlichen Tip bekommen. Als Gegenleistung hatte Wagner bei einigen von Cals unbedeutenden Gesetzesübertretungen ein Auge zugedrückt. Als Wagner dann vor gut einem Jahr ins Morddezernat versetzt worden war, hatten sie sich aus den Augen verloren. Bis Cal acht Monate später im Präsidium auftauchte. Das war an dem Tag, als die Fotos von Romeos erstem Opfer in der Presse und im Fernsehen veröffentlicht worden waren. Amis hatte das Opfer, Diane Corbett, gekannt. Und zwar, wie sich herausstellte, nicht nur vom Club her, sondern auch von ihren Besuchen im geheimen Hinterzimmer. Dort bekamen die Kunden gegen einen saftigen Aufpreis Gelegenheit, selber aktiv zu werden. Alles inklusive, von Fesseln über Ringkämpfe bis hin zu perversen Modeschauen. Er hatte sie mehr als nur einmal im Honey’s gesehen. Wagner klopfte eine Zigarette aus der Packung und steckte sie in den Mund. »Was erzählt man sich denn so, Cal?« »Schlimme Geschichte, das mit eurer Psychobiene«, sagte Cal. »Kann man wohl sagen.« »Hat echt Schlagzeilen gemacht. Jetzt steckst du mit deinen Jungs ganz schön in der Scheiße.« Wagner verzog mürrisch das Gesicht, während er seine Zigarette anzündete. »Vielleicht ist das ja der Sinn der Sache«, sagte Cal. Wagners mürrische Miene wurde noch finsterer. »Wie meinst du das?« »Du weißt schon. Dieser Perverse will, daß ihr blöd dasteht. Je blöder ihr dasteht, desto mehr glänzt er.« Wagner starrte Cal eindringlich an. »Das hat Melanie Rosen auch mal gesagt. Daß es ihn anmacht, wenn er sich uns überlegen fühlt.« »Habt ihr denn schon einen Verdächtigen?« »Wir verfolgen ein paar Spuren.« »Echt miese Geschichte.« Wagner nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette, während Cal seine muskulösen Arme vor der Brust verschränkte. Sie standen schweigend nebeneinander, und Wagner nahm die ein-
und ausgehenden Kunden unter die Lupe, während Cal den Detective betrachtete. »Also, Mike. Fragst du mich jetzt oder nicht?« Wagner tat so, als hätte er nichts gehört. Cal legte eine seiner riesigen Hände auf Wagners Schulter. »Ich erspar dir die Mühe. Das einzige Mal, daß ich sie hier gesehen habe, war an jenem Abend, als sie mit dir und deinem Partner auf diesem kleinen Forschungsausflug war. Falls eure Psychologin sich ihren Kick so geholt hat, dann bestimmt nicht hier in der Gegend.« Er nahm seine Hand weg und lächelte. »Nicht, daß du mich danach gefragt hättest.« Er streckte die Hand nach der goldbemalten Tür aus, die in den Club führte. »Willst du mal einen Blick riskieren? Man kann ja nie wissen«, sagte er mit einem angedeuteten Lächeln. Wagner warf Cal einen grimmigen Blick zu, schnippte die Zigarette weg und ging zu seinem Wagen. »Hoffe, ihr schnappt den Irren, Mike«, rief Cal ihm noch aufmunternd nach, als Wagner die Autotür öffnete und sich hinters Steuer setzte. Sarah war in Schweiß gebadet. Sie setzte sich im Bett auf und sah blinzelnd auf den Wecker. Kurz nach drei Uhr morgens. Ein Alptraum. Bloß ein Alptraum. Es war alles in Ordnung. Sie konnte sich nicht erinnern, wodurch sie aus dem Schlaf aufgeschreckt worden war. Sie wollte sich gerade wieder hinlegen, als sie ein schwaches kratzendes Geräusch hörte. Die alte Panik stieg in ihr auf. Die Ungeheuer der Nacht. Sie hatte sich immer vor Ungeheuern gefürchtet. Ungeheuer schlichen sich in die Kinderzimmer von ungehorsamen kleinen Mädchen und verschleppten sie in ihre finsteren, stinkenden Höhlen. Ist ja gut, ist ja gut, Sarah. Nicht mehr weinen. Alles ist in Ordnung. Ich bin bei dir. Du hast wieder ins Bett gemacht. Kein Wunder, daß du da was Unangenehmes riechst. Hier ist kein Ungeheuer, Schätzchen. Jetzt geh und zieh dir ein anderes Nachthemd an, und ich beziehe in der Zwischenzeit dein Bett frisch. Ja, versprochen. Ich werde Daddy kein
Sterbenswörtchen davon erzählen. Ja, ja. Auch nicht Melanie. Nun komm und drück deine Mama mal ganz fest… Sarah preßte das Kissen gegen ihre klopfende Brust, fürchtete eine Schrecksekunde lang, daß sie vielleicht tatsächlich ins Bett gemacht hatte. Beklommen überprüfte sie das Laken. Nein, Gott sei Dank alles trocken. Wasser. Sie brauchte ein Glas Wasser. Ihre Kehle war ganz ausgetrocknet. Sie warf die Decke beiseite und schwang die Beine aus dem Bett. Als sie den Arm ausstreckte, um ihre Nachttischlampe einzuschalten, stieß sie eine halbvolle Tasse mit kaltem Tee um. »Scheiße.« Der Tee ergoß sich aufs Laken. Schöne Ironie des Schicksals, dachte sie. Sah aus wie Urin. Nachdem sie endlich die Lampe eingeschaltet hatte und das Schlafzimmer von sanftem Licht erhellt wurde, fühlte Sarah sich etwas besser. Ungeheuer mieden das Licht. Verärgert betrachtete sie das nasse Laken. Ihr war absolut nicht danach, mitten in der Nacht das Bett frisch zu beziehen. Früher hatte sich ihre Mutter um solche Malheurs gekümmert. Sie beschloß, sich auf die andere Seite des Bettes zu verziehen, bis alles trocken war. Das Laken konnte auch noch bis morgen warten. Morgen. Samstag. Der Gerichtsmediziner hatte zugesagt, Melanies sterbliche Überreste spätestens bis morgen abend dem Bestattungsunternehmen Mendelson zu übergeben. Wieso in Gottes Namen hatte sie sich bloß einverstanden erklärt, als der Mann vom Bestattungsunternehmen sie telefonisch darum gebeten hatte, in Melanies Wohnung Kleidung für die Verstorbene auszusuchen? Was spielte das für eine Rolle? Schließlich würde niemand mehr die verstümmelte Leiche ihrer Schwester zu sehen bekommen. Sie würde nicht im offenen Sarg aufgebahrt werden, das war klar. Wer würde also wissen, was sie anhatte? Wem wäre das wichtig? Melanie. Melanie wäre es wichtig gewesen. Sarah stand auf und stapfte in das dunkle Wohnzimmer. Sie wollte gerade in die Küche gehen, als sie jäh zusammenfuhr.
Irgend etwas stimmt nicht. Ihre zitternde Hand schob sich an der Wand hoch, bis die Finger den Schalter erreichten. Licht durchflutete das Wohnzimmer. Ihre Augen schossen von einer Ecke in die andere. Sie stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Das Zimmer war leer. Und die Diele? Vielleicht war wieder ein Brief unter der Tür durchgeschoben worden? Später mehr… Auch dort war nichts. Sie atmete erleichtert auf. Sie hatte sich umsonst aufgeregt. Das Wohnzimmerlicht warf Schatten auf die Wände in der Küche. Sie ging zur Spüle, nahm ein Glas vom Abtropfgestell und ließ das Wasser eine Weile laufen, bis es schön kalt war. Über der Spüle, hinter der Fensterscheibe, war plötzlich eine dunkle Gestalt. Vor Schreck rutschte Sarah das Glas aus der Hand. Es fiel klirrend ins Spülbecken und zerbrach. Eine Katze. Bloß ein herumstreunender Kater, der auf ihren Sims gesprungen war. Die Katze rieb ihr Gesicht an der Fensterscheibe und miaute. Sie suchte Schutz vor der feuchten Nacht. Sarah lachte laut über ihre Panik. Aus Mitleid für das schmutzige Tier streckte sie den Arm aus und wollte das Fenster öffnen. Etwas schlug gegen die Scheibe. Ihr Blick wanderte zu dem kleinen Metallgegenstand, der am Hals der Katze schimmerte, an einem weißen Halsband hing. Ein glänzendes goldenes Herz. Sarah riß das Rollo über dem Fenster herunter. Dann blieb sie zitternd stehen, während das Wasser noch immer über die Glasscherben im Spülbecken strömte. Sie hörte die Katze traurig auf der anderen Seite der Scheibe miauen. Ruf die Polizei an. Ruf Allegro an. Du brauchst Schutz. Wovor? Einer einsamen kleinen Katze? Aber Officer, sie hat einen herzförmigen Anhänger getragen! Er würde sie für verrückt halten. Und damit wäre er nicht der erste. Entschlossen holte sie die Glasscherben aus dem Spülbecken und warf sie in den Mülleimer. Direkt auf den zerrissenen Brief,
den sie dort hineingeworfen hatte, bevor sie zu Bett gegangen war. Nächtliche Angstzustände. Schalte ab. Geh schlafen. Sie ist in ihrem Klassenzimmer. Kauert in ihrem kleinen Versteck. Sie hat einen Schlafanzug an. Kein Wunder, daß sie sich versteckt. Schritte kommen näher. Ihr Herz rast vor Entsetzen. »Still, ganz still, still…« Sie hält die Luft an, wird ganz blau im Gesicht. Zu spät. Er sieht sie. Ihr Lehrer. Mr. Sawyer. Er ist sehr böse. Ganz rot im Gesicht. So rot wie ihr Schlafanzug. Moment, jetzt trägt sie keinen Schlafanzug mehr, sondern das schöne seidene und mit Spitzen verzierte Hochzeitskleid ihrer Mutter. Mama wird böse sein. Man darf ihr Hochzeitskleid nicht zum Spaß anziehen. »Jetzt sieh nur, was du angestellt hast«, sagt er angewidert. Er zeigt auf einen großen roten Fleck in Mamas schönem Hochzeitskleid. Farbe. Rote Farbe. Nein, nein, nein. Keine Farbe. Blut. Nasses, klebriges Blut. »Jetzt wirst du was erleben. Das soll dir eine Lehre sein. Das wird dir eine richtige Lehre sein.« Jetzt wird sie was erleben. Am nächsten Morgen wurde ihr Haus noch immer von Reportern belagert. Sarah konnte schon die Schlagzeilen sehen, hinter denen sie her waren. SCHWESTER DER ERMORDETEN PSYCHOLOGIN REDET. Sie würden sich sofort auf sie stürzen, sobald sie das Haus verließ. Und dann war da noch dieser Spinner. Ob er zurückgekommen war? Warteten da draußen noch mehr von seiner Sorte auf sie? Bereit, sie bei lebendigem Leibe zu verschlingen? Allegro hatte ihr Telefon leise gestellt, und sie selbst hatte die Drähte aus ihrer Türklingel gezogen. Keines von beidem hatte etwas geholfen. Sie konnte nicht schlafen, geschweige denn klar denken. Warum ließ man sie nicht einfach in Frieden? Es war widerlich, daß sich Menschen an den Schmerzen und Qualen anderer ergötzten.
Wenn sie sich doch nur in ihrer Wohnung verschanzen könnte, bis die da draußen von einer neuen Horrorsensation angelockt abziehen würden. Aber heute ging es nicht. Das Bestattungsunternehmen wartete auf die Kleider, in denen Melanie beerdigt werden sollte. Sie würde Spießruten laufen müssen. Draußen im Flur versuchte sie, sich einen anderen Fluchtweg zu überlegen. Hintertür? Dann würde sie der Presse direkt in die Arme laufen. Das Dach? Sarah erstarrte am ganzen Körper, als sie hinter sich ein quietschendes Geräusch hörte. Sie wirbelte herum, zu allem bereit, und kam sich im selben Augenblick töricht vor, als sie sah, daß es nur ihr Nachbar war, der aus seiner Wohnung trat. Vickie Voltaire kam ihr in Silberslippern entgegen und band dabei seinen rosafarbenen Seidenkimono zu. »Brauchst du Hilfe, Kleines?« Sarah lachte trocken. »Kannst du mich unsichtbar machen?« »Nein, aber so gut wie«, sagte der gertenschlanke Rotschopf mit rauchiger Stimme und winkte sie mit einem schön manikürten Finger in seine Wohnung. Anders als Sarahs Wohnung, in der das ständige Chaos herrschte, war Vickies Apartment ordentlich und sauber und genauso exotisch und schrill wie dessen Bewohner selbst. Tiefblaue Samtvorhänge mit goldenen Quasten. Ein leuchtender, karmesinrot gefärbter Schaffellteppich war über das Doppelbett mit reichverziertem Messinggestell gebreitet. Dicker rosenfarbener Veloursteppichboden. Die Wände waren in einem glänzenden Pflaumenblau gehalten und mit erotischen Zeichnungen und Plakaten behängt, auf denen einige der heißesten und gewagtesten Travestiekünstler von San Francisco abgebildet waren. »Was Lola will, kriegt Lola auch« im Club de Soeur. »Laß dich verführen von Wanda, der Wilden« in Junie Love’s. Ein Plakat sprang Sarah sofort ins Auge: Eine ihr bekannt vorkommende, laszive Rothaarige im hautengen roten Abendkleid rekelte sich auf einem Flügel – »Jede Nacht: Vickie Voltaire im CLUB CHAMELEON«. »Das ist ungefähr fünf Jahre alt«, sagte Vickie hinter Sarah. »Leider wurde der Club sechs Monate später geschlossen. Ich
war eine erstklassige Suzy Diamond. Du hättest mich sehen sollen.« »Arbeitest du immer noch in Clubs?« Vickie zuckte die Achseln. »Ich nehme, was kommt, Schätzchen. In dieser Stadt wimmelt es nur so von Talenten. Und wenn du erst mal dreißig bist, geht es nur noch abwärts mit dir. Ich kriege hin und wieder mal einen kleinen Auftritt, aber meistens irgendwo in der finstersten Provinz.« Er grinste frech. »Ich bringe denen da draußen ein wenig Kultur und Klasse nahe. Die Gage ist mies, aber das Publikum ist ganz wild nach mir. Komm doch mal zu einem meiner Auftritte. Ich fände es schön, wenn du mich mal auf der Bühne sehen würdest.« Sarah lächelte schwach und sagte nichts. Vickies Gesichtsausdruck war voller Mitgefühl, als er die Hand ausstreckte und Sarah leicht über die Wange streichelte. »Du arme Kleine. Da plappere ich vor mich hin, und du hast so viel Kummer. Ich weiß, was Kummer bedeutet. Wenn du mal jemanden brauchst…« Vickies Hand, groß und trotz der krallenartigen, leuchtendrosa lackierten Fingernägel noch immer eindeutig männlich, glitt von Sarahs Gesicht herab auf ihre Schulter. Trotz aller gegenteiligen Bemühungen Vickies drang noch immer eine ausgesprochen männliche Ausstrahlung durch den übertriebenen weiblichen Glamour. Sarah hatte fast das Gefühl, daß er versuchte, sie anzumachen. Bernie hatte beteuert, daß die meisten Transvestiten nicht schwul seien. Es war möglich, daß sie genauso auf Frauen wie auf Männer standen. »Du hast gesagt, du hättest eine Idee, wie du mich hier rausbringen kannst«, erinnerte Sarah ihren Nachbarn. Vickies Hand sank herab. Sein grellrosa geschminkter Mund brachte ein übertrieben mädchenhaftes Lächeln zustande. »Und ob.« Er ging durch das Apartment voraus zu einem kurzen, schmalen Gang, an dessen Ende sich ein großer begehbarer Wandschrank befand, der als kleines Ankleidezimmer diente. Darin war genug Platz für eine Kommode, einen großen Spiegel und einen Frisiertisch, der mit einem doppelseitigen Schminkspiegel
ausgestattet war. Es gab sogar ein kleines Fenster, das jedoch von einem dunklen Rollo verdeckt wurde. Eine Neonröhre an der Decke sorgte für Licht. Die meisten Kleidungsstücke, die zu beiden Seiten an den Kleiderständern hingen, waren eindeutig feminin, aber Vickie dirigierte Sarah zum hinteren Ende einer Kleiderstange, wo zwei Herrenanzüge, ein paar Herrenhemden und etliche Hosen hingen. »Du kannst dich als mein Lover verkleiden.« Vickie zwinkerte ihr zu und zupfte am Ärmel eines blauen Sportjacketts. »Bei deiner Größe, deinem Kurzhaarschnitt und so ist das ein Kinderspiel, Süßer.« Er nahm das Jackett und eine Freizeithose von den Bügeln und reichte sie Sarah mit einer schwungvollen Geste. Als die beiden vor das Haus traten, übernahm Vickie die Hauptrolle. Er trug einen auffälligen schwarzen Pullover, der sich über seinem großzügig ausgepolsterten BH spannte, eine hautenge korallenrote Hose und schwarze Stöckelschuhe. Der Transvestit lächelte der Meute von Reportern und Kameraleuten dreist entgegen, hakte sich bei Sarah ein und kicherte verführerisch. »Oh, Darling, du sagst aber auch manchmal die ungezogensten Sachen«, ließ Vickie laut vernehmen, damit es auch alle hörten. Sarah spürte, wie sie rot anlief, und hielt den Kopf gesenkt, um zu verhindern, daß es jemandem auffiel. Ihre Sorge war aber unbegründet. Alle waren viel zu sehr damit beschäftigt, zu glotzen oder Witze über die schrille Rothaarige zu reißen, als daß jemand auf ihren männlichen Begleiter in dem unauffälligen blauen Sportjackett und der schwarzen Baumwollhose geachtet hätte. Sarah hatte ihr kurz geschorenes Haar mit Gel geglättet, trug kein Make-up, keinen Schmuck. Keiner der Reporter schenkte ihr auch nur einen zweiten Blick, als sie mit Vickie, der sich zu seinem Entzücken ein paar Pfiffe einfing, die Straße hinunterging. »Kann ich dich irgendwohin mitnehmen?« fragte Sarah, als sie ihren Wagen erreicht hatten. »Danke, Süße, aber ich muß nur einen Block weiter. Ich bin mit einer Freundin zum Frühstück verabredet.«
»Tja, ich muß jetzt los. Vickie, vielen Dank für deine Hilfe. Du kriegst die Sachen bestimmt zurück.« Der Transvestit beugte sich vor, küßte sie auf die Wange und schenkte ihr ein rosalippiges, mitfühlendes Lächeln. »Das mit deiner Schwester tut mir wirklich leid, Schätzchen. Paß gut auf dich auf, hörst du?« Das Haus auf der Scott Street war mit gelbem Polizeiband abgesperrt. Presse und Schaulustige drängten sich auf der Straße. Zwei Frauen in der Menge trugen weiße T-Shirts mit einem aufgedruckten, zerfetzten roten Herzen. In großen roten Lettern stand unter den Herzen: ROMEO IST EIN HERZENSBRECHER. Sarah gefror das Blut in den Adern. Sie spürte den Drang, ihnen die T-Shirts vom Leibe zu reißen. Das würde den Reportern gefallen. Damit hätte sie deren Tag gerettet. Und ihren eigenen noch alptraumhafter gemacht, als er ohnehin schon war. Sie unterdrückte ihre Wut, konzentrierte sich auf ihr Vorhaben und ging zu einem uniformierten Polizisten hinüber, der in einem Streifenwagen vor dem Haus saß. »Entschuldigen Sie, Officer. Ich muß ins Haus. Ich…« »Da kommt keiner rein.« »Aber ich muß rein.« »Ohne offizielle Erlaubnis läuft da gar nichts.« »Und wo bekomme ich diese Erlaubnis?« fragte Sarah. Sein Blick war gelangweilt, müde. »Wie heißen Sie?« »Rosen«, sagte sie, ihn fixierend. Die Haltung des Polizisten änderte sich schlagartig. »Rosen?« »Jawohl. Rosen. Sarah Rosen.« Der Polizist schielte zu ihr hoch. »Sarah?« Sarah brauchte ein paar Sekunden, bis sie sich seinen seltsamen Blick erklären konnte. Der Cop hielt sie für einen Mann. »Ich bin die Schwester von Melanie Rosen.« Der Polizist blieb mißtrauisch. »Ich werde sehen, was sich machen läßt.« Bislang hatte sich offenbar noch niemand von der Presse für sie interessiert, aber Sarah wollte ihr Glück nicht überstrapazieren. »Hören Sie, ich gehe jetzt auf der Union Street einen Kaf-
fee trinken«, erklärte sie dem Polizisten barsch. »In zirka einer Viertelstunde melde ich mich wieder bei Ihnen, okay?« Sarah saß in einem gemütlichen Café auf der Union Street und trank ihre zweite Tasse Kaffee, als sie Detective Michael Wagner hereinkommen sah, der sich suchend umschaute. Zuerst glitt sein Blick über sie hinweg, ohne ein Zeichen des Wiedererkennens. Als er sich zum zweitenmal umsah, entdeckte er sie und kam an ihren Tisch. »Ich möchte unerkannt bleiben. War die Idee meines Nachbarn.« Wagner musterte sie wortlos von Kopf bis Fuß. »Gelungen.« Sarah wußte nicht, ob sie sich geschmeichelt oder beleidigt fühlen sollte. »Ich möchte in das Haus meiner Schwester«, sagte sie. »Ich muß… etwas für Melanie aussuchen… für die Beerdigung.« Der Detective nickte. »Verstehe.« »Geht das?« »Trinken Sie doch erst Ihren Kaffee aus.« »Ich will es hinter mich bringen.« Sie wollte nach ihrer Umhängetasche greifen, doch dann fiel ihr ein, daß sie sie nicht mitgenommen hatte. Wäre für einen Mann wohl auch etwas unpassend gewesen. Aus ihrer Hosentasche holte sie einen Fünfdollarschein hervor und legte ihn auf den Tisch. »Was halten Sie davon, wenn Sie mir sagen, was Sie brauchen? Ich gehe es holen und bringe es Ihnen her«, bot Wagner sich an. Sarah starrte auf ihre Kaffeetasse. »Sie wollen nicht, daß ich da reingehe, nicht wahr?« Er setzte sich ihr gegenüber, legte die Hände übereinander auf den gesprenkelten Resopaltisch. »Ich denke dabei bloß an Sie. Es ist noch nicht aufgeräumt worden.« Sarah blinzelte mehrmals rasch, als sie ihn ansah. Melanies Stimme hallte in ihrem Kopf wieder. Ein Satz aus ihrem letzten Telefongespräch von Donnerstag morgen. »Sarah, du kannst dein Leben nicht in Ordnung bringen, wenn du keine Ordnung in dein Leben bringst.«
Und was ist mit deinem Leben, Melanie? Ich dachte, in deinem Leben wäre alles tipptopp in Ordnung. »Sarah? Sarah, alles okay?« Sie sah über den Tisch. Wagners markantes, attraktives Gesicht war unscharf geworden. Sie schloß die Augen, versuchte, sich auf lange, gleichmäßige Atemzüge zu konzentrieren. »Bleiben Sie hier. Ich gehe ins Haus und suche ein paar Sachen aus. Dann können Sie entscheiden…« »Nein«, sagte sie stur und riß die Augen wieder auf. »Bitte, Sarah.« »Nein. Nein, verdammt noch mal.« Wagner beugte sich vor, und seine Hände umklammerten die Kante des Tisches, als ob er ihn am Wegfliegen hindern müßte. »Meinen Sie, Sie könnten damit was beweisen? Meinen Sie, wenn Sie da reingehen und das viele Blut sehen, wäre das so was wie eine Mutprobe?« »Halten Sie den Mund!« rief sie so laut, daß alle Kunden und Kellnerinnen in ihre Richtung blickten. Wagner stand auf und ergriff ihren Arm. »Gehen wir«, sagte er knapp. Sie ließ sich von ihm aus dem Café und bis zu seinem silberfarbenen Firebird führen, der am Straßenrand parkte. Er verfrachtete sie auf den Beifahrersitz und setzte sich hinters Steuer. Nachdem er sich die Haare glattgestrichen hatte, sah er sie von der Seite an. »Verzeihen Sie. Das hätte ich nicht sagen sollen.« Sie starrte geradeaus auf den morgendlichen Verkehr, der über die Union Street rollte. »Sie irren sich. Ich will gar nichts beweisen. Ich versuche nur, das zu tun, was getan werden muß. Und was Melanie von mir erwartet hätte.« »Und das wäre?« fragte er leise. »Sagen wir einfach, ich bin es ihr schuldig.« Aus den Augenwinkeln sah sie, daß Wagner den Arm nach ihr ausstreckte. »Nein«, sagte sie schneidend. Wagner erstarrte mitten in der Bewegung. »Ich wollte nicht – ich wollte nur…« »Schon gut.«
Sarah bewahrte die Fassung, bis sie das Wohnzimmer betrat. Auf das makabre Bild, das sich ihr am Tatort des brutalen Mordes an ihrer Schwester bot, war sie nicht vorbereitet gewesen. »Mein Gott…« flüsterte sie. Ihr Körper verkrampfte sich. »Kommen Sie, Sarah. Ich bringe Sie runter. Setzen Sie sich ins Wartezimmer.« Wagner stand direkt hinter ihr, bemüht, sie nicht zu berühren. »Nein.« »Warum wollen Sie sich das antun?« Die Antwort lautete, daß sie es tun mußte. Aus mehr Gründen, als sie sich klarmachen wollte. Sie blickte Wagner entschlossen an. »Okay. Okay, kommen Sie. Erledigen wir die Sache, und dann nichts wie raus hier. Ich werde Ihnen helfen.« Wagner führte Sarah durch den Raum, vorbei an dem entsetzlichsten Teil – dem blutbefleckten Sofa und Teppich – und durch den widerlichen Gestank nach Erbrochenem. Er versuchte selbst, es auszublenden – das letzte, fürchterliche Bild von Melanie Rosen. Er sieht sie, nicht wie sie im Tod aussieht, sondern im Leben. Bei ihrer ersten Begegnung. Ausgerechnet in dem privaten Sexclub in den Hinterräumen einer ErotikBuchhandlung. Der Club ist fensterlos, nur erhellt von dikken, fleischfarbenen, phallischen Kerzen auf wackligen Tischen, die um eine improvisierte, kreisrunde Bühne herum stehen, wo eine mitreißende »Sklavenauktion« im vollen Gange ist. Sie sitzt allein. Mustert nachdenklich den Sklaven, der gerade versteigert wird – ein muskulöser, junger Latino auf allen vieren, der leise, aber mit offensichtlicher Lust wimmert, während die Auktionatorin, Breajanus, ihm einen ihrer Pumps mit Pfennigabsatz ins Kreuz gestemmt hat und auf die ersten Gebote wartet. Emma Margolis, die Gastgeberin von Cutting Edge, stößt ihn an. Sie hat ihn sich für ein Interview geangelt, das sie im Rahmen einer Sendung über Sexclubs in San Francisco mit ihm führen will. Und sie hat ihn überredet, sie in einen dieser Clubs zu begleiten. »Was
meinst du, wieviel soll ich auf diesen Prachtkerl bieten? Das würde meiner Sendung den richtigen Kick geben.« Wagner murmelt etwas, geistesabwesend, den Blick weiter starr auf die Frau jenseits des Ganges gerichtet. »Sei ehrlich, Mike«, hakt Emma nach. »Macht dich so was nicht doch ein bißchen an? Also, um ehrlich zu sein…« Später, während Emma gerade einen der Sklaven interviewt, fängt er die Auktionatorin ab, fragt sie, ob sie die Frau kennt. Breajanus lacht kehlig. »Honey, das ist keine Frau. Das ist meine Therapeutin. Dr. Melanie Rosen.« »Was macht sie hier?« Breas Wangen werden rot. »Einen Hausbesuch. Die Frau Doktor meint, es könnte für meine Behandlung hilfreich sein, wenn sie mich mal in meinem Arbeitsmilieu sieht.« Ihr Gesicht wird ernst. »Ich sag dir was, Wagner, wenn du je eine Therapie brauchst, sie ist allererste Sahne.« Bevor er den Club verläßt, steckt sie ihm die Visitenkarte von Dr. Rosen zu. »Ihnen scheint es nicht viel besser zu gehen als mir, Mike.« Einen Augenblick lang hatte Wagner die verrückte Vorstellung, daß er Melanie Rosens Stimme hörte. Verblüfft stellte er fest, daß ihre Schwester Sarah gesprochen hatte. Zum erstenmal war ihm aufgefallen, wie ähnlich ihre Stimmen waren. Noch immer halb in der intensiven Erinnerung an seine erste Begegnung mit Melanie versunken brauchte er ein paar Sekunden, um zu begreifen, daß er und Sarah in Melanies Schlafzimmer standen. Er war wirklich verdammt angeschlagen, dachte er, denn er konnte sich einfach nicht mehr erinnern, wie er dort hingekommen war. Sarah sah Wagner am Gesicht an, wie sehr er sich quälte. Ging es ihm bei allen Opfern Romeos so, oder war Melanie eine Ausnahme? Sie erinnerte sich, wie begeistert er von ihrer Schwester gesprochen hatte. War der Detective Melanies Faszination ebenso erlegen wie all die anderen? Sie wandte sich von ihm ab, weil seine offensichtliche Bestürzung ihre eigene Verzweiflung nur noch verstärkte.
»Sarah?« »Wer kann es gewesen sein? Im Grunde jeder. Ein neuer Bekannter. Ein neuer Liebhaber. Ein Patient. Wie will die Polizei ihn denn jemals finden? Ihn aufhalten?« »Wir werden ihn kriegen. Das verspreche ich.« Sie schüttelte traurig den Kopf, als sie den hilflosen Ausdruck in Wagners Gesicht sah. Ihr seid Romeo nicht gewachsen, dachte sie. Keiner von uns ist das. Keiner von uns kann ihn aufhalten. Sie wandte sich erneut ab und starrte auf das Messingbett ihrer Schwester. Die nackten Sprungfedern – Matratze und Bettzeug waren ins Polizeilabor geschafft worden – boten einen Anblick, der nicht weniger schwer zu ertragen war als die gräßliche Szene im Wohnzimmer. »Wieso kann es so ein Ungeheuer geben?« Die Frage einer Frau, die ihr ganzes Leben mit Ungeheuern verbracht hat. Und Wagners gepreßte und unbefriedigende Antwort: »Ich wünschte, ich wüßte es, Sarah.« Als Wagner am späten Vormittag in der Nähe von Sarahs Haus parkte, stellte sie mit Erleichterung fest, daß die Reihen der Presseleute sich lichteten. Dann entdeckte sie Allegro, der am Schaufenster des Pornoladens lehnte. Scheiße. Sie hatte gehofft, sich für den Rest des Tages im Bett verkriechen zu können. Wagner stieg aus und eilte um den Wagen herum, um ihr die Tür zu öffnen. Allegro kam angeschlendert, begrüßte beide und richtete dann den Blick auf Sarah. »Ich muß Ihnen bloß ein paar Fragen stellen.« Großartig. Genau danach war ihr jetzt zumute. Sinnlose Fragen beantworten. Erst recht, da sie sich noch immer zittrig fühlte. Und sich über die blödesten Sachen Gedanken machte – wäre Melanie mit dem weichen lilafarbenen Seidenkleid zufrieden, das Sarah für sie ausgesucht hatte? Mit Wagners Hilfe. Er hatte bei der Auswahl recht sicher gewirkt. Hatte er Melanie schon mal in dem Kleid gesehen? Spielte die Phantasie ihr einen Streich? War Wagners Interesse an ihrer Schwester mehr als nur rein beruflicher Natur gewesen?
Allegro trug noch immer denselben zerknitterten Anzug, den er am Vortag angehabt hatte. Sarah fragte sich, ob das sein einziger war. Er hatte sich allerdings rasiert. Wenngleich nicht besonders sorgfältig. Ein winziges Kügelchen Toilettenpapier klebte noch auf einem kleinen Schnitt am Kinn. Als sie die Detectives nebeneinander auf der Straße stehen sah, staunte sie über deren Gegensätzlichkeit. Ihre Augen verharrten noch ein Weilchen länger auf Wagner. Er sah wirklich gut aus. Ob er eine Freundin hatte? Was geht mir denn da durch den Kopf? Drehe ich jetzt völlig durch? »Sie hat einen schlimmen Morgen hinter sich«, sagte Wagner zu seinem Partner. »Vielleicht kannst du ihr die Fragen später stellen. Warte wenigstens, bis sie wieder ruhiger geworden ist und was gegessen hat. Wir können ja nach dem Mittagessen wiederkommen.« »Nein, es geht schon«, schaltete Sarah sich ein. »Ich habe keinen Hunger. Ich möchte es lieber gleich hinter mich bringen. Kommen Sie rein.« Sie ging voraus in ihre Wohnung, entschuldigte sich bei Wagner wegen der Unordnung, so daß es klang, als hätte sie tatsächlich vor, irgendwann einmal aufzuräumen. Allegro gegenüber hatte sie nicht das Bedürfnis, sich zu entschuldigen. Die Detectives blieben stehen, während Sarah einen Stapel Zeitungen zur Seite schob, sich auf die Sofakante setzte, die Hände im Schoß faltete und die Füße übereinanderschlug, so daß die hochgekrempelten Aufschläge ihrer geliehenen Hose deutlich zu sehen waren. Sie fragte sich, was Allegro wohl über ihre Männerkleidung dachte. Im Gegensatz zu Wagner schien er sich überhaupt nicht zu wundern. Vielleicht hielt er sie ja für eine Lesbe. Ach, was spielte es schon für eine Rolle, was er von ihr oder ihrem Aussehen hielt? Es war ihr doch völlig egal, was andere dachten. »Kommen wir gleich zur Sache«, sagte Allegro, dem nach den Ausschweifungen der letzten Nacht in Jake’s Bar und später bei Dee Dee fürchterlich der Schädel brummte. »Gut«, erwiderte Sarah in einem kühlen, distanzierten Ton. Aber ihre Handflächen waren feucht.
Allegro nickte ihr verständnisvoll zu. Sie verkrampfte sich. Kann er durch mich hindurchsehen? Er blickte mißmutig drein, aber diese finstere Miene schien ja wohl sein normaler Gesichtsausdruck zu sein. Als ob auch er nicht gerade ein leichtes Leben gehabt hätte. Einen Moment lang empfand sie wieder diesen beunruhigenden Anflug von Seelenverwandtschaft. »Haben Sie irgendeine Vermutung, wer Ihre Schwester getötet hat?« Die Frage lag auf der Hand, doch als sie tatsächlich kam, starrte Sarah nach unten auf ihre Hände und sah traurig, daß diese zitterten. Rasch schob sie sie unter die Oberschenkel. Allegro fragte erneut, diesmal eindringlicher. Sie blickte rasch auf. »Sie meinen, ob ich eine Ahnung habe, wer Romeo ist?« Sie sah die beiden herausfordernd an. Allegro wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Wagners Mund war zu einer geraden Linie zusammengepreßt. Beide schienen durch ihre Nachfrage verunsichert. »Nein. Keine Ahnung«, meinte sie ausdruckslos. »Gestern haben Sie mir gesagt, daß Ihre Schwester eine Verabredung für Donnerstag abend erwähnt hat«, drängte Allegro. »Ich habe auch gesagt, daß sie mir nicht erzählt hat, mit wem.« Sarah konnte die Ungeduld in ihrer Stimme hören und war sicher, daß die beiden sie ebenfalls hörten. Allegro ließ nicht locker. »Und Sie haben überhaupt keine Vorstellung, wer das gewesen sein könnte? Ein Mann oder eine Frau? Hat sie nie mit Ihnen über jemand Bestimmten gesprochen? Wenn nicht am Donnerstag, dann bei anderer Gelegenheit? Vielleicht hatte sie mal Besuch, als Sie überraschend bei ihr vorbeigeschaut haben…« »Ich habe nie bei ihr vorbeigeschaut«, sagte sie gepreßt. »Ich bin nicht gern in mein altes… Zuhause zurückgekehrt.« Erst recht nicht an diesem Morgen. Aber auch vorher nicht. Wagner ging zu ihr, neigte den Kopf und blickte ihr direkt in die Augen. Aber es war fast so, als würde er noch tiefer in sie hineinsehen. Sarah wurde wieder unruhig unter diesem Blick. »Geben Sie uns die Schuld, Miss Rosen?«
Als sie allein gewesen waren, hatte Wagner sie Sarah genannt. Jetzt war sie »Miss Rosen«. »Meinen Sie, ich denke, einer von Ihnen hat es getan?« fuhr sie ihn an, weil sie sich verraten fühlte, frustriert, fürchterlich wütend. Allegro mischte sich ein. »Nein. Aber vielleicht denken Sie, daß Ihre Schwester noch am Leben sein könnte, wenn wir sie nicht gebeten hätten, uns zu beraten.« In seinem Ton lag nur Mitgefühl. Trotzdem fühlte sich Sarah noch immer in die Ecke gedrängt. »Denken Sie das vielleicht?« »Es ist mir schon durch den Kopf gegangen«, gab Allegro zu. Eine ehrliche Antwort. Das überraschte sie. Sie sah ihm in die Augen. Allegro hielt ihrem Blick stand. Auch das überraschte sie.
7 Er bezieht sein gesteigertes Selbstwertgefühl und seine sexuelle Befriedigung nicht bloß daraus, daß er einzelne Frauen sadistisch quält, sondern auch aus der kollektiven »Faszination«, die seine gräßlichen Taten bei uns auslösen. Dr. Melanie Rosen in Cutting Edge Am Sonntagmorgen wurde Sarah, diesmal ganz in Schwarz gekleidet, von einem uniformierten Polizeibeamten von ihrer Wohnung bis zum Auto begleitet, während die gierigen Presseleute ihr Fragen entgegenschleuderten, Fotos machten und sie mit Videokameras verfolgten. Ihnen war es völlig egal, daß sie auf dem Weg zur Beerdigung ihrer ermordeten Schwester war. Als sie den Wagen erreichten, stellte der Polizist konsterniert fest, daß die Beifahrertür unverschlossen war. »Der ist schon so oft aufgebrochen worden«, sagte Sarah mit gleichgültigem Achselzucken, »daß ich mir meistens nicht mehr die Mühe mache, extra abzuschließen.« »Das sollten Sie aber«, sagte er leicht tadelnd. Sarah nickte, als er ihr die Tür aufhielt. »Danke.« Sie rutschte rasch hinter das Lenkrad und knallte die Tür zu. Der Polizist trat zurück auf den Bürgersteig und winkte noch kurz. Sarah winkte zurück und sah ihm nach, wie er über die Straße davonging. Erst als sie die Zündung einschalten wollte, sah sie es, und der Schreck ließ sie erzittern. Es lag auf dem Armaturenbrett. Die Sonne spiegelte sich auf seiner glänzenden Oberfläche. Ein goldenes Herz. Genau wie jenes, das sie in der vorletzten Nacht am Hals der Katze gesehen hatte. Jetzt jedoch sah sie, daß es kein Anhänger war, sondern ein Medaillon. Was für ein widerlicher, perverser Scherz. Voller Abscheu und Ekel stopfte sie den billigen Schmuck in ihr Handschuhfach. Weg damit, aus ihren Augen, aus ihrem Kopf.
Zwei Stunden später, nach dem Gottesdienst in der Halle des Bestattungsinstituts, stand Sarah am Grab ihrer Schwester auf dem kleinen jüdischen Friedhof am Stadtrand von Colma. In diesem feierlichen Moment mußte sie ausgerechnet an das widerwärtige herzförmige Medaillon denken. Wer konnte es in ihren Wagen gelegt haben? Derselbe Irre, der den Brief unter ihre Tür geschoben hatte? Ein Katzenfreund? Ein Romeo-Fan? Oder gehörte das alles zu einem finsteren Plan? Und wenn der Herzensbrecher selbst dahinter steckte? Wenn Romeo nun sie umwarb? Bei derart verrückten Gedanken war es ja kein Wunder, daß sie sich nicht auf ihre Trauer konzentrieren konnte. Lügnerin. Das ist nicht der einzige Grund, warum du nicht trauern kannst. Was ist mit deiner Schuld, Sarah? Was ist mit den vielen Malen, wo du dir heimlich gewünscht hast, Melanie würde sterben? Ist das hier die Erfüllung deines Wunsches? Und du, Romeo? Was meinst du? Wie geht es dir mit der Erfüllung deiner Wünsche? Wo war das Ungeheuer? Sarah spürte, daß er irgendwo da draußen war und sich an seinem Erfolg ergötzte. Sie verdrängte ihn aus ihren Gedanken, konzentrierte sich nur auf Melanie, die tot in diesem schlichten Kiefernsarg lag und nun neben ihrer Mutter beerdigt werden sollte. Ob Melanie und Cheryl jetzt oben im Himmel zusammen waren? Wahrscheinlich nicht. Ihre Mutter und ihre Schwester hatten zu Lebzeiten nicht viele glückliche Augenblicke miteinander erlebt. Es gab kaum einen Grund, anzunehmen, daß es nun im Tode anders wäre. Melanie hatte wie ihr Vater nie ertragen können, daß ihre Mutter so schwach war. Sie waren beide starke Menschen. Zähe Menschen. Jetzt war Melanie tot. Und ihr Vater konnte sich kaum noch an seinen eigenen Namen erinnern. Dr. Simon Rosen war nicht anwesend, um Abschied von seiner ältesten Tochter zu nehmen. Er wußte noch immer nicht, daß seine süße Kleine tot war. Der Arzt im Pflegeheim fürchtete, daß die Nachricht für sein schwaches Herz zuviel sein würde, und Feldman pflichtete ihm entschieden bei. Zuvor hatte es keiner für nötig befunden, Sarah mitzuteilen, daß ihr Vater
herzkrank war. Noch nicht einmal Melanie hatte das getan. Aber Sarah konnte sich denken, warum Melanie es ihr nicht erzählt hatte. Um sich eine hämische Bemerkung zu ersparen wie: Ich hätte nicht gedacht, daß er überhaupt ein Herz hat. Und sie konnte sich vorstellen, was Melanie gekontert hätte. Nicht er ist es, der sich herzlos benimmt, Sarah. In ihrer Stimme hätte dann die altvertraute Mischung aus Frustration, Wut und Ärger mitgeschwungen. Zum erstenmal an diesem Tag brannten Sarahs Augen. Es tut mir leid, Melanie. Ich bin wirklich nicht herzlos. Sie ertappte Feldman dabei, daß er sie beobachtete. Der Psychiater stand links von ihr, so nah, daß er sie hätte berühren können, aber natürlich tat er das nicht. Er würde auf keinen Fall das Risiko eingehen, sie wieder in Rage zu bringen. Schlimm genug, daß sie ihn unter vier Augen angegriffen hatte. Diesmal waren Dutzende von seinen Kollegen da, die gekommen waren, um Melanie die letzte Ehre zu erweisen. Was würden sie denken, wenn Feldman der trauernden Schwester wohlmeinend über den Rücken strich und sie ihn daraufhin zusammenschlug? Sarah fand es absurderweise tröstlich, sich eine solche Szene vorzustellen. Der renommierte Arzt, der sich unter ihren Schlägen krümmte. Schock und Entsetzen auf allen Gesichtern. Die Erniedrigung ihres ehemaligen Therapeuten. Komm schon, Feldman, wäre es dir nicht lieber, daß ich meiner Wut Ausdruck verleihe, anstatt sie zu unterdrücken? Oder sie gegen mich selbst zu richten? Das hast du mir doch dauernd vorgebetet? Oder etwa nicht, Feldman? »Das nennt man Verdrängung, Sarah«, erklärt er ihr mit seinem starken ungarischen Akzent. »Du hast schreckliche Angst davor, zurückzuschauen, in dich hineinzuschauen.« Sie ist achtzehn Jahre alt. Sitzt stocksteif in einem Ledersessel in Dr. Stanley Feldmans mit Walnußholz getäfeltem Sprechzimmer. Die Arme hat sie schützend vor der Brust verschränkt. »Ich beklage mich nicht, Feldman.« »Warum bist du dann hier?«
»Ich habe mir die Pulsadern aufgeschnitten. Und es verpfuscht.« Schlagfertig. Lächelnd. Aber ein langärmliges Hemd bedeckt die noch nicht ganz verheilten Wunden. »Und nun? Willst du, daß ich dir dabei helfe, es beim nächsten Mal richtig anzustellen?« Wut steigt in ihr auf. »Weißt du, was ich am meisten an euch allen hasse? Ihr habt tausend Fragen und keine Antworten.« Sie ist aufgesprungen. Auf dem Weg zur Tür. Es reicht. »Ich kann dir keine Antworten geben, Sarah. Die hast nur du selbst…« Es war eine gemeine Lüge. Sie hatte keine Antworten. Sie hatte keine Antwort auf die Frage, warum ihre Mutter sich umgebracht hatte, warum sie selbst mehr als nur einmal versucht hatte, sich umzubringen, warum Melanie Romeo zum Opfer gefallen war oder warum sie allmählich die Angst beschlich, daß sie sein nächstes Opfer sein könnte. Der Rabbi, eine silberfarbene Jarmulke auf dem kurzen grauen Haar und einen mit blauen, weißen und goldenen Quasten besetzten baumwollenen Tallith über dem marineblauen Anzug, stand am Kopfende von Melanies Sarg und beendete gerade das Kaddisch, das alte Totengebet. Rechts von Sarah schniefte Bernie und wischte sich mit einem zerknitterten blauen Riesentaschentuch über die Augen, obwohl er Melanie kaum gekannt hatte. Es mangelte nicht an tränenreichen Trauernden. Sarah kannte die wenigsten von ihnen. Wohl an die hundert – Kollegen, Freunde und einige Patienten – hatten sich zur Beerdigung eingefunden. Eine Truppe von Polizisten hielt die unvermeidliche Meute von Kameraleuten, Reportern, Fotografen und Schaulustigen auf Abstand. Sarah sah Bill Dennison auf der anderen Seite des Sarges neben dem Rabbi stehen. Siehe da, der trauernde Exgatte. Elegant gekleidet wie immer. Maßgeschneiderter, blauer, zweireihiger Nadelstreifenanzug. Ein Therapeut, der aussah wie ein Filmstar. Sein attraktives Gesicht war gerade markant genug, um nicht langweilig zu wirken.
Sie sah Tränen in seinen Augen stehen. Wem oder was galten sie? Schwer zu sagen bei Bill. Er hatte eine solche Gabe, immer den richtigen Ton anzuschlagen, die passende Antwort zu geben, das Richtige zu sagen und zu tun – meistens. Aber andererseits war niemand perfekt. Nicht einmal Dr. William H. Dennison. Vielleicht war sie zu zynisch. Seine Tränen konnten echt sein. Aber was spiegelten sie wider? Verlust? Reue? Schuldgefühl, wegen all der Geheimnisse, die er bewahrt hatte? Von denen sie beide sich eins teilten. Hatte er es Melanie jemals erzählt? Sarah glaubte es nicht. Und Bill wußte, daß sie kein Sterbenswörtchen erzählt hatte. Dazu kannte er sie gut genug. Sie war eine Meisterin, wenn es darum ging, Geheimnisse zu bewahren. Als Dennison zu ihr herüberschaute, sah sie weg und entdeckte Wagner und Allegro. Die beiden Detectives standen in einigem Abstand sowohl von der Trauergemeinde als auch von der Presse. Wagner trug einen eleganten blauen Anzug, weißes Hemd, blau-grün gestreifte Krawatte und seine Fliegersonnenbrille. Wegen des grellen Sonnenlichts? Oder um seine Tränen zu verbergen? Allegro hatte heute einen anderen Anzug an. Also besaß er doch zwei. Der hier war nicht gerade eine Verbesserung. Langweiliges Braun, schmales Revers, ausgebeulte Knie, weil er zu oft vergessen hatte, die Hosenbeine hochzuziehen, bevor er sich setzte. Aber dieses Exemplar war weniger zerknittert als das andere, und ihr fiel auf, daß er eine halbwegs passende Wollkrawatte trug. Oh er diese Garderobe bei allen Beerdigungen von Romeos abgelegten Geliebten trug? Sarah war sicher, daß Allegro und Wagner nicht bloß gekommen waren, um Melanie die letzte Ehre zu erweisen. Oder ein paar Tränen zu vergießen. Sie erkannte es daran, daß Allegro den Blick unablässig über die Trauergemeinde schweifen ließ und daß Wagner sich immer wieder zu seinem Partner hinüberbeugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Ihre Augen wanderten von den Detectives zu einem Mann links von Wagner, der Fotos machte. Sie nahm an, daß es sich um einen Polizeifotografen handelte. Er hatte wohl auch bei den
Beerdigungen der anderen Opfer Fotos gemacht. Um festzustellen, ob irgendwelche Trauergäste jedesmal wieder dabei waren? Vermuteten sie vielleicht auch, daß Romeo hier war? Daß es ein Teil seines Rituals war, an den Beerdigungen seiner Opfer teilzunehmen? Es auszukosten? Sich an dem Schmerz der Menschen zu weiden, die um sie trauerten? Das wäre makaber, krank und pervers. Genau das, was ein abartiger Irrer wie Romeo tun würde. Hinter ihr fing ein Mann an, laut zu schluchzen. Sie sah sich um. Es war Melanies Patient. Robert Perry. Er hatte schon vor der Trauerfeier kaum seine Tränen zurückhalten können, als er ihr sein Beileid aussprach. Der Mann benahm sich wirklich eher wie ein trauernder Liebhaber und nicht wie ein Patient. War es möglich, daß Perry und Melanie eine Affäre gehabt hatten, wie Allegro angedeutet hatte? Schwer vorstellbar. Wahrscheinlich war es Perrys Wunschvorstellung. Patienten verliebten sich immer in ihre Therapeuten. Und in ihrer Phantasie brachten die Therapeuten ihnen oftmals die gleichen Gefühle entgegen. Spielte Perry Theater? Sarah mußte an den seelenvollen Blick denken, mit dem er sie angesehen hatte, als er ihr erzählte, wie entsetzlich Melanies Tod für ihn war. Weil sie tot war? Oder weil er sie umgebracht hatte? Mörderische Wut stieg in Sarah auf. Sie sah rasch zu den Polizisten hinüber. Stand Perry ganz oben auf ihrer Liste? Offensichtlich hatten sie keine ausreichenden Beweise gefunden, sonst wäre er bereits verhaftet worden. Aber andererseits hatten sie nicht den geringsten Anhaltspunkt, der auf irgend jemanden hindeutete. Fünf Frauen ermordet. Einschließlich ihrer eigenen sachverständigen Beraterin. Und die Cops standen vor dem Nichts. Perry weinte jetzt leiser. Sarah sah sich nervös nach ihm um und stellte fest, daß er von einer großen, schönen Frau Mitte Dreißig getröstet wurde. Sie hatte einen makellosen kaffeebraunen Teint und trug ein schlichtes graues, enganliegendes Seidenkleid mit perlfarbenen Knöpfen, die bis hinunter zum Saum
verliefen. Die untersten beiden hatte sie nicht zugeknöpft, und Sarah konnte kurz muskulöse braune Beine sehen. Als Sarahs Blick wieder hinauf zum Gesicht der Frau wanderte, verharrte er auf dem kurzgeschnittenen Haar und den Kreolenohrringen. Und dann erkannte sie sie. Die Frau von Cutting Edge. Emma. Emma Margolis. Was hatte diese miese Fernsehjournalistin auf der Beerdigung zu suchen? Was zum Teufel fiel ihr ein? Natürlich den Hauptverdächtigen trösten. Machte sie sich an Perry ran, damit er in ihrer Sendung auftrat? Wollte sie sämtliche gräßlichen Einzelheiten über die Entdeckung der verstümmelten Leiche seiner Therapeutin aus ihm rausholen? Würde das die Einschaltquoten in die Höhe treiben? Vielleicht konnte Sarah nicht trauern, aber sie fühlte sich zutiefst bedrängt und zugleich außerstande, auch nur das geringste dagegen zu unternehmen. Als Sarah nach der Beerdigung gerade in Bernies speziell für ihn umgebautes schwarzes Fiat-Kabriolett einsteigen wollte, ragte hinter ihr ein Schatten auf. Sie wandte sich nervös um und stand der Fernsehmoderatorin gegenüber. »Ich bin Emma Margolis.« Sie hielt Sarah die Hand entgegen. »Ich weiß«, sagte Sarah unterkühlt. Ihr fiel auf, daß die Frau eine schmale Lücke zwischen den perlweißen Vorderzähnen hatte, was aber ihrer kühlen, kultivierten Attraktivität keinen Abbruch tat. Als Sarah keine Anstalten machte, die ausgestreckte Hand der Frau zu ergreifen, ließ Emma Margolis ihren Arm wieder sinken. »Ich wünschte, ich könnte etwas weniger Banales sagen, als daß es mir sehr leid tut, aber ich meine es wirklich aufrichtig. Ich habe Ihre Schwester sehr gern gehabt. Wir waren Freundinnen…« »Was wollen Sie?« fragte Sarah aggressiv. »Ich mache ein Nachrichtenmagazin im Fernsehen…« »Auch das ist mir bekannt«, unterbrach Sarah sie, und ihre Miene wurde noch abweisender. Emma Margolis nickte. Als ob sie genau verstünde, was in Sarahs Kopf vorging.
Bernie saß bereits hinter dem Steuer, und sein zusammengeklappter Rollstuhl ragte aus dem engen Fond des Sportwagens. Er hatte das kurze Gespräch mitverfolgt. »Wir müssen los, Sarah.« Sarahs Herz raste. Sie nickte, und ihre Hand umschloß den Türgriff. »Können wir uns in den nächsten Tagen mal unterhalten?« fragte Emma Margolis hastig, als Sarah die Tür öffnete. Sarah beäugte sie mißtrauisch. »Worüber?« »Über Melanie.« »Nein«, sagte Sarah schneidend. »Und über – Romeo.« Die Knöchel von Sarahs Hand um den Chromgriff der Tür traten weiß hervor. Emma packte den dünnen Ärmel von Sarahs schwarzer Baumwollbluse. Sie beugte sich vor, und ihre Stimme war bloß ein Flüstern im Wind. »Er hat mit Ihnen Kontakt aufgenommen, nicht wahr?« Sarah erstarrte. »Ich weiß, das ist nicht der richtige Zeitpunkt«, fuhr Emma fort, »aber ich denke, wir sollten miteinander reden, Sarah. Unter vier Augen natürlich.« Sarahs ganze Wut, Verwirrung und schwelende Panik brannten wie Nadeln auf ihrer Haut. Wortlos riß sie die Wagentür auf und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Ich muß hier weg. Fliehen. Abbauen. Bevor ich zerplatze. Nach der Beerdigung sahen Wagner und Allegro zu, daß sie so schnell wie möglich in Allegros MG wegkamen, bevor die Reporter sich auf sie stürzten, die nach einer offiziellen Stellungnahme gierten. Der Mord an Dr. Melanie Rosen war tatsächlich landesweit zur wichtigsten Nachricht geworden. Die Medien prangerten die Unfähigkeit der Romeo-Sondereinheit an, während der Killer der bekannten Psychiaterin von der Sensationspresse fast wie ein Star behandelt wurde. Romeo schlägt wieder zu. Seid auf der Hut, Ladies, sonst stiehlt er euer Herz – im wahrsten Sinne des Wortes!
An dem großen gußeisernen Tor, durch das man vom Friedhof auf die schmale Zufahrt gelangte, ging der Motor des MG aus, und die Ölanzeige blinkte. Allegro hatte schon vor über einer Woche bemerkt, daß der Wagen Öl verlor. Die ganze Zeit über hatte er welches nachfüllen wollen, es aber immer wieder vergessen. Er hatte zu viele andere Dinge im Kopf. »Scheiße.« Er dachte schon, er hätte es übertrieben, aber beim dritten Versuch sprang der Wagen wieder an, und das Lämpchen der Ölanzeige erlosch. Er trat das Gaspedal durch und bog mit quietschenden Reifen nach rechts auf die Straße. »Sie hat sich ganz gut gehalten«, meinte Wagner und griff nach dem Sicherheitsgurt. Allegro schnallte sich nicht an. Der Gurt des Fahrersitzes war schon seit zwei Jahren verklemmt. »Ja. Ganz schön zäh.« Er wußte, daß Wagner von Sarah sprach. Wagner zündete sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an und sah nachdenklich zu seinem Partner hinüber. Allegro bog ohne zu blinken nach links auf die Schnellstraße ab, und der Fahrer, den er geschnitten hatte, hupte wütend. »Du hast bestimmt an sie gedacht, oder?« fragte Wagner nach einer kurzen Pause. »An wen?« Allegro war nicht sicher, ob er Melanie oder Sarah meinte. Sie waren ihm beide durch den Kopf gegangen. Wagner nahm einen tiefen Zug. »Deine Frau. Grace.« Ein Kiefermuskel zuckte in Allegros Gesicht. Das war ein Schlag ohne Vorwarnung gewesen. »Tut mir leid«, sagte Wagner schnell. »Ich weiß ja, daß du nicht gern darüber redest. Ich dachte bloß… hör mal, John, ich weiß, die letzten Monate waren hart für dich. Erst stirbt deine Frau, und jetzt – ich weiß, daß sie dir etwas bedeutet hat. Melanie meine ich.« Allegro starrte geradeaus auf die Schnellstraße, fuhr fast automatisch. Den ganzen Tag über hatte sich Grace immer wieder in seine Gedanken geschlichen. Aber schließlich gelang ihr das ja auch sonst öfter, als ihm lieb war. Vor allem nachts. Manchmal hielt der Alkohol sie auf Distanz, manchmal aber auch nicht.
Er hatte eine kurze Schonzeit gehabt. Von Mitte Februar bis Ende März, als sie zur Behandlung in Berkeley gewesen war. Das war eine glückliche Zeit gewesen, in der sie ihn nicht anrief und nicht mitten in der Nacht vor seiner Tür stand. Okay, vielleicht war »glücklich« ein bißchen übertrieben. Aber er hatte sich zweifellos weniger angespannt, weniger bedrückt gefühlt. Weniger schuldig. Diese Zeit war unwiederbringlich zu Ende gegangen, als er sie in der Klinik abholte. Trotz dem eindringlichen Zuraten der Ärzte, daß seine Frau sich als »Externe« weiterhin behandeln lassen sollte, wollte Grace nichts davon hören. Sie sagte ihm, daß sie von Therapeuten die Nase voll habe und sich lieber ein paar Wochen auf Hawaii erholen wollte. Sie klingt ein bißchen manisch, aber das ist immer noch besser als ihre depressiven Phasen. Sie sagt, wo sie wohnen wird, damit er sie erreichen kann, wenn er will. Er sagt, das würde er bestimmt tun. Er lügt, und er weiß, daß sie es weiß. Das gehört zu ihrem Spiel. Wagner bringt ihm die schlechte Nachricht bei, als er am nächsten Morgen ins Büro kommt. Grace’ Hausverwalter hat sie gefunden. Im Hof. »Sie muß… aus dem Fenster… gefallen sein. Es tut mir leid. Wirklich leid, John«, sagt Wagner. Er sagt nichts. Wartet nur ab, denkt nur an den doppelten Jim Beam, den er sich sofort hinter die Binde kippen wird, sobald er in der Bar gegenüber ist. Bei der gerichtlichen Untersuchung wird festgestellt, daß Grace’ Tod Selbstmord war. Obwohl sie keinen Abschiedsbrief hinterlassen hat. Obwohl Flugticket und Hotelreservierung in ihrer Handtasche gefunden wurden. Die Gutachten, die von einem ganzen Heer von Psychiatern angefordert wurden, unter anderem auch von Dr. Melanie Rosen, belegen ihre langjährige Suizidgefährdung sowie etliche gescheiterte Selbstmordversuche seit dem Tod ihres Sohnes. Ein klarer Fall. »Meinst du, unser Bursche war da?« fragte Wagner und riß Allegro aus seinen Gedanken.
Allegro lachte rauh auf. »Darauf kannst du Gift nehmen.« »Perry?« hakte Wagner nach. »Ich weiß nicht.« »Meinst du, er – hat mit ihr geschlafen?« »Bin ich Gedankenleser?« knurrte Allegro. Dann schielte er zu seinem Partner hinüber. »Entschuldigung.« »Schon gut.« Wagner lächelte. »Ach Scheiße, ich könnte jetzt auf der Stelle einen Drink vertragen.« Allegro lachte. »Du bist hier der Gedankenleser.« »Na, was meinst du?« »Später. Wir haben noch Arbeit vor uns.« »Perrys Frau?« Allegro nickte. Als sie Robert Perry am Vortag auf dem Präsidium verhört hatten, war er noch immer in ziemlich schlechter Verfassung gewesen, aber nicht so schlecht, daß er vergessen hätte, seinen Anwalt mitzubringen. Wagner hatte ihn gefragt, wo er Donnerstag abend zwischen acht Uhr und Mitternacht gewesen war. Perry beriet sich mit seinem Anwalt, bevor er antwortete. Er behauptete, daß er Donnerstag abend, in der Zeit, als seine Therapeutin, Dr. Melanie Rosen, in ihrem Haus auf der Scott Street in Pacific Heights ermordet wurde, in einem Kino in North Beach gewesen war und zwei Reihen hinter seiner von ihm getrennt lebenden Frau und ihrem neuen Freund gesessen habe. Zum Beweis holte er eine abgerissene Kinokarte aus der Hosentasche seiner Jeans. Er gab sogar an, seine Frau könne sein Alibi bestätigen. Offenbar hatte er einen kurzen Zusammenstoß mit ihr am Getränkestand. Er wußte nicht mehr um wieviel Uhr, aber er nahm an, daß es so gegen neun Uhr gewesen sein mußte. Auf die Frage, wo er sich an den Abenden aufgehalten hatte, als die anderen Romeo-Morde geschehen waren, blickte er sie geistesabwesend an und sagte, er könne sich nicht erinnern. Als Allegro und Wagner versuchten, ihn in die Mangel zu nehmen, brach Perry zusammen, und der Anwalt forderte, daß sie aufhörten, seinen Mandanten einzuschüchtern. Oder wollten sie ihn etwa festnehmen? Nein, hatte Allegro gesagt. Sie wollten ihn nicht festnehmen. Noch nicht.
»Wie wär’s, wenn wir irgendwo was zu Mittag essen, bevor wir uns mit Mrs. Perry unterhalten?« schlug Wagner vor und schnippte seine Zigarettenkippe aus dem Fenster. Zurück in San Francisco gingen die Detectives in ein thailändisches Restaurant auf der geschäftigen, chaotischen Clement Street. Cynthia Perry wohnte nur wenige Minuten entfernt in einem der zahlreichen Reihenhäuser im Richmond-Distrikt, einer überwiegend von Asiaten bewohnten Gegend zwischen Golden Gate Park und Presidio Park. Das ganze Gebiet war mittlerweile zum zweiten Chinatown der Stadt geworden, wenngleich die Bevölkerung hier bunter gemischt war – Chinesen, Japaner, Indonesier, Koreaner und in jüngster Zeit auch Flüchtlinge aus Thailand. Während er aß, dachte Allegro unablässig an das schöne, kalte Budweiser, das er nicht dazu trank. Kein guter Tag, um zu trinken. Und zwar nicht nur, weil er im Dienst war. Er hatte auch wieder eine seiner Stimmungen, in denen er nichts in den Griff bekam. Wenn er jetzt anfing, das wußte er, würde er bis zur Bewußtlosigkeit trinken. Aber wahrscheinlich würde er das so oder so, sobald er abends nach Hause kam. Allegro wickelte ein paar Thai-Nudeln mit der Gabel auf. Aber statt die Gabel zum Mund zu führen, sah er zu Wagner hinüber. »Fünf Beerdigungen verdanken wir diesem verdammten Schwein. Und wir haben absolut nichts in der Hand.« Er faßte alle Opfer Romeos zusammen, als ob das letzte sich in keiner Weise von den anderen abgehoben hätte. Dabei konnte er das niemandem weismachen. Vor allem nicht Wagner. Allegro wußte, daß Melanies Tod auch seinem Partner schwer zu schaffen machte. Sie würden auf keinen Fall darüber reden. Darüber, was sie beide durchmachten. Sie sprachen nicht über ihre Gefühle. Komm zur Sache, ermahnte Allegro sich selbst. Das ist sicherer. »Hast du irgendwelche bekannten Gesichter bei der Trauerfeier oder auf dem Friedhof gesehen?« Wagner zuckte die Achseln. »Jede Menge Schmierfinken, aber mehr auch nicht.« Allegros Blick verfinsterte sich. Sie hatten bereits die gesamte Gruppe von Pressehaien unter die Lupe genommen. »Vielleicht,
wenn wir Johnsons Schnappschüsse durchsehen.« Er klang nicht sehr optimistisch. »Er könnte sich irgendwo versteckt gehalten haben.« Wagner stach in eine Bambussprosse auf seinem Teller mit Curryhühnchen. »Aber vielleicht hat er sich diesmal gezeigt.« Er meinte damit Perry, wie Allegro sofort begriff. »Bis jetzt hat er uns nicht sagen können, wo er sich zum Zeitpunkt der anderen Morde aufgehalten hat«, rief Wagner ihm in Erinnerung. »Könntest du das, einfach so aus dem Kopf? Könnte ich es? Jedenfalls wäre ich sehr viel mißtrauischer gewesen, wenn er uns seine Alibis für die anderen Abende nur so runtergerasselt hätte.« »Stimmt«, gab Wagner zu. »Aber trotzdem müssen wir das überprüfen, und falls wir irgendwas dabei rausfinden, könnten wir seine psychiatrischen Akten per Gerichtsbeschluß anfordern.« »Als erstes werden wir uns mal mit William Dennison unterhalten. Er wird sich um Melanies Fälle kümmern, einige an Kollegen überweisen und andere selbst übernehmen. Vielleicht behandelt er ja auch Perry. Unter diesen Umständen könnte Dennison bereit sein, ein Auge zuzudrücken, und uns was über Perry oder irgendeinen anderen von Melanies Patienten erzählen, der in Frage kommt. Aber ich persönlich denke, daß Perry völlig durchgeknallt ist.« »Und ob.« Wagner zögerte. »Aber wenn er es nicht ist, selbst wenn in ihren Unterlagen was darüber steht, dann könnte es doch sein, daß Dennison uns nichts davon sagen wird. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er Melanies Reputation als Therapeutin gefährden möchte. Und das heißt, falls es andere männliche Patienten gab, mit denen sie liiert war…« »Wir sollten die Sache nicht unnötig komplizieren, Mike. Falls sich herausstellt, daß wir Dennison unter Druck setzen müssen, dann werden wir ihn eben unter Druck setzen. Und zwar so stark wie nötig. Er wird reden, wenn es etwas zu erzählen gibt.«
Wagner nickte und nahm geschickt ein Stück Hühnchenfleisch mit seinen Eßstäbchen vom Teller. »Was hältst du von Dennison?« »Nicht viel.« »Ist er unser Ladykiller?« Allegro deutete mit dem Daumen nach unten und fügte hinzu: »Zu weit hergeholt.« »Weil er Therapeut ist?« konterte Wagner. »Wenn du mal an Melanies Beschreibung von Romeo denkst, dann paßt Dennison genau. Er ist gewandt, intelligent und ein echter Charmeur. So richtig aalglatt. Und was für eine phantastische Tarnung. Wer würde denn schon einem Therapeuten mißtrauen?« »Viele Leute«, sagte Allegro mit einem schiefen Lächeln. »Okay, aber viele auch nicht.« »Sie hat sich von ihm scheiden lassen, vergiß das nicht.« »Vielleicht hat sie es sich später anders überlegt. Wir wissen schließlich, daß Dennison wieder mit ihr zusammensein wollte«, überlegte Wagner. »Vielleicht ist es ihm gelungen. Vielleicht war sie am Donnerstag abend mit ihm verabredet.« »Wir werden ihn fragen, aber…« »Aber was?« fragte Wagner nach. »Ich habe da nicht viel Hoffnung. Sie schien nicht gerade wild darauf zu sein, wieder mit ihm zusammenzukommen«, sagte Allegro. »Andererseits war er ganz schön hartnäckig«, fügte er hinzu, als ihm eine kleine Szene einfiel, die sich vor ungefähr einem Monat vor dem Präsidium ereignet hatte. Er und Wagner kommen mit Melanie gegen elf Uhr abends nach einer langen, anstrengenden Besprechung aus dem Gebäude. An diesem Nachmittag war Opfer Nummer vier gefunden worden. Margaret Anne Beiner, eine gutaussehende, brünette Soziologieprofessorin am Bay State Community College. Sie war von einem Kollegen, der sich ein Buch ausleihen wollte, in ihrer Wohnung auf der Sutler Street entdeckt worden. Das Herz neben ihr auf dem blutgetränkten Bett stammte von Karen Austin, Opfer Nummer drei. Dennison lehnt an seinem teuren BMW und nähert sich Melanie, als die drei aus dem Gebäude treten. Melanie hebt die Hand.
»Fahr nach Hause, Bill. Ich dachte, wir hätten abgemacht…« »Ich habe nichts abgemacht, Melanie. Laß uns doch irgendwo was trinken und miteinander reden. Vielleicht auch noch einen Happen essen?« »Ich habe schon gegessen.« »Ich könnte dich nach Hause fahren«, schlägt Dennison vor. »John nimmt mich in seinem Wagen mit.« Dennison will widersprechen. »Vielleicht fahren Sie jetzt besser auch nach Hause.« Der warnende Tonfall in Allegros Stimme ist nicht zu überhören. Dennison funkelt ihn an. »Was wollen Sie denn machen? Mich wegen Herumlungerns verhaften?« »Fang keinen Ärger an, Bill. Damit machst du dich nur lächerlich, und du weißt doch, wie sehr du so was haßt«, sagt Melanie kühl. »Warum tust du mir das an, Melanie? Ich dachte, wir…« Dennison macht einen Schritt auf sie zu. Wagner legt beruhigend eine Hand auf Allegros Arm, als der sich Dennison in den Weg stellen will. »Laß das, John.« »Okay, okay, ich gehe«, murmelt Dennison und weicht zurück. »Aber morgen rufe ich dich an, Melanie.« Allegro wußte nicht, ob Dennison Melanie am nächsten Tag angerufen hatte oder ob sie sich gesehen hatten. Er betrachtete Wagner über den Tisch hinweg, die Essensreste auf ihren Tellern waren inzwischen kalt. »Na schön, er wollte sie wiederhaben. Die Frage ist, wissen wir, was sie wollte?« Wagner nahm die Papierserviette von seinem Schoß, knüllte sie zusammen und warf sie auf den Tisch. »Das werden wir wohl nie erfahren, oder?«
8 Ich verbrenne. Kann nicht genug bekommen. Kann nicht aufhören. Ich schreie nach dir, noch während ich es mit anderen versuche. Aber ich blende sie aus und verführe sie gleichzeitig. M. R. Tagebuch Nach der Beerdigung hatte Dr. Feldman die Trauergäste in sein um die Jahrhundertwende erbautes Haus auf dem Nob Hill eingeladen. Es handelte sich überwiegend um Kollegen Melanies, die alle von der entsetzlichen Nachricht schwer getroffen waren. Feldman hatte versucht, Sarah zum Kommen zu überreden – und wenn auch nur für einen Moment –, aber sie hatte rundweg abgelehnt. Sie wollte nach der Beerdigung nur so schnell wie möglich nach Hause, ein langes heißes Bad nehmen, ins Bett kriechen und mindestens zwei Tage nicht mehr aufstehen. Die ganze Welt aussperren. Bis sie wieder klar denken konnte. Als Bernie in ihre Straße einbog, hatte Sarah ganz plötzlich ihre Meinung geändert und bat ihn, sie doch noch zu Feldman zu bringen. Bernie war nicht schlecht erstaunt. »Bist du wirklich sicher, Sarah?« »Ich bin mir nie sicher, Bernie.« Er hielt am Straßenrand und wandte sich ihr zu. »Ich weiß, du und deine Schwester, ihr standet euch nicht sonderlich nahe, Sarah. Und vielleicht hast du deshalb ein schlechtes Gewissen. Vielleicht denkst du, du hättest etwas anders machen können oder sollen. Das ist ganz natürlich. Bis zu einem gewissen Punkt. Laß dich dadurch nicht fertigmachen, Kleines. Du hast deine Schwester auf deine Weise geliebt. Und ich weiß, wie sehr du leidest.« Sarah warf ihm einen gequälten Blick zu. »Wag es bloß nicht, mich zum Heulen zu bringen, Bernie Grossman.« »Warum nicht?« fragte er sanft. »Weil mir Weinen nichts bringt. Ich muß wütend bleiben. Ich muß mich schützen.« »Wovor schützen?«
Der Brief fiel ihr ein. Das Medaillon. Und die Bemerkung von dieser Fernsehmoderatorin auf dem Friedhof. »Er hat mit Ihnen Kontakt aufgenommen, nicht wahr?« Woher wußte sie das? Wieso glaubte Emma Margolis, daß es Romeo war und nicht irgendein geschmackloser Witzbold? »Ich bin durcheinander, Bernie. Ich bin zornig. Ich bin so gottverdammt wütend. Melanie hat jahrelang versucht, diesen Pissern zu helfen. Und dann dankt ihr einer, indem er…« Sie biß die Zähne aufeinander. »Melanie ist tot, und dieses Ungeheuer ist irgendwo da draußen und weidet sich daran.« »Sarah, die Cops kriegen ihn. Die werden jetzt das Unterste zuoberst kehren, bis sie ihn haben. Am besten, du versuchst jetzt, es hinter dir zu lassen.« »Das heißt, so zu tun, als ob nichts passiert wäre. Das kann ich nicht, Bernie. Diesmal kann ich nicht weglaufen. Wenn ich das mache, bin ich erledigt.« »Erledigt? Sarah, jetzt machst du mir angst. Was soll das heißen, ›erledigt‹?« Ihr Gesicht war ausdruckslos. »Nichts. Ich bin total überreizt. Fahr mich einfach zu Feldman, Bernie.« Er seufzte theatralisch. »Dein Wunsch ist mir Befehl. Ich bin für dich da. Vergiß das nicht. Versprochen?« »Versprochen.« »Willst du, daß ich mitkomme? So viele Seelenklempner auf einem Haufen. Ich weiß nicht, Sarah. Könnte ein echter Gehirnwaschtag werden«, scherzte er, während er den Wagen wendete. Sarah lächelte schwach, schüttelte aber den Kopf. »Nein, ich komme schon klar«, und sie hoffte, damit sich selbst ebenso zu beruhigen wie ihn. Er streckte den Arm aus und drückte ihre Hand. »Einem alten Hasen kannst du nichts vormachen, Kindchen. So was dauert seine Zeit. Das wissen wir doch beide. Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut.« »Ja«, sagte Sarah. Sie spürte in ihrem Innern eine Bombe tikken. Sie konnte jeden Augenblick in die Luft gehen. Und alle mit sich reißen, die ihr nahestanden. Die wenigen, die noch übrig waren.
Fünfzehn Minuten später setzte Bernie sie vor Dr. Stanley Feldmans nobler Residenz ab. Er sah ihr nach, wie sie zögernd die Treppe zu der in Blau, Beige und Weiß gehaltenen Villa hinaufstieg, und dachte, sie würde vielleicht doch noch einen Rückzieher machen. Aber nachdem sie die Klingel betätigt hatte, drehte sie sich um und winkte ihm zu. Bernie hupte einmal kurz und fuhr ab. Der Psychiater wirkte überrascht, als er die Haustür öffnete und Sarah vor ihm stand. »Deine Pokermiene wird rissig, Feldman.« Sarah genoß diese kleinen Sticheleien. Er trat zur Seite, um sie in sein geräumiges Foyer einzulassen. Die Wände waren mit einer auffälligen creme-bronze gestreiften Tapete bedeckt, der Boden mit schwarzen Marmorfliesen, die von goldenen Fäden durchzogen wurden. Der Raum wirkte apart, elegant, aber auch streng. Wie der Mann, der hier wohnte. »Ich bin froh, daß du gekommen bist.« Er betrachtete sie jetzt mit seinem wesentlich vertrauteren abschätzenden Blick, in dem heute ein Hauch von Melancholie lag. »Ein Zeichen geistiger Gesundheit?« Seine vollen Lippen bogen sich leicht nach oben. »Wenn ich dir zustimme, verscheucht dich das vielleicht wieder.« Seine neckisch anmutende Antwort machte sie nur noch argwöhnischer. Wollte er sie bei Laune halten? Eine neue Methode? So wie sie Feldman kannte, war er wahrscheinlich nicht bereit, eine Niederlage einzugestehen. Andererseits, wie gut kannte sie Feldman wirklich? Als ihr Analytiker hatte er seine Gefühle stets ebenso verborgen gehalten wie seine Strategie. Sie warf einen Blick ins Wohnzimmer. »Sind viele da?« »Nein«, sagte Feldman. »Vielleicht zwanzig, fünfundzwanzig. Sie sind alle hier, um sich liebevoll an deine Schwester zu erinnern.« Liebevoll erinnern. Sarahs Gesicht verdunkelte sich. Es war ein dummer Fehler gewesen, herzukommen. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Und dann sah sie eine Frau aus dem Wohnzimmer in die Halle kommen. Emma Margolis. Das, so erkannte Sarah plötzlich, war die treibende Kraft gewesen, die sie dazu gebracht hatte,
doch noch zu der Trauerfeier zu kommen. Irgendwie hatte sie gespürt, daß die Moderatorin von Cutting Edge anwesend sein würde und daß die Frau damit rechnete, daß sie kommen würde. »Oh, Entschuldigung, wo ist denn bitte die Toilette«, sagte Emma Margolis leise, so als ob sie mitten in ein vertrauliches Gespräch geplatzt wäre. »Gleich gegenüber«, gab Feldman freundlich Auskunft. Emma Margolis nickte, verharrte aber noch einen Moment und fixierte Sarah mit ihren durchdringenden Augen, dann durchquerte sie lässig das Foyer und ging zur Toilette. Was hatte sie wohl für liebevolle Erinnerungen an Melanie? fragte sich Sarah. »Kennst du sie?« fragte Feldman. »Nein.« Sarahs Augen wanderten zu der geschlossenen Toilettentür, und der Psychiater folgte ihrem Blick. Sie standen ein paar Sekunden schweigend da, Feldman mit nachdenklichem und Sarah mit angespanntem Gesichtsausdruck. »Möchtest du nicht zu den anderen gehen, Sarah?« Es dauerte ein Weilchen, bis Feldmans Frage zu ihr durchgedrungen war. »In – in ein paar Minuten. Ich brauche etwas Zeit.« »Ich verstehe«, sagte er. Nein, tust du nicht, Feldman. Das hast du nie. Emma Margolis wirkte keineswegs überrascht, als sie kurz darauf von der Toilette kam und feststellte, daß Sarah in der Halle auf sie wartete. »Kennen Sie sich hier aus?« fragte die Moderatorin ohne Einleitung. »Ein ruhiges Plätzchen, wo wir uns unterhalten können?« In ihrer Stimme lag nichts Überhebliches. Das gefiel Sarah. »Die Bibliothek ist da hinten.« Sarah ging voraus. Als sie den großen, holzgetäfelten Raum betraten, bemerkte Emma trocken: »Weiß Gott, das nenne ich eine Bibliothek.« Sie ging zu einem schimmernden Mahagonitisch, der das Kernstück des Raumes bildete, und ließ die Hand sachte über die Oberfläche gleiten.
Sarah blieb an der Tür stehen. »Sie haben gesagt, daß Sie Melanies Freundin gewesen sind.« Ihr Tonfall und ihr Gesichtsausdruck waren bewußt aggressiv. »Sie hat mir nie von Ihnen erzählt.« Emma setzte sich in einen der ledernen Clubsessel und schlug die Beine übereinander. Ihr Kleid öffnete sich bis zum Knie, so daß ein brauner Unterschenkel zu sehen war. »Sie hat mir auch nie von Ihnen erzählt.« »Touché«, sagte Sarah. Die Frauen musterten einander mit abschätzenden Blicken. »Es ist für uns beide ein großer Schock gewesen. Ich weiß, daß ich es noch gar nicht richtig begriffen habe. Sie vermutlich auch nicht«, sagte Emma leise. »Wann haben Sie meine Schwester denn kennengelernt?« fragte Sarah. Emma deutete auf einen passenden Clubsessel. »Setzen Sie sich, und ich werde es Ihnen erzählen.« Sarah gab nach und nahm Platz. »Lassen Sie mich ganz von vorn anfangen«, bat Emma. »Ich denke, das wäre hilfreich.« »Für Sie oder für mich?« Die Moderatorin sah sie prüfend an. »Für uns beide, hoffentlich.« »Ich bin nicht hierhergekommen, um Ihr Gewissen zu beruhigen«, sagte Sarah scharf. »Nun mal langsam«, sagte Emma freundlich. »So stark sind Sie nun auch wieder nicht.« Anstatt noch wütender zu werden, beruhigte sich Sarah etwas. »Stark fühle ich mich weiß Gott nicht«, gab sie zu und überraschte sich selbst mit diesem Geständnis. Besonders einer Frau gegenüber, die ihr völlig fremd war. Und noch dazu Journalistin. Emma lächelte. Ein warmes, herzliches Lächeln. »Mir geht es genauso.« »Sie sehen aus, als ob Sie wüßten, was Sie wollen«, sagte Sarah ehrlich. Emma Margolis umgab eine Aura kühler Überlegenheit. Die Frau wirkte vernünftig, aufgeschlossen, selbstsicher. Sarah spürte, wie ein altvertrauter Neid in ihr aufstieg.
»Der Schein kann trügen.« »Ja«, sagte Sarah. »Ihre Schwester wußte das besser als sonst wer.« »Außer Romeo«, berichtigte Sarah. Emma lehnte sich im Sessel zurück und starrte an Sarah vorbei. Ein Ring des Schweigens bildete sich um sie. Sarah spürte Melanies Präsenz im Raum. »Erzählen Sie mir von Ihnen und Melanie«, sagte Sarah. »Ich habe sie bei einem Vortrag kennengelernt, den sie diesen Sommer im BAPI gehalten hat – dem Bay Area Psychoanalytic Institute.« Sarah wußte nur zu gut, was diese Initialen bedeuteten. Während ihrer ganzen Kindheit auf der Scott Street war ihr Vater im Vorstand dieses renommierten Instituts gewesen. Damals wie heute war Feldman Präsident des Instituts. Melanie hatte dort gelehrt. Und Sarah hatte dort mehr Stunden verbracht, als ihr lieb war, in denen ihr Unbewußtes erkundet werden sollte. Selbst ihre Mutter war eine Zeitlang im BAPI behandelt worden. Im Grunde, dachte sie zynisch, war das Institut das zweite Zuhause der Familie Rosen gewesen. Emma sah zu einer Glaskaraffe mit passenden Cognacschwenkern hinüber, die auf einem ziselierten Tablett aus Sterlingsilber standen. »Meinen Sie, Dr. Feldman hätte etwas dagegen, wenn ich mich selbst bediene?« »Nein, er freut sich immer, wenn Leute für sich selbst sorgen. Diesem frommen Anliegen hat er sein Leben gewidmet.« Emmas Blick wurde nachdenklich. »Sie mögen ihn wohl nicht besonders, was?« »Er war zwei Jahre lang mein Therapeut.« Emma lächelte, als ob damit alles gesagt wäre. Sarah vermutete, daß die Moderatorin auch einige Zeit auf der Couch verbracht hatte. Sie empfand eine gewisse Nähe zu ihr, und ihr Argwohn ließ ein wenig nach. Nachdem sie einen tiefen Schluck Cognac getrunken hatte, reichte Emma auch Sarah ein Glas. Sarah stellte es neben sich. »Reden Sie weiter«, sagte sie ungeduldig. »Sie haben Melanie also bei einem Vortrag kennengelernt.«
Emma lehnte sich wieder zurück und legte beide Hände um ihr Glas. »Das war gleich nach Romeos zweitem Mord – na ja, damals hatte sie ihn noch nicht Romeo getauft. Melanie hielt einen Vortrag über die Verhaltensmuster und Motive von Serienmördern. Es ging ihr nicht um einen speziellen Psychopathen, aber sie führte Romeo als Beispiel an.« »Was hat sie über ihn gesagt?« Emmas Blick ruhte aufmerksam auf ihr. Sarah sah weg. »Am meisten hat mich ihre Aussage beeindruckt, daß Romeo wie ein Chamäleon sei. Sie meinte, daß er seine unterschiedlichen Persönlichkeiten vielleicht sogar derart erfolgreich auseinanderhält, daß sie als völlig voneinander getrennte Wesen existieren. Eine Art Jekyll-Hyde-Theorie. Daß er, wenn er nicht gerade seine entsetzlichen und brutalen Taten verübt, durchaus wie der völlig normal wirkende, nette Nachbar von nebenan erscheinen könnte. Ich weiß noch, daß ich zu Mike Wagner gesagt habe, daß auch ich einen völlig normal wirkenden, netten Nachbarn von nebenan habe. Ich habe sogar noch gewitzelt, daß er selbst ebenfalls verdammt normal aussah. Er fand das nicht lustig.« »Wagner war da?« »Und John Allegro.« »Wieso?« »Wie ich schon sagte, es hatte schon zwei Morde nach dem gleichen Muster gegeben. Die Cops hatten Angst, daß sie es mit einem Serienmörder zu tun hatten. Ihre Schwester war auf dem Gebiet eine Expertin, also waren sie zu dem Vortrag gekommen. Sie haben sie gebeten, als Beraterin für sie tätig zu werden, gleich nachdem eine dritte Frau tot in ihrer Wohnung in Russian Hill aufgefunden worden war – gefesselt, verstümmelt…« »Wieso waren Sie bei dem Vortrag? Wollten Sie in Ihrer Sendung über die Morde berichten?« fiel Sarah ihr ins Wort, um sich nicht noch mehr grausige Details anhören zu müssen. Emma ließ sich Zeit mit der Antwort, offenbar mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. »Zum Teil aus beruflichen Gründen.« »Und zum Teil aus persönlichen?« hakte Sarah nach.
Emma nickte. »Ich kannte Diane Corbett. Wir waren nicht gerade eng befreundet, aber wir waren befreundet.« »Diane Corbett?« »Romeos erstes Opfer«, sagte Emma mit gedämpfter Stimme. »Oh.« Schuldgefühle stiegen in Sarah auf. Sie war so darauf fixiert, sich mit dem Mord an Melanie und dessen beängstigenden Folgen auseinanderzusetzen, daß sie keinerlei Gedanken für die anderen Hinterbliebenen übrig hatte. Arme Emma. Sie hatte zwei Menschen, die sie kannte, an Romeo verloren. Was für ein fürchterliches Zusammentreffen. Impulsiv streckte Sarah die Hand aus. Emma ergriff sie. Drückte sie dankbar. Und Sarah drückte Emmas Hand. Aber nur kurz. Diese Nähe machte sie verlegen, tröstete sie aber zugleich. »Kannte Melanie Diane? Oder eins der anderen Opfer?« fragte Sarah unvermittelt. Gab es vielleicht irgendeine Verbindung zwischen den Opfern? Wenn ja, war sie jetzt nicht durch ihre Schwester mit ihnen verbunden? »Nein. Sie hat es jedenfalls nie erwähnt.« Emma stockte kurz und beobachtete Sarah nachdenklich, bevor sie fortfuhr. »Wir vier – Melanie, Allegro, Wagner und ich – sind nach dem Vortrag noch was trinken gegangen. Tatsächlich war es ihre gemeinsame Idee, daß ich Melanie in die Sendung einladen sollte, um dort über Romeo zu sprechen. In ihrem Vortrag hatte sie ausführlich erläutert, daß Psychopathen ein gewaltiges Ego haben, daß sie es genießen, im Rampenlicht zu stehen. Sie dachte, Romeo wäre hingerissen von der Publicity und würde vielleicht sogar zu ihr oder zum Sender Kontakt aufnehmen. Die Polizei tappte mit ihren Ermittlungen völlig im dunkeln und war ganz versessen auf jede Chance, das Schwein aus seinem Versteck zu locken. Nach Melanies erstem Auftritt haben uns die Zuschauer mit Anrufen und Briefen bombardiert, damit Melanie weitermachte. Also baten wir sie, weiterzumachen. Insgesamt war sie viermal bei uns. Die letzte Aufzeichnung war genau an dem Tag…« Emma brach jäh ab. Sie nahm einen weiteren tiefen Schluck. Ihr Glas war fast leer. »Sarah, ich habe Melanie sehr gern ge-
habt. Ich habe das Gefühl, für das, was ihr zugestoßen ist, irgendwie verantwortlich zu sein.« »Manchmal denke ich, jeder fühlt sich verantwortlich. Nur der nicht, der sie umgebracht hat.« »Ich wollte alles tun, was in meiner Macht steht, um der Polizei zu helfen, Romeo zu erwischen. Und das will ich immer noch. Mehr denn je«, sagte Emma ernst. »Hat Romeo Kontakt zu Melanie aufgenommen?« Im selben Moment, als sie die Worte aussprach, wurde Sarah kalkweiß. »Mein Gott, was sage ich denn da?« keuchte sie. »Und ob er Kontakt zu ihr aufgenommen hat.« »Aber nicht vor Donnerstag abend letzte Woche, soweit ich weiß. Weder zu Melanie noch zu mir«, sagte Emma mit heiserer Stimme. »Wenn er es getan hätte, hätten wir ihn schnappen können.« Sarahs Herz klopfte wie wild. Sie preßte die Augen zusammen und fing an, sich die Schläfen zu massieren. Sie spürte Emmas Hand auf ihrer Schulter. »Trinken Sie doch einen Cognac«, schlug Emma mit sanfter Stimme vor. »Nein, das macht es nur noch schlimmer.« »Vielleicht sollten wir ein anderes Mal weiterreden.« Sarah umklammerte erneut Emmas Hand. »Sie müssen es mir sagen. Wieso denken Sie, daß Romeo Kontakt zu mir aufgenommen hat?« Sie blickten einander in die Augen, unverwandt. Wortlos geteiltes Leid. Eine Verbindung war hergestellt, ob sie es nun wollten oder nicht. »Er hat auch zu mir Kontakt aufgenommen. Eine Nachricht.« Sarah umklammerte die Sessellehne. »Was stand drin?« »Es war nur eine einzige Zeile. Ein Computerausdruck: ›Sie versteht es noch nicht, aber sie wird es verstehen.‹« Sarah blickte die Frau fragend an. »Das ist alles? Mehr nicht?« »Der Brief lag auf meinem Schreibtisch im Sender. An dem Tag, als Melanie…« Emma trank den letzten Rest Cognac. »Er hat noch nicht mal unterschrieben. Das brauchte er nicht. In dem Augenblick, als ich ihn anfaßte, wußte ich, daß er von ihm
war. Ich wußte jedoch nicht, wer mit ›sie‹ gemeint war. Bis ich heute morgen mit Ihnen auf dem Friedhof gesprochen habe. In dem Moment hat es ›klick‹ gemacht. Er hat auch Ihnen geschrieben.« »Jemand hat mir geschrieben. Aber das könnte doch jeder gewesen…« »Was stand in Ihrer Nachricht?« Sarah war verwirrt. Wieso schloß Emma die Möglichkeit aus, daß es jemand anderes als Romeo gewesen sein könnte? »Es war eine Art Beileidsschreiben. Daß wir – Seelenverwandte wären oder so. Ich habe es zerrissen. Weggeworfen.« Sie stockte. »Und heute morgen habe ich ein billiges herzförmiges Medaillon im Auto gefunden. Der Wagen war unverschlossen. Bei mir hängen im Moment alle möglichen Spinner rum.« »Sie haben es doch der Polizei gesagt, oder«, fragte Emma. »Ihnen das Medaillon gezeigt?« »Nein. Ich will aus einer Mücke keinen Elefanten machen. Die Polizei hat genug um die Ohren. Melanie hat nie Nachrichten von Romeo bekommen, richtig? Und auch keine von den anderen – Frauen, oder?« »Wollen Sie mich überzeugen oder sich selbst?« fragte Emma leise. Der Druck in Sarahs Kopf wurde immer schlimmer. »Wieso sind Sie so sicher, daß es Romeo ist?« wollte sie wissen. »Sie wissen es nicht. Ihre Nachricht war ja nicht unterzeichnet. Sie nehmen das viel zu wichtig. Wenn Romeo so scharf darauf ist, auf sich aufmerksam zu machen, dann hätte er doch wohl dafür gesorgt, daß ich weiß, wer den Brief geschrieben und wer das Medaillon da hingelegt hat, oder? Er würde doch wollen, daß dieser Scheiß in sämtlichen Zeitungen steht, oder? Das würde er doch wollen, oder? Natürlich würde er das.« »Okay, beruhigen Sie sich.« Sarah sprang auf und ging auf und ab. »Mich beruhigen? Jetzt klingen Sie wie mein Freund Bernie. Ich kann mich aber nicht beruhigen. Ich bin außer mir. Alles in mir tut weh. Ich bin so gottverdammt wütend!« Sie blieb abrupt stehen. Die Eingebung traf sie wie ein Blitz. Sie wußte plötzlich ganz genau, was sie zu tun hatte. Das einzige, was sie tun konnte, wenn sie sich vor
dem Wahnsinn retten wollte. »Emma, ich werde in Ihrer Sendung auftreten.« »Was? Wieso?« »Wieso? Um diesem verdammten Schwein, das meine Schwester ermordet hat, genau zu sagen, was ich von ihm halte. Ich will ihm sagen, was für eine abartige, perverse und widerwärtige Kreatur er ist. Gott, ich wünschte, ich könnte ihm das Herz aus dem Leibe reißen.« Ein Schrei drang aus Sarahs Mund. Emma streckte den Arm aus, wollte sie beruhigen, aber Sarah schüttelte sie ab. »Wann? Wann kann ich bei Ihnen auftreten?« Sie mußte es schnell festlegen. Bevor sie der Mut wieder verließ. Emma zögerte. »Morgen abend wird Football übertragen, deshalb fallen wir aus. Dienstag ist die Sendung schon komplett.« Sarah ahnte, daß die Moderatorin sie hinhalten wollte. »Okay, dann eben Mittwoch«, bestimmte sie. »Um wieviel Uhr?« »Wir fangen um zwei zu drehen an.« »Und das geht dann Mittwoch abend über den Sender?« »Um zehn.« »Macht ihr denn auch tagsüber Werbung für die Sendung und sagt, daß ich auftreten werde?« Emma lächelte müde. »Darauf können Sie wetten. Meine Produzenten werden sich vor Freude überschlagen. Ich persönlich denke, Sie sollten sich das lieber noch mal in aller Ruhe überlegen und sich fragen, ob Sie das auch wirklich wollen.« »Ich kann Ihnen sagen, was ich wirklich will. Das Ganze ungeschehen machen. Aber das kann ich nicht.« Sarah stand auf und ging auf die Tür zu. Auf halbem Wege wandte sie sich um. »Wieso haben Sie heute morgen Robert Perry getröstet? Was haben Sie mit ihm zu tun?« Ihre Stimme hatte einen deutlich vorwurfsvollen Unterton. Emma zuckte die Achseln. »Ich verstehe mich nicht sonderlich gut aufs Trösten. Liegt mir nicht. Aber er war so verzweifelt. Er hat mir leid getan. Es ging ihm so schlecht…« »Wußten Sie, daß er Melanies Patient war? Daß er sie gefunden hat? Daß er behauptet…« Sarah brach jäh ab. Was tat sie
denn da? Es wäre dem Andenken ihrer Schwester wohl kaum dienlich, wenn Emma im Fernsehen verkünden würde, daß Dr. Melanie Rosen vielleicht mit einem ihrer Patienten gevögelt hatte! Emma wollte gerade etwas sagen, als es an der Tür klopfte. Bevor eine von ihnen antworten konnte, öffnete sich die Tür und Bill Dennison trat ein. »Ach, da bist du ja, Sarah«, sagte er herzlich mit einem ganz kurzen Seitenblick in Emmas Richtung. Emma erwiderte den Blick, und dabei lag ein kühler Glanz in ihren Augen. Aber Dennison ignorierte sie. »Sarah, Stanley hat mir gesagt, daß du hier bist. Ich bin ja so froh. Ich hatte schon Angst, du würdest dich in deine Wohnung verkriechen. Du mußt jetzt auf andere zugehen.« Er umarmte Sarah kurz. Bei seiner Berührung krampfte sich Sarahs Herz zusammen. Erinnerungen übermannten sie… Schuld, Angst und Scham wollten sie ersticken. Sie schluckte mühsam, aber es blieb ein Gefühl der Übelkeit zurück. »Ich muß los.« Sie wand sich aus seiner Umarmung, eilte an ihm vorbei und rannte durchs Haus. Flog fast die Vordertreppe hinunter. »Sarah, warte!« rief Dennison. Auf dem Bürgersteig holte er sie ein. »Sarah, bitte.« In seiner Miene lag Bestürzung, als er ihren Arm packte. »Schließ mich nicht aus. Ich will dir doch helfen.« Klatsch, klatsch, klatsch, klatsch. Wie ein rhythmischer Trommelschlag. »Hör auf, Bill. Bitte…« Eine Kleinmädchenstimme. Das Flehen eines Kindes. »Wieso regst du dich denn so auf, Sarah? Ich versuche bloß, dir zu helfen. Ich habe dir doch gar nicht richtig weh getan. Das ist bloß ein Spiel.« Bloß ein Spiel. Bloß ein Spiel. Bloß ein Spiel. »Hör auf. Bitte…« Wieder erklang diese Kleinmädchenstimme. Eine Stimme voller Panik und Schrecken.
In Dennisens Gesicht zeichnete sich deutlich Besorgnis ab. »Ist ja gut, Sarah«, sagte er beruhigend. »Du machst gerade eine ganz typische posttraumatische Streßreaktion durch. Unter diesen Umständen ist das absolut verständlich.« Sie befreite ihren Arm aus seiner Umklammerung. »Wie kann denn irgendwas absolut verständlich sein, wo doch nichts einen Sinn ergibt?« schrie sie, von Wut und Schmerz übermannt. Sie schloß die Augen, um ihn auszublenden. Um all ihre Trauer und Angst zu verdrängen. Um den Alpdruck zu vertreiben, der in ihr wucherte. Finsternis. Und ein losgelöstes Bild, das über dem Abgrund schwebt. Schimmernd. Ein weißer Seidenschal. Baumelnd. Wie eine Schlinge geformt. Und dann eine Stimme – leise, verführerisch, betörend. Öffne mir dein Herz – dein Herz – dein Herz… »Sarah?« Sie blinzelte mehrmals, bevor sie Bill Dennison wieder klar sehen konnte. Er bestand darauf, sie nach Hause zu fahren. Sarah sagte nicht nein. Kapitulation. Sie verachtete sich dafür. Als er mit seinem BMW auf der Taylor Street an einer Ampel halten mußte, sagte er: »Ich hatte solche Angst, daß so was passieren könnte.« »Es geht mir wieder gut.« Sie bereute bitter, ihm erneut Gelegenheit gegeben zu haben, sie auf die Schwere ihrer emotionalen Probleme hinzuweisen. »Nein. Ich meine Melanie. Ich habe sie angefleht, sich nicht in den Fall hineinziehen zu lassen. Ich habe ihr gesagt, daß es zu gefährlich ist.« Melanie. Sarah war verlegen, verärgert. Es war ihre typische Verblendung, daß sie sich einbildete, er könnte sich ihretwegen Sorgen machen. Es ging immer nur um Melanie. Selbst während der kurzen, kläglichen Affäre, die sie vor acht Monaten mit ihm gehabt hatte. Sie schielte zu Dennison hinüber. Sein Gesicht hatte einen seltsam gefaßten Ausdruck angenommen. Sie erinnerte sich so
gut an diesen Ausdruck. Zum Beispiel an jenem letzten Abend bei ihr in der Wohnung, während er sich anzog, und auch noch, als er zur Tür hinausging. Ganz anders als die Frustration und Erschöpfung, die in seinem Gesicht stand, kurz nachdem sie miteinander geschlafen hatten. Der dritte und letzte gescheiterte Versuch. Komisch, daß sie keinerlei Erinnerung an den Sex selbst hatte, nur an die Augenblicke danach. Und diese waren überaus lebhaft. »Du bist wieder nicht gekommen, oder?« Eine Anklage, und ein Urteil. Schuldig im Sinne der Anklage. »Nimm es nicht persönlich, Bill. Es liegt nicht an dir. Es liegt an mir.« »Sarah, du setzt deine Frigidität ein als eine passivaggressive…« »Erspar mir diesen Scheiß, Bill. Psychopalaver als Nachspiel ist nicht mein Geschmack.« In Bills Gesicht liegt eine ungewohnte Intensität, die sie verunsichert. »Das ist nicht zum Lachen.« »Wer lacht denn hier?« »Ich habe schon viele Frauen wie dich behandelt, Sarah. Falls dich jemand verstehen kann, dann bin ich es. Ich weiß, was du brauchst.« Bevor sie noch antworten kann, daß er einen feuchten Dreck weiß, preßt er schon seinen Mund auf den ihren. Sein Kuß ist rauh und wild. Dann dreht er sie grob auf den Bauch und fängt an, sie zu schlagen. Klatsch, klatsch, klatsch. Wie ein rhythmischer Trommelschlag. »Hör auf. Bitte…« Eine Kleinmädchenstimme. Das Flehen eines Kindes. »Laß es zu, Sarah. Laß es geschehen. Vertrau mir. Du kannst ja so tun, als ob du es nicht wolltest. Du kannst dir einreden: ›Bill hat mich dazu gezwungen!‹« »Laß mich in Ruhe. Laß mich. Laß mich.« Sie schreit, beinahe hysterisch. Er läßt sie los. »Wieso regst du dich denn so auf, Sarah? Ich habe dir doch gar nicht richtig weh getan. Das ist bloß ein
Spiel.« Er lächelt. Nein, kein Lächeln. Ein Grinsen. »Melanie hat sich nie beschwert«, fügt er hinzu. Sie sieht rot. »Wir sind anders«, schleudert sie ihm wütend entgegen. Mehr hatte sie sich damals nicht dabei gedacht. Sie wollte nicht wie ihre Schwester sein. Durfte es nicht sein. Jetzt mußte sie unaufhörlich daran denken, daß Dennison geglaubt hatte, sie und Melanie wären ähnlich. Melanie hat sich nie beschwert. Sarah konnte dieses Glitzern in seinen Augen nicht vergessen. Wie hart war es bei Melanies und Bills Spielen zugegangen? Und wann hatten sie das letzte Mal miteinander »gespielt«? War es möglich, daß er Melanie dazu überredet hatte, sich wieder mit ihm einzulassen? War sie vielleicht am Donnerstag abend mit ihm verabredet gewesen? Plötzlich dachte sie darüber nach, wie perfekt Melanies Beschreibung von Romeo auf ihn paßte. Gutaussehend, charmant, intelligent, attraktiv. Ganz zu schweigen davon, daß die meisten Frauen einem Mann wie ihm trauen würden. Ihn als guten Fang betrachten würden. Ein Chamäleon par excellence. Gott, dachte sie, wenn Bill es war, wie leicht muß es dann für ihn gewesen sein. Sein Arm glitt über die Rückenlehne ihres Sitzes. »Es tut mir leid, Sarah. Ich wollte bestimmt nicht andeuten…« »Schon gut.« Falls er sie berührte, würde sie ihn schlagen. Schon ballten sich ihre Hände zu Fäusten. Erst Feldman, jetzt Bill. Als ob sie sich ihren Weg aus diesem Morast prügeln könnte. Die Ampel schaltete auf Grün. Er nahm seinen Arm weg und umfaßte mit beiden Händen fest das Lenkrad, als er losfuhr. Schnell. Ein Macho, der die Kraft seines schnittigen Sportflitzers demonstrierte. »Ich weiß genau, was du jetzt durchmachst, Sarah. Es ist für uns beide qualvoll. Ich nehme an, Melanie hat dir erzählt, daß wir uns wieder zusammentun wollten.« »Nein.« »Vielleicht war sie unsicher, wie du darauf reagieren würdest.«
Sarah sah ihn scharf an. »Hast du ihr von uns erzählt?« »Nein. Natürlich nicht.« Es entstand eine kurze Pause. »Ich glaube, sie hat es gewußt. Zumindest, daß du – na ja, daß du dich zu mir hingezogen gefühlt hast.« Sarah lachte bitter auf. »Deine Schwester war eine ungemein gute Beobachterin, Sarah. Hat sie dich nicht deshalb immer so nervös gemacht? Hast du nicht deshalb immer ein so aggressives Verhalten an den Tag gelegt, wenn du mit ihr zusammen warst? Sogar als…« Er stockte abrupt. »Hast du deine Zunge verschluckt, Bill?« »Sarah, nicht ich habe mich eisern geweigert, über unsere Beziehung zu reden.« »Wessen Beziehung?« fragte sie vorsichtig, nicht gewillt, denselben Fehler ein zweites Mal zu begehen. Dennison seufzte. »Deine und meine, Sarah.« Ein enervierter Schulmeister, der einer besonders begriffsstutzigen Schülerin etwas absolut Elementares zu erklären versucht. Was hatte sie bloß je in ihm gesehen? »Nennst du das, was zwischen uns war, eine Beziehung?« »Sarah, du hast mir etwas bedeutet. Sehr viel sogar. Und das tust du immer noch. Ich denke, das hast du nie richtig geglaubt. Und ich denke auch, daß du nicht damit umgehen konntest. Das Wünschen war leicht, das Bekommen hat dir Schwierigkeiten bereitet.« »Wie kommt es nur, daß letztlich immer meine Psyche auf der Couch landet? In unserer sogenannten Beziehung warst du mindestens genauso kaputt wie ich.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Mit deiner Hilfe wäre ich vielleicht über Melanie hinweggekommen. Aber vielleicht wäre ich das auch nie.« Er holte tief Luft. »Ich würde gern glauben, daß sie und ich es beim zweiten Mal besser gemacht hätten. Eigentlich ist das mein einziger Trost.« Dennison trat mit voller Kraft auf die Bremse, um nicht einen Skinhead mit nacktem Oberkörper zu überfahren, der plötzlich im Gegenlicht über die Market Street lief. Er drückte auf die Hupe, und der Punk, der nun auf dem Bürgersteig in Sicherheit war, zeigte ihm den erhobenen Mittelfinger.
Eine Vene pulsierte an Dennisons Schläfe. »Verdammtes Arschloch.« Cynthia Perry öffnete die Haustür einen Spalt, ohne die vorgelegte Kette wegzunehmen, während sie die Erkennungsmarken der Detectives genau in Augenschein nahm. Sie war eine kleine Frau asiatischer Abstammung – Koreanerin, vermutete Allegro –, das glänzende dunkle Haar war mit einem Batiktuch zusammengebunden. Hübsch. Nervös. Noch immer im Bademantel. Es war Sonntag, aber schon nach drei Uhr nachmittags. »Was wollen Sie?« Sie sprach akzentfrei. Allegro übernahm die Initiative. »Ihnen ein paar Fragen über Ihren Mann stellen«, sagte er. »Wir haben uns getrennt«, sagte sie gepreßt. »Ich bin letzten Juni ausgezogen.« »Das wissen wir«, sagte Wagner. »Dürfen wir reinkommen?« »Ich muß doch nicht mit Ihnen reden, oder?« »Wir dachten, es würde Ihnen weniger Umstände machen, wenn Sie hier mit uns reden würden.« Allegro schob seine Erkennungsmarke zurück in die Tasche. »Aber wenn Sie lieber mit aufs Präsidium kommen möchten…« »Hören Sie, im Moment paßt es mir gerade nicht. Hat das nicht noch Zeit? Es ist Sonntag. Ich habe heute meinen freien Tag. Ich muß putzen, tausend Sachen erledigen. Vielleicht morgen. Kommen Sie, wenn ich von der Arbeit zu Hause bin.« »Es wird nicht lange dauern«, sagte Allegro ausdruckslos. »Hören Sie, ich habe Besuch. Wirklich, im Moment paßt es absolut nicht.« »Mit ihm würden wir auch gern reden«, fiel Wagner ihr ins Wort. »Scheiße«, murmelte sie halblaut, dann schloß sie die Tür, um die Kette zu lösen. Durch die Haustür trat man unmittelbar in ein kleines, spärlich möbliertes Zimmer – ein verblichenes beiges Sofa, passender Sessel, zwei Servierwagen aus Metall, die als Couchtisch dienten, unter den beiden Fenstern Kiefernbretter, von Ziegelsteinen gestützt, auf denen Bücher, Fernseher und eine Stereoanlage untergebracht waren.
Als Wagner und Allegro das Wohnzimmer betraten, kam Cynthias Besuch gerade barfuß aus dem Schlafzimmer getappt. Einen Augenblick dachten Allegro und Wagner beide, es wäre Perry. Ähnlicher Körperbau, dieselbe schmutzigblonde Haarfarbe, dasselbe zerzauste gute Aussehen. Offensichtlich war die körperliche Erscheinung ihres Mannes nicht der Grund für die Trennung gewesen. »Was ist denn los?« Das karierte Flanellhemd des Freundes stand offen, die Hemdzipfel hingen aus den Jeans, sein Haar war völlig zerwühlt. Er sah aus, als wäre er gerade erst aus dem Bett gestiegen. Wagner klappte seinen Notizblock auf und holte seinen Kugelschreiber heraus. »Wie ist bitte Ihr Name?« »Wieso zum Teufel…« »Sam, sie sind von der Polizei«, sagte Cynthia Perry müde. »Er heißt Butler. Und er hat damit nichts zu tun.« »Waren Sie beide Donnerstag abend in North Beach im Kino?« fragte Allegro. Cynthia seufzte tief. »Es geht um seine Therapeutin, nicht?« »Wessen Therapeutin?« wollte Butler wissen. »Robs Therapeutin.« Cynthia verlagerte leicht das Gewicht und seufzte erneut übertrieben. Ihr Freund beäugte sie mißtrauisch. »Du hast mir gar nicht erzählt, daß er zu einer Therapeutin geht.« »Ich fand, das ging dich nichts an. Und außerdem geht er nicht mehr hin«, sagte Cynthia mit gelangweilt monotoner Stimme. »Sie ist tot.« »Tot?« wiederholte Butler. Die Frau stockte. »Ermordet.« Butler brauchte zwei Sekunden, dann schnippte er mit den Fingern. »Moment mal. Meinst du etwa die, die von Romeo abgeschlachtet worden ist? Die Tante aus dem Fernsehen?« Sie ließ sich in den einzigen Sessel sinken. »Genau die. Dr. Rosen.« Butler pfiff leise durch die Zähne. »O Mann! Die Therapeutin von deinem Mann…« Allegro trat ungeduldig vor. »Würden Sie bitte meine Frage beantworten, Mrs. Perry?«
Ihre Augen fixierten ihren Freund. »Welche war das noch mal?« »Waren Sie und Sam am Donnerstag abend in North Beach im Kino?« Sie nickte bedächtig. »Ja. Ich glaube, es war… ja, Donnerstag. Genau, weil am Freitag das Programm wechselt, deshalb war das die letzte Gelegenheit. Zwei Streifen mit Bruce Lee. Sam ist verrückt nach ihm.« »Todesgrüße aus Shanghai. Meiner Meinung nach völlig unterschätzt. Und Der Mann mit der Todeskralle, zweifellos sein bestes Werk.« Butler sprach mit dem Selbstbewußtsein eines Mannes, der jeden, aber auch jeden Kung-Fu-Film gesehen hatte. Allegro brummte. »Sind Sie irgendwann, als Sie da waren, auch mal zum Getränkestand gegangen?« fragte er Cynthia. Sie antwortete nicht sofort, aber Allegro hatte auch nicht den Eindruck, daß sie wirklich über die Frage nachdachte. »Ja«, sagte sie schließlich. »Wann war das?« schaltete Wagner sich ein. »In der Pause«, erklärte Butler. »Zwischen den beiden Filmen. Muß so gegen zehn gewesen sein. Todesgrüße kam zuerst. Um acht. Ja, so gegen zehn.« »Rob war da«, sagte Cynthia mit erschöpfter Stimme. »Hat sich gerade Popcorn gekauft. Er tat so, als ob wir uns ganz zufällig über den Weg gelaufen wären, aber…« »Aber was?« drängte Wagner. »Sagen wir’s mal so, allmählich macht er es sich zur Gewohnheit, mir zufällig über den Weg zu laufen. Besonders, wenn ich mit Sam zusammen bin.« Wagners Augen huschten zu Butler hinüber. »Haben Sie Perry Donnerstag abend am Getränkestand gesehen?« »Ja, ich habe den Trottel gesehen«, kicherte Butler und schielte dann zu Cynthia hinüber. »Hat er nicht irgendeine blöde Bemerkung gemacht? Von wegen du solltest dir keine Süßigkeiten kaufen, weil man davon Pickel kriegt?« »Haben Sie ihn im Kinosaal gesehen? Während die beiden Filme liefen?« fragte Allegro sie. Butler schüttelte den Kopf.
»Er ist hinter uns hergekommen, als wir wieder zu unseren Plätzen gegangen sind«, sagte Cynthia. »Aber ich habe absichtlich nicht zu ihm hingesehen. Und als wir gingen, habe ich ihn auch nicht gesehen.« »Meinen Sie, er steckt in dieser irren Geschichte mit drin?« Butler wurde nervös. »Routinefragen«, sagte Wagner ausdruckslos. »Wir haben noch ein paar«, fügte er hinzu und wandte sich wieder Cynthia zu. Wenn seine Stimme nichts verriet, dann sein Blick ganz bestimmt. Cynthia spitzte die Lippen. »Muß das wirklich jetzt sein?« Allegro hörte den bittenden Unterton, nahm an, daß sie sich wohl auch deshalb sträubte, weil sie dieses Gespräch nicht in Anwesenheit ihres Freundes führen wollte. »Vielleicht können wir ja in die Küche gehen«, schlug er vor. »Ist schon gut«, Butler hatte die Andeutung mitbekommen. »Ich muß sowieso los.« Cynthia schien diese Lösung nicht gerade zu freuen. »Aber du hast doch gesagt, daß du…« Sie stockte, zuckte die Achseln und sagte dann lakonisch: »Klar. Sicher.« »Ehrlich, Cindy. Ich muß mich hinter die Bücher klemmen.« Butler wandte sich den Polizisten zu. »Ich studiere abends Jura und arbeite tagsüber. Verflucht hart.« Er knöpfte sein Hemd zu, ohne sich die Mühe zu machen, es in die Hose zu stopfen, ging schnurstracks zur Tür und schnappte sich auf dem Weg nach draußen noch seine Jeansjacke, die an einem Haken hing. »Ich ruf dich später an, Cindy«, rief er noch über die Schulter, da fiel die Tür auch schon krachend ins Schloß. Cynthia rollte die Augen. »Vielen Dank. Jetzt denkt er, mein Mann wäre ein gefährlicher Irrer, und macht sich vor Angst in die Hose.« »Ist Ihr Mann ein gefährlicher Irrer?« fragte Allegro. »Nein, natürlich nicht. Rob ist bloß neurotisch. Wer ist das nicht?« »Warum haben Sie sich getrennt?« fragte Wagner. »Das geht Sie verdammt noch mal überhaupt nichts an.«
Wagner blieb unbeeindruckt. »Kommen Sie, Cindy. Stand er auf abartigen Sex? Hat er Sie gerne geschlagen, vielleicht auch gefesselt?« »Sie spinnen doch.« »Oder haben Sie rausgefunden, daß er sich das woanders besorgt hat?« schlug Allegro vor. Jetzt, wo der Freund sich verdrückt hatte, verzichteten die beiden Cops auf vornehme Zurückhaltung. Sie starrte Allegro trotzig an: »Bei wem?« »Das sollen Sie uns sagen«, forderte Wagner sie auf. Sie wußte, daß sie geschlagen war. »Okay, wenn Sie’s unbedingt wissen wollen, verrate ich Ihnen, warum wir uns getrennt haben. Wir hatten – sexuelle Probleme. Rob stand auf perverse Sachen, aber nicht, was Sie denken.« Sie rieb sich mit den Handflächen über die Wangen. »Gott, ist mir das peinlich… Er hat mich nicht geschlagen. Er war es, der geschlagen werden wollte, okay?« Zorn blitzte aus ihren dunklen Augen. »Kapiert, oder soll ich Ihnen noch eine Zeichnung machen? Er ist nicht euer sadistischer Serienmörder. Rob steht nicht drauf, der böse Bube zu sein. Im Bett benimmt er sich wie ein wimmerndes Hündchen. Meistens hat er bloß geweint und mich angefleht, ihm weh zu tun.« »Und, haben Sie?« fragte Allegro. Tränen standen ihr in den Augen. Sie antwortete nicht. Wagner räusperte sich. »Was ist mit Sexclubs? Sadomaso – so was in der Art? Shows und was weiß ich noch alles. Davon gibt es drüben in North Beach viele. Sind Sie beide je in solche Etablissements gegangen? Waren Sie Mitglied in irgendeinem Privatclub?« »Mein Gott, nein«, stieß sie hervor. »Rob könnte ja ohne Sie hingegangen sein«, beharrte Wagner. Sie schüttelte heftig den Kopf. »Das hätte er nicht getan. Das hat er nicht getan.« »Cindy, es ist eine Krankheit.« Allegro sprach leise. »Eine Obsession.« Sie ließ den Kopf hängen. Das Batiktuch löste sich, so daß ihr die dunklen glatten Haarsträhnen wie ein schwarzer Fächer in
das schmale Gesicht fielen. »Ich habe ihm gesagt, daß wir eine Therapie machen müßten.« Allegro hakte rasch nach. »Sind Sie beide zu Dr. Rosen gegangen?« »Ich war nur zweimal bei ihr«, antwortete sie tonlos. »Wir waren uns einig, daß Rob die Therapie brauchte. Eine Zeitlang sah es so aus, als würde es ihm besser gehen. Wir hatten netten, einfachen, sauberen Sex. Sie wissen schon. Regelmäßig.« Cindy wurde rot. »Und dann?« drängte Wagner. »Dann wollte er überhaupt keinen Sex mehr.« Sie zögerte. »Jedenfalls nicht mit mir.« »Was meinen Sie denn, mit wem er Sex haben wollte?« fragte Allegro. Cynthia starrte nach unten auf ihren Schoß. Sie schluchzte nicht, aber Tränen rannen über ihre Wangen. »Ich weiß nicht genau.« »Aber Sie haben eine Vermutung«, sagte Wagner in sanfterem Ton, daß es beinah so klang, als würde er ihr gut zureden. Sie antwortete nicht sofort, hielt den Kopf gesenkt, das Gesicht durch ihre Haare vor allen Blicken geschützt. Wagner setzte ihr nicht mehr zu. Er wußte, daß sie nicht weiter gedrängt werden mußte. Als sie aufsah, strich sie sich geistesabwesend das Haar aus dem Gesicht. Angst stand in ihren Augen, und ihre schmalen Schultern waren hochgezogen, als sie anfing, sehr schnell zu reden. Als ob sie hoffte, alles loszuwerden und es damit endlich hinter sich zu haben. »Er hat Dr. Rosen praktisch jeden Tag geschrieben. Heiße, innige Liebesbriefchen. Er hat sie rumliegen lassen. Ich glaube, es war ihm egal, ob ich sie las. Vielleicht wollte er das sogar. Ich weiß nicht, ob er ihr jemals einen geschickt hat oder mit ihr während den Sitzungen darüber gesprochen hat. Ich weiß bloß, daß ich irgendwann genug davon hatte. Es waren ja nicht nur die Briefchen. Es war – einfach alles. Am Ende bin ich dann explodiert und habe ihm gesagt, er soll verschwinden. Er meinte, er verstünde das nicht und daß er mich noch immer lieben würde, daß das eine nichts mit dem anderen zu tun hätte.«
Endlich stockte sie, um Atem zu holen, sog tief die Luft ein und stieß sie kopfschüttelnd wieder aus. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. »Sie hat ihm nicht geholfen, Sie hat alles nur noch schlimmer gemacht.« Sie sah von Allegro zu Wagner, mit flehendem Blick. »Hat sie das denn nicht erkannt?« Eine längere Stille trat ein, die von Allegro durchbrochen wurde. »Haben Sie noch welche von diesen Briefchen, die Ihr Mann an Dr. Rosen geschrieben hat?« Sie schüttelte angewidert den Kopf. »Nein, natürlich nicht.« »Meinen Sie, er hat noch welche?« Sie zuckte die Achseln. »Ich bin seit Monaten nicht mehr bei ihm gewesen.« Wagner und Allegro tauschten Blicke. Ob Perry sie behalten hatte? Hatte er sie Melanie überreicht oder geschickt? Hatte Melanie sie behalten? Falls ja, so waren sie bei der Durchsuchung ihrer Wohnung jedenfalls nicht aufgetaucht. »Haben Sie die Meldungen über die Romeo-Morde am Fernsehen verfolgt, Mrs. Perry? Oder in den Zeitungen?« fragte Wagner. »Nein.« »Ziemlich schwierig, nichts davon mitzukriegen«, drängte Wagner. »Ich sehe nicht viel fern.« Beide Detectives sahen zu dem Fernseher im Zimmer hinüber. »Ich meine, ich habe einiges zufällig mitbekommen«, gab sie zu. »Es ist so makaber. Warum soll man sich so was ansehen?« Sie strich sich mit den Händen über die Arme. »Kannten Sie eins der anderen Opfer?« fragte Allegro. »Nein. Wieso sollte ich?« »Was ist mit Rob?« hakte Wagner nach. »Nein«, sagte Cynthia Perry scharf. »Sie scheinen sehr sicher zu sein, daß Rob keins der anderen Opfer gekannt hat, Mrs. Perry. Ich meine, für jemanden, der dieser Mordserie keine besondere Beachtung geschenkt hat«, sagte Wagner vieldeutig. Ihre Lippen zuckten. »Okay, okay. Ich habe ihre Fotos in der Zeitung gesehen. Und in den Spätnachrichten. Habe ihre Namen
gehört. In dieser Stadt müßte man schon tot sein, um nichts von Romeo mitzukriegen. Soweit ich weiß, hat Rob keine von diesen Frauen gekannt. Wieso auch? Woher sollte er sie kennen? Mit solchen Leuten hat er nichts zu tun. Nachdem er gefeuert worden war, ist er eigentlich nur noch zu Hause geblieben. Ist fast nie mehr rausgegangen.« »Zu seinen Therapiesitzungen ist er rausgegangen«, kommentierte Wagner. Cynthia sah weg, ihr Gesichtsausdruck war unergründlich. »Ja, die hat er nie verpaßt«, sagte sie mit gedämpfter Erregung. Auf dem Weg nach draußen wandte sich Wagner um und stellte noch eine letzte Frage: »Mag Ihr Mann zufällig Gershwin?« »Wer ist Gershwin?« »Ein Komponist. Haben Sie je gehört, daß Rob die Rhapsody in Blue gehört hat? Haben Sie eine Kassette, eine CD, eine LP davon bei ihm rumliegen sehen?« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Er war kein Musikliebhaber. Er war ein richtiger Fernsehfreak. Ganz verrückt nach Quizsendungen. Nachdem er seinen Job verloren hatte, hat er sie sich von morgens bis abends angeschaut.« Dann fügte sie nachträglich mit wehmütiger Stimme hinzu: »Er kannte fast immer alle Antworten.«
9 Wie alle Serienmörder verfällt Romeo zuerst in eine Phase, in der er sich von der Realität löst. Es ist eine Phase intensiver Visualisierungen und zwanghaften Pläneschmiedens… Befriedigend, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Dr. Melanie Rosen in Cutting Edge »Du brichst mir das Herz, Baby.« Romeos Augen sind mit Tränen gefüllt. Ihr klagender Schrei erfüllt seinen Kopf – erfüllt den ganzen Raum. Eine Klage der Angst, des Vorwurfs, der Enttäuschung. Sie schallt von den Wänden und der Decke wider, prallt auf die Möbel. Er kann es nicht ertragen. Doch es gibt keine Flucht vor ihrer Stimme. Er liegt nackt auf dem Bett. Seine Hände gewähren sanfte, zärtliche Berührungen – seinem Gesicht, seinem ganzen Körper. Siehst du, wie zart ich sein kann? Wie liebevoll und sacht? Er preßt die Hand auf sein Herz. Es schlägt kraftvoll. So wie es sein sollte. Er nimmt Melanies Tagebuch und schaltet den CD-Player ein. Die Anfangstakte von Rhapsody in Blue. … aber mein Leiden, das wissen wir beide, ist meine Sühne. Er lächelt. Du sollst nicht mehr leiden, Liebste. Du hattest recht, Melanie. Du warst anders als die anderen. Wir haben uns auf ganz besondere Weise verstanden. Ich habe sehr viel Zeit und Mühe darauf verwandt, daß das geschehen konnte. Damit es für uns beide vollkommen wurde. Die wahre und endgültige Erlösung von dem Leiden, von meinem wie deinem. Seine Miene verfinstert sich. Warum leidet er dann noch immer? Warum ist es gescheitert? Warum quält ihn diese schmerzliche Anklage aus seiner Vergangenheit noch immer? Melanies Buße sollte diese Stimme austreiben. Was ist schiefgegangen? Sein Gesicht verzerrt sich vor Wut. Melanie hat ihn im Stich gelassen. Wie all die anderen.
Er kann die Musik jetzt nicht ertragen. Er stellt sie ab und geht noch einmal jeden Augenblick seiner letzten Begegnung mit Melanie durch, sucht nach den Fehlern. Ihren. Seinen. Was er getan oder nicht getan hat. An welcher Stelle sie seine Erwartungen nicht erfüllte. Langsam nehmen seine Visionen eine neue Gestalt an. Jetzt ist es nicht mehr Melanie, die darum bettelt, sein Geschenk, seine Strafe, seine Erlösung zu empfangen. Es ist Sarah. Sarah ist es, nach der er die ganze Zeit über gesucht hat. Seine wahre Herausforderung. Er schlägt wieder eine Seite in Melanies Tagebuch auf. … daß ich Sarahs Talent dafür hätte, die Vergangenheit auszublenden, für ihre »Leckt-mich-doch-alle«-Haltung. Vielleicht, wenn ich nicht so viel Zeit meines Lebens darauf verwenden müßte, die liebe Frau Doktor zu spielen – Sarah kennt solche Einschränkungen nicht. Jahrelang habe ich versucht, ihre Retterin zu spielen. Was für eine Farce. Romeo schließt die Augen. Sieht Sarah klar und deutlich vor sich. Sieht jeden seiner Schritte. Der Brief und das Medaillon waren erst der Anfang. Es gibt noch so viel mehr. Er ist jetzt völlig in seine Phantasien versunken. Beobachtet Sarah, folgt ihr, bereitet sie vor. Vor seinem inneren Auge sieht er ihre langen Beine, den knabenhaften Körper, die trotzige Haltung. Eine Kämpferin. Zu stark für Melanie. Für all die anderen. Endlich jemand, der wirklich seiner wert ist. Ja. Das macht ihn an. Ein echter Kampf, bevor sie sich ergibt. Ihren eigenen geheimen Sehnsüchten ebenso wie seinen. Er weiß, wie sehr es sie danach verlangt, auch wenn sie dagegen ankämpft. Er wird ihr die Augen öffnen. Er wird sie wachrütteln. Mit Melanies Hilfe. Dank der vielen Geheimnisse aus Sarahs Leben, die sie so großzügig mit ihm geteilt hat. Allmählich wird ihm klar, was mit Melanie falsch gelaufen ist. Mit all den anderen. Sie waren zu schwach. Sie haben ihm nicht den Widerstand entgegengesetzt, den er sich vorgestellt hatte. Sie haben zu leicht, zu schnell nachgegeben. Sie wollten nur den Schmerz, nicht die Erlösung, die er ihnen bringen soll-
te. Sie waren nicht wirklich mit vollem Herzen dabei. Sarahs Herz wird genau richtig sein. Die Musik beginnt wieder zu spielen. Diesmal in seinem Kopf. Er nähert sich dem Crescendo… Aber er bewegt sich zu schnell. Darf es nicht übereilen. Genieße den Aufbau! Erfreu dich an jedem Detail! Während sich der Film in seinem Kopf abspielt, liegt er ganz ruhig da und beobachtet mit einem distanzierten Gefühl des Stolzes, wie er immer härter wird. Sein großartiger, harter, fester Schwanz. Er kann zum Höhepunkt kommen, ohne sich auch nur anfassen zu müssen. Indem er sich bloß vorstellt, wie es für ihn und Sarah sein wird. Wie es danach sein wird. Seine Augen schließen sich flatternd. Jede köstliche Einzelheit sieht er vor sich. Das komplexe Ritual – die Verfolgung, das Umwerben, die Verführung und schließlich der Sieg. Er leckt sich über die Lippen wie ein ausgehungerter Wolf, der sich gleich an seiner Beute gütlich tun wird. Der Adrenalinstoß läßt sein Herz dröhnend pochen. Sie ist an Händen und Füßen gefesselt. Ihr Atem kommt in flachen Stößen. Er atmet tief ein. Er stellt sich vor, wie seine Hand über ihren weichen, glatten Hintern wandert. Er hebt die Hand, schüttelt dann den Kopf. Nicht bloß ein bißchen Haue für Sarah. Eine schöne, kräftige Tracht Prügel. Bei jedem Schlag wird sie aufschreien. Eine köstliche Vorstellung. Aber sie wird nicht wollen, daß er aufhört. Er wird sie so weit treiben, wie sie es sich nie zu träumen gewagt hätte. Er wird ihr zeigen, daß sie genau das braucht. Was sie verdient hat. Was sie sich selbst zuzuschreiben hat. Er wird’s ihr zeigen. Er wird ihr zeigen, wer der Herr ist. Er wird sie in die Knie zwingen. Er wird sie so weit treiben, daß sie darum fleht. Um die Qual, den Schmerz, und vor allem um das Opfer. Sie wird es wollen. Sie wird es mehr wollen als all die anderen. Und es wird um so schöner sein, weil sie nicht die leiseste Ahnung hat. Aber das wird sie. Oh, das wird sie. Es wird vollkommen sein. Dieses Mal ist er ganz sicher. Absolut vollkommen.
10 … die Augenblicke, wenn die Schale rissig wird und ich hineinspähe. Wellen von Angst, Ekel, Scham und Reue quellen aus den Abgründen wie giftige Nattern, die mir an die Kehle wollen. M. R. Tagebuch Am Mittwochnachmittag suchte Sarah gerade unter ihrem Bett nach einem fehlenden Schuh und fluchte dabei vor sich hin, weil sie zu spät dran war, als das Telefon klingelte. Der Anrufbeantworter sprang an – erst ihre Stimme, der Pfeifton, dann die Stimme des Anrufers. »Sarah, ich bin’s. Bernie. Bist du da?« Sarah hob ab. »Ich bin da, aber auf dem Sprung. Sobald ich meinen zweiten Schuh gefunden habe.« »Freut mich, daß du dich nach draußen begibst. Du hast dich zwei Tage in dieser düsteren Wohnung verkrochen. Aber ich will nicht hoffen, daß du schon wieder ins Büro kommst, oder?« »Nein. Nein, ich bin auf dem Weg zu KFRN.« »KFRN? Dem Fernsehsender? Du willst doch wohl nicht – Ich fasse es nicht.« »Halt die Luft an, Bernie. Du wirst mich nicht davon abbringen. Also, was liegt an?« »Das ist bloß mein täglicher Testanruf, um zu hören, wie es dir geht.« »Wie läuft’s denn im Büro? Nervt Buchanon schon rum, weil sich bei mir die Sachen auf dem Schreibtisch stapeln?« »Nicht mal er ist so ein Idiot. Also, laß es ruhig angehen, Sarah. Nimm dir Zeit.« »Bernie, wieviel Zeit braucht man wohl für so was?« Um halb vier betrat Sarah das KFRN-Gebäude unten am Embarcadero. Die Empfangsdame, eine gertenschlanke Blondine unbestimmten Alters in einem modischen roten Leinenkostüm, saß hinter der Scheibe eines sehr langen Schalters. Auf der himmelblauen Wand hinter ihr war ein großes Logo mit der
Golden Gate Bridge und den sonnengelben Initialen des Senders darüber: KFRN. Die Empfangsdame öffnete das Glasfenster: »Ja, bitte?« »Emma Margolis erwartet mich. Ich soll bei Cutting Edge auftreten.« »Ihr Name?« »Sarah…« Bevor Sarah ganz antworten konnte, hörte sie, wie hinter ihr jemand ihren Namen rief. Sie wandte sich um und erblickte Emma, die in einem Seidenkleid mit afrikanischem Muster und mit riesigen, dazu passenden Goldohrringen exotisch schön aussah. Die Moderatorin betrat die Eingangshalle, und sie war nicht allein. Sarah stellte überrascht und irritiert fest, daß Detective Michael Wagner sie begleitete. Sie warf dem Paar einen argwöhnischen Blick zu. Als Emma ihr die Hand hinhielt, hätte Sarah sie fast nicht ergriffen. Emma nahm Sarahs Hände, drückte sie und lächelte ihr beruhigend zu. »Ich war nicht sicher, ob Sie wirklich kommen würden.« Sarah lächelte nur zurück und sagte kein Wort – was nicht einfach war. Wagner hielt sich ein wenig im Hintergrund, grüßte sie mit einem kurzen Nicken und prüfendem Blick. Sarah wußte, daß sie fürchterlich aussah. Sie hatte seit Tagen kaum etwas gegessen. Wahrscheinlich fast fünf Pfund abgenommen. Ringe unter den Augen. Und ihre Aufmachung ließ einiges zu wünschen übrig. Sie war in eine graue Hose gestiegen, die sie frisch aus dem Wäschebeutel gezogen hatte, in dem sich die Sachen befanden, die sie eigentlich hatte bügeln wollen. Der Saum an der Schulter ihres marineblauen Rollkragenpullovers war an einer Stelle aufgerissen. Das war ihr erst auf der Fahrt zum Sender aufgefallen. Nicht unbedingt die passende Garderobe für ein Fernsehdebüt. »Ich sehe nur kurz nach, ob irgendwelche Nachrichten für mich da sind, und dann können wir alle in mein Büro gehen«, sagte Emma herzlich.
Sarah blickte finster drein. Sollten sie nicht schnurstracks ins Studio gehen? Fing die Aufzeichnung nicht in einer halben Stunde an? Emma erriet ihre Gedanken. »Wir haben noch ein bißchen Zeit«, sagte sie. »Emma, was ist nun? Machen wir’s oder nicht?« Sarah hörte, wie sich in ihrer Stimme Panik bemerkbar machte. Du kannst es schaffen, Sarah. Du mußt. »Ich habe dem Detective die Nachricht gegeben, die ich bekommen habe«, sagte Emma leise und deutete auf Wagner. »Und ich habe ihm von Ihrer erzählt, Sarah. Und von dem Medaillon.« Das Medaillon. Sarah war so damit beschäftigt gewesen, sich innerlich auf die Fernsehaufnahme vorzubereiten, daß es ihr tatsächlich gelungen war, das Medaillon völlig aus ihrem Kopf zu verbannen. »Falls Sie das irgendwie tröstet«, sagte Emma, »ich habe mich deswegen tagelang schlecht gefühlt.« »Tut es nicht«, sagte Sarah. Sie hatte Emma gemocht – war sogar so dumm gewesen, ihr zu vertrauen. »Ich habe es für Sie getan, Sarah. Weil ich mir Sorgen um Sie mache. Ich will nicht, daß Sie das nächste Opfer dieser Bestie werden.« Wagner meldete sich zum erstenmal zu Wort. »Wir sollten uns in Emmas Büro unterhalten.« Seine Stimme klang kalt, beinahe wütend. Sarah musterte ihn mißtrauisch. »Soll das heißen, ich habe die Wahl zwischen Emmas Büro und dem Präsidium?« »Mike ist nicht Ihr Feind, Sarah«, nahm Emma den Detective in Schutz. »Ich wollte sagen, daß wir uns dort besser unterhalten können als hier in der Halle«, sagte Wagner mit einem schwachen Lächeln. Sarah gab nach, auch weil sie sich daran erinnerte, wie sehr er ihr am Samstag morgen geholfen hatte, als er mit ihr gegangen war, um Melanies Totenkleidung auszusuchen. Die Empfangsdame öffnete per Summer die Sicherheitstür, und Emma ging voraus zu einem Eckbüro am Ende des Ganges.
An den Wänden des Zimmers hingen gerahmte Preisurkunden für Cutting Edge und einige recht schöne Matisse-Drucke. Auf dem riesigen Schreibtisch aus Messing und Glas lagen Papiere, Bücher, Zeitschriften und ganze Stapel von Disketten. »Ich arbeite gern im Durcheinander«, sagte Emma in einem heiteren Ton, der irgendwie unpassend wirkte. Sie hat ein schlechtes Gewissen, dachte Sarah. Und das soll sie auch. Sie hat mich verraten. »Setzen wir uns«, schlug Wagner vor. Emma gehorchte und ließ sich elegant in einen der beiden graugrünen Clubsessel vor ihrem Schreibtisch sinken. Zusätzlich zu den Sesseln stand ein großes flaschengrünes Sofa an der Wand. Sarah blieb stehen und fragte Wagner ohne Umschweife: »Was genau hat sie Ihnen erzählt?« Wagner setzte sich auf das Sofa. Er trug heute Freizeitkleidung: Khakihose und blaßbeiges Hemd, dessen Ärmel hochgerollt waren. Über die Schultern hing ein Pullover mit irischem Zopfmuster, dessen Ärmel zusammengeknotet waren. Er sah eher wie ein Collegeprofessor aus und nicht wie ein Cop vom Morddezernat. »Sie hat gesagt, daß Sie von Romeo eine Art Nachricht erhalten haben. Und Schmuck. Stimmt das, Sarah?« »Der Brief hatte keinen Absender. Und das Medaillon könnte mir irgendein abartiger Spinner ins Auto gelegt haben.« »Dann glauben Sie also nicht, daß es Romeo war?« fragte er. »Glauben Sie’s?« entgegnete Sarah herausfordernd. »Emma hat gesagt, Sie hätten den Brief weggeworfen.« »Ja, ich habe ihn zerrissen und in den Müll geschmissen.« »Warum?« wollte Wagner wissen und stand auf. »Sie hätten doch wissen müssen, daß das möglicherweise Beweismaterial hätte sein können. Gottverdammt, Sarah! Wie konnten Sie so etwas Blödes machen?« »Mike, was soll der Verhörton?« schaltete sich Emma ein. »Sarah hat Entsetzliches durchgemacht. Sei etwas behutsamer.« Wagner stand Sarah so dicht gegenüber, daß sie die eigentümliche Mischung aus nach Zitrone duftendem After-shave und Zigarettenrauch einatmete, die von seinem Atem und seiner
Kleidung ausging. Sie trat einen Schritt zurück, nicht wegen des Geruchs, sondern wegen der aufgeladenen Intensität, die von ihm ausging. »Okay, es war blöd. Unüberlegt, okay? Ich habe bloß – reagiert«, fauchte sie. »Schon gut, Sarah.« Wagner hatte sich abgewandt, aber seine Stimme klang freundlicher. »Ich verstehe.« »Blödsinn.« Sie wollte sein Verständnis nicht. »Was ist mit dem Medaillon? Das haben Sie doch nicht auch weggeworfen?« »Nein.« Wagner lächelte. »So ist brav.« »Werden Sie bloß nicht herablassend«, zischte sie. Emma erhob sich aus ihrem Sessel und ging zu Sarah. »Das Ganze ist schrecklich«, sagte sie mitfühlend und legte einen Arm um sie. »Aber es ist noch nicht vorbei, wenn sie diesen Wahnsinnigen geschnappt haben.« Es wird nie vorbei sein, dachte Sarah mit wachsender Verzweiflung. Wenn ich doch bloß wütend bleiben könnte. Die Wut hielt ihre übrigen Gefühle im Zaum. Mit der Wut konnte sie umgehen. Das übrige… »Noch mehr anonyme Briefe oder Geschenke, seit Sie sich mit Emma nach der Beerdigung unterhalten haben?« Wagners Tonfall war jetzt weniger dienstlich. »Nein. Deshalb hab ich ja auch gedacht… ich habe gemeint… so was hat er doch noch nie gemacht, stimmt’s? Den Schwestern der anderen Opfer irgendwas geschickt? Hatte denn keine von ihnen Schwestern? Oder Freundinnen? Oder…« Emma führte Sarah zu einem der Sessel. Sie ließ sich ohne Widerrede hineinsinken. Emma setzte sich auf die Lehne und hielt Sarahs feuchtkalte Hand. Sarah empfand so etwas wie Dankbarkeit. Emmas Anwesenheit und Unterstützung gaben ihr ein wenig das Gefühl, Boden unter den Füßen zu haben. Einen Augenblick lang stellte sie sich vor, es wäre Melanie, die ihre Hand hielt. Melanie, die sie beschützte. Sie hatten sich selten berührt, sie und Melanie – ein flüchtiges Küßchen auf die Wange zu Geburtstagen und ähnlichen Anläs-
sen, immer voller Befangenheit, ganz gleich, wer wen küßte. Obligatorisch. Auf Bestellung. »Sarah, gib deiner Schwester einen Kuß! Ich erlebe es nicht jeden Tag, daß eine meiner Töchter an der Stanford University aufgenommen wird.« Ihr Vater strahlt seine heißgeliebte Tochter an. Voller Stolz. Voller Freude. Voller Liebe. Sarah spitzt gehorsam die Lippen und berührt Melanies kühle, glatte Wange. »Glückwunsch.« Sie lächelt, als ob sie es ehrlich meinen würde, aber die ganze Zeit über denkt sie: Ich hasse dich, weil du mich verläßt. Sarah blinzelte verwirrt, als sie den Detective vor sich knien sah. Und beunruhigt durch den durchdringenden Blick, mit dem Wagner sie betrachtete, als ob er, wenn er nur lang und angestrengt genug hinsehen würde, herausfinden könnte, was in ihr vorging. Tja, das hatten schon klügere Köpfe als er versucht und waren daran jämmerlich gescheitert. »Ich sage ja nicht, daß es Romeo sein muß, der sich mit Ihnen in Verbindung gesetzt hat. Das würde tatsächlich auf eine Veränderung in seinem üblichen Verhaltensmuster hinweisen. Aber wir können nicht ausschließen, daß er aus irgendwelchen Gründen etwas Neues ausprobiert. Wir müssen jede Möglichkeit ernsthaft in Erwägung ziehen. Falls sich herausstellt, daß Romeo mit Ihnen kommuniziert, könnte sich daraus eine ungemein wichtige Spur für uns ergeben. Aber in dem Fall stecken Sie mitten drin in seinen wahnsinnigen Gedanken. Ich will Ihnen keine Angst einjagen. Wir werden rund um die Uhr auf Sie aufpassen. Wir werden nicht zulassen, daß Ihnen irgend jemand auch nur ein Haar krümmt.« »Na prima«, sagte Sarah gepreßt. »Aber während die Polizei bei mir Babysitter spielt, könnte Romeo ja schon wieder unterwegs sein, um sein nächstes Opfer zu suchen. Er könnte sich mit ihr für ein romantisches Abendessen zu zweit in ihrer Wohnung verabreden.« Wie viele Opfer noch, bevor man ihn endlich faßt?
»Emma hat mit mir geredet, Sarah«, sagte Wagner. »Und wir sind beide der Meinung, daß Sie nicht in der Sendung auftreten sollten.« »Nicht auftreten? Das macht doch überhaupt keinen Sinn. Erst recht nicht, wenn Ihre Theorie stimmt. Ihr habt keine andere Spur, richtig? Ohne mich habt ihr überhaupt nichts. Vielleicht lockt ihn das ja aus seinem Versteck? Wenn er tatsächlich mit mir kommuniziert, dann wird ihn das erst recht dazu anregen, weiterzumachen, oder etwa nicht?« Ohne auf seine Antwort zu warten, sah Sarah zu Emma auf. »Müssen wir nicht langsam in den Aufnahmeraum?« Wagner blieb eisern. »Nein. Wir kennen sein Spiel nicht. Wissen nicht, welche Rolle Sie darin haben.« Sarah funkelte ihn an. »Ich suche mir meine Rolle selbst aus. Wie soll ich denn sonst an ihn rankommen? Warten Sie vielleicht darauf, daß er mir irgendwann seine Adresse zukommen läßt, damit wir Brieffreunde werden können? Ich mache das jetzt, Wagner. Ich ziehe das durch. Ich werde ihm meine Gedanken verraten, soweit ich überhaupt noch denken kann, nach dem, was dieser geisteskranke Dreckskerl getan hat. Und Sie werden mich nicht daran hindern!« Wagner verlor ziemlich schnell die Geduld. »Wollen Sie etwas Sinnvolles tun? Na prima. Geben Sie uns die Beweismittel, und lassen Sie uns unsere Arbeit machen.« Sarah sah auf die Uhr. »Wir haben noch fünfzehn Minuten. Muß ich mir nicht die Nase pudern lassen oder so was?« Emmas dunkle Augenbrauen zogen sich zusammen. »Sarah, vielleicht sollten wir noch ein paar Tage warten. Die Polizei könnte…« »Es gibt andere Sender, die mich mit Kußhand nehmen würden. Wenn Sie nicht den Mut dazu haben…« »Ich denke dabei eher an Sie, Sarah. An Ihre Sicherheit«, konterte Emma. »Ich denke dabei an Romeo. Ich will verdammt sein, wenn ich zulasse, daß alles so läuft, wie er will. Er wird nicht mehr gewinnen. Ich weiß zwar nicht, was für ein Spiel er treibt, aber ich weiß, daß ich mich immer als Opfer gefühlt habe, als Kind meiner Mutter, schwach, unzulänglich. Immer versteckt. Von mei-
nem eigenen Schatten verängstigt. Ich muß endlich etwas tun, sonst kann ich nicht mehr mit mir selbst leben. Können Sie das denn nicht verstehen?« In Emmas Gesicht zeigte sich Mitgefühl. Auch in Wagners. Aber Sarah wollte kein Mitgefühl. Sie wollte, daß sie ihr halfen, sich zu wehren. »Melanie hat ihn herausgefordert«, sagte Sarah trotzig. »So, und nun bin ich an der Reihe. Sie hat gedacht, sie könnte ihn austricksen, aber sie war zu analytisch. Meine Methode ist direkter.« Wagner schüttelte den Kopf. »Das ist doch Wahnsinn.« »Als Melanie in der Sendung aufgetreten ist, fanden Sie nicht, daß das Wahnsinn ist«, entgegnete Sarah sarkastisch. »Ich wünschte bei Gott, daß sie das nie getan hätte.« Seine Augen wichen von ihrem Gesicht, und alle verfielen in Schweigen. »Vielleicht sollte sie es tun, Mike«, sagte Emma schließlich. »Das könnte ihn tatsächlich aus seinem Versteck locken.« »Das macht mir ja gerade Sorgen«, grollte Wagner. »Und wenn es gar nicht Romeo ist, sondern bloß ein Spinner, der sie belästigt«, fuhr Emma fort, »dann hat es für Sarah wenigstens eine befreiende Wirkung, wenn sie mal alles loswerden kann.« »Geben Sie’s zu, Mike«, beharrte Sarah. »Im Augenblick bin ich Ihre einzige Chance.« Wagners Miene verdüsterte sich. »Meine? Von wem…« Ein Summen von Emmas Sprechanlage unterbrach ihn. Emma beugte sich vor und betätigte einen Knopf. Die Stimme der Empfangsdame knisterte aus dem Lautsprecher. »Sie werden am Set verlangt.« »Sind schon unterwegs, Gina.« Wagner wollte etwas einwenden, aber Emma schnitt ihm das Wort ab. »Hast du einen besseren Vorschlag, Mike?« Eine dünne junge Frau in Jeans und Baumwolltop plazierte Sarah unsanft rechts von Emma in einem Drehstuhl neben dem Schreibtisch. Sie hielt ihr ein winziges Mikrophon unter die
Nase und befahl ihr, es unter ihrem Pullover durchzuziehen, damit das Kabel nicht zu sehen war. Dann befestigte sie es mit einer Klemme am Halsausschnitt. Sarah hatte kaum Zeit, sich zu orientieren, da schob sich auch schon Emma in ihren Sessel, steckte sich ihr eigenes Mikrophon an und drückte Sarahs Hand noch einmal beruhigend. Eine Sekunde später sah Sarah das rote Licht an der Kamera vor Emma aufleuchten. Ein stämmiger Mann, der Kopfhörer trug, deutete auf die Moderatorin. Kühl und gelassen fing Emma an zu sprechen, besser gesagt, sie las den Text vom Teleprompter ab, der über der Kameralinse angebracht war. »Wie angekündigt begrüßen wir heute abend einen ganz besonderen Gast. Miss Sarah Rosen. Das ganze Team von Cutting Edge trauert mit ihr um ihre Schwester, Dr. Melanie Rosen, die am Donnerstag abend vergangener Woche brutal ermordet wurde. Viele von Ihnen, da bin ich sicher, haben unsere Sendungen gesehen, in denen Dr. Rosen uns als Sachverständige ihre Einschätzung des Mörders vortrug, dem sie dann selbst zum Opfer fiel.« Emma faltete die Hände auf dem Schreibtisch vor sich. An der Wand hinter ihr befand sich eine Reihe von Fernsehern. Sarah starrte geradeaus auf den Studiomonitor. Auf dem Bildschirm war nur Emma Margolis zu sehen, so daß es für die Zuschauer so aussehen mußte, als ob die Moderatorin alleine an dem Schreibtisch saß. Es war ein eigentümliches Gefühl. Als ob sie – Sarah – gar nicht existierte. »Romeo.« Emma machte eine dramatische Pause und blickte starr in die Kamera. »Ich weiß nicht, wie es Ihnen ergeht, wenn Sie den Namen hören, mir jedenfalls gefriert das Blut in den Adern.« Sarah blickte zu dem Teleprompter hinüber und sah, daß der Satz dort nicht stand. Emma hatte ihn spontan eingeschoben. Als Sarah wieder zu dem Monitor schaute, füllte eine Nahaufnahme von Emmas Gesicht den ganzen Bildschirm aus – und in diesem Gesicht lagen Angst und Abscheu. Sarah spürte, wie ihre eigene, bemüht ruhige Fassade anfing, zu bröckeln. Es wurde noch schlimmer, als sie das rote Licht an der Kamera vor sich aufleuchten sah. Jetzt zeigte der Monitor sie beide am
Schreibtisch. Sarah blinzelte nervös, als sie sich zum erstenmal auf dem Bildschirm sah. Sie sah fürchterlich aus. Vielleicht hätte sie doch ein wenig Make-up auflegen sollen. Aber sie war nicht hier, um gut auszusehen. Oder um eine Show abzuziehen. Was dann? Wenn sie das bloß wüßte. Wenn doch auch für sie ein Text auf dem Teleprompter erscheinen würde. Emma kam zum Ende ihrer Einleitung. »Sarah Rosen ist heute abend hier, weil sie, erschüttert und voller Zorn über den sinnlosen, grausamen Mord an ihrer Schwester, nicht mehr schweigen kann. Sie will direkt mit dem Mörder sprechen. Mit Romeo. Ich bin sicher, daß wir alle ihren Mut bewundern. Ich jedenfalls tue das.« Emma sah zu ihr hinüber und lächelte ihr aufmunternd zu. »Sarah…« Plötzlich merkte Sarah, daß sie auf den leeren Teleprompter jener Kamera starrte, die jetzt auf sie gerichtet war und deren rotes Zyklopenauge leuchtete. Sie faltete die Hände über dem Schreibtisch, preßte die feuchten Handflächen aufeinander. Dann ließ sie die Hände wieder in den Schoß sinken. Ein rascher Blick auf den Monitor, und sie sah, daß jetzt nur ihr Gesicht den Bildschirm ausfüllte. Obwohl Emma in Wirklichkeit noch immer gleich neben ihr saß, fühlte Sarah sich so allein, wie sie auf dem Bildschirm wirkte. Panik stieg in ihr hoch. Sollte sie weglaufen? Doch dann mußte sie an Romeo denken. Wie er später am Abend irgendwo da draußen sitzen und sie betrachten würde, wenn die Sendung im Fernsehen lief. Wie verdammt stolz er sich fühlen mußte. Wie er seine nächste Verführung plante. Hatte er schon die ersten Schritte unternommen? Machte er ihr den Hof? Hatte Wagner recht? War Melanie nicht gen Hg für ihn? Mußte er auch noch ihre Schwester haben? Ihre Faust krachte auf den Schreibtisch. »Du bist abartig!« krächzte Sarah in die Kamera. »Du bist der dreckigste Abschaum. Ist dir das eigentlich klar? Weißt du, was für ein absurdes Monstrum du bist?« Ihre Wangen brannten, ihre Kehle war wie zugeschnürt. »Meine Schwester war dir auf der Spur, nicht wahr? Sie hat deine verlogene Maske durchschaut, anders als die anderen armen Frauen, die du abgeschlachtet hast. Deshalb mußtest du sie umbringen, stimmt’s? Weil sie dir auf die Schli-
che gekommen ist. Weil sie wußte, wer du in Wahrheit bist. Weil du Angst hattest, daß du entlarvt würdest, du Feigling! Und was ist mit mir? Komme ich dir auch schon zu nahe?« Sarah bebte vor Zorn. »Es darf nicht weitergehen! Man muß dich aufhalten! Du Feigling… Feigling…« Jetzt schlug sie mit beiden Fäusten auf die Tischplatte. Immer wieder. Immer wieder. Auch dann noch, als die Sendung unterbrochen wurde. Wagner hielt Sarah zurück, als sie auf den Ausgang des Studios zueilte. »Alles okay?« fragte er. »War ziemlich idiotisch, was?« Nach ihrem Ausbruch im Fernsehen war sie verlegen und fühlte sich ausgepumpt. Er lächelte. »Nein. Sehr eindrucksvoll. Wie Emma gesagt hat, zumindest hatte es für Sie eine befreiende Wirkung.« »Davon merke ich noch nichts.« Aber durch Wagners herzliches Lächeln fühlte sie sich ein klein wenig besser. »Kommen Sie, ich fahre Sie nach Hause«, bot er an. Sarah wich zurück. »Ich bin selbst mit dem Wagen da.« Bedräng mich nicht, Wagner. Ich habe schon genug um die Ohren, auch ohne dich. »Sarah, schließen Sie mich nicht aus. Ich möchte Ihnen nur helfen.« »Wie Sie Melanie geholfen haben?« schrie sie ihn an, als die Wut aus der nie versiegenden Quelle in ihrem Innern emporschoß. Jedes Wort wie ein Stich. »Was glauben Sie? Übung macht den Meister?« Er seufzte müde auf. »Wir wollen ihn auch kriegen, Sarah.« Sie fühlte sich innerlich zerrissen. Das war zuviel. Trotz allem, was sie durchmachte, konnte sie nicht leugnen, daß sie eine gewisse Sympathie für Michael Wagner empfand. Nicht, daß sie vorhatte, sie je auszuleben. Das würde sie nicht zulassen. Doch noch bevor sie sich erholen konnte, schob die Empfangsdame ihr Fenster auf und rief: »Miss Rosen. Jemand aus ihrem Büro hat angerufen und eine Nachricht für sie hinterlassen.«
Verwirrt ließ Sarah sich den Zettel geben und las ihn durch. Als sie aufblickte, sah sie Wagners besorgten Blick. Er dachte offenbar, Romeo hätte bereits auf ihren Ausbruch reagiert. »Das ist von Bernie. Ein Arbeitskollege von mir«, erklärte sie ihm. »Gehen Sie doch schon. Im Büro muß irgendwas angefallen sein.« »Sind Sie sicher, daß ich nicht auf Sie warten soll? Sie zum Wagen bringen?« »Mein Gott, es ist hellichter Tag. Hier wimmelt es von Menschen. Ich glaube kaum, daß Romeo sich aus einem Hauseingang auf mich stürzen wird.« »Ich weiß, Sie glauben noch immer nicht, daß er hinter diesen Botschaften steckt. Aber damit Sie es nur wissen, wir werden kein Risiko eingehen. Ich habe Polizeischutz für Sie veranlaßt, und zwar rund um die Uhr. Einer von unseren Männern wird vor Ihrem Haus stehen, wenn Sie dort ankommen. Fahren Sie von hier aus direkt nach Hause?« »Ja.« »Okay. Ich komme etwas später mal bei Ihnen vorbei, um dieses Medaillon abzuholen.« Sarah war gerade dabei, an dem Wandtelefon in der Halle die Nummer ihres Büros zu wählen, als ihr einfiel, daß sie das Medaillon ja im Wagen hatte. Aber Wagner war schon zur Tür raus. Na ja, sie konnte es ihm ja später geben. Bernie hob beim zweiten Klingeln ab. »Sarah, Gott sei Dank, daß du anrufst.« »Was ist denn? Ist was passiert?« »Wo bist du?« »Noch immer im Sender. Bernie, du klingst so aufgeregt. Du machst mir angst.« »Na, dann sind wir schon zwei. Heute ist was mit der Hauspost gekommen. Eigentlich war es in der Post, aber ohne Briefmarke. Frag mich nicht, wie es in den Stapel gekommen ist.« »Was? Was ist es?« Sarahs Tonfall erregte die Aufmerksamkeit der jungen Frau am Empfang. Sie wandte ihr den Rücken zu.
»Es sah aus wie eine ganz normale Beileidskarte. Da sind etliche für dich angekommen. Nur daß diese an dich adressiert war, aber zu meinen Händen. Also – also habe ich sie aufgemacht. Sarah, es war ein Valentinsgruß. Ein rotes Herz.« Sarah mußte sich an der Wand abstützen. »Was… stand drin?« »Nur eine Zeile. Sie lautet: Hast du in das Medaillon geschaut?« Er zögerte. »Und dann – darunter: Romeo.« Sie schloß die Augen, sie schwankte. Als ob sie aus großer Höhe in die Tiefe stürzte. Beim Aufschlag würde sie nicht auf der Erde landen, sondern in den ausgebreiteten Armen eines Verrückten. Wie konnte sie nur so naiv gewesen sein? Dummes, dummes Mädchen. Nie weißt du, was auf dich zukommt. Am anderen Ende der Leitung rang Bernie nach Luft. »Welches Medaillon? Was ist eigentlich los, Sarah? Ich habe die Bullen angerufen. Nachdem ich aufgehört hatte, zu zittern. Ich habe mit diesem Detective Allegro gesprochen. Er schickt jemanden her, der die Karte abholen soll. Sarah, was zum Teufel geht hier vor?« Als Sarah aus dem KFRN-Gebäude zum Parkplatz um die Ecke taumelte, zitterte sie mittlerweile so heftig, daß sie es bis in die Fingerspitzen, die Fußsohlen, die Schädeldecke spürte. Sie lehnte sich schwer gegen die geschlossene Beifahrertür und versuchte, ihre Atmung zu beruhigen und gleichzeitig die Panik zu bezwingen. Sie schüttelte heftig den Kopf. Er hatte das Spiel eröffnet. Wenn sie jetzt die Nerven verlor, würde er es auch zu Ende bringen. Sie riß die Wagentür auf und warf sich auf den Beifahrersitz, die Augen starr auf das Handschuhfach gerichtet. Ihr war übel. Sie hatte kein Mittagessen gehabt. Wann hatte sie zuletzt gegessen? Sie wußte es nicht. Mach das Handschuhfach auf, Sarah. Als du in die Kamera gestarrt hast, warst du doch so mutig. Ja, aber das war, bevor du wirklich geglaubt hast, daß Romeo dahintersteckt. Komm schon, komm schon. Sei ehrlich, hast du es nicht von Anfang an gewußt? Wieso belügst du dich dauernd selbst?
Sie sah das Medaillon nicht auf den ersten Blick. Und wenn er es sich schon zurückgeholt hatte? Wo würde es als nächstes auftauchen? Machte er ihr den Hof, oder trieb er sie in den Wahnsinn? War da überhaupt ein Unterschied? Hektisch wühlte sie in Papieren, alten Verpackungen und sonstigem Abfall herum, bis sie schließlich das Medaillon erspähte. Das goldene Herz. Es wurde lebendig. Pochte. Gott… »Sarah.« Sie erschrak dermaßen, als sie ihren Namen hörte, daß sie fast gegen das Wagendach geknallt wäre. »Sie!« keuchte sie. Wagner beugte sich vor, betrachtete sie prüfend mit einem ungewöhnlich zärtlichen Ausdruck im Gesicht. Es tat ihr fast weh, ihn anzusehen. Sie sah wieder zu dem Medaillon im Handschuhfach. Als sie den Arm danach ausstreckte, packte er sie am Handgelenk. Dann zog er ein Papiertaschentuch aus der Tasche und nahm das kleine Medaillon behutsam heraus. »Es muß nach Fingerabdrücken untersucht werden.« »Es ist von ihm. Das weiß ich jetzt.« Ihre Stimme klang fremd. Sarah wünschte sich, diese Stimme würde nicht zu ihr gehören. Nein, sie wünschte sich, sie würde nicht zu dieser Stimme gehören, könnte ihr entfliehen. Allem entfliehen. Du bist die Tochter deiner Mutter. Vergiß das bloß nicht. »Ich weiß«, sagte Wagner finster. »Ich habe übers Autotelefon mit Allegro gesprochen. Er hat mir von der Karte erzählt, die Ihr Freund Bernie bekommen hat. Ich hatte gehofft, daß ich Sie noch hier erwische. Ich habe mir gedacht, daß Sie völlig aufgelöst sein müssen.« Ihre Augen wanderten von Wagner zu dem Medaillon in seiner Hand. »Da ist irgendwas drin.« Auch das hatte er schon gehört. Aber sie wußten beide nicht – noch nicht –, was darin war. Er betrachtete sie immer noch sehr genau. »Möchten Sie es jetzt öffnen?« Sarah konnte den Blick nicht von dem kleinen goldenen Schimmer im Papiertaschentuch abwenden. Das Medaillon war nicht mehr bloß ein billiges Schmuckstück. Der groteske Scherz
eines Spinners. Es hätte ihr eigenes Herz sein können, das da in Wagners Handfläche lag. »Machen Sie es auf«, befahl sie ihm krächzend. Wortlos zog Wagner ein zweites Taschentuch hervor. Er öffnete den Verschluß des Medaillons und klappte es auf. Sarah dachte, sie wäre auf alles vorbereitet, aber als sie sah, was drin war, schossen ihr Tränen in die Augen. Auf der rechten Seite des Herzens war ein winziges Foto von Melanie. Melanie als schöner, lebensprühender Backfisch. Fröhlich in die Kamera lächelnd. Sie strahlte. War so lebendig. Sarah erkannte das Foto sofort. Es war aus Melanies Jahrbuch von der HighSchool. Und das Foto auf der linken Seite des Herzens? Auch das erkannte Sarah wieder. Ein traurig dreinblickendes, kleines Mädchen. Die Augen niedergeschlagen. Ein verzerrtes Lächeln auf den Lippen. Sie erinnerte sich ganz genau, wann dieses Foto von ihr gemacht worden war. Gleich nach einem ihrer erniedrigenden Ballettversuche. »Lächeln, Sarah.« »Ich versuche es ja, Daddy. Ich versuche es.« Eine Kinderstimme voller Verzweiflung. Zwanzig Minuten nachdem Sarah zu Hause angekommen war, klingelte Bernie bei ihr. Zuerst dachte sie, er wäre vorbeigekommen, um sich zu vergewissern, daß mit ihr alles in Ordnung war. Doch sein angespanntes Gesicht verriet ihr, daß etwas vorgefallen sein mußte. »Was ist passiert? Jetzt sag nicht, ich habe noch mehr Post bekommen.« »Dr. Feldman hat angerufen, fünf Minuten nachdem wir miteinander telefoniert hatten. Ich habe noch versucht, dich zurückzurufen, aber du warst schon weg.« »Feldman hat dich angerufen?« »Er wollte dich sprechen. Unglückseligerweise hat er deinem Vater ausgerechnet heute von deiner Schwester erzählt. Er möchte, daß du sofort zum Pflegeheim kommst. Er hat gesagt, daß er dich dort erwartet.«
Sarah rührte sich nicht. Sie fühlte sich völlig bewegungsunfähig. Sie mußte sich zwingen, auch nur zu atmen. »Ich fahre dich hin.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe dich nicht um Erlaubnis gefragt«, sagte Bernie entschlossen. Der Anflug eines Lächelns umspielte ihre Lippen. »Bernie, ich liebe dich.« »Das weiß ich doch, Süße.« Wagner sah zu, wie sein Partner aufgeregt den Gang zwischen den Schreibtischreihen der Einsatzzentrale auf und ab marschierte. »Das gefällt mir ganz und gar nicht«, grollte Allegro. »Was?« Allegro warf ihm einen strengen Blick zu. Er war so wütend, daß er aus der Haut fahren wollte. »Alles. Einfach alles. Wie konntest du sie bloß in dieser gottverdammten Sendung auftreten lassen?« »Was hätte ich denn machen sollen? Sie verhaften?« zischte Wagner. »Mit welcher Begründung? Jedenfalls hat sie geglaubt, es wäre irgendein Spinner gewesen, bis…« »Wir sollten sie herbringen lassen und ihr mal gehörig den Kopf waschen. Unterschlagung von Beweismaterial, Widerstand gegen die Staatsgewalt.« »Ach Quatsch, John. Das wird bei ihr nichts bringen. Dann wird sie uns nur noch mehr vorenthalten.« Allegro schnappte sich den Plastikbeutel mit der herzförmigen Karte und dem dazugehörenden Umschlag. »Keine Briefmarke. Kein Mensch hat eine Ahnung, wie das Ding in die normale Post gelangt ist. Ich habe Corky hingeschickt. Er soll jeden, aber auch jeden im gesamten Gebäude verhören.« Angewidert starrte er auf das Medaillon in einem weiteren Plastikbeutel. »Meinst du, da kommt noch mehr?« »Du etwa nicht?« entgegnete Wagner grimmig. Allegro fixierte das Medaillon noch immer. »Hat Sarah gesagt, wo die Fotos her sind?«
»Sie ist ziemlich sicher, daß das Bild von Melanie Rosen aus ihrem High-School-Jahrbuch stammt. Ausgeschnitten aus einem Gruppenfoto von der Hockeymannschaft. Ich habe schon einen von den Jungs zu Melanies Haus geschickt, der soll nach dem Jahrbuch suchen.« »Wahrscheinlich hat Romeo es mitgehen lassen«, sagte Allegro. »Und das Foto von Sarah?« Wagner zuckte die Achseln. »Aus dem Familienalbum. Wahrscheinlich auch aus Melanies Haus. Aber da sind, soweit wir wissen, gar keine Alben mehr. Wenn es uns nicht auf Anhieb gelingt…« Allegro winkte einem der uniformierten Polizisten, die gerade in die Einsatzzentrale gekommen waren. »Miller. Bringen Sie das Zeug zur Spurensicherung. Sagen Sie ihnen, daß ich alles über diesen Mist erfahren will, und zwar gestern.« Seine Stimme klang einschüchternd. Wagner sah zu, wie Miller die Beutel entgegennahm, kurz nickte und dann abschob. »Vielleicht haben wir ja diesmal Glück«, sagte Wagner. »Genau. Und vielleicht schneit’s in der Hölle.« Allegro klappte den dicken Ordner »Melanie Rosen« auf und blätterte bis zu den Seiten mit den Laborberichten. Zuoberst lagen die jüngsten Erkenntnisse der Spurensicherung und der Gerichtsmedizin. »Wir haben absolut nichts. Wieder mal keine Fingerabdrücke. Keine Blutspritzer oder sonstige Spuren, obwohl das Zimmer einem Schlachtfeld gleicht.« »Könnte sein, daß er nackt ist, wenn er sie erledigt. Oder er hat Kleidung und Schuhe zum Wechseln dabei.« Wagner setzte sich auf die Schreibtischkante seines Partners. Allegro las weiter in den Berichten. »Die Spermaprobe hat dieselbe Blutgruppe wie bei den anderen ergeben. Die Ergebnisse der DNS-Untersuchung kriegen wir erst in ein paar Wochen, aber sie werden passen, darauf kannst du wetten. Also wissen wir, daß wir es noch immer mit einem Täter zu tun haben. Jetzt müssen wir den Wichser nur noch finden.« »Ich denke, Perry ist unsere heißeste Spur. Irgendwas Neues über ihn?«
»Nada. Unsere Leute haben keine Verbindung zu den anderen Opfern feststellen können. Sie haben Perrys Foto erfolglos rumgezeigt. Vielleicht verrennen wir uns da.« »Wer käme sonst in Frage? Angenommen, es ist jemand, von dem wir wissen, daß Melanie ihn kannte. Und den vielleicht sogar Sarah kennt.« »Da wäre zunächst mal Melanies Exmann. Könnte ja sein, daß er den irren Plan hatte, seine Frau kaltzumachen, und die anderen vor ihr sollten uns nur auf die falsche Spur locken.« »Wie lassen sich dann seine kleinen Botschaften an ihre Schwester erklären?« fragte Wagner. »Vielleicht ist er bloß ein ganz normaler Irrer im Therapeutenpelz.« Wagner lächelte schwach. »Du magst ihn nicht besonders, was?« »Du etwa?« konterte Allegro barsch. Wagners Lächeln wurde breiter. »Nein, ich auch nicht. Auf jeden Fall ist Dennison eine richtig harte Nuß. Aber ich meine, daß sich jede Nuß knacken läßt. Irgendwann.« Allegro lachte rauh auf. »Irgendwann? Erzähl das mal Sarah Rosen. Die findet das bestimmt unwahrscheinlich tröstlich.« »Ich lasse sie rund um die Uhr bewachen.« Wagner steckte sich eine Zigarette in den Mund und zündete sie an, nur ein paar Schritte von dem Schild »Rauchen verboten« entfernt, das an einer Wand der Einsatzzentrale hing. Allegro ging zur Kaffeemaschine und verzog das Gesicht, als er die verdreckte Kanne betrachtete. »Ich nehme an, mehr können wir nicht tun, bis er den nächsten Schritt in ihre Richtung unternimmt.« »Aus Sarah wird man weiß Gott nicht schlau.« Wagner stockte und schob beiläufig ein paar Ordner auf seinem Schreibtisch hin und her. »In mancherlei Hinsicht ist sie ihrer Schwester sehr ähnlich.« »Sie ist eine Chaotin. Ganz anders als Melanie.« »Ich kann es nicht genau benennen. Komisch, als ich Sarah das erste Mal gesehen habe, dachte ich, daß sie und Melanie absolute Gegensätze wären. Vom Aussehen her bestimmt. Auch von der Persönlichkeit her. Sarah hat eine harte Schale, die sie
verzweifelt aufrechtzuerhalten versucht. Als ob sie in sich selbst keinen Halt findet. Melanie dagegen schien immer genau zu wissen, was sie wollte und warum. Kühl, mit einem klaren Kopf.« »Bis jetzt sehe ich noch keine Ähnlichkeiten«, sagte Allegro trocken. »Und ich denke, daß Sarah auch keine sieht. Sie betrachtet sich selbst als die geborene Verliererin und ihre Schwester als die Erfolgsfrau. Aber Sarah kann einen überraschen. Mich zumindest. Gerade wenn man denkt, jetzt klappt sie vollends zusammen, steigt sie in den Ring und haut nur noch so um sich. Vielleicht kann sie nicht gewinnen, aber kampflos aufgeben wird sie auf keinen Fall.« Allegro goß sich eine Tasse kalten Kaffee ein, der vom Morgen übriggeblieben war. »Ich habe bei beiden Schwestern so ein komisches Gefühl«, sagte Wagner langsam. »Und das wäre?« Allegro ließ einen gehäuften Teelöffel Zukker in die schwarze Brühe rieseln und wünschte sich, er könnte auch noch einen Schuß Whiskey dazugeben. »Jetzt lach nicht«, sagte Wagner, »aber ich kann es nicht anders ausdrücken, sie kommen mir so vor, als würden sie zusammengerechnet mehr als die Summe ihrer Teile ergeben.« Allegro zog eine buschige Braue hoch. »Du meinst, bei ihnen geht die Rechnung nicht auf?« Wagner nickte langsam und sagte dann grinsend: »Tja, ich habe auf dem College Philosophie belegt. Ich kann eben nicht aus meiner Haut.« Allegro setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, hob die Tasse an die Lippen und trank den viel zu süßen, abgestandenen Kaffee, ohne darauf zu achten, wie ekelhaft er schmeckte. Er nahm sich die Romeo-Akte der Sonderkommission vor. In dem mit »Opfer« überschriebenen Teil wanderte sein Blick über die Gruppe der an den Tatorten aufgenommenen Fotos von Romeos fünf Opfern, die alle auf einer Seite angeordnet waren. Diane Corbett, vermutlich Romeos erstes Opfer. 22. April. Ihr Foto war in der oberen rechten Ecke. Eine große, athletisch wirkende Anwältin, die sich auf Konkursverfahren spezialisiert
hatte. Als sie in ihrer Wohnung auf der Green Street von ihrer Vermieterin gefunden wurde, war sie mindestens schon 48 Stunden tot. Neben ihrem Foto klebte das von Jennifer Hall. Eine attraktive Börsenmaklerin, deren Freunde sie allesamt als »Draufgängerin« beschrieben. Ihr Mann, mit dem sie seit zehn Jahren verheiratet war, hatte ihre entstellte Leiche gefunden. Er war einen Tag früher von einer Geschäftsreise heimgekehrt, um seine Frau zu ihrem Geburtstag zu überraschen. Jennifer Hall war am 9. Juni dreißig geworden. Dieses Datum mußte zweimal in ihren Grabstein gemeißelt werden. Karen Austins Foto befand sich gleich unter dem von Diane Corbett. Romeos drittes Opfer war eine gertenschlanke, sommersprossige Rothaarige. Sie war Finanzberaterin in einer Firma am Union Square. Ihr Boß hielt große Stücke auf sie. Sie hatte gerade einen Riesensprung auf der Karriereleiter gemacht. Das ganze Büro hatte ihre Beförderung gefeiert, und zwar zwei Tage bevor sie ermordet wurde. 21. August. Dann kam Margaret Anne Beiner, die hübsche, zierliche, brünette Professorin für Soziologie, die am 16. September getötet worden war. Im Hintergrund des Bildes konnte man die kristallenen Weingläser und den unberührten Schweinebraten auf dem Eßtisch sehen. Und das blutige Messer, mit dem sie das Fleisch hatte tranchieren wollen. Und schließlich war da Melanie. Das abscheuliche Foto ihres verstümmelten Körpers auf dem blutgetränkten, karamelfarbenen Sofa. Das Bild von Melanie Rosen war das einzige, bei dem Allegro es nicht über sich brachte, länger hinzusehen. Er schloß die Akte, und seine Gedanken wanderten zurück zu jenem Abend Ende Februar, als er zu ihr gefahren war, um die Verlängerung des Klinikaufenthaltes seiner Frau mit ihr zu erörtern. Er sitzt ihr gegenüber im Sessel, die Beine übereinandergeschlagen, und versucht seine Erregung zu verbergen, während sie hinter dem Schreibtisch Platz nimmt. »Werden Sie sie in der Klinik besuchen?« fragt sie. »Das hatte ich eigentlich nicht vor – ich meine, wir sind doch getrennt.«
Melanie erhebt sich aus ihrem Sessel, kommt um den Schreibtisch herum und lehnt sich dagegen. Er nimmt ihr blumiges Parfüm und ihre langen, eleganten Beine beunruhigend deutlich wahr. Er spürt, wie sein Penis noch härter wird. »Ich denke, es ist für beide von Vorteil, wenn Sie sie nicht besuchen.« Er lächelt, erleichtert. Jetzt muß er kein schlechtes Gewissen mehr haben. Er hält sich ja bloß an die Anweisungen der Ärztin. »Haben Sie Hunger, John?« Ein auffordernder Blick an ihn, noch immer lächelnd. Der Blick wird erwidert. »Meine Kochkünste sind zwar nicht berauschend, aber es wird schmecken. Versprochen.« Schweißperlen. Scheiße. Sprich es aus, wieso denn nicht? »Ist es – koscher?« »Sind Sie Jude?« Ihr Ton klingt leicht spöttisch. Er ist unsicher, ob sie ihm nicht was vormacht, ob das nicht eine Art Test ist. Vielleicht will sie nur feststellen, ob John Allegro wirklich der miese Ehemann ist, als den ihn seine Frau ganz bestimmt dargestellt hat. Sie wartet ab, läßt ihn in Ruhe überlegen, aber er weiß, daß sie weiß, daß sie längst gewonnen hat. Er folgt ihr die Treppe hinauf, genießt den sinnlichen Schwung ihrer Hüften. Sie läßt ihn im Wohnzimmer Platz nehmen, bringt ihm einen Whiskey, ohne auch nur zu fragen, ob er einen möchte. Sie weiß es. Sie setzt sich neben ihn auf das Sofa und beobachtet ihn, wie er das Glas in einem Zug leert. Dann nimmt sie es ihm aus der Hand. Sie starrt ihm jetzt unverhohlen auf den Schritt, und er fühlt sich angemacht und befangen zugleich. Sie hat die Trümpfe in der Hand. Sie hat alles unter Kontrolle. Das nervt ihn. Aber sein brennendes Verlangen ist größer. Ihre Lippen sind halb geöffnet. Sie flüstert etwas. Er kann es nicht verstehen. Er muß näher rücken. Sie sagt es noch mal, raunt es ihm ins Ohr. Und diesmal versteht er es klar und deutlich.
Sarah und Bernie standen im Stau auf der Oakland Bay Bridge. Er starrte sie mit offenem Mund an. »Sarah, du bist wahnsinnig.« »Das merkst du jetzt erst?« »Wieso hast du mir nicht gesagt, daß dieser Irre dir geschrieben hat?« wollte er wissen. »Dir Geschenke geschickt hat?« »Ein Geschenk. Nur das Medaillon. Bis jetzt. Und das habe ich dir doch gerade erzählt. Bis heute nachmittag wußte ich selbst nicht, wer es geschickt hat.« »Aber daß du in dieser Fernsehsendung aufgetreten bist. Ihn provoziert hast. Bist du dir eigentlich darüber im klaren, worauf du dich da einläßt?« »Welche Wahl läßt mir das Schwein denn?« Bernie schien mit seiner Weisheit am Ende zu sein. »Und du meinst, wenn du ihn im Fernsehen herausforderst, machst du die Sache nicht noch schlimmer?« »Kapierst du denn nicht? Ich stecke schon bis über beide Ohren drin.« Sarah wollte ihren Zorn nicht an Bernie auslassen und hoffte inständig, daß ihre wachsende Hysterie unter Kontrolle bleiben würde. »Ich habe schon daran gedacht, noch mal in die Sendung zu gehen, wenn du es genau wissen willst«, fügte sie trotzig hinzu. Mach den Verfolger zum Verfolgten. »Du bist völlig fertig, kannst nicht klar denken. Ich werde mich jetzt nicht mit dir streiten. Ich hoffe bloß, diese Detectives sorgen dafür, daß du deinen Hals nicht zu weit in die Schlinge…« »Diese Detectives? Allegro? Wagner? Die sind ihr Geld nicht wert. Fünf Frauen sind tot, Bernie. Eine davon war meine Schwester. Und es sieht ganz so aus, als ob Romeo vorhat, mich zur Nummer sechs zu machen, wenn ich nicht etwas unternehme.« Bernies Seufzer verriet Ratlosigkeit und Angst. »Sarah, von jetzt an werde ich keine ruhige Minute mehr haben, bis diese Bestie hinter Schloß und Riegel sitzt. Bist du wenigstens bereit, vorläufig bei mir zu wohnen? Wenn ich mir vorstelle, daß du allein in diesem Rattenloch bist…« »Sieh mal in den Rückspiegel.« »Warum?«
»Siehst du die schwarze Limousine, zwei Wagen hinter uns?« Bernie verstellte den Spiegel. »Ja.« »Der folgt uns schon, seit wir losgefahren sind.« Bernie erbleichte. »Denkst du…« »Keine Bange. Das ist ein Bulle. Ich habe einen Bodyguard, rund um die Uhr, mit freundlichen Grüßen von der Polizei von San Francisco. Also mußt du dir um mich keine Sorgen machen.« »Trotzdem wünschte ich, du würdest erst mal zu mir ziehen. Ich habe genug Platz. Und du hättest Gelegenheit, Tony kennenzulernen.« »Jetzt sag nicht, daß er schon bei dir wohnt?« »Du bist immer so zynisch, wenn es um Liebe geht.« »In dem Punkt will ich dir nicht widersprechen, Bernie.« Aufgrund des starken Verkehrs war es schon weit nach sechs Uhr, als sie das Pflegeheim Bellavista erreichten. Bernie fuhr in seinem Rollstuhl die Rampe hoch, Sarah hielt sich ein paar Schritte hinter ihm. Wie hatte ihr Vater die Nachricht vom Tode seiner geliebten Melanie aufgenommen? Würde er ihr Vorwürfe machen? Sie beschuldigen? War nicht immer alles am Ende ihr Fehler? Hatte nicht ihr Versagen als Tochter und als Schwester am Ende diese ganze Tragödie heraufbeschworen? Hätte sie, wenn sie weniger trotzig, weniger eifersüchtig gewesen wäre, Melanie nicht irgendwie retten können? »Wenn du nicht jede freie Minute damit verbringen würdest, an dich selbst zu denken, Sarah«, sagt ihr Vater aufgebracht, »wäre das nicht passiert.« Sie ist zehn Jahre alt und steht in der Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters in dem Haus in Mill Valley. »Das hab ich nicht gewollt…« »Du ›willst‹ es nie«, schneidet er ihr das Wort ab. »Trotzdem hat deine Schwester jetzt den Arm in Gips.« »Ich hab ihr den Arm nicht gebrochen«, murmelt sie aufsässig. »Sie ist vom Fahrrad gefallen.« »Hast du deine Schwester gedrängt, mit dem Fahrrad zu deiner Freundin Lily zu fahren, oder nicht?« »Zu Bonnie.«
»Was?« »Bonnie. Nicht Lily. Ich habe Gordo bei Bonnie vergessen.« Gordo ist ihr Lieblingsstofftier – ein Affe mit schlackrigen Armen und verfilztem, schmutzig braunem Fell. Sie nimmt ihn jede Nacht mit ins Bett. Schleppt ihn mit sich herum. Ihr Vater hat ihr schon oft gesagt, daß es Zeit ist, sich von ihrem »Übergangsobjekt« zu lösen. Sie wünscht, er würde ihren geliebten Gordo nicht so nennen. Sie mag es überhaupt nicht, wenn er seine Psychiatersprache auf sie anwendet. »Narzißtisch, retentiv gehemmt, passiv-aggressiv.« Sie weiß nicht, was diese Wörter bedeuten. Sie weiß bloß, daß sie sich dann immer schämt. Sein vorwurfsvoller Blickt nagelt sie fest. Sie preßt die Beine zusammen. Nicht bloß, weil sie zittern, sondern auch, weil sie auf einmal muß. Was würde er wohl sagen, wenn sie auf seinen schönen Perserteppich Pipi macht? »Sarah, ich dachte, wir hätten erst vor wenigen Wochen ein langes Gespräch darüber geführt, daß es mir lieber wäre, wenn du nicht mehr zu Bonnie gehst.« »Tu ich ja gar nicht.« Sie versucht, sich zu verteidigen. »Ich bin fast nie bei ihr.« »Ihr Bruder ist ein richtiger Tunichtgut.« Die Rede ist von Bonnies vierzehnjährigem Bruder Steve. Sarah mag Steve. Und das hat sie blöderweise Bonnie erzählt. Bonnie hat gekichert und gesagt: »Zu spät. Deine Schwester hat ihn sich schon geangelt.« Sie will ihrem Vater erzählen, daß sie Melanie gar nicht drängen mußte, zu Bonnie zu radeln. Für ihre Schwester war es ein prima Vorwand, um Steve zu sehen. Aber das kann sie ihrem Vater nicht erzählen. Dann würde er noch wütender werden. Und dann wäre Melanie auch wütend auf sie. Sehr wütend. »Sarah, du hörst mir ja überhaupt nicht zu.« Zuerst dachte sie, es wäre die Stimme ihres Vaters. Dann begriff sie, daß der Tonfall nicht hart und tadelnd war. Er klang besorgt. Bernies Stimme. Er hielt die Eingangstür für sie auf. Sie war wenige Schritte davor wie angewurzelt stehengeblie-
ben. Als ob jemand Sekundenkleber auf die Sohlen ihrer Sandalen geschmiert hätte. »Hör mal, du mußt das nicht machen«, sagte er leise. Sie schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht. Ich habe bloß – mein Gott, Bernie, mir fallen dauernd irgendwelche Sachen wieder ein…« »Was für Sachen?« Sie ließ die Hände sinken, versuchte ein Lächeln. »Erlebnisse aus der Vergangenheit.« Bernie wußte von ihren lückenhaften Kindheitserinnerungen. »Schlimme?« »Gibt es andere?« Feldman erwartete sie diesmal in der Eingangshalle. Sobald sie hereinkamen, sprang er aus dem Sessel auf. Wie Sarah an seinem Gesichtsausdruck ablesen konnte, hatte er nicht damit gerechnet, daß sie jemanden mitbringen würde. Und ausgerechnet wieder einen Expatienten. Als Bernie kurz vor dem Examen stand, hatte er eine depressive Phase, und ein Therapeut, von dem er sich ambulant behandeln ließ, hatte ihm Prozac verschreiben wollen. Aufgrund seiner früheren Drogenabhängigkeit hatte Bernie eine Heidenangst, das Zeug zu nehmen. Also hatte er beschlossen, sich bei einer echten Kapazität eine zweite Meinung einzuholen. Und obwohl es in San Francisco von Therapeuten nur so wimmelte, suchte er sich ausgerechnet Dr. Stanley Feldman aus. Der Gerechtigkeit halber mußte Sarah zugeben, daß es ihrem Extherapeuten gelungen war, Bernie mit einer kurzen Krisentherapie über diese schwierige Phase hinwegzuhelfen, und das, ohne ihn auf Medikamente setzen zu müssen. »Wie geht es ihm?« fragte Sarah den Psychiater, unmittelbar nachdem Bernie und Feldman sich recht reserviert begrüßt hatten. »Gehen wir in den Aufenthaltsraum der Ärzte. Da können wir reden«, sagte Feldman. »Bernie, möchten Sie vielleicht etwas trinken? Am Ende des Ganges links ist ein kleines Café. Sarah kann Sie ja dann dort treffen.« Bernie warf Sarah einen fragenden Blick zu.
Sie nickte ihm zu, und er rollte davon. Feldman führte Sarah in die entgegengesetzte Richtung, zurück in das Woodruff-Zimmer, wo sie am vergangenen Freitag ihre Auseinandersetzung gehabt hatten. War das wirklich erst sechs Tage her? Sarah kam es wie eine Ewigkeit vor. In dem Raum saß ein spitzbärtiger Arzt und las in einer Zeitung, doch sobald er mit Feldman einen Blick getauscht hatte, legte er die Zeitung hin, erhob sich und ging ohne ein Wort hinaus. »Und?« Feldman deutete auf den Sessel, der gerade frei geworden war. Sarah setzte sich diesmal ohne Widerrede. Feldman nahm ihr gegenüber Platz. »Und?« drängte sie. Sie haßte es, daß sich Therapeuten immer alle Zeit der Welt nahmen. Die Spinner zappeln lassen. Ihre Angst steigern. Ihren Widerstand brechen. Sie rief sich in Erinnerung, daß sie keine Patientin war. Nicht mehr. »Dein Vater hat heute morgen zufällig gehört, wie sich zwei Schwestern unterhielten«, sagte Feldman ausdruckslos. »Melanies Name fiel, und soweit ich unterrichtet bin, hat er wohl mitbekommen, daß etwas Schreckliches passiert ist. Glücklicherweise wurden keine Einzelheiten erwähnt. Dein Vater hat sie zur Rede gestellt, und sie haben versucht, die Sache zu vertuschen, indem sie ihm einreden wollten, daß es nicht um seine Tochter Melanie gegangen sei. Aber seine Krankheit hat stark paranoide Züge, und…« »Wieso paranoid«, fragte Sarah. »Die Schwestern haben über seine Tochter geredet. Das war keine Paranoia.« Feldman lächelte schwach. »Ich habe selten erlebt, daß du deinen Vater verteidigst.« »Ich verteidige ihn nicht«, sagte sie schneidend. »Ich provoziere dich.« »Aha«, sagte er mit seinem üblichen weisen Nicken. »Und weiter?« zischte sie, gereizt durch seinen wissenden Blick. Das war ein weiterer Punkt bei Therapeuten. Nie konnte man einfach mal etwas sagen. Alles wurde analysiert und se-
ziert. Gegen einen verwendet. So war es bei Feldman, bei ihrem Vater und bei Melanie. »Dein Vater hat sich sehr aufgeregt. Er hat eine der Schwestern geschlagen.« Sarah preßte die Hände zusammen. Ein Bild schoß ihr durch den Kopf – eine Hand, die auf sie zukommt –, aber sie löschte es sofort. Hatte Feldman es mitbekommen? Falls ja, ließ er sich nichts anmerken. Pokerface bis zum bitteren Ende. »Man hat mich angerufen«, fuhr er fort. »Als ich hier eintraf, hatte Simon sich schon beruhigt. Er war gerade mit dem Mittagessen fertig, und als ich zu seinem Tisch im Speisesaal ging, hat er mich sofort erkannt. Ich fand, daß es zu riskant wäre, ihm die Wahrheit noch länger zu verschweigen. Wir sind in seine Suite gegangen, haben uns ins Wohnzimmer gesetzt, und ich habe es ihm gesagt.« Feldman neigte den Kopf und schwieg einen Augenblick, als ob er ein stummes Gebet sprechen würde. Sarah war leicht schwindlig. Sie hatte noch immer nichts gegessen. Noch immer keinen Appetit. Vielleicht würde sie sich ja einfach in Luft auflösen. Feldman hob den Kopf. Etwas huschte über sein Gesicht – Trauer? Reue? Mitleid? Mit wem? Ihrem Vater? Melanie? Sich selbst? Ihr? Sie hütete sich, ihn zu fragen. Stell einem Psychiater eine solche Frage, und er wird dir das Wort im Munde verdrehen und deine eigene Frage gegen dich richten. »Wie hat er die Nachricht aufgenommen?« fragte sie statt dessen. »Er war gerade in einer klareren Geistesverfassung. Trotzdem fiel es ihm zunächst schwer, die Nachricht voll zu erfassen«, sagte Feldman langsam, und sein Akzent wurde noch stärker. Ein Kloß im Hals? »Er ist aufgestanden und zu seinem Schreibtisch gegangen, wo ein Foto von Melanie steht. Ich glaube, du kennst es. Sie muß damals siebzehn oder achtzehn gewesen sein. Sie ist am Steuer des Segelbootes eures Vaters. Mit einer Hand schirmt sie die Augen gegen die Sonne ab. Sie sieht so hübsch aus auf diesem Foto, so voller Leben.« Ja. Alle Bilder von Melanie waren voller Leben. Bis Romeo es ihr gestohlen hat.
»Ich kenne es. Ich habe es in dem Sommer nach Melanies High-School-Abschluß aufgenommen«, sagte Sarah tonlos. Er hatte das Bild im Goldrahmen auf seinem Büroschreibtisch in der Scott Street stehen gehabt und es mit einigen anderen Lieblingsfotos – alle von Melanie – mit ins Pflegeheim genommen. Soweit Sarah wußte, hatte er von ihr kein Foto aufgestellt. Feldman seufzte. »Dein Vater hat das Foto hochgehoben und ins Licht gehalten, fast so als wäre es eine Röntgenaufnahme, es angestarrt, und dann ist er ganz plötzlich zusammengebrochen und hat angefangen zu schluchzen. Wir haben eine Weile so dagesessen. Ich habe ihm ein Glas Eistee eingegossen, er hat es getrunken. Sich ein wenig beruhigt. Wollte einen Spaziergang im Garten machen. Ich bin mitgegangen. Nach etwa zehn Minuten hat er sich auf eine Bank gesetzt und mich gefragt, ob es wirklich stimmt, daß sie tot ist. Ich habe einfach ja gesagt.« Sarah sagte nichts. Feldman nickte. »Als wir von dem Spaziergang zurückgekommen sind, hat er sich in den Wintergarten gesetzt und das Buch zur Hand genommen, das er im Moment liest. Ich habe mich zu ihm gesetzt. Zwanzig Minuten später hat er das Buch beiseite gelegt und eine Pflegeschwester gerufen, die sich gerade um zwei andere Patienten kümmerte. Er wollte wissen, ob Melanie schon gekommen war, und dann hat er gefragt, warum sie sich so verspätete.« Tränen liefen über Feldmans von Akne vernarbtes Gesicht. Ein Zeichen, daß auch er nur ein Mensch war. Oder war es ein Trick? Meinte er, wenn sie sah, daß er ein wenig die Fassung verlor, würde sie es vielleicht auch riskieren? Irrtum, Feldman. Er zog rasch ein Leinentaschentuch aus der Brusttasche seines Anzugs und putzte sich die Nase. »- eine Form von paranoider Wahnvorstellung. Er glaubte, die Schwestern wollten ihn daran hindern, sie zu sehen. Er wurde ziemlich aggressiv.« Sarah hörte gar nicht hin. Romeo hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt. Arbeitete sich allmählich tiefer. Feldman hielt abrupt inne und betrachtete sie prüfend. »Du bist sehr blaß, Sarah. Ich kann dir versichern, daß dein Vater in seinem jetzigen körperlichen Zustand ungefährlich ist. Ich habe ihm etwas zur Beruhigung gegeben, und er hat geschlafen. Vor zwei Stunden ist er aufgewacht. Sobald er mich sah, hat er an-
gefangen zu weinen wie ein Kind. Er hat sich erinnert. Aber er wird es wieder vergessen. Und dann wird es wiederkommen, wahrscheinlich nur für kurze Augenblicke. Und so wird es eine Weile bleiben.« Sarah war fürchterlich verwirrt. Sie wollte sich Feldman anvertrauen, ihm ihre Ängste, ihre Geheimnisse erzählen. Sie wollte von ihm beruhigt und getröstet werden, wollte, daß er sie in die Arme nahm. Der Wunsch brachte eine Erinnerung zurück. Sie hastet in Feldmaus Wartezimmer. Seine Tür steht einen Spalt offen. Erleichtert hört sie schwaches Stimmengemurmel aus seinem Büro. Sie hatte schon Angst, er hätte Feierabend gemacht. Ihr Termin ist erst am Mittwoch. Aber so lange kann sie nicht warten. Sie hat einen fürchterlichen Streit mit ihrem Vater gehabt. Den schlimmsten, seit sie vom College wieder nach Hause gekommen ist. Schreckliche, gemeine Dinge wurden gesagt. Und dann hat er sie geschlagen. Fest. Mitten ins Gesicht. Sie hofft, daß der brennendrote Abdruck von der Ohrfeige noch immer auf ihrer Wange zu sehen ist. Siehst du, Feldman? Siehst du, was für ein Ungeheuer mein Vater ist? Wundert es dich da, daß ich ihn hasse? Vor der Tür des Psychiaters bleibt sie stehen. Mit wem spricht er da? Bestimmt kein Patient, sonst wäre die Tür fest geschlossen. Und dann erkennt sie die Stimme der Besucherin. Es ist Melanie. Bestimmt mag er sie lieber. Bestimmt hat sie vor ihm keine Geheimnisse. Bestimmt ist sie auch sein Liebling. Jetzt herrscht Stille. Was geht da vor sich? Sie muß es wissen. Sie späht durch den Spalt. Sieht die beiden. Feldman und ihre Schwester. Eng umschlungen. Hört ihn murmeln: »Melanie.« Sie jagt aus dem Wartezimmer. Ringt auf der Straße um Atem. Passanten starren sie an. Sie hetzt in eine Gasse und kotzt. »Ist dir schlecht, Sarah?« »Was?«
»Du hältst dir den Bauch«, sagte Feldman. Sofort ließ sie die Hände in den Schoß sinken. »Was hast du meinem Vater über Melanies Tod erzählt?« fragte Sarah, die nicht zum Gegenstand des Gesprächs werden wollte. »Nur, daß sie einen schrecklichen Unfall hatte und auf der Stelle tot war. Er hat nicht nach Details gefragt. Es ist auch besser so. Schon das allein wird er kaum verkraften können, angesichts seiner psychischen und physischen Verfassung.« »Meinst du sein Herz?« Feldman nickte. »Er steht unter Beobachtung, aber Gott sei Dank ist alles gut.« »Wahrscheinlich überlebt er uns alle.« Sarah spürte, wie ihr wieder schwindlig wurde. Wie sie wieder ins Leere fiel. Mühe hatte zu atmen. Sie konnte sich nirgends festhalten. Feldman packte sie am Arm. Sofort hörte das Schwindelgefühl auf. Er ließ sie rasch wieder los und wich sogar einen Schritt zurück. Als ob er befürchtete, daß sie wieder versuchen würde, ihn zu schlagen. »Sarah, du solltest dir wirklich für die Verarbeitung deiner Trauer eine professionelle Unterstützung suchen«, sagte er mit der für ihn typischen Art. »Wenn du nichts rausläßt, wird es nur noch schlimmer für dich.« Und was ist mir dir, Feldman? Läßt du denn vielleicht irgendwas raus? »Er will dich sehen.« Sie hörte Feldmans Stimme, verstand ihn jedoch nicht. »Dein Vater, Sarah«, sagte Feldman. »Seit er aufgewacht ist, fragt er nach dir. Traust du dir zu, jetzt mit ihm zu reden?« »Hat er wirklich nach mir gefragt?« »Du bist jetzt alles, was er noch hat, Sarah.« Sie lachte rauh. »Absurd, nicht? Daß er am Ende ausgerechnet auf mir sitzenbleibt?« Feldman seufzte traurig. »Sarah, Sarah. Mach deinen Frieden mit ihm. Um deinetwillen, nicht um seinetwillen. Dein Vater war gewiß ein hervorragender und bekannter Analytiker, aber denk ja nicht, daß ich keinen Blick für Simons Fehler als Vater hätte. Ich weiß, daß er Melanie immer bevorzugt hat. Daß du
lange Zeit im Schatten deiner Schwester gestanden hast. Daß du dich, als deine Mutter starb, verraten und verlassen gefühlt hast, weil sie für dich deine einzige Verbündete war. Daß du verzweifelt versucht hast, allen Schmerz und alle Verletzungen, die du als Heranwachsende erdulden mußtest, tief in dir zu vergraben, weil du Angst hattest, daß diese Gefühle dich zerstören würden. Aber Sarah, jetzt drängen all diese Emotionen an die Oberfläche. Du bist im Moment sehr verletzlich, und, was das Ganze noch schlimmer macht, dein kompliziertes Abwehrsystem funktioniert nicht mehr.« »Ich komme schon klar.« Feldman ging mit einem Kopfschütteln über ihre Lüge hinweg. »Wenn diese schreckliche Tragödie nicht passiert wäre, hättest du vielleicht so weitermachen können wie bisher, deine Vergangenheit verdrängen, die Wahrheit verleugnen.« Sie verdrehte die Augen. Feldman ließ sich nicht verunsichern. »Du könntest jetzt fragen, welche Wahrheit.« »Tu ich aber nicht«, entgegnete sie trocken. »Die Wahrheit ist, daß du deiner Vergangenheit nicht entfliehen kannst, Sarah. Du bist darin gefangen. Du kannst nicht loslassen.« »Ende der Predigt, Pater Feldman?« »Du kannst nicht loslassen, solange du nicht weißt, was du eigentlich loslassen sollst.« »Hast du diesen Quatsch auch Melanie erzählt? Daß sie loslassen soll? Wußtest du, was sie loslassen mußte, Feldman? Wußtest du, was sie tief in ihrem Innern verborgen hatte?« Nur so konnte Sarah verhindern, daß sie wieder auf ihn losging. »Wir reden hier nicht über Melanie.« »Nein, aber wir denken an Melanie. Weil keiner von uns beiden Melanie loslassen kann, stimmt’s, Feldman?« Das war keine Frage, das war eine Anklage. Feldman hätte auf »nicht schuldig« plädieren können. Aber er tat es nicht. Ihr Vater saß im Wohnzimmer seiner Suite in einem Sessel am Fenster mit Blick auf die weite, sorgfältig gepflegte Gartenan-
lage. Als Sarah ihn nach knapp einer Woche wiedersah, war ihr erster Gedanke, daß er körperlich geschrumpft zu sein schien. Sein Gesicht war hager, die Schultern hingen herab, die Arme baumelten schlaff neben den Lehnen. Dann bemerkte sie den Monitor des Herzüberwachungsgerätes, an das er angeschlossen war. Als sie die Tür schloß, sah er sich nicht um, sondern starrte weiter aus dem Fenster, obwohl sie sich räusperte, damit er wußte, daß er nicht mehr allein im Raum war. »Dad?« Er reagierte nicht. Sie verharrte in der Nähe der Tür. »Dad, du wolltest mich sprechen?« »Da draußen ist es bewölkt.« Sie blickte aus dem Fenster. »Ja.« »Meinst du, es wird Regen geben?« »Könnte sein.« »Du wolltest dir nie einen Regenmantel anziehen, wenn es geregnet hat.« »Ich trage noch immer keinen.« »Kannst du dich noch an den leuchtendgelben Gummimantel erinnern?« Sarah runzelte die Stirn, versuchte, sich zu erinnern. Ein leuchtendgelber Gummimantel? Ja, sie sah ihn vor sich. So einer, wie Fischer ihn tragen. »Der hat Melanie gehört«, sagte sie mit belegter Stimme. »Ja. Melanie«, wiederholte ihr Vater. Melanies Name hing in der Luft. Er wandte sich um und sah sie an. Seine Augen, die in Farbe und Form und selbst in ihrer Intensität ganz wie Melanies aussahen. »Ist sie wirklich tot, Sarah?« Ein Muskel in ihrer Wange zuckte. Sie wollte zu ihm laufen, ihren Kopf in seinem Schoß vergraben und – und dann? Ihn anflehen, ihr nicht die Schuld dafür zu geben, daß sie überlebt hatte? Ihn anflehen, sie statt dessen zu lieben? Ihn anflehen, nach Melanies Tod eine größere Nähe zwischen ihnen zuzulassen?
Feldmans Ermahnung klang ihr in den Ohren. »Du bist jetzt alles, was er noch hat, Sarah.« Und was ist mit mir? Wen habe ich? »Ich habe dich etwas gefragt!« Die Schärfe in der Stimme ihres Vaters ließ sie zusammenfahren. Sofort fühlte sie sich schwach, wurden ihr die Knie weich. »Ja. Ja, Melanie ist tot.« Kein Zorn in ihrer Stimme, keine Trauer, keine Gemütsregung. Nichts fühlen. Es ist sicherer so. Viel sicherer. Er wandte den Blick ab, starrte wieder zum Fenster hinaus. Sie hatte eine Klage erwartet, wilde Verzweiflung, Wut, Trauer. Sie wäre nicht überrascht gewesen, wenn er aus seinem Sessel gesprungen wäre und sie angegriffen hätte. Deine Schuld. Deine Schuld. Nie gehorchst du. Nie machst du etwas richtig. Zu ihrem Erstaunen – ihrer Bestürzung? – rührte er sich nicht. Er schien nicht mal zu bemerken, daß sie noch da war. War das alles? War ihre Gegenwart nicht länger erforderlich? Um nichts in der Welt wollte sie länger bleiben als erwünscht. Sie griff nach der Türklinke. »Ich glaube, jetzt regnet es«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme. Sie stockte mitten in der Bewegung und blickte über die Schulter. Regentropfen spritzten gegen die Scheibe. »Ja.« Sie sah, wie sich seine Augen schlossen. Ein angstvoller Schauer durchlief sie. Hatte er einen Herzanfall? Nein. Er wurde überwacht. Wenn irgendwas nicht stimmte, würde sofort ein Arzt kommen. Sie wandte sich wieder der Tür zu. »Denk dran.« Die Stimme ihres Vaters ließ sie erstarren. »Dein gelber Regenmantel. In der Garderobe.« Sarah seufzte. Befreiung bedeutete für sie, die Vergangenheit auszulöschen. Für ihren Vater bedeutete es, sich an der Vergangenheit festzuklammern. »Gute Nacht, Dad.« »Und mach die Tür leise zu, Melanie. Damit deine Mutter nicht aufwacht.«
11 Romeo ist unfähig, sich für seine Wut, seine sexuellen Begierden und Ängste angemessene Ventile zu suchen. Er kann diese Emotionen nicht kontrollieren, denn sie kontrollieren ihn. Aber er versteht es, das geschickt zu verbergen. Er genießt sein Doppelleben. Dr. Melanie Rosen in Cutting Edge Sie ist in einem Feld voller Narzissen. Ein Mann kommt von hinten, pflückt eine gelbe Blüte und steckt sie ihr ins Haar. Als sie sich umwendet, scheint ihr die Sonne in die Augen. Aber sie kann sein Lächeln sehen. Das macht sie froh. Sie weiß nicht, wann sie sich je so froh gefühlt hat. »Komm, wir legen uns auf den Boden«, sagt er verführerisch, »und ich verrate dir meine Geheimnisse.« Seine große, tröstliche Hand berührt ihre Schulter. Sie spürt, daß ihr Körper nachgibt, herabsinkt, fällt. Zu ihrem Entsetzen prallt er auf etwas Hartes und Kaltes. Metall. Graues Metall. Grau überall. Wo ist sie? Und dann weiß sie es. Eine Leichenhalle. Graue Metallplatten umgeben sie. Schließen sie ein. Sie ist nackt, schrumplig wie eine Dörrpflaume. Er drückt sie zu Boden, preßt seine große schmutzige Hand auf eine ihrer Brüste. O Gott, nicht schmutzig. Blutig. Sie ist voller Blut. Die einzige Farbe in dem grauen Raum. Sie kann sein Gesicht nicht sehen, es liegt im Schatten, aber Bedrohung geht von dem Gesicht aus. »Verrate mir deine Geheimnisse, Sarah.« Lügner. Er hatte nie vor, ihr seine Geheimnisse anzuvertrauen. Will nur ihre. Aber wenn sie sie ihm anvertraut, wird er sie vernichten. Sein Mund liegt an ihrer Brust. Langsam zieht er ihre Brustwarze zwischen seine heißen, feuchten Lippen. Aah. Das tut gut. Er wird ihr nicht weh tun. Der Anker der Furcht beginnt sich zu lichten.
Jetzt spürt sie das kalte Metall nicht mehr. Nur Wärme. Schön. Sie muß vor nichts Angst haben. »Mehr?« fragt er. So rücksichtsvoll. So höflich. »Ja, bitte.« So erregt. Er lächelt. Der gesichtslose Mann mit dem offenen, freundlichen Lächeln. Und dann der Schock des Schmerzes. Unerträglich. Ihr Körper krümmt sich unter der Qual. Er hat ihre Brustwarze abgebissen. Und damit hört er nicht auf. Er frißt ihre Brust weg, nagt sich durch den Knochen hindurch… Ein dumpfes Geräusch. Schwaches Klopfen. Zuerst dachte Sarah, sie würde träumen, doch dann wurde ihr bewußt, daß sie wach war. In Panik riß sie ihr Nachthemd hoch, betrachtete ihre Brüste. Die Brustwarzen waren noch da. Sie suchte nach Bißmalen. Der Alptraum war so real gewesen und noch grauenhafter und klarer als seine Vorläufer. Zumal er so schön angefangen und sie in ein trügerisches Wohlgefühl versetzt hatte. Das Klopfen ging weiter. Jetzt begriff sie, daß jemand an ihre Tür klopfte. Wahrscheinlich ein unverschämter Journalist. Sie hielt sich die Ohren zu. Sie wollte nicht aufmachen. Das Klopfen hörte nicht auf. Dann vernahm sie, wie ihr Nachbar Vickie vom Flur aus rief: »Sarah, wenn du nicht aufmachst, rufe ich die Bullen!« Erschöpft und völlig aufgelöst trottete Sarah widerwillig zur Wohnungstür und öffnete sie. »Ich habe dich schreien gehört. Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt!« Vickie stand vor ihr. Hände auf den Hüften. Hautenge schwarze Samthose. Nietenbesetzter Ledergürtel. Hellrosa, flauschiger Angorapullover mit tiefem Ausschnitt. Sarah runzelte die Stirn. Schreien? Hatte sie geschrieen? »Hab schlecht geträumt«, murmelte sie und sah weg. »Wieviel Uhr haben wir überhaupt?« »Viertel nach elf, morgens.« Sarah blickte überrascht drein. »Und jetzt sagst du mir, welcher Tag heute ist«, forderte Vikkie sie auf.
Sarah lächelte verkrampft, aber in Wahrheit war das reine Verzögerungstaktik. Sie mußte nachdenken. Mein Gott, Donnerstag. Es war Donnerstag. Genau vor einer Woche war Melanie ermordet worden. Vickie drohte ihr mit einem manikürten Finger. »Du siehst fürchterlich aus.« Sarah hob geistesabwesend eine Hand vor die Brust. Sie fühlte sich krank. »Ich glaub, ich kriege eine Grippe oder so.« »Ich habe dich gestern abend im Fernsehen gesehen. Es war wirklich herzergreifend.« Vickie legte eine Hand auf die rubinroten Lippen und errötete. »Es tut mir leid. Das war wirklich taktlos. Aber du weißt doch, wie ich das gemeint habe, Sarah?« »Ja.« »Hör mal, Süße, ich bin kein Psychiater, aber ich denke ernsthaft, daß es nicht gut für dich ist, wenn du dich hier in deiner Wohnung verkriechst. Komm, wir gehen zusammen irgendwo essen. Ich fürchte allerdings, daß du dir wieder einen meiner Anzüge ausleihen mußt. Jetzt, wo du ein Fernsehstar geworden bist, werden wir wieder von Reportern belagert.« »Scheiße.« »Kein Problem. Wir haben sie doch schon mal ausgetrickst. Komm rüber, und ich helfe dir bei der Garderobe.« »Nein, ich kann ihnen nicht immer aus dem Weg gehen. Ich werde eine kurze Stellungnahme abgeben. Das macht sie glücklich.« »Richtig. Sag, wie es ist. Also, in welches Restaurant möchtest du? Ich lade dich ein.« »Ich kann nicht.« »Wieso nicht?« »Ich habe einen Klienten, nach dem ich wirklich mal sehen muß.« Sarah meinte damit Hector Sanchez, einen blinden Maler, der früher drogensüchtig gewesen war. Er hatte sie am Vorabend zu Hause angerufen, nachdem Cutting Edge ausgestrahlt worden war. Sie hatte nicht abgehoben, aber die Nachricht, die er hinterlassen hatte, machte deutlich, daß er verängstigt und verstört war. »Im Ernst, Sarah, ich finde, du solltest nicht schon wieder anfangen, zu arbeiten.«
»Vickie, du hast mir sehr geholfen. Aber Arbeit ist jetzt genau richtig für mich. Ehrlich. Ich muß wieder in meinen Alltagsrhythmus finden. Das alles hinter mir lassen.« Hinter ihr lassen. Das war lachhaft! Es gab keinen Alltagsrhythmus, solange Romeo frei herumlief. Der Polizist in Zivil vor Sarahs Haus schützte sie nach Leibeskräften davor, von den Reportern niedergetrampelt zu werden, aber er war ihnen nicht gewachsen. Sie bombardierten sie mit Fragen, hielten ihr Mikrophone unter die Nase, stießen ihr fast die Kameras ins Gesicht. »Warum sind Sie in Cutting Edge aufgetreten?« »Wie nah standen Sie und Melanie sich?« »Wissen Sie, wer Romeo ist?« »Werden Sie noch mal im Fernsehen auftreten?« »Haben Sie Angebote von anderen Talkshows?« »Hat Melanie Ihnen irgendwas erzählt?« »Glauben Sie wirklich, Romeo hat Melanie ermordet, weil sie ihm auf den Fersen war?« »Arbeiten Sie jetzt mit der Polizei zusammen?« »Betrachten Sie das Ganze jetzt als Ihren persönlichen Feldzug?« Sarah trat ihnen kühl entgegen. Ihr Gesicht war wie versteinert. »Ich kann bloß sagen, daß es beim nächsten Mal nicht so einfach sein wird. Und ich will, daß Romeo das weiß. Er soll wissen, daß es eine Frau gibt, die er nicht erobern kann.« Sarah traf kurz nach zwölf vor dem Atelier von Hector Sanchez ein, mußte aber feststellen, daß er nicht zu Hause war. Sie überlegte, ob sie ins Büro fahren sollte, aber sie hatte das Gefühl, die neugierigen Fragen und Beileidsbekundungen ihrer Kollegen einfach noch nicht verkraften zu können. Statt dessen machte sie einen langen Spaziergang, ging dann in ein Café und bestellte eine Tasse Kaffee. Ihr war klar, daß sie sich endlich zwingen mußte, etwas zu essen, und so bestellte sie noch ein Maisbrötchen dazu. Gegen Viertel nach eins machte sie sich entschlossen wieder auf den Weg zum Atelier von Hector Sanchez. Zumindest wür-
de er ihr nicht ansehen können, in was für einem desolaten Zustand sie war. Aber sie hatte vergessen, wie geschärft die anderen Sinne des Künstlers waren. Sie hatte kaum ein »Hallo« herausgebracht, da war er auch schon beunruhigt. »Es geht dir nicht gut, Sarah.« Über die subtile Beobachtung ihres blinden Klienten mußte Sarah lächeln. »Ich habe mir schon gedacht, daß es mir guttun würde, mal bei dir vorbeizuschauen, Hector.« Sie sah sich im Atelier nach einem Gemälde von Hector um, das sie vor einigen Tagen bei ihm bewundert und dem Besitzer der Arkin-Galerie wärmstens empfohlen hatte. »Es ist weg.« Sarah lachte. »Was ist los? Hast du das zweite Gesicht?« »Schwingungen«, erwiderte er mit einem schiefen Grinsen. Sie schauderte. »Im Ernst, Sarah. Das mit deiner Schwester tut mir wirklich leid. Als ich dich gestern abend im Fernsehn gesehen habe – na ja, jedenfalls gehört –, war ich so erschüttert, daß ich weinen mußte.« »Woher hast du gewußt, daß ich in der Sendung sein würde?« Sie hörte die Beunruhigung in ihrer Stimme und zwang sich, ruhiger zu werden. »Hätte ich normalerweise nicht. Aber seitdem das mit deiner Schwester – tja, also, seitdem höre ich regelmäßig Nachrichten. Wahrscheinlich, weil ich erfahren will, daß sie ihn gefaßt haben. Wie es aussieht, haben die Bullen im Augenblick ein paar vielversprechende Spuren.« »Sie ziehen mich nicht ins Vertrauen«, sagte Sarah knapp. Seine Stimme wurde sanft. »Sarah, das muß doch die reinste Hölle für dich sein.« »Das ist das passende Wort dafür.« »Hast du Lust, ein bißchen Pot zu rauchen? Könnte dir guttun.« »Ich betreue deine Rehabilitation, Hector. Und ich rauche kein Marihuana mit meinen Klienten. Ich rauche überhaupt kein Marihuana, basta! Und du solltest das auch nicht.« »Irgendein Laster braucht der Mensch, Sarah.«
Sie lachte rauh. »Okay, also, wenn ich dir schon kein erstklassiges Pot anbieten kann, dann vielleicht ein Täßchen Kaffee? Dauert aber ein Weilchen. Meine Espressomaschine ist im Eimer.« »Nein, danke. Ich hatte schon meinen Koffeinstoß. Vielleicht erzählst du mir jetzt mal, was der Galeriemensch zu deinem Bild gesagt hat?« Sanchez grinste. »Das ist meine große Überraschung. Arkin hat mir das Ding vor nicht mal dreißig Minuten abgekauft. Nachdem er mir gesagt hat, daß ich der beste stockblinde Künstler bin, der ihm je über den Weg gelaufen ist. Meine Güte, möchte bloß wissen, wie viele stockblinde Künstler der Bursche kennt.« »Weißt du, was Arkin dir damit gesagt hat, du Esel? Daß er dich für einen großen Künstler hält. Mensch, Hector, das ist mal eine wunderbare Neuigkeit.« »Okay, okay«, gab Sanchez nach. »Er hat mich sogar zum Mittagessen eingeladen. Ich habe ihm gesagt, er sollte mir das Teuerste von der Karte bestellen.« Er schnippte mit den Fingern. »Ach Mensch, ich bin dermaßen von den Socken, daß ich das fast vergessen hätte.« Er ging völlig sicher durch den Raum, den er in- und auswendig kannte, und nahm ein rechteckiges Päckchen von der hüfthohen Theke, die sein Atelier vom Wohnbereich abtrennte. »Arkin hat das vor meiner Tür auf dem Boden gefunden. Dein Name steht drauf. Verrückt, nicht?« Sarah erstarrte. Sanchez schüttelte das Paket ein bißchen. »Könnten Pralinen drin sein. Was meinst du? Vielleicht hat sich einer meiner Nachbarn in dich verguckt. Gegenüber wohnt ein Typ, der alle paar Tage eine neue Frau abschleppt. Wenn es der ist, vergiß es. Nicht dein Typ. Aber komisch, daß es heute ankommt. Als ob dein Kavalier gewußt hätte, daß du vorbeikommst.« Sanchez hielt ihr das in schlichtes braunes Papier gewickelte Päckchen hin. »Also, nimmst du es nun? Guck doch mal nach, ob eine Karte drin ist. Ich kann sie dir nämlich nicht vorlesen, Sarah.« Sie sagte kein Wort, rührte sich nicht. Konnte nicht. »He, Sarah. Das war ein Witz. Was ist los? Stimmt was nicht?« Sein Tonfall wurde ernst.
Sie starrte weiter auf das Päckchen, mit dem Sanchez in der Luft wedelte. »Sarah, du jagst mir Angst ein. Sag was.« Sie trat etwas näher, konnte sich jedoch nicht dazu überwinden, das Paket zu berühren. Aber sie sah das aufgeklebte Etikett. Ihren Namen, mit Computer geschrieben und ausgedruckt. Dieselbe Schrift wie bei seinem Brief. »Sarah, nimmst du es nun? Oder was? Meinst du, es ist eine Bombe oder so?« Allerdings, es ist eine Bombe. Sie machte einen Satz auf ihn zu und riß ihm das Päckchen aus der Hand. Dann ließ sie sich ein paar Schritte entfernt auf seinen Holzhocker sinken. »Sarah, ich mache mir wirklich Sorgen um dich.« »Kein Grund zur Sorge. Ich bin okay.« Sie gab sich alle Mühe, so zu klingen, als sei es ehrlich gemeint. Sie wollte nicht auch noch ihre Klienten in ihre private Hölle mit hineinziehen. »He, ich bin nicht blöd.« Sanchez suchte sich seinen Weg bis zu ihr und ergriff ihren Arm. »Komm schon, Sarah. Sprich mit mir. Ich möchte dir helfen. Du weißt doch, was ich für dich empfinde. Und jetzt komm mir nicht mit dem Scheiß, daß du mich schließlich betreust. Mensch, ich werde ein weltberühmter Künstler, Baby. Dann brauche ich deine Dienste nicht mehr. Jedenfalls nicht als Sozialarbeiterin.« Sarah hielt das Päckchen umklammert. Atemnot. Als ob Romeo ihr die Luft aussaugen würde. Ihr zeigte, daß er hier war. Überall war. Es gab keine Flucht vor ihm. Ganz gleich, wohin sie ging, was sie tat, wie viele Polizisten sie beschützten, er war entschlossen, sich in ihr Herz zu schleichen. »Es tut mir leid, daß ich Sie auf heute nachmittag vertrösten mußte, meine Herren.« Bill Dennisons Stimme war prägnant und höflich, als er aus seinem Sprechzimmer an der Chestnut Street trat und die Detectives im Wartezimmer begrüßte. Wie in Melanies Haus, so war auch bei ihm der Empfangsbereich von schlichter Eleganz – die unvermeidlichen Illustrierten auf den Tischen, die bequemen geräumigen Polstersessel, selbst ähnliche japanische Drucke an der Wand. Wagner hatte während der
Wartezeit Allegro gegenüber geäußert, daß die beiden Therapeuten in derselben Kunstgalerie eingekauft haben mußten. »Ich mache derzeit eine schlimme Phase durch«, redete der Psychiater weiter. »Stehe sozusagen noch immer unter Schock.« Trotz Dennisons emotionaler Sprache fiel den beiden Detectives auf, daß der gutaussehende, makellos gekleidete Psychiater einen recht ruhigen Eindruck machte. »Um so mehr«, bemerkte Wagner, »werden Sie auf jede nur mögliche Weise mit uns zusammenarbeiten wollen.« »Das versteht sich von selbst«, sagte Dennison mit Nachdruck und lud sie mit einer Handbewegung ein, in sein Büro zu kommen. »Keine Couch«, bemerkte Allegro, nachdem er den Blick durch den traditionell eingerichteten Raum hatte wandern lassen. In einer Ecke stand ein Queen-Anne-Schreibtisch aus Kirschholz, in der Mitte waren vier Ledersessel mit geschwungener Rückenlehne kreisförmig auf einem rostbraun, blau und cremefarben gemusterten Perserteppich angeordnet. Dennison lächelte. »Ich bin kein Psychoanalytiker, bloß ein ganz normaler Therapeut. Mir ist es lieber, wenn ich meinen Patienten in die Augen sehen kann.« »Kommen wir doch gleich zur Sache«, schaltete sich Wagner dienstbeflissen ein. Dennison reagierte fast unterwürfig. »Ja, selbstverständlich. Ich hätte gern mehr Zeit für Sie, aber ich muß jetzt alle Patienten reinnehmen, deren Termine ich absagen mußte, zuerst wegen der Beerdigung, und dann habe ich natürlich den Anfang der Woche gebraucht, um mich so weit zu stabilisieren, daß ich wieder arbeiten konnte. Außerdem habe ich einige von Melanies Patienten übernommen. Das verlangt sehr viel Konzentration. Ich habe das Gefühl, daß ich mich nicht voll…« »Haben Sie zufällig gestern abend ihre Exschwägerin im Fernsehen gesehen?« unterbrach ihn Allegro. »Sarah? Was um alles in der Welt…« »Sie war in der Sendung Cutting Edge, um Romeo eine Botschaft zu übermitteln.« Dennison starrte Allegro ungläubig an. »Mein Gott. Und Sie haben das zugelassen? Nachdem Melanie…« Er sank in einen
der Ledersessel, preßte die Finger gegen die Schläfen, legte dann die Hände in den Schoß. Allegro bemerkte, daß er einen breiten goldenen Ehering trug. Wagner beugte sich vor. »Sind Sie die Unterlagen von Dr. Rosens Patienten durchgegangen, Doc?« Dennison seufzte. »Ich nehme an, Sie interessieren sich besonders für Robert Perry. Ich muß Ihnen gestehen, mir geht es auch so. Er hatte heute morgen einen Termin bei mir. Er ist in sehr schlechter Verfassung.« »Was heißt das?« fragte Wagner. Dennison zögerte. »Ich kann die ärztliche Schweigepflicht nicht verletzen. Ich hätte Ihnen nicht einmal sagen dürfen, daß er einen Termin bei mir hatte.« Er warf die Hände in die Luft. »Die ganze Situation ist völlig unmöglich.« »Es könnte sein, daß Sie einen Serienmörder behandeln, Doc«, sagte Allegro sachlich. »Es könnte sein, daß Sie den Psychopathen behandeln, der Ihre Exfrau getötet hat«, fügte Wagner schneidend hinzu. Dennison holte tief Luft. »Denken Sie, das wüßte ich nicht? Denken Sie, ich hätte nicht jedes Wort, jede Geste, jeden Gesichtsausdruck dieses Mannes auf die Goldwaage gelegt, als er hier in diesem Sessel saß?« »Und zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen? Hat er Ihnen erzählt, daß er ihr Geliebter war?« fragte Allegro. Der Psychiater wandte das Gesicht ab. »Patienten bilden sich häufig ein, daß…« Dennison zögerte. Wagner streckte die Beine aus und legte sie übereinander. »Aber es handelt sich nicht immer nur um Einbildung, nicht wahr, Doc? Man hat ja schon gehört, daß Therapeuten…« Er wußte, daß er den Satz nicht beenden mußte. Dennison warf ihm einen unterkühlten Blick zu. »Wir sprechen hier von einer der angesehensten Psychiaterinnen in dieser Stadt, meine Herren. Ja, ich weiß, immer wieder kann man in der Zeitung lesen, daß verantwortungslose Therapeuten mit ihren Patienten ins Bett gegangen sind, aber was Melanie betrifft, so kann ich Ihnen versichern, daß sie niemals eine der ehernsten Regeln unseres Berufsstandes verletzt hätte. Völlig
undenkbar. Sie können sich also jede weitere Frage in diese Richtung sparen.« Die beiden Polizisten wechselten einen vielsagenden Blick. Genau damit hatten sie gerechnet. »Was stand in ihren Notizen über Perry?« Wagner gab seiner Stimme einen bewußt lakonischen Tonfall. »Hat sie Perrys Phantasien erörtert?« »Das ist es ja gerade«, sagte Dennison eisig. »Es gibt keine.« Wagner beugte sich im Sessel vor. »Keine Phantasien?« »Keine Notizen.« »Wollen Sie damit sagen, daß Dr. Rosen keine schriftlichen Aufzeichnungen über Perry gemacht hat?« Dennison schüttelte den Kopf. »Das ist kaum anzunehmen. Melanie hat stets großen Wert darauf gelegt, sich Notizen über ihre Patienten zu machen. Ausführliche, äußerst genaue Notizen. Wenn Perrys Datei nicht da ist, dann muß sie jemand gelöscht haben. Perry selbst hätte sich irgendwie Zugang dazu verschaffen können, oder…« »Wollen Sie damit sagen, daß Perry Dr. Rosen getötet hat?« fragte Wagner. »Ich will nur sagen, daß es möglich wäre. Sie haben offenbar überzeugende Gründe für einen derartigen Verdacht. Andererseits ist es denkbar, daß er sich schon irgendwann vor dem Mord an Melanie Zugang zu seiner Datei verschafft hat. Wie ich höre, hat seine Frau die Scheidung eingereicht. Vielleicht hat er befürchtet, daß die Unterlagen über seine Therapie vom Scheidungsgericht als Beweismaterial angefordert werden könnten. Wie er mir gesagt hat, beschuldigt sie ihn, ihr auf Schritt und Tritt zu folgen.« Er stockte kurz. »Natürlich könnte auch jemand anders die Datei gelöscht haben.« »Jemand anders?« fragte Wagner. »Romeo, Detective. Romeo könnte Melanies Dateien durchgesehen haben, nachdem… nachdem er sie ermordet hatte. Vielleicht erschien ihm Perry als geeigneter Kandidat, und er hat sich gedacht, daß er ihn zum Hauptverdächtigen machen könnte, indem er seine Datei löscht. Melanie hat mir gegenüber mehr als einmal bemerkt, daß es Romeo offenbar Freude bereitete, die Polizei auf eine falsche Spur zu locken.«
Dennison mußte beinahe lächeln. »Aber damit erzähle ich Ihnen sicher nichts Neues.« Eine unterkühlte Stille trat ein. »Was ist mit ihren anderen Patienten?« fragte Allegro schroff. »Ich bin alle übrigen aktuellen Fälle durchgegangen und hatte den Eindruck, daß alle Notizen vollständig und unverfälscht waren. Ich kann Ihnen sagen, daß ich bei keiner dieser Personen irgend etwas festgestellt habe, das bei mir den Verdacht erregt hätte, es könnte sich um einen Serienmörder handeln. Ich habe mir auch die Dateien über die im vergangenen Jahr abgeschlossenen Fälle vorgenommen. Sie befanden sich alle auf Melanies Festplatte. Auch hier war nichts Ungewöhnliches.« Sein Blick ruhte auf Allegro. »Natürlich kann ich nicht mit Sicherheit sagen, daß keine Dateien gelöscht worden sind, so wie die von Perry.« Allegro mußte sich anstrengen, nicht zusammenzufahren. Wußte Dennison von Grace? Hatte Melanie mit ihm über sie gesprochen? War sein riskanter Versuch, die Behandlung seiner Frau zu verbergen, umsonst gewesen? »Es wird eine Weile dauern, die Patientendateien in ihrem Computer mit den Namen in ihrem Terminkalender zu vergleichen, um festzustellen, ob alle da sind«, fuhr Dennison fort. Er blickte jetzt von einem Polizisten zum anderen. »Eine zeitraubende und augenblicklich unmögliche Aufgabe, denn derzeit verfüge ich nur über ein Blatt aus Melanies Bürokalender, und das deckt nur den letzten Monat ab. Nachdem ich gestern endlich in ihr Büro durfte, habe ich nach dem Terminkalender gesucht, konnte ihn aber nicht finden. Der Officer, der mit mir dort war, konnte mir auch nicht weiterhelfen. Er meinte, ich soll mich an Sie wenden. Haben Ihre Leute den Terminkalender vielleicht beschlagnahmt?« Wagner blickte zu Allegro hinüber. »Hast du ihn gesehen?« Allegro schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe bloß dieses eine Kalenderblatt gesehen.« Im stillen verfluchte er den Tag, an dem seine Frau sich an Melanie gewandt hatte. Wäre sie nicht Melanies Patientin geworden, hätte er die Ermittlung nicht dadurch erschweren müssen, daß er den Terminkalender mit Grace’ Terminen darin stahl. Und, wie er zu seiner Beunruhigung
entdeckt hatte, mit einem Eintrag über seinen alleinigen Besuch in Melanies Büro kurz vor der Einweisung seiner Frau. Wagner klopfte eine Zigarette aus der Packung, sah, wie Dennison die Stirn runzelte, und verstand. Er steckte die Zigarette wieder zurück. »Ich sehe ein, warum Perry ein Interesse daran gehabt haben könnte, seine Datei zu löschen, falls sie belastendes Beweismaterial enthielt, aber wieso hätte er den Terminkalender klauen sollen?« »Vielleicht standen da auch persönliche Verabredungen drin. Beispielsweise für den Abend, an dem sie ermordet wurde«, mutmaßte Dennison. »Werden Sie Perry behandeln?« fragte Allegro. Der Psychiater zögerte. »Ich bin noch unentschlossen. Schon allein der Gedanke, daß ich vielleicht den Mann behandle, der Melanie das angetan hat…« Zum erstenmal verlor Dennison die Fassung. Seine Unterlippe begann zu beben. Er legte die Hände vors Gesicht. »Entschuldigen Sie«, murmelte er. »Natürlich«, sagte Allegro. Langsam ließ Dennison die Hände sinken. Wieder richtete er den Blick auf Allegro. »Wir wollten es noch mal versuchen, Melanie und ich.« »Was versuchen?« »Die Ehe natürlich. Wir haben ernsthaft darüber nachgedacht.« Im Raum trat absolute Stille ein. Dennison stand abrupt auf und blickte auf die Uhr. »Ich fürchte, ich muß in fünfzehn Minuten an einer Sitzung drüben im Institut sein. Ich kann Ihnen aber ohnehin nicht mehr sagen, meine Herren.« »Da wäre noch eine Sache«, sagte Allegro und stand auf. Dennison war bereits an der Tür, offensichtlich darauf bedacht, sie loszuwerden. »Und die wäre?« fragte der Psychiater ungeduldig. »Wo waren Sie an dem Abend, als Melanie ermordet wurde?« Dennisens beherrschter Gesichtsausdruck verfinsterte sich. Er funkelte Allegro an. »Melanie? Und zu Ihnen hat sie wohl ›John‹ gesagt? An den Abenden, an denen Sie sie so überaus
galant vom Präsidium nach Hause gefahren haben? Sie war eine Nummer zu groß für Sie, Detective.« Allegro erstarrte. Wagner mußte zwischen die beiden treten, um zu verhindern, daß sein Partner den Therapeuten tätlich angriff. »Sie haben die Frage nicht beantwortet, Doc«, sagte Wagner. »Wo waren Sie am Donnerstag abend letzter Woche? Vielleicht haben Sie Ihrer Exfrau einen Besuch abgestattet, um die Hochzeitspläne zu besprechen. Aber vielleicht hatte sie ihre Meinung ja geändert. Oder vielleicht hatten Sie sich bloß eingebildet, daß sie beide wieder zusammenkommen würden. Verraten Sie mir was, Doc. Was passiert, wenn einer Wunschvorstellung der Boden unter den Füßen weggezogen wird? Könnte da nicht mal jemand durchdrehen?« »Wenn Sie den Analytiker spielen wollen, Detective, schlage ich vor, daß Sie vorher ein paar Vorlesungen in Psychologie besuchen. Erstens habe ich es mir nicht nur eingebildet, daß Melanie und ich wieder heiraten wollten. Keine zwei Wochen bevor sie ermordet wurde, waren wir zum Abendessen bei Costa’s, einem Restaurant am Embarcadero – eins unserer Lieblingsrestaurants –, und haben mit dem Geschäftsführer über einen Termin für einen Hochzeitsempfang in einem der dortigen Gesellschaftsräume irgendwann im nächsten Monat gesprochen. Sie waren ausgebucht, aber der Geschäftsführer meinte, daß vielleicht doch noch ein Termin frei würde, und wollte uns dann anrufen.« Seine Augen schossen zu Allegro hinüber, ein schwaches triumphierendes Lächeln auf den Lippen. »Das können Sie sich von Marc Santinello bestätigen lassen. Er ist der Geschäftsführer von Costa’s.« Allegro schrieb sich den Namen auf. »Zweitens«, sagte Dennison, »am Donnerstag abend habe ich mir einen Vortrag im Institut angehört. Dem Bay Area Psychoanalytic Institute. Der Vortrag von Dr. George Ephardt fing um sieben an, aber ich hatte noch einen Notfall und kam deshalb etwas später.« »Wie spät?« fragte Allegro.
Dennisons Nasenflügel bebten. Diese Befragung ging ihm gegen den Strich. »Ich würde sagen, so gegen Viertel vor acht«, sagte er bemüht ruhig. »Der Vortrag endete um halb zehn. Dann gab es noch einen Videofilm, der ungefähr eine halbe Stunde dauerte, und danach konnte das Publikum Fragen stellen. Kurz nach elf war die Veranstaltung zu Ende.« Wagner öffnete den Mund, um nachzuhaken. »Nein, ich habe keine Fragen gestellt«, kam Dennison ihm zuvor. »Hinterher bin ich noch mit ein paar Kollegen Kaffee trinken gegangen. Gleich gegenüber vom Institut ist ein kleines Café. Das Figaro’s. Das können Sie sich von Stanley Feldman bestätigen lassen.« Allegro zog eine Augenbraue hoch. »Dann war Dr. Feldman also auch bei dem Vortrag?« Dennison nickte. »Ich nehme es an. Er hatte Ephardt dazu eingeladen, den Vortrag zu halten. Ich muß zugeben, daß ich ihn erst gesehen habe, als wir uns alle im Figaro’s getroffen haben, aber er hat sich rege an unserer Diskussion über den Vortrag beteiligt. Falls Sie die Namen der anderen Psychiater haben wollen, die dabei waren, oder den Namen der Kellnerin, die uns bedient hat…« »Wir hätten gern die Namen der Leute, neben denen Sie während des Vertrags gesessen haben«, sagte Allegro. Sein Gesichtsausdruck war noch immer wütend. Dennison zögerte. »Darauf habe ich gar nicht geachtet. Ich saß ganz hinten am Gang. Rechts von mir hat eine Frau wie besessen mitgeschrieben. War ganz vertieft in den Vortrag. Ich kannte sie nicht.« »Können Sie sie beschreiben?« wollte Allegro wissen. Dennison spitzte die Lippen. »Blond. Jung.« Eine kurze Pause. »Sehr schöne Beine.« Er lächelte die Detectives an, aber nur ganz kurz, dann wurde er wieder ernst. »Sonst hat Sie niemand dort gesehen?« Allegro klopfte mit dem Stift auf seinen Block. »Während des Vertrags? Nachdem Sie sich ganz hinten am Gang hingesetzt hatten?« Ein Kiefermuskel in Dennisons Gesicht zuckte. »Da muß ich überlegen.« »Tun Sie das«, erwiderte Allegro.
»Zum Donnerwetter, Sie können doch nicht im Ernst glauben, ich wäre dieser Verrückte«, explodierte Dennison. »Selbst wenn Sie sich irgendwie ein Szenario ausmalen, in dem ich meine Exfrau getötet haben könnte, warum zum Teufel hätte ich all die anderen armen Frauen ermorden sollen?« Allegro schürzte verächtlich die Lippen. »Sie sind hier der Seelenklempner.« Sarah verließ eilig Sanchez’ Atelier, stieg in ihren Wagen und fuhr los. Der Polizist in Zivil, der am Straßenrand geparkt hatte und gerade seinen Lunch aß, warf das Sandwich hastig weg, startete den Motor und folgte ihr. Zwanzig Minuten später bemerkte Sarah, daß sie in Chinatown gelandet war. Bei der erstbesten Gelegenheit fuhr sie den Wagen in eine Parklücke und spazierte über die von Menschen wimmelnden Straßen. Schließlich gelangte sie zum Waverley Place, einer schmalen, geschäftigen Parallelstraße der Grant Avenue. Ungefähr auf halber Höhe blieb sie wie angewurzelt vor einem nichtssagenden Gebäude stehen. Ein Déjà-vu-Gefühl durchfuhr sie wie ein Stromstoß. Undeutlich. Keine klare Erinnerung daran, je schon mal hiergewesen zu sein, und doch die Gewißheit, daß dem so war. Vor langer Zeit. In der qualvollen Zeit. In der Zeit, die sie so erfolgreich verdrängt hatte. Das hatte sie jedenfalls geglaubt. Durch die offene Tür fiel ihr Blick auf eine lange, schmale Treppe, ein kleines Schild, das außen angebracht war. Ja, allmählich kam die Erinnerung wieder. Sie war in der siebten Klasse und machte einen Schulausflug nach Chinatown. Wenige Monate nach dem Tod ihrer Mutter. Kurz nachdem sie in das Haus auf der Scott Street umgezogen waren. Ihre Klassenkameraden stürmen in die Souvenirladen und fremdartig duftenden Bäckereien. Sie langweilt sich, deshalb schlendert sie herum, kommt irgendwann zum Waverley Place. Sieht das Schild an der Hauswand, das auf einen buddhistischen Tempel im ersten Stock verweist. Ihre Neugier ist geweckt. Zuerst ist sie überwältigt von den leuchtenden Farben. Dem schimmernden schwarzen Lack, dem
Blattgold und besonders von der strahlendroten Farbe des Altars. Sie holt tief Atem. Es riecht gut hier. Erinnert sie an die Eukalyptusbäume im Garten ihres alten Elternhauses in Mill Valley. Sie setzt sich auf eines der roten Seidenkissen auf dem Boden. Einen Augenblick später rinnen ihr die Tränen übers Gesicht. Sie gibt keinen Laut von sich, bewegt aber die Lippen. Sie betet nicht. Sie bettelt um Vergebung. Aber sie weiß, daß niemand sie hört. Die Erinnerung verflog, und Sarah stieg wie von selbst wieder die steile Treppe zum Tempel im ersten Stock hinauf. Beim erstenmal hatte sie es eigenartig gefunden, daß sich ein Gotteshaus, und noch dazu ein so prachtvolles, über einem Geschäft befand. Das hatte sie sogar zu dem Chinesen gesagt, der sie damals in den Tempel hereingelassen hatte. »Hier oben sind wir dem Himmel näher«, hatte er erwidert, und ihr hatte die Antwort gefallen. Sie drückte auf den Klingelknopf, so wie sie es vor so vielen Jahren getan hatte. Sie hätte nicht sagen können, was sie damals oder jetzt dazu bewegte, so kühn zu sein. Das Bedürfnis nach Zuflucht? Die Sehnsucht, in eine andere Welt zu entfliehen? Ein kleiner Chinese mit Spitzbart, schütterem silbrigen Haar und weiter schwarzer Leinenjacke und Hose öffnete die Tür. »Könnte ich vielleicht…« Er nickte, bedeutete ihr, einzutreten, und verschwand kurz darauf durch eine Hintertür. Der Tempel sah genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Sarah stiegen Tränen in die Augen. Der große, schlichte Raum, in leuchtendem Rot, Gold und Schwarz lackiert, der nach Eukalyptus duftende Weihrauch, der an den kunstvoll geschnitzten Altären brannte. Die roten Kissen auf dem Boden. So einfach und so ruhig. So ein Gegensatz zu dem heruntergekommenen Äußeren des Gebäudes. Hier konnte sie sicher sein. Nachdem sie unendlich lange ganz still dagesessen hatte, nahm Sarah das Päckchen aus ihrer Tasche und wappnete sich innerlich.
Sie riß die Verpackung auf. Hector hatte recht gehabt. Eine Schachtel Pralinen. Ziemlich teure, der Deckel der Schachtel war mit schimmernder Goldfolie umhüllt. Sie hob ihn ab. Schokopralinen. In sechs kleinen Reihen. Herzförmig. Sarahs eigenes Herz dröhnte in ihrer Brust. Da war noch etwas. Ein gefaltetes Blatt Papier, das auf den Pralinen gelegen hatte. Sie knirschte mit den Zähnen, als sie es auffaltete. Diesmal würde sie nicht so dumm sein, das Blatt zu zerreißen. Aber es war kein weiterer Brief von Romeo. Es war die Fotokopie einer Seite, die offenbar aus einem Tagebuch stammte. Sarah erkannte die Handschrift sofort. Es war Melanies. Sie starrte auf das Blatt, ohne die Worte zu sehen. Ohne sie sehen zu wollen. Das Blut rauschte ihr in den Ohren. Das sind Melanies geheime Gedanken. Er hat sie ihr gestohlen. Ich sollte sie nicht lesen. Ich will sie nicht lesen. Aber eigentlich bestand kein Zweifel daran, daß sie es tun würde. Daß sie es tun mußte. Wie Romeo es gewußt hatte. Manchmal stelle ich mir vor, daß du hinter mich trittst, wenn ich mich vor dem Badezimmerspiegel schminke. Ich bin nackt, lege gerade etwas Lippenstift auf. Du packst mich und reißt eins meiner Beine grob in die Höhe, so daß mein Fuß ins Waschbecken stößt. Du drückst mich nach vorne, und mein Lippenstiftmund wird gegen den Spiegel gepreßt, der jetzt beschlagen ist von meinem heißen Atem und rot verschmiert, während du mich mit Gewalt nimmst, mich ins Waschbecken rammst, mich reitest. Sarah mußte aufhören. Ihr Herz pumpte wie wild. Und mit Entsetzen bemerkte sie, daß ihre Brustwarzen hart geworden waren. Daß die abstoßende Phantasie ihrer Schwester sie trotz allen Widerwillens erregt hatte. Sie zwang sich, weiterzulesen. Grausamkeit, real oder vorgestellt, offenkundig oder subtil, ist die Kraft, die mich antreibt, die ich unwiderstehlich finde, berauschend. Ich brauche die Befreiung, sonst baut sich der Druck immer weiter auf, und ich habe Angst, daß ich eines
Tages explodieren könnte. Doch die ganze Zeit denke ich: Merkt es denn jemand? Ahnen sie etwas? Ich fürchte die Entdeckung, aber ich beherrsche das Spiel zu gut. Ich beherrsche jedes Spiel zu gut. Natürlich ist da noch Sarah. Ich bin die Beschützerin meiner Schwester, so wie sie die meine ist. Ein Glück für mich, daß Sarah es nicht weiß. Ich bin die Beschützerin meiner Schwester, so wie sie die meine ist. Ja, dachte Sarah. Es stimmte. Sie und Melanie verband mehr als nur Blutsverwandtschaft. Ihr war nicht ganz klar, worin diese Verbindung bestand, aber ihre Existenz war nicht zu bestreiten. Ebensowenig wie die Erkenntnis, die jetzt klar auf der Hand lag. Melanie zu verstehen, bedeutete, sich selbst zu verstehen. Die Schutzschichten ihrer Schwester abzubauen, bedeutete, ihr eigenes Inneres freizulegen. Sarah spürte, wie lang vergrabene Erinnerungen in ihr nicht bloß Gestalt annahmen, sondern anfingen, sich in ihr auszubreiten. Der Gebetsraum drehte sich, die leuchtenden Farben des Tempels verwischten, verschmolzen in Grau. Alles grau. Grau wie die entsetzliche Leichenhalle in ihrem Traum. Das wohltuende Aroma des Weihrauchs verschwand. Wurde überdeckt von dem flüchtigen, aber ekelerregend süßen Geruch, bei dem sie immer angewidert die Nase rümpfte. Wie überreife Früchte, die ranzig geworden waren. Du weißt es, Sarah. Du weißt, was dieser Geruch bedeutet. Du erinnerst dich, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Sie atmet tief durch. Sie kann ihn jetzt deutlich riechen. Diesen besonderen Pfirsichlikör, den Mama so gern mag. In der bernsteinfarbenen Flasche. Es sind so viele Flaschen. Überall in Mamas geheimen Verstecken. Sie ist früh von der Schule nach Hause gekommen. Melanie ist zum Hockeyspielen. Daddy arbeitet noch. Sie hofft, daß Mama und sie in den Garten gehen können. Sie steht im Flur vor der Treppe nach oben. Ruft. Keine Antwort. Sie stapft die Treppe hinauf. Mama liegt ausgestreckt auf dem Bett, die Augen geschlossen, das lange blonde Haar ganz durcheinander und verfilzt.
Sie sieht die leere bernsteinfarbene Flasche auf dem Boden neben dem Bett. Sie hebt sie auf, geht aus dem Haus und steckt die Flasche ganz tief unten in die Mülltonne. Ich werde es nicht verraten, Mama. Niemals. Versprochen, Mama. Ich kann ein Geheimnis bewahren. Als Sarah die Augen wieder öffnete, rechnete sie fast damit, weiter in ihrer Erinnerung gefangen zu sein. Sie sah sich im Tempel um, um die Orientierung wiederzufinden, dankbar, daß der Raum aufgehört hatte, sich zu drehen. Sie setzte sich auf, und erst in diesem Moment fiel ihr das Blatt Papier wieder ein, das zu Boden gefallen war. Sie nahm es in die Hand und starrte auf die beängstigenden Zeilen aus dem Tagebuch ihrer Schwester – und auf die vergessen geglaubten Bilder, die an die Oberfläche drängten. Die Mauer wird brüchig, Melanie. Hast du davor Angst gehabt? Und Romeo, wolltest du das? Mich die Schmerzen und Qualen meiner Vergangenheit wieder durchleben lassen? Mich zurück in die Hölle zerren, damit ich keine Kraft mehr habe, gegen dich zu kämpfen? Ihre Hand zuckte. Die Pralinenschachtel rutschte ihr vom Schoß und kippte um. Heraus fiel ein weiteres Blatt Papier. Romeos Postskriptum. Meine liebste Sarah, spürst Du meinen warmen Atem? Spürst Du meine Verehrung und Hingabe? Spürst Du meine Zunge, wie sie sich in deine heißen, feuchten Spalten windet? Dich innerlich zum Brennen bringt? In Dir die köstliche Lust weckt, die nur ich Dir geben kann? Ich weiß, was Du durchmachst. Was Du brauchst. Ich weiß, daß Du Dich für mich aufhebst. Denn nur ich kann es verstehen. Hab Geduld, Sarah. Es ist nur eine Frage der Zeit. Bald, Romeo P. S. Du hast schön ausgesehen im Fernsehen. Aber nicht annähernd so schön wie im wirklichen Leben.
Ein überwältigendes Gefühl ergriff von Sarahs Körper Besitz. Sie fing an zu schwitzen. Sie spürte ein fürchterliches Ziehen in der Leistengegend. Romeos Fragen waren plötzlich mehr als nur groteske Worte auf einem Stück Papier. Spürst du meine Zunge, wie sie sich in deine heißen, feuchten Spalten windet? In Dir die köstliche Lust weckt, die nur ich Dir geben kann? Sie konnte die verführerische Stimme des Ungeheuers hören, seinen widerwärtigen Druck auf ihre Haut spüren. Schlimmer noch, spüren, wie er ihr ganzes Wesen durchdrang. Daran bestand jetzt kein Zweifel mehr. Melanie hatte ihm nicht gereicht. Das hätte sie wissen müssen. Hatte sie es denn nicht gewußt? Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken. Sie fuhr herum und sah gerade noch, wie eine dunkle Gestalt zur Tür hinausschlüpfte. Durch das Licht, das vom Flur einfiel, war es unmöglich, zu erkennen, wer es war. Aber sie spürte einen eisigen Stich. Es ist nur eine Frage der Zeit. Da war jemand gewesen und hatte sie beobachtet. Ihr Beschützer von der Polizei? Nein, der hätte sich nicht so davongeschlichen. Romeo? Sie sprang von ihrem Kissen auf und rannte aus dem Tempel. Ihn kriegen. Ihn kriegen, bevor er mich kriegt. Aber als Sarah auf die von Menschen überfüllte Straße kam, stockte sie. Nach wem sollte sie suchen? Wie sollte sie ihn entdecken? War es überhaupt jemand, den sie erkennen würde? Jemand, den sie kannte? Oder bildete sie sich alles nur ein? Vielleicht war es ja auch nur ein harmloser Tempelbesucher gewesen. Und wo zum Teufel war dieser Cop, wenn sie ihn brauchte? Hatte er Romeo gesehen? Selbst die Verfolgung des Killers aufgenommen? Sie ließ den Blick suchend über die Menge gleiten, stieß gegen asiatisch aussehende Menschen mit ihren Gemüsekarren und Einkaufstaschen, viele von ihnen mit kleinen Kindern an der Hand. Niemand schien Notiz von ihr zu nehmen. Frustriert und über sich selbst verärgert, daß sie sich so hatte erschrecken lassen, wollte sie schon fast glauben, daß ihre überreizte Phantasie ihr einen Streich gespielt hatte.
Und dann sah sie ein Gesicht in der Menge, das sie kannte. Das Herz blieb ihr stehen. Da – es verschwand in einem chinesischen Kräuterladen schräg gegenüber. Sarah schoß über die schmale Straße und entging nur um Haaresbreite einem jungen Lieferanten auf seinem Motorrad. Eine ältere Frau mit schütterem grauen Haar, die einen abgetragenen schwarzen Wollmantel trug, schimpfte sie aus, als sie den Bürgersteig auf der anderen Seite erreichte. Sarah bemerkte es nicht. Eine Glocke läutete, als sie atemlos durch die Tür in den Laden stürmte. Auf Regalen waren riesige Krüge voller exotischer Kräuter aufgereiht, und vor einem Altar hinter der Theke brannten rote Kerzen. Zuerst konnte sie ihn nirgends entdecken. Gab es einen Hinterausgang? War er schon weg? Führte er sie an der Nase herum? Lockte er sie in eine Falle? Dann trat er aus einem Gang zwischen den Regalen und schlenderte gemächlich zur Theke am hinteren Ende des Ladens. Er hatte ihr den Rücken zugewandt, drehte sich aber zu ihr um, sobald sie die Tür schloß und die Türglocke erneut klingelte. Perry lächelte und schien überhaupt nicht erstaunt, sie hier zu sehen. Als ob er sie erwartet hätte. Gewollt hätte, daß sie ihn findet. Er trug verwaschene Jeans, rote Turnschuhe und eine braune Lederweste über einem schwarzen T-Shirt. Sein blondes Haar sah aus, als hätte er es mit den Fingern gekämmt. Abgesehen von der sportlichen Freizeitkleidung und dem Dreitagebart wirkte er genauso wie bei Melanies Beerdigung. Verloren. Ein verwirrter kleiner Junge. Er legte eine Hand an die Stirn. »Ich habe ständig rasende Kopfschmerzen«, sagte er, als ob sie ihn danach gefragt hätte. »Ich habe gehört, es gibt da ein chinesisches Mittel, das Wunder bewirken kann.« Der asiatische Verkäufer, der hinter der Ladentheke stand, lächelte geflissentlich, wandte sich um und nahm einen Topf mit einem handbeschrifteten chinesischen Etikett von dem Regal hinter sich. Mit einem Meßlöffel schaufelte er getrocknete grün-
liche Flocken aus dem Topf, ließ sie in eine kleine braune Papiertüte gleiten und stellte sie vor seinem Kunden auf die Theke. Perry nahm die Tüte in die Hand. »Wieviel?« »Einen Dollar und neunundvierzig Cents«, erwiderte der Verkäufer mit starkem chinesischem Akzent. »Nicht zu teuer, oder?« fragte Perry Sarah. »Wenn es hilft«, hörte sie sich selbst antworten. Perry bezahlte und ließ den einen Cent Wechselgeld auf der Theke liegen. Dann ging er zur Tür, wo Sarah wie angewurzelt stehengeblieben war. »Wieso folgen Sie mir?« fragte sie unvermittelt. Perry beugte sich zu ihr vor. Sie wich zurück. »Ich wollte Ihnen bloß die Tür aufmachen.« In seinem Gesicht stand ein gekränkter Ausdruck. »Setzen wir uns irgendwo auf eine Bank und reden?« Sie nickte. Ja, reden. Solange sie im Freien blieben, was konnte er ihr da schon tun? Und falls es ihr gelang, irgend etwas aus ihm rauszukriegen, irgend etwas Belastendes, würde sie dafür sorgen, daß er verhaftet wurde. Er öffnete die Tür. Sie bedeutete ihm, daß er vorgehen sollte. Als sie am Portsmouth Square zu einem Brunnen kamen, blieb Perry stehen, ließ sich etwas von der Kräutermedizin in die Handfläche rieseln, tat ein wenig Wasser dazu und schluckte das Ganze runter. Dann setzte er sich zu Sarah auf eine Bank. »Sind Sie mir den ganzen Tag gefolgt?« wollte sie wissen. »Nein. Nein, ich bin Ihnen überhaupt nicht gefolgt. Als ich gesehen habe, daß Sie in den Tempel gingen, wollte ich meinen Augen nicht trauen. Ehrlich gesagt, war ich mir so sicher, daß ich mir mal wieder was eingebildet habe, daß ich nur da raufgegangen bin, um festzustellen…« »Sie sind also nur zufällig in Chinatown?« fragte Sarah gereizt. »Jawohl. Genau wie Sie. Vielleicht ist es Schicksal.« Das sah Sarah anders. »Ich will schon länger mit Ihnen reden.« Perry legte die Hände flach auf die Knie, die Füße standen dicht zusammen. Er starrte mit gebeugtem Kopf nach unten. »Eigentlich hatte ich
mir vorgenommen, abzuwarten, etwas mehr Zeit verstreichen zu lassen.« »Worüber wollten Sie mit mir reden?« fragte Sarah in dem gleichen vorsichtigen Tonfall, den sie immer bei ihrem Vater und bei Melanie angeschlagen hatte. Seine Miene war durch und durch ernst, als er den Kopf hob und sie anblickte. »Über Melanie natürlich. Ich muß immer an sie denken. So ein Ende hat sie nicht verdient.« Wollte er damit sagen, daß die anderen bedauernswerten Frauen es verdient hatten? Daß überhaupt jemand so etwas verdiente? Er starrte sie aufmerksam an. »Ich wußte noch nicht mal, daß sie eine Schwester hat, bis ich was über Sie in der Zeitung gelesen habe.« Seine Lippen bebten. »Dann habe ich Sie auf der Beerdigung gesehen… und gestern abend im Fernsehen. Denken Sie nicht, ich wäre grausam, aber zu wissen, daß Sie ebenso leiden wie ich, hat mir geholfen. Das verbindet uns.« Sie sah die dunklen Schatten unter Perrys Augen. Den naiven Ausdruck in seinem attraktiven jungenhaften Gesicht, das ungemein blaß war. »Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr Melanie mir fehlt«, fuhr er fort. »Bei ihr hatte ich das Gefühl, daß alles gut war. Nicht bloß der Sex. Verstehen Sie, was ich meine?« Er schenkte ihr ein freundliches Lächeln. Sarah wurde übel. Sie nickte. Perry faßte ihr Nicken als Aufforderung auf, sich zu erklären. »Sie hat die Wut und die Scham verschwinden lassen. Sie hat mich gelehrt, keine Angst mehr zu haben.« »Wie oft waren Sie – bei ihr?« Melanie wäre nicht die erste Therapeutin gewesen, die mit einem Patienten ins Bett geht, aber sie hatte immer den Eindruck gemacht, daß ihr Berufsleben ihr heilig war. Andererseits waren die Dinge nicht immer so, wie sie schienen. Perry lächelte treuherzig. »Sie meinen, wie oft wir miteinander geschlafen haben? Nicht so oft, wie ich es mir gewünscht hatte.« Die Unbefangenheit von Robert Perry stieß Sarah ab und faszinierte sie zugleich. Machte er ihr etwas vor?
Perry massierte sacht seine Schläfen. »Die Kopfschmerzen lassen nach. Die Kräuter helfen tatsächlich.« Er blickte in die Ferne, hielt die Hände jetzt wie zum Gebet gefaltet. »Ich besuche ihr Grab jeden Tag. Um ihre Nähe zu spüren und um mich zu zwingen, die Wahrheit zu akzeptieren. Daß sie wirklich tot ist.« Er schloß die Augen. Tränen liefen ihm über die Wangen. Wie er so in der Nachmittagssonne dasaß, das blonde Haar schimmernd, den Kopf gebeugt, das Gesicht von Trauer gezeichnet, bot er ein erschütterndes Bild. Perfektes Theater? »Es war nicht Melanie an dem entsetzlichen Morgen«, sagte er unnatürlich flüsternd. »Das habe ich mir immer und immer wieder gesagt, als ich – als ich sie sah. Es war der absolute Alptraum. Dieses Bild werde ich nie wieder los.« »Nein«, sagte Sarah leise. »Das kann ich mir vorstellen.« Schweigen senkte sich über sie beide wie eine Decke. Er rutschte unruhig hin und her. »Die Bullen meinen, ich hätte es getan. Sie haben mich zum Morddezernat bestellt. Wollten meine Blutgruppe wissen. Als ich gesagt habe, daß ich es nicht weiß, haben sie mir gesagt, ich sollte einen Bluttest machen lassen. Dann wollten sie sogar, daß ich freiwillig in so ein blödes Glas onaniere, damit sie mein Sperma analysieren könnten. Ich hätte es gemacht. Bloß um sie mir vom Hals zu schaffen. Aber mein Anwalt hat gemeint, das käme überhaupt nicht in Frage. Höchstens, wenn sie Anklage gegen mich erheben, was sie nicht tun können, weil sie nichts gegen mich in der Hand haben. Ich war noch nicht mal in der Nähe von Melanies Haus in jener Nacht, in der sie ermordet wurde.« Seine Erregung wuchs, sein Gesicht rötete sich. »Und ich habe keine der anderen Frauen gekannt. Ich bin kein Monster«, fauchte er. Seine Wut verunsicherte Sarah. »Ich bin ein ganz normaler Typ, der seinen Weg sucht. Und Melanie hat mich geführt. Jetzt – jetzt weiß ich nicht mehr weiter.« Ob Robert Perry nun Romeo war oder nicht, sie hatte jedenfalls keinen Zweifel daran, daß der Mann äußerst labil war und sich deshalb in Therapie begeben hatte. Die Frage war nur, welche Art von Therapie ihre Schwester angewendet hatte.
Unvermittelt sprang Perry auf. »Ich muß jetzt gehen, Sarah. Aber ich möchte Ihnen danken.« »Mir danken?« Er lächelte einnehmend. »Ich fühle mich etwas besser. Es tut gut, darüber zu reden. Ich wünschte, Cindy würde mir auch die Chance dazu geben.« »Cindy?« »Meine Frau. Wir sind… getrennt, aber ich hoffe, daß Dr. Dennison uns wieder zusammenbringt.« »Sie sind jetzt bei Dr. Dennison?« »O ja. Heute morgen hatte ich einen Termin bei ihm.« Sein Lächeln nahm einen verschlagenen Ausdruck an. »Ich habe das Gefühl, Melanie hätte gewollt, daß ich das tue.« Nachdem Perry gegangen war, fuhr Sarah von Chinatown auf kürzestem Wege zum Polizeipräsidium und stürmte in die Einsatzzentrale des Morddezernats. Sobald John Allegro sie sah, sprang er von seinem Stuhl auf und kam auf sie zugeeilt. »Verdammt noch mal, wieso haben Sie Ihren Aufpasser in Chinatown abgehängt?« »Ich habe ihn nicht abgehängt. Er muß mich aus den Augen verloren haben. Wenn ihr es noch nicht mal schafft, mich…« »Okay, okay. Ich will mich nicht mit Ihnen streiten. Wir werden Sie nicht noch einmal verlieren. Versprochen.« Seine Gesichtszüge waren angespannt. Sarah schaute sich in dem tristen, von Neonröhren erhellten Raum um, in dem mehrere Reihen von Schreibtischen standen. Hier hatte Melanie an jenem letzten Tag gesessen. Wo sie sie später in Cutting Edge gesehen hatte. Der letzte Blick auf ihre Schwester. »Sarah?« Sarah schüttelte den Kopf, um sich von dem Gedanken loszureißen, fuhr mit der Hand in ihre Tasche und holte Romeos letzten Brief hervor. »Er hat auch eine Schachtel mit Schokoladenherzen geschickt. Ich habe sie im Tempel vergessen.« Sie beschrieb ihm, wo das war. Was die erschütternden Sätze aus Melanies Tagebuch betraf, so sah Sarah keinen Grund, John Allegro die heimlichen, schmutzigen Phantasien ihrer Schwe-
ster mitzuteilen. Oder überhaupt jemandem. Das wäre ein zu großer Verrat. Allegro nahm ein Papiertaschentuch von einem Schreibtisch in der Nähe und ergriff damit geschickt eine Ecke des Blattes. Er las leise, mit grimmigem Gesicht. Als er fertig war, untersuchte er das Papier und sah dann wortlos zu Sarah hinüber. Als ob er wüßte, daß sie ihm etwas verschwieg. Als ob man es ihr ansah. Sie wandte den Kopf ab, fühlte sich verletzlich und ungeschützt. Und schuldig. Die altbekannten Empfindungen, dachte sie. Selbstverachtung, Selbstvorwürfe. Jahrelang. Ein ganzes Leben. Sie gab sich die Schuld. Wofür? Für alles Schlimme, das je geschehen war. Und dabei konnte sie sich noch nicht mal zur Hälfte daran erinnern, was dieses Schlimme eigentlich war.
12 Wenn ich dir sage, daß es weh tut, erwiderst du, daß der Schmerz Liebe ist. Nicht voneinander zu trennen. Unvermeidlich. Diese Liebe zu verlieren – diesen Schmerz –, wäre schlimmer als der Tod. M. R. Tagebuch Es regnete heftig, als Sarah gegenüber von ihrem Haus parkte. Sie stieg aus dem Wagen und sah, wie der Zivilstreifenwagen, der ihr vom Polizeipräsidium aus gefolgt war, am Straßenrand hielt. Der Polizist machte den Motor und die Scheinwerfer aus, blieb aber hinter dem Lenkrad sitzen. Allegro, der mitgefahren war, stieg auf der Beifahrerseite aus. »Warten Sie«, rief er, als sie gerade die Straße überqueren wollte. Sarah blieb im Regen stehen und wartete, bis er bei ihr war. »Lassen Sie mich in Ruhe, Allegro. Ich bin völlig fertig. Wenn Sie noch mehr mit mir zu bereden haben, kommen Sie morgen wieder.« »Sie haben noch nichts gegessen.« »Ich habe keinen Hunger.« »Doch, haben Sie. Ich auch. Was gibt es denn Gutes hier in der Gegend?« »Nichts.« Ein Stück die Straße hinunter war ein Restaurant namens Dos Amigos. »Mexikaner?« fragte er. »Hauen Sie ab, Allegro.« »Schon gut, ich bin auch nicht gerade wild auf Mexikanisch. Ich stehe auf Thailändisch. Könnte ich mehrmals die Woche essen. Kennen Sie vielleicht ein gutes Thai-Restaurant? Nicht zu teuer. Wir schwimmen schließlich beide nicht im Geld.« »Wie, bin ich nicht eingeladen?« Er grinste. »Okay, Rosen. Ich zahle, zufrieden?« Sie lachte. Wer hätte gedacht, daß ihr jemand an so einem Tag noch ein Lachen entlocken könnte? »Sie sind ein Charmeur, Allegro. Wie erstaunlich.«
»Sie wissen verdammt gut, wie man anderen den Wind aus den Segeln nimmt.« »Sie kriegen gerade nasse Füße«, sagte Sarah. »Sie kennen ja das Sprichwort. Wer nicht gern naß wird, sollte sich nicht in den Regen stellen.« Sie einigten sich auf ein vietnamesisches Restaurant gleich um die Ecke, weil der Regen noch stärker wurde und sie beide nicht sehr wetterfest gekleidet waren. Das Lokal war leer, und der junge Vietnamese, der die Stellung hielt und wohl hoffte, früh Feierabend machen zu können, wirkte nicht gerade begeistert, als er zwei Kunden hereinkommen sah. Er geleitete sie zum schlechtesten Tisch, gleich neben der Schwingtür zur Küche, klatschte zwei Speisekarten auf die zwei Gedecke und zog einen Bestellblock aus der Tasche. Kaum hatten sie einen Blick in die Speisekarte geworfen, da fragte er auch schon, ob sie wüßten, was sie wollten. »Ja«, sagte Allegro. »Ich will, daß Sie sich für ungefähr zehn Minuten verziehen und dann wiederkommen, um unsere Bestellung aufzunehmen.« Zwischen dem unbefangenen Lächeln des Detectives und seinem schneidenden Ton bestand ein scharfer Gegensatz. Der Kellner murmelte halblaut etwas auf vietnamesisch, als er davontrottete. »Ich glaube, er mag Sie nicht«, sagte Sarah. »Man kann eben nicht bei allen beliebt sein.« Sie legte die Karte beiseite. »Waren Sie mit Melanie befreundet?« fragte sie eindringlich. Allegro dachte über die Frage nach. »Eigentlich nicht.« »Könnten Sie sich vielleicht etwas klarer ausdrücken?« »Sagen wir, sie war eine gute Bekannte. Ist das besser?« »Sie meinen, Sie haben mit ihr geschlafen?« »Das meinen Sie, Sarah. Ich meine bloß, daß wir uns gut verstanden haben. Wir waren in vielen Dingen einer Meinung.« »Ach, wirklich?« Allegro gefiel es nicht, wie Sarah Rosen ihn anstarrte. »Ich nehme an, Sie und Ihre Schwester waren in den meisten Dingen unterschiedlicher Meinung, oder?«
Sarah überging die Frage. »Nun rücken Sie schon raus mit der Sprache, Allegro. Sie reden doch sonst nicht um den heißen Brei herum. Was wollen Sie von mir?« »Okay«, sagte er. »Ich mache mir Sorgen um Sie.« »Ich bin gerührt.« »Hören Sie auf mit dem Scheiß, Sarah. Ich habe gestern abend Ihr Fernsehdebüt gesehen. Was hat es Ihnen gebracht? Noch ein perverses Liebesbriefchen?« »Liebesbriefchen? Sie haben aber eine eigenartige Vorstellung von Romantik, Detective.« »Und eine verdammte Pralinenschachtel.« Sarah verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Augen waren unergründlich. »Um es gleich zu sagen, ich verbiete Ihnen weitere TV-Auftritte.« »Woher wollen Sie wissen, daß ich daran gedacht habe, wieder aufzutreten?« Allegro betrachtete sie lange, bevor er antwortete. »Weil Sie in die Fußstapfen Ihrer Schwester treten wollen. Oder denken, Sie müßten es.« Der Kellner näherte sich ihrem Tisch. Allegros wütender Blick ließ ihn zusammenfahren. Er zog sich wieder zurück. Sarah schlug mit den Händen auf den Tisch. »Sie wollen ihn doch kriegen, oder?« fragte sie provozierend. »Jawohl, das will ich«, sagte Allegro. »Und ich werde ihn schnappen, auch ohne Ihre Hilfe.« »Quatsch. Sie haben nicht die geringste Spur. Der Brief, den er mir neulich geschickt hat, und das Medaillon haben Sie kein bißchen weitergebracht, stimmt’s? Und auch sonst nichts.« »Wir machen Fortschritte«, wich er aus. »Wenn dem so wäre, würden Sie nicht Ihre Zeit damit vertun, mich mit einem Gratisessen zu ködern, das ich noch nicht mal will.« Allegro grinste. »Gegen ein Gratisessen hat keiner was.« »Was ist mit Perry? Werden Sie ihn festnehmen?« »Wir werden ihn noch mal verhören, das steht fest.« »Denken Sie, er ist es?« Er sah sie schräg an. »Denken Sie’s?« »Nein. Aber ich hoffe, daß ich mich irre.«
Das Essen kam innerhalb von fünf Minuten – lauwarm. Zu Sarahs eigener Verwunderung hatte sie plötzlich großen Hunger und schlang gierig etliche Bissen von dem grünlichen Hühnchencurry herunter. Allegro rührte seinen Teller mit Schweinefleisch und Nudeln nicht an. Er wartete. Sie nahm noch einen Mundvoll, dann legte sie ihre Eßstäbchen beiseite. »Ich glaube, daß Perry die Wahrheit gesagt hat. Daß er und Melanie eine Affäre hatten. Sie glauben das auch, habe ich recht?« »Vielleicht.« Sarah lachte trocken. »Kommen Sie, Detective. Ich gebe ein bißchen von mir her, und Sie geben ein bißchen von sich her.« Er blickte nach unten auf seinen unangetasteten Teller. »Ja«, sagte er schließlich. »Ich glaube es auch.« »Ändert das Ihre Meinung über Melanie?« Er blickte traurig auf und sah Sarah an. »Nein.« »Es überrascht Sie nicht.« Er fuhr sich mit dem Handrücken über die trockenen Lippen. »Nein.« »Komisch«, sagte sie und wandte dabei den Blick ab. »Mich schon.« Sie trank ihr Glas Wasser in einem Zug leer, stellte es ab und kippte die Hälfte von seinem hinterher. Er beugte sich vor. »Reden Sie mit mir, Sarah.« In seinem Ton lag nichts Forderndes. Vielleicht war das der Grund, warum sie unvermittelt ihren Teller wegschob und sagte: »Machen wir, daß wir hier rauskommen, wenn wir miteinander reden wollen.« Allegro sprang auf. »Ja, die Atmosphäre hier ist beschissen.« Über das Essen konnte er nichts sagen, weil er es nicht angerührt hatte. Sarah wehrte sich nicht, als er ihre Hand nahm, während sie im strömenden Regen die Straße hinunterrannten. Als sie ihre Wohnung erreichten, waren sie völlig durchnäßt. Corky, der Polizist, der bis Mitternacht Dienst schob, bezog seinen Posten im Flur vor ihrer Wohnungstür. Allegro brachte ihm einen Stuhl aus Sarahs Küche nach draußen.
»Haben Sie die Flasche Scotch noch irgendwo rumliegen?« rief er, als er wieder hereinkam. Sarah trat aus dem Badezimmer, sah ihn fragend an, nickte dann aber. »Ich schau mal, wo ich sie habe.« Sie rubbelte ihre Haare trocken und warf Allegro das nasse Handtuch zu – ihr letztes sauberes. Der Berg schmutziger Wäsche quoll mittlerweile schon aus dem Wäschekorb. Allegro zog sein tropfnasses Jackett aus und sah sich gerade nach einem Platz um, wo er es aufhängen konnte, als das Handtuch vor seinen Füßen landete. Sie betrachtete sein Schulterhalfter mit der Pistole, gab aber keinen Kommentar dazu ab, daß er bewaffnet war. »Hängen Sie Ihr Jackett ins Badezimmer«, wies sie ihn an. »Ich suche inzwischen den Scotch.« Er hob das Handtuch vom Boden auf und ging ins Bad, während Sarah in die Küche trat. Sie erinnerte sich vage, daß der Whiskey auf einem Regal im Besenschrank stand. Wenige Augenblicke später kam Allegro aus dem Badezimmer und fuhr sich mit einem billigen Taschenkamm durchs Haar. Sarah war schon im Wohnzimmer. Sie goß Scotch in zwei Wassergläser, die sie aus dem Spülbecken gefischt und ausgespült hatte. »Ich dachte, Sie trinken nicht«, sagte er. »Tu ich auch nicht. Normalerweise. Aber zur Zeit ist nichts normal.« Sie nahm eines der beiden fast randvollen Gläser und reichte ihm das andere. »Den Trinkspruch lassen wir weg, okay?« Allegro war bei seinem zweiten Glas, Sarah nippte noch an ihrem ersten. Sie saßen auf dem Sofa. Bislang war das geplante Gespräch noch nicht zustande gekommen. Sarah nahm einen tiefen Schluck. »Soll ich nachfüllen?« fragte er und griff nach der Flasche auf dem überfüllten Couchtisch. Sarah warf ihm einen schiefen Blick zu. »Wollen Sie mich etwa betrunken machen?« Nach einem halben Wasserglas Whiskey machten sich die ersten Auswirkungen bemerkbar. Ein
wenig benommen. Benebelt. Nicht unangenehm. Vielleicht lag es an ihrem Gast. Ihre Augen trafen sich. »Sie können mir jederzeit sagen, daß ich aufhören soll.« Aus unerfindlichen Gründen machte sie diese Antwort nervös. Riß sie aus ihrer wohligen Stimmung. Vielleicht, weil sie nicht glaubte, daß es viel nützen würde, ihm – oder irgendeinem Mann – zu sagen, er solle mit irgend etwas aufhören. Sein Blick ruhte noch immer auf ihr. Mit wachsender Nervosität stellte sie ihr Glas ab. Er machte das gleiche mit der Flasche und lächelte. »Was zum Teufel wollen Sie von mir, Allegro?« »Was zum Teufel haben Sie zu bieten?« Wo kam dieser Mann her? Was führte er im Schilde? Weder sein Tonfall noch sein Gesichtsausdruck verrieten etwas über ihn. Auch Sarah war nicht gewillt, irgend etwas von sich zu verraten. »Nichts«, konterte sie trotzig. Allegros Glas war noch halb voll, als er es auf dem Tisch abstellte. Kein guter Zeitpunkt, um sich zu besaufen, beschloß er. »Wissen Sie, worauf Sie sich da einlassen?« fragte er. Damit konnte vieles gemeint sein. Und sie hatte tatsächlich das Gefühl, daß sie drauf und dran war, sich auf eine Menge einzulassen. »Ich denke ja.« »Na, wenigstens einer von uns. Erzählen Sie mir, was Sie sich davon versprechen, da weiterzumachen, wo Ihre Schwester aufgehört hat.« Ihre Augen schossen zu dem Detective hinüber. Noch so eine zweideutige Formulierung. Auch Allegro fiel auf, daß Sarah diese Bemerkung auf mancherlei Art interpretieren konnte. Er lächelte verlegen. »Ich meine damit Ihren Fernsehauftritt.« »Ich weiß, was Sie meinen«, log sie. »Und Sie täuschen sich. Ich mache nicht da weiter, wo Melanie aufgehört hat. Ich bin keine Therapeutin. Ich will diesem Schwein bloß eins unmißverständlich klarmachen: Ich habe keine…« »Keine was? Keine Angst vor ihm? Und ob Sie die haben.«
Sarahs Gesichtszüge verhärteten sich. »Ob ich nun Angst habe oder nicht, er kommt. Auf seine unnachahmliche perverse Art versucht er, mich zu verführen.« »Bis jetzt hat er seine Sache verdammt gut gemacht.« »Und das gibt ihm noch mehr das Gefühl, stark zu sein«, erklärte sie. »Nun, ich werde ihm zeigen, daß ich auch stark bin. Sogar noch stärker.« »Sie werden es ihm zeigen? Dann haben Sie also vor, wieder im Fernsehen aufzutreten. Scheiße«, fluchte Allegro, »habe ich nicht schon genug Probleme?« »Ich bin nicht Ihr Problem«, fauchte sie. »Und ob Sie das sind.« »Lassen Sie mich in Ruhe, Allegro. Ich muß das auf meine Art machen.« Er beugte sich ein wenig weiter zu ihr. Er kam ihr zu nah – physisch, emotional. »Ich habe absolut keine Lust, Ihre verstümmelte Leiche zu finden, weil…« »Aufhören!« Allegro erschauderte. »Tut mir leid.« Er nahm einen weiteren Schluck Scotch, dann sah er sich beiläufig um. »Haben Sie schon immer allein gelebt?« »Themawechsel?« »Ja.« »Hin und wieder habe ich Besuch über Nacht. Ansonsten bin ich gern ungestört.« Er sah sie unverwandt an. »Sind Sie nie einsam?« Sarah dachte, daß ein Gespräch mit Allegro mit einem Besuch beim Zahnarzt zu vergleichen war: Gerade, wenn die Betäubung nachließ, traf der Bohrer den Nerv. Sie nahm ihren Scotch vom Tisch und wollte ihn, ohne zu antworten, an die Lippen führen – Schnaps war immerhin ein Betäubungsmittel –, doch der Detective nahm ihr das Glas aus der Hand. »Ich will wirklich nicht, daß Sie sich betrinken«, sagte er und stellte ihr Glas wieder auf den Tisch. »Und ich will wirklich nicht, daß Sie mir auf die Pelle rükken.« Er lächelte schwach, lehnte sich im Sofa zurück, ihre Schultern berührten sich fast. »Sind Sie in einer Beziehung, Sarah?«
»Wollen Sie mich anmachen, Allegro?« Er grinste. »Ich will Konversation machen.« »Ist nicht gerade Ihre Stärke.« »O ja, ich weiß«, sagte er mit überraschender Offenheit. Auch Sarah lächelte, obwohl nicht zu bestreiten war, daß Detective John Allegro eine beunruhigende Wirkung auf sie hatte. Verdammt, was war bloß mit ihr los? Erst hatte sie sich zu Wagner hingezogen gefühlt, jetzt zu Allegro. Sie war so verletzlich und allein wie seit Jahren nicht mehr. Und unglaublich verängstigt. Trotz ihrer mit allen Mitteln verteidigten Unabhängigkeit sehnte sie sich verzweifelt nach Trost. Ein heimliches Verlangen danach, gehalten zu werden, beschützt. Geliebt? Nein, das ging zu weit. Liebe war eine Lüge. Lust war ehrlicher. Lust betraf nur den Körper, nicht die Seele. Zumindest war klar, wieso sie sich körperlich von Michael Wagner angezogen fühlte. Er war gepflegt, paßte altersmäßig, wie ihre Schwester sagen würde. Gesagt hätte. Aber John Allegro, mindestens zehn Jahre, wenn nicht eher fünfzehn Jahre älter als sie, wirkte verlebt, war unberechenbar, kompliziert, gefährlich neugierig. Ein Mann, bei dem sie sich vorstellen konnte, daß er – ganz wie sie – eine lange Liste ungesunder Geheimnisse hatte. Und trotzdem konnte sie das erotische Knistern, das er bei ihr auslöste, nicht abstellen. Sie war nicht nur erregt, sondern gab sich sogar sexuellen Phantasien hin. Sie sind in ihrem Schlafzimmer. Kein Licht. Heute abend hat sie keine Angst vor lauernden Ungeheuern. Er ist bei ihr. Lächelt zärtlich. Sagt ihr, daß sie alle Zeit der Welt haben. Daß sie nur das tun werden, was sie will. Und sie glaubt ihm. Während er sie langsam auszieht, sagt er ihr, wie schön sie ist, wie begehrenswert, wie lieb und rein und gut. Sie ist jetzt nackt, aber sie fühlt sich nicht ausgeliefert. Diesmal ist alles anders. Sie findet sich selbst unverfroren, ja schamlos, als sie mit der Zungenspitze über seine Brustwarzen gleitet. Er stöhnt leise. Das Geräusch erregt sie. Sie nimmt sogar eine Hand und führt sie…
Feldmans Stimme meldet sich. Flüstert psychoanalytischen Mist – sogar jetzt, wo sie kurz vor der Erfüllung steht. »Du fühlst dich zu diesem Mann hingezogen, weil du in ihm eine Vaterfigur siehst. Es ist keine echte Anziehung, Sarah. Sondern lediglich Übertragung. In Wahrheit suchst du die Liebe und Anerkennung deines Vaters.« Sarah ist sauer. Warum muß Feldman immer alles zerstören? »Sind Sie verheiratet, Allegro?« Die Frage war ihr entwischt. John Allegro sah weit weniger schlecht aus, wenn er lächelte. Es machte sein Gesicht ein paar Jahre jünger. »Überlegen Sie, ob Sie mir einen Antrag machen sollen?« Jetzt war sein Lächeln ein breites Grinsen. »Nein. Ich kann mir vorstellen, daß es nicht einfach ist, mit Ihnen zusammenzuleben«, antwortete sie, ehrlicher als beabsichtigt. Allegro war verunsichert. Er hatte eine bissige Retourkutsche erwartet. Statt dessen hatte sie sich auf sehr gefährliches Terrain begeben. »Meine Frau fand das auch.« Er nahm sein Glas in die Hand. Sarah mußte keine Psychiaterin sein, um John Allegros Griff zum Whiskey an eben dieser Stelle richtig einzuschätzen. »Fand? Vergangenheit? Haben Sie sich getrennt?« bohrte sie nach, teilweise, weil sie neugierig war, teilweise, weil sie wesentlich lieber in der Offensive als in der Defensive war. Allegro nahm einen tiefen Schluck Scotch, dann preßte er beide Handflächen gegen das Glas. »Sie ist tot.« »Das tut mir leid.« Allegro nickte, und die Linien in seinem Gesicht vertieften sich wieder. Er starrte nach unten auf den Rest seines Drinks. Sarah hatte das Gefühl, als ob plötzlich keine Luft mehr im Zimmer war. »Der Tod ist immer schrecklich.« »Ja.« »Möchten Sie darüber reden?« Allegro rieb sich mit der Hand langsam über sein stoppeliges Kinn, gegen seinen Willen gerührt durch ihren zärtlichen Tonfall. Eigentlich hatte er nicht darüber reden wollen. Oder doch?
Sein langes Schweigen verunsicherte Sarah. »Wenn Sie nicht wollen…« »Doch, ich werde es Ihnen erzählen. Wieso nicht?« Die Worte kamen wie von selbst. »Grace ist aus einem Fenster ihrer Wohnung im sechsten Stock gesprungen. Im letzten April. Wir lebten damals getrennt. Sie hatte gerade einen sechswöchigen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik hinter sich. Angeblich ging es ihr danach besser«, fügte er zynisch hinzu. »Dann sind Sie bestimmt auch nicht gerade ein begeisterter Anhänger der psychiatrischen Zunft.« Allegro dachte an Melanie. Wie hätte er nicht an Melanie denken sollen? »Manchen Menschen kann durch gute Therapeuten geholfen werden.« »Denken Sie, Melanie war gut?« Allegro sah nachdenklich zu ihr rüber, unsicher, welche Gefühle hinter dieser Frage steckten. Hatte Melanie ihr erzählt, daß Grace bei ihr gewesen war? Und er ebenfalls? Eigentlich sollten Therapeuten dergleichen vertraulich behandeln. »Das war sie bestimmt. Sie hatte einen hervorragenden Ruf.« »Haben Sie sie geliebt?« Die Frage befremdete ihn. Sein Gesicht verriet es. Sarah lächelte sarkastisch, was ihn ärgerte. Auch das stand in seinem Gesicht. »Ich habe Ihre Frau gemeint, Allegro. Nicht Melanie.« Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Sie spielte mit ihm. »Es interessiert Sie einen Scheißdreck, was ich für meine Frau empfunden habe. Sie wollen mich bloß provozieren. Wieso machen Sie das, Sarah?« Als sie nicht antwortete, sagte er schneidend: »Im Boxring wären Sie gut, Sarah. Sie landen jede Menge kleine Schläge an den richtigen Stellen. Sie ducken sich und weichen aus, wenn man nach Ihnen schlägt. Aber Sie würden es nie bis zur letzten Runde schaffen. Nicht mit einem Profi. Einmal würden Sie den Schlag nicht sehen. Und wenn der trifft, liegen Sie am Boden. Knockout!« Ein Stromstoß unterschwelliger Angst durchlief ihren Körper. Sie wußte, daß Allegro dabei nicht nur an sich selbst, sondern auch an Romeo dachte.
»Ich könnte Sie überraschen.« Sie nahm ihr Glas wieder in die Hand. Wie zuvor griff Allegro nach ihrem Glas, noch bevor sie es an die Lippen setzen konnte, doch diesmal verschüttete er ein wenig, als er es ihr aus der Hand riß. Sarahs Körper spannte sich an. »Hören Sie, Allegro. Ich bin erwachsen. Ich kann…« Allegros Handfläche verschloß ihr mitten im Satz den Mund. Sarah erstarrte. Was zum Teufel hatte er vor? »Sarah, ganz ruhig.« Allegros Stimme war leise und eindringlich. »Ich habe irgendwas gehört. Seien Sie leise. Ich gehe und sehe nach.« Sie blickte ihn ängstlich an. Dann nickte sie, und er nahm seine Hand von ihrem Mund. Sie hielt die Augen auf ihn gerichtet, während er sich von ihr abwandte und aufstand. Was hatte er gehört? Sie hatte nichts gehört. Mit einem Schauder verkroch sie sich in die hinterste Couchecke, zog die Beine an und preßte die Knie gegen die Brust. Versuchte, sich kleiner zu machen, unsichtbar zu werden. Sie beobachtete, wie Allegro das Wohnzimmer durchquerte, und staunte, daß ein so kräftig gebauter Mann sich mit der Anmut und Leichtigkeit eines Tänzers bewegen konnte. Sie verharrte wie erstarrt in ihrer Ecke und versuchte angestrengt, die Geräusche wahrzunehmen, die er angeblich hörte. Währenddessen überprüfte er rasch die übrige Wohnung – Schlafzimmer, Küche, Bad. Als er ins Wohnzimmer zurückkam, nickte er ihr aufmunternd zu. Sie brachte ein schwaches Lächeln zustande, aber sie war alles andere als beruhigt. Er ging zur Wohnungstür. Corky, der Polizist, der im Flur Wache schob, sprang auf, als sich die Tür öffnete. »Irgendwas gesehen oder gehört?« bellte Allegro ihn an. »Eigentlich nicht.« »Was zum Teufel soll das heißen?« zischte Allegro. Corky trat nervös von einem Bein aufs andere. »Vor ein paar Minuten ist hier eine Lady reingekommen. Ich – äh – habe ein
bißchen mit ihr geredet. Na ja, was sie hier macht und so. Wohnt im Haus. Gleich neben Miss Rosen.« Er deutete auf Vickies Wohnungstür. »War sie allein?« Corky nickte. »War sonst noch jemand da?« Corky schüttelte den Kopf. »Und Sie haben nichts Ungewöhnliches gehört?« »Nein. Alles normal.« Allegro rieb sich das Kinn. »Trotzdem sehen wir uns mal ein bißchen um. Sie draußen, besonders hinter dem Haus. Ich schaue mir mal die Flure an.« Corky zog sofort los. Allegro streckte den Kopf zur Tür herein. »Sarah, schließen Sie bitte ab. Öffnen Sie niemandem außer mir. Okay?« Sie sprang vom Sofa auf. »Ich möchte mitkommen.« Er schüttelte den Kopf. »Sie rühren sich nicht vom Fleck. Keine Angst. Ich bin in ein paar Minuten zurück.« »John!« rief sie, als er schon die Tür hinter sich zuziehen wollte. »Wahrscheinlich falscher Alarm, Sarah, ich will nur auf Nummer Sicher gehen, mehr nicht.«
13 Romeo beherrscht die Kunst der Verwandlung meisterhaft. Er ist hochintelligent und gerissen… seine gräßlichen Inszenierungen scheinen absolut durchdacht zu sein… was ihn um so gefährlicher macht. Dr. Melanie Rosen in Cutting Edge Als Allegro ihre Wohnung verließ, hatte Sarah impulsiv den Drang, hinter ihm herzulaufen. Aber sie wußte, daß er sie nur zurückschicken würde. Durch die geschlossene Tür rief er ihr zu: »Sarah, abschließen! Und legen Sie die Kette vor.« Sie ging zur Tür und befolgte seinen Befehl, drückte sich richtig dagegen, als ob sie Allegro dadurch näher wäre. Sicherer. Doch sie hörte bereits, wie sich seine Schritte entfernten. Es mußten ein paar Minuten vergangen sein, in denen sie so stehen geblieben war, gegen die Tür gepreßt, als sie ein leises Klopfen hörte, das vom Badezimmer zu kommen schien. »O Gott«, keuchte sie in panischer Angst. »Ich bin’s, Miss Rosen. Officer Corrigan. Ich bin draußen vor Ihrem Badezimmerfenster. Es steht einen Spalt offen.« Wieso stand ihr Fenster auf? Seit sie hier wohnte, hatte sie es keinen Millimeter bewegen können. Es war fest verklemmt. »Miss Rosen? Können Sie mich hören? Sind Sie okay?« »Ja, ja. Ich bin okay«, rief Sarah und eilte zum Badezimmer. Es wurde schwach vom Schein der Taschenlampe erhellt, mit der der Polizist durch das Fenster über der Badewanne leuchtete. Sie schaltete das Licht ein, schob Allegros nasses Jackett beiseite, das er über die Stange des Duschvorhangs geworfen hatte. Über die Wanne gebeugt zog sie das weiße Kunststoffrollo hoch, das sie über dem Fenster aufgehängt hatte, um ungestört baden zu können. »Sieht so aus, als hätte jemand es aufgestemmt«, sagte Corky, die Taschenlampe auf die Fensterbank gerichtet. Der junge Polizist war auf eine Mülltonne geklettert, so daß er an das Fenster ihrer Erdgeschoßwohnung gelangen konnte. »Auf der Fen-
sterbank sind Spuren. Sieht ganz so aus, als hätte jemand versucht, hier einzusteigen. Die Mülltonne stand direkt unter dem Fenster. Steht sie immer da?« »Nein, natürlich nicht.« Er leuchtete mit der Taschenlampe die schmale Gasse zwischen Sarahs Haus und der Rückseite eines leerstehenden Mietshauses ab, das nach vorn auf die Albion Street ging. »Muß gestört worden sein und Schiß gekriegt haben. Niemand mehr da.« Sarahs Herz pochte ihr so dröhnend in der Brust, daß es weh tat. Sie schloß die Augen. »Ich rufe wohl besser Detective Allegro. Der will sich das hier bestimmt selbst ansehen. Fassen Sie nichts an, ja?« Irgend jemand hatte versucht, in ihre Wohnung einzusteigen. Es hätte ein ganz gewöhnlicher Einbrecher sein können. Hier in der Gegend wimmelte es nur so von Ganoven. Aber Sarah wußte, es war Romeo. Er wollte zeigen, wie dreist er war. Direkt vor den Augen der Polizei. Offenbar bereitete ihm seine Unverschämtheit ein perverses Vergnügen. Die Lust am Risiko. Im Geiste sah sie, wie eine schattenhafte Gestalt durch das Fenster kroch, sich in dem winzigen Badezimmer versteckt hielt und wartete, bis Allegro ging, wartete, um dann ganz plötzlich aufzutauchen… Sie schloß die Augen und versuchte, die Gestalt klarer zu sehen. Robert Perry paßte. Er war der perfekte Verdächtige. Heimlichtuerisch, pervers, obsessiv – aber zu offensichtlich. Er kam ihr auch nicht besonders clever oder verwegen vor. Eher verzweifelt und jämmerlich. Wenn es also nicht Perry war, wer dann? Ein anderes Bild tauchte plötzlich vor ihrem inneren Auge auf. Diesmal klar und scharf. Bill Dennison. Sie schauderte. Eigentlich verrückt, daß er ihr immer wieder in den Sinn kam. Verrückt, daß ihre Gefühle für ihn noch immer irgendwie durch die erbärmliche Affäre, die sie mal gehabt hatten, beeinflußt wurden. Außerdem, wenn er wirklich die zwanghafte Neigung hatte, Frauen zu verletzen und zu quälen, wie sie Romeo zweifellos hatte, wäre es für ihn bestimmt nicht
damit getan gewesen, ihr beim letzten Mal im Bett eine lächerliche Tracht Prügel zu verabreichen. Es war abwegig, daß Dr. Bill Dennison, dessen Beruf es ja gerade war, solche verschrobenen Typen zu behandeln, dieser gefährliche, kranke Irre sein sollte. Sie erstarrte, als sie draußen vor dem Fenster Schritte hörte. Erleichtert atmete sie tief durch, als Allegro auf der anderen Seite des Badezimmerfensters auftauchte. Corky kam hinter ihm her und reichte die Taschenlampe hoch. Sarah sah zu, wie Allegro die ganze Fensterbank ableuchtete, sorgsam darauf bedacht, sie nicht zu berühren. »Soll ich die Jungs von der Spurensicherung kommen lassen?« fragte Corky. »Ja. Und klappert alle Wohnungen ab, die Fenster zur Gasse haben. Vielleicht hat ja jemand was gesehen.« Er blickte Sarah durch das Fenster an. »Alles okay?« »Ja.« »Bleiben Sie, wo Sie sind. Es ist anzunehmen, daß wir ihn verscheucht haben, aber Corky und ich sehen uns vorsichtshalber noch mal um.« »Ich glaube nicht, daß er so leicht zu verscheuchen ist«, sagte sie. »Vielleicht war es ja nur ein ganz gewöhnlicher Einbrecher.« »Warum sprechen Sie es nicht aus?« »Gehen Sie zurück ins Wohnzimmer und genehmigen Sie sich noch einen Drink.« »Kommen Sie, Allegro. Nun sprechen Sie es schon aus. Ich habe mir das selbst zuzuschreiben. Ich habe ihn in Emmas Sendung provoziert. Los. Sagen Sie’s.« »Sie haben es doch schon gesagt. Setzen Sie eine Kanne Kaffee auf. Es wird bestimmt eine lange Nacht.« Sie nickte, blieb aber wie angewurzelt stehen. Eine altvertraute Taubheit machte sich in ihr breit, überdeckte die panische Angst – alles. »Tun Sie, was ich gesagt habe, Sarah.« Sein energischer Ton riß sie aus ihrer Erstarrung. Sie ging in die Küche und machte den Kaffee, sah mit starrem Blick zu, wie die braune Flüssigkeit langsam in die Glaskanne tröpfelte.
Der Kaffee sah stark aus. Wahrscheinlich hatte sie zu viele Löffel reingetan. Sie hatte nicht mitgezählt. Es war so schwer, sich auf etwas derart Banales zu konzentrieren. Noch immer klopfte ihr das Herz wie wild. Und sie hatte Sodbrennen. In einem Schrank suchte sie nach Magentabletten, doch dann fiel ihr ein, daß sie die Packung in ihre Umhängetasche geworfen hatte. Als sie jedoch das Wohnzimmer halb durchquert hatte, blieb sie jählings stehen. Alles Blut wich aus ihrem Gesicht. Auf dem Fußboden in der Diele direkt vor der Wohnungstür lag ein weißer Briefumschlag. Sein Rand berührte den Läufer. Wie lange lag er da schon? Sie hatte nicht in diese Richtung geschaut, als sie aus dem Badezimmer in die Küche gegangen war, um Kaffee zu machen. Wenn Romeo ihn gerade erst unter der Tür durchgeschoben hatte, war er vielleicht noch im Hausflur. Wenn sie jetzt schnell die Tür aufriß, könnte sie ihm womöglich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Dann hätten die Spekulationen ein Ende. Sie wüßte, wer er war. Alles wäre vorbei. Vorbei. Es klopfte laut an der Wohnungstür. Sarah hielt den Atem an. Das Klopfen ertönte erneut. »Sarah, ich bin’s, John.« Eine kurze Pause. »Allegro.« Sie hastete zur Tür und schob den Umschlag unter den Läufer, denn noch immer wollte sie Melanies Privatsphäre schützen. Ihre Ehre. Dann riß sie die Tür auf und warf sich in seine Arme. »Alles in Ordnung, Sarah. Ich habe niemanden gesehen.« Er spürte, wie sie am ganzen Körper zitterte, während er sie tröstend in den Armen hielt. »Er war hier. Ich weiß es.« Er wich leicht zurück und blickte sie an. »Haben Sie jemanden gesehen?« »Nein, aber…« Zeig’s ihm. Auch wenn es wieder aus Melanies Tagebuch ist. Zeig’s ihm. Zeig’s ihm. »Aber was, Sarah?« hakte er nach.
Sie klammerte sich an ihn. Ja, sie würde ihm den Brief zeigen. Sobald sie ihn gelesen hatte. Zumindest das war sie Melanie schuldig. »Ich habe Verstärkung angefordert. Wir durchkämmen die ganze Gegend. Keine Sorge, Sarah. Wenn er hier in der Nähe ist, erwischen wir ihn.« Sie zitterte immer noch, konnte nichts dagegen tun. Ein Bild tauchte auf. Sie steht in der Diele ihres Elternhauses, sie trägt das weiße Hochzeitskleid ihrer Mutter, sie hat irgend etwas in der Hand. Etwas Lebendiges, Pulsierendes. Ein Herz. Ein blutendes Herz. Melanies Herz. Nein, nein. Das habe ich nicht gewollt. Ich schwöre es. Nicht gewollt. Nicht gewollt. »Was haben Sie nicht gewollt, Sarah?« Sie schnappte nach Luft. Konnte er ihre Gedanken lesen? Verlor sie allmählich den Verstand? Sie riß sich von ihm los. »Nichts. Nichts.« Er sagte kein Wort. Statt dessen ging er ins Wohnzimmer. »Was haben Sie vor?« fragte sie. Sie folgte ihm dicht auf den Fersen, als er zielstrebig zu dem Wandtelefon im Eingang zur Küche ging und ein kleines Adreßbuch aufklappte, das er aus der Gesäßtasche gezogen hatte. Er suchte eine Nummer heraus und begann zu wählen. Sarah trat näher. Sie konnte den Freiton hören. Nachdem er es zehnmal hatte klingeln lassen, legte Allegro den Hörer auf. »Kein Anrufbeantworter.« »Wen haben Sie angerufen?« Er blickte sie lange unverwandt an. »Perry.« Sie wollte etwas sagen, doch er kam ihr zuvor. »Das bedeutet nur, daß er nicht zu Hause ist. Oder daß er nicht abhebt. Wahrscheinlich versuchen noch immer irgendwelche Reporter, ein Interview von ihm zu kriegen. Die Presse weiß, daß er… Melanie gefunden hat. Vielleicht geht er einfach nicht mehr ans Telefon.«
Sarah nahm den Hörer ab. Jetzt war sie an der Reihe. Sie zögerte, obwohl sie die Nummer auswendig kannte, kämpfte mit sich. Sagte sich, daß es idiotisch war, während sie bereits die Tasten drückte. Nach viermaligem Klingeln ein Knacken in der Leitung. Sie hielt den Hörer von ihrem Ohr weg, damit Allegro mithören konnte. »Bill Dennison am Apparat. Das heißt, eigentlich nicht, ich bin zur Zeit nicht zu Hause. Sie können aber eine Nachricht hinterlassen, ich rufe so bald wie möglich zurück.« Sarah hängte ein. Allegro starrte sie an. »Ich weiß«, sagte sie. »Das hat nichts zu bedeuten. Nichts bedeutet irgendwas.« In ihrer Stimme schwang Enttäuschung und Furcht mit. Sie sahen sich in die Augen. Schwaches Sirenengeheul drang von draußen herein. »Wieso denken Sie, es könnte Ihr Schwager sein?« fragte Allegro. »Exschwager. Nur so. Ich kann nicht mehr klar denken. Sehen Sie das denn nicht?« »Sarah… Sie verschweigen mir doch was.« »Wir hatten eine Affäre. Wenn man es überhaupt so nennen kann.« Seine Augen verengten sich. »Sie und Dennison?« Sie nickte. »Wie würden Sie es denn nennen?« fragte er. »Irrsinn«, sagte sie. »Anscheinend muß ich mich damit abfinden, daß ich immer das kriege, was Melanie ablegt.« War John auch einer von Melanies Abgelegten? Fühlte sie sich vielleicht gerade deshalb zu ihm hingezogen? Es trat eine lange Pause ein. »Ist der Kaffee fertig?« Sarah lachte kühl, zum Teil, um ihr eigenes Unbehagen zu verbergen. »Ist Ihre Kehle plötzlich trocken, Detective?« Allegro sah sie weiter mit starrem Blick an. »Hören wir auf mit dem Getue, Sarah. Fragen Sie mich rundheraus.« »Waren Sie Melanies Liebhaber?«
Er zuckte mit keiner Wimper. »Nein. Wäre ich gern ihr Liebhaber gewesen? Ja und nein.« Er lächelte. »Ist Ihnen das genug?« Bevor sie erwidern konnte, daß ihr das mehr als genug war, klopfte es an der Tür. Erst in diesem Augenblick bemerkte Sarah, daß die Sirenen, die sie zuvor in der Ferne gehört hatte, jetzt direkt vor ihrem Fenster heulten. Er ließ sie stehen und ging zur Tür. Hektische Betriebsamkeit. Überall Polizisten in Uniform und in Zivil. Sie durchkämmten die Nachbarschaft, suchten nach Fingerabdrücken, befragten die Mieter. Die Medien direkt auf den Fersen, gierig auf Nachrichten. Verzweifelt auf der Suche nach einer Sensationsmeldung. Sarahs Hand zitterte, als sie den Briefumschlag unter dem Läufer hervorholte. Noch bevor sie ihn öffnete, traf sie eine Entscheidung. Sobald sie und John allein waren, würde sie ihm Romeos letzte Nachricht zeigen. Egal, was drin stand. Auch die andere. Und dann würde er Melanies dunkle Geheimnisse kennenlernen. Und was ist mit meinen? Ihr Telefon klingelte. Erschrocken schob sie den Umschlag in die Tasche. Sie ließ den Anrufbeantworter anspringen, doch als sie nach dem Pfeifton Michael Wagners Stimme hörte, lief sie zum Apparat und nahm den Hörer ab. »Tut mir leid«, sagte Sarah. »Was?« fragte Wagner. Sie war völlig durcheinander. »Ich meine – ich bin da«, sagte sie lahm. »Freut mich, das zu hören.« »Wie meinen Sie das?« »Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht. Sind Sie okay?« »Ja, ich bin okay. Jemand hat versucht, bei mir einzubrechen.« »Ich weiß. Deshalb rufe ich an.« »Ich dachte, Sie wären hier«, platzte Sarah heraus. Sie errötete und fügte hastig hinzu: »Hätte ja sein können…«
»Ja, ich weiß«, sagte er. Romeos Name blieb unausgesprochen. »Ich bin in spätestens einer Stunde da, Sarah. Ich bin auf der Rückfahrt von Ledi.« »Ledi?« »Eine kleine Stadt südlich von Sacramento.« »Oh.« »Mein altes Jagdrevier.« »Jagdrevier?« »Ich bin dort aufgewachsen. Mein Stiefvater lebt noch da. Er hat heute Geburtstag. Ich habe mit ihm zu Abend gegessen. Seltsam, daß immer gerade dort was passiert, wo man nicht ist«, sagte er nachdenklich. »Bei mir ist das anders«, sagte Sarah trocken. »Ich bin immer da, wo was passiert. Es wäre mir viel lieber, ich wäre woanders.« Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Tut mir leid«, sagte sie. »Das sagen Sie oft.« »Nein, tue ich nicht.« »Ist Allegro bei Ihnen?« fragte er. »Ja. Nein. Ich meine, er ist nicht bei mir in der Wohnung, aber ich kann ihn holen.« »Keine Umstände. Sagen Sie ihm bloß, daß ich so schnell wie möglich komme.« Sarah blickte auf ihre Uhr. Es war zehn nach elf. Mit einem hatte John sicherlich recht gehabt – es würde eine lange Nacht werden.
14 Ich verliere mich. Gestern abend rüber zum Mission District. Habe mir eingeredet, daß ich Sarah besuchen wollte. Habe es natürlich nicht dorthin geschafft. Bin in den dreckigen neonbeleuchteten Club in einer kleinen Seitenstraße von der Sechzehnten. Vorher noch nie dagewesen, hatte aber davon gehört. Einer der heimlichen Vorzüge meines Berufes. Es stank nach Bier, Schweiß, Hasch. Säufer an der Bar. Kaputte, nackte Frauen mit tiefen Ringen unter den leeren Augen tanzten auf der Bühne zu scheußlicher Techno-Musik. Die Vorstellung fing gerade an. Die Tänzerinnen schlurften von der Bühne, die Lichter wurden dunkler, und als sie wieder hell wurden, betrat das erste Paar die Bühne. Die Frau trug einen billigen goldfarbenen Body und ein mit Straß besetztes Hundehalsband. Sie wurde auf allen vieren von einem blonden, blauäugigen Schönling in schwarzem Slip hereingeführt. Er hielt eine große Peitsche in der Hand. Er lächelte böse und strich über den dicken Griff der Peitsche, bevor er zur Sache kam. Später sah ich ihn hinten in einer Nische sitzen. Er schaute nicht zu, was seine Konkurrenz auf der Bühne machte. Er starrte mich unverhohlen an. Dunkle, ausdruckslose Augen. Lüstern. Schleimiger Dreckskerl. Seine Wohnung. Ein tristes kleines Apartment nicht weit vom Club. Stinkende Matratze auf einem schmutzigen Fußboden. Es wäre egal gewesen, wenn er mir das hätte geben können, was ich brauchte. Aber er war mies. Nicht die Spur von Raffinesse. Sagte ständig: »Hab ich es doch gewußt, daß du es so willst, Baby«, während er auf mich eindrosch. Er hat nichts kapiert. Nicht das geringste. Wie alle anderen. Außer Dir. Allegros Miene, als er Melanies Tagebucheintrag las, war unergründlich. Einen Moment dachte Sarah sogar, er würde gleich die Beherrschung verlieren und in Tränen ausbrechen. Im nächsten Augenblick wurden seine Gesichtszüge hart und leer, so, als hätte er all seine Gefühle abgestellt.
Wieder lag ein zusätzliches Blatt mit einem Postskriptum von Romeo dabei. Allegro hatte es sich noch nicht angesehen. Er starrte noch immer auf das erste. Was empfand er? Was dachte er? Sarah mußte es wissen. Aber sie hatte Angst, zu fragen. Statt dessen sagte sie ihm, wie ihr selbst zumute war. In ihrer Stimme lag Mitleid, Angst und – so sehr sie es auch zu unterdrücken versuchte – Ekel. »Das ist nicht meine Schwester. Ich habe diese – diese Frau nicht gekannt. Sie ist wild, zerstörerisch, haltlos.« Dieser Tagebuchauszug war sehr viel schlimmer als der andere. Im ersten hatte ihre Schwester nur ihre beunruhigende Phantasie, ihre bestürzenden Emotionen zum Ausdruck gebracht. Dieser hier verriet, daß sie ihre Gefühle auch ausgelebt hatte. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß Frauen regelrecht darum betteln, erniedrigt, geschlagen zu werden. Erst recht nicht Melanie.« »Vielleicht ging es ihr ja im Grunde gar nicht um die Schläge.« Allegros Stimme klang gepreßt. »Was soll das heißen?« Was wußte er schon über ihre Schwester, was sie nicht wußte? Wieviel hatte Melanie ihm anvertraut? Wie nahe waren sie sich gestanden? Sie hatte geglaubt, Dinge über ihre Schwester vor Allegro geheimzuhalten. Vielleicht war es ja genau umgekehrt. Und du dachtest, du könntest ihm vertrauen. Du dumme, kleine, naive Idiotin. Du kapierst aber auch nie etwas. Komm endlich zu Besinnung. »Ich weiß nicht, was es heißen soll«, sagte Allegro, er klang wütend und trotzig. »Ich bin kein Therapeut. Fragen Sie Feldman.« Sarah zuckte zusammen. Feldman fragen. Richtig. Wahrscheinlich kannte dieser scheinheilige Mistkerl tatsächlich die Antworten. Wieder sah sie Feldman und Melanie, wie sie sich in seinem Büro umarmten. Ein Anblick, den sie nahezu vierzehn Jahre aus ihren Gedanken verbannt hatte. Nun durchlebte sie alles erneut. Sie fühlte sich nicht nur von dem gequält, was sie mit eigenen Augen gesehen hatte, sondern auch von ihrer Vermutung, was danach geschehen war, nachdem sie davongelaufen war. Hatte
Melanie ihr masochistisches Verlangen mit Feldman ausgelebt, vielleicht auch mit Allegro, mit allen Männern? Hatte es Feldman angemacht? War es oben in seinem Büro so richtig zur Sache gegangen, während sie sich unten auf dem Parkplatz die Seele aus dem Leibe kotzte? Ja, und ob. Sie konnte sich das alles ganz genau vorstellen. Als ob sie dageblieben wäre und dem ganzen widerlichen Ablauf zugesehen hätte. Ineinander verkrallt. Von Schweiß glänzende Gesiebter. Lautes, rauhes Atmen. Enthemmtes Stöhnen. »Willst du’s? Willst du’s?« lockt er sie, spöttisch. Seine Erektion ist jetzt groß, hart. Melanie fleht: »Ich will. Ich will.« Feldman lacht grob. Jetzt hat er sie da, wo er sie haben will. Jetzt hat er das Sagen. Wenn sie weiß, was gut für sie ist, tut sie von nun an alles, was er sagt. Sie weiß es. Sie will es. Er wirft sie grob auf seine Psychiatercouch. Sie liegt da, Beine gespreizt, willenlos wie eine Stoffpuppe. Atemlos. O ja, sie will ihn. Sie ist ihm verfallen. Sie gehört ihm. Wie seine Augen funkeln. Dieses lüsterne Lächeln auf seinen schmalen Lippen. Er beugt sich über sie. Wild reißt er ihr die Bluse vom Leib, den Rock, den BH… »Nein, warte, warte!« In Melanies Augen liegt blankes Entsetzen. Sarah kann es sehen, hören, tief in der Kehle schmecken. Faulig, scheußlich. Aber sie ist wie hypnotisiert. Blitzschnell rollt er sie herum, bindet ihr die Hände mit seiner Krawatte auf den Rücken, dreht sie wieder zurück. »Willst du es so, Baby?« flüstert er immer wieder, heiser, zwischen seinen Stößen. Und sie weint noch immer. Doch jetzt mit Hingabe. »Ja, ja, ja…« Warum nur tat sie sich das an? War es nicht schon schlimm genug, daß echte Erinnerungen an die Oberfläche kamen? War-
um malte sie es sich auch noch bis ins Detail aus? Wieso dachte sie sich diese grausame Szene aus? Wollte ihr Unbewußtes ihr sagen, daß Feldman als Romeo genausogut in Frage kam wie jeder andere auch? Wieso setzte sie ihn nicht auch auf ihre immer länger werdende Liste der Verdächtigen? Wieso eigentlich nicht? »Gibt es noch andere?« Allegros Stimme klang, als käme sie durch einen langen Tunnel. »Andere?« »Sarah, jetzt haben Sie schon den ersten Schritt getan.« Sinnlos, das andere Schreiben aus der Hölle zurückzuhalten. Sie nahm es aus ihrer Umhängetasche, reichte es ihm stumm. Allegro las es, blickte dann wieder zu ihr hoch. »Ich weiß, daß Ihnen das sehr weh tut.« Sie hatte Mühe, sein Gesicht klar zu sehen. Aber sie war sich seiner Gegenwart ganz genau bewußt. Seine große Gestalt, die so viel Platz auf dem Sofa einnahm, auf dem sie beide saßen. Sein nach Alkohol riechender Atem. Ein Hauch Pfefferminz. Um den Alkoholgeruch zu überdecken? »Offenbar war Melanie diesem Mann verfallen, über den sie geschrieben hat. Demjenigen, an den sie ihre Worte richtet und der ihr gegeben hat, was die… anderen ihr nicht geben konnten«, sagte sie in schwachem Flüsterton. »Es muß Romeo sein.« »Durchaus möglich«, sagte Allegro tonlos und steckte sich die Tagebuchauszüge in die Hosentasche. Sarah zuckte zusammen. Es war, als würde er ihr das wenige wegnehmen, was ihr noch von ihrer Schwester geblieben war. Ein weiterer Verrat. »Reden Sie mit mir, Sarah.« Allegro mußte es zweimal sagen. »Sie werden denken… ich bin verrückt.« Er lächelte. »Ich habe eine Schwäche für Verrückte. Legen Sie los.« »Ich habe gerade an Feldman gedacht. Was, wenn er es ist? Was, wenn er Romeo ist?« »Wie kommen Sie darauf?« Nur aufgrund von Allegros sachlichem Tonfall wagte sie es, weiterzureden. »Feldman und Melanie hatten möglicherweise
eine Affäre. Nicht, daß er Romeo sein muß, bloß weil er mit Melanie geschlafen hat.« »Aber es schließt ihn auch nicht gerade aus«, stellte Allegro klar. Sie sah weg. So einfach es auch gewesen war, sich ihren Expsychiater und Melanie als Liebespaar vorzustellen, so absurd erschien es ihr, Feldman als den psychopathischen Mörder anzusehen, der Frauen vergewaltigte und quälte, ihnen das Herz aus dem Leibe riß. Wagner rief Emma Margolis kurz nach eins in der Nacht an. Trotz der vorgerückten Stunde meldete sie sich nach dem ersten Klingeln. »Ich habe dich doch nicht geweckt, oder?« »Wer kann denn heutzutage noch schlafen?« »Hör mal, ich bin bei Sarah Rosen. Jemand hat versucht, in ihre Wohnung einzubrechen. John und ich halten es für besser, daß sie für eine Weile woanders wohnt. Sie hat gesagt, sie würde in ein Hotel gehen, aber ich…« »Bringt sie auf der Stelle her«, sagte Emma mit Nachdruck. »Gut«, sagte Wagner und nickte seinem Partner zu, der neben ihm stand. »Sie packt gerade ein paar Sachen zusammen. Wir sind in zwanzig Minuten mit ihr da. Bist du sicher, daß du das Risiko auf dich nehmen willst?« »Wenn ich es schon früher auf mich genommen hätte, vielleicht…« Emma ließ den Rest des Satzes unausgesprochen. »Ja, Mike, ich bin sicher.« Es war kurz vor zwei Uhr morgens. Allegro und Wagner saßen in der Caféteria im Erdgeschoß des Polizeipräsidiums. Nachdem er Sarah zu Emma gebracht hatte, war Wagner zum Präsidium zurückgefahren, wo sein Partner am Schreibtisch über der Romeo-Akte brütete. Er hatte ihn förmlich aus dem Gebäude geschleift, um zum Abschluß des langen Tages noch einen Kaffee zu trinken. In der Caféteria roch es wie in einem chinesischen Restaurant, denn tagsüber bot das überwiegend chinesische Personal hinter der Theke fernöstliche Gerichte an.
Wagner bemerkte, daß Allegro ihm dabei zuschaute, wie er ein großes Stück Apfelkuchen aß. Er lächelte verlegen. »Bin beim Abendessen nicht richtig satt geworden.« Allegro fiel ein, daß Wagner den Abend bei seinem Stiefvater in Ledi verbracht hatte. »Wie geht’s dem alten Trottel?« fragte Allegro, nachdem er sich noch mehr Zucker in seinen Kaffee geschüttet hatte. »Alter Trottel« war der Spitzname, den Wagner seinem Stiefvater gegeben hatte. »Arsch bleibt Arsch«, sagte Wagner und zündete sich eine Zigarette an. »Hat sich bei mir beschwert, weil das Getriebe von dem Corolla im Eimer ist, den ich letztes Jahr bei der Polizeiversteigerung für ihn gekauft habe. Hat nicht mal das Geburtstagsgeschenk aufgemacht, das ich ihm mitgebracht hatte. Stocksauer, weil es nichts zum Saufen war. Als hätte er sich nicht schon genug Vorrat angelegt. Er hatte schon ordentlich einen in der Krone, als ich ankam.« Allegro blickte finster drein. Er mußte an die Zeit denken, als er selbst noch stark getrunken hatte. Möglich, daß er deshalb lieber hier mit Wagner in der Caféteria saß und widerlichen Kaffee trank. Es war seine Art, der Flasche aus dem Weg zu gehen, die wie eine verführerische, aber gefährliche Geliebte in seiner Wohnung auf ihn wartete. »Wieso fährst du überhaupt noch hin, wenn er ein so widerlicher Kerl ist?« Wagner zuckte die Achseln. »Meine Mutter stand auf Geburtstage. Und auf Joe. Gott weiß, warum. Egal, ich glaube, ich mache es ihretwegen. Sie hätte sich gefreut, daß ich hingefahren bin.« Allegro brummte etwas. In Wahrheit hatte keiner von beiden große Lust, die braune Brühe zu trinken, geschweige denn, über Wagners Stiefvater zu reden. »Was hältst du von dem Einbruch?« fragte Wagner. Allegro machte ein finsteres Gesicht. »Man könnte es als erfreuliche Entwicklung betrachten, daß er risikofreudiger wird. Je mehr wir ihn aus seinem Bau locken, desto besser sind unsere Chancen, ihn zu schnappen.«
»Nicht wir locken ihn, sondern Sarah. Du glaubst doch genausowenig wie ich an einen Zufall, daß er diesen Schritt ausgerechnet nach ihrem Fernsehauftritt macht.« Allegro beäugte seinen Partner über den Rand seiner Tasse hinweg. »Hat Sarah irgendwas gesagt, als du sie zu Emma gebracht hast?« »Nein, sie ist bloß sauer, daß wir ihn nicht erwischt haben.« »Morgen knöpfen wir uns noch mal den Widerling Perry vor«, sagte Allegro. »Auch Dennison und Feldman.« »Dennison auf alle Fälle. Du weißt doch noch, was für einen Schwachsinn er über einen geplanten Hochzeitsempfang erzählt hat? Ich habe mich mit dem Geschäftsführer vom Costa’s unterhalten, bevor ich heute abend nach Ledi gefahren bin. Dennison hat die Sache mit ihm besprochen, während sich Melanie gerade die Nase puderte. Als der Geschäftsführer dann an den Tisch kam, um ihr zu gratulieren, hatte sie keine Ahnung, worum es ging.« Allegro lächelte schwach. »Ich hätte gewettet, daß sie nicht zu ihm zurückgeht.« »Aber Feldman? Dieser komische Kauz soll Romeo sein? Das glaube ich nicht.« »Er war ihr Mentor, oder wie man so was nennt. Für Sarah zählt er zu den Hauptverdächtigen.« Wagner verdrehte die Augen. »Feldman und Melanie? Ein Frauenschwarm ist er aber nicht gerade. Ich finde ihn ziemlich häßlich.« »Du bist aber auch ein Mann.« Wagner grinste. »Allerdings.« »Er hat Melanie bei manchen Fällen beraten. Vielleicht hat sie mit ihm auch über Perry geredet. Oder über ein paar von ihren anderen Spinnern, die vielleicht in Frage kommen.« Allegro rieb sich das stoppelige Gesicht. »Sieht so aus, als hätten wir morgen viel zu tun.« Emma Margolis klappte das blumengemusterte Sitzpolster herunter. »Ist als Schlafcouch ganz passabel. Habe ich damals für Douglas’ Familie gekauft«, sagte sie zu Sarah. »Douglas?«
»Mein Exmann. Seine Eltern haben ein Fest gefeiert, als wir uns trennten.« Sarah unterdrückte ein Gähnen. Emma lächelte entschuldigend. »Jedenfalls, wenn seine gräßlichen Eltern auf der Couch geschlafen haben, ohne sich zu beschweren, muß sie schon verdammt bequem sein.« Sarah rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Da bin ich mir sicher.« Emma runzelte die Stirn. »Ich plappere so daher. Das ist eigentlich nicht meine Art.« »Du bist nervös«, sagte Sarah leise. »Ich bin bestimmt nicht annähernd so nervös, wie du es sein mußt.« Sie fummelte am Gürtel ihres blaßblauen Flanellbademantels herum. »Hast du was zum Schlafen mitgebracht? Ich kann dir ein Nachthemd leihen. Oder einen Pyjama. Wie du willst.« Sie schob die Hände in die tiefen Taschen ihres Bademantels. »Ich bin die reinste Nervensäge, nicht wahr?« »Nein.« Sarah fand Emmas Fürsorge wohltuend. Es war lange her, daß… »Hör mal, du kannst morgen ausschlafen. Ich bin fast den ganzen Tag hier.« »Hast du denn morgen nachmittag keine Aufnahmen?« »Ich werde gegen eins ins Studio fahren und müßte eigentlich, sofern keine Katastrophen passieren, gegen vier wieder zu Hause sein. Oh, nur damit du Bescheid weißt, ich habe eine Geheimnummer, du brauchst also keine Angst zu haben, daß irgendwelche Reporter anrufen oder – sonst jemand.« »Er hat nie angerufen. Ich glaube auch nicht, daß er das tun wird.« »Wieso nicht?« fragte Emma. »Weil er Angst hat, daß ich seine Stimme erkenne.« Emma warf ihr einen nervösen Blick zu. »Das klingt ja, als wärst du fest davon überzeugt, daß du ihn kennst. Irgendeine Idee?« »Brauchst du das für den Romeo-Beitrag in deiner Sendung morgen?« fragte Sarah mißtrauisch. »Verdammt, Sarah. Kapierst du denn nicht?« entgegnete Emma. »Dieser Irre hat zwei Freundinnen von mir getötet. Ich quä-
le mich von morgens bis abends mit Selbstvorwürfen, daß ich vielleicht irgendwie für ihren Tod verantwortlich bin, daß ich nicht alles getan habe, was ich hätte tun können. Ich fühle mich hundeelend, und ich habe Angst. Ich will ihn ebenso aufhalten wie du. Ich will ihn aufhalten, bevor du auch auf seiner Opferliste stehst.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und wollte zum Zimmer hinaus. »Warte. Bitte.« Emma blieb stehen. »Brauchst du noch was?« Ihre Stimme war barsch. »Nein. Ja. Es tut mir leid, Emma. Ich wollte nicht… Ich weiß nicht mehr, was ich sagen oder denken soll.« Es war so schwer, ihren Argwohn aufzugeben. Jemand anderes an sich heranzulassen. Das Risiko einzugehen, jemand anderem zu vertrauen. Sarah setzte sich auf die Kante des Bettes. Ihre Finger strichen die gelben Blumen auf der Decke glatt. »Es wäre so leicht, nachzugeben. Und vielleicht werde ich es am Ende sowieso tun. Es passiert so viel. Manchmal bin ich mir sicher, daß er längst gewonnen hat, daß ich sein nächstes Opfer sein werde, daß nichts von allem auch nur das geringste bewirken wird.« »Sarah, hör auf!« »John Allegro denkt, ich wäre in deiner Sendung aufgetreten, weil ich wie Melanie sein möchte. Aber das stimmt nicht. Bevor Melanie ermordet wurde, habe ich auf meine eigene Art und Weise gelebt, ganz zufrieden damit, nichts über das Leben meiner Schwester zu wissen. Und über mein Leben habe ich auch nicht großartig nachgedacht. Aber jetzt frißt mich das Nichtwissen bei lebendigem Leibe auf. Und Romeo bekommt dann das, was von mir übrigbleibt.« »Sag so was nicht, Sarah. Du stehst doch unter Polizeischutz, bis sie diesen Wahnsinnigen geschnappt haben.« »Wenn sie ihn schnappen. Ich kann hier nicht einfach bloß rumsitzen und warten, Emma. Seit zweiunddreißig Jahren mache ich nichts anderes, als zu warten, mich zu verstecken und mein Leben verstreichen zu lassen, statt irgendwas zu tun. Du hast gesagt, daß du mit Melanie befreundet warst. Sie hat mit dir gesprochen, stimmt’s? Nicht bloß in der Sendung.« Emma nickte.
»Darüber, warum manche Frauen so fasziniert sind von diesen ganzen ausgefallenen sexuellen Praktiken?« »Na ja, wir sind alle zusammen irgendwann mal auf das Thema Sadomasochismus gekommen.« »Alle?« Emma starrte auf den Boden. »Das war nach der letzten Aufzeichnung. Im Morddezernat. Anschließend haben wir noch zusammengesessen. Melanie und ich, Allegro und Wagner. Wir haben darüber gesprochen, ob es nur mit niedrigem Selbstwertgefühl zu tun hat, daß einige Frauen SM so verlockend finden. Melanie hat gesagt, es hätte auch mit Schuld zu tun. Und damit, daß manche Frauen ein unwiderstehliches Verlangen danach haben, bestraft zu werden, weil sie glauben, sie hätten irgendwelche unanständigen Dinge getan oder auch nur Gedanken gehabt, die sie selbst verabscheuungswürdig finden.« »Sprich weiter«, bat Sarah. Emma seufzte. »Ich glaube, Allegro hat so etwas in der Art gesagt, daß er meinte, SM sei für manche Frauen eine Möglichkeit, Sex ohne Schuldgefühle zu haben. Nach dem Motto, wenn du gezwungen wirst, dich zu unterwerfen, kann man dir nicht vorwerfen, daß du Spaß dran hast. Er hat mich auf die Palme gebracht. Ich habe gesagt, er würde dummes Zeug daherreden. Wagner war meiner Meinung. Ich war sicher, daß Melanie es genauso sehen würde wie ich. Aber das tat sie nicht. Sie schlug sich auf die Seite von Allegro und sagte, daß sehr viele Mädchen so erzogen werden, daß sie Sex als etwas Schlechtes empfinden, daß sie sich nur dann gehen lassen können, wenn sie glauben, jemand anders zwingt sie dazu. Das kann ich ja noch nachvollziehen. Was mich jedoch schockiert hat, war…« »Was?« »Melanie meinte, daß manche Frauen einfach nur so auf brutalen Sex stehen. Daß sie unanständig, schmutzig, schlecht sein wollen.« Sarah spürte ihr Herz in der Brust pochen. Sie beobachtete Emmas Gesicht genau. »Das hat dich aus der Fassung gebracht.« Emma fragte mit hohler Stimme: »Was willst du von mir, Sarah?«
»Ich möchte es verstehen. Kapierst du denn nicht? Ich muß es einfach verstehen, Emma.« Sie stockte. »Abgesehen von seinen abartigen Briefen und den kleinen Geschenken, hat Romeo mir auch Auszüge aus Melanies Tagebuch geschickt.« »O Gott.« »Wußtest du von ihrem Tagebuch?« »Ich wußte, daß sie eins führte. Sie hat mal zu mir gesagt, daß es ihr einziges Ventil sei, um all ihre wahren Gefühle und Gedanken rauszulassen. Und ihre Phantasien. Sie sagte, ich sollte doch auch Tagebuch führen.« Emma lächelte schwach. »Sie konnte sehr energisch auftreten.« »Hat sie dir jemals irgendwelche Phantasien erzählt?« Emma antwortete nicht. Sarah deutete ihr Schweigen als ein Ja. »Und du hattest ähnliche Phantasien? Hast du Melanie davon erzählt?« »Das war nicht nötig. Sie wußte es längst.« »Ich verstehe nicht.« »Vor etwa einem Jahr habe ich einen Beitrag über außergewöhnliche Formen von Sex in San Francisco und Umgebung gemacht. Ich habe Dominas interviewt, Sklaven, Fetischisten und einige Beamte von der Sitte. Dabei habe ich Wagner kennengelernt und ihn überredet, mich und meinen Kameramann in einen dieser Sexclubs mitzunehmen.« Emma stockte. »Ich habe deine Schwester da gesehen, Sarah.« »Du hast Melanie gesehen?« »Es war nicht so, wie du denkst. Sie war nicht da, um jemanden abzuschleppen oder so. Mike hat mir gesagt, daß die Besitzerin des Clubs eine Patientin von ihr war und sie gebeten hatte, einmal zu kommen.« »Hast du mit Melanie je darüber gesprochen?« »Später. Als wir uns schon angefreundet hatten. Sie hat mir gesagt, daß sie mich in dem Club gesehen hat, und da habe ich ihr gestanden, daß mich die Vorführung angemacht hat.« »Hat es sie auch angemacht?« »Das hat sie nicht gesagt. Wir sind dann irgendwie auf unsere Expartner zu sprechen gekommen.« »Sie hat mit dir über Bill Dennison gesprochen?«
»Ein wenig. Ich habe ihr erzählt, daß ich eine Zeitlang bei ihm in Therapie war.« »Bei Bill?« Emma verzog das Gesicht. »Nach zwei Monaten habe ich abgebrochen. Mir gefiel die Art nicht, wie er mich ständig nach meinen sexuellen Phantasien gefragt hat. Und als ich ihm erzählt habe, daß ich in dem Sexclub gewesen war und mich das Ganze angemacht hatte, fing er sogar an, mich nach Details zu befragen. Mir war unwohl in seiner Gegenwart. Was ich ihm auch direkt ins Gesicht gesagt habe. Er hat das Projektion genannt. Ich habe es Schwachsinn genannt und bin gegangen.« Emmas Blick wirkte geistesabwesend. »Vielleicht hatte Dennison ja sogar recht. Es war Projektion. Da liefen irgendwelche Sachen. Sachen, die ich ihm unmöglich erzählen konnte.« »Was für Sachen?« Emmas Stirn legte sich in Falten. »Es war nicht mein erster Besuch in einem…« Sie vermied es, Sarah anzublicken. »Ich war vorher schon zwei-, dreimal in einem anderen Club gewesen. Dadurch bin ich überhaupt erst auf die Idee für dieses Projekt gekommen. Ich hatte in meinem Fitneßstudio eine Frau kennengelernt, eine Rechtsanwältin, ein paar Monate bevor…« Sie verstummte. Die tiefen Falten in den Mundwinkeln und der schmerzliche Blick in ihren dunklen Augen zeugten davon, wie schwer ihr dieses persönliche Geständnis fiel. Sarah fixierte Emma mit starrem Blick. Plötzlich begriff sie. Es war, als ob ein Puzzleteil an der passenden Stelle einrastete. »Sie war es, nicht wahr? Die Freundin, von der du mir nach der Beerdigung bei Feldman erzählt hast? Die erste Frau, die von Romeo ermordet wurde. Diane soundso. Colman? Gorman?« »Corbett«, sagte Emma dumpf. »Ja. Beim ersten Mal hat mich Diane dazu überredet. Was nicht besonders schwer war. Douglas und ich hatten uns gerade getrennt. Ich war ziemlich deprimiert. Ich war neugierig. So wie Diane es beschrieb, klang es nach einem harmlosen Männerstrip.« Sie spielte nervös mit dem Gürtel ihres Bademantels. »Stimmte das?« »Nein. Es war mehr. Damals wäre ich fast wieder gegangen, denn als ich sah, was da ablief, habe ich es mit der Angst be-
kommen. Aber Diane hat auf mich eingeredet, daß alles, was da vor sich ging, im gegenseitigen Einvernehmen geschah. Daß wir doch alle erwachsen seien und jeder Zwang absolut tabu sei. Daß nichts passieren würde, was ich nicht wollte.« »Stimmte das?« »Ja. Es stimmte.« »Wo war der Club?« »Draußen vor der Stadt. In Richmond. Eine richtige Absteige. Dianes Exfreund hatte sie mal dorthin mitgenommen. An dem Abend waren wir beide bloß Zuschauerinnen. Auf der Fahrt nach Hause haben wir uns kaputtgelacht. Ich habe gesagt, daß ich am Wochenende drauf wieder mit ihr hinfahren würde.« »Und beim zweiten Mal, wart ihr da auch wieder bloß Zuschauer?« Emma wandte den Blick ab. »Sagen wir einfach, daß an diesem Abend keine von uns beiden auf dem Nachhauseweg gelacht hat.«
15 … die Morde entsprechen alle seinen dunklen, sadistischen Phantasien… Dr. Melanie Rosen in Cutting Edge Romeo ist unruhig. Er hat ein unablässiges Summen in den Ohren, während er durch die heruntergekommenen Straßen von SoMa streift. Das Summen ist gut. Verhindert, daß Gedanken eindringen. Hält ihn unter Kontrolle. Wenn das Summen aufhört, wird es schwierig für ihn. Werd jetzt nur nicht schlampig. Du bist fast da. Hast es fast geschafft. Verdammt. Gedanken stellen sich ein. Gott, er will sie. Die Vorstellung allein reicht nicht. Er kriegt sie nicht aus dem Kopf. Er kann sie riechen, schmecken. Fast wäre er durchgedreht, als er sie am Abend vorher im Fernsehen gesehen hat. Realisiert hat, wie sehr sie ihn braucht. Das heimliche Verlangen in ihrer Stimme gehört hat. Du gehst schwankend auf einem Drahtseil, aber ich bin da, um dich aufzufangen, wenn du fällst, Baby. Hab keine Angst. Es wird sehr gut werden, Sarah. Du weißt nicht, wie gut. Er stellt sie sich in ihrer Wohnung vor, den Tisch zum Abendessen gedeckt. Er bringt die Kerzen und all die anderen Accessoires mit. Aber die kommen erst später. Melanie hatte es zu eilig. Das war ihr Problem. Sie war zu begierig. Zu vertrauensvoll. Zu verzweifelt. Wie die anderen. Sarah wird sich wehren. Das allein erregt ihn wirklich. Letzten Endes wird er ihr die Augen öffnen. Den Geist. Das Herz. Für die Wahrheit. Sarah, Sarah. O Gott, es wird so wunderbar. Du kannst davonlaufen, aber du kannst nicht fliehen. Nicht vor dem, was in dir ist. In mir. Wir sind eins, Baby. Wir sind vereint in unserem Schmerz. Gemeinsam können wir allen Schmerz tilgen. Er hat ein entsetzliches, nagendes Gefühl in der Magengrube. Er braucht etwas. Aber was?
Verdammt, er kann sich nichts vormachen! Er sehnt sich danach, daß Sarah ihm ein Loch ins Hirn brennt. Aber noch kann er sie nicht haben. Die vollkommene Verführung verderben. Es läuft alles so gut. Aber er ist unheimlich aufgedreht. Braucht eine vorübergehende Entspannung. Er wird noch verrückt, wenn er nicht irgend etwas macht. Er hält an einem Drugstore, der die ganze Nacht geöffnet hat, kauft ein, dann fährt er zu einer Adresse, wo er schon so häufig war, daß er der Brünetten in schwarzem Leder an der Tür seinen Mitgliedsausweis nicht erst zu zeigen braucht. Ein rascher Blick in die Runde. Fast fünf Uhr morgens, und der Laden steht noch immer unter Hochspannung. Im Hintergrund der Bühne glühen Funken aus computergesteuerten Flammen. Herzrot. Eine nackte Blondine auf einem Stuhl mitten auf der Bühne. Ihre Hände sind mit Handschellen hinter der Rückenlehne gefesselt. Ihr Kopf wird von einem Würgehalsband nach hinten gebogen, an dem eine Kette befestigt ist, die nach unten zu den Handschellen führt. Ein Koloß von Mann, der nur einen schwarzen Cowboyhut und einen knappen schwarzen Slip aus Samt trägt, grinst lüstern auf sie herab, Peitsche in der Hand. »Weiter auseinander!« Die Peitsche knallt dicht neben dem Stuhl. Sie zittert, als sie die Beine spreizt, aber sie hat keine Angst. Kann es nicht mal überzeugend spielen. Ein mieser Bluff. Kein Zweifel, daß sie jede Sekunde genießt. Von seinem Platz aus kann Romeo ihr genau zwischen die Beine sehen. Sie ist rasiert. Wie ein Baby. Ihre Lippen da unten sind mit kirschrotem Lippenstift bemalt. Er wendet sich angewidert ab. Eine verbraucht aussehende Rauschgiftsüchtige an der Bar in durchsichtiger weißer Spitzenbluse und rosa Minirock mit Tätowierungen an den Oberschenkeln mustert ihn kurz. Er gönnt ihr ein flüchtiges Lächeln, aber er weiß, daß sie es nicht ist. Er sucht sich immer die Richtige aus. Wie Melanie im Fernsehen gesagt hat, er fängt ihre Schwingungen auf.
Er sucht das düstere Terrain ab. Nach zwei Minuten entdeckt er sie. An einem wackeligen Tisch neben dem Notausgang. Sie sitzt neben einem Widerling mit Lederjacke, aber ihre Augen fixieren ihn. Sie legt den Kopf etwas schräg, lächelt. Ja, sie wird als Ablenkung genügen. Ihm helfen, die Nacht zu überstehen. Und morgen? Was dann? Er verdrängt die Frage. Um morgen kümmert er sich morgen. Ein Nicken von ihm. Ein Zwinkern von ihr. Sie beugt sich vor, sagt etwas zu ihrem Begleiter, steht dann auf und schlendert in seine Richtung. Ein hübscher Hüftschwung. Er verläßt den Club als erster. Sie treffen sich draußen. Eine rasche Umarmung. »Zu mir, Süßer?« fragt sie. Er schüttelt den Kopf. Sie gehen die Straße hinunter zu einem billigen Hotel. Auf den Gängen stinkt es nach Urin und Schweiß. Im Zimmer selbst riecht es nicht viel besser. Und die Einrichtung ist ein Alptraum. Sobald die Tür geschlossen ist, wendet sie sich ihm zu. »Was ist in der Tüte? Ein Geschenk für mich?« Er holt seine Neuanschaffung vom Drugstore heraus – eine Klistierspritze. Sie weicht einen Schritt zurück. »So was habe ich noch nie gemacht.« »Zieh deinen Slip aus.« »Da steh ich nicht drauf, Baby. Nicht auf die harte Tour.« Er lächelt zärtlich. »Wenn du schön brav bist, wird das auch nicht nötig sein.«
16 Letzte Nacht habe ich mir vorgestellt, daß du in dem Sessel bei mir im Schlafzimmer sitzt und zusiehst, wie ich mit einem gesichtslosen Mann schlafe. Im Grunde sind sie alle gesichtslos… M. R. Tagebuch Am nächsten Tag schlich sich Sarah morgens um Viertel nach acht aus Emmas Wohnung. Der Nebel war dicht und bedrükkend. Man konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Wartete er hier draußen auf sie? Spionierte ihr nach? Du bist eine kleine heimliche Schnüfflerin, Sarah. Steckst die Nase dauernd in Sachen, die dich nichts angehen… »Miss Rosen?« Vor Schreck schrie sie leise auf, doch dann sah sie Officer Corrigan, der die Nacht über Wache gehabt hatte, aus dem grauen Dunst auf sie zutreten. »Irgendwas nicht in Ordnung?« fragte er und kam näher. »Nein. Nein, ich wollte bloß… Hören Sie, Officer Corrigan, könnten Sie mich wohl mit Ihrem Wagen zur North Point Street bringen?« »Nennen Sie mich ruhig Corky. Klar. Kein Problem. Dann muß ich Ihnen wenigstens nicht durch diese Waschküche folgen.« Zehn Minuten später hielt der Beamte direkt vor dem Haupteingang des Bay Area Psychoanalytic Institute. Die Dame am Empfang in der Eingangshalle sah in das große Terminbuch, fuhr mit dem Finger eine Spalte hinab und teilte Sarah mit, Dr. Feldman habe gerade einen Patienten bei sich, wäre aber ab neun Uhr für eine Stunde frei. Sarah sah auf ihre Uhr. Er würde in zwanzig Minuten rauskommen. Sie wollte gerade die geschwungene Treppe in der Mitte der Halle zum Büro des Psychiaters im ersten Stock hochgehen, als sie hörte, wie jemand ihren Namen rief. Bill Dennison, im schicken dunkelblauen Anzug, Aktenkoffer unter dem Arm, schritt auf sie zu. »Ich freue mich, dich hier zu
sehen. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, Sarah. Ich hatte gehofft, daß du wieder eine Therapie machst.« »Was machst du denn hier?« fragte sie argwöhnisch. »Ich hatte gerade eine Sitzung. Gehen wir irgendwo hin, wo wir ungestört reden können?« »Ich kann nicht. Ich muß…« Er schaute auf die Uhr. »Wann ist dein Termin?« »Um neun. Aber ich mache keine…« Sie wollte nicht, daß er dachte, sie wäre wieder in Therapie. Aber er fiel ihr ins Wort. »Dann haben wir noch knapp fünfzehn Minuten.« Er faßte sie am Arm. »Komm schon. Bitte, Sarah.« Er lächelte einnehmend. Sie fühlte sich in eine Zeit zurückversetzt, als sie bei einem solchen Lächeln von ihm Herzklopfen vor Vorfreude bekommen hatte. Er führte sie zu zwei Sesseln in einer abgelegenen Ecke der Halle. »Ich habe dich mehrmals angerufen seit – seit der Beerdigung, aber es war immer nur dein Anrufbeantworter dran.« »Komisch«, sagte Sarah. »Gestern abend habe ich dich angerufen, und es war auch nur dein Anrufbeantworter dran.« Dennisons Miene verfinsterte sich. »Gestern abend? Da war ich zu Hause. Wann hast du angerufen?« »Kurz nach acht.« »Es war keine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter.« »Ich habe keine hinterlassen«, sagte Sarah. »Dann mußte Monk wohl gerade Gassi. Tut mir wirklich leid, daß ich deinen Anruf verpaßt habe. Aber ich freue mich, daß du angerufen hast. Ich habe schon gedacht, es wäre mit uns… aus.« Sarah blickte ihn ungläubig an. Was zum Teufel redete er denn da? »Ich meine als Freunde«, stellte Dennison rasch klar. »Auch wenn unsere Beziehung zu Ende ist, möchte ich nicht, daß wir keine Freunde mehr sind, Sarah.« Er studierte sie aufmerksam. »Wir sollten uns in dieser tragischen Geschichte gegenseitig beistehen.« »Ich komme schon zurecht.« »Wirklich? Bist du deshalb neulich abend in der Sendung von Emma Margolis aufgetreten?« Er schüttelte langsam den Kopf,
mehrmals. »Das war schon immer dein Problem, Sarah. Du hältst entweder alles zurück oder läßt es in einer gewaltigen Explosion raus. Stellst dich nie dem, was zwischen diesen beiden Extremen liegt.« »Und was genau liegt dazwischen, Bill?« »Was immer es ist, allein wirst du das nie herausfinden. Du mußt dich jemand anderem anvertrauen, Sarah. Eine Therapie ist bestimmt ein guter Weg, aber wenn du dich die übrige Zeit isolierst…« Seine Hand schnellte vor und legte sich auf ihre. »Laß mich dir helfen, Sarah. Was hältst du davon, wenn wir mal abends zusammen essen gehen? Das wäre doch ein Anfang. Heute abend, wenn du möchtest. Wie wär’s, wenn ich dich abhole?« Sarah entriß ihm ihre Hand und sprang auf. »Es ist kurz vor neun. Ich muß gehen.« Er stand auch auf. »Na schön, Sarah. Ich will dich nicht drängen. Aber du sollst wissen, daß ich für dich da bin.« Er lächelte ihr wieder zu. Das Lächeln eines Verführers? Als Sarah kurz darauf Dr. Stanley Feldmans kleines Wartezimmer im ersten Stock des Instituts betrat, kam es ihr so vor, als machte sie einen Zeitsprung. Ihr Blick fiel auf die Tür zu Feldmans Sprechzimmer. Fest geschlossen. Die Therapiesitzung dauerte noch an. War es eine Frau? Jung? Hübsch? Mit großen Problemen? Tröstete Feldman sie gerade? Hielt er sie in den Armen? Streichelte er sie? Schliefen sie vielleicht gerade miteinander auf seiner Couch? War sie jetzt völlig verrückt geworden? Hatte die unerwartete Begegnung mit ihrem Exschwager und -liebhaber sie völlig aus dem Lot gebracht? Uferte ihre Paranoia nun aus? Oder handelte es sich hier bloß um ein Paradebeispiel für Projektion erster Klasse? Daß sie sich nämlich insgeheim wünschte, sie läge jetzt in Feldmans Armen. Wäre das nicht Feldmans Analyse? Daß sie ihre eigenen Wünsche auf diese Patientin übertrug? Genau wie sie es bei Melanie getan hatte? Daß sie ihre unguten Gefühle ihm gegenüber niemals verarbeiten würde, weil sie die Therapie so plötzlich abgebrochen hatte?
Feldman stand an der offenen Tür seines Sprechzimmers und betrachtete sie schweigend. Sie blickte ihn nervös an. »Schön, dich zu sehen, Sarah. Komm rein.« Sie zögerte. »Der Grund, aus dem ich hier bin, ist nicht der, den du vielleicht vermutest.« »Okay«, sagte er freundlich. »Wir können in meinem Büro darüber reden, warum du hier bist.« »Ich möchte Antworten.« »Dann mußt du zuerst Fragen stellen.« Er trat zur Seite und wartete geduldig. Sich innerlich wappnend ging sie mit großen, entschlossenen Schritten durch den Raum und trat über die Türschwelle. Wenn sie auch nur einen Hauch weniger selbstbewußt aufgetreten wäre, hätte sie es nicht geschafft. Sie hatte keinen Fuß mehr in dieses Büro gesetzt, seit sie ihn und Melanie damals, vor fast vierzehn Jahren, heimlich beobachtet hatte, gesehen hatte, wie sie einander leidenschaftlich umarmten. Gehört hatte, wie er »Melanie« flüsterte. Sobald Feldman die Tür geschlossen hatte, fuhr sie herum. »Ich möchte alles über meine Schwester wissen.« »Setz dich, Sarah.« Er deutete auf einen der beiden Polstersessel vor seinem Schreibtisch und nahm in dem ledernen schwarzen Drehsessel dahinter Platz. Zumindest war er so klug, ihr nicht die berüchtigte Couch anzubieten, die links von ihr zwischen zwei Fenstern mit beigefarbenen Vorhängen stand. Sie blieb stehen. Sah sich um. Der Raum war fast unverändert. Immer noch dieselben klassischen englischen Salonmöbel, derselbe mit Schnitzereien verzierte Schreibtisch mit dem »Bittenichtrauchen«-Schild. Noch immer keine Bilder an den blassen Wänden. Nichts, was seine Patienten ablenken könnte. Feldman faltete die Hände auf dem Schreibtisch, mit scheinbar gütiger Miene. »Was möchtest du über Melanie wissen?« »Was sie dir erzählt hat«, entgegnete sie trotzig. Feldman beugte sich in seinem Sessel leicht nach vorn. »Was sie mir erzählt hat? Das ist ziemlich vage, Sarah. Ich nehme doch an, du hast spezielle Fragen.«
»Ja, stimmt. Ich habe spezielle Fragen.« Er nickte, wartete erneut, daß sie weiterredete. Seine Gelassenheit machte Sarah allmählich wütend. »Gott, bist du abgebrüht, Feldman. Es merkt bestimmt keiner, nicht?« »Was?« »Wie kaputt du im Grunde bist«, sagte sie aggressiv, der schmale Grat zwischen Realität und Phantasie geriet ins Wanken. War Feldman Melanies Liebhaber gewesen? War er Melanies Mörder? War das derart abwegig? Feldman war gerissen, brillant, charismatisch. Weit mehr als Bill Dennison. Gab er nicht den perfekten Psychopathen ab? »Du bist schon lange sehr wütend auf mich, Sarah.« Es schien ihn nicht zu beunruhigen. Lediglich eine analytische Feststellung. »O nein, auf deine Psychospielchen laß ich mich nicht mehr ein, Feldman. Nicht auf dieses Spiel und auf kein anderes. Mag sein, daß ich auch kaputt bin, aber nicht so wie Melanie. Nicht wie du.« »Du hast gesagt, du wärst hier, weil du Antworten möchtest, aber du scheinst schon alle Antworten zu haben«, sagte er, ohne daß sich seine Stimmlage auch nur im geringsten veränderte. »Nicht alle. Aber einige, Feldman. Mehr, als du vermutest.« »Daran zweifle ich nicht.« »Ist schon komisch, daß ich immer gedacht habe, du könntest meine Gedanken lesen. Würdest alles wissen, was ich denke und fühle.« »Du hast mir sehr viel Macht gegeben.« »Das ist vorbei«, sagte sie mit Nachdruck. »Erzähl mir, was dich quält, Sarah.« »Das habe ich schon. Deshalb bin ich nicht gekommen.« »Nein? Nicht mal zum Teil?« »Hör auf.« »Ich habe dich Mittwoch abend im Fernsehen gesehen. Es ist offensichtlich, unter welchem Druck du stehst. Und nicht nur wegen des Mordes an Melanie. Ich vermute, es kommen langsam Erinnerungen hoch. So ist es doch, nicht? Das Trauma, das der Mord an Melanie bei dir ausgelöst hat, hat ein paar Türen aufgebrochen, die du lange Zeit fest verriegelt hattest. Die Erin-
nerungen machen dir angst. Du glaubst, du wirst verrückt. Ich denke, genau das Gegenteil ist der Fall, Sarah. So tragisch die Umstände auch sind, sie bringen dich endlich dazu, daß du dich deiner Vergangenheit stellst. Ich weiß, du glaubst noch nicht daran, aber du bist bereits auf dem Wege der Genesung.« »Auf dem Wege der Genesung?« Sie lachte laut auf. »Ich kann von Glück sagen, wenn ich den Tag überlebe.« »Sarah, wenn du Selbstmordgedanken hast…« »Ich rede nicht von Selbstmord. Ich rede von Mord. Romeo will mich.« Sie starrte den Psychoanalytiker über den Schreibtisch hinweg an. Nicht ein Muskel zuckte in seinem Gesicht. Sein Gesichtsausdruck blieb unverändert. »Das scheint dich ja gar nicht zu überraschen, Feldman? Vielleicht, weil du bereits alles über Romeo und seine Sehnsüchte weißt? Oder glaubst du, ich habe nur Wahnvorstellungen? Oder Projektionen? Vielleicht denkst du, ich will, daß Romeo mich aussucht. Todeswunsch? Eine besondere Variante von Selbstmord?« »Wichtiger ist, was du denkst.« »Was hat Melanie gedacht? Erzähl mir von Melanie und ihrem Todeswunsch. Erzähl mir, warum sie so fertig war!« »Wieso bist du dir so sicher, daß sie das war?« »Denkst du, sie war es nicht? Denkst du, es ist normal, wenn jemand sich mißhandeln, erniedrigen, vergewaltigen lassen will? Denkst du, ihr Verlangen nach Schmerz war gesund?« »Wo hast du das denn her?« »Woher? Ja. Stell dich nur dumm, Feldman. Sehr clever.« »Ob du es glaubst oder nicht, ich bin auf deiner Seite. Ich will, daß du gewinnst. Das habe ich immer gewollt. Früher hast du mir das geglaubt.« »Früher habe ich auch an den Weihnachtsmann geglaubt«, erwiderte sie bissig. »Sarah, mir ist wirklich nicht klar…« »Melanie hat ein Tagebuch geführt. Romeo hat mir Auszüge daraus geschickt. Willst du wissen, was meine Schwester geschrieben hat? Oder weißt du es schon?« Er sagte kein Wort.
»Sie sehnte sich nach Schmerzen, Feldman. Es hat sie angemacht, geschlagen zu werden. Sie fand es unwiderstehlich. Berauschend. Sie hat irgendwelche miesen Typen in Bars aufgerissen und es in schäbigen Hotelzimmern mit ihnen getrieben. Sie hat sie angefleht, ihr weh zu tun.« Sarah schnappte nach Luft. »Dr. Melanie Rosen. Wer hätte das gedacht, Feldman? Wer hätte das gedacht? Sag es mir.« Oh, wie er sie anblickte. Qual, Mitleid, Kummer. Und noch etwas anderes. Wissen. Es war das Wissen, das Sarah mehr als alles andere mit Grauen erfüllte. Sie war gekommen, weil sie Antworten wollte, hatte sie eingefordert. Jetzt war ihr klar, daß er die Antworten hatte, und sie wollte nur so schnell wie möglich weg, ohne sie zu hören. Sie sprang auf und lief zur Tür. Feldman folgte ihr. »Nein. Rühr mich nicht an«, sagte sie warnend. »Draußen am Empfang wartet ein Polizist. Ich brauche nur zu rufen, und er kommt hergerannt. Ich stehe unter ständigem Polizeischutz, Feldman.« »Es beruhigt mich sehr, das zu hören«, sagte er, nachdem er einen Schritt von ihr entfernt stehengeblieben war. »Wirklich?« Sie konnte den würzigen Pfeifentabak an seiner Kleidung riechen – wie verfaultes Obst. Der Geruch ekelte sie an. »Ich bin nicht dein Feind, Sarah. Ich wünschte, du könntest mir das glauben.« Sarah hörte gar nicht zu. Sie war nicht mehr erreichbar. »Bild dir bloß nicht ein, daß du wegen deiner Stellung nicht auf ihrer Verdächtigenliste stehst.« »Ich habe der Polizei unmißverständlich erklärt, daß ich sie mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen werde.« »Heißt das, daß du ihnen alles erzählen wirst, was du weißt?« »Sarah, was immer ich auch wissen mag, du weißt sehr viel mehr.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Das stimmt nicht.« »Es ist ungemein wichtig, daß du darüber sprichst, an was du dich erinnerst, daß du dir erlaubst, alle Fäden miteinander zu verknüpfen. Stell dich der Wahrheit, Sarah. Über Melanie. Über
dich selbst. Sonst machst du nämlich bei der Verschleierung mit, weil du in diesem Fall wichtiges Wissen vor dir selbst verbirgst, Wissen, das ausschlaggebend für deine Heilung ist. Im Grunde bist du dein eigener Feind, Sarah. Möglicherweise gefährlicher für dich selbst als dieser pathologische Serienmörder. Die Polizei kann dich vor ihm schützen. Aber sie können dich nicht vor dir selbst schützen.« »Dann glaubst du also nicht, daß Romeo schlauer ist als die Polizei, Feldman?« »Ich hoffe inständig, daß er das nicht ist.« »Er war aber schlauer als Melanie. Er hat sie hinters Licht geführt. Genau wie die anderen Frauen. Sie haben gedacht, sie wären so schlau, hätten alles im Griff. Aber tief in ihrem Innern waren sie schwach. Das hat er gewußt. Und dieses Wissen hat er eingesetzt, um sie zu verführen. Die Frauen waren alle Opfer, weil sie wollten, daß er Jagd auf sie macht. Überrascht dich das, Feldman?« »Bei den anderen nicht. Bei Melanie…« Er stockte, preßte die Hände fest zusammen. »Hattest du bis jetzt keine Ahnung, daß Melanie krank war? Daß sie dermaßen masochistisch veranlagt war? Daß sie mißhandelt werden wollte?« Sarah merkte nicht, daß sie ihn anschrie. »Niemand wünscht sich wirklich Schmerzen. Es gibt Gründe, Sarah. Gründe, warum Melanie gelernt hat, Schmerz mit Lust zu verbinden. Gründe, warum sie den Drang verspürte, sich Mißhandlungen auszusetzen. Du darfst Melanie nicht für diese Gefühle verantwortlich machen, für diese selbstzerstörerischen Handlungen. Du darfst Melanie nicht für ihre eigene Ermordung verantwortlich machen.« »Das tue ich nicht.« Er lächelte. »Gut.« »Aber bei dir liegt der Fall anders, Feldman.« Sein Lächeln erstarb. »Also gibst du mir die Schuld an ihrem Tod. Du denkst, ich hätte mehr tun können.« »Oder du hast zuviel getan.« »Was meinst du damit?«
»Was ich damit meine?« wiederholte sie schneidend. »Ich meine damit die Art, wie ihr beide es getrieben habt. Genau hier. Genau hier in diesem Raum. Du hast nicht mal dran gedacht, diese Scheißtür zuzumachen. Ich habe dich gesehen, Feldman. Ich habe dich gesehen, mit Melanie. Ich habe deinen Blick gesehen. Gierig, lüstern, widerlich. Und sie hat dich gelassen. Sie hat dich gelassen…« Sie sieht sie wieder. Ineinander verkrallt. Aber Feldmans Gesicht ist nicht scharf zu erkennen. Nur Melanies. Oh, die Verzückung im Gesicht ihrer Schwester. Sie genießt es. Reinste Ekstase. Langsam wird das Gesicht des Liebhabers deutlicher. Nur… nur es ist nicht Feldmans Gesicht, das sie sieht. Es ist das Gesicht ihres Vaters… Sarah rief Bernie aus einer Telefonzelle in der Stadt an. Als er ihre Stimme hörte, sprudelte er mit besorgter Stimme los: »Sarah, Sarah. Ich bin schon halb krank vor Sorge. Ich habe kein Auge zugetan. Die ganze Nacht nicht. Bist du okay? Wo warst du gestern nacht? Wo warst du den ganzen Morgen? Ich habe dich mindestens ein dutzendmal angerufen. Gott, wenn ich deinen verdammten Anrufbeantworter noch ein einziges Mal höre…« Sarah spürte, wie ihre Hand, die den Hörer umklammert hielt, zitterte. »Ich habe bei Emma übernachtet.« »Welche Emma?« »Emma Margolis.« »Ach, die Emma.« »Bernie, kann ich ein paar Tage bei dir wohnen? Ich muß erst mal wieder zu mir kommen.« Zu sich kommen. Wenn das so einfach wäre. Es war noch nie einfach gewesen. Ihr ganzes Leben war eine Lüge gewesen. Eine brüchige Heuchelei, die jetzt langsam um sie herum zusammenbrach. »Ich brauche eine Umgebung, die neutral ist. Weißt du, was ich meine?« Distanz finden. Eine Atempause. »Du brauchst doch nicht zu fragen, Kleines. Was soll ich zum Abendessen machen? Du brauchst dir übrigens keine Sorgen zu machen, ich meine, daß wir zu dritt sind. Tony ist ausgezogen. Wir sind zwar noch zusammen, aber wir sind der Meinung, daß
wir das Ganze wohl etwas überstürzt haben. Okay, okay, er ist der Meinung.« »Das tut mir leid«, sagte Sarah leise. Verlaß dich niemals auf die Liebe. Sie hatte versucht, ihn zu warnen. Sie hätte sich stärker bemühen sollen. Aber er hätte sowieso nicht auf sie gehört. Auch Melanie nicht. »Ich komme gut damit klar. Ehrlich«, sagte Bernie mit gespieltem Ernst. »Und jetzt kann ich mich ganz deinen Bedürfnissen widmen. Ich mache dir einen leckeren Schmorbraten. Rezept von meiner Mutter.« »Danke, Bernie.« »Wofür? Den Schmorbraten? Glaubst du, ich weiß nicht, daß du nur rumstochern wirst? Wie du an allem rumstocherst?« »Ich werde richtig essen. Versprochen«, sagte sie und war dankbar für jedes bißchen Nahrung – eßbar oder nicht. Auch wenn sie glaubte, es nicht zu verdienen. Wieder flüsterte Feldman ihr ins Ohr: Warum verdienst du es nicht, Sarah? Was hast du getan, das so schrecklich ist? »Wo bist du denn jetzt, Sarah?« »Wenn ich das wüßte.« »Armes, kleines verirrtes Mädchen«, sagte Bernie mitfühlend. Sarah umklammerte den Hörer, als wäre er ihr Rettungsanker. »Ich habe solche Angst, Bernie.« »Vor Romeo?« »Ja. Aber das ist noch lange nicht alles. Ich hatte einen schrecklichen Vormittag. Zuerst bin ich zufällig Bill Dennison über den Weg gelaufen. Dann hatte ich dieses anstrengende Gespräch mit Feldman. War eine dumme Idee.« »Wieso dumm?« »Weil ich jetzt noch verwirrter bin als vorher. Das Denken fällt mir schwer. O Gott, ich kriege kaum Luft.« Sie stieß die Tür der Telefonzelle auf und atmete gierig die frische Luft ein, aber davon wurde ihr bloß schwindlig. »Sarah, sag mir, wo du bist, und ich hole dich ab. Ich bring dich zu meiner Wohnung. Ich sage Buchanon, daß ich krank bin.« »Nein, schon gut«, sagte sie, als sie sich wieder in der Gewalt hatte. »Ich muß… noch einiges erledigen. Bernie, alles verläuft
ineinander. Als ob irgendwas Buntes die weiße Wäsche verfärbt. Ich muß es aussortieren. Sonst gehen die Flecken nie mehr raus…« Robert Perry verschränkte die Hände vor der Brust und grinste Allegro und Wagner angriffslustig an: Es war morgens um halb elf, und er war noch im Schlafanzug. »Ich hätte Sie nicht mal reinlassen müssen, nicht wahr? Ich meine, Sie haben keinen Durchsuchungsbefehl oder so, oder doch?« »Wir machen keine Hausdurchsuchung«, sagte Allegro und blickte sich kurz in dem sparsam, aber geschmackvoll eingerichteten und ordentlichen Wohnzimmer um. Korbsofa und zwei passende Sessel, dazwischen ein Bambustischchen, ein großer Perserteppich auf dem Eichendielenboden. In einem Bücherregal aus Holz und Rattan standen ein alter Fernsehapparat, ein Videorecorder, eine Ministereoanlage, daneben einige Kassetten und ein Dutzend CDs. Interessant, zumal Perrys Frau darauf hingewiesen hatte, daß ihr Mann kein großer Musikfreund war. »Wir haben bloß noch ein paar Fragen, Robbie«, sagte Wagner im Plauderton. »Nur sie nennt mich so«, sagte Perry barsch. Wagner fragte: »Wer? Dr. Rosen?« »Nein. Cindy. Cindy ist die einzige, die mich Robbie nennt. Obwohl sie weiß, daß es mich nervt. Ich war mal so blöd und habe ihr erzählt, daß meine Mutter mich früher immer so genannt hat. Und daß ich es nicht ausstehen konnte.« Sein Gesicht verzog sich. »Himmel, Sie haben mit ihr gesprochen. Sie haben mit Cindy gesprochen, nicht? Ihr Scheißkerle. Ihr habt mit ihr über mich und Melanie gesprochen.« Er ließ sich auf die Couch sinken. Wagner setzte sich neben Perry. Allegro blieb vor dem Bücherregal stehen. Auf dem Regalbrett unter Fernseher, Videorecorder und Stereoanlage waren eine halbe Reihe Taschenbücher – überwiegend Kriminal- und Abenteuerromane – sowie ein Stapel Zeitschriften. Von der oberen war das Cover abgerissen, doch der Titel Golden Gate Magazine war im Impressum auf der ersten Seite zu sehen. Die letzte Ausgabe, vermutete Alle-
gro. Die ein paar Tage nach Melanies Ermordung erschienen war. Hatte Perry das Foto von ihr abgerissen, weil er es nicht ertragen konnte, sie anzuschauen? Oder hatte er es in ein extra dafür angelegtes Album geklebt? »Ihre Frau hat fast das ganze Gespräch allein bestritten.« Wagner lehnte sich im Sofa zurück, streckte die Beine aus und legte die Füße übereinander. Perrys Augen weiteten sich. »Was soll das heißen? Was hat sie gesagt? Ich habe sie ständig angerufen, aber sie will nicht mit mir sprechen. Ich habe sie angefleht, mit mir zu Dr. Dennison zu gehen. Ich will doch bloß, daß zwischen uns alles in Ordnung kommt. Wieso gibt sie mir nicht noch eine Chance?« »Vielleicht ist sie ein bißchen eifersüchtig«, sagte Wagner hämisch. »Zuerst versuchen Sie’s bei Ihrer Therapeutin, jetzt sind Sie hinter ihrer kleinen Schwester her.« Perrys Gesicht lief rot an. »Ich habe es nie bei Melanie versucht. So war es nicht. Aber das würden Sie nicht verstehen. Ebensowenig, wie viel sie mir bedeutet hat.« »Und bedeutet Sarah Ihnen genausoviel?« fragte Allegro ruhig. »Sarah?« Er blinzelte. »Sie sind ja nicht bei Trost. Zwischen mir und Melanies Schwester spielt sich absolut nichts ab.« Wagner blickte ihm direkt in die Augen. »Wieso sind Sie ihr dann gefolgt?« »Sie meinen gestern? In Chinatown? Das war eine zufällige Begegnung, mehr nicht. Purer Zufall. Ich bin oft in Chinatown.« Wagner schaltete sich ein. »Wo waren Sie gestern abend? Nach sieben Uhr?« »Ich war zu Hause. Hier. Ich war den ganzen Abend hier.« Allegro lächelte schwach. »Das glaube ich nicht.« »Moment. Moment, ich war mal kurz weg. Wie spät, sagten Sie? Gegen sieben? Ja genau, da war ich unterwegs. Habe irgendwo was gegessen. Ich bin ein miserabler Koch.« »Wo waren Sie essen?« »Wo? In irgendeinem Lokal hier in der Gegend.« »Wie heißt das Lokal?«
Perry wand sich. »Also, es ist eigentlich nicht hier in der Gegend. Ich kann mich nicht mal erinnern, wie der Laden hieß. Geschweige denn, was ich gegessen habe. Ich habe einen Spaziergang gemacht und Hunger gekriegt…« »Also, zuerst sind Sie spazierengegangen. Dann haben Sie irgendwo was gegessen. Und was haben Sie dann gemacht, Robbie?« fragte Wagner. »Vielleicht Sarah einen kleinen Besuch abgestattet?« »Nein. Ich weiß ja nicht mal, wo sie wohnt. Um halb neun, spätestens neun war ich wieder hier. Hören Sie, in Chinatown ist sie hinter mir hergekommen. Sie wollte mit mir sprechen.« »Sie sagt, Sie wollten mit ihr sprechen.« »Okay, dann wollten wir es eben beide. Ich dachte, sie als Melanies Schwester würde es verstehen. Aber sie hat nicht mehr verstanden als ihr Idioten. Niemand versteht es. Niemand…« Seine Stimme wurde zu einem Fauchen. Wagner beugte sich vor. »Nicht einmal Melanie? Sind Sie deshalb ausgerastet, Robbie? Weil nicht mal Ihre Therapeutin Sie verstanden hat? Oder weil Melanie zuviel verstanden hat?« Perrys Gesichtsausdruck wurde wachsam. »Denken Sie bloß nicht, ich wüßte nicht, was Sie damit beabsichtigen. Aber es wird nicht klappen.« »Was wird nicht klappen, Robbie?« fragte Wagner in einem bewußt provozierenden Tonfall. »Hören Sie auf, mich so zu nennen, Sie Idiot! Sie können etwas Schönes nicht in etwas Billiges und Häßliches verwandeln. Was Melanie und ich zusammen hatten, war rein und etwas ganz Besonderes. Bei ihr konnte ich ganz ich selbst sein. Ich hätte ihr niemals ein Haar gekrümmt, sie war so schön.« Perry blickte Wagner unverwandt an, doch in seinen blauen Augen lag etwas Glasiges, Verträumtes. »Cindy hat gemeint, sie wären kein großer Musikliebhaber«, bemerkte Allegro beiläufig. Er spielte mit einer CD. »Sie war sicher, daß Sie noch nie was von Gershwin gehört hätten.« Wagner setzte sich kerzengerade im Sessel auf, sein Blick haftete an dem Cover der CD. »Himmel…« Es war Gershwins Rhapsody in Blue.
Perry war augenblicklich auf der Hut. »Sie hat es mir mal vorgespielt. Wollte wissen, wie ich es fand. Ich wollte ihr imponieren und habe ihr erzählt, es wäre eines meiner Lieblingsstücke.« »Ist es das denn nicht?« Wagners Blick nagelte den Verdächtigen an seinem Platz fest. »Nein. Nein, habe ich Ihnen doch gesagt. Ich hatte es vorher noch nie gehört.« »Wo war das? In ihrem Büro oder oben in ihrer Wohnung?« Sein Adamsapfel hüpfte. »Oben.« »Davor oder danach?« Perry blickte Wagner unsicher an. »Vor oder nach was?« »Sagen Sie es uns.« »Es war weder vor noch nach irgendwas. Sie hat mich bloß irgendwann mal nachmittags nach unserer Sitzung mit nach oben genommen und es mir vorgespielt. Das war alles. Oh, ich weiß jetzt, daß die Musik mit Romeo zu tun hat. Daß er… er sie seinen Opfern vorspielt. Aber damals habe ich das nicht gewußt. Es hatte noch nicht in den Zeitungen gestanden.« »Ich dachte, Ihre Sitzungen wären morgens gewesen. Freitags«, sagte Allegro. Perry funkelte ihn an. »Vor zwei Monaten ist bei Melanie morgens ein Termin frei geworden. Sie hat mich gefragt, ob ich ihn wollte. Ich habe zugesagt. Ich fand es schön, sie morgens als erster zu sehen.« Allegro lächelte herablassend und studierte das Cover der CD. »Und Melanie? Hat sie Ihnen die CD als kleines Zeichen ihrer Zuneigung geschenkt?« Perry schüttelte bekümmert den Kopf. »Nein. Ich habe sie gekauft. Nachdem… nachdem…« »Nachdem was?« fragte Wagner scharf. »Nachdem sie – nachdem er sie ermordet hatte.« Perrys Antwort war ein ersticktes Flüstern. »Ich weiß nicht. Ich hatte gelesen, daß diese Musik wahrscheinlich die letzte war, die sie gehört hatte. Ich dachte, ich könnte mich ihr dadurch… näher fühlen.« »Nur Melanie? Oder auch all den anderen, Robbie?« fragte Wagner mit schonungsloser Direktheit.
Perrys Gesicht wurde kreideweiß. Beide Beamten konnten sehen, daß er die Kontrolle verlor, noch bevor er schließlich losschrie: »Ich habe die CD kein einziges Mal gespielt! Ich konnte nicht. Es tat einfach zu weh! Sehen Sie, sie ist noch versiegelt mit einem kleinen goldenen Etikett.« Wagner blickte Perry direkt an. »Was ist mit Melanies Herz, Robbie? Hast du es auf Eis gelegt? Bis du es gegen ein hübsches, frisches eintauschen kannst, du Drecksau?« Perry sprang auf und fuchtelte mit den Armen. »Wollt ihr meine Wohnung durchsuchen, mein Gefrierfach? Na los, seht nach. Ist mir egal, was mein Anwalt gesagt hat. Scheiß auf den Durchsuchungsbefehl. Na los, ihr verdammten Schweine!« Allegro nickte Wagner zu, während Perry mitten im Wohnzimmer stand, das Gesicht weiß vor Zorn, die Arme über der Brust verschränkt. Zwei Minuten später kam Wagner zurück. Er schüttelte den Kopf. »So, und jetzt raus hier. Verschwindet. Wenn ihr euch noch einmal hier blicken laßt, dann nicht ohne Durchsuchungsbefehl.« Perrys Fäuste waren geballt, seine Augen glühten vor Zorn. Die beiden Detectives schlenderten zur Tür. Wagner lächelte. »Wir sehen uns wieder, Robbie. Schon sehr bald.« Kurz nachdem sie Perrys Wohnung verlassen hatten, bekam Wagner im Auto einen Anruf von Emma Margolis. »Sarah ist weg«, sagte sie besorgt. »Sie ist aus dem Haus, bevor ich aufgewacht bin.« »Wir haben jemanden zu ihrem Schutz abgestellt«, sagte Wagner. »Sie ist zu ihrem ehemaligen Therapeuten gefahren.« »Feldman?« »Ja. Im Moment ist sie in einem Buchladen in der Stadt und stöbert dort rum.« Allegro nahm seinem Partner den Hörer ab. »Wie ist es gestern abend gelaufen?« »Ganz gut«, sagte Emma. »Unter den gegebenen Umständen.« »Gut. Kann sein, daß ich später noch bei Ihnen vorbeischaue. Wenn sie wieder da ist.« »Sie werden sie doch wohl hoffentlich nicht mit Fragen bombardieren.« Emma gab dem Satz einen warnenden Unterton.
Allegro bemerkte Wagners schwaches Lächeln. »Ich muß bloß… ein paar Kleinigkeiten klären. So, ich muß auflegen. Wir sind selbst gerade auf dem Weg zu einem anderen Therapeuten. Dr. Dennison.« »Moment, John. Nicht auflegen. Mir fällt da gerade was ein.« »Was denn?« Emma zögerte. »Ich habe was vergessen. Bis gestern abend. Etwas, das vielleicht wichtig ist. Als Sarah und ich uns unterhalten haben, fiel es mir wieder ein.« »Ja?« »Wegen Diane. Diane Corbett. Romeos erstes…« »Was ist mit ihr?« »Ich glaube, sie war auch bei Dennison in Therapie. Das heißt, ich bin nicht ganz sicher, aber ich habe ihn ihr empfohlen. Als ich selbst noch bei ihm in Behandlung war. Bevor…« »Bevor was?« fragte Allegro. »Bevor ich sie abgebrochen habe«, sagte Emma und legte abrupt auf. William Dennison schnippte nervös ein unsichtbares Staubkörnchen vom Ärmel seines dunkelblauen Anzugs. Er war deutlich verstimmt, daß man ihn so hartnäckig in die Mangel nahm. Zuerst hatten sie ihn wegen seiner Beziehung zu Sarah Rosen befragt, jetzt ging es um Diane Corbett. »Ehrlich gesagt, ich hatte es vergessen. Es war vor einem Jahr oder mehr. Und ich habe sie nur ein- oder zweimal bei mir gehabt.« »Was denn nun?« fragte Allegro. »Einmal oder zweimal?« »Ich weiß es wirklich nicht mehr. Es war bloß ein Vorgespräch.« »Sie haben sich doch bestimmt Notizen gemacht, oder?« hakte Allegro nach. »Sehen Sie doch nach.« Dennison schaute auf seine Uhr. »Ich habe in fünfzehn Minuten einen Patienten. Und ich möchte vorher ein paar Minuten…« Wagner ging zum Schreibtisch des Psychiaters und legte eine Hand auf dessen Computer. »Corbett. Diane. Sehen Sie nach. Dauert ja nur ein paar Sekunden.«
»Ich kann Ihnen nicht einfach meine Notizen zeigen. Sie sind vertraulich.« »Diane Corbett ist tot, Doc. Es gibt also keinen Grund, ihre Daten zu schützen. Wir können uns auch einen Gerichtsbeschluß besorgen. Sie könnten uns allen aber eine Menge Zeit und Mühe ersparen«, sagte Allegro. Dennison starrte auf seine Tastatur. »Jetzt fällt es mir wieder ein. Ich habe sie nur einmal gesehen.« »Die Notizen, Doc. Es reicht, wenn Sie uns kurz mündlich einen Überblick geben. Wie beim letzten Mal. Wir brauchen nichts Schriftliches. Fürs erste.« Das Gesicht des Psychiaters war vor Ärger wie vereist, während er den Namen eingab. Corbett. Diane. Als ihre Datei auf dem Bildschirm erschien, warf er einen flüchtigen Blick auf den geschriebenen Text. »Sie hat nicht sehr viel gesagt. Nichts, was Ihnen bei Ihren Ermittlungen weiterhelfen wird…« »Das zu beurteilen, sollten Sie uns überlassen«, sagte Allegro. »Wir hören.« Dennison preßte die Zähne zusammen, als er den Bildschirm genauer studierte. »Diane Corbett. Geburtsdatum: 18.05.63. Alleinstehend. Jurastudium in Stanford. Konkursexpertin bei Markson, Hyde & Remington. Kein fester Freund zum Zeitpunkt des Gesprächs, sagte aber, sie hätte sich kurz zuvor von einem Mann getrennt, mit dem sie ein paar Monate zusammen gewesen war.« »Grant Carpenter?« fragte Allegro. Dennison blickte vom Bildschirm auf. »Ja. Sie hat nicht gesagt, weshalb die Beziehung auseinanderging. Soll ich fortfahren?« Allegro nickte. Er hatte kurz nach Diane Corbetts Ermordung mit Carpenter gesprochen. Der Mann hatte sich recht bedeckt gehalten und nur gesagt, daß er und Diane die Beziehung als lockeres Verhältnis betrachtet hatten. Auf Allegros Drängen hatte er allerdings zugegeben, daß er und Diane, wie er es ausdrückte, hin und wieder Spaß an »besonderen Sexspielen« gehabt hätten, und gestand sogar, daß er sie ein paarmal in einen privaten Club mitgenommen hätte. »Nichts Hartes«, hatte er zu Allegro gesagt. »Nur ein paar harmlose erotische Sklavenspiel-
chen.« Carpenter hätte den idealen Hauptverdächtigen abgegeben, doch für die Nacht, in der seine Exfreundin ermordet wurde, hatte er ein Alibi. Dennison las weiter vom Bildschirm. »Ein älterer Bruder in Idaho, Unidozent. Sie hat nicht gesagt, was er lehrt. Eltern gestorben. Vater, Versicherungsangestellter, starb an einem Herzinfarkt, als Miss Corbett elf war. Mutter, Hausfrau, starb mit zweiundfünfzig an Brustkrebs. Miss Corbett war zu der Zeit dreiundzwanzig. In meinen Notizen steht, daß sie eine Gefühlsregung zeigte, als sie den Tod ihrer Mutter erwähnte. Ein Anflug von Traurigkeit. Ansonsten war sie während des ganzen fünfzehnminütigen Gesprächs ziemlich ruhig und zurückhaltend.« Er holte den nächsten Abschnitt auf den Bildschirm. »Hier steht nicht mehr viel. Keine Drogen. Wenig Alkohol. Hin und wieder ein paar Gläser Wein oder Bier. Nicht problematisch.« »Wieso war sie bei Ihnen?« fragte Allegro. »Sie hat angegeben, unter periodisch auftretenden Anfällen von Depressionen zu leiden, konnte aber nicht sagen, wodurch sie ausgelöst wurden. Konnte auch nicht ungefähr sagen, wann sie angefangen hatten. Sie ging regelmäßig ins Fitneßstudio. Hatte das Gefühl, es würde gegen die Depressionen helfen. Meinen Notizen nach hat sie von sich aus keine Informationen gegeben, sondern nur auf gezielte Fragen von mir geantwortet.« »Fanden Sie sie attraktiv?« fragte Wagner beiläufig. Dennison warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Ich kann mich wirklich nicht erinnern.« Wagner klopfte mit den Fingern auf den Monitor des Psychiaters. »Nichts über ihr Aussehen in den Notizen?« »Kommen Sie doch her und lesen Sie selbst«, sagte er verärgert. Wagner kam der Aufforderung nach, und Dennison glitt mit seinem Stuhl ein Stück zur Seite, damit der Polizeibeamte an den Bildschirm treten konnte. Nach ein paar Sekunden blickte Wagner Allegro und dann den Psychiater an. »Ist das alles, was Sie haben?« »Sie war sehr unzugänglich. Ich habe nicht viel aus ihr herausbekommen.«
»Sicher, daß nicht versehentlich was gelöscht wurde?« fragte Wagner. In Dennisens Kinnlade zuckte ein Muskel. »Wenn es sich um ein Versehen handeln würde, warum wurde dann nicht die ganze Datei gelöscht? Ich habe absolut nichts zu verbergen. Und jetzt? Wollen Sie mich verhaften, weil ich meine Fälle schlecht dokumentiere?« »Vielleicht erklären Sie uns erst einmal, warum Sie uns die Tatsache verschwiegen haben, daß Sie Romeos erstes Opfer behandelt haben«, entgegnete Wagner gelassen. »Ich habe sie nicht behandelt. Ich habe ein fünfzehnminütiges Vorgespräch mit ihr geführt. Und wie ich Ihnen bereits gesagt habe, hatte ich völlig vergessen, daß ich die Frau kannte.« Allegro schaltete sich ein, packte eine Armlehne von Dennisons Stuhl und beugte sich so weit vor, daß sein Gesicht dicht vor dem des Psychiaters war. »Selbst als ihr Foto nach dem Mord überall im Fernsehen zu sehen war und auf jeder Titelseite prangte? Kam Ihnen da der Name nicht bekannt vor? Und das Gesicht? Ich meine von den Fotos davor. Bevor der Perversling sie in ein Monstrum aus dem Horrorkabinett verwandelt hat. Wie er es mit den anderen nach ihr auch gemacht hat. Wie er es mit Ihrer wunderschönen Melanie gemacht hat. Der Liebe Ihres Lebens. Der Frau, die Sie angeblich wieder heiraten wollten.« »Sie Mistkerl«, zischte Dennison wütend. Sein Gesicht war grün geworden. »Was ist denn das für eine Diagnose?« fragte Allegro spöttisch. »Okay, Jungs«, schaltete sich Wagner ein. »Regt euch ab.« Allegro richtete sich auf. Er trat zwei Schritte vom Stuhl des Psychiaters zurück. Sein Gesicht war weiß wie Kreide. Wagner blickte Dennison freundlich an. »Es ist offensichtlich, daß wir alle drei von dem Mord an Dr. Rosen ganz besonders betroffen sind. Aber im Moment, Dr. Dennison, können Sie uns helfen, wenn Sie sich wieder auf Miss Corbett konzentrieren. Haben Sie vielleicht in dem Gespräch mit ihr über irgend etwas anderes geredet – irgend etwas, über das Sie sich vielleicht keine Notizen gemacht haben?«
Dennison strich sich geistesabwesend die Haare glatt, bemüht, seine Fassung wiederzugewinnen. »Nein. Nichts«, sagte er ruhig. »Haben Sie Fragen bezüglich ihrem Sexualleben gestellt?« fragte Allegro. Dennison blickte ihn finster an. »Gehört das nicht zu den Themen, die Sie normalerweise im Vorgespräch mit Ihren zukünftigen Patienten anschneiden?« Wagners Stimme hatte keinen spöttischen Unterton mehr. Dennison lenkte ein. »Ich glaube, sie hat erwähnt, daß sie ein paar sexuelle Probleme hatte.« »Hat sie sich näher darüber ausgelassen? Irgendwas, das Sie aus Ihrem Gedächtnis hervorkramen können, Doc? Man kann nie wissen, was einem weiterhilft.« Wagner hatte einen respektvollen, gemäßigten Ton angeschlagen. Dennison preßte die Lippen zusammen und sah aus wie jemand, der angestrengt nachdenkt. »Ich erinnere mich jetzt tatsächlich, daß sie gesagt hat, sie würde sich nicht ganz wohl dabei fühlen, über irgend etwas zu sprechen, was mit Sexualität zu tun hat.« Der Psychiater sah bekümmert aus. »Ich hätte das in ihrer Datei vermerken müssen. Ich denke, ich war deshalb nicht so gründlich wie sonst, weil ich den Eindruck hatte, sie würde nicht wiederkommen.« »Und wieso nicht?« fragte Wagner. »Ich erinnere mich, daß sie am Ende der Sitzung angedeutet hat, daß es ihr angenehmer wäre, von einer Frau behandelt zu werden. Ich werde ihr wohl gesagt haben, daß ich sie überweisen könnte, wenn sie wollte. Ich glaube, wir sind so verblieben, daß sie es sich überlegen und mich dann anrufen würde. Sie hat sich aber nie mehr gemeldet.« »Hätten Sie ihr dann Ihre Exfrau empfohlen?« fragte Allegro. Augenblicklich war Dennisens Vorsicht wieder da. »Ich gebe Patienten stets drei Empfehlungen und schlage vor, mit jedem einzelnen Arzt zu sprechen, bevor sie sich entscheiden.« »Und wäre Dr. Rosen darunter gewesen?« bohrte Allegro nach. »Ja«, erwiderte Dennison argwöhnisch. »Gibt es einen Grund, warum sie es nicht hätte sein sollen?«
»Haben Sie Ihre Exfrau auch Emma Margolis empfohlen, als sie die Therapie bei Ihnen abgebrochen hat?« fragte Wagner lakonisch, womit er wieder die Oberhand gewann. Dennison erblaßte. »Woher wissen Sie…« »Daß sie auch bei Ihnen in Behandlung war?« vollendete Allegro die Frage des Psychiaters. »Emma hat es uns erzählt. Sie hat uns so einiges erzählt.« Dennison sprang auf. »Ich weiß nicht, was sie Ihnen alles erzählt hat, aber da Miss Margolis quicklebendig ist, bin ich nicht bereit, über ihren Fall zu sprechen«, sagte er beißend. »So, Sie werden verstehen, ich muß mich jetzt wirklich auf meinen nächsten Patienten vorbereiten, Gentlemen.« Allegro machte keinerlei Anstalten zu gehen. »Haben Sie irgendeine von den anderen behandelt oder mit ihr ein Vorgespräch geführt, Doc?« Dennison sah Allegro verständnislos an. Dann fiel bei ihm der Groschen. »Ich hatte nie auch nur den geringsten Kontakt mit den anderen Opfern«, sagte er verächtlich. »Mit Ausnahme Ihrer Exfrau natürlich.« Dennison funkelte Allegro an. »Ist das alles?« »Oh, wir kommen jetzt erst richtig in Fahrt, Doc. Als nächstes möchte ich wissen, wo Sie gestern abend waren.« Allegro hatte das Zimmer durchquert und tat so, als würde er sich für einen der japanischen Drucke an der Wand interessieren. »Was soll das? Sarah hat mir die gleiche Frage gestellt, als ich ihr heute morgen im Institut über den Weg gelaufen bin. Was zum Teufel ist denn gestern abend passiert?« »Das würden wir gern von Ihnen hören«, sagte Wagner. »Ich habe keine Ahnung. Ich war fast den ganzen Abend zu Hause. Nur nach dem Abendessen war ich eine halbe Stunde mit dem Hund draußen.« Dennison wirkte ungeheuer erleichtert, als sein Summer ging. »Das wird mein Patient sein«, sagte er verabschiedend. Um fünf Minuten vor zwei betrat Sarah den Sender. Emma sah leicht gestreßt aus, als sie vom Aufnahmestudio in die Empfangshalle geeilt kam. »Ich bin so froh, dich zu sehen, Sarah,
aber ich muß jetzt gleich in die Aufnahme für die Sendung heute abend.« »Ich auch«, verkündete Sarah mit gezwungener Heiterkeit. »Was? Du willst noch mal in die Sendung?« Sarah lächelte schwach. »Emma, denk an die Einschaltquoten.« »Ich denke an dich.« »Tut mir leid. Das weiß ich doch«, sagte Sarah entschuldigend. »Deshalb mußt du es mich auch machen lassen. Beim letzten Mal war ich mir noch nicht sicher, ob ich sein nächstes Opfer sein soll. Jetzt weiß ich es. Nur so kann ich mich direkt an ihn wenden.« »Sarah, ich brauche dich wohl nicht daran zu erinnern, daß der Wahnsinnige erst gestern abend versucht hat, bei dir einzubrechen. Worauf du dich hier einläßt, ist ein überaus riskantes Katz-und-Maus-Spiel.« »Zwei Minuten, Emma. Um mehr bitte ich dich gar nicht.« Es war seltsam, wie stark Sarah sich mit Romeo verbunden fühlte, als sie diesmal in die Kamera mit dem leeren Teleprompter blickte. Der leere Bildschirm war wie Romeos Gesicht. Dunkel, geheimnisvoll, unergründlich. Und trotzdem gab es eine Verbindung, so gräßlich dies auch war. Sarah mußte der Tatsache ins Auge sehen. Akzeptieren, daß sie beide miteinander verknüpft waren. Mußte es irgendwie zu ihrem Vorteil nutzen. Sonst war sie verloren. Sobald die Kamera lief, redete Sarah einfach drauf los. Redete mit Romeo, als ob er in diesem Augenblick zuhörte – wenngleich die Sendung erst um zehn Uhr abends ausgestrahlt werden sollte. »Meine Schwester hat geglaubt, du würdest mit jedem Mord stärker und mächtiger, aber sie hat sich geirrt. Du bekommst es mit der Angst zu tun, Romeo. Ich kann deine Angst förmlich riechen. Du versuchst, sie zu bekämpfen, so zu tun, als gäbe es sie nicht. Aber du kannst mir nichts vormachen. Die Sache gestern abend. Du hattest gar nicht vor, bei mir einzubrechen. Das ist mir jetzt klar. Wieder nur so ein alberner, kindischer Trick. Einen Augenblick lang habe ich wirklich geglaubt, du hättest
den Mut, dich zu zeigen – trotz der Polizei. Aber ganz tief in deinem verrotteten Herzen hast du eine Scheißangst, dein wahres Ich zu zeigen. Du kannst dieses Theater nur eine gewisse Zeit durchhalten. Ich kenne mich mit Lügen aus. Ich weiß, daß du vorgibst, eine bestimmte Person zu sein, obwohl du jemand völlig anderes bist. Und wenn du dich noch so sehr anstrengst, die ersten Risse zeigen sich bereits. Ich werde ganz genau hinsehen und sie bald entdecken. Das werde ich. Mag sein, daß du sie vor den anderen verbergen kannst, aber du kannst sie nicht vor mir verbergen.« Nach der Aufzeichnung unterdrückte Emma ihre Tränen, als sie Sarah umarmte. Sarah fühlte sich verwirrt und ausgelaugt. »Möchtest du heute abend in ein Restaurant oder lieber bei mir zu Hause essen?« fragte Emma. »Wenn du hier warten willst, ich bin in etwa einer Stunde fertig.« »Ich habe beschlossen, ein paar Tage bei einem Bekannten zu übernachten.« Emma machte große Augen. »Ein Bekannter?« »Ein Freund. Wir arbeiten zusammen.« »Dann warst du mit der Schlafcouch doch nicht zufrieden«, meinte Emma trocken. »Es hat nichts mit dir zu tun, Emma«, sagte Sarah aufrichtig. »Du bist eine tolle Frau. Es ist nur – ach – es ist alles so verworren. Aber ich rufe dich morgen an.« Sie nahm Emmas Hand und drückte sie. »Ehrenwort.« »Sarah, paß auf dich auf. Geh kein Risiko ein. Ich denke, was du vor der Kamera zu ihm gesagt hast, daß er Angst hat, damit hast du vermutlich recht. Aber wer weiß, was er macht, wenn er anfängt, durchzudrehen?« Eine gute Frage. Sarah wußte keine Antwort darauf. Gina, die Empfangsdame, rief Sarah, als sie und ihr treuer Leibwächter zum Ausgang gingen: »Entschuldigung, Miss Rosen. Für Sie ist ein Päckchen abgegeben worden.«
Sarahs Augen huschten zu Corrigan. Er hielt eine Hand hoch, damit sie sich nicht von der Stelle rührte. Als ob sie dazu imstande gewesen wäre. »Ich nehme es«, sagte Corky zu Gina. Bevor sie ihm die Schachtel aushändigte, die in glänzendes weißes Geschenkpapier mit dunkelroten Herzchen eingepackt war, schielte Gina zu Sarah hinüber, die ein schwaches Nicken zustande brachte. »Wer hat es abgegeben?« fragte Corky, während er sich Plastik-Handschuhe überzog und dann die Schachtel entgegennahm. Viel Sinn machte es nicht, das war Sarah klar. Die Schachtel war mit Ginas Fingerabdrücken übersät. Und zweifellos noch mit anderen. Die einzigen Abdrücke, die todsicher fehlten, waren diejenigen Romeos. Gina runzelte verwundert die Stirn. »Ein Junge. Ein Laufbursche vom Blumenladen im Erdgeschoß.« Corky stellte die Schachtel auf die Theke vom Empfang, zupfte vorsichtig an der weißen Schleife, entfernte die Verpackung und hob den Deckel ab. »Was ist drin?« fragte Sarah heiser. Corky schlug behutsam das dunkelrote Seidenpapier zurück. »Ein Kranz. Bloß ein Kranz.« Sarah zwang sich hinzusehen. Es war ein herzförmiger Kranz aus gewundenen Weinreben, der mit kleinen, getrockneten roten Rosen durchflochten war. Sie sah die kleine Geschenkkarte und griff danach. Corky kam ihr zuvor. Er hielt sie ihr mit seiner behandschuhten Hand hin. Drei Wörter. Herz meines Herzens.
17 In Romeos Kopf sind Sexualität und Töten eng miteinander verflochten. Er verlangt Macht und Rache. Verspürt er so etwas wie Mitleid? Ja, aber nicht mit seinen Opfern. Nur mit sich selbst. Dr. Melanie Rosen in Cutting Edge Wagner war unterwegs, auf der Suche nach eventuellen Verbindungen beruflicher oder sonstiger Natur zwischen Dr. Dennison und Romeos anderen Opfern. Allegro hatte rasch etwas gegessen und war dann zum Institut gefahren, wo er um drei Uhr mit Dr. Stanley Feldman verabredet war. Feldman blätterte ein paar Papiere durch, während Allegro ihm gegenüber Platz nahm und sein Tonbandgerät hervorholte. »Haben Sie was dagegen, wenn ich unser Gespräch aufnehme?« Feldman zögerte. »Na schön«, sagte er dann, obwohl er nicht sehr überzeugend klang. »Soweit ich weiß, haben Sie Dr. Rosen beraten«, begann Allegro freundlich. Der Psychiater nickte zerstreut. »Wie oft haben Sie sich im letzten halben Jahr getroffen?« Feldman zuckte die Achseln: »Ein- oder zweimal im Monat. Das kam drauf an.« »Worauf?« »Auf unsere Termine. Darauf, ob es irgendwelche dringenden Probleme gab.« »Mit Patienten?« »Ja«, erwiderte Feldman eisig. »Dann hat Dr. Rosen also nicht regelmäßig mit Ihnen über all ihre Patienten gesprochen?« »Nein. Wie ich schon sagte, Detective, nur über Problemfälle. So viele hatte Melanie nicht. Sie war eine ausgezeichnete Therapeutin.« »Gehörte Robert Perry auch zu den Problemfällen?« Perry war nicht der einzige von Melanies Patienten, der Allegro durch
den Kopf ging. Da war auch noch seine eigene Frau. Hatte Melanie je mit Feldman über Grace gesprochen? »Robert Perry? Nein.« »Sie hat nie über ihn gesprochen?« Allegro machte aus seiner Skepsis keinen Hehl. »Sie wissen doch, daß es Perry war, der Dr. Rosens Leiche gefunden hat.« »Das weiß ich aus den Nachrichten.« »Er behauptet, zwischen ihm und Dr. Rosen habe es eine sexuelle Beziehung gegeben.« Allegro sah, wie sich Feldmans Körper anspannte. »Es ist durchaus nicht ungewöhnlich, daß Patienten sich einbilden, mit ihrem Arzt eine intime Beziehung zu haben. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von Projektion. Ein Patient entwickelt mitunter ein intensives, fast verzweifeltes Bedürfnis, den Therapeuten als Liebhaber zu sehen, als jemanden, der ihm etwas gibt und der ihn nicht verlassen wird.« »Dann glauben Sie also nicht, daß Perry und Dr. Rosen miteinander geschlafen haben?« »Ich glaube, daß er es sich einbildet.« »Vielleicht hat Dr. Rosen bei ihm eine Art Sextherapie angewandt.« Feldmans Gesicht verfinsterte sich. Sein Akzent wurde stärker. »Detective, wenn Sie hergekommen sind, damit ich Ihnen dabei helfe, Dr. Rosens exzellenten Ruf in den Schmutz zu ziehen…« Allegro beugte sich in seinem Sessel vor, die Augen zusammengekniffen, die Miene bedrohlich. »Damit eins klar ist, Feldman. Ich bin hier, weil ich jede mögliche Spur verfolge, die zu dem Wahnsinnigen führen könnte, der bereits fünf Frauen ermordet hat. Und er wird sich noch weitere Opfer suchen, wenn wir ihn nicht bald aufhalten. Ich werde alle Fragen stellen, die ich stellen muß, um dieses Schwein zu schnappen. Und Sie werden sie alle beantworten. Habe ich mich klar genug ausgedrückt, Doc?« Feldman schloß einen Moment die Augen und atmete tief durch. »Glauben Sie etwa, ich möchte nicht, daß Sie diesen Psychopathen finden? Ich habe Melanie sehr gemocht. Sie war
eine wunderbare, schöne Frau und eine exzellente Psychiaterin. Was ihr zugestoßen ist, ist eine Tragödie.« »Sie waren mehr als nur ihr Berater, stimmt’s?« »Was wollen Sie damit sagen, Detective?« »Melanie war nie Ihre Patientin, oder?« »Nein. Nie.« »Sie konnten also vorbehaltlos privaten Kontakt zueinander pflegen. Sie hätten was miteinander haben können, nicht wahr?« Feldman bedachte Allegro mit einem eisigen Blick. »Hat Sarah Ihnen etwa gesagt, ihre Schwester und ich hätten eine Affäre gehabt? Haben Sie diesen Blödsinn von ihr? Nun, Sarah irrt sich.« »Wieso glaubt Sarah dann, daß sie recht hat?« fragte Allegro postwendend. »Meinen Sie, sie bildet sich alles bloß ein? Wie Perry?« »Für jemanden, der sehr stark leidet, ist die Phantasie häufig die einzige Zuflucht«, erwiderte Feldman. »Sie glauben also, daß Sarah sehr stark leidet?« Feldman fixierte Allegro mit hartem Blick. »Vor einer Woche ist Sarahs Schwester brutal ermordet worden. Ihre Mutter hat Selbstmord begangen, als sie noch klein war. Ihr Vater hat Alzheimer und erkennt sie kaum noch. Ja, ich würde sagen, Sarah Rosen hat extrem viel auszuhalten.« »Ihre Mutter hat Selbstmord begangen?« »Cheryl Rosen hat sich auf dem Speicher erhängt, als die Mädchen in der Schule waren und Simon sich hier im Institut aufhielt.« Der Psychiater sagte das mit teilnahmsloser Stimme. Er faltete die Hände. »Für Sarah war das ein schwerer Schock. Sie und ihre Mutter standen sich sehr nah.« »Wieso hat sie sich umgebracht?« »Cheryl hatte große emotionale Probleme. Mehr kann ich dazu wirklich nicht sagen.« »Oder wollen nicht?« Der Psychiater erwiderte nichts. »Haben Sie Angst, daß Sarah in die Fußstapfen ihrer Mutter tritt?«
Feldmans Blick haftete auf einer Stelle irgendwo oberhalb von Allegros Schulter. »Sie hat es früher schon mal versucht. Einmal nach dem Tod ihrer Mutter. Und einmal während des Studiums. Ich erzähle Ihnen das streng vertraulich, Detective Allegro. Und auch nur, weil ich weiß, daß die Polizei befürchtet, daß Sarah das nächste Ziel dieses Psychopathen sein könnte.« »Und woher wissen Sie das?« »Sarah hat es mir erzählt, als sie heute morgen hier bei mir war.« »Sie hat Ihnen das erzählt? Alles? Auch das von den Auszügen aus Melanies Tagebuch?« Feldman atmete mit einem Seufzer aus, was Allegros Frage beantwortete. »Was haben Sie dabei gedacht?« Der Psychiater schüttelte traurig den Kopf. »Ich hätte nie vermutet, daß Melanie so schwere Probleme hatte. Sie konnte es nur gut verbergen. Zumindest vor mir.« »Sie hatten keinen Schimmer?« Feldman wollte schon den Kopf schütteln, hielt aber inne. Er starrte quer durch den Raum. »In der ganzen Zeit, die ich Melanie kannte, habe ich nur einmal erlebt, daß sie die Fassung verlor, regelrecht zusammenbrach.« »Wann war das?« »Sarah machte eine Therapie, nachdem sie sich im College die Pulsadern aufgeschnitten hatte und wieder nach Hause geholt worden war. Melanie hatte einen Termin bei mir, weil sie sehr beunruhigt war wegen ihrer Beziehung zu Sarah.« »Weshalb genau war Melanie beunruhigt?« »Wegen Sarahs Feindseligkeit. Melanie tat ihr möglichstes, um Zugang zu ihr zu bekommen, aber Sarah wehrte jeden Versuch ihrerseits ab.« »Wieso?« »Sarah hatte einen latenten Haß auf Melanie. Sie hatte das Gefühl, daß Melanie der Liebling ihres Vaters sei.« »Und war sie das?« »Melanie und ihr Vater waren sich sehr ähnlich. Und Melanie trat in Simons Fußstapfen. Das gefiel ihm.«
»Sie wollen also sagen, daß Melanie Daddys Augenstern war?« »So könnte man es ausdrücken«, sagte Feldman. »Okay, Melanie kam also zu Ihnen, um über Sarahs latenten Haß gegen sie zu sprechen. Und dabei ist sie zusammengeklappt?« »Ja.« Tiefe Furchen zeichneten sich in Feldmans Mundwinkeln ab, während er sprach. »Melanie und ich haben über Sarah geredet.« Er stockte, ein finsterer Blick legte seine Stirn noch mehr in Falten. »Sie saß in dem Sessel, in dem Sie jetzt sitzen. Wir hatten analysiert, was die Ursache für Sarahs Feindseligkeit gegenüber ihrer Schwester sein konnte. Im nächsten Moment krümmte sich Melanie plötzlich in Embryonalhaltung zusammen. Ich muß zugeben, ich war ziemlich bestürzt. Das paßte absolut nicht zu ihr.« »Was haben Sie dann gemacht?« »Ich bin zu ihr, habe mich neben sie gekniet und meine Hand auf ihre Schulter gelegt. ›Melanie, sag mir, was du hast‹, habe ich gesagt.« »Und? Hat sie?« »Sie hat bloß den Kopf geschüttelt und das Gesicht in den Händen vergraben. Ich habe gesagt, sie müsse nicht so stark sein. Ich dachte, unser Gespräch hätte eine verspätete Trauerreaktion auf den Selbstmord ihrer Mutter ausgelöst. Ich wollte ihr die Erlaubnis geben, ihre Verlust- und Ablehnungsgefühle auszudrücken. ›Halt nicht alles zurück‹, habe ich zu ihr gesagt.« »Wie hat sie reagiert?« Feldman hob beide Hände, die Handflächen nach oben wie beim Bittgebet, und legte sie wieder zusammen. »Sie fing an, unzusammenhängendes Zeug zu murmeln. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen.« »Und dann?« Feldman zuckte die Achseln. »Einen Augenblick später hatte sie sich wieder unter Kontrolle, lächelte wehmütig, stand auf und wollte gehen.« »Was haben Sie zu ihr gesagt?« »Nichts. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Und das passiert mir wirklich nur selten.« Feldman blickte weg. »Ich sehe
noch, wie sie da steht, mich anblickt, verzweifelt versucht, die Fassung zurückzugewinnen. Aber ihre Verwundbarkeit war ganz offenkundig, und ich habe diese ungeheure Traurigkeit gespürt. Instinktiv habe ich ihr die Hände entgegengestreckt, weil ich das Gefühl hatte, daß es wichtig für uns war, irgendeine Verbindung herzustellen. Aber statt meine Hände zu ergreifen, wie ich gedacht hatte, warf sie sich zu meiner völligen Verblüffung in meine Arme und klammerte sich an mir fest. Ob Sie es glauben oder nicht, das war der einzige Körperkontakt, den wir jemals hatten. Ebenso wie ihr Vater hat Melanie möglichst immer Distanz bewahrt. Als ob es bei ihr Unbehagen auslöste, wenn die Nähe zu groß wurde.« »Und haben Sie jetzt, wo Sie um die Tagebuchauszüge wissen, einen anderen Eindruck?« Feldman seufzte schwer. »Nein. Leider wurde er bestätigt.« »Ich verstehe nicht«, sagte Allegro. »Das, was sie geschrieben hat, zeigt, daß sie eine zutiefst gestörte Frau war, Detective. Wonach es sie verlangte, war nicht Nähe.« »Was war es dann?« Sie blickten einander an. »Selbstzerstörung«, sagte Feldman unverblümt. »Und was ist mit Sarah? Zwei Selbstmordversuche. Glauben Sie, sie ist auf dem gleichen Weg?« »Ich denke, durch den Mord an Melanie ist Sarah an einem Scheideweg angelangt, Detective Allegro. Ich glaube, sie ist fest entschlossen, ihren Depressionen und ihrem Selbstzerstörungstrieb nicht nachzugeben. Mit aller Macht dagegen anzukämpfen. Und dabei stellt sie fest, daß sie mehr Stärke und Willenskraft besitzt, als sie je für möglich gehalten hat.« »Haben Sie sie neulich abend im Fernsehen gesehen?« »Ja, habe ich. Wirklich ein beeindruckender Auftritt.« »Auftritt? Denken Sie denn, sie hat Theater gespielt?« fragte Allegro provozierend. »Wir alle müssen in einem gewissen Maß Theater spielen, um zu überleben, finden Sie nicht auch, Detective?« »Der Therapeut sind Sie.«
Feldman lächelte dunkel. »Genau das hätte Sarah auch gesagt.« »Sie denkt, daß Sie vielleicht der Wahnsinnige sind.« Das Lächeln des Psychiaters erstarb. »Hat sie das gesagt?« »Nicht mit diesen Worten«, sagte Allegro ausweichend. »Irgendwas dran? Sie würden uns eine Menge Zeit und Mühe ersparen…« »Mir ist klar, daß Sie jede Möglichkeit in Erwägung ziehen müssen, Detective. Also werde ich Ihnen Zeit und Mühe ersparen. Glauben Sie mir. Ich bin nicht Romeo.« Allegro zuckte die Achseln. »Ich würde Ihnen gern glauben. Und vielleicht gelingt es mir ja irgendwann. Aber noch sind wir weit davon entfernt. Fangen wir also mit Romeos erstem Opfer an. Diane Corbett.« Er klappte seinen schwarzen Notizblock auf und las aus seinen Notizen vor. »Wo waren Sie zwischen…« Emma Margolis hörte ihr Telefon klingeln, als sie um vier Uhr nachmittags ihre Wohnungstür auf schloß. Sie lief hin, hob den Hörer ab und meldete sich mit einem knappen »Hallo«. Niemand antwortete. »Ist da jemand?« fragte sie ungeduldig. Und dann, da sie dachte, es könnte Sarah sein, änderte sie ihre Stimmlage. »Tut mir leid, wenn ich etwas unfreundlich war.« »Rufe ich zu unpassender Zeit an?« fragte ein Mann mit unbekannter Stimme. Emma durchlief es kalt. Wer hatte ihre Geheimnummer? »Wer – wer ist da?« Keine Antwort. »Nein«, sagte sie als Antwort auf die Frage des Anrufers, und gleichzeitig versuchte sie, ihre Panik zu unterdrücken, die, wie sie sich sagte, unbegründet war. »Sie rufen nicht zu unpassender Zeit an. Mit wem spreche ich?« fragte sie erneut, doch diesmal in bemüht beiläufigem Ton. »Sie haben mir auf Melanies Beerdigung Ihre Visitenkarte gegeben, wissen Sie noch? Und Sie haben gesagt, ich könnte Sie anrufen. Sie waren an dem Tag so nett zu mir. Eigentlich die einzige, die zu verstehen schien, was ich durchmachen mußte.«
Jeder Muskel in Emmas Körper verkrampfte sich. »Robert Perry?« »Sie erinnern sich also«, sagte Perry. Seine Stimme klang erleichtert. »Ja. Sie waren völlig aufgelöst.« »Es wird einfach nicht besser.« Sein Tonfall wurde ausdruckslos. »Und die Polizei macht mich zusätzlich fertig. Die lassen mich einfach nicht in Frieden. Können Sie sich vorstellen, daß sie sogar mit Cindy geredet haben?« »Cindy?« »Meine Frau. Wir haben uns getrennt, aber ich liebe sie noch immer. Cindy hat sich geweigert, mit mir zusammen zu Dr. Dennison zu gehen, aber ich versuche, sie dazu zu bringen, allein hinzugehen. Wenn er ihr klarmachen könnte…« Er brach jäh ab. Die Reporterin in Emma wollte nachhaken, aber der gesunde Menschenverstand sagte ihr, daß sie davon absehen sollte. »Ich kann mir gut vorstellen, daß es eine sehr schwierige Zeit für Sie ist«, sagte sie ruhig. »Sie verstehen mich wirklich.« »Ich vermisse Melanie auch«, sagte Emma. Nach anfänglicher Stille hörte sie leises Schluchzen am anderen Ende. »Könnten wir uns vielleicht auf einen Drink oder so treffen?« fragte er schließlich. »Wann?« »Wann Sie wollen. Zur Zeit habe ich keinen Job. Bin entlassen worden. Ich weiß, ich sollte mir eine neue Stelle suchen, aber dann sage ich mir, daß es im Grunde egal ist. Ich glaube sowieso nicht, daß ich mich zur Zeit auf die Arbeit konzentrieren könnte.« »Nein, vermutlich haben Sie recht.« »Also, können wir uns treffen?« »Und wo?« fragte Emma vorsichtig. »Na ja, ich bin nicht weit von Ihrer Wohnung.« Woher wußte er, wo sie wohnte? Er mußte ihr vom Sender nach Hause gefolgt sein.
Sie stand ruckartig auf. »Ich war gerade auf dem Sprung«, log sie. Auf keinen Fall würde sie ihn in ihre Wohnung bitten. »Geben Sie mir etwa fünfzehn Minuten. Bei mir gleich um die Ecke ist ein kleines Café. Das Upper Crust.« »Okay. Und Sie kommen wirklich?« Er klang besorgt. »Natürlich«, sagte Emma. Sie sah auf die Uhr. »Ich bin um Viertel nach vier da.« Sie wollte auflegen. »Miss Margolis?« Sie hob den Hörer wieder ans Ohr. »Ja?« »Darf ich Emma zu Ihnen sagen?« »Ja.« »Schön. Emma, Sie kommen doch als Freundin, nicht wahr? Ich meine, nicht als Fernsehreporterin, oder? Ich weiß, Sie machen diese Sendung und so, aber wir werden uns doch… vertraulich unterhalten, nicht? Rein freundschaftlich.« Sie zögerte. »Wenn Sie es so wollen, Robert.« »Ich brauche dringend jemand, dem ich mich anvertrauen kann. Sie vielleicht auch, Emma«, fügte er hinzu. Sie spürte ihren Pulsschlag an den Schläfen. »Wie kommen Sie darauf?« »Wegen der Art, wie wir auf dem Friedhof in Kontakt getreten sind. Sie leiden auch. Und Sie glauben, daß niemand das versteht. Aber ich verstehe Sie, Emma. Ich weiß, wir verstehen uns auf eine ganz besondere Weise.« Während Emma noch nach einer Antwort suchte, hatte er schon aufgelegt. Sarah hatte einen Stoß Bücher über Sexualmorde und Serienkiller vor sich auf dem Tisch liegen und war entschlossen, herauszufinden, was in einer Kreatur wie Romeo vor sich ging. Obwohl es schon nach vier war und sie mittlerweile über eine Stunde in der Stadtbibliothek saß, hatte sie erst zwei Kapitel aus einem der Bücher geschafft. Sie konzentrierte sich gerade auf eine Seite des aufgeschlagenen Buches ganz oben auf dem Stapel. Sie las ein paar Absätze und mußte aufhören. Die Wörter verschwammen ihr vor den Augen. Sie preßte die Hand auf die Buchseite, als könnte sie das Gedruckte auf diese Art in sich aufnehmen. Corky am Ne-
bentisch blickte kurz zu ihr herüber und wandte sich dann rasch wieder der Bootszeitschrift zu, die er zu lesen vorgab, seit sie hier saßen. Sarah hatte ihn am Morgen gefragt, ob er denn nie einen Tag frei bekäme. Er hatte erwidert, daß er sich freiwillig für zusätzliche Schichten gemeldet habe, daß er ein persönliches Interesse an dem Fall habe. Sie fragte sich jetzt, ob ihn sein Auftrag langweilte. Mach dir nichts vor, Sarah. Letztlich bist du für jeden Mann in deinem Leben eine Enttäuschung gewesen. »Was fällt dir ein, hier herumzuschnüffeln. Sarah?« Das Gesicht ihres Vaters ist hart wie Granit. Er steht bedrohlich vor ihr. »Ich habe Mama oben stöhnen gehört. Ich dachte, sie ist vielleicht krank, und wollte dir Bescheid sagen.« »Deine Mutter ist nicht krank, Sarah. Sie ist betrunken«, sagt er scharf. Sie spürt, wie ihr die Tränen kommen. Aber sie darf nicht weinen. Sonst denkt er, sie will sein Mitleid erregen, und dann wird er noch wütender. »Aber Melanie ist wirklich krank. Deshalb ist sie zu mir nach unten gekommen. Eure Mutter ist offenbar nicht mehr fähig, sich um ein krankes Kind zu kümmern.« »Melanie ist krank?« »Mach nicht so ein Gesicht, junge Dame.« Was? Was für ein Gesicht macht sie denn? Er packt sie fest an beiden Armen und schüttelt sie so heftig, daß sie spürt, wie ihre Zähne aufeinander schlagen. »Untersteh dich, noch einmal hier herumzuschnüffeln, Sarah. Verstanden?« Eine Hand läßt sie los. Sie denkt, sie ist noch mal davongekommen. Bis sie seine erhobene Hand sieht… Sarah blieb fast das Herz stehen, als sie spürte, daß eine Hand leicht auf ihrer Schulter lag. »Erschrecken Sie sich nicht. Ich bin’s nur.«
Sarah drehte sich ängstlich um und sah erstaunt, daß John Allegro hinter ihr stand. »Was wollen Sie denn hier?« Spionierte er ihr etwa nach? »Haben Sie Lust auf eine Tasse Kaffee?« fragte er freundlich und ging über ihre barsche Frage hinweg. »Oder auf was Stärkeres? Sie sehen aus, als könnten Sie so was gebrauchen.« Sie mußte tief durchatmen. »Sie haben mich zu Tode erschreckt.« »Tut mir leid. Beim nächsten Mal lasse ich vorher ein Buch auf den Boden fallen. Oder auf meinen großen Zeh, wenn Ihnen das lieber ist.« »Ihr Charme nutzt sich langsam ab, Allegro.« »Muß an der Atmosphäre liegen.« Sie sah, wie er Corky schwach zunickte, der sogleich seine Zeitschrift hinlegte, mit einem freundlichen Lächeln aufstand und Richtung Ausgang ging. Dann, ohne Erklärung, klappte Allegro das Buch zu, in dem sie las. Sie beäugte ihn argwöhnisch. »Sie haben doch wohl nicht vor, mir eine Standpauke zu halten, oder?« »Eine Standpauke?« »Wegen der Fernsehaufnahme heute nachmittag.« Er zog etwas an der Rückenlehne ihres Stuhls. »Nein, ich werde Ihnen keine Standpauke halten. Weil ich sowieso nur auf taube Ohren stoßen würde, stimmt’s?« »Stimmt.« Sie blickte ihn fragend an. »Sie wissen von dem… Kranz.« Er war im Sender abgeholt worden und befand sich jetzt im Polizeilabor zur Analyse. Allegro nickte. »Er stammt aus dem Blumenladen im Erdgeschoß. Wie hat er das bewerkstelligt?« »Der Florist sagt, er hätte einen Umschlag auf der Theke vorgefunden, nachdem er eine Kundin bedient hatte. Darin war ein Fünfzigdollarschein und der maschinengeschriebene Auftrag, um zwei Uhr einen herzförmigen Kranz in den Sender zu schikken. Auf der beiliegenden Karte sollte stehen…« Sarah hob rasch die Hand, um ihn zu stoppen. Sie wollte die scheußliche Botschaft nicht laut ausgesprochen hören. »Und der
Florist hat niemanden in den Laden kommen sehen? Oder die Kundin? Oder sonstwer?« »Nein. Der Mistkerl ist offenbar unbeobachtet rein und wieder raus.« »Ein Kranz. So was kriegt man zur… Beerdigung.« Sie starrte nach unten auf das geschlossene Buch, das vor ihr lag. »Glaubt er wirklich, ich würde diese Geschenke ›romantisch‹ finden?« »Oder will er mich bloß in den Wahnsinn treiben, bevor er mich schließlich tötet?« »Sarah, Sie brauchen dringend eine kleine Erholung, sonst treiben Sie sich selbst in den Wahnsinn. Hören Sie, ich habe eine Idee«, sagte Allegro. »Wir könnten einen kleinen Ausflug die Küste hoch machen. Es wird uns beiden guttun, mal für ein paar Stunden wegzukommen.« »Ich habe schon was vor mit… jemandem.« »Ich dachte, Sie hätten keinen Freund.« »Was?« »Jemand? Hört sich nach einem Mann an.« »Ich habe nie gesagt, daß ich keinen Freund habe.« Er blinzelte sie an. »Nein?« »Was soll das Verhör, Allegro? Es ist Bernie.« »Der aus Ihrem Büro. Der mit dem Rollstuhl?« Sarah nickte. »Er ist ein guter Freund. Ich werde ein paar Tage bei ihm wohnen.« »Warum nicht mehr bei Emma?« »Das Bett war unbequem.« Sie sah seinen verwunderten Blick. »Schon gut. Ein Witz für Eingeweihte.« »Kommen Sie. Gehen wir.« Allegros freie Hand nahm bereits ihren Arm und half ihr aufzustehen. Seine Berührung löste eine Panikattacke bei ihr aus. Sie stieß gegen den Tisch, und das Buch über Sexualverbrecher fiel zu Boden. Allegro bückte sich, hob es auf und warf einen raschen Blick auf den Titel, bevor er es wieder auf den Tisch legte. »Wäre es nicht schön, das Ganze mal für ein Weilchen zu vergessen?« Schön? Sie wünschte sich nichts sehnlicher. »Also, gehen wir.« »Was ist mit Bernie? Er wird sich Sorgen machen.«
»Rufen Sie ihn an. Sagen Sie ihm, daß ich Sie später am Abend bei ihm zu Hause absetze.« Er lächelte sie unbekümmert an. »Ich kenne da in Tiburon ein ganz hervorragendes, kleines französisches Restaurant. Das wird Ihnen gefallen.« »Woher wollen Sie wissen, daß es mir gefallen wird? Woher wissen Sie, was ich mag oder nicht mag?« »Sie haben doch wohl nichts gegen ein köstliches Essen?« Sarah mußte lächeln. Allegro hatte so eine gewisse Art. Doch sie war noch immer auf der Hut. Sie spürte, daß auch er seine Geheimnisse hatte. Und daß er sich große Mühe gab, sie verborgen zu halten. Genau wie sie. Fühlten sie sich deshalb zueinander hingezogen? »Wissen Sie was«, sagte Allegro mit einem jungenhaften Zwinkern. »Diesmal übernehmen Sie die Rechnung, wenn Sie sich dann besser fühlen.« Robert Perrys Augenbrauen zogen sich zusammen. »Mögen Sie keinen Darjeeling?« Emma hob die blaue Porzellantasse an die Lippen. »Doch, schmeckt prima.« »Wollen Sie wirklich kein Gebäck dazu?« »Nein, danke, es ist gut so. Ehrlich.« Perry goß sich erneut aus der passenden blauen Teekanne ein, dann ließ er den Blick wieder durch das winzige Café gleiten. Zwei Frauen in mittlerem Alter saßen am anderen Ende des Raumes in der Nähe des mit Spitzengardinen geschmückten Fensters, und eine junge Mutter mit ihrer kleinen Tochter stand an der Theke und kaufte Tee und Gebäck zum Mitnehmen. »Sie ist süß, nicht?« sagte Perry mit Blick auf das Kind. »Ja.« »Cindy wollte immer Kinder.« »Und Sie?« Er zuckte die Achseln. »Sie meinen, ob ich Kinder wollte? Ich weiß nicht. Ich fühle mich selbst noch wie ein Kind. Ich bin erst siebenundzwanzig. Ich habe eine jüngere Schwester. Wir sehen uns nicht sehr oft. Sie nimmt Drogen und trinkt. Meine Mutter hat sie vor die Tür gesetzt, als sie sie dabei erwischt hatte, wie sie Geld aus ihrem Portemonnaie geklaut hat.«
»Was ist mit Ihrem Vater?« Perrys Miene verfinsterte sich. »Was soll mit ihm sein?« »War er der gleichen Meinung wie Ihre Mutter? Was Ihre Schwester betraf?« Perry lachte verbittert auf. »Sie waren nie einer Meinung. Er hat meine Mutter oft zusammengeschlagen. Und meine Schwester auch. Wieso stellen Sie mir all diese Fragen? Sie arbeiten doch nicht etwa für die Polizei oder so? Ich weiß, daß Sie mich beschatten. Gut möglich, daß im Moment ein Fernglas auf uns gerichtet ist. Oder tragen Sie ein Mikrophon am Körper?« »Ich wollte Sie bloß etwas kennenlernen, Robert. Sie haben gesagt, wir könnten Freunde werden. Freunde wissen einiges übereinander.« »Ich weiß nichts über Sie.« Sein Mund verzerrte sich zu einem grotesken Lächeln. »Nein, das stimmt nicht ganz.« »Was meinen Sie?« fragte Emma beklommen. »Ich weiß, daß Sie ein gutes Herz haben.« Emmas Hand, in der sie die Teetasse hielt, zuckte zusammen. Der Tee spritzte über den Rand und tropfte auf das schöne weiße Spitzentischtuch. Allegro und Sarah standen im Stau auf der Golden Gate Bridge. Die Fenster waren heruntergekurbelt, und Sarah blickte auf die Bucht, sah zu, wie die Segelboote gegen den steifen Wind ankämpften. »Besser?« fragte er. Sie wandte sich ihm zu. »Besser als was?« Er lächelte. »Besser, als in der stickigen Bibliothek zu sitzen.« Sie beugte sich vor und machte das Radio an. Die Fünf-UhrNachrichten hatten bereits begonnen. »… die neuesten Entwicklungen in der Whitewater-Affäre zu berichten. Nun zu den Lokalnachrichten. Nach der heutigen Stellungnahme von Staatsanwältin Lawrence Gillette verfolgt die Polizei wichtige Hinweise zur Identifizierung des unter dem Namen Romeo bekannten Serienkillers. Der brutale Mörder, der bereits fünf Frauen auf dem Gewissen hat, darunter die renommierte Psychiaterin Dr. Melanie Rosen, die als Beraterin der Polizei an den Ermittlungen beteiligt war…«
Allegro schaltete das Radio leise fluchend ab. Sarah rieb sich über die Arme, als ob sie dadurch den Schmerz unter ihrer Haut auslöschen könnte. Ein Auto scherte vor Allegro ein. Er hupte. Sarah blickte ihn an. »Sie sind wütend, weil ich heute abend wieder im Fernsehen bin.« Allegro zog an seiner Krawatte. »Ich bin über viele Dinge wütend.« »Ich auch«, sagte sie. »Haben Sie Angst?« »Ja.« »Ich auch.« »Sie dürfen so was eigentlich nicht zugeben«, sagte sie. Er lächelte und lenkte den Wagen auf die linke Fahrspur. »Wenn ich gesagt hätte, daß ich keine Angst habe, hätten Sie mir das geglaubt?« Sie erwiderte sein Lächeln. »Nein.« Sie blickten einander an. »Sie sehen hübsch aus, wenn Sie lächeln.« »Flirten Sie etwa mit mir, Allegro?« »Ich mache Ihnen ein Kompliment, Rosen. Haben Sie damit ein Problem?« »Wenn ich jetzt nein sagen würde, würden Sie mir das glauben?« Sein Lächeln wurde breiter. »Nein.« Emma Margolis ging zu Fuß das kurze Stück vom Café zurück zu ihrer Wohnung. Als sie um die Ecke in ihre Straße bog, sah sie zu ihrer Verblüffung William Dennison vor ihrem Haus gegen seinen Wagen gelehnt stehen. Sie hielt unvermittelt inne, als er in ihre Richtung blickte. Sofort richtete er sich auf und ging auf sie zu. Emma verschränkte die Arme und wartete auf ihn. »Was machen Sie denn hier, Bill?« »Die Polizei war heute wieder bei mir. Sie haben denen erzählt, daß Sie bei mir in Therapie waren.« »Na und? Sie unterstehen der Schweigepflicht, nicht ich.«
»Und Sie haben ihnen erzählt, daß ich Ihre Freundin Diane gekannt habe. Die Polizei hatte den Eindruck, ich hätte diese Information absichtlich zurückgehalten. Sie haben noch mehr äußerst beunruhigende Anspielungen gemacht. Wollten wissen, ob ich noch andere Opfer von Romeo behandelt habe.« »Hören Sie, Bill, ich hatte einen verdammt anstrengenden Tag…« Er versperrte ihr den Weg. »Meinen Sie, mein Tag wäre besser gewesen?« Sie starrten einander ein paar Sekunden lang an. »Hören Sie«, sagte Emma, »ich würde Sie ja gern noch auf einen Drink zu mir einladen, aber beim letzten Mal, als ich das versucht habe…« »Da waren Sie meine Patientin«, sagte Bill. »Und was bin ich jetzt?« Die knisternde Spannung war für beide fast greifbar. Dann, ohne ein Wort, steuerte Emma auf ihre Haustür zu, Bill Dennison ging neben ihr her. Lorraine Austin war eine rundliche Frau Mitte Fünfzig mit blaßblauen, traurigen Augen. »Soweit ich weiß, hat Karen nie eine Therapie gemacht«, sagte sie zu Wagner. Es waren noch ein paar Minuten bis Ladenschluß, aber sie hatte das »Geschlossen«-Schild bereits an die Tür gehängt, und da sie an dem Tag die einzige Verkäuferin war, waren sie allein im Geschäft. »Andererseits erzählen Töchter ihren Müttern nicht alles. Obwohl wir ein enges Verhältnis zueinander hatten…« Sie preßte den Zeigefinger fest auf die bebenden Lippen, kämpfte gegen die Tränen an. »Ich frage mich, ob ich wohl jemals aufhören werde, zu weinen. Es gibt nichts Schlimmeres, als ein Kind zu verlieren.« Karen Austin war Romeos drittes Opfer gewesen. Als Finanzberaterin in einer Großbank mit Büros in der Nähe vom Union Square hatte Karen nicht weit von dem vornehmen Juweliergeschäft gearbeitet, in dem ihre Mutter Verkäuferin war. In dem ersten Gespräch mit Lorraine Austin, kurz nach dem Mord an Karen, hatten Allegro und Wagner gefragt, mit welchen Männern ihre Tochter zusammengewesen war. Nach Aus-
sage ihrer Mutter hatte Karen eine längere Beziehung gehabt, und zwar mit einem Mann, den sie Ende der achtziger Jahre auf der Uni in Colorado kennengelernt hatte. Das Alibi des früheren Freundes war überprüft worden. In der Nacht, in der Karen ermordet wurde, war er in Boise, Idaho, im Kreißsaal eines Krankenhauses gewesen, wo er die Geburt seines zweiten Kindes filmte. Mrs. Austin hatte ihnen in dem ersten Gespräch auch erzählt, daß sie sich mindestens einmal die Woche mit ihrer Tochter zum Mittagessen getroffen hatte. Auf die Frage, worüber sie so gesprochen hatten, hatte sie gesagt, sie hätten über alles mögliche geplaudert, die Arbeit, Kino, Mode und über ihre Probleme mit dem Alleinsein. Karen war nie verheiratet gewesen, und Lorraine hatte sich scheiden lassen, als ihre Tochter sieben Jahre alt war. Wagner hatte seinen Partner nach dem Gespräch damit aufgezogen, daß Mrs. Austin ihm schöne Augen gemacht hätte. Allegro fand das gar nicht komisch. »Haben Sie eine neue Spur, Detective?« fragte Mrs. Austin jetzt. »In den Nachrichten sagen sie ständig…« »Leider darf ich Ihnen beim besten Willen keine Einzelheiten unserer Ermittlungen verraten. Aber ich kann Ihnen sagen, daß wir Fortschritte machen.« Mrs. Austin runzelte die Stirn. »Die Sensationspresse ist widerlich. Was da so alles über Karen und die anderen bedauernswerten Frauen behauptet wird. Ich glaube nicht eine Sekunde daran, daß meine Tochter diesen Wahnsinnigen in irgendeiner Weise animiert hat, daß sie überhaupt irgendeinen Mann animiert hätte, sie zu demütigen«, beendete sie den Satz schwach. »So war sie nicht. Sie war sehr stark. Sehr unabhängig. Er muß sie überlistet haben. Sie wollte doch nur geliebt werden. Ist denn das ein Verbrechen?« »Nein, natürlich nicht«, sagte Wagner rasch. »Sie sollten wirklich was dagegen tun, daß die Presse solche Lügen verbreitet. Und ich meine nicht nur diese Schmierblätter. Man hört es in allen Nachrichten. Sogar diese Psychiaterin, die er ermordet hat. Ich habe sie im Fernsehen gesehen. Ich habe gehört, was sie gesagt hat, noch bevor Karen – daß die Opfer so
schreckliche Sexsachen gemacht haben. Nicht meine Karen. Niemals! Sie war ein gutes, anständiges Mädchen.« »Davon bin ich überzeugt«, sagte Wagner beruhigend. »Jetzt zu William Dennison.« »Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Karen hat seinen Namen mir gegenüber nie erwähnt.« »Was ist mit Robert Perry? Dr. Stanley Feldman?« Wagner holte Fotos von den drei Verdächtigen aus der Tasche. »Wenn Sie sich die hier mal ansehen würden…« Tränen standen in Lorraine Austins Augen. »Man macht sich ja Sorgen, wenn man hört, daß jungen Frauen so was Schreckliches passiert. Ich weiß noch, daß ich Karen nach dem zweiten Mord gewarnt habe, sie soll ganz vorsichtig sein, aber eigentlich habe ich nie wirklich geglaubt, daß ihr was passieren würde. Man glaubt einfach nicht, daß so etwas jemandem zustößt, den man liebt.« Wagner griff über die Glastheke und tätschelte die Hand der Frau. »Nein, Mrs. Austin. Man glaubt es einfach nicht.« Sie brachte ein zittriges Lächeln zustande. »Und diese Männer, nach denen Sie mich gefragt haben…« Er reichte ihr die Fotos. Sie blickte kurz auf das von Feldman, dann auf das von Perry, schließlich das von Dennison. Letzteres schien sie genauer zu studieren. »Das ist William Dennison«, sagte Wagner. »Viele nennen ihn Bill. Karen vielleicht auch. Oder Dr. Dennison.« Sie starrte es einige Sekunden lang an. »Er sieht so traurig aus.« »Das Foto wurde auf einer Beerdigung gemacht.« Mrs. Austins Kopf fuhr hoch. »Doch nicht auf Karens?« »Nein.« Sie studierte weiter das Foto. »Ein Psychiater, sagen Sie?« »Ja. Genau.« »Sie denken wirklich, daß Romeo Psychiater sein könnte?« »Ich möchte bloß wissen, ob Ihre Tochter Bill Dennison überhaupt gekannt hat, Mrs. Austin. Wenn sie nicht seine Patientin war, dann vielleicht eine Freundin oder eine Bekannte von ihm.«
»Karen hat ihn mir gegenüber nie erwähnt. Auch die anderen nicht«, sagte sie, während sie sich die Fotos genauer ansah. »Und es kommt Ihnen auch keiner bekannt vor? Sie haben sie nie mal bei Karen gesehen? Oder wenn Sie mit ihr in einem Restaurant waren? Vielleicht hat ja einer von ihnen gelegentlich mal am Nebentisch gesessen…« »Sind sie alle Therapeuten?« »Zwei von ihnen.« Mrs. Austin runzelte die Stirn. »Wenn sie eine Therapie gemacht hat, hätte sie es mir bestimmt erzählt. Das soll nicht heißen, daß sie nicht auch mal deprimiert war.« »Weshalb war Karen deprimiert?« »Das hatte nichts mit Sex zu tun.« »Ich weiß, wie furchtbar das alles für Sie sein muß«, sagte Wagner leise. »Glauben Sie mir, Mrs. Austin, wir alle sind voller Mitgefühl für die Frauen, die dieser Wahnsinnige so kaltblütig ermordet hat, und deren Familien.« Jetzt war es die Mutter des Opfers, die Wagners Hand ergriff, sie fest drückte. »Ich fühle mich so allein. Sie fehlt mir sehr. Sie war ein liebes Mädchen. Sie hätten sie gern gehabt.« Wagner lächelte mitfühlend. »Ganz bestimmt.« Erneut fiel ihr Blick auf die Fotos, die sie noch in der Hand hielt. »Es ist durchaus möglich, daß Karen mit einem von ihnen näher befreundet war. Wie ich schon sagte, Töchter erzählen ihren Müttern nicht alles«, wiederholte sie unglücklich. Allegro verließ die stark befahrene US 101 und fuhr in Richtung Osten nach Sausalito, von wo aus sie die Fähre nach Tiburon nehmen wollten. Es herrschte zwar noch immer recht dichter Verkehr, aber sie hatten keinen Stau mehr. Sarah sagte: »Übrigens, das Buch, das ich vorhin in der Bibliothek gelesen habe, das über Sexualmorde…« »Ja?« »Der Autor ist ein Psychologe, der mit Sexualtätern arbeitet. Er beschreibt, wie ein Mensch zum Mörder wird.« Allegro warf Sarah einen Blick zu. Sie sprach über das Buch, das er vom Boden aufgehoben hatte. Auch Melanie hatte es erwähnt, als sie sie beraten hatte. Er zog es vor, Sarah nichts davon zu sagen.
»Er war nicht immer ein Mörder«, fuhr Sarah fort, fast so, als würde sie ein Referat in der Schule halten. »Er wird zum Mörder. Er hat eine schlimme Kindheit. Eine Anhäufung von Mißhandlungen und Schmerzen. Vor allen Dingen Wut. Diese Gefühle sammeln sich in ihm an, stauen sich auf. Und irgendwann kommt es durch irgend etwas zur Entladung. Wie der Abzug einer Waffe, der nur darauf wartet, gedrückt zu werden. Es geschieht irgend etwas, das ihn wütend macht oder große Angst oder Depressionen bei ihm auslöst. Vielleicht macht seine Freundin mit ihm Schluß, oder seine Frau verläßt ihn. Vielleicht ist er auch wegen irgendwas bei der Arbeit gestreßt, oder er ist total frustriert, weil er gefeuert wurde.« »Zwei dieser Möglichkeiten treffen haargenau auf Robert Perry zu«, bemerkte Allegro. »Seine Frau hat ihn etwa zu dem Zeitpunkt verlassen, als die Morde anfingen. Und er wurde kurz davor gefeuert.« »Sind Sie wirklich davon überzeugt, daß Perry Romeo ist?« Allegro bog auf den Bridgeway, Sausalitos Hauptstraße, die direkt an der Bucht entlang zur Anlegestelle der Fähre führte. »Ich halte es für durchaus möglich. Sie nicht?« »Mir fällt es schon schwer, nicht jeden Mann, den ich kenne, einschließlich Sie und Wagner, für Romeo zu halten – außer Bernie. Und das auch nur, weil er schwul ist und im Rollstuhl sitzt.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das stimmt nicht.« »Bernie verdächtigen Sie also auch?« »Nein. Ich meine nur, die Gründe, die ich genannt habe, stimmen nicht. Ich liebe Bernie. Er ist der einzige Mensch, dem ich voll und ganz vertrauen kann. Er ist mein bester Freund.« Ihr Blick fiel auf ein Paar, das vor einer Kunstgalerie stand und sich leidenschaftlich küßte, als gäbe es die Welt rundherum gar nicht. Plötzlich empfand sie schmerzhaften Zorn. Wieso stand ihr ganzes Leben im Zeichen des Schmerzes? Was würde sie in diesem Moment darum geben, mit dieser unbeschwerten jungen Frau tauschen zu können… »Also, worüber wollen wir reden?« fragte Allegro. »Egal, je belangloser, desto besser.« Allegro grinste. »Das ist zuviel verlangt.«
Irgend etwas an der Art, wie er das sagte, brachte Sarah zum Lachen. Zu ihrer Überraschung spürte sie, wie sie sich ein wenig entspannte, die Brise von der Bucht genoß, diese kleine Spritztour, ja sogar seine Gesellschaft. Oh, es ist so schön. Siehst du, Feldman, du irrst dich. Die Vergangenheit mit aller Trauer, Verwirrung, Qual und Angst hat mir doch nicht die Fähigkeit genommen, Freude zu empfinden. Später, auf der Fähre, die nach Tiburon tuckerte, standen sie auf Deck gegen die Reling gelehnt, ihre Schultern berührten sich fast, aber nicht ganz, und sie blickten auf die mit Segelbooten übersäte Bucht. Sarahs Gedanken wanderten wieder zu dem Paar, das sich vor der Kunstgalerie geküßt hatte. Dann dachte sie daran, was es am Abend zuvor nach dem versuchten Einbruch in ihre Wohnung für ein Gefühl gewesen war, als sie sich an John geklammert hatte, als er sie in den Armen gehalten hatte. Es war ein gutes Gefühl gewesen. Sie blickte in seine Richtung. Findet er mich hübsch?
18 Meine Finger umfassen dich, und ich sehe, wie das Licht in deinen Augen erlischt. Ich spüre eine Verzweiflung, die so stark ist, daß ich mir vorstelle, wie sie mich verschlingt. Du bist meine geheime Qual, mein Geheimnis, mein Leben. M. R. Tagebuch Sarah saß neben Allegro auf einer Bank vor dem malerischen französischen Restaurant, wo sie bei Kerzenschein ein vorzügliches Abendessen genossen hatten. Die erste anständige Mahlzeit, die sie seit ewigen Zeiten gehabt hatte. Und die stattliche Rechnung hatte am Ende doch er übernommen. Sie blickte ihn an und fühlte sich auf unerklärliche Weise zufrieden. Sie wußte nicht genau, was sie wirklich für Allegro empfand, abgesehen davon, daß sie erste Regungen einer körperlichen Anziehung verspürte, aber ihr gefiel die Vorstellung, in ihn verliebt zu sein. Und wieder hörte sie Feldmans vertrautes Flüstern. »Du versuchst bloß wieder, etwas zu verleugnen, Sarah. Das ist deine Art, dir Sicherheit zu verschaffen, wenn du dich schrecklich unsicher fühlst. Das funktioniert nicht. Dadurch kannst du das Entsetzen nur vorübergehend eindämmen. Und wir beide wissen doch, daß es immer schwieriger wird. Deine Geheimnisse drängen allmählich ans Tageslicht, und du kannst sie nicht wieder zurückstoßen…« »Ich wünschte, wir könnten für immer hierbleiben«, sagte sie unvermittelt. Ohne sie anzublicken, erwiderte Allegro: »Ob es für immer geht, weiß ich nicht, aber wir könnten…« Er hielt inne. »Wir könnten was?« hakte Sarah nach. Ihre Blicke trafen sich. »Wir könnten hier übernachten, wenn Sie wollen. Es gibt hier Zimmer. Oben.« »Zimmer?« »War nur so ein Gedanke. Ich hatte Ihren Freund vergessen. Bernie, nicht?« »Richtig. Bernie.«
»Ich könnte ihn noch mal anrufen.« »Wollen Sie das?« »Will ich was?« »Ihn anrufen?« Allegro rieb sich das Kinn. »Hierbleiben?« »Detective, ich glaube, Sie werden gerade rot.« »Bitte, verstehen Sie das nicht falsch, Sarah. Ich versuche nicht, Sie zu verführen. Ich habe Zimmer gesagt, nicht ein Zimmer. Ich dachte nur…« »Was dachten Sie?« »Das ist eine Fangfrage. Sie wollen doch nicht alles wissen, was ich denke.« »Wenn doch, würden Sie es mir dann erzählen?« Er lächelte. »Nein.« Impulsiv beugte Sarah sich zu ihm, das Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem entfernt. »Schon gut, John.« »Himmel«, flüsterte er, als er sachte ihr Kinn umfaßte und ihren Mund an seinen Mund führte. So sehr Sarah sich diesen Kuß auch gewünscht hatte, in dem Augenblick, als sich ihre Lippen berührten, ergriff sie eine Woge der Angst. Sie wich abrupt zurück. Allegro entschuldigte sich augenblicklich. »Das war dumm von mir. Hören Sie, Sarah, ich weiß, was Sie jetzt denken…« »Nein, das wissen Sie nicht, Allegro. Wahrhaftig nicht.« »Wir können zurück in die Stadt fahren. Ich bringe Sie zu Bernie.« »Möchten Sie das wirklich?« »Ich möchte das, was Sie möchten.« »Und wenn ich nicht weiß, was ich möchte?« »Ich glaube, Sie wissen es.« Sarah schwieg eine Weile. Dann flüsterte sie: »Ich bin nicht wie Melanie.« Allegro starrte in den dämmrigen Abend. »Ich weiß.« »Sie wollten Melanie. Sie fühlten sich zu ihr hingezogen.« »Ja.« Es war sinnlos, etwas zu leugnen, was er bereits zugegeben hatte. »Wieso haben Sie dann nicht mit ihr geschlafen? Hat sie Sie abblitzen lassen?« »Nein.«
»Also wieso?« »Ich weiß nicht, ob ich es erklären kann.« »Versuchen Sie’s.« Er lehnte sich zurück, preßte die Hände zusammen und schob sie zwischen die Oberschenkel. »Ich glaube, es hatte mit Grace zu tun. Melanie erinnerte mich an Grace.« »Ihre Frau?« Er nickte. »Grace hatte so was Verzweifeltes an sich. Manchmal, wenn ich zur Arbeit ging, folgte sie mir bis zur Tür, stand da und sah mir nach, wie ich den Flur hinunterging, und ich dachte, dort wird sie jetzt wie erstarrt stehenbleiben, bis ich wiederkomme.« »Und das gleiche Gefühl hatten Sie bei Melanie?« fragte Sarah ungläubig. »Auf seltsame Art, ja«, antwortete er. »Je besser ich Melanie kennenlernte, desto stärker hatte ich das Gefühl, daß es zwei Melanies gab – die eine, die sich mit traumwandlerischer Sicherheit geschickt durchs Leben manövrierte, und dann die andere Melanie.« »Die, die wie erstarrt auf der Stelle verharrte? Und die Sie verzweifelt brauchte, um ihr Leben wieder in Gang zu bringen?« Allegro wandte den Kopf und blickte Sarah unbeirrt an. »Die jemanden verzweifelt brauchte.« Sarah blickte weg und starrte in die Dunkelheit. Ja, die jemanden verzweifelt brauchte. Der unbekannte Geliebte in den Tagebuchfragmenten. »Ich wußte nur, daß ich Melanie nicht das geben konnte, was sie brauchte«, sagte Allegro gerade. Sarah wandte sich ihm erneut zu, mit vorwurfsvollem Gesicht. »Konnten Sie nicht, oder wollten Sie nicht?« Ja. Gib ihm die Schuld. Gib ihnen allen die Schuld. Sie alle haben Melanie im Stich gelassen. So wie sie am Ende auch dich im Stich lassen werden. Allegro lächelte traurig. »Das gefällt mir an Ihnen, Sarah. Sie lassen sich nichts vormachen. Vielleicht liegen Sie ja genau richtig. Die Wahrheit ist, ich hasse das Gefühl, manipuliert zu werden. Noch mehr hasse ich das Gefühl, unzulänglich zu sein.
Ich hätte mit Ihrer Schwester ins Bett steigen können«, sagte er direkt, »aber es hätte uns beiden nichts gebracht. Und schlimmer noch, ich hätte mich in eine Situation verstrickt, die mein Leben noch komplizierter gemacht hätte, als es zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon war.« »Und was ist mit mir? Mache ich Ihr Leben auch komplizierter?« Sein Blick war so durchdringend wie eine Messerklinge. »Das weiß ich jetzt noch nicht. Es ist jedenfalls nicht zu leugnen, daß wir beide ziemlich viel Ballast mit uns herumschleppen. Aber…« Er verstummte abrupt. »Aber was?« Seine Züge wurden weicher. Er streckte die Hand aus und streichelte leicht ihre Wange. »Aber Sie gehen mir unter die Haut, Sarah«, sagte er leise. Seine Berührung, so leicht sie auch war, drang in ihre Haut. Diesmal wich sie nicht zurück, als sich ihre Lippen berührten. Einige Augenblicke lang war sie sogar imstande, sich ganz dem Kuß hinzugeben, ihre übliche Panik unter Kontrolle zu halten, sich vorzustellen, sie und John würden sich in nichts von dem küssenden Paar unterscheiden, das sie in Sausalito gesehen hatte. Die reine Erregung. Das berauschende, betörende Gefühl, gewollt zu werden, begehrt zu sein. Diejenige zu sein, die liebkost wurde. Zeit spielte keine Rolle mehr. Dieser Augenblick war alles. Sie steigt auf seinen Schoß. Setzt sich rittlings auf ihn. Will ihn. Sehnsüchtig. Gierig. Preßt sich gegen ihn. »Ja, ja, ja…« keucht er ihr ins Ohr. Ein Anfall von Panik. Tödliche Schatten an den Wänden. »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht.« »Alles in Ordnung, Baby. Ich verspreche es dir. Versprochen. Versprochen.« Er bedeckt ihren Körper mit Küssen. Übernimmt jetzt die Initiative. Seine Hände umfassen ihre Taille. Heben sie hoch. Auf und ab. Auf und ab. Sie ist machtlos. Sie muß sich ergeben. »Ja, ja, ja.« Jetzt ihre Stimme. Keine Schuldgefühle. Keine Angst. Keine Dämonen. Kein Verrat. Wenn sie das nur bewahren kann.
Doch es ging bereits zu Ende, als der Gedanke sich in ihrem Kopf festsetzte. Das altbekannte schlechte Gefühl übermannte sie. Muß aufhören. Muß aufhören, bevor es zu spät ist. Bevor er mich ganz auffrißt und runterwürgt. Machen sie das nicht alle? Plündern und zerstören? Dir das Herz rausreißen? Sarah schnappte nach Luft, riß sich von Allegro los. Seine Hand schnellte vor. Er packte ihren Arm. »Sarah, es war bloß ein Kuß. Ganz richtig.« Seine Stimme klang eindringlich. Erst da merkte sie, daß ihre Fäuste geballt waren und daß sie drauf und dran war, auf Allegro einzuschlagen. Sie hielt mitten in der Bewegung inne, rang nach Luft, begriff erschüttert, daß sie noch immer auf der Bank saßen, vollständig angezogen, Seite an Seite. Bloß ein Kuß. Ja, erkannte sie jetzt. Mehr war es nicht gewesen. Und noch dazu ein ziemlich zurückhaltender. Alles andere war Einbildung. Aber es hatte sich angefühlt, als wäre es wirklich passiert. Wunschdenken? Projektion? Das Bild ihrer Schwester, wie sie Feldman umarmte, tauchte vor ihrem geistigen Auge auf – Feldmans Gesichtszüge hatten sich vor ihren Augen aufgelöst –, und ein neues Gesicht bekam allmählich Form und Substanz. Das Gesicht ihres Vaters. Oder war das auch bloß pure Phantasie? Drehte sie langsam durch? Allegro hielt noch immer ihren Arm fest. Sie wollte nicht, daß er sie jetzt berührte. Sie wollte davonlaufen, aber sie zwang sich zu einem Lächeln, obwohl sie nicht wirklich daran glaubte, daß er es ihr abkaufen würde. Er atmete aus, und seine Verärgerung war deutlich hörbar. »Sagen wir einfach, der Zeitpunkt war denkbar schlecht gewählt«, murmelte er. Er steckte die Hände in die Taschen seines Jacketts, als wollte er demonstrieren, daß er ihr nicht mehr zu nahe kommen würde. Sarah fühlte sich miserabel. Na ja, es war ein hübsches Märchen gewesen. Aber es gab eben keine Märchen im wirklichen Leben. Niemand wußte das besser als sie. Sie stand unvermittelt auf. »Ich denke, wir sollten uns allmählich auf den Rückweg machen. Bernie macht sich bestimmt schon Sorgen.«
»Okay«, sagte Allegro, stand resigniert auf und folgte ihr die Verandastufen hinunter. Zurück blieb die leere Bank, die langsam von dem dichten Abendnebel eingehüllt wurde, der aus der Bucht aufstieg. »Ich habe dir Schmorbraten im Ofen warmgehalten«, sagte Bernie zur Begrüßung, als sie abends um Viertel vor zehn seine Wohnung betrat. Sie sah ihn matt an. »Ich glaube, ich muß kotzen.« »Tja, dann brauche ich ja wohl nicht zu fragen, wie dein Rendezvous gelaufen ist.« »Es war kein Rendezvous«, fauchte sie. »War nur ein Scherz. Was ist los, Sarah? Komm, setz dich und red mit deinem alten Freund Bernie.« Er lenkte seinen Rollstuhl in sein geschmackvoll eingerichtetes Wohnzimmer, ein Überbleibsel von einer kurzen Affäre mit einem Innenarchitekten. Er umfuhr gekonnt mehrere neapolitanische Tischchen, auf denen Marmorskulpturen und andere Kunstgegenstände standen, parkte neben einem dunkelbraunen Ohrensessel mit Samtbezug und klopfte auf das Sitzpolster. Sarah ließ sich in den Sessel plumpsen und vergrub das Gesicht in den Händen. »Möchtest du ein Aspirin? Magentabletten? Heiße Milch mit Honig?« fragte Bernie fürsorglich. »Bernie, entweder ich werde verrückt, oder ich habe trügerische Erinnerungen, oder…« Sie brachte es nicht fertig, den Satz zu beenden. »Trügerische Erinnerungen?« Bernie strich sich über den Bart. »Du meinst, man erinnert sich an ein traumatisches Erlebnis in der Vergangenheit, und dann stellt sich heraus, daß man es sich bloß eingebildet hat? Alles nur erfunden hat?« Sarah nickte. »Wie willst du wissen, ob du dich wirklich an etwas erinnerst oder ob es bloß das Produkt deiner verkorksten Phantasie ist?« »Ich denke, wenn die Person, die das Trauma ausgelöst hat, es zugibt.« »Er… kann es nicht.« »Was ist mit Zeugen?« fragte Bernie arglos.
Sarahs Magen verkrampfte sich. Warum hast du mich geschlagen? Ich habe nichts gemacht. Nichts gemacht. Bernie kam mit seinem Rollstuhl näher, nahm Sarahs Hand, ihre Knie berührten sich fast. »Was ist los, Liebes? Erzähl es mir ruhig.« Sarah ließ den Kopf nach hinten gegen den Sessel fallen. Sie starrte auf die verzierte Stuckdecke. »Was, wenn – wenn ich – die einzige Zeugin bin?« »Die einzige Zeugin wovon?« Sie schlang fest die Arme um sich und schloß die Augen. »Ich glaube, ich habe sie gesehen. Melanie und…« Wie konnte sie es laut aussprechen? Bernie verstand nicht. »Du hast Melanie und Romeo gesehen? Meinst du das, Sarah? Du glaubst, du weißt, wer es getan hat?« Ja, dachte sie. In gewisser Weise wußte sie es. Denn Romeo war nicht der Anfang von Melanies trauriger Geschichte, bloß das tragische Ende. »Ich rede nicht von Romeo«, sagte sie düster. »Von wem redest du dann?« Wie sollte sie anfangen? Sie konnte es nicht einmal selbst aussprechen. »Ich habe in letzter Zeit entsetzlich beängstigende Visionen. Angefangen haben sie direkt nach Melanies Ermordung. Genaugenommen direkt nachdem Romeo zum erstenmal mit mir in Kontakt getreten ist. Sie werden jeden Tag schlimmer. Heute morgen bei Feldman, da habe ich ein besonders furchtbares, alptraumhaftes Bild gesehen.« »Feldman?« »Es hat eigentlich nichts mit ihm zu tun. Obwohl er in gewisser Weise – ich denke, er war der Katalysator.« »Was hast du gesehen?« »Ich habe mich zum erstenmal an ein Ereignis in der Vergangenheit erinnert. Es war, als ich dreizehn war. Ganz kurz bevor… meine Mutter gestorben ist.« Sich umgebracht hat. Sich mit einer Wäscheleine auf dem Speicher aufgehängt hat. »Weiter«, drängte Bernie sie sanft. »Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das alles wirklich passiert ist, Bernie. Vielleicht war es auch nur ein schrecklicher Alp-
traum, den ich seit Jahren in meinem Unterbewußtsein mit mir rumschleppe. Oder vielleicht ist ja auch nur ein Teil davon wirklich passiert, aber der Rest…« Ihr Verstand war schneller als ihre Worte und sah mehr, als sie sehen wollte. Ein Film lief in ihrem Kopf ab, so sehr sie auch versuchte, den Projektor abzustellen. Bernie hielt noch immer ihre Hand. »Erzähl mir den Teil, von dem du glaubst, daß er tatsächlich passiert ist.« Sie lächelte ihn an. »Du hättest einen guten Therapeuten abgegeben, weißt du das, Bernie?« Sie war froh, daß er ihre Hand nicht losgelassen hatte. So gab er ihr den Mut, den sie so dringend brauchte. Sie erzählte ihm von dem Abend, als sie dreizehn war und nach unten zum Arbeitszimmer ihres Vaters gegangen war, um ihm zu sagen, daß ihre Mutter krank sei. Wie wütend er gewesen war. Wie er ihr gesagt hatte, daß Melanie krank sei. »Jetzt fällt es mir wieder ein«, fuhr sie fort. »Meine Eltern hatten einen großen Krach wegen meiner Tanzstunden. Ich hatte meine Mutter angefleht, mich abzumelden. Ich habe den Unterricht gehaßt. Schließlich hat sie eingewilligt, der Lehrerin Bescheid gesagt und es dann zu Hause meinem Vater erzählt. Er war wütend. Soweit ich mich erinnern kann, war das das einzige Mal, daß meine Mutter sich gegen meinen Vater durchgesetzt hat. Sich für mich stark gemacht hat.« Sie schloß die Augen. »Drei Tage später hat sie sich erhängt.« »Wegen diesem Krach mit deinem Vater?« Bernie klang ungläubig. »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, warum sie es getan hat.« »Okay, weiter. Du bist also runter zum Arbeitszimmer.« »Und wenn ich mir das alles nur einbilde? Vielleicht fange ich wirklich an zu spinnen. Feldman hat wahrscheinlich recht. Ich sollte wieder Medikamente nehmen.« »Was ist passiert, als du zum Arbeitszimmer gekommen bist, Sarah?« drängte Bernie. Sie hielt die Augen geschlossen. Sie war nicht mehr in Bernies Wohnung. Sie war unten in der Diele ihres Elternhauses in Mill Valley. Sie trug ihren knallroten Pyjama. »Als ich an der Tür war, bekam ich es mit der Angst. Wenn ich ihn aufwecken
würde, wäre er furchtbar wütend. Ich habe die Tür nur einen Spalt geöffnet, um nachzusehen, ob er schon schlief. Ich konnte hineinsehen…« Sie brach abrupt ab, ihr Atem ging in kurzen, schnellen Stößen. »Was hast du gesehen, Sarah?« fragte Bernie behutsam. »Ich – sehe sie. O Gott. Ich sehe sie. Daddy und – Melanie.« Sogar ihre Stimme war verändert. Es war die Stimme eines verängstigten kleinen Mädchens. Tränen strömten über ihre Wangen, aber sie redete weiter. Ohne sich darüber im klaren zu sein, daß sie redete. Als ob sie wieder an der Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters stehen würde. Sie war sich nur noch dessen bewußt, was sie sah. »Melanie mit dem Rücken zu mir. Sie ist auf Daddys Schoß, sieht ihn an. Auf der großen ausklappbaren Schlafcouch.« Sie kauerte sich im Sessel zusammen. Reflexartig legten sich ihre Arme schützend über den Bauch. »Sie ist nackt. Melanie ist nackt. Ich sehe ihr Nachthemd auf dem Boden liegen… das weiße aus Baumwolle mit Spitzen an den Ärmelaufschlägen.« Sie konnte jetzt sein Gesicht sehen. Das Gesicht ihres Vaters. Aber er sah ganz anders aus, als sie ihn je zuvor gesehen hatte. Den Hals nach hinten gebeugt, vorstehende lila Adern. Den Mund weit geöffnet. Die Augen nach oben verdreht. Große Hände, die Melanies schmale, nackte Taille umfaßten. Auf und ab, auf und ab. Sie preßte die Augen zu, aber das schreckliche, böse Bild wollte nicht verschwinden. Sie preßte die Fäuste auf die Augenlider. Noch immer da. Noch immer da. »Ich hole dir etwas Wasser. Irgendwas«, sagte Bernie flehentlich. Aber Sarah klammerte sich an ihm fest. »Es ist passiert, Bernie. Es ist wirklich passiert.« »Ja, Sarah. Ja.« »Er hat mich gesehen. An der Tür. Es war entsetzlich. Ich hatte das Gefühl, als würde sein Blick ein Loch durch mich hindurchbrennen.« Sie hatte schon den Ausdruck, der zuvor auf dem Gesicht ihres Vaters lag, als gräßlich empfunden, aber dieser war noch
schlimmer. Es war ein Blick voller Entrüstung – nein, voller Abscheu, Haß. »Ich kann ihn sehen. Wie er sich vor mir aufbaut. In seinem grauen Flanellbademantel. Sich die Kordel um die Taille festzieht. Wie komisch er riecht.« Ihre Augenlider öffneten sich flatternd. »Er war so wütend, er hat mich geschlagen. Fest. In den Bauch.« Bernies Augen füllten sich mit Tränen. Die Hände auf den Bauch gepreßt, glitt Sarah vom Sessel auf den Boden, schluchzend, ihr Kopf fiel auf Bernies leblose Beine. »Ach, Bernie, Melanie war sechzehn. Ich glaube, das war nicht das erste Mal. Ich glaube, vielleicht… da unten im Arbeitszimmer unseres Hauses in Mill Valley. Die vielen Nächte, wenn Mama oben ihren Rausch ausschlief. Ich habe es gehaßt, wenn sie trank. Weil ich wußte, daß er dann dort schlafen würde. Und daß Melanie – Melanie…« Andere Bilder und Klänge stürmten auf sie ein. Ihr war, als würde ihr der Verstand geraubt, heftige Sinnesblitze wirbelten ihr wild durch den Kopf. Sie rang nach Luft. »Und damit war nicht Schluß, Bernie. Auch nachdem – nachdem meine Mutter gestorben und wir umgezogen waren, habe ich nachts die Geräusche gehört; jetzt erinnere ich mich wieder. Schreckliche Geräusche. Schreie. Stöhnen. Ich habe mir das Kissen über den Kopf gezogen. Ich bin nie wieder aufgestanden. Ich habe nie wieder nachgesehen. Ich wollte nicht, daß mein Vater mich wieder beim Spionieren erwischt. Aber manchmal habe ich sie gehört. Ich habe gehört, wie sie miteinander geschlafen haben.« Krämpfe schüttelten sie. Ihr ganzer Körper begann zu zucken. Bernie fürchtete, sie hätte eine Art traumatischen Anfall. Wenn sie sich nicht so heftig an ihn geklammert hätte, wäre er zum Telefon gerollt und hätte einen Krankenwagen gerufen. So jedoch konnte er ihr gerade mal den Rücken streicheln, während er sie festhielt und nach den richtigen Worten suchte, um ihren fürchterlichen Schmerz zu lindern. »Ich weiß, wie schrecklich das für dich ist, Sarah. Aber es ist gut, daß du dich erinnerst. Du weißt ja, man sagt, die Wahrheit befreit. Ich glaube daran. Wirklich. Ruhig, Sarah… ruhig…« Ganz allmählich ließen die Krämpfe nach. Auch ihr Schluchzen.
»Das ist Romeos Werk«, flüsterte sie mit rauher Stimme. »Er hat die Büchse der Pandora aufgebrochen. Wenn er mir nicht die Auszüge aus Melanies Tagebuch geschickt hätte, hätte ich das, was geschehen ist, vielleicht noch bis an mein Lebensende verdrängt.« »Was für Auszüge?« fragte Bernie. »Du hast mir erzählt, daß er dir schreibt, sonderbare kleine Geschenke schickt. Melanies Tagebuch hast du mit keinem Wort erwähnt.« »Ich hatte Angst, es jemandem zu zeigen. Und ich habe mich geschämt wegen der Sachen, die sie geschrieben hat. Jetzt schäme ich mich dafür, daß ich mich geschämt habe. Daß ich nichts verstanden habe. Daß ich nicht erkannt habe…« »Da hast du es auch noch nicht gewußt, Sarah. Du hast es verdrängt. Und das ist nur allzu verständlich.« Sie warf Bernie einen düsteren Blick zu. »Genau das hat Romeo gewollt. Er wollte, daß ich mich erinnere. Daß ich leide. Er kennt die Wahrheit, denn Melanie hat in ihrem Tagebuch auch über mich geschrieben. Feldman hat schockiert ausgesehen, als ich ihm von Melanies Tagebuch erzählte.« Nach kurzer Pause fügte sie hinzu: »Es sei denn, er hat großartig Theater gespielt.« »Wieso sollte er? Ach, Sarah, du glaubst doch nicht etwa, daß Feldman…« »Wer könnte sich wohl solch komplizierte Psychospielchen besser ausdenken als ein Psychologe?« fragte sie. »Andererseits gab es in Melanies Leben noch einen weiteren Psychologen. Bill. Wenn Bill das von Melanie und meinem Vater gewußt hätte, wäre er rasend geworden.« Ihre Augen waren starr auf Bernie gerichtet. »Oder schlimmer.« »Bill Dennison, ein brutaler, irrer Serienmörder?« »So viele Nächte habe ich mich in den Schlaf geweint, mich danach gesehnt, daß er mir bloß ein einziges Mal das Gefühl geben würde, mich zu wollen.« »Dennison?« Bernie wußte von Sarahs kurzer Affäre mit Melanies Exmann, obwohl sie ihm keinerlei Einzelheiten erzählt hatte. »Nein«, sagte sie. »Mein Vater.« »Hat dein Vater jemals…« fragte Bernie zaghaft. »Was willst du damit sagen?« schrie sie heiser.
»Ich will gar nichts damit sagen, Sarah. Ich habe nur gefragt. Mehr nicht. Wir müssen nicht darüber reden.« Sie wich von ihm zurück, mit wildem, wütendem Blick. »Es gibt auch nichts zu bereden. Mein Vater hat mich niemals angerührt. Niemals. Nicht so. Niemals. Ich habe ihn angeekelt. Wie hätte ich es in seinen Augen mit Melanie aufnehmen können? Glaubst du etwa, daß ich das wollte? Glaubst du, ich hätte mir gewünscht, daß ich es wäre? Ich hätte gewollt, daß mein Vater mit mir ins Bett geht?« Sie tobte, das Gesicht häßlich und puterrot, die Hände zu festen Fäusten geballt. »Okay, wenn du dich dann besser fühlst, nur zu. Schlag mich. Na los. Hau zu.« Das brachte sie zur Besinnung. Fast hätte sie gelacht, so grotesk war es. »Spinnst du, Bernie?« »Sarah, hör mir zu, ich bin dein Freund. Ich liebe dich. Und ich habe nicht gesagt, daß dein Vater dich auch mißbraucht hat.« Sie ließ sich wieder in den Ohrensessel fallen. »Ich wette aber, daß Romeo das denkt. Daß Melanie und ich, beide…« Ihr Mund klappte auf, die Augen wurden groß. »Sarah, was ist?« »Vielleicht ist es das. Was, wenn Romeo denkt, wir alle wären Inzestopfer. Allerdings keine Opfer. Daß wir irgendwie Schuld hätten. Daß wir die Sünderinnen sind. Daß er unser Erlöser ist.« Bernie glotzte sie an. »Himmel, Sarah, da könnte was dran sein. Du mußt den Cop anrufen, deinen Freund Allegro.« »Und es ihm sagen? Ihm sagen, daß mein Vater meine Schwester sexuell mißbraucht hat? Ihm sagen, er soll überprüfen, ob die Väter der anderen Opfer ein inzestuöses Verhältnis zu ihren ermordeten Töchtern hatten?« Hysterie stieg in ihrer Kehle auf. Sie wandte sich ab. »Du brauchst ihm nur zu sagen, daß Romeo das vielleicht denkt, nicht, daß es unbedingt wahr ist, Sarah«, argumentierte Bernie ruhig. »Ich glaube nicht, daß es die Cops bei ihren Ermittlungen weiterbringen könnte«, sagte sie starrköpfig. »Es könnte sie ein gutes Stück weiterbringen. Sie können so einen weiteren Aspekt von Romeos Persönlichkeit unter die
Lupe nehmen. Vielleicht ist er ja als Kind selbst mißbraucht worden. Weißt du, er identifiziert sich mit seinen Opfern und haßt sie gleichzeitig. Und vermutlich haßt er auch sich selbst.« »Ich weiß nicht, Bernie.« Doch noch während sie sich dagegen sträubte, fielen ihr Zitate von Sexualtätern ein, die sie in dem Buch in der Bibliothek gelesen hatte. Mit sieben wurde ich von meinem Vater zum erstenmal mißbraucht. Als ich damit drohte, ihn zu verraten, hat er mich windelweich geprügelt… Nachdem mein Vater abgehauen war, zwang meine Mutter mich, mit ihr zu schlafen. Solange ich in der High-School war, hatten wir Sex miteinander… Mein älterer Bruder hat mich vergewaltigt, als ich elf war, und mich von da an als Schwulen bezeichnet… Vielleicht hatte Bernie recht. Viele psychopathische Sexualtäter waren in Familien aufgewachsen, in denen Gewalt und Mißbrauch an der Tagesordnung waren. »Was weißt du über Dennisens Eltern?« Sarah zog die Schultern hoch. »Nicht viel. Ich habe sie nur einmal gesehen. Bei der Hochzeit. Sie wohnen in Manhattan. Der Vater ist Internist, glaube ich. Seine Mutter – über die weiß ich gar nichts.« »Mist, da fällt mir was ein. Hätte ich fast vergessen.« »Was?« fragte Sarah beunruhigt. »Emma Margolis hat ein paarmal angerufen. Du sollst sie bitte zurückrufen.« Sarah runzelte die Stirn. »Wahrscheinlich macht sie sich Sorgen um mich. Ich war heute nach der Aufzeichnung ziemlich durcheinander.« Sie sah auf die Uhr. Es war ein paar Minuten nach elf. Sie hatte Emmas Sendung verpaßt. Aber wahrscheinlich hätte sie die ohnehin nicht verkraftet. Die Aufnahme selbst war schon anstrengend genug gewesen. »Was ist mit deinem Freund Allegro? Rufst du ihn an und erzählst ihm von deiner Theorie?« fragte Bernie, als Sarah in ihrer
vollgestopften Umhängetasche nach dem Stück Papier wühlte, auf dem sie Emmas Privatnummer aufgeschrieben hatte. »Ich werde ihn auch anrufen, aber so was kann ich ihm schlecht am Telefon erklären.« Bernie grinste. »Dann wirst du dich wohl wieder mit ihm verabreden müssen.« Sarah drohte Bernie mit der Faust, doch diesmal lächelte sie schwach. Okay, sie wollte John wiedersehen. Es war merkwürdig, daß sie nach allem, was passiert war, tatsächlich noch einen Funken Hoffnung verspürte. Sie rief zunächst bei Emma an, mußte sich aber wieder mit dem Anrufbeantworter begnügen. Nach dem Pfeif ton hinterließ sie die kurze Nachricht, daß es ihr gutging und daß sie es am Morgen noch einmal versuchen würde. Anschließend wählte sie Johns Privatnummer, die er ihr am Abend zuvor gegeben hatte. Aber auch bei ihm meldete sich niemand.
19 Die Befriedigung währt nur kurz. Die Frustration stellt sich unweigerlich wieder ein, denn er bekommt nie das, was er braucht. Nie erlebt er die ursprüngliche Wut, den ursprünglichen Schmerz. Dr. Melanie Rosen in Cutting Edge Romeo trommelt leicht mit den Fingern auf den Lippen, während er Sarah im Fernsehen sieht. »Aber du kannst mir nichts vormachen.« »So intensiv. Es ist so schön. Unglaublich bewegend. Es stimmt. Tief in dir weißt du Bescheid. Du kennst mein wahres Ich. Und dein wahres Ich. Du wartest nur darauf, daß ich meine Fassade ablege. Für uns beide«, sagt er. »Stimmt das nicht, Emma?« »Bitte«, fleht Emma Margolis, das Gesicht vor Angst und Schmerz verzerrt. »Bitte was?« »Bitte binde mich los.« Emmas Stimme ist ein Wimmern. Die seidenen Fesseln schneiden ihr ins Fleisch, obwohl sie sich nicht mehr bewegt, seit sie gemerkt hat, daß die Fesseln sich dadurch nur noch fester zuziehen. Romeos Augen ruhen weiter starr auf dem Bildschirm. Er ist völlig versunken. Er spürt eine unglaubliche Erregung. »Ja, ich bin hier. Ganz nah, Sarah. Ganz, ganz nah.« Er sitzt auf der Schlafcouch in Emmas Gästezimmer, wo, wie Emma ihm gesagt hat, Sarah in der Nacht zuvor geschlafen hat. Er drückt sich das Kopfkissen, auf dem sie geschlafen hat, ans Gesicht, atmet ihren Duft ein. Das Raubtier, das die Witterung seiner Beute aufnimmt. »… die ersten Risse zeigen sich bereits. Ich werde ganz genau hinsehen und sie bald entdecken. Das werde ich. Mag sein, daß du sie vor den anderen verbergen kannst…« Er lächelt. »Du gibst dir Mühe, Baby, aber du siehst noch immer nicht genau genug hin. Oder vielleicht doch, und du bist nur noch nicht soweit. Bald, Sarah.«
Er streckt sich aus, als die Sendung, die er vor einer Stunde mit Emmas Videorecorder aufgenommen hat, zu Ende geht. Er wirft Emma einen flüchtigen Blick zu. Sie liegt nackt zu seinen Füßen, ihr gefesselter Körper befindet sich in einer verdrehten und völlig wehrlosen Stellung. Er ist noch vollständig angezogen, hat aber den Hosenschlitz geöffnet und streichelt sich träge, während er die Fernbedienung nimmt, das Band ein paar Sekunden zurückspult und wieder laufen läßt. »Meine Schwester hat geglaubt, du würdest mit jedem Mord stärker und mächtiger, aber sie hat sich geirrt. Du bekommst es mit der Angst zu tun, Romeo. Ich kann deine Angst förmlich riechen.« Er lächelt Emma zu. »Riechst du meine Angst?« Er beginnt wieder, sich zu streicheln. Blickt aufmerksam auf den Bildschirm. Atmet Sarah ein. Ihre Worte. Ihre Stimme. Ihr Bild. »Ich kann deine Angst förmlich riechen. Du versuchst, sie zu bekämpfen, so zu tun, als gäbe es sie nicht. Aber du kannst mir nichts vormachen.« »Mit einem hat Sarah recht, Emma. Allmählich habe ich das Theaterspielen satt. Romeo ist meine wahre Identität. Mein wahres Ich. Alles andere ist eine Lüge. Wir alle müssen uns wieder mit dem vereinigen, was wir wirklich sind. Manche von uns brauchen dabei Hilfe. Eine Erleuchtung. Das habe ich für Melanie und die anderen getan. Das tue ich heute nacht für dich, Emma. Dir helfen, die Lügen abzustreifen. Damit du mit der wahren Emma verschmelzen kannst. Der elenden Hure. Der Hexe. Der schmutzigen Sünderin. Stimmt das nicht, du Schlampe?« »Ja«, wimmert sie, von Angst geschüttelt. Er grinst. »Du lügst. Du würdest jetzt alles sagen und alles machen, nicht?« Obszön lächelnd streckt er seinen nackten Fuß aus. »Dann leck daran. Saug daran tief und fest. Mach es, so gut du kannst, Baby.« Emma fängt an zu weinen, während sie gehorsam seinen Zeh mit ihren rauhen, aufgesprungenen Lippen umschließt. Er beobachtet sie teilnahmslos. Im Grunde ist das hier auch nur wieder ein Zeitvertreib. Eindeutig besser als mit der kleinen
Nutte vom Club. Sie war seiner Absolution nicht würdig. Das war ihm bereits klar, lange bevor er sich ihr Herz holte. Er runzelt mißbilligend die Stirn. Mit Melanie war es viel befriedigender gewesen als mit den anderen. Er hatte sogar gedacht, sie wäre der krönende Abschluß. Daß sie seine Erlösung wäre, wie er ihre Erlösung war. Daß er in der Lage wäre, ihr Herz auf wundersame Weise unversehrt zu halten. Am Ende stellte sich heraus, daß ihr Herz nicht besser war als die anderen. Jetzt war ihm klar, daß auch Melanie nur nehmen konnte, nicht geben. Er weiß, daß alles schneller läuft, als er geplant hatte. Die Frustration wird größer. Gerät außer Kontrolle. Sarah hat recht. Es zeigen sich tatsächlich erste Risse. Er weiß, daß es mit Sarah wunderbar sein wird. Es fällt ihm immer schwerer, weiter abzuwarten, bis er endlich seine Phantasien in Realität verwandeln kann. Da ist dieser ungeheure Druck. Dieser Drang. Ihr flehentliches Bitten im Fernseher ist so quälend, daß er sich kaum beherrschen kann. Er hatte gehofft, Emma würde seine wachsende Frustration vorübergehend besänftigen. Aber sie erweist sich schon jetzt als Enttäuschung. Sie wird versagen. Wie all die anderen. Doch er muß vollenden, was er begonnen hat. Wenn auch nur um Emmas willen. Mit Emma hat er bereits abgeschlossen. Er denkt an Sarah. Malt sich ihren gemeinsamen letzten Abend aus. Nur Sarah ist etwas Besonderes. Und so lange schon hat es in seinem Leben niemanden mehr gegeben, der wirklich etwas Besonderes war. Er stellt den Fernseher leise, so daß Sarahs Stimme ein Flüstern ist. Die Klänge von Rhapsody in Blue sind aus dem Wohnzimmer zu hören. Ihr Lieblingsstück. Seine Huldigung für eine Frau in seinem Leben, die ihn wirklich verstanden hat. Ihn vollkommen verehrt hat. Damit sie weiß, daß sie immer bei ihm ist, ein Teil von ihm. Daß er das alles für sie tut. »Du brichst mir das Herz, Baby.« Romeo preßt die Augen zusammen, als ihr vertrauter Schrei in seinem Kopf widerhallt, Sarahs Fernsehstimme übertönt, die Musik. Es tut mir leid. Ich wollte dir nicht das Herz brechen. Aber du hättest meines nicht brechen sollen.
Trauer vermischt sich mit Wut, das ist immer so. Es hätte nicht so kommen müssen. Wenn sie nur ehrlich zu ihm gewesen wäre. Wenn sie an dem letzten Tag nicht all die schrecklichen Dinge zu ihm gesagt hätte. Warum hat sie ihm so weh getan? Warum malte sich in ihrem Gesicht so viel Verachtung ab, als er seine Hand nach ihr ausstreckte? Dieses wunderschöne Gesicht. Wie häßlich es da wurde. Sein Mund zuckt. Du hast mich nie richtig geliebt. Du hast es nur gesagt. Du hast mich benutzt. Haß brennt ihm in der Kehle. Du warst gut im Bett. Du hast bekommen, was du verdient hast. Er wischt sich die Tränen aus den Augen. Nein, ich habe das nicht so gemeint. Ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben. Nur darum geht es hier. Ich bemühe mich so sehr, alles wiedergutzumachen. Ich tue, was ich kann. Ich möchte, daß du mir verzeihst. Mich liebst. Er betätigt die Fernbedienung. Das Standbild zeigt Sarah. Ihr Anblick erfüllt ihn mit Hoffnung. Mit Liebe. Er hat das Gefühl, ganz in sich zu ruhen. Er hat alles im Griff. Alles ist wieder im Lot. Die Welt ist in Ordnung. Er gleitet auf den Boden neben seine Gefangene, faßt in das dichte dunkle Haar und reißt ihr den Kopf nach oben. Sie sabbert Speichel und Blut. Ihr Gesicht ist so verquollen, daß sie kaum noch zu erkennen ist. »Wie wär’s mit noch einem Glas Champagner, Emma? Nur damit du siehst, daß ich dir nicht böse bin.« Er greift nach der Flasche Perrier-Jouët und füllt die beiden Gläser. Neben der Flasche liegt ein Tranchiermesser aus Emmas Küche. Die geschliffene Stahlklinge spiegelt das Licht der flackernden Kerzen wider. Das Telefon klingelt.
20 Du bist so gut wie tot. Ich trauere und juble in einem Atemzug. M. R. Tagebuch »Wie fühlst du dich?« fragte Bernie fürsorglich, als Sarah in einer seiner Pyjamajacken am nächsten Morgen in die Küche geschlurft kam. Sie goß sich aus einer Kanne eine Tasse Kaffee ein. »Wie seh ich aus?« »Beschissen.« »Ich fühle mich noch schlimmer.« »Kein Wunder. Aber es ist gut, daß du dich erinnert hast, Sarah. Endlich.« Sie blickte ihn an. »Weißt du, was ich jetzt am meisten empfinde? Wut. Auf meinen Vater. Auf Romeo. Auf John.« »John?« »Allegro. Und auf Mike Wagner und all die anderen in dieser tollen Sonderkommission.« »Ich bin sicher, sie tun, was in ihrer Macht steht, Sarah.« »Das ist nicht genug. Es muß noch mehr geben. Etwas, das ich tun kann. Ihn reizen, bis er nicht mehr zufrieden ist mit seinen Zettelchen, seinen Pralinen, seinen Medaillons. Ihn so provozieren, daß er aus seinem Versteck kommen muß. Sein wahres Gesicht zeigen. Ich werde am Montag wieder in Emmas Sendung auftreten. Und jeden Tag danach, bis er reagieren muß. Es ist ein Machtkampf, Bernie.« Sie starrte an ihrem Freund vorbei. Sie hatte noch so viele Kämpfe auszufechten. So viele Rechnungen zu begleichen. Und jetzt stand ein weiterer Name ganz oben neben Romeo auf ihrer Liste. Simon Rosen. Eine halbe Stunde später vor Bernies Haus entdeckte Sarah Corky, der an seinem Zivilstreifenwagen am Straßenrand lehnte und rauchte. Er sah sie, trat seine Zigarette aus und sagte: »Guten Morgen.« Sie blickte argwöhnisch die Straße rauf und runter. Würde es jemals eine Zeit geben, in der sie nicht dauernd vor Ungeheuern auf der Hut war?
»Keine Sorge. Hier ist alles ruhig«, beruhigte Corky sie. »Nicht mal die Presse hat sie bis jetzt hier aufgespürt.« Sarah nickte. Sie war sicher, daß die Reporter jetzt nach ihren Fernsehauftritten mehr denn je hinter ihr her waren. »Würden Sie mich wohl noch einmal kutschieren, Corky?« »Wohin diesmal?« »Berkeley. Zum Pflegeheim Bellavista. Ich möchte meinen Vater besuchen.« Als Sarah die Suite ihres Vaters betrat, saß er im Wohnzimmer in seinem Lieblingssessel am Fenster und las die Zeitung. Er trug einen maßgeschneiderten dunklen Anzug, ein gestärktes weißes Hemd mit den obligatorischen goldenen Manschettenknöpfen, eine Wollkrawatte und glänzend polierte Halbschuhe aus Korduanleder. Als Sarah ihn in dieser Kleidung sah, die er früher auch zur Arbeit getragen hatte, fühlte sie sich in die Vergangenheit zurückversetzt. »Stör ich dich?« Er warf ihr einen Blick zu. »Ist sie da?« »Wer?« »Meine erste Patientin.« Er sah auf seine Rolex. »Sieben Minuten zu spät.« Er stand auf. »Nein. Nein, deine Patientin ist nicht da, Dad. Ich bin nur hergekommen, weil ich mit dir reden wollte.« Seine Augen verengten sich. »Kenne ich Sie?« »Ich bin’s, Sarah. Deine Tochter.« »Meine Tochter?« Mißtrauen verwandelte sich in Verwirrung. Er setzte sich wieder, starrte sie an. »Wieso bist du so früh auf, Schatz? Ist irgendwas nicht in Ordnung? Sag es deinem Daddy. Bist du krank?« Sarah kämpfte mit den Tränen, als sie den Kopf schüttelte. Er lächelte sie an, klopfte sich aufs Knie. »Du weißt doch, daß du mich nicht bei der Arbeit stören sollst, Mellie. Aber zum Kuscheln ist immer ein bißchen Zeit. Komm auf meinen Schoß. Nur für ein paar Minuten.« »Ich bin nicht Mellie, Dad. Ich bin Sarah. Mellie ist tot.« Sie schluckte schwer.
Er schien sie nicht zu hören. Er klopfte sich noch immer aufs Knie. Langsam ging Sarah näher an ihn heran, kniete sich vor ihm auf den Boden. »Warum, Dad? Warum?« Ihr Vater schloß die Augen, als seine Hand leicht ihre Wange berührte. Er strich ihr über das struppige Haar. »Ist schon gut. Ist schon gut, Schatz«, murmelte er. Auch Sarah schloß die Augen, ihre Erinnerungen quälten sie ebenso wie das, was sie noch vor sich hatte. Angst brodelte wie heiße Lava in ihren Adern, als mit einem Mal ein weiteres Bild auftauchte, das sie so lange verdrängt hatte. Sie sitzt auf der obersten Stufe der geschwungenen Treppe in der Diele, ein paar Stunden nach dem Krach wegen des Ballettunterrichts. Die Haustür geht auf. Melanie kommt hereingestürmt, die Schultasche über die Schulter geworfen. Daddy begrüßt sie in der Diele. Sie drücken sich. Eine zärtliche, freundliche Vater-Tochter-Umarmung. Unschuldig. Liebevoll. Neid durchzuckt Sarah wie ein Messerstich. »Was? Keinen Kuß?« fragt er, als Melanie versucht, sich freizuwinden. Melanie gibt ihm gehorsam einen flüchtigen Kuß auf die Wange. »Das könnte ein Hühnchen ja besser.« »Okay. Wenn ich dir einen dicken Kuß gebe, darf ich dann bei Jenny zu Abend essen? Ihre Mutter hat mich eingeladen. Jenny und ich wollen für eine Physikarbeit lernen.« »Sieh an, bestichst du mich jetzt schon mit deinen Küssen?« Sie sieht, wie Melanie die Arme um ihren Vater wirft, ihn mitten auf den Mund küßt. Hört, wie sie ihn kichernd losläßt. »Jenny wartet draußen im Wagen auf mich.« »Nicht so schnell, Mellie. Deine Mutter hat wieder mal eine ihrer Krisen. Schlimmer als sonst. Ich übernachte also heute wieder im Arbeitszimmer.« Ein trauriger, müder Blick huscht über Melanies Gesicht. Und dann ist es, als würde jemand anders von ihr Besitz ergreifen: diese lächelnde, verführerische Kindfrau, die Sarah nicht wiedererkennt. »Ich bin gegen zehn wieder da. Ich deck dich dann zu.«
»Versprochen?« »Versprochen«, sagt Melanie fröhlich und besiegelt das Versprechen mit einem weiteren Kuß. »So geht das aber nicht.« Sarah öffnete die Augen. Ihr Vater starrte sie konsterniert an, hielt sie qualvoll zwischen Vergangenheit und Gegenwart gefangen. Scham durchfuhr sie. »Es tut mir leid.« Kaum waren die Worte heraus, da spürte sie Zorn in sich hochsteigen. Wieso entschuldigte sie sich eigentlich? War sie nicht gekommen, um genau diese Worte aus dem Munde ihres Vaters zu hören? Wollte sie ihn nicht mit diesem Besuch dazu bringen, endlich zuzugeben, was er Melanie angetan hatte? Einzugestehen, daß er seine eigene Tochter mißbraucht hatte, und wenigstens eine Spur von Reue für seine schreckliche Tat zu zeigen? »Mit einer Entschuldigung ist es nicht getan, junge Dame.« Sarah stand auf, so daß sie es jetzt war, die auf ihn hinunterblickte. »Nein, du hast recht. Für eine Entschuldigung ist es zu spät, Dad.« Er drohte ihr mit dem Finger. »Ich möchte unverzüglich die Diätassistentin sprechen. Ich weiß genau, daß sie mir zwei Eier pro Woche zugesagt hat. Und ich habe seit zehn Tagen nicht ein einziges Ei bekommen. Ich habe genau mitgezählt.« Sarah sah zu dem Frühstückstablett hinüber, das auf dem Tisch neben ihrem Vater stand. Auf dem leergegessenen Teller waren die Reste von Rührei zu sehen. Eine Welle von Hoffnungslosigkeit erfaßte sie. Sie ging zum Fenster und starrte hinaus über den sattgrünen Rasen. Hinter sich hörte sie die Zeitung rascheln, als ihr Vater weiterlas. Sie war frustriert, angeekelt, todunglücklich. »Was wollen Sie? Es ist doch nicht schon Zeit zum Mittagessen, oder?« Der scharfe Tonfall ihres Vaters veranlaßte Sarah, sich umzudrehen, um zu sehen, mit wem er da redete. Zu ihrer Verblüffung sah sie John Allegro in der Tür stehen. Ein Blick in das Gesicht des Detectives, auf seine blasse Gesichtsfarbe, seine
ganze Erscheinung, die noch zerknitterter als sonst wirkte, und sie wußte, daß etwas Schreckliches passiert war. »Was ist los?« Er signalisierte ihr, mit ihm das Zimmer zu verlassen. »Reden wir draußen.« Ihr Blick wanderte zu ihrem Vater. Simon Rosen nahm winzige Stückchen zerknülltes Papier aus den Taschen seines Jakketts, sah sie sorgfältig durch und murmelte dabei etwas vor sich hin. Er schien sie und Allegro völlig vergessen zu haben. Er blickte nicht einmal kurz zu ihr auf, als sie an ihm vorbeiging. Sobald sie auf dem Flur waren, bedrängte sie Allegro. »Was ist passiert? Sagen Sie’s mir.« Statt zu antworten, nahm er ihren Arm, führte sie zur Treppe, die Treppe hinunter, durch die Empfangshalle und zum Haupteingang hinaus. Corky war verschwunden. Allegros ramponierter roter MG war der einzige Wagen auf dem Besucherparkplatz. Sie befreite sich aus Allegros Griff und blieb abrupt auf dem Kiesweg stehen. »Reden Sie schon, verdammt noch mal.« Noch während sie diese Aufforderung aussprach, wußte sie, daß ein Teil von ihr es nicht hören wollte. Es war wieder eine schlechte Nachricht. Daran bestand kein Zweifel. Und sie ertrank bereits in schlechten Nachrichten. »Emma Margolis«, sagte Allegro. Sarah starrte ihn verständnislos an. »Was ist mit Emma?« Sein aufmerksamer Blick ruhte auf ihr. »Ihre Putzfrau hat sie heute morgen gefunden.« »Sie gefunden?« Sarahs Gedanken überschlugen sich. Allegro streckte die Hände aus. Sarah wich zurück, fassungslos. »Nein. Nein. Nein.« »Sie ist tot, Sarah. Ermordet.« Emma. Er hatte sich Emma geholt. Einen der wenigen Menschen, denen sie vertraute und die für sie wichtig waren. Dem sie vertraut hatte. Laß dir das eine Lehre sein, Sarah. Laß dir das eine Lehre sein. Ihr Faust schlug krachend auf die Motorhaube von Allegros Wagen. »Wie konntet ihr das zulassen?« schrie sie.
»Sarah.« »Er kann machen, was er will, nicht? Ihr könnt ihn nicht aufhalten. Keiner von euch. Ihr seid ein Haufen unfähiger Idioten.« »Sarah, ich weiß, wie Ihnen zumute ist…« »Sie wissen überhaupt nichts!« Sie zitterte am ganzen Körper, wie im Fieber. Ein paar Gesichter tauchten an den Fenstern des Pflegeheims auf, spähten zu ihnen hinaus. »Wir kriegen ihn. Ich schwöre es Ihnen, Sarah.« »Halten Sie den Mund. Ich habe genug von Ihren Lügen. Er hat Emma umgebracht. Er hat meine Schwester umgebracht. Er wird mich umbringen. Und soll ich Ihnen was sagen: Es wird eine Erleichterung sein. Endlich Schluß mit dieser Hölle, in der ich lebe.« Er packte sie so grob, daß sie gegen ihn taumelte. »Reden Sie nicht so. Hören Sie?« rief er. »Irgendwas wird sich tun. Diesmal wird sich was tun. Wir haben jeden verfügbaren Mann auf ihn angesetzt. Wir werden nichts und niemanden übersehen. Wir schnappen uns das Schwein. Wir kriegen ihn.« »Blödsinn, John. Sie können ihn nicht schlagen. Emma. Arme Emma. Ich hätte es mir denken können. Ich hätte zwei und zwei zusammenzählen müssen. Erst recht, nachdem ich mit Bernie gesprochen hatte.« »Was meinen Sie damit? Was hätten Sie sich denken können?« »Wo waren Sie gestern abend? Ich habe bei Ihnen angerufen. Nachdem – nachdem ich es bei Emma versucht hatte.« »Ihre Nachricht war auf Emmas Anrufbeantworter. Wir haben sie heute morgen gehört.« »Danach habe ich nicht gefragt. Wo waren Sie?« Er runzelte die Stirn. »Ich habe noch irgendwo was getrunken, nachdem ich Sie bei Bernie abgesetzt hatte.« »Was getrunken?« Sie bemerkte den Minzegeruch in seinem Atem. Hatte er heute morgen auch schon zur Flasche gegriffen? »Ein paar Drinks, okay? Mehr als ein paar. Ich habe mich besoffen. Das mache ich manchmal«, entgegnete er trotzig. »Das geht mich nichts an«, murmelte sie.
Allegro seufzte tief. »Tut mir leid. Das war alles ein bißchen viel. Kommt nicht wieder vor. Also, warum haben Sie bei mir angerufen?« Sie drehte sich zum Pflegeheim um und entdeckte die Gestalt ihres Vaters an seinem Fenster im ersten Stock. Er starrte auf sie hinunter. Wieder einmal, wie in jener Nacht Vorjahren, trafen sich ihre Blicke, und sie sahen sich lange an. In jener Nacht hatten sie einen schrecklichen Pakt geschlossen. Und nun mußte sie die Kraft finden, diesen Pakt für immer zu lösen. »Er hat sie mißbraucht«, sagte sie, ohne die Augen vom Gesicht ihres Vaters abzuwenden. »Mein Vater hat meine Schwester mißbraucht. Sie dachte, es wäre Liebe. Aber es war keine Liebe. Es war niemals Liebe. Es war Vergewaltigung. Er war der erste, der sie in Ketten gelegt hat, sie zu seiner Sklavin gemacht hat. Er brauchte dafür keine Seidenschals. Er war viel schlauer. Und hinterhältiger. Melanie hatte keine Chance.« Allegro hob den Blick und starrte zu Dr. Simon Rosen hinauf, aber er sagte nichts. »Ich habe ihn dabei erwischt. Nur hatte ich es verdrängt, bis…« Ihre Hände flogen hoch zu ihrem Gesicht. »Ich hätte etwas tun sollen.« Jetzt bekommst du die Quittung. Das wird dir eine Lehre sein. »Sarah, Sie waren noch ein Kind. Sie konnten nichts machen.« Er streckte die Hand nach ihr aus, aber sie wich zurück. Abgestoßen von dem Gedanken, berührt zu werden. Ich verdiene keinen Trost. Ich verdiene weder Zärtlichkeit noch Mitleid. Tränen füllten ihre Augen und liefen ihr über das Gesicht. Aber sie weinte nicht um sich selbst. Sie weinte um Melanie. Und um Emma. Allegro blickte sie schweigend an. Noch einmal hob Sarah den Blick zu dem Fenster. Ihr Vater war verschwunden. »Machen wir, daß wir hier wegkommen.« Als sie die Worte aussprach, wußte sie, daß es ihr letzter Besuch in Bellavista gewesen war. Sie würde niemals wiederkommen. Sie würde ihren Vater niemals wiedersehen.
Sie saßen im MG auf dem Parkplatz und redeten. Sarah hatte den Kopf gegen das Seitenfenster gepreßt. »Wenn ich doch nur gestern abend bei Emma geblieben wäre, vielleicht…« »Tun Sie sich das nicht an, Sarah.« Aber die Stimme in ihrem Kopf sprach weiter. Es ist alles deine Schuld, Sarah. Du allein bist verantwortlich. Dein Werk. Wenn du dich da rausgehalten hättest… »Emma war eine anständige und liebevolle Frau. Auch wenn sie ihre Probleme hatte.« »Probleme? Inwiefern?« Sarah zögerte. »Sie stand auf Sadomaso.« »Woher wissen Sie das?« »Sie hat es mir erzählt, neulich abend«, sagte sie und hatte dann ein schlechtes Gewissen, weil sie noch mehr Geheimnisse verriet. »Bitte, Sarah. Das könnte eine wichtige Spur sein. Sie müssen es mir erzählen.« Sarah wußte, daß Allegro recht hatte. Sie hätte es ihm sofort erzählen sollen. Vielleicht wäre Emma dann noch am Leben. Es ist alles deine Schuld… »Sie hat einen von diesen privaten SM-Sexclubs besucht.« »Ich weiß, daß Mike sie mal in einen Sexclub begleitet hat wegen einem Beitrag für ihre Sendung. Ich glaube nicht, daß das…« »Sie ist davor auch schon in so einen Club gegangen. Ein paarmal mit Diane Corbett. Es war ein Club in Richmond.« »Mein Gott«, murmelte Allegro halblaut. »Wie hieß der Club?« »Hat sie nicht gesagt.« »Macht nichts. Das kriegen wir schon raus. Das ist doch schon etwas, Sarah. Gut, daß Sie es mir gesagt haben.« Sie erzählte Allegro von ihrer Theorie, daß Romeo sämtliche Frauen, die er ermordet hatte, für Inzestopfer halten könnte. »Hat Emma angedeutet, daß sie als Kind mißbraucht wurde?« »Nein, aber das würde erklären, warum sie von SM fasziniert war. Es ist doch so, daß mißbrauchte Kinder lernen, Sexualität mit Scham, Schuld und Unterwerfung zu verbinden. Ist es dann nicht plausibel, daß man als Erwachsener ständig den Drang
verspürt, diesen Schmerz immer wieder zu erleben, weil man nichts anderes kennt?« Er schwieg. Sie konnte nicht erkennen, was er dachte. »John, wenn Romeo es auf mich abgesehen hat, denkt er offenbar, daß auch ich mißbraucht wurde. Daß ich ganz versessen darauf bin, beherrscht zu werden. Bestraft. Obwohl es nicht stimmt«, fügte sie eilig hinzu. »Nichts davon.« »Vielleicht stand ja irgendwas in der Art in Melanies Tagebuch.« Sie warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Zum Beispiel? Denken Sie, meine Schwester hat sich irgendwie eingebildet, daß auch ich mißbraucht worden bin?« Zuerst Bernie. Jetzt John. War es nicht schon grauenhaft genug, daß sie den Inzest mit eigenen Augen gesehen hatte? »Ich meine nur, vielleicht hat Melanie irgendwas darüber geschrieben, daß Sie gesehen haben, wie sie und Ihr Vater…« »Wie kommen Sie darauf, daß Melanie wußte, daß ich sie zusammen gesehen habe?« »Ich bin Kriminalbeamter, Sarah. Ich ziehe Schlüsse. Ich meine, wenn Sie Melanie gesehen haben, ist es durchaus möglich, daß Melanie Sie gesehen hat.« »Das ist nicht möglich! Aber sie muß gehört haben, wie mein Vater mich in der Diele zusammengestaucht hat, weil ich ihnen angeblich nachspioniert hatte. Ich habe ihnen aber nicht nachspioniert.« »Das weiß ich, Sarah«, sagte Allegro beruhigend. »Ich könnte mir denken, daß Romeo als Kind auch mißbraucht worden ist.« Allegro seufzte. »Melanie war derselben Meinung. Unsere Leute durchleuchten die Vergangenheit sämtlicher Verdächtigen, damit wir möglichst viel über ihre Kindheit in Erfahrung bringen.« Sarah starrte zum Fenster hinaus. Es war eigenartig, Menschen zu beobachten, die ihren alltäglichen Aufgaben nachgingen. Ein ganz normaler Tag. Sie machten Besorgungen, hasteten zur Arbeit, trafen sich mit Freunden oder Verwandten. Sie schloß die Augen, um sie alle auszublenden. »Ich war mir so sicher, daß er es als nächstes auf mich abgesehen hatte.«
»Ja, ich auch.« »Er hat es plötzlich so eilig. Melanie letzte Woche. Acht Tage später Emma. Er wird immer blutrünstiger, John. Immer schrecklicher. Daran bin ich schuld.« »Nicht doch, Sarah.« »Weil ich im Fernsehen war. Ihn herausgefordert habe. Ich dachte… ich dachte…« Ihre Stimme wurde brüchig, versagte dann. »O Gott«, schluchzte sie, »was habe ich getan?« Selbst mit geschlossenen Augen war ihr, als würde die Vormittagssonne durch ihre Lider brennen. »Was ist… mit Melanies Herz? Hat er es… bei Emma zurückgelassen?« Er nickte knapp. Sarahs Gesicht war eine Landschaft des Leidens. Sie war so sicher gewesen, daß Romeo Melanies Herz für sie aufsparte. Hast du wirklich geglaubt, du könntest dieses Ungeheuer überlisten, du dummes Ding? Allegro berührte ihren Arm. Sarah nahm seine Hand und legte sie an ihre Wange. »Ich habe Emma gemocht. Und ich weiß, daß Sie und Mike sie auch gemocht haben«, sagte sie. »Ja, aber das ist noch nicht alles. Hinzu kommt diese verfluchte Hilflosigkeit, die wir beide empfinden, die jeder empfindet, der an diesem Fall arbeitet.« Sarah kannte sich mit Hilflosigkeit aus. Ihr ganzes Leben stand in diesem Zeichen. Nein, nicht meines. Melanies Leben. »Hören Sie, Sarah, ich lasse Sie jetzt nur ungern allein, aber ich muß zurück in Emmas Wohnung. Ich habe Corky zu Ihrem Freund Bernie geschickt. Er wird bei Ihnen bleiben. Ich wünschte, ich könnte das übernehmen, aber wir arbeiten gegen die Zeit. Und ich möchte, daß jemand Ihrem Hinweis mit dem Club in Richmond nachgeht. Man kann nie wissen, manchmal ist ausgerechnet die kleinste Information der Schlüssel zur Aufklärung eines Falles.« »Danke, daß Sie extra hergekommen sind, um es mir zu sagen. Ich weiß das zu schätzen.« Sie wollte ihm sagen, daß sie mehr als nur Dankbarkeit empfand. Daß sie gerührt war von seiner Fürsorge. Und daß sie wünschte, sie wären letzte Nacht in dem schönen, romantischen Gasthof geblieben. Das alles wollte sie ihm sagen. Aber sie konnte es nicht.
»Ich wußte, daß es Sie sehr erschüttern würde. Ich wollte derjenige sein, der es Ihnen sagt«, murmelte er. »Tut mir leid, daß ich Sie vorhin als unfähigen Idioten bezeichnet habe.« Er lächelte schwach. »Ich habe mir schon Schlimmeres anhören müssen.« »Ich möchte mitkommen, John.« »Sarah…« »Bitte.« Vor Emma Margolis’ Haus herrschte das reinste Chaos. Polizisten in Zivil und in Uniform, Reporter, Fotografen, Kameraleute und Scharen von Schaulustigen drängelten sich auf dem Bürgersteig und auf der Straße. Allegro kam mit seinem Wagen nicht mal in die Nähe von Emmas Haus. Die Straße davor war mit einem halben Dutzend Streifenwagen, dem Leichenwagen der Gerichtsmedizin und Übertragungswagen vom Fernsehen verstellt. »Runter«, sagte Allegro zu Sarah, als er ein Stück entfernt in der zweiten Reihe parkte, »sonst fallen die wie die Heuschrekken über Sie her.« Sarah rutschte so weit sie konnte in dem engen Sportwagen nach unten. Wagner, der vor Emmas Haus mit zwei uniformierten Beamten debattierte, entdeckte den MG und machte Allegro Zeichen, im Auto zu bleiben. Kurz darauf ließ Wagner die Cops stehen und kam rüber. Er wirkte überrascht und bestürzt zugleich, als er sah, daß Sarah auf dem Beifahrersitz kauerte. »Was macht sie denn hier?« »Schon gut. Sie kommt nicht mit hoch.« Wagner beugte sich ins Wageninnere und blickte Sarah an. Seine Miene wurde weicher. »Halten Sie durch?« Sie nickte. »Wir haben eine Spur, Mike. Dank Sarah«, sagte Allegro. Bevor er dazu kam, ihm von dem Club in Richmond zu erzählen, rückte Wagner mit seinen Neuigkeiten heraus. »Dann haben wir vielleicht sogar zwei Spuren. Eine Nachbarin von Emma, eine gewisse Margaret Baldwin, hat Emma gestern am späten Nachmittag in einem Café gleich um die Ecke gesehen. Das
Upper Crust. Scheint bei den Damen hier aus der Nachbarschaft sehr beliebt zu sein. Emma war mit einem Mann da. Wir haben der Baldwin ein paar Fotos gezeigt. Sie hat keine Sekunde gezögert, als sie den Schnappschuß von Perry gesehen hat. Sie schwört, daß Emma mit ihm da war. Und nicht nur das. Sie hatte einen Tisch am Fenster, und als Emma ging, hat sie bemerkt, daß Perry, nachdem sie sich vor dem Café verabschiedet hatten, kurz auf der Straße stehengeblieben und dann in Richtung von Emmas Wohnung gegangen ist.« »Verhaften wir ihn«, sagte Allegro. »Ist schon alles vorbereitet. Diesmal mit einem Durchsuchungsbefehl.« »Hat sonst noch jemand was gesehen?« Wagner zeigte auf ein blaßrosa Stuckgebäude auf der anderen Straßenseite. »Dort wohnt eine ältere Frau im Erdgeschoß, eine Mrs. Rumney. Sie sagt, sie hätte gesehen, daß gegen fünf ein Paar ins Haus gegangen ist. Sie sieht nicht besonders gut, aber sie ist ziemlich sicher, daß es Emma war. Über den Mann konnte sie aber nicht viel sagen.« »Was hatte er an? Größe? Haarfarbe?« Allegros Stimme klang angespannt. »Verdammt, Mike, hat sie denn gar nichts gesehen?« Wagner zündete sich eine Zigarette an. »Sie hat angegeben, daß er groß war. Ein Weißer. Daß er ein Sportsakko trug, aber sie ist etwas farbenblind, deshalb war sie bei der Farbangabe ziemlich vage.« »Aber bei der Tageszeit war sie nicht vage«, bemerkte Sarah. »Nur weil sie gleich danach ihre Fünf-Uhr-Medizin genommen hat«, sagte Wagner. »Glauben Sie, es war Perry?« Wagner musterte Allegro, bevor er antwortete. »Es ist sehr wahrscheinlich.« Sarah war nicht so überzeugt. »Wieso hätte sie ihn mit in ihre Wohnung nehmen sollen? Sie wäre doch sicher mißtrauisch geworden, falls er ihr nachgegangen ist?« Wagner machte ein finsteres Gesicht. »Emma war risikofreudig. Vor allem, wenn Aussicht auf eine Sensationsmeldung für ihre Sendung bestand.«
»Es ging ihr nicht bloß um die Einschaltquoten«, sagte Sarah empört. Wagner sah gekränkt aus. »Das weiß ich. So habe ich es auch nicht gemeint.« »Hören wir uns doch an, was Perry dazu zu sagen hat.« Allegro drückte leicht Sarahs Schulter. »Ich wollte sowieso gerade zu ihm fahren«, sagte Wagner. »Rodriguez und Johnson kommen mit dem Durchsuchungsbefehl dorthin.« Wagners Gesicht war deutlich abzulesen, daß er nichts davon hielt, wenn Sarah mitkam, aber er sagte es nicht. Statt dessen fragte er nach der Spur, die sie entdeckt hatten. Allegro erzählte ihm von dem Club in Richmond. »Kenne ich nicht«, sagte Wagner. »Aber ich setze sofort jemanden darauf an.« Robert Perry kam trotz wiederholten Klopfens nicht an die Tür. »Wir haben einen Durchsuchungsbefehl, Perry!« rief Wagner. »Wenn Sie uns nicht reinlassen, brechen wir die Tür auf.« »Vielleicht ist er nicht da«, gab Rodriguez zu bedenken. Sarah hatte ein ungutes Gefühl. »Das glaube ich nicht. Brechen Sie die Tür auf, John.« Allegro blickte sie fragend an. Dann nahm er seinen Revolver aus dem Schulterhalfter und nickte Wagner und Rodriguez zu. »Gehen wir rein. Johnson, Sie bleiben hier bei Sarah.« Johnson, ein kleiner Mann von zwanzig Jahren mit breitem Brustkorb und verschmitzten Augen, schien nicht sonderlich glücklich darüber, den Babysitter spielen zu müssen. Doch da Allegro das Sagen hatte, trottete er widerwillig zu Sarah hinüber. Als Wagner und Rodriguez sich mit voller Wucht gegen Perrys Tür warfen, steckten einige Nachbarn den Kopf aus ihren Wohnungen. Allegro winkte ihnen mit seiner Polizeimarke. Die Türen knallten wieder zu, ohne daß er ein Wort sagen mußte. Beim vierten Anlauf gab die Tür nach. Die bewaffneten Cops stürmten in die Wohnung. Als Rodriguez kurz darauf mit der schlechten Nachricht wieder herausgerannt kam, bestätigten sich Sarahs Befürchtungen.
»Tot?« fragte Johnson. Rodriguez schüttelte den Kopf. »Als wir ihn abgeschnitten haben, konnte ich seinen Puls noch fühlen. Er hing am Oberlicht im Badezimmer. Allegro ruft bereits den Krankenwagen.« »Ihn abgeschnitten?« Sarahs Stimme war ein tonloses Flüstern. »Ja, das Schwein hat versucht, sich zu erhängen.« Es durchfuhr sie wie ein Stromschlag. Als hätte sie an einen elektrisch geladenen Draht gefaßt. Jemand anderes, der sich erhängt hatte. Ein anderer Selbstmord. Einer, der geglückt war. O Mami. Es tut mir leid, so leid, so leid… »Sieht so aus, als hätten wir unseren Mann«, sagte Johnson und steckte seine Waffe zurück ins Halfter. »Hat sich aus der Affäre gezogen.« Rodriguez’ Mund verzog sich. »Übrigens, er hatte einen tragbaren CD-Player bei sich im Badezimmer. Jetzt rate mal, was er sich angehört hat.« »Moment. Nicht sagen«, sagte Johnson. »Rhapsody in Blue?« »Genau. Und was meinst du, womit er sich aufgeknüpft hat? Mit einem weißen Seidenschal.« Sein Kollege gab einen leisen Pfiff von sich. Sarah schlüpfte an ihnen vorbei. Durch eine offene Tür sah sie Perry ausgestreckt auf dem Teppichboden liegen. Wagner kniete neben ihm und machte Wiederbelebungsversuche. Allegro trat von hinten an sie heran. »Sie haben es gewußt.« »Ich habe es befürchtet.« Ihr Gesicht war ausdruckslos. »Wie das?« »Intuition.« Zuerst verstand Allegro nicht. Dann fiel ihm ein, was Feldman ihm erzählt hatte, daß Sarah zweimal versucht hatte, sich umzubringen. Sie blickte wieder ins Schlafzimmer. »Wird er durchkommen?« »Wahrscheinlich. Obwohl er sich wünschen wird, daß er es nicht überlebt hätte, glaube ich.« Allegro hielt zwei Päckchen, zwei durchsichtige Plastikbeutel für Beweismittel, in den Händen. In einem war ein weißer Seidenschal, im anderen eine silbrig glänzende CD.
Johnson kam aus dem Schlafzimmer. Auch er hatte etwas in der Hand, das in Plastik eingehüllt war. »Bingo. Ein Videoband. Auf dem Aufkleber steht Cutting Edge.« Sarah zuckte zusammen: Das Licht, das in Perrys Wohnzimmer fiel, war ihr plötzlich zu grell. »Alles in Ordnung, Sarah?« fragte Allegro rasch. »Es besteht kein Zweifel, daß er es ist? Daß Perry Romeo ist?« »Sieht ganz so aus. Ich habe noch etwas neben seinem Bett gefunden«, sagte er. Sarah hatte das Gefühl, zu ersticken. »Was?« Melanies Jahrbuch vom College? Ihr Tagebuch? »Ein Sammelalbum. Voller Zeitungsausschnitte über die Opfer.« »Sonst nichts?« Er legte einen Arm um ihre Schultern. »Noch nicht. Sobald Perry abtransportiert ist, werden die Kollegen von der Spurensicherung die Wohnung auf den Kopf stellen.« »John, Sie müssen mir etwas versprechen.« Bevor sie es aussprechen konnte, nickte er. »Falls wir das Tagebuch finden, sorge ich dafür, daß niemand darin rumschnüffelt.« Sie legte ihre Wange einen Moment an seine. Er brauchte wie immer eine Rasur, aber das kratzige Gefühl war seltsam tröstlich. »Er läuft blau an!« rief Wagner aus dem Schlafzimmer. »Verdammt, wo bleibt denn der Krankenwagen?«
21 Obwohl sie sich selbst einreden, daß es sie erregt, wenn man ihnen Schmerzen zufügt und sie erniedrigt, so ist doch allen Opfern auf irgendeiner Ebene ihres Bewußtseins ein Gefühl von Scham, Wertlosigkeit und Unzulänglichkeit gemeinsam. Und das gilt auch für Romeo. Ob sie nun Schmerzen erleiden oder Schmerzen zufügen, das Band, das sie gefesselt hält, heißt »Leiden«. Dr. Melanie Rosen in Cutting Edge Robert Perry lag im Koma auf der Intensivstation des San Francisco Memorial Hospital. Allegro und Wagner blieben im Krankenhaus, weil sie hofften, eine Aussage zu bekommen, sobald er das Bewußtsein wiedererlangte. Falls er das Bewußtsein wiedererlangte. Sarah wartete mit ihnen. Sie wollte Perrys Geständnis aus seinem eigenen Munde hören. Sie saßen im Warteraum der Intensivstation. Kurz vor sechs Uhr abends kam Rodriguez aus dem Präsidium zurück. Mit vielsagendem Blick machte er Allegro und Wagner Zeichen, in den Flur zu kommen. Sarahs Augen huschten besorgt von einem Detective zum anderen. »Ich hör mal, was los ist, John«, sagte Wagner und stand auf. »Bleib du bei Sarah.« Eine Minute später kam Wagner zurück. »Was ist?« fragte Allegro ungeduldig. Wagner widerstrebte es sichtlich, in Sarahs Beisein zu sprechen. »Haben sie Melanies Tagebuch gefunden?« wollte sie wissen. »Nein. Anscheinend haben sie auch nicht ihr… Herz gefunden.« Sarah konnte Wagner nur ungläubig anstarren. Allegro schielte zu ihm hinüber. »Wie bitte?« »Das Labor hat gerade die ersten Untersuchungen an dem Herz abgeschlossen, das bei Emmas Leiche gefunden wurde. Es kann nicht Melanies sein. Falsche Blutgruppe.«
Sarah hatte das Gefühl, als würde ihr selbst das Blut aus dem Körper gesaugt. Sie hörte kaum noch, wie Allegro fragte: »Wessen Herz ist es dann, verdammt noch mal?« Und Wagners schwache Antwort: »Keine Ahnung.« Abends um halb sieben führte Mike Wagner Sarah durch einen selten benutzten Seiteneingang des Krankenhauses auf die Straße. Sie hatte gehofft, Allegro würde sie nach Hause fahren, doch er hatte von seinem Chef die Anweisung bekommen, bei dem noch immer bewußtlosen Perry zu bleiben und vor den Medien eine Stellungnahme abzugeben. Allerdings sollte er kein Wort über das nicht identifizierte Herz vom MargolisTatort verlauten lassen. Das sollte geheimgehalten werden, bis die Polizei wußte, wem es einmal gehört hatte. Sarah hatte versucht, Allegro zu überreden, bei ihm bleiben zu dürfen, doch er hatte sie entschlossen nach Hause geschickt. Er wollte, daß sie aus der Schußlinie war, bevor die Presse Wind von der Sache bekam. Die Reporter würden ihr noch früh genug im Nacken sitzen. »Ich lade Sie noch zum Essen ein, bevor ich Sie nach Hause bringe«, sagte Wagner und zündete sich im Gehen eine Zigarette an. Sarah hatte Bernie vom Krankenhaus aus angerufen, um ihm zu sagen, daß sie wieder in ihre Wohnung gehen würde, da Perry gefaßt worden war. Trotz beharrlicher Zweifel wollte sie unbedingt glauben, daß Robert Perry Romeo war. Daß es vorüber war. »Worauf hätten Sie Lust?« drängte Wagner. »Ich habe keinen Appetit«, erwiderte sie dumpf. »Dann leisten Sie mir Gesellschaft. Ich bin kurz vorm Verhungern«, sagte er, als er ihr in den Wagen half. Fünfzehn Minuten später saßen sie im Salt & Pepper, einem Schuppen im Stil der fünfziger Jahre auf dem Geary Boulevard. Wagner bestellte ein Sandwich mit Spiegelei, einen Schokomilchshake und Pommes frites. »Sie haben offenbar keine Probleme mit Ihrem Cholesterinspiegel«, sagte Sarah trocken. »Der Milchshake ist für Sie.«
Sie reagierte verärgert. »Wenn ich was gewollt hätte, hätte ich es bestellt.« Er seufzte. »Ich habe es gut gemeint, aber wahrscheinlich sind wir alle derzeit mit den Nerven am Ende.« »Glauben Sie, er kommt durch?« »Der Arzt wirkte recht zuversichtlich.« »Ich muß ständig daran denken, daß irgendwo da draußen noch eine bedauernswerte Frau ist, und wir wissen nicht mal, wer sie ist.« »Denken Sie nicht daran, Sarah. Es bringt nichts.« Wagner zog eine Zigarette aus der Packung, doch eine vorbeikommende Kellnerin zeigte auf ein »Bitte-nicht-rauchen«Schild an der Wand. Er bedachte sie mit einem wütenden Blick, machte dann aber Anstalten, die Zigarette zurück in die Pakkung zu stecken. Sie zerbrach ihm zwischen den Fingern, und er steckte sie in die Tasche. Sarah beobachtete seine nervösen, fahrigen Bewegungen. »Es war auch für Sie ein Alptraum.« »Hoffentlich ist es jetzt vorbei.« »Hoffentlich? Was soll das heißen?« fragte Sarah. »Genau das, was es heißt.« »Sie sind nicht sicher, daß es Perry war.« »Wir haben genug gegen ihn in der Hand, um ihn vorläufig festzunehmen, aber selbst das Belastungsmaterial, das wir in seiner Wohnung gefunden haben, wird vor Gericht nicht ausreichen, um ihn schuldig zu sprechen. Klar, wenn wir einen passenden genetischen Fingerabdruck kriegen, ist die Sache geritzt. Aber das dauert Wochen. Vielleicht länger. Es sei denn, Perry gesteht.« »Wie halten Sie das bloß aus, Mike? So eine Arbeit zu machen?« Wagner rückte Gabel und Löffel auf seiner Serviette gerade. »Irgend jemand muß es ja machen.« »Im Ernst. War das schon immer Ihr Traum? Cop zu werden?« »Nicht immer.« »Was wollten Sie denn werden?« »Versprechen Sie mir, nicht zu lachen?«
»Sehe ich so aus, als wäre ich jetzt imstande, zu lachen?« Er sah sie prüfend an. »Okay, aber das wissen nur sehr wenige, also erzählen Sie es nicht überall herum. Nicht mal John weiß es.« »Ihr Geheimnis ist bei mir sicher aufgehoben«, sagte Sarah und hob die rechte Hand. »Indianerehrenwort.« »Schön, als Jugendlicher, vor allem als ich auf dem College war, habe ich ernsthaft daran gedacht, Sänger zu werden.« »Sänger? Sie singen?« »Sehen Sie, ich hab’s ja gewußt.« »Ich wollte nicht so überrascht klingen«, entschuldigte sie sich. »Ich meine, wieso sollten Sie nicht singen? Oper? Pop?« Er zuckte die Achseln. »Ich war an der Uni von Sacramento in einem A-cappella-Chor. Und ich habe in zwei, drei Musicals eine Hauptrolle gehabt. Dann war ich auf dem College mit einer Frau zusammen, deren Vater einen kleinen Nachtclub in der Stadt besaß. Sie hat mir dort ein Engagement fürs Wochenende verschafft. Einmal war ein Agent unter den Gästen, der hat mich gehört und mir angeboten, mich zu vertreten. Hat gedacht, er könnte mir Auftritte in Las Vegas verschaffen.« »Und? Hat er?« Irgendwie konnte sie sich Mike Wagner nicht als Sänger vorstellen. »Nein. Meine Mutter war dagegen. Sie wollte unbedingt, daß ich meinen Uniabschluß mache. Aber bis ich den in der Tasche hatte, habe ich weiter in Clubs gesungen.« »Und was hat Sie dann von der Musik zur Polizei gebracht?« Geistesabwesend klopfte er wieder eine Zigarette aus der Pakkung und zündete sie an. Er schaffte gerade zwei Züge, bevor die Kellnerin mit seiner Bestellung kam und ihn aufforderte, die Zigarette auszumachen. Er ließ sie in sein Glas Wasser fallen. Als die Kellnerin das Glas nahm und davonstapfte, schob er Sarah den Milchshake hin und stellte die Pommes frites in die Mitte des Tisches. »Mein Stiefvater war Cop. Er hat mich gedrängt, nach meinem Uniabschluß auf die Polizeiakademie zu gehen. Da ich nicht recht wußte, was ich mit mir anfangen sollte, habe ich es einfach gemacht.« »Und Ihre Mutter? Was meinte die dazu?«
Er lächelte. »Ich gefiel ihr sehr in Uniform. Sie war damals ziemlich krank, und ich wollte vor allem in der Nähe bleiben. Schon komisch, wie sich das Ganze entwickelt hat. Die Ausbildung hat mir richtig Spaß gemacht. Ich habe die Akademie als Bester meines Jahrgangs abgeschlossen.« »Ihre Eltern waren bestimmt sehr stolz auf Sie.« Wagner starrte auf seinen Teller, den er noch nicht angerührt hatte. »Meine Mutter ist einen Monat vor meinem Abschluß gestorben. Und mein Stiefvater war vom Dienst suspendiert worden, weil er zu häufig betrunken zur Arbeit gekommen war. Man hat ihn vor die Wahl gestellt. Er sollte entweder zu den Anonymen Alkoholikern gehen oder seine Polizeimarke abgeben. Er hat es ein paar Monate bei den Anonymen Alkoholikern versucht, aber letzten Endes war seine Sucht stärker.« Er warf ihr einen kurzen Blick zu. »Ich glaube, deshalb mache ich mir auch Sorgen um John.« »John trinkt doch nicht im Dienst, oder?« Sie war bemüht, ihre Frage möglichst beiläufig klingen zu lassen. »Nicht mehr. Aber er hat harte Zeiten durchgemacht. Der Tod seines Kindes muß ein schrecklicher Schlag für ihn gewesen sein. Ich kannte ihn damals noch nicht, aber nach dem, was ich gehört habe, als ich zum Morddezernat kam, hat er danach erst richtig mit dem Trinken angefangen. Da ich das alles schon mal erlebt hatte, habe ich ihm ziemlich oft die Hölle heiß gemacht. John ist der beste Partner, den ich je hatte.« Sarah starrte auf den Milchshake. »Ich wußte gar nicht, daß er ein Kind hatte.« »Einen Jungen. Ist an Hirnhautentzündung gestorben, als er zehn oder elf war.« »Wie lange ist das her?« »Etwa sechs Jahre. Er hat nur ein einziges Mal mit mir darüber gesprochen. Als er ordentlich einen sitzen hatte. Danach hat er seinen Sohn nie wieder erwähnt. Aber John ist ohnehin nicht sehr gesprächig.« »Nein. Das scheint mir auch so.« Wagner nahm einen Bissen von seinem Sandwich und spülte ihn mit einem Schluck aus Sarahs Glas Wasser hinunter, da die
Kellnerin ihm kein neues Glas gebracht hatte. »Was läuft mit euch beiden?« Sarah, die gerade doch einen Schluck von dem Milchshake hatte nehmen wollen, erstarrte. »Mit mir und John? Nichts. Wie kommen Sie darauf?« Wagner deutete auf die Pommes frites. »Darf ich?« »Jedenfalls geht es Sie nichts an«, sagte sie trotzig. Hatte John seinem Partner irgend etwas erzählt? Das war nicht sehr wahrscheinlich. Wagner hatte es gerade selbst gesagt: John war nicht sehr gesprächig. Bestimmt nicht der Typ, der einen Kuß gleich überall herumerzählte. »Wissen Sie was? Ich tue Ketchup nur auf eine Hälfte…« »Wenn Sie was zu sagen haben, Wagner, dann raus mit der Sprache.« Er drehte die Flasche um und schlug auf den Boden, bis der Ketchup herausfloß. »Soweit ich weiß, hat John nicht gerade viele Frauenbekanntschaften gehabt, seit seine Frau…« Er blickte in ihre Richtung. »Er hat mir erzählt, daß sie Selbstmord begangen hat.« Sarah wußte, daß es töricht war, aber sie hatte das Gefühl, einen Punkt erzielt zu haben. Eine kleine Entschädigung dafür, daß er ihr nichts vom Tod seines Sohnes erzählt hatte. Wagner stellte die Flasche hin, wischte sie oben ab und schraubte langsam die weiße Verschlußkappe zu. »Hat er Ihnen erzählt, daß sie ihn mal angezeigt hat?« »Angezeigt?« »Das war ein paar Monate, nachdem John und ich Partner geworden waren. Sie wohnten noch zusammen, aber nach dem, was ich so mitbekommen habe, war es schon länger nur noch eine Ehe auf dem Papier. John hatte davon geredet, daß er sich eine eigene Wohnung suchen wollte. Ich bin sogar mit ihm auf Wohnungssuche gegangen, wenn wir Pause hatten.« »Weswegen hat sie ihn angezeigt?« »Sie hat behauptet, er hätte sie verprügelt.« »Das glaube ich nicht. John hat mir erzählt, daß sie ein sehr labiler Mensch war.« Jetzt, da sie vom Tod des Sohnes wußte, war das durchaus nachvollziehbar. Sarah empfand Mitleid. Mit
ihnen beiden. »Wahrscheinlich hat sie gewußt, daß er sie verlassen wollte. Sie muß völlig verzweifelt gewesen sein.« »Sarah, ich habe sie gesehen. Sie kam am nächsten Morgen ins Revier, um Anzeige zu erstatten. Sie hatte ein blaues Auge, ihre Kinnlade war dick geschwollen. Als sie ging, ist John hinter ihr her. Sie werden wohl miteinander geredet haben. Am nächsten Tag hat sie die Anzeige zurückgezogen.« »Hat John zugegeben, daß er sie verprügelt hat?« Es mußte eine andere Erklärung geben. Sein Wort gegen das seiner Frau. »Ich habe ihn nie gefragt«, sagte Wagner. »Auch sonst niemand.« So wie er das sagte, war für Sarah klar, daß er nichts davon hielt, wenn sie John fragte. Wagner setzte Sarah kurz nach acht Uhr abends an ihrer Wohnung ab. Noch immer war vor dem Haus ein Polizeibeamter in Zivil postiert. Da die Polizei noch keine hieb- und stichfesten Beweise gegen Perry hatte, blieb der Personenschutz bestehen. Das Chaos in ihrer Wohnung war noch größer als sonst, und aus der Küche drang ein widerlicher Geruch. Der Abfalleimer war seit Tagen nicht geleert worden. Sarah rümpfte die Nase, band den Müllbeutel zu und hoffte, daß sie am nächsten Morgen daran denken würde, ihn rauszubringen. Vielleicht könnte sie ja sogar ein bißchen aufräumen, dachte sie, als sie in ihr Schlafzimmer ging. »Sarah, du kannst dein Leben nicht in Ordnung bringen, wenn du keine Ordnung in dein Leben bringst.« Das hatte Melanie bei ihrem letzten Gespräch zu ihr gesagt. Nachdem sie heiß geduscht hatte, zog sie das zerwühlte Bett glatt und schüttelte die Decke aus, so daß Krümel und Staub aufflogen. Als sie sich hinlegte, dachte sie an Robert Perry, der in seinem Krankenbett im Koma lag. Wenn sie nur mit Sicherheit wüßte, daß er Romeo war. Wenn sie nur aufhören könnte, an Melanies Herz zu denken, das noch immer nicht gefunden worden war. Und jetzt Emmas gestohlenes Herz. Zwei noch fehlende Herzen. Wieso? Wieso hatte er das Muster durchbrochen? Aber Perry kam als Romeo durchaus in Frage. Er war krank, daran bestand kein Zweifel. Vermutlich eine multiple Persön-
lichkeitsstörung. Irgendwie hatte er es geschafft, daß Melanie den gemeingefährlichen Teil seiner Psyche nie auch nur erahnt hatte. Den Teil, der nur dann an die Oberfläche trat, wenn er sich in Romeo verwandelte. Sie schaltete das Licht aus, zog sich die Decke bis unters Kinn. Sie lag da und zwang sich, nicht an Romeo zu denken, nicht an die arme Emma, nicht an ihren Vater und Melanie, an Johns geschlagene Frau, den Sohn, den er verloren hatte, und auch nicht an John. Wagner blickte von dem Bericht auf, den er las, als Allegro um neun Uhr vierzig am selben Abend in die Einsatzzentrale kam. »Wir haben ein zusätzliches kleines Problem, Partner.« Allegro schälte sich aus seinem Jackett und warf es über einen Stuhl. Dann stützte er die Hände flach auf seinen Schreibtisch. »Muß das sein, Mike?« »Draußen ist ein Typ mit seiner Freundin.« Wagner überprüfte die Namen auf dem Berichtsbogen. »Fred Gruber und Linda Chambers. Sie haben Perrys Foto in den Nachrichten gesehen, als sie vor zirka einer Stunde in ihrer Stammkneipe was getrunken haben, und sie können beide beschwören, daß Perry an dem Abend, als Melanie Rosen ermordet wurde, direkt vor ihnen in einem Kino in North Beach gesessen hat.« »Sind wahrscheinlich betrunken.« Wagner schüttelte den Kopf. »Ich habe sie überprüft. Und die Freundin erinnert sich sogar an die kleine Auseinandersetzung, die Perry mit einer asiatisch aussehenden Frau am Getränkestand hatte. Fred Gruber und seine Freundin behaupten, daß Perry zu seinem Platz zurückgekommen ist und bis zum Ende des Films dort gesessen hat. Gruber schwört, daß er sich deshalb daran erinnert, weil Perry auf dem Platz direkt vor ihnen saß und die ganze Zeit herumgezappelt hat.« »Scheiße.« »Kannst du noch mehr gute Nachrichten verkraften?« Allegro funkelte Wagner an. »Nein.« »Perry hatte gestern, als er und Emma zusammen in dem Café waren, kein Jackett an.« Wieder blickte Wagner auf ein Blatt Papier auf seinem Schreibtisch. »Ich habe Rodriguez’ Bericht
gelesen. Er hat mit Margaret Baldwin gesprochen, der Nachbarin, die die beiden im Café gesehen hat. Sie sagt, daß Perry einen von diesen naturfarbenen irischen Pullovern mit Zopfmuster anhatte. Ich habe Mrs. Rumney angerufen, die alte Dame in dem Haus gegenüber. Sie bleibt dabei, daß der Mann, der mit Emma ins Haus gegangen ist, ein Jackett anhatte. Jetzt meint sie, es könnte braun gewesen sein. Oder grau. Ach ja, und sie glaubt, der Mann, den sie gesehen hat, ist größer als Perry.« »Woher zum Teufel weiß sie denn, wie groß Perry ist?« »Ich habe ihr das Foto gezeigt, das auf Melanies Beerdigung von ihm gemacht worden ist. Er stand direkt neben Emma. Tja, sie sagt, heute morgen hätte sie sich noch nichts dabei gedacht, aber wenn sie sich jetzt an das Bild erinnert, fällt ihr ein, daß Perry und Emma praktisch gleich groß sind. Und sie hat recht. Sie beteuert aber, daß der Mann, den sie mit Emma ins Haus gehen sah, deutlich größer war als Emma.« »Und du hast gesagt, sie wäre vage.« »Ach komm, John. Du hast doch nicht wirklich geglaubt, daß es so leicht sein würde, oder?« »Leicht?« »Du weißt, was ich meine.« Das Telefon klingelte. Allegro riß den Hörer von der Gabel. »Ja?« Er hörte ein paar Sekunden zu. »Okay, wir sind gleich da.« »Was ist los?« fragte Wagner, als Allegro sich sein Jackett schnappte. »Perry ist bei Bewußtsein und will eine Aussage machen.« Eine Frau, das Gesicht im Schatten, sitzt auf der Bettkante. Sie hat langes blondes Haar, das glänzt, obwohl das Zimmer dunkel ist. Sie trägt einen blaßgelben Chenille-Morgenrock, die Ärmel reichen knapp bis zu ihren zarten Handgelenken. Sie legt ihre feingliedrige schlanke Hand auf den Rücken des Kindes. »Aber, aber«, wiederholt sie immer wieder mit wohlklingender, melodiöser Stimme. »Aber, aber.« Das Kind schluchzt in sein Kopfkissen. Es denkt, es wird ersticken, wenn es den Kopf nicht dreht. Es dreht den Kopf nicht. Es will ersticken.
»Aber, aber«, summt die Frau mit dem goldenen Haar tröstend. Sie weiß nicht, daß das Kind am Ersticken ist. Sarah erwachte mit einem Ruck, rang nach Luft, das Gesicht im Kopfkissen vergraben, Tränen strömten ihr aus den Augen. Sie riß jäh den Kopf hoch, als ob sie glaubte, daß sie tatsächlich versucht hatte, sich selbst zu ersticken. Und sie hatte sich ernsthaft eingebildet, ihre Selbstmordgedanken überwunden zu haben! War es möglich, daß sie, wenn Romeo sie nicht erledigte, die Sache selbst in die Hand nehmen würde? »Nein. Ich will nicht sterben!« schrie sie in die Stille des Zimmers hinein und schleuderte die Bettdecke weg. Sie hatte all diese Schmerzen und Ängste nicht durchlitten und überstanden, um ihr Leben jetzt einfach so wegzuwerfen. Ihr Nachthemd war naß geschwitzt. Sie zog es aus, saß dann nackt auf der Bettkante und hielt ihren Körper umklammert. O Gott, es ist noch nicht vorbei. Noch immer strömten Panik und Verzweiflung aus all ihren Poren. Die Erinnerung an den Mißbrauch Melanies durch ihren Vater zuzulassen, hatte den Fluß nicht gestoppt. Sie beugte sich vor, so daß ihr Kopf auf den Knien lag. Warum hatte sie immer noch Angst? Welche schrecklichen Erinnerungen lauerten denn noch in ihrem Unterbewußtsein? Warum konnte sie sich nicht einfach erinnern, statt sich von Bruchstükken peinigen zu lassen? Warum versuchte sie, den Deckel mit einer Hand aufzustemmen, während sie ihn mit der anderen wild entschlossen niederdrückte? Sie sah auf den Wecker. Viertel nach elf. Sie hatte keine zwanzig Minuten geschlafen. Jetzt war sie wieder hellwach. Und fror, denn der Schweiß verdunstete auf ihrer nackten Haut. Sie stand auf und wollte zu ihrer Kommode gehen, um ein frisches Nachthemd zu holen. Doch dann nahm sie ihren buntkarierten Morgenmantel. Sie würde sich eine Tasse heiße Milch machen, um sich etwas zu entspannen und hoffentlich wieder schlafen zu können. Als sie den Morgenmantel überzog, fiel ihr wieder jener Morgenmantel ein, den die Frau in ihrem Traum getragen hatte.
Sarah stockte der Atem. Sie erinnerte sich deutlich an das Kleidungsstück. Ein Geburtstagsgeschenk für ihre Mutter an deren letztem Geburtstag. Als sie achtunddreißig wurde. Sarah erinnerte sich, wie ihre Mutter die Schachtel geöffnet und zuerst nach einer Glückwunschkarte gesucht hatte. Es war keine da. Bloß eins von diesen Gratiskärtchen, die dazugelegt werden. »Für Cheryl. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Simon.« Nicht einmal »In Liebe, Simon«. Nicht einmal in seiner Handschrift. Ihre Mutter hatte den Morgenmantel aus der Schachtel genommen, ohne ein Wort, ohne die geringste Gefühlsregung. Sarah konnte sich nur an ein einziges Mal erinnern, an dem ihre Mutter den blaßgelben Chenille-Morgenrock getragen hatte. Ein Klopfen an der Tür riß Sarah aus ihren Erinnerungen. Sie band den Gürtel ihres Morgenmantels zu, ging aus dem Schlafzimmer und schaltete das Licht im Wohnzimmer an. »Wer ist da?« rief sie vorsichtig. »Ich bin’s. Vickie. Bist du wach?« Sarah verdrehte die Augen. »Nein.« »Bitte, Sarah. Ich glaube, es ist wichtig.« »Kann es nicht bis morgen warten? Du hast mich aus dem Tiefschlaf geweckt«, log sie. »Hier liegt was vor deiner Tür.« Sarah stockte der Atem. »Ein Päckchen. Mit deinem Namen drauf.« Sarah legte eine Hand auf die Brust. Sie spürte, daß ihr Herz wie wild klopfte. Sie zögerte. »Sarah? Ist alles in Ordnung?« »Ich bin nicht angezogen, Vickie. Laß es einfach liegen. Ich hole es gleich.« Wieso lag da ein Päckchen? Wer konnte an dem Polizisten vor dem Haus vorbeigekommen sein? »Okay«, sagte Vickie gedehnt. Sarah ging auf Zehenspitzen zur Tür, preßte das Ohr dagegen, lauschte, wie die Schritte im Flur verhallten. Dann hörte sie Vickie die Wohnungstür zuschlagen. Vorsichtig öffnete Sarah die Tür nur einen Spalt und spähte hinaus. Niemand zu sehen. Sie blickte nach unten. Das Päck-
chen, in glänzendem Geschenkpapier verpackt, so groß wie eine Konfektschachtel, lag direkt vor ihrer Tür, wie Vickie gesagt hatte. Sie zog die Tür etwas weiter auf, damit sie es hereinholen konnte. Was für ein perverses Geschenk hatte er ihr diesmal geschickt? Wieder ein herzförmiges Medaillon? Nein, dazu war das Päckchen zu groß. Wieder Pralinen? Einen zweiten Kranz? Nein. Wiederholungen kamen bei Romeo nicht in Frage. Er hatte sicher etwas Neues für sie. Noch so ein krankes Zeichen seiner Zuneigung. Aber was? Alles, was ihr in den Sinn kam, war zu grausig, um es auszusprechen. Schließlich konnte sie die quälende Stimmung nicht mehr aushalten und riß das Papier ab. Ein rechteckiger Karton aus Wellpappe kam zutage. Mit zitternden Händen lüftete sie vorsichtig eine Seite des Deckels. Eine rote Samtschachtel rutschte heraus. Herzförmig. Mit einem weißen Satinband zugebunden. Unter dem Band steckte ein zusammengefaltetes Blatt weißes Papier. Wieder ein Auszug aus Melanies Tagebuch? Wieder ein »Liebesbrief« vom Mörder ihrer Schwester? Sarahs Magen verkrampfte sich. Sie zog das Blatt heraus und faltete es auf, um den Moment hinauszuzögern, in dem sie die Schachtel öffnen würde. Liebste Sarah, Du kämpfst genau wie ich. Wir sind Teile eines Ganzen, Sarah. Wir beide wissen nur zu gut, wie dünn die Grenze zwischen Schmerz und Ekstase ist. Die anderen (selbst Melanie) waren nicht imstande, die schreckliche Leere in mir auszufüllen. Weine nicht um Emma. Ich habe ihr eine Zeitlang mein Herz geschenkt. Als Zeichen meiner absoluten Liebe schenke ich Dir das ihre. Bald, meine Liebe, Romeo Wie von Sinnen riß Sarah den roten Foliendeckel herunter. Dort, auf einem Bett aus blutbeflecktem weißen Samt, lag ein menschliches Herz.
Ein ersticktes Gurgeln drang aus Sarahs Kehle. Sie übergab sich an Ort und Stelle. Als sie nichts mehr in sich hatte, preßte sie die Hände auf den schmerzenden Magen und mußte weiterwürgen, ohne daß noch etwas herauskam. Zu erschöpft, um sich zu bewegen, saß sie in ihrem Erbrochenen, den Kopf auf die Knie gepreßt, und ihre Gedanken wurden in die Vergangenheit zurückgeholt. »Ruhig, ruhig.« »Ich hasse ihn. Ich hasse ihn, Mama!« »Ruhig, ruhig.« »Er ist schrecklich. Er macht abscheuliche Dinge!« »Ruhig, ruhig.« Sie hält sich am Ärmel des blaßgelben Morgenmantels fest – das Geburtstagsgeschenk, das sie nie zuvor an ihrer Mutter gesehen hat. »Laß mich nie allein, Mama. Du bist alles, was ich habe. Du bist die einzige, die mich mag.« »Ruhig, ruhig. Ganz ruhig, Schätzchen.« Sie hörte ein pochendes Geräusch hinter ihrem Kopf. Zuerst war sie noch benommen. Dann riß sie sich aus ihren Erinnerungen. War das Romeo? Wollte er jetzt zuschlagen, wo sie seine letzte Nachricht gelesen hatte? Der Polizist vor dem Haus. Ich muß aufstehen. Zum Fenster gehen. Ihn rufen. »Sarah? Verdammt, Sarah. Sind Sie da? Ich bin es, John. Machen Sie die Tür auf!« Auf Allegros Rufen folgte eine weitere Serie von dröhnenden Schlägen. »John?« Wieso war er hier? Irgend etwas roch ekelhaft. O Gott, es war ihr Erbrochenes. Sie begann zu weinen. »Sarah? Bitte, Sarah. Es ist alles in Ordnung. Machen Sie die verdammte Tür auf.« »Nein, nein, nichts ist in Ordnung.« »Sarah, Sie müssen mich reinlassen.« Das Bild einer Frau mit einem blauen Auge und verquollenem Kinn schoß ihr durch den Kopf. Sie preßte die Augen fest zu.
»Los, Sarah. Sofort.« Er klang so unnachgiebig, daß sie zusammenfuhr. Langsam hievte sie sich hoch und langte gehorsam nach der Türverriegelung. Allegro war so darauf bedacht, hineinzukommen, daß er in dem Moment gegen die Tür drückte, als er hörte, daß sie entriegelt wurde, so daß er Sarah mit der aufschwingenden Tür ins Zimmer katapultierte. »Mein Gott«, keuchte er, als er sie sah. Sie wies ihn wild gestikulierend zurück. »Nein, nein. Nicht näher kommen. Mir ist ein Mißgeschick passiert. Ich schäme mich so.« Es war nicht ihre Stimme, die da ertönte. Es war die Stimme eines verängstigten kleinen Mädchens. Die Zeit hatte einen Riß bekommen, und Sarah war durch ihn hindurch in die Vergangenheit gerutscht. »Dir ist schlecht geworden, Sarah«, sagte Allegro beruhigend. Er redete mit ihr wie mit einem kleinen Kind. »Kein Grund, dich zu schämen. Ich bin nicht böse. Laß mich dir helfen, Sarah.« »Ich stinke, ich bin ekelhaft!« schrie sie, fiel auf die Knie und verbarg das Gesicht in den Händen. »Das weiß jeder.« Allegro kniete sich vor sie hin. »Sarah, dir ist bloß schlecht geworden, du mußtest dich übergeben. Wenn du erst mal den Bademantel ausgezogen und eine schöne heiße Dusche genommen hast, riechst du wieder so gut wie immer.« Seine Worte waren wie Balsam, lockten sie aus den Schrecken der Vergangenheit sanft in die Gegenwart zurück. Langsam hob sie den Kopf. »Ich glaube… ich schaffe das nicht, John.« »Ich helfe dir. Wenn du mich läßt.« Er stand auf, wollte sie auf die Beine stellen. Sie schüttelte den Kopf. »Bitte, Sarah.« »Noch nicht. Erst – erst – muß ich dir was sagen.« »Was denn?« Ihr Blick war auf den Boden gerichtet, nicht weit von der Stelle, wo er stand. Allegro wandte den Kopf, um zu sehen, wohin sie starrte. »Großer… Gott.«
Sarah packte nach ihm, umklammerte so plötzlich sein Hosenbein, daß er das Gleichgewicht verlor und auf die Knie fiel. Ein zerknülltes Blatt Papier, Romeos Brief, fiel ihr aus der Hand. Allegro hob es auf, aber er konnte den Blick nicht von der roten Samtschachtel abwenden. Von dem, was darin lag. »Es… ist Emmas«, keuchte sie, ein langes, gedehntes Stöhnen drang aus ihrer Kehle. O Gott. Sie fing wieder an zu würgen. Allegro hob Sarah auf und trug sie ins Bad. Er klappte den Klodeckel herunter und setzte sie behutsam darauf. »Ich lasse das Badewasser ein. Während du badest, mache ich in der Diele und im Wohnzimmer sauber, okay?« Sie saß da wie ein nasser Sack. »Hast du was da gegen Übelkeit?« Allegro öffnete den Arzneischrank, kramte etwas herum, fand eine Rolle Magentabletten und nahm zwei heraus. »Hier. Kau die.« »Kann nicht«, murmelte sie. Bei dem Gedanken, irgend etwas zu kauen, krampfte sich ihre Magenmuskulatur zusammen. Allegro steckte sich die kalkweißen Tabletten selbst in den Mund und beugte sich über die Wanne, um das Wasser einzulassen. In der Dusche entdeckte er eine Plastikflasche Schaumbad und goß sie zur Hälfte ins Badewasser. »Was sagst du dazu?« scherzte er, als sich die Wanne langsam mit schaumigem Wasser füllte. Sie blickte ihn ausdruckslos an. »Okay, hör zu«, sagte er sachlich. »Ich werde dir jetzt den Bademantel ausziehen und dir in die Wanne helfen. Bist du damit einverstanden, Sarah?« Er betrachtete sie aufmerksam. War das ein schwaches zustimmendes Nicken gewesen? Er war sich nicht sicher. Er wollte sie jetzt auf keinen Fall in Panik versetzen. Oder sie dazu bringen, daß sie sich noch weiter in sich zurückzog. Im Augenblick war sie nicht ansprechbar. »Ich mache jetzt erst mal den Gürtel auf«, sagte er zu ihr. Sorgsam darauf bedacht, nichts anderes als den Gürtel zu berühren, löste er langsam den Knoten. »Sachte, sachte.« Der Bademantel öffnete sich. Sie war nackt darunter. Damit hatte er nicht gerechnet. Seine Hände wollten den Bademantel
hastig wieder schließen, doch dann sah er, daß sie sich ihrer Nacktheit gar nicht bewußt war. Die Wanne war fast voll. Er half ihr aufzustehen. »Das Wasser wird dir guttun, Sarah.« Sie leistete keinen Widerstand, als er ihr den Bademantel abstreifte. Er versuchte, ihren Körper nicht anzusehen, war aber nicht ganz erfolgreich dabei. »Kannst du in die Wanne steigen, Sarah?« Ihre leeren Augen blickten starr in seine. Er hob sie hoch. Sie war leicht. Fast mager. Als er sie in das warme schaumige Wasser setzte, gab sie ein Geräusch von sich, das irgendwo zwischen Schnurren und Knurren angesiedelt war. »Ist das Wasser zu heiß?« Sie antwortete nicht, aber er wußte, daß es nicht zu heiß war. Seine Arme waren bis zu den Ellbogen naß geworden, als er Sarah in die Wanne gesetzt hatte. Jackett und Hemdsärmel waren durchnäßt. Und sowohl Jackett als auch Hemd waren vorn mit Sarahs Erbrochenem besudelt. Allegro behielt Sarah im Auge, damit sie nicht unterging und ertrank, während er sich Jackett und Hemd auszog. Seine Hose hatte kaum etwas abbekommen. Er nahm einen Waschlappen vom Handtuchhalter neben dem Waschbecken, tauchte ihn ins Badewannenwasser und rieb sich das Erbrochene von der Hose. Er mußte noch in der Diele und im Wohnzimmer saubermachen. Und die Schachtel, der Brief. Das Herz. Auch darum mußte er sich kümmern. »Na, wie ist es?« fragte er fürsorglich. Sie sagte nichts. Aber allmählich bekam sie wieder etwas Farbe ins Gesicht. Er streichelte ihr die Wange. »Bald geht’s dir wieder gut, Sarah.« Sie legte ihre seifige Hand auf seine, hielt sie an ihre Wange gedrückt. »Laß mich nicht allein, John.« »Das werde ich nicht, Sarah.« Sie schloß die Augen, hielt noch immer seine Hand fest. »Ich habe von meiner Mutter geträumt, bevor – bevor Vickie geklopft hat.« Sie brach abrupt ab, riß die Augen auf. »Perry kann den Brief nicht gebracht haben, das – das…« Sie brachte es nicht fertig, Emmas Herz zu erwähnen. »Es sei denn, er ist aus
dem Krankenhaus geflohen. Das ist er doch nicht, oder? Deshalb bist du doch nicht gekommen? Warum bist du gekommen, John?« Wieder überkam sie Panik. Sie nahm seine Hand von ihrem Gesicht. »Wieso bist du hier?« schrie sie. »Das erzähle ich dir später. Jetzt bleibst du erst mal hier in dem schönen warmen Wasser liegen und versuchst, völlig abzuschalten. Du brauchst keine Angst zu haben. Du bist in Sicherheit.« Allegro schöpfte etwas Seifenwasser in die hohle Hand und ließ es ihr über die Schultern rieseln. »Das hat er auch immer gemacht.« Allegro wich zurück und starrte sie an. »Wer hat was gemacht?« »Mein Vater hat uns immer gebadet, als wir klein waren. Mich und Melanie. Er hat uns beide in die große Wanne gesetzt und uns gewaschen und mit Wasser bespritzt.« Wieder eine Erinnerung, die sie verdrängt hatte. Sie kam sich vor wie eine Grabräuberin, nur daß es ihr eigenes Grab war, das sie plünderte. »Aber einmal habe ich ihn auch naß gespritzt, und er hatte vergessen, seine Uhr abzunehmen. Es war eine sehr teure goldene Uhr. Nicht wasserdicht. Und ich hatte sie kaputtgemacht. Er war so wütend. Er hat mich aus der Wanne gezerrt. Ich weiß noch, wie ich dagestanden habe, auf dem kalten Fliesenboden, ganz naß und zitternd. Er hat mir nicht mal ein Handtuch gegeben. Es war, als wäre ich gar nicht vorhanden. Von da an durfte immer nur Melanie mit Daddy in die Wanne.« »Mit Daddy?« wiederholte Allegro. »Was?« Ein Versprecher? Nein. Es stimmte. Ihr Vater hatte zusammen mit ihrer Schwester gebadet. Melanie hatte es ihr mal erzählt. »Es ist ein Geheimnis, Sarah. Du darfst es nicht weitererzählen, sonst wird Daddy ganz wütend und schickt dich in die Besserungsanstalt.« Sie war noch zu jung, um zu wissen, was eine Besserungsanstalt war, aber so, wie Melanie es sagte, konnte sie sich denken, daß es ein böser, dunkler, unheimlicher Ort war. Sie hatte nie ein Sterbenswörtchen verraten.
Allegro sah, daß sie wieder einen wilden Blick bekam. »Schon gut. Alles okay, Sarah. Ich habe mich bestimmt verhört.« »Verhört?« Ihr wurde schwindlig. Wieso saß sie splitterfasernackt in ihrer Badewanne und unterhielt sich mit einem Mann mit nacktem Oberkörper? »Was ist mit deinen Sachen passiert? Wieso hast du deine Sachen ausgezogen?« »Du hast sie vollgekotzt.« Sie wurde rot, legte eine nasse Hand auf ihren Mund. »O Gott, wie konnte ich das vergessen? Du läßt mich bestimmt gleich von Männern in weißen Kitteln abtransportieren, nicht wahr?« Er lächelte. »Nein. Möchtest du denn abtransportiert werden?« Zaghaft erwiderte sie sein Lächeln. »Nein. Aber etwas Privatsphäre wäre mir ganz lieb.« »Bist du sicher, daß du klarkommst?« »Ja. Das Schlimmste ist vorbei, oder etwa nicht?« Allegro nickte, aber er konnte ihr dabei nicht in die Augen sehen. Sie war noch nicht soweit, die Wahrheit zu vertragen. Er stand auf. »Hier an der Tür hängt ein Nachthemd. Soll ich einen Bademantel…« »Ich habe keinen mehr«, sagte Sarah. »Das Nachthemd genügt. In meiner Kommode müßte noch ein T-Shirt für dich liegen.« »Danke.« »John?« »Ja?« »Gehst du auch wirklich nicht weg?« Sie konnte die Furcht in ihrer Stimme hören, aber diesmal war es ihr egal. Es war ihr egal, ob er wußte, wie groß ihre Angst war. Daß sie sich sehr viel sicherer fühlte, wenn er bei ihr war. Als ob er das alles nicht ohnehin schon wußte. Allegro lächelte beruhigend. »Nein, Sarah. Ich gehe nicht weg. Ich bin da, wenn du aus dem Bad kommst.« Er war schon fast zur Tür hinaus, als sie ihn noch einmal rief. »John, auf dem Kühlschrank steht eine frische Flasche Scotch.« Er zögerte, nickte dann.
Als Allegro die Tür hinter sich schloß, ging Sarah gegen ihren Willen eine Frage durch den Kopf: War er an dem Abend betrunken gewesen, an dem er angeblich seine Frau verprügelt hatte? Im Wohnzimmer lag noch immer der Geruch von Erbrochenem in der Luft, obwohl Sarah sah, daß Allegro beim Saubermachen gute Arbeit geleistet hatte. Und die Fenster weit geöffnet hatte, um die Wohnung durchzulüften. Er saß auf der Couch, die Ellbogen auf den Knien, den Kopf in den Händen. Die Flasche Scotch stand auf dem Couchtisch. Auf den ersten Blick dachte sie, er hätte vielleicht schon zuviel getrunken. »Wo… ist es?« fragte sie und sah sich verstohlen und vergeblich nach Romeos letztem und entsetzlichstem Geschenk um – nach der Verpackung, dem Karton, seinem Brief, der roten Samtschachtel mit Emmas Herz. Wie wunderbar es doch wäre, wenn sie sich das alles nur eingebildet hätte. Allegro schreckte hoch, als er ihre Stimme hörte, drehte den Kopf und sah sie an. In dem unförmigen, wadenlangen rosa Baumwollnachthemd sah sie aus wie ein verlassenes Kind. »Ich habe Pollock damit zum Labor geschickt. Gerichtsmedizin.« »Pollock?« »Der Posten vor dem Haus.« Schöner Leibwächter. »Wie ist – Romeo – an ihm vorbeigekommen?« Allegro machte ein finsteres Gesicht. »Pollock sagt, er hätte vor gut einer Stunde irgendwas in der Gasse hinter deinem Haus gehört und ist nachsehen gegangen. War bloß eine blöde Katze. Hatte einen Mülleimer umgestoßen. Er hat sich ein paar Minuten da hinten umgesehen, um ganz sicher zu sein, daß alles in Ordnung war. Also hatte der Mistkerl mehr als genug Zeit, um die Haustür zu öffnen, sein Päckchen zu hinterlegen und wieder abzuhauen.« Sarah sah deutlich vor ihrem geistigen Auge, wie die Katze sich im Dunkeln am Küchenfenster rieb. Das abscheuliche Herz baumelte an ihrem weißen Halsband. Das Bild verwandelte sich
in etwas Gräßliches. Der Hals der Katze war aufgeschlitzt, Blut sickerte aus der klaffenden Wunde. Auf das goldene Herz. Tropfte nach unten in das Herz hinein. Färbte die Fotos der beiden Schwestern blutrot. Allegro sah, wie sie blaß wurde. Er griff nach der Flasche Scotch. »Komm, setz dich und trink was.« Zu ihrer Überraschung sah sie, wie er den noch versiegelten Verschluß öffnete. Also hatte er gar nichts getrunken. Noch nicht. Sie schüttelte den Kopf, aber sie ging hinüber, um sich neben ihn aufs Sofa zu setzen. Plötzlich lachte sie laut auf. »Was ist los?« »Das T-Shirt.« Vorn auf der Brust stand in schwarzen Druckbuchstaben: »Vertrau Allah, aber binde dein Kamel an.« »Ja«, sagte er und klopfte auf die Schrift. »Das trifft die Sache ziemlich gut.« Sie setzte sich neben ihn. »Einer meiner Klienten hat es mir geschenkt. Hector Sanchez. Er ist Künstler und durch einen Motorradunfall erblindet.« »Ist das nicht der Typ, der…« Sarah blickte ihn argwöhnisch an. »Der was?« »Der das Päckchen von Romeo vor seinem Atelier gefunden hat. Die Schachtel Pralinen. Und das Briefchen?« Sarahs Augen wurden dunkel vor Mißtrauen. »John… ich habe dir nie erzählt, wie ich sie bekommen habe. Und wo. Ich habe es niemandem erzählt. Ich habe nur gesagt, Romeo hat sie mir geschickt.« »Sarah, sieh mich nicht so an. Mike hat es mir erzählt. Er hat mit Sanchez gesprochen.« Die Brise, die durch das offene Fenster drang, ließ Sarah frösteln. Der Nachtnebel kroch ins Zimmer. »Mike hat mit Hector Sanchez gesprochen?« Ihre Stimme konnte ihren Argwohn nicht verhehlen. »Genau.« Er lügt. Ich habe mit Wagner nie über Hector gesprochen. Sie rückte von ihm ab. »Sarah, was hast du?«
»Wie ist es möglich, daß Mike mit ihm gesprochen hat? Woher wußte er überhaupt, daß Hector existiert? Ich habe ihn euch beiden gegenüber nie erwähnt.« »Sanchez hat Mike angerufen. Das heißt, er hat im Dezernat angerufen und nach der Person gefragt, die den Romeo-Fall leitet. Mike hat den Anruf entgegengenommen. Er hat Mike von Romeos Päckchen erzählt.« Das klang überzeugend. Wie sie Hector kannte, war ihm durchaus zuzutrauen, daß er im Morddezernat angerufen und Wagner von dem Päckchen erzählt hatte. Oder sich aufgrund ihres Verhaltens zusammengereimt hatte, daß das Päckchen von Romeo war. »Sanchez hat sich ernsthaft Sorgen um dich gemacht. Mike hat ihm versichert, daß wir an der Sache dran sind. Ich sage dir, Sarah, dein Künstler ist in dich verknallt.« Allegro hielt inne, bevor er hinzufügte: »Ich kann es ihm nicht verübeln.« Ihre Stirn legte sich in Falten. »Wieso bist du heute abend gekommen, John? Ein dienstlicher Besuch? Oder ein persönlicher?« Ihre Frage schien ihn zu bekümmern. Er war also nur dienstlich hier. »Perry war es nicht, Sarah. Er ist nicht Romeo. Jemand hat ihm für die Nacht, in der deine Schwester ermordet wurde, ein hieb- und stichfestes Alibi verschafft.« »Wieso hat er dann versucht, sich umzubringen?« »Das bedeutet ja nicht, daß er nicht verrückt ist. Bloß daß er nicht Romeo ist.« »Dann stehen wir also wieder ganz am Anfang«, sagte sie nüchtern. »Ich weiß, daß es für dich in dieser Situation kein großer Trost ist, aber als Perry vor kurzem wieder zu sich kam, hat er erklärt, daß er sich die Affäre mit deiner Schwester bloß ausgedacht hat.« »Das sagt er jetzt. Vielleicht hatte er so große Schuldgefühle, daß er es jetzt leugnen will.« »Dennison sagt, Perry zeigt alle Anzeichen von…« »Dennison? Du hast mit Bill Dennison gesprochen?«
»Er war im Krankenhaus, als Mike und ich hinkamen. Um nach Perry zu sehen. Dennison ist schließlich sein Therapeut. Obwohl Perry nicht mehr zu ihm gehen wollte.« »War er noch da, als ihr gegangen seid?« Allegro sah sie fragend an. »Dennison? Nein. Er wollte ein, zwei Tage warten, bis sich Perrys Zustand stabilisiert hat, und hat ihm Antidepressiva verschrieben. Wir haben Dennison nichts von Perrys Alibi erzählt. Fürs erste wollen wir es geheimhalten.« Sarah hörte nur noch halb zu. »Wie spät war es, als er das Krankenhaus verlassen hat?« »Kurz vor halb elf. Er ging gerade Richtung Fahrstuhl, als wir Perrys Zimmer betraten.« Sarahs Kehle wurde trocken. »Dann könnte er es gewesen sein. Bill könnte das Päckchen gebracht haben.« »Viele Leute könnten es gebracht haben, Sarah. Fast jeder außer Robert Perry. Es ist wieder alles offen, fürchte ich. Weißt du, in welchem Zeitraum genau das Päckchen vor deine Tür gelegt worden sein muß?« »Es war noch nicht da, als ich gegen acht nach Hause gekommen bin.« »Acht? Du hast das Krankenhaus um halb sieben zusammen mit Mike verlassen.« »Wir waren noch eine Kleinigkeit essen, bevor er mich nach Hause gebracht hat.« Sarah sprach schnell weiter, damit Allegro nicht fragte, über was sie und Wagner geredet hatten. »Jedenfalls war ich um halb elf im Bett. Um Viertel nach elf hat mein Nachbar bei mir geklopft. Er wollte gerade ausgehen und hat das Päckchen gesehen.« Allegro grinste. »Vickie Voltaire? Soll ja toll aussehen, sagt Mike.« Sarah verzog ihr Gesicht. »Keine Sorge. Er ist nicht mein Typ«, neckte Allegro sie, um ihr ein Lächeln abzuringen. Ohne Erfolg. »Ich halte es für durchaus möglich, daß Bill das Päckchen vor die Tür gelegt hat.« Sarah fragte sich, ob Allegro sich an ihr Geständnis erinnerte, daß sie und ihr ehemaliger Schwager eine kurze Affäre gehabt hatten. »Er hatte die Schlüssel zum Haus
und zu meiner Wohnung. Ich habe sie ihm vor etwa acht Monaten gegeben. Und sie einen Monat später zurückverlangt«, fügte sie rasch hinzu. »Und er hat sich geweigert?« »Nein. Er hat mir den Wohnungsschlüssel zurückgegeben, aber gesagt, den anderen hätte er verloren. Er hätte also nicht mal Zeit damit vergeuden müssen, das Schloß zu knacken.« Allegro schaute sie finster an. »Morgen lassen wir als erstes die Schlösser auswechseln.« »Es war ein Fehler, John. Die Sache mit mir und Bill.« »Obwohl«, fuhr Allegro fort, als hätte er nicht gehört, was sie gesagt hatte, »wenn er deinen Wohnungsschlüssel hat nachmachen lassen, hätte er vielleicht riskiert, das Päckchen in deine Wohnung zu legen statt draußen vor die Tür. Das heißt, angenommen, es war Dennison.« »Noch nicht. Das Spiel macht ihm im Moment noch zu großen Spaß.« »Schönes Spiel«, sagte Allegro und beäugte die Flasche Scotch. »Vielleicht einen kleinen Schluck?« »Wann hat Bill das Krankenhaus verlassen?« fragte Sarah. »Gegen halb elf.« »Dann hatte er fünfundvierzig Minuten, bevor Vickie mir Bescheid gesagt hat, daß das Päckchen vor der Tür lag. Es ist möglich, daß er das – das Herz – irgendwo im Krankenhaus auf Eis gelegt hatte.« Und Melanies Herz? War ihr Herz noch dort? Allegro sah, wie die Farbe wieder aus Sarahs Gesicht wich. Er stand auf. »Du hast heute abend schon genug durchgemacht. Was hältst du davon, wenn ich dich jetzt ins Bett packe und wir uns morgen weiter unterhalten?« Sie faßte seinen Arm. »Das paßt zusammen, John. Und du weißt doch noch, neulich abend nach dem Einbruchsversuch hier. Ich habe Bill angerufen, und er war nicht zu Hause.« »Wir haben Dennison gefragt. Er sagt, er war mit seinem Hund Gassi.« »Hat ihn jemand gesehen?« »Hör mal, Dennison steht ganz oben auf unserer Liste der Verdächtigen. Wir werden nachprüfen, wohin er gefahren ist, nachdem er das Krankenhaus verlassen hat.«
»Was ist mit seinem Alibi für letzte Nacht? Als Emma…« »Glaub mir, wir werden ihn auch danach fragen. Aber da wir nichts Konkretes gegen ihn in der Hand haben, können wir ihn nicht einfach nachts zu Hause überfallen und ihn ins Verhör nehmen.« Er blickte auf seine Uhr. »Es ist nach eins. Du brauchst etwas Schlaf. Ich werde jemanden vor Dennisons Haus postieren, damit er bleibt, wo er ist, bis wir zu ihm gehen und ihn uns gründlich vornehmen. Fühlst du dich dann besser?« Sie blickte ihn düster an. »Er ist da draußen, John. Romeo ist da draußen und wartet darauf, mir das Herz aus dem Leibe zu reißen.« Er legte den Arm um sie. »Denkst du etwa, ich lasse zu, daß deinem Herz irgendwas geschieht?« »Ich weiß nicht, ob du das verhindern kannst. Ich weiß nicht, ob das überhaupt jemand kann.« »Ich habe draußen drei Männer aufgestellt, ein Streifenwagen kommt alle halbe Stunde vorbei, und ich werde die Nacht hier auf deinem Sofa verbringen. Ich verspreche dir, daß ich kein Auge zumache, okay? Ich bin ohnehin eine Nachteule. Und du weißt ja noch vom letzten Mal, als jemand versucht hat, hier einzubrechen, daß ich Ohren wie ein Luchs habe«, fügte er in dem vergeblichen Versuch hinzu, sie aufzuheitern. Er wurde gleich wieder ernst. »Dieser verfluchte Irre kommt nicht auf eine Meile an dich heran, Sarah. Darauf gebe ich dir mein Wort.« Allegros Blick schweifte von Sarah zu der ungeöffneten Flasche Scotch auf dem Tisch. »Was dagegen, wenn wir die Flasche verschwinden lassen? Verträgt sich nicht so gut mit meinem Dienst als Wachmann.« Sie blickte auf den Scotch. War sein Alkoholproblem so groß, daß er sich nicht zutraute, die Finger davon zu lassen? »Wie du möchtest«, sagte sie leise. »Es ist nicht so schlimm, wie du denkst, Sarah.« »Woher willst du wissen, was ich denke?« »Ich meine bloß, wieso soll ich mich unnötig in Versuchung führen? Alkohol ist eine Versuchung für mich. Das bestreite ich
nicht. Aber in letzter Zeit finde ich ein paar andere Dinge viel verlockender.« Meinte er sie? War sie wirklich eine Versuchung für ihn? Oder sagte er das nur aus Mitleid und weniger aus Verlangen nach ihr? Sie fühlte sich im Moment wirklich verdammt erbärmlich. Aber als sie ihm in die Augen blickte, sah Sarah nichts als Zärtlichkeit. Würde sie jemals seine wahren Gefühle erfahren? Sie war sich nicht sicher. Sie kannte nur ihre eigenen Gefühle. Zumindest glaubte sie, diese allmählich zu kennen. Sie wollte etwas sagen, stockte aber dann. »Was ist?« hakte er nach. Ihre Wangen röteten sich leicht. »Ich wollte gerade was Dummes sagen. So in die Richtung, daß meine Couch etwas unbequem ist.« Sie kam sich so dumm vor. Seine Mundwinkel zogen sich nach oben. »Weißt du, sie sieht tatsächlich etwas unbequem aus. Natürlich hilft es einem, wach zu bleiben.« Zu ihrer eigenen Bestürzung platzte Sarah damit heraus: »Ich möchte nicht, daß du auf der Couch schläfst. Ich möchte, daß du bei mir im Bett schläfst. Wenn du nicht willst, habe ich dafür Verständnis. Ich sehe schlimm aus, ich habe mich heute abend wie eine Verrückte benommen. Ich habe dich sogar verdächtigt, daß du Romeo bist. Ich bin total kaputt, John. Und zwar noch weitaus mehr, als du ahnst.« Sie redete schnell, weil sie wußte, daß sie sonst den Mut verlieren würde. Er legte die Hand in ihren Nacken und zog ihr Gesicht ganz dicht an seins. Bis sich ihre Lippen fast berührten. Als er sprach, spürte sie seine Worte an ihrem Mund. »Wir sind beide kaputt, Sarah. Ich werde es dir nicht vorhalten, wenn du es mir nicht vorhältst.«
22 Ich suche verzweifelt nach der Balance zwischen Dunkelheit und Licht. Auch du suchst danach. Unsere Sehnsüchte sind ineinander verwoben, in einem Alptraum, den wir miteinander teilen. M. R. Tagebuch Sarah lag auf der rechten Seite des Bettes auf dem Rücken, die Hände über der Brust gefaltet, ohne einen Muskel zu bewegen. Als wäre sie in einem Sarg aufgebahrt. Eine beunruhigende Pose, doch sie konnte sich nicht rühren. Die Verlegenheit hielt sie gefangen. Sie hatte Allegro in ihr Bett eingeladen, und jetzt, da er neben ihr lag, war ihr, als hätten sie all ihre alten Ängste mit unter die Laken begleitet. Ihr Unbehagen wurde noch dadurch verstärkt, daß sie splitternackt war. In einem flüchtigen Moment der Unbefangenheit und des Übermuts hatte sie, als sie mit Allegro in ihr Schlafzimmer gegangen war, ihr Nachthemd ausgezogen. Und fast im selben Augenblick bereut. »Sarah?« Sollte sie so tun, als würde sie schlafen? Um sich weitere Erniedrigungen zu ersparen? »Tut mir leid, John.« Sie hatte sich so sehr danach gesehnt, mit ihm zu schlafen. Sie sehnte sich noch immer danach, aber sie konnte sich nicht entspannen. Er drehte sich auf die Seite, so daß er sie ansehen konnte, den Kopf auf die Hand gestützt, den Ellbogen tief in die Matratze gedrückt. »Soll ich lieber wieder nach nebenan gehen?« Sie wandte ihm den Kopf zu. Im Zimmer war es stockdunkel, aber die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Wagens erhellten kurz sein Gesicht. Es war kein unbeschwertes Gesicht. Kein friedliches. Trauer, Kampf und Verbitterung hatten tiefe Furchen hinterlassen. Doch es war ein Gesicht, das ihr ans Herz ging. An ihr Herz, das jetzt vor unbeholfenem Verlangen pochte.
Sie wartete ab, bis der Wagen vorbei war und ihre Gesichter wieder im Dunkeln versunken waren. Dann fragte sie: »Was siehst du eigentlich in mir?« »Alles, was du nicht sehen kannst.« Sie legte ihre Hand auf seine nackte Brust. Er hatte das TShirt ausgezogen, die Hose aber anbehalten. »Das Schlechte wie das Gute?« »Ich liebe dich, Sarah.« Sein völlig unerwartetes Geständnis ließ sie ihre Hand zurückziehen und verlegen auflachen. »Wann ist das denn passiert?« Noch während sie die Frage stellte, gab sich ihr Verstand bereits alle Mühe, die Glaubhaftigkeit seiner Äußerung in Frage zu stellen. Wie oft setzte ein Mann diese abgedroschene Phrase ein, um eine Frau rumzukriegen? Allegro drehte sich auf den Rücken. »Der genaue Moment?« Er lächelte schwach. »Als du mich vollgekotzt hast.« »Du machst dich über mich lustig. Wenn nicht, bist du ziemlich eigenartig.« »Die Dinge sind nun mal nicht so einfach, Sarah.« Er sagte lange nichts. Zuerst dachte sie, daß er überlegte, wie er sich aus dem Schlamassel retten könnte, in den er sich selbst hineingeritten hatte. Dann, als weitere ein, zwei Minuten vergangen waren, war sie sicher, daß er überhaupt nichts mehr sagen würde. Doch in diesem Augenblick fing er an zu reden. »Einmal war ich mit meinem Sohn allein zu Hause. Er ist vor sieben Jahren gestorben. Ich habe dir nicht erzählt, daß ich ein Kind hatte, nicht?« Sie schüttelte den Kopf. Er hatte es ihr nicht erzählt. Sondern Wagner. »Danny lag krank im Bett. Er war seit zwei Wochen krank. Der Arzt meinte, es wäre Bronchitis und daß es ihm bald wieder besser gehen würde. Aber es ging ihm nicht besser. Grace war völlig fertig. Sie hat mich angefleht, einen Tag zu Hause zu bleiben, weil sie sich wegen Danny Sorgen machte. Sie hat sich ständig Sorgen gemacht.« »Also bist du zu Hause bei ihm geblieben?«
Er nickte. »Ich habe ihr gesagt, sie sollte mal eine Weile Spazierengehen. Ich habe sie einkaufen geschickt. Sie hat mich und den Kleinen nämlich ganz verrückt gemacht. Ich war gerade in der Küche und habe ihm eine Suppe gekocht, als ich ihn rufen hörte. Ich bin in sein Zimmer gerannt, und er hing halb über der Bettkante und erbrach sich. Ich habe dann seinen Kopf gehalten. Und die ganze Zeit, während er mich von oben bis unten vollkotzte, konnte ich an nichts anderes denken als daran, wie sehr ich ihn liebte. So sehr, daß es weh tat.« Sarah konnte den Schmerz in seiner Stimme hören. Sie konnte ihn fühlen. Seinen. Ihren. Schmerz war eine weitere Verbindung zwischen ihnen. »Als Grace später zurückkam, schlief Danny fest, und ich saß bloß da, neben seinem Bett, und streichelte ihm die Stirn. Ich weinte. Es war mir nicht mal bewußt. Sie hat zu mir gesagt: ›Ich habe dich noch nie wegen irgend jemandem weinen sehen, John.› Und damit hatte sie recht.« Langsam wandte er sich Sarah zu. Sie spürte trotz der Dunkelheit, daß er sie ansah. »Heute, als du brechen mußtest und ich mich um dich gekümmert habe, kam es mir fast so vor wie damals bei Danny. Ich hatte Tränen in den Augen. Und ich habe gedacht: Ich liebe diese Frau. So sehr, daß es weh tut.« Sarah lag ganz still da, aber in ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Hatte er gewußt, daß sein Sohn bald sterben würde? Hatte er auch deshalb geweint? Waren ihm heute die Tränen gekommen, weil er wußte, daß auch ich bald sterben werde? Sarah schlief, den Kopf auf Allegros rechten Arm gebettet, ihr Atem strich warm über seine Haut. Allmählich schlief ihm der Arm ein, doch er machte keine Anstalten, ihn zu bewegen. Ihre Lippen öffneten sich. Er überlegte, ob sie wohl im Schlaf sprach. Doch es kam nur ein leises Wimmern. Als ein Auto vorbeizischte und kurz ihr Gesicht erhellte, sah er eine einzige Träne an ihrem Nasenrücken entlanglaufen. Bevor sie die Oberlippe erreichte, fing er sie mit der Zungenspitze auf. Sie schmeckte salzig und süß zugleich.
Sarah warf im Schlaf einen Arm über ihr Gesicht. Ein dumpfes, drohendes Geräusch dröhnte ihr in den Ohren. Das Geräusch ließ ihren ganzen Kopf vibrieren. Es weckte sie auf. Sie lag ganz still und versuchte, den Klang einzuordnen. Sich vorzustellen, woher er kam. Sie sieht braune Augen. In Panik aufgerissen. Es sind ihre Augen. Sie versucht zu schreien. Doch der Klang wird gedämpft, weil eine große Hand ihr den Mund zuhält. Die Erinnerung wurde schärfer. Sarah sah sich selbst, nackt, auf ein Bett gepreßt. Als kleines Mädchen. Als Kind. »Ich wußte, daß ich mich nicht auf dich verlassen kann. Was du auch probierst, du bist immer eine Enttäuschung.« Sie wimmert. Es tut weh. »Du bist genau wie deine Mutter. „Zwei vom selben Schlag. Plärrend, jämmerlich, frigide.« Er spuckt jedes Wort aus. »Los, ab mit dir nach oben ins Bett. Ich will dich nicht mal mehr ansehen müssen.« Sie rutscht unsicher von dem Schlafsofa, schreit auf, als sie sich das Schienbein am Metallrahmen der Matratze stößt. Ihr Vater packt sie an den Haaren und starrt sie drohend an. Er ist noch nicht fertig mit ihr. »Das hier ist nie passiert. Falls du jemals das Gegenteil behauptest, wirst du es dein Leben lang bereuen. Dann erfahren nämlich alle, daß du zu mir reingekommen bist und versucht hast, mich dazu zu bringen, schlimme Sachen mit dir zu machen. Dann erfahren alle, was für ein böses Mädchen du bist.« Unwillkürlich stöhnte Sarah laut auf. Allegro schaltete die Lampe auf dem übervollen Nachttisch an. Sarah zuckte zusammen, hob die Hände vor die Augen, um sie vor dem grellen Licht und seinem forschenden Blick zu schützen. »Mach es aus. Bitte, John.«
Statt dessen packte er sie an den Handgelenken und zog ihr die Hände vom Gesicht. Eine Panikwelle erfaßte sie wie eine Lawine. »Sag es mir, Sarah. Raus damit.« Sie hielt die Augen geschlossen. »Ich habe gelogen. Mich selbst belogen. Bernie. Einfach… alle.« »Wobei hast du gelogen?« »Es war nicht… bloß Melanie. Er… mein Vater… hat mich auch… mißbraucht. Ich habe… ihn gelassen. Schlimmer noch… ich… wollte es. Ich wollte, daß er… mich will. Mich so liebt, wie er… Melanie geliebt hat. Aber er hat es nicht getan. Er war wütend, weil ich geweint habe, als es weh tat.« Sie vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich dachte, wenn ich Mama sage… daß ich zugelassen habe, daß er… es mit mir macht… hätte sie mich auch gehaßt. Und dann würde mich niemand mehr lieben.« Allegro drückte sie an sich. »Schon gut, Sarah. Ich verstehe dich. Ich liebe dich.« Sie hörte nicht zu. Sie war noch immer ganz in ihrer schrecklichen Schuld gefangen. »Aber ich war eifersüchtig. Ich habe noch nicht mal… an Melanie gedacht, an meine Mutter. Wie sie… gelitten hat. Ich war ein böses, gemeines Mädchen.« »Nein. Niemals«, sagte er. »Du warst bloß ein trauriges, verwirrtes Mädchen.« »Was ich getan habe, war ungeheuerlich. Ich habe ihn gelassen. Gott, es ist einfach krank.« »Hast du deshalb Tabletten genommen?« Er packte ihre Handgelenke, streifte mit den Fingern über die Narben. »Und das getan?« Sarah ließ den Kopf wieder aufs Kissen sinken. Die Bettdecke rutschte ihr bis zur Taille hinab, entblößte ihre Brüste. Allegro deckte sie wieder zu. Sie brachte ein flüchtiges Lächeln der Dankbarkeit zustande, während sie die Decke fest um sich zog. »Ich… denke… ja. Obwohl ich es damals gar nicht gewußt habe. Ich hatte es völlig verdrängt. Feldman hat gedacht, meine Depressionen hätten mit dem Tod meiner Mutter zu tun. Er hatte ja keine Ahnung. Aber ich auch nicht, bis heute nacht. Und ich habe es auch nicht wis-
sen wollen, so sehr Feldman auch versucht hat, mich dazu zu bringen, mich zu öffnen, meine Gefühle zu erkunden. Ich war eine miese Patientin.« »Vielleicht war er ein mieser Therapeut«, entgegnete Allegro. Sarah schüttelte den Kopf. »Er mag ja einiges sein, aber das ist er nicht.« Sie sahen einander an, dann fiel Sarahs Blick auf ihre vernarbten Handgelenke. »Sarah, willst du weiter versuchen, dich umzubringen, bis es endlich klappt?« »Und Romeo enttäuschen, indem ich ihm zuvorkomme?« »Red doch nicht so einen Unsinn.« Er nahm wieder ihre Handgelenke, diesmal zärtlich. Sie sah zu, wie er abwechselnd die Narben sanft an seine Lippen drückte. Die Geste löste tief in ihr ein pulsierendes Verlangen und verzweifelte Leidenschaft aus. Als er ihre Handgelenke losließ, glitt sie mit den Fingern über seine Lippen. »Laß mich nicht sterben, John«, flüsterte sie, beugte sich dann zu ihm hinüber und tauschte ihre Finger gegen ihren Mund aus. Sein Mund öffnete sich, aber er berührte nicht ihren Körper. Auch nicht, nachdem sie die Decke wieder bis zur Taille hatte herunterrutschen lassen und ihre Brüste entblößt waren. Sie streckte die Hand aus, um das Licht auszuschalten, doch Allegro schüttelte den Kopf. »Ich möchte dich sehen«, sagte er heiser. Sie protestierte nicht, als er aufstand und das Laken ganz von ihr wegzog. Sie lag still da, die Augen vor seinem forschenden Blick geschlossen. »Mach die Augen auf.« »Es ist nicht leicht für mich, John.« »Willst du mich?« »Ja, aber ich habe solche Angst.« »Du kannst jederzeit sagen, daß ich aufhören soll. Ich höre sofort auf, wenn du es sagst. Ich verspreche es. Glaubst du mir?« »Ich weiß nicht.« »Riskier es, Sarah. Du hast dich deinen Dämonen gestellt.« »Nicht allen. Da ist immer noch Romeo.«
»Sarah, wenn du zuläßt, daß Romeo dich um das bringt, was du willst, dann hat er gewonnen.« »Das hört sich gut an, John.« »Weil das hier gut ist. Was wir fühlen. Was wir beide brauchen.« Er kniete jetzt neben dem Bett. Sarahs Muskeln verkrampften sich reflexartig, doch Allegro berührte sie nicht einmal. Sie lag da, völlig ausgeliefert, und sah zu ihrer eigenen Verwunderung, daß ihre Brustwarzen hart geworden waren. Und plötzlich wurde sie nicht nur von Erregung erfaßt, sondern auch von neuer Hoffnung. »Ja.« Das Wort rutschte ihr über die Lippen. Sie sah zu, wie er unbeholfen Hose und Slip auszog und ins Bett stieg. Bevor sie den Mut verlor, glitten ihre Hände fahrig um seinen Hals, zogen ihn näher. Ihr Körper verspannte sich, als sein erigierter Penis ihren Oberschenkel streifte. Er liebkoste sie sehr zärtlich. Seine Finger glitten sacht über ihren Brustkorb. Seine Zungenspitze umspielte leicht eine Brustwarze. Eine Hand streichelte liebevoll über ihre Oberschenkel. Weiche Lippen glitten über ihren bebenden Bauch nach unten. Sein Vorspiel war sanft und sinnlich, und sie wollte endlich loslassen, aber selbst als sie sich mit aller Macht darauf konzentrierte, sich zu entspannen, verschränkten sich ihre Arme über der Brust, ballten sich ihre Hände zu Fäusten, bohrten sich ihre Fingernägel schmerzhaft in die Handflächen. »Ich glaube, ich kann es nicht.« »Doch, du kannst es, Sarah. Vertrau mir. Laß mich dich lieben.« Sie versuchte es. Sie lag ganz still, als er ein Stück nach unten glitt, sanft ihre Beine öffnete. Dann war sein Kopf zwischen ihren Schenkeln, und sie stieß einen hellen, kurzen Schrei aus, als sie spürte, wie seine Zungenspitze ihre Klitoris berührte. Instinktiv preßte sie die Beine zusammen, um sich zu schützen, aber dadurch erreichte sie nur, daß er in dieser Position verharren mußte. Sie warf den Kopf hin und her, während er zielstrebig weitermachte. Jetzt nicht nur die Zungenspitze, sondern die ganze Zunge mit langen, energischen Bewegungen. Sie wand sich
immer unbeherrschter. Ihre Hüften bewegten sich jetzt im Rhythmus, ihr Körper löste sich von jedem Widerstand, den ihr Verstand noch immer bot. Er zog seine Zunge zurück und nahm behutsam ihre Schamlippen in den Mund – sachte, sinnlich. Diese Empfindung rief ihr schlagartig den schrecklichen Traum in Erinnerung, den sie unmittelbar nach dem Mord an Melanie gehabt hatte. Der gesichtslose Mann senkt den Kopf auf ihre Brust. Saugt ihre Brustwarze zwischen seine heißen, feuchten Lippen. So daß sie auf der Stelle hart wird. Und dann geschieht es. Ganz plötzlich. Ein brennender, unerträglicher Schmerz. Er hat ihr die Brustwarze abgebissen. Und damit nicht genug. Er frißt sich durch das Gewebe ihrer Brust, beißt durch die Knochen hindurch. Immer näher an ihr Herz heran… »Nein!« schrie sie aus vollem Hals, trat um sich und schlug nach dem Dämonenkopf, der sie verschlang, bei lebendigem Leibe auffraß. Nicht mein Herz! Nicht mein Herz! Allegro hob ruckartig den Kopf und bekam ein Knie mit voller Wucht gegen das Kinn. Er schrie laut auf und versuchte, ihre wild strampelnden Beine zu packen und nach unten zu drücken, aber sie war außer Rand und Band. Sarah kämpfte um ihr Leben. Ihre Arme und Beine schlugen heftig aus, trafen Allegro an Brust, Bauch, Schienbein und fast in die Weichteile. Er fluchte wütend, versuchte vergeblich, sie festzuhalten, ihr haltloses Schreien zu stoppen. Das krachende Splittern der Wohnungstür ließ sie beide hochfahren. Allegro sprang gerade vom Bett und schnappte sich seine Hose, die am Boden lag, als Mike Wagner, gefolgt von Rodriguez und Corky, mit gezücktem Revolver ins Schlafzimmer stürmte. Verblüffte Stille auf Seiten der Eindringlinge. Ein erschreckter Laut von Sarah, die hastig nach dem Laken griff, um sich zuzudecken. Allegro zog sich die Hose hoch, machte den Reißverschluß zu, ein peinlich lautes Geräusch.
Wagner blickte rasch von Sarah zu Allegro, der sich jetzt das von Sarah geliehene T-Shirt über den Kopf zog. Wagner stand die Verwirrung und Bestürzung ins Gesicht geschrieben. Er trat nervös einen Schritt zurück, als Allegro sich umwandte und auf ihn zuging. Auch Sarah, die jetzt in das Laken gehüllt war, blickte besorgt drein, als rechnete sie damit, daß Allegro seinem Partner zumindest für sein mieses Timing eine knallen wollte. Doch er schritt schnurstracks an Wagner vorbei und verließ das Schlafzimmer, ohne auch nur ein Wort zu ihm zu sagen. Oder zu ihr. Sekunden später knallte die Wohnungstür zu, oder das, was noch von ihr übrig war. Rodriguez und Corky sahen sich wortlos an. Wagners Gesichtszüge glätteten sich, obwohl er jeden Blickkontakt mit Sarah vermied. Statt dessen wandte er sich zu den beiden Detectives um. »Okay, Jungs. Seht zu, daß ihr die Wohnungstür einigermaßen wieder hinkriegt, und geht dann zurück auf eure Posten«, bellte er im Befehlston, während er seine Waffe wieder in das Schulterhalfter schob. Als die Detectives sich zum Gehen umwandten, hatte er noch eine Anweisung für sie: »Und keiner von euch hat heute abend hier irgendwas gesehen.« »Klar«, brummten beide geflissentlich und verschwanden dann rasch. Sie waren froh, sich verdrücken zu können, genauso froh wie Wagner, daß er sie los wurde. Wagner blieb mitten im Schlafzimmer stehen. Nach einem Moment fragte er: »Alles in Ordnung?« Sarah, mit vor Verlegenheit hochrotem Kopf, nickte zaghaft und betete, daß er sie nicht fragte, in was sie da eben hineingeplatzt waren. Im Augenblick wußte sie selbst nicht genau, was geschehen war. »Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht. Pollock hat mir von dem letzten Päckchen erzählt.« »Steht inzwischen fest, ob es wirklich Emmas Herz ist?« »Bisher sieht es ganz danach aus.« Sarah zuckte zusammen, sagte aber nichts. »Jedenfalls bin ich hergekommen, um nachzusehen, ob alles ruhig ist. Ob Sie okay sind. Dann haben wir Schreie gehört und…«
»Es ist nicht so, wie Sie denken.« »Hören Sie, es geht mich zwar nichts an, aber…« »Stimmt«, sagte sie kühl. »Hat er Ihnen – weh getan?« Sie sah weg. »Nein. Nein, er hat mir nicht weh getan. Ich glaube… ich habe ihm weh getan.« »Ich verstehe nicht ganz.« Sie blickte in Wagners Augen. »Ich habe Panik bekommen, Mike. Einen Moment lang habe ich sogar gedacht…« Sie hielt abrupt inne. »Was gedacht?« hakte er nach. »Nichts. Ich bin verrückt.« Sie schaute hinüber zu ihrem Nachthemd, das auf dem Boden lag. Wagner brachte es ihr. Er drehte sich um, als sie es sich überzog. »Wie wär’s«, fragte Sarah, »wenn wir eine Tasse Tee trinken?« »Ich setze das Wasser auf.« »Mike.« »Ja?« »Wieso haben Sie mir eigentlich nicht gesagt, daß Sie kürzlich mit Hector Sanchez gesprochen haben?« Er sah sie verwirrt an. »Mit wem?« »Hector Sanchez. Mein Klient. Er hat Sie doch am Donnerstag angerufen, oder?« »Wie kommen Sie denn darauf?« »Er hat Sie nicht angerufen?« »Nein. Sanchez? Nie gehört. Hat er Ihnen erzählt, er hätte mit mir gesprochen?« Ein kalter Schauer erfaßte Sarah plötzlich. Was zum Teufel ging hier eigentlich vor? »Ich habe da wohl was mißverstanden.« »Vielleicht hat er ja mit John gesprochen«, meinte Wagner. »Ja. Vielleicht.« »Erzählen Sie mir mehr über Johns Frau.« Wagner blickte Sarah über den Rand seiner Teetasse an. Sie saßen am Küchentisch. Es war kurz vor ein Uhr morgens. Lang-
sam stellte er die Tasse auf die Untertasse. »Was wollen Sie wissen?« Sarah hatte die Hände im Schoß gefaltet. Sie preßte sie fest zusammen. Ihre Tasse Tee hatte sie noch nicht angerührt. »John hat mir erzählt, sie ist aus einem Fenster im sechsten Stock gesprungen.« Wagner nickte. »Dann war es kein Hilfeschrei. Oder ein Versuch, auf sich aufmerksam zu machen. Sie muß gewußt haben, daß sie so einen Sturz nicht überleben würde.« »So habe ich das noch nie gesehen.« »Wieso hat sie sich umgebracht? Weil ihr Sohn gestorben war?« Wagner fuhr mit den Fingern über den Teelöffel neben seiner Tasse. »Ich denke, auch deswegen.« »Und weswegen noch?« »Sarah, was soll das? Wieso stellen Sie mir all diese Fragen? Sind Sie in John verliebt?« »Sie haben gesagt, er hat sie geschlagen.« »Einmal. Es ist einmal passiert. Und wer kann schon wissen, wie es wirklich war? Vielleicht war er es ja gar nicht. Vielleicht war sie es ja selbst. Sie haben auch nicht geglaubt, daß er es war.« »Aber Sie.« Er machte ein unglückliches Gesicht. »Hören Sie, John hatte maßlos getrunken. Vielleicht haben sie sich gestritten, und er hat gar nicht gemerkt, was er da tat. Soweit ich weiß, ist es nie wieder vorgekommen.« »Er trinkt noch immer.« »Nicht so wie früher. Und nie im Dienst. Ich könnte mir einfach keinen besseren Partner als John vorstellen. Er hat mich nie im Stich gelassen. Klar, er hat so seine Probleme, aber ich werfe bestimmt nicht den ersten Stein.« »Und Sie meinen, ich sollte das auch nicht tun.« »Ich meine, Sie sollten etwas schlafen.« Sarah nickte, aber sie wußte, daß sie in dieser Nacht kein Auge mehr zutun würde. Und was die kommenden Nächte anging, war sie auch nicht allzu optimistisch.
Allegro rief sie am Sonntagmorgen an. Sie hatte ihren Anrufbeantworter eingeschaltet, um sich vor unliebsamen Anrufen zu schützen. Die Presse verfolgte sie jetzt noch mehr, da der Tod von Emma Margolis die Sensationsmeldung des Tages geworden war. »Sarah, ich weiß, daß du da bist. Bitte geh ran.« Sie stand neben dem Telefon, die Hände ineinander gepreßt. »Wir müssen miteinander reden, Sarah. Mir dreht sich der Kopf. Und meinem Kinn ist es auch schon besser gegangen. Tut mir leid wegen gestern abend, Sarah. Es war dumm von mir. Ich hätte dich nicht drängen sollen.« Es entstand eine lange Pause. Sarahs Atem stockte. Wollte er auflegen? Wollte sie, daß er auflegte? »Sarah, ich rufe noch aus einem anderen Grund an. Ich hatte ein langes Gespräch mit Dennison beim Frühstück. Er sagt, er wäre gestern abend vom Krankenhaus direkt nach Hause gefahren und gegen Viertel vor elf dort angekommen. Nun hat ihn aber ein Nachbar, der beim Joggen war, erst kurz vor halb zwölf vorfahren sehen. Also lügt er, was bedeutet, daß dein Verdacht durchaus berechtigt ist. Er hätte Zeit genug gehabt, vorher zu dir zu fahren. Und dann gibt es da noch was gegen ihn, was noch belastender ist.« Wieder hielt er inne. »Sarah, hörst du mir zu?« Ihre Hand war feucht und klebrig, als sie den Hörer ans andere Ohr hob. »Ja.« »Tut mir leid, Sarah. Du mußt mir glauben, daß es mir leid tut.« »Was gibt es noch gegen ihn?« Ihre Stimme war schroff. Allegro seufzte. »Perry ist richtig aufgewühlt, seit er aus dem Koma erwacht ist. Als der diensthabende Arzt ihm gesagt hat, er würde seinen Therapeuten kommen lassen, hat er darauf bestanden, sich nicht weiter von Dennison behandeln zu lassen. Er wollte jemand anders. Egal wen.« »Hat Perry gesagt, warum er ihn ablehnt?« »Zuerst nicht. Der Doc sagt, als er Perry danach gefragt hat, wäre der noch aufgeregter geworden. Hat ständig gesagt, es
wäre zu gefährlich. Und es könnte seine Frau in Gefahr bringen. Daß sie vielleicht als nächstes dran wäre.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Sarah. »Der Arzt hat Perry schließlich etwas beruhigen können, so daß er geredet hat. Perry ist anscheinend überzeugt, daß Dennison Romeo ist. Und Perry hat eine Heidenangst, daß Dennison seine Frau umbringt, falls er rauskriegt, daß er aufgeflogen ist.« Sarahs Hand schloß sich fester um den Hörer. »Wieso ist Perry so sicher, daß es Bill Dennison ist?« »An dem Nachmittag, als Perry und Emma das Café verlassen haben, ist Perry ihr gefolgt. Und er behauptet, daß er, als er um die Ecke in ihre Straße gebogen ist, gesehen hat, wie Dennison und Emma zusammen ins Haus gegangen sind. Er sagt, sie hätten ziemlich vertraut ausgesehen. Daß Dennison den Arm um ihre Schulter gelegt hatte.« Sarah sank auf einen Küchenstuhl. »Bist du noch da, Sarah? Ist alles in Ordnung?« »Was hast du jetzt vor?« »Ich fahre noch mal mit einem Foto von Dennison zu Emmas Nachbarn. Vielleicht finde ich ja jemanden, der Perrys Geschichte bestätigt. Und wir knöpfen uns Dennison mal richtig vor. Gehen mit ihm seine Alibis für die einzelnen Mordnächte durch, bis wir was finden. Du hattest von Anfang an bei ihm ein ungutes Gefühl. Ich hätte das ernster nehmen sollen. Sarah, wegen gestern abend…« »Irgendwas Neues von der Gerichtsmedizin?« »Wie? Ja. Das Herz paßt. Der Rest wird noch untersucht. Heute im Laufe des Tages wissen wir mehr.« »Hatte Emma Angehörige? Ich weiß, daß sie einen Exmann hatte, aber sie hat nie über ihre Eltern gesprochen. Oder Geschwister.« »Ihre Mutter ist verständigt worden. Sie ist Witwe und lebt in Michigan. Sie möchte, daß Emma dort beerdigt wird, sobald die Autopsie abgeschlossen ist. Es gibt auch noch einen jüngeren Bruder. Er kommt am Dienstag rübergeflogen, um alles zu regeln.« Ein verlegenes Schweigen trat ein.
»Habt ihr schon die andere Frau gefunden?« fragte Sarah. »Deren Herz…« »Nein. Noch nicht.« Sarah traten Tränen in die Augen. Wer würde Romeos geheimnisvolles Opfer entdecken? Ein Ehemann? Ein Freund? Jemand, der diese Frau wirklich geliebt hat? Dem sie viel bedeutet hat? »Können wir miteinander reden, Sarah?« Sie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab. »Wir reden doch.« »Ich meine von Angesicht zu Angesicht.« »Ich brauche einen Tag, um mich zu erholen, John. Ruf mich morgen im Büro an.« »Bist du sicher, daß du schon wieder arbeiten kannst?« »Ich muß mich beschäftigen. Sonst dreh ich durch.« »Okay, ich rufe dich morgen früh an. So um zehn.« »Okay.« »Sarah?« »Ja?« »Ich wollte dir nicht weh tun. Oder dir angst machen.« »Ich weiß«, sagte sie, bevor sie auflegte. Und sie glaubte ihm. Aber hätte sie das auch, wenn er ihr nicht das mit Dennison erzählt hätte? Der verrückte, aber beängstigende Gedanke, daß Allegro vielleicht doch Romeo war, trat etwas in den Hintergrund. Trotzdem war da noch seine sonderbare Behauptung, daß Wagner mit Hector Sanchez gesprochen hatte. Konnte es sein, daß Wagner das im Trubel der Ereignisse einfach vergessen hatte? Leicht rauszufinden. Ruf Hector an. Frag ihn, ob er mit Wagner telefoniert hat. Sie rief bei Sanchez an, aber der war nicht da. Sie hinterließ eine Nachricht. Fünf Minuten später klingelte ihr Telefon. Sie dachte, es sei Sanchez, und nahm den Hörer ab. Es war nicht Hector Sanchez. Musik ertönte aus ihrem Hörer. Rhapsody in Blue. Um neun Uhr zwanzig waren Wagner und Allegro in der Einsatzzentrale des Morddezernats zusammen mit den zehn
Detectives, die jetzt der Romeo-Sonderkommission zugeteilt waren. Allegro stand an der Tafel und erteilte Anweisungen. Er war gerade von seiner erfolgreichen Befragung in Emmas Nachbarschaft zurückgekommen. Nicht eine, sondern zwei Personen – beide waren übers Wochenende nicht dagewesen – bestätigten Robert Perrys Behauptung, daß Emma am späten Freitagnachmittag mit einem Mann, der aussah wie jener auf dem Foto von Dr. William Dennison, ins Haus gekommen war. Frank Jacobs, ein Elektriker, der in der Wohnung 36 wohnte, hatte am Freitag einen Notruf bekommen und war gerade auf dem Weg nach draußen, als er Emma und Dennison zusammen in die Eingangshalle kommen sah. Dora Cheswick aus 5A direkt gegenüber von Emma am anderen Ende des Flurs verließ gerade ihre Wohnung, als sie Emma und Dennison in Emmas Wohnung gehen sah. Beide Augenzeugen hatten das Foto von Dennison ohne Zögern aus einem Dutzend Fotos ausgewählt, die Allegro ihnen gezeigt hatte. Beide erklärten sich zu einer Gegenüberstellung bereit. Somit gab es einen neuen Hauptverdächtigen, und in der Einsatzzentrale herrschte eine optimistische, energiegeladene Atmosphäre. Allegro teilte die Männer in Zweierteams ein, die jeweils für eins von Romeos Mordopfern zuständig waren; Rodriguez und Johnson übernahmen Emma Margolis, Allegro und Wagner kümmerten sich weiter um den Fall Melanie Rosen. Sämtliche Informationen sollten nochmals überprüft, alle Zeugen erneut befragt, Fotos von Dennison jedem vorgelegt werden, der eins der Opfer gekannt hatte. Pollock sollte alle Akten von kürzlich als vermißt gemeldeten Personen überprüfen und versuchen, die nach wie vor nicht identifizierte Besitzerin des Herzens aufzuspüren, das Romeo gegen Emmas ausgetauscht hatte. »Okay, Jungs, ihr wißt, was ihr zu tun habt«, sagte Allegro abschließend. Wagner sah zu, wie die Teams hinausmarschierten. »Was meinst du, John? Sollen wir ihn jetzt verhaften?« Allegro zuckte die Achseln. »Wie wäre es, wenn ich ihn mir hole, während du dich mit einigen von unseren alten Freunden von der Sitte unterhältst? Wie der Exstricherin, die jetzt den
Club in South of Market hat. Zeig Dennisons Foto herum. Vielleicht erkennt ihn ja jemand. Wir müssen möglichst viel über das Schwein rauskriegen.« »Okay.« Wagner steckte sich eine Zigarette in den Mund, als er aufstand. »Ach ja, was ist eigentlich mit dem Sadomaso-Schuppen in Richmond? In den Emma und Diane Corbett gegangen sind, wie Sarah sagt.« »Wir versuchen noch immer, ihn ausfindig zu machen«, sagte Wagner und zündete seine Zigarette an. »Corky, wird Zeit, daß du wieder die Sexclubs abklapperst.« Corky winkte ihnen zu und ging. Sie waren auf dem Weg nach draußen, als das Telefon klingelte. »Ich geh schon ran«, sagte Wagner. Allegro nickte und wartete ab, ob es vielleicht irgend etwas Wichtiges war. Vielleicht sogar Sarah, die nicht mehr warten wollte, bis er sich meldete, und ihn zuerst anrief. »Morddezernat. Detective Wagner.« »Hallo Detective. Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern.« Die Stimme der Frau kam Wagner irgendwie bekannt vor. »Lorraine Austin. Karens Mutter. Sie waren kürzlich bei mir. In meinem Schmuckgeschäft. Auf der Kearny Street. Na ja, es ist eigentlich nicht mein Geschäft. Ich bin nicht die Besitzerin. Ich wünschte, es wäre so.« »Ja, natürlich erinnere ich mich«, sagte Wagner. »Wie geht es Ihnen, Mrs. Austin?« »Oh, gut, danke. Das heißt, so gut es einem gehen kann, unter diesen Umständen.« »Ja, ich verstehe.« Wagner verdrehte die Augen in Allegros Richtung. »Ich hoffe, ich störe Sie nicht, Detective Wagner, aber heute morgen kam eine alte Freundin von Karen aus der High-School in den Laden. Mit ihrem Verlobten. Sie wollten einen Verlobungsring kaufen. Ich hatte keine Ahnung, daß sie nach San Francisco gezogen war. Karen hatte mir kein Wort davon er-
zählt. Aber offenbar hat Erika mit Karen telefoniert, wenige Tage bevor – bevor Karen starb.« Wagner wartete schweigend, als er hörte, daß die Frau mit den Tränen rang. »Was ich Ihnen sagen wollte, Detective, Sie haben mich gefragt, ob ich vielleicht wüßte, ob Karen bei einem Psychiater in Therapie war oder mit ihm befreundet war, und da konnte ich Ihnen leider nicht weiterhelfen. Ich war gar nicht auf die Idee gekommen, daß Erika vielleicht über Karens Privatleben oder über ihre Freunde und Bekannten Bescheid wüßte. Schließlich hatten sie nur dieses eine Mal miteinander telefoniert.« Wieder entstand eine Pause. »Töchter erzählen ihren Müttern nun mal nicht alles«, sagte sie leise. Genau das hatte sie auch bei ihrem früheren Gespräch zu ihm gesagt. »Hat Karen Erika irgend etwas über Dr. Dennison erzählt?« fragte Wagner, während Allegro an der Tür des Einsatzraumes wartete und sich auf die Seite des Telefonats konzentrierte, die er hören konnte. »Nein.« Wagner warf Allegro einen Blick zu und schüttelte leicht den Kopf. »Aber Karen hat ihr erzählt, daß sie jemand Neues kennengelernt hatte, jemand, den sie wirklich sehr anziehend fand.« »Ach ja?« »Karen hat gesagt, daß sie sich mit einem Polizisten angefreundet hatte. Einem Polizeibeamten.« Wagners Augen huschten zu Allegro hinüber. Sein Blick blieb starr auf Allegro gerichtet. »Ist das alles, Mrs. Austin? Ist das alles, was sie ihrer Freundin erzählt hat?« »Sie hat Erika nicht gesagt, wie er hieß. Aber sie hat gesagt, er sei ganz anders als jeder Mann, den sie bis dahin gekannt hatte.« »Irgendwelche sonstigen Einzelheiten?« fragte Wagner. »Nein. Tut mir leid. Das ist alles, was sie mir sagen konnte.« Allegro zog die Augenbrauen zusammen. »Schön, danke, Mrs. Austin«, sagte Wagner. »Wir werden der Sache auf jeden Fall nachgehen«, sagte er und legte auf.
»Karen Austins Mutter?« fragte Allegro. Wagner nickte. »Was wollte sie denn?« Wagner kramte in den Papieren auf seinem Schreibtisch herum. »Nichts. Sie ist nur eine traurige, einsame Mutter, die ihr Kind verloren hat und sich an jeden Strohhalm klammert.« »Welcher Sache willst du denn nachgehen?« wollte Allegro wissen. Wagner zuckte die Achseln. »Nichts Wichtiges. Sie meint, ihre Tochter könnte was mit jemandem aus ihrer Firma gehabt haben. Sie wußte nicht mal seinen Namen.« »Alles in Ordnung mit dir?« »Ja. Solche Gespräche mit den Angehörigen der Opfer gehen einem manchmal unter die Haut, verstehst du?« »Du machst so ein merkwürdiges Gesicht, Mike. In dir geht doch irgendwas vor. Was ist los?« »Was soll denn die Fragerei? Ich habe dir doch gesagt…« »Wenn es wegen gestern abend ist, als ihr reingeplatzt seid und Sarah und mich…« »Hör zu, das geht mich nichts an, John.« Er hielt inne. »Aber um ehrlich zu sein…« »Ja, nur zu. Sei ehrlich, Mike.« Wagner zuckte die Achseln. »Sie hat Fürchterliches durchgemacht. Vielleicht ist es nicht gerade der beste – der klügste Zeitpunkt. Sie ist im Moment sehr verletzlich und…« »Und was?« Allegros Tonfall wurde immer aggressiver, Wagners immer vorsichtiger. »Nichts. Ich werde mich da raushalten. Okay?« »Gut. Das ist gut.« Allegro war an der Tür. »Kommst du?« »Gleich. Ich mache nur noch eben einen Vermerk in Karens Akte über den Anruf ihrer Mutter.« »Okay«, sagte Allegro. Sein Blick fiel auf das Telefon. Sollte er Sarah jetzt anrufen? Sie war vermutlich schon im Büro. Hatte sie sich entschieden? Er wünschte sich sehnlichst, sie zu sehen. Am Abend zuvor war alles völlig falsch gelaufen, von der Peinlichkeit der Situation ganz zu schweigen. Er wollte es heute abend richtig machen. Vielleicht war es besser, wenn er sie von der Telefonzelle im Erdgeschoß anrief. Da war er ungestörter.
»Bis später«, sagte Allegro und ging zur Tür hinaus. Sobald Allegro außer Sicht war, ging Wagner zu einer Reihe Aktenschränke an der gegenüberliegenden Wand. Er zog eine Schublade mit erledigten Fällen auf, suchte sie durch, bis er die Akte fand, die er wollte. Er zog sie raus, öffnete sie und entnahm das obere Blatt. Es war der Autopsiebericht zu Grace Allegro. Während er das Blatt zusammenfaltete und in seine Jackettasche steckte, ging er zum Schreibtisch zurück, blätterte im Telefonbuch, fand die Nummer, nach der er suchte, und wählte. »Juwelier Lawry.« »Mrs. Austin?« »Ja?« »Detective Wagner. Entschuldigen Sie bitte die Störung.« »Oh, Sie stören nicht, Detective. Wir haben im Moment keine Kundschaft. Nicht viel los heute.« »Ich habe vergessen zu fragen, wie die Freundin Ihrer Tochter mit Nachnamen heißt und welche Adresse sie hat. Und wenn Sie vielleicht die Telefonnummer…« »Aber natürlich, Detective. Sie und ihr Verlobter haben einen Diamantring angezahlt. Natürlich habe ich alle erforderlichen Informationen aufgeschrieben. Moment, ich sehe mal eben in meiner Kartei nach. Ja, ich hab’s, unter F. Erika Forster. Zukünftige Dawkins. Erika hat mir nämlich erzählt, daß sie den Namen ihres Mannes annimmt. Das ist ja heutzutage selten geworden. Ich finde das schön. Ich bin wohl altmodisch. Ich glaube, Karen hätte das auch getan. Zumindest möchte ich es glauben.« »Ich finde auch, es ist ein schöner Brauch. Ich bin zwar nicht verheiratet, aber wenn ich heiraten würde – na, egal. Ich würde mich gern mal mit der Freundin Ihrer Tochter unterhalten.« Sie gab ihm Erikas Adresse und Telefonnummer. »Ich wünschte, ich könnte mehr helfen, Detective Wagner. In den Nachrichten haben sie nichts davon gesagt, daß der Mann im Krankenhaus schon unter Anklage gestellt ist. Deshalb wollte ich Ihnen das von dem Polizisten erzählen. Man kann ja nie wissen.«
»Danke, Mrs. Austin. Es ist immer am besten, wenn man alles überprüft.« Wagners Augen wanderten hinüber zu Allegros leerem Stuhl. »Sie haben recht. Man kann nie wissen.« »Meine Tochter wird davon zwar nicht wieder lebendig. Aber ich bete inständig, daß Sie den richtigen Mann haben. Damit nicht noch eine hübsche, lebensfrohe junge Frau diesem Monstrum zum Opfer fällt. Keine Mutter möchte ihr Kind überleben, Detective Wagner.« Zu seiner Verblüffung bemerkte Wagner, daß ihm Tränen in die Augen schossen. »Ja, Mrs. Austin. Davon bin ich überzeugt.«
23 Während die Öffentlichkeit ihn für barbarisch, unmenschlich, pervers hält, sieht Romeo sich selbst mit absoluter Überzeugung als mißverstandenen Romantiker. Dr. Melanie Rosen in Cutting Edge Am Montag wurde Sarah morgens um halb zehn von einem Streifenwagen zum Hintereingang ihres Bürogebäudes gebracht. Sie schlüpfte unbemerkt hinein und eilte zum Personalaufzug, der gerade aufging. Der Hausmeister schob einen Putzwagen hinaus. Sarah betrat den leeren Aufzug und drückte den Knopf für den sechsten Stock. Im zweiten Stock hielt der Fahrstuhl, und die Türen glitten auf. Ein großer Mann mit tief heruntergezogener Baseballmütze trat ein. Sarah gab einen verschreckten Laut von sich, als sie das im Schatten liegende Gesicht des Mannes erkannte. Sie versuchte, noch schnell an ihm vorbei aus dem Fahrstuhl zu huschen, bevor sich die Türen schlossen, doch der Mann versperrte ihr den Weg. Der Fahrstuhl setzte sich wieder aufwärts in Bewegung, blieb dann aber abrupt stehen. Bill Dennison hatte den Stop-Knopf gedrückt. »Keine Angst, Sarah. Ich will dir nichts tun. Ich muß mit dir reden.« Sie zwang sich, ihm in die Augen zu sehen. »Wie bist du hier…« »Ich bin gestern zu deiner Wohnung gefahren, nachdem mich dein Freund Allegro ausgesprochen unangenehm in die Mangel genommen hat. Aber in der ganzen Nachbarschaft wimmelte es nur so von Polizei und Reportern. Ich dachte, ich käme vielleicht von hinten ran, aber die Mistkerle hatten alles abgeriegelt.« »Also hast du mich statt dessen angerufen? Ein kleines musikalisches Intermezzo?« »Sei nicht albern. Als ich es heute morgen noch einmal versucht habe, habe ich gesehen, wie du dich rausgeschlichen hast,
und bin dir gefolgt. Als mir klar wurde, wo du hinwolltest, habe ich Gas gegeben, um vor dir hierzusein, und habe beobachtet, wie du durch den Hintereingang ins Gebäude gegangen bist. Dann bin ich die Treppe hochgerannt, um schneller als der Fahrstuhl zu sein. Ich bin noch immer ziemlich flott auf den Beinen.« Eine unangenehme Mischung aus dem Moschusduft von Dennisons Rasierwasser, seinem Schweiß und Ammoniak von dem Putzwagen des Hausmeisters drang ihr in die Nase. Ihr wurde flau im Magen. »Wieso hast du es getan, Bill?« »Sagte ich doch schon. Ich muß mit dir reden.« »Das meine ich nicht.« Er verdrehte die Augen. »Ich bin nicht Romeo, Sarah. Ich bin kein verrückter Sadist.« Sarah zuckte zusammen. Dennisons Augen funkelten. »Himmel. Sie hat es dir erzählt.« Sarah schüttelte schwach den Kopf, nicht wissend, wovon er sprach. Er trat näher an sie heran. »Ich habe mit deiner Schwester nie irgendwas gemacht, was sie nicht wollte. Worum sie mich nicht angefleht hatte. Hat sie dir das auch erzählt? Daß sie nicht kommen konnte, wenn ich ihr vorher nicht… weh getan hatte? Melanie war die Kranke von uns beiden, Sarah. Nicht ich. Aber ich habe sie deshalb nicht verurteilt. Ich habe sie deshalb nicht weniger geliebt.« Sarahs Puls dröhnte ihr in den Ohren. Ich muß ruhig bleiben. Er wird mich nicht hier umbringen. Er kann es nicht. Es muß so ablaufen, wie er es mit den anderen gemacht hat. Es ist ein Ritual, das er nicht verändern kann. Ein Zwang, die gleiche Tat immer und immer wieder auf die gleiche Art und Weise zu begehen. Hatte Melanie das nicht auch gesagt? Dennison war nur noch wenige Zentimeter von ihr entfernt. Sein normalerweise markantes Gesicht wirkte ausgezehrt. »Du hast es der Polizei erzählt, nicht? Das mit mir und Melanie. Das mit mir und dir.« »Nein, Bill.« Seine Augen verengten sich zu bedrohlichen Schlitzen. Er packte sie. »Die Cops glauben nicht, daß es Perry ist, oder?
Obwohl es die Nachrichten als Topmeldung bringen, daß Romeo gefaßt ist. Es ist ein Trick. Sie verdächtigen mich. Deshalb ist Allegro gestern bei mir zu Hause aufgetaucht und hat mich mit noch mehr Fragen bombardiert. Alles nur, weil du ihm erzählt hast, daß…« »Bill, ich schwöre dir…« »Und weil zwei der Opfer bei mir in Therapie waren und weil ich zufällig mit einem dritten Opfer verheiratet war. Sieht wirklich nicht gut aus, was? Aber es ist reiner Zufall. Sarah, gerade du weißt doch, wie sehr ich Melanie geliebt habe. Und sie hat mich auch geliebt. Es lag an ihrer Fixierung auf euren Vater. Als wäre er eine Art Gott. Ich konnte machen oder sagen oder denken, was ich wollte, ich konnte ihm nicht das Wasser reichen. Deshalb habe ich mich mit anderen Frauen eingelassen. Deshalb habe ich sie verlassen. Deshalb fühlte ich mich zu dir hingezogen, Sarah. Du hattest wenigstens nicht diese abartige Vaterfixierung. Du hast ihn nicht jedem Mann als Idealbild vorgehalten.« Während er sprach, gruben sich seine Finger tiefer in ihre Haut. Auch wenn er sie hier in diesem engen, sauerstoffarmen Käfig nicht umbrachte, so konnte er ihr doch ungestraft weh tun. Sein Mund verzog sich zu einem häßlichen Grinsen. »Ist schon paradox, oder, daß Dr. Simon Rosen, der doch so vollkommen, so brillant war, der einzige Mensch auf Erden, der Melanie ihrer Überzeugung nach je wirklich verstanden hat, am Ende oft gar nicht mehr wußte, wer sie war. Ich dachte, daß sie ihn endlich würde loslassen können. Ich habe wirklich geglaubt, wir könnten es noch einmal miteinander versuchen.« »Wenn du unschuldig bist, Bill, dann geh zur Polizei.« Er lachte sarkastisch. »Oh, genialer Tip, Sarah. Und ich habe wirklich mal geglaubt, ich wäre in dich verliebt.« Plötzliche Wut überdeckte Sarahs Angst. Und ihre Vernunft. »Was ist mit Emma? Hast du sie auch geliebt?« Er schüttelte sie heftig. »Was weißt du über mich und Emma?« »Daß du an dem Abend bei ihr warst, als sie ermordet wurde«, platzte sie heraus. Wenigstens erzählte sie ihm nicht, daß diese
Information von Perry stammte. Wie Perry traute sie es diesem Wahnsinnigen durchaus zu, daß er sich aus Rache an Perrys Frau vergriff. Oder hatte er sie schon erledigt? Gehörte das noch nicht identifizierte Herz vielleicht zu Cindy Perry? Dennisons Kinn klappte nach unten. Er schwankte, ließ Sarah los und suchte an der Fahrstuhlwand Halt. »Emma und ich haben was getrunken.« »Champagner?« provozierte Sarah. Er warf ihr einen finsteren Blick zu. »Brandy. Wir haben Brandy getrunken.« Sein Gesicht zuckte. »Okay, ich fand sie attraktiv. Und sie mich auch. Deshalb habe ich die Therapie beendet. Aber die letzten paar Wochen waren nicht leicht für mich. Ich weiß, es war dumm, aber ich hatte das Bedürfnis, die Sehnsucht nach etwas Zärtlichkeit. Verständnis. Zuneigung.« Während Dennison sprach, schob sich Sarah ganz langsam unauffällig nach rechts, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen. Nur noch einen knappen Meter, und sie kam an den großen roten Alarmknopf rechts unten. Wenn sie es nur schaffte, die Beine zu bewegen. Wenn sie sie nur tragen würden, bis sie… Ihr Arm schnellte vor, doch bevor sie den Alarmknopf erreichen konnte, packte Dennison ihr Handgelenk und stieß sie weg. Sie krachte gegen die Wand der Kabine. Er starrte sie an, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen. »O Scheiße. Hast du dir weh getan? Ich wollte dir nicht weh tun. Ich habe plötzlich Panik gekriegt, Sarah. Ich bin völlig unschuldig, aber wenn ich als möglicher Verdächtiger irgendwie mit diesen Morden in Verbindung gebracht werde, ist meine Reputation dahin. Dann verliere ich meine Praxis. Dann bin ich ruiniert. Mag sein, daß ich nicht gerade der beste Psychiater der Welt bin, Sarah, aber ich helfe vielen Menschen.« Er beugte sich zu ihr vor, drückte sie gegen die Wand. »Ich schwöre dir, ich war nur eine Stunde bei Emma. Wir haben nicht mal miteinander geschlafen. Sie hat gesagt, sie könnte das im Moment einfach nicht. Und ich habe es verstanden. Das schwöre ich dir. Außerdem hat sie gesagt…« Er brach abrupt ab. »Was hat Emma gesagt, Bill?«
Dennisens blaßblaue Augen wurden größer. »O mein Gott. Sie hat gesagt, daß sie Besuch von einem Freund erwartete, der später vorbeikommen wollte.« »Ein Freund?« »Ich habe gedacht, sie wollte mich rausschmeißen. Aber sie muß die Wahrheit gesagt haben. Sie hat ihn erwartet. Romeo. Und er hat die Verabredung eingehalten.« Sarah ergriff ihre Chance. »Das mußt du der Polizei erzählen, Bill. Komm mit hoch in mein Büro. Wir rufen Allegro an.« Er wich zurück. Einen Augenblick lang dachte sie, sie hätte seine Kooperationsbereitschaft gewonnen. Doch dann verzerrte sich sein Mund zu einem höhnischen Grinsen. »Du glaubst mir nicht. Der Cop wird mir auch nicht glauben. Aber andererseits habe ich was gegen deinen Freund Allegro in der Hand.« »Was könntest du denn wohl gegen John in der Hand haben?« »Ach, du sagst also schon John zu ihm? Ich habe mir schon gedacht, daß zwischen euch was läuft. Psychiater sind äußerst scharfsichtige Menschen, selbst die von uns, die den Olymp noch nicht erklommen haben wie der geniale Dr. Simon Rosen. Als Allegro mich gestern aufgesucht hat, hat er von dir ständig als Sarah gesprochen. Und irgendwas an der Art, wie er Sarah gesagt hat…« »Egal was zwischen uns läuft, es geht dich nichts an, Bill.« »Hat er dir auch erzählt, daß er zu ihr ging?« »Zu wem?« »Zu Melanie.« »Sie hatten beruflich miteinander zu tun. Sie hat ihn beraten.« »Nein. Ich meine zur Therapie. Er und seine Frau. Die sich umgebracht hat.« »Wovon redest du überhaupt?« »Melanie hat mit mir über den Fall gesprochen. Sie hat Allegro und seine Frau behandelt. Und weißt du was? Die Aufzeichnungen zu dem Fall sind nicht in ihrem Computer. Sie sind verschwunden. Als hätten sie nie existiert. Auch nicht in den Akten mit den abgeschlossenen Fällen. Also, Sarah, wie kommt es wohl, daß sich die Datei in Luft aufgelöst hat?« »Ich glaube dir nicht.«
»Sie waren scharf aufeinander. Melanie und John. Er hat sie gevögelt. Genau der Typ, auf den deine Schwester stand. Grob, ungeschliffen, unkultiviert. Du kannst drauf wetten, daß sie bei ihm problemlos gekommen ist.« Plötzlich machte es in Sarahs Kopf »klick«. Ihr Vorsatz, sich gelassen zu geben, sich auf ihn einzustellen, ihn zu beschwichtigen, wich schlagartig blanker Wut. »Du Lügner! Du dreckiger Lügner! Du Feigling!« schrie sie und schlug auf ihn ein. Sie hatte keine Chance gegen ihn. Nach der ersten Verblüffung über ihren Angriff packte er sie an den Handgelenken und drehte ihr die Arme auf den Rücken. Er war in Schweiß gebadet. »Du bist verrückt, Sarah. Du brauchst Hilfe. Wirklich.« »He! Ist jemand da drin?« Die Stimme schien von oben zu kommen. »Stecken Sie fest?« Bevor Sarah antworten konnte, hielt Dennison ihr mit einer Hand den Mund zu, die andere schlang er um ihre Taille. Er zerrte sie zu den Fahrstuhlknöpfen hinüber und drückte auf »K« für Keller. Mit einem Ruck setzte sich der Fahrstuhl wieder in Bewegung. Sarahs Herz raste, und die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Sollte sie im Keller versuchen, sich loszureißen und zum Ausgang zu laufen? Sollte sie lauthals um Hilfe rufen, in der Hoffnung, daß jemand sie hörte? Der Fahrstuhl blieb stehen, die Türen öffneten sich und gaben den Blick frei auf einen feuchten, düsteren Raum, der in mattes gelbliches Licht getaucht war. Leer und absolut still. »Mach bloß keine Dummheiten«, warnte er. »Es lohnt sich nicht.« Sarah sah, daß die Türen sich bereits wieder schlossen. Erkannte ihre einzige Chance. Sie gab Dennison einen heftigen Schubs, der ihn unvorbereitet traf und aus dem Fahrstuhl in den Keller katapultierte. Er verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. »Sarah – Sarah, bitte…« Die Türen schlossen sich. Ein völlig verstörter Andrew Buchanon, dessen Gesicht von Sorgenfalten zerfurcht war, kam mit hängenden Schultern auf
Wagner zugeeilt, als der Detective den Vorraum des Sozialdienstes betrat. »Wo ist sie?« fragte Wagner barsch. »Zuerst war sie völlig außer sich. Zum Glück hat sie einer von unseren Mitarbeitern ein wenig beruhigen können. Sie hat ihm gesagt, daß sie nicht körperlich angegriffen worden ist. Ich glaube allerdings, daß es ganz gut wäre, wenn sie ein paar Tage zur Beobachtung ins Krankenhaus ginge. Sie ist extrem erregt. Nicht, daß ich kein Verständnis für ihre Lage hätte, aber es ist äußerst schwierig, wenn Klienten herkommen…« »Halten Sie den Mund«, sagte Wagner scharf. Buchanons dünne Lippen erstarrten augenblicklich. Wagner zeigte mit einem Finger auf ihn. Wie mit einem Revolver. »Wo ist sie?« »In Mr. Grossmans Büro. Hören Sie, Detective, wir sind hier alle sehr erschüttert. Wenn wir etwas tun können…« »Verdammt, ich habe Ihnen schon gesagt, was Sie tun können.« Bernie hatte seinen Rollstuhl direkt neben Sarah gelenkt und einen Arm um ihre Schultern gelegt. Beide blickten auf, als sich die Tür öffnete. Wagner ging hinüber zu Sarah. »Hat er Sie verletzt? Brauchen Sie einen Arzt?« Sie war blaß, aber ihre Augen waren klar. »Nein.« »Was ist passiert?« »Dennison, das Schwein, hat sie im Personalaufzug abgefangen, das ist passiert«, sagte Bernie wütend. »Wieso war denn kein Cop bei ihr?« Wagner ignorierte ihn, den Blick auf Sarah gerichtet. »John wartet in Dennisons Wohnung. Und wir haben Leute zu Dennisens Büro geschickt, falls er zuerst dorthin fährt. In der Zwischenzeit brauche ich eine Aussage von Ihnen, Sarah. Aber nicht hier.« »Sie werden sie auf keinen Fall in irgendeinen finsteren Verhörraum bringen«, protestierte Bernie. »Ich wohne auf der Laguna Street«, sagte Wagner zu Sarah. »Mit dem Auto keine zehn Minuten von hier. Ich mache Ihnen
einen Tee, und wir unterhalten uns dort.« Er blickte Bernie an. »Wenn Sie mitkommen möchten, von mir aus gern.« »Ich komm schon klar, Bernie. Keine Sorge.« »Übernachtest du heute bei mir?« fragte Bernie. »Unter diesen Umständen«, schaltete Wagner sich ein, »halte ich es für klüger, wenn wir Sarah in einem Hotel unter Polizeischutz stellen. Ich versichere Ihnen, wir werden gut auf sie aufpassen.« Sarah dachte an Allegro, daran, daß auch er ihr geschworen hatte, sie zu beschützen. Sarah blickte zu den dunklen Regenwolken am Himmel, die sich jeden Moment entladen würden, als Wagner ihr vor einem schmalen Wohnhaus auf der Laguna Street aus dem Wagen half. »Komisch«, sagte sie. »Wochenlang war das Wetter ununterbrochen schön. Seit dem Mord an Melanie scheint es nur noch zu regnen.« »Ich singe eine tolle Version von dem Song über die Sonne, die morgen wieder scheint«, sagte der Detective scherzhaft. Sie lächelte. »Sie sind ein lieber Kerl, Wagner.« »Ja, ja. Das sagen alle.« Er führte sie in das blaßgelbe Gebäude und dann eine Etage höher in seine Wohnung. »Hübsch hier.« Sarah betrat den Wohnraum mit seinen mattweißen Wänden, einem nußbraunen Tweedteppich. Die Fensterläden waren aufgeklappt und gewährten einen Blick auf den Lafayette Park. Sie kam sich noch schlampiger vor als sonst, als sie das chaotische Durcheinander in ihrer Wohnung mit Wagners gepflegtem, stilvollen Heim verglich. Sogar der große Glasaschenbecher auf dem Sofatisch war makellos sauber, obwohl noch immer der schwache Geruch von Zigarettenrauch in der Luft lag. Die sparsam elegante Einrichtung – ein Futonsofa, ein schwarzlackierter Couchtisch, zwei Korbsessel mit gemusterten Kattunpolstern – wirkte ein wenig asiatisch, und Sarah vermutete, daß er die meisten Möbel ganz in der Nähe in Japantown gekauft hatte. Keine Bilder, nur ein großer rechteckiger Spiegel mit
silbernem Rahmen über einem Kamin, der aussah, als wäre er noch nie benutzt worden. »Wohnen Sie schon lange hier?« Sie entschied sich ganz bewußt für einen unverfänglichen Ton. Noch war sie nicht soweit, auf ihre beängstigende Begegnung mit Dennison zu sprechen zu kommen. Noch wollte sie nicht über die beunruhigenden Anspielungen nachdenken, die er John betreffend gemacht hatte. »Ungefähr ein halbes Jahr. Bis jetzt bin ich noch nicht dazu gekommen, es richtig einzurichten. Fehlt noch die Hand einer Frau, was?« »Es ist sehr sauber.« Wagner grinste. »Das kommt daher, daß ich kaum hier bin. Hören Sie, ich mache den Tee, Sie entspannen sich einfach ein Weilchen. Dann sprechen wir darüber, was zwischen Ihnen und Dennison passiert ist.« Er hatte seinen Partner bereits im Auto über Funk verständigt. Kein Wunder, daß Allegro den Psychiater weder bei ihm zu Hause noch in seinem Büro angetroffen hatte. Die Fahndung lief bereits auf vollen Touren. Er ging in die Küche, um Wasser aufzusetzen. »Leben Sie allein?« rief sie. »Ja. Vorher habe ich in Berkeley ein paar Monate mit einer Frau zusammengewohnt, aber sie hat gemerkt, daß sie nicht mit einem Polizisten zusammenleben kann.« »Das tut mir leid.« Sie verschränkte die Arme auf der Brust. Spürte ihr wild klopfendes Herz. Ließ die Arme wieder sinken. »Das muß es nicht«, rief er zurück. »Wir waren ohnehin nicht füreinander geschaffen.« Als er ein paar Minuten später zurückkam, trug er zwei dampfende Tassen in Händen. Sarah saß in einem der Korbsessel. Nachdem er die Tassen auf den Couchtisch gestellt hatte, nahm Wagner in dem anderen Sessel Platz und holte ein kleines Tonbandgerät aus der Hosentasche. »Bringen wir’s hinter uns«, redete er ihr gut zu. Sie begann zögernd. Besonders schwer fiel ihr, wiederzugeben, was Dennison über das Sexualleben ihrer Schwester erzählt hatte. Aber wieso sollte sie das Wagner verschweigen? Er hatte bereits die Auszüge aus Melanies Tagebuch gelesen.
»Er schwört, daß er unschuldig ist«, sagte sie. »Daß er nur eine Stunde bei Emma war. Daß sie Besuch von jemandem erwartete. Von Romeo, wie Bill meint.« »Ja, klar«, sagte Wagner sarkastisch. »Möglich wäre es. Ich weiß nicht. Am meisten schien er um seinen kostbaren Ruf besorgt zu sein. Das paßt nicht gerade in das Bild, das ich mir von Romeo mache.« »Was paßt denn dann?« »Ich glaube, Romeo interessiert sich nur für seine Obsession. Seine Verführungen. Sonst nichts.« »Romeo ist auch ein großartiger Schauspieler. Also, haben Sie mir alles erzählt?« Alles, bis auf das, was Dennison ihr über John, seine Frau und Melanie erzählt hatte. Sie saß händeringend da, schwieg. Wagner beugte sich vor. »Was haben Sie, Sarah?« »Nichts. Es ist nur… Was, wenn Sie wieder falschliegen?« »Wir haben bereits eine Verbindung zwischen ihm und drei der Opfer herausgefunden. Er hat zwei von ihnen behandelt. Er war verheiratet mit Ihrer Schwester. Wir haben Augenzeugen, die gesehen haben, daß er an dem Abend, als Emma ermordet wurde, mit ihr zusammen war. Verdammt, Sarah, er hätte Sie in dem Fahrstuhl beinahe erledigt.« Sarah wurde bleich. »Tut mir leid. Manchmal bin ich aber auch ein unsensibler Trottel.« Er schaute sie verlegen an. »Nein«, sagte sie. »Weder noch, Mike. Sie sind ein netter, anständiger, sensibler Mensch. Und Sie haben recht. Bill ist wahrscheinlich…« »Nein, Moment. Sie haben recht, Sarah. Wir müssen alle Möglichkeiten offenlassen, bis wir Dennison eindeutig überführt haben.« Sie blickte Wagner in die Augen. »Haben Sie gewußt, daß John und seine Frau bei Melanie in Therapie waren?« »Was? Wo haben Sie das denn her?« Sie zauderte. »Es gibt da eine Verbindung. Jedenfalls zu Bill Dennison.« »Ich verstehe nicht. Was für eine Verbindung?«
»Beantworten Sie einfach meine Frage, Mike. Haben Sie es gewußt?« »Nun ja…« wand er sich. »Sie haben es gewußt.« Sarah spürte, wie sich ihre Brust zusammenzog. Er seufzte. »Sie hat es mir erzählt. Aber was hat das damit zu tun?« »Melanie hat es Ihnen erzählt?« »Nein, natürlich nicht. Johns Frau. Grace.« »Sie haben Grace gekannt?« »Nicht gut. Das erste Mal, daß wir miteinander geredet haben, war ein paar Tage, nachdem sie die Anzeige wegen Körperverletzung zurückgezogen hatte. Sie hat mich angerufen und gefragt, ob ich mich auf einen Kaffee mit ihr treffen würde.« »Wieso wollte sie mit Ihnen sprechen?« »Keine Ahnung. Ich denke, weil ich sein Partner war.« »Worüber?« »Sie war verzweifelt, weil John ausgezogen war. Weil er die Scheidung wollte.« »Und?« Sarah hatte das Gefühl, als müßte sie ihm jedes Wort einzeln entlocken. »Und sie dachte, ich könnte vielleicht mit ihm reden. Aber ich habe vorgeschlagen, sie sollten einen Eheberater konsultieren. Grace hat mir erzählt, daß sie bereits in Therapie war und daß John damit nichts zu tun haben wollte. Bei irgendeinem Typ. Ich erinnere mich nicht mehr an den Namen. Nicht Dennison«, sagte er. »John hat mir erzählt, daß sie schon getrennt lebten, als sie Selbstmord begangen hat. Er hat nichts davon gesagt, daß er sich scheiden lassen wollte. Ist er wieder zu ihr zurückgekehrt?« Wagner schüttelte den Kopf. »Etwa einen Monat später hat sie eine Überdosis Tabletten geschluckt und wäre fast gestorben. John hat mir kein Sterbenswörtchen davon gesagt.« »Grace hat es Ihnen erzählt.« »Sie rief mich zwei Wochen danach an. Ich vermute, sie hat in mir eine Verbindung zu John gesehen. Dabei hat sie mir erzählt, daß sie gemeinsam bei Ihrer Schwester in Therapie waren. Ich
schätze, Grace hatte zu der Zeit schon so was wie Wahnvorstellungen.« »Was meinen Sie damit?« »Ach, sie hat so verrücktes Zeug dahergeredet. Sie wissen schon…« »Nein. Weiß ich nicht«, sagte Sarah, sie drängte um so stärker, je ausweichender Wagner wurde. »Ich weiß wirklich nicht mehr genau, was sie mir alles erzählt hat, Sarah.« »Hat sie gesagt, daß John sich ihrer Meinung nach zu meiner Schwester hingezogen fühlte?« Wagner zuckte die Achseln. Dann, als sein Blick auf das Tonbandgerät fiel, streckte er die Hand aus und schaltete es ab. »Grace war übergeschnappt, Sarah.« »Er fühlte sich zu Melanie hingezogen«, sagte Sarah mit Nachdruck. »Und sie sich zu ihm. John hat es mir erzählt.« »Okay, wieso stellen Sie mir dann diese Fragen?« »Weil ich nicht weiß, ob diese Anziehung anfing, bevor Grace sich das Leben nahm, und wie groß sie war.« »Was wollen Sie denn damit sagen, Sarah?« »Ich will gar nichts sagen. Das hat Bill…« »Was? Er hat Ihnen erzählt, John und Ihre Schwester hätten was miteinander gehabt? Kommen Sie, Dennison ist völlig durchgeknallt.« »Das heißt nicht, daß er lügt.« Sie wurde das Gefühl nicht los, daß sie noch immer alles wie durch einen Schleier sah. »Sarah, jetzt hören Sie mir mal zu. Sie werden sich sehr viel besser fühlen, wenn wir Dennison geschnappt haben. Wir haben ein Dutzend Leute auf den Fall angesetzt. Zwei Männer klappern jetzt gerade die Sexclubs in der Stadt ab. Heute abend werde ich mich selbst auf die Socken machen. Irgend jemand wird Dennison erkennen, und so wird sich ein Steinchen zum anderen fügen. Sie werden sehen.« Warum versuchte er, sie mit allen Mitteln zu überzeugen? Wagner nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette, stand auf und zog sein Jackett aus. Ein Stück Papier rutschte aus seiner Tasche und segelte vor Sarahs Füßen auf den Boden. Sie hob es auf und wollte es Wagner gerade zurückgeben, als sie oben auf
dem Blatt den Namen »Allegro« las. Sie betrachtete es genauer. Es war irgendein Formular. Ein Autopsiebericht. Über Grace Allegro. Sie blickte Wagner an. »Was ist das?« »Nichts.« Er riß es ihr aus der Hand. »He, unser Tee ist kalt geworden. Ich mache neuen«, sagte er und drückte seine Zigarette in dem makellos sauberen Aschenbecher aus. Sie folgte Wagner in die Küche. Er schaltete den Herd an. »Wieso haben Sie sich den Bericht besorgt, Mike?« Er starrte auf die Teekanne. »Wenn man einen Wasserkessel beobachtet, kocht das Wasser nie. Hat meine Mutter immer gesagt.« »Verdammt, Mike. Wenn Sie etwas wissen, müssen Sie es mir sagen.« Er wandte sich widerwillig um und sah sie an. »Lieben Sie John wirklich, Sarah?« »O Gott, Sie wissen etwas.« Bevor er antworten konnte, meldete sich sein Piepser, sie fuhren beide zusammen. »Ich muß im Präsidium anrufen«, sagte er knapp und ging zu dem Wandtelefon am Ende der Theke. Er stand mit dem Rücken zu ihr, und der Kessel begann zu pfeifen, was seine Worte übertönte. Als sie den Kessel auf eine kalte Kochplatte geschoben und die andere ausgeschaltet hatte, legte er bereits den Hörer wieder auf. Er verharrte in der Position, so daß sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Sie konnte allerdings sehen, wie seine Schultern herabsanken. »Was ist?« »Dennison ist aus dem Schneider.« Wagners Stimme klang angespannt. Als würde er eine große Enttäuschung unterdrükken. Und Wut. »Was? Wieso?« »Ich habe gerade mit Rodriguez gesprochen. Er hat aus dem Mercy Hospital angerufen.« »Wer ist denn im Mercy Hospital?« Hatte auch Dennison versucht, sich umzubringen? Er hatte verzweifelt genug auf sie gewirkt. Oder schlimmer – hatte Romeo wieder zugeschlagen?
War sie irgendwie an einem weiteren Gewaltverbrechen mitschuldig geworden? »Nicht wer. Was.« »Wie bitte?« Wagner setzte sich an den Küchentisch. »Rodriguez hat einen Kollegen von Dennison befragt, der sich mit ihm die Praxisräume teilt.« Sarah setzte sich auf den Stuhl gegenüber von ihm. »Carl Thorpe.« »Genau. Thorpe hat Dennison in den höchsten Tönen gelobt, hat sogar erwähnt, daß Dennison sich einmal freiwillig als möglicher Knochenmarkspender hat testen lassen. Für Thorpes Sohn, bei dem vor einem Jahr Krebs festgestellt worden ist.« »Ist Bill im Mercy Hospital getestet worden?« »So hatte Rodriguez Gelegenheit, einen Blick auf Dennisons Bluttest zu werfen. Dennison und Romeo haben die gleiche Blutgruppe. A positiv. Zusammen mit den anderen Beweisen hätte das ausgereicht, um Dennison einzubuchten, ihm noch mehr Blut abzuzapfen und einen richtigen DNS-Test machen zu lassen.« »Und wo liegt das Problem?« »Rodriguez hat auf Dennisons Karte noch einen anderen Eintrag entdeckt. Von einem Test, bei dem die Gewebeverträglichkeit oder so festgestellt wird. Egal, jedenfalls hat er den untersuchenden Arzt angerufen, und wie es aussieht, gibt es in dem Punkt zwischen Dennison und Romeo keine Übereinstimmung.« »Damit ist Bill als Verdächtiger also automatisch ausgeschlossen?« »So gut wie. Der Arzt wird zwar noch weitere Untersuchungen machen, aber…« »Aber sehr aussichtsreich ist es nicht«, beendete Sarah den Satz grimmig. »Sie können ihn immer noch wegen tätlichen Angriffs belangen.« Sarah erwiderte nichts auf den Vorschlag.
In der Küche war es unheimlich still, bis auf das leise Zischen, das der Kessel von sich gab. Wagner zündete sich wieder eine Zigarette an, nahm einen Zug und stieß den Rauch aus. Sarah schlug mit den flachen Händen auf den Tisch. »Verdammt, Mike! Hören Sie auf, um den heißen Brei herumzureden. Wieso haben Sie sich den Autopsiebericht von Grace Allegro besorgt? Wieso haben Sie die Augen davor verschlossen, daß John und Melanie eine Affäre hatten? Wir haben doch beide dieselben abwegigen Gedanken über… über ihn.« Das Telefon klingelte. »Verdammt«, fluchte Wagner leise. »Was ist denn nun schon wieder?« Er ging ran. Nach einer Sekunde sagte er. »Moment« und hielt Sarah den Hörer hin, ein Muskel seiner Wange zuckte. »Er ist es.« Ihre Hand war kalt und steif wie Eis, als sie den Hörer entgegennahm, ohne den Blick von Wagner abzuwenden. »John?« »Bernie hat mir gesagt, daß Mike mit dir in seine Wohnung gefahren ist. Geht es dir gut?« »Ja.« »Willst du Dennison wegen tätlichen Angriffs anzeigen? Ich fürchte, das ist alles, was wir gegen ihn in der Hand haben. Ansonsten besteht kein Verdacht mehr gegen ihn. Einer von unseren Leuten…« »Mike hat schon mit Rodriguez gesprochen«, sagte sie mit matter, ausdrucksloser Stimme. »Wieder ein prima Verdächtiger, den wir abhaken können. Das ganze Team ist kurz vor dem Durchdrehen, wir sind alle total frustriert. Ich muß dauernd daran denken, daß sich dieses gerissene Schwein da draußen ins Fäustchen lacht, während er uns im Kreis herumlaufen läßt.« Sarahs Blick schweifte von Wagners angespanntem Gesicht zum Fenster. Das Unwetter war endlich losgebrochen. Wieder einmal ertrank sie in einem Meer aus Hoffnungslosigkeit und Verwirrung. »Hör zu, ich bin für heute fertig«, sagte John gerade. »Wie wäre es, wenn ich bei Mike vorbeikomme und…«
»Nein«, sagte Sarah rasch, unfähig, den verzweifelten Ton in ihrer Stimme zu verbergen. »Ich dachte, wir könnten heute abend etwas essen gehen. Bitte, Sarah. Ich weiß, wie dir zumute ist. Es macht mich selbst ganz fertig.« Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen. Sie konnte sie nicht unterdrücken. Sie blickte flehentlich zu Wagner. Er nahm den Hörer. »John. Sie ist ziemlich fertig. Auch wenn Dennison nicht unser Mann ist, als er sie im Fahrstuhl abgefangen hat, hat er ihr eine Scheißangst eingejagt.« »Gib sie mir noch mal, Mike.« Wagner blickte sie fragend an. Sarah schüttelte den Kopf. »Laß ihr etwas Zeit, John.« »Verdammt, gib sie mir!« Wagner drückte ihr verständnisvoll die Schulter, hielt dann die Sprechmuschel zu. »Sie müssen mit ihm reden, Sarah.« Widerwillig nahm sie wieder den Hörer und zwang sich zu den Worten: »Ich bin wieder dran.« »Sarah, ich weiß, daß du große Angst hast. Ich werde dich abholen und dich unter einem anderen Namen in einem Hotel unterbringen. Corky wird bei dir bleiben. Auch ich werde die ganze Zeit da sein. Draußen vor deiner Tür, wenn es dir lieber ist. Du kannst sie verriegeln, die Kette vorlegen, alles tun, was du möchtest, damit du dich sicher fühlst. Ich werde ihn nicht an dich ranlassen. Ich habe es dir schon einmal gesagt, und du hast mir geglaubt. Du glaubst mir doch noch immer, oder?« »Ja. Ich glaube dir«, sagte sie mit äußerster Anstrengung. Ihr Arm sank herab, der Hörer rutschte ihr aus den Fingern. Wagner fing ihn auf, bevor er auf dem Boden aufschlug. »John. Hör zu, Sarah sieht nicht besonders gut aus. Ich finde, sie sollte zu einem Arzt. Vielleicht braucht sie etwas für ihre Nerven.« »Feldman«, sagte Sarah heiser, während sie sich gegen die Wand lehnte. »Sie möchte zu Dr. Feldman. Ich kann sie rasch zum Institut rüberfahren. Ich rufe dich von dort aus an, wenn wir wissen, was er sagt.«
An Allegros Ende trat eine Pause ein. »Okay, aber ruf mich sofort an, wenn du was weißt. Und Mike…« »Ja?« »Sag ihr…« »Ja?« »Schon gut. Ich sage es ihr selbst, wenn ich sie sehe.« Wagner legte auf. »Soll ich Feldman vorher anrufen und fragen, ob er Zeit hat?« wandte er sich an Sarah, doch sie hörte nicht zu. Ihr Gesicht war rot angelaufen, ihre Lippen zuckten. Wieso ändert mein wachsendes Mißtrauen nichts an meinen Gefühlen für ihn? Ist es bei Melanie auch so gewesen? Bei Emma? Den anderen? Hat Romeo sie alle fasziniert? So wie er mich fasziniert hat? Waren sie auch in ihn verliebt gewesen, selbst nachdem sie die Wahrheit erkannt hatten? Sehne ich mich auch nach der Erlösung, die er den anderen geschenkt hat? Für mein Verbrechen. Ich habe es ihm sogar gebeichtet. O Gott, er hat mich umworben. »Sarah.« »Sagen Sie mir, weshalb Sie ihn verdächtigen«, bat sie tonlos. »Ich verdächtige ihn nicht.« »Weshalb?« beharrte sie. »Weil er trinkt? Weil er eine Affäre mit meiner Schwester hatte, während seine Frau bei ihr in Therapie war? Haben Sie das auch gewußt? War Grace dahintergekommen und hat es Ihnen erzählt?« »Sarah, bitte. Es ist undenkbar, daß der Mann, mit dem ich seit fast einem Jahr Seite an Seite zusammenarbeite, ein Mann, den ich wirklich gern habe, in seiner Freizeit ein wahnsinniger Killer ist.« »Glauben Sie etwa, mir gefällt der Gedanke? Schon die leiseste Möglichkeit, daß es so sein könnte, macht mich krank.« »Glauben Sie etwa, mich nicht?« »Wieso haben Sie sich den Autopsiebericht von seiner Frau besorgt?« Er antwortete nicht. Er sah weg. »Sie haben einen Verdacht, Mike. Nicht wahr?« Das Atmen fiel ihr schwer. »Sie glauben, er hat Grace umgebracht.« »Offiziell wurde Selbstmord festgestellt.«
Die winzige Küche schien ins Schwanken zu geraten. Sarah ging zurück ins Wohnzimmer und ließ sich in einen Sessel fallen. Wagner folgte ihr rasch. »Wann ist Grace – gestorben?« Wagner setzte sich auf das Futonsofa ihr gegenüber. »Vor sieben Monaten.« »Und Diane Corbett?« »Sarah, die Schlußfolgerung ist verdammt weit hergeholt.« »Ach, hören Sie doch auf. Dieselbe Schlußfolgerung haben Sie auch gezogen, und das wissen wir beide.« Aus jedem ihrer Worte sprach die blanke Verzweiflung. Bitte. Nicht John. Jeder andere, aber nicht John. Wagner seufzte schwer. »Der erste Mord geschah ein paar Wochen nach dem Tod von Grace. Und? Na schön, Grace hat zwar selbst gesagt, daß John etwas grob zu ihr war, wenn er getrunken hatte, aber die eigene Frau mißhandeln, wenn du mal zu tief ins Glas geschaut hast, ist doch weiß Gott was anderes als – als das, was Romeo seinen Opfern antut.« »Haben Sie gleich zu Anfang vermutet, es könnte Mord gewesen sein?« Ihr Ton war unheimlich ruhig. »Nein, natürlich nicht. Und das tue ich noch immer nicht. Als John an dem Morgen ins Büro kam und ich ihm sagte, daß ich den Anruf wegen Grace bekommen hatte, wirkte er fix und fertig.« »Sie hatten damals eine Vermutung. Ich sehe es Ihnen doch an, Mike.« »Was machen wir hier eigentlich? Sarah, hören wir auf damit, sofort. Bitte.« »Sagen Sie es mir.« Wagner wurde bleich. »Ich weiß es nicht. Es gäbe schon einige Verdachtsmomente gegen ihn. Seine Wohnung lag nur fünf Minuten von ihrer entfernt. Sie hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Sie hatte ein Flugticket in ihrer Tasche. Er kam an dem Morgen zu spät ins Büro.« »Wenn sie wegwollte, welchen Grund hätte er dann gehabt, sie umzubringen?« »Zwei Tage, bevor es passierte, hat sie mich abends angerufen. Sie wollte versuchen, John zu überreden, noch einmal einen
Neuanfang zu machen. Sie hat wohl gedacht, wenn sie erst mal wieder aus Hawaii zurück wäre, erholt, wieder einigermaßen beisammen, würde er vielleicht einen neuen Versuch mit ihr wagen.« Flecken tanzten vor Sarahs Augen. »Sie glauben, er hat sie aus dem Fenster gestoßen.« »Jetzt geht die Phantasie aber ganz schön mit uns beiden durch. Und ich werde es Ihnen beweisen. Geben Sie mir zwei Tage…« »Ich will alles wissen, Mike. Verdammt, ich muß es wissen. Was haben Sie noch?« Er seufzte resigniert. »Okay, heute hat sich was ergeben. Ich habe da so einen Anruf bekommen. Er – hat mich glatt umgehauen. Aber es ist alles reine Spekulation.« »Weiter.« »Karen Austin, Romeos drittes Opfer, war mit einem Cop zusammen. Sie hat es einer Freundin erzählt. Das habe ich erst heute erfahren. Ich habe es John noch nicht gesagt.« Sein Blick suchte den ihren. Er wirkte hilflos, gequält. »Und dann die Sache mit Ihnen, Sarah. So wie John sich an Sie rangemacht hat.« »Wie er sich an Melanie rangemacht hat.« Er sah weg. »Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, daß sie eine Affäre hatten, Sarah. Ehrenwort. Aber als sie anfing, uns zu beraten, habe ich deutlich gespürt, daß da was zwischen ihnen war. Verdammt, ich fand sie auch attraktiv. Sie konnte einen ganz schön anturnen.« Er bedeckte das Gesicht mit seinen Händen. »Gott, so habe ich es nicht gemeint.« Sie zog Wagners Hände wieder nach unten, hielt sie fest. Er lächelte sie kurz und dankbar an. »Dann Samstagnacht. Als ich Ihre Schreie gehört habe. In Ihr Schlafzimmer gestürmt bin und gesehen habe, daß er…« »Bitte nicht«, sagte sie flehend. »Ich habe mir selbst schon gesagt, daß ich da überreagiert habe. Er hat mir nicht wehgetan. Ich habe Panik bekommen. Ich hatte Erinnerungen an meine Kindheit. Schreckliche Erinnerungen. Ich habe alles Durcheinandergebracht und war völlig aus dem Gleichgewicht.«
Wagner strich ihr sanft das widerspenstige Haar aus der feuchten Stirn. »Es ist bald vorbei, Sarah. Ich verspreche es.« Plötzlich packte sie ihn am Arm, und in ihren Augen blitzte ein Funken Hoffnung auf. »Moment mal. Was ist mit dem Abend, an dem Romeo versucht hat, in meine Wohnung einzubrechen? Da war John bei mir. Er kann unmöglich an zwei Orten gleichzeitig gewesen sein.« Auch Wagners Gesicht schien sich aufzuhellen. »Nein, das stimmt.« Sie versuchte angestrengt, alle Ereignisse an jenem verregneten Abend zu rekonstruieren. Sie waren essen gewesen, zurück in ihre Wohnung gekommen, sie war in die Küche gegangen, während John sein nasses Jackett im Badezimmer aufhängte. Ihr stockte der Atem. »Was?« »Da hätte er es tun können.« »Was meinen Sie?« »Ich habe nicht gehört, daß jemand versucht hat, das Badezimmerfenster aufzustemmen. Nur John hat es gehört. Kann doch sein, daß er das Fenster schon früher aufgebrochen hatte. Er ist gleich ins Badezimmer gegangen, als wir reinkamen. Er kann das Ganze inszeniert haben, als Alibi für ihn und als Vorwand, meine Wohnung zu verlassen, um angeblich Romeo zu schnappen. Und während er weg war, wurde wieder ein Brief unter meiner Tür durchgeschoben. Gott, es wäre kinderleicht gewesen.« Wieder klingelte das Telefon. Geistesabwesend griff Wagner nach dem Hörer. »Wieso seid ihr noch da?« Wagner blickte Sarah an. Er formte mit den Lippen: »John.« Sarah wurde blaß. »Ihr ist schlecht geworden, John«, sagte Wagner. »Sie hat sich etwas hingelegt. Ich wollte gerade bei Feldman anrufen. Fragen, ob er vielleicht herkommen kann?« »Ich habe schon bei ihm angerufen«, sagte Allegro. »Ich dachte, sie wäre da. Gib sie mir mal, Mike.« Wagner hielt ihr den Hörer hin. Sie schüttelte heftig den Kopf. »Sie schläft, John. Ich möchte sie jetzt nicht wecken.«
»Hör zu, ich habe da einen Hinweis bekommen, dem ich nachgehen muß, aber hinterlaß mir eine Nachricht, was bei euch los ist. Feldman hat gesagt, daß er sie vielleicht ein paar Tage zur Beobachtung ins Krankenhaus einweisen will. Falls nicht, bring sie ins Royal Hotel auf der Bush Street. Unter dem Namen Wilson. Susan Wilson. Ich schicke Corky rüber, er ist in zwanzig Minuten da.« »Was für ein Hinweis?« »Wahrscheinlich bloß wieder falscher Alarm. Ich gebe dir Bescheid, wenn was dran ist. Mike, wenn sie aufwacht, sag ihr, daß ich an sie denke. Okay?« »Ja. Klar. Ich werd’s ihr sagen, John.« Eine Stunde später saß Sarah in Stanley Feldmans Büro. Er hatte ihretwegen zwei Termine abgesagt. Es war für Sarah zunächst ein unheimliches, fast surrealistisches Gefühl. Als wäre sein Büro ein stiller, unberührter Kokon, völlig losgelöst von der Welt, die außerhalb dieser vier Wände außer Kontrolle geraten war. Wie gewöhnlich saß Feldman hinter seinem Schreibtisch, die Hände auf seiner moosgrünen Schreibunterlage übereinander gelegt, Notizblock zu seiner Rechten, mit leerem Gesichtsausdruck, der ihr jede Interpretation offenließ – Ruhe, Interesse, Gleichgültigkeit, Ablehnung, Zärtlichkeit, Verärgerung, Lust? Am liebsten hätte sie sich auf der schwarzen Ledercouch ausgestreckt, denn sie fühlte sich so erschöpft, daß es verlockend war, sich hinzulegen. Aber letztlich entschied sie sich doch für einen Sessel vor seinem Schreibtisch. Sie versuchte, die Hände genauso ruhig zu halten wie Feldman, doch am Ende drehte und rang sie sie. »Ich weiß nicht, warum ich gekommen bin.« Feldman nickte. »Früher konnte ich meine Gedanken in eine Ecke drängen, aber sie bleiben nicht mehr da, wo ich sie hintue. Ich weiß, du denkst, daß es so besser ist, aber es zerreißt mich.« Sie lachte bitter auf. Sarah sah, wie der Psychiater zusammenzuckte, aber der Blick, mit dem er sie ansah, war voller Verständnis.
»Du hast also das Gefühl, daß dein seelischer Schmerz dich von innen zerfrißt. Und Romeo plant seinen Angriff von außen. Der Schmerz und Romeo sind jeder auf seine Art starke zerstörerische Kräfte. Beide müssen entlarvt und entschärft werden, damit du dich sicher fühlst.« Sie zögerte. »Es gibt einiges, worüber ich noch nicht sprechen kann. Aber ich weiß, daß ich es irgendwann muß. Falls ich noch Zeit dazu habe.« »Du hast Angst, daß die Zeit knapp wird.« »Romeo hat meine Gedanken verführt, und jetzt«, ihre Stimme bebte, als sie weitersprach, »glaube ich, hat er schon damit begonnen, meinen Körper zu verführen. Er hat gesagt, er würde sich für mich aufsparen, daß nur er es schafft, mich innerlich zum Brennen zu bringen. Und es stimmt.« »Was genau stimmt?« Es kostete sie ungeheure Anstrengung, die Worte herauszubringen. »Daß ich einen Mann liebe, der womöglich meine Ermordung plant«, sagte sie heiser. »John Allegro?« »Du glaubst es also auch.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, daß er etwas für dich empfindet. Das war ganz offensichtlich, als er neulich bei mir war. Und vor kurzem, als er mich angerufen hat.« Tränen brannten Sarah in den Augen. »Ich habe John viel von mir erzählt. Aber wenn er Romeo ist, dann hat er mich von Anfang an besser durchschaut, als ich mich selbst bis heute.« »Was durchschaut er?« Sie rang die Hände. »Daß ich wie Melanie sein will. Wie die anderen. Daß tief in mir drin etwas danach verlangt, mißhandelt, erniedrigt und gequält zu werden. Weil ich ihn noch immer liebe. Obwohl ich weiß, daß er mein Peiniger, mein Mörder ist. Ich habe so ein schreckliches, hilfloses Gefühl, daß mein Schicksal schon längst besiegelt ist. Und Romeo weiß, besser als ich, daß es letzten Endes kein Entrinnen gibt. Jeder bezahlt für seine Sünden.« »Erzähl mir von der anderen Sarah.« Sie blickte ihn verwirrt an. »Welche andere Sarah?« »Die, die sich verliebt hat.«
»In einen Mörder. Einen Wahnsinnigen.« »Moment. Lassen wir diese Vermutung einen Moment beiseite. Denn mehr ist es doch nicht, nicht wahr?« »Ja.« Feldman legte die Fingerspitzen aneinander, seine ganze Art war beeindruckend ruhig. »Erzähl mir von deinem Gefühl, verliebt zu sein.« »Ich hätte nicht gedacht, daß ich dazu in der Lage wäre. Ich hätte nicht gedacht, daß ich imstande wäre, jemanden zu lieben. Natürlich liebe ich meinen Freund Bernie. Aber ich meine…« Sie suchte nach den richtigen Worten. »Sexualität?« Sie spürte, wie sie rot wurde. »Ja. Aber auch das habe ich zerstört. Typisch für mich. Ich hatte schon immer mehr Talent zum Zerstören als zum Lieben.« »In diesem Fall war es vielleicht klüger so, Sarah. Wenn du glaubst, daß John Allegro tatsächlich Romeo ist.« »Denkst du, daß ich mich deshalb in ihn verliebt habe? Weil ich glaube, daß er Romeo ist?« »Glaubst du das?« »Ich hätte eine Million darauf verwettet, daß du die Frage an mich zurückgibst, Feldman.« »Wichtig ist allein, was du glaubst, Sarah.« »Ich hoffe inständig, daß John es nicht ist. Jeder andere, aber bitte nicht John.« »Dann hast du deine Frage also schon selbst beantwortet.« Er lächelte schwach. Zur Belohnung.
24 O Sarah. Noch immer kann ich euch beide hören, an jenem Abend, draußen vor dem Arbeitszimmer. Deine Verwirrung und deine Tränen. Seine Wut und seine Lügen. Ich schluchze unter der Bettdecke, die Laken noch warm von seinem Körper, sein Samen noch warm in mir. Ich hasse ihn. Liebe ihn. Sarah, Sarah – vergib mir, Sarah. M. R. Tagebuch »Warum ausgerechnet hier?« fragte Wagner und blieb zögernd in dem Rundbogen zu Melanie Rosens Wohnzimmer stehen. Es war Montag abend, kurz nach sieben, elf Tage nach Melanies Ermordung. »Ich weiß nicht genau«, gab Sarah zu. Sie starrte auf die schwachen Abdrücke auf dem marokkanischen Teppich, wo einmal eins von den beiden zweisitzigen Sofas mit karamelfarbenem Seidenbezug gestanden hatte. Ein blutbeflecktes Stück war aus dem teuren Teppich herausgeschnitten worden. Auch das Shaker-Tischchen aus Kiefernholz hatte man entfernt. Als mögliche Beweisgegenstände waren sie von der Polizei zur genauen Untersuchung weggeschafft worden, ebenso wie das Opfer selbst. Das dämmrige Licht, das durch die schmalen Ritzen der geschlossenen Teakholz-Jalousien drang, verlieh dem Raum etwas Unheimliches. »Das Haus gehört jetzt mir«, sagte Sarah. »Mein Vater hatte es Melanie überschrieben, und sie hat es mir in ihrem Testament vermacht.« Wagner warf ihr einen ungläubigen Blick zu. »Und da haben Sie beschlossen, schon so schnell hier einzuziehen?« »Vorläufig. Ich mache keine Zukunftspläne.« »Was hatten Sie denn bloß gegen das Hotel? Hat Ihnen die Aussicht nicht gefallen?« »Ich muß einfach hier in diesem Haus sein, Mike. Ich kann das nicht erklären. Vielleicht ist es meine Art, mit Melanie Frieden zu schließen. Frieden mit mir selbst. Außerdem, wer
würde schon darauf kommen, mich hier zu suchen. Nicht einmal Corky weiß, wo ich bin. Nachdem er vor meinem Zimmer im Hotel Posten bezogen hatte, habe ich mich über die Veranda rausgeschlichen und bin vor dem Restaurant gegenüber dem Hotel ins Taxi gestiegen. Sobald ich hier war, habe ich Sie verständigt. Was wollen Sie eigentlich John sagen, wenn er rauskriegt, daß Susan Wilson nicht im Royal Hotel wohnt?« fragte sie abschließend. »Das habe ich mir noch nicht überlegt«, gestand er. »Keine Sorge. Mir fällt schon noch was ein.« Er zog eine Zigarette aus der Packung und wollte sie anzünden, doch dann zögerte er und fragte, ob sie was dagegen habe. »Nein. Aber die Dinger werden Sie noch umbringen.« »Ich höre auf, sobald…« Er hielt inne. Sie wußten beide, wie der Satz zu Ende ging. »Haben Sie den Club in Richmond ausfindig gemacht?« Er nickte. »Ich muß mir erst noch zwei in der Stadt ansehen, dann fahre ich hin.« »Rufen Sie mich morgen früh gleich an, falls – falls Sie was herausgefunden haben?« »Ich komme heute abend noch mal vorbei, wenn ich fertig bin.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Es wird bestimmt spät, Mike. Ich will früh ins Bett.« »Sarah, das ist doch verrückt. Sie können nicht ganz allein an diesem Ort bleiben.« »Ich werde kein Licht machen und die Jalousien unten lassen. Wenn das Telefon klingelt, gehe ich nicht ran. Wirklich, ich komme schon klar, Mike.« »Trotzdem mache ich mir Sorgen um Sie.« »Jetzt hören Sie sich an wie mein Freund Bernie.« Wagner lächelte. Auch Sarah lächelte. Gegen neun Uhr abends stellte sich auch Sarah allmählich die Frage, was bloß in sie gefahren war, wieder hierher in die Scott Street zu kommen, in ein Haus voll schmerzlicher Erinnerungen und entsetzlicher Bilder. Hatte sie wirklich geglaubt, ihre Rück-
kehr würde den Dämonen auf wundersame Weise zeigen, daß sie sich von ihnen nicht länger einschüchtern ließ? Daß Sarah Rosen stärker, kraftvoller war, als sie sich je hätten träumen lassen? Falls ja, es funktionierte nicht. Sie schritt durch das stille Haus, unten durch die Praxisräume und oben durch die Wohnung, in dem sie einmal mit ihrem Vater und ihrer Schwester gelebt hatte. Eine Straßenlaterne vor dem Haus tauchte die Räume in ein unangenehm grünliches Licht. Bist du da, Melanie? Dad? Romeo? So lange hatte sie versucht, sich körperlich und emotional von dem Mißbrauch zu distanzieren, den sie als Kind gesehen und selbst erlebt hatte. Der Mord an Melanie und Romeos heimtükkischer Angriff auf ihren Verstand hatten ihn zurückgeholt. Und jetzt wirbelten ihre Gefühle wild durcheinander – Angst, Wut, Frustration, Trauer, Lust, Liebe. An dem Abend in Tiburon mit John hatte sie sogar einen Hauch von Glück verspürt. Sie betrat das Schlafzimmer, das früher ihrem Vater, dann Melanie gehört hatte, ging zur Kommode neben der Tür und nahm eins von Melanies Nachthemden heraus, ein zartroter, angenehm weicher Baumwollstoff mit leicht gesmoktem Oberteil. Es roch noch immer schwach nach Melanies Parfüm. Früher konnte Sarah Parfümgeruch nicht ausstehen, besonders diesen nicht. Jetzt fand sie ihn seltsam tröstlich. Wie damals, als sie klein war und den Lieblingsmorgenrock ihrer toten Mutter angezogen hatte – noch nicht bereit, sie ganz loszulassen. Im Spiegel über der Kommode fiel ihr Blick auf Melanies Messingbett, von dem bis auf die nackten Sprungfedern alles entfernt worden war. Langsam durchquerte sie den Raum. Eine gewaltige Welle von Traurigkeit überkam sie. Sie fiel auf die Knie und preßte das Gesicht gegen die Bettkante. Sie kniete dort lange. Die ersten schwachen Klänge der Musik vermischten sich mit ihren schweren Atemzügen. Eine klagende Melodie. Doch auch als Sarahs Atem ruhiger wurden, erklang die Melodie weiter. Jetzt noch deutlicher. Es bestand kein Zweifel daran, was sie da hörte: Rhapsody in Blue.
Entsetzen ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Woher kam die Musik? Von unten. Aus einem der Räume im Erdgeschoß. Er war da. Romeo war da. Durch ein Fenster eingestiegen? Nein. Nein, mit einem Schlüssel. Melanie mußte ihm einen Schlüssel gegeben haben. Ja. Er war der Liebhaber ihrer Schwester. Ihr Vater-Ersatz. Der einzige Mann, der ihr geben konnte, wonach sie sich sehnte… Sarah preßte die Hände an die Ohren. Vergeblich. Die Musik hallte in ihrem Kopf wider. Kein Entrinnen. Nein, nein, nein. Genau das will er. Dich in die Enge treiben. Damit du dich verkriechst. Dich unterwirfst. Sie sprang auf, flüchtete aus Melanies Schlafzimmer. Auf der Anrichte im oberen Flur – ein silberner Kerzenständer. Sie packte ihn und preßte ihn gegen die Brust. Zauderte. Nein. Nicht nachdenken. Handeln. Deine einzige Chance. Geräuschlos schlich sie die Treppe hinab. Traute sich nicht einmal zu atmen. Ihre einzige Chance, ihn überrumpeln. Die Musik blieb schwach, auch als sie den Fuß der Treppe erreicht hatte. Zuerst dachte sie, die Klänge kämen aus Melanies Wartezimmer. Ganz dunkel da drin. Unmöglich, irgend etwas zu sehen. Irgend jemanden. Und dann fiel es ihr wieder ein. Die Lautsprecher an der Wand. Aber die eigentliche Stereoanlage stand in Melanies Privatbüro. Dort war er. Dort wartete er auf sie. Ihr Mörder. Ihr Verführer. Ihr Liebhaber? Sarah packte den Kerzenständer mit beiden Händen und öffnete leise die Schiebetür zu Melanies Sprechzimmer. Gerade so weit, daß sie hindurchschlüpfen konnte. Der Raum wurde undeutlich vom Mondschein erhellt. Er schien leer zu sein. Musik schwebte sanft durch die Luft. Sarahs Blick fiel auf die geschlossene Tür zum Privatbüro ihrer Schwester. Ja. Da drin. Wartend. Sehnend. Lockend mit Sirenengesang. Romeo… Ohne nachzudenken ging sie durch den Raum. Hielt den Kerzenständer in der erhobenen Hand, als sie nach der Türklinke griff. Nur ein Gedanke. Erwisch ihn zuerst!
Erst als sie vorsichtig die Klinke herunterdrückte, wurde ihr klar, daß die Musik aufgehört hatte. Wann? Hatte sie sie noch gehört, als sie das Sprechzimmer betrat? Die Tür war weit genug geöffnet, so daß Sarah den Klang aus dem Wartezimmer hätte hören müssen. Sie hatte nicht mehr darauf geachtet. Vielleicht hatte er sie abgestellt. Um besser hören zu können, wie sie näher kam. Ihre Finger umschlossen die Klinke noch immer. Was wollte sie hier? Was hatte sie sich dabei gedacht? Sie erinnerte sich. Erwisch ihn zuerst! Ja. Das war der Plan. Was blieb ihr denn anderes übrig? Zu spät, um Hilfe zu holen, wenn er bereits da war. Sie stürmte ins Büro, schwang wild den Kerzenständer vor sich hin und her. Niemand sprang ihr entgegen. Auch dieser Raum schien leer zu sein, wie die anderen. Er versteckte sich. Wartete auf den richtigen Moment, um sie anzufallen. Wie es Ungeheuer tun. Sie schaltete die Lampe auf Melanies Schreibtisch an. Hielt den Kerzenständer noch immer umklammert. Niemand stürzte sich auf sie. War er gekommen und wieder verschwunden? War das wieder eins von seinen perversen Spielchen? Sie schaffte es bis zur Stereoanlage. Keine CD mit Rhapsody in Blue. Keine Kassette. Wo war sie? Hatte sie überhaupt irgendwas gehört? Plötzlich setzte laute Musik ein und ließ sie erschreckt aufschreien. Bis ihr klar wurde, daß es ein Schlager war, nicht Gershwin. Von einem Auto, das am Bürofenster vorbeifuhr. Sie sank auf den Rand von Melanies Schreibtisch, wiegte den Kerzenständer im Schoß. Du drehst wirklich langsam durch, Sarah. Deine Phantasie gerät außer Kontrolle. Als Sarah am nächsten Morgen erwachte, stellte sie verwirrt und desorientiert fest, daß sie in ihrem alten Schlafzimmer auf der Scott Street lag, das Melanie zum Gästezimmer gemacht hatte. Und wie jeden Morgen seit dem Mord an ihrer Schwester wünschte sie beim Aufwachen, daß das alles nur ein schreckli-
cher Alptraum war. Statt dessen hielt die Zeit, in der sie wach war, schlimmere Schrecken für sie bereit als alle ihre nächtlichen Träume zusammengenommen. Ihr Blick fiel auf das Telefon neben dem Bett. Bernie. Ja. Auf ihn war immer Verlaß, wenn sie etwas Aufmunterung brauchte. Fast immer. Außerdem machte er sich bestimmt Sorgen um sie. Er meldete sich nach dem ersten Klingeln. »Ich bin es, Sarah. Und mir geht es gut«, sagte sie, bevor er sie fragen konnte. »Ich hoffe, dir ist klar, daß du die Behandlung meines Magengeschwürs bezahlen wirst.« »Du hast kein Magengeschwür.« »Noch nicht.« »Ach, Bernie, was für eine Scheiße.« »Du hast es also schon gehört, was?« »Was gehört?« fragte sie, und sofort war die Angst wieder da. »Gestern abend ist wieder… eine Leiche ohne Herz gefunden worden. Irgendeine arme Nutte. Lag im Müllcontainer eines Hotels in der Nähe des Polizeipräsidiums. Die Cops haben noch keine Erklärung abgegeben, aber da Romeo bisher die Finger von Huren gelassen hat, könnte es sein, daß wir es jetzt auch noch mit einem Nachahmungstäter zu tun haben, sagen sie in den Nachrichten.« »Nein. Er war es«, flüsterte sie düster. »Er brauchte ein neues Herz.« »Was meinst du damit?« »Nichts. Schon gut.« »Wo bist du überhaupt, Sarah?« »Das ist ein Geheimnis.« »Seit wann haben wir Geheimnisse voreinander?« Ihre Augen wurden feucht. »Schon immer, fürchte ich.« »Sarah, weinst du?« »Noch nicht.« »Brauchst du eine Schulter, an der du dich ausweinen kannst?« »Das wäre schön.« Aber sie dachte nicht an Bernies Schulter, sondern an Johns. Warum mußte alles in ihrem Flickwerkleben so kaputt sein? Warum konnte es nicht einen Quadratzentimeter
Stoff geben, der nicht zerknittert war? Ein einziges glattes, sauberes, einfaches kleines Stückchen? »Ein Wort von dir, Süße, und ich springe in meinen Raumgleiter und schaffe die Schulter in Windeseile zu dir.« »Ich liebe dich, Bernie. Aber ich bin es leid, zu weinen. Ich habe nur angerufen, um dir zu sagen, daß du dir keine Sorgen zu machen brauchst.« »Wer’s glaubt…« »Also, ich melde mich bald wieder, Bernie.« Sie wollte schon auflegen. »Ach, Moment noch. Hätte ich beinahe vergessen«, sagte Bernie. »Hector Sanchez hat gestern mehrmals im Büro angerufen und wollte dich sprechen.« »Mist. Ich will ihn auch sprechen. Ich rufe ihn an. Danke, Bernie.« »Sarah, melde dich, hörst du?« »Werd ich. Ehrenwort.« Sobald sie aufgelegt hatte, rief sie die Auskunft an und ließ sich die Telefonnummer von Hector Sanchez geben. Es klingelte viermal, bevor er an den Apparat kam. »Ich bin’s, Sarah Rosen, Hector. Habe ich dich geweckt?« »Nein. Ich habe gemalt. Ich glaube, dieses hier könnte ganz passabel werden. Du mußt vorbeikommen und mir sagen, ob ich recht habe. Natürlich nur, wenn dir danach ist.« »Hast du deshalb versucht, mich zu erreichen?« »Nein. Wegen neulich, als du bei mir warst. Du weißt schon, als das Päckchen vor meiner Tür gelegen hat.« Wie hätte sie das vergessen können? »Ja. Was ist damit?« »Also, es geht eigentlich nicht um das Päckchen, sondern um den Irren, der es gebracht hat.« »Was ist mit ihm?« Sarah hatte Schwierigkeiten zu atmen. »Er muß es vor die Tür gelegt haben, ganz kurz bevor ich mit Arkin zurückgekommen bin.« »Wie kommst du darauf?« »Wegen des Geruchs. Bei Blinden ist das so. Ihre anderen Sinne werden schärfer, du weißt schon, was ich meine. Der Geruch von diesem Perversen hing noch im Flur. Vielleicht
hatte er sich sogar da irgendwo versteckt. Eins kann ich dir sagen, Sarah. Der Geruch war wirklich stark.« Sarah atmete langsam aus, erinnerte sich an Johns unnachahmlichen Geruch – die Mischung aus Pfefferminz und Alkohol. Etwas später am Morgen rief Wagner an. »Habe ich Sie geweckt?« »Nein. Haben Sie was herausgefunden?« fragte sie. »Nichts Aufschlußreiches.« »Ich habe das von der Prostituierten gehört.« Sie zögerte. »Sie wurde direkt neben… dem Polizeipräsidium gefunden.« »Das fehlende Herz.« »Wieso eine Prostituierte? Das paßt doch nicht in sein Muster, oder?« Wagner sagte grimmig: »Ich glaube, Sie hatten recht damit, daß er langsam Risse zeigt. Er klinkt aus.« »Ja. Ich hatte wohl wirklich recht.« »Ich weiß, was Sie durchmachen, Sarah. Glauben Sie mir…« »Mike, ich habe einen neuen Plan. Ich muß einfach mit Sicherheit wissen, daß John es nicht ist. Sonst werde ich noch verrückt, ehrlich. Und egal, was Sie sich selbst einreden. Sie müssen es auch wissen.« »Okay, schießen Sie los. Das heißt aber nicht, daß ich auch mitmache.« »Ich glaube, das werden Sie, Mike. Ich glaube, Sie können nicht anders. Wir können beide nicht anders.« Sobald Sarah nach dem Gespräch mit Wagner aufgelegt hatte, rief sie Allegro an. Sie sprachen etwa zwanzig Minuten miteinander und verabredeten sich für den Abend. Er würde um sieben zu ihr in Melanies Haus kommen. Kurz nach fünf Uhr nachmittags rief Sarah Bernie an, aber es meldete sich nur sein Anrufbeantworter. Sie hinterließ eine Nachricht nach dem Signalton. »Ach, Bernie, ich wünschte, du wärst da…« Ein Klicken, gefolgt von rasselndem Atmen an Bernies Ende der Leitung ließ sie jäh innehalten. »Bernie?« Keine Antwort.
Eine Ader pulsierte an Sarahs Schläfe. »Bernie? Bist du das?« Und dann hörte sie, zunächst leise, dann allmählich lauter, das, was Romeos Erkennungszeichen geworden war: Rhapsody in Blue. Diesmal war jede Täuschung ausgeschlossen. »Nein, nein, nein!« schrie sie in die Sprechmuschel. »Um Gottes willen, nein!« Zwanzig quälende Minuten später rief Bernie zurück. Er war kurz weg gewesen. Hatte mit Tony einen Kaffee getrunken. Eine Wiederannäherung. Sie erzählte ihm nichts von der Musik. Und auch nicht, daß sie panische Angst gehabt hatte, ihm wäre etwas zugestoßen. Sie wußte, daß Romeo ihr wieder mal einen seiner abartigen Streiche gespielt hatte. Es würde hoffentlich sein letzter gewesen sein.
25 Jeder Mord löst noch intensivere, verlockendere und brutalere Phantasien aus und läßt zugleich seine Verzweiflung und Unausgeglichenheit anwachsen. Wenn man ihn nicht aufhält, wird er sich am Ende selbst zerstören. Aber niemand kann vorhersagen, wann das sein wird und was zuvor noch alles passieren muß. Dr. Melanie Rosen in Cutting Edge Romeo ist erregt. Er zieht sich aus. Duscht. Schrubbt sich die Haut fast wund. Sein Herz rast wie wild. Rast vor Aufregung. Die Ereignisse überschlagen sich jetzt. Aber das ist gut so. Der Rhythmus stimmt. Fühlt sich gut an. Bald ist es soweit. Er streckt sich auf dem Bett aus. Alles wird hervorragend laufen. Er spürt es wie einen zweiten Herzschlag. Emma war nur ein Probelauf. Eine ausgezeichnete Generalprobe. Aber Sarah wird die Premiere sein. Der hämmernde Puls in seinen Schläfen klingt wie Applaus. Stehende Ovationen in einem ausverkauften Haus. Sieh da. In der ersten Reihe. Alle seine Frauen. Begeistert klatschend. Bis auf Melanie. Wo ist Melanie? Er sucht hektisch in der Menge nach ihr. Sie muß irgendwo sein. Diese glänzende Vorstellung würde sie um keinen Preis der Welt verpassen wollen. Ah, da ist sie ja. Auf einem Logenplatz. Applaudiert am lautesten von allen. Würdigt sein Können, seine Leistung, seine Inszenierung voller Begeisterung. Genau wie er es sich gedacht hatte. Ja, Melanie war etwas Besonderes. Sie hat ihm mehr gegeben als die anderen. Nicht nur ihr Herz, sondern ihr geheimes und aufschlußreiches Tagebuch, das zu seiner Bibel geworden ist. Ganz besonders gefallen ihm die Passagen über ihn. Und natürlich die über Sarah. Jedesmal, wenn er sie liest, bekommt er eine Erektion. Und er kann erneut das köstliche Bild heraufbeschwören, wie es das letzte Mal mit Melanie war. Und das steigert fast bis ins Unerträgliche die Vorstellung, wie es mit Sarah sein wird.
Er nimmt die Fernbedienung, schaltet den Fernseher an. Die Fünf-Uhr-Nachrichten haben gerade begonnen. Da ist sie. Gleich zu Anfang. Wie in jeder anderen Nachrichtensendung seit dem frühen Nachmittag. Sarah spricht bereits, ihr wundervolles Gesicht füllt den Bildschirm ganz aus. »… und Romeo bildet sich ein, daß ich für seinen Charme empfänglich bin. Daß ich ihn am Ende unwiderstehlich finden werde, so wie seine anderen Opfer das getan haben. Daß ich ihn so sehr brauche, wie er mich braucht. Aber er irrt sich. Ich lasse mich durch keine seiner Taktiken täuschen. Außerdem sehe ich allmählich die Risse, genau wie ich es vorhergesagt habe. Er versucht, die Kontrolle zu bewahren, aber das gelingt ihm nicht mehr. Er ist ins Trudeln geraten. Er weiß das. Und ich weiß es auch.« Anstelle von Sarahs Gesicht erscheint das einer Nachrichtensprecherin, einer attraktiven Brünetten mit hohen Wangenknochen und einem zu breiten Mund. »Sie sahen einen Ausschnitt aus einem Interview, das unser Reporter Tom Lindsay heute vormittag mit Sarah Rosen an einem geheimen Ort aufgenommen hat. Miss Rosen, die Schwester der ermordeten Psychiaterin Dr. Melanie Rosen…« Romeo schaltet den Fernseher ab. Schließt die Augen. Stellt sich Sarah vor. Spielt ihren kleinen Auftritt in Gedanken durch. Ihr vergeblicher Versuch, sich selbst zu täuschen, macht ihn noch mehr an. Auch ich lasse mich nicht täuschen, Baby. Sarah wird ihn von all seinen Sünden erlösen. Sarah wird seine Vergebung sein. Alle Wut, Verzweiflung und Gewalt wird in ihrer Vereinigung zerbersten. In ihrer Hingabe liegt ihre Befreiung. Und seine. Wieder dröhnt es in seinem Kopf. Doch diesmal ist es kein Applaus. Es ist ein Durcheinander von Klängen – ein Motor, Schluchzen, Musik. Sie materialisiert sich, wie sie es immer tut. Und immer am gleichen Ort. Am Steuer eines nagelneuen, glänzenden, zweisitzigen babyblauen Sportwagens. Er ist neben ihr. Sie sind von der Landstraße in einen einsamen Weg abgebogen. Eine Kassette läuft. Er will sie jetzt hören, obwohl sie es nicht will. Gersh-
wins Rhapsody in Blue. Ihre Lieblingsmusik, erinnert er sie. Aber ihr Schluchzen übertönt die Musik. »Du brichst mir das Herz, Baby.« Diesmal ist es nicht ihre Stimme. Er sagt diese Worte. Schreit sie ihr in das gespenstisch weiße Gesicht, in seinen Augen die Wut und der Schmerz über ihren Verrat, seine Stimme gequält und anklagend. DU BRICHST MIR DAS HERZ. DU SCHLAMPE. DU GOTTVERDAMMTE SCHLAMPE. Er ist so damit beschäftigt, sie anzuschreien, daß er das Messer zuerst gar nicht sieht, das immer wieder in ihre Brust dringt, und gar nicht begreift, daß es seine Hand ist, die die Waffe führt. Bis das Blut aus ihr herausspritzt wie eine Fontäne, über sein ganzes Gesicht, so daß er fast nichts mehr sehen kann. Aber er hört nicht auf. Er stößt weiter mit dem Messer zu, immer wieder, immer wieder, immer wieder. Im Rhythmus der letzten Takte von Gershwins Rhapsody in Blue.
26 Ich möchte mich ihm mit Haut und Haaren hingeben, damit ich endlich von den Ketten befreit werde, die mich all die Jahre an dich gefesselt haben. M. R. Tagebuch Sarah begutachtet sich in dem großen Spiegel ihrer Schwester. Sie trägt eins von Melanies Kleidern. Glänzender Velours. Kurz geschnitten. Champagnerfarben. Weil es ihr etwas zu weit ist, hat sie sich eine schwarze Veloursschärpe um die Taille gebunden. Sie erkennt sich selbst kaum wieder. Sieht aber auch nicht wie Melanie aus. Wie jemand Neues. Einzigartig. Provozierend. »Sind Sie fertig? Es ist gleich sieben.« Sie fährt herum, das Gesicht hochrot. Sie hat ihn nicht ins Schlafzimmer kommen hören. »Ja.« Er kommt näher. »Umwerfend.« Sie spielt nervös an der Schärpe herum. »Sarah, Sie können es sich noch immer anders überlegen«, sagt Wagner. »Wenn es an der Tür klingelt, gehe ich runter und sage ihm, daß…« »Was? Daß ich im letzten Moment gekniffen habe? Nein, Mike, ich muß die Sache durchziehen.« »Ich werde die ganze Zeit in der Nähe sein, Sarah.« »Ich muß nach dem Braten sehen.« Er hält sie fest, als sie sich vom Spiegel abwendet. »Vergessen Sie nicht. Bringen Sie ihn dazu, seine Waffe abzulegen. Und, Sarah – seien Sie vorsichtig.« »Das hört sich an, als würden Sie John für schuldig halten. Ich dachte, Sie hätten behauptet, daß er es unmöglich sein kann. Daß Sie nur mitmachen, damit ich endlich beruhigt bin. Damit ich überzeugt bin, daß er unschuldig ist.« »Und wenn nichts passiert, sind Sie dann überzeugt?« Sie blickt ihm tief in die Augen. »Es wird was passieren.«
Es klingelt an der Haustür. Ihr stockt der Atem. Wird sie das wirklich schaffen? Einen Augenblick lang ist es, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. Wagner zieht sie näher an sich heran, streift mit dem Mund über ihre Lippen. »Viel Glück«, flüstert er und eilt davon, um sich in der Küche zu verstecken. Sie erwartet Allegro oben an der Treppe. Sie sieht, daß er frisch rasiert ist. Das Jackett gebügelt. Sogar die Haare geschnitten. In der Hand hält er einen duftenden Blumenstrauß. Er muß zweimal hinschauen, als er sie sieht. Was immer er auch erwartet hatte, das war es nicht. »Gefall ich dir?« fragt sie schüchtern. Nein. Falscher Ton. Zu mädchenhaft. »Willst du das auch wirklich?« fragt er zurück, ohne ihre Frage zu beantworten. »Was?« »Ich war mir nicht sicher, ob du je wieder mit mir allein sein willst.« »Komm, setz dich ins Wohnzimmer. Das Essen ist bald fertig. Ich mache uns einen Drink.« »Ich hatte mir vorgenommen, den Alkohol wegzulassen.« »Dann hole ich dir ein Glas Mineralwasser.« Sie geht voraus, ihre Augen huschen hinüber zur Küchentür. »Tolles Kleid, Sarah.« Sie wendet sich ihm wieder zu. »Du siehst auch gut aus.« Er legt die Blumen beiseite, schließt Sarah in die Arme. »Das tut so gut, Schatz.« Er küßt sie leidenschaftlich, raubt ihr den Atem, macht sie schwindlig. Als sie sich aus seiner Umarmung löst, sagt sie: »Deine Pistole drückt mir gegen die Rippen.« Er zieht sich das Jackett aus, öffnet den Verschluß seines Schulterhalfters und streift es ab, legt es auf den Couchtisch. »Besser?« Ihr Hals ist trocken wie Sandpapier. Sie wirft einen Blick auf die Waffe. Noch ist sie leicht zu erreichen. Es klappt nicht. Das schaffe ich nie. »Was ist los, Sarah? Ich dachte, du wolltest es so.« Sie seufzt. »Das… dachte ich auch.«
»Hab keine Angst, Sarah.« Seine Zunge gleitet über ihren Hals, umkreist ihr Ohr. Sie schließt erneut die Augen, sucht verzweifelt in ihrem Innern nach dem nötigen Mut. Die Kerzen flackern. Eine leise Brise. Hat Mike die Küchentür einen Spalt geöffnet? Beobachtet er sie? Sie entzieht sich ihm. »Ich kann nicht. Ich kann einfach nicht. Bitte geh, John. Bitte. Sofort. Stell keine Fragen. Bitte.« Er streckt die Arme nach ihr aus, aber sie weicht zurück. Er hebt die Hände, als würde er sich ergeben. »Okay. Wenn du es so willst.« »Ja. Es tut mir leid.« Er seufzt tief auf und will nach seinem Pistolenhalfter greifen, als die Küchentür auffliegt. »Liegenlassen, John.« Wagner steht in der Tür, Dienstpistole in der Hand. Mit aufgeschraubtem Schalldämpfer. Sein Blick wandert zu Sarah hinüber. Er lächelt. »Alles in Ordnung, Sarah«, sagt Wagner. »Nein…« Wagner legt einen Finger an seine noch immer lächelnden Lippen. »Jetzt wird alles gut.« Ihr Herz klopft wie wild. Gut? Nichts ist gut. So war das nicht geplant. »Was soll das, Mike? Laß ihn gehen. Ich schaffe es nicht.« Sarah eilt auf Wagner zu. Allegro versucht, sie aufzuhalten, aber Wagner ist zuerst bei ihr. Schlingt seinen freien Arm um ihre Taille, die Waffe weiter auf Allegro gerichtet. Gescheitert. Verloren. Ausweglos. Sarah fleht: »Bitte, Mike. So hatten wir das nicht…« »Es ist sinnlos, Sarah«, sagt Allegro. »Mike hat sich alles genau überlegt.« Wagner lächelt durchtrieben. »Ziemlich fadenscheinig, euer falsches Spiel. Sarah tut so, als würde sie kalte Füße bekommen, und schickt dich weg. Du wartest in einem Versteck, überraschst mich in flagranti und erledigst mich.« »Mach dir nichts vor, Mike. Es ist vorbei«, sagte Allegro.
»Nein, noch nicht. Jetzt kommt das große Finale. Romeo wird noch ein letztes glorreiches Mal zuschlagen. Und Michael Wagner wird der Cop sein, der ihn erledigt.« Wagner schaut sie jetzt an. »Habe ich’s dir nicht versprochen, Sarah? Bald. Erinnerst du dich? Du solltest dich geehrt fühlen. Dich habe ich unter all den anderen ausgewählt. Das Beste bis zum Schluß aufbewahrt.« Sarah kann ihn nur anstarren. Er redet wirres Zeug, aber er sieht ganz normal aus, völlig vernünftig. Es fällt ihr schwer, selbst jetzt noch, wirklich zu glauben, daß er der psychopathische Sexualtäter ist, der ihre Schwester, Emma und die fünf anderen unglücklichen Frauen abgeschlachtet hat. Seine Lippen pressen sich auf ihr Haar. »Mmh. Du hast Melanies Parfüm aufgelegt. An dir riecht es besser.« Er atmet tief ein. »Ich weiß, wie sehr du dich dein ganzes Leben lang nach dem Menschen gesehnt hast, der dich befreien kann, Sarah. Nicht dein Vater, wie du gedacht hast. Ich. Romeo. Ich bin der einzige, Baby.« Seine Hand gleitet über ihre Rippen nach oben, umfaßt ihre Brust. Sie will sich losreißen. Wagner lacht leise. »Ja, wehr dich gegen mich, Baby. Das bringt mein Herz zum Rasen.« Allegro macht einen Schritt in Richtung seines Pistolenhalfters. Wagner grinst ihn an, entsichert seine Pistole. »Das solltest du bleibenlassen, John.« Er nimmt die Waffe seines Partners, leert das Magazin in seine Tasche, wirft die Pistole quer durch den Raum. Dann konzentriert er sich wieder auf Sarah, das Lächeln ist verschwunden. »Du hast mir wirklich die Überraschung verdorben, Sarah. Du weißt ja nicht, wie sehr ich mich darauf gefreut hatte, den erstaunten Blick in deinem hübschen Gesicht zu sehen, wenn ich dir meine wahre Identität verraten hätte. Bei Melanie war das einer der Höhepunkte.« Der Name ihrer Schwester aus seinem Munde macht Sarah wütend. »Aber nicht bei mir. Du hast Scheiße gebaut, Mike. Hector hat deinen Zigarettengestank im Flur vor seiner Wohnung gerochen, auf dem Päckchen, das du mir bei ihm vor die Tür gelegt hast. Es war blöd von dir, mich anzulügen, daß du
nicht mit ihm gesprochen hättest. Der Rest war leicht«, sagt sie verächtlich. »Leicht, wie bei deiner Schwester. Nachdem ich sie in dem Sexclub gesehen hatte, habe ich eine Woche abgewartet und sie dann angerufen. Sie war scharf. Wollte mich auf der Stelle sehen. Wir sind Hand in Hand durch den Regen gegangen. Haben in einer Bar auf der Lombard Street etwas getrunken. Dann ist sie aufs Klo gegangen. Hat die Tür einen Spalt offengelassen. Ist lange weggeblieben. Schließlich bin ich hinter ihr her, um zu sehen, was los war. Sie stand nackt am Waschbecken. Nackt. So sehr wollte sie es. Aber ich habe sie warten lassen. Ich habe sie lange warten lassen. Bis sie es absolut nötig hatte. So nötig hatte wie deinen Daddy.« Er lächelt verzerrt. Sarah weiß, daß er sie absichtlich quält. Das gehört zu dem kranken Spiel, das er begonnen hat, direkt nachdem er Melanie ermordet und sie aufs Korn genommen hatte. Sie kann nicht – will nicht – zulassen, daß er auf seine Kosten kommt. »Hast du bei all deinen Opfern gewartet, bis sie es nötig hatten, Mike?« »Bei allen. Sogar bei Grace.« Sein Blick schweift von ihr zu Allegro. »Grace hat es genossen, Johnny. Je härter, desto besser. O Mann, sie konnte eine ordentliche Tracht Prügel vertragen. Und wunderbar blasen. Hat Grace dir jemals einen geblasen, Johnny?« Allegro springt auf ihn zu, hält aber jäh inne, als er sieht, daß Wagner den Lauf der Pistole an Sarahs Schläfe preßt. »Grace hat es gespürt, Johnny. Sie war es, die mich erst richtig drauf gebracht hat«, sagt er. »Der Auslöser, wie Melanie meinte, der Romeo zum Leben erweckt hat. Das ist mir an dem Morgen klargeworden, als ich bei ihr war, um sie zum Flughafen zu fahren. Sie hat förmlich um einen letzten Fick gebettelt, bevor wir losfuhren. Leider ist sie ausgeflippt, als ich sie fesseln wollte. Das war das einzige, auf das Grace nicht stand, John. Sie fing an zu schreien. Mir ist der Kragen geplatzt. Das Fenster war auf. Es war ganz leicht. Aber frustrierend, verstehst du, was ich meine? Also mußte ich das Beste draus machen. Habe mir gleich einen runtergeholt, als ich sie rausgeworfen hatte.« Er lacht kurz und gleichgültig auf.
Sarah sieht, daß Allegro die Tränen kommen. O John, es tut mir so leid. Aber sie spürt einen Funken Trost, sogar Hoffnung, als sie sieht, daß er sich gleich wieder zusammenreißt. »Grace war aber nicht die erste, stimmt’s, Mike?« sagt Allegro rätselhaft. Wagner wirft ihm einen neugierigen Blick zu. »Ach, wen habe ich denn ausgelassen, Johnny?« Allegros Lippen kräuseln sich. »Du hast die ausgelassen, die dich in Wirklichkeit darauf gebracht hat. Deine Mutter. Sie war doch die erste, nicht, Mike? Numero uno? Ich habe die Akte zu ihrem Fall gründlich studiert. Die Kollegen in Ledi haben sie heute morgen durchgefaxt, nachdem ich beschlossen hatte, deine Vergangenheit zu durchleuchten. Neunzehn Stichwunden. Alle in die Brust. Und zwei arme Trottel, die zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort waren, sind dafür drangekriegt worden.« »Schnauze!« Schweißtropfen bilden sich plötzlich auf seiner Stirn. Das geht ihm nahe. Mama ist tabu – Du brichst mir das Herz, Baby. »Und ich habe auch mit deinem Stiefvater in Ledi gesprochen. Weißt du was? Er hatte am Donnerstag gar nicht Geburtstag. Sein Geburtstag ist im Mai. Und er hat dich seit Monaten nicht gesehen. Wir haben aber nett miteinander geplaudert. Er hat mir erzählt, wie gern du damals zu deiner Mama ins Bett gekrochen bist. Natürlich bevor sie wieder geheiratet hat. Sie hat alles deinem Stiefvater gebeichtet, Mike. Bis ins letzte pikante Detail.« »Hör auf, von meiner Mama zu reden, verdammt!« Wagners Gesicht verändert sich. Sein Mund hat einen grausamen Zug angenommen. Seine Augen funkeln unbarmherzig. Selbst der Klang seiner Stimme hat sich verändert. Kalt, brutal – wahnsinnig. Er hält Sarah so dicht an sich gepreßt, daß sie fast seinen Herzschlag auf der Haut spüren kann. Neben der kleinen Couch. Er holt ein Paar Handschellen aus seiner Jackettasche, befiehlt ihr, sie Allegro anzulegen. Er rammt ihr den Lauf des Schalldämpfers in den Mund. Sie kann nicht schlucken. Sie würgt.
Allegro hält ihr die Hände hin. »Schon gut, Sarah.« Als sie ihm widerwillig die Handschellen anlegen will, handelt Allegro. Blitzschnell stößt er Sarah zu Boden und stürzt sich auf Wagner, schlägt ihm die Faust gegen das Kinn. Sarah hört Wagner vor Schmerz aufstöhnen. Fast gleichzeitig folgt ein zweites Geräusch, wie das Knallen eines Sektkorkens. Aber Sarah weiß, es ist kein Korken, es ist eine Kugel aus seiner Pistole mit Schalldämpfer. Und dann hört sie einen dumpfen Aufschlag. Ein Körper, der zu Boden fällt. Die Zeit ist stehengeblieben, während Sarah auf dem Teppich liegt, mit dem Gesicht nach unten, vor Angst wie gelähmt. Laß es nicht John sein. O Gott, laß es nicht John sein. Ein Arm umschlingt ihre Taille, hebt sie sanft hoch. »Alles in Ordnung, Sarah. Jetzt ist alles in Ordnung.« Ihr Herz krampft sich zusammen. Romeo. Sie hat das Gefühl, zerrissen zu werden, zu zerspringen. Ihr frischgefaßter Mut verläßt sie. Trauer füllt die leeren Räume in ihrem Innern. Seine feuchten, heißen Lippen liegen auf ihrem nackten Rükken über dem runden Ausschnitt ihres Kleides. Seine freie Hand reißt die Schärpe um ihre Taille ab. Sie ringt entsetzt um Atem, als sie Allegro ausgestreckt auf dem Teppich liegen sieht. Blut rinnt ihm von der Schläfe. Sein Gesicht ist schmerzverzerrt. »Keine Angst, Baby. Ich habe Johnny nur angekratzt«, sagt Wagner und stößt den Tisch mit einem Tritt aus dem Weg. »Schließlich soll Johnny die ganze Vorstellung mitbekommen. Schon der Gedanke macht mich scharf.« Er kneift ihr durch das Kleid brutal in die Brustwarze. Als sie aufschreit, preßt er ihr den kalten stählernen Lauf der Pistole an die Lippen. »Schhhh. Ich weiß, du bist erregt, aber keinen Laut, Baby, noch nicht.« Allegros Hemd ist schweißnaß. Er beißt die Zähne zusammen. »Mike, ich bringe dich um. Das schwöre ich dir.« Wagner wirkt amüsiert. »Sei ein braves Mädchen und leg ihm die Handschellen an, Sarah.« Das Zimmer dreht sich. Wagner packt sie hart im Genick. Der Schmerz vertreibt das Schwindelgefühl.
»Mach schon, Sarah, sonst schieß ich ihm dahin, wo es richtig weh tut.« Jetzt zielt er auf Allegros Leistengegend. »Und bloß damit Johnny sieht, was für ein lieber Kerl ich doch bin, darf er die Hände vorn auf der Hose behalten. Wenn wir ihn mit dem, was wir gleich machen, richtig aufgegeilt haben, kann er sich einen runterholen. Ich bin ihm das schuldig für Grace.« »Du bist ein armes Schwein«, murmelt Allegro. »Sag mal, Mike, hast du das gemacht? Dir jedesmal einen runtergeholt, wenn deine Mama und dein Stiefpapa es getrieben haben?« »Ich könnte dich und Sarah auf der Stelle abknallen, John.« »Und dein langersehntes Rendezvous mit Sarah verderben? Alles, wovon du die ganze Zeit geträumt hast? Du bist zwar völlig ausgeklinkt, aber du bist nicht dumm.« »Das ist nicht bloß ein Rendezvous, John. Du kannst das nicht verstehen. Dieser Abend ist heilig. Aber du hast recht. Ich werde nicht zulassen, daß du ihn ruinierst. Für mich. Für Sarah.« Er stößt sie in Allegros Richtung. Ihre Hände zittern, aber sie läßt die Handschellen um Johns Handgelenke zuschnappen. »Jetzt nimm die Handschellen aus seiner Tasche und mach sie ihm um die Knöchel«, befiehlt Wagner. Vor der Stereoanlage. Ihr ganzer Körper schmerzt und zittert. Die Kehle so trocken, daß das Schlucken weh tut. »Such die Musik aus«, befiehlt er, läßt die Mündung des Schalldämpfers sacht ihre Wirbelsäule hinuntergleiten. »Irgendwas, wozu du gern tanzt.« »Ich kann nicht tanzen.« »Das ist Jahre her, Sarah. Komm drüber weg.« »Woher…« »Melanie hat über deinen Ballettunterricht geschrieben. Wie sehr Daddy sich über sein kleines Mädchen mit den zwei linken Füßen geärgert hat. Oh, Melanie hat jedes delikate, schmutzige Detail aus ihrem Leben aufgeschrieben und jede Menge aus deinem noch dazu. Das mit den Schlaftabletten. Wie du dir die Pulsadern aufgeschnitten hast. Ich weiß alles, Sarah.« Er leckt ihr über die Wange. Wie ein Raubtier, das seine Beute kostet.
»Okay, ich suche die CD aus, Baby. Du brauchst etwas Zeit, um in Fahrt zu kommen.« Laute Reggae-Musik ertönt. »Mmh. Melanie hat diese Musik gemocht. Wie sich ihr Körper im Rhythmus gewiegt hat. Schließ die Augen, Sarah. Fühl es.« Er schiebt eine Hand in den Ausschnitt ihres Kleides, in ihren BH, umfaßt ihre nackte Brust, findet die Brustwarze. Seine Finger sind aufreizend, verspielt. Scham steigt in ihr auf. Ein so vertrautes Gefühl. Sie ist jetzt so hilflos wie damals als Kind. Wieder tut ein Mann ihrem Körper Gewalt an. Wut brandet in ihr auf, tilgt ihre Scham. Es ist nicht meine Schuld. Es ist nicht mein Fehler. Sarah nimmt Blickkontakt mit Allegro auf. Sie sieht seine Qual, Wut und Hilflosigkeit »Wenn du wüßtest, wie lange ich schon auf diesen einen vollkommenen Augenblick warte«, flüstert Wagner ihr ins Ohr. »Du bist es, Sarah, nur du. Du hast dein ganzes Leben versucht, vor deiner wahren Natur davonzulaufen, genau wie ich. Heute abend machen wir beide mit den Lügen Schluß.« »Mit deinen vielleicht, nicht mit meinen.« »Ich wußte, daß du zäher als die anderen sein würdest. Deshalb wußte ich, daß du etwas ganz Besonderes bist. Du mußt den Schmerz durchleben, um wahre Erfüllung zu finden, mein Liebling. Und die erreicht man nur durch absolute Unterwerfung.« Allegro lacht bitter. Wagner wirft ihm einen Blick zu. »Wollen mal sehen, ob sie naß ist, was, Johnny?« Unvermittelt reißt er ihr das Kleid vom Körper. Schiebt die Hand in ihren Slip. »Noch nicht richtig scharf.« Er klingt eher amüsiert als verärgert. »Ich wußte, daß du am schwersten zu knacken bist, Sarah. Meine größte Herausforderung. Davon habe ich geträumt, Baby. Es ist vollkommen. Du wehrst dich am heftigsten, und du brauchst es am meisten. Ich werde dein Herz der Wahrheit öffnen«, sagt er. Sarahs Augen sind starr auf Allegros gerichtet, aus denen sie Trost, Stärke und Mut gewinnt. Dann blickt sie Wagner trotzig
an. »Du glaubst, du kennst mein wahres Ich, Mike, aber du irrst dich. Ich werde in dir niemals meinen Erretter sehen. Nur das, was du wirklich bist. Mein Peiniger. Mein Mörder.« »So ist recht, Baby. Wehr dich mit allen Kräften. Am Ende wird deine Hingabe süß sein, so süß.« »Ich hasse dich. Verachte dich!« Er reißt ihr den Slip vom Leib, so daß sie völlig nackt ist. Über der Armlehne des Zweisitzers, Gesicht nach unten. Er läßt seinen schwarzen Ledergürtel in der Luft knallen und verpaßt ihr einen leichten, brennenden Schlag aufs Gesäß. »Nur ein kleiner Vorgeschmack«, sagt er zu ihr, dann schlägt er härter zu. Die Schläge hinterlassen rote Striemen auf der malträtierten Haut. Jetzt preßt er ihr mit der freien Hand den Kopf nach unten, drückt das Gesicht in das Polster, um ihre Schreie zu dämpfen. »Fließen die Säfte schon, Baby?« Allegros Schußwunde tut höllisch weh. Alles ist verschwommen. Er sieht doppelt. Aber er kämpft. »Nimm mir die Handschellen ab, du Scheißkerl. Laß dir von einem richtigen Mann zeigen, wie man das macht.« Wagner lacht. Der Gürtel zischt wieder nieder. Sie keucht. Bekommt keine Luft, wie in ihrem Traum. Nackt, auf dem Rücken, ausgestreckt auf dem Sofa. Wagner wischt ihr Schweiß und Tränen von den Wangen. »Romeo weiß, was du für ein böses kleines Mädchen bist. Daddy nachspionieren, heimlich zugucken, wie er mit deiner großen Schwester Onkel Doktor spielt. Ist das deine Lieblingsphantasie, Sarah? Es mit Daddy zu treiben. Willst du Daddy-Spielchen mit Romeo spielen, Prinzessin? Deine Phantasien, wie du es mit Daddy machst, ausleben?« »Wie du mit deiner Mutter?« Sie sieht etwas in seinem Gesicht aufblitzen. Die Erinnerung an seine eigene Hilflosigkeit? Doch es dauert nur einen Moment, bevor seine Züge wieder kalt und hart werden. »Mama hat mir nie weh getan. Keine Frau hat mir je weh getan. Ihr haltet euch doch alle für so tolle Weiber. Aber ihr seid nichts. Sie war nichts. Sie hatte ihren kleinen Liebling, aber sie hat ihn
weggeworfen wie ein Stück Dreck und sich dafür mit diesem dämlichen, besoffenen Arschloch eingelassen.« In der Küche, fast ohnmächtig vor Schmerz, Furcht und Ekel. Er hält sie hoch, den Arm brutal fest um ihren Brustkasten gelegt. Sie kann nicht atmen. Ich kann es ausblenden. Aber wenn ich es verdränge, hat er gewonnen. Ich lasse ihn nicht gewinnen. Er stößt sie gegen einen Stuhl, der mit einem hellgrünen Chirurgenkittel drapiert ist. Durchsichtige Latexhandschuhe ordentlich daraufgelegt. Galle steigt ihr in die Kehle. Mehrere Gegenstände liegen säuberlich aufgereiht auf dem Küchentisch. Der weiße Seidenschal, die Flasche Perrier-Jouët und ein glänzendes, schwarzes, in Schlangenleder gebundenes Buch. Melanies Tagebuch. Sarah starrt auf einen besonderen Gegenstand. Etwas abseits von den anderen. Eine rote Samtschachtel. Herzförmig. Tränen rinnen ihr lautlos die Wangen hinab. Sie wendet den Blick ab und sieht, wie er von der Theke ein Tranchiermesser nimmt und es feierlich quer über den Deckel der blutroten Schachtel legt. »Endlich hast du Melanies Herz gewonnen, Baby. Ihre Vergebung und auch meine.« Wieder im Wohnzimmer. Wagner hat sich für die »Operation« eingekleidet. Er stellt die entkorkte Champagnerflasche und die herzförmige Schachtel auf den Couchtisch. Legt das Tranchiermesser aufs Sofa, die Pistole auf den Boden vor seine Füße. John liegt zusammengesackt etwa drei Meter entfernt. Sein Hemd ist blutgetränkt, das Gesicht totenbleich. Doch zu ihrem Erstaunen sieht Sarah, wie seine Augenlider sich flatternd öffnen und zu Wagners Waffe huschen, bevor sie sich wieder schließen. Wagner bekommt den lautlosen Blickwechsel nicht mit. Er ist sehr damit beschäftigt, Sarahs nackten Körper zu bewundern. »So niedliche feste Titten, so ein strammer kleiner Arsch.« Er hat ihr die Hände mit dem Seidenschal auf dem Rücken festgebunden, und sie kann ihn nur zornig anfunkeln.
»Auf die Knie, Baby.« »Du kannst mich mal.« Er schlägt ihr hart ins Gesicht. »Mein armer Schatz. Du willst den Schmerz. Ich verstehe dich.« Er hebt die Hand, um sie erneut zu schlagen. »Nein, bitte. Tu’s nicht. Nicht wieder schlagen. Bitte.« Sie macht ein paar Schritte von ihm weg, während sie ihn anfleht. Ein kleines Stück. Ein, zwei Schritte mehr. Er macht ein Spiel daraus. Folgt ihr Schritt für Schritt. Bewegt die Hüften im Rhythmus der Reggae-Musik. Grinst. »Siehst du, jetzt tanzen wir, Baby.« Sie schafft es fast bis in die Mitte des Zimmers, als Wagner keine Lust mehr hat. »Das reicht, Sarah. Los, auf die Knie.« Sie bringt einen gefügigen Seufzer zustande und gehorcht, blickt flehend zu ihm auf. »Okay, okay. Du hast gewonnen. Kommt es dir darauf an? Daß ich nachgebe und alles tue, was du sagst?« Während sie auf Wagner einredet, windet sich Allegro wie eine Schlange mühsam über den Teppich. Wagner legt die Hand auf ihren Kopf. Als würde er sie segnen. »Ist es nicht besser so? Loszulassen? Mir die Führung zu überlassen?« »Ja.« »Ja, Romeo«, sagt er. »Ja, Romeo«, wiederholt sie gehorsam. O John, beeil dich. Bitte. Bitte. Wagner lächelt, doch ganz plötzlich verzieht sich sein Gesicht zu einer Grimasse. Er blinzelt zweimal, sein Arm zuckt von ihrer Taille hoch, greift nach ihrem Hals. »Was…« Er sieht sie benommen an, blickt dann verblüfft auf seine Schulter. Beide starren sie auf den roten Fleck, der sich am Ärmel seines blaßgrünen Op-Kittels ausbreitet. »Verdammt«, knurrt er, packt sie brutal und reißt sie zu sich hoch. Er wirbelt herum zu Allegro, der gegen das Sofa lehnt, die Pistole mit dem Schalldämpfer in den gefesselten Händen umklammert hält.
»Noch einen Schuß, Johnny?« fragt Wagner höhnisch, während er Sarah als Schutzschild benutzt und sie näher an Allegro heranstößt. Alle Farbe ist aus Allegros Gesicht gewichen. »Sarah, verzeih mir…« Seine Augen schließen sich flatternd, seine Hände fallen herab, die Pistole rutscht von seinem Oberschenkel auf den Teppich. Wagner lacht wie von Sinnen. Blut rinnt an seinem Arm hinab, doch er scheint die Verletzung gar nicht wahrzunehmen. Rasch fesselt er Sarah die Füße, stößt sie gleichgültig auf das Sofa, kniet sich dann über Allegro und fühlt seinen Puls. »Zäher alter Hund. Was meinst du, meine Süße? Soll ich ihn von seinem Leiden erlösen?« »Nein. Nein, bitte. Ich tu alles. Laß ihn am Leben. Bitte. Ich flehe dich an.« Er zerrt sie vom Sofa, wieder auf die Knie. »Stimmt, Sarah. Du wirst alles für mich tun. Aber das hat nichts mit dem da zu tun. Nicht er, sondern du mußt Buße tun.« »Was ist mit dir, Mike? Du hast all die Frauen umgebracht. Sogar deine eigene Mutter.« Er umfaßt ihren Hals mit beiden Händen. Seine Daumen drücken zu. »Ausgerechnet du mußt das sagen«, zischt er. »Aufhören«, fleht sie. »Aufhören. Ich krieg keine… Luft.« Romeo drückt fester zu. Sie wird ersticken. Wie ihre Mutter. O mein Gott… »Ruhig, ruhig. Sag mir, warum du weinst.« »Ich hasse ihn. Er ist schrecklich. Er haßt mich. Er haßt dich auch, Mama. Er liebt nur Melanie.« »Das ist nicht wahr, Sarah.« »Ich hin nicht die Böse. Das ist Melanie. Sie ist die Böse. Sie bringt ihn dazu, daß er solche schmutzigen Sachen macht, nicht ich. Ich würde ihn nicht lassen. Aber Melanie tut es. Sie mag das. Ich weiß es. Ich habe sie gesehen. Ich habe sie gesehen.«
Wagner schlägt sie mit der flachen Hand, zerrt sie zurück aus dem Abgrund der Erinnerung. Sie starrt in sein Gesicht. Er lächelt. Doch dann verschwimmen seine Gesichtszüge. Sarah sieht ihn nicht mehr. Sie sieht ihre Mutter. Von einem Seil auf dem Speicher baumeln. Daddy hatte sie gewarnt, daß es ihr leid tun wird, wenn sie es jemandem erzählt… Auf den Knien, eingeklemmt zwischen Romeos Beine – die demütig Bittende zu Füßen ihres Herrn. Das Licht ist gedämpft. Die Rhapsodie erklingt. Er lächelt zärtlich. »Siehst du, Sarah. Wir sind Seelenverwandte. Weil wir beide unsere Mutter getötet haben.« »Woher… hast du das gewußt?« »Melanie hat es aufgeschrieben.« »Aber das ist unmöglich. Sie kann nicht gewußt…« »Sie hat dich weinen gehört. Gehört, wie deine Mama dich getröstet hat. Gehört, wie du sie und deinen Daddy verpfiffen hast. Du hast nicht nur deiner Mutter das Herz gebrochen, Sarah. Sondern auch Melanie. Du hast sie beide getötet.« Die klagenden Klänge von Gershwins Rhapsody in Blue übertönen Sarahs rasselnde Atemzüge. Er streichelt ihr über Wange, Hals und Brüste. Ihr Körper ist wie Wachs. »O Sarah. Ich habe dich von Anfang an verwöhnt. Ich habe dich mit Briefen überschüttet, mit Geschenken, mit den besten Stellen aus Melanies Tagebuch. Damit du der Wahrheit näher kommst. Was mir wirklich weh getan hat, war deine kindische Vernarrtheit in John. Es hat mich sehr enttäuscht, als ich dich zusammen mit ihm im Bett gesehen habe. Das verstehst du doch, oder?« Sie nickt. Paradoxerweise, und so qualvoll es auch ist, versteht sie nicht nur Mike Wagners Wut, sondern auch sein Schuldgefühl, seinen Schmerz und sein Empfinden, überflüssig zu sein. Sie versteht auch seine entsetzliche Einsamkeit. Endlich erkennt sie nicht nur die unabänderliche Wahrheit über ihn, sondern auch über sich. Die Sünden der Väter und der Mütter, die die Kinder auf sich nehmen. Er umfaßt seinen fast vollständig erigierten Penis mit einer Hand, während er mit der anderen ihre Brüste liebkost. Seine
Miene ist entrückt. Gequält. Die letzten Takte der Rhapsodie erfüllen den Raum. »Eigentlich will ich nicht, daß es zu Ende geht«, sagt er traurig. Sie lächelt zaghaft. »Stoßen wir ein letztes Mal an.« Er starrt ihr in die Augen, während er nach der Champagnerflasche greift. Er hat die Gläser vergessen. Er steht auf und eilt in die Küche, um sie zu holen. Alles muß vollkommen sein. Als er zurückkommt, füllt er die beiden Sektflöten. »Worauf sollen wir trinken?« »Auf… Vergebung.« Er zögert. »Es wird Zeit«, drängt sie mit sanfter Stimme. »Zeit, daß wir die Wunden, den Neid, die Bosheit, das Kranke loslassen. Zeit, ihnen allen zu vergeben. Zeit, uns selbst zu vergeben.« Er hält ihr den Rand eines Glases an den Mund, läßt ihn provozierend über ihre Lippen gleiten. »Sag es zuerst, Sarah. Sag: ›Ich will dich mehr als das Leben selbst, Romeo‹.« Seine Augen schließen sich; sein Gesicht wirkt fast engelhaft. »Vollkommen. So vollkommen.« Dann öffnet er die Augen und neigt das Glas, damit sie trinken kann. »Auf die Vergebung, meine vollkommene Liebe.« Er nimmt einen tiefen Schluck aus seinem Glas, senkt es dann und lächelt sie wehmütig an. »Es ist Zeit, Baby. Erlösung. Absolution.« Sein Blick gleitet von ihr zu dem Sofa neben sich. Seine Lippen teilen sich, aber es kommt kein Laut heraus. Einen Augenblick lang ist es, als ob ein Film im Projektor hängengeblieben wäre. Alles kommt abrupt zum Stillstand. Alles, bis auf das Crescendo der Musik. »Sarah, Sarah, du hast alles verdorben, du blöde Schlampe.« Seine Stimme bebt vor Frustration und Wut über die Zerstörung seines kostbaren Rituals. Er schreit ihr unbeherrscht ins Gesicht: »Das Messer, du Schlampe. Wo ist das verdammte Messer?« Sie spuckt ihm einen Mundvoll Champagner in die funkelnden Augen. Er kann einen Moment lang nichts sehen und hebt reflexartig die Hände, um sein Gesicht zu schützen.
Der Puls hämmert ihr in den Ohren, der Schweiß strömt ihr über den nackten Körper, als sie die letzte Seidenfaser um ihre Handgelenke durchschneidet. Die glänzende Stahlklinge zischt an seinen brennenden Augen vorbei. Er stößt einen kehligen, herzzerreißenden Schrei aus, in seinem Gesicht steht der Schrecken des Verdammten. Sarah stößt das Messer tief in die Brust des Ungeheuers. Mit einem Herzschlag ist alles vorbei. Romeos letztem.
Epilog Sarah setzt sich auf den inzwischen vertrauten Stuhl im Aufnahmestudio. Ihr Auftritt für Cutting Edge wird aufgezeichnet. Kurz bevor der Regisseur ihr das Signal gibt, nickt John ihr aufmunternd zu und flüstert: »Es ist das letzte Mal, Sarah.« Dann tritt er aus dem Bereich der Kameras. Das rote Licht geht an. Sarah hat sich Notizen auf einem Zettel gemacht, doch der bleibt zusammengefaltet vor ihr auf dem Schreibtisch liegen, als sie anfängt. »In den vergangenen Wochen habe ich viele Tränen geweint. Um meine Schwester Melanie, um Emma, um all die anderen Frauen, deren Leben von diesem Wahnsinnigen zerstört wurde. Ich fühle mich ihnen allen sehr nah. Ich bin eine von ihnen. Wir alle sind aufs Schrecklichste verraten worden. Wir alle waren in Schuld und Scham gefangen. Gegen diese Gefühle muß ich noch immer tagtäglich ankämpfen. Aber ich kann mich glücklich schätzen. Ich habe die Möglichkeit, um das Glück zu kämpfen, das wir alle verdient hätten. Melanie… und du, Mama… und all ihr anderen, ich wünschte, ich könnte euch bei der Hand nehmen und wir könnten zusammen aus dem Schatten ins Sonnenlicht gehen. Aber eins schwöre ich euch: Ich werde euch immer in meinem Herzen tragen.«