����������� Version 1.5 – 11. Oktober 2001
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RegenSchein...
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����������� Version 1.5 – 11. Oktober 2001
Inhalt
RegenSchein............................................................................................... 4 September .................................................................................................. 6 Erinnerung .................................................................................................. 8 Eine Geschichte ........................................................................................ 10 Wie es dir geht .......................................................................................... 11 Wenn etwas fehlt ...................................................................................... 13 Grün ......................................................................................................... 14 Sanft ........................................................................................................ 16 Die Regentänzer ....................................................................................... 17 Vier........................................................................................................... 21 Kindheit .................................................................................................... 23 Geplante Nostalgie mit Schrecken ............................................................. 24 Knappheit ................................................................................................. 27 Paradoxon................................................................................................. 28 Ich Seele................................................................................................... 29 Alles Schmerz ........................................................................................... 30 Kalt........................................................................................................... 31 Das grösste Unglück ................................................................................. 32 Eheglück................................................................................................... 33 Gegenwart ................................................................................................ 34 Kein Name, kein Essen .............................................................................. 35 Der erste Tropfen kühlen Regens ............................................................... 39 Regen ....................................................................................................... 40 Halbzeit..................................................................................................... 41 Die Brunnen.............................................................................................. 42 Mantel ...................................................................................................... 45 Angestrengt, wunschlos glücklich.............................................................. 47 Märchen................................................................................................... 49 Der wahre Wunsch .................................................................................... 50 Stadthaustreppe........................................................................................ 53 Das Tor ..................................................................................................... 54 Annäherung.............................................................................................. 62 Alte Schulfreundinnen ............................................................................... 63 Hoffnung................................................................................................... 67 Schwestern............................................................................................... 68 Horror ....................................................................................................... 73 Das letzte Gefühl........................................................................................74 Das Ende des Regens................................................................................ 79
RegenSchein
„Ja, hallo?“ meldete ich mich am Telefon. Immer wenn jemand die Anrufererkennungsunterdrückung eingeschaltet hatte, meldete ich mich nicht mit dem Namen.
Die Nacht auf den ersten September hatte die Temperaturen um zwanzig Grad Celsius sinken lassen. Als ich am Morgen die Fenster öffnete, konnte ich
„Ja, ist da Patrick Armbruster?“ fragte eine Stimme, die ich auch unter tausenden erkannt hätte. Dennoch fragte ich: „Wer spricht denn da?“
riechen, dass der Herbst gekommen war. Der Himmel über Winterthur war eine einfarbige graue Fläche, und mein Atem kondensierte, kaum hatte er meinen Mund verlassen. Ich lehnte mich weit aus dem Fenster und blickte zu den beiden Kirchtürmen hinüber, die durch den seltsamen Kontrast klarer und bunter erschienen als am
„Eilin. Patricks Mutter hat mir diese Nummer gegeben.“ Sie war hörbar verwirrt. „Hallo Eilin,“ sagte ich. Und damit sie sich sicher sein konnte, dass ich es war: „Regnet es schon?“
Tag zuvor, als sie sich blass vor einem azurblauen Himmel
Pause – dann: „Nein, aber ich denke, dass es jeden
abgezeichnet hatten. Ich liess die Fenster geöffnet und
Moment soweit sein kann. Bist du bereit für den
setzte Wasser für einen Instant-Kaffee auf, da mein
Regenschein?“ fragte sie.
Kaffeebohnenlager erschöpft war. „Ja,“ sagte ich. Mein Mobiltelefon vibrierte auf dem Salontisch, wandte sich nach links und fiel aufs Parkett.
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September
„Ja,“ sagte sie. „Sobald er hier in Dublin gefallen ist.“ Regenschein. Ein Wort stand in unserer Erinnerung für die ersten kalten Regen im September, die wir gemeinsam in Winterthur verbracht hatten. Wenn ein Wort mehr Kraft
Es gibt Menschen, die die Sonne lieben. Sie mögen es, an Stränden zu liegen und sich die Haut verbrennen zu lassen. Ich gehöre nicht dazu.
hatte als ‚September‘ oder ‚Regenschein‘, dann war es ‚Erinnerung‘. Ich blickte in den grauen Himmel hinauf und lachte laut. „Regenschein. Winterthur. Eilin. Ich liebe euch…“
Es gibt Menschen, die kleine graue Wolken am Himmel verfluchen und hoffen, dass das Wetter hält. Ich gehöre nicht dazu. Es gibt Menschen, für welche das Jahr aus Juni, Juli und August besteht. Der Rest ist Winterschlaf. Auch dazu gehöre ich nicht. Der Herbst ist meine Welt. Ich liebe Menschen in gemütlich warmer Kleidung. Ich mag Stiefel und Handschuhe, mir gefallen die Launen des Wetters. Es gibt einen Tag in jedem Jahr, an dem der erste kalte Regen fällt. Im September. „Wirst du mich besuchen, Eilin?“ fragte ich. 6
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Erinnerung
Und ich beantwortete die stumme Frage, die darin lag: „Die Treppe vor dem Stadthaus.“ Schnell durchquerten wir die Altstadt von Winterthur. Kaum hatten wir die Treppe erreicht, spürten wir die
Als ich Eilin kennen lernte, zählte sie zwanzig Jahre. Ich
ersten Tropfen auf unsere Köpfe fallen.
selber war kaum älter. Dass sie mich ansprach lag daran,
Schirme öffneten sich, das Fluchen begann. Die
dass ich wie sie hoffnungsvoll in den Septemberhimmel
Menschen suchten Unterschlupf.
gestarrt hatte. „Wollen wir gemeinsam auf ihn warten?“ hatte sie gefragt.
Ich stand neben Eilin, und meine Gestalt überragte die ihre um fast zwei Kopfeslängen, und doch strahlte sie ein
„Den kalten Regen?“ fragte ich. „Ja!“ sagte sie und lachte. „Ich nenne ihn den Regenschein. Einmal im Jahr kommt er im September und läutet den Herbst ein. Die Menschen hassen ihn. Sie verachten seine Kälte. Sie vermissen den Sommer und klagen das Wetter an.“
solches Glück aus, dass ich das Gefühl hatte, sie wachse körperlich über mich hinaus. Ich blickte in ihr von dunklem Haar umrahmtes Gesicht. In ihre grünen Augen, deren Schimmer so klar von fremden Welten erzählte, dass ich weinen wollte. Sie schloss sie kurz und liess mich atmen. Dann drückte sie ihre Lippen auf meine, zog mich an sich und flüsterte mir leise ins Ohr, dass sie sich freute, mich
„Ja, warten wir auf ihn. Wo am besten?“ fragte ich.
getroffen zu haben. Ich ahnte in ihr so viel mehr…
„Es gibt einen Ort, der wie kein anderer dafür geschaffen
„Daran werden wir uns erinnern,“ sagte sie.
ist,“ sagte sie, die Augen weit geöffnet.
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„Ja,“ sagte ich leise.
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Eine Geschichte
Wie es dir geht
„Erzählst du mir eine Geschichte, Patrick?“ fragte Eilin, als
Tage, an welchen mir viel Gutes widerfährt, machen mich
wir nebeneinander auf der Stadthaustreppe sassen.
nervös. Ich warte dann darauf, dass etwas geschieht, das
„Wovon soll sie handeln?“ fragte ich. „Irgendetwas Melancholisches,“ sagte sie.
ich nicht will. Ich sehne mich danach, dass Abend wird, dass ich mich zur Ruhe begeben kann, ohne dass das Gute reduziert wird. Ich sehne mich nach einer Person, der ich von all den Dingen erzählen kann – mit welcher ich teilen kann, was ich fühle. Wie ich fühle! Heute ist ein solcher Tag. Und du bist nicht hier. Ich habe dich angerufen, aber dein Mobiltelefon ist ausgeschaltet oder hat keinen Empfang. Ich sitze jetzt zuhause und grinse nervös vor mich hin. Alles hat geklappt! Alles ist so wundervoll! Ach, wie du dich mit mir freuen würdest. Wenn du nur da wärest. Doch du bist nicht hier. Es wird Abend, leise beginnt es zu regnen und ich merke, dass ich nicht müde bin. Mit dem September ist der Herbst gekommen – pünktlich in der Nacht auf den ersten Tag des Monats fielen die Temperaturen. Ich erinnere
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mich daran, dass ich gestern Nacht gefroren habe, als
Wenn etwas fehlt
ich am Fenster stehend auf dich gewartet habe. Ich stelle mich auch jetzt ans Fenster, und langsam wird mir klar, dass du heute nicht mehr kommen wirst. Ich frage mich, wie es dir geht. „Wie lange bleiben wir hier?“ fragte Eilin. „Immer bis es zu regnen aufhört,“ sagte ich. „So soll die Regel sein. In jedem Jahr, das kommt.“ „Kennst du Geschichten, in denen etwas fehlt?“ fragte Eilin. Ich schüttelte den Kopf. „Wie meinst du das?“ fragte ich. „Warte,“ sagte sie, „ich erzähle dir eine…“ „Ist sie melancholisch?“ fragte ich. „Sie besitzt einen Ansatz von Traurigkeit,“ sagte sie.
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Grün
„Nur,“ sagte sie mit dem süssesten Lächeln der Welt, „ich mag keinen Kaffee.“ Ich nickte. Ich selber hatte eine Nespresso-Maschine, wegen der Einfachheit und des guten Kaffees. „Kennst
Draussen regnete es. Wir sassen bei mir in der Wohnung und diskutierten Interieurs moderner Wohnungen. „Kennst du diese Kaffeemaschinen von Francis?“ fragte sie. – „Ja!“ sagte ich. „Die so aussehen, als gehörten sie
du diese langen Aquarien, mit den dunklen Hintergründen, bei welchen das Licht so wundervoll grell wirkt?“ fragte ich. Und so fuhren wir fort – quer durch die Innendekorationsverbrechen des Jahrzehnts.
zum Armaturenbrett eines alten Sportwagens!“ – „Genau! So eine wünsche ich mir. Weisst du, ich habe vier farbige Schemel unter meinem Buchenholzfournier-Esstisch. Drei davon blau, einer grün. Und die grüne FrancisKaffeemaschine würde genau dazu passen. So richtig kitschig!“ Ich stellte es mir vor. Schemel. Blau. Grün. Kaffeemaschine. „Die Fenstersimse bei mir sind so tief, dass die Maschine darauf Platz fände. Ich stelle mir das so schön vor…“ sagte sie. Ich nickte. Ja, das wäre wirklich schön, dachte ich bei mir.
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Sanft
Die Regentänzer
„Ich möchte eine Geschichte erzählen, die vom Regen
Zu fünft gingen wir durch die nassen Strassen von
handelt,“ sagte ich. „Sie ist ein bisschen lange. Ich hoffe,
Winterthur. Eine kleine Gruppe an einem Freitagabend.
ich komme zu ihrem Ende, bevor es zu regnen aufhört.“
Das Ziel war unbekannt, doch ich ahnte, dass einer
„Dann sprich schnell!“ befahl sie – und warf einen kritischen Blick in den Himmel.
der anderen vier bald ein Lokal vorschlagen würde, in welchem es alkoholische Getränke gab. Es war so üblich, und der feine Septemberregen verstärkte den Wunsch nach der muffigen Atmosphäre einer verrauchten Bar. Ich liess mich etwas zurückfallen, so dass ich die Gespräche der Anderen nicht mehr verstand – aber dennoch hörte. Die Regentropfen auf meinen Brillengläsern splitterten das kalte Licht der Laternen in Sterne auf. Der Gedanke führte meinen Blick in den Himmel, so dass ein paar Tropfen direkt in meine Augen fielen. Ich blinzelte und sah etwas.
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Ich senkte den Blick und ging schneller, so dass ich die
der Omnibusleitungen, dann darüber hinaus. Schnell
Gruppe wieder einholte. Ich begann, die Gesprächsfetzen
näherte ich mich der Gruppe hoch oben am regnerischen
wieder zu verstehen und sagte: „Halt! Stopp!“ Ich blieb
Septemberhimmel über Winterthur.
stehen. Nach einem Verzögerungsschritt taten es auch die Anderen. „Was denn?“ fragte einer. „Ich habe vorhin einen Blick in den Himmel geworfen. Und ich habe etwas gesehen. Da waren Menschen!“ sagte ich und wusste, dass man mir nicht glauben würde. „Menschen am Himmel?“ fragte ein anderer Kollege. Ich nickte. Blicke wurden getauscht. Dann gingen die vier weiter und nahmen ihre Gespräche wieder auf. Ich blieb stehen und warf einen weiteren Blick zum Himmel hinauf. Ich sah sie. Drei Frauen, zwei Männer. Eine winkte mir zu. Ich hob die Schultern. ‚Was soll ich tun?‘ fragte ich still. Und ich erhielt eine Antwort: Sie winkte mich zu sich herauf. Ich hob meine Arme und senkte sie kraftvoll wieder, wobei ich den Boden einen Meter unter mir liess. Wieder hob und senkte ich meine Arme, dieses Mal mit noch mehr Kraft. Schon war ich auf der Höhe 18
„Wer seid ihr?“ fragte ich. „Wir sind Regentänzer,“ sagte die Frau, die mich zu sich gewinkt hatte. Ich nickte verständnislos. „Und was tut ihr hier?“ „Wir unterhalten uns. Betrachte uns als eine Gruppe von Menschen, die sich am Regenhimmel über Winterthur trifft um zu diskutieren. Spass zu haben. Zu tanzen. Uns am Regen und aneinander zu freuen.“ Das gefiel mir! Und ich stellte nicht die Fragen, die mir im Kopf herumschwirrten, sondern akzeptierte das Unwahrscheinliche, das mit mir geschah, im festen Glauben zu träumen. Doch je länger es dauerte, desto mehr stellte ich fest, dass es Realität war. Ich konnte die Häuser sehen, die ich kannte. Ich konnte in manchen Fenstern auch Menschen erkennen, deren Gesichter ich schon in der Stadt gesehen hatte. Eine Weile lang betrachtete ich ruhig das Haus, in dem ich wohnte. 19
Als mich am nächsten Tag die Freunde fragten, wo
Vier
ich geblieben war, erzählte ich ihnen, dass ich mit den Regentänzern am Himmel über Winterthur getanzt und gelacht hatte. Dass ich mich über Kultur und Politik mit ihnen unterhalten und dass ich selbst über vier Stunden am Himmel schwebend zugebracht hatte. Da ich eine gut
„Ich muss dir etwas erzählen,“ sagte ich. – „Was denn?“
ausgeprägte Phantasie hatte, liessen sie mich knurrend
fragte er. – „Es ist aber irgendwie seltsam…“ sagte
in Ruhe, wohl ahnend, dass ich ihnen ‚die Wahrheit‘
ich. – „Nun erzähl‘ schon!“ befahl er. – „Also gut,“ sagte
sowieso nicht erzählen wollte.
ich. „Ich ging heute, früher am Abend, durch die Altstadt. Da kamen mir vier junge Frauen entgegen. Alle waren sie eher gross, eine davon sicher grösser als ich. Die eine erwähnte, dass sie in den Ferien gewesen war, und dass die nicht gefütterten Fische damit begonnen hatten, die Schwächeren und Kleineren zu verzehren.“ Er grinste und sagte: „Kann passieren.“ – Ich nickte. Dann sagte ich: „Eine der anderen Frauen fragte, ob es denn nicht eigentlich Planktonfresser wären, die Fische, welche die Kollegin hatte. Die erste, die es erzählt hatte, nickte. Die zwei bisher Schweigsamen unter den jungen Damen kicherten und philosophierten laut und glucksend, ob Männer und Fische einander ähnlich wären. Ich war nun beinahe bei den Frauen. Da sagte die erste: ‚Fünfzehn
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Fische. Nun sind es noch vier.‘ Ich war noch fünf Meter
Kindheit
entfernt, und nun schwiegen alle vier Frauen. Sie starrten mich an. Sagten kein Wort mehr. Schweigend gingen sie langsam, mich unaufhörlich anblickend an mir vorüber. Ich wagte nicht, ihnen nach zu blicken. Ich ging weiter.“ „Irgendwie unheimlich,“ sagte er. – Ich nickte.
Wir sassen lange auf der Stadthaustreppe. Und wir taten es fortan in jedem Jahr um diese Zeit. In gewisser
„Weisst du, was wirklich unheimlich ist?“ fragte ich. – Er
Weise war es die Kindheit unserer gemeinsamen Zeit.
schüttelte den Kopf. – „Dass ich erwartet hatte, dass sie
Eine Unschuld lag darüber wie ein weicher Schleier. Wir
das Schweigen gewollt hatten. Ich hatte erwartet, dass
konnten einander nicht verletzen, da wir nur Fragmente
sie – sobald ich an ihnen vorbei gegangen sein würde –
kannten. Vielleicht gar nur Erfundenes. Und doch kannten
wieder zu kichern anfingen.“
wir auch Details aus des Einzelnen Kindheit. Als sie mich in einem anderen Jahr um eine Geschichte über meine
„Und?“
Kindheit bat, erzählte ich die folgende…
„Nichts. Ich hörte keinen Laut. Nicht einmal das Klacken von Schuhen auf dem Pflasterboden. Und ich wagte auch dann nicht ihnen nachzusehen, als es mir auffiel. Wohl aus Angst davor, etwas Unheimliches sehen zu müssen. Doch jetzt, da ich darüber nachdenke und meine Phantasie spielen lasse, wünschte ich, ich hätte hingesehen.“
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Geplante Nostalgie mit Schrecken
und gar ferne Galaxien gekreist war. Ich gab dem Buch damals, da es sich um ein Geschenk gehandelt hatte, eine Chance. Ich blätterte es durch und versuchte, es aus einem seltsamen Gefühl früher Nostalgie heraus zu mögen. Als Erwachsener betrachtete ich nun mit dem Buch gleichzeitig auch mein elfjähriges Gemüt in einer
Ich nahm das Buch aus dem Regal. Es gehörte zu den
Art Rückblick. Und irgendwie mochte ich den elfjährigen
letzten im letzten Abteil des letzten Gestells. Alle anderen
Jungen, der damals bereits viel weiter gewesen war als die
Bücher waren in Kisten verpackt. Die meisten davon
hellsten Köpfe amerikanischer Raumfahrttechnologie des
befanden sich bereits in der neuen Wohnung. Das Buch,
20. Jahrhunderts. Ich blätterte das Buch durch – und auf
das ich nun in meinen Händen hielt, hatte ich zu meinem
Seite 100 des Buches erkannte ich, warum ich das Buch
elften Geburtstag bekommen. Damals war ich – wie
niemals zu Ende gelesen hatte. Ich erkannte, warum ich
auch lange später noch – von Raumschiffen fasziniert
es in einem Moment schierer Panik zugeschlagen hatte.
gewesen. Also hatte meine Tante mir ein Buch über
Warum ich es seit jenem Tag nie mehr aus dem Regal
die verschiedenen Raketen und Raumschiffe der NASA
genommen hatte. Auf Seite 100, oder vielmehr auch auf
geschenkt, was mich zunächst langweilte, denn meine
Seite 101, befanden sich die Reste einer kleinen Spinne,
Phantasie beschäftigte sich längst mit Triebwerken,
die irgendwann im Jahr 1985 beschlossen hatte, sich
die überlichtschnelle Raumflüge zu fernen Welten
von der Decke meines Zimmers hinunter zu mir zu wagen.
ermöglichten – das Buch beschrieb also sozusagen
Die Expedition hatte tödlich geendet. Und da stand ich
Technologie aus der Frühzeit menschlicher Versuche,
nun, zweiundzwanzig Jahre jung, und fragte mich, was
die nähere Umgebung der Erde zu erkunden, während
ich mit dem Buch tun sollte, das ich eigentlich nie wirklich
mein Geist nicht nur um unsere eigene Sonne, sondern
gemocht hatte. 100 Seiten von knapp 140 hatte ich
bereits um andere Sonnen, andere Planetensysteme
gelesen. Ich zuckte mit den Schultern, klappte das Buch
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zu und legte es zu den anderen Erinnerungsstücken an
Knappheit
meine Kindheit in die Schachtel. Vielleicht würde es mir beim nächsten Umzug wieder begegnen. Und vielleicht würde ich mich wieder erst langsam an alles erinnern können. Und dann wären es nicht drei oder vier Minuten der Nostalgie, sondern vielleicht bereits deren zehn.
„Ich finde, es ist eine grosse Kunst, in knappen Worten Wahrheiten zu setzen,“ sagte Eilin eines Septemberregenabends. „Und ich liebe deine kürzesten Geschichten besonders.“ „Bekomme ich einen Kuss für jede Geschichte? Dann werde ich nur noch kurze erzählen!“ sagte ich ernst. Eilin lachte. „Erzähle!“
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Paradoxon
Ich Seele
Dass man nicht tut, was man nicht lässt.
Sie sagt, ich sei ihr zu ernst, zu traurig. Zu sehr mit der inneren Welt beschäftigt. Ich tue immer so, als ob ein leichtes Leben für mich nicht möglich wäre. Sie hat Recht – und ich Seele.
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Alles Schmerz
Kalt
Es braucht Mut, im Leben niemals verlieren zu wollen.
„Wie komme ich am besten nach Zürich?“ fragte mich
Denn kein Sieg kann jemals die grösste Niederlage an Intensität übertreffen. Eigentlich ist alles Schmerz.
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letzthin ein Fremder auf dem Land. Ich bin oft da und sagte deshalb: „Ohne Illusionen.“
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Das grösste Unglück
Eheglück
Das grösste Glück ist das noch folgende.
„Ist es nach dreissig Jahren Ehe wirklich wichtig, ob ich dich jemals betrogen habe?“ fragte sie. „Ja!“ sagte er energisch. „Dann habe ich es niemals getan,“ sagte sie.
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Gegenwart
Kein Name, kein Essen
Eilin traf gerade noch rechtzeitig auf der Stadthaustreppe
Der Februartag endete, wie er begonnen hatte – es regnete.
ein. Ich umarmte sie kurz, dann setzten wir uns
Ich stand am offenen Fenster in meinem Wohnzimmer
und begannen wie jedes Jahr mit dem Erzählen von
und blickte auf die Gasse hinunter, wo ein paar wenige
Geschichten.
Menschen vor dem Eingang der Bar standen. Die zwei
Ich begann in diesem Jahr mit einer wahren Geschichte, die mich im vergangenen Jahr selber sehr irritiert hatte.
Frauen wirkten unruhig, ungeduldig. Sie wollten entweder nach Hause oder in die Bar – eines von beidem – aber sicher schnell, da sie in der Kälte des Regens erbärmlich froren, weil sie für das Wetter unpassend gekleidet waren. Die beiden Männer waren sich nicht einig, was nun zu tun sei. „Komm wir gehen rein,“ sagte der Eine. Der Andere schüttelte nur den Kopf. Eine der beiden Frauen seufzte hörbar und drehte sich von der kleinen Gruppe weg in meine Richtung. Sie blickte zu mir herauf, wo ich lächelnd am offenen Fenster stand. Da erkannte ich sie! Es war die junge Frau, die ich am vorigen Tag im Park gesehen hatte. Es hatte auch da geregnet, und wir waren fast die einzigen Menschen
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gewesen, die im Park unterwegs gewesen waren. Ich
ich wohnte. Ich holte schnell meinen Zweitschlüssel und
war auf sie zugegangen und hatte sie um eine Zigarette
warf ihn zu ihr herunter. Sie fing ihn mit einer Hand auf,
gebeten. Gemeinsam hatten wir dann geraucht und uns
lächelte mir zu und kam ins Haus.
unterhalten.
Ich ging ihr entgegen, und wir trafen uns im Treppenhaus.
Nach einer Weile waren wir auf eher intime Themen
„Hallo,“ sagte ich. – „Hallo,“ sagte sie. – „War er es?“
gekommen, und sie hatte mir erzählt, dass sie einen
fragte ich. – „Natürlich,“ sagte sie. Ich bat sie in meine
Freund hatte, den sie kaum noch ausstehen konnte. Sie
Wohnung. Sie zog ihre nasse Stoffjacke aus, die ich an
wollte ihn verlassen. Sie hatte mir sogar erzählt, dass sie
die Garderobe hängte. Nachdem sie auch ihre Schuhe
es am nächsten Abend tun wollte – also an dem Abend,
ausgezogen hatte, gingen wir ins Wohnzimmer.
an dem ich nun Zeuge einer Situation wurde, die für einen Streit hervorragend geeignet war.
Wir setzten uns aufs Sofa. Ich bot ihr einen Kaffee an, den sie dankend akzeptierte. Durch das offene Fenster
In jenen Momenten, als wir einander in die Augen
hörten wir ihren Ex-Freund Dinge zu uns heraufrufen. Sie
blickten – sie auf der Gasse, den Kopf von ihrer
bat mich, das Fenster zu schliessen und die Stereoanlage
Gruppe weggedreht, ich am offenen Fenster in meinem
einzuschalten, was ich dann auch tat.
Wohnzimmer – dachten wir beide wohl in ähnlichen Bahnen. Ich nickte ihr zu. Sie drehte sich um und sagte etwas zu ihrem Noch-Freund. Drei Leute blieben verdattert stehen, während die junge Frau, deren Name Karin oder Karina war – ich erinnerte mich nicht genau – zum Eingang des Hauses kam, in dem
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Bei Kaffee erklärte sie mir weitere Details. Sie war froh, diesen Schritt getan zu haben, und ich freute mich für sie. Ich wagte nicht, sie noch einmal nach ihrem Namen zu fragen – aber sie schien meinen auch nicht mehr zu kennen, oder sie erwähnte ihn einfach nicht.
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Nach knapp fünf Stunden einer angenehmen Unterhaltung
Der erste Tropfen kühlen Regens
sagte sie, sie sollte langsam nach Hause gehen. Wir verabschiedeten uns voneinander – wieder ohne den Namen des Anderen zu nennen. Ich sah die Frau für ein halbes Jahr nicht wieder. Erst im August desselben Jahres, als ich an einem milden Sommertag im Stadtpark sass und las, trat sie an mich heran und setzte sich neben mich. „Hallo, Patrick!“ sagte
Als der erste Tropfen kühlen Regens fiel, küsste mich Eilin auf den Mund. „Wunschlos?“ fragte sie.
sie fröhlich. „Nein,“ sagte ich, „ich möchte ein Gedicht hören.“ „Hallo!“ sagte ich einfach. Sie schien sofort zu merken, dass ich sie durchaus erkannte, aber ihren Namen nicht
„Dann hör zu!“
wusste. „Karina,“ sagte sie. Und ich wunderte mich, dass es mir schwer gefallen war, den Namen im Gedächtnis zu behalten. Ich lud sie darum nicht zum Abendessen ein.
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Regen
Halbzeit
Im Regen zu leben
„Als ich das letzte Mal – im letzten Jahr – von hier fort ging,
Ihn endlos geniessend
hatte ich in der nächsten Nacht einen seltsamen Traum,
Und in ihm zerfliessend
in welchem ich in deiner Wohnung in der Steinberggasse
Sich an ihm zu laben
wohnte,“ sagte Eilin.
Septemberregen Kalt und rein RegenSchein Was für ein Segen
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„Erzähle ihn mir,“ bat ich sie. „Ich habe ihn aufgeschrieben. Lass mich ihn dir vorlesen. Ich habe ihn ‚Die Brunnen‘ genannt…“
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Die Brunnen
Sintflut wahrnahm. Schnell zog ich Socken und Stiefel an, warf mir einen Mantel über und verliess das Haus. Die Steinberggasse stand knietief unter Wasser. Ich watete zum obersten Brunnen und stellte mich auf seinen Rand. Die Gasse war so früh – bis auf das Wasser – noch leer.
Mitten in der Nacht erwachte ich und glaubte,
Beim untersten Brunnen sah ich etwas glänzen. Etwas
Donnerschlag gehört zu haben. Doch als ich mich müde
bewegte sich. Meine Kurzsichtigkeit befahl mir, zum
erhob und ins Wohnzimmer trat, war alles so ruhig, wie
untersten Brunnen zu gehen. „Zu waten,“ stellte ich
ich es gewohnt war. Ich trat ans Fenster und blickte
mürrisch fest.
auf die Steinberggasse hinunter. Alles war leer und im Halbdunkel. Das Plätschern der vier Brunnen war leise zu hören. Auf ihren Oberflächen spiegelten sich die Sterne. ‚Eine schöne Herbstnacht,‘ dachte ich und ging zurück ins Schlafzimmer.
Als ich den zweiten Brunnen erreichte, fiel mir auf, dass das Wasser mir bereits bis zur Hüfte gestiegen war. Die Oberfläche der Brunnen würde bald erreicht sein. Und mir fiel auf, dass keine Menschen zu sehen waren. ‚Selbst wenn die meisten der Gassenanwohner noch schlafen,
Als ich am Morgen wieder erwachte – es war noch zu
so müssten doch ein paar davon wach sein und das
früh um aufzustehen – hörte ich den Regen prasseln.
ebenfalls mitbekommen,‘ dachte ich.
Allerdings kam das Geräusch aus dem Wohnzimmer. Als ich durchs Dachfenster blickte, sah ich einen sonnigen Tag beginnen. Verwirrt tauschte ich das Nachthemd gegen eine Jeans und eine Bluse ein und ging mit halb geschlossenen Augen ins Wohnzimmer. Ich traute meinen Augen nicht, als ich vor den Fenstern eine Art 42
Als ich den vierten und letzten Brunnen erreichte, der einzige, auf welchem eine Figur angebracht war, sah ich, was geglitzert und sich bewegt hatte: Die Figur selbst – ein Engel – blickte auf mich herab und lächelte. Sie freute sich über etwas und zeigte mit einem Finger auf die Gasse. Ich verstand es nicht, doch der Engel deutete 43
wieder und wieder auf die Steinberggasse, in welcher
Mantel
das Chaos tobte. Schmutz hatte sich mit dem Wasser vom Boden gelöst und schwamm nun auf den Wellen des Flusses, zu dem die Gasse geworden war. Dann blickte der Engel zum Himmel, und der Regen hörte auf. Ein paar letzte Tropfen kalten Wassers plätscherten herab, dann war alles ruhig – sogar die Brunnen hatten aufgehört, Wasser zu speien.
Grauer Himmel, kalter Regen. Er stand an der Strassenecke und hatte sich seinen Mantel eng um den Körper gezogen. Ein Hut auf seinem Kopf. Die Zigarette zwischen seinen Lippen war vor einer Weile ausgegangen,
Der Engel wandte mir wieder sein Gesicht zu. Er weinte
als ein schwerer Regentropfen sie genau getroffen hatte.
bitterlich und fiel zu mir herab. Ich nahm ihn in die Arme
Der Filzhut wurde schwer vom Regen. Das Wasser grub
und versuchte ihn zu trösten. Seine Tränen trockneten auf
sich durch ihn hindurch und traf auf den Nacken des
meiner Bluse zu Goldstaub, doch seine Trauer liess sich
Mannes. So kalt, dass er zusammenzuckte. Langsam
nicht mindern. Im Gegenteil wurde sie schlimmer, und er
bahnte sich der Regen einen Weg den Rücken hinunter.
begann sich aufzulösen. Langsam wurde er durchsichtig
Gänsehaut am ganzen Körper begann der Mann sich zu
und immer leichter in meinen Armen, bis ich ihn nicht
fragen, wozu er den Mantel angezogen hatte, wenn er
mehr spürte, nicht mehr hörte und nicht mehr sah.
nun doch bis auf die Knochen nass wurde. Er warf die Kippe zu Boden. Zündete sich eine neue Zigarette an. Er
Dann erwachte ich weinend in meinem Bett.
begann das Wetter, den Regen und die Kälte – vor allem aber eine bestimmte Person – zu hassen. Er kochte vor Wut und brannte vor Lust, es ihr zu sagen. Doch sie war nicht da, so dass sich seine Aggression an nichts reiben konnte. In seiner Phantasie malte er sich aus, wie er sie
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zusammenschreien würde. Wie er ihr Angst machen und
Angestrengt, wunschlos glücklich
mit dem Ende der Beziehung drohen würde. Er würde sie stundenlang ignorieren und alles würde nach seinen Wünschen gehen. Wenn sie nur endlich käme… Nadja stieg aus dem Taxi. Sie öffnete einen grossen Schirm und blickte ihn aus ihren grossen, traurigen Augen an. Sie sagte eine Weile nichts, doch ihre Augen fixierten ihn mit einem ‚Bitte nicht!‘, das grösser war als er. Ihre Lippen deuteten ein entschuldigendes Lächeln an. Dann sagte sie: „Es tut mir leid. Es tut mir so leid. Ich bin zu spät, und ich weiss es. Ich habe keine Ahnung, wie das geschehen konnte. Ich hoffe, du vergibst mir.“ Sie umarmte ihn. Küsste ihn.
In der Ferne glänzten die unzähligen Fensterscheiben der Grossstadt in der Sonne. Der Verkehrslärm und der Smog waren selbst von hier aus noch zu hören und zu sehen, doch die Entfernung liess sie unwirklich und dumpf erscheinen. Hier draussen am Strand herrschte eine wunderbare Ruhe. Mei-Ling sass – einen kühlen Drink in der Hand – im Sand und blickte durch eine dunkle Sonnenbrille aufs Meer hinaus. Das Geräusch des Verkehrs der entfernten Stadt wurde mit dem Rauschen des Wassers und den unverständlichen Gesprächen
Er verzieh ihr, weil er sie liebte. Sie dachte an die Lippen. Sie dachte an die Gespräche bei Kerzenschein. An die Zeit, die sie nackt vor dem Fenster verbracht hatten, um dem Regenprasseln zuzusehen. Und sie hoffte, dass er davon nichts mitbekam.
der Leute an der nahen Strandbar zu einem angenehm entfernten Geräusch vermischt. Mei lehnte sich zurück und stützte sich auf ihre beiden Handflächen auf. Sie legte den Kopf in den Nacken und schloss für einen Moment die Augen, um den Geruch intensiver in sich aufnehmen zu können. Diese Ruhe, dachte sie bei sich. Ich könnte meine Zeit ewig hier verbringen. Als sie die Augen öffnete, stand vor ihr eine kleine Gestalt, welche einen Mantel und
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einen Hut trug. Es war ein Mädchen, jedoch hatte es Fell
Märchen
anstatt Haut, und die Augen wirkten, als ob sie von innen heraus leuchteten. Die Gestalt nickte Mei-Ling zu und sagte, dass ihr Wunsch gewährt worden sei. Mei-Ling fragte das Wesen verwundert, welchen Wunsch es denn meine. Die Gestalt eröffnete Mei-Ling, dass es sich dabei um den Wunsch handle, ewig an diesem Ort die Zeit zu
„Ich mag die Geschichte,“ sagte ich. „Kennst du chinesische Märchen?“ fragte ich.
verbringen. So schön sich Mei-Ling das noch ein paar Augenblicke zuvor vorgestellt hatte, so sehr wollte sie nun, dass das alles nur ein Traum gewesen wäre. Das Wesen nickte wieder, bestätigte auch diesen Wunsch und
Eilin schüttelte den Kopf. „Dann werde ich dir eines erzählen…“
verschwand, da nun alles nur ein Traum gewesen war. Mei-Ling nahm einen grossen Schluck aus ihrem Glas und versuchte angestrengt, wunschlos glücklich zu sein.
Diese Geschichte erschien bereits im Booklet der CD ‚Sounds of Chinagarden‘, die zur Party von DEBUNK im Sommer 2001 erschien. (www.debunk.ch)
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Der wahre Wunsch
Gemüse verkaufte. Sie war von einer Schönheit, die Liu noch nie an einer Frau bemerkt hatte, und er sprach sie nach Hin und Her nicht ohne Scheu an. Sich an das Gespräch mit dem Onkel erinnernd, fragte er sie am Ende aber offen, was wohl sein wahrer Wunsch an eine
Am Tag, als Liu sein Dorf verliess, um fortan in der Stadt
Frau wäre. Er hoffte, dass er ihn vielleicht selbst in ihren
Neng-Tschai zu wohnen, gab ihm sein Onkel, bei dem er
Worten finden konnte. Sie lachte und sagte ihm, dass er
gelebt hatte, einen letzten Rat mit auf den Weg. Der Onkel,
sich wohl die angenehmsten Nächte wünschte, und dass
der für seine Gutmütigkeit und sein Wohlwollen bekannt
deshalb eine Frau für ihn von unvergleichbarer Schönheit
war, sagte zu Liu, dass er in Neng-Tschai drei Frauen
sein musste. Doch obwohl er sich wohl wünschte, dass
begegnen würde, in die er sich verlieben könnte. Nur eine
seine Frau einst schön sein würde, so dachte er doch
davon wäre aber in der Lage, Liu ein Leben lang eine
nicht, dass dies sein wahrer Wunsch an eine Frau sein
angenehme Begleitung zu sein, da nur sie seinen wahren
konnte. Er bedankte sich höflich für die Antwort und ging
Wunsch an eine Frau erkennen könnte. Liu dankte seinem
weiter. In der nächsten Strasse traf er auf eine zweite
Onkel höflich für den Rat, ohne aber wirklich zu verstehen,
Frau, deren Schönheit von einfacherer Natur war, in die
was der gemeint haben könnte. Er wusste selbst nicht,
zu verlieben er sich aber ohne weiteres vorstellen konnte.
was sein wahrer Wunsch an eine Frau sein mochte. Als Liu
Auch ihr stellte er am Ende die gleiche Frage. Sie sagte
die Stadt erreichte, hatte er schon zu viele Dinge gesehen,
lachend, dass er sich die interessantesten Gespräche
die sein Auge und sein Herz beschäftigt hatten, als dass er
wünschte, die man ihm bieten konnte. Dies sei sein
noch über den Satz des Onkels nachgedacht hätte. Als er
wahrer Wunsch. Auch von dieser Antwort nicht überzeugt
aber auf dem Marktplatz ankam und nach einer Pension
ging Liu weiter, bis ihm in einem wunderschönen Garten,
Ausschau hielt, in der er die ersten Nächte verbringen
in welchem er sich eine Weile ausruhen wollte, eine dritte
konnte, sah er eine junge Frau, welche an einem Stand
Frau begegnete, deren Schönheit die der beiden anderen
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Frauen noch übertraf. Als er in ihre Augen sah, wusste
Stadthaustreppe
er, was er sich gewünscht hatte und hielt noch am selben Abend um ihre Hand an.
Die obersten Stufen der Stadthaustreppe waren kühl. Dennoch lagen wir stundenlang darauf und erzählten einander Geschichten. „Ich habe einmal eine Geschichte über diese Treppe geschrieben,“ sagte ich.
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Das Tor
Ich pflegte meinen Freunden zu sagen, dass alles immer gut würde, doch merkte ich selbst, dass die Einsamkeit mich von innen her aufzufressen begann. Ich wollte lieben.
Das Ende
Und geliebt werden.
Sie sagte, dass ich ein gefühlskalter Mensch sei, und dass
Also ging ich hinaus, um die Frau meines Lebens kennen
ich es nicht verdiene, geliebt zu werden. Sie sagte auch,
zu lernen.
dass sie mich nicht mehr sehen wolle, und dass sie alles, was sie an mich erinnere, fortwerfe, sobald sie wieder
Juni und Juli gingen vorüber, ohne dass ich jemanden
zuhause sei. Dann ging sie.
kennen gelernt hätte, den zu lieben ich mir hätte vorstellen können. Anfang August, als ich schon aufgegeben hatte,
Dies ist eine Liebesgeschichte. Der Anfang Als der Mai kam, dachte ich, mit ihm käme der Sommer. Doch ich irrte mich, denn schon an seinem Ende brachte er Regen und Kälte wieder, als ob er mich daran erinnern wollte, dass ich allein war, ohne eine Beziehung, in welcher ich mich den Sommer über wohl fühlen würde.
den Sommer mit einer Geliebten zu verbringen, lernte ich Phylinn kennen. Phylinn ist – wie man erkennen mag – ein Name, den ich mir habe einfallen lassen. Er ist Sinnbild einer Phantasie, welche ich seit Jahren in mir trage, und die sich niemals aufzulösen begonnen hat. Ich sagte einmal, dass ich daran glaube, dass es möglich wäre, dass eine Seele auf mehrere Menschen verteilt wäre, so dass es mir nicht möglich war, die Seele, nach welcher ich suchte, in einer Person zu finden.So hatte es Novalis einst formuliert.
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Ich hoffte aber, sie dennoch zu finden. Am Anfang der Neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts fand ich einen Teil Phylinns in meiner ersten grossen Liebe.
Und man sagte zu mir: „Sie wird dein Verderben sein. Sie wird dein Herz nehmen und es zerdrücken. Und sie wird lachen, während sie es tut.“
Zu weit weg waren mir jedoch am Ende der Beziehung die
Und ich sagte: „Oh ja! Sie ist es! Lasst sie kommen. Lasst
anderen Teile jener Seele, nach welcher ich suchte.
sie nehmen. Sie ist Phylinn, die Frau, von der ich träume.“
Ich fand andere Teile von Phylinn in anderen Personen,
Ich habe lange mit Freunden Gespräche geführt. Und lange
und ich fand auch solche, die sehr nahe an Phylinn – wie
habe ich selbst daran gezweifelt, ob meine Wahl – sofern
ich sie mir in meinen Träumen vorstellte – herankamen.
ich denn eine hatte – die richtige war. Doch gab es an
Doch am Ende musste ich mir immer wieder eingestehen,
einem Tag im September, als wir erst ein paar Wochen
dass ich mehr wollte. Ich wollte Phylinn.
zusammen waren, eine Begebenheit, welche mir auf
Im August lernte ich also Phylinn kennen. Es war von Anfang an schwierig, mit ihr auszukommen. Sie hatte eine Harpyie in sich und eine Göttin. Rachsüchtig und doch auf ewig liebend und liebenswürdig. Man sagte zu mir: „Das kann nicht die sein, die du willst. Sie ist ein Monster!“ Man sagte zu mir: „Sie ist nicht gut für dich! Sie reisst dich
immer zeigte, dass sie die wirkliche Phylinn war, nach der ich so lange Zeit gesucht hatte. „Warum gibt es in unserer Welt, der realen Welt, so wenig Magie?“ Phylinn fragte dies mit Tränen in den Augen, als sie den grauen Himmel über Winterthur betrachtete. „Weisst du, in Filmen und Büchern ist es einfach. Der Magier hat die Macht, und alles wird gut, oder alles wird schlecht. Aber die Magie ist immer da.“
hinunter in die tiefsten Schatten deiner Seele. Lass von ihr!“
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Ich nickte. „Ich glaube, dass die Magie da ist. Wir können
„Heute lernst du einen kennen, Phylinn,“ sagte ich. Und
sie selten erkennen, da wir uns selbst zu sehr der Realität
ich stieg mit ihr die Stufen hinauf, die zum oberen Plateau
des Alltags verschreiben.“
vor dem Stadthaus führten. Ich ging mit ihr zur grossen,
Phylinn blickte mich lange an. Dann sagte sie: „Ich mag die Welt nicht, wie sie ist. Schau mal: Winterthur. Graue Häuser unter grauem Himmel. Menschen mit schlechter Laune und missgünstigen Gedanken.“ Sie deutete auf einen: „Der da wurde betrogen.“ Sie deutete auf einen weiteren Menschen: „Sie geht gerade jetzt zu einem Liebhaber, der nicht ihr Ehemann ist.“ Ich deutete auf den nächsten: „Und er hat einen Lottoschein bei sich, der ihn zum Millionär machen würde, sofern er ihn nicht schon lange vergessen hätte.“ Wir lachten. Dann bat ich Phylinn, mit mir zum Stadthaus zu gehen, wo ich ihr etwas zeigen wollte. „Glaubst du, dass es Orte gibt, die Magie in sich tragen?“ Sie nickte. „Vielleicht. Ich kenne aber keinen.“
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hölzernen Türe, wir drehten uns um und blickten zwischen den Säulen hindurch auf das graue Winterthur. „Wir sind da,“ sagte ich. „Das ist ein magischer Ort?“ fragte Phylinn verwundert. Ich nickte. „Diese zwei Säulen, durch welche wir blicken. Sie bilden ein Tor.“ „Und wohin führt es?“ fragte Phylinn, die sich fragte, wohin meine Phantasie uns führen mochte. „Es ist ein magisches Tor in ein glücklicheres Winterthur,“ sagte ich. „Wann immer du denkst, dass die Welt und ihr Alltag – die Realität – zu grau sind, dass es an Magie fehlt in unserer Welt – dann können wir durch dieses Tor schreiten, tief einatmend und einen Wunsch in uns tragend. Wir werden in ein glücklicheres Winterthur treten.“
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Wir traten durch das Tor. Und wir wünschten uns, in ein
Ich lachte. „Doch, das kann er,“ sagte ich. „Nun, da
glücklicheres Winterthur zu treten.
du dich in einem glücklicheren Winterthur befindest,
„Ich fühle mich nicht besser,“ sagte Phylinn nach einer Weile. „Im Gegenteil, es scheint, als ob ich mich nun
brauchst du dies nur noch zu geniessen. Atme es ein, diese glücklichere Stadt. Und werde selbst wie sie.“
schlechter fühle, weil ich ahne, dass deine Magie nicht
Phylinn blickte hinauf zum Tor, von welchem wir gerade
funktioniert hat!“
herabgestiegen waren. Sie blickte auf die Gebäude der
Ich grinste. „Glaube mir, die Magie hat funktioniert, Phylinn.“ Sie blickte mich verständnislos an. Also erklärte ich: „Wir sind durch ein magisches Tor in ein glücklicheres Winterthur getreten. Im ersten Moment mag es dir vorkommen, dass du nun unglücklicher bist,
Altstadt von Winterthur. Sie blickte mir tief in die Augen und lächelte dann. „Welche Farbe haben meine Augen?“ fragte sie mich. Denn sie wusste, wie die Antwort lauten würde, und sie wusste, dass diese sie glücklich machen würde. „Deine Augen haben die Farbe von flüssigem Gold, Phylinn,“ sagte ich.
Phylinn. Das liegt vor allem daran, dass die Magie nicht auf dich, sondern auf die Stadt bezogen ist.“ „Also kann dieser Zauber mich gar nicht heilen?“ fragte Phylinn.
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Annäherung
Alte Schulfreundinnen
„Und wieso nennst du sie Phylinn?“ fragte Eilin. „Der Name
Wenn ich an die Dinge denke, welche mir in den letzten
erinnert doch stark an meinen eigenen, nicht?“ Ich schmunzelte. „Ja, das tut er. Es ist mir zuvor nicht aufgefallen.“ „Du bist eben nicht sehr aufmerksam,“ scherzte sie.
beiden Monaten zugestossen sind, holt mich die Angst wieder ein. Es war mir lange Zeit nicht klar, wie sehr mich diese Dinge belasten würden, aber am Ende kam der Schock, den ich in meinem Leben nicht erwartet hätte. Doch ich sollte die Dinge in der Reihenfolge erzählen, in welcher sie mir widerfahren sind, so dass Sie selbst
Ich bestrafte sie mit einem Kuss auf ihren Nacken. Sie war
nachvollziehen können, wie ich mich heute, da ich sie
kitzelig und mochte das deswegen.
niederschreibe, fühle.
„Jetzt kommt etwas eher Gruseliges,“ sagte ich und begann, die Geschichte zu erzählen.
Vor knapp zwei Monaten überraschte mich eine Begegnung in einer Bar, in welcher ich schon seit längerer Zeit verkehrte. Die Bar trägt den Namen ‚La Muse des Anges‘. Wahrscheinlich hatte ich sie gewählt, weil ich hoffte, darin die Inspiration für meine Geschichten zu finden. Nun, in gewisser Weise hat sich dieser Wunsch erfüllt. Es war ein Freitagabend, und es war bereits so spät, dass ich nicht mehr erwartete, jemanden zu treffen, den
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ich kannte. Aber es kam eine Frau herein, die mir spontan
Ich traf sie am Mittwoch der folgenden Woche. Wir
gefiel und sich als eine alte Schulfreundin herausstellte,
dinnierten in einem feinen Restaurant, dessen Name mir
für die ich in meiner Jugend mehr als blosse Sympathie
mittlerweile entfallen ist. Alles lief prima, doch ich hatte
empfunden hatte. Nach einem guten Glas Wein erzählte
den Traum stets vor Augen, und bei fast jedem Satz, den
sie mir, dass auch sie schon damals ein Interesse für
sie von sich gab, verstand ich zunächst etwas von Blut.
mich entwickelt hatte. Ich bat sie, mich wieder zu sehen, als ich nach Hause ging. Man mag mir vorwerfen, dass ich sie gleich an jenem Abend hätte bitten sollen, mich zu begleiten, doch dies ist keine solche Geschichte – vor allem, weil ich kein solcher Mann bin.
Wir verabredeten uns in der Folge ein paar weitere Male. Der Traum kehrte von da ab in jeder Nacht wieder. Mit der Zeit träumte ich ihn in Varianten. In Restaurants. In Cafés. Auf öffentlichen Plätzen. Überall sprach sie von Blut und frass mich am Ende. Und dann träumte ich ihn in jeder
Dennoch träumte ich, kaum war ich in jener Nacht
Nacht zwei- bis dreimal. Am Ende fand ich keinen Schlaf
eingeschlafen, nur von ihr und ihrem Körper. Später in
mehr. Ich verabredete mich mit ihr, um ihr von dem Traum
der Nacht erwachte ich aber mit pochendem Herzen
zu erzählen.
und kaltem Schweiss auf meiner Stirn, denn etwas Unheimliches hatte sich fast unmerklich in die Träume der Schönheit gemischt. In diesem späten Traum tranken wir Wein im ‚Muse des Anges‘, wobei sie unentwegt über Blut sprach, was mich jedoch nicht verwirrte. Es war ihr Grinsen, das mich irritierte. Dann fiel sie über mich her und begann, mich zu fressen.
Wir trafen uns im ‚Muse des Anges‘. Wieder tranken wir Wein, und bevor ich etwas sagen konnte, sagte sie: „Dieser Wein… Er wirkt in diesem Licht wie Blut.“ Sie grinste. Ich schwöre Ihnen, sie lächelte nicht – sie grinste. Ich rannte davon. Ich habe sie seither nicht mehr wieder gesehen. Ich habe keines der Restaurants, keine der Bars, keines der Cafés und keinen der öffentlichen Plätze mehr besucht, an denen ich sie getroffen hatte.
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Ich bin umgezogen. Sie mögen sagen, meine Reaktion
Hoffnung
wäre übertrieben gewesen. Vielleicht gar lächerlich. Ich fürchtete mich vor der Frau und meinen Träumen. Und stellen Sie sich vor: Gestern habe ich in meinem neuen Stammcafé eine Frau kennengelernt. Sie hat sich als eine andere meiner Ex-Schulkolleginnen herausgestellt. Und nun raten Sie, wovon ich in der letzten Nacht geträumt habe…
„Ich hoffe, der Regen hält noch ein wenig an,“ sagte ich. „Ja,“ sagte Eilin. „Ich denke, du hast noch Zeit für eine weitere solche Geschichte.“ Sie grinste. Ich nickte.
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Schwestern
Die Worte, die aus meinem Mund kamen, klangen nicht so, wie ich es wollte. Der beruhigende Unterton, den ich sonst in meine Sätze zu legen vermochte, fehlte. Meine Stimme zitterte leicht.
Nora stand mir gegenüber in meinem Wohnzimmer und hielt eine Pistole auf mich gerichtet. Ich kannte mich mit Waffen nicht aus, und anhand des Anblicks der Pistole konnte ich nicht entscheiden, ob es sich um eine echte handelte. Ich konnte es aber an Noras Blick ablesen. Sie erwartete, dass ich etwas sagte, und sie würde – je nachdem, wie meine Sätze ausfallen würden – den Abzug betätigen. Ich nahm all das mit einer Ruhe in mich auf, die mich selber überraschte. Ich hatte geahnt, dass Nora irgendwann einmal herausfinden würde, was ich hinter ihrem Rücken alles getan hatte. Dennoch hätte ich nicht mit einer solchen Reaktion gerechnet.
„Sprich!“ befahl Nora einfach. Ihr Blick war kalt. Ich hätte erwartet, dass das, was ich getan hatte, sie traurig machen würde. Das sie enttäuscht sein würde. Enttäuscht von mir, von sich selber und von ihrer Schwester Alina. Ich hätte nicht erwartet, diese Kälte in ihr sehen zu müssen. Ich begann zu erzählen und zu erklären. Wie alles gekommen war. Nora war drei Monate lang geschäftlich im Ausland gewesen, und Alina hatte mich ein paar Mal besucht, um bei mir zu essen und mit mir gemeinsam Nora zu vermissen. Und dann hatte sie sich in mich verliebt. Vielleicht war sie es auch schon zuvor gewesen, aber auf jeden Fall hatte sie es mir in jener Zeit erzählt. Und der Gedanke allein, dass Alina in mich verliebt gewesen war, weckte damals
„Ich möchte dir – egal, ob du mich anschliessend
in mir den Wunsch, mit ihr zusammen zu sein. Nicht im
erschiessen wirst – zu erklären versuchen, was ich getan
Bett. Nicht ausschliesslich. Sondern mit ihr ein Paar zu
habe, und warum ich es so und nicht anders getan habe.“
bilden.
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Wir hatten schnell herausgefunden, dass wir Nora nicht
Während ich all dies so offen, wie ich nur konnte, erklärte
zumuten konnten, dies zu akzeptieren. So etwas geht
und erzählte, änderte sich Noras Blick nicht. Keine Trauer,
einfach nicht, dass der Ehemann beschliesst, fortan
keine Wut, sondern nur Kälte erfüllte ihre Augen. Ich
mit der Schwester seiner Ehefrau zusammen zu sein.
verstand nicht…
Eine Affäre, welche die Zeit ausnutzte, in der Nora auf Geschäftsreisen war, schien uns die einzige Lösung zu sein, wenigstens einen Teil davon zu bekommen, was wir haben wollten. In dem Moment, als ich das erzählte, hatte ich die grösste Angst, Nora würde tatsächlich abdrücken und mich eiskalt ermorden. Als sie es nicht tat, erzählte ich weiter.
„Was wirst du nun tun, Nora?“ fragte ich. Nora sagte: „Ich werde dich erschiessen. Dann werde ich die Waffe in deine Hände legen. Meine Fingerabdrücke werden auf der Waffe nicht zu entdecken sein, weil ich Handschuhe trage. Ausserdem hast du diese Waffe in unserem letzten Urlaub gekauft, John. Ich habe die Quittung mit deiner Unterschrift. Du führst Tagebuch auf
Mit der Zeit gewöhnten wir uns an den Zustand. Wir
deinem Notebook (welches du, seitdem du es gekauft
verheimlichten unsere Sache gut. Wir trafen uns manchmal
hast, noch niemals selber benützt hast). Dort hast du auch
auch, wenn Nora im Land war. Jedoch lediglich auf
deinen Abschiedsbrief hinterlassen.“
freundschaftlicher Basis. Es fiel uns beiden nicht schwer, in der Zeit, in welcher Nora anwesend war, aufeinander zu verzichten, was die körperliche Liebe betraf. Einmal trafen wir uns zufällig in einem Einkaufszentrum, wo wir uns auf einer Toilette liebten.
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Sie machte einen Schritt auf mich zu, und ich wusste, dass ich noch ein paar Sekunden zu leben hatte. Nora war eiskalt. Sie hatte es geplant. Und ihr Plan würde aufgehen.
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Alina betrat den Raum. Wir hatten sie beide nicht gehört.
Horror
Einen Moment lang zögerte Nora. Alina trat auf sie zu und nahm ihr die Waffe aus der Hand. Dann drückte sie ihr die Pistole von unten an den Kiefer und drückte ab. Auch sie trug Handschuhe. Als Nora zu Boden fiel (mit all dem Blut, das ich nicht vergessen kann), drehte sich
„Wie funktioniert eigentlich Horror?“ fragte Eilin.
Alina zu mir um und sagte: „Wir schreiben für sie einen Abschiedsbrief. Ich kann ihre Schrift sehr gut. Und dann
Ich dachte einen Moment lang nach. „Es gibt verschiedene
können wir – nach einer Trauerphase – endlich richtig
Arten. Javier Marìas hat einmal gesagt, dass Unheimliches
zusammen sein.“ Sie lächelte.
dann entsteht, wenn zwei scheinbar unabhängige Dinge plötzlich eine Gemeinsamkeit erreichen, welche die beiden
In meinem Kopf war Klarheit wie nie zuvor. Die Angst war
Dinge in ihrer Gesamtheit als unheimlich erscheinen
verschwunden. Die Angst vor meinem Tod. Doch eine
lassen.“
andere Angst begann sich in mir breit zu machen. Die Angst davor zu erfahren, wozu Alina sich noch alles als fähig erweisen würde…
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„Das verstehe ich nicht, glaube ich,“ sagte Eilin. Ich lächelte. „Dann lass es mich versuchen…“
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Das letzte Gefühl
gefressen und für ein paar Tage dafür gesorgt, dass ich zwar nichts zu essen gehabt, dafür aber nicht gefroren hatte. Dass man mitten in einer Grossstadt plötzlich hungert und friert, das hätte ich mir im Sommer (der an mir vorüber gegangen war) nicht vorstellen können.
Ich hatte wochenlang nur wenig geschlafen, da ich zwei Jobs nachging, die beide zu wenig Geld einbrachten. Somit hatte ich auch zu wenig Zeit, mich um einen besseren Job zu kümmern, und viel zu wenig Zeit für Freizeit, Musse und das weibliche Geschlecht.
So mangelte es mir an Wärme, Geborgenheit, Nahrung und Geld. Ich sah schlecht aus, war deprimiert – die besten Voraussetzungen, um eine neue Stelle zu finden. Das Arbeitsamt bot mir an, ich könne auf dem Bau Dinge schleppen. Ich fühlte mich als hagerer, ausgehungerter,
So ging der Sommer langsam aber sicher vorüber, ohne
mühsamer und frierender Zeitgenosse geschmeichelt,
dass ich teilgenommen hätte. Im August verlor ich eine der
dass man mir diese Aufgabe geben wollte, bedankte mich
beiden Stellen, was mich – neben dem Einkunftsverlust –
und ging in die Stadt, um Alkohol zu klauen.
nicht sonderlich störte, da ich nun endlich Zeit hatte, mich selber zu bemitleiden. Ich fühlte mich so krank, so leer, so einsam, dass ich begann, den zweiten (und letzten) Job so zu behandeln, wie mich selbst: Schlecht. Ich verlor auch ihn, und so kam es, dass ich anfang September allein in meiner seit drei Monaten unbezahlten Wohnung sass und fror, weil die Elektroheizung nur funktionierte, wenn es Strom gab. Und den hatte man mir abgestellt. Ein Münzautomat hatte meine restlichen Frankenstücke 74
Es gibt immer verschiedene Arten, Dinge zu betrachten. Man könnte es als mein Pech betrachten, dass ich das Glück hatte, nicht erwischt zu werden, als ich mit drei Flaschen Whiskey unter meinem Mantel den Laden verliess. Denn nachdem ich viel zu viel davon getrunken hatte, lag ich für Stunden am Rande einer Ohnmacht und an der Aussenwand eines grossen Gebäudes, das ich nicht kannte.
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Irgendwann nahm ich ein Gesicht einer Person, die sich
Ich dachte, ich wäre in einem Hospital gelandet, in
über mich beugte, wahr. Ich fühlte mich plötzlich wohl,
welchem man die Werte messen wollte. Darüber war ich
mir war warm und ich ahnte, dass man mich wegtrug.
glücklich, bedeutete es doch sicher, dass es mir bald
Dann verlor ich endlich das Bewusstsein.
besser gehen würde.
Ich erwachte in einem weissen Zimmer. Weisse Bettwäsche,
Zwei Kerle betraten das Zimmer. Die Gerätschaften,
weisse
(weisser
welche sie auf Rollen vor sich her schoben, wirkten
Hintergrund, weil dichter Nebel war). Ich blickte auf meine
bedrohlich gross. Nur halb wach nahm ich wahr, wie man
Hände (weisslich oder eher grau) und sah, dass man mich
mir etwas in den Arm schob, dann begann ich langsam
in ein Leinengewand gesteckt hatte. Ich hatte fürchterliche
wieder mein Bewusstsein zu verlieren.
Wände,
weisse
Fensterrahmen
Kopfschmerzen und konnte nicht klar denken.
In einem Moment offener Augen sah ich, dass das grosse
Eine Person – vielleicht dieselbe, die mich gefunden
Behältnis an der Apparatur sich schon halb mit meinem
hatte – betrat das Zimmer durch die einzige Tür, welche
Blut gefüllt hatte, und wieder fühlte ich mich leer und
wie ich feststellen musste von innen her nicht geöffnet
krank und ausgehungert. Ich sah, wie die drei Personen
werden konnte, weil der Griff fehlte. Es war eine junge
auf das Behältnis blickten und ihre Lippen leckten. Dann
Frau, die mich anlächelte. Ich versuchte zumindest
verliess ich sanft die bewusste Welt mit der Angst vor dem
zurückzulächeln, nahm aber an, dass dieser Versuch
Tod.
misslang. Sie war bleich wie das Zimmer. Mit schwarzen Haaren. Sie trug ein weisses Gewand. Sie trat an mein Bett. „Wie geht es dir?“ fragte sie.
Ich erwachte an derselben Stelle, wo man mich aufgelesen hatte. Vor dem grossen Haus. Ich war nicht gestorben. Doch nun fragte ich mich, ob der weisse Traum ein Traum
Ich nickte. Schüttelte den Kopf. Sie lachte. „Wir werden dir
gewesen war, oder ob tatsächlich jemand mir mein Blut
jetzt Blut entnehmen.“
genommen hatte. Es regnete nun stark, und ich hatte das
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Gefühl, dass der Tod ein leichtes Schicksal gewesen wäre.
Das Ende des Regens
Vor allem in Anbetracht meiner geistigen und körperlichen, vor allem aber emotionalen Verfassung. Ich war traurig.
„Es hat zu regnen aufgehört,“ sagte ich und küsste erneut Eilins Hals. Mit meiner linken Hand streichelte ich ihren Nacken. Ich wusste, dass das Ende des Regens das Ende unseres Aufenthalts auf der Stadthaustreppe bedeutete. Ich wollte noch nicht gehen, aber die Tradition, welche uns Jahr für Jahr glücklich gemacht hatte, forderte es von uns. Ich erhob mich und verschränkte die Arme. Ich hatte das innere Gefühl, sofort zu fallen. Ich wollte auf keinen Fall, dass der wunderbare Tag schon endete. RegenSchein, verlass mich nicht… Eilin stand auf und sah mich lange schweigend an, und ich ahnte, dass sie wie ich bedauerte, dass es für dieses Jahr vorbei war. Doch die Sehnsucht eines langen Jahres war Teil der Abmachung, die alles so wunderbar hatte werden lassen.
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Ein Lächeln zeichnete sich in ihren wunderbaren Augen ab, kurz bevor sie leise sagte: „Lass uns doch für eine Weile so tun, als ob es noch regne.“
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Erste Auflage ISBN 3–907855–01–9 Oktober 2001 RegenSchein © 2001 by Patrick Armbruster, story.ch, Winterthur ¬ All rights reserved ¬ Konzept & Design by Patrick Armbruster (story.ch) & Philipp Leo (DEBUNK.DE) ¬ E-Book erhältlich unter http://story.ch ¬ Alle Gedichte & Geschichten geschrieben von Patrick Armbruster (story.ch)
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