Atlan - Der Held von Arkon Nr. 193
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Atlan - Der Held von Arkon Nr. 193
Rückkehr in die Mikrowelt Er erwacht im Eis - und beginnt den Kampf ums Überleben von Hans Kneifel
Im Großen Imperium der Arkoniden schreibt man eine Zeit, die auf Terra dem 9. Jahrtausend v. Chr. entspricht. Imperator des Reiches ist Orbanaschol III. ein brutaler und listiger Mann, der seinen Bruder Gonozal VII. töten ließ, um selbst die Herrschaft antreten zu können. Gegen den Usurpator kämpft Gonozals Sohn Atlan, Kristallprinz und rechtmäßiger Thronerbe des Reiches, mit einer stetig wachsenden Zahl von Getreuen, die Orbanaschols Helfershelfern schon manche Schlappe beibringen konnten. Mit dem Tage jedoch, da der Kristallprinz Ischtar begegnet, der schönen Varganin, die man die Goldene Göttin nennt, scheint das Kriegsglück Atlan im Stich gelassen und eine Serie von empfindlichen Rückschlägen begonnen zu haben. Gleiches gilt aber auch für Atlans Gegenspieler, den Imperator. Denn Orbanaschols Streitkräfte haben gerade eine schwere Niederlage im Trantagossa-Sektor erlitten – infolge eines Überraschungsangriffs der Maahks und des Einsatzes einer neuen Waffe. Um den Besitz dieser neuen Waffe, des Molekularverdichters, mit dem auch Atlan schon unliebsame Bekanntschaft gemacht hat, geht es dem Kristallprinzen, als er Skrantasquor anfliegt. Ra, der Barbar, spielt Atlan dabei aus Eifersucht einen Streich, so daß der Arkonide erneut in die Gewalt der Maahks gerät – was gleichbedeutend ist mit seiner RÜCKKEHR IN DIE MIKROWELT …
Rückkehr in die Mikrowelt
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Kristallprinz gelangt erneut in den Mikrokosmos. Dophor - Rat von Krothenbeet. Gjeima – Dophors achte Tochter. Kardhyn - Patrouillenmeister von Darga.
1. Rasender Schmerz weckte mich. Ich merkte, daß jeder Quadratzentimeter meiner Haut sich anfühlte, als habe man ihn mit einer scharfen Klinge zerschnitten. »Verdammt! Wo bin ich?« stöhnte ich auf und fühlte harte Dinge unter meinen Schulterblättern. Ich öffnete die Augen. Es war unheimlich. Ganz plötzlich, beim heiseren Klang meiner Stimme, enthüllte sich rund um mich das ganze Universum. Es war ein neuer Ausschnitt aus der … Ich wimmerte auf. Ich war abermals in der Mikrowelt gefangen. Dieses Mal jedoch mehr oder weniger nach meinem eigenen Entschluß und nicht durch einen blinden Zufall. Aber seit einiger Zeit verlief mein Leben mit allen seinen Höhen und Tiefen nicht mehr von mir gesteuert, sondern vom Zufall gelenkt. Ich war Werkzeug, ich handelte nicht mehr bewußt, sondern reagierte nur auf Anstöße der Umwelt. Und jetzt blickte ich in treibende Wolken, die von einem milden, gelblichgrünen Licht umspielt wurden. Der nächste bewußte Eindruck war, daß ich nahe daran war, zu erfrieren. Ich atmete Luft ein, die mit stechender Kälte in meine Lungen schlug. Dann versuchte ich, mich hochzustemmen. Die tiefe Bewußtlosigkeit, die mich bis vor kurzem in ihrem tödlichen Griff gehabt hatte, hinterließ noch immer Unsicherheit und ein starkes Schwindelgefühl, das ich zu bekämpfen versuchte. Auf die Beine! Bewege dich! Sonst erfrierst du! Begreif doch, daß du im tiefen Schnee liegst! dröhnte die Stimme des Extrahirns in meinen Überlegungen. Ich sah an mir herunter. Ich war splitter-
nackt. Langsam kam ich hoch, stand knietief im Schnee und hörte den Wind, der über die Fläche aus hügeligem Schnee strich, die mich umgab. Der Wind jagte auch die unablässig treibenden Wolken über den sonnenlosen Himmel. Das Licht war scharf und zeigte die Umgebung ohne Schatten, aber ich spürte den Wind nicht einmal. Wieder holte ich Luft und bewegte mich dann. Hinter mir sah ich die Spuren meines Körpers im Tiefschnee. Der Eintritt aus dem Makrokosmos in die submikroskopische Welt mußte mit einem tiefen Fall begonnen haben. Während ich Arme und Beine bewegte, um die Blutzirkulation in Gang zu bringen, drehte ich mich einmal um mich selbst. Ich versuchte, diesen neuen Ausdruck auf dem Gesicht der rätselhaften, drohenden Mikrowelt zu erfassen. Hatte ich Überlebenschancen? Ich war abermals winzig geworden, schien aber, im Gegensatz zu meinem ersten Besuch in der Mikrowelt, mein ursprüngliches Körpergewicht ebenfalls größtenteils verloren zu haben. Ich verdrängte die Gedanken an die Erinnerung, die ich an das erste Eindringen in die Mikrowelt hatte. Hier gab es andere Merkmale, andere Gesetzmäßigkeiten. Ich sah, einen geschätzten Kilometer weit entfernt, aus der hügeligen Masse von Schnee und angewehten Dünen einige zackige, purpurne Felsen aufragen. Zwischen ihnen sah ich Rauch. Wo Rauch war, mußte auch auf dieser Welt Feuer sein! Wo Feuer war, existierte Wärme, Hitze … Nur mit Wärme konnte ich die nächsten Stunden überleben. Ich wurde schneller und kämpfte mich durch den Schnee auf die Felsen zu. Bei jedem Schritt versank ich bis zu den Knien und tiefer in der scharfkantigen,
4 gefrorenen Masse. Ich spürte nicht, wie die Eiskristalle meine Haut zerschnitten. Du rennst um dein Leben! In zwei Stunden bist du erfroren! versicherte der Extrasinn. Während ich mich durch den Schnee kämpfte, immer wieder durchbrach und tief einsackte, begann ich zu begreifen, daß dieser winzige Ausschnitt des Mikrokosmos gefährlicher, aber auch vielschichtiger war als derjenige Teil des Normaluniversums, den ich kannte. Der Himmel über mir, wolkenverhangen und von einem unirdischen Licht erfüllt, strömte eisige Kälte aus. Winzige Eiskristalle rieselten aus diesem sonnenlosen Himmel herunter, wurden von den daherwirbelnden Sturmstößen ergriffen und waagrecht über die Dünen aus Schnee geweht. Sie begannen auf meiner Haut zu brennen, als ich wieder Schmerzen empfinden konnte. Aber war ich wirklich im Mikrokosmos? Bis auf die Sonne, die ich als stark leuchtende Zone hinter und zwischen den Wolken hätte sehen müssen, schien die Landschaft zu der Oberfläche eines Planeten zu gehören. Ich taumelte keuchend den Hang einer Düne aus scharfkantigen Schneekristallen herunter. Auch hier unten traf mich der Wind mit brutaler Härte. Ich rannte um mein Leben. Schneller! Du mußt die Felsen erreichen! dröhnte der Extrasinn. Noch mehr als siebenhundert Meter. Wieder raffte ich mich auf und begann den Aufstieg. Ich zog das Bein aus dem Loch im Schnee, griff mit beiden Armen nach vorn und zog den zweiten Fuß aus der festen, eisigen Masse. Es war ein Wunder, daß ich noch lebte und denken konnte. Ich war mit Ischtar zusammen zu dem Stützpunkt der Methaner gekommen, und jetzt versuchte ich, mein Leben zu retten und den Maahk und Crysalgira zu finden, die Arkonidin. Ich erreichte die Schnittkante der Düne und taumelte unter dem Ansturm des Win-
Hans Kneifel des. Ich warf mich mit aller Kraft nach vorn und knickte ein. Ich überschlug mich und rutschte in einer Lawine aus Eisplatten und losgerissenem Schnee abwärts. Schnee drang in meinen Mund, in die Nasenlöcher und die Ohren. Schwäche griff nach mir, und ich blieb liegen. Ich wollte schlafen, tief und lange schlafen. Aufstehen! Wenn du einschläfst, wirst du sterben! Ich kam irgendwie wieder auf die Beine. Meine Haut schien hart zu sein wie das Eis. Sie war von zahllosen winzigen Schnitten bedeckt, aber die Kälte verhinderte, daß ich nennenswert blutete und vor Schmerzen rasend wurde. Von den Maahks gefangengenommen, wieder in das Strahlungsfeld des Molekularverdichters geraten, drastisch verkleinert worden und zu einem bedeutungslosen Winzling geschrumpft. Und jetzt, nachdem ich mich in dieser Umgebung wiedergefunden hatte, schienen diese Felsen dort vorn, mitten in den Schneeverwehungen, meine einzige Rettung zu sein. Ich setzte Fuß vor Fuß. Ich vergaß meine Schmerzen und den Zustand meiner Gedanken. Obwohl ich tief im Innersten meiner Überlegungen wußte, daß mich der Schnee und die Kälte umbringen würden, kämpfte ich weiter. Ich stolperte, riß die starren Arme hoch und fing meinen Sturz ab. Als ich mit Knien und Ellbogen aufschlug, merkte ich erst, daß ich mich nicht mehr im Bereich des Schneehaufens befand. Ich riß die Augen auf, schüttelte verwirrt meinen dröhnenden Schädel und blickte nach unten. Direkt vor meinen Augen befand sich der Anfang eines Pfades. Spuren! Das bedeutet Leben! Ich stemmte mich hoch und starrte darauf. Keinen halben Meter vor mir drückte sich in den Schnee eine Reihe von Abdrücken. Eine riesige Fußspur lag vor mir, die aussah, als stamme sie vom Fuß eines gigantischen Vogels. Ich taumelte wieder auf die Beine. Jetzt sah ich es deutlicher.
Rückkehr in die Mikrowelt Rette dich! Renne die Spur entlang! schrie befehlend mein Extrasinn. Ich rannte geradeaus. Zwischen dem Prallhang der Düne und dem schärferen Hang der nächsten führte diese Spur, deren Anfang ich nicht erkannt hatte, in die Richtung der Felsen. Ich schwankte hin und her, und meine nackten Fußsohlen ertasteten die Vertiefungen der runden Ballen und der kurzen, dreieckigen Krallenabdrücke. Die einzelnen Spuren lagen drei oder vier Schritte in meinem Maß auseinander. Ich konnte es einfach nicht glauben! In der Mikrowelt gab es riesige Vögel, die durch Schneedünen und Eissturm rannten. Denke an den Rauch zwischen den Felsen! flüsterte eindringlich der Logiksektor. Ich wußte, daß ich es nicht mehr lange aushielt. Ich taumelte mit letzter Kraft weiter, umrundete die erste Schneedüne, kam in den Einschnitt der nächsten, bewegte mich weiter auf diesem merkwürdigen Pfad und sah die schroffen, farbigen Felsen größer und deutlicher werden. Sie waren zerrissen und voller Vorsprünge und Schroffen, in denen Eisflächen hingen. Lange weiße Eiszapfen waren vom Wind schräg geformt worden und wirkten wie das Gebiß eines Riesen. Zwischen zwei Fußstapfen sah ich längliche, pechschwarze Dinge halb im Schnee liegen. Es mußte der Kot dieser Riesenvögel sein. Je näher ich den Felsen kam, desto tiefer waren die Spuren eingetreten, und desto zahlreicher waren sie auch. Zwischen den letzten Schneeverwehungen erreichten sie die Tiefe eines Grabens, der bis zu meiner Brust reichte. Meine Haut, längst unempfindlich geworden, registrierte den geringen Temperaturunterschied nicht mehr, der hier herrschte. Ich rannte, mich zusammennehmend und mit den letzten Kraftreserven, über die Eindrücke, rammte mit den halb erfrorenen Zehen die Kotbrocken und sah eine pechschwarze Feder von Unterarmlänge im Schnee stecken. Die ausgetretene Spur begann jetzt anzusteigen. Sie wand sich in Serpentinen zwischen Dünen und durch Schneehaufen aufwärts. Die Felsen waren
5 zum Greifen nah. Als ich endlich zwischen den Mauern hart gepreßten Schnees auftauchte, empfing mich abermals ein heulender Windstoß, der kreischend und mit Millionen scharfkantiger Kristalle in mein Gesicht fuhr, die Augen tränen ließ und die Ohren zu empfindungslosen Hautlappen machte. Die Kotstücke wurden zahlreicher. Die Felswände mit den Eiszapfen daran und den Schneebrettern zwischen den einzelnen Spalten waren ganz nahe. Ich folgte weiter den Spuren, die sich unmittelbar verbreiterten. Du hast es geschafft! Dort vorn! »Endlich!« röchelte ich auf. Zwanzig Meter vor mir gab es einen hohen, schmalen Schlitz in den reifbedeckten Felsen. Aus einem zweiten Loch schräg darüber ringelte sich eine schwache Rauchfahne, die augenblicklich vom Wind weggerissen wurde. Vor dem Höhleneingang war der Schnee in einem Kreis mit weniger als zwanzig Meter Durchmesser zusammengetrampelt. Eine Mauer aus Eis, hochgetürmtem Schnee und den unübersehbaren Ausscheidungen derjenigen Tiere, die Federn und Klauenabdrücke hinterließen, umgab diese Arena. Wind und Schnee hatten den Boden des Kreises glattgeschliffen. Ich stolperte und taumelte aus dem breiten Graben heraus, stemmte mich gegen den Wind und schleppte mich Schritt um Schritt auf die schwarze Höhle in dem Felsen zu. Endlich überschritt ich die Linie, die jenen Felseneinschnitt von der tobenden Kälte trennte. Einen Augenblick lang sah ich überhaupt nichts. Dann spürte ich Wärme, roch Rauch in der Luft, und meine blinzelnden und tränenden Augen sahen einzelne Helligkeitsunterschiede. Auf dem Boden der Höhle, keine zehn Schritte entfernt, sah ich einen winzigen Fleck rötlicher Helligkeit. Ich ging steif darauf zu. Die Wärme wurde stärker. »Vielleicht schaffe ich es!« murmelte ich mit tauben, aufgesprungen Lippen. Allmählich gewöhnten sich meine Augen an die
6 halbe Dunkelheit. Ich erkannte die Größe der Höhle. Überall an den Wänden sah ich die gestapelten und in Haufen gesammelten Kotbrocken. Sie waren hart und trocken. Ich kannte eine Kultur, in der Dung von Wiederkäuern das einzige Brennmaterial war, und es überraschte mich nicht im geringsten, als ich sah, daß auch dieses Feuer von nichts anderem als diesem Dung in Gang gehalten worden war. Ich bewegte mich, weil ich wußte, daß ich es nicht mehr lange aushalten würde. Ich schleppte einige Hände voller Dungbrocken herbei, griff mit den gefühllosen Fingern in die Asche und blies in die rote Glut. Die Anstrengung machte mich beinahe bewußtlos, aber schon nach drei, vier Atemstößen sah ich winzige Flammen hochzüngeln. Vorsichtig schichtete ich das Brennmaterial um die Glutzone und sah zu, wie Flammenzungen nach dem ausgetrockneten, faserigen Dung griffen, größer wurden und schließlich die Höhle erhellten. Immer mehr Hitze ging von dem Feuer aus. Ich holte noch mehr Brennmaterial. Gut so! Nicht aufhören! Nicht nachlassen! drängte das Extrahirn. Ich türmte eine Pyramide der länglichen Brocken auf. Die Flammen züngelten nach allen Seiten und nach oben. Der Luftzug riß den Rauch förmlich aus einer Öffnung hoch über meinem Kopf. Die Höhle war noch warm von dem Feuer, das ein Besucher vor einigen Stunden hier angefacht hatte. Dieser Zufluchtsort mußte regelmäßig besucht werden, denn sonst hätte sich niemand die Mühe gemacht, den Dung in solchen Mengen zu sammeln. Es fing bei den Zehen und den Fingern an. Und im Gesicht. Zuerst merkte ich, daß ich diese Gliedmaßen noch besaß – sie wurden mir plötzlich bewußt. Dann begannen sie zu stechen und zu prickeln. Die Nase und die Ohren begannen unerträglich zu jucken. Ich stürzte nach draußen und holte zwei Handvoll Schnee, dann begann ich, mich damit einzureiben. Wasser sickerte aus meinem eisverkruste-
Hans Kneifel ten und schneebedecktem Haar und lief über mein Gesicht Binnen einiger Minuten, während ich verzweifelte Tänze rund um das hochlodernde Feuer aufführte um die Blutzirkulation in Gang zu bringen, verwandelte sich mein Körper in eine einzige juckende, prickelnde, stechende Blase aus Haut und Nerven. Ich wurde, obwohl ich stöhnte und weiter turnte, beinahe vor Schmerzen verrückt. Aber ich wußte, daß der Schmerz mir bewies, daß ich keine ernsthaften Erfrierungen haben würde. Ich setzte mich vor das Feuer, atemlos, schwitzend und gleichzeitig zitternd in einer Art Schüttelfrost. Meine Finger fuhren ziellos massierend über die Haut. Überall kitzelte es und juckte. Die Haut war rot geworden. Ich begann zu dampfen wie ein Moor am Morgen. Du wirst überleben! Weiter! Nicht aufhören, nicht einschlafen! Sieh dich in der Höhle um! befahl mein Extrasinn. Fartuloon hätte mir helfen können. Er kannte alle Tricks, mit denen man überleben konnte. Aber ich gehorchte der warnenden Stimme, kam abermals taumelnd in die Höhe und packte ein Stück Dung, das erst an einem Ende brannte. Ich hielt es über den Kopf und leuchtete alle Stellen aus, die vom Licht des Feuers nicht erreicht wurden. Inzwischen herrschte in der Höhle eine gewaltige Hitze, die mich kräftiger, gleichzeitig aber auch schläfriger machte. Nur langsam hörte dieses wahnsinnigmachende Jucken auf. Aber ich versuchte, es zu ignorieren, indem ich mich ablenkte. Zuerst fesselte etwas Glitzerndes, Metallisches meine Aufmerksamkeit. Es lag zwischen Dungbrocken nahe der Höhlenwand. Ich ging darauf zu, bückte mich – wobei mir schwindlig und schwarz vor den Augen wurde – und hob es auf. Eine Waffe! Es war eine Art Messer, Dolch oder Kurzschwert, merkwürdig geformt. Es bestand aus plattgehämmertem Eisen oder Stahl mit einem schwachen Glanz eines anderen Metalls. Deutlich war eine Doppelschneide zu
Rückkehr in die Mikrowelt sehen und ein plumper Griff mit Vertiefungen für drei Finger. Schneide und Griffstück waren mit verschieden großen Löchern versehen, so daß die ziemlich große Waffe verhältnismäßig leicht wurde. Ich wollte den Dolch in meinen Gürtel schieben, aber als ich die Bewegung ausführte, merkte ich, daß ich nicht einmal einen Gurt besaß. In einer anderen Ecke fand ich ein weiteres Mittel zum Überleben. Eine Nische zeigte sich im zuckenden Licht meiner improvisierten Fackel. Sie wurde dadurch gebildet, daß jemand ein flaches, großes Stück Fels als eine Art Dach zwischen andere Felsbrocken geschichtet hatte. Ich fand vier Felle, die länger waren als ich groß. Eines nach dem anderen zog ich aus der Nische heraus. Die Häute waren auf einer Seite zum Teil sehr gut bearbeitet, von Fleischresten gesäubert und irgendwie gegerbt. Aber sie waren alle vier steif wie Holzbretter. Die andere Seite trug einen zottigen, langhaarigen Pelz von dunkler, kastanienbraun schimmernder Farbe. Der Pelz war sehr dicht und würde hervorragend wärmen, wenn man ihn zur Kleidung verarbeitete. Ich schleppte die vier Felle, nachdem ich den glühenden Dungbrocken ins Feuer geschleudert hatte, in die Nähe der Wärme. Dann holte ich wieder Brennmaterial und schürte das Feuer nach. Das Jucken hörte nach etwa einer Stunde auf. Ich hatte bis dahin ein Fell neben das Feuer schleppen und ausbreiten können. Es hatte die klamme Kälte verloren und war geschmeidig. Das zweite Fell stellte ich in der Nähe der Glut auf, und aus dem dritten schnitt ich Streifen und abgerundete Flächen aus. Mein Haar war inzwischen warm und verfilzt. Ich fror nicht mehr, und jetzt bekam ich Durst und Hunger. Eine Stunde, nachdem ich mit dem Zerschneiden des Fells begonnen hatte, verfügte ich über zwei Fellschuhe. Sie bestanden jeweils aus einem annähernd runden Fleck. Das Fell blieb innen, als ich meine Sohlen
7 darauf stellte, die Seiten hochfaltete und an den Knöcheln und unter dem Knie mit je zwei breiten Bändern festschnürte. Das vierte Fell erhielt einen Schnitt in der Mitte und zwei seitliche Schlitze. Ich stellte einen Poncho her, indem ich meinen Kopf durch den mittleren Schnitt schob und die Arme durch die seitlichen Schlitze schob. Ein breiter Fellstreifen wurde zum Gurt. Binnen Minuten fühlte ich mich weitaus wohler. Ich schob das Messer in den provisorischen Gürtel und sah mich weiter um. Versuche, etwas zum Essen zu finden! drängte der Logiksektor. Jetzt bildete der spitzkegelige Hügel der weißen Glut den Mittelpunkt der Höhle. Das Loch im Felsen war uralt und wies einen Durchmesser von rund zehn Metern auf. Die Höhle war unterschiedlich hoch, besaß einige künstliche und natürliche Nischen und hatte annähernd runden Grundriß. Ich tastete mich entlang den kantigen Wänden, und der Hunger wurde immer nagender. Vier weiße Flecken fesselten im Hintergrund einer Nische meine Aufmerksamkeit. Trotz des Hungers, des großen Durstes und der zunehmenden Müdigkeit schob ich mich zwischen den gestapelten Dungbrocken in die Nische hinein und griff nach dem ersten der vier weißen Dinge, die Ähnlichkeit mit Säcken hatten. Meine Finger stießen gegen eine dünne, aber harte Masse. Ich griff zu und zog einen der Gegenstände ans Licht des Feuers. Es war eine leere Hülle, geformt wie ein dreifach kopfgroßes Ei mit sehr dünner Schale. Im oberen, schlankeren Teil sah ich ein rundes Loch, durch das ich drei (Finger stecken konnte. Aber die dünne Schale dieses »Eis« war zerknittert. Es schien mir, als habe dieser Behälter Flüssigkeit enthalten und sei langsam ausgedrückt worden wie ein Nahrungsbehälter in einem Raumschiff. »Leer!« knurrte ich, dann kam mir eine Idee. Ich zog mein Messer und schnitt mit der Spitze den Kreis des Loches um ein Vielfaches größer aus. Dann verließ ich den
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Hans Kneifel
Schutz der wärmenden Höhle, rannte durch den Sturm, der mit einer Art Dämmerung aufgekommen war, und dann kauerte ich mich nieder. Ich riß mit der rechten Hand Schnee aus dem Wall, schob lockere Kristalle von der Oberfläche des Schneefelds zusammen und füllte das seltsame Ei. Noch bevor ich richtig die Kälte wieder spürte, hatte ich den Behälter gefüllt und rannte wieder zurück zum Feuer. Ich setzte das Ei in die warme Asche, schützte die Schale mit einigen angesengten Brocken und wartete dann, bis sich der Schnee auflöste. Immerhin ist Wasser besser als gar nichts! sagte der Extrasinn. Versuche, dich auszuruhen. Entweder mußt du aufbrechen und Menschen suchen, oder sie finden dich früher oder später hier. Jedenfalls bist du in deinem gegenwärtigen Zustand nicht in der Lage, durch den Schneesturm zu wandern oder gar zu kämpfen! Knisternd verbrannte der Dung im Feuer. Der Haufen der roten und weißen Glut wurde höher. Die Felle waren weich geworden, in der Eierschale schmolz der Schnee. Ich schichtete weitere Mengen dieses exotischen Brennmaterials auf und baute aus ihnen einen Wall gegen die springenden Funken. Dann breitete ich ein Fell in unmittelbarer Nähe des Feuers aus und setzte mich darauf. Es war wunderbar warm. Ich trank einige Schlucke des fad schmeckenden Schneewassers, dann streckte ich mich aus und zog das zweite Fell über mich. Ich schlief fast augenblicklich ein.
* Der Himmel war jetzt tiefblau geworden. Die Wolken rissen auf, aber zwischen den einzelnen treibenden Massen sah ich weder einen Stern noch einen Mond. Aber die einzelnen Wolken leuchteten wie gelber Phosphor. Licht und vage Schatten huschten über die endlose Masse von verschieden hohen Schneedünen – oder schneebedeckten Hü-
geln – rund um die einzeln stehenden Felspyramiden. Ich stand im Eingang der Höhle, preßte meine Handflächen gegen die warme Felsfläche und sah mich um. Drei oder vier Stunden schätzungsweise hatte ich geschlafen, und ein Traum hatte mich jäh geweckt. Ich war aufgestanden, hatte einen Schluck des warmen und geschmacklosen Wassers getrunken und war hinausgegangen, um mich umzusehen. Jetzt stand ich hier und wartete. Worauf? Ich wußte es nicht. Mein Blick fiel auf einen glitzernden Gegenstand, der zwischen den präparierten und getrockneten Dungstücken lag. Das Brennmaterial war auseinandergefallen und hatte diesen Fund freigelegt. Blitzschnell bückte ich mich, dann huschte ich zum Feuer zurück. Ich hielt den Fund hoch. Meine Augen weiteten sich vor Staunen. Es war eine Tasche. Sie war dadurch entstanden, daß der Unbekannte ein längliches Stück grobes Tuch dreimal gefaltet und zwei der Teile aneinandergenäht hatte. Der dritte Teil bildete einen primitiven Verschluß, wenn man ihn über den Schlitz klappte. In der Tasche befanden sich zwei Schlitze, durch die man einen Gürtel schieben konnte. Das Tuch war dunkelrot und grob gewebt, aber mit dünnen Fäden war ein Muster aus länglichen, vielfarbigen Perlen aufgestickt oder aufgenäht. Ich erkannte eine geometrische Figur, die entfernt an die Umrisse eines Menschen erinnerte. Langsam löste ich meinen Fellgürtel und zog ihn durch die Schlitze. Nun hatte ich eine Gürteltasche – ohne jeden Inhalt allerdings. Ich gähnte, ging abermals zurück zum Ausgang und warf einen langen Blick in die Umgebung. Nichts! Du kannst weiterschlafen! sagte beruhigend der Logiksektor. Ich verkroch mich, nachdem ich das Feuer versorgt hatte, zwischen die beiden Felle und schlief wieder ein.
*
Rückkehr in die Mikrowelt Ich fuhr auf und war mit einem Sprung auf den Beinen. Meine Hand fuhr zum Messer und riß es zwischen den langen Haaren des Fellponchos hervor. Vor der Höhle! Ein Schrei hat dich aufgeweckt! erklärte der Extrasinn. Ich sprang zur Seite und versuchte, aus dem hellroten Lichtschein herauszukommen und einem möglichen Angreifer kein Ziel zu bieten. Wieder war ich ratlos, aber inzwischen hatte ich mich so weit erholt, daß meine Chancen viel besser waren als zu dem Augenblick, als ich blaugefroren mitten im Schnee aufgewacht war. Ich tappte langsam und auf den dicken Fellsohlen auch geräuschlos an den Felswänden entlang und preßte mich dicht an die Wand, als ich den Spalt erreichte. Direkt vor dem Höhlenausgang war in einer spitzen Zunge der festgetrampelte Schnee glasig geworden und in der Mitte sogar geschmolzen. Ich schrak zusammen, als rechts von mir ein langgezogener, röchelnder Schrei ertönte. Mit einem heiseren Schnauben riß der Schrei ab. Ich streckte, das Messer fest umklammernd, den Kopf aus der Spalte und starrte in den gelblich leuchtenden Schnee hinaus. Dort ragte, keine zwanzig Meter vom Eingang entfernt, die wuchtige Gestalt eines Tieres auf. Sie zeichnete sich als Silhouette scharf gegen die helle Umgebung ab. Ein Tier? Oder ein Bewohner dieser Mikrowelt? flüsterte der Logiksektor. Ich zuckte die Schultern und schob mich langsam entlang der Felsen nach draußen. Stoßbereit lag die kleine Waffe in meiner Hand. Die doppelt geschliffene Schneide glänzte im Licht der phosphoreszierenden Wolken, die in unaufhörlicher Folge über den dunklen Himmel jagten. »Was ist das?« fragte ich mich leise. Am jenseitigen Ende der zertrampelten und eisigen Fläche stand ein Tier, das entfernt an einen Büffel erinnerte. Nur war es zweimal so groß wie eines dieser Tiere, die
9 ich als Zug- und Tragtiere aus Kolonien und exotischen Planeten des Großen Imperiums kannte. Das Fell! Ich erkannte es sofort wieder. Es war diese Art von Fell, das ich gefunden und zerschnitten hatte. Lange Zotteln, dichter Haarwuchs und eine dunkle Farbe, die an einigen Stellen durch Schweiß und Schneenässe und an anderen Stellen durch Dreck noch dunkler gemacht wurde. Dieser Riesenbüffel der Mikrowelt trug weit ausladende, schwarze Hörner, die nach innen und nach vorn gekrümmt waren und eine furchtbare Waffe bildeten. Auf seinem Rücken, breit wie ein Tisch, war mit starken Ledergurten ein Korb befestigt, in dem ich vier- oder fünfmal leicht Platz hatte. In die Haltegürtel waren hölzerne Stufen eingearbeitet. Ein Zaum, der an großen, gezackten Trensen und Hebeln endete, ging vom Rand des Korbes bis zu dem breiten Maul des Tieres, aus dem weiße Reißzähne hervorsahen. Ich konnte keinen Lenker oder Reiter sehen. Ich überlegte kurz, dann sah ich meine einzige Chance. Ich schnellte mich mit einem riesigen Satz aus dem Eingang und wieder zurück in die halbe Dunkelheit neben dem Felsen. Der Superbüffel senkte den Kopf und starrte mich aus riesigen dunklen Augen an. Langsam ging ich näher. Die Erregung hatte mich gepackt. Der Büffel stand ruhig da und hob langsam einen Vorderfuß. Ich sah die dicken Muskelstränge unter dem zottigen, stinkenden Fell und die beiden Klauen des gespaltenen Hufs. Sie schienen aus Knochen oder Horn zu sein und waren, soweit ich dies von hier aus bemerken konnte, scharfgeschliffen wie eine Messerschneide. Die dauernde Berührung mit Fels, Schnee und Eis schien sie förmlich geschliffen zu haben. Eine zweite Waffe, abgesehen von den Hauern der Zähne. Dann streckte das Urtier den Hals, zielte mit den runden Nüstern auf mich und zog schlürfend die Luft ein.
10 Sie roch nach Rauch und nach – mir. Nach einem Fremdling, einem Eindringling. Das Tier wird dorthin zurückgehen, woher es gekommen ist, sagte der Extrasinn. Versuche, in den Korbsattel zugelangen! Zögernd machte ich ein paar Schritte. Ich bewegte mich von dem sicheren Schutz des Feuers in die Nacht hinaus und auf den Giganten der Tierwelt zu. Dieser Büffel machte trotz des Sattels und des Zaumzeugs einen unverkennbar streitsüchtigen und wilden Eindruck. Noch immer stand er mehr oder weniger regungslos da, blickte mich aus tückischen Augen an und ließ ab und zu ein langgezogenes Grunzen hören. Ich sah mich um. Das Tier war von rechts gekommen. Ich konnte die breite Spur durch den Schnee eine ganze Weile verfolgen. Jetzt befand es sich direkt neben dem Rand der festgetrampelten Arena, aber ich sah keine Abdrücke im Schnee, die darauf schließen ließen, daß der Reiter oder Lenker abgestiegen war. Konnte es sein, daß das Tier ohne Reiter hierher gerannt war? Durch den Sturm, der mir noch immer Eiskristalle gegen die Haut der Arme und des Gesichts warf? Wieder ein paar Schritte. Ich war nur noch zehn Meter von dem Urtier entfernt und blieb stehen. Ich konnte aus dem Blick des Giganten nichts ablesen. Aber ein lauter Schrei, den das Tier drei Meter vor mir ausstieß, ließ mich stehenbleiben. Ich umkrampfte das Messer und streckte meinen Arm aus, um den Zügel oder eine Sprosse des Gurtes zu erreichen. Der Riesenbüffel ragte mehr als zweieinhalb Meter in die Höhe und war kaum weniger als fünf Meter lang. Sein Schwanz mit der schmutzigen, breiten Quaste wirbelte plötzlich durch die Luft und erzeugte ein pfeifendes Geräusch. Jetzt erreichten meine Finger den langen Riemen des Zügels. Kaum hatte ich ihn ein wenig berührt, kam plötzliches Leben in den Koloß. Er bäumte sich auf, senkte den Kopf und warf sich dann auf den Hinterbeinen herum. Gefahr! wisperte das Extrahirn.
Hans Kneifel Ich sprang zur Seite, als die Vorderfüße wieder in den Schnee eintauchten und die Hinterbeine den wuchtigen Körper des Büffels nach vorn schoben. Der Schnee stob auf wie eine Bugwelle. Der Büffel schoß aus dem tiefen Schnee hervor und rammte die Klauen der Hufe in die festgetrampelte Fläche. Ich stolperte, landete auf Knien und Ellbogen und robbte über das Eis, um aus dem Bereich der wirbelnden Hufe zu kommen. Wieder griff das Tier an. Es senkte den Kopf, schob das Gehörn nach vorn und kam mit schnellen Galoppsprüngen auf mich zu. Riesige Brocken Eis und Schnee wurden nach allen Seiten gewirbelt. Ich blieb stehen und erwartete den Zusammenprall. Ich ging in die Knie, und als der mächtige Schädel ganz dicht vor mir war und sich in einem Sekundenbruchteil in den Schnee bohren würde, sprang ich senkrecht in die Höhe und klammerte mich an einem Horn fest. Mit einem krachenden und splitternden Geräusch rammte der kantige Schädel den Rand der Schneefläche. Kopf, Hörner und Ohren verschwanden in dem weißen gepreßten Material. Ich schwang mich nach oben, umklammerte den Hals, der dick wie ein Baum war. Unter mir spürte ich die schlingernden Bewegungen des Körpers, als der Büffel sich rückwärts bewegte, den Kopf schüttelte und sich aus dem Schnee befreite. Wieder bäumte er sich auf. Die Vorderfüße wirbelten durch die Luft. Ich wurde abgeschüttelt, flog durch die Luft und fiel mit ausgebreiteten Armen in den Tiefschnee. Sofort kroch ich aus dem Schnee und aus der hochgerissenen Wolke von Eissplittern heraus und rannte in die Richtung der Höhle. Schlitternd und rutschend rannte der Büffel hinter mir her, umrundete den Kreis und hatte mich erreicht, als die Spalte vor mir auftauchte. Ich sprang hinein. Der Schädel des Büffels schrammte an dem Fels entlang und an den Eisflächen. Klirrend brachen Eiszapfen ab, die Spitzen der Hörner krachten und klapperten auf dem
Rückkehr in die Mikrowelt Stein. Das Tier stieß einen langen, qualvollen Schrei aus. Ich sprang wieder aus dem Spalt hervor. Das Messer steckte in meinem Gürtel, als ich mich losschnellte, in die Höhe warf und dann in rasender Eile die vier Sprossen des Sattelgurts erkletterte. Ich warf mich über den Rand des Korbes. Als das Tier den Druck in seinem Rücken spürte, schrie es mehrere Male laut und dröhnend auf. Aber es war ein anderer Klang in seiner Stimme. Ich griff nach den Zügeln und riß daran, so hart ich konnte. Der Kopf des Büffels ruckte in die Höhe, dann stand das Tier starr da und bewegte sich nicht mehr. Seinen Körper durchlief ein Zittern, das auf- und abschwoll. Ich entdeckte in dem Korb einen breiten Sessel, ebenfalls aus dem Geflecht der runden Ruten. Er war mit einem schmutzigen Büffelfell gepolstert. Dort, wo die Hüften des Reiters sein mußten, verlief ein breiter Gurt mit einer hölzernen Schnalle. Ich zog den Doppelzügel straff und knotete die Enden um einen Stab des Korbes. Dann schnallte ich mich fest. Treibe das Tier nicht in eine bestimmte Richtung! Es wird seinen Stall suchen! sagte der Extrasinn deutlich. Ich überlegte, was zu tun war. Dann löste ich die Zügel, ruckte abermals hart daran und schrie geilend auf. Die großen Ohren des Büffels legten sich nach hinten an, er riß den Schädel hoch und startete aus dem Stand wie ein Rennpferd. Hinter uns wirbelten Eisbrocken durch die Luft, und dann beschleunigte dieses exotische Renntier weiter. Es drang in den tiefen Schnee ein, bewegte regelmäßig die Beine und schob sich mit ständig zunehmender Geschwindigkeit wieder aus dem Schnee heraus, erreichte einen Pfad und stürmte diesen entlang. Ein wilder Ritt begann. Einmal sah ich mich um. Der Spalt im Felsen verschwand eben. Hinter uns wirbelte, wie Sand in der Wüste, eine Fahne aus Schnee und Eisstückchen auf. Ich wußte nicht einmal, in welche Himmelsrichtung
11 dieser Büffel rannte.
* Nach einigen Minuten riskierte ich, die Zügel etwas lockerer zu lassen und den Kopf über den Rand des Korbes zu heben. Über mir war noch immer der dunkle Himmel. Noch immer glühte der Schnee im Licht der Phosphorwolken. Auch die Fahne aus Eispartikeln glühte hinter uns. Noch immer raste der Büffel wie wild geworden über den schmalen Pfad, der von vielen Vogelkrallen getrampelt worden war. Der Fahrtwind pfiff mir ins Gesicht. Er rennt zurück in seinen Stall, wo immer er sein mag! sagte scharf der Extrasinn. Der Büffel rannte in einem stoßenden und bockenden Trab. Die Felshöhle war längst hinter den Dünen verschwunden. Als ich nach den Seiten blickte, erkannte ich, daß die Dünen niedriger wurden. Mit riesigen Sätzen sprang der Büffel einen Hang hinauf und zögerte einen Moment, ehe er sich in eine bestimmte Richtung wandte. Ich sah vor mir eine weite, weiße Fläche, die sich in die Unendlichkeit zu erstrecken schien. Dann wallte wieder Schnee auf, als der Büffel abermals zu rennen begann und auf diese Fläche zulief. Die Bewegungen des Tieres warfen mich auf und nieder und schüttelten mich durch. Inzwischen hatte ich merken müssen, daß der Korb vollständig leer war. Es gab nicht einmal eine Wasserflasche oder getrocknete Nahrung. Der Büffel, der seit etwa einer halben Stunde ununterbrochen dahinstürmte, erreichte jetzt den Rand der Dünen und wurde abermals schneller. Das Tier stieß einen lauten Schrei aus. Jetzt schwitzte der Büffel. Das Fell tränkte sich mit dem fetten Schweiß, der Büffel stank mörderisch. Ich war hilflos im Korb angeschnallt und vergaß bei diesem Ritt, daß ich wieder zu frieren begann. Die glatte Eisfläche war erreicht.
12 Nach den ersten fünfzig Schritten hörte ich einen peitschenden Knall. Er kam gleichermaßen von allen Richtungen. Ein zweiter, dumpferer Krach schloß sich unmittelbar an. Der Büffel änderte seine Richtung, und ich hob mich aus meinem Sitz so weit hoch, wie es der Gurt gestattete. Ich sah, wie sich von rechts und von einem nicht sichtbaren Punkt hinter mir zwei dünne schwarze Linien über die Fläche zogen. Noch waren sie schmal, aber wild gezackt. Während sich die scharfen Schalen der Hufe in das glitzernde Eis gruben und den Tierkörper mit jeder Bewegung einige Meter weiter nach vorn rissen, wurden die Sprünge breiter. Ein dritter, dröhnender Knall, an den sich ein Geräusch wie von splitterndem Glas anschloß. Das Eis bricht auf! Achte auf die Spalten! Noch sind sie leicht zu überspringen. Das Tier rannte geradeaus, ich schnallte mich los und griff mit beiden Händen in die Zügel: Vielleicht konnte ich verhindern, daß wir in eine Spalte fielen. Ich wußte nicht, ob sich unter der Eisfläche ein See befand oder etwas anderes. Aber ich durfte den Mikrokosmos nicht mit den Gesetzmäßigkeiten meiner Erfahrung vergleichen. Der nächste donnernde Knall sprengte die Eisfläche abermals. Jetzt rissen die Spalten auf. Zwischen den einzelnen langen Spalten bildeten sich kürzere Abzweigungen, aus denen einzelne Schollen wurden. Plötzlich klangen die Hufschläge hohl wie auf einer riesigen Trommel. »Verdammt! Ich schaffe es nicht!« stöhnte ich auf und versuchte, das Tier von einer großen Platte auf die nächste zu lenken, die noch nicht in viele einzelne Schollen zersprungen war. Ich riß am Zügel, und das Tier gehorchte. Es rannte nach rechts, schlug einen großen Bogen und sprang leichtfüßig über die schmalen Spalten. Auf der anderen Seite rutschte es wie ein Schlittschuhläufer dahin und riß vier breite Doppelspuren ins Eis. Und schließlich, nach etwa zwanzig Richtungsänderungen und Sprüngen, kippte unter
Hans Kneifel uns der Rand einer großen Scholle ab, das Eis zerbrach, und mit einem schweren Aufklatschen versank das Hinterteil des Büffels in schwarzem Wasser. Ich riß am Zügel und schrie auf. Das Tier rutschte langsam ab, die Vorderbeine zerbrachen die Kanten der Eisfläche, dann schwamm der Büffel in dem Wasser. Es mußte eisig kalt sein, obwohl zwischen den Schollen Dampf aufstieg. Der Büffel schwamm entlang der Kante. Das Tier suchte sich seinen Weg selbst, also lockerte ich die Zügel. Als wir an eine dicke, weiß schimmernde Kante kamen, schnellte sich der gewaltige Leib aus dem Wasser und landete halb auf dem Eis. Mit Hörnern und Klauen aller vier Beine kämpfte der Büffel, bis er wieder zentimeterweise auf das Eis hinaufkletterte. Rund um mich spritzte Wasser auf, aber die Erregung und die Angst verhinderten, daß ich fror. Schließlich stand der mächtige Büffel mit allen vieren auf dem Eis, röhrte auf und schüttelte sich. Hilflos wurde ich herumgerissen und flog beinahe aus dem Korb. »He! Es geht weiter!« schrie ich und zerrte am Zügel. Wieder senkte das Tier den Schädel, röhrte auf und begann abermals seinen rasenden Lauf. Hinter uns barst mehr und mehr Eis, aber die riesige Scholle trug uns und reichte bis ans Ufer, jedenfalls bis zu einer halb unsichtbaren Linie zwischen dem Eis und dem anderen Teil der Landschaft. Und schräg vor mir sah ich die merkwürdigen Vögel. Etwa zwanzig von ihnen kamen in einem seltsam wiegenden Gang von rechts. Sie liefen parallel zu unserem Kurs. Täuschte ich mich, oder saßen tatsächlich Lanzenreiter auf diesen schwarzen Vögeln? Einmal hörte ich in dem Wirbel der Hufe, dem Knacken des Eises und den keuchenden Atemzügen des Riesenbüffels einen Vogelschrei. Er klang gräßlich und erinnerte mich an den Schrei eines Todesvogels, bevor er sich auf das verendende Wild fallen ließ. Ich riß am Zügel, um den Büffel schneller zu machen.
Rückkehr in die Mikrowelt Auch die Phalanx der Vögel wurde schneller. Gleichzeitig kamen sie immer näher, so daß sich unsere Wege an einem weit entfernten Punkt in der leicht hügeligen Landschaft dort vorn schneiden würden. Dort vorn sah ich nur wenige Schneeverwehungen. Es gab Bäume, und ich glaubte, in dämmeriger Ferne winzige Lichter zu erkennen.
2. Sie halten dich für den Besitzer des Büffels! Sie werden dich verfolgen und vermutlich töten! warnte mich der Logiksektor. Ich hatte zwischen den beiden Schlafperioden Zeit gehabt, über meine Lage nachzudenken. Zweifellos befand ich mich in der Mikrowelt. Das mußte ich als sicher annehmen. Dieser submikroskopische Bereich zeigte unaufhörlich neue Facetten. Ich brauchte erst gar nicht zu versuchen, einen Sinn hinter allem zu finden – ich schaffte es nicht. Ebensowenig wie ich die Arkonidin und den Maahk Grek-3 finden würde. Ich mußte nur am Leben bleiben und dieses fremde Inferno verlassen. Vorläufig sah es nicht so aus, als würde ich in dieser Welt mit offenen Armen empfangen werden. Der Büffel zeigte erste Ermüdungserscheinungen und lief langsamer. Ich kauerte im schwankenden Sattel und blickte schräg hinüber zu der langgezogenen Karawane der Laufvögel. Sie waren nähergekommen, liefen noch immer fast parallel zu uns. Jetzt sah ich im wechselnden Licht der Nachtwolken die Reiter auf den Tieren. Ich hatte mich bei meinem ersten Blick also nicht getäuscht. Auf jedem Vogel saß in einem ähnlichen Sitz, der allerdings viel kleiner war als der Korb auf dem Rücken des Büffels, ein Reiter. In der linken Hand hielt er einen Zügel, in der Rechten eine lange Lanze mit einem Stoffetzen oder Bändern als Wimpel unterhalb der glänzenden Metallspitze. Die Reiter waren ausnahmslos in dicke
13 Pelze gekleidet. Auch der Kopf war von einer großen, runden Kapuze bedeckt. Ich glaubte, Schutzbrillen erkennen zu können. Die Vögel waren groß genug für die Spuren, die ich beobachtet hatte, und die Höhle schien ein Schlupfwinkel für die Reiter gewesen zu sein. Was hatten sie vor? Warum verfolgten mich die Lanzenreiter? Keuchend zog der Büffel seinen Weg in die Richtung des fernen Lichts. Noch schien er nicht die neue Gefahr erkannt zu haben. Ich zog instinktiv mein Messer, aber diese Waffe würde mir nicht helfen können. Der Ritt ging weiter. Die Eisfläche, die hinter uns immer mehr krachte und klirrte, hatte in etwa fünfhundert Metern ein Ende und ging dort, hinter einem Wall abgestorbener Halme, in eine Uferlandschaft über. Die Halme wurden vom Wind gepeitscht. Ich griff nach dem Gurt, zog ihn an und schnallte ihn fest. Ich war unruhig, denn noch immer näherte sich die Gefahr in Gestalt von etwa zwanzig schwarzen Laufvögeln. Ab und zu schrie ein Vogel, und ich hatte nicht einmal eine eindeutige Handbewegung des Reiters erkennen können, die in meine Richtung deutete. Trotzdem wußte ich, daß die Vogelreiter mir gefährlich werden würden. Und genau in dem Augenblick, als der Büffel durch den Streifen bambusähnlicher Gewächse rasselte, geschah es. Ich hörte ein hartes, scharfes Kommando. Sämtliche Tiere beschrieben im Laufen eine Wendung um neunzig Grad, so daß sich eine auseinandergezogene Angriffslinie bildete. Der Büffel befand sich plötzlich genau in der Mitte der Tiere, die jetzt schneller wurden und näherkamen. Halb rannten sie, halb flogen sie. Ihre Flügel schlugen wie wahnsinnig, aber sie waren nicht groß genug, um Vogel und Reiter vom Erdboden abzuheben. Die langen Lanzen waren noch immer steil aufgerichtet. Fast gleichzeitig schrien die Vögel auf. Die beiden äußersten Reiter wurden schneller, das hatte zur Folge, daß aus der An-
14 griffslinie in wenigen Augenblicken ein Kreis werden würde; ich erkannte die Taktik. Der Büffel, der bei dem lauten Schrei in die Höhe gesprungen war, änderte seinen Weg. Er flüchtete voller Schrecken. Ich versuchte nicht, in die Zügel zu greifen, denn das Tier wurde plötzlich wieder schneller. Es rannte um sein Leben. Sie halten dich für einen Fremden! rief der Extrasinn. Ich duckte mich hinter den geflochtenen Rand des Korbes. Der Büffel schrie voller Angst und lief jetzt nach links, weg von den heranstürmenden und flügelschlagenden Vögeln. Die Lanzen senkten sich nun langsam und deuteten auf uns. Noch wenige Minuten, und wir waren eingeholt und umzingelt. »Was soll ich tun?« knurrte ich leise. Ich konnte nichts tun. Ich blickte nach links und rechts und suchte einen Ausweg, aber es gab keinen. Ich erkannte nur die stechenden Augen hinter den Schlitzen der Fellkapuzen und die metallenen Spitzen der Lanzen. Vor und hinter dem flüchtenden Büffel befanden sich jetzt Vogelreiter, und der Kreis begann sich langsam zu schließen. Die Umzingelung vollzog sich, während alle Beteiligten des voraussichtlichen Kampfes in rasender Geschwindigkeit auf die wenigen Lichter am Horizont zuritten. Als der Kreis geschlossen wurde, hielt der Büffel langsam an. Er blieb stehen, senkte den Kopf und drehte sich einmal im Kreis, als wollte er eine Ausbruchsmöglichkeit finden. Auch die Vögel waren langsamer geworden. Sie kamen von allen Seiten auf uns zu. Erst jetzt sah ich sie wirklich genau, weil sie sich nicht mehr so schnell bewegten. Ein langer, schlanker Hals mit einem runden Kopf, zwei außergewöhnlich muskulöse und lange Beine mit riesigen Laufkrallen … jetzt wußte ich sicher, daß ich ihre Spuren gesehen hatte. Der Kopf trug einen dreieckigen Schnabel, der wie ein Stück Silber glänzte. Ab und zu vernahm ich das klappernde Ge-
Hans Kneifel räusch der beiden Schnabelhälften, die sich über dem Gebiß des Zügels schlossen. Sie wirkten wie die Schenkel von Scheren oder Zangen. Die Tiere waren mehr als zweieineinhalb Meter hoch. Ein halblanger, jetzt zusammengefächerter Schwanz diente zur Balance des Körpers. Die Augen traten weit hervor und waren mit Federbüscheln geschützt. Überall auf dem schwarzen Gefieder glänzte Eis. Einige Sekunden lang geschah nichts. Ich merkte, wie das Zittern des Tieres unter mir aufhörte und sich dann in plötzliche Bewegung veränderte. Der Büffel stürzte sich mit einem heiseren Wutschrei auf den nächsten Reiter, zielte mit dem linken Horn auf den Körper des Vogels und riß, als er sich unter den Beinen des Vogels befand, mit einer blitzschnellen Bewegung den Nacken hoch. Die Lanze fuhr eine Handbreit über meinem Kopf durch die Luft und bohrte sich in das Sitzfell. Ich schlug mit dem Messer zu und kappte den Holzschaft. Aber die Bewegung, mit der sich das zottelige Tier unter mir herumwarf, mit beiden Hörnern den Vogelkörper aufschlitzte und dann zur Seite und in die Höhe warf, riß mich herum und schleuderte mich trotz des Gurtes in eine Ecke des Korbes. Gleichzeitig ritten vier oder fünf der Vogelreiter an, zielten mit ihren Lanzen und rammten sie tief in die Flanken des Büffels. Das Tier drehte sich, zerbrach einen Speer und stürzte sich röhrend auf den nächsten Reiter. Der Vogel wich aus, schlug mit den Flügeln und erhob sich mehr als einen Meter über den Boden. Er zog, als der Büffel unter ihm hindurchdonnerte, seine Beine und Krallen ein und landete halbwegs auf meinem Korb. Splitternd rissen die Teile des Flechtwerks auseinander, und meine Hand mit dem Messer, die ich nach oben stieß, verfehlte ihr Ziel. Die Krallen des Vogels zerfetzten das Fell des Büffels und fügten ihm tiefe Wunden zu. Ein zweiter Vogel konnte nicht schnell
Rückkehr in die Mikrowelt genug ausweichen. Die Hörner des Büffels brachen die Beine des Tieres. Der Vogel schrie und brach zusammen. Im hohen Bogen flog der Reiter mit splitternder Lanze aus dem Sattel und in einen schneebedeckten Acker. Ein Horn riß den Vogelkörper von oben bis unten auf, der Hals schlug kraftlos hin und her. Dann stemmte der Büffel beide Beine in den Haufen aus Knochen, Federn und blutigem Gedärm und schrie voller Schmerzen auf. Gleichzeitig steuerten mehrere Reiter ihre Vögel auf den Büffel zu. Blutige Lanzenspitzen senkten sich. Die Waffen wurden in den massigen Körper gerammt. Ich fühlte jeden einzelnen Stoß. Der Büffel, der erheblich Blut verloren hatte, schüttelte sich abermals und warf mich beinahe aus meinem zersplitterten Korb. Aber noch hielten die Gurte. Wieder hörte ich das Geräusch splitternder Lanzen. Die Reiter rissen die Waffen aus dem Fell des Büffels und ließen ihre Tiere rückwärts gehen. Ein Ring aus kreischenden und flügelschlagenden Vögeln umgab mich. Die Köpfe fuhren herab, die dreieckigen Schnäbel hackten voller Wut in den Körper des Büffels. Kommandos wurden gebrüllt. Ich duckte mich und versuchte, den Angriffen zu entgehen, aber es gab noch keine Möglichkeit. Mit einer Hand klammerte ich mich am Gurtschloß fest, die andere führte das nutzlose Messer. Wieder bewegte sich der Büffel mit erstaunlicher Schnelligkeit. Noch immer war er nicht tödlich getroffen. Aber er war blind vor Schmerzen und Wut, und seine Angriffe zögerten das Ende nur noch hinaus. Er walzte, wild auskeilend und mit hin und hergeworfenem Gehörn auf eine Gruppe von drei angreifenden Vögeln zu. Eine Lanze wurde wie ein Speer gehandhabt und stach ein Auge aus, eine zweite fuhr in die Wirbelsäule des Büffels. Es war, als ginge ein elektrischer Schlag durch das Tier. Es sprang nach vorn, gleichzeitig in die Höhe, und ich riß den Gurt auf. Noch ehe mich die Masse des Tierkörpers unter sich begraben
15 konnte, löste ich den Gurt. Ich wurde wie ein Geschoß aus dem Sattelkorb hinauskatapultiert und durch die Luft gewirbelt. Ich krümmte mich zusammen, zog den Kopf zwischen die Schultern und landete, mich mehrfach überschlagend, in nassem Erdreich. Ich sprang auf die Beine und schleuderte Erdklumpen von meinen Unterarmen. Das Messer wie ein kurzes Schwert nach vorn gestreckt, erwartete ich den Angriff eines der Reiter. Flucht! Aber niemand kümmerte sich um mich. Die Vögel bildeten wieder einen dichten Kreis um den Büffel. Ich sah das riesige Tier, das sich verzweifelt wehrte und mit scheinbar ungebrochener Energie immer wieder angriff. Es röhrte auf, sein langes Gehörn bewegte sich. Die Hornspitzen waren blutig, Federn klebten daran. Aber immer wieder schrien die Vögel, die Reiter riefen sich knarrende Kommandos in einer unbekannten Sprache zu. Ich sah, wie sich die Lanzenspitzen in den Körper bohrten. Der Büffel sank in den Hinterbeinen zusammen, aber er stemmte sich vorn hoch, und noch immer war der Kopf mit dem riesigen Gehörn gefährlich. Ich wandte mich ab und begann zu laufen. Mein Ziel waren die entfernten Lichter. Während die Reiter mit dem sterbenden Büffel kämpften, lief ich über einen nassen Sturzacker. Riesige Erdklumpen hefteten sich an das Büffelleder meiner primitiven Bundschuhe. Ich rannte keuchend weiter. Vor mir tauchten entlaubte Bäume auf, die sich wie Gespenster gegen die leuchtenden Wolken abzeichneten. Das Schreien hinter mir wurde leiser. Nur einmal, etwa hundert Schritte später, ertönte hinter mir ein furchtbarer Schrei auf. Er riß ganz plötzlich ab, als der Büffel starb. Ich drehte mich kurz um und versuchte, zwischen mich und die Vogelreiter eine möglichst große Entfernung zu bringen. Vielleicht konnte ich mich verstecken. Ich zweifelte nicht daran, daß sie nach mir su-
16 chen würden. Warum sie mich verfolgten, konnte ich mir nicht denken. Du wirst es schneller erfahren, als du denkst, sagte der Logiksektor. Ich lief stolpernd einen Hang hinauf, der von struppigem Gras bedeckt war. Weiße Wurzeln stießen wie Schlangen aus dem Boden und ließen mich nicht los; sie wanden sich um meine Knöchel und die nackten Knie. Ich raffte mich wieder auf, wischte Dreck und Schweiß aus meinem Gesicht und sah, wie der Anführer der Vogelreiter in meine Richtung losritt, die Lanze hoch erhoben. Die anderen Vogelreiter formierten sich. Zwei oder drei von ihnen würden entweder rennen müssen wie ich oder zu zweit im Sattel sitzen. Ich lief über den Kamm des Hügels auf die kleine Baumgruppe zu. Ich stellte mich mit dem Rücken gegen einen Stamm und verkroch mich im Schatten. Die Vogelreiter bildeten, während sie auf mich zukamen, einen Keil. Wieder ritt der Anführer an der Spitze, und jede seiner Bewegungen drückte eiserne Entschlossenheit aus. Ich blickte nach links. Die Lichter waren hinter Bäumen oder Büschen verschwunden. Jetzt trabten die ersten Vögel mit gewaltigen Schritten den Hang hinauf, die Lanzenspitzen deuteten diesmal direkt auf mich. Wieder war ich hilflos. Ich duckte mich, hielt das Messer fest und spannte meine Muskeln. Ein zweitesmal vollführten die Vogelreiter einen Schwenk ihrer Angriffsordnung und ritten in einem Kreis. Sofort war ich umzingelt. Ich schrie: »Was wollt ihr von mir? Ich bin ein Fremdling in eurer Welt!« Niemand antwortete. Zehn der Lanzen deuteten auf mich. Die Tiere kamen langsam näher, und ich konnte nicht ausweichen. Die blutigen Metallspitzen näherten sich meiner Brust, meinem Kopf und dem Bauch. Ich steckte das Messer weg. Ich war sozusagen gefesselt. Die ausdruckslosen Augenpaare hinter den eisverkrusteten Fellkapuzen
Hans Kneifel blickten mich scharf an. Dann machten sich einige der Reiter an den Sätteln zu schaffen. Ich konnte nichts erkennen. Die Hälse und die Körper der Vögel, die sich vor mir aufgebaut hatten, versperrten mir den Blick auf die Männer. »Ho!« schrie der Anführer. Ich riß meinen Kopf herum und blickte nach rechts. Dorther war das Kommando gekommen. Duck dich! Schnell! schrie der Extrasinn. Ich gehorchte unverzüglich. Als ich mich zu Boden fallen ließ, sah ich durch die Dunkelheit rechteckige Dinge auf mich zusegeln. Die Spitzen einiger Lanzen rissen an meinem Fellponcho. Die Lanzen wurden zurückgerissen, und aus der Luft fielen stinkende Decken auf mich. Sie waren an den Ecken mit Steinen oder Metallkugeln beschwert und wirkten wie Netze. Ich warf die Arme nach oben und nach beiden Seiten auseinander. Zwei der Decken flogen nach rechts und links davon. Eine dritte landete genau auf meinem Kopf, ich sah nichts mehr. Ein harter Schlag traf mich im Nacken, und ich stürzte auf die Knie. Durch einen dunklen Nebel hörte ich die Schreie der Vögel und einige Rufe. Ich kam taumelnd auf die Füße und drehte mich. Mit beiden Händen versuchte ich, die Decke von meinen Schultern zu zerren. Das umgedrehte Ende einer Lanze rammte gegen meine Brust und stieß mich zu Boden. Wieder fielen einige Decken über mich. Ich merkte, daß einige Männer aus den Sätteln gesprungen sein mußten und sich über mich warfen. Die Decken und einige Seile wanden und wickelten sich um meinen Körper. Ich spürte den harten Ruck, mit dem meine Fußknöchel gefesselt wurden. Mein protestierendes Schreien erstickten die Decken. Ein zweiter Schlag traf mich und schlug mich bewußtlos. Ich merkte nicht mehr, wie ich als Bündel hochgerissen wurde. Zwei Lanzen schoben sich durch die Seile, die Reiter kletterten wieder in die Sättel. Dann wurde ich hoch-
Rückkehr in die Mikrowelt gerissen und zwischen zwei Vögeln förmlich aufgehängt. Ich merkte auch nicht, daß die Vogelreiter direkten Kurs auf die Lichter nahmen.
* Meine Mundhöhle schien sich in eine rußige Esse verwandelt zu haben. Ich erwachte frierend, mit dröhnenden Kopfschmerzen, hungrig und nahe am Verdursten. Meine Lippen brannten, meine Zunge war trocken wie ein heißer Stein. Ein unbeschreiblicher Geschmack erfüllte meinen Mund, und als ich Luft holte, roch ich einen ähnlichen Gestank. Mir schwindelte. Ich öffnete die Augen und sah in die Helligkeit eines gelbroten Himmels. Dann fühlte ich den Druck auf meinem Gesicht. Ich bewegte mich und schob die Decken weg, über denen ein Balken lag. Ich drehte meinen Körper, und als ich den Balken zwischen die Finger bekam, ertönte über mir ein lauter, kreischender Schrei. Du bist gefangen. Wahrscheinlich liegst du zwischen Vögeln! flüsterte der Logiksektor. Der Druck auf mein Gesicht ließ nach. Die Farben und die wirbelnden Formen auf den Netzhäuten verschwanden. Ich richtete mich auf, und der Balken begann sich in meinen Händen zu bewegen. Ein wilder Ruck, und ich merkte, daß ich den wuchtigen Fuß eines Vogels ergriffen hatte. »Verdammt!« Ich schleuderte die Decken zur Seite, blickte mich um und erkannte, daß ich in einem Stall sein mußte. Der Gestank war mörderisch. Ich lag zwischen feuchten Dungstücken und grobem Streumaterial. Federn kitzelten meine Haut. Vor mir lagen und standen eine Reihe der großen, schwarzen Reitvögel. Zwei von ihnen rückten widerwillig zur Seite und sahen mich aus großen Augen mißtrauisch an. Aus einigen Löchern in einem großen Dach und zwischen groben Brettern drang das Licht der Nachtwolken
17 herein. Ich tastete um mich und zog mich hoch, als meine Hand gegen einen Stützbalken stieß. Einer der Vögel stieß seinen Nachbarn an. Dieser Vogel schnappte nach dem anderen. Beide schrien laut auf. Ich hielt mir die Ohren zu und taumelte in die Richtung der hohen, breiten Tür. Sie war aus grob behauenem Holz hergestellt und bewegte sich nicht einen Zoll. Ich preßte meinen Kopf gegen einen breiten Riß und versuchte, frische Luft in meine Lungen zu bekommen. Nach drei, vier Atemzügen schwindelte es mir abermals, und langsam sank ich in die Knie. Es mußte etwas in den Ausdünstungen der aufgeregten Tiere sein, das mich wie schleichendes Gas betäubte. Ich merkte nicht mehr, wie mein Rücken am Tor entlangschrammte und ich mich am nackten Boden zusammenrollte und abermals bewußtlos wurde. Die gellenden Schreie der Vögel waren das letzte, das ich noch undeutlich vernahm. Ich wußte nicht, wie lange ich geschlafen hatte. Ein gewaltiger Niesreiz weckte mich. Mein Kopf zuckte hoch und schlug dann gegen eine steinharte Unterlage. Ich war augenblicklich wach und schrie unterdrückt auf. Meine Hand fuhr an meinen Hinterkopf. Als ich die Augen öffnete, sah ich die gleißende Helligkeit. Ich blinzelte verwirrt und bewegte vorsichtig meinen Kopf. Wieder juckte es in meiner Nase. Ich lag im Freien, und das Geschrei der Vögel um mich herum hatte aufgehört. Über mir war der Himmel. Diesmal sah ich ihn wirklich. Er war völlig wolkenlos, aber die Farbe war ungewohnt. Ein schwefliges, von dunklen Streifen durchzogenes Gelb. Das Firmament, an dem ich keine Sonne entdecken konnte, wirkte wie bewegter Hochnebel, der aus sich heraus leuchtete. Jemand hat dich aus dem Stall herausgeschleppt, sagte der Extrasinn. Als ich mich ein wenig umsah, ohne mei-
18 ne Lage zu verändern, entdeckte ich rund um den Fleck, auf dem ich ausgestreckt lag, die Giebel von einfachen Häusern. Sie sprangen weit vor und waren mit Stroh oder Schilf gedeckt. Mächtige verwitterte Balken trugen die spitzen Dachfirste. Ich versuchte, vollends zu mir zu kommen; mein Kopf war klar und der üble Geschmack von der Zunge verschwunden. Und jetzt begannen wieder die Vögel zu schreien und kichernde Laute auszustoßen. Ich richtete mich mit einem Ruck auf. Keine Vögel, Arkonide! Frauen! wisperte hämisch der Logiksektor. Ich blickte sie verwirrt an. Ich begann zu zählen, als ich die fellbekleideten Gestalten genauer sah. Acht! Um mich herum standen auf dem schmutzigen, nassen Pflaster eines großen, annähernd runden Hofes acht Bewohner dieses Teiles der Mikrowelt, acht mittelgroße, stämmige Frauen. Es war unverkennbar, daß sie sich über mich vor Lachen ausschütteten. Ich grinste kurz und stand auf. Ich schwieg und zuckte die Schultern. Ich war über und über mit Dreck bedeckt und stank. Mein Blick wanderte langsam über die einzelnen Gebäude. Ich befand mich offensichtlich in einer Art Farm. Die Fronten von einstöckigen Häusern und Gebäuden, die wie Scheunen aussahen, wechselten mit Stücken einer hohen Mauer ab. In dieser Mauer sah ich ein breites, stark bewehrtes Tor mit zwei holzgedeckten Türmen. Auf den Dächern lagen breite Schneestreifen, aber es war nicht sonderlich kalt. Die Frauen umkreisten mich wie eine Schar lachender Geier. Ich machte laut: »Haha!« Kreischendes Gelächter war die Antwort. Hinter mir in dem verschlossenen Stall schrien die Vögel wie verrückt. Ich wußte nicht, was ich von allem zu halten hatte. Im Augenblick schien ich nicht bedroht zu sein, also versuchte ich, zu verstehen, wohin es mich diesmal verschlagen hatte. Die Häuser, denen man deutlich die verschiedenen Verwendungszwecke ansah, be-
Hans Kneifel standen aus Holzkonstruktionen, die alle auf wuchtigen Bruchsteinen errichtet waren. Kleine Fenster, schwere Türen und massive Riegel, überall zeigten sich Altersspuren, Schmutz und lange, tropfende Eiszapfen. Ich drehte mich zu der Frau um, die am wenigsten abstoßend wirkte. Ich hatte sie alle noch nicht genau betrachtet. Ich hatte nur breite Münder gesehen mit weißen Zähnen, Münder, aus denen ununterbrochen Gelächter gekommen war. »Wo bin ich hier?« fragte ich langsam. Ich begegnete verständnislosen Blicken aus acht Augenpaaren. Irgendwo hinter der Mauer schrie ein Tier. »Ihr versteht mich nicht?« fragte ich, lauter und langsamer. Wieder war Gelächter die einzige Antwort. Sie verstehen dich nicht. Du bist ein Fremder hier! erklärte der Logiksektor. Ich blickte an mir herunter und sah, daß jeder Quadratzentimeter meiner Haut und der Fellstücke beschmutzt waren. Befand ich mich nun wirklich in Gefahr, oder was hatten die Vogelreiter überhaupt damit bezweckt, als sie mich hierher verschleppten? Ich deutete auf mich und sagte: »Ich bin Atlan!« »Atlan! Atlan!« schrien die Frauen und kicherten wieder. Sie bildeten jetzt einen Halbkreis und starrten mich mit unverhüllter Neugierde an. Ich war mehr als einen Kopf größer als die größte der Frauen. Die Mädchen oder Frauen waren klein und, soweit ich dies unter der Fellkleidung erkennen konnte, gedrungen. Sie hatten breite Gesichter; ich sah große Warzen in der grauen Haut. Rotes Haar drang unter den Fellrändern hervor. Es war struppig und verfilzt. Eines der Mädchen war häßlicher als das andere. Außerdem konnten sie nichts anderes als lachen. Ich versuchte es mit Gesten. »Ich«, sagte ich und deutete auf meine Brust, »ich bin fremd.« Ich machte die Geste, die »Nichtbegreifen« ausdrücken sollte. Die Mädchen schwiegen und sahen mich aus
Rückkehr in die Mikrowelt stumpfen Augen an. Noch immer begriffen sie nichts. Aber wenigstens lachten sie nicht ununterbrochen. »Ich habe Hunger!« erklärte ich und unterstrich diese Aussage mit eindeutigen Gesten. Noch während ich versuchte, den häßlichen Frauen klarzumachen, was ich wollte, hörte ich hinter mir eine brüllende Stimme. Ich wirbelte herum und tastete nach dem Messergriff. Dabei streifte meine Hand die perlenbestickte Tasche. Ein ebenfalls kleiner, grob gebauter und häßlicher Mann sprang mit einem weiten Satz die Stufen vor einer offenen Tür hinunter und rannte quer über den Hof. Er schrie laut. Offensichtlich fluchte er oder beschimpfte die Frauen, denn sie wichen langsam zurück. Er tat so, als versuche er sie mit Tritten zu vertreiben, und sie liefen kichernd davon. Der Mann trug weder Kapuze noch Mütze. Sein langes, feuerrotes Haar klebte an seinem Schädel. Er sah kurz auf die Tasche, dann auf meine Hand am Messergriff, schließlich blieb er mit erhobener rechter Hand drei Schritte vor mir stehen. »Dophor!« sagte er und deutete auf sich. »Atlan!« war meine Antwort. Dann vollführte ich wieder die Geste des leeren Magens. Er grinste, nickte und packte mich bei der Hand. Seine Worte, in einer dröhnenden und polternden Sprache gesprochen, waren unverständlich. Aber er schien zu begreifen, was ich brauchte. »Oblamork, Atlan!« sagte er und zerrte mich über den Hof auf das Gebäude zu, aus dem er eben gekommen war. Ich bückte mich, als wir über die ausgetretenen Stufen ins Innere des großen, einstöckigen Hauses kamen. Wärme schlug mir entgegen, es war nicht ungemütlich, aber etwas schmutzig. Dophor ließ meinen Arm los und winkte mich an einen langen Holztisch. »Oblamork!« sagte er und deutete auf Holzbretter, auf denen Käse, Schinken und aufgeschnittene, grüne Früchte lagen. Ein Krug und ein aus Holz gedrechselter Becher standen daneben. Dophor drückte mich auf
19 einen Stuhl nieder deutete auf seinen Bauch und schlug, breit grinsend, mehrmals darauf. Jetzt begriff ich. Ich setzte mich, packte den Becher und begann zu essen. Die fette Milch, der fette, nach allen möglichen Kräutern schmeckende Käse und der Schinken, der sehr salzig war, die fremdartig schmeckenden Früchte – ich brauchte eine halbe Stunde, um satt und einigermaßen zufrieden zu sein. Das nächste Problem wurde binnen einer Viertelstunde gelöst. Ich schaffte es, Dophor begreiflich zu machen, daß ich ein Bad und frische Kleidung brauchte. Er verstand es.
* Versuche, möglichst schnell die Sprache zu lernen oder wenigstens zu begreifen, sagte der Extrasinn. Nichts anderes hatte ich vorgehabt. Ich saß mit angezogenen Knien in einem riesigen Bottich. Bis zum Hals hockte ich in warmem Wasser. Eine Art feuchter Sand diente als Seife, und ich bearbeitete meinen Kopf und meinen Schultern mit dem Zeug. Meine Laune stieg immer mehr. Ich fühlte mich wohl, aber dann sah ich, wie ein Vorhang zur Seite glitt und Gjeima hereinkam. Sie trug in einer Hand einen Holzkübel, in dem heißes Wasser dampfte. In der anderen hielt sie einen Krug, an dem ein Becher hing. Jetzt, ohne die Fellkleidung, in der Wärme des Hauses, sah ich ihre Figur erst richtig. Man konnte sie selbst unter beträchtlichem Entgegenkommen nicht als hübsch bezeichnen. »Gjeima kommen. Gjeima Rücken waschen!« war alles, was ich verstand, und das auch nur, weil sie die entsprechende Mimik vollführte. Vorsichtig schüttete sie das heiße Wasser in den Bottich und stellte den Kübel ab. Dann goß sie aus dem Krug überraschenderweise wohlriechenden Wein in den Becher und hielt ihn mir entgegen. Sie strahlte mich an. »Danke!« sagte ich und trank den halben Becher leer. Sie war rührend in ihrer Unbe-
20 holfenheit. Inzwischen hatte ich mit vieler Mühe erfahren, daß ich mich in Krothenbeet befand. So hieß vermutlich dieser zentral gelegene große Farmhof. »Jetzt waschen!« Offensichtlich war Dophor der Vater der acht Töchter. Ich spürte die Gestalt neben mir, die mit kräftigen Griffen und einer Bürste, die aus Stahldraht zu sein schien, meine Schultern und meinen Rücken bearbeitete. Gjeima war offensichtlich das jüngste der Mädchen. Sie war darüber hinaus die am wenigsten häßliche. Aber auch wenn man sie mit allen Mitteln arkonidischer Kunst verschönerte, blieb sie häßlich. Dophor und ich hatten uns nur sehr langsam verständigen können. Immerhin war es mir gelungen, etwa hundertfünfzig Wörter und ihre Bedeutung kennenzulernen. »Dophor Boß von Krothenbeet?« fragte ich, trank den Becher leer und bewegte meine Schultern wohlig unter den zugreifenden Fingern, die mich massierten. Die Wunden und alle Erschöpfung meines Weges zur Höhle und der Kämpfe waren vergessen. Ich begann nachzudenken, was ich als nächstes unternehmen konnte. Und auf einmal schoben sich Grek-3 und die schöne Arkonidin in meine Überlegungen. »Dophor ist Boß, ja!« sagte Gjeima. Nicht einmal ihre Stimme war besonders angenehm. Alles in allem war sie nicht einmal ein kleines Abenteuer wert. Aber ich ahnte ernste Komplikationen – sie schien mich für den Mann aller Männer zu halten. »Du Tochter von Dophor?« fragte ich. Gjeima schüttete den Becher wieder voll. Der Wein war schwer und sehr gut. Ich vermochte mir nicht vorzustellen, daß es rund um Krothenbeet Weinreben geben konnte. »Ja. Ich Tochter Gjeima!« Mit vielen Handzeichen, mit Linien der Messerspitzen auf der Tischplatte, mit Linien und Gesten und unserem hilflosen Gestammel hatten wir, Dophor und ich, die Situation einigermaßen geklärt. Dophor glaubte jetzt, daß ich aus einem warmen Land jenseits der Berge kam. Es
Hans Kneifel war unmöglich, ihm zu erklären, aus welcher Art Welt ich wirklich kam. Ich verstand es nicht einmal richtig. Die Krethor hatten mich entführt. Es war eine Sippe dieser Welt, die mit Dophor und den Farmern im Kriegszustand waren. Zuerst hatte mich die Patrouille der Vogelreiter für einen Krethor gehalten, und am nächsten Morgen wurde alles aufgeklärt. Man hatte mich deshalb für einen Krieger der verfeindeten Sippe gehalten, weil ich im Korbsattel des Büffels gesehen worden war. Woher der Büffel mit dem leeren Korb kam, wußte niemand. »Viele Menschen leben in Krothenbeet?« fragte ich einen Becher Wein später. Vielleicht wußte jemand, was aus den beiden anderen Ankömmlingen geworden war. Falls sie hier angekommen waren! »Ganz viele. Mehr als zehnmal zehnmal zehn!« »Aha!« Ich scheuchte das Mädchen hinaus, trocknete mich ab und zog an, was Dophor für mich zurechtgelegt hatte. Es waren brauchbare Stiefel, eine Hose, eine Art Pullover aus dicker Wolle und ein Fellmantel, der bis zu den Knöcheln ging und eine große, angeschnittene Kapuze hatte. Ich nahm ihn über die Schulter, trank den Wein aus und ging, nicht mehr ganz nüchtern, zurück in den Hauptraum. Dort lag, in einem fellbespannten, uralten Sessel ausgestreckt, Dophor. Er sah mir entgegen, grinste und winkte. »Kommen, Atlan!« sagte er kehlig. »Ich komme!« erwiderte ich. Er sprang auf die Beine, ging zum Kamin und trat gegen eines der mächtigen Scheite. Es fiel prasselnd in die Flammen. »Du fremd. Du viel kennen!« sagte Dophor mit einem langen, lauernden Blick. Ich lehnte mich gegen die Wand. Worauf wollte er hinaus? Ich war nicht mehr ganz nüchtern. »Ich kenne einiges!« sagte ich. »Du kennst Bruzack?« Ich runzelte die Stirn. Was meinte er? Du verstehst noch nicht genug von seiner
Rückkehr in die Mikrowelt Sprache, sagte der Logiksektor. »Bruzack ist Grund, warum Krethor und Leute von Krothenbeet sind Feinde.« Ich zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf. »Was ist Bruzack?« Er grinste und brummte: »Komm, Atlan.« Er winkte wieder. In seinem Gesicht stand ein listiger Ausdruck. Er wirkte wie jemand, der auf etwas ungeheuer stolz war und es allen vorführen wollte, gleichzeitig aber fürchtete, daß man ihn auslachte. Er ging mit wuchtigen Schritten zur Tür, riß sie auf und bedeutete mir, auf den Hof hinauszugehen. Wir tappten über die nassen, schmutzigen Steine und gingen bis zu einem kleineren Gebäude. Dophor öffnete ein großes Tor und schwang es weit auf. »Bruzack da!« sagte er und deutete ins dunkle Innere. Die Mauern waren besonders dick. Zwischen den einzelnen Steinen, die besonders gut behauen und miteinander verzahnt waren, steckten eiserne Krampen. Auch das Tor war schwer und drehte sich in gefetteten Angeln. Die schweren Bohlen waren ebenfalls mit breiten Metallbändern zusammengehalten. Aus einem kleinen Loch im Dach fiel ein schräger Lichtstrahl auf einen großen, glänzenden Gegenstand. »Da! Bruzack! Gut!« Ich starrte Dophor überrascht an und machte ein paar Schritte in den Raum hinein. Meine Augen gewöhnten sich langsam an das schwache Licht. Mein Extrasinn meldete sich. Eine Maschine! Ein Erzeugnis aus einer fremden Welt! Vielleicht gibt es eine Spur zu Grek und Crysalgira! Auch der Boden der Scheune war aus großen Blöcken hergestellt. Je mehr ich sah, desto deutlicher erkannte ich die Größe dieses »Bruzack«. Es war zweifellos eine Maschine. Sie konnte auf keinen Fall von Leuten dieses Landes hergestellt worden sein, denn die gewölbten Flächen, die vielen Winkel, die eingepaßten Bullaugen und Sphäroi-
21 de waren nicht das Ergebnis dieser bäuerlich-mittelalterlichen Technologie. Ich ging nach links. Der Bruzack war größer als ein fünf Personen fassender arkonidischer Kampfgleiter. Die Form dieser Maschine war alles andere als aufschlußreich. »Woher?« fragte ich. »Süden!« sagte Dophor und deutete in die entsprechende Richtung. Er grinste breit und stemmte seine kurzen Arme in die wuchtigen Seiten. »Erkläre es mir!« »Gekauft. Viele Vögel, viele Büffel. Von einem Händler.« Ich umrundete diese erstaunliche Maschine. Sie ruhte auf einer Grundplatte, die dicht über den Steinen schwebte. Ich schob mit dem Stiefel einen Strohhalm unter die Platte. Er verschwand. Ein Transportmittel! »Wie hast du es hierher geschafft?« Jetzt glühte er förmlich vor Stolz. Die Angelegenheit wurde immer undurchsichtiger und mysteriöser. »Mit Karawane. Viele Büffel ziehen einen schweren Wagen, verstehen?« »Ich verstehe.« Der Bruzack besaß eine hochpolierte, silberfarbene Oberfläche. Die Maschine war grundsätzlich spindel- oder torpedoförmig, aber an allen denkbaren Stellen besaß sie Auswüchse, Kanzeln und angedeutete Öffnungen. Ich wußte nicht, wo vorn und hinten war. »Was ist der Bruzack?« fragte ich neugierig. Ich war elektrisiert. In dieser Mikrowelt gab es also solche Hochleistungsgeräte. Das eröffnete mir neue Aspekte. Wo es Maschinen dieser Perfektion gab, wuchsen schlagartig meine Chancen und Möglichkeiten. Ich würde nicht länger mehr ein unbewaffneter Fremdling sein. »Ich weiß es nicht. Schön, nicht wahr?« Ich blickte ihn ungläubig an. »Du weißt nicht, was diese Maschine ist? Und trotzdem hast du sie teuer gekauft und auf einem Wagen hierher transportiert?«
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fragte ich entgeistert. »So ist es!« versicherte er mit großem Besitzerstolz. Ich brach in ein sarkastisches Gelächter aus. Schon wieder ein neues Geheimnis! Das Leben ist voller Geheimnisse, Arkonide! kommentierte der Logiksektor.
3. Über den niedrig liegenden Einschnitt an einem Ende der Maschine musterte ich den Boß von Krothenbeet. Er stand da, freute sich über mein Interesse und strahlte gönnerhaft. Zwischen uns befand sich das Geheimnis dieser schwebenden Maschine mit den unwahrscheinlichen Formen. »Du wissen, was Bruzack ist?« fragte Dophor gespannt. Ich schüttelte langsam den Kopf. »Du nicht wissen?« »Nein«, sagte ich. »Ich geben Töchter! Ich geben Wein! Du viel Ehre, wenn du sagen, was Bruzack ist. Du viel Zeit zu suchen.« Ich lächelte resigniert und sagte langsam und betont: »Dophor! Ich weiß nicht, was diese Maschine bedeuten soll. Ich kann es mir denken, aber das kann auch falsch sein. Ich muß zuerst herausfinden, wo es Schalter und Knöpfe gibt. Das kann sehr lange dauern. Hast du verstanden, was ich meine?« Er nickte begeistert und schien in mir so etwas wie einen Verbündeten zu sehen. Endlich jemand, der die Funktion des Lieblingsspielzeugs aufdecken konnte. »Verstanden! Du suchen!« Er deutete auf den Bruzack. Ich war nahe daran, über seinen ungebrochenen Optimismus zu lachen, aber dann fiel mir meine eigene Lage ein, und ich fand dies alles gar nicht mehr lustig. Für die nächsten Tage jedenfalls schien ich in Sicherheit zu sein. Allerdings nicht vor Gjeima, wenn ich ihre Blicke richtig gedeutet hatte. »Ich suchen!« sagte ich. »Aber auch ich kann für nichts garantieren!«
»Wie?« »Ich kann suchen. Ich kann nicht versprechen, daß ich etwas finde.« »Suchen besser als Nichtstun.« »So ist es!« bekräftigte ich und ging zu einer Wand. Dort war ein Fenster, genauer gesagt eine Schießscharte. Ich öffnete die schwere Verriegelung, stieß den massiven Schlagladen zurück und erreichte dadurch, daß mehr Licht in den Raum drang. Die wirren Formen der Maschine strahlten auf. Ich beendete meinen ersten Rundgang um die erstaunliche Konstruktion und blieb stehen. Du mußt systematisch vorgehen, auch wenn es im Augenblick unmöglich erscheint, erinnerte mich der Logiksektor. Ich fixierte eine Halbkugel, die rechts von der angenommenen Spitze des vermutlichen Fahrzeugs aus dem glatten Körper vorsprang und kauerte mich auf den Boden. Dann begannen meine Finger die Konturen nachzufahren. Ich suchte nachgiebige Stellen oder einen verborgenen Schalter. Der Konstrukteur des Bruzack mußte eine Möglichkeit vorgesehen haben, das Gerät in Gang zu setzen – ob es nun Musik von sich gab, Rauchwolken oder bedrucktes Papier. Dophor sah mir schweigend eine Weile lang zu, und als er merkte, daß mich eine Art Forscherfieber gepackt hatte, verschwand er schweigend. Statt des Herrn dieser Krothenbeet-Farm erschien eine Stunde später eine seiner Töchter, lehnte sich in, wie sie meinte, verführerischer Pose an den Bruzack und lächelte mich an. Die Warzen an ihrer breiten Nase warfen kleine Schatten. Ich stöhnte innerlich auf.
* Langsam vergingen die Stunden. Die Helligkeit des Tages – nach wie vor zeigte sich der Himmel in immer derselben Richtung gestreift und scheinbar völlig unbewegt – nahm ab. Drei wichtige Dinge, wichtig für mich, geschahen an diesem Tag. Ich tastete mindestens ein Viertel der rät-
Rückkehr in die Mikrowelt selhaften Maschine Millimeter um Millimeter mit den Fingerspitzen ab. Ich suchte ununterbrochen. Ich war angefeuert worden von der Aussicht, mit Hilfe dieser Maschine irgendwie meinen Status zu verändern. Aber so sehr ich mich auch bemühte, einen Schalter oder einen Eingang in den Bruzack zu finden, es war vergebens. Ich fand nichts. Aber mit einem Stück weicher Kohle hatte ich diejenigen Partien, die ich gewissenhaft und systematisch untersucht hatte, deutlich markiert. Dies ist erst ein Versuch! In den nächsten Tagen wirst du sicher Erfolg haben, tröstete mich der Extrasinn. Das zweite, für mich wichtige Ereignis war das schnellere Erlernen der Sprache Dophors und seiner Töchter. Nacheinander kamen alle acht Mädchen in die Scheune. Sie bemühten sich, jede auf ihre persönliche Art, mich zu verführen. Für sie bedeutete dies in den Regeln dieser Welt offensichtlich, daß sie mir Geschenke bringen mußten. Gjeima kam und brachte einen gewaltigen Becher voller Wein, den ich nach und nach austrank. Ihre Schwestern, die noch wesentlich schlechter auszusprechende Namen hatten, lösten sie ab. Eine brachte eine Scheibe Schinken, die andere eine Frucht, die dritte einen gehäkelten Handschuh, und so ging es fort. Sie hatten sich herausgeputzt, hatten ihre aufregendsten Gewänder angezogen und wirkten allesamt auf mich wie ein Guß eiskaltes Wasser. Und sie sprachen mit mir, sie legten eine bemerkenswerte Geduld an den Tag. Sie sind alle hinter dir her. Du bist für sie der vom Himmel gefallene mächtige Fremdling. Bilde dir nichts darauf ein. Sie finden dich nur deshalb begehrenswert, weil du anders als alle erreichbaren Männer von Krothenbeet bist, sagte streng der Logiksektor. Der dritte Umstand, der mir half, war die Tatsache, daß ich mehr über diese Farmersiedlung erfuhr. Dieser Prozeß lief natürlich gleichzeitig mit dem Lernen neuer Wörter und Bedeutungen ab. Ich stellte Fragen. Die fremden Vokabeln,
23 die auftauchten, wurden erklärt. So lernte ich. Da ich über ein außergewöhnlich gutes Gedächtnis verfügte, gab es nur wenige Schwierigkeiten: die Sprache dieser Welt war so einfach wie die Bauten und die Bewohner. Als ich nichts mehr erkennen konnte, erschien Gjeima in der Türöffnung. Ihre Gestalt füllte zwar nicht das Tor aus, aber die Breite nahm mir auch noch den Rest der Illusionen. »Atlanliebling?« flötete sie. Ich lächelte schmerzlich, drehte mich herum und trug wieder meinen gewohnten Gesichtsausdruck zur Schau. »Ja?« »Dophorvater hat gesagt, du sollst kommen. Essen und Wein.« »Ich komme!« versprach ich. »Wer schließt die Tür?« »Ich habe den Schlüssel!« versicherte sie kokett. Sorgfältig wurde diel massive Scheune verschlossen. Gjeima versteckte den handgroßen Schlüssel eines schweren, komplizierten Schlosses aus geschmiedetem Eisen irgendwo in ihrer Kleidung. Nebeneinander gingen wir über den leeren Hof, der nun gefegt und gesäubert worden war. Die Wärme und das prasselnde Kaminfeuer des Wohnraumes empfingen uns. Später, nachdem das Essen vorüber war, fragte ich Dophor: »Ich glaube, daß zwei Fremdlinge wie ich dein Land besucht haben. Weißt du etwas davon?« »Nein, Atlan«, erwiderte er. Seine breiten Finger umklammerten den Holzbecher. Zwei der Töchter saßen neben dem Feuer und nähten an einem riesigen Pelzteppich. »Ich weiß nichts. Fremde aus dem Süden?« »Ja. Ein Wesen, das ungefähr so aussieht …« Ich beschrieb den Grek. »Und eine junge Frau, die mir ähnlich ist.« »Nichts weiß ich, mein Freund. Kennst du jetzt, was Bruzack ist?« »Noch nicht. Aber ich werde in den nächsten Tagen alles tun, um das Geheimnis her-
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auszufinden.« »Morgen gehen wir mit Tackmack nach Krothenbeet Darga!« Ich lehnte mich zurück und genoß die Wärme des Raumes. Der Wein hatte mich in eine euphorische Stimmung versetzt. »Was ist Darga?« »Darga, Atlan«, erwiderte er ernst, »ist Zentrum von Krothenbeet. Viele Farmen im Kreis. Wir müssen uns verteidigen können. Kannst du Tackmack reiten?« »Das sind die Laufvögel, mit denen ihr mich verfolgt habt, nicht wahr?« »Ja. Ich bin Boß von Krothenbeet und Rat von Darga. Wir können dort fragen, ob man deine Freunde gesehen hat.« »Einverstanden!« sagte ich. »Vielleicht finde ich sie. Ich bin hier, um sie zu suchen, weißt du?« Immer besser vermochte ich mich in der fremden Sprache auszudrücken. Ich sah hier keine Probleme mehr, aber jetzt kam die Nacht. Ich ahnte die Gedanken Gjeimas, und sie gefielen mir keineswegs. Als ich mich vorsichtig umdrehte, erhaschte ich einen Blick des Mädchens. Sie strahlte mich an, und ich wußte nicht, was ich tun sollte. Also lächelte ich zurück. Du armer Narr, sagte der Extrasinn.
* Ich bekam eine Kammer unter dem Giebel des Wohnhauses. Sie war nicht groß, aber gemütlich. Die Mauer des Kamins lief mitten durch eine Wand, und der Raum war dadurch gewärmt. Ein Bett aus breiten Balken, gefüllt mit den Federn der Tackmacks, ein Tisch, ein Wandbord und ein Stuhl. Das Fenster bestand aus dreifachen Holzgittern, zwischen denen eine Schicht Ölpapier befestigt war. Ich stellte die Talgkerze auf den Tisch und zog mich aus. Ich schlüpfte zwischen die leidlich sauberen Felle und verschränkte die Arme hinter den Kopf. Ich begann zu überlegen, ließ die jüngste Vergangenheit an mir vorbeiziehen und versuchte, die nächste
Zukunft zu erkennen. Warte ab, erklärte der Extrasinn. Warte, bis du den Bruzack entschlüsselt haben wirst. Die Türklinke bewegte sich langsam nach unten. Dann kreischte der Riegel auf. Ich zog das Fell bis an das Kinn und tastete nach meinem Messer. Ein Spalt öffnete sich, und ich sah das runde Gesicht Gjeimas. »Darf ich kommen, Atlan?« fragte sie. »Meinetwegen«, knurrte ich, »obwohl ich sehr müde bin.« Sie huschte ins Zimmer, schloß sorgfältig die Tür und setzte sich an den Rand der Bettlade. Gjeima trug ein weit ausgeschnittenes Nachthemd und schien ihr Haar gewaschen zu haben. Sie roch nicht mehr nach Stall und Vogelmist. Sie musterte mich mit einem langen, verliebten Blick. »Fühlst du dich gut, Atlan?« »Einigermaßen«, sagte ich leise. »Aber ich bin todmüde. Es war ein langer, anstrengender Tag für mich. Und ich bin nicht mehr der Jüngste.« Sie stieß ein ungläubiges Kichern aus. »Ich bin alt genug, ich kann mir einen Mann suchen«, sagte sie entschlossen. »Auch meine Schwestern. Aber ich bin die Schönste. Ich kann gut kochen, Atlan!« Ich brauchte, um auf dieser merkwürdigen Welt nach dem Maahk und Crysalgira zu suchen, alles andere als eine Köchin. »Das alles ist richtig«, erklärte ich. Ich versuchte, sie nicht zu verletzen, indem ich zu harte Argumente gebrauchte. »Aber ich bin ein Fremdling. In kurzer Zeit werde ich Weiterreisen. Und ich habe eine Frau und zwei Kinder dort im Süden.« Sie strahlte mich an und rückte drei Handbreit näher. »Hier ist nicht der Süden. Ich will dich, Atlan.« Ich schüttelte energisch den Kopf und gähnte lange. Sie ließ sich nicht vertreiben, sondern rückte noch näher an mich heran. Ich ließ das Messer wieder los und murmelte: »Das freut mich, Gjeima. Du bist ein lie-
Rückkehr in die Mikrowelt bes Mädchen, aber deinetwegen werde ich meine Familie nicht verraten. Außerdem bin ich sehr müde.« Sie suchte unter den Fellen nach meiner Hand und flüsterte: »Ich weiß ein Mittel, das die Müdigkeit vertreibt.« Ich lachte grimmig und versuchte, ihren suchenden Fingern zu entkommen. »Ich kenne dieses Mittel auch. Es ist der Schlaf. Geh jetzt, Gjeima. Morgen reden wir weiter.« »Ich will bei dir bleiben, Atlan!« beharrte sie. In ihr Gesicht trat ein flehender Ausdruck. Ich mußte deutlicher werden. »Das geht nicht«, sagte ich. »Ehe ich den Süden verlassen habe, mußte ich ein Gelübde ablegen. Ich darf keine Frau kennen außer meiner eigenen. Sie ist mir ebenso treu, wie ich es ihr bin. Geh jetzt bitte, Gjeima. Ich bin sonst ärgerlich und schaue dich morgen den ganzen Tag über nicht mehr an.« Sie stand zögernd auf und blickte auf mich herunter. »Ich habe gleich gedacht, als sie dich aus dem Vogelstall holten, daß du etwas Besonderes bist, Fremder«, flüsterte sie. »Ich will dich, Atlan, und ich bekomme dich. Meine Schwestern sind alle dumme Tiere.« »Das darfst du nicht sagen!« erwiderte ich streng. »Und jetzt lasse mich allein. Ich muß morgen versuchen, den Bruzack zu entschlüsseln!« »Ja. Ich gehe. Aber ich will dich, Atlan.« »Schon gut!« Sie ging rückwärts durch das Zimmer, lehnte sich gegen die warme Mauer und offenbarte alle ihre Reize unter dem dünnen Hemd. Dann tastete sie sich zur Tür und schlüpfte hinaus. Durch den Spalt warf sie mir noch einen Blick zu, dann schloß sich die Tür. Ich blieb einige Sekunden liegen, bis die Schritte verklungen waren. Dann rückte ich den Stuhl unter die Klinke und blies das Talglicht aus. Es war tatsächlich ein langer, erschöpfender Tag gewesen.
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* Am nächsten Tag war die gesamte Landschaft wieder von einer dünnen, weißen Decke aus Schnee bedeckt. Dophor stand neben mir auf der breiten Treppe vor dem Wohnhaus. In den Ställen rumorten die Töchter und die Knechte. Zwei von ihnen führten soeben gesattelte Tackmacks aus dem Stall. »Warum heißen sie ›Tackmack‹?« fragte ich. Auch ich trug Handschuhe und den neuen Fellmantel. »Sie stoßen Laute aus mit den Schnäbeln, deswegen«, erklärte er. »Wir reiten jetzt nach Darga, ja?« »Einverstanden. Werden die anderen Leute nichts dagegen haben, wenn du einen Fremden beherbergst?« Er schnitt die Frage mit einer schroffen Handbewegung ab. »Du bist mein Gast. Sie wissen, daß du kein Krethor bist.« »Hoffentlich halten sie mich nicht für einen Spion!« gab ich zu bedenken. Er schüttelte den Kopf und deutete auf die Vögel. »Nichts da! Ich zeige dir Krothenbeet Darga, und am Nachmittag kannst du wieder versuchen, das Geheimnis zu enträtseln. Gehen wir!« Die Knechte führten die Tackmacks heran. Wir kletterten in die hohen Sättel, die aus Holz und Leder bestanden und gepolsterte Rückenlehnen hatten. Die Steigbügel waren vor den Flügelansätzen angebracht. Die Knechte warfen uns die Zügel zu, und einer von ihnen rannte zum Tor. Knarrend bewegten sich die schweren Portale nach außen. »Die Zügel müssen scharf geführt werden!« rief Dophor. »Sonst gehorchen die Tackmacks nicht.« Die Tiere gaben eine Reihe der charakteristischen Schnabelgeräusche von sich, die ihnen den Namen eingetragen hatten. Sie bewegten sich in einem wiegenden Gang, auf
26 und nieder und gleichzeitig ruckweise vorwärts. Das Pflaster des Hofes erstreckte sich einige zwanzig Meter weit in die Felder hinaus. Dann begann die Schneedecke. Ich verließ zum erstenmal den Bereich dieser Farm. Würde ich etwas von den zwei anderen Fremdlingen erfahren? »Nach links, Atlan!« rief Dophor. Die Vögel vibrierten förmlich vor Energie. Sie hatten lange im Stall gestanden und waren entsprechend ausgeruht und tatendurstig. Kaum hatten wir das Tor mit seinem Doppelturm hinter uns gelassen, begannen sie zu rennen. Ihre langen Beine schwangen nach vorn und zurück, die Klauen krümmten sich, und die Tiere schossen mit weit nach vorn gestreckten Hälsen davon. Wir lenkten sie nach links, direkt auf die freien, weißen Felder hinaus. Sei nicht zu sorglos! Du begibst dich wieder in eine fremde Umgebung mit neuen Problemen! warnte das Extrahirn. Die Vögel rasten davon, auf die Ansammlung von Gehöften zu, die sich am Horizont abzeichnete. Das Wahrzeichen von Krothenbeet Darga war ein runder, zylindrischer Turm in der Mitte von spitzgiebeligen Häusern und Scheunen. Überall aber sah ich Mauern und Tortürme. »Dophor!« »Du hast eine Frage?« rief er, steif im Sattel sitzend und die Zügel spielerisch führend. »Warum die vielen dicken Mauern um jeden Hof?« Er grinste grimmig. Sein Gesicht war, wie auch meines, vom dicken Pelz fast völlig umhüllt. »Wegen der Krethors. Sie greifen immer wieder an und rauben Essen und Frauen. Und jetzt haben sie es auf den Bruzack abgesehen.« »Bruzack? Soll das bedeuten«, schrie ich, schwankend im Sattel und unsicher den Stößen des Tierkörpers ausgesetzt, »daß sie wissen, was der Bruzack ist?« »Nein! Sie wissen es nicht. Aber sie wollen ihn!«
Hans Kneifel »Unbegreiflich!« Es gibt überall Kampf. Überall ist Gegnerschaft. Auch in der Mikrowelt! sagte der Logiksektor. Ich drehte langsam den Kopf und betrachtete die Landschaft im Licht des frühen Tages. Noch immer sah ich keine Sonne, keinen verwaschenen Lichtfleck hinter den hohen Wolken. Heute waren sie nicht in ein Streifenmuster eingeteilt, sondern in riesige, verschwimmende Flecke aus verschiedenen Farben. Der Himmel sah aus wie das Gemälde eines Kindes, das mit Farben gespielt hatte. Selbst der Schnee nahm einen Teil der Färbung an. Weit im Süden sah ich eine Reihe halb bewaldeter, halb freier Hügel. Die mittleren Hügel hatten felsige Kuppen, von niedrigem Gebüsch wie von einem Kranz umgeben. Dophor hatte meinen Blick bemerkt und schrie herüber: »Dort ist der Paß! Dort führt die breite Karawanenstraße nach Süden. Zwischen den Hügeln, Atlan!« »Ich sehe!« Wir kamen jetzt in schnellem Trab an eine Stelle, die wie ein Trichter geformt war. Unter den Laufkrallen der Tiere klapperten lose Steine. Rechts und links der Senke standen hohe Bäume mit fast vollkommen kugelförmigen Kronen. Eine lange Reihe führte nach Darga, eine zweite Allee zweigte in die Richtung des Turms ab. Wir sprengten eine leichte Anhöhe hinauf und blieben auf der Geraden. »Dort sind rund zwölfhundert Menschen!« rief Dophor und deutete auf die Ansammlung weitverstreuter Gehöfte. »Nur ein Drittel Männer. Deswegen sind unsere Mädchen auch so gierig.« Das erklärte vieles. Sie waren, um einen Mann zu bekommen, zu abenteuerlichen Bemühungen gezwungen. Der erste Farmhof tauchte rechts von uns hinter den Alleebäumen auf. Auch dieser Hof sah wie eine kleine Festung aus. Offensichtlich gibt es diese Gegnerschaft zwischen den Sippen schon seit langer Zeit!
Rückkehr in die Mikrowelt warf der Logiksektor ein. Die Mauern und die bewehrten Hausfronten sahen nicht so aus, als hätten viele Kämpfe stattgefunden. Ich konnte keine Brandspuren entdecken, obwohl ich scharf jede Einzelheit betrachtete. Auch keinerlei Breschen im wuchtigen Mauerwerk waren zu erkennen, keinerlei Verwüstungen. Kurz: alle Spuren erbitterter kleinerer oder größerer Auseinandersetzungen fehlten. Die Vögel stoben, Schnee, kleine Steine und Erdbrocken hinter sich schleudernd, die Baumreihe entlang und auf einen kantigen Turm zu, der eine viereckige Öffnung hatte. Kurz, bevor wir uns tief über die Hälse der Tackmacks duckten, sah ich, daß wir einen tiefen Graben auf einer Zugbrücke überquerten. »Laß mich reden, Atlan! Ich werde ihnen alles sagen!« schrie Dophor und zügelte, nachdem ich hinter ihm eine schmale, gewundene Gasse entlanggeritten war, seinen Reitvogel. Wir befanden uns auf einem runden Platz mit schneebedeckten Bäumen. Der Platz setzte sich, über eine breite Brücke führend, bis zur Mauer des zentralen Turms fort. »Hier binden wir die Tackmacks fest!« Dophor sprang mit einem gewandten Satz aus dem Sattel, federte den Fall mit den Knien ab und schlang den Zügel um einen massiven Eisenring an der Mauer. Ich folgte etwas langsamer. Deutlich war zu spüren, daß in diesem Zentrum viel gearbeitet wurde; man sah wenige beschäftigungslose Menschen. Rund um den Platz gab es Läden und kleine, offene Werkstätten. Ich sah Rauch aus schmalen Essen und Feuer, vor denen gehämmert und geschmiedet wurde. Vordächer, unter denen Schinken und Würste hingen, waren mit Schnee bedeckt. »Du suchst noch immer nach deinen Freunden, Atlan?« Dophor packte mich an der Schulter und schob mich auf ein Gebäude zu, das mit der Front auf den Platz wies. Viele überraschend große Fenster unterbrachen das helle Mauerwerk. Über der Tür, die auch auf hohen Stufen stand, war ein Tackmack im vollen Lauf
27 abgebildet. Auf ein wuchtiges Brett war diese Silhouette mit glühendem Eisen eingebrannt worden. »Die Gilde der Patrouillen!« sagte Dophor. »Sie beschützen die Kaufmannszüge. Sie kommen am weitesten im Land herum. Auch jetzt, in der Zeit der Kälte.« »Ich werde sie fragen!« versprach ich. Wir gingen hinein. In einer großen, dämmerigen Halle standen Tische und Bänke. In hölzernen Rahmen an den Wänden befanden sich Karten, grob auf Leinwand gezeichnet. Nach diesen Punkten und Linien konnte ich auf keinen Fall erkennen, wie die Landschaft der Mikrowelt aussah. Im Hintergrund erhob sich eine imponierende Erscheinung. Ein Mann, fast so groß wie ich, mit weißer Gesichtshaut und langem, weißem Haar. Eine Parodie auf einen Arkoniden. Seine Augen waren aber nicht rötlich wie meine, sondern pechschwarz. Er kam mit langsamen Schritten auf uns zu. Seine Schultern waren so breit wie der Tisch. »Dophor und sein Gast! Was führt euch her?« fragte er, schüttelte dem Rat die Hand und baute sich vor mir auf. Sein Blick war mißtrauisch. »Ich habe Atlan gesehen und aufgenommen. Er ist kein Spion. Er versucht, den Bruzack in Gang zu bringen.« Der riesenhafte Mann trug einen doppelt handbreiten Gürtel. In diesem Gürtel, der nicht aus Fell, sondern aus fingerdickem Leder bestand, steckten Dolche und ein Schwert, das bis zu den Knien herunterging. Ich sah auch die Riemen einer Steinschleuder, und dann entdeckte ich etwas Merkwürdiges. Gezackte Metallstücke hingen an dünnen Fäden an der rechten Seite des Gürtels. Sie klirrten bei jeder Bewegung gegeneinander. Es waren mindestens hundert Stücke, etwas kleiner als eine Faust. »Den Bruzack, so so. Aber der Mann hier saß im Korb eines Büffels. Nun gut, du bist für ihn verantwortlich. Ihr habt Fragen?« »Ja«, sagte ich kurz. »Wer bist du? Wie
28 ist dein Name?« Er lachte dröhnend und schlug mit der Hand auf die Schulter, so daß mein Gastgeber in den Knien einknickte. Dann deutete er auf Dophor und röhrte: »Er kennt mich! Ich bin der Mann, der dafür sorgt, daß es hier in Krothenbeet Darga keine Spione der Krethors gibt. Ich hänge sie eigenhändig auf oder erschlage sie.« Er hielt mir zwei Hände vor die Augen, die mich an die Greifwerkzeuge von Vorry, dem Magnetier erinnerten. Sie waren riesig und zeigten, daß der Mann ungewöhnliche Körperkräfte haben mußte. »Ich verstehe. Dein Name?« »Kardhyn. Einfach Kardhyn. Deine Fragen?« Ich lehnte mich mich an die Ecke eines Tisches, der mit Schlagwaffen aller Art übersät war. »Ich komme aus dem Süden. Ich habe zwei Freunde gehabt. Ein Mädchen, fast so groß wie ich, weißes Haar und rötliche Augen. Sie heißt Crysalgira. In ihrer Begleitung ist ein Wesen, das sich Grek-3 nennt. Dieses Wesen sieht folgendermaßen aus …« Ich beschrieb den Maahk. Es war nicht zu sehen, ob mir Kardhyn glaubte oder nicht. Sein Gesicht, kantig und voller Falten, bewegte sich nicht. Seine Augen glitten über mich hinweg und versuchten, mich abzuschätzen und zu durchdringen. Er hörte sich schweigend an, was ich ihm sagte, dann erwiderte er mit langsamem Kopf schütteln: »Ich weiß nichts. Aber wir sind in der letzten Zeit nur im nördlichen Raum gewesen. Dort, wo wir dich fanden.« »Dann erinnere dich bitte daran, und frage auch deine Leute. Das Mädchen und der Grek werden sonst sterben müssen.« »Warum?« »Weil sie nicht soviel Glück haben werden wie ich. Ich fand ein Feuer, Felle und einen Freund.« Ich deutete auf Dophor, der mit listigem Blick unserer Unterhaltung gefolgt war. Der Meister der Patrouillen glaubt dir nicht. Er hält dich für einen Spion! sagte der
Hans Kneifel Logiksektor. Ich bemühte mich, nicht besonders neugierig zu wirken. Ich warf nur flüchtige Blicke auf die Landkarten und die furchterregenden, abgenutzten Waffen. Hier war augenscheinlich das Hauptquartier und der Versammlungsraum der Vogelreiter, denen ich in die Hände gefallen war. Sicher gab es in Gebäuden hinter diesem Saal, dem Treiben des Platzes abgekehrt, Stallungen, Magazine und Räume für die Reiter. Ich wußte es nicht, es interessierte mich auch nicht sonderlich. Aber immer offener spürte ich das Mißtrauen und eine mühsam zurückgehaltene Feindschaft, die von Kardhyn ausgingen. Ich erinnerte mich genau an die verbissene Schnelligkeit, mit der die Reiter den Büffel niedergemacht hatten. »Habt ihr etwas von neuen Versuchen der Krethors gehört?« erkundigte sich Dophor. Er wollte ablenken, weil auch er die gespannte Stimmung registrierte. Ich begann zu schwitzen. Wenn sie mich tatsächlich für einen Spion hielten, dann war ich abermals in Gefahr. »Nein. Wir werden morgen drei Gruppen aussenden. Sie sollen an den Pässen suchen.« »Du rechnest nicht mit einem Angriff, Kardhyn?« fragte mein Gastgeber. »Noch nicht. Entweder dann, wenn der Schnee ganz geschmolzen ist, oder dann, wenn es eisig kalt ist. Aber ein Angriff wird kommen. Vielleicht kann Atlan uns sagen, wann er geplant ist?« Ich zuckte zusammen, ging zwei Schritte zur Seite und streckte meine Hand nach einem Schwert aus. »Wenn du mir nicht glaubst, daß ich ein harmloser Fremdling aus dem Süden bin, dann ist dies deine Sache. Aber ich mag es nicht, wenn man mich als Verräter an der Gastfreundschaft und als Spion bezeichnet. Auch von dir lasse ich mir das nicht bieten. Willst du mich beleidigen, dann wiederhole dieses Wort, Kardhyn!« Ich sprach lauter und funkelte ihn an. Ein Mann wie er war nur durch Härte und Ent-
Rückkehr in die Mikrowelt schlossenheit zu überzeugen. »Ich will dich nicht beleidigen. Aber ich glaube dir nicht. Wenn ich weiß, daß du ein Spion bist, dann werde ich dein schärfster Gegner sein. Solange ich dies nicht weiß, werde ich sogar nach deinen Freunden suchen.« »Ich habe gehört, was du gesagt hast!« erwiderte ich. »Ich merke es mir. Und ich bleibe Dophors Freund, weil er mir geholfen hat.« Ich ließ die ausgestreckte Hand wieder fallen und trat vom Tisch zurück. Dophor schüttelte den Kopf. Sein Blick ging von dem breitschultrigen Riesen zu mir und wieder zurück. »Komm«, sagte er. »Wir haben Arbeit in der Farm. Und ich wollte dir noch unser Gebiet zeigen. Sei nicht ungerecht, Kardhyn!« Kardhyn nickte ihm zu und ignorierte mich. Ich kannte diesen Typ Mann; es gab ihn überall. Es waren nicht die schlechtesten. Für Darga würde Kardhyn seinen letzten Tropfen Blut opfern. Aber er blieb solange mißtrauisch, bis das Gegenteil seiner Vermutungen durch drastische Ereignisse erwiesen war. Mach ihn dir nicht zum Feind! Bevor ich die Tür schloß, wandte ich mich an den Weißhaarigen und sagte deutlich und laut: »Vielleicht werde ich an deiner Seite gegen die Krethors kämpfen. Und vielleicht wirst du mir dann glauben?« »Dann glaube ich dir!« versicherte er unbewegten Gesichts. Wir verließen die Halle und gingen zu unseren Reittieren. Ich blieb immer wieder stehen und schaute in die Läden und Werkstätten hinein. Hier herrschte noch die Tauschhandelswirtschaft. Die Menschen waren fleißig und arbeitsam. Als wir in die Sättel stiegen und die Tiere wendeten, stellte sich mir abermals die Frage, ob es überhaupt Unterschiede zwischen dem Makrokosmos und dem Mikrokosmos gab. In langsamem Trab verließen wir diese kleine Stadt und wurden schneller, als die Tiere sich zwischen den Kugelbäumen der
29 Allee befanden. An ihrem Ende wandte sich Dophor plötzlich nach rechts, hieb dem Tackmack die Zügelenden an den Hals und schrie: »Nach Süden, Atlan! Ich habe ein ungutes Gefühl. Ich denke an die Krethors! Folge mir!« »Ich reite hinterher!« antwortete ich und merkte, daß sich die Muskeln des Tackmacks strafften. Das Tier begann langsam mit den Flügeln zu schlagen, und allmählich, von einem der langen Schritte zum anderen, steigerte sich das Tempo der Laufvögel. Schließlich berührten nur noch die Spitzen ihrer Klauen den Boden, die Flügel schlugen ratternd, die Tackmacks rannten viel schneller als ein dahinjagendes Pferd. Als ich hochblickte, sah ich direkt vor uns die Felsen, die aus der Kuppe des höchsten Hügels hervorsahen. Es ging also nach Süden, dem Gebiet der Krethors entgegen. Was hat er vor? Warum reitet er nach Süden? warf mein Extrasinn ein. »Warum reiten wir dorthin, Dophor?« schrie ich durch das Sausen des kalten Windes. »Ich denke, die Krethors rüsten! Der Sattel, in dem wir dich fanden, ist ein Kriegssattel gewesen.« »Halten die Tiere dieses Rennen aus? Es ist weit dorthin – und wieder zurück!« rief ich. »Sie sind dafür gezüchtet!« war die Antwort. Seite an Seite ritten wir in gefährlich schneller Geschwindigkeit auf das Ziel zu. Die Gegend änderte ihr Aussehen nur geringfügig. Unter den Krallen der Tiere war eine weiche Schneedecke, und darunter gab es nur Weiden und Äcker. Das Tempo ließ etwas nach, als wir die ersten Hänge hinauf stoben. Inzwischen fand ich mich im Sattel und an den Zügeln ziemlich gut zurecht. Aber je sicherer ich wurde, desto deutlicher wurde das Gefühl deutlicher Gefahr, der ich nicht entkommen konnte. Wie gefährlich, aber wie schön waren die Tage mit Fartuloon gewesen, als wir noch
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handeln und reagieren konnten, als wir unser Schicksal noch in unserer Hand hatten. Alles das war jetzt vorbei. Ich rannte nur noch den Dingen hinterher. Und ich fand kein Konzept, keinen Plan hinter allem. Jetzt, im völlig veränderten Umfeld der Mikrowelt, waren die Dinge noch verrückter, noch undurchsichtiger. Ich war gezwungen, mein großes Ziel vorübergehend zu vergessen. Für wie lange? Für wie lange hatte Orbanaschol Ruhe vor mir? Oder würde ich dieses Stück Materie, das nichts anderes sein konnte als eine Handvoll Erde an einem beliebigen Platz des Planeten, nicht mehr lebend verlassen? Warum so pessimistisch? Du bist noch immer am Leben! sagte entschieden der Extrasinn. Ich lehnte mich zurück, griff in die Zügel und lenkte den Tackmack den steiler werdenden Hang hinauf, genau auf die Felsen zu. Auch die Straße nach Süden war vom Schnee bedeckt.
* Die Tackmacks falteten ihre schwarzen Stummelschwingen ein und wurden langsamer. Vor uns tauchten die kahlen, schwarzen Ranken auf, die sich um die Felsen und umeinander wanden. Die Steintrümmer vor uns sahen aus wie vielfarbige, verfaulte Zahnstummel. Überall lag schmutziger, abapernder Schnee. In den nördlichen Ecken sah ich lange, dreieckige Felder aus massivem Eis. Mit einem leisen, gurgelnden Schrei hielt neben mir der Reitvogel Dophors. Der Farmer hob die Hand und sagte kurz: »Halt, Atlan. Vorsichtig!« »Verstanden!« Er ritt langsam an mir vorbei. Er schien die Gegend zu kennen, denn er lenkte das Tier im Zickzack zwischen Büschen, weißen und abgestorbenen Baumstrünken entlang der Felsen über die Hügelkuppe. »Dophor, mein Freund?«
Er wandte sich nicht um, als er zurückbrummte: »Was willst du wissen?« Ich folgte genau in seinen Spuren und sah, wie zwischen zwei Felswänden sich der Blick ausdehnte, wie die Landschaft weiter wurde. Wir sahen in ein weites Tal hinein, dessen Bewuchs erkennen ließ, daß es von einem Fluß oder breiten Bach durchflossen wurde. Aber dieses Tal war es nicht, das Dophor plötzlich erschrecken ließ. »Atlan! Sieh! Dort unten!« Ich hatte es schon bemerkt, aber ich wußte noch nicht genau, was es für den Mann vor mir bedeutete. Dort unten sah ich einzelne Gruppen von einem Dutzend oder mehr Büffeln. Sie alle trugen jene Sättel, von denen ich wußte, daß es Kriegssättel waren. Neben den Büffeln gab es ebenfalls Gruppen von Männern. Ein paar Feuer waren angelegt worden. Sie brannten, aber um die riesigen Kessel über den Flammen brachen weiße Rauchsäulen in die Höhe. Der Wind zerfaserte sie jedoch, ehe sie über den Hügel sichtbar werden konnten. Nach einigen Sekunden hatten wir alles gesehen. »Hunderte von Büffeln! Das sind Hunderte von Männern. Bewaffnet. Sie rüsten zum Angriff, Atlan.« Ich nickte und sagte leise: »Und weil ich mit dir hierher geritten bin, wird Kardhyn sagen, daß ich dich als Spion hierher geführt habe.« »Unsinn! Sieh dir alles genau an. Wir werden zurückreiten und die anderen warnen!« rief er unterdrückt. »Selbstverständlich!« Mehr als zwei Dutzend Gruppen hatten sich in dem Tal gebildet. Jede Gruppe umfaßte mehr als zehn Büffel. In jeder Gruppe sah ich Wimpel und große Waffen. Die Entfernung gestattete uns beiden nicht, Genaueres zu erkennen. Aber ich sah etwa ein Dutzend weißgelber Büffel. »Was sind diese Krethors?« fragte ich. »Menschen wie ihr, Dophor?« »Ja. Ein anderer Stamm. Wir haben nie-
Rückkehr in die Mikrowelt mals Verbindung miteinander gehabt. Sie aber rauben unsere Frauen. Sie sind häßlich und stinken nach Büffel!« Schon Dophor und seine Sippe waren alles andere als schön. Wenn er die Krethors als häßlich bezeichnete, so mußten sie von wahrhaft abstoßendem Aussehen sein … wenn ich ihm glauben konnte. Aber unzweifelhaft bereitete sich dort eine Menge gut ausgerüsteter Büffelreiter auf einen Kampf vor. Du hast gesehen, daß ein Büffel drei Vögel getötet hat! sagte der Logiksektor deutlich. »Können wir sie zählen?« fragte ich und begann die einzelnen Gruppen mit den Augen abzuschätzen, ihre Zahl festzustellen. Je länger ich zählte, desto mehr erkannte ich, daß es weitaus mehr waren als zuerst geschätzt. »Was wir auch zählen, es sind zu viele Gegner!« Vierhundert Männer aller Altersstufen gab es in Krothenbeet Darga. Dazu achthundert Frauen. Ich hatte ziemlich genau dreihundertfünfzig Tiere und Männer gezählt. Wenn diese Büffelreiter angriffen, war es nur eine Frage der Zeit, bis die Siedlung trotz ihrer Befestigung gefallen war. »Zurück, Dophor?« »Ja, zurück. Sie dürfen uns nicht sehen, sonst sind die Krethors gewarnt.« »Natürlich!« Wir drehten unsere Tackmacks und ritten langsam in unseren Spuren zurück. Nachdem wir die Felsen verlassen hatten, spornten wir die Reitvögel und beugten uns in den Sätteln vor. Die Vögel wurden schneller, und in kürzerer Zeit, als wir hierher gebraucht hatten, erreichten wir die Kugelbaumallee und preschten in rasendem Trab über die Zugbrücke und auf den Marktplatz. Wir erreichten das Haus der Patrouillenreiter und sprangen vor den Stufen von den Vögeln. »So schnell wollte ich nicht wieder hier sein!« brummte ich, schlang einen Knoten in die Zügel und hämmerte an die Tür. Kardhyn riß sie auf und sah uns überrascht an.
31 Dann, nach einem bedrohlichen Schweigen, knurrte er: »Kommt herein. Ich sehe Unheil in euren Gesichtern.« »So ist es, Mann der Patrouille«, sagte ich. »Die Gelegenheit, neben dir zu kämpfen, ist näher, als uns lieb ist.« »Verdammt! Was gibt es? Die Krethors?« »Ja!« sagte Dophor. »Aber ich habe Atlan zum Paß geführt. Setzen wir uns. Ich berichte dir, was wir gesehen haben.« Wir nahmen an einem der klobigen Tische Platz. Kardhyn hob ein Schwert auf und schlug hämmernd auf die anderen Metallstücke. Es klirrte und rasselte. Eine zweite Tür knarrte auf, und eine Frau kam mit einem Krug und drei Bechern herein. Kurze Zeit später berichteten wir in allen Einzelheiten, was wir gesehen hatten. Schließlich sagte Kardhyn: »Ich habe verstanden. Sie werden heute nicht mehr angreifen. Ich bereite alles vor. Geht zurück und versucht, das Geheimnis dieses verdammten Bruzack zu lösen. Vielleicht kann er uns im Kampf helfen. Denn es wird zum Kampf kommen. In einigen Tagen, denke ich. Noch heute werde ich Patrouillen ausschicken.« Er stürzte den Inhalt des Bechers herunter und stand auf. »Ich glaube dir noch immer nicht, Atlan, aber in einigen Tagen werden wir alle mehr wissen.« »So ist es. Wir gehen!« Wir gingen hinaus, stiegen in die Sättel und ritten etwas langsamer zurück zur Farm. Es war nach Dophors Aussage kurz nach Mittag. Woher er dies wußte, war mir schleierhaft. Es gab weder Sonne noch Schatten, und auch die Farben des Himmels hatten sich nicht verändert. Aber nach einem kurzen, viel zu fetten Essen befand ich mich wieder in der Scheune und versuchte, andere Teile des Bruzack abzutasten und das Geheimnis dieser seltsamen Maschine zu finden. Ich arbeitete bis spät in die Nacht hinein. Während ich mich ununterbrochen ab-
32 mühte, verwandelte sich die Farm langsam in ein Bollwerk. Eine Gruppe von zwanzig Vogelreitern kam hierher und machte den Hof zum Stützpunkt. Überall wurden die Mauern kontrolliert. Die Waffenkammer des Hauses wurde geöffnet. Einzelne Wachfeuer leuchteten an den Ecken der Mauern. Die Tortürme wurden besetzt. Man schleppte Steine überall hin und stapelte auf den Mauern kleine Haufen dieser Geschosse. Wasser wurde an gefährdete Punkte geschleppt. Bewaffnete Männer und sogar Dophors Töchter liefen Wachdienst. Die Vögel blieben gesattelt, auch in den Ställen. Langsam verbreitete sich eine Atmosphäre von nervöser Spannung und großer Vorsicht. Schleudern und Steine lagen herum, Armbrüste lehnten an allen Ecken. Die Männer tranken heißen Wein. Außerhalb der Farm ritt eine kleine Gruppe mit brennenden Fackeln. Über die Felder hörte man das Knacken der Vogelschnäbel und die Tritte rennender Tackmacks. Und dort, wo Krothenbeet Darga lag, erhellten ebenfalls Feuer und Fackeln die Nacht. Höre auf! Du bist zu müde! Setze deine Suche morgen fort, flüsterte der Logiksektor eindringlich. Ich hauchte in meine klammen Hände, ergriff ein paar Fackeln und stieß ihre schwelenden Köpfe in einen sandgefüllten Kessel. Dann blies ich alle Öllampen und Unschlittkerzen bis auf eine aus und ging zum Doppeltor. Ich war rechtschaffen müde. Und überdies enttäuscht. Ich hatte nicht nur keine Spur des Grek und Crysalgiras gefunden, sondern befand mich mitten im Zentrum eines drohenden Krieges. Er konnte jede Stunde losbrechen. Langsam ging ich zwischen den Gruppen über den Hof, auf die Stufen des Wohnhauses zu. Ich berührte gerade den eisernen Riegel, als die Tür aufknarrte. Gjeima füllte den Rahmen aus und nahm, als sie mich sah, eine aufreizende Haltung an.
Hans Kneifel »Komm, Atlan! Wein und Essen!« sagte sie und strahlte mich an. Ihre grobe Bluse war weit ausgeschnitten. Ich schürfte mir fast den Rücken auf, als ich mich an ihr vorbei durch den Eingang zwängte und in die Wärme des großen Wohnraums kam. Das Kaminfeuer loderte hell auf. Die Illusion, daß ich mich in Sicherheit befand, wäre vollkommen gewesen, wenn nicht Dophor, der Chef von Krothenbeet, in seiner Halbrüstung und bewaffnet am Tisch gesessen hätte.
4. »Heute werden sie nicht angreifen!« sagte Dophor und riß mit seinen gelben Zähnen einen Fetzen aus dem dicken Fladenbrot. »Nicht heute nacht, Atlan.« Ich fragte kauend: »Warum nicht, Dophor?« »Sie haben sicher auch Späher hier. Sie wissen, daß wir gewarnt sind. Sie können jetzt nicht mehr einen Überraschungsangriff starten. Sie werden eine andere Art des Angriffs wählen müssen.« Wir aßen, während ein paar bewaffnete Knechte und alle Töchter um uns herumstanden und uns zusahen. »Also ein massierter Angriff?« fragte ich nachdenklich. Das Gefühl drohender Gefahren nahm zu. »Vermutlich. Ein Hof, ein Gut nach dem anderen. Und zuletzt Darga.« »Ich verstehe!« sagte ich. »Nicht heute nacht?« »Nein. Unser weißhaariger Freund hat eine Menge kleiner Gruppen auf schnellen und zähen Tackmacks in der Ebene. Außerdem hat es frischen Schnee gegeben. Man sieht jede Spur.« »So ist es. Ich werde also heute ausschlafen können, Dophor?« »Ich wünsche es dir. Soll meine Tochter die Kissen glattstreichen?« fragte Dophor lauernd und begann daraufhin dröhnend zu lachen. Er hieb den Dolch in die Tischplatte. Die Waffe bohrte sich drei Finger tief in das
Rückkehr in die Mikrowelt Holz und blieb zitternd stecken. »Die Kissen sind glattgestrichen«, sagte ich fest. »Dophor, ein für allemal: ich bin ein fremder Wanderer, und ich kann nicht hier bleiben. Was soll ich mit einer deiner vielen Töchter anfangen? Willst du, daß ich ein Liebhaber für sieben Tage sein soll?« »Gjeima hat gesagt, du bist ein Mann für alle Jahreszeiten«, erwiderte er. »Es ist zu spät, um heute noch ein gutes Gespräch zu führen. Gehen wir zwischen die Felle. Aber, Atlan …« Er griff nach meiner Schulter und drückte sie hart. »… denke daran, daß du schnell aufwachen und kämpfen mußt, wenn doch etwas geschieht diese Nacht.« »Das bin ich gewöhnt. Ich rechne damit!« sagte ich achselzuckend und trank den letzten Schluck aus meinem Becher. Ich stand auf und blieb noch einige Zeit vor dem Kaminfeuer stehen, um mich zu wärmen. Dann tappte ich die knarrenden Stufen in mein Zimmer hinauf. Natürlich wartete Gjeima auf mich. Ich packte sie an den dicken, fleischigen Oberarmen und schob sie von mir weg, so daß sie gezwungen war, sich auf den einzigen Stuhl zu setzen. Dann stieß ich das Fenster auf, lehnte mich auf die Fensterbank und starrte hinaus in die halbhelle Nacht. Über den Himmel trieben die leuchtenden Wolken. Rund um das Gut, dessen Wachtürme, Giebelfenster und Zinnen besetzt waren, lag der Schnee auf Wiesen und Sturzäckern. Immer wieder sah ich undeutlich gegen den Horizont kleine Gruppen von Tackmackreitern. Die Männer in den hochlehnigen Kampfsätteln waren bewaffnet und trugen ausnahmslos brennende Fackeln. »Ich warte auf den Kampf!« sagte ich leise und schloß das Fenster. Dann zog ich die Beine aus den Stiefeln und setzte mich auf den Bettrand. Gjeima saß da und lächelte mich breit an. Wenigstens hatte sie heute ihr Gesicht und ihren Hals gewaschen. »Geh, Gjeima! Heute oder morgen wer-
33 den wir kämpfen! Es ist unwürdig«, sagte ich und öffnete das Schloß des Gürtels. Ich warf mich auf das Bett und streckte mich aus. »Es ist unwürdig, einen Krieger am Schlafen zu hindern.« Du hast recht! Du mußt ausruhen, Arkonide! sagte eindringlich der Logiksektor. Ich verschränkte die Arme hinter dem Kopf und bemühte mich eine halbe Stunde lang, Gjeima aus dem Zimmer zu bringen, ohne zu beleidigen. Zuletzt lallte ich nur noch. Aber sie ging! Es mußte gegen Mitternacht gewesen sein. Ich schreckte hoch, wurde wach und sprang aus dem Bett. Ich war sicher, daß mich ein langer, röhrender Schrei aus dem Schlaf gerissen hatte. Kaum berührten meine nackten Sohlen den klammen Pelz über den knarrenden Dielen, erscholl direkt unter mir ein zweiter Schrei. Ich erkannte ihn augenblicklich. Ein Krethor-Büffel schrie. Das ist draußen, vor dem Tor, korrigierte mein Extrasinn. Ich zog mich in rasender Eile an und riß die Tür auf. Das Haus war in vollem Aufruhr. Überall wurde geschrien, Waffen klirrten, und Menschen liefen hin und her. Schließlich, als ich im Schein der rotleuchtenden Glut des Feuers durch den hallenartigen Wohnraum hastete, riß ich ein Schwert an mich und sprang hinaus in die Kälte der Nacht. »Was ist los?« schrie ich. Aus der Aufregung der vielen Stimmen und Geräusche schälte sich donnernd Dophors Stimme heraus. »Fackeln her! Hinaus in den Hof! Die Wachen auf die Türme!« »Wir sind auf den Türmen!« Ich rannte bis in die Mitte des Hofes. Soweit ich erkennen konnte, hatte die Wachsamkeit der Männer auf den Tortürmen nicht nachgelassen. Zwei Feuer loderten im Hof, überall sah ich, wie neue Fackeln angebrannt und weitergegeben wurden. Ein drittesmal schrie das Tier auf, und jetzt merkte ich, daß der Schrei nicht aus dem Raum in-
34 nerhalb der Mauern kam, sondern von draußen, von der schneebedeckten Ebene vor dem Gutshof. Ich drehte mich um, sah eine schmale Holztreppe und rannte darauf zu. Einige Augenblicke später befand ich mich hinter der steinernen Brustwehr eines der beiden Tortürme. »Was geht hier vor?« erkundigte ich mich. Ein Knecht deutete geradeaus und zeigte mir die Quelle der Aufregung. »Ich habe verstanden!« murmelte ich. Sie hetzen einen Spion! erklärte der Logiksektor. Ich sah eine Gruppe von etwa sieben Tackmackreitern, die in einer halbkreisförmigen, weit auseinandergezogenen Formation über die Fläche rasten. Einige von ihnen trugen brennende Fackeln. Die langen Lanzen waren gefällt, hinter den Laufbeinen der flatternden Vögel surrten Erdbrocken nach hinten. Dünne Schneefahnen wurden hochgerissen. Hin und wieder hörte ich durch das rasende Galoppgeräusch der Vogelkrallen einen heiseren Schrei oder das wütende Klappern der dreieckigen Schnäbel. »Die Krethors haben Spione geschickt. Gut, daß Kardhyn seine Reiter patrouillieren ließ!« murmelte der Wächter und beugte sich vor. Hinter uns bevölkerte sich der Hof. Gesichter tauchten in den geöffneten Fenstern auf. Alle starrten hinaus in die Ebene. Die Lanzenspitzen deuteten genau auf den Spion, den die Reiter verfolgten. Ich sah dieselbe Taktik, die sie bei meiner Verfolgung angewendet hatten. Der Spion aber war schneller und gewandter als ich es gewesen war. Ich strengte meine Augen an und mußte erkennen, daß dies nicht ein einfacher Büffel war, sondern ein besonderes Exemplar. Obwohl das Bild in dauernder Bewegung war, sah ich deutlich, daß es ein hellfarbenes Tier war. Ich erkannte keinerlei Behaarung. Das Fell des hochbeinigen, schlanken Tieres wirkte, als sei es extrem kurzhaarig oder sogar geschoren. Ich erinnerte mich blitzschnell: als ich mit Dophor die Horden der Angreifer entdeckt hatte, waren dort verein-
Hans Kneifel zelt solche hellhäutigen Tiere zu sehen gewesen. Zweifellos ein Krethor-Rennbüffel! flüsterte der Extrasinn. Ein sehr schnelles, wendiges Tier, ohne Zweifel. Und der Reiter war ein Virtuose. Ich starrte gebannt auf die große Gruppe aus Verfolgern, die in einem weit ausholenden Zickzackkurs über die Ebene rannte und sich dem Hof näherte. Entweder versuchte der Spion, hier Schutz zu finden, oder die Reiter hatten den Auftrag, den Verfolgten hierher zu treiben. Ich war sicher, daß Kardhyn ihnen diesen Befehl erteilt hatte, denn es war gefährlich, ein Tor zu öffnen. Wenn der Spion eine Gruppe von Angreifern nach sich zog, würde zuerst ein einzelner Hof fallen und der Gegner nicht in die Stadt eindringen. Ein logischer Plan. »Wir haben gute Feinde«, sagte ich fast bewundernd. »Der dort im Sattel kann reiten wie ein Geist.« »Du sagst es, Fremder!« knurrten die Wächter widerwillig. Inzwischen sah ich entlang der Mauern und auf allen Türmen die Fackeln. Die Männer, die sich jetzt im Hof aufhielten, waren bewaffnet und angriffsbereit. Die wilde Jagd dort draußen kam näher. Die Schreie und Geräusche wurden lauter und deutlicher. Der helle Büffel lief nicht im Galopp, sondern in einem weit ausgreifenden Trab. Seine schlanken, muskelbepackten Beine bewegten sich wie die Kolben einer Hochleistungsmaschine. Der Hals war kurz und gedrungen, der Schädel schmäler, und das hellgelbe Gehörn schien mir kürzer, aber nicht weniger tödlich zu sein. Der lange Schwanz des Büffels mit der dunklen Quaste stand steil aufgereckt in der Luft, per Reiter, ebenfalls in Leder und Pelze gekleidet, drehte sich jetzt im Sattel herum, hob eine Armbrust und feuerte. Dreißig Schritte hinter ihm überschlug sich ein Tackmack, schrie auf und schleuderte seinen Reiter nicht weniger als zwanzig Meter weit durch die Luft. Der Büffel warf sich herum und flüchtete über eine
Rückkehr in die Mikrowelt schneebedeckte Weide nach Süden. »Verdammt!« sagte ich. »Sie wollen ihn hierher treiben, nicht umzingeln!« Einige kurze Befehle brachten eine neue Ordnung in Kardhyns Reiterei. Die beiden äußersten Reiter wurden schneller und versuchten, den Fluchtweg des Büffels abzuschneiden. Von den Mauern des Hofes, wo hundert Augen diese wahnsinnige Jagd gespannt beobachteten, erschollen anfeuernde Schreie. Plötzlich durchschnitt wieder Dophors Stimme den Lärm: »Gebt Zeichen! Bereitet euch darauf vor, die Tore zu öffnen!« »Verstanden, Dophor!« heulte ein Wächter neben mir in seiner gurgelnden Sprache. Sie wollen die Jagd beenden. Offensichtlich hat Dophor präzise Befehle von dem Waffenmeister Krothenbeet Dargas! sagte der Extrasinn. Wieder war, keine zweihundert Meter vor dem Hoftor, ein Halbkreis entstanden. Im Mittelpunkt und in einer ziemlich hoffnungslosen Lage befand sich der Flüchtende. Sie gaben ihm keine Chance, obwohl er sich wehrte und immer wieder Bolzen aus seiner Armbrust abfeuerte. Zwei Wächter schwenkten jetzt die Fackeln. Die weißglühenden Kerne und die kurzen Flammen beschrieben in der fahlen Dunkelheit weite Kreise. Der Anführer der Reiter verstand und schwenkte seine brennende Fackel ebenfalls mehrmals, dann konzentrierte er sich wieder auf die Jagd. Der Spion hatte keine andere Wahl mehr. Der Halbkreis verengte sich zusehends. Der Rennbüffel unternahm eine letzte Anstrengung, vergrößerte seine Geschwindigkeit und rannte auf das Tor zu. Zwanzig Meter davor schlug das Tier einen Haken, indem es die Vorderbeine in den weichen Boden stemmte und den hinteren Teil des Körpers um hundert Grad herumwarf. Es gehorchte nicht nur dem Zügel, sondern stellte sich fast instinktiv auf die Wünsche des Reiters ein. »Er entkommt! Im letzten Moment!«
35 schrie ein Wächter neben mir auf. Ich sah gebannt hinunter und bemerkte nur aus den Augenwinkeln, wie sich Wächter oder Knechte an den Riegeln zu schaffen machten. Die Frauen waren aus dem Hof verschwunden. »Er kann nicht ausbrechen! Dort!« schrie erregt ein anderer Mann und warf seine Fackel in die Richtung des heranstürmenden Büffels, der sich abermals herumgeworfen hatte und jetzt, als wolle er die Mauer rammen, den Kopf tief auf den Boden senkte. Die Spitzen der Hörner – jetzt erst sah ich die blinkenden Metallspitzen an den Enden der natürlichen Bewaffnung des Rennbüffels! – rissen lange Furchen in den Schnee. »Das Tor!« Knarrend schwangen die Torflügel auf. Die Lanzenspitzen bildeten einen Wall und ließen den Spion nicht ausbrechen. Er hatte keine andere Wahl mehr. Die Tackmackreiter an den äußeren Rändern des Halbkreises zügelten ihre Tiere durch und wurden langsamer, änderten ihre Richtung und bildeten am Ende ihrer Bewegung eine Art Wall. Der Anführer und die drei Männer neben ihm ritten weiter. Ihre Lanzen erreichten fast das Hinterteil des Tieres. Die Torflügel waren offen. Zwei Seile flogen durch die Luft, während ich die Holztreppe hinunterstolperte. Der Büffel röhrte heiser auf und schoß durch das offene Tor. Die Seile spannten und senkten sich, sie berührten den Hals und den Rücken des Büffels und schlugen gegen das Vorderteil des Sattels. Der Büffel merkte nichts davon. Die Spitzen der Hörner ratterten über die Steine des Hofes. Zwei lange Funkenbündel sprühten aus dem Metall oder aus dem Stein. Der Reiter wurde aus dem Sattel gerissen, die Leinen wickelten sich um den Körper, der Mann überschlug sich. Von drei Seiten sprangen Bewaffnete auf ihn zu und hoben die Waffen. Der Büffel warf den Schädel in die Höhe und rollte wild mit den Augen. Er hielt mitten im Hof an, drehte sich rasend schnell im
36 Kreis und sprang dann mit den Vorderbeinen in die Höhe. »Zurück!« schrie Dop hör, hob ein riesiges Beil und sprang rückwärts die Stufen hoch. Fünf oder mehr Leute schleppten den Spion, der sich schwach wehrte, in eine offene Scheune. Ich betrat den Boden des Hofes in dem Augenblick, als der Büffel wieder auf die Hufe kam und eine Bewegung abwartete. Er schien außerordentlich aufgeregt und wütend zu sein. Ich erinnerte mich an die fast besinnungslose Wut, mit der mein Tier gekämpft hatte. Und diese besondere Züchtung war noch um einiges gefährlicher. Mit einem dumpfen Krachen fiel das Doppeltor zu. »Weg vom Hof! Erledigt den Büffel!« schrie Dophor, aber das Tier bewegte sich bereits. Das Geräusch hatte es noch rasender gemacht. Langsam drehte sich der massige Körper. Schreiend flüchteten die Knechte nach allen Seiten. Auch die Scheunentür schlug donnernd zu. Ich stand da und hielt, ohne es recht zu merken, noch immer das ungefüge Schwert in der Hand. »Atlan!« kreischte Gjeima von irgendwoher. Ich grinste kalt. Der Büffel hatte sich jetzt entschieden. Er sah nur ein Ziel: mich. Er nahm das Ziel an. Mit einem ärgerlichen Grunzen rannte das Tier los. Jetzt nicht im Trab, sondern im Galopp, in einer Anzahl kleiner Sprünge. Mitten im Rennen senkte der Büffel den Kopf und stieß die Hörner nach vorn. Eine Masse von einigen Zentnern Gewicht donnerte über die blaugrauen Steine des Hofes auf mich zu. Mist und Schmutz spritzten nach allen Seiten. »Atlan! Rette dich!« rief Gjeima mit schriller Stimme aus der Richtung des Wohnraums. Dophor schleuderte sein Beil. Hätte er getroffen, würde er den Hals des Büffels gespalten haben. Aber das Beil schlug schwer gegen das linke Horn, drehte sich und schlitterte kreiselnd über den Hof
Hans Kneifel davon. Ich streckte mein Schwert wie einen Dolch vor, erwartete den Zusammenstoß und spannte meine Muskeln. Jetzt! schrie das Extrahirn. Zwei Meter vor mir befand sich die Hornplatte zwischen den Augen des Tieres. Das Gehörn zielte auf mich. Mit welcher Hornspitze würde der Büffel zustoßen? fragte ich mich, ehe ich mich schräg seitlich hochschnellte und mit dem Schwert zustieß. Ich versuchte, die Nerven der Wirbelsäule zu finden, aber in dem Augenblick, als beide Eisenspitzen der Hörner krachend in das Holz fuhren, schnitt die Waffe eine breite, klaffende Wunde in den Hals des Büffels. Ich landete auf der Treppe, riß mich hoch und bekam einen Balken zu fassen. Mit einem Klimmzug rettete ich mich aus dem Bereich der Hörner, die nach rechts und links durch die Luft fuhren. »Bringt dieses verdammte Tier um!« schrie Dophor. Er rannte von der Treppe heran und hielt eine Lanze in beiden Armen. Er war tollkühn in seinem Versuch, das Tier abzulenken oder zu töten. Er lief geradewegs auf den Büffel zu, der den Kopf wütend schüttelte, sich herumdrehte und versuchte, auf diesen neuen Angreifer zuzurennen. Aber Dophor war schneller. Während von den Mauern und aus den Türmen ein paar schlecht gezielte Pfeile durch die Luft zischten und das Tier trafen, während die Flammen der beiden Feuer hochloderten und den Hof mit rotem, zuckendem Licht überschütteten, rammte Dophor mit großer Anstrengung die Lanze tief in den Körper des rasenden Büffels. Er traf das Fell hinter dem Schultergelenk des Vorderfußes. Ich sprang vor, als der Büffel zusammenzuckte, aufschrie und sich auf Dophor zu stürzen versuchte. Ich riß meinen Mantel von den Schultern, ergriff das Schwert und rannte rutschend über den Hof. Ich schwenkte den Mantel und näherte mich dem Kopf des Tieres. Von allen Seiten erschollen jetzt wilde, kreischende Schreie. Vorsicht! Das Tier ist höllisch schnell, warnte der Extrasinn.
Rückkehr in die Mikrowelt Der Büffel, dessen Körper von mindestens dreißig Pfeilen gespickt war, aus dessen Haut der Schaft der Lanze ragte und sich bei jedem Sprung bewegte, sah mich herankommen und griff augenblicklich an. Ich blieb stehen, konzentrierte mich und warf meinen Mantel. Das Fellstück blähte sich auf, fiel über die Hörner und den Kopf. Ich wich aus, als der Büffel heran war. Mein Arm zuckte herab, das Schwert bohrte sich zwischen den breiten Schultern, vor dem Sattel, tief in den Körper. Ich packte den Hals, hielt mich fest und verstärkte den Stoß. Zur Seite! Der Büffel zuckte zusammen, röchelte auf und warf sich auf der Stelle herum. Ein knirschendes Geräusch, und ein Horn bohrte sich auf der Höhe meines Magens durch den Mantel. Ich stieß mich ab, stolperte und trieb mit einem letzten Schwung meines Armes das Schwert weiter. Noch mitten in dem Angriff brach der Büffel zusammen. Er fiel zur Seite, in meine Richtung. Ein letztes Zucken des Kopfes und der vier Beine, das mich beinahe umwarf, dann starb das Tier. Ich merkte, wie mich jemand am Gürtel ergriff und zurückriß. »Atlan! Du mußt wahnsinnig sein!« stöhnte Dophor auf. »Wir hätten den Büffel langsam getötet, ohne uns in Gefahr zu bringen!« Ich hob die Schultern und sagte: »Er griff mich an. Ich mußte mich wehren!« Dophor schüttelte den Kopf und hob den Arm. Er winkte einige Knechte herbei und schob mich in die Richtung der Wohnhalle. »Bringt das Tier weg. Brecht es auf, wir können das Fleisch brauchen. Und dann gehen alle wieder in die Betten, bis auf die Ablösung der Wachen. Bringt den Spion in die Halle!« Ich warf einen letzten Blick auf die Blutlache, die sich unter dem wuchtigen Körper ausbreitete. Dann folgte ich Dophor ins Haus. Als ich auf der obersten Stufe stand,
37 sahen wir, daß Dophors Befehl augenblicklich befolgt wurde. Das Scheunentor flog auf, und drei Männer zerrten den Reiter des getöteten Büffels aus dem Dunkel in die Helligkeit zwischen den zwei Feuern. Ich stieß hervor: »Dophor! Das ist eine Frau!« Dophor spuckte aus und murmelte verachtungsvoll: »Da siehst du, wie diese verdammten Krethors sind. Sie kämpfen wie die Verrückten, aber als Spione brauchen sie Frauen. Man wird sehen.« »Spion sein, das ist für eine Frau der beste Beruf«, sagte ich und folgte ihm in die Halle. »Beleidige unsere Handwerker nicht, Atlan!« knurrte Dophor. Die Tür schlug hinter uns zu. Langsam gingen wir zum Tisch. In ein paar Stunden würden die leuchtenden Nachtwolken verschwunden sein. Ich ließ mich in den Sessel fallen und streckte die Beine aus. Langsam ebbte die Erregung der letzten Minuten ab. »Warum haben sie die Spionin in deinen Hof getrieben, Dophor?« fragte ich. »Ich habe ihnen gesagt«, begann Dophor und winkte Gjeima, die Becher vollzuschenken, »daß nur das Tor eines unbedeutenden Hofes geöffnet werden soll. Das gleiche wie bei dir, Atlan.« Ich senkte den Kopf. Ich hatte verstanden. Wieder schlug die massive Tür gegen die Wand. Die Wachen zerrten die Spionin in den Raum. Als das Mädchen – sie war ebenso häßlich wie Gjeima, nur etwas dicker und kleiner – mich sah, schrie sie auf. »Dorthin!« Dophor deutete auf einen schweren, klobigen Sessel. Die junge Frau wurde durch den halben Raum geschleift, grob in den Sessel geworfen und dort mit Lederschnüren an die Beine und die Lehne gefesselt. Eine dünne Schlinge legte sich um ihren Hals. Der Pelz ihres Mantels war auseinandergeschnitten worden. Warum hat sie aufgeschrien? fragte mich der Extrasinn.
38 Ich wartete. Dophor musterte das Gesicht der jungen Frau, als könne er darin lesen. Die Frau starrte trotzig zurück. Ein unbehagliches Schweigen entstand. Ich fragte mich, was das alles zu bedeuten hatte, und was das Ergebnis dieser Stunde vor Morgengrauen sein würde. Die Ruhe wurde plötzlich unterbrochen, als Dophor mit einem Knall seinen Becher auf die Tischplatte setzte. »Du bist dort draußen gefangen worden. Du hast einen Rennbüffel gehabt. Du hast in unserem Gebiet spioniert. Du weißt, daß du sterben wirst.« Sie schwieg, starrte mich an und senkte den Blick. Ihre Augen hefteten sich auf meinen Gürtel und dort auf die Tasche, die mit Perlen bestickt war. »Ja«, sagte sie eintönig. Sie ließ die Tasche nicht aus den Augen. Ich fragte murmelnd: »Was gibt es dort zu sehen?« »Die … die Tasche!« flüsterte sie. Dophor warf mir einen mißtrauischen Blick zu. Er wußte, daß diese Tasche an meinem Gürtel hing, seit sie mich gefangen hatten. »Ich habe diese Tasche in der Höhle dort im Norden gefunden«, sagte ich leise und schlug mit der flachen Hand darauf. »Ich fand sie neben einem fast erloschenen Feuer.« Die junge Frau starrte mich mit großen Augen an. Der Wächter, der hinter ihr stand und das Ende der Lederschnur um die Faust gewickelt hatte, hob den Kopf und blickte Dophor fragend an. Dophor schüttelte langsam den Kopf, legte beide Fersen auf die Tischplatte und schwieg. Er schien intensiv zu überlegen. »Es ist meine Tasche!« erklärte die junge Frau. Vorsicht! Es kann eine Falle sein! wisperte der Extrasinn. »Erkläre, wie sie in die Höhle gekommen ist?« fragte ich. »Ich habe sie verloren«, war die Antwort. Jetzt war ich es, der Dophor einen langen Blick zuwarf. Dophors Gesicht war undurchdringlich. »Wenn du sie dort verloren hast, dann be-
Hans Kneifel deutet das, daß du dort gewesen bist«, erklärte Dophor. »Das hätte auch ein Narr sagen können!« Der Wächter grinste kurz und riß hart an der Schlinge. Der Kopf der Frau wurde nach hinten gerissen. Sie schrie gurgelnd auf, ihr Hinterkopf schlug gegen die Sessellehne. »Wenn du dort gewesen bist, dann hast du bereits einmal das Gebiet durchritten, das uns gehört und nicht den stinkenden Krethors!« sagte Dophor mit einer Ruhe, die schon fast zynisch war. »Ich kenne dieses Gebiet!« Eine Reihe Folgerungen schloß sich an. Die Spionin schien die Zone zwischen den Eisfeldern und den Schneedünen genau zu kennen. Vermutlich hatte der Büffel, auf dem ich geflohen war, ihr gehört oder einem anderen Spion. Das wiederum bedeutete, daß die Krethors, bemerkt oder unbemerkt, eigentlich diese Zone beherrschten. Jedenfalls kannten sie alles hier. Wieder sahen wir uns an, Dophor und ich. »Du weißt, was das bedeutet?« fragte ich. Er weiß es schon lange, erklärte der Extrasinn. »So ist es!« murmelte Dophor. Er wandte sich an einen Knecht. »Geh hinaus und sag einem Mann, er soll sich bereitmachen, zu Kardhyn zu reiten. Ich werde ihm sagen, was er auszurichten hat!« Ohne auf eine Antwort zu warten, sprang Dophor mit einem Satz auf, riß sein Messer aus dem Gürtel und packte die Spionin am Hals. Das Mädchen begann würgend zu keuchen und bäumte sich auf. Dophor setzte ihr die geschliffene Spitze an die Nasenwurzel. Meine Hände verkrampften sich um die Sessellehne. Halte dich heraus! Er würde dich umbringen! Wie durch einen Nebel hörte ich die rauhe Stimme des kleinen Mannes. Er fragte flüsternd, aber mit einer eiskalten Drohung: »Wann greift ihr an? Wann?« Das Mädchen wehrte sich. Sie zerrte an ihren Fesseln und atmete keuchend ein und aus. Ihr Gesicht wurde kreidebleich.
Rückkehr in die Mikrowelt Schweiß rann in breiten Strömen über ihre Stirn. »Ich weiß … es … nicht …«, gurgelte sie. Unter der Spitze des Messers quoll ein einzelner Tropfen Blut hervor, wurde größer und begann die Nase entlang zu kriechen. »Du weißt es. Sage es, und ich lasse dich nicht foltern.« Sie schwieg. Dophor drückte noch stärker zu. Die junge Frau begann zu wimmern. Ich stand langsam auf und hob meinen Arm. Zurück, du Narr! Das ist ihre Sache! warnte der Extrasinn. Ich blieb stehen. Plötzlich hörte ich, wie die Frau in abgehackten Worten sagte: »Wir greifen an. Übermorgen! Die Männer werden eure Frauen und Töchter rauben und alles Vieh. Und wir werden eure Vögel schlachten und die Eier zertrampeln. Und ihr werdet sterben.« Ohne daß wir es recht merkten, hatte sich die Wohnhalle mit Knechten, Frauen und Wächtern gefüllt. Sie alle hörten die Drohung. Dophor nahm sein Messer zurück, wischte die Spitze achtlos im Haar der Frau ab und sagte ruhig: »Ich habe versprochen, dich nicht foltern zu lassen.« Er trat zurück und hielt das Messer in der Hand. Niemand sprach. Dann legte Dophor den Kopf schräg und murmelte: »Bringt sie hinaus. Schlagt ihr den Kopf ab, aber schmerzlos.« »Selbstverständlich, Rat!« Die junge Frau wurde schweigend losgebunden. In der Menge der Wartenden entstand eine schmale Gasse, die bis zur Tür führte. Drei bewaffnete Männer führten die Frau hinaus. Sie ging anscheinend willig mit, aber unter der Tür warf sie sich nach vorn und versuchte zu entkommen. Die beiden Männer rissen sie an den Armen zurück. Für einige Sekunden entstand ein wütendes Handgemenge. Und plötzlich, als die kämpfende Gruppe die Stufen hinunterstolperte, sah ich kurz Metall aufblitzen. Ein unbeschreiblicher Laut folgte, dann
39 sah ich den Körper des Mädchens nach vorn fallen. Die Tür schlug zu. Dophor wandte sich ruhig, als sei nichts geschehen, an einen Reiter und sagte ihm, was er Kardhyn zu berichten hatte. Ich fühlte ein kurzes Zittern in meinen Knien und ließ mich schwer in den Sessel fallen. Es wurde Zeit, daß ich von hier wegkam. Wohin? Wie flüchtete man aus dieser Mikrowelt? Wohin flüchtete man aus dieser Mikrowelt? Und mit was, mit wem, wie und wann sollte ich den einzigen Punkt verlassen, der mir eine bestimmte Sicherheit bot? Warte, und du wirst die Antwort finden! sagte mein Extrasinn. Ich wartete. Einige Stunden bis zum Morgengrauen, einen langen, aufregenden Tag und eine halbe Nacht. Krothenbeet und Darga verwandelten sich jetzt in waffenstarrende Festungen. Aber gegen die lanzenbewehrten Krethors würden sie kaum Chancen haben.
* Der Bruzack war inzwischen überall auf seiner Oberfläche mit Linien und Mustern bedeckt. Rund um die Maschine standen Kerzen und Öllampen. Ich war unruhig und hastig, denn wir alle rechneten mit dem Angriff im Morgengrauen. Niemand schlief auf Krothenbeet. Jeder, der eine Waffe halten konnte, war bewaffnet. Ich kauerte vor der rätselhaften Maschine und begann zu ahnen, daß sie meine einzige Chance war. Auf irgendeine Art und Weise mußte ich es schaffen, sie in Gang zu bringen. Keine Hast! Suche konzentriert und systematisch weiter, du wirst etwas finden, tröstete mich der Extrasinn. In Krothenbeet war es ruhig geworden. Schweigend suchte ich weiter. Immer wieder fuhren meine Fingerspitzen über die schimmernde Hülle der Maschine. Ich taste-
40 te und drückte, fuhr mit den abgesplitterten Fingernägeln in die wenigen Ritzen – nichts rührte sich. Stunde um Stunde verging. Ich hatte tagsüber geschlafen und war einigermaßen ausgeruht. Ohne daß ich es merkte, sammelten sich jenseits der Sichtbarkeitsgrenze die Reiter mit ihren wuchtigen Büffeln. Sie warteten auf den Anbruch des Tages. Und ich suchte weiter, beim flackernden Licht der Talglichter in der kalten, zugigen Scheune. Immer wieder ging ich zu einer der Flammen und wärmte meine Finger auf, die wie abgestorben waren vom kalten Metall des Bruzack. Einmal, in der Zeit zwischen Nacht und Morgen, ging ich zum angelehnten Tor und spähte in den Hof hinaus. Sie suchen auch den Bruzack! Du solltest nicht zögern! sagte befehlend der Logiksektor. Ich kehrte um. Draußen warteten sie alle, schweigend und unruhig. Der Hof, die hochgelegenen Fenster, die Mauerkrone und die Tortürme starrten von den verschiedenen Waffen. Wieder beschlich mich ein Gefühl der Unruhe, der Unsicherheit und der Furcht. Am Ende des anbrechenden Tages konnte ich tot sein, wenn es mir nicht gelang, das Geheimnis des Bruzack zu entschlüsseln. Ich suchte weiter … Nur in der Mitte des länglichen Geräts gab es noch eine größere Stelle, an die ich mich bisher nicht gewagt hatte. Die Buckel, Vertiefungen und Vorsprünge verwirrten mich. Ich zuckte die Schultern und machte weiter. Ich verlor das Zeitgefühl, während ich, immer hastiger und unruhiger, die Maschine untersuchte. Ich hörte auf, in den tiefen Öffnungen des von mir als Heck bezeichneten Endes zu suchen und kümmerte mich um das bisher vernachlässigte Mittelstück. Wenn es einen Öffnungsmechanismus gibt, wirst du ihn hier finden! Mit zitternden Fingern suchte ich. Die Tür schwang mit einem mißtönenden Knarren auf, und Dophor kam herein.
Hans Kneifel »Sie kommen. Es ist Tag!« murmelte er. Ich blickte überrascht auf und musterte ihn über die Maschine hinweg. Seine Stimme hatte tief bekümmert geklungen. Dophor war in voller Bewaffnung. Hinter ihm sah ich die Reihe der festgebundenen und gesattelten Tackmacks. Die Ställe schienen leer zu sein. »Es ist Tag, tatsächlich«, erwiderte ich. »Sind es viele?« Dophor senkte den Kopf und kam schweigend näher. Er lehnte sich gegen den Bruzack und erklärte: »Sie werden uns besiegen. Eine dichte Kette im Süden. Tausend oder mehr, Atlan. Noch nichts?« Er deutete auf die unerklärliche Maschine. »Nein.« Während wir uns unterhielten, suchten meine Finger weiter, als wären sie selbständige Wesen. Hin und wieder blickte ich an dem ledernen Helm des kleinen Mannes vorbei, der zwei riesige Lanzen mit flammenförmigen Spitzen in der rechten Hand hielt. Die ersten Reiter kletterten in die Sättel der Rennvögel. Ich erkannte Gjeima, auch sie war bewaffnet. »Hast du Boten oder Nachrichten von Kardhyn?« »Ja. Er verteidigt die Stadt. Er schickt Hilfe, wenn es nötig wird.« Dophor würde bis zum letzten Blutstropfen seinen Hof verteidigen. Aber er konnte keine Wunder wirken. Ich würde ihm helfen und vielleicht auch sterben – hier, in der Mikrowelt, in einem winzigen Stückchen Dreck auf dem Planeten der Maahks oder sonst irgendwo. Mein rechter Zeigefinger berührte eine nachgiebige Stelle, ich drückte automatisch zu und begriff erst eine halbe Sekunde später. »Dophor …!« schrie ich überrascht auf. Ein greller Pfeifton erklang und schnitt mein Wort ab. Dophor machte einen Satz von zwei Metern Weite. Klappernd fielen die Lanzen auf den Boden. Ich zuckte zurück und starrte auf die Maschine. Aus dem Pfeifton wurde ein durchdringendes Sum-
Rückkehr in die Mikrowelt men. Der Bruzack hob sich langsam hoch, bis er mehr als eine Handbreit über dem Scheunenboden schwebte. Dann klappten nacheinander drei der Kuppeln hoch und zurück. Die geschwungenen Verbindungsteile dazwischen schoben sich in die Masse des Geräts hinein und verschwanden. Ich blickte direkt auf ein Armaturenbrett. Aber – welch ein Armaturenbrett! Es war völlig fremd. Völlig unbegreiflich. Ich murmelte: »Dophor! Wir haben es geschafft! Der Bruzack ist offen.« Niedergeschlagen sagte Dophor, der das Innere der Maschine betrachtete und zögernd näherkam: »Offen, ja. Aber was ist der Bruzack?« Ich deutete auf zwei Konstruktionen, die kühn geschnitten waren, aber mit Sicherheit nichts anderes als bequeme Sitze darstellten. Sie befanden sich vor dem Armaturenbrett, vor den vielen Hebeln und den vertieften länglichen und runden Feldern, den Schaltern und Knöpfen. Hinter ihnen befand sich ein freier Raum, der sich bis ins Heck des Bruzack erstreckte. Ich stützte mich auf den Rand und blickte ins Innere. »Ich weiß nicht, was es ist. Ohne Zweifel eine Maschine, mit der man sich fortbewegen kann. Aber was sie noch kann – ich weiß es wirklich nicht.« Im gleichen Augenblick schlug draußen jemand einen mächtigen Metallgong. Er dröhnte auf, die hämmernden Schläge hallten über den Hof. Und hinter dem Lärm in unserer Nähe hörten wir deutlich das Trampeln von Tausenden Hufen. Die Krethors kamen. »Sie greifen an! Alle auf die Mauern!« schrie der Wächter und schlug weiter mit seinem Schlegel auf die Metallscheibe. Der Feind stürmte heran. Mir schien, als ob der letzte Akt Krothenbeets begonnen habe.
5. »Wehrt euch! Es geht um unser Leben!« Dophor stand, sieben Meter von mir entfernt, auf der Kanzel des anderen Torturms.
41 Er hatte sich umgedreht und seinen Arm ausgestreckt. Überall standen Bewaffnete und blickten ihn an. Einschließlich der Männer von Kardhyns Patrouille und der Frauen waren wir nicht mehr als hundert Leute. Es schien aussichtslos zu sein. Ich schwankte, ob ich hinuntergehen und versuchen sollte, den Bruzack in Gang zu setzen – oder ob ich kämpfen mußte. Kämpfe! Du bist es ihnen schuldig, riet der Extrasinn. Ich drehte mich um. Die Krethors kamen näher. Sie ließen sich Zeit und lenkten ihre Büffel im Schritt. Sie waren noch so weit entfernt, daß man sie eben deutlich erkennen konnte. Einzelheiten waren zu unterscheiden; die Schilde, die Lanzen, die geschwungenen Hörner der schweren Büffel. Jetzt teilte sich die Masse in zwei unregelmäßige Teile. Drei Viertel ritten geradeaus, das letzte Viertel, also rund zweihundertfünfzig Krethors, bogen in die Richtung auf Krothenbeet ab. Sie würden uns überrennen. Und als ob Dophors Brüllen ein Signal gewesen wäre, wurden die Krethors schneller. Das Trampeln der Hufe wurde lauter und dröhnender. Die Luft begann zu vibrieren, als die zweieinhalbfache Übermacht auf den Gutshof zudonnerte, über die Äcker und Wiesen hinweg, auf denen die dünne Schneeschicht geschmolzen war. Die Reiter waren eben noch eng nebeneinander geritten, jetzt zog sich die Kampfformation auseinander. Die Tiere wurden schneller. Lanzen und Schwerter senkten sich. Dophor überblickte von seinem Standort fast den gesamten Hof. Er hielt sein Beil in den Händen und wartete. Eine unheimliche Ruhe herrschte. Überall wurden jetzt die Armbrüste gespannt. Pfeilspitzen, dick umwickelt mit wergähnlichem Zeug, wurden in Öl getaucht. Die Verteidiger wußten, was zu tun war – sie würden sich mit allen ihren Möglichkeiten wehren. Die mehr als sieben Hundertschaften drehten ab und schoben sich wie ein lebender Wall zwischen Darga und uns. Und dann waren die Büffelreiter heran.
42 Sie bildeten einen Halbkreis, richteten sich in den Sätteln auf und brandeten in der ersten Angriffswelle gegen die Mauern und die Rückwände der Häuser und Scheunen. Ein Stoßkeil schildbedeckter Männer schob sich gegen das doppelte Tor. »Kämpft!« schrie Dophor. Er hatte den Augenblick richtig abgepaßt. Die Reiter hatten sich der Mauer bis auf fünfzehn Meter genähert. Sie mußten die Tiere zügeln, um sich nicht die Köpfe blutig zu stoßen. Ihre Arme ruckten nach hinten und holten mit kurzen Wurfspeeren aus. Ein Hagel aus Armbrustbolzen und brennenden Pfeilen zischte aus Luken und Fenstern, hinter den Brüstungen hervor und über die Mauerkrone. Ich hielt eine schwere Armbrust, zielte genau und richtete die Waffe auf den Anführer des Stoßkeils, der sich dem Tor näherte. Als die ersten Reiter schreiend aus den Korbsätteln fielen, als die schmerzgepeinigten Tiere aufbrüllten, als sich die glühenden Pfeilspitzen in ihr dickes Fell bohrten und das ölige Werg zu brennen begann, als sich vor den Mauern ein wüstes Schreien und Brüllen erhob, drückte ich den federnden Auslösehebel. Die stählernen Platten stellten sich gerade, die Sehne schrammte entlang der Führungsrille, und der armlange Bolzen mit dem dreifach geschliffenen Vorderteil jaulte durch die Luft. Der oberste Rand des Schildes wurde durchschlagen, der Bolzen traf den Reiter in die Kehle und schleuderte ihn rückwärts aus dem Sattel. Ich bückte mich, hakte den Sehnenspanner ein und stellte einen Fuß auf das Ende. Dann kippte ich den Balken der Armbrust, spannte sie und riß den zweiten Bolzen aus dem Köcher. Summend und krachend bohrte sich ein Speer neben meinem Kopf in einen wuchtigen Balken. Neben mir stand ein Wächter und schoß einen brennenden Pfeil nach dem anderen ab. Ducke dich! Sie haben dich gesehen! wisperte der Extrasinn. Klappernd fielen Lanzen in den Hof. Die harten Schläge, mit denen Wurfspeere in die
Hans Kneifel Wände, die Dächer oder gegen die Steine schlugen, hörten nicht mehr auf. Die erste Welle der Angreifer drehte ab. Mindestens zehn Reiter lebten nicht mehr. Tiere drehten sich wie rasend vor dem Tor und im braunen Erdreich. Ihr Fell brannte und stank. Schwarze und schwefliggelbe Rauchwolken stiegen vor den Mauern hoch. Die Verteidiger schrien sich Befehle zu. Dophor ließ sich Lanzen reichen und schleuderte sie mit unheimlicher Kraft schräg nach unten. Er zielte hervorragend und traf mit jedem Wurf. Die ersten Steine fauchten durch die Luft. Drei Meter neben mir riß jemand die Arme hoch, stieß einen gurgelnden Schrei aus, stürzte mit zerschmettertem Schädel von der Mauer und fiel auf den mit zerbrochenen Geschossen übersäten Hof. Ab und zu griff einer der Reiter in die Zügel eines herrenlosen Tieres und riß den Büffel mit sich. Die Verwundeten sammelten sich außerhalb der Reichweite unserer Waffen. Die zweite Reihe der Angreifer blieb stehen und machte sich bereit. Wir hatten einige Atemzüge lang Ruhe. »Dophor!« schrie ich. »Wir werden uns nicht besiegen lassen!« schrie er zurück. »Noch haben wir alle Möglichkeiten.« Die Tackmackreiter hatten noch nicht angegriffen. Fünfundzwanzig von ihnen warteten in den Sätteln. Ihre Tiere bildeten einen unruhigen Haufen. Sie werden trotzdem nicht siegen! sagte der Extrasinn doppeldeutig. Die schmale Zone vor der Mauer war zertrampelt und leer. Etwa fünfzehn Tote lagen jetzt dort, und zerbrochene Waffen hatten sich in das Erdreich gebohrt. Einige Brandpfeile schmorten und rauchten. Langsam drehte ich mich herum und warf einen langen Blick auf die Kämpfenden. Ich ahnte, daß die Krethor-Reiter etwas vorhatten. Der konventionell geführte Kampf würde sie zu viele Opfer kosten. Der zweite Angriff.
Rückkehr in die Mikrowelt Diesmal formierten sich zwei Gruppen. Eine davon näherte sich mit großer Geschwindigkeit und raste parallel zur Mauer dahin, die andere bildete wieder einen Keil und donnerte auf das Tor zu. Jetzt wußte ich, was sie vorhatten. »Dophor! Sie rammen die Portale!« brüllte ich und hob die Armbrust. Drei Büffel, die den Blick auf die folgenden Tiere des Stoßkeils verdeckten, wurden zur Seite gerissen. Wir sahen sechs Büffel, an deren Sättel und Kummete ein langer Balken geschnallt war. Der Rammbock trug eine eisenbeschlagene Spitze. Die Reiter in den Sätteln schlugen wild auf die Büffel ein. Ich hob die Waffe und feuerte, der erste Reiter kippte aus dem Sattel. Dann zischten nacheinander ein Dutzend Brandpfeile aus beiden Tortürmen. Aber trotz sterbender Reiter, trotz brüllender und durchgehender Tiere stürmten die sechs aneinandergefesselten Büffel weiter. Sie durchbrachen den Geschoßhagel. Die Steine prallten von den Köpfen der Büffel ab. Die Reiter schrien, peitschten die Tiere und duckten sich tief in die Sättel. Die Verteidiger schossen und warfen mit allem, was sie hatten. Einige Männer rannten die Treppen hinunter und auf das Bohlentor zu. Dann erfolgte der Aufprall. Die sechs Büffel hatten ihre Geschwindigkeit nicht mehr verringert. Sie galoppierten stur geradeaus, die Gehörne kampfbereit gesenkt, der Balken zwischen ihnen hob und senkte sich und traf dann mit einem donnernden Krach, der die Quadern der Wachtürme erschütterte, ziemlich genau in den Spalt zwischen den Portalen. Dann, nachdem Balken splitterten, nachdem einige Nieten sprangen und sich die eisernen Riegel und Bänder verbogen, rissen die Reiter die schreienden Büffel zurück. Im gleichen Augenblick, als die Reiter des Rammkommandos abdrehten, waren die anderen Angreifer heran. Sie tangierten mit einer Anzahl Reiter die Mauer, setzten sich nur einige Galoppsprünge lang unseren Geschossen aus und feuerten ihre Speere und
43 Pfeile ab. Wieder sah ich, wie einige Verteidiger starben. Ich schoß Pfeile, ich ließ mir von Gjeima die kurzen Speere reichen und schleuderte sie nach unten. Ich riß den Schild hoch und wehrte fliegende Steine ab. Ein Speer rammte meine Schulter, verletzte mich aber nicht. Neben mir starb lautlos ein Mann mit einem Pfeil in der Brust. Immer wieder kamen Gruppen von Reitern, griffen an und waren außer Schußweite, kaum daß wir richtig hätten zielen können. Ich duckte mich und beobachtete die Gruppe mit dem Rammbock. Dann legte ich die Hände an den Mund und rief hinüber zu Dophor, dessen zerbeulter Schild vor Pfeilen starrte. »Dophor! Wenn sie das nächstemal rammen, öffne die Tore!« »Ich habe verstanden, Atlan. Los, tut, was er sagt! Hört auf seinen Befehl.« Ich hob den Arm und machte die Tackmackreiter auf mich aufmerksam. »Eure Aufgabe ist, die Büffel zu töten. Und die Reiter. Und sehr schnell! Ihr habt verstanden?« Sie schrien zurück: »Wir haben verstanden, Fremder!« Draußen auf der Ebene sah ich kleine Gruppen von Tackmackreitern. Die Männer um Kardhyn griffen einzelne Reiter an, machten sie nieder und stoben wieder davon. Aber auch sie konnten, so tapfer sie waren, keine Wunder wirken. Wieder galoppierten, geschickt beschützt durch andere Gruppen von Reitern, neue Büffel heran, auch sie an den gewaltigen Balken gebunden. Ich verständigte mich mit den Männern, und sie schlugen mit Hämmern auf die verbogenen Riegel. Knarrend und quietschend bewegte sich Metall in Metall. Die Büffel donnerten heran. Wieder zischten die Pfeile und klangen die Bogensehnen. Speere flogen durch die Luft, bohrten sich in die Erde und in Körper. Unbeirrbar kamen die Büffel näher. Ich hob die Hand und schrie den Arbeitern zu:
44 »Einen Spalt weit auf, das Tor!« Die Tackmackreiter bildeten zwei Reihen. Ihre Lanzen wurden stoßbereit gefällt. Die Entfernung zwischen dem Tor und den ersten Büffeln verkürzte sich. Ich schoß einen Reiter aus dem Sattel, aber mit der letzten Bewegung schlug er noch auf den tobenden Büffel los. Die Wächter rissen die Riegel zur Seite und sprangen zurück in den Winkel hinter der Mauer. Es muß schnell gehen! Befiehl ihnen das Richtige! sagte der Extrasinn. Wieder rammte der Balken das Tor. Wieder hatten sie gut gezielt. Die beiden Flügel wurden aufgestoßen und schlugen mit furchtbarem Getöse gegen die Mauern. Es regnete Mörtel und Steintrümmer. Ohne in ihrer Geschwindigkeit gebremst worden zu sein, galoppierten die sechs Büffel in den Hof und genau in die Lanzen der Reiter hinein. »Schließt das Tor!« Die Männer schoben die beiden Flügel wieder zu. Sie schlugen die verbogenen Riegel wieder mit den Hämmern in die Fassungen und Widerlager hinein. Alles ging in rasender Eile vor sich. Mitten im Hof begann ein verzweifelter, aber kurzer Kampf. Noch während die Tiere im Galopp auf die Frontmauer des Wohnhauses zurannten, stießen die langen Lanzen zu. Ein Tackmack geriet in einen Angriff des Büffels und wurde aufgeschlitzt. Aber die Büffel konnten sich nicht richtig bewegen; sie waren an den Balken gefesselt. Schnell trieben die Reiter ihre Waffen in die Körper der Büffel. Schon die ersten Stiche waren tödlich. Plötzlich, noch während ich wieder mit dem Bogen auf vorbeirasende Reiter schoß, schrie jemand von der entgegengesetzten Seite des Hofes: »Feuer! Sie haben die Scheune angezündet!« Dophor reagierte schnell und brüllte zurück: »Alle Frauen sollen löschen!« Der Kampf ging weiter. Noch immer hetzten die Reiter
Hans Kneifel die Büffel und umgekehrt. Die ehemals starre Schlachtordnung rund um uns in der Ebene hatte sich gelockert. Es gab Gruppen von verwundeten Männern und Tieren, es gab andere Gruppen, die sich wieder neu formierten und die Waffen ergänzten, und es gab zwei andere Verbände, die sich bereits zusammengeschlossen und neue Angriffswellen gebildet hatten. Ich sah hinaus in die Ebene und merkte, daß sie sich in die Richtung auf Dophors und seiner Sippe Hof bewegten. Wenn sie entschlossen angriffen, würde dies das Ende sein. Eine Scheune brannte. Man hatte auf der anderen Seite Brandpfeile ins nasse Dach geschossen, und deswegen hatte es so lange gedauert, bis sich der Brand ausgebreitet hatte. Frauen verließen ihre Posten und rannten in die Richtung des Brunnens. Mitten im Hof fiel der letzte Büffel mit zuckenden Gliedmaßen leblos zusammen. Und schon kam der nächste Angriff. Während zwei Gruppen von Büffelreitern sich einer anderen Stelle näherten, machten sich die Männer in den Sätteln der Tackmacks bereit. Sie wollten einen Ausfall unternehmen. Wir hatten von den zweihundertfünfzig Reitern mehr als ein Zehntel töten oder verletzen können – noch immer aber gab es mehr als zweihundert Männer, die fest entschlossen herankamen, um die Mauern niederzurennen. »Helft den Frauen beim Löschen!« Das Dach der Scheune und Teile der äußeren Wand hatten sich in eine einzige Flammenfläche verwandelt. Die Flammen, die sich über dem Giebel vereinigten, endeten in einer Wolke schwarzen Rauchs, die schräg in die Luft stieg und dort ausbreitete. Die Gegner bildeten mindestens zwanzig kleine Gruppen, die an allen Seiten des Gutshofs angriffen. Sie kamen heran, schleuderten ihre Waffen, töteten die Verteidiger und ritten wieder zurück. Dieses Stück des Kampfes dauerte einige Stunden, und es gab keine Möglich-
Rückkehr in die Mikrowelt keit, einen Ausbruch zu versuchen. Wie es Darga erging, konnten wir nur ahnen. Auch dort brannte es, und von dort hörten wir den Lärm eines erbitterten Kampfes. Aber es gab noch immer Gruppen von Reitern, die in der Ebene Büffelreiter jagten. Wir verloren einen Mann nach dem anderen. Eine Kette bildete sich und schleppte Eimer um Eimer Wasser an die Brandstelle, aber wir konnten nicht verhindern, daß die Scheune niederbrannte. Die angrenzenden Gebäude aber retteten wir. Gjeima stand in einer leeren Fensterhöhle der Scheunenwand und schleuderte heiße Ziegel, deren Mörtelverbindung sich gelockert hatte, auf die Angreifer hinunter. Der Kampf geht in die letzte Phase, sagte der Extrasinn. Wir wurden immer weniger auf den Mauern. Die Frauen verbanden die Verwundeten, aber die Männer kamen so bald wie möglich wieder. Allmählich leerten sich die Köcher, wir verwendeten bereits die Waffen, die die Gegner über die Mauer geschleudert hatten. Aber wir wehrten uns erbittert. Es schien, als könnten wir die Entwicklung noch einmal aufhalten. »Die Reiter! Hinaus! Haltet den Raum um die Mauern frei!« befahl Dophor, der aus einer Stirnwunde blutete. Das Tor wurde aufgerissen, die Tackmacks stürmten hinaus. Der Verband raste mitten in eine Formation Büffel hinein, deren Reiter die Tiere verwirrt auseinanderspringen ließen. Die langen Lanzen zuckten vor, Waffen prallten gegeneinander, und wieder bildete sich eine neue Stelle des Kampfes. Ich hob die Armbrust und feuerte auf einen Reiter, der eben einen Speer in Richtung Dophor werfen wollte. Ich traf ihn in die Brust. Immer wieder stießen einzelne Reiter vor, feuerten Brandpfeile in das Tor und ließen, so oft sie konnten, die Tiere mit dem Gehörn dagegenstoßen. Lange Splitter brachen aus dem Holz, immer wieder dröhnte das Portal auf und schwankte hin und her. Es war nur
45 noch eine Frage der Zeit, bis das Tor auseinanderfiel. »Dophor!« schrie ich. »Sie werden eindringen!« Dophor schien weit mehr Erfahrung in dieser Art von Kampf zu haben, als ich es glaubte. Er nickte mir zu und winkte dem Mann, der in der Nähe des Warngongs stand und mit seiner Schleuder hantierte. »Rufe die Reiter zurück!« Die Reiter waren ausgeruht und verfügten nicht nur über ihre Kraft, sondern auch über alle Waffen. Und sie waren schnell und erbarmungslos. Ihre Lanzen stachen zu, sie schmetterten Büffelreiter aus den Korbsätteln, ihre Schwerter und Beile wirbelten durch die Luft und trafen fast immer. Aber dann krachten die Schläge des Gongs. Die Reiter rissen die Vögel herum, und unter einem Schauer von Wurfgeschossen wurde der Raum vor dem Tor frei gehalten. Verwundete Knechte rissen das schief in den Angeln hängende Tor auf. Der Gong schien nicht nur für die Tackmackreiter ein Signal gewesen zu sein, sondern für alle Bewohner der Anlage. Die Menschen kamen von allen Seiten zusammen, als die ersten Vögel mit riesigen Schritten in den Hof hineinrannten. »Atlan! Das gilt auch für dich!« schrie Dophor. Nur die stärksten Krieger befanden sich jetzt noch auf den Wällen und in den beiden Tortürmen. Sie rissen jetzt Steine aus den Brüstungen und schleuderten sie auf die Angreifer. In wilden Zickzacklinien stoben die Tackmacks heran, tauchten unter dem Querbalken des Tores hindurch und schlugen einen engen Kreis im Hof. Jeder Reiter riß einen Mann oder eine Frau in den Sattel, hetzte sein Tier zu höherer Geschwindigkeit und bewirkte, daß die Rennvögel flügelschlagend hinaus auf die Ebene rannten. Krothenbeet schien nicht mehr zu retten zu sein. Ich legte den letzten Bolzen ein, spannte die Armbrust und feuerte auf einen Büffelreiter, der gerade versuchte, den ersten
46 flüchtenden Patrouillenreiter anzugreifen. Die Krethors schienen zu merken, daß die Insassen des Hofes zu flüchten versuchten. »Atlan! Hinunter!« brüllte Dophor, packte einen Mann am Arm und polterte mit ihm zusammen die Treppen hinunter. Ich zog mein Schwert aus dem Holz und folgte ihm. Wieder verließ in halsbrecherischem Tempo, dicht über den Hals des Tackmacks gebeugt, ein Reiter den Hof und sprengte im Zickzack zwischen den einzelnen Gruppen hindurch. Er flüchtete nach Norden. Ich wartete. Einen langen Blick warf ich in die Richtung des Bruzack, der in der unversehrten Scheune stand. An den Geräuschen hörte ich, daß sich die Büffelreiter sammelten und sternförmig auf das offene Tor zurannten. Zwei Tackmacks stoben hinaus und waren in der Freiheit. Dophor wartete ab, bis einige Mädchen und einige Verletzte in die Sättel der Vögel gehoben wurden. Dann winkte er mir. »Zuerst du!« sagte ich. »Du folgst! Keine Widerrede! Wir sammeln uns an einem Platz, den ich kenne und du nicht!« erwiderte er hart. »Ich verstehe.« Aus der geschwärzten Ruine der Scheune stiegen Dampf und Rauch auf. Ein beißender Geruch lag in der Luft. Wieder raste flügelschlagend ein Vogel an mir vorbei. Er trug im Sattel eine von Dophors Töchtern, einen Reiter und Dophor selbst. Zwei Büffel drangen eben durch das Tor ein, aber der hinausflüchtende Reiter stach einen Angreifer aus dem Sattel. Ich sprang auf den letzten Reiter zu, der mir einen Arm entgegenstreckte. Ich stellte meinen Fuß in den Steigbügel und schwang mich hoch. Es ist fast zu spät! Sie haben die Gasse geschlossen! schrie der Extrasinn. Ich klammerte mich mit der linken Hand am Körper des Reiters fest und preßte mich an seinen Rücken. »Hinaus!« schrie ich. Wieder galoppierten einige Krethors in
Hans Kneifel den Hof und griffen uns an. Das Tor war versperrt. Ich merkte an den Bewegungen des Tieres unter mir, was der Mann im Sattel vorhatte. Er spornte das Tier an, das in die äußerste Ecke des Hofes zurückrannte, die kurzen Flügel ausbreitete und wie rasend zu flattern begann. Wir sprangen mit riesigen Schritten über die Steine, über die Körper der toten Büffel, vorbei an einem Reiter, der nicht schnell genug reagieren konnte, dann auf die niedrigste Stelle der Mauer zu. Der Vogel schrie auf, die Flügel erzeugten einen Windstoß, und mit zwei, drei mächtigen Schritten stieß sich das Tier ab und erhob sich in die Luft. Ein Fuß kam noch einmal auf den Boden und trat mitten auf die Kruppe eines Büffels. Dann wurde aus dem Sprung so etwas wie ein Flugversuch. Der Tackmack erhob sich schräg und zog die Beine ein. Er schwirrte mit rasend schnellem Flügelschlag über die Mauerkrone hinweg. »Wir sind frei!« schrie der Reiter, aber in diesem Augenblick erfolgte der Stoß. Die Krallen des Vogels schlugen gegen die Kante der Mauer. Das Tier verlor die Balance, ruderte mit dem Hals und dem Schwanz ausgleichend durch die Luft, die Flügelschläge schienen abermals schneller zu werden, aber der Vogel überschlug sich in der Luft und warf uns ab. Ich rollte mich zusammen, schlug in den zertrampelten Acker und kam auf. Ich wurde wieder hochgeworfen, kugelte durch den Schmutz und versuchte, auf die Beine zu kommen. Als ich mich aufrichtete, war es zu spät. Fallen lassen! rief der Extrasinn. Ich sah aus dem Augenwinkel eine gewaltige Masse sich rasend schnell nähern und duckte mich. Aber noch ehe ich eine Handbreit in die Knie gegangen war, traf ein Schlag meinen Hinterkopf. Ich verlor die Besinnung.
* Wieder weckten mich Schmerzen und
Rückkehr in die Mikrowelt Kälte. Ich öffnete die Augen und fühlte einen Kopfschmerz, der mich rasend machte. In den Schläfen schien ein Hammer zu arbeiten. Ich lag auf kalten Steinen, meine Arme waren verkrampft, und als ich die Hände bewegen wollte, merkte ich, daß sie mit Lederriemen zusammengeschnürt waren. Sie haben dich gefangen! Aber noch lebst du, munterte mich der Logiksektor auf. Ich drehte langsam den schmerzenden Kopf von einer Seite zur anderen. Meinen Fellmantel hatte ich behalten; ich merkte es daran, daß ich nicht ganz so hart lag und nicht ganz so zitterte wie vor einigen Tagen. Grölen und Flüche schlugen an meine Ohren. Ich sah, daß wir uns in der Scheune befanden, in der der Bruzack schwebte. Wir? Ich stieß mit dem Ellbogen an eine weiche Gestalt, als ich mich bewegte. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewohnt hatten und ich Einzelheiten unterscheiden konnte, blickte ich direkt in das breitflächige Gesicht Gjeimas. »Ausgerechnet!« murmelte ich fast unhörbar. »Alle anderen konnten flüchten!« sagte sie und setzte hinzu: »Wir beide werden zusammen sterben, Atlan.« »Danke für den Hinweis«, knurrte ich. Ich versuchte, mich aufzurichten und schaffte es beim dritten Versuch. Der Schmerz unter der Hirnschale ließ nach, als ich saß und meinen Rücken gegen die Steinmauer des Sockels lehnte. Sie hatten uns einfach in die dunkelste Ecke der Scheune geworfen und feierten draußen ein Siegesfest. Ich roch Büffelbraten, verschütteten Wein und Gemüse, das in der Glut vor sich hin schmorte. Die Krethors sprachen fast dieselbe Sprache wie Dophor und seine Sippe, und ich verstand ziemlich gut, was die angetrunkenen Krieger sagten. »Sie sind tatsächlich alle entkommen. Wir haben keinen der Vögel mehr einholen können!«
47 Holzbecher klapperten. Irgendwo plätscherte Wasser oder Wein, der aus einem Krug verschüttet wurde. Dumpf brüllte ein Büffel in dem Stall, in dem sich zuvor die Tackmacks befunden hatten. Und ich, nach meiner ersten Gefangenschaft. Die Schrecken der Mikrowelt waren identisch mit denen in der normalen Welt von Kolonialplaneten oder Primitivkulturen. Und überall feierten die Sieger. So auch hier und jetzt. »Sie werden sich irgendwo im Norden sammeln und zurückkommen …« »Nicht so schnell. Auch Darga ist in unserer Hand. Wir bleiben …« »Dieser Fremde! Wir werden ihn verhören und ihm nachher den Kopf abschneiden.« »Aber er hat den Bruzack geöffnet. Er half Dophor.« »Das alles erst morgen. Hier, mein Becher …« Du kennst jetzt dein Schicksal. Andere es! forderte mich der Logiksektor ruhig auf. Ich streckte meine Beine aus. Die Fußgelenke waren nicht zusammengebunden. Dann blickte ich in unserer Nähe auf den Boden und suchte etwas zu finden, mit dessen Hilfe ich die Lederschnüre durchschneiden oder aufreiben konnte. »Dort ist der Bruzack!« murmelte ich. »Sie wollen uns morgen töten, Gjeima. Ich will nicht sterben.« Sie erwiderte etwas Unverständliches. Ich zuckte zusammen, als ich Schritte hörte. Ein Schatten schob sich zwischen uns und das Feuer. Ich stellte mich schlafend und hoffte, daß derjenige, der sich waffenklirrend näherte, auf diesen Trick hereinfallen würde. Die Schritte hielten dicht vor meinen Füßen an. Dann trat mich ein Stiefel hart gegen den Oberschenkel. »Du bist der Fremde, der dem Besitzer geholfen hat?« fragte eine Stimme in dem schauerlicheren Dialekt der Krethors. »Er rettete mein Leben, als ich fast erfroren war«, erklärte ich leise. Bei jedem Wort schmerzte der Kopf. Meine Finger, die sich
48 in dem Hohlraum zwischen meinem Rückgrat und dem Winkel von Boden und Mauer bewegten, ertasteten einen scharfkantigen Stein. »Du kennst den Bruzack?« fragte der Anführer. Er ähnelte Dophor, aber war noch viel häßlicher. Außerdem stank er durchdringend. »Ich habe ihn geöffnet. Aber ich weiß nicht, was er ist«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Warum bin ich gefesselt?« Mein Gegenüber schwieg. Schließlich, nach einer langen Weile, in der er wohl meine Wichtigkeit abschätzte, sagte er ruhig: »Weil es bei uns nicht Sitte ist, einen Gefangenen vor seinem Tode freizulassen. Das Mädchen hier deine Frau?« »Meine Freundin!« sagte ich spontan. Tatsächlich! Meine Finger fühlten eine rauhe, schnittige Kante dieses Bruchsteins. Er würde mir helfen, wenn dieser stinkende Heerführer nicht gleich etwas unternahm. »Wir haben den Bruzack. Wir brauchen dich nicht mehr!« sagte er. »Du wirst sterben. Das Mädchen auch. Oder ich werde sie noch meinen Leuten zur Verfügung stellen!« Ich sagte laut: »Noch kann ich dich nicht daran hindern.« Er lachte kurz, trat mich noch einmal gegen den Oberschenkel und ging dann fort. Er verschwand aus der Scheune, nachdem er einen Augenblick neben dem fremdartigen Gerät stehengeblieben war und den schwebenden Bruzack betrachtet hatte. Niemand war außer uns in der Scheune. Die Reiter feierten draußen und im Wohnhaus, und überall waren Lärmen, Schreien und Tiergeschrei. »Wir müssen uns befreien, Gjeima!« sagte ich und drehte mich so, daß ich den Stein fest zwischen die Finger bekam. »Ich habe einen Stein gefunden. Gib mir deine Handgelenke!« Sie flüsterte atemlos und bewundernd: »Du wirst uns befreien? Aber wie können wir flüchten? Sie werden uns so schnell gefunden haben wie dich!«
Hans Kneifel »Wir fliehen mit dem Bruzack!« erklärte ich. Dann war ich in der richtigen Position. Gjeima blickte in die Richtung des Tores, in das zuckende Licht des Feuers, in die torkelnden Schatten. Ich saß Rücken an Rücken mit ihr und schabte mit der schärfsten Steinkante an der dünnen Lederschnur. Gjeima spreizte die Gelenke auseinander und straffte dadurch die Fessel. Ich arbeitete schweigend und so schnell wie möglich. Langsam begann ich zu schwitzen, aber die Aufregung und die Anstrengung vertrieben den wahnsinnigen Schmerz im Kopf und im Nacken. Nach einer Zeit, die mir endlos erschien, fühlte ich, wie die Schnüre rissen. »Versuche, die Hände auseinanderzuziehen!« flüsterte ich. »Kommt jemand?« »Nein.« Zwischen meinen Fingern spürte ich schnelle, hastige Bewegungen. Dann ein reißendes Geräusch. Im schwachen Licht sah ich, wie Gjeima die Arme auseinanderriß. »Frei! Und jetzt rennen wir!« Ich warf mich nach vorn und hielt sie fest, indem ich meine Beine hochriß und ihren Körper einklemmte. »Zuerst mußt du meine Fesseln aufmachen! Schnell! Und schneide mir die Haut nicht auf!« Ich ließ den Stein fallen, bewegte mich hilflos in eine andere Position und hielt ihr die Handgelenke ebenso hin wie sie vor Minuten. Während ich den Eingang beobachtete, schabte und schnitt sie an meinen Fesseln. »Wie spät?« flüsterte ich irgendwann. »In zwei Stunden wird es hell!« erwiderte sie, dann beugte sie sich nieder und biß die letzten dünnen Riemen durch. Ich massierte meine Handgelenke und überlegte, was am besten zu tun sei. Zuerst nachsehen, ob euch ein Fluchtweg mit Tackmack oder Büffel versperrt ist. Der Bruzack ist ein zu großes Risiko! sagte der Logiksektor. Ich stand auf, machte ein paar Übungen und gewann die Kontrolle über meine Glieder wieder zurück. Dann huschte ich lautlos
Rückkehr in die Mikrowelt entlang der Wand bis in die Nähe des Tores. Was ich sah, entmutigte mich. Überall standen Wachen, brannten Feuer oder Lichter. Das Tor war versperrt, und die ganze Anordnung bewies, daß sie sich gegen einen Angriff von außen gesichert hatten. Für uns bedeutete es, daß sämtliche Fluchtmöglichkeiten wegfielen. Also doch der Bruzack! Ich wußte, daß ich ein tollkühnes Wagnis einging. Aber die geringste Chance war besser als die Aussicht, auf den Tod zu warten. Ich winkte nach hinten und legte gleichzeitig den Finger an die Lippen. Die Gruppe der trinkenden und das Fleisch ihrer eigenen getöteten Büffel essenden Reiter war keine zehn Meter von mir entfernt. Ich umrundete den Bruzack und kletterte hinein. Die Polsterung der Sessel war sehr bequem. Offensichtlich war die Maschine völlig neu. »Was jetzt, Arkonide?« murmelte ich, als ich vor dem Steuerpult saß. Es gab verschiedene Hebel, und ich erkannte kein System, nach dem ich vorgehen konnte. Gjeima folgte mir und begann, meine Arme und mein Gesicht mit Zärtlichkeiten zu überhäufen. Unwillig schüttelte ich sie ab. »Nicht jetzt!« knurrte ich. Ich drückte Tasten, die weit außerhalb des Zentrums der Steueranlage aus dem Armaturenbrett hervorsahen. Eine von ihnen ließ die Beleuchtung der Uhren und Skalen anspringen. Ich drückte einen zweiten Schalter und zog probeweise mit der rechten Hand sämtliche Hebel zu mir heran. Nichts geschah. »Verdammt!« Meine Bewegungen wurden hastiger. Schließlich, nachdem sich die Sitze gehoben und zurückgeschoben hatten und wieder nach vorn geklappt waren, nachdem für einen Sekundenbruchteil vor dem Fahrzeug ein starkes Licht aufgeblendet war, nachdem verschiedene leise Geräusche zu hören gewesen waren, legte ich meinen Finger auf einen großen Druckschalter. Ich drückte ihn nieder. Im gleichen Augenblick gab es hinter uns
49 einen donnernden Krach. Es war, als habe man ein Raumschiffsgeschütz abgefeuert. Dann schüttelte sich die Maschine und röhrte auf wie ein Büffel. Es zischte laut, und der Bruzack begann sich zu drehen. Immer schneller. Ich schob einen Regler nach dem anderen wieder in die Ausgangslage zurück; beim vierten hielt die Maschine an. Jetzt deutete der Vorderteil auf die halb geöffnete Scheunentür. Ich erinnerte mich an einen Schalter und schaltete die Beleuchtung ein. Wieder gab es einen gewaltigen Krach, dann erfolgte hinter uns ein lautes Rülpsen, das beinahe das Dach der Scheune abhob. Gjeima wimmerte voller Furcht neben mir und hielt sich an der Sitzkante fest. Ich sah, wie die Reiter zusammenliefen und nach ihren Waffen griffen. Wieder ein donnerndes Geräusch. Ich probierte einen anderen Hebel aus, als die ersten Männer in die Scheune hineinstürzten. Sie schrien und schwangen die Waffen. Ich zog einen der langen Hebel. Ein Schlag traf mich in den Rücken, eine ruck artige Beschleunigung setzte ein und stieß den Bruzack nach vorn. Aus den großen Öffnungen im Heck schlugen meterlange Flammen und schwarze Rauchfahnen. Das Gefährt wurde immer schneller, und in meiner Panik mußte ich einen anderen Kontakt geschlossen haben, denn mit unerschütterlicher Langsamkeit klappten die Kuppeln zurück, schoben sich die Verbindungsteile aus den Verkleidungen hervor. Männer sprangen fluchend zur Seite. Der Bruzack rammte das Tor, riß es aus den Angeln und wirbelte es zusammen mit einem halben Dutzend Krieger zur Seite. Dann schleuderte das Gerät auf die andere Seite und schoß durch die Mauer der Scheune, als wäre sie aus Papier. Der Bruzack, den ich vergeblich in den Griff zu bekommen versuchte, warf zwei Büffel zur Seite, steuerte immer schneller werdend und höher steigend, auf die Torflügel zu und verwandelte sie, ohne daß wir etwas spürten, in Splitter und Fetzen. Hinter
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uns lange, orangefarbene Flammen und jetzt weißen Rauch, so schoß die Teufelsmaschine hinaus auf die Ebene, drehte sich um hundertachtzig Grad und umrundete die Mauern des Hofes. Ich ließ die Hebel los. Ich sah keinerlei Zusammenhang zwischen meinen »Schaltungen« und dem Verhalten dieses wildgewordenen MikroweltSupergleiters. Der Bruzack wurde immer schneller, die Flammen heller, der Rauch dicker, und mit atemberaubender Geschwindigkeit raste des Projektil mit uns als zitterndem Inhalt genau nach Süden. Ich hatte die Maschine starten können – aber ich konnte sie nicht mehr anhalten. Versuche es systematisch! befahl der Extrasinn. Ich versuchte es. Aber unter meinen Hän-
den wuchs die Geschwindigkeit, die Richtung änderte sich nicht, die Höhe über dem Boden auch nicht. Die Sicht nach vorn durch ein durchsichtiges Stück des Materials war miserabel. Außerdem herrschte noch immer Nacht. Der Versuch, jetzt auszusteigen, wäre der sichere Tod für uns beide. Ich versuchte, das Ding anzuhalten, aber es verschwand mit uns. Eine rasende Alptraumfahrt begann. Ich wußte nicht, wohin sie uns bringen sollte. Jedenfalls schienen wir den Büffeln entkommen zu sein. Dies war der einzige optimistische Aspekt an dieser verrückten Flucht.
ENDE
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