DONALD A. WOLLHEIM
Robinsons Nachkomme (ONE AGAINST THE MOON)
ERICH PABEL VERLAG • RASTATT (BADEN)
Personen: Robin ...
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DONALD A. WOLLHEIM
Robinsons Nachkomme (ONE AGAINST THE MOON)
ERICH PABEL VERLAG • RASTATT (BADEN)
Personen: Robin Carew, amerikanischer Astronaut Piotr Iwanowitsch Simonov, russischer Astronaut von Borck, Raumpilot Korree, Mondmensch
1. Kapitel Robin Carew blieb nicht einmal die Zeit, sich darüber zu wundern, daß er den Aufprall überlebt hatte. Unmittelbar danach folgte ein ohrenbetäubendes Donnern, unter dem die ganze Raketenkapsel erbebte, und gleichzeitig entstand ein ungeheurer Druck, der ihn nach vorn schleuderte und gegen die Polsterung der Kabine preßte. Der Druck blieb nicht gleichmäßig stark, sondern schwoll an und ebbte ab genau wie das Donnern draußen. Eine Explosionswelle verlangsamte die Bewegung der Kapsel. Sie rührte von einem gewaltigen Gasausbruch her. Das Gas strömte mit unvorstellbarer Gewalt aus einer riesigen vulkanischen Gesteinsblase, über der eine jener rätselhaften Kuppeln lag. Die Kapsel, in der Robin saß, hatte die dünne Lavaschicht durchbrochen und damit eine Öffnung für den Gasausbruch geschaffen. Unter der Wucht ihres eigenen Schwunges stemmte sie sich jetzt gegen den Druck der Gassäule. Das alles erkannte Robin natürlich nicht sofort, sondern konnte es sich erst später zusammenreimen. Im Augenblick nämlich hatte er genug damit zu tun, sich davor zu schützen, daß er von der wild schleudernden Kapsel grün und blau geschlagen wurde. Er hielt seine Arme schützend vor den Kopf und versuchte, die Schleuderbewegungen abzufangen, um nicht gegen die Kabinenwand geworfen zu werden. Kurz darauf erfolgte ein neuer Schlag, ein neues Donnern, und die Kapsel raste durch einen weiteren Gasstrom. 4
Sie hatte die erste Gesteinsblase durchschlagen, war durch den Boden dieser Blase gedrungen und flog nun durch den nächsten Hohlraum im Gestein. Das Donnern ging in ein scharfes Zischen über, als das Gas mit Überdruck in die erste Blase strömte, aus der der Inhalt in den luftleeren Raum entwichen war. Die Kapsel flog noch immer, durchschlug eine dritte, dann eine vierte Gesteinsblase. Es war klar, daß die Oberfläche des Mondes, zumindest in dieser Gegend, aus einer Menge in sich abgeschlossener Gesteinsblasen bestand, die wie Waben in einem Bienenstock nebeneinander lagen und wahrscheinlich ziemlich tief waren. Die Kapsel hatte ihren ursprünglichen Schwung bereits ganz verloren, als sie auf den Grund der letzten Blase fiel, die dünne Lavaschicht durchschlug und nach unten durchbrach. Wieder ertönte draußen ein dumpfes Zischen, und eine Wärmewelle durchflutete die ganze Kapsel. Ein heißer Dampfstrahl hüllte den zerbeulten und zerkratzten Flugkörper ein. Durch diesen Strahl hindurch fiel die Kapsel mehrere hundert Fuß tief nach unten, bis sie irgendwo mit einem klatschenden Geräusch aufprallte. Das Zischen verstummte, während sie in diese neue Masse einsank, kurz in ihrer Bewegung innehielt und dann zurückschoß. Robin hatte sich nach der dritten Gesteinsblase wieder gefaßt. Er verharrte jedoch noch in seiner geduckten Stellung und versuchte, sich vorzustellen, was mit der Kapsel passierte. Das letzte Geräusch war ihm bekannt vorgekommen. Es hatte geklungen, als sei die Kapsel in Wasser gefallen, und die Tatsache, daß sie danach wieder zurückschoß, bestätigte diese Annahme. Sie tauchte noch ein 5
paarmal auf und nieder und ging dann dazu über, sanft hin und her zu schaukeln. Er hatte Mühe, dabei sein Gleichgewicht zu bewahren. In gewisser Hinsicht wirkte diese Bewegung störender als das wilde Schleudern zuvor – der kreisrunde, zylindrische Körper der Kapsel mit ihrem stumpfen Ende und der abgerundeten Spitze trieb dahin wie eine leere Flasche, die in einen reißenden Strom geworfen wird. Robin richtete sich langsam und vorsichtig auf und mußte dabei gegen ein Gefühl ankämpfen, das ihn an die Seekrankheit erinnerte. Erst allmählich gelang es ihm, sich zu orientieren. Dann arbeitete er sich mühsam zum Bullauge vor. Draußen war jedoch nichts zu erkennen, die Umgebung war in tiefschwarze Finsternis getaucht. Aber es klang, als schlüge Wasser gegen die Bordwand der Kapsel, und Carew glaubte auch, die Gewalt des Wassers zu spüren, während die Kapsel wie ein hilfloses Floß dahintrieb. Er griff nach seiner Taschenlampe, knipste sie an und richtete ihren Strahl durch die winzige, dick gepanzerte Öffnung, aber er konnte erst etwas sehen, als er den Reflektor der Lampe dicht an die Scheibe heranbrachte. Es war tatsächlich Wasser, und die Kapsel trieb offenbar auf einem dunklen, unterirdischen Strom dahin. Robin richtete sich verblüfft auf. Wasser – unter der Oberfläche des Mondes? Noch immer fühlte er sich benommen, fast betäubt und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Und dennoch spürte er gleichzeitig ein Gefühl des Triumphes in sich aufsteigen – des Triumphes darüber, daß er den Aufprall überlebt hatte. Er befand sich auf dem Mond, und er lebte! Was kam nun? 6
Es kam sehr rasch. Ein Wirbel packte die Kapsel, riß sie herum und schleuderte sie nach vorn. Sie neigte sich vornüber und schoß dann einen engen Schacht hinunter, von der ungeheuren Wucht des Stroms mitgerissen. Sekundenlang schwebte sie frei in der Luft, tauchte dann nach einem Aufprall wieder unter, glitt durch ein paar weitere Tunnels hindurch, in denen sich der Strom zu rasenden Wirbeln verengte, erbebte ein paarmal ächzend unter dem Druck, wenn sie gegen die engen Schachtwände geschleudert wurde, schoß mit einer wilden Kreiselbewegung in einen rasch fließenden Strom hinaus, wurde allmählich langsamer und kam dann endlich mit sanften Schaukelbewegungen zu einem Halt. Robin hatte von dieser Höllenfahrt nicht viel gemerkt. Gleich zu Anfang war er gegen die Stirnwand seiner engen Kabine geschleudert worden. Rote Schleier vor seinen Augen waren das letzte gewesen, was er wahrgenommen hatte, dann hatte ihn eine wohltuende Ohnmacht umfangen. Als er wieder zu sich kam, brauchte er Minuten, um überhaupt zu erkennen, wo er sich befand und wie er dahingekommen war. Mühsam raffte er seine Gedanken zusammen. Als Angehöriger einer Spezialraketenabteilung der US Air Force war er unter Hunderten von Bewerbern mit vier anderen Kameraden für die kleine Gruppe der künftigen Astronauten auserwählt worden. Es hatte manchen Tropfen Schweiß und viele Entbehrungen gekostet, bis er sich das begehrte Raketenabzeichen an die Brust heften durfte. Zahllose Tests und Eignungsprüfungen hatte er über sich ergehen lassen müssen, darunter Prüfungen, die bis an die 7
Grenze der menschlichen Leistungsfähigkeit reichten. Wochenlang war er von einem ganzen Stab von Ärzten und Psychologen beobachtet, die geringste Änderung in seinem Kreislauf und Stoffwechsel war sorgfältig gemessen und registriert worden, das Vorbereitungsprogramm mit seiner unerbittlichen Härte hatte ihn so beansprucht, daß er oft nahe daran war, das Ganze aufzugeben und seine Bewerbung zurückzuziehen. Aber dann war es soweit gewesen, daß er sich Astronaut nennen durfte. Und alles andere war dann reines Glück gewesen – daß Joe Lewis, der das Los für den nächsten Flug gezogen hatte, an einer Grippe erkrankte, und daß er, Robin Carew, bei der zweiten Ziehung das Los gezogen hatte. Die anderen Astronauten beneideten ihn glühend, und nur Joe Lewis haderte mit seinem Schicksal. Mit diesem Raketenstart sollte nämlich eine völlig neue Versuchsserie begonnen werden. Sämtliche Raketen, die bisher in den Weltraum geschossen worden waren, angefangen von den ersten Sputniks der Russen bis zu den verschiedenen Explorer-Typen der Amerikaner, waren mit dem herkömmlichen Raketentreibstoff angetrieben worden, der nur dazu ausreichte, bemannte Raketen auf eine Kreisbahn um die Erde zu schicken. Lediglich die leichteren, unbemannten Raketen hatten bisher das Schwerkraftfeld der Erde verlassen und bis zum Mond vordringen können. Mit seiner Rakete sollte nun zum erstenmal ein Mensch den Mond umkreisen, die Landungsmöglichkeiten dort studieren und danach zur Erde zurückkehren. Und dieser Mensch war er, Robin Carew. War es da ein Wunder, daß ihn die anderen beneideten? 8
Das frohe Glücksgefühl war aber rasch geschwunden und hatte einem lähmenden Entsetzen Platz gemacht, als er merkte, daß die Kapsel von ihrem festgelegten Kurs abkam und direkt auf den Mond zusteuerte, den sie programmgemäß nur umkreisen sollte. Carew hatte zwar nicht den Kopf verloren und die Bremsraketen gezündet, mit denen er die Kapsel beim Wiedereintritt in die Atmosphäre der Erde bremsen und landen sollte, aber damit hatte er nur erreicht, daß die Kapsel beim Aufprall auf die Oberfläche des Mondes nicht zerschellte – auf den richtigen Kurs hatte er sie nicht mehr steuern können. Nie würde er die letzten Minuten vor dem Aufprall vergessen. Es war ihm völlig klar, daß er durch die Bremsraketen nicht sein Leben retten, sondern nur seinen Todeskampf verlängern konnte. Die Rakete war nicht für eine Landung auf dem Mond eingerichtet und noch weniger für einen zweiten Start, so daß er hätte zur Erde zurückfliegen können. Die Technik der Raumfahrt war auch noch nicht so weit fortgeschritten, daß man ihn vom Mond hätte zurückholen können – noch nie war ein Mensch auf dem Mond gelandet, und er selbst war auch nicht dafür ausgerüstet, auf dem toten Trabanten ohne Luft zu leben. Doch nun lebte er zu seiner Überraschung immer noch. An seinem Körper schmerzte ihn zwar jeder einzelne Muskel, aber er lebte noch und fühlte, wie allmählich seine Kräfte wiederkamen und seine Gedanken klarer wurden. Robin hob den Kopf und lauschte, aber kein Ton drang zu ihm in die enge Kapsel. Nur das sanfte Schaukeln dauerte noch an und erinnerte ihn an seine Situation. Er kroch zu der Sehöffnung und schaute hinaus. Es dau9
erte eine Weile, bis sich seine Augen an das schwache Zwielicht gewöhnt hatten. Erst dann konnte er sehen, daß die Spitze der Kapsel irgendwo auf einem trockenen Untergrund lag, während das Heck in den schnell fließenden Wasserstrom ragte. Während der nächsten paar Sekunden überlegte er, was er nun tun sollte. Zunächst einmal mußte er einen Ausweg aus seiner Kapsel finden. Aber wohin führte der Ausweg? Gab es draußen überhaupt Luft, wo die Kapsel lag? Und wenn – war sie dicht genug, um ihn am Leben zu erhalten? Konnte es nicht ebensogut ein giftiges Gas oder ein Gemisch ohne Sauerstoff sein? Carew wälzte sich herum und kroch zu der kreisrunden Öffnung zurück, durch die er eingestiegen war. Der Verschluß war nicht dafür vorgesehen, von innen geöffnet zu werden. Robin versuchte es mit den Fingern, aber es gelang ihm nur, die Polsterung abzureißen. Darunter kamen jedoch ein paar Schrauben zum Vorschein, die eine rechteckige Metallplatte festhielten. Zum Glück trug er ein Messer in der Hosentasche, ein Pfadfindermesser mit mehreren Klingen. Der Rücken der größten Klinge paßte genau in die Schlitze der Schraubenköpfe. Nachdem die Metallplatte entfernt war, konnte er mit der Hand durch die Öffnung greifen und den luftdichten Schraubverschluß der Luke öffnen. Die Luke bot zwar zunächst einen merklichen Widerstand, doch dann sprang sie mit einem zischenden Geräusch auf. Fast gleichzeitig fiel der Luftdruck im Innern der Kapsel, und in den Ohren Robins begann es zu singen. Keuchend rang er nach Atem. Die Luft draußen war viel dünner als im Innern der Kap10
sel, die unter den Druckverhältnissen der Erde luftdicht verschlossen worden war. Aber es war wenigstens Luft. In tiefen Zügen sog er sie ein und kostete das Gefühl aus, frei atmen zu können. Wenn er sich nicht täuschte, wirkte sie fast berauschend, als ob sie besonders sauerstoffhaltig sei. Aber gleichzeitig enthielt sie einen Geruch nach feuchtem Moder, und ihr Geschmack erinnerte an Schwefel und Phosphor wie die Zündmasse eines Streichholzes. Robin zwängte sich mit dem Kopf und den Schultern durch die schmale Luke, ließ sich nach vorn gleiten und landete mit allen vieren auf dem steinigen Untergrund. Nachdem er sich wieder erhoben hatte, schaute er sich um. Er stand am Ufer eines reißenden, schnell fließenden Stromes, der sich aus einer breiten Spalte in einer Felsenwand ergoß. Die Felsenwand stieg fast senkrecht empor und bildete in einigen hundert Meter Höhe eine Art Decke. Wie weit diese Decke reichte, konnte er nicht erkennen, weil die Sicht in diesem schwachen Zwielicht nicht ausreichte. Aber er gewann sofort den Eindruck, als stünde er in einer riesigen, weitläufigen Höhle, in einem Hohlraum, der wahrscheinlich mehrere Meilen unter der Oberfläche des Mondes lag. Das Licht kam aus keiner bestimmten Quelle, sondern schien von überallher zu strömen – von der Decke, von den, Wänden, vom Boden der Höhle und sogar aus der Luft. Robin schrieb diesen Leuchteffekt einem natürlichen Phosphoreszieren zu. Diese Erscheinung, das wußte er, war auch in manchen Höhlen auf der Erde zu beobachten. Der Boden zu beiden Seiten des Flusses war mit Wald 11
bewachsen; mit den seltsamsten Gewächsen, die Robin je gesehen hatte, Pflanzen, die in dicken Klumpen oder in Trauben wuchsen, und Pflanzen mit langen, bambusähnlichen Zweigen, die anstelle von Blättern nur blaue, runde Kugeln trugen. Zwischen diesen Gewächsen, die fast die Größe von Bäumen erreichten, wucherten überall grüne, rote und gelbe Kugeln, deren Aussehen an kleine Pilze erinnerte, und dazwischen breitete sich ein dicker, weicher Teppich aus grünen Pflanzen aus, die ein Mittelding zwischen Gras und langstieligem Moos darstellten. Robin lauschte ein paar Sekunden, aber er hörte keinen Ton, der von einem Vogel oder einem sonstigen Tier herrühren konnte. Nur das Rascheln der Blätter war zu hören, die sich in der sanften Brise bewegten, und das Rauschen des Wassers und irgendwo in weiter Ferne ein stetiges, gleichbleibendes Zischen. Die Kapsel, oder genauer gesagt das Wrack der Kapsel, lag da, wie vom Fluß gegen das Ufer geschwemmt. Es fiel ihm auf, wie klein sie war. Von der riesigen Rakete, die er auf dem Übungsgelände bestiegen hatte, war das der einzige Teil, der seine Bahn fortgesetzt hatte, nachdem die einzelnen Raketenstufen ausgeglüht waren und sich gelöst hatten. Die ganze Kapsel war nicht viel mehr als drei Meter lang, von der eingebeulten, schwerbeschädigten Spitze, an der noch ein paar rote Taue als einzige Erinnerung an den abgerissenen Bremsfallschirm hingen, bis zu dem stumpfen, abgeflachten Ende, über dem sich die Kabine befand. Aus der Rückwand ragten noch ein paar Kabelenden hervor, die den Steuermechanismus mit den Trägerraketen verbunden hatten. Das war das einzige Überbleibsel von 12
der ganzen, fast acht Stockwerke hohen Rakete, an der Robin mit einem Lift hatte emporfahren müssen. Bevor er etwas anderes unternahm, kletterte er wieder das Ufer zum Fluß hinunter und begann, die Kapsel weiter aus dem Wasser zu ziehen. Er mußte sie in Sicherheit bringen; sie durfte auf keinen Fall verlorengehen. Zu seiner Überraschung war die Bergungsaktion sehr einfach. Die Kapsel wog nicht viel, und er selbst besaß trotz seiner Müdigkeit und Erschöpfung ungeheure Kräfte. Das lag, wie er wußte, an der geringen Masse des Mondes und der geringen Schwerkraft. Er selbst wog hier nur etwa ein Sechstel seines wirklichen Gewichts, und dasselbe galt natürlich auch für die Kapsel. Seine Muskeln dagegen waren für viel größere Gewichte ausgebildet. Er mußte hier eine Art Supermensch darstellen – wenn er überhaupt am Leben blieb. Das war zunächst noch die Frage. Er wußte nämlich noch nicht, ob in der dünnen, seltsam schmeckenden Luft nicht irgendein giftiges Gas enthalten war. Er wußte auch noch nicht, ob er hier nicht irgendwelchen radioaktiven oder kosmischen Strahlen ausgesetzt war, die vielleicht nur langsam wirkten. Und er wußte noch nicht, ob er in der dichten Vegetation dieser Höhle eßbare Pflanzen finden würde. Nachdem er die Kapsel mehrere Meter weit aus dem Wasser gezerrt und an eine sichere Stelle gebracht hatte, von wo sie nicht mehr abrutschen konnte, drehte er sie um, so daß er an die Luke zu gelangen vermochte, die zu dem Aufenthaltsraum für die Tiere führte. Darin standen die zwei Käfige. Er löste sie aus ihren Halterungen und nahm sie heraus. 13
Einer der beiden Affen war tot. Vielleicht war er bei einem Aufprall zu heftig gegen die Käfigwand geschleudert worden. Der andere saß verschüchtert in einer Ecke und klammerte sich mit Händen und Füßen an die Gitterstäbe. Robin machte den Käfig auf, packte das Tier vorsichtig am Nackenfell und zog es heraus. Der Affe wehrte sich nicht, sondern klammerte sich sofort am Arm des Menschen fest und schmiegte sich dicht an ihn. Als Robin seinen Griff löste, kletterte das Tier sofort an seinem Arm empor und blieb auf seiner Schulter sitzen. Offenbar empfand es nach diesem schrecklichen Erlebnis ein starkes Bedürfnis nach Gesellschaft. Die Kaninchen hatten weniger gelitten. Eines war zwar auch tot, aber die anderen drei saßen wie unbeteiligt da und schnupperten neugierig mit ihren rosaroten Nasen. Ihr Futter hatten sie fast restlos vertilgt. Hier bot sich eine Möglichkeit an, die Vegetation des Mondes auf ihre Genießbarkeit zu prüfen. Robin beschloß aber, zuerst ein Gehege für die Kaninchen zu bauen, bevor er sie aus dem Käfig ließ. Wenn er Glück hatte, konnte er sie weiterzüchten, so daß er wenigstens dadurch über einen gewissen Lebensmittelvorrat verfügte. Er kletterte wieder das Ufer hinauf und suchte sich den nächsten Kugelbaum aus. Die Zweige ließen sich verhältnismäßig leicht abbrechen, wenn er sie dicht über der Wurzel packte. Er stellte auch fest, daß sie sich leicht aufspalten ließen und daß sich im Innern der bambusähnlichen Rohre eine baumwollartige Masse befand. Mit wenig Mühe legte er sich einen kleinen Vorrat Rohre an und steckte diese dann in den Boden, so daß sich ein 14
eingefriedetes Gehege ergab. Die einzelnen Stäbe verband er untereinander mit den Tauen, an denen der Bremsfallschirm befestigt gewesen war. In dieses Gehege setzte er die drei Kaninchen. Sie beschnupperten sofort neugierig ihre Umgebung und schienen nicht unter Nachwirkungen zu leiden. Robin brach unterdessen eines der kugelförmigen Blätter von den Bäumen auf und fand darin eine Masse, die an eine Mischung von Melone und Kartoffel erinnerte. Als er etwas davon den Kaninchen gab, zögerten sie zwar ein Weilchen, nahmen das neue Futter dann aber doch an. Das Äffchen hatte sich die ganze Zeit über ängstlich an Robins Schulter geklammert. Plötzlich sprang es herunter, griff nach dem Fruchtfleisch und stopfte es sich in den Mund. Robin hatte das Tier nicht für Versuchszwecke verwenden wollen, aber nun war es geschehen. Zu seiner Erleichterung schien das Futter auch dem Affen gut zu bekommen. Während er das Tier noch beobachtete, setzte er sich auf den Boden. Er fühlte sich plötzlich müde, am Ende seiner Kräfte, und sein ganzer Körper schmerzte. Es war die Reaktion auf die vorausgegangenen Anstrengungen und Strapazen. Er wußte genau, daß er noch viel zu tun hatte. Er hätte versuchen sollen, ein Feuer anzumachen und das Kaninchen zu braten, das bei dem Aufprall umgekommen war, und er hätte das Wasser probieren sollen, um seinen Durst zu löschen. Er hätte auch gern den kleinen Affen angebunden, damit er sich nicht irgendwo in einem unbekannten Winkel der Höhle verlief, und einen Platz ausgesucht, wo er sich in Sicherheit befand, falls hier doch tierisches Leben vorhanden war. 15
Aber seine Müdigkeit war stärker. Sie gewann die Oberhand. Bevor er sich aufraffen konnte, waren ihm die Augen zugefallen, und in der nächsten Sekunde schlief er bereits. 2. Kapitel Als Robin die Augen wieder aufschlug, fühlte er sich wie gerädert. Jeder Muskel und jedes Gelenk schmerzte ihn, und im Kopf fühlte er sich wie benommen. Seine Arme und seine Beine brannten unerträglich, und am ganzen Körper verspürte er ein lästiges Jucken. Er blieb regungslos liegen und versuchte, seine Kräfte zu sammeln. Plötzlich hörte er über sich ein Schnattern in einem Baum. Als er hinaufschaute, entdeckte er das winzige Gesicht des Äffchens mit den großen braunen Augen. Als das Tier ihn sah, kam es sofort herab, sprang auf seine Schulter und schlang die Arme um seinen Hals. Der Affe war, während Robin schlief, gut zurechtgekommen, und offenbar bekam ihm auch das Futter gut. Das ermutigte Robin, nun ebenfalls das Fruchtfleisch der kugelförmigen Blätter zu probieren. Es schmeckte nicht schlecht, und es sättigte auch, aber es war nicht gehaltvoll genug, um ihn wieder zu Kräften kommen zu lassen. Er sah deshalb nach dem toten Kaninchen, das er zuerst hatte essen wollen, aber das Fleisch war schon in Verwesung übergegangen, und ein Teil davon war abgefressen. Als er sich verwundert niederbeugte, um es näher zu betrachten, sah er die erste Spur von tierischem Leben auf dem Mond. Es waren winzige Wesen, knapp zwei Zentimeter lang. 16
Auf den ersten Blick sahen sie wie Ameisen aus, aber bei näherem Hinsehen glichen sie mehr Würmern, deren Körper in drei Teile untergliedert war, denn sie hatten keine Beine und bewegten sich kriechend fort. Auf dem vorderen Teil ihres Körpers trugen sie eine Spitze, die wie der einzige Fühler eines Insekts aussah und die in einer kleinen gelben Kugel endete. Als Robin sie berührte, leuchtete sie sofort auf. Ein Leuchtorgan, dachte Carew, ähnlich wie das der Tiefseefische. Diese kleinen Lebewesen fraßen vom Fleisch des toten Kaninchens. Robin untersuchte deshalb noch einmal die drei lebenden Kaninchen in dem Gehege. Es waren zwei männliche Tiere, und das Weibchen mußte demnächst schon Junge werfen. Eines der Männchen konnte er entbehren, und er beschloß, es sofort zu schlachten, denn sein Körper brauchte Fleisch. Zunächst setzte er das Tier jedoch wieder in das Gehege zurück, denn vorher mußte er sich darüber klarwerden, wie er Feuer anmachen und wie er das Fleisch braten wollte. In einer Tasche seiner Jacke fand sich zum Glück eine Schachtel Streichhölzer. Er drehte sie nachdenklich zwischen den Fingern. Wie sollte er Feuer erzeugen, wenn dieser Vorrat aufgebraucht war? Er häufte ein paar dürre Zweige auf und opferte ein Streichholz, um sie anzuzünden. Sie brannten sofort und entwickelten eine ausreichende Hitze. Eine Weile sah er zu, wie der Rauch aufstieg und sich in die Richtung verzog, in die auch das Wasser floß – offenbar befand sich dort eine Öffnung in der Höhle. Carew klappte sein Messer auf. Es kostete ihn Überwin17
dung, das Kaninchen zu schlachten und ihm das Fell abzuziehen. Auch das Ausnehmen der Eingeweide war keine angenehme Aufgabe. Danach schnitt er das Fleisch in portionsgerechte Stücke und legte ein paar davon auf den Untersatz des Affenkäfigs, der ihm als Pfanne dienen konnte. Das Braten nahm längere Zeit in Anspruch, als er gedacht hatte, und die äußere Schicht des Fleisches war schon ziemlich verbrannt, bevor der Braten gar wurde. Trotz seines Hungers kaute Robin lustlos darauf herum. Es wollte ihm nicht richtig schmecken. Er brauchte unbedingt Salz. Während des Essens überlegte er, wo er hier wohl welches finden könne. Danach mußte er zuerst suchen, wenn er mit seinen Erkundungen begann. Den Rest seines Fleischvorrats hängte er mit einem der Fallschirmstricke an einen hohen Ast. Bisher hatte er noch keine fliegenden Insekten oder andere Lebewesen gesehen, so daß sein Fleisch hier wahrscheinlich sicher aufbewahrt war. Danach ging er zur Höhlenwand hinüber. Der Affe sprang ihm voraus. Die Höhlenwand bestand aus einer dunkel schimmernden, lavaähnlichen Masse. Robin lehnte sich mit dem Rücken dagegen und blickte nach oben. Die Wand stieg fast senkrecht empor und ging dann mit einer sanft geschwungenen Kurve in die Decke über. Das Ganze sieht aus, dachte Robin mit einem gezwungenen Lächeln, wie die riesige Vergrößerung eines Loches in einem Schweizerkäse. Als er an der Wand entlang weiterging, entdeckte er ein dunkles Loch. Ein paar Meter weiter fanden sich noch mehr solcher Öffnungen. Er schaute hinein, konnte aber 18
zunächst nichts erkennen. Erst im Licht seiner Taschenlampe sah er, daß es der Eingang zu einer kleineren, fast kugelrunden Höhle war, die sich in dem porösen Gestein gebildet hatte und eine Art Nebenhöhle des großen Hohlraums darstellte. Das, stellte Carew sofort bei sich fest, ist der ideale Platz für eine Unterkunft. Er setzte sein Vorhaben sofort in die Tat um, schleppte die Raketenkapsel und seine wenigen Habseligkeiten in das Loch und verlegte auch das Gehege für die Kaninchen an den Platz unmittelbar vor dem Eingang zu seiner Höhle. Da er vor allem einen Behälter für Wasser benötigte, benützte er noch einmal sein Pfadfindermesser, um die äußerste Spitze der Kapsel abzuschrauben. Sie ergab einen geräumigen Kessel, den er am Fluß mit Wasser füllte und in seine Höhle trug. Inzwischen fühlte er sich wieder wohler. Plötzlich aber merkte er, daß er zum Umfallen müde war. Wie lange befand er sich nun schon hier? Er wußte es nicht. Ohne den täglichen Sonnenaufgang und ohne den Unterschied zwischen Tag und Nacht war es unmöglich, die Zeit zu schätzen. Er blickte auf seine Uhr, aber die war stehengeblieben. Carew legte sich auf den Boden in den dicken, weichen Moosteppich und schlief sofort ein. Als er wieder erwachte, stellte er seine Uhr auf acht Uhr. Diese Zeit sollte von nun an für ihn der Tagesanfang sein. Dann schlug er das Notizbuch auf, das er in der Tasche trug, und machte sich daran, einen eigenen Kalender aufzu19
stellen. Dabei ging er von dem Tag aus, an dem er von der Erde gestartet war, und rechnete fünf Tage hinzu. So lange schätzte er die Zeit ein, die seither verstrichen war. Danach stellte er eine Liste aller Dinge auf, die er tun wollte, und nahm sich vor, sie jeweils nach Erledigung abzuhaken. Da er wieder Hunger verspürte, aß er etwas von dem Fruchtfleisch der kugelförmigen Blätter. Den Rest des Vormittags verbrachte er mit Versuchen, Feuer zu erzeugen. Er hatte in der Kapsel ein Rundstück aus Stahl gefunden und probierte nun damit aus allem, was wie Felsen aussah, Funken zu schlagen. Nach langem Suchen entdeckte er in der Nähe des Flusses ein paar kleinere Steine, von denen Funken sprühten, wenn er mit dem Stahl daraufschlug. Ob es richtige Feuersteine waren, interessierte ihn nicht, solange sie ihren Zweck erfüllten. Mit dieser Entdeckung war die Frage des Feuers gelöst. Das nächste Problem war die Beschaffung einer brauchbaren Waffe. Dafür boten sich ganz von selbst Pfeil und Bogen an. Aus einem langen, biegsamen Rohr, das er ebenfalls in der Raketenkapsel abmontierte, und einem Nylonseil vom Bremsfallschirm fertigte er sich einen Bogen, der genügend Spannkraft hatte, als er ihn ausprobierte. Für die Pfeile nahm er dünne Rohre von den bambusähnlichen Pflanzen. Damit übte er sich ein paar Stunden lang im Schießen. Die nächsten Tage verliefen nach demselben System. Tag für Tag erkundete Robin ein weiteres Stück seiner Umgebung. Dabei entdeckte er mehrere neue Arten von Pflanzen und eine ganze Reihe weiterer insektenähnlicher Würmer. Viele davon waren ziemlich groß, einer sogar fast 20
so groß wie ein Eichhörnchen. Es war ein seltsames, unheimlich aussehendes Lebewesen, das sich mit plumpen Sprüngen fortbewegte und dessen Körper aus einem Dutzend kugelförmiger Glieder bestand. Die beiden vorderen Glieder wiesen jeweils einen mit Zähnen bewehrten Mund auf, obwohl nur das vorderste Glied ein Auge besaß, eine runde, starr blickende Kugel in der Mitte des Gliedes. Dagegen trug dieses Lebewesen genau wie die ameisenähnlichen Würmer am Kopf einen Fühler mit einem Leuchtkörper. Robin erlegte ein solches Tier und briet es über dem Feuer, aber das Fleisch erwies sich als völlig ungenießbar. Dagegen machte er die Entdeckung, daß der kleine gelbe Leuchtkörper von der Spitze des Fühlers weiterleuchtete, nachdem er ihn von dem toten Tier abgetrennt hatte. Deshalb machte er sich sofort daran, noch mehr von diesen Mondratten zu erlegen, wie er diese Tiere fortan nannte. Aus ihren Leuchtkörpern fertigte er sich eine Lampe, indem er damit eine Glasröhre füllte. Er probierte sie in seiner dunklen Höhle aus und stellte mit Befriedigung fest, daß sie ihren Zweck erfüllte. Das fahle, gelbliche Licht, das sie ausstrahlte, genügte vollauf für seine Bedürfnisse. Das Kaninchenweibchen hatte inzwischen Junge geworfen. Robin achtete sorgfältig darauf, daß die Tiere immer genügend Futter hatten. Er wollte kein Kaninchen mehr schlachten, bevor er nicht mindestens ein Dutzend erwachsener Zuchttiere besaß. Aber nun war er wenigstens auch der Sorge um seine Bekleidung enthoben, wenn seine jetzigen Kleider einmal unbrauchbar sein würden. Notfalls konnte er sich in die Felle der Kaninchen kleiden. Für alle 21
Fälle hatte er sich auch bereits ein Paar Sandalen aus der Rinde eines Kugelbaumes gefertigt. Von nun an trug er diese täglich und bewahrte die stabilen Lederstiefel für besondere Gelegenheiten auf, wenn er zum Beispiel einmal in ein unbekanntes Gebiet vordringen wollte oder einen Ausgang zur Mondoberfläche entdeckte. Für den täglichen Bedarf reichten die Sandalen vollauf. Früher oder später nämlich, das stand für ihn fest, mußte er einen Weg zur Mondoberfläche finden. Hier in dem unterirdischen Hohlraum würde man ihn niemals entdecken, auch wenn weitere Astronauten auf dem Mond landeten. Auf der Erde ahnte niemand etwas vom Vorhandensein dieser Gesteinsblasen, und es konnte Jahre dauern, bis man ihre Existenz entdeckte. Nur auf der Mondoberfläche konnte er deshalb auf Rettung hoffen. Das war das wichtigste und zugleich schwierigste Problem, das er noch lösen mußte. 3. Kapitel Eines Morgens, als Robin Carew noch nicht erwacht war, spürte er im Unterbewußtsein, daß sich etwas ereignet hatte. Er lag in seiner dunklen Nebenhöhle auf der flachen Couch, die er aus der Raketenkapsel abmontiert hatte. Eine Zeitlang blieb er noch liegen und genoß den behaglichen Zustand des Halbschlafs, der gewöhnlich auf einen tiefen, erholsamen Schlaf folgt. Dann tastete er instinktiv mit der Hand nach einer Decke, fand aber natürlich keine. Als er diese instinktive Bewegung noch einmal wiederholte, fuhr er plötzlich erschrocken zusammen und richtete sich auf. Ein leichter Frost lag in der Luft. Jetzt bemerkte 22
Robin auch den kleinen Affen, der sich zusammengerollt hatte und dicht neben seinen Beinen schlief. Seltsam! Bisher hatte der kleine Geselle immer draußen geschlafen. Weshalb war er jetzt hereingekommen? Robin stand auf. Cheeky, wie er seinen Freund nannte, erwachte sofort und sprang mit einem Satz auf seine Schulter. „Was ist denn los, mein Kleiner?“ Robin begrüßte das Tier wie jeden Morgen mit einem zärtlichen Kraulen und ging dann hinaus, um sich umzusehen. Auf den ersten Blick schien nichts verändert. Die Temperatur war zwar um ein paar Grad gefallen, aber an den Höhlenwänden hatten sich noch keine Auswirkungen dieses Temperaturwechsels gezeigt. Nirgends war eine Öffnung oder ein Riß im Gestein entstanden. Erst als der Astronaut die Pflanzen näher betrachtete, stellte er fest, daß sich ein paar von ihnen leicht verfärbt hatten. An einzelnen Stellen breitete sich ein fahles Grau aus, und die Früchte der Kugelbäume, die noch immer seine Hauptnahrung bildeten, waren über Nacht zusammengeschrumpft und unansehnlich geworden. Nachdem sich Carew einen Überblick über das Ausmaß der Veränderungen verschafft hatte, schlug er sein Notizbuch auf und rechnete nach, wie viele Tage seit seiner Landung vergangen sein mochten. Als er mit der Rakete startete, war Vollmond gewesen. Auf den Mondtag umgerechnet bedeutete das genau zwölf Uhr Mittag. Aber ein Tag auf dem Mond dauert etwa so lange wie ein Monat auf der Erde – achtundzwanzig Erdtage, genauer gesagt. Wenn die Sonne über dem Mond im Zenit steht, so 23
hatte er gelernt, beträgt die Temperatur auf der Mondoberfläche rund 115 Grad Celsius. Bei Sonnenuntergang steht das Thermometer immer noch auf siebzig, aber unmittelbar danach fällt es rapide bis auf etwa minus sechzig und im Laufe der langen Nacht dann noch einmal um vierzig bis fünfzig Grad. Zehn oder zwölf Tage mochte es nun her sein, daß Robin in seinem unterirdischen Hohlraum lebte. Draußen mußte inzwischen die Sonne untergegangen sein und die lange Mondnacht begonnen haben. Während der nächsten Zeit, so fürchtete Carew, strömte sicher die Wärme aus, die sich in der kurzen Hitzeperiode aufgespeichert hatte, obwohl seine Höhle die beste Wärmeisolierung besaß, die man sich denken konnte – eine mehrere Meilen starke poröse Gesteinsschicht mit vielen Vakuumräumen dazwischen. Es konnte noch eine Weile dauern, bis sich die Kälte bemerkbar machte, zumal die unterirdische Vulkantätigkeit des Mondes noch Wärme abgab. Aber früher oder später kam der Frost, das war sicher. Robin wußte jetzt also, daß es auch ein Gegenstück zum Mondtag gab und daß sich die Jahreszeiten hier im monatlichen Wechsel ablösten. Vor ihm lag nun der Winter, der mindestens zehn Erdtage dauerte. Bei dieser Erkenntnis erschrak er. Konnte er diese Zeit überleben? Zumindest mußte er sofort seine Vorbereitungen treffen, um für alles gerüstet zu sein. „Komm, Cheeky!“ sagte er laut. „Jetzt beginnt der Ernst des Lebens. Heute wird nicht gebadet. Wir müssen die Ernte einbringen!“ Er schaute nach seinen Kaninchen, aber diesen Tieren 24
schien der Temperaturwechsel nichts auszumachen. Dann begann er, die Früchte der Kugelbäume einzusammeln. Sie waren schon etwas zusammengeschrumpft, enthielten aber immer noch genügend Fruchtfleisch. Später, wenn die Kälte ihnen die Feuchtigkeit entzog, schrumpften sie wahrscheinlich weiter zu kleinen Samenkörnern. Einen großen Teil des Tages verbrachte Robin damit, diese Früchte in einer kleinen Höhle, die neben seiner Wohnhöhle lag, zu großen Haufen aufzustapeln. Als er sich einen Vorrat geschaffen hatte, der gewiß für zwei Wochen reichte, trug er dürre Zweige und Äste zusammen und schichtete sie vor dem Eingang zu der Nebenhöhle auf. Danach zündete er ein Feuer an und richtete es so, daß es von allein weiterbrennen konnte. Auch vor seiner Wohnhöhle mußte er ein solches Feuer unterhalten, um die Kälte abzuwehren. Zum Schluß holte er auch noch die Kaninchen in seine Wohnhöhle und steckte ihnen dort ein neues Gehege ab. Während der nächsten paar Tage fiel die Temperatur weiter, genau wie er es vorhergesehen hatte. Bald hatte sie den Nullpunkt erreicht. Auch die Mondbäume hatten sich genauso verhalten, wie er es erwartet hatte. Ihre Früchte waren immer weiter zusammengeschrumpft und dann zu Boden gefallen. Die Äste waren verdorrt, und teilweise brachen sie ab. Robin sammelte sie zur Ergänzung seines Brennstoffvorrats. Er hatte festgestellt, daß sie sich dazu ganz vorzüglich eigneten, aber daß die frischen Rohre auch zur Herstellung von Flechtwerk verwendet werden konnten. Zum Schutz gegen die Kälte hatte er sich aus der Bespannung seiner Liegecouch einen Umhang gefertigt, den 25
er mit Schnüren und dünnen Zweigen zusammengenäht hatte. Solange das Feuer am Eingang seiner Höhle noch brannte, brauchte er auch beim Schlafen keine Decke. Für die Dauer dieser Kälteperiode war er gezwungen, immer in der Nähe seiner Höhle zu bleiben, um das Feuer zu unterhalten. Die Temperatur fiel beständig, aber zum Glück nicht so tief, wie er befürchtet hatte. Die Luft wurde zwar eisig, aber der Fluß fror wenigstens nicht zu, so daß er immer noch Wasser holen konnte. Durch die Kälte wurde auch die Luft in dem unterirdischen Hohlraum klarer und durchsichtiger. Als der feuchte Dunst verschwunden war, konnte Robin sogar bis zum unteren Ende der Höhle sehen. Es war mehrere Meilen entfernt. Der Pflanzenwuchs war fast überall abgestorben, so daß Carew auch überall die zahlreichen Insekten mit ihren kugelförmigen Körpern bei der Nahrungssuche beobachten konnte. Bei dieser Gelegenheit entdeckte er eine ganze Reihe von Arten, die er bisher noch nie gesehen hatte. Eines Tages, als er wieder mit Pfeil und Bogen unterwegs war, stieß er inmitten eines dichten Busches von dürren Kugelbäumen auf etwas, das sich bewegte. Es war ein Tier von der Größe eines Schäferhundes, und als es ihn bemerkte, sprang es mit weiten Sätzen auf ihn zu, den Rachen weit aufgerissen. Robin war so erschrocken, daß er seinen Bogen erst im letzten Augenblick hochreißen konnte. Der Pfeil traf das Tier, als es gerade zum letzten Sprung ansetzte. Nachdem Carew es erlegt hatte, betrachtete er es genauer. Zu seinem Erstaunen war es kein insektenähnliches und auch kein 26
wurmähnliches Tier, sondern ein Lebewesen, dessen Aussehen an ein Säugetier erinnerte. Es hatte zwei kurze, stämmige Beine, einen länglichen, ovalen Körper und zwei dünnere Vorderläufe. Der deutlich vom Rumpf abgesetzte Kopf wies über dem furchterregenden Rachen ein einziges, unheimlich aussehendes Auge auf, und die zwei Öffnungen darunter verrieten, daß das Tier durch Lungen atmete. Der Körper lief in einem langen Schwanz aus, der jedoch in einem Bogen nach vorn stand und an seiner Spitze einen gelben Leuchtkörper trug. Und noch eine weitere Besonderheit wies dieser Mondhund auf, wie Robin dieses Tier taufte. Seine Haut war farblos und durchscheinend, so daß man seine inneren Organe sehen konnte. Dies alles bestärkte Robin in seiner Überzeugung, daß es noch andere Höhlen geben mußte, in denen es ewig dunkel war, wo aber trotzdem Pflanzen und Tiere lebten. Wo es kein Licht gab, war auch keine Pigmentation erforderlich, und deshalb hatte dieses Tier keine Hautfarbe. Robin vermutete auch, daß die Kälte das Tier auf der Suche nach Nahrung in diese Höhle getrieben hatte. Während der warmen Jahreszeit hatte er nie eine Spur solcher Tiere entdeckt. Er schaffte seine Beute sofort in die Höhle und machte sich gleich daran, sie abzuhäuten und das Fleisch zu braten. Zuerst schüttelte er sich zwar vor dieser weichen, farblosen Masse, aber er hatte in der Zwischenzeit lernen müssen, unbegründete Vorurteile zu überwinden. Ob es ihn dabei schauderte oder nicht – er mußte versuchen, alles für die Fortdauer seiner Existenz zu tun. 27
Das Fleisch wurde rasch gar, bräunte zu einer appetitlichen Kruste und schmeckte ausgezeichnet. Außerdem hatte der Mondhund Knochen, die Robin bei den Mondwürmern bisher vermißt hatte. Er bewahrte sie sorgfältig auf, da er wußte, daß sie für verschiedene Zwecke verwendet werden konnten. Er erinnerte sich daran, in einem Museum Nadeln, Messerklingen und Pfeilspitzen gesehen zu haben, die sich Indianer aus solchen Knochen angefertigt hatten. Er ging wieder auf die Pirsch und erlegte noch mehrere dieser Mondhunde, bevor die Kälteperiode vorüber war. Die Wärme setzte etwa zu der Zeit wieder ein, die Robin vorausberechnet hatte: ungefähr einen Tag nach dem Sonnenaufgang draußen auf der Mondoberfläche. Die Temperatur stieg schneller, als sie gefallen war, und genauso schnell schossen überall neue Mondbäume empor, die Mondpilze wucherten wie zuvor, und das Wasser im Fluß wurde wieder wärmer. Während die Zeit verging und Monat sich an Monat reihte, richtete sich Robin ein primitives, aber erträgliches und behagliches Leben ein. Es verlief genau nach Plan. Er nahm sich jeweils für ein paar Tage im voraus vor, was er tun wollte, und legte seine Lebensmittel- und Brennstoffvorräte danach an. Seine Kaninchen waren unterdessen zahlreich genug geworden, so daß er mit dem Schlachten beginnen konnte. Die Felle trocknete er und bewahrte sie sorgfältig auf. Da er die Tiere nicht mehr in einem Gehege halten konnte, ließ er den größten Teil frei. Sie sollten wild weiterleben. Das erwies sich als eine gute Idee. Die Tiere sorgten für sich selbst, und wenn er auf Jagd ging, konnte er immer damit rechnen, eines oder zwei zu schießen. 28
Während der zweiwöchigen Kälteperioden verkrochen sie sich offenbar in Erdlöchern, genau wie sie es auf der Erde auch taten, und überwinterten dort. Sie boten einen seltsamen Anblick, wenn sie in wilder Flucht davonjagten, denn ihre muskulösen Hinterbeine waren viel zu stark für die geringe Schwerkraft des Mondes. Mit jedem Sprung machten sie hohe, meterweite Sätze. Robin hatte sich unterdessen einen Mantel, eine Hose und einen Hut aus Kaninchenfell angefertigt und trug diese Kleidungsstücke während der Kälteperioden. Die Knöpfe dazu hatte er aus den Knochen der erlegten Mondhunde geschnitzt. Es schien ihm, als habe er an Gewicht zugenommen, aber gleichzeitig machte er auch die Feststellung, daß er blaß geworden war. Wenn er lange genug in dieser Welt ohne Licht und Sonne lebte, wurde er wahrscheinlich auch so farblos und durchscheinend wie die Mondhunde. Doch während der ganzen Zeit verlor er nie sein endgültiges Ziel aus den Augen – an die Mondoberfläche zu gelangen und von dort aus vielleicht Lebenszeichen zu senden. Er hatte schon viel über dieses Problem nachgegrübelt. Irgendwie mußte er sich eine Art Raumanzug anfertigen, einen Schutzanzug, mit dem er sich lange genug in den luftleeren Raum auf der Mondoberfläche hinauswagen konnte, um dort ein Signal zu geben, das vielleicht von den Astronomen auf der Erde wahrgenommen wurde. Einen Teil des Materials, das er für diesen Anzug benötigte, konnte er dem Metallaufbau der Raketenkapsel entnehmen. Aus diesem Metall konnte er vielleicht auch einen Hohlspiegel anfertigen, der das Sonnenlicht stark genug reflektierte, so daß er damit einen Hilferuf zur Erde morsen 29
konnte. Mit der Hilfe lichtstarker Teleskope, wie sie in den Sternwarten verwendet wurden, mußten diese Lichtsignale von der Erde aus beobachtet werden. Mit dem Metall der Kapsel mußte er auch einen Helm für seinen Raumanzug anfertigen, aber er wußte noch nicht, wie er das bewerkstelligen sollte. Der Anzug ließ sich wahrscheinlich aus den gegerbten Fellen der Kaninchen herstellen, wenn er die Nähte mit tierischem Fett und Knochenleim luftdicht versiegelte. Für eine kurze Zeit reichte das sicher. Aber der Helm – das war sein größtes Problem, obwohl er bereits wußte, woraus er den Sehschlitz fertigen wollte: aus dem dicken Quarz, mit dem die Sehöffnung der Raketenkapsel verschlossen gewesen war. Er brauchte diesen Teil nur aus der Metallfassung der Kapsel herauszubrechen. Oft dachte Robin auch an das zischende Geräusch, das ihm gleich nach seiner Landung aufgefallen war. Er hatte die Ursache dieses Geräusches bisher noch nicht erforscht, weil es zu weit entfernt gewesen war. Es kam von irgendwo aus dem hinteren Teil der riesigen Höhle. Eines Tages aber, als er nichts anderes zu tun hatte, machte er sich daran, der Quelle dieses Geräusches nachzugehen. Um sich besser orientieren zu können, lief er immer an der Höhlenwand entlang. Cheeky blieb ihm dabei dicht auf den Fersen und sprang auch oft ein paar Meter voraus. Das Zischen wurde allmählich lauter. Unterwegs mußte Robin über eine Felsspalte im Boden hinwegsteigen und um den kreisrunden Eingang zu einer dunklen Nebenhöhle herumgehen, aber nach einem Marsch von etwa zwei Meilen stand er vor der Ursache des Geräusches. 30
Aus einem Spalt in der hinteren Höhlenwand strömte eine lodernde bläuliche Flamme. Im Umkreis von fast hundert Metern wuchs kein Grashalm. Der Boden war mit einer Schicht mehliger grauer Asche bedeckt. Robin starrte verwundert in die Flamme, von der das Zischen ausging. Er konnte sich die Erscheinung nur so erklären, daß durch die Felsspalte aus einer benachbarten Gesteinsblase ein brennbares Gas strömte, das sich im Laufe der Zeit irgendwann einmal durch einen Zufall entzündet hatte. Und nun brannte hier Tag und Nacht diese Flamme, fauchend und zischend wie die Flamme eines Schweißbrenners. Mit dieser Entdeckung war auch die Antwort auf die Frage gefunden, wie er das Metall der Raketenkapsel bearbeiten und formen konnte. Er hatte schon versucht, das Metall über seinem Holzfeuer in der Höhle biegsam zu machen, aber der Versuch war fehlgeschlagen. Ein Holzfeuer war für diesen Zweck nicht heiß genug. Von nun an stand für Robin fest, daß er sich den Helm für den Raumanzug bauen würde. Diese Arbeit nahm zwar sicher sehr viel Zeit in Anspruch, aber sie mußte gelingen. Metall hatte er genug, so daß er sich auch noch ein paar andere, dringend genötigte Gegenstände anfertigen konnte, wie zum Beispiel eine brauchbare Bratpfanne und einen Kochtopf und vielleicht auch einen Wasserbehälter, damit er sich einen Trinkvorrat für eine längere Entdeckungsreise mitnehmen konnte. Die Entdeckung dieser Flamme bedeutete das Ende der ersten Ära seines Lebens auf dem Mond, das Ende seiner „Steinzeit“. Es begann die „Eisenzeit“. 31
4. Kapitel Sich die Flamme nutzbar zu machen war schwieriger, als Robin gedacht hatte, denn er konnte nicht nahe herangehen, ohne Gefahr zu laufen, schwere Verbrennungen zu erleiden. Auch mußte er einen Weg finden, das Metall lange genug in die Flamme zu halten, bis es schmolz oder wenigstens biegsam wurde, ohne sich selbst zu versengen. Carew holte sich manche Brandblase, bevor er eine brauchbare Methode entwickelt hatte. Zunächst fertigte er sich ein Paar dicke Handschuhe aus Kaninchenleder und schützte dieses Leder vor der Hitze, indem er es mit einer zentimeterstarken Mischung aus Leim und Asche bestrich. Das war aber nur der erste Schritt. Der zweite bestand darin, daß er sich eine Zange aus langen Röhrenknochen bastelte. Damit ging es, obwohl er die Zange öfter erneuern mußte, da sie sehr rasch verbrannte. Mit viel Geduld und Ausdauer gelang es Robin aber, passende Stücke aus der Metallkapsel herauszuschneiden. Einen Hammer hatte er sich schon früher aus einem schweren Stein hergestellt, und damit konnte er nun das weißglühende Metall in die gewünschte Form schmieden, so daß er mit der Zeit zu einer primitiven, aber durchaus brauchbaren Bratpfanne und mehreren anderen Gebrauchsgegenständen kam. Sein nächstes Vorhaben war nun der Helm, der wichtigste Bestandteil des Raumanzuges. Er grübelte lange darüber nach, wie er am besten vorgehen sollte. Er wollte mit sowenig Nähten wie möglich auskommen und auch seinen 32
Vorrat an Rohmetall nicht unnütz verschwenden. Das Schweißen des Metalls war ihm nämlich bisher nicht gelungen, und er beabsichtigte deshalb, die Nähte, die er nicht vermeiden konnte, mit tierischem oder pflanzlichem Fett zu versiegeln. Eines Tages saß er wieder in seiner Wohnhöhle und schaute zu, wie rings umher das Leben nach einer der Kälteperioden neu erwachte. Vor dem Eingang zur Höhle war Cheeky damit beschäftigt, Mondwürmer zu suchen – er fraß sie nicht, aber es machte ihm offenbar Spaß, sie unter flachen Steinen und in ihren Verstecken aufzustöbern. Ab und zu tauchte eines der wildlebenden Kaninchen auf, richtete sich auf den Hinterläufen empor und äugte neugierig herüber, bevor es wie ein geölter Blitz irgendwo in einer Erdhöhle verschwand. „Worauf warte ich eigentlich noch?“ fragte sich Robin laut. Beim Klang seiner Stimme kam Cheeky sofort zurück und sah ihn erwartungsvoll an. Carew hatte sich angewöhnt, laute Selbstgespräche zu führen, weil er fürchtete, daß er sonst im Laufe jahrelangen Einsiedlerlebens den Gebrauch der Sprache verlernen könnte. „Den Raumanzug kann ich doch nicht gebrauchen, bevor ich nicht einen Weg zur Oberfläche entdeckt habe! Einen gangbaren Weg! Und ich habe noch nicht einmal die ganze Höhle erforscht. Vielleicht gibt es einen viel einfacheren Ausweg!“ Robin blieb noch sitzen und dachte darüber nach. Der kleine Affe sprang auf seinen Schoß und schmiegte sich zutraulich an ihn. „Es wäre wirklich an der Zeit“, fuhr Robin in seinem Selbstgespräch fort, „daß ich die Höhle auskundschafte. 33
Vielleicht finden wir noch etwas, das wir gebrauchen können, Cheeky. Was meinst du, wollen wir nächste Woche Columbus spielen und ein paar neue Welten entdecken?“ Der Affe sprang von seinem Schoß und rannte, aufgeregt schnatternd, umher. „Dir gefällt der Vorschlag, was? Also gut, nächste Woche geht es los!“ Einen Tag zuvor traf Carew sorgfältig seine Vorbereitungen. In einem Sack verpackte er einen Lebensmittelvorrat, der für mehrere Tage ausreichte, und in dem Behälter, den er sich aus einem hohlen Ast gefertigt hatte, nahm er genügend Wasser mit. Beides hängte er sich mit einem Strick über die Schulter. Außerdem nahm er noch seine Taschenlampe, sein Messer, die Behelfslampe mit den Leuchtkörpern und Pfeil und Bogen mit. Die Behelfslampe mußte dauernd nachgefüllt werden, da die Leuchtkörper ihre Leuchtkraft nur etwa zwei Tage lang behielten. Am Tag seines Aufbruchs sorgte Robin noch dafür, daß die Kaninchen, die er noch im Gehege hielt, genügend Futter hatten, dann pfiff er Cheeky und machte sich auf den Weg. Zunächst ging er zu dem Fluß hinüber und folgte dann dessen Lauf quer durch den unterirdischen Hohlraum. Nach einem Marsch von etwa zwölf Meilen gelangte er an eine Stelle, wo sich die Höhle erweiterte. Der Fluß, der bis dahin parallel zur Höhlenwand verlaufen war, wich hier zur Seite ab, so daß auf der anderen Seite eine schmale Uferbank entstand. Auf der Seite, auf der Robin ging, erstreckte sich ein dichter, knöcheltiefer Teppich aus Moosgras über viele Meilen hinweg. Der Fluß machte von hier an noch ein paar Windungen 34
und mündete dann in eine Öffnung im Boden, durch die das Wasser verschwand. Robin trat neugierig an den Rand der Öffnung und schaute hinunter. Irgendwo in der Tiefe des Schachtes mußte sich ein Ausfluß befinden, denn das Wasser strömte ohne Stau in die Öffnung hinein und kam nicht wieder zum Vorschein. Wahrscheinlich ergoß es sich irgendwo in eine andere Höhle, floß dort als reißender Strom weiter, fiel dann wieder durch einen Schacht in die nächste Höhle, bis es irgendwo tief im Innern des Mondes in einen unterirdischen See einmündete. Aber Carew war nicht daran interessiert, weiter in das Innere des Mondes vorzudringen. Er suchte einen Weg hinauf zur Oberfläche, von wo aus er die Erde sehen konnte. Deshalb wandte er sich von der Öffnung ab und wanderte weiter auf die gegenüberliegende Höhlenwand zu. Er erreichte sie zu der Zeit, zu der er gewöhnlich schlief. Die Wand bestand aus derselben festen und undurchdringlichen Gesteinsschicht, die er schon überall angetroffen hatte. Robin schlief mit Cheeky zusammen unmittelbar vor dieser Wand und setzte am nächsten Morgen seine Erkundungsreise fort, immer noch auf der Suche nach einem Ausgang aus der Höhle. Endlich entdeckte er in der Ferne eine dunkle, unregelmäßig gezackte Linie, die sich deutlich von der phosphoreszierenden Wand abhob. Beim Näherkommen sah er, daß es tatsächlich ein Riß in der Höhlenwand war – ein breiter, über dreißig Meter hoher Spalt im Gestein. Neugierig ging Carew weiter darauf zu. Der Spalt war am Eingang fast drei Meter breit, im Innern war es dunkel. Robin leuchtete mit der Taschenlampe 35
hinein, konnte aber nur erkennen, daß sich der Spalt in einem finsteren Gang fortsetzte. „Das ist es vielleicht, wonach wir gesucht haben“, sagte Robin zu Cheeky. „Der Gang führt nach oben. Vielleicht mündet er in die nächste Höhle.“ Cheeky äugte neugierig hinein, wagte sich ein paar Schritte vor und verschwand dann im Dunkeln. „He!“ rief Robin hinter ihm her. „Warte doch auf mich!“ Während er hinter dem Affen herging, erwies sich seine Behelfslampe als sehr praktisch. Im Zwielicht der großen Höhle war ihr Schein kaum zu sehen gewesen, aber hier in der Dunkelheit verbreitete sie ein fahles gelbes Licht, das den Boden in einem Umkreis von ein paar Metern genügend beleuchtete. Beim Weitergehen trug Carew sie vor sich her, und ab und zu tauchte in ihrem Lichtkreis der lange Schwanz Cheekys auf, wenn der Affe stehenblieb, um auf Robin zu warten. Schon nach wenigen Metern war Carew in der Dunkelheit untergetaucht, und nur seine Lampe beleuchtete noch den Weg. Der Boden war nicht eben, sondern fiel oft in einer steilen Stufe ab oder stieg stufenförmig an. Häufig mußte Robin blindlings in die Dunkelheit hineinspringen. Die geringe Schwerkraft des Mondes befähigte ihn zu phantastischen Sprüngen, aber es war immer ein unangenehmes Gefühl, wenn er beim Absprung noch nicht wußte und nicht sehen konnte, wo er landete und wie weit er springen mußte. Dazu kam, daß er keine Ahnung hatte, wie hoch der Tunnel jeweils war. Plötzlich hörte Robin den kleinen Affen entsetzt aufkreischen. Der Astronaut knipste seine Taschenlampe an und 36
leuchtete nach vorn. Cheeky hing in einer Felsspalte, die im Boden klaffte, und klammerte sich mit beiden Händen an der scharfen Steinkante fest. Mit ein paar Schritten war Robin bei ihm und holte ihn heraus. Als er hinunterleuchtete, blickte er in eine gähnende Tiefe. Er schauderte bei dem Gedanken, was passiert wäre, wenn er hineingefallen wäre. Dann nahm er Cheeky auf den Arm und sprang hinüber. Nachdem er sicher und wohlbehalten auf der anderen Seite gelandet war, ging er weiter, ließ nun aber größere Vorsicht walten. Endlich sah er einen hellen Lichtfleck vor sich, aber es dauerte noch eine ganze Weile, bis er näher kam und bis das Licht heller wurde. Endlich weitete sich der schmale Gang zu einem trichterförmigen Tunnel und mündete dann in eine andere Höhlenwelt ein, in die Welt der nächsten Gesteinsblase. Sie sah ähnlich aus wie die, in der Robin gelebt hatte, aber sie war bedeutend kleiner. Die Decke, die sich darüber wölbte, war vom Boden aus deutlich zu sehen, und Robin schätzte ihren Durchmesser auf nicht mehr als eine halbe Meile. Auch die gegenüberliegende Höhlenwand war von hier aus zu sehen, und Robin konnte sogar erkennen, daß diese Wand zahlreiche Risse und Spalten aufwies. Offenbar war diese Höhle schon älter, und ihre Wände waren durch die vielen Mondbeben und die regelmäßigen Temperaturunterschiede größeren Beanspruchungen ausgesetzt gewesen. Im Innern der Höhle wucherte ein dichter Dschungel aus Mondbäumen. Sie sahen ähnlich aus wie die Bäume, die Robin bereits kannte, waren aber viel größer und hatten ein 37
dichteres Geäst. Carew mußte sich seinen Weg mitten durch den Dschungel hindurch suchen, um zu der gegenüberliegenden Höhlenwand zu gelangen. Cheeky war in die Bäume hinaufgeklettert und schwang sich von Ast zu Ast weiter. Er war Robin schon ein ganzes Stück voraus, als er plötzlich einen durchdringenden Angstschrei ausstieß. Gleichzeitig ertönte ein dumpfes, heiseres Brüllen. Als Robin hinzueilte, sah er den Affen im Gipfel eines Baumes hängen, der jedoch nur wenige Meter hoch war, und von unten sprang ein Mondhund nach ihm. Dieser Hund war jedoch bedeutend größer als die anderen, die Robin erlegt hatte. Das dumpfe, heisere Brüllen ging von ihm aus. Es war das Brüllen eines Raubtieres auf der Jagd. Robin riß seinen Bogen hoch, legte einen Pfeil auf die Sehne und schoß. Der Pfeil traf das Tier, als es gerade zu einem weiteren Sprung ansetzte. Wie vom Blitz getroffen, sank es zu Boden. Robin sprang hinzu und tötete es mit einem kräftigen Schlag seines Steinhammers. Er untersuchte das tote Tier. Es glich in vielem den Mondhunden, die er erlegt hatte, unterschied sich aber doch in manchem von ihnen, und Robin fand seine Theorie bestätigt, daß diese Tiere einer den Säugetieren der Erde vergleichbaren Gattung angehörten. Wenn die Mondhunde hier die Familie der Wölfe darstellten, so entsprach dieses Tier mehr einem Leoparden oder einem Tiger. Sein Fell sah aus, als könne daraus ein brauchbares Leder gegerbt werden, obwohl auch dieses Tier einen gespenstisch durchscheinenden Körper hatte. Nach diesem Zwischenfall wanderte Robin weiter durch den Dschungel, bis er an die gegenüberliegende Höhlen38
wand gelangte. Unterwegs hatte er festgestellt, daß die Tierwelt in dieser Höhle reichhaltiger war als in seiner Höhle. Offenbar lag sie etwas abseits von dem allgemeinen großen Höhlenlabyrinth. Er hatte nämlich noch zahlreiche andere Tiere gesehen, die aber bei seinem Anblick rasch geflüchtet waren. Auch die Mondwürmer, die den Insekten auf der Erde entsprachen, waren hier zahlreich vorhanden. Ein paar von ihnen erreichten eine Größe, die er bisher bei Lebewesen dieser Art noch nie gesehen hatte. Außerdem gab es hier auch größere Baumfrüchte als in seiner Höhle. „Wir könnten eine kleine Landwirtschaft anfangen – was meinst du, Cheeky?“ meinte er scherzhaft zu dem Affen. „Wir nehmen Samen von diesen Bäumen mit und pflanzen ihn in unserer Höhle ein. Das gibt Abwechslung auf dem Speisezettel.“ An der gegenüberliegenden Höhlenwand fand Robin seine Beobachtung bestätigt. Die Wand war kreuz und quer gerissen, und Carew entdeckte über ein Dutzend Tunnels, die wahrscheinlich zu den nächsten Höhlen führten. Er nahm sich vor, eine davon am folgenden Tag zu erkunden, aber jetzt war es Zeit, zu schlafen. Er fand eine kleine Nebenhöhle, ähnlich der seinen, und teilte darin seine Mahlzeit mit Cheeky. Für sich briet er dazu noch ein Stück von dem Mondtiger, nachdem er ein kleines Feuer angezündet hatte. Auch dieses Fleisch sah zuerst unappetitlich aus, bräunte aber rasch und schmeckte gut. Nicht weit entfernt von der Höhle schlängelte sich ein kleiner Wasserlauf zwischen den Bäumen hindurch. Robin 39
löschte dort seinen Durst und füllte auch seine Feldflasche wieder, die er unterwegs leergetrunken hatte. Dann legte er sich zum Schlafen nieder. Cheeky schmiegte sich dicht an ihn. Plötzlich wachte Robin wieder auf und horchte. Irgendwo draußen stieß der Affe durchdringende Schreie aus. Robin richtet sich auf und rief nach ihm. Sofort eilte das flinke Tier herbei. Es war in heller Aufregung, kreischte fortwährend, stieß dazwischen klagende Laute aus und sprang immer wieder wie ein Gummiball auf und ab. Robin beobachtete es nachdenklich. Noch nie hatte er Cheeky so aufgeregt gesehen. Verwundert sah er sich um. Zuerst fiel ihm nichts auf. Auch draußen vor der Höhle war es ruhig. Aber dann bemerkte Carew, daß sich seine Tasche mit den Lebensmittelvorräten nicht mehr am alten Platz befand. Sie lag vor dem Eingang der Höhle, und ihr Inhalt war über den Boden verstreut. Robin sprang auf und eilte hinaus. Irgendein Lebewesen mußte sich in die Höhle geschlichen, die Tasche genommen und ihren Inhalt untersucht haben. Seine Verwunderung wuchs noch, als er entdeckte, daß auch andere Gegenstände berührt worden waren. Seine Feldflasche lag am Boden, der Stöpsel war herausgezogen und das Wasser inzwischen im Boden versickert. Vorsichtshalber griff Robin nach seinem Bogen und legte einen Pfeil auf die Sehne. Dann suchte er sorgfältig das Untergehölz am Rand des Dschungels ab. Irgendwo mußte hier eine drohende, unheimliche Gefahr lauern. 40
Als er den Boden absuchte, entdeckte er die Spur, die von dem Wasser aus der Feldflasche herrührte. Das Lebewesen, das in seine Höhle eingedrungen war, mußte in die Wasserlache getreten sein und danach die Spur hinterlassen haben. Bei näherem Hinsehen fand Robin eine ganze Reihe Abdrücke. Es war ein Lebewesen, das auf zwei Beinen ging, ein Lebewesen, das Schritte von der Länge menschlicher Schritte machte; ein Lebewesen mit drei Zehen an jedem Fuß; ein Lebewesen, das aufrecht gehen und Flaschen öffnen konnte, das sich für den Inhalt einer Tasche interessierte und das schlafende Fremde beobachtete. Ein Lebewesen, das vielleicht zum Mondtiger und zum Mondhund in demselben Verhältnis stand wie der Mensch auf der Erde zu seinen Tigern und seinen Hunden. Ein Mondmensch! 5. Kapitel Diese Erkenntnis kam Robin so überraschend, daß er ein paar Minuten lang in seiner engen Höhle sitzen blieb, um sie zu verarbeiten. Die Frage war nun, wie er diesen Menschen ausfindig machen konnte. Wahrscheinlich hielt er sich irgendwo in der Nähe versteckt und beobachtete ihn auch jetzt noch. Plötzlich hatte Carew eine Idee. So ging es vielleicht. Er erhob sich wieder, durchsuchte die Lebensmittelvorräte in der Tasche und fand darunter ein Stück Kaninchenfleisch. Dieses steckte er auf seinen Bratspieß und kniete dann nieder, um das fast erloschene Feuer wieder anzufa41
chen. Als es brannte, briet er das Fleisch darüber und fächelte dann mit seiner Mütze die Luft aus der Höhle. Dabei rechnete er damit, daß sich der verlockende Duft des frisch gebratenen Fleisches in der Umgebung ausbreiten würde. Danach schlich er sich aus der Höhle und verbarg sich in der Nähe hinter einem dichten Gebüsch. Cheeky hielt sich auf seinem Rücken fest und gab keinen Laut von sich, als wisse er, worauf es jetzt ankam. Nach ein paar Minuten bemerkte Robin eine leise Bewegung in dem Gebüsch auf der anderen Seite der Höhle, und kurz darauf beobachtete er, wie sich ein Kopf hervorschob. Dann tauchte eine Gestalt auf, die sich lautlos zu der Höhle hinüberschlich und durch den Eingang spähte. Es war eine menschliche Gestalt mit zwei Armen und zwei Beinen, und doch wirkte sie unheimlich mit der nackten, durchscheinenden Haut. In der einen Hand trug dieses Lebewesen einen langen Stock, an dessen Ende etwas Spitzes, Glänzendes befestigt war; offensichtlich handelte es sich um eine Art Speer. Es blieb ein paar Sekunden vor der Höhle stehen und wartete, aber als es niemand darin bemerkte, konnte es dem verlockenden Duft und dem Reiz der Neugierde doch nicht länger widerstehen und ging hinein. Sofort sprang Robin aus seinem Versteck hervor, rannte mit ein paar Sätzen auf die Höhle zu und versperrte mit seinem Körper den Ausgang. Das Lebewesen darin hatte sich gerade über das Fleisch gebeugt, aber als es Robin kommen hörte, fuhr es herum und wollte sich mit einem wilden Satz aus der Höhle flüchten. Dabei stieß es gegen Robin. Einen Augenblick lang 42
herrschte ein unübersichtliches Durcheinander von Armen und Beinen, aber dann gewannen die stärkeren Muskeln des Erdmenschen die Oberhand, und das Mondlebewesen mußte sich ergeben. Robin hielt es in seinen Armen fest, schleppte es in die Höhle und setzte es dort ab. Der Speer war in der Hitze des Gefechts zu Boden gefallen. Robin musterte ihn mit einem raschen Seitenblick, aber der genügte, um ihm klarzumachen, in welcher Gefahr er sich befunden hatte. Wenn das Lebewesen ihm während des Schlafes den Speer in die Seite gestoßen hätte, wäre er nicht mehr erwacht. Doch jetzt saß dieses Wesen schicksalsergeben vor ihm und musterte ihn mit derselben Neugierde, mit der er es betrachtete. Es sah fast genau wie ein Mensch von der Erde aus, war aber beträchtlich kleiner, nur etwa einen Meter zwanzig groß, und seine Kopfform war dreieckig. Im Gesicht hatte es nur ein einziges Auge, und über dem Kopf trug es an einem kurzen, fühlerähnlichen Arm einen Leuchtkörper, der ein gelbes Licht ausstrahlte. Robin nahm das Fleisch vom Spieß, schnitt ein Stück davon ab und hielt es dem Lebewesen hin. Der Mondmensch betrachtete es mißtrauisch, streckte zögernd die Hand aus und griff schließlich zu. Dann roch er daran, leckte mit der Zunge darüber, fand es offenbar nach seinem Geschmack und stopfte es rasch in den Mund. Robin aß ebenfalls ein Stück davon, und diese Geste schien den anderen zu versöhnen. Es ist eine allgemeinverständliche, symbolische Handlung, dachte Robin. Nur Freunde pflegen ihre Mahlzeit zu teilen, und so wurde es wohl überall im Weltraum gehalten. 43
Danach griff Robin nach dem Speer und betrachtete ihn. Sofort nahm der Mondmensch eine von Robins Taschen und betrachtete sie ebenfalls. Die scharfe Speerspitze sah aus wie Glas, glitzerte und funkelte aber viel lebhafter und schien auch viel härter, scharfkantiger und schwerer zu sein. Robin betrachtete sie von allen Seiten, aber es dauerte eine Weile, bis er merkte, daß sie aus einem lupenreinen Diamanten bestand – einem Diamanten von zehn Zentimeter Länge. Nachdem sich Carew von dieser Überraschung erholt hatte, mußte er sich eingestehen, daß damit zu rechnen gewesen war. Im Innern eines vulkanischen Weltraumkörpers, wie es der Mond einmal gewesen war, mußte es Diamanten in großen Mengen geben. Was lag näher als der Gedanke, dieses harte Material für Waffen und andere Schneidwerkzeuge zu benutzen? Auf der Erde war ein einziger dieser Steine ein Vermögen wert, aber wer dachte hier auf dem Mond daran? Die Freundschaft des Mondmenschen ließ sich schneller gewinnen, als Robin ursprünglich gedacht hatte. Der Mann unternahm keinen Versuch mehr, zu fliehen. Im Gegenteil, er schien sogar die Gesellschaft Robins zu suchen, und es wäre sicher nicht einfach gewesen, ihn wieder loszuwerden. Er blieb dem Erdmenschen immer dicht auf den Fersen. Der Mensch mit der durchsichtigen Glashaut kannte auch eine Sprache, denn er begann bald, mit einer hellen, durchdringenden Stimme auf Robin einzureden. Nach einigen Versuchen brachte der Astronaut ihn so weit, daß er den Namen Robin wiederholte, Carew dagegen erfuhr, daß 44
der Name des Mondmenschen so ähnlich wie Korree klang. Trotz seiner Fähigkeit, zu sprechen und sich verständlich zu machen, mußte Korree einem primitiven, wilden Völkerstamm angehören. Als sich Robin auf den Rückweg zu seiner Höhle machte, lief der Mondmensch immer wieder voraus und wartete dann auf Robin wie ein Hund, der jeden Weg dreimal zurücklegt. Er trug keine Kleider und verstand auch nicht, wozu sie dienten. Sein einziger Ausrüstungsgegenstand war der Speer, den Robin ihm zurückgegeben hatte, aber als er den Erdmenschen zum erstenmal beim Gebrauch von Pfeil und Bogen sah, schien er auch das Vertrauen zu seiner eigenen Waffe verloren zu haben. Der Rückweg zu Robins Höhle durch den dunklen Schacht gestaltete sich verhältnismäßig einfach, denn sobald sie in die Dunkelheit vordrangen, leuchtete der Leuchtkörper an Korrees Kopf so hell auf, daß Robins Laterne daneben trübe erschien. Als sie an den Felsspalt kamen, mußte Robin den Mondmenschen auf den Arm nehmen und mit ihm hinüberspringen, denn die Muskeln Korrees waren nur für die Schwerkraft des Mondes gebaut, und diese Distanz war zu groß für ihn. Als sie in der Höhle angelangt waren, in der Robin gelebt hatte – in Gedanken sprach er von ihr schon als von seinem „Zuhause“ –, machten sie sich gemeinsam an die Arbeit. Korree begriff sehr rasch die kleinen Pflichten, die Robin ihm übertrug: das Füttern, Schlachten, Abhäuten der Kaninchen und das Gerben der Felle. Dabei benutzten sie jede Gelegenheit, die Sprache des anderen zu lernen. Robin schnappte jeden Brocken auf, den er von der Ein45
geborenensprache Korrees erhaschen konnte, und prägte ihn sich ein, während Korree begierig jedes Wort Englisch aufgriff, das Robin ihm vorsprach. Es dauerte etwa vier Monate, bis sie sich einigermaßen miteinander verständigen konnten. Robin hatte den Eindruck gewonnen, daß die Eingeborenensprache in vielen Beziehungen sehr primitiv war, aber über eine Vielzahl von verbalen Formen verfügte – ein charakteristisches Kennzeichen primitiver Eingeborenensprachen. Kurz darauf war er auch so weit, daß er die Geschichte Korrees verstehen konnte. Sein Volk lebte viele Höhlen weit entfernt. Die Reise dahin sollte mehrere Monate dauern, aber die Zeitbegriffe Korrees waren mit Vorsicht zu betrachten, da sie sehr unbestimmt und durch mystische Vorstellungen geprägt waren. Das Volk der Mondmenschen, dem Korree angehörte, bestand aus mehreren hundert Personen, die einen einzigen großen Stamm oder eine Art Sippe bildeten. Außer ihnen gab es noch viele solcher Stämme, meistens jeweils einen in jeder Höhle. Korree gab aber zu verstehen, daß irgendwo – dabei deutete er nach unten – auch größere Höhlen existierten, in denen mehrere Völker zugleich lebten, Völker mit großem Einfluß oder großer Zauberkraft – Robin brachte nie in Erfahrung, was Korree wirklich meinte. Aber Korree war noch nie dort unten gewesen. Diese Höhlen im Innern des Mondes waren tabu für sein Volk. Robin vermutete, daß die Völker vom Entwicklungsstand Korrees durch höher entwickelte oder stärkere Stämme vertrieben worden waren und daß sie nun deshalb in den unwirtlicheren Höhlen der Außenbezirke leben mußten. 46
Korree erzählte weiter, daß es auch große Höhlen gab, in denen niemand lebte, weil es darin entweder zu kalt oder zu heiß war. Robin schloß daraus, daß er von den Höhlen dicht unter der Oberfläche des Mondes sprach, die dem krassen Temperaturwechsel ausgesetzt waren. Der Mondmensch hatte irgendein Gesetz oder einen Zauber seines Stammes gebrochen und war deshalb vertrieben worden. Ein Ausgestoßener also. Darum war er auch sofort mit Robin gegangen, als dieser ihm ein Stück Fleisch angeboten hatte. Bei ihnen bedeutete das die Aufnahme in einen anderen Stamm. Und er war froh gewesen, irgendwo Aufnahme zu finden, obwohl Robin für ihn einen seltsamen Anblick bot – einen „Steinmann“ nannte er ihn wegen seiner undurchsichtigen Haut und seiner ungeheuren Körperkraft. Durch eingehende Fragen nach der Oberfläche des Mondes stellte Robin fest, daß Korree offenbar keine Vorstellung davon hatte, was für eine Art von Himmelskörper der Mond überhaupt war. Für ihn bedeutete der Mond nur einen Raum mit vielen Höhlen. Die Oberfläche hatte er noch nie gesehen, und er hatte auch noch nie etwas von ihr gehört: Daß es einen Raum geben sollte, der keine Wände hatte und der deshalb „im Nichts“ endete, konnte er sich überhaupt nicht vorstellen. Danach erkundigte sich Robin ausführlich nach den Höhlen, die weiter oben lagen. Korree gab an, daß diese Höhlen immer unwirtlicher wurden, je höher sie lagen, und daß sein Volk immer das Bestreben habe, nach unten zu ziehen, niemals nach oben. Carew fragte weiter. Er wollte in Erfahrung bringen, ob die Mondmenschen jemals die Mondoberfläche gesehen hatten. Er beschrieb die Sonne 47
und die Erde, aber Korree verstand kein Wort. Erst als Robin erwähnte, daß die Sonne ein heller Körper sei, so hell, daß die Augen schmerzen, wenn man hineinsieht, schien sich Korree an etwas zu erinnern. Er berichtete nach langen Umschweifen, daß er von einem Stamm gehört habe, der irgendwo in den höheren Bezirken lebe. In einen Teil von dessen Höhle schien manchmal ein schreckliches grelles Licht, das den Augen weh tat. Das Licht war nicht immer da, aber es drang von oben herab in die Höhle, durch die Decke hindurch, die aus einem Material wie sein Arm bestand. Offenbar wollte er damit sagen, daß sie durchscheinend sei wie sein Fleisch. Robin wurde ganz aufgeregt, als er das hörte. Vermutlich gab es irgendwo dicht unter der Oberfläche einen luftdichten Spalt oder eine Höhle mit einer Decke, die aus natürlichem Vulkanglas bestand. Durch diese Decke konnte das Sonnenlicht eindringen und die Wirkung hervorrufen, die Korree beschrieben hatte. Diese Höhle mußte er unbedingt finden. Sie schien der geeignete Ort zu sein, wo er die ersten Versuche durchführen konnte, um einen Hilferuf zur Erde zu senden. Korree schien von diesem Gedanken nicht sehr erbaut zu sein, aber er willigte ein, mit Robin zu gehen. „Kannst du mich führen?“ fragte ihn der Astronaut. „Viel schwer“, erwiderte der Mondmensch. „Kann machen. Du sagen, nicht schön. Viele Winter Weg, viele Höhlen.“ Aber Robins Entschluß stand fest. „Wir werden gehen. Aber zuerst will ich mir einen Raumanzug bauen. Vielleicht brauche ich ihn.“ 48
Korree spreizte die Hände zum Zeichen, daß er einverstanden sei. Es dauerte ungefähr zwei Monate, bis Robin etwas fertiggestellt hatte, das er für einen brauchbaren Raumanzug hielt. Mit vieler Mühe war es ihm gelungen, einem Metallstück die passende Form für einen Schutzhelm zu geben. Er ließ sich leicht über seinen Kopf stülpen, so daß die kleine Quarzplatte direkt vor seine Augen kam. Die Nähte waren so gut wie möglich mit tierischem Fett luftdicht gemacht. Der untere Rand des Helmes saß dicht auf seinen Schultern auf und wurde mit einer Schutzkleidung aus Leder verbunden, die den ganzen Oberkörper einschließlich der Arme bedeckte. Unterhalb der Gürtellinie wollte Robin seinen Körper nur durch eine dicke Kleidung aus mehreren Schichten schützen, die er so luftdicht wie möglich präpariert hatte. Um einen Vorrat an Atemluft mitnehmen zu können, hatte er sich einen Sack aus den Fellen von Mondhunden angefertigt. Wenn er mit Luft gefüllt war und auf die Oberfläche des Mondes gebracht wurde, blähte er sich wahrscheinlich wie ein Ballon auf, aber Robin hoffte, daß er mit dieser Ausrüstung mindestens zwanzig oder dreißig Minuten auf der Oberfläche ausharren konnte. Diese Zeit würde genügen, schätzte er, um hinauszueilen, einen Hohlspiegel oder Reflektor aufzustellen und sich rasch wieder in Sicherheit zu bringen. Die „Sicherheit“ würde voraussichtlich aus einem luftdichten Raum auf oder dicht unter der Oberfläche bestehen, mit einer Öffnung, durch die er rasch hinauseilen und ebenso rasch wieder hineinschlüpfen konnte, bevor die Luft ausströmte. 49
Eines Tages packte Carew seine Ausrüstung zusammen, ließ die übrigen Kaninchen aus dem Gehege frei und nahm so viele Lebensmittel mit, wie er und Korree tragen konnten. Während Cheeky mit großen Sprüngen vorauseilte, wandte der Astronaut seinem „Zuhause“ den Rücken und machte sich auf den Weg zu dem engen Schacht und den dahinterliegenden Höhlen. Mehr als eineinhalb Jahre war es jetzt her, fast zwei Jahre schon, daß er mit seiner Rakete in Richtung Mond gestartet war. Und jetzt erst war er bereit, den langen, schwierigen Weg zurück nach Hause anzutreten. 6. Kapitel Während sie durch die Höhlen wanderten, erkundigte sich Robin bei Korree so eingehend wie möglich nach der genauen Lage der Höhle, von der aus man die Sonne sehen konnte. „Ich nicht weiß von hier“, gab der Mondmensch zur Antwort. „Gehen von meiner Höhle, ja. Zuerst gehen in Korree-Höhle.“ Robin dachte darüber nach, während sie weiterwanderten. Trotz seiner schweren Last kam er mit Leichtigkeit voran. Seine Ausrüstung, in mehreren Taschen und Bündeln zusammengeschnürt, ergab zusammen fast sein Körpergewicht, und dennoch fühlte er sich unbeschwerter und elastischer als auf der Erde ohne Last. „Werden sie dich nicht töten, wenn du zu deinem Volk gehst?“ fragte er den Mondmenschen. Korree wandte sich nach ihm um, und Robin konnte 50
beinahe sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete. Unter der durchscheinenden Haut hob sich deutlich der Schädelknochen ab, und darauf pulsierte das Blut in den Adern und Venen. „Mit Robin sie mich nicht töten. Du mich beschützen“, meinte Korree. Offenbar betrachtete er den Erdmenschen als ein allmächtiges Wesen, für das Dinge wie Todesurteile seines Volkes nichts bedeuteten. Carew lächelte unbehaglich. Ohne Schußwaffen oder andere moderne Waffen konnte er trotz allem überwältigt werden, wenn die Mondmenschen zahlreich genug über ihn herfielen. Er mußte sich noch überlegen, wie er dem Volk gegenübertreten wollte. Nach ein paar Stunden gelangten sie an den dunklen Schacht, der zu der nächsten Höhle führte. Sie kamen ohne Schwierigkeiten hindurch und standen danach vor dem Dschungel, in dem Robin den Mondmenschen gefunden hatte. Korree führte ihn zu der gegenüberliegenden Höhlenwand an eine der zahlreichen Felsspalten und drang dort ein, während der Astronaut ihm dicht auf den Fersen folgte. Cheeky hatte sich inzwischen auf Robins Traglast gesetzt und klammerte sich dort fest. Dieser zweite Tunnel verlief in ähnlichen Windungen wie der erste. Ein paarmal mußten sie über breite Spalten im Boden hinwegspringen oder durch enge Passagen hindurchkriechen, wenn die Decke sehr niedrig war. Der Leuchtkörper an Korrees Kopf erhellte den Weg ein paar Schritte voraus mit einem fahlen, gelblichen Licht. Am Anfang achtete Robin sorgfältig auf jeden Fußbreit Boden, den er betrat, und lauschte auch auf den Widerhall ihrer 51
Schritte, so daß er immer wußte, ob sich der Tunnel verbreiterte oder verengte, aber allmählich erlahmte seine Aufmerksamkeit. Plötzlich blickte er auf. Vor ihm leuchtete nicht nur der einzelne Leuchtkörper an Korrees Kopf, sondern er entdeckte dahinter, etwas weiter entfernt, mehrere Lichter, die sich auf und ab bewegten. Zwei gelbe waren dabei, ein kleineres weißes und drei, die rötlich leuchteten. Er blieb stehen und starrte verwundert auf diese Lichter, aber Korree sagte nichts. Schließlich stieß Robin ihn mit dem Ellbogen an und flüsterte: „Was sind das für Lichter?“ Korree antwortete mit normaler Lautstärke. „Tiere. Weißes Licht ist gefährliches Tier. Muß aufpassen.“ „Hier? Mitten im Tunnel?“ fragte Robin verwundert. „Hier nicht Tunnel“, erklärte Korree. „Hier Höhle.“ Robin schaute sich neugierig um. Leider hatte er während der letzten paar Minuten nicht auf das Echo ihrer Schritte geachtet. Der Boden bestand nicht mehr aus felsigem Untergrund wie bisher, sondern aus feinem Sand. Jetzt bemerkte Carew auch, daß die Luft hier nicht mehr so stickig und abgestanden roch wie bisher. Sie befanden sich tatsächlich in einer neuen Höhle – aber in einer dunklen Höhle ohne jedes Licht. Als er sich weiter umschaute, bemerkte er noch zahlreiche weitere Lichter. Die kleinen, die sich dicht über dem Boden bewegten, gehörten sicher zu Würmern, während die anderen von größeren Säugetieren herzurühren schienen. Robin nahm seine Taschenlampe heraus, knipste sie an und leuchtete ringsumher. 52
Sie standen auf einem freien Platz, der nur mit Sand bedeckt war. Nur an wenigen Stellen wuchsen ein paar pilzähnliche Pflanzen. Der Lichtstrahl der Taschenlampe erfaßte auch mehrere kleine Tiere, die jedoch vor dem ungewohnten Licht rasch die Flucht ergriffen. Aber als Robin die Taschenlampe wieder ausknipste, leuchteten die Lichter ringsum zahlreicher wieder auf. „Gibt es viele Höhlen ohne Licht?“ erkundigte sich Robin. „Viele“, antwortete Korree. „Wir leben da nicht – nur Tiere.“ „Gibt es hier Tiere ohne Auge oder ohne Licht?“ wollte Robin wissen. „Ja“, erklärte ihm Korree. „Großes Tier. Sehr gefährlich. Immer …“ Plötzlich ertönte ein lautes Bersten vor ihnen; Holz splitterte, und gleichzeitig erloschen alle Lichter, auch das von Korree. Im selben Augenblick fühlte sich Robin zu Boden geschleudert, und etwas Riesiges, Großes und Schweres brach über ihn herein. Er hatte das Gefühl, unter einem Berg von zuckendem, warmem Fleisch begraben zu werden, unter einem Berg, der ihn vom Kopf bis zu den Füßen bedeckte und mit seinem Gewicht erdrückte. Robin wehrte sich, so gut er konnte. Er schlug mit Händen und Füßen um sich, bekam das unheimliche Lebewesen zu fassen und krallte sich mit der ganzen Kraft seiner irdischen Muskeln daran fest. Mit ungeheurer Anstrengung gelang es ihm, sich zuerst auf die Knie, dann auf die Füße zu erheben. Den riesenhaften Körper des Tieres stemmte er dabei buchstäblich hoch. 53
Mit einer Hand griff er nach seinem Messer und klappte es auf. Keine Sekunde zu früh. Schon fühlte er den glutheißen Atem eines gierigen Rachens auf seinem Gesicht. Mit aller Kraft stach er zu, zog das Messer zurück und stach wieder zu, immer wieder. Endlich hörte er ein durchdringendes Kreischen, und er fühlte, wie sich der Fleischberg von ihm herunterwälzte und mit zuckenden Bewegungen zurückwich. Rasch zog Robin seine Taschenlampe und knipste sie an, um seinen Gegner sehen zu können. Es war eine riesige schwabbelnde Fleischmasse, die sich eilig von ihm fortbewegte. Sie rollte sich von Korree herunter, der regungslos, aber unversehrt am Boden lag, krümmte sich zu einer Kugel zusammen und rollte davon, immer noch laut kreischend. Jetzt, in der Form einer Kugel, war das Wesen zwei bis drei Meter hoch. Irgendwo an seinem Körper saß ein Rachen mit zahlreichen Zähnen, und darüber standen mehrere Fleischlappen, die wahrscheinlich Ohren darstellten, aber nirgends hatte es ein Auge oder einen Leuchtkörper. Diese Organe brauchte das Tier auch nicht. Offenbar rollte es einfach in einer Höhle in der Dunkelheit herum, ließ sich von seinem Gehör leiten, überrollte seine Opfer, drückte sie platt und fraß sie dann. Korree stand auf. Er verlor über den Zwischenfall kein Wort. Anscheinend hielt er es für selbstverständlich, daß der starke Erdmensch dieses Ungeheuer in die Flucht geschlagen hatte. Robin nahm sich vor, in Zukunft besser aufzupassen. Es konnte leicht sein, daß der Mondmensch einmal seine Kräfte überschätzte. 54
Sie durchquerten den Rest dieser dunklen Höhle ohne weitere Zwischenfälle. Robin knipste zur Vorsicht in regelmäßigen Abständen seine Taschenlampe an und leuchtete den Weg vor ihnen ab, damit sie nicht neuerlich von einem Angreifer überrascht wurden. Einmal noch sahen sie in der Ferne einen dieser Mondpolypen, wie Robin diese wandelnden Fleischberge nannte, vorüberrollen. Sie blieben stehen und warteten, bis das Tier sich entfernt hatte. An der gegenüberliegenden Höhlenwand suchte Korree, bis er den Tunnel gefunden hatte, durch den er auf dem Herweg gekommen war. Danach mußten sie eine weitere Höhle ohne Licht durchqueren, die jedoch nicht so öde und kahl war wie die erste. Die Vegetation bestand aus riesigen Pilzen, die fast so hoch waren wie Bäume, und dazwischen liefen zahlreiche mäuseähnliche Tiere umher, die ein grünliches Licht verbreiteten. Die nächste Höhle war wieder hell, und Robin fühlte sich darin sofort behaglicher. Dahinter kam noch eine helle Höhle, durch die ein schmaler Wasserlauf floß. Er verschwand auf der gegenüberliegenden Seite in einer Spalte. Das Wasser sah gelblich aus und verbreitete einen bestialischen Gestank, der die ganze Höhle verpestete. Trotzdem war auch hier ein reichhaltiger Pflanzenwuchs vorhanden. Danach kam eine ganze Reihe von kleinen Höhlen, die jeweils nicht viel mehr als ein paar Meter im Durchmesser maßen, und schließlich gelangten die Wanderer zu einer, weitläufigen, sehr tiefen Höhle. Die Mündung des Tunnels, der in diese Höhle führte, lag dicht unter der Decke, so daß sie eine schwierige Kletterpartie über Felsspitzen und -kanten 55
unternehmen mußten, um hinunterzugelangen. Von oben herab schon entdeckte Robin einen See, der eine schmierige, ölige Flüssigkeit enthielt, und daneben, in einer Ecke dicht vor der Einmündung eines Tunnels, ein paar hundert Meter entfernt, bemerkte er etwas Seltsames. Er hielt im Klettern inne und wartete, bis Korree herangekommen war. Dann zeigte er ihm, was er gesehen hatte. Unmittelbar vor der Einmündung des Tunnels lag ein freier Platz, und darauf standen mehrere Gebilde, die er wegen der großen Entfernung nicht genau erkennen konnte. Aus der Ferne sahen sie jedenfalls wie große Eier aus. Während Robin noch neugierig hinüberschaute, sah er, wie sich dort eine Gestalt bewegte. Wegen ihrer durchscheinenden Haut hielt er sie für ein Tier und fragte Korree, was das sei. „Mensch wie Korree“, antwortete dieser ruhig. „Ein Freund? Jemand von deinem Volk? Was tun diese Menschen hier?“ fragte Robin weiter. Korree schüttelte energisch den Kopf. „Nicht Volk von Korree. Volk von unten. Kommt von tief unten. Sehr starkes Volk. Kommen her und holen …“ Er deutete auf die seltsame Flüssigkeit in dem See. „Nehmen mit.“ Robin riß erstaunt die Augen auf. Hier fand er seine Vermutung bestätigt. Die Mondmenschen, die tief im Innern des Mondes lebten, hatten eine höhere Entwicklungsstufe erreicht. Hier holten sie anscheinend etwas, das sie für irgendeinen Zweck gebrauchen konnten. Vielleicht war es ein Heizöl oder eine zement- oder teerähnliche Masse. Jedenfalls kamen diese Menschen hierher, füllten die Flüssigkeit in gro56
ße Behälter ab – jene eiförmigen Gebilde – und transportierten sie in ihre tiefer gelegenen Höhlen. Eines Tages wollte er dieser Sache auf den Grund gehen, um darüber berichten zu können, wenn er je zur Erde zurückkehrte. Aber zunächst erhob sich für ihn die Frage, ob ihm diese unbekannten Mondmenschen freundlich gesonnen waren oder nicht. Er fragte Korree danach, doch dieser zuckte nur die Achseln. Er meinte, die verschiedenen Stämme bekriegten sich zwar nicht, hielten es aber für ratsam, einander aus dem Weg zu gehen. Robins Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet. Sie kamen unangefochten durch diese Höhle und gelangten danach in eine andere, die nur durch das bizarre Farbenspiel von mehreren Gasflammen beleuchtet wurde. Robin glaubte, durch eine Märchenlandschaft zu wandern. Nachdem sie noch mehrere andere Höhlen durchquert hatten – die Reise dauerte nun schon fast eine Woche – führte Korree den Astronauten schließlich in eine große Höhle von mehreren Meilen Durchmesser. Dort blieb er stehen und sagte: „Höhle von Korree!“ Carew sah sich neugierig um, schulterte dann sein Bündel fester und pfiff Cheeky. Der Affe, der wie gewöhnlich weit vorausgeeilt war, kam sofort zurück und sprang auf Robins Rücken. Jetzt kam der entscheidende Augenblick für den Erdmenschen. Nachdem er sich noch ein letztes Mal seinen Plan hatte durch den Kopf gehen lassen, setzte er sich in Bewegung und ging hinter Korree her, der beim Weitergehen seinen Speer hoch über den Kopf hielt. Offenbar bedeutete das ein verabredetes Zeichen unter den Eingeborenen. 57
Die nächste halbe Stunde verging, ohne daß die Wanderer jemanden zu Gesicht bekamen. Aber als sie durch einen dichten Wald aus Kugelbäumen gingen, tauchten plötzlich von allen Seiten Eingeborene auf. Robin war davon überzeugt, daß er und Korree beobachtet worden waren, seit sie die Höhle betreten hatten. Aber erst jetzt, als sie weit genug von dem Tunnel entfernt waren, ließen sich die Eingeborenen blicken. Es waren etwa zwanzig und alle mit Speeren bewaffnet. Ohne daß Robin etwas bemerkte, hatten sie einen Kreis um ihn und seinen Begleiter gebildet. Korree hatte anscheinend damit gerechnet, denn er zeigte kein Zeichen von Überraschung. Robin dagegen blieb auf der Stelle stehen, und Cheeky klammerte sich beim Anblick der fremden Lebewesen ängstlich um seinen Hals. Sie boten auch tatsächlich einen seltsamen Anblick, diese Glasmenschen, wie Robin die Eingeborenen fortan nannte. Die einzelnen Personen unterschieden sich voneinander wie die Menschen auf der Erde. Manche waren groß, andere etwas kleiner. Die dunklen Schatten in ihren durchsichtigen Körpern ließen sie dick und aufgedunsen erscheinen, als hätten sie gerade zuviel gegessen. Genau wie Korree trugen sie überhaupt keine Kleider. Einer der Glasmenschen sagte etwas in scharfem Ton zu Korree, und dieser antwortete sofort. Der Sprecher trug auf seiner Brust einen Kreis aus schwarzer Farbe – anscheinend das Symbol einer besonderen Würde innerhalb des Stammes. Robin hatte den Eindruck, als ob er etwas tun müsse. Er ging auf die Glasmenschen zu, die vor dem unbekannten 58
Lebewesen scheu zurückwichen, und zog seine Schachtel Streichhölzer aus der Tasche. Es war die eine Schachtel, die er seit seiner Landung auf dem Mond bei sich trug. Sie enthielt nur noch drei Streichhölzer. Er hatte sie für besondere Gelegenheiten wie diese aufbewahrt und sich die ganze Zeit über nur des Stahls und des Feuersteins bedient. Er trat an einen Kugelbaum heran, hob das Streichholz in die Höhe, um es den Eingeborenen zu zeigen, riß es an dem Baumstamm an und hielt es an das Holz. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis der Baum Feuer gefangen hatte und lichterloh brannte. Während die Glasmenschen, sprachlos vor Staunen, auf dieses Wunder starrten, legte Robin sein Gepäck ab, holte tief Luft, nahm alle seine Kräfte zusammen und sprang in die Höhe. Er schoß etwa zehn Meter weit nach oben und sank dann langsam und sanft wieder herab. Diese Leistung hätte jeder andere Erdmensch auch vollbringen können, aber die Muskeln der Mondmenschen waren für solche Kraftanstrengungen nicht gebaut. Als die Glasmenschen sich vom Anblick des brennenden Kugelbaumes losrissen, war Robin ihren Blicken entschwunden, und erst als sie suchend nach oben blickten, sahen sie, wie er langsam herabschwebte. Sie stießen im Chor einen lauten Entsetzensschrei aus und stoben wie erschreckte Hühner auseinander. Als Robin wieder auf dem Boden stand, war er mit Korree allein, der so zufrieden aussah, wie es seine fremdartigen, unwirklichen Gesichtszüge erlaubten. Robin schulterte wieder sein Gepäck, pfiff dem Affen 59
und machte sich auf den Weg. In wenigen Minuten führte Korree ihn zu der Siedlung des Stammes, zu dem „Dorf“ seines Volkes. Die Glasmenschen bewohnten keine Häuser, Zelte oder ähnliche Unterkünfte mit einem festen Dach, sondern jede Familie hatte sich ein Stück Land mit kurzen, zugespitzten Hölzern abgesteckt, deren Spitzen nach außen zeigten. Innerhalb dieser Umzäunung lebte die Familie mit ihren wenigen Habseligkeiten. Ein privates, ungestörtes Familienleben gab es nicht unter diesem primitiven Völkerstamm. Als Robin durch das Dorf ging, saßen die Frauen mit ihren Kindern in diesen Umzäunungen, und rings um sich hatten sie die Jagdgerätschaften ihrer Männer, primitive Speere und Keulen sowie ein paar Lebensmittelvorräte aufgebaut. In der Mitte jeder Umzäunung lag etwas, das wie eine Decke aussah, kunstlos aus biegsamen Pflanzen geflochten. Robin nahm an, daß sie sich damit während der Kälteperioden zudeckten. Die Männer des Stammes hatten sich in der Mitte des Dorfes auf einem runden Platz versammelt. Sie starrten den Ankömmlingen schweigend entgegen. Korree trat vor sie hin und hielt eine längere Ansprache. Robin verstand kein Wort davon, aber er konnte sich denken, was er sagte. Wahrscheinlich rühmte er sich zunächst seiner Freundschaft mit dem fremden Zauberer und warnte dann seine Stammesgenossen vor den schrecklichen Folgen, die sie heraufbeschworen, wenn sie dem Fremden nicht bedingungslos gehorchten, und gleichzeitig nahm er sicher die Gelegenheit wahr, den Widerruf seiner Verbannung zu fordern. 60
Als er geendet hatte, trat Carew vor den Glasmenschen, der den schwarzen Kreis auf der Brust trug, griff nach dem Leuchtkörper an seinem Kopf und zog daraus scheinbar eine Kupfermünze hervor, die er zuvor in seiner Handfläche versteckt gehalten hatte. Diese Kupfermünze, die er die ganze Zeit über in der Hosentasche getragen hatte, gab er dem überraschten Eingeborenen. Der Glasmensch starrte verwundert darauf. Das Gesicht auf der goldbraunen Münze schien ihn zu hypnotisieren. So etwas hatte noch niemand gesehen – ein glänzender Stein mit einem menschlichen Gesicht darauf. Dieser neue Beweis von Robins Zauberkräften gab den Ausschlag. Robin und Korree blieben etwa drei Tage lang in dieser Höhle. Während dieser Zeit beschaffte sich Korree bei einem uralten Stammesmitglied nähere Auskünfte über die Höhle, die sie suchten. Inzwischen war es ihm offenbar auch gelungen, sein Ansehen innerhalb des Stammes wiederherzustellen, denn wo er ging und stand, war er von einem Schwarm Glasmenschen umgeben, die ehrfürchtig zu ihm emporsahen. Robin war davon überzeugt, daß er früher oder später die Häuptlingsrolle übertragen bekam. Die Kultur dieses Volksstammes blieb für ihn ein ungelöstes Rätsel. Diese Glasmenschen schienen auf einer sehr primitiven Stufe zu leben, aber sie besaßen ein kompliziertes System von Tabus und Zeremonien. Außerdem kannten sie, soweit Robin feststellen konnte, eine Art eheähnlicher Verbindung zwischen den Paaren und auch verwandtschaftliche Beziehungen, die sich allerdings auf die nächste Blutsverwandtschaft beschränkten. Eines Tages machte Robin noch eine erstaunliche Fest61
stellung. Eine der abgesteckten Umzäunungen bildete anscheinend eine gemeinsame Stätte für die Dorfbewohner, eine Art Tempel oder Zauberhain, vielleicht aber auch nur eine gemeinsame Vorratskammer. Robin wußte nur, daß keine Familie darin lebte, sonst nichts. Darin entdeckte er eine Ansammlung verschiedener Kleinigkeiten, wertlose Gegenstände, deren Sinn er nicht begriff. Unter anderem befanden sich darunter zum Beispiel die Kupfermünze, die er dem Häuptling aus dem Leuchtkörper am Kopf gezogen, und das abgebrannte Streichholz, mit dem er den Kugelbaum angezündet hatte. Ferner große und kleine Knochen von verschiedenen Tieren, mehrere Fetzen von Fellen, das Skelett eines Mondpolypen, den wahrscheinlich der Held des Stammes einmal erlegt hatte, zahlreiche Speerspitzen aus Diamanten, neue und gebrauchte – und etwas, das wie Metall schimmerte. Als Robin das sah, stieg er kühn über die Umzäunung hinweg, hob den Gegenstand auf und betrachtete ihn. Es war eine Messerklinge! Der Astronaut stellte auf den ersten Blick fest, daß sie nicht von der Erde stammte. Sie war ungefähr zwanzig Zentimeter lang und am Heft mehrere Zentimeter breit und lief in einer langen, schmalen Spitze aus. Die eine Seite war scharf geschliffen, aber die ganze Klinge sah aus, als wäre sie roh mit dem Hammer bearbeitet und nicht fachgerecht in einem Feuer geschmiedet worden. Auf der einen Seite war eine Reihe von seltsamen Haken und Linien eingraviert, die an die Buchstaben einer Schrift erinnerten. Die Schnittkante war gezackt und eingekerbt, als ob sie häufig benutzt worden sei. 62
Robin rief Korree und fragte ihn, was das für ein Gegenstand sei. Korree mußte sich zuerst beim Häuptling erkundigen, bevor er Antwort geben konnte. „Scharfes Ding“, erklärte er dann, „kommt von Menschen unten. Mensch von unten tot in Tunnel. Stein an Kopf. Wir finden, nehmen das.“ Carew fand auch hierin wieder seine Theorie bestätigt, daß es tief unten im Innern des Mondes eine höher entwickelte Kultur geben mußte. Die Menschen dort konnten zwar noch kein Eisen schmieden oder gießen, aber sie standen am Beginn ihrer Eisenzeit. Er hätte gern gewußt, ob die Zeichen auf der Klinge wirklich eine Schrift darstellten oder nur eine Zeichnung, und aus welchem Metall die Klinge bestand. Eisen war es jedenfalls nicht. Als mächtiger Zauberer, meinte er, hatte er sicher das Recht, solche Gegenstände zu beschlagnahmen. Er erklärte Korree, daß er die Klinge behalten wolle, und der Mondmensch erhob keine Einwendungen. Der Zeitbegriff dieser Menschen war ein Problem eigener Art. Robin hatte sich mit Korree nie darüber unterhalten können, und es schien, als hätten sie überhaupt keinen Zeitbegriff, als würden sie sich nie die Mühe machen, ihren Tagesablauf in Arbeits- und Ruhezeiten aufzuteilen. Manche jagten oder arbeiteten, wenn sie gerade Lust dazu hatten, und die anderen schliefen zu dieser Zeit. Als der Tag ihrer Abreise gekommen war, wurde Robin von Korree an der Höhlenwand entlang zu einer Felsspalte geführt, die über einen schmalen Sims zu erreichen war. Von dort aus verlief der Weg in zahlreichen Windungen weiter nach oben. 63
Sie wanderten mehrere Tage lang, immer bergauf, zur Oberfläche empor, und kamen dabei durch zahlreiche Höhlen, deren Pflanzenwuchs immer spärlicher wurde. In einer Höhle mußten sie meilenweit durch einen seichten Fluß waten, in einer anderen wären sie beinahe an einem ätzenden, schwefelhaltigen Gas erstickt. Während sie durch schmale, enge Schächte weiter nach oben krochen, wurde die Luft immer dünner, das Atmen immer schwieriger. Die geringste Anstrengung erschöpfte ihre Kräfte. Robin schloß daraus, daß sie sich der Mondoberfläche näherten. Auch die Tatsache, daß die Höhlen immer kleiner und die Verbindungskanäle immer enger wurden, ließ darauf schließen. Endlich kamen sie in eine kleine kreisrunde Höhle, auf deren anderer Seite ein See mit dunklem, brackigem Wasser lag. Robin sah sich suchend um, konnte aber nirgends eine Felsspalte entdecken oder einen Schacht, der zur nächsten Höhle geführt hätte. Hatten sie sich verirrt? Waren sie in die falsche Richtung gegangen? „Was nun?“ fragte er Korree. Der Glasmensch führte ihn zu dem See, deutete auf das Wasser und demonstrierte Atemanhalten. „Gehen in Wasser“, sagte er dann. „Tief unten. Kommen herauf – sind draußen.“ Mit der Hand beschrieb er dazu eine Auf-und-ab-Bewegung. Robin warf einen Blick in das Wasser. Korree hatte vielleicht recht. Es war möglich, daß das Wasser durch einen unterirdischen Kanal mit einer anderen Höhle in Verbindung stand. Aber konnte man es wagen, durch diesen Kanal hindurchzutauchen? 64
Korree zögerte nicht lange, sondern sprang mitsamt seinem Speer in das Wasser und tauchte unter. Robin wartete. Nach einer Weile erschien der Kopf des Glasmenschen wieder, und Korree kletterte an Land. „Tunnel dort“, berichtete er und deutete auf die Höhlenwand. „Gehen hoch steil.“ Carew mußte sein Glück versuchen, es blieb ihm keine andere Wahl. Er setzte sein Gepäck ab und überlegte. Cheeky tollte unbekümmert in der Höhle umher. Nach kurzem Zögern zog Robin seine Jacke und seine Schuhe aus, entfernte alles aus seinen Taschen, was durch das Wasser Schaden erleiden konnte, und sprang in das Wasser. Es war ein unheimliches Gefühl. Das Wasser hier auf dem Mond hatte dieselbe Dichte wie auf der Erde, aber sein Gewicht war viel geringer. Robin hatte das Gefühl, in einem luftleeren Raum zu schweben, als er untertauchte und auf die Höhlenwand zuschwamm. Als er wieder auftauchte, war es Nacht um ihn. Er befand sich außerhalb der Höhle, wenn er auch nicht wußte, wo. Korree mit seinem Leuchtkörper hatte es gesehen, und das genügte. Mit ein paar Stößen schwamm er vorwärts, bis er gegen eine Wand stieß, griff mit den Händen danach und zog sich daran empor. Bis hierher fand er die Angaben Korrees bestätigt. Von da aus führte ein schmaler Tunnel steil nach oben. Die Luft darin roch eigenartig, man konnte sie aber atmen. Dieser Teil des Mondes, davon war Robin überzeugt, stand mit den anderen Höhlen nicht in Verbindung. Er ließ sich wieder in das Wasser gleiten, tauchte unter und schwamm in die erste Höhle zurück. Dort kletterte er 65
an Land, holte seinen selbstgefertigten Schutzhelm aus dem Gepäck, setzte Cheeky hinein und drehte dann den Helm um, so daß die offene Seite nach unten kam. Den Affen hielt er mit der anderen Hand fest. Der Helm bildete auf diese Weise eine Taucherglocke, in die kein Wasser eindrang, während er den Weg mit dem Affen zum zweitenmal zurücklegte. Nachdem er Cheeky drüben in der anderen Höhle abgesetzt hatte, kehrte er wieder zurück und holte auf diese Weise nach und nach sein Gepäck herüber. Bis er damit fertig war, hatten die dünne Luft und die geringe Schwerkraft des Mondes seine Kleider schon wieder getrocknet. Nach einer kurzen Ruhepause begannen sie, durch den schmalen Schacht nach oben zu klettern. Kurze Zeit später sahen sie vor sich einen hellen Lichtschein, und von da an dauerte es nicht mehr lange, bis sie in eine Höhle gelangten, die ganz anders aussah als alle anderen Höhlen zuvor. Sie war sehr lang – mindestens zwei bis drei Meilen –, aber an der breitesten Stelle höchstens fünfzig Meter breit. Wenn man an den senkrechten Wänden hochschaute, gewann man den Eindruck. als wüchsen sie oben zusammen und ließen nur einen schmalen Spalt frei. Ein schwach phosphoreszierendes Licht erhellte diese Höhle. Als sie weitergingen, fiel Robin auf, daß hier keine Pflanzen wuchsen, daß seine Füße nur auf bloßen Staub traten. Er bückte sich und nahm eine Handvoll zwischen die Finger. Die Substanz fühlte sich trocken und porös an wie gemahlener Bimsstein. Carew richtete sich wieder auf und blickte noch einmal an den Wänden empor; und jetzt endlich fiel es ihm wie 66
Schuppen von den Augen – er hatte die Mondoberfläche erreicht! Sie standen auf dem Boden einer langen Felsspalte, eines Risses, der sich irgendwann einmal gebildet hatte und oben geschlossen war, so daß sich darin ein Luftpolster hatte halten können. Aber der Staub, auf dem sie gingen, war der Oberflächenstaub des Mondes, daran gab es keinen Zweifel. Er mußte sich im Laufe der Jahrmillionen und -milliarden hier angesammelt haben. Mit jedem Schritt, den sie weitergingen, wurde es heller. Hatten sie zuerst nur einen fahlen Schimmer wahrgenommen, so breitete sich jetzt ein helles, weißes Licht aus, in dem die Dinge seltsame Farben annahmen, die Robin noch nie zuvor gesehen hatte. Er schaute wieder nach oben und bemerkte, daß sich der Spalt zwischen den Wänden verbreitert hatte. Jetzt konnte er auch deutlich erkennen, daß er durch eine gläserne Schicht abgeschlossen war, die wie ein Deckel über den Wänden lag oder sich dazwischen spannte. Dahinter aber war es nicht mehr dunkel wie zuvor, sondern eine gleißende Helligkeit drang durch das Glas herein. Irgendwo dort oben war die Spalte durch die frühere Vulkantätigkeit des Mondes mit einer durchsichtigen Quarzschicht versiegelt worden. Und irgendwo dort oben schien die Sonne auf die Spalte herab. Ihre Strahlen fielen über die kahle Mondlandschaft hinweg und durch die Quarzschicht hindurch in die tiefe Schlucht. Zum erstenmal nach langen, entbehrungsreichen Monaten empfand Robin wieder das Gefühl von Licht und Wärme. Die Sonne hatte ihn wieder! 67
7. Kapitel Zuerst war es in der tiefen Spalte sehr kalt, fast eisig gewesen, aber der Teil, in den das Sonnenlicht fiel, war angenehm warm. Die Sonnenstrahlen wurden zwar von der Quarzschicht oben abgelenkt und zerstreut, hatten aber immer noch genügend Kraft. Robin genoß das Gefühl, die Strahlen auf seiner Haut zu spüren. Als er aber zufällig einen Blick darauf warf, fuhr er erschrocken zusammen. Zum erstenmal seit langen Monaten sah er sich wieder in natürlichem Licht, und jetzt erst kam ihm zum Bewußtsein, wie er aussah. Seine Haut war bleich und aschfahl geworden. Während der langen Monate, die er unfreiwillig in der Dunkelheit verbracht hatte, war alle Farbe aus ihr gewichen. Neugierig nahm er seinen Schutzhelm zur Hand und benutzte die Quarzschicht auf dem Sehschlitz als Spiegel. Sein Haar war zu einem fahlen Blond erblaßt, und dazwischen entdeckte er breite Strähnen weißer Haare, die wahrscheinlich davon herrührten, daß er während seines Fluges zum Mond ungeschützt den kosmischen Strahlen ausgesetzt gewesen war. Korree sah in dem hellen Licht noch durchsichtiger aus als sonst. Robin konnte jetzt tatsächlich die Umrisse seiner inneren Organe und fast jeden einzelnen Knochen sehen. Jetzt erst kam ihm zum Bewußtsein, wie schwach das phosphoreszierende Licht in den unterirdischen Höhlen gewesen war. Bisher war ihm das nie aufgefallen. Nachdem er wieder sein Bündel geschultert hatte, gingen 68
sie weiter. Der aschgraue Staub auf dem Boden wurde allmählich dünner, und an seine Stelle trat Sandboden. Gleichzeitig nahm die Luftfeuchtigkeit zu. Robin schloß daraus, daß sich irgendwo in der Nähe ein Gewässer befinden mußte. Auch der Pflanzenwuchs begann wieder, und schon nach kurzer Zeit tauchten sie in einem dichten Wald von Kugelbäumen und anderen Gehölzen unter. Robin hatte noch nirgends auf dem Mond einen so dichten Dschungel gesehen. Er vermutete, daß dieser Pflanzenreichtum von dem Sonnenlicht herrührte, das in regelmäßigen Abständen in die Spalte fiel. Zusammen mit dem hohen Feuchtigkeitsgehalt der Luft mußte die Sonnenwärme ein wahres Treibhausklima schaffen. Bald mußten sie hintereinander gehen und sich mühsam einen Weg durch das dichte Untergehölz bahnen. Cheeky turnte munter in den Ästen umher und genoß es sichtlich, daß er sich wieder einmal in einem echten Urwald bewegen durfte. Robin ging voran, und Korree folgte auf dem Pfad, den der starke Erdmensch schlug. Carew hatte trotz seiner Kräfte alle Hände voll zu tun, um vorwärts zu kommen, aber die Ungeduld, endlich an sein Ziel zu kommen, trieb ihn vorwärts. Erst nach einer Weile blieb er stehen, um sich auszuruhen. Dann drehte er sich zu Korree um, aber hinter sich sah er nur das dichte Dickicht mit den abgebrochenen Zweigen und dem zertrampelten Moos. Von Korree keine Spur! Robin schaute sich suchend um, aber das Untergehölz war zu dicht, als daß er es hätte mit seinen Blicken durchdringen können. Mit einem Seufzer setzte er sein Gepäck ab und rief: „Korree!“ 69
Keine Antwort, aber irgendwo in der Ferne hörte er das Knacken eines trockenen Zweiges. Er rief noch einmal, erhielt aber wieder keine Antwort. Auch als er ein paar Schritte auf seiner Spur zurückging, fand er kein Lebenszeichen von dem Mondmenschen. Allmählich wurde er unruhig. Was war passiert? Warum war sein Begleiter verschwunden? Er ging wieder zu seinem Gepäck zurück und rief dabei noch ein paarmal, aber wieder vergeblich. Der Astronaut wandte sich in die Richtung, aus der er das Geräusch knackender Zweige gehört hatte, und bahnte sich einen Weg. Plötzlich hörte er ein Rascheln über sich, ein vielstimmiger Schrei wurde laut, und dann fiel etwas Schweres auf ihn herab. Er fuhr herum und wollte sich befreien, aber ein zähes Gewirr von Schlingpflanzen umklammerte seinen Körper. Zwischen den Büschen tauchten durchsichtige Gestalten auf mit einäugigen Gesichtern, schemenhaft und blitzschnell wieder verschwindend, und immer noch hörte er das wilde Kampfgeschrei. Er nahm seine ganze Kraft zusammen, um die Fesseln zu zerreißen, aber die Mondmenschen warfen immer mehr Schlingpflanzen über ihn, wickelten ihn darin ein und schnürten ihn zu einem Bündel zusammen. Bevor er sich richtig zur Wehr setzen konnte, waren ihm die Arme fest an den Oberkörper gefesselt, so daß ihm jede Bewegung unmöglich wurde. Die Schlingpflanzen waren fest wie Stahltrossen, und je stärker er sich dagegenstemmte, desto enger schienen sie sich um ihn zu schlingen. Schließlich gab er seine Gegenwehr auf und hielt still. 70
Es hatte keinen Zweck, seine Kräfte nutzlos zu vergeuden. Zunächst mußte er einmal abwarten, was sie mit ihm vorhatten. Eine Zeitlang geschah gar nichts. Die Glasmenschen blieben im dichten Untergehölz verborgen, so daß er sie nur für Bruchteile von Sekunden zu Gesicht bekam, aber sie behielten die Enden der Schlingpflanzen, mit denen er gefesselt war, in ihren Händen. Dann schienen sie sich an einer Stelle zu sammeln, sämtliche Taue bewegten sich in diese Richtung. Und plötzlich begannen sie zu ziehen. Robin hätte sich dagegenstemmen können, und dann wäre der Kampf wahrscheinlich unentschieden ausgegangen, aber er tat es nicht. Er hielt es für am besten, freiwillig mit ihnen zu gehen. Wahrscheinlich führten sie ihn zu ihrem Dorf oder doch zumindest auf einen freien Platz, und dort konnte er seine überlegene Körperkraft besser entfalten. Während sie ihn durch den Dschungel zerrten, leistete er nur soviel Widerstand, wie erforderlich war, um ihnen genügend zu schaffen zu machen. Sie sollten ruhig ihre Kräfte verausgaben. Je erschöpfter sie nachher waren, desto besser war es für ihn. Nach einer gewissen Zeit hörte der Urwald auf, und sie gelangten, wie Robin vermutet hatte, zu der Siedlung der Eingeborenen. Aber im Gegensatz zu dem Volk Korrees, das Robin unterwegs kennengelernt hatte, lebten diese Eingeborenen in Höhlen, die in den steilen, fast senkrechten Wänden dieser Spalte zahlreich vorhanden waren. Die Wände bestanden aus einem porösen, zerklüfteten Bimsstein, und da die Spalte dicht unter der Mondoberfläche den krassen Temperaturunterschieden unmittelbar ausge71
setzt war, schien es nur natürlich, daß dieser Stamm in den Höhlen Zuflucht suchte. Robin sah beim Näherkommen mehrere Dutzend solcher Höhleneingänge. Davor standen zahlreiche Glasmenschen, darunter auch Frauen und Kinder. Die Eingeborenen, die ihn gefangengenommen hatten, etwa fünfzehn an der Zahl, waren Männer. Sie schleppten ihn zu der größten Höhle in der Mitte, deren Eingang mit blauen Kreisen und Ringen gekennzeichnet war, offenbar dem Abzeichen ihres Häuptlings. Korree befand sich schon dort, genauso gefesselt wie Robin. Er schien erleichtert zu sein, als er Carew sah, aber auch überrascht darüber, daß sich der starke Erdmensch hatte gefangennehmen lassen. „Sie fangen mich, Robin nicht sehen“, berichtete er, obwohl er Carew damit nichts Neues sagte. „Diese Menschen nicht gut. Sie wollen töten.“ Robin sah zu ihnen hinüber. „Das wird sich finden. Ich gebe uns noch nicht verloren. Warten wir ab.“ Der Mondmensch atmete erleichtert auf. Sein Vertrauen zu Robins übernatürlichen Fähigkeiten war unbegrenzt, und daß Carew keine Angst zeigte, war für ihn der beste Beweis dafür, daß es keinen Grund zur Beunruhigung gab. Ihre Bewacher hatten sich vor der Höhle des Häuptlings zusammengerottet. Eine Zeitlang warteten sie schweigend. Dann ertönte plötzlich eine Stimme aus dem Innern der Höhle. Sie richtete sich an einen der Glasmenschen, und dieser drehte sich danach zu Korree um und wiederholte die Frage. Korree antwortete ausführlich, worauf seine Antwort in die Höhle hinein wiederholt wurde. 72
Auf die Frage des Astronauten erklärte Korree, er habe dem unsichtbaren Häuptling in der Höhle gesagt, daß Robin ein Riese mit ungeheuren Körperkräften sei und sie alle vernichten werde, wenn sie nicht sofort ihre Gefangenen freigäben. Wieder kam die Stimme, und ihre Fragen wurden von dem Sprecher ihrer Bewacher wiederholt. Danach trat eine Pause ein, während der Robin im Innern der Höhle ein leises Gemurmel hörte. Dann gab der Häuptling einen Befehl. Die Glasmenschen zerrten an den Tauen, und Korree und Robin wurden zu einer anderen Höhle geschleppt. Nachdem man sie hineingeschoben hatte, wurde ein großer Felsblock vor den Eingang der Höhle gerollt, der sie an der Flucht hindern sollte. Im Innern dieser Höhle war es dunkel, aber nicht so dunkel, daß sie nicht die Umrisse ihrer nächsten Umgebung hätten erkennen können. Die Höhle war etwa fünf Meter tief und im hinteren Teil ein kleiner Haufen aufgestapelt. Lebensmittelvorräte, schätzte Robin, oder Abfälle. Er setzte sich mit Korree auf den harten Boden und prüfte die Schlingen, mit denen er gefesselt war. Durch Zerren und Ziehen verschob er sie so lange, bis er die Ellbogen freibekam. Nun konnte er sich mit voller Kraft dagegenstemmen. Wenige Sekunden später riß eine in zwei Teile und fiel zu Boden. Auf diese Weise sprengte er eine Schlinge nach der anderen, bis er sich völlig befreit hatte. Es nahm seine ganze Kraft in Anspruch, denn die Taue waren zuvor in eine Flüssigkeit getaucht worden, die sie besonders zäh gemacht hatte. Aber der Stärke eines Erdmenschen waren sie eben doch nicht gewachsen. 73
Danach riß Carew auch Korrees Fesseln auseinander. Dann streckten sie beide ihre Glieder, die schon ganz verkrampft waren. Korree warf einen Blick auf den hinteren Teil der Höhle, und der Leuchtkörper an einem Kopf blitzte für einen Augenblick auf. Zwischen den Bündeln, die dort lagen, hatte sich etwas bewegt. „Ein Mensch!“ sagte Korree ruhig. Robin blickte ebenfalls hin. Es konnte nur ein Glasmensch sein. Entweder ebenfalls ein Gefangener oder ein verborgener Lauscher. Robin zuckte die Achseln. Mochten sie ruhig lauschen. Englisch verstanden sie ohnehin nicht. Er setzte sich mit Korree neben dem Höhleneingang nieder und sprach leise mit ihm. Korree meinte, daß sie wahrscheinlich in einem feierlichen Zeremoniell getötet werden sollten. „Hunger!“ sagte er etwas später. „Kein Essen hier?“ „Da hinten muß etwas liegen“, erwiderte Robin und deutete auf den hinteren Teil der Höhle. Die Gestalt, die dort lag, rührte sich wieder, und plötzlich murmelte sie etwas. Ihre Stimme war tief und volltönend, ganz anders als die Stimme Korrees oder der anderen Glasmenschen, aber Robin verstand nicht, was der Mann sagte. Auch Korree hatte beim Klang dieser Stimme aufgehorcht. „Hast du ihn verstanden?“ fragte Robin. Korree schüttelte den Kopf. In der nächsten Sekunde erlebte Carew die größte Überraschung seines Lebens. Die Gestalt in der Ecke sprach wieder. „Wer ist da?“ fragte sie. „Ist da jemand, der englisch spricht?“ 74
Es war eine menschliche Stimme! Und der, dem sie gehörte, war der Sprache Robins mächtig, wenn auch mit einem fremden, harten Akzent. Robin und Korree sprangen auf und eilten nach hinten, wo die Gestalt lag, und im Schein von Korrees Leuchtkörper sah der Astronaut, daß es tatsächlich ein Mensch war. Ein Mensch von der Erde! Er lag am Boden auf ein paar Matten, an Händen und Füßen gefesselt, aber als Robin sich über ihn beugte, hob er den Kopf und sah ihn neugierig an. Er war noch jung, kaum älter als Carew. Jetzt lächelte er erleichtert. „Wirklich, Sie sind ein Mensch! Ich glaubte zu träumen, als ich plötzlich eine menschliche Stimme hörte. Sie sind Amerikaner, ja? – Dann sind uns die Amerikaner doch zuvorgekommen!“ Robin kniete neben ihm nieder und untersuchte seine Fesseln. Es waren solide Stricke aus gutem, echtem Nylon, und er brauchte eine ganze Weile, bis er die Knoten gelöst und den Mann befreit hatte. „Wer sind Sie?“ fragte er, während er an den Knoten arbeitete. „Haben Sie eine Rakete dabei?“ Der Mann erhob sich und rieb seine Gelenke. Sein Körper steckte in einer einteiligen blauen Pilotenmontur. Er war größer und schlanker als Robin, und sein rötliches Haar hing ihm wirr in die Stirn. „Mein Name ist Piotr Iwanowitsch Simonow“, stellte er sich mit einer formvollendeten Verbeugung vor. „Auf Ihre Frage muß ich leider erwidern, daß ich zwar tatsächlich eine Rakete bei mir habe. Sie steht oben auf der Mondoberfläche – aber dort wird sie für immer stehenbleiben. Wir 75
haben eine Bruchlandung gemacht. Trotzdem freue ich mich, Sie hier zu sehen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue!“ Robin klopfte ihm auf die Schulter. „Es tut mir leid, wenn ich Sie enttäuschen muß. Aber wir befinden uns beide in derselben Lage. Ich habe auch keine Rakete hier. Als ich Ihre Stimme hörte, glaubte ich schon, meine Rettung sei gesichert.“ Der andere sah ihn verdutzt an. Dann schüttelte er den Kopf. „Keine Rakete? Oh, das ist schade, sehr schade!“ Korree, der bei ihnen stand und vergeblich versuchte, der raschen Unterhaltung zu folgen, warf plötzlich ein: „Hunger. Großer Hunger. Ich essen.“ Er ging wieder in den hinteren Teil der Höhle und durchwühlte dort die Bündel, die am Boden lagen. Darunter befand sich auch das Gepäck Robins mit dem Lebensmittelvorrat. „Ich habe auch Hunger“, erklärte der Russe. „Seit ich hier in die Höhle geworfen wurde, habe ich nichts mehr zu essen bekommen. Kann man das Zeug zu sich nehmen?“ „Versuchen Sie es“, forderte Robin ihn auf. Sie setzten sich alle drei auf den Boden und aßen. Carew mußte den Russen dabei immer wieder anschauen. Der erste Mensch, den er seit zwei Jahren sah! Ein richtiger Mensch von der Erde! Aber wie kam er hierher? Und weshalb war er gefangen? Nachdem sie gegessen hatten, lehnte sich der Russe zurück und sah Robin fragend an. „Sie müssen mir Ihre Geschichte erzählen, Robin Carew. Wie kamen Sie auf den Mond?“ 76
Robin erklärte ihm kurz, daß seine Rakete, die den Mond nur umkreisen sollte, vom Kurs abgekommen und auf den Mond gestürzt war und daß er seither wie ein Schiffbrüchiger gelebt hatte. Der Russe hörte aufmerksam zu. Als Robin mit seiner Geschichte zu Ende war, sagte er: „Und nun möchte ich Ihre Geschichte hören. Wie kamen Sie hierher?“ Simonow nickte. „Das will ich Ihnen erzählen. Am besten beginne ich mit meiner Jugend“, erwiderte der Russe. „Ich war ein guter Schüler und bekam nur gute Noten. Als ich alt genug war, bestand ich die Aufnahmeprüfung für eine höhere Schule und wurde dann auf eine Ingenieurschule geschickt. Da ich mich schon immer für Astronomie und Raketentechnik interessiert hatte, spezialisierte ich mich auf diese Gebiete. Als ich achtzehn Jahre alt war, durfte ich mein Ingenieurstudium im Rahmen meines Militärdienstes fortsetzen. Ich war Soldat und Student zugleich, doch jetzt studierte ich auf einem der großen Versuchsgelände, die wir im Innern Sibiriens haben. Sie werden sie wahrscheinlich nicht kennen, da ihre Existenz streng geheim ist. Das Versuchsgelände, auf dem ich arbeitete, liegt in der Nähe des Baikalsees, des großen Binnenmeeres in Zentralasien nahe der mongolischen Grenze. Es ist das größte Versuchsgelände zur Erprobung von Raketen mit flüssigem Treibstoff. Als ich die theoretischen Grundlagen beherrschte, durfte ich auch praktisch tätig werden. Ich war beim Start von vielen unserer großen Raketen dabei. Es waren Raketen, die nach den Plänen der deutschen V-2 gebaut wurden, nach denselben Plänen, nach denen auch ihr Ame77
rikaner eure Raketen konstruiert. Wir hatten nämlich ebenfalls deutsche Wissenschaftler gefangengenommen, die für uns arbeiten mußten. Wir konnten viel von ihnen lernen. Der beste von ihnen war Hauptmann von Borck, der dann freiwillig bei uns blieb. Nachdem meine Militärzeit vorüber war, beschloß ich, noch länger am Baikalsee zu bleiben und dort als ziviler Ingenieur zu arbeiten. Mein Aufgabengebiet war zuerst die Tausend-Meilen-Rakete, später arbeitete ich an den Sputniks und war maßgeblich an ihrem Erfolg beteiligt. Es war ein hübscher Wettlauf mit euch Amerikanern. Wir waren meistens über eure Pläne unterrichtet – ihr veröffentlicht ja alles in den Zeitungen – und wurden von oben her immer gedrängt, euch zuvorzukommen. Manchmal gelang es uns, manchmal wart ihr schneller. Für uns auf dem Versuchsgelände war das eine Art Sport. Für den Staat bedeutete es natürlich eine sehr ernste Sache, aber wir als Privatmenschen und als Wissenschaftler freuten uns über jede Errungenschaft der Technik. Wir verglichen unsere Arbeit mit einem Schachspiel, bei dem es darauf ankommt, seine Absicht nicht durchschauen zu lassen und durch überlegene Intelligenz zu gewinnen. Als die ersten Satelliten gestartet waren und ihre Kreise um die Erde zogen, die amerikanischen und die russischen, da galt unser nächstes Ziel dem Mond. Welche Flagge würde dort zuerst gehißt werden – die rote Fahne oder das Sternenbanner? Wir nahmen den Wettlauf auf, aber diesmal wußten wir nicht mehr, wie weit ihr wart. Vielleicht hattet ihr einen ganz anderen Weg eingeschlagen. Von Borck entwickelte eine Möglichkeit, Atomenergie 78
als Antriebskraft zu benützen, und baute diese Erfindung in der Praxis aus. Wir erprobten sie an kleineren Modellen, bis uns schließlich das Ministerium befahl, eine große Rakete zu bauen, die mit diesem neuartigen Motor zum Mond fliegen konnte. Der Leiter unseres Versuchsgeländes wollte die Rakete zuerst durch einen Roboterpiloten fliegen lassen, aber Moskau war damit nicht einverstanden. Es sollte eine bemannte Rakete sein, damit der erste Mensch, der auf dem Mond landete, ein Sowjetbürger war. Von Ihnen, Robin, wußten wir natürlich nichts, da die Amerikaner ihre fehlgeschlagenen Versuche nun auch nicht mehr an die große Glocke hängen.“ Er lächelte, als er das sagte. Dann stand er auf, ging zum Höhleneingang und lauschte einen Augenblick. Danach kam er wieder zurück und setzte sich. „Nichts zu hören. Ich erzähle weiter“, sagte er. „So bauten wir also eine große Rakete mit dem ersten atomaren Treibsatz der Welt. Von Borck wollte sie selbst fliegen. Aber er war kein Russe und Moskau deshalb nicht einverstanden. Wir erhielten die Anweisung, eine dreiköpfige Mannschaft zusammenzustellen. Ich wurde dazu ausgesucht, weil ich jung und gesund bin und weil ich gute Zeugnisse hatte. Arkady Pawlowitsch Zwerin war unser dritter Mann. Als alles für den Start bereit war, verabschiedeten wir uns von unseren Kameraden und kletterten in die Rakete. Mir ist, als sei das schon eine Ewigkeit her, und doch weiß ich, daß es erst vor einer Woche war. Der Start klappte vorzüglich. Während der ersten zehn Minuten glaubte ich, mein Kopf müsse zerspringen, aber 79
dann war es vorbei. Von Borck war unser Pilot, aber er hatte wenig zu tun. Als die Zeit gekommen war, die Landung vorzubereiten, begann unser Pech. Der Mechanismus, der die Brennkammern der Rakete drehen sollte, hatte sich verklemmt. Wir mußten sie von Hand drehen, und dabei ging viel kostbare Zeit verloren. Als die Bremsraketen endlich zündeten, war es zu spät für eine weiche Landung. Unsere Rakete schlug mit hoher Geschwindigkeit auf dem Mond auf. Dabei wurde sie schwer beschädigt, das Triebwerk wurde zertrümmert. Auch die Raketenspitze, in der wir saßen, schlug hart auf, und der arme Arkady kam dabei ums Leben. Von Borck wurde mit dem Kopf gegen die Kabinenwand geschleudert. Ich selbst kam dabei am glimpflichsten weg. Zum Glück war die Kabine luftdicht geblieben. Als alles vorüber war, raffte ich mich auf und schaute hinaus. Wir lagen in einem großen Krater, dessen Boden überall von Rissen durchzogen war. Einer dieser Risse war mit einer Schicht aus Quarzglas bedeckt, und aus irgendeiner Öffnung kam Wasserdampf hervor. Daraus schloß ich, daß es irgendwo unter der Oberfläche Luft und Wasser geben müsse. Zuerst hatte ich schon alle Hoffnung aufgegeben, aber als ich das sah, sagte ich mir, daß wir jede Chance nützen müßten. Von Borck war noch immer bewußtlos, aber ich wollte ihn nicht allein zurücklassen. Deshalb zog ich ihm wie mir einen Raumanzug an, nahm Borck über die Schulter und verließ die Rakete. Er war nicht sehr schwer. Ich trug ihn die ganze Zeit über mit mir, während ich die Risse 80
im Boden des Kraters untersuchte. Kurz darauf fand ich den Weg hierher, der durch eine Reihe natürlicher Druckschleusen führte. Von Borck kam dann wieder zu sich, aber er hatte den Verstand verloren. Er redete nur noch Unsinn und behauptete, er sei der König der Trolle. Als wir die ersten Mondmenschen trafen, sagte er, das seien seine Trolle. Er tötete vier von ihnen, und seither glauben die Mondmenschen, er sei ein guter oder böser Geist, dem sie gehorchen müßten. Kurz darauf fiel er über mich her, fesselte mich und warf mich in diese Höhle. Ich fürchte, daß er uns irgendwann feierlich zum Opfer darbringen will. Er ist völlig verrückt geworden. Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen.“ Damit war Simonows Geschichte zu Ende. Seine letzten Worte hatten ziemlich hoffnungslos geklungen. „Wir brauchen die Hoffnung nicht aufzugeben“, redete Robin ihm deshalb zu. „Wir sind zwei gegen einen, und wenn wir es geschickt anpacken, müßte uns die Flucht gelingen. Glauben Sie, daß wir uns zu Ihrer Rakete durchschlagen können?“ Der Russe nickte. „Wahrscheinlich. Das hatte ich auch schon erwogen.“ „Und haben Sie dort etwas, womit wir Hilferufe senden können? Ein Funkgerät? Oder einen Hohlspiegel?“ Piotr nickte wieder. „Das Funkgerät ist beschädigt, aber es sind sehr starke Leuchtraketen an Bord. Die können von der Erde aus gesehen werden.“ „Ich vermute“, erklärte Robin, „daß sowohl die Amerikaner als auch die Russen inzwischen wieder neue Mond81
raketen gebaut haben. Wenn sie unser Signal sehen, können sie vielleicht schon sehr bald eine Rakete schicken, die uns abholt.“ „Aber wie sollen wir auf die Oberfläche hinaufkommen?“ gab der Russe zu bedenken. „Ich habe zwar einen Raumanzug, aber der liegt wahrscheinlich bei von Borck in der anderen Höhle. Dort wäre allerdings auch noch ein zweiter Anzug für Sie.“ Robin erzählte ihm von seinem selbstgefertigten Raumanzug, und Piotr zeigte sich davon sehr beeindruckt. Der Raumanzug lag bei dem Gepäck, das die Mondmenschen achtlos in den hinteren Teil der Höhle geworfen hatten. Sie packten ihn aus, und Piotr interessierte sich vor allem für den Helm. „Ist er auch luftdicht?“ wollte er wissen. Robin nickte. „Ich habe ihn unter Wasser ausprobiert. Er läßt keine einzige Luftblase durch.“ „Aber ich glaube nicht, daß die Idee mit dem Luftsack funktioniert“, wandte Piotr ein. „Wie wollen Sie die Luft hineinbringen? Sie müßten ihn mit Überdruck aufblasen, und dazu ist die menschliche Lunge zu schwach. Aber zum Glück habe ich drei Sauerstoffbehälter an meinem Raumanzug. Einen kann ich für Sie abmontieren.“ Piotr betrachtete nachdenklich den Schutzhelm, den sich Robin gebaut hatte. Carew beobachtete ihn dabei. Korree zupfte Robin am Ärmel und sagte: „Hier, Cheeky kommen.“ Robins kleiner Gefährte hatte ihn tatsächlich in der Höhle ausfindig gemacht. Den Glasmenschen war er natürlich mit Leichtigkeit entkommen, und danach mußte er seinen 82
Herrn gesucht haben. Jetzt erschien sein kleiner Kopf über dem Felsen, der den Eingang zu ihrer Höhle versperrte. Auf einen Pfiff von Robin zwängte er sich durch den schmalen Spalt zwischen dem Felsen und der Höhle hindurch und sprang mit einem Satz auf Carews Schulter. Simonow beobachtete das Tier interessiert. „Ich überlege gerade“, sagte er, „ob der kleine Kerl uns nicht bei der Flucht helfen könne. Es ist höchste Zeit, daß wir uns etwas einfallen lassen. Wir wissen nicht, wann von Borck seinen Schlag gegen uns zu führen gedenkt.“ Robin nickte. „Gut. Machen wir einen Plan. Zunächst müssen wir einmal feststellen, über welche Mittel wir verfügen. Ich glaube, die Glasmenschen haben mein ganzes Gepäck hier in die Höhle geworfen. Das vereinfacht die Sache wesentlich. Was hast du dabei?“ Ohne sich dessen bewußt zu sein, duzten sich die Schicksalsgefährten plötzlich. Sie gingen in den hinteren Teil der Höhle. Korree leuchtete ihnen dabei mit dem Leuchtkörper an seinem Kopf. Von Robins Gepäck war noch alles vorhanden. Auch der Raumanzug Piotrs mit den drei Sauerstoffbehältern war da. Robin hob einen Gürtel mit einer Revolverhalfter auf, der offenbar zu der Ausrüstung gehört hatte, aber die Halfter war leer. „Den Revolver hat mir von Borck abgenommen, als er über mich herfiel“, erklärte der Russe. „Außerdem besitzt er noch eine eigene Waffe.“ Aber Robin hatte unterdessen festgestellt, daß der deutsche Raketenspezialist nicht daran gedacht hatte, die Revolvermunition an sich zu nehmen, die noch in den Patronentaschen des Gürtels steckte. Er zog eine Patrone heraus, 83
untersuchte sie und sagte dann: „Damit müßte es möglich sein, Verwirrung zu stiften. Wenn es uns gelingt, ihre Aufmerksamkeit abzulenken, können wir den Felsen vor unserer Höhle zur Seite schieben und verschwinden. Es muß natürlich sehr schnell gehen, damit von Borck überrumpelt wird.“ „Natürlich! Die Patronen enthalten genügend Schießpulver. Damit können wir eine Bombe anfertigen oder ein Feuerwerk veranstalten.“ „Ich glaube, eine Bombe wäre am besten. Fangen wir gleich an.“ Robin setzte sich auf den Boden, breitete ein Tuch vor sich aus, das er im Gepäck des Russen gefunden hatte, und machte sich daran, die Patronen zu öffnen und das Schießpulver auf das Tuch zu schütten. Auf der Erde hätte er diese Arbeit wohl kaum ohne Werkzeuge oder ohne große Kraftanstrengung verrichten können, aber hier auf dem Mond ging es leichter. Die ungeheure Kraft ihrer Muskeln ermöglichte es ihnen, den Metallrand mit den bloßen Händen aufzubiegen. Bald hatte sich ein ansehnliches Häufchen angesammelt. Diesen hochexplosiven Sprengstoff schütteten sie in eine Glasröhre, die Piotr für wissenschaftliche Untersuchungen mitgenommen hatte, und füllten sie damit bis zum oberen Rand. Dann rollten sie eine lange Gewebefaser zu einer Schnur zusammen, wälzten sie in dem Schießpulver, bis sie ganz schwarz bestäubt war, und steckten dann das eine Ende in die Glasröhre. Die Schnur sollte ihnen als Lunte dienen. „Bevor es losgeht, müssen wir noch unser Gepäck bereitstellen“, erinnerte Robin. „Ich glaube, es ist besser, 84
wenn wir nicht über den Weg flüchten, über den ich hereingekommen bin. Damit würden wir uns wahrscheinlich nur unseren eigenen Fluchtweg abschneiden. Ich halte es für besser, wenn wir so schnell wie möglich zu deiner Rakete flüchten. Auf welchem Weg bist du gekommen?“ Simonow deutete in die entgegengesetzte Richtung. „Durch eine Öffnung ziemlich weit oben an dieser Wand dort. Ich glaube, ich könnte sie wiederfinden.“ „Dann packen wir jetzt unsere Sachen zusammen und machen uns fertig!“ schlug Robin vor. Er begann, sein umfangreiches Bündel zu schnüren, aber Piotr widersprach ihm. „Einen Teil davon kannst du zurücklassen!“ mahnte er. „Zuviel Gepäck würde uns nur unnötig belasten. Außerdem müssen wir durch ein paar enge Schächte hindurch, in denen es auf jeden Zentimeter ankommt. Ich schlage vor, wir lassen die meisten Lebensmittel zurück und nehmen nur mit, was wir für ein paar Mahlzeiten brauchen. Außerdem benötigst du nur noch deinen Helm und den Schutzanzug.“ Piotr Iwanowitsch zog inzwischen seinen Schutzanzug an, der aus einem luftdichten, mit Gummi getränkten Stoff bestand und mit einer elektrischen Heizung versehen war. Dann setzte er sich den Helm auf, um beide Hände frei zu haben, ließ aber die Vorderseite mit dem Visier offen. Robin hängte sich seinen Helm über die Schulter – sein primitiver Eigenbau hatte kein bewegliches Visier, das er hätte öffnen können. Als sie fertig waren,, stellten sie sich an den Felsen vor den Höhlenausgang und spähten durch den schmalen Spalt hinaus. 85
„Oh – es ist dunkel draußen!“ rief Robin überrascht aus. In der Tat war das helle weiße Sonnenlicht verschwunden, und die Schlucht lag im Dunkeln da. Zum Glück war die Dunkelheit jedoch nicht so undurchdringlich wie in den unterirdischen Höhlen, denn von oben drang immer noch ein schwacher Schimmer herab. Die Bäume und Büsche vor der Höhle waren als dunkle Schatten zu erkennen, und dazwischen bewegten sich die Glasmenschen mit ihren Leuchtkörpern, die sich aus der Ferne wie winzige leuchtende Punkte ausnahmen. „Klar!“ sagte Simonow. „Die Sonne muß untergegangen sein. Auch auf dem Mond geht sie unter. Als ich landete, stand sie schon sehr tief. Ob es hier wohl sehr kalt werden wird?“ „Ich habe das Gefühl, als wäre es schon kühler geworden“, meinte Robin. „Vielleicht bringt das von Borck aus seiner Höhle heraus. Er will sicher wissen, was passiert ist.“ Carew erklärte Korree mit ein paar Worten, was sie vorhatten, und bat ihn, Cheeky festzuhalten. Dann stemmten er und der Russe die Schultern gegen den riesigen Felsblock und schoben ihn mit einem kurzen Ruck zur Seite – eine Kraftleistung, mit der die Glasmenschen sicher nicht gerechnet hatten. Korree mußte das Licht seines Leuchtkörpers dämpfen, damit sie von draußen nicht gesehen werden konnten. Die beiden Erdmenschen knieten inzwischen nieder und zündeten die Lunte ihrer selbstgefertigten Bombe mit Hilfe von Robins Stahl und Feuerstein an. Als am Ende der Zündschnur eine kleine Flamme aufzüngelte, nahm Robin den 86
Affen und drückte ihm die Glasröhre in die Hand. „Dorthin!“ raunte er ihm ins Ohr und deutele in die Richtung, die ihrem Fluchtweg entgegengesetzt lag. „Nimm es mit und wirf es dort weg!“ Das Wegbringen und Apportieren von Gegenständen hatte er oft mit dem Affen geübt, und Cheeky hatte es immer Spaß gemacht. Robin hoffte, daß er auch diesmal gehorchen werde. Cheeky enttäuschte ihn nicht. Er packte die Glasröhre mit der glimmenden Lunte und verschwand mit ein paar Sätzen in der Dunkelheit. „Hoffentlich vergißt er nicht, die Bombe wegzuwerfen und sofort zurückzukommen“, sagte Robin noch. „Los jetzt!“ Die beiden Astronauten und Korree schlichen sich leise, aus der Höhle. Draußen herrschte ein schwacher Dämmerschein, kaum heller als das Licht von Sternen, aber doch hell genug, um sie ihre nächste Umgebung erkennen zu lassen. Während sie leise weiterschlichen, vermieden sie es sorgfältig, in die Nähe eines Glasmenschen zu kommen, in dessen Licht man sie hätte sehen können. Korree hielt das Licht seines Leuchtkörpers noch immer gedämpft. Plötzlich zerriß eine laute Explosion die Stille und die Dunkelheit hinter ihnen, und unmittelbar darauf ertönte ein durchdringendes Kreischen, das unverkennbar von einem wütenden Affen herrührte und fast genauso laut war wie die Explosion. Einen Augenblick lang blieb alles ruhig, aber dann brach die Hölle los. Die Glasmenschen rannten in kopfloser Verwirrung wild durcheinander, manche stießen trotz ihrer Leuchtkörper in der Dunkelheit zusammen. Keiner wußte, 87
was passiert war. Ein paar rannten vom Explosionsherd weg, andere liefen darauf zu, um zu sehen, was diesen schrecklichen Knall verursacht hatte, und wieder andere eilten in ihre Höhlen, um sich in Sicherheit zu bringen. In diesem allgemeinen Tohuwabohu hetzten Korree und die beiden Astronauten, so schnell sie konnten, durch die Schlucht. Sie mußten dicken Kugelbäumen ausweichen, durch dichtes Dickicht brechen, stolperten manchmal über unsichtbare Hindernisse, liefen aber mit unverminderter Geschwindigkeit weiter. Im Laufen und trotz der Dunkelheit bemerkte Robin, daß die Pflanzen bereits allmählich abstarben. Das Fehlen des Sonnenlichts hatte sich schon bemerkbar gemacht, nachdem die Sonne hinter den steilen Wänden der Schlucht untergegangen war. Offenbar wucherte die Pflanzenwelt hier sehr rasch empor und starb ebenso schnell wieder ab. Über die ängstlich schnatternden Stimmen der Glasmenschen hinweg hörte Robin plötzlich einen anderen Ton. Es war die brüllende Stimme eines Mannes. Die Explosion hatte von Borck aus seiner Höhle gelockt. Er schrie etwas, und seine Stimme bebte vor Wut. „Er ruft sie zur Ordnung!“ keuchte Simonow im Weiterlaufen. „Er weiß schon, daß wir es waren. Aber sie verstehen ihn nicht.“ Immer noch hetzten sie weiter. Schon hörten sie hinter sich das Geräusch von Verfolgern. Piotr schien ihre Situation zu optimistisch beurteilt zu haben. Offenbar mußte es von Borck gelungen sein, sich den Glasmenschen verständlich zu machen. Irgendwie hatte er ein paar dazu gebracht, 88
mit ihm die Verfolgung aufzunehmen. Robin hörte hinter sich das Knacken von Zweigen, als ihre Verfolger durch das dichte Unterholz brachen. Aber das Geräusch war noch weit entfernt. Sie hatten unterdessen einen beträchtlichen Vorsprung gewonnen. Robin hatte Korree am Arm gepackt und lief in hohen, weit ausgreifenden Sätzen weiter. Korree riß er dabei mit sich. Aber bald fiel ihm auf, daß Piotr seinen Lauf verlangsamen mußte, um sich seiner Geschwindigkeit anzupassen, und daß die Geräusche ihrer Verfolger hinter ihnen langsam, aber unaufhaltsam näher kamen. Auch Korree hatte das inzwischen bemerkt. „Mich loslassen!“ keuchte er. „Ich allein weg!“ Er riß sich von dem Griff Robins los und verschwand mit einem Satz in der Dunkelheit. „Halt! Warte doch!“ schrie Robin hinter ihm her und blieb stehen. Doch schon kam Piotr zurück und packte ihn an der Schulter. „Er hat recht! Allein kommt er besser durch! Wir hätten ihn ohnehin nicht mit hinauf zur Oberfläche nehmen können!“ Carew sah ein, daß der Russe recht hatte, aber er spürte doch ein Würgen in der Kehle, wenn er an den kleinen Glasmenschen dachte, an dessen Gesellschaft er sich inzwischen schon gewöhnt hatte. „Komm! Schnell!“ drängte Simonow wieder. Er faßte Robin an der Hand und zog ihn mit sich. In weiten, meterlangen Sätzen, wie sie nur ein Erdmensch mit seinen kräftigen Muskeln vollbringen konnte, stürmten sie vorwärts. Robin empfand ein unheimliches Gefühl dabei, als sie 89
blindlings in der Dunkelheit durch die unbekannte Schlucht liefen. Durch die Quarzschicht oben fiel zwar ein bißchen Licht, aber es war nur der Abglanz der Sterne, die irgendwo in weiter Ferne am Firmament funkelten. Ihr Licht trug nicht dazu bei, das Gelände zu erhellen. Weit hinter sich sahen sie die Glasmenschen mit ihren Leuchtkörpern, die in heilloser Unordnung durcheinanderliefen, und ab und zu tauchte ein Licht vor ihnen auf; meistens waren es Mondwürmer oder andere kleine Lebewesen, die sie aus dem Schlaf schreckten. Das Krachen und Knacken im Unterholz kam immer noch langsam näher. Schon hörten sie wieder die wütende Stimme hinter sich. Robin verstand nicht, was sie brüllte, aber Piotr erklärte es ihm, während sie weiterliefen: „Er beschimpft sie … Teufel, hat er eben gesagt … Als wir landeten – wollte er schon … Er glaubte – so etwas wie – König der Trolle und mich als Teufel …“ Sein Atem ging so rasch, daß er kaum einen Ton herausbrachte. Endlich tauchte eine Wand vor ihnen auf. Sie sahen sie so spät, daß sie beinahe im vollen Lauf dagegengerannt wären, wenn Piotr nicht Robin noch im letzten Augenblick zurückgerissen hätte. „Die Wand!“ rief er, packte Carew wieder am Arm und riß ihn mit sich in eine bestimmte Richtung. Schon nach wenigen Schritten blieb er wieder stehen. „Da ist der Sims!“ erklärte er aufatmend. „Los, schnell! Hinauf!“ Er kletterte voraus, und Robin folgte ihm, so schnell er konnte. Es war ein schmaler Sims, der bis zur halben Höhe der Schlucht reichte. Manchmal führte er in einer steilen Biegung hinab, an anderen Stellen dagegen stieg er fast 90
senkrecht empor. Robin und Piotr hatten keine Zeit, lange zu überlegen. Sie mußten weiter. Ein paarmal taumelte Robin, und er wäre gefallen, wenn er nicht mit einem solchen Tempo gelaufen wäre, daß er einfach über die Hindernisse hinwegschlitterte. Piotr dagegen lief mit der traumhaften Sicherheit einer Gemse. Hinter sich konnten sie jetzt ganz deutlich das Brüllen von Borcks hören. „Teufel!“ schrie er. Plötzlich blitzte an der Stelle, wo der Verrückte stand, eine Taschenlampe auf. Damit hatten die Flüchtlinge nicht gerechnet. Piotr hatte nicht gewußt, daß von Borck überhaupt eine Taschenlampe besaß. Der Lichtstrahl huschte ein paarmal dicht an ihnen vorbei, und ein- oder zweimal mußten sie sich flach zu Boden werfen, um nicht entdeckt zu werden. Kaum war der Strahl vorübergehuscht, liefen sie weiter. Aber plötzlich hatte er sie gefangen und hielt sie fest. „Vorwärts!“ keuchte Simonow. „Jetzt ist es nicht mehr weit!“ Sie hetzten weiter. Plötzlich ertönte unter ihnen ein lauter Knall, und neben Robin schlug etwas mit einem lauten Sirren gegen die Wand – eine Kugel! Der Verrückte schoß nach ihnen! Ein paarmal noch bellte unter ihnen der Revolver auf, doch sie achteten nicht darauf. Sie liefen um ihr Leben. „Da ist es!“ rief Piotr plötzlich, und im selben Augenblick schien es, als sei er von der Felswand verschluckt worden. Fast gleichzeitig entdeckte auch Robin die dunkle Öffnung, und in der nächsten Sekunde war er darin verschwunden. Simonow hatte dort auf ihn gewartet. 91
Ein paar Sekunden lang blieben sie in der Dunkelheit stehen und rangen nach Atem. Dann ließ Piotr die Taschenlampe aufblitzen, die zu seiner Raumausrüstung gehörte. Ihr Lichtstrahl beleuchtete einen schmalen, engen Schacht, der durch den nackten, kahlen Felsen hindurch steil nach oben führte. „Hierher!“ rief Piotr und eilte voraus. Robin blieb dicht hinter ihm, und so kletterten sie hintereinander durch den Schacht, der Robin nach so langer Zeit nun endlich zur Mondoberfläche führen sollte. 8. Kapitel An manchen Stellen verengte sich der Schacht zu einem schmalen, kaum passierbaren Spalt, durch den Robin nur mit Mühe hindurchkam. Aber wenigstens war er nicht sehr lang. Schon nach wenigen Minuten merkte Robin, wie sich die Luft veränderte, und an dem Widerhall ihrer Schritte hörte er, daß sie sich in einem größeren Raum befanden. Das Licht von Piotrs Taschenlampe bestätigte diese Beobachtung. Sie standen in einer kreisrunden Luftblase, die sich hier mitten im Gestein gebildet hatte. Simonow ging ein paar Schritte voraus und suchte nach etwas am Boden. Dann blieb er stehen und deutete auf eine Stelle vor seinen Füßen. „Wir müssen noch einmal hinunter – durch diese Öffnung im Boden!“ Er beugte sich darüber. „Du mußt dich einfach fallen lassen. Es ist nicht sehr tief!“ Er trat über das Loch, setzte sich auf die Kante und ließ sich langsam hinuntergleiten. Robin schaute hinab und sah 92
direkt darunter den Boden einer anderen Höhle. Piotr nahm ihm von unten das Gepäck ab, und Robin ließ sich ebenfalls hinuntergleiten. Sie standen jetzt in einem ovalen, länglichen Hohlraum. Die Decke war so niedrig, daß sie gebückt gehen mußten, um nicht mit dem Kopf anzustoßen. Robin wunderte sich darüber, daß Piotr den Weg so genau zu kennen schien, aber dann bemerkte er, daß der Russe nur den Fußspuren folgte, die er auf dem Herweg hinterlassen hatte. Der felsige Untergrund war mit einer dünnen Staubschicht bedeckt, in der sich die Fußspuren deutlich abgedrückt hatten. „Wie hast du diesen Durchgang überhaupt entdeckt?“ fragte Robin. Seine Stimme dröhnte in der engen Höhle. „Ich hatte auf dem Boden des Kraters einen Riß bemerkt, aus dem Gas oder Dampf strömte. Deshalb folgte ich diesem Riß, bis ich eine Öffnung fand, durch die ich mich zwängen konnte. Hier unten suchte ich dann in sämtlichen Richtungen, bis ich einen Durchgang fand.“ Robin wußte, daß sich hinter dieser knappen Erklärung eine Menge Schweiß und Mühe verbargen. Immerhin hatte Piotr dabei einen bewußtlosen Mann auf dem Rücken mit sich geschleppt. „Glaubst du, daß von Borck uns folgt?“ fragte Robin. Simonow schüttelte den Kopf. „Kaum. Erstens hätten wir ihn dann wahrscheinlich schon gehört. Zweitens ist er sicher noch genügend bei Verstand, um zu wissen, daß er zuerst seinen Raumanzug holen muß, bevor er uns folgt. Und drittens kann er sich gar nicht mehr an diesen Weg erinnern. Er war ja damals bewußtlos.“. 93
Nachdem sie sich von ihrer Anstrengung erholt hatten, faltete Robin die Hände vor dem Bauch und ließ Piotr hineintreten. Auf diese Weise konnte Piotr mit den Händen den Rand des Spaltes erfassen. Er zog sich daran hoch und ließ dann von oben sein Nylonseil herab, mit dem er Robin zu sich emporzog. Über dem Spalt befand sich wieder eine kleine Höhle, deren eine Seitenwand eingebrochen war. Dahinter schloß sich eine ganze Reihe von Höhlen an, die alle ineinander übergingen oder dicht nebeneinanderlagen und durch leicht passierbare Durchgänge verbunden waren. Danach gelangten die Männer wieder an einen Spalt in der Decke einer Höhle. Sie bewerkstelligten den Aufstieg wie beim erstenmal und gingen dann weiter. Robin merkte, daß sein Atem immer schwerer ging. „Ich kann nicht mehr!“ keuchte er schließlich. Piotr blieb sofort stehen. Sie befanden sich gerade in einem Schacht, der steil anstieg. „Das ist der Luftdruck“, erklärte er. „Er ist hier schon ziemlich niedrig. Du bist an den hohen Luftdruck unten in den Höhlen gewöhnt, wie du mir erzählt hast. Aber hier dicht unter der Oberfläche wird die Luft in diesem komischen Höhlensystem immer dünner. Er hat bald die kritische Grenze erreicht. Wir müssen langsam gehen und öfter ausruhen. Ich möchte den Vorrat in unseren Sauerstoffbehältern erst angreifen, wenn es nicht mehr anders geht.“ Allmählich atmete Robin wieder ruhiger, und er fühlte, wie seine Kräfte zurückkamen. Sie gingen weiter, setzten aber langsam Fuß vor Fuß und blieben dabei öfter stehen, um sich auszuruhen. 94
Der Schacht endete in einer schmalen Öffnung. Piotr wartete, bis Robin ihn eingeholt hatte. „Das ist der kritische Punkt“, sagte er dann. „Horch!“ „Was ist das?“ flüsterte Robin. „Eine ganz gewöhnliche Naturerscheinung“, antwortete Piotr ebenso leise. „Das ist die einzige Sperre, die die Luft in diesen unterirdischen Höhlen davon abhält, in den luftleeren Raum über der Mondoberfläche zu entweichen. Es ist ein Strom von heißem Gas aus einer vulkanischen Quelle. Das Gas strömt mit ungeheurem Druck und mit ebenso ungeheurer Geschwindigkeit durch diesen Gang da draußen. Es muß von irgendwo aus dem Innern des Mondes kommen, wo noch eine große Hitze herrscht, und wahrscheinlich strömt es in einen kalten Raum. Dabei bildet es einen undurchlässigen Vorhang zwischen der Luft hier auf dieser Seite und dem luftleeren Raum über der Oberfläche. Die Geschwindigkeit, mit der es strömt, vollbringt dieses Wunder, und der ungeheure Druck und seine hohe Temperatur tragen dazu noch bei.“ Er hielt seine Taschenlampe vor die Öffnung und leuchtete hinaus. Die Öffnung führte in einen langen, kanalähnlichen Gang, der nach rechts und links abzweigte und auf beiden Seiten irgendwo im Dunkeln verschwand. Die gegenüberliegende Wand war nur wenige Meter von der Öffnung entfernt. Bis auf das pfeifende Geräusch war nichts Ungewöhnliches zu bemerken. „Du mußt dicht an der Wand entlanggehen“, sagte Piotr noch, bevor er sich durch die Öffnung zwängte. Während er weiterging, strich er mit einer Schulter immer an der Wand entlang. 95
Robin folgte ihm dicht auf dem Fuß. Eine Luftbewegung spürte er nicht, höchstens ein schwaches Wärmegefühl an seiner rechten Körperseite. Irgendwo mußte der heiße Gasstrahl an ihm vorüberströmen, aber wo? Einen Meter von ihm entfernt oder nur ein paar Millimeter? Er wußte es nicht. Weiter vorn bildete die Wand eine kleine Einbuchtung, in der sie vor dem unsichtbaren Gasstrahl noch sicherer waren. Piotr wartete dort auf Robin. „Ich glaube, wir müssen jetzt unsere Raumanzüge herrichten“, sagte er. „Von hier aus sind es nur noch ein paar Meter, dann müssen wir quer durch den Gasstrahl. Gleich dahinter kommt eine Öffnung, die hinaus auf die Oberfläche führt. Wenn wir den Gasstrahl durchquert haben, befinden wir uns schon im luftleeren Raum.“ Robin setzte sein Gepäck ab. Piotr untersuchte noch einmal seine Ausrüstung und schüttelte dann zweifelnd den Kopf. „Hoffentlich geht alles gut, aber ein paar Vorkehrungen müssen wir noch treffen.“ Er nahm den großen Beutel, den Robin als Luftbehälter vorgesehen hatte. „Der hat ohnehin keinen Zweck, aber wir können ihn zu etwas anderem gut gebrauchen.“ Er nahm das Messer von Robin und begann, den Beutel in lange Lederstreifen zu zerschneiden. Als er damit fertig war, gab er sie Robin. „Diese Streifen mußt du so fest um dich wickeln, wie du kannst“, erklärte er. „Fang ganz oben an der Brust damit an. Wickle sie auch um die Arme und um die Beine und wenn möglich auch um die Finger. Und zieh sie so fest an wie möglich. Ich werde dir dabei helfen.“ 96
Während sie beide diese Arbeit ausführten, erläuterte Piotr den Zweck dieser Maßnahme. „Im luftleeren Raum ist es nicht damit getan, einen Schutzhelm zu tragen. Der Blutdruck und der Gasdruck in deinem Körper würde dir das Atmen unmöglich machen, und du wärst auch unfähig, dich zu bewegen. Deshalb muß dein Körper dicht verpackt sein. Ein richtiger Raumanzug wie meiner ist mit einer Vorrichtung für automatischen Druckausgleich versehen. Er hat überall Luftkammern, in denen sich der Druck automatisch erhöht, sobald er außen geringer wird. Wenn du diesen Druckausgleich nicht hast, hilft dir auch der Helm nichts. Deshalb mußt du diese Bandagen so fest wie möglich anziehen – so fest, daß du gerade noch Luft bekommst.“ Er wickelte Carew ein, bis dieser sich wie in einer Zwangsjacke vorkam und wie eine ägyptische Mumie aussah. Selbst seine Finger wurden umwickelt. Die Handschuhe waren so weit, daß er, sie noch über die Bandagen ziehen konnte. Danach schnallte Piotr ihm einen seiner drei Luftbehälter auf den Rücken. „Ich glaube, damit schaffst du es bis zu der Rakete“, sagte er. „Ein Glück, daß du den Helm so groß gemacht hast, daß er dir bis über die Schultern reicht. Der Luftschlauch ist lang genug. Steck ihn dir in den Mund. Die Luft wird dir zwar mit einigem Druck in die Lungen strömen, aber wenn du es richtig machst, kannst du durch die Nase ausatmen. Es ist nicht ganz einfach, besonders am Anfang, aber du wirst es schon lernen.“ Bevor er Robin den Helm über den Kopf stülpte, gab er 97
ihm noch einen letzten Ratschlag. „Unterwegs können wir nicht miteinander sprechen. Du hast kein Funksprechgerät, und außerdem mußt du den Luftschlauch im Mund behalten. Hör also gut zu, was ich dir jetzt sage. Die Rakete liegt etwa hundert Meter entfernt. Ich gehe voraus, und ich binde dir dieses Seil um den Leib, so daß du mich nicht verlieren kannst. Bleib mir dicht auf den Fersen. Es ist möglich, daß das Augenglas in deinem Helm beschlägt oder daß sich daran eine Eisschicht bildet, wenn das Kondenswasser von deiner Atemluft gefriert. Wenn du nichts mehr sehen kannst, brauchst du dich nur von dem Seil leiten zu lassen. Aber bleib dicht hinter mir! Nur nicht stehenbleiben! Und vor allem – durchhalten! Alles klar?“ Robin fühlte, wie sein Herz klopfte. Die Bandagen beengten ihn. Auf die nächsten Minuten kam es nun an. Er nickte und hielt Piotr die Hand hin. Simonow schlug ein und schüttelte sie lange und kräftig. „Und paß auf, wenn wir den Gasstrahl durchqueren. Er hat eine unheimliche Gewalt!“ sagte er noch. Robin steckte den Luftschlauch in den Mund. Piotr stülpte ihm den Helm über den Kopf und befestigte ihn so dicht, daß kein Zwischenraum mehr freiblieb, durch den die Luft entweichen konnte. Dann griff er um Robin herum und drehte einen Hahn an dem Luftbehälter auf Carews Rücken auf. Im ersten Augenblick glaubte Robin, er müsse ersticken. Es war ein Gefühl, als stieße ihm jemand die geballte Faust in die Lungen. Er schluckte ein paarmal Luft, bis er den Trick herausgefunden hatte, die Luft durch die Nase entweichen zu lassen. Als es ihm zum erstenmal gelang, er98
schrak er vor dem starken Luftstrom in seiner Nase, aber allmählich gewöhnte er sich daran. Durch den Sehschlitz in seinem Helm konnte er sehen, daß Simonow ihn ängstlich beobachtete. Dann band sich der Russe das Nylonseil um den Leib und befestigte das andere Ende an Robins Gürtel. Schließlich klappte er das Visier an seinem Schutzhelm zu, öffnete das Luftventil an seinem Raumanzug, nickte dem Gefährten ein letztes Mal zu und trat in den Gang hinaus. Auf der anderen Seite sah Robin eine breite Öffnung. Dahinter war es dunkel. Nur ein paar helle Punkte funkelten. Die Sterne! Dann trat Piotr einen Schritt vor, und im selben Augenblick schien es, als werde er von einer Riesenfaust gepackt und quer durch den Gang geschleudert. Das Seil spannte sich, und Robin mußte sich sofort in Bewegung setzen, um nicht von den Füßen gerissen zu werden. Danach ging alles sehr schnell. Ein glühendheißer Luftstrom erfaßte ihn mit ungeheurer Gewalt. Er verlor den Boden unter den Füßen, wurde emporgewirbelt und von dem unwiderstehlichen Druck mitgerissen. Das Seil spannte sich wieder, und Piotr stemmte sich mit voller Kraft dagegen. Robin wurde herumgerissen, mit großer Wucht gegen die gegenüberliegende Wand des Ganges geschleudert, nochmals zurückgeworfen und dann mitten durch die Öffnung hindurch nach außen gedrückt. Plötzlich war Stille um ihn. Das pfeifende Geräusch und das Tosen des Gasstroms, das ihm soeben noch in den Ohren geklungen hatte, dies alles war verstummt. Nur das leise Rauschen der Atemluft in seinem Helm hörte er noch. 99
Er stand draußen auf der Oberfläche des Mondes! Endlich! Die Öffnung, durch die er herausgekommen war, klaffte in einem steilen Abhang, und dieser Abhang gehörte zu der Wandung eines tiefen, weiten Kraters. Robin wollte sich noch weiter umsehen, aber Piotr zerrte an dem Seil und zog ihn mit sich. Er ging mit großen, weitausgreifenden Schritten voraus, und Robin folgte ihm. Die Gefahr, in der er schwebte, war vergessen. Er konnte keinen Blick von dieser märchenhaften Mondlandschaft wenden. Die gegenüberliegende Kraterwand war schätzungsweise zwölf Meilen entfernt, aber die dünne Luft – die kaum noch wahrnehmbare dünne Luft, die sich auf der Sohle des Kraters hielt – ließ die Entfernung zu einem Nichts zusammenschrumpfen. Robin konnte selbst kleine Einzelheiten am öfteren Kraterrand erkennen. Und doch war es Nacht auf diesem Teil des Mondes. Die Sonne war untergegangen. Es hätte dunkel sein müssen, stockdunkel. Aber das war es nicht. Die ganze Landschaft war in ein kaltes, grünlich-weißes Licht getaucht, das Robin an eine Vollmondnacht auf der Erde erinnerte. Er blickte zum Himmel empor. Die Lichtquelle hing direkt über ihm, senkrecht über seinem Kopf. Eine große leuchtende Kugel mit grünem, blauem und weißem Licht, eine Kugel mit einem hellen nebelhaften Schleier. Eine Kugel, die Robin sofort bekannt vorkam, obwohl er sie noch nie gesehen hatte. Es war die Erde, sein Heimatplanet, der sich in seiner vollen Pracht zeigte mit einem wundervollen Farbenspiel – die Erdteile und die Inseln waren deutlich zu erkennen, und 100
die Pole erstrahlten in einem makellosen Weiß. Es war ein Anblick, der Robin fast den Atem benahm. Wie gebannt blieb er stehen. Doch Piotr zog ihn weiter. Aber immer wieder sah sich Robin um. Der milde Schein der Erde lag wie ein Zauberlicht über der kahlen Mondlandschaft. Den Boden bedeckte eine dicke Staubschicht, und an einzelnen Stellen ragte daraus die Wölbung einer unterirdischen Höhle wie eine Blase hervor. Zahlreiche Risse durchzogen den Boden in allen Richtungen. Sie mußten darüber hinwegspringen. Plötzlich entdeckte Robin in der Ferne einen langen Streifen aus einer weißlichen Substanz, und es berührte ihn eigenartig, als ihm klarwurde, daß dies wohl das glasähnliche Dach über der Schlucht war, aus der sie soeben mit knapper Not entkommen waren. Der Himmel über ihm war tiefschwarz, aber mit Myriaden von Sternen übersät. Gegen den Horizont hoben sich die Umrisse zweier Berge ab mit seltsamen, bizarren Formen, die an das Schattenbild von zwei Boxern im Ring erinnerten. Beim Weitergehen rutschte Carew plötzlich aus, weil er einen kleinen Riß im Boden nicht gesehen hatte. Er fing sich noch rechtzeitig, bevor er fiel, aber von nun an mußte er langsamer gehen. Piotr, den er kaum noch vor sich erkennen konnte, hatte von dem Vorfall nichts bemerkt. Er ging in gleichem Tempo weiter. Das Seil zwischen ihnen straffte sich. Beim nächsten Schritt stürzte Robin zu Boden und schlug schwer gegen einen Felsen. Dabei verschob sich sein Schutzhelm. Nur um einen winzigen Spalt, aber er 101
verschob sich. Ein zischendes Geräusch ertönte, die Quarzplatte vor seinen Augen wurde wieder klar, und im selben Augenblick hatte er das Gefühl, als würden seine Augen aus den Höhlen springen und als würde die Luft bis auf den letzten Rest aus seinem Körper herausgesaugt. Durch den Sehschlitz seines Helmes erhaschte er einen flüchtigen Blick auf einen riesenhaften Metallkörper, der vor ihm in die Höhe ragte. Die russische Rakete, dachte er noch. Ein Ungetüm aus blankpoliertem Metall, das im milden Schein der Erde matt schimmerte. Robin sah sie auf sich zukommen und merkte, undeutlich wie in einem Traum, daß Piotr ihn mit sich schleppte. Er merkte auch, daß sein Helm einen Spalt offenstand, daß die Luft daraus entwichen war und dabei die kondensierte Feuchtigkeit mit sich gerissen hatte. Doch der Luftschlauch steckte noch in seinem Mund, die Luft strömte noch immer mit unvermindertem Druck in seine Lungen und entwich fast mit demselben Druck durch die Nase. Irgendwie schützte ihn dieses kleine Luftpolster, das sich in seinem Helm in dauerndem Kreislauf befand, vor den Folgen des absoluten Vakuums. Trotzdem traten seine Augen schmerzhaft weit aus den Höhlen, und aus der Nase strömte das Blut, das von dem Luftstrahl fortgerissen und zu einem feinen Nebel zerstäubt wurde. Die ganze Innenseite des Helmes war damit schon eingesprüht. Als Carew schon glaubte, es ginge nicht mehr, und als er schon alle Hoffnung aufgeben wollte, fühlte er sich plötzlich unter den Armen gepackt, hochgehoben und in einen kleinen dunklen Raum gezerrt. Wie aus weiter Ferne hörte er das Zuschlagen eines schweren Lukendeckels und un102
mittelbar darauf ein zischendes Geräusch, dann schwand ihm das Bewußtsein. Sein letzter Gedanke war, daß er es doch noch bis zur Druckschleuse der sowjetischen Rakete geschafft hatte und daß sein Leidensweg nun zu Ende war. 9. Kapitel Robin erwachte davon, daß ein feuchtwarmes Tuch sanft über sein Gesicht strich. Nur langsam kehrte sein Bewußtsein zurück. Als er die Augen aufschlug, sah er Piotr, der sich über ihn beugte und ihm vorsichtig Gesicht und Nase abtupfte. Die Augen schmerzten Carew noch, und wenn er sie schloß, fühlten sich die Lider an wie Schmirgelpapier. „Nur keine Aufregung!“ redete Piotr ihm zu. „Deine Augen sind noch blutunterlaufen, aber zum Glück ist ihnen nichts passiert. Das Nasenbluten hat jetzt auch aufgehört. Aber du hättest keine Sekunde länger draußen bleiben dürfen.“ Robin hob den Kopf. Zuerst fühlte er sich noch schwach und benommen. Er lag in einer Hängematte, die quer durch die ganze Kabine der Rakete gespannt war. Langsam, Stück für Stück, musterte er die neue Umgebung. Dann bewegte er seine Muskeln, um festzustellen, ob noch etwas schmerzte. Simonow hatte ihm während der Bewußtlosigkeit den Schutzanzug ausgezogen und die Bandagen entfernt. Jetzt trug er eine leichte Fliegermontur. „War ich lange bewußtlos?“ fragte er und versuchte, sich aufzurichten. „Ungefähr eine halbe Stunde“, antwortete Piotr. „Es 103
muß der Schreck und die Überanstrengung gewesen sein. Du hast ein paar Prellungen an den Füßen und an den Schienbeinen, aber sonst nichts Ernsthaftes. Möchtest du etwas Warmes? Proviant von der Erde?“ Robin spürte plötzlich Hunger, und die Erinnerung an hundert gute Sachen stürmte auf ihn ein. Er nickte und stürzte sich begierig auf die Mahlzeit, die Piotr schon gewärmt hatte. Sie bestand nur aus einfachen Würstchen und Kartoffeln, dazu einem Stück Schwarzbrot und einem Becher mit einer heißen Flüssigkeit, deren Geschmack an Kohlsuppe erinnerte – aber für Robin bedeutete es mehr als das raffinierteste Festbankett. Zum erstenmal seit langen Monaten aß er ein anderes Fleisch als das von Kaninchen oder Mondtieren, aß er ein anderes Gemüse als die Früchte der Kugelbäume. Seine Zunge schwelgte in den ungewohnten Genüssen, die zum Abschluß durch eine Tasse heißen Tees gekrönt wurden. Frisch gestärkt sah er sich danach mit neuem Interesse in der Kabine um. Sie war sehr klein und nahm nur den vorderen Teil der Kapsel ein. Für die drei Mann Besatzung mußte es ziemlich eng hergegangen sein, zumal der Pilotensitz mit den Steuergeräten einen großen Teil des Raumes beanspruchten. Daneben war noch Platz für zwei Hängematten, die offenbar nur für den Start oder zum Schlafen gespannt wurden. Die Hängematte, in der Robin gelegen hatte, wurde von Piotr bereits wieder aufgerollt. Außerdem gab es da noch eine eingebaute elektrische Wärmeplatte, einen Wassertank mit einem Hahn, eine ganze Reihe von Meß- und Untersuchungsgeräten, ein paar zusammenklappbare Sitze und noch ein paar andere Kleinigkeiten. 104
Rings um die Vorderseite der Kapsel, in Augenhöhe des Piloten, waren mehrere Bullaugen angeordnet, und künstliches Licht kam von einer elektrischen Lampe im vorderen Teil der Kapsel. Die ganze Kabine hing etwas schräg, aber das war auf die Bruchlandung zurückzuführen. „Ich bin überrascht“, sagte Robin, „daß sich alles noch in einem so guten Zustand befindet. Ich hatte damit gerechnet, ein Wrack vorzufinden.“ Simonow zuckte die Achseln. „Ich muß zugeben, daß von Borck ein vorzüglicher Pilot war. Daß wir eine Bruchlandung machten, war bestimmt nicht seine Schuld. Wir sollten ja nicht landen, sondern nur den Mond auf einer engen Bahn umkreisen und dann zurückfliegen.“ Robin stand auf. Er fühlte sich nun schon wieder besser in Form. Neugierig betrachtete er die zahlreichen Uhren und Instrumente. Sie waren noch unversehrt und mit russischen Buchstaben beschrieben. „Und woher kommt der elektrische Strom?“ erkundigte er sich. „Hinten in der Rakete haben wir eine Atombatterie“, erklärte Piotr. „Die geht bei einer Bruchlandung nicht so schnell kaputt. Du siehst, daß sie noch funktioniert.“ „Dann können wir also um Hilfe funken?“ fragte Robin weiter. „Strom ist vorhanden, und die Rakete muß doch auch mit Funk …“ „Das habe ich schon versucht, aber die Funkanlage wurde bei der Landung beschädigt. Wir haben jedoch noch einen kleinen Hilfssender speziell für solche Notfälle. Ich weiß nur nicht, ob er noch funktioniert. Versuchen wir es einmal.“ Er hob eine Bodenklappe an. Der Raum darunter war mit 105
Ersatzteilen, Vorräten und Werkzeugen vollgepfropft. Simonow kramte darin herum und brachte dann einen kleinen schwarzen Kasten zum Vorschein. Diesen gab er Robin, zog eine Kabelrolle hervor, setzte sich damit auf den Pilotensitz und begann, das Gerät an die elektrische Anlage der Rakete anzuschließen. Als er den letzten Stecker in die entsprechende Dose geschoben hatte, drückte er auf einen Schalter und legte einen Hebel herum. Sofort begann das Gerät zu summen. „Es funktioniert“, stellte Piotr befriedigt fest. „Damit wird ein Signal auf einer bestimmten Bandbreite ausgestrahlt. Wenn es auf der Erde empfangen wird, kann mit Funkpeilgeräten festgestellt werden, woher es kommt. Wir brauchen damit nichts weiter zu tun – das Gerät sendet automatisch, jahrelang, solange unsere atomare Stromquelle reicht. Wir müssen nur warten, bis das Signal zufällig aufgefangen wird.“ „Aber es muß doch noch eine andere Möglichkeit geben, die Aufmerksamkeit auf uns zu lenken!“ protestierte Robin. „Du sagtest etwas von Leuchtraketen!“ „Stimmt!“ fuhr Piotr auf. „Die müssen noch vorhanden sein. Und es ist Nacht draußen. Wenn wir die Raketen abschießen, müßten sie sogar von mittelstarken Teleskopen gesehen werden. Sollen wir sie gleich hochjagen?“ Robin nickte. Piotr öffnete einen zweiten Gerätekasten, räumte ein paar andere Sachen beiseite und zog dann einen Raumanzug hervor. „Das war der Anzug von Arkady“, erklärte er. „Er müßte dir passen.“ 106
Er paßte tatsächlich, und diesmal spürte Robin nichts von den Beschwerden, die ihn bei seinem ersten Gang über die Mondoberfläche befallen hatten. Wenige Minuten später stand er mit Piotr in einiger Entfernung von der Rakete und half ihm, die Leuchtraketen vorzubereiten. Der schwere Raumanzug war zwar lästig, hemmte ihn aber nicht in seiner Bewegungsfreiheit. Das Gewebe enthielt eingelassene Luftkammern, die sich automatisch aufbliesen und dafür sorgten, daß an seinem Körper immer konstante Druckverhältnisse herrschten. Der Schutzhelm war absolut luftdicht, elektrisch geheizt und bequem zu tragen. Nur an die Atmung mußte man sich gewöhnen, da die Luft unter Druck einströmte und mit demselben Druck ausgeatmet werden mußte. Sie stellten die Leuchtraketen, die aus großen Magnesiumfackeln bestanden, in sicherer Entfernung von der Rakete auf und verbanden sie mit einem elektrischen Zündgerät, das an Bord der Kapsel stand. Bevor sie zu der Kapsel zurückgingen, blieben sie noch einen Augenblick stehen und schauten sich um. Der Krater war von hohen, kahlen Bergen umgeben. Ihre bizarren, seltsam geformten Umrisse bildeten einen schwarzen Ring, der sich gegen den sternenübersäten Nachthimmel abhob, und genau in der Mitte dieses gezackten Ringes drehte sich langsam die matt schimmernde Erdkugel. Ihr fahles Licht warf unheimliche, gespenstische Schatten über die kahle, öde Mondlandschaft. Hier und dort ragten die geheimnisvollen Kuppeln hervor, unter denen die unterirdischen Höhlen lagen, wie Robin inzwischen wußte, 107
und an anderen Stellen gähnten tiefe Krater mit ihren steil abfallenden Wänden. „Es sieht trostlos aus“, sagte Piotr zu Robin über das Kehlkopfmikrophon in ihren Schutzhelmen. „Aber als wir hier landeten, am hellen Tag und bei strahlendem Sonnenschein, da sah alles ganz anders aus. An den tiefer gelegenen Stellen, wo Luft aus den unterirdischen Hohlräumen strömte, wuchsen vereinzelte spärliche Pflanzen. Dieser Krater ist einer der tiefsten auf dieser Seite des Mondes. Die Luft, die man hier vorfindet, ist kaum noch wahrnehmbar, und dennoch ist sie um ein Vielfaches dichter als die Luft drüben auf den ,Seen’ hinter den Kratern.“ Sie gingen zu der Rakete zurück und kletterten in die Kabine. Robin verband die Zündkabel mit dem elektrischen Zünder. Dann trat er noch einmal an ein Bullauge und blickte hinaus. „Gegenüber dem Mond“, sagte er, „steht gerade die westliche Hälfte der Erde. Sie kommt eben in Sicht. Auf der Höhe von New Mexico muß es jetzt früher Morgen sein. Die Russen werden also unsere Raketen nicht sehen.“ Piotr zuckte die Achseln. „Wir können in zwölf Stunden noch eine Rakete hochjagen. Aber wer uns rettet, interessiert mich nicht. Die Hauptsache ist, daß wir überhaupt gerettet werden.“ Robin drückte auf den Knopf. Der Krater draußen wurde von einer grellen Stichflamme erhellt, von einem blendendweißen Licht, das über mehrere Meilen hinweg zuckende schwarze Schatten auf die Mondlandschaft warf. Es leuchtete bis hinüber zu den fernen Bergen rings um den Krater und erhellte ihre wildromantischen Schluchten und 108
Steilhänge. Die kahle, öde Mondlandschaft bot sekundenlang ein Bild fast überirdischer Schönheit. Fünf Minuten später, als die Fackel ausgeglüht war, drückte Carew noch einmal auf den Knopf des Zünders. Die zweite Rakete zischte hoch, und wieder wurde der Krater taghell beleuchtet. „Das müßte eigentlich auf der Erde deutlich zu sehen sein. Dort ist jetzt gerade Neumond. Der Lichtpunkt muß dort aussehen wie ein, funkelnder Diamant auf einer schwarzen Samtunterlage“, sagte Piotr. Danach zogen sie ihre Raumanzüge aus und legten sich in die Hängematten, um sich von den Strapazen zu erholen. Nach einer weiteren Mahlzeit schliefen sie für ein paar Stunden und zogen dann wieder ihre Raumanzüge an, um genau zwölf Stunden später den zweiten Satz Leuchtraketen abzufeuern, die jetzt vom asiatischen Kontinent aus gesehen werden mußten. „Nachdem wir nun auch den Russen eine Chance gegeben haben, uns zu retten“, meinte Piotr, „sollten wir wieder in die unterirdischen Höhlen gehen. Bis zur Ankunft einer Rettungsexpedition kann es noch Monate dauern. Für eine so lange Zeit reichen unsere Lebensmittelvorräte nicht. Auch an den Sauerstoff für die Atemluft müssen wir denken. Ich halte es deshalb für am besten, wenn wir die Zeit bis zu unserer Rettung bei den Mondmenschen verbringen.“ Robin nickte. Piotr zog zwei Revolver aus einem Schubfach und gab einen davon Robin. „Den kannst du für alle Fälle haben. Schnalle ihn dir über den Raumanzug.“ 109
Carew wog die Waffe ein paar Sekunden in der Hand und steckte sie dann in die Halfter. Danach zogen sie wieder ihre Raumanzüge an, gurteten ihre Halfter um und packten ein paar Gerätschaften zusammen, die sie vielleicht brauchen konnten: eine Taschenlampe, ein Jagdmesser, eine Axt und eine Schachtel wasserfester Streichhölzer. Bevor sie gingen, banden sie sich zur Vorsicht wieder mit dem Nylonseil aneinander und warfen noch einen letzten Blick auf die Kabine. Das kleine Funkgerät summte immer noch. Früher oder später mußten sie auf der Erde das Signal empfangen, und dann kam Hilfe. Die Frage war nur, wie lange das noch dauerte. Robin schauderte es bei dem Gedanken, daß er vielleicht noch Jahre fern der Erde verbringen mußte. Ihr Anblick und der Geschmack des Essens von der Erde hatten das Heimweh in ihm geweckt. Doch es hatte keinen Zweck, solchen trüben Gedanken nachzuhängen. Er klappte das Visier seines Schutzhelmes zu und gab Piotr ein Zeichen, daß er bereit sei. Zusammen kletterten sie durch die Luke nach draußen und verriegelten sie hinter sich. Einen Augenblick lang blieben sie noch unschlüssig stehen. In diesem Augenblick prallte etwas mit einem hellen Klirren von der Metallfassung an Robins Helm ab und schlug gegen die Bordwand der Rakete. Erschrocken fuhr Carew zurück und drehte sich um. Eine halbe Sekunde später warf er sich nieder und rief: „Vorsicht, Piotr! Deckung!“ Genau vor der Öffnung, die zu den unterirdischen Höhlen führte, stand ein Mann. Er trug einen Raumanzug wie 110
sie, und aus dem kleinen schwarzen Gegenstand in seiner Hand zuckte eine rote Flamme hervor. „Von Borck!“ keuchte Robin. „Er schießt auf uns!“ 10. Kapitel Robin blieb reglos liegen, fläch gegen den Boden gepreßt. Piotrs Stimme hörte er über das Kehlkopfmikrophon in seinem Schutzhelm. „Bist du verletzt?“ „Nein. Nur mein Helm wurde getroffen, aber es war wohl nur ein Streifschuß. Der Helm ist noch dicht. Und was ist mit dir? Wo bist du?“ Von seiner Stellung aus konnte er Simonow nicht sehen, aber dieser mußte sich irgendwo in seiner Nähe befinden. „Direkt hinter dir“, kam auch schon die Antwort des Russen. „Aber wir müssen uns eine bessere Deckung suchen. Ein paar Meter links von dir ist eine kleine Bodensenke. Robbe vorsichtig hinüber und lege dich hinein.“ Carew hob vorsichtig den Kopf, aber er erhielt kein Feuer. Wenn er am Boden lag, bot er dem Mordschützen in dem fahlen, blassen Licht der Erde wohl kein genügendes Ziel. Er hob sich auf die Ellbogen und die Knie und robbte vorsichtig zu der Bodensenke hinüber. Darin befand er sich einigermaßen in Sicherheit. Er wälzte sich herum und schaute nach Piotr. In dem schwerfälligen Raumanzug mußte er den ganzen Körper drehen, wenn er nach hinten blicken wollte. Simonow kam vorsichtig zu ihm herangekrochen. Plötzlich spritzte hinter ihm eine Staubfontäne auf. Er zog den Kopf ein. 111
„Er schießt schon wieder!“ rief Robin ihm zu. „Beeil dich!“ Mit ein paar raschen Bewegungen kroch Piotr weiter und ließ sich neben dem Amerikaner in die Bodensenke gleiten. Dann rollte er sich auf die Seite, zog seinen Revolver aus dem Gürtel und brachte ihn in Anschlag. „Wir müssen von Borck unschädlich machen. Er oder wir – darum geht es jetzt!“ Robin griff nach seinem Gürtel und zog den Revolver hervor. Mit dem Daumen schob er den Sicherungsflügel zurück. „Ich tue es nicht gern“, sagte er. „Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, ihn gefangenzunehmen und bis zu unserer Rettung festzuhalten! Du hast gesagt, er sei ein Genie auf seinem Gebiet. Vielleicht könnte er auf der Erde wieder geheilt werden.“ Piotr zuckte die Achseln. „Natürlich nehmen wir ihn gefangen, wenn es möglich ist. Aber wir dürfen nicht zuviel riskieren, sonst kommen wir nicht mehr lebend heraus!“ Wie zur Bestätigung der Richtigkeit seiner Worte spritzte eine Staubfontäne neben ihnen auf. Von Borck hatte den dritten Schuß abgegeben. Robin schob den Revolver vor sich her und kroch ein paar Zentimeter nach vorn, so daß er den Lauf der Waffe an einem Stein auflegen konnte. Auf diese Weise konnte er die Genauigkeit des Schusses erhöhen. Als er in der richtigen Stellung lag, hob er den Kopf. Von Borck stand noch vor der Öffnung, die zu den unterirdischen Höhlen führte. Seine Gestalt hob sich deutlich vom Hintergrund ab. Robin zielte, so gut er es mit dem schwerfälligen Raumanzug und 112
dem Schutzhelm konnte, machte den Arm steif und drückte ab. Der Rückstoß der Waffe hätte ihn beinahe nach hinten geschleudert. Von der Felswand gegenüber spritzten direkt neben dem Kopf des Ingenieurs ein paar Steinsplitter ab. Von Borck duckte sich, als der Steinstaub mit der für den Mond typischen geringen Fallgeschwindigkeit auf ihn herabregnete, dann zog er sich in die Öffnung zurück. Robin brachte seine Waffe noch einmal in Anschlag. Diesmal zielte er genau auf die Mitte des Höhleneinganges, dann drückte er ab. Auf diesen Schuß hin verschwand ihr Gegner völlig aus dem Sichtbereich. „Was nun?“ fragte Robin. „Wollen wir warten, ob er noch einmal zurückkommt, oder sollen wir versuchen, ihm zu folgen?“ „Ich bin dafür, daß wir ihm auf den Fersen bleiben“, entschied Piotr. „Man muß jede Gelegenheit wahrnehmen.“ „Also – dann los!“ Sie sprangen beide fast gleichzeitig auf die Füße, und wie auf Kommando spurteten sie los, auf den Höhleneingang zu. Robin erreichte ihn als erster. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er die Gestalt von Borcks, dann zuckte wieder die rote Mündungsflamme auf, und der Mann war verschwunden. Carew zuckte zurück. Einen Augenblick lang stellten er und Simonow sich rechts und links von dem Eingang auf, doch es blieb alles ruhig. Der geisteskranke Ingenieur tauchte nicht wieder auf. Sie wagten sich wieder vor und leuchteten mit ihren Ta113
schenlampen in den Eingang. Nirgends war eine Spur von ihrem Gegner. Robin spürte, wie der Gasstrom an seinem Raumanzug zerrte, aber sonst bewegte sich nichts – eine unheimliche Situation. „Wohin mag er gegangen sein?“ flüsterte er, obwohl man seine Stimme außerhalb des Helmes nicht hören konnte. „Wahrscheinlich hält er sich irgendwo versteckt. Wir müssen ihm folgen, aber zunächst durch den Gasstrom hindurch. Denk daran, daß er eine ungeheure Gewalt hat.“ Sie traten ein paar Schritte zurück, um Anlauf zu nehmen, und warfen sich dann gleichzeitig in den unsichtbaren Gasstrom. Robin fühlte wieder, wie er von der Riesenfaust mit der Gewalt eines Hurricanes hochgehoben und von den Füßen gerissen wurde. Dann stürzte er zu Boden. Blitzschnell rollte er sich auf die andere Seite des Ganges und klammerte sich dort fest. Piotr lag schon da. Als Robin ein leises Geräusch hörte, folgte er dem Beispiel seines Gefährten und öffnete das Visier des Helmes. Ein paar Sekunden lang mußte er nach Luft schnappen, dann hatte er sich wieder an die dünne Atmosphäre gewöhnt. Sie lauschten beide, hörten aber keinen Ton. „Er ist wahrscheinlich in die Schlucht zurückgegangen“, meinte Piotr. „Folgen wir ihm.“ Sie gingen in die Richtung zurück, aus der sie auf ihrem Weg zur Mondoberfläche gekommen waren, und gelangten wieder an den Schacht, der zu den kleinen verwitterten Höhlen hinabführte. Robin leuchtete mit der Taschenlampe 114
hinunter, aber von ihrem Gegner war nichts zu sehen. Vorsichtig, Schritt für Schritt, kletterte er den steilen Schacht hinunter. Piotr hielt sich dicht hinter ihm. Unterwegs blieben sie stehen, um nach Luft zu schnappen. „Mir ist gerade etwas eingefallen“, sagte Robin, als er wieder zu Atem gekommen war. „Woher wissen wir überhaupt, daß von Borck hier hinuntergegangen ist? Vielleicht ist er weiter in den Tunnel hineingegangen und wartet dort, um uns in den Rücken zu fallen.“ „Das glaube ich nicht“, erwiderte Piotr. „Ich habe mir die Staubschicht dort oben angeschaut, aber keine Fußabdrücke von ihm gesehen. Nein, er muß hier vor uns sein – irgendwo.“ Sie kletterten weiter den Schacht hinab und gelangten so an den Eingang der kleinen, halb zerfallenen Höhlen, die alle untereinander in Verbindung standen. Vor dem Betreten jeder Höhle mußten sie sich vergewissern, ob ihnen keine Falle drohe. Schließlich kamen sie an die Öffnung im Boden, durch die sie mehrere Meter tief nach unten springen mußten, wenn sie weitergehen wollten. Robin schaltete die Taschenlampe aus, bevor er darauf zuging, und gab Piotr ein Zeichen, dasselbe zu tun. Fast eine Minute lang lauschten sie schweigend in die Dunkelheit hinein. Dann stieß Robin den Russen mit dem Ellbogen an und deutete auf seine Hand. Die Öffnung im Boden konnten sie trotz der Dunkelheit noch erkennen. Darunter bewegte sich ein schwacher Lichtschein. „Das muß von Borck mit seiner Taschenlampe sein“, 115
raunte Robin. „Ich bin sicher, daß er dort unten auf der Lauer liegt.“ Simonow nickte, obwohl man es unter seinem Schutzhelm nicht sehen konnte. „Damit war zu rechnen. Das ist die günstigste Stelle. Er will uns wie auf dem Schießstand abknallen, wenn wir uns durch das Loch gleiten lassen.“ Sie traten beide vorsichtig an das Loch heran, ohne ihre Taschenlampen einzuschalten. Dann knieten sie nieder und blickten nach unten. In der Höhle war es fast dunkel, aber in dem Tunnel, der von da aus weiterführte, bewegte sich ein Licht. Dort lag ihr Gegner auf der Lauer und wartete. „Was sollen wir jetzt tun?“ murmelte Piotr. Robin überlegte rasch. „Ich glaube, ich habe eine Idee. Gib mir das Nylonseil.“ Piotr rollte das Seil ab, das er sich um den Leib geschlungen hatte. Dann nahm Robin seine Taschenlampe und band sie an dem Seil fest. Dabei erklärte er flüsternd, was er vorhatte. Als er fertig war, knipste er die Taschenlampe an, trat ein paar Schritte von dem Loch zurück und fing dann an, möglichst viel Lärm zu machen, indem er mit den Stiefeln ein paar kleine Steine vor sich herstieß und laut auftrat. Gleichzeitig begann er laut zu sprechen, so, als unterhalte er sich mit Piotr. Unterdessen hatte sich Simonow neben dem Loch flach auf den Bauch gelegt und die Automatic in Anschlag gebracht. Sie ruhte mit dem Lauf auf der Außenkante des Loches und deutete mit der Mündung genau auf die Stelle, an der von Borck auftauchen mußte. 116
Als Robin vor dem Loch stand, machte er noch einmal Lärm, um die Aufmerksamkeit des Ingenieurs zu erregen. Dann leuchtete er mit der Taschenlampe die Höhle unter dem Loch ab, als ob er sich vergewissern wolle, daß da unten niemand war. Danach kniete er nieder und ließ die Taschenlampe an dem Seil hinab, wobei er darauf achtete, daß ihr Lichtstrahl immer auf den Tunnel gerichtet blieb, in dem sich ihr Gegner verborgen hielt. Diese Taschenlampe war der Köder in ihrer Falle. Genau wie er erwartet hatte, war die Lampe auf dem halben Weg nach unten und pendelte dort hin und her, als halte ein hilflos an einem Seil hängender Mann sie in der Hand. Der Ingenieur erschien in der Höhle. Mit einem wilden Triumphgeheul hob er seine Waffe und zielte auf die pendelnde Taschenlampe. Die beiden Schüsse fielen gleichzeitig. Zwei Mündungsfeuer, zwei ohrenbetäubende Detonationen. Die Kugel aus dem Revolver des Ingenieurs traf die Taschenlampe und zerfetzte sie in tausend Bruchstücke. Die Kugel Simonows traf von Borck in die Brust und schleuderte ihn gegen die Wand. Dort sank er langsam zu Boden. Ohne zu zögern, trat Piotr einfach über das Loch und ließ sich nach unten gleiten. Robin folgte ihm auf dem Fuß. Beide beugten sich über den am Boden Liegenden. „Ich glaube, er ist tot“, sagte Robin nach einem Blick auf das bleiche Gesicht mit dem dunklen Schnurrbart und den weitaufgerissenen Augen. „Aber er kann auch nur bewußtlos sein.“ Er legte seine Hand auf das Gesicht des Mannes, um festzustellen, ob er noch atme. 117
„Vorsicht!“ schrie Piotr plötzlich gellend. Er packte Robin am Arm und riß ihn zur Seite. Carew blickte erschrocken nach oben. Mit teuflischer Lautlosigkeit hatte sich über ihnen die Decke der unterirdischen Höhle gelöst. Jetzt kam sie in großen Felsbrocken herunter – ein paar hundert Tonnen Gesteinsmassen. Mit einem verzweifelten Sprung brachten sich die beiden Männer in Sicherheit. In dem Tunnel, der weiter abwärts führte, blieben sie stehen. Mit einem dumpfen Dröhnen prallten die Gesteinsmassen am Boden auf, alles unter sich begrabend und zermalmend. Der Tunnel war versperrt. „Komm!“ Piotr packte Robin wieder am Arm. „Der Rest bricht auch noch herunter! Wir müssen laufen!“ Während sie noch den Tunnel hinuntereilten, begann hinter ihnen schon der Einsturz. Sie hetzten weiter, durch den engen Schacht hindurch, durch die kleine Höhle, durch den Felsspalt, und die Katastrophe blieb ihnen dicht auf den Fersen. Endlich, als sie schon den letzten Schacht erreicht hatten, der hinunter in die Schlucht führte, kam der Einsturz zum Halten. Sie blieben keuchend stehen und rangen nach Atem. Der Wettlauf mit dem Tod in der dünnen Luft hatte ihre Kräfte erschöpft. „Was ist da passiert?“ fragte Robin, als er wieder sprechen konnte. „Das waren die Schüsse!“ keuchte Piotr. „Das poröse, brüchige Gestein über den Höhlen hielt wahrscheinlich gerade noch zusammen. Die Druckwellen der beiden Schüsse brachten es zum Einsturz. Wir können von Glück sagen, 118
daß nicht alles auf einmal heruntergekommen ist, sondern daß eine Art Kettenreaktion stattgefunden hat. Sonst wären wir jetzt nicht mehr am Leben, das kannst du mir glauben.“ „Ja, wir hatten Glück – großes Glück sogar. Aber wie kommen wir jetzt wieder zur Oberfläche zurück? Wir sind verschüttet – vielleicht für immer.“ Sie hatten den Sims erreicht. Piotr blickte schweigend in die Schlucht hinab, wo in der Ferne die Leuchtkörper der Mondwürmer und der Mondmenschen funkelten. 11. Kapitel Von der Stelle aus, an der sie standen, konnte man fast die ganze Schlucht überblicken. Über ihnen war ein schmaler heller Streifen zu sehen – das vulkanische Quarzglas, das die Schlucht luftdicht verschloß. Es ließ nur einen schwachen Schimmer des fahlen Lichts der Erde durch, in das jetzt die Oberfläche des Mondes gefaucht sein mußte. Unter ihnen war Dunkelheit und Finsternis, nur in der Ferne bewegten sich die hellen Punkte wie kleine Glühwürmer. Das mußten die Leuchtkörper der Glasmenschen sein. Die beiden Männer schalteten ihre Taschenlampen ein, während sie über den schmalen Sims weitergingen und dann den gefährlichen Abstieg an der steilen Felswand begannen. „Und wenn die Glasmenschen unsere Lampen sehen?“ fragte Piotr. „Das könnte gefährlich für uns werden.“ „Vielleicht“, räumte Robin ein. „Aber diesmal sind wir darauf gefaßt. Gewiß, wir müssen vorsichtig sein. Wir dürfen nicht unter überhängenden Stellen hindurchgehen und 119
müssen immer den Weg ableuchten, bevor wir ihn betreten. Aber ich schätze die Gefahr nicht sehr groß ein. Unsere Bombe und die Schüsse haben ihnen sicher Respekt eingeflößt.“ Endlich hatten sie den Boden der Schlucht erreicht. Sie gingen weiter in die Richtung, in der sie die Leuchtkörper der Mondmenschen gesehen hatten. In der Schlucht herrschte gerade die zweiwöchige Kälteperiode. Die Pflanzen waren verwelkt, zusammengeschrumpft und abgestorben. Ihr Samen lag da und wartete auf die nächste Wärmeperiode. Es war ziemlich kühl, aber nicht so kalt, wie Robin erwartet hatte. Irgendwo, fuhr es ihm durch den Kopf, muß es hier einen warmen vulkanischen Luftstrom geben, der die Schlucht davor bewahrt, völlig einzugefrieren. Sie gingen nicht nebeneinander, sondern hielten eine bestimmte Entfernung ein, so daß das Seil, mit dem sie sich gegenseitig angebunden hatten, immer straff blieb. Das hatte seinen guten Grund. Falls sie wieder mit Schlingpflanzen überfallen werden sollten, so konnte man sie nicht beide gleichzeitig überwältigen. Und solange einer von ihnen noch nach seiner Waffe greifen konnte, bestand keine Gefahr. Mittlerweile hatten sie schon ein gutes Stück Weg zurückgelegt, ohne auf Widerstand oder auf Feindseligkeiten gestoßen zu sein, aber nun sah Robin plötzlich in dem dichten Unterholz neben sich ein kurzes Aufblinken. Er blieb stehen und teilte Piotr flüsternd über das Kehlkopfmikrophon mit, was er gesehen hatte. Dabei ließ er die Umgebung nicht aus den Augen, und tatsächlich sah er 120
auch kurz darauf ein kurzes Aufblinken auf der anderen Seite. Die Glasmenschen beobachteten sie aus dem Hinterhalt. Sie gingen langsam weiter und leuchteten dabei das Unterholz auf beiden Seiten ab, um vor einer Überraschung sicher zu sein. „Irgendwie“, meinte Robin, „müssen wir ihnen beweisen, daß wir ihnen nicht feindlich gesinnt sind. Wir müssen vielleicht lange bei ihnen leben.“ „Ja!“ pflichtete Piotr ihm bei. „Aber wie?“ Die Antwort auf diese Frage ergab sich von selbst, noch bevor sie drei Schritte weitergegangen waren. Plötzlich war ihr Weg versperrt. Ein Eingeborener stand vor ihnen. Er hob beide Hände, als sie ihn mit der Taschenlampe anleuchteten, und der Leuchtkörper an seinem Kopf flammte auf. Sein seltsames dreieckiges Gesicht zeigte etwas, das einem Lächeln entsprach, und seine Brust war mit aufgemalten schwarzen Kreisen verziert. Robin sah den Häuptling neugierig an. Dann entdeckte er plötzlich etwas auf seiner Schulter – eine kleine, zierliche, menschenähnliche Gestalt, kaum größer als eine Spielzeugpuppe. Dieses Lebewesen bleckte die Zähne und stieß ein durchdringendes Kreischen aus. „Cheeky!“ rief Carew. Beim Klang seiner Stimme sprang der Affe mit einem riesigen Satz von der Schulter des Eingeborenen bis vor Robins Füße. Mit einem zweiten Satz war er auf seinem Arm gelandet, außer sich vor Freude. Der Eingeborenenhäuptling trat einen Schritt vor und begann zu sprechen. 121
„Robin!“ sagte er. „Dich sehen schön. Dich sehen schön.“ Es war Korree. Robin ging auf ihn zu und begrüßte ihn. Die Wiedersehensfreude war auf beiden Seiten gleich groß. Und Korree war Häuptling des fremden Stammes geworden. Nun erschienen noch mehr Glasmenschen, doch sie trugen keine Waffen – keine Speere und auch keine Schlingtaue. Sie hielten sich mißtrauisch im Hintergrund, als ob sie abwarten wollten, was mit ihrem Häuptling geschah. Korree winkte sie zu sich und sagte etwas in seiner Muttersprache zu ihnen. Auch Piotr war inzwischen zu ihnen getreten. Er steckte den Revolver in den Gürtel zurück. „Deine beiden Freunde sind gut davongekommen“, sagte er zu Robin. „Sie sehen nicht aus, als gehe es ihnen schlecht.“ Die beiden Astronauten wurden von den Glasmenschen im Triumphzug zu der Siedlung geführt. Korree berichtete unterwegs, was passiert war. Die Explosion der selbstgefertigten Bombe mußte den Zauber gebrochen haben, mit dem sich von Borck die Glasmenschen willfährig gemacht hatte. Die Bombe war ein noch größerer Zauber gewesen, und er war von diesem unbekannten kleinen Tier – von Cheeky – vollbracht worden. In der ersten Aufregung waren die Glasmenschen geflüchtet, und gerade da hatte der Ingenieur Robin und Piotr verfolgt. Das war für die Glasmenschen ein weiterer Beweis dafür gewesen, daß sich auch der große Zauberer der Macht des kleinen Affen gebeugt hatte. Bei ihnen nämlich verließ ein 122
Häuptling niemals seinen Amtssitz im Dorf. Wer es tat, dankte damit ab. Von Borck hatte also unbewußt seinen Einfluß bei den Mondmenschen verspielt, als er Robin und Piotr verfolgte. Korree hatte zuerst versucht, den beiden Erdmenschen zu folgen, aber dann war er umgekehrt und in die Siedlung zurückgegangen, wo sich die Glasmenschen aus Furcht vor dem kleinen Affen nicht mehr aus den Höhlen wagten. Korree hatte Cheeky in den Arm genommen und sich damit automatisch zum Herrn der Situation gemacht. Seither war er der Häuptling des Stammes. Darauf war es also zurückzuführen, daß Robin und Piotr ein so freundlicher Empfang zuteil geworden war. „Aber was passierte, als von Borck zurückkam, um seinen Raumanzug zu holen?“ wollte Robin wissen. Korree machte eine Bewegung, als sei das eine überflüssige Frage. „Glasmenschen verstecken“, sagte er. „Korree verstecken. Cheeky verstecken. Alles leer.“ Von Borck hatte sich also plötzlich ausgestoßen und verbannt gesehen. Deswegen war er wohl gleich wieder umgekehrt und ihnen zur Mondoberfläche gefolgt. Nach ihrer Ankunft in der Siedlung wurden sie als bevorzugte Gäste behandelt. Während der nächsten Tage richteten sie sich in einer Höhle häuslich ein. Cheeky hatte sich bereits fest an Korree angeschlossen. Er wich dem Glasmenschen nicht mehr von der Seite. Robin und Piotr benutzten die folgenden Tage, um sich auszuruhen und um das Leben der Glasmenschen zu beobachten. Wenige Tage später kam die Sonne wieder und überflu123
tete die Schlucht mit ihrem Licht. Die Kugelbäume wuchsen wieder und schossen wie die Pilze empor. Die beiden Astronauten verwandten diese Tage darauf, systematisch die nähere und weitere Umgebung zu erkunden – immer in der Hoffnung, einen Weg zur Oberfläche zu finden. Aber ihre Bemühungen blieben vergeblich. Sie entdeckten zwar zahlreiche Schächte und Risse in den Wänden, aber keiner führte zur Oberfläche empor. Sie versuchten es auch an dem ersten Schacht, der hinter ihnen eingebrochen war, aber die Gesteinsmassen hatten den ganzen Schacht ausgefüllt, so daß sie sich nicht mehr hindurchzwängen konnten. Auch die Möglichkeit, einen Weg hindurchzusprengen, erwogen sie. Aber das ging nicht. Das Gestein war zu brüchig. Es wäre vielleicht noch ganz eingestürzt; womöglich hätte sich auch ein durchgehender Riß gebildet, durch den die Luft aus der Schlucht entwichen wäre. Damit wäre alles Leben hier unten zum Tode verurteilt gewesen. Nachdem sie zwei volle Monate lang vergeblich nach einem Ausweg gesucht hatten, begannen sie damit, sich systematisch mit Schaufel und Spitzhacke durch den eingestürzten Schacht hindurchzuarbeiten. In jeder freien Minute arbeiteten sie dort, trugen vorsichtig Stein um Stein ab, stützten überhängende Wände, füllten Risse mit Steinen aus und arbeiteten sich so Meter für Meter durch den Schacht vor. Aber es war eine harte und undankbare Arbeit, bei der sie kaum vorwärts kamen und dauernd in Lebensgefahr schwebten. Zwei- oder dreimal war es schon passiert, daß die Decke des Schachts nachgerutscht war, und nur der Umstand, daß 124
auf dem Mond alles viel langsamer zu Boden fällt als auf der Erde, hatte sie davor bewahrt, verschüttet zu werden. Als dasselbe noch einmal passierte, gaben sie ihr Vorhaben auf und gingen mutlos in die Siedlung zurück. „Das wird nie klappen“, sagte Robin. „Diesen Weg können wir uns aus dem Kopf schlagen. Es würde Monate, vielleicht sogar Jahre dauern, bis wir nach oben kämen, und bis dahin wäre bestimmt schon einer von uns tot. Das Gestein ist zu brüchig und befindet sich immer noch in Bewegung.“ Sie saßen sich in ihrer Höhle gegenüber. „Aber es muß einen Ausweg geben!“ rief Piotr verzweifelt aus. „Wenn wir es nicht schaffen, auf die Oberfläche zu gelangen, bleiben wir für immer gefangen.“ Robin nickte nachdenklich. Draußen hielt schon wieder die nächste Kälteperiode ihren Einzug. Die Sonne schien nur noch ganz flach in die Schlucht, und’ die Temperatur fiel rapide, als die Sonne schließlich ganz verschwand und die Dunkelheit kam. Wieder würde es zwei Wochen dauern, bis sie ihre Suche fortsetzen konnten. Robin zündete ein Feuer in der Höhle an wie immer, wenn die Kälteperiode kam. Plötzlich drehte er sich um. „Als wir damals wieder von der Oberfläche herunterkamen, hatte ich den Eindruck, als müsse es hier einen warmen vulkanischen Luftstrom geben. Andernfalls wäre es viel kälter, wenn die Sonne nicht scheint. Dieser Luftstrom geht sicher nach oben zur Oberfläche empor, und vielleicht strömt er durch einen Schacht, den wir ebenfalls benutzen könnten. Wir sollten einmal versuchen, diesen Strom zu finden.“ 125
Piotr nickte eifrig. „Weißt du auch, was für ein Strom das wahrscheinlich ist? Der heiße Luftstrom, der oben neben dem Ausgang zum Krater vorbeiführt und den wir durchqueren mußten, um wieder hereinzukommen. Der Luftstrom, der infolge seiner Hitze und seiner hohen Geschwindigkeit wie ein luftdichter Vorhang wirkt und dem wir es zu verdanken haben, daß es hier in diesen Höhlen überhaupt Luft gibt. Dieser Luftstrom muß es sein. Er kommt wahrscheinlich von unten, vom heißen Innern des Mondes, und strömt nach oben.“ Robin rieb sich die Hände. „Ich glaube, wir haben die Lösung. Fangen wir gleich mit der Suche an. Die Kälteperiode ist die beste Zeit dafür. Da ist der Pflanzenwuchs abgestorben, aber an der Stelle, wo der heiße Luftstrom Wärme ausstrahlt, muß noch Vegetation vorhanden sein.“ Sie begannen also mit neuen Erkundungsexpeditionen, die sie jedoch diesmal während der langen Mondnacht durchführten. Die Temperatur war schon ziemlich tief gesunken, aber in den Raumanzügen konnten sie sich leicht warmhalten. Sie entdeckten mehrere Stellen an den Wänden dicht über dem Boden, wo es etwas wärmer als im übrigen Teil der Schlucht war, aber nach vielen Tagen ergebnisloser Suche mußten sie auch diese Hoffnung aufgeben. Es handelte sich jedesmal um winzige Luftkanäle, in die sie kaum einen Finger zwängen konnten. Die lange Winternacht ging vorüber. Eines Morgens saßen sie beide in Ihrer Höhle und grübelten über einen neuen Ausweg nach, ohne etwas zu finden. Ihre Hoffnungslosigkeit mußte sich auf ihren Gesich126
tern abgezeichnet haben, denn als Korree hereinkam, fragte er sie sofort nach dem Grund ihrer Traurigkeit. Robin erklärte ihm, wonach sie so lange vergeblich gesucht hatten. Korree nickte eifrig. „Du kommen in meine Höhle“, sagte er. „Ich zeigen heiße Luft.“ Die beiden Astronauten schauten überrascht auf. „Was?“ fragte Robin ungläubig. Korree wiederholte seine Aufforderung. Carew und Simonow sahen sich skeptisch an, erhoben sich aber doch und folgten dem Glasmenschen. Die tiefe Höhle, in der Korree als Häuptling wohnte, lag nicht weit von ihrer Höhle entfernt, und hier, an der Rückseite dieser Höhle, fanden sie endlich, wonach sie so lange vergeblich gesucht hatten. Die hintere Wand wies einen schmalen, engen Riß auf, und die Fläche, durch die er verlief, war merklich wärmer als der übrige Teil der Wand. Wenn sie ihr Ohr an den Riß legten, konnten sie deutlich das Rauschen eines Luftstromes hören, der höchstens einen halben Meter entfernt vorüberschoß. „Deshalb ist das wahrscheinlich die Häuptlingshöhle“, meinte Robin. „Sie verfügt über eine eingebaute Heizung.“ Am nächsten Tag, als die Sonne wieder in die Schlucht schien, machten sie sich an die Arbeit. Mit ihrer Axt und der Spitzhacke verbreiterten sie den Riß in der hinteren Wand von Korrees Höhle, bis sie ein so großes Stück herausgebrochen hatten, daß ein Mann bequem hindurchkriechen konnte. Dahinter befand sich tatsächlich ein breiter Schacht, durch den der Strom aus vulkanisch-heißem Gas rauschte. Dieser Gasstrom mußte von irgendwo tief aus dem Innern des Mondes kommen, wo noch eine Vulkantätigkeit 127
herrschte, und wahrscheinlich strömte er in vielen Windungen nach oben, wo das Gas entweder hinaus in den luftleeren Raum entwich oder sich abkühlte und durch einen anderen Schacht wieder nach unten sank. Zwischen dem Gasstrom und der Wandung des Schachts fand sich gerade noch so viel Platz, daß sich ein Mann dazwischenkommen konnte, ohne mit dem glühendheißen Gas in Berührung zu kommen. Robin, der durch die Öffnung hineingekrochen war, um zu sehen, wie es darin aussah, kam wieder heraus und berichtete Piotr von seinen Beobachtungen. „Was tun wir jetzt?“ fragte er dann. Simonow sah ihn nachdenklich an. „Ich glaube, so wird es klappen: Wir stellen uns einfach in den Gasstrom und lassen uns nach oben treiben. Wenn wir die Öffnung in der Kraterwand sehen, arbeiten wir uns aus dem Strom heraus. Von da aus können wir dann ohne weiteres an unsere Rakete gelangen.“ „Hm.“ Robin überlegte. „Und wie kommen wir dann wieder hierher zurück?“ „Ich weiß nicht.“ Piotr zuckte die Achseln. „Aber irgendwie wird es schon gehen.“ Sie liefen in ihre eigene Höhle zurück und überlegten sich alles noch einmal gründlich. Aber dieser Ausweg schien so einfach, daß sie ihn nicht unversucht lassen wollten. „Früher oder später“, meinte Robin, „versuchen wir es doch auf diese Weise. Also können wir es auch gleich tun. Und auf dem Rückweg können wir vielleicht durch den Schacht zurückkriechen, wenn wir uns dicht an die Wand halten, so daß wir vom Gasstrom nicht berührt werden.“ 128
Piotr runzelte die Stirn. „Ich glaube kaum, daß das geht. Der Schacht wird nicht überall so breit sein, daß wir neben dem Gasstrom noch Platz finden. Und gegen den Gasstrom kommen wir nicht an, dafür ist seine Gewalt zu groß. Andererseits könnten wir es aber noch einmal auf dem alten Weg versuchen – vielleicht geht es von der anderen Seite her. Oder vielleicht entdecken wir von außen her einen neuen Weg. In der Rakete haben wir auch noch Sprengstoff, den wir benutzen können, und bessere Werkzeuge. Ich denke, wir sollten es versuchen.“ „Der Meinung bin ich auch“, erklärte Robin. „Wir müssen unbedingt zu der Rakete, um noch ein paar Leuchtraketen abzuschießen. Es kann sein, daß die ersten vier nicht gesehen worden sind.“ Nachdem dieser Entschluß gefaßt war, machten sie sich sofort an die Ausführung. Sie zogen ihre Raumanzüge an, packten ihre Ausrüstung zusammen, erklärten Korree ihren Plan und verabschiedeten sich von ihm – für alle Fälle. Nachdem sie sich wieder mit dem Nylonseil gegenseitig angebunden hatten, kroch Robin als erster durch die Öffnung in den dunklen Schacht. Piotr folgte dicht hinter ihm. Draußen in dem Schacht stellten sie sich beide dicht nebeneinander und preßten sich mit dem Rücken gegen die Wand. Jeder schloß seinen Schutzhelm. Auf ein vereinbartes Zeichen zählte Robin bis drei, dann sprangen sie gleichzeitig nach vorn. Im selben Augenblick wurden sie von dem gewaltigen Gasstrom gepackt und von den Füßen gerissen. Der ungeheure Druck wirbelte sie davon. Wie trockenes Laub im Herbstwind wurden sie durch den Schacht getrieben. 129
Das Gas strömte eine unerträgliche Hitze aus. Die Haut brannte Robin am ganzen Körper, während er weiter vorangetrieben wurde. Manchmal streifte er die Wandungen des Schachts mit den Armen oder Beinen, ein paarmal überschlug er sich, dann wieder drehte er sich wie ein Kreisel. Einen Augenblick lang glaubte er einmal, sein Herz werde aussetzen, als er plötzlich keinen Boden mehr unter sich spürte. Er machte sich schon auf einen tiefen Sturz gefaßt, rollte sich zusammen und hielt die Arme schützend über den Kopf. Aber es war nur eine flache Senke, und danach stieg der Schacht wieder steil an. Robin wurde emporgerissen, und er fühlte, wie das Seil an seinem Gürtel zerrte, als Piotr mit einer Sekunde Verspätung folgte. Dann wurde das Gas kühler. Es schien auch nicht mehr mit derselben Gewalt zu strömen. Der Schacht verlief jetzt in horizontaler Richtung, fiel sogar etwas ab und führte eine Strecke lang geradeaus. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Robin plötzlich einen Lichtstrahl vor sich aufblitzen. Er wurde darauf zugetrieben wie ein Tischtennisball auf dem Strahl eines Feuerwehrschlauches. Das mußte der Ausgang zu dem Krater sein! fuhr es ihm durch den Kopf. Der Ausgang hinaus auf die Oberfläche! Rasch streckte er die Axt aus, die er die ganze Zeit über an sich geklammert hatte. Sie hakte sofort in der Öffnung ein, als er daran vorbeigetrieben wurde. Er klammerte sich am Stiel fest, und durch die Wucht seiner Bewegung wurde er herumgerissen und mit einem heftigen Aufprall gegen die Wand geschleudert. In der nächsten Sekunde flog Piotr vorbei, den 130
aber schon nach wenigen Metern das Seil an seinem Gürtel zurückriß, so daß auch er gegen die Außenseite des Schachts geschleudert wurde. Noch ganz benommen rafften sie sich mühsam auf und taumelten auf die Öffnung in der Außenwand zu. Das gleißende Licht der Sonne, die sich gerade über die bizarr gezackten Berge am Kraterrand erhob, flutete ihnen entgegen, als sie aus dem dunklen Schacht in die märchenhafte Mondlandschaft hinaustraten. Rings um sie trieben die ersten Sprößlinge der wenigen zähen, nicht auszurottenden Pflanzen, die hier auf dem Grund des Kraters dahinvegetierten – verkümmerte Abarten der Pflanzen in den unterirdischen Höhlen. Robin wollte stehenbleiben, um den Anblick zu genießen. „Wir müssen weitergehen!“ drängte Piotr. „Die Sonne ist gefährlich!“ Noch immer unsicher auf den Beinen, machten sie sich auf den Weg zu der Rakete, die in knapp hundert Meter Entfernung auf dem Boden des Kraters stand. Sie fühlten sich beide wie gerädert, ihre Körper waren mit Blutergüssen, Prellungen und blauen Flecken bedeckt, die Schienbeine und Ellbogen aufgekratzt. Aber sie hatten es geschafft. Und das war die Hauptsache. Als sie ein paar Schritte gegangen waren, hob Robin plötzlich den Kopf und starrte zum Himmel empor. Piotr folgte seinem Blick. Der Himmel war nicht leer. Als sie zum erstenmal hinaufgeschaut hatten, war da die Erde gewesen, immer noch am alten Platz, aber nur noch in sichelförmiger Gestalt. 131
Und Myriaden von Sternen waren dagewesen, funkelnde Sterne, über den ganzen Himmel verstreut. Und die Sonne natürlich, die gerade aufging. Aber jetzt war noch etwas dazugekommen – ein winziger Punkt von orangeroter Farbe, der rasch größer wurde, während sie ihn beobachteten. „Was ist das?“ fragte Robin, und unwillkürlich flüsterte er, als wolle er den Gedanken nicht verscheuchen, der in ihm zu keimen begann. Piotr gab keine Antwort. Er starrte wie gebannt nach oben. Der Punkt wurde immer größer; er nahm Gestalt an, wurde länger und breiter, kam näher. Er zog einen leuchtenden Streifen hinter sich her, der wie der Schweif eines Kometen aussah. Jetzt konnte man schon ein silberweißes Glitzern erkennen, und noch immer kam er näher. Dann endlich war seine Form zu erkennen – die Form eines Flugkörpers aus schimmerndem Metall und dahinter die Rauchspur eines Atomtreibsatzes. Keine zehn Sekunden dauerte es dann noch, bis er über ihnen hing, jetzt kein kleiner, zierlicher Flugkörper mehr, sondern eine riesige Rakete mit gewaltigen Trägerflossen. Sie hing über dem Krater und kam langsam herab, setzte behutsam auf, und die glühendheißen Feuersäulen aus ihren Triebwerken verbrannten das kahle Gestein der Mondoberfläche zu Schlacke. Aber plötzlich war auch das Feuer verschwunden; das Donnern der Triebwerke verstummte, und die beiden gestrandeten Astronauten standen da und schauten atemlos hinüber. Vor ihnen, gar nicht weit entfernt, stand strahlend in seiner majestätischen Schönheit ein Raumschiff, auf vier 132
schlanken Ständern gestützt, ein Bild vollendeter Anmut, wie sie nur einem Meisterwerk der Technik eigen ist. Auf der Seite trug sie, im hellen Sonnenschein deutlich erkennbar, einen großen weißen Kreis und darin den weißen Stern der United States Air Force. Oben, dicht unter dem Bug der Rakete, wurde eine Luke geöffnet. Aber das sahen Robin und Piotr kaum noch. Die Freudentränen, die ihnen in die Augen schossen, ließen alles vor ihnen verschwimmen.
Mason und die See (NOW WAKES THE SEA) von J. G. Ballard Wieder schreckte Mason aus dem Schlaf auf und hörte das Rauschen der durch die Straßen brandenden See. Er sprang auf und rannte zum Fenster, sah die vom weißen Mondlicht übergossenen Häuser und die durch sämtliche Gassen und Straßen rollenden Wogen. Das Wasser brandete an Hausmauern und Laternen hoch, wurde von den niedrigen Hecken gebrochen und phosphoreszierte glitzernd. Der Schaum roch nach Salz und Tang. Etwas weiter vom Ufer entfernt standen die Häuser bis zum Dach unter Wasser. Mason rannte aus dem Haus auf das Ufer zu und blickte auf das Meer hinaus. Eine Welle reichte besonders weit aufs Ufer und benetzte seine nackten Füße. Mason sprang behende zurück und sah zu seinem Haus hinüber, wo seine Frau nichtsahnend schlief. Das Wasser kam jede Nacht näher, überschwemmte Häuser, 133
Gärten und Straßen. Wolkenfetzen fegten im bleichen Mondlicht dahin. Mason starrte auf die lange Uferlinie, wo das Wasser besonders hell phosphoreszierte. Er blieb eine halbe Stunde am Ufer stehen und sah dem Spiel der Wellen zu, die sich an den Schornsteinen der untergegangenen Häuser brachen. Endlich wich die See zurück. Es ging wie immer sehr schnell. Mason folgte dem Wasser, das aus den Garagen und Häusern abfloß und schließlich nicht mehr zu sehen war. Die Wasserlinie flutete immer gespenstisch schnell zurück, und danach sah die Welt völlig verändert aus. Mason ging schließlich erschöpft nach Hause und legte sich wieder ins Bett. * „Ich habe es wieder gesehen“, sagte er am nächsten Morgen zu seiner Frau. Miriam blickte ihn über den Frühstückstisch hinweg kopfschüttelnd an. „Das Meer ist tausend Kilometer von hier entfernt, Richard“, sagte sie tröstend. Dabei beobachtete sie die Reaktion ihres Mannes sehr genau. „Du brauchst nur in den Garten zu gehen, um dich zu überzeugen, Richard.“ „Ich habe es deutlich gesehen“, antwortete Mason beharrlich. „Richard, du …“ Mason stand auf und hob langsam die Arme in die Höhe. Dabei blickte er seine Frau beschwörend an. „Ich habe den Gischt mit meinen Händen gespürt!“ sagte er verzweifelt. 134
„Die Wellen umspülten meine Füße. Es war kein Traum, Miriam.“ „Doch, Richard!“ Miriam wollte ihrem Mann unbedingt helfen, die schrecklichen Träume zu vergessen. Er hatte sich völlig in seine Halluzinationen verrannt. Miriam stand ebenfalls auf und ging zur Tür. Nachdenklich stellte sie sich in den Türrahmen und drehte sich um. Sie war schön und spielte ihre Reize bewußt aus, um Richard auf andere Gedanken zu bringen. Er schien sie aber überhaupt nicht zu sehen. „Du mußt Dr. Clifton aufsuchen“, sagte sie resolut. „Du machst mir allmählich Angst.“ Mason lächelte matt. Er blickte durch das Fenster auf die Dächer der kleinen Siedlungshäuser. „Mach dir keine Sorgen“, sagte er. „Es ist ja nicht schlimm. Ich wache plötzlich auf und höre das Rauschen der Brandung. Dann stehe ich auf, beobachte das Schauspiel und gehe wieder ins Bett, wenn das Wasser zurückweicht.“ Richard Mason zuckte hilflos die Achseln. Er war hochgewachsen und sehr schlank. Er erholte sich gerade von einer schweren Krankheit, die ihn sechs Monate lang ans Bett gefesselt hatte. „Es ist merkwürdig“, murmelte er. „Das Wasser phosphoresziert ungewöhnlich stark. Wahrscheinlich ist das auf den besonders hohen Salzgehalt zurückzuführen.“ „Hör bitte auf, Richard!“ rief seine Frau verzweifelt. „Hier gibt es kein Meer. Du bildest dir etwas ein. Niemand außer dir sieht und hört das Wasser durch die Straßen fließen. Es sind auch keine Spuren einer Flut zu bemerken. Sei endlich vernünftig!“ 135
Mason steckte die Hände in die Taschen und nickte wortlos. Möglicherweise konnten die anderen noch nichts hören und sehen. Er ging in sein Arbeitszimmer und setzte sich auf die Couch. Er schlief jetzt immer auf dieser Couch, obwohl er nicht mehr krank war. Den Winter über hatte er in dem Raum neben der Küche gelegen und sich die Zeit mit allen möglichen Dingen vertrieben. Mechanisch langte er nach einer großen Muschel, die^ ihn schon oft zum Nachdenken veranlaßt hatte. Mason war fast davon überzeugt, daß seine Träume auf diese Muschel zurückzuführen seien. Sie war eine Zeugin der Ewigkeit. Immer wieder hatte er sich in tiefsinnige Gedanken verstrickt und von vergangenen Tagen der Erdgeschichte geträumt. Er umschloß die Muschel mit beiden Händen und starrte auf die wunderbar gemusterte Schale. Bildete er sich alles nur ein, oder war er einem Zauber erlegen? Miriam folgte ihm in das Arbeitszimmer und räumte erst einmal auf. Sie ahnte, was ihn bewegte. Während der langen Monate im Halbdunkel des Zimmers hatte Richard vielleicht zuviel gegrübelt und sich in eine unreale Gedankenwelt versponnen. Sie legte sanft ihre Hände auf seine Schultern und lächelte verständnisvoll. „Du mußt mich wecken, wenn es wieder soweit ist“, sagte sie. „Wir werden dann zusammen hinausgehen.“ Mason machte sich sanft frei. „Ob du das Meer siehst oder nicht, ist völlig gleichgültig, Miriam“, sagte er entschieden. „Tatsache ist, daß ich das Wasser sehe und spüre.“ * 136
Später machte Mason seinen Spaziergang zu der Stelle, an der er in der Nacht das Wasser beobachtet hatte. Er hörte jetzt nur den üblichen Straßenlärm und sah die Nachbarn ihren Beschäftigungen nachgehen. Die Julisonne schien sehr heiß herab und dörrte die Rasenflächen der kleinen Vorgärten aus. Hier und da rotierten Rasensprenger und sorgten für ausreichende Feuchtigkeit. Mason sah die Häuser kaum. Er konzentrierte sich mehr auf die Lage der Straße. Sie führte in einem weiten Bogen zu dem Einkaufszentrum zwischen zwei Siedlungsgebieten. Mason hob die Hände und schützte seine Augen vor den Sonnenstrahlen, während er den Kirchturm und den Turm des Rathauses musterte. Er konnte genau angeben, bis zu welcher Höhe das Wasser gereicht hatte, obwohl keine Markierungen zu erkennen waren. Der weite Bogen der Straße entsprach genau dem Verlauf des Ufers. Der größte Teil der Stadt lag demzufolge am Rand eines sanft abfallenden Beckens. Richard Mason war überzeugt, daß er nachts die Wirklichkeit sah. Die Landschaft seiner Träume glich genau den tatsächlichen Gegebenheiten. Jetzt verwehrten einige Häuser den Blick auf die Bodenformation. Richard war jedoch von der Richtigkeit seiner Annahme überzeugt. Die Stadt stand genau am Rand des großen Beckens, das in vorgeschichtlicher Zelt entstanden war. Wenn die Flut kam, wurde ein Teil der Stadt regelmäßig überschwemmt. Im unteren Teil der Stadt gab es einen Hügel, der nachts immer aus dem Wasser ragte. Es war ein Kreidefelsen, ein Überbleibsel aus der Zeit, in der das Land tatsächlich noch 137
unter dem Wasserspiegel des Urmeeres lag. Mason wollte die Nacht auf dem Kreidefelsen verbringen, um sich ein noch besseres Bild machen zu können. Ein Auto rollte langsam vorbei. Der Fahrer musterte Mason mit einem merkwürdigen Blick. Erst jetzt stellte Richard fest, daß er mitten auf der Fahrbahn stand und in eine imaginäre Ferne starrte. Er schämte sich ein wenig und eilte davon. Er war ohnehin schon als exzentrisch verschrien. Es war ein Wunder, daß seine Frau das Leben an seiner Seite ertrug. Die Nachbarn hielten ihn für einen zurückgezogen lebenden Eigenbrötler und kümmerten sich kaum um ihn. Mason wanderte zum Kreidefelsen und betrachtete die Flanken. Die an den Hängen stehenden Häuser waren unbeschädigt, nirgendwo in den Gärten markierte sich der Verlauf der Wasserlinie. Die erste Vision der heranbrausenden Flut war Mason vor kaum drei Wochen erschienen. Inzwischen war er von der Richtigkeit seiner Wahrnehmungen überzeugt, obwohl er am Tag keine Beweise dafür entdecken konnte. Das abfließende Wasser ließ keine Markierungen zurück, die Menschen wußten auch nichts davon. Mason hatte keine Angst um die vielen Menschen, die in den allnächtlich überfluteten Häusern schliefen. Obwohl das alles gegen ihn sprach, war er nach wie vor von der Richtigkeit seiner Wahrnehmungen überzeugt. Miriam hatte nur gelächelt, als er ihr von seiner ersten Vision erzählte. Später, wenn er von seiner nächtlichen Exkursion zurückkehrte, hatte sie ihn mitunter dabei überrascht und sich über seine Erregung gewundert. Der un138
heimliche Glanz in seinen Augen, das schnelle Atmen – all das schienen Anzeichen einer Nervenkrise zu sein. Masons. Ruhe ängstigte Miriam. Er war von der nahenden Apokalypse überzeugt und blieb doch gelassen. Er schien sich nur darüber aufzuregen, daß die anderen nichts von der drohenden Gefahr ahnten. * Richard Mason setzte sich erschöpft auf eine kleine Mauer und wühlte mit den Füßen im rieselnden Sand. Überall standen Häuser und grünende Bäume. Sie schienen aber nicht in diese Welt zu passen. Der Sand unter Masons Füßen hingegen schon eher – ebenso die Muschel auf seinem Nachttisch. Mason beobachtete einige Gestalten, die in der Nähe eines Schuppens arbeiteten. Neben dem Schuppen war ein tiefer Schacht in den Kreidefelsen gebohrt worden. Mason sah, wie die Männer nacheinander in dem Schacht verschwanden. Dieses Bild konnte er nicht wieder vergessen, auch nicht in der Bibliothek, wo er alle möglichen Bücher las. Er mußte immer wieder an die nächtliche Flut und an den Schacht im Kreidefelsen denken. Für Richard Mason waren die nächtlichen Alpträume keine Halluzinationen. Er war überzeugt, daß die anderen auch bald sehen würden, was er jetzt schon erkennen konnte. Am Abend ging er ins Schlafzimmer seiner Frau. Miriam saß angezogen am Fenster und blickte hinaus. „Was tust du hier?“ fragte Mason verstört. „Ich warte“, antwortete Miriam entschlossen. 139
„Worauf?“ „Auf das Wasser. Keine Angst, Richard! Du kannst dich ruhig hinlegen. Ich werde das Licht löschen und geduldig warten.“ „Miriam …“ Mason suchte nach Worten. Er ergriff ihre beiden Hände und wollte sie vom Fenster wegziehen. „Es hat keinen Sinn, Darling. Was willst du damit erreichen?“ „Das liegt doch auf der Hand.“ Richard Mason setzte sich auf die Bettkante. Er war tief beunruhigt und suchte nach einer Möglichkeit, seine Frau vor der schrecklichen Vision des anbrandenden Wassers zu bewahren. „Verstehst du mich denn nicht, Miriam?“ fragte er sanft. „Vielleicht sehe ich es nicht im üblichen Sinne. Es sind möglicherweise übersinnliche Wahrnehmungen, die du nicht haben kannst.“ „Das will ich eben herausfinden“, antwortete Miriam fest. Mason legte sich auf das Bett und starrte zur Zimmerdecke hinauf. „Vielleicht machst du es falsch“, sagte er nachdenklich. Miriam drehte sich um. „Ich verstehe dich nicht“, erwiderte sie kopfschüttelnd. „Du bist bei all dem so ruhig und gelassen. Du akzeptierst diese merkwürdigen Visionen wie eine Art Kopfschmerz. Das ängstigt mich, Richard. Wenn du dich vor dem Meer fürchten würdest, wäre das natürlich, und ich brauchte mir keine Sorgen zu machen.“ Sie diskutierten noch eine Weile, kamen aber nicht weiter. Nach einer halben Stunde schlief Mason ein, während Miriam weiter am Fenster sitzen blieb und in die Nacht hinausblickte. 140
* Die Ausläufer der großen Wellen murmelten unter dem Fenster und weckten Mason. Er richtete sich auf und hörte das Grollen der großen Brecher. Er sprang schnell aus dem Bett und zog Jacke und Hose an. Miriam saß schlafend am Fenster und bemerkte nichts von den geheimnisvollen Vorgängen. Das Mondlicht fiel durch das offene Fenster auf ihr Gesicht und ließ es noch reizvoller erscheinen, als es ohnehin war. Mason verließ das Haus und rannte barfuß auf die Uferlinie zu. Er spürte das Wasser und fiel stöhnend auf die Knie. Die mächtigen Brecher rollten heran und warfen ihn um. Mason sprang wieder auf. Sein Anzug war völlig durchnäßt und klebte an seinem Körper. Wieder sah er nur die Schornsteine der Häuser aus dem Wasser ragen. Die See stieg in dieser Nacht besonders hoch und umspülte schon sein eigenes Haus. Richard Mason wich etwas zurück und watete durch das seichte Wasser am Ufer entlang. Die See gurgelte durch die Straßen und überflutete die kleinen Gärten. Mason eilte, von einem starken Trieb gehetzt, zum Kreidefelsen. Endlich hörte er das an die steile Klippe tosende Wasser und blieb wie versteinert stehen. Hoch oben auf der Klippe stand eine Frau. Ihr schwarzes Gewand und ihr langes Haar flatterten im Wind. Sie stand am Rand der Klippe und blickte auf das schäumende und tosende Wasser hinab. Mason rannte durch die überfluteten Straßen. Wenn die Häuser ihm die Sicht verdeckten, eilte er noch schneller 141
vorwärts. Die Gestalt auf der Klippe wirkte wie leuchtendes Eis und lockte ihn unwiderstehlich an. Aber schon war die Flut vorüber, und das Wasser wich überraschend schnell zurück. Es war wie ein Zeitrafferfilm. Das Wasser gurgelte durch die Straßen, verlief sich schäumend und verschwand plötzlich, als wäre es nie dagewesen. Gleichzeitig verschwand auch die auf der Klippe stehende Gestalt. Mason wandte sich ab und taumelte zurück. Die letzten Pfützen trockneten schnell aus. Der Geruch des Meerwassers hing noch in der Luft, verflog aber rasch. Masons Anzug trocknete ebenfalls sehr schnell, so daß keine Spuren seines Abenteuers zurückblieben. * Am nächsten Morgen sagte er zu Miriam: „Es müssen wohl doch Träume gewesen sein. In der letzten Nacht habe ich nichts gesehen.“ Miriam atmete auf. „Gott sei Dank, Richard!“ rief sie aus. „Irrst du dich auch nicht?“ „Bestimmt nicht. Ich muß mich noch bei dir bedanken, weil du meinen Schlaf bewacht hast, Miriam.“ „Ich werde auch in der nächsten Nacht wachen“, antwortete Miriam entschieden und erstickte seinen lahmen Protest. „Ich muß es tun“, sagte sie. „Es hat seine Wirkung nicht verfehlt. Du mußt endlich gesund werden und diese schrecklichen Visionen vergessen, Richard.“ Während des Frühstücks wurde Miriam jedoch sehr nachdenklich. Schließlich sagte sie zögernd: „Ich kann 142
mich natürlich irren, aber ich glaube, ich habe auch etwas gehört. Die Geräusche schienen aus ungeheurer Ferne zu kommen wie etwas, das nach Millionen von Jahren noch einmal nachklingt.“ * Auf dem Weg zur Bibliothek machte Mason einen längeren Umweg zum Kreidefelsen. Er parkte den Wagen und stieg zu der Stelle hinauf, an der er in der Nacht die seltsame Erscheinung erblickt hatte. Die Sonne schien nun hell und klar und ließ den nächtlichen Spuk völlig unwirklich erscheinen. Mason fand sich plötzlich neben dem in den Kreidefelsen gebohrten tiefen Schacht. Wieder waren Arbeiter dabei, die Bohrung zu vertiefen. Später fuhr Mason durch die Straßen in der Umgebung der Klippe. Die Frau mußte irgendwo wohnen. Er konnte sich noch genau an sie erinnern und war überzeugt, daß er sie sofort erkennen würde. Er blickte neugierig über die Hecken und spähte sogar in die Küchenfenster der Häuser. Vor der Bibliothek sah er einen Wagen, den er vorher schon neben dem Bohrloch bemerkt hatte. Ein älterer Herr saß in der Bibliothek und studierte Karten und Bücher mit geologischen Angaben. Er hatte auch einige aus dem Bohrloch heraufgeholte Proben und zeigte sie anderen Männern. Danach studierte der Mann die in Glaskästen ausgestellten prähistorischen Funde aus der Umgebung. „Wer war das?“ fragte Mason einen der Angestellten, nachdem der Mann wieder weggefahren war. „Professor Goodhart, ein Paläontologe. Die Bohrung ist 143
sehr erfolgreich. Wenn wir Glück haben, dürfen wir einige der interessanten Funde behalten. Sie sind im Kreidefelsen auf Knochen gestoßen.“ Mason starrte auf die Knochen. Der Zusammenhang zwischen seinen Visionen und diesen Funden wurde ihm mit betäubender Plötzlichkeit bewußt. * In den folgenden Nächten stürzte er sich immer wieder in’ die Fluten und wanderte am Ufer entlang zur Klippe, wo er die weißhaarige Frau sehen konnte. Sie stand hoch über dem Wasser und wurde nur von den fliegenden Schaumfetzen berührt. Mason beeilte sich, aber er kam nie an die Frau heran. Wenn er sich der Klippe näherte, war die gespenstische Flut schon vorbei, das Wasser wich schnell zurück. Erschöpft blieb er dann irgendwo stehen und dachte über sein merkwürdiges Schicksal nach. Einmal wurde er von einer Funkstreife entdeckt, als er mitten auf einer Fahrbahn stand und plötzlich im Scheinwerferlicht auftauchte. Ein anderes Mal vergaß er, die Gartentür zu schließen. Miriam beobachtete ihn am nächsten Tag argwöhnisch. Die eingefallenen Augen mit den tiefen Schatten zeugten von den nächtlichen Anstrengungen. „Hat es wieder angefangen?“ fragte sie mitfühlend. „Du siehst erschöpft aus. Du solltest nicht so oft zur Bibliothek gehen und alles mögliche lesen.“ Mason schüttelte, matt lächelnd, den Kopf. „Mach dir keine Sorgen, Miriam“, erwiderte er. „Ich sehe nichts 144
mehr. Die Erschöpfung ist wohl eine Nachwirkung meiner langen Krankheit.“ Miriam ergriff seine Hände und betrachtete die Handflächen. „Bist du gestürzt?“ fragte sie argwöhnisch. „Deine Hände sind rauh und aufgerissen.“ Mason erfand schnell eine Notlüge, um seine Verletzungen zu erklären. Er konnte Miriam doch nicht sagen, daß er nachts verzweifelt auf Händen und Füßen kroch, um die Klippe vor dem Zurückweichen der Flut zu erreichen. Nach dem Frühstück ging er wieder in sein Zimmer und blickte gedankenversunken auf die Dächer der anderen Häuser. Dabei nahm er unbeabsichtigt die Muschel in die Hand. Er legte sie aber schnell wieder weg, denn Miriam betrat den Raum. „Ich hasse diese Muschel“, sagte sie ärgerlich. „Vielleicht ist sie für deine Träume verantwortlich. Was meinst du, Richard? Deine Visionen müssen doch irgendeinen Grund haben.“ Mason zuckte die Achseln. „Vielleicht sind sie Erinnerungen.“ Miriam beobachtete seine Augen. Sie wußte genau, daß ihr Mann noch immer Visionen sah und es nur nicht zugeben wollte. Mason zögerte. Sollte er ihr von seinen nächtlichen Streifzügen erzählen, von der weißhaarigen Frau auf der Klippe? Die Frau schien ihn anzulocken und war deshalb eine Nebenbuhlerin für Miriam. Selbst eingebildete Gestalten sollten nicht in die Träume eines Mannes eindringen. Mason zog es vor, seine Traumgestalt für sich zu behalten. 145
* Das Wasser reichte bis an Masons Brust. Er kämpfte sich durch die wirbelnden Massen vorwärts, zog die behindernde Jacke aus und schleuderte sie achtlos von sich. Das Wasser stand höher als jemals zuvor. Es hatte nun auch sein eigenes Haus erreicht und umspülte die Stufen. Mason dachte aber weder an seine Frau noch an das Haus. Er wollte weiter, wollte zur Klippe, um endlich die einsame Gestalt zu erreichen, die dort oben dem Sturm trotzte und von Schaumfetzen eingehüllt wurde. Mason sank mitunter bis zum Kinn ins Wasser. Es war salziges, nach Algen und Muscheln riechendes Meerwasser, das auf der Haut brannte und ihn fast blind machte. Er erreichte die Ausläufer der aus dem Meer ragenden Klippe und fiel erschöpft auf das harte Gestein. Die See kochte brausend, der Wind wirbelte die weißen Schaumfetzen zu einem gespenstischen Wirbel auf. Mason starrte nach oben. Dort stand die Frau mit den im Wind wehenden weißen Haaren. Er hörte das Brausen des Sturmes und das Rauschen des Wassers. Alle Geräusche flossen zu einem Konzert entfesselter Urgewalten zusammen. Mason wurde von dieser Naturmelodie mitgerissen. Er vergaß die Schwäche seines Körpers und kletterte nach oben. Diesmal würde er es schaffen, das spürte er mit Sicherheit. Er mußte es schaffen, denn noch einmal würde er die Kraft nicht aufbringen können. Endlich war er oben und taumelte auf die Frau zu. Sie entfernte sich aber von ihm. Er sah die schlanke Gestalt mit 146
den fliegenden Haaren dicht vor sich und konnte sie doch nicht berühren. „Warte!“ Sein Ruf wurde vom Wind verschluckt. Mason taumelte weiter. Die Frau drehte sich nun um. Richard Mason erstarrte, denn er sah einen bleichen Schädel mit dunklen Augenhöhlen und weißen Zähnen. Die weißen Haare umflatterten das schreckliche Gesicht und berührten Masons Haut. Die Frau streckte ihm eine Hand entgegen, eine bleiche Knochenhand mit Fingern, die wie Krallen nach ihm langten. Und dann erhob sich die unheimliche Gestalt in die Luft. Der schwarze Umhang wurde zu einer unausweichbaren Falle. Die Frau senkte sich wie ein gewaltiger Raubvogel auf Mason herab und wollte ihn mit ihren Knochenhänden packen. Mason taumelte zurück. Niemand hörte sein angstvolles Schreien. Er prallte gegen das provisorische Geländer der Bohrstelle, durchbrach das Holz, stolperte über klirrende Ketten und stürzte kopfüber in die gähnende Tiefe, während das Rauschen über ihm zu einem alles übertönenden Brüllen wurde. * Der Professor hörte sich die Beschreibung an und schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht, Sergeant“, sagte er dann. „Der Wind hat das Geländer losgerissen. Wir arbeiten schon über eine Woche an dieser Bohrstelle. Aber wenn der Bur147
sche im Schlaf durch die Gegend wandert, müssen wir die Sicherungen verstärken. Ich glaube aber nicht, daß er hier auf diese Klippe klettert.“ „Das glaube ich auch nicht“, antwortete der Polizist. Und nachdenklich fügte er hinzu: „Ich habe gehört, daß Sie gestern zwei vollständig erhaltene Skelette gefunden haben. Könnte nicht eines davon … Aber das ist Unsinn. Das würde ja das Vorhandensein einer starken Säure bedingen. Wie sollte die wohl in den Schacht gekommen sein?“ Der Professor lachte auf. „Ihre Phantasie geht mit Ihnen durch, Sergeant.“ Er schlug seinen Absatz, in die Kreide und fügte hinzu: „Das ist reines Kalziumkarbonat. Diese Lage hier ist ungefähr zweitausend Meter stark. Sie bildete sich in der Triasperiode, also vor ungefähr zweihundert Millionen Jahren. Damals reichte das Meer bis hierher. Die gestern gefundenen Skelette sind die Gerippe eines Mannes und einer Frau, wahrscheinlich Cro-Magnon-Menschen, die hier als Fischer lebten. Ich vermag Ihnen leider kein Corpus delicti zu bieten. Allerdings kann ich mir nicht erklären, wie die beiden Skelette in den Schacht geraten sind. Sie gehören nicht zu den übrigen Knochen, die wir hier heraufholen. Aber das ist ein Problem, mit dem ich mich herumschlagen muß, nicht Sie, Sergeant.“ Der Polizist verabschiedete sich und ging zum Streifenwagen zurück. Während der Fahrt durch die Straßen der kleinen Stadt betrachtete er die Bodenformation und sagte zu seinem Fahrer: „Das war hier mal das Ufer eines Meeres. Kaum vorstellbar, was?“ Dann nahm er Masons Jacke vom Rücksitz und roch daran. „Merkwürdig“, murmelte er. „Die Jacke riecht tatsächlich nach Meerwasser.“ 148
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