KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN' NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
AUGUST
HEFTE
HÄUSLER
RÖNTGEN GESCHICH...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN' NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
AUGUST
HEFTE
HÄUSLER
RÖNTGEN GESCHICHTE GROSSEN
EINER
ENTDECKUNG
VERLAG S E B A S T I A N LUX MIJRNAU • M Ü N C H E N • I N N S B R U C K • Ö L T E N
Am 8. November 1895 . . . „Ach, daß doch der Mensch durchsichtig wäre wie eine Qualle, auf daß man den Sitz seiner Leiden schauen könnte!" Mit diesen Worten machte sich einst ein Arzt zum Sprecher für viele Ärzte, die diesen Wunschtraum in ihrem Herzen trugen, da sie dem Unbekannten im Menschenkörper ohnmächtig gegenüberstanden; denn der unmittelbare Blick in das Innere des Kranken war ihnen verwehrt. W e r konnte ahnen, daß ein solcher Traum jemals in Erfüllung gehen würde? Und doch geschah das Wunder. Und der Tag, da es sich ereignete, steht genau fest: Es war der 8. November 1895. An diesem denkwürdigen Tag liegt die altehrwürdige, kunstreiche Stadt Würzburg, die schon Walther von der Vogelweide besang, in der Tilman Riemenschneider seine unsterblichen Kunstwerke schuf und Balthasar Neumann seine großartigen Barockbauten errichtete, im frühen Dunkel, eingehüllt in feuchte Novembernebel. Es ist still in der Stadt, Licht um Licht ist erloschen. Aber ein Mann findet in dieser Nacht keine Ruhe: Wil-, heim Conrad Röntgen, Professor der Physik an der Universität. Sein Bett bleibt unberührt! Schon beim Nachtmahl ist er anders als sonst, er ißt nur wenig an diesem Abend und hört kaum, was gesprochen wird. Eine innere Unruhe ist in ihm. Wie von einer unsichtbaren Macht getrieben, begibt er sich gleich wieder in sein Laboratorium. Röntgen ahnt in diesen Stunden, daß er einer unerhörten Tatsache auf der Spur ist, daß er vielleicht den Schlüssel zu bisher unbekannten Naturbereichen in der Hand hält. Die Sache ist geheimnisvoll und rätselhaft. Nacht für Nacht brennt in den folgenden Wochen Licht im Erdgeschoß des Physikalischen Instituts am Pleicherring — der heute Röntgenring heißt. Zeitweilig verdunkeln sich die Fenster, dann wieder, flammen hinter den Scheiben Lichter auf. Auch wer sich bemühen würde, etwas zu erfahren, hätte keinen Erfolg. Röntgen arbeitet ganz allein. Das Essen wird ihm ins Laboratorium gebracht, er läßt sich sein Bett dort aufschlagen. Auch seiner nächsten Umgebung gegenüber schweigt er. Zu seiner Frau sagt er gelegentlich: „Ich mache etwas, wovon die Leute, wenn sie es erfahren, sagen werden: Der Röntgen ist verrückt geworden."
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Dreiundvierzig Tage schafft Röntgen in der Einsamkeit seines Labors. Er ist gewöhnt, von Dingen erst zu sprechen, wenn er selber Gewißheit erlangt hat. Als er am 28. Dezember 1895 dem Vorsitzenden der Physikalisch-JMedizinischen Gesellschaft von Würzburg das Resultat seiner unermüdlichen Arbeit vorlegt, enthält sie in siebzehn klar formulierten Punkten das Ergebnis der unzähligen Versuche, die ihn in den Wochen zuvor Tag und Nacht beschäftigt haben. Die Schrift trägt den bescheidenen Titel: „Eine neue Art von Strahlen" — es ist die sensationelle Mitteilung von der Entdeckung einer alles durchdringenden Strahlung. Man ist vom Inhalt überrascht, läßt die Mitteilung sofort drucken und beruft auf den 23. Januar eine Sitzung der Gesellschaft ein, auf der Röntgen über seine Entdeckung selbst berichten soll. Aber schon vorher dringt etwas an die Öffentlichkeit. Röntgen hat seinem Freund und Kollegen Prof. Exner in Wien brieflich Mitteilung von seinem Fund gemacht und das photographierte Rild einer durchstrahlten Hand dem Schreiben beigefügt. Exner spricht darüber im Freundeskreis und zeigt die Aufnahme. Die „Wiener Presse" erfährt davon und bringt am nächsten Tag, am 7. Januar 1896, einen Artikel mit der Überschrift: „Eine sensationelle Entdeckung". Telegramme jagen um die Welt, in allen Zeitungen erscheinen aufsehenerregende Berichte: „Wunderstrahlen entdeckt 1" „Der menschliche Körper durchsichtig geworden . . . " Nicht nur Laien,, auch Forscher und Gelehrte zweifeln an der Richtigkeit der Pressemitteilungen. Dann aber erfährt man, daß der Kaiser am 13. Januar den Forscher zu sich berufen habe und sich von ihm seine Entdeckung habe vorführen lassen. Groß ist der Andrang zu der Sitzung der Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft am 23. Januar. Eine fieberhafte Spannung liegt über den Versammelten. „Von lebhaftem, lang anhaltendem Beifall begrüßt", betritt der 50jährige Forscher, eine große, hagere Gestalt mit dunklem Haar und Vollbart, den Saal. Sachlich und nüchtern berichtet Röntgen über das, was er entdeckt hat, und erläutert seinen Vortrag an den aufgebauten Geräten. Jeder im Saal kann das Skelett der lebenden Hand oder die Umrisse dicht verpackter Gegenstände auf dem Leuchtschirm sehen. Der greise Anatom Geheimrat von Koelliker legt vor aller Augen seine Hand auf eine lichtdicht in einer Kassette verpackte Photoplatte, die unter der Röhre liegt. Noch während des Vortrages wird die Platte entwickelt. Das Bild dieses Handskeletts ist seither in zahlreichen Schriften wiedergegeben worden. Am Ende der
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Sitzung macht von Koelliker den Vorschlag, die neuen Strahlen — Röntgen hatte sie nach dem „Buchstaben des Unbekannten" XStrahlen genannt — nach ihrem Entdecker zu benennen, was „neuen, allgemeinen Jubel entfesselte" (nach dem Sitzungsbericht).
Jugendschicksal Gediegener Wohlstand herrscht im Hause des Tuchfabrikanten Röntgen im rheinischen Städtchen Lennep im „Bergischen Land", und eine gesicherte Zukunft scheint dem einzigen Sohne Wilhelm Conrad beschieden, der hier am 27. März 1845 das Licht der Welt erblickt. Sorglos verlebt er in der Geborgenheit des Elternhauses, in dem Fleiß, Ordnung und Ehrbarkeit Familientradition sind, seine ersten Lebensjahre. Zum Schulbesuch kommt er nach Holland zu Verwandten. Hier greift zum ersten Mal das Schicksal schmerzlich in sein Leben ein. Röntgen ist Schüler der Obersekunda des Gymnasiums in Utrecht. Ein Schülerstreich wird verübt, und Wilhelm Conrad amüsiert sich gerade darüber, als der Lehrer, dem die Sache gilt, in das Klassenzimmer tritt. Beim Verhör meldet sich der Täter nicht, Röntgen aber weigert sich standhaft, seinen Kameraden anzugeben. Unbegreiflich hart wird diese Haltung bestraft. Röntgen muß die Schule verlassen I Der Täter dagegen, zu feige, sich zu bekennen, bleibt ohne Strafe. Tief ist die Erschütterung in dem jungen Menschen wegen dieser unverdient schweren Bestrafung; der seelische Schock wirkt untergründig sein ganzes Leben lang in ihm nach und beeinflußt sein Wesen. Schon durfte er hoffen, das ersehnte Ziel bald erreicht zu haben und die Universität besuchen zu können. Und nun — so scheint es wenigstens — ist alles ausl Ein wohlwollender Lehrer nimmt sich des Unglücklichen an und rät ihm, sich privat auf das Abitur vorzubereiten. Mit großem Eifer geht Röntgen an die Arbeit und glaubt schließlich seiner Sache sicher zu sein. Doch das Schicksal ist erneut gegen ihn. Durch Erkrankung von Lehrern ergibt sich, daß die Prüfungsentscheidung im wesentlichen in die Hände jenes Lehrers fällt, dem vor Jahren der Streich gespielt worden ist. Röntgen besteht die Prüfung nicht. Alle Mühe ist vergebens gewesen! Vernichtet ist die Hoffnung, studieren zu können! Gebrochen kommt er nach Hause. Nur der tapferen Mutter gelingt es, den Verzweifelten wieder einigermaßen aufzurichten. 4
Laboratorium im Würzburger Physikalischen Institut, in dem die Röntgenstrahlen entdeckt wurden
Röntgen, von Natur aus praktisch begabt und sehr interessiert für technische Dinge, entschließt sich zum Besuch der Maschinenbauschule in Apeldoorn, an der das Abitur nicht gefordert wird» Inzwischen sind auch die Eltern nach Holland übergesiedelt. In Apeldoorn kreuzt das Schicksal wiederum seinen Weg. Aber diesmal sind die Lose anders gemischt. Eines Tages trifft ein Ingenieur einer Schweizer Lokomotivenfabrik, der in dem holländischen Städtchen zu tun hat, den hochaufgeschossenen Jüngling in den Anblick einer Lokomotive versunken. Der junge Mann erregt sein Interesse. Er nimmt ihn mit auf die Maschine und erklärt ihm deren Einrichtungen. Der sonst so verschlossene Röntgen gewinnt Vertrauen und erzählt dem Ingenieur von seinem Mißgeschick und der Sehnsucht zum Studium. „Kein Grund zum Verzweifeln, junger Mannt Wer das Zeug dazu hat und nicht verzagt, kommt trotz Schwierigkeiten an sein Ziel 1 Wende dich an das Polytechnikum in Zürich, dort kann der Fähige 5
auch ohne Abitur sein Studium machen!" So etwa lautet die väterlich wohlwollende Antwort. Der Rat wird befolgt. Die geforderte Aufnahmeprüfung fällt Röntgen nicht schwer, und so sehen wir ihn bald als Studenten in Zürich. Die Schweiz wird nun seine zweite Heimat. Dort lernt er auch seine Lebensgefährtin kennen. Dorthin kommt er später J a h r für Jahr, auch noch im hohen Alter, zur Ausspannung und Erholung. Röntgen nimmt teil an der frohen Seite des Studentenlebens und fühlt sich wohl in der neuen Umgebung. Das Studium geht gut voran. Mit 23 Jahren macht er das Diplomexamen als Maschinenbauingenieur. Er erlangt zugleich das Recht, an der Universität zu studieren und zu promovieren. Ein Jahr später erwirbt er den Doktortitel.
Der Forscher Die Entscheidung für die Zukunft fällt, als Röntgen bald darauf mit dem noch jungen, aber schon berühmten Physikprofessor Kundt zusammentrifft, der kurz vorher nach Zürich berufen worden war. Kundt scheint beim ersten Rlick zu spüren, daß in dem jungen Manne etwas Besonderes steckt. Bald ist Röntgen sein Assistent, und er schätzt ihn wegen seiner Gewissenhaftigkeit, seiner Zähigkeit im Arbeiten und wissenschaftlichen Gründlichkeit von Tag zu Tag mehr. Als Kundt im folgenden Jahr —' es ist das Jahr 1870 — einen Ruf an die Universität Würzburg erhält, nimmt er den Lehrauftrag nur unter der Bedingung an, daß er Röntgen als Assistenten mitnehmen darf. So kommt Röntgen zum ersten Mal an die Stätte, die er später durch seine Entdeckung weltberühmt machen sollte. Zunächst aber muß er hier noch einmel schmerzlich erfahren, daß sein bisheriger Studiengang nicht den amtlich vorgeschriebenen Verlauf genommen hat. Kundt schlägt der Fakultät seinen Mitarbeiter zur Habilitierung vor, die Röntgen die Berechtigung geben soll, selber Universitätslehrer zu werden. Die Fakultät bedauert, die Bewerbung ablehnen zu müssen. Einem Nichtabiturienten, selbst wenn er die Doktorwürde besitzt, ist nach den Satzungen der Universität die Dozentenlaufbahn verschlossen. Kundt droht mit seinem Weggang, aber die Bestimmungen lassen keine Ausnahme zu. Kundt bleibt hartnäckig und siedelt mit seinem Assistenten an die junge, aufstrebende Universität Straßburg über, wo die Gewißheit besteht, 6
daß dort nicht die gleichen Schwierigkeiten auftauchen werden. So ist für Röntgen der Weg für das akademische Lehramt freigekämpft. Sein Name gewinnt rasch an Bedeutung, und bald bemühen sich verschiedene Universitäten um ihn. Im Jahre 1874 erfolgt in Straßburg die Habilitierung. Ein Jahr später wird Röntgen als Professor an die Landwirtschaftliche Hochschule in Hohenheim berufen. Aber schon nach Jahresfrist kehrt er wieder nach Straßburg zurück. Auf Betreiben Kundts ist dort ein zweiter Lehrstuhl für Physik eingerichtet worden, den Röntgen erhält. 1879 wird ihm der freigewordene Lehrstuhl für Physik in Gießen übertragen. Man bewilligt ihm die Mittel zum Bau eines neuen Forschungsinstituts, das er nach eigenen Plänen einrichten kann. Die Gießener Zeit gehört zu der schönsten seines Lebens. Hier findet er einen lebhaften und interessanten Freundeskreis; es sind meist bedeutende Ärzte, mit denen er zeitlebens verbunden bleiben wird. Auch seine Eltern holt er nach Gießen, die hier auch ihre letzte Ruhestätte finden. Weitere Berufungen folgen. Auch die Universität von Utrecht, der Stadt, in der ihm das bitterste Leid seiner Jugendzeit widerfahren ist, bewirbt sich um den berühmt gewordenen Hochschullehrer. Röntgen lehnt überall ab. Erst als im Jahre 1888 der Lehrstuhl in Würzburg frei wird und auch von dort ein Ruf an ihn ergeht — vielleicht sollte es eine Art Wiedergutmachung sein — sagt er zu. Wenige Jahre später, im Jahre 1894, wird er Rektor der Universität, die ihm einst die Habilitierung verweigert hat. Ein bemerkenswerter Satz aus seiner Rektoratsrede erscheint uns heute wie eine Vorahnung dessen, was Röntgen ein Jahr später an sich erfahren sollte: ,,Die Natur läßt oft erstaunenswerte W u n der selbst an den gewöhnlichsten Dingen hervorbringen, welche jedoch nur von Leuten erkannt werden, die sich mit scharfen, zum Forschen geschaffenen Sinnen bei der Erfahrung, der Lehrmeisterin aller Dinge, Rat holen." Röntgen ist also schon lange, bevor er seine entscheidendste Entdeckung macht, ein hochgeschätzter Wissenschaftler und Forscher. Die wissenschaftlichen Arbeiten, mit denen er bis dahin seine Erfolge errungen und sich einen Namen gemacht hat, liegen auf verschiedenen Gebieten der Physik. Der berühmte Physiker Sommerfeld sagt von ihnen, daß sie Röntgen unter die großen Physiker des Jahrhunderts eingereiht hätten, auch wenn er seine Strahlen nicht entdeckt hätte, ü b e r die Arbeitsweise Röntgens sagt Professor Friedrich Dessauer, der selber in der Röntgenforschung
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hohe Verdienste erworben h a t : „ E r war in der Arbeit zäh, krin 1 tisch, nach außen verschlossen. Seine Umgebung wußte meist nicht, 3 woran er arbeitete. Er liebte den Vortrag nicht. Aber an seinen ! Problemen arbeitete er mit äußerster Hartnäckigkeit und Gründlichkeit." ' Röntgen nimmt nichts ungeprüft hin. Vom ersten Augenblick seines Forscherlebens an verläßt er sich nicht auf die Ergebnisse anderer, auch wenn diese anderen einen großen Namen tragen. Eines Tages macht er als junger Assistent bei Kundt einen Versuch nach, den der große Physiker Friedrich Wilhelm Kohlrausch, der als Meister der genauen Messung bekannt ist, angegeben hat. Röntgen stößt dabei auf einen Fehler. In der Meinung, sich geirrt zu haben, prüft er immer und immer wieder, bis jeder Zweifel ausgeschlossen ist: Dem großen Kohlrausch ist tatsächlich ein entscheidender Fehler unterlaufen. Die mit der größten Sorgfalt fertiggestellte Arbeit legt Röntgen seinem Lehrer Kundt vor und wartet gespannt auf die Antwort. Bitter ist die Enttäuschung, als die Antwort ausbleibt. Kundt fragen — ausgeschlossen! Kundt aber hat die Arbeit für so eigenständig und in ihrem Ergebnis für so bedeutsam gehalten, daß er sie der wissenschaftlichen Zeitschrift „Annalen der Physik" zur Veröffentlichung einreicht. Sie wird angenommen, und eines Tages findet Röntgen auf seinem Schreibtisch das neueste Heft der „Annalen" mit seiner Arbeit, die Kundt rot angestrichen hat. Das ist Röntgens erste, selbständige, wissenschaftliche Arbeit, und sie bestätigt ihm sein System, das nachzuprüfen und nachzudenken, was andere vor ihm gedacht haben, und „mit scharfen zum Forschen geschaffenen Sinnen" daraus eigene, neue Forschungsergebnisse weiterzuentwickeln.
Die leuchtenden Röhren Zu Röntgens großartiger Entdeckung der alles durchdringenden Strahlen haben viele Forscher Vorarbeiten geleistet, wie dann andere wieder von Röntgens wissenschaftlichem Erbe zehren und an seine Leistungen anknüpfen können. Vor rund 300 Jahren erregt der gelehrte Bürgermeister von Magdeburg, Otto von Guericke, ungeheures Aufsehen. Nach zahl-; reichen kostspieligen Versuchen ist es ihm gelungen, mit. der von ihm erfundenen Luftpumpe zum ersten Male Gefäße fast luftleer zu machen und damit die alte Streitfrage der Philosophie, ob
Einfachste Formen von Geißlersehen Röhren mit der Kathode K und der Anode A. Der von der Kathode ausgehende Elektronenstrahl bewegt sich gradlinig senkrecht' zur Kathode, auch wenn die Anode wie bei b nicht in der Richtung des Elektronenstrahles liegt.
es überhaupt einen leeren Raum geben könne, bejahend zu beantworten. Guericke weist auch nach, daß die Luft ein Gewicht hat und auf alle irdischen Dinge einen überraschend starken, ständigen Druck ausübt. Diese Tatsachen sind für die Zeitgenossen so unfaßlich wie für uns die Erkenntnisse der Atomphysik. Um einen größeren Kreis von der Richtigkeit seiner Erkenntnisse zu überzeugen, wählt er den Weg aufsehenerregender Schauversuche. Am bekanntesten ist der Versuch mit den „Magdeburger Halbkugeln". Er setzt zwei exakt gearbeitete Bronzehalbkugeln von etwa 56 Zentimeter Durchmesser einfach gegeneinander, pumpt die Luft heraus und läßt auf jeder Seite acht Pferde anspannen. Die schweren Gäule können zur Überraschung aller Zuschauer die vom Luftdruck aneinandergepreßten Halbkugelschalen nicht auseinanderreißen. Guericke schafft durch seine Versuche die Voraussetzungen für viele weitere Entdeckungen und Anwendungen. Ohne die Möglichkeit, Gefäße luftleer zu machen, gäbe es weder Glühlampen, noch Rundfunk, Fernsehen und Radar — und auch keine Röntgenstrahlen. Guericke ist auch dadurch ein entfernter Vorfahre Röntgens gewesen, daß er die erste Elektrisiermaschine baute und mit ihr im Dunkeln als erster elektrische Leuchterscheinungen beobachtete, deren Erforschung allerdings erst viel später möglich geworden ist. Von Magdeburg aus überspringen wir, wenn wir der „Ahnenreihe" Röntgens nachgehen, einen Zeitraum von 200 Jahren und wenden unsere Blicke nach Bonn. Dort erregt um die Mitte des 19. Jahrhunderts der Glasbläser und Mechaniker Heinrich Geißler — ein wirklicher Meister seines Faches und zugleich ein wissenschaftlicher Kopf — die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit 9
durch die Farbenspiele und prachtvollen Leuchterscheinungen, die er nach einer Anregung des Bonner Professors Julius Plücker in ausgepumpten, zugeschmolzenen Glasröhren durch Zuführung einer hohen elektrischen Spannung zu erzeugen versteht. Es ist etwas Erstaunliches, was da geschieht; denn nicht ein Glühdraht im Inneren der Röhre leuchtet auf, sondern zwischen den völlig getrennten Drahtenden der elektrischen Leitung erstrahlt der fast luftleere Raum in Lichterspielen, wie man sie bis dahin nicht gekannt hat. Geißler liefert zum Leerpumpen seiner Röhren zugleich auch eine verbesserte Luftpumpe. Den zahlreichen Versuchen, die Heinrich Geißler mit Plücker zusammen durchführt, kommt sehr zustatten, daß um diese Zeit ein Gerät zur Erzeugung hoher elektrischer Spannungen erfunden worden ist, der Funkeninduktor von Rühmkorff; denn hohe elektrische Spannungen sind erforderlich, wenn das schöne Farbenschauspiel gelingen soll. Trotzdem bleiben die merkwürdigen Lichterscheinungen, die denen in den Neon- und Leuchtstoffröhren ähnlich sehen, höchst rätselvoll, und es ist noch ein halbes Jahrhundert intensiver Forschungsarbeit namhafter Physiker zu ihrer Aufklärung notwendig. Geißler versteht es schon, die Glasröhren zu biegen, sie schlangenförmig zu verwinden, sie zu vielerlei Figuren zu verschnörkeln oder sie kräftig aufzuwölben. Doch bleibt der Name „ R ö h r e " an all diesen Gebilden haften, auch wenn sie sich noch so weit von der Röhrenform entfernt haben und bauchig geworden sind wie Rundfunk- oder wie Radar- oder Fernsehröhren, die modernen Abkömmlinge der Röhren des Herrn Geißler. Die „Geißlersche Röhre" in ihren Anfängen aber ist nichts anderes gewesen als ein einfaches, an beiden Enden zusammengeschmolzenes Glasrohr. Die Stromzuführung aus dem Induktor erfolgt durch Drähte, die durch die Schmelzstellen ins Röhreninnere eingeführt werden und in Metallscheiben enden, die man Elektroden nennt. In einer der Elektroden, der „Anode", mündet die positive Elektrizität, in der zweiten, der Kathode, die negative Elektrizität. An einem seitlichen Glasstutzen wird die Luftpumpe angesetzt und hier nach dem Auspumpen der Glasstutzen zugeschmolzen. Geißler erkennt schon, daß sich bei der Zuführung des hochgespannten Stromes, je nach dem Grade der Luftverdünnung, die Leuchterscheinungen verändern. Zuerst schlängelt sich nur ein leuchtender Faden zwischen den Elektroden hin. In einer noch kräftiger ausgepumpten Röhre zeigt sich ein leuchtendes Band,
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bei weiterer Luftverdünnung ein die ganze Röhre ausfüllender Lichtschimmer; dann schichten sich gleichsam Lichtscheibchen quer durch das Röhreninnere hintereinander; sie werden zu verstreuten leuchtenden Wolken, wenn der Luftdruck im Innern noch geringer wird. Zuletzt bei großer Luftverdünnung leuchtet n u r noch die Glaswand gegenüber der Kathode — der negativen Elektrode — im grünlichen Licht, die Strahlung im Röhrenraum selber ist unsichtbar geworden. Woher r ü h r t die „strahlende Energie", wie die Zeitgenossen dieses Aufleuchten im fast luftleeren Raum bezeichnen? Heute glauben wir uns vorstellen zu können, wie dieses Lichterspiel in seinen verschiedenen Abstufungen zustande kommt. Die Wissenschaft hat bis zu den Atomen hinuntergreifen müssen, um hinter das Geheimnis der fast leeren, leuchtenden Röhren zu kommen, die einige Jahrzehnte nach ihrer Erfindung bei der Entdeckung der Röntgenstrahlen die entscheidende Rolle spielen werden.
Elektrizität in Reinkultur W i r müssen ein wenig theoretisch werden, um das alles verstehen zu können. Es ist bekannt, daß alle Stoffe aus winzigen Bausteinen, den Atomen, aufgebaut sind. Stoffe, die nur aus einer Atomart bestehen, wie z. B. Wasserstoff, Sauerstoff, Schwefel, Eisen, Uran, heißen Grundstoffe oder Elemente, alle übrigen sind zusammengesetzt, sind Verbindungen verschiedener Grundstoffe. Heutzutage, im Zeitalter des Atoms, ist allgemein bekannt, daß das einzelne, unvorstellbar kleine Atom selbst wieder ein äußerst interessantes Gebilde ist, vergleichbar mit einem Sonnensystem im kleinen. Es besteht aus einem positiv elektrisch geladenen Kern, der fast die ganze Atommasse in sicih vereinigt, unä einer bestimmten Anzahl Elektronen, die den Kern in verschiedenen Abständen planetenartig umschwirren und nichts anderes sind als negative Elektrizitätsteilchen. Da bekanntlich entgegengesetzt elektrisch geladene Teilchen sich gegenseitig anziehen, werden die Elektronen durch die Anziehungskraft der positiven Kernladung auf ihrer Bahn gehalten; ihre Anzahl ist normalerweise so groß, daß die Ladungen sich vollständig ausgleichen, das Atom also elektrisch neutral ist, wie man sagt. Dieses elektrische Gleichgewicht im Atom kann aber auf ver11
schiedene Weise gestört werden. Am lockersten sitzen die Elektronen der äußersten Hülle, und es bedarf nur einer entsprechenden Einwirkung von außen, um eines oder mitunter auch mehrere herauszuschlagen und zum freien Umherirren zu bringen. In dem dadurch unvollständig gewordenen Atom überwiegt jetzt die positive Ladung; wir haben ein positiv elektrisch geladenes Teilchen vor uns — man bezeichnet es als positives Ion. Umgekehrt kann aber außen auch ein zusätzliches Elektron angelagert werden, dann überwiegt im ganzen die negative Ladung; wir haben ein negatives Ion. In den abgesprengten und umherschwirrenden Elektronen hat man „Elektrizität in Reinkultur" vor sich, „frei schwebende Elektrizität", die an keine Atommasse mehr gebunden ist. Das ist etwas überwältigend Interessantes, zumal wenn wir noch erfahren, daß sich solche freie Elektronen mit unvorstellbarer Geschwindigkeit fortbewegen und daß sie in unseren elektrischen Geräten die größten Arbeitsleistungen vollbringen. Man hat nun festgestellt, daß sich in der Luft immer einige Atome befinden, die sich durch den Verlust von Elektronen elektrisch nicht mehr neutral verhalten, also zu Ionen geworden sind; entsprechend sind auch immer abgesplitterte Elektronen vorhanden. Da sich aber dauernd Ionen und Elektronen wieder zu neutralen Atomen vereinigen, müssen auf irgendeine Weise laufend neue Ionisierungen erfolgen. Wer bewirkt das? Auch auf diese Frage konnte die Forschung schließlich die Antwort geben. Zum Teil wird die dauernde Ionenbildung durch radioaktive Strahlung hervorgerufen, die im irdischen Bereich immer vorhanden ist, zum Teil aber auch durch äußerst energiereiche Strahlen aus dem Weltall, den „kosmischen Strahlen". Einzelne Ionen und Elektronen gibt es deshalb auch immer in den Luftresten einer ausgepumpten und zugeschmolzenen Geißlerschen Röhre. Jetzt sind wir soweit, daß wir die interessanten Vorgänge, die sich in einer solchen Röhre abspielen, verstehen können. Im gleichen Augenblick, in dem wir an die Elektroden der Röhre eine elektrische Spannung anlegen, setzen sich die positiv geladenen Teilchen in Richtung auf die negative Kathode, die negativen in Richtung zur positiven Anode in Bewegung. Wir wissen ja: Positives will zum Negativen, Negatives zum Positiven. Ist die Röhre normal mit Luft oder Gas gefüllt, so gibt es unterwegs dauernd Zusammenstöße — schon nach einer ganz winzigen Wegstrecke; die Teilchen können ihr Ziel nur langsam und auf einem sehr um12
ständlichen Zickzackweg erreichen. Saugt man jedoch Luft aus der Röhre, so wird bei zunehmender Verdünnung die „freie" Wegstrecke für unsere „ W a n d e r e r " immer größer. Dadurch wächst aber auch ihre Geschwindigkeit und somit ihre Wucht, die schließlich ausreicht; um beim Zusammenstoß mit einem neutralen Luftteilchen aus dessen äußerer Hülle ein Elektron herauszuschlagen und so die Zahl der Ionen und freien Elektronen zu vermehren. Durch diese „Stoßionisation", wie man sie nennt, kann die Zahl der Ionen und freien Elektronen lawinenartig anwachsen und so eine kräftige elektrische Entladung zustande kommen. Die Natur ist aber stets bestrebt, das gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen. Kommt z. B. ein nicht zu schnelles Elektron in die Nähe eines positiven Ions, so wird es durch die Anziehungskraft des Kerns eingefangen und dem Atomverband einverleibt; es wird also wieder ein neutrales Atom gebildet. Bei diesem Einfangen gibt es eine neue Überraschung: Es wird Energie frei, die als Licht ausgestrahlt wird. Sehr wechselvoll ist also das Geschehen in einer solchen Röhre, eine Kettenreaktion von Zertrümmerungen und Ausgleichsvorgängen spielt sich ab, und ihr sichtbarer Ausdruck sind die Lichterscheinungen von vielerlei Farben und Formen. Jetzt verstehen wir auch, warum das buntfarbige Wechselspiel der schwebenden Lichterscheinungen aufhört, sobald in der Röhre nur noch sehr wenig Luft vorhanden ist. Da kaum noch Luftteilchen im Wege sind, verringern sich die Zusammenstöße, die freiwerdenden Elektronen können fast ungehindert ihren Weg fortsetzen und erreichen so hohe Geschwindigkeiten, daß sie nur noch geradlinig weiterfliegen, gleichgültig, wo sich die Anode befindet. Die Elektronen und Ionen rasen so schnell aneinander vorbei, daß eine Vereinigung unmöglich ist, also auch keine Lichtaussendung mehr erfolgen kann. Elektronen werden aber nicht nur bei Stoßvorgängen mit den Luft- und Gasteilchen in Freiheit gesetzt. Unsere Kathode, die ja vollgepackt ist mit einer ungeheueren Zahl von Elektronen — sie werden vom Kraftwerk als negative Elektrizität dorthin „gep u m p t " — wird doch dauernd von positiven Ionen bombardiert, dabei wird eine große Anzahl Elektronen herausgeschlagen, die dann als „Kathodenstrahlen" die Röhre geradlinig durchfliegen. Bei diesen Vorgängen muß immer noch ein wenn auch ganz geringer Luftrest in der Röhre sein, weil sonst keine neuen Ionen gebildet werden könnten und eine Entladung nicht einsetzen würde. 13
Man hat aber auch noch andere Wege zur Erzeugung von Elektronenströmen, d. h. Kathodenstrahlen, gefunden, indem man die Kathode erhitzte. Aus einem glühenden Draht treten von selbst zahlreiche Elektronen aus. Wegen der großen Vorteile, die sie gegenüber den sogen. Ionenröhren haben, werden heute für die verschiedenen Zwecke (Rundfunk, Fernsehen, Radar, Röntgengeräte) fast ausschließlich solche „Glühkathodenröhren" verwendet. Sie sind soweit als überhaupt möglich luftleer gemacht, weil Luftreste nur störend wirken würden. Die Elektronen durchfliegen die Röhre mit einer ungeheueren Geschwindigkeit, die ausschließlich von der Höhe der angelegten Spannung abhängig ist. Schon bei einer Spannung von 1000 Volt fliegen die Elektronen mit einer Geschwindigkeit von 18 700 km in der Sekunde dahin; bei 100 000 Volt Spannung erreichen sie 165 000 k m ; bei 1 Million Volt Spannung 285 000 km in der Sekunde, also fast Lichtgeschwindigkeit. An der Stelle der Glasröhre, wo Elektronenstrahlen solcher Geschwindigkeiten auftreffen, bringen sie das Glas, die Glasatome, zum Selbstleuchten, während das Leuchten im Innenraum der Röhre zum Erlöschen gekommen ist.
* Mit diesen Strahlen ist Wilhelm Conrad Röntgen am 8. November des Jahres 1895 beschäftigt, als ihm die Entdeckung der „Röntgenstrahlen" als Geschenk sozusagen in den Schoß fällt.
Die durchsichtige Hand Was geschieht in Röntgens Laboratorium in jener Entdeckungsnacht im November? Seit Ende Oktober hat Röntgen mit den vielerlei Kathodenstrahlröhren, die seit der Erfindung der Geißlerschen Röhren entwiki kelt worden sind und die ihm im Laboratorium zur Verfügung stehen, die mannigfachsten Versuche vorgenommen und, wie es seine Art ist, die von anderen Forschern beschriebenen Röhren-; experimente geprüft, um auf Grund der Ergebnisse selbständig weiterzuforschen. Das Rätsel der Kathodenstrahlen beunruhigt ihn seit langem. Die Röhre Geißlers hat inzwischen vielerlei Verwandlungen durchgemacht. Plücker, Hittorf, Crookes, Pulury, Hertz und Lenard haben sie weiterentwickelt. Um den Elektronenstrom zu kon14
zentrieren und auf eine möglichst kleine Fläche der Glaswand aultreffen zu lassen, hat man der Metallkathode die Form eines groschengroßen Hohlspiegelchens gegeben. Da aber der so konzentrierte Elektronenstrahl die Glasfläche zu stark erhitzt, hat man gegenüber der Kathode einiger Röhrentypen eine sogenannte Antikathode angebracht, ein bis in die Mitte der Röhre hinreichender Stab mit einer Metallplatte, auf die die Elektronen aufprallen. Für die Antikathode gab es verschiedene Kühlvorrichtungen. Als Röntgen in den Abendstunden des 8. Novembers wieder einmal im Laboratorium arbeitet, fängt er einen neuen Versuch an. Ist es der hundertste, der zweihundertste, der tausendste? Die Röhre, mit der er gerade experimentiert, hat birnenförmige Gestalt. An der einen Seite führt der Kathodendraht ins Innere und mündet hier in einen kleinen Hohlspiegel. Die Anode sitzt seitlich an der Glasrundung. Röntgen umhüllt die Röhre völlig mit schwarzem Papier. Welcher Gedanke ihn dabei geleitet hat, wissen wir nicht. Es wird erzählt, sein Institutsdiener Marstaller habe auf photographischen Platten, die in der Nähe der Röhre lagen, Schwärzungen bemerkt und ihn davon in Kenntnis gesetzt. Vielleicht war das eine Fährte, der unser Forscher nachspürte. Röntgen schaltet seinen Stromlieferanten, den Rümkorff-Induktor, an, er liefert eine Spannung von 40 bis 60000 Volt. Der Elektronenstrom beginnt, vom Hohlspiegel konzentriert, gegen den Boden der Röhre zu strahlen. Aber da begibt sich in dem verdunkelten Laboratorium etwas Geheimnisvolles. Ein in der Nähe stehender Pappschirm, der mit einer Spezialmasse bestrichen ist, leuchtet wie von selbst grünlich auf. Was mag wohl die Ursache sein? Kathodenstrahlen sind es nicht, das weiß Röntgen ganz genau. Sie können nicht einmal die Glaswand durchdringen. Auch sichtbares Licht ist es nicht; die Papierabdichtung hält es zurück. Die DberDle von Röntgen am 8. Nov. 1895 vermutlich benutzte Röhrenform, die er lichtdicht eingepackt hatte. Der von der hohlspiegelförmigen Kathode (K) ausgehende konzentrierte Elektronenstrom traf fast punktförmig auf die Glaswand und erzeugte im Innern der Glasatome eine neue Art Strahlen: die X- oder Röntgenstrahlen (gestrichelt). Bei A die positiv elektrisch geladene Anode
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raschung wird noch größer: Um der Ursache des Leuchtens nachzuspüren, nimmt Röntgen den Leuchtschirm in die Hand und bewegt ihn zur Röhre hin. Das Leuchten wird stärker, und plötzlich sieht er auf dem Schirm die Knochen seiner Finger, mit denen er den Schirm hält. Hier ist etwas völlig Neues, Unhekanntes und Ungeahntes vorhanden — hier sind Strahlen am Werk, die nicht nur schwarzes Papier, sondern auch die getroffene Hand durchdringen. Und sie kommen aus der Röhre, aber Kathodenstrahlen können es nicht sein; die Glaswand hält sie zurück. Daß in dieser Nacht das Rett unberührt bleibt, ist verständlich. Röntgen reiht Experiment an Experiment. Ein tausend Seiten dikkes Buch nimmt er vom Bücherregal, greift aus der Schublade ein doppeltes Kartenspiel, holt dicke Holzblöcke heran, zwei bis drei Zentimeter dicke Tannenbretter —• die Strahlen dringen hindurch. Wenn er die Richtung verfolgt, so gehen die Strahlen genau von der Stelle aus, wo die Kathodenstrahlen auf die Glaswand der Röhre auftreffen. Da die unbekannten Strahlen Schatten bilden, muß es sich um wirkliche Strahlen handeln, sie scheinen den Lichtstrahlen verwandt zu sein, ohne daß sie sichtbar sind. Zunächst gilt es zu beweisen, daß jeder Zweifel ausgeschlossen ist. Immer und immer wieder prüft Röntgen, ändert die Versuche in mannigfacher Weise ab und wiederholt sie mit anderen Entladungsröhren, die im Institut vorhanden sind. Das Ergebnis ist dasselbe. Jetzt geht es an die Erforschung der Eigenschaften und der Natur der neuen Strahlen. Was Röntgen in den folgenden Wochen leistet, ist erstaunlich. Schon die erste Mitteilung vom 28. Dezember 1895, der bald noch zwei weitere folgen, enthält alles Wesentliche, was nach dem damaligen Stand der Forschung über diese Strahlen ausgesagt werden kann. Röntgen weist folgende Eigenschaften nach: Die X-Strahlen (so nennt er sie) sind völlig verschieden von den Kathodenstrahlen, werden aber von diesen erzeugt und zwar dort, wo sie auf die Glaswand oder ein anderes Hindernis, z. B. die Metallplatte einer Antikathode, auftreffen. Bei Metallen, besonders bei Platin, ist die Strahlung sogar wesentlich intensiver als bei Glas. Die Strahlen breiten sich gradlinig nach allen Seiten aus, machen die Luft elektrisch leitend und sind im Gegensatz zu den Kathodenstrahlen magnetisch nicht ablenkbar. Sie durchdringen alle Stoffe, die leichten besser als die schweren. Fast undurchlässig ist eine Bleiplatte von 1,5 mm Dicke. 16
Sie wirken nicht nur auf einen Leuchtschirm, sondern auch auf die photographische Platte, auch wenn sie in eine Kassette eingeschlossen ist. Das ist von großer Bedeutung; denn damit ist die Möglichkeit gegeben, das, was man auf einem Schirm nur vorübergehend sieht, für dauernd festzuhalten. Hierzu einige wörtliche Sätze aus Röntgens erster Mitteilung: „ L ä ß t man durch eine Hittorfsche Vacuumröhre, oder einen genügend evakuierten Lenardschen, Crookesschen oder ähnlichen Apparat die Entladungen eines größeren Rühmkorffs (Induktors) gehen und bedeckt die Röhre mit einem ziemlich eng anliegenden Mantel aus dünnem, schwarzem Karton, so sieht man in dem vollständig verdunkelten Zimmer einen in die Nähe des Apparates gebrachten, mit Bariumplatincyanür angestrichenen Fapierschirm bei jeder Entladung hell aufleuchten — fluoreszieren —, gleichgültig, ob die angestrichene oder die andere Sjite dss Schirmes dem Entladungsapparat zugewendet ist. Die Fluoreszenz ist noch in zwei Meter Entfernung vom Apparat bemerkbar. . . Die X-Strahlen gehen von der Stelle aus, wo nach den Angaben verschiedener Forscher die Kathodenstrahlen die Glaswand treffen . . . Ich komme deshalb zu dem Resultat, daß die X-Strahlen nicht identisch sind mit den Kathodenstrahlen, daß sie aber von den Kathodenstrahlen in der Glaswand des Entladungsapparates erzeugt werden." Die Neider, die Röntgen den großen Erfolg mißgönnen und bald nach Bekanntwerden der Entdeckung auf den Plan treten, suchen seine Verdienste durch Betonung des Zufälligen bei der Entdekkung zu schmälern. Anders als zufällig konnte die Entdeckung überhaupt nicht gemacht werden, da niemand die Existenz solcher Strahlen ahnte und folglich auch nicht danach suchen konnte. Das Zufällige ist auch gar nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist, daß Röntgen mit dem genialen Blick des begnadeten Forschers die aufleuchtende Spur erkannt und richtig verfolgt, und wie er dann das Neue untersucht hat. Er selbst betrachtete seinen Fund stets als Geschenk und nicht als sein Verdienst. Weiterhin blieb er der einfache, bescheidene Mensch; es war ihm zuwider, sich feiern zu lassen. Verlockende Angebote von Firmen und die Patentierung lehnte er ab. Er wollte keinen persönlichen Nutzen aus der Anwendung der Strahlen ziehen, seine Entdeckung sollte allen Menschen ohne Unterschied von Nation oder Rasse zugute kommen. Es gibt Entdeckungen, nach denen auf Grund von Vermutungen 17
oder einer Theorie systematisch gesucht wird. Guericke war überzeugt, daß es einen leeren Raum gebe und daß er sich herstellen lassen müsse. Nach langem, zähem Experimentieren gelang ihm der Beweis. Um 1820 entdeckte man, daß ein stromdurchflossener Leiter in einem Magnetfeld eine Bewegung erfährt (Grundlage des Elektromotors). Der Physiker Faraday vermutete, daß auch das Umgekehrte möglich sein müsse, daß nämlich bei der Bewegung eines Leiters (Draht) in einem magnetischen Feld ein elektrischer Strom entstehen müsse. Zielbewußtes Suchen führte zum Erfolg, zu der sehr bedeutungsvollen Entdeckung der elektromagnetischen Induktion, der Grundlage der Entwicklung der Elektrotechnik und des Zeitalters der Elektrizität. Aus den Theorien, die sich auf Faradays Arbeiten gründeten, schloß Heinrich Hertz, daß es elektrische Wellen geben müsse, und er entdeckte sie auch im Jahre 1888» Sie wurden zum Ausgangspunkt der drahtlosen Telegraphie, des Rundfunks und des Fernsehens. Andere Entdeckungen dagegen, wie z. B. das Auffinden der Kleinstlebewesen oder der Röntgenstrahlen, mit denen ganz unbekannte Gebiete erschlossen wurden, konnten nur durch Zufall gemacht werden. Aber was heißt hier Zufall? Meist handelt es sich dabei um die Beobachtung ganz unscheinbarer Dinge, die von den meisten Menschen gar nicht gesehen oder die für bedeutungslos gehalten werden. Vielen von uns begegnen solche Zufälle, aber wir merken sie nicht, und das Glück entflieht unbeachtet. Nur der Begnadete, „mit scharfen, zum Forschen geschaffenen Sinnen", von denen Röntgen in seiner Rektoratsrede spricht, bemerkt die oft undeutlichen Zeichen, die der Durchschnittsmensch übersieht. Nur er erkennt die winzige Spur, wittert in ihr etwas Besonderes und verfolgt sie dann wie ein Detektiv. Röntgens große Leistung besteht nicht nur in der Entdeckung selbst, sondern auch in der Gründlichkeit und Vollständigkeit seiner Untersuchungen, die er in erstaunlich kurzer Zeit bewältigte. Gleich nach Bekanntwerden der Entdeckung wandten sich viele Forscher diesen Strahlen zu. Eine Flut von Arbeiten erschien. Sie brachten Verbesserungen der Apparaturen und erschlossen neue Anwendungsgebiete. Die Kathodenstrahlröhre erfuhr noch zu Röntgens Zeiten eine Änderung, als man lernte, Elektronen durch Erhitzung der Kathode aussprühen zu lassen, ohne daß Ionen gebildet werden mußten. Solche Glühkathoden-Röhren konnten fast restlos luftleer sein, da das Vorhandensein von Luft dem Durchgang der Elektronen nur hinderlich gewesen wäre. (Das Bild einer 18
solchen Röhre mit Glühkathode findet der Leser auf der Rückseite des Lesebogenumschlages.)
Röntgenstrahlen in der Medizin Das Auffällige an den neuen Strahlen war verständlicherweise die Fähigkeit, alle Stoffe, wenn auch verschieden stark, zu durchdringen. Diese Eigenschaft wurde von Röntgen von Anfang an eingehend untersucht. Sie führte unmittelbar zur praktischen Anwendung, vornehmlich in der Medizin. Der menschliche Körper war mit Hilfe der Röntgenstrahlen durchsichtig geworden. Welch ungeheure Überraschung! Wir, für die Röntgeneinrichtungen und Röntgenuntersuchungen eine Selbstverständlichkeit sind, können uns nicht mehr vorstellen, was der Nachweis der Röntgenstrahlen in der Umgebung von Kathodenstrahlröhren und ihre Durchdringungsgewalt damals bedeutet haben. Dem Arzt — das erkannte man sofort — war ein ganz außergewöhnliches, neuartiges Hilfsmittel zur Diagnostik, zum Erkennen von Krankheiten, auch im Körperinnern an die Hand gegeben, und damit eine weitere Möglichkeit, zu helfen, zu heilen, zu retten. Eine erstaunliche Entwicklung hat sich seither vollzogen, Röntgenuntersuchungen sind aus der Medizin nicht mehr wegzudenken. Ein Krankenhaus ohne eine moderne Röntgeneinrichtung ist undenkbar, ja kaum noch eine fachärztliche oder zahnärztliche Praxis. Es gibt eigene Röntgeninstitute und Röntgenfachärzte. Ganze Industriezweige sind mit der Herstellung von Geräten und Röntgeneinrichtungen beschäftigt. Unermeßlich ist der Segen, den diese Entdeckung der Menschheit gebracht hat. Niemand vermag die Zahl derer zu nennen, die ihr das Leben oder die Genesung verdanken. Die Röntgenstrahlen, in der Stille einer Nacht entdeckt, haben nach den Angaben von Heinrich Dessauer in den vergangenen 60 Jahren ohne Lärm und Aufsehen mehr Menschen gerettet, als die beiden Weltkriege im Inferno der Schlachten, der explodierenden Bomben und Granaten an Opfern gefordert haben. Die Röntgendiagnostik beruht auf der verschieden starken Durchlässigkeit der Stoffe für die Strahlen. Wie schon Röntgen in den ersten Tagen ahnte und wie es später genau nachgewiesen wurde, hängt die Durchlässigkeit für die X-Strahlen von den Grundstoffen ab, aus denen ein Körper besteht. Die leichten Elemente 19
sind am durchlässigsten, mit zunehmendem Atomgewicht nimmt die Durchlässigkeit ab. So ist das schwere Blei fast undurchlässig und wird deshalb zum Schutz gegen Strahlenschädigung verwendet. Die Fleischteile und inneren Organe des menschlichen Körpers sind aus leichten Elementen aufgebaut und deshalb gut durchlässig, die Knochen dagegen, die schwerere Elemente enthalten, bieten den Strahlen Widerstand; sie zeichnen sich deswegen schattenartig auf dem Röntgenbild ab. Bald lernte man, innere Organe, wie Magen und Darm, wenigstens in den Umrissen sichtbar zu machen, durch Einführung von Stoffen, die schwerere Elemente enthalten. Am bekanntesten ist der gips- oder bariumhaltige Brei, der bei Magenuntersuchungen geschluckt werden muß. Bei manchen Untersuchungen ist aber auch eine Aufhellung erforderlich. Da hilft man sich durch Einführung von Gasen, z. B. beim Röntgen von Gehirnpartien. Bei Lungenuntersuchungen genügt das tiefe Einatmen von Luft. Der große Aufschwung setzte mit dem ersten Weltkrieg ein. Um Geschosse, Granatsplitter herausoperieren zu können, muß man wissen, wo sie stecken. Das Röntgenbild wurde deshalb in den Lazaretten bald unentbehrlich. Fahrbare Röntgenanlagen wurden geschaffen. Hervorragende Verdienste erwarb sich in der Versorgung der Truppen mit Röntgeneinrichtungen eine Frau: die berühmte Madame Curie, die Entdeckerin des Radiums. Bei Kriegsbeginn verließ sie ihre Forschungsstätte, da sie angesichts der ungeheuren Blutopfer eine wichtigere Aufgabe vor sich sah: Es galt, Menschenleben zu retten! Röntgeneinrichtungen waren zu Kriegsbeginn noch verhältnismäßig selten, ebenso geschultes Personal. Marie Curie setzte ihren ganzen Einfluß und ihre Tatkraft ein, um hier Abhilfe zu schaffen. Sie kümmerte sich um die Ausbildung von Fachkräften, sorgte für Röntgengeräte in den Krankenhäusern, ließ Privatautos in Röntgenkrankenwagen umwandeln und fuhr selbst dauernd mit den beweglichen Laboratorien an die Front. Über eine Million verwundeter Soldaten verdankt der Tatkraft dieser Frau das Leben. Nach dem ersten Weltkrieg geht die Entwicklung stürmisch weiter. Geräte und Untersuchungsmethoden werden laufend verbessert. In „Röntgen-Reihenuntersuchungen" werden ganze Ortschaften, Städte, Siedlungsgebiete untersucht, insbesondere zur Bekämpfung der Tuberkulose. Mancher fühlt sich gesund, trägt aber, ohne es zu wissen, den Krankheits- und Ansteckungsherd in sich. Da Vorbeugen besser ist als Heilen, kann durch rechtzeitiges Er20
kennen viel zur Hebung der Volksgesundheit und zur Rettung von Menschenleben beigetragen werden. Bei der Diagnostik blieb es nicht. Auf Grund zahlreicher Untersuchungen und Versuche ergab sich, daß kranke Gewebsteile von Röntgenstrahlen stärker angegriffen werden als gesunde. Diese Beobachtung führte zur Entwicklung der Röntgen-Therapie, des Heilverfahrens durch Bestrahlung, besonders bei der Krebsbekämpfung. Für die Bestrahlung von Krankheitsherden im Körperinnern sind Strahlen großer Härte erforderlich, dabei müssen die weicheren Strahlen ausgefiltert werden, um das gesunde Gewebe nicht zu schädigen. Großartige Geräte wurden entwickelt, vor allem sogenannte Pendelgeräte, die, einmal eingestellt, die kranke Stelle fortlaufend aus verschiedener Richtung bestrahlen und dadurch ohne Schädigung der gesunden Teile eine größere Strahlengabe — Strahlendosis — ermöglichen. Fortlaufend war die Technik um die Verbesserung der Geräte und Einrichtungen bemüht. Wahre Wunderwerke werden geschaffen. Ober den sehr hohen Stand des Gerätebaus gab im Herbst 1955 anläßlich des 50jährigen Jubiläums der „Deutschen Röntgen-Gesellschaft" die Ausstellung in München einen Dberblick. Röntgen arbeitete mit Spannungen von 40000 bis 60 000 Volt. Lange Zeit waren 100 000 Volt die Grenze. Heute ist die Millionengrenze schon weit überschritten. Auf der Ausstellung war ein Riesen-Rotationsbestrahler für Tiefentherapie zu sehen, das ,,Äskleipitron", das man für 31 Millionen Elektronenvolt eingerichtet hatte. Daneben gewannen aber auch Kleinstgeräte Bedeutung, Röntgenröhren von nur 4,5 cm Länge, die direkt auf die Haut oder in Körperhöhlen einwirken können, oder Röhren mit höchst weichen Strahlen, die bei Hauterkrankungen ohne Gefährdung Anwendung finden. Einen weiteren bedeutenden Fortschritt brachte in neuester Zeit der Röntgenbildwandlcr. Bisher mußten die Beobachtungen stets im völlig verdunkelten Raum vorgenommen werden, weil das Bild auf dem Schirm zu lichtschwach ist. Der moderne Bildwandler ermöglicht eine Beobachtung bei vollem Tageslicht; er hat außerdem den großen Vorteil, daß selbst bei geringerer Strahlengabe Einzelheiten besser zu erkennen sind. Er bietet auch die Möglichkeit, unter ständiger Röntgenkontrolle zu operieren. Auch hier vollbringen Elektronen das Zauberkunststück. Mit ihrer Hilfe wird das Leuchtschirmbild in ein Elektronenbild verwandelt, dann verstärkt und vergrößert wieder sichtbar gemacht. 21
Opfer der Forschung Dber dem großen Segen der Röntgenstrahlung darf ihre Gefährlichkeit, dürfen die Opfer, die diese Strahlen gefordert haben, nicht vergessen werden. In Hamburg steht im Garten eines Krankenhauses ein von einem Lorbeerkranz gekrönter großer Steinquader, in dessen vier Wände dicht untereinander die Namen der Todesopfer der Röntgenforschung aus aller Welt eingemeißelt sind. Besonders in den Jahren nach der Entdeckung der Röntgenstrahlen, als man ihre Gefährlichkeit noch nicht erkannt hatte und Schutzvorkehrungen noch unbekannt waren, erlagen viele Wissenschaftler dem Röntgentod. Aber auch später haben viele ihr Leben der Forschung opfern müssen: Physiker, Ärzte, Röntgentechniker, Fabrikanten, Röntgenphotographen, Laboratoriumskräfte, Krankenschwestern. Geschwüre, Krebsbildungen, Blutzersetzung, Erschöpfung, Drüsenschwellungen, Hauterkrankungen, Verbrennungen waren die ersten Erscheinungen, die meist zu einem leidvollen Siechtum und einem schmerzlichen Ende geführt haben. Viele dieser oft unrettbar Verlorenen haben noch bis zuletzt mit äußerster Willenskraft weitergearbeitet und weitergeforscht und selbst der Beobachtung ihres Verfalls noch Erkenntnisse für die Wissenschaft abzuringen gewußt. Heute ist der Strahlenschutz weitgehend ausgebaut, vor allem, seitdem es gelungen ist, die Durchstrahlungszeit, die anrfangs bei einer Durchleuchtung fast eine Stunde dauerte, auf den Bruchteil von Sekunden zu verringern. Und doch sieht man auf den Tagungen der Röntgenforscher immer noch alte Veteranen der Röntgenforschung mit entstellten Gesichtern, verstümmelten Händen, amputierten Armen . . .
Röntgenstrahlen in der Technik Röntgenuntersuchungen sind nicht nur auf die Medizin beschränkt. Auch auf vielen anderen Gebieten spielen sie eine große Rolle. Auch Werkstücke, Maschinenteile, Autoreifen, Schweißnähte usw. können innerlich „ k r a n k " sein und von außen nicht erkennbare Fehler haben. Früher merkte man das erst, als es zu spät war, wenn eine Achse gebrochen, eine Schweißnaht aufgerissen war. Die Durchstrahlung läßt heute solche verborgene Fehler frühzeitig erkennen, so daß die fehlerhaften Werkstücke von 22
vornherein ausgeschieden werden. So lassen sich Unglücksfälle, die aus Materialfehlern herrühren, weithin vermeiden. Schon Röntgen hatte auf die Möglichkeit von Materialuntersuchungen hingewiesen. Bereits in der ersten Veröffentlichung erwähnt er, daß er mehrere Aufnahmen von Metallstücken besitze, die innere, sonst nicht erkennbare Fehlstellen aufweisen. Aus dem Jahre 1 8 % ist noch eine Aufnahme von seinem Jagdgewehr vorhanden, die nicht nur das Innere der beiden Läufe mit den Patronen erkennen läßt, sondern auch kleine Fehlstellen im Material aufdeckt. Heute ist es möglich, bis zu 40 cm dicke Stahlteile, z. B. die Schaufeln eines Turbinenrades, zu durchleuchten und auf Fehler hin zu untersuchen. Die dazu erforderlichen Röntgenstrahlen werden durch Elektronenströme erzeugt, die in modernen Elektronenbeschleunigern („Betatronen") auf höchste Geschwindigkeiten gebracht worden sind. Schmuggler sind bekanntlich findige Leute. Sie ersinnen die tollsten Tricks, um Waren und wertvolle Gegenstände unbemerkt über die Grenze zu bringen. Manchmal verschlucken sie kleinere sehr wertvolle Dinge, wie Diamanten oder Perlen. Für die Röntgenstrahlen, deren sich auch der Zoll bedient, sind indes weder geheime doppelte Böden in Koffern, noch Magen und Darm sichere Verstecke. Auch bei der Prüfung wertvoller Gemälde auf Echtheit oder Fälschung sind die Röntgenstrahlen von großer Bedeutung. Aber es ist unmöglich, auf alle Anwendungsgebiete im einzelnen einzugehen.
Röntgenstrahlen werden „geröntgt" Noch aber ist die Frage unbeantwortet, was nun eigentlich die Röntgenstrahlen sind. Um die Beantwortung dieser Frage hat sich schon Röntgen gleich zu Anfang bemüht, nachdem er einwandfrei erkannt hatte, daß sie keine Kathodenstrahlen sein konnten. Röntgen vermutete, daß es Wellenstrahlen seien, ähnlich wie das sichtbare Licht. Der Beweis gelang aber weder ihm noch zunächst den vielen anderen Forschern, die sich mit dem Problem beschäftigten. Charakteristisch für alle Wellenstrahlen sind die sogenannten Interferenz- und Beugungserscheinungen. Interferenzerscheinungen beruhen darauf, daß Wellen, die sich in derselben Richtung fortpflanzen, aufeinander einwirken können, so daß sie sich entweder auslöschen oder sich gegenseitig verstärken. Beugung von 23
Wellen tritt an Kanten, in schmalen gitterartigen Öffnungen und Spalten ein. Alle Versuche, Interferenz oder Beugung auch bei den Röntgenstrahlen nachzuweisen, um daraus ihre Wellennatur zu erkennen, schlugen fehl; doch ergaben sich wichtige Anhaltspunkte dafür, daß es sich bei ihnen um Wellen wie beim Licht handeln mußte, jedoch mit viel kleinerer Wellenlänge. Für Beugungsversuche bedient man sich in der Optik vielfach sogenannter Beugungsgitter. Es sind Glasplatten, auf denen mit einem sehr feinen Diamant parallele Striche eng nebeneinander eingeritzt sind. Um gut nachweisbare Beugung zu erhalten, darf der Abstand von Spalt zu Spalt — die Gitterkonstante — nicht sehr viel größer sein als die Wellenlänge der zu untersuchenden Strahlung. Man hat es bis zu 2000 Strichen auf einen Millimeter gebracht, damit aber war die Grenze des technisch Möglichen erreicht. Für die Röntgenstrahlen erwiesen sich solche Gitter noch als zu grob. Die Lösung brachte schließlich im Jahre 1912 ein genialer Gedanke des Physikers Max von Laue. Er sagte sich, daß vielleicht die Natur das liefere, was die Technik nicht fertigbringe. Da alle Stoffe aus kleinsten Bausteinen, aus Atomen bzw. Molekülen, aufgebaut sind, nahm man an, daß diese Bausteinchen in den regelmäßig gebauten Kristallen in einer ganz bestimmten regelmäßigen Weise angeordnet seien. Max von Laue überlegte sich, daß man einmal ausrechnen solle, wie groß der Abstand der Bausteine zum Beispiel in einem Kochsalzkristall sei. Kochsalz bildet Kristalle in Würfelform, es besteht aus gleichviel Natrium- und Chloratomen und enthält davon in einem Kubikzentimeter rund 50000 Trillionen (50 000 000 000 000 000 000 000). Durch eine einfache Rechnung ermittelte Laue daraus den Atomabstand von 0,000 000028 cm. Das könnte die richtige Gitterkonstante für die Röntgenstrahlen sein, war Laues Gedanke. Die Versuche, die auf seine Veranlassung hin in Röntgens Institut in München durchgeführt wurden, bestätigten die Richtigkeit. Laue ließ die Kristalle mit Röntgenstrahlen durchleuchten. Tatsächlich: es trat sowohl Interferenz wie Beugung auf. Man erhielt einwandfreie Beugungsbilder, „Lauediagramme". Und damit war bewiesen, daß Röntgenstrahlen unsichtbares Licht von sehr kleiner Wellenlänge sind und daß die bisherigen Vorstellungen vom Aufbau der Kristalle zutreffen. Aus den erhaltenen Beugungsaufnahmen und dem errechneten Atomabstand konnte die Wellenlänge der Röntgenstrahlen berechnet werden. Es ergaben sich Werte, die tausend und vieltausend24
Röntgens Büclisflinte, von Röntgen im Jahre 1896 „geröntgt", mit den in den beiden Läufen steckenden Bleikugeln
mal kleiner waren als beim sichtbaren Licht. Später gelang auch die unmittelbare Messung, sie ergab dieselben Werte. Die Röntgenstrahlen gehören zu der großen Familie der elektromagnetischen Wellen. Diese Familie umfaßt alle Rundfunkwellen mit Wellenlängen von einigen Kilometern bis zu einigen Metern; die Dezimeter- und Zentimeter-Wellen der Radargeräte, die Wärmestrahlen, das infrarote, das sichtbare und ultraviolette Licht, die Röntgenstrahlen und die Gammastrahlen der radioaktiven Stoffe. Die Wellenlänge der weichsten Röntgenstrahlen liegt bei 30 Millionstel (3.10" 5 ) cm, die der härtesten beträgt nur noch einige Rillionstel (10 ~12) cm. Laues Entdeckung erwies sich für die Wissenschaft als sehr bedeutungsvoll. Kristalle hatten die Entlarvung der Natur der Röntgenstrahlen ermöglicht. Umgekehrt ließen sich nun mit ihrer Hilfe die Geheimnisse der Kristallwelt und überhaupt vieles vom innersten Aufbau der Stoffe ergründen. Man fand, daß die meisten Stoffe, auch solche, von denen man es nicht vermutete — zum Beispiel die Metalle —, aus Kristallen aufgebaut waren. Wer das Funkeln eines Diamanten, des Königs aller Mineralien, bestaunt und bewundert, denkt wohl kaum an seine Verwandtschaft mit dem Graphit in der Bleistiftmine oder gar mit dem wenig geschätzten schwarzen Ruß. Und doch sind alle drei wirkliche Vettern; das Durchröntgen nach dem Laue-Verfahren bewies, daß sie alle aus demselben Baumaterial, aus Kohlenstoff, bestehen. Der 25
Unterschied beruht auf ihrem verschiedenartigen Aufbau. Beim Diamant liegt die dichteste Anordnung der Kohlenstoffatome vor; sie verursacht den großen Zusammenhalt und die große Härte. Kein anderes Mineral kann den Diamant verletzen; nur mit seinesgleichen ist eine Bearbeitung möglich. Er ist wirklich ein König 1 W a r u m haben gegossene, gezogene, gewalzte, gehämmerte Stücke aus dem gleichen Metall verschiedene Festigkeitseigenschaften? Auch dafür gaben die Röntgenstrahlen die Antwort: Das Kristallgefüge, die Anordnung der winzigen Kriställchen, ist in jedem dieser Stücke verschieden. Vom Eisen wußte man, daß es bei Erwärmung über 780° C und nochmals oberhalb 910° C sprunghaft seine Eigenschaften ändert. Das Durchröntgen brachte die Erklärung. Bei diesen Temperaturen erfolgt jeweils die Umwandlung in eine andere Kristallform. Diese Erkenntnisse wurden für die Stahlindustrie von großer Wichtigkeit.
Das Atom offenbart sein Inneres Mit der Ergründung des Aufbaus der Stoffwelt und der Bestimmung der winzigen Atomabstände war aber die Grenze noch nicht erreicht. Die Röntgenstrahlen durchleuchteten sogar das innerste Gefüge des Atoms, dieses winzigen Gebildes, wovon viele Trillionen in einem Stecknadelköpfchen Platz haben, und erschlossen auch dessen Welt. Bei der näheren Beschäftigung mit den Röntgenstrahlen ergab sich, daß sie eigentlich aus zwei Strahlenarten bestehen. Die so>genannte „Bremsstrahlung" entsteht dadurch, daß beim Aufprall der Kathodenstrahlen und ihrem Eindringen in die Glaswand oder in die Antikathode ihre Energie zum Teil in eine neue Strahlungsart umgewandelt wird — ähnlich wie beim Aufprall eines fallenden Körpers ein Teil der Energie sich in Schall umsetzt. Die „charakteristische Strahlung" dagegen entsteht durch Vorgänge in der Hülle der von den Kathodenstrahlen getroffenen Atome, so daß die Atome zu strahlen beginnen. Jede Atomart sendet dabei eine ihr eigentümliche „charakteristische" Strahlung aus. Durch die Beobachtung der unterschiedlichen Strahlen lassen sich die Elemente unterscheiden. Diese Tatsache schaffte mit einem Schlag Ordnung in der Vielzahl der Grundstoffe (Elemente), bei denen immer noch einige Unklarheiten bestanden hatten. Jetzt konnte jedem Element eindeutig sein Platz zugewiesen werden. Sogar 26
einige noch unbekannte Elemente, die sich besonders gut zu tarnen verstanden hatten, wurden entdeckt, z. B. die Elemente Hafnium und Rhenium; sie verrieten sich durch ihre „charakteristische" Röntgenstrahlung. Weiterhin gelang es den Forschern, aus dieser Strahlung die Anzahl, die Anordnung und die Bahnen der Elektronen zu erschließen, die den Atomkern, ähnlich wie die Planeten die Sonne, umkreisen. Mit extrem harten Röntgenstrahlen, die in den modernsten Geräten mit Kathodenstrahlen von einigen Milliarden Elektronenvolt erzeugt werden, gelingt es sogar, dem Atomkern zu Leibe zu rücken. So durchleuchteten die von Röntgen entdeckten Strahlen nicht nur den menschlichen Körper, sondern auch das kleinste Gebilde, das noch von keines Menschen Auge gesehen worden ist und auch nie direkt beobachtet werden kann. Sie gaben zudem den Anstoß, nach anderen ähnlich durchdringenden Strahlen zu suchen. Und es ist kein Zufall, daß schon im Jahre 1896 der französische Forscher Becquerel die Strahlung aus den Urankristallen entdeckte, deren eigentliche Quelle — das im Uran eingeschlossene Radium — dann zwei Jahre später Marie Curie ausfindig machen konnte.
Der Einsame Doch über der Darstellung seines Werkes, das auf den Seiten eines Lesebogens nur angedeutet werden konnte, wollen wir den Forscher selbst nicht vergessen. Als Röntgen seine Entdeckung der Welt bekanntgegeben hatte, gab es keine Ruhe mehr für ihn. Wißbegierige und Sensationslüsterne drängten sich an ihn heran. Die Post häufte sich zu Bergen. Zahlreiche Einladungen von vielen Seiten, von Gelehrten, wissenschaftlichen Gesellschaften, hohen Würdenträgern aller Länder folgten. Aber Röntgen entzog sich fast ganz der Öffentlichkeit. Die innere Ergriffenheit, die ihn in jener Stunde erfaßt hatte, als es ihm vergönnt war, als erster einen Blick in ein unbekanntes Gebiet der Schöpfung zu tun, wirkte zu stark in; ihm nach. Der Vortrag am 23. Januar 1896 war der einzige, den Röntgen über seine Entdeckung gehalten hat. Ebenso blieb es bei einem einzigen Interview, das er dem amerikanischen Reporter H. I. W. Damm gewährte.
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Beugung des Lichtes durch Gitter Gitterform und
Strahlenrichtung
Beugungsfigur
Durch ein Netz enger, regelmäßig angeordneter Dflnungen (sog. Gitter) gehen die Lichtstrahlen zum Teil geradlinig hindurch, zum Teil werden sie seitlich abgebeugt. Das weiße Licht wird durch die Beugung In die Farben des Spektrums zerlegt. Die auf eine Wandtafel treffenden abgebeugten Lichtflecke zeigen um den Durchstoßungspunkt des direkten Strahles die gleiche Kegelmäßigkeit, wie das die Beugung hervorrufende Gitter. So ruft z. B. ein quadratisches Gitter eine nach 4 Achsen symmetrische (Abb. a), ein aus gleichseitigen Dreiecken bestehendes eine nach 3 Achsen symmetrische Beugungsligur hervor (Abb. b)
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Beugung der Röntgenstrahlen im Kristall Kristallform und
Strahlenrichtung
Beugungsfigur
Durch die den Kristall aufbauenden, regelmäßig angeordneten Atome (das sog. Raumgitter) gehen die Röntgenstrahlen zum Teil geradlinig hindurch, zum Teil werden sie seitlich abgebeugt (M. v. Laue 1912). Die von einer photographischen Platte aufgenommenen Schwärzungsflecke der abgebeugten Strahlen zeigen um den Durchstoßungspunkt des direkten Strahles die gleiche Regelmäßigkeit wie das Raumgitter zur Strahlrichtung. Bei Durchstrahlung in Richtung der 4zäliligen Hauptachse erscheint eine nach 4 Achsen symmetrische, hei Durchstrahlung in Richtung der 3zähligen Achse (Würfeldiagonale) eine nach 3 Achsen symmetrische Beugungsfigur
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40 00O bis 60 000 Volt Spannung lieferte dieser Rümkorff-Funkeninduktor bei der Entdeckung der Röntgenstrahlen. Heute wird die erforderliche Hochspannung mit Hilfe von Transformatoren erzeugt .Trotz seiner Zurückgezogenheit erreichten ihn von a.]len Seiten Ehrungen, Ernennungen, Auszeichnungen, Orden. Er wurde an die größte bayerische Universität, nach München, berufen. Er wurde Geheimrat und Exzellenz; den ihm angetragenen Adel aber wies er zurück. Im Jahre 1901 wurde zum ersten Mal der Nobelpreis verteilt. Röntgen war der erste Preisträger für Physik. Röntgen blieb trotz aller Ehrungen der einfache Mensch, der er war. Er litt unter all dem ,und schloß sich immer" mehr ab. Seine Frau schrieb an eine Freundin: „ J a , es ist keine Kleinigkeit, ein berühmter Mann zu werden, und die wenigsten haben einen Begriff, welche Arbeit und Unruhe so etwas mit sich f ü h r t . . . Es müßte beängstigend sein, wenn der Mann, dem solches beschieden, eitel wäre. Doch du kennst meinen bescheidenen Mann und wirst begreifen, daß die höchste Freude ihm dadurch wurde, 30
daß es ihm vorbehalten war, im Dienste der reinen Wissenschaft etwas Tüchtiges geleistet zu haben." Röntgen selbst äußerte sich nach der Verleihung des Nobelpreises Freunden gegenüber, die höchste Freude sei die Hingabe an das Forschen selbst, die innere Genugtuung sei der Lohn. Das war die Haltung des echten Forschers, von dem Dessauer einmal sagt: „Er späht, lauscht, sucht. Er redet nicht, sondern horcht in die Stille, er stellt sich nicht selbst ins Licht, sondern späht im Dunkel nach dem leuchtenden Zeichen. Darum kennt er auch ein Glück, das dem Alltag verborgen ist und das der Forscher und Erfinder für das Höchste auf Erden hält: das Erlebnis der ersten Erkenntnis, der ersten Begegnung mit dem bisher Verborgenen, der ersten Schau neuer Reiche, das öffnen einer bisher verschlossenen Pforte, das Hören eines nie vernommenen Wortes, das Entschleiern, nicht eines Bildes, nein, einer Wirklichkeit. Es ist ihm, als streife ihn der Mantel Gottes, des Schöpfers, und nun sei er geweiht, beschenkt, ausgezeichnet und trage ein Siegel der Ewigkeit in seiner Seele." Röntgen liebte Musik und schöne Literatur, über alles aber seine Schweizer Berge. Jahr für Jahr suchte und fand er in der Einsamkeit dieser majestätischen Bergwelt Ruhe und Erholung. Der Lehrberuf lag ihm nicht, trotzdem übte er ihn 42 Jahre lang gewissenhaft aus. Die Studenten hatten es nicht leicht bei ihm. Um sich ganz der Forschung — sein Lieblingsgebiet war jetzt die Kristallphysik — hingeben zu können, wollte er sich vom Lehramt zurückziehen, doch der Ausbruch des ersten Weltkrieges veranlaßte ihn, zu bleiben. Pflichtgetreu nahm er das Amt weiter auf sich und hielt seine Vorlesungen bis 1920, bis ins 75. Lebensjahr. Ein großer Trost war in diesen schweren Jahren für ihn, zu erfahren, daß seine Strahlen vielen Menschen halfen. Ein Leuchten ging über sein Gesicht, wenn ihm davon berichtet wurde. Ein Zug seines lauteren Charakters, seine absolute Rechtlichkeit, äußerte sich in den schweren Kriegsjahren besonders deutlich. Um keinen Preis wollte er besser leben als andere oder nehmen, was ihm nicht zustand. Streng hielt er sich an die Rationierung. Als er, schon hochbetagt und immer mehr abmagernd, merkte, daß man den Speisezettel etwas verbesserte, wurde er ernstlich böse, begann die Küche zu kontrollieren und die Rationen abzuwiegen. Um den alternden Forscher wurde es mit der Zeit immer einsamer. Seine Freunde waren fast alle von ihm gegangen. Ein Jahr 31
nach Kriegsende verlor er seine treue Lebensgefährtin. Er selbst spürte, daß seine Kräfte nachließen; ein Krebsleiden zehrte an seinem Körper. Er wußte um seinen Zustand. Und auch da war er wieder ganz Forscher. Mit großer Gewissenhaftigkeit verfolgte er den Verlauf des Leidens und machte Aufzeichnungen darüber; vielleicht konnten sie der Forschung und anderen Menschen nützlich werden. Im letzten Lebensjahr besuchte er nochmals seine geliebten Berge und das Grab seiner Eltern. Sein bedeutendes Vermögen vermachte er der Universität Würzburg. Zum Glück erfuhr er nicht mehr, daß es bald darauf der Inflation zum Opfer fiel. Still und einsam gab der große Forscher am 10. Februar 1923 im Alter von 78 Jahren sein Leben dem Schöpfer zurück. Die ganze Welt nahm Anteil an seinem Tod. Noch waren die Wunden des Krieges nicht vernarbt, eine Kluft des Hasses und der Feindschaft trennte noch die Völker. An seinem Grabe aber senkten sich die Fahnen aller Nationen, neigten sich die Großen des Geistes der ganzen Welt in Ehrfurcht.
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Bildnachweis: Umschlagseite 2 (Röntgen im Laboratorium), Seite 5, 25, 28, 29, 30 nach Vorlagen aus dem Deutschen Museum, München.
Lux-Lesebogen
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(Physik)
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Heftpreis
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Natur- und kulturpolitische Hefte - Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, Murnau, München, Innsbruck, Ölten — Druck: Buchdruckerei Auer, Donauwörth
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IM FALLE EINES FALLES.