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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufhahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich.
Dieses Buch wurde auf chlorfreiem, umweltfreundlich hergestelltem Papier gedruckt.
In neuer Rechtschreibung.
German translation Copyright © 2004 by Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70.178 Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten. Titel der amerikanischen Originalausgabe: „Resident Evil: Apocalypse“ by Keith R. A. DeCandido, based on a screenplay by Paul W. S. Anderson, first published by Pocket Books, a division of Simon & Schuster, Inc. New York. Copyright © 2004 by Davis Films/Impact (Canada) Inc. / Constantin Film (UK) Limited. AH rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. Resident Evil is a trademark of Capcom Co. Ltd. All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition published by arrangement with the original publisher, Pocket Books, a division of Simon & Schuster, Inc. New York. No similarity between any of the names, characters, persons and/or institutions in this publication and those of any pre-existing person or institution is intended and any similarity which may exist is purely coincidental. No portion of this publication may be reproduced, by any means, without the express written permission of the Copyright holder(s).
Übersetzung: Timothy Stahl Lektorat: Manfred Weinland Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest Chefredaktion: Jo Löffler Umschlaggestaltung: TAB Werbung GmbH, Stuttgart Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck: Panini S.P.A. ISBN: 3-8332-1127-X Printed in Italy
www.dinocomics.de scan by: crazy2001 @ 01/2005 k-leser: klr
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Für Marco, aus mehr Gründen, als ich öffentlich machen möchte…
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DANKSAGUNGEN Besonderer Dank an meinen Lektor Marco Palmieri, der mich in diese Sache hineingezogen hat; an meine Agentin Lucienne Diver, die dafür sorgte, dass ich dranblieb; an die Autorin S.D. Perry, die all die anderen Bücher geschrieben hat; an den Autor Paul W. S. Anderson, von dem das Quellenmaterial stammt; an die Spiele-Entwickler bei CapCom, von denen Pauls Quellenmaterial stammt; an Grace Anne Andreassi DeCandido, die dafür sorgte, dass ich fleißig schrieb; und an meine superduper süße Terri Osborne, die mich auf Trab hält.
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Eins Major Timothy Cain ließ sich nicht verscheißern. Auf die Welt gekommen war er unter einem anderen Namen, damals in Berlin, damals, als die Stadt noch von einer großen Mauer zweigeteilt wurde. Als drittes von vier Kindern und jüngster Sohn hatte er das Pech gehabt, auf der falschen Seite jener Mauer aufwachsen zu müssen. Kurz nachdem ihre Mutter gestorben war – da war er sechzehn gewesen – hatte ihr Vater einen sicheren Weg gefunden, mit ihnen in die Vereinigten Staaten von Amerika zu emigrieren. Nach ihrer Ankunft hatte er ihnen erklärt, dass ihr Name nun Cain sei – eine Anglisierung ihres deutschen Namens – und seinen Kindern auch neue Vornamen verliehen. Sie hießen fortan Michael, Anthony, Timothy und Mary, weil diese Namen, so ihr Vater, amerikanisch klangen. Jedes Mal, wenn sie ihre deutschen Namen benutzten, prügelte er sie. Und weil sie nicht dumm waren, lernten sie rasch, sich in ihre neuen Identitäten einzufinden. Aus Dankbarkeit seiner neuen Heimat gegenüber trat Timothy an seinem achtzehnten Geburtstag der Armee bei. Kurz darauf wurde er nach Übersee geschickt, um im Golfkrieg zu kämpfen. Sein Vater freute sich darüber. Michael, drei Jahre älter als Timothy, war nach Chicago gezogen und Polizist geworden. Anthony war nach San Francisco gegangen und hatte den Kontakt zu seiner Familie abgebrochen. Mary hatte kein Interesse an Polizei oder Militär; sie zog eine Laufbahn in der Wirtschaft vor. In der Wüste lebte Timothy Cain zum ersten Mal richtig auf. In der Schule war er stets erfolgreich gewesen, wenn auch meistens durch Auswendiglernen. Er begriff schnell, aber er hatte sich nie recht fürs Lernen -4-
begeistern können. Die zwei Schuljahre, die er nach ihrer Einwanderung absolvierte, waren schwierig gewesen, da er mit einem starken deutschen Akzent sprach, der ihn zum Opfer von Hänseleien seiner Mitschüler gemacht und es ihm erschwert hatte, Freude am Lernen zu finden. Am Kampf allerdings fand er Freude – vor allem wenn es gegen die Feinde der USA ging. Und in der Wüste interessierte sich niemand für seinen Akzent, bis auf ein paar Idioten, und die hielten alle die Klappe, sobald sie Timothy Cain erst einmal in Aktion erlebt hatten. Er brauchte nicht lange, um sich hervorzutun und sich die Rangleiter emporzuarbeiten. Schon nach ein paar Wochen führte er seine Kameraden in den Kampf, und seine Männer folgten ihm blind. Er verfügte über ein natürliches Charisma, eine Begabung zum Taktieren und ein besonderes Talent, Saddams Infanteristen zu töten. Infolge des Hangs der Streitkräfte, ihren Angehörigen markante Spitznamen zu verleihen, wurde er rasch als „Able“ Cain bekannt – egal, wie aussichtslos eine Mission, egal, wie haarsträubend ein Plan, egal, was auch immer zu erledigen war, wenn man Sergeant Timothy Cain damit betraute, ging die Sache klar. Punktum. Cain lernte vieles in der Wüste, aber das Wichtigste war, dass das Leben – im Gegensatz zu dem, was sein Vater ihn stets gelehrt hatte – weder kostbar noch heilig war. Im Gegenteil, das Leben war etwas ziemlich Armseliges. Wäre es tatsächlich etwas so Verehrungswürdiges, Großartiges und Wundervolles gewesen, hätte es wohl kaum so einfach sein dürfen, es einem anderen Menschen zu nehmen. Wäre das Leben ein so herrliches Geschenk gewesen, wäre er nicht imstande gewesen, einen Mitmenschen fast mit links zu töten, wie -5-
er es am Persischen Golf so oft praktiziert hatte… Als sein Einsatz vorbei war, ging er auf die Offiziersanwärterschule, um sein Patent zu bekommen. Nach einigen weiteren Jahren als Offizier erlangte er dann eine weitere wichtige Erkenntnis: Das Leben bestand aus mehr als nur dem Militär. Diese Wahrheit hatte sich ihm nicht etwa erschlossen, während er in der Wüste herumackerte und den Feind in die Luft jagte – etwas, auf das er sich offen gesagt hervorragend verstand –, nein, diese Wahrheit kam von den Herren in Anzügen, die für die Umbrella Corporation arbeiteten und ihn als Leiter der Sicherheitsabteilung ihres Konzerns angeheuert hatten. Able Cain hatte seinem Land gedient. Und in gewisser Hinsicht tat er das auch jetzt noch, denn Umbrella unterhielt beste Verbindungen zur Regierung und versorgte Amerikaner, wo immer es sich als nötig erwies. Der hauptsächliche Unterschied zu früher war der, dass er jetzt mit einer nahezu obszön großen Geldmenge entschädigt wurde. Nachdem er in den Rang eines Majors aufgestiegen war, hatte Cain das Umbrella-Angebot angenommen. Er bestand allerdings darauf, nach wie vor mit seinem Rang angesprochen zu werden. In der Folge hatte er seinem Vater ein Haus in Florida kaufen können. Und nachdem Michael im Dienst angeschossen worden war und danach in seinem Schreibtischjob langsam wahnsinnig wurde, hatte Timothy ihn zum Sicherheitsleiter der Umbrella-Niederlassung in Chicago ernannt. Er machte Anthony in einem Crack House in Berkley ausfindig, brachte ihn wieder auf die rechte Bahn und zahlte die Kosten für seinen Entzug. (Dass er später von der Golden Gate Bridge sprang, war wohl kaum Timothy Cain anzulasten.) Als Mary herausfand, dass ihr Ehemann sie betrog, bezahlte Cain ihren Scheidungsanwalt. Dann, nachdem -6-
die Scheidung rechtskräftig geworden war und Mary dem Bastard alles und noch ein bisschen mehr abgeknöpft hatte, spürte Cain ihren Ex-Mann auf – er lebte in einer beschissenen kleinen Einzimmerwohnung in South Bend, Indiana – und jagte ihm eine Kugel in den Schädel. Nein, es war kein Problem, ein Leben zu nehmen. Aber es war weitaus befriedigender, wenn man jemanden vorher vernichtete. Jetzt stand Cain vor der Villa. In Foxwood Heights, zwei Meilen außerhalb der Stadtgrenzen von Raccoon City, gelegen, wirkte die Villa eher wie etwas aus einem dieser arroganten englischen Filme, die Cain so hasste, nicht wie ein tatsächliches Bauwerk am Rand einer amerikanischen Kleinstadt. Die Villa gehörte der Umbrella Corporation und wurde als Hauptzugang zum Hive genutzt. Fünfhundert Männer und Frauen, von Umbrella angeheuert, lebten und arbeiteten im Hive, einem gewaltigen unterirdischen Komplex, in dem die heikelste Arbeit des ganzen Unternehmens ihre Verrichtung fand. Die Existenz des Hives wurde nicht geheim gehalten – es war unmöglich, fünfhundert Angestellte, von denen viele zu den Besten ihres jeweiligen Fachgebiets gehörten, von der Welt abzukapseln, ohne dass es jemand bemerkte –, aber sie wurde auch nicht in größerem Stil bekannt gemacht. Seine öffentliche Zentrale unterhielt Umbrella mitten in Raccoon, wo jeder sie sehen konnte: das allgemein bekannte Gesicht des Konzerns, der mit den landesweit besten Computertechnologien und Produkten sowie Diensten zur Gesundheitsfürsorge aufwartete. Doch leider war im Hive etwas fürchterlich schief gelaufen. Die hoch entwickelte Künstliche Intelligenz der Einrichtung – die so genannte Red Queen – war verstummt. Sicherheitsmaßnahmen waren in Kraft -7-
getreten, und der Hive war mittlerweile versiegelt. Cain hatte ein Team unter der Führung seines besten Sicherheitsagenten, der nur unter dem Codenamen One aktiv war, hineingeschickt, um herauszufinden, was zum Teufel da eigentlich passiert war. Das allerdings schien nicht gelungen zu sein, da lediglich ihr Alternativplan – die Versiegelung des Hives – zur Umsetzung gekommen war. Dies war nur für den Fall vorgesehen gewesen, dass das Team außer Gefecht gesetzt oder getötet würde. Vor der Villa hatte Cain ein Team von Ärzten und Sicherheitspersonal zur Unterstützung von One versammelt. Dem Protokoll zufolge, das die Red Queen benutzt zu haben schien, war der Notfall medizinischer Art, und die Künstliche Intelligenz hatte es für erforderlich gehalten, eine Quarantäne zu erlassen. Deshalb trug das gesamte Team Hazmat-Schutzanzüge. Außerdem standen mehrere Tragen und diagnostische Gerätschaften bereit. Und ein steriler Tunnel verband den Eingang der Villa mit dem Hubschrauber, der sie zum Umbrella-Hauptquartier in Raccoon City zurückbringen würde. Cain besah sich auf seinem PDA die Zuspielungen der Überwachungskameras, die in der Villa installiert waren, und wartete mit seinem Team darauf, ob jemand aus dem Hive auftauchte. Es kamen nur zwei Personen. Die erste war die Leiterin der Hive-Security, Alice Abernathy, die zu Cains besten Leuten gehörte. Die andere, ein Mann, kannte Cain nicht. Von One und seinem sechsköpfigen Trupp war nichts zu sehen. Das war ein schlechtes Zeichen. One war nicht nur Cains bester Agent, nein, das Team, das er geführt hatte, war Umbrellas Elite. Bart Kaplan, Rain Melendez, J.D. Hawkins, Vance Drew und Alfonso Warner waren die Besten der Besten, und in Olga Danilova hatten sie -8-
eine begabte Feldärztin dabei gehabt. Wenn sie alle tot waren… Cain empfand auch jetzt keine Angst – weil er keine Angst mehr empfunden hatte, seit er damals in die Armee eintrat. Klar, als Teenager hatte er andauernd Angst verspürt – er hatte Akne bekommen, er hatte mit der Sprache zu kämpfen, er hatte Schwierigkeiten mit Mädchen –, aber kaum war er in der Wüste angekommen, hatte er sich nie wieder vor irgendetwas gefürchtet. Weil er seither das Geheimnis kannte. Das Leben war armselig. Cain beobachtete auf dem Bildschirm seines PDA, wie es Abernathy und der Mann in das Vestibül unmittelbar hinter der Eingangstür der Villa schafften. In der Schulter des Mannes klafften drei Wunden, die aussahen, als seien sie von riesigen Krallen verursacht worden. Cain wusste sofort, was geschehen war. Jemand – wahrscheinlich der beschissene Computer – hatte den verdammten Licker rausgelassen. Das Ganze wurde zu einem Schlamassel von epischem Ausmaß. Abernathy stürzte zu Boden. Sie trug einen Metallkasten bei sich, den sie beim Sturz fallen ließ. Der verletzte Mann kniete sich neben sie. Abernathy weinte. Sie weinte? Was zum Teufel war da unten passiert, das einen Profi wie Abernathy zum Weinen brachte? Die Kamera verfügte auch über eine Audio-Anbindung. Cain drehte sie auf. Über den kleinen Lautsprecher des PDA klang Abernathys Stimme blechern. „Ich habe versagt. Sie sind alle… Verdammt, es ist meine Schuld!“ Cain schüttelte den Kopf. Das hörte sich ganz so an, als wären alle tot. Einer seiner Leute fragte: „Sollen wir reingehen, Sir?“ Cain hob eine Hand und sagte: „Noch nicht.“ -9-
„Hör zu“, sagte der verletzte Mann, „es gab nichts, was du hättest tun können. Der Konzern hat Schuld, nicht du.“ Er deutete auf den Kasten, den Abernathy losgelassen hatte. „Und wir haben endlich den Beweis. Das heißt, dass Umbrella damit nicht davonkomm…“ Er verstummte, zuckte vor Schmerz zusammen. Cain lächelte. Es klang so, als sei dieser Typ eine Art Kreuzfahrer. Damit, wie zum Teufel er es geschafft hatte, in den Hive zu gelangen, würde sich Cain später befassen. So, wie es aussah, war dieses Arschloch drauf und dran herauszufinden, was die Verletzungen wirklich zu bedeuten hatten. Der Idiot redete weiter. „… davonkommen wird. Wir können…“ Wieder unterbrach er sich selbst. „Was ist?“, fragte Abernathy. Der Mann schrie und fiel auf den Rücken. „Du bist infiziert. Das wird schon wieder – ich werde dich nicht auch noch verlieren!“ Cain hatte genug gesehen. „Gehen wir rein.“ Zwei Angehörige des Sicherheitskommandos öffneten die Tür und traten ein. Abernathy schirmte ihre Augen gegen das blendende Licht ab, das sich plötzlich in die Eingangshalle ergoss. „Was ist denn? Was tun Sie da?“ Einer der Männer griff nach ihr, während der andere und einer der Ärzte neben dem kreuzfahrenden Blödmann knieten, der am Boden lag und krampfhaft zuckte. „Stopp!“, schrie sie. Cain seufzte, als sie den Wachmann mit ein paar gut platzierten Schlägen abwehrte. Offenbar war dort unten etwas mit ihr passiert, das sich nachhaltig auf ihre Persönlichkeit auswirkte – ihre Kampffähigkeiten beeinträchtigte es indes nicht im Geringsten. Sie war immer noch die Beste. Während der verletzte Mann auf eine der Tragen - 10 -
gebettet wurde, versuchten drei weitere Wachen Abernathy in den Griff zu bekommen. Sie brauchte etwa fünf Sekunden, um sie zu besiegen. Verdammt, sie war wirklich gut. „Matt!“ Das war also der Name des Kerls. Cain wandte ihm den Bück zu und sah, dass diesem Matt Tentakel aus den drei Wunden seiner Schulter wuchsen. Hundertprozentig der Licker. Und das mochte sich als genau das erweisen, wonach sie gesucht hatten. „Er mutiert. Den brauch ich unbedingt fürs NemesisProgramm“, schnappte Cain. Vielleicht konnten sie ja doch etwas Verwertbares aus diesem Schlamassel herausziehen. Es dauerte ungefähr doppelt so lange, wie es eigentlich hätte dauern dürfen, aber schließlich schafften die Wachen es – mit der Hilfe einer Spritze mit Sedativa –, Abernathy zu bezwingen. Sie hörte nicht auf, Matts Namen zu brüllen. Abermals fragte sich Cain, was zur Hölle dort unten los gewesen sein mochte. Er überprüfte den Kasten, den Abernathy getragen hatte. Er bot Platz für alle vierzehn Phiolen des T-Virus und des Antivirus, aber es fehlten mehrere Phiolen. Das verhieß nichts Gutes. „Sie wird unter Quarantäne gestellt. Überwachung rund um die Uhr. Alle Tests. Mal sehen, ob sie sich infiziert hat. Sie kommt in das Krankenhaus von Raccoon City. Ruft das Team zusammen. Wir machen den Hive wieder auf. Wir müssen wissen, was sich dort unten abgespielt hat.“ Einer der Ärzte, ein beschissener kleiner Schwachkopf, dessen Name Cain einen Dreck interessierte, sagte: „Sir, wir wissen nicht, welcher Art…“ Dafür hatte Cain keine Zeit. Er brauchte Informationen, und die würde er nur im Hive finden. „Keine Diskussion!“ - 11 -
Abernathy und dieser Matt wurden in den Hubschrauber verfrachtet. Der Leiter des Sicherheitskommandos, ein ehemaliger Marine namens Ward, trommelte seine Leute zusammen. „Bereit, wenn Sie es sind, Sir“, sagte Ward, der ungewöhnlich freudlos klang. „Stimmt etwas nicht, Soldat?“ „Ich sollte heute eigentlich gar nicht hier sein.“ Wards Gesicht war hinter dem verspiegelten Visier des HazmatSchutzanzugs verborgen, aber Cain konnte das Grinsen in seiner Stimme hören. „Tja, Pech. One steckt irgendwo da unten, und es ist Ihre Aufgabe herauszufinden, was mit ihm passiert ist.“ „Mit allem Respekt, Sir – wenn One ausgeschaltet wurde, dann haben wir nicht den Hauch einer Chance. Wir gehen rein, Sir“, fügte er rasch hinzu. Nur diese letzten vier Worte bewahrten den Ex-Marine vor einem Anschiss. Ward konnte ein echter Jammerer sein, auch wenn er seinen Job stets zur Zufriedenheit erledigte. Aber gerade heute wollte sich Cain nicht mit dessen üblicher Marotte herumärgern. Bewaffnet mit MP5Ks und alle gleich aussehend in ihren weißen Hazmat-Anzügen, bewegte sich das Sieben-Mann-Team in einigermaßen geschlossener Formation durch die hohen Räume der Villa. Einer von ihnen – vermutlich Schlesinger; der kleine Bastard war immer langsamer – hinkte einen halben Schritt hinter den anderen her. Cain bildete das Schlusslicht. Ward gab einem seiner anderen Leute – Osborne, die technische Leiterin von Wards Team, erkennbar an der sterilen Tricktasche am Gürtel ihres Schutzanzugs – ein Zeichen, als sie vor dem riesigen, vom Boden bis zur Decke reichenden Spiegel im Wohnzimmer anlangten. Sie öffnete eine kleine Klappe in der Wand, hinter der sich ein Anschluss verbarg, griff in ihre Tasche, holte einen Stecker hervor und schob ihn hinein. - 12 -
Der Spiegel glitt auf und enthüllte eine Betontreppe. Osborne zog einen Minicomputer hervor und begann mit behandschuhten Händen auf der Tastatur zu tippen. „Sir, ich kann noch immer nicht auf die Red Queen zugreifen, obwohl ich jetzt eigentlich mit ihr verbunden sein müsste.“ „Versuchen Sie es noch mal.“ Osborne drückte weitere Tasten. „Nichts, Sir.“ Sie sah auf, ihr verspiegeltes Visier zeigte auf Wards ebenso unkenntliches Antlitz. „Es gibt nur eine Erklärung, wie es dazu kommen könnte – der Computer muss total hinüber sein.“ „Ones Team hatte den Auftrag, den Computer abzuschalten und das Mainboard zu entfernen.“ „Sie haben mehr getan als nur das – wenn es nur das wäre, könnte ich sie zumindest im eingeschränkten Modus neu starten. Aber es tut sich absolut nichts. Die Red Queen ist tot.“ Cain knirschte mit den Zähnen. Hundertprozentig ein episches Schlamassel. Er nickte Ward zu, und Ward signalisierte seinem Team, die Treppe hinunterzugehen, wo der Weg von einer riesigen Schutztür versperrt wurde. Das war, wie Cain wusste, Teil des umgesetzten Alternativplans. Den er jetzt wieder rückgängig machen würde. „Aufmachen.“ Ward nickte erst ihm und dann Osborne zu, die weitere Befehle in ihren Minicomputer eingab. Eine Sekunde später öffnete sich die Schutztür. Ward und Schlesinger sicherten und gingen als Erste hinein, die MP5Ks schussbereit. Der Rest des Teams folgte, zuletzt Osborne und Cain. Zwei Sekunden später hörte Cain den Schrei. Und gleich nach dem Schrei hörte er die Schritte. Erst hatte er gar nicht erkannt, dass es Schritte waren; - 13 -
sie waren so gleichmäßig, dass er sie für Hintergrundgeräusche des Hive-Betriebs gehalten hatte. Aber nein, es waren Füße, die sich langsam und mit peinlicher Akribie voranbewegten. Osborne zog eine Taschenlampe hervor und richtete ihren Strahl geradeaus, genau in dem Moment, da vor Cain Schüsse krachten. Ward feuerte in eine Menschenmenge. Neben ihm lag Schlesinger am Boden. Die Hazmat-Kapuze war ihm vom Kopf gerissen und aus seiner Kehle ein großer Batzen Fleisch herausgefetzt worden. Wie gewöhnlich war Schlesinger zu lahmarschig gewesen. Ward schoss weiter, doch während die Leiber zu Boden gingen, drängten weitere heran. Es schien einen unerschöpflichen Vorrat zu geben. „Was zum Teufel sind das für Dinger?“, fragte Osborne. Cain sagte nichts, sondern starrte die Gestalten nur an. Alle trugen sie entweder dunkle Anzüge oder Laborkittel über weißer Kleidung. Besagte Kleidung war voller Dreck, aber immer noch als Kleidung erkennbar, die der strikten Vorschrift für Umbrella-Mitarbeiter entsprach. Aber das war nicht der Grund, weshalb Osborne ihre Frage gestellt hatte. Nein, es waren die Gesichter. Bestenfalls waren sie leer und ausdruckslos. Schlimmstenfalls… fehlten Teile davon. Der Hals einer Person war in unmöglichem Winkel verdreht. Einer anderen fehlte fast die komplette Kehle, nur die freiliegende Wirbelsäule hielt den Kopf noch auf dem Körper. Einer weiteren fehlten beide Augen. Einer anderen eine Wange. Viele Körper wiesen Wunden auf – Bissspuren, Einschusslöcher… Die 492 Angestellten, die im Hive gewohnt und gearbeitet hatten, waren alle tot. Und sie waren – allein schon an der Tatsache ersichtlich, dass sie dieser - 14 -
Umstand nicht davon abhielt, im Hive herumzuspazieren – durch das T-Virus getötet worden. Das genau das tat, was die Spitzenwissenschaftler von Umbrella prophezeit hatten, für den Fall, dass es in die Luft geriet. Erst recht nach den Experimenten in den Wäldern bei den Arklay Mountains. Umbrella hatte es geschafft, diesen speziellen Alptraum zu vertuschen und das Projekt dann in den Hive hinunter verlagert, der im Katastrophenfall hermetisch versiegelt werden konnte. Theoretisch jedenfalls. Noch während Ward und Clark starben, überrollt von einer Flut toter Umbrella-Mitarbeiter, fragte sich Cain, wie es dazu wohl gekommen sein mochte. Am wahrscheinlichsten war, dass irgendein übereifriges Arschloch auf die Idee gekommen war, T-Virus und Antivirus zu stehlen. Abernathy und ihr Freund Matt vielleicht? Es war unmöglich, das mit Bestimmtheit zu sagen. Es wurde weiter gefeuert, aber diejenigen, die zu Beginn des Kampfes niedergestreckt worden waren, erhoben sich nun wieder. Einer von ihnen sprang Shannon an und biss ihn durch den Hazmat-Anzug in den linken Arm. In seiner Panik erschoss Heddle sowohl Shannon als auch seinen Angreifer, und die beiden gingen zu Boden. Doch der Angreifer stand gleich wieder auf und sprang nach Heddle, ebenso wie eine braunhaarige Frau in einem Laborkittel. Osborne hatte ihre Beretta gezogen und stürmte schießend in die Meute hinein. Zeitverschwendung. Cain machte kehrt und ging die Treppe hinauf. Wards Team würde die Kreaturen lange genug beschäftigen, sodass Cain sich zurückziehen konnte. Abernathy war ihm nie opportunistisch vorgekommen, aber vielleicht hatte ihr jemand ein Angebot gemacht, das sie nicht ablehnen konnte. Es gab da draußen weiß - 15 -
Gott genug Leute, die das T-Virus in ihre Finger bekommen wollten. Cain hörte die Schreie von Wards Team, als einer nach dem anderen starb. Perrella, Kassin und schließlich auch Osborne – alle kamen um. Sie hatten ihren Zweck erfüllt. Cain wusste jetzt, was im Hive geschehen war. Und das war alles, was zählte. Das Leben war schließlich etwas ganz und gar Armseliges.
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Zwei Die Klimaanlage funktionierte immer noch nicht. Randall Coleman, Nachrichtenregisseur von Raccoon 7, war nicht der Ansicht, dass eine funktionierende Klimaanlage zu viel verlangt war. Sicher, es war Herbst, aber die ganzen Gerätschaften, die sie im Regieraum hatten, mussten kühl gehalten werden. Aber als die Klimaanlage vergangene Woche den Geist aufgab, hatte die Geschäftsführung die Reparatur angesichts der Jahreszeit nicht auf die Prioritätenliste gesetzt. Dann war die Hitzewelle gekommen. Die ganze Sache war zum Verrücktwerden. Erst kletterten die Temperaturen auf über 30 Grad Celsius, und nach Sonnenuntergang fielen sie wieder unter zehn Grad. Die Hälfte der Mitarbeiter von Channel 7 lag wegen des chaotischen Wetters krank zu Hause. Aber irgendwie kamen sie trotzdem zurecht. Randalls Assistent Loren Bills hatte im Regieraum mehrere Ventilatoren aufgestellt, die die drückende Luft in Bewegung hielten und dafür sorgten, dass voraussichtlich wenigstens ein Teil des Equipments weiter funktionieren würde. Zum Glück waren die Geräte selbst von bester Qualität. Raccoon 7 war kein unabhängiger Billigsender, der alles seinem Network überließ. Nicht wie diese arroganten Affen von Channel 9, die sich für die Größten hielten, nur weil sie mit UPN verbandelt waren – was sie allerdings meist nur als Ausrede benutzten, um Budgets und Personal zu kürzen und Substandard-Equipment zu verwenden. Channel 7 hingegen war der Lokalsender mit der - 17 -
höchsten Einschaltquote in Raccoon City, und das ohne mit einem der sechs großen Networks verknüpft zu sein. Sie waren wirklich unabhängig. Und genau so gefiel es Randall. Der Regiestuhl bei den Frühnachrichten auf Raccoon 7 war für Randall nur ein Sprungbrett, aber ein wichtiges. Channel 7 war erwiesene Qualität, einer der angesehensten unabhängigen Sender des Landes und dafür bekannt, ausgezeichnete Techniker hervorzubringen. Hier konnte Randall das Handwerk des Regisseurs und Produzenten von der Pike auf lernen. Später einmal würde ihm das einen Job bei den Networks einbringen, und schließlich würde er sich vielleicht selbstständig machen und bei richtigen TVSerien Regie führen können – oder sogar bei Kinofilmen. Sicher, was er hier tat, war im Grunde ein Kinderspiel Kamera 1 auf Sherry Mansfield, Kamera 2 auf Bill Watkins, Kamera 3 auf beide, Kamera 4 für Schwenks. Aber eines Tages würde er die nächste Stufe erklimmen, vielleicht Regie bei einer Sitcom oder einer dieser CopSerien fuhren. Randall liebte Cop-Dramen. Letztlich würde er den Durchbruch schaffen und beim Film landen. Und dann würde er vielleicht auch endlich sein Meisterwerk auf die Leinwand bringen können. Denn er wusste, dass momentan niemand auch nur einen Blick auf sein großartiges Filmdrehbuch, Die Schuppen des Drachen, werfen würde. Momentan war er noch ein Niemand, ein Typ, der in einer Kleinstadt Regie bei den Frühnachrichten führte. Aber Randall hatte Geduld. Bald schon würde er sich an die Spitze hocharbeiten. Bald schon würde er das Zepter in der Hand halten, und dann würde Die Schuppen des Drachen produziert werden. Ganz gleich, was Mom sagte. Im Augenblick war Kamera 4 auf Terri Morales - 18 -
gerichtet, die die Wettervorhersage machte. Terri trug ihr beruhigendes Lächeln zur Schau. Es machte sich großartig auf dem Bildschirm. Genauso wie die Stadtansicht hinter dem Moderatorentisch – und genauso falsch. Terris muntere Stimme drang aus den Lautsprechern neben Randalls Monitor. „Zehn nach sechs am Morgen und schon liegt die Temperatur bei satten 34 Grad. Die beispiellose Hitzewelle dauert an.“ Randall wischte sich Schweiß von der Stirn. Ihm kam es vor, als herrschten im Regieraum über vierzig Grad. „Warum sagen die Leute immerzu ,am Morgen’?“ Randall sah seinen Assistent an. „Loren, ich bin nicht in der Stimmung.“ „Nein, wirklich, ich meine, wozu? Was bringt es dem Satz, außer ihn zwei Wörter länger zu machen?“ „Wolkenloser Himmel, niedrige Luftfeuchtigkeit, leichter Wind von Westen. Und als besonderer Bonus nur für Sie, liegt die Pollenbelastung bei nur null komma sieben.“ „Nur für uns“, sagte Loren, „sicher. Als hätten sich die Schicksalsmächte zusammengetan und gesagt: ,Hey, lasst uns die Pollenbelastung speziell für die Zuschauer von Terri Morales niedrig halten.’“ „Loren, halt’s Maul und mach Kamera drei bereit.“ „Sie haben richtig gehört – null komma sieben! Und das ist ein Rekordtief für diese Jahreszeit. Gute Nachricht also für all jene unter Ihnen, die an Heuschnupfen und Asthma leiden. Alles in allem steht uns wieder ein herrlicher Tag bevor.“ Loren schüttelte den Kopf. „Die ist ja heute richtig in Hochform.“ „Ja, zu dumm, dass es für den Wetterbericht keinen Emmy gibt. Geh auf Kamera drei.“ Während Loren auf Kamera 3 umschaltete, die beide - 19 -
Moderatoren an ihrem Tisch zeigte, fragte er: „Hey, glaubst du, dass sie ihr jemals den Job als Anchorwoman zurückgeben werden? Farblos genug wäre sie auf jeden Fall.“ Randall lachte prustend. „Nicht, so lange ich lebe.“ Sherry und Bill kamen zum Ende. „Bleiben Sie bei uns – nach der Werbung werfen wir einen Blick auf die beliebtesten Urlaubsziele.“ „Achtung – Werbepause in drei… zwei… eins… und aus.“ „In sechzig Sekunden sind wir wieder auf Sendung“, ergänzte Loren. Kaum hatte Randall das Wörtchen „aus“ gesagt, sah er, wie sich Terri Morales’ Gesichtsausdruck auf dem Kamera-4-Monitor von lebhaft und lächelnd zu verärgert und finster wandelte. „Bring mir jemand einen verdammten Cappuccino, bevor ich kotze!“ Während einer der verängstigten Produktionsassistenten losrannte, um ihrem Verlangen nachzukommen, griff Terri in eine Tasche und holte ein Pillendöschen hervor. Randall wusste, dass es mit einem Sortiment von Aufputschund Beruhigungstabletten gefüllt war, die kein Mensch, der bei klarem Verstand war, zusammen eingenommen hätte. Allerdings hatte noch niemand Terri beschuldigt, bei klarem Verstand zu sein. Ein Mensch, der bei Verstand war, hätte niemals Aufnahmen eines Stadtrats, der Schmiergelder entgegennahm, ausstrahlen lassen, obwohl man ihm ausdrücklich gesagt hatte, damit nicht auf Sendung zu gehen, bis er eine offizielle Quelle benennen konnte, die die Anschuldigungen bestätigte. Aber Morales behauptete, eine zu haben, und hatte den Beitrag gesendet. Danach hatte man ihre Lüge als solche - 20 -
enthüllt, und es war herausgekommen, dass das Filmmaterial ebenfalls gefälscht war. Anstatt Stadtrat Miller als korrupten Hurensohn zu entlarven, hatte ihn die Affäre ins beste Licht gerückt und das Medium der Fernsehnachrichten als nicht vertrauenswürdig verunglimpft. Die Sache hatte Raccoon 7 ein gewaltiges blaues Auge eingetragen und galt als dunkler Fleck auf der bis dahin makellos weißen Weste, was saubere Berichterstattung anging. Der einzige Grund, weshalb Terri nicht gefeuert wurde, war ein Enthüllungsbericht, den die Raccoon City Times eine Woche später über Stadtrat Miller veröffentlichte. Wie sich herausstellte, waren Schmiergelder nur ein Tropfen im Meer der Bestechlichkeit dieses Mannes, und wenn dies Terri auch nicht von ihrer Schuld freisprach, verbesserte es doch wenigstens ihre Situation. Schließlich sah sich die einzige Person, die durch ihr Handeln geschädigt worden war, nun einem Dutzend Anklagen gegenüber. Trotzdem machte es sich nicht gut. Einer der Gründe, warum es Randall bei Channel 7 gefiel, war die Tatsache, dass die Mitarbeiter des Senders ihre journalistische Integrität ernst nahmen. Vielleicht konnten sie Terri ja nicht entlassen, ohne einen Gegenschlag zu riskieren – ganz zu schweigen von der Möglichkeit, dass sie von der Konkurrenz angeheuert werden könnte –, aber sie konnten sie demoralisieren. Sie zum Wetterfröschlein von Raccoon 7 degradieren. Außerdem ließ es ihren Lebenslauf in den Augen künftiger Arbeitgeber schlecht aussehen. Randall hätte es wirklich genossen, wenn er sich eines Tages größeren und besseren Projekten in Hollywood hätte zuwenden können, während Terri Morales den Zuschauern in Raccoon City immer noch etwas von Pollenwerten erzählte. „Wissen Sie noch, wie es früher war?“ - 21 -
Randall hob den Blick und sah sich den Werbespot an, der jetzt über den On-Air-Monitor lief. Der Bildschirm zeigte eine schöne Frau beim Aufstehen. Sie war von der Sorte, von der Randall wusste, dass es sie in der wirklichen Welt gar nicht gab. Das Schlafzimmer war unglaublich aufgeräumt und schick – einer Steuergruppe entsprechend, nach der Randall seit langem trachtete, die er aber noch nicht erreicht hatte. „Dieses junge Gesicht, das Sie jeden Morgen im Spiegel gesehen haben?“ Die Frau wischte das Kondenswasser vom Badezimmerspiegel und enthüllte ein wunderschönes Gesicht. „Ja, klar“, sagte Loren, „als ob irgendjemand nach dem Aufstehen so gut aussieht – oh, Verzeihung: am Morgen natürlich.“ „Bevor Ihnen die Sorgen der Welt zusetzten?“ Jetzt war es zwar noch dieselbe Aufnahme, aber die Frau war älter. Selbst das Schlafzimmer sah ein wenig heruntergekommener aus – mehr wie ein echtes Schlafzimmer. Und was das anging, sah auch die Frau echter aus: Krähenfüße, ein paar Falten, die Andeutung von Tränensäcken. „Möchten Sie die Uhr zurückdrehen? Mit Renew Cream können Sie das jetzt. Täglich aufgetragen verjüngt die einzigartige T-Zellen-Formel verbrauchte und absterbende Zellen.“ Diese Worte wurden von einer schlichten Grafik begleitet, die zeigte, wie die Creme vom Körper absorbiert wurde und Zellen in kräftigen Farben tote Hautzellen ersetzten. „Meine Güte, besser kriegen die das nicht hin?“, fragte Loren. „Ich mach auf meinem verdammten Mac bessere Animationen als das da.“ „Loren, halt die Fresse.“ Die Worte kamen Randall reflexartig über die Lippen. - 22 -
Die schöne, unechte Version der Frau kehrte zurück. „Renew Cream erweckt Ihre Jugend und Frische wieder zum Leben.“ „Na klar doch, denn Gott bewahre, dass man tatsächlich so alt aussieht, wie man ist.“ „Loren, welchen Teil von ,Halt die Fresse’ kapierst du nicht?“ Eine beschleunigte Stimme, die für Randall klang wie die Schlümpfe-CD, die seine Neffen immerzu hörten, sagte: „Renew ist ein eingetragenes Warenzeichen der Umbrella Corporation. Befragen Sie erst Ihren Arzt, bevor Sie mit der Behandlung beginnen. Nebeneffekte sind nicht auszuschließen.“ Randall runzelte die Stirn. „Sind die nicht verpflichtet, die Nebeneffekte aufzulisten?“ Loren schnaubte. „Na, sicher doch.“ „Nein, im Ernst, das ist doch gesetzlich vorgeschrieben, oder?“ „Wie lange wohnst du schon in Raccoon, Boss?“ Loren grinste. „Inzwischen müsstest du doch wissen, dass die Umbrella Corporation nach ihren eigenen Regeln handelt.“ Das konnte Randall nicht abstreiten. Raccoon City gehörte praktisch Umbrella. Verdammt, eine der Tochtergesellschaften besaß sogar Anteile an Channel 7. Es war keine Mehrheit, aber es war, wie Randall wusste, genug, um jede Untersuchung abzubrechen, die sich gegen Umbrella oder eines der Tochterunternehmen richtete. Jetzt, wo er darüber nachdachte, fiel ihm ein, dass Terri Morales eine dieser Untersuchungen vorgenommen hatte – damals, zu ihrer Zeit… Der letzte Werbespot begann. „In dreißig Sekunden sind wir wieder auf Sendung“, sagte Loren. Randall konzentrierte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Sendung, gab Kamera 3 ein Zeichen und dachte an - 23 -
den Tag, da Die Schuppen des Drachen in Produktion gehen würde.
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Drei „Hey, Jeremy, woher kommt der Name ,Ravens’ Gate Bridge’?“ Jeremy Bottroff schwor, dass er seine Eltern umbringen würde. Nein, das wäre ungerecht gewesen. Es war nicht ihre Schuld – zum Teufel, sie waren so nett gewesen, ihn nach dem Desaster in San Jose wieder einziehen zu lassen. Nein, es war Mike, den er umbringen musste. Aber natürlich musste er ihn dazu erst einmal finden. „Jeremy?“ Gregs Belästigungen zu ignorieren würde seinen kleinen Bruder leider nicht verschwinden lassen, und so beantwortete er die Frage endlich. „Früher gab es in dem kleinen Park auf unserer Seite der Brücke jede Menge Raben. Als sich Raccoon City nach dieser Seite des Flusses ausbreitete, brauchte man einen Namen für das Viertel. Weil es hier so verdammt viele Raben gab, nannte man es Ravens’ Gate. Und als die Brücke gebaut wurde, beschloss man, ihr auch diesen Namen zu verleihen.“ Während Jeremy sprach, bremste er seinen verschrammten alten VW Golf ab. Langsam fuhr er auf das Mauthäuschen zu, dankbar, dass seine Eltern ihm ihren Free Pass geliehen hatten, mit dem er sich nicht in die Warteschlange einreihen musste. So konnte er Greg schneller zum Pfadfindertraining bringen, dann umkehren, nach Hause fahren – oder vielmehr zu seinen Eltern – und sich wieder ins Bett legen. Und dann konnte er sich überlegen, wie er den Schlamassel, den er aus seinem Leben gemacht hatte, wieder in Ordnung brachte. - 25 -
Nein, das stimmte nicht. Der Schlamassel, den Mike aus seinem Leben gemacht hatte. Jeremy hoffte, dass Mike, wo es ihn auch hin verschlagen mochte, an irgendeiner exotischen Krankheit starb. Da er sich vermutlich in einem Land aufhielt, das kein Auslieferungsabkommen mit den USA hatte, lag das zumindest im Bereich des Möglichen. Außerdem achtete Mike nie darauf, was er aß. Im Gegensatz zu Jeremy, der nie auf die finanzielle Seite des kleinen Geschäfts geachtet hatte, das er und Mike Jones vor zwei Jahren in San Jose aufgezogen hatten. ,Mach dir keine Sorgen wegen des Zusammenbruchs der Internetfirmen’, hatte Mike gesagt. ,Mach dir keine Sorgen wegen des Silicon-AlleyFiaskos’, hatte Mike gesagt. ,Mach dir keine Sorgen wegen unseres kleiner werdenden Kundenstamms’, hatte Mike gesagt. Aber: ,Mach dir keine Sorgen darüber, dass ich mir das bisschen Profit, das wir noch haben, unter den Nagel reiße, mich ins Ausland absetze und dich die Suppe auslöffeln lasse’, hatte Mike ganz sicher nicht gesagt. Er hätte es ruhig sagen können, da Jeremy sich darüber keine Sorgen gemacht hatte, und dann war es genau so passiert. Pleite, ruiniert, sein Gesicht in BusinessWeek als das eines weiteren Opfers des Konjunkturrückgangs des neuen Jahrtausends, war Jeremy in seine Heimatstadt Raccoon City zurückgekehrt. Vor einem Jahr war er ein großer Geschäftsmann gewesen. Er hatte Personal gehabt, ein herrliches Apartment mit traumhafter Aussicht, dazu eine Freundin namens Shawna mit großen Titten, ohne Hirn und unersättlich sexgierig. Dann war Mike verschwunden, mitsamt des Geldes, und Jeremy verlor, in blitzschneller Abfolge, Personal, Apartment und Freundin. Oder vielleicht hatte er Shawna - 26 -
auch vor dem Apartment verloren. Es war alles so schnell gegangen. Wenigstens war er nicht so bescheuert gewesen, um Shawnas Hand anzuhalten. Jetzt war er nur noch ein dämlicher Versager wie viele andere, der daheim bei Mom und Dad wohnte und nichts weiter tat, als seinen jüngeren Bruder in aller Herrgottsfrühe zu den Pfadfindern zu fahren. Aber er hatte ja schlecht nein sagen können, als seine Eltern ihn baten, Greg zu fahren. Immerhin ließen sie ihn mietfrei im Haus wohnen, ihre Lebensmittel essen, ihren Schnaps trinken (eine Menge Schnaps) und sich unter ihrem Dach ausbreiten. Dennoch, es ging bergauf – oder zumindest ging es nicht bergab. Er hatte einen Termin für ein Bewerbungsgespräch mit der Personalabteilung von Umbrella vereinbart. Es hatte einen Monat gedauert, um überhaupt nur den Termin zu bekommen – aus irgendeinem Grund betrachtete der landesweit größte Anbieter von Computertechnologie einen Mann, dessen jüngster Vorstoß in eben diesen Bereich mit Bankrott und Anklagen geendet hatte, nicht als einen potenziellen Mitarbeiter, den man sich schnellstens angeln musste – aber heute Nachmittag durfte er sich wenigstens vorstellen. Und das war der Grund, warum er Greg schleunigst abliefern und dann noch etwas schlafen wollte. Andererseits: Wäre er nicht bis um zwei Uhr aufgeblieben, um im Kabel-TV miese Filme zu schauen und den Tequila-Vorrat seiner Mutter zu schröpfen, wäre es ihm auch nicht so schwer gefallen, aufzustehen und Greg zum Training zu kutschieren. Aber was zum Teufel sollte er denn sonst mit seinem Leben anfangen? „Warum nennt man es ,Ravens’ Gate’?“, fragte Greg. „Es ist doch eigentlich gar kein Tor.“ „Sicher ist es das. Es ist das Tor zu dieser Seite des - 27 -
Flusses, und es ist voller Raben.“ Er lächelte. „Außerdem wollten sie es ,Ravens’ Haven’ nennen, aber der Stadtrat meinte, das klinge doof.“ „Ach, Quatsch.“ „Was, glaubst du mir etwa nicht?“ „Nein.“ „Warum hast du mich dann überhaupt gefragt?“ „Weil mir langweilig ist.“ „Und darum muss ich mich auch langweilen, oder wie?“ „Mir doch egal.“ Jeremy seufzte erleichtert, als er das Mauthäuschen passierte und die Anzeige zu verstehen gab, dass auf dem Free Pass seiner Eltern genug Geld war, um ihn auf die Brücke zu lassen. Wenn Greg „Mir doch egal“ sagte, bedeutete das für gewöhnlich das Ende des Gesprächs. Und da Jeremy es ja gar nicht hatte anfangen wollen… Es war noch so früh, dass nur wenige Autos unterwegs waren. In etwa zwanzig Minuten würden die Pendler mit Macht auf die Brücke drängen, und dann würde sich hier der Anblick eines Stilllebens aus Fahrzeugen bieten. Die meisten davon wahrscheinlich Geländewagen, weil man ja ein beschissenes Offroad-Fahrzeug brauchte, um von seinem schicken Haus in sein Büro in der Stadt zu kommen… Wie diese Typen da. Jeremy blinzelte. Was zum Teufel…? Gerade als er sie im Rückspiegel bemerkte, fragte Greg: „Was ist denn das für ein Lärm?“ Gregs Fenster war nach unten gekurbelt – die Klimaanlage war schon lange kaputt, und Jeremy befand sich finanziell weiß Gott nicht in der Lage, sie reparieren zu lassen. Greg steckte den Kopf hinaus und sah nach oben. „Da hinten ist ein schwarzer Hubschrauber. Ich wette, der kommt von Area fifty-one.“ „Area fifty-one liegt in New Mexico, Klugscheißer.“ - 28 -
„Ich sag Mommy, dass du ,Scheißer’ gesagt hast.“ Jeremy schaute abermals in den Rückspiegel – es schien, als raste mehr als ein Dutzend schwarzer Geländewagen mit mindestens 70 Meilen pro Stunde über die Brücke. „Ich bin erwachsen, Greg. Ich kann verdammt noch mal sagen, was ich will.“ Der Golf hatte Mühe, 65 zu fahren. Die Geländewagen überholten ihn. Dabei fiel Jeremy auf, dass sie alle stark getönte Scheiben hatten. Was, soweit er wusste, absolut illegal war. Das Erstaunliche war, dass die Wagen Stoßstange an Stoßstange fuhren und trotzdem etwa 70 Sachen drauf hatten. Es war, als würden sie von Robotern oder so etwas gelenkt. Er warf einen kurzen Blick nach oben und sah den schwarzen Helikopter, über den Greg sich gar nicht mehr einkriegen wollte. Er flog in enger Formation mit den Geländefahrzeugen. Was zum Teufel ging hier ab? Der letzte Wagen zog vorbei, Jeremys Zählung zufolge der fünfzehnte, und dann sah er das Nummernschild. Anstelle der für gewöhnlich zufälligen Zahlen- und Buchstabenfolge hatte dieses Fahrzeug ein spezielles Kennzeichen: UC 15. Jeremy registrierte außerdem, dass den Rahmen des Kennzeichens das stilisierte Logo der Umbrella Corporation zierte. Als sie die Raccoon-City-Seite der Brücke erreichten, entschied Jeremy Bottroff, dass er sich jetzt noch viel, viel mehr auf das heutige Vorstellungsgespräch freute.
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Vier „Verdammt noch mal, muss das sein?“, fragte Mike Friedberger seinen Partner. „Was denn?“, fragte Peterson und klang ach so unschuldig, während er den Geländewagen durch die Straßen von Raccoon City lenkte. „Dass du mit deinem Scheißkaugummi knallst. Verdammt, ich hasse es, wenn du mit deinem Scheißkaugummi knallst.“ Peterson hob die Schultern, während er um eine Ecke in eine fast leere Seitenstraße bog. Mike wünschte, er würde nicht gleichzeitig die Achseln zucken und fahren, aber das würde er wohl ebenso wenig bleiben lassen wie das verdammte Kaugummiknallen. „Pech“, sagte Peterson. „Vielleicht würde ich nicht mit meinem Kaugummi knallen, wenn du weniger fluchen würdest.“ „Meine Fresse, red doch keinen Scheiß.“ „Würde es dich umbringen, weniger zu fluchen?“ „Fuck, kommt es darauf an? Ich meine, echt, wem schade ich denn, verdammt noch mal?“ Peterson lächelte sein dämliches Idiotenlächeln, das in Mike den Wunsch weckte, ihm ein paar Mal in die Schnauze zu hauen. „Niemandem. Genau wie ich mit meinem Kaugummi.“ „Ja, aber der Scheißunterschied ist, dass du mit deinem Kaugummi ein verdammt nerviges Geräusch machst, das mich verdammt noch mal die Wände hochtreibt.“ „Und mich treibt deine Verwendung des Wortes verdammt’ als Satzzeichen die Wände hoch – aber beschwere ich mich?“ „Ja, tust du.“ - 30 -
„Wir sind da.“ „Was?“ Mike drehte den Kopf und sah hinab auf das GPS am Armaturenbrett. Es zeigte eine Karte der Gegend, übertragen von einem Umbrella-Satelliten im Orbit. Ein winziges Gerät im Fahrwerk des Wagens sendete ein Signal zu dem Satelliten, und der Computer konnte einen rot blinkenden Punkt auf die Karte setzen, der anzeigte, wo sich ihr Fahrzeug gerade befand. Von ihrem Zielort aus sendete ein baugleicher Transmitter ebenfalls ein Signal zum Satelliten, das in einen blauen Punkt umgesetzt wurde. Insgesamt kosteten dieser Kram und die anderweitige Ausstattung über eine Million Dollar, und alles, was dieses Zeug leistete, hätte Mike verdammt noch mal schlicht damit erreichen können, indem er zu seinem getönten Fenster hinausschaute, wo er das riesige Haus von Dr. Charles Ashford sah, auf das Peterson jetzt zuhielt. Das Computerdisplay verriet ihnen, dass Ashford ein Level-6-Mitarbeiter der wissenschaftlichen Abteilung war und dass es sich um eine Aufgabe von höchster Priorität handelte. Auch das wusste Mike selber, weil das der Grund war, weshalb sie diesen scheißschicken Geländewagen in verdammter Herrgottsfrühe durch Raccoon City kutschierten. Aber bei Umbrella war man nicht glücklich, wenn man nicht einen Haufen Geld für irgendwelchen Scheiß ausgab. Das war es nun mal, was große Konzerne taten. So lange Mikes eigener Gehaltsscheck gedeckt war, konnten sie seinetwegen so viel Geld zum Fenster rauswerfen, wie sie wollten. Wenn sie ihn jetzt nur noch mit jemandem zusammengespannt hätten, der nicht so beschissen prüde war und nicht andauernd seine Kaugummis knallen ließ… Peterson lenkte den Wagen in die Zufahrt. Er parkte - 31 -
ihn exakt in der Mitte und schnurgerade ausgerichtet. Sah man von seinen Macken einmal ab, war Peterson ein verdammt guter Fahrer. „Wer ist der Kerl eigentlich?“, fragte Peterson, während er aus dem Geländewagen stieg. „Eins von den verdammt hohen Tieren in der wissenschaftlichen Abteilung.“ „Und was heißt das genau?“ „Das heißt, er ist viel schlauer als wir beide, macht mehr Geld, und wenn ihm unsere verdammten Nasen nicht passen, dann hängt er uns eine Scheißkrankheit an, die er in seinem Labor entwickelt hat.“ Peterson lachte. „Kapiert.“ „Ernsthaft, kennst du diese Faltencreme, für die sie all die Scheißwerbespots bringen? Mit dieser verdammt heißen Braut?“ „Ja, hab ich gesehen. Und kein Mensch sagt heute noch ,Braut’.“ „Wer bist du, die verdammte Sprachpolizei, oder was? ,Verdammt’ kann ich nicht sagen, ,Braut’ kann ich nicht sagen – macht’s dir, verdammt noch mal, was aus, mir zu verraten, was ich überhaupt noch sagen kann?“ Peterson ließ seinen Kaugummi besonders laut knallen. „Sag, was du willst.“ Sie gingen auf das Haus zu. Mike drückte den Klingelknopf. „Vielen Dank, Klugscheißer. Wie auch immer, der Typ hier hat diese Faltencreme entwickelt, so ziemlich jedenfalls.“ Er lächelte. „Ach ja, kennst du diesen Computer im Hive?“ „Was, dieses unheimliche kleine Kind?“ Mike nickte. „Das ist die Tochter des Typen.“ „Wirklich?“ „Ja. Verdammt durchgeknallt, wenn du mich fragst. Ich meine, wer will denn jedes Mal, wenn er seinen Scheißcomputer benutzen möchte, mit einem verdammten Kind reden?“ - 32 -
„Holen wir die Tochter auch ab?“ Mit den Augen rollend fragte Mike: „Hast du bei dem verdammten Briefing überhaupt zugehört? Nein, darum kümmern sich Bob und Howie.“ Mike beneidete seinen Bruder Bob nicht um diesen Auftrag. Ein kleines Kind aus einem Klassenzimmer zu holen, war immer ein Scheißjob. Die Lehrer entrüsteten sich, und die Kinder waren sowieso alle bescheuert, und es war einfach eine Drecksarbeit. Außerdem geschah es Bob ganz recht. Sein Partner ließ im Auto keine Kaugummis knallen. Howie Stein war ein guter Junge. Besser als es sein verdammter kleiner Bruder verdiente, wie Mike fand. Endlich ging die Eingangstür auf. Mike dachte erst, sie hätte sich automatisch geöffnet, weil niemand zu sehen war. Dann senkte er den Blick und sah, dass Dr. Charles Ashford behindert war. Er saß in einem verdammten Rollstuhl. Equipment für ein paar Millionen Dollar im Wagen, ein verdammtes Vorab-Briefing mit Major Cain, und niemand konnte auch nur einmal erwähnen, dass der Kerl in einem Scheißrollstuhl saß? Mike setzte seine dienstliche Miene auf, sah zu Ashford hinab und sagte: „Verzeihen Sie die Störung, Sir. Es gab einen Zwischenfall.“ Ashfords Augen weiteten sich. „Was?“ „Sie müssen mit uns kommen“, fügte Peterson hinzu. „Was ist denn passiert? Und wie?“ Ashford klang sauer. „Sir, bitte.“ Mike sagte das vor allem, weil er nicht die leiseste Ahnung hatte, was passiert war, geschweige denn wie. Er tat nur, was Major Cain ihm zu tun befohlen hatte. Er sah Peterson an und nickte in Richtung des Wissenschaftlers. Peterson, o Wunder, verstand das - 33 -
verdammte Zeichen und trat hinter Ashford, um ihn zur Tür hinauszuschieben. Ein Vorteil, dass der Typ ein verdammter Krüppel war, lag darin, dass sie sich nicht lange mit ihm herumstreiten mussten. Sie konnten ihn einfach mitsamt seines Scheißrollstuhls einpacken. Als Peterson die Rollstuhlgriffe umfasste, wiederholte er: „Sie müssen mit uns kommen.“ „Aber meine Tochter ist schon unterwegs zur Schule.“ Mike versuchte beruhigend zu klingen, als er sagte: „Darum kümmern sich Kollegen, Sir.“ Peterson schob Ashford auf den Geländewagen zu. Mike fragte sich, wie verkrüppelt der Typ tatsächlich war und ob sie es schaffen würden, seinen mageren Arsch in den Geländewagen zu verfrachten. Vielleicht hatte Bob ja doch den einfacheren Auftrag bekommen. Während Peterson Ashford die Einfahrt hinunterschob, ließ er seinen Kaugummi platzen. Ashford zuckte zusammen. „Muss das sein? Das ist überaus lästig.“ Und plötzlich entschied Mike, dass er diesen Ashford verdammt noch mal mochte.
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Fünf Angela Ashford hasste den Unterricht beinahe so sehr, wie sie es hasste, Angie genannt zu werden. Leider musste sie sich mit beidem Tag für Tag abfinden. Jedermann nannte sie Angie, als sei sie ein dummes kleines Gör, aber das war sie nicht. Sie war ein großes Mädchen und klug noch dazu. Und sie hasste Schule. Der Unterricht war vor allem deshalb so leidig, weil Bobby Bernstein daran teilnahm. Angela hasste Bobby Bernstein. Alles, was er tat, war, sie an den Haaren zu ziehen, sie mit seinem dummen Freunden zu verspotten und ihren Vater einen Krüppel zu nennen. Das hasste Angela. Vor allem, dass er Daddy einen Krüppel schimpfte. Es war nicht Daddys Schuld, dass er ein Krüppel war. Oder dass Angela einer gewesen war. Er hatte versucht ihr zu helfen. Sie erinnerte sich noch an das Gespräch, das Daddy mit den Männern von der Firma, für die er arbeitete, geführt hatte. Angela hatte es nicht mit anhören sollen, aber sie war aus ihrem Zimmer gegangen, weil sie zur Toilette musste, und hatte aufgeschnappt, wie aufgeregt ihr Dad klang. Angela mochte es nicht, wenn er sich aufregte. Sie hörte nicht alles, weil sie im oberen Stockwerk war und Daddy unten in seinem Arbeitszimmer, aber sie verstand genug, um Angst zu bekommen. „… Sie haben meine Forschungsarbeit pervertiert“, hatte Daddy gesagt. „Die T-Zelle könnte weltweit jede Krankheit auslöschen!“ Angela wusste nicht, was ‚pervertiert’ bedeutete, aber sie begriff, dass es etwas Schlechtes war. - 35 -
„Und wer würde dann Ihren Gehaltsscheck unterschreiben, Doc?“ hatte einer der Männer gefragt. Später in dieser Nacht hatte sie gehört, wie Daddy in seinem Zimmer weinte. Aber er half ihr trotzdem. Er hatte es geschafft, dass es ihr besser ging. In diesem Jahr wurde Angela von einem dummen Mann namens Mr. Strunk unterrichtet. Er trug falsches Haar auf dem Kopf, von dem er steif und fest behauptete, es sei echt, und er hatte einen großen Schnurrbart, grau und schwarz gemischt. Die anderen Kinder nannten ihn alle Mr. Stunk, aber nur, weil die anderen Kinder auch dumm waren. Angela mochte Mr. Strunk nicht besonders, weil er Bobby Bernstein und den anderen Kindern nie sagte, dass sie aufhören sollten, sie an den Haaren zu ziehen. Aber sie fand trotzdem nicht, dass es sehr nett war, ihn Mr. Stunk zu nennen. Mr. Strunk machte die morgendlichen Ansagen. Angela versuchte zuzuhören, aber Dana Hurley tuschelte direkt hinter Angela andauernd mit Natalie Whitaker, und so verstand sie kein Wort. Voriges Jahr, in Miss Modzelewskis Klasse, hatte es ihr besser gefallen. Miss Modzelewski setzte die Kinder in alphabetischer Reihenfolge, und so saß Angela immer vorne in der ersten Reihe, gleich hinter Carl Amalfitano und vor Tina Baker und neben Anne-Marie Cziernewski. Carl und Tina waren immer still, und Anne-Marie war nett zu Angela. Bobby Bernstein saß am anderen Ende der Reihe, weit weg. Plötzlich ging die Tür auf. Angela erschrak. Mr. Strunk erschrak offensichtlich ebenfalls, denn er ließ das Klemmbrett fallen, von dem er die Ansagen ablas. Es schlug mit einem Klappern, das Angela ein zweites Mal zusammenzucken ließ, zu Boden. Sie ergriff ihre Spider-Man-Lunchbox. Daddy hatte ihr die Box gegeben, nachdem er dafür gesorgt hatte, dass es ihr besser ging. Angela mochte Spider-Man, weil er - 36 -
am Ende immer gewann, auch dann, wenn er es eigentlich nicht sollte oder wenn ihm etwas Schlimmes zustieß. Als er sie ihr gab, hatte Daddy gesagt, er hätte genau diese Lunchbox ausgesucht, weil sie, Angela, seine kleine Heldin sei. Allerdings verstaute er darin nicht ihr Mittagessen. Es war etwas viel, viel Wichtigeres. Das Letzte, was ihr Vater jeden Morgen zu ihr sagte, bevor sie in den Schulbus stieg, war stets: „Lass diese Lunchbox nie aus den Augen, meine Süße.“ Und sie antwortete: „Das werd’ ich nicht, Daddy.“ Und das tat sie auch nicht. Niemals. So griff sie als Erstes nach der Lunchbox, als die beiden Männer in den grauen Anzügen das Klassenzimmer betraten. „Entschuldigen Sie, Sir“, sagte einer der Männer, „aber ich fürchte, ich muss Miss Angela Ashford aus der Klasse holen.“ „Was hast du denn ausgefressen, Angie?“, fragte Bobby Bernstein in lauerndem Tonfall. Ein paar der anderen Kinder lachten. Angela hasste Bobby Bernstein aus ganzem Herzen. Und sie hatte Angst, dass zu Hause etwas passiert sein könnte. Diese Männer in den grauen Anzügen sahen genauso aus wie jene anderen Männer in den grauen Anzügen. Diejenigen, die für die Firma arbeiteten, für die auch ihr Daddy arbeitete. Angela mochte sie nicht sonderlich. „Was geht hier vor?“, fragte Mr. Strunk. Er bückte sich, um sein Klemmbrett aufzuheben. „Der Arbeitgeber von Angies Vater hat uns geschickt, Sir. Unsere Anweisung lautet, Angie abzuholen.“ „Stimmt etwas nicht mit meinem Daddy?“, fragte Angela. Einer der Männer sah Angela an, dann streckte er eine Hand aus. „Bitte, Angie, du musst mit uns kommen.“ - 37 -
Angela hasste es, Angie genannt zu werden, vor allem von Erwachsenen. „Ist Dad okay?“ Sie weigerte sich, von ihrem Platz aufzustehen, bis der Mann ihre Frage beantwortet hatte. Bobby Bernstein wiederholte mit alberner Stimme: „Ist Daddy okay?“ Seine dummen Freunde lachten wieder. „Deinem Vater geht es gut, Angie, aber du musst mit uns kommen, sofort.“ Sie stand auf, umklammerte ihre Spider-Man-Lunchbox fest. Der andere Mann im grauen Anzug sagte: „Dein Mittagessen brauchst du nicht, Angie.“ „Ohne meine Lunchbox geh ich nicht mit.“ „Na gut, meinetwegen“, sagte der erste Mann. „Und jetzt komm bitte.“ Mr. Strunk trat vor. „Nun hören Sie mal, ich kann doch nicht zulassen, dass irgendwelche fremden Männer in mein Klassenzimmer kommen und eine meiner Schülerinnen mitnehmen.“ Der zweite Mann griff in die Innentasche seines grauen Jacketts und zog ein Blatt Papier heraus, das er Mr. Strunk reichte. Mr. Strunk las es. Dabei schien sein großer Schnurrbart zu erschlaffen. „In Ordnung, gut“, sagte der Lehrer und reichte das Blatt Papier zurück an den zweiten Mann im grauen Anzug. Der erste Mann hielt Angela immer noch seine Hand hin. „Komm, Angie, wir müssen gehen.“ „Ja, Angie, wir müssen gehen“, sagte Bobby Bernstein. Seine Freunde kicherten. Angela murmelte: „Ich hoffe, du stirbst, Bobby Bernstein.“ Sie sprach zu leise, als dass jemand es hören konnte – bis auf Dana, die Angela zulächelte. - 38 -
Dana konnte Bobby Bernstein auch nicht leiden. Während die Männer in den grauen Anzügen sie auf den Gang hinaus führten, drückte Angela die SpiderMan-Lunchbox an ihre Brust und fragte: „Wo gehen wir denn hin?“ „Das wirst du gleich sehen, Angie.“ Angela fand nicht, dass das eine richtige Antwort war. Sie gingen zum Vordereingang der Schule hinaus, der nach Unterrichtsbeginn eigentlich abgeschlossen sein sollte. Aber wenn diese beiden Männer von der Firma waren, für die Daddy arbeitete, dann war dies wohl nicht das erste Mal, dass sie etwas taten, was sie eigentlich nicht tun sollten. Eigentlich sollten die Männer sie auch nicht einfach so aus der Klasse holen. Aber sie hatten Mr. Strunk dazu gebracht, es zuzulassen. Sie drückte die Lunchbox fester an sich. Ein Auto parkte auf der Straße vor der Schule, direkt unter dem roten Schild, auf dem ABSOLUTES HALTEVERBOT stand. Hinter dem Scheibenwischer des Wagens klemmte kein Strafzettel. Angela wusste, dass etwas Schlimmes passierte. War Daddy krank? War sie krank? Hatten sie etwas Unangenehmes über Daddy herausgefunden? Oder war es etwas noch Schlimmeres? Der zweite Mann im grauen Anzug öffnete die Beifahrertür des Autos. Es war so groß, dass Angela wie über eine Stehleiter hineinklettern musste. Fast hätte sie die Lunchbox fallen lassen. Angela saß auf dem Rücksitz, während die zwei Männer vorne Platz nahmen. „Let’s boogie“, sagte der auf dem Beifahrersitz. „Warum sagst du das immer?“ „Was denn?“ - 39 -
„,Let’s boogie’. Das ist beknackt.“ „Wie wär’s, wenn du einfach nur das Scheißauto fährst?“ „Hey, pass auf, was du sagst! Da hinten sitzt ein Kind.“ „Na schön, wie wär’s, wenn du das dumme, dumme Auto fährst? Mann.“ Das große schwarze Auto fuhr auf die Hudson Avenue, vorbei an der Robertson Street in Richtung Main Street. Die Main Street war genau das, was der Name ausdrückte: die Hauptstraße von Raccoon City. Eigentlich gab es ja viele große Straßen in der Stadt, aber Daddy hatte ihr erzählt, dass die Main Street früher einmal die einzige gewesen sei. Jetzt gab es noch mehr große, wie Shadeland Boulevard, Johnson Avenue und Mabius Road, aber die Main Street war nach wie vor eine der wichtigsten. Der Mann im grauen Anzug, der am Steuer saß, redete noch, als er die Hudson Avenue hinunterfuhr. „Hast du wirklich schon mal Boogie getanzt, nur ein einziges Mal in deinem Leben?“ „Warum müssen wir uns darüber unterhalten?“ „Na? Hast du oder hast du nicht?“ „Herrgott, Howie, das ist eine Redensart. Hast du in deinem Leben noch keine Redensart gebraucht?“ „Doch, aber ich gebrauche lieber welche, die irgendwie in der Realität fußen, verstehst du?“ „Sie fußt in der Realität. Boogie ist ein Tanz. Tanz ist eine Bewegungsform. Wir müssen uns bewegen. Es ist nur eine Abwandlung von ,Bewegen wir uns’.“ „Warum sagst du dann nicht einfach: ,Bewegen wir uns’?“ „’Let’s boogie’ hat weniger Silben.“ „Ah, ich verstehe – du bist ein eingetragenes Mitglied der Gesellschaft zur Verhütung der Silbenabnutzung. Hast du deinen Monatsbeitrag schon bezahlt?“ „Weißt du, wenn meine Frau sich so benimmt, gehe ich - 40 -
davon aus, dass sie scharf auf mich ist. Welche Entschuldigung hast du?“ Der Fahrer näherte sich dem großen roten Stoppschild an der Ecke Hudson und Main, bremste aber nicht ab. „Ich sehe nur keinen Zusammenhang zwischen ,Let’s boogie’ und dem, was wir getan haben, vor allem, weil du nicht Boogie tanzt.“ „Woher zum Teufel willst du wissen, dass ich nicht Boogie tanze? Waren wir schon mal in einer Situation, in der ich hätte tanzen können?“ Angela schaute nach rechts zum Fenster hinaus. Sie sah einen großen Truck die Main Street herunterkommen. Sehr schnell die Main Street herunterkommen. Der Mann im grauen Anzug, der auf dem Fahrersitz saß, redete immer noch über den Boogie-Kram. Er war an dem Stoppschild nicht stehen geblieben. Wahrscheinlich dachte er, das müsse er nicht. Schließlich musste er auch nicht die Regeln befolgen, die besagten, dass Angela den ganzen Tag in der Schule sein musste. Er brauchte auch die Regel, der zufolge die Eingangstür der Schule während des Unterrichts abgesperrt bleiben musste, nicht einzuhalten. Und auch die Regel, dass man vor der Schule nicht parken durfte, kümmerte ihn nicht. Also dachte er wohl auch, dass er an einem Stoppschild nicht stehen bleiben musste. Aber der Truck wurde nicht langsamer. Ebenso wenig wie der Mann im grauen Anzug. Bis er den großen Truck sah. „Herr im Himmel!“ Danach ging alles ganz schnell. Angela konnte nichts sehen, außer der Rückseite des Sitzes unmittelbar vor ihr. Die Welt schien nur noch aus Lärm zu bestehen. Sie hörte ein quietschendes Geräusch. Dann hörte sie einen Ton wie von einem Hammer, der - 41 -
gegen eine Wand schlug. Dann hörte sie ein Geräusch wie von zerknitterndem Papier. Dann hörte sie Schreie. Fühlen konnte sie auch noch. Sie fühlte sich wie in einer Achterbahn. Sie wurde in dem großen schwarzen Auto umhergeworfen. Aber ganz gleich, was geschah, sie achtete darauf, dass sie die Spider-Man-Lunchbox nicht losließ. Und als sie ein Kreischen hörte, wie von Fingernägeln, die über eine Tafel schabten, nur viel, viel lauter, fragte sie sich, ob sie ihren Daddy jemals wiedersehen würde.
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Sechs Lloyd Jefferson „L. J.“ Wayne war schon so oft verhaftet worden, dass er sich die Handschellen praktisch selbst anlegen konnte. Es war ein beinahe wöchentlich wiederkehrendes Ritual. Entweder buchteten sie ihn für irgendeinen Scheiß ein, in den er verstrickt war, oder jemand anders war in irgendwelchen Scheiß verstrickt, über den das RCPD Infos brauchte, und dann verknackten sie L. J. wegen irgendeines Kinkerlitzchens, damit sie ihn in aller Seelenruhe ausquetschen konnten. Und weil er kein Idiot war, ließ sich L. J. meistens ausquetschen. Bis auf den letzten Tropfen. Er wusste, dass er nur ein Schmalspurganove war. Das war L. J. ganz recht so. Ja, die Bullen lochten ihn ein, aber er musste nie lange brummen. Scheiße, er war nur einmal wirklich im Knast gelandet, und da hatte er dann lediglich sechs Monate absitzen müssen. So lange er es mit seinen kleinen Vergehen hielt, war sein schwarzer Arsch auf der sicheren Seite. Er verdiente halbwegs gutes Geld, hatte ein Dach über dem Kopf und war sein eigener Boss. Verdammt, er wusste, was für Zeiten herrschten. Er verkaufte Stoff an weiße Typen, die es nicht so gut hatten wie er, verloren ihre Jobs und all so’n Scheiß, verprassten ihre Abfindung für Junk, weil das Leben so bescheiden war. Heute allerdings, heute war kein Tag, an dem man im Käfig des RCPD verrotten wollte, Mann. Heute war echt die Kacke am Dampfen, und das hier war der letzte Ort, an dem L. J. sein wollte. Den ganzen Tag lief schon irgendwas komisch ab. Leute stolperten herum, als seien sie einem billigen Monsterfilm entsprungen, redeten kein Wort mit - 43 -
anderen, sondern bissen sie nur. Erst glaubte L. X, das sei irgendein verrückter Scheiß der Weißen – bis er Dwayne sah. Dwayne war ein Punk, der sich für den großen Nigger im Block hielt, weil er eine Jugendstrafe abgesessen hatte. Jedenfalls behauptete er das. L. J. glaubte den Scheiß keine Minute lang, aber er ließ Dwayne reden, so lange er für seine Ware bar zahlte. Heute allerdings tauchte Dwayne torkelnd an L. J.’s Kartenspiel-Stand auf. L. J. war etwas knapp bei Kasse, und es war Monatsende, was bedeutete, dass Junior Bunk die Runde machte, um dafür zu sorgen, dass jeder die monatliche Lieferung voll bezahlte. L. J. schuldete Bunk zwei Tausender, die L. J. allerdings nicht hatte, weil die verdammten Colts gegen die verdammten Saints verloren hatten, und deshalb hatte er beschlossen, ein paar Touristen etwas Geld abzuknöpfen. Er stellte an der Ecke Hill und Polk einen Karton auf, holte seine Glückskarten hervor, die er am Zeitungsstand bei der Bushaltestelle geklaut hatte, zog drei Karten heraus und begann zu mischen. Was also war passiert? L. J. erleichterte zwei dämliche Weiße, darunter einen Arsch, der meinte, er kenne „alle Tricks, die diese Leute abziehen“, um einen ordentlichen Batzen Kohle, und dann tauchte Dwayne auf, sagte kein Wort, biss den Arsch und dessen Alte und stieß den Karton um, den L. J. für sein Spiel benutzte. Was L. J. echt zugesetzt hatte, waren Dwaynes Augen. Seine Augen waren tot. Außerdem war er blass und, verdammt, seine Haut war eher grau als braun. Dann schlurfte Dwayne davon, die Weißen rannten schreiend weg – mit ihrem Geld –, und L. J. durfte die verfluchte Sauerei aufräumen. L. J. sah noch mehr von diesem Scheiß, eine Stunde lang, bevor sich eines der Arschlöcher, die zum Spielen gekommen waren, als Scheißbulle erwies. - 44 -
Was ihm wirklich stank, war, dass dies sein letztes Spiel sein sollte. Er hatte die Kohle, die er brauchte, zwar immer noch nicht beisammen, aber Bunk konnte ihn an seinem schwarzen Arsch lecken – er wollte jetzt nur noch in seiner Bude sein, seine spezial angefertigten Uzis in den Händen und das Polizeischloss an der Scheißtür. Stattdessen buchtete ihn dieser weiße Detective wegen eines kleinen Vergehens ein, während sich in der ganzen Stadt Zombies und so’n Scheiß herumtrieben. So irre, wie es auf den Straßen auch zugehen mochte, es war doch nichts im Vergleich zu dem, was auf dem Polizeirevier abging. L. J.’s Cousin Rondell erzählte immer, was auf den Revieren in New York los war, aber so was gab es in Raccoon City nicht. Bis heute. Es wimmelte von Cops, sie rannten herum, schrien einander an, brüllten am Telefon. L. J. konnte kein Wort verstehen, es war einfach nur eine riesige Wand aus Lärm. „Komm schon“, sagte L. J. zu dem Detective, der ihn hereinzerrte. „Glaubst du echt, irgendwer interessiert sich ausgerechnet jetzt für meinen kleinen schwarzen Arsch? Schau dich doch mal um!“ Der Detective sagte nur, was er andauernd gesagt hatte, seit er L. J. auf der Polk Avenue seine Rechte vorgebetet hatte: „Halt’s Maul.“ Als sie vor Sergeant Quinns Tresen traten, sagte der Detective: „Sperren Sie ihn ein. Dreivierzehn.“ „Ihr müsst den Verstand verloren haben! Seht mich doch an – ich bin ein Geschäftsmann!“ L. J. ließ den Blick durch das Revier schweifen. Er sah, wie zwei Uniformierte – ein Bleichgesicht namens Duhamel und sein Partner, ein Nigger namens Cooper – einen großen Kerl hereinbrachten, der weißer wie Milch aussah. Er hatte dieselben toten Augen wie Dwayne. - 45 -
„Da, schaut euch diesen Herman-Munster-Verschnitt an. Das ist euer Problem.“ Duhamel und Cooper hatten alle Hände voll zu tun, um Herman festzuhalten. Duhamel schrie dem Sergeant zu: „Helft uns! Der Kerl ist wahnsinnig!“ Quinn ging um den Tresen herum und schob L. J. zur Wartebank. „Mein Gott!“ L. J. drehte sich um – das war Cooper gewesen, der sich jetzt den Arm hielt und das Gesicht verzog, als habe er heftigste Schmerzen. „Er hat mich gebissen!“, schrie Cooper. „Der Hurensohn hat mich gebissen!“ Duhamel prügelte mit seinem Schlagstock auf Herman ein. Die Scheißcops griffen immer gleich zu ihrem Scheißstock, wenn es nicht so lief, wie sie wollten. Quinn fesselte L. J. mit den Handschellen an die Bank, dann rannte er hinüber, um Duhamel und Cooper beizustehen. Herman steckte irrsinnige Prügel ein, aber die Hiebe zeigten keine Wirkung. Er stand einfach nur da. Das gefiel L. J. ganz und gar nicht. „Yo! Du kannst mich nicht einfach hier lassen, Quinn! Ich brauch ‘ne Waffe, Mann!“ Quinn schenkte ihm keinerlei Beachtung und zog seinen eigenen Stock, um ihn gegen Herman einzusetzen. Kopfschüttelnd drehte L. J. sich um, weil er sehen wollte, wer noch an der Bank hing. Nur eine Frau, gekleidet wie eine Nutte. Wahrscheinlich war sie eine Nutte. Scheiße, wenn sie hinter L. J. her waren, räumten sie wahrscheinlich auch unter den Nutten an der Harbor Street auf. Ultimo. Bunk war nicht der Einzige, der die Dinge in Ordnung wissen wollte. Auch die Cops hatten sich vor Arschlöchern zu verantworten – mussten ihre Quoten erfüllen, also - 46 -
knöpften sie sich gesetzestreue Geschäftsleute wie L. J. vor und ehrliche Nutten wie… Scheiße, die hier kannte L. J. doch. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, weil sie den Kopf hängen ließ – er lag praktisch auf ihren Titten. Wo auch ne Menge Platz dafür war, und daran hatte L. J. sie ja auch erkannt. „Rashonda? Gottverdammt, bist du das, Mädchen?“ Aber Rashonda sagte keinen Ton. Gerade so, als wäre sie eingeschlafen oder so. Mit der freien Hand stieß L. J. sie an. Wenigstens hockte er nicht allein hier. „Jetzt sag bloß, du erinnerst dich nicht an mich.“ Sie schaute auf. Erst jetzt bemerkte L. J. dass ihre Schulter blutete. Sah aus, als sei sie von jemandem gebissen worden. Und ihre Augen waren so tot wie die von Dwayne und Herman und all den anderen Scheißzombies, die er den Tag über gesehen hatte. „Gottverdammt, Mädchen, wen hast du denn gefickt?“ Dann öffnete sich ihr Mund – viel weiter, als irgendein Scheißmund das Recht hatte, sich zu öffnen. Rashondas Zähne waren schwarz – und sie versuchte L. J. zu beißen. „O Scheiße. Gottverdammte Scheiße…!“
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Sieben Sie sagten Jill Valentine, sie sei wahnsinnig. Sie sagten ihr, sie rede irre. Und dass alles, was sie als Wahrheit verbreitete, dem Reich der Videospiele und Actionfilme entstamme, nicht dem wirklichen Leben. Sie bilde sich Dinge ein, täusche sich und reagiere über. Dann sagten sie ihr noch, dass sie vom Dienst suspendiert sei. Und nur, weil sie etwas gemeldet hatte, das sie mit eigenen Augen gesehen – und mit ihrer eigenen Waffe erschossen hatte. Oder vielmehr mit der polizeieigenen. Die man ihr jetzt, da sie suspendiert wurde, wieder abnahm, zusammen mit ihrer Dienstmarke. Dass sie eine Polizistin mit hohen Auszeichnungen war, zählte offenbar nichts. Dass sie damals als Streifenpolizistin geholfen hatte, das Leben der Bürgermeisterin zu retten, ebenso wenig (nun, warum hätte es auch für sie sprechen sollen? Besagte Bürgermeisterin war nicht mehr im Amt, und selbst wenn sie es gewesen wäre – Politiker hatten ein schlechtes Gedächtnis). Ihre Zugehörigkeit zur Special Tactics and Rescue Squad hatte ihr ebenfalls keine Pluspunkte verschafft. Aber all das hätte zählen sollen. Ihr Wort hätte Gewicht haben sollen, vor allem wenn man bedachte, wie engagiert S.T.A.R.S. arbeitete. Diese… diese Dinger, die sie in den Wäldern der Arklay Mountains gesehen hatte, waren real. Es stimmte, dass sie Menschen töteten. Und es stimmte, dass sie nur knapp mit dem Leben davon gekommen war. Aber sie hatten auch etwas mit der Umbrella - 48 -
Corporation zu tun. Und eines hatte Jill Valentine bei ihrer Arbeit für das RCPD gelernt: Man legte sich nicht mit der Firma an. Der Firma gehörte die Stadt – verdammt, der Firma gehörte das halbe Land. Und man steckte seine Nase nicht in Dinge, die als „Firmenangelegenheit“ galten. Anstatt also den Worten eines ihrer höchstdekorierten Officers Beachtung zu schenken und etwas zu unternehmen, um die Bürger vor diesem untoten Horror zu beschützen, entschied das RCPD – oder wurde vielmehr dazu gezwungen –, besagte Mitarbeiterin für verrückt zu erklären. Sie wurde vom Dienst suspendiert, weil sie einen „falschen“ Bericht abgeliefert hatte – der zu hundert Prozent den Tatsachen entsprach. Jetzt brach in ganz Raccoon City die Hölle los. Und genau davor hatte Jill sie gewarnt. Sie zog ein blaues Tube-Top und Shorts an – es war an diesem Herbsttag über 30 Grad warm –, und dann, nach kurzem Überlegen, schlüpfte sie in ihre hohen Stiefel. Auf den ersten Blick sah sie aus wie eine ganz normale Mittzwanzigerin. Tatsächlich aber hatte sie Armund Beinbewegungsfreiheit und -Stiefel, mit denen sie jemanden mit einem gut platzierten Tritt außer Gefecht setzen konnte. Und Jill Valentine wusste recht gut, wo sie Tritte platzieren musste. Als Nächstes begab sie sich in ihren Hobbyraum. Sie trat ein und nahm die TV-Fernbedienung auf, neugierig, was die Fernsehnachrichten über die Tatsache zu sagen hatten, dass genau jene Monster, die sie im Wald gesehen hatte, jetzt durch die Straßen der Stadt zogen. Besonders gespannt war sie darauf, ob es ein Statement von Umbrella gab. Der Bildschirm erwachte flackernd zum Leben und zeigte das freudige und zugleich besorgte Gesicht von Sherry Mansfield. - 49 -
„… keine Erklärung für diese Welle unerklärlicher Morde, die über die Stadt gekommen ist. Männer töten ihre Frauen, Kinder töten ihre Eltern, vollkommen Fremde attackieren sich gegenseitig. Eine Orgie des Verbrechens, scheinbar ohne Motiv – und ohne absehbares Ende.“ Kein Querverweis. War ja klar. Jill fragte sich, ob Umbrella das Ganze vertuschte. Sie blickte sich in ihrem Hobbyraum um. An einer Wand stand ein Regal voller Trophäen. Den Großteil davon hatte sie fürs Schießen bekommen, ein paar fürs Billardspielen. Ihr Blick ging zum Billardtisch. Ihr Glücksqueue lag diagonal auf dem grünen Filz, die weiße und die schwarze Kugel lagen noch daneben. Sie hatte heute Morgen ein wenig gespielt – ein weiterer fruchtloser Versuch, sich zu entspannen. Über dem Billardtisch hing ein Budweiser-Neonschild, ein Geschenk von Eamonn McSorley, dem Eigentümer der Kneipe, in der sie die meiste Zeit ihrer vergeudeten Jugend zugebracht hatte. Sie war hinter dem Geld von Männern her gewesen, die dem Irrglauben aufsaßen, dass ein gut aussehendes, brünettes Mädchen im Teenageralter leichte Beute sein müsse. Nachdem sie in die Polizeischule aufgenommen worden war, hatte sie Eamon gesagt, dass sie Billard nicht länger um Geld spielen könne und deshalb auch nicht mehr in McSorley‘s Bar and Grill aufkreuzen würde. Daraufhin hatte er ihr das Schild geschenkt. Angesichts der Menge von Schotter, die sie der Kneipe eingebracht hatte – die Nachricht über den heißen Teenager, der beim Billard nicht zu schlagen war, hatte sich schnell herumgesprochen, und jedes Arschloch der Stadt wollte derjenige sein, der sie zum ersten Mal schlug –, war es, wie McSorley es formuliert hatte, das Mindeste, was er tun konnte. Die beiden Längswände des Raumes wurden von - 50 -
Zielscheiben vereinnahmt. Jede war von Kugeln durchsiebt. Jill hatte vorgehabt, sie auszutauschen. Nun allerdings erschien ihr das eher sinnlos. Captain Henderson hatte ihr Dienstmarke und -waffe abgenommen – was natürlich nicht hieß, dass Jill sich jetzt nicht mehr verteidigen konnte. Sie ging zu einem Schrank an der Wand mit all den Trophäen und holte ein Schulterholster und ihre zuverlässige Automatik heraus. Es war dieselbe Waffe, die sie benutzt hatte, um eines der Monster im Wald zu töten, nachdem ihrer Dienstwaffe die Munition ausgegangen war – und nachdem sie erkannt hatte, dass die einzige Möglichkeit, diese Kreaturen zu stoppen, ein Kopfschuss war. Zum Glück verstand sich Jill ganz gut auf Kopfschüsse. Sie schob die Automatik ins Holster, schnappte sich die Fernbedienung und schaltete Sherry Mansfields Gesicht ab. Dann ging sie nach draußen, und dort erwartete sie pures Chaos. Jill besaß ein Reihenhaus aus rotem Sandstein, das sie von ihrem Onkel geerbt hatte. Der Hobbyraum befand sich im Keller und hatte einen eigenen Ausgang. Als sie hinausging und die Tür zusperrte, sah sie auf dem Gehsteig vor ihrer Eingangstreppe eine Frau, die einen Mann in den Arm biss. Der Mann schrie. Jill zog ihre Pistole und schoss der Frau in den Kopf, worauf diese zu Boden stürzte. Der Mann schrie immer noch, warf Jill einen Blick zu und rannte die Straße hinunter. Jill zog in Erwägung, ihn ebenfalls zu erschießen, aber er bewegte sich zu schnell, und sie wollte keine Kugeln verschwenden, falls er wider Erwarten doch nicht infiziert worden sein sollte. Die Frau hatte in seinen Hemdsärmel gebissen, daher war es möglich, dass sich die Infektion nicht auf ihn übertragen hatte. - 51 -
Aber natürlich war anzunehmen, dass er über kurz oder lang von jemand anderem gebissen wurde… Als sie die Straße entlang und auf ihren Porsche zuging – ebenso wie das Haus ein Geschenk ihres mittlerweile verstorbenen Onkels –, sah sie Noel an seinem Stammplatz unter dem Alkoven zwischen Jills Nachbarhaus und der Bodega an der Ecke sitzen. Normalerweise hätte Jill einen Vierteldollar in den Hut geworfen, der vor Noels überkreuzten Beinen lag. Heute jedoch war der Hut nicht dort, und Noel schien zu schlafen. „Noel?“ Der Obdachlose sah auf. Seine bislang blauen Augen waren jetzt milchig weiß. Und seine linke Wange wurde von einer Bisswunde verunstaltet. Ohne zu zögern, schoss Jill ihm in den Kopf. „Hey, du Schlampe, warum hass’n das gemacht?“ Jill drehte sich um und sah einen kleinen Punk, der eine Wollmütze trug, obwohl das Quecksilber 30 Grad im Schatten anzeigte. Seine Augen waren normal, und er sprach, also war er nicht infiziert. Noch nicht. „Er war bereits tot“, sagte Jill. „Ich hab ihm nur den Rest gegeben.“ „Du Miststück bist doch total durchgeknallt.“ „Das krieg ich andauernd zu hören.“ Sie zog die Schlüssel aus ihrer Tasche und drückte den Knopf, der die Türen ihres feuerroten Autos entriegelte. Sie stieg ein, startete den Motor und warf einen Blick in den Rückspiegel. Der Junge mit der Wollmütze durchwühlte Noels Taschen nach Kleingeld. „Und dieser kleine Leichenfledderer schimpft mich durchgeknallt“, murmelte sie, während sie den Wagen in die Fahrspur lenkte. „Wenn das so weiter geht, fang ich noch an, Selbstgespräche zu führen.“ - 52 -
Raccoon City ging vor die Hunde. In der einen Minute sah sie totales Chaos, in der nächsten waren die Straßen so leer wie in einer Geisterstadt. Hier wurde ein Straßencafe von untoten Bedienungen überrannt, die versuchten, ihre Gäste aufzufressen. Dort schlurfte ein Zombie durch einen Bus, der in das Schaufenster eines Ladens gekracht war. Und an anderer Stelle streifte eine Horde lebender Toter durch die Empfangshalle eines Bürogebäudes. Jill traf eine Entscheidung. Sie hatte ihr Haus in der Absicht verlassen, zum Revier zu fahren, um dort auszuhelfen. Aber dieser Stadt war nicht mehr zu helfen. Sie hatten sie verrückt genannt. Sie hatten ihre Aussage ignoriert. Sie hatten ihr gesagt, dass sie ihren Job nicht mehr ausüben könne. Sollten sie ihr doch den Buckel runterrutschen. Wenn sie nicht wollten, dass sie den Bürgern diente und sie beschützte, dann würde sie eben von hier verschwinden. Trotzdem fuhr sie auf den Parkplatz des RCPD. Sie wollte noch ein paar von ihren Sachen aus dem Gebäude holen. Im Inneren entpuppte sich der Squad-Room als Katastrophengebiet. Umgekippte Schreibtische. Verbrecher und Cops rannten gleichermaßen entsetzt umher. Überall Zombies, einige in Handschellen, andere in Uniform… Jill sah, wie Duhamel und Cooper auf Borck und Abromowitz losgingen. Ein alter Säufer griff Fitzwallace an. Der Sergeant hatte es bislang geschafft, am Leben zu bleiben, aber im Augenblick wehrte sich Quinn gegen einen fetten Mann, der versuchte, ihn anzuknabbern. Kopfschüttelnd zog Jill ihre Waffe. Zehn sehr laute Sekunden später waren sämtliche Untoten im Raum mit Kugeln in den Schädeln zu Boden gestürzt, Quinn sah auf den Leichnam des fetten - 53 -
Mannes hinab, dann zu Jill herüber. „Freut mich, Sie wieder im Dienst zu sehen, Valentine.“ Jill schnaubte und ging zu ihrem Schreibtisch, einem der wenigen, der noch nicht umgeworfen worden war. „Was zum Teufel tun Sie hier?“ Seufzend ignorierte Jill die vertraute Stimme von Captain Henderson, der aus seinem Büro gestürmt war. Es erstaunte sie, dass er den Mut aufbrachte, die Tür zu öffnen. „Valentine! Sie sind suspendiert!“ Als ob es darauf ankäme. Jill seufzte noch einmal. Sie öffnete ihre Schreibtischschublade und holte ihre Ersatzautomatik heraus, ein Schenkelholster und weitere Magazine. „Ich hab’s Ihnen ja gesagt“, meinte sie, „zielen Sie nur auf die Köpfe.“ „Warum sind Sie hier, Valentine?“ Was für eine Frage. Als ob sie kein Cop mehr sei. Na ja, vielleicht war sie ja auch keiner mehr – jedenfalls nicht in einer Stadt, die von einem Konzern kontrolliert wurde, der sich einen Dreck um Menschenleben scherte. Oder bei einer Polizeieinheit, in der Captains nicht für ihre Leute einstanden, sondern zuließen, dass sie unrechtmäßig suspendiert wurden, nur um einen gottverfluchten Konzern zu decken. „Ich räume nur meinen Schreibtisch aus.“ Sie schnallte das Holster um ihr Bein, dann steckte sie die zweite Waffe hinein. Die Munition verstaute sie in den Taschen ihrer Shorts. Ohne Henderson auch nur eines Blickes zu würdigen, den er ohnehin nicht verdiente, ging Jill hinaus, diesmal am Tresen des Sergeants vorbei. Quinn war immer gut zu ihr gewesen. „Sind Sie in Ordnung?“, fragte sie. Quinn gluckste. „Dasselbe wollte ich Sie fragen. Ich glaube, ich hätte doch in den Vorruhestand gehen soll, als Sheila daraufdrängte. Florida erscheint mir im - 54 -
Moment sehr verlockend.“ „Soll ich Ihnen einen Rat geben? Gehen Sie heim zu Sheila und verschwinden Sie dann aus der Stadt.“ Kopfschüttelnd sagte Quinn: „Auf keinen Fall. Meine Schicht ist noch nicht vorbei.“ Jill seufzte ein drittes Mal. Quinn war seit fast dreißig Jahren bei der Polizei. Sowohl sein Vater als auch sein Onkel waren beim RCPD gewesen, ebenso sein Großvater. Er war immer ein bisschen zu pflichtbewusst gewesen. Aber sie konnte ihm seine Loyalität nicht zum Vorwurf machen. Was Jill anging, sie hatte keinen Grund mehr, dem RCPD gegenüber loyal zu bleiben. „In dem Fall, Sarge, schießen Sie auf die Köpfe. Nur so sind diese Dinger aufzuhalten.“ Quinn nickte. „Viel Glück, Valentine.“ „Ihnen auch, Sarge.“ Als sie Quinns Tresen passierte, sah sie eine zum Zombie gewordene Nutte, die versuchte einen aufgeputzten Ganoven zu beißen, der mit Handschellen an die Bank gefesselt war. „Bleib mir vom Leib!“, schrie der Verbrecher, als die Hure sich ihm näherte. „Rashonda, hör auf! Hilfe!“ Jill verpasste Rashonda einen Kopfschuss. Sie sackte auf der Bank zusammen. Dann richtete Jill ihre Waffe auf den fein angezogenen Gauner. „O heilige Scheiße – nicht mich!“ Sie drückte ab. Die Handschellen und der Teil der Bank, an dem sie festgemacht waren, barsten. Als ihm klar wurde, dass er frei war, sprang der Ganove auf und entfernte sich so rasch er konnte von der Bank. „Diese verdammte, knochenärschige Nutte hat versucht, mich zu fressen!“ Dann sah er Jill an. „Und - 55 -
du… Fuck! Was zum Teufel ist hier los?“ „Hast du eine Waffe bei dir?“, fragte sie. Der Verbrecher schnaubte. „Schön wär’s.“ „Dann solltest du dir eine suchen.“ Sie drehte sich um und sah Quinn, Henderson und die anderen Cops an, die noch am Leben waren. „Ich verlasse die Stadt – und ich empfehle allen, dasselbe zu tun.“ Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und ging hinaus. Auf dem Weg zur Tür hörte sie aus dem Funkgerät in der Zentrale die schrille Stimme eines Streifenpolizisten. Jill war ziemlich sicher, dass es sich um Wyms handelte. „Zentrale, wir brauchen Verstärkung – schickt sofort Verstärkung zur Kreuzung Rose und Main. Zentrale? Kommen, Zentrale. Wir werden überrannt. Es hat Tote gegeben. Ziehen uns zurück. Helft uns, verdammt. Wir brauchen Hilfe. Zentrale! Macht schon!“ Wyms’ Flehen wurde noch verzweifelter, aber es verklang in Jills Ohren, als sie zu ihrem Wagen ging. Sie hatten ihre Chance gehabt, diese Katastrophe zu stoppen, aber sie hatten sie ungenutzt verstreichen lassen. Sie hatten Jill Valentine vorgeworfen, irre zu sein. Und jetzt musste die ganze Stadt dafür büßen.
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Acht Alles in allem war dies der furchtbarste Urlaub in Carlos Oliveras Leben. Er war gleich nach der Highschool zur Air Force gegangen und hatte dort aufgehört, als die Umbrella Corporation ihm ein Angebot machte, das er nicht ablehnen konnte. Klar, die USAF war besser als die Straßen von Ost-Texas, wo er aufgewachsen war, aber Umbrella war auch eindeutig besser gewesen als die USAF. Bessere Bezahlung, bessere Arbeitszeiten, geringeres Risiko, erschossen zu werden. Bis heute jedenfalls. Er hatte sich in einer Blockhütte im Wald entspannt, als ein Geländewagen mit zwei von Umbrellas Drohnen in Anzügen vorfuhr. Sie brachten ihn zu einer Lichtung, auf der ein Hubschrauber wartete. Alles, was sie ihm gesagt hatten, war, dass er sein Team zusammentrommeln müsse. „Ich bin im Urlaub“, hatte er gesagt. „Ones Team soll sich darum kümmern.“ „Ones Team ist aus dem Spiel“, hatte der Anzugträger erwidert. „Was ist mit Ward?“, hatte er nach dem anderen der drei Teamführer gefragt. „Auch aus dem Spiel.“ Bei dieser Umschreibung hatten sich Carlos’ Augen vor Schreck geweitet. Von allen Einsatzkommandos, die für die Sicherheitsabteilung arbeiteten, hatte One das Beste der Besten – das war der Hauptgrund, weshalb er sich diesen bekloppten Codename geben durfte und man ihn gewähren ließ. Und Ward war ein Ex-Marine, der mit so ziemlich allem fertig wurde. Wenn das, womit sie es zu tun hatten, sowohl One als auch Ward ausschalten - 57 -
konnte – ganz zu schweigen von Leuten wie Melendez, Hawkins, Schlesinger, Osborne und den anderen Mitgliedern der entsprechenden Teams –, dann war Carlos alles andere als scharf darauf, sich ihm zu stellen. Aber er hatte keine Wahl. Jetzt saß er in einem von mehreren DarkwingHelikoptern, die über ein Raccoon City flogen, das stückchenweise zum Teufel gegangen war. Offenbar trieb etwas, das aus dem Hive ausgebrochen war, sein Unwesen in der Stadt: Ein Virus, das die Hauptkomponente von Umbrellas neuer Wundercreme gegen Falten war, tötete Menschen, sorgte jedoch dafür, dass ihre Körper sich weiter bewegten und stupide nach Nahrung suchten. In Carlos’ Kindheit war seine Familie oft umgezogen, wenn papi Arbeit suchte. Eine Zeit lang hatten sie in Lubbock gewohnt, und dort gab es dieses heruntergekommene alte Kino, das nur Monsterfilme zeigte. Carlos und Jorge, sein damaliger bester Freund – jedes neue Zuhause bescherte ihm einen neuen besten Freund, da die alten Freunde Väter hatten, die tatsächlich in der Lage waren, einen Job zu behalten und im Allgemeinen auf der richtigen Seite des Gesetzes zu bleiben – verbrachten viele Abende in der Gesellschaft von Frankensteins Monster, Werwölfen, Mumien, mutierten Insekten, Außerirdischen, Vampiren und sämtlichen anderen Kreaturen, die darauf aus waren, die Menschheit zu vernichten. Inklusive Zombies. An seinem letzten Abend in Lubbock, bevor Carlos, mami, papi und seine ältere Schwester Consuela ihre Sachen packten und nach San Antonio aufbrachen, sahen Carlos und Jorge ein Double-Feature: Abbott und Costello als Mumienräuber und Die Nacht der lebenden Toten. Er erinnerte sich noch ganz deutlich an diesen - 58 -
Abend, vor allem an den Streit hinterher, weil es das letzte Mal war, dass Carlos und Jorge je miteinander gesprochen hatten. Carlos hatte immer eine Schwäche für Mumien gehabt – und er hatte sie auch heute noch. Die beiden jüngsten Mumien-Filme hatten ihn begeistert, vor allem der coole Typ mit den langen Haaren und dem Bart – aber Jorge war der Meinung, dass Zombies Furcht erregender waren. Jetzt, da er von seinem Aussichtspunkt im Darkwing auf die schlurfenden Kreaturen hinabschaute, die durch die Straßen von Raccoon City streiften und absolut menschlich und doch auch absolut nicht wie Menschen aussahen, befand Carlos, dass Jorge Recht hatte. Er richtete den Blick wieder auf sein Team. Nicholai Sokolov, sein Stellvertreter, saß ihm gegenüber, einen grimmigen Ausdruck im Gesicht. Der Rest des Teams hockte auf den sich gegenüber stehenden Bänken des Hubschraubers. Alle trugen Headsets, die es ihnen ermöglichten, sich über den Rotorenlärm hinweg zu verständigen. J. P. Askegreen, der Ex-Cop aus Virginia, der immer einen Zahnstocher im Mundwinkel hatte. Jack Carter und Sam O’Neill, die wie Carlos von der USAF abgeworben worden waren, bei Umbrella jedoch würden aufhören müssen, damit sie als Paar zusammenleben konnten. Yuri Loginov, Nicholais russischer Landsmann, ein ehemaliger KGBAgent. Und ihre Ärztin, Jessica Halprin, die beim Navy Medical Corps gekündigt hatte und zu Umbrella gegangen war. Sie machten den Eindruck, als seien sie zu allem bereit. Aber Carlos fragte sich, wie sie für das hier wirklich bereit sein sollten. Ihr Idiot von einem Vorgesetzten, Major Able Cain, hatte sie gebrieft, bevor er sie losschickte. Fazit war, - 59 -
dass sie den Schaden eindämmen sollten. Wer Anzeichen einer Infektion zeigte, war einzusperren. Wenn sich herausstellte, dass jemand der Krankheit erlegen war, dann bestand die einzige Möglichkeit, ihn zu stoppen, in einem totalen Schädel- oder RückgratTrauma. Falls Cain sich auch nur im Geringsten um die bloße Menge von Menschenleben scherte, die Umbrellas Inkompetenz geopfert wurde – und nichts anderes als völlige Inkompetenz konnte ein Desaster wie dieses erklären –, dann zeigte er es nicht, dieser herzlose Hurensohn. Andererseits, wäre es damals Cain gewesen, der Carlos aus der Air Force hatte rekrutieren wollen, und nicht dieser Speichellecker der Firma, der vor all den Jahren an ihn herangetreten war, hätte Carlos das Angebot Umbrellas wahrscheinlich abgelehnt. Menschen wie Cain machten Carlos krank. Mehr noch, es waren Leute wie Cain, die in Carlos den Wunsch weckten, die Streitkräfte zu verlassen und stattdessen in der, wie er glaubte, weniger mörderischen Welt der Sicherheitsdienste in Industrieunternehmen Fuß zu fassen. Es schien, als hätte er sich in mehrerlei Hinsicht verrechnet. Carlos wandte sich wieder der offenen Luke in der Flanke des Hubschraubers zu, durch die sein Blick nun auf das Dach eines Bürogebäudes fiel. Das Dach verfügte über einen kleinen Treppenzugang, und dessen Tür stand offen. Carlos sah zwei Personen, einen Mann und eine Frau, von der Treppe auf die Tür zueilen. Als der Mann durch die Tür war, schlug er sie hinter sich zu. Dann kletterte er über den Dachrand auf der gegenüberliegenden Seite und verschwand aus Carlos’ Sicht. Vielleicht gab es dort eine Feuertreppe, die er - 60 -
benutzen wollte – oder er hatte vor, einfach an der Fassade hinunterzuklettern. Dann platzte die Tür auf, und die Frau rannte heraus, rasch gefolgt von einem Heer von Zombies. Eine der Fragen, die Carlos während des Briefings beschäftigt hatten, war die, ob er wohl in der Lage sein würde, die Lebenden von den Untoten zu unterscheiden. Diese Frage sah er nun beantwortet. Selbst über diese Entfernung war es ganz offensichtlich, dass die Frau noch am Leben war, ihre Verfolger aber ganz und gar nicht. Carlos legte die Hand ans Ohr und sagte zum Piloten: „Lipinski, bringen Sie uns runter!“ Lipinskis Stimme erklang in dem Knopf in Carlos’ Ohr. „Das kann ich nicht.“ Carlos wollte sich nicht auf eine Diskussion einlassen. „Bringen Sie uns runter.“ „Der Wind ist zu stark! Ich würde die Maschine verlieren!“ „Gottverdammt.“ Er würde diese Frau nicht sterben lassen. Carlos griff unter die Bank und holte ein Seil hervor. Ein Ende hakte er an seinem Gürtel fest, den Rest reichte er seinem Stellvertreter. Nicholais Gesicht zeigte immer noch denselben grimmigen Ausdruck. Natürlich, der große Mann hatte immer einen grimmigen Ausdruck im Gesicht, wenn sie im Einsatz waren. Carlos wusste, dass es ein Tick war. Aus irgendeinem Grund war Nicholai entschlossen, dem Stereotyp des pessimistischen Russen zu entsprechen. Er hielt sogar an seinem starken Akzent fest, obwohl er und seine Familie in die USA eingewandert waren, als er drei war. Ohne Zweifel zeigte es Wirkung auf die Leute, die seinem Befehl unterstanden. Sie sprachen darauf an. Sein Akzent, sein Gebaren und seine Größe machten - 61 -
ihn noch Furcht einflößender als Carlos, der selbst sehr einschüchternd wirken konnte, wenn er es darauf anlegte. Aber Carlos hatte auch Nicholais wahres Gesicht gesehen, das sich für gewöhnlich dann zeigte, wenn man ihm einen oder sechs Wodkas spendierte. Dann rutschte ihm das Hemd aus dem Hosenbund, sein Akzent schwankte, und er lächelte. Manchmal lachte er sogar. „Mach mich fest, Nicholai.“ Jetzt lachte Nicholai nicht. „Was?“ Carlos schenkte sich die Antwort. Er zog nur seine .45er Colts aus den Holstern und sprang aus der Seitenluke zum Dach hinunter. Er würde diese Frau nicht sterben lassen. Nicholais dröhnende Stimme erklang sowohl in seinem Ohrhörer als auch über dem Lärm des Hubschraubers hinweg. „Carlos! Herrgott noch mal!“ Der Wind schlug Carlos ins Gesicht, das Dach kam näher und näher. Eine Sekunde lang machte er sich Sorgen, dass Nicholai ihn womöglich nicht sichern würde. Dann hörte er die Flüche in seinem Ohr – auf Russisch, das einzige Wort, das Carlos verstand, war „ chyort“ –, und da wusste er, dass alles in Ordnung war. Noch bevor sich das Seil spannte, begann Carlos zu feuern. Die Colts ruckten bei jedem Schuss in seinen Fäusten, doch die Kugeln fanden ihre Ziele und töteten einen Zombie nach dem anderen. Das Seil spannte sich, als er noch etwa sechs Fuß über dem Dach war. Es fühlte sich an wie ein Schlag in den Magen, aber Carlos steckte es weg. Er hielt nur lange genug inne, um auf den Schnellöffner an seinem Gürtel zu drücken, und fiel den Rest der Strecke aufs Dach hinunter, wo er auf den Füßen aufkam. Die stechenden Schmerzen, die bei der Landung kurz - 62 -
durch seine Unterschenkel fuhren, ignorierte er und schoss weiter. Das Krachen der Colts übertönte den Rotorlärm des Darkwings und die Litanei russischer Flüche in seinem Ohrhörer. Die Hämmer beider Colts schlugen gleichzeitig klickend ins Leere. Zu diesem Zeitpunkt waren die Einzigen, die noch auf dem Dach standen, Carlos, die Frau, die er zu retten versuchte - und ein Zombie. Als seine Familie in Dallas lebte, hatte Carlos eine Kampfsportausbildung begonnen. Er war nie dazu gekommen, sie zu beenden, aber eines hatte er im Nu beherrscht: den Spinning Heel Kick. Nachdem er in einem der alten Filme, die er in Lubbock mit Jorge schaute, gesehen hatte, wie jemand einen solchen Tritt vollführte, war er entschlossen gewesen, selbst zu erlernen, wie das ging. Im Unterricht war es dann das Erste, was er sich aneignete, und er meisterte es perfekt, bis papi wieder mal Mist baute und sie nach Austin umziehen mussten. Ein solcher Spin-Kick erledigte den Zombie, indem er ihm mit einem befriedigend klingenden Knacken das Genick brach. Über seinen Knopf im Ohr hörte Carlos, wie Nicholai den Rest des Teams einschwor. Binnen einer Minute würden sie hier unten bei ihm sein. Er wandte sich der Frau zu, um nachzusehen, ob sie in Ordnung war. Sie stützte sich einen Arm mit dem anderen und stand gefährlich nahe am Dachrand – nicht weit von der Stelle, wo der Kerl, der ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte, hinuntergeklettert war. „Alles okay“, sagte Carlos langsam. „Gehen Sie vom Rand weg.“ Der Wind war immer noch ziemlich heftig – Carlos verstand, warum Lipinski den Darkwing nicht landen wollte –, und er befürchtete, ein Windstoß könnte die - 63 -
Frau über die Kante stürzen lassen. Doch die Frau tat nicht, was er sagte. Sie drehte sich um und blickte über den Rand des Daches. Bis nach unten waren es mindestens zwanzig Stockwerke – einen Sturz würde sie definitiv nicht überleben. Aber heute gab es in Raccoon City schon genug Tote, Carlos wollte die Liste nicht noch verlängern. „Kommen Sie hierher zu mir“, sagte er. „Es ist alles in Ordnung.“ „Nein“, sagte die Frau mit dumpfer Stimme, „das ist es nicht.“ Sie streckte den Arm aus. Carlos konnte die Bissspuren auf Unterarm und Handgelenk erkennen. Er spürte, wie sich sein Magen bei dem Anblick verkrampfte. „Ich habe gesehen, was mit einem passiert, wenn man gebissen wird. Es gibt kein Zurück.“ Carlos hörte, wie sich hinter ihm erwartungsgemäß der Rest des Teams aus dem Darkwing abseilte. „Wir können Ihnen helfen.“ Carlos versuchte beruhigend zu klingen, war jedoch nicht sicher, ob es ihm gelang. Ihr Auftrag lautete, jeden festzusetzen, der infiziert, aber noch kein Zombie war. Bei Cain konnte sich Carlos zwar nicht hundertprozentig sicher sein, dass man die Leute gut behandeln würde. Aber zumindest blieb ihnen eine Chance. Die Frau schüttelte den Kopf und trat einen Schritt nach hinten. Carlos hatte den Eindruck, sich in Zeitlupe zu bewegen. Die Frau hingegen bewegte sich furchtbar schnell, als sie einfach so nach hinten trat. Aber ganz gleich, wie schnell er sich selbst bewegt hätte, er wäre zu spät gekommen. Und er kannte nicht einmal ihren Namen. „Allmächtiger.“ Das war Nicholais Stimme. Der große Mann stand - 64 -
neben Carlos, und sein für gewöhnlich grimmiger Gesichtsausdruck war einem entsetzten gewichen. Askegreen befand sich direkt hinter ihm. Ihm fiel der Zahnstocher aus dem Mund, als ihm die Kinnlade herunterklappte. Carlos nahm an, dass sein eigenes Gesicht denselben Ausdruck zeigte. „Nein, echt kein schöner Urlaub“, murmelte er. „Was haben Sie gesagt?“, fragte Nicholai. Kopfschüttelnd erwiderte Carlos: „Nichts. Weiter geht’s!“
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Neun Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit erwachte Alice Abernathy nackt. Diesmal allerdings war sie nicht in einen Duschvorhang gehüllt, sondern in ein dünnes Krankenhaushemdchen, das ihre Blöße kaum bedeckte. Außerdem erinnerte sie sich diesmal, wer und was sie war – und was hinter ihr lag. Anstatt Wasserstrahlen aus einem Duschkopf stach etwas anderes auf sie ein. Nein, es stach nichts auf sie ein. Etwas steckte in ihr. Drähte. Man hatte Drähte in sie gebohrt. Sie waren in ihren Beinen, ihrem Oberkörper, ihren Armen und in ihrem Kopf. Sie setzte sich auf. SCHMERZ! Schrecklicher, entsetzlicher, sinnesbetäubender, qualvoller, sengender, lodernder Schmerz, der jede Faser ihres Seins durchtobte. Sie riss einen der Drähte aus ihrem linken Arm. Das Herausreißen des Drahtes machte den Schmerz unendlich und auf kaum glaubliche Weise noch schlimmer. Aber dann verebbte er. Das ermutigte sie, auch die Drähte aus ihrem rechten Arm herauszureißen. Dasselbe: erst noch schlimmerer Schmerz, der dann auf ein Maß herabsank, das beinahe erträglich war. Die beiden Drähte, die seitlich an ihrem Kopf befestigt waren, hob sie sich bis zuletzt auf. So entsetzlich und elend schlimm der Schmerz, den sie beim Aufwachen verspürt hatte, auch gewesen sein mochte, der, den sie fühlte, als sie die Drähte aus ihrem - 66 -
Kopf riss, war noch um etliche tausend Quantensprünge schrecklicher. Als die weißglühende Agonie endlich zu einem pochenden, tief sitzenden Schmerz abgeklungen war, versuchte Alice ihre Umgebung in sich aufzunehmen. Sie war auf einer Untersuchungsliege aufgewacht, auf die ein halbes Dutzend Lampen herableuchteten. Jetzt allerdings befand sie sich auf dem Fußboden davor. Sie konnte ihre Beine nicht bewegen. Als sie sich umschaute, sah sie, dass die Drähte, die sie aus ihrem Fleisch gezogen hatte, alle zur Decke führten. Abgesehen von den Lampen, einer Tür, den Drähten und dem Untersuchungstisch war der Raum weiß und leer – bis auf einen Spiegel. Alice war ziemlich sicher, dass es sich um einen speziellen Spiegel handelte. Irgendwie schaffte sie es, auf die Beine zu kommen. Ihre Beine schienen sich nicht erinnern zu können, wie sie richtig zu funktionieren hatten. Sie stolperte auf den Spiegel zu und hieb mit einer Faust dagegen. Rief um Hilfe. Nichts wies daraufhin, dass jemand sie hörte. Sie fragte sich, wie lange sie bewusstlos auf diesem Tisch gelegen hatte. Sie fragte sich, wo Matt war. Sie fragte sich, ob sie Cain richtig verstanden hatte und ob er wirklich wahnsinnig genug war, den Hive wieder zu öffnen, nachdem dort unten so viele Menschen gestorben waren. Alice Abernathy erinnerte sich jetzt an alles. Sie erinnerte sich, von dem T-Virus gelesen zu haben. Sie erinnerte sich, gedacht zu haben, dass man etwas dagegen unternehmen musste. Sie erinnerte sich an ihr Treffen mit Lisa Broward und die Vereinbarung, ihr die Information über das T-Virus zu geben, damit sie sie an Leute weiterleiten konnte, die Umbrellas Verstrickung in - 67 -
diese verabscheuungswürdigen Aktivitäten öffentlich machen würden. Sie erinnerte sich, mit Spence geschlafen zu haben und dass er fort gewesen war, als sie aufwachte. Sie erinnerte sich, wie sie unter die Dusche gegangen und dann das Nervengas auf sie eingeströmt war. Sie erinnerte sich, ohne Gedächtnis erwacht zu sein und One und seine Leute gemeinsam mit einem gleichermaßen gedächtnislosen Spence und einem RCPD-Cop namens Matt Addison in den Hive begleitet zu haben. Sie erinnerte sich an die Enthüllung, dass Spence derjenige gewesen war, der das T-Virus freigesetzt hatte, und dass Matt kein Polizist, sondern Lisas Kontaktperson gewesen war – beide Angehörige einer Organisation, deren Ziel es war, Umbrella zu Fall zu bringen. Sie erinnerte sich, mit angesehen zu haben, wie One und sein ganzes Team getötet wurden: One selbst, Danilova, Warner und Vance durch das Sicherheitssystem; Kaplan und Spence von dem Licker; J. D. und Rain von den untoten Kreaturen, die alles waren, was von den Mitarbeitern im Hive übrig geblieben war. Sie erinnerte sich, nach dem Tod des Lickers mit Matt geflohen zu sein, nur um von Cain erwischt zu werden. Und sie erinnerte sich an noch etwas. An ein Memo, das sie an Able Cain geschrieben und in dem sie auf einen Schwachpunkt der Kartenlesegeräte hingewiesen hatte, die überall in der Umbrella-Einrichtung die Sicherheitstüren öffneten: Mit einem spitzen Gegenstand konnte man die Schaltkreise unterbrechen und so die Türen öffnen. Cain hatte auf das Memo nicht reagiert. Alice hätte darauf gewettet, dass er das Problem nicht behoben hatte. Cain war ein arrogantes Arschloch. Alice ergriff einen der blutigen Drähte, die eben noch - 68 -
mit ihrem Arm verbunden gewesen waren. Sie schob ihn in das Kartenlesegerät und stocherte darin herum, bis die Tür aufging. Nein, er hatte das Problem nicht behoben. Dieser Hurensohn. Sie ging durch die Gänge eines Gebäudes, das sie jetzt als das Raccoon City Hospital erkannte. Der Flügel, in dem sie sich befand, war von Umbrella gestiftet worden, und der Konzern benutzte ihn ziemlich regelmäßig für seine eigenen Zwecke. Der Korridor war völlig verlassen. Keine Ärzte, keine Schwestern, keine Patienten. Nichts und niemand. Die Stille war ohrenbetäubend. Nicht nur gab es keine Anzeichen menschlicher Aktivitäten, es gab nicht einmal Hinweise auf mögliche menschliche Aktivitäten. Als sie an einem Schrank vorbeikam, schnappte sie sich einen Arztkittel und zog ihn über ihr dünnes Kleidchen. Schließlich fand sie den Vordereingang und ging hinaus. Was sich hier ihren Augen bot, ließ den Hive wie einen Picknick-Platz aussehen. Verlassene, zertrümmerte Fahrzeuge: Busse, Autos, Fahrräder, Motorräder, Nachrichten-Übertragungs-Vans. Geborstener Asphalt, umgeworfene Mülltonnen, beschädigte Gebäude, zerbrochenes Glas, gesprungene Fassaden, verstreuter Abfall, umgeknickte Straßenlaternen, Rauch, Feuer. Und überall Blut. Aber keine Leichen. Langsam ging sie barfuss die Straße entlang, wobei sie versuchte den schlimmsten Stellen – geborstenem Asphalt, scharfkantigen Steinen und Glasscherben – auszuweichen. Vor einem Zeitungskiosk in der Nähe steckten mehrere Exemplare der Abendausgabe der Raccoon City Times in einem Ständer. Die Schlagzeile auf der ersten Seite - 69 -
lautete: WANDELNDE TOTE! Die Wichser hatten den Hive wieder aufgemacht und die infizierten Arbeiter herausgelassen. Arschlöcher. Dennoch, Alice sah keinen Menschen – weder tot noch lebendig. Oder untot. Doch sie wusste, dass das nicht so bleiben würde. Zwei der vielen verlassenen, zerstörten Fahrzeuge um sie herum waren Streifenwagen des RCPD. Sie schaute in einen hinein, dann in den anderen – im zweiten fand sie, was sie suchte. Eine Shotgun. Sie sah nach, ob sie voll geladen war. War sie. Alice lud die Waffe durch.
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Zehn „Es waren die besten Zeiten, es waren die schlimmsten Zeiten“, sagte Jill Valentine leise zu sich selbst, als sie aus ihrem Wagen stieg. Dass sie Dickens zitierte, lag an der Geschichte zweier Städte, deren Zeugin sie auf ihrer Fahrt vom Revier zur Ravens’ Gate Bridge – oder besser gesagt bis knapp vor die Brücke – geworden war. Teile von Raccoon City waren immer noch voller Menschen. Viele von ihnen versuchten die Stadt zu verlassen oder wehrten Zombieattacken ab. Andere Bereiche hingegen glichen einer Geisterstadt, mit verlassenen Fahrzeugen und verlassenen Gebäuden, all dies beträchtlich beschädigt. Stellenweise hatte Jill es kaum geschafft, ihren Porsche zwischen den Lücken aus Wracks und Trümmern hindurch zu manövrieren. Zum ersten Mal wünschte sie sich, einen Geländewagen zu besitzen. Aber nur Idioten fuhren einen Offroader in der Stadt. Allerdings wusste sie auch, dass die Welt mit Idioten übervölkert war. Die Hauptzufahrt zur Brücke war eine Ballung verlassener Autos. Für Jill gab es dort kein Weiterkommen mehr – zumindest nicht mit ihrem fahrbaren Untersatz. Zum Glück gab es keinen Grund, den eigenen Wagen nicht auch einfach stehen zu lassen. So schön der Porsche auch sein mochte, er war doch nur ein Gegenstand. Derselbe Onkel, der ihr Haus und Porsche vermacht hatte, hatte ihr auch genug auf ihrem Bankkonto hinterlassen, damit sie sich neue Sachen kaufen konnte. Doch die einzigen Gegenstände, die ihr in dieser - 71 -
Situation tatsächlich etwas bedeuteten, waren die beiden Automatikwaffen in ihren Holstern, die Schachtel Zigaretten in ihrer Tasche, die sie noch aus dem Handschuhfach herausgenommen hatte, und die Karten in ihrem Portemonnaie, die ihr den Zugriff auf ihr Geld garantierten. Alles andere – ihre Kleidung, ihre Pokale, ihr Billardtisch, ihre CDs und, ja, ihre Dienstmarke – war ersetzbar. Während die Raccoon-Seite der Brücke mit verlassenen Fahrzeugen – darunter, zu Jills bitterer Belustigung, Dutzende von Geländewagen – verstopft war, präsentierte sich die Ravens’-Gate-Seite in gleichem Maße mit Menschen verstopft. Sie alle versuchten die Stadt zu verlassen. Die Frage, die sich Jill sofort aufdrängte – nämlich, weshalb diese Leute nicht vorankamen –, wurde beantwortet, als sie einen genaueren Blick auf das Ende der Ravens’-Gate-Seite werfen konnte. Dort hatte man eine große, mit Stacheldraht versehene Barriere errichtet, die von Leuten in Hazmat-Schutzanzügen und mit sehr großen Knarren bewacht wurde. Der einzige Weg durch die Wand – die offenbar aus Beton war –, führte durch eine schmale Lücke auf der Brückenfahrbahn. Zu Jills großer Verärgerung trugen die Wand sowie die Leute in den Schutzanzügen alle das Logo der Umbrella Corporation. Natürlich. Nein, Moment, nicht alle. Als sie näher kam, sah sie ein paar Uniformierte vom RCPD, die aushalfen. Aber es war nicht zu übersehen, dass ihre Arbeit nur unterstützender Art war. Umbrella hielt das Heft fest in der Hand. Warum macht man sich überhaupt die Mühe, einen Polizeiapparat zu unterhalten? Oder eine Regierung? Soll der Konzern doch gleich alles für uns regeln! - 72 -
Wenn Jills Erfahrungen nach Arklay sie nicht abgestumpft hätten, hätte sie angesichts dieses krassen Machtmissbrauchs wohl den Drang verspürt, sich zu übergeben. Im Moment jedoch wollte sie nur verdammt noch mal raus aus Dodge. Rückblickend hätte sie gleich nach ihrer Suspendierung aus Raccoon verschwinden sollen. Schließlich vermochte eine Polizistin nicht zu überleben, wenn sie sich nicht darauf verlassen konnte, dass ihre Kollegen hinter ihr standen. Henderson und der Rest des RCPD hatten nicht hinter ihr gestanden – sie hatten sie den Wölfen zum Fraß vorgeworfen, jenen Wölfen, die schicke Anzüge trugen, wie sie der Umbrella Corporation gefielen. Sie war ihnen nichts schuldig. Und deshalb ging sie. Alles, was sie tun musste, war, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Man hatte eine Sanitätsstation errichtet, wo ein Arzt die Leute durchcheckte, wenn sie auf das Tor zugingen, bewacht von Umbrella-Schlägern… und einem Burschen, der eine S.T.A.R.S.-Uniform trug. „Peyton!“, schrie sie, aber sie war nicht zu hören über dem Lärm der Menschen, die ungeduldig daraufwarteten, untersucht zu werden, damit sie endlich abhauen konnten. Als sie sich durch die Menge in Richtung des Tores drängte, fiel ihr Blick auf den Arzt, der die Untersuchungen vornahm. Männlicher Weißer, Ende zwanzig, aber mit einem Ausdruck im Gesicht, den Jill nur zu gut kannte – zumeist von Cops der Mordkommission am dritten Tag der Ermittlungen in einem großen Fall, in ihrer sechsten Schicht in Folge und ohne Schlaf, nur noch von Kaffee, Zigaretten und den ramponierten Überresten ihrer inneren Stärke auf den Beinen gehalten. Der Doc sah aus, als würde er - 73 -
gleich umfallen, aber er machte weiter. Jill bewunderte seine Hingabe. Wenn sie diese Einstellung nur hätte teilen können. Im Moment sah sich der Doc einen Mann, eine Frau und ein Kind an, vermutlich eine Familie. „Sie sind sauber“, hörte Jill ihn mit einer dermaßen abgespannten Stimme sagen, dass sie zu einem dreimal so alten Mann gepasst hätte, „lasst sie passieren.“ Zwei der Umbrella-Typen begleiteten das Trio zum Tor. „Die Nächsten!“, rief der Doc. Eine menschliche Flut schob sich vorwärts, sie war von den Schlägern und Cops kaum unter Kontrolle zu halten. Jill ließ sich von der Woge mittreiben und näher zu ihrem Boss tragen. Peyton Wells war Jills unmittelbarer Vorgesetzter und im Gegensatz zu seinem unmittelbaren Vorgesetzten, Henderson, diese Ratte, hatte er nach dem ArklayZwischenfall für Jill Partei ergriffen. „So einen Scheiß saugt sich Jill Valentine nicht aus den Fingern“, waren seine exakten Worte in der Stellungnahme zur Sache gewesen. Er stand stets hinter seinen Leuten, und seine Leute standen stets hinter ihm. Diese Art von Loyalität brauchte man, wenn man in einer Einheit wie S.T.A.R.S. die ständig unter Druck stand, überleben wollte. Und das war der Grund, warum sich Jill von der vollkommenen Gleichgültigkeit der hohen Tiere – oder vielleicht auch ihrem fehlenden Verständnis – gegenüber solcher Loyalität so tief getroffen fühlte. „Peyton!“, schrie sie jetzt, da sie etwas näher war, noch einmal, während die Wachen einen alten Mann und ein Mädchen im Teenageralter durchließen. Diesmal hörte Peyton sie. Bis jetzt hatte er sein übliches Bullenbeißergesicht zur Schau getragen, aber bei ihrem Anblick wirkte er regelrecht erleichtert. „Valentine!“ Er zeigte auf sie, während er einen der Umbrella-Schergen ansah. „Lasst sie durch, sie gehört - 74 -
zum RCPD – eine von meinen S.T.A.R.S.-Leuten.“ Der Umbrella-Typ furchte die Stirn. „Sie trägt keine Uniform.“ Peyton verdrehte die Augen. „Klar, wenn ich nicht im Dienst bin und sehe, wie wandelnde Tote die Stadt zerlegen, ist das Erste, was ich tue, mir Gedanken über meine Klamotten zu machen. Würden Sie sie jetzt bitte durchlassen?“ Jill lächelte, während die Schlägertypen ihr freie Bahn verschafften, damit sie zu Peyton gelangen konnte. „Bin froh, dass Sie hier sind“, sagte er. „Wir können Hilfe gebrauchen.“ Sie verkniff es sich zu sagen, dass sie nicht froh war, hier zu sein, und kein Interesse daran hatte zu helfen. Peyton verdiente Besseres. Aber bevor sie irgendetwas sagen konnte, kippte der alte Mann um, den sich der Doc angeschaut hatte. „O mein Gott!“, heulte das Mädchen auf. „Daddy!“ Während die Wachen und der Doc nur herumstanden, kniete sich das Mädchen hin und öffnete dem Mann das Hemd. Wie armselig war es doch, dachte Jill, dass dieses junge Mädchen mehr gesunden Menschenverstand besaß als die so genannten ausgebildeten Profis? „Er atmet nicht! Es ist sein Herz – er hat ein schwaches Herz.“ Das erklärte für Jill die rasche Reaktion des Mädchens, wahrscheinlich erlebte sie das nicht zum ersten Mal. Als sie jedoch begann, den Mann Mund zu Mund zu beatmen, geriet der Doktor in Panik. „Geh weg von ihm!“ Das Mädchen schenkte dem Doc keine Beachtung und setzte die Wiederbelebungsversuche fort – Mund-zuMund-Beatmung, Herzmassage, das ganze Programm. Der Doc sah Peyton an. „Schaffen Sie die Kleine von ihm weg.“ Mit einem ärgerlichen Grunzen packte Peyton zu und - 75 -
zog das Mädchen von seinem Vater herunter. Jill empfand Ekel. Dieses Mädchen versuchte das Leben seines Dad zu retten, und so wurde es dafür behandelt? Jil] musste raus aus diesem Dreckloch, und zwar sofort. Das Mädchen wand sich in Peytons kräftigen Armen. „Nein, lassen Sie mich los, ich muss…“ Plötzlich öffneten sich die Augen des alten Mannes. Als er auf das Tor zugegangen war, hatte er braune Augen gehabt. Jetzt waren sie milchig weiß. Ach du Scheiße. Der Mann bewegte sich mit einer Geschwindigkeit, die Jill einem Menschen in seinem Alter nicht zugetraut hätte, und biss Peyton ins Bein. „Aaaaahhhhh!“ Dieser Schrei war nicht angetan, die Menge zu beruhigen. Nachdem sich die Menschen ohnehin schon gegen die kaum ausreichende Barrikade aus Wachen drängten, gerieten sie nun, als sie sahen, wie Peyton gebissen wurde, in völlige Raserei. Jill zog ihre Automatik und jagte dem alten Mann eine Kugel in den Kopf. Das Mädchen schrie: „Neeeiiin! Daddy! Daddy! Sie haben ihn umgebracht!“ „Er war bereits tot“, sagte Jill. Das Mädchen rannte davon und stieß dabei einen der Umbrella-Kerle um. Ein anderer nahm seine Stelle ein, um die Menge im Zaum zu halten, aber das Chaos wurde nur noch schlimmer. Jill bemerkte, dass der Schlägertyp sein Headset verloren hatte, als er zu Boden ging. Sie hob es auf und war gerade im Begriff, es dem Kerl, der den Kopf schüttelte, um ihn wieder klar zu bekommen, zurückzugeben, als sie Stimmen aus dem Ohrhörer vernahm. - 76 -
Eine junge Stimme: „Sir?“ Die nächste Stimme sprach mit deutschem Akzent: „Es ist hier. Es hat das Tor erreicht.“ Eine dritte Stimme, sie klang übereifrig: „Na denn. Wir haben keine Wahl. Wir müssen es gefangen halten.“ Der Deutsche: „Zumachen.“ Der Junge: „Sir?“ Der Deutsche: „Schließen Sie die Tore.“ Der junge Mann: „Aber unsere Leute sind noch da drin!“ Der Deutsche: „Tun Sie, was ich sage.“ Jill sah auf und zu der Wand hin. Das Tor begann zuzuschwingen. „Scheiße, das tut weh.“ Im Umdrehen sah Jill, dass niemand sich die Mühe gemacht hatte, Peytons Wunde zu verbinden. Mehr noch, der Arzt war plötzlich nirgendwo mehr zu sehen. Das passte ins Bild. Jill schnappte sich einen Erste-Hilfe-Kasten, den irgendjemand hier liegen gelassen hatte. Rasch verband sie Peytons Wunde. Dass es dem alten Mann gelungen war, Peytons Hose und Haut zu durchbeißen, war ziemlich beeindruckend. Während sie den Verband fixierte, sagte Jill: „Verdammt, Peyton, Sie hätten verschwinden sollen, so lange Sie noch die Chance dazu hatten.“ „Das sind unsere Leute, Jill.“ Jill schnaubte und schüttelte den Kopf. Loyal bis zum Ende. Er und Quinn. Wahrscheinlich würde man beiden posthum einen Orden verleihen. Der ihnen wahnsinnig viel nützen würde… „Aus dem Weg! Ich bin ein Star, verdammt noch mal!“ Erstaunlicherweise funktionierte das – ein Meer aus panischen Bürgern von Raccoon City teilte sich, um eine forsch wirkende Frau durchzulassen. Jill erkannte sie als Reporterin von einem der Fernsehsender, aber sie - 77 -
konnte sich nicht erinnern, wie sie hieß. Tammy Morehead? Theresa Morehouse? So ähnlich jedenfalls. Dann erklang über ihnen eine dröhnende Stimme. Jill schaute auf und sah einen der Umbrella-Gangster mit einem Megafon in der Hand auf der Mauer stehen. „Das ist eine Seuchen-Quarantänezone.“ Die Stimme war die des Deutschen. „Was ist hier los?“, schrie die Reporterin zur Mauerkrone hinauf. Der Deutsche ignorierte sie – oder vielleicht konnte er sie auch nicht hören – und wiederholte seine Worte: „Das ist eine Seuchen-Quarantänezone. Wegen der Infektionsgefahr dürfen Sie die Stadt nicht verlassen.“ „Wovon reden Sie?“, verlangte die Reporterin zu wissen. Jill war drauf und dran, ihr zuzuschreien, dass er sie nicht hören konnte, entschied aber, dass es die Mühe nicht wert war. „Es werden alle geeigneten Maßnahmen ergriffen. Die Situation ist unter Kontrolle. Bitte kehren Sie in Ihre Häuser zurück.“ Wenn es nicht so kolossal dumm gewesen wäre, hätte Jill gelacht. Sie tat es trotzdem beinahe, weil Lachen das Einzige war, was sie davon abhielt, in ihre Waffe zu beißen. Zurück in die Häuser. Na klar. Raccoon City war ein Friedhof, auf dem sekündlich neue Gräber ausgehoben wurden. Durch die Schließung dieses Tores hatte der deutsche Arsch dort oben sie alle zum Tode verurteilt. Und was noch schlimmer war: Jill nahm an, dass der Deutsche dies wusste. Und dass es ihn nicht kümmerte. Typisch Umbrella. Die Bürger gerieten ob dieser Anweisungen verständlicherweise aus der Fassung. „Zurück in unsere Häuser?“ „Sind Sie irre?“ - 78 -
„Was für Häuser?“ „Lasst uns durch!“ Die Menge drängte nach vorne. Die Schlägertypen und die Polizisten hatten zunehmend mehr Mühe, sie zurückzuhalten, weil die Verzweiflung den Menschen zusätzliche Kräfte verlieh. Oder vielleicht schwächte das Dilemma auch die Umbrella-Gorillas und Cops, überlegte Jill. Schließlich saßen sie genauso in der Falle wie alle anderen. „Das ist eine Seuchen-Quarantänezone. Bitte kehren Sie in Ihre Häuser zurück.“ Jill fragte sich, ob der Deutsche eine Zugschnur am Rücken hatte, die ihn seine Worte ein ums andere Mal wiederholen ließ. Sie sah zu Peyton, der immer noch versuchte, die Menschen zurückzuhalten und sie zu beruhigen, selbst mit seinem verletzten Bein. Sie dachte an Quinn, der hinter seinem Tresen geblieben war. „Das sind unsere Leute, Jill.“ „Meine Schicht ist noch nicht vorbei.“ Scheiße. Sie rief zum oberen Ende der Wand hinauf: „Hier sind Verletzte! Sie brauchen medizinische Versorgung!“ Als Antwort senkte der Deutsche sein Megafon und hob eine Automatikwaffe – eine MP5K, wie es aussah. Er schoss ein Dutzend Mal in die Luft. Alles wurde still, niemand rührte sich mehr. Der Deutsche hob das Megafon wieder an und sagte: „Sie haben fünfzehn Sekunden, um umzukehren und zurück in die Stadt zu gehen.“ Sechs weitere dieser Gangster bezogen rund um den Deutschen Stellung auf der Mauer. Jill fragte sich, welcher von ihnen der junge Kerl war, dessen Stimme sie über den Ohrhörer vernommen hatte. Sie waren ebenfalls mit MP5Ks bewaffnet. - 79 -
Der Deutsche reichte dem Mann, der neben ihm stand, das Megafon, und nun sprach dieser hinein. „Wir sind autorisiert, scharfe Munition einzusetzen.“ Ja, das war der Typ, den sie gehört hatte. „Er kann doch keine Menschen erschießen!“, sagte die Reporterin. Terri Morales, das war ihr Name, ja sie erinnerte sich. Jill hatte einige Male mit ihr gesprochen, als Morales noch Reporterin gewesen war, bevor sie mit einer Enthüllung über Stadtrat Miller einen Bock geschossen hatte. Danach ließ man sie die Wettervorhersage machen – was mehr war, als sie verdiente. Niemand, der eine Enthüllung über diesen Dreckskerl vermasselte, verdiente es, im Nachrichtenbusiness zu sein. Über das, was sie gesagt hatte, machte sich Jill keine Sorgen. Diese Männer waren Schergen eines Konzerns. Konzerne waren grausam, ja, manchmal skrupellos, oft gleichgültig. Aber sie waren niemals sadistisch. „Fünfzehn… vierzehn… dreizehn… zwölf…“ Der Deutsche nickte den Kerlen auf der Mauer zu. Sie hoben ihre Gewehre. „Elf… zehn…“ Peyton sah Jill an. „Er blufft nicht.“ „Neun… acht…“ Jill wollte es nicht glauben. „Sie werden nicht in eine Menschenmenge schießen.“ „Sieben… sechs…“ „Schafft sie zurück.“ Aus irgendeinem Grund war Peyton Wells sicher, dass sie in die Menge feuern würden. Peyton hatte Jills Urteilsvermögen vertraut, als niemand sonst es getan hatte. Jetzt musste sie im Gegenzug dasselbe tun. „Fünf… vier…“ Und wenn der Deutsche schon befahl, dass die Tore geschlossen wurden, warum sollte er dann nicht auch - 80 -
den Befehl geben, auf unschuldige Menschen zu schießen? Sie waren sowieso schon tot. „Bewegt euch!“, schrie Jill. „Weg von der Mauer!“ Peyton tat dasselbe, ebenso die anderen RCPD-Cops. „Drei… zwei…“ Einen Augenblick später griffen auch die Kerle von Umbrella mit ein. Sie versuchten, die Leute von der Wand zurückzudrängen. „Eins…“ Das Nächste, was Jill hörte, waren mehrere Schüsse aus Sturmgewehren, die von der Mauerkrone aus nach unten gerichtet waren.
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Elf Wenn Timothy Cain die Schreie der Menschen hörte, auf die zu schießen er gerade befohlen hatte, dann ließ er es sich nicht anmerken. Er stieg die Metalltreppe hinunter, die ihn und Giddings ins Basislager führte, und sprach in sein Headset. „Ravens’ Gate ist gesichert, aber ich habe gerade den Kontakt zu Trupp eins und zwei in der Stadt verloren. Die Trupps drei bis sieben sind auf dem Rückzug.“ „Gibt es irgendeine Möglichkeit zur Eindämmung?“ „Nein, Sir. Suppressionsmaßnahmen sind fehlgeschlagen. Wir können es nicht aufhalten. Die Infektion breitet sich schneller aus, als es vorauszusehen war.“ „Das steht mal fest.“ Der Mann am anderen Ende seufzte vernehmlich. „In Ordnung, dann werden wir Nemesis aktivieren müssen, wie Sie es empfohlen haben. Ende.“ Cain nickte und wandte sich Giddings zu. Sie näherten sich jetzt einem von mehreren Dutzend aufblasbaren Zelten, die man in aller Eile aufgestellt hatte, nachdem dieses Lager errichtet worden war. Auf jedem davon prangte das charakteristische U des Firmenlogos. Aus seiner Zeit am Golf erinnerte sich Cain an etliche Operationen, die perfekt geplant und ausgeführt worden und doch fehlgeschlagen waren, weil in der Wüste irgendetwas Unvorhersehbares geschah. Die Wüste war buchstäblich eine Naturgewalt, und die Pläne von Menschen konnten unter solchen Umständen nicht immer gelingen. Damals, als er noch Gefreiter und grün hinter den Ohren gewesen war, hatte sein First Lieutenant immer gesagt: „Eines Tages wird die Wüste gewinnen.“ Heute - 82 -
gewann die Wüste. Die Operation war wie geplant abgelaufen, aber das TVirus war einfach nicht unter Kontrolle zu bringen. Zu Giddings sagte er: „Machen Sie den C89 startklar und bringen Sie ihn in die Luft. Die Aktivierung des Nemesis-Programms wurde bestätigt.“ Giddings nickte und ging davon. Cain hielt auf den Hubschrauberlandeplatz zu, wo er den im Rollstuhl sitzenden Dr. Charles Ashford vorfand. Ashford war einer der Hauptgründe, weshalb Cain einen so dicken Gehaltsscheck mit nach Hause nahm. Viele von Umbrellas lukrativsten – und geheimsten – Verträgen hatten mit Ashfords brillanter Virusarbeit zu tun. Genau wie die heutige Katastrophe. Aber Ashford war dennoch wie ein König zu behandeln. Cains Vorgesetzte hatten ihm ganz klar zu verstehen gegeben, dass Ashford wichtiger war als jeder andere in oder um Raccoon City, inklusive Cain selbst. Deshalb hatte man ihn und Umbrellas andere Spitzenwissenschaftler heute Morgen evakuiert. Kurz vor der Schließung des Tores hatte Cain den Befehl erhalten, sie alle an einen sicheren Ort zu bringen, der einige Dutzend Meilen von hier entfernt lag. Raccoon war nicht sicher, und diese Leute waren Ressourcen, die geschützt werden mussten. Jetzt allerdings musterte der Wissenschaftler Cain mit ärgerlicher Miene. „Dr. Ashford.“ „Warum wurde da geschossen?“ „Das war nichts, um das sich die wissenschaftliche Abteilung sorgen muss. Sollten Sie nicht im Hubschrauber sein?“ „Ich bleibe hier.“ Cain versuchte seine eigene Verärgerung zu verhehlen. Diesen Scheiß brauchte er nun wirklich nicht. Er sah hinüber zu den Geländewagen, die in der Nähe - 83 -
parkten – einer fehlte. „Doktor, ich wurde angewiesen, Sie und die anderen Wissenschaftler aus der heißen Zone zu schaffen. Sie sind zu wichtig für Umbrella, um einer Gefahr ausgesetzt zu werden.“ „Ich bleibe hier, bis ich meine Tochter habe.“ Aha, also war es, wie Cain vermutet hatte, als Stein und einer der Friedberger-Brüder – Cain konnte sie nie auseinander halten – es nicht geschafft hatten, mit Angie Ashford hier aufzukreuzen. Die Tochter des behinderten Mannes befand sich noch in Raccoon City. Was hieß, dass sie tot war. Aber wie sollte man das einem Vater erklären? „Es tut mir Leid, wirklich, aber die Stadt ist abgeriegelt. Selbst wenn sie noch am Leben ist, könnte ich sie nicht herauslassen. Nicht jetzt – die Infektionsgefahr ist zu groß. Sie müssen das verstehen.“ „Ich verstehe nicht, wie all das passieren konnte. Wie konnte es zu einem Ausbruch kommen?“ Cain schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht.“ Das war die Wahrheit. Das Einzige, was sie herausgefunden hatten, waren der Zeitpunkt, zu dem das T-Virus im Hive freigesetzt worden war, und dass Alice Abernathy in der Villa gewesen war und geduscht hatte, als es passierte. Und das wussten sie nur, weil die Überwachungskameras in der Villa von der katastrophalen Beschädigung der Red Queen verschont geblieben waren und deshalb geborgen werden konnten. Abernathys Unschuld warf nur noch mehr Fragen auf… Cain wandte den Blick ab und sah, dass außer Ashford alle an Bord des Helikopters waren. „Hier können Sie wirklich nichts tun, Doktor.“ „Ich bleibe.“ Fast hätte Cain dem Drang nachgegeben, Ashford einfach hochzuheben und in den Hubschrauber zu setzen, aber er beherrschte sich. Wenn er das tat und - 84 -
Ashford meldete, dass es dazu gekommen war – was er ganz sicher tun würde –, wäre Cains Job keinen Cent mehr wert gewesen. Wenn Ashford bleiben wollte, dann würde er bleiben. Aber Cain würde ihn nicht herumstreunen lassen. Er gab dem Hubschrauberpiloten das Zeichen zum Abheben, dann rief er Giddings herbei. „Ja, Sir?“ „Bringen Sie Dr. Ashford in Arbeitsbereich D.“ Das war eines der Zelte. Es enthielt einen Arbeitsplatz, einen Umbrella-Computer, der mit dem Firmensatelliten verbunden war, ein Feldbett und ein Bücherregal. Dort konnte sich der Doktor beschäftigen, vielleicht etwas arbeiten, während er vergebens darauf wartete, dass seine Tochter zu ihm zurückkam. „Sorgen Sie dafür, dass er dort in Sicherheit ist.“ „Ja, Sir.“ Giddings trat hinter Ashford und schob seinen Rollstuhl in das genannte Zelt. Kurz darauf kam er wieder heraus, schloss das Zelt und rief dann einen Angehörigen des Kommandotrupps zu sich, einen jungen Rekruten namens Noyce. „Passen Sie auf ihn auf,“ sagte Giddings. „Er darf das Zelt nicht verlassen.“ „Sir.“ Noyce bestätigte zackig. Cain nickte zustimmend. Dann ging er zur Befehlszentrale, die sie hinter dem Hubschrauberlandeplatz eingerichtet hatten. Sie vermissten eine Menge Leute in Raccoon City. Nachdem sie One und sein Team, Ward und sein Team und etwa fünfhundert Angestellte verloren hatten, wurde es allmählich schwierig, sich mit nur zwei Trupps um die Angelegenheit zu kümmern. Es würde Umbrella einiges kosten, diese grandiose Scheiße unter den Teppich zu kehren.
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Zwölf In Alice Abernathys Augen sah die Stadt anders aus – ein Eindruck, der über das Offensichtliche hinausging. Farben waren kräftiger. Details waren leichter auszumachen. Formen traten klarer hervor. Und außerdem konnte sie weiter sehen als zuvor. Die Hurensöhne hatten etwas mit ihr gemacht. Irgendwann zwischen dem Moment, da sie ihr das Sedativ verabreicht hatten, und ihrem Erwachen im Krankenhaus hatten sie etwas mit ihr angestellt. Sie wusste nicht, was, aber es hatte sie verändert. Und da sie Umbrella kannte, wusste sie, dass es nichts Gutes sein konnte. Während sie durch die Straßen ging, sah sie nur sehr wenige Menschen. Einige lebten – sie waren leicht zu erkennen, weil sie diejenigen waren, die schrien und vor Entsetzen fast den Verstand verloren –, andere waren wandelnde Leichen. Manchmal sah sie einen Vertreter der einen ,Spezies’ mit einem ,von der anderen Fraktion’ kämpfen. Wenn sie nahe beieinander waren, rief Alice dem Lebenden zu, dem Toten das Genick zu brechen oder, wenn er bewaffnet war, auf den Kopf zu zielen. Wenn nicht die Gefahr bestand, den Lebenden zu treffen, nahm Alice einfach die Shotgun, die sie sich aus dem RCPD-Streifenwagen besorgt hatte, und blies dem Toten den Schädel weg. Die Lebenden zeigten sich nur selten dankbar. Für gewöhnlich rannten sie davon, als sei der Teufel hinter ihnen her. Alice konnte ihnen keinen Vorwurf machen. Eine Frau in einem Krankenhaushemd, die eine Shotgun mit sich herumschleppte, war nicht unbedingt jemand, mit dem - 86 -
man abhängen und plaudern wollte. Während sie durch die verheerten Straßen von Raccoon City ging, stellte sie fest, wie sehr das reine Konzept von Gier sie anwiderte. Gier hatte diesen Alptraum erschaffen. Umbrellas Gier, das T-Virus überhaupt erst zu erzeugen, als Basis für eine Faltencreme, die dem Ego eitler Idioten schmeicheln sollte – und vielleicht auch als etwas, das sich als Bioterrorwaffe an den Meistbietenden verkaufen ließ. Und Spence Parks Gier, die ihn dazu getrieben hatte, das Virus und sein Antigen zu stehlen, um es selbst an den Meistbietenden zu verhökern. Womit er den ganzen Hive infiziert und fünfhundert Menschen zum Tode verurteilt hatte. Und das alles, nur um seine Spuren zu verwischen. Rückblickend betrachtet hätte Alice es kommen sehen müssen. Spence hatte von dem Augenblick an, da sie sich kennen gelernt hatten und als getürktes Ehepaar zusammengespannt worden waren, das die Villa bewachen sollte, keinen Hehl aus seiner Gier gemacht. Er sagte, dass er seinen Job beim Chicago Police Department ohne zu zögern aufgegeben hatte für den Gehaltsscheck, den er für seine Arbeit bei der Sicherheitsabteilung von Umbrella bekam. Aber Alice hatte ihm nie wirklich Aufmerksamkeit geschenkt, die darüber hinausging, wie gut er in dem Bett war, das sie teilten, und wie gut er seinen Job als ihr Partner versah. Und das, obwohl ihre Ausbildung, ihre Instinkte, ihr Job von ihr verlangten, hinter die Fassade zu blicken. Was hatte sie vor nicht allzu langer Zeit gesagt? „Beurteile nichts und niemanden nach seinem Äußeren. Erste Regel der Sicherheitsabteilung.“ Alices Instinkte hatten ihr so oft gute Dienste geleistet, aber in Spences Fall hatten sie sie im Stich gelassen. - 87 -
Jetzt war Spence tot, die Hive-Mitarbeiter waren tot, Rain und der Rest von Ones Team waren tot, halb Raccoon City war tot, und die andere Hälfte würde wahrscheinlich folgen. Sie hatte keine Ahnung, was mit Matt geschehen war – und Gier war der Grund für all das. Gier und Dummheit. Sie kannte Able Cain, und diese Sache stank geradezu nach ihm. So sehr dieses Arschloch auch von Effizienz reden mochte, seine Operationen waren stets schlampig und unbesonnen. Er verschwendete nie einen Gedanken an Kollateralschäden und überlebte nur allzu oft, während seine Pläne gründlich schiefgingen. Was hier ganz klar der Fall war. Das Letzte, was Alice in der Villa aus Cains Mund gehört hatte, war, dass er den Hive wieder aufmachen ließ, was sehr wahrscheinlich das Dümmste war, das man unter diesen Umständen tun konnte. Alice hatte geglaubt, ziellos durch die Innenstadt von Raccoon zu streifen, aber als sie um die Ecke einer abgelegenen. Straße bog, wusste sie, dass sie ein bestimmtes Ziel im Sinn gehabt hatte, wenn auch nur unbewusst. Sie ging auf ein Gebäude mit einer kurzen Treppe zu. Die Stufen führten zu einer Eingangsnische mit drei Türen. Zwei gehörten zu Läden, die das Erdgeschoss einnahmen – ein Zeitschriftenladen und ein Geschäft für Fußbodenbeläge. Die dritte führte in die Lobby eines Apartmenthauses. An die kurze Treppe schloss sich eine weitere an, die zu einer Tür hinabführte, auf der in bescheidener Größe der Schriftzug CHE BUONO zu lesen war. Als Alice das letzte Mal in Raccoon gewesen war, hatte sie Lisa Broward zum Mittagessen eingeladen. Alice hatte herausgefunden, dass Lisa, die für die Sicherheit des gewaltigen Red-Queen-Computernetzwerks - 88 -
verantwortlich war, eine persönliche Vendetta gegen Umbrella führte. Grund war der Tod eines früheren Kollegen. Darum hatte Alice sie angeworben, um ihr zu helfen, Umbrellas Entwicklung des T-Virus zu enthüllen, was eine Verletzung nationaler und internationaler Gesetze sowie einer Unzahl von Abkommen darstellte, die die USA im Laufe der Jahre unterzeichnet hatten. Was Alice zu dem Zeitpunkt nicht gewusst hatte, war, dass Lisa von ihrem Bruder Matt Addison in die Firma eingeschleust worden war. Und Matt gehörte zu einer geheimen Gruppe, deren Ziel es war, die Leute hinter Umbrella als die Scheißkerle zu entlarven, die sie waren. Spences Gier hatte auch das vermasselt. Lisa hatte alles vorbereitet, um das T-Virus an Matt weiterzugeben, der sie in der Villa treffen wollte. Stattdessen fand sich Matt in dem Alptraum wieder, den Spence ausgelöst hatte. Auf Che Buono war Alice zum ersten Mal an einem Valentinstag aufmerksam geworden. Sie war durch die Stadt spaziert und hatte sich selbst bemitleidet, weil sie allein war an diesem Tag, der die Zweisamkeit feierte. Che Buono – ein italienisches Restaurant, das von einer kleinen Familie namens Figlia geführt wurde, die aus Italien ausgewandert war, um in Amerika ein Lokal zu eröffnen – war das einzige Restaurant, in dem es noch einen freien Tisch gab, und Alice hatte in ihrem ganzen Leben noch nicht so gut gegessen. Vorsichtig ging sie die Treppe hinunter, um nachzusehen, ob die Figlias in Ordnung waren. Drinnen herrschte Chaos. Die sechs Tische waren umgekippt, die Stühle lagen verstreut umher, viele waren zerbrochen. Die Fotos von Italien hingen schief an den Wänden, einige waren heruntergerissen und beschädigt. Und am schlimmsten von allem: Das Gemälde der Ponte Vecchio in Florenz, das Herzstück des Lokals, war von Blut befleckt. - 89 -
Alice sah keine Toten. Sie fragte sich, ob das ein gutes Zeichen war oder ein schlechtes. Dann hörte sie ein Geräusch. Die Küchentür wurde geöffnet und vier Personen schlurften heraus. Anna Figlia, die alte Frau, die als Oberkellnerin des Lokals fungierte. Ihr Sohn Luigi und seine Frau Antonia, die für das Kochen zuständig waren. Rosa, die Tochter von Luigi und Antonia, die die Gäste bediente… Wie ein Mann bewegten sie sich auf Alice zu, die Augen milchig, die Münder klaffend weit offen und schwarze Zähne enthüllend, die beinahe aussahen, als zielten sie auf Alices Hals. Früher war der Anblick dieser vier Gesichter wie eine Zuflucht gewesen. Das Che Buono war eine Schutzzone vor der zunehmenden Frustration, für verabscheuungswürdige Leute zu arbeiten, die Alice auftrugen, aus verabscheuungswürdigen Gründen verabscheuungswürdige Dinge zu tun. Sie hatte Lisa ganz bewusst hierher eingeladen, weil sie wusste, dass hier ihr wahres Gesicht zum Vorschein kommen und Alice erkennen würde, ob sie ihr wirklich vertrauen konnte. Nie würde sie Lisas Miene vergessen, als sie zum ersten Mal von dem Kalbsfleisch Parmigiano probiert und behauptet hatte, dass es das Beste sei, das sie gehabt hatte, seit sie als Kind in einem der vielen italienischen Lokale gegessen hatte, in die sie und ihre Familie in New York City gegangen waren. Tränen stiegen Alice in die Augen, als sie die Shotgun hob und viermal abdrückte. Dann drehte sie sich um und verließ das Che Buono zum letzten Mal. Beim Hinausgehen stieß sie gegen den Türrahmen. Schmerz schoss durch ihren Unterarm, und sie stellte fest, dass sie sich geschnitten hatte. Die Wunde ignorierend zog sie weiter durch die Straßen. - 90 -
Schließlich fiel ihr Blick auf eine Ladenfront: SURPLUS AND MORE. Es war ein guter altmodischer Army- und Navy-Laden – genau das Richtige für einen postapokalyptischen Einkaufsbummel. Und sollte sie auch sonst nichts Brauchbares finden: Sie hatte fast keine Munition mehr für die Shotgun. Während sie durch den Laden ging und in Gedanken abwog, was sie wirklich brauchte und was sie problemlos tragen konnte, krümmte sie sich plötzlich. Ein schmerzhafter Krampf durchlief ihren ganzen Körper. Ihre Arme fühlten sich besonders merkwürdig an, und sie senkte den Blick und sah ein sonderbares Kräuseln – als bewegte sich etwas unter ihrer Haut. Entsetzt erinnerte sie sich, wo sie einen solchen Effekt schon einmal gesehen hatte: auf Matt Addisons verletztem Arm, unmittelbar bevor sie von Cain und seinen Schergen in der Villa überwältigt worden waren. Dann bemerkte sie noch etwas: Der Schnitt an ihrem Arm war völlig verheilt. Eine weitere Woge aus Schmerz bohrte sich in sie, und sie stolperte beinahe zu Boden. Das war schlimmer als der Schmerz, der sie beim Aufwachen im Krankenhaus gequält hatte, schlimmer noch, als der, den sie verspürte, als sie sich die Drähte aus dem Fleisch gerissen hatte. Gott, was geschah nur mit ihr? Der Schmerz verebbte allmählich. Sie sah sich im Laden nach einem Spiegel um, fand einen und rannte darauf zu. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Die Haare, die man ihr abrasiert hatte, um die Drähte an ihrem Kopf befestigen zu können, waren nachgewachsen, die Wunden, die diese Drähte hinterlassen hatten, ebenfalls verheilt. Sie sah zu ihren Füßen hinab. Seit sie das Krankenhaus verlassen hatte, war sie barfuß über - 91 -
zerbrochenes Glas und aufgerissenen Asphalt gelaufen, und doch zeigten ihre Sohlen keinen Schnitt, nicht einmal eine Abschürfung. Die Hurensöhne hatten ganz ohne Zweifel etwas mit ihr gemacht! Dann hörte sie ein Geräusch. Die Shotgun erhoben, drehte sie sich um und sah einen Pulk von Zombies, der durch die Eingangstür auf sie zutaumelte. Doch bevor die Gruppe zu nahe kam, blieb sie stehen. Starrte sie aus wässrigen Augen an. Alice hielt ihre Shotgun direkt auf die Stirn der Anführerin gerichtet, bereit zu schießen, sollte sie oder einer der anderen sie angreifen. Aber das tat sie nicht. Ebenso wenig wie die anderen. Sie schlurften lediglich an ihr vorbei, schenkten ihr keine Beachtung. Das ergab keinen Sinn. O ja, die Hurensöhne hatten etwas mit ihr angestellt. Die Frage war nur… was? Dann hörte sie ein weiteres Geräusch – das Röhren eines Motorrads. Sie drehte sich um und sah hinaus. Eine Harley hielt geradewegs auf das Schaufenster des Ladens zu. Und wurde nicht langsamer. In dem Moment, als Alice sich hinter den Verkaufstresen in Deckung warf, durchbrach das Motorrad mit einem Getöse, das Alice ungewöhnlich laut vorkam, das Schaufenster – zum Teil wirkte es wohl so machtvoll, weil es ringsum so still gewesen war, aber auch weil ihr Gehör, wie ihr jetzt bewusst wurde, auf einmal sehr viel empfindlicher war. Sie stand auf und sah, dass das Motorrad in einem Regal voller Drillichklamotten zum Halten gekommen war. Ein großer Mann in einer Lederjacke hing über dem - 92 -
Lenker, sein Kopf steckte unter einem Haufen grüner Tarnhosen. Als sie sich ihm näherte, richtete sich der Motorradfahrer kerzengerade auf. Seine Augen konnte sie hinter der verspiegelten Sonnenbrille nicht sehen, aber die Art und Weise, in der sein Mund weit, weit offen stand, war unmissverständlich. Ganz ruhig packte Alice seinen Kopf, eine Hand auf jeder Seite, und drehte ihn ruckartig. Dann stieß sie den Fahrer aus dem Sattel, suchte und fand die Zündung, drehte den Schlüssel, zog das Motorrad aus dem Kleiderregal und lehnte es gegen die Verkaufstheke. Jetzt würde sie es leichter haben, in der Stadt herumzukommen. Während die Zombie-Brigade um sie herumschlurfte, ohne sie auch nur im Geringsten zu beachten, setzte Alice ihren Einkauf fort – die Liste der Dinge, die sie transportieren konnte, war gerade etwas länger geworden.
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Dreizehn Wäre Jill Valentine gefragt worden, wie sie es geschafft hatte, dem Chaos auf der Ravens’ Gate Bridge zu entkommen, hätte sie die Frage nicht beantworten können. In der einen Minute schrie sie alle in ihrer Umgebung an, dass sie verschwinden sollten. Im nächsten Augenblick fielen bereits Schüsse. Und gleich darauf stob ein Heer von Menschen in alle Richtungen davon. Das Nächste, woran sie sich erinnerte, war, dass sie selbst durch die Straßen von Raccoon City hetzte, den verletzten Peyton Wells stützend und begleitet ausgerechnet von Terri Morales. Wäre die Situation ein wenig anders gewesen – wenn zum Beispiel Morales verletzt und Peyton noch fit gewesen wäre – , hätte sich Jill nicht von einer Verwundeten behindern lassen. Peyton allerdings wollte sie nicht zurücklassen. Nachdem diejenigen, die das Umbrellasche Skeetschießen in Ravens’ Gate überlebt hatten, auf die Raccoon-Seite der Brücke gelangt waren, zerstreuten sie sich in alle Himmelsrichtungen. Jill hatte sich für die Richtung, in die sie seither gingen, entschieden, weil es dort vergleichsweise leer war. Sie vermutete, dass die Zombies sich größeren Menschen-Ansammlungen zuwenden würden, und nachdem die meisten die Route 22 oder den Western Boulevard hinuntereilten, bewegten sich Jill und Peyton – und Morales, die jetzt wie ein Blutsauger an ihnen hing – die weniger benutzte Dilmore Place entlang, die zu einem heruntergekommenen Wohnviertel führte. Im Gehen warf sie Peyton, der, einen Arm um ihren Nacken gelegt, neben ihr herhumpelte, einen Blick zu. Er - 94 -
war bleich geworden und schwitzte, aber letzteres mochte durchaus an der Hitze liegen, die auch nach Sonnenuntergang nicht nachließ. Die meisten Straßenlaternen funktionierten nicht, aber Feuer und brennende Autos leuchteten ihnen den Weg. Jills Blick fiel auf eine große Kirche am Ende der Straße, wo sich die Dilmore und die Lyons Street kreuzten. Gab es einen besseren Zufluchtsort? Sie versuchte Peyton Trost zu spenden. „Wir ruhen uns gleich aus.“ „Machen Sie sich um mich keine Sorgen“, sagte er, verzweifelt bemüht, taff zu klingen – was ihm kläglich misslang. Das zeigte mehr als alles andere, wie schlecht es Peyton ging. Für gewöhnlich fiel es ihm nicht schwer, Durchhaltevermögen zu vermitteln. Aus Morales, die bislang gnädigerweise sehr still gewesen war, brach plötzlich ein Sturzbach von Worten hervor. „Was zum Teufel geht hier vor!? Die haben auf Menschen geschossen! Unschuldige Menschen! Warum haben Sie nichts unternommen? Sie sind doch von der Polizei!“ Die Ex-Reporterin hatte nicht ganz Unrecht. Es war ja nicht so, dass Umbrella eine Ordnungsmacht war oder Militärgewalt besaß. Ungeachtet der Worte dieses Kerls auf der Mauer konnte ein Unternehmen den Gebrauch von scharfer Munition außerhalb eines Schießstandes eben nicht „autorisieren“. Aber letzten Endes waren die Einzigen mit wahrer Autorität diejenigen, die die größten Schießeisen in Händen hielten. Und im Moment war das zweifelsfrei Umbrella. Doch Jill hatte weder Lust noch die Geduld, dies der Wetterfee von Raccoon 7 zu erklären. Als sie das Kirchenportal erreichten, sagte Jill: „Da rein. - 95 -
Hier können wir uns verstecken.“ Die Kirche war ein gewaltiges Bauwerk im gotischen Stil, das aussah wie etwas, das Frank Lloyd Wright auf Bitten von Tim Burton hin gebaut hatte, und zwar, als sie beide betrunken waren. Die abgedrehte Architektur und die riesenhaften Gargoyles wirkten unheimlich in der von Feuern erhellten Dunkelheit. Im Innern war die Decke scheinbar endlos hoch. Die Schatten waren lang, und es gab nur wenige, weit voneinander entfernte Lichtquellen. Über der Eingangstür befand sich ein großes Fenster mit farbigem Glas, das Luzifers Verbannung aus dem Himmel in die Hölle zeigte, eine Szene, die Jill eher aus Das verlorene Paradies kannte, das sie im College gelesen hatte, als infolge religiöser Erziehung. Über dem Altar hing ein riesiges Kreuz. Gerade als Jill sich fragen wollte, ob diese Idee wirklich so gut war, ertönte aus den Schatten eine Stimme. „Halt! Keinen Schritt näher!“ Eine Gestalt trat hervor, ein ungepflegter Weißer, vermutlich Anfang 30, der eine .357er Magnum hielt, die in seiner Hand ungefähr so deplatziert wirkte, wie sie es in der von Morales getan hätte. Im Laufe der Jahre, seit sie S.T.A.R.S. beigetreten war, hatte Jill den Ausdruck im Gesicht dieses Mannes Dutzende Male gesehen – vor allem in Gesichtern von Geiselnehmern und Entführern: der unverwechselbare, wahnsinnige Ausdruck von jemandem, der nichts zu verlieren hatte und eine großkalibrige Waffe bei sich trug. Mit ihrer besten Unterhändlerstimme – und sich nach Goldblume sehnend, dem eigentlichen Unterhändler von S. T. A. R. S. – sagte Jill: „Es ist okay. Wir sind keine von diesen Dingern.“ „Dieses Versteck gehört mir! Ich hab es gefunden! Hier verstecke nur ich mich!“ Morales warf trocken ein: „Ich würde sagen, hier ist - 96 -
genug Platz für uns alle.“ Der Mann fuchtelte mit der .357er herum. „Ihr werdet sie hierher locken! Haut ab!“ Zu Jills Entsetzen ging Morales auf direkten Konfrontationskurs. Entweder hatte sie gehörigen Mumm, oder sie war dumm wie Bohnenstroh. Oder beides. Jill hätte ihr Geld auf letzteres gesetzt. „Wir gehen da nicht wieder raus! Kapiert?“ Der Mann richtete die Mündung der .357er genau auf Morales’ Gesicht. „Du sagst mir nicht…“ „Okay, kriegt euch ein! Weg mit der Waffe!“ Beide wichen unter Peytons Befehl, der von der hohen Decke widerhallte, zurück. Jill lächelte. Offenbar konnte Peyton doch noch taff klingen. Der Mann senkte seine Waffe. Jill trat auf ihn zu, streckte eine Hand aus und sagte: „Die sollten Sie vielleicht mir geben.“ „Das glaub ich nicht.“ Der Mann stand immer noch völlig neben sich, aber er klang jetzt etwas weniger verrückt. Peyton sah Morales an. „Und Sie – immer sachte.“ Jill schlug in die gleiche Kerbe. „Hier gibt’s genug Möglichkeiten, ums Leben zu kommen, ohne sich erschießen lassen zu müssen.“ Morales erwiderte nichts. Stattdessen sah sie auf ihre Hand hinab. Erst jetzt fiel Jill auf, dass sie etwas Kleines, Metallisches festhielt. Und hätte sie sich auch nur einen Dreck um Terri Morales geschert, hätte sie vielleicht gefragt, worum es sich handelte. Stattdessen nahm sie auf einer der Kirchenbänke Platz und holte eine Zigarette hervor. Ganz kurz meldete sich ihr schlechtes Gewissen, weil sie damit sozusagen heiligen Boden entweihte, aber das Gefühl legte sich schnell wieder. Zombies durchstreiften die Straßen, ein - 97 -
Konzern schoss auf unschuldige Menschen – wenn es einen Gott gab, dann war Er definitiv in letzter Zeit nicht in Raccoon City gewesen. Jill nahm einen Zug und bemerkte, dass Morales jetzt sie anstarrte. „Jill Valentine, richtig? Kennen Sie mich noch? Ich habe über einige Ihrer Fälle berichtet – vor Ihrer Suspendierung.“ Sie streckte eine Hand aus. „Terri Morales, Raccoon 7.“ Ohne die dargebotene Hand zu ergreifen, blies Jill Zigarettenrauch in Morales’ Gesicht. „Ich habe alles gesehen, was Sie gemacht haben.“ Morales lächelte. Es kam in ihrem Gesicht nicht sonderlich zur Geltung. „Ein Fan.“ „Eigentlich nicht. Sie machen jetzt die Wettervorhersage, oder?“ Das Lächeln zerfiel – was Jill ein wenig genoss. Sie zeigte auf Peyton, der jetzt ebenfalls auf einer der Kirchenbänke Platz genommen hatte. „Sergeant Peyton Wells.“ Peyton deutete auf das Ding in Morales’ Hand und fragte: „Was haben Sie da?“ Morales hielt den Gegenstand hoch: eine kleine Videokamera. Das rote Aufnahmelämpchen brannte – Jill vermutete, seit Morales die Brücke erreicht hatte. „Meinen Emmy“, sagte sie, wieder lächelnd. „Wenn ich das hier überlebe.“ Sie richtete das Kameraobjektiv direkt auf Peyton. „Möchte das Raccoon City Police Department eine Stellungnahme abgeben, worum es sich bei diesen… Kreaturen handelt?“ „Um die Strafe Gottes.“ Das waren nicht Peytons Worte – die andere Stimme hallte von der Decke wider, doch Jill stellte schnell fest, dass sie aus Richtung des Altars kam. Sie drehte sich um und sah einen Priester oder Pfarrer – oder was er auch sein mochte – auf sie zukommen. - 98 -
Sein Kollar war schmutzig, sein Talar hatte bessere Jahrzehnte gesehen, und sein Haar sah aus, als sei es seit der Amtszeit von Präsident Clinton nicht mehr gekämmt worden. „Siehe, ich will Unglück über dies Volk bringen, seinen verdienten Lohn, weil es auf meine Worte nicht achtet und mein Gesetz verwirft. – Wachet auf und rühmet, die ihr liegt unter der Erde! Denn ein Tau der Lichter ist dein Tau, und die Erde wird die Toten herausgeben. – Die Toten sollen unter den Lebenden wandeln und Verdammnis über sie bringen!“ Als er endete, war er zu ihnen in den Eingangsbereich der Kirche getreten. „Ziemlich heftige Rede“, meinte Jill, ohne eine Miene zu verziehen. „Jeremia“, murmelte der Mann mit der .357er. „Der erste Teil jedenfalls. Das danach war von Jesaja. Was den Rest angeht, bin ich mir nicht sicher.“ Morales lächelte, die Kamera auf den Priester gerichtet. „Ja, das kommt verdammt noch mal in die Endfassung.“ Ein plötzliches Geräusch hinter dem Altar ließ sie alle zusammenzucken – bis auf den Priester. „Was ist das?“, fragte Peyton. „Nichts.“ Jill schnaubte. So etwas wie ,nichts’ gab es in Raccoon City nicht mehr. Sie ging schnurgerade auf den Altar zu und umrundete ihn, um zur Sakristei zu gelangen. Ihr Augen gewöhnten sich allmählich an die dämmrigen Lichtverhältnisse, aber sie bewegte sich trotzdem vorsichtig, weil sie fürchtete, über einen liegen gebliebenen Rosenkranz oder irgendetwas anderes zu stolpern. Nein, Moment: Katholiken benutzten Rosenkränze, und sie glaubte nicht, dass dies hier eine katholische Kirche war. Jill hatte sich nie um solche Dinge geschert. Ihr - 99 -
Vater war ein vom Glauben abgefallener Episkopale, ihre Mutter eine schlechte Jüdin. Wenn es erforderlich geworden wäre, hätte Jill sich selbst wohl als gleichgültige Agnostikerin bezeichnet. Heute, hier und jetzt, wusste sie jedoch nicht, was sie überhaupt glauben sollte. Die Sakristei wurde von einer einzigen Tischlampe erhellt und war, dank ihrer kleineren Ausmaße, heller erleuchtet als das Kirchenschiff. Mehrere Tische und Stühle waren umgeworfen – das schien neuerdings üblich in Raccoon City zu sein. Am auffälligsten war der Blutfleck an einer der Wände. Blut hinterließ solche Muster, wenn es aus der Hauptschlagader sprühte, wie ihr auf der polizeigeschultes Hirn wusste. Und das war nicht gerade das, was man im Vorbereitungsraum eines Priesters sehen wollte. Vor ihr saß eine Frau auf einem Stuhl. Sie schaukelte mit gesenktem Kopf hin und her. „Sind Sie in Ordnung?“, fragte Jill. Plötzlich sagte eine Stimme hinter ihr: „Was tun Sie da?“ Jill fühlte sich überrumpelt. Wo zum Teufel hatte ein Priester gelernt, sich so gekonnt an einen S.T. A.R.S.Officer heranzuschleichen? Aber die passendere Frage wäre vermutlich gewesen, wie die Instinkte eines S.T.A.R.S.-Officers dermaßen versagen konnten. Und die schlichte Antwort lautete: weil in Raccoon City die Zombies die Stadt übernommen und in ihre Gewalt gebracht hatten. „Was ist mit ihr?“, fragte Jill und fürchtete, die Antwort schon zu kennen. „Das ist meine Frau. Sie ist – es geht ihr nicht gut.“ Als Jill sich der Frau nähern wollte, verstellte ihr der Priester den Weg. „Nein!“ - 100 -
„Gehen Sie zur Seite.“ „Es geht ihr nicht gut, das habe ich Ihnen doch gesagt.“ „Vielleicht kann ich ihr helfen.“ Jill verspürte kein allzu schlechtes Gewissen ob dieser Lüge. Außerdem war es nicht einmal ganz gelogen. Wenn die Frau des Priesters eine von diesen… diesen Kreaturen war, würde es sie erlösen, wenn Jill ihr eine Kugel in den Kopf jagte. Als sie sich an dem Geistlichen vorbeidrängte, stellte sie fest, dass die Frau mit Elektrodrähten an den Stuhl gefesselt war. Beides bestätigte ihren Verdacht und erklärte den Mangel an Licht. Dann blickte die Frau auf, und Jill bemerkte das Blut um ihren Mund. „O mein Gott.“ Die Frau rutschte auf dem Stuhl vor und zurück und stemmte sich gegen ihre Fesseln. „Sie sind krank!“, sagte Jill zu dem Priester. „Gehen Sie einfach“, sagte er, und es klang gleichermaßen wütend wie traurig. Jill wusste nicht, ob er ihr Leid tun oder ob sie ihn erschießen sollte. Oder beides. „Raus aus meiner Kirche!“, schrie der Priester. „Ich kann ihr helfen, ich kann ihr dieses Ding austreiben.“ Jill hätte vielleicht geglaubt, dass er es ehrlich meinte – bis sie über etwas am Boden stolperte und beinahe hinfiel. Als sie nach unten schaute, sah sie einen halb aufgefressenen Leichnam. Das erklärte das Blut an der Wand und um den Mund der Frau. Sie sah den Mann entsetzt an. „Was haben Sie getan?“ „Lassen Sie uns in Ruhe!“, kreischte der Priester. Während sie zusah, wie die Frau vor- und zurückschaukelte, vor und zurück, und mit aller Kraft an den Drähten zerrte, wurde Jill klar, dass es in dieser Stadt heute mehr als nur eine Möglichkeit zu sterben - 101 -
gab. Dann hatte die Frau ihre rechte Hand befreit. Jill zog eine ihrer Pistolen. „Nein!“ Der Priester sprang auf sie zu, und sie verriss ihren Schuss. Aber was er an Leidenschaft besaß, fehlte ihm an Kraft, und Jill brauchte nur einen Augenblick, um ihn von sich zu stoßen… … in die bereits wartenden Arme seiner Frau. Genau in dem Moment, da sie auch ihre übrigen Fesseln zerriss. Sie fing ihren Mann mit ihren Armen auf, beugte sich zu ihm hinab und biss ihn in den Hals. Die Schreie des Priesters gellten durch die winzige Sakristei. Jill glaubte, dass sie die ganze Straße hinunter zu hören sein mussten. Bis sie ihm in den Kopf schoss. Als er zu Boden fiel, verfuhr sie ebenso bei seiner Frau. Ohne einen weiteren Blick auf die beiden zu werfen, trat sie wieder zurück in die Kirche. Dem Ausdruck in den Gesichtern von Peyton, Morales und dem Mann mit der .357er nach zu schließen, hatten sie die Schreie gehört. „Was war da hinten los?“, fragte Peyton. Jill schüttelte nur den Kopf.
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Vierzehn Angus McKenzie wollte diese verdammten Typen nicht in seiner Kirche haben. Na gut, genau genommen war es nicht seine verdammte Kirche, es war die verdammte Kirche dieses Pfarrers. Aber so wie es sich angehört hatte, war das nebensächlich geworden. Es waren zwei Schüsse gefallen, der Pfarrer hatte also wahrscheinlich einen dieser Dämonen dort hinten gehabt. Wie die Dämonen im Büro. Er würde sich nicht von ihnen erwischen lassen. Angus McKenzie war nicht den ganzen Weg von Schottland nach Amerika gekommen, nur um sich bei lebendigem Leib von einem Dämon verspeisen zu lassen. Na gut, Telemarketing war nicht unbedingt der glanzvollste Beruf der Welt, aber er verdiente sein verdammtes täglich Brot damit, oder nicht? Und er war gut in diesem Job. Der Boss meinte, es liege an seinem Akzent – da würden die Leute immer aufhorchen. Sie hielten es für exotisch oder so. Die Leute standen auf Exotik, vor allem Amerikaner. Die meisten wohl, weil sie keine eigene Geschichte hatten. Das war jedenfalls Angus’ verdammte Meinung. Dann waren plötzlich alle durchgedreht. Angus’ Frau, Gott sei ihrer Seele gnädig, hatte gesagt, der Teufel sei gekommen, um sie alle für ihre Sünden zur Rechenschaft zu ziehen. Flora legte großen Wert auf die Vergebung der Sünden. Sie starb in der großen Angst, dass sie zur Hölle fahren würde. Angus war der Ansicht, dass sie keinen Grund zur Sorge hatte. Sie würde in den Himmel kommen, daran bestand für ihn kein Zweifel. Angus selbst allerdings… nun, das war eine andere - 103 -
Geschichte. Trotzdem, nichts von dem, was er im Leben getan hatte – und er hatte eine Menge getan, daraus machte er keinen Hehl –, war so schlimm gewesen, dass er dafür von Dämonen aufgefressen werden sollte. Nicht einmal dafür, dass er Maria diesen Kreaturen überlassen hatte. Es war falsch gewesen, das wusste er, aber er hatte nicht anders gekonnt. Als sie zum Dach hinaufrannten, um den Dämonen zu entkommen, in die ihre Kollegen sich verwandelt hatten, hatte er ihr oben die Tür vor der Nase zuschlagen müssen. Nur so hatte er sich selbst in Sicherheit bringen können. Klar, das war vermutlich ihr Todesurteil gewesen, aber wenigstens würde er überleben, oder? Während er vom Dach hinuntergeklettert war, hatte er gehört, wie die Dämonen versuchten, Maria zu überwältigen. Und er hatte gesehen, wie Maria in den Tod gestürzt war. Aber das war egal, oder? Er war am Leben. Er hatte einen toten Schwarzen mit einer großkalibrigen Waffe im Gürtel gefunden. Wahrscheinlich irgend so ein Drogendealer. Diese Schwarzen dealten doch alle mit Drogen und brachten sich gegenseitig um. Angus fand es eine Schande. Weniger Schande als eine Kollegin, ein unschuldiges Mädchen, zum Tode zu verdammen? Er schob den Gedanken beiseite. Er hatte Zuflucht in einem Haus des Herrn gefunden. Sicher, es war keine anständige katholische Kirche, sondern eine dieser protestantischen Abscheulichkeiten. Und normalerweise hätte Angus, ein Papist durch und durch, niemals den Fuß in eines dieser häretischen Bauwerke gesetzt. Aber in der Not fraß der Teufel Fliegen. Die Dämonen waren überall. - 104 -
Und hier war er sicher. In den Armen des Herrn. Oder fast jedenfalls. Was also Angus McKenzie anging, war dies seine Kirche. Dann waren dieser Bulle und die kleine Morales aus der Glotze und dieses Mädchen mit den zwei Knarren aufgetaucht – und dann der Pfarrer. Einer der verdammten Heiden. Und der hier war irre. Aber so wie es sich angehört hatte, hatte sich das Mädchen mit den zwei Knarren – sie war wahrscheinlich auch ein Bulle; in diesem verrückten Land nahm man ja immerzu Frauen in den Polizeidienst auf – um den Pfarrer gekümmert. Jetzt musste Angus überlegen, wie er die anderen drei dazu bringen konnte, dass sie seine Kirche verließen. Plötzlich bewegte sich etwas über die Decke. Angus sah nach oben, aber in der verdammten Dunkelheit dieser Kirche konnte er nichts erkennen. Verdammte Heiden, mit ihren Winkeln und Spalten, dem unzulänglichen Licht und der versponnenen Architektur. Der Bulle hatte eine Taschenlampe. Er schaltete sie ein und richtete den Lichtkegel zu der steinernen Bogendecke hinauf. Staub- und Gipspartikel schimmerten im Schein der Lampe. Genau wie die drei Krallenspuren im Stein. Verdammter Grundgütiger! „Was zum Teufel ist das?“ „Da drüben!“, sagte das Mädchen mit den zwei Knarren und deutete auf einen anderen Teil der Decke. Angus’ Blick folgte dem Taschenlampenstrahl des Cops, der dorthin leuchtete, wo die Frau hinzeigte. Alles, was der Lichtkegel aus dem Dunkeln riss, waren weitere Krallenspuren. „Da!“, schrie Morales. Diesmal erwischte die verdammte Taschenlampe des - 105 -
Bullen das, was sich dort oben durch die Schatten bewegte. Und Angus wünschte, er hätte es nicht gesehen. „Mein Gott!“ Es sah aus wie etwas aus einem Alptraum. Im Grunde war es von menschlicher Gestalt: zwei Arme, zwei Beine, aber sein Rückgrat war so gebogen, dass es auf allen vieren laufen konnte. Es sah aus, als sei es gehäutet worden. Rote Muskelstränge und weiße Knochen machten seine Oberfläche aus – aber sie wirkte hart, wie die ledrige Haut eines Nashorns. Die Finger des verdammten Dings liefen in riesigen Krallen aus, was die Spuren erklärte. Doch es war der Kopf, der Angus’ Aufmerksamkeit auf sich zog. Das aufgerissene Maul war schon schlimm genug – es war randvoll mit spitzen Zähnen und einer riesigen Zunge. Angus hatte Frösche mit proportional kleineren Zungen gesehen als der, die sich aus dem verdammten Maul dieses Dings schlängelte. Aber was Angus’ ernstlich überlegen ließ, ob er sich in die Hosen scheißen sollte, waren die Augen der Kreatur. Sie besaß keine. Nach einer Sekunde verschwand das Monster aus dem Taschenlampenstrahl des Bullen. Aber für Angus war das mehr als genug gewesen. Er rannte los. „Warten Sie!“, rief das Mädchen mit den zwei Knarren, aber Angus beachtete sie nicht und rannte in den hinteren Teil der Kirche. Dort würde er sicher sein. „Ich hol ihn zurück“, sagte das dämliche Mädchen. Er bog um eine Ecke und lief in einen Teil der Kirche, der durch eine hölzerne Wand vom Rest abgetrennt war. Er sah ein großes Becken, ähnlich einem Vogelbad, und erkannte, dass er sich in der Taufkapelle befand. Nahe - 106 -
des Beckens reihten sich einige kleinere Bänke. Plötzlich fiel ein Kandelaber von der Seitenwand. Angus fuhr zusammen und zog beinahe den Stecher seiner Waffe durch. Er hatte sie bislang noch nicht abgefeuert, aber er war verdammt noch mal bereit dazu. Doch er sah nichts weiter. Aus dem Bereich, wo die Bänke standen, drang ein Geräusch wie von knarrendem Holz zu ihm. Angus richtete die Waffe dorthin. Er sah noch immer nichts. Verdammte Scheiße. Mit einem dröhnenden Krachen stürzte das Taufbecken auf den Boden, das Geräusch hallte von der Decke wider, Weihwasser ergoss sich vor Angus’ Füße. Er richtete seine Waffe auf die Stelle des Bodens, wo der Taufstein aufgeschlagen war. Aber er sah immer noch nichts. Wo war die Kreatur? Warum trieb sie diese Spielchen? Angus wollte einfach nur leben. War das zu viel verlangt? Er wandte sich um. Er wollte die Taufkapelle verlassen… … und sah sich dem augenlosen Gesicht jenes Wesens gegenüber, auf das er vorhin einen Blick erhascht hatte. Die Zunge schnellte aus dem Maul des Monsters und wickelte sich um Angus’ Hals. Dann zog sie sich zusammen. Angus bemühte sich verzweifelt, den Arm zu heben, damit er seine Waffe abfeuern konnte, aber es fiel ihm so schwer zu atmen, dass ihm kein Teil seines Körpers mehr recht gehorchen wollte. Die Zunge begann wieder im Maul des Ungetüms zu verschwinden und zog Angus näher auf das Monster zu. Bizarrerweise fiel ihm auf, dass es fürchterlichen Mundgeruch hatte. - 107 -
Sobald Angus nahe genug war, packte die Kreatur ihn. Mit ausgefahrenen Krallen. Angus hatte noch nie im Leben derart fürchterliche Schmerzen verspürt wie in dem Moment, da ihn das Monster buchstäblich in Stücke riss. Der einzige Trost war, dass die Qual nicht allzu lange andauerte.
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Fünfzehn Als Jill Valentine hinter die hölzerne Trennwand in einen gesonderten Teil der Kirche trat, hörte sie ein Tropfgeräusch. Sie glaubte, dass der Idiot hierher geflohen sein könnte. Oder vielleicht auch dieses Ding, das sie einen Augenblick lang im Licht von Peytons Taschenlampe gesehen hatten. Jill fiel auf, dass sie nicht einmal den Namen des Idioten kannte. Allmählich wurde ihr alles zu viel. Dass Zombies durch die Wälder von Arklay streiften, war schon schlimm genug. Dann hatte man sie noch suspendiert. Dann machten dieselben Zombies die Straßen von Raccoon unsicher. Dann schossen Schergen von Umbrella auf unschuldige Menschen, nachdem sie ihnen den einzigen Fluchtweg abgeschnitten hatten. Und jetzt saßen sie und Peyton in einer Kirche fest – mit einem Zombie, einem verrückten Priester, einem Wahnsinnigen mit einer .357er, einer nervigen Reporterin und etwas, das einem schlechten Horrorfilm entsprungen zu sein schien. Wasser sammelte sich um ihre Stiefel. Sie schaute zu Boden und sah, dass sich eine Pfütze um ein umgeworfenes Taufbecken gebildet hatte. Dann handelte es sich wahrscheinlich um Weihwasser. Pas mochte sich als nützlich erweisen, wenn sie auf Vampire stießen – eine Vorstellung, die jetzt weit weniger an den Haaren herbeigezogen schien, als es noch vor 24 Stunden der Fall gewesen wäre. Wie auch immer. Das Wasser hatte sich am Boden verteilt. Es war nicht der Ursprung des Tropfgeräuschs, das sie hörte. - 109 -
Dann fiel ihr auf, dass eine der kleinen Kirchenbänke zerstört worden war. Unter den Trümmern lag etwas. Als sie näher trat, sah Jill, dass sich etwas Rotes in das Holz gemengt hatte und von den Splittern der zerbrochenen Bank tropfte. Blut. Sie spähte über die Trümmer hinweg und sah, was von dem Idioten mit der Knarre übrig war. Was immer das Ding, auf das Peyton seine Taschenlampe gerichtet hatte, auch sein mochte, es war imstande, einen menschlichen Körper in bemerkenswert kleine Stücke zu zerlegen. Jill Valentine war Polizistin, seit sie die Schule verlassen hatte. Im Laufe der Jahre hatte sie viele Tote gesehen. Bei den ersten war ihr etwas schlecht geworden, aber sie hatte sich an den Anblick, den Geruch, das Gefühl des Todes gewöhnt. Das musste sie, wenn sie ihren Job gut machen wollte. Aber das hier – nichts von all dem, was sie im Laufe ihrer Zeit beim RCPD gesehen hatte, hatte sie auf diese Form der Beleidigung einer menschlichen Gestalt vorbereitet! Natürlich hätte sie die Überreste nach einem Ausweis durchsuchen können, damit sie wenigstens wusste, wie der Kerl hieß, aber dazu konnte Jill sich nicht überwinden. Schon gar nicht nach dem, wozu sie sich hatte überwinden müssen. Vorsichtig griff sie in die Überreste hinab und löste den .357er aus der Hand, die ihn auch jetzt noch festhielt, nachdem sie am Gelenk unsauber abgetrennt worden war. Die Waffe war blutverschmiert. Jill machte kehrt und eilte zurück ins Kirchenschiff. Wenn es hier etwas gab, das so etwas anrichten konnte, dann mussten sie auf jeden Fall zusammenbleiben. Fragen wirbelten in ihrem Kopf. Wo kam dieses Ding - 110 -
her? Es glich keinem Tier, das Jill bekannt war – besaß nicht einmal eine vage Ähnlichkeit. Konnte Umbrella das getan haben? War das überhaupt möglich? Verdammt, Zombies waren auch etwas, das sie vor Arklay nicht für möglich gehalten hätte. Wenn der Konzern eine zentrale ‚Spezies’ des Horrorgenres Wirklichkeit werden lassen konnte, warum nicht auch noch andere? Erst als sie den vorderen Teil der Kirche erreichte, bemerkte sie, wie still es hier war – und leer. Wo zum Teufel waren Peyton und Morales? Eine Hand legte sich auf ihren Mund, ein Arm fasste sie um die Hüften und zog sie in eine Nische hinter dem Altar. Jill sprengte den Griff, wirbelte mit erhobenem, blutverschmiertem .357er herum… … und erkannte, dass es Peyton war, der sie gepackt hatte. Morales stand neben ihm. Peyton wirkte stinksauer, die Reporterin hatte offensichtlich eine Heidenangst. „Peyton…“, setzte Jill wütend an, aber der Sergeant brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. Er deutete auf die Kanzel. Jill drehte sich um und sah dort die Kreatur hocken, wie ein Geier, der bereit war, sich auf sein Opfer zu stürzen. Die Zunge pendelte durch die Luft. Gerade als Jill fragen wollte, warum sie sich hier versteckten, wo die Kreatur doch so nahe war, zeigte Peyton auf das Eingangsportal der Kirche. An der Wand über der Tür hing wie eine Art Gecko eine weitere dieser Kreaturen. Großer Gott. Zwei von dieser Sorte! „Sie haben uns in die Zange genommen“, flüsterte Peyton. Morales schaute nach oben. „Was ist das?“ - 111 -
Jill folgte ihrem Blick und sah, dass das Luzifer-fährtzur-Hölle-Fensterbild über dem Eingang zu leuchten begann. In diesem Moment konnte sie der Symbolhaftigkeit absolut nichts abgewinnen. Dann fuhr Jill beinahe aus der Haut, als eine dritte Kreatur direkt an ihr vorüberstrich. Sie war heute so oft zusammengezuckt, dass es allmählich an ihren Nerven zu zehren begann. Aus irgendeinem Grund hatte das Wesen sie noch nicht bemerkt. Vielleicht lag es daran, dass es keine Augen hatte. Was es auch war, Jill rechnete nicht damit, dass es sie lange ignorierte. Ihre beste Chance bestand darin, sich nicht zu rühren und still zu sein. Was sie und Peyton instinktiv wussten. Wenn man nur auch von Morales dasselbe hätte behaupten können. Jill konnte es Morales nicht wirklich zum Vorwurf machen, dass sie ihre Videokamera wieder einschaltete. Sie hatte nicht übertrieben, als sie meinte, diese Aufnahmen seien einen Emmy wert – vielleicht sogar einen Pulitzer –, wenn sie hier lebend rauskamen. Verdammt, wenn Jill mit Videoaufnahmen hätte belegen können, was in Arklay geschehen war, wäre sie nie suspendiert worden. Doch leider gab die Kamera ein Piepsen von sich, als sie aufzunehmen begann. Ein Laut, der wie ein Schuss durch die stille Kirche hallte. Die Kreatur wandte sich ihnen zu. Peyton hatte seine Waffe gezogen, bevor Jill auch nur Luft holen konnte. „Rennt, macht schon!“, schrie er, während er auf das Ding zu feuern begann. Doch die Kreatur war zu schnell – sie jagte nach oben, der Decke entgegen. Gleichzeitig sprang das andere Wesen, das über dem - 112 -
Kirchenportal seine Gecko-Imitation vorgeführt hatte, zu ihnen herunter. Nein – es sprang auf Jill zu! Ehe sie den .357er auch nur anheben konnte, prallte das Wesen gegen sie, trieb ihr die Luft aus den Lungen und ließ sie zu Boden stürzen. Die vom Blut schlüpfrige Waffe entglitt ihrem Griff und schlitterte über den Kirchenboden unter eine Bank. Jill schnappte nach Luft, rollte sich auf Hände und Knie und tastete nach einer ihrer Automatikwaffen. Nicht weit entfernt versuchte Peyton die Kreatur zu erlegen, die Jill zu Fall gebracht hatte. Aber die Zunge des Monsters fuhr wie eine Schlange auf ihn zu und schlug ihm die Waffe aus der Hand. Dann sah Peyton nach oben. Jill folgte seinem Blick. Das Leuchten des Buntglasfensters war heller geworden. Und sie konnte das Geräusch eines Motors hören. Nein, nicht irgendeines Motors – es war der Motor einer Harley. Jill lächelte. „Runter!“, schrie Peyton, aber Jill duckte sich bereits. Mit einem Krachen, das wie die Explosion einer Atombombe durch die alte Kirche dröhnte, zerbarst das Buntglas in tausend Scherben, Opfer einer Harley Davidson, die mit hoher Geschwindigkeit hindurchbrach. Das Motorrad traf die Kreatur, stieß sie beiseite und schleuderte sie durch die Kirche. Schmerz tobte in Jills Brust, sie hatte Mühe zu atmen, und noch schwerer fiel es ihr, auf die Beine zu kommen. Während sie um Atem rang, versuchte sie einen genaueren Blick auf ihren Retter zu werfen. Er entsprach nicht Jills Erwartungen. Zuallererst einmal war er eine Sie. Solche Harleys wurden für gewöhnlich von großen Männern mittleren Alters gefahren. Die schlankere Unterart wog im - 113 -
Allgemeinen 300 Pfund oder mehr und neigte zu einer Gesichtsbehaarung, die die Frontmänner von ZZ Top glatt rasiert aussehen ließ. Diese Harley allerdings wurde von einer athletisch aussehenden Weißen mit schmutzig blondem Haar gefahren. Sie hatte eine Shotgun in einem Rückenholster, zwei nickelbeschlagene Uzis an den Hüften und einen .45er Colt in einem Schulterhalfter. Außerdem trug sie ein Krankenhaushemdchen und darüber einen weißen Laborkittel. An einem x-beliebigen Tag hätte Jill das merkwürdig gefunden. Die Frau sah Jill aus eisblauen Augen an und sagte nur ein einziges Wort. „Raus.“ Morales musste man das nicht zweimal sagen. Sie rannte auf das Kirchenportal zu, als säße ihr der Teufel im Nacken. Peyton hinkte ihr hinterher, während Jill immer noch versuchte, auf die Beine zu kommen. Das erwies sich als riesiger taktischer Fehler. Auf der anderen Seite der Tür, die Morales öffnete, befand sich eine wimmelnde Meute von Zombies, die alle herein wollten, um die Wenigen zu fressen, die noch am Leben waren. Peyton kam zu ihrer Rettung, und gemeinsam schlugen sie die Türflügel zu. Der Vordereingang schied also aus. Unterdessen trieb die Biker-Lady den Motor ihrer Harley weit in den roten Bereich hoch, dann legte sie den Gang ein – aber mit den nackten Füßen auf dem Boden. Die Maschine schoss zwischen ihren Beinen hervor – eine weitere Symbolik, auf die Jill hätte verzichten können – und direkt gegen eine der Kreaturen. Sowohl das Wesen als auch die Harley wurden in die Luft geschleudert. - 114 -
Die Biker-Lady zog ihren Colt und feuerte einen Schuss ab. Gerade als Jill sich fragte, wie diese Frau auf den Gedanken kam, dass eine Kugel genügen würde, um dieses Ding zu stoppen, sah sie, wie das Geschoss den Tank der Harley traf. Und dann explodierte das Motorrad und zerfetzte im gleichen Zug die Kreatur, einen großen Teil des Altars, die Kanzel, das Lektionarium und etliche Kerzen. Die dritte Kreatur ließ sich von der Decke fallen, aber die Biker-Lady war auch darauf vorbereitet. Sie zog beide Uzis und jagte Dutzende von Kugeln in das Wesen, noch während es fiel. Als es zu Boden schlug, stand es nicht mehr auf. Jill spürte, wie sie ihren Atem unter Kontrolle bekam. Sie rappelte sich auf. Es mochten zehn Sekunden vergangen sein, seit die Harley durch das Buntglas gekracht war. Die erste Kreatur, die beim Eintreffen der Harley davongeschleudert worden war, erhob sich und griff die Biker-Lady von hinten an. Bevor Jill eine Warnung hervorstoßen oder eine ihrer Waffen ziehen konnte, versetzte die Biker-Lady einer der Bänke einen kräftigen Tritt. Jill hatte den Mund geöffnet, um eine Warnung zu rufen, doch jetzt stand er nur vor Verblüffung offen, während die Bank durch die Kirche und direkt auf die Kreatur zuschlitterte. Alles, was die Biker-Lady bis zu diesem Punkt getan hatte, lag zumindest im Bereich des Möglichen. Dass jemand so gut mit einem Motorrad umgehen, so gut schießen, so schnell ziehen konnte – all das hatte Jill im richtigen Leben schon gesehen. Verdammt, Jill war selbst eine, mindestens ebenso gute Schützin wie diese Frau, wenn nicht sogar besser. Aber eine Kirchenbank, die am Boden befestigt war, - 115 -
mit einem einzigen Tritt quer durch den Raum zu treten? Das war unmöglich. Aber natürlich galt das auch für wandelnde Tote sowie augen- und hautlose Kreaturen mit Zungen von der Größe einer Riesenschlange. Außerdem verfügten besagte Kreaturen über einen ausgezeichneten Überlebensinstinkt – das Ding sprang in die Luft und über die Bank hinweg. Dadurch jedoch hatte die Biker-Lady freie Schussbahn. Sie zog die Shotgun aus dem Rückenholster, lud sie durch und schoss dem Wesen genau in die Brust. Als die Kreatur gegen die Wand schlug, kam Jill auf die Beine, aber sie tat nichts. In diesem Moment war sie zufrieden damit, einfach nur die Show zu genießen. Die Biker-Lady schob die Shotgun zurück ins Holster und zog ihren Colt. Keiner der Schüsse traf die Kreatur. Eine Sekunde darauf erkannte Jill, selbst eine Meisterschützin, dass die Frau trotzdem alles getroffen hatte, worauf sie gezielt hatte. Das Wesen erhob sich und setzte trotz der Brustwunde auf die Biker-Lady zu. Doch sie steckte nur ihren Colt ein und kehrte dem Angreifer den Rücken zu. In dem Moment, da das Ding angriff, stürzte das Kreuz, das über dem Altar gehangen hatte – bis die Biker-Lady es aus seinen Halterungen schoss –, zu Boden und spießte die Kreatur auf. Erstaunlicherweise starb es dadurch nicht, jedenfalls nicht sofort. Das Wesen brüllte und seine Zunge schlug nach der Biker-Lady. Kalt wie das sprichwörtliche Eis zog die Biker-Lady ihre Shotgun ein weiteres Mal und schoss dem Ding in die Fratze. Endlich fand Jill ihre Stimme wieder. „Wer zum Teufel sind Sie?“ - 116 -
„Ich heiße Alice. Hier drin ist es nicht sicher. Das Feuer wird sich ausbreiten.“ Irgendwie schaffte Jill es, sich zu beherrschen und nicht darauf hinzuweisen, dass es gar kein Feuer gegeben hätte, wenn diese Alice die Harley nicht in die Luft gejagt hätte. Peyton murmelte: „Meine Fresse.“ Und lauter sagte er: „Ich bin Sergeant Peyton Wells von S. T. A. R. S. – das ist Officer Jill Valentine, sie gehört zu meinen besten Leuten.“ „Ich bin beeindruckt, dass Sie in der Stadt geblieben sind.“ Jill entschied sich, ihre Lebensgeschichte für sich zu behalten. „Schützen und dienen, das ist unser Job.“ Alice sah Jill an. „Hat man Sie nicht suspendiert?“ „Ja. Ich sah Zombies im Wald bei den Arklay Mountains. Alle hielten mich für verrückt.“ „Im Moment“, sagte Peyton, „spielen wir wohl alle ein bisschen verrückt.“ Er zeigte auf Morales, die ein paar Pillen einwarf. „Unser bestes Beispiel: Terri Morales, Wetterfee von Raccoon 7 und ein hoffnungsloser Fall.“ Alice nahm Morales’ Anwesenheit kaum zur Kenntnis. Stattdessen zog sie ihren Colt und bewegte sich ebenso schnell wie geschmeidig in Richtung des hinteren Teils der Kirche. Jill ging zu Peyton und streckte ihm einen Arm entgegen. Der Sergeant sah jetzt noch blasser aus. „Sie sehen beschissen aus, Peyton.“ „Gut“, sagte er und nahm ihre Hand. „Wäre ja blöd, wenn ich mich nur so fühlen, aber nicht so aussehen würde.“ Während sie Peyton half, in den rückwärtigen Bereich der Kirche zu humpeln, drehte sich Jill um und sah Morales an. Sie filmte das brennende Wrack der Harley. „Kommen Sie mit, Wetterfee?“ „Ja, ja“, sagte Morales. „Das wird eine verdammt heiße - 117 -
Story.“
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Sechzehn Bis sie mit ihrer Harley um die Ecke von Dilmore Place bog, hatte Alice geglaubt, dass die untoten Kreaturen alles seien, worum sie sich sorgen musste. Dann spürte sie die Gegenwart der Lickers. Die gentechnisch erschaffenen Monstrositäten wurden in Tanks gehalten, die in einem Raum des Hives standen, der auf den offiziellen Plänen als „Kantine“ bezeichnet wurde. Die darin verborgene Ironie war Alice nicht entgangen: Die Dinger in dem Raum fraßen so ziemlich alles. Oder besser gesagt: jeden. Die Red Queen hatte einen der Licker freigesetzt, als Notfallplan für den Fall, dass es ihr nicht gelingen sollte, das T-Virus zu stoppen. Das Ding hatte Spence getötet (der es verdient hatte) und Kaplan (der es wirklich nicht verdient hatte), bevor Alice und Matt es vernichten konnten – mit knapper Not. Aber bis sie die Anwesenheit von dreien dieser Dinger in der Kirche spürte, hatte sie keine Ahnung gehabt, dass noch weitere ausgebrochen waren. Und ebenso wenig hatte sie gewusst, dass sie die Gegenwart dieser Kreaturen spüren konnte. Einmal mehr fragte sie sich, was zum Teufel man mit ihr getan hatte, nachdem sie und Matt gefangen genommen worden waren. Ganz zu schweigen davon, was mit Matt geschehen sein mochte. Als ob die Untoten nicht schon genug gewesen wären. Nachdem sie sich darum gekümmert hatte, stellte sie fest, dass sie noch mehr Leute babysitten musste. Aber sie konnte Valentine, Wells und Morales auch nicht einfach zum Sterben zurücklassen. Deshalb führte sie - 119 -
die drei hinten hinaus auf den Friedhof. Die Kirche würde bald in Flammen stehen. „Wie seid ihr da drin gelandet?“, fragte Alice. „Tja, wir haben versucht die Stadt zu verlassen, aber Umbrella hat die Ravens’ Gate Bridge abgeriegelt“, sagte Valentine. „Man hat eine schöne hohe Mauer hochgezogen, damit der Pöbel nicht raus kann. Wer sich der Mauer näherte, auf den wurde geschossen. Mehrfach.“ „Und deswegen seid ihr in eine Kirche gegangen?“ Valentine zuckte die Achseln. „Es war nicht so, dass uns viel zu Auswahl stand. Wir dachten, da drin wären wir in Sicherheit. Aber das war ein Irrtum.“ „Und was zur Hölle tun wir hier?“, fragte Morales, während sie eine unbestimmte Anzahl von Tabletten schluckte, die sie wahrscheinlich nicht zusammen hätte einnehmen sollen. „Hallo? Hat’s schon jemand gemerkt? Wir sind auf einem Friedhof, Leute!“ Alice nahm an, dass diese ausgeprägte Beobachtungsgabe der Grund war, weshalb sie eine Reporterin war. Aber sie sagte nichts. Zumindest Valentine und Wells würden dank ihrer Ausbildung von Nutzen sein. Morales war purer Ballast. Dann fing es an zu regnen. Vor einem Monat war Alice noch die Leiterin der HiveSecurity, bekam einen dicken Gehaltsscheck, der ihr ein angenehmes Leben ermöglichte und teilte ein Haus mit einem falschen Ehemann, mit dem sie ausgezeichneten Sex hatte. Ja, sie arbeitete für die Dreckskerle, aber sie hatte versucht, damit klar zu kommen, und wenigstens wusste sie, dass ihr Posten mehr oder weniger sicher war und ihr Leben mehr oder weniger einen Sinn ergab. Jetzt lief sie im Regen über einen matschigen Friedhof, trug nur ein Krankenhausnachthemd und einen Laborkittel, schleppte genug Feuerkraft mit sich herum, um es mit einem Armeebataillon aufzunehmen, und - 120 -
stand den untoten Einwohnern von Raccoon City sowie einem Rudel gentechnisch erschaffener Ungeheuer gegenüber. Komisch, wie viel sich in einem Monat verändern konnte. Der Friedhof wurde auf drei Seiten von einem Maschendrahtzaun begrenzt und auf der vierten von der Kirche selbst. Das Feuer würde wahrscheinlich dafür sorgen, dass ihnen von dieser vierten Seite her keine Gefahr drohte, und auch zwei der Zaunseiten waren sauber, aber es rannten immer mehr Zombies gegen den Zaun zur Lyons Street hin. Früher oder später würden sie voraussichtlich durchbrechen. Morales trat zu Alice, der Regen verschmierte ihr Makeup. Die verklumpende Wimperntusche verlieh ihr ein Aussehen, das dem des Tieres glich, nach dem die Stadt benannt war. „Wie sieht Ihr Plan aus?“, fragte die Reporterin. „Am Leben bleiben.“ Morales blinzelte. „Das ist alles?“ „Das ist alles.“ Die Reporterin schüttelte den Kopf. „Netter Plan. Soll ich mir eine Zielscheibe aufs Gesicht malen?“ „Nur zu.“ „Wir müssen eine kurze Pause einlegen“, sagte Valentine hinter ihnen. Alice drehte sich um und sah, dass Wells wegen seiner Beinwunde kaum noch laufen konnte. Sie war fachmännisch verbunden, sah aber trotzdem nicht gut aus. „Das halte ich für keine gute Idee“, sagte Morales. „Es könnte noch mehr von diesen Dingern geben.“ Alice schüttelte den Kopf und sagte: „Sie jagen in Rudeln. Wenn noch mehr hier wären, hätten wir sie inzwischen schon bemerkt.“ Morales kreiselte herum und sah Alice aus ihren - 121 -
Waschbärenaugen an. Ihr Gebaren war jetzt das einer neugierigen Reporterin. „Dann wissen Sie also, was das für Kreaturen sind?“ Es gab keinen Grund, es zu verheimlichen. „Biowaffen aus den Umbrella-Laboren unter der Stadt.“ „Wie kommt es, dass Sie so viel über Umbrella wissen?“, fragte Valentine in verständlicherweise argwöhnischem Tonfall. „Ich habe für Umbrella gearbeitet – bevor ich herausfand, was das für ein Fehler war.“ Noch bevor Valentine etwas sagen konnte, schrie Wells vor Schmerz auf. „Verdammt!“ Die Wunde begann wieder zu bluten. Alice stieß langsam die Luft aus. „Sie sind infiziert.“ „Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen.“ Aber es war nicht Wells, um den Alice sich sorgte. Sie zog den Colt aus dem Holster. Schneller als Alice es jemandem außer sich selbst zugetraut hätte, zog Valentine eine ihrer Waffen und richtete sie direkt auf Alices Kopf. „Keine Bewegung!“ Wells zog seine Waffe und richtete sie auf Alice. Alice zog eine ihrer Uzis und richtete sie auf Valentine. Morales hob, natürlich, ihre Kamera, damit sie das alles auch auf Band bekam. Welcher Reporter konnte schon einem Logenplatz bei einem schönen altmodischen mexikanischen Showdown widerstehen? „Was haben Sie vor?“, fragte Valentine. Das war vermutlich das Dümmste, was sie fragen konnte. „Er ist verwundet“, antwortete Alice langsam. „Die Infektion breitet sich aus.“ „Ich bin okay“, sagte Wells. Er klang so furchtbar wie Rain, als sie behauptet hatte, sie sei immer noch okay. Sie war im Zug gestorben, nur Minuten, bevor sie entkommen waren. Matt hatte ihr einen Kopfschuss verpassen müssen. - 122 -
Alice sah Valentine an. „Sie sollten sich jetzt um ihn kümmern.“ Fast hätte sie hinzugefügt: So wie ich mich nicht um Rain gekümmert habe, als ich die Chance dazu hatte. „Er ist mein Freund.“ Valentine hatte ihre Pistole noch nicht gesenkt. „Ich verstehe“, sagte Alice und meinte es von Herzen ehrlich, „aber später wird es noch schwieriger sein. Das wissen Sie.“ Dann spannte sie den Hahn ihres Revolvers. „Nein!“, schrie Valentine und tat dasselbe mit ihrer Waffe. „Wenn es so weit ist – werde ich mich selbst darum kümmern.“ Automatisch dachte Alice an den Zug zurück, an den Moment unmittelbar vor dem Angriff des Lickers, als sie, Matt, Kaplan und Rain schon geglaubt hatten, es geschafft zu haben. „Ich will keins von diesen Dingern werden“, hatte Rain gesagt. „Ganz ohne Seele irgendwo rumkrebsen. Wenn das Zeug nicht wirkt, kümmerst du dich um mich.“ Zwischen Valentine und Wells bestand dieses Band, wie es nur Gesetzeshüter knüpfen konnten. Alice kannte es aus ihrer vergeudeten Zeit beim Finanzministerium, bevor der in der Regierung herrschende Sexismus sie in die wartenden und gut zahlenden Arme von Umbrella getrieben hatte. Sie senkte ihre Waffen. „Wie Sie wollen.“ Erst jetzt senkte Valentine auch die ihre. Alice wandte sich an Wells. „Es ist nichts Persönliches. Aber in einer, vielleicht in zwei Stunden werden Sie tot sein. Und ein paar Minuten später werden Sie einer von denen sein. Sie werden zur Gefahr für Ihre Freunde, werden versuchen sie umzubringen – und vielleicht wird es Ihnen gelingen. Tut mir Leid, aber so ist das nun mal.“ - 123 -
Bevor der entsetzt dreinsehende Wells eine Antwort formulieren konnte, zuckten sie alle unter dem Geräusch zerreißenden Metalls zusammen. Die Untoten brachen durch den Zaun. Morales filmte das natürlich mit ihrer Kamera. Alice stellte mit einem Anflug von Belustigung fest, dass die Kamera von einer der Tochterfirmen von Umbrella hergestellt worden war. Zum Glück hatten die Untoten sie noch nicht richtig ins Auge gefasst, und sie bewegten sich immer noch lächerlich langsam. Der größte Vorteil der Lebenden war Geschwindigkeit. Dann schrie Morales auf. Alice sah zu ihr hin. Die Reporterin wurde von dem dort Beerdigten in eines der Gräber hinabgezogen. Das T-Virus war in den Boden gelangt. Valentine zerrte Morales heraus, während Wells noch seine Waffe zog. Alice legte ihm eine Hand auf den Arm. „Sparen Sie Ihre Munition.“ Dann erledigte sie den Untoten mit einem schnellen Tritt gegen den Kopf, der ihm das Genick brach. „Diese Dinger reagieren auf Geräusche. Wenn Sie Ihre Waffen benutzen, locken wir nur noch mehr an.“ „Glauben Sie wirklich, dass es darauf noch ankommt?“, fragte Valentine, den Blick an Alice vorbei gerichtet. Dutzende von Untoten drängten von der Lyons Street herein. Und Dutzende weitere erhoben sich aus ihren Gräbern. Alice setzte sich in Bewegung. Valentine schaltete ein paar aus, und Wells erwischte vielleicht einen. Morales stand nur da und filmte alles. Alice erledigte den Rest der Untoten. Es war ein seltsames Gefühl – ein bisschen wie Zen und die Kunst des Zombietötens. Sie musste gar nicht richtig darüber nachdenken, was sie tat, sie überließ sich - 124 -
einfach ihren Instinkten. Was Cains wissenschaftliche Schergen auch immer mit ihr getan haben mochten, es hatte ihre natürliche Sportlichkeit und ihr jahrelanges Training um ein Mehrfaches gesteigert. Noch während sie einem der Untoten mit den Armen das Genick brach, bereiteten ihre Beine die Füße auf einen Spin-Kick vor, der einem anderen das Rückgrat zertrümmerte. Dann rammte ihre Hand gegen die Kehle eines dritten, und sie brach einem vierten mit einem Tritt das Bein, damit sie ihm in der nächsten Bewegung den Hals umdrehen konnte – und das alles tat sie in der Zeit, die Valentine brauchte, um einen einzigen Schlag zu landen. Als nur noch einer übrig war, zerschmetterte Alice dessen Kopf an einem Grabstein, drosch ihn mitten hinein in die Worte RUHE IN FRIEDEN. Valentine warf Alice einen gleichermaßen wütenden wie neugierigen Blick zu. Im Augenblick allerdings verwies sie nur auf Alices letztes Opfer und die Worte auf dem Grabstein. „Mir reicht’s für heute wirklich mit der Ironie.“ Alice ließ sich zu einem leichten Lächeln hinreißen. „Gehen wir.“ Auf der anderen Seite gab es ein Tor, das auf den Killiany Way hinausführte, eine schmale Seitenstraße, die in die Swann Road mündete, die eine größere Straße war, auf der man sich demzufolge leichter verteidigen konnte, aber auch nicht so geschäftig, dass man befürchten musste, sie würde von Untoten wimmeln. Der Regen hatte aufgehört, und der Himmel klarte auf. Der Mond war nicht ganz voll, und sein Licht, sowie das eines brennenden Autos hier und da, war das einzige, das der Vierergruppe den Weg leuchtete, als sie sich zur Swann Road aufmachte. „Was jetzt?“, fragte Morales. - 125 -
Alice hob den Blick und stellte fest, dass dies vielleicht doch der falsche Weg war. An der Ecke von Killiany und Swann stand ein imposantes Ziegelgebäude, in dessen Mauerwerk über dem Eingang eine große Inschrift eingemeißelt war: STÄDTISCHES LEICHENSCHAUHAUS Auf Morales’ Frage antwortete Alice: „Nichts wie weg hier.“ Sie erreichten die Swann Road. Alice blieb auf dem Mittelstreifen, die anderen folgten ihr. „Kein Netz.“ Alice wandte sich um und sah, wie Wells versuchte, ein Handy zu benutzen. Er hielt es sich immer wieder ans Ohr, dann blickte er anklagend auf das Display. Sie hätte fast gelacht. „Absolut kein Empfang.“ „Er wird gestört“, sagte Alice. „Von wem?“ „Umbrella. Sie wollen nicht, dass man draußen erfährt, was hier los ist.“ „Das werden wir ja sehen“, murmelte Morales. Sie ging in Richtung des Bürgersteigs, um eines der geplünderten Gebäude zu filmen. „Bleiben Sie in der Straßenmitte“, rief Alice. „Halten Sie sich von geschlossenen Räumen fern. Die meisten dieser Dinger sind langsam. Wenn wir uns frei bewegen können, sind wir im Vorteil.“ Zu Alices Überraschung hörte Morales auf sie. Sie vermutete, dass sie sich damit, wie sie unter den Untoten aufgeräumt hatte, Respekt verschafft hatte. Sie schüttelte den Kopf. Ass-Kicking Alice – das war in der Sicherheitsabteilung ihr Spitzname gewesen. Schien so, als hätte sie ihn sich jetzt wirklich verdient. Morales holte ein weiteres Pillendöschen hervor. Diesmal hatte Alice Erbarmen mit ihr – und außerdem mussten sie all ihre Sinne beisammen haben, wenn sie - 126 -
hier herauskommen wollten. Um Valentine machte sich Alice keine Sorgen, und Wells würde nur noch für kurze Zeit eine Rolle spielen – wenn Valentine ihn nicht töten konnte, würde Alice es tun –, aber Morales musste so gut es eben ging auf Zack sein. Deshalb schlug Alice ihr das Tablettendöschen aus der Hand, sodass es auf den feuchten Asphalt fiel. „Hören Sie auf damit. Das Zeug ist nicht gut für Sie.“ Sie lächelte. „Ich kenne mich ein bisschen aus mit Arzneimitteln.“ Einen Moment lang wirkte Morales wie betäubt, dann nickte sie. „Ja – ja, natürlich – Sie haben Recht.“ Alice ging weiter. Von hinten warf Valentine ihr einen weiteren dieser wütendneugierigen Blicke zu. Die Tatsache, dass Alice gar nicht hinsehen musste, um das zu wissen, machte ihr Angst – noch etwas, das sie Cain zu verdanken hatte. „Was glotzen Sie so?“, fragte sie. „Ich weiß nicht genau.“ Valentine schloss auf und ging neben Alice her. „Das war eine ziemlich coole Show, die Sie da hinten abgezogen haben. Ich bin selbst nicht schlecht – manche würden vielleicht sagen, ich sei die Beste. Aber so gut bin ich nicht.“ „Dafür sollten Sie dankbar sein“, sagte Alice leise. „Was meinen Sie damit?“ „Man hat irgendwas mit mir gemacht.“ Alice zuckte zusammen. Das war wirklich alles, was sie sagen konnte. Sie hatte keine Bedenken, Valentine zu vertrauen, in Anbetracht dessen, was sie durchmachten – und dass sie morgen früh wahrscheinlich alle tot sein würden –, aber sie wusste wirklich nichts weiter, als dass Cain und seine Schergen irgendetwas mit ihr angestellt hatten. Als sie an einem Münztelefon vorbeikamen, begann es zu klingeln. - 127 -
„Gehen wir lieber weiter, bevor das Geräusch irgendetwas anlockt“, sagte Alice und beschleunigte ihr Tempo. Valentine wurde ebenfalls schneller und hielt mit ihr Schritt, Morales und Wells fielen zurück. Das Klingeln hörte auf, sobald sie an dem Münztelefon vorbei waren. Seltsam. Und als sie dann ein größtenteils geplündertes Feinkostgeschäft passierten, begann das Münztelefon neben der Eingangstür zu läuten. „Geht weiter“, sagte Alice. Die Sache gefiel ihr gar nicht. Wieder hörte das Klingeln auf, als sie daran vorbei waren. „Kommt es nur mir so vor“, sagte Morales, „oder ist das ein bisschen sehr komisch?“ Sie erreichten eine Kreuzung, und plötzlich befanden sie sich inmitten eines Big-Ben-Läutens aus Telefonklingeln: Jedes Münztelefon in Sichtweite fing an zu bimmeln. Nach drei- oder viermaligem Klingeln verstummten alle wieder… … bis auf das neben einem ausgebrannten Restaurant. Es wollte und wollte nicht aufhören, sich bemerkbar zu machen. „Ich hab so das Gefühl“, meinte Valentine, „da will jemand mit uns reden.“ Alice pflichtete ihr bei. Sie begab sich zu dem Telefon und nahm vorsichtig den Hörer ab. Neben ihr zog Valentine ihre Pistole. „Hallo?“ „Ich dachte schon, Sie würden nie drangehen“, sagte eine Männerstimme am anderen Ende der Leitung. „Wer spricht da?“ „Ich kann Sie aus der Stadt schaffen. Alle vier.“ - 128 -
Alice legte die Hand über die Sprechmuschel und sagte zu Valentine: „Er kann uns sehen.“ Der Mann am anderen Ende sprach weiter. „Aber erst müssen wir uns auf etwas einigen. Sind Sie bereit, einen Handel einzugehen?“ Valentine begann sofort mit einer systematischen Überprüfung der Umgebung, um herauszufinden, wo sich der Typ versteckte. Alice bewunderte die Effizienz, aber die Mühe war vergebens. Ein Blick über die Straße verriet ihr, wie dieser Mann sie sehen konnte. „Sind Sie bereit, einen Handel einzugehen?“, wiederholte der Mann. „Bleibt uns denn eine Wahl?“ Ein bitteres Lachen drang aus dem Hörer. „Nicht, wenn Sie morgen noch leben wollen.“ Valentine beendete ihre Suche. Stumm formte sie die Worte: „Hier ist niemand.“ Alice deutete auf die Überwachungskamera, die über der Kreuzung hing. Das Kameranetz diente vor allem der Überwachung von Verkehrsstörungen. Es war vor drei Jahren von Umbrella installiert und per Vertrag dem RCPD zur Nutzung überlassen worden. „Wie lautet Ihre Antwort?“, fragte der Mann. Nach dem zu schließen, was Valentine ihr erzählt hatte, war es nahezu unmöglich, aus der Stadt zu entkommen. Umbrella hatte sicher jede nach draußen führende Hauptverkehrsader abgeriegelt, und es sah Cain absolut ähnlich, dass er seinen Leuten befahl, tödliche Gewalt gegen unschuldige Menschen anzuwenden. Dieses Arschloch. Wie sie in ihrer Antwort auf die Frage des Anrufers schon angedeutet hatte, traf damit voll ins Schwarze: Es blieb ihnen keine Wahl. „Lassen Sie hören.“
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Siebzehn So etwas hatte Carlos Olivera noch nie im Leben gesehen. Und wenn er hundert Jahre alt würde, bezweifelte er, dass er so etwas noch einmal sehen würde. Andererseits schien es ausgesprochen zweifelhaft, dass er auch nur den morgigen Tag erlebte. Jorge hatte hundertprozentig Recht: Zombies waren Furcht erregender. Vor allem jetzt, da sie zu Hunderten in nahezu perfekt choreografiertem Gleichklang auf ihn und sein Team zuschlurften, Dutzende bleiche, widerliche lebende Leichen mit wässrigen Augen, schwarzen Zähnen und nur einem Gedanken im Kopf: Carlos und seine Leute fressen zu wollen. Askegreen war umgebracht worden, als sie vom Dach – wo Carlos es nicht geschafft hatte, die blonde Frau zu retten – auf die Straße heruntergekommen waren. Carter war verletzt worden, als einer der Zombies ihn in den Arm biss, und er konnte kaum noch seine MP5K halten. Carlos, Loginov, O’Neill und Nicholai versuchten, den Dingern in den Kopf zu schießen, aber es waren so viele… Die anrückenden Zombies mit Salven bestreichend, die sie zurücktreiben sollten, schrie Carlos: „Rückzug! Zieht euch zurück, hab ich gesagt!“ Während sie sich zur Main Street zurückzogen, kam eine weitere Woge von Zombies aus einer Gasse hervor und schnitt Loginov vom Rest des Teams ab. „Verdammt! Yuri!“ Carlos stürmte in die Zombiemenge hinein. Er hatte bereits einen Mann verloren, er würde nicht noch einen verlieren. Genau wie er es auf dem Dach getan hatte, schoss - 130 -
Carlos mit beiden Colts auf die Meute, die Loginov bei lebendigem Leibe auffressen wollte – bis beide Waffen leer waren. Damit löschte Carlos genug der Kreaturen aus, um den jetzt verwundeten Loginov aus der Menge schleifen und ihm zurück zum Rest des Teams helfen zu können. Askegreen stand ihm im Weg. Blut aus der großen Kopfverletzung, die ihn getötet hatte, bedeckte sein Gesicht. Aber der Teil seines Gehirns, den das T-Virus befallen hatte, war offenbar noch intakt. J. P. Askegreen war ein Officer des Prince Georges County Sheriffs Department gewesen, aber er hatte den Posten dort aufgegeben, weil er, wie er oft im Scherz behauptete, „den Intelligenztest bestanden“ hatte. Für Askegreens Dafürhalten gab es in jenem speziellen Grenzstaat, oder zumindest im Büro des Sheriffs, zu viele Rednecks, und er hatte es satt, sich mit Leuten abzugeben, deren höchstes Ziel es war zu sehen, „wie viele Nigger sie vor dem Mittagessen einlochen konnten“. Sechs Monate nachdem er vor Ekel gekündigt hatte, erhielt seine Frau ein Stellenangebot von einer Firma in Raccoon City, und sie waren umgezogen. Cain hatte ihn angeheuert und Carlos’ Einheit zugeteilt. Er war ein guter Kerl und ein liebevoller Ehemann, und in drei Monaten würde er ein guter Vater sein. So hatte es jedenfalls bis heute Morgen ausgesehen. Sie hatten keine Ahnung, was mit Askegreens im sechsten Monat schwangerer Frau war. Und jetzt musste Carlos ihm eine Kugel in den Kopf schießen. „Hundertpro der übelste Urlaub meines Lebens“, brummte Carlos. Und die Blockhütte war auch so gemütlich gewesen… Er schloss zum Team auf, als Carter sich zur Seite beugte und O’Neill in den Hals biss. - 131 -
An einem anderen Tag hätte Carlos den beiden einen Verweis wegen öffentlicher Zurschaustellung von Zärtlichkeiten erteilt. Heute bedeutete es lediglich, dass der eine der beiden tot war und die andere es bald sein würde. Bevor Carlos etwas tun konnte, packte O’Neill den Kopf ihres Lebensgefährten und brach ihm das Genick. „Fuck“, sagte sie, fasste sich an den Hals und sah dann auf das Blut, das sich in ihrer Handfläche gesammelt hatte. Ohne zu zögern, zog sie ihre Beretta und schob sich den Lauf in den Mund. „Nein!“, schrie Carlos, aber es war zu spät. Sam O’Neills Blut und Gehirn verteilten sich in einem breiten Sprühmuster auf der Wand hinter ihr, und ihr Körper fiel neben dem von Jack Carter auf den Asphalt. Carlos schaute sich um und sah, dass keine Zombies mehr in der Nähe waren. Nur Nicholai stand noch. „Wo ist Halprin?“ Nicholai deutete zu Boden, wo Jessica Halprin lag, ihr Kopf auf unmögliche Weise verdreht. „Jack ging zuerst auf die Ärztin los. Sie stieß ihn von sich, stürzte und brach sich den Hals.“ Loginov, ein frommer Katholik – was der Grund war, weshalb er die Sowjetunion vor zwanzig Jahren verlassen hatte –, bekreuzigte sich. „Sie – sie wird wenigstens nicht wieder aufstehen – als eines dieser – dieser Dinger.“ „Das ist kein besonderer Trost.“ Carlos sah die Straße entlang. Weitere Zombies drängten sich zusammen und kamen auf sie zu. „Gehen wir.“ Zwischen den verlassenen, brennenden Autos und den Stellen aufgerissenen Asphalts hindurchmanövrierend führte Carlos die beiden Russen zu einer Gasse, wo eine Straßenbahn aus den Schienen gesprungen und gegen eine Mauer gekracht war. - 132 -
Sie stiegen hinein, vergewisserten sich, dass sich in der Tram keine Zombies versteckten, und dann besah Carlos sich Loginovs Wunde und zog ein Verbandspäckchen aus einer Tasche seiner Uniform. Binnen weniger Minuten hatte er die Verletzung verbunden. „Ich habe die Blutung gestillt.“ Er schaute auf und sah, dass Loginov das Bewusstsein verlor. „Hey. Hey! Bleib wach. Du musst bei Bewusstsein bleiben, klar?“ „Ja.“ Aber Loginov trieb noch immer am Rande einer Ohnmacht dahin. „Achtung, Soldat! Augen geradeaus!“, bellte Carlos. Daraufhin klärte sich Loginovs Blick. „Kapiert. Ich bin okay – ich bin okay.“ Er klang nicht okay. Er klang, als würde er gleich umkippen und sterben, und dieser Tonfall passte auch zu seinem Aussehen. Aber wenigstens war er wach. „Gut.“ „Danke – dass du zurückgekommen bist.“ „Du hättest dasselbe für mich getan.“ Carlos hätte fast hinzugefügt, dass er heute zumindest einen Menschen hatte retten müssen, tat es aber nicht. In dieser Richtung lauerte der Wahnsinn. „Und jetzt reiß dich zusammen, klar?“ Loginov brachte ein schiefes Lächeln zustande. „Ja, Sir.“ Nicholai versuchte unterdessen jemanden – irgendjemanden – über Funk zu erreichen. „Alpha-Team an Basis, Alpha-Team ruft Basis. Kommen, Basis. Basis, bitte melden. Verdammt!“ Er warf Carlos einen Blick zu. „Warum antworten sie nicht? Die können uns doch nicht einfach hier lassen. Warum werden wir nicht evakuiert?“ Carlos war stets ehrlich zu seinen Leuten gewesen, und er sah keinen Grund, jetzt damit aufzuhören. - 133 -
Deshalb sagte er nur: „Ich weiß es nicht“, anstatt irgendwelchen Scheiß zu labern, den Nicholai ihm sowieso nicht geglaubt hätte. „Warum hat man uns überhaupt hier reingeschickt?“ Nicholai tigerte in der Straßenbahn auf und ab, gereizter, als Carlos ihn je gesehen hatte. Mehr noch, der Russe war gereizter, als Carlos es ihm überhaupt zugetraut hätte. „Wir hatten von Anfang an keine Chance. Darauf waren wir nicht vorbereitet – niemand kann darauf vorbereitet sein! Wir…“ „Sei mal still.“ Carlos unterbrach Nicholais Wortschwall, als er ein vertrautes Geräusch vernahm. Er stand auf. „Was ist?“, fragte Nicholai. „Hör mal.“ Es war ein Hubschrauber. Lipinski hatte Befehl, zur Basis zurückzukehren, nachdem er sie abgesetzt hatte, und so saßen sie ohne Evac in dieser Scheiße fest. Aber vielleicht wurden sie jetzt ja abgeholt. „Gott sei Dank!“ Nicholai bewegte sich schneller, als Carlos den großen Mann sich jemals hatte bewegen sehen, und rannte auf die Straße hinaus. „Gott sei Dank!“ Carlos folgte ihm in gemächlicherem Tempo, genau wie Loginov. Draußen winkte der große Mann mit beiden Armen einem C89 über ihnen zu. Umbrella hatte den Helikopter, zusammen mit einigen weiteren von gleicher Bauart, der russischen Regierung abgekauft. Deshalb trug er jetzt das stilisierte Logo der Firma. „Hier unten! Wir sind hier unten! Hier unten!“ Aber der Hubschrauber flog über sie hinweg. Nicholai warf Carlos einen Blick zu. „Was soll das?“ Carlos hingegen hielt den Blick auf den Helikopter gerichtet. „Sie landen dort drüben.“ - 134 -
Ohne auch nur ein Wort darüber verlieren zu müssen, nahm jeder von ihnen einen von Loginovs Armen und schlang ihn sich um die Schultern. Dann hinkte das Trio in die Richtung, in die sich der Hubschrauber entfernte. Als sie von der Main Street auf die Johnson Avenue einbogen, erkannte Carlos, wo der Hubschrauber vermutlich hinflog: zum Raccoon City Hospital. Die Firma hatte dem Krankenhaus einen Flügel gestiftet und nutzte ihn für einen Teil ihrer medizinischen Arbeit. Nicholai versuchte seinen Landsmann aufzumuntern. „Es kommt alles in Ordnung, Yuri. Wir flicken dich wieder zusammen, und dann besaufen wir uns. Wir lassen es richtig krachen.“ Carlos schnaubte. Yuri Loginov mochte zwar ein frommer Katholik sein, aber er trank wie ein frommer Muslim, nämlich gar keinen Alkohol. Daran hatten bislang auch Nicholais Bemühungen, ihn bekehren zu wollen, nichts geändert. Als sie in Sichtweite des Krankenhauses kamen, sah Carlos, dass der Helikopter über dem Atrium der Einrichtung schwebte und den Lichtkegel eines Suchscheinwerfers auf eines der Fenster richtete. Nicholai fing wieder an zu winken, und Carlos musste Loginov allein stützen. „Wir sind hier!“ Jemand im Hubschrauber schleuderte zwei stabile Bordkoffer durch eines der Fenster. Das Splittern des Glases war über dem Rotorenlärm des Helikopters kaum zu hören, der daraufhin abdrehte und davonflog. „Nein! Bleibt hier!“ Nicholai hüpfte jetzt auf und ab, immer noch mit den Armen fuchtelnd. „Wir kommen! Wir sind hier unten!“ Als der Hubschrauber nicht mehr zu sehen war, wandte Nicholai sich wütend an Carlos. „Sie haben etwas ins Krankenhaus geworfen. Hast du - 135 -
das gesehen?“ Carlos nickte. „Vielleicht ein Funkgerät? Eines, das funktioniert!“ „Sehen wir mal nach“, meinte Carlos. „Komm.“ Sie betraten das Krankenhaus. Nicholai und Carlos stützten den verletzten Loginov jetzt wieder zu zweit. Das Gebäude war verlassen. Keine Ärzte, keine Schwestern, keine Patienten. Aber wenigstens gab es noch Strom. Die krankenhauseigenen Generatoren funktionierten vermutlich noch, obwohl das Stromnetz von Raccoon größtenteils zusammengebrochen war. Sie erreichten das Atrium. Inmitten der in Töpfen wachsenden Palmen, Riesenfarnen und anderen hässlichen Pflanzen, von denen jemand unerklärlicherweise annahm, sie würden die Kranken beruhigen, lagen zwei stabile Waffenkoffer. Große stabile Waffenkoffer. Sie lehnten Loginov – der immer wieder die Besinnung zu verlieren drohte – gegen eine der Palmen. „Was zum Teufel soll das?“, fragte Nicholai. Die Koffer waren leer. „Sieht aus wie Waffenkoffer.“ „Wir brauchen keine Waffen, wir brauchen einen Evac!“ „Diese Koffer waren nicht für uns bestimmt.“ Carlos sah Nicholai an. Jemand hatte die schweren Koffer bereits geöffnet und herausgenommen, was sich darin befand. Jemand, der wahrscheinlich noch hier war. Instinktiv blickte Carlos nach oben. Für einen kurzen Moment sah er die gewaltige Silhouette von etwas, das wie ein Panzer auf Beinen aussah. Dann war es verschwunden. Carlos schaute Nicholai an. - 136 -
Nicholai schaute Carlos an. Und dann verspürte Carlos einen furchtbaren Schmerz, als Yuri Loginov – oder besser gesagt Yuri Loginovs Leichnam – ihn in die Schulter biss. Carlos schlug seinem Untergebenen ins Gesicht, und die Zähne lösten sich aus seiner Schulter. Dann packte er Loginovs Kopf und drehte ihn. Das erwartete Knacken folgte einen Sekundenbruchteil später. Der Russe fiel zu Boden und blieb als verdrehtes Bündel liegen. Nicholai blickte traurig auf den Toten hinab. „Dann werde ich ihn wohl doch nicht besoffen machen können.“ „Gehen wir“, sagte Carlos. „Eine Schande – ich wette, er hätte einen guten Besoffenen abgegeben.“ Drängender wiederholte Carlos: „Gehen wir.“ „Jetzt muss ich mich für uns beide besaufen.“ Carlos legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte: „Nicholai! Reiß dich zusammen! Wir sind in einem Krankenhaus, hier muss es den einen oder anderen Erste-Hilfe-Kasten geben, in dem mehr drin ist als in unseren Verbandspäckchen. Wir müssen einen finden, bevor ich hier verblute, okay?“ „Ja – ja, richtig, natürlich.“ Nicholai schüttelte den Kopf „Gehen wir.“ Sie brauchten nicht lange, um die Zufahrt für die Krankenwagen zu erreichen, wo sie ein verlassenes Fahrzeug nach Erste-Hilfe-Material durchwühlten. Im Krankenhaus war das Meiste gestohlen, beschädigt oder verschmutzt gewesen. Aber dieser Sanitätswagen war zumindest unversehrt. Dafür war Carlos dankbar. Doch leider schien nichts von dem, was er tat, um seine Blutung zu stoppen, wirklich zu helfen. Das Blut wollte nicht gerinnen und so die Wunde schließen. Was bedeutete, dass Carlos sehr wahrscheinlich selbst - 137 -
zu einem von Jorges Furcht erregenden Zombies mutieren würde. Hundertpro ein Scheißurlaub. „Es hört nicht auf zu bluten“, sagte er, eigentlich nur, um Nicholai in ein Gespräch zu verwickeln. „Wie können sie uns übersehen haben?“, fragte Nicholai. „Was?“ „Der Helikopter. Wir standen mitten auf der Straße, direkt vor dem Krankenhaus. Wie können sie uns da nicht gesehen haben?“ Carlos seufzte und sprach laut aus, was er sich bislang nicht hatte eingestehen wollen. „Sie haben uns gesehen.“ „Was redest du da?“ Carlos erhob sich und legte seine unverletzte Hand auf Nicholais Schulter. „Wir sind nur Diener, Nicholai. Diener, die man opfern kann. Und man hat uns gerade geopfert.“ Bevor sie weiter über das Thema sprechen konnten, fingen das Münztelefon neben dem Eingang der Notfallaufhahme, ein liegen gelassenes Handy auf dem Beifahrersitz des Krankenwagens und mehrere Telefone hinter dem zerbrochenen Schaufenster des MotorolaLadens auf der anderen Straßenseite an zu klingeln – alle gleichzeitig. Carlos starrte Nicholai verwirrt an.
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Achtzehn Nemesis wurde aktiv. Alle Systeme gingen der Reihe nach online. Der Drogenfluss versiegte. Sein Kopf klärte sich. Ein Auge öffnete sich, dann das andere. Nemesis nahm seine Umgebung in sich auf. Dabei versuchte er sich zu erinnern, wer er war. Moment, das war albern. Er wusste, wer er war: Nemesis. Er brauchte jetzt nur noch die Anweisungen seiner Herren von der Umbrella Corporation. Sie hatten ihn erschaffen, und sie steuerten ihn. Nein! Eine Stimme brüllte in seinem Kopf auf. Die Stimme wirkte vertraut und war doch völlig unbekannt. Ich bin kein Werkzeug von Umbrella! Ich versuche, den Konzern zu vernichten! Vernichten? Was für eine absurde Vorstellung. Er war Nemesis. Sein einziger Lebenszweck bestand darin zu tun, was ihm die Firma befahl. Nemesis erhob sich von seinem Bett. Er sah sich im Raum um und identifizierte ihn als Krankenzimmer. Neben den Farben und Strukturen konnte er auch feststellen, wie heiß oder kalt etwas war, und jegliche ultraviolette Strahlung genügte ihm, um Formen zu erkennen. Mein Gott, wie ist das möglich? Ich kann im Infrarotund Ultraviolett-Spektrum sehen. Abermals empfand Nemesis Verwirrung. Die Stimme war immer noch in seinem Kopf, aber er erkannte sie nicht. Ich bin Matthew Addison! Ich sollte mich mit meiner - 139 -
Schwester Lisa Broward treffen. Sie wollte mir Informationen übergeben, mittels derer ich die illegalen Aktivitäten der Umbrella Corporation enthüllen wollte. Stattdessen geriet ich in ein Alptraumszenario. Ein unterirdischer Komplex von Umbrella wurde mitsamt der fünfhundert darin befindlichen Menschen vernichtet. Ich sah Menschen sterben, musste sogar selbst ein paar umbringen – und infizierte mich letztlich mit demselben T-Virus, das die Umbrella-Mitarbeiter tötete. Ich erinnere mich nicht, was danach geschah. Was haben die mit mir gemacht? Nemesis ignorierte die Stimme. Was sie sagte, ergab keinen Sinn. Über das Display in einer Ecke seines Sichtfeldes lief eine Textzeile. ALLE SYSTEME AKTIVIERT. Dann empfing Nemesis weitere Anweisungen. Nicht durch Worte – er wusste einfach, was er als Nächstes zu tun hatte. Mein Gott, senden die direkt in meinen Schädel? Nemesis ging zur Tür. Eine große Hand drehte den Knauf. Grundgütiger, wie ist denn meine Hand so groß geworden? Und was zum Teufel hat es mit all diesen Schläuchen und Drähten auf sich? Mit schweren Schritten, die den Boden bis an die Grenzen seiner Tragfähigkeit zu belasten schienen, ging Nemesis in Richtung des Atriums. Er kannte den kürzesten Weg vom Umbrella-Flügel aus, obwohl er bis heute noch nie einen Fuß in dieses Krankenhaus gesetzt hatte. Mehr noch, er hatte seinen Fuß bis heute noch nirgendwohin gesetzt. Er erinnerte sich an nichts vor seinem Erwachen im Krankenhaus. Verdammt, das stimmt nicht! Ich bin Matt Addison! Ich bin ein Mensch, Herrgott noch mal, und ihr könnt mir - 140 -
meinen Körper – mein Leben – nicht einfach so wegnehmen! Lasst mich verdammt noch mal hier raus! Nemesis begriff, dass sich bei der Stimme um ein Überbleibsel des Templates handelte. Oder vielleicht um ein Phantomprogramm in seinem Kernspeicher. Egal, er würde es ignorieren, bis es verschwand. Nemesis passierte ein zerbrochenes Fenster und fand zwei große Koffer auf dem Boden des Atriums. Er beugte sich nach vorne und öffnete einen davon. Meine Fresse, das ist ein riesiger Raketenwerfer. Ich hab noch nie so was Großes gesehen. Wie soll den jemand halten? Nemesis nahm den Raketenwerfer auf, der gut zwei Meter lang und mit einem Schulterriemen versehen war. Er schlang sich den Trageriemen über die Schulter, so mühelos, als sei es ein Rucksack. Was zum Teufel haben die mit mir gemacht? Der zweite Koffer enthielt eine Rail-Gun. Das ist eins von diesen Dingern, die man an Hubschraubern montiert. Nemesis hob die Waffe mit seiner riesigen Hand auf. Dann ging er weiter in Richtung Ausgang. DIREKTIVE: IN RACCOON CITY PATROUILLIEREN. Nemesis sah ein paar Menschen im Krankenhaus, aber sie strahlten keine Wärme ab, waren also offensichtlich Untote, die durch das T-Virus wiederbelebt worden waren. Sie stellten keine Gefahr dar, und er war nicht angewiesen worden, sie anzugreifen. Deshalb ignorierte er sie. Er erhaschte einen kurzen Blick auf zwei Männer, die von einem dritten angegriffen wurden. Die beiden Männer lebten noch, der dritte nicht. Er erhielt auch keinen Befehl, sich mit ihnen zu befassen, und so beachtete er sie nicht weiter und bewegte sich auf den Ausgang zu. Was zum Teufel ist hier los? Diese Typen dort tragen - 141 -
dieselben Outfits, wie Rain, Kaplan und die anderen. Sie müssen auch zu den Schlägertruppen von Umbrella gehören. Nemesis trat ins Freie. Er sah mehrere verlassene, beschädigte Motorvehikel, verschiedene Modelle, angefangen von Tracks über Geländewagen und Busse bis hin zu Personenkraftwagen und Motorrädern und so weiter. Viele Fenster waren zerbrochen, und die Straßen waren mit Glasscherben übersät – und voller Blut. Er sah sich um und fand kein Anzeichen von Leben, bis auf ein, zwei Ratten. Ich fasse es nicht. Diese Wichser haben den Hive wieder aufgemacht und die zu Zombies gewordenen Angestellten rausgelassen. Und ich hatte schon gedacht, Umbrella könnte nicht mehr tiefer sinken… Nemesis ging die Straße entlang. Sämtliche Hindernisse wurden, ungeachtet ihrer Größe, beiseite gefegt oder zermalmt. Nichts stand ihm im Wege. Nichts konnte sich ihm in den Weg stellen. Er war Nemesis. Erschaffen von der Umbrella Corporation – als perfekte Kampfmaschine. Er bog von der Johnson Avenue in die Main Street ein. In der Ferne sah er mehrere Tote, die das T-Virus wiederbelebt hatte. Außerdem vernahm er eine menschliche Stimme. „Kommt doch her und holt mich.“ Einer der Toten wurde von einer Kugel getroffen, die aus einer Shotgun abgefeuert worden war. „Kommt schon, davon hab ich noch mehr. Reicht für alle!“ Ein weiterer Toter wurde getroffen. Die Köpfe der beiden waren fast verschwunden. „Ja, kommt ran, kommt ran.“ Nemesis machte die Quelle der Stimme aus, indem er sie mit den Flugbahnen der Kugeln abglich. Es war ein - 142 -
Mann, der auf dem Dach einer Lokalität namens Grady’s Inn stand. Seine Uniform wies ihn als Angehörigen der Special Tactics and Rescue Squad des Raccoon City Police Departments aus, obwohl er dazu auch noch einen großen Cowboyhut trug, der nicht Teil der offiziellen Kleiderordnung war. Als Nemesis sich dem S.T.A.R.S.-Heckenschützen näherte, wurde dieser auch auf ihn aufmerksam. „Verdammt, was ist denn das?“ Herrgott, du Arschloch, mach, dass du vom Dach runterkommst, bevor ich dich umbringe! Und warum zum Teufel stehst du überhaupt da oben und spielst Tontaubenschießen mit den Zombies? Ist das deine Vorstellung von Beschützen oder Helfen? Ich kann nicht glauben, dass ich so getan habe, als sei ich einer von euch RCPD-Wichsern. Nemesis machte eine Anzahl weiterer Wärmesignaturen aus. Sie befanden sich in einem nahe gelegenen Geschäft namens Mostly Colt, ein Laden, der sich auf den Verkauf von Handwaffen spezialisiert hatte. Als er daran vorbeiging, sah er, dass die meisten von ihnen ebenfalls S.T.A.R.S.-Uniformen trugen. Eine Shotgun-Kugel traf ihn in die Brust. Heilige Scheiße, ich wurde angeschossen – aber es fühlte sich an wie ein leichter Rippenstoß. Was zum Teufel haben die verdammt noch mal mit mir gemacht? „Ich muss daneben geschossen haben“, sagte der Heckenschütze auf dem Dach. „Aber ich schieße nie daneben.“ Hast du ja auch nicht, du Arsch, und jetzt hau endlich ab! DIREKTIVE: SUCHE UND VERNICHTE S.T.A.R.S.ANGEHÖRIGE. Verdammt, nein. Nein, zwing mich nicht, das zu tun. Er konnte hören, wie die Patrone eingelegt wurde, das Klacken von Metall auf Metall, als der Heckenschütze - 143 -
seine Waffe durchlud. „Hurensohn! Dich mach ich alle!“ Nemesis hob die Rail-Gun, hielt die gewaltige Waffe hoch, als sei sie ein Sechsschüsser. Es ist, als wiege sie nichts. Großer Gott… Der Heckenschütze stutzte beim Anblick der auf ihn gerichteten Rail-Gun. Ja, da würde ich verdammt noch mal auch stutzen. „Scheiße!“ Hunderte von Geschossen explodierten rings um das Dach von Grady’s Inn. Doch Nemesis konnte den Heckenschützen immer noch anhand der Hitze, die er abgab, ausmachen. Er war noch am Leben und hatte hinter dem Aufbau, durch den man aufs Dach gelangte, Deckung gefunden. Nemesis löste die Rail-Gun weiter mit einer Hand aus. Mit der anderen, und ohne den Finger auch nur geringfügig vom Abzug der anderen Waffe zu nehmen, hob er den Raketenwerfer auf seine Schulter und feuerte ein Missile auf das Dach von Grady’s Inn ab. Einen Augenblick später, als es unter dem Einschlag des Flugkörpers explodierte, wurde das ganze Lokal eine einzige gewaltige Hitzesignatur. Nemesis senkte seine Waffen, nachdem er seine jüngste Direktive befolgt hatte. Grundgütiger… Dann wandte sich Nemesis dem Waffengeschäft Mostly Colt zu.
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Neunzehn „Was gibt’s?“, wandte sich Cain an Johanssen. Der junge Mann sah auf, als der Major zu ihm trat. Karl Johanssen war einer der führenden Techniker, die dem Nemesis-Programm zugeteilt waren, und der einzige, den Cain ausstehen konnte. Johanssen hatte zwei Turnusse beim US Marine Corps gedient, bevor er seinen Posten bei Umbrella antrat. Sicher, er war ein blöder Wichser, aber trotzdem fiel es Cain leichter, mit ihm zu reden, als mit einem von den anderen, den noch viel größeren Wichsern im Nemesis-Programm. Keiner von ihnen stellte zwar ein so großes Ärgernis dar wie Ashford. Aber während Cain zu Ashford nett sein musste, war er im Umgang mit den Wissenschaftlern, Technikern und anderen hochnäsigen Arschlöchern nicht dazu verpflichtet. Johanssen kapierte Dinge wie Befehlskette oder wie man eine Order zu befolgen hatte. Deshalb war er der Verbindungsmann zwischen dem Programm und Cain. Nachdem Nemesis nun aktiv war, hatte Cain Johanssen befohlen, die Kontrolle zu übernehmen. Der Leiter des Nemesis-Programms, ein nervtötender kleiner Blödmann namens Sam Isaacs, hatte Einspruch erhoben und gemeint, dass doch wohl er derjenige sein sollte, der Nemesis steuerte und überwachte, da er das Programm besser kenne als sonst jemand, und obschon er Mr. Johanssen nur den allergrößten Respekt entgegenbringe, wäre es doch wirklich sinnvoller, wenn er an den Kontrollen säße. Cain sagte Isaacs, er solle sich ins Knie ficken, und wies Johanssen an, die Steuerung zu übernehmen. Das hieß, dass Johanssen Zugriff hatte auf Nemesis’ Sicht, die auf einem Plasmabildschirm abgebildet wurde; - 145 -
auf sein Gehör, das über hochmoderne Lautsprecher von Perry Myk (einer Tochtergesellschaft von Umbrella) übertragen wurde; auf seine Vitalfunktionen, die auf einem anderen Plasmamonitor einzusehen waren; und auf sein Gehirn, und zwar mittels eines Computerterminals mit einem ergonomischen Keyboard, dessen Eingaben direkt in Nemesis’ Großhirnrinde übertragen wurden. Im Moment zeigt der Sichtmonitor ein Waffengeschäft und mehrere Wärmesignaturen. Da die Untoten nicht im Infrarotbereich abgebildet wurden, hieß das, dass es sich um Lebewesen handelte. Johanssen antwortete auf Cains Frage: „Ein Dutzend bewaffnete Männer, gut organisiert.“ Cain schüttelte den Kopf. „Es überrascht mich, dass noch jemand am Leben ist.“ „Das sind S.T.A.R.S.“, sagte Johanssen. „Sozusagen das S.W.A.T.-Team von Raccoon City. Das sind die Besten.“ „Die Besten.“ Cain schnaubte. One und sein Team waren die Besten gewesen. Diese Typen waren nur glorifizierte Streifenpolizisten, die mit den besseren Spielsachen umgehen durften. „Wollen wir doch mal sehen, wie gut sie wirklich sind.“ Johanssen nickte verstehend. Das war ein weiterer Grund, warum Cain Johanssen mochte – er verstand, was Cain ihm sagte, ohne dass er es ein Dutzend Mal erklären musste. Und es war ja nun nicht so, als gäbe es noch moralische Bedenken. Alle, die sich in Raccoon City aufhielten, waren so gut wie tot – wenn das T-Virus sie nicht erwischte, dann würde es die , Säuberung’ morgen früh besorgen –, was machte es also für einen Unterschied, wie sie starben? Das Leben war nun mal wie es war. Armselig. „Protokolländerung.“ Damit rollte Johanssen seinen Stuhl zu der ergonomischen Tastatur hinüber und - 146 -
begann, Befehle einzutippen. Die Befehlszeile erschien auf dem Bildschirm. Johanssen schrieb: SUCHE UND VERNICHTE S.T.A.R.S.-ANGEHÖRIGE. Währenddessen ließ Cain den Monitor nicht aus den Augen. Der Computer hatte die meisten der Leute in dem Waffengeschäft anhand ihrer Uniformen identifiziert. Einer der drei in Zivilkleidung war Ryan Henderson, der für S.T.A.R.S. verantwortliche Captain. Bei den anderen beiden handelte es sich vermutlich um Officers, die nicht im Dienst waren, als die Hölle losbrach, oder Zivilisten, die von den anderen beschützt wurden. Dann fand Nemesis einen S.T.A.R.S.-Heckenschützen auf dem Dach eines nahe gelegenen Gebäudes. Cain wandte den Kopf und sah, dass Johanssen die Identifizierung des Heckenschützen anhand seiner Züge aufrief. Es handelte sich um einen S.T.A.R.S.Scharfschützen namens Michael Guthrie, gebürtiger Texaner – was den nicht zur Uniform gehörenden Cowboyhut erklärte, den er trug –, der sich vier Verweise wegen unnötiger Gewaltanwendung eingehandelt hatte. Wie es vorauszusehen gewesen war, schoss Guthrie auf Nemesis, sobald er ihn sah. Und ebenso war vorauszusehen gewesen, dass der Schuss keine nennenswerte Wirkung bei Nemesis zeigte. Das hieß, etwas bewirkte er doch – aber das wusste Cain nur aufgrund dessen, was andere Bildschirme vor ihm anzeigten. Johanssen bestätigte die Informationen auf den Monitoren, indem er meldete: „Nullkommanullein Prozent Schaden. Regenerierung auf zellularer Ebene.“ Cain nickte. Wie Isaacs gesagt hatte, war Nemesis’ Metabolismus hinreichend aufgeladen, sodass er Gewebe regenerieren konnte, um jede Wunde zu heilen. - 147 -
Johanssen sah zu Cain auf. „Sekundär-Direktive eingerichtet. Nemesis wird jetzt jeden angreifen, den er als S.T.A.R.S.-Angehörigen identifiziert.“ Johanssen zögerte. „Sir, das heißt, er wird nichts gegen die anderen beiden Leute in dem Laden unternehmen – es sei denn, sie bedrohen ihn mit körperlicher Gewalt.“ „Schon gut, mein Sohn“, sagte Cain mit einem kleinen Lächeln. „Ich würde sagen, dass Letzteres sehr wahrscheinlich der Fall sein wird, meinen Sie nicht auch?“ „Ja, Sir.“ Als Johanssen diese beiden Worte aussprach, zeigte der Monitor, der mit der Verkehrsüberwachungskamera des RCPD verbunden war, wie Nemesis die Rail-Gun hob. Welch ein Anblick! Mochte der Körper von Nemesis ursprünglich auch einem verdammten Unruhestifter namens Matthew Addison gehört haben, war besagter Körper nun doch kaum noch als der von Addison zu erkennen. Aus welchem Grund auch immer war Addisons DNS für die Modifizierungen, die das Nemesis-Programm erforderte, besonders empfänglich. Mehrere Dutzend Versuchsobjekte – alles Gefangene aus der Strafanstalt von Raccoon City, die sich freiwillig gemeldet hatten, nachdem man ihnen Bewährung versprochen hatte, falls sie überleben sollten (wobei man diesem letzten Kandidaten dieses Angebot natürlich nicht gemacht hatte) – hatten verheerende Reaktionen auf die Modifizierungsversuche gezeigt. Doch als Addison im Hive von einem der Licker angegriffen wurde, hatte er anders als erwartet darauf reagiert. Der Mann war ohnehin so gut wie tot gewesen, also hatte Cain keinen Grund gesehen, ihn nicht ins Nemesis-Programm zu stecken, um zu erfahren, was sich daraus ergeben mochte. - 148 -
Als zusätzlichen Bonus hatten sie eine Menge über die Gruppe herausgefunden, zu der Addison gehörte – eine elende Ansammlung von reichen Liberalen, verbitterten Gesetzeshütern und anderem Abschaum der Gesellschaft, die Umbrella zu Fall bringen wollten. Cain hatte bereits Schritte eingeleitet, um sicherzustellen, dass man sich um Aaron Vricella und den Rest von Addisons Kumpanen kümmerte. In der Zwischenzeit diente Addison der Förderung der Ziele eben jenes Konzerns, den er törichterweise in den Untergang treiben wollte. Wenn Nemesis funktionierte – und es sah mehr und mehr danach aus, als sei dies der Fall –, dann verfügten sie über einen Supersoldaten, der, wie Cain wusste, von großem Interesse für seine früheren Kameraden bei den Streitkräften sein würde. Nemesis war acht Fuß groß, und seine Muskeln waren weit ausgeprägter als die der besten Bodybuilder. Verschiedene Drähte und Leitungen verstärkten auf elektronischem und kybernetischem Wege seine ohnedies schon beträchtliche Kraft und Kondition sowie vier seiner fünf Sinne (davon ausgenommen waren seine Geschmacksnerven, die sie abgetötet hatten, weil ein ausgeprägter Geschmackssinn im Einsatz hinderlich sein konnte), und Schläuche führten seinem Blutkreislauf diverse Stimulanzien zu. Mit einem baumstammstarken Arm hielt er eine RailGun, als wiege sie nichts. Mit dem anderen trug er den speziell modifizierten Raketenwerfer, den nur wenige selbst mit zwei Händen hochwuchten konnten. Jetzt feuerte er diesen Raketenwerfer ab, während er das Dach ohne Unterbrechung mit der Rail-Gun unter Beschuss nahm. Augenblicke später lösten sich das Dach, das Gebäude und Michael Guthrie in einer Feuersbrunst auf, die Timothy Cains Herz mit Stolz erfüllte. Dann wandte sich Nemesis dem Waffenladen zu. - 149 -
Zwanzig Nachdem das gut aussehende, aber durchgeknallte weiße Luder im blauen Tube-Top Rashonda erschossen hatte, war L. J. schleunigst aus dem RCPD verschwunden. Auf der Straße war es sicherer. Wenn auch nicht sehr viel, das stand gottverdammt noch mal fest. Doch das Luder hatte Recht gehabt. L. J. mochte zwar in Raccoon zur Welt gekommen und aufgewachsen sein, aber was zu viel war, war verdammt noch mal zu viel. Auf keinen Fall würde er seinen kleinen Arsch in dieser Stadt belassen. Wenn er Zombies sehen wollte, dann holte er sich einen Film aus der Videothek. Nein, Mann, L. J. würde sich dorthin absetzen, wo ein Nigger leben konnte. So schnell er konnte schwang L. J. seinen Arsch nach Hause, um sich seine Uzis und seinen Glücksring zu holen. Er hatte den Ring nicht getragen, weil er zu schwer war, wenn er die Nummer mit den drei Karten abzog. Der Goldring bildete das Wort LOVE, weil L. J. genau darauf von Kopf bis Fuß eingestellt war. Außerdem steckte er seine Rick-James-CD ein. Er hätte das Haus nicht ohne seine Schießeisen, seinen Ring und seinen Rick verlassen sollen. Scheiße, das war wahrscheinlich der Grund gewesen, warum sie ihn geschnappt hatten. Jetzt brauchte er nur noch eine Karre. Das Problem war nur, dass sie L. J. die Karre vorigen Monat abgenommen hatten, als Junior Bunk auf den Trichter gekommen war, dass L. J. mit seinen Zahlungen keine drei Tage in Verzug sein durfte. Na ja, und obendrein hatte L. J. Bunk noch gesteckt, dass er vielleicht seine Ritalin-Dosis checken sollte… - 150 -
Nun, der Scheißer hatte null Sinn für Humor, und das hieß, dass L. J.’s Chevy in Bunks Garage gelandet war. Inzwischen war der Motor vermutlich schon in Baltimore, die Batterie in Seattle, der Kühler in New York und das Fahrgestell in Japan. Aber L. J. landete immer auf den Füßen, und kaum war er zur Tür hinausgegangen, sah er mitten auf der Straße einen wunderschönen roten Camaro stehen. L. J. schaute sich um, sah aber niemanden. Als er sich dem Wagen näherte, hörte er, dass der Motor noch lief. Er spähte durch das Fenster, und tatsächlich, der Schlüssel steckte. Ah, Scheiße, ein Nigger schaute einem geschenkten Gaul nicht ins Maul. Die Beifahrertür war offen, und L. J. sah etwas Blut am Boden, aber scheiß drauf, in seinem Chevy klebte auch Blut am Boden. Der Dreck ging nicht mehr raus, und L. J. war daran gewöhnt. War vermutlich Blut von einem dieser Zombieärsche. Der Camaro hatte sogar einen CD-Spieler. Gerade als er sich auf den Fahrersitz pflanzte, knallte ein weißer Knabe aufs Dach, und L. J. machte sich vor Schreck fast ins Hemd. Der Typ hatte diese Zombieaugen und diese verdammten schwarzen Zähne. „Schwing deinen Arsch da runter, du Pisser!“ Er jagte den Motor hoch, stieß den Automatikhebel auf ,Drive’ und trat abrupt das Bremspedal durch. Der Scheißzombie rutschte von der Motorhaube, und als L. J. wieder Gas gab, schlug die andere Tür zu – was ihm die Mühe sparte, sie von Hand zu schließen. Nachdem er den Zombie noch überrollt hatte, fuhr L. J. los und schob die CD in den Player. L. J. wollte nichts weiter, als aus Raccoon verschwinden. Wo er auch hinschaute, sah er noch mehr dieser verdammten Zombies. L. J. hatte die Schnauze voll von den Scheißzombies. - 151 -
Dann sah er eine Politesse, die ihren Arsch die Straße entlang schleifte. Ein Arm hing schlaff an ihrem Körper. Als L. J. noch seinen Chevy besaß, hatten ihn dauernd die Politessen am Arsch gehabt, sie hatten ihm Strafzettel verpasst und waren ihm tierisch auf den Sack gegangen. L. J. warf nie Geld in eine Parkuhr – er trug nur Scheine bei sich, mit Kleingeld hatte er nichts am Hut, darum hatte er nie Vierteldollarmünzen. Er hatte ein Handy, also brauchte er auch für Münztelefone kein Kleingeld. Er lenkte den Wagen auf die Politesse zu und fuhr sie über den Haufen. „Da haste, du Schlampe! Zehn Punkte! Leck mich fett am Arsch!“ Lachend und Rick James’ Gesang mit seiner Stimme begleitend – nach all den Jahren war Rick immer noch der Größte – bog er um die Ecke und in die Harbor Street ein. Das war die einzige Straße, die er vermissen würde, wenn er aus der Stadt raus war. Hier befand sich der Playa’s Club. Viele Nächte hatte er damit zugebracht, Dollarscheine in den G-String von Ludern mit dicken Möpsen zu stecken. Er spendierte ihnen Zwanziger, damit sie auf dem Tisch tanzten, und manchmal, wenn er Glück und genug große Scheine hatte, nahm er eine mit ins Seitengässchen. Sein Liebling war LaWanda. Das Mädchen konnte sich aber auch bewegen – ein Hintern, der nie müde wurde, und die besten Titten, die man für Geld kriegen konnte. Und da war sie nun, stolperte auf ihren Plateauschuhen die Straße hinunter, trug ein weißes Tank-Top und einen schwarzen Lederminirock, und in ihrem Bein klaffte ein Riesenloch. Einerseits tat es L. J. Leid, dass sie tot war. Andererseits sah sie immer noch verdammt heiß aus. „Scheiße, du Miststück“, rief er der Zombienutte zu, „du - 152 -
hast’s immer noch!“ Sie trug keinen BH unter dem weißen Tank-Top, und L. J. befand, dass sie, Zombieluder oder nicht, immer noch ein geiles Fahrgestell hatte. Dann explodierte ihm ein Airbag ins Gesicht, und im selben Moment spürte er einen scharfen Schmerz im Rücken. Er brauchte ein paar Minuten, um seinen Kopf klar zu bekommen, aber schließlich befreite er sich von dem verdammten Airbag und versuchte die Tür zu öffnen. Sie rührte sich nicht. Er stemmte sich mit der Schulter gegen das Scheißteil, und dann ging sie auf, kreischend wie Fingernägel, die über eine Tafel kratzen. Er fiel aus dem Wagen und sah, dass der Camaro im Arsch war. Was daran lag, dass L. J. so beschäftigt gewesen war, das Hinterteil der Nutte abzuchecken, dass er das Hinterteil des verlassenen Ford nicht gesehen hatte, der mitten auf der Straße stand. Der Camaro war ein Totalschaden. Außerdem würde L. J. ohnehin nicht mit einem Airbag in der Fresse herumfahren. Als er sich hochrappelte, sah er sich von Scheißzombies umringt: die Politesse, die Nutte und ein ganzer Haufen anderer Leutchen. „Ach du Scheiße.“ Er rannte los. Das Gute an den Scheißzombies war, dass sie verdammt lahmarschig waren, und so bereitete es L. J. keine Probleme, es zur Kreuzung von Harbor und Main zu schaffen. Er bog in die Main Street ein und sah weitere Scheißzombies die Straße herunterkommen. „Scheiße, Mann, ich komm mir vor wie in einem verdammten Michael-Jackson-Video.“ In einem Gebäude gab es noch Licht und Anzeichen - 153 -
von Leben. Von wirklichem Leben. Mostly Colt. L. J. kannte den Laden – ein paar Brüder besorgten sich dort ihre Knarren, L. J. allerdings nicht. Der Typ, dem der Laden gehörte, war ein Redneck namens Lance Halloran. Und L. J. kaufte seine Kracheisen nicht bei Weißen. Heute jedoch war keine Zeit, um wählerisch zu sein. Er rannte auf den Laden zu, gerade als jemand die Tür schließen wollte. „Warte“, rief er, „warte!“ Er zwängte sich durch die Tür und sah sich um. Cops. Ein ganzer Raum voller Cops. Schlimmer noch, das waren alles S.T.A.R.S. „Scheiße!“ Die einzigen beiden unter all diesen Weißen, die keine S.T.A.R.S.-Uniform trugen, waren Halloran und ein anderer alter weißer Bastard mit Krawatte. Er musste ebenfalls ein Cop sein. „Vielleicht war ich da draußen sicherer – das hier sieht mir verdammt nach irgendso ‘ner Überlegenheitsscheiße der weißen Rasse aus.“ Sie schauten ihn alle an, als ob er verrückt sei. Nun, im Moment war L. J. verrückt, verdammt noch mal. Zumal es so aussah, als verkrieche er sich hier mit diesen Weißbroten. „Ihr wisst, dass ihr die Erde nicht erbt, oder?“ Der Cop in Zivil hielt eine Pumpgun in Händen. Er hob sie an – L. J. zuckte zusammen, doch dann reichte er sie L. J. „Hier.“ Ein weißer Hurensohn gab einem Neger einen Schießprügel. Mann, diesen Tag musste er im Kalender rot anstreichen! Aber er brauchte keine Almosen von Weißen. Er hielt seinen Mantel auf und zeigte seine Uzis. - 154 -
„Leute, bitte – mein Scheiß ist maßgeschneidert.“ „Verdammt richtig, L. J.“, sagte Halloran. „So ‘n Dreck verkauf ich hier nicht.“ „Ja, Halloran, du verkaufst nur an beschissene Weiße, die Bambi mit Schrotflinten und so ‘nem Dreck in Fetzen schießen.“ Der Cop wandte sich an Halloran. „Du kennst dieses Arschloch, Lance?“ L. J. hob eine seiner Uzis und sagte: „Pass auf, was du sagst, Halloran. Ich bin verdammt außergewöhnlicher Abschaum, und weißt du, warum?“ „Warum?“ Der Cop lachte jetzt sogar. „Weil ich noch japse und kein Scheißzombie bin, darum.“ „Verdammt richtig“, sagte der Cop. „Ich bin Captain Henderson. Wenn du hier bleiben willst, tust du, was ich dir sage, wenn ich’s dir sage, sonst erschieße ich dich höchstpersönlich. Klar?“ „Wie Schlamm, Captain. Jagen wir ein paar Zombies in die Luft.“ Henderson lächelte, dann wandte er sich wieder an Halloran. „Lass die Rollläden runter.“ „Kein Problem“, sagte Halloran und warf L. J. einen Blick zu. Gerade als Halloran zum Schaufenster ging und nach dem Griff fasste, um die Metallläden herunterzukurbeln, sagte L. J.: „Was zum Teufel ist denn das?“ L. J. hatte in seinem Leben schon eine Menge Scheiße gesehen – er hatte allein heute eine Menge Scheiße gesehen –, aber so etwas wie das da hatte er noch nie vor die Pupillen gekriegt. Ein weißer Typ, der mindestens neun verdammte Fuß groß war. Aus seinen Händen ragten Schläuche und all so ‘n Zeug, und seine Muskeln ließen Arnold Schwarzenegger aussehen wie Arnold Palmer. Das da war kein Zombie. - 155 -
Das war schlimmer. Und L. J. hatte gedacht, etwas Schlimmeres als Zombies könnte es nicht geben. Der große Typ schleppte zwei mordsmäßige Knarren mit sich herum. Die eine war von der Sorte, wie man sie in Hubschraubern hatte – nur dass dieser Wichser das Gerät in der Hand hielt. In der anderen hatte er einen Raketenwerfer. L. J. dachte daran, dass er die Rick-James-CD aus dem Wrack des Camaro hätte mitnehmen sollen. Im Moment brauchte er alles Glück, das er kriegen konnte. Dann fing der große Typ an, mit der Rail-Gun auf eines der umliegenden Gebäude zu schießen. „Scheiße, auf dem Dach dort ist Guthrie!“, rief einer der Cops. Henderson warf dem Mann einen Blick zu, der L. J. fast noch mehr Angst einjagte, als er sowieso schon hatte. „Was zum Teufel hat Guthrie dort oben zu suchen?“ Der Cop hob die Schultern. „Sagte, er wollte ein paar Schießübungen machen.“ Bevor Henderson irgendwelchen Scheiß über dieses Arschloch Guthrie reden konnte, wuchtete der große Typ den Raketenwerfer hoch und jagte das Gebäude, auf das er ballerte, in die Luft. Mit einem Blick auf Halloran, der sich elend lange Zeit ließ mit seiner Kurbelei, schrie Henderson: „Beeil dich!“ L. J. stand immer noch unter Schock. „Heilige Scheiße – schaut euch diesen riesigen Scheißkerl an.“ Der letzte Rollladen krachte herunter wie eins von diesen Toren an diesen alten Burgen, die man in Europa und so hatte. „Der Hurensohn kommt hier unmöglich rein“, sagte Halloran. Mann, waren diese Cops denn alle total matschig in der Birne? „Der Typ hat ‘nen Raketenwerfer, Alter! Wir werden hier drin gleich alle hochgehen!“ - 156 -
„In Deckung, verdammt!“, rief Henderson. Die Cops bezogen Stellung hinter Vitrinen und Ladentischen. L. J. merkte, dass er allein mitten im Laden stand, und das gefiel ihm gar nicht. Er rannte hinter den Verkaufstresen, wo auch Henderson war. Im Zweifelsfall blieb man am besten bei dem Scheißer, der das Sagen hatte. Das nächste Geräusch war so laut, dass L. J. seine Uzis fallen lassen musste, um sich die Ohren zuzuhalten. Der große Typ setzte die Hubschrauberwumme gegen die Fassade des Ladens ein. Dann trat Stille ein. L. J.’s Ohren klingelten immer noch -Scheiße, wahrscheinlich würden sie noch eine Stunde klingeln –, aber der große Typ schoss nicht mehr. Jetzt klaffte ein verdammtes Riesenloch in der Vorderseite, etwa von der Größe des Typen. Es sah aus wie eines dieser Löcher, die Zeichentrickfiguren hinterließen, wenn sie durch eine Wand rannten, die ihre Umrisse nachformte. L. J. hob seine Uzi auf und richtete sie auf die Tür. L. J. Wayne würde sich nicht von einem verschissenen Weißbrot mit einem Raketenwerfer umnieten lassen, auf keinen Fall! Er wartete. Und wartete. Und wartete. Wo zum Teufel steckte dieses Ding? Dann hörte er ein verdammt lautes Krachen und musste husten. Der große Typ kam durch die Scheißdecke, und L. J. schluckte verdammten Gips- und Verputzstaub. Der Typ schoss mit seiner Hubschrauberwumme, und die Cops erwiderten das Feuer. L. J. hockte nur hinter dem Tresen, starr wie eine - 157 -
verdammte Eistüte. Auf keinen Fall würde er sich von der Stelle rühren. Er war zu beschäftigt damit, zu beten und zu hoffen, dass es in der Hölle nicht so schlimm sein würde, wie Momma es immer gesagt hatte. Von hinten rannte einer der Cops herbei. Er hatte eine MP5K und er feuerte sie auf Vollautomatik ab. Der große Typ zuckte nicht einmal zusammen. Er schwang nur herum und schoss mit der Rail-Gun direkt auf den Cop. L. J. blickte nach rechts und sah, dass Henderson mehr Löcher im Balg hatte als ein verdammter Schweizer Käse. Er schaute sich um und sah, dass die anderen Cops ebenfalls tot waren. Scheeeeiiiiße! Die einzige andere Person, die im Mostly Colt außer dem großen Typen und L. J. noch lebte, war Halloran. Er richtete sich mit seinem Gewehr hinter dem Tresen auf. Und, Mann, dieser weiße Scheißkerl sah vielleicht sauer aus! „Fick dich!“, schrie er, lud die Waffe durch und schoss dem großen Typen genau in den Bauch. Nichts. Der große Typ reagierte nicht einmal. Absolut null. Bis er die Helikopterknarre hob und auf Halloran feuerte. L. J. war nicht blöde, und ganz sicher wusste er, dass man nicht auf eine zehn Fuß große Arschgeige schoss, die gerade einen Raum voller Cops alle gemacht hatte. Er ließ seine Uzis fallen. „Respekt“, sagte er schnell, schloss die Augen und wartete darauf, dass der große Typ seinen schwarzen Arsch zur Hölle schickte. „Peace, Mann – Peace.“ Das Einzige, was L. J. bereute, war, dass er sich bei Momma nie dafür entschuldigt hatte, sie in diesen Pyramidenbeschiss hineingezogen zu haben. Sie hatte - 158 -
Jahre gebraucht, um die Strafe abzuzahlen. Er hätte ihr ja geholfen, aber da waren seine eigenen Probleme gewesen. Einige Sekunden später war L. J. immer noch nicht tot. Er machte die Augen auf. Der große Typ marschierte durch das Riesenloch in den Rollläden aus dem Laden hinaus. Scheeeeiiiiße. Vielleicht brachte ihm der Ring allein ja doch eine gehörige Portion Glück.
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Einundzwanzig Jill Valentine sah zu, wie die Frau namens Alice ihre Waffen ablegte. Auf den ersten Blick war Alice kein besonderer Hingucker. Sicher, sie hatte ein hübsches Gesicht, aber ihr Körperbau war ganz gewöhnlich – ordentlich in Form zwar, aber sie sah nicht mehr oder weniger fit aus als jeder andere Zivilist, der regelmäßig Sport trieb. Doch was Jill von ihr gesehen hatte, ging über das Normalmenschliche weit hinaus. Andererseits schien Raccoon City heute Nacht überlaufen zu sein von Dingen, die in diese Schublade passten. Nach dem geheimnisvollen Telefonanruf hatte Alice ihre Begleiter, Jill, Peyton und Morales, zu einer verlassenen Straßenbahn in einer Gasse nahe der Swann Road geführt, um sie darüber zu informieren, was sie erfahren hatte. Trotz allem, was vorging, schaffte Jill es, äußerlich gelassen zu wirken, in erster Linie deshalb, weil jemand gelassen bleiben musste. Peyton führte einen aussichtslosen Kampf gegen die drohende Bewusstlosigkeit, und Morales war völlig durch den Wind. „Sein Name“, sagte Alice, „ist Dr. Charles Ashford. Er leitet die Advanced Genetics and Viral Research Division von Umbrella.“ Morales blinzelte. „Er arbeitet für die?“ „Ja.“ „Was will er von uns?“, fragte Jill. Dass dieser Ashford für Umbrella arbeitete, lag auf der Hand – anderenfalls hätte er sich unmöglich in das Netz der polizeilichen Verkehrsüberwachungskameras einklinken können. Man hätte eigentlich annehmen - 160 -
sollen, dass Morales als Reporterin – na gut, ehemalige Reporterin – wissen müsste, welche Fragen wichtig und welche einfach nur überflüssig waren. Aber, wie gesagt, sie war ja auch nur eine ehemalige Reporterin. Alice beantwortete Jills Frage. „Seine Tochter Angela sitzt in der Stadt fest. Wenn wir sie finden, hilft er uns, aus der Stadt zu entkommen.“ „Nein“, sagte Peyton mit rauer Stimme. „Ich schlage vor, wir suchen uns das Gebäude mit den dicksten Wänden und den stärksten Türen, verbarrikadieren uns darin und warten auf Hilfe.“ Jill schüttelte den Kopf. Unter anderen Umständen hätte sie dem Plan ihres Vorgesetzten zugestimmt. Aber sie hatte das Gefühl, dass es nicht so einfach sein würde. Alice bestätigte dieses Gefühl. „Es wird keine Hilfe kommen. Laut Ashford weiß Umbrella, dass die Infektion nicht aufzuhalten ist. Deshalb wird Raccoon City bei Sonnenaufgang vollständig desinfiziert.“ Morales wurde blass. „Desinfiziert?“ „Ein Präzisionsatomsprengkörper – eine halbe Megatonne. Er wird die Infektion und sämtliche Beweise auslöschen.“ Obwohl sie eine Antwort wie diese erwartet hatte, schauderte Jill. Morales wirkte wie betäubt. Peyton schaute so schockiert drein, wie es ihm in Anbetracht seines teigig bleichen Gesichts und all des Schweißes, der ihm darüber lief, möglich war. „Das glaub ich nicht“, sagte Peyton. „Ich meine… wie sollten sie damit davon kommen? Das käme doch in allen Nachrichten.“ „Die Geschichte, um das Ganze zu vertuschen, ist in der Mache – das ist der einzige Grund, weshalb sie bis zum Morgen warten. Ein Meltdown im örtlichen - 161 -
Atomkraftwerk – ein tragischer Unfall.“ Peyton schüttelte den Kopf. „Nicht einmal Umbrella ist dazu fähig.“ Jill dachte an ihre eigene Situation zurück. Umbrella hatte einen ganzen Wald voller Zombies verschwinden lassen und es geschafft, Cops gegen Cops aufzuhetzen, indem man die Führung des RCPD dazu brachte, einen ihrer besten Leute – sie nämlich – den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen. Und sie waren dazu fähig gewesen, diese Situation überhaupt erst zu erschaffen. Warum also sollten sie nicht auch eine ganze Stadt auslöschen? Sie wandte sich an Alice. „Sie kennen diese Leute – was glauben Sie?“ Ohne zu zögern, sagte Alice: „Ich glaube, wir sollten bei Sonnenaufgang von hier verschwunden sein.“ Wie um ihre Worte zu betonen, rammte sie den Munitions-Clip in eine ihrer Uzis. „Gut“, sagte Jill, „dann mal los.“ Sie hatte ihre beiden Waffen bereits nachgeladen und in die Holster gesteckt. Jetzt half sie Peyton auf die Beine. „Wohin gehen wir?“ „Ashford sagte, dass sich seine Tochter in ihrer Schule versteckt hält – das ist die an der Kreuzung von Hudson und Robertson.“ „Wie kann er sich dessen so sicher sein?“ „Es gibt überall in der Stadt Überwachungskameras. Auf die hat er Zugriff.“ „Na toll. Das heißt aber nicht, dass wir ihm trauen können.“ „Das müssen wir auch nicht.“ Jill schüttelte den Kopf. Die ganze Situation war beschissen, aber das traf auch auf den ganzen Tag zu. Jetzt unternahmen sie wenigstens etwas. Außerdem missfiel Jill die Vorstellung, dass ein kleines Mädchen in diesem Höllenloch festsaß. Selbst wenn ihr Vater ein hohes Tier bei Umbrella war. - 162 -
„Was ist, wenn es keinen Weg aus der Stadt heraus gibt?“, fragte sie Alice, während sie die Straßenbahn zum hinteren Ende der Gasse hin verließen. Alice hob die Schultern. „Hatten Sie heute Nacht noch was anderes vor?“ Jill grinste schief. „Nein, ich laufe immer in solchen Klamotten herum.“ Als Alice das Lächeln erwiderte – ein richtiges Lächeln diesmal, kein maskenhaftes Grinsen, wie sie es bisher hin und wieder gezeigt hatte –, wurde Jill bewusst, dass sie diesen Ausdruck zum ersten Mal bei Alice sah. Sie hatte immer noch diese Härte und Strenge – wie ein japanisches katana, elegant und doch unzerstörbar –, aber das Lächeln ließ sie etwas menschlicher erscheinen. Dann erlosch es, und Alice blieb stehen. „Wartet.“ Sie befanden sich nach wie vor in der Gasse, direkt neben einem verlassenen Steifenwagen des RCPD. Alices Blick wanderte den Weg hinunter und fand dort etwas an der Einmündung in die Swann Road. „Was ist?“, fragte Jill. Doch Alice starrte nur weiter die Gasse entlang. Peyton wollte an ihr vorbeigehen, aber sie streckte die Hand aus und hielt ihn am Arm zurück. „Nein.“ Peyton bedachte die Hand mit einem finsteren Blick und knurrte: „Der Sonnenaufgang wartet nicht.“ „Da draußen ist etwas.“ Alice sprach mit einer Sicherheit und Endgültigkeit, die Jill mehr als beunruhigte. Jill sah nichts – keine Bewegung, rein gar nichts. Ein Teil von ihr wollte glauben, dass Alice die Wahrheit sagte, aber sie wusste doch wirklich verdammt wenig über diese Frau. Andererseits hatte Alice bereits bewiesen, dass sie sie - 163 -
alle drei schon mehrere Male hätte töten können. Sie hatte es aber nicht getan – eine Gnade, die sie den Monstern in der Kirche und den Zombies auf dem Friedhof nicht gewährt hatte. Das war doch zumindest eine Grundlage für ein bisschen Vertrauen. Aber Jill sah noch immer nichts am Ende der Gasse. „Ich sehe nichts“, sagte Peyton gereizt. „Das ändert nichts an der Tatsache, dass dort draußen etwas ist.“ Wieder war da diese Gewissheit in Alices Stimme. „Wir haben keine Zeit für solchen Scheiß.“ Peyton schob sich an Alice vorbei und ging weiter die Gasse hinunter. „Nein…“, begann Alice, aber Peyton schenkte ihr keine Beachtung. Jill wollte ihm gerade folgen, als der Lärm Dutzender gleichzeitig abgefeuerter Schüsse gegen ihr Gehör brandete… … und als diese Schüsse in Peyton einschlugen. Blut spritzte umher, als die Kugeln durch seinen Körper fetzten, und er flog förmlich nach hinten. Er war tot, bevor er den Boden berührte, was ungefähr sechs Fuß von der Stelle entfernt geschah, wo er eben noch gestanden hatte. „Peyton! Nein!“ Jill sah auf, als eine Gestalt aus den Schatten trat. „Gestalt“ war nicht das richtige Wort. Das… Wesen war mindestens acht Fuß groß und hatte gewaltige Muskeln. Schläuche ragten aus seinem Fleisch und bohrten sich an anderen Stellen wieder hinein. Es hatte eine Waffe bei sich, die etwa so groß wie Texas war, und auf dem Rücken trug es einen Raketenwerfer, genau auf dieselbe Weise, wie Alice sich ihre Shotgun umgehängt hatte. Wie es dieser Typ geschafft hatte, sich in den Schatten zu verbergen, ging über Jills Begriffsvermögen hinaus. Morales sah aus, als habe sie sich in die Hose - 164 -
gemacht. „Was ist das? Kann mir jemand sagen, was zur Hölle das ist?“ „Nemesis.“ Jill kreiselte herum und starrte Alice an, die das Wort nur geflüstert hatte. Dann blickte sie auf den Leichnam von Peyton Wells hinunter. Im Gegensatz zu den hohen Tieren beim RCPD hatte Peyton ihr immer geglaubt – mehr noch, er hatte an Jill geglaubt. Nicht jeder war absolut begeistert davon, dass eine gut aussehende junge Frau bei S.T.A.R.S. war. Die Tatsache, dass sie eine meisterhafte Schützin und brillante Polizistin war und das Leben der Bürgermeisterin gerettet hatte, war nur zweitrangig gegenüber der, dass sie eine attraktive junge Frau war und somit unmöglich gut genug für S.T.A.R.S. sein konnte – es sei denn, sie hätte sich nach oben gefickt. Peyton hatte sich jeden vorgeknöpft, der versucht hatte, sie dessen zu beschuldigen – nicht, dass sie Hilfe brauchte, sie wusste sich selbst sehr gut gegen die sexistischen Arschlöcher zu wehren. Dennoch war sie dankbar für die Unterstützung gewesen. Peyton hatte sogar Henderson zusammengestaucht, als man Jill suspendierte, was ihm beinahe selbst eine Suspendierung eingehandelt hätte. Und jetzt lag er tot in einer Gasse. Jill Valentine hatte heute eine Menge Leichen gesehen, mehr als in ihren ganzen Jahren bei der Polizei. Aber von all den Toten war dies der Erste, der ihr etwas bedeutete. Das Nächste, was sie bewusst tat, war, mit ihren beiden Automatikwaffen auf das Nemesis-Ding zu feuern. Jeder Schuss traf sein Ziel. Aber keiner zeigte Wirkung. Nemesis zuckte unter den Treffern nicht einmal - 165 -
zusammen. Tatenlos jedoch blieb er nicht. Er hob den Arm, der die große Waffe hielt. Als Jill sich hinter einen Müllcontainer warf, immer noch aus beiden Läufen feuernd, erkannte sie Nemesis’ „Handfeuerwaffe“ endlich als Rail-Gun. Wenn sie auch nur von einer Kugel daraus getroffen wurde, würde diese durch ihren Körper pflügen, als bestünde er aus Klopapier. Genau wie es bei Peyton geschehen war. Als sie hinter dem Container aufkam, klickten ihre Waffen nur noch. Eine Millisekunde später hämmerten die Schüsse der Rail-Gun gegen den Container, doch keine der Kugeln bohrte sich hindurch. Bislang. Jill lud nach und fragte sich, wie sie aus dieser Sache herauskommen sollten. Jeder einzelne ihrer Schüsse hatte getroffen – Jill hatte bisher noch nie daneben geschossen, und das hatte sie auch jetzt nicht getan. Aber dieses Nemesis-Ding war offenbar kugelsicher. Wirklich großartig . Die Schüsse verstummten. Jill riskierte einen Blick über den Container hinweg. Sie sah, wie Nemesis Alice anstarrte. Und wie Alice Nemesis anstarrte. Hinter ihnen filmte Morales das Ganze. Mehr Futter für ihren verdammten Emmy. Was zum Teufel ging denn hier ab? „Du musst gehen“, sagte Alice zu Jill, ohne sie dabei anzusehen. Sie und Nemesis duellierten sich mit Blicken. „Los, mach schon!“ Ohne es zu wollen, sah Jill auf Peytons Leiche hinab. Obwohl sie ihren Blick nicht von Nemesis abwandte, wusste Alice offenbar, dass Jill ihren Freund betrachtete. „Er ist tot. Du kannst ihm folgen – oder du kannst tun, was ich dir sage.“ - 166 -
Jill schaute noch immer auf Peytons Leichnam. Wie man es auch drehte und wendete, er war ohne jeden Zweifel tot. Er hatte mehr Löcher im Leib als Julius Cäsar. Aus irgendeinem irrsinnigen Grund traute sie Alice. Und aus irgendeinem irrsinnigen Grund stellte sich Alice Nemesis alleine entgegen. Sollte sie doch! Jill rannte aus der Gasse. Das Erste, was sie sah, war ein Pick-up-Truck, der im rechten Winkel zum Mittelstreifen auf der Swann Road stand. Die Fahrertür war weit offen. Jill beugte sich in den Wagen, tastete unter dem Armaturenbrett herum und riss die Abdeckung über der Zündung heraus, damit sie das Fahrzeug kurzschließen konnte. Zu Jills Überraschung stieg Morales auf der Beifahrerseite ein. „Was denn?“, fragte Jill, ohne die Reporterin anzusehen. „Wollen Sie denn nicht den großen Kampf filmen?“ „Zur Hölle damit – ich will hier raus. Dieser Ashford will, dass wir seine Tochter finden, damit wir verschwinden können. Ich bin einverstanden mit diesem Deal. Ich will nicht so enden wie Ihr Freund Wells.“ Jill knirschte mit den Zähnen, sagte jedoch nichts und setzte ihre Bemühungen fort. „Außerdem – ist dieses Weib verrückt. Mit diesem Ding kann sie nicht fertig werden.“ Der Motor erwachte brüllend zum Leben. Jill dankte im Stillen ihrem Vater für alles, was er ihr in ihrer vergeudeten Jugend beigebracht hatte, und wand sich aus dem Fahrzeug heraus… … wo sie sich der blutigen, von Kugeln durchsiebten Gestalt von Peyton Wells gegenübersah. „Peyton!“ Die Teile seines Gesichts, die nicht blutverschmiert - 167 -
waren, wirkten jetzt noch blasser, und seine Augen glänzten wäßrig. Jill zog eine ihrer Automatikwaffen, als Peyton Anstalten machte, sie in den Hals zu beißen. Sie trat ihn von sich weg und zielte mit der Waffe auf seinen Kopf. Aber sie konnte nicht abdrücken. Dann sprang Peyton wieder vor. Morales schrie. Jill erinnerte sich an das, was sie auf dem Friedhof zu Alice gesagt hatte: „ Wenn es so weit ist – werde ich mich selbst darum kümmern.“ Sie drückte ab. Peytons Kopf ruckte unter dem Treffer nach hinten. Dann kippte seine jetzt vollends tote Gestalt vornüber und in Jills Arme. Angewidert sprang Jill zurück in die Fahrerkabine des Pick-ups und ließ Peytons Leiche zu Boden fallen. „Himmelherrgottverdammtescheiße!“ „Amen“, murmelte Morales. „Kommen Sie“, sagte Jill, „wir haben ein kleines Kind zu retten.“ Sie zog die Tür zu, schnallte sich an, legte den Gang ein und führ an. Im nächsten Moment sprang eine Gestalt vor den Truck.
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Zweiundzwanzig Alice starrte Nemesis an. Sie wusste vom Nemesis-Programm, natürlich – als Security-Leiterin des Hives musste sie davon wissen. Aber so weit sie gehört hatte, war das Projekt nicht besonders gut gelaufen. Sämtliche vorherigen Versuche, eine Superwaffe zu erschaffen, waren fürchterlich fehlgeschlagen. Und doch, hier stand sie nun Auge in Auge einem Erfolg eben dieses Experiments gegenüber. Und einem verdammt großen Erfolg noch dazu. Alice verfluchte sich dafür, dass sie das Ganze so langsam angegangen war. Die Idee, sich Lisa Browards Hilfe zu versichern, um die Hurensöhne als solche zu entlarven, war ihr schon vor Wochen gekommen. Aber sie war vorsichtig zu Werke gegangen. Erst hatte sie sich vergewissern müssen, dass Lisa die Richtige für diese Aufgabe war. Dann musste Alice sie rekrutieren, was sie beim Mittagessen im Che Buono getan hatte. Was also war geschehen? Genau an dem Tag, da sie ihren Plan umsetzen wollte, beschloss Spence, das TVirus im Hive freizusetzen, um von seinem Diebstahl eben dieses Virus abzulenken. Wenn sie ihren Zug nur einen Tag früher gemacht hätte, wäre nichts von all dem passiert. Sie ließ Nemesis nicht aus dem Blick. Irgendetwas an seinen Augen kam ihr vertraut vor. Nein, es war mehr als nur das – an Nemesis selbst war etwas Vertrautes. Nicht nur an seinem Körper, sondern an seinem ganzen Wesen, so bizarr das auch klang. Ihr Herz klopfte laut in ihrer Brust. Seit sie im Raccoon City Hospital aufgewacht war, spürte sie dank ihrer geschärften Sinne ihren Herzschlag, aber jetzt war das - 169 -
Gefühl noch intensiver als zuvor. Und im nächsten Moment wusste sie auch, warum. Sie hörte nicht nur ihr eigenes Herz – sie hörte auch das von Nemesis. Und es schlug in absoluten Gleichklang mit ihrem. Dann machte Nemesis einen Schritt nach vorn. Genau wie Alice. Sie zog ihre beiden Uzis. Nemesis hob die Rail-Gun. Alice feuerte beide Uzis auf Nemesis ab. Die Kreatur wurde nicht einmal langsamer, als die Kugeln in ihre Brust einschlugen. Sie stürmten wie zwei Stiere aufeinander zu, bis sie nur noch drei Schritte voneinander entfernt waren. Dann sprang Alice in die Luft, schlug einen Salto über Nemesis’ acht Fuß große Gestalt hinweg und kam hinter ihm sicher auf. Bevor Nemesis sich nach ihr umdrehen konnte, rannte sie auf das Basketballfeld zu, das jenseits der Gasse lag. Sie schlug die Tür in der Umzäunung hinter sich zu, als sie auf den Platz hinausrannte, aber das hielt Nemesis natürlich nicht auf. Doch zu Alices Überraschung zerfetzte Nemesis den Maschendrahtzaun nicht einfach. Er stieg auf den RCPD-Streifenwagen und sprang von dort aus über den Zaun. Als Nemesis auf dem Feld landete, bekam der Asphalt unter seinen riesenhaften Füßen Risse. Dann hob er eine gewaltige Faust und ließ sie nach unten fahren. Hätte Alice sich nicht zur Seite geworfen, hätte die Faust sie zu Brei zermalmt. Sie blieb in Bewegung und ließ Nemesis keine Chance, sie anzuvisieren. Sie sprintete auf dem Basketballplatz hin und her. Leider nützte ihr der begrenzte Raum nichts. Ihre größten Vorteile waren Geschwindigkeit und Flinkheit, und dafür brauchte sie Platz. - 170 -
Binnen weniger Augenblicke hatte er sie in eine Ecke und damit in die Enge getrieben. Sie kletterte am Zaun empor und ließ sich auf der anderen Seite fallen. Elegant kam sie am Boden auf. Sie wusste, dass ihr diese Aktion nur ein paar Sekunden Vorsprung brachte. Aber wenn sie Glück hatte, reichte das. Sie rannte auf die Swann Road hinaus, überquerte die Straße und hielt auf ein Bürogebäude an der Ecke zur Cleveland Street zu. Die Tür lag um die Ecke an der Cleveland Street, aber direkt vor ihr befand sich ein Fenster, das ihr vollkommen genügte. Alice rannte, sprang und brach durch das Fenster. Sie schützte ihr Gesicht mit den Armen. Im selben Moment hörte sie das Krachen der Rail-Gun. Verdammt. Kalter Schmerz fuhr durch ihre Arme und Schultern, als Glasscherben ihre Haut aufschnitten, unmittelbar gefolgt von einem einzelnen heißen Schmerz in ihrem linken Arm. Eine der Kugeln aus der Rail-Gun hatte sie getroffen. Das Erstaunliche war, dass sie nur von einem Schuss erwischt worden war. Von Glasscherben bedeckt rollte sie über den Boden, richtete sich taumelnd auf und rannte, das Blut und die Schmerzen ignorierend, weiter. Von hinten kam das Donnern einer acht Fuß großen genetisch erschaffenen Monstrosität, die durch eine Mauer brach und Verputz und Ziegel bersten ließ. Alice hoffte, dass das Ungetüm keinen Stützbalken umriss. Nemesis machte beträchtlich größere Schritte als sie und holte bereits auf. Und so rannte Alice einfach weiter, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wohin sie eigentlich lief. Das erwies sich als Fehler. Nach wenigen Sekunden - 171 -
schon fand sie sich in einer Sackgasse wieder – vor ihr war eine Wand, hinter der sich ein Postschacht befand, der von einer Luke verdeckt wurde, und es gab keinen anderen Weg als den nach hinten. Aber dort hinten lauerte Nemesis mit zwei überdimensionierten Waffen. Ohne innezuhalten, hob Alice ihre Uzis und begann auf die Luke des Postschachts zu schießen, dann warf sie sich mit dem Kopf zuerst nach vorne, so wie sie es kurz zuvor beim Fenster getan hatte, und hoffte, dass die Einschüsse die Luke so in Mitleidenschaft gezogen hatten, dass sie hindurchbrechen konnte. Sie hatte Glück. Die Luke gab nach, der Aufprall jagte eine Schmerzwelle durch ihre Knochen, und dann stürzte sie den Schacht hinunter. Den sehr engen Schacht. Nemesis würde unmöglich hindurchpassen, und er hatte auch keine Möglichkeit, den Schacht zu weiten. Er konnte ihr nur folgen, wenn er nach draußen und um das Gebäude herum zur Rückseite ging. Und bis dahin wollte Alice längst verschwunden sein. Hart landete sie auf dem Kellerboden. Drei Meter rechts von ihr lag der große Postauffangbehälter – von dem sie gehofft hatte, dass er ihren Sturz abfangen würde –, der normalerweise unter dem Schacht stand. Er war umgekippt und in Stücke zerrissen. Als sie sich aufrappelte, schossen mehrere weißglühende Lanzen aus Schmerz durch ihren linken Arm. Beim Durchbrechen der Luke in den Schacht hatte sie sich eine Schulter ausgekugelt, in ihrem Bizeps steckte eine Kugel, und beim Aufprall hier unten hatte sie sich zwei Finger gebrochen. Ganz zu schweigen von all den Schnittwunden, die sie sich bei ihrem Sprung durch das Fenster zugezogen hatte. Sie rannte quer durch den Raum und ließ sich gegenüber der einzigen Tür gegen eine Wand und hinter - 172 -
mehrere Postbehälter sinken. Mit etwas Glück würde Nemesis sie nicht sehen, wenn er hereinkam. Mit einer Hand machte sie aus einem Leinwandstreifen des zertrümmerten Auffangbehälters eine Aderpresse, mit der sie die Blutung ihrer Schusswunde stoppte. Vor Jahren, als sie noch beim Finanzministerium gearbeitet hatte, war Alice in einen Kampf mit einem Straßenräuber verwickelt gewesen, der sie für eine hilflose junge Frau gehalten hatte, die in Washington, D.C. eine dunkle Straße entlangging. Sie hatte ihn rasch eines Besseren belehrt, aber zuvor hatte ihr der Scheißkerl noch mit seinem Springmesser die Schulter aufgeschlitzt. Die Narbe von dieser Begegnung hatte Alice immer noch. Aber wichtiger war, dass sie sich noch an die sengende Agonie dieser Messerwunde erinnerte, als sie noch ganz frisch war, und an den steten Schmerz, mit dem die Wunde verheilt war. Es hatte Wochen gedauert, bis sie ihren linken Arm wieder voll gebrauchen konnte – was sie fast in den Wahnsinn getrieben hatte, weil Alice Linkshänderin war. Was ihr jetzt auffiel, war, dass die Verletzung, die sie sich heute zugezogen hatte, um einiges schlimmer war als jene Messerwunde – und doch schwächte der damit verbundene Schmerz sie weit weniger. Sie wusste, dass der Schock oder der Blutverlust ihr eigentlich das Bewusstsein hätten rauben müssen. Aber das war nicht der Fall. Stattdessen renkte sie ihre Schulter wieder ein und setzte ihre gebrochenen Fingerknochen wieder zusammen. Die Schmerzen waren immens, doch Alice empfand sie nur auf geistiger Ebene. Sie zehrten nicht an ihren Kräften. Sie fügte auch das der Liste von Dingen hinzu, die Umbrella mit ihr angestellt hatte… - 173 -
Als sie ihren Arm betrachtete, sah sie, dass die Schnittwunden, die sie beim Sprung durch das Fenster erlitten hatte, bereits verheilt waren. Zufrieden, dass sie sich nicht geschlagen geben musste, erhob sie sich. Ihr rechtes Bein, das sich nach ihrer Landung im Keller etwas wackelig angefühlt hatte, war jetzt wieder in Ordnung. Immer noch kein Anzeichen von Nemesis. Sie riskierte es, auf die einzige Tür zuzugehen. Sie hatten immer noch ein kleines Mädchen zu retten.
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Dreiundzwanzig Jill Valentine wollte nichts weiter, als aus Raccoon City verschwinden. Wenn sie ganz brutal ehrlich zu sich selbst war – und was für einen besseren Zeitpunkt konnte es dafür geben als jetzt, da sie mit einem kurzgeschlossenen Truck durch die toten Straßen der Stadt fuhr, eine verängstigte Wetterfee auf dem Beifahrersitz, und kurz nachdem sie einen ihrer besten Freunde in den Kopf geschossen hatte, weil der zum Zombie geworden war? –, war das ihr Ziel gewesen, seit man sie suspendiert hatte. Alles, was sie je interessiert hatte, war, Polizistin beim RCPD zu werden. Der größte Moment ihres Lebens war ihr Abschluss der Polizeischule gewesen, dicht gefolgt von der enormen Ehre, zu S.T.A.R.S. berufen zu werden. Aber jetzt war die Stadt dem Irrsinn verfallen und starb. Nein, sie war bereits tot. Sie war in dem Augenblick gestorben, da Umbrella mit den Zombieexperimenten begonnen hatte. Das hatte sowohl zu Jills Suspendierung geführt – und ihre Laufbahn als Cop in dieser Stadt irreparabel geschädigt – als auch zum heutigen Desaster. Ihr ganzes Leben war auf einen Befehl reduziert worden: Raus aus Raccoon! Und im Moment bedeutete das, Angela Ashford zu finden, damit ihr Vater ihnen den Weg nach draußen ebnete. Und wenn ihr Dad auf die dumme Idee kommen sollte, sich nicht an die Abmachung zu halten, würde Jill nicht zögern, Angela als Geisel zu benutzen, um zu bekommen, was sie wollte. Das mochte nicht ganz den Regeln aus dem Handbuch der ,Good Guys’ entsprechen, aber das kümmerte Jill - 175 -
längst nicht mehr. Kurz sah sie auf ihre Hände hinab. Sie waren immer noch blutverschmiert. Mit Peytons Blut. Als sie aufsah, erblickte sie einen Mann, der vor ihr mitten auf der Straße auf- und abhüpfte. Instinktiv trat Jill auf die Bremse. Irgendwie kam ihr der Typ bekannt vor. Dann fiel es ihr wieder ein – der Gangster, der im Squad-Room des Hauptreviers beinahe von einer Zombienutte gebissen worden wäre. Er plapperte wie ein Maschinengewehr, genau wie er es auf dem Revier getan hatte, und er hatte keine sichtbaren Verletzungen, war also nicht infiziert. Noch nicht. Der Gangster rannte zum Fenster auf der Fahrerseite, wo Jill ihm die Mündung einer ihrer Waffen ins Gesicht drückte. Mit erhobenen Händen rief der Gangster: „Alles cool, Officer, alles cool! Ich bin keins von diesen Dingern! Bin nicht mal gebissen worden.“ Um das zu beweisen, drehte er sich einmal um seine eigene Achse. Seine Kleidung war etwas ramponiert – und verdammt hässlich –, aber er war zumindest nicht ernstlich verletzt. Mit Geste zur Beifahrerseite sagte sie: „Steig ein.“ Während der Gangster um den Truck herum zur anderen Seite lief, sagte er: „Verdammt – ich dachte, ich sei der letzte Überlebende, aber als ich die Schüsse hörte, bin ich hergerannt.“ Er öffnete die Tür, rutschte neben Morales auf den Sitz und hielt ihr die Hand hin. „Lloyd Jefferson Wayne. In Anbetracht der legeren Lage können Sie mich L. J. nennen.“ Bevor L. J. die Tür schließen konnte, fuhr Jill wieder an und die Straße hinunter. - 176 -
„Terri Morales.“ Sie schüttelte L. J. die Hand. L. J. sprang beinahe aus dem Sitz. „Scheiße, ich kenn Sie! Ich kenn Sie! Sie machen das Wetter – Sie sind ‘ne gottverdammte Berühmtheit!“ „Ja, das bin ich“, sagte Morales, und zum ersten Mal seit Ravens’ Gate hellte sich ihre Miene auf. Jill knirschte mit den Zähnen. Sie hatte Peyton verloren. Alice tanzte irgendwo mit dem FrankensteinMonster, und wen hatte sie an der Backe? Einen starbegeisterten Schmalspurganoven und die Wettertusse von Raccoon 7. Die Alternative, sich selbst in den Kopf zu schießen, erschien ihr zunehmend verlockender. „Meine Fresse! Terri Morales, Sie sind der Hammer, Baby!“ „Oh, danke, L. X, es ist schön, wenn man bei den Leuten ankommt.“ Andererseits gefiel Jill die Idee, Morales und L. J. in den Kopf zu schießen, noch um einiges besser. Als sie in die Hudson Avenue abbog, fragte L. J.: „Hey, Cop-Lady, wo fahren wir überhaupt hin? Ich kann Ihnen nämlich sagen, dass das nicht der Weg aus der Stadt raus ist, und woanders kann man nicht hin, alles klar?“ „Wir suchen ein kleines Mädchen namens Angela Ashford.“ „Wollen Sie mich verscheißern? Wir sollen in dieser Stadt ein kleines Kind finden? Hey, wir reden hier von Stecknadeln und Heuhaufen.“ „Wir wissen, wo sie sich wahrscheinlich aufhält“, sagte Jill. „Wenn wir sie finden, wird ihr Vater uns helfen, die Stadt zu verlassen.“ „Ja, okay, bin ich voll dafür. Ich hab heute eine Scheiße gesehen, bei der sogar ich weiß werden könnte. Wenn ihr mich hier rausholen und irgendwo hinbringen könnt, wo’s keine Scheißzombies und keine weißen Riesenscheißer mit Schläuchen in den Armen gibt, die - 177 -
Cops abknallen…“ „Was haben Sie gesagt?“, fragte Jill rasch. „Was hab ich wann gesagt?“ „Wer hat Cops abgeknallt?“ „Dieser zwölf Fuß große Scheißer mit den Schläuchen und den Riesenknarren hat Mostly Colt, diesen Waffenladen, zusammengeballert. War irgend so ein Cop namens Henderson drin, dazu ein paar von dieser Mondtruppe.“ Jill umklammerte das Lenkrad fester. „Sie meinen sicher S.T.A.R.S.“ „Ja, oder so, Baby, jedenfalls sind die jetzt alle tot wegen diesem Riesenarsch. Das heißt also, je schneller Sie meinen dürren Hintern hier rausschaffen, desto besser.“ „Damit eines klar ist, Arschloch“, sagte Jill mit scharfer Stimme. „Wenn du uns hilfst, kommst du auch aus der Stadt raus. Wenn du mir auch nur ein bisschen in den Weg kommst – oder von einem unserer Mitbürger gebissen wirst – , jage ich dir eine Kugel in die Erbse, die du Gehirn nennst, verstanden?“ L. J. hob die Hände. „Hey, alles cool, alles cool, ey. Sie sind die Chefin.“ „Vergiss das nur nicht.“ Kopfschüttelnd lenkte sie den Pick-up über die Kreuzung Hudson und Robertson. Henderson war tot. Das war wohl eine Art göttliche Heimzahlung dafür, dass es Peyton erwischt hatte. Sie fragte sich, wer sonst noch bei Henderson gewesen sein mochte. Markinson wahrscheinlich – wenn er sich zu weit von Hendersons Arsch entfernte, litt sein Naschen vermutlich unter Entzugserscheinungen –, und vielleicht auch Wyrnowski. Und wenn sie in einem Waffengeschäft waren, dann war Guthrie, dieser Redneck, mit fast hundertprozentiger Sicherheit auch bei ihnen. - 178 -
Alle tot. Die bislang Letzten in einer langen Reihe. Es bereitete Jill kein Problem, die Schule zu finden – von allen Gebäuden auf dieser Seite der Hudson Avenue war die Schule das einzige, vor dem noch Licht brannte. Jill fragte sich, ob das ein gutes Zeichen war. Sie parkte den Wagen direkt vor dem Schultor. Nicht weit entfernt machte sie ein Fahrzeug aus, das gegen eines der Gebäude neben dem verwaisten Spielplatz gekracht war. Aus dieser Entfernung sah es aus wie ein RCPD-Truck, aber sie konnte nicht erkennen, zu welcher Abteilung er gehörte – und im Augenblick interessierte sie das nicht genug, um hinzugehen und nachzusehen. Sie hatten ein Mädchen zu finden. Inzwischen frönte L. J. wieder seiner Starbegeisterung. „Mann, Terri Morales. Ist das eigentlich schwer? Ich mein’, zum Fernsehen zu kommen und so ‘n Scheiß?“ „Es bedarf harter Arbeit und Entschlossenheit“, sagte Morales mit einem derart strahlenden Lächeln, dass Jill der Versuchung widerstehen musste, mit der Faust hineinzuschlagen. Beide Waffen gezogen näherte sich Jill der Eingangstür der Schule. Morales und L. J. folgten ihr dichtauf. Die Tür war nur angelehnt. Sie quietschte, als Jill sie aufdrückte. „Verdammt, hier geht ja voll der Horrorfilmscheiß ab.“ L. J. hatte es geschafft, ganze drei Sekunden nicht zu quasseln, was offenbar mehr war, als er ertragen konnte. Vor ihnen erstreckte sich ein langer, dunkler Korridor, an dessen Seiten sich Spinde und die Türen zu den Klassenzimmern reihten. Morales murmelte: „Ich habe die Schule immer gehasst.“ - 179 -
„Ich nicht.“ L. J. zuckte die Achseln. „Ich war in meiner Schule der Ghetto-Superstar. Knarren, Drogen, Nutten – hab ich alles im Renaissancestil abgezogen!“ Jill hatte endgültig die Nase voll. „Besteht irgendwie die Gefahr, dass du mal einen Augenblick lang das Maul hältst?“ L. J. hob verteidigend die Hände, sagte aber, o Wunder, nichts. „Wir müssen uns aufteilen, um das Gebäude zu durchsuchen.“ „Vergessen Sie’s“, sagte Morales. „Ich hab nicht mal eine Waffe. Ich geh nirgendwo alleine hin.“ „Ich könnte Sie begleiten“, meinte L. J. mit breitem Lächeln. Mit einem Blick auf L. J. sagte Jill: „Du nimmst den Ostflügel.“ Dann reichte sie Morales eine ihrer Pistolen. „Und Sie nehmen den Westflügel.“ Morales nahm die Automatik und hielt sie, als sei es eine tote Ratte. „Ich habe noch nie mit einer Waffe geschossen.“ Jill widerstand der Versuchung, ihr zu sagen, dass sie ihnen allen einen Gefallen täte, wenn sie sich ins Knie schießen würde. Stattdessen erklärte sie in ermutigendem Ton: „Das ist nicht schwierig. Zielen, abdrücken, wiederholen.“ Mit einem Lächeln fügte sie hinzu: „Versuchen Sie, den Dingern in den Kopf zu schießen.“ Unter normalen Umständen hätte Jill nicht auf diese Aufteilung bestanden, da L. J. bestenfalls unzuverlässig und Morales bestenfalls absolut unfähig war, aber ihnen lief die Zeit davon. Wenn sie Raccoon bei Sonnenaufgang nicht verlassen hatten, würde ihre bislang anhaltende Glückssträhne, der sie es verdankten, in dieser zur Todesfalle gewordenen Stadt noch am Leben zu sein, ein jähes Ende finden. Sie mussten Angela Ashford finden, und zwar schnell. - 180 -
Jill nahm sich den Keller vor, weil sie vermutete, dass sie das Mädchen dort wohl am ehesten finden würde. Ein kleines Kind, das sich verstecken wollte, ging sicher nach unten. Als sie die Tür zum Keller öffnete, hörte sie Morales murmeln: „Zielen, abdrücken, wiederholen, zielen, abdrücken, wiederholen, zielen, abdrücken, wiederholen…“ Wenn sie wirklich Glück hatte, würde Jill das Kind finden und verschwinden können, bevor L. J. und Morales auch nur merkten, dass sie fort war. Nein, das wäre nicht fair. Sie verdienten ebenso eine Chance zu leben… … wie Peyton sie gehabt hatte? Verdammt. Der Keller war ein Labyrinth aus Kühlungsschächten, Heizrohren und schlechter Beleuchtung. Jill hatte eine Taschenlampe, aber der Strahl war kaum imstande, das Dunkel zu durchdringen. Hier unten konnte sich alles Mögliche versteckt halten.
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Vierundzwanzig Den Titelsong von Shaft summend – er hätte ihn ja gesungen, aber bis auf den Satz „Shut yo’ mouth!“ konnte er sich an keinen Text mehr erinnern – trottete L. J. durch die Gänge der finsteren Schule. Das, befand er, war cool. Ja, okay, die meisten Einwohner der Stadt waren tot, aber L. J. zappelte noch, und nur darauf kam es an. Und jetzt war er unterwegs, um ein kleines Mädchen zu retten. Und das, nachdem er das verdammte St.-Valentine’sDay-Massacre in Hallorans Waffenladen überlebt hatte. Aber das Beste war, dass er mit Terri Morales abhing! Eine gottverdammte Berühmtheit! Nicht schlecht für einen Typen aus seiner Nachbarschaft. Er betrat das erste Zimmer, auf das er in diesem Flügel stieß. Es sah aus wie ein Labor – darin standen diese großen Tische mit den schwarzen Oberflächen, Wasserhähnen, Bunsenbrennern und all dem Scheiß. Entlang der Wand reihten sich alle möglichen Gläser mit schmutzigem Wasser und toten Tieren. L. J. schüttelte den Kopf. Kein Wunder, dass die Welt am Rad drehte, wenn man kleine Kinder mit so ‘nem Scheiß spielen ließ. Auf der anderen Seite des Raumes befand sich eine Tür mit Milchglaseinsatz. Dort bewahrte der Lehrer wahrscheinlich all die Ersatzleichen und ähnlichen Scheiß auf. Mann! Dann blinzelte L. J. – er sah etwas durch das Scheißfenster! Scheeeiiiße. L. J. erster Impuls war, seinen Arsch hier rauszubewegen, aber dann blieb er stehen. - 182 -
Er hatte das Bullenhaus überlebt, das in Die Nacht der lebenden Leichen verwandelt worden war. Er hatte es überlebt, dass er fast von dieser RashondaScheißzombie-Nutte gefressen worden wäre. Er hatte einen Auto-Crash überlebt. Und er hatte vor allem diesen Riesenarsch überlebt, der einen Raum voller Cops zu Klump geschossen hatte. Also konnte er auch diesen Scheiß überleben, kein Problem. Er ging zu der Tür. Legte seine Hand auf den Griff. Nahm seine Hand vom Griff. Widerstand abermals dem Drang, davonzurennen. Endlich riss er die Tür auf, hob seine maßgefertigte Uzi, bereit, diesem Zombie eine Kugel mitten in den Arsch zu pfeffern… Hinter der Tür war ein Skelett. Eines dieser Scheißplastikskelette, die am Haken hingen und die L. J. in Zuhälterklamotten gesteckt hatte, als er zur Schule gegangen war. Scheeeiiiße. L. J. war sauer und froh in einem. Ja, klar, er musste es nicht mit einem dieser Scheißzombies aufnehmen – andererseits durfte er es nicht mit einem dieser Scheißzombies aufnehmen, er durfte nur wie ein blödes Arschloch aussehen. Wenigstens sah Terri nicht, wie er sich zum Idioten machte. Er senkte seine Uzi, drehte sich um… … und stieß direkt gegen einen Scheißzombie! Er hob seine Uzi erneut. Der Zombie war ein Weißer mit einer widerlichen Matte auf dem Schädel und einem potthässlichen Schnurrbart – wahrscheinlich ein Lehrer, den Klamotten nach zu schließen, die der Scheißer trug –, und er packte L. J.’s Uzi, bevor der etwas damit anstellen konnte. - 183 -
Dann schickte sich der Zombielehrer an, L. J. zu beißen, genau wie Rashonda es getan hatte. L. J. steckte fest – auf der einen Seite war das Skelett, auf der anderen der Zombie. Zum zweiten Mal heute – Scheiße, zum zweiten Mal im Leben - betete L. J. Jemand packte den Zombie von hinten und brach ihm das Genick. Die Kreatur fiel zu Boden. L. J. blinzelte. Ein Typ in schwarzer Uniform hatte den Zombie gekillt! Heilige Scheiße! An der Uniform befand sich ein Namensschild, auf dem OLIVERA stand. Olivera bückte sich, hob L. J.’s Uzi auf und hielt sie ihm hin. „Ich glaube, die gehört dir.“ Noch immer verblüfft nahm L. J. die Waffe entgegen. Außerdem konnte er diesen Olivera jetzt besser erkennen. Er schwitzte wie blöd, und seine Augen waren rot geädert. „Hat er dich auch angerufen?“, fragte Olivera. „Was?“ „Bist du wegen des Mädchens hier?“ L. J. nickte. „Ja, ja – wir suchen die kleine Ashford. Mit der kommen wir hier raus.“ „Ashford hat nichts davon gesagt, dass er auch mit anderen einen Deal gemacht hat… Naja, sieht so aus, als wären wir Partner.“ „Moment mal!“ Das gefiel L. J. gar nicht. Er hatte es allein auf dem Kasten, er brauchte keine Hilfe. „Langsam mit dem Partnerscheiß!“ Olivera sah ihn scharf an. Scheiße, wenn alle Cops vom RCPD so hätten starren können, würden sie mehr Geständnisse aus ihren Kunden raus bekommen. L. J. sagte: „Gut, meinetwegen. Partner. Aber erzähl - 184 -
keinem von der Knarre, okay?“ „Meine Lippen sind versiegelt“, sagte Olivera. „Gehen wir.“
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Fünfundzwanzig „Zielen, abdrücken, wiederholen.“ Das alles war D. J. Mclnerneys Schuld. „Zielen, abdrücken, wiederholen.“ Es war D. J. gewesen, von dem Terri Morales das Material über Stadtrat Miller erhalten hatte. Es war D. J. der ihr versicherte, das Zeug sei echt. Es war D. J. der ihr sagte, dass eine Bestätigung nicht vonnöten sei. „Zielen, abdrücken, wiederholen.“ Wenn er Terri nicht in diese Scheiße geritten hätte, würde sie immer noch die Nachrichten moderieren. Verdammt, wahrscheinlich würde sie es mittlerweile in einer richtigen Stadt tun, anstatt in diesem Kaff. Sie wäre vielleicht sogar eine berühmte Enthüllungsjournalisten in einer Top-Adresse wie Baltimore oder San Francisco oder Dallas. Vielleicht sogar in New York oder Chicago. „Zielen, abdrücken, wiederholen.“ Oder L. A. „Zielen, abdrücken, wiederholen.“ Das war natürlich ihr wahrer Traum. Los Angeles, die Stadt der Lichter. „Zielen, abdrücken, wiederholen.“ Oder war das Paris? Sei’s drum, wenn D. J. sie nicht reingelegt hätte, würde sie jetzt in einer richtigen Stadt die Nachrichten moderieren, und nicht in einer Stadt voller Zombies durch die Gänge einer verlassenen Schule latschen, um ein Kind zu suchen, während sie „Zielen, abdrücken, wiederholen“ vor sich hinbrabbelte, als sei es ein heiliges Mantra. Und sie hätte keine Schusswaffe in der Hand. Terri hasste Schusswaffen. Aber vielleicht musste sie ja nicht schießen… - 186 -
Sie öffnete die Tür zu einem der Klassenzimmer. Der Raum war ein einziges Chaos. Tische waren umgekippt, über den Boden verstreut lagen Papiere und Bücher. Wie eben auch überall sonst in der Stadt. Pflichtbewusst filmte sie das Zimmer mit ihrer Kamera, die sich in ihrer Rechten sehr viel angenehmer anfühlte, als dieses blöde Schießeisen in ihrer Linken, das Officer Valentine ihr gegeben hatte. Was zum Teufel hatte sich diese Frau dabei gedacht, als sie ihr eine Pistole gab? Das war doch verrückt. Sicher, sie hatte sich beschwert, dass sie keine Waffe besaß, aber das tat sie nur, weil sie eine bewaffnete Begleitung wollte. Gewalt überließ sie solchen Schlägertypen wie Valentine. Die wurden dafür bezahlt. Terri wurde dafür bezahlt, dass sie Nachrichten verkündete. Oder das Wetter. Was sie diesem Bastard D. J. zu verdanken hatte. Ganz besonders sauer machte sie der Umstand, dass D. J das Material gar nicht hätte fälschen müssen. Miller hatte Dreck am Stecken, das wusste jeder. Es war nur eine Fragt der Zeit, bis er solche Scheiße baute, dass man ihn auch dabei erwischte. Mehr noch, in der darauf folgenden Woche war er ja erwischt worden – von einem gottverdammten Zeitungsreporter. Und wenn so ein Schmierfink Miller festnageln konnte, dann war letztlich jeder dazu imstande. Terri hätte es ganz sicher geschafft, hätte sie auf eine brauchbare Quelle zurückgreifen können. Ihr Fehler war es gewesen, D. J. dafür zu halten. D. J. war, gleich nachdem das Band als fachmännische Digitalfälschung entlarvt worden war, verschwunden. Das stank Terri aus zweierlei Gründen. Zum einen wollte sie sich den kleinen Scheißer vorknöpfen, weil er ihre Karriere ruiniert hatte. Zum anderen hielt er sich vermutlich im Moment nicht in der Stadt auf, und das - 187 -
bedeutete, dass er dem Schicksal der meisten Einwohner von Raccoon City entkommen war. Wenn es aber jemand verdiente, zu einem Zombie zu mutieren und in den Kopf geschossen zu werden, dann D. J. Mclnerney. Nichtsdestotrotz wusste sie, dass sie letztendlich aus diesem Karriereloch herauskommen würde. Sie war schließlich immer noch berühmt. Selbst Straßenratten wie L. J. wussten, wer sie war. Und selbst die Wettervorhersage konnte immer noch zu einer richtigen Karriere führen – man brauchte sich ja nur AI Roker anzusehen. Sie zuckte zusammen, als sie etwas hörte. Es klang wie ein Wimmern. „Angela?“ Terri bewegte sich auf das Geräusch zu und fand ein kleines Mädchen, das in der Ecke kauerte. Es sah aus, als hielte es eine Puppe in den Armen. Das arme Ding. „Ist schon gut, Schätzchen. Du brauchst keine Angst zu haben. Wir sind hier, um dich nach Hause zu bringen.“ Terri stellte fest, dass sie keine Ahnung hatte, wie Angela Ashford aussah. So weit sie wusste, war das hier einfach nur ein kleines Mädchen. Aber selbst wenn es nicht Ashfords Tochter war, war es besser, die Kleine zu retten, als sie hier zurückzulassen. Das Mädchen wandte Terri den Rücken zu. Sie setzte die Kamera kurz ab – die Waffe aus der Hand zu legen, war wohl keine so gute Idee – und berührte das Mädchen an der Schulter, um es herumzudrehen. Ein schreckliches Gesicht glotzte ihr entgegen. Das Erste, was Terri auffiel, waren die blutroten Lippen darin – die Farbe rührte daher, dass sie tatsächlich mit Blut bedeckt waren. Dann sah sie die milchig weißen Augen. Beides stand - 188 -
in schaurigem Kontrast zur fahlen Haut. Das Mädchen war tot. Terri wich zurück. „Grundgütiger!“ Aber es war nicht der Anblick des Mädchens, der ihr die schlimmste Angst einjagte. Es war die Puppe. Genauer gesagt war es eben keine Puppe, sondern ein anderes kleines Kind, von dem das Mädchen gerade gefressen hatte. Terri Morales hatte einen strapazierfähigen Magen, und bislang war sie durch diesen Tag gekommen, ohne sich zu übergeben. Jetzt allerdings, beim Anblick eines Kindes, das ein anderes verspeiste, stülpte sich ihr der Magen um. Sie stieß gegen etwas. Erst dachte sie, es sei eine der Schulbänke. Aber als sie sich umdrehte, sah sie, dass es ein Junge war. Ein weiterer lebender Toter. Ihr Blick schweifte durch den Klassenraum, und sie sah, dass hier noch Dutzende von ihnen waren. Allesamt kleine Kinder. Allesamt tot. Alle mit Blut auf den Lippen. Und alle bewegten sich auf sie zu. Sie hatten sie buchstäblich in die Ecke gedrängt. Es gab keinen Weg aus dem Zimmer heraus. Von allen Seiten kam ihr diese Armee aus toten Kindern entgegen. Der Junge packte ihren rechten Arm und biss hinein. Terri schrie auf. Ein anderer bekam ihr Bein zu fassen. Ein dritter grub seine Zähne in die Hüfte. Der Schmerz war gewaltig, als sich Hunderte kleiner Zähne in ihr Fleisch gruben und daran zerrten. Sie hätte ihre Pistole benutzen können, aber wie sollte sie auf kleine Kinder schießen? Stattdessen schrie sie noch lauter, auch dann noch, als ihre Waffe zu Boden polterte. Ihre zerfetzten Beine konnten ihr Gewicht nicht mehr tragen. Sie stürzte, und die Kinderleichen warfen sich - 189 -
über ihren jetzt hingestreckt liegenden Körper. Sie sah ihre Kamera, die in einem seltsamen Winkel auf einem der Tische lag und immer noch aufzeichnete. Und Jills letzter Gedanke war, dass es jetzt nur noch eine Möglichkeit gab, ihren so heiß ersehnten Emmy zu bekommen. Posthum.
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Sechsundzwanzig Angela Ashford hatte heute zum ersten Mal einen Toten gesehen. Nein, eigentlich hatte sie heute Morgen ja sogar zwei gesehen. Nach dem Unfall. Der große Truck war in den Geländewagen gekracht, den die beiden Männer fuhren, die sie aus dem Unterricht geholt hatten. Die beiden Männer waren bei dem Unfall gestorben. Das wusste Angela, obwohl sie noch nie einen Toten gesehen hatte. Sie hatte nämlich versucht, die beiden aufzuwecken, aber sie atmeten und bewegten sich nicht und waren blutverschmiert. Der dritte Tote, den Angela sah, war der Truckfahrer, der schon stank. Angela wusste aus dem Biologieunterricht, dass Leichen zu stinken begannen, sobald sie eine Weile tot waren. Der Mann hatte außerdem ein großes Loch in der Brust. Angela lebte nur noch, weil sie ihren Sicherheitsgurt angelegt hatte. Ihre Brust tat ein bisschen weh, weil sie bei dem Unfall gegen den Gurt geworfen worden war. Aber wenigstens wurde sie nicht durch die Windschutzscheibe geschleudert wie einer der beiden Männer, und sie war auch nicht vom Dach zerquetscht worden wie der andere. Es war schwierig, aus dem Wrack zu kommen, aber sie schaffte es. Immer noch hielt sie ihre Spider-ManLunchbox umklammert. Denn die war, wie sie wusste, das Allerwichtigste. Sie lief zurück zur Schule. Mr. Strunk würde wissen, was wegen des Unfalls zu tun sei. Und wenn nicht, dann würde Rektor Armin es wissen. Aber dann bewegte sich auch der Truckfahrer in - 191 -
Richtung der Schule. Was keinen Sinn ergab, da der Truckfahrer doch tot war. Gewiss, Angela hatte bis heute noch keinen Toten gesehen, aber sie schaute fern und damit Filme, und sie hatte im Biologieunterricht aufgepasst. Wenn man nicht atmete und ein Loch in der Brust hatte, dann war man tot. Was bedeutete, dass dieser Mann zu einem Monster geworden war. Der Truckfahrer – der ein Erwachsener war und daher längere Beine hatte – schaffte es schneller zur Schule als Angela. Die Konrektorin, Miss Rosenthal, sprach auf dem Gang mit ihrer Sekretärin, Miss Garcia, als der Truckfahrer das Gebäude betrat. Angela war nicht weit hinter ihm. „Verzeihen Sie, Sir, aber Sie dürfen hier nicht…“ Miss Rosenthal verstummte, als sie das große Loch in der Brust des Mannes erkannte. Angela schrie, als er Miss Rosenthal in den Hals biss. Miss Garcia rannte davon. Rektor Armin kam aus seinem Büro. „Was ist hier los?“ Dann sah er den Truckfahrer. „O mein Gott.“ Als der Truckfahrer auf Rektor Armin zuging, sagte er ein ganz schlimmes Wort. Dann biss der Truckfahrer auch ihn. Eine Sekunde danach erhob sich Miss Rosenthal. Sie sah ganz komisch aus. Der Truckfahrer hatte sie ebenfalls in ein Monster verwandelt. Angela ging zu ihr und fragte sie, ob sie okay sei. Aber die Konrektorin sagte nichts, beachtete Angela nicht einmal. Stattdessen gingen sie und der Truckfahrer miteinander den Korridor hinunter. Bald darauf tat Rektor Armin dasselbe. - 192 -
Die nächsten Stunden wurde es noch schlimmer. Rektor Armin ging in Mr. Strunks Klasse und biss ihn. Die Kinder gerieten alle in Panik, aber der Truckfahrer, Miss Rosenthal, einer der Hausmeister und die beiden Männer in den grauen Anzügen, die jetzt alle Monster waren, verstellten ihnen den Weg und fingen an, sie zu beißen. In ihrer Klasse hatte Angela zu Bobby Bernstein gesagt, dass sie hoffte, er würde sterben. Am späten Vormittag durfte sie mit ansehen, wie es geschah. Die anderen Kinder versuchten sich im Keller zu verstecken, aber die Monster fanden sie bald und verwandelten sie in weitere Monster. Bald gab es mehr Monster als Kinder. Aber Angela ließen alle in Ruhe. Sie verstand es nicht. Was war an ihr so Besonderes? Lag es an dem, was ihr Dad mit ihr getan hatte, damit sie nicht mehr verkrüppelt war? Irgendwann im Laufe des Tages krachte ein Truck gegen das Schulgebäude. Die Aufschrift auf beiden Seiten besagte, dass er der Hundeführerstaffel der Polizei von Raccoon City gehörte. In dem Truck befanden sich einige Hunde. Auch sie waren jetzt Monster. Als es Nacht wurde, liefen überall in der Schule Monsterkinder, Monsterlehrer, Monsterhausmeister und Monsterhunde umher. Die Hunde streiften zumeist in der Nähe der Cafeteria herum, die anderen Monster im Rest des Gebäudes. Angela ließen sie immer noch in Ruhe. Nach einer Weile wurde ihr klar, warum das so war: Was ihr Daddy auch benutzt hatte, um sie zu heilen, es war auch verantwortlich für das, was heute hier geschah. Sie war nicht sicher, woher sie das wusste, aber sie war sich dessen sicherer als sonst einer Sache. - 193 -
Außerdem erklärte es, warum die Monster sie nicht anrührten. Weil… sie auch ein Monster war. Die anderen fünf Leute, die später kamen, ließen die Monster nicht in Ruhe. Es waren zwei schwarz gekleidete Männer und dann noch zwei Frauen und ein Mann in komischer Kleidung. Angela sah sie von ihrem Dach-Versteck aus, ihre Lunchbox fest an sich gedrückt. Nach einem Weilchen entschied sie sich, nach unten zu gehen, um zu sehen, ob sie ihr helfen konnten – oder ob sie ihnen helfen und verhindern konnte, dass sie auch zu Monstern wurden. Angela sah, wie die Ungeheuer über eine der beiden Frauen herfielen. Es war zu spät, um sie noch zu retten. Die andere Frau, die das blaue Top trug, kam herein, nachdem die Ungetüme die erste Frau fortgeschafft hatten. Diese Frau war bewaffnet. „Sie können ihr nicht helfen. Jetzt nicht.“ Die Frau drehte sich mit erhobener Pistole um. „Ich hab gesehen, was sie machen.“ Die Frau senkte die Waffe und fragte: „Bist du Angela?“ Angela nickte. „Wir sollten uns beeilen, bevor sie zurückkommen.“ Die Frau entdeckte etwas auf dem Boden und hob es auf. Es sah aus wie eine Videokamera. Angela nahm an, dass sie der anderen Frau gehörte, die auch bald ein Monster sein würde. „Ich heiße Jill. Dein Vater hat mich geschickt, um dich zu suchen.“ Erleichterung erfüllte Angela. Sie hatte gewusst, dass ihr Daddy einen Weg finden würde, um sie zu retten! Jill führte sie auf den Gang hinaus. „Angela Ashford – das ist ein ziemlich erwachsener Name für ein kleines Mädchen.“ „Ich bin neun. Ich bin kein kleines Mädchen.“ „Verstehe.“ - 194 -
„Außerdem“, brummelte Angela, „nennen mich alle Angie.“ „Angie, hm, das gefällt mir.“ Normalerweise hasste Angela es, wenn Erwachsene sie so nannten. Aber als Jill es sagte, mochte sie es irgendwie. Sie wandten sich in Richtung der Cafeteria. Angela blieb stehen. „Da können wir nicht durchgehen.“ „Schon gut, Schätzchen, das ist der schnellste Weg.“ „Nein! Da sind diese Dinger drin!“ Jill nahm Angelas Hand. Ein warmes, beruhigendes Gefühl. „Das ist schon okay. Sie sind langsam – wir können vor ihnen davonlaufen.“ Es torkelten wirklich ein paar der Monster herum, als sie die Cafeteria betraten. Sie schauten auf, als sie eintraten. Aber das war es nicht, was Angela Sorgen machte. „Nein, die meine ich nicht.“ Sie zeigte auf eines der Hundemonster. „Die da.“ Der Hund kauerte über einer Leiche – über Miss Modzelewski. Angela hätte gerne um ihre Lieblingslehrerin geweint, aber sie hatte schon seit Stunden keine Tränen mehr. Knurrend setzte das Hundemonster auf Jill zu. Jill hob ihre Pistole und schoss auf das Monster, aber es prallte trotzdem noch gegen sie. Sie fiel, und ihre Waffe schlitterte über den Boden bis in den Küchenbereich. Obwohl das Hundemonster getroffen war, bewegte es sich noch. Angela kroch in Deckung. Sie konnte nicht zuschauen. Sie hatte genug Menschen sterben sehen, sie wollte nicht eine neue Freundin finden und mit ansehen müssen, wie auch sie starb. - 195 -
Dann hörte sie ein Geräusch wie tausend Trommelschläge. Kurz darauf begriff sie, dass es sich um Maschinengewehrfeuer handelte, wie in einem Film. Eine tiefe Stimme mit einem seltsamen Akzent sagte: „Dachte, Sie könnten etwas Hilfe brauchen.“ Dann sagte Jill: „Sie arbeiten für Umbrella.“ Das war Daddys Firma! „Ich habe für Umbrella gearbeitet – bis sie uns zum Verrecken hier zurückließen. Jetzt betrachte ich mich als Freischaffenden. Nicholai Sokolov, zu Ihren Diensten.“ Das musste einer der beiden Männer in Schwarz sein. Dann hörte Angela eine Menge anderer Geräusche Schreie, Schläge, Knurren. Sie riskierte es, aufzublicken. Mr. Sokolov wurde von mehreren der Hundemonster in Fetzen gerissen. Aber Jill war okay. Angela rannte zu ihr und zupfte sie am Bein. So lange die Hundemonster mit Mr. Sokolov beschäftigt waren, konnten sie vielleicht fliehen. „Komm schon! Da lang!“ Angela führte Jill in die Küche. Hier gab es mehr Verstecke, und die meisten der Hunde waren draußen in der Cafeteria. Außerdem lag hier irgendwo Jills Pistole. In der Küche befanden sich nur zwei Hundemonster, beide auf der anderen Seite des Herdes, den Jill als Versteck für sie beide ausgewählt hatte. Jill legte einen Finger auf die Lippen. Angela nickte. Sie wusste, dass sie still sein musste. Mit etwas Glück würden sie bald hier wegkommen, und sie würde ihren Dad wiedersehen. Jills Waffe lag nicht weit entfernt. Bis jetzt hatten die Hundemonster sie beide nicht gesehen. Aber wenn Jill die Pistole ergreifen wollte, musste sie ihre Deckung verlassen. Sie zögerte. Angela hatte Angst. Dann wurde Jill von Miss Gorfinkle, der die für die - 196 -
Verpflegung zuständig gewesen war, gepackt. Angela hatte sie nicht kommen sehen. Miss Gorfinkle war jetzt natürlich auch ein Monster. Jeder, der von einem der Monster angegriffen wurde, verwandelte sich ebenfalls in ein Monster. Jill jedoch nicht – stattdessen nahm sie Miss Gorfinkle in den Schwitzkasten, und dann tat sie etwas, das ein furchtbares Knacken verursachte. Miss Gorfinkle fiel zu Boden. „Alles in Ordnung?“, flüsterte Jill Angela zu. Angela formte mit den Fingern das Okay-Zeichen. Sie mochte ihre neue Freundin sehr. Sie kauerten im Sichtschutz eines der beiden Herde. Dummerweise stand jetzt eines der Hundemonster genau über Jills Pistole. Jill sah auf die Herdoberfläche. Dann lächelte sie. Sie drehte alle Brenner auf. Angela konnte das dumpfe Zischen des Gases hören – und riechen konnte sie es auch. Das Hundemonster schnüffelte. Angela wusste aus dem Biologieunterricht, dass Hunde einen besseren Geruchssinn hatten als Menschen, und sie nahm an, dass dies auch für Monsterhunde galt. Wenn sie das Gas riechen konnte, dann konnte das Hundemonster es erst recht. Jill griff in ihre Tasche und holte ein Streichholzheftchen hervor. Dann ergriff sie Angelas Arm, und sie rannten in Richtung der Cafeteria. Im Laufen entzündete Jill eines der Streichhölzer, ohne es von dem Heftchen abzureißen, dann warf sie das ganze Päckchen hinter sich. Angela schaute zurück, während sie davonrannten. Daddy hatte ihr immer gesagt, dass es gefährlich sei, in der Nähe eines Herdbrenners ein Streichholz - 197 -
anzuzünden, weil das Gas Feuer fangen konnte. Jetzt allerdings wollte Jill ganz offensichtlich, dass das Gas Feuer fing – um die Monsterhunde aufzuhalten. Das Heftchen brannte lichterloh. Taumelnd segelte es durch die Luft. Die Hundemonster hielten auf sie zu. Die Streichhölzer erloschen. Bevor sie mit dem Gas in Berührung kamen. Die Monsterhunde kamen weiter auf sie zu. Angela hörte ein leichtes Zischen. Sie hob den Blick und sah eine Zigarette durch die Luft fliegen, was merkwürdig war, weil das Rauchen im Schulgebäude doch verboten war. Eine blonde Frau stand in der Tür. Angela glaubte nicht, sie schon einmal gesehen zu haben, aber sie kam ihr trotzdem irgendwie bekannt vor. Die Frau packte Angela und schützte sie in den Falten des Kittels, den sie trug. Angela spürte die Hitze der Explosion durch den Kittel der Frau, der Knall dröhnte in ihren Ohren. Dann entließ die Frau sie aus ihrem Kittel. „Danke“, sagte Angela zu ihrer Retterin. Jill lag am Boden, was seltsam war, denn die blonde Frau war nicht von den Beinen gerissen worden. „Schön, dass Sie vorbeischauen, Alice“, sagte Jill. „Das wird allmählich zur Gewohnheit, dass Sie immer gerade rechtzeitig auftauchen, um meinen Arsch zu retten.“ Aber die Frau, Alice, hörte nicht auf das, was Jill sagte. Sie starrte Angela an. Angela starrte zurück. Irgendwie – mit derselben Gewissheit, mit der Angela wusste, dass die Monster sie nicht beachteten – erkannte sie, dass Alice genau wie sie war. Hatte Daddy auch ihr geholfen? „Ihr beide kennt euch?“, fragte Jill. „Sie ist infiziert“, sagte Alice. „In hohem Maße.“ - 198 -
Jill runzelte die Stirn. „Woher wollen Sie das wissen?“ Angela beantwortete die Frage. „Weil sie es auch ist. Keine Sorge, ich weiß, was das für ein seltsames Gefühl sein muss.“ Jill kreiselte zu Alice herum und fuhr sie an: „Moment mal! Sie sind infiziert? Und wann wollten Sie mir das verraten?“ Alice schenkte Jill auch jetzt noch keine Beachtung, was Angela nicht sehr nett fand. Stattdessen starrte sie Angelas Lunchbox an. „Zeig her.“ Alice streckte eine Hand aus. „Nein!“ Ihr Dad hatte gesagt, dass sie diese Lunchbox niemals aus den Augen lassen sollte. Aber Alice nahm sie trotzdem, entriss sie Angelas Händen. Dann öffnete sie die Box, um nachzusehen, was Angela immer bei sich trug, weil ihr Daddy es ihr aufgetragen hatte. Das Innere wurde zum größten Teil von einer Art grauem Schaum ausgefüllt, der vier ungewöhnliche Nadeln schützte. Dad nannte sie Spritzen – und er bezeichnete sie außerdem als sehr, sehr wichtig. „Das ist das Antivirus“, sagte Alice. „Das Heilmittel für das T-Virus.“ „Es gibt ein Heilmittel?“ Alice nickte, dann sah sie Angela an. „Habe ich Recht?“ Angela sagte nichts. „Woher hast du das?“ Zunächst antwortete Angela immer noch nicht. Dann schloss Alice die Lunchbox und gab sie ihr zurück. Als sie sie nahm, entschied sie, ihnen die ganze Geschichte zu erzählen. Schließlich hatte Jill gesagt, Daddy habe sie geschickt, und beide hatten ihr das Leben gerettet. „Mein Dad – mein Dad hat es für mich gemacht. Er ist krank, und eines Tages werde ich auch krank werden. Und das wollte er verhindern. Als ich klein war, musste - 199 -
ich mit Krücken gehen. Sie sagten, es würde nie besser werden, nur immer schlimmer. Dann würde ich im Rollstuhl sitzen, wie Daddy. Aber er fand eine Möglichkeit, mich stärker zu machen.“ Jill legte den Kopf schief. „Das T-Virus.“ Angela nickte. „Aber sie haben ihm seine Erfindung weggenommen. Die Männer von Umbrella. Ich hörte ihn auch weinen, nachts, wenn er dachte, dass niemand ihn hören könnte. Aber ich habe ihn gehört. Er ist kein böser Mensch, wisst ihr? Er wollte nicht, dass all das geschieht. Ehrlich.“ Tränen stiegen in Angelas Augen. Sie hatte gedacht, sie hätte keine Tränen mehr. Aber zu wissen, dass sie endlich ihren Daddy wiedersehen würde… „Ehrlich.“ Sie brach in den Armen von Alice zusammen. „Ich glaube dir“, sagte Alice. „Es ist schon gut. Alles wird gut.“ Dann hörte Angela, wie eine Tür aufgestoßen wurde. Plötzlich hielt Alice eine Shotgun in der Hand und richtete sie auf die Tür. Und auf Alices Brust prangte ein rotes Licht. Angela blickte in den vorderen Teil des Raumes und sah einen Mann, der ein großes Gewehr mit einem darauf montierten roten Licht hielt. Der Mann mit dem Gewehr trug dieselbe schwarze Uniform wie Mr. Sokolov. „Zielen Sie nicht mit dem Ding auf mich, wenn Sie es nicht auch benutzen wollen.“ Er sprach, demnach war er kein Monster. „Er ist cool!“, sagte eine andere Stimme. Der Mann, der so komisch angezogen war und mit Jill und der anderen Frau, die jetzt tot war, hergekommen war, trat hinter der Gestalt mit dem Gewehr ein. „Er ist cool. Er hat auch ‘nen Pakt mit Dr. Doom geschlossen, genau wie Sie.“ Jill musterte den Mann in Schwarz. Angela konnte jetzt ein Namensschild, auf dem Olivera stand, auf seiner - 200 -
Brust erkennen. „Zu wie vielen seid ihr hier?“ „Was meinen Sie damit?“, fragte Olivera. Dann sah Mr. Olivera die Leiche von Mr. Sokolov, und er senkte den Kopf. „Nicholai…“, flüsterte er. Angela war es leid, Leichen anzusehen. Sie wollte zu ihrem Daddy. „Wann wurden Sie gebissen?“, fragte Alice. Jetzt musterte Angela Mr. Olivera genauer. Er sah ganz blass und krank aus. „Vor zwei Stunden.“ Angela hielt die Spider-Man-Lunchbox hoch. Alice lächelte. „Das ist Ihr Glückstag.“ „In dieser Stadt hat heute niemand einen Glückstag, Alice“, sagte Mr. Olivera. „Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern – Carlos Olivera.“ Er blickte auf Angela herab. „Ich nehme an, das ist das Paket, das wir abholen sollen?“ „Sieht so aus. Dr. Ashford setzt offenbar nicht gern alles auf eine Karte.“ „Er arbeitet für Umbrella, natürlich hat er mehrere Eisen im Feuer.“ Jill sagte: „Arbeitet ihr beide nicht auch für Umbrella?“ Alice und Mr. Olivera sagten gleichzeitig: „Nicht mehr.“ Angela verspürte einen seltsamen Drang zu kichern. „Wie auch immer. Lasst uns verdammt noch mal von hier verschwinden. Ich hab draußen einen Pick-up stehen, wir können ihm seine Spritze dort verabreichen.“ „Alles klar“, sagte der komisch angezogene Mann. „Wir müssen nur noch die hübsche TV-Lady finden.“ „Die ,hübsche TV-Lady’ ist tot“, sagte Jill. „Was? Quatsch! Sie kann nicht tot sein, sie ist ein Star!“ „Ich fürchte doch.“ Jill zog die Videokamera aus ihrer Tasche. „Uns bleibt nur ihr Vermächtnis.“ „Verdammt. Da geht sie hin… meine Chance, berühmt - 201 -
zu werden.“
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Siebenundzwanzig Charles Ashford fragte sich, wann genau er seine Seele verloren hatte. War es schrittweise geschehen, oder hatte die Umbrella Corporation sie einfach aufgefressen, wie Geier, die einen Leichnam zerrupften, bis nichts mehr übrig war außer blanken Knochen? Natürlich hatte er hehre Absichten gehabt. Es gab so viele Dinge in Erfahrung zu bringen, so viele Durchbrüche zu erreichen – aber um das zu tun, benötigte man Ressourcen. Umbrella hatte tiefere Taschen als sonst jemand auf der Welt. Nur ein solches Unternehmen konnte seine Forschungen finanzieren, konnte diese Forschungen auf die nächste Stufe führen und sie in der wirklichen Welt anwenden, jenseits des theoretischen O-Mann-wowwäre-das-nicht-toll-wenn-wir-das-tun-könnten-Stadiums der Laborarbeit, das Ashfords frustrierender Status Quo gewesen war, bis er von Umbrella angestellt wurde. Umbrella hatte sich auch nicht um seine degenerative Nervenkrankheit geschert. Ashford hatte nie verstanden, warum in einer Welt, in der Stephen Hawking der berühmteste lebende Wissenschaftler war, ein Mann im Rollstuhl solche Schwierigkeiten hatte, Finanziers für seine wissenschaftliche Arbeit zu gewinnen. Aber Dutzende Male hatte man ihm zugesicherte Gelder und Projekte entzogen, nachdem die entsprechenden Leute von seiner Behinderung erfuhren. Es war zum wahnsinnig werden. Aber noch schlimmer war, dass er die Krankheit an seine Tochter weitervererbt hatte. Das T-Virus sollte seine größte Schöpfung werden, auch wenn man es für eine Anti-Faltencreme verwenden - 203 -
würde. Aber für Teststudien taugte das so gut wie sonst etwas. Es war eine praktische Anwendung an einer großen Anzahl von Menschen mit minimalen Konsequenzen, falls sich das Ganze als Fehlschlag erwies. Aber es war auch der Schlüssel zur Heilung vieler Krankheiten. Vor allem derjenigen, an der sowohl Ashford als auch seine Tochter litten. Angela würde ein normales Leben fuhren können. Das hatte er jedenfalls geglaubt. Ashford begriff, dass etwas nicht stimmte, als sie die TVirus-Forschung hinunter in den Hive verlegt… und ihn davon ausgeschlossen hatten. Stattdessen übertrugen sie die Leitung diesen beiden sexbesessenen jungen Leuten, Mariano Rodriquez und Anna Bolt. Ganz ordentliche Wissenschaftler, alle beide, mit vielversprechender Zukunft. Aber sie waren jung und impulsiv. Und, wie Ashford bald herausfand, sehr viel einfacher zu manipulieren. Jetzt war alles zum Teufel gegangen. Nein, mehr noch, die tiefste Hölle hatte sich aufgetan. Und es gab absolut nichts, was Charles Ashford noch dagegen tun konnte. Das Einzige, was ihm blieb, war, seine Tochter zu retten. Das war sein einziges Ziel geworden. Er wusste, dass er nichts unternehmen konnte, um Cain und seine bewaffneten Schergen daran zu hindern, die furchtbare Lage in Raccoon City noch schlimmer zu machen. Ashfords Kontakte zum Umbrella-Aufsichtsrat – ein weiterer Empfänger der zerfetzten Überreste seiner Seele – reichten aus, um sich Cain mehr oder weniger vom Hals zu halten. Aber dieser Schutz gestattete es ihm ganz sicher nicht, sich mit Cain anzulegen. Da er ein Leben lang zum Sitzen gezwungen war, hatte Ashford viel Zeit am Computer verbracht. Er hätte sich - 204 -
zwar nicht als erstklassigen Hacker bezeichnet, aber er kannte sich ganz gut aus, und mit seinem hohen Zugriffslevel auf Umbrellas Zentralrechner konnte er das System gefahrlos umgehen. In diesem Rahmen vernetzte er seinen Laptop oft mit den von Umbrella angeblich zur polizeilichen Nutzung eingerichteten Kameras überall in der Stadt. Ashford wusste, dass Umbrella selbst sie zu allen möglichen Zwecken nutzte, ganz wie es dem Konzern gerade in den Kram passte. Im Augenblick nutzte Ashford sie, um seine Tochter zu retten. Cain störte das Mobiltelefonnetz, doch durch die Überlandleitungen, die der Telefongesellschaft Verizon gehörten, hatte Ashford sein eigenes Satellitentelefon – eine Sondervergünstigung, die er seiner Position verdankte – mit den Münztelefonen innerhalb der Stadt verbinden können. Er wusste, dass es Überlebende geben würde. Selbst in einem so obszön postapokalyptischen Szenario, wie es sich in Raccoon City zutrug, gab es Menschen, die hartgesotten genug waren, um auch unter schlimmsten Umständen zu bestehen. Er hatte deren mehrere gefunden: Alice Abernathy und Carlos Olivera, beide Angehörige der Sicherheitsabteilung von Umbrella, und Officer Jill Valentine von der S.T.A.R.S.-Einheit des Police Departments. Tatsächlich war Valentine die Einzige, der er traute, aber er wusste, dass sie alle von dem Wunsch zu überleben beseelt waren. Umbrella hatte sie alle dem Tod überlassen. Ashford warf ihnen eine Rettungsleine zu. Und diese Chance würden sie sich nicht entgehen lassen. Sehr zu seiner Verärgerung gab es in der Schule keine Kameras, die er anzapfen konnte, deshalb musste er ein waches Auge auf die Kamera an der Ecke von Hudson und Robertson halten. - 205 -
Schließlich, nach einer endlosen Wartezeit, sah er Officer Valentine, Abernathy und Olivera auftauchen, dazu den schwarzen Burschen, der sich ihnen angeschlossen hatte… … und Angie! Sie hatten es geschafft! „Gott sei Dank“, murmelte Ashford. Ihm fiel auf, dass weder die Fernsehreporterin noch Sokolov herauskamen. Das war tragisch, gewiss – aber nach dem, was Ashford in den Frühnachrichten gesehen hatte, würde der Tod von Terri Morales wohl nicht von sehr vielen Zuschauern betrauert werden. Und in Anbetracht der Ereignisse des Tages waren die meisten Zuschauer ohnehin längst tot. Alles, was Ashford jetzt noch interessierte, war seine Tochter. Er wollte sie zurück bekommen. Nachdem er mehrere Tasten gedrückt hatte, die sein Telefon mit dem Münzfernsprecher in der Nähe des Spielplatzes hinter der Schule verbanden, wählte Ashford die Nummer. Auf dem Bildschirm beobachtete er, wie Abernathy und die anderen darauf reagierten. Kaum hatte Abernathy den Hörer abgenommen, sagte Ashford: „Lassen Sie mich mit meiner Tochter sprechen.“ „Erst sagen Sie uns, wie wir hier rauskommen.“ Wütend entgegnete Ashford: „Versuchen Sie nicht, mit mir zu handeln.“ Da legte Abernathy den Hörer auf. Ashford blinzelte. Verdammt, für wen hielt sich diese Frau? Er bot ihr einen Fluchtweg an – eine Möglichkeit zu überleben, während der Rest der Stadt krepierte! Wie konnte sie es wagen, ihn wie einen gewöhnlichen Schurken zu behandeln?! Er blinzelte noch einmal. War er denn kein gewöhnlicher Schurke? Immerhin war Beihilfe zum Mord ein Verbrechen, und mit der Erschaffung des T-Virus hatte er sich genau dessen - 206 -
schuldig gemacht. Wahrscheinlich würde er vor Gericht nicht dafür verurteilt werden – Umbrella bezahlte vielen Anwälten gutes Geld, um die höheren Tiere davor zu bewahren, dass sie sich jemals etwas so Unbedeutendem wie Konsequenzen stellen mussten –, aber das änderte nichts an den Tatsachen. Ashford wählte die Nummer noch einmal. Abernathy ließ es fünfmal klingeln, bevor sie abnahm. „Verstehen wir uns?“ „Ein Hubschrauber wird schon vorbereitet. Er startet in…“, Ashford warf einen Blick auf die Zeitanzeige in der Ecke des Monitors, „… siebenundvierzig Minuten. Das ist der letzte Transport, der Raccoon City verlässt.“ „Ich nehme an, dieser Hubschrauber ist nicht extra für uns reserviert, wie?“ Ashford lächelte. „Nein. Er dient einem anderen Zweck, aber er wird nur leicht bewacht.“ „Wo steht er?“ Jetzt musste Ashford die Grenze ziehen. „Erst lassen Sie mich mit Angie reden.“ Zu Ashfords Erleichterung gab Abernathy diesmal nach. Sie reichte den Hörer weiter. „Daddy!“ Beim Klang der Stimme seines kleinen Mädchens, gesund und lebendig und sogar ein bisschen munter, was schlicht und ergreifend ein Wunder war, empfand Charles Ashford zum ersten Mal seit Jahren wahre Freude. Wahrscheinlich zum ersten Mal seit Angies Mutter gestorben war. „Ich bin hier“, sagte er mit leiser Stimme. „Wann sehen wir uns denn wieder?“ Nicht früh genug, dachte Ashford, aber er wollte seinem kleinen Mädchen Mut zusprechen. „Es ist okay, Baby. Diese Leute werden dich zu mir bringen. Wir sehen uns bald wieder.“ - 207 -
„Das hoffe ich so, Daddy. Ich möchte, dass du meine neuen Freunde kennen lernst.“ Ashford schauderte. Er wollte nicht, dass seine Tochter sich mit solchen Leuten anfreundete. Andererseits waren sie noch am Leben in einer Stadt voller wandelnder Toter. Es war nur natürlich, dass sie sich unter diesen Umständen zu den ersten lebenden Menschen hingezogen fühlte, die sie sah. Zumal zu denjenigen, die sie zu ihrem Vater zurückbringen würden. „Angie, würdest du bitte Miss Abernathy wieder ans Telefon holen?“ „Okay, Daddy. Ich hab dich lieb.“ „Ich hab dich auch lieb, meine Süße.“ Abernathy war wieder am Hörer. „Nun?“ „Der Hubschrauber steht vor dem Rathaus. Ich rate Ihnen zur Eile – Sie haben nur noch dreiundvierzig Minuten.“ Er lächelte. „Aber keine Sorge, der Verkehr sollte nicht allzu schlimm sein.“ „Dann sehen wir uns bald, Doktor“, war alles, was Abernathy darauf sagte. Dann legte sie auf. Mit einem seltsamen Ausdruck auf dem Gesicht beobachtete er, wie die fünf zu dem Pick-up gingen, den Officer Valentine zuvor besorgt hatte. Eine Minute später waren sie unterwegs, fuhren die Hudson Avenue hinauf und hielten grob auf das Rathaus zu. Ashford schaltete von einer Verkehrsüberwachungskamera zur nächsten, sodass er sie nicht aus den Augen verlor. Dann flackerte der Bildschirm des Laptops und wurde dunkel. „Was zum Teufel…?“ Er drückte in rascher Folge eine Reihe von Tasten, aber es tat sich nichts. Die Verbindung war unterbrochen. Aber das war eine T3-Leitung. Normalerweise wäre die - 208 -
Verbindung drahtlos gewesen, aber die Methode, mit der die Mobiltelefone gestört wurden, hätte auch ein drahtloses Signal gestört, deshalb waren sämtliche Netzwerkverbindungen im Basislager von Hand verkabelt worden. „Computer“, sagte hinter ihm eine vertraute Stimme mit deutschem Akzent. „So unzuverlässig. Wie Menschen.“ Cain. Ashford wendete seinen Rollstuhl und sah Timothy Cain, dem man den widerwärtig unpassenden Spitznamen „Able“ verliehen hatte. Er hielt ein Messer und das durchgeschnittene T3-Kabel in Händen. „Dachten Sie wirklich, ich wüsste nichts von Ihrem kleinen Ein-Mann-Aufstand?“ „Das ist kein Aufstand“, presste Ashford zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ich will nur meine Tochter zurück haben.“ „Ihre Tochter steht auf der Verlustliste – und zwar seit dem Moment, da wir die Brücke dicht machten. Es ist bedauerlich, dass Ihr kleines Mädchen sterben muss, Doktor, wirklich. Aber noch bedauerlicher ist, dass Sie durch Ihr Tun auch Ihr eigenes Todesurteil unterschrieben haben.“ Diese Worte entlockten Ashford unwillkürlich ein leises Lachen. „Darf ich fragen, was Sie so amüsant finden, Doktor?“ „Nichts Bestimmtes, Cain, es ist nur… bis ich Sie kennen lernte, glaubte ich nicht, dass es wahrhaftig Menschen gibt, die so reden.“ Cain trat hinter Ashfords Rollstuhl und schob ihn aus dem Zelt. „Es gibt sehr vieles, was Sie über manche Menschen nicht wissen, Doktor. Ich fürchte, Ihnen steht eine sehr unangenehme Lektion bevor.“
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Achtundzwanzig Als der Pick-up losfuhr, bat Alice, die mit Carlos und Angie auf dem schmalen Rücksitz saß, das Mädchen um seine Lunchbox. „Ich muss Carlos das Antivirus injizieren.“ Angie nickte und reichte ihr die Box. „Danke“, sagte Alice mit einem warmen Lächeln. Sie hatte keine sehr hohe Meinung vom Vater dieses Mädchens. Schließlich war er es gewesen, der das TVirus überhaupt erst entwickelte. Ihres Wissens nach hatte man ihm das Projekt schon nach kurzer Zeit aus der Hand genommen, und die verwerflicheren Anwendungen – diejenigen, die das T-Virus für Spence Parks interessant genug gemacht hatten, um es zu stehlen – waren erst danach ins Spiel gekommen. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass er es geschaffen hatte. Nichtsdestotrotz freute sie sich, dass sie ihn wenigstens wieder mit seinem kleinen Mädchen zusammenfuhren konnte. So viel Glück hätten sie alle haben sollen. Carlos krempelte den Ärmel hoch. Dabei kam ein Kampfmesser zum Vorschein, das er dort vermutlich als Notfallreserve verbarg. „Was ist das für ein Zeug?“ Alice antwortete, während sie seinen Arm desinfizierte und die Spritze vorbereitete. „Das T-Virus fordert das Zellwachstum. Es kann tote Zellen reanimieren, was dazu führt, dass die Toten wieder aufstehen. In einem lebenden Menschen kann es eine unkontrollierbare Mutation auslösen. Und einem kleinen Mädchen mit verkrüppelten Beinen“, fügte sie mit einem Augenzwinkern in Angies Richtung hinzu, „kann es helfen, wieder zu laufen, wenn das Virus unter Kontrolle - 210 -
gehalten wird.“ Carlos runzelte die Stirn, als Alice ihm die Nadel in den Arm stach. „Dieses kleine Mädchen ist infiziert?“ Alice nickte. „Deshalb haben die Untoten in der Schule Angie nicht angerührt. Sie ist mit dem T-Virus infiziert, genau wie sie.“ Sie deutete auf die Spritze. „Aber das hält den Virus unter Kontrolle. Das Zellwachstum beschränkt sich auf ein Maß, das sie auf den Beinen hält, ohne weitere Mutationen zu verursachen.“ Valentine saß hinter dem Steuer und fuhr den Track. Auf dem Beifahrersitz hockte dieser L. J. Wayne, den Valentine aufgegabelt hatte. Alice hatte keine Zeit gehabt, sich seine Geschichte anzuhören, aber er kam ihr vor wie der typische ahnungslose Punk, der mit einer Mischung aus großer Klappe und Glück in den Straßen jeder Großstadt überlebte. Valentine fragte: „Und Sie hat man ebenfalls mit dem T-Virus infiziert?“ „Ja.“ Carlos sah sie erschrocken an. Sie fuhr fort: „Sie haben mich zu einem ihrer kleinen Monster gemacht.“ „Wenn Sie also infiziert sind“, sagte Valentine, „warum haben diese Kreaturen Sie dann auf dem Friedhof angegriffen?“ „Das haben sie nicht.“ Alice grinste schief. „Ihr wurdet angegriffen. Ich bin ihnen nur in die Quere gekommen. Ich hatte bereits herausgefunden, dass sie an mir kein Interesse haben. Als ich durch die Straßen lief, bevor ich euch in der Kirche fand, traf ich auf einen ganzen Haufen Untoter – aber sie ließen mich in Ruhe. Nicht einmal der Motorradfahrer, dem ich seine Harley abnahm, griff mich an.“ Carlos hatte inzwischen seinen Ärmel wieder heruntergerollt und das Messer darunter versteckt, und allmählich sah er fast wieder lebensecht aus. „Das ist ja - 211 -
eine herbe Geschichte.“ Angela fragte: „Aber warum musst du die Medizin nicht nehmen, wenn du doch auch krank bist?“ Alice schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht.“ „Hier.“ Alice blickte auf. Die Polizistin reichte ihr einen kleinen Metallgegenstand nach hinten. Als Alice ihn entgegennahm, erkannte sie, worum es sich handelte: um Terri Morales’ kleine Videokamera. Sie hatte das Ding ununterbrochen eingeschaltet gelassen, als sie durch die Stadt gegangen waren. Das war vermutlich das einzige Zeugnis der Geschehnisse dieses Tages. Alice sah sich den Schluss der Aufzeichnung an. Das Letzte, was die Kamera aufgenommen hatte, war Terris eigener Tod. Kopfschüttelnd schaute Alice auf und bemerkte, dass Valentine ihr im Rückspiegel einen Blick zuwarf. „Ich werde dafür sorgen, dass diese Aufnahmen einem guten Zweck dienen.“ Dann erst verstand Alice. Valentine war ein Cop, und Cops dachten an Beweise, die man vor Gericht präsentieren konnte. Es gab für gewöhnlich zwei Formen von Beweisen: Beweismittel und Aussagen von Augenzeugen. So gut Beweismittel auch sein mochten, sie reichten nicht immer aus, vor allem, wenn Zweifel an ihrer Echtheit bestehen konnten. Valentine wollte eine Aussage. Sie wollte ein Geständnis. Und Alice war die Einzige, die ein Geständnis ablegen konnte. Die Kamera auf ihr eigenes Gesicht gerichtet drückte sie den Aufnahmeknopf und begann zu sprechen. „Mein Name ist Alice Abernathy. Ich arbeitete für die Umbrella Corporation…“ Sie zögerte, dann fügte sie hinzu: „… den größten und mächtigsten - 212 -
Wirtschaftskonzern der Welt.“ Sollte ruhig jeder wissen, dass sie sich sehr wohl darüber im Klaren war, mit wem sie sich anlegte, und dass es ihr egal war. „Ich war Leiterin der Sicherheitsabteilung einer Hightech-Einrichtung von Umbrella, des so genannten Hives – ein gigantisches unterirdisches Labor, in dem unter anderem experimentelle Viralwaffen entwickelt wurden.“ Alice stockte kurz. Sollte sie an dieser Stelle auf Spences Diebstahl eingehen? Nein, das hatte nicht viel Sinn. Spence war tot, und das Wissen um die Identität seiner potenziellen Abnehmer war mit ihm gestorben. Es war nichts gewonnen, wenn sie ihn beschuldigte, nachdem er schon den endgültigen Preis bezahlt hatte – und es würde vom wichtigen Teil ablenken. „Aber es gab einen Unfall. Das Virus wurde freigesetzt, und alle im Labor – fünfhundert Menschen, alles Mitarbeiter der Umbrella Corporation – starben.“ Sie zögerte abermals. Sie hatte es weiß Gott wie oft mit angesehen, seit sie die ersten wiederbelebten Leichen in der „Kantine“ des Hives auf sich zuschlurfen sah, aber es fiel ihr immer noch schwer, ihre tatsächliche Situation zu begreifen. „Aber sie blieben nicht tot. Das T-Virus reanimierte die Leichen – erweckte die Toten wieder zum Leben. Und sie gierten nach dem Fleisch der Lebenden.“ Gott, das klang wie der Text auf der DVD-Hülle eines schlechten B-Movies aus den Fünfzigern. Dennoch war es die Wahrheit. Und diese Wahrheit musste sie aufzeichnen, und sie durfte sich nicht erlauben, sie herunterzuspielen. „Ich blickte in die Hölle, sah Dinge, die ich nicht beschreiben kann.“ Ungebeten tauchten Bilder ihres Aufenthalts im Hive vor ihrem geistigen Auge auf, angefangen von den - 213 -
Laserstrahlen, die One, Drew, Warner und Danilova in Stücke schnitten, weiter über die endlosen Schwärme untoter Kreaturen, die sie durch die Gänge und Schächte des Hives jagten, über den Licker, der den armen Kaplan packte und zerriss, bis hin zu Matt, der gezwungen war, Rain in den Kopf zu schießen… … und zu den Straßen von Raccoon City, die zu einem einzigen gigantischen Friedhof geworden waren. „Aber ich überlebte. Ich und ein anderer – ein Mann namens Matt Addison. Als wir aus dem Labor entkamen, wurden wir von Umbrella-Wissenschaftlern gefangen genommen. Matt und ich wurden getrennt.“ Alice holte tief Luft. „Wir dachten, es sei vorbei. Wir dachten, wir hätten das Grauen überlebt. Aber wir irrten uns. Der Alptraum hatte gerade erst angefangen.“ Sie zögerte von neuem, und diesmal schaute sie auf und wurde sich des Ausdrucks in den Gesichtern von Carlos und Angie bewusst. Bis jetzt hatten sie das wahre Ausmaß dessen, was im Hive passiert war, nicht gekannt. Alice fragte sich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn sie es nicht erfahren hätten – vor allem die arme Angie, die mehr durchgemacht hatte, als ein neunjähriges Mädchen jemals erleben sollte. Aber sie brauchten dieses Geständnis. „Dies hier sind Aufzeichnungen, die Terri Morales von Raccoon 7 gemacht hat, bevor auch sie getötet wurde. Die Umbrella Corporation wird wohl versuchen, das alles zu vertuschen. Ich kann Ihnen nur sagen: Hören Sie nicht auf diese Leute. Umbrella ist verantwortlich für diese Katastrophe. Millionen von Menschen mussten schon wegen der Nachlässigkeit dieser Leute sterben. Sie müssen aufgehalten werden.“ Alice drückte die Stopp-Taste. Von vorne sagte L. I: „Und darauf ein verdammtes Amen.“ Carlos schnaubte. „Und wie.“ Wieder senkte sich - 214 -
Schweigen über den Pick-up. Dann lehnte sich Angie herüber und schlang ihre Arme fest um Alice. Mit geschlossenen Augen und einen Atemzug ausstoßend, von dem sie gar nicht gewusst hatte, dass sie ihn anhielt, erwiderte Alice die Umarmung dankbar. „Wir sind fast beim Rathaus“, sagte Valentine. „Macht euch fertig.“ Valentine parkte den Track einen Block vom Rathaus entfernt, das nur noch eine qualmende Ruine war. Carlos hatte ein Fernglas dabei. Er kletterte auf das Wagendach und sah sich um. „Da ist er. Ein C89, auf dem Platz neben dem Brunnen. Er wird von drei Leuten bewacht, und um sie herum stehen ein paar Glasplatten, die wahrscheinlich den Pöbel abhalten sollen. Verdammt, das muss dieses PlastiGlas sein, das Umbrella entwickelt hat – kugel- und wahrscheinlich auch zombiesicher.“ Er senkte das Fernglas. „Leicht bewacht. Na klar doch.“ Wayne hielt seine Uzi hoch. „Wir sind vier, die zu dritt.“ „Nein“, meinte Carlos, „sie sind zu viert. Ich seh zwar niemanden, aber ich bin sicher, dass auf dem Dach ein Scharfschütze postiert ist. Das ist immer so.“ „Scheißegal, Alter – treten wir ihnen in den Arsch, Mann.“ „Ruhig, Kleiner“, sagte Valentine zu Wayne, dann sah sie Carlos an. „Womit sind sie bewaffnet?“ „MP5Ks.“ „Wahrscheinlich voll aufmunitioniert. Wir haben im Vergleich dazu nur ein paar Spielzeugpistolen und kaum noch Patronen. Die erledigen uns im Handumdrehen.“ „Ich kümmere mich um die Wachen“, sagte Alice. „Ach ja?“ Valentine klang skeptisch. Nicht einmal nach den Ereignissen in der Kirche und in der Schule konnte sie wirklich einschätzen, wie gut Alice war. „Ja. Und es wird kein Schuss fallen.“ - 215 -
Im Grunde konnte Alice nicht einmal selbst einschätzen, wie gut sie war. Aber was Umbrella ihr auch angetan haben mochte, sie war dabei, es den Verantwortlichen heimzuzahlen. Minuten später war Alice zu den Überresten des Rathausdaches hinaufgeklettert. Wie Carlos vermutet hatte, war hier ein Scharfschütze postiert, der eine komplette Abseilausrüstung bei sich hatte, für den Fall, dass er schnell zur Straße hinunter musste. Das war nichts Ungewöhnliches. Aber ausgesprochen nützlich. Für Alice. Als Erstes schaltete sie den Scharfschützen aus. Was sich als kluger Schachzug erwies, da er auf Carlos angelegt hatte, um ihm einen Kopfschuss zu verpassen, während der sich mit Valentine dem Platz näherte. Wayne hatten sie zurückgelassen, damit er auf Angie aufpasste, bis sie ihm das Zeichen gaben. Gegen diesen Teil des Planes hatte Wayne ausführlich protestiert, bis Valentine ihm bildlich vor Augen geführt hatte, was sie mit seiner Milz anstellen würde, wenn er nicht die Klappe hielt und tat, was sie ihm sagten. Alice fand zunehmenden Gefallen an Jill Valentine. Nachdem der Scharfschütze erledigt war, spulte Alice die Metallleine ab und warf sie auf den Platz hinunter, zwischen den C89 und die drei Wachen. Die Wachen bemerkten nichts. Ihre Aufmerksamkeit war verständlicherweise nach außen gerichtet. Dort lauerte schließlich die wahre Gefahr, die von den Legionen Untoter drohte, die auf sie zugeschlurft kommen konnten und sich womöglich nicht von einer PlastiGlas-Barriere aufhalten ließen. Alice befestigte einen Haken an der Leine und diesen dann an ihrem Kittel. Sie ließ ihre Waffen in den Holstern stecken, rutschte an der Leine hinab und stoppte dicht über dem Platz. - 216 -
Das reißverschlussartige Geräusch, mit dem der Stahlhaken über die Leine glitt, veranlasste die Wachen, sich umzudrehen. Aber bevor sie reagieren konnten, kam Alice über sie. Als Erstes brach sie einem der Wächter das Genick. Dann stieß sie dem zweiten ihren Handballen gegen die Nase, brach sie und trieb Knorpel- und Knochensplitter in sein Gehirn, was ihn auf der Stelle tötete. Und schließlich zertrümmerte sie dem dritten mit der rechten Hand den Kehlkopf. Er starb, bevor ihr erstes Opfer auch nur zu Boden gefallen war. Als sie auch den Letzten erledigt hatte, waren Carlos und Valentine bei ihr. Nachdem er sich zwischen zwei der PlastiGlas-Platten hindurchgezwängt hatte, riss Carlos plötzlich sein Kampfmesser hervor und schleuderte es an Alice vorbei. Sie kreiselte herum und sah, dass der zweite Wächter nicht so tot war, wie es hätte sein sollen. Er war nicht zum Untoten geworden – seine Augen waren klar, und er sagte: „Scheiße!“, als Carlos’ Messer ihn in die Brust traf, offenbar hatten sich die Schädelsplitter nicht so tief in sein Gehirn gebohrt, wie sie gedacht hatte. „Einen übersehen“, sagte Carlos mit einem Lächeln. Achselzuckend meinte Alice: „Musste doch einen für Sie übrig lassen.“ Valentine rollte mit den Augen. „Ihr zwei könnt später die Hosen runterlassen und vergleichen, wer den Größten hat.“ Sie steckte ihre kleinen Finger in den Mund und pfiff. Alice fuhr zusammen. Der durchdringende Pfeiflaut schnitt förmlich in ihre hypersensitiven Ohren. Sekunden später rannten Wayne und Angie herbei. „Gute Arbeit“, sagte Wayne. „Gehen wir“, drängte Alice. Sie wollte nicht, dass Angie sich länger als nötig in unmittelbarer Nähe der Leichen - 217 -
aufhalten musste. Und nicht länger, als sie es bereits getan hatte. Sie stiegen in den Frachtraum des Hubschraubers, und Alice wurde augenblicklich von einem Dejavu-Gefühl überwältigt. In der Mitte des Frachtraums standen zwei große Untersuchungstische. Einer glich genau dem, auf welchem sie im Raccoon City Hospital aufgewacht war. Der andere ähnelte dem ersten, war jedoch um einiges größer. Alice wusste instinktiv, für wen er bestimmt war. Für Nemesis. Ashford hatte ihr nicht gesagt, welchem Zweck dieser Transport eigentlich diente. Jetzt kannte sie ihn: Damit sollten sie und Nemesis aus der Stadt geschafft werden, bevor Raccoon City in die Luft gejagt wurde. „Was hat das alles zu bedeuten?“, fragte Valentine. „Wir müssen uns beeilen“, war alles, was Alice darauf erwiderte. Wenn Umbrella sie aus der Stadt schaffen wollte, dann hieß das, dass Nemesis jede Minute hier eintreffen konnte. Sie war mit Mühe und Not mit dem Leben davon gekommen, als sie ihm das letzte Mal gegenüber gestanden hatte. Sie glaubte nicht, dass sie noch einmal so viel Glück haben würde. „Es ist okay“, sagte Carlos, den Blick zum Himmel gerichtet. Bis Sonnenaufgang waren es noch zwanzig Minuten. „Wir haben noch Zeit. Wir schaffen es.“ Alice sah zur offenen Frachtluke hinaus. Ohne auch nur darüber nachdenken zu müssen, wusste sie, wo sie hinschauen musste. Sie deutete auf ein Dach, das etwas entfernt lag. „Nein, wir müssen uns beeilen.“ Die anderen folgten ihrem Blick, um zu sehen, was sie sah. Eine riesenhafte Gestalt stand dort auf dem Dach, eine Rail-Gun in der Hand. - 218 -
Nemesis. Waynes Augen sprangen ihm beinahe aus dem Kopf. „Wem klauen wir den Helikopter? Scheeeiiiße!“ „Ich bring uns in die Luft.“ Alice zog ihren Colt .45 und begab sich zum Cockpit. Als sie die Schiebetür öffnete, sah sie einen Mann, der dieselbe schwarze UmbrellaUniform trug wie Carlos – und die auch One, Rain, Kaplan und die anderen getragen hatten. „Starten.“ Der Pilot rührte sich nicht. Alice drückte ihm die Coltmündung gegen den Hinterkopf. „Los.“ Der Pilot lächelte, bewegte sich aber immer noch nicht. „Mach schon!“ „Wozu die Eile?“ Alice wirbelte herum, den Colt erhoben. Es war Cain, der gesprochen hatte. Er war bewaffnet mit einer Glock, die er Angie Ashford an die Schläfe hielt. „Kommen Sie bitte mit.“ Alice fiel auf, dass Cain sie nicht aufforderte, ihre Waffen fallen zu lassen. Nicht, dass es einen Unterschied gemacht hätte – denn sie würde nichts unternehmen, so lange Angies Leben in Gefahr war. Sie war nur ein paar Sekunden weg gewesen, aber in dieser Zeit war ein ganzer Trupp von Cains Leuten gekommen und hatte Valentine, Carlos und Wayne überwältigt. Sie knieten auf dem Rathausplatz, bei ihnen ein Mann mittleren Alters, den Alice nicht kannte. Angie hingegen schon. „Daddy!“ Cain nahm die Waffe von Angies Kopf, und sie rannte zu ihrem Vater. Mit Tränen in den Augen umarmten sie einander, Ashford immer noch auf Knien. „Angie.“ - 219 -
„Ich wusste, dass du mich nicht hier lassen würdest“, sagte Angie schluchzend. „Niemals, Baby, niemals.“ „Haben sie dir weh getan?“ „Nein.“ Ashford log das Blaue vom Himmel herunter. Das konnte Alice ihm ansehen. „Nein, ich bin okay, Baby.“ Alice wandte den Kopf und sah einen DarkwingStealth-Hubschrauber, der gelandet war, ohne dass sie es mitbekommen hatte. Mit einem Helikopter genau derselben Art war One kurz nach Alices Erwachen bei der Villa eingetroffen, während im Hive schon die Hölle losgebrochen war – den hatte sie ebenso wenig kommen hören. Cains Leute legten Valentine, Carlos und Wayne Handschellen an. Als Wayne gefesselt wurde, murmelte er: „Scheiße, Mann, das hart’ ich heut’ doch schon mal.“ Derjenige, der Valentine die Handschellen verpasste, fragte: „Was sollen wir mit ihnen machen, Sir?“ Alice hörte, wie sich schwere Schritte näherten. Nemesis kam. „Gar nichts“, sagte Cain. „Sie sterben früh genug. Uns bleibt gerade noch genug Zeit, um unser kleines Experiment abzuschließen.“ Während Cain sprach, betrat Nemesis den Platz und setzte mit einem Sprung über die PlastiGlas-Barriere hinweg, die eine wachsende Zahl von Untoten zurückhielt. „Der Virusausbruch war zwar bedauerlich, aber er bot ein ausgezeichnetes Testszenario für das NemesisProgramm.“ Alice warf Cain einen Blick zu. Sie kannte ihn lange genug, um zu wissen, was für ein elender Bastard er war. Aber selbst nach seinen Maßstäben war es schlicht unmöglich, die heutigen Ereignisse als „bedauerlich“ abzutun. - 220 -
Indessen deutete Cain mit einer beinahe theatralischen Geste auf Nemesis. „Der perfekte Soldat.“ Sie standen sich jetzt von Angesicht zu Angesicht gegenüber, Alice und Nemesis. Keiner von beiden bewegte sich. Zum zweiten Mal spürte Alice den unheimlichen Riesen eher, als dass sie ihn sah. Ihrer beider Herzen schlugen in perfektem Gleichklang. „Ihr beide wart so vielversprechend.“ Cain redete unaufhörlich weiter – er hatte den Klang der eigenen Stimme schon immer gemocht. „Aber wir mussten euch in Aktion erleben. Und ihr wart höchst beeindruckend.“ Er sah sie beide nacheinander an. „O ja. Spürst du es?“ Zögerlich sagte Alice: „Ich spüre…“ Sie verstummte, weil sie es nicht in Worte fassen konnte. Cain beendete den Satz für sie: „Verwandtschaft. Ihr seid wie Bruder und Schwester. Erhöhte Geschwindigkeit, Kraft, Beweglichkeit. Derselbe Killerinstinkt.“ Er lächelte. „Nur in einer etwas attraktiveren Verpackung. Aber unter der Haut seid ihr fast identisch. Parallele Forschungsreihen. Und jetzt finden wir heraus, welche der anderen überlegen ist.“ Die ganze Zeit über hatte Nemesis regungslos dagestanden, eine acht Fuß hohe Statue. Die einzige Bewegung rührte vom gelegentlichen Blinzeln seiner blauen Augen her. Blaue Augen. Das schien irgendwie nicht richtig zu sein. Und doch waren sie sehr vertraut. Alice wandte den Blick ab. Sie sah zu Valentine und den anderen hin. Ganz kurz begegnete ihr Blick dem von Carlos. Carlos nickte kaum wahrnehmbar. Gut. Die Umbrella-Truppe hatte ihnen zwar die Handfeuerwaffen abgenommen, sie aber ansonsten nicht sorgfältig durchsucht. Carlos hatte immer noch einen Trumpf im Ärmel, buchstäblich: das Messer, das - 221 -
er vorhin aus der Leiche des Wächters gezogen hatte, den er töten musste, um Alice zu retten. Cain wandte sich unterdessen an Nemesis. „Primärwaffen ablegen.“ Das Geräusch, mit dem Nemesis den Raketenwerfer und die Rail-Gun fallen ließ, hallte von den PlastiGlasPlatten wider. „Und jetzt – töte sie.“ Es dauerte weniger als eine Sekunde. Im einen Augenblick spielte Nemesis noch Standbild. Im nächsten griff er sie an. Aber so schnell er auch war, Alice war schneller. Ohne große Mühe wich sie der Frontalattacke aus. Er nahm einen neuen Anlauf. Sie wich abermals aus, griff ihn jedoch nicht an. So ging es einige Minuten lang. Alice musste nur genug Zeit gewinnen, damit Carlos sein Messer aus dem Ärmel bekam und sich befreien konnte. Cain allerdings wurde langsam ungehalten. „Wehr dich! Kämpfe!“ „Nein.“ Alice hatte nicht die Absicht, Nemesis zu verletzen, wenn sie es nicht musste. Wer er auch sein mochte, er war genauso ein Opfer wie sie. Cain zog seine Glock und sagte: „Wehr dich oder sie sterben.“ Scheiße. Alice hätte damit rechnen müssen, dass Cain auf diese Taktik verfiel. Aber andererseits wusste er nicht, ob ihr die anderen etwas bedeuteten. Deshalb versuchte sie zu bluffen. „Wie kommst du auf die Idee, dass mir das etwas ausmacht?“ Ohne zu zögern, drückte Cain ab. Ashford fiel zu Boden, Blut sammelte sich um seinen Kopf. Angie schrie: „Daddy!“ - 222 -
Cain richtete die Glock auf Valentine. „Für den Konzern war er von Bedeutung. Mich interessieren diese Leute überhaupt nicht.“ Alice nickte zähneknirschend und wandte sich Nemesis zu. Cain senkte die Waffe. „Fang an“, sagte er. Als Alice seinerzeit in Columbus, Ohio, die ersten Martial-Arts-Kurse belegte, sagte ihr Sensei, dass wirklich große Kämpfer in eine Trance fallen, in der sie nichts außer ihren eigenen Bewegungen zur Kenntnis nehmen. „Man denkt nicht. Man handelt nur.“ Solch meisterhafte Kämpfer waren jedoch selten. Es gab vielleicht einen unter einer Million. Er sage ihr dies, hatte er ihr zu verstehen gegeben, weil er eine Größe in ihr sehe, die es ihr eines Tages vielleicht erlauben würde, einer dieser seltenen Meister zu werden. Mit Hilfe von Umbrellas Veränderungen war Alice mehr als nur das geworden. Schon einmal war sie heute Nacht drauf und dran gewesen, in diese Trance zu verfallen: auf dem Friedhof hinter der Kirche, als die Untoten ihren Gräbern entstiegen. Jetzt passierte es wieder. Sie bewegte sich. Des Kollateralschadens auf dem Platz wurde sie sich kaum bewusst. Nemesis’ Kräfte waren monumental, und jeder Hieb, der sie verfehlte, traf eine Statue, ein Auto, den Asphalt oder einen Kiosk. Die Zuschauer nahm sie, wie den Schaden, ebenfalls nicht zur Kenntnis. Aber sie betrachteten sie wahrscheinlich als Verliererin, da ihre Bewegungen zunehmend defensiver wurden. Nemesis drängte sie zurück, bis sie mit dem Rücken zu einer Wand stand. Sie saß in der Falle. - 223 -
Eine gewaltige Faust schoss auf ihren Kopf zu. In letzter Sekunde wich sie ihr aus, dann rammte sie Nemesis’ Brust, drehte sich und verpasste ihm in der Bewegung einen Tritt ins Gesicht, der ihn rücklings zu Boden krachen ließ. Der Tritt hätte jedem anderen das Genick gebrochen. Nemesis steckte ihn weg. Beinahe jedenfalls. Benommen griff er nach einem zehn Fuß langen Stück Metall. So konzentriert, wie Alice war, hatte sie keine Ahnung, wo das Metall herkam – ein Stützpfosten, Teil einer Statue, vielleicht ein Stück eines Fahrzeugs, es war egal. Worauf es ankam, war, dass Nemesis es jetzt wie ein Schwert schwenkte. Mit einem Rückwärtssalto entging sie dem ersten Schlag, der sie um Zentimeter verfehlte. Der zweite Hieb fuhr direkt auf ihren Kopf zu, genau in dem Moment, als sie wieder auf den Füßen landete. Sie riss die Hände hoch, presste sie gegen die flachen Seiten der Klinge und stoppte sie dicht vor ihrem Kopf. Ihre Kraft hinderte Nemesis daran, den tödlichen Streich zu führen. Doch seine Kraft bewahrte ihn davor, dass sie das provisorische Schwert auf ihn zudrücken und in seine Brust treiben konnte. Zunächst. Alice hatte einen Teil von Senseis Lehren aus den Augen verloren, aber da war immer noch ihre Wut. Seit sie nackt in der Dusche der Villa, die zum Hive führte, aufgewacht war, hatte sie viel zu viele Menschen sterben sehen. Lisa Broward. Rain Melendez. Bart Kaplan. Terri Morales. Peyton Wells. Charles Ashford. Sie nahm ihren Zorn auf die Ungerechtigkeit einer Welt, in der gute Menschen wie Lisa, Rain, Kaplan, Wells und die anderen sterben mussten und dieser Scheißkerl Timothy Cain leben durfte, und konzentrierte - 224 -
ihn auf ihre beträchtliche Stärke. Und dann drückte sie stärker als jemals zuvor. Nemesis stolperte nach hinten, und ein zehn Fuß langes Metallstück bohrte sich ihm in die Brust. Alice nutzte ihren Vorteil und schlug auf ihren gefallenen Gegner ein. Jeder Hieb bedeutete Rache für Kaplan und Rain und Wells und Hunderte andere, die sie nicht kannte und die gestorben waren, nur weil Umbrella ein Supervirus haben musste und weil Spence so gierig auf das große Geld gewesen war und… … und dann traf ihr Blick den von Nemesis. Plötzlich wusste Alice, warum ihr die blauen Augen so bekannt vorkamen. Matt!
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Neunundzwanzig Stundenlang hatte Matthew Addison versucht die Herrschaft über Nemesis zu erringen. Umbrellas Programmierung war gut. Sie hatten Matts Persönlichkeit so weit wie möglich unterdrückt – ganz auslöschen konnten sie sie allerdings nicht. Aber jeder Versuch, die Kontrolle über seinen Körper zurückzugewinnen, war fehlgeschlagen. Als sie am Rathaus eingetroffen waren und Matt Alice wiedergesehen hatte, sank sein Kampfgeist. Er wusste, dass Nemesis’ Primäraufgabe darin bestand, Alice aufzuspüren und sie zu töten. Er hatte es schon einmal versucht, und nur Alices Geschicklichkeit und die Tatsache, dass sie kleiner und mithin wendiger war, hatte das Schlimmste verhütet. Diesmal jedoch würde Matt etwas anderes probieren. Erinnerungen. Nemesis kannte nur seine Programmierung, Matt aber wusste, wo diese Programmierung herkam. Er versuchte, Nemesis Bilder aus seinem Gedächtnis aufzuzwingen: All die Male, die er während seiner Zeit beim U.S. Marshals Service auf die Umbrella Corporation gestoßen war. Seine zunehmende Frustration, weil es ihm nicht gelang, ihnen auch nur eine ihrer illegalen Aktivitäten nachzuweisen. Aaron Vricella, der ihn für eine Geheimorganisation angeheuert hatte, deren Ziel es war, Umbrella zu Fall zu bringen. Die Jahre noch größerer Frustration, als ihrer Gruppe jeglicher Fortschritt versagt blieb, während Umbrellas Macht und Einfluss wuchsen. Sein Vorschlag, seine Schwester Lisa, die ihren eigenen Hass gegen Umbrella hegte, in die Firma einzuschleusen, damit sie die Beweise suchen konnte, - 226 -
die sie brauchten. Die Vernichtung des Hives an genau jenem Tag, an dem Lisa ihm die Beweise übergeben sollte – die Schuld eines gierigen Arschlochs namens Spence Parks. Matts Weg durch die verheerten Überreste des Hives, erst als Gefangener der von Umbrella angeheuerten Schergen, dann als einer der wenigen Überlebenden der Folgen von Spences Gier: fünfhundert untote Kreaturen. Der Angriff des Lickers auf den Zug, wobei er verletzt worden war und zu mutieren begonnen hatte. Der Zusammenbruch in der Eingangshalle der Villa und die Gefangennahme durch Umbrella-Wissenschaftler in Schutzanzügen. Die Experimente, die ein Mann namens Sam Isaacs an ihm vorgenommen hatte. Isaacs war der Leiter des Nemesis-Programms, und auch sein Vorgesetzter war mit von der Partie gewesen, Major Timothy Cain, ein elender Hurensohn. Die Manipulation seiner DNS, ein qualvoller Prozess, der noch schlimmer wurde, weil er nicht imstande war zu schreien. Die Unterdrückung seiner eigenen Gedanken durch eine Reihe von Programmanweisungen, geschrieben von Isaacs und überwacht von Cain, wodurch er gezwungen wurde, diese beiden Kerle als seine Herren zu betrachten. Das Wissen, dass eben jener Konzern, dessen Vernichtung er sein Leben verschrieben hatte, ihn in seine ultimative Waffe verwandelt hatte. Und direkt neben ihm lag während des ganzen Vorgangs Alice, an der dieselben Experimente vorgenommen wurden. Aber während Isaacs Matt in Frankensteins Monster verwandelte, blieb Alice sie selbst. Sie war körperlich unverändert, äußerlich jedenfalls. Endlich drang Matt durch. Nemesis wurde schwächer. Gerade rechtzeitig, dass Alice ihm die Brust - 227 -
durchbohren konnte. Und rechtzeitig, dass Alice endlich erkannte, gegen wen sie die ganze Zeit gekämpft hatte. Mit demselben Ausdruck, den Matt in ihrem Gesicht gesehen hatte, als Rain sie bat, sie zu töten, falls sie mutierte, flüsterte Alice jetzt: „Es tut mir Leid, Matt.“ „Erledige ihn!“ Das war die Stimme, die Nemesis nur als die seines Herrn kannte, Matt hingegen wusste, dass sie Cain gehörte. „Nein.“ Alice erhob sich und machte einen Schritt auf den Herrn zu. Auf Cain. Nicht auf den Herrn. Du bist Matt Addison, nicht Nemesis! Einige der Schergen des Herrn – Cains Schergen! – hoben ihre Waffen, aber Cain gab ihnen einen Wink, sich zurückzuhalten. „Nein, nein, ist schon gut.“ Er sah Alice an. „Verstehst du nicht, wie wichtig du für uns bist? Die Kreatur ist eine Sache, aber du? Du bist etwas ganz, ganz Besonderes. Irgendwie hast du dich auf Zellebene mit dem T-Virus verbunden. Du hast ihn adaptiert, du hast ihn verändert. Du bist etwas Großartiges geworden.“ Das, so erkannte Matt, war der Grund, warum sie unverändert blieb, während er in etwas verwandelt worden war, das Cain so unverblümt als Kreatur bezeichnete. „Ich bin ein Freak geworden“, sagte Alice. Nein, wollte Matt herausschreien, ich bin der Freak, nicht sie. „Aber ganz und gar nicht“, sagte Cain, und dieses eine Mal im Leben war Matt seiner Meinung. „Du bist keine Mutation, du bist die Evolution.“ Mutation ist Teil der Evolution, du Idiot! Aber Matt konnte seine Stimmbänder noch immer nicht kontrollieren. „Überleg doch nur. Wir brauchten fünf Millionen Jahre, um aus den Wäldern hervorzukommen. Du hast den - 228 -
nächsten Schritt in weniger als fünf Tagen getan. Stell dir nur vor, was du mit unserer Hilfe erreichen kannst. Und wer kann das verstehen? Wer weiß das zu würdigen? Wir – sonst niemand. An wen willst du dich denn wenden, wenn nicht an uns?“ An irgendjemanden, der ein Gewissen hat! Das ist der Grund, weshalb ich so verzweifelt versucht habe, euch zu vernichten, ihr arroganten Hurensöhne! „Und was ist mit ihm?“, fragte Alice. Sie wies auf Nemesis. Cain zuckte nur die Achseln. „In der Evolution gibt es Sackgassen. Erledige ihn. Nimm deinen Platz an meiner Seite ein.“ Mein Gott, er ist nicht nur ein Arschloch, er ist auch noch größenwahnsinnig. „Ich verstehe“, sagte Cain, „dass er dein Freund war.“ Er zog seine Glock und hielt sie Alice hin. „Hier, damit du dir nicht die Hände schmutzig machen musst.“ Alice sah die Waffe an, dann zu Nemesis hin. Zu Matt. „Er will es ja selbst“, sagte Cain. Und wie, du Schwein. „Er will von seinem Elend erlöst werden.“ Nein, du Arschloch. Ich will dich von deinem Elend erlösen! Um Himmels willen, Alice, tu‘s nicht! Alice hob die Glock. „Ja.“ Dann drehte sie sich, richtete die Waffe auf Cain und drückte ab. Ja! Aber die Glock gab nur ein trockenes Klicken von sich. Leer. Verdammt! Cain lächelte und hielt den Munitionsclip der Glock hoch. „All diese Stärke, aber keine Willenskraft, sie auch anzuwenden. Was für eine Verschwendung. Du - 229 -
enttäuschst mich.“ „Du hast ja keine Ahnung, wie mich das freut.“ Matt konnte die Verachtung förmlich aus Alices Tonfall triefen hören. „Nun gut.“ Cain seufzte und wandte sich an den Piloten des Hubschraubers. „Machen Sie die Maschine startklar.“ Mehr als sonst etwas wollte Matt aufstehen und Cain dieses Grinsen aus dem Gesicht fegen. Zu seiner Überraschung reagierte sein Körper auf diesen Gedanken. Er konnte aufstehen. Heilige Scheiße. Dann zog er den Metallstab aus seiner Brust. Cain schwafelte immer noch. „Du magst zwar der überlegene Krieger sein“, sagte er zu Alice, „aber er ist der überlegene Soldat. Er weiß zumindest, wie man Befehle befolgt.“ Das werden wir ja sehen, du Arschloch. Den Blick auf ihn gerichtet sagte Cain: „Töte sie.“ Matt bewegte sich nicht. „Ich habe gesagt, du sollst sie töten!“ Matt machte einen Schritt auf Alice zu, was Cain zu freuen schien. Dann ging er an ihr vorbei, dorthin, wo er als Nemesis vorhin die Rail-Gun hatte fallen lassen. „Was tust du da?“ Was ich tun wollte, seit du mich in der Villa festgeschnallt hast, Bastard. Cain erkannte, was Matt vorhatte, als er nach der RailGun griff. „In Deckung!“ Und noch während er schrie, setzte er seine Worte auch schon in die Tat um. Matt hob die Rail-Gun auf und begann, auf die Soldaten zu schießen. Ein paar von ihnen warfen sich in Deckung. Andere versuchten das Feuer zu erwidern. Aber selbst ihre Treffer zeigten keine Wirkung. Umbrella hatte zu gute - 230 -
Arbeit geleistet. Matt hatte keine Ahnung, wer die Gefangenen waren, die Alice begleitet hatten, aber einer von ihnen – der schlecht angezogene Schwarze, der im Waffengeschäft als Einziger überlebt hatte – schrie: „Gottverdammt! Er hat das Team gewechselt! Los, du Scheißer, los, mach sie alle!“ Während er Matt anfeuerte, sah dieser, wie einer der Wächter auf Alice anlegte. Matt wollte seine Waffe herumschwenken, um ihn auszuschalten, als ein anderer Gefangener – der in der Umbrella-Uniform; offenbar hatte er, wie auch Alice, die Seiten gewechselt – aufsprang und die Wache erledigte. Er hatte sich von seinen Handschellen befreit. Genau wie die Frau in dem blauen Top. Sie und der Umbrella-Typ schnappten sich fallen gelassene Waffen und schossen gemeinsam mit Matt auf Cains Soldaten. „Hier spricht Cain, neue Priorität – Abschuss initiieren, sofort!“ Er konnte ihn noch immer nicht sehen, aber die Stimme dieses Schweinehundes hörte Matt nur allzu deutlich. Er hatte den Missile-Abschuss befohlen. Bald schon würde Raccoon City in einem gewaltigen Feuersturm vergehen. Dann hob der Stealth-Hubschrauber ab und machte Jagd auf Alice. Sie blieb ihnen einen Schritt voraus, aber das konnte nicht lange klappen. Selbst Alice hatte ihre Grenzen. Deshalb rannte Matt los und packte den Raketenwerfer. Dann drehte er sich um und hielt auf das Gebäude gegenüber dem Rathaus zu, wo der Helikopter hinter Alice her war. Als er dort anlangte, sah Matt, dass Alice trotzig mit einem Colt .45 gegen die kugelsichere Frontscheibe und die 50-mm-Kanonen des Hubschraubers antrat. Matt konnte nicht umhin, ihre Hartnäckigkeit zu bewundern, - 231 -
aber eine Chance hatte sie nicht. Jedenfalls nicht mit dieser Waffe. Mit einem gewaltigen Sprung setzte sich Matt zwischen die Mündungen der Hubschrauberkanonen und Alice. Dann hob er den Raketenwerfer und feuerte ihn ab. Als Nemesis die Kneipe in die Luft jagte, auf deren Dach der S.T.A.R.S.-Scharfschütze stand, hatte Matt vor Qual gewimmert, weil er gezwungen war, mit anzusehen, wie er einen Cop tötete, der nichts Falsches getan hatte – außer in einen Alptraum zu geraten. Hier und jetzt allerdings empfand er nichts außer Befriedigung. Der Helikopter explodierte in einer Feuersbrunst. Zufrieden beobachtete er, wie der Heckrotor vom Rest der Maschine abbrach und zu Boden stürzte – genau auf sie zu. Verdammte Kacke. So schnell er und Alice auch waren, nicht einmal sie konnten dem Rotor – oder dem Rest des Wracks – noch rechtzeitig ausweichen. Vielleicht ist es besser so. Ein Feuerball donnerte herab und begrub Matt unter Trümmern, brennendem Metall, explodierendem Treibstoff und aufgerissenem Asphalt. Jetzt ist es endlich vorbei.
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Dreissig Timothy Cain wusste, wann es Zeit zum Rückzug war. Es sah so aus, als müssten sie auch mit dem NemesisProgramm noch einmal von vorne anfangen. Und er würde seinen Vorgesetzten erklären müssen, warum Charles Ashford nicht lebend aus Raccoon City herausgekommen war. Natürlich würde er die Schuld dem guten Doktor selbst anlasten, indem er sagte, dass er es irgendwie in die Stadt zurück geschafft hatte, in einem törichten Versuch, sein kleines Mädchen zu retten. Das würde man ihm glauben. Ashford war diesem blöden Kind geradezu verfallen. Der Aufsichtsrat hatte sogar seine Zustimmung erteilt, damit das Mädchen als Vorlage für den Avatar der künstlichen Intelligenz des Hives dienen konnte, eine Entscheidung, die Cain nun gar nicht verstand. Dennoch, sie hatten viel gelernt, und beim nächsten Mal würden sie nicht dieselben Fehler begehen. Das Wichtigste war wahrscheinlich, eine Möglichkeit zu finden, die Persönlichkeit des Wirtskörpers komplett auszulöschen. Daran waren beide Teile des Experiments gescheitert. Abernathys Individualität hatte sich als zu problematisch erwiesen, und selbst Addison hatte es geschafft, die Programmierung zu überwinden. Es würde auch eine Weile dauern, die Truppführer, die sie verloren hatten, zu ersetzen. Die Soldaten selbst stellten kein Problem dar – solche Söldner fanden sich zuhauf, wenn man überall auf der Welt die Streitkräfte, Police Departments und Gefängnisse durchkämmte. Diese Einrichtungen waren nahezu unerschöpfliche Quellen. Nein, Männer wie Olivera, Ward und One waren - 233 -
schwer zu ersetzen. Einzig ihren Verlust und den Ashfords bedauerte Cain – beinahe jedenfalls. Aber selbst sie würden sich letztendlich ersetzen lassen. Schließlich war das Leben etwas Armseliges. Er kletterte in den C89. Montgomery, der Pilot, hatte den Hubschrauber bereits gestartet. Den Lärm der Rotoren und des Motors übertönend, schrie Cain: „Bringen Sie uns in die Luft!“ Hinter sich hörte er das Feuergefecht, das sich seine Leute mit Olivera und dieser Frau im blauen Top lieferten, wer sie auch sein mochte. Dem Wenigen nach, das er gesehen hatte, war sie eine meisterhafte Schützin, denn sie und Olivera – dessen Fähigkeiten Cain bereits bekannt gewesen waren – schlugen sich mehr als nur wacker gegen fast ein Dutzend von Cains handverlesenen Soldaten. Außerdem hörte er, wie die Frau schrie: „Er entkommt uns!“ Falsch, dachte er, ich bin euch bereits entkommen. Er würde überleben, denn das war es, was Timothy Cain am besten konnte. Er überlebte alles, was ihm die Welt in den Weg warf, angefangen bei dem Alptraum, als frisch eingewanderter Deutscher zur Highschool gehen zu müssen, über die Gefahren am Persischen Golf bis hin zu den vergangenen paar Tagen in Raccoon City. Und er hatte nicht nur überlebt, er war daran gewachsen. Deshalb war er der Beste. Er stand bereits seit einigen Sekunden im Frachtraum, aber der Hubschrauber hatte sich noch nicht bewegt. „Warum sind wir noch nicht in der Luft?“, wollte er wissen. „Weil ich keinen blassen Schimmer habe, wie das geht.“ Das war nicht Montgomerys Stimme. - 234 -
Der Mann im Pilotensitz drehte sich um und gab sich als dieser schwarze Punk zu erkennen, der mit Olivera und der Frau im blauen Top gekommen war. Außerdem war er mit den S.T.A.R.S.-Leuten in dem Waffenladen gewesen. Aber weil er ganz offensichtlich kein Cop war, hatte Nemesis sein Leben verschont. Jetzt sah Cain ein, dass das ein taktischer Fehler gewesen war. Als er nach seiner Glock griff, schlug ihm der Schwarze mit der Faust ins Gesicht. Benommen ging Cain zu Boden. „Die Nummer hab ich schon in der Grundschule gelernt.“ Cains Blick verschwamm. Seit der Grundausbildung hatte ihn niemand mehr so kalt erwischt! Er versuchte aufzustehen, aber seine Glieder wollten ihm nicht gehorchen. Vage erkannte er neben sich Montgomerys ebenfalls flach gelegte Gestalt am Boden des Cockpits. Das Nächste, was er mitbekam, waren Hände, die ihn an der Brust packten. „Hommdirr…“ Das klang irgendwie nicht richtig. Sein Blick klärte sich. Er sah die Frau in dem blauen Tube-Top. Sie hatte gesagt: „Hoch mit dir“, wie ihm jetzt bewusst wurde. Aber er konnte seine Beine immer noch nicht bewegen. Deshalb zerrte ihn die Frau in die Höhe und stieß ihn in den Frachtraum. Das kalte Metall einer Pistolenmündung drückte sich in seinen Nacken. Er blinzelte ein paar Mal, dann sah er Ashfords kleines Mädchen im Frachtraum stehen. Sie umklammerte, ausgerechnet, eine Lunchbox, als hinge ihr Leben davon ab. Olivera war auch hier. Er stützte Abernathy, die eine hässliche Brustverletzung hatte. Aber sie würde verheilen. Physisch war sie stark, auch - 235 -
wenn sie psychisch schwach sein mochte. Er fragte sich, was wohl mit Nemesis geschehen war. Jetzt war für ihn die Zeit zum Handeln gekommen. Er konnte immer noch aus dieser Sache herauskommen. „Ihr habt keine Ahnung, was ich für euch tun könnte. Macht keinen Fehler.“ „Halt dein verdammtes Maul“, sagte die Frau im Top. Hinter sich hörte er die Stimme des Schwarzen. „Bring uns in die Luft, los! Zwing mich nicht, dich noch mal zu schlagen, Mann!“ Offenbar sprach er mit Montgomery. „Ich könnte euch besorgen, was ihr wollt“, sagte Cain. „Ich könnte…“ Abernathy starrte ihn aus ihren eisblauen Augen an. Timothy „Able“ Cain hatte sich furchtlos den Schrecken des Wüstenkriegs gestellt. Er war dem Tod hundert Mal von der Schippe gesprungen. Während seiner gesamten Dienstzeit hatte er nicht ein einziges Mal Angst verspürt. Zehn Jahre später stand Timothy Cain nun im Frachtraum eines Hubschraubers, der sich mitten in einer Stadt befand, die gleich mit Kernwaffen angegriffen werden würde, einer einzelnen, verwundeten Frau gegenüber – und hatte Angst. Saddams Truppen hatten den Feind töten wollen. Es war nichts Persönliches, sie taten ihre Pflicht, so wie Cain es getan hatte, als er sie tötete. Alice Abernathy jedoch wollte Cain tot sehen, weil er Timothy Cain war. Zum ersten Mal erkannte Cain, dass das Leben ganz und gar nicht armselig war. Es war kostbar. Und er wollte seines behalten. „Bitte“, sagte er. „Was hast du mit mir vor?“ Alice kam auf ihn zu. Sie packte ihn am Hemd, so, wie die Frau im Top es getan hatte. „Absolut nichts.“ Dann warf sie ihn aus dem Frachtraum. Er schlug hart auf, aber der Schmerz war - 236 -
vergleichsweise gering. Der Helikopter hatte noch nicht abgehoben. Er hatte schon Schlimmeres erlebt. Jetzt hob der C89 ab. Cain versuchte auf die Beine zu kommen… … aber etwas packte ihn. Selbst kugelsicheres Material gab nach, wenn man genug Druck darauf ausübte, und so gut Umbrellas neues Plasti-Glas auch sein mochte, unter entsprechendem Beschuss zerbrach auch es. Unter dem Beschuss mit der Jail-Gun und dem Feuergefecht zwischen Olivera, der Frau im Top und seinen eigenen Leuten waren die Barrieren, die die wandelnden Toten davon abgehalten hatten, den Platz einzunehmen, zusammengebrochen. Jetzt kamen sie in Scharen. Und nachdem der Hubschrauber gestartet war und die anderen Menschen auf dem Platz bereits tot waren, blieb ihnen nur ein Opfer. Cain. Er schoss auf den, der sich sein Bein gegrapscht hatte, dann auf den dahinter. Beide Male brachte er einen Kopfschuss an, womit sie auf der Stelle erledigt waren, aber das änderte nichts an dem, was geschah. Es waren Hunderte – einige davon hatten zu seiner Truppe gehört, wiederbelebt vom T-Virus, das die Luft erfüllte. Cain sah rasch ein, dass er keine Chance hatte. Er stand als Einziger gegen eine Übermacht von Gegnern. Dies war nicht die Wüste. Hier konnte er sich nicht auf den Rest seines Zuges oder Verstärkung verlassen. Er war allein. Und er würde sterben. Aber wenn es schon sein musste, dann würde er es wenigstens zu seinen Bedingungen tun. Er setzte sich die Mündung der Glock an den Kopf. Drückte ab. Ein trockenes Klicken. - 237 -
Keine Munition mehr. Dann packte ihn der Leichnam von Dr. Charles Ashford, von klaffenden Schusswunden durchlöchert, und biss ihn in den Hals. Timothy Cain schrie. Andere packten und bissen ihn, zerrten ihm mit ihren schwarzen Zähnen das Fleisch vom Leibe. Cain starb einen langsamen Tod. Ihm blieb mehr als genug Zeit, um zu erkennen, wie verdammt armselig sein eigenes Leben geworden war.
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Einunddreissig Bis heute hatte Alice es nie genossen, dabei zuzusehen, wie ein Mensch starb. Aber jetzt erfüllte es sie mit Schadenfreude, als sie sah, wie eine Horde Untoter über Major Cain herfiel und ihn bei lebendigem Leibe verspeiste. Von allem, was Umbrella – was Cain – ihr angetan hatte, war dies wahrscheinlich das Schlimmste: Man hatte sie in jemanden verwandelt, der Freude empfinden konnte, wenn er mit ansah, wie ein Mensch auf schreckliche Weise umkam! Der Helikopter hob endlich ab, nachdem sie den Piloten überzeugt hatten, wie dringend sie aus Raccoon City verschwinden mussten, wenn sie nicht alle sterben wollten. Alice hatte ihre Kräfte aufgebraucht und brach zusammen. Der Rotor des Darkwings, den Nemesis – den Matt – in die Luft gejagt hatte, hatte sich in ihre Brust gebohrt. Sie konnte von Glück reden, dass sie noch lebte. Oder auch nicht. Matt selbst schien unter den brennenden Trümmern des Stealth-Hubschraubers begraben worden zu sein. Selbst wenn er noch lebte, hätten sie ihn unmöglich rechtzeitig rausholen können. Er würde sterben, wenn die Missiles einschlugen. Als sie auf dem Boden des C89 zusammenbrach, sah Alice die Kondensstreifen der Raketen, die immer näher auf die Stadt zurasten. Sie hoffte, dass der C89 schneller war, als er aussah. Matt hatte etwas Besseres verdient. Verdammt, sie alle hatten etwas Besseres verdient, aber Matt noch mehr als jeder andere. Außer Lisa - 239 -
vielleicht, die wenigstens schnell gestorben war. Ja, das T-Virus hatte sie reanimiert, aber Alice hatte ihr danach den Dienst erweisen können, sie schnell zu töten. Gott – den Dienst erweisen… Aber alles, was Matt gewollt hatte, war, einen Konzern zu stoppen, dessen Machenschaften bestenfalls rücksichtslos und illegal und schlimmstenfalls mörderisch gewesen waren. Sie kroch tiefer in den Frachtraum und verfluchte Spences Namen. Wenn er nur noch einen Tag gewartet hätte. Lisa hätte Matt die Beweise das T-Virus betreffend übergeben. Matt hätte sie der Presse zugespielt, und vielleicht wäre der Hive dicht gemacht worden. Und Raccoon City wäre jetzt keine Geisterstadt. Es war nur schade, dass sie Spence kein zweites Mal töten konnte. Und kein drittes Mal. Immer noch floss Blut aus ihrer Wunde. Wäre sie eine Normalsterbliche gewesen, wäre sie bereits tot, aber selbst mit ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten glaubte sie nicht, dass es noch lange dauern würde. Sie schaute auf und sah Angie in einem der Sitze des Helikopters. Irgendwie brachte sie ein Lächeln zustande. „Schnall dich an, Schätzchen.“ Angie sah zu Tode entsetzt aus, schien aber trotz allem durchzuhalten. Alice wünschte sich, sie wäre so tapfer wie das Mädchen. „Wirst du wieder gesund?“, fragte das Kind. „Ich glaube nicht.“ Alice konnte ihren eigenen Herzschlag hören. Er wurde schwächer. Der C89 hatte die Stadtgrenzen hinter sich gelassen, aber sie waren immer noch näher, als es gut sein konnte. Carlos rief: „Haltet euch irgendwo fest!“ Dann geschah es. - 240 -
Die Explosion war das Lauteste, was Alice je gehört hatte. Und das Heißeste, was sie je gespürt hatte. Der C89 geriet unter dem Ansturm der Druckwelle ins Wanken. Sie wusste, dass Raccoon City jetzt endgültig tot war. Obwohl, die Stadt war schon tot gewesen. Sie war von dem Moment an tot gewesen, da Cain – dieser Idiot, dieses Arschloch, dieser Wichser – befohlen hatte, den Hive wieder zu öffnen. Die Missiles besorgten lediglich die Einäscherung. Valentine schrie: „Wir stürzen ab!“ Der Hubschrauber trudelte durch die Luft. Alice wurde übel. Dann sah sie, wie sich ein Teil des C89 löste und auf Angie zustürzte. Es würde das Mädchen glatt zerfetzen. „Nein!“ Alice raffte jedes bisschen Kraft ihres sterbenden Körpers zusammen, sprang quer durch den Frachtraum und… (genau wie Matt es für sie getan hatte) … warf sich zwischen Angie und die Gefahr. Zum zweiten Mal innerhalb von zehn Minuten wurde Alice von einem scharfen Stück Metall aufgespießt. Ein perfektes Ende für einen perfekten Tag.
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Zweiunddreissig Es gab Tage, an denen Dr. Sam Isaacs seinen Job hasste. Im Moment sehnte er sich nach einem solch guten Tag. Während er in seinem Hazmat-Schutzanzug dastand und den Technikern – ebenfalls in Schutzanzügen – dabei zusah, wie sie das Wrack des Hubschraubers durchsuchten, der kurz nach der Auslöschung von Raccoon City in den Arklay Mountains abgestürzt war, dachte er an die einzige gute Nachricht, die er heute erhalten hatte. Timothy Cain war tot. Sicher, Isaacs freute sich nicht wirklich über die Tatsache, dass der Mann verstorben war, aber es bedeutete doch wenigstens, dass dieser nicht mehr Isaacs’ Vorgesetzter war. Der Mann war ein totaler Schwachkopf mit Hang zum Größenwahn gewesen. Schlimmer noch, er hatte keine Ahnung vom wichtigsten Grundsatz der Wissenschaft gehabt, dem des kontrollierten Experiments nämlich. Stattdessen hatte er das T-Virus aus dem Hive gelassen, der ein hübsch kontrolliertes Umfeld gewesen war, und dann hatte er beschlossen, die Killing Fields von Raccoon City im Fahrwasser dieses Alptraums herzunehmen, um das Nemesis-Programm zu testen. Das machte Isaacs verrückt. Nemesis war ewig nicht vorangekommen, und jetzt hatten sie endlich einen Durchbruch erzielt. Abernathy und Addison waren die perfekten Testobjekte – Addison hatte sich mit den Mutationen sofort in seinem Element gefühlt, und mit Abernathy war das Ganze sogar noch einen Schritt weitergegangen. - 242 -
Aber ließ Cain Isaacs seinen Job tun und den Prozess verfeinern? Nein, er hatte sie in die Stadt entlassen und einen idiotischen Zweikampf auf Leben und Tod inszeniert. Jetzt waren beide Testobjekte so tot wie Cain, und Isaacs musste wieder ganz von vorne anfangen. Doch diese Sache genoss im Augenblick nicht die höchste Priorität im Konzern. Schließlich musste man sich mit ernstlicheren Schwierigkeiten befassen. Isaacs wusste nicht, wie sie das bewerkstelligen wollten – eine Stadt in die Luft zu jagen war nicht gerade etwas, das man unter den Teppich kehren konnte –, aber das war ja wohl kaum sein Problem. Er wusste nur – und zwar aufgrund der letzten Meldung von Ian Montgomery, bevor der Pilot bei dem Absturz gestorben war –, dass Cain tot und Abernathy an Bord dieses Hubschraubers gewesen war, als er die Stadt verließ. Wenn es etwas – irgendetwas – zu bergen gab, musste Isaacs es haben. Dann hob einer der Techniker ein Wrackteil beiseite, und darunter kam Abernathys Körper zum Vorschein. Unversehrt. Nun, größtenteils unversehrt – ein großes Metallstück hatte sich in ihre Brust gebohrt, aber das konnte man entfernen. Und ihren Leichnam zu untersuchen, würde ausgesprochen hilfreich sein. „Holen Sie das Medi-Team“, sagte er zu einem der Techniker. „Sir? Sie ist tot, Sir.“ „Tun Sie, was ich sage.“ Gott, warum erlöste ihn niemand von verblödeten Technikern! „Irgendeine Spur von den übrigen?“ Ein anderer Techniker schüttelte den Kopf. „Nein, Sir. Im Pilotensitz sind verkohlte Überreste – das war vermutlich Montgomery. Aber es gibt keine Anzeichen von sterblichen Überresten sonstiger Personen. Ich - 243 -
vermute, dass Olivera, die beiden Zivilisten und die kleine Ashford den Absturz überlebt haben.“ Isaacs schüttelte den Kopf. „Unglaublich. Der gentechnisch entstandene Supersoldat schafft es nicht, aber die Normalsterblichen und das kleine Mädchen kommen mit dem Leben davon?“ Der Techniker hob die Schultern. „Es ist eine verkehrte Welt, Sir.“ „Wohl wahr.“ Isaacs seufzte. „Suchen Sie weiter. Nur für alle Fälle.“ „Ja, Sir.“ Isaacs sah zu, wie das Medi-Team eintraf und damit begann, Abernathys Leiche aus dem Wrack zu bergen. Jill Valentine sah vom Gipfel eines der Berge auf das Wrack hinab. Sie, Carlos, Angie und L. J. hatten Stunden gebraucht, um hier heraufzusteigen und sich so weit wie möglich von dem Wrack – und Umbrellas Einfluss – zu entfernen. Die Situation entbehrte nicht einer gewissen Ironie. Für Jill hatte diese ganze Sache in den unweit gelegenen Wäldern angefangen, wo sie Zombies gesichtet hatte. Als sie es meldete, hatte Umbrella quasi Überstunden eingelegt, um sie in Misskredit zu bringen und für ihre Suspendierung zu sorgen. Jetzt war sie wieder in Arklay. Doch die Stadt, in der sie aufgewachsen war – in der sie ihr ganzes Leben verbracht hatte und die sie zu schützen, der sie zu dienen geschworen hatte –, gab es nicht mehr. Carlos, der Angie Ashford auf den Schultern trug, sagte: „Sie werden uns jagen.“ Jill griff in ihre Jackentasche. „Das wäre dann ihr Fehler.“ Im Gegensatz zum letzten Mal hatte Jill jetzt Beweise. Sie würden es nicht mehr unter den Teppich kehren können. - 244 -
„Hey, können wir jetzt abhauen?“, fragte L. J. Jill sah zu ihm hin. Sie fragte sich, wie dieses Arschloch es geschafft hatte zu überleben, während Peyton draufgegangen. L. J. war eine verdammte Kakerlake. Aber bekanntermaßen waren gerade Kakerlaken auch Überlebenskünstler. „Ja, wir müssen weiter. Außerdem sind da ‘ne Menge toter Leute, für die jemand sprechen muss. Peyton, Angies Dad, Captain Henderson, Morales.“ „Yuri“, sagte Carlos leise. „Nicholai. J. P. Jack. Sam. Jessica.“ „Rashonda“, fügte L. J. hinzu. „Dwayne.“ „Und Alice. Und sogar Nemesis.“ Angie ergriff das Wort. „Alice ist nicht tot.“ Jill und L. J. fuhren zu ihr herum. Sie saß auf Carlos’ Schultern. „Was?“ „Alice ist nicht tot.“ „Schätzchen“, sagte Jill, „sie wurde aufgespießt. Ich glaube nicht…“ „Ich weiß, was du glaubst“, sagte Angie entschieden, „aber ich weiß, dass sie nicht tot ist.“ Jill spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. Zum Teil wegen der Vorstellung, dass Umbrella mit Alice Dinge angestellt haben mochte, die dafür sorgten, dass nicht einmal der Tod sie stoppen konnte. Und zum Teil wegen des Gedankens, dass sie, wenn sie noch lebte, im Wrack des C89 war. Was hieß, dass Umbrella sie finden würde.
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Dreiunddreissig „… unbestätigte Meldungen über eine Katastrophe in Raccoon City…“ „… gerade erreichten uns diese schockierenden Bilder von Toten, die durch die Straßen laufen…“ „… sieht es aus, als würde eine mysteriöse Seuche oder ein Virusausbruch grassieren…“ „… ähnlich wie der SARS-Ausbruch in Zentralasien und Kanada scheint sich eine Art Seuche in der Stadt ausgebreitet zu haben…“ „… ist die Umbrella Corporation in den Tod unschuldiger Bürger verwickelt, die versuchten über die Ravens’ Gate Bridge aus der Stadt zu entkommen. Es ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht bekannt, warum Umbrella und nicht etwa eine Regierungsbehörde die Überprüfung der Flüchtlinge vornahm und warum man auf diese Leute schoss. Vereinzelt wird schon die Frage gestellt, warum Umbrella überhaupt einen bewaffneten Sicherheitsdienst beschäftigt, mehrheitlich jedoch ist man der Ansicht, dass Fragen wie diese in Anbetracht der weiteren Folgen momentan kaum von Bedeutung sind…“ „… die Aufnahmen stammen offenbar von Terri Morales, der früheren Nachrichtenmoderatorin von Raccoon 7, die vor einigen Monaten in die meteorologische Abteilung des Senders versetzt wurde. Das Filmmaterial erzählt eine grausige Geschichte…“ „… neue Beweise, die frühere Berichte als geschmacklose Scherze zu entlarven scheinen…“ „… das gefälschte Videoband ist nun vollends unglaubwürdig. Die Frau, die diese Aufnahmen gemacht hat, Terri Morales, wurde von ihrer Position als Nachrichtenmoderatorin von Raccoon 7 abberufen, als - 246 -
sie gefälschtes Filmmaterial über einen Stadtrat sendete, und es scheint, als habe sie diese Neigung nicht verloren…“ „… nichts weiter als ein aufwändiger Schwindel, der sich die sehr reale Tragödie zunutze machte, die vor einigen Tagen über Raccoon City hereinbrach…“ „… der Reaktor des Kernkraftwerks explodierte am frühen Morgen…“ „… die schlimmste Atomkatastrophe seit Tschernobyl im Jahr 1986…“ „…. Mitarbeiter der Umbrella Corporation vor Ort, um im Angesicht der furchtbaren menschlichen Katastrophe humanitäre Hilfe zu leisten, obwohl der Konzern selbst große Verluste erlitt. Umbrella verlor seine Konzernzentrale in Raccoon City sowie fast tausend Angestellte…“ „… Gouverneur dankte der Umbrella Corporation für ihre schnelle Unterstützung des FBI, der National Guard und des Zentrums für Seuchenkontrolle…“ „…. möchte sich dieser Sender entschuldigen für das Leid und die Sorge, die möglicherweise durch frühere Falschmeldungen über einen Virusausbruch verursacht wurden…“ „… einem Sprecher der Umbrella Corporation zufolge befand sich Terri Morales in Raccoon City, als das Unglück geschah. Doch die Drahtzieher des Schwindels, Jill Valentine und Carlos Olivera, werden jetzt vom FBI gesucht. Valentine war Officer beim Raccoon City Police Department, genau genommen gehörte sie bis zu ihrer Suspendierung zur Special Tactics and Rescue Squad, kurz S.T.A.R.S. genannt. Einzelheiten des Verdachtes gegen Valentine sind nicht bekannt, aber eine Quelle innerhalb der Umbrella Corporation wies darauf hin, dass ein Zusammenhang mit einem ähnlichen Fall bestehe, der sich ebenfalls als Schwindel herausstellte. Olivera ist ein ehemaliger Umbrella-Mitarbeiter, der kurz - 247 -
vor dem Unfall entlassen wurde. Zuletzt wurde er in einer Blockhütte im Wald gesichtet. Es ist möglich, dass er aus Wut auf Umbrella mit Valentine zusammenarbeitete, um die Firma in Verruf zu bringen, wobei Morales das ahnungslose Opfer beider wurde…“
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Vierunddreissig Sie erwachte nackt und mit dem Gefühl, dass dies schon einmal passiert war. Sie konnte sich nur nicht erinnern, wann oder wie oder warum. Und auch nicht daran, wer sie war. Sie befand sich in einer Röhre – das immerhin war ihr klar. Und dass sie völlig durchnässt war. Irgendetwas war auf ihrem Gesicht, und was es auch sein mochte, es ermöglichte ihr, unter Wasser zu atmen. Eine Anzahl von Schläuchen waren mit ihrem Körper verbunden. Sie fragte sich, ob diese Schläuche sie mit Nahrung versorgten. Die aufrecht stehende Röhre, in der sie steckte, stand in einer Art Laboratorium. Zwei Personen sprachen miteinander, ein Mann und eine Frau. Sie waren unter den Dutzenden von Leuten in dem Labor und die Einzigen, deren Worte verständlich waren. Sie erkannte keinen von beiden, hatte aber das Gefühl, sie kennen zu sollen. Sie trugen weiße Kleidung. Sie verstand nicht, wie sie so viel wissen konnte – zum Beispiel, wie ein Labor aussah – und sich gleichzeitig nicht an mehr erinnerte. An ihren Namen etwa. Die Frau sagte zu dem Mann: „Sie nimmt kaum Nährstoffe aus dem System an. Die Regeneration scheint fast spontan zu erfolgen. Es ist, als sauge sie Kraft aus der blanken Luft.“ Sie hatte keine Ahnung, was diese Worte bedeuteten. Bis auf „blanke Luft“, von der sie, wie sie annahm, abgeschnitten war, da sie ja von Wasser umschlossen war. Der Mann blickte sie an. „Kannst du mich hören? Verstehst du, was ich sage?“ - 249 -
Das Ding auf ihrem Mund erlaubte es ihr zu atmen, verwehrte aber das Sprechen. Sie entsann sich, dass Nicken in einer solchen Situation funktionierte, und so tat sie es. „Gut.“ Der Mann wandte sich an einen der anderen, die sich im Labor aufhielten. „Beginnen Sie mit dem Läuterungsprozess.“ Sie hörte ein seltsames Geräusch. Wenig später war das Wasser bis unter ihren Kopf abgesunken – dann unter ihren Hals, ihre Brust und so weiter, bis die Röhre leer war. Ein paar Sekunden lang wurde sie von einem Strom heißer Luft getroffen, der sie trocknete. Dann öffnete sich die Röhre, und jemand entfernte die Schläuche und das Ding um ihren Mund. Jetzt konnte sie sich ungehindert bewegen. Sie erkundete den Raum, nahm die Bilder, Geräusche, Strukturen in sich auf – die unterschiedlichen Farben der Möbelstücke und Kleidungen der Leute, das Summen verschiedener Gerätschaften, die Kälte des Bodens unter ihren nackten Füßen. „Ihre Genesung ist bemerkenswert.“ Eine der Gestalten in Weiß sprach über etwas – wahrscheinlich über sie. „Die Regeneration ihrer Organe und des Gewebes ist schlicht phänomenal. Und ihre Kräfte, die körperlichen wie auch die geistigen, scheinen sich sprunghaft zu entwickeln. Das ist mehr, als wir es uns je erhoffen konnten.“ Eine der weiß gekleideten Personen – nicht diejenige, die gerade sprach – saß da und benutzte eine Art Stöckchen auf einem Blatt Papier. Wiederum eine andere – diejenige, der die Verantwortung für alles zu obliegen schien – fragte: „Weißt du, was das ist?“ Sie starrte das Ding nur an – sie hatte keine Ahnung. Der Mann, der offenkundig die Verantwortung trug, nahm es dem anderen ab und begann, dessen Bewegungen nachzuahmen. „Stift. Siehst du?“ - 250 -
Er fasste ihre Hand, legte den Stock – oder den Stift eben – hinein und führte sie über das Blatt Papier. „Ein Stift“, wiederholte er. Der Verantwortliche ließ ihre Hand los, und sie bewegte sie selbst. Sie konnte nicht viel damit anfangen, und obwohl sie gerade erst herausgefunden hatte, was dieses Ding war, erkannte sie doch, dass das, was sie damit tat, dumm aussah. So dumm sogar, dass sie lächelte. „Ja, richtig“, lobte der Mann, das, was er als Fortschritt betrachtete, „ein Stift.“ Zum ersten Mal, seit man sie aus der Röhre gelassen hatte, versuchte sie zu sprechen. „W…“ Der Laut kam krächzend über ihre Lippen. Sie versuchte es noch einmal. „W-wo…“ Der Mann half ihr. „Wo du bist?“ Sie nickte. „In Sicherheit. Erinnerst du dich an irgendetwas? Erinnerst du dich an deinen Namen?“ Was war das? „Dein Name?“, wiederholte er. „Name?“ „Ja, genau.“ „Mein – Name – ist…“ Das Konzept rührte sich irgendwo tief in ihrem Kopf. Sie ahnte, was ein Name war, sie war sich fast sicher… aber es wollte nicht in ihr Bewusstsein rücken. Sie seufzte. Der Verantwortliche wandte sich an die Anderen. „Ich möchte, dass sie rund um die Uhr beobachtet wird. Sämtliche Blut- und Chemotests – und eine ElektrolytAnalyse. Und zwar bis heute Abend.“ Dann fiel es ihr plötzlich ein. „Was ist deine Geschichte? Hier wimmelt es von ehemaligen Gesetzeshütern, die hier landeten, weil’s - 251 -
überall sonst zum Kotzen ist. Da muss es doch eine Geschichte dazu geben.“ „Beurteile nichts nach seinem Äußeren. Erste Regel der Sicherheitsabteilung.“ „Ich bin hier, weil ich auf die Dinge geachtet habe, die mich nerven. Ich behielt also einfach dich im Auge. Dann bemerkte ich etwas.“ „Nachdem mir klar wurde, dass du und al-Rashan Kollegen und Freunde seid, passte auf einmal alles zusammen. Du arbeitest für genau denselben Konzern, der für den Tod deines Freundes verantwortlich war. Du zogst sogar aus der Stadt weg, in der du dein ganzes bisheriges Leben verbrachtes – , ein Umzug, den du sechs Jahre zuvor noch abgelehnt hattest. Sicher, es gab Umstände, die das alles erklärten – aber nicht, warum du so aggressiv versuchtest einen Blick auf Dinge zu werfen, für die du keine Befugnis hattest.“ „Es ist ein T- Virus, und du hast Recht, es ist ganz und gar unnatürlich. Ob du es glaubst oder nicht, es entstand durch Forschungen, deren Ziel es war, den Alterungsprozess zu verzögern – eine Salbe, die das Absterben von Hautzellen verhindern sollte.“ „Ich kann dir helfen, das Virus zu bekommen. Ich habe Zugriff auf Sicherheitspläne, Überwachungscodes und so weiter.“ „Hör zu. Ich will wissen, wer ihr seid, und ich will wissen, was hier los ist. Und zwar sofort.“ „Kaplan, du musst dich beeilen, du musst ihnen helfen!“ „Mein Gott, Kaplan, irgendetwas bringt sie da drinnen um!“ „Du bist kein Cop, oder?“ „Dieses mörderische Miststück ist womöglich unser einziger Weg hier raus.“ „Rain? Rain! Wir müssen deine Wunden versorgen.“ „Kaplan – halt durch! Wir kommen dich holen. Wir - 252 -
müssen dieses Kabel durchschneiden, dann können wir es ihm zuwerfen. Und dann können wir zu ihm und ihn holen. Halt durch!“ „Blau für Virus, grün für Antivirus. Das ist mal ein Heilmittel.“ „Ich war die Verbindungsperson deiner Schwester.“ „Dachtest du, so würden all meine Träume wahr werden?“ „Ich weiß nicht, was mit uns war, aber es ist vorbei.“ „Das Antivirus ist da auf der Plattform – es ist genau dort!“ „Rain, bitte, steh auf.“ „Ich vermiss dich jetzt schon.“ „Hey – hier stirbt niemand mehr.“ „Ich könnte dich küssen, du Miststück.“ „Ich hab versagt. Ich hab sie im Stich gelassen. Ich hab sie alle im Stich gelassen.“ „Du bist infiziert. Aber du kommst wieder in Ordnung – ich werde dich nicht verlieren.“ „Ich heiße Alice. Hier drin ist es nicht sicher. Das Feuer wird sich ausbreiten.“ „Sie jagen in Rudeln. Wenn noch mehr hier wären, hätten wir sie inzwischen schon gesehen.“ „Ich habe für sie gearbeitet – bis mir klar wurde, dass ich auf dem falschen Weg war.“ „Es ist nichts Persönliches. Aber in einer, vielleicht in zwei Stunden werden Sie tot sein. Und ein paar Minuten später werden Sie einer von denen sein. Sie werden zur Gefahr für Ihre Freunde, werden versuchen sie umzubringen – und vielleicht wird es Ihnen gelingen. Tut mir Leid, aber so ist das nun mal.“ „Umbrella. Die wollen nicht, dass draußen bekannt wird, was hier passiert.“ „Sie haben etwas mit mir gemacht.“ „Seine Tochter Angela sitzt in der Stadt fest. Wenn wir sie finden, hilft er uns, aus dieser Falle zu entkommen.“ - 253 -
„Es wird keine Hilfe kommen. Laut Ashford weiß Umbrella, dass die Infektion nicht aufzuhalten ist. Deshalb wird Raccoon City bei Sonnenaufgang vollständig desinfiziert.“ „Er ist tot. Du kannst ihm folgen – oder du kannst tun, was ich dir sage.“ „Sie ist infiziert. In hohem Maße.“ „Sie haben mich zu einem ihrer kleinen Monster gemacht!“ „Mein Name ist Alice Abernathy. Ich arbeitete für die Umbrella Corporation.“ „Ich blickte in die Hölle, sah Dinge, die ich nicht beschreiben kann.“ „Ich bin ein Freak geworden.“ „Sir!“ Das war einer der Labortechniker – er hieß Cole, wie Alice sich jetzt erinnerte. Ihm war etwas auf der Gehirnwellenanzeige aufgefallen, und er versuchte den verantwortlichen Mann darauf aufmerksam zu machen. Dr. Samuel Isaacs. Der Mann, der an ihr und Matt Addison herumexperimentiert hatte, auf Geheiß von Major Timothy Cain – und alles zum Wohle der Umbrella Corporation. Isaacs schenkte jedoch weder Cole noch Alice Beachtung. „Umfangreiche Reflextests sind eine weitere Priorität. Ich möchte, dass die elektrischen Impulse überwacht werden und…“ „Sir!“ Das war wieder Cole. Isaacs fragte in gereiztem Tonfall: „Was ist denn?“ Sie gab ihm keine Chance zu antworten. „Mein Name ist Alice. Und ich erinnere mich an alles.“ Isaacs wurde blass. Er gab einem der Wächter, die an der Tür standen, ein Zeichen, einem jungen Mann namens Doyle. - 254 -
Bevor er seine Handfeuerwaffe auch nur ziehen konnte, sprang Alice auf Doyle zu. Sie hielt den Stift noch in der Hand und zielte damit auf sein Auge. Starr vor Schrecken rührte Doyle sich nicht vom Fleck, dennoch stoppte Alice ihre Attacke einen Millimeter vor der Hornhaut seines Auges. Der Treffer hätte ihn getötet, und Alice war nicht daran interessiert, einen jungen Mann zu töten, der nur seine Arbeit verrichtete. Außerdem erwartete seine Frau ein Baby, und es wäre ihr gegenüber nicht fair gewesen. Stattdessen schlug sie ihn bewusstlos. Zwei Pfleger tauchten wie aus dem Nichts auf, um sie zu überwältigen. Alice überwältigte sie – in zweieinhalb Sekunden. Dann packte sie Isaacs’ Arm. Ihn wollte sie töten. Aber, nein, das war auch nicht fair – denn wenn er starb, dann würde er nicht einmal ansatzweise für das büßen, was er ihr angetan hatte. So brach sie ihm stattdessen den Arm. Er sollte den Schmerz eine Weile spüren. Das war zumindest ein Anfang, um die Qualen wettzumachen, den sie durch ihn und Cain erlitten hatte. Dann warf sie ihn mit dem Kopf voran in den Tank, in dem sie festgehalten worden war. Ein Taser-Pfeil bohrte sich in ihr nacktes Fleisch und jagte Tausende Volt durch ihren Körper. Sie lachte. Es kitzelte. Sie hatten zu gute Arbeit an ihr geleistet. So gut, dass sie nun nicht in der Lage waren, sie aufzuhalten. Sie zog den Taser-Pfeil heraus und schleuderte ihn zurück auf den Wächter, der ihn abgefeuert hatte. Er lachte nicht. Ihn kitzelte er nicht – der Pfeil schickte den Mann zu Boden, wo er reglos liegen blieb. Die anderen Techniker, Pfleger und Wissenschaftler flüchteten aus dem Labor. Sie waren klug. - 255 -
Alice wusste – sie war nicht sicher, wie, aber sie wusste es –, dass ein Stück weit den Korridor hinunter ein Wächter namens Daellanbach sie auf einem Überwachungsmonitor beobachtete und in einen Telefonhörer brüllte. „Hier ist die Zentrale! Brauchen dringend maximale Verstärkung. Das Nemesis-Experiment spielt verrückt – wiederhole, das Nemesis-Exp…“ Alice wollte, dass er aufhörte zu reden. Und so hörte er auf, fiel zu Boden, Blut lief ihm aus der Nase, und er brüllte auf, als sich etwas durch sein Denken fräste. Ohne auf irgendwelchen Widerstand zu stoßen, verließ sie das Labor und ging zum Vordereingang. Sie befand sich im Umbrella-Hauptquartier in San Francisco, wo sich der Konzern nach dem Raccoon-City-Desaster niedergelassen hatte, wie Alice inzwischen wusste. Sie wusste außerdem, dass draußen auf einem Parkplatz ein paar Freunde auf sie warteten. Sie spürte die Gegenwart eines dieser Freunde. Angie Ashford. Sie war bei Carlos und Jill geblieben, die jetzt Flüchtige waren und das Risiko auf sich genommen hatten, hier aufzukreuzen, weil Angie wusste, dass Alice heute hier sein würde. Und tatsächlich stand ein Geländewagen genau dort, wo sie ihn vorzufinden erwartet hatte. Carlos saß am Steuer, Jill und Angie kauerten auf dem Rücksitz. „Wo hast du denn gesteckt?“, fragte Jill grinsend. „Wir warten schon die ganze Nacht.“ „Es war ziemlich riskant, hierher zu kommen“, sagte Alice, als sie neben Carlos auf dem Beifahrersitz Platz nahm. „Wir leben gerne gefährlich“, erwiderte Carlos. „Angie sagte, dass du hier sein würdest, also sind wir gekommen. Du bist uns das Risiko wert.“ - 256 -
„Vorausgesetzt“, ergänzte Jill, „dass du immer noch all diese Zaubertricks drauf hast, die du in Raccoon City abgezogen hast.“ „Ich hab sogar noch ein paar dazugelernt“, sagte Alice leise. Umbrella hatte geglaubt, es sei vorbei, als die Katastrophe von Raccoon City vertuscht werden konnte. Das war ein Irrtum. Vor einer Ewigkeit, in einem anderen Leben, war Alice an Lisa Broward herangetreten, um mit ihrer Hilfe die Existenz des T-Virus publik zu machen, in der Hoffnung, die Umbrella Corporation in Misskredit zu bringen und den Konzern so zu zwingen, für seine illegalen, unmoralischen Aktivitäten gerade zu stehen. Jetzt war Lisa tot, Raccoon City war vernichtet, und Umbrella machte munter weiter und galt in aller Welt als wohltätiges Unternehmen. Alices Entschlossenheit, das zu ändern, hatte nur noch zugenommen. Und die Mittel, mit denen sie es tun würde, waren eben jene enormen Fähigkeiten, die Umbrellas Wissenschaftler ihr verliehen hatten. Für die Umbrella Corporation hatte der Alptraum somit gerade erst begonnen. NICHT DAS ENDE…
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DER AUTOR Keith R. A. DeCandido wurde in der Bronx als Kind einer streunenden Horde von Bibliothekaren geboren. Er ist der erfolgreiche Verfasser Dutzender Romane, Kurzgeschichten, Comics, eBooks und Sachbücher über eine Vielzahl medialer Universen, angefangen bei Star Trek und Doctor Who über Farscape und Gene Rodenberry‘s Andromeda bis hin zu Spider-Man, X-Men, Buffy the Vampire Slayer und Xena. Der vorliegende Roman ist sein zweiter Ausflug in die Welt von Resident Evil, die Fortsetzung zu Resident Evil: Genesis. Sein erster Originalroman wurde in den USA im Sommer 2004 veröffentlicht, daneben arbeitet er momentan an mehreren Star Trek-Werken. Weitere, völlig uninteressante Details finden sich auf Keiths offizieller Homepage unter www.DeCandido.net.
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