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Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes ORION – mit Commander Cliff McLane und seiner Crew – und mit Tamara Jagellovsk, dem Offizier des Galaktischen Sicherheitsdienstes.
Verkäufer und Werbemanager der Spielzeugbranche zeigen strahlende Gesichter. Die Goldie-Puppen, vom Planeten Kriotes eingeführt, erweisen sich als echter Verkaufsschlager. Keiner kann dem Appeal und der seltsamen Ausstrahlung der RobotPuppen widerstehen. Das Phänomen ›Goldie‹ beunruhigt die Männer, die für die Sicherheit der Erde verantwortlich sind, in zunehmendem Maße. Sie schicken die ORION los. Oberst Cliff McLane soll den Planeten Kriotes und die dortige Künstlerkolonie besuchen, von der die Robot-Puppen stammen. Aber McLane ahnt noch nicht, daß die Clique der Übermenschen zum großen Schlag gegen die Erde ausholt.
Alle Romane nach der großen Fernsehserie RAUMSCHIFF ORION erscheinen als Taschenbuch im MOEWIG-VERLAG.
Im Moewig-Verlag erschienen bisher die Raumschiff ORION-Romane 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Angriff aus dem All (T 134) Planet außer Kurs (T 136) Die Hüter des Gesetzes (T 138) Deserteure (T 140) Kampf um die Sonne (T 142) Die Raumfalle (T 144) Invasion (T 146) Die Erde in Gefahr (T 152) Planet der Illusionen (T 154) Wettflug mit dem Tod (T 156) Schneller als das Licht (T 158) Die Mordwespen (T 160) Kosmische Marionetten (O 13) Die tödliche Ebene (O 14) Schiff aus der Zukunft (O 15)
BAND 16
ERNST VLCEK
RAUMSCHIFF ORION
REVOLTE DER PUPPEN Zukunftsroman
Deutsche Erstveröffentlichung
MOEWIG-VERLAG MÜNCHEN Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
Für den Moewig-Verlag nach Ideen zur großen Fernsehserie »Raumpatrouille«, produziert von der Bavaria-Atelier GmbH, geschrieben von Hans Kneifel
Copyright © 1969 by Arthur Moewig Verlag Printed in Germany 1969 Umschlag: Ott + Heidmann design Gesamtherstellung: Hier. Mühlberger, Augsburg Der Verkaufspreis dieses Bandes enthält die gesetzliche Mehrwertsteuer
1 Der Mann arbeitete mit viel Liebe und Sorgfalt an der Puppe. Noch wirkte sie kalt, leblos und unpersönlich, wie andere Fließbandprodukte dieser Art auch. Und doch unterschied sie sich sehr stark von ähnlichen Erzeugnissen. Der Unterschied lag im Innern des Kunststoffkörpers, hinter den metallenen Rippen des Skeletts, wo sich eine eigroße Energiequelle befand, welche die Puppe zu eigenständigem Leben erwecken würde. Dann konnte sie Arme und Beine bewegen und den Kopf wenden, wie es ihr gerade paßte, oder – solange die Puppe es zuließ – wie es der Besitzer von ihr verlangte. Aber das waren alles immer noch recht herkömmliche Eigenschaften. Es gab genügend mechanische Puppen auf dem Markt, die das konnten. Diese jedoch sollte etwas Besonderes sein. Und sie war es auch. Das verdankte sie dem Mann am Arbeitstisch. Er war ein Künstler – oder ein künstlerisch begabter Wissenschaftler, wenn man so wollte. Er war der eigentliche Schöpfer dieser Puppe, denn letztlich verdankte sie es ihm, daß sie zu dem wurde, was sie sein sollte. Eine Überraschung für die Erde. Der Mann gab der Puppe ihre Augen. Er gab ihr nicht irgendwelche Glasperlen, obwohl es auf den ersten Blick so schien. Auch wurden sie nicht lieblos in die Augenhöhlen geklebt. Nein, es waren kleine synthetische Kristalle, nicht geschliffen, sondern in Nährlösungen gewachsen. Es
war ein komplizierter chemischer Prozeß, während dem sich ein Kristall an den anderen gereiht hatte, bis die funkelnden Steine ihre jetzige Größe erreichten. Dann wurde der Wachstumsprozeß unterbrochen. Die Augen wurden durch hauchfeine Drähte mit einem Impulsgeber verbunden, der seinen Platz im positronischen Gehirn der Puppe hatte. Nachdem dies getan war, aktivierte der Mann die Energiequelle, und die Augen der Puppe versprühten Farbe und Leben. Sie vermittelten dem Betrachter das, was keine andere Puppe aufzuweisen hatte: eine Seele. Eine mechanische Puppe mit Seele! Das war die Überraschung für die Erde. Der Mann nahm nun ein Prüfgerät und stellte mit dessen Hilfe die Parallaxe der Augen ein. Das war der zeitraubendste Teil der Arbeit, aber er widmete ihm die meiste Mühe und Sorgfalt. Es hing alles davon ab, daß der Blick der Puppenaugen den richtigen Winkel hatte. Als er mit dieser Tätigkeit fertig war, lehnte er sich seufzend im Sessel zurück und löste die Haftschalen aus seinen Augen. Einige Sekunden saß er noch reglos und vollkommen entspannt da. Dann seufzte er erneut, beugte sich ein letztesmal über die Puppe, um die Stromzufuhr abzuschalten und die Schädeldecke mit dem seidenen Blondhaar über das winzige Robotgehirn zu stülpen. Er stand auf und trug sie in den angrenzenden Raum. Dieser war zehnmal so groß wie seine Werkstatt. Regal reihte sich dort an Regal, alle mit Puppen überladen. Zehntausend Puppen.
Der Mann legte seine letzte Schöpfung zu den anderen. Hier sollten sie bis zum Abtransport gelagert bleiben. Das machte den Puppen nichts aus, denn sie waren geduldig wie alle Roboter. Noch waren sie tot und würden es so lange sein, bis ein Funkimpuls die Energiezufuhr auslösen und die Programmierung vornehmen würde. Dann würden die zehntausend Puppen zu gefährlichem Leben erwachen – gefährlich für die Menschen der Erde. * Das Starlight-Casino, Treffpunkt der Raumfahrer, schien eine zusätzliche Bedeutung zu erhalten. Nämlich diese: die letzte Zuflucht für ausgebrannte Schriftsteller zu sein. »Ich habe Sie schon fröhlicher lächeln sehen«, meinte Cliff Allistair McLane. »Ich lächle überhaupt nicht«, erwiderte Pieter-Paul Ibsen, erfolgreichster Science-Fiction-Schriftsteller der Gegenwart. Im Augenblick machte er allerdings mehr den Eindruck eines arbeitslosen Dockarbeiters. Sein teurer Anzug war so zerknittert, als hätte er tagelang darin geschlafen. Seine Hände spielten nervös mit dem halbleeren Glas vor ihm. Manchmal fuhr er sich damit durch das ungekämmte Haar, das trotz seiner 36 Jahre bereits einige lichte Stellen aufwies. Sein Blick glitt über das dichte Pflanzengrün der Bar durch die Glaswand hinaus auf das Meer des Carpentariagolfes.
»Mir ist nicht zum Lachen zumute«, murmelte er vor sich hin. Kommandant McLane fühlte sich etwas unbehaglich. Seit Pieter-Paul Ibsen unter denkwürdigen Umständen auf seinem Schiff mitgeflogen war, hatte sich eine gewisse Freundschaft zwischen diesen beiden so grundverschiedenen Männern ergeben. Aber sie war nie so intim geworden, daß sie private Konflikte miteinander erörtert hätten. Deshalb war McLane nicht schlecht überrascht, als Ibsen ihn vor einer knappen Stunde in seiner Wohnung angerufen und in die zweite Ebene des Starlight-Casinos gebeten hatte. Und er war zutiefst bestürzt, daß er statt der Verkörperung des Erfolges ein Häufchen Elend vorfand. Der Grund für Pieter-Paul Ibsens Depressionen wurde schnell offenbar. Spätestens nach dem dritten Glas wußte McLane, daß der Schriftsteller ausgebrannt war; er war nicht in der Lage, auch nur eine Zeile zu schreiben, wie er selbst es ausdrückte. »Das beste wäre vielleicht, Sie suchten einen Psychodynamiker auf, Pie-Po«, schlug McLane vor. »Ich will damit nicht Ihre Gefühle verletzen. Aber Sie sollten sich meinen Vorschlag ernsthaft überlegen. Wenn es dem Psychodynamiker gelingt herauszufinden, was Ihren Seelenknacks verursacht hat, dann findet er auch bestimmt eine geeignete Therapie.« Ibsen schüttete den Inhalt seines Glases auf einmal hinunter und bestellte bei einem vorbeikommenden Steward ein neues. »Nur ich selbst kann mir helfen«, sagte er mit etwas schwerer Zunge. »Ich kenne den Grund für meinen Zustand. Ich habe eine Schlappe erlitten. Nur wenn
ich sie wettmache, finde ich wieder zu mir selbst zurück. Das hört sich nichtig genug an, daß man darüber lächeln möchte, aber mir hat es den Rest gegeben.« »Was war es denn?« erkundigte sich McLane. »Jemand hat mir bewiesen, daß ich ein Vollidiot bin!« Die Situation war fast zum Schreien komisch, fand McLane. Da saß ein Schriftsteller, dessen Erfolge sich nicht nur in klingender Münze ausdrückten, sondern auch in lobenden Kritiken seiner Werke und unzähligen begeisterten Fan-Briefen. Und er ertrug es nicht, daß ein einzelner seine Stimme gegen ihn erhoben hatte. Aber so waren Künstler wahrscheinlich nun einmal. Ibsen fuhr fort: »Mir wurde durch einen einwandfreien Test bewiesen, daß ich einen Intelligenzquotienten von dreiundachtzig habe. Dreiundachtzig, Cliff!« Nun konnte McLane nicht mehr an sich halten. »Sie können sich immer noch damit trösten, daß ein SF-Schriftsteller keine besondere Intelligenz benötigt, um erfolgreich zu sein«, meinte er schmunzelnd. »Ha, ha«, machte Ibsen gekünstelt. »Früher konnten Sie mich mit Ihren trockenen Scherzen erheitern. Aber das ist vorbei. Ich bin am Ende. Ich kann nicht mehr schreiben – nicht nach diesem Tiefschlag. Ein Wunder müßte geschehen. Ein Wunder! Wenn Sie meine früheren Werke hernehmen ...« »Ich kenne einige«, warf McLane ein. »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel, DIE MÄNNER DER RAUMSTATION.« »Und?« erkundigte sich Ibsen erwartungsvoll.
»Zu wenig Sex.« »Ach, zum Teufel mit Sex.« Ibsen machte eine wegwerfende Handbewegung. »Man muß damit sehr vorsichtig sein, denn seit Jahrtausenden haben die Autoren die Finger davon gelassen. Aber Sie schweifen ab, Cliff ...« »Oberst McLane?« Der Kommandant der ORION VIII blickte unwirsch auf. Als er sah, daß es sich bei dem Störenfried um einen hübschen weiblichen Kadetten handelte, verzog sich sein Mund fast automatisch zu einem freundlichen Lächeln. »Ja, bitte?« »Marschall Wamsler hat mich geschickt«, flüsterte die Schöne. »Er erwartet Sie in seinem Büro. Sofort. Ich – ich soll Sie persönlich hinbringen.« Während ihrer kurzen Rede hatte sich McLane das Mädchen genauer angesehen. Sie war ungefähr zweiundzwanzig Jahre alt und dunkelhaarig. Es bestand kein Zweifel, daß sie sich ihrer weiblichen Vorzüge vollkommen bewußt war, denn sie brachte sie mit jeder Bewegung und jeder Geste zur Geltung. Trotzdem wirkte sie kindlich und naiv. Denn sie hatte eine Puppe unter den Arm geklemmt. Das Mädchen bemerkte seinen neugierigen Blick und drückte die Puppe fester an ihren Körper. Eine leichte Röte überzog ihre Wangen. »Ich bin nicht mehr im Dienst, Herr Oberst«, verteidigte sie sich stammelnd. »Ich habe Marschall Wamsler zuliebe diesen Auftrag übernommen. Und da ich dienstfrei habe, habe ich Nanette mitgenommen. Sie ist auch zu lieblich. Ich brauche sie. Deshalb
habe ich sie immer bei mir.« »Immer?« Das Mädchen kicherte. McLane erhob sich zögernd. Ibsen bemerkte seine Unentschlossenheit und sagte: »Gehen Sie nur, Cliff. Ich werde schon allein mit meinem Kummer fertig. Ich ertränke ihn ganz einfach.« »Ich werde Ihnen Gesellschaft verschaffen«, versprach McLane und blickte sich suchend um. An einem Tisch sah er Helga Legrelle zusammen mit einem jungen Leutnant. Als er ihren Blick auffing, winkte er sie zu sich. »Einen Augenblick, bitte«, sagte er zu dem weiblichen Kadetten und kam Helga Legrelle auf halbem Wege entgegen. »Hoffentlich habe ich kein Idyll zerstört«, empfing er seine Funkerin. »Nein, ganz bestimmt nicht.« Sie seufzte erlöst. McLane weihte sie in die Situation ein und bat, sie möge versuchen, Pie-Po ein wenig von seinen trübsinnigen Gedanken abzulenken. »Wird gemacht«, versprach sie – etwas zu eifrig, fand McLane. Ihm war bei anderer Gelegenheit nicht entgangen, wie sie Ibsen umschwärmte. Nun hatte sie erneut Gelegenheit, ihre Mutterkomplexe abzureagieren. Er winkte Pieter-Paul Ibsen noch einmal zu, dann folgte er dem weiblichen Kadetten durch die unzähligen Korridore und Liftschächte hinunter zur Basis 104. Sie folgten einem leuchtenden Pfeil, in dem stand: OBERSTE RAUMBEHÖRDE – Führungsstab (Wamsler)
Die ganze Zeit über dachte McLane an das Mädchen und ihre Puppe. Es wollte ihm ganz einfach nicht in den Kopf, daß ein physisch ausgereiftes Mädchen sich immer noch mit Puppen begnügte. Er mußte Mario de Monti einen Tip geben. Vielleicht würde sie dann auf andere Gedanken kommen. Aber aus irgendeinem Grund wollte McLane an eine so einfache Lösung nicht glauben. Der Korridor endete vor einer Tür. Nachdem der Kadett sich und McLane bei dem Offizier in Wamslers Vorzimmer gemeldet hatte, sprang die Tür auf. »Auftrag ausgeführt«, sagte das Mädchen. McLane lächelte. »Da Sie dienstfrei haben, kann ich mir erlauben, Sie um Ihren Namen zu fragen.« »Ich heiße Nanette«, antwortete sie mit leuchtenden Augen. Auf diese Frage schien sie gewartet zu haben. »Nanette wie meine kleine, süße Puppe. Ich gehöre zu Marschall Wamslers Stab.« Zu McLanes Pech befand sich Michael SpringBrauner in Wamslers Vorzimmer. In Anspielung auf das Verhältnis zwischen McLane und Tamara Jagellovsk rief er: »Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn!« »Jetzt beschäftigt er sich auch noch mit Poesie«, knurrte der Kommandant der ORION VIII. Er wußte noch nicht, wie sehr er mit seiner oberflächlichen Bemerkung ins Schwarze getroffen hatte. * Die beiden Männer straften sich gegenseitig mit Nichtbeachtung, während sie nebeneinander vor der
Lichtflutbarriere standen, die Wamslers Büro und deren Insassen beschützen sollte. Als sie zusammenfiel, ging McLane voran; Spring-Brauner folgte ihm auf dem Fuße. Hinter ihnen richtete sich die flimmernde Neutronenwand wieder auf. »Ah, McLane, kommen Sie nur weiter«, rief Marschall Winston Woodrov Wamsler von seinem Platz hinter dem großen Schreibtisch. Er verstand es, den Eindruck zu erwecken, als sei der Kommandant der ORION VIII ein immer willkommener Gast. Sein massiger Körper lehnte sich im Sessel zurück, die fleischigen Finger ließ er von der Tischplatte auf seine Schenkel klatschen. An ihm war alles schwarz, die Augen, die Brauen darüber, das Haar und die Uniform, die sich über seinen breiten Schultern straffte. »Oberst Villa und ich haben Sie bereits erwartet. Aber nehmen Sie doch Platz.« Die Hände wanderten wieder zur Schreibtischplatte und verschränkten sich vor dem mächtig gewölbten Brustkorb. Wamsler war unruhig und betont freundlich, das alarmierte McLane. Es gab zwei Erklärungen dafür: Wamsler wollte ihn um einen obskuren Gefallen bitten, oder er hatte einen unangenehmen Auftrag in petto. Beides würde auf dasselbe hinauskommen. Ärger für McLane und seine Crew. McLane nickte Oberst Villa zu, bedankte sich bei Wamsler höflich für den angebotenen Stuhl und nahm Platz. Unaufgefordert folgte Wamslers Ordonnanzleutnant Spring-Brauner seinem Beispiel. »Ich habe wieder Arbeit für Sie, McLane«, begann der Chef der Terrestrischen Raumaufklärungsverbände, in denen Cliff McLane und seine Crew eine
Sonderstellung einnahmen. Nach der erfolgreich zurückgeschlagenen Invasion der Extraterrestrier war vereinbart worden, daß die ORION nur noch für Spezialeinsätze herangezogen werden sollte. Aber darunter verstand Wamsler nicht immer dasselbe wie McLane. Und in dieser Richtung schien sich wieder einmal etwas anzubahnen. Wamsler zeigte sich unschlüssig, wie er fortfahren sollte. Aber sein hilfesuchender Blick stieß bei Oberst Henryk Villa auf Ablehnung. Der Leiter des Galaktischen Sicherheitsdienstes saß wie ein unbeteiligter Zuschauer da. Sein Gesicht war ausdruckslos, nichtssagend wie ein Videophon mit einer toten Leitung. Es blieb an Wamsler, das Schweigen zu unterbrechen. »Wie gesagt, es gibt Arbeit für Sie, McLane. Dieser Einsatz unterscheidet sich hauptsächlich deshalb von anderen, weil es nicht gilt, ein Übel zu beseitigen, sondern es muß erst festgestellt werden, ob überhaupt eines vorhanden ist. Haben Sie das mitbekommen, McLane?« »Ich denke schon. Obwohl Sie in Rätseln sprechen.« Wamsler grinste. »Ja, wissen Sie, das liegt daran, daß ich selbst nicht ganz klar in dieser Sache sehe. Eigentlich ist es Leutnant Spring-Brauner zu verdanken, daß der Stein ins Rollen kam.« »Das klingt nicht sehr verlockend«, stellte McLane fest. Spring-Brauner lächelte nur maliziös. »Eine Frage, McLane«, ließ sich Wamsler wieder hören. »Kennen Sie Kriotes?«
»Den griechischen Bildhauer?« Wamsler war irritiert. »Griechischer Bildhauer – hm. Nein, ich meine den Planeten Kriotes, den zweiten der Doppelsonne 42 Comae.« »Ich kenne diese Welt aus Erzählungen«, sagte McLane. »42 Comae liegt doch innerhalb der ersten Entfernungszone, etwa siebzehn Parsek von Terra entfernt. Soviel ich über Kriotes gehört habe, handelt es sich um eine Künstlerkolonie, die von der Regierung gefördert wird. Es heißt, daß man dort hoffnungsvollen Talenten eine Chance gibt, aber manche wollen wissen, daß nur Söhne von Politikern und Industriellen ein Stipendium erhalten ...« »Ja, ja, schon gut.« Wamsler winkte ungeduldig ab. »Das sind Gerüchte, die wir hier nicht untersuchen wollen. Sie sollen hinfliegen, um etwas anderes herauszufinden.« McLane war nicht sonderlich überrascht. Jedenfalls kristallisierte sich langsam heraus, welche unliebsame Aufgabe ihm wieder zugeschanzt wurde. »Und was soll ich auf Kriotes herausfinden?« Statt einer Antwort sagte Wamsler: »Erzählen Sie, Spring-Brauner.« * Das war das Zeichen für den ›schönen Mike‹, wie man Wamslers Ordonnanzleutnant in allen Abteilungen zu nennen pflegte, sich in Szene zu setzen. Er besaß neben seinem guten Aussehen auch noch eine Portion Tüchtigkeit und Intelligenz; doch penetrant an ihm war, daß er sich dessen besonders bewußt war
und es jeden bei jeder Gelegenheit wissen lassen wollte. Das war auch einer der Gründe, warum McLane ihn nicht leiden mochte. »Kriotes«, begann Spring-Brauner und bedachte McLane mit einem kurzen Blick, »ist genau das, wie Sie es so schön ausdrückten. Eine Künstlerkolonie. Maler, Bildhauer, Dichter und Wissenschaftler haben sich dort zusammengefunden, damit sie Inspirationen für ihr Schaffen finden. Diese Welt ist nicht nur erdähnlich, mit üppiger Flora und friedlicher Fauna, sie hat der Erde sogar etwas voraus. Es gibt keine Hast, keine Technik, von der sich die Menschen beherrschen lassen. Kriotes ist ein Idyll schlechthin, geschaffen, den Geist zu beflügeln.« »Waren Sie denn dort?« erkundigte sich McLane. »Ja. Warum?« »Na, weil Sie reden, als seien Sie selbst von der Muse geküßt worden.« Spring-Brauner lächelte kalt. »Sie für Ihre Person brauchen wohl keine derartigen Befürchtungen zu hegen, McLane.« »Halten Sie sich an die Tatsachen, Spring-Brauner«, schnarrte Wamsler. »Jawohl, Sir.« Spring-Brauner räusperte sich. »Das Paradies Kriotes hat aber auch eine Schattenseite. Sie ist unergründlich und geheimnisvoll. Unter den Künstlern hat sich eine Gruppe gebildet, die sich schlicht als Übermenschen bezeichnet. Ihr Anführer ist der Bildhauer Etienne Chantelene. Die Mitglieder dieser Gruppe werden nicht willkürlich aufgenommen, sondern sie müssen eine Reihe von schwierigen Tests bestehen, aus denen ihre Fähigkeiten, ihr Cha-
rakter und ihre Intelligenz hervorgehen. Je nach dem bestandenen Schwierigkeitsgrad erhalten sie ihren Status auf Kriotes. In die Kamarilla um Etienne Chantelene finden nur die wenigsten Aufnahme. Die Besten, sozusagen die Elite der Menschheit. Chantelene führt ein strenges Regime. Die Menschen müssen sich in das von ihm geschaffene Schema einfügen. Die Mitglieder der Kamarilla genießen alle Vorzüge. Danach gibt es noch Bürger erster und zweiter Klasse und schließlich den Pöbel. Letzterer genießt kaum irgendwelche Rechte. Es hängt viel davon ab, in welche Kategorie ein Künstler eingeteilt wurde: Wo und wann er schaffen darf, die Menge und Qualität seiner künstlerischen Hilfsmittel – ja, selbst die Eßrationen werden davon betroffen.« »Das Ganze scheint darauf hinauszulaufen, daß eine kleine Gruppe auf Kriotes die anderen Künstler schikaniert«, warf McLane verärgert ein. »Ist diese Angelegenheit nicht zu harmlos, um ein Schiff wie die ORION einzusetzen?« »Es kommt noch bunter«, versprach Wamsler. Aber es war zu merken, daß diese Angelegenheit seiner Meinung nach zu sehr aufgebauscht wurde. Das besagte der Blick, den er Villa zuwarf. Die Skepsis seines Chefs ignorierend, fuhr SpringBrauner fort: »Chantelenes Philosophie vom Übermenschen bezieht sich nicht nur auf die verhältnismäßig kleine Menschengruppe von Kriotes. Seine Auslese erstreckt sich über die gesamte Menschheit. Sein Ziel ist es, die Übermenschen nach seinem Prinzip abzusondern und ihnen die Macht über die anderen Menschen zu geben.« »Ähnliche Versuche wurden schon oft und in grö-
ßerem Ausmaß unternommen«, sagte McLane. »Eine Superrasse, eine neue Menschheit – wie oft hat man schon davon gehört! Aber da die menschlichen Charaktere zu vielschichtig sind, gibt es keinen strengen Maßstab, nach dem man die Elite der Menschheit aussuchen könnte, um ihr als Superrasse einen besonderen Status zu geben.« Mit dieser Feststellung wurde Spring-Brauners Wissen offensichtlich überfordert. Er wirkte ein wenig ratlos, was Marschall Wamsler ein schadenfrohes Lachen entlockte. Da mischte sich zum erstenmal Villa ins Gespräch. »Die Bedingungen für die Erschaffung einer Superrasse waren noch nie so günstig wie jetzt«, sagte er. Nach einer kurzen Kunstpause erkannte er, daß ihm alle ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkten. »Auf Kriotes sind die Voraussetzungen für die Bildung einer sogenannten Superrasse tatsächlich geradezu ideal. Wenn man auch bezweifeln muß, daß Intellektuelle und Genies dazu imstande sind, die Menschheit anzuführen, so muß man zugeben, daß die Künstler und Wissenschaftler eine Elite der Menschheit darstellen. Unter ihnen ist ein Mann aufgestanden, der den Genies ihre Fähigkeiten vor Augen hält. Er sagt ihnen, daß sie gegenüber den anderen Übermenschen sind, und er will ihnen die gebührende Position innerhalb der Menschheit zuteil werden lassen. Das ist die Situation auf Kriotes.« McLane begegnete dem Blick Villas. Ohne Zweifel, der GSD-Chef war ernstlich um die Sicherheit Terras besorgt, aber das beeindruckte McLane nicht sonderlich. Es war schon lange kein Geheimnis mehr, daß Oberst Henryk Villa mehr Mißtrauen und Pessimis-
mus besaß als eine Horde Heilige der Letzten Tage. Spring-Brauner meldete sich wieder zu Wort. »Während meines Aufenthalts auf Kriotes habe ich herausbekommen, daß Chantelene sich ernsthaft damit beschäftigt, die Regierung zu stürzen und die Macht über das terranische Hoheitsgebiet zu übernehmen. Er will das von ihm eingeführte Kastenwesen überall in dem von der Menschheit kontrollierten Universum gültig werden lassen.« »Das hat Ihnen Chantelene auf die Nase gebunden?« erkundigte sich McLane. »So einfach war das nicht«, erklärte Spring-Brauner herablassend. »Ich mußte vorerst eine Reihe von Intelligenztests bestehen und wurde schließlich in die Kamarilla aufgenommen. Erst dann wurde ich von dem Invasionsplan unterrichtet.« »Sie gehören also zu den Übermenschen« stellte McLane fest. »Damit ist der Beweis erbracht, daß kein Grund zur Besorgnis besteht. Mein Freund SpringBrauner ein Übermensch!« »Das ist nicht der Zeitpunkt für alberne Scherze!« kam Villas schneidende Stimme. »Leutnant SpringBrauner hat sich sehr um die Erde verdient gemacht, indem es ihm gelang, sich in die Clique um Etienne Chantelene Zutritt zu verschaffen.« »Und welche konkreten Tatsachen hat der Herr Leutnant herausbekommen?« erkundigte sich McLane. Oberst Villa lächelte. »Marschall Wamsler hat bereits zu Anfang angedeutet, daß es an Ihnen und Ihrer Crew liegen wird, Beweise herbeizuschaffen. Daß Leutnant Spring-Brauner auf das Komplott der Übermenschen von Kriotes aufmerksam wurde, ist einer
Reihe von Zufällen und seiner persönlichen Initiative zuzuschreiben. Mit Rücksicht darauf, daß es nicht sein Metier ist, im aktiven Einsatz zu sein, hat er Großartiges geleistet. Es liegt jetzt an Ihnen, McLane, seine Vorarbeit zu einem erfolgreichen Ende zu führen.« McLane resignierte. »Na, schön. Ich werde nach Kriotes fliegen und die Verschwörung der Übermenschen zerschlagen.« »Das werden Sie nicht tun!« fauchte Wamsler und schlug mit der Hand auf den Tisch. McLane starrte ihn verblüfft an. Er war immer geneigter, anzunehmen, daß alle hier im Raum verrückt geworden waren – einschließlich er selbst. Einerseits sollte er nach Kriotes, um eine Verschwörung von Intellektuellen zu verhindern, die sich anmaßten, über der Menschheit zu stehen. Aber falls es überhaupt ein Komplott von kritischen Ausmaßen gab, dann durfte er nicht zuschlagen! Wer sollte das noch verstehen? »Ihre Aufgabe ist es«, fuhr Wamsler fort, »Daten zu sammeln. Sonst nichts. Durchwühlen Sie die gesamte Künstlerkolonie nach Anzeichen für eine Verschwörung, aber benehmen Sie sich nicht wie ein Elefant im Porzellanladen. Ich selbst bin der Meinung, daß Sie der letzte Mann sind, der das nötige Feingefühl für diesen Auftrag aufbringen kann. Aber Oberst Villa war der Ansicht, daß Sie, als einer der wenigen in der Patrouille, die nötige Intelligenz und Bildung besitzen. Außerdem besitzen Sie mehr Initiative als andere Kommandanten.« »Nur darf ich sie nicht anwenden.« McLane gestattete sich diesen Einwand, aber er wurde von Wamsler übergangen.
»Ihr Auftrag ist also klar umrissen«, sagte der Chef der Terrestrischen Aufklärungsverbände abschließend. »Besorgen Sie konkrete Beweise für eine Verschwörung der Übermenschen und fliegen Sie dann zur Erde zurück. Wir werden dann über Gegenmaßnahmen beraten. Aber kommen Sie ja nicht mit leeren Händen zurück.« »Ganz bestimmt nicht«, versprach McLane mit schlecht verborgener Ironie, »und wenn ich selbst unter die Dichter gehen muß.« »Die ORION wird in vierundzwanzig Stunden starten«, erklärte Oberst Villa, der plötzlich einige zusammengeheftete Folien in der Hand hielt, die spärlich beschrieben waren. »Das sind alle Unterlagen, die wir Ihnen zur Verfügung stellen können. Sollte es Fragen geben, steht Leutnant Spring-Brauner gern jederzeit zur Verfügung.« »Nein, danke«, lehnte McLane ab. »Keine Fragen.« Damit endete die Besprechung. * Zuerst beachtete kaum jemand die mechanischen Puppen, die in den Schaufenstern der meisten terranischen Supermärkte auftauchten. Zwar wurde die Reklametrommel kräftig gerührt – GOLDIE MUSS MAN EINFACH LIEBEN –, aber die Puppen schienen dem Geschmack der breiten Masse nicht zu entsprechen. Sie waren auch wirklich nicht besonders ansehnlich, etwa einen halben Meter groß, mit einem glänzenden Plastikgesicht, an dem noch das seidige
Blondhaar das Schönste war. Die Verkäufer hatten kein Glück damit, wenn sie auf das präzise Innenleben der GOLDIE-Puppen hinwiesen. Für die Mädchen zählte mehr das Äußere, und es gab für sie auch tatsächlich optisch viel verlockendere Modelle. Und die Jungen ignorierten anfangs naturgemäß – ebenfalls wegen des äußeren Eindrucks – das technische Wunderwerk. Der Umsatz der GOLDIE-Puppen ließ sehr zu wünschen übrig. GOLDIE VERMITTELT EINE TRAUMWELT FÜR DICH UND DEINE FAMILIE. Die Erwachsenen belächelten diesen Slogan. Wenn es auch eine alte Tatsache ist, daß Väter beim Anblick des spielenden Sohnes das Kind in sich wiederentdecken, so war es ein absurder Gedanke, daß sie auf die Knie fallen würden, um mit GOLDIE zu spielen. DEIN HEIM WIRD DURCH GOLDIE FÜR DICH UND DEIN KIND ZUM WUNDERLAND. Und doch waren es keine leeren Werbeslogans. Das wurde durch den stetig steigenden Umsatz von GOLDIE-Puppen bewiesen. Es gab durchwegs nur zufriedene Käufer. Zu den ersten, die sich lobend äußerten, gehörte eine der unzähligen anonymen Familien, die in ihrer Gesamtheit das Wohlstandsbürgertum der Erde bildeten. Bob, der Vater. Chris, die Mutter. Jimmy, der Sohn. Jimmy war acht Jahre und technisch sehr interessiert. Deshalb war es ganz klar, daß er beim erstenmal GOLDIE nur einen geringschätzigen Blick zuwarf, als
er sie während eines Einkaufsbummels mit seiner Mutter in einem Schaufenster sah. Beim zweitenmal zögerte er und beim drittenmal blieb er vor dem Schaufenster stehen und beobachtete GOLDIE fasziniert. Er stellte fest, daß ihr Tanz eine Mischung zwischen Ballett und Bodenakrobatik war. Aber viel mehr als ihre Bewegungen – die ohnehin zu eckig und unbeholfen waren – fesselten ihn die Augen. Eine Woche später bekam er sie zum Geburtstag geschenkt. Er freute sich über alle Maßen, und es hatte den Anschein, daß ihm seine Eltern einen seiner sehnlichsten Wünsche erfüllt hätten. Dabei hatte er nur ein einzigesmal seiner Mutter gegenüber schüchtern eingestanden, GOLDIE wäre ein durchaus akzeptables Spielzeug für ihn. Es mußte also an der Mutter gelegen haben die erkannt hatte, welchen geheimen Wunsch ihr Sohn hegte, daß Jimmy zu seiner GOLDIE-Puppe kam. NIEMAND KANN GOLDIE WIDERSTEHEN. Ob die Schöpfer dieses Slogans auch selbst daran glaubten oder nicht, war nun nicht mehr von Bedeutung. Jedenfalls hatten sie damit den Nagel auf den Kopf getroffen, was Bob, Chris und Jimmy betraf. Sie hatten die unsichtbaren, verborgenen Reize GOLDIES entdeckt und waren ihnen hoffnungslos verfallen. Sie saßen zu dritt auf dem Boden des Wohnzimmers und beobachteten die mechanische Puppe bei ihrem ungeschickten Akrobatiktanz. Wenn sie ihn dann mit einer ruckartigen Verbeugung beendete, klatschte Jimmy begeistert in die Hände. Chris und Bob saßen nur erwartungsvoll da. GOLDIE richtete sich auf und – starrte.
Jetzt begann ihr eigentliches Spiel, das Funkeln und Sprühen ihrer Augen ... Ihr müßt mich lieben. Ich brauche Liebe. Liebt mich. »Ja, wir lieben dich.« Die Augen sprühten Farbe, Leben, Faszination. Es war nicht möglich, dieser magischen Kraft aus den synthetischen Kristallen zu entgehen. Ich brauche euch, riefen die Augen lautlos. Und Bob, Chris und Jimmy verstanden ihre Sprache. Ihr Geist ließ sich von der suggestiven Kraft der Augen überwältigen. Ihr müßt mir helfen! Ohne auszusprechen, welche Art von Hilfe sie benötigte, waren Bob, Chris und Jimmy zur Hilfeleistung bereit. Sie sagten es nicht und wußten, daß sie es nicht zu sagen brauchten. GOLDIE verstand. Das Leben außerhalb von GOLDIEs Einflußsphäre ging normal weiter. Bob ging seiner Beschäftigung im Statistischen Amt für Außerplanetarische Agrarwirtschaft weiterhin nach. Chris opferte sich für die Familie auf, und Jimmy bekam auf der Schule die gleichen ausgezeichneten Zensuren wie früher. Nach außen hin blieben sie eine Durchschnittsfamilie. Wenn GOLDIE dann im Wohnzimmer für sie auftrat und den Tanz beendete, erst dann zeigte es sich, daß sie anders waren als die anderen. Anders als Familien, die keine GOLDIE-Puppe besaßen. Liebt mich. Ihr müßt mir helfen! Aber GOLDIE sagte noch immer nicht, wie die zu leistende Hilfe aussehen sollte. Vierzehn Tage nach dem Kauf der Puppe erfuhr Bob, daß sämtliche Bestände auf der ganzen Erde
aufgekauft worden waren. Insgesamt gab es zehntausend Besitzer von GOLDIE-Puppen. Was anfangs wie eine Fehlspekulation ausgesehen hatte, entwickelte sich innerhalb von zwei Wochen zu einem Riesenerfolg. Aber es wurde kein Bombengeschäft, denn obwohl immer noch eine große Nachfrage nach GOLDIE-Puppen herrschte, fehlte es an Nachschub. Die Erzeuger sahen sich nicht in der Lage, den Bedarf der Erde zu decken. BILDET PUPPEN-GRUPPEN! Als Bob eines Tages von der Arbeit nach Hause kam, wartete sein Nachbar bereits vor dem Gartentor auf ihn. »Könnte ich dich einen Augenblick sprechen, Bob?« »Worum geht es?« erkundigte sich Bob mit unterdrückter Ungeduld. Das Gespräch kam nur schleppend in Fluß, weil der Nachbar mit seiner Bitte lange hinter dem Berg hielt. Aber schließlich kam sie doch heraus. »Seit Mary bei Chris zu Besuch war, ist sie ganz versessen auf eine GOLDIE. Aber nirgendwo ist eine aufzutreiben. Ich ließ mich von Ben im Supermarkt zwar auf die Warteliste setzen, aber es ist noch nicht heraus, wann er liefern kann. Da mir Mary dauernd in den Ohren liegt, habe ich mir gedacht, ob du ... Ich meine, würde es dir sehr viel ausmachen, wenn ...« »Nein, nein, absolut nicht«, versicherte Bob. »Ihr seid heute abend herzlichst bei mir eingeladen.« Aus diesem einen Abend wurden mehrere. Und zu dem einen Nachbarn gesellten sich noch andere. Auf diese und ähnliche Weise gerieten immer größere Kreise in den Bann der hypnotischen Augen der GOLDIE-Puppen.
Liebt mich! Und die Menschen liebten die Puppen. Nicht alle – manche brauchten länger, um dem hypnotischen Einfluß der synthetischen Augen zu erliegen, andere wieder wurden überhaupt nicht von der suggestiven Ausstrahlung berührt. Aber immerhin waren es bald mehr als zweihunderttausend Menschen, die den GOLDIE-Puppen verfallen waren. Ihr müßt mir helfen! Sie warteten darauf, bis GOLDIE ihnen sagen würde, wie ihr geholfen werden konnte. Noch schwieg sie, begnügte sich damit, die Menschen ihrem Einfluß zu unterwerfen. Aber die Stunde X war nicht mehr fern. Dann würden alle zehntausend Puppen auf Terra zu sprechen beginnen. Sie würden sagen: »Ich befehle ...« Und wehe dem, der sich den Befehlen widersetzte.
2 Da Cliff McLane weder Ibsen noch Helga Legrelle im Starlight-Casino antraf, mietete er einen Turbinenwagen und ließ sich zu seinem Bungalow fahren. Es dämmerte bereits über Groote Eylandt, als der Wagen anhielt. Cliff warf den verlangten Fahrpreis in den Zahlschlitz des Robotfahrzeuges und stieg aus. Er war sehr nachdenklich geworden. Während der Fahrt hatte er Zeit zum Nachdenken gehabt, und seine anfängliche Skepsis über den Sinn seines Auftrages hatte einer steigenden Besorgnis Platz gemacht. Dieser Auftrag war mit Vorsicht zu genießen. Nicht daß etwa Oberst Villas Pessimismus auf ihn abgefärbt hätte – Cliff kannte den Chef des GSD schon zu lange, um noch von seinem ständigen Mißtrauen allem gegenüber beeindruckt zu sein. Ihn störte etwas anderes. Spring-Brauner, zum Beispiel. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, daß Wamslers Ordonnanzleutnant bei dieser Sache die Finger im Spiel hatte. Und noch etwas stand fest. Oberst Villa hatte ihm nicht alles gesagt, was er wußte. Warum nur? Im Wohnzimmer angekommen, legte Cliff fast automatisch ein Band mit Musik von Tomas Peter in das Abspielgerät ein. Kurz darauf wurde der behagliche Raum von den Melodien des Themas the blink of a flash star erfüllt. Cliff ging zum Videophon und wählte eine Nummer. Es dauerte eine ganze Weile, bis am anderen Ende der Leitung eingetastet wurde.
Der Bildschirm zeigte zu drei Viertel einen geschmackvollen Wohnraum. Nur die untere Hälfte wurde zum Teil vom Kopf eines Jungen eingenommen; offensichtlich mußte er sich auf die Zehen stellen, damit wenigstens seine Augenpartie auf den Bildschirm kam. »Hier bei Sigbjörnson«, meldete er sich, im selben Augenblick stieß er ein »Oh, Onkel McLane«, aus. »Ich hätte gerne deinen Vater gesprochen«, sagte Cliff. »Ist er zu Hause?« »Ja, er ist hier«, ereiferte sich der Junge. »Ich werde ihn sofort wecken.« Und bevor ihn Cliff noch daran hindern konnte, lief er bereits aus dem Aufnahmebereich des Videophons. »Onkel McLane ist am Apparat! Onkel McLane ist am Apparat!« Bei diesem Spektakel mußte Hasso Sigbjörnson wohl annehmen, es handle sich bei Cliffs Anruf um eine Alphaorder. Dementsprechend schnell erschien er auch am Videophon. Der fünfundvierzigjährige Raumschiffingenieur von der ORION mochte gerade noch tief geschlafen haben, aber jetzt merkte man ihm nichts mehr davon an. Er fuhr sich ein letztesmal mit der Hand durch das zerzauste weiße Haar, seine blauen Augen blickten Cliff wachsam an. »Was gibt's?« erkundigte er sich atemlos. »Halb so wild«, beruhigte Cliff. »Ich konnte den Knirps nur nicht rechtzeitig bremsen.« »Also Fehlalarm«, stöhnte Hasso. »Nicht einmal wenn die Welt in fünf Minuten unterginge, wünsche ich mir noch so ein Erwachen. Was bringt dich ei-
gentlich dazu, zu einer Zeit anzurufen, zu der brave Bürger noch ihren Mittagsschlaf halten?« Cliff lächelte. »Der unmittelbare Anlaß ist ein Gespräch mit Wamsler.« »Dicke Luft?« Cliff schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nur ein bezahlter Urlaub auf einer paradiesischen Welt. Unsere einzige Aufgabe wird es sein, etwas Denksport zu betreiben. Kennst du Kriotes?« »Habe noch nie davon gehört.« »Es ist der zweite Planet des Doppelsternes 42 Comae«, erklärte Cliff. »Die Einzelheiten liest du am besten im Handbuch nach. Es handelt sich um eine Welt, auf der sich Protektionskinder breitmachen, die sich zu Künstlern berufen fühlen.« Hassos Stirn umwölkte sich. »Und was sollen wir dort?« Cliff zählte auf. »Erstens müssen wir sehr viel Feingefühl aufbringen, damit wir niemandem auf die Zehen treten. Zweitens müssen wir herausfinden, ob die Protektionskinder eine Verschwörung gegen die Erde planen. Und schließlich dürfen wir drittens nicht erfolglos zurückkommen. Wenn man als vierten Punkt noch hinzufügen will, daß wir überhaupt keine Anhaltspunkte haben, kannst du dir die Art unseres Einsatzes wohl ungefähr vorstellen.« »Und ob ich das kann«, grollte Hasso Sigbjörnson. »Das ist typisch. Mir ist nur noch nicht klar, ob Wamsler und Spring-Brauner die Sache im Teamwork ausgetüftelt haben, oder ob der Herr Leutnant alleine dahintersteckt.« »Keines von beidem«, zerschlug Cliff Hassos Kombination. »Diesmal zeichnet Villa als unser Gönner.«
»Vielleicht steckt dann doch etwas dahinter«, vermutete Hasso. »Möglich«, gab Cliff zu. »Jedenfalls hält Villa mit einigem hinter dem Berg. Warum, das wissen die Marsgötter.« Hasso zuckte die Achseln. »Uns sind wieder einmal die Hände gebunden.« Cliff nickte bestätigend. »Uns bleibt nur die Möglichkeit, auf eigene Faust etwas herauszufinden, was Villa uns verschweigt. Ich möchte dich bitten, dich ein wenig im Science Center umzuhören. Was uns interessiert, sind nicht die offiziellen Daten über Kriotes, sondern private Meinungen. Sie können auch aus zweiter Hand stammen.« »Was versprichst du dir davon?« »Ich weiß es selbst noch nicht genau«, sagte Cliff ungewiß. »Aber wenn Villa so geheimnisvoll tut, dann hat er entweder gar nichts in der Hand oder eine ganze Menge, das so brisant ist, daß er es dann erst zur Explosion bringen möchte, wenn er nach allen Seiten hin abgesichert hat.« »Ich werde mein Bestes tun«, versprach Hasso. »Dann sehen wir uns in dreiundzwanzig Stunden an Bord der ORION.« Hasso nickte. Cliff wollte die Verbindung schon unterbrechen, als ihm noch etwas einfiel. »Einen Moment noch«, hielt er den Ingenieur auf. »Eine Preisfrage. Wen hältst du für intelligenter, Spring-Brauner oder Pie-Po Ibsen?« Hasso begann schallend zu lachen. »Im Ernst«, unterbrach Cliff ihn. »Beschäftige dich auch mit dieser Frage, Hasso.«
»Wie du meinst, Cliff.« Dann wurde der Bildschirm dunkel. * Das nächste Gespräch führte Cliff McLane mit Mario de Monti. Es war einigermaßen schwierig, den Chefkybernetiker der ORION zu erreichen. Bei ihm zu Hause rief Cliff erst gar nicht an, und zu der drastischen Maßnahme eines Notrufes über den Armbandkommunikator wollte er auch nicht greifen, weil Mario sich in einer Lage befinden konnte, in der ein solcher Anruf recht störend wäre. Deshalb ging Cliff geduldig eine Reihe von Videophonnummern durch, die ihm Mario für Sonderfälle gegeben hatte. Überraschenderweise hatte Cliff bereits mit der elften Videophonnummer Glück. Als auf dem Bildschirm das leicht gerötete Gesicht einer Brünetten erschien, erkundigte sich Cliff mit dem selben Taktgefühl wie die zehn vorangegangenen Male, ob Vetter Mario anwesend sei. Aber das Mädchen hatte keinen besonders wendigen Geist, denn sie verstand den diskreten Wink nicht. »Vetter Mario?« wiederholte sie. »Ich habe keinen Vetter, der so heißt. Aber vielleicht meinen Sie meinen Verlobten?« »Ja, das könnte schon stimmen«, schmunzelte Cliff. »Dürfte ich ihn einen Augenblick sprechen?« »Ich werde ihn ... Ah, da kommt er schon. Er muß Ihre Stimme erkannt haben, Oberst ...« »McLane«, stellte sich Cliff vor. »Oberst Cliff McLane.«
»Der Oberst McLane? Marios Kommandant?« Das Mädchen strahlte. »Er hat mir schon viel über Sie vorgeschwärmt. Aber auch von anderer Seite habe ich schon viel über Sie und Ihre Heldentaten gehört. Stimmt es, daß Sie schon so oft die Erde gerettet haben?« »Ja«, gab Cliff bescheiden zu. Er war froh, als Mario das Mädchen vom Bildschirm verdrängte. Er schickte sie in die Küche, um Kaffee zu kochen, dann blickte er mit einem unschuldigen Grinsen in die Linse der Videophonkamera. »Hallo, Cliff.« »Hallo«, sagte Cliff und imitierte Marios Grinsen. »Wann werden denn die Hochzeitsglocken läuten?« »Jetzt fange auch du noch davon an«, zischte Mario. »Und was, außer heuchlerischen Glückwünschen, hast du mir noch zu übermitteln?« »Daß wir morgen abend um Viertel nach acht starten.« Marios Augen leuchteten auf. »Das ist ein Wort. Damit kann ich mich bei Cynthia herausreden. Tut mir leid, Schatz, aber die Sterne rufen, werde ich sagen. So kann ich die Vorstellung bei ihren Eltern auf unbestimmte Zeit hinausschieben. Cynthia ist nämlich sehr tugendsam, mußt du wissen. Wohin geht es?« Cliff seufzte. Vielleicht wäre es doch einfacher gewesen, wenn er die ganze Crew zusammengetrommelt hätte. So wäre ihm die ständige Wiederholung ermüdender Einzelheiten erspart geblieben. Er nahm sich vor, das Versäumte an Bord der ORION nachzuholen. »Nach Kriotes«, sagte er deshalb nur. »Aber vorher
habe ich einen Spezialauftrag, der für dich direkt maßgeschneidert ist. Ich möchte, daß du dich um ein Mädchen kümmerst. Sie heißt Nanette und ist Kadett in Wamslers Stab.« »Nicht so laut«, mahnte Mario. »Cynthia ist sehr eifersüchtig.« Er blickte sich ängstlich um, dann wandte er sich wieder dem Videophonschirm zu. »Ist diese Nanette überhaupt meiner würdig?« »Das herauszufinden, ist nicht deine Aufgabe«, sagte Cliff ernst. »Außerdem bezweifle ich, daß du bei ihr Erfolg hättest. Sie ist vornehmlich an Puppen interessiert.« »Wie alt?« »Mit dem Jugendschutzgesetz würdest du nicht in Konflikt kommen«, erklärte Cliff. »Aber mache trotzdem keine Dummheiten. Es handelt sich um einen ernstzunehmenden Auftrag. Versuche herauszufinden, in welchem Verhältnis das Mädchen zu der Puppe steht.« Mario de Monti war ebenfalls ernst geworden. Er war ein Schürzenjäger und Draufgänger und genoß das Leben in vollen Zügen. Aber er wußte, wann das Spiel ein Ende hatte. Stirnrunzelnd sagte er: »In meinem Schädel geistert etwas herum, was ich irgendwo über eine bestimmte Art von Puppen gehört habe ...« »In meinem auch«, unterbrach Cliff. »Aber ich will mich jetzt nicht damit beschäftigen. Auf mich warten andere Probleme. Wir nehmen das alles während des Fluges nach Kriotes durch.« Cliff unterbrach die Verbindung. Bevor er noch die Nummer Atan Shubashis wählen
konnte, meldete der Summer ein hereinkommendes Gespräch. Da Tomas Peters Musik in den Schlußphasen zu einem urgewaltigen Krescendo anschwoll, mußte Cliff den Ton vorher leiser stellen. Dann nahm er den Anruf entgegen. Es war Tamara. Im selben Augenblick fiel ihm ein, daß er sich für heute abend mit ihr verabredet hatte. Er legte sich gerade eine Entschuldigung zurecht, um die Verabredung abzusagen, als er erkannte, daß sie die graue GSD-Uniform trug. Er lächelte erleichtert. »Du bist im Dienst?« »Wie du siehst.« Sie sprach ruhig und gelassen, aber das Blitzen ihrer grünen Augen verriet sie. »Ich dachte, du würdest mich anrufen.« »Ich hätte es noch getan«, versicherte er. »Bis jetzt hatte ich nur nicht die Zeit dazu, weil mich eine wichtige Angelegenheit aufgehalten hat.« Sie schob eine blonde Haarsträhne in die Frisur zurück. »Deshalb war deine Leitung also dauernd besetzt.« »Ja, deshalb war meine Leitung dauernd besetzt.« Der Blick ihrer Augen veränderte sich, die Streitlust verschwand daraus. »Ich will nicht mit dir zanken, Cliff«, sagte sie versöhnlich. »Meine Nerven sind nur etwas angegriffen. Auf mich wartet ein Berg von Arbeit, dann riefst du nicht an, und als ich versuchte, dich zu erreichen, erklang nur das Besetzt-Zeichen ...« »Schon gut, Liebling«, beschwichtigte er sie. »Was bereitet dir denn solches Kopfzerbrechen?« »Ich weiß nicht, ob ich darüber zu dir sprechen
darf.« Sie biß sich auf die Lippen. »Obwohl Oberst Villa nicht gerade absolutes Stillschweigen befahl.« »Du brauchst es mir nicht zu sagen.« »Doch, doch«, erklärte sie schnell. Für einen Augenblick wurden ihre Züge gelöster. »Ich möchte dich bei mir haben, Cliff.« »Dem steht offensichtlich nur im Wege, daß du im Dienst bist«, sagte er mit echtem Bedauern. »Ich möchte dich dienstlich sprechen.« Sofort war der Zauber des Augenblicks wieder zerstört; der Funke erlosch, bevor er noch richtig gezündet hatte. Das wußten beide, aber sie täuschten Ahnungslosigkeit vor und spielten das Spiel weiter. »Ach so, dienstlich«, machte Cliff. »Und wo?« »Am besten bei mir.« »Das klingt schon verlockender.« Sie warnte lächelnd mit dem erhobenen Zeigefinger. »Vergiß nicht – ich habe Schonzeit.« * Cliff bekam nur einen verschwommenen Eindruck des vierhundertzehn Meter aufragenden Hochhauses, als er vom Freien in die Halle trat. Tausende von erleuchteten Fenstern ließen die Vorderfront erstrahlen, warfen ihren Schein über den bewaldeten Strand bis auf das Meer hinaus. Fenster erhellten sich, andere wurden dunkel – der gigantische Gebäudekomplex war ständigen Veränderungen unterworfen; es war ein ununterbrochener Wechsel von Licht und Dunkel, wie bei einer überdimensionalen Schaltskala ... Als
sollten damit die Schicksale von den zehntausend Bewohnern symbolisiert werden. Cliff hatte die Halle durchschritten und fuhr mit dem Lift ins hundertundzehnte Stockwerk hinauf. Noch bevor er Tamaras Bitte nachgekommen und hierhergefahren war, hatte er sich mit Atan Shubashi, dem Astrogator der ORION, in Verbindung gesetzt. Das Gespräch war ähnlich verlaufen, wie vorher das mit Mario und Hasso. Cliff hatte Atan aufgetragen, sich aus Privatquellen Informationen über die Künstlerkolonie Kriotes zu beschaffen. Helga Legrelle und Ibsen waren immer noch unauffindbar gewesen. Der Lift hielt, die Tür glitt zur Seite. Cliff trat in den Korridor hinaus. Er hatte einen Schlüssel zu Tamaras Appartement. Er sperrte auf und trat ohne besondere Ankündigung ein. Eine seltsame Stille empfing ihn in der Diele, die nicht zu Tamaras Wesen paßte. Sonst hingen immer irgendwelche Geräusche in der Luft, ob sie nun von der robotischen Einrichtung stammten oder von Tamara selbst. Aber nun schien es, als hielte alles den Atem an. Als Cliff in den Wohnraum trat, wußte er sofort, was der Ursprung des unnatürlichen Schweigens war. Die Balkontür war geschlossen, die Gardinen vorgezogen – als hätte Tamara befürchtet, hier im einhundertundzehnten Stockwerk durch neugierige Blicke gestört zu werden. Drei abgedeckte Lampen spendeten ein gedämpftes Licht, zauberten mystische Schatten auf den tiefen weißen Bodenbelag und die wenigen Einrichtungsgegenstände; auf die Wohnzimmersäule, in der sämtliche technischen Geräte
untergebracht waren, auf den bequemen Polstersessel, die kreisrunde Liege und den hydraulischen Tisch. Tamara trug immer noch die graue Uniform, ihre schlanken Beine steckten bis zu den Knien in den klobigen Stiefeln. Sie lag bäuchlings auf dem Boden, das Gesicht auf die Hände gestützt. Der Ausdruck ihres Gesichtes wechselte – einmal verkrampften sich ihre Züge, dann wieder wirkte sie entrückt, traumverloren, die Augen weiteten sich blicklos. Und vor ihr stand eine Puppe. Aus ihren synthetischen Augen ergoß sich ein sprühendes Glitzern. Augenblicklich erfaßte Cliff die Situation, sprang nach vorne und versetzte der Puppe einen Tritt. Mit einem Scheppern landete sie an der Wand und fiel auf den Boden. Dort rappelte sie sich auf, kam auf die Beine und bewegte sich in Richtung der Wohnzimmermitte zurück. Cliff ließ ihr keine Chance. Er trat der Puppe die Beine unter dem Körper weg und ließ seinen Fuß auf ihren Schädel niedersausen. Es splitterte und krachte, dann rührte sich der Miniaturrobot nicht mehr. Tamara richtete sich wie benommen auf. Cliff half ihr auf die Beine und geleitete sie zum Sessel. Sie ließ es widerstandslos mit sich geschehen und setzte sich. »Was ist?« fragte sie. Ihr Blick glitt aus unbekannten Fernen zurück in den Wohnraum, fiel auf Cliff und dann auf die bewegungslos daliegende Puppe. Sofort war sie hellwach. »Hast du das ...« Sie erhob sich halb und ließ sich wieder zurückfallen. »Du mußt verrückt sein, Cliff!« »Beruhige dich wieder«, sagte er sanft. Er setzte sich an den Rand der Liege und hielt ihre Hände in
den seinen. »Jetzt ist alles wieder in Ordnung.« Ihre Reaktion verblüffte ihn. »Nichts ist in Ordnung«, fuhr sie ihn an. »Du hast die Puppe zerstört. Jetzt ...« »Ich mußte es tun«, verteidigte Cliff sich. »Du standest vollkommen unter ihrem Einfluß.« »... muß ich mir etwas einfallen lassen, um Oberst Villa ihren Verlust zu erklären«, beendete sie den Satz. »Aber verstehe doch ...«, wollte er ihr erklären. Sie unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Ich verstehe schon«, sagte sie. »Du aber bist einem Mißverständnis zum Opfer gefallen! Du hast die Puppe in der Meinung zerstört, mir damit zu helfen. Aber ich war keine Sekunde lang in Gefahr.« »Ich glaube, ich brauche einen Drink«, murmelte Cliff. »Mir auch, bitte.« Das erste Glas leerte Cliff gleich beim Eisschrank, dann kam er mit zwei vollen Gläsern zu Tamara zurück. Sie nippte an ihrem Drink nur und stellte ihn auf den Tisch zurück. Ihre Augen wanderten zu Cliff, studierten seinen verwirrten Gesichtsausdruck – plötzlich lachte sie. »Es hatte auch sein Gutes«, sagte sie dann. »Du hast mir gezeigt, daß du mich in jeder Lage beschützt. Das kann nicht jede Frau von einem Mann erwarten.« »Andere Männer sind auch nicht solche Helden wie ich«, erklärte Cliff finster. »Du erwähntest vorhin Villa. Hat die Puppe etwa mit deiner Arbeit zu tun?« Sie nickte. »Eine Menge sogar. Äußerlich sieht sie aus wie andere GOLDIE-Puppen, aber es handelt sich
um ein erweitertes Modell. Sie entstammt der zweiten Kollektion, die Villa beschlagnahmen ließ, noch bevor sie auf der Erde vertrieben werden konnte. Doch – vielleicht sollte ich der Reihe nach erzählen. Das heißt, falls du daran interessiert bist.« »Natürlich« versicherte Cliff. »Ich nehme an, daß du mich deshalb herbestellt hast. Außerdem spielt in einem Fall, mit dem ich mich aus Nächstenliebe beschäftige, eine Puppe eine große Rolle.« »Sicher auch eine GOLDIE«, stellte Tamara fest. »GOLDIE«, wiederholte Cliff, »der Name ist mir überhaupt kein Begriff. Sollte er es sein?« »Wo lebst du, Cliff. Auf dem Mond?« wunderte sich Tamara. »Ganz Terra befindet sich im GOLDIEFieber, und du willst keine Ahnung davon haben.« »Ich habe von Puppen gehört, die überall reißenden Absatz finden«, erinnerte sich Cliff. »Aber warum sie so beliebt sind und wie sie heißen, darum habe ich mich nicht gekümmert. Schließlich bin ich aus diesem Alter heraus, glaube ich.« »Das sollst du nicht sagen«, meinte Tamara. Dann erzählte sie ihm alles über die robotischen Puppen; von der magischen Anziehungskraft, die sie auf die meisten Männer und Frauen jeden Alters ausübten, von der Bildung der Puppen-Gruppen und davon, wie es dazu kommen konnte. »Die Augen der Puppen«, erzählte sie weiter, »haben eine hypnotische Ausstrahlung. Es wurde festgestellt, daß sie stark genug ist, um mehr als fünfzig Prozent der Menschheit in ihren Bann zu schlagen. Das heißt, daß die anderen fünfzig Prozent eine geringere Suggestibilität haben. Sie sind hypnotisch von der Puppe nicht beeinflußbar. Ich gehöre zu den
zweiten fünfzig Prozent, deshalb bestand für mich vorhin keine Gefahr. Es hat sich gezeigt, daß die Puppen auf Menschen ab einem gewissen Intelligenzquotienten keinen Einfluß haben. Aber auch die anderen erleiden durch die Trance keinen Schaden. Nun tauchte die Frage auf, ob es sich bei den GOLDIE-Puppen tatsächlich nur um ein harmloses ›Spielzeug‹ für alle Altersstufen handelt – wie es die Erzeuger hinstellen. Oder ob hinter den Puppen eine Bedrohung für die Menschheit verborgen ist. Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, daß Oberst Villa sich für diese zweite Möglichkeit ausspricht. Aber soviel Material er auch über die Puppen sammelte, Psychologen, Biologen, Pädagogen und alle anderen konnten nur bestätigen, daß die Hypnotisierten keine psychischen oder physischen Schäden zu erwarten hätten. Die Puppen führen sie nur einer Trance zu, die überhaupt keine Nachwirkungen zeitigt. Die Wissenschaftler tun GOLDIE als Modeerscheinung ab, aus der findige Geschäftemacher eine Zeitlang profitieren können. Aber Villa wäre nicht Villa, wenn er sein Mißtrauen aufgegeben hätte. Viele Punkte gaben zu denken. Warum besaß GOLDIE phonetische Wiedergabegeräte, wenn sie bisher noch kein einziges Wort gesprochen hatte? Welche Worte oder Sätze befanden sich in den Tonkassetten in GOLDIEs Körper? Wenn es sich nur um harmlose Satzspiele handelte, warum löschten sich die Bänder dann automatisch, wenn man sie aus den Kassetten holte, um sie zu überprüfen? Du siehst, es gibt genügend Punkte, die Villas Mißtrauen schüren mußten. Und dann war da noch
ein Bericht von Leutnant Spring-Brauner. Aber darüber weiß ich nichts Genaues.« Cliff unterbrach sie nicht, obwohl er bei ihren letzten Worten wie elektrisiert zusammenzuckte. Aus welchem Grunde hatte ihm Villa alle diese Zusammenhänge verschwiegen? Nahm er an, daß Cliff ohnedies darüber Bescheid wissen müsse? Oder hätte das Informationsgespräch mit Spring-Brauner diese Details ans Licht gebracht? Fragen über Fragen. Aber Cliff schob sie beiseite. Er konzentrierte sich wieder auf Tamaras Ausführungen. Ihr entging Cliffs sekundenlange Abwesenheit; sie war zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. »Aus den Unterlagen ging hervor«, fuhr Tamara fort, »daß zehntausend Puppen geliefert wurden. Alle wurden verkauft. Was also lag näher, als die Erde mit einer zweiten Kollektion zu beliefern. Aber bevor sie noch zur Auslieferung kamen – es handelte sich diesmal nur um zweihundert Stück –, erwirkte Villa eine einstweilige Verfügung. Erste oberflächliche Untersuchungen im Science Center ergaben, daß sich die GOLDIE-II-Puppen von der ersten Lieferung in einigen Punkten unterscheiden. Offensichtlich waren sie für Leute mit einem höheren Intelligenzquotienten bestimmt. Du siehst das Schema? Alle Kreise der terranischen Bevölkerung sollen erfaßt werden! Nun glaubte Villa einen Beweis für eine Verschwörung gegen Terra in der Hand zu haben. Aber auch diesmal waren die Untersuchungsergebnisse enttäuschend. Die Untersuchungen der Wissenschaftler sind noch nicht abgeschlossen, aber bisher mußten sie die Behauptungen
der Erzeuger bestätigen, wonach die GOLDIE-IIPuppen einen erzieherischen Wert hätten. Einer Verordnung der Regierung nach mußten die Tonkassetten bei dem zweiten Modell frei zugänglich sein. Die Erzeuger hielten sich daran. Als dann die Bänder abgespielt wurden, stellte es sich heraus, daß sich darauf Fragen befanden, die eine Art Intelligenztest darstellten.« Tamara machte eine Pause und trank den inzwischen warm gewordenen Drink aus. Sie verzog das Gesicht. »Langweile ich dich, Cliff?« erkundigte sie sich dann. »Nein, ganz im Gegenteil«, versicherte er schnell. »Ich dachte nur, weil du so schweigsam bist.« »Das bin ich nur, weil mich deine Erzählung bannt. Mach weiter so.« »Viel ist nicht mehr zu sagen«, erklärte Tamara. »Die Untersuchungen der Puppen im Science Center gehen weiter, und mit jedem neuen Bericht, den Villa erhält, verhärten sich die Verdachtsmomente. Es gibt viele Schaltungen in der Mechanik, die nur dazu da sind, um die Wissenschaftler und Techniker in die Irre zu führen. Andere Mikroeinrichtungen, die sinnvoll wären, scheinen überhaupt keine Funktion auszuführen. Und so weiter. Villa glaubte nicht mehr daran, daß die Wissenschaftler überhaupt ein Ergebnis erzielen könnten. Deshalb beauftragte er einige seiner Leute – darunter befinde ich auch mich –, sich in der Praxis mit GOLDIE II zu beschäftigen. Aber ich kam nicht recht weiter, deshalb rief ich dich zu mir. Dann habe ich versucht, GOLDIE II
durch simulierte Trance zu einer Handlung zu bringen, doch ... Tja, den Rest kennst du ja. Es scheint, daß meine Arbeit durch dein Eintreffen zu einem unverhofften Ende gekommen ist.« Cliff nickte gedankenverloren. Dann fand er in die Wirklichkeit zurück. »Ich hatte nicht den Eindruck, daß du die Trance nur vortäuschst«, sagte er. »Die Situation wirkte verdammt echt. Jedenfalls bereue ich es nicht, die Puppe zertreten zu haben. Das Spiel mit ihr könnte verdammt gefährlich werden.« »Noch nie etwas von Emanzipation der Frau gehört?« sagte Tamara empört. »Immerhin – ich bin Leutnant des Galaktischen Sicherheitsdienstes!« Cliff lächelte, und damit war der private Teil der Unterhaltung für die nächsten zwei Stunden bewältigt. »Mein Problem war«, erklärte Tamara im Laufe des weiteren Gesprächs, »die Puppe aus ihrer Reserve zu locken. Ich kannte zwar den Inhalt des Intelligenztests von Villa, aber ich wollte ihn von GOLDIE vorgetragen bekommen. Davon versprach ich mir einiges. Was hat es mit diesem Test auf sich?« »Vielleicht sollen die GOLDIE-II-Puppen eine Siebung der Menschheit vornehmen«, äußerte Cliff. »Ja, das könnte schon sein«, gab Tamara zu. »Aber wozu das?« Die Dinge begannen in Cliffs Kopf immer festere Formen anzunehmen. »Ich kann dir eine Antwort auf deine Frage anbieten«, sagte er. »Aber zuvor eine Frage. Kommen die Puppen vielleicht zufällig von Kriotes?« »Ja ...«
Cliff verfluchte Oberst Villa in diesem Augenblick, daß er ihm überhaupt nichts von den Puppen gesagt hatte. Damit hätte er seiner Crew einige Strapazen ersparen können. Jetzt lag fast alles ziemlich verständlich vor seinem geistigen Auge ausgebreitet – die vermutete Verschwörung der Übermenschen von Kriotes und die getarnte Invasion der Puppen paßte fugenlos zusammen. Und jetzt war Cliff schon eher geneigt, Villas Befürchtungen zu teilen. »Stelle dir einmal vor«, sagte Cliff wie zu sich selbst, »es gibt eine Gruppe von Genies, die sich für Supermenschen halten. Sie wollen die Macht übernehmen. Zuerst demonstrieren sie auf recht einfache Weise, wie leicht die Durchschnittsmenschen zu beeinflussen sind. Sie senden hypnotische Puppen aus. Damit könnte der erste Schritt zur Machtübernahme getan sein. Aber an die Regierungsmitglieder und führenden Militärs kommen sie damit nicht heran. Für die müssen sie Puppen schaffen, die ihren Fähigkeiten gerecht werden ...« Tamara schüttelte sich in gespieltem Entsetzen. »Eine schaurige Vision. Nur hat sie einen Schönheitsfehler. Du vergißt dabei, daß der Intelligenztest der GOLDIE II eher erzieherisch wirkt – also die Denkfähigkeit steigert.« Cliff runzelte die Stirn. »Ich habe das nicht vergessen«, erklärte er. »Immerhin könnte es sein, daß durch GOLDIE I die intelligentesten Terraner ausfindig gemacht werden sollen. Danach werden sie in die Kamarilla aufgenommen. Wenn sie die Bestätigung erhalten, daß sie ebenfalls zu der neuen Superrasse gehören, wird ihnen
vielleicht ein Putsch schmackhafter gemacht. Zumindest könnte Etienne Chantelene dieser Auffassung sein.« Tamara schüttelte den Kopf. »Deine Theorie wirkt sehr an den Haaren herbeigezogen. Dieser Plan wäre nicht durchführbar. Selbst wenn der eine oder andere Politiker der Verlockung, einer Superrasse anzugehören, erliegen sollte, so wird dadurch das terranische Gefüge nicht erschüttert. Und Maßnahmen gegen die Betreffenden wären schnell getroffen.« Cliff nickte düster. »Ich weiß«, gab er zu. Er fand seine Überlegungen selbst abwegig – sie bildeten kein abgerundetes Bild; überall waren Ecken und Enden, an denen man sich stieß. Er hatte dem Plan der Kamarilla zu viele Zufälligkeiten unterschoben. Aber wenn die Übermenschen tatsächlich eine Verschwörung planten, dann würden sie nichts dem Zufall überlassen. Sie mußten jedes Detail exakt herausarbeiten, alle Eventualitäten berücksichtigen. »Vielleicht«, sinnierte Cliff, »ist ihr Plan zu simpel. Deshalb finde ich sein Schema nicht heraus.« »Ich glaube«, meinte Tamara ermunternd, »daß du noch nicht genügend Informationen besitzt, deshalb kommst du nicht hinter das Schema.« »Villa ergeht es nicht anders«, bestätigte Cliff. »Er muß mehr wissen als ich. Trotzdem sind ihm die Hände gebunden. Möglich, daß ich auf Kriotes mehr erfahre.« Plötzlich lag wieder das unnatürliche Schweigen im Raum. Beide hingen ihren Gedanken über eine ungewisse, drohende Gefahr nach.
Die Puppe lag immer noch reglos nahe der Wand auf dem Boden, ihre Kunststoffhülle war geborsten, die mikro-mechanischen Innereien waren bloßgelegt. Aber die Zerstörung dieser einen Puppe konnte Tamara nicht beruhigen. Tausende von GOLDIEPuppen waren noch über die ganze Erde verteilt. Welchen Zweck hatten sie zu erfüllen? Tamara hatte Angst, ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen und sich mit den sich bietenden Möglichkeiten zu beschäftigen. Als sie sich vorhin mit der Puppe auseinandergesetzt hatte, da verlor sie tatsächlich für einige Augenblicke die Herrschaft über ihr Ich. Sie wollte es Cliff nur nicht eingestehen, daß die Puppe stärker gewesen war. Wenn er nicht rechtzeitig gekommen wäre ... Ihre Blicke begegneten, sich. »Bleibe heute nacht bei mir«, bat sie.
3 Der Raumflug zerfiel in der Regel in drei Phasen. Start von Basis 104 unterhalb des Carpentariagolfes, die Überbrückung der lichtjahreweiten Entfernungen im Hyperraum, und schließlich der Einflug ins Zielgebiet und die Landung. Das war die immer wiederkehrende Routine, der sich die Raumfahrer nicht entziehen konnten. Aber das machte ohnedies nicht den Reiz des Sternenfluges aus; der lag in den Begleiterscheinungen, in den Gefahren, denen man überall begegnen konnte, und in den unvorhergesehenen Zwischenfällen. Damit mußte ständig gerechnet werden. Der gesamten Schiffsbesatzung wurde bedingungsloser Einsatz abverlangt. Um Punkt acht Uhr hielt der Robotwagen vor der ORION VIII. Helga Legrelle entstieg ihm als erste. Sie war schon vorher sehr schweigsam gewesen und hatte auch jetzt keinen Blick für die anderen übrig. Etwas wie Trotz lag in ihren Augen. Ihr seltsames Verhalten war auf ein Gespräch mit Cliff McLane zurückzuführen. Sie war auch jetzt noch der Meinung, daß ihr Privatleben ihn nichts anging. Auch wenn es Pie-Po war, mit dem sie einen Großteil der letzten vierundzwanzig Stunden verbracht hatte. Ihr folgte Atan Shubashi, der kleine Astrogator, mit dem dunklen, stark aus der Stirn gestrichenen Haar. Er beeilte sich, um mit der Funkerin auf gleiche Höhe zu kommen. »Liebe und Arbeit sind eben zwei grundverschie-
dene Dinge, die man streng auseinanderhalten muß«, scherzte er. Helga schnaubte nur verächtlich. Es ehrte sie, daß sie als einziges weibliches Mitglied der Crew von den Männern besonders kameradschaftlich behandelt wurde. Aber manchmal war das für eine Frau zuwenig. Und wenn dann noch der Mann, den sie im stillen immer noch liebte, obwohl sie ihn an Tamara verloren hatte, ihr Vorhaltungen wegen ihres Privatlebens machte, war das zuviel. »Du hast Cliff mißverstanden«, verteidigte Mario de Monti den Kommandanten der ORION, während er mit einem schwungvollen Sprung den Robotwagen verließ. »Ihn interessierten nicht die privaten Geheimnisse zwischen dir und Pie-Po, sondern nur das, was in Zusammenhang mit unserem Einsatz stehen könnte.« »Zwischen Pie-Po und mir gibt es keine privaten Geheimnisse!« »Ich weiß – wir alle würden unsere Hand für deine Unschuld ins Feuer legen.« Mario stellte zufrieden fest, daß Helga mit einem leisen Lächeln reagierte. Er war mit 178 Zentimeter fast so groß wie McLane, kräftig gebaut und trug das dunkle Haar kurzgeschoren. Wenn seine grünen Augen nicht gerade mit einem Ordonnanzmädchen kokettierten, dann schauten sie nach einem solchen aus. Wenn er sich jedoch im Einsatz befand, dann konnte diese Faustregel keine Anwendung finden. Hasso Sigbjörnson, der zusammen mit Cliff McLane dem hydraulischen Lift der ORION VIII zustrebte, besaß das gemäßigtste Temperament in der Crew. Er war bereits 45 Jahre alt, hatte als einziger Frau und
Kinder und flog nur noch aus Sympathie zu Cliff seine Einsätze auf der ORION. Er war einer der hervorragendsten Raumschiffingenieure und hatte die terranische Raumfahrt schon um etliche Erfindungen bereichert. Cliff unterhielt sich mit ihm über alltägliche Dinge. Ohne daß er es mit den anderen abgesprochen hätte, würde ihr Einsatz erst während des Hyperraumfluges erörtert werden. Sie erreichten die Liftkabine, in der die anderen bereits auf sie warteten. Ein Knopfdruck, und der Zylinder hob sich und verschwand im Boden des diskusförmigen Raumschiffes. Die ORION VIII schwebte mitten in der Luft, gehalten von starken Antigravitationsfeldern. Das Bodenpersonal begann das Feld zu räumen, als eine mechanische Lautsprecherstimme mit dem Countdown begann. »Start minus zehn Minuten.« Der Lift hielt in der Kommandokanzel, Cliff und die anderen verteilten sich auf ihre Plätze. Jetzt waren sie nicht mehr fünf einzelne Individuen, sondern eine verschworene Gemeinschaft – die Crew. Cliff setzte sich hinter das Steuerpult des zehn Meter durchmessenden Raumes. Er betätigte in rascher Folge eine Reihe von Tasten – er hätte diese Schaltungen mit verbundenen Augen durchführen können. Mario de Monti verschwand durch das schmale Schott im Rechenzentrum und programmierte den Kurs für den Flug nach Eins/Nord 467 »Bordbuch läuft«, verkündete Cliff. Im gleichen Augenblick flammten überall die Kontrollichter auf, Geräte und Maschinen begannen zu summen, Relais klickten; die Monitoren zwischen den
Wandverstrebungen erhellten sich, und der große Positionsbildschirm wurde ebenfalls aktiviert. Helga Legrelle nahm von ihrem geschwungenen Funkpult Verbindung mit Basis 104 und mit Erdaußenstation IV auf. Hasso Sigbjörnson und Atan Shubashi unterzogen ihre Geräte einer letzten Routineprüfung und gaben die Funktionsfähigkeit an Bordbuch und Kommandant bekannt. Mario de Monti hatte die Beschleunigungswerte und Fluggeschwindigkeit, den Transitionspunkt und die Kurskoordinaten errechnet. Als dann die Starterlaubnis von Basis 104 kam und Earth Outer Space Station einen Leitstrahl schickte, koppelte McLane Leitstand, Autopilot und Digitalrechner. Hasso errichtete das künstliche Schwerefeld, das den Andruck beim Start und während des Beschleunigungsfluges kompensieren sollte. Das Rückzählen der mechanischen Stimme von Basis 104 drang in die Kommandokanzel. »... acht ... sieben ... sechs ...« Die Photonenaggregate liefen auf halber Kraft. Dann war es soweit. »Start!« Die ORION VIII erhob sich zuerst langsam und zögernd aus ihrer schwebenden Position, dann glitt sie den runden Schacht von Basis 104 hinauf. Die Energieschirme, die die Wassermassen des Carpentariagolfes abhielten, wichen immer weiter zurück. Vor dem Diskus begannen sich die Wassermassen in einem rasenden Wirbel zu drehen, immer schneller, bis die Fliehkraft einen freien Schacht geschaffen hatte, durch den die ORION VIII in den Himmel einer sternenklaren Nacht hinausschießen konnte.
Der Diskus durchstieß die Lufthülle der Erde und raste mit steigender Geschwindigkeit in die ewige Finsternis des Weltraums hinein. Dann war die ›kritische Geschwindigkeit‹ erreicht, und das Schiff wechselte aus dem Einstein-Raum in die graue Granulation des Hyperraums über. In zirka acht Stunden würde sich derselbe Vorgang in umgekehrter Reihenfolge wiederholen. So lange brauchte die ORION VIII, um die 17 Parsek zu überbrücken, die die Erde von den Koordinaten Eins/Nord 467 trennten. * Wie ein unbelichteter grobkörniger Film zeigte sich der Hyperraum auf dem Positionsbildschirm der ORION VIII – jenes überdimensionale Kontinuum, dessen Nutzung für die Raumschiffahrt es den Menschen erst ermöglichte, die parsekweiten Abgründe zwischen den Sternen zu überbrücken. Da sämtliche technischen Vorgänge auf der ORION unter der Kontrolle des Autopiloten standen, gab es für die Crew nichts zu tun. McLane hätte eine Bordwache einteilen und die anderen sich selbst überlassen können. Wie es in der Regel auch geschah. Aber statt dessen versammelte er sie in der Kommandokanzel und unterrichtete sie über Sinn und Zweck des Einsatzes auf Kriotes. Cliff McLane beschränkte sich in der Hauptsache darauf, nur die von Spring-Brauner erhaltenen Fakten, Oberst Villas spärliche Unterlagen und Marschall Wamslers Verhaltensmaßregeln bekanntzugeben. A n-
schließend berichtete er von dem Erlebnis mit der Puppe in Tamaras Wohnung. Die dort erörterten Vermutungen und Thesen behielt er für sich. Als er geendet hatte, ergriff Helga Legrelle als erste das Wort. »Jetzt weiß ich wenigstens, welche Leute Pie-Po als ›überkandidelte Supermänner‹ bezeichnet hat«, sagte sie. »Er sprach fast andauernd von ihnen, meistens aber in weniger harmlosen Worten.« »Hat er auch von dem Intelligenztest gesprochen, den er nicht bestanden hat?« fragte McLane von seinem Platz am Kommandopult. »Ja«, antwortete die Funkerin. »Er war auf Kriotes. Die Künstlerkolonie scheint so etwas wie ein Mekka für terranische Intellektuelle geworden zu sein. Jeder, der in Künstlerkreisen etwas auf sich hält, muß einmal auf Kriotes gewesen sein. Es hat Pie-Po tief getroffen, daß er den Intelligenztest, dem er sich bei dieser Gelegenheit unterzog, nicht bestanden hat.« »Diesen Eindruck gewann ich auch«, stimmte McLane zu. »Allerdings nahm ich seine Depressionen nicht ernst.« Helga warf ihm einen bösen Blick zu. Offensichtlich hatte sie vor, Pieter-Paul Ibsen zu verteidigen. Aber dann überlegte sie es sich anders, biß sich auf die Lippen und schwieg. »Aber jetzt, da ich weiß«, fuhr McLane fort, »daß er bei einem Intelligenztest auf Kriotes durchgefallen ist, sehe ich die Dinge mit anderen Augen.« Mario de Monti lehnte am Eingabepult des Digitalrechners. Er stellte die erwartete Frage. »Warum hast du deshalb deine Meinung geändert?«
»Weil Pie-Po einen stark ausgeprägten Geltungstrieb hat«, antwortete McLane. »Ein gesundes Maß von Geltungsbedürfnis ist bei einem geistig Schaffenden notwendig«, warf Helga spitz ein. »Das will ich nicht abstreiten«, gab Cliff bereitwillig zu, »aber ich will nicht näher darauf eingehen. Wir haben gehört, daß Kriotes ein Mekka für die Intellektuellen ist. Es muß also ein großer Prestigegewinn sein, den Intelligenztest der Übelmenschen zu bestehen. Jene, die dabei durchgefallen sind, werden je nach Temperament aufgeben oder – sie werden mit verstärktem Eifer danach trachten, die Aufgaben der Kamarilla zu bewältigen. Wenn wir in diesem Zusammenhang an eine Verschwörung gegen Terra denken, dann können wir uns ausrechnen, welcher Art die gestellten Forderungen sind. Einige der nach Kriotes pilgernden Künstler werden wohl willkommene Werkzeuge für Etienne Chantelene abgeben.« »Aber nicht Pie-Po!« warf Mario ein und erntete von Helga ein dankbares Lächeln. »Natürlich nicht er. So etwas wollte ich ihm nie unterstellen«, verwahrte sich Cliff. »Aber in der Menge der Pilger werden sich bestimmt einige geeignete Medien finden.« Hasso Sigbjörnson war aus dem Maschinenraum hochgekommen und hatte hinter seinem Pult in der Kommandokanzel Platz genommen. »Wer weiß«, mischte er sich ein, »ob Etienne Chantelene im Augenblick außer seinen Puppen überhaupt andere Helfershelfer benötigt.« Cliff blickte erwartungsvoll zu dem Ingenieur. »Was hast du im Science Center herausbekommen?«
Hasso zuckte die Schultern. Er wollte sich nicht festlegen, deshalb sagte er: »Dort ist man noch nicht zu abschließenden Ergebnissen gekommen. Die Wissenschaftler erleiden durch unvorhergesehene Zwischenfälle andauernd Rückschläge. Über ein Dutzend der an den Untersuchungen beteiligten Personen ist bis jetzt dem Einfluß der Puppen erlegen. Das hat zu besonderen Vorsichtsmaßnahmen geführt, und die Arbeit leidet darunter. Es zeigt sich aber, daß die Puppen gefährlicher sind, als anfangs angenommen. So hat die Zentrale Rechenanlage anhand der Daten einen sehr hohen Gefahrenindex errechnet. Überall ist man der Meinung, daß schnellstens etwas unternommen werden müsse – die Macht der Puppen greift nicht nur in der Zivilbevölkerung immer weiter um sich. Und da ist noch etwas. Typhoon Rott hat mit seinem Team herausgefunden, daß die Puppen ein winziges Gerät in sich tragen, das Hyperimpulse sowohl senden, als auch empfangen kann. Die RobotSpezialisten erwarten, daß entscheidende Handlungen der Puppen durch ein Signal ausgelöst werden. Wann dieser Zeitpunkt eintritt, weiß allerdings niemand ...« Cliff sprang von seinem Kommandositz auf. Er ging wie ein gereizter Tiger auf und ab. »Wenn die Lage bereits jetzt schon so trist für die Erde aussieht, verstehe ich nicht, warum Villa so überbetont vorsichtig ans Werk geht.« »Vielleicht unterschätzt er die Gefahr«, vermutete Mario. »Villa?« Cliff lachte sarkastisch. »Natürlich«, gab Mario zu. »Villa unterschätzt nie
eine Gefahr. Aber es könnte sein, daß er nur zum Teil weiß, was wirklich um ihn vorgeht. Er weiß wahrscheinlich nicht, wie stark die Menschen der Faszination der Puppen unterliegen. Er müßte einmal an einer Puppen-Party teilnehmen.« Cliff hatte nur halb zugehört. In Gedanken war er einige Möglichkeiten für Villas zurückhaltendes Verhalten durchgegangen. Die einzige Erklärung war, daß hohe Politiker einen Druck auf den Galaktischen Sicherheitsdienst und die Militärs ausübten. Schließlich stand von vielen der persönliche Ruf auf dem Spiel, weil ihre Sprößlinge in die Sache verwickelt waren. Er wischte diese Überlegungen zur Seite. »Was sagtest du von Puppen-Parties?« fragte er Mario. »Das Mädchen, diese Nanette, auf die du mich angesetzt hast ...« »Ah«, fiel ihm Helga ins Wort, »wieder einmal ein Spezialauftrag für unseren Don Juan!« Atan Shubashi lachte, die anderen verzogen nur leicht das Gesicht; Cliff blieb ernst. »Es war ein eher herbes Intermezzo«, schränkte Mario ein. »Als ich mich mit Nanette verabreden wollte, war sie bereits verabredet, lud mich aber ein, mit ihr zu der Party zu gehen. Sie fand in einer Etagenwohnung des Hochhauses statt, in dem auch Tamara wohnt. Als wir hinkamen, fanden wir eine recht steife Gesellschaft vor. Die meisten der Gäste waren Offiziere der schnellen Raumverbände und aus der Taktischen Flotte. Na, ich fühlte mich unter soviel Sternen und Lametta nicht recht wohl, aber Nanette versprach, daß
es noch gemütlich würde. Was sie unter Gemütlichkeit verstand war für mich ein Schock. Nicht viel später packte sie ihre Puppe aus und ließ sie zur Freude aller Anwesenden durch die Räumlichkeiten spazieren. Was weiter geschah, würdet ihr unter anderen Umständen nie und nimmer glauben. Sämtliche Offiziere, deren Frauen, Begleiterinnen und die anderen Gäste ließen sich gemütlich nieder, wo sie gerade standen, und krabbelten über den Boden der Puppe nach. Der Anblick der kindlichspielenden Offiziere war mir dermaßen peinlich, daß ich mich stillschweigend empfahl. Mir läuft jetzt noch eine Gänsehaut den Rücken hinunter, wenn ich mich zurückerinnere.« Cliff nickte betroffen. Marios Bericht zeigte, daß die Macht der Puppen bereits bis nach Basis 104 hineinreichte. Wie weit die Führungsschicht Terras ihnen aber tatsächlich unterlegen war, ließ sich noch nicht ermessen. Es brauchten zahlenmäßig nicht viele sein, die unter dem hypnotischen Befehl der Puppen standen. Ausschlaggebend war, in welchen Positionen sich die Hypnotisierten befanden. Während der Invasion der Extraterrestrier hatte es sich gezeigt, daß ein einziger Mann – damals war es Villa – in der Lage sein konnte, das terranische Gefüge zu erschüttern. »Jedenfalls«, tröstete Cliff mit einem bitteren Lächeln, »wissen wir nun, daß Mario zu den schätzungsweise fünfzig Prozent der Menschheit gehört, die der hypnotischen Ausstrahlung der Puppen nicht unterliegen.« »Ich fand das Ganze albern und kindisch.« »Kanntest du einige der Party-Gäste?«
Mario nickte. »Eine ganze Menge. Von den Offizieren war es ein rundes Dutzend, die ich dem Namen nach kenne. Die anwesenden Damen waren mir vertrauter. Es werden wohl an die zwei Dutzend sein.« Cliff trug ihm auf, eine Namensliste anzufertigen. »Wir werden diese Leute nach unserer Rückkehr von Villa überprüfen lassen«, begründete er seine Anordnung. »Du bist einfach unersetzlich, Mario«, spottete Helga. »Du meinst wohl unersättlich!« rief Atan aus. Er nutzte so manche Gelegenheit, um hin und wieder mit Mario freundschaftlich zu streiten. Aber diesmal ließ er es bei dieser einen Bemerkung bewenden. Die Stimmung der Crew war gedrückt. Auf Cliff McLane lastete dazu noch die Sorge um Tamara. Hassos Stimme durchbrach das Schweigen. Er sprach langsam und überlegt. »Abgesehen davon, wie wir gegen Etienne Chantelene und seine Kamarilla vorgehen sollen, wissen wir so ziemlich alles Wesentliche. Aber trotzdem ist mir noch nicht klar, wie sie im Endeffekt die Regierung entmachten wollen. Mit Hilfe der Puppen können sie zwar den Putsch vorbereiten, doch nie zu einem Ende bringen. Sie brauchen Truppen und Schiffe, die die wichtigsten Schlüsselpositionen übernehmen. Vielleicht haben sie genügend Leute, sie könnten auch einige Versorgungsschiffe kapern. Nur – wo sollten sie Waffen hernehmen?« »Geschütze und Handfeuerwaffen könnten sie aus den verschiedenen Weltraumdepots entwendet haben«, antwortete Helgas »Denk an die Energiediebe von Sahagoon.«
Cliff winkte ab. »In Villas Unterlagen steht, daß eine Inventur sämtlicher Depots negativ verlaufen ist. Nicht eine einzige HM 4 fehlt. Aber bleiben wir bei der Waffenfrage. Vielleicht konnten die Krioten ihre Beziehungen spielen lassen und erhielten die Waffen direkt von Terra frei Haus geliefert.« »Denke nicht mehr daran, Cliff«, meldete sich Atan aus dem Hintergrund. »Ich habe mich wunschgemäß ebenfalls ein wenig umgehört. Das meiste, was dabei herauskam, waren wilde Gerüchte. An den Haaren herbeigezogen, für uns uninteressant. Von Lin Jeggin, dem Astrogator der SCUTUM, erfuhr ich allerdings, daß seit einiger Zeit sämtliche Lieferungen, die nach Kriotes gehen, genauestens überprüft werden. Auch die alten Frachtscheine werden nochmals eingehenden Prüfungen unterzogen. Es hat sich eindeutig ergeben, daß weder fertige Waffen, noch Bestandteile oder Material für ihre Erzeugung nach Kriotes abgingen. Seit dem Fall Tourenne sind die diesbezüglichen Bestimmungen kaum mehr zu umgehen. Die Männer der SCUTUM waren sauer auf Villa, weil er sie zusätzlich mit der genauen Überprüfung der Ladung belastet. Aber sie machen ihre Arbeit genau.« »Villa scheint tatsächlich an alles gedacht zu haben«, sagte Helga Legrelle anerkennend. »Trotzdem findet er nichts, was ihm eine Handhabe gegen die Supermenschen gibt«, ergänzte Atan Shubashi. »Supermenschen!« äußerte Mario de Monti abfällig. »Na, wir werden ja sehen«, meinte Hasso Sigbjörn-
son, erhob sich und steuerte auf die Liftkabine zu, um in den Maschinenraum hinunterzufahren. »Und Spring-Brauner gehört zu ihnen«, setzte Cliff McLane den Schlußpunkt hinter die Meinung seiner Crew zur allgemeinen Lage. Er schüttelte sich. »Die Vorstellung, daß Leute seines Kalibers die Elite der Menschheit sein sollen, ist mir einfach widerlich.« »Wie wär's mit einer Tasse Kaffee auf diesen Schrecken?« schlug Helga vor. Ihre Idee wurde begeistert aufgenommen. Vier Stunden später schrillten die Alarmanlagen. Die ORION VIII kehrte zurück in den Normalraum. * Die Doppelsonne wurde unter der Bezeichnung 42 Comae geführt. Der Astronom John Flamsteed gab im 17. Jahrhundert den beiden Komponenten in seinem Sternkatalog diese Nummer; von der Erde aus gesehen, handelte es sich um den 42. Stern im Sternbild ›Haar der Berenike‹, nahe dem galaktischen Nordpol. Die beiden Sonnen umlaufen sich in einem Abstand von fast 23 Astronomischen Einheiten und besitzen eine Gesamtmasse von 2,2 Sonneneinheiten. Die Umlaufzeit beträgt 25,9 Jahre. Während der Hauptstern keinen einzigen Planeten besitzt, hat sein Begleiter deren zwei. Beide Trabanten umkreisen ihre Sonne auf der Ebene der Umlaufbahn, so daß die Gravitation des Hauptsterns aufgehoben wird. Der erste Planet weist Temperaturen bis zu mehre-
ren hundert Grad Celsius auf und ist für Menschen unbewohnbar. Kriotes, der zweite Planet, dagegen besitzt die richtige Distanz zu seiner Sonne, seine innere Struktur ist der Erde ähnlich. Deshalb konnte sich Leben auf der Basis von Kohlenstoff-Wasserstoff-Sauerstoff entwickeln. Als das erste terranische Forschungsschiff auf dem Planeten landete, wurde ein unberührtes Paradies vorgefunden, in dem nur höheres intelligentes Leben fehlte. Zum Glück für die Welt und die Menschheit war die Zeit der großen Bevölkerungsexplosion auf der Erde schon lange überschritten. Kriotes wurde nicht als lebensnotwendiger Raum beansprucht, seine Natürlichkeit konnte erhalten bleiben. Es fiel den zuständigen Stellen auf Terra schwer, eine geeignete Verwendung für den Planeten zu finden, die seiner Schönheit gerecht wurde und gleichzeitig einen nützlichen Zweck erfüllte. Schließlich einigte man sich darauf, das Paradies für die Jünger der Schönen Künste freizugeben. Wo sollte sich der schöpferische Geist besser entfalten können als in der Ruhe und Beschaulichkeit dieser einmaligen Welt? Wo sonst konnten hoffnungsvolle Talente über sich hinauswachsen und zu Genialität finden, wenn nicht hier, auf Kriotes? Die Künstlerkolonie wurde gegründet. Tatsächlich zeigte sich in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens ein gewisser Aufschwung des künstlerischen Schaffens. Aber die Künstlerkolonie verlor bald darauf immer mehr von ihrer eigentlichen Bestimmung. Es waren nicht immer nur hoffnungsvolle Talente,
die Stipendien für Kriotes erhielten. Immer mehr und mehr wurde es Brauch, auf die gesellschaftliche Stellung und den politischen Einfluß des Bewerbers mehr Wert zu legen als auf seine Leistungen. Trotzdem brachte die Künstlerkolonie von Zeit zu Zeit Genies hervor, die irgendeinmal ihren Platz in der Galerie der großen Meister einnehmen würden. Aus dieser Mischung von Künstlern und Bohemiens ergab sich eine recht eigene Gesellschaftsform, in der die terranischen Gesetze natürlich ihre Gültigkeit besaßen. Aber es gab auch ungeschriebene Gesetze, die nur für Kriotes galten. Eigentlich war es mehr eine Philosophie, die sich aus den Umständen ergeben hatte und von den Bohemiens immer weiter ausgebaut wurde. Es war die Philosophie vom Übermenschen. Etienne Chantelene war ihr heißester Verfechter. Als er schließlich zum Direktor der kriotischen Akademie gewählt wurde und darüber hinaus die Verwaltung des Planeten übernahm, verhalf er der Idee einer Superrasse zum Siegeszug. Der Bildhauer, der selbst aus einer der einflußreichsten terranischen Familien stammte, stellte in seinem umfassenden Werk ›Die Ablösung des Homo sapiens‹ eindeutig fest, wie das Weltbild unter der Herrschaft des Übermenschen auszusehen habe. Und es gab auch keinen Zweifel darüber, daß der Superrasse eine übergeordnete Rolle zugedacht war. Wodurch sich ein Übermensch in Chantelenes Sinn vom Homo sapiens im einzelnen unterschied, welche Qualitäten und Fähigkeiten er aufzuweisen hatte, war in wenigen Worten nicht zu erklären. Einigen Aufschluß darüber gab der Persönlichkeitstest, dem sich
alle unterziehen mußten, die sich um Aufnahme in die Kamarilla der Übermenschen bewarben. Aber ganz schlau war auch daraus noch niemand geworden. Die meisten der Intellektuellen Terras, die nach Kriotes kamen und sich der Günstlingsgruppe um Etienne Chantelene anschließen wollten, taten dies aus Snobismus und Eitelkeit. Es war in Künstlerkreisen Mode, daß man entweder der Kamarilla angehörte oder wenigstens in die Kategorie »Bürger Erster Klasse« eingeteilt wurde. Es war so etwas wie eine Distanzierung der gehobenen Intelligenzschicht gegenüber den Durchschnittsmenschen; eine Art stille Revolution gegen die breite Masse, gegen die Konventionen und das Althergebrachte, gegen Überlieferung und Gesetz. Aber die meisten der Anhänger Etienne Chantelenes wollten nicht den generellen Umsturz, nicht die vollkommene Unterordnung der Menschheit unter das Regime einer kleinen Gruppe von Genies. Sondern sie trachteten danach, innerhalb der alten Gesellschaftsordnung etwas Besonderes darzustellen. Etienne Chantelene dachte anders. Er wollte die totale Herrschaft des Übermenschen. Seine persönliche Interpretation der Idee des Übermenschen war, daß nur durch die gewaltsame Unterdrückung des Homo sapiens recens, des Jetzt-Menschen, eine neue, bessere Menschheit geschaffen werden konnte. Gewalt, Krieg, Unterdrückung also, damit eine kleine Gruppe Auserwählter sich zu ungeahnter geistiger Höhe emporschwingen konnte. Sie sollten der Grundstein für die neue Menschheit sein. Von diesen Plänen wußten jedoch nur ganz wenige
in der Kamarilla. Es waren Etienne Chantelenes engste Vertraute auf Kriotes. Die anderen waren für ihn nur willkommene Werkzeuge. Marionetten, die der Schöpfer der Superrasse tanzen ließ – so lange bis sie erkennen würden, in welches Chaos sie die Menschen der Erde gestürzt hatten. Doch dann würde es zu spät sein ... * Der Flieder blühte im Garten der MichelangeloAkademie. Die ersten Strahlen von Comae II tasteten sich über den bewaldeten Horizont, tasteten sich über Blätter und Blüten und brachen sich funkelnd in den Tautropfen. Ein idyllischer Morgen auf einer friedlichen Welt. Die Sonne stieg höher, bis sie über den Wipfeln der höchsten Bäume stand, und warf ihren warmen Schein auf die Bungalows der Berruguete-Siedlung, übergoß den langgestreckten Eau der Akademie damit und erreichte schließlich den Raumhafen und bald darauf auch die beiden schmutzigen Gebäude in einigen Kilometern Entfernung. Eine Wolke zog über den grünlichen Himmel und schob sich schnell vor die Sonne – als wolle sie verhüten, daß die goldenen Strahlen auf die beiden Anlagen fielen, die so gar nicht in das paradiesische Bild von Kriotes passen wollten. Aber die Wolke wanderte weiter und gab den Sonnenstrahlen den Weg frei auf die Schande der Künstlerkolonie. Langgestreckte Holzbaracken waren es auf der ei-
nen Seite, von Stacheldraht- und Energiezäunen umgeben. Und ein grob gezimmerter Fachwerkbau mit angrenzenden niedrigen Lagerhäusern auf der anderen Seite. Das Ghetto, in dem der Pöbel zusammengepfercht war und auf den Abtransport zur Erde wartete, und die Fabrik, in der die GOLDIE-Puppen erzeugt wurden ... Äphka dachte nicht daran, als sie sich aus dem Bett wälzte, zum Fenster ging und die schweren Gardinen beiseite zog. Ihr Blick fiel hinaus auf den Park, in dem die Gärtner bereits ihrer Beschäftigung nachgingen. Sie öffnete den einen Flügel – da drang das Zwitschern der Vögel zu ihr herein, begleitet von Tausenden von anderen Geräuschen. Ein Windhauch strich an ihr vorbei und wirbelte den schalen Geruch nach Schweiß und Rauch durcheinander. Sie atmete tief ein, dann wurde sie von einem Frösteln geschüttelt und zog sich zurück in den Schutz des Raumes. Ihr war immer noch kalt, und während sie sich ein Negligé überstreifte, glitten ihre ausdruckslosen Augen durch das Zimmer. Ein großer Safe, einige teure Stilmöbel, die durch unsachgemäße Behandlung schadhaft geworden waren, und ein Bett, das war ihre Welt. Ja, vor allem das Bett. Ihr Blick blieb darauf ruhen. Die glitzernde Decke bewegte sich, und ein Grunzen drang unter ihr heraus. Sie ging hin, schlug die Decke zurück und beugte sich über das Gesicht des Mannes, das zum Vorschein kam. Der Mann schlug die Augen auf, schloß sie aber wegen der Helligkeit sofort wieder und blinzelte. Erst
als er die Wärme fremder Lippen auf seinem halbgeöffneten Mund spürte, war er vollkommen wach. »Jetzt ist keine Zeit für Liebe«, sagte er lachend und schob Äphka beiseite. Dann setzte er sich auf und begann sich anzukleiden. Äphka setzte sich ihm gegenüber auf einen Sessel, legte ihre Hände in den Schoß und beobachtete ihn mit einer Ungeniertheit, die langes Zusammenleben mit diesem Mann verriet. In der Tat, Äphka lebte schon lange mit ihm zusammen. Acht Jahre. Nun gab es schon lange keine Geheimnisse und Tabus mehr zwischen ihnen. Der Mann erhob sich auf die Beine, zog die Hose zurecht und ließ den Bundverschluß einschnappen. »Was starrst du mich so an?« fragte er plötzlich und hielt inne. »Du kamst spät letzte Nacht.« Er zuckte die Schultern und kleidete sich weiter an. »Kein Wunder«, sagte er. Sie verstand. Aber etwas anderes verstand sie nicht. »Warum wolltest du mich bei der Besprechung nicht dabeihaben?« »Was sagst du da!« Der Mann wurde ungehalten. »Es war nie die Rede davon, daß du nicht dabeisein durftest. Aber ich wußte, wie spät es werden würde, deshalb riet ich dir, zu Hause zu bleiben.« »Es klang wie ein Befehl.« »Das hast du dir eingebildet.« Der Mann ging an ihr vorbei ins Badezimmer. »Ich habe nicht einmal Zeit für ein Bad«, murmelte er vor sich hin. »Was sagst du?«
»Nichts«, rief er und studierte eingehend sein Spiegelbild. Was er sah, gefiel ihm: ein markantes Gesicht, mit etwas hervortretenden Backenknochen, gerade Nase, volle Lippen, schwarzes Haar, von Silberfäden durchzogen. Er war groß, hatte einen sehnigen Körper; er sah nicht jünger als fünfzig aus, war aber viel agiler. »Hm«, machte er zufrieden. Dabei kam es gar nicht so auf das Äußere an. Die inneren Werte zogen viel mehr. Er besaß sie – fand er. Äphka saß immer noch am gleichen Platz, als er ins Zimmer zurückkam. »Etienne ...«, begann sie. »Ja?« Er öffnete eine breite Doppeltür, die in einen schmalen, grell beleuchteten Korridor führte. »Etienne, du verschweigst mir etwas.« Er blieb überlegend in der Tür stehen, dann entschloß er sich und kam zu ihr ins Zimmer zurück. Er hätte vor ihr stehenbleiben können, was den psychologischen Effekt der Überlegenheit gehabt hätte. Aber er liebte sie und wollte in keiner Situation als ihr Besitzer erscheinen. »Es muß gesagt werden«, erklärte er, während er sich an den Bettrand setzte. »Ich verschweige dir nichts, Äphka. Wenn ich etwas nicht erwähne, dann habe ich es vergessen oder behalte es aus Rücksicht zu dir für mich. Wann lernst du es endlich – nicht alles muß ausgesprochen werden, man muß auch so verstehen. Vergiß nicht, daß wir eine neue Welt schaffen wollen, in der die Sprache eine untergeordnete Rolle spielt. Auf das Denken kommt es an!«
Es war eine lange Rede für ihn, der Worte für überflüssig hielt. »Manches muß gesagt werden«, beharrte sie. »Verstehen wir uns denn nicht mehr?« Ihre Augen blickten in unergründliche Fernen. »Manchmal glaube ich es fast.« Er schwieg. Er brauchte nicht zu sagen, wie bedauerlich er ihre Einstellung fand. Sie fuhr fort: »Bis vor kurzem hast du alle deine Probleme mit mir erörtert. Manchmal, wenn dich deine Pläne in Sackgassen führten, haben wir gemeinsam Lösungen ausgearbeitet. Wenn einer von uns beiden den seelischen Nullpunkt erreicht hatte, gelang es dem anderen, ihn wieder aufzurichten. Ich will nicht wiederholen, wie oft du mir versichert hast, daß du mich brauchst. Das ist etwas, was wirklich nicht gesagt zu werden braucht. Aber vielleicht hast du vergessen, daß ich ebenfalls nicht ohne dich leben kann. Und besonders in der letzten Zeit habe ich dich nötiger als je. Doch rücktest du seelisch immer mehr von mir fort, auch wenn du mich fest umarmst. Wann geschah es zuletzt, daß wir gemeinsam die Gründung einer neuen Weltordnung durchgesprochen haben? Es ist Wochen her. Und gerade jetzt würden Aussprachen dringend sein, denn die Entscheidung rückt immer näher. Ich erfahre nur mehr das, worauf ich zufällig stoße. Warum distanzierst du dich, Etienne?« Er preßte die Zähne aufeinander, daß die Backenmuskeln stark hervortraten. Es verlieh seinem Gesicht einen kämpferischen Ausdruck. »Ich distanziere mich nicht von dir«, sagte er
schließlich. »Wenn es dennoch geschieht, dann distanziert sich etwas in mir. Verstehst du? Ich kann dagegen nicht an.« »Was ist der Grund?« »Beharrst du darauf, daß ich es ausspreche?« Sie betrachtete ihn prüfend. »Nein«, flüsterte sie. »Sprich es nicht aus. Ich will es nicht hören.« Ich weiß es bereits ..., fügte sie in Gedanken hinzu. Eifersucht! Darauf wäre sie von selbst nie gekommen. Ein Mann wie Etienne Chantelene konnte nicht eifersüchtig sein. Für ihn war die körperliche Liebe unbedeutend, wenn sie nicht in Einklang mit geistigem Verstehen stand. Und jetzt war er eifersüchtig. Darüber Worte zu verlieren, war vollkommen überflüssig. Sie hätte von selbst dahinterkommen müssen, damit hatte Etienne recht. Er griff in seine Bluse und warf ihr einen Brief zu. Sie fing ihn auf und zerknüllte ihn. Er hob verwundert die Augenbraue. »Du solltest ihn lesen«, sagte er und lachte. Seine Heiterkeit klang noch etwas gekünstelt, aber bald würde er zu sich selbst zurückfinden. Dann wurde er sprechen, wie er dachte. Das liebte sie an ihm. Er fuhr fort: »Dein Verehrer schreibt darin, daß du auf ihn warten sollst. Wenn alles vorüber ist, will er dich holen lassen ...« »Ein Anruf ist vom Raumhafen gekommen«, unterbrach sie ihn. »Das sagst du mir erst jetzt?« Sie lächelte entschuldigend. »Es hat sich dafür noch keine Gelegenheit gefunden. Ein Schneller Kreuzer hat um Landeerlaubnis ersucht. ORION heißt das
Schiff. Es kommt in einem Sonderauftrag des GSD.« »Ich weiß«, entgegnete Etienne. »Dein terranischer Freund hat in seinem Liebesbrief das Kommen des Schiffes erwähnt. Er hat uns gewarnt, auch wenn dies nicht in seiner Absicht lag. Er ist unbezahlbar, wir dürfen ihn nicht verlieren. Du mußt ihm weiterhin schreiben.« »Das tue ich auf dein Anraten«, rechtfertigte sie sich. »Ich empfinde nichts als Verachtung für ihn. Ja, ich hasse diesen eingebildeten, überheblichen Kerl geradezu!« »Vielleicht schätzt du das gerade an ihm. Ich bin ebenfalls überheblich.« »Nein« Sie schüttelte ernst und bestimmt den Kopf. »Du weißt um deine Fähigkeiten und bist ehrlich genug, sie niemandem zu verhehlen. Das ist etwas anderes.« Er blickte sie an, ließ sie nicht aus den Augen, während er sich erhob. Sie kam halb aus dem Sessel hoch, und er preßte sie fest an sich. »Jetzt wäre der richtige Moment«, flüsterte er und seufzte bedauernd. »Aber die Landung des Schiffes ...« »Was gedenkst du zu unternehmen?« wollte sie wissen. Es war ungewiß, ob er ihre Frage auch beantworten würde. In den letzten Wochen war es immer öfter geschehen, daß er ihr in allen wichtigen Dingen auswich. Aber diesmal tat er es nicht. Das beruhigte sie ein wenig. »Ich werde«, sagte er, »mich zuerst um den Puppenmacher kümmern. Das habe ich schon zu lange
aufgeschoben. Dann empfange ich diesen McLane. Er soll ein recht intelligenter Bursche sein. Ich freue mich auf diese Begegnung.« »Sei vorsichtig, Etienne«, mahnte Äphka; sie verbarg ihre Besorgnis nicht. »Wirst du ihn testen?« Er lachte. »Natürlich – das lasse ich mir nicht nehmen!« »Was, wenn er den Test besteht?« »Dann nehme ich ihn mit offenen Armen in die Kamarilla auf. Wie deinen terranischen Freund.« »Und wenn er durchfällt?« »Auch dann weiß ich, was zu tun ist.« Etienne Chantelene dehnte die Worte genießerisch, als er hinzufügte: »Dann schenke ich ihm eine Puppe.« »Eine Puppe? Wozu das?« »Es soll eine Überraschung sein. Nimm mir den Spaß nicht, und lasse dich überraschen.«
4 Die ORION VIII kam zehn Astronomische Einheiten von der Sonne Comae II aus dem Hyperraum. Sie flog den zweiten Planeten an und paßte ihre Geschwindigkeit der Rotation an, als sie sich fast senkrecht über dem ›grünen Giraffenhals-Kontinent‹ befand – wie der Landstrich, auf dem sich die Künstlerkolonie befand, im Handbuch bezeichnet wurde. In einer Höhe von 1800 Kilometer ging Cliff McLane in einen Orbit. »Sieht von hier oben recht verlockend aus«, sagte Mario de Monti mit einem Blick auf den Positionsschirm, der einen Ausschnitt des Zielplaneten zeigte. Seine Bemerkung war sarkastisch gemeint, denn Kriotes war nur als blaugrüner Ball zu erkennen, dessen Konturen von Wolken und Dunst verwaschen wurden. »Helgamädchen«, befahl McLane, »nimm die übliche Verbindung mit der Bodenstation auf.« »Verstehe«, erwiderte Helga Legrelle und hantierte bereits an der Funkanlage. »Ich ersuche um Landeerlaubnis, um einen Leitstrahl ... und so weiter. Aber was soll ich antworten, wenn man sich über den Zweck unseres Kommens erkundigt?« »Sage ihnen die Wahrheit«, gab McLane zurück. »Die ORION VIII kommt im Auftrag des Galaktischen Sicherheitsdienstes, um auf Kriotes Untersuchungen vorzunehmen.« »Untersuchungen welcher Art?« »Mädchen«, seufzte der Kommandant. »du willst es aber genau wissen. Wir werden uns in diesem
Punkt nicht festlegen. Sage ganz einfach, es handelt sich um geheime Untersuchungen.« »Okay, Chef!« Mario de Monti, Erster Offizier und Chefkybernetiker, lehnte sich neben McLanes Platz an das Kommandopult. »Du weißt noch nicht, wie wir vorgehen wollen, stimmt's?« sagte er; es war mehr eine Feststellung als eine Frage. McLane verzog den Mund zu einem säuerlichen Lächeln. »Doch, ich weiß es schon«, erwiderte er. »Wir werden uns Glacéhandschuhe überstreifen und den Herren Supermännern ganz zart auf den Zahn fühlen. Und – wir werden nicht mit leeren Händen nach Terra zurückkommen.« »Aha«, gab de Monti zurück, »jetzt kenne ich den ganzen umfassenden Schlachtplan.« »Nicht verzagen«, tröstete McLane, »irgendwann wird sich schon zeigen, wie's weitergeht.« »Ich könnte mich an der Michelangelo-Akademie einschreiben«, schlug de Monti vor. »Vielleicht gelingt es mir, mich in einer schlagenden Verbindung emporzuarbeiten, bis ich die Kamarilla auf mich aufmerksam mache. Dann spiele ich ein wenig Spion, wobei ich mir Spring-Brauner als großes Vorbild nehme.« McLane lächelte. Atan Shubashi, der von seinem Platz aus alles mitangehört hatte, ergriff die Gelegenheit, um de Monti eins auszuwischen. »Ich habe einen Vorschlag«, meldete er sich. »Du könntest dir die gefährlichen Mensuren ersparen ...«
»Wie?« »Indem du dich mit Studentinnen herumschlägst.« »Das ist eine Idee!« »Nur leider«, schränkte Shubashi mit bekümmerter Miene ein, »bist du wahrscheinlich schon zu sehr verbraucht.« »Soll ich dir das Gegenteil beweisen?« rief de Monti aus. Shubashi tat erschrocken. »Mir?« »Genug«, sagte McLane lachend, »vergeßt nicht, daß wir eine Dame bei uns haben.« Helga Legrelle blickte auf. »Eine Dame«, sagte sie, »die sich abschuften muß, während die Vertreter des starken Geschlechts blöde Witze reißen.« »Na, da hörst du es, Atan«, triumphierte de Monti. »Helga bestätigt, daß deine Anspielungen nichts als leeres Geschwätz sind.« Die Funkerin wurde ein wenig rot. McLane kam ihr schnell zu Hilfe. »Wie sieht es aus, Mädchen?« erkundigte er sich. »Alles in Ordnung«, sagte sie. »Der Verwalter des Raumhafens, selbst ein GSD-Mann, wollte zwar unbedingt den Kommandanten sprechen, aber er verzichtete darauf, als er das Grölen aus dem Hintergrund vernahm.« »Unsere Landung ist also genehmigt«, stellte McLane zufrieden fest. »Wann ist der Raumhafen für uns frei?« »In zehn Minuten schicken sie uns einen Leitstrahl herauf.« Helga blickte auf das Chronometer vor sich auf dem Pult. »Davon sind allerdings bereits vier vergangen.«
»Dann rasch hinein und nicht gezaudert!« McLane wirbelte auf seinem Konturensessel herum und fing sich an den Armaturen des Kommandopults ab. Er nahm einige Schaltungen vor. »Kommandant an Bordbuch: Wir befinden uns in den Luftschichten des Planeten Kriotes. Orbit ohne Maschinenkraft. Bodenstation schickt uns Leitstrahl. Keine besonderen Vorkommnisse.« Das Bordbuch lief weiter, zeichnete alle maschinellen Vorgänge auf und hielt die Kommandos und Meldungen fest. »Kommandant an Maschinenraum: Antrieb auf untere Beschleunigungswerte leerlaufen lassen.« »Maschinenraum an Kommandant: Befehl verstanden«, meldete Hasso Sigbjörnson vom Videophonschirm aus. »ausgeführt.« McLane schaltete den Autopiloten ab. »Kommandant übernimmt manuelle Steuerung«, sprach er ins Mikrophon. »Funkspruch von Kriotes«, meldete Helga Legrelle. McLane gab ihr einen Wink. »Ich übernehme.« Auf seinem Bildsprechgerät erschien das Gesicht eines strengblickenden Mannes. Das eingekreiste »S«, das Abzeichen des Galaktischen Sicherheitsdienstes, das auf der rechten Brustseite seiner Uniform prangte, kam gerade noch mit aufs Bild. »Raumhafenüberwachung Kriotes, Major Haggins«, kam seine herrische Stimme aus dem Lautsprecher. »Der Landestrahl für den Schnellen Kreuzer ORION ist errichtet.« »Verstanden«, bestätigte McLane. »Landestrahl steht.«
Er unterbrach die Verbindung. Helga Legrelle ließ sich noch die Frequenz des Peilstrahles durchgeben, fing ihn ein und leitete ihn an den Kommandostand weiter. Die ORION VIII ruckte an und sank entlang des unsichtbaren Strahles immer tiefer in die Atmosphäre von Kriotes ein. Der Planet schwoll an, der Horizont wurde immer flacher, die Konturen der Oberfläche immer schärfer. Dann durchstieß der Diskus die letzten Wolkenschleier. Das Meer entschwand immer mehr zur Seite, bis nur noch üppige Wälder und flache Wiesen zu sehen waren. Nur manchmal entstand ein Bruch in dem verwirrenden Grün der Landschaft – wenn sich urgewaltige Felsen erhoben oder sich unergründliche Schluchten auftaten, braun und grau. Sie zerstörten den Eindruck von Ebenmäßigkeit, je tiefer das Raumschiff sank. Und unzählige gewundene Flußläufe zerrissen die Landschaft in viele tausend Mosaike, in die, bläulich und flimmernd die Sonnenstrahlen reflektierend, große und kleine Seen eingebettet lagen. Das hier war ein Stück wilder, unberührter Natur. Oder doch nicht ganz unberührt? Strenge geometrische Linien und Figuren störten das Bild an einigen Stellen. Gebäude, Straßen, runde und rechteckige Plätze und Parks kamen zum Vorschein – und eine große ebenmäßige Fläche, die aus einem Material bestand, die alles Licht in sich aufsaugte. Der Raumhafen. Die ORION VIII schwebte darauf zu und landete auf dem zugewiesenen Planquadrat. Nachdem alle Maschinen abgeschaltet waren und
nur noch die Schwerkraftaggregate arbeiteten, die das Diskusschiff in einer Höhe von zehn Metern in der Schwebe hielten, machte Mario de Monti eine LANCET startklar. Von den niedrigen Gebäuden am Rande des Flugfeldes näherten sich zwei Bodenfahrzeuge. Noch einmal meldete sich der GSD-Major, dem die Aufsicht über den Raumhafen oblag. Der befehlende Ton aus seiner Stimme war verschwunden. »Bevor Sie etwas unternehmen, Oberst«, bat er McLane, »ersuche ich Sie, sich mit mir in Verbindung zu setzen.« »Wird gemacht«, versprach McLane. Nachdem Major Haggins' Abbild vom Schirm verschwunden war, meinte er zu seiner Crew: »Das ist bestimmt wieder einer von denen, die uns Verhaltensmaßregeln für Kriotes zu geben haben.« Er irrte nicht. * Oberst Villa hätte keinen besseren Mann für diese Aufgabe finden können. Major Haggins verstand es ausgezeichnet, das Geschehen auf dem Raumhafen zu überwachen, ohne dabei den Krioten zu nahe zu treten. McLane und de Monti wurden während ihres Aufenthaltes im Direktionsbüro der Verwaltung Zeugen einiger Szenen, die diesbezügliche Fähigkeiten des GSD-Mannes eindeutig unter Beweis stellten. Was er mit seinen Untergebenen machte, war reine Schikane;
wenn er jedoch mit einem Krioten der gehobenen Gesellschaftsschicht zu tun hatte, dann strahlte er Wohlwollen und Freundlichkeit aus. Sie saßen um einen niederen Rauchtisch, der in der Mitte des hellen, dreiseitig verglasten Raumes stand. Haggins, McLane und de Monti. Ein junger Ordonnanzleutnant hatte Getränke und Zigaretten gebracht. Außer den aufschlußreichen Videophongesprächen, die der GSD-Major mit seinen Leuten und einigen Krioten geführt hatte, ereigneten sich keine Zwischenfälle. Die Unterhaltung wurde in einer freundschaftlichen Atmosphäre geführt. McLane hatte es sich allerdings nicht nehmen lassen, einige Seitenhiebe auszuteilen, doch erkannte Haggins sie nicht als solche, oder er überging sie ganz einfach. »Sie hätten Ihrer ganzen Mannschaft Landurlaub geben können«, sagte der GSD-Major. »Ihr Schiff ist auf unserem Raumhafen fast so sicher wie in Basis 104.« »Das will ich gerne glauben«, entgegnete McLane, »aber ich kann es mir nicht erlauben, meine Leute zu beurlauben. Es genügt, wenn ich Leutnant de Monti an meiner Seite habe. Die anderen halten sich auf Abruf bereit, für den Fall, daß ein Einsatz zu verschiedenen Stellen gleichzeitig notwendig wird. Vielleicht sind Sie über die Wichtigkeit unseres Auftrages von Oberst Villa unterrichtet worden, Major?« »Natürlich«, versicherte Haggins fast gekränkt. »Oberst Villa hat mich über die möglichen Folgen Ihrer Ermittlungen nicht im unklaren gelassen. Deshalb bat er mich auch, Ihnen jede Unterstützung zu gewähren.« »Dafür bin ich sehr dankbar.« McLane schien zu
überlegen. Schließlich sagte er: »Ich hätte einige Fragen, Major. Würden Sie sie mir beantworten?« »Selbstverständlich. Das ist das wenigste, was ich für Sie tun kann.« McLane setzte sich zurecht. »Ich nehme an, Sie kennen Leutnant SpringBrauner?« Haggins lächelte in gutmütigem Spott über diese Frage. »Ich kenne ihn sehr gut. Wir hatten früher sehr viel miteinander zu tun.« McLane schoß seine nächste Frage ab. »Dann hatten Sie wohl auch Kontakt zu ihm, als er Urlaub auf Kriotes machte?« »Ja, das kann man wohl sagen. Damals habe ich meine dienstfreie Zeit fast ausschließlich ihm gewidmet. Ich führte ihn in die Gesellschaft ein.« »Sie meinen mit der Gesellschaft wohl die Kamarilla?« Haggins winkte ab. »Sie scheinen eine gänzlich falsche Vorstellung von der Kamarilla zu haben, Oberst. Es handelt sich um eine kleine Clique von zwei Dutzend ausgesuchten Leuten, die keinen Außenstehenden an sich heranlassen, wenn sie es nicht selbst wollen. Selbst ich konnte für Spring-Brauner nicht intervenieren, obwohl ich sagen darf, daß mein Einfluß auf die Krioten nicht gering ist.« McLane ließ sich nicht vom Thema abbringen. Irgend etwas gefiel ihm nicht an Spring-Brauners Geschichte, und das wollte er herausfinden. »Spring-Brauner wurde von den Leuten der Kamarilla aber schließlich akzeptiert?« erkundigte sich McLane.
»Das ist nicht mein Verdienst«, erwiderte Major Haggins. Ehrfürchtig fügte er hinzu: »Es ist geradezu phänomenal, wie schnell es Spring-Brauner gelang, das Interesse der Kamarilla für sich zu wecken. Er muß jenes Etwas besitzen, das Etienne Chantelene von seinem idealen Übermenschen erwartet.« »Hm«, machte McLane skeptisch. »Es ist wirklich erstaunlich, daß Spring-Brauner so schnell Aufnahme in der Kamarilla fand«, stellte Haggins mit Nachdruck fest. »Was Tausenden nicht gelungen ist, hat er im Handumdrehen geschafft.« »Wissen Sie auch, welche Eigenschaften es waren, die ihn für die Kamarilla qualifizierten?« »Nicht im einzelnen.« Der GSD-Major runzelte die Stirn. »Nein, besondere Fähigkeiten an ihm herauszustreichen, fällt schwer. Aber wahrscheinlich war es seine ganze Persönlichkeit, die Etienne Chantelene imponierte. Spring-Brauner ist intelligent, besitzt überdurchschnittliches Wissen und hat ... Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, ohne ein irreführendes Bild zu zeichnen. Aber es ist wohl ein gewisses Maß an Arroganz und Überheblichkeit, das er mit allen Leuten der Kamarilla gemein hat.« »Ich verstehe«, sagte McLane, dem bei einer so genauen Beschreibung von Spring-Brauners Persönlichkeit beinahe übel wurde. »So soll also die neue Menschheit aussehen.« »Ich wußte doch, daß ich mich falsch ausdrücken würde«, sagte Haggins zerknirscht. »Lassen Sie's gut sein«, beruhigte McLane ihn. »Ich werde eben persönliche Eindrücke von den Übermenschen sammeln.« »Tun Sie das!« Der GSD-Mann war begeistert von
McLanes Entschluß; hauptsächlich wahrscheinlich deswegen, weil er dadurch einer weiteren Befragung zu entgehen hoffte. »Kriotes hat alle Türen für Sie geöffnet. Chantelene ist bereits verständigt. Es zeugt von seinem Großmut, daß er nicht das geringste gegen eine Untersuchung einzuwenden hatte. Im Gegenteil, er faßt das Mißtrauen Terras als Gelegenheit auf, sich und seine Idee vom Übermenschen zu rehabilitieren. Er hat mir versichert, daß ihm Ihr Besuch jederzeit willkommen ist.« »Ich werde ihn aufsuchen – wenn ich mich auf Kriotes ein wenig umgesehen habe«, bestimmte McLane. Haggins war schockiert. »Er erwartet Sie bereits! Er rechnet jede Minute mit Ihrem Besuch.« Der GSD-Mann blickte auf sein Armbandchronometer. »Ich habe meine Zeit ohnedies schon überschritten«, murmelte er. McLane bemerkte den Wink, den ihm Mario de Monti gab. »Chantelene wird sich gedulden müssen«, schloß McLane die Diskussion. »Ich sehe mich jetzt mit meinem Ersten Offizier ein wenig in Ihrem Paradies um. Geben Sie mir die Generalvollmacht, die mir die Besichtigung aller Anlagen gestattet?« Haggins suchte nervös in den Papieren, die an dem einen Tischende unordentlich durcheinanderlagen. Er holte eine gelbliche Folie hervor und überreichte sie dem Kommandanten der ORION wortlos. McLane überflog das Schriftstück, auf dem er das Siegel des Galaktischen Sicherheitsdienstes vermißte. Statt dessen war es nur mit einer schwungvollen Un-
terschrift gezeichnet, die mit einiger Mühe als ›Etienne Chantelene‹ zu entziffern war. Während er sich erhob und das Dokument gefaltet in einer Plastikhülle verstaute, wandte er sich an Mario de Monti. »Hast du noch Fragen an Major Haggins? Ich bin überzeugt, er wird sie dir gern beantworten.« »Aber sicher, schießen Sie nur los«, versicherte Haggins. Die Vermutung lag aber nahe, daß er seine beiden Besucher schnell los werden wollte, um sich mit Etienne Chantelene in Verbindung zu setzen. »Ich hätte tatsächlich eine Frage«, sagte Mario, der froh war, daß McLane sein Zeichen von vorhin richtig gedeutet hatte. »Besitzen Sie eine GOLDIE-Puppe, Major Haggins?« Der GSD-Mann zuckte zusammen. Er versuchte, seine Nervosität hinter einem Lächeln zu verbergen. »Das ist eine recht seltsame Frage.« »Sie läßt sich aber ganz einfach mit Ja oder Nein beantworten«, stellte McLane fest. Er ließ den Major nicht aus den Augen und studierte jede Phase seines einfrierenden Lächelns genau. »Die Frage bedeutet einen Eingriff in meine Privatsphäre«, wehrte sich Haggins. »Das brauche ich mir nicht gefallen zu lassen.« »Sie wollten uns doch in jeder Beziehung unterstützen«, erinnerte McLane. Der GSD-Major stemmte sich mit beiden Armen auf die Tischplatte. »Ich berufe mich auf die Unantastbarkeit meines Privatlebens.« »Und ich bestehe auf Beantwortung dieser Frage.« McLane maß sein Gegenüber mit kaltem Blick.
»Wenn Sie sich nicht zu einer Antwort entschließen wollen, kann ich die Entscheidung ganz leicht Oberst Villa überlassen. Ein Funkspruch würde genügen.« Haggins atmete schwer. Sein Körper zitterte vor verhaltener Wut, seine Zunge benetzte die trockenen Lippen. Dann sackten seine Schultern plötzlich zusammen, er gab sich geschlagen. »Also gut. Ich besitze eine Puppe. Sie ist ein persönliches Geschenk von Etienne Chantelene, und ich behalte sie nur wegen des symbolischen Wertes. Ist Ihnen jetzt leichter?« »Ja«, sagte McLane, »einiges wird für mich dadurch viel klarer. Komm, Mario, wir gehen.« Sie verließen die Direktion, fuhren mit dem Lift in das Erdgeschoß hinunter und traten ins Freie. Niemand begegnete ihnen. Ohne ein Wort gewechselt zu haben, erreichten der Kommandant und der Erste Offizier der ORION die LANCET – und starteten. * Über den Positionsschirm beobachtete Atan Shubashi die Vorgänge auf dem Raumhafen von Kriotes. Es herrschte nicht viel Betrieb. Am östlichen Rande des Landefeldes wurden zwei Frachtschiffe entladen. Fünf weitere Schiffe standen auf einem Quadrat eng beieinander. Einige GSD-Männer riegelten diesen Sektor ab; sie hatten einen schmalen Gang aus Energiezäunen aufgestellt, der von einem großen Lagerschuppen direkt zu den fünf Großraumschiffen führte. »Es sieht fast so aus«, murmelte Atan vor sich hin,
»als würden dort gefährliche Raubtiere verladen. Aber das ist absurd.« »Warum soll das absurd sein«, sagte Helga Legrelle, die sich die Wartezeit damit vertrieb, sämtliche Funkfrequenzen von Kriotes abzuhören. »Es kann ganz gut möglich sein, daß diese Schiffe exotische Tiere zu den terranischen Zoos bringen.« Atan machte sich an der Vergrößerung zu schaffen. »Helgamädchen, du hast wieder einmal das Handbuch nicht genau durchgelesen«, tadelte der Astrogator, während er Einzelheiten im Schatten des Lagerschuppens zu erkennen versuchte. »Es gibt auf Kriotes keine Großwildjäger, auch keine Fallensteller. Der ganze Planet ist ein einziges Naturschutzgebiet. Die Fracht dieser fünf Schiffe besteht aus – Menschen. Jetzt kann ich erkennen, daß sich einige hundert auf kleinstem Raum zusammendrängen. Sie setzen sich in Bewegung ... Wie eine Viehherde werden sie durch den schmalen Energiekorridor zu den Schiffen gedrängt ...« Er unterbrach sich selbst. Was er sah, war ein so gewaltiger Verstoß gegen die Menschenrechte, daß es ihm die Sprache raubte. Von Helgas Funkpult kam in kurzen Intervallen ein Pfeifton, das Zeichen für ein hereinkommendes Videophongespräch. Die Funkerin stellte die Verbindung her. Es war Cliff McLane, der von Bord der LANCET sprach. »Helga«, sagte er; durch die Bullaugen, die mit aufs Bild kamen, war zu erkennen, daß die LANCET in geringer Höhe über die kriotische Landschaft dahinflog.
»Setze sofort einen Funkspruch an GSD und T.R.A.V. ab. High speed! Folgender Wortlaut: Der Verwalter des kriotischen Raumhafens, GSD-Major Haggins, steht unter dem dringenden Verdacht, seine Position zu mißbrauchen. Vermutlich arbeitet er mit Etienne Chantelene zusammen – ob freiwillig oder unter Zwang, steht nicht fest. Er ist Besitzer einer GOLDIE-Puppe. ORION VIII erbittet diesbezügliche Direktiven. Das ist alles, Mädchen.« »Verstanden, Chef!« Helga Legrelle bereitete alles für den Hyperfunkspruch vor. Fast beiläufig fragte sie: »Und was soll inzwischen aus uns werden? Atan beklagt sich andauernd über Langeweile.« »Ihm kann geholfen werden«, sagte Cliff lächelnd. Atan war mit einem Satz an Helga Legrelles Seite. »Sag schon, was soll ich tun, Cliff. Spann mich nicht auf die Folter.« »Eines nach dem anderen«, dämpfte McLane den Eifer seines Astrogators. »Du, Helga, bleibst auf der ORION und hältst die Stellung. Ich habe das Gefühl, daß die Dinge jetzt langsam in Fluß kommen. Vielleicht wird es nötig sein, einige weitere dringende Funksprüche an Wamsler und Villa abzusetzen. Außerdem erwarten wir eine Antwort von T.R.A.V.« »Ich füge mich in mein Schicksal«, seufzte Helga ergeben. »Atan und Hasso«, fuhr McLane im nächsten Atemzug fort, »sollen mit der LANCET II zu einem Erkundungsflug starten. Ziel: Die Puppen-Fabrik. Sie sollen herausfinden, wer der eigentliche Schöpfer der Puppen ist. Wenn sie ihn gefunden haben, müssen sie versuchen, ihn unter irgendeinem Vorwand auf die ORION zu locken. Aber keine krummen Touren, bitte.«
»Wir werden uns hüten«, versprach Atan. »Mario und ich sehen uns inzwischen in der Künstlerkolonie um«, sprach McLane weiter. »Etienne Chantelene erwartet uns zwar bereits, aber ich möchte ihn ein wenig schmoren lassen. Für ein Gespräch mit ihm brauche ich noch einiges Material. Wenn sich neue Aspekte ergeben, dann wünsche ich, sofort davon in Kenntnis gesetzt zu werden.« »Zu Befehl, großer Häuptling«, sagte Helga. »Das ist einstweilen alles«, beendete Cliff McLane das Videophongespräch. Bevor sich der Schirm noch verdunkelt hatte, setzte sich Atan bereits mit Hasso Sigbjörnson in Verbindung. Wie meist, hielt sich der Bordingenieur im Maschinenraum auf. Atan unterrichtete ihn über Cliffs Anordnungen, und Hasso versprach, die LANCET in zwei Minuten startbereit gemacht zu haben. »Kommst du mit mir in die Abschußkammer?« bat Atan die Funkerin. »Es ist außer mir wohl niemand da, der den Start der LANCET vornehmen könnte«, erwiderte sie spitz. Da selbst high-speed-Funksprüche ihre Zeit brauchten, bevor sie über die vielen Relaisstationen die Erde erreichten, und Wamsler oder Villa eine Antwort auch nicht einfach aus dem Ärmel schütteln konnten, standen ihr einige Minuten zur Verfügung. Trotzdem ging sie kein Risiko ein, und stellte das Funkgerät auf Automatik. So wurden alle hereinkommenden Sprüche festgehalten. Sie folgte Atan in den Lift und fuhr zu den LANCET-Abschußkammern. Hasso erwartete sie bereits.
Die beiden Männer verschwanden durch die Schleusenkammer in der LANCET. Gleich darauf erschien der Bordingenieur auf dem Bildschirm und gab Helga das Fertig-Zeichen. »Hals- und Beinbruch«, wünschte sie und drückte den Abschußhebel durch. Im Schiffsoberteil wichen die einzelnen Schleusensegmente zurück. Die Magnetklammern zogen das Beiboot entlang der Startschienen und lösten sich Millimeter vor dem Anschlag. Die LANCET wurde in einer steilen Kurve aus dem Diskus geworfen, und bevor sie noch den höchsten Punkt erreicht hatte, übernahm Hasso bereits die Steuerkontrolle. Helga Legrelle kehrte zurück in die Kommandokanzel. Augenblicklich stach ihr das rot blinkende Licht auf dem Funkpult in die Augen. Mit einigen schnellen Schritten war sie dort, spulte das Band zurück und ließ es ablaufen. In ihrer Abwesenheit war eine Nachricht des GSD eingegangen. Oberst Henryk Villa persönlich hatte sie abgegeben. »GSD an ORION VIII. Alle Schiffe und Teams, die sich mit den Vorfällen auf Kriotes und den Vorkommnissen in Zusammenhang mit der Kamarilla der Übermenschen beschäftigen, stehen ab sofort unter dem Befehl des Galaktischen Sicherheitsdienstes ... Unter keinen Umständen gegen Major Haggins vorgehen! Zur gegebenen Zeit wird sich eine geeignete Untersuchungskommission einschalten. Dringend an Kommandant Oberst McLane: Hände weg von Major Haggins. Villa. Ende.« Da soll sich noch jemand in dieser Welt auskennen!
dachte Helga Legrelle und leitete Villas Befehl an Cliff McLane weiter. Die Kontrolle des Krisenherdes Kriotes lag in den Händen eines korrupten Mannes, aber Villa ließ ihn weiterarbeiten. Warum nur?
5 »Ich atmete dicke Luft«, stellte Atan Shubashi trocken fest. Sein Arm wies aus dem Kuppelfenster auf eine Reihe niedriger Baracken, die zweihundert Meter unter der LANCET das üppige Grün des Dschungels ablösten. »Ein Bild wie aus den längst vergangenen Tagen der Rassenverfolgung«, kommentierte Hasso Sigbjörnson. Er drosselte die Geschwindigkeit und ging tiefer. Viel war noch nicht zu erkennen, aber was er sah, war dennoch niederschmetternd. Menschen saßen, standen oder gingen wie gefangene Tiere innerhalb eines hohen Energiezaunes auf und ab. Einige blickten neugierig zu dem Flugkörper hinauf, aber die meisten schienen viel zu lethargisch, um zu reagieren. »Wachtposten scheint es keine zu geben«, sagte Atan. »Aber der Energiezaun und der Dschungel dahinter dürften den Gedanken an Flucht erst gar nicht aufkommen lassen.« »Ein Getto«, murmelte Hasso, »auf der Welt der Intellektuellen. Wer hätte das gedacht!« Die LANCET hatte die Baracken überflogen und strebte dem Fachwerkbau in einigen hundert Metern Entfernung zu. »Warum nicht?« entgegnete Atan. »Wenn die Übermenschen die Geschicke des Planeten übernommen haben, dann werden sie danach trachten, die ›unwürdigen Elemente‹ zu deportieren. Auf dem Raumhafen stehen bereits fünf Raumschiffe bereit.«
»Wenn das stimmt«, knurrte Hasso, »ergibt sich daraus vielleicht eine Handhabe gegen Etienne Chantelene. Verletzung der Menschenrechte!« Er drosselte die Geschwindigkeit noch mehr, als der verfallende Bau nur noch hundert Meter entfernt war. Es war ein antikes Gebäude, das den Zauber der Vergangenheit erweckte, obwohl es jetzt für fremde Zwecke mißbraucht wurde. Früher mochte es eine Stätte der Kultur oder ein Herrschaftssitz gewesen sein, jetzt war es eine Puppenfabrik. Zwei Lastenhelikopter standen auf dem großen Vorplatz, und Männer verstauten große Kisten darin, die sie aus einem der vier angebauten Lagerhäuser schleppten. Unweit davon stand ein kleinerer Helikopter. Als Hasso die LANCET in dem verwilderten Park landete, kam aus einem der Nebengebäude ein modisch gekleideter, graumelierter Mann und bestieg den Hubschrauber. Hasso und Atan verließen die LANCET über die hydraulisch herausgefahrene Leiter. Sie bekamen noch etwas von dem Wind zu spüren, den die mächtigen Rotoren verursachten; dann verschwand der Helikopter hinter der Puppenfabrik. Damit Unbefugte das Beiboot nicht betreten konnten, verschloß Hasso die Schleuse von außen und sicherte sie durch einen Symbolkode ab, den nur er und Atan kannten. Die Männer an den Lastenhubschraubern waren immer noch damit beschäftigt, die Kisten zu verladen. »Sieht so aus«, meinte Atan dazu, »als ob eine neue Puppenlieferung für die Erde zusammengestellt würde.«
»Hoffentlich erreicht sie nie ihr Ziel!« entgegnete Hasso. »Kann ich Ihnen irgendwie dienlich sein?« Die beiden Männer von der ORION drehten sich gleichzeitig um. Der unbekannte Sprecher hatte sich ihnen lautlos von hinten genähert. Jetzt war er kaum drei Schritte von ihnen entfernt. Der Fremde war nicht älter als fünfundzwanzig, hatte eine unnatürlich blasse Haut und einen arroganten Gesichtsausdruck. Er war modisch, aber nachlässig gekleidet. Sein bunter Anzug hätte die Augen des Betrachters sicher geschmerzt, wenn langjähriger Schmutz den Farben nicht die Grelle genommen hätte. Irgendwie machte er den Eindruck eines Clowns; das Gewand schlotterte um seinen mageren Körper. »Wir gehören zur Mannschaft der ORION VIII. Das ist Astrogator Atan Shubashi. Ich heiße Hasso Sigbjörnson«, stellte der Bordingenieur vor. Ohne seine Haltung oder seinen Gesichtsausdruck zu ändern, sagte der Fremde: »Andantino. Ich beaufsichtige die Produktion der GOLDIE.« Hasso lächelte. »Dann könnten Sie uns tatsächlich dienlich sein. Uns interessiert alles, was die Puppen betrifft.« Andantino ließ seinen Blick träge über die Hüftgürtel der beiden Terraner gleiten, an denen die HM 4 hing. »Waffen«, sagte er abfällig. »Es wird Zeit, daß eine neue Ära anbricht, in der Auseinandersetzungen durch Geisteskraft entschieden werden.« »Jeder handelt wie er kann«, meinte Atan. Andantino schenkte ihm ein freundliches Nicken.
»Es gefällt mir, daß Sie Ihre Grenzen kennen. Etienne hätte das auch zu schätzen gewußt. Leider flog er gerade ab, als Sie landeten.« Hasso und Atan wechselten einen Blick. Demnach hatte es sich bei dem Graumelierten um Etienne Chantelene gehandelt. Die beiden Männer von der ORION waren nicht unglücklich darüber, daß sie ihn verpaßt hatten. Schließlich wollte Cliff McLane die Begegnung mit ihm hinauszögern. »Wenn Sie der Kamarilla angehören, Andantino«, erklärte Hasso, »dann werden wir gerne mit Ihnen vorlieb nehmen.« »Ich gehöre der Kamarilla an!« bestätigte der blasse junge Mann nicht ganz ohne Stolz. »Dann sagt Spring-Brauner wohl Kollege zu ihm«, vermutete Atan bissig. Das trug ihm einen bösen Blick des ›Übermenschen‹ ein. Aber Andantino fand schnell zu seiner einstudierten Überheblichkeit zurück. Er sagte mit unterkühlter Freundlichkeit: »Ich bin gerne bereit, über das Programm der Kamarilla zur Bildung einer neuen Menschheit Auskunft zu geben.« »Nein, danke«, lehnte Hasso ab. »Wir sind mehr an den Puppen interessiert.« »Sie wollen also eine Exkursion durch die Fabrik«, vermutete Andantino. »Das stimmt nicht ganz«, berichtete Hasso. »Wir wissen, wie eine Fließbandproduktion vor sich geht. Unser Interesse gilt den Konstrukteuren der GOLDIE.« In dem blassen Gesicht des Kamarilla-Jünglings hob sich eine Augenbraue. »Das ist der Beweis, daß man niemand unterschät-
zen darf«, sagte er. Hasso und Atans Glaube, daß diese Worte Anerkennung ausdrücken sollten, wurde im nächsten Augenblick zunichte gemacht. »Der Homo sapiens unterscheidet sich doch in einigen Dingen vom Affen!« fügte Andantino hinzu. In Atans Gesicht begann es zu zucken. Hasso, der wußte, wie der kleine Astrogator jetzt am liebsten reagiert hätte, hielt ihn zurück. »Bringen Sie uns jetzt zu den Konstrukteuren der Puppe?«, wollte Hasso wissen. »Aber ohne weitere Kommentare, wenn ich bitten darf, junger Mann.« Andantino lächelte wieder sein bewährtes Lächeln, das Atan so in Rage brachte. »Ich könnte mir Ihre Vollmachten zeigen lassen«, meinte er lässig, »die Sie zum Betreten des Fabrikgeländes ermächtigen. Aber sprechen wir nicht mehr davon. Warum soll ich Schwierigkeiten machen. Die Kamarilla hat vor den Terranern nichts zu verbergen. Ich werde Sie zum Puppenmacher bringen.« »Es ist nur ein einziger Mann, der den Puppen die Hypersender und positronischen Gehirne einbaut?« staunte Hasso. »Ach, das meinen Sie.« Andantino war nicht minder erstaunt. »Mit den Gehirnen und den Sendern hat der Puppenmacher natürlich nichts zu tun. Das ist Angelegenheit des Professors und seines Teams.« »Dann führen Sie uns zu diesen Leuten«, verlangte Hasso. Andantino nickte stumm, schenkte Atan ein aufreizendes Lächeln und ging voran in den Fachwerkbau. »Ruhig Blut, Herr Astrogator«, beruhigte Hasso den andern, als sie dem Kamarilla-Mann folgten. »Der Junge meint es nicht bösartig. Übermenschen
sind gegenüber normalen Sterblichen wahrscheinlich so.« »Wenn ich nur einen Moment lang ernsthaft daran glauben könnte« knirschte Atan mit verhaltenem Zorn, »daß dieses lächerliche Stehaufmännchen der Nachfolger des Homo sapiens wird, dann würde ich ihm das vorlaute Maul stopfen.« »Das ist gerade die Stärke der Kamarilla«, sinnierte Hasso. »Keiner nimmt sie ernst, bis es dann vielleicht zu spät ist.« Atan sah den Ingenieur prüfend an. »Du glaubst also, daß die Kamarilla wirkungsvoll zuschlagen kann?« »Beweist dies nicht der bisherige Erfolg der Puppen?« fragte Hasso zurück. Atan schwieg nachdenklich. Als sie das breite Portal des Fachwerkhauses durchschritten, kamen sie in einen Korridor, der dadurch entstanden war, daß man die ehemalige Empfangshalle durch Kunststofftrennwände abgeteilt hatte. Die beiden Terraner lauschten vergebens auf Arbeitsgeräusche von Maschinen. In der Fabrik herrschte eine tiefe Stille, die nur durch das Hallen ihrer Schritte gestört wurde. »Werden keine Puppen mehr erzeugt?« erkundigte sich Hasso. Andantino drehte sich nicht um, als er antwortete: »Die Produktion wurde aufgelassen.« »Nanu?« machte Atan. Die Trennwände waren zu Ende. Der Korridor, in den sie nun kamen, hatte seit dem Bau des Hauses wahrscheinlich keine Änderungen
erfahren. Niedrige Türen auf der rechten Seite und kleine Fenster auf der linken, bildeten die einzigen Unterbrechungen in dem alten Gemäuer. Es gab überhaupt kein Mobiliar oder Ziergegenstände. »Was war früher in diesem Gebäude untergebracht?« fragte Hasso. »Die Akademie.« »Jetzt werden Puppen hier erzeugt – welche Verhöhnung«, knurrte Atan. Eines der Fenster war durchbrochen worden. Jetzt führte dort eine Tür in eines der vier angrenzenden Nebengebäude. Andantino drückte einen Knopf, die Tür schob sich zur Seite. Er ließ den beiden Terranern den Vortritt. Sie kamen in ein kleines Büro ohne Fenster, dessen einzige Einrichtung aus einem Schreibtisch und einem Stuhl bestand. Auf dem Tisch häuften sich Pläne und Schemata für elektronische und positronische Vorgänge. Andantino drückte einen Knopf oberhalb der Tischplatte, dann wandte er sich an seine beiden Begleiter. »Wir werden hier auf den Professor warten«, sagte er. »Ich würde es gestatten, daß wir ihn an seiner Arbeitsstätte besuchen, aber er sieht das nicht gern.« »Wenn wir aber darauf bestehen, die Werkstatt zu betreten?« Atan schoß diese Frage pfeilschnell ab. »Das müssen Sie mit dem Professor besprechen.« Andantino blickte durch den Astrogator hindurch, als er mit ihm sprach. Er war ein Superwesen, das es als unter seiner Würde fand, einem Menschen gegenüber die einfachsten Höflichkeitsformen anzuwenden. Atan fand keine Gelegenheit mehr, sich darüber zu ärgern.
Die Schiebetür zur Werkstatt glitt zur Seite, und ein Mann trat ins Büro. Es konnte sich nur um den »Professor« handeln, denn er war genau der Typ dafür. Sein schlohweißes Haar stand wirr von seinem Kopf, sein schmales knochiges Gesicht besaß unzählige Falten; auf der beachtlichen Hakennase steckte ein Kneifer, wie er schon seit Jahrtausenden nicht mehr erzeugt wurde. Es mußte sich um eine handwerkliche Spezialanfertigung handeln. Ein unartikuliertes Krächzen kam über die dünnen Lippen, während die wäßrigen Äuglein flink von einem zum andern der drei Besucher eilten. »Sie haben Besuch, Professor«, sagte Andantino. »Es handelt sich um zwei Beamte der terranischen Regierung, die die Vorgänge in der Kamarilla untersuchen sollen.« »Was?« kreischte der Professor. »Müssen wir uns das bieten lassen?« Andantino lächelte. »Wir haben nichts zu verbergen.« Der Professor lachte gackernd. »Ha, ha! Wonach sie auch suchen, sie werden es nicht finden. Ha, ha!« »Professor«, mischte sich Hasso ein. »Gehe ich fehl, wenn ich annehme, daß Sie es sind, der die Hypersender und die Gehirne in die Puppen einbaut?« »Nein, es stimmt!« stieß der Professor hervor und reckte den Kopf angriffslustig. »Ich habe mich mit den Puppen befaßt«, fuhr Hasso fort. »Einige der mechanischen Funktionen wurden mir bald klar. Aber andere Einzelheiten blieben für mich unverständlich.« Der Professor lachte wieder gackernd. Hasso ließ sich nicht aus der Fassung bringen.
»Der Hypersender mit Empfänger hat offensichtlich die Aufgabe, Ermittlungen der Puppe weiterzugeben und andererseits, Befehle zu empfangen. Das zeigt, daß die Puppe in ihren Handlungen von Funkimpulsen abhängig ist. Aber warum besitzt sie dann eine vollpositronische Speicher- und Verarbeitungsanlage – also ein Robotgehirn? Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, aber ich finde keine einleuchtende Erklärung. Hyperfunkanlage und Vollpositronik – das eine macht das andere bei einer sonst so unkomplizierten Puppe doch unnütz.« »Ha, ha!« Dem Gegacker folgte ein Blick hinüber zu Andantino. Atan ging das Geräusch durch Mark und Bein, und er fand es womöglich noch aufreizender als Andantinos Arroganz. »Können Sie mir diesen Widerspruch erklären?« fragte Hasso. »Natürlich kann ich das«, versicherte der Professor. »Wenn Sie sich mit GOLDIE befaßt haben, dann muß Ihnen aufgefallen sein, daß Hyperfunkgerät und Positronik mit den Augen gekoppelt sind. Oder?« Hasso nickte. »Ja, das stimmt.« »Na, sehen Sie.« Der Professor machte eine Geste, als habe er eben die letzten Geheimnisse des Universums preisgegeben und gezeigt, wie leicht man dieses Wissen erringen konnte. »Die synthetischen Augen besitzen eine beinahe unbegrenzt starke, hypnotische Ausstrahlung. Aber sie wurden so justiert, daß ihre hypnotische Kraft einen verhältnismäßig kleinen Prozentsatz der Menschheit anspricht. Ich glaube, es sollten fünfzig Prozent sein. Hätten wir die Kapazität der Augen verstärkt, hätten wir wohl einen größeren Prozentsatz
beeinflussen können, aber Menschen mit großer Suggestibilität wären vielleicht geistig geschädigt worden. Nun mußten wir es der Puppe überlassen, zu entscheiden, wie stark die hypnotische Ausstrahlung sein sollte. Stieß sie bei einem Medium auf geistigen Widerstand, konnte sie die Hypnose verstärken. Deshalb war das aufwendige Robotgehirn notwendig.« Hasso verstand. Da alle Positronengehirne die Robotgesetze eingepflanzt bekamen, wonach es Robotern unmöglich war, mittelbar oder unmittelbar Menschen zu Schaden kommen zu lassen, wählten die Puppen immer die richtige Stärke der hypnotischen Ausstrahlung. Aber das hieß gleichzeitig, daß sie jedem Menschen ihren Willen aufzwingen konnten! »Gemäß den Menschenrechten ist das Beraubung der geistigen Freiheit«, sagte Hasso anklagend. »Aber nein«, erwiderte der Professor kichernd. »Es wurde niemand gezwungen, sich den Suggestionen der Puppe hinzugeben. Die Menschen vertrauten sich GOLDIE freiwillig an. Und das ist ganz richtig. Jeder Psychologe wird Ihnen bestätigen, daß die Puppen erzieherischen Wert für den Homo sapiens haben. Und das wollten wir auch erreichen: Die Menschen sollen erzogen werden, damit sie eine gewisse geistige Vorbereitung haben, wenn die Ära der Übermenschen anbricht.« »Sie sind wahnsinnig«, stieß Atan impulsiv hervor. Der Professor schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich hatte er diesen Vorwurf schon oft hinnehmen müssen, deshalb reagierte er ganz ruhig. »Das hört sich nur so an«, meinte er, »weil Sie sich
mit der Philosophie des Übermenschen noch nicht eingehend beschäftigt haben. Glauben Sie einem alten Weisen: Es wird Zeit, daß die Entwicklung des Menschen durch einen Kunstgriff vorangetrieben wird.« Hasso hatte die letzten Worte nur unterbewußt vernommen. Er war mit seinen Gedanken bereits woanders. »Halten Sie sich zur Verfügung, Professor«, bat er. »Vielleicht brauchen wir später noch einmal Ihre Hilfe.« »Da werden Sie sich aber beeilen müssen«, meinte der Professor und rückte seinen Kneifer zurecht, »denn wir verlassen diesen Ort.« »Wohin gehen Sie?« »Das weiß Etienne allein. Ich habe selbst noch keine Ahnung. Aber fragen Sie ihn.« »Das werde ich tun«, versprach Hasso. Aber er wollte es nicht darauf ankommen lassen, den späteren Aufenthaltsort des Professors durch Etienne zu erfahren. Viel besser wäre es, den Professor gleich vom Fleck weg als wichtigen Zeugen in Gewahrsam zu nehmen. Hasso wollte sich diesbezüglich mit McLane in Verbindung setzen, aber Andantino war ihm dabei im Wege. Nachdem sie wieder auf dem Korridor waren, griff er deshalb zu einem der ältesten Tricks, die der Mensch kannte. »Sind auch Übermenschen gegen die Folgen des Stoffwechsels machtlos?« erkundigte er sich mit der nötigen Diskretion. »Die Toilette liegt hinter dieser Tür«, antwortete Andantino. Hasso verschwand und kam nach drei Minuten zurück. Er hatte McLane über den Armbandkommuni-
kator von der Wichtigkeit des Professors für weitere Untersuchungen überzeugt. Ebenso davon, daß er wahrscheinlich bereits über alle Berge wäre, bis sie sich Villas Bewilligung geholt hätten. McLane hatte zugestimmt, den Professor ohne Erlaubnis »von oben« mit zur Erde zu nehmen. Als Hasso auf den Korridor zurückkam, hakte er seine HM 4 aus dem Gürtel und sagte: »Seien Sie so nett, Andantino, und führen Sie meinen Kameraden Atan zum Puppenmacher. Ich möchte mich noch ein wenig mit dem Professor unterhalten.« Der bleichhäutige Kamarilla-Mann bedachte Hasso mit einem spöttischen Blick. »Wie Sie wünschen«, sagte er ohne besondere Betonung. »Aber ich will Ihnen nicht verheimlichen, daß der Professor nur eine unbedeutende Figur ist. Er kann Ihnen nicht viel weiterhelfen.« »Gehört er denn nicht der Kamarilla an?« wunderte sich Hasso. »Er selbst ist der Meinung dazuzugehören«, entgegnete Andantino. »Aber Narren gehören nicht zur Elite der Menschheit.« »Möglich, doch sagt man, daß Narren oftmals die Wahrheit sprechen.« Atan hatte seine HM 4 ebenfalls aus der Halterung gelöst. »Was ist mit dem Puppenmacher?« erkundigte er sich bei Hasso; dabei ließ er den Kamarilla-Mann nicht aus den Augen. »Er soll unser Gast auf der ORION sein«, feixte Hasso. »Wir sehen uns dann auf der LANCET, Atan.« Der Astrogator nickte und wandte sich Andantino zu.
»Los, gehen Sie voran, Herr Supermann«, befahl er mit lässig erhobener Waffe. Langsam setzte sich Andantino in Bewegung. Atan, der ständig hinter ihm blieb, sah, wie sich sein Genick gerötet hatte. »Warum ärgern Sie sich?« erkundigte er sich höhnisch. »Das wird der Besatzung Ihres Schiffes den Kopf kosten«, zischte Andantino. »Ein Funkspruch zur Erde genügt.« »Wohl frei nach dem Motto: der Papa wird's schon richten. Aber diesmal leider nicht, mein Junge. Und wenn Ihr Vater Sir Arthur heißen würde – das hier geschieht auf Befehl des GSD.« Schön wäre es, wenn's stimmen würde, dachte Atan. Er wollte gar nicht daran denken, wie Marschall Wamsler auf diese Eigenmächtigkeit der ORION-Crew reagieren würde ... Atan dachte bald nicht mehr an diese unerfreulichen Zukunftsaussichten. Ein Zwischenfall brachte ihn auf ganz andere Gedanken. Als er zusammen mit Andantino in die Werkstatt des Puppenmachers kam, lag dort ein Mann bäuchlings auf dem Boden. Er war tot. Das erkannte Atan nach einer oberflächlichen Untersuchung. »Ist er das?« fragte er Andantino. »Ja«, würgte der Übermensch hervor. Sein Gesicht schien um eine Spur blasser geworden zu sein, falls das überhaupt möglich war. Atan starrte auf den Toten. Welche Situation hatte er angetroffen, als er die Werkstatt betreten hatte? Ihm kam vor, als hätte sich inzwischen irgend etwas verändert.
Er blickte sich um. Plötzlich wußte er, was ihm beim Betreten aufgefallen war. Aber – das konnte es einfach nicht geben. Er mußte einem Irrtum zum Opfer gefallen sein. Er mußte sich eingebildet haben, daß bei seinem Eintritt eine Puppe an der gegenüberliegenden Tür gestanden hatte. Jetzt befand sich keine Puppe im Raum. Atan ging zu der gegenüberliegenden Tür. Dahinter lag ein Lagerraum. Er war leer. Bis auf eine einzige Puppe, die mit schlenkernden Beinen auf dem mittleren Fach eines Regals saß. Sie starrte Atan aus ihren synthetischen Augen an.
6 Die Berruguete-Siedlung lag zwischen einem großen See und einer Schlucht in einem vom Urwald gerodeten Tal. Eine breite Straße verband diese drei markanten Punkte miteinander. In der Schlucht hatten sich die Bildhauer niedergelassen; dort befand sich ein Marmorsteinbruch, und sie saßen sozusagen direkt an der Quelle der Rohmaterialien. Eine hohe Staubwand zeigte an, wo die Sprengung stattgefunden hatte. Als Cliff McLane und Mario de Monti mit der LANCET inmitten des Freiluftmuseums landeten, wurden sie mit einem ohrenbetäubenden Salut aus dem Steinbruch empfangen. Sie verließen das Beiboot und sahen sich in der näheren Umgebung um. Von den Bildhauern wurden sie kaum beachtet; die reagierten überhaupt nur, wenn sie von den Terranern direkt angesprochen wurden. Aber auch dann nicht gerade freundlich. Es schien sich schnell herumgesprochen zu haben, daß die Besucher von der Erde nicht an der Kunst interessiert waren. Nach einigen kurzen Gesprächen teilte McLane die Künstler in zwei Gruppen ein. »Die einen«, sagte er zu de Monti, »hassen uns, weil sie als Anhänger der Kamarilla in uns feindliche Elemente sehen. Die anderen verhalten sich uns gegenüber deshalb ablehnend, weil sie befürchten, unser Eingreifen könne den Fortbestand der Künstlerkolonie gefährden. Von keiner Seite können wir Hilfe erwarten.«
Sie erreichten eine Anhöhe, von wo sie einen guten Überblick über den Marmorsteinbruch hatten. Mario stieß Cliff an und deutete nach unten. »Sieh einmal an«, sagte er. »Wohin das Auge reicht, nirgends siehst du auch nur einen einzigen Roboter. Dabei wären solche vom Typ Worker geradezu ideal, um die schweren Marmorblöcke zu befördern. Aber nein, hier schuften nur Menschen.« »Worauf willst du hinaus?« erkundigte sich Cliff. »Ich kann mir ganz einfach nicht vorstellen«, erklärte Mario, »daß sich diese Menschen freiwillig für eine solche Schwerarbeit gemeldet haben.« »Ihnen stehen Lastenkräne, Bagger und Förderbänder zur Verfügung«, wandte Cliff ein. »Die körperliche Arbeit ist also geringer als du meinst.« »Trotzdem ist es Sache von Robotern, in einem Steinbruch zu arbeiten«, beharrte Mario auf seinem Standpunkt. Sie kehrten zur LANCET zurück und flogen zur Berruguete-Siedlung. Es war eine jener künstlichen Wohnanlagen, wie man sie in den Gründungsjahren jeder Sternenkolonie finden konnte. Die Bungalows waren aus vorgefertigten Teilen gebaut und wiesen keine besonderen Stilelemente auf. Cliff landete die LANCET auf dem Rasen eines öffentlichen Parks – zehn Meter von einem Schild entfernt, auf dem stand BETRETEN DES RASENS verboten. Aber herumliegender Abfall und einige aufgestellte Zelte zeugten davon, daß Cliff nicht der einzige war, der sich nicht an das Verbotsschild hielt. »Ich glaube, hier werden wir ebenfalls auf wenig Gegenliebe stoßen«, vermutete Mario. »Nehmen wir
die Strahler mit?« Er meinte damit die HM 4. »Vielleicht wäre es besser, wenn wir diesen Leutchen keinen Anlaß zu Provokationen geben«, meinte Cliff. »Wir nehmen keine Waffen mit.« »Hoffentlich bewerfen sie uns nicht mit faulen Eiern!« »Dann wären einige Ohrfeigen immer noch wirksamer als die HM 4«, konterte Cliff. Als sie die LANCET verließen, hatte sich ein dichter Kordon aus verwahrlosten Gestalten beiderlei Geschlechts um sie gebildet. »Guten Tag«, begrüßte Mario die nächsten Umstehenden. Keiner erwiderte den Gruß. Die Gesichter blieben ausdruckslos. »Keinen Begriff von Höflichkeit, die heutige Jugend«, seufzte Mario. Allerdings traf der Ausdruck ›Jugend‹ nicht auf alle Umstehenden zu. Manche waren zwar um die zwanzig, aber viele älter als dreißig. Alles in allem waren es recht unterschiedliche Typen, fand Cliff, doch die Schweigsamkeit und den lethargischen, desinteressierten Gesichtsausdruck hatten sie alle gemeinsam. Cliff gewahrte ein Mädchen, das sich mit einem Arm in einen vollbärtigen Burschen eingehakt hatte – in der anderen Hand hielt sie eine GOLDIE-Puppe. Er ging geradewegs auf sie zu. Sie preßte die Puppe fester an sich, als befürchte sie, er wolle sie ihr wegnehmen. Sie wich zurück; die anderen taten es ihr gleich, und eine Gasse bildete sich in der Menschenmenge, durch die Cliff und Mario unbehindert gehen konnten.
Als sie die Ansammlung von verwilderten Gestalten hinter sich gelassen hatten, meinte Cliff: »Hast du die Puppe bei dem Mädchen gesehen? Jetzt wissen wir wenigstens, warum sich diese Menschen so eigenartig verhalten.« »Aber ich dachte«, warf Mario ein, »daß die hypnotische Ausstrahlung der Puppe nur auf einen gewissen Prozentsatz wirkt. Und man sollte meinen, auf Kriotes befinden sich nur Menschen überdurchschnittlicher Intelligenz.« »Diese hier nicht«, verneinte Cliff. »Ich nehme eher an, daß es sich um Vagabunden handelt, die auf die verschiedensten Arten nach hier verschlagen wurden. Man trifft sie überall an, und für Etienne Chantelene sind sie willkommene Werkzeuge.« Sie ließen den ungepflegten Park hinter sich und gingen durch fast menschenleere Straßen an den Bungalows vorbei. »Was versprichst du dir von dem Besuch der Siedlung?« erkundigte sich Mario nach einer Weile. »Nichts«, gab Cliff zu. Er hatte kein Ziel vor Augen, nur die Hoffnung, daß er durch Zufall auf irgend etwas stieß, das für ihr Unternehmen von Wichtigkeit war. Was sie bisher entdeckt hatten, war wenig aufschlußreich. Cliff fand nur seine Vermutung bestätigt, daß die Kamarilla den ganzen Planeten in der Gewalt hatte. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht offensichtlich wurde. »Ich glaube, wir können zur LANCET zurückgehen«, sagte Cliff einige Minuten später. In diesem Augenblick geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Cliffs Armbandkommunikator schlug an, und um
die Ecke einer Seitenstraße bog ein sportlicher Turbinenwagen, in dem außer dem Lenker noch zwei Männer im Fond saßen. Der Wagen bremste in zehn Meter Entfernung, die beiden Männer stiegen mit langsamen Bewegungen aus. »Die scheinen es auf uns abgesehen zu haben«, meinte Mario mit gefährlicher Ruhe. »Abwarten!« schlug Cliff vor, drückte den Stift des Armbandsprechgerätes in die Versenkung und meldete sich. Es war Hasso, der gerade die Unterredung mit dem »Professor« hinter sich hatte. Cliff hörte sich seinen Bericht an. Als Hasso vorschlug, den Professor und den Puppenmacher zu einem Verhör mit nach Terra zu nehmen, zögerte Cliff. Er wollte diese Entscheidung nicht allein treffen. Hasso war zwar dafür, aber mit seiner eigenen Stimme ergab das noch keine Mehrheit. Cliff wollte in strittigen Fragen immer die gesamte Crew abstimmen lassen. Schließlich hatte jeder einzelne von ihnen die eventuellen Folgen zu tragen. »Mario«, erkundigte sich Cliff, »was hältst du davon, wenn wir wieder einmal unsere Kompetenzen überschreiten?« Der Chefkybernetiker grinste. »Wir waren in letzter Zeit so brav, daß wir ruhig wieder einmal einen Wutausbruch Wamslers riskieren können.« »Marios und meinen Segen hast du, Hasso.« Cliff hielt das Armbandgerät dicht an seinen Mund, damit er leise sprechen konnte. Er wollte nicht, daß die beiden Männer, die nur noch vier Schritte von ihm entfernt waren, auch nur ein Wort verstanden.
»Geht kein Risiko ein«, mahnte Cliff noch, bevor die Verbindung abbrach. Mario stand breitbeinig da, die Arme locker an der Seite herunterhängend – so erwartete er die beiden Männer. Der eine von ihnen war klein und schmächtig und hatte eine Glatze. Der andere war groß, sehnig und hatte einen katzenhaften Gang. Beide trugen sie Straßenkleidung. Cliff hätte vom ersten Augenblick an wetten können, daß sie der Kamarilla angehörten. »Etienne schickt uns«, sagte der Kleinere. »Wir sollen euch im Wagen zu ihm bringen«, fügte der andere hinzu. Er sagte es mit einer Betonung, die keinen Zweifel darüber offen ließ, daß er sich hier einer recht unliebsamen Aufgabe zu entledigen hatte. »Wollen wir überhaupt?« erkundigte sich Mario bei Cliff. »Ja, doch«, meinte der Kommandant der ORION. »Ich glaube, jetzt ist die Zeit reif für eine Aussprache mit dem übermenschlichsten aller Übermenschen.« Er wandte sich an die beiden Kamarilla-Männer. »Aber wir werden mit unserem Beiboot zu dem Treffpunkt fliegen. Wenn Sie beide mitkommen, so können Sie uns den Weg zeigen. Das erspart uns Zeit. Der Idealfall wäre natürlich, wenn uns Ihr Schofför zur LANCET fährt.« Die beiden Männer nickten wortlos. Ihre Mundwinkel hatten sich zu einem leichten Lächeln verzogen – allerdings wirkte es weniger herzlich als höhnisch. »Es wundert mich immer weniger, daß SpringBrauner Aufnahme in die Kamarilla gefunden hat«, raunte Mario. »Alles Typen wie er!«
Mario de Monti irrte nicht. Mit einer Ausnahme. Diese Ausnahme war Etienne Chantelene. * Der Raum war groß – zu groß vielleicht für die wenigen Möbelstücke, die darin standen – und hoch. Eine schwere Kristalleuchte hing von der Decke, und die drei Dutzend elektrischer Kerzen ließen es kaum zu, daß sich irgendwo Schatten bildeten. Eine der beiden Fenstertüren stand offen, gab den Blick frei auf die Terrasse und den gepflegten Park. Das hereinfallende Tageslicht bildete, zusammen mit dem unaufdringlichen Kunstlicht, eine Mischung, die dazu angetan war, eine gemütliche Stimmung hervorzurufen. Doch dazu würde es nicht kommen. In der Atmosphäre lag ein spannungsgeladenes Knistern, hervorgerufen durch die Gegensätzlichkeit der vier Menschen, die bei Tisch saßen. Selbst die gesellige Konversation konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich hier Feinde gegenübersaßen. Und sie waren Feinde, das hatte der erste Blickaustausch schon bewiesen. Oberst Cliff Allistair McLane, Kommandant des Schnellen Kreuzers ORION VIII, und Mario de Monti, sein Erster Offizier und Chefkybernetiker. Sie standen auf der einen Seite. Etienne Chantelene, der sich selbst zum Führer der Übermenschen ausgerufen hatte, und Äphka, seine Geliebte und fanatischste Anhängerin. Sie standen auf der anderen Seite. Das Mahl war beendet, die livrierten Diener, die
serviert hatten, räumten die Gedecke ab. Drinks wurden gereicht; Zigaretten angeboten. Dann begann das gegenseitige Abtasten. Beide Parteien konnten nicht umhin, der Gegenseite einen gewissen Respekt zu zollen. Cliff mußte erkennen, daß Etienne Chantelene haushoch über den anderen Mitgliedern der Kamarilla stand, die er bis jetzt kennengelernt hatte. Chantelene war nicht nur intelligent und gebildet, er verstand es auch, seine Fähigkeiten in jeder Lage anzuwenden. Aber auch der Gründer der Kamarilla mußte seine Einstellung zu den Terranern revidieren. Nicht alle waren dekadent, phantasielos und engstirnig. Wenn Cliff in Chantelenes Augen auch tief unter dem geistigen Niveau eines Übermenschen stand, so war er ein Mann der Tat. Und deshalb gefährlich. Noch etwas mußte sich Chantelene immer vor Augen halten, das prägte er sich fortwährend ein: Er durfte diesen Mann nicht unterschätzen! Egal wie wenig er vielleicht in das Weltbild des Übermenschen paßte, auf seine Art war er ein befähigter Kopf. Seine Erfolge in der Raumflotte konnten nicht von ungefähr gekommen sein. Cliff sah durch die offene Fenstertür die Gärtner im Park, wie sie den Rasen und die Büsche pflegten, blickte zu dem Diener hinüber, der sich diskret zur Anrichte zurückgezogen hatte, und dachte an die Männer im Steinbruch. »Mir drängt sich ein Vergleich auf«, sagte er dann. Er fühlte sich zufrieden und entspannt. Irgendwie hatte er sich die Begegnung mit Chantelene unangenehmer vorgestellt. Der Whisky schmeckte. Er war echt. Mario, der mit Äphka flirtete, leistete gute Ver-
wirrungsarbeit und zerrte ein wenig an Chantelenes Nerven. Hasso hatte sich vor wenigen Minuten von Bord der ORION gemeldet: Der Professor befand sich in sicherem Gewahrsam, der Puppenmacher war leider tot. Aber trotz dieses bedauerlichen Vorfalles wurde seine, Cliffs, Position immer besser. »Welcher Vergleich?« erkundigte sich Chantelene. »Ich hatte vor einiger Zeit«, erzählte Cliff, »auf dem Planeten Sahagoon mit einer Bewegung zu tun, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, die Menschheit vom Joch der Technik zu befreien. Dieser antitechnische Kurs hätte uns früher oder später in die Steinzeit geführt. Die Parallele zu Kriotes ist nicht zu übersehen. Ich habe in der Künstlerkolonie noch keinen einzigen Roboter erblickt. Jede Arbeit, selbst die im Steinbruch, wird von Menschen ausgeführt. Wollen Sie sich ebenfalls von der Technik abwenden, Chantelene? Etwa mit der Begründung, daß Naturverbundenheit den Geist beflügelt?« Etienne Chantelene warf Äphka einen amüsierten Blick zu, den sie erwiderte. Dann wandte er sich an Cliff. »Nein«, erwiderte er. »Ich bin der Ansicht, daß der Mensch die Maschinen braucht. Er ist zwar ihr Knecht, aber wenn man die Abhängigkeit von den Automaten nicht übertreibt, dann nehmen sie einem eine große Last von den Schultern. Man kann seine Zeit für geistige Tätigkeit nützen. Leider wird davon zuwenig Gebrauch gemacht. Das soll sich in Zukunft ändern.« »Ein löblicher Punkt in Ihrem Plan«, gab Cliff zu. »Leider gibt es andere Punkte, die Ihnen weniger behagen werden.«
»Welche, zum Beispiel?« Etienne Chantelene lächelte listig. »Sie glauben, ich scheue mich, mit offenen Karten zu spielen?« Cliff lächelte ebenfalls. »Ich würde es begrüßen, wenn Sie diesbezüglich keine Scheu besäßen.« »Habe ich auch nicht.« Chantelene machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich besitze nur genügend Menschenverstand. Und dieser rät mir zur Vorsicht. Dennoch – außer meinem Trumpf – decke ich die Karten vor Ihnen auf. Was halten Sie davon, das gesprochene Wort abzuschaffen?« »Das ist ein Ding!« ließ sich Mario hören. »Dagegen ist unter Umständen nichts einzuwenden«, meinte Cliff, »wenn Sie einen Ersatz für die althergebrachte Verständigungsmöglichkeit finden. Vielleicht Telepathie?« Chantelene schüttelte den Kopf. »Die latenten Kräfte im Menschen, von denen man so gerne spricht, sind nicht so schnell zu wecken. Das ist Zukunftsmusik. Aber es gibt eine Übergangsmöglichkeit. Denken Sie daran, wie oft im Laufe eines Tages überflüssige Worte fallen. Dann stellen Sie dem gegenüber eine Situation mit einem Menschen, den Sie gut kennen. Wie oft genügen da Blicke ... das Verständnis stellt sich auch ohne Worte ein.« Cliff dachte an spezielle Situationen mit Tamara. Freilich, da waren keine Worte nötig. Aber wie oft bedurfte es andererseits einer Aussprache? »Ein beiderseitiges Verständnis ohne Worte ist äußerst selten«, faßte Cliff seine Überlegungen zusammen. »Die Sprache ist die Essenz des Lebens. Und sie unterscheidet den Menschen vom Tier.« »Das Tier verständigt sich durch unartikulierte
Laute mit seinen Artgenossen. Sie selbst sagen, daß sich der Mensch nur durch Artikulieren der Laute vom Tier unterscheidet. Der Übermensch wird sich vom Menschen durch lautlose Verständigung unterscheiden.« »Wie wollen Sie das bei all den Milliarden erreichen?« »Es wird wahrscheinlich erst in einigen Jahrtausenden Milliarden von Übermenschen geben. Ich spreche von kaum dreißig Personen. Ich meine die Kamarilla. Mehr Personen existieren noch nicht, die das Zeug für Übermenschen in sich haben.« Cliff blickte schnell zu Äphka hinüber. Für den Bruchteil einer Sekunde fiel die starre Maske der Überheblichkeit von ihrem Gesicht, und Skepsis zeigte sich statt dessen. Sie war demnach auch der Meinung, daß Chantelene in dieser Beziehung ein unverbesserlicher Träumer war. Aber was war mit seinen anderen Ideen? Sie waren bestimmt nicht nur leere Wunschträume. Chantelene hatte offen zugegeben, daß er, käme er an die Macht, eine kleine Günstlingsgruppe über das Milliardenheer der Menschheit herrschen ließe. Dreißig Menschen würden dann alle nur erdenklichen Vorzüge genießen, konnten sich psychisch und physisch entfalten, während die anderen alle Robotarbeit zu verrichten hätten. »Diese herrschende Minderheit behagt mir tatsächlich nicht«, bekannte Cliff. »Dabei handelt es sich nur um ein Übergangsstadium«, bagatellisierte Chantelene. »Ich muß noch einen besseren Modus ausarbeiten, der auch Humanisten zufriedenstellt.«
»Warum machen Sie mir gegenüber solche Konzessionen?« fragte Cliff unumwunden. Chantelene gab sich beleidigt. »Das ist etwas, was nicht einer besonderen Erklärung bedürfen sollte.« »Ist doch klar«, rief Mario. »Er will dich auf seine Seite locken!« Chantelene warf ihm einen verächtlichen Blick zu. Spöttisch sagte er: »Um Ihre Mitarbeit bewerbe ich mich ganz bestimmt nicht. Sie gehören bestenfalls zum Pöbel.« In Cliff stieg über diese Bemerkung Wut hoch; er konnte sich gut vorstellen, wie seinem temperamentvollen Chefkybernetiker zumute war. Deshalb sagte er schnell: »Vielleicht möchtest du dir von Miß Äphka den Park zeigen lassen, Mario?« Die beiden Terraner wechselten einen schnellen Blick. Chantelene hätte seine helle Freude gehabt, hätte er gewußt, wie gut sich die beiden durch Blicke verständigten! Mario erhob sich und machte eine galante Verbeugung vor Chantelenes Gefährtin. »Es wäre mir ein großes Vergnügen«, versicherte er. »Darf ich Sie darum bitten, Miß Äphka, daß Sie mir den Park zeigen?« »Gerne«, sagte sie etwas unsicher. Chantelene versuchte, sich keine Regung anmerken zu lassen. Aber Cliff erkannte trotzdem, daß es ihm nicht besonders angenehm war, Mario und Äphka allein zu lassen. Er reagierte sich durch besonderen Zynismus ab. »Ja, gehen Sie und füttern Sie die Paradiesvögel. Das dürfte Ihren Fähigkeiten entsprechen«, sagte er. Mario hatte den kritischen Punkt bereits über-
schritten, er ließ sich nicht mehr reizen. Mit einem maliziösen Lächeln erwiderte er: »Ich kann auch noch etwas anderes, als Paradiesvögel füttern. Gehen wir, Äphka?« Cliff war mit Mario und der allgemeinen Entwicklung zufrieden. Er leerte sein Glas und ließ sich Whisky nachschenken, dann lehnte er sich zufrieden im Sessel zurück. Chantelene hatte inzwischen zu seiner Selbstsicherheit zurückgefunden. »Jetzt können wir uns endlich Dingen gehobeneren Niveaus zuwenden«, seufzte er. »Ja, sprechen wir über Mord.« Chantelenes Augen verdüsterten sich. »Mord?« wiederholte er. Ein demonstratives Schütteln überlief seinen Körper. »Ich verabscheue Gewalt und weiche ihr aus, wo es andere Möglichkeiten gibt.« »Vielleicht fand sich diesmal keine andere Möglichkeit?« meinte Cliff. Schnell fügte er hinzu: »Ich spreche vom Puppenmacher.« »Er könnte auch eines natürlichen Todes gestorben sein«, gab Chantelene zu bedenken. Cliff zuckte die Achseln. »Das wird eine Obduktion zeigen. Aber grundsätzlich, Chantelene, würden Sie Menschen auch töten?« »Ich habe schon gesagt, daß ich nach Möglichkeit von Gewaltanwendung Abstand nehme«, wich der Führer der Übermenschen aus. »Dann lassen wir das Thema.« Cliff trank seinen Whisky, um Zeit zum Überlegen zu haben. »Wie stellen Sie sich den weiteren Verlauf der Geschehnisse eigentlich vor?« erkundigte er sich dann.
»Sie wollen, daß der von Ihnen proklamierte Übermensch die Herrschaft über den Homo sapiens antritt. Wie wollen Sie das erreichen? Glauben Sie, die Regierung tritt freiwillig und zugunsten von dreißig politisch unerfahrenen Personen zurück?« »Jawohl«, erklärte Chantelene zu Cliffs Überraschung. »Die Puppen leisten gute Vorarbeit, sie weisen dem Homo sapiens den richtigen Platz im Universum zu. Alle Schichten der menschlichen Gesellschaft werden erfaßt. Es wird tatsächlich kaum zu Gewalttaten kommen, es wird die unblutigste Machtübergabe der menschlichen Geschichte sein.« »Wie können Sie so zuversichtlich sein?« Cliff schüttelte verständnislos den Kopf. »Sehen Sie, McLane«, erklärte Chantelene, »die terranische Regierung ist auf meiner Seite. Erstens verletze ich kaum ein Gesetz – es fehlt also die nötige Handhabe, um gegen mich vorzugehen. Das spricht doch auch für meine Idee? Ich handle legal! Außerdem sähen viele Politiker einen Wechsel in der Führungsschicht gerne, weil sie sich dadurch bessere Positionen erhoffen. Nach dem Putsch wird es für diese Leute allerdings ein böses Erwachen geben.« »Sie sind sehr offen.« Chantelene lächelte. »Das kann ich mir leisten, weil es Ihnen nicht möglich ist, mir aus meiner Offenheit einen Strick zu drehen. Denn ich achte alle Gesetze, wenn ich sie auch zu meinen Gunsten auslege. Und Sie können nicht zu den Politikern gehen und ihnen von meinem Verrat erzählen. Niemand würde Ihnen auch nur ein Wort glauben. Die Söhne rebellieren nicht gegen die Väter! Das würden sie sagen.« »Ich sehe es ein«, stimmte Cliff zu.
Das Teuflische war, daß Chantelene in allen Punkten recht hatte. Ihm waren keine Gesetzesverletzungen zu beweisen. Das hatte auch schon Villa einsehen müssen, deshalb hatte er von Cliff McLane verlangt, einen sanften Kurs einzuschlagen. »Damit können wir die Spekulationen über die Zukunft abschließen«, meinte Chantelene und erhob sich. »Wenden wir uns erfreulicheren Dingen zu.« »Was verstehen Sie darunter?« Cliff kippte die Neige aus seinem Glas hinunter. »Ich werde Sie testen«, sagte Chantelene, »damit ich sehe, ob Sie rein theoretisch überhaupt würdig wären, in die Kamarilla aufgenommen zu werden. Einverstanden?« Der Kommandant der ORION nickte. Unwillkürlich spannte sich sein Körper an. Er fühlte, daß der Test zumindest eine Zwischenentscheidung herbeiführen würde. Pieter-Paul Ibsen war dabei kläglich durchgefallen. Michael Spring-Brauner hatte ihn bestanden. Und er, Cliff ...?
7 »Hallo«, begrüßte Cliff den Jungen. Der Kommandant der ORION stand am Eingang des Auditoriums und blickte die stufenartig abfallenden Sitzreihen hinunter. Ganz unten saß der Junge. Er mochte acht Jahre alt sein. Seine Stimme klang hohl in dem leeren Saal, als er Cliffs Gruß zögernd erwiderte. »Hallo.« Cliff begann die Treppe hinunterzusteigen. »Was machst du hier?« erkundigte er sich. »Nichts. Ich warte.« »Etwa auf mich?« Der Junge betrachtete den großen Terraner, dann schüttelte er entschlossen den Kopf. »Sie sind kein Roboter.« »Aha«, machte Cliff, »dann hast du einen Roboter erwartet. Bist du jetzt enttäuscht?« Der Junge schüttelte den Kopf. »Er wird schon noch kommen.« »Wie heißt du?« »Cliff.« »Das ist aber ein Zufall. Ich heiße auch Cliff. Cliff McLane.« »Kein Zufall«, sagte der Junge und lächelte schelmisch. »Ich nenne mich nur bei Ihnen Cliff. In Wirklichkeit heiße ich Amadeus.« »Dann werde ich dich auch so nennen.« Cliff setzte sich auf eine Bank und lehnte sich auf das dazugehörige Pult. Amadeus blickte zu ihm auf, wandte dann langsam den Kopf und ließ seine Augen über das leere Auditorium schweifen; über die Bänke
und Pulte, das Katheder, die elektronische Schreibtafel, die die Hälfte der breiten Stirnwand einnahm, bis zur Tür, die bei Vorlesungen von den Lehrkörpern benutzt wurde. Er hatte den richtigen Zeitpunkt erwischt, denn diese Tür öffnete sich gerade. Ein Diener-Robot glitt auf seinem Schwerkraftfeld vollkommen lautlos in den Hörsaal. Er schwebte bis zum Katheder, dann schaltete sich sein Antrieb aus, und er verharrte in einer abwartenden Ruhestellung. »So«, sagte der Junge. Es hörte sich an, als hätten sich die Dinge zu seiner vollsten Zufriedenheit erledigt. Eine weitere Reaktion zeigte er nicht. Er wartete ab, und im übrigen wirkte er befangen. Er schien genau zu wissen, was er zu tun hatte, aber wahrscheinlich wartete er auf ein auslösendes Moment, um in Aktion zu treten. Cliff hatte überhaupt keine Ahnung, was zu tun war. Erwartete man von ihm eine Gegenüberstellung Mensch – Robot? »Er schwebt vollkommen regungslos auf seinem Platz«, stellte Cliff fest. »Ja«, sagte Amadeus. »Hat er einen Namen?« »Roboter haben keine Namen.« »Mitunter schon«, berichtigte Cliff. »Manchmal erhalten sie von Menschen Kosenamen.« »Der da nicht.« Cliff überlegte eine Weile, dann fragte er: »Kennst du noch andere Unterschiede zwischen dir und dem Roboter?« Der Junge sah den Oberst überrascht an.
»Diese Frage habe ich nicht erwartet«, gestand er. Cliff grinste. »Dann bin ich vielleicht auf dem richtigen Weg.« Das Ganze war nichts anderes als eine uralte Methode der Psychologie, eine Versuchsperson zu testen. Es bestand nur eine geringe Abweichung von der bekannten Assoziationskette: Sterne – Weltraum – Raumschiff – Kommandant – Tamara – GSD – Oberst Henryk Villa ... Cliff verscheuchte die Gedanken an den allgewaltigen Chef des Galaktischen Sicherheitsdienstes. Es war bezeichnend für sein schlechtes Gewissen, daß er von Tamara einen Gedankensprung zu Villa gemacht hatte. »Was fällt dir ein, wenn du den Roboter mit dir vergleichst?« formulierte Cliff seine Frage nochmals. Der Junge strengte sich sichtbar an. Er preßte den Mund fest zusammen und runzelte die Stirn. »Er ist stärker ...«, begann er zögernd. »... er ist aus Metall und Kunststoff und ist blöde.« »Nur mit Einschränkung«, meinte Cliff lächelnd. »Was glaubst du, welche Eigenschaften er noch hat? Ist er gut oder böse?« »J-ja. Er ist eine Maschine!« »Diplomatisch geantwortet. Aber daraus geht leider nicht hervor, ob er deiner Meinung nach gut oder böse ist.« »Er kann keines sein – weder gut, noch böse.« »Warum nicht?« »Mein Theologielehrer hat gesagt, daß nur Wesen, die von Gott erschaffen wurden, gut oder böse sein können. Gott zieht auch nur sie zur Rechenschaft. Roboter kommen nicht in den Himmel ...«
»Ja, man kann es sich nicht vorstellen. Ein Roboter hat weder im Fegefeuer noch im Himmel oder in der Hölle etwas zu suchen. Er hat ja keine Seele ...« Der Junge nickte bestätigend. »Sind Sie fromm, Mister?« erkundigte er sich gleich darauf. Die Frage brachte Cliff in Verlegenheit. »Ich glaube schon«, sagte er schließlich. »Zumindest bin ich mir meiner Seele bewußt ...« Er sprach nicht weiter. Es wäre zu weit gegangen, dem Jungen die komplizierte Einstellung eines Erwachsenen zum Schöpfer erklären zu wollen. Test hin Test her – er durfte mit seiner Anschauung nicht die Phantasie des Jungen beeinträchtigen. Plötzlich schrillte eine Sirene. * »Ich heiße Alighieri«, stellte sich die junge Frau im weißen Ärztekittel vor. Sie war nicht ausgesprochen hübsch, aber irgendwie faszinierend. Ihre klugen Augen, ihre Selbstsicherheit, die schon an Überheblichkeit grenzte, ließen vermuten, daß sie zur Kamarilla gehörte. »Manchmal«, fuhr sie im Plauderton fort, »werde ich von den Leuten ›Tante‹ genannt – sie kommen sich dabei besonders witzig und klug vor. Sie können mir folgen?« Cliff hatte die »Göttliche Komödie« in einer neueren Übersetzung gelesen. Obgleich ihm tieferes Verständnis des Werkes versagt geblieben war, konnte er die Frage mit ruhigem Gewissen bejahen.
»Nehmen Sie doch bitte Platz.« Er setzte sich. Ein Arbeitstisch stand zwischen ihm und der jungen Frau, die sinnigerweise Alighieri hieß. Er sah, daß sie mit einem Griffel ein kursiv gedrucktes Wort auf einer eng beschriebenen Folie unterstrich. Er konnte es leider nicht lesen. Sachlichkeit: »Mögen Sie Menschen, die gerne fabulieren, banale oder schöne Dinge in ausschweifenden Worten behandeln – mit einem Wort: Menschen, die aus einer Mücke einen Elefanten machen?« Sie las die Frage ab und blickte ihn dann an. Cliff zögerte. »Ihre Antwort sollte spontan erfolgen.« »Im allgemeinen liegen mir solche Leute nicht besonders«, antwortete Cliff. »Aber es gibt gewisse Sonderfälle ...« »Ja – oder nein?« »Nein.« »Dann erzählen Sie mir von der Unterredung mit Etienne Chantelene.« Jetzt war es für Cliff klar, worauf die Frau namens Alighieri hinaus wollte. Sie wollte prüfen, ob er sachlich bleiben konnte. Er bemühte sich deshalb aber nicht, eine betont präzise Wiedergabe des Gesprächs mit Chantelene zu versuchen. Das heißt, er verstellte sich nicht. Als er geendet hatte, unterstrich die Frau neuerlich eine kursiv gedruckte Zeile. Während sie das tat, fragte sie: »Haben Sie irgendwann einmal während dieser brisanten Unterredung eine überdurchschnittliche Er-
regung verspürt, im positiven wie im negativen Sinn?« »Darüber kann ich leider keine präzise Auskunft mehr geben«, bedauerte Cliff. Emotionale Stabilität: Sie stellte ihm in diesem Sinne noch über ein Dutzend weitere Fragen. Dann kam sie auf andere Themen zu sprechen. Er gab ihr bereitwillig – und meistens ehrlich – Antwort, selbst als sie auf die Beziehung zum anderen Geschlecht zu sprechen kam. Cliff konnte sich nicht ganz vorstellen, was alle diese verrückten Fragen mit seiner Intelligenz zu tun haben sollten. Er rief sich alles in Erinnerung, was er über die Methoden wußte, den Intelligenzquotienten zu ermitteln, aber er kam auf keinen Nenner damit. Zwischendurch sagte die Frau einmal: »Alles was Sie sagen, wird noch gesondert untersucht werden.« Und nach jeder Fragengruppe hakte sie Bemerkungen auf ihren Unterlagen ab. Aktivität. Männlichkeit gegenüber Weiblichkeit. Bereitschaft zur sozialen Zusammenarbeit. Selbstbeherrschung. Durchsetzungsfähigkeit. Freundlichkeit und Geselligkeit setzte sie in eine Klammer. Schließlich seufzte sie. In ihr Gesicht trat ein undeutbares Lächeln, als sie feststellte: »Wissen Sie, daß mir anhand des bisherigen Tests nichts anderes übrigbleibt, als ...« Plötzlich hielt sie eine Waffe in der Hand. Cliff sprang auf die Beine, aber er erkannte augen-
blicklich, daß jede Gegenwehr zwecklos war. »Damit kommt die Kamarilla nie durch«, sagte Cliff gefaßt. »Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber, Kommandant«, erwiderte die Frau kalt. »Sie gehen vorerst einmal auf eine lange, lange Reise. Durch diese Tür dort, wenn ich bitten darf.« * Er stand in einer fremden Welt. Zuerst war nur Dunkelheit um ihn gewesen. Aber durch den Druck der Waffe in seinem Rücken wurde er zu einem weiteren Schritt gezwungen, und dieser brachte ihn hierher. Von einem Augenblick zum anderen, ohne daß er etwas wie Bewegung gespürt hatte. Nur ein feines Stechen in seinem Kopf war die einzige Begleiterscheinung. Er kannte den Planeten nicht, auf dem er sich befand. Er hatte nichts im Handbuch darüber gelesen, noch hatte er andere davon sprechen hören. Dabei mußte dieser Planet zum terranischen Herrschaftsbereich gehören, denn es lebten Menschen auf ihm. Um welche Kolonie handelte es sich? Wie war er hierhergekommen? Es gab nur eine einzige Erklärung dafür: Etienne Chantelene kannte das Geheimnis des Materietransmitters. Eine andere Erklärung wäre ... Da war die Stadt. Sie kam Cliff vertraut vor, aber er konnte nicht sagen, welcher der ihm bekannten Großstädte sie am
ähnlichsten war. Er schätzte die Einwohnerzahl auf vier Millionen. Und zwei Wochen später stellte sich heraus, daß er mit seiner Schätzung annähernd recht behalten hatte. Zwei Wochen waren inzwischen vergangen, aber was war in dieser Zeit nicht alles geschehen! Er hatte sich, gleich nachdem er die Stadt erreichte, beim Rekrutierungsdienst der Flotte gemeldet. Aber seine Angaben über die Art, wie er auf diese Welt gekommen war, hatten bei dem zuständigen Beamten nur Gelächter ausgelöst. Man ließ Cliff nicht bis zu einem der höheren Beamten vor. Bei den anderen Flottenstützpunkten widerfuhr ihm ein ähnliches Geschick. Cliff suchte sich in der Stadt Unterkunft. Am nächsten Morgen löste er bei der terranischen Bank einen Scheck ein und begab sich zu einer öffentlichen Nachrichtenstelle. Es gab zwei Blitzfunksprüche an Oberst Henryk Villa, GSD-Hauptquartier Terra, ab und zwei an Marschall Woodrov Winston Wamsler, Raumaufklärungsverbände Terra, Basis 104. Je eines schickte er an Tamaras Adresse und postlagernd an die Mannschaft der ORION. Er hoffte, daß wenigstens einer der Funksprüche seinen Bestimmungsort erreichen würde. Als Absenderadresse gab er das Hotel an, in dem er abgestiegen war. Den Rest des Tages verbrachte er mit der Lektüre von Zeitungen. Sein erster Blick galt dem Datum. Es stimmte, daß seit der Unterredung mit Etienne Chantelene erst vierundzwanzig Stunden vergangen waren. Demnach hatte er eine Entfernung von 180 Parsek praktisch in Null-Zeit zurückgelegt. Die schnellsten
Raumschiffe brauchten für diese Strecke aber rund vier Tage ... Ins Hotel zurückgekehrt, legte man ihm nahe, die Rechnung zu bezahlen und sich nach einem anderen Logis umzusehen. Den Grund für diesen Hinauswurf erfuhr er aus dem Antworttelegramm, das ihm der Portier übergab. Es kam von Tamara. Sie flehte ihn darin an, sich irgendwo zu verbergen. Oberst Villa habe bereits GSD-Agenten auf ihn angesetzt. Sie tadelte ihn, daß er desertierte, versprach aber, ihn bei nächster Gelegenheit in seinem Unterschlupf aufzusuchen. Den Nachsatz prägte sich Cliff ein. Deserteure können mit dem Tode bestraft werden, stand da. Cliff zahlte die Hotelrechnung mit einem Scheck und ging auf sein Zimmer, um seine wenigen Habseligkeiten an sich zu nehmen. Er hatte sein Zimmer kaum betreten, als einer der Liftboys hereingestürzt kam, und Cliff anbot, ihn gegen einen gewissen Betrag vor den GSD-Männern in Sicherheit zu bringen, die bereits alle Aus- und Eingänge des Hotels besetzt hatten. Der Gedanke an Flucht behagte Cliff nicht, aber schließlich sagte er sich, daß er sich vielleicht besser rehabilitieren konnte, wenn er auf freiem Fuß war ... Zwei Wochen später war er Mitglied eines Schmuggelringes, der Personen, die aus mannigfaltigen Gründen der Erde verwiesen worden waren, wieder illegal nach Terra zurückbrachte. Man brauchte Cliff bei diesen Unternehmungen wegen seiner Raumerfahrung. Cliff ging auf die Bedingungen ein, weil er eben-
falls zur Erde zurück wollte. Außerdem spielte er damals bereits mit dem Gedanken, die Menschenschmuggler auffliegen zu lassen. Aber ein Jahr verging, ohne daß sein Schiff – es hieß SPHINX und war als Frachter getarnt – auch nur ein einzigesmal die Erde angeflogen hätte. Zwischendurch gab es einige Romanzen mit verschiedenen Mädchen. Zweimal riskierte Cliff sein Leben, als er weibliche blinde Passagiere vor Erpressungen durch den Schmuggelring bewahrte. Dann flog der Schmuggelring auf, und Cliff strandete auf Kriotes. Er selbst hatte das Syndikat auffliegen lassen. Das war ihm nur gelungen, weil er die ganze Zeit über Unterlagen gegen die Drahtzieher gesammelt hatte. Zum richtigen Zeitpunkt ließ er sie durch einen Mittelsmann Oberst Villa zukommen. Aber Cliff fand vor den Augen der terranischen Behörden keine Begnadigung. Sie stellten ihn und – es kam zu einer letzten Aussprache mit Villa. Das geschah eine halbe Stunde vor der Hinrichtung. Allerdings war Villas Charakter vollkommen verzerrt. Ebenfalls die der anderen Personen um Cliff McLane, die er von früher kannte. »Soll ich Tamara noch eine Nachricht von Ihnen überbringen?« erkundigte sich Villa. »Tamara?« fragte Cliff erstaunt. »Warum ausgerechnet Sie, Villa?« Das bekannte sarkastische Lächeln. »Jeder hätte es sein können.« »Das kann ich nicht glauben.« »Warum nicht? Sie haben sich gegen die menschliche Gesellschaft gewandt, jetzt rächt sie sich an Ihnen.«
»Ich bin unschuldig.« »Sie sind ein Deserteur. Mehr noch – ein Menschenschmuggler.« »Jetzt weiß ich, was Ungerechtigkeit ist«, sagte Cliff bitter. Wieder zeigte Villa sein gefürchtetes Lächeln. »Jetzt würden Sie wohl gerne die Konsequenzen gegenüber der Menschheit ziehen, McLane? Wenn Sie könnten, würden Sie wohl fürchterliche Rache nehmen. An Tamara, an Ihrer Crew, an Wamsler, an mir ...« Cliff schüttelte den Kopf. »Ich könnte es nicht. Nein, wirklich nicht. Denn das alles ist mir einfach unverständlich. Es klingt so phantastisch, so unwirklich. Ich glaube immer noch nicht, daß diese Dinge tatsächlich passieren können. Es gibt Treue, Dankbarkeit, endgültige Gerechtigkeit ...« Seine Hinrichtung in der Scheinwelt erlebte Cliff nicht mehr. Die so realen, aber doch so wirklichkeitsfremden Illusionen verblaßten und gaben Cliff frei. Denn der Test war damit abgeschlossen. * Die ORION VIII stand immer noch auf demselben Planquadrat des kriotischen Raumhafens, auf dem sie gelandet war. Helga Legrelle, Hasso Sigbjörnson, Atan Shubashi und Mario de Monti waren an Bord. Der Diskus war startbereit. Die Crew hatte ihre Plätze eingenommen; Helga saß am Funkpult, Atan am Platz des Astrogators, Mario befand sich im Rechenzentrum, Hasso hielt sich im Maschinenraum auf.
Nur das Kommandopult war noch unbesetzt. Helga blickte zum Positionsschirm auf. Ein Turbinenwagen näherte sich mit rasender Geschwindigkeit. »Das wird Cliff sein«, sagte sie ruhig. Der Wagen hielt zehn Meter vom äußersten Rand des Diskus entfernt. Tatsächlich entstieg ihm Cliff. In seiner Begleitung befand sich Etienne Chantelene. »Er kommt in Begleitung des Supermannes«, kommentierte Helga. »Und wo ist seine Superfrau?« erkundigte sich Mario aus dem Rechenzentrum. Er hatte keinen Blick für den Bildschirm übrig, da er die Daten überprüfte, die er in den Digitalrechner eingegeben hatte. »Die liegt wahrscheinlich zu Hause und träumt von dir«, spottete Atan. »Wie geht es unserem Gast?« fragte Hasso aus dem Maschinenraum über die Bildsprechanlage. »Gut«, antwortete Helga, »nachdem ich ihm eine Beruhigungsspritze verabreicht habe. Vorher tobte er wie ein Berserker.« »Dabei könnte er uns dankbar sein«, sagte Atan. »Wer weiß, vielleicht hätte ihm dasselbe geblüht wie dem Puppenmacher, wenn wir ihn nicht entführt hätten.« »Die beiden haben sich aber noch eine Menge zu sagen«, meinte Helga, während sie wieder den Positionsschirm beobachtete. »Ob Cliff wohl den Test bestanden hat?« Sie schaltete die Vergrößerung ein und versuchte, die Worte von Cliffs und Chantelenes Lippen abzulesen. Es gelang ihr nicht ... Es fielen auch nicht mehr viele Worte zwischen
dem Kommandanten der ORION und seinem bisher gefährlichsten Gegenspieler, dem Führer der Übermenschen. »Ich bedauere es wirklich außerordentlich«, sagte Etienne Chantelene, »daß Sie den Test nicht bestanden haben.« »Selbst bin ich mir über meine diesbezüglichen Gefühle noch nicht im klaren«, entgegnete Cliff lachend. »Welche Folgen, meinen Sie, hat das Testergebnis für mich?« Chantelene blieb ernst. »Ich will nicht zuviel versprechen – aber bald werden Sie nichts mehr zu lachen haben.« Die Blicke der beiden begegneten sich noch einmal. »Ehe ich es vergesse, McLane ...« Chantelene langte in den Fond des Turbinenwagens und holte eine GOLDIE-Puppe heraus. Er überreichte sie Cliff. »Sie soll Ihnen gehören – als Trostpreis sozusagen.« Cliff wußte, daß das Geschenk alles andere als eine Geste der Nächstenliebe war. Die Puppe war eine Herausforderung. Cliff nahm die Herausforderung an. Mit der Puppe unter dem Arm bestieg er die ORION VIII. Fünf Minuten später startete der Diskus zur Erde.
8 Auf der Erde existierten zehntausend GOLDIEPuppen. Ihre Anhängerschaft ging in die Millionen. Im Auftrag des Galaktischen Sicherheitsdienstes hatte die Zentrale Rechenanlage die genaue Zahl jener errechnet, die der hypnotischen Ausstrahlung der Puppen unterlegen waren. 25 Millionen Menschen! Diese große Breitenwirkung war durch die Bildung von Puppengruppen ermöglicht worden. Überall auf Terra waren sie aus dem Boden geschossen. Es gab exklusive Klubs, deren Mitglieder in den Genuß der GOLDIE-Puppen kamen, viele Privatzirkel und schließlich eine Anzahl von Finnen, die ihren Arbeitnehmern als Freizeitgestaltung Puppensitzungen boten. Bisher war der Kontakt zu den Puppen recht harmlos gewesen. GOLDIE zeigte ihren Tanz, dann hypnotisierte sie ihr Publikum und bat lautlos, aber eindringlich um Hilfeleistung. Bisher wußte noch niemand auf der Erde, weder die Millionen GOLDIEFans noch die untersuchenden Behörden, wie die zu leistende Hilfe aussehen sollte. Aber selbst die Psychologen, die sich für die Puppen ausgesprochen hatten, blickten mit immer größerer Besorgnis jenem Zeitpunkt entgegen, zu dem GOLDIE das Schweigen brechen würde. Für sie stand es fest, daß 25 Millionen Menschen der Bitte GOLDIEs nachkommen würden – egal, welcher Art sie war. Nur die Verantwortlichen der terranischen Füh-
rungsstellen verhielten sich immer noch abwartend. Begründung: Befehl von »oben«. Es wurde so lange zugewartet, bis eines Tages ... Sie waren nur drei von 25 Millionen Hypnotisierten. Bob, der Vater. Chris, die Mutter. Jimmy, der Sohn. Jimmy war von der Schule früher nach Hause gekommen. Einige seiner Lehrer hatten, ohne einen Grund anzugeben, den Unterricht einfach abgebrochen. Der Direktor sah sich daraufhin gezwungen, die Schule für diesen Tag zu schließen. Noch wußte niemand, daß der Unterricht lange nicht mehr aufgenommen werden würde. Als Jimmy heimkam, war das elterliche Haus von Menschen überfüllt. Es waren alles Bekannte aus der Nachbarschaft, lauter vertraute Gesichter, wie sie Jimmy bei jeder Puppensitzung zu sehen bekam. Chris empfing ihn an der Tür, führte ihn in die Küche und verlangte, daß er sich ausnahmsweise sein Essen selbst anrichte. »Was suchen die Leute um diese Zeit bei uns?« wollte Jimmy wissen. Seine Mutter konnte ihm nichts Genaues sagen. »Überall in der Stadt munkelt man, daß GOLDIE eine große Entscheidung verkünden will ...« Jimmy hatte kaum einige Bissen heruntergewürgt, als sein Vater nach Hause kam. »Hast du auch davon gehört?« erkundigte sich Chris. Sie vergaß in ihrer Aufregung ganz, ihrem Mann einen Begrüßungskuß zu geben. Ihm fiel das nicht auf. Er legte seinen Mantel ab,
stellte die Aktenmappe achtlos irgendwohin. »Wir streiken«, sagte er nur und eilte ins Wohnzimmer. Seine Anwesenheit wurde von den Gästen kaum beachtet. Es lag etwas in der Luft. Etwas Außergewöhnliches. Die Erde fieberte einer Entscheidung GOLDIEs entgegen. Streik! In der jahrhundertelangen Geschichte des Statistischen Amtes für Außerplanetarische Agrarwirtschaft war es noch nie vorgekommen, daß die Beamten streikten. »Wie ist es dazu gekommen?« erkundigte sich Chris. »Später.« Bob winkte ungeduldig ab. Er schüttelte achtlos einige Hände. Die Unruhe im Wohnzimmer wurde immer größer. Banale Scherze, nervöses Lachen, unentwirrbare Gesprächsfetzen schwirrten durch die Luft. »Wer hat es dir gesagt?« »Ich habe im Büro davon gehört.« »Was soll eigentlich geschehen?« »Genaues weiß ich auch nicht ...« Fast mit einem Schlag verstummten die Geräusche im Haus. Das, worauf sie alle bewußt oder unterbewußt gewartet hatten, geschah. GOLDIE kam aus ihrem Puppenzimmer. Vierzig Augenpaare starrten ihr erwartungsvoll entgegen. Sie kam geradewegs aus ihrem niedlichen, von Bob gefertigten Puppenzimmer in die Mitte des Wohnraumes, wo man für sie einen Platz freigelassen hatte.
Sie drehte sich langsam im Kreise, damit jeder der Anwesenden lange genug in ihre Augen blicken konnte – in diese bodenlosen, funkelnden Lebenskristalle. Zweimal drehte sich GOLDIE um ihre Achse. Das nahm zehn Minuten in Anspruch, aber nach dieser Zeit standen alle unter Hypnose. Sie befanden sich im Zustand tiefer Trance. In diesem somnambulen Stadium waren sie willenlose Werkzeuge GOLDIEs; sie waren in der Lage, posthypnotische Befehle entgegenzunehmen und diese auch dann auszuführen, wenn GOLDIE schon längst die Trance von ihnen genommen hatte. Noch Jahre danach würden sie nach GOLDIEs Willen handeln, wenn sie es verlangte. Vierzig Menschen in der Gewalt einer einzigen Robot-Puppe. GOLDIE tanzte diesmal nicht. Nachdem alle Anwesenden hypnotisiert waren, blieb sie regungslos stehen. Sie wartete. Auf einem Planeten, der 17,2 Parsek von Terra entfernt um eine Sonne kreiste, wurde ein Funkimpuls ausgelöst. Er wurde von zehntausend GOLDIEPuppen empfangen. Zehntausend GOLDIE-Puppen begannen in diesem Augenblick zu sprechen. »Ich brauche Hilfe ... eure Hilfe. Unterstützt mich in meinem Bemühen, euch zu helfen ...« Diese einleitenden Worte wiederholten sich einige Male. »Was ist euer Leben? Es ist euer wertvollster Besitz. Woher nehmen andere das Recht, über euer Leben zu bestimmen? Sie haben nicht das Recht, euren wert-
vollsten Besitz zu vergeuden. Niemand hat dieses Recht ...« GOLDIE wiederholte das Gesagte. »Lehnt euch auf!« Das war Aufwiegelung. Gelenkter Terror. Spätestens in diesem Augenblick wußten es alle verantwortlichen Stellen auf Terra, daß GOLDIE die Aufgabe hatte, die Bevölkerung in ein Chaos zu stürzen. Und was würde danach kommen? Der Sturz der Regierung? Der GSD schaltete sich ein. Das Material, das man in den letzten Wochen über Puppen-Gruppen gesammelt hatte, kam jetzt zur Auswertung. Oberst Henryk Villa ließ an den ihm bekannten Adressen Razzien durchführen. Im gleichen Augenblick starteten zehn Kampfschiffe der Taktischen Flotte von Basis 104. General Kublai-Krim hatte sie für diesen Fall bereitgestellt. Jetzt gab er den Einsatzbefehl. Zielkoordinaten: Eins/Nord 467. Einsatzort: der Planet Kriotes. Befehl: die Verschwörung der Übermenschen zu unterbinden, die Kamarilla zu zerschlagen; den Hypersender zu zerstören. Aber alle diese Maßnahmen kamen zu spät. Die Kamarilla der Übermenschen hatte sich an einen unbekannten Ort im Dschungel von Kriotes zurückgezogen. Der Hypersender konnte nicht angepeilt werden, da er nicht mehr signalisierte. Und auf der Erde verkündeten die GOLDIE-Puppen ihre verhängnisvolle Botschaft, noch ehe man ihrer habhaft werden konnte. »... Beendet das Zeitalter der Stagnation. Legt euer Schicksal in die Hände von Auserwählten. Vertraut
euch jenen an, die über euch stehen, die durch ihre natürliche Begabung befähigt sind, den Homo sapiens zu leiten und zu regieren. Laßt euch von der Kamarilla der Übermenschen helfen! Wenn Etienne Chantelene zu euch heruntersteigt, dann schenkt ihm euer Vertrauen. Zeigt, daß ihr würdig seid, von begnadeten Wesen der Schöpfung geleitet zu werden ...« Oberst Henryk Villa hatte in seinem Büro die Botschaft der Puppen mitangehört. Er reagierte darauf überhaupt nicht, denn er war gegen die Hypnose immun. Zwischendurch lauschte er den Argumenten Professor Sherkoffs. Der Psychodynamiker sagte: »Es ist sinnlos, wenn Sie jetzt versuchen, alle Puppen aus dem Verkehr zu ziehen. GOLDIE kann nicht mehr Schaden anrichten als bisher. Und der posthypnotische Befehl wird durch die Entziehung der Puppe auch nicht von den Medien genommen. Sie vergrößern nur das Chaos und riskieren mit den Razzien, daß sich die Hypnotisierten gegen die Exekutive stellen. Das Ergebnis wäre ein schreckliches Blutbad!« Oberst Villa verschloß sich diesen Argumenten nicht. Er ließ die Razzien abbrechen. »Jetzt müssen wir nach einem Ausweg aus diesem Dilemma suchen«, sagte er tonlos. »Während die Erde im Chaos zu versinken droht.« Und GOLDIE verkündete weiterhin ihre Botschaft. »Lehnt euch auf. Werft das Joch der Tyrannen ab. Das Regierungssystem ist nicht perfekt, das zeigt sich
daran, daß es verwundbar ist. Diesen Beweis müßt ihr erbringen. Streikt, brandschatzt, plündert, demonstriert. Verbrennt das alte System, reißt es in Stücke ... Erwartet euren neuen Herrscher. Etienne Chantelene und seine Kamarilla der Übermenschen!« Typhoon C. Rott, Schulungsoffizier für Robotik, hörte die Befehle der Puppe ebenfalls. »Das alles kann es doch gar nicht geben«, redete er sich ein. »Wir haben doch Robotgesetze, gegen die sich keine denkende Maschine auflehnen kann.« Er wußte nicht, daß zweihundert Stück der GOLDIE-II-Puppen darauf warteten, das Vertrauen der Menschen in die Robotgesetze noch mehr zu erschüttern. Diese zweihundert Puppen waren beschlagnahmt worden, und die fähigsten Köpfe der Menschheit beschäftigten sich mit ihnen. * Oberst Henryk Villa war ein Mann mit eiserner Selbstbeherrschung. Wenn er einmal die Nerven verlor, dann mußte schon etwas in der Größenordnung eines Weltunterganges passieren. Der GSD-Chef mußte schwer um seine Beherrschung kämpfen. Er verlor sie nur für einige Sekunden. »Wozu sind wir denn überhaupt da, wenn nicht dazu, diese Gefahr zu bannen!« rief er aufgebracht. Nicht nur er, sondern auch die anderen Männer der Führungsspitze, die in Marschall Wamslers Büro um den Konferenztisch saßen, ließen ihrem Tempera-
ment freien Lauf und gaben ihren Gefühlen lautstark Ausdruck. Sir Arthur, Staatssekretär von Wennerström, General Kublai-Krim und Marschall Wamsler sprachen alle gleichzeitig. Nur Ordonnanzleutnant Michael Spring-Brauner hatte sich mit seinem Sessel etwas vom Tisch zurückgezogen und verhielt sich schweigend. Er hatte hier nichts zu reden. Er wartete auf seinen Auftritt, der bald fällig sein würde. McLane mußte jeden Augenblick auftauchen. Aber in der Zwischenzeit war Marschall Wamslers Büro das reinste Tollhaus. Der Grund für diese Aufregung war ein Regierungsbescheid, den von Wennerström überbracht hatte. Er lautete sinngemäß: Offene Feindseligkeiten oder Aktionen, die als Kampfhandlungen gegen Kriotes ausgelegt werden könnten, hatten unbedingt zu unterbleiben! Staatssekretär von Wennerström hatte sich zu seiner ganzen Größe von 165 Zentimetern aufgebaut und blickte auf die Versammelten. Seine stechenden Augen blieben auf Oberst Villa hängen, der den Blick kühl erwiderte. »Wozu Sie da sind?« wiederholte von Wennerström Villas Frage. »Sie alle sollten Ihre Kompetenz kennen. Unklarheiten dürften gar nicht erst entstehen. Sie sind die ausführenden Organe des Staates, die verlängerte Hand der Regierung, wenn es zum Beispiel gilt, staatsfeindliche Umtriebe zu unterbinden. In gewissem Sinne ist das diesmal der Fall«, fuhr er schnell fort, als Kublai-Krim sich anschickte, einen Einwand zu machen. »Aber dabei ist noch lange nicht gesagt, daß Sie sofort zum Knüppel greifen dürfen.«
»Ausgerechnet Sie spielen sich als Vertreter der Humanität und des sanften Kurses auf?« erkundigte sich Marschall Wamsler giftig. »Das hier ist ein spezieller Fall«, rechtfertigte sich von Wennerström. »Die Männer von Kriotes sind die prominentesten Vertreter der jungen Generation. Das dürfen wir nie vergessen. Wenn wir ihre kleine Verfehlung mit Waffengewalt beantworten, dann bekämpfen wir symbolisch die ganze junge Generation! Können Sie sich das Ausmaß des Schadens vorstellen, den wir damit an Milliarden von jungen Menschen anstellen, die einst unsere Positionen einnehmen werden?« Kublai-Krim beugte sich nach vorne und schlug die Faust auf den Tisch. »Und wissen Sie, was geschieht, wenn wir das Nest dieser Wahnsinnigen nicht schleunigst ausräuchern!« rief er aufgebracht. »Wir könnten auch in Verhandlungen mit der Kamarilla treten«, erinnerte von Wennerström ruhig. »Ja, ja!« Kublai-Krim lachte höhnisch; seine grünen, etwas schrägstehenden Augen, die ihm trotz des blonden Haares ein mongolisches Aussehen gaben, zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. »Wir können noch zuwarten. Aber wenn es dann zu Verhandlungen kommt, sind wir wahrscheinlich willenlose Opfer dieser Puppen!« Er langte unter den Tisch und warf eine GOLDIE auf die Platte. Plötzlich wurde es unheimlich still in Marschall Wamslers Büro. Spring-Brauner, der zwischen seinem Chef und dem General der Taktischen Flotte saß, zuckte beim Anblick der Puppe zurück.
Sir Arthur und Marschall Wamsler atmeten schwer, ihre Blicke begegneten sich. Schließlich räusperte sich Sir Arthur, der Vorsitzende des Führungsstabes. Er sah zu von Wennerström, der die Demonstration mit der GOLDIE-Puppe nur mitleidig zu belächeln schien. »Die Puppen«, meinte Sir Arthur, »haben wir bei unserem Informationsgespräch vollkommen außer acht gelassen.« »Ja, die Puppen.« Von Wennerström lächelte immer noch. »Ich nehme an, jeder der Herren besitzt eine?« Das nun folgende Schweigen war Bestätigung genug. Marschall Wamsler saß, wie meist, einem Buddha gleich in seinem Sessel; aber diesmal wirkte er irgendwie verloren. Das Diktat der Regierung behagte ihm genausowenig wie allen anderen. »Wir sind keine Opfer der Puppen«, rechtfertigte er sich und die anderen, »sie dienen uns nur zu Studienzwecken. Warum also schweifen Sie ab, verehrter von Wennerström? An den jüngsten Ereignissen haben wir gesehen, welche verhängnisvolle Macht die Puppen über die Menschen bereits haben. Wir müssen die Kamarilla zerschlagen und Etienne Chantelenes Hauptquartier zerstören, von wo aus die Puppen gelenkt werden. Das läßt sich nicht durch Verhandlungen erreichen.« Der Staatssekretär nickte bestätigend. »Jetzt sind wir am Kern der Sache angelangt«, meinte er. »Es ist auch die Meinung der Regierung, daß der Terror der Puppen beendet werden muß. Und zwar schnellstens. Aber glauben Sie, daß wir das mit General Kublai-Krims Methode zufriedenstellend
erreichen können? Wenn wir die zehn auf Kriotes stationierten Schiffe der Taktischen Flotte wüten lassen, dann haben wir wohl die Kamarilla zerschlagen. Aber gleichzeitig eine blühende Welt in Schutt und Asche verwandelt. Außerdem wird sich die neue Generation gegen uns auflehnen. Und wir wissen auch gar nicht, welche Nebenerscheinungen der plötzliche Verlust der Puppen für die Hypnotisierten haben wird.« Oberst Villa erfaßte die neuen Aspekte zuerst. »Da ist etwas dran«, gab er zu. Er spürte, wie sich die Puppe, die neben seinen Beinen am Boden lag, regte. Aber als er hinunterblickte, rührte sie sich nicht mehr. »Wir können nicht zuwarten«, beharrte KublaiKrim auf seinem Standpunkt. »Das Chaos greift auf der Erde immer weiter um sich. Immer mehr Zweige der Industrie streiken, unübersehbare Demonstrationszüge wälzen sich durch die Straßen der Großstädte. Der Einfluß der Kamarilla wird auf Terra immer größer. Es kann nicht mehr lange dauern, bis Chantelene zum Bürgerkrieg auf der Erde aufrufen wird! Und wir sollen tatenlos zusehen und versuchen, mit diesem Wahnsinnigen zu verhandeln?« Sein Appell fand kein Echo. Die Männer der terranischen Führungsspitze hatten erkannt, daß jede gewaltsame Lösung noch mehr Gewalt mit sich bringen würde. Sir Arthur sprach aus, was die anderen dachten. »Wir müssen Chantelenes Versteck finden, ohne daß er auf uns aufmerksam wird. Das kann nur einem kleinen Spezialteam gelingen. Wenn das geschehen ist, sollte der Sender zerstört werden, von dem
die GOLDIE-Puppen gesteuert werden. Erst dann können wir weitersehen, wie wir wieder Ruhe und Ordnung auf der Erde herstellen.« »Das ist ein sehr weiter Weg, der einen Zeitaufwand erfordert, der uns nicht zur Verfügung steht«, warf Kublai-Krim ein. »Ich plädiere immer noch für die einfachere Methode.« »Abgelehnt«, sagte Sir Arthur nur. »Und wie sollen wir an Chantelene herankommen, ohne daß er unser Vorhaben wittert?« wollte Marschall Wamsler wissen. »Das, meine Herren, ist Ihr Problem«, erwiderte von Wennerström. »Erarbeiten Sie Vorschläge, die wir dann gemeinsam durchsprechen können. Und im übrigen, Marschall Wamsler, steht Ihnen doch einer der tüchtigsten Männer zur Verfügung, einer, der darauf spezialisiert ist, die Menschheit vor dem Untergang zu retten. Wenn man diesen Legenden glauben darf, wäre Oberst McLane der richtige Mann für diese Aufgabe.« Zum erstenmal zeigte Michael Spring-Brauner eine Reaktion – wenn sie auch von den anderen nicht beachtet wurde. Als er den Namen McLane hörte, stahl sich ein diabolisches Lächeln in sein Gesicht. Marschall Wamslers nächste Worte bestätigten seine Vermutung. Der Chef der Raumaufklärungsverbände Terra schnaubte: »McLane! Ich werde ihn beurlauben, denn er besitzt nicht das nötige Feingefühl, das für diesen Auftrag verlangt wird.« *
Als Cliff McLane Marschall Wamslers Büro betrat, war die Konferenz der terranischen Führungsspitze beendet; Sir Arthur, von Wennerström und KublaiKrim waren gegangen. Nur Wamsler selbst, Villa und Spring-Brauner waren anwesend. Cliff mißtraute der Atmosphäre der Freundlichkeit, die von Wamsler ausging. Er spürte die Spannung fast physisch, die dahinterlag. Deshalb begab er sich gleich von selbst in die steifförmliche Rolle des Untergebenen. »Oberst McLane meldet sich von seinem Sondereinsatz auf Kriotes zurück«, meldete er und salutierte andeutungsweise. »Da bin ich aber gespannt, was Sie zu berichten haben«, meinte Wamsler scheinheilig. »War dieser Sondereinsatz von Erfolg gekrönt?« »Ich habe in einem Funkspruch einen oberflächlichen Bericht abgegeben«, erwiderte McLane. »Hat er Sie nicht erreicht?« »Doch«, bestätigte Wamsler. Enttäuscht fügte er hinzu: »Aber ich hoffte, Sie hätten mehr erreicht, als aus dem Bericht hervorging.« »So ist es, aber ... Darf ich mich setzen?« Wamsler machte eine großzügige Geste, und McLane ließ sich in den Sessel neben Oberst Villa fallen. »Danke«, sagte er. »Was für Aber gibt es, Kommandant?« erkundigte sich Villa. »Meine Crew und ich«, erklärte McLane, »wir haben einiges in Erfahrung gebracht, was auf den ersten Blick nicht sehr erfolgversprechend aussieht. Aber bei genauerer Betrachtung lassen sich einige recht brauchbare Schlüsse ziehen.«
»Können Sie sich exakter ausdrücken?« bat Villa. McLane warf Spring-Brauner einen schnellen Blick zu. Er fand, daß Wamslers Ordonnanzleutnant über Gebühr selbstsicher und zugleich schadenfroh war. Deshalb war es ihm eine Genugtuung zu sehen, wie sich Spring-Brauners Gesicht bei seinen folgenden Ausführungen immer mehr in die Länge zog und wie die Farbe daraus wich. McLane erzählte von seiner Unterredung mit Etienne Chantelene und von dem Gespräch, das Mario de Monti mit Äphka geführt hatte. »Mario versteht sich hervorragend darauf, Frauen auszuhorchen«, fuhr McLane fort. »Es gelang ihm auch, einiges Wissenswerte aus Äphka herauszubekommen. Es sind kleine, nebensächlich erscheinende Dinge, aber sie lassen sehr viel von der Wesensart der Übermenschen erkennen. Äphka gab zu, einen Freund auf Terra zu besitzen, obwohl Chantelene ihr Geliebter ist ...« »Was soll der Unfug, McLane«, brauste Wamsler auf. »Wollen Sie uns hier mit Liebesgeschichten aus der Kamarilla anöden?« Spring-Brauner setzte sich nervös in seinem Sessel auf. Er wußte, worauf McLane anspielte, deshalb wollte er ihm zuvorkommen, um der zu erwartenden Anschuldigung die Spitze zu nehmen. »Marschall Wamsler«, sagte er mit spröder Stimme. »Oberst McLane wollte Ihnen damit sagen, daß er glaubt, dieser terranische Freund Äphkas sei ich.« »Stimmt es etwa nicht?« fragte McLane schnell. »Schluß damit!« donnerte Wamsler. »Tragen Sie in Zukunft Ihre privaten Fehden besser auf einer Ebene aus, die Ihnen zusteht, McLane!«
Villa beugte sich leicht vor, aber das genügte, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Ich glaube nicht, daß McLane Spring-Brauner anschwärzen wollte«, sagte der Chef des GSD. »Vielleicht sollten Sie sich anhören, was er mit seiner Bemerkung erreichen will.« Wamsler war irritiert. Er blickte unschlüssig von Villa zu McLane und dann zu Spring-Brauner. »Also gut«, knurrte er. »Waschen Sie Ihre schmutzige Wäsche, McLane.« McLane nickte Villa dankbar zu. »Mich interessiert Spring-Brauners Privatleben überhaupt nicht«, stellte McLane fest. »Aber immerhin befand er sich in Ihrem Auftrag auf Kriotes, Marschall. Und da es ganz leicht möglich wäre, daß er aus der Verbindung zu Äphka etwas von Nutzen für unsere Aufgabe erfahren hat ...« »Ich habe einen detaillierten Bericht über meinen Aufenthalt auf Kriotes abgefaßt«, warf SpringBrauner ein. »Das stimmt«, bestätigte Wamsler und funkelte McLane böse an. Es schien fast, als wolle er seinen durch Jahre aufgestauten Groll über jenen ergießen, der es wagte, die Ehre seines Ordonnanzleutnants anzutasten. »Und Sie, McLane«, donnerte er, »hätten den Nutzen aus Spring-Brauners Erfahrungen mit den Krioten ziehen können, wenn Sie sich nicht zu gut gewesen wären, sich vor Ihrer Abreise mit ihm ins Einvernehmen zu setzen.« McLane schüttelte den Kopf. »Damals hätte mir das nichts genützt. Jetzt besitze ich genügend Fakten, so daß ich durch Spring-Brauners Erfahrung viel-
leicht die letzten Steine zu diesem Mosaik finde. Jetzt könnten mir seine Erfahrungen helfen.« Wamsler grinste. »Da irren Sie gewaltig, McLane. Jetzt nützen sie Ihnen weniger als zu Anfang. Denn ich beurlaube Sie. Ihr Einsatz ist beendet – und automatisch auch alles, was im Zusammenhang mit den Puppen steht.« »Das ist nicht Ihr Ernst, Sir«, sagte McLane unwillkürlich. Als er sich fragend an Villa wandte, bestätigte dieser: »Sie haben versagt, McLane. Zu meinem Bedauern haben Sie sich als der falsche Mann für diesen Auftrag erwiesen.« »Und was wird mir vorgeworfen?« erkundigte sich McLane mit verhaltener Wut. »Etwa, daß ich den Test der Kamarilla nicht bestanden habe?« »Nun werden Sie nicht hitzig, McLane«, beschwichtigte Wamsler. »Sie haben verschiedentlich bewiesen, daß Sie Ihren Mann stellen können. Diesmal eben nicht. Und regen Sie sich nicht wegen des Intelligenztests auf. Sie können sich immer noch damit trösten, daß ein Raumschiffkommandant keine besondere Intelligenz benötigt!« Wamsler lachte schallend über seinen Witz. SpringBrauner stimmte herzlich darin ein. McLane, der sich erinnerte, eine ähnliche Bemerkung zu Pieter-Paul Ibsen gemacht zu haben, war nicht nach Lachen zumute. Es machte ihm nichts aus, den Test nicht bestanden zu haben, im Gegenteil, er glaubte sogar, daß dies für ihn sprach. Aber obwohl er kaum ein persönliches Interesse daran hatte, so sagte ihm sein Unterbewußtsein, daß das Testergebnis von eminenter Bedeutung war.
Es gab noch andere Dinge von Wichtigkeit, denen er auf der Spur war. Doch selbst wenn sie entscheidend für den Fortbestand der menschlichen Zivilisation waren, so konnte er sie nicht mehr ergründen. Wamsler stellte ihn ganz einfach kalt. Und warum? Nur weil er die Politikersöhne auf Kriotes nicht zart genug angefaßt hatte? »Sie dürfen nicht glauben, McLane«, ließ sich Villa mit seiner sarkastischen Stimme hören, »daß die Menschheit nun untergehen muß, weil Sie nicht mehr mitkämpfen. Wir anderen schlafen schließlich auch nicht. Erinnern Sie sich an Major Haggins. Sie wollten ihn sofort von seinem Posten entfernen, dabei hat er uns schon wertvolle Daten über die Kamarilla geliefert.« »Aber jetzt steht er unter dem Einfluß einer Puppe«, entgegnete McLane. Villa nickte bestätigend. »Das ist mir bekannt. Aber auch in seinem jetzigen Stadium ist er uns von außerordentlichem Nutzen – weil Chantelene nicht weiß, daß wir über seinen Zustand Bescheid wissen.« McLane war verärgert. »Wenn Sie solch hervorragende Kontaktmänner besitzen wie Haggins und Spring-Brauner, warum schickten Sie mich dann überhaupt nach Kriotes?« Villa schwieg. Wamsler ergriff wieder das Wort: »Ich war von Anfang an der Meinung, daß Sie nicht für diesen Einsatz geeignet sind«, sagte er, und düster fügte er hinzu: »Aber niemand konnte auch nur ahnen, welche Delikte Sie sich zuschulden kommen lassen würden. Ich zähle nur einige auf: Beleidigung eines GSD-Offiziers; Verstoß gegen eine Reihe
von ausdrücklichen Befehlen – darunter fällt auch die Anwendung von Waffengewalt. Und schließlich, als Krönung sozusagen, machten Sie sich des Menschenraubes schuldig.« »Werden Sie mich vor ein Disziplinargericht stellen?« wollte McLane wissen. »Davon werden wir in Anbetracht einiger guter Leistungen absehen«, erklärte Wamsler großzügig. »Damit wird mir die Möglichkeit genommen, mich zu rechtfertigen«, stellte McLane bitter fest. Er erhob sich. »Ist das alles, Marschall Wamsler?« Der Chef der Terrestrischen Raumaufklärungsverbände fixierte den Kommandanten der ORION scharf. »Ja, alles«, meinte er bedächtig. »Ich möchte Sie nur noch einmal daran erinnern, daß Sie bis auf weiteres beurlaubt sind, McLane.« »Ich nehme es zur Kenntnis, obwohl ich Ihre Maßnahme in einer Situation, in der jeder Mann dringend benötigt wird, nicht verstehen kann.« Marschall Wamsler kniff die Lippen zusammen. »Ich kann Sie entbehren, McLane. Lernen Sie die Dienstvorschriften – das ist für Sie wichtiger als alles andere.« Bevor sich McLane abwandte, sah er, wie Wamsler dem Chef des GSD einen Wink gab. Prompt erhob sich Villa und sagte: »Warten Sie McLane, ich schließe mich Ihnen an.« Die beiden ungleichen Männer verließen Wamslers Büro. Als sich die Energiebarriere hinter ihnen wieder aufgerichtet hatte und sie den Vorraum durchquerten, meinte McLane zu Villa: »Sollen Sie mir eine moralische Stütze sein?«
Villa lächelte dünn. »Ach, Sie haben gemerkt, daß ich mich mit Wamsler verständigte?« »Allerdings.« »Das nehmen Sie am besten nicht ernst. Ich wollte ohnedies mit Ihnen sprechen.« »Worüber?« Sie kamen in den Korridor hinaus. »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß Sie die schroffe Art des Marschalls nicht persönlich zu nehmen brauchen. Er hält große Stücke auf Sie.« »Das verbirgt er aber sehr geschickt.« »Wir stehen alle unter Druck. Wir können alle nicht so, wie wir wollen. Das gilt für die Verantwortlichen, und Sie sollten sich dessen auch bewußt werden.« »Das werde ich«, versprach McLane sarkastisch. »Ich habe ja den Befehl, die Dienstvorschriften auswendig zu lernen.« Jetzt verlor Villa seine Geduld. »Sie betrachten alles als persönliche Auseinandersetzung. Sie haben doch schon einige Male damit gedroht, den Dienst zu quittieren. Das würde auch diesmal passen.« McLane sprach eine Weile nichts, während sie den Korridor hinuntergingen. Als sie zu einer Abzweigung kamen, an der sich ihre Wege trennten, blieb Villa stehen. »Na?« machte er herausfordernd. McLane lächelte plötzlich. Es ärgerte ihn zwar immer noch, daß Wamsler ihn vor Spring-Brauner so behandelt hatte, aber er reagierte ganz anders, als Villa angedeutet hatte. »Ich werde Ihnen beweisen, daß mein Charakter wandelbar ist«, sagte er. »Keine Spur von Dienstquittieren. Ich werde mich abreagieren!«
Villa hob eine Augenbraue. »Mit Alkohol?« »Nein!« wehrte McLane ab. »Das wäre schablonenhaft.« »Dann wollen Sie sich ungeachtet des Chaos auf der Erde in die Lektüre der Dienstvorschriften stürzen?« McLane schüttelte den Kopf. »Diesen Befehl werde ich mit ruhigem Gewissen verweigern. Ich werde mich ganz einfach außerdienstlich mit dem Problem der Puppen beschäftigen.« Villa sah mit ausdruckslosem Gesicht zu dem großen Mann auf. »Falls das mehr als ein Scherz ist, können Sie sich an mich wenden, wenn Sie Rat brauchen, McLane.« »Danke.« McLane blieb stehen und sah dem Chef des Galaktischen Sicherheitsdienstes so lange nach, bis er um die Biegung des Korridors verschwand. Wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre, hätte McLane lauthals gelacht. Es sah auch zu komisch aus: Einer der höchsten Beamten des terranischen Sicherheitswesens mit einer Puppe im Arm!
9 Wamsler hatte McLane einmal als einsam jagenden Wolf bezeichnet. Wenn dieser Vergleich auch deswegen hinken mochte, weil ihm bei jedem Abenteuer seine Crew treu zur Seite stand, so hatte er doch seine symbolische Berechtigung. McLane genoß in der Raumpatrouille eine Sonderstellung, weil seine Vorgesetzten erkannt hatten, daß er in der Lage war, in außergewöhnlichen Situationen das Richtige zu tun. Was man ihm als Disziplinlosigkeit gelegentlich vorwarf, war ebenfalls keine abträgliche Eigenschaft, vielmehr verhielt es sich so, daß er unsinnige Befehle ganz einfach nicht befolgte – und statt dessen nach eigenem Ermessen vorging. Solch eine unsinnige Anordnung, wahrscheinlich nicht einmal ernst gemeint, war es, die Dienstvorschriften auswendig zu lernen. Doch der einsame Wolf jagte nicht, er streunte nur verdrossen durch die Basis 104. Sein Weg führte ihn ins Science Center, zur Zentralen Rechenanlage und in die Schulungsabteilung für Robotik. Dann weiter ins Starlight-Casino, in die Gesellschaft seiner Crew und schließlich in die Arme Tamaras ... Und bei jeder Station seines Weges setzte der Wolf Hebel in Bewegung, stellte er Fallen auf, in denen sich Hinweise und Anhaltspunkte fangen sollten. Er sammelte Fakten, in der Hoffnung, daß sich einige Steine für das endgültige Mosaik darunter befänden. Der Wolf, niedergeschlagen und durstig, landete schließlich wieder im Starlight-Casino. Auf der Suche nach bekannten Gesichtern stieß er schließlich in der
submarin angelegten untersten Ebene auf – Michael Spring-Brauner. Der Wolf war etwas angeheitert, sonst hätte er sich wohl nicht herausfordernd neben den ›schönen Mike‹ an die Bar gesetzt. »Liebeskummer?« erkundigte sich Cliff McLane, während er dem Barkeeper das Zeichen für einen doppelten Whisky gab. Spring-Brauner verschluckte sich an seinem Drink, als er Cliffs Stimme vernahm. Sie war ihm in diesem Augenblick ungefähr so willkommen wie das Zischen einer Kobra. Aber er faßte sich schnell. »Ihre Probleme dürften auch nicht gerade klein sein, McLane«, konterte Spring-Brauner. »Ja«, gab Cliff zurück. »Ein Teil meiner Probleme ist Ihnen ja bekannt. Das ist eine gute Ausgangsposition für eine Diskussion.« »So hart trifft es Sie, daß Sie den Intelligenztest nicht bestanden haben?« erkundigte sich Spring-Brauner. »Wieso kommen Sie darauf, daß es sich um einen Intelligenztest gehandelt hat?« »Ein Test war es doch, oder?« Spring-Brauner fühlte sich in der Favoritenrolle, deshalb erwärmte er sich immer mehr für das Gespräch. »Es liegt doch auf der Hand, daß bei einem Test für die Aufnahme in die Elite der Menschheit die Intelligenz geprüft wird. Oder hatten Sie das Empfinden, man wolle Ihre physische Gesundheit prüfen?« Cliff ging auf den Ton ein. »Keineswegs, es wurden geistige Eigenschaften getestet. Aber ich habe den Verdacht, daß diese mehr in den metaphysischen Bereich fielen.«
»Metaphysisch?« wiederholte Spring-Brauner belustigt. »Ja«, bestätigte Cliff, trank sein Glas leer und schickte sich an zu gehen. Er hatte einen sympathischeren Zeitgenossen erblickt, als es Spring-Brauner war. Bevor sich Cliff endgültig von Wamslers Ordonnanzleutnant abwandte, sagte er noch: »Metaphysisch – oder den Charakter betreffend.« Der sympathische Zeitgenosse, auf den Cliff zusteuerte, saß unter einer der großen Luken, die einen großzügigen Ausblick auf die Unterwasserwelt gewährten. Er hieß Pieter-Paul Ibsen, und von seiner Niedergeschlagenheit, die ihn noch vor wenigen Tagen kennzeichnete, war nicht mehr viel zu sehen. Es schien, als hätte das Schicksal die Rollen vertauscht. Nachdem sich Cliff einen Weg durch die wenigen Tanzpaare gebahnt hatte, ließ er sich wortlos gegenüber Ibsen niedersinken. Der SF-Schriftsteller schlug mit den Fingern den Takt zu Tomas Peters one way tikket to the hell-planet. »Diese Musik inspiriert«, sagte er träumerisch. »Ich könnte augenblicklich, hier auf der Stelle, ein neues ORION-Abenteuer niederschreiben.« »Tun Sie das, Pie-Po«, forderte Cliff. »Aber es müssen Puppen darin vorkommen, ein verliebter Apoll, Übermenschen mit der Mentalität von verspielten Zöglingen, und schließlich muß der Held, der Kommandant der ORION, den Charakter des Leibhaftigen besitzen.« Ibsen grinste. »Sie waren auf Kriotes«, stellte er fest. »Verdammt«, zischte McLane, »woher wissen Sie das?«
»Niemand hat es mir gesagt. Aber Ihren Worten entnehme ich, daß Sie den Test der Kamarilla mitgemacht haben und durchgefallen sind. Außerdem stelle ich mit Genugtuung fest, daß Sie die richtige Bedeutung des Tests erkannt haben.« »Nichts habe ich erkannt, ich vermute nur«, erwiderte McLane aggressiv. »Ich glaube nämlich, daß der Test nicht die Intelligenz ansprechen soll, sondern den Charakter. Nur hat die Kamarilla die Werte umgekehrt. Das Positive hat Chantelene negativ beurteilt und umgekehrt.« Ibsen winkte gelangweilt ab. »Ein alter Hut!« »Was sagen Sie da?« »Zugegeben«, fuhr Ibsen unbeirrt fort, »ich bin lange Zeit selbst nicht hinter die Wahrheit gekommen. Aber einiges hat mich stutzig gemacht. Ich kenne da einige Leute, die ich, objektiv betrachtet, geringer einschätze als mich selbst. Und diese haben den Test bestanden! Also mußte etwas faul an der Sache sein. Ich ruhte nicht eher, bevor ich die Lösung fand. Das Ergebnis sehen Sie vor sich, Cliff. Ich bin frei von allen Depressionen.« »Und wie«, staunte McLane, »fanden Sie die Lösung, obwohl sämtliche Psychologen und Komputer vergeblich danach suchen?« »SF-Schriftsteller besitzen einen wendigeren Geist als spezialisierte Wissenschaftler«, sagte Ibsen. »Haben Sie Beweise, daß es sich um einen Persönlichkeitstest mit umgekehrten Werten handelt?« drängte McLane. Ibsen nickte. »Mehr als genug. Ich werde die einzelnen Phasen
meiner Überlegungen mit Ihnen durchgehen, das verhilft zu einem besseren Verständnis.« »Schießen Sie los!« »Wissen Sie, Cliff, in welchem Jahrhundert der Vergangenheit die Menschheit von einer Testwelle überschwemmt wurde?« Cliff runzelte die Stirn. Seit er mit Ibsen zusammengetroffen war, fühlte er sich vollkommen nüchtern; schwierige Überlegungen fielen ihm nicht mehr schwer. »War es nicht im 20. Jahrhundert?« sinnierte er. »Damals waren die Menschen geradezu von einer Testwut befallen. Sie testeten alles: Haushaltsgeräte, Luxusartikel und sogar Ehepartner.« »Richtig!« stimmte Ibsen zu. »Mitte dieses Jahrhunderts lebten auch drei für mich interessante Psychologen. Guilford, Zimmermann und Mays. Erstere beide stellten zehn Persönlichkeitsfaktoren zur Ergründung des Charakters auf – unter anderem: Aktivität, Männlichkeit gegenüber Weiblichkeit, Bereitschaft zur sozialen Zusammenarbeit, emotionale Stabilität ... Alle diese Punkte sind im Test der Kamarilla enthalten. Aber diese Punkte können in der modernen Psychologie nicht mehr zufriedenstellen. Deshalb wurde von Chantelene auch Mays Lehre herangezogen, die eine Gleichsetzung der Persönlichkeit mit dem Eindruck, den sie auf andere macht, verlangt. Auch das findet sich im Persönlichkeitstest der Kamarilla.« »Davon habe ich noch nie gehört«, gestand McLane. Aber es leuchtete ihm ein. Er erinnerte sich vor allem des simulierten Erlebnisses, wie er vom Galaktischen Sicherheitsdienst gejagt und als Menschen-
schmuggler zum Tode verurteilt worden war. Hatte er durch seine Einstellung nicht bewiesen, daß er zur sozialen Zusammenarbeit bereit war? Aber Chantelene hatte das nicht behagt, er brauchte Leute, die bereit waren, gegen eine soziale Zusammenarbeit zu kämpfen. Deshalb drehte er die Werte um. Denn die negativen menschlichen Eigenschaften waren für die Ziele der Kamarilla positiv. Chantelene brauchte Individuen, die in gewissem Sinne eine asoziale Veranlagung in sich trugen. »Jetzt ist mir alles klar«, murmelte Cliff. »Auf der Suche nach Helfershelfern, die ihm willige Werkzeuge sein konnten, brauchte Chantelene mindere Charaktere. Wer aber für die menschliche Gesellschaft wertvoll ist, ist für die Kamarilla nutzlos, vielleicht so gar gefährlich. Solche Leute müssen beim Test durchfallen.« Ibsen strahlte. »Sie hätten das Zeug für einen SFSchriftsteller in sich, Cliff.« Aber Cliff hörte nicht zu. Er spann seine Gedanken schon weiter. Plötzlich stahl sich ein Lächeln um seine Mundwinkel. Er blickte zur Bar, wo Michael Spring-Brauner mit dem Rücken zu ihm auf einem Hocker saß. »Es hat mich gestört, daß du den Test bestanden hast, schöner Mike«, flüsterte er. »Aber jetzt denke ich anders darüber ...« Obwohl die Worte nicht für Ibsen bestimmt waren, hatte er sie verstanden. Er grinste Cliff zu. »Jetzt können Sie den Apoll ordentlich eintunken.« »Ich werde sofort alle nötigen Schritte unternehmen.« *
Villa hatte seiner Ordonnanz zu verstehen gegeben, daß er für niemanden zu sprechen sei. Ihm war natürlich klar, daß nicht jeder Anrufer in diese Anordnung miteinbezogen werden konnte. Aber wenigstens würde er nicht mit unwichtigen Dingen belastet werden. Er hatte sich in sein Büro zurückgezogen, die Wand aus flimmernden Neutronen schützte ihn vor ungebetenen Besuchern und den neugierigen Blicken der Ordonnanz im Vorraum. Und das war gut so, denn der Chef des Galaktischen Sicherheitsdienstes ging einer recht seltsamen Beschäftigung nach. Er wollte dabei ungestört sein. Die GOLDIE-Puppe saß leblos vor ihm auf der Schreibtischplatte; ihre synthetischen Augen waren stumpfe Kristalle, nichts weiter als zwei billige, farblose Glasperlen. Villa beugte sich vor und drückte den winzigen Hebel zwischen den Schulterblättern der Puppe in die Ein-Stellung. Sofort leuchteten die Augen auf, Leben kam in GOLDIE. Sie erhob sich auf die Beine. Als sie stand, verharrte sie reglos. Die erste Phase begann ... GOLDIE versuchte, ihr Gegenüber mit ihrer hypnotischen Kraft in den Bann zu schlagen. Villa reagierte darauf überhaupt nicht. Er war, wie alle anderen führenden Männer in Basis 104, von Professor Sherkoff gegen die suggestive Ausstrahlung behandelt worden. Dabei war auch seine natürliche Suggestibilität verringert worden.
Als GOLDIE erkannte, daß sie erfolglos blieb, schaltete sich automatisch eine andere Programmierung vor die erste. Das Frage- und Antwortspiel begann. In dieser Phase war Oberst Villa bei seinem letzten Versuch mit der Puppe unterbrochen worden. Er wußte jetzt bereits, worum sich die Fragen drehten. Außerdem hatte er den Berichten der Psychologen entnommen, daß die GOLDIE-Puppe die psychischen Eigenschaften der Versuchsperson testete. Warum sie das tat – darauf hatte noch niemand eine befriedigende Antwort gefunden. Professor Sherkoff meinte, daß die Puppe nach dem Test versuchen könnte, der Versuchsperson neuerlich ihren Willen aufzuzwingen. Oder aber ... Ja, was bedeutete das Aber. Sherkoff hatte seine Ausführungen nicht beendet. Und er war auch später nicht zu bewegen gewesen, seine Theorie bekanntzugeben. Er tat sie selbst als zu phantastisch ab. Was würde geschehen, wenn die Puppe den Test abgeschlossen hatte? Villa ließ die Fragen geduldig über sich ergehen. Er war überzeugt, daß von GOLDIE keine unmittelbare Gefahr drohte. Gegen ihre Hypnosestrahlen war er immun, und eine andere Waffe als diese geistige, konnte die Puppe gegen Menschen nicht anwenden. Schließlich gab es die Robotgesetze zum Schutze des menschlichen Lebens! »Der Test ist beendet«, sagte GOLDIE in diesem Augenblick. »Sie haben nicht bestanden ...« In diesem Augenblick summte das Videophon. Automatisch griff Villa der Puppe zwischen die Schulterblätter und schaltete sie ab.
Er wußte in diesem Augenblick noch nicht, daß ihm diese instinktive Handlung das Leben rettete. Auf dem Bildschirm des Videophons erschien eine Ordonnanz. »Was gibt's?« erkundigte sich Villa ungehalten. »Sir«, stammelte die Ordonnanz verstört, »es möchte Sie jemand sprechen. Ich habe gesagt, daß das unmöglich sei, aber ... er ließ sich nicht abschütteln.« »Um wen handelt es sich?« »Es ist Oberst Cliff McLane, Sir.« Villa seufzte. Er erinnerte sich des Versprechens, das er McLane gegeben hatte, deshalb befahl er der Ordonnanz, das Gespräch auf seinen Apparat zu überstellen. Gleich darauf wechselte das Bild auf dem Videophon. Die verstörte Ordonnanz verschwand und Cliff McLanes humorlos lächelndes Gesicht erschien. Villa kannte den Kommandanten der ORION VIII gut genug, um den Blick seiner Augen deuten zu können. McLane rief nicht wegen einer Lappalie an. »Was kann ich für Sie tun?« fragte Villa distanziert. »Eine Menge«, antwortete Cliff. »Es kann aber auch sein, daß das, worum ich Sie bitten möchte, nicht in Ihrer Macht liegt.« Villa gestattete sich ein spöttisches Lächeln. »Sie wollen mich wohl reizen, McLane.« »Jawohl, Villa.« »Na, ehrlich sind Sie wenigstens. Worum geht es?« »Ich möchte, daß Sie Spring-Brauner verhören.« Villa blieb die Luft weg. »Und so nebenbei soll ich wohl auch gleich Marschall Wamsler verhaften«, stieß er schließlich hervor. Cliff wurde ernst. Er erzählte Villa alles, was er zu-
sammen mit Pieter-Paul Ibsen über den Persönlichkeitstest in Erfahrung gebracht hatte. »Sie sehen, es besteht ein wichtiger Grund, SpringBrauner einem Verhör zu unterziehen«, endete Cliff. Villa war nachdenklich geworden. »Das hört sich recht plausibel an«, meinte er. »Aber vorher muß ich mich noch mit Professor Sherkoff in Verbindung setzen. McLane – stecken hinter Ihrem Wunsch persönliche Motive?« »Ganz gewiß nicht!« entgegnete Cliff ruhig. »Ich bin nur nach wie vor der Meinung, daß SpringBrauner noch etwas weiß, was er bisher nicht gesagt hat. Wahrscheinlich geschah dies nicht einmal mit Absicht.« »Wollen Sie bei dem Verhör anwesend sein?« erkundigte sich Villa lauernd. Cliff schüttelte den Kopf. »Meine Anwesenheit würde ihn nur irritieren. Aber ich möchte Sie bitten, mich das Protokoll einsehen zu lassen ... Und noch etwas, Villa – verlangen Sie von ihm, daß er Ihnen alles über sein Verhältnis zu Äphka sagt.« »Nicht so stürmisch«, beschwichtigte Villa. »Vorher werde ich Professor Sherkoffs Meinung einholen.« »Das wäre nicht unbedingt nötig«, sagte Cliff. »Ach, das meinen Sie!« »Ja, denn ich habe ihn bereits von meiner Theorie überzeugt.« Der Videophonschirm wurde dunkel. Villa lächelte zufrieden. McLane war tatsächlich einer der fähigsten Männer im aktiven Dienst. Man konnte ihm fast jede Aufgabe zuteilen – oder verbieten. Er löste sie souverän. Manchmal mußte man nur sein Temperament etwas zügeln ...
Aber nicht in diesem Fall, ganz bestimmt nicht in diesem Fall. Villa schenkte der GOLDIE-II-Puppe keine Beachtung mehr, während er sich mit Marschall Wamsler in Verbindung setzte. * Typhoon C. Rott, Schulungsoffizier für Robotik, starrte versonnen auf die Einzelteile, die in ihrer Gesamtheit einmal eine Puppe gewesen waren. Genauer gesagt, eine GOLDIE-Puppe der zweiten Kollektion. Er wußte jetzt, nachdem er die Puppe zerlegt und einer genauen Untersuchung unterzogen hatte, viel mehr über ihr Innenleben. Er wußte, daß die Puppe nicht nur vorbestimmte Programme besaß, sondern durch Lernkreise zu eigenmächtigen Entscheidungen fähig war. Doch diese Lernkreise mußten erst durch einen Hyperimpuls aktiviert werden. Das war bereits geschehen. Ein einziger Impuls, gesendet von dem Planeten Kriotes hatte genügt, aus der mechanischen Puppe einen weitgehendst selbständigen Roboter zu machen. Daraus ergaben sich ungeahnte Möglichkeiten. Typhoon C. Rott hatte sich allerdings gescheut, die meisten dieser Möglichkeiten bis zur letzten Konsequenz durchzudenken. Das wäre einer Verneinung der Robotik gleichgekommen. Und er war schließlich kein Gegner der Roboter. Aber trotzdem, diese Puppe hier, ein Wunderwerk der Technik, konnte die Gegner der Robotik mit neuen, stichhaltigeren Argumenten auf den Plan rufen.
Vieles an der Puppe sprach für ihre Gefährlichkeit. Man hätte aus ihr eine Killer-Puppe machen können, wenn ... Wenn es nicht die Gesetze gegeben hätte, die jedem Roboter eingepflanzt wurden. Roboter dürfen menschliches Leben nicht gefährden, noch dürfen sie durch Untätigkeit zulassen, daß ein Mensch zu Schaden kommt! Das war das oberste Robotgesetz. Einfach, klipp und klar. Ein Robot konnte nicht dagegen handeln. Die Türsprechanlage summte. Rott schaltete die Fernbedienung ein, die Tür sprang auf. Ohne sich umzuwenden, sagte er: »Sie können die Puppe in den Schrank legen, Alfred.« Der Mann, der hereingekommen war, hieß nicht Alfred und hatte auch keine Puppe bei sich. Er blickte sich in dem Arbeitszimmer des Robotikers um. Überall auf den Tischen und in den Regalen lagen Teile von Puppen. »Bei Ihrem Verschleiß«, sagte der Ankömmling, »wird Alfred nicht nachkommen, Puppen heranzuschaffen.« Rott wirbelte herum. »Kommandant Cliff McLane«, stieß er überrascht hervor. Nachdem er sich gefangen hatte, fügte er hinzu: »Schlaft ihr Raumfahrer denn nie?« »Doch«, meinte Cliff, »aber wir haben es uns zur Regel gemacht, immer erst nach den Robotikern zu Bett zu gehen.« Typhoon C. Rott wischte sich über die Augen. »An Schlaf kann ich nicht denken, solange die Gefahr, die von den Puppen droht, nicht gebannt ist.«
»Ich bin in derselben Angelegenheit unterwegs«, hielt Cliff entgegen. »Tatsächlich?« staunte Rott. Cliff setzte sich an die Kante eines Arbeitstisches. »Ich habe ein Problem, Sir«, begann er, »für dessen Lösung ich unbedingt die Meinung eines Fachmannes brauche.« »Tragen Sie es vor. Bis Alfred mit der Puppe kommt, habe ich ohnedies nichts zu tun.« »Danke, Sir. Ich nehme Ihre Zeit nicht lange in Anspruch. Mein Problem ist in wenigen Worten vorgetragen.« Cliff machte eine Pause und wartete ab, bis Rott sich einen bequemen Platz zum Zuhören gesucht hatte. Dann fuhr er fort: »Auf Kriotes wurde ein Mann ermordet. Eine Obduktion ergab keinen Anhaltspunkt dafür, daß ein Fremdverschulden vorlag. Der ärztliche Befund ist eben über Hyperfunk eingetroffen. Der Körper des Mannes wies keine Wunden auf, aber in seiner Blutbahn wurden geringe Mengen eines schnell wirkenden Giftes gefunden.« Typhoon C. Rott lachte nervös. »Es gibt viele Methoden, einen Menschen ohne sichtbare Wunden zu töten. Das weiß jeder Laie. Warum sagen Sie mir das?« »Ich wollte festhalten, daß der Mann ermordet wurde. Die Mittel, die dabei angewendet wurden, sind im Augenblick nur von sekundärer Bedeutung. Aber die anderen Umstände sind interessant. So steht fest, daß, als er zu Tode kam, kein menschliches Wesen in der Nähe war. Einzig und allein eine Puppe befand sich in seiner Nähe!«
Schweigen. Plötzlich lachte Typhoon C. Rott. »Nein, Kommandant«, sagte er dann, »schlagen Sie sich das aus dem Kopf. Sie sind einem Schauermärchen zum Opfer gefallen.« Cliff schüttelte den Kopf. »Kein Schauermärchen. Der Navigator aus meiner Crew hat die Puppe mit eigenen Augen gesehen.« Der Robotiker straffte sich, die Hände stützte er in die Hüften. Aber seine Nervosität konnte er nicht bannen. »Hören Sie, Oberst«, erklärte er mit dem belehrenden Ton des Schulungsoffiziers, »es wird viel Absurdes über die GOLDIE-Puppen in Umlauf gebracht. Einiges davon mag einen gewissen Wahrheitsgehalt haben, aber das hier ... Nein, das ist etwas ganz anderes. Sie haben doch den Schulungskurses über die Robotgesetze mitgemacht. Sie müßten wissen, daß keine Maschine gegen Menschen tätlich werden kann.« »Nein?« entgegnete Cliff heftig. »Und was passiert jetzt in diesem Augenblick überall auf der Erde?« »Was auf der Erde passiert«, antwortete Rott, »ist nicht mit einem tätlichen Angriff vergleichbar. Erstens wissen die Puppen nicht, daß sie den Menschen schaden. Und zweitens sagen viele Psychologen selbst, daß die hypnotische Beeinflussung durch die Puppen dem menschlichen Geist förderlich sein kann.« »Die Puppen haben die Menschen in ein Chaos gestürzt!« »Nicht wissentlich«, sagte Rott milde. »Machen wir uns nichts vor, McLane. Als die Robotgesetze vor Jahrtausenden eingeführt wurden, konnte niemand
ahnen, daß es Robotern einmal möglich sein würde, die Menschen geistig zu beeinflussen. Deshalb wurden die Robotgesetze auch nicht darauf abgestimmt. Und noch etwas: Die GOLDIE-Puppen denken nicht nach der herkömmlichen menschlichen Logik, sonst wäre es ihnen nicht möglich gewesen, dieses Chaos bewußt oder unbewußt heraufzubeschwören. Die GOLDIE-Puppen sind von der Philosophie der Übermenschen infiziert. Und in diesen Bahnen gedacht, ist es für die Menschen das beste, wenn sie sich gegen das Alte, Konventionelle auflehnen und sich der Kamarilla der Übermenschen unterwerfen.« »Aber wenn man diese Gedanken weiterführt, dann kann man auch sagen, daß der Tod einiger Menschen für die Allgemeinheit zum Wohle gereicht. Im Sinne der Kamarilla natürlich.« »Das ist ausgeschlossen!« Rott sagte es so heftig, daß Cliff meinte, er wolle dadurch seine eigenen Zweifel übertönen. »Warum ist das ausgeschlossen«, bohrte Cliff weiter. »Ich werde es Ihnen erklären. Zur Erzeugung von Positronengehirnen ist eine gewaltige Industrie und ein großer Stab von Spezialisten nötig. Deshalb ist es klar, daß die Krioten die Positronengehirne von Terra bezogen. Was übrigens inzwischen von der Firma Mechanical Brains, Inc. bestätigt wurde. Jede Positronik, die das Werk verläßt, wird auf die Robotgesetze geprüft und plombiert. So wird jeder Mißbrauch unmöglich gemacht.« »Aber Chantelene konnte seinen Puppen doch seine Philosophie einpflanzen«, warf Cliff ein. »Das stimmt«, gab Rott zu. »Aber das Ausschlag-
gebende ist, daß er seine Philosophie nicht dem ersten Robotgesetz voranstellen konnte, das da besagt, daß ein Roboter keinem Menschen körperlichen Schaden zufügen darf.« Cliff schwieg betroffen. Sein ganzes gedankliches Kartenhaus stürzte durch die Tatsache zusammen, daß das erste und oberste Robotgesetz nicht zu umgehen war. Eigentlich hätte er froh darüber sein können, aber irgendwie wollte er rein gefühlsmäßig nicht an die relative Harmlosigkeit der Puppen glauben. Wer sollte auf Kriotes den Puppenmacher getötet haben? Kein Mensch war zum Zeitpunkt der Ermordung in seiner Nähe – Atan Shubashi hätte den Täter sehen müssen. Nur eine GOLDIE-Puppe befand sich bei der Leiche ... Cliff sprang auf. »Wäre es nicht möglich ...«, begann er. »Was?« Cliff war von seiner eigenen Idee so überwältigt, daß es ihm die Sprache verschlug. »Sie sagten, daß man das oberste Robotgesetz nicht auslöschen kann ...« »Auch den zweiten und den dritten Punkt des Gesetzes nicht«, unterbrach Rott. »Das weiß ich. Aber immerhin gelang es Chantelenes Leuten, dem zweiten und dritten Gesetz seine Philosophie vorzuschieben.« »Soll ich noch einmal erklären, daß das oberste Robotgesetz nicht zu umgehen ist!« brauste Rott auf. »Nein«, beruhigte Cliff. »Aber sagen Sie mir, ob man eine Art Robot-Dilemma künstlich herstellen kann.« »Präzisieren Sie«, verlangte der Robotiker.
»Nehmen wir folgende Situation: Zwei Menschen befinden sich in Lebensgefahr. Ein Robot wird Zeuge, erkennt aber, daß er nur einen von beiden retten kann. Gerät er in ein Dilemma?« »Nein. Er wird sich um jenen bemühen, der in akuter Gefahr ist. Und um einen Vorwand gleich vorwegzunehmen. Es gibt nie zwei gleichrangige Situationen. Ein Robot erkennt die feinen Unterschiede.« »Gut. Aber was macht ein Robot, wenn er die beiden Menschen kennt? Er kennt von beiden die Fähigkeiten. Wird er dann dem Wertvolleren zuerst Hilfe leisten?« Rott war nachdenklich geworden. »Ich weiß, worauf Sie hinaus wollen«, meinte er. »Wenn man die Puppen mit der Philosophie des Übermenschen belastet und sie dann vor die Wahl stellt, diese Spezies oder die andere kann nur überleben ... Das ist ein kompliziertes Problem. Ich werde darüber nachdenken. Aber ich glaube nicht, daß die Puppen selbst in diesem Fall Menschen nach ihrem Gutdünken töten können.« Cliff ging zur Tür. »Denken Sie darüber nach, Sir. Darf ich Sie bitten, mir das Ergebnis Ihrer Überlegungen mitzuteilen?« »Wenn die Puppen tatsächlich die Menschen in zwei Güteklassen unterteilen, dann wird es bald die ganze Basis 104 wissen. Es wäre schrecklich.« Typhoon C. Rott merkte nicht, daß er bereits wieder allein war. Er hing seinen Gedanken nach, aber er kam bei all seinen Überlegungen zu keinem Ergebnis. Er mußte Versuche am lebenden Modell anstellen. In diesem Fall bedeutete es, daß er eine Puppe
brauchte, die agieren konnte. Das erinnerte ihn an Alfred, seinen Assistenten. Ein Blick auf die Uhr zeigte, daß er schon über eine Stunde weg war. Rott ging auf den Korridor hinaus. Er war leer, bis auf den Wachtposten, der mit entsicherter HM 4 vor der Puppenkammer patrouillierte. Rott fragte ihn nach Alfred. »Er ist seit mehr als einer halben Stunde in der Kammer«, antwortete der Soldat. »Ich wollte bereits nach ihm sehen, aber die Tür ist von innen verschlossen.« »Schmelzen Sie das Schloß!« befahl Rott. Der Soldat gehorchte augenblicklich. Dann trat er mit vorgehaltener Waffe die Tür ein. Der Raum dahinter war klein und quadratisch. Im Licht der Deckenlampe glitzerten acht Augenpaare den beiden Eindringlingen entgegen. In der einen Ekke lag Alfred in unnatürlicher Verrenkung. Er war tot, das erkannte Rott augenblicklich. Die acht Puppen setzten sich in Bewegung. Aber bevor sie noch die Tür erreichten, verglühten sie in dem heißen Energiestrahl der HM 4. »Ich konnte nicht anders, Sir«, verteidigte sich der Wachtposten. »Als ich es in den Händen der Puppen glitzern sah ...« Rott lehnte an der Wand und hielt ein Tastentuch vor den Mund. Es stank penetrant nach verbrannten Isolationen und verkohltem Plastik. »Geben Sie sofort Alarm«, befahl er mit erstickter Stimme. Wenige Minuten später gellten die Alarmanlagen in Basis 104. Eine Lautsprecherstimme verkündete:
»Warnung an alle Besitzer von GOLDIE-II-Modellen. Stellen Sie augenblicklich alle Versuche ein!« Der Alarm erreichte Cliff McLane nicht mehr.
10 Tamara Jagellovsk konnte ihre Nervosität nur schlecht verbergen. Sie bildete sich ein, die beiden GSD-Offiziere befänden sich nur hier, um sie zu beobachten. Dabei standen sie Wache. Der eine sicherte die Tür, die ins Verhörzimmer führte, der andere versperrte mit seinem Körper den Ausgang des Aufnahmeraums. Außer dem Klicken und Surren der Tonbandgeräte war nur das Atmen der fünf Anwesenden zu hören. Die beiden Tontechniker verursachten gelegentlich zusätzliche Geräusche, wenn sie an ihren Geräten Einstellungen vornahmen. Die Tonbänder liefen, das Verhör im Nebenraum ging weiter. Tamara machte sich Gedanken wegen dieses Verhörs. Sie glaubte Cliff zwar zu kennen, aber trotzdem konnte sie sich des schleichenden Verdachts nicht erwehren, daß er Spring-Brauner nur aus Rachsucht in diese Situation gebracht hatte. Und das machte sie nervös. Es nützte nichts, daß sie sich immer wieder sagte, Cliff sei zu einer so niederträchtigen Verleumdung nicht fähig. Die beiden Tontechniker schalteten ihre Geräte aus, nahmen die Kopfhörer ab und stießen erleichtert die Luft aus. Tamara wischte sich die Hände an der dunkelgrauen Uniform ab. »Feierabend«, sagte der eine Techniker. Er ließ die Spule zurücklaufen, während der andere zu einem
Dupligraphen ging, der den Ablauf des Verhörs mitgeschrieben hatte. Er entnahm dem Auswurfschlitz zwölf geordnete und geheftete Protokolle. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür zum Verhörzimmer. Oberst Villa kam heraus; sein Gesicht zeigte keinerlei Gefühlsregungen. »Leutnant Jagellovsk«, sagte er, und Tamara zuckte zusammen. Sie hatte einen Blick in den angrenzenden Raum riskiert und dort Spring-Brauner auf einem harten Stuhl sitzen sehen. Der Ordonnanzleutnant von Marschall Wamsler wirkte trotz einer unnatürlichen Blässe gefaßt. »Ja, Sir?« sagte Tamara und versuchte, ihre Hände ruhig zu halten. Villa lächelte schwach. »Ich bin enttäuscht.« Tamara schluckte. »Von ... von den Ergebnissen aus dem Verhör?« »Auch das. Aber trotzdem – McLane hat wahrscheinlich in gutem Glauben gehandelt. Das ist meine Meinung. Welche Schlüsse allerdings Marschall Wamsler ziehen wird, kann ich nicht sagen.« Tamara schwindelte. Sie stützte sich an die Kante des Tisches und schüttelte den Kopf, um ihren Blick zu klären. Die Luft in dem Raum war schlecht, irgend etwas saß ihr wie ein Kloß im Halse fest. »Ich muß zugeben«, sprach Villa leise weiter, »daß ich mir selbst auch einiges von diesem Verhör erhofft habe. Es war der letzte Ausweg. Die letzte Möglichkeit, um auf schnelle Art und Weise Chantelenes geheimen Unterschlupf ausfindig zu machen. Aber Leutnant
Spring-Brauner wußte tatsächlich nichts darüber.« »Vielleicht besitzt er einen posthypnotischen Gedächtnisblock«, wandte Tamara schwach ein. Villa schüttelte nur den Kopf. Das bedeutete, daß er auch diese Möglichkeit nicht außer acht gelassen hatte. Man hatte Spring-Brauner nach allen Regeln der Kunst ausgehorcht und selbst vor seinem Unterbewußtsein nicht haltgemacht. Doch das Ergebnis war gleich Null. Spring-Brauner hatte nicht helfen können, den Standort des Hypersenders ausfindig zu machen, der den Puppen den Befehl zum Zuschlagen gefunkt hatte. Über die Frequenz der Funkimpulse war man sich inzwischen im klaren, aber der Kodeschlüssel war immer noch unbekannt. Deshalb mußte man an den Sender herankommen. Das war die einzige Möglichkeit, um dem fortschreitenden Chaos auf der Erde Einhalt gebieten zu können. Aber die Ergebnislosigkeit des Verhörs hatte noch eine Nebenwirkung. Man würde Cliff der Verleumdung bezichtigen. Es war allgemein bekannt, daß er Spring-Brauner nicht leiden mochte, deshalb würde Marschall Wamsler zu der Meinung kommen, Cliff habe das Verhör nur aus privaten Motiven inszeniert. Tamara fand in Villas Augen die Bestätigung für diese Befürchtung. »Sir?« Der Techniker übergab Oberst Villa die zwölf Mitschriften des Verhörs. »Darf ich ein Protokoll haben?« fragte Tamara. »Für wen? Für McLane?« wollte Villa wissen. »Er kann damit nichts anfangen. Der Komputer hat die Bedeutungslosigkeit von Spring-Brauners Aussage bestätigt.«
»Aber Cliff – ich meine, Oberst McLane war auf Kriotes. Der Komputer kennt die Situation nicht so wie McLane. Vielleicht läßt sich aus einer Kleinigkeit, aus einer unwichtig klingenden Erklärung SpringBrauners ...« Tamaras Stimme war immer leiser geworden, bis sie schließlich verstummte. Oberst Villa brauchte seine Ablehnung nicht erst in Worten auszudrücken. Seine unnachgiebigen grauen Augen sagten alles. Es war zwecklos. Cliffs Karriere bei der Raumaufklärung schien ein jähes Ende zu nehmen. Das Schicksal der Erde schien besiegelt ... »Folgen Sie mir in mein Büro, Leutnant Jagellovsk«, forderte Villa. Das geschah eine Stunde nach dem von Typhoon C. Rott ausgelösten Alarm. Cliff McLane hatte demnach Zeit genug gefunden, sich in seinem Bungalow mit der Puppe, die ihm Chantelene geschenkt hatte, ausreichend zu beschäftigen. Niemand hatte ihn gewarnt. So konnte er in aller Ruhe das tödliche Geheimnis der GOLDIE-II-Puppe ergründen. Das Geheimnis der Killer-Puppe ... * Eigentlich hätte er keine Chance gegen die Puppe gehabt. Es war schon spät, der fehlende Schlaf und der übermäßige Whiskykonsum hatten seine Reaktionsschnelligkeit beeinträchtigt.
Aber weder Müdigkeit noch Alkohol konnten seinem Verstand etwas anhaben. Freilich würde ihm auf die Dauer auch der Verstand nichts helfen. Die Puppe war auch nicht dumm – sie besaß spezielle Lernkreise. Und sie war kompromißlos. Sie war so programmiert, daß sie keinem Menschen Schaden zufügen konnte, der im Sinne der Übermenschen-Philosophie handelte. Aber sie mußte alle töten, die sich dieser Philosophie entgegenstellten. Durch die Beantwortung der vorangegangenen Fragen hatte Cliff der Puppe zu erkennen gegeben, daß er Chantelene, die Kamarilla und deren Philosophie verachtete. Das war das Zeichen für die Puppe. Noch ehe Cliff sie abschalten konnte, erschien in ihrem Plastikhändchen eine haarfeine Nadel. Sie stieß damit in Cliffs Richtung. Aber sie stolperte über den kaum sichtbaren Draht, den Cliff vorsorglich in fünf Zentimeter Höhe quer durch den Raum gespannt hatte. Das rettete ihm das Leben. Bevor sich die Puppe wieder aufgerafft hatte, befand er sich in Sicherheit. Er war auf das schmale Regal geklettert, das in einem Meter Höhe die eine Wand entlang lief. Es war ein schmales Sims, das er hatte anbauen lassen, weil er eine Ablage für kleinere Gegenstände brauchte, die immer schnell zur Hand sein sollten. Bücher, eine antike Standuhr und ein Meteorstein, groß wie eine Melone, hatten im Augenblick dort ihren Platz. Und Cliff McLane. Unter ihm stand die Puppe und starrte mit mordgierigen Augen zu ihm empor. Es war natürlich ab-
surd, den synthetischen Augen einen besonderen Gefühlsausdruck anzudichten. Aber für Cliff glitzerten sie in diesem Augenblick mordgierig. Die haarfeine Nadel zeigte zu ihm empor. Noch verharrte die Puppe reglos, aber es war zu erwarten, daß sie einen Weg suchen würde, um an ihr Opfer heranzukommen. Cliff sah von seinem Platz aus die HM 4, die samt Gürtel in der Diele am Haken hing. Die Waffe war mehr als fünf Meter von ihm entfernt. Er dachte sehnsüchtig an seinen Hausroboter, der nutzlos im Abstellraum darauf harrte, eingeschaltet zu werden, um das Haus von Unrat zu befreien – und seinen Herrn zu beschützen. Cliff hätte am liebsten aufgelacht. Er, ein erwachsener Mann, saß auf einem schmalen Sims und fürchtete sich vor einer Puppe. Es war wie in dem abgestandenen Witz, in dem eine Hausfrau vor einer Maus auf einen Stuhl geklettert war. Aber es gab einen Unterschied. Der war zwar klein, aber entscheidend. Die Maus aus dem Witz konnte die Sitzfläche des Stuhls nie erreichen. Die Puppe aber kletterte an einer Zierkordel zum Regal hoch, die Cliff einmal als schicke Dekoration dort befestigt hatte. Das Videophon summte ... * Mario de Monti konnte man keineswegs als Gewohnheitsmenschen bezeichnen, auch wenn er die Gewohnheit hatte, jeder weiblichen Ordonnanz nach-
zusteigen, die wohlproportioniert war. Begreiflicherweise gehörte schon eine gute Portion Glück dazu, ihn zu Hause und allein zu erreichen. Der nächtliche Anrufer, der in Marios Wohnung das Videophon zum Summen brachte, besaß diese Portion Glück. Mario hatte süß geträumt. Er fluchte, weil das hartnäckige Summen des Videophons ihn aus dem Traum gerissen hatte. Er schaltete die Beleuchtung und das Bildsprechgerät ein. Er blickte erstaunt drein, als er Tamara auf dem Bildschirm erkannte. »Weißt du, wo Cliff sich aufhält?« erkundigte sie sich. »Zu Hause, nehme ich an ...« »Ich habe eben versucht, ihn zu erreichen. Aber er nimmt kein Gespräch entgegen.« »Er schläft bestimmt wie ein Murmeltier und hört das Videophon nicht«, versicherte er. »Er hat Ruhe auch nötig. Vielleicht wäre es besser, du würdest es morgen wieder versuchen.« Tamara brachte einige geheftete Folien ins Bild. »Es ist dringend«, sagte sie. »Villa gab mir in seinem Büro diese Papiere. Er verlangt sie in zwei Stunden wieder zurück, und Cliff muß sie vorher lesen.« »Worum handelt es sich?« »Es ist das Protokoll von Spring-Brauners Verhör.« Mario pfiff durch die Zähne. »Hat der Adonis endlich gestanden, daß er für die Kamarilla spioniert?« Tamara wurde ungehalten. »Keine blöden Witze«, fuhr sie den Ersten Offizier der ORION an. »Das Verhör hat überhaupt nichts eingebracht, und
es wurde auf Cliffs Verlangen in Szene gesetzt. Verstehst du jetzt?« »Mahlzeit!« Mario wollte sich erkundigen, wo Tamara sich im Augenblick aufhielt. Aber der Hintergrund des Videophonbildes war eindeutig. Sie rief aus dem Starlight-Casino an. Dort war Cliff aber auch nicht. »Wissen die anderen nichts über ihn?« fragte Mario in der vagen Hoffnung, daß Tamara ihn als ersten angerufen hatte. Tamara schüttelte verneinend den Kopf. »Ich habe seinen Weg bis zu Typhoon Rott verfolgt«, sagte sie. »Bleibe, wo du bist«, verlangte Mario. »Ich komme sofort und werde mir das Protokoll ansehen. Wegen Cliff brauchst du dir keine Sorgen zu machen, meine ich.« * Sorge um Cliff allein hätte ohnedies nicht genügt. Er brauchte tatkräftige Hilfe. Sehr dringend sogar. Denn die Puppe hatte das Sims erreicht. Hinter ihr baumelte die Kordel. Die Nadel in den Plastikfingern glitzerte, an der Spitze perlte ein kleiner Tropfen. Gift! Cliff war bis zum äußersten Rand zurückgewichen. Mit einem Fuß hatte er sich wie haltsuchend auf den großen Meteorstein gestützt, die eine Hand hielt er wie ein Seiltänzer ausgestreckt, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.
Alle Muskeln seines Körpers waren angespannt. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren. Seine einzige Hoffnung war, daß er genügend Kraft in dem einen Bein besaß, um ... Die Puppe sprang vor, die Hand mit der vergifteten Nadel steif ausgestreckt. Sie zielte auf ihn. Cliff gab dem Meteorstein einen Stoß. Der schwere, vernarbte Klumpen kollerte das Sims entlang und prallte gegen die Beine der Puppe. Beide, GOLDIE II und Meteorstein polterten zu Boden. Cliff hoffte, daß irgendein Gelenk der Puppe durch den Sturz beschädigt wurde, so daß sie sich nicht mehr so flink bewegen konnte. Aber er überließ nichts dem Zufall. Noch bevor die Puppe wieder auf die Beine kam, schleuderte er die antike Standuhr auf sie hinunter. Ohne auf das Ergebnis seiner Attacke zu warten, riß er die Kordel aus ihrer Verankerung und warf sie in den Raum hinein. Jetzt erst atmete er auf. Vorerst war er vor einem neuerlichen Angriff sicher. Oder vielleicht hatte er auch überhaupt nichts zu befürchten. Er drücke sich gegen die Wand und blickte auf die Überreste der Uhr hinunter. GOLDIE lag inmitten des Räderwerks. Cliff wartete. Er begann schon neue Hoffnung zu schöpfen, als sich die Puppe plötzlich erhob. Sie hinkte. Ein Gelenk ihres Beins war also tatsächlich beschädigt worden, aber das war noch kein Grund zum Triumphieren. Wieder summte das Videophon. Cliff lauschte dem Geräusch. Das Videophon war die einzige Verbindung zur Außenwelt, doch es war zu weit von ihm entfernt.
Das Summen brach ab und – im selben Moment startete GOLDIE ihren zweiten Angriff. Sie schob einen Stuhl heran und stellte ihn unter den Sims. Cliff nutzte den Augenblick, in dem sie auf die Sitzfläche kletterte. Da ergriff er die Lehne und schleuderte das Sitzmöbel mitsamt GOLDIE mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft durch den Raum. Kurz darauf folgte ein Klirren und Scheppern, als bei dem Aufprall eine Glasplastik in Trümmer ging. Dieser Verlust wäre zu verschmerzen gewesen, wenn GOLDIE sich dabei den Hals gebrochen hätte. Aber sie kam bereits wieder aus den Trümmern zum Vorschein. Nur ... Cliff traute seinen Augen nicht. Der Arm mit der vergifteten Nadel hing leblos an der Seite des Puppenkörpers herunter! Er wartete, bis GOLDIE unter dem Sims stand. Dann hockte er sich und streckte das linke Bein probeweise hinunter. Sofort schoß die Nadel empor und verfehlte seinen Fuß nur um wenige Millimeter. Der leblose Arm war nur eine Finte gewesen. Cliff konnte nun nichts anderes tun, als GOLDIEs weitere Unternehmungen abzuwarten. Ihm schossen zwar die wildesten Ideen durch den Kopf, aber er gab sie alle wieder auf. Keine war mit einer guten Überlebenschance durchführbar. Er wartete und beobachtete die Puppe, die das Wohnzimmer durchstöberte. Manchmal verschwand sie für Sekunden, erschien aber immer schnell wieder. Sie gab Cliff keine Chance. Er konnte den Vorraum vielleicht erreichen, aber bevor er die HM 4 in die Hand bekäme, wäre er ein toter Mann.
Plötzlich hörte er aus einem Nebenraum ein Geräusch. Es kam ihm irgendwie vertraut vor. Aber bevor er noch dahinterkam, wer die Geräusche verursachte, sah er den Urheber. Es war sein Roboter. Und GOLDIE saß auf seinen metallenen Schultern. Seiner Programmierung gemäß sammelte der Haushaltsroboter die umherliegenden Trümmerstükke ein. Cliff errechnete, daß er auf seinem Weg in wenigen Minuten auch das Sims erreichen wurde. Von ihrem erhöhten Posten aus würde GOLDIE Cliff dann spielend erreichen. Zusehends verringerte sich die Distanz zwischen der Puppe und ihrem potentiellen Opfer. * Bevor die Konferenz begonnen hatte, sprach Marschall Wamsler mit Oberst Villa unter vier Augen. Er hatte ihn beiseite geführt, so daß Sir Arthur, KublaiKrim, von Wennerström und die anderen zahlreichen Beamten und Wissenschaftler nichts von dem Gespräch hören konnten. Auch Spring-Brauner verstand kein Wort. Und um ihn ging es dabei. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, Oberst«, hatte Wamsler gesagt, »wenn ich mit Ihrer Diskretion rechnen darf. Bei dem Verhör sind einige private Details zutage getreten, die von einigen Herren falsch ausgelegt werden könnten. Spring-Brauner hätte darunter sehr zu leiden. Nicht nur beruflich, sondern auch seelisch.«
»Ich verstehe«, entgegnete Villa ziemlich kühl. »Aber eines, Marschall, ist mir nicht klar. Wie kommen Sie zu der Annahme, daß ich Spring-Brauners Beziehung zu einer Dame von Kriotes nicht diskret behandeln würde, wenn Sie mich nicht darum ersuchten?« Wamsler räusperte sich. »Sie dürfen mich nicht falsch verstehen, Oberst, aber es existieren doch zwölf schriftliche Protokolle und ein Tonband. Wenn die nun in die falschen Hände kämen ...« Marschall Wamsler ließ den Satz offen. Villa überlegte, ob der Chef der Raumaufklärungsverbände etwas von dem Protokoll wußte, das er Tamara Jagellovsk für Cliff McLane gegeben hatte. Er entschied sich dagegen. Mit einem Lächeln, dessen Bedeutung nur er kannte, sagte er: »Keine Sorge, Marschall, die Unterlagen geraten nicht in die falschen Hände.« »Ich bin der Meinung, daß Spring-Brauner vollkommen unschuldig in diese Verschwörung geraten ist«, meinte Wamsler abschließend. »Ich auch«, versicherte Villa. Kurz darauf begann die Konferenz. Wie Sir Arthur in seiner Eröffnungsrede versicherte, war sie einberufen worden, weil es gelungen war, eine wirksame Waffe gegen die Puppen zu entwickeln. »Und zwar«, fügte er bedeutungsvoll hinzu, »können wir damit alle Puppen gleichzeitig erledigen.« Typhoon C. Rott stellte diese Wunderwaffe vor. Es war eine Puppe. Sie besaß alle Merkmale einer GOLDIE. Doch es war eine ›Anti-Puppe‹, wie er es ausdrückte. »Ist sie einsatzbereit, oder befindet sie sich erst im
Versuchsstadium?« wollte Oberst Villa wissen. »Sie kann sofort eingesetzt werden.« »Und warum haben Sie die Wunderpuppe noch nicht an die Front geworfen?« erkundigte sich General Kublai-Krim. »Weil wir leider noch nicht wissen, wo die Front liegt«, meinte Sir Arthur. »Was soll das heißen?« Typhoon C. Rott lächelte säuerlich. »Wir müssen den Hypersender und Chantelenes Versteck auf Kriotes finden. Das ist die Front!« * Es war der größte Brand auf Terra im letzten Jahrtausend. Bob, der Vater ... Chris, die Mutter ... Jimmy, der Sohn ... Sie sahen zu, wie ein ganzes Stadtviertel in den Flammen aufging. Ungerührt sahen sie zu, wie die Roboter versuchten, das Feuer zu löschen. Die Feuerwehr war fast machtlos gegen diese Gewalten. Die meisten der brennenden Häuser galten als flammensicher; es wurden fast nur noch flammensichere Häuser gebaut. Und jedes zweite Haus hatte seine automatische Feuerlöschanlage. Aber gegen diese Flammenhölle waren alle technischen Vorkehrungen machtlos. Das ganze Sicherheitssystem mußte zusammenbrechen, weil es nicht diesem geballten Ansturm gewachsen war. Das Feuer war an Hunderten von Stellen gleichzeitig gelegt
worden. Die Bürger selbst waren die Brandleger. Sie hatten Kerosin und Benzin in großen Mengen ausgeschüttet und angezündet. Das Ergebnis waren lichterloh brennende flammensichere Häuser. Und die Roboter versuchten, den Brand mit ihren Feuerlöschgeräten einzudämmen. Sie gingen mit stoischer Ruhe ans Werk. Die Protestkundgebungen der fanatisierten Bürger prallten ungehört von ihren metallenen Körpern ab. »Lehnt euch auf!« hatte GOLDIE verlangt. Und 25 Millionen Menschen folgten ihrem Ruf. Ein Demonstrationszug kam die von Flammen umsäumte Hauptstraße herunter. Transparente gegen die Erdregierung und gegen die Gesellschaftsordnung wurden geschwungen. Chöre gellten durch die vom Feuer erhellte Nacht. Die Stimmen waren nicht zu überhören. Tausende heisere Kehlen schrien es. Wir verlangen den Aufbruch der Menschheit! Verbrennt die Wurzeln der Stagnation! Weg mit den Tyrannen! »ETIENNE CHANTELENE! ETIENNE CHANTELENE!« Bob, der Vater; Chris, die Mutter; Jimmy, der Sohn; sie stimmten in die Sprechchöre ein. Ihre Gesichter waren rußverschmiert, aber ihre Herzen loderten heißer als alle Flammen dieser Welt. »Brennt das nieder und brennt das nieder und das und das ...« *
Tamara hatte mit steigender Nervosität neben Mario gesessen, während er das Protokoll durchlas. Jetzt legte er es weg und trank sein Glas leer. Er schnippte mit dem Finger, und ein Steward brachte ihm den vierten Drink. Tamara konnte nicht mehr an sich halten. »Und?« fragte sie. »Ich weiß nicht«, sagte Mario zweifelnd. »Hast du keinen Anhaltspunkt gefunden?« »Ich weiß nicht«, wiederholte er. »Ich müßte mit Cliff darüber sprechen.« »Aber Cliff ist unauffindbar«, sagte Tamara verzweifelt. »Ich habe noch einigemale bei ihm in der Wohnung angerufen ... Er ist nicht zu Hause.« Es wäre eine verdammte Ironie, wenn Cliff ausgerechnet jetzt einen Seitensprung machte, obwohl er Tamara bisher treu gewesen war, dachte Mario. Es wäre eine verdammte Ironie! »Er ist spurlos verschwunden«, sprach Tamara weiter, »noch bevor in Basis 104 Großalarm gegeben wurde ...« Mario sprang auf. »Was sagst du da? Cliff hat keine Ahnung von der Gefährlichkeit der GOLDIE-II-Puppen?« Die Erregung sprang auf Tamara über, obwohl sie keine Ahnung hatte, worauf Mario hinaus wollte. »Was haben die Puppen mit Cliff zu tun?« erkundigte sie sich. »Er besitzt doch keine ...« »Und ob er eine besitzt! Chantelene hat sie ihm als Geschenk bei unserer Abreise von Kriotes gegeben.« Mario brauchte nicht lange zu überlegen. Wenn Cliff zu Hause war und kein Videophongespräch entgegennahm, dann konnte das nur eines bedeuten.
Die Puppe hinderte ihn daran! »Los«, sagte Mario nur. Sie verließen das Starlight-Casino und glitten im Lift zur Oberfläche hinauf. Mit einem Turbinenwagen fuhren sie zu Cliffs Bungalow hinaus. Mario hatte sich die Münzen bereits zurechtgelegt, mit denen er den Robotwagen entlohnte. Sie rannten in wahnwitzigem Lauf auf die Ansammlung von Kuppelelementen und rechteckigen Anbauten zu, die Cliffs Bungalow darstellten. Die Vorderfront lag vollkommen im Dunkeln. Aber Mario bemerkte, daß der felsige Steilhang auf der Rückseite von einem milden Kunstschein belegt wurde. Einen Augenblick zögerte er, dann wandte er sich dem Haupteingang zu. Tamara hieß er durch einen Wink ruhig zu sein. Die Tür war nur angelehnt. Mario drückte sie lautlos auf. Flink wie ein Raubtier schob er sich in das Zwielicht des Vorraumes. Er tastete sich nach links, wo die Diele im hellen Licht des Wohnzimmers lag. Plötzlich hielt er inne. Für einen Moment hielt er den Atem an. Das Blut gefror ihm in den Adern. Wenige Meter vor ihm stand Cliff auf dem schmalen Sims des Wohnzimmers. Er preßte sich ganz fest gegen die Wand, während vor ihm der Haushaltsrobot in gebückter Stellung stand und die Bruchstücke der antiken Uhr wegräumte. Auf dem Rücken des Robots saß die Puppe, und die Nadel in ihrer ausgestreckten Hand war nur noch wenige Zentimeter von Cliff entfernt. Cliff war zu keiner Bewegung fähig; reglos, wie vom Blick einer Kobra hypnotisiert, starrte er den Gifttropfen am Ende der Nadel an.
Mario war unbewaffnet. Aber er entdeckte Cliffs HM 4, riß die Waffe an sich, zielte und schoß. Es war ein sehr schmaler Fächerstrahl, der der Puppe den Arm mit der Giftnadel amputierte. Als GOLDIE, vom Bein des Robots gestützt, hilflos auf dem Boden lag, gab ihr Mario mit einem kurzen Feuerstoß den Rest. Dann wischte er sich den Schweiß von der Stirn. »Bei den drei Vulkanen«, seufzte er erleichtert, »das war aber knapp.« »Niemand weiß das so gut wie ich«, sagte Cliff an Tamaras Gesicht vorbei, die ihm in die Arme gefallen war. Plötzlich schob er sie von sich. »Was hast du da eben gesagt, Mario?« »Ich? Was habe ich gesagt?« wunderte sich der Erste Offizier. »Etwas«, erwiderte Cliff trocken, »wovon du mir schon einmal erzählt hast. Damals, nach der Unterredung mit Äphka. Von drei Vulkanen.« Mario übergab ihm das Protokoll. »Lies das erst einmal.« Cliff machte es sich in einem Sessel bequem und überflog die Folien eine nach der anderen. Tamara blickte verständnislos von Cliff zu Mario. »Will mir denn keiner sagen, wovon eigentlich die Rede ist?« Sie bekam keine Antwort. Aber sie erfuhr gleich darauf, worum es ging. »Ja«, murmelte Cliff, »das könnte es sein. Vielleicht ist das der Hinweis, den ich gesucht habe.« »Er ist es«, versicherte Mario überzeugt. Cliff las eine Stelle aus dem Protokoll vor: »Oberst Villa: Ich versichere Ihnen, Leutnant, daß
wir Ihre Privatsphäre nicht antasten werden. Diskretion habe ich Ihnen zugesichert. Aber ich muß auch darauf bestehen, daß Sie jede Einzelheit, und sei sie noch so intim, berichten. Leutnant Spring-Brauner: Ich werde Ihrer Bitte nachkommen. Wo war ich stehengeblieben ... Äphka wollte mich wiedersehen. Aber sie redete sehr undeutlich über Ereignisse, die bevorstanden. Ihre Zukunft sei ungewiß, sie fürchte sich vor Chantelene, und sie wollte, daß ich mich heraushalte. Aber sie gab mir einen Treffpunkt bekannt, an dem sie jederzeit anzutreffen sei – wenn ... wenn das alles vorüber wäre ... Villa: Welcher Treffpunkt? Spring-Brauner: Auf Kriotes, bei den drei Vulkanen. Sie sagte, es gäbe auf diesem Kontinent nur die eine Formation von drei nebeneinanderliegenden Vulkanen. Und im Krater des mittleren wollte sie auf mich warten. Oberst? Villa: Ja, Leutnant? Spring-Brauner: Äphka ist unschuldig.« »Dieser Narr«, seufzte Cliff. »Nur weil er liebt?« rügte Tamara. »Du kannst dir wohl nicht vorstellen, daß dein Erzfeind menschlicher Regungen fähig ist?« »Das auch«, gab Cliff unumwunden zu. »Aber Äphka ist eine gefährliche Schlange. Für Chantelene geht sie durchs Feuer. Deshalb könnte einem SpringBrauner direkt leid tun.« »Und jetzt«, verkündete Mario, »brechen wir alle in Tränen aus. Eine Träne für Tante Äphka und eine für Onkel Spring-Brauner ...« »Nein«, widersprach Cliff und erhob sich. »Ich
werde Marschall Wamsler um Starterlaubnis bitten. Dann fliegen wir nach Kriotes. Zu den drei Vulkanen.« »Viel Glück«, sagte Mario.
11 Elf Stunden sind keine große Zeitspanne, aber sie genügten Cliff, um von Wamsler die Starterlaubnis zu erhalten und Kriotes zu erreichen. Mit den empfindlichen Geräten der ORION VIII fiel es Cliff und seiner Crew nicht schwer, die drei dicht beieinanderstehenden Kraterkegel aus großer Höhe auszumachen. »Die ORION bleibt in zehntausend Meter Höhe in der Schwebe«, ordnete Cliff an. »Helga wird mit T.R.A.V. in ständigem Funkkontakt stehen und über die einzelnen Phasen unserer Aktion berichten. Mario, du klemmst dich hinter den Overkill-Projektor. Wenn wir versagen, dann fegst du die drei Vulkane von der kriotischen Geographie.« »Wer ist ›wir‹?« erkundigte sich Mario, der sich schon ausgemalt hatte, Seite an Seite mit Cliff zu kämpfen. »Cliff und ich sind ›wir‹«, ließ sich Tamara Jagellovsk von ihrem Platz aus hören. Ihr Anblick erinnerte an vergangene Zeiten. Wie damals, als sie der ORION wegen der angeblichen Undiszipliniertheit ihres Kommandanten als Sicherheitsoffizier zugeteilt worden war, lehnte sie an einer Verstrebung. »Fertig, Genossin Jagellovsk?« erkundigte sich Cliff. Tamara nickte nur. Während sie mit ihm im Lift zu den LANCET-Kammern fuhr, schwiegen sie beide. Erst als sie sich in dem fast kugelförmigen Beiboot mit den zwanzig Glaskuppeln auf der Oberseite befanden, richtete Tamara das Wort an Cliff.
»Warum machst du es mir so schwer, Cliff?« erkundigte sie sich. Der Heckbildschirm zeigte Hasso Sigbjörnson, der in der Abschußkammer auf Cliffs Fertig-Zeichen wartete. Cliff gab es ihm, und ein wenig später wurde die LANCET aus der oberen Hälfte der ORION geschleudert. Die Antigravitationsaggregate brummten auf, als sie den verstärkten Andruck ausglichen; als Cliff das Beiboot an seinem höchsten Punkt mittels der manuellen Steuerung abfing, war nur noch das Rumoren des Antriebs zu hören. »Ich habe dich etwas gefragt«, sagte Tamara leise. »Du kannst dir vorstellen, wie mir zumute ist«, gab Cliff zurück. »Ja – aber mir geht es nicht anders.« Tamara kam zum Steuerpult. »Glaubst du, ich spiele gern deinen Wachhund, nur weil Wamsler sich für dein Vorgehen gegen Spring-Brauner rächen will! Dabei bin ich nicht einmal sicher, ob Wamsler sich von privaten Motiven leiten ließ.« »Schon gut«, murmelte Cliff und lächelte ihr zu. »Wir werden schon miteinander auskommen.« »Aber, Cliff, keine Extratouren bitte.« »Nein, keine Extratouren«, resignierte er. Die LANCET sank tiefer, auf die drei kegelförmigen Gebilde zu, die rötlichbraun aus dem Dschungel ragten. »Es hätte schlimmer kommen können«, meinte Cliff nach einer Weile. »Wamsler hätte mir die Starterlaubnis versagen können. Oder – nicht auszudenken – er hätte mir auch Spring-Brauner als Bewacher mitgeben können.« »Was natürlich laut Dienstvorschrift nicht leicht
durchzuführen gewesen wäre.« »Aber Spring-Brauner hätte es ganz bestimmt gereizt, seine Äphka aus den Klauen ihres Despoten zu erretten.« Cliff seufzte erleichtert. »Gott sei Dank ist es nicht dazu gekommen.« Tamara sah ihn von der Seite prüfend an. Sie war nicht sicher, wie Cliff ihre Anwesenheit auf der ORION aufnahm. »Ich bin froh«, sagte sie, »daß du mich als kleineres Übel betrachtest.« Cliff verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln. »Solche und ähnliche Dialoge zwischen dir und mir hat Wamsler sicher vorausgeahnt. Ich bin überzeugt, er sitzt jetzt in seinem Büro und freut sich diebisch über seinen köstlichen Einfall.« »Natürlich«, erwiderte Tamara, »und dabei denkt er keine einzige Sekunde an das Wohl der Erde.« »Okay, du hast gewonnen. Kein Wort mehr darüber.« Aber er fühlte sich, nachdem er seiner angestauten Wut etwas Luft gemacht hatte, doch viel besser. Er konnte sich auf die kommende Auseinandersetzung konzentrieren. Tamara notierte seinen Gefühlsumschwung mit Zufriedenheit. Sie ging an eines der Bullaugen. Die L ANCET näherte sich den Vulkankegeln in einem schrägen Winkel. Die Sonne stand tief im Westen und würde in einer Stunde hinter dem Horizont verschwinden. Die Krateröffnungen lagen im Schatten, und obwohl das Beiboot keine dreihundert Meter mehr vom mittleren Vulkan entfernt war, konnte Tamara überhaupt keine Einzelheiten in seinem Innern erkennen. »Es wäre nicht klug, wenn du versuchen wolltest,
unbemerkt zu landen«, sagte sie. »Wahrscheinlich hat man uns schon geortet.« »Das habe ich nicht vor«, erwiderte Cliff. »Aber es ist sehr unwahrscheinlich, daß Chantelene schwere Geschütze besitzt. Deshalb werde ich mich erst im letzten Augenblick zu erkennen geben.« Tamaras Blick wanderte durch die Kanzel und blieb auf der Puppe hängen, die zwei Meter von Cliff entfernt auf dem Fortsatz des Steuerpultes lag. Sie hatte das blonde Haar und die glitzernden Augen GOLDIES, auch die Körperproportionen und die Größe stimmten – aber es war nur eine Nachbildung. Das Innenleben dieser Puppe sah ganz anders aus. »Und was, wenn Chantelene das Geschenk der Erdregierung ablehnt?« wollte Tamara wissen. »Das kann ich mir nicht vorstellen«, antwortete Cliff und verlangsamte die Geschwindigkeit der LANCET, um in die Krateröffnung des mittleren Vulkans einfliegen zu können. »Chantelene ist von sich selbst viel zu überzeugt, als daß er auf die Idee käme, ihm könnte irgend etwas oder irgendwer gefährlich werden. Er wird GOLDIE III unterschätzen – so wie wir GOLDIE II unterschätzt haben.« Die scharfgezackte Öffnung des zweihundert Meter durchmessenden Kraters glitt an den Bullaugen der LANCET vorbei, dann waren es dunkle vertikale Schatten in den verschiedenen Grautönen bis Schwarz, die an dem tiefer sinkenden Beiboot emporwanderten. Schließlich zeigten die Geräte, daß der Boden nur noch zwanzig Meter entfernt war, und Cliff drosselte die Fallgeschwindigkeit noch weiter und fuhr die vier teleskopischen Landestützen aus. Der Boden war uneben, aber die LANCET setzte
leicht wie eine Feder auf. Cliff hatte darauf verzichtet, die Beleuchtung einzuschalten, aber für seinen Geschmack war es immer noch zu hell in der Kanzel. Das durch die Sichtluken von oben hereinfallende Tageslicht erzeugte eine Dämmerung, die einem Beobachter von draußen genügend Einzelheiten würde erkennen lassen. Und Cliff war überzeugt, daß Chantelene nicht müßig geblieben war. Er stellte die Verbindung zur ORION her und meldete Helga Legrelle, daß die LANCET I wohlbehalten im Innern des Vulkans gelandet sei. Dann stellte er auf die Frequenz um, die auf Kriotes gebräuchlich war. »Hier spricht Oberst McLane, Kommandant der ORION«, sagte er ins Mikrophon. »Ich rufe Etienne Chantelene. Wenn Sie mich hören können, Chantelene, dann melden Sie sich. Es kann nur zu Ihrem Vorteil sein. Wir wissen, daß Sie sich in diesem Vulkankrater versteckthalten. Geben Sie sich zu erkennen. Ich möchte mit Ihnen verhandeln.« Cliff stellte sich auf eine Wiederholung seiner Aufforderung ein. Aber er hatte kaum ausgesprochen, als sich Etienne Chantelene bereits meldete. Seine Stimme, die so klar aus dem Lautsprecher drang, als befinde er sich in der LANCET, klang ruhig und überheblich, wie bei ihrer ersten Begegnung. »Was wollen Sie mir anbieten, McLane? Ehrenhafte Kapitulation? Wenn Sie das wollen, können Sie augenblicklich umkehren. In meiner vorteilhaften Lage habe ich es nicht nötig, mich auf Kompromisse einzulassen.« »Vorteilhafte Lage?« wiederholte Cliff in gespieltem Erstaunen. »Sie sollten sich nach anderen Infor-
mationsquellen umsehen, Chantelene, die Sie auf dem laufenden halten. Ich bin hier, um Ihnen mitzuteilen, daß Ihr Putschversuch fehlgeschlagen ist. Sie können froh sein, daß Terra statt der taktischen Flotte mich geschickt hat. Das ist eine noble Geste, die Sie auf keinen Fall zurückweisen sollten.« Cliff erwartete keineswegs, daß sein Bluff Chantelene zur Kapitulation veranlassen würde, das war auch gar nicht bezweckt, aber als ein lautes, herzhaftes Lachen aus dem Lautsprecher schallte, zuckte er doch zusammen. »Sie sind einfach köstlich, McLane«, meldete sich Chantelene dann. »Was Sie eben sagten, läßt weitere Vergnüglichkeiten erwarten. Das muß ich mir anhören!« Cliff fiel ein Stein vom Herzen. Mehr wollte er nicht, als Chantelene gegenüberzustehen und – die Puppe persönlich übergeben. »Sind Sie allein, McLane?« »Ja-ja ... das heißt, ein Sicherheitsoffizier befindet sich in meiner Gesellschaft.« »Man traut Ihnen wohl nicht auf Terra?« »Sagen wir, meine Vorgesetzten haben Angst, daß mein Temperament mit mir durchgehen könnte und ich Ihnen den Hals umdrehe.« »Sie werden vulgär, McLane.« Chantelenes Stimme klang enttäuscht. »Also gut, bringen Sie Ihren Wauwau mit.« Cliff grinste Tamara schadenfroh an, dann straffte er sein Gesicht. »Chantelene, da ist noch etwas.« »Etwa noch ein Sicherheitsoffizier?« »Nein, nein – es handelt sich um ein Geschenk für
Sie. Ich möchte nur nicht, daß einer Ihrer Leute nervös wird und ...« »Was ist es? Nein, sagen Sie nichts. Lassen Sie mich raten. Es ist eine Puppe!« Cliff verschluckte sich beinahe. »Sie haben es erraten, Chantelene«, sagte er mit mühsam unterdrückter Verblüffung. »Terra schickt Ihnen eine GOLDIE III.« Tamara wartete gespannt auf die Antwort. Alles hing davon ab, wie Chantelene sich zu der Puppe stellen würde. »Wie originell«, rief Etienne Chantelene. »Eine Puppe – ich möchte sie unbedingt begutachten. Eine Puppe!« Damit, dachte McLane, war die erste Runde für die Menschheit gewonnen. * Tamara und Cliff kletterten über die ausgefahrene Leiter aus der LANCET hinaus in den Vulkankrater. Drei Kamarilla-Leute erwarteten sie. Einer von ihnen war Andantino. »Folgen Sie uns«, sagte er mit der ihm eigenen Herablassung. Cliff wunderte sich, daß keiner der drei bewaffnet war. Wie leicht wären sie zu überwältigen gewesen. Aber daran war nicht zu denken, denn das würde die Verwirklichung seines Planes in Frage stellen. Vielleicht wollte ihn Chantelene auch nur zu einer Unbedachtsamkeit provozieren. »Einen Augenblick«, bat Cliff.
Er hakte die Puppe aus, die an Stelle der HM 4 an seinem Gürtel hing, und schaltete sie ein. Dann stellte er sie auf den Boden und schloß sich zusammen mit Tamara den Kamarilla-Leuten an. Die Puppe folgte ihnen, ohne daß die drei auch nur einen Blick auf sie warfen. Der Weg führte über einen verschlungenen Pfad die fast senkrechte Wand aus Lavagestein hinauf. Nach einer Weile stellte Cliff einen Lichtschimmer zwischen dem ausgezackten Gestein fest. Er stieß Tamara an. Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. Tatsächlich waren sie an ihrem Ziel angelangt. Die Silhouette eines Mannes erwartete sie am Eingang einer Höhle. Cliff erkannte Etienne Chantelene in dem schwachen Licht. »Es ist mir ein Vergnügen«, begrüßte der Führer der Übermenschen die beiden Terraner, »Sie unter diesen Umständen willkommen zu heißen.« »Das Vergnügen ist auf meiner Seite«, entgegnete Cliff höflich. »Schließlich ist diese Zusammenkunft nur dem Umstand zu verdanken, daß Ihre GOLDIE II versagt hat.« Chantelene lachte. »Es tut mir leid, daß ich Sie unterschätzt habe. Es wäre schade, wenn Sie durch die Hand einer Puppe sterben müßten.« Es gab kein Händeschütteln. Cliff kam auch gar nicht dazu, Tamara vorzustellen. Chantelene machte eine galante Verbeugung. »Die Dame ist mehr als nur Ihr Sicherheitsoffizier. Ihre Gefährtin Tamara Jagellovsk?« Cliff nickte bestätigend. »Entzückend«, sagte Chantelene charmant. »Es ist
gut, wenn ein Mann eine Frau zur Seite hat, der er völlig vertrauen kann.« Cliff wußte, worauf Chantelene anspielte. Das Intermezzo zwischen Äphka und Spring-Brauner, wollte er andeuten, sei tatsächlich nichts weiter als ein unbedeutendes Zwischenspiel gewesen. Aber daß Chantelene überhaupt davon sprach, zeigte Cliff erneut, daß seine Gefühle nicht ganz so unverwundbar waren, wie er gern glauben machen wollte. Deshalb sagte Cliff: »Sie haben recht, ein Mann braucht einen verläßlichen Partner. Aber, Chantelene, von dem gefangenen Professor haben wir Ihr Versteck ganz bestimmt nicht erfahren, denn er hat einen hypnotischen Gedankenblock.« »Ja«, bestätigte Chantelene gedankenverloren. Es wurde nicht klar daraus, ob Äphka mit seinem Einverständnis diesen Treffpunkt mit Spring-Brauner ausgemacht hatte. Cliff wollte Chantelene noch mehr verwirren. »Aber der Professor hat uns auch sehr genützt«, sagte er leichthin. »Erst mit seiner Hilfe gelang uns die Konstruktion der GOLDIE III.« »Tatsächlich? Sie müssen mir mehr über diese Puppen-Attrappe erzählen.« »GOLDIE III spricht für sich.« »Wann wird das sein? Ich vergehe bereits fast vor Neugierde.« »Ihre Zeit wird noch kommen.« Das war das Stichwort für Tamara. Sie schob sich einen Schritt näher an Chantelene heran. »Etienne Chantelene«, sagte sie in befehlsmäßigem Ton. »Ich muß Sie im Namen des Galaktischen Sicherheitsdienstes in Gewahrsam nehmen!«
Das überraschte Chantelene. Tamaras Worte wurden durch die HM 4 unterstrichen, die sie plötzlich in der Hand hielt. Andantino, der anscheinend das hitzigste Temperament in der Kamarilla besaß, machte Anstalten, sich auf Tamara zu stürzen. Aber Chantelene hielt ihn mit einer lässigen Handbewegung zurück. Sein ironisches Lächeln zeigte deutlich, was er von Tamaras Auftritt hielt. »Wie wollen Sie das bewerkstelligen, Gnädigste?« erkundigte er sich. »Und welche Veranlassung haben Sie für dieses Vorgehen?« »Sie haben in mehr als einem Fall gegen die terranischen Gesetze verstoßen ...«, begann sie. Aber Chantelene unterbrach sie. »Das meine ich nicht. Überlegen Sie selbst. Terra befindet sich theoretisch bereits in meiner Hand. Ich brauche nur noch die Zeit für mich arbeiten zu lassen. Mit Hilfe des Volkes zerfällt die Zivilisation von selbst.« »Das ist ein Irrtum«, sagte Tamara mit mehr Sicherheit in der Stimme als im Herzen. Es war vorgesehen, daß sich Cliff in dieser Phase ihres Planes abwartend verhielt. Deshalb war es ihm möglich, die nähere Umgebung in Augenschein zu nehmen. Während Tamara und er zusammen mit Chantelene in der Mitte der künstlichen Höhle standen, waren an die fünfzig Personen eingetroffen. Cliff schätzte, daß dreißig von ihnen der eigentlichen Kamarilla angehörten. Die anderen mußten Wissenschaftler sein, die sich von Chantelenes Philosophie verblenden ließen. Sie kamen aus verschiedenen Seitenhöhlen, oder ließen von den technischen Geräten ab, an denen sie
hantiert hatten, und schoben sich langsam näher. Äphka war auch unter ihnen. Sie schien nicht zu wissen, was diese Situation zu bedeuten hatte, denn ihre Augen wanderten irritiert von einem zum andern. Abwartend stellte sie sich neben Chantelene, der automatisch einen Arm um sie legte. Es war, als wolle er in einer schweren Stunde Halt bei ihr suchen. Die Puppe, die Cliff von Terra mitgebracht hatte, wurde allgemein ignoriert. Das war gut so, dachte Cliff zufrieden, denn so konnte sie sich unauffällig an den Hypersender heranmachen. »Klären Sie mich über meinen angeblichen Irrtum auf?« wiederholte Chantelene seine Bitte. »Das ist schnell getan.« Tamara wirkte sicher, auch wenn Cliff ahnte, daß sie alle Kraft für diese Rolle aufbieten mußte. »Ihr ganzer Plan stützt sich zum Teil auf die hypnotische Fähigkeit der GOLDIEPuppen, teilweise auf die Killer-Puppen und endlich auf das Urteil Ihres Persönlichkeitstests.« »Immerhin haben Sie herausgefunden, daß es Killer-Puppen gibt und daß der Test die Persönlichkeit, nicht die Intelligenz betrifft«, meinte Chantelene spöttisch. »Nicht nur das, wir haben auch Gegenmaßnahmen getroffen«, fuhr Tamara fort. »Die Killer-Puppen sind ausgeschaltet. Die GOLDIE-I-Puppen werden bald keinen hypnotischen Einfluß mehr auf die Menschen haben. Aber der schwächste Punkt in Ihrem Plan ist wohl der Persönlichkeitstest.« Sie blickte sich abschätzend in der Runde der Kamarilla-Leute um; die Arroganz und Überheblichkeit, auf die sie stieß, ertrug sie mit Fassung. »Sie haben sich Ihre Leute gut ausgesucht, Chante-
lene, zu gut. Denn bewußt haben Sie in die Kamarilla nur schwache Charaktere aufgenommen.« »Es handelt sich um die geistige Elite der Menschheit«, entgegnete der Anführer der Übermenschen. »Zugegeben.« Tamara spürte, daß sie immer mehr festen Boden unter den Füßen gewann, und das stärkte ihre Selbstsicherheit im selben Maß, wie Chantelene an Fassung verlor. »Aber«, fuhr sie fort, »Intelligenz ist nicht gleichbedeutend mit Charakter. Sie brauchten für Ihre Pläne Menschen mit Geist, die aber gleichzeitig Menschen zweiter Güte waren. Die zehn Punkte Ihres Persönlichkeitstests decken das auf. Wer zuviel emotionale Stabilität besaß, schied aus – dasselbe galt für die Bereitschaft zur sozialen Zusammenarbeit und für die anderen Punkte.« Tamara schenkte den Kamarilla-Leuten ein mitleidiges Lächeln. »Das sind minderwertige Menschen, geistig überzüchtet, und instabil. Egoisten, Träumer, Genies am Rande des Wahnsinns. Welche Hilfe erwarten Sie sich von diesen Menschen? Was glauben Sie, tun diese Leute, wenn sich das Blatt zu Ihren Ungunsten wendet? Oder« – sie wandte sich an die Kamarilla-Leute – »was erwartet ihr euch von Etienne Chantelene, wenn er die Macht in den Händen hat? Er läßt euch fallen, weil er an den Ergebnissen des Tests gesehen hat, daß ihr minderwertig seid. Chantelene ist klug genug, um zu wissen, daß man mit einem Abschaum wie euch keine Superrasse züchten kann.« Andantino sprang vor. »Wie kann diese Schlange es wagen ...!« keuchte er. »Ich werde ihr ...« Weiter kam er nicht. Plötzlich stand Cliff vor ihm
und packte ihn am Blusenkragen. »Aber, Herr Übermensch«, zischte Cliff. »Wer wird denn gleich die Fassung verlieren. Vergessen Sie nicht, daß Sie zur Elite der Menschheit gehören. Da können Sie es sich nicht leisten Ihre Minderwertigkeitskomplexe so mit sich durchgehen zu lassen.« Andantino zappelte hilflos in Cliffs Griff und warf Chantelene einen flehenden Blick zu. »Lassen Sie ihn los«, verlangte der Anführer der Übermenschen. Nachdem Andantino wieder frei war, wandte er sich an seine Leute: »Werdet euch klar darüber, daß uns diese beiden durchschnittlichen Terraner nur Schwächen andichten können, über die wir ganz einfach erhaben sind. Emotionale Instabilität, Abwendung von sozialer Zusammenarbeit – das ist unsere Stärke. Wir stehen über den Dingen, die menschlichen Gesetze haben für uns keine Gültigkeit. Unsere Größe zeigt sich darin, daß wir ein Universum nach einer vollkommen neuen Weltordnung aufbauen werden. Menschen wie diese beiden werden darin nichts anderes als Roboter sein!« Diese kurze Ansprache hatte Eindruck bei den Kamarilla-Leuten gemacht. Aber Chantelene besaß genügend Überblick, um sich in dieser fortgeschrittenen Entwicklung an die Realität zu halten. Er schränkte sofort ein: »Wir sind nur wenige, deshalb sind wir auf die Hilfe der Puppen angewiesen. Sie stellen unser williges Heer im Kampf gegen die Stagnation – sie machen die Durchschnittsmenschen zu unseren Handlangern.« Er wandte sich mit verkniffenem Gesicht an Cliff. »Ich hasse Sie, McLane! Sie hätten es beinahe geschafft, die Früchte jahrelanger Arbeit zu zerstören.
Aber weil ich Sie so hasse, werden Sie jetzt zusehen müssen, wie der Übermensch über den Homo sapiens triumphiert!« Er deutete mit einer hektischen Armbewegung auf die Hyperfunkanlage – und in seinen Augen glomm das Feuer des beginnenden Wahnsinns. »Ein einziger Tastendruck genügt«, rief er mit sich überschlagender Stimme, »und ein vorgezeichneter Befehl geht in den Hyperraum hinaus – erreicht die Erde. Und zehntausend Puppen werden den Impuls empfangen. Daraufhin werden sie die Hypnotisierten auf Terra zu einem weltweiten Amoklauf aufstacheln. Und nichts – nicht die Zerstörung dieses Senders, nicht die Vernichtung aller Puppen – kann dann den Untergang der Zivilisation aufhalten.« Instinktiv richtete Tamara den Lauf der HM 4 auf Chantelene, aber Äphka stellte sich dazwischen. Und Tamara zögerte abzudrücken. Zumindest hatte es den Anschein, als zögere sie, aber in Wirklichkeit hätte sie auch nicht auf Chantelene geschossen. Bevor noch irgend jemand die Situation erfaßte, hatte Chantelene das Hyperfunkgerät erreicht und seine Drohung wahrgemacht. Sein Zeigefinger drückte den Knopf nieder, der bewirkte, daß der entscheidende Funkimpuls an die GOLDIE-Puppen abgegeben wurde: »Lehnt euch auf! Mit allen Mitteln. Plündert und brandschatzt und tötet und tötet. Tötet, tötet, tötet ...« Schwer atmend blickte sich Chantelene um. Er suchte vergebens Resignation in Cliff McLanes Blick. Der Kommandant der ORION VIII wirkte nicht wie ein Verlierer. Er stand hochaufgerichtet da und sagte zu seiner
Gefährtin: »Komm, Tamara, wir gehen.« Sie zweifelte. Aber er zerstreute ihre Ungewißheit. »Der Lauf der Dinge ist nicht mehr aufzuhalten.« »Wenn du so sicher bist, Cliff ... Und was wird mit den Mitgliedern der Kamarilla?« »Sie sind ungefährlich. Arme, irregeleitete Narren.« Er schauderte. »Wenn ich denke, daß dieser elende Haufen um ein Haar die Weltherrschaft erlangt hätte ...« »McLane!« schrie Chantelene. Cliff achtete nicht auf ihn. An Äphka gewandt, fragte er: »Wollen Sie nicht auch mitkommen?« Sie schüttelte nur wortlos den Kopf. »Auf Terra erwartet Sie jemand.« Sie verzog nur abfällig den Mund. »Was hält Sie noch hier?« »Er braucht mich mehr denn je«, sagte sie. Noch verstand sie überhaupt nichts, aber sie erkannte, daß Chantelenes Traum von der Herrschaft des Übermenschen zerflossen war. Aber sie liebte ihn immer noch – wie konnte sie ihn da verlassen? Tamara und Cliff bahnten sich durch die unschlüssig dastehenden Kamarilla-Leute einen Weg. Sie konnten ungehindert passieren. »McLane!« Am Ausgang der Höhle blieb Cliff stehen und drehte sich um. Chantelene stand immer noch am Hyperfunkgerät. Aber nichts von der Arroganz des Übermenschen war mehr an ihm. Seine Beine waren gespreizt, die Fäuste in Hilflosigkeit geballt. »Was stimmt Sie so sicher, McLane!« brüllte der Gründer der Kamarilla.
»Die Puppe«, antwortete Cliff ruhig. »Die Puppe, die Ihnen Terra zum Geschenk gemacht hat.« »Was ist mit ihr?« »Das werden Sie noch erkennen – zu spät allerdings. Es ist jetzt schon zu spät. Es hat keinen Zweck, wenn Sie sie zertreten.« Aber Chantelene tat es dennoch ... in hilfloser Wut trampelte er auf ihr herum, bis sie nichts weiter als ein nutzloser Haufen Plastik und Metall war. Es war nicht mehr zu erkennen, welchen Zweck sie ehemals gehabt hatte. Nichts deutete darauf hin, daß sie den Impuls, den das Hyperfunkgerät hätte abgeben sollen, auf eine andere Frequenz abgeleitet hatte. Statt der Puppen empfing die Zentrale Rechenanlage auf Terra den verhängnisvollen Impuls. Dort wurde der Kode dechiffriert und analysiert. Sobald der Kode bekannt war, würde es der terranischen Führungsspitze ein leichtes sein, einen abgewandelten Befehl an die Puppen abzustrahlen ... * Es war, als erwachten sie aus einem Alptraum. Nicht etwa, daß sie die Augen aufschlugen und sich angeekelt von dem eben Erlebten abwandten. Nein! Das Erwachen geschah nicht abrupt, sondern langsam, behutsam, so daß ihr Geist keinen Schaden erlitt. Alles Plötzliche hätte unliebsame Nebenerscheinungen nach sich ziehen können. Die ersten Morgenstrahlen der Sonne vermischten sich gerade mit dem letzten Aufflackern des Feuers. Die robotische Feuerwehr packte ihre Schaum-
löschgeräte zusammen, verlud sie in die Turbinenwagen und Helikopter und überließ das Straßenbild den Räumungsrobotern. Die Schaulustigen zogen sich zurück in ihre Häuser oder – wenn diese niedergebrannt waren – in die inzwischen errichteten Auffanglager; große aufblasbare Plastikgebilde von halbkugeliger Form. Sie beherrschten die Szene in den Städten. Und auch die GOLDIE-Besitzer und die Mitglieder des Klubs zogen sich zurück. Die Wogen der Erregung waren auf eine seltsame Art eingedämmt. Es war, als brauchten die Brandstifter, Plünderer und Demonstranten neue Tatkraft, als brauchten sie für neue Unternehmungen GOLDIEs stärkenden Zuspruch. Den Blick der sprühenden Augen, die suggestiven Worte ... Sie kamen und waren bereit, alles, alles aufzunehmen, was GOLDIE Verheißungsvolles zu bieten hatte. Bob, der Vater. Chris, die Mutter. Jimmy, der Sohn. Und die Nachbarn und Bekannten, die die weiteren Nutznießer dieser GOLDIE-Puppen waren. Sie fanden sich in den Ruinen ein, die von dem Familienhaus übriggeblieben waren, um GOLDIEs Akrobatiktanz zu bestaunen und ihren Worten zu lauschen. Aber GOLDIE tanzte nicht. Ihre funkelnden Augen schweiften über die Versammelten, erfaßten jedes der gaffenden Augenpaare und drangen lange und tief in sie, so lange, bis kein Zweifel mehr bestand, daß alle der hypnotischen Kraft unterlegen waren. Erst dann sprach GOLDIE.
»Haßt mich!« Überall auf der Erde, sagten GOLDIE-Puppen zur gleichen Zeit dasselbe: »Haßt mich!« Die Worte wurden aufgenommen, drangen ins Unterbewußtsein der Hypnotisierten ein, bis sie sich unauslöschlich festgebrannt hatten. Haßt mich! Und sie haßten GOLDIE. Überall auf der Erde wurden die Puppen gehaßt. Noch nie in der Geschichte der Menschheit wurde etwas so sehr und mit solcher Einmütigkeit gehaßt wie GOLDIE. Die Meute stand in geschlossener Formation auf und haßte GOLDIE – jagte GOLDIE – zerstörte GOLDIE ... Als alles vorbei war, machte sich Chris Sorgen um Jimmy. Er war in ihren Armen eingeschlafen. »Hoffentlich hat er keinen Schock.« »Es wird nur Übermüdung sein.« »Aber er hat einen Tag und eine Nacht lang viele Schrecken gesehen.« »Ich weiß.« »Vielleicht ... vielleicht kann er sie nie mehr vergessen.« »Er soll sie nicht vergessen, Chris. Er soll immer daran denken. Immer. Alle sollen es. Damit die Menschheit nicht noch einmal in eine solche Situation gerät.« Der Wind rollte einen heil gebliebenen Unterarm GOLDIEs vor Bobs Füße. Er trat danach. *
Der Fall war abgeschlossen und im Archiv des Galaktischen Sicherheitsdienstes ad acta gelegt worden. Hier und da zeigten sich noch Auswirkungen auf der Erde, die irgendwie mit der Kamarilla der Übermenschen in Zusammenhang standen. Aber für die meisten der Beteiligten gehörte diese Zeit der Vergangenheit an. Obwohl die letzte große Auseinandersetzung nicht mehr als drei Wochen zurücklag. Es waren drei Wochen, in denen Cliff McLane Urlaub von der ORION, seiner Crew und den verschiedenen Büros der Basis 104 gemacht hatte. Er lag unweit seines Bungalows in den Klippen, ließ sich von der heißen Vormittagssonne braten und döste in dem Bewußtsein vor sich hin, daß irgendwo in seiner Nähe Tamara war. Der Wind trug gelegentlich einige Takte Tomas Peter zu ihm herüber ... Nicht im Traum hätte er daran gedacht, daß er sich ausgerechnet in dieser behaglichen Situation noch einmal mit der Kamarilla auseinandersetzen müsse. Aber so war es. Tamara, mit einem entzückenden Badeanzug angetan, rief ihn ins Haus. Cliff verstand nur einige Wortfetzen, aber die genügten, ihn aus seiner Trägheit zu reißen. Er hörte »Spring-Brauner« und »Videophon« und wußte Bescheid. Er hatte diesen Anruf erwartet. Überhaupt war er überrascht, daß sich SpringBrauner erst nach drei Wochen dazu aufgerafft hatte. Aber wahrscheinlich hatte ihn die Abneigung gegen ihn, Cliff, zögern lassen. Als Cliff ins Wohnzimmer kam und sich vor dem Videophon aufstellte, herrschte einige Zeit peinliches Schweigen zwischen ihm und Spring-Brauner. Keiner
verschaffte dem anderen Erleichterung, indem er das Wort ergriff. Erst nach einer ganzen Weile entschloß sich Cliff, den ersten Schritt zu tun, weil er fand, daß sich Spring-Brauner in der nachteiligeren Position befand. »Wissen Sie schon über Chantelenes Schicksal Bescheid?« fragte er. Man hätte fast meinen können, Spring-Brauners Lächeln zeige eine Spur Dankbarkeit – aber eben nur fast. »Er wird in eine Heilanstalt überwiesen«, sagte Wamslers Ordonnanzleutnant. »Vielleicht können sie noch einen wertvollen Menschen aus ihm machen.« »Ja, vielleicht. Die Psychodynamiker leisten heutzutage schon allerhand.« Spring-Brauner sprach ein wenig zu schleppend und mit unsicherer Zunge, so daß Cliff der Verdacht kam, er habe sich extra für dieses Gespräch Mut angetrunken. Bevor erneut eine Pause entstehen konnte, fuhr Spring-Brauner fort: »Es ist mir immer noch ein Rätsel, wie er zu dieser Tat fähig gewesen sein konnte. Er ist übergeschnappt, das schon, aber ... Er liebte Äphka doch über alles. Und dann das!« Spring-Brauner hätte nur im Archiv nachzuschlagen brauchen, um zu erfahren, was in dem Krater vorgefallen war, nachdem die ORION Kriotes verlassen hatte. Chantelene hatte Äphka erdrosselt und anschließend versucht, sich selbst das Leben zu nehmen. Die Kamarilla-Leute hatten ihn daran gehindert ... Es war sogar anzunehmen, daß Spring-Brauner im
Archiv nachgeschlagen hatte, aber er wollte sich mit der aktenkundigen Version nicht zufriedengeben. Er wollte etwas anderes hören. Die Wahrheit? Natürlich, aber eine Wahrheit, die seiner Wunschvorstellung entsprach. Cliff hatte noch deutlich in Erinnerung, wie Äphka den Mund abfällig verzogen hatte, als er auf Spring-Brauner anspielte. Dies wäre die Gelegenheit, sich für einiges zu revanchieren. Aber Cliff fand, daß irgendwo eine Grenze gezogen werden mußte. »Seine Tat«, sagte Cliff langsam, »ist nicht allein dem Wahnsinn zuzuschreiben. Es hat noch etwas anderes mitgespielt.« Spring-Brauner schluckte; er schien keinen Ton hervorbringen zu können. »Das wirkliche Motiv dürfte berechtigte Eifersucht gewesen sein ...« Cliff wagte nicht, auf den Bildschirm zu blicken, um die Wirkung seiner Worte zu prüfen. Er murmelte noch irgend etwas, was ausdrücken sollte, wie leid es ihm tue, daß die Geschichte so ausgegangen sei. Cliff bereute seine menschlichen Anwandlungen Spring-Brauner gegenüber augenblicklich. Wamslers Ordonnanzleutnant wurde frech. Er sagte: »Trotz Ihrer gelegentlichen Niederträchtigkeiten, McLane, haben Sie bei mir einen Wunsch offen. Ich bin Ihnen zu ehrlichem Dank verpflichtet.« Damit war das Kriegsbeil wieder ausgegraben. »Ich habe tatsächlich einen Wunsch, Apoll«, sagte Cliff. »Suchen Sie doch einen Gesichtschirurgen auf.« Er unterbrach die Verbindung.
Tamara kam aus dem Hintergrund. »Du warst großartig, Liebling«, erklärte sie. »Ich habe das Gefühl, daß ich meine Großmut noch bitter bereuen werde«, meinte Cliff sorgenvoll. »In meinem Fall nicht«, sagte Tamara. ENDE