Thomas Koebner Gottfried Keller: Romeo und Julia auf dem Dorfe
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Thomas Koebner Gottfried Keller: Romeo und Julia auf dem Dorfe
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Gottfried Keller: Romeo und Julia auf dem Dorfe Die Recherche nach den Ursachen eines Liebestods Von Thomas Koebner
Liebesgeschichten mit tödlichem Ausgang gibt es in der deutschen Literatur seit Goethes Die Leiden des jungen Werthers zuhauf. Ob Freitod oder gar Mord aus Eifersucht oder anderer Verwirrung der Gefühle (wie in Büchners Woyzeck), das denkbar höchste Glück auf Erden scheint sich nicht dauerhaft mit dieser Wirklichkeit zu vertragen. Die Erregung der Leidenschaften wird mit Gefährdungen erkauft – zumal dem Risiko, dass kein Weg mehr in den Normalzustand zurückführt. Romeo und Julia sind das klassische Liebespaar, das Überschwang und Unglück in einer zerstrittenen Welt demonstriert. Es handelt sich um eine von verfeindeten Vätern verdorbene Region, in der die jungen Liebenden keinen Freiraum finden, also am Ende nur das Niemandsland des Todes. Die Liebenden verlassen ihre sozial angestammten Orte, als Liebende geraten sie in Widerspruch zu allen anderen, die ihnen zur Hölle werden können (um ein berühmtes Wort von Jean-Paul Sartre zu zitieren). Vielleicht kann der Autor, der sich mit solchen Vorfällen beschäftigt, nicht immer ergründen, was einen Menschen für den anderen liebenswert erscheinen lässt, für gewöhnlich aber kehrt er den Gegensatz zwischen den Liebenden und ihrer Umwelt hervor. Sei es, dass einer der Liebenden sich der Gegenliebe nicht gewiss ist und den Geliebten / die Geliebte beinahe der feindlichen Umwelt zurechnet, sei es, dass beide Liebende sich in Gedanken oder Taten völlig von Familie, Freunden, Fremden abschließen und dadurch in einen besonderen Zustand eintreten – die Liebesgeschichte polarisiert alle mitspielenden Gestalten in Protagonisten und Antagonisten, in die verletzbaren Individuen der © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Liebenden und die übrigen Menschen, die Gegner sind oder verständnislos, darin manchmal lächerliche, manchmal bedrohlich wirkende Zuschauer. Wie für Goethe (bei Werther) oder Büchner (bei Woyzeck), war ein realer Vorfall auch für Gottfried Keller eine Keimzelle der Erzählung, der er den anspielungsreichen Titel Romeo und Julia auf dem Dorfe gab. In Sachsen, so konnte er in der Züricher Freitagszeitung vom 3. September 1847 lesen, hatten ein 19-Jähriger und eine 17Jährige, Kinder armer, verfeindeter Familien, nach einer durchtanzten Nacht Selbstmord begangen, sich durch den Kopf geschossen. Man fand die Leichen auf dem Feld.1 Das dem gemeldeten Ereignis zugrunde liegende Schema, eine Romeo-und-JuliaVariante, ist aus manchen Volksliedern und volksliedähnlichen Gedichten bekannt, in denen von jungen Menschen gesungen wird, die lieber starben, bevor sie verdarben (auch das Umgekehrte kommt vor), oder von liebenden Kindern, die zueinander strebten, obwohl die Hindernisse schier unüberwindlich waren (zum Beispiel galt bei den berühmten Königskindern das Wasser als zu tief). Die Vorgeschichte eines Falls zu rekonstruieren, bei dem die beunruhigende Alternative Liebe oder Leben gegen das gewöhnliche Dasein entschieden wird, bei dem sich das Unglück vielleicht als Glück enthüllt, aus der Perspektive derer, die Hand an sich legen: die Umwertung des freiwilligen Lebensverzichts von todesmutig Liebenden war sicherlich eines der Ziele Kellers in dieser Geschichte, damit auch die Durchleuchtung komplexer Motivierungen im menschlichen Verhalten, das über die Grenzen der Normalität, des gesellschaftlichen Lizenzierten hinausführt. Die zeitgenössische Diskussion um die Dorfgeschichte, wie sie Berthold Auerbach oder Jeremias Gotthelf schrieben, lenkte die Aufmerksamkeit unter anderem darauf, dass die Leute auf dem Lande ein eigenes Leben führen, in manchem unverwechselbar, jedenfalls gleichrangig mit dem der Stadtleute. Der Schauplatz Land scheint bei Kellers Erzählung berücksichtigt – schon die Überschrift verheißt dies –, obwohl sie doch in den © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Zyklus Die Leute von Seldwyla gehört, also auch im Bannkreis dieser nur halb erfundenen Stadt der Geschäftemacher, Glückssucher und Bankrotteure spielt. Die prozessierenden Bauern, die in der Wut ihrer Rechtsverfolgung Grund und Boden verlieren, können als typische Gestalten des realen Landlebens um die Mitte des vorigen Jahrhunderts gelten, die zu den ausschnitthaften knappen Genre-Szenen in Romeo und Julia auf dem Dorfe passen: Sonntagsfeierlichkeiten, Tanzereien und Märkte, Wirtshäuser und Promenaden. Dennoch wäre es voreilig, die Erzählung Kellers als Dorfgeschichte zu klassifizieren, wie es oft geschehen ist. Wahrscheinlich hat Keller seine Konzeption im Widerspruch zu den Geschichten des eifernden Konservativen Gotthelf entwickelt, wie schon die Lektüre seiner vier skeptischen Rezensionen von Romanen und Erzählungen dieses Autors zu erkennen gibt. So lassen sich einige, von Keller neu gefüllte Handlungs- und Figurenumrisse bereits bei Gotthelf finden, etwa der Ruin des Bauern (in Zeitgeist und Berner Geist) oder das junge Mädchen, dessen Vater zum Landstreicher geworden ist, das sich selbst durch die Welt schlagen muss und den Tod an der Seite des Geliebten findet, allerdings im Kampf gegen die heranrückenden Franzosen (in Elsi, die seltsame Magd).2 Aufschlussreicher für das wahre Interesse Kellers ist ein Traum, den er 1847 in sein Tagebuch verzeichnet: Er erzählt da von zwei stattlichen Bauern und drei Äckern, wobei der mittlere Acker einem verwahrlosten Erben gehört, der sich unstet in der Welt herumtreibe. Die Bauern äußern ihr frommes und tiefes Bedauern, während sie dem verwaisten Acker einige Furchen abpflügen. Das Gespräch über den bösen Weltlauf hindert sie nicht, sich entsprechend zu benehmen, ohne dass sie zu erkennen geben, ob der eine den Frevel des anderen bemerkt habe. Das tugendhafte Reden enthüllt sich als Heuchelei; sie handeln zu ihrem eigenen Vorteil. Diese Traumerzählung kann als Illustration des zeitgenössischen Landlebens, mehr aber noch als Gleichnisrede gelesen werden, die Elemente aus dem Anschauungsbereich der Agrargesellschaft aufgreift wie © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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einst der Prediger Salomo: Keller beschäftigt sich offensichtlich eher mit den Bauern als Menschen als mit den Bauern als Bauern. Der von Keller gewählte Titel soll verdeutlichen, dass sich der Erzähler der Parallelen zum Drama Shakespeares bewusst ist, bereitet auch auf eine Liebesgeschichte im bäuerlichen Milieu vor – wäre aber falsch verstanden, würde man dem Autor ausschließlich Interesse am Lokalkolorit, an der Realität des Landlebens in einer bestimmten Zeit unterstellen. Vielmehr fordert die Formulierung Romeo und Julia auf dem Dorfe zu einer prüfenden Lektüre heraus, zu Vergleichen zwischen literarischem Vorläufer und neuer Variation, zum Nachsinnen über die Brechungen des Themas durch die Verschiebung des Orts von der fiktiven Stadt Verona ins Umland von Seldwyla. Solch reflektierende geschärfte Wahrnehmung verlangt auch die vielsinnige, vielschichtige Erzählweise, die manche Aussagen und Anspielungen im Text nicht gleich dem ersten Blick erschließt. Gottfried Keller nähert sich in seiner Erzählung einem zum Teil fremden, zum Teil vertrauten Sujet an: Fremd musste ihm eine Liebestragödie sein, an der er nicht als Augenzeuge teilhatte; vertraut war ihm das bedrängte und arme Leben auf dem Land im Umkreis der Städte (wie die Jugendgeschichte im Roman Der grüne Heinrich offenbart); vertraut war ihm der bittere und fruchtlose Ausgang von Liebesleidenschaften; fremd war ihm der Schritt in den Tod hinein als Konsequenz einer ekstatischen oder verzweifelten Entfremdung von der üblichen Ordnung. Diese Mischung bekannter und unbekannter Momente provozierte zu einer doppelten Art der künstlerischen Bewältigung, in der sich die teilnahmsvolle Suche nach den tieferen Gründen dieser traurigen Geschichte und die Symbolisierung der Zwangsläufigkeit so eigentümlich verkreuzen, als überlagerten sich im Schreibakt die Neugier des Erforschers menschlicher Verwicklungen und die Rechtfertigung eines Betroffenen. Der Erzähler als lebenskundiger Realist: In eindringlicher Nahsicht auf die Vorgeschichte eines von zwei jungen Menschen gewählten Liebestodes verfolgt der © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Erzähler nach der Maßgabe unter Schmerzen erworbener psychologischer und sozialer Kenntnisse Schritt für Schritt den Weg der beiden, zumal in den wichtigen Phasen, um sich und dem Leser begreiflich zu machen, weshalb Menschen unter bestimmten Umständen so handeln können. Der Erzähler will mehr sehen als ein Detektiv und mehr verstehen als ein Richter. Dies wird deutlich in den tief schürfenden Bemerkungen zum jeweiligen Antrieb der Figuren. Er weiß, dass bei den meisten Taten nicht nur ein Motiv den Ausschlag gibt, dass es sich also um gemischte Beweggründe handelt, die Menschen bestimmen. Also strebt er danach, ebenso wenig selbstgerecht zu sein wie etwa Annette von Droste-Hülshoff als Erzählerin der Judenbuche, die ihren Leitspruch aus dem Neuen Testament bezieht, dass nämlich nur der, der ohne Schuld sei, den ersten Stein werfen soll. Kein schnellfertiger Moralprediger spricht hier. Der Erzähler als Prophet des unausweichlichen Unglücks: Etliche Vordeutungen, Signale der kommenden schlimmen Wendungen, und zahlreiche Korrespondenzen gliedern die erzählte Welt in eine symbolische Struktur, in der kaum ein zufälliges Detail, ein nebensächlicher Umstand Platz finden. Ob von Sternbildern oder Steinen, Häusern oder Blumen oder gar vom schwarzen Geiger die Rede ist – die Begriffe enthüllen mehrere Bedeutungen. Wie in angeschlagenen Akkorden klingen etliche Untertöne mit und verleihen der Erzählung den Charakter kunstfertiger Komplexität, einer fast ausgetüftelten ästhetischen Organisation, als sei hinter dem dichten Gitter der Bezüge jede Erlebnisspur zu verbergen, jedes Echo persönlichen Empfindens zu verdecken. Die Virtuosität des vielsinnigen Erzählens scheint zugleich die eigene Befindlichkeit des Erzählers nicht mehr zur Sprache kommen zu lassen, vielleicht aber auch davon ablenken zu wollen, dass er die Logik dieser Liebe bis in den Tod doch nicht ganz versteht, dass ein Rest unbegreiflich bleibt. Keller ist sich dessen bewusst, dass es nicht leichtfällt, einem Publikum von den alltäglichen Phänomenen zu sprechen, dem ›Volk‹ also die Wunder seiner Umwelt zu © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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erläutern, die für das Volk keine Wunder darstellen. Es wird nur reagieren, wenn man ihm – so schlägt Auerbach vor – das Bedeutende im Gewöhnlichen aufweist. Keller geht in der Praxis weiter: Er will nicht nur keine Fallhöhe zwischen den Menschen in der Stadt und denen auf dem Lande akzeptieren. Im Schlussteil von Romeo und Julia auf dem Dorfe, den Keller bei der zweiten veränderten Auflage (1874) gestrichen hat, reißt ihn sein gesellschaftskritischer Impuls sogar zur Behauptung hin, dass wahre Leidenschaften, bei denen es ums Leben gehe, überhaupt nur noch bei einfachen Leuten zu finden seien – die feinen Damen und Herren würden dagegen frivole Spiele treiben, feige davor kneifen, für ihre Liebe mit allem einzutreten, und bestenfalls Inseratenkriege über Ver- und Entlobungen führen. Keller bedauerte kurz nach dem Erscheinen der Erstauflage von Die Leute von Seldwyla diese polemische Attacke. Sie verrät indes, wie entschlossen er dazu war, sein traditionell gering geschätztes Personal von Bauern und armen Leuten aufzuwerten, die Hütten mit derselben, aus Gründen des Ausgleichs sogar mit mehr Zuwendung zu bedenken, als sie sonst den Palästen zuteil geworden ist. Ein Rechtsprinzip, das der Gleichbehandlung, soll sich als Maxime der Poetik bewähren – dies nicht zuletzt bezeugt den republikanischen Charakter von Kellers Ästhetik. Einige Rezensenten äußerten Bedenken, dass man doch eigentlich nicht wissen könne, wie ein Liebespaar kurz vor dem Freitod miteinander spreche. Der in diesem Fall missgünstige Theodor Fontane meinte sogar, Keller habe keine Ahnung, welcher Sprach- und Tonfall zwischen jungen Bauersleuten herrscht. Zwar möchte man vermuten, dass Fontane es auch nicht besser wusste, wie Menschen dieser Schicht miteinander reden, doch verfehlt solche Kritik (wie berechtigt oder unberechtigt sie auch sein mag) die Anlage, die Ausrichtung der Erzählung. Spätestens am Schluss, wenn die oberflächlich und biedersinnig verurteilende Zeitungsmeldung erwähnt wird, ist zu erkennen, dass die poetische Rekonstruktion des Falls eine Art Gegenplädoyer © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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gegen philisterhafte Urteile darstellt und die Tugendmaske der selbstgefälligen öffentlichen Meinung durchstößt: Dichtung hellt das Dunkel hinter der banalen Tagesnachricht auf. Der Erzählung geht es darum, Figuren in bestimmten Konfliktsituationen vorzuführen, dramatische Szenen zu erfinden, in der die Interessen aufeinander prallen, auch immer wieder eine Bedächtigkeit gebietende Distanz zu den Konflikten einzulegen. Angeblich handelt es sich um einen Kasus, der immer wieder vorkommt – in unterschiedlichem Gewand, wie es bereits im ersten Absatz der Erzählung heißt –, um eine Fabel, die »tief im Menschenleben« (3) wurzelt.3 Hält man sie, die Fabel, an ihrem neuen Gewand fest (so wird die Überlegung im ersten Absatz fortgeführt), wird sich wohl die nackte Wahrheit enthüllen (so setze ich den Gedankengang fort). Exotisierende Ausschmückung des Landlebens oder dessen Stilisierung ins Arkadische lagen Keller daher ebenso fern wie die Schilderung eines spezifischen Milieus mit all seinen Eigenarten und Spielregeln. Beide Gesten, die der Idyllisierung und die der ethnographischen Deskription, werden in der Erzählung schattenhaft sichtbar, aber eben nur schattenhaft und vorübergehend. Keller schrieb sowohl eine Liebestragödie als auch eine tragikomische Narrengeschichte. Mit der zweiten beginnt er sogar. Die Erzählung zerfällt in vier Teile: Der erste Teil schildert die wichtigsten Personen der Handlung in einem frühen, scheinbar noch heilen Weltzustand. zwei Bauern pflügen auf ihren Äckern. Dazwischen liegt der brachliegende Acker, um den später der Streit entflammt. Ihre beiden Kinder bringen ihnen den Mittagsimbiss und spielen dann in dieser grünen Wildnis, die sich inmitten der väterlichen Äcker hinbreitet. Doch die Pastorale zeigt bereits Schatten. Die Vergnügungen der Kleinen lassen » die menschliche Grausamkeit« (10) in ihnen zum Vorschein kommen. Schließlich reißen die Bauern noch eine tüchtige Furche in den »mittlern herrenlosen Acker hinein« (11): Der erste Eindruck, der Eindruck ihrer Ehrbarkeit, geht endgültig zuschanden. © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Der nächste Teil spielt zunächst drei Jahre später. Zum ersten Mal werden die Kinder beim Namen genannt: Salomon (oder Sali) und Vrenchen. Beim Verkauf des Ackers bricht der offene Streit zwischen den Konkurrenten Manz und Marti, den Vätern, auf. In den folgenden acht Jahren erschöpfen sie sich und ihre Rücklagen in einem wütend geführten Rechtsstreit um ein Zipfelchen des Ackers, offenbar, weil keiner von ihnen der Dumme sein und übervorteilt werden will. Manz verarmt als Erster und muss in die Stadt ziehen, um dort als schäbiger Wirt eine karge Spelunke zu betreiben. Als nichts mehr zum Beißen da ist, beginnt er, wie die anderen Falliten, die zahlungsunfähigen Bankrotteure Seldwylas, zu fischen. Bei einem solchen Fischzug begegnet er Marti. Beide Väter, in Begleitung ihrer herangewachsenen Kinder, beginnen einen kläglichen und erbärmlichen Zweikampf, den Sali und Vrenchen in gemeinsamer Anstrengung unterbrechen. Die Wiederbegegnung der beiden löst Gefühle aus, die Sali umtreiben. Genauer: Der Erzähler weiß über Salis Gefühle zu berichten, da er eher dessen Blickwinkel einnimmt als den Vrenchens. Der Kamp der Väter findet knapp zwölf Jahre nach dem Tag statt, an dem die Geschichte beginnt. Dritter Teil: Sali sucht Vrenchen schon am nächsten Morgen im Heimatdorf auf. Ihr beiderseitiges Liebesgeständnis, in oft einfältige Reden gehüllt, enthüllt zugleich ihr Dilemma: arm zu sein und sich doch zu begehren, keine Zukunft vor sich zu sehen und doch eine gemeinsame Zukunft miteinander zu ersehnen. Der Weg zu den drei Äckern ist ein Weg zurück in ihre Kindheit und die Sphäre ihrer Kinderspiele. Dort begegnen sie dem schwarzen Geiger, dem eigentlichen Erben des angeblich herrenlosen Ackers, der übervorteilt worden ist – und Marti, dem Vater Vrenchens. Als der die Tochter misshandelt, wird er von Sali mit einem Stein niedergeschlagen. Nach dem Zweikampf der beiden Alten im zweiten Teil ist dies das zweite Schreckenstableau. Vierter und umfänglichster Teil (der fast die zweite Hälfte der ganzen Erzählung einnimmt): Marti ist durch den Schlag mit dem Stein zum Verrückten geworden, zu © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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einem drolligen Narren. Vrenchen begleitet ihren Vater in die Anstalt, kehrt alleine zurück. Da tritt Sali zu ihr herein. Nach einer gemeinsamen Nacht auf dem Herd, auf dem sie sanft und ruhig nebeneinander wie zwei Kinder in der Wiege schlafen, kommen sie am Morgen zu dem Entschluss, den nächsten Tag, einen Sonntag, zusammen zu verbringen, um zu tanzen und sich zu freuen. Da Vrenchen Schuhe braucht, misst Sali sorgsam ihren Fuß ab. Zurück in der Stadt verkauft er Uhr und Kette, erwirbt so ein wenig Geld. Schon am nächsten Tag ist er früh zurück bei Vrenchen. Als eine Bäuerin das Bett holt, das letzte Möbel in dem leergeräumten Haus ihres Vaters, phantasiert Vrenchen ich einen Tagtraum vom reichen Leben als Stadtfrau vor, denn Sali habe angeblich in der Lotterie gewonnen. Im Bewusstsein, nicht mehr zurückzukehren, brechen beide auf, frühstücken und wandeln wie ein Brautpaar durch die Septembergegend (auf den Monat genau zwölf Jahre nach ihrem ersten Auftritt). Sie essen zu Mittag, kommen in ein Dorf, in dem Kirchweih gefeiert wird, beschenken sich mit Lebkuchen, deren herzerwärmende Verse auf ihren Fall gemünzt zu sein scheinen. Aber sie werden erkannt, fliehen in ein abgelegenes Gasthaus, das Pardiesgärtchen, wo sie dem schwarzen Geiger und einer Gruppe der Heimatlosen begegnen. Tanz und Tumult steigern sich, bis die kleine Gesellschaft als »toller nächtlicher Zug« (83) durch die Nacht streift, durch das Heimatdorf der beiden Liebenden, auf den Hügel mit den drei Äckern hinaus. Dort bleiben Sali und Vrenchen zurück. Zum »freien Leben« (80) in den tiefen Wäldern und Bergen, ohne Pfarrer, Geld, Ehre und Bett, zu dem sie der Geiger überreden will, möchten sie sich nicht verführen lassen. Würde sie Dienstmagd und er Soldat werden, müssten sie sich trennen. Die Furcht davor überwiegt alle Bedenken. Sie beschließen, sich einander hinzugeben und dann gemeinsam den Tod zu suchen. »Aller Sorgen ledig« (86), besteigen sie ein Heuschiff. Der Erzähler verschweigt, was dort geschieht. Aus weiter Distanz begleitet er gleichsam das Schiff, wie es den Strom hinabschwimmt. Am frühen Morgen, als eine Stadt auftaucht, gleiten © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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zweí eng umwundene Gestalten in die Fluten. Ihre Leichen werden wenig später gefunden und identifiziert. Für die Zeitung ist diese »verzweifelte und gottverlassene Hochzeit« ein Zeichen »von der um sich greifenden Entsittlichung und Verwilderung der Leidenschaften« (88). Keller verfolgt zwei Handlungsstränge in seiner Erzählung: die Verfallsgeschichte der Väter, die sich und ihre Familie ruinieren; die vergleichsweise kurze, wenn auch breiter dargestellte Liebesgeschichte der beiden Kinder, die in langsam gesteigerter Sinnlichkeit, Ratlosigkeit und Not keinen anderen Ausweg als das Sterben sehen. Es ist nicht die Feindschaft der Väter, die das Liebesglück der Kinder verhindert – wenn sie auch für neun Jahre die Wiederbegegnung der beiden jungen Menschen verhindert. Es ist das von den Vätern erzeugte materielle und moralische Elend, das den Kindern eine Aussicht in eine gemeinsame Zukunft verrennt – und die Erinnerung an die verlorene, scheinbar heile Welt ihrer Kinderzeit. Zur Geschichte der Väter: Was um Himmels willen treibt die Bauern in den selbstzerstörerischen Wahn hinein, jeder von ihnen sei angeblich der Übervorteilte? – Der verschiedentlich in der Forschung unternommene Versuch (besonders in den siebziger Jahren unseres Jahrhunderts, die vom soziologischen Verständnis besondere Aufschlüsse erwarteten), die reale Situation von Manz und Marti mit den ökonomischen Verhältnissen der Zeit in Einklang zu bringen, stellt eine plausible Annäherung dar.4 Es handelt sich aber nicht nur um einen Streit, der dem Eigentum gilt. Der Streitwert verringert sich beträchtlich, am Ende wird nur noch um ein kleines Dreieck des Ackers gekämpft. Wesentlicher als der wirtschaftliche ist der psychologische Konflikt. Manz zum Beispiel entwickelt ein peinliches Gefühl für Symmetrie – um, das wird angedeutet, sein Schuldgefühl durch Begradigungen zu verdecken. Er fürchtet, so äußert er, das Gespött der Leute. Tatsächlich aber wird er erst als Prozesshansel wie sein Gegenspieler Marti zur lächerlichen und verhöhnten Person. Der nicht zu hemmende © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Trieb beider Bauern, sich dadurch zu ruinieren, dass sie auf ihrem Rechtsstandpunkt beharren, erinnert in manchem an Michael Kohlhaas, die Figur aus Heinrich von Kleists Erzählung. Nicht allein die Profitgier verdirbt die Bauern, sondern ebenso ihr falsches Selbstgefühl, ihre ›Ehre‹, ihre Unfähigkeit, den Standpunkt des anderen in Gedanken wenigstens einzunehmen, ihre unversöhnliche Hartnäckigkeit und vor allem ihre Bereitschaft, die Ursache für das Unglück nur beim Gegner zu suchen. Sie selbst halten sich, jedenfalls ist ihnen anderes nicht bewusst, für schuldlos. So wird der andere zum eigentlichen Übeltäter, der das ganze Elend zu verantworten habe, das einen selbst überwältigt. Manz und Marti sind Narren der Uneinsichtigkeit, völlig außerstande, Distanz zu sich selber einzunehmen, Prinzipienreiter, verbohrt in die Auffassung, nur ihnen sei Unrecht widerfahren, nur sie selbst seien gekränkt worden. Sie sind im übertragenen Sinne Blinde, die ihre gemeinsamen Interessen oder ihr gemeinsames Unglück nicht wahrnehmen und so einen erbärmlichen und fruchtlosen Zweikampf austragen, bei dem sie sich nur selber schädigen. Weil Keller die Entwicklung ihres selbsterzeugten moralischen und ökonomischen Zusammenbruchs eben nicht als Zeugnis für den zeitgenössischen Pauperismus, die unverschuldete Verarmung von Menschen in der sich industrialisierenden Gesellschaft begreift, wählt er konsequent Bilder für diesen Vorgang, die den Ruin in skurril-beängstigende Unterwelt-Szenen übersetzen (als schreibe er die Visionenkette Dantes in dessen Divina commedia fort): »[. . .] ihr Leben glich fortan der träumerischen Qual zweier Verdammten, welche, auf einem schmalen Brette einen dunklen Strom hinabtreibend, sich befehden, in die Lust hauen und sich selber anpacken und vernichten, in der Meinung, sie hätten ihr Unglück gefaßt« (17). Die Angst des Manz, die anderen könnten sich über ihn belustigen, er würde beispielsweise wegen seiner Nachgiebigkeit einen Spitznamen erhalten, seine kuriose Sorge um gerade Linien und penible Symmetrie, diese scheinbare Überkorrektheit weist © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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ihn als außengeleiteten und zugleich schuldverdrängenden Menschen aus, als mürrischhochfahrenden Mann, der von Ideen des endgültigen triumphalen Sieges bezaubert ist, ohne zu merken, dass er dabei unablässig an Substanz verliert. Nicht von ungefähr werden beide Bauern in der Phase ihres Niedergangs zu Lotteriespielern. Der Traum vom unverhofften (auch unverdienten) Zugewinn verdrängt die letzten Reste realer Lebenstüchtigkeit. Es sind unrealistische Menschen, Glücksjäger und dadurch tragikomische Narren. Zur Geschichte der Liebenden: Kellers Anatomie fortzeugender Verderbnis und Schuld sperrt sich dagegen, die folgende Generation in den Stand der Unschuld zurückzuversetzen. Der Erzähler entlässt die Kinder dieser Väter (von den Müttern ist weniger die Rede, allenfalls von der aufgeblasenen Mutter des Sali) nicht aus der Familiengeschichte, auch an ihnen wird der Zerfall des Hauses sichtbar. Zwar denkt Keller nicht an die drohende Wiederkehr des Unheils dank irgendwelcher Vererbungsregeln, doch an den Einfluss der Verhältnisse, der äußeren Umstände, die die innere Verfassung prägen. Sali misst er das jugendliche Bedürfnis zu, »im ganzen einfach, ruhig und leidlich tüchtig zu sein« – also genauso, »wie sein Vater in diesem Alter gewesen war« (22). Doch das wahnhaft verderbliche Tun des Vaters zieht ihn in Mitleidenschaft – er hat nichts gelernt, weiß nichts Rechtes; notfalls müsste er Soldat oder Knecht werden. Vrenchen, von feurigem Charakter, wie immer betont wird, leicht zu guter Laune geneigt, putzt als kleine Hausfrau gegen den Verfall an, soweit es ihr möglich ist. Ihr Temperament, ihre beträchtliche Lebenskraft werden vom Unglück des Vaters Marti (das die Mutter nicht erträgt, so dass sie bald stirbt) fast zu Boden gedrückt. Als Sali nach langen Jahren wieder ihrem Haus gegenübersteht, beobachtet er in der allgemeinen Verwahrlosung die Spuren ihrer Tätigkeit: Aus dem verlotterten Bauwerk leuchten die Fenster hervor und erinnern den beobachtenden jungen Mann in
© 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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einer für Keller typischen physiognomischen Parallelisierung an die glänzenden Augen Vrenchens. Aber wie die Phantasie bei den Vätern riesige Blasen aufgetrieben hat, so bestimmt sie auch, in gemäßigter Weise, die Glückssuche der Kinder. Salis und Vrenchens schöner Sonntag kommt wesentlich dadurch zustande, dass beide sich beseligenden Illusionen hingeben – mit dem untergründigen Wissen darum, dass es nur Illusionen sind. Ihre Tagtraumwanderung wird durch die weit ausgesponnene, also nicht nur als Fopperei (dann wäre sie kürzer und pointierter) gedachte ›Lügengeschichte‹ eröffnet, die Vrenchen der erstaunten Bäuerin erzählt: Sali habe in der Lotterie gewonnen – also das erreicht, wenn man hier von ›erreichen‹ sprechen kann, was die Väter vergeblich begehrt haben. Nun würden sie beide, Sali und Vrenchen, das Leben wohlhabender Stadtleute führen, mehr freundschaftlich als gnädig ihre alten Bekanntschaften zum Land pflegen, von dem sie selbst gekommen sind. Die hohle Arroganz der Mutter Manz, die verächtlich auf ihre Nachbarn hinabsieht, sobald sie in die Stadt zieht, verwandelt sich bei Vrenchen zur – ebenso ungerechtfertigten – Beschwörung einer sozialen Harmonie zwischen den beiden gesellschaftlichen Sphären. Der Kreis ihrer Wunschideen reicht aber nicht weit über den der Väter, der Mütter, der Leute im Dorf hinaus. Wenn Sali und Vrenchen in den Septembermorgen hinauswandeln – dieser etwas gewählte Ausdruck trifft die gleitende, leichte und doch würdige, von allen Mühen befreite Bewegungsform –, so versetzen sie sich in Gedanken alsbald in die Rolle eines wirklichen Brautpaars, in die eines besitzenden jungen Bauers, der die Stämme seines Waldes prüft, in die seiner ihm rechtmäßig angetrauten jungen Frau. Vrenchen kann sich nicht von der Vorstellung lösen, dass sie ein Haus brauchen – hat sie doch gerade ihr Elternhaus verlassen müssen, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hat. Die ›Unbehaustheit‹ ist für sie ein erschreckender, neuer Zustand. Die Angst vorm Alleinsein, verloren in der Welt, bestärkt ihre Liebe und lässt ihr (unter anderen © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Impulsen) selbst den Tod zu zweit als erstrebenswerter erscheinen. Mangels eines wirklichen Gebäudes, das ihr Heim sein könnte, tritt nun das Lebkuchenhaus symbolisch an dessen Stelle. Und das Bild von den Schnecken, die ihre Häuser mit sich tragen, gilt der jungen Frau als sehr sinnfällig. Ihre Hochzeit wird den Liebenden immer mehr zur inneren Wahrheit, je weniger die äußere Wahrheit dem Wunschtraum entspricht. Vertrieben aus dem Kreis ihrer ›Leute‹, der Bekannten aus dem Dorf und der alten Heimat, die sie auf dem Marktplatz des Kirchweihdorfes erkennen und neugierig, verlegen anstarren, wechseln die beiden über zur Gesellschaft der Heimatlosen, die ihr Fest im abgelegenen Wirtshaus, dem Paradiesgärtchen, feiert. Dort kommt es auch zur Parodie einer Trauungszeremonie, die von beiden jungen Menschen keineswegs nur als lustige Veranstaltung absolviert wird, die sie vielmehr im Innersten berührt, weil die lustige Feierlichkeit ihre Sehnsucht wenigstens zum Teil erfüllt. Jedoch, so überraschend wird das improvisiert nachgeahmte Hochzeitsritual den beiden Liebenden nicht erschienen sein, denn sie haben bereits den ganzen Tag sich in ähnlichen Rollenspielen gefallen: als ansässige und ›ehrbare‹ Brautleute, die dazugehören, zu den anderen, zur allgemeinen Ordnung. Hätten die beiden Liebenden einen anderen Weg als den ins Wasser einschlagen können? Die Entscheidung beider, in den Tod zu gehen und sich nicht als Soldat, Knecht oder Magd zu verdingen, scheint damit begründet, dass sie ihre bäuerlichbürgerliche Prägung nicht loswerden. Danach könne ihre Verbindung dauerhaft, wie der Erzähler sie zu verstehen meine, nur auf »guten Grund und Boden« (80) bestehen. Sind sie also Opfer einer Denkweise, die ihnen ein alternatives Dasein verbietet? Angeboten wird es ihnen, nämlich vom schwarzen Geiger. Der schwärmt ihnen von der freien Existenz in den Bergen vor. Sie hätten da gesunde Luft, die wärmsten Schlupfwinkel im warmen Heu und würden bei solchem Leben sicher alt werden. Dass dies auf die Dauer gutgehen könne, glauben Sali und Vrenchen nicht. An ihrem © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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berechtigten Misstrauen ist weniger das Gefühl für eine dem »freien Leben« widerstrebende Realität beteiligt als vielmehr die Erinnerung an das Glück ihrer Kinderzeit. Sie sehen in sich »zugleich das verschwundene Glück des Hauses« (80) und klammern sich deshalb nur umso heftiger aneinander. Ihr Gedächtnis trügt sie nicht, auch wenn der damalige Zustand vielleicht problematischer war, als sie glauben. Die vorbestimmte Laufbahn ihres Lebens ist durch das Verhalten der Väter vernichtet worden. Beide streben danach, durch ihre Liebe, in ihrem Zusammensein, die, scheint’s, unversehrte Vergangenheit wiederherzustellen. Sie wissen aber auch, dass die kühnste Hoffnung auf Restitution des Kindheitsglücks zwangläufig enttäuscht werden wird. Eine Reihe von Vorfällen demonstriert das. Die Liebenden, die wie einst vor zwölf Jahren ins Korn gehen, um dort sich eine Art Nest zu schaffen, in der Erzählung auffälligerweise ein »enger Kerker in den goldenen Ähren« (45) genannt (Vordeutung auf ihre letzten Stunden auf dem Heuschiff?), werden bald von ihrer Trauer übermannt, wenn ihnen »ihre hoffnungsarme Zukunft in den Sinn« kommt (46) – bevor der Vater Marti sie vor dem Feld überrascht und endgültig in die erschreckende Realität zurückholt. Wenn die beiden verlassenen jungen Leute auf dem Herd in dem leeren Haus der Martis wie zwei Kinder in der Wiege einschlafen, wachen sie doch in einer von Träumen kaum mehr zu vergoldenden Umwelt auf. Nicht von ungefähr beschreibt der Erzähler das junge Paar in seinen glücklichsten Momenten als selbstvergessen: Sie haben ihren Ort in der Wirklichkeit vergessen, sich auf diese Weise von den andern und ihren eigenen Zwängen entfernt. Sie wählen den Freitod, den hohen Mut, die Seligkeit bis zum letzten Augenblick zu erhalten, um nicht wieder in eine Welt zurückzukehren, in der all dies notwendig zuschanden wird. Insofern hat die Empfehlung des schwarzen Geigers, es mit einem anderen Lebensprinzip zu versuchen, doch noch Früchte getragen: Anstelle des Heustocks wählen die beiden ein Heuschiff als Brautbett, die Entscheidung für den freiwilligen Tod lässt sie tatsächlich auf jede © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Rücksicht verzichten, die sonst der Ehre oder dem Pfarrer gelten muss. Nicht nur, weil sie ihr Besitzdenken nicht überwinden können, lassen sich die beiden dem Tod zutreiben; sie erkennen auch, dass ihr Glück schon am nächsten Tag zerstört sein würde, wenn sie sich trennen müssten, um jeder für sich einem Beruf in der Fremde nachzugehen. Weil ihre Glückseligkeit verbunden ist mit der halb ernsten, halb spielerischen Selbstinszenierung als ordentliche Leute, mit der Sehnsucht nach dem unangefochtenen Frieden und Wohlstand der unwiederbringlichen Kinderzeit, und nicht zuletzt mit einer Leidenschaft, die sich nicht mehr abweisen, die beide nicht mehr warten lassen will, schlagen sie am Ende den Weg des freien Lebens ein, den ihnen der schwarze Geiger vorgezeichnet hat, eben nur in radikaler und verkürzter Weise. Es wäre zu fragen, ob die Schuld an diesem Liebestod auf die Gesellschaft zurückfällt, die keine besseren Möglichkeiten bereithält. Oder ob die Schuld allein die trifft, die sich selber nicht zu helfen wissen, da ihnen doch geholfen werden könnte. Ich sehe wenig Anzeichen in der Erzählung dafür, dass Sali oder Vrenchen davor erschrecken, einmal Soldat oder Magd zu werden. Erschreckender ist für sie, das wird oft angesprochen und angedeutet, die Trennung, das Ausgestoßensein, die Erfahrung des zweiten Verlusts des oder der Geliebten nach dem ersten Verlust der Kindheit. Erst als sie sich zum gemeinsamen Sterben entschließen, sind sie – so heißt es – »aller Sorgen ledig« (86). Denn wenn sie aus dieser Welt gehen, kann sie dort drüben niemand mehr scheiden (85). Als habe das flüchtige Glück keinen dauerhaften Ort in dieser Welt (das Beispiel der Väter bezeugt es ihnen), als sei es nur durch die Vermeidung der Wirklichkeit für eine kleine Weile zu bewahren, beschließen die beiden Menschen, es sich nicht wieder rauben zu lassen. Sie wollen es festhalten bis zum Ende – das ist der Besitz, auf den sie Wert legen. (Liebes- und Glücksansprüche werden häufig in Kategorien des Eigentums ausgedrückt, zumal, wenn es sonst an Hab und Gut fehlt.) Sicher, der Lauf der Jahre hätte manches verändert, sie die Vergänglichkeit auch ihrer Leidenschaft erleben © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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lassen – Keller erwähnt diese heilsame Funktion der Zeit in dem gestrichenen Schlussteil. In der Erzählung selbst aber will er mit solchem Trost nicht aufwarten. Fürchten Sali und Vreni die Desillusionierung als unausweichliche Folge des Weiterlebens – der Erzähler weiß bereits darum, deshalb schwingt auch kaum einmal ein ermahnender Ton in seinem Text mit. Desillusionierung wird auf stille, unaufdringliche Weise auch in der Erklärung der Handlungsmotive erreicht. Da mischen sich der achtenswerte Vorsatz mit der spontanen Reaktion, das Moralische und das Instinktive: Wenn Sali einen Stein aufgreift, bezeichnenderweise von dem Steinhafen, den sein eigener Vater auf dem umstrittenen Dreieck des Feldes errichten ließ, um damit den Vater von Vrenchen niederzuschlagen, der das Mädchen gewaltsam an den Haaren wegzerren will, so handelt er »halb in Angst um Vrenchen und halb im Jähzorn« (47). Der Erzähler beschönigt nicht idealistisch die Triebkräfte, auch nicht das Wesen der Figuren – von Vrenchen einmal abgesehen, die er überwiegend durch die Augen des entzückten Sali sieht, so dass sie tatsächlich als schönes Bild eines braunen, feurigen, im Grunde heiter gelaunten Mädchens erscheint. Und wer im Hohenlied Salomos nachschlägt, dieser klassischen Präfiguration der Liebeslyrik, wird feststellen, dass die dort gepriesene Freundin zumindest äußerlich der jungen Heldin in dieser Erzählung ähnlich ist.5 Vrenchen, deren Abbild als Gemälde den Salon der Reichen schmücken könnte (darauf wird einmal unverfroren angespielt) und die doch der ›Schatz‹ des armen Bauernsohns ist, scheint überhaupt aus einigen verkreuzten Stereotypien entstanden: Die immer wieder sich rötenden Wangen, die schlanke Gestalt, auch einige der Posen, beispielsweise wenn sie Sali erwartet und währenddessen am offenen Fenster die Morgenluft genießt, stellen eine Sammlung von Merkmalen dar, die als Attraktivitätsmomente wirken sollen, auch wenn sie unterschiedlichen Kontexten entstammen, dem Hohenlied oder Gemälden romantischer Maler wie Moritz von Schwind. Die Figur Vrenchens verliert ihre eigentümliche © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Künstlichkeit erst, wenn wir sie handeln sehen, rasch entschlossen, heftig (zweimal denkt sie daran, sich gleich zu trennen, um den Zustand nicht unerträglich werden zu lassen), kompromisslos dann am Ende, als ihr »das Brautwesen im Blute loht« (81), wild und unbezwinglich. So passen auch die Verse auf dem Lebkuchenhaus, das Sali ihr kauft, zu ihrer rückhaltlosen Art: »Mich schrecket nichts zurück! / Hab’ alles wohlerwogen: / In Dir nur lebt mein Glück!« (71.) Dass sich in ihren Charakter auch mutwillige Züge mischen, macht sie zu einer zauberhaften Erscheinung, die der Leser auf dem Dorf nicht vermutet hätte (Keller ahnt dies und korrigiert nachdrücklich ein solches Vorurteil). Wenn Sali Vrenchen als Hexe oder Teufel anspricht, drückt er etwas von der verwunderten Bestürzung aus, die die Erscheinung des Mädchens in ihm erweckt. Das Außerordentliche an der Wirkung fasst er in diese Kategorien, die in der Liebesdichtung ebenso traditionell sind, wie sie dem Volksaberglauben entstammen. Die Desillusioniertheit des Erzählers – um diese Kategorie wieder in Erinnerung zu rufen –, prägt sich auch im Konzert der biblischen und mythologischen Anspielung aus. Man könnte hier von Aufgeklärtheit sprechen, die es sich gerade noch gestatten will, alte Deutungsmuster archaischen Zuschnitts in ironischer Brechung zu verwenden – ohne ihnen besondere Aussagefähigkeit mehr zuzutrauen. Der schwarze Geiger zum Beispiel macht auf die beiden jungen Menschen einen unheimlichen Eindruck, obwohl er eine komische Nase hat, die Vrenchen einmal zum Lachen reizt. Er ist der erste Enterbte in dieser Geschichte, da ihm von den Bauern das Zugangsrecht zur Gemeinde, die vollwertige Bürgerschaft verweigert wird: ein armer, herumvagierender Handwerker und Musikant. Der Heimatlose gewinnt nun zusätzliche Bedeutung durch seine raunenden Bemerkungen, die zunächst als Aussage eins Menschen gelten können, dessen Rachewünsche durch den Ruin der Bauern, die ihm Übles wollten, befriedigt wurden. Im Paradiesgärtlein als furioser Geiger und an der Spitze des ausgelassenen Zuges, der über die nächtlichen Felder und Dörfer hinwegtollt, fungiert er wie ein © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Dionysos, der den Bacchantenzug anführt. Die Kette der ausgelassenen tobenden Menschen kann aber auch als Totentanz verstanden werden, dann erinnert der schwarze Geiger an den Tod, der den Sterblichen aufspielt: ein nicht seltenes Motiv in der Todesdarstellung seit Beginn der Neuzeit, insbesondere seit dem 18. Jahrhundert (früher trat der musizierende Tod eher mit Blasinstrumenten ins Bild, seit der Epoche des Barock mit der Fiedel).6 Der schwarze Geiger ist übrigens nur gegenwärtig, wenn Sali und Vrenchen ihn sehen. Ihr Blick auf ihn verleiht ihm die eigentümlich sich verändernde Kontur (derlei wird schon von seinem Hütchen behauptet), die ihn bald als unheimlich, bald als vertaut erscheinen lässt. Für sie ist er weniger der ausgestoßene Paria, dem der Eintritt in die Dorfgemeinschaft verwehrt worden ist, als eine Figur, die die Grenze markiert: zu einer anderen Lebensform, der der Heimatlosen, die frei in den Bergen umherschweifen; als eine Art Versucher zwingt er ihrem Denken und Fühlen eine Richtung auf, in der sie am Ende der Tod erwartet. Das Paradiesgärtlein wird vom Erzähler ausführlich als ein Landsitz im Verfall geschildert. Schon der Name assoziiert das Elysium, von dem die beiden Liebenden dort oben eine Art Abglanz erleben. Das Tanzfest findet in einer Loggia statt, an vier Ecken von Skulpturen getragen, die vier Erzengel vorstellen sollen. Doch sind die plastischen Verzierungen ebenso verwittert wie die Malereien verblasst, auf denen »lustige Engelscharen sowie singende und tanzende Heilige« zu sehen sind. (75.) »Aber alles war verwischt und undeutlich wie ein Traum und überdies reichlich mit Weinreben übersponnen [. . .].« (75.) Der seltsame und verwilderte Ort wirkt wie ein romantischer Schauplatz vergangener Lustbarkeiten und Geheimnisse. Das Altern hat die dargestellten Mythen und Legenden nicht verschont. Singende und tanzende Heilige sind in der christlichen Ikonographie überdies recht selten. Vielleicht haben Sali und Vrenchen die Gestalten, die sie erblicken, in frommer Weise umgedeutet – sie können sich die Figuren nicht anders als Heilige erklären. Ob dies so ist, oder ob der Erzähler © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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bei aller Detailgenauigkeit in der Beschreibung bewusst die eigentliche Bedeutung des bildnerischen Schmucks im Unklaren lassen will, in jedem Fall zielt er auf eine Verschränkung von christlichen und heidnischen Elementen. Die Hinweise auf Dionysos, den Gott des Rausches, und sein ihm ergebenes Gefolge sind nicht zu übersehen. Weinreben überspinnen die Freskomalereien: der Wein als Zeichen dieses Gottes. Und die Porträts einzelner Personen aus dem »Hudelvölkchen, welches nirgends zu Hause war« (76), betonen so auffällig die Farben der Leidenschaft und des Schmerzes, rot und schwarz, so unzweideutig Besonderheiten der traditionellen Darstellung von Bacchanalien (zum Beispiel hängt einem Mädchen an jeder Schläfe eine blaue Traube!), dass das ausgelassene Volk wie aus Bildern herausgetreten scheint, die das Treiben und den Trubel um Dionysos in typischer Weise verzeichnen. Da in solchen Bildern (wie etwa von Nicolas Poussin) natürliche mediterrane Elemente, auch in der Kostümierung der Personen, üblich sind, ›exotisiert‹ auch der Erzähler die Erscheinung der Tänzerinnen und Tänzer, durchsetzt sie zugleich mit einheimischen Motiven, vor allem aus der Flora, so dass die Figuren in »ihrer zusammengewürfelten Tracht« »fremdartig« aussehen (77). Das Prinzip des Erzählers, auf christliche, antike oder auch volkstümliche Überlieferungen anzuspielen und so die beschriebenen Phänomene in vielfältigem Licht erscheinen zu lassen, führt zu einer gegenseitigen Relativierung der angerissenen Bezüge zum Dionysos-Kult oder zum Blocksberg-Treiben. Im verschränkenden Gemenge entzaubern sich die unterschiedlichen Mythen zu recht profanen Materialien einer erzählerischen Prozedur, die massiert Hinweiszeichen auf den zunehmenden Gefühls- und Sinnestaumel der Liebenden ausstreut. Der Erzähler will die Ekstase nicht dämonisieren, nur – auf vorsichtige Umschreibung bedacht – mit Hilfe von Schlüsselbegriffen fassen, die verschiedenen Kulturen entstammen; er verwandelt die Rätselzeichen dunkler Zusammenhänge zu gewitzten Reflexen.
© 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Die Leistungskraft des Diminutivs, der Verkleinerungsform, besteht bei Keller immer wieder darin, das Bedrängende in Abstand zu halten und so dessen wahre Ausmaße zu verringern. Dies gleichsam optische Verfahren, Dinge in die Ferne zu rücken, fällt in dieser Erzählung an mehreren Stellen auf – umso mehr, wenn zuvor oder danach eine kontrastierende Nahsicht diese Blickveränderung hervorhebt. Schon die Eingangsszene ist einer meist gleitenden Kamerafahrt von extremer Ferne bis in große Nähe zu vergleichen. Aus der Vogelperspektive werden zunächst der Fluss und die fruchtbare Ebene beschrieben – im Präsens des immer Bestehenden. Dann taucht der Erzähler in die Geschichte ein und wechselt von der Gegenwarte- zur Vergangenheitsform. Dem entspricht ein panoramatisches Abstreifen der Szenerie, vom Dorf über die sanfte Anhöhe bis zu den drei Äckern. Dort sind zwei Bauern zu sehen, die, bei rasch wachsender Annäherung, »auf den ersten Blick den sichern, gutbesorgten Bauersmann« vorzustellen scheinen (3). Der Erzähler rückt noch dichter an diese Personen heran und besichtigt Einzelheiten: etwa die Kniehosen, an denen jede Falte »ihre unveränderliche Lage hatte und wie in Stein gemeißelt aussah« (3). Entspricht diese Bemerkung der zuvor getroffenen Feststellung, dass die Männer den Eindruck von Sicherheit und Unerschütterlichkeit hervorrufen? Oder ist der Anblick von steinern wirkenden Falten nicht eher dazu angetan, uns ungeachtet der Nahsicht auf die Dinge an eine Augentäuschung denken zu lassen? Beide Überlegungen haben wohl ihren Platz – der Mehrsinnigkeit des Erzählens entsprechend –, wobei gerade die Zweite darauf aufmerksam macht, dass der erste Blick, der Blick aus der Ferne wie aus der Nähe, trügen kann. In der Tat zeigt der weitere Verlauf der Geschichte, dass diese Bauersleute, Manz und Marti, sich gar nicht als sicher und gut besorgt bewähren, im Gegenteil! Der Leser muss sich an die Scheindeutlichkeit der vom Erzähler gesehenen oder mitgeteilten Welt gewöhnen. Kritische Skepsis stellt (nicht nur in dieser Erzählung © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Kellers) die Zuverlässigkeit des Blicks ebenso in Frage wie den Wert herkömmlicher Symbolklassen, Vergleiche, Formeln. Die Rede von der Wildnis liefert ein Beispiel für diese kontrollierte Auflösung alter Begriffsgrenzen. »Wild« ist ein Ausdruck des Mangels an zivilisatorischer Ordnung, der verwaiste Acker, der Vater des Mädchens in seiner Wut; aber auch ein Ausdruck der enthemmten Lust, die Musik zu der die beiden Liebenden tanzen und ihr Lebkuchenhaus zerdrücken – ein Symbol ihrer kleinen Hoffnung auf ein Zuhause, das Vrenchen in frommer Pose, »wie eine heilige Kirchenpatronin auf alten Bildern, welche das Modell eines Domes oder Klosters auf der Hand« halten (75), ins Paradiesgärtlein getragen hat: Das Wilde hat den Fetisch oder Talisman ihrer bürgerlichen Existenz zerbrochen. Wenige Zeilen weiter erfahren wir, dass sie im Mondlicht wieder »still, artig und seelenvergnügt« tanzen. Immerhin, die Indizien mehren sich, dass Glücksverlangen wächst und bald helfen wird, alle Bedenken und Besorgnisse wegzuspülen. Wildnis ist also Anarchie, Verkommenheit, Verfall und zugleich das ungezähmte, natürliche Begehren, sie ist sowohl negativ als auch positiv besetzt. Der Leser fühlt sich dazu verführt, dem Begriff des Wilden jeweils im Kontext eine bestimmte Bedeutung zuzumessen. Diese Bedeutung aber bleibt nicht für den ganzen Text dieselbe. Jede Festlegung erscheint als voreilig, jede schnellfertige Zuordnung als einseitig. Daher findet sich in der Erzählung auch keine moralisierende Predigerphrase. Daher muss die Erzählung, wie Keller für die zweite Fassung entschieden hat, mit dem ironischen Zitat eben jener Parolen enden, die blankes Unverständnis bekunden – und deren Anspruch und Geltung von der Erzählung widerlegt werden. Einige weitere Beispiele: Die Steine, die auf dem umstrittenen Acker liegen, übersetzen zugleich die wachsende Schuldlast der beiden Bauern ins Bild. Als dieser Acker immer schmaler geworden ist und der Steinwall auf ihm sich immer höher türmt, können die beiden Kinder einander nicht mehr sehen. Die Bauern haben eine reale und © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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zugleich zeichenhafte Mauer zwischen sich aufgehäuft. Nur Sali und Vrenchen erklettern diese Mauer und versuchen, im Spiel sich gegenseitig hinabzustoßen: Sie können das Hindernis überwinden; zugleich führen sie vor, was die beiden Alten dann nicht im Spiel, sondern im unversöhnlichen Ernst miteinander anstellen. Die Metapher der Sternbilder: Die Bauersleute ziehen gleichmäßig Furchen in die lang hingezogenen Äcker und verschwinden so wie Sternzeichen am Horizont, tauchen auch so wieder auf. Sollte das Gleichnis die Unerschütterlichkeit, Unveränderlichkeit ihres Weges, ihres Wesens verdeutlichen, so wird es im Folgenden als irreführende Symbolik enthüllt. Der Leser muss erleben, dass scheinbar unverdächtige Realien sich als Sinnbilder entschlüsseln oder übliche Zuordnungsmuster trügerisch geworden sind. Die Erschütterung des bürgerlichen Wertgefüges, wie es etwa der zitierte tugendstreng eifernde Zeitungsschreiber repräsentiert, also der biedermännischen Wohlanständigkeit, ist Absicht. Die Außenseiter werden eindringlicher und ausführlicher geschildert als die Assimilierten. Erst als Marti ein klinisch unzweideutiger Narr geworden ist, betrachtet ihn der Erzähler näher und liebevoller. Die armen Bankrotteure von Seldwyla, die am Fluss stehen, werden in einer Art mildtätiger Beschreibung einer »Galerie von Heiligen- oder Prophetenbildern« verglichen (29). Manz dagegen, dessen Beispiel zeigt, zu welcher Perversion ein wahnhaftes, uneinsichtiges, selbstbezogenes ›Ehrgefühl‹ führen kann, eilt »gleich einem eigensinnigen Schatten der Unterwelt« stromaufwärts, an den wunderlichen Heiligen vorbei, um sich zu seiner Verdammnis ein bequemes einsames Plätzchen »an den dunklen Wassern zu suchen« (29). Die auch zur Strafe fähige Instanz des Erzählers verschont fast durchweg die Hilflosen, nicht immer die Heillosen. Auch wenn Sali und Vrenchen wenig geistreich sind, wie ihre Unterredungen und ihr Entzücken beim Lesen der Lebkuchenverse verdeutlichen, wird ihre Liebe doch vom Erzähler verteidigt – schon damit, dass er ihren zarten Umgang untereinander, ihre liebenswürdige © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Bescheidenheit, hervorhebt. Auch wenn für Sali die »Heiratsfrage« (85) als EntwederOder, Sein oder Nichtsein nicht so wesentlich ist wie für Vrenchen, lässt er sich doch von ihrer »leidenschaftlichen Entschiedenheit« anstecken, darin Tod oder Leben zu sehen. Der Erzähler nimmt durchaus Unterschiede zwischen den beiden Liebenden wahr, des Charakters, auch Unterschiede des Geschlechts und dessen spezifischer Entwicklung in der Gesellschaft, die den Söhnen anderes abverlangt als den Töchtern. Doch zeigt er gerade an ihrem Beispiel, wie diese Unterschiede sich überwinden lassen. Ihre Versöhnung, im scharfen Gegensatz zur Entzweiung der Väter, ist allerdings eine Versöhnung zum Tode. Obwohl der Erzähler gerade in dieser letzten Passage merklichen Abstand zu seinen beiden Hauptfiguren einlegt, sie auf dem Schiff, das auf dem Fluss hinabtreibt, gar nicht wahrnimmt, erst am Schluss wieder, obwohl er seine Überlegenheit leichthin bemerkbar macht, wenn er etwa kritisch anmerkt, die hingebungsvoll auf eingebildete und wirkliche Töne lauschenden Liebenden verwechselten sie mit magischen Wirkungen des Mondlichts, lässt er doch kein Wort fallen, das die Schlüssigkeit, sogar Notwendigkeit ihrer Entscheidung bestreiten würde. Wenn er von Sali und Vrenchen am Ende seiner Erzählung so weit abrückt, so vermutlich aus Gründen der Dezenz, vielleicht aber auch, weil er sich außerstande sieht, die Erfüllung ihres leidenschaftlichen Begehrens, die letzten Stunden des Liebespaars genauer zu schildern. Er verfolgt sie aus der Nähe bis zu dem Punkt, an dem sie das Heuschiff losbinden und besteigen – was danach geschieht, entzieht sich vielleicht nicht seiner Vorstellungskraft, wohl aber allen seinerzeit verfügbaren Darstellungsmöglichkeiten, soweit nicht ein Spezialpublikum erreicht werden sollte. Das Verschweigen des letzten Akts der Liebesgeschichte von Sali und Vrenchen mag auf Diskretion, auf Ratlosigkeit oder auf beides zurückzuführen sein. Gleiten »im Froste des Herbstmorgens« die zwei »bleichen Gestalten, die sich fest umwanden« (88), vom Heuschiff hinunter in die »kalten Fluten«, weil sie es zu diesem Zeitpunkt wollen, oder © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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weil sie, halb erfroren, halb benommen, keine Herrschaft mehr über ihren Willen haben? Der Erzähler weiß dies nicht zu entscheiden. Er sieht den Vorgang aus einer nicht unbeträchtlichen Entfernung, sachlich und doch auch in einer leisen, nur zu begreiflichen Erschütterung. Wenn von »kalten Fluten« die Rede ist, ist dies jedenfalls keine neutrale Aussage über die Wassertemperatur. Der Scharfblick des Erzählers für das Soziale, die Hackordnung der Leute, den dummen Hochmut der Selbstgerechten, die Vorstellungslosigkeit der Angepassten, die Angriffslust, die sich gegen Außenseiter richtet, das Selbstzerstörerische ungemäßigten Geltungs- und Gewinnstrebens, was für die beiden Väter ebenso wie für die »Mehrer des Reiches« gilt, die sich auf den Thronen wie in den niedersten Hütten verrechnen, dazu die psychologische Feinfühligkeit und kritische Wahrhaftigkeit, die zur Erklärung gemischter Beweggründe des Handelns befähigt – diese Leistungen versagt sich der Erzähler bewusst für das letzte Kapitel seiner Geschichte. Handelt es sich nicht dabei auch um eine Art von Berührungsscheu, der die Vorstellung der erfüllten Liebe mindestens so schwer fällt wie ihre Schilderung? Eine solche Vermutung wird vielleicht dadurch bestätigt, dass auf den Schluss-Seiten die Anzeichen des Todes die der letzten, höchsten Lust (wie Richard Wagner im Blick auf Tristan und Isolde hätte formulieren können) umstellen, verschatten. Dies ist etwa an tragischer Ironie zu beobachten; der schwarze Geiger verrät den Liebenden seine Devise: »Laßt fahren die Welt und nehmet Euch und fraget niemandem was nach!« (81.) Aber auch die unterbrechenden, reflektierenden Erzählerkommentare, die die Tiefensicht in das Innere von Sali und Vrenchen in eine bedächtige Außensicht überführen, signalisieren zunehmende Entfernung von beiden. Zum Beispiel wird von den jungen Leuten gesagt, in ihnen sei das Gefühl lebendig gewesen, »in der bürgerlichen Welt nur in einer ganz ehrlichen und gewissenfreien Ehe glücklich sein zu können« (79). Eine gewissenfreie Ehe: Vrenchen versichert, dass sie sich nicht vorstellen kann, einen Mann zu heiraten, der ihren Vater © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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niedergeschlagen habe, wenn auch aus Notwehr, so dass der für sein Leben ein Irrer bleiben wird. Es kann aber auch bedeuten, dass Sali und Vrenchen eine Ehe vorschwebt, die im Gang der Zeiten völlig unerschütterlich bleibe – und damit all ihren Erfahrungen widerspricht. Auch ihre Ehe-Phantasie, die das ›Ganz-Andere‹ darstellen soll, entspringt ihrer Notlage, ist nicht Fortsetzung ihrer bürgerlichen Erfahrung, sondern Projektion einer Heilserwartung, die von der Erinnerung an die anscheinend ungetrübte Kinder-Idylle genährt wird. Wie ›unrealistisch‹ diese Fiktion ist, verrät Vrenchens Verstörung, als ihr unter den Heimatlosen ein Mädchen gezeigt wird, das ihren Geliebten betrogen habe und nunmehr zu versöhnen trachte. Das, beteuerte sie, möchte sie Sali nie antun. Daher wollen sie die Möglichkeit des freien Lebens nicht ergreifen. Nur die idealisierte Ehe scheint gegen solcherlei Versuchung Schutz zu gewähren. Wie wenig solche Bollwerke tatsächlich taugen, hat sie aber am Beispiel ihres eigenen Vaterhauses erlebt. Das Gefühl der beiden, nur in der moralisch geschützten und ökonomisch gesicherten Institution der Ehe auf die Dauer Fuß fassen zu können, setzt sich also aus verschiedenen Ängsten und Sorgen zusammen, verwandelt sich eher zum rechtfertigenden Argument, eben anders verfahren zu müssen, lässt das für immer Entrückte als ›Lichtbild‹ eines (auf Erden nicht erreichbaren) himmlischen Jerusalem aufglänzen – dem schon Sali sich anzunähern meint, als er seinerzeit ins Dorf zurückkehrt, um nach Jahren Vrenchen wieder zu treffen. Zuletzt: Im Liebestod aus dem Leben zu scheiden ist im bürgerlichen Programm auch nicht vorgesehen. Die Väter fressen sich auf »wie zwei wilde Tiere« (79). Die Kinder verzehren sich in einer wirklichkeitsabweisenden Liebe und scheiden aus diesem Leben. Die Glück verheißende und zerstörerische Doppelnatur der Triebe, hinter den Schutzschirm einer keineswegs mehr so gefestigten Zivilisation mühsam zurückgedrängt, wird in der Erzählung unerschrocken eingestanden. Das Netz der Vordeutungen und symbolischen © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Verstärkungen hebt das Zwangsläufige der Entwicklung der Väter wie der Kinder hervor, als sei hier eine Gesetzlichkeit am Werk, wie wir sie sonst nur in der Natur finden. Und die Natur des Menschen enthüllt sich als zweideutig. Der Erzähler reagiert au diese Entdeckung wenig eingeschüchtert, obwohl doch die Begriffe der ›bürgerlichen Welt‹ ihr so wenig gerecht werden. Da hängt womöglich damit zusammen, dass er gelegentlich wie ein Zuschauer die pathetischen Szenen aus der Familien- und Liebestragödie erlebt. Wenn er den Gang der beiden Bauern zu Beginn der Handlung schildert, wie sie hinter dem Hügelkamm verschwinden und wieder auftauchen, dann fällt auf, dass er selbst sie auf ihrem Weg nicht begleitet, sondern in einer Art topographischer Mitte unverrückt stehen bleibt und die sich bewegenden Figuren erwartet, sie kommen und fortgehen sieht. Ähnlich verhält sich der Erzähler beim Zweikampf der alten Männer auf der Brücke; dort verharrt er, kann den erbärmlichen Streit aus der Nähe und die Kinder nachkommen sehen. So hält er auch mit Sali und Vrenchen inne, als die sich vom tollen Zug lösen, der in der Nacht sich verläuft und verklingt. Diese Standortsicherungen wirken manchmal wie Abstand nehmende Kommentare, als wolle der Erzähler den Leidens-Eindruck eines Auftritts brechen, den er selbst zuvor eingerichtet hat: zum Beispiel beim Zweikampf der ergrauten Männer auf der Brücke unter dunkel verhangenem Gewitter- und Abendhimmel, aus dem es blitzt, so dass die melancholische Wassergegend, die passende Kulisse für den traurigen Konflikt der Kontrahenten, erleuchtet wird; zum Beispiel beim Alleinsein von Sali und Vrenchen in der mondbeglänzten Zaubernacht, in der Landschaft ihrer Kindheit, sich selber überlassen wie nie zuvor. Solch kommentierende ›Verfremdung‹ der Handlung spart der Erzähler übrigens bei der sorgsam verlangsamt mitgeteilten Szene aus, in der Sali den Vater Vrenchens beinahe erschlägt. Die Spannung dieses Geschehens, in dem eines der Kinder die Hand gegen eines der Eltern erhebt, so dass die jüngst wieder erweckte Liebe zwischen den beiden durch einen Totschlag mit einem © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Mal unterbrochen werden könnte, soll offensichtlich nicht gleich aufgelöst werden. Umso überraschender ist die komische Erleichterung in der gleich folgenden Nachgeschichte, in der von der spaßigen und mutwilligen Art des Blödsinnigen geruhsam erzählt wird. Allerdings ist auch hier ein dunkles Vorzeichen eingewebt: Marti, heißt es, schnitt Gesichter und zog sich seine Zipfelmütze über die Augen und die Nase herunter, »daß diese aussah wie ein Sarg unter einem Bahrtuch« (49). Die beunruhigenden Nahsichten erlauben es an anderen Stellen, die Blicke der Personen zu verfolgen, die höchst sprechend gerichtet oder gesenkt werden. Nicht selten also kommt im Erzähler ein Theatraliker zum Vorschein, der seine Figuren wie auf der Bühne handeln, dramatische Kollisionen und drastische Lustspielszenen aufführen lässt. Nicht nur die komisch-grässliche Selbstinszenierung der Mutter Manz als betulich-koketter Wirtin wäre zu nennen, auch der Part der Bäuerin, die Vrenchens Bett abholen lässt und dessen Tagtraum-Geschichte vom Leben als reicher Stadtfrau vorgesetzt bekommt. Als sie allmählich an die Lügenmär glaubt, wandelt sich ihre Attitüde. Aus der herablassenden Polterin wird eine geschmeichelte und devote Lobrednerin der Tugenden Vrenchens: eine spottlustige Sequenz über die anpassungswillige Unterwürfigkeit von Menschen, die aus der Gunst der Reichen Vorteile zu ziehen hoffen. Feinsinnig an diesem burlesken Auftritt ist der Umstand, dass Vrenchen selbst ungeniert Schmeicheleien von sich gibt und als Vorbild ihre Gegnerin dazu veranlasst, grobe Scheltworte versiegen zu lassen und gleichfalls durch süße Reden zu ersetzen. Wenn die manipulierte Bäuerin schließlich Vrenchen preist, wer sie habe, der müsse meinen, er sei im Himmelreich, so weist diese übertriebene ElogenRede wieder vertrackte Vielsinnigkeit auf: Erstens erinnert diese Formel vom Himmelreich an das Motiv des himmlischen Jerusalem, als das Sali jüngst seine alte Heimat, der Wohnort, wo Vrenchen lebt, erschienen ist; zweitens deutet diese Sentenz im Stil der Lebkuchen-Verse auf das Jenseits voraus, in das die beiden Liebenden in © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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naher Zukunft überwechseln werden; drittens knüpft diese Bemerkung an das Traumerlebnis von Sali an, von dem er Vrenchen berichtet hat – auf einer endlos langen Straße seien sie gegangen, Vrenchen immer voraus, bis er plötzlich im Himmel angekommen sei (53); viertens enthält der Satz der Bäuerin nebenbei auch eine versteckte Blasphemie, denn das Versprechen, ein Mensch werde ins Himmelreich kommen, ist von Jesus Christus gegeben worden – und wird im Mund dieser Frau entheiligt. Noch eines wird erkennbar: Die anderen wissen nicht, was in den Liebenden vor sich geht; die Liebenden werden ständig verkannt – von den Wohlwollenden und von den Unwohlwollenden. Nur sie selbst sind füreinander offen und kein Rätsel. Sie denken dasselbe, auch wenn sie es nicht sofort aussprechen – etwa den Wunsch zu sterben, um nicht so zu werden wie die anderen. Der Erzähler allein weiß Bescheid über das Innenleben seiner Figuren, daher übergreifen die Klammern zwischen Motiv-Varianten (wie des Begriffs Himmelreich) das Bewusstsein seines Personals. Die Erzählung, die Schritt für Schritt den Dunkelraum der Antriebe und Triebe erhellt und mit augenfälliger Präzision erklärt, ausleuchtet, verstummt doch vor einem Rest von Geheimnis, über das schwer zu sprechen ist, selbst wenn sich dafür Worte finden lassen. Die erfüllte Liebe vollzieht sich jenseits der Sphäre, von der die Erzählung Nachrichten mitzuteilen weiß. Die Recherche des Erzählers stößt an die Grenzen seiner Vorstellungskraft oder Sprache. Dies macht deutlich, welch schwieriger Akt der Einfühlung hier gewagt wird. Auch hat der Erzähler sich vorgenommen, über einen Fall so zu sprechen, dass der Gegensatz zu den Phrasen der ›anderen‹, die allzeit parat liegen, um sich zu knatternden Urteilen zu verketten, dass dieser Gegensatz ständig gegenwärtig bleibt. Romeo und Julia auf dem Dorfe stellt einen Versuch Gottfried Kellers dar, in der edlen Tradition der Aufklärung selber zu prüfen, was sonst vom Gerede der Welt verblendet wird: die Liebe der Außenseiter, die Liebe als Opposition zur Gesellschaft, der © 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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notwendige Tod der Liebe in der bürgerlichen Welt. Mit der Verteidigung der Blüten, aus denen keine Frucht erwächst (so heißt es metaphorisch in einer kühnen Abschweifung, die Keller in der zweiten Auflage streicht), hat er ein anti-bürgerliches Thema des Jahrhunderts angesprochen, das über Wagners Tristan und Isolde bis weit in die Kunst und Literatur der Moderne hineinklingt.
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Literaturhinweise Die Leute von Seldwyla. Erzählungen. Braunschweig: Fr. Vieweg & Sohn, 1856. [Erstdruck.] – 2., verm. Aufl. in 4 Bdn. Stuttgart: Göschen, 1874. [Weitere Auflagen: 1876, 1883, 1887.] Sämtliche Werke. Auf Grund des Nachlasses besorgte und mit einem wissenschaftlichen Anhang versehene Ausgabe. Hrsg. von Jonas Fränkel [seit 1942 von Carl Helbling]. 22 Bde. Erlenbach bei Zürich: Rentsch [Bd. 3–8. 16–19] / Bern: Benteli, 1926–49. Werke. Hrsg. von Harry Mayne. 6 Bde. Berlin: Propyläen-Verlag, 1921–22. Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe. Hrsg. von Clemens Heselhaus. 3 Bde. München: Hanser, 1956–58. 21963. Sämtliche Werke. Hrsg. von Hans Richter. 5 Bde. Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag, 1961. 5 1968. Sämtliche Werke. 7 Bde. Hrsg. von Thomas Böning, Gerhard Kaiser, Kai Kaufmann, Dominik Müller und Peter Villwock. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1986– 97. Die Leute von Seldwyla. Vollständige Ausgabe der Novellensammlung. Hrsg. von Gerhard Kaiser. Frankfurt a. M.: Insel Verlag, 1987. 31997. Romeo und Julia auf dem Dorfe. Primärtext und Materialien zur historischsoziologischen Erschließung. Hrsg. von Rudolf Kreis. Frankfurt a. M. / Berlin/München 1974. Romeo und Julia auf dem Dorfe. Mit einem Kommentar und einem Nachwort von Klaus Jeziorkowski. Frankfurt a. M.: Insel Verlag, 1984.
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Thomas Koebner Gottfried Keller: Romeo und Julia auf dem Dorfe
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© 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Anmerkungen 1
Vgl. Erläuterungen und Dokumente: Gottfried Keller, »Romeo und Julia auf dem Dorfe«, hrsg. von Jürgen Hein, Stuttgart 1971 (Reclams Universal-Bibliothek, 8114), S. 31. 2 Vgl. Heinrich Richartz, Literaturkritik als Gesellschaftskritik. Darstellungsweise und politisch-didaktische Intention in Gottfried Kellers Erzählkunst, Bonn 1975, S. 88 f. 3 Gottfried Keller, Romeo und Julia auf dem Dorfe, Stuttgart 1949 [u. ö.] (Reclams Universal-Bibliothek, 6172). Die in Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe. 4 Vgl. Gert Sautermeister, »Gottfried Keller – Kritik und Apologie des Privateigentums. Möglichkeiten und Schranken liberaler Intelligenz«, in: Positionen literarischer Intelligenz zwischen bürgerlicher Reaktion und Imperialismus, hrsg. von Gert Mattenklott und Klaus Scherpe, Kronberg i. Ts. 1973, S. 39–102. 5 Zum Einfluss der Bibel-Lektüre auf diese Erzählung vgl. Gerhard Kaiser, Gottfried Keller. Das gedichtete Leben, Frankfurt a. M. 1981, S. 296–315. 6 Vgl. Bilder des Todes, hrsg. von Dietrich Briesemeister, Unterschneidheim 1970, z. B. Abb. 37 ff.; Bilder und Tänze des Todes, hrsg. von K. B. Heppe [u. a.], Ausstellung des Kreises Unna, 1982.
© 1990, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Erstdruck: Interpretationen. Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts. Stuttgart: Reclam, 1990. (Reclams Universal-Bibliothek. 8414.) S. 203–234.
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