Aus der Tiefe steigt Dunkelheit empor … Zehntausend Jahre lang herrschte Frieden zwischen den neun Gilden von Ravnica –...
28 downloads
384 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Aus der Tiefe steigt Dunkelheit empor … Zehntausend Jahre lang herrschte Frieden zwischen den neun Gilden von Ravnica – dank dem Gildenpakt. Doch plötzlich tauchen zu viele Leichen von wichtigen Persönlichkeiten auf, und der Bund der Wojeks, dem Agrus Kos mehr als fünfzig Jahre lang gedient hat, ver sucht ihn daran zu hindern, dieses Geheimnis aufzuklä ren. Gildenpakt hin oder her: Schon bald merkt er, dass er der Einzige ist, der die komplette Zerstörung der Stadt Ravnica verhindern kann. Cory J. Herndon erzählt den Beginn einer verwickelten Geschichte über Intrigen, Mord und Täuschung in den gefährlichen Straßen von Ravnica.
2
RAVNICA
Ravnica Zyklus · Band 1
Cory J. Herndon
Aus dem amerikanischen Englisch von Hanno Girke
3
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich. Dieses Buch wurde auf chlorfreiem, umweltfreundlich hergestelltem Papier gedruckt. In neuer Rechtschreibung. Deutsche Ausgabe herausgegeben von der Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70.178 Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten. Origi nalausgabe: »Magic: The Gathering: Ravnica Cycle, Book I: Ravnica -City of Guilds« by Cory J. Herndon. First published by Wizards of the Coast in September 2005. Magic: The Gathering, Experience the Magic, and the Wizards of the Coast logo are trademarks of Wizards of the Coast, Inc. in the US and other countries. © 2005 Wizards of the Coast, Inc. All rights reserved. Licensing by Hasbro Properties Group. No similarity between any of the names, characters, persons and/or institutions in this publication and those of any pre-existing person or institution is intended and any similarity which may exist is purely coincidental. No portion of this publication may be reproduced, by any means, without the express written permission of the copyright holder(s). Übersetzung: Hanno Girke Lektorat: Patrick Niemeyer Besonderen Dank an Cristiano Scibetta von Hasbro Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest Chefredaktion: Jo Löffler Umschlaggestaltung: tab visuelle kommunikation, Stuttgart Cover art by Todd Lockwood Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck: Nerhaven Paperback A/S, Viborg, DK ISBN: 3-8332-1302-7 1. Auflage, November 2005 Printed in Denmark www.paninicomics.de/magic
4
Widmung Für S. P. Miskowski,
die immer alles vor dem Ende herausfindet
Danksagungen Die folgenden Leute ermöglichten dieses Buch, auch wenn manche von ihnen sich dessen nicht bewusst sind (aber die meisten sollten es schon wissen): Susan J. Mor ris, deren unendliche Geduld nur noch von ihrem Kön nen als Lektorin übertroffen wird Peter Archer, der mir meine eigene Trilogie angeboten hat – und er hat es sogar ernst gemeint Brady Dommermuth, der mir erlaubt hat, mich in einer perfekt ausgearbeiteten Welt auszutoben Scott McGough, der genau weiß, wie man mit den kleinen Feinheiten umgeht. Die Künstler, Redakteure, Designer, Erfinder und alle anderen herausragenden Leute, die die Magic-Karten erfinden, herstellen, die Bilder malen, den Anekdotentext schreiben, den Text bearbeiten und die Bücher herausge ben. Besonderer Dank gilt Bayliss und Remo, die mir Einblick in die Welt der Ermittlungen gewährt haben.
5
Kapitel 1
H
VORFALLSBERICHT: 10/13MZ/430221 EINGEREICHT: 17. Griev 9943 Z. C. HAUPTBEARBEITER: Konst. Kos, Agrus ZWEITBEARBEITER: Ltn. Zunich, Myczil Ein Falke, dessen Federkleid die Farbe von rostigem Blut hatte, überbrachte die Nachricht kurz vor Ende der Tag schicht. Es schien zunächst eher Glück als Schicksal zu sein, dass der Vogel sich auf der Schulter des WojekKonstablers namens Agrus Kos niederließ. Der größte Teil der Tagschicht war schon nach Hause gegangen, nur Kos und sein Dienstkamerad befanden sich noch in der Wachstube. Sie nutzten den kurzen Zeitraum vor dem Eintrudeln der Nachtschicht, um in Ruhe den Papier kram, der im Lauf des Tages angefallen war, abzuschlie ßen. Zufällig hatte Kos näher am Fenster gestanden, als der Vogel hereingeflogen kam. Der Falke hatte sich Kos’ Schulter als Landeplatz ausgesucht, was in der Folge diesen jungen Ordnungshüter zum Ermittlungsleiter machte. Es war sein erster eigener Fall, nachdem er mehrere Jahre als Streife auf den Straßen von Ravnica für Ruhe und Ordnung gesorgt hatte. Hätten Kos und sein Kollege ihr Dienstbuch rechtzeitig 6
ausgefüllt und die Bundeshalle ein paar Minuten früher verlassen, hätte der junge Ordnungshüter den Fall nie bekommen. Hätte sein Kollege, Leutnant Myczil Zunich, den Befehl aufgrund des Rechts des Älteren abgelehnt und beschlossen, dass sie jetzt Feierabend hätten, wären sie wahrscheinlich wie an so vielen Abenden der letzten paar Wochen auf ein paar Runden im »Achterwasser« gelandet. Sie hätten über die Gesetzesübertretungen, diversen Auseinandersetzungen und ungelösten Geheim nisse des Tages sinniert und dabei Krüge mit heißem Bumbat getrunken. Sie hätten etwas Dampf ablassen und auch ihre inoffiziellen Meinungen diskutieren können. Danach wären sie wohl ihrer Wege gegangen: der Leut nant zu seiner Frau und seinem Neugeborenen, der junge Konstabler zu seiner kleinen Wohnung, wo er sich auf die Prüfung für die nächste Beförderung vorbereitet hätte. Und am nächsten Tag wären beide noch am Leben gewe sen. Im Nachhinein gab der überlebende Kamerad zwar nicht dem Vogel die Schuld für alles, aber bis zum Ende seines Lebens sollte er sich an den Moment erinnern, als sich die Klauen des Falken in die Schulter des jungen, übereifrigen Wojeks krallten. Der blutrote Raubvogel war nur der Startpunkt der Albträume, die jenen noch viele Jahre plagten. Der Rest war weitaus schlimmer. Die Nachricht war von einer Wojek-Luftpatrouille ge schickt worden, die das aufgegebene Industriegebiet Parha kontrolliert hatte. Das Orzhov-Syndikat hatte Parha zur Evakuierung, zum Abriss und zum Neuaufbau freige 7
geben, und das gesamte Gebiet sollte eigentlich geräumt sein. Doch in den letzten zwei Wochen hatten LuftjekRocreiter immer wieder raubeinig wirkende Gestalten beobachtet, die einen der vielen leer stehenden Gebäude komplexen in diesem heruntergekommenen Teil des Zehnten Distrikts betraten und später auch wieder verlie ßen. Man war davon ausgegangen, dass es sich um eine Bande von Anhängern des Rakdos-Kultes handelte. Doch heute hatten die Luftjeks die Thrill-Killer, wie RakdosLeute im Volksmund genannt wurden, zum ersten Mal dabei erwischt, wie sie Waren von Packtieren in das größte noch stehende Gebäude des Viertels – ein Lager haus – geladen hatten: Container in einer solchen Zahl, dass man für den Transport zwei oder drei Zeppeliden gebraucht hätte. Rakdos waren allerdings nicht dafür bekannt, dass sie sich um den Transport von Fracht kümmerten. Sie verzehrten normalerweise das Fleisch ihrer eigenen Leute so begierig wie ein vom Streifen dienst ausruhender Wojek eine Tüte Ringelkrapfen. »Wenn die Rakdos Kisten schleppen«, sagte Zunich, »möchte ich wetten, dass die nicht mit Spielzeug für das Waisenhaus gefüllt sind.« Er musste nicht erwähnen, was alles in den Kisten sein konnte. Im besten Fall wäre es ein Waffenvorrat. Im schlimmsten Fall … Kos war sich nicht sicher, ob er sich einen schlimmsten Fall vorstellen konnte, der den kranken Hirnen der Rakdos gerecht werden würde. Die Mitgliedschaft im Rakdos-Kult war an für sich kein Verbrechen. Jedenfalls nicht in Ravnica. Die Statuten des 8
Gildenpakts, die Stadtverordnung und andere Vorschrif ten schützten die Gilden, die im Gegenzug dafür sorgten, dass sich die gesamte Zivilisation einigermaßen friedlich entwickeln konnte. Annähernd zehn Jahrtausende lang hatte der Wohlstand der Gilden dafür gesorgt, dass fast die gesamte Oberfläche der Welt von der einen oder anderen Form städtischer Entwicklung überzogen wurde. Die Rakdos waren hauptsächlich für die schwere Arbeit zuständig. Sie hatten Minen in die Tiefen Ravnicas getrie ben, wo es wertvolle Metalle, Edelsteine und Mineralien zu finden gab, und beuteten diese weidlich aus. Rakdos stellten die Schlachter für die Schlachthöfe der Golgari. Sie dienten als Söldner, Leibwächter und Sklaven für jeden, der genug Gold hatte – einerlei, welcher Gilde er angehörte. Auch Hausfriedensbruch wurde vom Auge des Geset zes nicht sonderlich geahndet, solange der Besitzer des Grundstücks das Vergehen nicht anzeigte. Und das Orz hov-Syndikat hatte noch nichts gemeldet. Doch war es eine ganz andere Sache, wenn eine Bande todesanbetender, mordender Verrückter sich auf ein Schwarzmarktge schäft einließ. Dies könnte sogar die Zurückhaltung der Orzhov erklären, das Geschehen zu melden. Schmuggel war nämlich eine der vielen Tätigkeiten, die von der Gilde des Handels betrieben wurde. Allerdings wurde in einem solchen Fall eine Bestäti gung der Beobachtung benötigt, und das war nun die Aufgabe von Zunich und Kos. Ohne Bestätigung oder Nachweis eines Verbrechens durch Wojek-Fußstreifen 9
würde der Schichtdienstleiter keine Eingreiftruppe bereit stellen. Bevor eine Eliteeinheit Strajeks zusammengestellt werden konnte, mussten die glücklichen beiden Ermittler erst noch weitere Informationen einholen. Den Falken nahmen sie mit, um nötigenfalls Verstärkung anfordern zu können. Es dauerte eine Weile, bis die beiden Wojeks die um liegende Nachbarschaft kontrolliert hatten und bestätigen konnten, dass der Rest von Parha so verlassen war, wie er sein sollte. Kurz nach ihrer Ankunft hatte es zu regnen begonnen, und aus dem leichten Nieseln war schnell ein Wolkenbruch geworden. Sie nahmen sich ein paar Minuten Zeit, um den mut maßlichen Rakdos-Schlupfwinkel aus einem Versteck heraus zu beobachten und nach Schmierestehern Aus schau zu halten. Anscheinend hatten die Kultisten keine Schmiere aufgestellt, aber Kos meinte, in einem der Fenster im oberen Stockwerk ein Gesicht gesehen zu haben, wahrscheinlich das eines Goblins. Eine Sekunde später war es jedoch schon wieder verschwunden. Das Lagerhaus besaß ein Flachdach und wirkte wie eine große Schachtel, nicht anders als viele der Gebäude in diesem heruntergekommenen Viertel in Ravnicas Zehntem Distrikt. Die nachgebende Konstruktion aus Holz und Ziegel nahm den größten Teil des Straßenblocks ein. Auch die anderen Gebäude in der Nachbarschaft schienen kein besonderes Glück gehabt zu haben. Mit Brettern vernagelte Restaurants und Läden drängten sich um das Lagerhaus, als wollten sie es wärmen. Eine aufge 10
gebene Baugrube im Osten war inzwischen mit Wasser voll gelaufen und verbarg wahrscheinlich einige verzwei felte Aquatiden, die nicht in der Lage waren, die lange Reise in ein größeres Gewässer zu überleben, und jetzt in Bruchbuden am Rand der Grube lebten. Im Norden standen die Überreste von etwas, was wohl einst eine Kirche für einen längst vergessenen Gott gewesen war, jetzt aber wegen des zunehmenden Verfalls unter dem jahrtausendealten Kletterpflanzenbewuchs kaum noch zu erkennen war. Die obere Fensterreihe des Lagerhauses wies keine Scheiben mehr auf – nur Scherben. Die Wände zeigten große schwarze Narben, die noch von der Feuersbrunst stammten, die es vor Jahrzehnten für seinen früheren Besitzer unbrauchbar gemacht hatte. Auf den Überresten des großen gemalten Schildes über der Eingangstür war noch »Frachtunternehmen Broz« zu lesen. Acht Fenster und der sichtbare Eingang blickten nach Süden auf die lange, offene Straße hin. Noch etwa ein Drittel der ur sprünglichen Markise warf einen Schatten auf die schwe re Doppeltür aus Holz. Die beiden Wojeks verließen ihr Versteck und traten auf die Straße. Kos zog seinen silbernen Knüppel, Zunich sein kurzes Schwert, und gemeinsam gingen sie die uralten Holzstufen hoch. Der ältere der beiden Ordnungshüter trug einen ge zwirbelten weißen Schnurrbart und hatte das rote Gesicht eines erfahrenen Trinkers. Die Farbe seiner teigigen Haut stand in scharfem Kontrast zum scharlachroten Leder 11
seiner Dienstuniform und dem goldenen WojekAbzeichen auf der Brust. Myczil Zunich stellte sich auf die linke Seite des Eingangs und hielt sein Schwert bereit. Der Leutnant bedeutete seinem Kameraden, sich der Tür zu nähern. Kos, der den zehnzackigen Stern erst im zweiten Jahr trug, gab sich große Mühe, ruhig zu bleiben. »Bereit?«, flüsterte Zunich, worauf Kos nickte. »Gut. Nach dir, Konstabler.« Der Leutnant machte eine Kopf bewegung zum silbernen Knüppel, den Kos mit schweiß nasser Hand umklammerte. »Und denk dran, dass das silberne Ende von dir wegzeigen sollte.« Der jüngere Kollege nickte noch einmal und zwang sich Zunich zuliebe zu einem halben Lächeln. Er schob den Pendrek von seiner rechten in die linke Hand und drehte sich zur Tür. Kos griff in einen der Beutel, die an seinem Gürtel hingen. Er holte eine Prise eines rotsilber nen Pulvers hervor und warf es auf die Tür. Es bildete sich eine Wolke, die sich sofort über die Tür legte und am Türrahmen kleben blieb. Staub sank zu Boden und bilde te ein Muster, das dem ersten Buchstaben des Wortes »Tod« ähnelte. Der Buchstabe war fast einen Meter hoch. »Vierzig, fünfzig Opfer«, flüsterte Kos. »Vielleicht auch mehr.« »Der Staub kann nur bis fünfzig zählen. Sei vorsichtig«, antwortete Zunich. Kos trat einen Schritt zurück und klopfte mit dem hinteren Ende seines Pendreks dreimal gegen die schweren Holzlatten. Sie warteten fast eine Minute, dann versuchte es Kos noch einmal. Nichts passierte. Das Lagerhaus lag so still wie ein Grab da. Kos vermutete, 12
so still wie ein Grab da. Kos vermutete, dass das Pulver eine richtige Angabe gemacht hatte. Auf ein Nicken von Zunich hin klopfte Kos ein viertes Mal auf das geduldige Hartholz und rief mit seiner besten Kasernenhofstimme in das Lagerhaus hinein: »Hier spricht der Bund der Wojeks! Dieses Gebäude wurde zum Abriss bestimmt. Alle, die sich darin befinden, verstoßen gegen die Statuten des Gildenpakts und gegen die Stadtverordnungen! Sie haben zehn Sekunden, um …« Die Tür schwang auf und krachte gegen die Außen wand des Gebäudes. Auf dem Weg dorthin erwischte einer der Türflügel die Spitze von Kos’ Stab und rammte das silberne Ende genau auf das Kinn des jungen Ord nungshüters. Kos stolperte nach hinten und landete auf dem harten Stein. Hui, der Falke, brachte sich auf Zu nichs Schulter in Sicherheit. Ein großer Halbdämon mit Widderhörnern stürzte mit vor Schrecken weit aufgeris senem Maul aus dem Gebäude heraus und sprang über Kos hinweg. Sekunden später wurde sein Gebrüll durch Zunichs Schwert erstickt, dann war nur noch der Aufprall des Rakdos auf der nassen Straße zu hören. Es war keine schöne Regel, aber wenn man es mit einem wild gewor denen Rakdos beliebiger Rasse zu tun hatte, war tödliche Gewalt angebracht. »Und deswegen«, sagte Zunich, »stehen wir nicht direkt vor der Tür, wenn wir anklopfen, Konstabler Kos. Wir sind hier nicht in der Nekrobiologie, wenn du verstehst, was ich meine.« Der ältere Kollege bot Kos keine Hilfe beim Aufstehen 13
an. Er tat das nie – und Kos fand sich aus dem einen oder anderen Grund in Zunichs Gegenwart oft auf dem Boden wieder. In der letzten Nacht war es ein verlorener Sauf wettbewerb gewesen. Heute war es ein einfacher Anfän gerfehler, der Kos beinahe das Leben gekostet hätte. Und der Tag war noch lange nicht vorbei. Zunich stieg über seinen jüngeren Kollegen und press te den Rücken an die Wand neben der Tür. Kos war jetzt klar, dass er dort hätte stehen sollen, als er angeklopft hatte. Seine Nervosität hatte dafür gesorgt, dass er unvor sichtig geworden war. Der Leutnant tastete sich langsam am Türrahmen entlang und steckte dann den Kopf durch die Tür. »Heilige Mutter von Krok!« Zunich schnappte nach Luft. Eigentlich war Myczil Zunich kein Mann, der so leicht aus der Fassung zu bringen war. Der jüngere Wojek sprang auf die Beine und gesellte sich zu seinem Kolle gen. Für einige Sekunden standen sie beide wie festgefro ren im Türrahmen. In dem abgedunkelten Lagerhaus herrschte eine be drückende Stille, die nur von vereinzelten Blutstropfen gestört wurde, die auf den Boden fielen. Jeder kleine Plopp verursachte Kos Übelkeit. Myczil Zunich konnte für den Zehnten Distrikt die beste Aufklärungsrate aufweisen und wurde meistens zu den wichtigsten beziehungsweise verwirrendsten Fällen geschickt, samt seinem Kollegen im Schlepptau. Kos hatte auf diese Weise bereits eine Orkküche gesehen, in der rohe, in Streifen geschnittene Viashino-Steaks hergestellt wurden. Er war mit als Erster 14
am Tatort eines Gruul-Mord/Selbstmords gewesen, der in den fernen Turmspitzen der Hochgefilde begonnen und mit einem doppelten Aufprall auf dem Kopfsteinpflaster geendet hatte. Er hatte Augenzeugenberichte von fas sungslosen Zauberwerkern aufgenommen, wenn deren Experimente die schlimmstmögliche Wendung genom men hatten. Er hatte wirklich eine ganze Menge gesehen. Aber die Szene, die sich ihnen hier bot, war mit Ab stand das Grausigste, was er je zu Gesicht bekommen hatte, und der Anblick brannte sich ihm für den Rest seines Lebens ins Gedächtnis. »Leutnant … ich glaube, sie sind alle …« »Genau«, bestätigte der ältere Wojek. »Wenn man den einen mitzählt, der dich gerade als Sprungbrett verwen den wollte, komme ich auf … zweiundzwanzig? Schwer zu sagen. Das ist eine ganze Menge Fleisch auf einmal. Auf jeden Fall mehr als zwanzig.« »Wie kannst du dir so sicher sein?«, fragte Kos, der sich immer noch bemühte, das Wenige, was er zum Frühstück gehabt hatte, bei sich zu behalten. »Das Pulver hat doch gesagt …« »Das Pulver ist auch nicht unfehlbar. Zähl am besten die Köpfe. Ich komme auf zwanzig, nein, es sind doch zweiundzwanzig. Ich dachte erst, dass die beiden dort drüben die Füße von dem Oger da sind. Sind aber doch Augen und Ohren dran.« »Das glaube ich dir auch so«, sagte Kos. Er wandte die Augen ab und blickte nach oben, um nicht länger diese schreckliche Schlachtszene betrachten 15
zu müssen, die ganz die Mitte des Lagerhauses beherrsch te – und entdeckte dort oben Geister. Die Rakdos – Mann wie Oger, Ork wie Goblin – waren zwar tot, aber einige von ihnen wollten den Ort offenbar noch nicht verlassen. »Leutnant!«, sagte Kos und zeigte unnötigerweise auf die leuchtende Schar Gespenster. Unter den Geistern war ungefähr die gleiche Mischung aus Rakdos-Anhängern unterschiedlicher Spezies vertre ten wie bei den Einzelteilen, die vor ihnen lagen. Kos konnte kaum aufhören, in die winzigen weißen Augen einer leuchtenden, durchsichtigen Trollgestalt zu schau en, deren riesige Schultern nach unten hingen, als würde der Troll sich schämen. Die leeren Augenhöhlen wirkten wie tiefe Gruben. Zunich legte eine behandschuhte Hand auf Kos’ Pen drek und zwang seinen Kollegen sacht, ihn zu senken. »Ganz locker«, knurrte er und betrachtete die Gespenster über ihnen. »Das sind die einzigen Zeugen, die wir haben, auch wenn ich noch nicht weiß, ob sie uns etwas nutzen.« »Aber schau dich doch mal um«, sagte Kos, der mög lichst wenig von dem Lagerhausgestank einzuatmen versuchte. »Wir müssten hier überall Wundensucher antreffen. Aber diese Gestalten hier wirken auf mich irgendwie friedlich.« »Gewalt ist so ziemlich die einzige Möglichkeit, einen friedlichen Mörderzünftler-Geist zu erzeugen«, erwiderte Zunich. »Rakdos-Wundensucher kommen eigentlich nicht so häufig vor. Sie erwarten nämlich, auf diese Weise 16
zu sterben.« Er machte eine Handbewegung in Richtung des Trollgeistes, der über dem Blutbad herumschwebte. Kos hatte ihn die ganze Zeit nicht aus den Augen gelas sen. »Mach weiter, Kos. Du bist heute der Chef. Die Gei ster werden nicht ewig darauf warten, befragt zu wer den.« »Alles klar«, sagte Kos. »Arretier ihn«, sagte Zunich. Kos öffnete einen weiteren Beutel und holte eine klei ne Holzdose heraus, die ungefähr die Größe und Form seines in Leder eingeschlagenen Notizbuchs hatte. Er strich mit der Hand über die Dose und zog sich langsam zurück, ohne den Augenkontakt mit dem Trollgespenst, das wie hypnotisiert wirkte, aufzugeben. Als die ätheri schen Füße des Geistes den freien Fußboden vor dem Konstabler berührten, ging Kos auf ein Knie hinunter und knallte die Dose auf die Holzdielen. Es gab keinen Blitz, keine Explosion, kein Aufleuchten. Es gab auch kein anderes Geräusch als das der Dose, wie sie auf dem Holz aufschlug. Die substanzlosen Füße des Geistes schienen in der Dose festzustecken. Er konnte nun nicht weiterschweben. Der Arretierer sprang auf, als Kos ihn losließ, und die Bestandteile rotierten und ver schoben sich, bis die ursprüngliche Form der Dose fast nicht mehr erkennbar war. Der Arretierer fand jedes Mal eine neue individuelle Form. Jeder Geist verlangte eine spezielle Konfiguration der Einzelteile. Nun war doch ein leises Geräusch zu hören – ein krat zendes Stöhnen, das allerdings nicht von dem gehörnten 17
Phantom, sondern direkt aus der Holzdose zu kommen schien. Unter den anderen verbliebenen Rakdos-Geistern löste es hastige Bewegungen aus, während die ätherische Form des Trolls von Kos’ Falle festgehalten wurde. Die leuchtenden Gespenster über seinem Kopf verschwam men wirbelnd und verschwanden dann durch den Boden wie Wasser durch einen Gullydeckel. In den meisten Fällen waren Geisterzeugen für Wojeks wichtige Bestandteile einer Ermittlung. Ein Wojek, der einen Geist befragen wollte, musste sich allerdings den Richtigen heraussuchen, hatte man nämlich einmal einen arretiert, flohen die anderen unweigerlich. Ein Geist, der unter dem Einfluss eines Arretiergeräts stand, konnte das Beantworten der Fragen nicht verweigern, wenngleich die Antworten nicht immer Sinn ergaben. Kos blickte in die winzigen weißen Punkte in den tiefen schwarzen Augenhöhlen des Trolls, sah den Berg Leichen dahinter und hoffte, die richtige Wahl getroffen zu haben. Er holte einen Bleistift und das in Leder geschlagene Notizbuch aus der Brusttasche. Der junge Ermittler blät terte durch die gesammelten Notizen des letzten Jahres. Die meisten Einträge davon hatte Zunich ihm diktiert. Als er die erste leere Seite fand, trug er zunächst Stunde, Tag und Ort ein. Um Zeit zu sparen, notierte er auch gleich die geschätzte Zahl der Leichen und seine Vermutung der jeweiligen Todesursache. »Hallo. Mein Name ist Konstabler Kos«, sagte er schließlich zu dem Geist. Das war ein freundliches Ver halten gegenüber Zeugen, das er sich bei Leutnant Zunich 18
abgeschaut hatte. Da er außerhalb der Polizeischule noch keine Erfahrung mit Vernehmungen dieser Art hatte, schien es ihm die beste Herangehensweise zu sein. »Ich brauche Ihre Hilfe, um herauszufinden, wer das hier getan hat. Würden Sie mir bitte Ihren Namen sagen?« Das Stöhnen aus der Holzdose verstummte, als ob der Geist tief Luft holen würde. Langsam kam das Geräusch wieder, aber dieses Mal klang es wie Worte. »Gaaaarrrrrr«, sagte der Geist. »Herr Gar, ich würde…« »…mmmaaaaaakh«, beendete der Geist seinen Namen. Kos hörte, wie Zunich ein leises Husten unterdrückte. »Herr Garmakh – das ist Ihr Name?« Kos ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Jjjjjjjaaaaaaaa«, zischte der Geist. »Sehr gut«, sagte Kos. »Was ist hier geschehen?« »Eeeeeer iiiiiist geeeeescheeeeeehen. Eeeeeer ruuuu uuft. Laaaa-aass Gaaarrrmmmakh freiiiiii. Gaaarrrmm maaaakh muuuuss iiiiihm foooollllgeeen.« »Er? Wer ist er? Wer ruft? Ist es derselbe, der all diese Leute getötet hat?« »Laaaaaass Gaaarrrmmmakh freiiiiii.« »Ich werde Sie schon freilassen«, sagte Kos, »aber wenn ich je herausfinden soll, wer Sie in einen Geist verwandelt hat, dann brauche ich mehr Einzelheiten als nur …« »Laaaaaass mich freiiiiii. Laaaaaass mich freiiiiii.« An dieser Stelle mischte Zunich sich ein. »Ich glaube nicht, dass das hier noch irgendetwas bringt, Kos.« »Gut«, sagte Kos, der sich nicht bemühte, seine Enttäu 19
schung zu verbergen. »Du wirst Recht haben. Trotzdem …« Der Konstabler versuchte es noch einmal. »Garmakh, derjenige, der das alles getan hat – ist das der, der ruft? Wo ist er jetzt?« »Eeeeeer iiiisssst aaaaaalllllles. Eeeeeer iiiisssst naaa aah. Eeeeeer ruuuuuuft.« »Hat. Er. Ihnen. Das. Angetan?«, fragte Kos durch zu sammengebissene Zähne. Er konnte schon den Rapport vor sich sehen, auf dem stand, wie er bei ihrem einzigen geisterhaften Zeugen versagt hatte. »Eeeeer ruuuuuuft.« Kos warf über die Schulter einen Blick auf Zunich. »Willst du es mal probieren?« »Nein«, antwortete Zunich. »Mehr bekommen wir nicht aus dem heraus. Sobald sie anfangen, sich zu wiederho len, gibt es nicht mehr viel, was man noch tun kann.« »Aber er ist unser einziger Zeuge!« »Eeeeeer waaaaaarrrrrteet iiiiiiimmmm Schaaaaat teeeeeen.« »Schau dich um. Sie sind alle tot, aber gleichzeitig auch alle irgendwie Zeugen. Der hier ist eine Sackgasse«, sagte Zunich. »Wir sollten den Tatort noch genauer untersu chen, bevor die Spuren kalt werden. Lass ihn raus, Kos.« »Heute bin ich der Chefermittler«, sagte Kos. »Also soll te eigentlich ich derjenige sein, der so eine Entscheidung trifft, Leutnant.« »Du bist heute der Chefermittler, das stimmt«, sagte Zunich. »Aber ich bin immer noch dein Ausbilder. Vergiss den Geist, Kos. Das ist jetzt reine Zeitverschwendung.« 20
Kos warf noch einen letzten Blick auf den Geist und schüttelte dann den Kopf. Langsam bekam er ein schlech tes Gefühl, was seinen ersten Fall als Wojek-Chefermittler anging. Er bückte sich und klopfte vorsichtig dreimal auf die Holzdose, ohne den eisigen Geist zu berühren, der immer noch gefangen gehalten wurde. Die Dose wirbelte und drehte sich und faltete sich dann wieder zusammen. Bis Kos den Arretierer wieder einstecken konnte, war der Geist längst durch den Boden versunken. Der Wojek verstaute die Dose wieder an seinem Gürtel. Die Befra gung des Geistes hatte ihn etwas abgelenkt, aber jetzt blieb ihm nicht anderes übrig, als sich wieder dem grau sigen Blutbad zu widmen. Sein Magen mochte das gar nicht. »Noch weitere Vorschläge, Leutnant?« fragte Kos auf richtig. Er war ehrgeizig, aber nicht dumm. Er wusste genau, dass er vieles noch nicht wusste. Und Zunich kannte sich erstaunlicherweise meistens in genau diesen Fällen aus. »Nimm dein Notizbuch und deinen Stift, dann werden wir mal den Tatort genauer beschreiben«, sagte Zunich. »Sollten wir nicht erst Hui losschicken, um Verstärkung anzufordern?« Zunich warf einen Blick auf den Falken, der immer noch erwartungsvoll auf seiner Schulter saß. Der Vogel überbrachte seine Nachrichten an jede beliebige Person – Hauptsache, sie war auch ein Wojek. »Ich habe das Ge fühl, dass wir ihn lieber noch eine Weile bei uns behalten sollten. Mir gefällt das hier alles nicht. Ich bin mir gar 21
nicht so sicher, ob derjenige, der das alles angerichtet hat, nicht doch noch hier ist.« »Wie kommst du darauf?«, fragte Kos. »Der hässliche Kerl, der dir fast die Tür auf die Nase gehauen hat, ist vor etwas davongerannt. Und ich glaube nicht, dass es diese harmlosen Geister waren. Und Gar makh hat was von ›er ist nah‹ gesagt. Das kann ziemlich wortwörtlich gemeint sein. Wir sollten mal schauen, was uns die Leichen alles verraten können. Willst du anfan gen?« »Mach du mal«, sagte Kos. »Ich habe schon den fal schen Geist herausgesucht. Vielleicht solltest du den Fall ja sogar ganz übernehmen.« »Ich übernehme doch nicht deinen Fall, nur weil du glaubst, dass er schwierig ist«, sagte Zunich. »Ich habe selbst genug Papierkram zu erledigen, wie du weißt. Aber ich werde dir mit Rat und Tat zur Seite stehen – wenn der Chefermittler das will.« »Ich bestehe darauf, sagte Kos. »Dann wäre das ja geklärt. Schreib mal mit: Wir haben mehrere Opfer, die alle Anzeichen von kompletter oder teilweiser Zerstückelung aufweisen«, sagte Zunich. »Am besten fangen wir ganz hinten an und arbeiten uns dann im Uhrzeigersinn vor.« Er bahnte sich vorsichtig einen Weg durch die haufenweise herumliegenden Leichentei le. Die Labormagier waren bekannt dafür, dass sie Wojeks verfluchten, die über Blutspuren oder verräterische Überreste von Magie trampelten. »Erstes Opfer, erwachsener männlicher Troll, geschätz 22
tes Alter irgendwo im Bereich von fünfzig bis achtzig Jahren«, diktierte der Leutnant. »Wahrscheinlich der Körper von Garmakh, da das der einzige Kopf eines Trolls ist, den ich hier im ganzen Haufen sehe. Die Arme und das rechte Bein wurden vom Körper entfernt, wahr scheinlich durch rohe Gewalt. Keine sichtbaren Schnitt wunden erkennbar, aber die deutliche Rissbildung in der Epidermis rund um die Gelenkpfannen herum weist darauf hin, dass die Gliedmaßen dem Opfer ausgerissen wurden, das daraufhin verblutete. Das Opfer war zum Zeitpunkt seines Todes definitiv gesund und munter.« Zunich wartete einen Moment, bis Kos alles aufge schrieben hatte, und ging dann zur nächsten Leiche. »Im Uhrzeigersinn liegen als nächstes zwei Halbdämonen, die im Nacken, an den Schultern und an der Hüfte zerstückelt wurden. Ich würde gern dabei zusehen, wie die Laborma gier herausbekommen wollen, welche Teile zu welchem Rumpf gehören. Den letzten Satz musst du nicht mit schreiben.« »Klar«, sagte Kos. Leiche für Leiche arbeiteten sie sich durch den Haufen, der Kos fast wie ein Ersatzteillager vorkam. Sie konnten vier weitere Halbdämonen bestimmen, aber auch nur deswegen, weil jedes dieser Wesen so einzigartig und von allen anderen Kreaturen in Ravnica verschieden war. Was für abscheuliche Dinge die Rakdos auch immer unternahmen, um Halbdämonen zu erzeugen, das Ergeb nis war jedes Mal ein anderes. Und das hatte wiederum den Vorteil, dass sie einfach zu identifizieren waren, 23
wenn sie mit dem Gesetz und damit mit den Wojeks in Konflikt gerieten – und fast jeder Rakdos, der seine Kindheit überlebte, tat dies früher oder später. Von den sieben Halbdämonen (einschließlich des einen, den Zunich vor dem Haus niedergestreckt hatte) waren sechs wohl bekannte Mitglieder von Pallas Bande, was die Vermutung der Luftjeks also bestätigte. Bei den restlichen Leichen handelte es sich um Men schen, wenn man sie so bezeichnen wollte. Menschen, die sich der Rakdos-Gilde anschlossen, gehörten norma lerweise zu den stärksten, größten und gemeinsten Ex emplaren ihrer Spezies; wenn sie die stachelbesetzte Mörderzünftler-Rüstung trugen, konnte man viele leicht mit Trollen oder Halbdämonen verwechseln. Im Höllenloch wurden die Gesetze der natürlichen Auslese mit brutaler Effizienz befolgt. »Ich vermute, dass wir hier ein kleines Problem ha ben«, sagte Kos. »Ich sehe bei den Menschen Bärte und, ähm, andere Geschlechtsmerkmale. Auf den ersten Blick ist keine Frau darunter, und erst recht keine, die der Beschreibung ihrer Anführerin Palla gleicht. Daher stellt sich die Frage: Wo steckt sie?« »Genau.« Zunich ließ den Blick weiter durch die Dun kelheit um sie herum und über die Leichenteile auf dem rutschigen, blutigen Boden schweifen. Mehr zu sich selbst als zu Kos trällerte er: »Palla, Palla, wo bist du hin?« Der ältere Wojek überflog die Holzplanken und Hochregale über ihnen, ob sich die vermisste Bandenchefin vielleicht zwischen den Kisten mit Hehlerware verbarg. 24
»Wie es aussieht, befinden sich die Sklaven auch nicht hier«, sagte Kos. Zunich legte eine Hand auf die Kiste, neben der er ge rade stand, und schnüffelte. »Ich glaube, da irrst du dich«, sagte er. »Wieso?« »Schau dich um. Ich glaube, sie sind hier, waren aber nie als Sklaven gedacht.« Ohne weitere Vorwarnung zog er sein Kurzschwert und verwendete es, um die Kiste aufzuhebeln. Der Leutnant warf einen kurzen Blick hinein, drehte sich dann sofort weg und hielt sich eine Hand vor den Mund. Auch Kos wagte einen vorsichtigen Blick hinein. Gleich darauf hatte auch er einen Übelkeitsanfall zu bekämpfen, einen Kampf, den er allerdings verlor. Alles, was sich noch in seinem Magen befand, ergoss sich auf den Bo den. Die Labormagier würden sich bestimmt nicht dar über freuen, aber wenigstens hatte er nicht direkt auf das Beweismaterial gekotzt. Mit milchigen Augen starrten die abgetrennten Köpfe von Elfen und Menschen aus der Kiste heraus, fünf männliche und ein weiblicher. Sie waren in zwei Reihen in feuchtes, schimmelndes Heu gepackt worden und anscheinend mit einer Art Nekromagie behandelt wor den, jedenfalls trugen sie immer noch den verschreckten Ausdruck im Gesicht, den sie offenbar kurz vor ihrer Enthauptung hatten. Die Frau war bei den Wojek gewesen. Kos war nicht sonderlich vertraut mit ihr gewesen, aber er erkannte sie 25
wieder. Es war Konstablerin Vina Macav. Wie Kos und Pashak war auch Vina unter denen gewesen, die nach dem letzten Rakdos-Aufstand als neue Fußstreifen ange worben worden waren. Vor einem Monat hatte sie sich Urlaub genommen, sich danach aber nicht zurückgemel det. Kos kannte ihr Gesicht auch von den Schildern, die im ganzen Zehnten Distrikt aufgehängt waren: DESERTEURIN GESUCHT! »Ich vermute mal, dass die Anklage wegen Desertion fallen gelassen werden muss«, sagte Zunich, während Kos sich mit seinem Ärmel den Mund abwischte. »Und ir gendwie hat das Blutpulver doch gar nicht so danebenge legen. Sie müssen alle hier getötet worden sein. Also können wir einen weiteren Verstoß gegen das Gesetz auf die Liste nehmen. Keinem wird es gelingen, in meiner Stadt einen Wojek zu töten und damit davonzukomm…« Beide Wojeks erstarrten, weil im Stockwerk über ihnen jemand geniest hatte. Kos lauschte konzentriert, und bald glaubte er ein Geräusch zu hören, das ihn gleichzeitig an einen verletzten Mooshund und ein leise weinendes Kind erinnerte. Zunich deutete auf die Leiter, die auf den Dachboden führte. Mit Erschrecken erkannte Kos, dass sie bislang erst einen kleinen Teil des ganzen Lagerhauses erforscht hatten. Die Kistenstapel um sie herum waren wahr scheinlich mit grausigem Inhalt gefüllt, konnten aber auch sonst alles Mögliche enthalten. Das einzige Licht kam von einer Fackel, die inzwischen zu flackern begon nen hatte und nicht mehr viel Licht abwarf. 26
Auch wenn er ein unerfahrener Neuling war, Agrus Kos war dennoch immer noch ein Wojek-Polizist. In dieser Stadt erhielt man diesen Titel nicht einfach so. Er drückte zwei Finger gegen das Abzeichen, das auf seiner Brust prangte, und gestattete sich einen kurzen Moment der Besinnung. Dann kletterte er die Leiter hoch. Zunich folgte Kos, als dieser etwa die Hälfte der Leiter geschafft hatte. Sie fanden den Goblin, wie er zusammengekauert in einer verdunkelten Ecke hockte. Eines der Ohren der kleinen Kreatur schien abgerissen worden zu sein. Dick flüssiges Blut quoll aus den Fingern seiner rechten Hand, die er an die Stelle gepresst hielt, und rann den Nacken und den Oberarm hinunter. Sonst schien der Goblin unverletzt zu sein. Auf seiner Haut waren mehrere Täto wierungen und rituelle Brandmarken zu erkennen. Das U-förmige Symbol, das ein zerbrochenes Kettenglied darstellen sollte, war ihm auf die Stirn gebrannt worden, was ihn als befreiten Sklaven auswies. Die schwarzen und scharlachroten Tätowierungen auf seinen Wangen zeig ten dagegen an, dass er dem bevölkerungsreichen KroktClan angehörte, dem wahrscheinlich größten GoblinStamm von Ravnica. Schon in den Zeiten vor dem Gil denpakt hatten die Krokt dem Rakdos-Kult angehört. Wenn man ihnen glauben durfte, hatte der Dämon Rak dos ihren Stamm einst aus dem Berg geschaffen, dessen Namen sie nun trugen. Die gelben Augen des Goblins weiteten sich vor Schrecken, als Kos auf den Dachboden geklettert kam. 27
Das kleine Wesen fing sofort an, in seiner Sprache vor sich hin zu quasseln. Unglücklicherweise kannte sich Kos mit Goblin-Sprachen gar nicht aus. Sein Dienstkamerad hingegen hatte lange genug die Straßen von Ravnica patrouilliert, um verschiedene Dialekte aufzuschnappen. »Mycz, ich weiß, dass es eigentlich mein Fall ist, aber…« »Kein Problem«, sagte Zunich, »lass ruhig mich mit ihm sprechen.« Der ältere der beiden Wojeks zupfte an sei nem Schnurrbart und überlegte, mit welchem der Satzfetzen, die er kannte, der verschreckte Goblin wohl am ehesten zu beruhigen wäre. Der wohl gemeinte Versuch ging gründlich daneben. Was auch immer die Silben bedeuteten, mit denen Zunich den Goblin ansprach, sie dienten offenbar nicht gerade dazu, diesen zu besänfti gen. Im Gegenteil, es schien, als ob der kleine Kerl ver suchte, sich durch die Ecke nach draußen zu drücken. Kos hatte noch nie ein Wesen gesehen – sei es Goblin oder Mensch –, das so verängstigt gewesen wäre. »Yuzir trakini halk halkak Krokt, wojek hmrkar vonk«, sagte Zunich und deutete auf sein Abzeichen. Der Goblin kreischte auf. Der Leutnant versuchte es anders: »Ouzor vafiz halk kalark, Krokt kalark.« Der Goblin kreischte noch einmal, lauter und schriller diesmal. Kos hielt sich mit einer Hand ein Ohr zu, wäh rend Zunich weiter versuchte, ein Gespräch mit der Kreatur zustande zu bringen. Aber entweder verstand der Goblin nichts von dem, was Zunich sagte, oder er war so 28
eingeschüchtert, dass er nicht antworten konnte. Kos vermutete Letzteres. »Das bringt uns nicht weiter«, sagte Zunich irgendwann resigniert. Der Goblin wimmerte, während seine Augen von links nach rechts huschten. Kos vermutete, dass er nach einer Fluchtroute suchte, aber es gab kein Entkommen aus der Ecke, die der Goblin als Versteck gewählt hatte. Der Konstabler beobachtete die Augen des Goblins und wartete auf den Moment, in dem die Furcht vor den Wojeks größer sein würde als die Furcht vor dem, was die anderen Rakdos niedergemetzelt hatte. Die Augen des Goblins blieben plötzlich stehen und weiteten sich auf die Größe von Untertassen. Offenbar hatte er hinter Kos’ Rücken etwas Entsetzliches entdeckt. Dem Konstabler stellten sich die Nackenhaare auf, als er und Zunich sich nun umdrehten, um herauszufinden, auf was die kleine Kreatur da starrte. An der hinteren Wand des Gebäudes schien sich ein dunkler Schatten zu bewegen. Kos glaubte, ein knöcher nes Gesicht erkannt zu haben. Schon bald hatte der Schatten wieder die dunkelgraue Farbe der Wand ange nommen, aber jetzt wussten die beiden Wojeks, worauf sie zu achten hatten. Der verschwommene Umriss wies auf Illusionsmagie hin. Das war bestimmt kein Geist, dies war ein wirkliches, lebendes Wesen. Der Schatten brachte für den von Panik befallenen Go blin das Fass zum Überlaufen. Er sprang auf die Beine, während die Wojeks noch von der Illusion abgelenkt 29
waren, und rannte zwischen ihnen hindurch. Bevor einer der beiden die jammernde Kreatur aufhalten konnte, stürzte sie sich bereits mit einem letzten Aufschrei kopf über aus dem Fenster. Ein sattes Platschen begleitete den Aufprall und brachte den selbstmörderischen Goblin für immer zum Schweigen. Innerhalb von fünf Minuten hatten die Ermittler ihren zweiten Zeugen verloren. Allerdings würden die Wojeks auch keinen Zeugen brauchen, sollte nun der Mörder leibhaftig vor ihnen stehen. Zunich und Kos zogen ihre Waffen. Kos bewegte sich vorsichtig auf den gebückten, buckligen Schatten zu. Diese unförmigen und verschwommenen Formen waren ein Erkennungszeichen für die Zaubersprüche, die gern von Dieben und Meuchlern verwendet wurden. Die Gestalt wartete nicht auf ihn, sondern schlich wie eine Katze zu einem der offenen Fenster und richtete sich dort auf, sodass ihre Silhouette gegen das letzte aus Westen einfallende Tageslicht sichtbar war. Der Schatten, der den Goblin dazu gebracht hatte, sich das Leben zu nehmen, konnte sowohl zu einem schlanken Mann als auch zu einer muskulösen Frau gehören – von Kos Standpunkt aus war das nicht genauer zu erkennen. Auf dem Rücken hatte die Gestalt eine riesige Verformung, die sie nieder zudrücken schien. Nein, keine Verformung. Und es war auch nicht nur ein Wesen. Das zweite war allerdings in einen großen Sack gepackt und über die Schulter des ersten geworfen worden. Der Schatten hob wie zum Gruß eine Hand und ver 30
schwand dann außer Sicht. Kos hatte weder Enterhaken noch Seil gesehen, aber es musste dort wohl so etwas befestigt gewesen sein. Man sollte halt doch immer die Augen offen halten, damit man später nicht das Nachse hen hatte, wie es in dem Sprichwort so trefflich hieß. »Glaubst du, dass das Palla war?«, fragte Kos. »Ich glaube, die eine war Palla«, antwortete Zunich. »Und zwar die im Sack. Und sie gehört mir. Steck dein Schreibzeug wieder ein, Konstabler. Jetzt fängt der Spaß erst richtig an: Heute Nacht werden wir wohl eine Dop pelschicht einlegen.« »Soll mir recht sein«, sagte Kos. »Ich kann das zusätzli che Geld immer gebrauchen.«
31
Kapitel 2
H
Dem Bund der Wojeks – und zwar ausschließlich dem Bund der Wojeks – wird aufgetragen, unter Befolgung der Statu ten des Gildenpakts für den Frieden innerhalb der freien Stadt Ravnica zu sorgen. Stadtverordnung von Ravnica
23. Zuun 9999 Z. C., nachmittags Siebenundfünfzig Jahre später, wenn man ein paar Mona te unterschlug, machte es sich Agrus Kos, Leutnant der Zehnten Bundeshalle, auf seinem Sitz bequem, um sich »den Kampf, der das Schicksal von Ravnica für immer veränderte« anzusehen. Nicht jeden Tag entschied ein einzelner Kampf das Schicksal der ganzen Welt. Man konnte sich das Ganze allerdings zweimal am Tag anse hen: einmal gegen Mittag, einmal gegen Sonnenunter gang. Wer dabei zusehen wollte, musste nur Eintritt bezahlen. Dank dem Stern mit den zehn längst nicht mehr glänzenden Zacken, den Kos auf seiner ausgebli chenen Ledertunika trug, war er natürlich kostenlos hineingekommen. Zwar wartete genügend Arbeit auf Kos, aber er hatte 32
damit keine Eile. So einen einfachen Auftrag hatte er schon seit Wochen nicht mehr gehabt, da konnte er sich auch ein paar Minuten zusätzlich nehmen, um das Verbrechen mit eigenen Augen mitzuverfolgen. Sein Kater hatte sich noch nicht ganz verflüchtigt, weshalb er entsprechend träge war. Er nahm sich einen Krug mit einer dampfenden und vergoren riechenden Flüssigkeit aus dem Bauchladen eines der herumlaufenden Verkäu fer, schnippte dem überraschten Mann eine Münze im Wert eines halben Zib hin und machte es sich bequem. An die Rückwand des Theaters gelehnt, beobachtete er, wie die Schauspieler den Kampfplatz betraten. »Nach Jahrtausenden des offenen Kriegs, der Allianzen und des Verrats zwischen den zehn Fraktionen hatten sich zwei große Gruppen gebildet: diejenigen, die das Gesetz vertraten – und der Rest«, ertönte der Chor. »Und jetzt treffen die Champions beider Seiten in einem Kampf, der umständlich ausgehandelt wurde, aufeinan der. Ein einzelner brutaler Kampf soll das Schicksal unserer Welt bestimmen. Doch niemand ahnt, dass alles aus der Ferne beobachtet wird …« Die Sonne stand hoch am Himmel und ließ die beiden Gegner wie goldene Götter schimmern. Knarrend wurden die hölzernen Belagerungsmaschinen so aufgestellt, dass sie einen Ring um die beiden hoch gewachsenen Gegner schlossen. Über ihnen verbarg die Magie des Theaters – in diesem Fall Seile und Flaschenzüge – eine gesichtslose Figur in einem langen dunklen Umhang, die dort hing und darauf wartete, auf die Bühne hinabzuschweben. Kos 33
hätte diese »Überraschung« wahrscheinlich wie der Rest des Publikums nicht entdeckt, wenn er die Aufführung nicht mit den Augen eines Ermittlers beobachtet hätte. Die Schaulustigen atmeten hörbar ein, als ein leichtes Beben des Bodens das Auftreten des ersten Darstellers ankündigte. Die Erschütterungen wurden durch riesige Füße ausgelöst, die so groß waren, dass sie einen Men schen platt quetschen konnten. Ein Goblin hätte wahr scheinlich zwischen zweien der Zehen Platz gefunden. Die Füße steckten in Sandalen und gehörten zu einem riesigen bärtigen Zyklopen, der die legendäre Kampfaxt Schädelhammer in der Hand hielt, in der die Macht der Götter steckte. Kos hatte nie verstanden, wie man eine Axt als »Hammer« bezeichnen konnte, aber er war ja schließlich auch kein Historiker. Die Axt ruhte lässig auf der Schulter des Riesen, als müsste das Einauge nichts befürchten. Der blaue Edel stein auf der verzauberten Gürtelschnalle des Zyklopen blitzte hell auf. Man konnte die großen Zahnlücken im Maul des Riesen sehen, als er nun einen Kampfschrei in den Himmel schickte, in den sofort eine Armee aus Wolfsleuten einstimmte. »Jene, die diesen Moment beobachteten, erzählten spä ter, dass die Sonne sich am Himmel zu verstecken ver suchte, als ob sie Angst hätte«, sang der Chor. Die Stimme des Zyklopen klang wie Donner. »Razia! Dieser Tag soll dein letzter sein, denn du bist nicht in der Lage, dich mit meiner Stärke zu messen. Es wird keine Gilden mehr geben. Es wird keine Ordnung mehr geben. 34
Nur noch Tod, und dein Tod wird nur der Anfang sein. Heute wird Schädelhammer dein Blut trinken, Razia. Dies sagt Cisarzim, der Herr des Chaos!« Mit diesen Worten nahm die riesige Gestalt die Waffe in beide Hände und ging in Kampfposition. Der Engel, der sich dem Zyklopen näherte, wurde von einem funkelnden Heiligenschein aus Feuer umgeben. Er zückte ein Flammenschwert, das größer als Kos war, stellte sich dem einäugigen Champion gegenüber auf und hob das Schwert in den Himmel, was den Chor zu Bei fallsstürmen veranlasste. Es sah beinahe echt aus, dachte Kos – die Waffe, nicht der Engel. Dass der Engel echt war, wusste er. Das Wappen der Boros – eine von einer flam menden Korona umgebene Faust – leuchtete auf dem Helm des Engels. Die Luft um seine Gestalt herum schimmerte in der Mittagshitze wie tausend winzige Spiegel. »Das Chaos wird immer vom Gesetz besiegt werden, Cisarzim«, sagte der Engel. Seine Stimme klang wie die des Chors. »Es ist das Schicksal Ravnicas, durch Gesetze gelenkt zu werden, nicht durch die Launen von Bestien. Dieses Land soll von Gilden regiert werden, getragen vom Gildenpakt, und es soll Frieden herrschen. Dies sagt Razia, das Herz der Legion, der Champion der Ordnung.« »Nur über meine Leiche«, polterte der Zyklop. »So ähnlich hatte ich das auch geplant«, antwortete der Engel und umfasste den Griff des Schwerts mit beiden Händen. Die beiden Gegner umkreisten sich in dem Rund, das 35
die herangeschleppten Bailisten, Onager und Katapulte bildeten. Die versammelten Chöre beider Seiten unter stützten mit rhythmischen Anfeuerungsrufen ihre Cham pions: Die Anhänger des Engels feuerten diesen an, indem sie seinen Namen triumphierend und in einem gleichmäßigen, fast schon militärischen Takt immer wieder riefen, während die Unterstützer des Zyklopen in eine wilde Kakophonie verfielen, die sich schnell in ein fieberhaftes Gebrüll steigerte. Natürlich war es der Zyklop, der den ersten Angriff wagte. Er stieß einen Kampfschrei aus, der von seinen Armeen hundertfach verstärkt wurde, und griff dann den Engel an, der sich sofort zurückzog und darauf vorberei tete, den ersten Schlag des Gegners zu parieren. Cisar zims Axt funkelte, als sie in großem Bogen nach unten schwang, aber das Schwert des Engels konnte diesen Hieb leicht blocken und ableiten. Der Engel antwortete mit einem übertrieben stilisierten Schlag, den der Zyklop mit ähnlicher Geschicklichkeit abwehrte, um gleich darauf mit seiner Axt den rhythmischen Tanz des Kamp fes weiterzuführen. Wie von den Geschichtsbüchern vorgegeben, schwebte beim dritten Aufeinanderprallen der Waffen die Gestalt im schwarzen Umhang vom Bühnendach herab. Ein weicher, aber stetiger Trommelwirbel – wie das Schlagen eines Herzens – begleitete den Auftritt. Der Kampf wurde durch die reine Präsenz des Neuankömmlings unterbro chen. Der Rest der Versammlung einschließlich der beiden Duellanten verfiel in Schweigen, als sich die 36
schlaksige und groß gewachsene Gestalt zwischen den beiden Gegnern aufbaute. »Werte Duellanten, meine geschätzten Feinde«, sagte die verhüllte Figur mit öliger Stimme, die Kos äußerst melodramatisch fand. »Ich, Szadek, Herr des Geflüsters, gebiete euch einzuhalten. Die Zukunft der Welt droht, aus dem Gleichgewicht zu geraten. Wir befinden uns an einem Kreuzweg des Schicksals.« Die Gestalt streckte eine bleiche Hand mit langen Fingern gen Himmel. Ein Don nergrollen rollte über die Ebene. Dunkle Wolken bildeten sich am Bühnenhimmel und hüllten die Szene jetzt in ein Dämmerlicht. Szadek ließ die Umhangkapuze fallen und enthüllte ein blasses, kaltes Gesicht mit glitzernden Augen, die so schwarz wie Obsidian waren. Noch schwärzer war sein glattes, fettiges Haar, das sich in einer komplizierten Frisur auftürmte. Zwei silberne Eckzähne, die Kos ir gendwie zu groß fand, als dass sie dergestalt glaubhaft wirkten, ragten eindrucksvoll über die Unterlippe hinaus. »Du stehst mir im Weg, Vampir«, brüllte der Zyklop. Er trat einen Schritt zurück und hob Schädelhammer weit über den Kopf. »Gib mir einen guten Grund, warum ich dich für diese Beleidigung nicht vernichten sollte.« »Ich kann dir sogar mehrere geben«, sagte ein Mann in einfachen blauen und weißen Gewändern, der aus der Menge nach vorn getreten war. Seine hellen Augen blitz ten, und ein paar Sonnenstrahlen brachen unmittelbar über seinem Kopf durch die Wolken. Dank seinem wei ßen Bart, dem kahlen Kopf und dem verwitterten, son 37
nengegerbten Gesicht sah er wie ein Bauer aus, wenn gleich ihn die Autorität eines Senators umgab. Er zog eine Schriftrolle aus dem Ärmel und entrollte das Schriftstück, das inmitten des Sonnenstrahls wirkungsvoll aufblitzte. »Hier ist ein Pakt. Ein einfaches System, das die Autono mie der einzelnen Kasten respektiert und allen ihr eige nes Gebiet zuweist – eigene Königreiche, in denen sie tun und lassen können, was ihnen gefällt. Jede Kaste steuert etwas bei, was für das Überleben des neuen, vereinigten Ravnica wichtig ist. Ich, Azor, der Alliierte in beiden Lagern und allen Kasten besitzt, habe mehr als nur ein Dokument erschaffen. Wenn unsere Anführer, die Paru ne, es mit ihrem Blut unterzeichnen, wird seine Magie dafür sorgen, dass Frieden herrscht, solange Ravnica existiert. Meine Freunde, meine Feinde …« Man konnte fast den Schnörkel sehen, mit dem der Mann seinen Satz beendete. »… dies hier ist der Gildenpakt.« »Ha, noch mehr Gesetze«, spottete der Zyklop. Sein La chen glich einem Vulkanausbruch. »Du bist ein kleiner, lächerlich winziger Mensch, und ich werde dich einfach beiseite schieben. Du hast noch nicht einmal die Ehrbar keit eines Mooshundes zu Eigen.« »Das mag sein«, sagte der kahle Mann, und die ver sammelten Armeen, die schon bald die zehn Gilden von Ravnica werden würden, verstummten. »Vielleicht wirst aber auch du, Cisarzim, die Weisheit meines Vorschlags erkennen können.« Nicht dass es derzeit noch zehn Gilden in Ravnica gä be, wenn es überhaupt einmal zehn gegeben hatte. Wie 38
die meisten gebildeten Ravnicaner wusste Kos, dass der Vampir Szadek, der Gildenmeister der Dimir, nicht mehr als ein altes Ammenmärchen war. Vom historischen »Herr des Geflüsters« hieß es, dass er ein verhältnismäßig alter Totenbeschwörer gewesen sei, der in den ersten Tagen des noch jungen Gildenpakts eine Armee aus Skeletten ausgehoben hatte, um an die Macht zu kom men. Die ersten Gildenmeister, die Parune, hatten ihn dafür vernichtet, dass er eine Armee gegen die Stadt geführt hatte. Hierbei handelte es sich um den Verstoß gegen den ersten Paktartikel, der für alle Gilden glei chermaßen galt. Kos konnte die Verstöße gegen dieses Gebot in den zehntausend Jahren der Geschichte an einer Hand abzählen. Man musste schon äußerst ehrgeizig und verrückt sein, um Ravnica gewaltsam übernehmen zu wollen. Das bedeutete nämlich, sich alle anderen Gilden zum Feind zu machen, und wahrscheinlich auch noch große Teile der eigenen. Niemand wusste so genau, wann und wo die Legenden um Szadek und seine Anwesenheit bei der Unterzeich nung des Gildenpakts entstanden waren, aber Kos hegte insgeheim die Vermutung, dass es das Selesnija-Konklave gewesen war, das die Geschichte des Vampirfürsten aufgebracht hatte, weil er ihnen doch als Gegenspieler zum eigenen Glauben diente, als verstecktes Böses aus den kalten Tiefen, als Grund für alles, was auf der Welt nicht perfekt war. Je gläubiger ein Anhänger der Mat’selesnija war, desto wahrscheinlicher war es auch, dass der Selesnijaner auch daran glaubte, dass Szadek 39
eine real existierende Person und konkrete Macht war, die andauernd gegen das Konklave arbeitete. Kos war schon viel zu lange als Wachtmeister unter wegs, um an einen geheimnisvollen Butzemann zu glau ben, der für alles Böse auf der Welt verantwortlich war. Trotz zehntausend Jahren Gildenpakt – oder vielleicht auch gerade deswegen – gab es genug Böses überall, ohne eine dunkle zehnte Gilde, die dahinterstand. Der Wojek stellte seinen leeren Krug auf den Boden. Er fühlte sich etwas unruhig. Er konnte irgendwie nicht fassen, wie betrunken er gewesen sein musste, dass Feder ihn dazu hatte überreden können, das Theaterstück bis zum Schlussapplaus durchzustehen. Kos seufzte. Nach einem vielversprechenden Beginn war aus der lustigen historischen Schlacht ein langweiliges Redestück gewor den. Andererseits besserte es Kos’ Laune etwas auf, als er daran dachte, gleich dafür zu sorgen, dass dies die letzte Vorstellung gewesen sein würde. Die dröhnende Stimme des Schauspielers, der über die vielen Vorzüge des Gil denpakts lamentierte, milderte nicht gerade seine Kopf schmerzen. »Dummkopf«, rief der Oger gerade, als Kos einen weite ren Krug Ogerkaffee nahm. Der Wojek zuckte vor Schreck zusammen und schüttete sein Getränk fast über den Goblin-Verkäufer. »Ich bin der Herr des Chaos! Der Zerstörer von Gesetzen! Ich werde mich nicht von deinen Schwächungen binden lassen. Und jetzt werde ich den Champion der Ordnung niederstrecken!« »Was zum Teufel macht er da«, flüsterte Kos über 40
rascht. Der Theaterbesucher, der neben ihm stand, bedeutete ihm, doch bitte leise zu sein, da er nicht bemerkt hatte, dass Kos nur laut gedacht hatte. Was hier passierte, war nicht richtig. Der Zyklop war viel zu weit. Der Kampf der beiden Champions hätte erst in einigen Minuten beginnen dürfen. Die übrigen GildenParune waren noch gar nicht auf die Bühne gekommen. Das Duell, nach dem sich Cisarzim und die Gruul-Clans der Gildenpakt-Vereinbarung unterwarfen, war noch lange nicht an der Reihe. Es war als klassischer Höhe punkt einer traditionell aufgebauten Geschichte gedacht, aber jetzt war gerade einmal ein Teil des ersten Akts vorbei. Cisarzim war schon völlig von der Rolle. So sehr von der Rolle, dass der einäugige Riese mit ei nem mächtigen, blutdürstigen Schrei Schädelhammer auf den Kopf des kahlen, bärtigen Mannes niedersausen ließ. »Oh, das muss neu sein«, hörte Kos jemanden in der Menge sagen. Mehr konnte er nicht verstehen, weil er sich schon mit gezücktem Schlagstock durch den Mittel gang zur Bühne hindurcharbeitete. Die täuschend echte Nachbildung von Schädelhammer zerbrach am Kopf des kahlen Schauspielers. Kork und Papier waren schwächer als der menschliche Schädel. Die Wucht des Angriffs warf den verwunderten Mann jedoch in den Chor. Aus einer Wunde an seiner Schläfe trat Blut. Kos nahm die Stufen zur Bühne. Das Publikum sparte nicht mit Buhrufen, und er glaubte mindestens eine Beschwerde darüber zu hören, was für ein Anachro 41
nismus das doch sei, einen Wojek bei der Unterzeichnung des Gildenpakts dabeizuhaben. Es war schon verrückt: An einem mythischen Vampir störte sich niemand, aber ein Wojek, der unpassend auf die Bühne kletterte, führte gleich zu Beschwerden. »Cisarzim« nutzte diesen Moment, um völlig auszura sten. Zuvor war er nur aufgebracht gewesen, aber als er nun Kos sah, wurde er zum mordlustigen Berserker und griff den Wojek sofort an. Die Faust des Zyklopen wurde auf ihrem Weg in Richtung Kos’ Kopf jedoch von der Hand des Engels abgefangen. »Es tut mir Leid, Jungs, aber die Vorstellung ist vorbei«, sagte Kos. Er wandte sich an den immer noch brummen den Zyklopen. »Und Sie sind wegen Beeinträchtigung des Handels und damit verbundenen Verletzungen der Gil denpakt-Statuten unter Arrest gestellt. Ich muss Sie bitten, Ihr, ähm, Kostüm abzulegen und mich friedlich zur Zehnten Bundeshalle zu begleiten. Dort können Sie dann zu Ihrer Verteidigung eine Aussage machen, und dort werden Sie auch bis zu Ihrer Gerichtsverhandlung eingesperrt, falls Sie keine Kaution stellen können.« Kos legte eine Hand an die silbernen Handschellen, die an seinem Gürtel befestigt waren, und machte mit dem Daumen eine Bewegung in Richtung des großen Engels, der immer noch die Faust des Riesen in der eigenen festhielt. »Hören Sie bitte damit auf«, sagte der Engel. »Sie sind bereits verhaftet. Verschlimmern Sie bitte Ihre Sünden nicht, indem Sie eine perfekte Inszenierung kaputtma 42
chen.« »Über den letzten Teil kann man streiten, Feder«, sagte Kos. »Du warst allerdings großartig. Richtig glaubwürdig. Macht er Ärger?« Der verhüllte »Vampir« mit den nicht ganz so authenti schen Zähnen hob seine freie Hand und räusperte sich. »Wie bitte? Was genau ist hier los?« Er zeigte mit einem langen weißen Finger auf den Engel. »Und Sie scheinen wohl auch Ihren Text vergessen zu haben.« »Lieber Mann, wenn Sie nicht auch mit zur Bundeshal le kommen wollen, halten Sie sich da lieber raus. Sie haben bereits genug Ärger verursacht. Feder, wenn er noch einmal den Mund aufmacht, darfst du ihn schla gen.« »Geht in Ordnung«, antwortete der Engel. »Sie … Sie sind wirklich ein Engel?« »Was hatten Sie denn gedacht, was ich bin?« »Ein Ersatzdarsteller. Ich habe Ihnen vertraut, Herr …« »Sagen Sie das bitte nicht«, unterbrach ihn Feder. »Sie können mich allerdings ›Wachtmeister‹ oder ›Konstabler‹ nennen.« Mit diesen Worten packte der Engel mit seiner freien Hand die Schulter des Möchtegernvampirs. »Aber, aua, bitte, Sie verstehen das nicht«, sagte der Vampir. Seine seidenweiche, charismatische Stimme war einem komisch quietschenden Tonfall gewichen. »Ich bin mir sicher, dass wir uns einigen werden. Aber lassen Sie uns bitte die Vorstellung zu Ende bringen. Herr Gullmott hat einen, ähm…« »Einen ähm was?«, hakte Kos nach. 43
»Es ist nicht gut, ihn aus seiner Rolle zu reißen, beson ders wenn er gerade improvisiert.« Wie auf Bestellung heulte der Zyklop vor Wut auf, aber Feder hatte ihn weiterhin in sicherem Griff. Kos konnte die kräftigen Muskeln des nackten Arms des Engels sehen, die inzwischen angespannter als eine Bogensehne der Golgari waren. Vor Anstrengung traten tiefviolette Adern hervor. »Bitte, hören Sie doch, ich bitte Sie, er verhält sich ge rade absolut foliengemäß, und wenn wir gerade das Stück beenden …« Das wettergegerbte Gesicht des Wojeks verzog sich zu einem Grinsen. Er drehte sich um. »Von mir aus könnte er sich gerade in den Wehen befinden.« Er nahm wieder einen sachlichen Ton an. »Sie, Einauge, und ihre ganze Theatertruppe haben ihre Schaubühne rechtswidrig auf einen Platz ausgeweitet, der für Marktbuden ausgewiesen ist. Dies bedeutet, dass Sie den ordentlichen Marktver kehr behindern. Wir haben Ihnen dies eine Weile durch gehen lassen, aber wir stehen jetzt kurz vor der Zehntau sendjahresfeier, falls Sie das noch nicht bemerkt haben sollten. Es gibt jetzt genügend Händler, die hier ihre Marktstände aufbauen wollen. Die Leute, die hier im Dunklen sitzen, könnten stattdessen Schmuckstücke kaufen. Und Fleisch.« »Oh, ich liebe Fleisch«, sagte der Engel. Soweit Kos wusste, nahm der Engel noch nicht einmal Nahrung zu sich, aber er freute sich, dass sein Spiel mitgespielt wur de. 44
»Ich auch«, sagte der Wojek. »Sehen Sie, guter Mann, wir mögen beide Fleisch, und Gesetz ist Gesetz. Feder, wärst du so nett und würdest dem Publikum mitteilen, dass …« Mit großer Kraftanstrengung hatte es der Zyklop doch noch geschafft, sich dem Griff des Engels zu entwinden. Ein Handschuh mit einer äußerst festen Faust darin traf die Hinterseite von Kos’ Helm, der in hohem Bogen in die Menge flog. Der Helm rettete dem Wojek wahrscheinlich das Leben, aber Kos kippte trotzdem wie gefällt zu Boden. Der Zyklop warf sich auf ihn. Die Zuschauer von »Gull motts kleiner Schaubühne« zeigten sich überrascht. Einige kreischten, sprangen auf und rannten auf die Ausgänge zu. Der »Zyklop« rang den Wachtmeister zu Boden und hieb mit beiden Fäusten immer wieder auf ihn ein. »Wie viele Helden haben eigentlich an dem Kampf der zwei Champions teilgenommen, weißt du das?«, fragte eine verwunderte Frau in der ersten Reihe ihren Ehe mann. Ihr schien nicht bewusst zu sein, dass sich die beiden auf ihrem Schoß befunden hätten, wenn sie beim Ringkampf ein paar Schritte weiter gerollt wären. »So viele waren es glaube ich nicht, Liebling«, antwor tete ihr Begleiter. Der Engel ließ den verbliebenen Schauspieler los. Die Bühne hatte sich sehr schnell geleert. Schon bald waren nur noch die beiden Wojeks, der ehemalige Vampir und der tobende Schauspieler da, der ganz in seiner Rolle als Zyklop aufging. Feder rammte den um sich schlagenden 45
Mann mit der Schulter und warf ihn von Kos’ Oberkörper herunter. Der Engel und sein Gegner rollten über die Bodenbretter und weiter durch eine SackleinenStellwand, auf die Belagerungsmaschinen aufgemalt waren, bis sie in einem der Seitenflügel verschwanden. Was vom Chor noch übrig geblieben war, hatte sich zwar schnell zerstreut, aber das Publikum blieb wie angeklebt auf den Sitzen stehen und lauschte den Geräu schen eines Faustkampfes, der hinter den Kulissen statt zufinden schien. Kos rappelte sich auf und zog den »Vampir« an der Ka puze seines langen Umhangs zu sich heran. »Was genau meinen Sie mit ›absolut rollengemäß‹?« Der Schauspieler wimmerte, bekam aber trotzdem eine Antwort heraus … »Herr Gullmott – er verwendet für die Aufführung eine Verzauberung.« Der Wojek verdrillte die Kapuze so lange, bis die Span ge gegen die Kehle des Schauspielers drückte. »Und was genau habe ich darunter zu verstehen? Ich habe nicht allzu oft Zeit, um mir Theaterstücke anzuschauen. Hab nämlich zu viel damit zu tun, dauernd Gesetzesübertreter aufzuspüren. Ist das so etwas, wie Sie auch tragen?« »Nein, der Rest von uns verwendet Glanz- und Glitter zauber«, keuchte der Schauspieler. »Theater würde ohne so etwas überhaupt nicht mehr existieren. Aber Herr Gullmott hat am Tag, an dem wir hierher gekommen sind, von einem der Händler so eine magische Gürtel schnalle erworben. Sie sollte ihm eigentlich helfen, über sein Lampenfieber hinwegzukommen. Dass er sich nur 46
noch auf sich und die Vorführung konzentriert und das Publikum ganz ausblendet. Er hatte immer leichte Pro bleme mit der Szene, in der der Gildenpakt vorgestellt wird, und heute muss er übergeschnappt sein. Bitte, Herr Wachtmeister, hören Sie doch auf, mich zu würgen.« »Er ist auf dem besten Weg, zum Galgen geführt zu werden, wenn er nicht aufhört, meinen Freund so zu treten.« Der Wojek ließ den Schauspieler los und bohrte ihm einen Finger in die Brust. »Das muss aber ein gewal tiges Lampenfieber gewesen sein. Ist er nicht auch Leiter des Theaters? In den Unterlagen ist er als Besitzer ver zeichnet.« »Ja, das stimmt«, sagte der Schauspieler. »Es ist wirklich tragisch. Einerseits hat er eine Riesenangst davor, auf der Bühne zu stehen, andererseits liebt er es auch. Der Kitzel der Aufführung, die Spontanität, die man nur auf der Bühne an sich entdecken kann …« »Er hat gegen das Gesetz verstoßen. Mehr brauche ich gar nicht zu wissen. He, Feder, bei euch dahinten alles in Ordnung?« Das Handgemenge hatte sich ganz hinter die Bühne verlagert. »Ich werde siegreich sein«, hallte die mächtige Stimme des Engels durch das Theater. »Obgleich dieser Kampf unerwartet interess… Entschuldige kurz.« »Dummkopf! Kein Diener der Ordnung kann es mit Cisarzim aufneh… – Uff!« »Einen Augenblick bitte.« Die Geräuschmischung aus zerbrechenden Kulissen und Zyklopengeknurre ging weiter. 47
»Wie lange dauert es, bis diese Aufführungsverbesse rung nachlässt?«, fragte Kos. »Nicht Verbesserung, Verzauberung. Und es hängt vom Charakter ab, den er spielt«, sagte der Schauspieler. »Bisher ist noch nie etwas Vergleichbares passiert. Aller dings ist auch noch nie jemand auf unsere Bühne ge stürmt oder hat sich als Ersatzdarsteller ausgegeben, auch wenn es ja sogar ein echter Engel war. War das alles wirklich notwendig?« »Sie würden staunen, wenn ich Ihnen erzählen würde, was wir machen, wenn wir mal Spaß haben wollen.« »Sehen Sie«, sagte der Schauspieler flehentlich. »Wir haben nie beabsichtigt, ein Gesetz zu brechen. Hätten Sie uns doch bloß das Schauspiel beenden lassen. Wir sind noch neu in der Stadt. Herr Drinj hat nie irgendwelche Marktstände erwähnt.« Kos achtete nicht weiter auf das Bitten des Mannes. In dem Moment, wo der Schauspieler das Wort »beenden« ausgesprochen hatte, war ein Knäuel aus Flügeln, Beinen, Hörnern und Fäusten durch die Rückwand gebrochen und wieder auf die Bühne gerollt. Erst kurz vor Kos kamen die beiden Kontrahenten zum Halt. Feder warf Kos einen Blick zu, in dem nur die leiseste Andeutung von Besorgnis stand. Wenn auf Feders Gesicht allerdings so etwas wie eine leise Andeutung stand, reichte das bereits aus, um Kos zu beunruhigen. »Leut nant, ich vermute, dass ich deine Unterstützung doch noch brauche«, sagte der Engel sachlich und ruhig, als es dem wütenden Zyklopen – besser gesagt, dem verzauber 48
ten Schauspieler namens Gullmott, wie sich Kos vorsagte – gelang, Feders zusammengebundene Flügel auf dem Boden festzuhalten. Der Wojek-Leutnant griff nach seinem Schlagstock und umkreiste die beiden Kämpfenden. Er suchte nach einer Möglichkeit, an den Zyklopen heranzukommen. Während Kos so um die miteinander ringenden Gegner herum stapfte, drehte er am Griff seiner Waffe, bis er mit den Ohren ein ganz leichtes Summen vernahm. Momente später war die Gelegenheit, auf die er gewar tet hatte, gekommen. Er richtete den Pendrek auf Gull motts Rücken aus, zielte, atmete tief ein und rief: »Dava tasei.« Ein silberblauer Energieball, der so groß wie Feders Faust war, schoss aus dem Ende der Waffe und prallte auf den Rücken des Schauspielers. Die Energie zerstreute sich, als sie dessen Rücken traf, und hüllte den Mann für kurze Zeit in eine glitzernde grünblaue Korona. »Das könnte ein Fehler gewesen sein«, hörte Kos die Frau in der ersten Reihe kommentieren. Der Energiestrahl hätte den Schauspieler außer Gefecht setzen sollen. Vielleicht hatte das auch geklappt, aller dings hatte die Verzauberung jetzt die volle Kontrolle übernommen, jedenfalls war ihr Opfer nun noch wilder als zuvor. Der wütende Schauspieler landete mit der Rückhand einen Schwinger auf Kos’ Zwerchfell, während er die Flügel des Engels immer noch mit seiner schweren Sandale am Boden festhielt. Der Schlag kam für den Wojek völlig unvorbereitet, und Kos landete zum zweiten 49
Mal in ebenso vielen Minuten hart auf den Brettern. Der Pendrek rutschte ihm aus der Hand und klapperte über die Dielenbretter. Der Wojek rappelte sich auf, nahm eine defensive Hal tung ein und rief den Vampirschauspieler an, der sich zur Seite zurückziehen wollte. »Haben Sie irgendeine Idee, wie man ihm den verdammten Gürtel ausziehen kann?«, fragte Kos. »Sehr vorsichtig«, sagte der Schauspieler. »Bleiben Sie lieber bei den Tragödien, als Komödiant taugen Sie nichts«, blaffte Kos zurück. Er kümmerte sich wieder um den Engel. Dieser hatte seine Flügel inzwischen freibekommen, lag aber immer noch auf dem Rücken und musste sich jetzt mit den Händen des Zyklopen herumschlagen, die um seine Kehle lagen. »Feder!«, rief Kos. »Schnapp dir den Gürtel!« Der Engel zog ein Knie an und rammte es seinem Geg ner in die Weichteile. Der Zyklop krümmte sich wie in einem Zerrspiegel zusammen und kippte dann hintüber. Gullmott heulte auf wie ein verwundetes Wildtier. Die Verzauberung hatte den Schauspieler immer noch im Griff, aber immerhin hatte der Zyklop nicht mehr die Kontrolle über den Kampf. Der Engel rollte sich mit der Leichtigkeit eines Turners über den Boden ab und hatte sich längst auf Gullmott gestürzt, bevor dieser etwas anderes tun konnte, als sich stöhnend die Bauchgegend zu halten. »Sie werden sich der Amtsgewalt der Wojeks beugen«, begann der Engel. Sie zog den Schauspieler nach oben, 50
bis er einigermaßen aufrecht dastand und drückte ihn mit einer Hand gegen die rechte Seitenwand der Bühne. »Oder wir müssen besondere Maßnahmen ergreifen.« »Und sie wollen seine besonderen Maßnahmen be stimmt nicht erleben, Herr Gullmott«, sagte Kos. Er bück te sich, um seinen Pendrek aufzuheben, und legte dann einen Finger auf den Stern, den er an der Brust seiner dunkelroten Uniform trug. »Sie haben gerade gegen ein wichtiges Gesetz verstoßen. Auf sie wartet wahrscheinlich schon lebenslange Verbannung. Fordern Sie es lieber nicht heraus.« »Ich beuge mich keiner Amtsgewalt des Gesetzes«, presste Gullmott heraus, der sich aus Feders Griff zu lösen versuchte. »Ich werde eure Gesetze unter den Sohlen meiner Sandalen zerquetsch…« »Seien Sie einfach mal kurz ruhig.« Kos zog sein Kurz schwert und näherte sich dem strampelnden Schauspie ler, den Feder jetzt in einem Würgegriff hielt. »Halten Sie ruhig«, sagte der Wojek und schob die Klinge seines Schwerts vorsichtig – aber nicht unbedingt zu vorsichtig – zwischen den Ledergürtel und das dicke, gefütterte Ko stüm des Schauspielers. Ein kurzes Aufblitzen des Stahls, und der Gürtel fiel zu Boden. Die Gürtelschnalle zer sprang, als wäre sie aus billigem Glas. Gullmotts wilder Monolog brach mitten im Wort ab. Bewusstlos sank er neben den Gürtel. Als letzter kleiner Akt des Dramas zerfiel die inzwischen sehr mitgenommene Zyklopen maske in zwei Teile und landete links und rechts neben ihm. Die Verzauberung war wohl das Einzige gewesen, 51
was den Schauspieler noch auf den Beinen gehalten hatte. Ein Geraune tönte durch das Theater. Nachdem sich das Publikum vom ursprünglichen Schock erholt hatte, waren die meisten der verbliebenen Zuschauer begeistert gewesen, eine echte Schlägerei statt einer gestellten dargeboten zu bekommen. Nun ging wieder das Gemur mel los, das sich schnell in einen größeren Lärm verwan delte. »Ähm, meine Damen und Herren …«, begann Kos. An seiner Stimme und seinem Gesicht konnte man merken, dass er sich etwas unwohl fühlte, weil er es nicht ge wohnt war, dass sich so viele Augenpaare gleichzeitig auf ihn richteten. »Bitte verlassen Sie das Theater geordnet und unver züglich«, unterbrach ihn der Engel. »Die Vorstellung ist abgesagt. Dieses Theater wurde vorübergehend geschlos sen, bis die Untersuchung von mehrfachen Verletzungen der Statuten des Gildenpakts und der Stadtverordnung untersucht worden sind. Der Bund der Wojeks entschul digt sich für sämtliche Unannehmlichkeiten und hofft, dass Sie die kommenden Feiern zum Zehntausendjahres jubiläum ruhig und sicher genießen können.« Und, als Nachsatz: »Das Krawallmachen sollten Sie lieber unterlas sen.«
K
Wenvel Kolkin war alles andere als ein Mann, der einen
Krawall starten würde, wohl noch nicht einmal einen
52
leichten Protest. Er war ein Seidenhändler aus einer der Gebiete, die von den Orzhov urbar gemacht worden waren, und befand sich hier auf Urlaub. Erst als der Engel die Zehntausendjahresfeier erwähn te, wandte er seinen Blick von der Bühne ab und drehte sich zu seiner Frau um. Diese befand sich allerdings nicht mehr auf ihrem Platz. »Yertrude?« Kolkins Stimme war zunächst ein leises Flüstern wie das eines Souffleurs, aber als seine Frau nicht antwortete, steigerte er die Lautstärke, bis er fast brüllte. »He, du Fettsack da vorn! Setz dich hin, ich will was sehen!« »Ja, beweg deinen Arsch zur Seite! Hier krieg ich end lich mal was für mein Eintrittsgeld zu sehen!« »Ach, Engelchen, wackle doch noch mal mit deinen Flügeln!« Kolkin vermutete, dass zumindest das Letzte nicht ihm gegolten hatte. »Hat irgendjemand die Frau gesehen, die neben mir saß?« Wenvel fragte jeden, der in der Nähe war. »So ein bisschen, ähm, rundlich? Hatte so ähnliche Gewänder an wie, ähm, ich? Hut mit Federn? Hat während der ganzen Vorstellung geredet?« »Ich gezahlt haben für Vorstellung, nicht fettes Mann!« »Ja«, stimmte Kolkin mit einem unruhigen Seufzen zu. »Ich bin mir sicher, dass du das getan hast.« Der Kaufmann ließ seinen Blick über die Menge 53
schweifen, aber im gedämpften Licht, das von der ausge leuchteten Bühne ausging, war wenig zu erkennen. Schließlich glaubte er Yertrude in der Nähe des Ausgangs entdeckt zu haben. Sie schaute in die andere Richtung und war schon halb zur Tür hinaus. Langsam kam ihm die Idee, dass die Zidos, die er für diese Reise ausgegeben hatte, besser in eine Psychomanatherapie investiert worden wären. »Warte auf mich, Yertrude!« Seine Ehefrau war verschwunden. Wenvel Kolkin fluchte innerlich und zwängte sich durch die verstopften Reihen hinter ihr her. Er brauchte eineinhalb Minuten, um aus dem Theater heraus auf die belebte Straße zu kommen. Es gab mindestens sechs Buden, die beim Betreten des Theaters noch nicht dort gewesen waren, und er hatte den Eindruck, als ob ständig weitere aufge baut würden. Bald würde der Zinnstraßenmarkt das Theater ganz verdrängt haben, und die Theaterleute würden weiterziehen müssen. Der schwabbelige Seidenhändler musste kurz stehen bleiben, um wieder zu Atem zu kommen. Er suchte in der Menge angestrengt nach Yertrudes auffälliger Kleidung. Irgendwie fand er, dass das nicht allzu schwer sein sollte. Die meisten Leute trugen Kleidung in schmutzigem Braun, schmutzigem Grau oder schmutzigem Beige – zumindest diejenigen, die man als Menschen oder Hu manoide bestimmen konnte. Das Sonnenlicht hatte bereits damit begonnen, sich wieder zurückzuziehen, und kletterte langsam die Wände der künstlichen Häuser 54
schlucht hoch – einer von vielen in Ravnica. Die Mittags stunde war vorbei, und die Gegend lag schon ziemlich dunkel da. Die Wolkenkratzer des Viertels warfen ihre Schatten bereits auf die engen Straßen, und die vereinzel ten Leuchtmasten waren noch nicht aufgeflammt. Sein Vetter Muni hatte ihn gewarnt, in die untere Ebene der Stadt zu gehen – man war einfach zu nah an Alt-Ravnica, der Unterstadt, wo Monster lauerten, Dunkelelfen wohn ten und man noch ganz anderen Typen begegnen konnte, welche, die man im Urlaub auf keinen Fall treffen wollte. Ein Zittern überkam Kolkin, und er ließ seinen Blick noch einmal im schwachen Licht über den Marktplatz schwei fen. »Ich hätte auf dich hören sollen, Muni«, murmelte er. Auf einmal entdeckte er weit hinten etwas Dunkelro tes. Seine Frau schlüpfte um einen Stand herum, dessen Schild in großen Buchstaben vorgab, dass der dort feilge botene billige Modeschmuck echt sei. Er konnte ihr Gesicht nicht erkennen, aber es konnte sich um niemand sonst handeln. Sie bewegte sich langsam, was bei ihr nicht unüblich war und ihm derzeit auch gelegen kam. Nur mit der Farbe ihres Gewands stimmte irgendetwas nicht. Es sah ausgewaschen aus. Gebleicht. Befand er sich doch auf einer falschen Fährte? »Das ist doch lächerlich«, sagte Kolkin zu sich selbst. Er überlegte kurz, ob er ins Theater zurückkehren sollte, um sich an diesen Wojek oder den Engel zu wenden, be schloss dann aber, dass er bereits so schon viel zu viel Zeit verloren hatte. Er hob seine Gewänder an, atmete tief durch und 55
bahnte sich dann seinen Weg durch die laute und er staunlich wohl riechende Menge der Anpreiser, Touri sten, Bettler und Verkäufer. Die ganze Zeit behielt der Seidenhändler dabei den Stand im Auge, an dem er Yertrude zuletzt gesehen hatte. Sein Magen fing an, sich zusammenzukrampfen, und er wünschte sich, die Be kanntschaft der hiesigen Goblinkochkünste nie gemacht zu haben. Ständig musste er die aufdringlichen Budenbe sitzer abwehren, die ihm auf Stöcke gespießtes, verbrann tes Fleisch andrehen wollten. Er hatte auch keinen Bedarf an Ölen, die garantiert jedes Wehwehchen heilten und jedes Verlangen verstärkten, und er schüttelte auch höflich den Kopf, als ein wenig verhülltes Echsenwesen, das wahrscheinlich weiblich war, ihm ein unmoralisches Angebot machte. »Entschuldigen Sie … Tut mir Leid … Nein, habe ich noch nie gesehen, vielen Dank … Ja, ich bin mir sicher, dass es wertvoll ist … Verzeihen Sie …« Mit weiser Ver wendung von Ellenbogen, Entschuldigungen und Refle xen, von denen Kolkin nicht geahnt hatte, dass er sie besaß, manövrierte er sich durch die verstopften Straßen des belebten Markts und bemühte sich, das auffällige Schild nicht aus den Augen zu verlieren. Der Stand be fand sich am Rand des eigentlichen Marktgebiets, und dahinter wurden die Straßen auch bedeutend leerer. Dort angekommen, blieb er stehen und klopfte mit der Hand auf den Verkaufstresen, um die Aufmerksamkeit der Verkäuferin auf sich zu ziehen. Er keuchte. »Die Frau … die gerade hier vorbeigekommen ist … Ein bisschen 56
rundlich und Gewänder wie meine hier … In welche Richtung ist sie gegangen?« »Ah, mein Herr«, trällerte die Modeschmuckverkäufe rin. Sie trug ein einfaches Gewand und hatte eigentlich die Gestalt einer humanoiden Frau – nur dass der Kopf der einer Eule war. Kolkin hatte noch nie ein derartiges Wesen zu Gesicht bekommen. Allgemein hielt man diese Art auch für ausgestorben, aber anscheinend galt das nicht für das Zentrum der Stadt. Der Seidenhändler bemerkte, dass die Eulenfrau neben einer albtraumhaften Ansammlung ihrer Broschen auch eine einfache Sil bernadel am Revers trug, in die ein achtzackiger schwar zer Edelstein eingelassen war. Es war das Zeichen der Orzhov, das erkannte auch ein einfacher Seidenhändler aus einer der neu besiedelten Zonen. Trotz ihrer einfa chen Aufmachung musste diese Verkäuferin gute Verbin dungen haben. Kolkin selbst zahlte wie jeder andere Kaufmann Schutzgeld an die Orzhov, aber seine Kontakte mit der Gilde des Handels konnten beileibe nicht als Verbindungen bezeichnet werden. »Diesche Frau, die Schie da schuchen«, sagte die Eulenfrau, »wäre doch schischer glücklischer, Schie tschu schehen, wenn Schie ihr ein unglaublisch preischwer tesch Geschenk von Schylyschasch mitbringen, nischt wahr?« »Tut mir Leid, werte Schylyschasch. Ich will nichts kaufen. Meine Frau ist mir weggelaufen, und sie …« »Schie ischt Ihnen weggelaufen?«, sagte die Eulenfrau. Sie ließ kurz die Schnabelspitzen aufeinander klicken, 57
was wohl die eulische Entsprechung eines »ts, ts, ts« war. »Dasch ischt groschesch Unglück, und wie wir in diescher Gegend schagen, kann schich hinter jeder Ecke eine Überraschung verstecken.« »Nein, nicht in diesem Sinn weggelaufen«, sagte Kolkin. »Sie hat mich nicht verlassen, sie ist nur aufgestanden und davongegangen, und ich bin mir nicht sicher … Nun ja, haben Sie nicht gesehen, in welche Richtung sie gegangen ist? Sie muss kurz vor mir hier gewesen sein.« »Die Dame musch schehr verärgert schein, mein Herr. Scho wasch kommt öfter vor. Isch schehe dasch immer wieder. Jetscht weisch isch, dasch Schie ein beschon dersch scheltenesch und ekschotischesch Schtück von Schylyschasch kaufen müschen«, sagte die Eulenfrau. Ihre Augenbrauenfedern zuckten. Sie hatte ihre klaren Augen ganz auf ihn gerichtet. »Von mir aus«, sagte Kolkin. Er musste wohl auf dieses Spiel eingehen. »Ich bin ja nicht von geschtern, äh, ge stern.« Er zeigte auf ein einfaches goldenes Amulett, in das ein Stück rotes Glas eingesetzt worden war. Es sah nicht allzu teuer aus, war aber hoffentlich groß genug, um die Eulenfrau etwas mitteilungsfreudiger zu machen. Kolkin hätte nicht wenig Lust gehabt, seine eigene Feilschkunst mit der der Händler in der Stadt zu messen, wenn nicht seine Frau verschwunden wäre. »Was kostet das?«, fragte er, während er nach seiner im Gürtel verbor genen seidenen Geldbörse griff. »Nur drei Schidos, mein Herr, und isch musch schagen, dasch dasch ein Schonderpreisch ischt. Schie haben hier 58
ein gansch…« »Ich nehme es für zwei Zidos und keinen Zib mehr.« Er ließ zwei Silbermünzen auf den Tresen fallen und griff nach dem Amulett. »Abgemacht?« »Abgemacht.« »Und nun sagen Sie mir bitte, in welche Richtung mei ne Frau gegangen ist.« »Aaalscho«, begann die Verkäuferin, »dasch weisch isch nischt scho genau. Isch habe ihr nischt nachgeschaut, mein Herr.« »Aber Sie haben doch gerade gesagt …« »Isch habe nischts über diesche Frau geschagt, mein Herr. Schie haben dasch getan«, sagte die Eulenfrau. »Das reicht jetzt. Halten sie mich nicht zum Narren. Ich werde keinen weiteren Schmuck kaufen. Raus mit der Sprache.« Kolkin gab sich Mühe, bedrohlich zu wirken, aber er kam sich selbst nicht sonderlich überzeugend vor. Es klang wohl eher wie ein Flehen als nach eine Drohung. »Bitte. Sie war doch gerade hier.« »Schie verschtehen misch falsch, mein Herr, und dasch tut mir weh«, sagte die Verkäuferin. Sie flatterte unter ihrem Gewand mit den Flügeln, was wie eine entschuldi gende Geste wirkte. »Isch wäre wirklisch glücklisch, wenn isch Ihnen noch etwasch verkaufen könnte. Isch treibe keine Schpielschen mit Ihnen. Isch habe schie nischt geschehen. Esch ischt möglisch, dasch schie schich an mir vorbeigedrückt hat, obwohl meine Augen …« »Es ist mir … In Ordnung, Sie haben sie nicht gesehen. Ich habe es kapiert. Aber wenn sie doch noch einmal hier 59
vorbeikommt, sagen Sie ihr bitte, dass sie hier auf mich warten soll, falls ich sie nicht schon vorher gefunden habe.« »Mein Herr, esch ischt dasch Mindeschte, wasch isch für einen werten Kunden tun kann.« Die Stimme der Verkäuferin ging im allgemeinen Lärm hinter Kolkin unter. Er drückte sich um den Stand herum, verließ das Marktgebiet und betrat das Labyrinth aus Wohnstraßen. Je weiter er sich vom Markt entfernte, desto unregelmäßiger war auch die Beleuchtung – ab und an eine Fackel, die über dem Eingang zu einer Kaschem me hing, oder ein offenes Feuer, um das sich eine Gruppe Mittelloser drängte. Von Yertrude war nirgends etwas zu sehen. Nach zehn Minuten befand sich Kolkin an der Einmündung einer engen Gasse, die keine der Vorzüge von Sonnenlicht, magischen Leuchtstäben oder einer anderen Lichtquelle besaß. Von den vielfaltigen Geräu schen des Marktplatzes war nicht mehr viel zu hören. Es stank hier unerträglich – einerseits nach verrottendem Müll, möglicherweise aber auch nach verrottenden Einwohnern dieser Gasse. Am fernen Ende sah er sie. Sie blickte immer noch in die andere Richtung, aber sie war stehen geblieben. In der Dunkelheit wirkten ihre hellen Gewänder wieder wie ausgeblichen, genau wie eben auf dem Markt, als er sie in der Menge entdeckt hatte. Yertrude schien allein zu sein. Wenvel Kolkin war kein Krieger, und erst recht kein Held. Ganz definitiv war er niemand, der sich normaler weise allein in eine dunkle Gasse Ravnicas wagen würde. 60
Aber Wenvel war ein guter, ehrlicher Ehemann, der seine Frau liebte, und das gab ihm den Mut, den er für seinen nächsten Schritt brauchte. Er atmete tief durch, raffte seine Gewänder und ging zwei Schritte in die dunkle Gasse hinein. Etwas strich über die Spitze seiner Sandalen. Der Sei denhändler schrie auf und rannte los, wobei er immer wieder über die Schulter blickte. Erst als er fast den halben Weg zurückgelegt hatte, blieb er stehen, um zu verschnaufen. Er blickte nach vorn und sah, dass sich Yertrude immer noch nicht von der Stelle bewegt hatte. Er verfiel in einen Dauerlauf. Wenn er zu schnell rannte und dabei in der Dunkelheit über einen Pflasterstein oder etwas Schlimmeres stolperte, würde er sie vielleicht wieder aus den Augen verlieren. »Yertrude! Warte!«, schrie er. Er bekam keine Antwort. Als er näher kam, verstand er endlich, warum er seine Frau trotz des schlechten Lichts so gut sehen konnte. Der verräterische bläuliche Schein, von dem seine Frau umgeben war, erklärte alles. Die plötzliche Erkenntnis kam mit einem Anfall von Übelkeit. Der Seidenhändler musste dagegen ankämpfen, sich auf der Stelle zu übergeben. Wie die meisten Ravnicaner hatte er solch einen bläulichen Schein schon einmal gesehen. In Ravnica hielten sich nicht wenige Tote auf. Wenvel Kolkin sah den Geist seiner Frau vor sich, nicht Yertrude selbst. Der Geist drehte sich langsam um. »Y-Yertrude?«, flüsterte Kolkin. Alle seine Urinstinkte 61
bedrängten ihn, sich umzudrehen, wegzurennen, zu fliehen – selbst bei fetten Seidenhändlern aus den neu besiedelten Gebieten meldeten sich in dunklen, von Geistern heimgesuchten Gassen noch Instinkte. Aber seine Beine waren schwer wie Blei und wollten sich nicht bewegen, bis er ihr Gesicht sah und wusste, dass das alles war, was ihm noch von seiner lieben Yertrude geblieben war. Wenvel Kolkin sah ihr Gesicht und fing an zu schreien.
K
Die Schauspielertruppe und die Bühnenhelfer bauten unter lautem Krach die Bühne ab, während die letzten verdutzten Zuschauer langsam aus dem Theater ström ten. Nichts weniger als ein echter Engel hatte ihnen verkündet, dass die Vorstellung jetzt vorbei sei und es zu Massenverhaftungen kommen werde, wenn der Platz nicht augenblicklich geräumt werde. Durch das offene Dach kam – obwohl sich die Sonne langsam in ihre Nachmittagsposition bewegte – noch genügend Licht, um große Schatten auf den Wojek-Leutnant Agrus Kos und die auf der Bühne arbeitenden Gestalten zu werfen. Die Strahlen erhellten den hinteren Teil der Bühne, den das Publikum normalerweise nicht zu sehen bekam. Wie fast alles in Ravnica war es dort schmutziger, als man glauben wollte. Der Leutnant schnitt eine Grimasse. Sein Gesicht wirk te im Licht des kurzen blauen Leuchtstabs schmerzver 62
zerrt. Er biss die Zähne zusammen, während er vorsichtig seine Seite abtastete. »Du hast nicht zufälligerweise Tränen dabei, Feder?«, fragte er den Engel. »Ich glaube, ich habe mir ein paar Rippen gebrochen.« »Tut mir Leid, Leutnant«, antwortete der Engel, der sich gerade einen immer noch bewusstlosen Gullmott, dessen Hände und Füße inzwischen gefesselt waren, auf die Schulter lud. »Mit dem brauchst du nicht so vorsichtig umzugehen. Der ist immerhin derjenige, der mir die Rippen gebro chen hat.« »Tut mir Leid, Herr Kos«, sagte der Engel, ohne aus dem Rhythmus zu kommen. »Ich habe keine Verwendung für magische Medizin. Daher trage ich keine bei mir. Ich verstehe auch nicht ganz, warum ich einen Gefangenen misshandeln soll, der sich eh schon darauf freuen darf, vor Gericht gestellt zu werden.« »Ich hab ja auch nicht gesagt, dass du ihn foltern sollst. Nur … Ach, ist auch egal, Feder.« »Ja, Herr Leutnant.« Der richtige Name des Engels – oder zumindest der Teil davon, den Kos aussprechen konnte – lautete Pierzuva. Der Rest bestand aus einem Durcheinander von unaus sprechbaren Silben, an die sich Kos nie herangetraut hatte. »Feder« war da viel einfacher. Pier-was-auchimmer hörte eh auf so gut wie jeden Namen. Engel, hatte er ihm eines Tages erklärt, wussten immer, wann sie direkt angesprochen wurden, selbst aus größter Entfernung. Er hatte dies »Gebet« genannt. Kos nannte es »Zufall«. Eines 63
der vielen Dinge, die Kos über den Engel gelernt hatte, war, dass Feder eine Art heiliger Schuld abarbeitete, indem er sich als Wojek-Offizier in der Zehnten Bundeshalle verdingte. Was für eine Schuld das war und für wie lange der Engel sich verpflichtet hatte, wusste niemand. Und niemand fragte auch mehr danach, seit Wachtmei ster Bell Borca – Kos’ derzeitiger Dienstkamerad – eines Abends im Achterwasser ein paar Krüge Bumbat zu viel getrunken hatte und sich von Kos dazu hatte anstiften lassen, Feder zu fragen, warum dessen Flügel aneinander gekettet und gefesselt seien. Borca war im Krankenhaus gelandet. Der Grund für die gebrochene Nase und das gebrochene Schlüsselbein war offiziell unbekannt. Feder andererseits verkehrte seit diesem Abend auf Verlangen der Wirtin Garulsz nicht mehr im Achterwasser. Feders Anwesenheit würde die Stammgäste vertreiben. Was wirklich schade war, fand Kos. Niemand hatte je herausgefunden, was Feder ange stellt hatte, um seine »Strafe« zu bekommen, und für jemanden, der von Haus aus so neugierig war wie Kos, war das natürlich besonders frustrierend. Zwar nicht frustrierend genug, um den Engel selbst zu fragen, aber dennoch frustrierend. Borca war ein ganz netter Kerl und vertrug im Achter wasser auch mal einen Scherz auf seine Kosten. Mehr verlangte Kos inzwischen von einem Kollegen nicht. Er dachte darüber nach, wie Borca wohl diese Theater schließung gehandhabt hätte, und kam zur Überzeugung, dass er wirklich besser daran getan hatte, ihn mit Papier 64
kram beschäftigt zu haben. Borca, der über fünfzig Jahre jünger als Kos war und erst seit drei Jahren Polizist, hätte es wahrscheinlich fertig gebracht, dass sich das Publikum am Kampf beteiligt, sodass Feder tatsächlich eine Mas senverhaftung hätte vornehmen müssen. Ein Bild von Borca, auf dem dieser ein Engelskostüm und eine hellrote Perücke trug, schoss ihm durch den Kopf, und er musste lachen. Das Lachen wurde von einem Knacken, einem pfeifenden Geräusch und einem stechenden Schmerz begleitet. Das klang gar nicht gut. »Au«, stöhnte Kos. »Bist du dir wirklich sicher, dass du nichts bei dir hast?« »Es gibt normalerweise kaum einen Grund, warum ein Engel Medizin dabeihaben sollte. Medizin stellt sich nur dem heiligen Werk der Gerechtigkeit in den Weg«, sagte Feder. »Hast du denn selbst keine dabei? Sterbliche Wo jeks sind doch dazu verpflichtet, mindestens drei Stück zu jeder Zeit mit sich zu führen. Und du scheinst Schmerzen zu haben. Wo sind deine?« Kos machte zu den noch stehenden Teilen der Bühne hin eine ungenaue Handbewegung und zeigte dann auf mehrere glitzernde blaue Schlieren, den Überresten von ausgelaufenem flüssigem Mana. »Dort drüben. Ich glaube, ich bin zweimal darauf gelandet. Geh lieber nicht barfuß in diese Richtung.« »Entschuldigen Sie, Herr Leutnant …«, meldete sich der Vampirschauspieler zu Wort. »Was … was gibt’s?«, fragte Kos angestrengt. Der Man gel an Sauerstoff setzte ihm zusehends zu. Vielleicht hatte 65
seine letzte Exfrau doch Recht gehabt. Vielleicht war hundertzehn doch ein zu hohes Alter, um immer noch diesen Beruf auszuüben. »Sie haben gesagt, dass Sie Medizin brauchen? Viel leicht könnten wir, ähm, helfen?«, stammelte der Schau spieler. »Sie wissen, dass Sie mich nicht bestechen können«, keuchte Kos. Verdammt, wenn er nicht bald Hilfe bekam, würde er in Ohnmacht fallen. Und danach wahrschein lich nicht wieder aufwachen. »Das wäre wirklich nicht ratsam«, fügte Feder hinzu. »Kos, kannst du frei atmen?« »Nein, nein, wir wissen ja, dass wir weiterziehen müs sen«, sagte der Schauspieler. Er holte einen jener blauen Kristalle aus der Tasche, die wegen ihrer Form meist Heiltränen oder kurz »Tränen« genannt wurden. »Wir sind für Notfälle vorbereitet. Falls mal was auf der Bühne passiert oder so.« Der Schauspieler bot Kos den tropfen förmigen Kristall auf der ausgestreckten Hand an. Kos verlor keine Sekunde mit weiteren Debatten und fragte auch nicht nach, wie ein nur an Wojeks ausgege benes Heilmittel in den Taschen eines Schauspielers landen konnte. Er stolperte auf den Mann zu, schnappte sich den Kristall und rammte dessen stumpfes Ende dort in seine Brust, wo der Schmerz am stärksten war. Kos zählte im Kopf von drei rückwärts, und bei Null spürte er, wie der feste Mana-Splitter in seiner Hand eiskalt wurde und der Schmerz in seiner verletzten Lunge gleichzeitig schwächer. Er richtete sich auf und holte versuchsweise 66
tief Luft. Es zwickte und zwackte noch gewaltig, aber immerhin konnte er wieder frei atmen. In seinem Wams war ein kleines Loch an der Stelle, an der die Magie in den Verletzungsbereich eingedrungen war und wirksam alles anorganisches Material vernichtet hatte, das sich zwischen dem Mana und der Verletzung befand. Kos war zwar immer noch schwer verletzt, aber er würde nicht sterben. Jedenfalls nicht sofort. Er streckte dem Schauspieler die Hand entgegen. »Vielen Dank, Herr …«, sagte Kos und ließ den Namen in der Luft hängen. Der ehemalige Vampir zog sich den Kostümhandschuh von den Fingern und schüttelte Kos die Hand. »Tut mir Leid, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe. Rembic Wezescu. Ich vermute mal, dass ich jetzt der Leiter des Theaters bin, wenn Sie Gullmott mitnehmen. Glauben Sie mir, das ist nicht das erste Mal, dass wir eine Vorstellung, ähm, unerwarteterweise verlassen müssen. Wir sind arme Schauspieler, und mit der Wuchermiete, die Drinj von uns verlangt hat, war es eh schon schwierig genug, überhaupt über Wasser zu bleiben. Da die Zehntausend jahresfeier vor der Tür steht, hat er wohl geglaubt, dass er damit durchkommt. Wahrscheinlich haben Sie uns sogar einen Gefallen erwiesen, Leutnant. Mein Vetter hat einen Tipp bekommen, wo wir drüben im Sechsten Viertel ein viel billigeres Theater mieten können.« »Um die Wahrheit zu sagen, Herr Wezescu, hoffe ich für die Schauspieler, dass es Ihnen gelingt, ein neues Haus zu finden. Das war schon eine eindrucksvolle Vor stellung, und ich habe genug Schrammen abbekommen, 67
um das zu beweisen. Herr Gullmott drohen im Übrigen mindestens drei Monate Verbannung«, sagte Kos. »Wenn Sie uns Ihre neue Adresse hinterlassen …« »Vielen Dank. Wir werden versuchen, irgendwie ohne ihn durchzukommen«, antwortete Wezescu. Kos wurde das Gefühl nicht los, dass der Schauspieler nicht vorhatte, seinem ehemaligen Boss noch einmal zu begegnen. Nachdem er ein halbes Jahrhundert in den Straßen von Ravnica Streife gegangen war, konnte Kos genau sagen, wann Leute dachten, sie hätten es geschafft. Normaler weise war das der Augenblick, in dem sie gefasst wurden, aber bislang hatte sich der Schauspieler noch nichts zuschulden kommen lassen außer vielleicht etwas viel Ehrgeiz und das Retten von Kos’ Leben. Bevor Kos noch etwas sagen konnte, fügte Wezescu hinzu: »Wenn Sie es wünschen, wird sich unsere Heilerin um den Rest Ihrer Verletzungen kümmern. Da wir gerade mit Einpacken beschäftigt sind, hat sie nicht viel zu tun. Das wäre doch das Mindeste, was wir tun können, Herr Leutnant.« »Ein Mensch in deinem fortgeschrittenen Alter sollte sich schonen, wenn er sich die Rippen gebrochen hat, Leut… äh, Kos«, warf Feder ein. »Ich kann den Verdächti gen zur Bundeshalle bringen. Falls du willst, schicke ich dir Heiler vom Bundeskrankenhaus vorbei.« Kos seufzte und wand sich wieder vor Schmerzen. »Danke, aber ich glaube, ich werde es schaffen. Ich muss langsam wieder zu Borca zurück. Der arme Kerl hat vom vielen Formulareausfüllen inzwischen wahrscheinlich schon einen Krampf in der Hand. Vielleicht lege ich ja im 68
Achterwasser eine kurze Zwischenstation ein.«
»Soll ich dich daran erinnern, dass das Trinken wäh rend der Dienstzeit gegen die Regeln im Handbuch für Polizisten verstößt?« »Du kannst es ja mal versuchen.«
69
Kapitel 3
H
Beförderungen innerhalb des Bundes erfolgen nach Maßgabe der Anerkennung verdienenden Leistungen im Dienst. Handbuch für Wojek-Polizisten
23. Zuun 9999 Z. C., abends »Du bist … du bist ein …« Kos hob eine Hand, um kurz gegen einen Schluckauf anzukämpfen, und setzte seinen Satz dann fort. »… ein ganz Hässlicher, oder?« »Entschuldigen Sie, aber das ist doch jetzt wirklich un erhört«, sagte der Minotaurus über die Schulter. »Und geht Sie das überhaupt etwas an?« Er zeigte mit einer dreifingrigen Hand auf den Goblin, der auf dem Barhok ker zu seiner Rechten saß. »Wir unterhalten uns gerade.« »Garulsz jetzt für dich schön starken Kaffee macht«, sagte die Wirtin. »Garulsz, das hier ist eine Angelegenheit zwischen mir und meinen, meinen Freunden und mir hier«, knurrte Kos und machte eine abwehrende Handbewegung in ihre Richtung. Die Ogerwirtin sah kurz etwas unter dem Tresen nach, um sich dann wieder um Kos zu kümmern, aber der Wojek hatte sich schon wieder dem Minotaurus 70
zugewandt. »Na, hat jemand vergessen, die Stalltür abzu schließen?« »Ich weiß nicht, warum Sie andauernd eine Auseinan dersetzung mit uns anzetteln wollen«, sagte der Goblin, der die Gewänder eines Zauberwerker-Gesellen der Izzet trug. »Sie können sich sicher sein, dass wir hier nur ganz in Ruhe etwas trinken wollen.« »Ach ja?«, sagte Kos. »Ihr seid hier falsch, hier falsch, das ist eine Wojek-Kneipe. Wojeks. He, du Ochse da, du Minotaurus. Ich rede mit dir.« Beim letzten Wort stieß Kos gegen die linke Schulter des Minotaurus, was dazu führte, dass ein Krug mit Milch über den Tresen rutschte und zu Boden fiel. Garulsz seufzte und verschwand im Hinter zimmer, um ihren Aufwischlappen zu holen, während der Minotaurus mit beiden Händen auf den Tresen schlug. »Mein Herr!«, donnerte der Minotaurus. »Ich habe sie höflich gebeten, nicht in diesem Stil weiterzumachen. Wir haben nichts getan, was Sie stören könnte, und ich hatte gehofft, dass wir friedlich zu unserer Unterhaltung zurückkehren können.« Er rutschte vom Barhocker und beugte sich über Kos. Schnaubend schob der Minotaurus seine Lippen auseinander, sodass man seine Zähne sehen konnte. »Ach, jetzt haben wir ein Hühnchen zu rupfen«, sagte Kos und ließ seine Knöchel knacken – jedenfalls hatte er das vor, aber irgendwie hatten seine Hände einander verfehlt. Er geriet ins Schwanken, stieß sich vom Tresen ab und nahm eine etwas instabile Boxhaltung ein. 71
»Ich will mich nicht mit Ihnen schlagen, alter Mann, aber ich werde es tun, wenn Sie so weitermachen. Ich frage Sie ein letztes Mal: Wollen Sie wirklich auf dem Boden landen oder … Autsch!« Der Mann mit dem Bul lenkopf stöhnte vor Schreck und Schmerz und knickte nach hinten weg, weil seine Knie auf einmal nachgege ben hatten. »War nur so eine Redewendung«, sagte Kos. »Hätte vorhin sagen lieber ›Kalb rupfen‹ sagen sollen. Mach ich nächstes Mal, großes Ehrenwort.«
K
»Wie bist du dort oben hingekommen?«, fragte Borca. »Hab einen getreten, einen … He, holst du mich jetzt endlich hier runter?«, sagte Kos. Er war benommen, und das Blut, das ihm in den Kopf stieg, machte es auch nicht besser. Er wedelte mit der Hand in Richtung des Tresens, und durch die Bewegung schaukelte er wieder durch die Luft. »Garulsz redet nicht mehr … mit mir. Also … hol mich endlich hier … runter. Ich kriege lauter Brandblasen vom herabtropfenden Wachs.« »Warte mal kurz.« Borca seufzte. Er zog einen Barhok ker unter den Lüster, der die einzige richtige Dekoration im Achterwasser und zum Glück für Kos sehr stabil war. Kos konnte ihm fast in die Nase gucken. »Und wie soll ich dich da runterholen?« »Keine Ahnung, mach mich einfach los.« »Wenn’s weiter nichts ist«, sagte Borca und schnitt mit 72
einem schnellen Schwertstreich Kos’ Gürtel durch.
Kos hatte den Bruchteil einer Sekunde Zeit, um sich zu fragen, ob Gullmott diese Ironie wohl zu würdigen ge wusst hätte, bevor er kopfüber auf den Boden prallte. Borca half ihm auf die Beine, aber Kos blickte nur finster drein und rieb sich die Schläfen. »Au! Wirklich, Borca, einfach den Gürtel … Du hattest auch … Au!«, nuschelte Kos. »Zweimal Kaffee, Gar«, sagte Borca zur Wirtin und warf ein paar Münzen auf den Tresen. »Ich werde dafür sor gen, dass er morgen für die Schäden aufkommt.« Garulsz, die immer noch mit dem Aufwischen beschäf tigt war, blickte hoch und rollte mit den Augen. »Sorg dafür, dass er nicht immer sucht Streit«, grunzte sie, reichte ihm aber zwei große Krüge mit einem dampfen den, undurchdringbar schwarzen Gebräu über den Tre sen. »Milch billig, verschreckte Kunden teuer. Ich immer nett zu Kos, weil ich mag ihn. Aber Garulsz hat Kneipe, nicht Gladiatorenkampfgrube. Er soll gehen ins Pivlichi no, wenn er will kämpfen.« Borca fügte zu den Münzen auf dem Tisch noch einige weitere hinzu und nickte. »Hast du was dagegen, wenn wir noch ein paar Minuten drüben in der Ecke herumsit zen?« Die Ogerin zuckte die Achseln und wandte sich wieder den Flecken auf dem Fußboden zu. »Komm schon, Leutnant«, sagte Borca und führte Kos an den dunklen Ecktisch, an dem sie normalerweise saßen. 73
»Wachtmeister Borca«, sagte Kos und versuchte erst gar nicht, seine Verwunderung zu verbergen, als er sich auf die Bank fallen ließ. »Du unterbrichst gerade eine wichtige Nachforschung. Was machst du hier?« »Das fragst du mich?«, antwortete der jüngere Wojek ungläubig. »Feder hat berichtet, dass du auf dem Rück weg zum Revier bist, Kos. Was genau untersuchst du denn hier? Ich bin mir ziemlich sicher, dass Garulsz schon seit Wochen niemanden mehr gefressen hat. Wenn du so weitermachst, wirst du irgendwann noch in Grigors Schlucht eingesperrt.« »Da hat fetter Mann Recht«, ließ sich die Ogerin hören, die den Wischmopp in die Ecke gestellt hatte, um sich wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung zu widmen: ihre Gläser zu polieren. Kos schaute an seiner Kleidung hinab und bemerkte, dass die Stelle, an der sein Abzeichen hätte sein sollen, leer war. Er suchte den Raum ab und fand seine Uniform jacke, sein Abzeichen und weitere Kleidungsstücke schließlich unter dem Barhocker, auf dem er zuvor geses sen hatte. Er stolperte dorthin, um die Sachen zu holen, und zog sie sich dann an, bevor er sich wieder an den Tisch setzte. »Die hätten noch nicht einmal mit dir kämpfen wollen, wenn du das alles angelassen hättest«, bemerkte Borca. »Genau darum geht es doch, Wachtmeister«, sagte Kos und nahm einen Schluck von Garulsz’ wirkungsvollem Wachmacher. Es half etwas, aber seine Sicht war immer noch verschwommen. 74
»Aber was ergibt es denn für einen Sinn, einmal die Woche eins auf die Nase zu bekommen? Es gibt eine Turnhalle in der Bundeshalle, wenn du dich unbedingt austoben musst.« »Ist klar, aber dort gibt es keine Bar«, sagte Kos. Für sein benebeltes Hirn war dies das Argument, das jede weitere Diskussion überflüssig machte. »Außerdem habe ich Nachforschungen über verdächtige Aktivitäten ange stellt.« Borca drückte Kos einen silbernen Knüppel in die Hand. »Den habe ich auf der Straße vor dem Theater gefunden, wo ich zuerst hin bin, um nach dir zu suchen. Sah so aus, als ob er zum Aufladen dort hingelegt worden wäre. Das ist doch dein Zeichen hier am Griff, oder?« »Du hast Recht, wie immer«, sagte Kos. »Eines Tages werde ich mal nicht da sein, um hinter dir alles aufzuräumen«, sagte Borca. »Mich braucht niemand zu bemuttern, nicht seit meine leibliche Mutter mich auf dem Zinnstraßenmarkt ausge setzt hat«, sagte Kos. »Es ist mir egal, was du tust. Du bist … du bist nicht mein richtiger Kamerad. Es gab einen Wojek, der mein Kamerad war. Für alle Zeiten. Aber der ist tot. Du bist jemand, mit dem ich einfach nur so zusammenarbeite, nicht mein bester Freund. Such dir jemand anderes zum Bemuttern.« »Trink deinen Kaffee aus«, sagte Borca. »Du hast eine Verabredung mit den Sesselfritzen.« Das war die Bezeich nung der Wojeks für die Beamten, die nicht auf Streife 75
gingen. »Und was geht dich das an?« »Der Falke, den sie dir geschickt haben, ist zurückge kommen.« »Hier drin sind keine Falken erlaubt, seit Hui im Koch topf gelandet ist.« »Er war ein guter Vogel«, sagte Borca nachdenklich. »Ein wenig zäh«, sagte Kos und hob seinen Krug zum stummen Salut. »Was wollen die von dir, Kos?« »Das weißt du nicht?«, sagte Kos. »Ich dachte, du bist ihr … vertrauenswürdiger Laufbursche.« »Wahrscheinlich noch nicht einmal das«, sagte Borca. »›Borca, der Vogel kam zurück. Tu uns den Gefallen und treib deinen Dienstkameraden auf.‹ Und das alles, nach dem sie mich über deine, ähm, Arbeitsgewohnheiten ausgefragt hatten.« »Meine was?« »Du hast es gehört.« Kos seufzte. »Nun gut. Hat es … hat es geklungen, als wäre es dringend?« »Da kannst du drauf wetten.« »Gut«, sagte Kos. »Trinken wir unseren Kaffee aus.« Eine Stunde später hatte der Ogerkaffee seine Wirkung voll entfaltet. Kos vermutete, dass er immer noch einen recht unangenehmen Geruch mit sich herumtrug, aber er konnte wieder gehen, ohne zu wanken, und lallte auch nicht mehr. Auf ihrem Weg nach draußen stoppte die Wirtin sie mit einem lauten Ruf, der Kos beinahe einen 76
Herzanfall versetzte. »Nicht Ausrüstung vergessen, Leutnant!« Es gab ein dumpfes Geräusch, und einige Münzen klirrten, als die Ogerin Kos’ durchtrennten Dienstgürtel und seine ge sammelte Ausstattung vom Tresen fegte. Unter den ganzen Sachen lag auch ein blutiger Minotauruszahn, den Kos aber als Trinkgeld zurückließ. Er hielt seinen Gürtel hoch, überlegte einen Moment und schlang ihn sich dann über die Schulter. Er folgte Borca nach draußen ins nachmittägliche Sonnenlicht. Er konnte zwar wieder gehen, ohne zu wanken, aber ein gewisses beklem mendes Gefühl wurde er nicht los. Die Sesselfritzen riefen einen Wojek normalerweise nur dann zu sich in die Innere Festung, wenn sie ihn einstellen, feuern oder in den Ruhestand schicken wollten. Es gab noch eine vierte Möglichkeit, die nicht so ganz zu den drei erstgenannten passte, die Kos aber am mei sten Sorgen bereitete.
K
Die beiden Gesetzeshüter – der eine jung und ehrgeizig, während der andere sich immer älter fühlte – gingen nebeneinander durch einen der Schwebetunnel. In Rav nica gab es tausende von diesen durch Magie gehaltene und geschützte Brücken. Der hiesige Tunnel führte direkt in die Innere Festung, dem Hauptquartier des Bundes der Wojeks. Außer den beiden waren nur wenig andere Leute unterwegs, hauptsächlich ebenfalls Wojeks. Borca schien 77
darauf bedacht zu sein, immer ein paar Schritte vor Kos zu gehen, und sei es nur deswegen, um den älteren Wojek dadurch zu ärgern. Borca zeigte Fortschritte, wie Kos fand. Allerdings hin terließ er immer noch einen etwas ungeschliffenen Ein druck, was wohl an seinem jungen Alter lag und daran, dass er bereits eine gewisse Verantwortung übernehmen durfte, die er sich eigentlich noch gar nicht verdient hatte. Wahrscheinlich war diese Beurteilung nicht ganz gerecht, aber Kos konnte nicht anders. Das war irgendwie wie ein Reflex. Borca war einer der Rekruten gewesen, die dem Bund beigetreten waren, nachdem der letzte Rakdos-Aufstand vor zehn Jahren große Lücken in die Reihen der Wojeks geschlagen hatte. Diese Rebellion war viel größer und viel ausgedehnter gewesen als die im Jahr 9940, kurz bevor Kos zum Konstabler befördert worden war. Diesmal waren hunderte Wojeks gestorben, nicht nur ein paar Dutzend. Es war nicht so einfach, mit einem Kollegen zusammenarbeiten zu müssen, bei dem allein dessen Anwesenheit ihn an tote Freunde erinnerte. Besonders nach dem, was mit seinem ersten – und letz ten – richtigen Kameraden geschehen war. Er hatte schon vor langer Zeit herausgefunden, warum Myczil Zunich so viel Bumbat getrunken hatte. Es war oft die einzige Möglichkeit, um mit all dem fertig zu werden, was einem als Leutnant täglich aufgebürdet wurde. Es half, diejenigen zu vergessen, die nicht mehr da waren, um einem eine Stütze zu sein. Kos hatte viele solcher Gründe. Der Leutnant blickte durch die Seitenfenster nach 78
draußen auf die im Dunkeln liegenden Straßen der unte ren Ebenen, die selbst wieder von den uralten Türmen des Stadtfundaments getragen wurden. Grigors Schlucht lag wie immer im Nebel und zog sich wie ein gezackter Blitz durch diese gedrängte Ansammlung von Architek tursünden, die sich Ravnica nannte. Er verlief bis in die Nordwestecke des Zentrums, wo er an den Obstgärten der Golgari endete, einer der wenigen Orte, wo der Schwarm, wie man die Golgari-Gilde auch nannte, an der Oberflä che wirklich präsent war. Die Metropole war um die Schlucht herum gewachsen, und diese hatte wahrschein lich nur deswegen überlebt, weil sie die direkte Route nach Alt-Ravnica und zu den kalten unterirdischen We gen der Unterstadt war. Kos beobachtete einen Trans port-Zeppeliden der Golgari, der aus dem Nebel nach oben schwebte und zu einem Nahrungslagerhaus in der Nähe der Schlucht steuerte. Im dadurch verursachten Sog wurde der trübe Nebel durcheinander gewirbelt, sodass ein identischer Zeppelid, der einige Sekunden später aufstieg, erst im letzten Moment zu sehen war. Ein weite res Glied in der Handelskette, die dafür sorgte, dass die Stadt nicht hungern musste, sondern gut überlebte, dachte Kos. Der zweite Zeppelid öffnete sein Maul und pfiff eine Warnung an alle anderen fliegenden Wesen in der Nähe. Kos war froh, dass es die Schwebetunnel gab. Sie wa ren spinnennetzartig aufgebaut und Teil des riesigen, zweckbestimmten Wegenetzes der Welt. Zudem waren sie mit einem Zauber versehen, der gegen Schwindelan 79
fälle half. Von hier aus konnte man problemlos in die Schlucht hineinspringen und endlos fallen, bis man irgendwann in das Golgari-Gebiet kommen würde. Kos zog es normalerweise vor, auf den richtigen Straßen durch die Distrikte zu gehen, aber jetzt hatten sie es ja eilig. Der Schwebetunnel lief zwischen den ältesten Turm spitzen hindurch, deren dazugehörige Türme das Zen trum von Ravnica umringten. Winzige spitze Brustweh ren und die Silhouetten der mächtigen Steintitanen überdeckten den unteren Teil der Sonne, die gerade im Westen unterging. Es würde nicht lange dauern, bis der Horizont das letzte verbliebene natürliche Licht ver schluckt hatte. Aus dem Sonnenuntergang wurde Däm merung, und überall um die Wojeks herum gingen in der Stadt die Lichter an. Diese Verwandlung kam Kos immer wie ein nächtliches Wunder vor, das ihn mit Ehrfurcht erfüllte, seit er als Kind den Distrikt zum ersten Mal nachts gesehen hatte. Irgendwie hatte er doch noch etwas viel Alkohol im Blut, jedenfalls merkte er gerade noch rechtzeitig, dass er zu lange auf einen der Türme schaute, weswegen er beinahe rechts hinuntergefallen wäre. In Ordnung. Augen auf die Straße, Kos, egal, ob da ge rade eine schöne Aussicht ist oder nicht, schalt er sich. Sie erreichten eine Kreuzung, wo fünf der Schwebe tunnel aufeinander trafen und abrupt endeten. Sie waren an der Grenze zur Stadtmitte angekommen. Der Mittel punkt der Stadt – beziehungsweise der ganzen Welt – war einer der wenigen Flecken von erkennbarer Größe, der noch nicht komplett zugebaut war und an dem man noch 80
etwas von Ravnicas eigentlicher Oberfläche sehen konn te. Damit dies so blieb, durften zwischen dem nackten Erdboden und dem Himmel auch keine Brücken oder Überwege mehr gebaut werden. Auf jeden Fall war dies das einzige offene Gebiet inmitten der dicht besiedelten Freihandelszone. Eigentlich handelte es sich hier um den Gipfel eines Berges, dessen Hauptmasse in der Unterstadt lag und der durch Bergbau und Bebauung inzwischen eher einem großen Röhrensystem glich. Die Rakdos hatten dort ihre Minen; im Volksmund nannte man es nur das Höllenloch. Die Rakdos, die im immer weiter verschwindenden Berg siedelten, waren von den Golgari rund um sie herum nur durch die Mauern aus Stein getrennt, die sie nach und nach ausbeuteten. Wo sie sich jetzt gerade befanden, war die Spitze des Berges flach. Die Gilden hatten auf dem festen Boden viele ihrer wichtigsten Monumente und Hallen gebaut. Kos folgte Borca den gewundenen Pfad entlang, der zum Rokiric-Platz führte, und genoss den Anblick der Inneren Festung in ihrer ganzen Prächtigkeit. Selbst in seinem angetrunkenen Zustand und seiner bitteren Gemütslage wurde Kos wie immer von Ehrfurcht ergriffen, als er den Steintitanen des Zehnten Distrikts, Zobor, sah. Der riesige Steinkrieger stand rittlings auf dem offenen Platz, der nach dem legendären Wojek benannt war. Rokiric hatte einst die Titanen als ultimative Verteidigungslinie gegen eine zu befürchtende Invasion in die Stadt gebracht. Einerseits war er ein Monument, andererseits diente er auch als Abschreckung für diejeni 81
gen, die es wagen wollten, die Autorität des Bundes herauszufordern. Seine Beine bildeten zudem einen Triumphbogen, der zu den breiten Marmorstufen der Inneren Festung führte. Der Platz war deutlich mehr bevölkert als sonst. Urlaubsreisende aus allen neun Gilden wanderten in kleinen Grüppchen umher, zeigten auf Zobor, die nahe gelegene Halle der Urteile und all die anderen Sehenswürdigkeiten, die man von dem offenen Platz aus sehr gut betrachten konnte. Die anderen neun Titanen umringten die Stadt, aber diesen hier hatte Roki ric in der Mitte platziert, damit er die Verteidiger verteidi gen konnte. Die Wojeks waren das Gesetz der Stadt, und das Gesetz brauchte den Anschein der Unverwundbarkeit. Und Zobor war die sinnbildliche, aus Stahl und Magie gegossene Unverwundbarkeit. Als die Sohlen von Kos’ Stiefeln endlich den ausge trockneten Erdboden des Platzes berührten, war die Sonne bereits hinter den Turmspitzen im Westen ver schwunden. Bei Eintritt der Dämmerung sprangen die Leuchtposten, die hier die Größe von Häusern hatten und die Festung gänzlich umringten, gleichzeitig an. Ihre Strahlen reckten sich in den Himmel, und Kos bildete sich ein, dass sie für die Zeremonie, die er zu erwarten oder gar zu befürchten hatte, ein helles Spalier bildeten. Sie traten durch die Empfangshalle ein und gingen an den neuen Rekruten vorbei, die gerade frisch von der Polizeiakademie kamen. In den ersten Wochen hatten sie hier immer Pflichtdienst in Paradeuniform. Der nächste Gang führte sie an den Verwahrungszellen vorbei, wo 82
mutmaßliche Straftäter daraufwarteten, dem Richter vorgeführt zu werden. Hinter dem Gefängnistrakt brachte sie ein mechanischer Lift auf Borcas Befehl hin bis in den zehnten Stock des Mittelturms der Inneren Festung. Auf dem Weg nach oben kamen sie an mehreren Stockwer ken vorbei, die allein der Bürokratie vorbehalten waren und vor Schreibkräften aller Art nur so wimmelten. Kos hielt den Atem an, um genau hinzuhören, als sie durch die lauten Stockwerke sechs und sieben fuhren, wo die besonders verstärkten Zellen lagen, die der Bund für Gefangene reserviert hatte, die besonders kräftig waren oder über übernatürliche Kräfte verfügten. »Die Verwahrungszellen scheinen mir voller zu sein als sonst zu dieser Jahreszeit«, sagte Kos. »Kann gut sein«, antwortete Borca und zuckte die Ach seln. »Es ist nicht unsere Schuld, wenn die Hohen Richter nicht schnell genug arbeiten. Und außerdem muss man bedenken, dass ja die verdammten Zehntausendjahresfei ern bevorstehen.« »Du überraschst mich, Wachtmeister«, sagte Kos. »Ich hätte vermutet, dass ein hingebungsvoller Wojek wie du bereits seinen Stern für die Parade blank geputzt hat.« »Du kennst mich eben nicht gut«, sagte Borca. »Die vie len Urlauber und Besucher, die allgemeine Unordnung – das alles macht unseren Alltag nicht leichter. Und beson ders dann nicht, wenn der beste Streifenpolizist, den wir haben, nur herumsitzt und sich im Achterwasser zu Tode säuft.« »Vorsicht, Vorsicht, Herr Wachtmeister«, sagte Kos. »Da 83
begibst du dich auf ganz schön unsicheres Gebiet.« »Ach, da steckt kein persönlicher Groll dahinter«, sagte Borca, aber Kos glaubte, auf dem Gesicht des dicklichen Mannes ein Anzeichen von Genugtuung darüber entdeckt zu haben, dass dieser irgendwie den Nerv von Kos getrof fen hatte. »Ich plaudere nur ein bisschen mit einem Wojek-Kollegen über die ganzen zusätzlichen Übertretun gen, die wir in den letzten Wochen zu verfolgen hatten. Schau, wir sind nicht die besten Freunde, und wir werden es wahrscheinlich auch nie werden, aber du hast die beste Aufklärungsrate im Zehnten Distrikt. Dies und dazu deine immer sonnige Verfassung sind die einzigen beiden Gründe, warum ich die Versetzung in eine andere Schicht noch nicht beantragt habe. Aber du fängst gerade an nachzulassen.« »Hätte nicht gedacht, dass dich das bekümmert.« »Doch, du fängst an nachzulassen, Kos, und das fällt auf.« Mehr Verbrechen, mehr Verbrecher, Würdenträger aus der ganzen Welt zu Besuch … Seine Aufklärungsrate war zwar immer noch gut, aber längst nicht mehr so gut wie früher. War es das, was die Aufmerksamkeit der Sesselfritzen geweckt hatte? Kos konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann zum letzten Mal ein einzelner Wo jek eigens vor die versammelten Fritzen gerufen worden war. Es war die Aufgabe der Schichtleiter, sich mit den Bürokraten herumzuschlagen, damit die Streifenbeamten in Ruhe ihren Job tun konnten. Eine weitere Ahnung, warum er hierher bestellt wor den sein könnte, bildete sich in seinem Kopf, und auch 84
diese mochte er nicht. Endlich erreichten sie die lang gezogene, mit Teppich ausgelegte Halle, die zum Versammlungsraum der Sessel fritzen führte. Auf beiden Seiten standen abwechselnd Büsten und Wachen. Die fein gestalteten Büsten zeigten berühmte WojekGeneralkommandeure. Da war der Eiserne Rokiric, der im vierten Jahrhundert des ersten Jahrtausends die Stein titanen nach Ravnica gebracht hatte. Kos konnte sich nicht vorstellen, wie die Gegend ausgesehen haben mochte, bevor die massiven Steinwächter ihre dauerhaf ten Wachposten eingenommen hatten, wo sie als Stadt mauer und gleichzeitig als erste Verteidigungslinie gegen Angreifer dienten. Als nächstes kam Wyoryn’vili, der einzige Generalkommandeur bisher, der ein Viashino gewesen war. Er war im Jahr 6342 bei der Verteidigung der Inneren Festung gegen einen weiteren RakdosAufstand gefallen. Als sie die Tür erreichten, nickte Kos der Büste von Wilmer Ordinescu zu, dem Generalkom mandeur, der den Befehl unterzeichnet hatte, der Kos zum Dienstkameraden von Myczil Zunich gemacht hatte. Er hatte auch die Grabrede bei Zunichs Beerdigung gehal ten. Alle waren großartige Anführer gewesen, und alle hatten in Zeiten gedient, wo ihre Aufgabe viel mehr den »General« als den »Kommandeur« verlangt hatte. Einige der Wachen nickten Borca und Kos zu, darunter auch einige der reptilienartigen Viashino. Die meisten Wojeks waren Menschen – und das war auch schon immer so gewesen, da von all den Spezies in Ravnica die 85
Menschen jene gewesen waren, die mit Andersartigen am besten umgehen konnten. Menschen hatten zwar die geringste Lebenserwartung, machten das aber durch eine fruchtbare Vermehrung wett. Es gab einfach immer jede Menge Menschen, und in zehntausend Jahren Frieden hatte die menschliche Bevölkerung alle anderen auf der Welt überholt. Aber es gab auf keinen Fall eine »Nur für Menschen«-Regel im Handbuch für Wojek-Polizisten, und in allen Rängen fand man auch viele Nichtmenschen. Kos war ein Mann ohne Vorurteile, auch wenn er nur zwei Stunden zuvor absichtlich einen Streit mit einem Mino taurus und einem Goblin vom Zaun gebrochen hatte. Sein Beruf, seine Kindheit und seine hundertzehn Jahre im Kulturengemisch der Stadt hatten dafür gesorgt, dass ihm solche Gedanken gar nicht erst durch den Kopf gingen. Nein, Kos hegte keinen willkürlichen Hass gegen eine bestimmte Spezies. Allerdings hasste er die Rakdos-Gilde, ob sie nun ein notwendiges Übel war oder nicht, und er hatte auch gute Gründe dafür. Und manchmal – aus Gründen, die nicht ganz so gut waren – trank er zu viel Bumbat und fing dann einen Streit mit irgendjemand an, der ihn an ein Mitglied des Rakdos-Kults gemahnte. Die große Vorhalle endete an einer vergoldeten Dop peltür. Zwei weitere Wachposten, beide Menschen, flankierten den Eingang zum großen Sitzungssaal der Oberkommandierenden der Wojeks – den Sesselfritzen. Die Tür war mit einer Malerei verziert, die einen erwar tungsgemäß wilden Kampf zwischen einem eine Axt schwingenden Zyklopen und einem Steintitanen zeigte: 86
eine weitere Interpretation des legendären Kampfs der beiden Champions, den Kos heute schon im Theater teilweise aufgeführt gesehen hatte. Das Knarren der Tür riss Kos aus seinen Gedanken. Die Kämpfenden bekamen eine Atempause, während die Türflügel nach innen schwangen und den Blick auf einen höhlenartigen Saal freigaben. Kos war nicht mehr hier gewesen, seitdem er selbst frisch von der Akademie gekommen war und seine Zeit als Wachposten abgedient hatte. Ein Luftzug folgte den beiden Wojeks in den Saal und sorgte dafür, dass einige der geschnitzten Drachen und goldenen Engel sich leicht bewegten, sodass ihre Schatten sich an der gewölbten Decke krümmten, als wären sie lebendig. Die Bürokraten saßen etwas erhöht hinter langen, brei ten Tischen. Ihre Gesichter wurden von Kugeln ange leuchtet, die in die Tische eingearbeitet waren. Die Ver sammlung war nicht komplett. Die Mitglieder trafen sich allerdings auch nur selten komplett, was einerseits logi stische, andererseits aber auch Gründe der Sicherheit hatte. Im Raum herrschte ein Schweigen, das auf Kos beunruhigend wirkte. Die Bankreihen links und rechts bildeten einen Gang, der zu den Kommandeuren am anderen Ende des Raums führte. Die ganze Anordnung des Mobiliars erinnerte Kos an Gerichtssäle und Tempel. Dieses Gefühl wurde noch verstärkt, als er nun zwei unerwartete Gestalten entdeck te, die auf beiden Seiten hinter den Sesselfritzen standen. Auf der Linken befand sich ein blauäugiger und -häutiger 87
Vedalken in den Gewändern des Azorius-Senats, der gerade auszutesten schien, wie ausdruckslos er sich geben konnte. Es war kein junger Senator. Die scharlach roten Streifen, die sich schräg über das Abzeichen der Hohen Richter zogen, zeigten an, dass dieser Vedalken sowohl zu den Gesetzgebern als auch zu den Magiejuri sten der Staatsanwaltschaft gehörte. Einen Ankläger konnte Kos noch verstehen, aber er konnte sich nicht vorstellen, was die Anwesenheit der zweiten Gestalt bedeuten sollte, die dem Vedalken gegenüber stand. Das hoch gewachsene Wesen hatte die Gestalt eines schlaksi gen Mannes, war aber von Kopf bis Fuß in ein einziges zusammenhängendes Kleidungsstück gehüllt. Das weiße Laken bedeckte Gesicht, Hände und alle anderen Körper teile. Es endete als Talar, der auch über das fiel, was die Füße sein konnten, und schwebte knapp über dem Fuß boden. Das Wesen war ein Schweiger, einer der aus tauschbaren Diener des Selesnija-Konklaves. Wenn ein Schweiger anwesend war, konnte das nur bedeuten, dass das heilige Kollektiv zuschaute. Kos fand, dass er das eigentlich hätte erraten können. Die Versammlung stand so kurz bevor, da schienen die Schweiger fast überall zu sein. Irgendetwas an der ganzen Situation wirkte seltsam. Kos’ Magen verkrampfte sich, und er wischte sich kalten Schweiß von der Stirn. Er gab sich Mühe, nicht nervös zu husten. Nach dem vierten Krug Bumbat aufzuhören wäre wahrscheinlich doch die bessere Idee gewesen. Der Wachposten zu seiner Rechten drehte sich auf 88
dem Absatz, trat einen Schritt vor Kos und Borca und kündigte sie an. »Leutnant Agrus Kos und Wachtmeister Borca Bell!«, hallte es durch den Saal. Ihr Vorbote beglei tete sie bis zum Ende des Raums, drehte sich dort um und verfiel in gespannte Aufmerksamkeit. Nein, es waren nicht nur Kommandeure anwesend, korrigierte Kos sich. Schichtleiter Phaskin saß neben dem Vertreter des Selesnija-Konklaves auf der rechten Seite, daneben Jebun Kirescu, der Abschnittskommandeur des Zehnten Distrikts. Dann kam Sulli Valenco, Abschnitts kommandeurin des Neunten Distrikts, die ihn angrinste und ihm zuzwinkerte. Sulli sah gut aus. Sie hatte sich ihren Rang verdient und war mit fünfzig die jüngste der versammelten Sessel fritzen. Es stimmte schon, ihr rasanter Aufstieg in der Organisation und die ganze Arbeit, die dahintersteckte, vor Kos auf den besseren Plätzen zu sitzen, hatten dazu beigetragen, dass ihre gemeinsame Ehe gescheitert war. Aber wer konnte es ihr schon übel nehmen, dass sie Ehrgeiz hatte? Er nicht. Auf Sullis rechter Seite saß ein kahler dunkelhäutiger Mann, der über beiden leicht spitzen Ohren noch ein Büschel weißer Haare hatte. Das musste Forenzad vom Dritten sein. Auch er war früher Leutnant gewesen und Streife gegangen, bevor er auf diesen Posten befördert worden war. Seinen Namen hatte er von dem einen Elfen, der sich in seinen Stammbaum eingeschlichen hatte. Kos hatte ihn bisher nur bei ein paar offiziellen Gelegenheiten getroffen, bislang aber nur Gutes über die Arbeit gehört, 89
die dieser in einem der schwierigsten Stadtteile leistete. Im Dritten Distrikt gab es vor allem Rakdos und Gruul, und Gewalt zwischen den Clans war an der Tagesord nung. Zwischen Forenzad und den zwei weiteren menschlichen Kommandeuren – Kos schloss aus ihren Abzeichen, dass es Gerava aus dem Zweiten und Helsk aus dem Fünften waren – saß der Generalkommandeur persönlich. Vict Gharti hatte die Position als Generalkommandeur inzwischen seit siebenundzwanzig Jahren inne. Kos hatte davor vier Generalkommandeure kommen und gehen sehen. Unter Gharti hatten die Wojeks zum ersten Mal in diesem Jahrtausend zehn Jahre hintereinander eine Reduzierung der Verbrechensrate in den Distrikten regi strieren können. Selbst Borca hatte nie etwas über den »Eisernen Vict« – wie der nicht gerade sehr originelle Spitzname des derzeitig obersten Polizisten lautete – zu meckern. Er hatte diesen Titel erworben, als er in seinem ersten Jahr als Oberkommandierender des Bundes einen Einsatz gegen eine räuberische Rakdos-Enklave anführte, der beinahe in einer Katastrophe geendet hätte. Der Gegner hatte einige Feuerelementare zu nahe an ihrem Vorrat an Mana-Granaten beschworen. Der Generalkom mandeur hatte seinen eigenen Körper benutzt, um eine Lücke in der von seinem Stoßtrupp schnell aus Müll errichteten Schutzmauer zu schließen. Dadurch hatte er alle, die dahinter verborgen waren, gerettet. Wie durch ein Wunder hatte er außer ein paar leichten Verbrennun gen und einigen Schrammen nichts abbekommen. Gharti 90
hatte sich dann seinen Weg bis zum wütenden Oberprie ster dieser Rakdos durchgekämpft und den Troll dann in einem waffenlosen Kampf niedergerungen. Dadurch rettete er das Leben seiner restlichen Truppe und zwang die Enklave, den Distrikt friedlich zu verlassen. Über die Jahre hinweg hatte der Eiserne Vict immer wieder bei wichtigen Fällen, die im Licht der Öffentlichkeit standen, die Verantwortung übernommen. Kos war nicht einfach zu beeindrucken, aber Gharti schaffte das. Kos hatte ein schlechtes Gefühl, wohin das alles noch führte. Er war gerade aus einem Theater gekommen und nun direkt in das nächste hineinspaziert, allerdings würde er diesmal so etwas wie Eintrittsgeld zahlen müs sen. »Setzen Sie sich doch bitte, Wachtmeister«, sagte Ghar ti. »Jawoll«, sagte Borca, dessen ganze Überheblichkeit verschwunden und von einem spontanen Anfall von Nervosität ersetzt worden war. Er wirkte fast wie eine Krabbe, als er jetzt versuchte, möglichst schnell in die dritte Bankreihe zu kommen, um sich dort ganz am Rand hinzusetzen. »Leutnant Kos«, fuhr der Generalkommandeur fort. »Vielen Dank, dass Sie so schnell zu uns kommen konn ten. Ich hoffe, dass Sie sich von Ihren Verletzungen gut erholt haben?« Gharti hatte ein ernstes, autoritäres Gesicht aufgesetzt, aber Kos konnte in den Augen des alten Gesetzeshüters auch einen Anflug von Humor entdecken. Kos fiel plötz 91
lich ein, dass er gar nicht in einen Spiegel geschaut hatte, seit er die Kneipe verlassen hatte. Seine Uniform war nicht zugeknöpft, und sein jetzt unbrauchbarer Gürtel hing ihm immer noch über die Schulter. Inzwischen musste er an mindestens einem Auge ein gut entwickeltes Veilchen haben. Kos hustete kurz, nahm sich dann aber zusammen und stand stramm. »Ich habe mich etwas erholt, Herr Generalkomman deur. Ich möchte mich entschuldigen, falls ich Euch warten ließ. Wir hatten heute Morgen eine interessante Festnahme.« Das Wort »interessant« bedeutete im inter nen Sprachgebrauch der Wojeks, dass ein Chaos ausge brochen war, weil unerwartete Ereignisse einen einfa chen Einsatz in ein gefährliches Durcheinander gestürzt hatten. »Es ist mir eine Ehre, vor dieser Versammlung zu stehen. Womit kann ich dienen?« »Bleiben Sie locker, Leutnant«, sagte Gharti. »Ich bin nicht Ihr Ausbilder, und Sie sind nicht mehr Wachposten. Ich kann sogar sagen, dass auch die anderen hier Anwe senden es nicht sind.« Diese Beobachtung löste bei allen außer den beiden Besuchern ein Schmunzeln aus. Borca und Kos blieben distanziert und still. Der Generalkom mandeur lehnte sich etwas in seinem Stuhl mit der be sonders hohen Rückenlehne zurück. »Leutnant, ich brauche Ihnen sicher nicht zu sagen, dass wir, also der Bund, eine äußerst schwere Aufgabe haben. Es ist sicher die schwerste Aufgabe, die man in der Boros-Legion haben kann. Warum? Weil wir keine Soldaten sind, die in den Krieg ziehen. Wir sind die Bewahrer des Friedens. 92
Wir sind Diener der Öffentlichkeit. Wir sind hier, um die Bewohner der Stadt zu beschützen – und die Gilden, die dafür sorgen, dass alles am Laufen bleibt. Wir dienen nicht einer einzelnen Gilde oder Nation. Wir dienen allen. Wir dienen der Stadt. Das ist nicht bloß eine Redewen dung, Agrus, es ist eine Tatsache. Und jemanden zu finden, der diese Pflicht kompetent und mutig erfüllt und gleichzeitig unabhängig bleiben kann, ist sehr selten. Und das gilt besonders zum jetzigen, einmaligen Zeitpunkt in unserer Geschichte. Unsere Führerschaft ist sehr dünn besetzt, und die Straßen der Stadt sind bis zum Ersticken voll mit Besuchern der Zehntausendjahresfeier. Wir brauchen jetzt jede Menge Wojeks.« »Kos, bitte« warf Kos ein, als der Generalkommandeur in seinem Monolog eine kurze Pause einlegte, die so wirkte, als ob er jetzt etwas sagen müsste. »Das mag ich lieber – die Leute nennen mich Kos, wenn sie überhaupt mit mir reden. Nur Fräulein Molliya und meine geschie denen Ehefrauen nannten mich Agrus.« Der Generalkommandeur musste grinsen, aber sowohl Phaskin als auch Kirescu sahen so aus, als ob sie am liebsten über den Tisch gesprungen wären, um Kos eigenhändig zu erwürgen. So wie Phaskin seine scharfe Nase vorgestreckt hatte, konnte er sicher auch den Bum bat noch riechen, aber das war Kos irgendwie egal. »Ganz ruhig, Agrus«, sagte Sulli, die ja immerhin zu seinen Exfrauen gehörte. »Das hier ist keine Befragung. Und falls du nicht erraten kannst, warum du hier bist, dann bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob du über 93
haupt der Wojek bist, den ich ihnen versprochen habe.« »Ich kann mir halbwegs vorstellen, was du über mich erzählt hast«, sagte Kos. »Dann klären Sie uns doch bitte auf, sagte Helsk, der nun zum ersten Mal sprach. Seine kehlige, raue Stimme rührte offensichtlich vom ganzen Ruß her, den die Gieße reien in seinem Distrikt von Ravnica permanent ausstie ßen. »Ihr lasst mich die Treppe hochfallen.« »Und woraus schließen Sie das?«, fragte Gharti. »Es gibt einige Indizien. In der Reihenfolge ihrer wahr scheinlichen Wichtigkeit: Ich vermute, dass Sie, Herr Generalkommandeur, mit dem Gedanken spielen, bald in den Ruhestand zu gehen. Ich tippe, dass Abschnittskom mandeurin Valenco nominiert wurde, Ihre Nachfolgerin zu werden und den Vorschlag auch angenommen hat, nachdem sie den Segen der anderen hohen Tiere be kommen hat. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, weil sie bereits zwei Gläser Wein des Jahrgangs, den sie für be sondere Anlässe aufhebt, getrunken hat.« »Woher weißt du das?«, platze Sulli heraus. »Vor dir steht ein Glas, Sulli«, sagte Kos. »Und deine Wangen sind rot.« »Machen Sie weiter, Leutnant«, sagte Sulli. Ihr Gesicht war tatsächlich rot, aber vor Scham und nicht vor Wut, wie Kos hoffte. »Dadurch haben wir eine freie Stelle im Rang der Ab schnittskommandeure, und das zu einem Zeitpunkt, zu dem wir wegen der kommenden Zehntausendjahresfeier 94
einen Anstieg der Straßenkriminalität zu gewärtigen haben, wie Sie gerade schon bemerkt haben«, sagte Kos. »Abschnittskommandierende wechseln zwar manchmal den Distrikt, meistens bleiben sie aber, wo sie sind. Der Bund sieht es gern, wenn sie möglichst viel Erfahrung in ihrem Distrikt mitbringen. Daher habe ich zum Beispiel nie den Zehnten verlassen.« Das war zwar nicht der einzige Grund, aber eine halbe Wahrheit war besser, als die Fritzen anzulügen. »Ein Schichtleiter wie Phaskin könnte sich dieser Aufgabe gewachsen fühlen, besonders wenn der Distrikt, um den es geht, nahe an dem ist, den er kennt. Und der Neunte und der Zehnte grenzen anein ander. Er wäre eine logische Besetzung für den derzeiti gen Posten von Kommandeurin Valenco. Außerdem hat Phaskin ein bisschen mehr verärgert über mich gewirkt als alle anderen, als ich vorhin auf meinem Nachnamen bestanden habe, und daraus schließe ich, dass das, was gerade anliegt, für ihn besonders wichtig ist. Wenn man dazu addiert, dass ich noch keinerlei Rückmeldung zu meiner im letzten Monat eingereichten Weigerung, in Rente zu gehen, bekommen habe, verdichtet sich der Eindruck, dass Sie kurz davor sind, mir eine Beförderung anzubieten.« »Nicht schlecht«, sagte Gharti. »Sie haben allerdings ein paar Dinge ausgelassen.« »Ich bin ja auch noch nicht fertig, Herr Generalkom mandeur«, sagte Kos. Er drehte sich leicht und nickte dem Vedalken zu. »Senator Nhillosh, es ist mir eine Freude, Sie hier anzutreffen.« 95
»Leutnant«, sagte der Vedalken und nickte kurz zurück. »Beförderungen auf dieser Ebene benötigen einen Zeu gen vom Azorius-Senat. Es ist mir eine Ehre, dass Ihr ausgewählt wurdet, dieser Zeuge zu sein.« Kos drehte sich weiter und zeigte mit dem Daumen auf den dicken Wojek in den Zuschauerbänken. »Und da Borca hier ist, gehe ich davon aus, dass Sie ihm meinen Posten geben, nachdem Sie mich hinter Phaskins Schreibtisch verpflanzt haben. Und zu guter Letzt ist da noch die Tatsache, dass Sie es für nötig erachtet haben, die Hälfte der Versammlung zusammenzurufen, nur um mich besser kennen zu lernen. Und das soll mich wohl auch beeindrucken. Dadurch sind nämlich mehr Leute hier, um mir zu beteu ern, dass dies mein Schicksal ist, dem ich zu folgen verpflichtet bin, Leute, die mir zwischendurch immer wieder damit schmeicheln werden, was ich in meiner Karriere alles an Heldentaten vollbracht habe. In Vergan genheitsform.« Kos verschränkte die Arme vor der Brust. »Und? Bin ich dicht dran?« »Schon fast unheimlich dicht«, sagte Sulli. »Das Einzige, was ich nicht einordnen kann, ist unser schweigsamer Freund hier.« »Ich habe mich schon gefragt, wann Sie das Thema anschneiden werden. Die Kirche hat uns alle gebeten, in den Geist der fröhlichen Zusammenarbeit einzustimmen, da wir uns der Zehntausendjahresfeier und der feierli chen Synode nähern«, sagte Gharti. »Dieser Repräsentant befindet sich hier, um unsere Vorbereitungen zu beo bachten und zu protokollieren, damit das Ganze in die 96
historischen Aufzeichnungen übernommen werden kann.« Der Generalkommandeur nickte in Richtung des Schweigers, der allerdings auf keine sicht- oder hörbare Weise antwortete. »Historisch? Was soll an einer Beförderung wie meiner so historisch sein?«, fragte Kos. »Sie sind nun einmal an allem interessiert, was mit un serer Geschichte zu tun hat. Der Bund befürwortet die Anwesenheit des Selesnija-Konklaves«, sagte Gharti. »Ist klar«, sagte Kos. »Sie haben die Erfahrung auf der Straße, Leutnant«, sagte Gharti und wechselte abrupt wieder das Thema. »Dafür sind sie in Verwaltungsangelegenheiten noch völlig unbeleckt. Ihre Beförderung – nun, eigentlich alle Beförderungen und sonstigen Ereignisse, die Sie gerade angesprochen haben – werden in fünf Tagen in Kraft treten. Zu diesem Zeitpunkt werden Sie die Zügel von Schichtleiter Phaskin übergeben bekommen. Der letzte Tag dieses Jahrtausends wird Ihr erster auf Ihrer neuen Position sein. Die Zwischenzeit nutzen Sie bitte, um Ihren Nachfolger anzulernen.« »Mit allem zu erweisenden Respekt«, sagte Kos, »meine Antwort lautet Nein.« »Ihre Direktheit wird geschätzt«, sagte der General kommandeur mit gezügelter Ungeduld. »Zweifeln Sie an unserem Urteilsvermögen, was diese Beförderung be trifft?« »Natürlich nicht«, sagte Kos. »Das ist keine Entschei dung, die ich zu fällen habe. Aber wenn Sie darauf beste 97
hen, mich zum Hauptmann zu machen, dann muss ich leider in den Ruhestand gehen. Das ist mein letztes Wort. Wenn Sie von mir verlangen, mich hinter einen Schreib tisch zu setzen, ist das meine Antwort.« »Wie bitte?«, platzte es aus Phaskin heraus. Gharti schien ernsthaft entsetzt zu sein, was auch für die ande ren im Raum galt. Nur für Kos natürlich nicht, und auch nicht für Sulli Valenco, die ihn besser kannte als der Rest. »Ich bin ein Wojek-Ermittler im Rang eines Leutnants. Das ist die Position, in der ich dem Bund am besten dienen kann, soweit ich das sehe«, sagte Kos, der kaum glaubte, dass das wirklich seine Stimme war, die das sagte. Die Situation hatte ihn dazu gezwungen, eine Entscheidung zu treffen, die er eigentlich hatte vermeiden wollen. Das Ganze hatte die letzten beiden Jahrzehnte doch hervorragend geklappt. »Sie haben Recht, ich kenne mich in der Verwaltung gar nicht aus. Ich bin ein Ermitt ler, und ich glaube, dass ich ganz gut bin. Die Zahl derer, die ich festnehme, wurde vorhin schon ins Spiel ge bracht, und ich muss nicht prahlen, wenn ich sage, dass ich die beste Quote im Zehnten habe.« »Manchmal fragt man sich, was Sie sonst noch alles erreichen würden, wenn Sie sich vom Achterwasser fern halten würden«, sagte Kirescu, aber Kos tat so, als hätte er das nicht gehört. »Herr Generalkommandeur, hinter einem Schreibtisch festzusitzen, während die anderen raus auf die Straßen gehen, um die richtige Arbeit zu machen – ohne hier jemand beleidigen zu wollen: Das ist kein Leben, das ich 98
haben will. Ich habe schon seit Jahren vor, in Rente zu gehen. Und wenn dies Ihre endgültige Entscheidung sein sollte, bleibt mir nichts anderes übrig, als das auch zu tun.« Kos spürte, wie eines seiner Knie zu zittern anfing, und er bemühte sich, die Kontrolle über sich zu behalten. Heute vormittag wäre er beinahe von einem unechten Zyklopen umgebracht worden, hatte das Ganze aber trotzdem irgendwie genossen, trotz Knochenbrüchen und allem. Jetzt lief ihm der Schweiß den Rücken hinunter, und er wollte nichts lieber, als sich umdrehen und aus der Tür hinausrennen, damit Gharti ihn von seinem Barhocker klauben musste. Er kämpfte gegen den Drang an, so gut er konnte. »Tja, Pech gehabt«, sagte der Generalkommandeur. Je der Anflug von Humor war aus seiner Stimme ver schwunden. »Ich lasse Sie nämlich nicht in den Ruhe stand gehen, Kos.« »Wie bitte?«, sagte Kos. »Bei allem Respekt, aber das ist doch nicht Ihre Entscheidung.« »Bei allem Respekt, Leutnant, das ist voll und ganz meine Entscheidung«, sagte Gharti und entfaltete ein Stück Papier, das Kos sofort wiedererkannte. »Ich ge nehmige diesen Antrag; es ist ein Antrag, in dem Sie den Ruhestand verweigern. Zudem haben Sie schon lange die festgelegte Höchstzahl an Ruhestandsverweigerungen überschritten. Daher werden alle entsprechenden Stellen jeden weiteren Antrag ignorieren. Auf das Risiko hin, dass das jetzt kindisch klingt: Sie können nicht in den Ruhe 99
stand gehen, bis wir es erlauben. Der Senator ist – und das haben Sie nicht ganz richtig geraten – hier, um mir einen persönlichen Gefallen zu tun, und ist Zeuge dieses Befehls. Es bedeutet, dass Sie es sich sparen können, bei den Richtern Berufung einzulegen. Das wird nicht funk tionieren.« »Aber diese Obergrenze ist doch dafür gedacht, um Leute in den Ruhestand zu zwingen, nicht, um sie davon abzuhalten!«, sagte Kos, dessen Gelassenheit langsam erste Sprünge aufwies. »Genau betrachtet, entspricht das nicht ganz der For mulierung im Handbuch für Wojek-Polizisten«, antwortete der Generalkommandeur. »Ich gebe zu, dass es ein Schlupfloch ist, das eines Orzhov würdig wäre. Aber ich befände mich nicht auf der Position, auf der ich jetzt bin, wenn ich nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft hätte. Wir ziehen Sie also ein, Kos.« Er lehnte sich vor, um es noch einmal zu bekräftigen. »Ein Nein als Antwort lasse ich nicht zu.« Der Vedalken, der sich bisher nur bei der Begrüßung gerührt hatte, drehte sich zu Kos und schien ihn genauer unter die Lupe zu nehmen. Die blauen Augen des Sena tors blitzten auf, bei seinem Volk gewöhnlich ein Zeichen für Verärgerung. »Ich habe Fälle zu bearbeiten. Offene Fälle. Wichtige. Es gibt ungelöste Morde an Wojeks, die bis …«, begann Kos. »Diese Fälle laufen schon nicht weg, Kos«, sagte Gharti. »Jüngere Wojeks werden sich darum kümmern.« 100
»Entschuldigen Sie, aber das ist … unklug«, sagte Kos. »Genauso wie der Gedanke an Befehlsverweigerung, Leutnant«, knurrte Phaskin. »Nun gut, in Ordnung«, sagte Kos. »Aber darf ich an nehmen, dass es kein Verbot gibt, dass Hauptleute auch Streifendienst machen?« »Mit dem Ansturm an Neuankömmlingen, den die Stadt im Vorfeld der Zehntausendjahresfeier erlebt, kann ich mir vorstellen, dass das nicht nur umsichtig, sondern auch nötig wäre«, meldete sich Sulli zu Wort. »Dem stimme ich zu«, sagte Gharti. »Wenn es Ihre Zeit erlaubt. Immerhin leiten Sie ja auch die Schicht, die sich um diese noch offenen Fälle kümmern wird. Ich setze mein Vertrauen auf Sie, Leutnant. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, würde ich Sie gern mit ›Hauptmann‹ anreden. Geht das in Ordnung?« Seit dem Tag, als ein einzelner Wojek eine Bande von Gruul-Plünderern daran gehindert hatte, das Waisenhaus anzuzünden, in dem Kos seine Kindheit verbracht hatte, war es sein steter Wunsch gewesen, einer von Ravnicas wachsamen Aufpassern zu sein. Wenn er diese Beförde rung ablehnte, was würde er dann machen? Er hatte nie Familie gehabt, hatte nie eine Ehefrau lange halten kön nen. Er würde ein Zivilist sein. Ein Bürger. Er würde ein Niemand sein. Und wenn er nichts mehr hätte, was ihn davon abhal ten würde, nur noch an die Vergangenheit zu denken, wäre es ein Wunder, wenn er noch bis zum Ende des Jahres leben würde. Ein paar Prügeleien zu viel im Ach 101
terwasser konnten dazu führen, dass man plötzlich tot war, besonders wenn man nicht mehr das Polizeiabzei chen trug, sich die Leute aber noch gut daran erinnerten, dass man früher einmal eines getragen hatte. Er hatte einfach keine andere Wahl. Kos hätte stolz sein sollen, aber er fühlte sich einfach nur besiegt. »Nun gut«, sagte er und beugte den Kopf. »Ich akzeptie re.« »Ich auch«, sagte Borca, der leicht ins Stolpern geriet, als er sich bemühte, schnell zu Kos zu kommen, und sich dabei ebenfalls leicht verbeugte. »Gratulation«, sagte Gharti. »An euch beide.« »Genau, Glückwünsche auch von mir«, fügte Sulli hin zu. Sie war die Erste, die Kos die Hand schüttelte. Alle anderen folgten ihrem Beispiel, nur der Schweiger rührte sich nicht von der Stelle. Er zeigte nicht die leiseste Reaktion. Kos war sich aber sicher, dass er den Blick des Schweigers noch im Rücken spüren konnte, als er und Borca den Raum bald darauf durch die vergoldete Tür wieder verließen. Die Wirkung war so ähnlich wie die von Ogerkaffee im Übermaß.
K
Als Kos und Borca endlich auf der Wache des Zehnten Distrikts zurück waren, war ihre Schicht schon fast vor bei. Sie kümmerten sich noch ein wenig um liegen ge bliebenen Papierkram und gingen dann ihrer Wege. Zum ersten Mal seit langem hatte Kos keine Lust, ins 102
Achterwasser zu gehen. Stattdessen folgte er den ge krümmten Straßen von der Wache zu dem Wohnblock, in dem er ein kleines Apartment zu einem Sonderpreis für Wojeks gemietet hatte. Seine letzte Ehefrau hatte sich nicht nur einen Magiejuristen der Orzhov geangelt, son dern auch noch ein Urteil der Zivilkammer besorgt, mit dem ihr das Haus in der Farv-Straße zugesprochen wor den war. Noch eine weitere Ehe, und er würde in der Kaserne leben müssen. Wäre ihm nicht der Schlüssel zum Wohnturm aus der Hand gefallen, hätte er wahrscheinlich die bleiche, durch sichtige Gestalt nicht bemerkt, die am Ende der Gasse lungerte, die sich an das Wohngebäude anschloss. Der Geist hatte das Erscheinungsbild eines WojekLeutnants. Er war kahl und hatte einen Schnurrbart wie zwei Türklinken. »Mycz?«, flüsterte Kos. Er ließ den Schlüssel liegen, wo er lag, und stürmte die Gasse entlang auf den Geist zu. Auf halbem Weg rutschte er auf herumliegendem Dreck aus, wirbelte mit den Armen und schlug dann längelang hin. Als er den Kopf hob, war die Erscheinung ver schwunden. Myczil Zunich war nun seit siebenundfünfzig Jahren tot. Kos wusste das ohne Zweifel. Er hatte die damalige Situation ja miterlebt. Er hatte Zunichs Geist gesehen, wie er langsam verschwand und sich dann ganz ins Nichts auflöste. Vor siebenundfünfzig Jahren. Geister hielten sich in Ravnica einfach nicht so lange. Jeder wusste das. Es war unmöglich. Wahrscheinlich war es eine Halluzina 103
tion, die von Schuldgefühlen hervorgerufen wurde, die durch seine Beförderung wieder ans Tageslicht traten. Was natürlich allem zuwiderlief, was Zunich ihm je beigebracht hatte. Aber selbst nach sechs Jahrzehnten hatten die Schuldgefühle die Macht, beim geringsten Anlass zurückzukehren. Schließlich war es Kos selbst gewesen, der Zunich ge tötet hatte. Kos schüttelte den Kopf, drehte sich um und ging zu der Stelle zurück, wo der Schlüssel auf dem Boden lag. Es fielen die ersten schweren Regentropfen. Kos blieb dann noch eine ganze Weile stehen, um den strömenden, kalten Regen zu betrachten, bevor er endlich die Tür aufschloss und ins Innere trat.
104
Kapitel 4
H
Keiner Gilde ist es gestattet, den Zugang zu oder das Benut zen von jeglichen Straßen, Wegen oder Tunnel, die als Teil des Großen Wegenetzwerks gekennzeichnet sind, zu kon trollieren. Zusatz VII zum Gildenpakt („Ledev-Gesetz“)
23. Zuun 9999 Z. C., nachts Wie ein muffiges Wolltuch legte sich die Nacht über die Stadt Ravnica. Die schwarzen Türme erleuchteten mit ihren Millionen Lichtern den Himmel, was der Metropolis einen trüben Regenbogenglanz gab. Die Steintitanen wirkten wie kleine Götter, die über eine magische verlo rene Welt wachten. Fonn fand, dass diese Beschreibung so gut wie jede andere war. Die junge Halbelfin hatte es geschafft, mehrere Jahrzehnte von der Stadt fernzublei ben. Ihr jetziger Auftrag war allerdings eine Ehrenaufga be, die kein Ledev-Wächter je ablehnen würde: Sie sollte eines der derzeitigen Mitglieder des Selesnija-Konklaves beschützen, eines der wenigen, die die Sicherheit des Vitu Ghazi regelmäßig verließen, um die Interessen des Kon klaves im Rest der Welt zu vertreten. Der Weg, der sie in 105
die Stadt ihrer Geburt führte, war weit – nicht nur hin sichtlich der reinen Entfernung, sondern auch im über tragenen Sinn. Für Biracazir, den Wolf mit dem goldenen Fell, auf dem sie ritt, war es nur das Ende einer langen Reise, die vielen anderen langen Reisen gefolgt war. Fonn lehnte sich im Sattel nach vorn und flüsterte ih rem Reittier, das sie so brav über die alten Pflastersteine trug, ins Ohr. »Es ist so weit, Bir«, raunte sie. »Halt Augen und Nase offen.« Der Wolf Biracazir antwortete – mehr schlecht als recht – mit einem sanften Geräusch, das ein Mittelding aus Hundegebell und erleichtertem Schnaufen war. »Wie du meinst, Fonn.« »Eure Heiligkeit, ich kann unser Ziel sehen«, sagte sie. Der Loxodon, der neben ihr einherschritt, hob seinen elefantenartigen Kopf und blickte mit weißen, blinden Augen in die Richtung, in der die Großstadt lag. Die weißen Augbälle bildeten zwei der Eckpunkte einer dreieckigen Tätowierung, die sein graues, ledriges Gesicht zierte. Die obere Ecke des Dreiecks bildete ein blassgrü ner Edelstein, der zwischen den großen, sanft flatternden Ohren in die Mitte von Bayuls Stirn eingesetzt worden war. Er nickte, ohne sein stetiges Marschtempo zu ver langsamen, und tätschelte den Nacken des Wolfs. »Ich bin froh darüber«, sagte er. Die tiefe Stimme klang autoritär und gleichzeitig sanft wie Dryadengesang. Seine weißen Leinengewänder flatterten im kühlen Rücken wind. »Ich hatte befürchtet, dass wir zu spät zu unserer Verabredung kommen.« 106
»Ihr seid wirklich schneller, als man es Euch ansieht, Eure Heiligkeit«, sagte Fonn. Fonn hatte dem heiligen Bayul gleich zu Reisebeginn angeboten, ihr Reittier zu benutzen, aber er hatte höflich abgelehnt. Immerhin wog er fast doppelt so viel wie Biracazir. »Alles hat seine Vor- und Nachteile, meine Ledev-Freundin«, hatte Bayul zu ihr gesagt. »Dieser Rüssel hier wird mich eines Tages umbringen, aber diese alten Füße werden immer weiterwandern.« Nein, sein Volk habe nun einmal nicht gerade einen fürs Reiten geeigne ten Körperbau. Der Loxodon wandte sich wieder an die Halbelfin. »Lei der ist die Luft hier nicht besser geworden«, sagte er und musste sofort wie auf Kommando niesen, was durch den Rüssel fast wie eine Trompete klang. »Ich war so lange nicht mehr in Ravnica, dass ich das schon vergessen hatte.« Fonn musste beinahe auch niesen, konnte es aber un terdrücken. Sie waren jetzt so dicht an der Metropole, dass Smog und Ruß beinahe schon greifbar waren. Für Bayul war es wahrscheinlich tausendmal schlimmer, enthielt der Rüssel eines Loxodon doch ungleich mehr Geruchsinneszellen als die Nasen anderer Humanoiden. Für ihn musste der Gestank schon fast tödlich sein. Ravnica schien es darauf anlegen zu wollen, die Loxo dons auszurotten. »Ich bin hier zur Welt gekommen, kann mich aber kaum noch daran erinnern«, sagte Fonn. »Deine Familie hat die Stadt verlassen, um in die Natur 107
zu ziehen?«, sagte Bayul. Er war von Natur aus neugierig und hatte Fonn während der gemeinsamen Reise immer wieder über ihre Vergangenheit ausgefragt. »Welche Natur?«, sagte Fonn, um das Thema zu wech seln. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nicht so viel über das Thema »Fonn« geredet wie in letzter Zeit. Aber der Loxodon hatte etwas Besonderes an sich – etwas Magisches, aber auch etwas ganz Natürliches und Ur wüchsiges. Sie hatte ihm plötzlich alles über sich erzäh len wollen. Allerdings war ihre Familie ein Thema, das sie nicht so gern anschlug. Aber es war schwer, den sanft drängenden Fragen ihres Mitreisenden zu widerstehen. »Das ist keine Antwort«, sagte Bayul ungehalten. »Meine Familie sind die Ledev-Wächter, Eure Heilig keit«, sagte sie. »Mein Vater und meine Mutter sind … Vergangenheit.« »Das hatte ich befürchtet«, sagte Bayul. »Waren sie nicht beide Beschützer des Gesetzes?« »Mein Vater war ein Wojek«, sagte Fonn, die sich nicht die Mühe machte zu erwähnen, dass beide Eltern tot waren. »Meine Mutter war eine Ledev, so wie ich.« »Ich habe Hingabe und Pflichtbewusstsein in deiner Seele gespürt, Fonn«, sagte Bayul, als sie die Kuppe eines Anstiegs erreichten. »Es ist … Warte!« Der Rüssel des Loxodon kräuselte sich, was ein Zeichen dafür war, dass er die Luft mit seiner empfindlichen Nase absuchte. Er blieb stehen und hob seinen Wanderstock, um Fonn und Biracazir zurückzuhalten. »Da sind … hm, ja. Irgendje mand in der Nähe will Unheil über uns bringen.« 108
»Wo?«, fragte Fonn laut. Es war sinnlos, inmitten einer belebten Straße zu flüstern. Sie unterzog die Umgebung einer schnellen Untersuchung mit ihren scharfen Augen und ihren noch schärferen Ohren. Diese hatte sie von ihrer Mutter geerbt, die nicht allein eine Ledev, sondern eine echte Silhana-Elfin gewesen war. Die flachen Gebäu de und Wohnsiedlungen, die die Stadtmitte umringten, konnten jede Menge Angreifer verbergen. Der Goblin, der Fleischspieße verkaufte, konnte durchaus ein Meuchel mörder sein. Das junge Menschenpaar, das sich unent wegt in die Augen blickte, konnte unter den farbenfrohen Gewändern Dolche mit Giftspitzen stecken haben. Die drei Gestalten, die dort auf Pterros heranflogen und deren Silhouetten kurzzeitig den Mond verdeckt hatten, konn ten gerade in der Hoffnung, dass Dunkelheit und Nebel sie bis zum letzten Moment verbergen würden, zum Sturzflug ansetzen. Nein, das war tatsächlich ein Angriff! »Geht in Deckung!«, brüllte Fonn. Sie sprang von Bira cazirs Rücken und schubste den großen Loxodon zu Boden. Bayul wehrte sich zum Glück nicht und ließ sich fallen. Wäre er unverrückt stehen geblieben, hätte Fonn genauso gut mit dem Kopf gegen einen Baum rennen können. Gerade noch rechtzeitig landeten beide auf dem Boden, sodass der vordere Pterro-Reiter knapp über sie hinwegsauste. Sein kreischender Schrei ließ erkennen, wie knapp es gewesen war. Fonn entschloss sich, den Gruul zu zeigen, was mit Dieben geschah, die ein Mitglied des Selesnija-Konklaves angriffen. 109
Sie ließ ihre behandschuhte Hand nach oben schießen
und packte die membranartige Flügelspitze der Kreatur. Ohne ihre liegende Position aufzugeben, ließ sie den Angreifer über den Angelpunkt, den sie darstellte, hin überschwenken. Der Schnabel des Pterro wurde zer schmettert, als er auf der Straße aufprallte. Das eigene Körpergewicht des Tiers ließ dessen Genick schnell und sauber brechen. Die harte Landung schleuderte den Reiter in die Luft. Er flog ein Stück und landete dann im Fleischkarren des Goblins, wo er zwischen den verstreu ten Überresten des Verkaufsstands zuckend liegen blieb. Der Goblin gab einen Fluchschwall von sich, während er um sein Leben lief. Fonn war schon wieder auf den Füßen, bevor der zwei te Pterro nahe genug war, um sie wieder in Deckung zu zwingen. »Bleibt bitte, wo Ihr gerade seid, Eure Heilig keit«, sagte sie. »Wie’s beliebt«, antwortete der Loxodon. Die junge Halbelfin strich sich eine Locke ihres blon den Haars hinters Ohr und machte dann mit ihrer Zunge zweimal ein leises, klickendes Geräusch. Der Wolf Biraca zir reagierte sofort und suchte Augenkontakt zu ihr. Mit einer fast nicht bemerkbaren Kopfbewegung deutete Fonn auf den zweiten Pterro-Reiter, dessen Kreischen fast noch lauter als das des vorigen war. Die müssen dringend mal lernen, wie man seine Angriffe koordiniert, dachte sie. Sie vermutete, dass es sich hier um eine Bande Jugendlicher handelte, die beweisen wollten, wie toll sie schon waren. Aber sie hatte keine Lust, selbst das An 110
schauobjekt zu spielen oder ihre heilige Begleitung das Opfer werden zu lassen. Nun, sie würde diesen Burschen eine Lektion erteilen, das heißt, falls diese Idioten überhaupt lebend davonka men. »He, du da!«, schrie Fonn und zog ihr langes, silbern glänzendes Schwert. Die Gruul, ein weiblicher Viashino, machte genau den Fehler, auf den die Ledev gehofft hatte, und schaute für einen Moment von Bayul zu Fonn herüber. Mehr Zeit benötigte Biracazir nicht. Der Wolf katapul tierte sich brüllend in die Luft, sobald der Pterro in seine Reichweite kam. Sein weit geöffnetes Maul schloss sich um den langen, spindelartigen Hals des Pterros. Mit seinem zupackenden Biss konnte er einem Menschen das Bein abtrennen. Der Hals des Pterros war dagegen längst nicht so stabil. Der Wolf landete mit einem blutigen Souvenir im Maul auf der glatten Straße und rutsche ein Stück dahin, bis er wieder Halt fand. Der Schnabel, der ihm zwischen den Zähnen hervorragte, hatte fast die Ausmaße von Fonns Oberkörper. Der kopflose Pterro krachte zu Boden. Sein kreischen der Reiter machte noch einen verzweifelten Versuch, rechtzeitig abzuspringen, wurde aber gleich darauf von Fonns Klinge durchbohrt. Die Elfin streifte den Körper von ihrem Schwert, drehte sich um und suchte den Himmel ab. Der dritte Reiter kreiste über ihnen, aber es war fraglich, ob der Gruul einen erneuten Angriff wagen würde. 111
Fonn schnappte sich ihren Langbogen vom Rücken, legte einen Pfeil ein und zielte auf den dritten Gruul. Es handelte sich um einen stämmigen Menschen, dessen Leib über und über mit Tätowierungen und Narben überzogen war. Dies musste der Anführer sein, der seine Untergebenen die Gefahren zuerst hatte austesten lassen, bevor er selbst angriff. Fonn bezweifelte, dass der Him melspirat davon ausgegangen war, den letzten Angriff selbst durchführen zu müssen. Aber bevor es sich der Gruul noch einmal anders überlegen konnte, schoss sie den Pfeil ab. Das Geschoss traf den Reiter im Bauch. Der Gruul knickte im Sattel ein, kippte zur Seite und fiel anschlie ßend vom Rücken des Pterros. Er krachte auf das abge schrägte Dach einer Taverne, rollte über die Markise und landete schließlich auf dem Boden. Unterwegs war der Pfeil, der in seiner Seite steckte, abgebrochen. Wo die Pfeilspitze noch steckte, färbte das Blut die Lederweste des Reiters rot. Keuchend lag er zu Fonns Füßen. Sein Reittier drehte einen weiten Kreis in der Luft, stieß einen Schrei aus, der fast etwas erleichtert klang, und flatterte dann in den Abendnebel davon. Innerhalb weniger Se kunden war es am südlichen Horizont verschwunden. Der Gruul starrte Fonn mit vor Wut glühenden Augen an. Der verzauberte Pfeil hatte seine Muskeln gelähmt und würde ihn für die nächsten zwei, drei Minuten bewe gungslos halten. Vielleicht sogar noch länger. Auch schien der Fall dem Banditen nicht gut getan zu haben. Sein linkes Bein ragte in einem unnatürlichen Winkel 112
vom Rest des Körpers ab. Fonn seufzte. Sie bezweifelte, dass der Kriminelle über leben würde. Allerdings wirkte er auch nicht so, als ob er sich andernfalls geständig verhalten würde, und eine Ledev-Wächterin vergalt Blut mit Blut, falls ein Angreifer nicht zum Lebensstil der Selesnijaner bekehrt werden konnte. Die Halbelfin war noch nie eine gute Missionarin ge wesen. Sie stellte sich mit einem Stiefel auf den Oberkör per des gelähmten Reiters und legte ihr halbes Gewicht darauf. Das reichte aus, um die Pfeilspitze noch tiefer in das Fleisch des Mannes eindringen zu lassen. Die irren Augen des Gruuls traten hervor, und sein Keuchen wurde zu einem Japsen. »Hallo«, sagte Fonn freundlich, als sie mit der Schwertspitze seinen Bart beiseite schob, um die Kehle freizule gen. »Du hast zehn Sekunden Zeit, um mir zu verraten, wer du bist und warum du uns angegriffen hast. Zur Belohnung würde ich dich laufen lassen, damit du deinen Freunden von deiner dummen Tat erzählen kannst und wie es gekommen ist, dass du das Licht gesehen hast. Wie du sicher schon bemerkt hast, verehre ich das Leben. Allerdings wird mir immer wieder gesagt, dass ich nicht so hingebungsvoll bin, wie ich eigentlich sein könnte.« Die Sekunden verstrichen. »Du denkst wahrscheinlich, dass ich innerlich zerrissen bin, ob ich dich nun töten soll oder nicht. Es könnte sein, dass du denkst: ›Sie ist nur ein Ledev, kein Wojek. Sie ist Selesnijanerin, sie ist eine Dienerin des Lebens.‹« Sechs Sekunden, sieben … »Da 113
hättest du Recht. Siehst du meinen Freund hier? Er ist das Leben. Du hast gerade versucht, ihn zu töten. Deswegen bedeutet dein Leben mir nichts.« Neun … Der Gruul öffnete den schiefen Mund und zeigte dabei seine drei verbliebenen Zähne. »Mat’selesnija war eine Hure von Cis…« »Was machst du da?« Die Stimme eines Mannes schall te die Straße entlang. Fonn hob ihren Blick gerade lange genug von dem Gruul, um einen Hazda-Hilfspolizisten zu sehen, der genau diesen Moment gewählt hatte, um aus den Schwingtüren der Taverne auf die Straße zu treten. »Hilfe«, krächzte der bärtige Gruul. Die Art und Weise, in der der ehrenamtliche Gesetzes helfer sein Kurzschwert zog, ließ Fonn erkennen, dass der Mann nicht viel mehr Ausbildung genossen hatte als ein Rekrut der Ledev im ersten Jahr. Der Hilfspolizist war tapfer, das musste sie ihm zugestehen, aber er zeigte mit seinem Schwert leider auf die falsche Person. »Lass deine Waffe fallen, Elfin …« Wie aus dem Nichts erschien ein Dolch im Nacken des Hilfspolizisten und schnitt ihm im wahrsten Sinne des Wortes das Wort ab. Die Augen des Hazda weiteten sich, und er versuchte noch eine halbe Sekunde lang, die Waffe herauszuziehen, bis seine Beine nachgaben und er nach vorn auf die Pflastersteine sackte. Zwischen seinen Fingern, die den Griff des Dolches umklammerten, ström te Blut hervor. Fonn verfolgte die Flugbahn des Dolches zu einem dunklen, verhüllten Schatten zurück, der aus einer der 114
Seitengassen aufgetaucht war. Ihrer Erfahrung nach hatte niemand, der einen dunklen Umhang trag, Gutes im Sinn, und schon gleich darauf merkte sie, dass die jetzige Situation da keine Ausnahme bildete. Ein weiteres Messer blitzte in der bleichen Hand der Gestalt auf. Ihre ver schwommenen Umrisse mussten sich einer Art Verdun kelungsmagie verdanken, jedenfalls war sie nur undeut lich zu erkennen, weil sie sich kaum von den rußge schwärzten Gebäuden und Straßen dieses IndustrieVororts abhob. Geschmeidig wie eine Katze bewegte sich das Wesen zu einer Leiter, die auf die Seitenstraße herab hing, und kletterte die Wand hoch. »Die Hure des Vitu Ghazi wartet auf den …« Fonn packte den Gruul am Aufschlag und beendete dessen unverschämte Rede mit einem ordentlichen rechten Haken. Dann ließ sie den bewusstlosen Banditen vorsichtiger, als er es eigentlich verdient hatte, wieder zu Boden sinken. »Eure Heiligkeit, dürfte ich Euch bitten, kurz dieses Gewölle hier im Auge zu behalten? Lasst ihn nicht ent kommen. Ich will ihm noch ein paar Fragen stellen.« »Das will ich auch«, sagte Bayul und schob Fonns Stie fel mit seinem Wanderstock beiseite. »Du musst dich beeilen – der andere ist schon zur Hälfte die Wand hoch.« »In Ordnung, Eure Heiligkeit«, sagte Fonn und legte eine Hand auf die Schnauze ihres Wolfes. »Bir, pass bitte auf Bayul auf.« Der Wolf zwinkerte einmal, um zu zeigen, dass er verstanden hatte. Er konnte zwar nicht sprechen, und Fonn glaubte eigentlich auch nicht, dass er die Ge 115
meinsprache Ravi verstand, aber er war so gut dressiert, dass man das leicht vergessen konnte. Der Wolf ließ sich an Bayuls Seite nieder und knurrte laut, als der Gruul sich etwas bewegte. Fonn war bereits an der Einmündung der Seitengasse. Sie warf einen Blick in die Dunkelheit, und ihre hervorra gende Nachtsicht ließ sie keine unmittelbare Gefahr erkennen. Auch diese Fähigkeit hatte sie ihrer Mutter zu verdanken. Sie konnte zwar nur halb so scharf wie eine reinblütige Silhana-Elfin sehen, aber immerhin weitaus besser als der durchschnittliche Mensch. In der Gasse waren nur Schrott, Wellblechhütten und der allgegenwär tige Müll zu sehen. Sie kauerte sich unter die Leiter, sprang hoch, um die unterste Sprosse zu packen, und kletterte dann dem verhüllten Meuchelmörder hinterher. Es war nicht üblich, dass die Gruul versteckte Mörder verwendeten. In deren Clans galten solche Angriffe als feige und unter ihrer Ehre. Warum also sprang diese Schattengestalt einer offenbar nur durchschnittlichen, auf Pterros reitenden Gruul-Bande zu Hilfe? Fonn ließ die Gestalt, die über ihr die Leiter hochhastete – sie konnte halbwegs mit ihr Schritt halten –, für einen kurzen Mo ment aus den Augen, um nach Bayul und Biracazir zu schauen. Der Loxodon war zu dem getöteten Hazda hinübergegangen, während der Wolf mit geiferndem Maul über dem verletzten Gruul stand. Biracazir würde nie jemanden töten, wenn sein Frau chen ihm das nicht ausdrücklich befahl, was der vom Himmel gestürzte Bandit natürlich nicht wusste. Er würde 116
auf keinen Fall einen Fluchtversuch wagen, selbst nicht nach Abklingen der Muskellähmung. Fonn hoffte nur, das Bayul wusste, was er tat. Sie war inzwischen zu weit entfernt, um ihm beistehen zu können, falls sich in der Nähe ein weiterer Meuchelmörder verbarg. Der rauchige Schatten über ihr hatte das Ende der Lei ter erreicht, rutschte über die Kante auf das Dach und verschwand aus ihrer Sicht. Fonn kletterte noch ein Stück weiter, bis sie etwa eine Körperlänge von der Dachkante entfernt war. Es gab zwei wahrscheinliche Taktiken, die der Meuchelmörder verfolgen konnte. Entweder würde er oben lauern, bis Fonn ganz hinaufgeklettert war, und dann kurzen Prozess mit ihr machen, oder er machte sich weiter aus dem Staub. Solange er diese Verzauberung beibehielt und der Nebel ihm zusätzlich half, würde es äußerst schwierig sein, ihn ihm Mondlicht über die Dä cher der Stadt verfolgen zu können. Er hatte den Hazda getötet, was aber irgendwie völlig unnötig gewesen war. Der Meuchelmörder musste sich aus einem bestimmten Grund zu erkennen gegeben haben, aber welcher war das? Dachte er vielleicht, dass Fonn zu jung oder zu aggressiv war, um einer Verfol gungsjagd zu widerstehen? Fonn war sich ziemlich sicher, dass er nicht richtig auf der Flucht war. Er führte sie an der Nase herum. Sie musste sich etwas einfallen lassen, womit er nicht rechnete. Bisher hatte sie zu sehr nach seiner Pfeife getanzt. Die Ledev-Wächterin bog ihr linkes Bein nach oben und hakte es in eine der Sprossen ein. Mit dem anderen 117
Bein klammerte sie sich zwei Sprossen tiefer fest. Dann ließ sie die Leiter los und griff nach dem Langbogen, den sie auf dem Rücken trug, dann nach einem Pfeil. Ihre Unterleibsmuskulatur musste Höchstleistungen vollbrin gen, als sie ihren Körper in eine fast horizontale Lage brachte. Auf diese Weise wartete sie darauf, dass der Schatten auftauchte, sobald er merkte, dass sie ihm nicht mehr folgte. Nach wenigen Sekunden kamen Fonn erste Zweifel. Vielleicht war der Meuchelmörder doch schon ganz verschwunden. Die Anspannung ihrer Bauchmuskeln und der Arme, die den Pfeil im Anschlag hielten, ließ sie erzittern. Kurz bevor sie davor war, ihre unbequeme Position aufzugeben, um hinabzuklettern und zu Bayul und dem Hazda zu eilen, kam am oberen Ende der Leiter ein bleicher Schädel unter einer schwarzen Kapuze zum Vorschein. Sie schoss ihren Pfeil ab und traf die Gestalt im linken Auge. Blut spritze auf Fonn herab. Das Wesen schrie kurz auf, starb aber sofort, nachdem sich die gezackte Pfeilspitze ins Gehirn gebohrt hatte. Bevor Fonn den Bogen wegschleudern und sich zur Leiter heranzie hen konnte, kippte die Leiche nach vorn, purzelte über die Dachkante und stürzte auf sie zu. »Oh, verdam…«, schaffte Fonn gerade noch herauszu bekommen, bevor der verhüllte Körper sie erfasste. Der Aufprall schlug ihr den Langbogen aus der Hand und riss ihr die Beine von der Leiter weg. Zusammen landeten die Ledev und die Leiche des Meuchelmörders in einem 118
feuchten Haufen aus Müll und Unrat. Fonn landete auf ihrem Köcher und verspürte sofort einen stechenden Schmerz. »Fonn!«, hörte sie Bayul rufen, aber es klang wie aus weiter Ferne. Seine Stimme dröhnte in ihrem Kopf wie der Schwengel einer Glocke. Sie bekam keine Luft mehr. Unter Aufbietung aller Kraft schaffte sie es grunzend, den blutigen Körper von sich herabzuwälzen. Es sah so aus, als ob es sich bei dem Attentäter um einen Menschen gehandelt hatte, wenngleich er unter seiner Schädelmas ke schrecklich bleich war. Sie tastete sich ab, spürte aber keine gebrochenen Knochen – da hatte der stinkende Abfall sie wohl gerettet. Dafür hatte sie das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen. »Atme tief durch«, hörte sie Bayuls Stimme. Diesmal war sie näher und klarer, flüsterte in ihren Ohren und ihrem Kopf. Er sprach in ihren Gedanken mit Worten und Gefühlen und Bildern, beruhigte ihre Nerven, ihre Übel keit und ihren betäubten Körper. Für einen Moment überkam Fonn eine Panik, weil sie glaubte, ihr Augenlicht verloren zu haben, doch dann fiel ihr ein, dass sie ja zunächst einmal die Augen öffnen musste. Sie ergriff die Hand, die der Loxodon ihr entgegenstreckte, und ließ sich vom Botschafter des Selesnija-Konklaves auf ihre wacke ligen Beine hochziehen. »Eure Heiligkeit«, keuchte sie und trat einen Schritt zu rück. »Habt vielen Dank. Ich glaube, dass das alle waren. Ihr auch?« »Das meine ich auch«, sagte Bayul. »Ich spüre keine 119
weitere Bedrohung in der Nähe.« »Mit allem Respekt, Eure Heiligkeit«, sagte Fonn, »den Kerl hier habt ihr auch nicht gespürt.« »Nein, das habe ich tatsächlich nicht«, sagte Bayul. »Du bist ziemlich dreist, das zu sagen, aber auch deswegen mag ich dich. Die Magie des Meuchelmörders hat dessen Gedanken vor mir verborgen. Selbst unter normalen Umständen ist es schwierig, die aggressiven Gedanken, die gegen einen gerichtet sind, aus der Masse des Lebens, das uns umgibt, herauszufiltern. Auf eine gewisse Art und Weise ist das aber auch gut so.« »Auf eine gewisse Art und Weise wurdet Ihr beinahe umgebracht«, sagte Fonn. »Nein, beinahe wurdest du umgebracht«, sagte der Lo xodon so trocken, dass es sie zum Lachen brachte. Aus dem Lachen wurde allerdings sofort ein rasselndes Keu chen. »Immerhin, meine Ledev-Freundin, hast du dein Leben wieder einmal dafür eingesetzt, das Leben eines bescheidenen Dieners von Mat’selesnija zu retten, und dafür danke ich dir. Komm mal näher, ich glaube, bei dem Sturz hast du dir ein paar Rippen angeknackst. Mal sehen, was ich da tun kann.« Bayul stützte sich auf seinen Wanderstock und lehnte sich über Fonn. Als er ihr nun eine Handfläche auf die Stirn legte, wurden der Gestank der Gasse und der Lärm der Fabriken und der vielen Wesen um sie herum langsam ausgeblendet. Bayul stimmte einen Singsang in der uralten Sprache der Seles nija-Dryaden an. Wärme breitete sich aus der Mitte seiner Hand aus, überzog Fonns Gesicht und wanderte von dort 120
aus in ihren ganzen Körper. Ihr nächster Atemzug er reichte die Lunge, ohne Schmerzen zu verursachen, und es war ihr, als ob ihr der Geruch von Sommerblumen und Nadelwald in die Nase stieg. Ein paar Atemzüge später war Bayul mit seiner Behandlung fertig. Fonn ging auf ein Knie und beugte vor dem Loxodon den Kopf. Sie blickte auf das Kopfsteinpflaster und sagte: »Eure Heiligkeit, der Segen Mat’selesnijas ist mit Euch.« »Und mit dir«, sagte Bayul. »Und jetzt steh wieder auf. Ich weiß, dass du hingebungsvoll bist. Aber heb dir das Kriechen für die Dryaden auf. Die mögen so etwas.« Fonn grinste. Es juckte in der Nase, als die schlechte Luft wieder zu ihr durchdrang. Sie sprang auf die Beine und gab der leblosen Gestalt des Meuchelmörders einen Tritt mit dem Stiefel. Manchmal war es besser, noch einmal nachzuprüfen, ob der Gegner auch wirklich tot war. Die Leiche rollte auf den Rücken. Die Ledev und der übergewichtige Loxodon blickten direkt auf das verblie bene heile Auge des Attentäters. Es war schwarz und glasig, keine Spur von Weiß. Während sie es betrachte ten, brach es und wurde trübe und grau. Aber es war nicht das Auge, das Fonn beunruhigte. Der lange, scharfe silberne Zahn, der an einem langen Leder band um den Hals des Toten hing, war das Problem. Man konnte fast sicher davon ausgehen, dass der Mörder ihn mit bloßen Händen aus dem Maul eines der Kanalalliga toren gerissen hatte. »Ein Rakdos«, sagte Fonn. »Schaut Euch den Zahn an.« »Ja«, sagte Bayul. »So wird es wohl sein.« 121
»Aber warum würde ein Mörderzünftler mit einer Ban de von Gruul-Banditen zusammenarbeiten? Die Clans und der Kult hassen einander doch, oder?« »In der großen weiten Ebene, die die Stadt umgibt, mag das stimmen«, sagte Bayul. »In dieser Welt, in der du und ich den größten Teil unserer Leben verbracht haben, gibt es nur böses Blut zwischen den beiden so genannten ›Stammesgilden‹. Aber obwohl wir noch lange nicht die Steintitanen erreicht haben, befinden wir uns inzwischen mehr oder weniger in der Stadt Ravnica. Und in der Stadt läuft vieles nach anderen Regeln als im Rest von Ravni ca.« »Der Hazda, war er …« »Tot«, beendete Bayul mit trauriger Stimme ihren Satz. »Sein Leben hatte ihn bereits verlassen, bevor ich ihn erreichte. Aber sein verärgerter Geist muss nicht als Wundensucher herumspuken. Ich konnte ihm helfen, das Licht zu …« Fonn sprang auf, weil das Heulen eines Wolfs aus der Hauptstraße ertönte und den Rest von Bayuls Satz unter gehen ließ. Sie rief: »Biracazir«, während sie zurück zum Blutbad in der Hauptstraße rannte. Ein paar neugierige Zuschauer waren aus den umlie genden Gebäuden herbeigeeilt und hatten einen Ring um die Szene geschlossen. Die Leute im Publikum bekamen nur selten einen derart blutigen Kampf zu sehen, ohne dafür einiges an Geld berappen zu müssen. Einige unter nehmungslustige Individuen schienen sogar bereits Wetten entgegenzunehmen. 122
Alle blickten auf den Wolf und den Gruul. Der Bandit war wieder auf die Beine gekommen und hatte sich vom Wolf etwas gelöst. Fonns Blut geriet in Wallung, als sie das rot gefärbte Fell an Biracazirs Schnauze sah – auf den ersten Blick sah es aus, als hätte der haarige Nichtsnutz ihm eine Wunde beigebracht. Der Wolf stand knurrend mit gesträubtem Nackenhaar da und ließ den Gruul nicht aus den Augen. Dieser hatte die Kampfhaltung eines Messerkämpfers eingenommen. An seinem Messer klebte rotes Wolfsblut. Er knurrte zurück. »Gruul«, rief Fonn und schob sich mit gezücktem Schwert zwischen die beiden. Biracazir, der immer noch knurrte, zog sich etwas zurück, um seiner Herrin, die den Kampf mit dem Räuber übernahm, genug Raum zum Manövrieren zu geben. Aus den Augenwinkeln sah Fonn etwas Weißes aus Richtung der Seitengasse kommen – Bayul war also auch auf dem Weg zurück zum ursprüng lichen Schauplatz. »Bandit, ich hatte dir eine Chance zum Reden gegeben, aber stattdessen stichst du nach meinem Wolf. Niemand sticht meinen Wolf!« »Das nächste Mal wird das kein kleiner Klaps sein, kleines Mädchen«, knurrte der Gruul. »Ich schnapp mir deinen Wolf, stopf deine Leiche hinein und verarbeite euch bei zu Pterro-Futter. Aber das hat Zeit. Du wirst einen langsamen Tod haben.« Er hob boshaft seinen Dolch. Fonn verlagerte ihr Gewicht ganz auf ein Bein, hob ihr Schwert und nahm ihre Grundhaltung ein. Im Kampf gegen Messerstecher bevorzugte sie den Wehr-Stil. Auf 123
diese Weise konnte sie ihr Schwert dicht am Körper halten, um schnelle Stöße und Schwinger zu parieren. Sie wartete auf eine Lücke in der gegnerischen Verteidigung, um dann ihre Schwertspitze zu senken und mit vielen schnellen Hieben zurückzuschlagen. Wie erwartet, brüllte der Graul auf und griff frontal an. Seine Beinverletzung hatte er anscheinend nur vorge täuscht. Fonn hielt ihre Klinge dicht am Körper nach oben, wartete bis zur letzten Sekunde und trat schließlich zur Seite. Der wilde Hieb des Banditen verfehlte sowohl ihren Arm als auch ihre Klinge und gab Fonn damit die Lücke, die sie brauchte. Sie traf ihn an seiner ungeschütz ten Seite unterhalb der Achselhöhle. Ihre Schwertspitze ratschte zwischen die Rippen und durchbohrte das Herz, was den Vorwärtsdrang des Gegners sofort stoppte. Der Räuber spuckte Blut und setzte an, Fonn zu verfluchen, starb dann aber, bevor er die Worte im Mund formen konnte. Seufzend streifte Fonn den Graul mit einem müden Tritt von ihrem Schwert. »Jetzt werden wir nie herausfinden, was hier genau los war«, sagte Fonn. »Verdammter Gruul. Warum konnte er nicht brav an Ort und Stelle bleiben?« Sie ließ den Toten auf der Straße liegen und näherte sich behutsam Biraca zir, während der Loxodon zu dem getöteten Gruul hinü berging, um dessen Geist eine letzte Chance anzubieten, sich Bayul anzuschließen und durch ihn in die heilige Stimme von Selesnija einzustimmen. Selbst ein morden der Gruul war in der Stimme willkommen. Deutete man 124
daraufhin den düsteren Gesichtsausdruck des SelesnijaBotschafters jedoch richtig, hatte offenbar auch dieser Geist das Angebot abgelehnt. Biracazirs blutige Schnauze sah schlimmer verletzt aus, als sie das tatsächlich war, aber die Wunde benötigte eine entsprechende Behandlung, um eine Infektion zu verhin dern. Fonn hätte den heiligen Bayul bitten können, dem Wolf zu helfen. Er war ein Mitglied des SelesnijaKonklaves, des Kollektivs, das die Selesnija-Gilde leitete. Der Loxodon war einer von nur dreien, die keine Dryaden waren. Vom ganzen Kollektiv war er der Einzige, der sich auf seinen Reisen so weit vom Stadtzentrum entfernte, dass er in ganz Ravnica bekannt – und zumeist auch beliebt – war. Fonn hatte miterlebt, wie er einem von einer Krankheit bereits völlig dahingerafften Kind wieder Leben eingehaucht hatte. Sie war Zeugin gewesen, wie der Loxodon einer erblindeten alten Frau wieder zu Sehkraft verholfen hatte. Sie hatte auch keine Probleme damit, dass sich Bayul um ihre Verletzungen kümmerte. Aber die Ledev ließen nie zu, dass sich irgendjemand anders um ihre Tiere kümmerte als sie selbst, falls die Umstände nicht ganz düster waren. Ledev und ihre Reittiere hingen durch mehr als nur ein Band gegenseiti ger Zuneigung zusammen. Die Art und Weise, wie sie miteinander kommunizieren konnten, wirkte auf die meisten Beobachter wie Telepathie, aber Fonn wusste, dass sich das alles der hohen Intelligenz der Tiere gepaart mit jahrelanger Ausbildung verdankte. Man konnte nicht sagen, dass sich die Ledev ihre Reittiere aussuchten: 125
Mindestens in gleichem Maße suchten sich die Reittiere die zu ihnen passenden Ledev aus. Diese besonderen Raubtiere – meistens Wölfe, Adler, Tiger oder Bären – würden sich opfern, um ihre Reiter zu beschützen. Als Ausgleich waren die Reiter ihre Quelle für alles, was sie benötigten: Futter, Wasser, Heilung und Freundschaft. Durch diese gegenseitige Abhängigkeit wurde aus dem Reittier fast schon ein Teil der Seele des betreffenden Ledev. Fonn drückte eine Hand gegen die kleine Wunde an Biracazirs Schnauze und sang ein kurzes, trällerndes Lied. Der Pelz glühte unter ihrer Hand für ein paar Sekunden auf. Sie hatte den Gesang, der im Silhana-Dialekt des Elfischen gehalten war, von ihrer Mutter gelernt. Grünes Licht schloss die Schnittwunde und brannte sämtliche Krankheitserreger weg, die die Wunde hätten infizieren können. Schon bald war das Maul des Wolfs so, als wäre es nie versehrt worden. »Du bist begabt«, sagte Bayul. »Habt Dank«, antwortete Fonn. »Meine Fähigkeiten verblassen neben der glorreichen Wärme von Mat’seles nija, Eure Heiligkeit.« »Hallo! Ihr da! Was ist hier los?« Ein weiterer Hazda kam aus der Taverne, aus der zuvor auch der inzwischen dahingeschiedene Hilfspolizist gekommen war. Vom Schnitt seiner Uniform her hatte er den Rang eines She riffs. Ein zweiter Hilfspolizist begleitete ihn. Beide rochen nach hartem Alkohol. Die beiden ehrenamtlichen Geset zeshüter drängten sich durch die gaffende Menge, die 126
weiterhin auf beiden Seiten der Straße zusammenlief, was zu lautstarkem Getuschel unter den Zuschauern führte. »Ihr da! Was ist hier los?« »Vielleicht sollte lieber ich das alles erklären«, sagte Bayul. »Ihr seid der Botschafter, Eure Heiligkeit«, antwortete Fonn. »Ich würde es begrüßen. Bir und ich werden uns darum kümmern, dass wir die Leichen ordentlich stapeln, bevor der örtliche Bestatter kommt. Mit etwas Glück können wir immer noch vor Sonnenaufgang in der Stadt sein.« »Das hoffe ich doch«, sagte Bayul. »Wir dürfen nicht zu spät zum vereinbarten Termin kommen. Es hängt mehr davon ab, als du dir vielleicht denkst.« »Wir werden rechtzeitig zum Aul-Haus kommen, Eure Heiligkeit, und wenn Biracazir und ich Euch dorthin tragen müssen«, sagte Fonn. Sie ließ den Kopf ein wenig rollen, um ihren steifen Nacken etwas zu lockern, und rief nach dem Wolf. Während der Loxodon beruhigend auf den Hazda einredete und ihm den ganzen Vorfall schilderte, der einem Hilfspolizisten, einem Rakdos und mehreren Gruul das Leben gekostet hatte, begann die Halbelfin die grausige Arbeit, die Leichen einzusammeln. Eine Ledev kümmerte sich nicht nur stets um ihr Reit tier, sondern auch immer um das Durcheinander, das sie angerichtet hatte. Besonders dann, wenn es dazu führte, die ganze Straße zu blockieren.
127
Kapitel 5
H
Zur Morgenbesprechung braucht ihr mich nicht aufzu wecken. Grabinschrift von Wojek-Wachtmeister Yrbog Vink (2525 – 2642 Z.C.)
24. Zuun 9999 Z. C., frühmorgens Kos zog einen Stapel Notizzettel aus einer Innentasche und zwang sich, nicht länger an den geheimnisvollen Geist zu denken, den er in der Nacht gesehen hatte. Zunich war jetzt seit knapp sechs Jahrzehnten tot. Der Leutnant warf einen Blick auf den Schweiger, der sich im hinteren Teil des Besprechungsraums befand, und gab sich Mühe, sich auf seine bevorstehende Aufgabe zu konzentrieren. Es gab ein paar Gedanken, von denen das Selesnija-Konklave nichts wissen musste, und Kos hatte keine Ahnung, ob die telepathischen Fähigkeiten des Wesens tatsächlich existierten oder nur ein Gerücht waren. Falls der Schweiger jedoch Kos Blick bemerkt haben sollte, so ließ er sich das nicht anmerken. Er blieb in der hinteren Ecke des Raums einfach nur stiller Beob achter (oder was auch immer er unter dieser gesichtslo 128
sen Ganzkörperverkleidung tat) und betrieb – wie nann ten sie es gleich noch? – Geschichtsschreibung. Jedenfalls diente es nicht unbedingt dazu, Kos’ aufkeimendes Lam penfieber einzudämmen. Er musste es durch eine Stunde der schmerzhaftesten mentalen Folter schaffen, die sich die Azorius-Bürokraten je ausgedacht hatten, und diese Leute verstanden etwas von Folter. Kos musste die Morgenbesprechung leiten. Er blätterte durch den Papierstapel, der auf dem anti ken hölzernen Pult vor ihm lag, und räusperte sich. »Könnt ihr mich alle hören?«, fragte er. »Jawoll, Herr Hauptmann«, antwortete Feder. Seine Stimme dröhnte durch das allgemein zustimmende Gemurmel. Vom Engel-Wojek konnte man Zurückhaltung nicht erwarten. »Oh, hm, also gut«, fuhr Kos fort und gab sich Mühe, das nervöse Zittern seiner Stimme zu verhindern. »Guten Morgen allerseits. Und nennt mich nicht Hauptmann. Zumindest für den Rest der Woche werde ich mir mein Geld noch mit ehrlicher Arbeit verdienen.« Feder hustete, als der Witz in der Stille des Bespre chungsraums wie ein eisenbeschlagener Zeppelid unter ging. Kos ließ seinen Blick über die etwa vierzig Leut nants, Wachtmeister und Konstabler der unterschiedlich sten Ränge schweifen und machte mit seiner kleinen Ansprache weiter, die er heute Morgen bei einem kleinen Muntermacher im Achterwasser zusammengeschrieben hatte. »Die meisten von euch kennen mich ja bereits. Ich ha 129
be im Zehnten Distrikt schon gearbeitet, als einige von euch noch gar nicht geboren waren. Aber falls es doch jemand vergessen haben sollte, ich bin Leutnant Agrus Kos«, sagte er. »Mir wurde gesagt, dass ihr mich ab näch ster Woche alle Hauptmann nennen dürft, aber bis dahin bleibt es bei ›Kos‹. Das gilt auch für dich, Konstabler Feder.« Jetzt bekam er ein paar Lacher. Er las den Wasser fall an Beförderungen vor, der sich in der nächsten Zeit über ihre Abteilung ergießen würde. Einige Gratulations rufe waren zu hören, vereinzelt auch etwas Applaus. »Danke. Die Betroffenen können später eine Runde ausgeben«, sagte Kos. »Und jetzt ab an die Arbeit.« Er wühlte wieder in seinen Papieren, schielte auf die Noti zen, die ihm Phaskin als Hilfe zugesteckt hatte, und räumte sie schnell wieder weg. Er brauchte sie sowieso nicht. Es war einer von Kos’ Grundsätzen, immer zu wissen, wer gerade in welcher Untersuchung steckte, wer wo auf Streife ging und wer wen oder was bewachte. Sein Augenlicht war mit dem Rest des Körpers mitgealtert und ihm machte eine leichte Altersweitsicht zu schaffen, besonders wenn er nervös war. Kos räusperte sich und zog eine Lesebrille aus Kristallglas aus einem Etui, das er in einer Innentasche seiner Uniform aufbewahrte. Mit der Brille ging es viel besser. Kos überflog die Noti zen in ein paar Sekunden und legte die Blätter dann zurück aufs Pult. Er fühlte sich, als hätte er gerade eine Tonne Ziegelsteine abgesetzt. Kos sah sich um und sah die Gesichter von vertrauten Freunden, von hart arbei tenden Kollegen, hingebungsvollen Wojeks – und Borca. 130
»Nun, ich bin mir sicher, dass ihr euch alle an letzte Woche erinnert, wo Phaskin uns erinnert hat, dass, äh, heute die neuen Wojeks kommen, um mit der Ausbildung zu beginnen. Die warten nur darauf, ihre neuen Aufga bengebiete zugeteilt zu bekommen.« Im Raum wurde leichtes Gestöhne laut. »Na, na, wer wird denn gleich«, sagte Kos. »Wir haben alle mal so angefangen. Wachtmei ster Karlaus und Wachtmeister Migellic, ihr bekommt sie diesmal zuerst.« Er nickte nacheinander einem großen, schlaksigen Mann mit einer Augenklappe und einer kleinen, rauflustig wirkenden Frau zu. »Wenn wir hier fertig sind, geht ihr rüber in die Besprechungsaula drei und teilt sie in zwei Gruppen ein. Ihr bekommt die Unter lagen von Feldwebel Ringor. Ich möchte, dass ihr sie schon heute Nachmittag zum ersten Mal auf die Straße schickt.« »Heute Nachmittag?«, sagte Migellic. »Wenn wir Glück haben, wissen die bis dahin, an welchem Ende sie ihren Pendrek anfassen sollen.« »Ich bin mir sicher, dass ihr das hinbekommt«, sagte Kos. »Ich verlange, dass ihr beide Gruppen durch die Einweisung bringt. Alle Neuen müssen am Tag der Zehn tausendjahresfeier einsatzfähig sein.« »Das bedeutet doppelt so viel Ausbildungsaufwand wie sonst, Chef, sagte Karlaus, dessen rauchige Stimme den ungesunden Abgasen der Fabrikschlote geschuldet war. »Wie grün hinter den Ohren sind diese Neulinge denn genau?« »Nicht grüner als sonst auch. Aber wir werden alle 131
Ausbildungseinheiten verdoppeln, solange wir diese Feier des Selesnija-Konklaves anstehen haben …« »Synode«, korrigierte Feder. »Was auch immer«, sagte Kos. »Der Punkt ist jedenfalls der, Leute, dass es in den nächsten Tagen hier richtig rund geht. Allein schon die jetzige Zahl der Stadtbesucher deutet daraufhin, dass wir in den nächsten Tagen alle Hände voll zu tun haben werden, bis die Feier, Synode oder was auch immer stattfindet. Ich will, dass genügend Wojeks bereitstehen, um zur Not auch welche an andere Schichten abgeben zu können, vielleicht sogar in andere Distrikte. Wie es halt gerade kommt.« Karlaus zuckte die Achseln. »Mir ist das gleich. Doppelt so viele Illusionen, die ich rauben darf.« Er sagte das, ohne zu lächeln. »Wachtmeister Yuraiz, deine Wojeks werden die nor malen Aufgaben von Karlaus und Migellic an den Vormit tagen übernehmen und zur Not auch bei der Ausbildung helfen. Betrachte dich selbst heute als Streifegänger.« Yuraiz, ein Viashino, der ein Blickduell gegen einen Wirbelsturm gewinnen konnte, zwinkerte und nickte einmal. »Luftkommandeurin Wenslauv«, sagte Kos und nickte der dünnen, athletisch gebauten Frau zu, die so krumm auf ihrem Stuhl saß wie die Flugbrille auf ihrer Stirn. »Was hast du zu berichten? Was gibt es Neues aus den Hochgefilden?« »Wir haben den Hausbesetzern in der Nähe der Chourn-Fabrik eingeheizt«, sägte Wenslauv. »Wir mussten 132
sie da raustreiben, weil die Izzet im Anzug sind, um die alten Schornsteine zu sprengen.« »Ich kann schon riechen, wie die Luft frischer wird«, sagte Kos. »Wir haben ein paar wilde Roc-Nester hinter den Toren gefunden, die wir räumen sollten. Ich denke mal, wir werden einen Trupp Bändiger rausschicken. Sonst gab es eigentlich nur die normale Mischung aus Unfällen und unfreiwilligen Selbstmordversuchen.« Luftverkehr war in Ravnica nichts Ungewöhnliches. Riesige lebendige Zeppeliden transportierten ihre Passa giere durch die ganze Stadt und zur Not auch über die ganze Welt. Es waren die unterschiedlichsten fliegenden Reittiere gezüchtet worden, von den Riesenfledermäusen der Golgari-Jägerinnen bis zu den Rocs, auf denen die Luftjeks auf Streife flogen. Nach Wenslauvs oft geäußerter Meinung sollte der ganze private Luftverkehr am besten aus den Stadtgrenzen verbannt werden. Das galt beson ders für Besucher von außerhalb, die den dichten Luft verkehr nicht gewohnt waren – wenn überhaupt Luftver kehr irgendwelcher Art. »Du kannst auf alle Fälle damit rechnen, dass ihr mehr zu tun bekommt«, sagte Kos. »Zusätzlich zu den ganzen Pilgern und Besuchern, die du bestimmt von ganzem Herzen in der Stadt willkommen heißt, bekommen wir es laut zuverlässiger Aussagen der Nachtschicht auch noch mit Verzits Bande zu tun, die wieder auf Raubzug geht. Sie überfallen die Zeppeliden knapp außerhalb des Di strikts. Durch den Zustrom von Leuten scheint es sich 133
dort zu stauen, und da geben die Zeppeliden anscheinend ein ganz gutes Ziel her. Sprich dich mit Luftkommandeur Pereline aus dem Neunten ab. Sein Bericht weist darauf hin, dass die Bande ihre Überfälle hauptsächlich in unse ren beiden Sektionen durchführt.« »Ich habe heute Morgen von ihm einen Falken bekom men«, antwortete Wenslauv. »Bin schon dran. Es könnte gut sein, dass sie auch bei dem Zeppeliden-Absturz am Nordende der Schlucht ihre Finger im Spiel hatten.« »Den Gedanken hatte ich auch schon«, sagte Kos. »Zwei deiner Leute sind doch heute vor Gericht, um als Zeugen zu dem Absturz vernommen zu werden, oder?« Wenslauv nickte. »Sie sollen weitere Ermittlungen beantragen und sich wieder in die Lüfte schwingen. Dieser Fall ist noch nicht so weit, dass bereits jetzt eine Anhörung sinnvoll wäre. Setz die beiden weiter in der Luft ein, und lass es mich wissen, wenn wir beweisen können, dass Verzit seine Hand im Spiel hat. Und sollte Verzit ein Problem damit haben, dass ihr nachbohrt, bohrt noch härter.« »Zu Befehl«, antwortete die Luftkommandeurin. Ihr finsterer Blick war dem Anflug eines Grinsens gewichen. Die meisten Luftjeks liebten echte Luftkämpfe, und Verzits Gruul-Luftpiraten kamen wie gerufen, um einmal wieder einen richtigen Kampfeinsatz zu fliegen. Es war aber tatsächlich nur der Anflug eines Grinsens, das wuss te Kos, denn Wenslauvs Übereifer wurde durch Weisheit und Vorsicht entsprechend gedämpft. Aufgrund dieses Wesenszugs hatte sie es immerhin auch bis zur Luft kommandeurin gebracht. 134
Kos ging schnell den Rest der Besprechung durch. Die Leutnants Zuyori und Groenico sollten ihre übliche Runde in der Oberstadt drehen und Nachforschungen zu einer Serie von Raubüberfallen anstellen, die bei einem Bauprojekt von Orzhov-Zauberwerkern nahe den Hoch gefilden aufgetreten waren. Groenico würde sich nach mittags um Papierkram kümmern, während Zuyori als Zeuge in einem Verfahren hinsichtlich eines Apotheken überfalls vernommen werden würde. Das Ganze war eine ziemliche Schweinerei gewesen, weshalb das Verfahren auf die Hinrichtung einiger Leute hinauslaufen würde. Kos hätte die Angeklagten einfach bis zu den Stadttoren geleitet und ihnen die gute Warnung gegeben, sich eine ganze Weile nicht in der Stadt blicken zu lassen. Zuyori war ein guter Wojek, aber ihm war eine etwas übereifrige Einstellung zu Eigen, wie es bei nicht wenigen der Fall war, die man nach der letzten Rebellion rekrutiert hatte. Bek und Daskos würden den größten Teil des Tages damit zu tun haben, sich um eines der häufigen GoblinFruchtbarkeitsfestivals zu kümmern. Im Vorfeld der Zehntausendjahresfeier schien es eine endlose Serie davon zu geben. Goblin-Feste zogen Stämme aus der ganzen Welt und aus verschiedenen Gilden an, und nicht alle davon feierten auf eine Art und Weise, die ganz mit dem Gesetz in Einklang stand. Kos konnte schwören, dass im Jahr zuvor jede Woche ein anderes Goblin-Festival auf dem Kalender gestanden hatte. Mehr als die Hälfte dieser Feiern hatte mit kleineren Unruhen geendet. GoblinFestivals waren sozusagen die zügellose Variante der 135
heiligen Synode, von der das Zentrum Ravnicas in weni gen Tagen erleuchtet werden würde. Einem nachträglichen Einfall gehorchend, bat Kos die Wachtmeister Karlaus und Migellic, ein paar der neuen Rekruten dazu abzustellen, den Leutnants bei der Kon trolle des Festivals zur Hand zu gehen. Auch Feder sollte sich bei ihnen melden, sobald er mit seiner Zeugenaussa ge im Fall Gullmott fertig war. In jedem anderen Jahr wäre die Besprechung damit wahrscheinlich beendet gewesen, und der Rest der Trup pe wäre ganz normal auf Streife gegangen. Aber es war nun einmal das Jahr 9999 Z. C., und in vier Tagen würde die Stadt zehntausend Jahre relativen Friedens und Wohlstands feiern. Es sollte ein Segen über die ganze Welt ausgesprochen werden – wenn man an solche Sachen glaubte –, ein Segen, der vom Vitu Ghazi ausging, dem Baum der Einheit und Machtzentrale der Selesnija ner. Vielleicht war ja das der Grund, warum die Hälfte der Stadt verzweifelt alles daran zu setzen schien, bis dahin noch ihr Sündenregister kräftig zu verlängern. Die Leutnants Vlidok und Chiloscu mussten sich um eine Entführung in der Nähe der Nordgrenze des RakdosHöllenlochs kümmern. Das Höllenloch war eine der sichtbareren Ansiedlungen des Kults und bestand aus einer Ansammlung aus Hütten und Rattenlöchern, die zwischen Straßenhöhe und dem von den Golgari kontrol lierten Alt-Ravnica zusammengepfercht waren. Wacht meister Tolgax hatte zur Spurenfahndung bereits eine Hundestaffel im Einsatz. Izigy und Wenc durften den 136
ganzen Tag in den Archiven der Inneren Festung for schen und hofften, für den Nachmittag des morgigen Tages einen Haftbefehl für einen stadtbekannten Lobbyi sten ausstellen zu können. Stanslov traf sich mit dem Leiter des Psychometrie-Labors, um die Spur einer ver missten Lieferung von Heiltränen, die sicherlich bereits auf dem Schwarzmarkt verschwunden war, zu verfolgen. Die verloren gegangene Lieferung war nicht groß genug gewesen, um zu einem Engpass zu führen, aber Stanslov meinte, dass er auch ein paar andere verloren gegangene Lieferungen für die Krankenstation der Bundeshalle bis zu einem Lagerhaus zurückverfolgen konnte, und das wollte er sich heute genauer anschauen. Und so ging es weiter, bis nur noch ein letzter Tagesordnungspunkt abzuhaken war. Kos nahm die Brille ab und steckte sie wieder ein. Das musste er nicht ablesen. »Und zum Schluss noch etwas Anerkennung. Wacht meister Borca«, sagte Kos. Borca stand auf und strahlte. Vielleicht war etwas öffentliches Lob alles, was Borca brauchte, um ein anerkanntes und von allen gemochtes Mitglied des Zehnten zu werden. Genauso sicher könnten Kos aber auch Flügel wachsen, damit er an den RocWettflügen teilnehmen konnte. Nein, der Mann besaß die unfehlbare Fähigkeit, jedem auf die Nerven zu gehen, nicht nur Kos. Dabei konnte Kos Borca ja sogar etwas leiden. »Setz dich, Wachtmeister. Ab heute stehst du in der Ausbildung zum Leutnant bei mir. Gratuliere.« »Vielen Dank, K… – äh, Chef, sagte Borca, während er 137
versuchte, sich gleichzeitig zu verbeugen und wieder zu setzen. »Der Rest von euch hat kein solches Glück«, sagte Kos. »Aber nur weil ich Phaskins Schreibtisch übernehmen werde, heißt das noch lange nicht, dass ich mich nicht ins Achterwasser einladen lasse, um dort über Beförderun gen zu reden.« Er streckte sich in Habt-Acht-Stellung und nickte den versammelten Wojeks zu. »Haltet die Augen offen. Und jetzt raus mit euch!«
K
Kos und Borca hatten den Besprechungsraum gerade verlassen, als sie hörten, wie Phaskin nach ihnen rief. »Kos! Borca! Kommt mal her!«, brüllte Phaskin, um den Geräuschpegel zu übertönen, der in der Schalterhalle bereits jetzt am Morgen herrschte. Der riesige Raum, auch Einbuchtungshalle genannt, war der wichtigste Knotenpunkt im System des Zehnten Distrikts. Mutmaßli che Übeltäter wurden erst einmal hier eingeliefert. Waren sie unschuldig, verließen sie den Raum auf demselben Weg, auf dem sie hereingekommen waren, aber das geschah so selten, dass Kos an einer Hand abzählen konnte, wie oft er das schon miterlebt hatte. Normaler weise verbrachten die Gesetzesbrecher einige Stunden in Untersuchungshaft und wurden dann zu den Richtern nach oben geschickt. Stellte sich heraus, dass sie schuldig waren, wurden sie entweder ins Exil geschickt oder hingerichtet, auf jeden Fall sahen sie den lärmenden 138
Zirkus der Einbuchtung nie wieder. Die Wojeks andererseits mussten mehrmals am Tag durch den ganzen Zirkus durch. Kos bahnte sich seinen Weg durch die Kriminellen, Wojeks, Schalterbeamten und Dutzende andere Leute, die offenbar nur hergekom men waren, um im Weg zu stehen und wütend durch die Gegend zu geifern. Man konnte die Bundeshalle nicht betreten oder verlassen, ohne diesen Raum zu passieren, und Kos vermutete, dass Phaskin nur auf ihn gewartet hatte. Der Wojek-Hauptmann saß hinter einem von mehreren Tischen, die im ganzen Raum verstreut waren, und musste sich eine lange Litanei eines Stadtbesuchers in Seidengewändern anhören. Kos erinnerte sich, dass er den Mann am Vortag im Theater gesehen hatte. Phaskin schien erleichtert zu sein, Kos zu sehen. Das konnte nur bedeuten, dass Kos nun noch mehr von Phaskins Arbeit aufgehalst bekommen würde. Phaskin winkte Kos und Borca wie wild zu sich herüber. »Was ist los, Hauptmann?«, fragte Kos durch den Lärm. »Das hier ist … Wie war noch einmal Ihr Name?«, sagte Phaskin. »Wenvel Kolkin«, sagte der Besucher. Als Kos näher kam, konnte er sehen, dass der dickliche Mann von Kopf bis Fuß schweißüberströmt war. Es sei denn, er war in seinen teuren Gewändern im Fluss schwimmen gewesen. »Herr Kolkin möchte eine mögliche Gesetzesübertre tung anzeigen. Könnte in den Bereich Handel fallen. Oder was hatten Sie gerade gesagt?« »Nun, ich …« 139
»Leider muss ich mich hier verabschieden, ich habe eine wichtige Besprechung mit den Sesselfritzen«, unter brach ihn Phaskin. »Übernimm doch bitte hier, Kos.« »Bekommen Sie ihre neue Uniform angepasst?«, fragte Borca. »Woher weißt du …?«, sagte Phaskin, der zu spät merk te, dass er dem Wachtmeister auf den Leim gegangen war. »Kümmre dich nicht um meine Angelegenheiten, Wachtmeister. Kos, du musst hier für mich übernehmen.« »Ich muss heute jemanden zum Leutnant ausbilden«, sagte Kos. »Kann nicht sonst jemand …« »Entschuldigen Sie«, unterbrach Kolkin die beiden. »Es geht hier wirklich um eine dringende Sache.« »Deswegen übergebe ich den Fall ja auch meinem be sten Wojek«, sagte Phaskin, der seinen Stuhl wegschob und aufstand. »Sie sind in besten Händen, Herr Kolkin.« Erst als Phaskin sich schon durch die Halle durchge kämpft hatte und durch die Tür verschwunden war, kam Kos der Gedanke, endlich nachzufragen, was nun genau Kolkins Beschwerde war. Er holte tief Luft und setzte sich auf den Stuhl hinter dem Tisch. »Wachtmeister Borca, führe doch bitte Proto koll.« Borca zog ein Stück unbeschriebenes Pergament hervor und kramte einen Stift aus seiner Tasche. »Um was handelt es sich bei Ihrem Problem? Sie scheinen nicht aus dieser Gegend zu sein, wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben.« »Bin ich auch nicht«, sagte Kolkin. »Wir, also meine Frau und ich … Sie hat mich verlassen, aber ich …« 140
»Noch mal ganz von vorn«, sagte Kos. »Ihre Frau hat sie also verlassen?« »Warum glaubt jeder, dass … Nein, sie ist … tot«, fuhr Kolkin fort. »Oh, das tut mir Leid für Sie.« »Mir tut es auch Leid«, sagte Kolkin. »Yertrude war für mich mein Ein und … Entschuldigen Sie mich.« Der Kaufmann zog ein purpurfarbenes Taschentuch aus der Tasche, putzte sich die Nase und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Sie war mein Ein und Alles. Aber das ist nur ein Teil der Geschichte. Ich habe nie behauptet, dass es sich um eine Gesetzesübertretung in Sachen Handel dreht, aber ich nehme mal an, das es eine Art … Moment mal, Sie sind doch der Polizist aus dem Theater!« »Das stimmt. Ich komme viel herum. Also, um zu Ihrer Ehefrau zurückzukommen: Ist sie im Theater gestorben? Was hat das mit einer Gesetzesübertretung im Bereich Handel zu tun, wie mein Hauptmann …« Der betäubende Schrei einer Todesfee schrillte uner wartet durch den muffigen Saal. Nur wenig später waren die panischen Schreie der Zivilisten zu hören, die hier zusammengedrängt waren. Das ursprüngliche Geräusch kam von einem silbrig-weißen Geist in der Gestalt einer gekrümmten Frau. Er war inmitten der Menge aufge taucht. Wojeks und Zivilisten gleichermaßen flohen in alle Richtungen. Von irgendwoher brüllte ein Wächter: »Ein Wundensucher! Wir haben einen Wundensucher hier!« »Sie hat mich gefunden!«, schrie Wenvel Kolkin. Er 141
krabbelte um den Tisch herum und zwängte sich dahinter neben Borca. »Ich nehme an, dass es sich hierbei um die ehemalige Frau Kolkin handelt, ja?«, sagte Kos, während er nach seinem Pendrek griff. Kolkin nickte, was zu einem Sprüh regen von Schweißtropfen führte. »Ich glaube, ich verste he jetzt alles. Borca, behalte ihn im Auge. Bleiben Sie bitte, wo Sie sind, Herr Kolkin. Ich habe nach der Sache hier gleich noch ein paar Fragen an Sie.« »Nach welcher Sache?«, schrie Kolkin. Kos beachtete ihn nicht weiter und drehte sich so, dass er den schreienden Geist besser sehen konnte. Er schwebte ungefähr in der Mitte der Halle und war von Gaffern und Wachen umgeben, die unsicher waren, was sie tun sollten. Dass Kos der einzige anwesende WojekOffizier war, machte den Geist zu seinem Problem. »Wenn der Vogel auf deiner Schulter landet …«, murmel te er. Wundensucher waren nicht unbedingt die häufigste Geistererscheinung in Ravnica, einer Stadt, die Heimat der unterschiedlichsten buchstäblichen und sprichwörtli chen Geister war. Wundensucher gehörten aber in der Regel zu den gefährlichsten. Nach dem Tod eines ge wöhnlichen Sterblichen hingen normale Gespenster oft noch eine Weile harmlos in der Gegend herum, wohinge gen Wundensucher Zorn und Rachegelüste in einer übernatürlichen Fonn in sich vereinigten. Es waren Geister von Leuten, die vorzeitig eines gewaltsamen Todes gestorben waren. 142
Auch der hier aufgetauchte Geist schien einer von der gewalttätigen Sorte zu sein. Das Gespenst, das einmal Yertrude Kolkin gewesen war, kreischte weiter, bis aus dem Geräusch ein erkennbares Wort wurde. »Weeeeen veeeeelllll!« »Herr Kolkin, sollte ich je herausfinden, dass Sie für den Tod Ihrer Frau verantwortlich sind …«, sagte Kos, der sich zwischen den Wundensucher und den Schreibtisch, hinter dem sich der Kaufmann verbarg, stellte. »Nein, ich war … Sie ist verschwunden, und als ich sie dann gefunden habe, war sie …« »Kos!«, rief Borca. »Was machst du da?« »Hast du es etwa noch nie mit einem Sucher zu tun gehabt, Borca?«, fragte Kos. »Nein, noch nie. Hat sich bisher noch nicht ergeben«, antwortete der Wachtmeister. »Dann pass gut auf. Hier kannst du was lernen«, sagte Kos. Er fummelte an seinem Gürtel herum, öffnete dort eine flache Tasche und legte einen kleinen Stahlspiegel auf seine Handfläche. Der klagende Geist hatte ihn fast erreicht. »Das reicht jetzt, Yertrude«, sagte Kos so ruhig, wie er konnte. Alle Zuschauer schienen den Atem anzuhalten, um genau mitzubekommen, was der verrückte Wojek da vorhatte. »Komm ruhig näher. Wäre doch schade, wenn du dich nicht gut sehen könntest.« Kos hielt den Spiegel direkt vor das durchsichtige Gesicht des verärgerten Geists. Die beiden Punkte aus blauem Licht, die aus den leeren schwarzen Augenhöhlen kamen, blitzten als Bestätigung 143
auf, und aus dem andauernden Klageton wurde erst ein leises Stöhnen, dann ein spöttisches Zischen. »Ja, das bist du, Yertrude«, sagte Kos freundlich. Er empfand ehrliche Sympathie für das gekrümmte Wesen, das jedes Wort aufzusaugen schien. Es war ganz wichtig, den Namen der toten Frau immer wieder auszusprechen, um den Geist daran zu erinnern, wer er einmal gewesen war. »Es tut mir Leid, Yertrude. Du kannst hier nichts mehr erreichen. Du willst doch niemandem wehtun. Du musst ihn gehen lassen. Ich verspreche dir, dass du gerächt werden wirst. Yertrude, ich schwöre, dass wir alles tun werden, was wir können, um herauszufinden, wer dir das alles angetan hat.« Der Geist schien unsicher zu werden. »Gehen«, flüsterte er so leise, dass Kos ihn mehr im Kopf als mit den Ohren hörte. »Ja, geh schon!«, brüllte der Kaufmann aus seinem Ver steck heraus. »Hör auf, mich zu verfolgen!« »Herr Kolkin, bitte unterlassen Sie …« »WEEEEENVEEEEELLLLL!« Der Zorn des Wundensuchers schwoll so plötzlich und mit solcher Kraft an, dass eine Druckwelle durch den Raum ging, die selbst Kos in die Knie zwang. »Ver dammt«, fluchte er. »Borca, bring ihn hier weg. Sofort!« Yertrudes Geist schien einen kompletten Nervenzu sammenbruch zu haben. Das Letzte, was Kos jetzt brauch te, war Yertrudes idiotischer Ehemann, der sich ein mischte und den Geist dadurch noch wütender machte. Kos verstaute den Spiegel wieder in seinem Gürtel. Die 144
Dieser Trick würde nur einmal klappen, und da jetzt die Wut des Geistes ihren Höhepunkt erreicht zu haben schien, gab es nicht mehr viel, was er tun konnte, um das Ganze friedlich zu lösen. Arretierer einzusetzen war auch nicht sinnvoll, da Wundensucher diesen Fallen wider standen. Es gab nur noch eine Sache, die er tun konnte. Kos zog seinen Pendrek und drehte am Griff, bis es zweimal klickte. Der Griff wurde warm, weil sich die Drähte, die sich im Kern des Knüppels befanden, nun mit Mana aufluden. »Es tut mir Leid, Frau Kolkin«, sagte er. Er zielte mit dem Ende des Stabs auf die Mitte des krei schenden Geistes und konzentrierte seine ganze Willens kraft auf die Waffe. »Vrazi«, sagte Kos. Das tödliche Mana, das sich in dem silbernen Pendrek angesammelt hatte, schoss mit einem grellen goldenen Blitz hervor und krachte in den Geist. Die Energie schien ihn von innen zu verzehren wie eine Puppe aus Papier, die man über eine brennende Kerze hielt. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sich die Geisterform der toten Frau in eine schwarze Rauchwolke verwandelt hatte. Das Selesnija-Konklave behauptete, dass die Seelen der Toten dazu bestimmt waren, sich zu etwas Größerem zu vereinigen, zu einem riesigen Sammelpunkt des Bewusst seins der Dryaden. Die Golgari hingegen fingen die Gei ster der Toten ein und verwendeten nekrotische Energie, um aus ihnen Untote zu erschaffen. Die anderen Gilden bedienten sich in unterschiedlichsten Abstufungen dieser beiden Glaubensrichtungen, aber die Boros – die Gilde, zu 145
denen der Bund der Wojeks gehörte – waren wohl die Einzigen, die auf regelmäßiger Basis Geister zerstörten, sie von der Oberfläche von Ravnica wegbrannten. Kos fragte sich manchmal, ob er dafür einen Preis bezahlen musste, wenn er selbst gestorben war. Was ihm ja langsam mal passieren konnte. Immerhin hatte er schon mehrfach die Überreste von lebenden Seelen komplett ausgelöscht. »Hier gibt es nichts zu sehen«, sagte Kos zu der betäub ten Menge, die ihn wie Wettspieler in einer ZykloprattenArena umstand. »Alles ist unter Kontrolle.« Das genügte, um sofort wieder eine laute Diskussion der versammelten Kriminellen, Verdächtigen, Zeugen und Wojeks auszulö sen, die darüber spekulierten, was genau gerade gesche hen war, ob es wieder passieren würde und ob es jemand gewesen war, den sie gekannt hatten. Kos fand Borca und Kolkin zusammengedrängt hinter dem Tisch, wo er sie zurückgelassen hatte. Der Leutnant streckte Kolkin eine Hand hin, um ihm beim Aufstehen behilflich zu sein, und deutete dann auf den Stuhl hinter dem Tisch. »So, Herr Kolkin. Wollen wir nicht noch einmal ganz von vorn anfangen?«
K
Es stellte sich heraus, dass Wenvel Kolkin unbedingt den Mörder seiner Frau finden wollte – besonders jetzt, da der Geist seiner Frau ihm nicht mehr nachsetzen konnte, um ihn zu verschlingen. Als Zeuge hingegen war er nutzlos. Es wäre schön gewesen, wenn der Kaufmann in der Lage 146
gewesen wäre, einen Verdächtigen zu beschreiben. Jemanden, der als Mörder Yertrudes infrage kam und vielleicht bald wieder zuschlagen würde. Kolkin hatte jedoch noch nicht einmal gewusst, dass seine Frau tot war, bevor ihn der Wundensucher auf dem Zinnstraßen markt angegriffen hatte. Und seitdem war er vor ihm davongerannt. Kos konnte nicht viel mehr tun, als Kolkin zu erklären, dass Mord nicht unbedingt gegen die Gesetze der Stadt Ravnica verstieß, sobald er einmal begangen war. Es sei denn, das Opfer trug einen zehnzackigen Stern. Selbst wenn Kolkin seine Frau selbst umgebracht hätte (woran Kos allerdings nicht glaubte, nachdem er die schwere Nackenwunde des Geistes gesehen hatte), war das eigent lich ein Problem des Ehepaars, solange niemand sonst dabei verletzt wurde und das Opfer nicht ein so promi nentes Mitglied einer Gilde war, dass eine Anklage wegen Handelsbeeinträchtigung erhoben wurde. Kos glaubte, dass das einer der Gründe war, warum jede Gilde auf der Welt zumindest ein großes Botschafts gebäude in der Mitte von Ravnica unterhielt. Viele Gilden, vor allem die Orzhov und die Golgari, sahen Mord als Geschäft an, und solange der Mörder die richtigen Unter lagen mit sich trug, war es kein Verbrechen. Und alle Gilden, selbst das Selesnija-Konklave, unterhielt Geschäf te mit den Orzhov. Außerhalb des Stadtgebiets allerdings galten andere Gesetze. Der magische Einfluss des Gilden pakts war zwar auch dort in Kraft, aber innerhalb dieser Bestimmungen gab es in dem Flickwerk aus Gildengebie 147
ten und Freihandelszonen viele unterschiedliche Rechts systeme. Kos fragte sich manchmal, wie es wohl wäre, wenn er die Wojeks verlassen und sich den Hazda an schließen würde – dem Bund der Freiwilligen, der sich im Rest der Welt um Recht und Ordnung kümmerte. Aber immer dann, wenn er so dachte, fiel sein Blick auf irgendetwas – auf einen ihm bekannten Kaufmann, ein Monument, einen Turm –, und schon musste er über sein Ansinnen, die Stadt zu verlassen, lachen. Er hatte sie in 110 Jahren nicht verlassen und würde das auch in absehbarer Zeit nicht tun.
148
Kapitel 6
H
Die männlichen Devkarin töten. Die weiblichen Devkarin sorgen dafür, dass der Tod nichts Bleibendes ist. Das sind unsere Gaben, und dadurch sorgen wir für Ausgleich. Matka Velika (8403 – 8674 Z. C), aus den Matka-Schriften
24. Zuun 9999 Z. C., morgens Weit unter Agrus Kos rannte ein Zentaur um sein Leben. Ein paar Pfeile steckten in seiner Seite, und eines der Hinterbeine knickte alle paar Schritte leicht weg. Er war alt, selbst für einen Zentauren – sicherlich dreihundert Jahre alt, wenn nicht noch mehr. Er war ein Schecke, dessen Rücken inzwischen ein wenig durchhing. Der lange Bart und die Mähne, die in der feuchten unterirdi schen Luft hinter ihm herwehten, waren längst weiß. Halb trabte er, halb galoppierte er einen engen Weg zwischen zwei massiven, zerfallenden Steingebäuden hindurch. Er blieb gelegentlich stehen, schnüffelte herum und warf nervöse Blicke in die offenen Fenster, die ihn aus allen Richtungen anblickten. Er war verloren. Der Zentaur keuchte und schnaufte. Die Luft wurde 149
immer schlimmer, je näher er den qualmenden Rauch schloten des Höllenlochs kam, und seine uralte Lunge war bereits von mindestens einem halben Dutzend neuen Krankheiten befallen. Wie benommen schaute er nach links, nach rechts und über seine Schulter. Er konnte von der Gruppe seiner Verfolger nichts sehen, und sein Ge ruchssinn war inzwischen völlig nutzlos, aber er hatte hinter sich etwas gehört. Dort befand sich irgendetwas in den Schatten eines Gebäudes, das langsam von der Natur zurückerobert wurde. Ranken, Moose und Pilze hatten sich in jedem Riss und jeder Öffnung des einst rechtecki gen Gebäudes angesiedelt. Der Zentaur wusste noch, dass das Haus fünfzig Jahre zuvor als Wohnblock gedient hatte. Inzwischen beanspruchten jedoch die Schwestern und ihre Devkarin-Hohepriesterin, die Matka Savra, die ganze Gegend für die beiden Eliteklassen der GolgariGilde: die Devkarin-Elfen und die Missbildungen. Der Zentaur gehörte keiner der beiden Klassen an. Er war noch nicht einmal Mitglied der Golgari-Gilde. Er hatte sich – wie es vielen Besuchern von Alt-Ravnica passierte – einfach verlaufen. Der Zentaur keuchte wieder und spuckte diesmal dabei auch Blut. Direkt über ihm rümpfte jemand die Nase. Der alte Zentaur blickte in ein Gesicht, von dem man wegen der Schädelmaske nur schwarze, durchdringende Augen sehen konnte. Dem ungeschützten Mund unter der Maske entwich ein »Buh!«. Der Jäger, ein bleicher Elf, ließ sich auf den nachge 150
benden Rücken des Zentauren fallen. Er verwendete weder einen Pfeil noch das lange Messer, das in seinem Gürtel steckte, sondern legte einfach nur die Hände um die Kehle seines Opfers. Der strangulierte Zentaur presste einen Klageruf heraus und rannte los. Auf dem Weg durch eine der vielen kleinen, gewundenen Gassen der Unterstadt versuchte er vergebens, seinen ungewollten Passagier abzuwerfen. Der Jäger übte mit jeder Sekunde einen größeren Druck auf die Kehle aus, und schon bald kam die alte Kreatur ins Straucheln, schlug hin und schaffte es nicht mehr aufzustehen. Der maskierte Elf drückte den Daumen gegen die Schädelbasis seines Opfers, bis das Leben des Zentauren mit einem kleinen Knacken endete. Dann ließ der Elf den Kopf los und kletterte vom Rücken des Tiers herab. Er blickte in die gebrochenen, toten Augen des Zentau ren und überlegte kurz, die Lider zuzudrücken, entschloss sich aber doch dagegen. Der Zentaur würde sie schon bald wieder brauchen, wenn auch nicht für lange. Der Elf hieß Jarad, und er war gelangweilt. »Wie enttäuschend«, sagte er vor sich hin. Er ging um den Zentauren herum und riss die Pfeile heraus. Das Blut spritzte auf seine Oberarme und seinen nackten Ober körper. Mit der Lässigkeit eines eingeübten Rituals strich er mit beiden blutigen Pfeilen einmal über jede Wange und verwendete die scharfe Kante des einen Pfeils dann, um sich selbst in die Zungenspitze zu stechen. Er schmeckte 151
die Mischung seines eigenen Bluts und das des Zentauren und genoss einen kurzen Moment lang den Triumph nach der eigentlich glanzlosen Tötung. Dann brach er beide Pfeile genau in der Mitte durch und warf sie beisei te. Jarad verwendete keinen Pfeil doppelt. »Ich hab schon seit Jahrzehnten keinen deiner Art mehr gejagt«, sagte der Elf. Er war wieder um die Leiche herumgegangen und schaute in die glasigen, umwölkten, leblosen Augen. Der tote Zentaur antwortete nicht. »Tröste dich«, fuhr Jarad fort. Er fuhr mit einer Hand durch sein schwarzes Zottelhaar und holte dort ein paar Aufspürkäfer hervor, die sofort sein Handgelenk entlang krabbelten. Der Devkarin-Elf gab den Insekten einen stillen Befehl und ließ sie auf den Boden fallen, von wo aus sie sich auf die Suche nach dem wahren Opfer der Jagd begaben. Sobald sie dessen Aufenthaltsort genau geortet hatten, führte ihr primitives Nervensystem ihn an die Stelle und half ihm, dem Opfer auf der Spur zu blei ben. »Dein Tod dient mehr als nur einem Zweck«, fuhr Jarad fort. »Du wirst noch zu etwas nütze sein, und au ßerdem hast du mich davon überzeugt, dass Zentauren es nicht wert sind, gejagt zu werden.« Der Elf starrte noch eine Weile in die Augen der toten Kreatur, dann bogen sich seine Mundwinkel zu einem leichten Grinsen nach oben. »Ich weiß, dass du da drin bist. Komm ruhig raus.« Unter normalen Umständen würde eine Geisterer scheinung direkt nach dem Tod auftreten und auf harm lose Weise in der Gegend, die der Geist zu Lebzeiten 152
gekannt hatte, herumspuken. Und nach ein paar Wochen würde der Geist einfach verblassen und verschwinden. Natürlich gab es auch bei »normalen« Geistern bereits deutliche Unterschiede, was Intensität und Langlebigkeit betraf, sodass niemand genau wusste, was zu erwarten war, wenn jemand aus natürlichen oder absehbaren Gründen starb. Aber ein Wesen, das durch Gewalt um kam – und zudem durch unerwartete Gewalt –, hinterließ oft ein gefährliches Gespenst, wild und tödlich. Solche Geister konnten das Hirn eines Lebewesens durch die reine Kraft ihrer Seelenqual zerschmettern. Es kam oft vor, dass sie sich dabei an diejenige Person hielten, die sie für ihren Tod verantwortlich machten, aber in den meisten Fällen wurden diese Geister gegenüber allen handgreiflich – egal, ob lebendig, untot oder spektral. Sie konnten eigentlich fast allem, was ein Hirn hatte, Scha den zufügen. Der Körper des Zentauren glühte einen Moment lang blau auf, dann erhob sich ein verdrehtes, durchsichtiges Ebenbild aus dem Körper und schwebte über ihm – eine spektrale Parodie des Zentauren exakt in dem Moment, in dem Jarad ihm den Hals gebrochen hatte. Der geisterhafte Kopf des Zentauren hing im rechten Winkel zur Seite. Das Maul war wie zum Schreien geöffnet. »Los jetzt«, brüllte Jarad. Zwei weibliche Elfen lösten sich leise von den Hauswänden, in deren Schatten sie sich versteckt gehalten hatten. Sie trugen körperbetonte Lederrüstungen und dunkelgrüne Helme, die mit Tier schädeln verziert waren. Jede hatte einen kurzen Stab in 153
der Hand, an dessen Spitze sich eine sich windende Masse aus wurmartigen Tentakeln befand, die vor lauter Nekromana knisternd Funken sprühten. Der Geist fing an, laut zu klagen, und die Tentakel der beiden identischen Stäbe peitschten und klatschten auf ihn ein. Die Jägerinnen stießen das Ende ihrer Stäbe in den Geist hinein. Ohne jeden Laut bohrten sich die Ten takel in die ätherische Form des Zentauren-Wunden suchers und rissen dessen ektoplasmatische Essenz heraus, um sie zu verschlingen. Die Jägerinnen sangen dazu leise im Devkarin-Dialekt des Elfischen, um den erbosten Geist des Zentauren zu beruhigen und zur Aufgabe zu bewegen. Erwartungsvoll blickten die beiden zu Jarad, der dar aufhin nickte. Mit synchronen Bewegungen peitschten sie mit den sich windenden, glühenden Nekrogeißeln auf den zusammengebrochenen Körper auf der Straße ein. Die Tentakel stürzten sich wie hungrige Tintenfische darauf und versenkten tausende winzige Zähne in der Haut der toten Kreatur. Sie krochen wie Schlangen über den Zentauren hinweg, bis er schließlich von einem schwarz-grünlichen lebendigen Netz überzogen war, das teilweise aus Ranken, andererseits aber auch aus Adern bestand. Die Jägerinnen zogen ihre Stäbe aus der neuen Haut des Zentauren heraus. Die Ranken lösten sich mit leise ploppenden Geräuschen von den Nekrogeißeln. Jarad scheuchte die Jägerinnen gereizt zurück. Der Zen taur lag noch für einen Moment still da, begann sich dann aber doch zu rühren. Beim Versuch, auf die Beine zu 154
kommen, schwankte er wie ein Betrunkener im Voll rausch. Jarad befürchtete schon, dass die dünnen Vorder beine des Wesens dabei zerbrechen könnten, aber das lebendige Netz hielt die reanimierten Knochen des Zen tauren zusammen. Das Wesen stieß ein gequetschtes Geräusch des Erstaunens durch seine zerdrückte Luftröh re aus. Die glasigen Augen bewölkten sich und hefteten sich auf Jarad, auf den die Kreatur nun wie ein neugebo renes Fohlen zustolperte. Ein weiteres Geräusch kam über die blauen Lippen der Kreatur, das diesmal eher nach Hunger, Schmerz oder einfach Elend klang. Das netzartige Nekrogewebe pulsierte, während das Wesen mit dem Maul nach Luft schnappte. Der neue Zombie brauchte Nahrung, aber der Devka rin-Jäger hatte nicht die Absicht, ihm eine Gelegenheit zu geben, seinen Hunger zu stillen. »Bleib da stehen«, befahl Jarad ruhig. Der Zentauren zombie blieb tatsächlich stehen, schwankte aber vor Verwunderung, weil die Stimme des bleichen Elfen ihm das zu tun befohlen hatte, was er auf keinen Fall tun wollte. Allerdings hatte er keine Chance. Kein Zombie, der von Devkarin-Magie erzeugt worden war, konnte sich der Stimme eines Devkarin-Elfen widersetzen. Jarad rief seine Jagdgesellschaft zusammen. Zwei iden tisch aussehende männliche Elfen, die wie Jarad gekleidet waren, lösten sich aus den Schatten und gesellten sich zu ihm und den beiden Frauen. Bei Trasz waren Oberkörper, Schulter und Rücken auf der rechten Seite mit schwarzen und grünen zeremoniellen Tätowierungen überzogen, 155
während bei Zurno ein fast identisches Muster auf der linken Körperseite zu finden war. Jarads eigener Körper war weitgehend ungeschmückt. Er trug nur besagte Schädelmaske, die ihn als Anführer der Jäger kennzeich nete. Die Zwillinge steckten gleichzeitig die Pfeile, die sie im Anschlag gehabt hatten, zurück in die Köcher und schlan gen sich dann die langen Stachelbogen über die Schulter. Jarad hatte sich nie richtig mit dieser alten, sehr zielge nauen Waffe, die im Nahkampf auch als Stichwaffe benutzt werden konnte, anfreunden können, obwohl sie traditionell von Devkarin-Jägern verwendet wurde. Er bevorzugte seinen Kindjal-Dolch und einen traditionellen Elfenbogen, den er von seinem Vater geerbt hatte. Der maskierte Elf trat zu der untoten Kreatur und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Jarad fragte sich, ob die verborgenen Zuschauer in den ganzen Gebäuden um ihn herum – die Einwohner dieses heruntergekommenen Viertels von Alt-Ravnica – wohl dachten, dass die beiden irgendwie ihre Meinungsverschiedenheit beigelegt hätten. Der Körperkontakt diente Jarad jedoch dazu, der untoten Kreatur seine wahre Beute zu zeigen und ihr zu erklären, wo der Leviathan seine Höhle hatte. Das schwache Hirn der wandelnden Leiche saugte die empathischen Befehle auf wie ein Schwamm. Der Zombie drehte sich um und trottete in die nächste Gasse hinein. »Folgt ihm«, befahl Jarad den Zwillingen. »Lasst ihn nicht vom Weg abwei chen. Bleibt in der Nähe der Wände, und verhaltet euch ruhig. Haltet euch an den Plan.« Die Zwillinge nickten 156
und verschwanden schweigend. Der bleiche Elf wandte sich an die beiden Frauen. »Jä gerinnen«, sagte er ruhig. »Besteigt eure Reittiere. Nehmt den Weg durch die Gognir-Gasse und dann die zweite Abkürzung, bevor ihr zum Höllenloch kommt. Ihr werdet unsere Beute von Norden aus angreifen, aber erst, wenn ich in den Nahkampf übergegangen bin. Und jetzt los.« »In Savras Namen«, sagten die Jägerinnen im Chor und zogen sich in die Seitengasse zurück, wo ihre Jagdeidech sen auf sie warteten. »›In Savras Namen‹«, murmelte Jarad vor sich hin. Er fragte sich, ob es die Jägerinnen wohl ärgerte, von je mandem einen Befehl entgegennehmen zu müssen, der nicht zu den Priesterinnen gehörte. Er hoffte, dass dem so war. Diese beiden, Dainya und Elga, gehörten zu Savras Lieblingen. Jarad konzentrierte sich auf seinen empathischen Sinn und lauschte mit seinem Gehirn auf die winzigen Gedan kenwellen, die ihm die kleinsten Mitglieder der Jagdgrup pe zusandten. Die Aufspürkäfer teilten ihm mit, dass er nach oben schauen solle. Verborgen in der Dunkelheit, hatten die Käfer eine weitere Route gefunden, die zu seiner Beute führte. Das alte Steinrohr hatte einst der Luftzufuhr und Müllentsorgung des zerfallenen, über wachsenen Gebäudes gedient. Das Rohr wand sich wie eine riesige Steinschlange durch den ganzen Bau. Norma lerweise war es sehr gefährlich, solche Schleichwege zu benutzen. Man erlebte nicht selten Einstürze und traf oft auf widerwärtige Aasfresser, die noch dazu eine schlechte 157
Beute waren, da sie voller Gift und Krankheiten steckten oder selbst bereits tot waren. Aber Jarad kannte jeden einzelnen Luftschacht unter der Oberfläche Ravnicas. Schon in Kindertagen war er in sie hineingekrabbelt, hatte sich hindurchgequetscht und sie erforscht. Inzwi schen war er fast zweihundert Jahre alt und fürchtete sich vor nichts und niemandem, was ihm in den Schächten begegnen konnte. Er benutzte sie oft auf langen Jagden, um schnell von einem Ort in Alt-Ravnica zum anderen zu kommen. Das taten auch andere, aber niemand kannte das Netzwerk so gut wie der Anführer der DevkarinJagdgruppe. Aber eines nach dem anderen. Jarad flüsterte erst ein mal ein paar Worte in einer dunklen, uralten Sprache, die er aus einem dunklen, uralten Elfen herausgepresst hatte – zusammen mit der Zunge des Ältesten. Der bleiche Elf streckte die Arme aus, während der Zauber zu wirken begann. Er konnte sehen, wie seine Arme ihre Blässe verloren und eine unregelmäßige graue Farbe annahmen – genauer gesagt exakt das Grau der Straßenoberfläche. Ein Chamäleon-Feld hüllte seinen Körper ein. Aber die sichtbare Auswirkung war nur ein Teil der Verzauberung. Unabhängig davon, wie kompliziert sein Weg durch das alte Abfallrohr war – er würde erst dann wieder ein Geräusch verursachen, wenn er das wollte. Seine Stiefel würden keinerlei Erschütterung im verrot tenden Stein auslösen. Er hinterließ keinen Geruch mehr. Und selbst, wenn das Monster, das er jagte, ihn mit einem hinterhältigen Tentakel berühren sollte, würde es nicht 158
merken, dass er da war. Es war eine sehr nützliche Verzauberung. Jarad be wachte das Wissen darum eifersüchtig und sprach die Worte nie in Anwesenheit anderer aus, besonders nicht in Savras. Wüsste sie, dass er dieses Wissen besaß, würde sie ihn wahrscheinlich hinrichten lassen. Wenn man den Zauber mit dem normalen Chamäleonzauber verglich, war das so, als würde man Savra mit einer einfachen Messdienerin vergleichen. Er kletterte die Wand hoch und schob sich in das Rohr. Nachdem er etwa fünf Minuten hindurchgekrabbelt war, kam er an das Ende der Strecke. Ein Einsturz in der Mitte des Gebäudes hatte das Rohr dort glatt abgeschnitten. Jarad streckte den Kopf zur Seite hinaus und betrachtete die Höhle der Bestie gründlich. Der fast kreisrunde Ein sturz hatte nicht nur das Gebäude entfernt, sondern war auch durch den Boden bis in die Untergeschosse gegan gen. Die hinabstürzenden Steine hatten dann die Decke einer alten Höhlung durchschlagen, die in den Zeiten vor dem Gildenpakt wohl eine Abwasserkanalkreuzung gewe sen war. Der Einsturz hatte auch den lange vergrabenen, lange schlafenden Leviathan geweckt, den Jarad nun jagte. Zuerst hatten die Gorgonen-Schwestern versucht, ihn unter ihre Kontrolle zu bringen, so wie sie es bei den meisten Golgari-Missbildungen taten. Aber das Gehirn des Leviathans war für die bemerkenswerten Überzeugungs künste der Schwestern nicht anfällig, und da das Wesen keine Augen hatte, war es auch immun gegenüber ihren 159
wohl bekannten Versteinerungsfähigkeiten. Eigentlich besaß der Leviathan gar kein Hirn, sondern lediglich ein Netz aus individuellen Nervenhaufen in einem riesigen, schneckenartigen Körper. So groß sein Körper auch war, geistig war das Wesen unterbemittelt. Es war sehr hung rig aufgewacht. Am Anfang hatte es sich nur von Unrat, furchtlosen Mörderzünftlern und anderen Störenfrieden ernährt. Darunter war auch ein ganzes Dorf von neugieri gen (und dummen) Goblin-Pionieren gewesen, die ver sucht hatten, ihre Baracken außerhalb des RakdosEinflussgebiets zu bauen. Als dann nach und nach auch immer mehr Missbil dungen verschwunden waren, hatten sich die Schwestern an ihren Jagdanführer gewandt. Falls sich das Ding als essbar erwies, sollte es ins Schlachthaus gebracht wer den. Falls nicht, sollte Savra versuchen, es wiederzubele ben. Jarad war sich sicher, dass sie das gern tun würde. Wenn man der Geschichtsschreibung glauben durfte, war einer Matka so etwas in längst vergangenen Zeiten schon einmal gelungen. Die derzeitige Matka hatte schon seit langem das Bedürfnis, sich in die Reihe der legendären Totenbeschwörer einzureihen und ihre Taten in den Matka-Schriftrollen verewigt zu sehen. Jarad hoffte, dass der Leviathan tatsächlich essbar war. Untote waren nicht selten nützlich, was auch der belebte Körper des Zentauren gleich beweisen würde. Aber eine Kreatur, die vor ihrem Tod um ihr Leben gekämpft hatte, verdiente das Geschenk eines würdigen Ablebens, fand er. Jeder, der nicht kämpfte, um zu überleben, verdiente 160
nur einen verderblichen Tod. Wenn Jarads Zeit kam, wollte er kämpfend sterben. Der Leviathan würde auch kämpfen, da war sich Jarad sicher. Andererseits waren Köder nun einmal nichts anderes als Köder. Das Leben des Zentauren war eh so gut wie zu Ende gewesen. Jetzt diente er wenigstens noch einem guten Zweck. Der Zombie hätte sich bei ihm bedanken sollen. Jarad beobachtete, wie sein leise stöhnender Köder drei Stockwerke unter dem Ende des Rohres auftauchte. Trasz und Zurno schlüpften still wie Geister auf der anderen Seite in die Höhle und nahmen im Schat ten ihre Position ein. Die Zwillinge drückten sich an die Wand und flankierten den enormen Ring kräftiger Tenta kel rund um das Maul des Wesens. Nachdem seine Helfer nun ihre Plätze eingenommen hatten, verließ Jarad sei nen Aussichtspunkt und kletterte ein Stockwerk weiter nach unten. Er suchte sich einen Weg um den Unrat herum, bis er direkt über dem kolossalen Schneckenkör per stand. Der Leviathan rührte sich. Er entdeckte die Zwillinge, aber sein Netzwerk aus Neuronen konnte nicht heraus finden, wie es kam, dass sich eine Kreatur gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten befand. Für eine primitive Nase hatten die beiden Brüder sozusagen den identischen Geruch. Und außerdem war da ein stärkerer, schärferer Essensgeruch direkt vor ihm – etwas mit vier Beinen. Jetzt war der schwierige Teil dran, die Unwägbarkeit des Plans, das, was die Devkarin-Jäger nicht vollständig kontrollieren konnten. Würde der riesige Tentakelwurm 161
in der Lage sein, den noch halbwegs frischen Geruch des Todes am Zentaur auszumachen? Würde er das tun, was seine überbordenden Instinkte von ihm forderten? Jarad wäre jede Wette eingegangen, dass der Leviathan mit seinem einfach gestrickten Hirn nicht in der Lage war, sich den Instinkten entgegenzustellen. Er lag damit richtig. Der Zombie taumelte unbeirrt weiter in die Tentakel des Leviathans, die zu einer sich krümmenden Masse wurden. Innerhalb von Sekunden war der Köder kom plett eingewickelt und verschwand im höhlenartigen Maul des Monsters. Nachdem der Appetithappen verschlungen war, kehrte die Riesenschnecke zum Rätsel der Zwillinge Trasz und Zurno zurück, aber ihre Verwirrung dauerte nicht lange an. Der Leviathan begann, sich zu biegen und zu ver krampften. Seine Haut begann zu zucken wie ein Dro mad, das Fliegen verscheuchen wollte. Er brüllte vor Verwirrung und schlug mit seinen Tentakeln wie wild um sich. Der Köder hatte sich in eine Giftpille verwandelt. Ein lebendes Opfer, das von einem Golgari-Zombie ge bissen wurde, starb schnell an nekrobiotischer Infektion und wurde zu einem Todesgänger, einem komplett hirnlosen Zombie, der nicht der Magie der Matka und ihrer Jägerinnen unterworfen war. Die meisten Zombies, die in Alt-Ravnica lebten und arbeiteten, waren von den Devkarin erzeugt worden, aber Todesgänger lauerten überall, wo sich Schattenwesen trafen. Bissinfektion war eine viel einfachere Methode, um einen Zombie zu erzeu 162
gen, als die von Savra und ihren Jägerinnen und hinter ließ einen Zombie, der viel schwerer von den Devkarin zu kontrollieren war. Auf der anderen Seite erging es einem Lebewesen, das einen Zombie verzehrte, auch nicht sonderlich gut. Untotes Fleisch war für die meisten Lebewesen sogar tödlich. Jeder halbwegs intelligente Fleischfresser wusste, dass man von Zombies lieber Abstand nahm. Der Zentaur war allerdings noch so gut wie frisch gewesen, und die geistig beschränkte Schnecke war es gewohnt, alles zu fressen, was ihr in die Quere kam. Jarad durchfuhr kurz fristig eine mitfühlende Übelkeit, als nun Wellen menta ler Schmerzen von dem uralten Wesen ausstrahlten. Er wartete noch zehn Sekunden, in denen sich der Le viathan in seiner Höhle zusammenkrümmte. Er sah, wie Trasz und Zurno den um sich schlagenden Tentakeln auswichen, während sie die einsturzgefährdeten Mauern hochkletterten, um dort auf sein Signal zu warten. Er schaute nach oben und entdeckte die Jägerinnen mit Armbrust im Anschlag auf ihren RiesenfledermausReittieren. Sie nickten gleichzeitig. Das giftige Zombiefleisch hatte den Leviathan ge schwächt, aber damit war er noch lange nicht erlegt. Jarad sprang von seinem Sitzplatz hoch. Er zog im Sprung seinen langen, säbelartigen Kindjal und drehte sich dabei so, dass beim Zuschlagen sein ganzer Schwung in die Klinge floss. Der Kindjal bohrte sich tief in die dicke, schwarze Haut des Monsters. Verfault riechendes, dun kelrotes Blut schoss aus der Wunde. Die dickflüssige 163
Masse warf Blasen und spritzte auf Jarads Arme. Der Devkarin-Jäger befreite seine Waffe und bewegte sich dann mühelos über den sich krümmenden Rücken der Schnecke. Immer wieder rammte er den Kindjal in das primitive Rückgrat des Monsters. Mit seinen Hieben zog er eine tiefe Furche in den gezackten Rücken des Tieres und zerstörte Teile von dessen Nervennetzwerk. Die Todesschreie des Leviathans waren so laut, dass Jarad nichts mehr hören konnte. Er sah Stahl aufblitzen und Blut spritzen: Einer der Zwillinge trennte gerade einen der Tentakel ab. Sobald die drei Jäger ihre Position eingenommen hat ten, erhoben sich die Reittiere der Jägerinnen in die Luft und kreisten wie Geier, um das Feuer von oben zu eröff nen. Genau gezielte Salven von Bolzen, die in Gift ge taucht worden waren, nagelten die Tentakel an den Boden und lähmten sie sofort. Andere Geschosse zerlö cherten die Haut des Leviathans und bohrten sich tief ins Fleisch. Nach und nach erlahmte die Gegenwehr des Monsters, und seine Klagelaute wurden immer mitleider regender. Währenddessen hackte Jarad weiterhin auf dem Rücken des Monsters herum und schnitt Stück für Stück heraus, während er mit den Stiefeln bereits tief im grünlichen Tran stand. Noch ein paar Hiebe, und der Elf war endlich am Ziel. Mit einer Hand schob Jarad sehnige Klumpen Schneckenmasse beiseite, um einen dicken, blau-schwarzen Nervenstrang freizulegen, der so dick wie sein eigener Oberkörper war: das Rückenmark des Levia thans. 164
»Du hast einen guten Kampf abgeliefert, alter Bursche«, sagte er, »aber du solltest mal überlegen, dir ein Gehirn zuzulegen.« Der bleiche Elf hob sein bluttriefendes Schwert über den Kopf und schlug mit aller erdenklichen Kraft zu. Die Klinge fuhr glatt durch das Zentrum des Nervensystems des Monsters. Schwarze Flüssigkeit sprit ze heraus und überschüttete den Elfen. Der Leviathan zuckte und bäumte sich noch ein letztes Mal in aller Wildheit auf. Muskeln, die primitive Atmungsorgane gesteuert hatten, verkrampften sich, und auch die noch übrigen Tentakel hörten mit dem Umsichschlagen auf und fielen auf den blutgetränkten Boden. Die Reittiere der Jägerinnen hatten sich schon neben abgetrennten Tentakeln niedergelassen und ließen es sich gut gehen. »Keine Schlemmerei!«, sagte Jarad zu den Jägerinnen. »Aufhören!« Er sprang vom Rücken des Levia thans, landete zwischen den beiden Riesenfledermäusen und schob ihre blutigen Schnauzen von dem frischen Fleisch weg. »Aufhören!«, sagte er noch einmal und schaute beiden tief in die Augen. »Sofort!« Die Jägerinnen führten ihre Reittiere fort. Jarad rief die Zwillinge zu sich herüber und beauftragte sie, das Schlachten des Tieres vorzubereiten. Die Brüder machten sich sofort auf den Weg ins Hauptquartier, um die Flei scher herzubringen. Der Jagdanführer hatte unterdessen Zeit, in aller Ruhe die erlegte Kreatur zu begutachten. Solche Bestien waren selten. Und zudem eine zu finden, die so lange unentdeckt direkt vor ihrer Nase geschlafen hatte, war schon eine einzigartige Überraschung. 165
Der Körper der riesigen Schnecke bedeckte den größ ten Teil des Bodens in diesem zusammengefallenen Gebäude. Hier und da stiegen ein paar kleine Staubwol ken auf. Kieselgroße Trümmerstücke lösten sich bei den letzten Zuckungen des Tieres. Noch ein letztes Mal durch fuhr die elektrische Entladung der Nervenstränge das Wesen. Das war die beste Tötung seit einem Jahrzehnt – mindestens. »Kehrt zu eurer Meisterin zurück«, sagte Jarad über die Schulter zu den Jägerinnen. »Die Fleischer werden bald hier sein. Ihr werdet nicht länger gebraucht.« »Du bist dir wirklich sicher, dass du dieses Opfer er schlagen hast?«, sagte Elga, die größere der beiden Jäge rinnen. Es war weniger eine Frage als eine Drohung. »Falls du versagt hast, müssen wir sie herbringen.« »Das Viech bewegt sich nämlich noch«, meldete sich Dainya zu Wort, als ob Jarad ein dummes Kind war. Ein solches Benehmen war er von Angehörigen der Priester kaste aber mehr als gewohnt. Jarad konnte bei der Jägerin auch einen Anflug von Angst entdecken, als diese nun den Schneckenkörper des Leviathans betrachtete. »Es … zuckt.« »Es ist tot«, sagte eine vertraute autoritäre Stimme aus dem Schatten über ihnen. Savra glitt auf einer großen Fledermaus heran, die bei der Landung eine große Staub wolke aufwirbelte. Die Matka stieg ab. »Vertraut mir, meine Jägerinnen.« Jarad beantwortete Savras typischen befehlshaberi schen Blick mit einem verkniffenen Lächeln. Trotz ihres 166
Rangs – nur die Schwestern standen über ihr – trug sie einfache Lederkleidung, die von raffiniertem Schmuck und Totemgegenständen zusammengehalten wurde. In diesem Stil war auch ihr Stab gehalten, der aus einem verschlungenen Netz aus winzigen Tierschädeln, Vogelfedern und den sich langsam bewegenden, rankenartigen Nekrogeißeln bestand. »Was willst du, Matka?«, fragte er gerade heraus. »Jedenfalls will ich dir nicht den Spaß verderben«, sagte Savra. »Ich nehme an, dass du hier fertig bist, oder?« »Wie du gesagt hast: Die Bestie ist tot«, antwortete Jarad. »Sie ist jetzt Fleisch, und die Fleischer sind bereits hierher unterwegs. Du hast meine Frage nicht beantwor tet.« »Dass du es immer so eilig haben musst«, sagte die Matka und maunzte wie eine selbstzufriedene Katze. Sie trat zu ihm hin und fuhr mit dem Zeigefinger über die lange Narbe, die sich links an seinem Kinn entlangzog. »Du verstehst gar keinen Spaß mehr.« »Ich habe noch nie Spaß verstanden«, sagte Jarad. »Und du spielst mit meiner Geduld, Schwesterchen.« Savra lächelte und fasste sein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. Jarad zuckte nicht zurück und ließ sie gewähren. Sie beugte sich zu ihm hinüber, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Ihr warmer Atem sorgte dafür, dass sich seine Nackenhärchen aufrichteten. »Ich habe eine Aufgabe für dich«, flüsterte sie. »Ich glaube, dass sie dir Spaß machen wird. Bestimmt noch mehr Spaß als das Töten einer Riesenschnecke.« 167
Als die Matka ihm nun erklärte, was sie von ihm woll te, musste er zugeben, dass sie mit ihrer Einschätzung richtig lag.
168
Kapitel 7
H
Was ist das am schlechtesten gehütete Geheimnis von Ravnica? Seit dem Aufstand der Rakdos gibt es nicht genü gend Wojeks, um ausreichend Polizeikräfte über die ganze Stadt verteilt zu haben. Alt-Ravnica wurde bereits aufgege ben. Wie lange wird es noch dauern, bis das »Wachsame Auge« nur noch die Augen übrig hat, um im Zentrum der Stadt zu patrouillieren? Falls der Bund es nicht schafft, eine entsprechende Rekrutierungskampagne auf die Beine zu stellen, steht zu befürchten, dass Ravnica seine Zehntau sendjahresfeiern nicht überleben wird. Leitartikel in Ravnicas Gildenbund-Zeitung (9. Prahz 9995 Z. C.)
24. ZuuN 9999 Z. C., mittags Wenvel war stark angetrunken und hatte sich verlaufen, verlor aber nach und nach die Lust, sich um einen dieser Umstände noch Gedanken zu machen. In einer feuchten und stinkenden Seitengasse lehnte er sich gegen die Wand hinter einer Taverne, aus der Lärm schallte. Es war die erste Kneipe gewesen, die er gefunden hatte, als er aus der Wojek-Bundeshalle herausgekommen war. Wen 169
vel war sich sicher, dass ihm jemand auf den Kopf gehauen hatte. Oder er war mit dem Kopf irgendwo dagegengestoßen. Jedenfalls fühlte er sich niedergeschla gen und wie benommen. Er konnte es nicht recht glau ben, dass seine Yertrude wirklich tot sein sollte. Die Erleichterung, die er verspürt hatte, als ihre spektrale Gestalt zerstört worden war, kam nun in doppeltem Maß als Schuldgefühl zurück und trieb ihn schier in den Wahnsinn. Seine Geldbörse war fast leer, und seine Gewänder sahen schwer mitgenommen aus: Der ver schüttete Alkohol unterschiedlichster Mischung hatte deutliche Flecken hinterlassen. Wenvel Kolkin hatte in etwas weniger als zwei Stunden mehr Bumbat getrunken als in seinem ganzen Leben zuvor. Er war am Grübeln, sehr hart am Grübeln sogar. Er hasste sich dafür, dass er seine Frau überhaupt mit hierher gebracht hatte. Er hasste sich dafür, geizig gewe sen zu sein. Wenn er bloß für die Behandlungen gezahlt hätte, wären sie nie in die Stadt gekommen, und Yertrude wäre immer noch am Leben. Er hasste sich, weil er erleichtert war, und das nicht nur, weil Yertrudes Geist ihn hatte töten wollen. Die letzten Jahre von Yertrudes Krankheit waren schwer gewesen, um es vorsichtig auszudrücken. »Verdammt«, fluchte Wenvel. Er rutschte mit dem Rük ken die Steinmauer hinunter, bis er auf dem Boden saß. »Der ganze Ort hier stinkt. Stinkt zum Himmel, stinkt, stinkt, stinkt.« Er kippte sich den Rest aus der BumbatFlasche in die Kehle und warf sie dann gegen die Stein 170
mauer, wo sie zerbrach. Weil das nicht dazu führte, dass er sich danach besser fühlte, beklagte er sich auch dar über. Wenvel war immer noch dabei, sich in die Leere der Nacht hinein über die Gesundheitsrisiken in Ravnicas Seitengassen und die Mordrisiken in Ravnicas Theatern zu beschweren, als ihm etwas, dessen Nahen er nicht bemerkt hatte, die Kehle herausriss.
K
Die Eigentümlichkeiten der Statuten Ravnicas hinsichtlich Mordes hatten Kos zu einem Experten werden lassen, versuchten Totschlag zu stoppen, bevor er zu Mord wurde. Im Moment versuchte er etwas Ähnliches, aller dings in einem deutlich einfacheren und weniger tödli chen Kontext. »Ich hätte es dich gar nicht erst probieren lassen sol len«, flüsterte Kos. »Wenn du das Kind kennst, warum hast du dann nichts gesagt?«, antwortete Borca ebenso leise. »Ich wusste ja nicht, das du sie erschrecken würdest«, sagte Kos. »Borca, falls der Bund nicht eine plötzliche Rekrutierungskampagne startet, wirst du diese Streife bald allein gehen müssen. Du musst herausfinden, wie du mit solchen Angelegenheiten am besten umgehst. Ich gebe dir einen kleinen Hinweis. Vermeide es, kleine Kinder zum Weinen zu bringen.« »Ich hab doch gar nicht vorgehabt … He, schau mal, du 171
Kinderfreund und Katzenbeschützer«, sagte Borca wie zur Verteidigung. »Kind oder nicht, sie hat jemand anderem Eigentum entwendet.« »Schau einfach zu und lerne, in Ordnung? Ausbildung, Borca. Hat was mit Bildung zu tun.« »Jawoll, Chef«, murmelte Borca kleinlaut. Das Kind, das vor ihnen stand, beschützte tapfer die kleine Frucht, die es umklammert hielt. Der Name des Mädchens lautete Luda. Sie war eine der Waisen, die bei Fräulein Molliya wohnten. Kos erkannte sie von einem seiner gelegentlichen Besuche dort wieder. Wenn er dort war, hinterließ er immer eine Spende. Manchmal war er auch in der Lage, »Geschenke« von Leuten abzuliefern, die bei einem Verstoß gegen Handelsgesetze erwischt worden waren. Einmal waren es kistenweise Früchte gewesen, die mit einem Starre-Zauber dauerhaft frisch gehalten worden waren, ein anderes Mal Heilkräuter und magische Medizin, und in einem ganz seltsamen Fall sogar achtundzwanzig seidene Nachthemden, von denen jedes groß genug war, um ein halbes Dutzend Waisenkin der darin einzuwickeln. Allerdings hatte er, bevor Fräu lein Molliya daraus neue Kleider schneiderte, vom Nekro labor untersuchen lassen, ob der Stoff auch in Ordnung war. Die sichergestellte Ware stammte in diesem Fall nämlich von einem Loxodon-Schneider, der unter dem Verdacht stand, Gift auf die Spitzen der Nähnadeln seines Konkurrenten geträufelt zu haben. »Luda«, sagte Kos. »Erkennst du mich? Ich bin Kos, ein Freund von Fräulein Molliya.« 172
»Glaub schon«, sagte Luda leise und zögernd. Sie schaute dabei nicht hoch. »Kann ich dich was fragen? Wo hast du denn das Obst her?« Luda antwortete nicht mit Worten, sondern hielt den Kopf weiterhin über die Frucht gesenkt und zeigte nur kurz in die Richtung, die Kos erwartet hatte – zu einem Geschäft, vor dem sich die Auslagen nur so auftürmten. Dort war auch eine Lücke in der sorgfältig aufgestapelten Pyramide aus Melonen. Die Frucht, die sich Luda ge schnappt hatte, passte genau dorthin. Das Mädchen erstarrte, als Kos sich nun bückte, um auf Augenhöhe mit ihr zu sein. Mit ein wenig Schmeiche lei brachte er Luda dazu, ihr tränenverschmiertes Gesicht zu heben, aber sie hielt die Frucht weiterhin wie eine Mutter, die ihr Kind beschützte. Das Mädchen hatte wie so viele andere Leute, die sich auf den untersten Stufen von Ravnicas sozialer Leiter bewegten, keine Gilde, die es beschützen würde. Sie war der Spreu der Gesellschaft. Sie hatte nur Leute wie Fräulein Molliya und Kos. Sonst konnte sie sich nur auf ihre eigenen Überlebenskünste verlassen. Falls Kos es schaffen würde, etwas mehr Mitgefühl in Borcas Herz unterzubringen, hätte sie in Zukunft vielleicht noch einen weiteren Freund und Helfer. Molliya behandelte ihre Schützlinge nicht wie Gefan gene, weshalb es nicht ungewöhnlich war, das Mädchen so weit vom Waisenhaus entfernt zu sehen. Allerdings erlaubte es die alte Leiterin eher selten, dass Kinder unter 173
zwölf allein auf die Straße gingen. Luda – gerade erst einmal fünf Jahre alt – war ihr wohl unter der Nase herausgeschlüpft. Kos machte sich im Geist eine Notiz, Molliya einen Hinweis zu geben, dass das Kind offenbar gern herumstreunte, wenn er das richtig sah. Borca hatte in einer Beziehung Recht – Kos durfte den Diebstahl nicht ignorieren, selbst wenn die »Kriminelle« nur ein Kind und die Beute nur ein Happen im Wert eines halben Zibs war und es sich hier eigentlich um Mundraub handelte. Die Orzhov waren die Gilde des Handels, und den Laden zierte nun einmal das Wappen der Orzhov. Das Orzhov-Syndikat hatte seine Finger nicht nur im Groß- und Einzelhandel, im Banken- und im Transport wesen, sondern beschäftigte auch einen riesigen Haufen Rechtsanwälte. Fast jeder Jurist, der nicht mit dem Azori us-Senat verbunden war, hatte sich dem Syndikat ange schlossen. Diese Anwälte waren dafür berüchtigt, selbst der kleinsten Bedrohung der unbedeutendsten ihrer Interessen nachzugehen. Solange man seine Schutzgelder bezahlte, sorgte die Orzhov-Gilde dafür, dass man sicher war – besonders vor Gericht. Die Gildenlosen konnten Essen von den Volksküchen der Golgari bekommen, wenn sie wollten. Allein auf Kos’ täglicher Route lebten tausende von dem Zeug. Er konnte es dem Kind nicht verdenken, etwas Besseres als das geschmacklose, zähe Essen haben zu wollen, das die Gilde der Rückgewinnung aufgrund der Statuten des Gildenpakts zur Verfügung stellte. Das Mädchen hatte Glück, dass Kos schon vor langer Zeit ein einfaches 174
Schlupfloch gefunden hatte, das er in solchen Situationen oft anwendete. »Luda, niemand wird dir wehtun«, sagte er. »Aber weißt du – du bist nicht die Einzige, die traurig ist.« Das Mädchen blieb weiterhin still, wenn man davon absah, dass sie regelmäßig die Nase hochzog. Sie zog sich vorsichtig einen Schritt von Kos und Borca zurück. Ihr fielen die rabenschwarzen Löckchen über das dreckver schmutzte Gesicht, wobei diese aber nicht ihre hellen intelligenten Augen verbergen konnten, die ein weitaus höheres Alter als fünf Jahre vermuten ließen. Als klar wurde, dass Luda nichts sagen würde, fuhr Kos fort. »Herr Tupine ist auch traurig«, sagte Kos. »Herr Tupine hat eine große Familie.« Er grinste und zwinkerte dem Mädchen zu. »Nicht groß wie in lang, sondern groß wie in viel.« Das Mädchen schaute Kos weiter in die Augen. Ihre grünen Iris funkelten. Schließlich sagte sie in einer leisen, piepsigen Stimme: »Tupine ist klein!« Ihr Schmollgesicht löste sich langsam zu einem Grinsen auf. Kos Lächeln wurde breiter. »Das stimmt genau!« »Du bist lustig, Koss«, sagte sie. Sie lachte nicht, aber das Grinsen blieb bestehen. Wenn du das lustig findest, Mädchen, solltest du dir mal einen Orzhov-Rechtsverdreher anschauen, der ein fünfjähriges Kind, das eine Melone geklaut hat, wegen Behinderung des Handels vor Gericht zerrt, dachte Kos. Er behielt seine Taktik bei. »Ja, ziemlich lustig, nicht wahr? Aber Herr Tupine lacht nicht.« 175
»Wo sind überhaupt deine Eltern, Luda?«, mischte sich Borca ein. Kos warf ihm einen Blick zu, der auch hätte töten können. »Was ist?«, sagte der dicke Wojek. »Ich versuche doch nur zu helfen … Oh, Waisenhaus. Ka piert.« Luda hatte sich sofort wieder zurückgezogen und ihr Schmollgesicht aufgesetzt. »Lass mich das machen, Borca. In Ordnung?« Kos lächelte das Mädchen weiter an. »Hör mir mal zu, Luda. Ich werde dir helfen, damit du die Frucht ehrlich behalten darfst. Dann gehen wir zurück zu Fräulein Molliya. In Ordnung?« Er legte dem Mädchen sanft eine Hand auf die Schulter. Luda nickte. »Aber du musst mir vorher einen Gefallen tun. Du musst mit mir zurück zu Herrn Tupines Laden gehen.« »Nein«, sagte das Mädchen. Sie zog sich von Kos zurück und umklammerte die Frucht. »Das gehört mir.« »Ja, es wird dir gehören«, sagte Kos. »Aber wir müssen es vorher erst kaufen. Du darfst in Ravnica nichts stehlen. Aber wenn du Freunde hast, können die dir manchmal helfen, Sachen zu kaufen. Und andere Freunde werden dir Sachen einfach so geben. Es gibt Leute, die werden Golgari genannt, und sie geben dir etwas zu essen, wenn du danach fragst. Und sie haben ganz viel davon.« »Garglis sind von niemand die Freunde«, sagte das Kind, das immer noch wie wild schmollte. »Ich habe keine Freunde.« »Du hast zum Beispiel mich und Borca hier, nur so als Anfang«, sagte Kos. »Du bist ziemlich klug, Luda. Die Golgari sind nicht deine Freunde. Da hast du Recht. Und 176
du solltest nie im Leben, gar nie, niemals dort nach unten gehen, wo sie leben, denn da kann man ganz schön Angst bekommen. Aber so ist das nun mal auf der Welt, Luda. Sie sind zwar keine netten Leute, aber sie tun ihre Pflicht. Und wenn du groß bist, wirst auch du deinen Teil beitra gen.« »Ich nicht«, sagte sie. »Ich werde nie ein Gargli sein.« »Das musst du auch nicht«, sagte Kos und lächelte. Das Mädchen hatte mit dem Weinen aufgehört. »Du kannst alles werden, was du willst. Du hast Glück. Noch hast du keine Gilde, die dir sagt, was du zu tun und zu lassen hast. Aber eines Tages wirst du vielleicht einer beitreten, und dann wirst auch du deine Pflicht auf deine Weise tun.« Sie hob eine Hand und legte sie auf den Stern an Kos’ Brust. Mit dem anderen Arm umklammerte sie immer noch ihre Beute, aber ihr Widerstand schien langsam zu brechen. »Ich werde ein ‘Jek sein«, sagte sie mit einer Sicherheit, wie sie nur ein Kind aufbringen konnte. »Da gehe ich jede Wette ein«, sagte Kos. Er meinte das auch so. Nicht wenige Waisen verloren ihren Status als Gildenlose, indem sie sich bei einer der WojekAnwerbungsstellen einschrieben. Kos war das damals nicht anders ergangen. »Darum musst du auch mit mir zu Herrn Tupine kommen, Luda. Das ist nämlich dein erster Fall.« »Das ist doch dumm, Koss«, sagte Luda. »Ich bin doch jetzt noch gar kein ‘Jek.« Kos klopfte seine Taschen und den Gürtel ab. Da muss 177
te doch irgendwo irgendetwas sein. Er berührte den Griff seines Pendreks, was ihn daran erinnerte, dass er die kleine Mana-Batterie, die gerade mal die Größe einer Olive besaß, immer noch nicht aufgeladen hatte. Den letzten Rest der Energie hatte er am Morgen in den Wundensucher hineingepumpt. Er pulte den Klumpen ausgebrannter, kristallisierter magi scher Energie aus der Waffe und streckte ihn Luda hin. »Man kann nie früh genug damit anfangen. Ich werde dich für heute einfach zu meinem Hilfspolizisten beför dern.« Das Mädchen streckte die freie Hand aus und schnapp te sich den Edelstein mit der Geschwindigkeit einer zustoßenden Viper von Kos’ Handfläche. Sie drehte den Stein mit ihren dünnen Fingern hin und her und ließ ihn im Sonnenlicht glitzern. Schließlich hob sie ihre großen Augen und nickte ernst. »Ja, Chef, Leutan Koss«, flüsterte sie. Dann war der Stein auch schon in einer von Ludas vielen Taschen verschwunden. Kos hörte, wie Borca ein paar Worte vor sich hin brummte, die das Kind hoffent lich nicht verstand, und gab dem dicken Wojek einen Tritt gegen das Schienbein. Borca ächzte kurz auf, hielt dann aber seinen Mund. Ohne aufzustehen, hielt Kos ihm eine Hand hin. »Wachtmeister, wärst du bitte so nett, mir ein paar Zibs zu leihen? Ich habe heute Morgen mein ganzes Kleingeld ausgegeben.« Borca kramte murrend eine kleine Silbermünze hervor, die ein Hundertstel eines Zidos wert war, und drückte sie 178
Kos in die Hand. Kos räusperte sich. »Ähem, ich habe von ein paar Zibs gesprochen, Borca.« Borca ließ noch weitere Münzen in Kos Hand fallen, bis der Leutnant etwa ein Dutzend Münzen hatte. Kos streck te sie Luda hin, und das Kind schnappte sie sich noch begieriger als die kristallisierte Batterie. Geflissentlich steckte sie dann jeden Zib in eine andere ihrer vielen Taschen. »Heb einen für Herrn Tupine auf, sagte Kos. »Mit einer von diesen Münzen kannst du zwei Stück Obst kaufen. Oder du bezahlst damit die eine Frucht, die du dir schon genommen hast, und hebst den Rest für etwas anderes auf. Was meinst du, hm?« Das Mädchen überlegte kurz und schloss dann die Faust um die letzte Münze, ohne sie einzustecken. Sie holte die unreife Melone hervor. »In Ordnung«, sagte sie. »Gut gemacht, Hilfspolizistin«, sagte Kos. »Jetzt gehen wir rüber, um die Melone zu bezahlen, und dann bringen wir dich zurück zu Fräulein Molliya. Wir wollen ja nicht, dass sie sich Sorgen macht. In Ordnung?« »Ja, Chef«, sagte Luda und stand so gerade, wie eine Fünfjährige nur stehen konnte. »Ja, Chef«, sagte Borca, der die Nachhut bildete, als sich die drei ihren Weg durch die Menge zu Tupines Fruchtbörse bahnten. »Auf der Stelle, Chef.«
K
179
Der erste Zwischenfall des Tages, den Kos Borca für die Akten notieren ließ, hatte ein ähnliches Motiv wie der Melonenraub, aber ein viel zufriedenstellenderes Ende, jedenfalls aus Borcas Sicht. Sie hatten das Waisenhaus gerade verlassen und bei Tupine noch einmal Halt gemacht, um sicherzustellen, dass dieser auch wirklich keinen nachtragenden Groll wegen der Melone hegte, was auch nicht der Fall war. Gerade als Tupine ihnen versprach, dass das kleine Mädchen immer ein Stück Obst bekommen würde, wenn es gern eines haben wollte, stürmten zwei stämmig aussehende Männer in zerrissenen Gewändern in den Laden. Die Gesichter waren unter schwarzen Kapuzen versteckt. Einer hielt einen rostigen Schmiedehammer in der einen Hand, mit der anderen trug er eine Leinenta sche. Der andere Eindringling zückte eine kleine Arm brust, die so aussah, als wäre sie schon mehrfach von Laien repariert worden. Trotzdem wirkte der Bolzen, der eingespannt war, scharf genug, um jemand töten oder zumindest verkrüppeln zu können, falls der Mann nahe genug an seinem Ziel abdrückte. »Aufgepasst«, schrie derjenige mit der Armbrust. »Das hier ist ein Raubüberfall! Du da hinter der Theke, du leerst alle Münzen aus dem Geldschrank hier in diesen …« »He, Vyrn«, unterbrach ihn der mit dem rostigen Ham mer. »Das da drüben, sind das nicht Wojeks?« »O Scheiße«, fluchte der Bewaffnete. Borca landete den ersten Schlag, einen festen Hieb mit 180
seinem Pendrek, der ein Geräusch verursachte, als wären unter ihm Knochen gebrochen. Der vermummte Räuber ließ den Hammer fallen, heulte vor Schmerz auf und fasste nach seinem zertrümmerten Handgelenk. Nach diesem Schlag war für den Mann der Kampf bereits beendet. Ohne lange zu fackeln, legte Borca dem Mann nun silberne Handschellen an. Mit einem lauten Knacken schnappten die leuchtenden Fesseln ein. Erst wenn ein Wojek anordnete, den Zauberspruch aufzuheben, würden sie sich wieder öffnen. Kos übernahm den Armbrustträger. Borcas Vorgehen konnte er nicht anwenden, ohne zu riskieren, dass die Waffe ausgelöst wurde. Wenn er vermeiden wollte, dass der Bolzen wie wild durch Tupines Laden flog, dann musste er sich etwas anderes ausdenken. Aus den Au genwinkeln sah Kos einen Stapel mit kleinen Mehlsäk ken. Das könnte klappen, dachte er. Während er den nervösen Räuber im Auge behielt, griff er unauffällig nach unten und schnappte sich einen der Säcke. Er schleuderte ihn auf den Waffenarm des Gegners, aber bevor der Sack die Armbrust traf, feuerte der Mann. Der Bolzen traf den Mehlsack, was eine kleine weiße Mehl wolke erzeugte, hatte aber nicht genügend Schwung, um den Sack aufzuhalten. Der Mehlsack traf den Räuber an der Brust und warf ihn um. Passenderweise platzte er auf, als der Mann zu Boden fiel, und hüllte ihn von Kopf bis Fuß mit dem weißen Mehl ein. Aber nicht nur ihn. »Nicht schlecht, Leutnant«, sagte Borca, als die Wachen kamen, um die Kriminellen abzuführen. Es waren ver 181
zweifelte Spieler gewesen, die einem Orzhov-Kasino besitzer im Siebten Distrikt Geld schuldeten. »Aber muss test du unbedingt Mehl verwenden?« »Das geht schon wieder ab«, sagte Kos. »Hör auf, dich zu beschweren, wo wir doch gerade böse Jungs dingfest gemacht haben.« »Es macht mir nichts aus, wie ein Clown auszusehen, aber es ist das … das … Haaaatschi!« »Oh, tut mir Leid.«
K
Der Steinbruch war eine offene Grube am Ende der Gozerul-Straße. In den Tagen, als sich die Rakdos und die Graul noch atemberaubende Schlachten mit mehreren hundert Teilnehmern geliefert hatten, nur um ein blut rünstiges Publikum zu unterhalten, hatte sich dort ein großes Gladiatorenstadion befunden. In der letzten Schlacht, die dort ausgefochten worden war, hatte ir gendeine der beiden Seiten eine jener ersten ManaBomben dabeigehabt, die die Izzet um 7100 entwickelt hatten. Die Explosion hatte sowohl die Streitkräfte der Gruul als auch die der Rakdos ausradiert, dazu jeden einzelnen Zuschauer und einige Straßen weit sämtliche Türme. Die Sprengung hatte eine bizarre Besonderheit in der Stadt der Gilden erzeugt – einen fast natürlichen offenen Steinbruch, der in diesem steinigen Ödland einem großen Tal glich. Dieser Ort regte die uralten Erinnerungen und 182
wilden Herzen der Ogerstämme an. Sie hatten ihn zu einer heiligen Stätte erklärt, die die Götter für sie in dieser sonst so verstädterten Welt geschaffen hätten. In noch nicht mal hundert Jahren war dort das größte Ogerdorf von ganz Ravnica entstanden. Die Steine und Beton trümmer waren benutzt worden, um wackelige Türme und höhlenartige Hallen zu bauen. Man kannte diese Art Gebäude aus Zeiten, als die Welt noch nicht eine einzige riesige Stadt gewesen war. Kos stand am Rand des Steinbruchs und schaute nach unten auf die Stelle, wo der Tunnel im Boden des Oger gebiets zur Unterstadt der Golgari führte. Die Überwege waren eher eine bedenkliche Sache, aber Kos war nur drei Ecken vom Steinbruch entfernt aufgewachsen, weshalb dieser bei ihm keine Höhenangst auslöste. »Warum sieht Wojek aus wie Clown?«, fragte der Oger. »Sieht aus wie Puderzucker. Ist Kuchen explodiert?« »Das keine … Ich wollte sagen, das ist keine Antwort. Kümmre dich nicht darum, wie ich aussehe«, sagte Borca. »Wir wollen nur wissen, was Sie gesehen haben, Herr …« »Nyausz«, sagte der Oger. »Warum ich soll Wojek ir gendwas erzählen?« »Vielleicht weil wir fragen?«, sagte Borca. »Genau, und du könntest es auch deshalb tun, weil mein Dienstkamerad hier … Naja, es ist sein erster Tag«, fügte Kos hinzu und grinste Borca an, der mit seinem weiß bemehlten Gesicht einen finsteren Ausdruck auf setzte. Das Mehl hatte sich als unheimlich anhänglich erwiesen. »Wir haben ihn erst gestern aus dem aktuellen 183
Transmogerisierungsprogramm bekommen.« »Was?«, sagte Nyausz. »Was?«, sagte auch Borca. »Tja, Nyausz, mein Freund Borca hier … Vor ein paar Monaten sollte er noch gehängt werden, weil er Dromads gestohlen hatte. Dromads für seine Familie. Sie lebten in …« Denk jetzt gut nach, Kos! Er ging nur ungern in den Steinbruch hinunter, wenn es nicht wirklich nötig war. »… Garsh-Block.« »Ähm, Kos …« »Nyausz hat Freunde im Garsh-Block«, sagte der Oger. Er wandte sich an Borca. »Du kennst Poitchak?« »Ja, sicher, ich …« »He, warte«, unterbrach ihn der Oger. »Ich nicht dumm. Du nicht Oger. Du kleines fettes Mann, gemästet zum Grillen.« »Genau das ist es, was ich dir erzählen wollte«, sagte Kos. »Kos?« »Borca, es ist alles in Ordnung«, sagte Kos. »Ich habe das Gefühl, dass wir Nyausz vertrauen können. Er hat ein ehrliches Gesicht. Und er passt gut auf. Er hat gemerkt, dass du wie ein Clown aussiehst, und er hat herausgefun den, dass du nicht wie ein Oger aussiehst. Darum dachte ich, dass es in Ordnung wäre, es ihm zu erzählen. Vielleicht sollten wir ihn einstellen.« »Du hast wahrscheinlich Recht«, sagte Borca. Nachdem er erkannt hatte, worauf Kos hinauswollte, spielte er nun seine Rolle. »Du bist klüger als die meisten Oger. Ich 184
glaube, darum kann ich dir mein Geheimnis verraten. Ich war früher ein …« »Willst du, dass lieber ich es erzähle?«, sagte Kos mit übertriebener Freundlichkeit. »Ja, das wäre vielleicht besser.« »Was denn?«, sagte Nyausz. »Nyausz, Borca war früher ein Oger.« Dem Oger sackte vor lauter Überraschung die Kinnlade hinunter, worauf ein ganzes Maul voll silbriger Zähne zu sehen war. Die Izzet stellten Implantate aus einem be sonderen Metall her, das in den meisten Fällen das Hirn in Mitleidenschaft zog, dem Träger aber ein tödliches Gebiss verlieh, das Stein und Knochen durchtrennen konnte. Kos hätte Mitleid mit dem Oger gehabt, hätte dieser sie nicht andauernd angelogen, seit sie zum Stein bruch gekommen waren. Er warf einen Blick auf den Oger, der ein wenig näher an Borca herangetreten war, um dessen Geruch zu identi fizieren. »Oger, hm?« »Ja«, sagte Borca. »Transmogerisierungszauber. Bin dann stecken geblieben. Musste zu Wojeks gehen, nur um zu überleben.« »He, du willst Nyausz auf Arm nehmen«, sagte der Oger. »Nein, es ist wirklich wahr. Du weißt doch, dass diese Abzeichen verzaubert sind, oder? Wir können nicht lügen«, log Kos. »Ich dachte, jeder wüsste das.« »Das bedeutet also«, sagte Borca, »dass du mir alles er zählen kannst. Es bleibt alles in unserem Stamm.« 185
Kos hätte Borca in den Steinbruch schubsen können.
Sein Kollege war wohl übermütig geworden. Es galt als Faustregel, dass man lieber keine Stämme erwähnte, wenn man einen Oger gerade erst getroffen hatte, und in diesem Fall war es eine besonders schlechte Idee. »Stamm? He, aus welchem Stamm bist du denn?«, frag te Nyausz. »Hm, welcher Stamm …« Borca warf einen panischen Blick zu Kos, der aber nur die Achseln zucken konnte. Borca war jetzt der »Oger« und musste seinen Kopf selbst aus der Schlinge ziehen. »Stamm … aus welchem Stamm bist denn du?« »Ich hab zuerst gefragt.« »Was gefragt?« »Ich gefragt …« »Aus welchem Stamm du bist?« »Ich? Ogshkz.« »Wie seltsam, ich auch!« »Wartet mal«, sagte Kos, der ein wenig beunruhigt war, dass Borca sich gerade um Kopf und Kragen reden könn te. »Oger reden, ‘Jek! Du Maul ruhig!«, blaffte Nyausz ihn an und wandte sich dann wieder Borca zu. Er gab ihm einen Klaps auf den Rücken, der den Wojek fast umge worfen hätte, wäre dessen Körperschwerpunkt nicht so weit unten gewesen. »Ich weiß, wer du. Du Munczacz! Du plötzlich weg als Nyausz noch Ogerkind. Mama erzählt Nyausz, du gegessen von Wurm, aber Nyausz nie aufge ben Hoffnung. Nyausz will singen!« Der riesige Humanoi 186
de hob Borca mit beiden Händen hoch in die Luft und schüttelte ihn vor Freude durch. »Hm? Munczacz? Muncz. Acz. Das du.« »Hm, das klingen – uff – bekannt«, sagte Borca. »Oh, ist das nicht ein Wunder?«, sagte Kos in gespielter Erstauntheit. »Nach all den Jahren wiedervereinigt. Ny ausz und Munczacz.« »Ich sagen Maul ruhig, Mensch!«, knurrte der Oger. Er setzte Borca ab und tätschelte ihm in einer bestürzend fürsorglichen Weise den Kopf. »Aha, du jetzt ‘Jek. Und Nyausz kann helfen? Nyausz will helfen. Was wissen wollen?« Borca stützte die Arme auf die Knie und nahm hustend ein paar tiefe Atemzüge. Dann reckte er sich, strich die Uniform glatt und warf Kos einen Blick zu, von dem Bumbat sauer werden konnte. Schließlich grinste er den Oger an. »Du hast meinen alten Freund gehört. Maul halten, mickriger ‘Jek.« Kos rollte mit den Augen. »In Ordnung, Nyausz«, sagte Borca. »Ich wollte zuerst über …« »Warum du reden so?« »Wie rede ich denn?« »Muncz reden wie Mensch. ›Ich bin Mensch. Hört alle? Ich so klug.‹ Bah! Stolz auf Herkunft sein müssen, Muncz!« Borca musste zur Seite treten, um einen weiteren Klaps auf den Rücken zu vermeiden. »Richtig«, sagte Borca. »Ich … äh, fragen wollen dich. Wer diese toten Oger da unten?« 187
Nach der halben Sekunde, die es dauerte, bis Nyausz’ durch Quecksilber verseuchtes Gehirn die Worte Borcas verdaute, hatte ein vorsichtiger Ton dessen vorige Leutse ligkeit ersetzt. »Tote Oger?«, wiederholte Nyausz. »Ja. Siehst du? Die zwei da unten. Halbe Strecke bis Bo den. Den da auf Felsen. Nyausz weiß wie Oger dort hin kommen?« »Ja«, sagte Nyausz. »Ich sie geschubst. Wir machen Übungskampf. Übung für Käfigkampf.« »Übungskampf?«, sagte Kos. Der Oger knurrte ihn wie der an, verfiel dann aber in ein tiefes Lachen, als Borca zu Kos sagte, wohin dieser sich seinen Pendrek stecken solle. »Ihr Übungskämpfe? Für Kämpfe in Käfig?«, sagte Bor ca. »Muss neue Liga sein. Ich nichts davon gehört. Wo Käfigkampf? Vielleicht ich will anmelden und mitkämp fen. Ich, äh, klein, aber Herz von … Belagerungswurm« »Graaar!«, brüllte Nyausz. »Graaayayaaaar!«, übertrumpfte ihn Borca, musste dann aber husten. »Ich irgendwas unterschreiben?« »O nein«, sagte Nyausz. »Ist Untergrund-Liga. Mehr Preisgeld. Ich nicht dumm. Mache Kämpfe draußen in großer Welt, komme zurück reich.« »Das guter Plan«, sagte Borca. »Aber warum Übungs kampf hier auf Straße? Und wer die zwei?« »Die zwei meine Brüder. Wir öffnen irgendwann neue Kampfgrube mit Geld, wir gewinnen mit Kämpfen«, sagte Nyausz. Plötzlich quollen ihm Tränen aus den Augen. 188
»Ihr Übungskampf an Rand von Steinbruch, und du beide reinwerfen?«, hakte Borca nach. »Nicht werfen beide gleichzeitig«, sagte Nyausz. »Sie mich drücken erst. Sie nicht können umwerfen Nyausz. Dann ich gewinne. Zwei Mal. Aber …« Es schien dem Oger erst jetzt aufzugehen, dass die zerschmetterten Brüder nie wieder mit ihm kämpfen können würden. Er begann zu schluchzen. »Was Nyausz macht jetzt? Ich allein nicht genug. Oger allein gibt viele.« »Ach, mach dir keine Vorwürfe«, sagte Borca. »Du sa gen, sie anfangen. Dich beide also zuerst schubsen?« Der Oger schniefte. »J-ja«, stotterte er. »Warum?« »Das ist dann doch kein Verbrechen, oder?«, sagte Bor ca zu Kos. »Nein«, bestätigte Kos und warf einen Blick auf die zer schmetterten, blutigen Leichen, die über einem Betonvor sprung hingen. Ihr Blut tropfte immer noch auf den künstlichen Stein. »Nyausz, du kannst gehen, wenn du dich um die Leichen kümmerst. Wenn sie morgen aller dings immer noch hier sind, musst du wegen Gefährdung der öffentlichen Gesundheit Strafe zahlen.« »Warte«, sagte der Oger. Er drehte Borca an den Schul tern herum, hob ihn diesmal aber nicht hoch. »Oger gibt häufig wie Steine in Grube, aber winzige Oger …« »Äh, ich kann nicht mehr kämpfen«, sagte Borca hastig. »Nebenwirkung von Transmogerisierung, du weißt.« »O nein«, sagte der Oger. »Doch, leider.« Borca nickte. »Ist auch, warum ich ha ben schwer zu reden wie Oger.« 189
Geschickt gemacht, dachte Kos. »Also Muncz wieder verlässt Nyausz? Einfach so? Und was ist mit Nyausz?«, sagte Nyausz. »Was soll mit Nyausz sein?«, fragte Borca. »Zwei schulden Nyausz Münze!«, sagte der Oger. »Zwei verlieren Wette!« »Ich dachte, du hast etwas von Übungskämpfen er zählt?«, sagte Borca, der völlig vergaß, wie ein Oger zu sprechen. »Ja, schon«, sagte Nyausz. »Aber kein Spaß ohne Wette. Die zwei nicht können Wette zurücknehmen, nur weil die zwei tot, oder?« »Ich bin kein Magiejurist«, sagte Kos, als Borca ihm ei nen Hilfe suchenden Blick zuwarf. »Aber hat Nyausz nicht gerade alles, was sie besaßen, durch das Recht des Bluts geerbt? Einschließlich ihrer Frauen?« »Ich – stimmt, das ich! Du richtig, ‘Jek!« Der Oger rollte mit den Augen und zählte gedankenverloren mit den Fingern. Die Lage, in der er sich nun befand, schien ihn zu beschäftigen. Nachdem er Borca noch einmal auf den Rücken geklopft und ihm gesagt hatte, er möge sich doch gelegentlich wieder blicken lassen, stieg er bedächtig den Hang hinab zu den Leichen. »Kos?«, sagte Borca, während sie dem Oger dabei zusa hen, wie er zu seinen Brüdern hinunterkletterte. »Was ist?« »Wenn das hier kein Verbrechen war, können wir dann weitergehen?« »Klar. Ob Selbstmord oder vertraglich vorgesehene 190
Möglichkeit der Tötung, jedenfalls handelt es sich hier nicht um eine Störung des öffentlichen Friedens.« »Dann sollten wir uns jetzt irgendwo etwas zu essen besorgen. Ich habe irgendwie Hunger wie ein Oger.« »Du siehst auch wie ein Oger aus.« »Ich dachte, ich sehe wie ein Clown aus.« »Das auch«, sagte Kos.
K
Sie machten sich auf den Weg zu einer Oger-Gaststätte, die etwas Genießbareres als Garulsz anbot, die ihre Imbis se in Einmachgläsern und Käfigen hinter der Theke des Achterwasser gefangen hielt. Von Ogern zubereitetes Essen war manchmal eine knifflige Sache, aber Men schen, die wussten, was man risikolos bestellen konnte, entwickelten oft einen Geschmack für die sehr würzigen Gerichte. Die Wojeks waren da keine Ausnahme. Kos hatte sich früher immer darüber gewundert, dass Wojeks sich nach Dienstschluss gern in von Ogern geleiteten Kneipen trafen. Nachdem er selbst ein paar Jahre Wojek gewesen war, hatte er gewusst, dass man dort gutes Essen bekam, das vor allem auch in der richtigen Preisklasse für Wojek-Geldbeutel war. Und was nicht weniger wichtig war: Man traf dort nur selten jemand Hilfsbedürftigen an, nachdem man bereits den ganzen Tag selbstlos die hilfs bedürftige, aber nicht minder undankbare Bevölkerung von Ravnica beschützt hatte. Sie kamen gerade durch einen Teil des riesigen Zinn 191
straßenmarkts, als sie von einem Regenguss überrascht wurden, wie diese in Ravnica schnell aufzogen. Die Wolken am grauen Himmel gossen sauren Regen über die Türme und Straßen, und die beiden Wojeks zogen schnell die Kapuzen ihrer Ledermäntel über den Kopf. Kos bemerkte, dass der Platz, an dem Gullmotts Theater gestanden hatte, bereits nicht mehr wiederzuerkennen war. Unmengen neuer Buden hatten sich hier breit ge macht. Kos überlegte sich manchmal, dass der Zinnstra ßenmarkt eines Tages die ganze Stadt bedecken würde, und bei der derzeitigen Wachstumsgeschwindigkeit würde das sogar noch zu seinen Lebzeiten geschehen. Die Anpreiser versuchten, die beiden Wojeks zu den neuen Buden zu locken. Angeboten wurde alles von Fleischpasteten über Goblin-Arbeit bis zu »authentischen« Wojek-Helmen mit Fliegerbrille, wie sie von echten Luftjeks getragen werden. Jeder der Stände hatte unauf fällig ein Zeichen angebracht, dass er unter dem Schutz der Orzhov stand. Die Gilde des Handels verlor wirklich nicht viel Zeit. Weder ein kleiner Regen noch eine Sintflut schien sie davon abhalten zu können, rund um die Uhr lebhaft Geschäfte zu machen. »Glaubst du, dass wir es bis zu Tizzie schaffen, ohne einen weiteren Faustkampf schlichten zu müssen?«, fragte Borca, während sie sich weiter durch die Menge drängten. »Der Regen dürfte dafür sorgen, dass die Kämpfe alle hinter geschlossenen Türen stattfinden«, sagte Kos. »Aber 192
ich wäre überrascht, wenn wir ungestört essen können, ohne mindestens …« Kos blieb plötzlich wie erstarrt stehen. »Mindestens was?« Borca merkte, dass ihm sein Dienst kamerad nicht mehr zuhörte. Kos hatte Borca kaum gehört. Seine gesamte Aufmerk samkeit galt der blassen, durchsichtigen Gestalt mit dem großen Schnauzbart, die in einer der dunklen Seitengas sen schwebte. »Kos?« Borca sah Kos durchdringend an. »Wonach guckst du?« Die Gestalt hob eine geisterhafte Hand und deutete Kos an, ihr zu folgen. Sie drehte sich um und schwebte betont langsam davon, als ob sie ihm Zeit geben wollte, sie einzuholen. »Es ist … Dahinten, es ist … Es ist …«, stammelte Kos. »Alles in Ordnung mit dir, Kos?«, fragte Borca. »Du hast nicht etwa einen kurzen Abstecher ins Achterwasser gemacht, als ich mal nicht hingeschaut habe, oder?« »Nein, ich …«, begann Kos, beendete den Satz aber nicht. »Na, es war wahrscheinlich nichts. Ich dachte nur, ich hätte da jemanden erkannt. Eine meiner Exfrauen.« »Ach wirklich?«, sagte Borca. Er sah nicht so aus, als ob er Kos das abkaufte. »Wirklich«, sagte Kos. Die geisterhafte Gestalt war schon am hinteren Ende der Gasse angelangt. Kos wusste, dass das, was er jetzt tun würde, absolut verrückt war, aber man fühlte sich auch nicht unbedingt normal, wenn man gerade den Geist eines vor siebenundfünfzig Jahren 193
gestorbenen Arbeitskollegen sah. »Weißt du, was? Ich renne mal kurz hin, um zu sehen, ob ich sie noch einho len kann. Will nur kurz mit ihr reden.« »Ist doch klar«, sagte Borca und grinste anzüglich. »Kein Problem. Aber ich werde nicht mit dem Bestellen auf dich warten.« Er drehte sich um und ging pfeifend weiter in Richtung Gaststätte. »Prima«, sagte Kos. Er rannte die Gasse hinunter, bis er das Phantom eingeholt hatte. Dann ging er zögerlich hinter ihm her, weil ihm plötzlich kam, dass er ja keine Ahnung hatte, was er tun sollte, stand er dem Geist erst einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Wenn er einen Arretierer verwendete, zerstörte er den Geist damit womöglich. Es kostete ihn etwas Mühe, seine Stimme zu finden, und als er endlich so weit war, kam trotzdem nur ein Flüstern heraus. »Zunich?« Das Gespenst drehte sich um, ohne seine Vorwärtsbe wegung zu stoppen. Kleine blaue Nadelstiche flackerten in trauernden, leeren Augenhöhlen. Die Gestalt nickte einmal kurz und drehte sich wieder um. Sie winkte noch einmal mit der Hand, und Kos folgte ihr weiter. Der Geist führte ihn langsam durch die schiefen Hin tergassen, bis Kos merkte, dass sie bald bei einem über dachten Durchgang herauskommen würden, der zum nördlichen Ende des Zinnstraßenmarkts führte. Der Geist hatte ihn einmal rund um den Markt geleitet. Die Gestalt stoppte am Rand der dunkelsten Schatten und drehte sich zu Kos um. Sie senkte den Kopf und streckte den rechten 194
Arm aus, um auf eine Reihe von Nischen zu zeigen, die noch nicht ganz von baufälligen Markständen voll gestellt waren. Das Gebiet war als Berk-Gasse bekannt, und viele von Ravnicas verzweifelten Armen nutzten es als Schlaf stätte. Zunächst schien die Berk-Gasse leer zu sein, aber dann übertönte ein Kinderschrei den Marktlärm. Kos erkannte die Stimme. »Luda.« Kos drehte sich zu dem Geist um, starrte aber nur auf eine leere Mauer. »Verdammt!« Er stürzte auf die Stelle zu, wo er dem Schrei nach das Mädchen vermutete. Er glaubte, hinter einer Säule eine Bewegung bemerkt zu haben. »Stehen bleiben! Hier ist ein Wojek!«, brüllte er. »Hände weg von dem Mädchen!« Sein Magen krampfte sich zusammen, weil der Schrei, kurz bevor er mit dem Knüppel in der Hand und Wut in den Augen die Säule umrundet hatte, plötzlich abbrach. Er kam zu spät. Ein knorriger, hässlicher kleiner Goblin trat hinter der Säule hervor und beugte sich über die still daliegende Luda. Das rostbraune kleine Wesen, das ganz mit rampo niertem schwarzem Leder und einem ebenfalls schwar zen Wollumhang bekleidet war, umklammerte einen gezackten Dolch, der hellrot benetzt war. Es war die gleiche Farbe wie das Blut, das aus Ludas Körper floss, bereits den Oberkörper durchnässte und sich in einer Lache um sie herum auf dem staubigen Steinpflaster ausbreitete. Kos sah, dass die Ohren des Goblins durch eine Operation entfernt worden waren, was bei RakdosSklaven häufig geschah. Einerseits sorgte das dafür, dass 195
sie nur ihren Herren gehorchten, die mittels Magie mit ihnen kommunizierten, andererseits konnten sie so auch nichts aufschnappen, was sie vielleicht zur Flucht verlei tete. Der Goblin hatte jedenfalls Kos’ Rufe offensichtlich nicht gehört. Vor Überraschung weiteten sich nun seine blutunterlaufenen Augen, als er den wütenden Wojek auf sich zustürzen sah. Der Goblin senkte seine Waffe, nahm dann den Kopf zwischen die Schultern und rannte unter lautem Gebrüll auf Kos zu. Der Wojek fasste seinen Pendrek fester. Er schwang die schwere Waffe in einem horizontalen Schlag, der das angreifende Wesen normalerweise genau an der Kehle getroffen hätte, nur dass Borca leider ausge rechnet diesen Moment wählte, um sich wie aus dem Nichts in den Kampf einzumischen. Beim Ziehen der eigenen Waffe stieß er nämlich gegen Kos Schlagarm. Der Hieb verfehlte sein Ziel, und Kos, der vom eigenen Schwung mitgerissen wurde, landete mit aller Wucht just auf den Rippen, die er sich erst einen Tag zuvor gebro chen hatte. »Tut mir Leid«, japste der dicke Wojek. »Hab dich rufen gehört und gedacht, dass Tizzies Essen noch etwas warten kann. Was ist los?« Er erblickte das reglose Mädchen. »O nein!« »Na, vielen Dank«, sagte Kos. »Hat mich wenigstens ei ner gehört.« Er rappelte sich auf und kniete sich neben die leblose Luda. Ihre Augen waren offen und hatten sich bereits mit Regen gefüllt. Der Leutnant legte ein Ohr auf die blutige Brust, konnte aber keinen Herzschlag ver nehmen. Das Blut strömte aus einem Loch im Oberkör 196
per, das sich direkt über dem Herzen befand. Kos riss sich mit den Zähnen die Handschuhe von den Fingern und presste dann mit beiden Händen sanft, aber nachdrück lich gegen die Wunde, um damit einen weiteren Blutaus tritt zu verhindern. Leider ohne Erfolg. »Borca, komm her!« Der dicke Wojek ging neben Kos in die Hocke. »Was soll ich denn tun?«, fragte er, und man konnte aus jeder Silbe seine Panik heraushören. »Beruhig dich erst mal«, sagte Kos und versuchte, das Zittern in seiner Stimme zu verbergen, während ihm Ludas Leben durch die Finger rann. »Heiltränen, ich brauche … Steh nicht so dumm herum! Tränen! Wir können sie noch retten.« »Stimmt ja«, sagte Borca. Er fummelte wie wild an sei nem Gürtel herum und zog aus der Packung gleich drei der Tropfen hervor. »Hier sind welche.« »Mach du, ich hab doch keine Hand frei!«, sagte Kos. »Schön eine nach der anderen. Drück die Spitze hier neben meiner Hand auf die Brust, möglichst dicht an der Wunde!« Der Wachtmeister tat, wie geheißen. Es gab einen klei nen blauen Blitz, und gleich darauf verdampfte die Heil träne in der schweren Blutung. Der Blutstrom verebbte etwas, aber es sickerte immer noch welches nach. »Noch eine«, blaffte Kos. »Am besten alle.« Borca drückte die beiden anderen Heiltränen in die Wunde. Dann holte er eine neue Packung aus seinem Gürtel, womit er verriet, dass er mehr bei sich trug, als er 197
überhaupt sollte. Anschließend befahl Kos, auch die aus seinem Gürtel hervorzuholen. Mit ähnlicher Wirkung verschwanden sie alle in der Brust des Mädchens. Kos hob eine blutige Hand in den Regen und hielt Bor ca zurück, bevor dieser die letzte verbliebene Heilträne anwendete. Der Blutstrom war versiegt, allerdings nicht, weil die Wunde geheilt wäre. »Lass gut sein«, sagte Kos mit einem dicken Kloß im Hals. »Es ist zu spät. Das hilft nicht mehr.« Kos schaute eine Weile in die Augen des toten Mädchens, aus denen die Regentropfen rannen, als würde es weinen, dann schloss er die Lider der reglosen Gestalt. Schon im nächsten Moment war er in wilder Wut auf die Beine gesprungen. Der Goblin war zwar verschwun den, konnte auf seinen kurzen Beinen aber noch nicht weit gekommen sein. Kos ließ seinen Blick über die Menge schweifen, die dieses schreckliche Verbrechen so komplett ignoriert hatte, und entdeckte sofort eine Unru he im Markttrubel, als wollte sich jemand an der betref fenden Stelle mit aller Kraft hindurchdrängeln. Das musste der mörderische kleine Gauner sein. Er packte Borca an der Schulter und zeigte auf Ludas Leiche. »Bleib hier bei ihr. Wenn möglich, versuch jemand mit einem Falken herzurufen, und lass Helligan herauskommen. Und nimm jeden fest, der dir zu nahe kommt, bis Helli gan da ist.« »Aber zu zweit können wir ihn doch besser erwischen«, sagte Borca, der auf wackeligen Beinen stand. Er war bleich geworden und sah so aus, als müsste er sich gleich 198
übergeben. Ein Mord wie der vorliegende war in Ravnica äußerst ungewöhnlich und erinnerte vielmehr an Prakti ken im Höllenloch. »Ich habe gesagt, dass du hier bleiben sollst.« »A-aber sie ist …«, stammelte Borca. »Tu’s einfach, verdammt noch mal«, brüllte Kos und warf sich ins Getümmel des Zinnstraßenmarkts, ohne sich noch einmal umzudrehen. Es war keine Überra schung, dass die Menge dem sichtbar wütenden, hinter dem Goblin herjagenden Wojek sofort eine Gasse frei räumte. Das Emblem, das auf Arm und Stirn des Goblins täto wiert war, hatte sich Kos ins Hirn eingeprägt. Rakdos. Vor zehn Jahren hatten diese Bastarde eine Menge seiner Freunde in einer schlecht vorbereiteten, aber blutig endenden Revolte umgebracht. Das war der zweite Rak dos-Aufstand gewesen, den Kos miterlebt hatte, seit er dem Bund beigetreten war. Sie hätten das Höllenloch damals dem Erdboden gleichmachen sollen, statt den Kultisten zu ermöglichen, sich wieder in ihre Minen und Höhlen zurückzuziehen. Der Kurs, den der Goblin einschlug, verlief scheinbar nach einem zufalligen Muster. Kos musste seine ganze Aufmerksamkeit aufwenden, ihn in der Menge nicht zu verlieren. Dadurch merkte er erst zu spät, dass sich sein Kurzschwert an der Stange eines Verkaufsstands verhak te. Sein Schwung sorgte dafür, dass die Auslagen der Firma »Nollikob – Feinste Rauch- und Fleischwaren vom Dromad« rund um ihn herum auf den Boden purzelten. 199
Nollikob, eine Frau mit erstaunlich tiefer Stimme, schrie empört auf. Sie hörte nicht auf, durch die Plane nach Kos zu treten, bis es dem Wojek gelang, Kopf und Schultern durch das Transparent zu stecken, das gerade noch schöne und günstige Waren angepriesen hatte, die aus Ravnicas beliebtestem Lasttier hergestellt wurden. »Kos!«, sagte Nollikob. »Tut mir Leid, ich wusste nicht, dass du …« »Später, Kob«, sagte Kos. »Schick die Rechnung an Wachtmeister Ringor, Zehnte Bundeshalle. Ich muss weiter, Wojek-Einsatz.« Der Goblin war verschwunden. Der Wojek hielt auf dem Marktgelände nach irgendwelchen Anzeichen des Verdächtigen Ausschau, aber die Leute hatten auf das Chaos, das Kos angerichtet hatte, so reagiert wie immer: Sie waren zusammengeströmt und gafften. Kos konnte nicht erkennen, was sich hinter der Mauer aus Leuten abspielte. Falls der kleine Mörder es schaffte, ins Höllenloch zurückzugelangen, würde es nicht einfach sein, ihn da wieder herauszubekommen. Dort! Die bekannte kleine Gestalt tauchte über den Köpfen der wimmelnden Menge auf. Der Goblin kletterte gerade über eine hölzerne Trennwand. Goblins waren hervorragende Kletterer, jedenfalls bessere, als Kos einer war. Allerdings kannte er einen Durchschlupf, durch den er sich hindurchzwängen konnte. Vielleicht gelang es ihm ja, den Goblin abzufangen, wenn der auf der anderen Seite wieder herabkletterte. Die Rechnung ging auf. Der Goblin rannte quasi in ihn 200
hinein, weil er sich dauernd nach hinten umschaute. Das kleine Wesen schien zu erwarten, dass Kos hinter ihm herklettern würde, und merkte seinen Irrtum erst, als Kos ihm das Knie ins Gesicht rammte. Das Quieken des Goblins erinnerte Kos an ein Schwein. Man hörte Kno chen brechen. »Das war für Luda«, fauchte er. Der Goblin verfluchte ihn in seiner kehligen Sprache und ließ sich auf den Rücken fallen, bevor Kos wieder zuschlagen konnte. Er kauerte sich zu einem kleinen Ball zusammen und rollte sich wieder auf die Füße. Mit der rechten Hand vollführte er eine winzige Zaubergeste und schrie dabei: »Ha!« Es bildete sich eine kleine orange Energiekugel, die Kos mitten auf der Brust traf. Er wurde in einen Stapel Fässer geschleudert, der natürlich sofort über ihm zu sammenkrachte. Kos nahm an, dass der Goblin schon längst über alle Berge war, bis er sich aus den ganzen Trümmern befreit hatte. Zu seiner Überraschung war seine Jagdbeute noch längst nicht verschwunden. Der Goblin mühte sich weiter hinten an der Steinsäule einer Gaststätte ab. Es sah so aus, als ob er auf das Dach klettern wollte. Kos wusste, dass man von dort aus eine Seitengasse und dann einen Tunnel erreichen konnte, der zum Höllenloch führte. Es sah so aus, als würde er bei der Verfolgungsjagd den Kürzeren ziehen. Während er auf die Säule zurannte, schaltete er seinen Pendrek ein, um ihn als Zauberstab zu verwenden. Jedenfalls hatte er das vorgehabt. Es klickte zweimal, aber er konnte spüren, dass die Mana-Ladung nicht aktiviert worden war. 201
Die Batterie! Er hatte vergessen, eine einzusetzen, nachdem er Luda die verbrauchte geschenkt hatte. Er fummelte an seinem Gürtel herum, während er sich rempelnd einen Weg über den Markt bahnte und nach allen Seiten Entschuldigungen brüllte. Schließlich bekam er den geschliffenen kalten Klumpen konzentrierter Magie zu fassen. Er schob ihn unten in den Pendrek, das Magazin schnappte ein, und die Waffe fing zu summen an. Kos legte den Pendrek auf dem anderen Unterarm ab und zielte. Er regulierte die Entfernungseinstellung, und als er den Goblin genau im Visier hatte, aktivierte er den Auslöser: »Davatsei.« Ein Energiestrahl schoss aus dem Pendrek auf die mör derische Kreatur zu. Der Goblin, der ausreichend gewarnt war, lachte nur und ließ die Säule gerade noch rechtzeitig los. Er fiel nach unten in die Menge, während Kos’ Schuss harmlos blaue Funken schlagend gegen die Säule prallte. »Wojek-Einsatz! Entschuldigen Sie!« Kos brüllte, wäh rend er sich weiter durch die Menge drängte. »Aus dem Weg!« Es tat sich für Kos eine Gasse auf. Der Goblin war langsamer geworden, um eine Steinmauer hochzuklet tern, die einen der vielen Spezialitätenimbisse einrahmte, die sich rund um den Zinnstraßenmarkt ausbreiteten. Ein handgemaltes Schild besagte in leuchtend grünen Buch staben, dass es sich hier um das Aul-Haus handelte. Die von Loxodons geleitete Lokalität bot vegetarisches Essen an. 202
»Davatsei«, brüllte Kos noch einmal. Der Pendrek schickte dem Goblin einen weiteren Energiestrahl hinter her, aber jener konnte sich wieder rechtzeitig in Sicher heit bringen, indem er sich einfach über die Mauer fallen ließ. Dabei klaffte sein Mantel hinten auf. Zwei Kugeln in glühendem Orange, die auf den Rücken der Kreatur gebunden waren, wurden dabei für einen Moment sicht bar. Kos’ Schuss traf die Mauer und zerschmetterte einige Ziegel rundherum. Er hinterließ einen kleinen, glimmen den Fleck, der kurz aufglühte, um dann in einer kleinen grauen Rauchwolke zu verpuffen. Kos wusste sofort, um was es sich bei den glühenden Bällen auf dem Rücken des Goblins handelte. Er hatte so etwas seit zehn Jahren nicht mehr gesehen, seit dem Rakdos-Aufstand. Er und alle anderen hier auf dem Markt konnten im Nachhinein von Glück sagen, dass er den Goblin nicht getroffen hatte. Wie Kos’ Pendrek oder jene uralte Bombe, die den Steinbruch verursacht hatte, waren diese Kugeln Waffen, die durch ein Kodewort ausgelöst werden konnten – aber auch ein Volltreffer hätte sie zum Explodieren bringen können. Auf den ersten Blick war die Stärke der beiden Bälle allerdings schwer einzuschät zen. Sie hätten nur den Träger zerfetzen, aber auch den ganzen Markt einebnen können. Derartige Magie war immer kompliziert zu berechnen. Kos drehte den Griff des Pendreks und schaltete ihn ab. Fluchend zog er sich über die rauchende Mauer. Kos erblickte Borca, sobald er über der Mauer war. Sein Dienstkamerad stand an einem der Tische und 203
redete mit einem weiß gewandeten Loxodon. Nein, es war nicht einfach nur ein Loxodon, es war der Loxodon. Dank der dreieckigen Tätowierung und dem Edelstein in seiner Stirn war der riesige Elefant unschwer als der heilige Bayul vom Selesnija-Konklave zu erkennen. Genauso eindeutig war die Ledev-Wächterin, die neben ihm saß, ein untrügliches Zeichen dafür, dass der heilige Botschafter des Konklaves entweder soeben in der Stadt Ravnica eingetroffen oder aber gerade am Aufbrechen war. Das Reittier der Ledev musste irgendwo draußen angebunden sein. Der Loxodon hörte Borca geduldig zu, während die Ledev diesen aufmerksam im Auge behielt. Kos konnte sich weder erklären, wie der Wachtmeister so schnell hierher gekommen war, noch warum. Mit geschultem Auge begutachtete Kos die übrigen Gä ste. In der einen Ecke schmuste ein junges Paar, das Tee vor sich stehen hatte. Dann kam der Tisch mit dem Loxodon, der Ledev und Borca. Eine Familie von Ausflüg lern samt schreiendem Kind. Vier leere Tische, zwei Kellner, ein Koch, ein Gastwirt. Etwas flimmerte vor Kos’ Auge, und für kurze Zeit hatte er den Eindruck, dass noch eine vierte Gestalt am Tisch des Elefanten war. Eine Sekunde später flimmerte es wieder. Das Flimmern verschmolz sofort wie eine Rauchschwade mit der Wand. Kos konnte einen annähernd menschenähnlichen Umriss entdecken, der sich immer wieder leicht vor der dekora tiven Wandtapete bewegte. Irgendjemand verwendete einen Chamäleonzauber, aber weder die Ledev noch der heilige Bayul schienen es zu bemerken. 204
»Wo steckt bloß dieser Goblin?«, murmelte Kos. Wie zur Antwort auf diese Frage schrie das junge Paar auf. Der Goblin löste sich bei ihrem Tisch aus der Menge und kreischte zurück. Die jungen Leute duckten sich hinter den Ecktisch. Die Familie mit dem Kind stimmte in das Geschrei mit ein, und dann entdeckte der Goblin schließ lich Kos. Der Leutnant setzte der umherwieselnden Kreatur mit den Bomben auf dem Rücken nach. »Borca! Aufpassen!«, rief er seinem Kollegen zu, der eigentlich die Leiche des toten Mädchens hätte bewachen sollen. Der Goblin kippte Kos einen Tisch vor die Füße. Beim Versuch, dem Möbelstück auszuweichen, rutsche der Wojek auf verschüttetem Essen aus und krachte mit dem Gesicht voran gegen den Tisch. Er spürte, wie ihm das warme Blut aus dem linken Na senloch die Lippen hinabrann, gab sich aber alle Mühe, den stechenden Schmerz zu ignorieren und zumindest wieder auf die Knie zu kommen. Der Goblin hatte beina he den Tisch erreicht, an dem sich Borca bei dem Loxo don befand, aber nur dieser schien zu bemerken, dass der Goblin auf sie zugerannt kam. Er rollte vor Schreck sei nen Rüssel zusammen, woraufhin die Ledev sofort auf sprang. Diesen Moment nutzte die schattenhafte, vom Chamäleonzauber fast unsichtbar gemachte Gestalt, um zuzuschlagen und sie zu Boden zu werfen. Der Schatten hüllte die junge Frau wie eine ölige Wolke ein. Bevor Kos überhaupt verstand, was hier vor sich ging, hatte der Rakdos-Goblin den Tisch erreicht. Kos schaffte 205
es, auf die Beine zu kommen und drei Schritte auf die Gruppe zuzugehen, da sprang der Goblin los und landete auf Borca. »Rakdos Kahzak!«, schrie der mutmaßliche Mörder. Borca und der Goblin verschwanden in einem blen denden orangefarbenen Blitz. Als Letztes sah Kos, wie Teile des zerfetzten Loxodon auf ihn zustoben. Überall spritzte Blut und entzündete sich in der Luft wie Feuer werk an einem Goblin-Feiertag. Dann wurde Kos von einem abgebrochenen Stoßzahn getroffen. Der Wojek knallte mit dem Kopf auf den Steinfußboden, und eine unglaubliche Hitzewelle rollte über ihn hinweg. Dann war ringsum nur noch Nacht.
206
Kapitel 8
H
Die Dimir, die so genannte »Zehnte Gilde«, ist eine Erfin dung, um Kinder wie auch diejenigen, die nur der Intelli genz von Kindern mächtig sind, zu ängstigen – also eine nützliche Erfindung. Oberster Richter Azorius (47 R. C. – 98 Z. C), aus den Anhängen des Gildenpakts
24. Zuun 9999 Z. C., kurz vor Mitternacht Savras Reittier stieß einen spitzen Schrei aus. Es war hungrig und suchte auf eine Weise nach Nahrung, wie Riesenfledermäuse es schon immer getan hatten, näm lich mit schrillen Rufen und noch schärferem Gehör. Aber hier gab es nichts zu fressen, und Savra zwang das große Tier, alle Gedanken daran vorerst beiseite zu schie ben. Sie ruckte an den Zügeln und lenkte die Fledermaus in einer langsam absteigenden Schleife immer weiter in die Tiefen von Grigors Schlucht hinein. Sie beugte sich zum Kopf des Tieres und flüsterte ihm beruhigende Worte zu. »Nur Geduld. Weiter unten gibt es was für dich zum Fressen.« Die Matka der Devkarin überließ hauptsächlich der Fle 207
Fledermaus die Kontrolle über den Sinkflug, weil diese mit ihrem Echolot den gezackten Metallauswüchsen allerorten und den versteckten Raubtieren, die in den nebligen Tiefen nach Nahrung suchten, besser auswei chen konnte. Sie lenkte die Kreatur mit einfachen menta len Kommandos und leichtem Kniedruck. Das Reittier war einfacher zu beherrschen als ihr Bruder, auch wenn sie bei beiden ähnliche Methoden anwandte. Diejenigen, die im Stadtgebiet von Ravnica lebten, glaubten schon seit langer Zeit, dass Grigors Schlucht, jene riesige Spalte, die mitten durch die dicht an dicht stehenden Häuser und Türme der Stadt verlief, nur exi stierte, um als wichtige Lieferroute zwischen dem Gol gari-Reich in Alt-Ravnica und den Bewohnern der Ober fläche zu dienen. Selbst die meisten Golgari nahmen an, dass die Schlucht sich lediglich dicht unterhalb der Un terstadt erstreckte. In Wahrheit war die Spalte allerdings weitaus tiefer. Wenn man den dicken Nebel hinter sich gelassen hatte, senkte sich die Schlucht in ein Reich, das bereits schon uralt gewesen war, als die Tinte auf dem inzwischen zehntausend Jahre alten Gildenpakt noch trocknen musste. Der trübe Nebel – der viel dicker und eindrucksvoller war, als man von der Oberfläche Ravni cas aus sehen konnte – verhinderte, dass jemand außer den dickköpfigsten und mutigsten Abenteurern die Ge heimnisse der Schlucht entdeckte. Nur wenige Golgari hatten es versucht. Savra war unter denen, die sich gewagt hatten, und sie hatte etwas Wundervolles gefunden. Jemand Wundervol 208
les, besser gesagt, versteckt an einem kalten Ort in der Tiefe, der stärker vor dunkler Macht brodelte als alles, was die Hohepriesterin in ihren zweihundert Jahren Lebenszeit zuvor gesehen hatte. Niemand konnte dieses Reich ohne die Erlaubnis seines Herrschers betreten. Savra war dessen als würdig betrachtet worden. Er hat te sie für würdig befunden. Sie durchbrach mit ihrem Reittier den Nebel. Um sie herum war nur kalte, lichtlose Nacht. Sie konnte die Dunkelheit gewissermaßen auf der Haut spüren. Selbst mit ihren äußerst scharfen Augen konnte sie nur ein paar Umrisse erkennen: einen Torbogen, der seitlich von einem blau flackernden Licht angestrahlt wurde, eine umgestürzte Statue, deren Mund in einem verzweifelten Schrei geöffnet war, eine leichte Welle auf einem klaren, schwarzen Teich aus noch schwärzerem Wasser. Savra zog ihren Pelzumhang fester um die Schultern und ließ ihr Reittier ein paar unhörbare Jagdschreie aus senden. Die Fledermaus hatte schon seit Stunden nichts zu fressen bekommen, und während die Fledermaus ein paar große, summende, käferartige Dinge verschluckte, die man nicht sehen konnte, nahm Savra mental mit ihrem Mitverschwörer Kontakt auf. Der Ort, an dem er sich aufhalte, sei ohne seine Mithilfe nicht zu finden, hatte er ihr gesagt. Seine Tarnfähigkeiten waren so aus geprägt, dass selbst diejenigen, die schon einmal an jenem Ort gewesen waren, ihn nicht aus eigener Kraft wieder finden konnten. Gelegentlich kamen Leute von oben in die Schlucht, aber selbst wenn sie die Begegnungen mit 209
den anderen Wesen, die hier unten lebten, überleben würden, würden sie niemals seinen Palast entdecken. Savra liebte ihn mehr als ihr eigenes Leben. Anders konnte sie nicht ausdrücken, was sie für ihn empfand. Es handelte sich aber nicht um romantische Liebe. Für sie war es eher wie eine Beziehung zwischen einem Gott und der Prophetin, die dieser sich erkoren hatte. Sie wusste nicht, dass sie damit gar nicht so falsch lag. Hier herüber, mein Kind, flüsterte die Stimme in ihrem Kopf. Die Stimme klang verführerisch und erschreckend zugleich, aber auf Savra wirkte sie jedes Mal noch präch tiger. Die Stimme sorgte dafür, dass sie alles tun wollte, um ihm zu helfen. Der Klang verhalf ihr jetzt auch zu einer besseren Klarsicht, sodass sie einen schwach be leuchteten Tunnel entdecken konnte, der sich vor ihr öffnete. Am Ende des Tunnels befand sich das gefrorene, wenngleich palastartige Gefängnis ihres Verbündeten. Er rief noch einmal nach ihr, und Savra lenkte ihre Fle dermaus in den schwach blau leuchtenden Tunnel. Wenig später kam sie in eine höhlenartige Halle, die einst der Knotenpunkt eines Kanalsystems gewesen war. Nur wenige in Ravnica – und erst recht in Alt-Ravnica – wussten überhaupt, dass sie existierte. Savra lenkte die Fledermaus zu einer Sitzstange in der Nähe des Spitzbo gentors und ließ sie dort zurück. Das Tor öffnete sich vor ihr, und ein sanftes blaues Leuchten hieß sie willkommen. Sie trat ein und folgte dem Ruf ihrer Liebe. Er stand wie immer in der sonst leeren inneren Halle 210
des Palastes. Neben den Bildnissen aus buntem Glas, die seine längst verstorbene Verwandtschaft darstellten, und den Bergen von gefrorenen Leichen, die ihrem Verbünde ten während seines langen Exils als Nahrung dienten, wirkte er größer und bedeutender als alles andere zu sammen. Er war der letzte seiner Art. Er war großartig. »Der Loxodon ist tot, und um Jarad wird sich gerade gekümmert«, sagte sie ohne lange Vorrede oder weitere Erklärung. »Gut gemacht«, flüsterte die schlanke, in einen Umhang gehüllte Gestalt. Ihr Verbündeter flüsterte immer, selbst wenn er nur mental in ihrem Kopf mit ihr sprach. »Sein eigen Blut in den Tod zu schicken erfordert einen beson deren Mut. Damit hast du dir deinen Platz gesichert. Schon bald wirst du ihn einnehmen.« »Es ist an der Zeit, den nächsten Schritt zu unterneh men«, sagte Savra. »Es ist an der Zeit, dass du die Schwestern herausfor derst«, stimmte er ihr zu. »Ich bin bereit«, sagte Savra. »Aber wie soll das genau vonstatten gehen?« Ihr Gegenüber betrachtete sie eine Weile in aller Stille. Schließlich zog er sich mit seiner weißen, langfingrigen Hand die Kapuze vom Kopf. Ein ebenso blasses Gesicht kam zum Vorschein. Sein gewelltes, seidiges schwarzes Haar und ein Paar langer, silberner Eckzähne reflektier ten das schummrige Licht. »Nun gut«, sagte er und legte seine ausgestreckte Hand auf Savras Stirn. Die Augen ihrer Liebe waren wie Spiegel, und in beiden sah sie sich 211
selbst wieder.
»Ich spüre …«
»Pst, mein Kind. Hör gut zu, was ich sage.«
K
Die Schwestern des Steinernen Todes waren die einzige Unwägbarkeit, an der Savras sorgfältig ausgeklügelte Pläne noch scheitern konnten. Bei den Schwestern han delte es sich um drei Gorgonen, die die Macht besaßen, jemanden mit einem einzigen Blick in Stein zu verwan deln. Seitdem sie den uralten Parun vor Ewigkeiten getötet hatten, waren sie die Herrinnen der Gilde. Nun regierten sie den Schwarm von ihrem Sitz im Herzen eines unterirdischen Labyrinths aus. Das Bauwerk war alles, was vom uralten Palast eines verrückten Königs aus den Zeiten vor dem Gildenpakt übrig geblieben war. Dieser hatte es aus einer Laune heraus erbauen lassen, und die Schwestern und ihre Diener hatten es mit wildem Pflanzenwachstum überzogen, wodurch es noch unein nehmbarer wurde. Das Labyrinth war weit genug vom sich immer weiter in die Tiefe ausbreitenden Höllenloch entfernt, um vor einem Überraschungsangriff der Rakdos sicher zu sein, aber trotzdem noch nahe genug, um immer ein Auge auf die Schwestergilde werfen zu kön nen. Außer ihrer unzugänglichen Labyrinthpyramide gab es noch einen zweiten Grund, warum die Schwestern schon so lange herrschten: Wer sich ihnen entgegenstellte, 212
wurde zur steinernen Statue. Das Labyrinth und ihre Magie hatten dafür gesorgt, dass die bestialischen Miss bildungen schon seit tausend Jahren an der Macht waren. Und für sicherlich die hundert letzten Jahre davon ver suchte Savra nun schon insgeheim herauszufinden, wie man sie loswerden konnte. Ihr versteckter Verbündeter hatte ihr die Lösung gezeigt. Sie musste jetzt schnell handeln. Die Gorgonen waren nicht gut für die Gilde. Ihre miss gebildeten Anhänger hatten einen höheren Status als die Devkarin-Elfen und alle anderen Golgari. Sie litten an Geltungssucht und interessierten sich mehr für brutale Unterhaltung als für die Gärten und deren Zustand. Die Matka hätte die Bestien schon aus diesem Grund hassen können, aber dafür war sie zu praktisch ausgerichtet. Es ging nicht nur um die Einstellung, sondern auch um den Mangel an Verantwortlichkeit und Sorge. Jahrhunderte der Nachlässigkeit waren schlecht für das Geschäft. Als Savra den unheiligen Stab der Matka entgegengenommen hatte, hatte sie geschworen, dass ihre Vorgängerin die letzte Hohepriesterin der Devkarin gewesen war, die nur zusah, wie die Ihren immer mehr an Einfluss und wahrer Macht verloren, während die Schwestern das Wenige verschlangen, was noch vom aufgehäuften Reichtum der alten Gildenmeister übrig war. Nun hatte sie den Schlüssel zu deren Untergang in der Hand. Wie der Zufall so spielte, handelte es sich buch stäblich um einen silbernen Schlüssel – ein Geschenk von ihrem geliebten Mitverschwörer. Das Schloss zu diesem 213
Schlüssel befand sich im untersten Bereich des annä hernd wie eine Pyramide aufgebauten Labyrinths vor ihr. Der Schlüssel passte in eine Tür, die hinter tausenden von Jahren kranken Wachstums verborgen war. Der Eingang schien wie viele Gebäude so tief unter der Ober fläche aus dem echten Grundgestein von Ravnica gehau en worden zu sein. Eine kurze Überprüfung der Größe und Form der Tür sagte ihr, dass ihre Fledermaus auf keinen Fall hindurchpassen würde. Sie schickte sie wie der auf Insektenjagd, warnte sie aber, sich nicht zu weit zu entfernen. Savra warf einen Blick in die wenig belebte Umgebung und sah ein paar desinteressierte Zombies, die ihren Geschäften nachgingen. Wesen, die nicht zu den Missbildungen zählten, kamen selten freiwillig so dicht an das Labyrinth heran. Sie sah auch keine Wachposten, die sie beobachteten, was unzweifelhaft an der Verzaube rung lag, mit der ihr Verbündeter sie versehen hatte. Der Zauber würde nicht lange anhalten, aber es sollte genü gen, um von Missbildungen unbemerkt in das Labyrinth hineinzukommen. Sie steckte den Schlüssel ins Schlüsselloch und drehte ihn. Nach etwas Druck bewegte sich das Schloss. Der Bolzen kratzte gegen Stein und Rost und schnappte auf. Ein kleiner Stoß gegen die Tür genügte, um sie nach innen aufschwingen zu lassen. Kalte Luft strömte durch den offenen Eingang. Es roch nach Schimmel, Reptilien exkrementen und vor allem nach Tod. Als die Gorgonen ihren brutalen Bürgerkrieg anzettel ten, um dem Gildenmeister die Macht zu entreißen, 214
waren es noch fünf gewesen. Die Schwestern hatten Armeen aus Missbildungen gegen die Devkarin und die anderen menschenartigen Golgari angeführt. Der Gil denmeister hatte jedoch zwei der Gorgonen töten kön nen, bevor sie ihn zerstörten – das war jedenfalls die Version, wie sie die meisten Golgari kannten, ob nun Devkarin-Elfen oder jene neuen Exemplare von wan dernden Toten. Savras Liebster hatte behauptet, dass die Geschichte erfunden war, und sie glaubte ihm voll und ganz. Der Weg nach unten war rutschig und ungewiss. Dies mal war dort niemand, der am anderen Ende auf sie wartete, um ihr den Weg zu leuchten. In dem Moment, in dem ihr dieser Gedanke kam, flammte plötzlich eine Fackel in einer Halterung neben ihr auf. Savra blinzelte, bis sich ihre Augen an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatten. Sie nahm ihre Verteidigungshaltung ein und umklammerte ihren Stab für den Fall, dass sie in einen Hinterhalt geraten war. Aber ihr Liebster hatte sie ja gewarnt, dass sie es mit seltsamen Zufällen und merk würdigen Begebenheiten zu tun haben werde. Der Gefan gene hatte schon immer einen extremeren Humor ge habt, als für einen Totenbeschwörer gesund war. Selbst jetzt, da er tausend Jahre von den Schwestern gefangen gehalten wurde und seiner Energie beraubt war, schien es ihm immer noch Spaß zu machen, die Leute zu erschrek ken. Da nichts aus den Schatten sprang, um ihr einen Fet zen Fleisch aus dem Bauch zu reißen, nahm Savra die 215
Fackel aus der Halterung und sagte: »Danke schön.« Vorsichtig ging sie den rutschigen, leicht nach unten führenden Weg weiter. Zuckende Schlangenranken tauchten aus dem Schatten auf, flohen aber zischend vor den Flammen. Zwischendurch hatte sie zweimal die falsche Abzweigung genommen und musste an ihren Startpunkt zurückkehren, um von dort aus ihre empathi schen Sinne erneut auf den Gefangenen auszurichten. Nach zehn Minuten sich windender Gänge und Sackgas sen und einer Begegnung mit einem Pilz, der ihr eine Wolke harmloser Sporen ins Gesicht geschossen hatte, als das Fackellicht auf ihn gefallen war, wurde der Weg eben. Sie kam an den Anfang einer alten unterirdischen Wasserleitung, die diesen Teil des Weges bildete. Die gekachelten Wände waren sichtlich am Zerbröckeln – Moos und Pilze hatten sie ganz ohne den Einsatz von Magie geduldig zerstört. Im Fackellicht konnte Savra erkennen, dass das massive Rohr weiter hinten wieder in Dunkelheit endete. Grüne Leuchtmasten, die so knorrig und verdreht wa ren, dass sie bekannten Devkarin-Runen ähnelten, pul sierten vor Leben – oder besser gesagt, vor Unleben. Sie schienen mit der Fackel einen Wettstreit austragen zu wollen, wer den Weg beleuchten durfte. Savra erreichte das Ende des Kanals und betrat das tausend Jahre alte Gefängnis. Die Matka-Schriftrollen, in denen die gesammelte Weisheit von Generationen von Hohepriesterinnen steckte, enthielten viele Geschichten und Legenden über 216
Svogthir. Vieles war von der Gilde in dem Jahrtausend seit Svogthirs »Zerstörung« dennoch vergessen worden, aber Savras schattiger Freund konnte viele Wissenslücken füllen. Svogthir war einer der Parune, einer der Unter zeichner des Gildenpakts gewesen. Er hatte als Dritter unterschrieben, direkt nach Razia von der Boros-Legion und Azor dem Richter. Dies gab seinen Verbündeten auf der Seite des Chaos eine gute Ausrede, seinem Vorbild zu folgen und ebenfalls zu unterzeichnen. Es war keine Übertreibung zu behaupten – wenn man den Schriftrol len glauben durfte –, dass es ohne die Golgari und ohne Svogthirs simple und weise Tat heute keine Gilden geben würde. Vor dem Gildenpakt und dem Frieden, der sich daraus ergeben hatte, war Svogthir der größte Totenbeschwörer seiner Zeit gewesen, und seine Zeit hatte sich auf viele Jahrtausende ausgedehnt. Die meisten reanimierten Toten besaßen gerade einmal genügend Intelligenz für einfache Arbeit, einfache Sehnsüchte und eine genauso einfache wie brutale Gesellschaft. Svogthir hingegen hatte ganze Armeen von Toten erzeugt, die mit Gerissenheit und Intelligenz ausgestattet waren und damit ihren lebendigen Gegnern mindestens ebenbürtig. Er hatte zudem das Geheimnis entdeckt, wie man das eigene Bewusstsein – sozusagen seinen Geist – zum Zeitpunkt des Todes im Körper festhielt. Dergleichen war noch nicht einmal den Totenbeschwörern der Devkarin gelun gen. Der Zombie-Gott gewährte sich dadurch selbst Unsterblichkeit und annähernd Unzerstörbarkeit. 217
Svogthir war neun Jahrtausende als Gildenmeister der Golgari an der Macht, und während der ganzen Zeit fuhr er damit fort, am eigenen Körper immer wieder neue Selbstverbesserungen vorzunehmen. Zum Zeitpunkt, an dem der Zombie-Gott von der Macht verdrängt wurde, hatte er Gerüchten zufolge den rechten Arm eines Rie sengorillas, an deren Aussterben er nicht ganz unschuldig gewesen war, und außerdem die linke Klaue eines großen Skorpions, Beine aus Pythons, die mit Eichensprösslingen verwoben waren, sowie den Oberkörper eines riesigen Zyklopen. Zu guter Letzt war sein Kopf der einzige Kör perteil gewesen, den er noch nicht ausgetauscht hatte. Allerdings befiel ihn bei diesem Prozess allmählich eine degenerative Verrücktheit, die den Gorgonen schließlich erlaubt hatte, die Herrschaft an sich zu reißen. In den späten 8000ern war Svogthir nach und nach praktisch ein Gefangener der eigenen Macht geworden. Mit jedem weiteren Jahr wurde er paranoider und zog sich immer weiter zurück. Mit Heraufziehen des neuntau sendsten Jahres des Gildenpakts hatten sich seine erge benen Statthalter – die Gorgonen-Schwestern – gegen ihn gewandt. Und in allen existierenden Überlieferungen einschließlich der Matka-Schriftrollen war zu lesen, dass die Schwestern ihn zerstört hatten. Und genau das, hatte ihr Liebster behauptet, sei die große Lüge. Die Schwestern waren nämlich nicht in der Lage gewesen, Svogthir komplett zu zerstören. Er war immun gegen ihre Fähigkeit der Versteinerung. Da sie nicht in der Lage waren, den Gildenmeister in eine Statue 218
zu verwandeln, hatten sie ihm jeden einzelnen Knochen zerschmettert und ihn dann tief unter ihrem Hort einge schlossen. Und dort, hatte ihr Verbündeter gesagt, sitze der Zombie-Gott nun immer noch auf seinem kalküber zogenen Thron. Er sei zwar verrückt und daher gefähr lich, könne für eine Devkarin-Priesterin mit den richtigen Ideen aber sehr nützlich sein. Die Aura, die Svogthir ausstrahlte, überflutete sie, noch bevor sie ihn überhaupt sehen konnte. Seine zertrüm merte Gestalt verschmolz mit den schleimigen Wänden seines Gefängnisses und war schon lange zu einem überwucherten Geflecht aus Knochen und Ranken ge worden. Es war fast unmöglich zu sehen, wo der ZombieGott aufhörte und wo der grausige, versteinerte Thron begann. »So, so. Savra, so lautet doch der Name, nicht?«, sagte Svogthir. Seine Stimme glich einem gequälten Kratzen, das durch einen kaputten, verrotteten Hals pfiff. Trotz seines sich zersetzenden Körpers klang der zerstörte Zombie-Gott eigentlich nicht anders als ein asthmatischer alter Mann, der seine besten Jahre hinter sich hatte. »Befindet sich meine Kirche inzwischen etwa in den Händen von Novizen?« »Gildenmeister«, sagte Savra. Sie senkte den Kopf und kniete vor ihm nieder. »Ich … Man hat Euer Schicksal vor Euren … Anhängern verborgen.« »Ach, ich bitte dich.« Der verschrumpelte weiße Kopf schien der einzige Teil von Svogthir zu sein, der über haupt noch zu einer Bewegung fähig war. Er rollte zur 219
Seite und warf ihr eine Grimasse zu, die als ein Lächeln durchgehen konnte. »Sprich mich ruhig mit Svogthir an. Du bist gekommen, um mich aus diesem Gefängnis zu befreien. So viel weiß ich. Du brauchst es nicht zu leug nen. Ich finde, du hast dir das Privileg verdient, mich mit Namen ansprechen zu dürfen.« Savra räusperte sich und hob den rechten Fuß, um ein krabbenartiges Wesen vorbeikrabbeln zu lassen, das offenbar zu seinen Artgenossen wollte. Ein ganzes Nest dieser Kreaturen hatte sein Lager im linken Knie des Zombie-Gottes eingerichtet. Sie fragte sich, ob die Krab benwesen und die Fledermausfamilie, die sie im ausge höhlten Brustkorb des alten Totenbeschwörers hängen sah, in irgendeinem Jäger-Beute-Verhältnis zueinander standen. Svogthir war eigentlich eine Unmöglichkeit. Nichts, was sich in diesem Zustand befand, sollte eigentlich in der Lage sein, zu denken, geschweige denn Scherze zu machen. Trotzdem existierte er und diente als Nistplatz für Ungeziefer und Ähnliches. Er war auf der ganzen Welt wohl das älteste mit Bewusstsein begabte Wesen, obwohl er im Grunde genommen gar nicht mehr lebte. »Gildenmeister Svogthir«, sagte Savra so respektvoll wie möglich. »Ich erbiete Euch meinen Gruß. Ihr müsst …« »Oh, ich muss gar nichts, außer hier herumsitzen. Ich nehme an, dass die Schwestern noch nicht tot sind, oder?« »Nein, noch nicht«, sagte Savra. »Helft mir, und ich 220
werde sehen, was ich dagegen unternehmen kann.« »Oh, ich bin mir sicher, dass du das wirst, meine Hüb sche«, keuchte Svogthir. »Vergib mir, es ist lange her, dass jemand so weit gekommen ist. Ich bin es nicht mehr gewohnt, so viel zu reden. Ich hätte es wissen sollen, dass die beste Kandidatin zur Jahrtausendwende vorbei kommt. Irgendwie ist da ein Muster zu erkennen.« »Da habt Ihr Recht«, sagte Savra. »Ich vermute mal, dass du nicht ohne Hilfe hierher ge kommen bist. Stört es dich, wenn ich mal kurz nach schaue?« »Was?«, sagte Savra, aber bevor sie noch einen Ein wand erheben konnte, spürte sie eine wabernde Präsenz, die sich ungehindert in ihrem Gehirn breit machte. Svogthir sickerte schmerzhaft durch ihre Gedanken, floss durch die Hindernisse, die sie ihm in den Weg stellte. Ein paar Sekunden später war die Präsenz wieder ver schwunden. Sie hielt sich mit beiden Händen die Schlä fen. Ihre Knie zitterten, aber es gelang ihr, das Gleichge wicht zu halten, bis der stechende Schmerz verebbt war. »Ja, das tat weh, nicht wahr?«, sagte Svogthir. »Ich habe es genossen, das gebe ich gern zu. Du bist eine sehr vielschichtige Elfin, wenn man bedenkt, dass du erst ein paar Jahrhunderte hast vorbeiziehen sehen. Obwohl die Netzaugen da ja hilfreich sind, wenn ich das hinzufügen darf. Ich würde mich gern bedanken, glaube aber ir gendwie nicht, dass du das für angebracht hältst.« »Nein«, sagte Savra mit zusammengebissenen Zähnen. »Habt Ihr wenigstens das gefunden, wonach Ihr gesucht 221
habt?«
»O ja, o ja, in der Tat«, kicherte der Zombie-Gott. »Ich hatte dergleichen auch vermutet. Ja, wirklich alles ziem lich interessant. Nun gut, ich werde dir helfen.« »Warum sollte ich Euch vertrauen?« »Oh, das solltest du auch nicht, jedenfalls nicht ganz«, antwortete der Zombie-Gott. »Das wäre ein dummer Feh ler, mein Mädchen. Svogthir kann man in den meisten Angelegenheiten nicht trauen. Du kannst mir aber glau ben, dass ich nicht vorhabe, wieder über diese Gilde zu herrschen. Neun Jahrtausende oben und ein weiteres hier in dieser trostlosen Einsamkeit haben dazu geführt, dass ich wirklich keine Lust mehr auf diese Welt habe. Falls du willst, kannst du sie haben. Alles, was ich will, ist Rache.« »Stimmt das wirklich?«, fragte Savra. »Du weißt, dass das wahr ist, sonst hätte dein … ›Ver bündeter‹ dich nämlich nicht zu mir geschickt.« »Du weißt von …?« »Ich habe in deinem Kopf nicht nach Kochrezepten gesucht, Priesterin«, sagte Svogthir. »Also, ich werde dir unter zwei Bedingungen helfen.« »Und die wären?« »Zuerst musst du etwas mit diesem Haufen Schrott an stellen, in den sie meinen armen Körper verwandelt haben. In diesem Zustand kann ich die Schwestern auf keinen Fall für dich töten. Findest du nicht auch?« »Das geht in Ordnung«, sagte Savra. »Und die zweite lautet wie?« »Sobald die Schwestern besiegt sind, sollst du mich 222
richtig zerstören. Du hast die nötige Macht dazu, Matka. Sie ist dir durch das Recht deines Titels und deine Fähig keiten in der Totenbeschwörung gegeben. Ich bitte also darum, dass du sie an mir ausübst, sobald die Schwestern besiegt sind.« »Das ist doch Wahnsinn«, sagte Savra. »Warum sollte ich glauben, dass Ihr Euch nicht gegen mich wendet?« »Würdest du gern tausend langweilige Jahre in einer Gefängniszelle sitzen oder lieber eine Stunde damit verbringen, deine meistgehassten Feinde mit bloßen Händen in Stücke zu reißen?«, polterte der Zombie-Gott. »Die da oben haben mich vergessen. Sie sollen sich noch einmal richtig an mich erinnern.« »Die Leute erinnern sich an Euch«, sagte Savra. »Ihr seid ein Gott unseres Volkes.« »Genau. Ein Gott. Nichts Wirkliches. Ich würde lieber euer heiligstes Artefakt werden. Dein Stab nämlich«, erklärte er. »Sobald ich hinüber bin, wirst du meinen Kopf – oder was auch immer von mir übrig bleibt – zu den Totems, die du mit dir führst, hinzufügen. Dies zu tun, musst du mir jetzt gleich schwören, oder wir blasen den ganzen Handel ab.« »Wisst Ihr, Gildenmeister«, sagte Savra. »Die Legenden über Euch, die besagen, dass ihr völlig verrückt seid, scheinen nicht ganz richtig zu sein.« »O nein, ich bin schon ziemlich verrückt«, antwortete Svogthir. »Vertraue mir. Niemand beschäftigt sich so gründlich mit seinen Plänen wie ein verrückter Zauberer. Besonders wenn er so gelangweilt ist. Bist du mit unserer 223
Abmachung einverstanden, Matka Savra?« »Das bin ich«, antwortete Savra.
K
Weniger als eine Stunde später hatte Savra alles ausge breitet, was sie benötigte, um den Zombie-Gott neu zu erschaffen. »Darf ich Euch eine Frage stellen?«, sagte Savra, wäh rend sie sorgfältig ein Gramm eines grünen Pulvers abmaß, um es dann über die geheimnisvollen Symbole zu streuen, die sie gleichsam gewissenhaft mit Kohle auf den Boden gezeichnet hatte. »Natürlich«, keuchte Svogthir. »Ihr seid der größte Totenbeschwörer, den diese Welt je gesehen hat«, sagte sie. »Warum habt Ihr es da zugelas sen, dass Euer Körper so verfällt? Warum benötigt Ihr mich, um Euch wiederzubeleben? Ich hatte immer ge hört, dass dies hier …« Sie deutete auf seinen herunterge kommenen Flickwerkkörper. Er war inzwischen in ein dichtes Netz aus Kletterranken eingewickelt, die sie aus alten Samenhülsen beschworen hatte, die sie im Fleisch des Zombie-Gottes gefunden hatte. Die Ranken würden ihn zusammenhalten, während sein nekrotisches Gewebe neu wuchs. Dadurch konnte er sich auch nicht bewegen und irgendeinen wichtigen Teil des Vorgangs unbeabsich tigt stören. Sobald sie damit fertig war, Svogthirs vier neue Gliedmaßen zu befestigen, würden sich die Ranken mit Blut und Nekromark füllen, in seinem neuen Körper 224
verschwinden und eine zusätzliche Muskulatur bilden. Für einige Zeit würde die Stärke des Zombie-Gottes grö ßer sein, als sie zu seiner Blütezeit war. Zumindest für einige Zeit. Trotz Svogthirs edlen Wor ten würde wirklich nur ein Dummkopf ihm sein ganzes Vertrauen schenken. Für die Golgari war die mythische Gestalt, zu der Svogthir geworden war, sowohl Teufel als auch Erlöser. Sein Name wurde sowohl als Fluch wie auch als Segensspruch verwendet. »Du verstehst das nicht«, sagte Svogthir, »was mich aber auch nicht überrascht. Das war mein Fehler, wirk lich. Ich habe so viele lange Stunden damit verbracht, mir vorzustellen, wie ich diesem traurigen Ort entkommen würde, dass ich manchmal vergesse, was ich dir schon erzählt habe und was nicht.« »Die Krabben haben einen Teil Eures Gehirns wegge fressen. Das war sicherlich nicht sehr segensreich für Euch.« »Ich nehme es meinen einzigen wahren Gefährten der letzten tausend Jahre nicht übel, wenn sie sich ab und zu mal bedienen«, sagte Svogthir. »Aber das ist irrelevant. Jede Macht, die ich hatte, um die Toten wiederzubeleben, und das schließt mich selbst ein, ist schon lange ver schwunden.« »Wie ist das möglich?«, fragte Savra und hob eine Hand, bevor Svogthir antworten konnte. Sie flüsterte genau vierundvierzig Sekunden lang einen ruhigen Ge sang und ließ ihre Hand erst wieder fallen, als die Symbo le eines nach dem anderen zu glühen begannen. Für 225
jeden neuen Arm und für jedes neue Bein war ein eigenes Symbol vorgesehen. Zudem gab es in der Mitte ein be sonders großes, das für Svogthir selbst stand. »Jetzt könnt Ihr weitererzählen.« »Die Schwestern verwenden ihre Macht anders als du oder ich«, fuhr Svogthir fort. »Sie verstehen die geheimen Mechanismen nicht, sie begreifen noch nicht einmal die Grundmechanismen der Totenbeschwörung. Aber sie zehren, Devkarin, sie ernähren sich von mehr als nur Fleisch. Sie verzehren rohe Macht, ob sie magisch, über natürlich oder natürlich ist. Sie sind wie die Mondeichen, die an Flüssen wurzeln und sie leer saugen. Ihre Tentakel bestehen aus reiner Willenskraft, und sie greifen damit nach mir. Sie haben mich schon vor langer Zeit ausge saugt und dabei meine Kräfte verbrannt. Selbst jetzt, wo du mein Gefängnis entsiegelt hast, kann ich nichts mehr davon spüren. Ich kann dich spüren, ich kann den ver faulten Geruch des Lebens überall spüren, aber die Toten sprechen nicht mehr mit mir.« »Wartet noch eine Minute. Ihr werdet überrascht sein«, sagte Savra. »Ihr werdet so gut wie neu sein, wenn ich mit allem fertig bin.« Zumindest für einige Zeit, fügte sie im Stillen hinzu. »Devkarin, ich bin für niemanden mehr von großem Nutzen außer vielleicht als Rammbock«, keuchte der Zombie-Gott. »Es gefällt mir. Falls der alte Cisarzim das sehen könnte … Das hier ist sein Oberkörper, wusstest du das?« »Nein«, sagte Savra. Sie hörte nicht richtig zu, weil ihre 226
ganze Konzentration auf die nächste Verzauberung gerichtet war. Sie griff nach einem weiteren der unzähli gen Beutel, die sie bei sich trug, und knotete die Lederschnüre auf. Sie zog ein einzelnes getrocknetes silbergrü nes Blatt heraus, zerrieb es zwischen den Händen und näherte sich dann Svogthir damit. »Die neuen Arme und Beine sind an Ort und Stelle. Jetzt muss ich nur noch alle Zwischenräume füllen. Schreit möglichst nicht. Hier drinnen würde es sonst ein ganz schönes Echo geben.« Sie streckte die Hand aus, die Faust immer noch um die Blattkrümel geschlossen. »Was jetzt kommt, wird etwas wehtun.« »Das hoffe ich doch«, sagte Svogthir. Savra öffnete die Faust und blies hinein. Die silbernen Teilchen verteilten sich im Fackellicht und fielen wie brennende kleine Schneeflocken auf den Zombie-Gott hinunter. Sie drehte sich um, ging zum exakten Mittel punkt der Symbole und kniete sich dort mit gebeugtem Kopf und ausgestreckten Armen nieder. Savra begann mit ihrem Zaubergesang. Trotz ihrer Bit te zuvor schrie Svogthir wie am Spieß. Zuerst wuchs sein Oberkörper nach. Die gezackten, zerbrochenen Rippen, die seinen ausgehöhlten Brustkorb einrahmten, setzten sich wieder zusammen, während schwärzlich grünes Moos die Spalten zwischen den Rippen auffüllte. Es bildeten sich zähe Muskeln und drückten graue Rindenhaut durch die zersprungene alte Haut. Winzige hölzerne Stacheln schoben sich durch Svogthirs neue Haut und bildeten die Festpunkte für das 227
Netz aus wuchernden Ranken, die kreuz und quer über ihn krochen. Die Ranken dehnten sich und griffen auch auf die neuen Körperteile über. Svogthir würde nie wie der geliehene Arme und Beine benötigen. Savra stellte ihm eigene Gliedmaßen zur Verfügung, die zudem maß geschneidert waren – und viel stärker als alles, was er von Spenderkreaturen bekommen hatte. Svogthir schrie in genüsslichem Schmerz immer lauter und zwang Savra dadurch, ebenfalls lauter zu werden, damit sie den eigenen Gesang überhaupt noch verstand. Der lange Zaubergesang musste dreimal wiederholt werden, ohne dass man dabei einen Fehler machen durfte. Andernfalls wäre alle Mühe vergebens gewesen. Aber Savra ließ sich nicht so leicht aus der Konzentration reißen. Als der Gesang und Svogthirs Schreie sich zu einem einzigen Ton vereinigten, der eine ohrenbetäu bende Lautstärke erreichte, sprang Savra auf die Beine. Sie ließ ihre Arme weit ausgestreckt und warf den Kopf in den Nacken. Sie steigerte die letzte Silbe des Gesangs in einen Schrei, der dem des Zombie-Gottes in Intensität und wohl auch an blankem Schmerz gleichkam. Aus den Symbolen auf dem Boden schossen grüne Flammen. Savras Knochen dienten als Leitung, von dort aus floss die Energie in Svogthir. Seine winzigen Dornen wurden zu schützenden, giftigen Stacheln, die aus den Schultern, den Armen und der Rückseite seiner Beine ragten. Begleitet von gequält klingendem Knarren und Ächzen, wuchs das Hartholz unter Savras Anleitung. Das Ganze würde etwaige Angreifer – vor allem Missbildun 228
gen – in Schach halten und bei Bedarf auch gut als Waffe dienen. Die gesamte Prozedur dauerte fast zehn Stunden lang, aber als Savra endlich ihren Gesang in die verrauchte Luft ausklingen ließ, war der Zombie-Gott wieder komplett. Der wiedergeborene Svogthir war nicht länger ein Toten beschwörer oder Gildenmeister. Sie brauchte keinen weiteren Totenbeschwörer. Er war ihr Avatar, ein Krieger, ein Riese aus rohen Muskeln und hölzernen Knochen. Sie brauchte eine Waffe, und das war er auf alle Fälle. Savra hätte etwas Ähnliches auch allein herstellen kön nen, aber das wäre nur ein hirnloses Wesen gewesen und damit eine einfache Beute für die Horden der Missbildun gen. Svogthir dagegen brannte wie wild auf einen Kampf, und sie würde ihn gewähren lassen, solange er ihren Zwecken diente. Savra war von ihrem Plan überzeugt, aber es war ihr auch bewusst, dass sie sich auf etwas äußerst Gefährli ches eingelassen hatte, indem sie einen derartigen Krie ger für sich einspannte. In dem verwitterten Schädel blitzten kleine Augen auf. Der Kopf war der einzige Teil des Zombies, der unverän dert geblieben war. Er war selbst gegen Savras Magie immun gewesen. Svogthir streckte seine angeschwolle nen, grauen Arme aus, was die Stacheln an den Armen und Beinen und am Rücken zum Klappern brachte. Er stemmte sich aus dem Knochenthron, der ein Jahrtau send lang seine Grabplatte gewesen war, dehnte die Beine und probierte ein paar Schritte. Die dicken, lederartigen 229
Baumstämme waren von pulsierenden grünen Ranken umgeben, was sie wie zwei knorrige Sumpfbäume ausse hen ließ. Der Zombie-Gott richtete sich zu seiner vollen Größe auf, und ein Lächeln wanderte auf sein im Ver gleich zum Rest viel zu kleines Gesicht. »Das«, knurrte er mit einer Stimme, die dröhnend von den Zellenwänden widerhallte, »hat sich richtig gut ange fühlt.« Er ballte die eine Hand zu einer felsbrockengroßen Faust und hob sie über Savras Kopf. »Ich kann einfach nicht glauben, dass du auf mich hereingefallen bist. Meine Macht mag zwar ausgesaugt worden sein, aber ich werde sie mir zurückholen – und ebenso meine Gilde. Aber zuerst werde ich mich um dich kümmern, Prieste rin.«
K
Fonn hörte das knisternde Feuer und öffnete die Augen. Sie lag auf dem Rücken in einem Bett aus feuchtem Stroh. Der verschimmelte Raum roch nach toten Nagetie ren, Lehmboden und Schwefel. Sie stellte fest, dass der Geruch nach toter Ratte von der Felldecke kam, mit der sie von der Hüfte abwärts bedeckt war. Der sauer schweißige Geruch mischte sich mit dem stechenden Rauch verbrennenden Holzes. Sie drehte den Kopf nach rechts und sah, dass sie neben einem flackernden kleinen Feuer lag, das auch die einzige Lichtquelle dieses abge schlossenen Raums war. Von ihrem Blickwinkel vom Boden aus sah sie Spinnen und anderes Getier über die 230
überwachsenen Wände krabbeln sowie die obere Hälfte einer schweren Holztür, die fest verschlossen zu sein schien. Irgendwo musste ein Teil der Decke fehlen, sodass der Rauch aus dem Raum abziehen konnte, aber außer diesem wahrscheinlich eher kleinen Loch und der Tür schien es keine andere Öffnung nach draußen zu geben. Von dem Ungeziefer an der Wand abgesehen, war sie allein. Daher war die Stimme, die sie auf einmal hörte, umso überraschender. Du bist in Sicherheit. Die Stimme konnte aus ihrem Kopf stammen, konnte aber auch ein Echo in dem klei nen Raum gewesen sein. Sie war immer noch zu benommen, um das beurteilen zu können. Warte ab. Alles hängt an dir. Es klang vertraut und fühlte sich auch so an. Weil das alles war, was die Stimme sagte, entschied Fonn nach kurzem Überlegen, dass sie sich das nur eingebildet hatte. Wahrscheinlich waren es die letzten flüchtigen Worte von jemand, von dem sie geträumt hatte. Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Nein, hier war nie mand. Die Stimme war eine Illusion. Der heilige Bayul war nirgendwo in dem stickigen kleinen Raum zu finden, und es gab auch kein Lebenszeichen von Biracazir. Und wo auch immer sich dieser Raum befand – sie bezweifel te, dass er in der Nähe des Zinnstraßenmarkts lag. Etwas beziehungsweise jemand musste sie vor der Ex plosion gerettet haben. Was nur bedeuten konnte, dass 231
der Betreffende gewusst hatte, dass die Explosion erfol gen würde. Die schattenartige Gestalt musste durch einen Chamäleonzauber verzaubert gewesen sein. Wahrschein lich hatte sie sich die ganze Zeit über unsichtbar an ihrem Tisch befunden. Wenn Fonn sich es recht überlegte, war ihr Retter möglicherweise nicht einer von der vertrau enswürdigen Sorte. Bisher hatte sie ihren Glauben immer für unerschütter lich gehalten. Jetzt stellte sie fest, dass sie sich fragte, ob Bayul wohl gewusst hatte, dass die Gestalt dort gewesen war, ob ihr Entführer vielleicht just die Person war, die sie dort hatten treffen sollen. Dann überkam sie eine Welle tiefster Scham darüber, dass sie die Motive des alten Elefanten infrage gestellt und ihm ein Täuschungs manöver zugetraut hatte. Fonn stand auf und ging wacklig in Richtung Tür, blieb aber auf der Stelle stehen, als sie leise Schritte hörte, die sich der Tür von der anderen Seite schnell näherten. Normale Menschenohren hätten wahrscheinlich nichts mitbekommen. Jemand schlich mit der Gewandtheit einer Katze auf die Tür zu. Fonn griff an ihren Gürtel und schlug sich dann gegen die Stirn. Ihre Schwertscheide war leer, ebenso die klei nen Beutel, in denen sie üblicherweise Essen, Medizin und Werkzeug mit sich trug. Ihre Uniform war – wie sie selbst – allerdings zum Glück intakt. Irgendwie war es ihr gelungen, mit ein paar Kratzern und Schrammen davon zukommen. Der Riegel klickte, aber die Tür öffnete sich nicht. Es 232
gab ein weiteres Klicken, und dann noch ein drittes. Die Tür besaß offenbar ein kompliziertes Schloss. Fonn benötigte eine Waffe. Sie überlegte, ein Scheit aus dem Feuer zu ziehen, aber was auch immer dort brannte, glich eher einem getrockneten Seil und verdien te sicher nicht die Bezeichnung Waffe. Das Schloss klickte ein viertes Mal, dann verschob sich ein Bolzen innerhalb der Tür. Fonn ließ den Blick auf der Suche nach einem Stein über den Boden schweifen, aber man hatte dafür gesorgt, dass hier nichts herumlag, was als Waffe taugte. Im ganzen Raum gab es nichts außer der Zudecke und dem kleinen Lagerfeuer. Fonn hatte eine Idee. Die Halbelfin raffte die Decke auf, rollte sie zusammen und trat einen Schritt zurück. Zwei weitere Bolzen wurden verschoben, und die Tür schwang nach innen auf. Fonn konnte im Feuerlicht einen flüchtigen Blick auf einen bleichen Elfen werfen, dann trat sie gegen das kleine Häufchen aus brennenden Ranken. Asche und Funken stoben in einer Wolke vor ihr auf, und sie schlug mit der zusammengerollten Decke wie mit einer Peitsche zu. Ein bleicher Arm fuhr heraus und schnappte sich ihre selbst gebastelte Waffe mit der Geschwindigkeit einer zubeißenden Kobra. Der Elf konnte Fonn die Felldecke problemlos aus den Händen reißen. In ihrer geschwäch ten Verfassung konnte sie einfach nicht dagegenhalten. Mit dem Mut der Verzweiflung beugte sie den Kopf, senkte eine Schulter und rannte los. 233
Der Elf trat zur Seite und zog ihr mit einem leicht an gehobenen Fuß die Beine weg. Die Ledev krachte auf den schleimigen Boden des feuchten Gangs vor der Zelle. Fonn konnte einen flüchtigen Blick auf ein Dutzend glühender Augen am anderen Ende werfen, bevor der Elf sie am Kragen packte und wieder in den kleinen Raum zurückschleppte. Er drückte sie mit so viel Kraft gegen die Wand, dass sie kurz betäubt war. Gebückt nahm er vom Boden eine der Spinnen auf, die dort entlanghuschten. Er stand wieder auf und streckte ihr die Hand entgegen. »Vergib mir«, sagte der Elf höflich. »Das ist normaler weise nicht mein Stil, aber du musst noch eine ganze Weile schlafen.« Er hielt ihr die Hand mit der Spinne an den Nacken. Fonn spürte einen kleinen Stich, als die Spinne zubiss. Eine Sekunde später fiel sie bewusstlos in Jarads Arme.
234
Kapitel 9
H
Mehr als alles andere sollte man berücksichtigen, nie etwas zu erzeugen, das man nicht auch wieder zerstören kann. Matka Tajini (331 – 612 Z.C.), aus den Matka-Schriftrollen
25. Zuun 9999 Z. C., frühmorgens »Ihr könnt Euren Arm nicht bewegen«, sagte Savra. »Ihr könnt gar nichts bewegen, solange ich es nicht will. Ich bin enttäuscht von Euch, Gildenmeister. Ich hatte gehofft, dass wir zum Besten der Gilde zusammenarbeiten könn ten.« Svogthir knurrte vor sich hin. »Ich wollte dich einfach töten, und dann wäre es gut gewesen. Jetzt werde ich mir eben Zeit nehmen müssen. Ich werde dich langsam verzehren, mein Mädchen.« »Das mag sein«, sagte Savra. »Aber dafür müsste ich Euch erst einmal in meine Nähe lassen.« »Du spielst mit einem Gott«, sagte Svogthir. Seine Stimme war um mehrere Oktaven gefallen. »Du glaubst, dass ich nicht …« Der Zombie-Gott bewegte zwar nach wie vor seinen Mund, aber es kam kein weiterer Ton heraus. 235
»Ihr kontrolliert den Kopf, aber ich kontrolliere den Körper. Ich befehlige die Lunge, die die Luft in Euren verrotteten Kehlkopf presst.« Sie kniff die Lippen zu einem dünnen Lächeln zusammen. »Ihr werdet nicht sprechen. Ihr werdet Euch nicht bewegen. Ihr werdet nicht atmen, wenn ich es nicht erlaube. Euer Körper, Gildenmeister, gehört nicht Euch. Er gehört mir. Falls Ihr nicht das tut, was ich von Euch verlange, können wir sofort alles abbrechen. Dann werde ich einen anderen Weg finden, um die Golgari zu retten.« Svogthir schäumte still. Sein Mund knurrte tonlos, während seine Faust immer noch wie festgefroren über Savras Kopf hing. »Ich merke, dass Ihr noch nicht überzeugt seid«, sagte Savra. »Auch gut.« Sie zeigte auf den Arm des ZombieGottes und flüsterte ein paar Worte, die sie einmal in einem verworrenen Absatz in den Matka-Schriftrollen gefunden hatte. Sie wusste, dass Svogthir dieses Doku ment nie zu Gesicht bekommen hatte. Die Schriftrollen waren das Vermächtnis aller Matkas, die es vor ihr gege ben hatte, und jede Matka hatte die darin enthaltenen Geheimnisse eifersüchtig bewahrt. Svogthirs rechte Hand streckte und öffnete sich. Sein Arm senkte sich, griff über seinen Körper und packte seinen linken Arm am Ellenbogen. Savra machte erneut eine Handbewegung, und Svogthirs rechter Arm fing an, gewaltsam seinen Gegenpart zu verdrehen, bis die Kno chen wie ein trockener Schössling knackten und brachen. Svogthirs offener Mund konnte nicht schreien, wie sehr 236
der Zombie-Gott das auch versuchte. Savra gab ihm einige Augenblicke, um das Geräusch seiner zersplitternden Knochen zu verarbeiten, dann befahl sie dem Arm, mit seinem Tun aufzuhören. Sie hielt ihren Stab über den Kopf. »Ich könnte Euch wie eine Marionette kontrollieren und Euch dazu verwenden, mir meinen Weg zu den Schwestern freizuhauen, aber das würde mir nicht weiterhelfen«, sagte sie. »Ich will die Missbildungen nicht tot haben. Ich will ihre Anführerin sein. Ich will sie vereinigt sehen. Mit dieser Gilde ist es stetig bergab gegangen, seit die Schwestern das Kom mando übernommen haben, aber nicht alle Chimären rassen sind wie sie. Ich kann diese Gilde vor sich selbst retten. Ich kann sie vor den Gorgonen retten und wieder zu alter Größe zurückführen.« Svogthir gab es auf, schreien zu wollen, und schloss den Mund. Er warf der Priesterin einen bittenden Blick zu. Mit einer Handbewegung gab sie die Zunge des Zom bie-Gottes frei. »In Ordnung«, sagte Svogthir. »Du hast deinen Stand punkt klar gemacht.« Er holte einmal tief Atem, bis es in seiner Lunge rasselte, und seufzte. »Es ist besser als das Gefängnis. Ich werde es tun.« »Ohne Fragen?« »Ohne Fragen.« »Gut«, sagte Savra. Wieder machte sie eine Handbewe gung, und der Zombie-Gott entspannte sich. »Und jetzt?«, sagte Svogthir. »Du hast mich dort, wo du mich haben willst. Was soll ich für dich tun?« 237
»Ihr macht Euch auf den Weg nach oben, um zurück zuholen, was die Schwestern Euch gestohlen haben«, sagte Savra. »Und dann werdet Ihr es mir übergeben. Wenn endlich eine Devkarin die Kontrolle über die Gilde übernimmt, werden die Golgari eine neue Blütezeit erleben.« »Und was ist, wenn ich mich entschließe, sie zu war nen?« »Ihr hasst sie, Gildenmeister«, sagte Savra, »und sie has sen Euch in gleichem Maße. Außerdem fürchten sie sich vor Euch und trauen Euch nicht.« »Mit gutem Grund.« »Genau«, sagte Savra. »Es würde nichts ausmachen, was genau Ihr sagen würdet. Sie würden Euch innerhalb von Sekunden jede Missbildung, die sich im Labyrinth befindet, auf den Hals hetzen. Ich habe zwar gute Arbeit geleistet, aber unzerstörbar seid Ihr dennoch nicht. Sie würden Euch zerfetzen, und ich wäre wieder zurück am Ausgangspunkt.« »Du stehst im Moment zwar nicht gerade hoch in mei ner Gunst, Elfin«, sagte Svogthir, »aber du kennst mich bereits gut. Du hast bewiesen, dass du mich so einfach zerstören kannst, wie du mich wiedererschaffen hast. Es ist sinnlos, mich dir widersetzen zu wollen. Aber hör mir kurz zu. Ich mache einen Vorschlag. Nimm ihn an, dann werde ich nicht nur tun, was du verlangst, sondern es auch noch gern tun.« »Um was geht es?«, fragte Savra. »Lass mich mit dir zusammen herrschen«, sagte er. »Du 238
wirst eine Galionsfigur brauchen. Du kannst die Gilde leiten, kannst sie wohlhabend machen, wenn du willst, oder sie ausbeuten und jeden Zombie in Alt-Ravnica dazu zwingen, sich die eigenen Arme auszureißen – das ist mir ganz einerlei. Das ist der Teil der Macht, den ich lange genug hatte. Sieh es einmal aus diesem Blickwinkel: Savra als Gildenmeisterin und Herrin des verloren ge gangenen Parun.« Savra grinste ihn an. Er wollte irgendetwas, was nah genug an der wahren Macht war, um in der Lage zu sein, eines Tages nach ihr greifen zu können. Sie hatte diesen Vorschlag von ihm erwartet. Svogthir hätte sich nicht so lange an der Macht gehalten, wenn er nicht gelernt hätte, wie man Absprachen traf. Aber das galt auch für sie. »Aus Euch eine Galionsfigur machen?«, sagte die Prie sterin. »Gildenmeister, ich habe das Gefühl, dass Ihr abermals in meinen Gedanken gelesen habt.«
K
Weit über Savra und Svogthir saßen die drei Schwestern auf einem kleinen Gebirge aus Gold und Juwelen. Zu sammen mit ihrem versammelten Hofstaat betrachteten sie die Bewegungen der Priesterin in der spiegelnden Oberfläche eines ruhigen Bassins, konnten aber ihre Worte nicht hören. Wahrscheinlich hätten sie Savra sowieso nicht hören können, da es in ihrer Höhle immer äußerst laut war, wenn der Hofstaat zusammengetreten war. Und er war jetzt bereits seit tausend Jahren ununter 239
brochen zusammengetreten. Die Körper der Gorgonen glichen denen von unnatür lich schlanken Menschenfrauen, aber die Ähnlichkeiten existierten sonst höchstens oberflächlich. Die Schwestern des Steinernen Todes waren weiblich, aber sie waren alles andere als Menschen. Auf ihrem Kopf trugen sie Nester aus schlangenartigen Tentakeln, die sich in dauer hafter Bewegung befanden. Ihre Augen, die keine Pupil len besaßen, glühten sanft, und ihr Maul strotzte vor dolchartigen scharfen Zähnen. Verschiedene Geräusche in sämtlichen Tonlagen sorg ten also für eine laute Geräuschkulisse, während die versammelte Horde dabei zusah, wie der Zombie-Gott wieder zusammengesetzt wurde. Die Missbildungen waren die Gruppierung innerhalb der Golgari, deren Mitglieder biologisch am unterschiedlichsten waren. Sie waren in unzählbar viele Stämme und Clans unterteilt und eher durch das vereint, was sie nicht gemeinsam hatten als umgekehrt. Sie gingen normalerweise nicht auf zwei Beinen wie Menschen oder Humanoide, und das hatte sie in tausenden von Jahren zusammengeschweißt. Inzwischen bildeten sie fast schon einen Überstamm innerhalb der Gilde. Wie alle Golgari gehorchten sie den Schwestern. Sie liebten ihre Herrinnen, und ihre Herrin nen liebten sie auch. Doch jetzt kam der alte Parun ihrer Gilde zurück, ein Gott, dem eine Gestalt gegeben wurde. Bereits sein Anblick weckte in ihnen den Stolz ihrer Vorfahren, den viele von ihnen vorher nie gekannt hat ten. 240
Und zudem waren sie auch alle immer für eine gute Vorstellung zu begeistern. »Sssie hat ihn gefunden«, zischte Lydya, die jüngste der Schwestern. »Sssie hat ihn neu zssusssammengebaut.« »Unssser Ssspiel ist unklug«, sagte Lexya, die mittlere des Trios. »Du unterschätzsst die Priesssterin, Ludmilla. Kannssst du dich noch daran erinnern, wasss esss unsss beim ersssten Mal gekossstet hat, ihn zssu besssiegen?« »O ja«, sagte die dritte Gorgo, die Ludmilla genannt wurde. Sie war die älteste und weiseste des Trios. »Ich erinnere mich. Dessswegen wird sssein zssweiter Tod auch ssso sssüß für unsss sssein.« »Und die Devkarin?«, fragte die erste Schwester. »Wasss issst mit der Matka?« »Sssie issst nur ein Kind, sssie wird keine Aussswirkun gen haben«, sagte Ludmilla. »Wenn der Zssombie-Gott fällt, wird sssie unter dem Gewicht ihrer Hybrisss zsser quetscht werden. Wir werden eine neue Matka bekom men. Wir können die Posssition natürlich auch aussster ben lasssen. Die Matkasss machen nur Ärger.« »Und du bissst dir sssicher, dasss der Zssombie-Gott fallen wird, Schwessster?« Ludmilla lächelte und fletschte die Zähne. »Schau zssu.«
K
»Sehr eindrucksvoll«, sagte Savra. »Aber Ihr verschwendet
nur Eure Zeit. Tötet sie einfach, Gildenmeister. Sie haben
241
kein Hirn und sind uns im Weg.« Sie blickte in dem engen, sich windenden Tunnel vor und zurück, sah aber nichts als Dunkelheit und Überreste eines Blutbads. »Ich sagte doch, dass du mich Svogthir nennen sollst«, knurrte der Zombie-Gott. Er riss einem Riesenkäfer, den er auf den Rücken gedreht hatte, ein Bein von der Größe eines Elfen aus. Er zerbrach das Chitin über seinem Knie und hob das grausige Ding dann an seinen vergleichswei se winzigen Mund, um laut schmatzend das Käferfleisch herauszusaugen. »Ah, das war erfrischend«, sagte er. Sie hatten bereits sieben Ebenen der labyrinthartigen Pyramide durchquert, wobei Svogthir voranging und Savra sich hinter ihm hielt, um auf mögliche Angriffe von hinten zu achten. Bislang hatte sich aber noch kein Feind von dort genähert. Svogthir wusste, was er zu tun hatte. Jetzt waren die Schwestern am Zug. Bisher hatten sie sich durch eine erbärmliche Ansammlung von Käfern und hirnlosen Bestien hindurchkämpfen müssen, aber bald würden sie auf die ersten echten Missbildungen treffen – Kreaturen, die sich wie Tiere fortbewegten, aber die Intelligenz von Menschen besaßen. Genauso sicher war sich Savra, dass die Schwestern ihnen zuschauten. Sie konnte die kalte Berührung des Wahrsagebeckens spü ren, als ob sich ein Ölfilm auf ihre Haut legte. Bis jetzt hatten sie ihre Rolle als selbstsichere Eindring linge, die sich wie so viele vor ihnen in dem Labyrinth der Pyramide verlaufen hatten, gut gespielt. Schon bald würde eine glaubwürdige Herausforderung auf sie zu kommen, und Savra müsste sich endgültig zu ihrem 242
Verrat bekennen. In absehbarer Zeit würde hoffentlich etwas zumindest halbwegs Intelligentes sie angreifen, damit Svogthirs Rolle in ihrem Plan greifen konnte. Als hätte sie sie mit ihren Gedanken heraufbeschwo ren, griffen plötzlich von allen Seiten auf einmal Harpy ien an. Sie kamen so schnell heran, dass es Savra nicht gelang, sie zu zählen, bevor die erste auch schon bei ihr war. Savra schlug das stumpfe Ende ihres Stabs in das Gesicht der Vogelfrau und zerschmetterte deren knorri gen, krummen Schnabel. Die Harpyie kreischte auf und torkelte, von ihrem eigenen Blut geblendet, gegen die Wand des Tunnels. Svogthir brüllte und griff sich mit beiden Händen eine Harpyie aus der Luft. Die Gänge des Labyrinths waren nach Elfenmaßstäben recht groß. Viele der Bewohner der Pyramide hatten entweder die Größe des Zombie-Gottes oder brauchten etwas Platz, um in der Luft manövrieren zu können, was auch für die nun angreifenden Vogel frauen galt. »Gildenmeister! Vergesst nicht, die hier am Leben zu lassen!«, brüllte Savra laut, um das Harpyienge kreisch zu übertönen. Sie wehrte mit ihrem Stab einen weiteren Angriff aus der Luft ab. »Hier werden wir begin nen, die Gilde zurückzuerobern, aber wir wollen doch, dass am Ende noch eine Gilde übrig ist, die wir überneh men können.« »Gilt das auch für die hier?«, fragte Svogthir, der zwei flatternd um sich tretende Harpyien an ihren Fußgelen ken festhielt. »Ja«, sagte Savra. »Aber du darfst ihnen gern noch einen 243
leichten Klaps geben.« »Das ist gut«, sagte Svogthir und schlug die beiden Har pyien mit ihren Köpfen zusammen. Die Harpyien waren nur der Anfang, denn es ging ähn lich weiter. Die Vogelfrauen wurden geschlagen und trugen einige Schrammen davon, aber sie lebten am Ende des Kampfes alle noch. Wie abgesprochen befahl Svogthir ihnen, als seine Herolde auszuschwärmen und den intelligenten Missbildungen die Warnung zukommen zu lassen, dass die Zeit der Schwestern jetzt enden würde. Der Parun komme zurück, wie so viele schon immer vorhergesagt hatten. Nach ein paar weiteren Scharmützeln musste der Zombie-Gott gar nicht mehr kämpfen. Schon bald wur den sie von einem kleinen Mob aus Harpyien, Greifen, Zentauren, Nagas und anderen Missbildungen durch die Gänge begleitet. Ihre neuen Verbündeten, die alle immer wieder einen verschämten Blick auf den Riesen warfen, dienten ihnen als Führer. Jedes Wesen, das ihnen begeg nete und sich weigerte, Svogthir und »seiner« Hoheprie sterin den Lehnseid zu schwören, wurde dem Zorn des Mobs überlassen.
K
»Wasss macht er da?«, zischte Ludmilla. »Er sssoll mit ihnen kämpfen und sie nicht auf ssseine Ssseite zssie hen!« »Du hassst gesssagt, dasss sssie nie ssso weit kommen 244
würden«, sagte Lexya. »Wasss sssollen wir tun?« »Wir sssind nicht ohne Verbündete«, sagte Ludmilla. »Wir haben unssseren Hofssstaat um unsss.« Ihre Handbewegung schloss die gesamte Empore ein. Eine Empore, auf der es plötzlich sehr viel leiser gewor den war. »Schwessstern?«, sagte Lydya. »Wo sssind nur alle hin?«
K
Zu dem Zeitpunkt, als sie den Punkt erreicht hatten, wo sich der breiter werdende Tunnel in die große Höhle öffnete, in der die Schwestern ihren Hort hatten, hatte Svogthir bereits eine ansehnliche Armee von Missbildun gen um sich geschart. Darauf hatten Savra und ihr verborgener Verbündeter gebaut. Sobald die Missbildungen einmal eingeschüchtert waren, würden sie dem Stärksten in ihrem Stamm die nen, wie auch immer ihr Stamm in diesem Moment aussehen würde. Keiner von ihnen außer den Gorgonen konnte sich an Svogthirs Zeit als Gildenmeister erinnern oder daran, wie sie geendet hatte. Sie sahen alle nur eine Legendengestalt beziehungsweise einen Gott, der zu ihnen zurückgekehrt war. Zudem waren in letzter Zeit viele von ihnen dessen überdrüssig geworden, dass die Gorgonen kein Interesse mehr an den Tag zu legen schie nen, sich um die Angelegenheiten der Gilde zu kümmern. Savra trat neben den Riesenzombie, dem man ansehen konnte, wie sehr er seine neue Rolle genoss. »Wir sind 245
fast da«, tuschelte sie ihm aus dem Mundwinkel zu. »Seid bereit!« »Bist du dir sicher, dass ich nur zwei von ihnen töten darf?«, fragte der Zombie-Gott so leise, wie er konnte. Der Krach, den die Horde der Missbildungen veranstaltete, sorgte dafür, dass ihn außer Savra keiner hören konnte. »Das scheint doch kaum den Ärger wert zu sein.« »Habt Geduld, Gildenmeister«, sagte sie. »Sie sind jetzt alle auf Eurer Seite, aber sie respektieren Stärke genauso wie Ehre. Du kannst nicht einfach alle drei Schwestern töten. Möglicherweise wird dann irgendwann irgendeine Bande einen Putschversuch unternehmen, genau wie die Schwestern es damals getan haben.« »Ich wusste gar nicht, dass Priesterinnen politisch so begabt sind.« »Die Priesterinnen, die Ihr einst kanntet, würden heut zutage keinen Tag überleben können«, sagte Savra. »Auf gepasst, jetzt kommt Euer großer Auftritt.« Svogthir stapfte die Stufen hinauf, die zum Schatzhort führten, und räusperte sich laut. Er hatte diese Halle einst selbst bauen lassen, um sie als Tempel seines zweifelhaf ten Ruhmes zu nutzen. Sie war von den Gorgonen so umgestaltet worden, dass sie darin Hofhalten konnten. Der vielstimmige Lärm verstummte fast ganz, nur verein zeltes Gejohle und Knurren war noch zu hören. Svogthir hob beide Hände, um die Aufmerksamkeit der Versam melten auf sich zu ziehen. »Missbildungen der Golgari«, begann er. »Die Schwe stern des Steinernen Todes sind nicht eure Gildenmeister. 246
Es gibt nur einen Gildenmeister, und der bin ich.« Die Bestien brachen in Anfeuerungsrufe aus. Jene Missbildungen, die über die Fähigkeit zu sprechen verfüg ten, riefen nun seinen Namen als rhythmischen Sprech chor: »Svogthir, Svogthir!« Der Zombie-Gott badete sich einen Moment lang in dieser Verehrung, dann schuf er mit einer Handbewegung wieder Ruhe. »Ich habe diese Gilde aus den Knochen und dem Fleisch dieser Welt aufgebaut. Vor zehntausend Jahren habe ich die Stämme der Missbildungen, die Zombievölker und die DevkarinElfen vereinigt – uns alle, wie wir hier stehen. Gemein sam sind wir stark. Neuntausend Jahre lang galt dies. Die Gilde hatte große Reichtümer und große Macht. Und heute? Wo ist unser Reichtum geblieben? Und was ist mit unserer Einigkeit geschehen?« Gemurmel und unschöne Tiergeräusche hallten durch den Raum. »Sie haben es!«, kreischte eine Harpyie. »Die Schwestern! Sie haben sich alles unter den Nagel geris sen!« Zustimmungsrufe ertönten, und der Zombie-Gott musste wieder für Ruhe sorgen, um weitersprechen zu können. »Mein Volk«, sagte Svogthir. »Wir können wieder groß sein. Wenn ihr euch von den Schwestern abwendet, werdet ihr belohnt werden. So stark, wie ich bin, werden wir alle sein. So großartig, wie ihr seid, werden wir alle sein.« Savra lächelte. Ihr Zombie-Gott hatte die Meute so weit, dass sie ihm aus der überdimensionalen Hand fraßen. Jetzt musste er nur noch genug Krach machen, bis die 247
Schwestern sich nicht länger in ihrem Schatzhort verber gen konnten. Savra wusste, dass sie zuschauten. Als hätten sie auf ihren Einsatz nur gewartet, ratterte auf einmal die schwere Steintür auf, die zum Schatzhort der Schwestern führte. Ranken, die dort ungestört ge wachsen waren, zerrissen geräuschvoll. Savra vernahm aus dem Hort ein bekanntes zischendes Geräusch. Die Schwestern erschienen, und ihre reptilienhaften Körper glitzerten im Licht der Fackeln und natürlichen Leucht masten. Sie bewegten sich als Einheit, als würden sie eine Bühne betreten, wobei Ludmilla vor ihren beiden Schwe stern die Stufen hochstieg. »Wasss sssoll dasss?«, zischte Ludmilla laut genug, dass die gesamte überfüllte Vorhalle es hören konnte. Sie warf einen Blick auf Savra, zumindest nahm Savra das an. Die Schwestern trugen alle eine ChamäleonsmaskenVerzauberung vor ihrem Gesicht. Dieser Zauber hatte gewisse Vorteile, wenn die Blicke von einem sonst tödlich waren. »Der Gefangene ist ausssgebrochen. Und unsssere Priesssterin bewegt sssich auf einem ganzss schmalen Grad.« Lydya und Lexya zischten Zustimmung. Savra hatte nur auf eine derartige Bemerkung gewartet. Sie trat vor und stellte sich wie ein Vasall vor Svogthir. Sie hatte sich ihre Worte sorgfaltig zurechtgelegt. »Ich diene dem wahren Gildenmeister«, sagte Savra. »Der Stärkste unter uns soll die Golgari anführen. Und der Zombie-Gott ist stärker als die Schwestern. Der Zombie-Gott soll über uns herrschen!« Sie drehte sich um und ging ein paar Stufen nach oben, damit sie von den Missbildungen 248
gesehen werden konnte. »Wir dienen dem Stärksten! Der Stärkste soll herrschen!« Sie wiederholte diese Schlacht rufe so lange, bis die Menge einstimmte und sie laut brüllend skandierte. Svogthir nickte ihr zu. »Gut gemacht.« »Aber doch mit größtem Vergnügen, Gildenmeister«, sagte Savra und verbeugte sich. Die beiden Gorgonen neben Ludmilla zischten und knurrten, aber diese schien die Ruhe zu behalten. Die Anführerin des Trios führte die Hand vor ihr Gesicht und zerrte die Maske herunter, worauf die Missbildungen sich in alle Ecken des Raums zerstreuten. Ein paar waren nicht schnell genug und schafften es nicht, den Augen kontakt mit den Gorgonen zu vermeiden. Eine der Harpy ien, die sich Svogthir und Savra gleich zu Anfang ange schlossen hatten, wurde sofort zu einem fliegenden Stein, krachte auf die Stufen und blieb dort zerschmettert liegen. Die versteinerte Vogelfrau hatte Savra nur knapp verfehlt, aber diese zuckte noch nicht einmal mit den Wimpern. Trotz der Gefahr schloss sie – anders als alle anderen Lebewesen im Raum – nicht die Augen. Natürlich drehte sie sich auch nicht zu den Schwestern um. Selbstmord würde ihre Probleme nicht lösen. »Svogthir der Große ist unser Parun und unser Gildenmei ster«, sagte Savra. »Ihr hattet eure Chance. Geht jetzt aus dem Weg, wenn ihr euch uns nicht anschließen wollt. Das ist die letzte Gelegenheit, Ludmilla.« Svogthir hatte die Arme in die Hüften gestützt und bis lang keinen Ton gesagt. Zuerst sahen nur Savra und die 249
Schwestern, dass er seinen Kopf hob, um Ludmilla direkt in die Augen zu schauen. Falls der versteinernde Blick der Gorgo einen Einfluss auf ihn hatte, dann war es der, ihn zu einem Grinsen zu bewegen. Als er sprach, wagten einige tapfere Kreaturen einen Blick in die Richtung der Stimme und sahen das Grinsen. Als Geflüster verbreitete sich die Nachricht blitzschnell in der ganzen Höhle. Man konnte die wachsende Ehrfurcht fast spüren. Savra konnte beinahe hören, wie alle das Gleiche dachten: Es ist wahr. Er ist ein Gott. Er schaut ihr in die Augen und trotzt ihr. Sie können ihm nichts anhaben. Er ist der Stärk ste. »Hallo, meine Damen«, sagte Svogthir. »Ihr werdet fest stellen, dass es mir heute ein wenig besser geht als bei unserer letzten Unterhaltung. Nun, wo waren wir stehen geblieben, bevor wir durch die feindliche Übernahme meiner Gilde so brutal unterbrochen wurden?« »Glaubssst du, dasss wir beeindruckt sind, Gefange ner?«, sagte Ludmilla. »Wir sssind auch ohne unssseren Blick nicht hilflosss.« »Lassst ihn unsss wieder aussseinander nehmen«, gak kerte Lydya. »Lassst mir ein Bein übrig«, lachte Lexya. »Ich hatte gehofft, dass ihr diese Einstellung haben würdet«, sagte der Zombie-Gott. »Golgari! Seht nun, wie ich den Gorgonen etwas Respekt beibringe!« Während die Missbildungen seinen Namen riefen, schien Svogthir immer größer zu werden. Savra trat aus dem Weg und schloss sich dem immer größer werdenden 250
Kreis von Beobachtern an, die das Geschehen mittels Seitenblick mitzuverfolgen versuchten. Die Matka brauch te allerdings einfach nur die Augen zu schließen, um stattdessen die des Zombie-Gottes zu verwenden. Natür lich nicht die in seinem Kopf- wie der Rest seines Gehirns waren sie gegen alle Zauber, die sie angewendet hatte, resistent gewesen. Da war es viel einfacher gewesen, hier und da einige zusätzliche Augen in Svogthirs Körper einzubauen. Unauffällige kleine Augäpfel waren in der Mitte der Brust, in beiden Schultern und zwischen den Schulterblättern eingebettet. Jetzt fehlte nur noch ein kleines Detail. Ein Kampf zwi schen Helden verdiente eine eigene Arena. Außerdem wäre es nicht gut, wenn die Gorgonen die nichts ahnen den Unbeteiligten angreifen könnten. Savra griff ihren Stab mit beiden Händen und konzentrierte sich auf die Talismane, Amulette und ruhenden Nekrogeißeln. Sie ließ einen Teil ihres Selbst durch den Stab in die Erde unter den Steinstufen fließen und begab sich auf eine gedankli che Reise durch die Überreste jahrhundertelanger Verwe sung. Sie fand Samen, Sporen, Millionen winziger Lebens teilchen, die wie in einem tiefen Schlaf vor sich hin vegetierten und nur daraufwarteten, wiedergeboren zu werden – eine andere Art der Rückgewinnung, ohne Totenbeschwörung. Savra musste sie nur sanft locken, und sofort schossen die Pflanzen in vollem Wachstum aus dem Boden. Eine Mauer aus Ranken, Bäumen, Riesenpilzen und Kombinationen aus alldem brach hinter Svogthir durch 251
die Stufen und schnitt ihn von seinen Zuschauern ab. Savra hatte die Pflanzen nicht nur wachsen lassen, um sich und diejenigen, deren Führerin sie sein wollte, zu beschützen. Sie hatte auch verstanden, wie wichtig die Theatralik war. Die Mauer war nicht hoch genug, um die ganze Sicht auf den Zombie-Gott zu versperren, der gerade seine Handknöchel knacken ließ. Svogthir bereite te sich auf das vor, was die Schwestern außer ihrem Versteinerungsblick noch gegen ihn aufbieten würden. Die Gorgonen hatten die Wahrheit gesprochen. Sie ver ließen sich niemals nur auf ihren tödlichen Blick. Jede hatte eine lange Kette um ihren Oberkörper geschlungen, an der jeweils eine andere Waffe hing. Lexya bevorzugte einen soliden Knüppel, Lydyas Waffe war eine stachelbe setzte Eisenkugel, und Ludmillas Kette endete an einem Rad mit drei Stahlklingen, die sich wie ein Sägeblatt drehten, wenn die Kette über dem Kopf geschwungen wurde. Die Gorgonen bewiesen die Einfallslosigkeit, die Savra von ihnen erwartet hatte. Lexya nahm sich Svogthirs linke Seite vor, Lydya die linke, und Ludmilla griff von vorn an. Svogthir ging ihnen sogar noch einen Schritt entgegen. Savra vermutete, dass er etwas mehr Manövrierraum brauchte und nicht direkt an der grünen Mauer stehen wollte. Er nahm erstaunlich leichtfüßig eine Ringerhal tung an und wartete auf den ersten Schlag. Die erste Gorgo, die die Nerven verlor und mit ihrer Kette angriff, war Lydya. Savra hatte sie insgeheim schon 252
immer lieblos »die Dumme« genannt. Sie war mit Abstand die jüngste der Schwestern und hatte schon oft bewiesen, dass sie nicht nur kaum über Intelligenz, sondern auch nur über wenig Selbstkontrolle verfügte. Das war genau das, worauf Svogthir gewartet hatte. Er war fünfmal so groß wie die Schwestern, was im Kampf bedeutete, dass ihre modischen Waffen eher für ihn einen Vorteil ergaben. Der Zombie-Gott streckte eine Hand aus und fing die Eisenkugel mit seiner Handfläche ab. Die schweren Stacheln bohrten sich tief in sein Fleisch, aber die robusten Kletterranken hielten die Waffe fest. Svogthir schloss die Finger um die Kugel und bildete eine Faust, dann zog er die Gorgo wie eine Marionette in die Luft. Die Kette um ihre Hüfte zog sich stramm zu sammen. Lydya schrie vor Überraschung und Schmerzen. Der Zombie-Gott ließ sie zweimal über sich herumwir beln und rammte sie dann mit dem Kopf voran gegen eine der Säulen, die den Eingang zum Schatzhort ein rahmten. Der Schädel der Gorgo zerplatzte wie eine Eierschale und hinterließ auf dem Stein einen grausigen roten Fleck aus Blut und klebrigen Gehirnresten. Die beiden verbliebenen Schwestern kreischten vor Wut auf und wichen ein paar Schritte zurück. Aber Svogthir war mit der toten Gorgo noch nicht fertig. Er ließ Lydyas zerschmetterten Körper in einem engen Radius an der Kette rotieren, sodass ihre Schwestern mit Blut bespritzt wurden, und schleuderte die Leiche dann wie Lydya zuvor ihre Eisenkugel. Die Leiche sauste in Lexya und warf sie zu Boden. Während die betäubte Gorgo auf 253
dem Rücken lag, warf Svogthir mit aller Kraft die Eisen kugel nach ihr. Die Gorgo wurde mitten in die Brust getroffen, als sie sich gerade aufsetzen wollte. Die Kugel bohrte sich in ihren Brustkasten und wurde erst vom Rückgrat aufgehalten. Die dadurch verdrängten Einge weide der Gorgo platzten aus ihr heraus und verteilten sich fetzenweise auf dem Boden. Zwei waren also schon tot. Savra hoffte, dass sie die richtige Taktik angewandt hatte. Falls das Ganze schief gehen sollte, gab es keine zweite Gelegenheit. Wie die Priesterin ihm befohlen hatte, unterbrach Svogthir nun den Kampf, um Ludmilla ein Angebot zu machen. »Gorgo«, sagte der Zombie-Gott. »Du musst nicht wie sie sterben. Du bist jetzt die Letzte deiner Art. Möchtest du, dass mit dir deine ganze Art ausstirbt?« Ludmilla zischte, und die Tentakel auf ihrem Kopf we delten orientierungslos und ungewiss durch die Luft. Zorn verzerrte ihr Engelsgesicht, als sie die zerstörten Körper ihrer Artgenossinnen sah, die schneller getötet worden waren, als es dauerte, ihren Namen auszuspre chen. Die Schwestern hatten die Gilde eine lange Zeit geleitet und längst angefangen, an die Legenden ihrer eigenen Unverwundbarkeit zu glauben. Der Zombie-Gott hatte das innerhalb von Sekunden richtig gestellt. »Ich … gebe auf«, sagte Ludmilla. Sie löste die Kette von ihrer Hüfte und warf sie beiseite. Dann ließ sie sich vor dem Zombie-Gott auf ein Knie fallen und blickte starr auf den Boden. »Gildenmeissster.« 254
Svogthir lachte. Es war ein tiefes, rollendes Lachen, das irgendwo bei seinen Füßen begann und wie ein kleines Erdbeben durch seinen Körper wallte. »Ja«, sagte er end lich. »Und du dienst dem Gildenmeister, oder?« »Ich diene«, murmelte Ludmilla. »Was hast du gesagt?«, fragte Svogthir. »Ich diene dem Gildenmeissster«, zischte Ludmüla. »Dann setz deine Maske wieder auf, zeige dich dem Volk und sag es allen.« Die Gorgo tat, wie geheißen. Savra ließ die grüne Mauer zurück in die Erde schrumpfen, damit die versammelte Menge die übrig gebliebene Schwester sehen konnte. Viele in der Menge schienen die toten Gorgonen mit hungrigen Blicken zu verschlingen. »Golgari«, sagte Lud milla, »Misssbildungen, ich … ich übergebe die Macht über die Gilde an den Gildenmeissster.« Genau das hatte Savra hören wollen. Sie öffnete ihre Augen und stellte sich dann neben Svogthir. »Ich danke euch, Gildenmeister«, sagte sie. »Erinnert Ihr Euch, was ich gesagt habe?« »Natürlich tue ich das«, sagte der Zombie-Gott. »Und ich glaube, dass ich es genießen werde, eine Galionsfigur zu sein.« »Ja«, sagte Savra und vollführte eine Handbewegung. »Das glaube ich auch.« »Was machst du …?«, sagte Svogthir, aber sein Ein wand wurde durch seine eigenen Hände unterbunden. Auf Savras stummen Befehl hin legte der Zombie-Gott die Handflächen an die Seiten seines zu klein wirkenden 255
Kopfs. Eine kurze Drehung, und Svogthirs Arme rissen den Kopf heraus und überreichten ihn der DevkarinPriesterin. Savra wusste, dass sie nur Sekunden hatte, bevor die überraschte Menge sich gegen sie wenden würde. Sie musste den Moment ausnutzen. Sie hielt Svogthirs Kopf mit der einen Hand und ihren Stab in der anderen hoch und wandte sich an die versammelten Missbildungen. Hinter ihr zischte Ludmilla vor Verwirrung. Svogthirs Körper blieb zur Überraschung der meisten stehen und stellte sich sogar noch zwischen Savra und Ludmilla. »Der Stärkste ist der Anführer«, rief Savra, »denn der Stärkste hat die Macht über Leben und Tod. Ihr solltet in den letzten tausend Jahren mehr gelesen haben, Gilden meister. Euer Gedächtnis ist nicht mehr das, was es einmal war.« Svogthirs Mund öffnete sich langsam und versuchte, eine Antwort herauszugurgeln, was aber nicht gelang. Savra hob das runzlige Ding noch höher. Lä chelnd registrierte sie, dass sich so etwas wie Überra schung auf den verschrumpelten Gesichtszügen des alten Gildenmeisters abzeichnete. Das war das erste Mal, dass sie überhaupt so etwas wie Überraschung bei ihm sah. Sie nickte kurz und schleuderte den Kopf dann gegen den Steinboden. Die in Ewigkeiten aufgestaute Macht explo dierte in einem grünen Feuerball aus konzentriertem Nekromana. Die Priesterin breitete die Arme aus und sprach mit ruhiger Stimme geheime Worte, die sie nach jahrelangen Verhandlungen und unter Einsatz eines Vermögens den 256
Orzhov abgekauft hatte. Aber in den Worten steckte Macht, und wenn sie von einer wahren Matka der Devka rin gesprochen wurden, konnten sie das Unmögliche vollbringen. Diese Worte waren der Grund, weshalb Svogthir ihre Vorgängerinnen nicht hatte umbringen können, aber das Wissen war schon in einer Zeit vor dem Gildenpakt verloren gegangen – wahrscheinlich auf Veranlassung des Zombie-Gottes. Der Grund, warum die Schwestern Svogthir nie zerstört hatten, war einfach. Svogthir hatte sich so geschaffen, dass es schier unmöglich war, ihn vollständig zu zerstö ren. Egal, was mit seinem Körper auch geschah, der Gildenmeister hatte vor langer Zeit sichergestellt, dass sein Kopf von Magie unberührt blieb – außer von seiner eigenen. Aber diese Worte, der Zauberspruch der Matka, war die winzige Lücke in Svogthirs Verteidigung. Statt die Wesenheit des Zombie-Gottes zu beschützen und zu erhalten, stieß sein durch dunkle Magie erhaltenes Gehirn sie komplett ab. Rohe Macht strömte aus, und die Matka, die die Worte rezitierte, sog sie vollständig ein. Worüber sie nichts in Erfahrung hatte bringen können, war, wie sehr das schmerzen würde. Die ganzen Jahrtausende, in denen Svogthir seine un erreichte Macht angesammelt hatte, verschmolzen mit der Energie, die durch ihren Körper floss. Es fühlte sich an, als ob ihr das Mark aus den Knochen gesaugt würde. Ihr Rücken krümmte sich vor Schmerzen, und sie wurde von der wirbelnden Masse des Nekromanas durchge schüttelt. Es drang in ihre Haut ein wie Gift, und ihre 257
Augen fühlten sich an, als ob sie herausspringen wollten, um wie überreife Früchte aufzuplatzen. Ein einzelner, lang gezogener Schrei schrillte in ihren Ohren – das letzte Lebenszeichen von Svogthir. Das Licht flackerte, und die Luft roch nach verbranntem Torf. Es war vorbei. Savra fühlte sich … anders. Nicht schlecht. Anders. Stark. Sehr, sehr stark. Sie hielt eine Hand vor das Gesicht und sah, dass ihre Haut in einem verblassenden grünen Licht schimmerte. Die Menge war still. »Du hassst unsss manipuliert«, sagte Ludmilla. »Du hassst ihn manipuliert.« »Ich«, sagte Savra und bückte sich, um die Reste von Svogthirs in sich zusammengefallenen Schädel aufzuhe ben, »habe nur meinen Kopf benutzt. Und seinen.« Savra betrachtete den Kopf noch einmal und fasste dann mit einer Hand in den Mund. Mit der anderen zog sie die lederartige Haut von den Knochen ab, bis nur noch der nackte, weiße Schädel übrig war. Sie warf die Haut zur Seite und setzte mit einer fast übertrieben zere moniellen Geste den zersprungenen Schädel auf ihren Stab. Sofort erwachte eine Nekrogeißel, und ihre Tentakel sorgten schnell dafür, dass Svogthirs Schädel zu einem weiteren Totem des Stabs wurde. »Sssoll mir dasss Angssst einjagen?«, sagte Ludmilla. »Du hassst den alten Dummkopf zwar umgebracht, aber ich habe in gezssähmt.« »Nein. Das hier soll dir Angst einjagen«, sagte Savra. Sie vollführte eine Handbewegung, worauf aus den Wänden 258
und von der Decke sofort Ranken hervorsprossen. Die tastenden Ranken wickelten sich um die Leichen von Ludmillas Schwestern und verstrickten sie in ein Netz aus pulsierenden Tentakeln, die sich in dem toten Fleisch verbissen. Die Körper der Gorgonen zuckten und krümm ten sich, als die Ranken Savras neu erworbene Kraft in sie leiteten. Dann standen sie auf und kamen langsam auf ihre neue Herrin zugetrottet. Als sie Ludmilla erreichten, waren sie schon mehr Pflanze als Leiche. Ein weiterer Wink der Priesterin, und ihre neu erschaffenen Wesen blieben stehen. Das, was von ihren Augen übrig geblieben war, starrte träge auf das lebendige Wesen, das sie vor kurzem noch »Schwester« genannt hatten. »Wärst du gern wie sie?« Ludmilla zischte. Sie wich zurück, aber die GorgonenZombies traten einen weiteren Schritt auf sie zu. »Um es für dich einfach zu machen, Ludmilla«, sagte Savra. »Ich kann dich jetzt gleich töten, und dann wirst du eine starke, gehorsame Zombie-Sklavin sein. Oder du kannst deiner neuen Gildenmeisterin, deiner neuen Königin, als etwas dienen, wozu du geboren wurdest – als Kriegerin. Auf dem Schlachtfeld würde dich niemand aufhalten können, falls du dich entscheiden würdest, meine Armee anführen zu wollen.« »Armee?«, sagte Ludmilla. »Du wirst meine Armee für mich leiten. Falls du das nicht willst, wirst du jetzt sterben. Du kannst versuchen, mich vorher zu töten, kannst versuchen, schneller als meine Gedanken zu sein. Ich bezweifele aber, dass das 259
von Erfolg gekrönt sein würde. Und selbst wenn es dir gelänge, als Sieger aus dem Kampf gegen mich hervorzu gehen – was nicht passieren wird –, würdest du dich nicht lange halten können. Was denkst du, wie lange du überleben würdest, nachdem jetzt alle gesehen haben, wie einfach deinesgleichen zu töten ist?« Sie zeigte auf den kopflosen Riesen. »Oder stehe zu dem Eid, den du gerade abgelegt hast. Erkläre mich zur Gildenmeisterin der Golgari, dann kümmere ich mich darum, dass du nicht sterben musst. Nicht jetzt und nicht wie deine Schwestern.« »Wozssu brauchssst du diessse Armee?«, fragte Ludmil la. »Wozssu benötigssst du mich?« »Ich brauche dich nicht«, sagte Savra. »Aber es wird einfacher sein, sie dazu zu bringen, dir zu folgen als Dainya. Und es bringt sichtbare Vorteile mit sich, wenn man eine Gorgo in den Angriffsreihen hat. Und wozu ich eine Armee brauche – das ist der beste Teil des Plans.« Sie lehnte sich gefährlich nahe zu der mit dem Leben davon gekommenen Gorgo und flüsterte ihr ein paar Worte zu. Die Gorgo nickte. Sie hatte verstanden. Möglicherweise lächelte sie unter ihrer Maske sogar. Ludmilla trat vor. Sie ergriff mit ihren eiskalten Reptili enfingern Savras Hand und reckte sie in die Höhe wie ein Schiedsrichter in den Gladiatorengruben, wenn er einen Sieger bekannt gab. Die Gorgo musste nichts dazu sagen. Ihre Aktion hatte alles klargestellt. Die Golgari hatten zum ersten Mal seit tausend Jahren eine neue Gildenmeisterin, und zum ersten Mal war es endlich eine Devkarin. 260
Alles war so gelaufen, wie Savras heimlicher Verbün deter es vorhergesagt hatte.
261
Kapitel 10
H
VORFALLSBERICHT: 10/13MZ/430.222 EINGEREICHT: 18. Griev 9943 Z. C. HAUPTBEARBEITER: Konst. Kos, Agrus ZWEITBEARBEITER: Ltn. Zunich, Myczil Kos und Zunich wurden angegriffen, und zwar gleich mehrfach. Dutzende winziger Dinger schnappten nach ihnen. »Oh, ich hasse diese Dinger. Au!«, fluchte Kos. Die silbrigen »Krähenfüße« waren zum Leben erwacht und krabbelten über das zerbröckelnde Dach und auch über die Stiefel der Wojeks. Kos musste dagegen ankämp fen, laut loszuschreien, als sich die kleinen, gezackten Stacheln durch das Leder rund um seine Knöchel bohrten und in seine Haut stachen. »Bleib mit den Füßen auf den Dachschindeln«, sagte Zunich. »Wenn sie sich durch deine Schuhsohlen durch bohren, wirst du zum Krüppel.« »Und wie werden wir sie wieder los?« »Das geht von allein. In spätestens einer Minute oder so verlieren sie das Interesse. Das ist nur ein Ablenkungs manöver, damit er uns entkommen kann.« »Mal ehrlich, bist du dir wirklich sicher, dass sie nicht 262
bis zu den …« »Natürlich bin ich mir sicher«, sagte Zunich. »Sie boh ren sich in die Stiefel und warten darauf, dass du sie abpflückst. So gelangen sie dann an deine Hände und in dein Gesicht, wenn du so dumm bist. Ich hätte sie eigent lich gleich wiedererkennen müssen. Ich hab die Dinger früher schon einmal gesehen.« »Wo?« »Bei einem Golgari-Kopfgeldjäger. Bei einem der weni gen, die den Mut haben, auch über der Oberfläche zu jagen.« Der alte Wojek fluchte und schüttelte ein paar der Krähenfuß-Käfer ab. »Der hat am liebsten für alles Käfer verwendet. Einer von den Traditionalisten.« Kos rann das Blut die Unterschenkel hinab und sam melte sich unten in den Stiefeln. »Die leisten da wirklich ganze Arbeit mit meinen Füßen, Chef. Ich kann mich kaum noch bewegen.« »Hör auf, mich Chef zu nennen.« »Tut mir Leid, wenn an mir herumgeknabbert wird, dann werde ich ein wenig nervös. Da kann ich nichts dafür.« »Trag es wie ein Held, Kos. Wir werden nachher Heiltränen anwenden. Macht aber keinen Sinn, das jetzt schon zu machen. Schlurf einfach weiter. Er bewegt sich nur langsam und kann nicht weit sein.« »Nicht so langsam wie wir.« »Nur Vertrauen, Konstabler.« Mit sowohl schmerzlicher Vorsicht als auch schmerz haften Füßen kletterten die beiden Wojeks über den 263
Giebel und suchten die angrenzenden Dächer mit den Augen nach einer Spur des Flüchtigen ab. Schließlich kehrte der Leutnant zu Kos zurück und bewegte sich dabei so vorsichtig wie ein barfüßiger Mann, der auf einem zugefrorenen See das Gleichgewicht behalten wollte. »Hast du was gesehen?«, fragte der ältere Wojek. »Nein«, sagte Kos, der den Blick immer noch über die Dächer schweifen ließ. »Wahrscheinlich ist er wieder nach unten geklettert. Was hat ein Devkarin überhaupt außerhalb des Golgari-Viertels zu suchen?« »Willkommen in den Außenbezirken von Ravnica, Konstabler Kos. Die Leute bleiben oft nicht dort, wo man sie gern hinsteckt. Trotzdem ist das eine verdammt gute Frage, und wenn wir wieder unten sind …« »Runter! Schnell!«, rief Kos und warf Zunich auf das Dach. Ein silbernes Wurfmesser schien sich aus den Schatten zu materialisieren, sauste über Kos’ Kopf hin weg und beendete seinen Flug abrupt, indem es auf eine steinerne Wand traf. Kos schlug mit der Faust nach dem Schatten, worauf ein zweites Messer auf die Dachziegel klapperte. Es rollte zur Dachkante und fiel nach unten. Der Schatten, nach dem Kos geschlagen hatte, schimmer te und blitzte im Licht. Der Umriss des Jägers war zu erkennen. »Ein Chamäleonzauber?«, sagte Kos zu dem Schatten. »Also das ist ja wohl billig.« Kos hörte die Gestalt leise fauchen. Die Tarnung löste sich auf, und das sich entladende Mana jagte Energie 264
schocks durch das Nervensystem des Elfen. Das Ganze schien eine schmerzhafte Sache zu sein. Kos wünschte sich bereits, dass er etwas Tödlicheres verwendet hätte, aber immerhin hatte er die Tarnung des Flüchtlings zerstört. Das Bündel, das der Devkarin auf dem Rücken getra gen hatte, fehlte. Er musste es irgendwo abgelegt haben, aber Kos konnte nicht gleichzeitig nach dem Sack sehen und den Jäger im Auge behalten. Zunich hatte sich wieder aufgerappelt und nutzte die Situation aus, dass der Verdächtige ins Wanken geraten war. Chamäleonzauber traf man ziemlich häufig an, wobei die der billigen Sorte übel auf den plötzlichen Kontakt mit bestimmten Metallen reagierten, zum Bei spiel dem Silber eines Pendreks. Der ältere Wojek schwang seinen Knüppel tief und erwischte den Devkarin in den Kniekehlen. Der flimmernde Umriss duckte sich und klemmte Zu nichs Kampfstab mit den Beinen ein, drehte sich dann zur Seite und riss dem alten Mann dadurch die Waffe aus der Hand. Das Mana in der aufgeladenen Waffe sprühte Funken und zerstörte damit den Rest der Verzauberung, sodass der bleiche Devkarin-Elf jetzt im trüben Licht deutlich zu sehen war. Der Kopfgeldjäger rollte rückwärts in einen Salto, der ihn an die Dachkante brachte. Er hakte die Finger am Dachrand ein und schwang sich über die Kante. Unterwegs hatte der Elf Zunichs Pendrek losgelas sen, der nun unten auf der Straße hörbar aufschlug. Kos hatte immer noch kein Anzeichen der Gefangenen 265
des Elfen ausmachen können, aber das war im Moment seine kleinste Sorge. Zunich hatte das Gleichgewicht verloren, war über eine lose Dachschindel gestrauchelt und schlitterte nun auf dem Bauch die rutschige Dachschräge hinunter. Der alte Wojek versuchte, sich irgend wo festzuklammern, riss dabei aber nur weitere verrotte te Tonziegel heraus. Er rutschte ungebremst weiter zur Dachkante. Kos war sofort losgestürzt, als er den Leutnant strau cheln gesehen hatte. Er ließ seinen eigenen Pendrek fallen, um den zusammengeklappten Greifhaken aus seinem Gürtel zu holen. Mit einem Knacken rasteten die Zinken ein. Kos sprang hinter seinem Dienstkameraden her, schleuderte den Haken nach vorn, während er noch lief, und sah, wie der Haken den Ärmel von Zunichs Waffenrock erwischte, bevor der alte Mann über die Kante verschwand. Kos spürte, wie ihm die Luft aus der Lunge gepresst wurde, als er sich mit dem Gesicht nach unten auf das abschüssige Dache fallen ließ. Er hatte Zunich an der Angel. Jetzt kam der komplizierte Teil – nicht selbst auch über die Kante zu rutschen. Er hatte nur teilweise Erfolg. Kurz bevor die Stahlkap penstiefel des jungen Wojeks über die Dachkante rutsch ten, fanden sie in dem Gerüst Halt, das dazu beigetragen hatte, dass die alte Kirche all die Jahre überdauert hatte. Er zog ein paar Furchen durch das Holz und die zerbro chenen Schindeln, die den Insekten fleißig halfen, Kos’ Haut an Stellen aufzureißen, die er eigentlich lieber heil gesehen hätte. Falls Zunich noch am anderen Ende des 266
Seils hing, hatte er nur noch eine Sekunde, bis … Das Seil zog sich stramm und riss an Kos’ Schulter. Er krümmte den Rücken und hielt es mit beiden Händen fest. Das leichte Seil war unglaublich stark, was aber gleichzeitig bedeutete, dass es durch fast alles außer festem Stein hindurchschneiden konnte. Kos’ Hände waren nicht aus Stein, und seine Lederhandschuhe erwiesen sich als nicht viel stabiler. Kos weinte fast vor Erleichterung, als der Druck auf seine blutigen Hände, die schmerzende Schulter und die angeknabberten Füße endlich nachließ, bis es ihm däm merte, dass das ja auch bedeuten konnte, dass Zunich gerade in den Tod gestürzt war. Der junge Wojek riskierte einen Blick über die Schulter und sah zwei behandschuh te Hände, die sich an der Dachkante festhielten. Die eine Hand, die immer noch das inzwischen schlaffe Seidenseil festhielt, streckte sich in seine Richtung und griff mit den Fingern in das verrottete Holz. »Schaffst … du … es?«, keuchte Kos hervor. Er schnappte nach Luft. »Meine Hände sind zu …« »Eine Sekunde«, sagte Zunich. In seiner Stimme war nur eine leise Andeutung von Anstrengung zu finden. »Halt dich fest – ich muss mal kurz deinen Fuß verwen den. Nur für eine Sekunde.« »M-mach schon.« Kos’ Knöchel schrie wieder vor Schmerz, als der ältere und schwerere Wojek das blutige Bein des Jüngeren als Reckstange verwendete, um sich hochzuziehen und über die Kante zu schwingen, aber wie versprochen dauerte es 267
nicht lange. Zunich hockte sich vorsichtig neben Kos. »Du siehst schrecklich aus, Konstabler Kos«, sagte Zu nich. »Aber du kannst hier nicht den ganzen Tag herum gammeln. Hast du Heiltränen?« »Ja, aber so schlimm ist es nicht«, sagte Kos, der sich bemühte, seinen Atem wieder unter Kontrolle zu be kommen. »Ich schaffe das schon.« »Diese Einstellung wird dich noch umbringen«, sagte Zunich. »Ich kann nur hoffen, dass du jemanden findest, den das beeindruckt, mich beeindruckst du damit näm lich nicht.« Bevor Kos etwas einwenden konnte, hatte der Ältere bereits ein daumengroßes Stück solides Mana in Tränenform aus einer verschweißten Packung gezogen, die er am Gürtel getragen hatte. Der Tropfen sah wie ein Kri stallstück aus, was aber nur daran lag, dass das menschli che Auge keine Möglichkeit hatte, einen Splitter reiner Magie anders zu interpretieren. In diesem Fall handelte es sich um eine einzigartige Heilmagie, die von den Simic ausschließlich den Versorgungsstationen des Bundes der Wojek ausgehändigt wurde. Kos hatte sie schon bei anderen Verletzten angewandt, aber noch nie bei sich selbst. Er nahm den Tropfen aus Zunichs Hand und drückte die Spitze in die Wunde an seiner Hand. Konzentrierte Zeit strömte direkt in das eingerissene Fleisch. Die Haut schloss sich augenblicklich wieder. Die Magie der Heilträne veranlasste den Körper, die Wunde in einer erstaunlich schnellen Zeit verheilen zu lassen. Als das anfangliche eiskalte Gefühl in den Händen ver 268
schwand, waren beide wieder so gut wie unversehrt. Der Tropfen war nur ein wenig kleiner geworden. Mit jeder Anwendung schmolz er etwas weiter zusammen, heilte seine Schulter und hatte zu guter Letzt sogar noch genü gend Kraft in sich, um auch die käfergeplagten Füße und Knöchel wieder in Ordnung zu bringen. Kos meinte sogar, leichter atmen zu können, was zweifelsohne ein Ergebnis der Heilmagie war, die in seinen Blutkreislauf eingedrungen war. Als er fertig war, war nur noch ein schmieriger blauer Film auf seiner Hand übrig geblieben. Kos wischte ihn am Ärmel ab. »Ich glaube, ich wär dann soweit«, sagte Kos. Die Hei lung seiner Wunden hatte sie gerade mal eine Minute gekostet. »Also gut, weiter geht’s«, sagte Zunich, der sich vorsich tig zum Rand des Kirchendachs bewegte, da die Schin deln schon wieder beängstigend unter ihm knirschten. »Er kann noch nicht weit gekommen sein, jedenfalls nicht, wenn er seine Gefangene mitnehmen will … Oh!« »Was?« »Ich sehe ihn. Dort. Verdammt, er ist schnell.« Kos folg te Zunichs Zeigefinger ein, zwei, drei Gebäude nach Westen. Richtig, der Devkarin hatte sich noch nicht zur Oberfläche abgeseilt, sondern floh aus unbekanntem Grund immer noch über die Dächer. »Er läuft in Richtung von …« »Grigors Schlucht. Dahinten sind die Fahrstühle.« »Ja, aber will er nach oben oder nach unten?«, sagte Kos. 269
»Da fragen wir am besten ihn.« Zunich schnitt eine Gri masse und blieb plötzlich stehen. »Warte mal. Hast du das bemerkt?« »Sein Sack«, sagte Kos. »Er ist leer.« »Stimmt. Es scheint, als ob seine Gefangene geflüchtet ist. Ich denke mal, dass er hinter ihr herjagt, sonst hätten wir ihn schon längst aus den Augen verloren. Es muss Palla sein. Freigelassen, wahrscheinlich nachweisbar verrückt und unauffindbar untergetaucht.« »Du bist wirklich ein Experte darin, immer alles von der positiven Seite zu sehen, Mycz.« »Dort!«, brüllte Zunich und zeigte auf eine bleiche, schmächtige Frau in nietenbesetztem schwarzem Leder. Sie sprang gerade aus einem Fenster des Glockenturms und landete in der Hocke. Was von ihrer Haut zu sehen war, leuchtete fast heller als der Mond. »Das ist jedenfalls nicht der Kopfgeldjäger«, brummte Zunich. »Schaffst du den Sprung?« »Was ist mit dir?« »Probieren wir’s aus.« Mit etwas Anlauf schaffte Kos es problemlos, über die Lücke zwischen den Gebäuden auf das Dach des angren zenden Gebäudes zu springen. Er hörte hinter sich einen dumpfen Aufprall und schaute über die Schulter. Zunich hing mit den Ellbogen an der Dachkante, die unter sei nem Gewicht zusammenzubrechen drohte. Kos wollte ihm behilflich sein, aber Zunich winkte mit einem Kopf schütteln ab. »Ich schaffe das schon. Lass sie nicht aus den Augen!« 270
Kos drehte sich rechtzeitig wieder nach vorn, um mit zubekommen, wie Pallas aufgetürmtes und mit Flechten überzogenes Haar hinter dem Turm verschwand. Er erreichte die Ecke, ohne über eine verkantete Dachschin del zu stolpern oder in einen Hinterhalt zu geraten. Allerdings konnte sich Palla immer noch fast überall in der Nähe verbergen. Die ersten schweren Regentropfen fielen aus dem sich schnell verdunkelnden Himmel. Innerhalb von wenigen Sekunden wurde aus den vereinzelten Regentropfen ein satter Regenguss. Wenn es in Ravnica regnete, dann verlor der Himmel keine Zeit mit Vorwarnungen. Kos schrie beinahe auf, weil ihm jemand eine Hand auf die Schulter legte, aber er schaffte es, den Laut zu unter drücken. Die Rakdos hätten ihm nicht erst eine Hand auf die Schulter gelegt, sondern gleich eine Klinge durch die Kehle geschoben. Er drehte sich um und sah Zunich, der einen Finger auf die Lippen gelegt hatte. Der ältere Wojek sah aus, als hätte er das vermooste, schmutzige Dach mit seinem Körper gereinigt, aber sonst schien alles in Ord nung zu sein. Zunich hielt eine Hand ans Ohr und lausch te. Kos tat es ihm nach, konnte aber nur Donner und Regenprasseln hören. »Ich höre gar nichts«, sagte Zunich. »Und in diesem Sauwetter … Wir brauchen Verstärkung. Kos, du musst …« Zunich stoppte mitten im Satz, legte den Kopf schräg und drehte sich um. »Hörst du was?« »Pst. Schau mal da drüben, sie … Warte! Sie kehrt of 271
fenbar den Spieß um«, sagte Zunich. »Der Kopfgeldjäger ist offenbar doch nicht so gut, wie behauptet wird.«
272
Kapitel 11
H
Die Handlung, einen absichtlichen Mord an einem WojekPolizisten zu begehen, ist ein Kapitalverbrechen. Stadtverordnung von Ravnica
27. Zuun 9999 Z. C., vormittags Etwas weniger als sechs Jahrzehnte später war Kos gera de dabei, wieder das Bewusstsein zu erlangen. Er war verwirrt, hatte Schmerzen und konnte fast nichts sehen. Erstaunlicherweise schien es diesmal nicht mit Garulsz’ Bumbat zu tun zu haben. Er hatte geträumt, aber die verschwommenen Bilder hatten sich längst verflüchtigt. Nur ein anhaltendes Unwohlsein war davon zurückge blieben, das aber im Vergleich zu den Schmerzen, die ihn in Wellen durchflossen, noch harmlos war. Kos saß in einem Bett. Sein Rücken wurde durch Kis sen gestützt, so viel konnte er spüren. Als er die Augen öffnete, half ihm das nicht sonderlich weiter. Er sah nur Schatten in blauem Licht, also schloss er sie wieder und konzentrierte sich darauf, wo genau die ganzen Schmer zen und Wehwehchen auf dem alten Schlachtschiff Agrus Kos einquartiert waren. Sein Kopf fühlte sich wie ein 273
Ziegelstein an, und er musste langsam atmen, um Schmerzen zu vermeiden. Er hatte sich wohl noch ein paar Rippen gebrochen. Einer seiner Arme war mit weißem Mullverband und Pflastern umwickelt und ruhte in einer Schlinge, während der andere nackt und mit kleinen Narben bedeckt war. So wie der Rest des Ober körpers. Als Nächstes testete er seine Nase, und entgegen allen Vermutungen funktionierte sie herausragend. Der sterile Geruch der Krankenstation der Bundeshalle war nicht zu verkennen. Er entschloss sich, seinen Augen eine weitere Chance zu geben. Der Wojek bewegte den Kopf zwin kernd hin und her, um die Welt um ihn herum in seinen Blickwinkel zu bekommen. Die sterilen weißen Wände reflektierten helle weiße Glühkugeln, die in festen Abständen in die Decke des Raums eingearbeitet waren. Er hatte ein Einzelzimmer, was entweder bedeutete, dass seine Wunden äußerst ernst waren, oder dass die Wojek-Heiler glaubten, dass er bedeutender war, als es tatsächlich der Fall war. Von der Weise, wie er sich fühlte, tippte er auf Ersteres. Kos blinzelte in die Helligkeit. Als sich seine Augen langsam an das sanfte Licht gewöhnten, nahmen drei schattenar tige Formen, die von den Kugeln beleuchtet wurden, langsam Gestalt an und wurden zu Leuten – Leuten, die er kannte. »Leutnant«, tönte eine bekannte Engelsstimme durch den engen Raum. »Wie fühlst du dich?« »Feder? H-hast du das gemacht?«, fragte Kos die sich 274
abzeichnende Gestalt seines Freundes. Er erkannte auch, wer die anderen beiden waren. »Wenn ich es gewesen wäre, hätte ich es gründlicher gemacht«, sagte Feder und lächelte. »Ich bin froh, dass du die Explosion überlebt hast, mein Freund.« Mehr als dieses Stichwort brauchte es nicht. Alles, was vor der Explosion geschehen war, kam in einem Schwall in sein Gedächtnis zurück. Es endete mit dem Bild eines brennenden, auf ihn zufliegenden Körpers mit einem schreienden Elefantenkopf. Kos holte tief Luft, was we gen der gebrochenen Rippen gehörig wehtat. »Kümmert euch nicht um mich. Da gab es einen, nein, mehrere Morde. Mindestens drei. Nein, vier. Zuerst war da ein Mädchen, Luda. Der Goblin hat sie getötet. Und dann war da ein Loxodon, eine Ledev und – o verdammt! – Borca.« Das Gesicht des Engels hatte einen uncharakteristi schen, fast schon mütterlich besorgten Ausdruck ange nommen, den Kos unter normalen Umständen peinlich gefunden hätte. Neben dem Engel stand Hauptmann Phaskin. Der kleine Mann mit dem tiefroten Gesicht blickte noch einige Nuancen finsterer als sonst. Kos ging davon aus, dass das aus Sorge um ihn war. Am nächsten an seinem Krankenbett stand jedoch eine Gestalt, die kleiner als Feder, aber deutlich größer als Phaskin war. Es war eine bleiche Vedalkin in den roten und weißen Gewändern einer Wojek-Heilerin. Im Moment war ihr Blick in gleichem Maße so geringschätzig wie der von Feder besorgt. »Kos«, brummte Phaskin, »wir müssen über eine ganze 275
Menge Dinge reden.« »Das muss warten«, unterbrach die Vedalken-Kranken schwester in singendem Tonfall. Kos hatte nie begriffen, wie jemand mit einer derart sanften, musikalischen Stimme so viel Verachtung in jede einzelne Silbe legen konnte. Krankenschwester Argh, die genau genommen ein Mitglied der Simic war und auch deren Abzeichen auf der Brust trug, leitete die Krankenstation wie ein Ausbil dungslager der Militärakademie. Sie behandelte ihre Patienten, als wäre alles, was diese erlitten hatten, nur ein Teil eines böswilligen Plans, sie zu ärgern. Darüber hin aus war sie die beste Heilerin in Ravnica, zumindest Kos’ Meinung nach. Kos war mehrfach Zeuge gewesen, wie die Vedalkin verletzte Wojeks und Überfallopfer, die auf der Schwelle des Todes standen, wieder ins Leben zu rückgeholt hatte. »Schwester Yaraghiya«, sagte er und bemühte sich, nicht den Spitznamen zu verwenden, den die Wojeks der Bundeshalle der Vedalkin verpasst hatten. »Auf mich wartet Arbeit. Ihr könnt mich nicht hier einsperren …« Die Heilerin hob eine langfingrige Hand und schnitt ihm das Wort ab. Sie betrachtete ihn einen Moment lang stumm, und Kos kam sich wie ein Ausstellungsstück vor, das erst einmal einer genauen Prüfung unterzogen wer den musste. »Nicht tief einatmen«, sagte sie. »Oh, danke für den Tipp«, sagte Kos und schaffte es, ein schwaches Lächeln in sein Gesicht zu zaubern. Er hoffte – so unwahrscheinlich das auch sein würde –, die Krankenschwester damit in eine etwas bessere Laune zu 276
versetzen. Es nutzte nichts. »Sie sollen auch nicht mehr reden, als absolut nötig«, fuhr die Vedalkin fort. »Sie haben eine ganze Bandbreite an unterschiedlichen Verletzungen erlitten, einschließlich erheblicher Zerrungen und Stauchungen, gebrochener und angebrochener Rippen sowie schwerer, aber dank sofortiger Behandlung nur kurzfristiger Schäden an Ihren optischen Nerven und der Hornhaut. Sie wurden zudem wegen biomanalogischer Blutvergiftung, schweren Verbrennungen und, genau, einer ganz normalen, altmo dischen Gehirnerschütterung behandelt. Gemäß meines Eides muss ich Sie zudem darüber informieren, dass Ihr Körper unter einer alarmierenden Anzahl chronischer Zustände leidet, wobei der schwerste darunter …« »Den Teil können Sie auslassen«, unterbrach Kos sie. Er war erst vor ein paar Monaten von der Krankenschwester vollständig untersucht worden und kannte die Ergebnisse bereits. Er wusste, dass sein Körper langsam nachließ. Er musste nicht daran erinnert werden, was er seinem Körper zugemutet hatte, als er vor kurzem durch die Mangel gedreht worden war. Ein Wojek lebte kein Jahr hundert und noch zehn Jahre dazu, ohne bleibenden Schaden zu nehmen. Er hatte Glück, dass es bislang bei Wehwehchen und leichten Schmerzen geblieben war. Und wie er mit seinen Schmerzen umging – vor allem denjenigen, die nicht physischer Natur waren –, ging niemanden etwas an. »Wie Sie wünschen. Aber ich werde Sie an Spezialisten überweisen müssen, die sich mit dem Missbrauch von 277
Alkohol und Heiltränen auskennen«, schnaubte die Ve dalkin abfällig. »Wir können uns über Einzelheiten später unterhalten, wenn Sie wollen.« »Ich brauche keinen Facharzt«, sagte Kos ruhig. »Ich brauche Antworten.« »An was erinnerst du dich, Leutnant?«, fragte Phaskin. »Ich glaube … Da war erst ein kleines Mädchen. Und ein Loxodon. Borca sprach mit ihm. Gütiger Himmel, das war der Botschafter des Selesnija-Konklaves.« »Diverse Teilchen, die aus Ihren Wunden entfernt wur den, stammten von einem Loxodon«, sagte die Heilerin. »Das war wahrscheinlich auch der Grund für Ihre Blut vergiftung. Es ist nur eine Vermutung meinerseits, aber ich glaube, dass die Körpermasse des Verstorbenen Sie davor bewahrt hat, sein Schicksal zu teilen.« »Du scheinst keine Vorstellung zu haben, wer der Ver storbene war, Leutnant«, knurrte Phaskin. »Es hat schon seit Jahrzehnten keinen Rakdos-Angriff wie diesen mehr gegeben. Ich habe die Selesnijaner am Hals, der Markt ist ein Katastrophengebiet, und ich bin mir sicher, dass die Magiejuristen nur darauf warten, dass sich der Staub gelegt hat, bevor sie auf der Bildfläche erscheinen. Und was glaubst du, wem die Sesselfritzen das alles in die Schuhe schieben, Kos? Nein, du bist es nicht. Noch nicht.« »Hauptmann, bitte mäßigen Sie sich. Ich will Sie nicht von Wachen aus dem Gebäude eskortieren lassen müs sen«, sagte die Vedalkin. »Das hier zählt als Angelegenheit des Bundes, wenn ich Sie erinnern darf. Sie müssen mich erst meine Diagnose beenden lassen, oder sie werden den 278
Raum verlassen. Zwingen Sie mich nicht dazu.« »Hören Sie mal gut zu, ich …«, platzte Phaskin heraus, aber der Rest ging in einem noch finstereren Blick unter. Die Krankenschwester hatte Recht, und er wusste das. Wie jedes Gesetzeswerk in Ravnica konnte man auch die Hausordnung der Krankenstation als ein Netz von Forma lien betrachten, die sich auf den Gildenpakt und die Stadtverordnungen beriefen, und Phaskin war gerade in diesem Netz stecken geblieben. »Was ist mit dem Mädchen?«, fragte Kos. »Gab es nichts mehr, was man für sie tun konnte?« Phaskins Zorn verebbte. Er senkte seinen Kopf. Feder sprang ein. »Leider nicht, Kos. Es tut mir Leid. Die Heiler waren, so schnell es ging, bei ihr.« Das innere Bild des ersten Opfers des Goblin-Mörders blitzte in Kos Gehirn auf. Sein allzeit vorhandenes Gewis sen meldete sich. Er hatte sie nicht gerettet. Sie war tot, genauso wie sein Kollege. Er hatte gleich zwei Leute auf dem Gewissen. »Ich würde gern mit dem Labormagier reden«, sagte Kos. Er setzte sich auf, worauf der Raum sich zu drehen begann. Schwester Yaraghiya drückte ihn sanft in die Kissen zurück. »Doktor Helligan hat mir bereits die ersten Resultate mitgeteilt«, sagte sie. »Er glaubt, dass es mir besser ge lingt, Sie hier zu behalten, wenn ich Ihnen die Informa tionen über die Opfer weitergebe.« Die Vedalkin legte den Kopf schräg, als würde sie einer Stimme lauschen, die nur sie hören konnte. Viele Vedalken, und darunter 279
sicherlich auch die Krankenschwester, besaßen ein Gedächtnis, das den meisten Menschen übernatürlich erschien. Dies war einer der Gründe, warum Vedalken die größten Forscher und Wissenschaftler der Welt hervor brachten. Es gab Vedalken, die wortgenau zitieren konn ten, was ihre Vorfahren gesagt hatten, während sie tage lang durch vorher unberührtes Eis und Gebirge in den Polarregionen Ravnicas gewandert waren. »In chronolo gischer Reihenfolge des Todes ist die erste Verstorbene ein menschliches weibliches UO – unidentifiziertes Opfer.« »Ich weiß, was ›UO‹ heißt«, warf Kos ein. »Aber sie ist kein UO. Ihr Name ist Luda. Sie lebt – lebte – in Fräulein Molliyas Waisenhaus.« »Ich werde mich darum kümmern, dass sie informiert wird«, bot Phaskin an. »Ich werde …« »Darf ich weitermachen?«, sagte die Vedalkin trocken. »Geschätztes Alter: fünf Komma vier Jahre. Todesursache ist eine schwere Verletzung im Brustkorbbereich, die sehr wahrscheinlich durch eine gezackte Klinge hervorgerufen wurde. Tests haben ergeben, dass die Wundränder mit einer Waffe goblinschen Ursprungs übereinstimmen, die unbeschädigt am Tatort gefunden wurde. Eine nekroman tische Befragung zeigte keinerlei Erfolg.« Ein Schauder überlief Kos. »Nekromantische Befra gung« war der offizielle Begriff, um eine grausige Proze dur zu beschreiben, während der die Labormagier einen speziellen Teil des Gehirns des Opfers wiederbelebten – falls ein Gehirn vorlag –, um der Leiche die Möglichkeit 280
zu geben, einfache Fragen zu den letzten Sekunden, manchmal auch Minuten ihres Lebens zu beantworten. Irgendwie war er froh, dass Luda auf diese Behandlung nicht angesprochen hatte. Es war eine abscheuliche Notwendigkeit im täglichen Tagesablauf des Bundes, dabei half es noch nicht einmal in einem Viertel aller Fälle, selbst wenn das Gehirn noch vollständig intakt war. »Was ist mit den anderen?«, fragte Kos »Sehr wenige Überreste von sowohl Wachtmeister Bor ca als auch dem nicht identifizierten Goblin-Angreifer haben die Explosion überlebt«, sagte die Schwester. »Die beiden haben sich genau im Zentrum von allem befunden. Es wäre ein Wunder, wenn viel von ihnen übrig geblieben wäre«, sagte Kos. »Unterbrechen Sie mich bitte nicht, bis ich mit meinen Ausführungen fertig bin«, sagte Schwester Argh. »Würde mir nie im Traum einfallen.« »Was an Überresten verblieben ist, wurde einem so hohen Grad an Hitze ausgesetzt, dass es bis in die nicht mehr auseinander zu haltenden Teilchen miteinander verschmolzen zu sein scheint«, fuhr die Vedalkin fort. »Die Tests haben bislang keine Ergebnisse gebracht.« »Das Loxodon-Opfer …« »Von dem wir annehmen, dass es das eigentliche Ziel des Anschlags war«, sagte Phaskin dazwischen. Die Ve dalkin warf ihm einen kalten Blick zu, dass ihm der Mund offen stehen blieb. »Das Loxodon-Opfer«, wiederholte Schwester Argh. »Es handelte sich dabei um den so genannten ›Lebenden 281
Heiligen‹ Bayul, einem Botschafter des SelesnijaKonklaves. Labormagier Helligan hat mehrere offizielle Beschwerden eingereicht, in denen er Einmischung und Behinderung von selesnijanischer Seite beschreibt. Er ist besorgt darüber, dass das Konklave die Leiche für sich beanspruchen könnte, bevor er eine Nekrotopsie ausfüh ren kann.« »Warum kann er sie nicht sofort ausführen und ihnen dann die Leiche überlassen?«, fragte Kos. »Der Körper des Loxodon-Opfers hat sich bisher als resistent gegen das Standardarsenal nekrotischer Werk zeuge, die Helligan zur Verfügung stehen, erwiesen. Er hat einen Simic-Spezialisten angefordert, der ihm bei seinen Bemühungen assistieren soll; der Spezialist ist für morgen angekündigt.« »Und was ist mit der Ledev?«, fragte Kos. »Sie war di rekt neben dem Loxodon.« »Der Loxodon ist das einzige andere Todesopfer«, sagte die Krankenschwester. »Es wurden keine Überreste von irgendjemand sonst gefunden.« »Was die Schwester damit sagen will«, warf Phaskin ein. »Unsere Zeugen berichten zwar, dass sich dort eine weibliche Halbelfin in der Uniform einer LedevWächterin befunden hat, aber sie gilt als vermisst. Wir glauben, dass sie vom Tatort geflohen ist, haben bislang aber kein Anzeichen von ihr gefunden. Sie könnte an der Tat beteiligt gewesen sein.« »Das ist doch verrückt«, sagte Kos. »Ich kenne einige Ledev, und keiner von denen würde auch nur zwei Zibs 282
für die eigene Sicherheit geben, wenn jemand vom Seles nija-Konklave in Gefahr ist. Besonders dann nicht, wenn es sich um einen so Hochkarätigen handelt. Die Leute haben ihn geliebt, selbst die außerhalb des Konklaves.« »Die Heiler hatten, nebenbei bemerkt, genug Zeit, um eine Spektralspülung durchzuführen«, sagte Phaskin. »Ich habe sie persönlich noch einmal nachgeprüft, nur um sicherzugehen. In dem ganzen Gebiet wurde keine ätheri sche Intelligenz entdeckt. Weder dort, wo die Bombe hochgegangen ist, noch am Ort des ersten Mordes. Nichts.« »Also noch nicht einmal Geister zum Befragen«, sagte Kos. »Perfekt. Schwester, wären Sie so nett, Helligan zu bitten, mich zu benachrichtigen, falls er sonst noch auf etwas stößt? Sobald ich dazu in der Lage bin, würde ich ihn gern da unten besuchen. Sagen Sie mir doch bitte, wie lange ich hier festsitzen werde. Falls es sich länger hinzieht, sollte man mir wenigstens ein paar Falken zur Verfügung stellen, damit ich die Ermittlungen koordinie ren kann, bis ich wieder auf den Beinen bin.« Feder und Phaskin tauschten einen Blick aus, aber die Vedalkin ergriff das Wort, bevor einer der beiden spre chen konnte. »Tiere sind in den Räumen der Krankenstation nicht erlaubt. Sie können alle notwendigen Nachrichten über mich weiterleiten, wenn Sie wollen. Und was die unge fähre Zeit Ihrer Konvaleszenz betrifft, muss ich Ihnen leider mitteilen, dass ich gezwungen war, bei Ihnen nicht länger Heiltränen anzuwenden«, sagte die Schwester. 283
»Eine Weiterführung hätte wegen der vorherrschenden Bedingungen, über die ich nicht zu sprechen gebeten wurde, gegen meinen Eid verstoßen.« »Das bedeutet …«, sagte Kos. »Deswegen«, sagte die Vedalkin, »wird es länger dauern als beim letzten Mal, Leutnant. Mindestens zwei Tage und noch länger, wenn dieser Raum nicht bald wieder in einen sterilen Zustand zurückkehrt.« Die Vedalkin warf den beiden Wojeks einen kalten Blick zu. »Was reden Sie da?«, fragte Kos entsetzt. »Geben Sie mir ein paar Heiltränen, und dann bin ich schon so gut wie wieder zusammengeflickt«, sagte er und schwenkte seinen gebrochenen rechten Arm schwach. »Leutnant, Sie haben das letzte Sechstel Ihrer zu erwar tenden Lebensspanne erreicht. Obwohl Sie schon lange im Übermaß Alkohol konsumieren, haben sie wiederholt auf Notfallmedizin zurückgegriffen, wenn Sie auf Streife waren, anstatt sich auf der Krankenstation zu melden. Ich verweise Sie auf das Handbuch für Polizisten, Seite ein unddreißig, ›Über den Einsatz Erster Hilfe‹.« »Vielleicht verstehen Sie das nicht, aber ›auf Streife‹ kann man die Zyklopratte, hinter der man her ist, nicht einfach kurz bitten, sich zu gedulden, weil man mal kurz die Krankenschwester besuchen muss«, sagte Kos. »Und außerdem, was hat das, ähm, Trinken damit zu tun?« »Sie sind kein junger Mann mehr, Leutnant. Ihre Orga ne haben regelmäßig ein Bombardement von Alkohol über sich ergehen lassen, und das schon seit Jahrzehnten. Das hat dazu geführt, dass sich in Ihrem Gewebe die 284
Mana-Überreste in einem Maß angestaut haben, das schon fast giftig ist. Sicherlich haben Sie auch bemerkt, dass die Wirksamkeit der Heiltränen im Lauf der Zeit ständig nachgelassen hat. Ihr Immunsystem hat einfach schon zu viele Anwendungen miterlebt. Wenn man das alles zusammennimmt, wurde Ihre Fähigkeit, das HeilMana anzunehmen, ständig reduziert und gleichzeitig das Risiko erhöht, dass die nächste Heilträne, die Sie anwen den, zum Herzstillstand führt, was normalerweise tödlich ist. Als Wissenschaftlerin muss ich zugeben, dass Ihr Fall, der so eine lange Zeit nicht überwacht wurde, zu einem Durchbruch bei den Behandlungsmethoden führen könnte. Ich habe hier einige Formulare, mit denen Sie mir erlauben würden, die Daten zu verwenden, die ich aus Ihrer Leiche sammeln werde, um …« »Sparen Sie sich den Rest«, sagte Kos. »Sie können das ganze Ding haben, wenn ich tot bin – aber bleiben sie mir bis dabin vom Hals damit.« Kos spürte, wie seine Rippen wieder aneinander stie ßen, und überlegte, ob der Versuch, an die Notfallmedi zin-Kiste an der Wand zu gelangen, wohl dazu führen würde, dass er wieder das Bewusstsein verlor. Und noch dringender als Medizin brauchte er jetzt etwas zu trinken. Nicht nur etwas, ziemlich viel sogar. »Schauen Sie mal, Schwester, gibt es einen wirklichen Grund, warum ich zwei Tage lang hier bleiben muss? Ich verspreche auch, dass ich mich nicht mehr bewege als nötig, aber ich muss zumindest zur Leichenhalle gehen und mir den Tatort anschauen. Ich habe einen Fall zu bearbeiten. Ich ver 285
geude hier nur meine Zeit.« »Die Aura in diesem Raum wirkt nicht so schnell wie die Heiltränenmagie, aber sie wird Sie viel schneller wieder heilen, als wenn Sie auf sich gestellt sind«, sagte die Schwester. »Sie haben einen höheren Rang als ich, Leutnant, überall – nur nicht hier. Ich werde befehlen, dass Sie eine Woche lang hier bleiben, falls Sie darauf bestehen, gegen eine meiner Empfehlungen anzugehen. Sie werden zwei Tage lang in diesem Raum bleiben, oder ich lasse Sie verhaften, weil Sie das Leben eines WojekPolizisten gefährden.« »Wojek-Poli… Na gut, in Ordnung«, sagte Kos. Zwei Tage. In zwei Tagen würde derjenige, der den RakdosGoblin gekauft und auf seinen Weg ohne Wiederkehr geschickt hatte, schon längst über alle Berge sein. Bei allen Göttern, wahrscheinlich war derjenige längst dort. Vielleicht hatte er beim Hauptmann mehr Glück. »Ich werde Sie jetzt verlassen, damit Sie etwas Ruhe bekommen. In einer Stunde bin ich zurück«, sagte die Vedalkin und drehte sich zu Feder und Phaskin um. Sie warf ihnen einen langen Blick zu. »Zu diesem Zeitpunkt werden sich dann auch alle Ihre Besucher verabschiedet haben, da kann ich mich doch darauf verlassen, oder?« »Selbstverständlich, Schwester Yaraghiya«, sagte Feder zuvorkommend. »Habt Dank für Eure Hilfe.« Der Engel öffnete der Vedalkin die Tür. Mit einem letzten verächtli chen Blick auf das Trio verließ die Schwester das Kran kenzimmer. Kos wandte sich an Phaskin, der sich auf einen Stuhl 286
neben dem Bett gesetzt hatte und mit einer Pfeife herum hantierte, die er der Hausordnung der Krankenstation gemäß natürlich nicht anzünden durfte. »Was ist genau passiert?«, fragte Kos. »Wessen Goblin war das, und warum das Ganze? Das war doch wirklich der heilige Ba yul, oder?« »Wir glauben, dass der Goblin …«, begann der Engel, aber Phaskin schnitt ihm das Wort ab. »Ich regle das, Konstabler«, sagte er barsch. Es hatte schon immer so gewirkt, als wenn Phaskin dem Engel nicht sonderlich wohlgesinnt war. Engel waren die mäch tigsten Streitkräfte der Boros-Legion, also der Gilde, der auch der Bund der Wojeks angehörte. Selbst ein degra dierter Engel hatte mehr moralische Autorität in seinem kleinen Finger als Phaskin im ganzen Körper. »Leutnant, du kannst glücklich sein, noch zu leben.« »Aber ich lebe.« »Unterbrich mich nicht …« »Ich bin derjenige mit den ganzen Knochenbrüchen, und du bist hier in meinem Krankenzimmer, also halt dich bitte zurück«, sagte Kos. Phaskins Gesicht lief vor Zorn rot an. »Das hier ist mein Fall. Dazu gibt es entspre chende Paragrafen im Handbuch, und ebenfalls in den Rachestatuten. Also können wir das mal außen vor las sen.« Kos hob seine gesunde Hand, als Phaskin gerade wieder etwas sagen wollte. »Chef, es ist mein verbrieftes Recht. Borca war ein Wojek, und zudem war er mein Dienstkamerad. Selbst wenn er nicht das eigentliche Ziel war, handelt es sich hier laut Gesetz um das ungeheuer 287
lichste Verbrechen. Du bist der Einzige, der Argh hier umstimmen kann. Du hast die Vollmacht dazu. Verwende sie.« Und zur Überraschung des Hauptmanns, und auch zu seiner eigenen, fügte Kos ein »Bitte« an. »Ich habe erwartet, dass du das sagen würdest«, sagte Phaskin, der seine Pfeife wieder in einer Tasche unter seiner gepolsterten Lederweste verstaut hatte. Er fuhr sich mit der Hand durch sein dünnes Kraushaar, das einige punktförmige Narben auf der Stirn des WojekHauptmanns verdeckte. »Aber ich muss der Vedalkin zustimmen. Du bleibst für ein paar Tage hier und ruhst dich aus. Stanslov hat die Ermittlungen bereits über nommen. Leider haben sie bislang noch zu nichts ge führt.« »Stanslov? Der würde doch noch nicht einmal eine Zy klopratte in einer Zykloprattensuppe finden.« »Sobald die Schwester sagt, dass du wieder fit bist«, grummelte Phaskin, »kannst du Stanslov in allen Belan gen unterstützen. Punkt. Das ist ein Befehl vom General kommandeur, nicht nur von mir. Du hängst da zu dicht drin, Kos. Bis du gesund bist, giltst du nicht als Wojek im Dienst. Du bist ein überlebendes Opfer, ein verletzter Unbeteiligter und außerdem unser bester Zeuge. Ich teile dir die Einzelheiten nur mit, weil die Sesselfritzen immer noch darauf bestehen, dich nach der Versammlung zu befördern. Weil du die ursprünglich anberaumte Zere monie verpasst, musst du dich damit zufrieden geben, als einfacher Leutnant ins nächste Jahrtausend zu gehen. Eine weitere ist eine Woche nach dem Ende der Ver 288
sammlung angesetzt.« »Wie bitte?«, sagte Kos. »Ich habe die … Wie lange bin ich schon hier?« »Die Explosion hat vor drei Tagen stattgefunden«, sagte Phaskin. »Du warst im Koma.« Kos’ Kopfschmerzen machten sich pochend wieder bemerkbar. »Drei … Tage?« »Ja«, sagte Phaskin. Er hüstelte. »Tja, da ist noch eins: Die verschollene Ledev, die möglicherweise beteiligt sein könnte …« »Was ist mit ihr?«, fragte Kos. Phaskin legte eine bedeu tungsvolle Miene auf, sagte aber nichts. Kos drehte sich zum Engel um. »Feder, was ist mit der Ledev?« »Wenn man davon ausgeht, dass die Frau, die du gese hen hast, diejenige Ledev war, die mit der Bewachung des heiligen Bayul beauftragt war«, sagte Feder, »dann war es eine auf einem Wolf reitende Wächterin, die Fonn ge nannt wird.« »Kein Nachname, oder? Also war sie eine … Warte mal. Ich kenne den Namen doch«, sagte Kos. »Woher kenne ich ihn bloß?« »Fonn war – beziehungsweise: ist, wenn man davon ausgeht, dass sie noch lebt – die Tochter von Myczil Zunich«, sagte Phaskin.
289
Kapitel 12
H
Bis auf weiteres darf sich kein Wojek-Polizist auf Patrouil lengänge in das Golgari-Gebiet von Alt-Ravnica begeben. Allgemeine Anweisung 13 des Bundes der Wojek, die »Unterstadt-Regel« (8986 Z.C.)
27. Zuun 9999 Z. C., mittags Fonn schlug die Augen auf. In ihrem Nacken juckte es. Feuchter Rauch hing in der Luft. Von ihrem Reittier war nichts zu sehen. Biracazir, der Wolf mit dem goldenen Fell, war immer bei ihr gewesen, seit sie eine vollständig ausgebildete Ledev-Wächterin war. Er stammte in direk ter Linie von Voja ab. Sie spürte seine Abwesenheit wie eine Wunde. Sie lag auf der Seite, da ihre Arme immer noch hinter dem Rücken zusammengebunden waren. Ob man ihr die Beine auch gefesselt hatte, konnte sie nicht sagen, da sie taub waren. Das Feuer war niedergebrannt und nicht viel mehr als ein Haufen glühender Kohlen und warmer Asche. Ruß und Kohlestückchen rund herum zeugten noch von ihrem Fluchtversuch. Die einzige Lichtquelle in diesem übel riechenden Raum war jetzt eine tropfende Fackel, 290
aber es war hell genug, dass sie die bleiche Gestalt sehen konnte, die sich auf einem schwarzen Marmorblock auf der anderen Seite des Raums hingehockt hatte. Der Elf hatte die Maske nach oben geschoben und drückte eine Hand gegen den Boden. Dabei summte er eine traurige Melodie, und Fonn sah, wie ihm etwas Kleines den Arm hochkrabbelte und sich auf seine Schulter setzte. Es schien irgendein Insekt zu sein. Summend beugte der Elf den Kopf zur Seite, als ob er jemandem lauschen wollte. Fonn hatte sich noch nicht bewegt, und er blickte in eine andere Richtung. Sie war sich ziemlich sicher – jedenfalls gab sie sich dieser Hoffnung hin –, dass er nicht mitbekommen hatte, dass sie wach war. Es war verrückt, in ihrem Zustand einen Kampf riskieren zu wollen, aber ob sie je noch einmal so eine Chance erhal ten würde? Mit fast schon schmerzhafter Langsamkeit zog sie die Füße an und beugte ihre kribbelnden, schmerzenden Beine. Der Elf rührte sich nicht. Er hielt den Kopf weiter hin zur Seite geneigt. Hör ruhig weiter dem Käfer zu, Devkarin, hier gibt es nichts zu hören, dachte sie. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie es geschafft hatte, leise in der Hüfte so einzuknicken, dass sie ihre Stiefelsohlen auf den Boden stellen konnte. Obwohl sie an den Handgelenken gefesselt war, schaffte sie es in dieser Position, die Hände unter den Körper zu bekommen und flach auf den Boden zu pressen. Gerade als sie dabei war, sich vom Boden abzudrük ken, um mit einem Rückwärtssalto auf die Beine zu 291
kommen – ein besserer Weg war ihr nicht eingefallen, um aus der liegenden Position herauszukommen –, fing der Elf an zu reden und jagte ihr damit einen gehörigen Schrecken ein. »Ich würde das nicht tun, Ledev«, sagte der Elf, ohne sich umzudrehen und nach ihr zu schauen. »Ich kann dir garantieren, dass das schlimmer wehtun wird, als du dir vorstellen kannst.« »Was?«, keuchte Fonn. Ihre Kehle war nach der ganzen Zeit, die sie in diesem feuchten und verrauchten Raum gelegen hatte, wie ausgetrocknet. »Du warst zu beschäftigt, mir zuzuschauen, um sie überhaupt zu bemerken«, sagte der Elf. »Schau doch mal nach oben.« Fonn blickte an die Decke und versuchte, in den Schat ten etwas zu entdecken. Etwas bewegte sich da im Dun keln – oder nein, eigentlich bewegte das Dunkle sich, krabbelte, wand sich und klickte kleine harte schwarze Flügel gegeneinander. »Das sind Kneifkäfer«, fuhr der Elf fort. »Der Biss eines einzelnen sticht nur ein wenig. Aber wenn es so viele sind, können sie einem in, sagen wir mal, drei Minuten das komplette Fleisch vom Körper herunterfressen. Wenn sie sich anstrengen, sogar in zwei. Wenn du unse ren kleinen Disput beenden willst, dann vollführ ruhig deinen Salto oder was du sonst im Sinn gehabt hast.« Die Ledev entspannte die Muskeln, aber ihr Herz poch te schneller als normal. Sie musste gegen eine aufkei mende Panik ankämpfen. Die Käfer an der Decke klap 292
perten mit ihren Flügelchen. Mit etwas Mühe löste sie den Blick von ihnen und richtete ihn auf den desinteressiert wirkenden Elfen. »Du kannst sie verstehen?« »Du etwa nicht?«, sagte der Elf und drehte sich zum ersten Mal zu ihr. Sein Gesicht war ohne die Maske er staunlich eindrucksvoll. Unter anderen Umständen hätte Fonn ihn vielleicht sogar als hübsch bezeichnet. Mit schwarzer Kohle hatte er sich Kreise um die Augen gemalt. Es wirkte wie eine Parodie auf die bemalte Maske, die er auf sein verfilztes dunkles Zottelhaar geschoben hatte. »Nein«, gestand Fonn ein. »Das Selesnija-Konklave behauptet, dass es für alles Leben auf ganz Ravnica spricht«, neckte er sie. »Und trotzdem ignoriert ihr die kleinsten, aber zahlreichsten Lebensformen, die über den Erdboden krabbeln.« »Es gibt welche, die das können. Ich bin eine Kriegerin, keine Priesterin«, sagte Fonn. »Aber ich kann es echt nicht glauben, dass ich mich hier mit dir darüber streite. Wer bist du überhaupt? Was ist das für ein Ort? Und warum bin ich hier?« »Ich habe mich schon gewundert, dass du noch nicht danach gefragt hast«, sagte der Elf. »Aber der Reihe nach: Ich bin Jarad, Jagdanführer der Devkarin-Elfen. Der Ort hier ist sicher. Außer mir und einigen wenigen, denen ich vertraue, kennt ihn niemand.« »Du meinst Insekten«, sagte Fonn. »Zum größten Teil, ja«, sagte Jarad. »Und warum du dich hier befindest: Du bist hier, weil die Matka es so wünscht.« 293
»Was ist eine Matka?«
»Die Hohepriesterin der Devkarin-Elfen«, sagte Jarad. »Nicht viel mehr als die wichtigste einzelne geistliche Person im Glaubenssystem der Golgari.« »Ich komme nur selten hier in diese Gegend«, sagte Fonn. »Jetzt weiß ich auch wieder, warum.« »Das ist typisch«, sagte der Jäger. »Was sich nicht frei willig dem Sonnenlicht aussetzt, existiert für dich nicht.« »Oh, habe ich da ein empfindliches Thema angespro chen?«, sagte Fonn. »Du spürst doch die Fesseln an deinen Handgelenken, oder? Du hast verstanden, dass du eine Gefangene bist?«, sagte der Elf auffahrend. »Es wäre da vielleicht klüger, die Zunge etwas im Zaum zu halten. Ich beantworte deine Fragen nur, weil mir gerade langweilig ist, aus keinem anderen Grund.« »Ach, hatte ich also Recht«, murmelte Fonn. »In Ord nung, ich werde lernen, die Käfer zu lieben und die Pilze zu segnen. Noch etwas? Und jetzt sag mir bitte, warum ich hier bin. Mein Schützling ist unbewacht, und …« »Bayul ist tot«, sagte Jarad mit sachlicher Stimme. Irgendwie hatte Fonn geahnt, dass es sich so verhielt, aber zu hören, wie der Elf es so grob ausdrückte, war wie ein Tritt in die Magengrube. »Du warst dort. Die Bombe, du – du warst derjenige, der mich zu Boden gerissen hat.« »Ja, und dir dein undankbares Leben gerettet hat«, sagte der Elf. »Glaub mir, hätte ich nicht den Befehl dazu ge habt …« »Oh, vielen Dank. Du scheinst genau zu wissen, wie 294
man dafür sorgt, dass sich ein Mädchen als etwas Beson deres fühlt«, sagte Fonn. »Und was kommt jetzt? Wirst du mich töten? Eine weitere Spinne auf mich hetzen? Mich deinem dunklen Käfer-Gott opfern? Mich in einen Käfer verwandeln? Mich dazu zwingen, dass ich Käfer esse? Es wird doch etwas mit Käfern zu tun haben, oder?« »Nein, wir werden einfach nur warten«, sagte Jarad. »Gegen Ende des Tages soll eine Nachricht von der Matka eintreffen, wie dein weiteres Schicksal aussehen wird.« »Also wirst du mich töten?« »Nicht notwendigerweise, andernfalls wärst du schon längst tot.« »Sie will mich lebend?«, fragte Fonn. »Ich habe genug erzählt«, sagte Jarad. »Außerdem habe ich keine Lust mehr. Finde es doch selbst heraus, wäh rend die Kneifkäfer dir Gesellschaft leisten. Ich werde versuchen, irgendwo etwas zu essen aufzutreiben.« Fonn starrte unruhig auf die Käfer. »Die werden doch nicht von allein herunterfallen, oder?« Jarad stand auf und betrachtete die Decke. »Gute Frage. Du kannst mir dann ja die Antwort verraten, wenn ich mit dem Abendessen zurück bin. Ich kann mir vorstellen, dass du Hunger hast.« »Du jagst nicht zufälligerweise auch Gemüse?« Der Elf verdrehte die Augen. »Ich werde schon ein, zwei Pilze für dich finden. Und jetzt sei brav. Ich möchte keinen weiteren Spinnenbiss vergeuden müssen.« Er ließ den Kopf knacken. Der Käfer auf seiner Schulter krabbel te in das Zottelhaar und verschwand dort. »Und auch kein 295
Schreien oder Hilferufe. Es wäre sinnlos und lockt höch stens noch Todesgänger an. Die Tür ist zwar stabil, aber wenn sie in ausreichender Anzahl anrücken, können sie mit ihren Klauen alles klein bekommen. Savra will, dass du noch ein paar Stunden am Leben bleibst, also lass dich bitte nicht auffressen. Ich bin gleich wieder da.« Jarad drehte sich um und entriegelte die Tür mit einem dreizinkigen Schlüssel, den er danach wieder in seinem Haar versteckte. Er zog sich die Schädelmaske übers Gesicht und drehte den Türknopf unter erheblicher Kraftanstrengung, bis es klickte. Die Tür ging nach innen auf, sodass ein kalter Luftzug in den Raum strömen konnte und die Harpyie, die über der Tür geschwebt hatte, die Gelegenheit hatte, ihm mit beiden Füßen in den Bauch zu treten. Der Elf stolperte nach hinten, und Fonn konnte flüch tig sehen, dass sich hellrote Streifen über seine Haut zogen. Die Harpyie kreischte und flatterte mit Höchstge schwindigkeit in den Raum. Die Vogelfrau schlug auf den betäubten Jarad ein, bis er rückwärts über den Marmor block stolperte, den er zuvor als Hocker verwendet hatte, und zu Boden ging. Einen Moment später hatten sich zwei weitere Harpy ien dazugesellt. Die beiden stürzten sich sofort auf Jarad, während sich die erste auf direktem Weg zu Fonn begab. Die Vogelfrau flatterte über ihr und ließ ein zahnlücken haftes Grinsen aufblitzen. »Ah, lecker«, krächzte sie. Fonn hatte sich entspannt, aber ihre Füße standen immer noch auf dem Boden und ihre Handflächen drück 296
ten gegen den Stein unter ihrem Rücken. Ihre Antwort auf die Harpyie war heftiger, als diese das wahrscheinlich erwartet hatte. Da Fonn wieder Gefühl in den Beinen hatte, konnte sie sich vom Boden abstoßen und eine Art halben Salto nach hinten schlagen. Dabei traf sie mit einem Stiefel die Vogelfrau am Kinn, hatte aber trotzdem noch genug Schwung, um auf den Füßen zu landen. Die flatternde Missbildung wurde zurückgeworfen und kreischte vor Überraschung und Schmerz auf, als ein Schwarm winziger Kneifkäfer von der Decke auf sie herabregnete und sie in eine wimmelnde und klappernde Wolke hüllte. Das Gewicht des Schwarms zog sie nach unten, und ein paar Sekunden später landete die blutende und kreischende Masse aus Fleisch, Federn und Chitin auf dem Fußboden. Fonn trat ein paar Schritte zurück, um den Käfern nicht zu nahe zu kommen, aber die Insekten waren längst im Fressrausch und schenkten ihr nicht länger Beach tung. Eine der beiden Harpyien, die auf den sich wehrenden Devkarin einhackte, bemerkte, was mit ihrer Artgenossin geschah, und krächzte der Ledev einen rachsüchtigen Fluch zu. Die Vogelfrau, die vorher wie ein Geier über Jarads hingestrecktem Körper gehockt hatte, erhob sich und flog mit ausgestreckten Fußkrallen auf Fonn zu. Die Ledev versuchte, dem Angriff der Harpyie auszu weichen, stolperte dabei aber nur über die eigenen Beine. Eine der Klauen der Vogelfrau riss ein Stück Leder aus 297
ihrer Uniformschulter, aber sonst war der Sturz so wir kungsvoll wie alles andere, was Fonn hätte probieren können. Sie rollte sich zweimal um sich selbst und drehte sich dabei so, dass sie wieder auf den Beinen zu stehen kam. Fonn zerrte an den Ranken, die um ihre Handgelenke gewickelt waren, aber ohne Erfolg. Die Harpyie wendete in dem engen Raum und ging vorsichtig um ihre tote Artgenossin herum. Fonn hatte sich gerade auf den nächsten Angriff vorbereitet, da quäkte die Vogelfrau auch schon wieder und stürmte los. Die Missbildung schaffte es aber nicht bis zu der Hal belfin. Eine Kugel aus Blut und öligen Federn prallte in die heranstürmende Harpyie und warf sie zu Boden. Jarad rappelte sich wieder auf. Er blutete aus einem Dutzend Wunden an den Armen, der Brust und im Gesicht. Er ging zu den ineinander verknäulten Harpyien und packte die eine, die er gerade geschleudert hatte, am Genick. Sein Arm sauste wie eine Peitsche herab, während er den Kopf der Harpyie nach hinten zog. Der Tod trat sofort ein. Er warf ihre Leiche zu den Käfern. Jarad ging zu der dritten Angreiferin hinüber – derjeni gen, die Fonn attackiert hatte. Der linke Flügel der Harpy ie hing nutzlos herunter, aber sie war schon wieder auf den Beinen. Sie trippelte rückwärts und versuchte, dem Elfen auf der einen und den Käfern auf der anderen Seite zu entkommen. »Bleib, wo du bist, Jagdanführer«, zischte die Harpyie. »Du Mörder!« Jarad reagierte nicht mit Worten, sondern schlug statt 298
dessen wieder blitzschnell zu. Er hatte die Vogelfrau am Nacken gepackt, bevor diese einen Mucks machen konn te. »Ihr seid hier nicht aus eigenem Antrieb hergekom men«, sagte Jarad. »Wer hat euch geschickt?« Die Harpyie schnaubte und spuckte ihm ins Gesicht. Jarad wischte die stinkende Flüssigkeit mit der freien Hand weg, während er mit der anderen den Hals der Harpyie fester zusammendrückte. Er hielt sie auf Arm reichweite vor sich, sodass ihre Klauen ihr nicht viel nutzten. »Ich werde die Frage ein einziges Mal wiederholen, Harpyie«, sagte der Elf. »Du musst nur bestätigen, was ich eh vermute. Ich werde es dir einfach machen. Hat meine Schwester dich geschickt?« Die roten Augen der Harpyie traten noch weiter her vor. Sie schüttelte energisch den Kopf. »N-nein«, krächzte sie durch ihren zusammengepressten Kehlkopf. »Nein, Jagdanführer, wir … Wir waren auf Jagd. Wir hatten gedacht, dass wir einfach Beute gefunden hätten. Ja, nur auf der Jagd …« »Lügnerin.« Jarad packte den Schädel der Vogelfrau mit der freien Hand und drehte ihn mit einem Ruck. Die Beteuerungen der Harpyie, sie sei unschuldig, starben mit einem unterdrückten Schrei. Der Jäger warf auch dieses Knäuel aus Federn und Fleisch seinen Käfern zum Fraß vor. Er blickte finster vor sich hin. »Um was genau ging es hier?«, sagte Fonn ächzend. »Schwester? Was geht hier vor? Ich dachte, du sagtest, dass deine Magda mich lebendig haben will. Versucht 299
jetzt etwa auch diese Schwester von dir, mich für sich zu beanspruchen?« »Matka«, verbesserte Jarad sie geistesabwesend. »Die Hohepriesterin der Devkarin. Sie ist meine Schwester.« »Wie bitte? Erst schickt sie dich los, um mich zu ent führen, und dann sendet sie uns diese Spatzenhirne hinterher, um uns beide zu töten? Falls das der Fall ist, glaube ich nicht, dass sie mich noch lebendig sehen will«, sagte Fonn. »Nein«, sagte Jarad gedankenverloren. »Ich würde das auch nicht annehmen.« Seine Trance löste sich auf, und er drehte sich abrupt zu Fonn um. »Diesmal ist sie zu weit gegangen. Wir müssen hier raus.« »Ich hab da eine bessere Idee. Du löst meine Fesseln, wir gehen hier beide raus, und dann gehst du deiner Wege und ich meiner«, sagte sie. »Hör mir mal zu, Ledev«, sagte Jarad. »Wir sind jetzt beide in Gefahr. Mir gefällt das selbst nicht, aber im Moment ist mein Feind auch dein Feind.« »Also soll ich dir helfen? Ich kenne mich doch noch nicht mal mit dir und anderen Leuten von deiner Sorte aus! Außerdem wird das Konklave sicher schon nach mir suchen.« Ein unwillkommener Gedanke überkam Fonn. »Heilige Mutter, sie könnten vermuten, dass ich etwas mit der Bombe zu tun hatte.« »Ledev«, sagte Jarad. »Ich möchte dir etwas vorschla gen.« »Jetzt schon? Wir kennen uns doch kaum.« »Haha. Wir könnten uns möglicherweise gegenseitig 300
helfen. Ich habe keine Ahnung, warum Savra vorhat, mich umzubringen, aber ich möchte das herausfinden. Vielleicht kannst du dabei ja aufdecken, was deinem Schützling widerfahren ist. Wenn sie sich entschieden hat, gegen mich vorzugehen, ist sie nicht mehr die Matka, die ich kannte. Es geht hier um mehr als nur um unser Leben. Die Gilden …« »Das meinst du alles ernst, oder?«, sagte Fonn ungläu big. »Du hast mich in diesem Loch gefangen gehalten … Wie lange war ich hier?« »Drei Tage«, sagte Jarad. »Du Sohn einer Mooshündin«, sagte Fonn. »Ich muss sofort zur Oberfläche zurück. Falls wir hier herauskom men. Gibt es in der Nähe einen Ledev-Außenposten?« »Nicht hier in Alt-Ravnica«, sagte Jarad. Fonn warf ihm einen fragenden Blick zu. »Wir sind im Keller eines Miets hauses in der Unterstadt. Nicht weit von Grigors Schlucht entfernt gibt es allerdings eine Wojek-Bundeshalle.« »Dann gehe ich halt dort hin«, sagte Fonn. »Du scheinst vergessen zu haben, dass du immer noch eine Gefangene bist«, sagte Jarad. »Und du scheinst vergessen zu haben, dass da draußen vor der Tür ein ganzer Schwarm Harpyien, Fledermausschlangen oder was weiß ich auf uns warten könnte«, sagte Fonn. »Du hast die Wahl: Töte mich, oder mach endlich die Fesseln ab.« Jarad überlegte einen Moment. »Hör mal. Ich kann nicht erwarten, dass du mir traust, aber Savra …« 301
»Deine Schwester.« »Meine Schwester Savra hat mich losgeschickt, um dich aus dieser vegetarischen Imbisshalle zu holen«, sagte er. »Sie wusste das mit der Bombe.« »Also hast du mir das Leben gerettet, um mich dann mit den Käfern zu bedrohen? Wie hinreißend«, sagte Fonn. »Denk mal darüber nach«, sagte Jarad. »Die Tatsache, dass wir beide hier sind, sollte doch Beweis genug dafür sein, dass ich dort war, um uns beide vor der Explosion zu schützen.« »In diesem Punkt hast du Recht. Aber gibt es noch ei nen?«, fragte Fonn. »Wie ich schon sagte«, antwortete Jarad. »Es ist gut möglich, dass wir uns bei unseren jeweiligen Problemen gegenseitig weiterhelfen könnten. Ich habe das Gefühl, dass sie dieselbe Quelle haben.« »Warum sollte ich dir trauen? Oder du mir? Um ehrlich zu sein, ich könnte mir auch gut vorstellen, dir die Zähne einzuschlagen.« Zum ersten Mal lächelte der Elf richtig. »Das würde ich gern sehen, wie du das anstellen willst.« »Schneide mich los, Devkarin«, sagte Fonn, »dann zeige ich es dir.« Der bleiche Elf schob die Maske wieder aus dem Ge sicht und schaute Fonn in die Augen. »Ich vertraue dar auf, dass du zu erfahren bist, um es zu probieren.« Er schlüpfte hinter sie, und eine Sekunde später fielen die Ranken von ihren Handgelenken ab. Der Elf trat sofort einen Schritt zurück, als sie herumschwang und nach 302
ihm schlug. Sie traf nur die Luft. Ihr zweiter Schlag lande te in seiner Faust. Er packte Fonn an beiden Handgelen ken. »Hör auf damit. Pass auf. Ich kenne jemanden, der möglicherweise eine Ahnung hat, woher meine Schwe ster über die Bombe Bescheid wusste. Vielleicht weiß er sogar, ob sie dahintersteckte – oder wer sonst. Er kann uns auch sagen, welche Kopfgeldjäger hinter uns her sind, und für genug Gold kann er sie uns auch vom Hals halten. Ich habe schon lange darauf gewartet, dass sie so etwas versucht.« »Bist du wahnsinnig?«, sagte Fonn, die sich mit aller Kraft loszureißen versuchte. »Ich muss so schnell wie möglich zum Baum der Einheit. Die werden schon nach mir suchen.« »Du hast drei Tage geschlafen«, sagte Jarad. »Falls ich deine Hände loslasse, kann ich dir dann etwas zeigen?« »Kommt drauf an.« »Na gut, dann versuche ich einfach mal mein Glück«, sagte der Elf, ließ sie los und schob sie dabei leicht von sich. Fonn hob beide Hände, um zu zeigen, dass sie friedlich sein würde. Jarad nickte und griff in eine Tasche, die seitlich an seine Hosen angenäht war. Er zog dort ein Stück gefaltetes, neu aussehendes Pergament heraus und drückte es der Ledev in die Hand. Sie entfaltete es so vorsichtig, als könnte es einen weiteren Käferschwarm enthalten. Käfer, das sah sie sofort, wären ihr lieber gewesen. Das Pergament war an den Ecken eingerissen. Zweifellos war es an einem Kiosk auf dem Gildenpakt-Platz angenagelt 303
gewesen. Der größte Teil des Aushangs wurde von einem erschreckend genauen Holzschnitt von Fonn eingenom men, sowohl ein Bild von vorn als auch eines von der Seite. Unterhalb ihres Porträts, auf dem sie nicht lächelte, war ein entsprechendes Bild von Biracazir zu sehen. Man konnte das Siegel auf der Identifizierungsmarke, die der Wolf am Halsband trug, eindeutig erkennen. Fonn las mit einem betäubten Flüstern den Text unter den Bildern. Sie hatte vermutet, dass so etwas möglich war, aber es schwarz auf weiß gedruckt zu lesen, traf sie bis ins Inner ste. »Gesucht zur Vernehmung in der laufenden Untersu chung des Mordes an Wachtmeister Bell Borca. Falls gesichtet, bitte nicht versuchen, sie festzunehmen, son dern Kontakt mit der nächsten … Was?« Sie zerknüllte das Papier mit einer Hand. »Was soll das? Ich weiß noch nicht einmal, wer Bell Borca ist.« »Wahrscheinlich ist dir die Tragweite nicht bewusst«, sagte Jarad. »Ich nehme mal an, dass du den größten Teil deines Lebens außerhalb der Stadt hier verbracht hast, immer unterwegs?« »Ja, das stimmt«, bestätigte Fonn. »Es gibt in dieser Stadt nämlich viele verschiedene Ein stufungen für Mord«, sagte Jarad. »Die meisten Morde verstoßen noch nicht einmal gegen das Gesetz, solange die Gilden sich dadurch nicht in ihrem Handeln beein trächtigt fühlen.« »Bringst du mir jetzt Bürgerkunde bei?« »Die einzige Art von Tötung, die immer gegen die 304
Stadtverordnung verstößt, ist das Umbringen eines Wo jeks«, fuhr Jarad unbeeindruckt fort. »Dadurch werden alle anderen Umstände außer Kraft gesetzt. Ich nehme an, dass dieser Borca der Wojek war, der bei euch am Tisch saß und mit deinem Schützling gesprochen hat.« »Wie lange hast du uns belauscht?« »Lange genug, um herauszufinden, dass du kein Fleisch isst«, sagte Jarad. »Das ist doch lächerlich«, sagte Fonn. »Die können doch nicht wirklich annehmen, dass ich etwas damit zu tun habe.« »Aber offensichtlich verdächtigen sie dich«, antwortete Jarad. »Weißt du, wie dein Selesnija-Konklave gefangene Golgari verhört?« »Das Selesnija-Konklave nimmt keine Gefangenen, und außerdem …« »Deine Ausbildung hatte wohl ein paar Lücken«, sagte Jarad. »Eure Schweiger sind ziemlich effektiv darin, Informationen aus einem herauszuholen. Ich habe die Ergebnisse gesehen, wenn ›Befragte‹ hinterher am Rand von Grigors Schlucht abgeladen wurden. Ich habe einige Freunde töten müssen, damit sie nicht in diesem Zustand weiterleben mussten.« »Du scherzt.« »Sehe ich so aus?«, sagte er. »Willst du es am eigenen Leib ausprobieren, ob ich es ernst meine oder nicht? Sie werden dein Gehirn zerstören, um die Wahrheit heraus zufinden.« »Das ist – das ist doch verrückt!«, sagte Fonn, aber ein 305
Gefühl in ihrer Magengrube sagte ihr, sich da nicht zu sicher zu sein. Jarad hatte Recht. Obwohl sie hier geboren war, war sie seit Jahrzehnten nicht mehr in der Stadt gewesen. Sie hatte keine Ahnung, wie das SelesnijaKonklave in der Stadt agierte. Eine Ledev musste sich nicht damit befassen, wie das heilige Kollektiv arbeitete. Sie brauchte nur eine Klinge und ihren Glauben. Es war ihre Pflicht, zum Selesnija-Konklave zurückzukehren und jede Art der Befragung, Bestrafung oder sonstiger Ent scheidung zu akzeptieren. Draußen auf der Straße vertrat sie das Recht, und es war ihre Pflicht, sich bei den Wo jeks zu melden und die Umstände zu erklären. Und wenn Jarad die Wahrheit gesagt hatte, standen die Chancen nicht schlecht, dass danach nicht mehr genug von Fonn übrig wäre, um Bayuls wahre Mörder zu finden und der Gerechtigkeit zuzuführen. Auf der anderen Seite war da der Mann, der sie ent führt hatte, sie drei Tage lang gefangen gehalten und damit gedroht hatte, sie von Käfern auffressen zu lassen. Jetzt wollte er, dass sie mit ihm gemeinsame Sache mach te und eigene Nachforschungen betrieb. Was war nun richtig, fragte sich Fonn. Weiterhin ein edler Wächter zu sein, wie sie es ihr ganzes Leben gewe sen war, aber dabei wahrscheinlich den Verstand verlie ren? Oder Jarad vertrauen, der zusätzlich zu all dem, was er ihr angetan hatte, sogar Käfer in seinem Haar leben ließ? Und eine noch bessere Frage: Selbst wenn sie jetzt auf eigene Faust losziehen würde, schaffte sie es überhaupt ohne seine Hilfe, wieder zur Oberfläche zurückzufinden? 306
»Und? Wie lautet deine Entscheidung?«, fragte Jarad. »Die Harpyien werden nur die Ersten gewesen sein. Da werden noch weitere nachkommen. Entweder bleiben wir zusammen und machen uns auf den Weg, oder einer der Meuchelmörder wird irgendwann Erfolg haben.« Fonn seufzte und stemmte die Arme in die Hüften. »In Ordnung«, sagte sie. »Wer ist diese Quelle, die du da hast? Wohin müssen wir gehen?« »Es ist ein Orzhov, der mit Informationen handelt«, sag te Jarad. »Er hat mir bislang noch keinen falschen Tipp gegeben. Wir können über die Schluchtaufzüge hinkom men.« »Aber schaffen wir es zu den Schluchtaufzügen, ohne in einen weiteren Schwarm von denen da zu geraten?«, fragte Fonn und zeigte auf den immer kleiner werdenden Haufen von Harpyienfleisch unter dem dicken Insekten teppich. Jarad schob mit einem Fuß einen zersprungenen Stein beiseite, um eine kleine Falltür freizulegen. Er drückte auf eine bestimmte Stelle, worauf die Tür mit einem Klicken aufsprang. Er griff in das Loch, zog ein Fonn nur allzu bekanntes Schwert heraus und warf es ihr zu. Fonn fing es mit der rechten Hand am Griff auf. »Das ist eine gute Frage«, sagte Jarad. »Das klingt, als würdest du die Antwort bereits ken nen«, sagte Fonn und schwang das Schwert probehalber durch die Luft, bevor sie es in die Scheide an ihrem Gürtel steckte. »Ich sage das nur einmal – falls ich auch nur einen Augenblick lang denke, dass du mich über irgen 307
detwas anlügst, ist der Waffenstillstand vorbei.« »Das ist kein Waffenstillstand, Ledev«, sagte Jarad. »Das ist eine Notwendigkeit. Bist du jetzt fertig, Drohungen auszustoßen? Ich möchte in einer Gaststätte sein, bevor zur Abendessenszeit der große Ansturm losgeht.« »Oh, das habe ich mir gedacht, dass du hungrig bist«, sagte Fonn. »Nicht zum Essen«, sagte Jarad. »Aber wenn ich so dar über nachdenke, wir können ja beides miteinander kom binieren. Ich kann mir vorstellen, dass du halb verhungert bist.« »Wenn wir nichts essen wollen, warum gehen wir dann in eine Gaststätte?« »Es handelt sich nicht um ein beliebiges Lokal«, sagte Jarad. »Es wird von meinem Freund geleitet, dem Orzhov, der mit Informationen handelt. Wir werden von ihm alles erfahren, was er weiß, und uns dann überlegen, was wir als Nächstes unternehmen. Wenn du dich dann ent schließt, dass wir getrennter Wege gehen sollten …« »Da brauchst du keine Angst haben, dass ich mir die Gelegenheit entgehen lassen werde«, sagte Fonn. Ihr Magen knurrte wie ein… »Mein Wolf!«, stieß sie hervor. »Wo ist er? Hat die Bombe …?« »Ich weiß es nicht, aber wenn er außerhalb der Mauern war, könnte er überlebt haben. Verfügt ihr Ledev nicht über so etwas wie Telepathie?« »Naja, ziemlich viele Leute glauben das«, sagte Fonn. »Halte einfach ein Auge nach ihm offen, in Ordnung?«
308
K
»Jetzt sollte doch alles klar sein, Phaskin«, sagte Kos. »Es gibt keinen einzigen Grund, warum du mir den Fall nicht überlassen solltest. Sei vernünftig.« »Alles, was du sagst, bestärkt mich nur in meiner Mei nung«, sagte Phaskin nicht ohne Mitgefühl. »Du denkst einfach nicht an die eigene Gesundheit. Stanslov hat den Fall übertragen bekommen, da gibt es nichts weiter zu diskutieren.« »Stanslov interessiert sich nicht die Bohne für den Fall«, sagte Kos. »Und als Ermittler ist er nur halb so gut wie ich. Das ist keine Arroganz, das ist die Wahrheit, Hauptmann, und du weißt es.« »Leutnant Stanslov arbeitet ja nicht in einem luftleeren Raum«, sagte Phaskin. »Wir haben außerdem eine Son derkommission zusammengestellt. Wir kümmern uns um alles, Kos. Wir werden der Sache auf den Grund gehen.« »Wir? Sag nicht, dass du auch an der Ermittlung teil nimmst?« »Ob du es glaubst oder nicht«, sagte Phaskin, »aber ich leite die Sonderkommission.« »Du?«, sagte Kos. »Ich kann es nicht glauben. Da falle ich mal kurz in ein Koma, und alle anderen spielen verrückt? Du bist doch kein Ermittler!« »Leutnant, ich glaube, du solltest dir jetzt ein wenig Ruhe gönnen«, sagte Feder. »Halt dich da bitte raus, Feder«, sagte Kos. »Haupt mann, du – du wirst befördert. Du wirst Schichtkomman 309
dant. In Gottes Namen, Hauptmann, ich werde in einer Woche auf deinem Sessel sitzen! Du musst mir den Fall übergeben. Wenn Zunichs Tochter in den Fall verwickelt ist… Moment mal, was ist mit ihrer Mutter?« »Tot«, sagte Phaskin. »Vor etwa zwanzig Jahren, wenn der Bericht stimmt, den ich gelesen habe. Selbstmord.« Kos spürte, wie sich eine vertraute Dunkelheit über seine Seele legte. In einer regnerischen Nacht vor sieben undfünfzig Jahren hatte er versprochen, sich um Zunichs Frau und Tochter zu kümmern. In der Folgezeit nach Zunichs Tod hatte sich Kos nicht überwinden können, sie auch nur einmal zu treffen, obwohl er die offiziellen Berichte überprüfte, nachdem der Fall abgeschlossen war. Zunichs Ehefrau, eine Silhana-Elfin, war mit dem Kind in ein Selesnija-Kloster gezogen. »Hauptmann, es war mein Dienstkamerad«, sagte Kos. »Nicht deiner. Meiner. Du musst mir den Fall geben. Es ist meine Pflicht. Ich kann … Ich kann mit ihr reden und herausfinden, wie sie darin verwickelt ist.« »Du bist ihr noch nicht ein einziges Mal begegnet, oder?«, sagte Phaskin. »Und du solltest an den Dienstka meraden denken, der gerade umgekommen ist, und nicht an den, der …« »Darum geht es nicht«, sagte Kos. »Du und Stanslov, ihr gehört nicht an diesen Fall. Sondern ich.« »Du willst also sagen, dass ich nicht in der Lage bin, meine Aufgabe zu erledigen?«, sagte Phaskin. Sein Gesicht lief rot an, was ein sicheres Zeichen dafür war, dass er sich maßlos über Kos ärgerte. 310
»Hauptmann, bei allem Respekt, aber du bist im Be reich Detektivarbeit nicht besser als Stanslov. Ihr beide seid Verwaltungsbeamte. Um ehrlich zu sein, ich hab keine Ahnung, warum die Sesselfritzen nicht Stanslov befördert haben, sondern mich. Und um es auf den Punkt zu bringen, es ist nicht dein Geschäft, diese Ermittlung zu leiten«, sagte Kos. »Kümmere dich um die Bürokraten und lass die richtigen Wojeks ihre Arbeit tun.« Die Worte waren aus seinem Mund heraus, bevor Kos in seinem geschwächten Zustand überhaupt darüber nachdenken konnte, was er da gerade sagte. Phaskin lächelte. »Das«, sagte er, »ist Gehorsamsverweigerung, Leut nant.« »Machst du Witze?«, sagte Kos. »Ich bin beinahe in die Luft gesprengt worden. Und jetzt willst du mich auch noch unter Anklage stellen? Am besten gleich vor ein Bundesgericht, was? Ich nehme alles zurück. Falls es das ist, was du tun willst, bist du nicht nur in dieser Ermitt lung fehl am Platz, sondern in der gesamten Bundeshal le.« »So, jetzt reicht es mir«, sagte Phaskin. »Danke schön, Kos, du hast es mir gerade viel einfacher gemacht. Mit sofortiger Wirkung bist du vom Dienst suspendiert, und zwar ohne Bezahlung. Noch ein weiteres Wort, und ich werde tatsächlich Anklage erheben.« »Du suspendierst mich?« »Du suspendierst ihn?« »Ihr habt mich gehört«, sagte Phaskin und lächelte 311
traurig. »Konstabler Feder, ich glaube, du hast dich noch um Papierkram zu kümmern. Und ich habe eine Untersu chung zu leiten.« »Einfach mal so«, sagte Kos. »Da widmet man dem Bund siebzig und ein paar zerquetschte Jahre seines Lebens, dann betont man mal etwas, was absolut offen sichtlich ist, und schon wird man kaltgestellt?« »Kos«, sagte Phaskin, »du bist suspendiert. Stell es dir als Urlaub vor. Komm mit, Konstabler. Wir sollten diesem Zivilisten die Gelegenheit geben, sich zu erholen.« »Chef, vielleicht sollte ich noch ein bisschen hier blei ben, um Ermittlungsstrategien für die Sonderkommission zu besprechen.« »Willst du auch suspendiert werden?«, sagte Phaskin. »Er hat mit der Sonderkommission nichts zu tun, außer als Zeuge.« »Dann sollte ich möglicherweise eine Aussage des, äh, Zeugen aufnehmen«, sagte Feder. »Ich habe keine Zeit, um das jetzt zu diskutieren. Ich habe in fünfzehn Minuten ein Treffen mit den Fritzen. Wenn du hier bleiben willst, dann lös die Wache draußen auf dem Gang ab. Aber er bleibt hier, und zwar allein.« »Warum steht denn jemand vor der Tür Wache?«, frag te Kos. »Ich wollte sichergehen, dass nicht noch jemand den letzten Zeugen erledigen will«, sagte Phaskin. »Aber jetzt füge ich zu seinen Pflichten noch hinzu, dass er dich keinesfalls aus dem Zimmer lassen darf. Hast du mich verstanden, Konstabler?« 312
»Jawohl, Chef«, sagte Feder. »Leutnant, ich bin draußen auf dem Gang, falls du Hilfe benötigst.« »Danke«, sagte Kos. Er fühlte sich sehr müde, sehr alt und durch Phaskins nettes kleines verwaltungstechni sches Manöver völlig verraten. Wojeks behandelten andere Wojeks nicht auf diese Weise, vor allem nicht dann, wenn ein toter Dienstkamerad im Spiel war. Er bekam kaum noch mit, dass der Engel und der WojekHauptmann ihm oberflächlich eine schnelle Erholung wünschten und den Raum verließen. Er hörte, dass sie vor dem Raum noch gedämpft ein paar Worte wechsel ten, dann waren sich entfernende Schritte zu hören. Kos war mit seinen Gedanken allein, und das war die schlechteste Gesellschaft, die er sich wünschen konnte. Er war nicht unbedingt von Borca begeistert gewesen, aber der Mann war sein Dienstkamerad gewesen. Es gab keine Ermittlung, die für einen Wojek heiliger war als die Untersuchung des Tods eines engen Kollegen. Deswegen war das alles ja auch in den Statuten des Gildenpakts, in der Stadtverordnung und dem Handbuch für WojekPolizisten festgehalten. Kos glaubte, aus den Augenwinkeln eine Bewegung bemerkt zu haben, aber als er sich danach umdrehte, war nichts zu sehen. Die Schwester hatte ja gemeint, dass er eine Gehirnerschütterung davongetragen hatte. Fing er jetzt auch noch an zu halluzinieren? Wieder blitzte etwas Bleiches am anderen Ende des Raums auf. Als er genau hinschaute, war wieder nichts zu sehen. 313
»Hallo?«, sagte Kos, fühlte sich aber dabei gleichzeitig lächerlich. Er bekam keine Antwort. »Du wirst alt, Kos«, murmelte er. Er sollte sich eigentlich ausruhen, aber da er sich gerade drei Tage lang im Koma befunden hatte, war Schlaf das Letzte, wonach ihm jetzt der Sinn stand. Aber vielleicht sollte er sich wenigstens anders hinlegen, damit der Verband ihn nicht mehr so am Arm kniff. Kos legte sich wieder auf den Rücken und starrte an die Decke. Oder hätte das zumindest gemacht, wenn nicht der geisterhafte Umriss eines kahlen Wojeks mit einem gezwirbelten Schnauzbart ihm die Sicht versperrt hätte. Sein erster Instinkt war wegzurennen, aber das kam nun einmal nicht infrage, so bettlägerig, wie er war. Er wollte auch aus verschiedensten Gründen nicht um Hilfe brüllen, er war sich nämlich alles andere als sicher, ob er auch wirklich das sah, was er zu sehen glaubte. Aber andererseits, wenn es wirklich das war, wonach es aussah … »Mycz?«, flüsterte Kos. »Chef?« Die Gestalt nickte einmal und hob eine geisterhafte Hand. »Was machst du hier …«, sagte Kos. »Willst du dich et wa verabschieden?« Der vermeintliche Geist von Myczil Zunich winkte aber nicht zum Abschied, sondern legte die Hand auf Kos Stirn. Sie fühlte sich feucht und kalt an.
314
Kapitel 13
H
In dem Moment, in dem eine Verletzung der Statuten jemanden persönlich betrifft, hat dieser Polizist seine Objektivität verloren. Er gilt als befangen, und alle seine Ergebnisse müssen entsprechend behandelt werden. Die einzige Ausnahme sind Fälle, die mit Mord an einem akti ven Dienstkameraden des Polizisten zu tun haben. In solchen Fällen darf jegliches Ersuchen des überlebenden Polizisten, den Tod des anderen zu untersuchen, nicht abgelehnt werden, solange der genannte Überlebende sowohl körperlichen als auch geistigen Gesundheitsstan dards für den aktiven Dienst genügt. Handbuch für Wojek-Polizisten, Anhang E: »Über das Vergeltungsstatut«
27. Zuun 9999 Z. C., früher Nachmittag Die Schwerkraft sagte Kos, dass er auf dem Rücken lag. Die kalte flache Oberfläche musste der Fußboden der Krankenstation sein. Ohne die Augen zu öffnen, ließ er sich von den Schmerzen am ganzen Körper sagen, wo er sich befand. Er wusste, dass er aus dem Bett gefallen sein musste. Eines seiner Beine war immer noch in die Bettla 315
ken verstrickt. Sein gebrochener Arm schmerzte höllisch. Das Blut schoss ihm in regelmäßigen Schüben in den Kopf, wahrscheinlich schneller als es das sollte. Aber das war auch ein gutes Zeichen, immerhin bedeutete das, dass sein Herz noch schlug. Kos wusste, dass er wieder einmal einen bösen Traum gehabt hatte, aber obgleich dieser sehr eindringlich gewesen war, konnte er sich außer an kurze, quälende Einzelheiten an nichts mehr erinnern. Er hatte das Ge fühl, dass irgendetwas in diesem Traum dringend gewe sen war, aber je mehr er versuchte, sich die Bilder in Erinnerung zu rufen, desto schneller verschwanden sie ganz. Er kämpfte gegen den Drang, die Augen zu öffnen. Wenn er das tat, hatte er überhaupt keine Chance mehr, den Traum zurückzuholen. »Kos. Wach auf, Kumpel.« »Halt die Klappe, Borca«, sagte Kos automatisch. Die Worte, die gerade seinen Mund verlassen hatten, erreichten seine Ohren und sein Gehirn etwa gleichzeitig. Kos blinzelte. Der Raum kam wieder ins Blickfeld und dazu der blasse, dickliche und eindeutig durchsichtige Geist von Bell Borca, der nun nie in den Rang eines Leutnants befördert werden würde. Der Geist, der über Kos schwebte, hob eine Hand und winkte ihm zu. »Wir müssen viel besprechen«, sagte der Geist. Kos schrie. »Pscht! Ruhig!«, sagte der Geist. »Wenn du so weiter schreist, wird Argh dich am Bett festketten.« Kos rieb sich verwundert die Augen. Von dem anderen 316
geheimnisvollen Geist, der ihm zuvor erschienen war, war nichts zu sehen. Wie lange war das her? Eine Stunde? Zwei? »Borca?«, brachte er heraus. »Du bist ein … Du bist ein Geist?« »Ach diese Fähigkeit zu blitzschnellen Schlussfolgerun gen, die dich zum besten Wojek in der ganzen Bundeshal le gemacht hat!«, spottete Borca. Er schwebte nach hin ten, um einen heiklen Zusammenprall zu vermeiden, da Kos sich gerade aufsetzte. »Ich bin keine Krankenschwe ster, aber ich glaube, du hattest gerade einen Herzinfarkt. Wie fühlst du dich?« »Schlecht, ich … ach, das ist doch unwichtig. Warum bist du so … du selbst? Abgesehen davon, dass man jetzt durch dich hindurchsehen kann, scheinst du dich kein bisschen verändert zu haben.« Normale Geister, ob es jetzt rachsüchtige Wundensucher waren oder einfache, zurückgebliebene Gespenster, sagten nur selten etwas Vernünftiges. Meistens schrien sie nur. Solange Kos sich nicht sicher war, womit er es hier zu tun hatte, wollte er das Spielchen vorsichtshalber mitspielen. Es konnte durchaus Borca sein, möglicherweise war er es aber auch nicht. Normalerweise gaben sich Geister nicht als andere aus, aber es wäre für einen Izzet-Illusionisten sicherlich kein Problem, etwas zu erzeugen, was wie ein Geist aussah. Auch der Zunich-Geist konnte eine Illusion statt einer Halluzination gewesen sein. Allerdings hatte dieser nicht gesprochen. Borcas Persönlichkeit war allerdings schwer zu ver wechseln. Kos sechster Sinn sagte ihm, dass es sich hier 317
tatsächlich um seinen toten Dienstkameraden handelte, der allerdings nicht so tot war, wie man ihm das weisge macht hatte. »Ja, das war Teil der Abmachung«, sagte Borca. »Abmachung? Wovon redest du?« »Um das erst mal zu erklären: Du bist der Allererste überhaupt, der in der Lage ist, mich zu hören. Bezie hungsweise zu sehen.« »Wovon redest du? Du wurdest in die Luft gesprengt«, sagte Kos. »Sie haben eine Spektralspülung durchgeführt und dabei nichts gefunden.« »Ich habe mich dort auch nicht blicken lassen«, sagte Borca, falls er das wirklich war. »Im einen Moment war ich noch bei dem toten Mädchen, im nächsten schwebe ich bereits dem Rettungsgreif hinterher, der dich hierher gebracht hat. Es scheint so, als ob ich sozusagen, ähm, an dir festhänge.« »Festhängen?«, sagte Kos. »Wie denn das?« »Da komme ich gleich noch dazu. Unterbrich mich jetzt erst mal nicht und versuch auch sonst, etwas leiser zu sein. Sie glauben schon, dass du etwas labil geworden bist. Ich habe zufälligerweise mit angehört, wie sich Phaskin mit Stanslov unterhalten hat, als ich draußen herumgewandert bin«, sagte der Geist. »Wenn du weiter so laut mit dir selbst redest, werden sie dich noch mit Gewalt hier festhalten. Es wird in deinem Zustand eh schon schwer genug, dich hier herauszubekommen. Und wenn sie dich fesseln, wird das nicht gerade hilfreich sein.« 318
Das gab den Ausschlag. Kos war seit über siebzig Jah ren ein Wojek und hatte gelernt, wann er seinem sech sten Sinn mehr trauen durfte als irgendwelchen Zeugen oder Indizien. Entweder war das tatsächlich Borca, oder jemand hatte sich riesige Mühe gemacht, die ganze Persönlichkeit des Wachtmeisters zu erfassen, um dann eine Illusion zu erzeugen, die keinen anderen Sinn und Zweck hatte, als Kos in den Wahnsinn zu treiben. »In Ordnung«, flüsterte Kos. »Du bist du. Gehen wir fürs Erste einfach mal davon aus. Aber was zum Teufel machst du hier?« »Also, nach dieser leidenschaftlichen Rede, die du Phaskin gehalten hast, hatte ich gehofft, dass du etwas netter zu mir sein würdest«, sagte der Geist. »Und ich wünschte wirklich, dass du nicht dafür gesorgt hättest, dass sie dich vom Dienst suspendieren. Das hilft uns allen nämlich nicht weiter. Ich habe dich nämlich angegeben, mein, ähm …« »Dein was?« »Mein Rächer zu sein.«
K
Jarad erstarrte und hob eine Hand, damit Fonn ebenfalls stehen blieb. Sie warf einen Blick auf die zerfallenen Gebäude von Alt-Ravnica und sah willkürlich hier und da leuchtende Augenpaare auftauchen. Sie fragte sich, welches dieser Augenpaare den Dunkelelf wohl zum Anhalten veranlasst hatte – oder ob es sonst etwas gewe 319
sen war, was ihre Sinne noch nicht erfasst hatten. Die Zombiebewohner der Unterstadt schienen ihnen keine Aufmerksamkeit zu schenken. Für die Ledev-Wächterin kam das überraschend. Allerdings beschränkten sich ihre Erfahrungen mit Zombies auch auf hungrige, hirnlose Todesgänger, die gelegentlich Reisende angriffen. Die Kreaturen, die hier herumliefen, hatten so etwas wie ein Leben, das sich aus deren Blickwinkel gar nicht so sehr von dem der Lebenden auf der Erdoberfläche unter schied. Natürlich waren und blieben sie weiterhin Zom bies, und alte Vorurteile sterben nur langsam aus. Fonn ignorierte die wenigen kehligen Rufe von Händlern, die sie zu Ständen mit unappetitlichem Essen und halb verrotteten Andenken locken wollten, und konzentrierte sich lieber auf diejenigen, die sich ihnen zu sehr näher ten. Natürlich waren sie bislang nicht von Zombies ange griffen worden – es waren Harpyien gewesen, also Miss bildungen. Entweder hatte die Priesterin noch nicht erfahren, dass ihr Anschlag misslungen war, oder die Missbildungen warteten darauf, dass sie die Unterstadt verließen. Bislang hatte es jedenfalls keinen weiteren Ärger gegeben. Sie war sich immer noch nicht sicher, was den Devka rin-Jäger anging. Wenn sie auch nur das erste Zeichen von Verrat erkannte, würde sie ihn höchstpersönlich umbringen. Aber zurzeit hatte sie keine andere Wahl, als mit ihm gemeinsame Sache zu machen. Ohne Biracazir fühlte sie sich nur wie eine halbe Ledev. 320
Seltsamerweise hatten sie bislang keine weiteren Miss bildungen zu Gesicht bekommen, was laut Jarad sowohl ungewöhnlich als auch beunruhigend war. Er schien davon auszugehen, dass man sie noch einmal angreifen würde. Fonn wünschte sich zum tausendsten Mal, dass Biraca zir bei ihr wäre, und fragte sich immer wieder, ob es wirklich richtig war, ihrem Entführer zu trauen. Ober flächlich gesehen war es aberwitzig, aber sie hatte ja mit eigenen Augen gesehen, wie die Harpyien ihn zu töten versucht hatten. Also musste im Moment der Feind des Feindes reichen, da weder ein Ledev noch ein Wojek, noch ihr großer Wolf da waren, um von dort Hilfe zu erlangen. Biracazir konnte auf sich selbst Acht geben und wartete wahrscheinlich am Fuß des Vitu Ghazi treu auf sie, während sie diesem Devkarin durch die zerfallenen und überwachsenen Straßen der Unterstadt folgte. Es war nicht das erste Mal in den ganzen Jahren, dass sie vonein ander getrennt waren, aber er hatte sie bisher immer wieder gefunden. Zumindest hätten die Sinne des Wolfs mit dem golde nen Fell bestätigen können, dass Jarad tatsächlich an gehalten hatte, weil er möglichen Ärger nahen sah. Biracazir konnte Täuschungsmanöver förmlich riechen. Sie hoffte, dass der Wolf in Sicherheit war, wo auch immer er sich befand. Vielleicht hatte Bayul … Nein, Bayul hatte diese Welt verlassen. Sie hatte ge dacht, sie hätte seine Stimme gespürt … Oder hatte sie das tatsächlich getan? 321
Der Elf ließ die Hand sinken und schlenderte auf die andere Straßenseite, als wäre nichts gewesen. Er winkte ihr zu, ihm zu folgen. Fonn warf ihm einen fragenden Blick zu. »Jarad«, fragte sie, »warum hast du eben angehalten?« Der Devkarin flüsterte. »Dort drüben die Gruppe neben dem Fleischgeschäft. Schau möglichst unauffällig hin.« Fonn schielte hinüber und sah vier hagere, hungrig aussehende Gestalten, die vor dem Schaufenster herum lungerten. Das Zombiequartett unterschied sich vom Rest der Bewohner der Unterstadt darin, dass sie Fonn und Jarad mit zusammengekniffenen Augen beobachteten und sich keine Mühe gaben, ihr Interesse an den beiden zu verbergen. Ihre Pupillen leuchteten rot, und auf ihrer gräulichen Haut waren offene, eiternde Wunden zu sehen, die mehr schlecht als recht mit nekrotischen Fasern zusammengeflickt worden waren. Jeder hatte einen gekrümmten Säbel an der Seite baumeln, und sie grinsten mit zerbrochenen gelben Zähnen, als sie be merkten, dass das Paar auf sie aufmerksam geworden war. Ohne Vorwarnung schlurften die Zombies auf die Straße und versperrten ihnen den Weg. »Beauftragte Schurken«, sagte Jarad. »Höchstwahr scheinlich. Wäre besser für sie.« Er zückte das lange Messer, das er hinten im Gürtel stecken hatte. »Wir soll ten einen von denen so weit am Leben lassen, dass wir ihn befragen können. Ich nehme die vier vor uns.« »Vor uns?«, flüsterte Fonn. »Was meinst du damit?« Sie blickte über die Schulter nach hinten und sah dort vier 322
ähnlich ausgerüstete Zombies, die ihnen den Rückzug versperrten. »Oh.« Sie zog ihr Schwert. »Dann nehme ich eben die vier hinter uns. Gibt es noch mehr, von denen ich wissen sollte?« »Vielleicht kommen auch noch Fledermausreiter, aber ich habe bislang noch keine Elfen gesehen«, sagte Jarad. »Wahrscheinlich geht das hier nicht auf Savras Konto.« »Nun, meine Freunde sind das auch nicht«, sagte Fonn. Die Zombies umzingelten sie langsam von beiden Sei ten. Sie traten äußerst selbstbewusst auf, da ihre Opfer keine Fluchtmöglichkeit hatten. Sie wirkten auf gerissene Weise gefährlich und unterschieden sich von den an den Straßen lauernden Todesgängern wie Biracazir von einer streunenden Promenadenmischung. Offenbar waren sie aber nicht gerissen genug, um auch einmal hinter sich zu schauen. Biracazir prallte auf zwei der Zombies, die von hinten kamen. Der Wolf mit dem goldenen Fell enthauptete den einen mit einem Pfotenhieb und zerquetschte den ande ren beim Landen mit den Hinterpfoten. Die anderen beiden Zombies hieben überrascht mit ihren Säbeln um sich, trafen aber nur die Luft. Der Wolf kam neben Fonn zu stehen und schleckte ihr zur Begrüßung mit der Zunge durchs Gesicht. Trotz der Umstände musste sie lachen und umarmte den Wolf kurz. Die beiden verbliebenen untoten Meuchler schienen es sich noch einmal zu über legen, als Biracazir ein dumpfes Grollen ertönen ließ, und gaben Fersengeld. »Los, schnapp sie dir, alter Junge«, sagte Fonn und gab Biracazir einen Klaps. Der Wolf 323
rannte hinter den fliehenden Zombies her, während Fonn sich neben Jarad schob. »Na, hast du deinen Wolf gefunden?«, sagte er. »Jetzt verstehe ich, warum sie dich zum Jägeranführer gemacht haben«, sagte Fonn frotzelnd. »Dir entgeht ja auch gar nichts.« Sie warf einen Blick auf die Zombieban de, die sich inzwischen ihrer Sache nicht mehr ganz so sicher zu sein schien. Weit hinter sich hörte sie den Wolf brüllen. Mit einem schmatzenden Geräusch wurde ein kurzer Schrei beendet. Fonn sah nicht nach, was Biraca zir da mit den Zombies anstellte, aber es sorgte jedenfalls dafür, dass auch die vier vor ihnen nun lieber abhauen wollten. Der Wolf wusste zwar, dass er die Untoten nicht fressen durfte, aber dafür durfte er sie gründlich zerfet zen. »Verdammt«, fluchte Fonn. »Müssen wir denen jetzt hinterherrennen?« »Besteht die Hoffnung, dass dein Wolf einen der ande ren beiden heil lässt?«, fragte Jarad. »Mal sehen… Oh, hm, eher nicht«, sagte sie und rümpf te die Nase. Biracazir würde dringend ein Bad benötigen. Jarad nahm wortlos den Langbogen von seinem Rük ken, legte einen Pfeil ein und zielte auf den hintersten der fliehenden Angreifer. Er schätzte die Entfernung ab und ließ den Pfeil fliegen. Gleich darauf traf Jarads Pfeil den Zombie genau im Rücken. Der Meuchler fiel wie eine Marionette, der man die Fäden abgeschnitten hatte. »Und ich dachte immer, dass man sie am Kopf treffen 324
muss, um sie zu töten«, sagte Fonn. »Ich wollte ihn nicht töten«, sagte Jarad. »Ich habe vor, ihm noch ein paar Fragen zu stellen.« Biracazir, der mittlerweile sämtliche Zombies zerlegt hatte, tauchte neben Fonn auf. Ohne Vorwarnung schüt telte sich der Wolf und besprühte die Ledev und den Devkarin mit einem Zeug, über das Fonn lieber nicht nachdenken wollte. »Jetzt riechen wir wenigstens alle gleich«, sagte Fonn. »Wahrscheinlich hilft uns das auch, uns besser an die Gegend hier anzupassen.« »Ich war vorher auch so schon bestens getarnt gewe sen, das wäre also wirklich nicht nötig gewesen«, sagte Jarad. »Los, er versucht, sich in die Seitengasse zu retten.« Er lief im schnellen Tempo die Straße hinunter. Fonn sprang auf Biracazirs Rücken und folgte im Trab. Der Zombie trug ein zerrissenes, nur schlecht zusam mengeflicktes schwarzes Hemd und dazu Hosen, die früher wohl einmal der Stolz eines Orzhov-Meuchlers gewesen waren. Nur einer seiner Arme ließ sich noch bewegen, aber dennoch versuchte der Zombie mit aller Kraft, seinen gelähmten Körper vor Jarad wegzuschlep pen. Der Elf ging auf ein Knie, ergriff den Schaft des Pfeils, der im Rücken des Zombies steckte, und drehte ihn. Der Zombie stöhnte Mitleid erregend, während er mit dem gesunden Arm nach dem Elfen schlug. Jarad zwang den Arm mit seinem Stiefel zu Boden und beugte sich zum ledrigen Ohr des Meuchlers hinunter. »Jetzt mal ehrlich 325
… Spürst du das eigentlich?« Der Elf drehte den Pfeil ein weiteres Mal. Der Zombie schrie auf. »Frag ihn einfach, für wen er arbeitet, Devkarin«, sagte Fonn vom Rücken des Wolfs aus. »Worin liegt der Sinn und Zweck, ihn zu foltern? Es zu foltern, wollte ich sa gen.« »Ich fühle mich dann einfach besser«, sagte Jarad. Er wandte sich wieder dem Meuchelmörder zu. »Sie will, dass ich dich frage, für wen du arbeitest«, sagte er. »Wenn es nach mir ginge … Ich würde viel lieber sehen, wie du dich windest, du totes Ding.« »Wir haben euch von allein gefunden«, zischte der Zombie. »Wir wollten uns nur das Kopfgeld holen.« »Kopfgeld?«, sagte Fonn. »Wer hat auf mich ein Kopf geld ausgesetzt?« »Nicht nur auf dich, Mädchen«, sagte der Zombie. »Auf ihn auch.« »Auf mich?«, sagte Jarad. »Antworte! Wer hat das Kopf geld ausgesetzt? War es die Matka?« Der Zombie drehte den Kopf so weit herum, wie es kein lebendiges Wesen vermocht hätte. »Die Matka? Nein, die war es nicht.« Der Zombie begann sich zu verändern. Zuerst dachte Fonn, dass die Lebenszeit des Dings einfach zu Ende war und es sich deshalb auflöste, aber es schien eher wegzu schmelzen. Körper und Kleidung verwandelten sich in etwas Blauweißes, das wächsern und gleichzeitig flüssig wirkte. Dann verwandelte sich die äußerliche Gestalt plötzlich in eine zappelnde Masse aus etwas, was wie 326
Insekten aussah – oder Würmer. Nein, es waren tatsäch lich Würmer. Der wimmelnde Schwarm streckte Tentakel aus herumzappelnden Würmern aus und berührte damit Jarads Hand. Der Elf zog sie sofort zurück, als ob er sich verbrannt hätte, und wedelte damit in der Luft, um die Kreaturen abzuwehren. »Was macht es da?«, fragte Fonn. Jarad hatte wieder seine Kampfposition eingenommen. »Ich weiß es nicht. Jedenfalls tun es die anderen Leichen nicht.« Das Wurmgetümmel rückte vor und nahm wieder eine menschenähnliche Gestalt an, während es sich bewegte. Die Millionen wimmelnder Kreaturen drückten ihre winzigen Körper dicht gegeneinander und sahen wieder wächsern aus. Es machte den Eindruck, als ob sich die Würmer wieder in ihre ursprüngliche Gestalt zurückver wandeln wollten. »Ich glaube, dass es keine schlechte Idee wäre, wenn wir uns möglichst schnell von hier wegmachen«, sagte Fonn. Sie trat wieder zu Biracazir und schwang sich auf ihn. »Los! Weiter geht’s!« Das wächserne Wurmwesen ging zögernd einen Schritt auf Jarad zu. Es schien vorsichtig zu sein. Jarad starrte es wie betäubt an. »Devkarin! Wir müssen weiter!«, sagte Fonn. »Was ist mit dir los?« Biracazir knurrte laut und bedrohlich. »Es war … als es meine Hand berührte«, sagte Jarad. »Es wollte nicht loslassen. Ich musste es wegdrücken, ihm gut zureden, wie bei meinen Insekten. Ich glaube, ich 327
habe es verletzt. Habe sie verletzt. Ich weiß es sogar. Sie sagen es mir. Es hat Gefühle …« Der Elf verlor seinen Gedanken. Das Wurmwesen bewegte sich immer näher, und mit jedem halben Schritt bekam es auch etwas mehr Farbe. »Es will, dass ich aufhöre zu kämpfen. Das sollte ich wohl auch. Ja, das sollte ich tun.« »Du redest Unsinn«, sagte Fonn. »Hör auf damit.« Der Elf antwortete nicht darauf. Das gestaltwandelnde Wesen, das jetzt beinahe wieder seine ursprüngliche Gestalt angenommen hatte, ragte schon halbwegs über ihm. Wäre Fonn jemand anders gewesen, hätte sie den Elfen seinem Schicksal überlassen. Er wäre gestorben oder aufgesogen worden oder was auch immer der Wurm zombie mit ihm vorhatte. Aber Fonn war eine LedevWächterin, und es entsprach nicht ihrem Charakter, einfach wegzusehen. Sie blickte sich um, ob jemand in der Nähe war, der helfen konnte. Die restlichen ZombieMeuchler, die offensichtlich nur normale Zombies gewe sen waren, lagen in Fetzen herum. Die Straßen waren leer. Die Bewohner der Unterstadt hatten sich anschei nend verzogen. Ihr Schwert würde wahrscheinlich nutz los sein. Und der Elf schien von dem Wurmwesen gera dezu hypnotisiert worden zu sein. Fonn fluchte in ihren nicht vorhandenen Bart und drückte ihrem Wolf die Hacken in die Seite. Biracazir sprang vorwärts. Die Ledev ließ sich an der Seite herab hängen und streckte einen Arm aus. Kurz bevor der Wurmmeuchler Jarad ganz erreicht hatte, bekam sie ihn 328
an der Hüfte zu packen. »Au! Was machst du …«, sagte Jarad. »Oh … Danke … Was war das denn eben?« »Keine Ahnung. Ich dachte, du könntest mir das verra ten«, sagte Fonn. »Verfolgt uns das Ding?« Der Elf schaffte es, hinter ihr auf den Sattel zu klettern. Er schob die Maske in die Stirn, um ihren seltsamen Gegner besser sehen zu können. »Nein«, sagte er. »Es beobachtet uns nur.« »Sehr gut«, sagte Fonn. »Was ist es eigentlich?« »Irgendetwas aus Würmern«, sagte Jarad. »Ich habe auch noch nie so etwas gesehen.« »Meinst du, dass dein Freund etwas darüber weiß?« »Es wäre einen Versuch wert, ihn zu fra… Aaah!« Der Elf wäre beinahe rückwärts aus dem Sattel gekippt, weil Biracazir plötzlich mit einem Riesensatz über eine zerfal lene Mauer sprang. Anscheinend war der Einsturz so neu, dass die Zombies, die sich um die Erhaltung der Straßen kümmerten, noch nicht dazu gekommen waren, den Schutt wegzuräumen. Beinahe hätte Jarad beim Versuch, sich an ihr festzuhalten, auch Fonn mit sich gerissen, aber sie hatte die Zügel fest im Griff und zog ihn wieder zurück in den Sattel. »Du solltest besser aufpassen«, sagte Fonn. »Und sonst ist alles in Ordnung mit dir? Das Ding hat dir auch be stimmt nichts zugefügt?« »Da bin ich mir sicher«, sagte der Elf, was Fonn ihm aber nicht ganz abnahm. Er klang nicht sonderlich über zeugt. »Ich habe nur noch nicht ganz das Gleichgewicht 329
wiedergefunden.« »Wenn du dich an etwas festhalten willst, dann kannst du dich an meine Hüfte klammern«, sagte Fonn. »Aber komm mir nicht auf dumme Gedanken.« »Warum sollte ich mich an etwas festhalten müssen?« Er deutete über Fonns Schulter nach vorn. »Da die Straße hinunter und dann den Fußweg, der nach rechts ab zweigt. Der führt uns zu den Aufzügen, und die bringen uns zu der Gaststätte.« »Und du bist dir ganz sicher, dass wir deinem Freund trauen können?«, sagte Fonn. »Immerhin lebt er vom Verkauf von Informationen, da kann es gut sein, dass wir von der einen gleich in die nächste Falle tappen. Wenn das Ding gerade eben nicht gelogen hat, dann ist nicht nur deine Schwester hinter uns her.« »Das ist ein Risiko, das wir eingehen müssen«, sagte Jarad. »Aber wenn er nichts weiß, wird er mir das sagen. Und kein Kopfgeldjäger wäre so dumm, uns dort aufzu lauern. In seinem Lokal erlaubt er das nicht.« »Und wo erlaubt er es?« »Gute Frage«, sagte Jarad.
K
»Soll das ein Witz sein? Eine Versicherungs-Police?«, wiederholte Kos zum vierten Mal. »Das ist doch lächer lich.« »O ja, ich hab auch immer gedacht, dass das ein Witz ist«, sagte der Geist. »Aber als ich zu deinem Dienstkame 330
raden geworden bin und mitbekommen habe, wie du dich …« »Wie ich mich was? Könntest du das etwas genauer ausführen?«, sagte Kos. »Na ja, du bist halt hundertzehn Jahre alt, und es gibt keine Ehefrauen mehr, die mit dir reden wollen, keine Kinder, niemand. Wen würde es schon groß kümmern, wenn du stirbst?«, sagte der Geist. »Oh, eine ganze Menge Leute würde um mich trauern«, sagte Kos. »Ich würde sagen, da wäre … nun, ja … Ga rulsz. Und Feder. Und Sulli redet immer noch mit mir, obwohl ich mit der mal verheiratet war.« »Genau. Aber irgendjemand, mit dem du sonst zu tun hast oder mit dem du nicht zusammenarbeitest? Nein. Also habe ich angefangen, mir so meine Gedanken zu machen. Über die Zukunft und so weiter. Über die Gefahr, eines Tages so zu enden wie du. Über Gefahr im Allge meinen. Dann hab ich mich einfach mal umgehört …« »Wo hast du …« »Ich habe es von der Orzhov in der Leichenhalle ge kauft. Du weißt schon, die mit den drei Armen. Wie heißt sie gleich noch? Harkins die Ektomagierin oder so. Sie hat alles geregelt, aber ich bin auch noch zu einem Gewähr leister gegangen, um sicherzugehen, dass der Vertrag auch in Ordnung ist und ich nicht übers Ohr gehauen werde.« Kos saß auf der Bettkante und bekam den Mund nicht wieder zu. Ungläubig schüttelte er den Kopf. »Nun, schön, äh … dich wieder zu sehen. Falls ich nicht doch gerade halluziniere.« 331
»Wann hast du halluziniert?« »Ach, ist doch egal«, sagte Kos. »Erklär mir doch mal, wie das Ganze funktionieren soll. Falls es ein von Orzhov aufgesetzter Vertrag ist, bin ich mir sicher, dass ich den Inhalt nicht sehr schätzen werde.« »Es ist der Standard-Rachevertrag. Dort steht … Wie war das gleich noch einmal?« Ein Stück weißes, geister haftes Pergament materialisierte sich aus dem Nichts in der Hand des Geistes. »›Diese Vereinbarung ist ein legaler postmortaler Vertrag zwischen Bell Borca, im weiteren Versicherungsnehmer genannt, und Vlerel, Orytane, Fodret und Wundico, lizensierte Orzhov-Racheversicherer, im weiteren Versicherer genannt. Im Fall des Mordes an dem Versicherungsnehmer‹«, las er vor, »›bestimmt der Versicherungsnehmer Agrus Kos, im weiteren Rächer genannt…‹« »›Rächer‹?«, sagte Kos. »Borca, was hast du …« »Ich bin noch nicht ganz fertig … Kos, im weiteren Rä cher genannt, dem Verstorbenen Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen. Um dies zu gewährleisten, stimmt der Versicherungsnehmer einer Verzauberung durch einen vom Versicherer zugelassenen Ektomagier zu. Besagte Verzauberung soll dafür sorgen, dass die spektralen Überreste…‹ Damit meinen die wohl ›Geist‹ … die spek tralen Überreste wie normal funktionieren, mit komplet tem Gedächtnis und intakter Persönlichkeit, bis zu dem Zeitpunkt, an dem an den Schuldigen oder ihren Reprä sentanten und/oder Wächtern durch den Rächer Vergel tung geübt worden ist. Um mit dem Rachegesetz von 332
3920 im Einklang zu stehen, sollen die spektralen Über reste nur für den Rächer hörbar und sichtbar sein. Um die Bestimmungen des Vertrags gültig zu machen, müs sen der bzw. die Mörder des Versicherungsnehmers von einem Gericht, das nach Ravnicanischem Recht verhan delt, schuldig gesprochen werden.‹ Dann kommen die Unterschriften. Und hier ist ein Siegel, siehst du?« »Ist das alles?«, fragte Kos. »Ach, noch längst nicht. Da gibt es noch weitere Klau seln und Unterklauseln und so weiter: Was genau Rache bedeutet, wenn man sie auf den Fall anwendet, was mit dir geschieht, wenn du den Schuldigen nicht findest …« »Was mit mir geschieht?«, sagte Kos. »Nichts geschieht mit mir, Borca. Ich habe nichts unterschrieben. Das ist doch alles Irrsinn.« »Nein, das nicht, nur irrsinnig teuer«, sagte Borca. »Rate mal, warum ich es mir nur leisten konnte, in einer Män nerpension zu leben.« »Und warum gerade ich?«, sagte Kos. »Und wie soll ich an einen Vertrag gebunden sein, den ich selbst nie unter zeichnet habe?« »Das Warum ist einfach zu klären. Du bist der beste Ermittler im Zehnten, wahrscheinlich in ganz Ravnica. Und du bist mein Dienstkamerad. Beziehungsweise warst es. Ich bin davon ausgegangen, dass du es eh tun wür dest. Schien eine sichere Bank zu sein, jedenfalls noch bis gerade eben, wo du deinen Mund nicht hast halten kön nen.« »Ich hatte im ganzen Leben nur einen einzigen richti 333
gen Dienstkameraden«, sagte Kos. »Du und ich, wir haben nur zusammen gearbeitet.« »Nenn es, wie du magst«, sagte Borca. »Ich habe lang sam die Nase voll von deinen persönlichen Problemen.« »Ja, ja. Kos ist toll. Kos ist der beste Ermittler. Packen wir ihn hinter einen Schreibtisch, wo er sich seinen Glatzkopf bronzefarben anmalen kann«, sagte Kos. »In Ordnung. Aber du hast immer noch nicht erklärt, wie du mich in einen Vertrag hineinbekommen hast, ohne dass ich ihn selbst zu Gesicht bekommen habe. Normalerweise funktioniert das mit Verträgen anders.« »Ach, das war interessant«, sagte Borca selbstzufrieden. »Normalerweise hätten tatsächlich wir beide unterschrei ben müssen, aber ich hatte schon so eine Ahnung, wie du reagieren würdest. Und da hat der Orzhov ein Schlupf loch gefunden: Du bist ein Wojek, und der Gildenpakt enthält unheimlich starke, unheimlich alte Magie. Also, das beruht nicht nur auf Legenden, das ist wirklich wahr.« »Ich bin in derselben Stadt wie du zur Schule gegangen, Borca.« »Ist ja schon in Ordnung. Jedenfalls meinten die Magie juristen, da du nun einmal ein Wojek bist und von einem Ravnicanischem Gesetz dazu gezwungen wirst, die ande ren zu befolgen – wie zum Beispiel das Gesetz, dass man Wojeks nicht ermorden darf, warst du an den Vertrag gebunden, sobald ich in die Luft geflogen bin. Es war ein leichtes Risiko dabei, das gebe ich gern zu, aber irgend wie wusste ich, dass es mit dir klappt. Der Vertrag hat die Magie des Gesetzes verwendet.« 334
»Das ist doch völlig verrückt«, sagte Kos. »Na ja, besonders logisch ist es nicht, aber verrückt ist es auch nicht«, sagte Borca. »Ich bin nicht ganz so dumm, wie du mich immer gesehen hast, was übrigens nicht gerade ein tolles Gefühl war, wenn ich das gerade mal anmerken darf. Ich bin immer davon ausgegangen, dass ich eines Tages wegen Altersschwäche nicht mehr auf wache. Ich habe Feinde. Und wen kann man sich Besse res wünschen als dich, um den Mord an mir zu lösen?« »Feinde? Was für Feinde?« »Oh, es gibt da Leute, denen ich Geld schulde. Zum Bei spiel die Frau, die die Pension leitet«, sagte Borca. »Und vielleicht auch eine Gilde oder zwei. Du weißt schon, die üblichen Verdächtigen.« »Und wie kommst du darauf, dass ich das Spiel über haupt mitspiele?«, sagte Kos. »Wie bitte, willst du mich für den Rest deines Lebens als Begleitung? Ich gebe gern zu, dass das bei deinem Alter nicht allzu lange sein wird, aber trotzdem.« Der Geist schnipste mit den Fingern, worauf das geisterhafte Pergament verschwand. »Außerdem bist du doch schon dabei, Kamerad.« »Sag noch einmal, dass das alles wahr ist.« »Das habe ich doch gerade getan.« »Du hast also etwas von einem Orzhov-Versicherer ge kauft, das dich an mich bindet, bis ich den Mord an dir aufgeklärt habe. Was ich eh auf jeden Fall tun würde. Dann beantworte mir als mein erster Zeuge folgende Frage: Was hast du dir dabei gedacht, hinter dem Goblin 335
herzurennen, statt bei dem toten Mädchen zu bleiben? Und was hast du da mit Bayul zu besprechen gehabt?« Borcas geisterhaftes Gesicht verzog sich zu einer Gri masse, während er in seinem Gedächtnis kramte. Jeden falls machte er eine gehörige Schau daraus. »Das wird jetzt lächerlich klingen …« »Noch lächerlicher als die Tatsache, dass du dich hier befindest und mit mir redest?« »Nein, anders … Ich habe nur … Kos, ich habe gehört, was Feder und Phaskin dir gesagt haben. Aber ich kann mich wirklich an nichts erinnern, was passiert ist, nach dem du dem Goblin hinterhergerannt bist. Im einen Moment habe ich noch nach dem Mädchen geschaut und im nächsten habe ich mich auch schon irgendwo in der Luft materialisiert und jage den Ambulanzvogel, der dich hierher gebracht hat. Seitdem habe ich darauf gewartet, dass du endlich aufwachst.« Geisterhafte Hände kratzten am geisterhaften Kopf. »Ich kann mich an keinen Loxo don erinnern und auch nicht an eine Explosion. Alles, was …« Borcas Geist wurde mitten im Wort unterbrochen. Die Tür schwang auf, und Feder kam herein. Er schaute durch den Geist hindurch auf Kos. »Alles in Ordnung mit dir, Leutnant?«, fragte der Engel. »Mir war, als hätte ich Stimmen gehört. Hast du mit jemandem gesprochen?« »Lass dir von ihm helfen«, sagte Borca. »Nein, Feder, da war nichts.« »Soll ich einen Heiler rufen?«, fragte der Engel. 336
»Nicht nötig«, sagte Kos. »Es ist nur so – mir macht das alles hier ziemlich zu schaffen.« »Das klingt überzeugend«, meinte der Geist. »Wenn auf solche Weise Leben verloren gehen, er schüttert das diejenigen, die zurückbleiben, immer auf die eine oder andere Weise«, sagte der Engel. »Wahr scheinlich brauchst du nur noch länger Ruhe.« »Nein, genau das brauche ich nicht, Feder. Ich kann nicht hier drinnen bleiben«, sagte Kos. »Ich muss hier raus, damit ich mich um den Fall kümmern kann.« »Das wird immer besser«, sagte der Geist. »Du bist suspendiert, Leutnant«, sagte der Engel. »Du hast dich um gar nichts zu kümmern. Befehl vom Haupt mann.« »Hol mir bitte ein paar Tränen. Dahinten ist ein Erste Hilfe-Schrank.« Feder schien das nicht erwartet zu haben. »Nein, Kos, und selbst wenn du mich anbettelst – die Antwort wird sich nicht ändern«, sagte der Engel. »Ich werde dir be stimmt keine Beihilfe zum Selbstmord leisten.« »Keine Heiltränen. Auch gut«, murmelte der Leutnant. »Ist schon in Ordnung, zum Glück gibt es hier ja nicht nur Wojek-Heiler. Wir sind immerhin in Ravnica. Wahr scheinlich haben gleich hier unter dem Fenster drei, vier Schamanen einen Stand. Die haben mich in allerkürze ster Zeit wieder so weit, dass ich auf den Beinen bin. Wie klingt das?« »Während du ohne Bewusstsein warst, habe ich mit Schwester Yaraghiya gesprochen«, sagte Feder. »Deinem 337
Körper ist es egal, wie du geheilt wirst. Jede Heilmagie, die stark genug ist, um deine Verletzungen zu heilen, hat denselben Effekt auf deinen Körper wie Heiltränen.« Kos wollte gerade etwas einwenden, aber der Engel ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Es könnte dich innerhalb eines Herzschlags töten, selbst die Magie eines selesnijanischen Glaubensheilers würde da nichts ausrichten. Diese Heiler können erstaunliche Dinge leisten, aber nichts davon ändert die Tatsache, dass ein schneller Heilungsprozess dich töten kann. Und es ändert auch nichts an der Tatsa che, dass du nicht befugt bist, in dieser Sache zu ermit teln.« »Vergiss die Befugnisse«, sagte Kos. »Ich hatte ein gutes Leben. Wenn das hier mein letzter Fall sein soll, dann ist dem halt so. Aber ich bleibe nicht hier. Irgendwie werde ich mich auch in diesem Zustand aus der Tür schleppen, allerdings würde ich es bei weitem vorziehen, wenn du mir die Heiltränen dort aus dem Schränkchen bringen würdest.« »Aber sie könnten …« »Sie könnten, Feder«, sagte Kos. »Könnten. Ich muss aufstehen und hier raus. Du musst mir bei den Ermittlun gen ja nicht helfen. Du musst nichts tun, außer mir diese Heiltränen zu bringen. Ich werde sie mir dann selbst verabreichen. Und wenn du es nicht tust, dann hole ich sie mir eben selbst, auch wenn ich mir meine restlichen Knochen breche, weil du mich dabei aufhalten willst.« »Prima gemacht«, sagte der Geist. »Er will dir helfen. Mein lieber Herr Gesangsverein, spürst du das denn 338
nicht? Das strömt ja nur so aus ihm heraus. Er will denje nigen umbringen, der dir das angetan hat. Ich wünschte, ich hätte in anderen auch diese Art von Loyalität wecken können. Ich glaube nicht, dass du ihn noch groß drängen musst.« Feder hatte sich nicht bewegt, als Borca seinen kurzen Monolog gehalten hatte, und tat das auch jetzt nicht, als Kos sich unter Aufbietung all seiner Kraft aufsetzte. Jeder einzelne Knochen fühlte sich gebrochen an, aber er musste den Worten nun Taten folgen lassen, auch wenn diese sich vielleicht als dumm erweisen sollten. Er presste die Zähne aufeinander, um nicht laut loszuschreien. »Bleib liegen«, sagte Feder. Er drehte sich um, wobei er mit seinen zusammengebundenen Flügeln die Wand des engen Krankenzimmers streifte, und öffnete das kleine Medizinschränkchen. Kos konnte ein ganzes Dutzend Heiltränen darin entdecken. Feder nahm alle zwölf mit einer Hand heraus und legte sie sorgfältig auf Kos’ Schoß. »Mach damit, was du willst. Ich bleibe hier, falls wir die Krankenschwester rufen müssen. Ich muss dir wohl nicht eigens sagen, dass sie mit uns beiden sehr unzufrieden sein wird. Was hast du eigentlich genau vor, wenn du hier fertig bist und tatsächlich überleben solltest?« »Ich werde herausfinden, wer Borca, Luda und den Le benden Heiligen getötet hat. Ich werde versuchen, die Tochter meines toten Dienstkameraden zu finden.« »Deines anderen toten Dienstkameraden«, korrigierte ihn der Geist. »Du wirst dabei Hilfe brauchen«, sagte Feder. 339
»O nein, Feder«, sagte Kos. »Es kann sein, dass sie mich nie wieder zu den Wojeks zurücklassen, wenn die ganze Sache vorbei ist. Keine Ahnung, wer oder was dich hier in den Zehnten verfrachtet hat, aber ohne dich wären die hier jetzt völlig aufgeschmissen. Ich kann nicht leugnen, dass ich deine Hilfe wirklich gebrauchen könnte, aber das Zehnte braucht dich noch viel mehr.« »Du brauchst mich«, sagte Feder. »Ich habe sowieso schon Befehle missachtet. Ich komme mit dir. Gemein sam gehen wir der Sache auf den Grund. Wie gesagt, Stanslov könnte noch nicht einmal Bumbat aus einem Stiefel kippen, wenn die Anleitung dazu auf die Sohle genagelt wäre.« »Ich kann von dir nicht verlangen …« »Das hast du bereits«, sagte Feder. »Bitte glaub nicht, dass ich vorhabe, die Sache halb beendet zu lassen, wo ich meinen Eid bereits eh gebrochen habe.« Kos fehlten die Worte. Er betrachtete Feder mit leichter Bewunderung darüber, wie locker dieser sich für ihn opferte. Kaum auszudenken, was für eine Strafe dem Engel dafür drohte, wo er hier doch jetzt schon die Strafe für ein früheres Vergehen abarbeitete. »Hast du eigentlich vor, den ganzen lieben Tag lang auf die Heiltränen zu starren?«, fügte der Engel hinzu.
340
Kapitel 14
H
Bitte fragen Sie nach unseren heutigen Spezialitäten. Komplette Speisekarte der Gaststätte »Pivlichino«
27. Zuun 9999 Z. C., abends Weder Kos noch Feder trugen unter ihren Umhängen ihre Uniform, als sie im zweiten Stock vor dem Eingang zur Gaststätte Pivlichino standen. Sie hatten darüber nachgedacht, ob sie ihre Abzeichen auch daheim lassen sollten, sich am Ende aber doch dagegen entschieden. Kos hatte seines in der Tasche der Hose verborgen, die er gestohlen hatte. Zum Glück war die Wäscherei der Kran kenstation auch der einfachste Weg aus dem Gebäude gewesen, aber es war trotzdem eine Erfahrung, auf die Kos auch gerne hätte verzichten können. Der Geruch würde ihm noch wochenlang anhaften, falls er nicht durch etwas noch Grässlicheres ersetzt wurde. Ein grässlicherer Geruch kam jetzt zum Beispiel aus der Küche und drängte sich an dem Bold, der neben der offenen Tür saß, vorbei ins Freie. Es half Kos, seinen Heißhunger zu zügeln. Wenn man Heiltränen verwende te, war man hinterher immer etwas hungriger als sonst. 341
Es hatte etwas damit zu tun, dass der Heilungsprozess beschleunigt wurde, weil dabei eine ganze Menge Kör perenergie verbrannt wurde. Nachdem Kos die Hälfte der Tränen aufgebraucht hat te, war er immer noch nicht in der Lage gewesen, richtig zu gehen. Er war so frustriert gewesen, dass er die ande ren sechs auch noch verwendet hatte. Borca hatte ihn mit Vorwürfen und Einwänden überschüttet, weil ein toter Rächer nicht mehr in der Lage sei, jemanden groß zu rächen. Am Ende hatte es dann aber doch gereicht. Die hohe Dosis an Tränentropfen hatte den Leutnant einer seits geschwächt, ihn andererseits aber auch wieder einigermaßen zusammengeflickt. Den suspendierten Leutnant, der nun wohl nie Hauptmann werden würde, korrigierte er sich. Er hatte keine Haare mehr auf dem Kopf, immer noch leichte Schmerzen und einen Hunger wie ein Dromad, aber er war wieder heil. Sein Herz hatte sich entschieden, diesmal noch nicht zu explodieren. Seltsamer als der Hunger war die Tatsache, dass er kei nen Appetit auf einen Drink hatte. Der dauernde Durst, der ihn seit mindestens siebenundfünfzig Jahren nicht verlassen hatte, war durch die riesige Magie-Infusion verschwunden. Wenn er sich nicht sicher gewesen wäre, dass sie ihn verpetzen würde, hätte er seine Entdeckung der Schwester gern mitgeteilt. Zum Glück war der Hunger das kleinere Problem. Sie wollten sich mit einem Informanten treffen, der zufälli gerweise auch der Inhaber der beliebtesten Gaststätte des Zehnten war. Er hatte nicht erwartet, dass der Bold an der 342
Tür den Engel zuerst ansprechen würde, aber er hätte es erwarten können. Feder war einfach größer, und bei den Gästen, die normalerweise im Pivlichino speisten, war normalerweise die größere Person diejenige, die die Entscheidungen traf. »Werden die Dame und der Herr heute Abend hier es sen?« Auch hier war Kos nicht überrascht. Wenn man die Flügel nicht sah, konnte Feder durch die feinen Gesichts züge und die langen roten Haaren problemlos auch als Frau durchgehen. »Was wäre denn die Alternative?«, fragte der Engel. »Abendessen und Herausforderung, Abendessen und Zuschauen, Herausfordern und Abendessen …« »Sind das Erste und das Dritte nicht das Gleiche?«, frag te Feder. »O nein, das sind sie nicht, gnä’ Frau.« Der Kellner we delte mit einer Karte herum, die an einem Klemmbrett befestigt war. »Abendessen und Herausforderung beginnt im Zwischengeschoss mit einer fünfgängigen Köstlich keit, die von unserer Köchin, der berühmten Jandallare von Verzenzerra, persönlich zubereitet wird. Danach können Sie die Herausforderung der Fressgruben wählen, falls Sie Ihr Können gegen Untote beweisen wollen.« »Und das andere?«, fragte Feder. »Herausfordern und Essen ist üblicherweise nicht die Wahl von solchen wie Ihnen, wobei ich damit die Leben den, also die Nicht-Dämonen meine. Auch Herausforde rer aus Alt-Ravnica und Teilen der Umgebung kommen 343
gern hierher.« »Feder, ich erkläre dir das drinnen«, sagte Kos und trat einen Schritt vor. Feder hatte seine zusammengebunde nen Flügel unter dem schweren Wollumhang verborgen. Kos wollte nicht, dass der Bold davon Wind bekam. Obwohl im Pivlichino alle willkommen waren, wie auf dem Schild hinter dem Kellner zu lesen war, waren manche dennoch weniger willkommen als andere. Im Lokal wurden auch Zombies, Dämonen und sonstige nicht so angesehene Leute bedient. Der Leutnant hatte noch keine Gelegenheit gehabt, den Engel über die De tails des Abendessens aufzuklären, aber der würde das schon bald genug erfahren. Kos drehte sich zu dem Bold um. »Heute nur Essen, und richte bitte Pivlic aus, dass ein Freund von ihm hier ist und gern mit ihm plaudern würde.« »Leutnant Kos, oder?«, sagte der Kellner und schaute auf sein Klemmbrett. »Ja«, sagte Kos. »Wir sind angemeldet.« Es war nicht einfach gewesen, aus der Bundeshalle hinauszukommen und noch einen Falken mitzuschmuggeln, aber Kos hatte darauf bestanden. Selbst wenn es bedeutete, dass er selbst festgenommen wurde, wollte er die Wojeks infor mieren, sobald er das gefunden hatte, wonach er suchte. Aber zuerst hatte er seinem Informanten eine Nachricht geschickt, dass er auf dem Weg zu ihm sei. Es schadete nie, Pivlic Bescheid zu geben, dass ein Wojek zu seinem Lokal im Anmarsch war. Das machte es viel wahrschein licher, dass er ihnen auch tatsächlich half. 344
»Folgen Sie mir bitte«, sagte der Kellner und schwebte zu den von Goblins betriebenen Aufzügen. Sie wurden nach oben gefahren. Die Gaststätte Pivlichino war von allen Seiten von Aufzügen umgeben, aber Kos und Feder mussten nur einen Stock hochfahren, da sie das Lokal von der Stadtseite betreten hatten. Die Aufzüge auf der Schluchtseite fuhren bis tief in Grigors Schlucht, um von dort die Gäste hochzuholen. Untote Gäste. »Kos, warum kenne ich das hier gar nicht?«, fragte Bor cas Geist, der hinter ihnen herschwebte. »Halt die Klappe, Borca«, murmelte Kos. »Hast du etwas gesagt?«, fragte Feder. »Ich möchte etwas bestellen«, sagte Kos. »Die Heilträ nen haben mich ganz schön hungrig gemacht.« »Bitte erinnere mich nicht an die Heiltränen. Ich dachte schon, dass deine letzte Stunde geschlagen hat.« »Das waren nur die Nerven«, sagte Kos. »Aber schau mich an: Ich kann herumlaufen. Mir geht es gut, Feder. Ich bin vielleicht sogar gesünder als vorher – vor der Explosion.« Er fügte nicht hinzu, dass er nicht nur seinen Magen knurren, sondern auch sein Herz rasen hören konnte. Es pochte in seinen Ohren wie ein galoppieren des Pferd, und zwar seit sie aus dem Hinterausgang der Bundeshalle geschlüpft waren und sich auf den Weg in Richtung Schlucht gemacht hatten. Er machte sich Sor gen deswegen, wenn auch nicht so viele, wie wenn er sich vorstellte, dass derjenige, der den Bomben-Goblin geschickt hatte, noch mehr vorhatte. In den drei Tagen, die er im Krankenhaus verbracht hatte, war die Stadt 345
plötzlich so überlaufen mit Besuchern aus der ganzen Welt, dass ein weiterer Bomber mit einem einzigen Angriff wahrscheinlich Dutzende, wenn nicht sogar hunderte töten konnte. Er rechnete zwar nicht gerade damit, weil der Mord und die Umstände darum herum zu speziell und gezielt gewesen waren, aber man konnte ja nie wissen. Sie folgten dem Kellner durch einen gut gefüllten Spei sesaal, in dem Gäste fast aller menschenähnlichen Spe zies Ravnicas bei Kerzenlicht an ihren Tischen saßen und sich beim Essen unterhielten. Da waren Goblins, die sich einen riesigen gebratenen Käfer teilten und in ihrem nasalen Tonfall über die neuesten Izzet-Experimente plapperten. Oger, die Arm an Arm mit Trollen und groß gewachsenen Menschen dasaßen, die wohl Rakdos sein mussten. Sie verließen den Speisesaal und gingen weiter zu den Tischen im oberen Stockwerk, die rund um die Fressgruben gruppiert waren. Kos schob sich neben Feder und flüsterte: »Da gibt es ein paar Sachen, die du über dieses Lokal wissen solltest.« »Es scheint, dass man vom zweiten Stock auf eine Art Manege hinabsehen kann«, sagte Feder. Der Lärm, den die Gäste veranstalteten, übertönte seine glockenhelle Engelsstimme. »Ja, so könnte man das ausdrücken«, sagte Kos. »Warst du wirklich noch nie in einem Speiselokal? Wo isst du denn normalerweise?« »Ich esse nicht«, sagte Feder. »Die Energie, die ich be nötige, erhalte ich von der Sonne.« 346
»Wirklich?«, sagte Kos. »Das hast du mir nie erzählt.« »Du scheinst heute Abend besonders leichtgläubig zu sein, Leutnant … äh, Kos«, sagte Feder. »Natürlich esse ich.« »Von hier aus kannst du es übrigens gut sehen: Das Pivlichino überspannt die Schlucht«, sagte Kos. »Und der Eigentümer, der bei den Orzhov in der Hierarchie relativ weit oben steht, hat genug Gründe – wobei es sich haupt sächlich doch um Geld handelt –, um sowohl die Gestal ten aus der Unterstadt als auch den Rest von uns zu bekochen. Darum sind wir durch den Eingang im zweiten Stock gekommen. Die Lebenden essen hier. »Was verzehren die Untoten denn?«, sagte Feder. »Ro hes Fleisch?« »Wenn sie es bekommen«, sagte Kos und nickte be dächtig. »Aber sie mögen nicht einfach …« »Mein Freund!«, begrüßte ihn auf einmal jemand Ver trautes mit einer öligen Stimme, die nicht unähnlich der des Kellners war, allerdings tausendfach charmanter, dafür aber hundertfach weniger aufrichtig. Kos kam jedoch nicht wegen Pivlics Schleimerei immer wieder hierher. Es waren die Informationen, die man hier be kommen konnte und die ihn in den ganzen Jahrzehnten als Wojek noch nie in die Irre geleitet hatten. Kos wusste das zu schätzen. Und was der Bold nicht so schon wusste, hatte er meist innerhalb von wenigen Stunden herausge funden. Pivlic schwebte über einem Tisch voller Oger und landete vor ihnen. Er streckte sich zu seiner ganzen Größe: Für einen Bold war er relativ groß. Er nickte dem 347
Kellner zu. »Zekler, du kannst zur Tür zurückgehen. Ich werde mich um diese Gäste kümmern. Und behalte ein Auge auf die Oger. Es könnte sein, dass sie eine unerlaub te Schlägerei planen. Traue niemals Gästen, die nicht nach oben schauen, wenn ein Bold über ihren Tisch hinwegfliegt, nicht wahr?« »Ja, Herr Pivlic«, sagte der Kellner und schlurfte zurück auf seinen Posten. »Pivlic, wir haben nicht allzu viel Zeit«, sagte Kos, wäh rend sie sich ihren Weg weiter durch die Menge bahnten. »Schau dir mal den Braten hier an«, sagte Borcas Geist. »Ich glaube, das ist Zentaurenfleisch. Dürfen die das hier überhaupt?« »Es ist kein Zentaur, das versichere ich Ihnen«, sagte Pivlic. »Es kommt nicht so häufig vor, dass eine der Missbildungen eine Herausforderung in den Fressgruben verliert.« Kos blinzelte. »Hast du gerade gesagt …« »Er hat mich gehört?«, rief Borca. »Mit wem redest du?«, fragte Feder. »Ich hatte schon versucht, es dir zu erzählen, aber der Vertrag lässt nicht zu, dass du zuhören kannst.« »Vertrag? Welcher Vertrag?«, fragte Feder. »Es ist nur … Feder, vertrau mir, bitte«, sagte Kos. »Piv lic, du kannst ihn also hören?« »Deinen toten Kameraden?«, sagte der Bold. »Aber na türlich.« Er blickte über die Schulter nach dem schwe benden Phantom. »Der sieht aus – und ich tippe nur wegen der Gestalt der spektralen Aura und der ektoplas 348
matischen Membran darauf – wie einer von V.O.F. & W.s Geistern. Er hat alle typischen Erkennungsmerkmale. Gesellen Sie sich doch zu uns, Wachtmeister Borca, oder wie war noch einmal der Name? Das war echt schreck lich, was mit Ihnen da passiert ist.« »Aber …«, sagten Kos und Borca gleichzeitig. »Gibt es da irgendetwas, was ich wissen sollte?«, fragte Feder. »Also gut«, sagte Kos. »Borca ist unter den Geistern.« »Ja, ich weiß, dass er hin ist. Wir bemühen uns doch gerade darum, seinen Mörder der Gerechtigkeit zuzufüh ren.« »Nein, er ist … Und versuch, etwas leiser zu reden, bitte … Noch mal: Er ist ein Geist. Er ist unsichtbar und folgt mir überallhin. Er ist momentan hier. Pivlic und ich können ihn sehen.« »Mach dir keine Sorgen, Freund Kos. Gemeinsam wer den wir es schon schaffen, diese Visionen, die dich heim suchen, zu beenden«, sagte Feder. »Wir werden dafür sorgen, dass dem Getöteten Gerechtigkeit …« »Feder, hier drin ist das ein ganz schlechtes Thema. Vergessen wir das Ganze, in Ordnung?«, sagte Kos. »Pivlic kann mich also sehen«, mischte sich Borcas Geist ein. »Das ist doch großartig! Obwohl man ja eigent lich denken sollte, dass ein Engel eher den Blick für so etwas hat. Pivlic, kann sonst noch jemand mich sehen?« Kos ließ Pivlic nicht zu Wort kommen. »Wichtig ist vor allem eins, Pivlic: ob du meine Nachricht bekommen hast und ob du etwas für mich hast.« Kos klimperte mit einem 349
Säckchen voll Zidos.
»Dein Geld ist hier schon seit Jahrzehnten nichts wert, mein Freund, aber wie immer möchte ich mich für die Geste bedanken«, sagte der Bold. »Es wäre schlecht für meinen Ruf, wenn man mich dabei erwischen würde, dass ich Informationen kostenlos weitergebe. So, hier wäre euer Tisch. Ihr habt einen freien Blick auf die Fress gruben. Es gibt zurzeit allerdings nicht viel zu sehen, weil wir gerade die Reinigung zwischen den Mahlzeiten durchführen. Und natürlich habt ihr auf beiden Seiten den majestätischen Ausblick auf unsere schöne Stadt. Setzt euch doch bitte.« Er lächelte, wobei man seine scharfen Zähne gut sehen konnte. Kos wusste, dass dieser Gesichtsausdruck der ernsteste war, dessen Pivlic fähig war. Der Lokaleigentü mer war ein Bold mit vielen Gegensätzen. Kos setzte sich, und Feder quetschte sich ihm gegenüber an den Tisch. »Ich habe deinen Falken heute Nachmittag erhalten, mein Freund«, sagte Pivlic. »Und während des großen Ansturms zur Abendessenszeit ist das Pivlichino unter meinen Flügeln zusammengebrochen, habe ich meine Existenz in den Ruin getrieben, und das alles, nur um dir eine Antwort geben zu können. Meine Küche liegt in Trümmern, meine Kellner berauben mich, die Fressgru ben sind immer noch von Wand zu Wand von der letzten Mahlzeit bespritzt. Aber ich tue das alles für dich, mein Freund.« »Ich weiß das zu schätzen«, sagte Kos und senkte die Stimme. »Ich würde es auch zu schätzen wissen, wenn du 350
es niemand anders weitergeben würdest. Und?« »Ich habe herausbekommen, dass der Angreifer, den du beschrieben hast, nicht aus eigenem Antrieb gehan delt hat«, sagte Pivlic. »Das hast du sicher schon vermutet, sonst wärst du doch nicht zu mir gekommen.« »Gut geraten. Ich habe einige Tätowierungen gesehen, die wie magische Bindungen aussahen. Wer hat denn nun den Angreifer gekauft, Pivlic?« »Das muss ich noch herausfinden, aber ich kenne da jemand, der dir das sagen kann. Ein RakdosSklavenhändler namens Iv’g’nork.« »Das klingt nach einem Dämon«, sagte Kos. »Und wo kann ich den finden? Lüg mich bitte nicht an, Pivlic.« »Er ist Halbdämon, und zwar über die mütterliche Sei te«, sagte Pivlic. »Es bekümmert mich, dass du an meinen Worten zweifeln könntest nach all dem, was ich mit dem Pivlichino für die Wojeks und die Gesellschaft insgesamt getan habe.« Es war ein kleines Geplänkel, das die beiden auch in der Vergangenheit oft gespielt hatten. Wojeks waren in der Gaststätte Pivlichino nicht ausdrücklich unerwünscht, weil es einer Gesetzesverletzung gleichkä me, Wojeks irgendwo in der Stadt Hausverbot zu erteilen, aber sie waren auch nicht allzu häufig dort anzutreffen. Niemand, der im Pivlichino aß, sah es gern, wenn der Besitzer und ein Gesetzeshüter freundschaftlich mitein ander umgingen. Kos kannte sonst allerdings keinen Wojek, dem Pivlic regelmäßig half. Er selbst war in den Genuss dieser Vorzugsbehandlung gekommen, weil er das einzige noch lebende Mitglied einer Wojek-Truppe 351
war, die die Rakdos während der Rebellion daran gehin dert hatten, das Lokal zu zerstören. Auch wenn er heute keine Uniform trug, war es für Kos schwer, die alten Gewohnheiten abzulegen. »Du verfütterst Leute an Zombies«, sagte Kos. »Und auch an Dämonen.« »Einen Moment mal, Dämonen?«, sagte Borcas Geist. »Ich stelle einen Ort zur Verfügung, an dem sich zwei verschiedene Kulturen begegnen können, wann und in welcher Form sie es wollen. Wenn angesehene Mitglieder der Rakdos- oder Golgari-Gilde es wünschen, menschen artige Wesen zu verspeisen, und wenn besagte Men schenartige ihnen die Möglichkeit geben wollen, das zu probieren, um selbst die Möglichkeit zu haben, aus einem Gefühl wie Ehre, Stolz oder scheinbarer Überlegenheit heraus einen untoten Schurken zu vernichten, dann …« Kos unterbrach den endlosen Satz des Beides. »Ja, ich weiß. Du bist eine Säule der Gesellschaft. Und wo finde ich diesen Iv’g’nork?« »Nun, darin liegt unser kleines Problem«, sagte Pivlic entschuldigend. »Erstaunlicherweise bist du nicht der Einzige, der das derzeit wissen will. Ich habe dem zweiten Bittsteller das gleiche Angebot gemacht, und er scheint vorzuhaben, es anzunehmen. Allerdings kann ich nicht garantieren, dass ihr beide die Information erhaltet, da es möglich ist, dass Iv’g’nork nicht überleben wird, wenn der andere Bittsteller gewinnt.« »Das bedeutet, du willst von mir, dass …« »Ja.« 352
»Und er …« »In der Tat.« »Wir sollen uns an ein Wesen verfüttern, das zur Hälfte ein Dämon, zur Hälfte ein Zombie und obendrein noch Kannibale ist?« »Bitte lass dir nicht zu viel Zeit mit deiner Entschei dung. Unser Freund Iv’g’nork hat Hunger.« »Pivlic, das ist nicht die Art und Weise, wie unsere Ab machung läuft«, sagte Kos drohend. »Es muss auch noch einen anderen Weg geben. Wenn ich herausfinde, dass du einen kennst und ihn mir nicht verrätst …« »Ich kann dir versichern, dass ich es weiß«, antwortete der Bold. »Aber ich kann nicht der Erste sein, der es dir erzählt. Ich habe mich in der Vergangenheit nie gewei gert, dir zu helfen, mein Freund, aber ich habe einige Eide geschworen, die tatsächlich, wie soll man sagen, Eide waren. Wenn du es von mir zuerst erfahren würdest, wäre das mein Tod.« »Das meinst du offenbar ernst«, sagte Kos. Es war eher eine Feststellung als eine Frage. »O ja, natürlich«, sagte Pivlic. »Ich sollte mich dieser Aufgabe annehmen«, sagte Fe der. »Ich glaube, ich habe verstanden, wie es funktioniert. Ich akzeptiere die Herausforderung. Dieser Iv’g’nork kann gegen mich kämpfen. Ich werde die Information dann auf die eine oder andere Weise aus ihm herausholen.« »Nun, so Leid es mir tut, das werde ich nicht zulassen können«, sagte der Bold. »Solange es um einen Wojek geht, der mich beleidigt hat, ist das eine Sache. Aber ein 353
entfesselter Engel in den Gruben wäre der Ruin des Pivlichino, verstehst du?« »Kos, du bist immer noch verletzt«, sagte Feder. »Du kannst das nicht machen. Außerdem, Bold, bin ich gefes selt.« Der Engel hob eine Ecke des Umhangs hoch, damit Pivlic die silbernen Fesseln sehen konnte, mit denen die Flügel am Rücken befestigt waren. »Das macht die Sache nicht weniger schlimm«, sagte Pivlic. »Die Bedingungen deiner Anwesenheit im Bund sind allgemein bekannt. Du könntest genauso gut ein Zeichen um den Hals tragen, dass Pivlic mit den Wojeks zusammenarbeitet.« »Sozusagen«, sagte Borcas Geist. »Und jetzt?«, sagte Pivlic. »Wie hungrig ist er denn?« »Iv’g’nork? Hungrig genug für mindestens zwei Hauptspeisen. Ihr beide würdet wahrscheinlich gerade so das notwendige Mindestgewicht auf die Waage bringen«, sagte Pivlic. »Ob beide von euch die Grube mit der Infor mation verlassen, liegt ganz an euch.« »Und an Iv’g’nork, würde ich sagen.« »Der Rakdos ist bis zum Äußersten benebelt«, sagte Piv lic. »Er hat ein besonderes Getränk nach Art des Hauses genossen, das ich selbst hergestellt habe. Falls ihr beiden eure Sinne beisammen habt und euch nicht gegenseitig umbringt, könntet ihr zusammen die Informationen aus ihm herausholen, die ihr sucht.« »Was springt für dich dabei heraus, Pivlic? Warum bist du so ausweichend?« 354
»Das ist ganz einfach. Wenn Iv’g’nork gewinnt, verliere ich zwei wohl geschätzte Kunden. Falls Iv’g’nork in einen Blutrausch verfällt, verliere ich wahrscheinlich einen Teil des Lokals dabei. Wenn ihr gewinnt, überleben alle meine drei Kunden und mein Mobiliar ebenfalls. »Moment mal, bitte«, sagte Kos. »Bevor ich dem zu stimme …« »… willst du etwas im Magen haben?«, sagte Pivlic. »Ich könnte einen Kellner mit einem Tablett herschicken, aber ich würde nicht empfehlen, direkt nach dem Essen in die Gruben zu gehen. Man sollte mindestens eine Stunde warten. Aber die Zeit ist hier ja nun einmal der kritische Faktor, mein Freund.« »Nein, das meine ich nicht«, sagte Kos. »Ich hatte in meiner Nachricht noch nach etwas anderem gefragt.« »Die verschollene Ledev, genau«, sagte Pivlic. »Ich bin mir dessen bislang noch ungewiss. Ich sollte aber dem nächst in der Lage sein, dir etwas darüber zu erzählen, sobald ich nämlich von einer meiner Quellen gehört habe.« »Falls ich überlebe«, sagte Kos. »Falls du überlebst«, bestätigte der Bold. »Meine halbe Pension habe ich in die Versicherung ge steckt, Kos«, sagte Borcas Geist. »Wehe, wenn du dich umbringen lässt.« »Halt die Klappe, Borca«, sagte Kos und betrachtete den Geist. »Nein, Kommando zurück. Halt nicht die Klappe. Du kommst ja wohl eh mit mir mit. Das musst du wohl auch, oder?« 355
»Kos, du tust es ja schon wieder«, sagte Feder. »Ja, das werde ich wohl müssen«, antwortete der Geist. »Gut«, sagte Kos. »Dann tu mir einen Gefallen – halt die Augen nach dem zweiten ›Bittsteller‹ offen, wenn das möglich ist.« Er stieß sich vom Tisch ab und stand auf. Er wandte sich an den Bold. »In Ordnung. Es ist an der Zeit, gegen meine Dämonen zu kämpfen.« »Halbdämonen«, korrigierte ihn der Bold. »Oder in die sem Fall Halbdämon. Der eine sollte wirklich reichen.«
K
Eine halbe Stunde später war das Pivlichino kaum noch wiederzuerkennen. Statt in einem gut gefüllten Esslokal konnte man sich jetzt auch in einer Gladiatorenarena wähnen – jedenfalls klang es so, wenn man sich in der Vorkammer befand, die in die Fressgruben führte. Das dumpfe Hintergrundgeräusch der unzähligen Unterhal tungen war lauter geworden. Hinter dem Fallgitter, das den Eingang zur Arena versperrte, hallte der Lärm in Wellen durch das Rund. Kos ließ zu, dass ein Goblin, einer von Pivlics Ange stellten, ihm beim Anlegen der Rüstung behilflich war. »Das ist nicht gerade viel«, sagte der Goblin. »Du hast Brustschutz, du hast Armschienen, du hast Helm. Sollte dir genug Zeit fürs Beten geben, bevor du stirbst. Große Synode im Anzug, hm? Sieh’s positiv, du musst nicht lange warten.« »Warten? Auf was?«, fragte Kos. Sein Gehirn war mit 356
etwas ganz anderem beschäftigt. Wer war der zweite »Bittsteller?« Wer sonst könnte noch wissen wollen, wer den Goblin gekauft hatte, um das Attentat zu verüben? »Synode mit all den Geistern«, sagte der Goblin. »Zu rück zur Natur. Also, wenn Iv’g’nork dich frisst, musst du nicht lange warten, hm?« »Schon klar«, sagte Kos, der kaum zugehört hatte. Die Zehntausendjahresfeier und die Synode des SelesnijaKonklaves waren momentan die letzten Dinge, die ihn beschäftigten. Vor allem, weil er dann immer daran denken musste, dass er bereits drei Tage verloren hatte, die er hätte verwenden können, um Fonn zu suchen beziehungsweise Fonn Zunich, oder welchen Namen sie auch immer verwendete. Er hätte mit allen Zeugen reden, den Tatort untersuchen und die restliche Wojek-Arbeit erledigen können. Jetzt war er gezwungen, zu Pivlic zu gehen, was ihm nie sonderlich schmeckte. In jeder nor malen Ermittlung ging man erst dann zu Pivlic, wenn die eigentliche Spur erkaltet war, schon allein aus dem Grund, dass man Pivlic nie als Zeugen benennen konnte. Konnte und würde. Es war richtig, dass Pivlic ihm bislang nie falsche Informationen gegeben hatte, aber es gab immer ein erstes Mal. »Du brauchst eine bessere Laune«, sagte der Goblin. »Jeder muss irgendwann sterben. Weiß nicht warum du soviel Glück hast. Eine Wette verloren?« »Beeil dich, und mach endlich das Ding zu.« Iv’g’nork war in der gegenüberliegenden Vorberei tungskammer zu sehen, genau am anderen Ende der 357
runden Grube. Kos konnte von hier aus nicht das obere Ende der schwarzen Mauer erkennen, die die kleine Arena umschloss. Sie war bestimmt so hoch wie ein Gebäude. Pivlic hatte einmal erklärt, dass sie dunkel gestrichen war, damit man das Blut, das von vorherigen Kämpfen noch nicht weggeputzt worden war, nicht so gut sehen konnte. Dabei handelte es sich hier nur um eine der kleineren Fressgruben. Der Sklavenhändler mochte zur einen Hälfte ein Dä mon sein, aber die andere Hälfte wirkte ebenfalls so. Die riesige Kreatur saß gebückt da und wartete darauf, dass Pivlic die Essensglocke läutete. Kos schätzte, dass sein Gegner etwa doppelt so groß wie ein Mensch war. Vier widderähnliche Hörner umrahmten sein hässliches Antlitz, das eher an einen Totenschädel als an ein Gesicht erinnerte. Knöcherne Stacheln verliefen doppelreihig von den Augenbrauen nach hinten über den narbenübersäten kahlen Schädel. Iv’g’norks gesamter Körper war mit sich überlappenden verstärkten Platten bedeckt, deren Kanten äußerst scharf wirkten. Nur wenige Stellen an den Gelen ken waren ungeschützt. Den zweiten Bittsteller konnte Kos zwar von hier aus nicht erkennen, aber das würde sich hoffentlich bald ändern. Er hatte einen Spion losgeschickt, um Informa tionen über seinen Mitbewerber zu bekommen. »Glück gehabt, Borca?«, fragte Kos, als der Geist seines Dienstkameraden durch die Wand zurück in die Vor kammer schwebte. »Mit wem redest du da?«, fragte der Goblin. 358
»Mit niemandem«, sagte Kos. Er gab Borca ein Hand zeichen, endlich zu erzählen. »Also, ich habe herausgefunden, wie weit ich von dir weg kann«, sagte der Geist. »Das ist alles. Ich konnte ihn nicht finden. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, dass der Ektomagier meine Reichweite vergrößern kann. Sollen wir rüber ins Orzhov-Viertel gehen?« »Jetzt?«, sagte Kos. »Noch nicht«, antwortete der Goblin, der dachte, dass Kos mit ihm redete. »Warte auf die Glocke.« »Ja, genau, jetzt«, sagte der Geist. »Bevor du dich hier umbringen lässt. Ich kann den anderen Mann nicht finden, aber ich kann das Monster von hier aus sehen. Willst du irgendjemandem etwas beweisen?« »Auf keinen Fall«, sagte Kos. »Ich mache das hier.« »Auf keinen Fall machst du das hier?«, fragte der Go blin. »Kumpel, irgendwie ist es zu spät, um es sich jetzt noch anders zu überlegen, hm?« »Nein, ich … He, meine Rüstung sitzt bestens. Hau ab und pack jemand anderes ein. Kumpel.« Der Goblin hob beide Hände und zog sich mit übertrie bener Vorsicht zurück. »Ist ja gut, unterhalte dich lieber mit toten Menschen. Siehst ja, wo es Gruto hingeführt hat, hm? Wenn du kannst, mach einen Teil von der Rüstung ab, bevor er dich frisst. Hoffe, das Iv’g’nork an dir er stickt.« Gruto winkte Kos zum Abschied zu und öffnete die schwere Holztür dann gerade so weit, dass er seinen dürren Körper hindurchzwängen konnte. Er schloss sie mit einem Knall, der durch die ganze Arena hallte. 359
»Na los, Kos«, sagte Borcas Geist. »Vielleicht muss der Mord an mir ja auch nicht gelöst werden. Oder es gibt noch eine andere Möglichkeit, wie man die Ermittlungen führen kann.« »Schön, wenn das so wäre«, sagte Kos. »Hilfst du mir jetzt oder nicht?« »Als ob ich eine Wahl hätte«, seufzte der Geist. Eine Sekunde später war das dreimalige Läuten einer großen Messingglocke zu hören. Die klaren, Unheil verkündenden Töne ließen die lärmende Menge ver stummen. Dann öffneten sich mit einem Geräusch, wie wenn Metall über Stein kratzt, die Fallgitter sowohl vor Kos als auch vor dem Eingang des Halbdämons. Kos testete mit ein paar vorsichtigen Schritten den vergitter ten Boden der Grube aus. »Sehr verehrte Gäste des Pivlichino, die erste Heraus forderung des Abends in den Fressgruben wird gleich beginnen«, ertönte Pivlies Stimme magieunterstützt durch das ganze Lokal. »Falls Sie es wünschen, richten Sie doch bitte Ihre Aufmerksamkeit auf die südliche Arena. Wird der mächtige Iv’g’nork heute gleich zwei Herausforderer verspeisen können? Oder findet seine Suche nach dem perfekten Festmahl hier ein vorzeitiges Ende? Wir werden es herausfinden!«
360
Kapitel 15
H
Mindestens zwei treten in den Ring, aber nur einer frisst. Schild über dem Eingangstor zur Pivlichino-Fressgrube Nr. 1
27. ZuuN 9999 Z. C., spätabends Fonn beobachtete, wie Pivlic in die Luft über die Fress gruben schwebte, um mit dem Hammer in der Hand die Essensglocke, die über ihnen hing, dreimal in kurzer Folge anzuschlagen. Dann machte er es sich auf der Brüstung einer Loge bequem, die wohl seine eigene sein musste, da sie als einzige leer war, soweit Fonn das sehen konnte. Der Bold zog irgendein stockähnliches Objekt aus seiner Weste und steckte es sich in den Mund, bevor er die Rolle des zeremoniellen Ansagers übernahm. Fonn schob gerade ihren Stuhl zurück, um aufzuste hen, damit sie einen besseren Blick hatte, als eine große Frau mit einem seltsamen Buckel, die in einen schlecht sitzenden übergroßen Mantel gehüllt war, an ihren Tisch trat. »Hallo«, sagte die Frau. Ihre behandschuhten Hände ruh ten auf Jarads leerem Stuhl. »Ist dieser Platz noch frei?« »Wie bitte?«, sagte Fonn. Sie konnte kaum sehen, was 361
unten in der Grube vor sich ging, da sich die Menge an die Brüstung gedrängt hatte. Es klang so, als ob Jarad und der andere Nicht-Dämon immer noch am Leben waren. Offenbar hatte der Kampf überhaupt noch nicht richtig angefangen. »Ich hoffte, dass ich mich dazusetzen dürfte«, sagte die rothaarige Frau. Fonn betrachtete sie genauer. Sie hatte überwältigend schöne, engelsgleiche Gesichtszüge und goldene Augen. »Nun, ich bin beschäftigt«, sagte Fonn. »Ein Freund von mir ist da unten und kämpft gegen einen Dämon.« Sie hatte das Wort ›Freund‹, ohne zu zögern oder darüber nachzudenken, verwendet, wie sie überrascht registrierte. Irgendetwas an dieser Frau ließ sie sich unbehaglich fühlen, und das war ein Zustand, den Fonn eigentlich im Moment vermeiden wollte. »Genauer gesagt, ein Ge schäftspartner«, verbesserte sie sich schnell. »Er versucht gerade alles Mögliche, um sich umbringen zu lassen.« »Ich glaube«, sagte die Frau, »dass unsere jeweiligen Geschäftspartner gerade gemeinsam da unten stehen.« »Oh, ich verstehe«, sagte Fonn. »Das heißt, dass wir in der gleichen Lage sind, würde ich sagen.« »So wie du dich ausdrückst, klingst du nicht gerade wie eine Devkarin«, sagte die Frau. »Was geht dich das an?«, fragte Fonn. »Ich möchte mich entschuldigen. Es war nicht meine Absicht, dich zu beleidigen.« Die Frau deutete auf die Brüstung. »Vielleicht sollte ich uns bessere Plätze ver schaffen.« 362
Es war die Stimme und nicht die Frau selbst, was Fonn seltsam vorkam. Erst hatte sie entspannt geklungen, jetzt war das vorbei. Das war kein gewöhnlicher Mensch. Konnte das Wurmwesen, dem sie in der Unterstadt begegnet waren, sich so sehr verändern? Sie betrachtete die hübsche Frau erneut. Etwas in deren Augen brachte sie dazu, ihr zu vertrauen, obwohl es dafür eigentlich keinen vernünftigen Grund gab. Sie gesellte sich zu ihr an die Brüstung. Fonn war beim Anblick des zweiten Herausforderers überrascht, fast schon betäubt. Sie bemerkte kaum, dass sich die Frau hinter sie gestellt hatte. Erst als Fonns Arme mit beiden Händen auf den Rücken gedreht wurden, schreckte sie auf. »Was machest du da«, schrie Fonn. Durch den Lärm der Masse war es schwer, die eigene Stimme zu hören. Sie wand sich im Griff der Frau und verfluchte sich dafür, ihr auch nur eine Sekunde vertraut zu haben. »Lass mich los!« »Das werde ich«, sagte die Frau, deren Mund sich knapp neben Fonns Ohr befand. »Aber erst will ich wis sen, wer du bist und warum du und dein Mitstreiter Interesse am Bombenanschlag in der Zinnstraße habt.« »Was willst du schon mit mir machen? Vielleicht in die Grube werfen?«, höhnte Fonn. »Vielleicht«, sang ihr eine Stimme ins Ohr, die gleich zeitig wunderschön und schrecklich war. »Aber ich hätte lieber die Wahrheit. Ich vermute, dein Schützling hätte das ebenfalls verlangt.« 363
Fonn drehte sich herum, so gut sie konnte, um der großen Frau in die Augen zu blicken, die mit einem inneren Licht glühten. »Mein Schützling?«, sagte sie. »Wer bist du? Woher weißt du davon?« »Ich hatte es nicht gewusst, sondern nur vermutet«, sagte die Frau. »Jetzt weiß ich es. Du bist die LedevWächterin. Mein Geschäftspartner und ich haben nach dir gesucht.« »Kos«, sagte Fonn, die einen weiteren Blick in die Gru be geworfen hatte. »Dein Geschäftspartner ist Agrus Kos. Aber er ist ein Wojek, kein Meuchelmörder.« »Ich kann dir versichern, dass auch ich kein Meuchel mörder bin«, sagte die Frau. »Ich werde dir jetzt ein paar Fragen stellen. Versuche nicht, zu fliehen.«
K
Kos sah unmittelbar den zweiten Herausforderer und vergaß darüber für einen Moment komplett den Halbdä mon. Der zweite Herausforderer war ein Devkarin-Elf. Die bleiche, drahtige Gestalt schlich wie eine Katze aus seiner Vorbereitungskammer und maß die Grube und die ande ren Kämpfer mit Blicken ab. Seine Bewegungen kamen Kos bekannt vor. Der Elf musste ein Jäger sein. Er trug keine Maske, und sein verfilztes Zottelhaar hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, aber seine sonstige Haltung war unverwechselbar. Der Elf war nicht ein beliebiger Jäger, und deswegen auch nicht ein beliebiger Elf. 364
»Horrido, Jek!«, sagte der Elf. »Wie lange ist es her? Fünfzig Jahre?« »Siebenundfünfzig und ein paar Zerquetschte«, sagte Kos. »Devkarin, ich hatte dir doch gesagt, dass ich dich nie wieder in meiner Stadt sehen will.« »Es war nicht meine Idee«, sagte der Elf. »Und jetzt duck dich mal lieber.« »Wie bitte?«, sagte Kos und folgte dem Blick des Devka rin. Er befolgte die Warnung eine halbe Sekunde zu spät, um Iv’g’norks Knüppel ganz auszuweichen. Der Schlag streifte Kos’ Helm, der daraufhin scheppernd gegen die Grubenmauer flog. Eine felsbrockengroße Faust, die ebenfalls vor knöchernen Stacheln starrte, sauste auf den Wojek herab. Er warf sich zur Seite. »Bleib stehen, Menschling«, knurrte der Halbdämon. Er fuhr mit seiner gespaltenen Zunge über den blanken Knochen, auf dem früher mal seine Oberlippe gesessen hatte. Wie es aussah, konnte das noch nicht lange her sein. Iv’g’nork schien während seiner Wartezeit ziemli chen Hunger gehabt zu haben. »Kein Problem«, sagte Kos vom Boden aus. Er rollte sich auf den Rücken, während der Devkarin sich gegen das ausgestreckte linke Bein des Sklavenhändlers warf. Dieser drehte sich gerade etwas ungeschickt, um beide Gegner im Auge zu behalten. Der Elf rammte das Knie des Halbdämons mit solcher Wucht, dass es niemanden gewundert hätte, wenn Iv’g’norks Bein glatt in zwei Teile getrennt worden wäre. Stattdessen sackte der Jäger mit einem überraschten »Uff«, vor dem Bein des Halbdämons 365
zusammen wie eine zu Boden geworfene Puppe. Iv’g’nork trat ihn mit einer überraschenden Geschicklichkeit, die man einer Kreatur, die zu achtzig Prozent aus Knochen zu bestehen schien, gar nicht zutraute. Der Elf flog in hohem Bogen in Richtung Grubenwand. Er drehte sich dabei, um sich von der Steinwand der Grube wieder abstoßen zu können. Nein, er stieß sich nicht wieder ab, sondern klammerte sich an der Wand fest. Nette Idee, dachte Kos. Er klaubte seinen Helm auf, der eine so große Delle davongetragen hatte, dass er als Schutz nichts mehr taugte. Mit etwas Schwung schleuderte er den nutzlosen Gegenstand gegen den stachelbewehrten Hinterkopf des Halbdämons. Er prallte in einem günstigen Winkel auf, brach einige der Stacheln ab und lenkte damit auch Iv’g’norks Aufmerksamkeit wieder auf Kos. »Bleib, wo du bist, Elflein«, sagte der Sklavenhändler und drehte sich zu Kos. Er ließ seine riesige Keule in Kos’ Richtung niedersausen, aber der Schlag wurde zu schwer fällig ausgeführt. Kos konnte ihm ohne Schwierigkeiten ausweichen. »Na, ich habe dich härter getroffen, als du gedacht hät test, was?«, sagte Kos. »Ihr beide seid die Anstrengung kaum wert, keiner von euch«, sagte der Halbdämon. »Aber eine Mahlzeit ist nun mal eine Mahlzeit.« »Die Stacheln«, sagte Borcas Geist. Er schwebte vor Kos herum und verdeckte ihm die Sicht. »Es sind die Stacheln. Du hast ihn leicht betäubt.« 366
»Ich weiß. Geh aus dem Weg.« »Mit wem redest du da, kleiner Mensch?« »Borca, das nächste Mal, wenn mich das jemand fragt, werde ich dich mit einem Arretierer grillen«, sagte Kos. »Wirst du nicht«, spottete der Geist. »Erstens glaube ich nicht, dass die bei mir funktionieren, und zweitens glaube ich nicht, dass du bei deiner Flucht aus der Krankenstati on daran gedacht hast, einen einzustecken.« »Das ist mir egal, ich …« »Solltest du nicht lieber kämpfen, statt mit mir zu re den?« Borcas Geist schwebte zur Seite. Kos sah, dass der Devkarin mittlerweile wie eine Spinne die Wand hochge klettert war. Jetzt sprang der Elf dem heranstürmenden Iv’g’nork auf den Rücken. Er packte den Kopf des Halb dämons bei den oberen Hörnern und zog unter Aufbie tung seiner gesamten Muskelkraft den Kopf des Sklaven händlers nach hinten, dass dieser innehalten musste. »Mach etwas, ‘Jek!«, rief der Elf. »Ich kann das hier – autsch! – nicht lange durchhalten!« Kos hatte sein Kurzschwert bereits in der Hand. Er hät te ein halbes Königreich für einen der Pendreks gegeben, die sie hatten zurücklassen müssen, um nicht einen Alarmzauber auszulösen. Er hätte einen Tötungsstrahl bei voller Ladung jetzt wirklich gebrauchen können. Stattdes sen bemühte er sich, nahe genug an den Sklavenhändler zu kommen, um richtigen Schaden zuzufügen, ohne dabei von Iv’g’norks Keule zerquetscht zu werden. Er täuschte einen Ausfall nach rechts an, worauf Iv’g’nork 367
mit seiner Keule ungeschickt auf den Steinfußboden schlug. Keule war eigentlich noch ein viel zu beschöni gendes Wort für diese Waffe, die viel eher ein ausgerisse ner Baumstamm war. Als der Knüppel gegen den Fußboden krachte, wurde der Elf über den Kopf des Halbdämons geschleudert. Er konnte durch eine schnelle Drehung gerade noch einem Zusammenstoß mit der Grubenwand entgehen. Der Devkarin rollte sich an der Wand ab und sprang wieder auf die Beine. »Oho«, sagte Borcas Geist. »Ich hoffe, dass du nicht als Nächstes gegen ihn kämpfen musst. Du bist doch gar nicht in der Lage, ihn gefährlich zu treffen.« »Halt die Klappe«, sagte Kos. Durch den Schlag war die linke Seite des Sklavenhänd lers ohne Deckung. Kos stieß mit seinem Schwert zu. Er wusste, dass das eigentlich ein nutzloser Schlag war, aber dadurch gewann der Elf die Zeit, sich eine andere Taktik zu überlegen. Die knöchernen Platten schienen zusam mengewachsen zu sein. Kos vermutete, dass es keine Möglichkeit gab, eine Klinge zwischen sie zu schieben. Wie sich herausstellte, lag er damit richtig. Die Klinge prallte klirrend gegen die natürliche Rü stung des Sklavenhändlers, rutschte nach oben ab und zog Kos’ Schwertarm mit sich. Die Schwertspitze traf etwas, was keine verknöcherte Platte war: Iv’g’norks linke Achselhöhle, wo die Knochen voneinander abstanden, damit er sich besser bewegen konnte. Kos verwandelte seinen Schwung in einen aufwärts geführten Stich. Das 368
Schwert fuhr direkt in das Schultergelenk des Sklaven händlers. Die Klinge traf auf ein weicheres, zerbrechli cheres Innenskelett. Iv’g’nork kreischte und brüllte vor Schmerz. Er sprang zurück und riss Kos’ Schwert aus seiner blutüberströmten Schulter. Der linke Arm hing jetzt nur noch nutzlos herunter. Der Halbdämon schlug vor Überraschung und Schmerz wie wild um sich. Kos und der Devkarin muss ten sich bemühen, aus seiner Reichweite zu kommen. Kos’ Schwert war verloren; um es zurückzubekommen, würde er über Leichen gehen müssen. Über eine Leiche, genauer gesagt. Die des Halbdämons. »Bei allen Engeln der Legion«, staunte Borcas Geist. »Warst du das?« »O ja, sieht so aus«, sagte Kos. »Was glaubst du?«, fragte der Devkarin, der neben den Wojek geschlüpft war, um den blinden Schlägen des Halbdämons aus der Ferne zuzusehen. »Hast du dein Schwert verloren?« »Ich habe ihn verwundet«, sagte Kos. »Du wurdest ge gen eine Wand geschleudert.« »Pass auf«, sagte der Geist. »Er scheint seinen ersten Schock überwunden zu haben. Ich glaube, er ist …« »Verrückt?«, ergänzte Kos. »Was faselst du da die ganze Zeit vor dich hin?«, sagte der Elf. »Verrückt scheint genau das richtige Wort für dich zu sein, Wojek.« Iv’g’nork brüllte vor Wut und warf das, was von sei nem Knüppel übrig geblieben war, gegen die Mauer. »Das 369
sollte die Dinge etwas ausgleichen«, sagte Kos, musste diese Aussage aber zurücknehmen, als der Halbdämon gleich darauf mit einer brutalen Rückhand Jarad erwisch te. Der Elf kippte auf den Steinboden und rutschte bis zur Außenmauer, wo er reglos liegen blieb. Der Halbdämon brüllte, stampfte zu dem benommenen Elfen hinüber und packte ihn mit einer knochigen Hand am Hals. Er hob den Elfen in die Luft und schüttelte ihn in Richtung der Zuschauer, die sich mit Anfeuerungsrufen revanchierten. Der Elf war wie jeder andere Elf aus Fleisch und Kno chen, und wenn Kos nicht bald etwas unternahm, würde es zu spät sein, um herauszufinden, warum von allen Elfen genau dieser Elf dieselben Informationen wie er suchte. Iv’g’nork war offensichtlich der Meinung, dass von Kos die geringere Bedrohung ausging. Da sein einer Arm nutzlos und der andere mit Jarad beschäftigt war, hatte er für Kos eh keinen mehr frei. Irgendwie kümmerte er sich nicht mehr richtig um seine Deckung, und Kos hatte vor, diesen Umstand auszunutzen. Der Wojek hatte zwar nicht mehr sein Schwert, aber die zersplitterten Einzelteile des als Knüppel missbrauch ten Baumstamms lagen noch durch die ganze Arena verstreut. »Der hier sieht gut aus«, sagte Borcas Geist. Er schwebte über einem langen Holzstück, das sich gut als Speer verwenden ließe, falls der Gegner nicht in versteinerten Platten eingehüllt wäre. Trotzdem, er war spitz und schwer … Mit etwas Glück würde Kos ihn in das Auge des 370
Sklavenhändlers schleudern können. Danach würde er
sich dann wieder etwas Neues ausdenken müssen. Die blutlüsterne Menge brüllte immer lauter. Sie be schimpften Iv’g’nork, den Elfen doch endlich fertig zu machen. Die übelsten Sachen wurden vorgeschlagen, und den unterschiedlichen Dialekten nach zu urteilen, kamen die Gäste aus jeder Ecke Ravnicas. Der Elf zerrte an dem riesigen Daumen, der ihm den Kehlkopf zudrückte. Als der Sklavenhändler den Elfen hochhielt, sah Kos, dass jener dadurch seine rechte Achselhöhle freigab. Hatte er nichts gelernt? Nun, es hatte schon einmal funk tioniert. »He, Ivgilein! Da, fang!«, rief Kos. Er schleuderte den provisorischen Speer und hätte wohl auch getroffen, wenn sein Gegner sich nicht bei dem Ruf umgedreht hätte. So prallte das Wurfgeschoss harmlos von der knochigen Brust des Sklavenhändlers ab und fiel zu Boden. Er wandte sich wieder Kos zu, während er weiter hin den Elfen festhielt. Der Devkarin wehrte sich nicht mehr, aber der Hals sah nicht gebrochen aus. Wahr scheinlich war er in Ohnmacht gefallen. »Ups«, sagte Kos. »Ja, beim nächsten Mal solltest du vielleicht nicht vor her rufen«, sagte Borcas Geist. »Du solltest lernen zu warten, bis du an der Reihe bist, Menschlein«, brüllte der Halbdämon. »Es ist genug Iv’g’nork für alle da. Frag diesen Dummkopf hier doch einmal.« Der Sklavenhändler hielt den Elfen über sein geöffnetes Maul. »Warte, bis du dran bist, während ich meinen ersten Gang genieße.« 371
»So dicht hättest du mich nicht rankommen lassen dür fen«, hörte Kos den Elfen durch zusammengebissene Zähne zischen. Anscheinend war der Devkarin alles andere als bewusstlos, denn er drückte gerade seine Hand gegen die Stirn des Halbdämons. Ein halbes Dutzend kleiner schwarzer Wesen – Insekten? – kamen den Arm des Elfen entlanggekrabbelt und liefen auf Iv’g’norks Gesicht. »Was ist das?«, knurrte der Sklavenhändler, bevor er vor Überraschung den Devkarin fallen ließ. Der Halbdä mon taumelte nach hinten und wischte sich übers Ge sicht. Die Käfer – oder um was auch immer es sich han delte – warteten allerdings nicht ab, bis sie zerquetscht wurden. Zwei waren bereits seitlich zu Iv’g’norks kleinen Ohrmuscheln gelaufen und darin verschwunden. Zwei weitere wanderten in die eingesunkenen Augenhöhlen des Halbdämons, und die restlichen beiden krabbelten in sein offen stehendes Maul. Kos zog den Elfen wieder auf die Beine. »Frag ihn, wie er das gemacht hat«, sagte Borcas Geist. Kos warf ihm einen bösen Blick zu, worauf der Geist mit beiden Händen abwehrte. »Ist schon in Ordnung, Kame rad. Ich schau bloß zu.« Kos wandte sich an Jarad. »Was hast du mit ihm ge macht?«, fragte er und zeigte auf Iv’g’nork. Der Sklaven händler hielt sich beide Hände vors Gesicht und schwang den Kopf hin und her, bis er das Gleichgewicht verlor und mit lautem Krachen hintüberfiel. »Ich habe ihm seinen Gleichgewichtssinn genommen. Und seine Sicht. In etwa drei Minuten werden die ande 372
ren wahrscheinlich sein Herz verzehrt haben.
»Waren das Käfer?«, soufflierte Borcas Geist. »Und wie hast du das gemacht?«, fragte Kos. »Ich unterhalte ein spezielles Verhältnis zu besonderen Kreaturen«, antwortete der Devkarin. »Ich kann es dir später erklären. Wir müssen uns jetzt beeilen, sonst stirbt uns der Sklavenhändler noch weg. Vertrau mir – wir wollen im Moment alle dasselbe. Wenn ich so einen Blick auf deine Kleidung werfe, vermute ich mal, dass du derzeit von deinem Bund nicht sonderlich viel Unterstüt zung erhältst. Holen wir die Information aus dieser Krea tur also am besten gemeinsam heraus. Nicht dass keiner von uns sie bekommt. Gegeneinander kämpfen können wir auch noch danach.« »Kannst du die Käfer nicht aufhalten, bevor sie ihn völ lig erledigen?«, fragte Kos. »Vielleicht – wenn er schnell genug antwortet und ich dann noch einen Grund habe, ihn leben zu lassen. Aber selbst dann wird er wahrscheinlich innerhalb eines Jahres an Herzversagen sterben. Die Käfer müssen bereits die linke Herzkammer erreicht haben.« »Also könntest du es tun«, sagte Kos. »Das verschafft uns wenigstens einen größeren Verhandlungsspielraum als drei Minuten. Darf ich das Reden übernehmen?« Er duckte sich, um nicht von einer halb gegessenen DindinMelone getroffen zu werden. Sie prallte auf den Boden und bespritzte beide mit Fruchtresten. Der Devkarin nickte. »Gut. Und ich gebe das Tempo vor.«
373
K
»Du sprichst die Wahrheit«, sagte die groß gewachsene Frau. »Ich kann das beurteilen. Ich glaube dir, dass du nicht in den Anschlag verwickelt warst, aber mein Ge schäftspartner wird trotzdem mit dir sprechen wollen.« »Du bist gar keine Frau, oder?«, sagte Fonn. »Du bist eine Art … Engel?« »Ich bin tatsächlich keine Frau. Das ist scharf beobach tet«, antwortete der Engel und lockerte seinen Griff um die Arme der Halbelfin. »Es waren deine Augen, die dich verraten haben«, sagte Fonn. »Eigentlich hätte ich es gleich wissen müssen.« »Du musst genauer erklären, was du gesagt hast.« »Sie sind goldfarben. Das weißt du doch, oder? Und dieser Mantel ist auch keine …« »Nein, das, was du vorhin gesagt hast. Woher kennst du Agrus Kos?« Fonn holte tief Luft. Gleich als sie Kos in der Grube ge sehen hatte, wusste sie, dass er es sein musste. Er sah um einiges älter aus, aber Menschen alterten einfach schnel ler als Leute mit Elfenblut in den Adern. Sein Anblick hatte ihr mehr zu schaffen gemacht als der Griff des Engels. Sie hatte ihn seit Kindheitstagen nicht mehr gesehen, und auch damals hatte sie nie mit ihm gespro chen oder sonst etwas mit ihm zu tun gehabt. Bevor sie nach dem Tod ihres Vaters die Stadt verlassen hatten, hatte Fonns Mutter ihn ihr gezeigt. Sie hatte ihr erzählt, dass Kos derjenige war, der Myczil Zunichs Sturz verur 374
sacht hatte. Das Gesicht des Mannes hatte sich ihr ins
Gedächtnis gebrannt. Viele Jahre später hatte sie aus für die Öffentlichkeit freigegebenen Wojek-Akten entnommen, was ihre Mutter ihr alles nicht erzählt hatte. Fonn war sich noch nicht ganz sicher, ob sie alles verstanden hatte oder glaubte, was die Akten sagten, aber irgendwie sah sie sich inzwi schen gezwungen, ihren seit alters gehegten Hass ihm gegenüber zu hinterfragen. »Tut mir Leid, ich … Ich habe bisher noch nie einen Engel getroffen«, bekam sie schließlich heraus. »Und Kos … er war der Dienstkamerad meines Vaters. Mein Vater war ein Wojek – wie du, nehme ich mal an. Er ist vor langer Zeit umgekommen.« Fonn warf mit einer Kopfbe wegung ihre Kapuze zurück. »Ich habe Kos schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Arbeitet er an diesem Fall?« »Sozusagen«, sagte der Engel ausweichend. »Gut, dann kann ich euch später ja zur Bundeshalle begleiten«, sagte Fonn, die das Zögern nicht bemerkt hatte. »Ihr habt ja sicher schon etwas herausgefunden. Ich war die letzten drei Tage verhindert, zur Oberfläche zurückzukehren.« »Kos und ich arbeiten zurzeit außerhalb der WojekGerichtsbarkeit«, sagte der Engel und starrte vor Scham auf den Boden. Fonn fragte sich, wie schwer es wohl für einen Engel war, ›außerhalb der Wojek-Gerichtsbarkeit‹ zu agieren. Engel waren Avatars der Gerechtigkeit, aber das hier klang mehr nach Selbstjustiz. 375
»Was meinst du damit?«
»Die Ermittlung der Wojeks führte ins Nichts«, gab der Engel bereitwillig zu, »und der Leutnant beschloss, das Recht der Untersuchung einzufordern. Er ist bei dem Bombenanschlag selbst verletzt worden, aber sobald er herausgefunden hatte, dass du in die Angelegenheit verwickelt bist …« Also fühlte sich Kos doch noch in einem gewissen Ma ße verantwortlich – wenn nicht schuldig. Wahrscheinlich beides, dachte Fonn, und bemühte sich, den alten Hass nicht wieder hochkochen zu lassen. »Nun, du hast mich ja jetzt gefunden«, sagte Fonn. »Aber wenn ihr mich nicht in die Bundeshalle bringen wollt, was habt ihr dann vor?« Sie bezweifelte, dass sie den Engel in einem Kampf über winden konnte, aber immerhin war der Ausgang nicht weit entfernt. »Wir wollen dieselben Informationen wie ihr«, fuhr der Engel fort. »Allerdings stehen uns – Kos und mir – derzeit wegen … Konflikten innerhalb der Abteilung nicht allzu viele Hilfsmittel zur Verfügung. Möglicherweise gibt es überhaupt keinen Grund, warum wir hier gegeneinander arbeiten sollten.« Fonn blinzelte überrascht. Ihre Ausbildung und ihr In stinkt sagten ihr, dem Esslokal jetzt auf dem schnellsten Weg zu entfliehen. Sie schuldete Jarad nichts, und da sie jetzt der Unterstadt entkommen war, sollte sie sich schon längst beim Vitu Ghazi oder zumindest bei einem LedevPosten gemeldet haben. Aber Kos war da unten und riskierte anscheinend seine 376
restliche Karriere, wenn nicht sogar sein Leben, nur um herauszufinden, wer ihren Schützling umgebracht hatte. Wenn sie jetzt zum Baum der Einheit zurückkehren würde, nur einen Tag vor der Synode, würde sie wahr scheinlich frühestens in einer Woche befragt werden, falls die anderen Ledev sie nicht wegen ihres Versagens sogar gleich einsperren würden. Ein gemeinsames Vor gehen mit Kos, Jarad und dem Engel war wahrscheinlich der bessere Weg, um dem Bombenanschlag auf den Grund zu gehen. »In Ordnung«, sagte Fonn. »Willkommen in unserer Mannschaft, Engel.« »Nenn mich bitte Feder.« »Du scherzt, oder?« »Leider nicht.«
K
Iv’g’nork brüllte, und der Chor der Anfeuerungsrufe begann langsam abzubröckeln. Das Publikum zeigte stattdessen Überraschung, Schock, Wut oder mit lautem Gelächter untermalte Schadenfreude. Ein Stück Brot prallte von Kos’ Hinterkopf ab, und der Elf wurde von einer Frucht an der Schulter getroffen. Manche Zuschau er schienen begeistert zu sein, dass der Sklavenhändler so schnell zu Boden gegangen war, einige hatten sich offen bar auf einen längeren Kampf gefreut. Ziemlich viele jedenfalls schienen die Jagdsaison auf Devkarin-Jäger und Wojeks außer Dienst eröffnen zu wollen. 377
Immer mehr Essensreste hagelten auf sie nieder, wäh rend sie zu Iv’g’nork traten, der sich auf dem Rücken liegend am Boden der Grube krümmte. Der eine Arm des Halbdämons war nun völlig nutzlos geworden, und auch den restlichen Körper verließ die Kraft, da die Haustier chen des Devkarin gerade den Muskel verspeisten, der das Blut durch die Adern pumpte. »Sklavenhändler«, sagte Kos, der darauf achtete, von links zu kommen, also der Seite, wo der Halbdämon den verkrüppelten Arm hatte. »Der Elf hier beteuert, dass du im Sterben liegst. Ich möchte wetten, dass sich das für dich auch so anfühlt.« Kos stellte seinen schweren Stiefel auf Iv’g’norks verwundeter Schulter ab und beugte sich hinunter, um sich sein Schwert zurückzuholen. Beim Herausziehen drehte er es in der Wunde, was den Halb dämon wieder aufheulen ließ. »Was mich anlangt: Ich finde, du solltest noch eine Weile unter uns bleiben. Der Spaß fängt doch gerade erst richtig an.« Kos trat dem Sklavenhändler in die Achselhöhle und wiederholte das noch zweimal. »Wir werden uns über einen Verkauf unterhalten, den du neulich getätigt hast. Dann hast du die Wahl: Entweder hören die Käfer auf, dich aufzufres sen, oder eben nicht. Solltest du mir allerdings nicht verraten, was ich wissen will, kannst du natürlich auch nicht wählen. Aber eins kann ich dir versprechen: Dein Sterben wird ganz schön lange dauern.« Im Lokal war es plötzlich unheimlich still geworden. »Kos?«, sagte Borcas Geist. »Irgendwas geht hier vor.« Kos beachtete ihn nicht weiter. Er stampfte mit einem 378
Fuß auf die verwundete Schulter des Sklavenhändlers und lehnte sich dann so dicht an dessen hässliches Ge sicht, wie er sich nur traute. »Du hast an jemanden einen Bomben-Goblin verkauft. Und dieser Jemand hat deinen Bomben-Gobbo auf einen bevölkerten Marktplatz ge schickt.« Ein weiterer Fußtritt. »In meiner Stadt.« Noch ein Tritt. »Und hat eine Menge …« Immer wieder unterbrach Kos seinen Satz, um seine Worte mit Fußtritten zu untermau ern. »Leute. Umgebracht!« »Kos, wirklich, du solltest …« »Halt die Klappe, Borca«, flüsterte Kos. »Er wird dir nicht antworten«, sagte der Elf. »Er plant seine Rache. Das ist es doch, Iv’g’nork, oder?« Der Halbdämon stöhnte, und seine noch funktionie rende Hand krallte sich in seine Brust, als ob er die Insek ten mit seinen Fingernägeln ausgraben könnte. »Ich werde deinen Geist finden, Menschling«, keuchte die Kreatur. »Du wirst dafür bezahlen, du wirst auf alle Ewig keit brennende Qualen erleiden. Ich werde deinen Geist eine Ewigkeit lang schinden.« »Ich kann es so einrichten, dass das niemals geschieht, Sklavenhändler«, sagte der Devkarin. »Die Insekten in deiner Brust werden, wenn ich ihnen den Befehl dazu gebe, mit dem Fressen aufhören und anfangen, dich zu stechen. Ihr Gift wird dich langsam von innen heraus nekrotisieren. Du wirst niemals richtig sterben und nie mals deine Rache bekommen.« »Du bluffst«, keuchte der Sklavenhändler hervor. »Du 379
bist nur ein Jäger.« »Meine Schwester ist die Matka«, sagte der Elf. »Du bist ein Dummkopf, wenn du annimmst, alles zu wissen, was ein Devkarin kann oder nicht.« Kos konnte nicht einschätzen, ob der Elf tatsächlich nur am Bluffen war, aber Iv’g’nork kreischte und begann dann zu schreien … »Wir wollen Einzelheiten«, sagte der Devkarin und hob eine Hand über das Gesicht des Halbdämons. »Dann kannst du zwischen Leben und Tod wählen. Keine Infor mationen, keine Wahl. Und kein Leben, aber auch keinen Tod.« »Bastarde«, wimmerte der Halbdämon. »Es war einer von denen. Und es ist mir egal, ob ihr das glaubt. Es ist die Wahrheit. Aber hol die Viecher aus mir raus. Ich bin so gut wie tot, egal, was ihr tut. Aber ich werde nie ein Todesgänger sein.« »Von denen?«, fragte Kos. »Von wem?« »Kos, würdest du mir bitte mal zuhören?«, sagte Borcas Geist. Der Sklavenhändler hob schwach seinen noch verblie benen Arm und zeigte über Kos’ Schulter. »Die da«, sagte er. Kos schaute über die Schulter, ohne seinen Stiefel von der Schulter des Sklavenhändlers zu entfernen. Vor dem großen Fenster, das zur Schluchtseite zeigte und das Pivlic eine Unmenge Geld gekostet hatte, wie er nie zu betonen müde wurde, waren neun gesichtslose weiße Gestalten zu sehen. Sie hingen in der Luft, als wären sie 380
an unsichtbaren Fäden aufgehängt. Sie schwebten und schienen zu warten. Aber auf was? »Woher kommen die denn auf einmal?«, sagte der Dev karin. »Keine Ahnung«, konnte Kos gerade noch herausbrin gen. »Das versuche ich dir doch schon die ganze Zeit zu er zählen«, sagte Borcas Geist. »Ja, genau von denen war es einer«, sagte Iv’g’nork. »Einer von den Schweigern.«
381
Kapitel 16
H
Außer in Fällen von ungeheuerlichem Missbrauch (nach Beurteilung eines Vorgesetzten) kann kein Wojek-Polizist für Schäden an Eigentum, die ihm Rahmen einer aktiven Ermittlung auftreten, haftbar gemacht werden. Handbuch für Wojek-Polizisten
27. Zuun 9999 Z. C., nachts Fonns Aufmerksamkeit war so sehr auf die Fressgrube gerichtet, dass sie die weiß gekleideten Gestalten, die aus Grigors Schlucht herangeschwebt waren und sich vor den großen Aussichtsfenstern auf der anderen Seite des Lokals postiert hatten, erst bemerkte, als diese sich Ein lass verschafften. Die Scheiben zerbarsten, als sich die Schweiger einen Weg ins Pivlichino bahnten. Es waren nicht viele, aber das war auch nicht notwendig. Der Ledev hatte es die Sprache verschlagen. Die Schweiger waren Werkzeuge des Selesnija-Konklaves, und Diener des Konklaves stürmten normalerweise keine Lokale, als wären es Schlupfwinkel der Rakdos. Plötzlich war im Pivlichino die Hölle los. Die Schweiger hatten sich in drei Dreiergruppen aufgeteilt und bewegten 382
sich gewandt durch die Luft. Die Gäste, die normale Kneipenschlägereien gewohnt waren, sahen überrascht, dass sie plötzlich mit den weiß gekleideten Selesnijaner in kurze und brutale Handgemenge verwickelt waren. Fonn hatte noch nie etwas Vergleichbares erlebt. Sie hatte sich bislang immer gefreut, wenn sie einen Schweiger zu Gesicht bekam. Was hier gerade passierte, konnte oder wollte ihr Gehirn nicht akzeptieren. »Das ist doch Wahnsinn«, flüsterte Fonn. »Ja, das ist ordnungswidrig«, sagte Feder und duckte sich, um einem Oger auszuweichen, den einer der Schweiger quer durch den Raum geworfen hatte, als ob die Kreatur gewichtslos wäre. Der Oger krachte gegen den Tisch, der hinter ihnen stand, und das gerade servier te Essen spritze auf eine Gruppe Gruul-Priester, die davon alles andere als begeistert waren. »Die Synode steht dicht bevor«, sagte Feder. »Vielleicht sind sie hier, um zu missionieren?« »Ich muss hier raus«, sagte Fonn. »Ich muss dem Seles nija-Konklave berichten, was hier gerade passiert.« »Wahrscheinlich wissen sie das längst«, sagte Jarad, der gerade über die Brüstung geklettert kam. Er beugte sich noch einmal hinunter und zog Kos nach oben, dann winkte er zurück in die Grube. »Danke fürs Hochstem men, Iv’g’nork.« »Tu uns den Gefallen, und friss ein paar von denen«, fügte Kos hinzu. »Da könnt ihr euch drauf verlassen«, hörte man eine dämonische Stimme von unten knurren. »Und wenn 383
einer von euch je seinen Fuß ins Höllenloch setzt, werde ich euch die Haut bei lebendigem Leib abziehen und gleichzeitig eure Eingeweide verzehren.« »Ebenfalls«, sagte Kos über die Schulter. »Leutnant«, sagte Feder zu ihm. »Ich bin froh, dass du überlebt hast. Ich schlage vor, dass wir uns jetzt so schnell wie möglich hier verdrücken.« »Wohin sollen wir …« Der alte Mann bemerkte erst jetzt, dass jemand neben dem Engel stand. »Wer ist das? Das ist doch keine Devkarin, oder? Jarad, wen hast du da mitgebracht?« »Das ist unsere vermisste Ledev-Wächterin«, antworte te Feder an dessen Stelle. Kos blickte kurz zu Boden. Fonn merkte, dass der Wo jek ihr nicht in die Augen blicken wollte. Er nickte ihr kurz zu. »Hallo. Ich … kannte deinen Vater.« »Ich erinnere mich«, sagte Fonn. »Hallo, Kos.« Na ja, dachte Fonn, das war immerhin besser, als wenn sie sagte, was sie wirklich dachte. »Ledev«, knurrte Jarad, »was ist denn in diese Anhänger des Lebens gefahren?« »Das weiß ich selbst nicht. Irgendwie ist alles so ver worren, seit der Goblin in die Luft geflogen ist«, sagte Fonn. »Die ganze Welt scheint verrückt zu spielen. Das ist alles der absolute Wahnsinn. Aber irgendwie muss ihre Anwesenheit hier einen guten Grund haben.« »Nun, das werden wir schon noch herausfinden. Wir können uns ja später in Ruhe darüber unterhalten«, sagte Kos. »Wir haben bekommen, was wir wollten, aber leider 384
sieht es so aus, als ob der Weg zum Ausgang blockiert ist. Weiß jemand, wie wir hier herauskommen?« »Wir?«, sagte Jarad. »Hier gibt es kein ›wir‹, Wojek.« »Jarad, wir brauchen alle Hilfe, die wir bekommen können«, sagte Fonn. »Sie sind Wojeks. Du kannst ihnen vertrauen.« »Du kannst ihnen vertrauen«, sagte Jarad. »Das können wir später ausdiskutieren«, sagte Kos. »Al so, sieht einer von euch einen Weg, wie wir hier alle rauskommen?« »Das ist eine erlaubte Frage, mein Freund«, sagte Pivlic, der gerade herangeflattert kam und sich auf der Brüstung niederließ. Er hob die Hand und zog seinen Stimmenver stärker aus seinem Gürtel. »Ich könnte eine Antwort daraufhaben. Einen Moment noch.« Der Bold hob den dünnen Zauberstab an seine Lippen. »Sehr geehrte Kunden des Pivlichino, wir müssen Sie leider informieren, dass wir heute Abend früher schlie ßen. Die Geschäftsleitung empfiehlt allen Gästen, das Lokal so schnell und so reibungslos wie möglich zu verlassen. Alle Angestellten sind mit sofortiger Wirkung krankgeschrieben. Vielen Dank, dass Sie uns heute Abend mit Ihrem Besuch beehrt haben.« Pivlic steckte den Stab wieder in sein Gewand und drehte sich zu Kos. »Darf ich anbieten, euch alle mitzunehmen? Ich glaube, ein schnel ler Abgang scheint angebracht zu sein. Irgendwie habe ich das Gefühl, mich schleunigst mit meiner Versicherung in Verbindung setzen zu müssen.« »Da wäre nur ein kleines Problem«, sagte Fonn. »Mein 385
Wolf ist immer noch in den Ställen.«
»Ich habe mir bereits die Freiheit genommen, einen meiner Leute loszuschicken, um ihn zu holen«, sagte Pivlic. »Er wird auf dem Dach auf uns warten. Folgt mir.«
K
Laut Pivlic gab es ein Dutzend versteckter Treppenhäuser, die zum Dach des Pivlichino führten. Natürlich waren die Treppen, wo sie jetzt alle immer gleich zwei Stufen auf einmal nahmen, offiziell nur für Angestellte. Der Bold selbst benötigte die Treppen naturgemäß nicht. Er flatter te ihnen voran. Im Moment war Kos über jeden Flucht weg froh, um dem Gemetzel im Lokal zu entgehen. In seinem ganzen langen Leben hatte er die Schweiger noch nie so erlebt. Fonn hatte Recht, das war alles der absolute Wahnsinn. Sie brauchten nur ein paar Minuten, um die Treppen bis ganz nach oben zu steigen. Pivlic klopfte ein kurzes, gleichmäßiges Erkennungssignal gegen die Tür, man hörte ein Siegel zerbrechen, und die Tür schwang auf. Auch auf dem Dach hatten sich Schweiger postiert, drei auf jeder Seite. Das mussten Neuankömmlinge sein, dachte Kos. Ihre Gewänder waren alle noch blütenweiß rein. Nirgends waren Blutspuren zu sehen. »Auf wen oder was warten die hier?«, fragte Borcas Geist fast zeitgleich mit Fonn, die allerdings nur noch flüstern konnte. »Ich weiß es nicht«, sagte Pivlic, »aber wir sollten nicht 386
versuchen, das früher als nötig herauszufinden.« Er zeigte auf einen langen goldenen Jacht-Zeppelid, der auf der anderen Seite des Dachs stand. Zeppeliden waren leben dige Luftschiffe. Sie gehörten der Klasse der Echsen an und lebten normalerweise in den höheren Regionen, wo sie in freier Wildbahn zu enormer Größe wachsen konn ten. Pivlics kleiner gezähmter Zeppelid war auf Schnellig keit gezüchtet worden. Auf beiden Seiten waren knollen förmige Passagierkabinen aerodynamisch an den Körper angepasst worden. Die Pilotenkanzel war im knorpeligen Schädel untergebracht. Auf dem Kopf waren zur Flugsta bilisierung künstliche Flossen angebracht worden. Und an den verkümmerten Hinterflossen des Zeppeliden waren von den Izzet entwickelte, mit Mana betriebene Turbodüsen befestigt. Von der größeren Schwanzflosse prangte unübersehbar das Zeichen der Orzhov-Gilde. Ein Wolf von der Größe eines Dromads saß neben der Ram pe, die zu den Passagierabteilen führte. »Biracazir!«, rief Fonn. »Nein, nicht«, sagte Kos, aber es war zu spät. Der Wolf rannte auf Fonn zu, und die Schweiger, die bislang re gungslos am Rand des Dachs gewartet hatten, schienen aufzuwachen. »Biracazir, tu ihnen nichts!«, rief Fonn. »Das muss ein Irrtum sein!« »Tu ihnen nichts?«, fragte Kos. »Die bringen Leute um!« »Aber es muss ein …«, begann Fonn wieder. »Lauft!«, brüllte Feder. Kos konnte einen Unterton des Bedauerns in der Stimme des Engels hören. Er wusste, 387
dass sich Feder danach sehnte, die seltsamen stillen Angreifer zu bekämpfen. Kampf war nun einmal die zweite Natur eines Engels. Aber sie würden keine Chance haben, auch wenn Fonn an einen Irrtum glaubte. Irgen detwas war mit diesen Schweigern geschehen. Sie waren nicht mehr reine Werkzeuge des Konklaves. Oder sie waren es doch, und das ganze SelesnijaKonklave war unter die Mörder gegangen. Sie hatten fast den halben Weg geschafft, bis der erste Schweiger sie erreicht hatte. Er bewegte sich so leicht durch die Luft wie ein Taucher durch Wasser. Als er auf sie herabstieß, erwischte er beinahe einen von Pivlics Flügeln. Kos hörte ein lautes Krachen, drehte sich aber nicht um. Offenbar hatte einer der Schweiger Bekannt schaft mit Feders Faust gemacht. Biracazir schien sich ebenfalls nicht vor dem Kampf drücken zu wollen. Er verbiss sich in das Bein des Schweigers und schleuderte ihn in einen der anderen. Die Gegenwehr war insgesamt nicht der Rede wert, aber sie gab ihnen ein paar wertvolle Sekunden für die Flucht. Besser hätte er das auch nicht hinbekommen, musste sich Kos eingestehen. Als sie den Zeppeliden erreichten, hatten sie alle Schweiger auf ihren Fersen. Zu Kos’ Überraschung stand Pivlic am Eingang und winkte sie hinein. Kos hätte nie gedacht, dass der Bold zu denjenigen gehörte, die wie ein ehrenhafter Kapitän als Letzte das sinkende Schiff verlie ßen. Selbst in hohem Alter erlebte man noch Überra schungen. 388
Der Wojek sprang, dichtauf von Borcas Geist gefolgt, durch die Luke. Er drehte sich zu Pivlic um. »Komm rein! Wir sind alle drin!«, brüllte er. »Eine Sekunde noch«, sagte der Bold. Neun weitere Schweiger – diesmal allesamt blutverschmiert – kamen von unten herangeschwebt. Anscheinend hatten sie ihren Auftrag im Pivlichino erledigt. Oder sie hatten sich ent schieden, dass der Zeppelid wichtiger war. »Worauf wartest du? Da kommen immer mehr«, schrie Fonn. »Genau darauf warte ich ja«, sagte der Bold und zeigte auf eine kleine Gestalt, die zwischen den nahenden weiß gekleideten Wesen einherflog. Kos brauchte eine Sekun de, bis er es erkannte. Sie warteten auf einen Vogel, und zwar auf einen ganz besonderen. Wenn er das richtig sah, war es Jit, ein Brieffalke, der zum Zehnten Distrikt gehör te. Der Vogel flog direkt zu Kos und setzte sich auf dessen Schulter. Nun kam auch Pivlic in die Kabine, und Kos konnte die Luke gerade noch schließen, bevor die erste Gruppe Schweiger sie erreicht hatte. Es gab einen schwe ren Schlag, und im leichten Metall der Außenhaut ent stand eine runde Beule von der Größe eines Kopfes. »Feder! Kannst du das Ding fliegen?« »Ich glaube schon«, tönte die Stimme des Engels aus der Kanzel. »Allerdings würde ich mich über etwas Hilfe unseres Gastgebers freuen.« »Flieg erst mal einfach los, bitte!«, rief Kos. Er blickte nach dem Falken, der auf seiner Schulter hin- und her trippelte und dabei die Krallen durch das dünne Hemd 389
bohrte. »Jit? Wie lautet die Nachricht?« »Kos, hier ist Helligan«, krächzte der Vogel. In seiner hohen Stimme gab der Falke die Nachricht des obersten Labormagiers des Zehnten Distrikts wieder. »Ich habe keine Ahnung, was da in der Krankenstation passiert ist, aber ich brauche dich im Labor. Und zwar dringend. Phaskin meint, du hättest mit dem Fall nichts zu tun, aber alle anderen kümmern sich gerade um die Synode. Was? Ja, dazu komme ich gleich. Kos, ich habe herausbekom men, warum ich keine Nekrotopsie bei dem Loxodon durchführen konnte. Er lebt nämlich noch. Er hat mir gesagt, dass du die vermisste Ledev gefunden hast. Du sollst sie herbringen. Ich habe keine Ahnung, ob das alles so stimmt, aber er schien sich seiner Sache ziemlich sicher zu sein. Er ist danach wieder bewusstlos geworden, und auf Heiltränen reagiert er nicht. Ich glaube, du hast nicht viel Zeit. Komm möglichst schnell hierher, sonst ist es zu spät. Ende der Nachricht.« »Er lebt?«, sagte Fonn erstaunt. »Aber wie soll das ge hen? Er war doch … O nein! Kos, ich muss zu ihm hin.« »Ich glaube, dadurch hat sich auch entschieden, wohin wir fliegen«, sagte Kos. »Jit, such dir einen sicheren Platz, es kann sein, dass ich dich gleich benötige.« Der Falke nickte, um zu zeigen, dass er verstanden hatte. Dann flog er zu einer der stabilen Querstreben und ließ sich darauf nieder. »Ich muss noch diese Kisten verstauen, bevor wir …«, begann Pivlic, wurde aber durch eine heftige Erschütte rung unterbrochen. Etwas war gegen den Zeppeliden 390
geprallt, sodass er ins Wanken gekommen war. Der Stapel Metallkisten, den der Bold gerade hatte verstauen wollen, kippte ihm gegen den Kopf. Pivlic klatschte wie ein Sack Mehl zu Boden. »Verdammt noch mal«, fluchte Kos. Er beugte sich über den Bold und tastete nach dessen Puls und horchte nach Atem. »Lebt er noch?«, fragte Fonn. »Mit was sind wir da ei gentlich zusammengestoßen?« »Wir sind noch gar nicht losgeflogen«, sagte Jarad. »Das waren die Schweiger. Die werfen sich mit aller Kraft gegen den Zeppeliden.« »Feder«, brüllte Kos. »Pivlic ist außer Gefecht. Du musst das Ganze allein hinbekommen. Und jetzt flieg uns end lich hier raus!« »Das geht nicht so schnell«, antwortete Feder. »Ich muss erst den Nerv zum Abheben finden.« Das Glas eines der Bullaugen splitterte. Ein gesichtslo ser Kopf, der in weißes Leinen gehüllt war, wurde herein geschoben. Fonn trat dem Schweiger ins Gesicht und beförderte ihn damit wieder nach draußen. Erst im Nach hinein schien sie zu begreifen, was sie da gerade getan hatte. Mit Schrecken betrachtete sie ihren Fuß. »Heilige Mutter«, sagte sie. »Ich habe gerade einem heiligen Werk zeug in den Kopf getreten.« »Deine heilige Mutter scheint im Moment nicht zuzu hören«, sagte Jarad. »Aber …« »Aha!«, brüllte Feder. Auf einmal wackelte der ganze 391
Zeppelid wieder. Diesmal lag es aber nicht an den Angrei fern, sondern an den Düsentriebwerken, die am hinteren Ende des schnellen Zeppeliden montiert waren. Sie waren zum Leben erwacht, und alles, was nicht festge bunden war, flog durch den Raum. Fonn, Jarad, Kos und Biracazir versuchten mit unterschiedlichem Erfolg, nicht durch die Gegend geschleudert zu werden. Bitte nicht noch mehr Verletzte, dachte Kos. »Ihr solltet schauen, dass ihr etwas findet, woran ihr euch festhalten könnt«, rief Feder nach hinten. Kos sah sich in der Kabine um. Sie wurde durch eher teure kleine Glühsteine beleuchtet, die ein orangerotes Licht abwarfen und das Flackern eines Kaminfeuers imitierten. Die verstreuten Kisten trugen alle das Siegel der Orzhov-Bank. »Das wird ja immer besser«, sagte Kos. »Was hat Pivlic wirklich geplant, und seit wann plant er es schon? Das dürfte genug sein, um das Pivlichino gleich fünfmal neu aufbauen zu können.« »Was meinst du damit?«, fragte Fonn neugierig. »Die Kisten?« »Ich schätze, dass darin Pivlics gesamte Ersparnisse sind«, sagte Kos und sah zu dem bewusstlosen Bold hinab. »Wir hätten ihn fragen sollen, bevor er sich seine Beulen geholt hat.« »Kos«, sagte Borcas Geist. »Da kommen noch mehr. Ihr solltet die Eidechse hier langsam mal in die Gänge brin gen.« Kos gab den anderen kurz Bescheid, dass er nach vorn zum Engel gehen würde, um diesem behilflich sein zu 392
können. In Wirklichkeit wollte er so schnell wie möglich aus der Kabine heraus, um Fonns Blick nicht begegnen zu müssen. Die alte Schuld stand wie eine tiefe Schlucht, die ihn zu verschlingen drohte, zwischen ihnen. Zunichs Tod war wie eine frische Wunde. Zum ersten Mal, seit er aus der Krankenstation geflohen war, wichen seine Gedanken wieder von der Ermittlung ab. So wie die fliegende Echse derzeit ruckte und stotterte, war ein Besuch in der Kanzel wahrscheinlich auch das Beste, um die Gedanken aus der Vergangenheit zu reißen und wieder ganz fest in der schrecklichen Gegenwart zu verpflanzen. Der Zeppelid war zwar keine Maschine, aber eine der artige besondere Züchtung benötigte einen Piloten, der die Bestie kontrollierte, als wäre sie eine Maschine. Kos hatte nie einen eigenen Zeppeliden besessen, war aber schon in einigen mitgeflogen. Einmal hatte er versucht, selbst einen zu steuern, und dabei beinahe sich, den Fluglehrer und den Zeppeliden geröstet, weil er zu dicht an einem der weit in den Himmel ragenden Schlote vorbeigeflogen war. »Bist du überhaupt schon mal einen Zeppeliden geflo gen, Feder?«, fragte Kos. Er duckte sich unwillkürlich, weil der Engel gerade nur knapp einem hängenden Balkon auswich. »Ich bin schon aus eigener Kraft geflogen«, sagte der Engel. »Insofern verfüge ich über einiges an Flugerfah rung.« »Das hast du wohl Recht«, sagte Kos und machte es sich im Kopilotensitz bequem. Die Vorderseite der Kanzel 393
war offen, aber mit einem dünnen, goldenen Glanz umgeben, der auf magische Weise den Wind und theore tisch auch alle Objekte abblockte. Als Feder nun zweimal gegen das von Izzet entwickelte Armaturenbrett drückte und sich ihre Geschwindigkeit daraufhin spürbar erhöhte, klammerte Kos sich so fest an die Armlehnen, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Türme und Fenster huschten so schnell an ihnen vorbei, dass er noch nicht einmal sagen konnte, über welchem Teil der Stadt sie sich gerade befanden. Er hörte von hinten einen Schreckensschrei und einigen Tumult. Fonn hatte das Gleichgewicht verlo ren und war gegen Jarad gestoßen, der daraufhin auf Biracazir prallte, bis alle zusammen in einem Stapel Kisten landeten. Kos drehte sich wieder nach vorn und hakte die vier Lederriemen, die an den Ecken der Rücken lehne befestigt waren, ineinander. »Alles in Ordnung bei dir?«, fragte Feder. »Du bist etwas blass um die Nase und siehst so aus, als ob du gleich umkippen würdest.« »Mir geht es gut«, sagte Kos mit unruhiger Stimme. »Aber ich lege doch lieber den Sicherheitsgurt an.« »Und schließt deine Augen?« »Und schließe meine Augen. Du siehst, wie sehr ich deinen Flugkünsten vertraue, Feder.« »Du solltest lieber die Aussicht von hier genießen, Kos«, meldete sich Borcas Geist zu Wort, der irgendwo hinter ihm schwebte. Die Jacht hob und senkte sich unter den radikalen Lenkmanövern des Engels. »Manchmal hat es doch was Gutes, wenn man schon tot ist.« 394
»Halt die Klappe, Borca.« »Ich werde noch etwas beschleunigen. Oder ist die Be lastung schon jetzt zu hoch für dich, Leutnant?« »Nein, kümmere dich nicht …« »Klasse! Kos, das musst du sehen!« »Halt die Klappe, Borca!« Kos Magen und diverse andere innere Organe stießen schmerzhaft gegeneinander, als Feder die Nase des Zep peliden auf einmal stark nach unten drückte. Er fand, dass es wohl besser war, wenn sich der Engel auf die Hindernisse vor ihnen konzentrierte statt auf ihn, auch wenn ihn Feders Besorgnis schmeichelte. »Da war eine Wäscheleine. Tut mir Leid.« »Kos«, rief Borcas Geist und drehte seine Geistergestalt in der Luft so um die eigene Achse, dass sein durchsichti ges Gesicht kopfüber neben Kos hing. »Sturzflug!«
K
»Biracazir, aus! Er ist kein Fressen!«, sagte Fonn und stellte sich zwischen den Wolf mit dem goldenen Fell und den bewusstlosen Pivlic. Der Wolf setzte sich und blickte sie treuherzig an. Seine lange Zunge hing ihm weit aus dem Maul. Schließlich trottete er mit einem beleidigten Blick in Richtung Pilotenkanzel. Fonn konnte sich den ken, wie hungrig der Wolf war. Ihr Magen knurrte auch ziemlich. »Ich kenne da einen Halbdämon, der eine andere Mei nung vertreten würde«, sagte Jarad. »Nicht zu vergessen 395
eine Stadt voller Zombies.« Er beugte sich über Fonn und bemühte sich, dabei nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Warum hast du nichts darüber gesagt, dass der Loxodon überlebt hat?« »Ich wusste es doch selbst nicht. Ich habe es gleichzei tig mit dir erfahren«, sagte Fonn. Aber war das auch wirklich die Wahrheit? Sie hatte diese Stimme gehört, sie aber einfach ignoriert. Fonn verfluchte ihre Kurzsichtig keit und ihren Glaubensmangel. Das war in ihrem ganzen beruflichen und religiösen Leben schon immer das Pro blem gewesen, und die Schnittmenge zwischen beiden war ziemlich groß. Sie konnte an die Güte von einzelnen Individuen glauben wie zum Beispiel bei Bayul. Sie konn te sogar einem Gegner wie Jarad vertrauen, wenn ihre Logik ihr sagte, dass es Sinn ergab, aber in irgendwen oder irgendetwas blindes Vertrauen zu setzen war für jeden schwierig, der den Schmerz erlitten hatte, nicht nur eines, sondern beide Elternteile verloren zu haben. Sie fragte sich, ob sie noch die Gelegenheit haben wür de, mit Kos über ihren Vater zu reden, bevor sie sich alle als Geister wiedersahen. Der Zeppelid geriet wieder ins Schlingern. Er drehte sich zur Seite und dann zurück, senkte die Nase und ließ sich nach unten fallen, was alles in der Kabine nach oben fliegen ließ. Die Möbel, die Kisten, der Bold, der Wolf, der Devkarin und die Ledev – alle trafen sich an der Decke, bevor die Schwerkraft und ein plötzlicher Anstieg sie wieder auf den Boden fallen ließ. Fonn und Biracazir landeten auf ihren Füßen – sie auf zwei, er auf vier –, 396
während der Bold auf einem krummen Sofa landete, das nun diagonal in der Kabine stand. Jarad klammerte sich wie eine Spinne an der Seitenwand des Zeppeliden fest. Die Kisten krachten aufeinander, viele kippten dabei um, und eine platzte auf. »Was war das?«, rief Jarad in Richtung Kanzel. »Die Schweiger verfolgen den Zeppeliden«, antwortete Feder. »Ich versuche nur, ihnen auszuweichen.« Ein weißer Blitz flog an dem kaputten Bullauge vorbei – ein Schweiger, der so schnell flog, dass er ein pfeifen des Geräusch verursachte. Noch ein weiterer überholte sie und schließlich ein dritter. Die Kabine wurde mehr fach durchgeschüttelt, weil sich immer mehr Verfolger gegen den Zeppeliden warfen. Trotz allem, was gerade geschah, musste Fonn immer noch gegen den Urinstinkt ankämpfen, sich den Schweigern bedingungslos zu ergeben. Es war einfach zu tief in ihr verwurzelt. Fonn versuchte alles zu verdrängen. Momentan waren die Schweiger ihre Feinde. Als der Engel eine scharfe Linkskurve nahm, um einer korrodierten Bronzespitze auszuweichen, rollte der Inhalt der zerbrochenen Kiste über den Kabinenboden. Fonn fiel die Kinnlade herunter. »Sind das …?« Sie suchte nach Worten. »Ich glaube schon«, sagte Jarad. »Pivlic, du hinterhälti ger Bastard.« Wie Knöchelchen, die von einer verrückten Wahrsage rin geworfen worden waren, lagen ein halbes Dutzend Knallstäbe auf dem Boden. Die an den Stöcken befestig 397
ten Blasen mit Mana waren alle gefüllt und glühten orange. Der Anblick dieser Izzet-Waffen und eine weitere Serie von Einschlägen gegen das Heck des Zeppeliden ließen in Fonn eine gefährliche Idee aufkeimen. In Jarads Augen konnte sie sehen, dass er dasselbe dachte. Er blickte nach oben zum Dach der Kabine. »Ist das da oben eine Luke?«, fragte er. »Ich glaube schon«, sagte Fonn. »Wie gut ist dein Gleichgewicht? Nichts gegen dich, aber du hast vorhin eine ganz schöne Tracht Prügel bezogen.« »Um mein Gleichgewichtsgefühl könnte es nicht besser bestellt sein«, sagte Jarad. »Du weißt, dass wir in den Tod stürzen werden.« »Unsinn! Du hast das Selesnija-Konklave, das dich be schützt.« »Mach einfach die Luke auf, sagte Fonn. »Derzeit gibt es nur einen Selesnijaner, dessen Wohlergehen mir am Herzen liegt. Ich habe keine Ahnung, was im Namen der heiligen Mutter plötzlich in die anderen gefahren ist.«
K
»Kos, erinnerst du dich, dass ich vorhin die Schweiger erwähnt habe?«, sagte Borcas Geist. »Es könnte sein, dass du dich mal in der Kabine umschauen willst. Zwei deiner Passagiere fehlen nämlich.« »Was?«, flüsterte Kos. »Wie sind sie reingekommen?« »Sind sie nicht«, sagte der Geist. »Die beiden Passagiere sind oben raus.« 398
»Oben raus?« »War das für mich gemeint?«, fragte Feder verwirrt. »Nein«, sagte Kos. »Tut mir Leid, ich hatte nur gerade laut nachgedacht. Wenn ich mir Sachen durch den Kopf gehen lasse, hilft es mir irgendwie, wenn ich so tue, als ob Borca noch bei uns wäre.« »Aha, kapiert«, sagte der Engel. »Du meine Güte«, sagte der Geist, der sein Gesicht durch das Kanzeldach steckte. »Du wirst nicht glauben, was die beiden gefunden haben. Sag Feder, er soll den Zeppeliden so ruhig wie möglich fliegen.«
K
Der Knallstab war eine Goblinwaffe, die für ihre Reich weite, ihre Durchschlagskraft, ihre Vielseitigkeit und vor allem ihre hohen Anschaffungskosten bekannt war. Die Kolben mit dem konzentrierten Mana speisten Energie in die facettierte Kristallkammer, wo die Energie gebündelt und dann zu einem Feuerball von der Größe einer Mur mel komprimiert wurde. Der winzige Ball wurde dann durch einen Glühdraht des Zauberstabs geleitet – so ähnlich wie bei einem Pendrek der Wojeks – und hatte so viel Zerstörungskraft wie eine Goblin-Bombe. Fonn merkte schnell, dass es nicht einfach war, mit einem solchen Knallstab zu zielen. Es war auch nicht besonders hilfreich, dass die Waffe einen beträchtlichen Rückschlag hatte, die Ziele in unterschiedlicher Reichwei te schwebten und der Zeppelid, auf dessen Rücken sie 399
stand, durch Feders ungewöhnliche Flugmanöver hin und her geworfen wurde. Es war noch weniger förderlich, dass ihre ganze Seele schrie, dass das Töten eines Schweigers verwerflich sei. Aber die Schweiger hatten sie angegriffen und dabei Opfer im Pivlichino in Kauf ge nommen. Statt ihren Glauben ganz aufzugeben, redete Fonn sich ein, dass ihre fliegenden Verfolger die schwar zen Schafe unter den vielen Schweigern waren, die dem Konklave des Vitu Ghazi dienten. Das Bild der Schweiger, wie sie im Lokal hemmungslos getötet hatten, hatte sich ihr ins Gedächtnis gebrannt. Ihre Gedanken richteten sich auf Bayul, der in der Bundeshalle auf sie wartete. Diese Wesen versuchten, sie daran zu hindern, dass sie zu ihm gelangte. Nur mit diesen Gedanken konnte sie sich über winden, auf die Schweiger zu schießen. Schießen war die eine Sache, treffen die andere. Fonn betrachtete es schon als Teilerfolg, dass sie sich über haupt auf dem fliegenden Zeppeliden halten konnte. Ein kleiner Blitz leuchtete golden auf, und gleich drauf brannte sich eine ebenso kleine Flamme ihren Weg durch die Körper von drei blutbespritzten Schweigern, die hintereinander geflogen waren. Jarad hatte genau den richtigen Moment erwischt. Die drei Leichen prallten gegen die Schwanzflosse des Zeppeliden, der dadurch wieder einmal durchgeschüttelt wurde. »Du musst auf ihre Flugmuster achten«, brüllte Jarad Fonn durch den Fahrtwind hindurch zu. »Die versuchen nicht gerade, originell zu sein!« »In Ordnung«, rief sie zurück. Sie deutete auf den 400
Knallstab in seiner Hand. »Hast du eine Ahnung, wie viel Schuss diese Dinger haben?« »Nicht viele«, antwortete Jarad. Er drehte sich kurz, so dass sie sehen konnte, dass er sich zwei weitere Knallstä be auf den Rücken geschnallt hatte. »Deswegen haben wir ja auch Ersatz dabei.« Die Schweiger hinter ihnen flogen in einem dichten Schwarm. Es waren jetzt nur noch fünfzehn, die sich in fünf Dreiergruppen aufgeteilt hatten. Eigentlich würde schon einer genügen, um Fonn und Jarad in Stücke zu zerreißen. Fonn zielte auf ein Trio der weiß gekleideten Gestalten, das gerade auf die Schwanzflosse der Echse herabstieß. Sie rammte einen Fuß in die Flanke der Echse und den anderen gegen die offene Luke, um einen siche reren Stand zu bekommen, bat Mat’selesnija um Verzei hung, und drückte abermals ab. Die Bitte um Vergebung wäre nicht nötig gewesen. Das flammende Geschoss verfehlte alle drei Schweiger, traf aber stattdessen den Düsenantrieb auf der Steuerbordsei te. Der Düsenantrieb explodierte in einer großen Flam menwolke, die das erreichte, was ihrem Schuss nicht gelungen war: Die Flammen erfassten die nahende Meu te. Allerdings geriet auch der Zeppelid wieder schlimm ins Schlingern, weil der Engel auf dem Pilotensitz enorme Probleme hatte, den Ausfall des Antriebs auszugleichen. Jarad wurde vom Rücken der Echse geworfen und prallte gegen Fonn, was einen dritten Schuss aus Fonns Waffe auslöste, der aber harmlos in den Himmel ging. Der 401
Rückstoß schlug Fonn die Waffe aus der Hand, und der Knallstab verschwand in der Tiefe. Die beiden rollten in einem Knäuel aus Armen und Beinen gegen die Luke und wären sicherlich vom Zeppeliden hinuntergestürzt, wenn Jarad nicht mit einer Hand den Griff der Klappe hätte packen können. Es gelang Fonn, sich am Bein des Devka rin festzuhalten, aber sie musste machtlos mit ansehen, wie ihr durch den Schwung und den Fahrtwind die Knall stäbe von der Schulter gerissen wurden. »Ich hoffe doch, dass die Leute unten auf der Straße ab und zu mal nach oben schauen«, versuchte sie zu scher zen. Der Zeppelid rollte sich auf die Seite, und Fonn merkte, dass sie sich nicht mehr lange würde festhalten können. Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich an Jarads Fuß einzuhaken und die Beine anzuziehen, um einem vorstehenden Balkon auszuweichen, der plötzlich vor ihr aufgetaucht war. »Komm schon hoch, Ledev«, sagte Jarad, der sie mit einer Hand zurück aufs Kabinendach zog. In der anderen Hand hielt er einen Knallstab, und sobald Fonn in Sicher heit war, drückte er auf einen Schweiger ab, der sich genähert hatte. Er traf ihn am Kopf. Feder schaffte es, den Zeppeliden wieder unter Kon trolle zu bekommen, aber aufgrund des explodierten Düsenantriebs verloren sie viel an Geschwindigkeit. Die elf verbliebenen Schweiger kreisten sie ein, ohne ihre Taktik zu ändern. Jarad überprüfte den Mana-Kolben an seinem Knall stab, und warf diesen dann über Bord, weil er leer war. Er 402
griff nach den verbliebenen zwei Waffen, die er sich auf den Rücken geschnallt hatte, und gab eine davon an Fonn weiter. Die Ledev stützte sich auf ein Knie, um das Gleichgewicht besser halten zu können, und feuerte auf ein blutbespritztes Schweigertrio. Einer weniger. Jarads Schuss dagegen ging daneben. Fonn schoss nun auf die beiden, die gerade ihrem Schuss hatten ausweichen können. Ihre Zielfertigkeit wurde von ihrem Zorn unterstützt, der sie angesichts der blutigen Hände dieser Schweiger überkam, und diesmal traf sie auch beide. Immerhin haben wir sie alle aus dem Pivlichino gelockt, dachte sie. Vielleicht hat dadurch ja jemand im Lokal überlebt und konnte die Wojeks alar mieren. Es dauerte keine Minute, bis sie nur noch einen bis zur Hälfte geladenen Mana-Kolben zur Verfügung hatten. Acht Gegner waren übrig geblieben. Die weißen Gestalten folgten dem schwer beschädigten Zeppeliden, ohne einen Mucks von sich zu geben. Als Fonn gerade das nächste Trio aufs Korn nehmen wollte, hielt Jarad ihre Hand fest. »Warte. Es könnte sein, dass wir die letzten Schüsse noch brauchen. Ich habe nicht vor, mich vom SelesnijaKonklave gefangen nehmen zu lassen.« »Eigentlich könnten sie uns längst in Stücke gerissen haben. Warum halten sie sich zurück?«, fragte Fonn. »Ich glaube, die Lösung ist ganz einfach. Sie sind unse re Aufpasser.« Er betrachtete seinen rauchenden Knall stab und den leeren Mana-Kolben. »Wir können hier draußen nichts mehr ausrichten. Wir sollten schauen, 403
dass wir so schnell wie möglich wieder hineinkommen, bevor …« Einer der Schweiger hatte sich plötzlich von der Meute gelöst. Er flog auf Jarad zu und trat ihm mit dem Stiefel absatz gegen das Kinn. Der Elf wurde gegen die Flanke des Zeppeliden geworfen, konnte sich aber von der dicken, gummiartigen Haut abstoßen und drehte sich im Sprung. Er schwang seinen Knallstab wie einen Knüppel und erwischte den Schweiger im Rücken. Es knackte zweimal, als erst die Waffe und dann das Rückgrat des Angreifers brachen. Die weiße Gestalt krümmte sich um den Stab, rutschte nach unten, prallte gegen eine der Seitenflosse und fiel hinunter in Richtung Straße. »… bevor wir beide noch getötet werden«, beendete Jarad seinen Satz. »Gute Idee«, sagte Fonn, die sich ducken musste, um einen weiteren Angreifer abzuwehren, der sich allerdings auch keine allzu große Mühe gegeben hatte. »Dass sie offenbar bloß als Aufpasser fungieren, sollten wir auch den anderen erzählen.« »Was solltet ihr uns erzählen?«, rief Kos. Sein kahler Kopf war in der Luke erschienen. »Was treibt ihr über haupt so lange da draußen? Unsere Geschwindigkeit … Oh!« »Sie haben den Zeppeliden beschädigt«, sagte Jarad und zwinkerte Fonn unauffällig zu. »Sie hätten uns auch ganz erledigen können, aber genau das haben sie bisher ir gendwie vermieden.« »Darum werden wir uns kümmern, sobald wir in der 404
Bundeshalle angekommen sind«, sagte Kos. »Kommt wieder rein. Hier oben könnt ihr nicht viel ausrichten, und zumindest Fonn sollte versuchen, heil zu bleiben. Der Heilige will nicht mit uns anderen reden, er will sie. Und wenn diese Viecher uns zerreißen könnten, es aber … Hm, was machen sie denn jetzt?« Fonn folgte Kos’ Blick. Die sieben verbliebenen Schweiger hatten sich langsam zurückfallen lassen. »Wahrscheinlich wird es ihnen zu gefährlich, weil wir langsam in die Nähe der Bundeshalle kommen.« »Nein«, sagte Kos und zeigte nach unten auf etwas, was Fonn nicht sehen konnte, weil ihr der Zeppelid die Sicht nach unten versperrte. »Ich glaube, sie haben nur den Weg für die da freigeräumt.« »Oh-oh«, sagte Fonn, als nun zwei Käfer, die beide si cherlich so groß wie ihr Wolf waren, plötzlich über dem breiten, flachen Körper des Zeppeliden auftauchten. Ihre riesigen Mundwerkzeuge, die unter kleinen blassen Augen hervorragten, knackten im Gleichtakt mit ihren surrenden Flügeln. Auf jedem Käfer saß eine weibliche Devkarin in voller Jagdrüstung, beide mit einer übel aussehenden schwarz-silbernen Lanze im Anschlag. Jarad stand auf und blickte sie an. »Dainya«, rief er der Jägerin auf der rechten Seite zu, »was ist hier eigentlich los? Hat Savra den Verstand verloren?« »Jagdanführer«, rief die rothaarige Jägerin zurück. »Du bist als schuldig befunden worden, die Golgari und die heilige Matka verraten zu haben.« Sie veränderte ihren Griff an der Lanze und nickte ihrer Kampfgenossin zu. 405
»Ich hoffe, dass du einen sauberen Tod haben wirst, Jarad. Du würdest einen ziemlich lästigen Zombie abge ben.« »Oh, ich kann auch jetzt schon ganz schön lästig sein«, knurrte Jarad. Fonn hob den letzten Knallstab und zielte, überlegte es sich dann aber doch noch einmal anders. Sie war einfach keine so gute Schützin. Nahkampf oder berittener Kampf waren eher der Stil einer Ledev. Sie drückte Jarad die Waffe in die Hand. »Kannst du das hier gebrauchen?«, sagte sie. »Danke«, sagte Jarad und feuerte einen brennenden Schuss auf den Kopf des Insekts ab, auf dem Dainyas Kameradin ritt. Den Jägerinnen blieb keine Zeit, entspre chend zu reagieren. Der kleine Feuerball brannte sich durch den Chitinpanzer des Insekts, zerteilte das primiti ve Gehirn und trat dann am Hinterkörper wieder aus. Laut schreiend fiel die Jägerin mit ihrem Reittier vom Himmel, und Dainyas Augen weiteten sich vor Schrecken. Jarad hob die Waffe erneut und zielte direkt auf Dainyas Gesicht. »Flieg zu deiner Herrin zurück«, rief er. »Erzähl ihr meinetwegen, dass ich ein Verräter bin. Sag ihr, dass ich mich gegen sie gestellt habe. Erzähl ihr, was auch immer du willst. Aber beeil dich, der nächste Schuss gilt nämlich dir.« »Damit wirst du nicht durchkommen«, sagte Dainya. »Die Matka wird davon erfahren.« Sie gab ihrem Reittier die Sporen, ließ es wenden und zog sich wieder in Rich 406
tung Zentrum und des Baums der Einheit zurück. Die Schweiger schlossen sich ihr an. »War das eine Freundin von dir?«, fragte Kos. »Früher mal«, sagte Jarad. »Irgendwie verstehe ich nicht, warum die Schweiger ihr folgen.« »Das könnte ihr Benehmen erklären«, sagte Fonn. »El fen sind von Natur aus auf den Gesang des SelesnijaKonklaves eingestellt. Falls deine Matka eine Möglichkeit gefunden hat, sie zu kontrollieren – und sei es auch nur eine kleine Gruppe von ihnen –, könnte das diese Gewalt tätigkeit erklären. Ich muss wirklich dringend mit Bayul reden.« Ihr Herz stockte für einen Moment, als sie den Namen des Lebendigen Heiligen aussprach. Sie hätte wissen müssen, dass der alte Loxodon durchkommen würde. »Hoffentlich wird dein Schützling in der Lage sein, uns zu erzählen, um was es hier in Wirklichkeit geht«, sagte Kos zu Fonn und klammerte sich am Lukengriff fest, weil Feder den Zeppeliden gerade hart nach Steuerbord riss. »Aber jetzt macht, dass ihr reinkommt.« Fonn warf noch einen letzten schweifenden Blick auf den Schwarm der wahnsinnigen Schweiger, der hinter ihnen zwischen den Türmen verschwand. Sie sprach ein kurzes Gebet zur heiligen Mutter, jener, die offenbar nicht zuzuhören schien, und schloss dann die Luke hinter sich.
407
Kapitel 17
H
Diebstahl von Gildeneigentum ist verboten. Stadtverordnung von Ravnica
27. Zuun 9999 Z. C., kurz vor Mitternacht Nur wenige quälende Minuten später erreichte der Zeppe lid den Ostflügel der Wojek-Kaserne. Kos erkannte die vertrauten Turmspitzen des Zehnten Distrikts sofort und verdrehte den Kopf, um aus der Rückscheibe der Kanzel zu schauen. Im Nachthimmel hinter ihnen waren keiner lei Verfolger mehr zu sehen, nur ganz in der Ferne konn te er noch den Schweigerschwarm erkennen, der ins Zentrum der Stadt schwebte. Das riesige, in Bronze gegossene Symbol der Wojeks reflektierte das Licht der Leuchtmasten, die den Nacht himmel erleuchteten. Bis auf die Größe natürlich war es fast identisch mit dem Abzeichen, das Kos in seiner Tasche trug. Die Fackeln, Signallampen und Leuchtfeuer der Zehnten Bundeshalle warfen lange Schatten und ließen das Gebäude aus diesem Blickwinkel düster und unheildrohend erscheinen. Wenn man bedachte, vor was sie gerade geflohen waren, konnte Kos nur hoffen, dass 408
dieser Eindruck sich nicht bewahrheitete. In einer Welt, in der sich die Diener des Selesnija-Konklaves in eiskalte Mörder verwandeln konnten, war nun einmal alles mög lich. Er blickte in die Kabine, wo der Devkarin und die Le dev vergeblich versuchten, eine weitere Kiste aufzubre chen. Pivlic lag immer noch bewusstlos auf dem Sofa. »Wir sind im Landeanflug«, rief Kos nach hinten. »Glaube ich zumindest … Hoppla!« Der kleine Zeppelid legte sich in eine Rechtskurve. Die dicht aneinander gebauten Türme von Ravnica zogen an der Pilotenkanzel vorbei. Unter ihnen konnte Kos die Landeplattform erkennen, auf der seltsamerweise weder Luftjeks noch Rocs zu erkennen waren. Dafür sah er Dutzende Wachen aufgereiht, die meisten mit gespann ten Bogen. An einem normalen Tag hielten sich dort auch nachts immer mindestens ein halbes Dutzend Roc-Reiter auf, weil sie gerade ihre Reittiere wechselten, von einem Patrouillenflug zurückkehrten oder sich auf die nächtli chen Aufklärungsflüge vorbereiteten. »Wo sind denn alle?«, fragte Borcas Geist, aber Kos konnte nur die Achseln zucken. Mit vier dumpfen Schlägen landete ihre Transportech se auf ihren kurzen, plumpen Beinen auf der Landeplatt form. Das Unterschallsummen, mit dem die Kreatur ihre inneren Gasblasen entleerte, ließ die ganze Jacht vibrie ren. Feder schob den roten Schaltknüppel wieder in die Ausgangsposition. »Wir sind da«, verkündete er. 409
Kos öffnete seinen Sicherheitsgurt und sprang auf. Er eilte mit Feder auf den Fersen zurück in die Kabine, um einen Blick auf den Bold zu werfen. »Alles in Ordnung mit ihm?«, fragte er. »Scheint so«, sagte Fonn. Und als hätte er sie sprechen gehört, erwachte Pivlic just in diesem Moment wieder aus seiner Ohnmacht. »Es tut mir Leid, ich wusste nicht, dass wir angegriff… Aaah!« Kaum hatte der Bold die Augen aufgeschlagen, blickte er direkt auf das Maul eines Wolfs, der ihn mit einem Biss verschlingen konnte. Er fiel sofort wieder in Ohnmacht. »Ja, alles in Ordnung«, sagte Fonn. »Lasst ihn hier«, sagte Kos. »Selbst wenn die Schweiger zurückkommen, der Ort hier ist gut bewacht. Ich sehe da übrigens Phaskin kommen, um uns zu begrüßen. Wir sollten Pivlic den Gefallen tun und ihn aus allem heraus halten. Ich will gar nicht wissen, was die Patriarchen seiner Gilde mit ihm alles anstellen nach dem, was bisher alles geschehen ist. Und Feder hat die Nase von dem Ding hier ziemlich verschrammt. Weißt du, Feder, von allen Leuten hier solltest du doch am meisten über Luftver kehrsregeln wissen.« »Ich bin schon seit Jahren nicht mehr aus eigener Kraft geflogen«, verteidigte Feder sich. »Außerdem ist der Roc wie aus dem Nichts gekommen.« Kos drückte auf die Klinke. Die Kabinentür glitt zur Seite, und er sprang auf die Plattform hinaus. Ein kurz gewachsener Mann mit rotem Gesicht und der vertrauten 410
Uniform eines Wojek-Hauptmanns führte eine kleine Truppe von Konstablern an und einen Mann, der eine Uniform trug, wie Kos sie normalerweise trug. Phaskin, Stanslov und der Rest der Gruppe rannten so schnell sie konnten auf den Zeppeliden zu. Fonn und Feder folgten Biracazir aus der Kabinentür hinaus. Jarad hielt sich ein wenig zurück. Er verließ als Letzter den Zeppeliden und schloss die Tür hinter sich. »Phaskin«, sagte Kos. »Wir haben Helligans Falken nachricht erhalten und …« »Dafür ist jetzt keine Zeit, Kos«, sagte Phaskin und eilte an ihm vorbei direkt auf Fonn zu. »Wächterin, wir brau chen Sie dringend unten in der Nekro. Bitte folgen Sie mir.« Mit diesen Worten drehte er sich um und rannte den Weg zurück, den er eben erst gekommen war. Die Wojeks, die ihn begleiteten, drehten sich stoisch ebenfalls um und folgten ihm zu der offen stehenden Tür, die zum Treppenhaus führte. Kos merkte, wie Stanslov ihm einen Blick zuwarf, der Eisen zum Schmelzen hätte bringen können. Fonn drehte sich zu Kos um, dessen Mund immer noch offen stand. »Was ist ›Nekro‹?«, fragte sie. »Das ist die Kurzform für das ›Labor für angewandte Nekromagie und Alchimie‹«, sagte er und setzte sich in Trab, um Feder zu folgen, der Phaskin schon fast einge holt hatte. Fonn, Biracazir und Jarad liefen hinter ihnen her. »Hauptmann Phaskin«, rief Fonn. »Was ist los? Ist der heilige …« 411
»Der heilige Bayul lebt«, rief Phaskin über die Schulter zurück, bevor er die Treppen hinunterstürmte. Aber keiner weiß, wie lange noch!« Auf dem Weg zum Treppenhaus überholte Fonn alle anderen.
K
Luftkommandeurin Wenslauv und ihr Geschwader RocReiter hatten die Bundeshalle des Zehnten Distrikts verlassen, als die Nachricht aus der Inneren Festung gekommen war: Das Hauptquartier der Wojeks wurde angegriffen, und alle verfügbaren Wojeks hatten sich so schnell wie möglich dort zu melden, um bei der Verteidi gung zu helfen. Die ersten Berichte waren kaum zu glauben: Golgari-Missbildungen, eine bunte Ansammlung von seltsamen, aber intelligenten Kreaturen, die sonst kaum die Unterstadt von Alt-Ravnica verließen, hatten am Vorabend der Synode einen organisierten Schlag gegen das Hauptquartier des Bundes geführt. Selbst aus der großen Entfernung konnte Wenslauv die Angreifer aus machen, deren Silhouetten sich gegen den grauen Him mel abzeichneten. Alles bewegte sich durch die von Leuchtmasten erhellten Straßen in Richtung Stadtzen trum. Unter den Angreifern waren hunderte DevkarinJägerinnen und -Jäger. Sie bildeten die Kriegerkaste des Elfenclans der Golgari. Die hoch gewachsenen Elfen saßen breitbeinig auf riesigen Insekten, die über das Pflaster trampelten. Andere saßen auf übergroßen Fle 412
dermäusen und Käfern, die in dichter Formation um den Steintitanen, die Türme der Festung und die Gebäude, die das Zentrum umringten, herumflogen. Devkarin-Kleriker in Rüstungen aus Leder und Knochen befehligten ganze Schwadronen von Insekten, die so groß wie Dromads waren. Die Raubinsekten spuckten mit Gift nach den Wachen, die sich hinter den Brustwehren aufgestellt hatten. Die Rivalität zwischen den Devkarin und den Missbil dungen war legendär gewesen, weshalb ihre gemeinsame Kampfkraft nun umso furchteinflößender war. Die Kom mandeurin führte ihr Geschwader zwischen den kreuz und quer verlaufenden Schwebegängen zu der offenen Fläche, die das heiligste Gebiet der Stadt darstellte. Je näher sie kamen, desto schlimmer wurde es. Man musste nicht erwähnen, dass dieser Angriff die schamloseste Verletzung der heiligen Gesetze der Stadt seit Jahrhunderten war. Die Tatsache, dass er jetzt statt fand, konnte kein Zufall sein. Er verstieß gegen all das, wodurch die Gesellschaft von Ravnica in den letzten zehntausend Jahren zusammengehalten worden war. Ihn gerade heute auszuführen war ein Zeichen dafür, dass die Gorgo, die den Angriff leitete, ihn schon seit einiger Zeit geplant haben musste. Gegen diesen Angriff verblasste jeglicher Rakdos-Aufstand. Das Verhalten des Todeskultes war vorhersagbar, man erwartete von seinen Mitgliedern praktisch nichts anderes. Die Golgari mit all ihren Ge heimnissen und ihrer Nekromagie waren jedoch immer damit zufrieden gewesen, in der Unterstadt zu leben. 413
Keiner anderen Gilde war ein derartig großes Gebiet derart nahe an der Stadtmitte zugestanden worden. Wenn man das im Hinterkopf behielt, machte der Angriff noch weniger Sinn, dachte Wenslauv. Als das Geschwader der Luftkommandeurin am Roki ric-Platz ankam, hatte die Schlacht schon begonnen. Hätte die Notfallnachricht nicht schon davon berichtet, um wen es sich bei den Angreifern handelte, hätte Wens lauv ihren Augen nicht getraut. »Neb«, rief sie durch den pfeifenden Wind dem Falken zu, der sich auf ihrer Schulter festgekrallt hatte. »Flieg zum GK. Nachricht: Bericht von Luftkommandeurin Wenslauv. Wir sind angekommen und werden die An griffsziele nach bester Gelegenheit auswählen, bis wir neue Befehle erhalten. Ende der Nachricht.« Der Falke stieß sich ab und schwang sich in die Luft in Richtung der Türme der Inneren Festung. Auf ihrem Weg in die Stadtmitte hatte Wenslauv schon so viel Seltsames gesehen, dass sie langsam anfing, an ihrem Verstand zu zweifeln. Unter sich hatte sie überall Schweiger gesehen. Die stillen, gefügigen Diener des Selesnija-Konklaves huschten über den Köpfen der Bewohner Ravnicas hin und her. Da die Synode bei Morgengrauen stattfinden sollte, waren die Straßen jetzt schon mit Leuten voll, die aus der ganzen Welt angereist waren. Überall, wo sich ein Schweiger blicken ließ, ver stummte die Menge. Die Besucher strömten wie eine Flut auf die Stadtmitte zu. Der Strom umfloss die Schlacht um die Innere Festung und breitete sich zur Nordseite der 414
alten Bergspitze aus. Aus Wenslauvs Blickwinkel sah es aus, als wären die weiß gekleideten Gestalten Schafhirten, die eine widerspenstige Herde zähmten, wobei die Mit glieder der Herde tausend Unterherden in den Farben aller neun Gilden bildeten. Und alle strömten sie auf einen zentralen Ort zu: Vitu Ghazi. Das war alles schon seltsam genug gewesen, aber die Armee, die hier die Innere Festung angriff, stand dem in keiner Weise nach. Es schien, als ob jede einzelne Miss bildung aus der ganzen Unterstadt hervorgekrochen wäre. Riesige Hundertfüßer mit dicken Panzern krabbel ten über den Rokiric-Platz und krochen die Beine des Steintitanen empor. Schwärme von Harpyien nahmen die Wachen unter Beschuss, die sich auf den goldenen Turm spitzen der Inneren Festung und auf Kopf und Schultern des Titanen postiert hatten. Wenslauv gab den Roc-Reitern, die ihr von beiden Sei ten Deckung gaben, ein Zeichen, ihr Bestes zu geben, und drehte dann ab, um sich eigene Angriffsziele zu suchen. »Jetzt weiß ich, warum sie zehntausend Jahre mit die ser Synode gewartet haben«, murmelte sie. Sie brachte ihre Lanze in Stellung und begab sich in Angriffsposition, um die insektoiden Schrecken, die den Rokiric-Platz überfluteten, aufs Korn zu nehmen. Als sie sich mit ihrem Roc in die Tiefe stürzte, konnte sie sehen, dass die Miss bildungen und die Devkarin nicht allein waren. Wegen der vielen Leute, die umherwuselten, war es aus der Luft nicht sofort zu erkennen gewesen, dass aus den Abwas serkanälen hunderte von Todesgängern herausquollen, 415
um die Nachhut der Truppe zu bilden. Die hirnlosen Zombies waren an und für sich kein ernst zu nehmender Gegner, aber durch ihre reine Masse waren sie in der Lage, die Wachen innerhalb von Minuten zu überwinden. Falls die Missbildungen ihnen nicht zuvorkamen, dachte Wenslauv. Seltsamerweise griffen die Zombies nicht die glückselige Horde an, die sich in Richtung des Vitu Ghazi schob, sondern folgten den Streitkräften der Missbildun gen und der Devkarin. Wenslauv flog dicht über deren Köpfen hinweg und verteilte links und rechts ein paar Hiebe, um sich aufzuwärmen. Ihre Kameraden auf beiden Seiten hielten das Tempo mit und vollführten ähnliche Manöver. Wenslauv bezweifelte jedoch, dass ihre kleine Truppe das Blatt wenden konnte. Sie durchbrachen einen Schwarm Riesenkäfer, der sich daraufhin anschickte, sie zu verfolgen, und blieben auf niedriger Höhe, um einen Überblick über das Schlacht feld zu bekommen, zu dem der Rokiric-Platz innerhalb so kurzer Zeit geworden war. Dabei entdeckte Wenslauv auch, wer den ganzen Angriff anführte. Die in knochige Schuppen und moosartige Pilze gehüllte GorgonenGebieterin der Golgari saß inmitten des Chaos breitbeinig auf einem riesigen Waran. Ludmilla blitzte mit den Augen nach allen Seiten und versteinerte mit jedem Blick un schuldige Bürger und Wachen zu Statuen. Die Tatsache, dass die Gorgo den Angriff leitete, bedeu tete etwas, was es seit dem Gildenpakt nicht mehr gege ben hatte: einen offenen Konflikt zwischen den Gilden. Der Golgari-Schwarm hatte den Wojeks den Krieg erklärt, 416
und Wenslauv war sich nicht sicher, ob die Wojeks eine Chance haben würden. Sie würden bis zum bitteren Ende kämpfen, aber die ‘Jeks waren durch dauernde Überstun den und die seit Monaten alles bestimmende Vorberei tung auf die Zehntausendjahresfeier ausgelaugt. Sie überlegte sich, und das nicht zum ersten Mal, ob der Gildenpakt irgendwie mit einem Verfallsdatum verse hen worden war. Wohin sie auch blickte, überall wurde Ordnung vom Chaos abgelöst. Wenslauv hatte schon immer ein schlechtes Gefühl gehabt, was die Synode betraf. Und jetzt sah es so aus, als ob ihre Vorahnungen wahr werden würden. Sie hatte nur nicht erwartet, dass ihre schlimmsten Träume so wahr werden würden. Die Luftkommandeurin richtete ihre Fliegerbrille, gab ihrem Geschwader das Signal, in Kampfformation zu gehen, und stürzte sich in das Getümmel.
K
Im ganzen Labor war es mucksmäuschenstill, während Fonn mit dem noch nicht ganz toten Loxodon kommuni zierte, der auf einer Trage im Nekrolabor lag. Helligan, der bärtige Labormagier, stand dem zerschmetterten Körper des Selesnijanischen Botschafters und seiner Leibwächterin gegenüber. Er beobachtete die Ledev, als wäre sie eine faszinierende Laborprobe. In seinem Fall war das ein deutliches Anzeichen von Respekt. Feder verlagerte sein Gewicht etwas, da er husten musste, was Fonn leicht zusammenzucken ließ. Aber die 417
Halbelfin behielt ihre Position bei: eine Hand auf Biraca zirs Nacken und die andere auf dem hoffnungslos blut verschmierten Brustverband des Loxodon. Sie hatte die Augen geschlossen. Selbst Borcas Geist, der hinter Kos schwebte, hielt seine spektrale Klappe, wofür Kos ihm auch recht dankbar war. Außer diesem Zucken hatte sich die Ledev in der letz ten halben Stunde nicht bewegt. Kos beobachtete Stanslov, dessen Dachsaugen immer zwischen der Selesnijanerin und dem Devkarin hin- und herwanderten, als wäre er noch unsicher, wen von bei den er zuerst verhaften sollte. Kos hätte gern mit dem Wojek geredet, um herauszufinden, was dieser bereits ermittelt hatte, aber der Hauptbearbeiter des Falles, dessentwegen Kos sein Abzeichen hatte ablegen müssen, schien seinerseits kein Interesse zu haben, mit Kos zu sprechen. Was nicht überraschend kam. Kos konnte sich gut vorstellen, wie Phaskin dem anderen Leutnant brüh warm erzählt hatte, was Kos von diesem hielt. Es kam nun einmal nicht selten vor, dass Kos erst zu spät merkte, dass er lieber den Mund hätte halten sollen. Phaskin dagegen war zu Kos’ großer Überraschung viel entgegenkommender. Er hatte Kos sogar erzählt, dass die Suspendierung unter Berücksichtigung aller Umstände wieder aufgehoben worden sei. Die Nachricht vom An griff auf die Innere Festung war nur wenige Minuten, bevor Kos und sein Trupp gelandet waren, von einem Falken überbracht worden. Kos vermutete, dass bei alldem, was geschehen war, seit er aus dem Krankenhaus 418
geflohen war, ein Angriff einer Golgari-Armee auf das Hauptquartier des Bundes nicht besonders aus der Reihe fiel. Größere Sorge bereitete ihm, dass alle Gebete und Anrufungen der Engel der Boros-Legion unbeantwortet geblieben waren. Eine Armee marschierte auf die Stadt mitte zu. Laut Gesetz war jede Gilde verpflichtet, mit aller Kraft dazu beizutragen, dass solche Angreifer aufgehalten wurden. Aber alles wirkte vielmehr so, als ob alle Gilden in der ganzen Stadt vom Zauber der Schweiger eingelullt worden waren – außer den Wojeks. Und die Wojeks kämpften um ihr Leben. Ginge es nicht um Fonn und ihren dringenden Auftrag, hätte Kos Seite an Seite mit seinen Kameraden gekämpft, aber sein sechster Sinn sagte ihm, dass der Loxodon der Schlüssel dazu sein konnte, um Licht in die verworrene Angelegenheit zu bekommen. Auf dem Weg in die Krankenstation hatte Phaskin Hel ligans Bericht zusammengefasst. Das Mädchen Luda war einem Messerstich wie aus dem Bilderbuch zum Opfer gefallen. Das Messer war eingeführt worden, das Blut war geflossen, der Tod war relativ schnell eingetreten. Der heilige Bayul dagegen war zwar äußerst schwer verletzt worden, danach aber in eine Art Trance oder Winter schlaf gefallen – offenbar eine selesnijanische Besonder heit, die wie ein Tod wirkte, stattdessen aber den Körper vor weiterem Schaden beschützte. Als Helligan versucht hatte, den grünen Edelstein zu entfernen, der mitten auf der Stirn des Loxodon eingesetzt war, hatte Bayul gespro chen, nach Fonn verlangt und mitgeteilt, dass sie im 419
Moment in Begleitung eines Wojeks namens Agrus Kos sei. Unnötig zu erwähnen, dass der Labormagier den Wojek sofort verständigt hatte. Phaskin hatte ein weiteres interessantes Detail zu be richten gehabt. Von Borca und dem Goblin war nicht viel übrig geblieben, und die Labormagier hatten fast einen ganzen Tag dazu gebraucht, alles auseinander zu sortie ren. Borcas Überreste seien irgendwie seltsam gewesen, hatte Phaskin gesagt und Kos empfohlen, Helligan später noch einmal genauer danach zu fragen. Was dazu geführt hatte, dass sich Borcas Geist fast so sehr wie Fonn beeilt hatte, ins Labor zu kommen. Das Rückgrat der Ledev zuckte plötzlich wie eine Peit sche nach hinten. Diesmal fuhren auch alle anderen im Raum zusammen. Jarad, der die ganze Zeit still in einer Ecke gestanden und zugeschaut hatte, reagierte als Erster und legte dem Mädchen eine Hand auf die Schulter, aber Fonn wand sich und schüttelte sie ab. Sie stand immer noch gebückt zwischen dem Wolf und dem sterbenden Loxodon und hatte ihre Hände auf beiden liegen, aber ihr Gesicht und ihre Augen waren starr auf den Vitu Ghazi ausgerichtet, wie Kos plötzlich merkte. Zwischen ihr und der Stadtmitte befanden sich einige Mauern und viele hohe Gebäude, aber in ihren Augen glühte eine Art grü ner Energie. Niemand außer Fonn rührte sich. Sie hob die Hand von der Brust des Loxodon und legte sie auf seine Stirn. Sie berührte den Edelstein und begann mit einer Stimme zu sprechen, die nicht ihre eigene war. Der Klang hatte seine 420
eigenen, musikalisch klingenden Echos. Es war eher ein Chor von Stimmen als eine einzelne. Und es klang schö ner als alles, was Kos je in seinem ganzen Leben gehört hatte. Der Klang füllte das ganze Labor aus und schien aus allem herauszukommen, von dem Gestell mit den Schubladen, das als provisorische Kühlkammer diente und immer noch Ludas Leiche beherbergte, bis zu den Glaswänden auf der gegenüberliegenden Seite, durch die man sehen konnte, was im Vorraum geschah. »Vitu Ghazi. Synode. Stoppt sie. Es ist ein Fehler.« Fonns Kinnlade hing nach unten, ihr Mund stand weit offen. Um ihre Lippen bildete sich etwas Schaum. Falls das so weiterging, würde Kos einschreiten. Was auch immer gerade geschah, es schien der Ledev nicht gut zu tun. »Sie wissen es nicht. Sie können es nicht länger sehen«, fuhr der Chor aus Fonns Mund fort. Immer noch rührte sich niemand. »Sie darf nicht Botschafterin werden. Haltet die Priesterin auf. Beschützt den Stein.« Als das letzte Wort ausgeklungen war, verschwand der Chor gleichzeitig mit dem grünen Leuchten in Fonns Augen. Die Ledev brach auf der Stelle zusammen. Helli gan eilte zu dem Loxodon, während Kos, Jarad und Feder fast zusammenstießen, als sie sich zu Fonn hinunterbeug ten. Der Engel half der Ledev, sich so weit aufzusetzen, dass sie sich gegen Biracazir lehnen konnte. Der Wolf saß ruhig neben ihr und schleckte ihr besorgt über den Kopf. »Fonn? Alles klar?«, sagte Kos und bewegte vor ihren 421
starrenden Augen die Hand hin und her. Die Ledev blin zelte und schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht war von stillen Tränen nass, die weiterhin flössen. »Habt ihr es gehört?«, flüsterte sie mühsam. »Habt ihr ihn gehört?« »Wir haben etwas gehört«, bestätigte Kos. »War das Bayul?« »Ja, das war er«, sagte sie traurig. »Er hatte so lange ge wartet, dass ich endlich zu ihm komme … Er hat seine letzte Kraft verbraucht, um mit mir zu sprechen.« »Er hat uns verlassen«, meldete sich Helligan zu Wort. Die langen grauen Ärmel des Labormagiers schleiften über den Elefantenkörper, während er mit einem Lebens erkennungsstab den zerschmetterten Körper gründlich absuchte. Er hielt den Stab ins Licht. »Diesmal bin ich mir dessen sicher.« »Warst du dir das letzte Mal etwa nicht sicher?«, fragte Borcas Geist. Kos übersetzte die Frage, weil auch er es wissen wollte. »Eigentlich schon«, sagte der Labormagier. »Aber schaut ihn euch an … Bei einem solchen Zustand konnte doch wirklich niemand erwarten …« »Er hat aber noch gelebt«, sagte Fonn, die in ein unkon trolliertes Schluchzen ausgebrochen war. »Er hat noch gelebt und auf mich gewartet. Und ich …« Sie schüttelte Feders Hand ab und sprang auf die Beine, wobei sie beina he Biraeazir umwarf. »Ich habe versagt!« Ihr Gesichtsaus druck wurde verbittert. Sie wandte sich an Helligan. »Und Sie auch!« Jegliche Spur von Trauer in ihrer Stimme war 422
verschwunden und durch Zorn ersetzt worden. »Er ist ein Loxodon. Wie kann man vergessen zu überprüfen, ob er einen Tiefstschlaf hält? Sie können, wenn sie müssen, jahrelang so schlafen!« Kos legte Fonn eine Hand auf die Schulter. »Fonn, es ist vorbei«, sagte er so sanft, wie ihm das möglich war. »Hast du verstanden, was Bayul sagen wollte? Was sollen wir aufhalten?« Fonn sackte in sich zusammen und hob die Hände, um anzuzeigen, dass sie Helligan nicht an die Gurgel gehen wollte. »Tut mir Leid«, entschuldigte sie sich beim Labor magier. »Ich bin nicht auf Sie zornig. Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte es fühlen müssen. Aber er war so sehr damit beschäftigt, sich an seinem Leben festzuhalten, dass er mich nicht rufen konnte.« Sie streckte sich und wandte sich an Kos. »Es geht um das Selesnija-Konklave. Sie … sie berufen während der Synode ein neues Mitglied in das heilige Kollektiv. Er denkt, dass es … dachte, dass es ein Fehler ist.« »Das haben wir ja alle mitbekommen«, sagte Borcas Geist. »Und was war jetzt an meinen Überresten so selt sam?« »Also müssen wir das aufhalten«, sagte Kos. »Aber wer ist das neue Mitglied? Warum ist …« »Es ist Savra«, sagte Jarad. »Das ist also ihr Plan: Sie tritt dem Selesnija-Konklave bei.« »Wie soll das gehen?«, sagte Kos. »Sie ist eine Devkarin. Ohne dich beleidigen zu wollen, aber dein Volk bietet nicht gerade die Eigenschaften, die das Konklave sucht.« 423
Fonn öffnete die Faust, in der sie den Stein umklam mert hielt, der in der Stirn des Loxodon gesessen hatte. »Nein. Aber dieser Stein hier könnte das Problem behe ben.« »Was ist damit?«, fragte Kos. »Es ist eigentlich nur ein einfacher Talisman«, sagte Fonn. »Der größte Teil des Kollektivs sind Dryaden. Aber auch einige Nicht-Dryaden wie Bayul sind Teil des Lieds. Dieser Stein macht es möglich. Er gibt nur drei von ihnen. Die anderen beiden sind keine herumwandernden Bot schafter wie der Heilige.« »Und warum stehen die Schweiger jetzt unter ihrem Kommando?«, fragte Jarad. »Das weiß ich nicht genau«, musste Fonn zugeben. »Wie hast du den Stein da herausbekommen?«, fragte Helligan. »Ich habe das schon seit Tagen versucht.« »Der Stein war zeit seines Lebens an ihn gebunden«, sagte Fonn traurig. »Er hat ihn in meine Obhut gegeben.« »Wollte er möglicherweise, dass du ihn verwendest?«, fragte Feder. Fonn drehte den grünen Stein mit den Fingern hin und her und hielt ihn ins Licht. »Ich weiß es nicht genau«, sagte sie. »Aber es fühlt sich nicht richtig an.« »Du behauptest also«, sagte Phaskin, »dass der Stein die einzige Möglichkeit für die Priesterin ist, um ihren ver rückten Plan durchzuführen, was auch immer er zum Ziel hat? Und wenn wir ihr diesen Stein geben, wird sie dann ihre Gorgonen und Harpyien und Käfer und die Götter wissen was sonst noch zurückpfeifen?« 424
»Genau das wollte ich sagen«, antwortete Fonn. »Ich wollte das nur noch einmal bestätigt haben«, sagte Phaskin, bevor er sich in eine zuckende Masse aus wim melnden blauen Würmern auflöste und Leutnant Stans lov mit Haut und Haar verschlang. Der Wojek hatte noch nicht einmal Zeit zum Schreien.
K
Helligan hatte Zeit zum Schreien. Dann schrie Fonn. Feder schrie. Borcas Geist schrie. Kos schrie. Biracazir knurrte. Phaskins Wurmkörper war inzwischen, nach dem er Stanslov verzehrt hatte, auf die doppelte Größe angewachsen. Es bildeten sich Madententakel aus, die wild um sich schlugen. Einer erwischte einen Tisch mit Bechergläsern, der sofort scheppernd umkippte. Die Becher fielen zu Boden und zerbrachen. Sofort vermisch ten sich die alchimistischen Flüssigkeiten. »Jarad, es ist wieder das Ding«, rief Fonn. »Ihr habt das schon einmal gesehen?« Kos war er staunt. »Was ist mit ihm passiert? Was ist mit Phaskin und Stanslov geschehen?« »Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, sagte Jarad. »Aber ich«, dröhnte Feder. Er bewegte sich viel schnel ler, als Kos es von ihm gewohnt war, und zog sein Kurz schwert, das er weit ausgestreckt vor sich hielt. Die Augen des Engels blitzten, und das Schwert entzündete sich mit magischem Feuer. »Wusstest du, dass er dazu in der Lage ist?«, fragte Bor 425
cas Geist. Kos konnte nur verdutzt den Kopf schütteln. Das Wesen, dass Phaskin imitiert hatte, streckte sich und dehnte sich weiter aus. Die Gestalt verformte sich wie nasser Ton in etwas Unförmiges, das Kos nur allzu bekannt vorkam. Die Würmer, die den Körper bildeten, drückten sich aneinander und verschmolzen zu einem wachsartigen Überzug, verblassten dann in ein Grau und nahmen die Struktur einer warzigen Haut an. Wo vor weniger als einer Minute noch Phaskin gestanden hatte, sahen sie sich jetzt dem Ebenbild von Nyausz gegenüber, dem Oger, den Kos und Borca vor dem Bombenanschlag befragt hatten. Es war noch keine Woche her, aber es kam Kos wie Jahre vor. »Kos hätte in Bett bleiben sollen«, polterte der falsche Oger. »Und Lupul hätte seine Menschengestalt beibehalten sollen«, sagte Feder. Kos war sich nicht sicher, wie der Engel das geschafft hatte, aber er stand jetzt plötzlich hinter dem Wurmwesen. Der Engel schwang sein Flam menschwert durch den Körper des Gestaltwandlers und tat dann etwas, was Kos auch noch nie bei ihm gesehen hatte: Er sprach einen Zauberspruch. »Henar, talrandav, krozokin«, sagte der Engel. Die Klin ge, die in der Brust des falschen Ogers steckte, flammte hell auf. Der Blitz brannte nur kurz, aber so intensiv, dass Kos wegen der Hitze die Augen bedecken und sich ab wenden musste. Als er sich wieder zurückdrehte, stand Feder vor einem Haufen schwarzer Asche, Ruß und glühenden Kohlen. 426
Die Schwertklinge war verschwunden, der Feuerball hatte sie verzehrt. Der ausgestreckte Arm des Engels sah äu ßerst rot und schmerzhaft verbrannt aus, und das Gesicht des Engels war rußbeschmutzt. Immer noch regnete es Asche. Alle schienen den Atem angehalten zu haben und lie ßen nun fast gleichzeitig die Luft aus der Lunge strömen. Helligan stürzte sich sofort auf die Asche und füllte Pro ben davon in seine Testgläser. Jarad warf dem Engel einen vorsichtigen Blick zu, während Fonn abwehrend neben Biracazir stand, der schnüffelte und die wölfische Entsprechung eines Grinsens zeigte. »Sag mal, Feder«, meinte Kos. »Wie lange hast du die sen Trick schon drauf?« »Schon eine ganze Weile«, gab Feder bereitwillig zu. Er drehte sich zu Fonn. »Du hast diese Kreatur also schon einmal gesehen?« »Ja«, sagte Jarad an ihrer Stelle. »Es hat uns – genauer gesagt: Jarad – angegriffen, als wir in Alt-Ravnica unterwegs waren«, erklärte Fonn. »Jarad konnte es verjagen. Wie hast du es gerade eben genannt?« »Diese Kreatur heißt Lupul«, sagte der Engel. »Das kommt aus der alten Sprache Ravi, die in vergangenen Zeiten hier gesprochen wurde, und steht für ›Laurer‹. Es ist ein Gestaltwandler und dient bösen Wesen, die sich nicht an die Oberfläche trauen, als Spion. Die Anwesen heit von Lupul hier dürfte zudem bedeuten, dass wir von mehr als nur den Golgari beobachtet werden.« 427
»Und was wollte das Ding hier?«, fragte Kos. »Und wel che bösen Wesen? Und warum muss ich erst hundert zehn Jahre alt werden, um das alles herauszufinden, Feder?« »Ich wusste nicht, dass es noch existiert«, sagte Feder. »Wir dachten, dass die letzte Kolonie vor tausenden von Jahren zerstört worden ist, und der … ihr Gebieter einge sperrt.« »Aber wie hat es Phaskin … Warte mal. ›Gebieter ein gesperrt‹? Was soll das heißen?« Kos wollte noch mehr fragen, aber Lärm und Rufe lenkten die Aufmerksamkeit aller nach draußen. Irgendjemand griff die Bundeshalle an, und man brauchte kein Engel zu sein, um zu erraten, wer die Angreifer waren. Ein Schweiger krachte mit dem Kopf voran durch die Glasscheibe und warf sich gegen Feder. Die beiden flogen gegen einen Wandschrank voller Gläser, in denen die wunderlichsten Sachen eingelegt waren. Alles krachte auf den Boden, und der Geruch nach Formaldehyd und Konservierungsmitteln durchzog das Labor. Der Krach hatte alle aus ihrem Schockzustand ge weckt. Kos schnappte sich Phaskins silbernen Stab vom Boden – der war zumindest echt. Der Schweiger, dessen ehemals blütenrein weißes Gewand nun von den Glas scherben zerschnitten war und sich mit Blut tränkte, duckte sich, um akrobatisch über Kos hinwegzuspringen. Er hätte das auch geschafft, wenn Feder kürzere Arme gehabt hätte. Der Engel erwischte einen Knöchel des selesnijanischen Dieners mit der Hand und hielt ihn fest. 428
Der eigene Schwung ließ den Schweiger auf den Boden stürzen. Er keilte nach hinten aus und traf Feder so hart am Knie, dass dieser zur Seite fiel und dabei mit dem knurrenden Wolf zusammenstieß. Kos wollte mit dem Pendrek zuschlagen, bevor die weiß gekleidete Gestalt wieder aufstehen konnte, aber der Schweiger war einfach zu schnell. Seine Faust traf Kos’ Unterarm und schlug ihm den Knüppel aus der Hand. Kos griff nun nach seinem Kurzschwert und hatte es auch schon halb aus der Scheide, als ein Tritt des Schweigers ihm den Boden unter den Füßen wegzog. Während Kos zu Boden ging, spürte er noch ein Knie, das ihm in die Magengrube gerammt wurde. Er musste wür gen. Bei Fonn hatte es etwas länger gedauert, bis sie reagie ren konnte, da sie immer noch von der Begegnung mit Bayul benommen war. Sie zog ihr Langschwert und drehte sich in Richtung des Schweigers. Weiter kam sie nicht. Der Schweiger sprang ihr entgegen, drehte sich in der Luft und trat ihr gegen den Arm. Sie taumelte nach hinten gegen ein Regal voller Glaskolben. Die Glassplitter flogen durch den halben Raum, auch Fonns Handrücken erlitt Schnittwunden. Das Schwert bohrte sich in die Wand über dem Regal. Fonn hatte sich die ganze Zeit daran festgeklammert und zog sich jetzt daran in die Luft, um selber zu einem Scherenschlag auszuholen. Der Schweiger schien dies jedoch geahnt zu haben. Er packte sie am Knöchel und schleuderte sie quer durch den Raum. Sie landete auf dem immer noch keuchenden Kos. 429
Jarad versuchte, den Schweiger auf dessen ungedeckter Seite anzugreifen, aber anscheinend hatte das gesichtslo se Wesen keine ungedeckte Seite. Es rammte seinen Ellenbogen in den überraschten Devkarin, ohne sich nach ihm umzudrehen, um ihm dann mit der Rückhand noch ins Gesicht zu schlagen. Jarad wurde gegen einen Metall pfosten geworfen, dass es nur so schepperte. Der Devka rin sank reglos zu Boden. »Es könnte schlimmer sein. Wenigstens ist es nur ei ner«, sagte Borcas Geist. Dann rief er: »Kos, aufgepasst!« Kos griff verzweifelt nach dem fallen gelassenen Pen drek, als der Schweiger sich umdrehte und wieder auf ihn zuschwebte. Der Wojek schaffte es gerade noch, den magischen Teil des Knüppels einzuschalten, bevor die blutbespritzte Gestalt ihn erreichte. Er zielte mit dem Pendrek wie mit einer Armbrust und brüllte das Kom mandowort, das die Energie der Waffe in einem einzel nen, tödlichen Schuss freilassen würde. »Vrazi!« Nichts geschah. Der Schweiger riss ihm die Waffe aus der Hand, und Kos konnte erkennen, warum nichts geschehen war – der Ersatz-Phaskin hatte die Batterie entfernt. Kos, du alter Dummkopf, immer als Erstes die eigenen Waffen überprüfen, dachte er. Der Schweiger warf den Knüppel über die Schulter nach hinten und traf Feder damit direkt auf der Stirn. Der Engel war gerade wieder auf die Beine gekommen, aber der Treffer warf ihn wieder zurück. Kos sah, wie der Schweiger mit seinem Stiefel aushol te, um ihm den Todesstoß zu geben, und hob in einem 430
lahmen Abwehrversuch die Hand. Eine strahlend helle rote Energiekugel schoss von der Wand hinter dem toten Loxodon herbei und erwischte den Schweiger im Rücken. Der Feuerball umhüllte die Gestalt, die sofort in Flammen stand. Die Energie entzün dete das Gewand des Schweigers, und Kos musste schnell wegkrabbeln, um nicht auch Opfer der Flammen zu werden. Der Schweiger, dessen trittbereiter Fuß noch bizarr vom Körper abstand, brannte noch ein paar Se kunden und kippte dann hintüber. Das magische Feuer flackerte noch kurz und verlosch dann. »Feder?«, brachte Kos mühsam heraus und blinzelte durch das Blut, das wegen der vielen Schnittwunden über sein Gesicht lief. Er rappelte sich auf die Knie und suchte den Engel. Der stechende Geruch nach verkohltem Schweiger stieg ihm in die Nase. »Warst du das?« »Nein, das war ich«, sagte Pivlic. Es schepperte, und die Abdeckung eines Lüftungsschachts fiel von der Wand zu Boden. Der Bold kletterte aus dem Rohr und hüpfte leichtfüßig herunter. Er hielt einen Knallstab in der Hand, der doppelt so groß war die diejenigen, die Fonn und Jarad verwendet hatten. Die vier Mana-Kolben leuchteten in einem grellen Orange. Er watschelte neben den toten Loxodon und begutachtete die Situation. »Wie kommst du denn hierher?«, sagte Kos erstaunt. »Nichts zu danken«, sagte Pivlic. »Hast du eine Idee, wie lange es dauert, um mit Flügeln durch so einen Luft schacht zu kommen, mein Freund?« »Kos«, sagte Feder. »Das hier solltest du dir mal anse 431
hen.« Der Engel deutete auf den getöteten Schweiger, dessen Leinenüberzug komplett verbrannt war, sodass man den Kopf und die Schultern sehen konnte. Das Haar war weggeschmolzen, und die Augen waren verschwun den, aber Kos konnte das Gesicht trotzdem erkennen. Es gehörte zu einem Kaufmann, der ein paar Tage zuvor nach seiner toten Frau gesucht hatte. »Leute«, sagte Kos. »Ich glaube, mit den Schweigern ist etwas sehr Seltsames passiert.« »Kos, du weißt noch nicht mal die Hälfte«, sagte Borcas Geist. »Pass auf!« »Was ist?«, fragte Kos. Er drehte sich gerade noch rechtzeitig zu dem zertrümmerten Fenster um und sah dort zwei weitere Schweiger hereinschweben. Sie hatten den Kampflärm in den Gängen und den Krach im Labor genutzt, um sich unbemerkt zu nähern. Die Schweiger bedrängten Fonn von beiden Seiten, packten sie an den Ellenbogen und schleppten sie durch die Tür auf der anderen Seite des Raums, bevor irgendjemand außer Kos und Borca sie überhaupt kommen gesehen hatte. Fonn schrie auf und trat um sich, hatte aber keine Chance, während sie und ihre Entführer durch die Gänge ver schwanden. Biracazir folgte ihnen mit einem wütenden Wolfsge heul. Kos, Feder und Jarad wechselten einen erstaunten Blick, rannten dann aber auch hinterher. »Kümmre dich darum, dass die Beweismittel nicht ver derben«, rief Kos über die Schulter Helligan zu. »Wir sind gleich wieder da – hoffe ich zumindest!« 432
K
Ludmilla saß im Sattel ihrer Reitechse und überwachte die Zerstörung. Die dummen Wojeks hatten sich die ganze Zeit darauf verlassen, dass die bloße Anwesenheit des Steintitanen des Zehnten Distrikts alle Angriffe verei teln würde. Aber die Gorgo wusste, dass sich der Riese schon mehrere tausend Jahre lang nicht bewegt hatte. Über die Jahre hinweg waren die Innere Festung und die Gebäude in der unmittelbaren Umgebung des alles über ragenden Granitkriegers immer größer geworden. Jetzt würde es sich rächen, dass der Bund der Wojeks so wenig Vorsorge getroffen hatte. Apropos Vorsorge: Ein Luftjek hatte exakt diesen Moment gewählt, um die Gorgo aus der Luft anzugreifen. Ludmilla öffnete einfach die Augen und starrte ihn an. Die Reiterin hob zwar den Arm vor die Augen, um sich zu schützen, aber ihr Roc hatte nicht diese Möglichkeit. In wenigen Sekunden verwandelte sich der Vogel in Stein und krachte mit Donnerhall auf die roten Pflastersteine des Rokiric-Platzes. Der Körper der wagemutigen Reiterin lag bis zur Unkenntlichkeit zer quetscht unter den zerplatzen Steinen. Selbst ihre eigenen Krieger vermieden es, in ihre Nähe zu kommen, aber die Wojeks wurden anscheinend im mer verzweifelter. Sie zügelte ihr Reittier und rief drei Devkarin-Jäger zu sich. Sie hatte eine Sonderaufgabe für sie. »Trassz, Zssurno, Varl«, zischte sie. »Ihr nehmt eine Phalanxsss von Tunnelgräbern. Zssieht sssie von den 433
Mauern ab und lassst sssie unter dem Titanen graben.« Trasz nickte und lächelte, wobei er automatisch die Augen niederschlug, um einen zufälligen Blick in das unmaskierte Gesicht der Gorgo zu vermeiden. »Er wird einfache Beute für uns sein, Kommandantin«, sagte er mit einem Grinsen auf dem Gesicht.
434
Kapitel 18
H
Es ist strengstem verboten, sich unbefugt als Wojek-Polizist auszugeben. Stadtverordnung von Ravnica
28. Zuun 9999 Z. C., kurz vor Morgendämmerung Kos und seine Gruppe brauchten eine halbe Stunde, um sich ihren Weg durch die Bundeshalle nach draußen freizukämpfen, wo Pivlics ramponierter Zeppelid auf sie wartete. Überall im Gebäude befanden sich Schweiger und griffen jeden Wojek an, der sich rührte. Falls es tatsächlich Schweiger waren – nachdem er Wenvel Kolkins verbranntes Gesicht unter dem Leinentuch gese hen hatte, waren Kos große Zweifel gekommen. Die beiden, die Fonn verschleppt hatten, waren nirgends zu sehen. Zuerst hatte es keine organisierte Verteidigung gege ben. Inzwischen hatten sich mehrere Wojeks neu grup piert und Tische umgekippt, um sich dahinter zu ver schanzen. Zu dem Zeitpunkt, zu dem Kos, Pivlic und die anderen es bis zu der großen Doppeltür geschafft hatten, hatte es bereits erste koordinierte Gegenangriffe gegeben. 435
Kos wäre am liebsten hier geblieben, um die Wojeks bei der Verteidigung zu unterstützen. Als sie auf Biracazirs Fersen in den nur schwach erhellten frühen Morgen traten, sahen sie Fonn in der Ferne über ihnen. Ihre Entführer schleppten sie auf direktem Weg in die Stadt mitte zum Vitu Ghazi, wie Kos annahm. Er war immer noch nicht ganz in der Lage, alles zu glauben, was hier geschah. Wie lange war Phaskin bereits eine von diesen Lupul-Kreaturen gewesen? War er der Einzige? Konnte er überhaupt denen trauen, die um ihn herum waren? Davon musste er im Moment ausgehen. Falls sich in seiner Gruppe ein Hochstapler befand, hätte dieser mittlerweile bestimmt seine wahre Gestalt ange nommen, wie das bei Phaskin der Fall gewesen war. Er wollte Feder tausend Fragen über Laurer stellen, aber im Moment war einfach nicht die Zeit dazu. Auch hatten Feder und er noch keine Gelegenheit gehabt, sich darüber Gedanken zu machen, wie Wenvel Kolkin innerhalb von wenigen Tagen von einem sorgenvollen Stadtbesucher zu einem brutalen Schweiger werden konnte. Kos merkte, wie wenig er wirklich über das Konklave und dessen maskierte Diener wusste. Feder war als Erster an der Tür gewesen und hatte sie weit aufgestoßen. Kalte Luft strömte in die Halle. Von der Morgendämmerung war am Himmel noch nichts zu sehen. Kos klaubte immer noch letzte Glassplitter aus seinem Gesicht, während sie auf die Stufen hinausstolperten. »Du siehst schrecklich aus«. Borcas Geist sparte wirk 436
lich nicht mit hilfreichen Kommentaren. »Hast du unter dem ganzen Blut auch noch ein Gesicht?« Kos ließ seinen Blick über die Stufen und den Platz vor der Bundeshalle schweifen. Alles war der Architektur der Inneren Festung nachempfunden, nur in kleinerem Maßstab. Die Schweiger waren nirgendwo zu sehen, aber es schien, als hätten sie noch Zeit genug gehabt, um Pivlics Jacht-Zeppeliden anzugreifen, bevor sie die Halle gestürmt hatten. Der zweite Düsenantrieb lag nun auch zerstört auf dem Pflaster, und die große Echse atmete nur noch pfeifend. Einige ihrer Gasblasen waren aufgesto chen worden, aber sie schwebte immer noch knapp über dem Boden. »Diese stinkenden …«, fluchte Pivlic. »Er hat nie je mand etwas zuleid getan.« Kos hatte den gutmütigen Bold noch nie so wütend erlebt. »Glaubst du, dass du den Zeppeliden wieder in die Luft bekommst?«, fragte Feder. »Vielleicht«, antwortete der Bold, »aber ohne die Dü senantriebe und mit den ganzen Verletzungen wird er wohl nicht weit kommen. Wir können uns genauso gut Zielscheiben auf den Bauch malen und zurück in die Bundeshalle gehen, mein engelsgleicher Freund.« Mit einem lauten Krachen flog auf einmal die Doppel tür hinter ihnen auf, und Migellic, Feldwebel Ringor und ein kleiner Trupp Wojeks traten heraus. Ringor, der aus einem Auge blutete, sah so grimmig aus, wie Kos ihn noch nie gesehen hatte. Alle waren blutbespritzt und hatten noch Fetzen von blutigem Leinen an den Schwer 437
tern, aber immerhin waren sie noch am Leben. »Kos!«, rief Migellic zu ihnen herüber. »Was zum Teufel machst du da? Die Halle wird belagert! Rein mit euch!« »Ich weiß«, sagte Kos und rannte zu ihnen hinüber. »Die Ledev, die den Bombenanschlag überlebt hat, könnte die Angreifer stoppen, aber sie ist von Schweigern ent führt worden. Wahrscheinlich sind sie zum Vitu Ghazi unterwegs. Wir versuchen, sie einzuholen. Weißt du, ob es irgendwelche Reittiere gibt, die noch nicht bei der Inneren Festung sind?« Migellic schaute über Kos Schulter auf den zerstörten Zeppeliden und die verstreuten Leichen der Wachen, die sich den Schweigern als Erste in den Weg gestellt hatten. »Nein«, sagte sie. »Sie wurden alle losgeschickt. Ich hoffe nur, dass das kein Fehler war.« Wie Kos war auch Migellic schon sehr lange im Zehnten Distrikt und hatte sich an den Anblick von Dingen gewöhnen müssen, die normale Leute in den Wahnsinn getrieben hätten. Aber sie trug es jedes Mal mit Fassung. Bei Migellic sprach schon eine hochgezogene Augenbraue Bände, und ihr bitterer Unter ton entsprach panischen Schreien bei anderen Leuten. »Dann viel Glück. Wenn die Bastarde in dem Baum ge nauso verrückt sind wie die Bastarde hier oder die Ba starde, die die Innere Festung angreifen, dann habt ihr ganz schön was zu tun. Wir werden uns bemühen, dass von der Halle hier noch etwas steht, wenn ihr zurück kommt.« Kos nickte. Auch ohne Phaskin würde Migellic alles zusammenhalten. Seine Schuldgefühle, sein Revier im 438
Stich zu lassen, verflüchtigten sich ein wenig. Er wandte sich an den Feldwebel. »Tut mir Leid um Phaskin, Ringor. Es ging alles zu schnell, um einzugreifen.« Er erwähnte nicht, was aus Phaskin vor seinem Tod geworden war. Kos war sich immer noch nicht sicher, ob er es über haupt selbst glaubte – und er konnte nicht wissen, ob Ringor tatsächlich noch Ringor war. Aber die Tatsache, dass Phaskins Schwager hier stand, war schon fast ein Beweis, dass er auch das war, was er zu sein vorgab. Der ehemals so umgängliche Mann knurrte Kos an. »Töte ein paar für mich, Kos, wenn du da hinkommst. Irgendjemand hat die Tore der Hölle geöffnet.« Er zeigte mit seinem Schwert auf einen Schwarm Schweiger, die in der Ferne von den Leuchtmasten der Inneren Festung angestrahlt wurden. »Wenn das Konklave das nicht stoppen kann, sind wir alle so gut wie tot.« Kos verabschiedete sich mit einem kurzen Salut von seinen Kameraden. Sie verbarrikadierten die Türen hinter ihnen und stürzten sich wieder in den Kampf, der im Inneren tobte. Kos warf noch einmal einen Blick auf den Zeppeliden und seufzte. Sie mussten so schnell wie möglich in die Stadtmitte kommen, und ihm fiel nur noch eine Möglichkeit ein. Razia, vergib mir, betete er zu dem Engel, der der Gildenmeister der Boros war. Wenn du jemand dafür die Schuld gibst, nimm mich, nicht ihn. Er fuhr mit der Hand durch Biracazirs Fell. Der Wolf schien verstanden zu haben, dass er jetzt bei ihnen blei ben musste, weil Fonn verschleppt worden war, aber er knurrte weiterhin. Kos wandte sich an den Engel. 439
»Feder, wir müssen zum Vitu Ghazi, und du bist der Einzige, der uns dorthin bringen kann. Ich habe nie nachgefragt, was du angestellt hast, um zum Bund der Wojeks abkommandiert zu werden. Aber was auch im mer es war – die anderen Engel können nicht gewollt haben, dass du eingeschränkt bist, wenn die Stadt ange griffen wird.« Feder nickte und ließ den schweren Mantel von den Schultern fallen. »Kos, du musst deine Bitte nicht begrün den. Ich werde mit den Konsequenzen leben. Aber ich brauche deine Hilfe. Alleine kann ich die Fesseln nicht ablegen.« »Wartet mal, was macht ihr da?«, mischte sich Pivlic ein. »Das Einzige, was ich kann«, antwortete der Engel. Er drehte sich so, dass Kos an seinen Rücken herankam. Der Wojek nahm die Fesselungen so genau wie noch nie in Augenschein. Jede silberne Klammer schloss sich nahtlos um die Flügel. »Feder, wie bekomme ich die ab?«, fragte Kos. »Du musst es dir einfach nur wünschen und dann dei ne Hand auf die Fesseln legen«, sagte der Engel. »Das ist alles? Warum hast du mich nicht schon viel früher gebeten, dir aus diesen … Na, egal.« Kos konzentrierte seine ganze Willenskraft auf die Fes seln. Mit einem leichten Klirren öffnete sich unter den Fingern des Wojeks eine Klammer nach der anderen. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, konnte der Engel nun in den ersten Strahlen der Morgensonne die Flügel ausbreiten. 440
Kos warf einen Blick auf die brennenden Augen des Engels und erkannte, dass er dessen wahres Wesen wahrscheinlich noch gar nicht kannte. »Ähm, Feder … Ist alles in Ordnung?«, fragte Kos. Der Engel dehnte versuchsweise die Flügel ein wenig und ließ sich einen knappen Meter nach oben treiben. »Oh, alles in bester Ordnung«, antwortete Feder. »Herr Pivlic, haben Sie zufälligerweise etwas Seil zur Hand?«
K
Unter den massiven Füßen des Steintitanen bildete sich ein gähnendes Loch. Alles verlief nach Ludmillas Plan. Inzwischen war ein ganzer Abschnitt von der zusammen gepressten Erde befreit worden. Die Tunnelgräber hatten nur die oberste Steinschicht stehen lassen, und es hatte nicht lange gedauert, bis das Gewicht des Steintitanen dafür sorgte, dass er durch diese Schicht brach. Der Wächter des Zehnten stürzte nicht tief, aber in exakt dem ungünstigsten Winkel, zumindest was seine Beine anlang te. Die Zehen, die nicht dafür ausgelegt waren, Zobors ganzes Gewicht zu tragen, brachen beim Aufprall ab. Das führte dazu, dass sich der ganze Titan nach vorn lehnte, und nach ein paar quälenden Sekunden hörte man es im ganzen Steinriesen knacken und krachen. Zobors Beine brachen an den Knien ab, und der Titan fiel fast in Zeitlu pe kopfüber zu Boden und riss die Außenmauern der Inneren Festung mit. Den Wojeks, die sich mit Katapulten auf seinem Kopf verschanzt hatten, blieb keine Zeit, sich 441
zu retten.
Ein erschütterndes Krachen ließ die ganze Stadt erbeben, als der Titan auf das Pflaster in der Mitte des Rokiric-Platzes knallte. Rote Pflastersteine und goldene Springbrunnen wurden gleichermaßen zerschmettert. Die meisten Bürger und Gildenlosen, die sich hier befunden hatten, waren längst geflohen. Der Kopf des Titanen streifte den berühmten uralten Turm der Thismi, eines der ältesten Bauwerke Ravnicas, das schon so lange wie die Titanen selbst hier stand. Ludmilla fand es passend, dass der Turm jetzt am Fuß einknickte und teilweise auf dem Rücken des gefallenen Titanen landete. Der Turm brach die Schultern des Riesen, bevor dieser überhaupt die Gelegenheit hatte, sich wieder hochzustemmen. In den Armen des Wächters bildeten sich Risse, die von dort aus dann im Zickzack über den Rücken liefen. Schon bald sorgte das Gewicht der Glieder, dass sie an den Gelenken von dem enormen Oberkörper abbrachen. Der Wächterti tan des Zehnten Distrikts war seiner Gliedmaßen beraubt und, was seinen allgemeinen Nutzen betraf, eigentlich tot. Ludmilla lächelte. Das hatte vor ihr noch niemand ge schafft. Und wenn die kleine Devkarin mit ihrem närri schen Plan fertig war und zur Gorgo zurückkehrte, würde sie sicherstellen, dass Ravnica nie vergaß, was sie ge schafft hatte. Die Mörderin ihrer Schwestern würde für ihre Tat bezahlen. Die Gorgo konnte nicht begreifen, warum ihre Rivalin ihr eine Armee gegeben hatte. Die Missbildungen waren ihr Volk. Sie mochten das für eine 442
kurze Zeit vergessen haben, aber Ludmilla würde ihnen das schon wieder einbläuen. Das Einzige, was Ludmilla störte, war die Abwesenheit der Engel. Selbst Savra hatte damit gerechnet, dass die Streitkräfte der Gorgo sich mit den geflügelten Dienern von Boros würden auseinander setzen müssen, sobald der Angriff ins Rollen gekommen war. Aber Sonnenheim, die fliegende Himmelszitadelle der Engel, war immer noch nicht erschienen. Sie ließ ihren Blick über den allmählich heller werdenden Horizont schweifen, konnte aber nichts erkennen. Was führten die im Schilde?
K
So fühlte man sich also als Gott. Nachdem Savra ihre Schweiger hatte ausschwärmen lassen, rief die Synode sie zum Vitu Ghazi. Sie hatte ihre Streitmacht jahrzehntelang aufgebaut und ihre eigenen Kämpfer unter die des Selesnija-Konklaves gemischt – und das direkt vor deren Augen. Jetzt fühlte sie, wie die Magie der Selesnijaner nach ihr griff. Sie materialisierte sich in einem Kokon in der Mitte des Versammlungskrei ses. Dieses heilige Rund war so weit oben in den Baum der Einheit eingebaut worden, dass man einen tollen Rundblick über die Stadt hatte, aber noch nicht über die Wolkendecke gelangte. Das Selesnija-Konklave war also ungeduldig. Das war in Ordnung, sie war auch ungeduldig. Sie hatte lang genug gewartet. 443
Die Gedanken der singenden Dryaden und der anderen Mitglieder des Kollektivs tönten in ihrem Gehirn, und sie sang mit ihnen – ein klagendes Trauerlied, das sie in die Wurzeln des Gesangs eingewebt hatte. Ebenso hatte sie seit Jahrzehnten tausende nekrotische Fasern in die Wurzeln des Vitu Ghazi gewoben. Auch jetzt breitete sich ihre Dunkelheit durch die Herzen der Singenden aus, die das aber nicht merkten. Mit Savras Hilfe hatte der Baum angefangen, von innen heraus zu sterben, aber dabei war es nicht geblieben. Die Fasern waren in die Wurzeln eingedrungen, hatten das tote Holz befallen und es mit Devkarin-Magie angereichert. Diese Magie hatte dafür gesorgt, dass der Widerstand der Selesnijaner langsam, aber stetig immer geringer wurde. Sie hatten ihr die Kontrolle über hunderte von Schweigern gewährt. Und ihr geheimer Verbündeter hatte sie mit den Rohmateriali en versorgt, um eigene zu erzeugen. Jetzt benötigte sie nur noch eines – den Stein, den die junge Ledev endlich für sie besorgt hatte. Dann stand ihrer Herrschaft über das willensschwache Kollektiv nichts mehr im Weg. Es war so einfach gewesen, sie mit vorgetäuschter Freundlichkeit und netten Worten zu manipulieren. Sie wollten ihre Devkarin-Schwestern wieder im Schoß der Mutter begrüßen, hatten sie gesagt. Sie spüre doch sicher die Anziehungskraft der Mat’selesnija in ihrem Elfenblut, hatte sie ihr eingeredet. Dann hatten sie sie gebeten, dabei zu helfen, den Vitu Ghazi am Leben zu erhalten. Sie waren sich nicht bewusst, dass die »Krankheit«, die den 444
Baum der Einheit plagte, Savras Werk war. In den letzten Jahren war der Baum langsam, aber stetig immer mehr ihre Kreatur geworden. Das Selesnija-Konklave war der Ansicht gewesen, gegen eine Krankheit anzugehen, und hatte dabei gar nicht gemerkt, dass es sich erst eine zuzog. Der einzige Teil, an den Savra nie herangekom men war, war tief in der Mitte des Baumstammes ver steckt, aber auch dieser Teil würde sich ihr bald unter werfen, da war sie sich sicher. Sie hatte den Dryaden gesagt, dass dies die einzige Möglichkeit sei. Sie hatte ihnen gesagt, dass alle Wojeks korrupt seien und führte ihnen einen der Laurer ihres Verbündeten vor, um den »Beweis« zu liefern. Sie brauche die zusätzlichen Kräfte, wenn sie diesen Verfall von der Wurzel her anpacken wolle. Wenn die Verzauberung der ganzen Welt durch den Gildenpakt überleben solle, müssten Opfer gebracht werden, hatte sie ihnen erklärt. Die Matka hatte ihnen genügend ihrer Diener gelassen, um sie glücklich bleiben zu lassen. Sie würde die harte Arbeit auf sich nehmen, die »korrupten« Wojeks unter Kontrolle zu bringen. Sie hatte entdeckt, dass das Befrie den nicht so viel Spaß gemacht hatte wie die Zerstörung der Gorgonen, aber es hatte auch seinen Reiz. Die Schweiger waren brutale und effiziente Mörder, was das Selesnija-Konklave bis heute noch nicht herausgefunden hatte. Aber schon bald würden Savra und das SelesnijaKonklave sowieso ein und dasselbe sein. Ihr verborgener Verbündeter war ein herausragender Lehrer, und Savra war eine Musterschülerin. 445
Von einer etwas überraschenden neuen Welle der Kraft durchflossen, holte sie tief Luft. Die Dryaden des Selesnija-Konklaves speisten ihr mit ihren Gesängen, ihrem Glauben und ihrem Vertrauen Kraft ein. Sie badete darin und machte sich diese Kraft zunutze. Plötzlich waren es nicht nur die Dryaden und der Rest. Es waren alle Selesnijaner, Ledev, Silhana und Lebenskultler in ganz Ravnica. Und bald stimmten auch die Gesänge der anderen Kreaturen aller Gilden und Stämme auf der Welt ein – es mochten Ungläubige sein, aber sie hörten den Gesang. Einige von ihnen, ehrwürdige Edle der neun Gilden, standen in glückseliger Ehrfurcht um den Kreis der Dryaden herum. Die Synode begann. Für sie war es ihre Versammlung, für Savra war es ihre Krönung. Die Welle der Kraft erreichte einen Höhepunkt, und ein dünner Spalt tiefroten Sonnenlichts zeigte sich im Kokon, der sich langsam wie eine riesige Blüte entfaltete. Savra wurde in ihrer ganzen Pracht präsentiert. Die Devkarin-Priesterin war bereits Königin der Golgari und würde sich bald zur Gildenmeisterin der Selesnijaner erklären – sobald ihre Diener den Gedankenstein gefun den hatten, der es ihr ermöglichen würde, ein Vollmit glied des Kollektivs zu werden. Dann hätte sie zwei Gilden geschafft und nur noch sieben – und nicht acht – vor sich. Sie blickte nach oben, weil sie dort eine Bewegung ge sehen hatte. Zwei ihrer fliegenden Schweiger kehrten zurück und trugen eine schreiende und um sich tretende 446
Fracht mit sich. Sie landeten vor Savra, wo sie die Ledev weiterhin mit aller Kraft festhielten. Das Mädchen brüllte die Schweiger an, es brüllte die Matka an, die ganze Versammlung, aber nur Savra hörte ihre Schreie bezie hungsweise erkannte den Schrecken darin. Alle anderen waren ganz vom Gesang eingenommen. Savra ging zu der Halbelfin hinüber, packte sie am Handgelenk und drückte fest zu. Die Ledev schrie auf, weil die Finger der Matka sich ihr ins Fleisch bohrten, aber sie hielt die Faust mit aller Kraft geschlossen. Savras Fingernägel ritzten ihre Haut und Adern auf. Bald floss den beiden leuchtend rotes Blut über die Handgelenke. »Lass los«, sagte Savra. »Er ist nicht für dich gedacht, Kleine.« Die Ledev raunte ihr einen Fluch entgegen. »Nun gut. Dann eben auf die harte Tour«, sagte Savra. Die Körperkraft, die sie dem alten Svogthir gestohlen hatte, pochte in ihr. Sie würde nicht lange fackeln. Es knackte schrecklich, und das Blut floss in Strömen. Savra hatte Fonn einfach die ganze Hand abgerissen.
K
Die Morgensonne ging gerade über dem Versammlungs kreis in der Mitte des Vitu Ghazi auf, als der von Engelskraft angetriebene Zeppelid von den historischen Gebäu den der Stadtmitte in eine Kriegszone kam. Der Versammlungskreis war ein heiliger Ort: eine brei 447
te, runde Plattform, die in den Stamm gewachsen war. Hier fanden so viele Leute wie in einer kleinen Arena Platz, um den regelmäßigen Feiern und Gottesdiensten beizuwohnen, die die Selesnijaner das ganze Jahr über feierten. Die rote Dämmerung mischte sich mit dem strahlenden Smaragdgrün der Gestalten in der Mitte des Kreises, der vom Konklave gebildet wurde. Ein Strom von Wesen aller Gilden rannte auf den Baum der Einheit zu. Ganze Abteilungen von Ledev-Wächtern, Silhana-Elfen und selesnijanischen Kriegern staunten das helle Licht in der Mitte der Versammlung an. Ein Schwarm von rein wirkenden Schweigern schwebte um den Kreis herum. Sie drehten dem Geschehen als Einzige den Rücken zu, um nach Störungen oder Gefahr Ausschau zu halten. Sie machten Platz, um ihre Brüder mit der entführten Halbel fin in den Kreis zu lassen, schlossen den Absperrriegel dann aber wieder. »Sie haben sie hineingeschleppt«, rief Jarad. »Sag dem Engel, dass wir da hinterher müssen.« Kos beugte sich aus der offenen Kabinentür. »Feder! Du musst uns dahinbringen!« Der Engel drehte sich um und rief über die Schulter: »Das hatte ich auch vor. Ich schlage vor, du schnallst dich wieder an. Es könnte etwas ruckelig werden.«
K
Fonn schrie laut auf. In den ersten Momenten konnte sie
vor lauter Schmerzen nichts sehen. Dann stieß die Devka 448
rin-Priesterin sie beiseite, und der Aufprall auf dem festen Holz des Vitu Ghazi gab ihr die klare Sicht zurück. Sie presste die heile Hand auf den Stumpf an ihrem anderen Handgelenk und versuchte vergebens, die Wunde abzu drücken. Sie musste das Ausströmen des Blutes schnell stoppen, damit sie nicht vor Schwäche in eine Ohnmacht fiel, aus der sie wahrscheinlich nie wieder aufwachen würde. Der Orden der Ledev-Wächter hatte sich aus einer ural ten Gruppe kriegerischer Mönche gebildet, die das weite Land von Ravnica vor dem Gildenpakt durchwanderten, um Unrecht wieder zurechtzurücken und Streit zu schlich ten – alles auf der Basis des einfachen Glaubens, dass es Richtiges und Falsches gab. Die Ausbildung der Ledev enthielt immer noch das Erlernen der Heilmagie. Im Gegensatz zu den Wojeks brauchten Ledev keine künst lich erzeugten Tropfen, um eine Wunde zu schließen. Was allerdings nicht bedeutete, dass das Anwenden der Magie für Fonn eine einfache Übung war. Erst recht nicht, wenn die Bewusstlosigkeit am Kopf anpochte und um Einlass bat. Sie schloss die Augen, weil sie im Moment sowieso kaum etwas sehen konnte, und konzentrierte sich auf die Lebenskraft, die in dem großen Baum steckte. Die Kraft fühlte sich seltsam an – zweifellos ein Resultat der Einmischung der Devkarin-Priesterin. Auch die Sän ger schienen verdreht zu sein, der Gesang klang schief. Fonn ließ sich von ihren Schmerzen wach halten und ergriff eine einzelne, reine Note, die aus dem atonalen Choral herausragte. Sie zog sie mit den Gedanken in sich 449
hinein, und fast augenblicklich vergingen der Schock und der Schmerz. Die Blutungen stoppten unmittelbar, und über der Wunde bildete sich frische Haut. Es würde nicht viel brauchen, um die Wunde wieder aufplatzen zu lassen, aber zumindest würde sie jetzt erst einmal nicht verbluten. Sie rollte sich auf den Rücken und schaute in den Himmel. Verzweiflung ergriff ihr Herz. Vielleicht hätte sie sich doch sterben lassen sollen. Wie konnte sie als LedevWächterin leben, wenn die Selesnijaner sich darauf einstimmten, eine Totenbeschwörerin in ihren Reihen aufzunehmen? Fonn sah, dass sich im Westen etwas bewegte, und glaubte zuerst an eine Halluzination. Ein Engel, dessen goldene Flügel in den ersten Sonnenstrahlen des Tages leuchteten, brach durch den Kordon der Schweiger. Es war kein beliebiger Engel, es war Feder, der ungebunden und frei flog. An einem Seil zog er Pivlics angeschlagenen Zeppeliden hinter sich her. Die lachsfarbene Haut des eiförmigen Echsenwesens war mit toten grauen Flecken übersät, die nie heilen würden. Der Engel ließ das Seil los, sobald der Zeppelid durch die Blockade durch war. Die schwebende Echse machte eine Bruchlandung gegen den inneren Stamm des Vitu Ghazi. Die Gasblasen waren durchlöchert wie ein Sieb. Der Zeppelid rutschte langsam nach unten und kam über der versammelten Menge zum Stillstand. Feder stieß zu Fonn hinunter. »Oh, deine Hand …«, sagte der Engel. 450
»Tja«, antwortete Fonn und zeigte auf die Gestalt, die gerade in die Mitte des Dryaden-Rings trat. Der Gesang der Dryaden ging ungestört weiter, auch als die Devkarin einen einfachen grünen Edelstein aus der Handfläche von Fonns abgetrennter Hand holte. Sie warf das grausige Gliedmaß achtlos beiseite und hielt den grünen Stein in die Höhe. »Mein Liebster«, sagte sie, »die Zeit ist gekommen.«
K
Kos sprang aus der offenen Kabinentür auf das harte Holz des Versammlungskreises. Das Rennen war eigentlich verloren. Rund um den Kreis herum, der sich nicht sehr weit über dem Gildenpakt-Platz befand, bestaunten Wesen jedes Volkes und jeder Gilde mit offenem Mund und von innerer Glückseligkeit ergriffen das Geschehen. Das war zweifelsohne ein Resultat des »Gesangs«, über den Fonn immer wieder geredet hatte. Auf diese Weise beschrieben die Selesnijaner den Zustand des Beisam menseins und kollektiven Denkens, der dem Baum der Einheit dabei half, die Magie des im Gildenpakt hinterleg ten Friedens zu verbreiten, was dazu führte, dass Ravnica als Gemeinschaft funktionierte. Wer kein Selesnijaner war, hörte es normalerweise nicht als akustischen Ton, soweit er das verstanden hatte. Aber jedes Lebewesen konnte es auf irgendeiner unterbewussten Ebene spüren. Und Elfen waren dafür wohl besonders anfällig. Er rannte zu Fonn und Feder. Jarad und Biracazir folg 451
ten ihm dichtauf. Nur Pivlic hatte darauf bestanden, seinem Zeppeliden bei dessen Leiden beizustehen, bevor er etwas anderes tat. Fonns Stumpf war von einer dünnen Membran aus noch halb durchsichtiger Haut überzogen. Kos klopfte automatisch seinen Gürtel ab, ob er noch irgendwo Heiltränen hatte, aber die hatte er ja schon längst selbst benutzt. Seltsamerweise schenkte ihnen niemand Beachtung, obwohl sie gerade mit einer schwebenden Echse nur knapp außerhalb des Kreises eine Bruchlandung hinge legt hatten und jetzt ganz in der Nähe des singenden Selesnija-Konklaves standen. Selbst die Schweiger schie nen jegliches Interesse an ihnen verloren zu haben. »Fonn«, sagte Kos und deutete auf den Stumpf. »Was ist passiert?« »Sieh da hinüber«, sagte Fonn bitter und zeigte mit ih rer heilen Hand auf die Devkarin-Priesterin, die in der Mitte des Dryaden-Kreises stand. Die Priesterin hob dort gerade den Stein in die Luft und sagte etwas, was Kos allerdings nicht verstehen konnte. »Ich muss sie aufhalten«, sagte Jarad und zückte seinen Kindjal. »Glaubst du wirklich, dass wir genug sind, um das zu schaffen?«, sagte Kos. »Wir sind nur zu viert, fünf mit dem Wolf beziehungsweise sechs mit dem Bold, der seine Jacht aber noch nicht verlassen will.« »Ich muss es versuchen«, sagte Jarad. »Ich hatte oft Ge legenheit dazu, aber nie eine wahrgenommen. Sie ist eben meine Schwester, und ich hatte keine Ahnung …« 452
»Gut, aber wart mal kurz«, sagte Kos. »Kos …«, Borcas Geist wollte ihn unterbrechen. »Feder, ich frage nur ungern, aber könntest du nach Sonnenheim fliegen? Ich weiß nicht, warum die Engel noch nicht hier sind, aber …« »Ich kann das tun«, sagte Feder, »aber ich zögere etwas, euch hier mit ihr allein zu lassen.« »Kos, hallo …«, versuchte es Borcas Geist noch einmal. »Wir zählen im Moment nicht«, sagte Kos. »Selbst wenn sie nicht rechtzeitig hier ankommen, um uns zu retten, werden die Engel wenigstens etwas gegen sie unterneh men können.« Feders Gesichtsausdruck war immer noch voller Zweifel, deswegen fugte Kos hinzu: »Ich kann es dir auch befehlen, wenn es sein muss.« »Bleibt am Leben«, sagte Feder. »Ich werde zurückkeh ren, und ich würde mich sehr elend fühlen, wenn ich dich dann erschlagen vorfinden würde, Kos.« »Kos!«, brüllte Borcas Geist. »Danke, Feder«, sagte Kos und schaute zu, wie sich der Engel in den schnell verdunkelnden Himmel aufschwang. Die Schweiger hatten neue Positionen rund um den Versammlungskreis bezogen, aber den Weg nach oben offen gelassen, sodass Feder ohne große Mühe aufsteigen konnte. Innerhalb von wenigen Sekunden war der geflü gelte Krieger außer Sichtweite, und jetzt war es der Him mel selbst, der Kos’ Aufmerksamkeit auf sich zog. Das Licht des Morgens verschwand, weil sich riesige Wolken vor die Sonne schoben. Blitze krachten in der heranzie henden Dunkelheit. Der Himmel glich einem überko 453
chenden Pechkessel. Die Luft wurde unnatürlich klebrig und dick. Kos war so sehr mit dieser seltsamen Verdunkelung des Himmels beschäftigt, dass er erst zu spät merkte, dass jemand hinter ihn getreten war. Ein Paar stählerne Arme umklammerten ihn von hinten, dass er sie nicht mehr rühren konnte. Er konnte nicht sagen, wer ihn da gepackt hatte, nur dass die Person männlich war und die bronze farbenen Ärmelaufschläge eines Wojek-Offiziers hatte. »He!«, beschwerte sich Kos, aber Fonn und Jarad rea gierten nicht. Er drehte sich etwas im Griff seines Wider sachers und sah, dass die beiden nur dastanden und auf die Devkarin-Priesterin schauten. Sie schienen ganz im Gesang verloren zu sein und ihn gar nicht zu hören. Das Lied hatte selbst Biracazir in seine Kontrolle gebracht. Kos bedauerte in diesem Moment, dass er Feder weg geschickt hatte, obwohl er wusste, dass dies die einzige sinnvolle Handlung gewesen war. Aber einen Verbünde ten hatte er noch hier. »Borca«, brüllte Kos. »Wo bist du? Wer – au! – hält mich da fest?« »Kos, ich tauge nichts als zweites Paar Augen, wenn du mir noch nicht einmal zuhörst«, jammerte Borcas Geist und schwebte vor Kos, damit dieser ihn sehen konnte. Seine spektralen Augenbrauen hatte er nach oben gezo gen. »Es ist Generalkommandeur Gharti. Er wirkt genauso glücklich wie der Rest der Meute. Kos, ich glaube, du bist der Einzige hier – na ja, außer mir vielleicht, aber ich zähle ja leider nicht, oder? –, also, wir sind die Einzigen 454
hier, die momentan nicht einer Art Freudentaumel unter liegen.« »Passiert sonst noch etwas hinter mir?« »Nein, sie starren nur alle hinüber«, sagte Borcas Geist. »Aber eins ist irgendwie lustig – du bist der einzige Wojek hier außer Gharti, Valenco und Forenzad. Und mir natür lich, aber das hatten wir ja schon.« »Dass Gharti mich festhält, weiß ich ja nun«, sagte Kos. »Aber was machen die beiden anderen?« »Die stehen direkt hinter dem Devkarin und der Ledev.« »Gharti!«, brüllte Kos. »Es reicht jetzt!« Er versuchte wieder, sich aus dem eisernen Griff des Generalkomman deurs zu lösen, aber der Mann war um einiges stärker, als er aussah. Kos war hilflos. »Ich fände es jetzt wirklich gut, wenn du einen festen Körper hättest«, sagte Kos. »Ich auch. Dann wäre ich nämlich noch am Leben«, sagte Borcas Geist. »Aber was kann ich schon machen?« »Du könntest …« Wieder donnerte es laut, und ein Blitzhagel schnitt Kos mitten im Satz das Wort ab. Er schaute wieder in den Himmel. Eine in einen schwarzen Mantel gehüllte Gestalt trat aus den Wolken in einen Luftwirbel und ließ sich von ihm nach unten tragen. Umhang und Robe wurden vom Wind aufgebläht und wirkten dadurch wie Fledermaus flügel. Von der Gestalt her hätte es einer der Schweiger sein können, aber die Person war tatsächlich ganz in Schwarz gekleidet. Das, was man von ihrem Gesicht 455
sehen konnte, war bleich, und ein Paar silberner Eckzäh ne stand über die Unterlippe heraus, das konnte sogar Kos erkennen. Der Neuankömmling stieg wie ein Gott vom Himmel herab. Kos überkam eine unheilvolle Ahnung, aber er hoffte, dass sie sich nicht bewahrheitete. Er drehte sich wieder zu Borcas Geist um. »Flieg los, such die andere Person, die dich sehen kann, und sag ihm, dass er kommen und seinen Knallstab mitbringen soll«, trug er dem Geist auf. »Und beeil dich!« »Geht klar«, sagte Borcas Geist. »Bin gleich wieder … Aaah!« Vor Kos erstaunten Augen hob die herabschwebende Gestalt eine Hand, und Borcas Geist wurde wie eine Marionette an ihrem Faden weggezogen. Das fluchende Gespenst schaffte es gerade noch, eine eindrucksvolle Schimpfkanone loszulassen, bevor es in die weiche Rinde des Vitu Ghazi gesaugt wurde. Dann war Borcas Geist verschwunden. Kos’ Mut sank. Er hatte Borca nicht darum gebeten, nach seinem Tod noch herumzulungern, aber er hatte sich inzwischen daran gewöhnt. Und kaum hatte er sich daran gewöhnt, war der Geist auch schon wieder futsch. Im Moment hatte Kos jedoch dringendere Sorgen, zu mindest falls er Borcas Schicksal entgehen wollte. Er reckte den Kopf, um einen besseren Blick auf das seltsa me Paar in der Mitte der Versammlung zu bekommen. »Mein Geliebter«, sagte Savra. »Meine Befreierin«, sagte der Vampir. »Es ist an der 456
Zeit, dass du deinem Schicksal begegnest.« »Das klingt aber gar nicht gut«, sagte Kos, aber nie mand schien ihn zu hören. Wenn doch, konnte jedenfalls niemand auf seine Worte reagieren. »Ja, Szadek«, sagte Savra, und hob den grünen Stein hoch über ihren Kopf. Dann drückte sie ihn sich gegen die Stirn. Der Stein glühte immer heller und verschmolz mit ihrer Haut und ihrem Knochen. Dann ließ sie den Stein los, der jetzt ein Teil von ihr geworden war, und breitete die Arme aus, um ihre neuen Untertanen zu umarmen. Zum ersten Mal seit zehntausend Jahren waren zwei Gilden im kollektiven Gedächtnis des Selesni ja-Konklaves vereint. Savra sang einen einzelnen, lang gezogenen Ton, der den hymnischen Gesang durch schnitt und selbst in Kos’ zynischem Kopf zu hören war, auch wenn er sich nicht so freudetaumelnd gebärdete wie die wartende Menge im Versammlungskreis und das Volk unten in den Straßen. »Gut gemacht, mein Kind«, sagte der Vampir. »Wie fühlt sich die Macht an? Kannst du sie hören? Kannst du die Stimmen des Selesnija-Konklaves hören?« »Ja, mein Geliebter«, sagte Savra glückselig. »Ich höre sie, und sie gehören mir.« »Wunderbar«, sagte der Vampir. Dann legte er die Handflächen gegen Savras Ohren, ruckte kurz und brach ihr das Genick.
457
Kapitel 19
H
Wenn es nur neun Gilden gibt, warum gibt es dann zehn Wächtertitanen? Zehn Distrikte in Ravnica? Warum hat der Stern der Wojeks dann zehn Zacken? Das ist doch sicher mehr als nur ein Zufall. »Die zehnte Gilde: Tatsache oder Gerücht?« Ravnicas Gildenbund-Zeitung (13. Zuun 9451 Z. C.)
28. Zuun 9999 Z. C., Sonnenaufgang Savra stürzte wie eine zerbrochene Puppe auf das Podi um. Im gleichen Moment fielen die Mitglieder des Seles nija-Konklaves auf die Knie und wehklagten. Die Dryaden krümmten und bogen sich, als ob sie brennen würden, rissen sich große Büschel ihrer blätterartigen Haare aus und schlitzten mit ihren Krallen die eigene Haut auf. Dann fielen sie eine nach der anderen zuckend auf den Boden. »Fonn!«, brüllte Kos. »Jarad! Gharti! Irgendjemand! Wacht auf!« »Es ist vergeblich«, sagte der Vampir. »Lupul, kümmre dich um sie.« Valenco und Forenzad – genauer gesagt die Wesen, die 458
wie Sulli Valenco und Forenzad aussahen – traten vor und griffen sich Fonn und Jarad. Dies schien zu genügen, um den Zauber zu brechen, dem sie anscheinend erlegen gewesen waren. Kos hatte plötzlich das ungute Gefühl in der Magengrube, dass Gharti wohl nicht so bald »aufwa chen« würde. Ihn hielt nicht der echte Gharti fest, son dern etwas Ähnliches wie die Wurmkreatur, die sich als Phaskin ausgegeben hatte. Nun, dachte er, auch eine Möglichkeit, um dieser Beförderung aus dem Weg zu gehen. »Savra?«, brüllte Jarad, als er den leblosen Körper sei ner Schwester neben dem schwarz gekleideten Vampir liegen sah. »Savra!« Jarad versuchte sich aus dem Griff seines Wächters zu lösen, um auf den Vampir loszustür men. »Was hast du getan, du Kreatur?« Der Vampir ignorierte den Devkarin. Er hob seine lang fingrigen Hände, um sich an die verwirrte Versammlung zu wenden, die gerade erst langsam aus Savras Zauber erwachte. Auch die Schweiger fingen an, sich zu bewe gen. Sie teilten sich in zwei Gruppen auf, auf jeder Seite des Vampirs eine. Die Schweiger bildeten eine Kette, die vom Vampir bis zum inneren Baumstamm reichte, der sich um den Versammlungskreis erhob. »Bürger von Ravnica«, begann der Vampir seine Rede. »Zehntausend Jahre habt ihr mich gefangen gehalten. Eure Gildenmeister und euer Gildenpakt haben mich davon abgehalten, das zu bedrohen, was sie ›Frieden‹ nannten. Ihr alle seid Komplizen dieses Verbrechens, und ihr werdet alle dafür bezahlen.« Er lächelte verschlagen, 459
und man konnte seine silbernen Eckzähne besonders gut sehen. »Ich brauche wahrscheinlich nicht zu erwähnen, dass ihr mit eurem Blut zahlen werdet. Aber zuerst möch te ich das Ende von …« Kos hörte ein tiefes, animalisches Knurren hinter sich, und ein goldener Pelz flog über ihn hinweg. Der Wolf Biracazir, der nicht mehr von dem Gesang eingelullt und von keinem Wächter festgehalten wurde, sprang auf die schwarz gekleidete Gestalt zu, die ihre Rede an die Menge hielt. Für den kürzesten aller Momente sah Kos echte Überraschung in den Augen des Vampirs, aber als Biraca zir die lebendige Legende mit gefletschten Zähnen an sprang, landete diese blitzschnell mit der Faust einen Schlag gegen die Seite von Biracazirs Schädel. Der Wolf rutschte durch den Kreis und blieb röchelnd auf der Seite liegen. Kos konnte von seinem Platz aus den Kopf des Wolfes nicht sehen, aber wenn man von dem pfeifenden Atem des Wolfes auf seinen Zustand schließen konnte, dann ging es ihm nicht besonders gut. Er hörte, wie Fonn den Namen des Wolfes schrie und Szadek verfluchte. Jarad stimmte mit ein. Der Wojek konnte immer noch nicht glauben, dass das wirklich Szadek war. Aber nach allem, was in den letzten Tagen geschehen war, konnte ihn eigentlich gar nichts mehr überraschen. Selbst wenn dem Vitu Ghazi auf einmal Beine wachsen würden und der Riesenbaum in die Polarregionen marschieren würde, wäre Kos momen tan nicht sonderlich geschockt. »Wie ich gerade sagen wollte«, teilte der Herr des Ge 460
flüsters der Versammlung mit, »wird heute euer Gilden pakt sterben.« Er drehte sich zu den Zwillingsreihen der Schweiger und gab das Kommando. »Jetzt!«
K
Fonn war speiübel. Erst hatte sie Bayul verloren – gleich zwei Mal. Aber das war gar nichts im Vergleich zu der seelenvernichtenden Qual, das gesamte Selesnija-Kon klave gleichzeitig sterben zu sehen, und jetzt hatte sich auch noch Biracazir unnötig geopfert. Nicht zum ersten Mal wünschte sie sich, dass sie und ihr Schützling nie in die Stadt Ravnica zurückgekehrt wären. Bald hatte sie keine Freunde mehr, und das lastete schwer auf ihrem Herzen. Ein pfeifendes Röcheln riss sie aus ihrem Selbstmitleid. Biracazir atmete noch! Wenn sie zu ihm gelangen könnte, wäre sie vielleicht in der Lage, ihm zu helfen. Es sah aus, als würde er schwer aus dem Mund bluten, aber seine Flanke hob und senkte sich. Er lebte also noch! Das sorgte dafür, dass sie gegen die Übelkeit ankämpfen konnte, von der sie beinahe überwältigt worden war. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Vampir und seine Schweiger. Auf den Befehl des Vampirs hin hatten die beiden Schweiger-Gruppen damit begonnen, sich gegen den Vitu Ghazi zu drücken. Sie begannen zu leuchten: Grünes und blaues Licht pulsierte von innen durch ihre Körper. Fast wirkte es so, als wären die Schweiger aus getöntem Glas. 461
Das Licht flackerte immer stärker, und binnen weniger Sekunden musste Fonn die Augen schließen, um nicht blind zu werden. Zwei Blitze leuchteten gleichzeitig auf, und die beiden Schweiger-Gruppen verschwanden in ihnen. Unter ihr schüttelte sich der Baum der Einheit, als hät te es ein Erdbeben gegeben. »Fonn, ist es normal, dass der Baum das macht?«, frag te Kos. »Was war das?«, sagte Jarad. »Was geschieht hier gera de?« Fonns Grausen wurde immer stärker. »Ich glaube, er will Mat’selesnija herausholen.« »Aber sie ist doch nur eine Legende, oder?«, sagte Kos, dem zu spät einfiel, dass er heute bereits schon einmal eine Legende zum Leben hatte erwachen sehen. »Nein«, sagte Fonn. »Es gibt sie wirklich. Sie ist im Baum der Einheit.« »Und ich dachte immer, das ist nur so eine Redewen dung«, sagte Kos. Das Beben wurde stärker, aber der eiserne Griff der als Wojek getarnten Wurmwesen hielt sie weiter fest. Fonn fand keine Möglichkeit, irgendwo einen Hebel anzuset zen, um sich zu befreien. Sie war sich sicher, dass sie alle bald von Würmern eingehüllt sein würden. Sie starrte trauernd auf Biracazir, zwischen dessen Atemzügen immer größere Zeitabstände lagen. Sie trat und schlug nach ihrem Wächter, aber der Möchtegern-Wojek ließ sich davon nicht beeindrucken. Fonn rief nach Biracazir, 462
aber der Wolf war zu schwach, um den Kopf zu heben und ihr mitzuteilen, dass er sie gehört hatte. Das Gefüge in der Mitte des Baums begann, sich in sich selbst zu falten, sodass es bald einer riesigen Tulpenzwie bel glich. Das Leuchten der verschwundenen Schweiger war darin eingegangen. Blaues und grünes Licht pulsierte durch das Geflecht. Forin hatte eine ungute Ahnung, wohin die Schweiger verschwunden waren. Kaum hatte sich dieses Geflecht geschlossen, da öffne te sich die Zwiebel, aus der zuvor Savra entstiegen war, wie eine Blume. Allerdings wie eine tote Blume: Die Blütenblätter fielen eines nach dem anderen ab und klatschten auf die Plattform. Schicht um Schicht des Kokons verfärbte sich dunkelblau und brach auf, bis endlich der strahlend helle Inhalt zu sehen war. Das Leuchten, das von der zusammengekauerten kleinen Gestalt in der Mitte des Podiums ausging, war überwälti gend und breitete sich über die ganze Gegend um den Vitu Ghazi wie grünes Sonnenlicht aus. Die Gestalt dehnte und streckte sich, und als sie ihre volle Größe erreichte, platzte die Kuppel auf. Die Gestalt war weiblich, das wusste Fonn sofort. Diese einzigartige Kreatur war ursprünglich das SelesnijaKonklave gewesen, ein einzelnes Elementarwesen, das aus den vereinigten Formen eines Dutzends uralter Dryaden geschaffen worden war. Diese Dryaden hatten ihre Identität und ihre Freiheit vor zehntausend Jahren aufgegeben, um der Welt die Möglichkeit zu geben, ewigen Frieden zu erlangen. Die Gestalt war mehr Ele 463
mentarwesen als Dryade, ihr Körper war von Wurzeln und gefaserter Haut überzogen. Kristalle, die die Größe von Fässern hatten, waren in ihre Beine und Arme einge setzt. Ein einzelner, riesiger Kristall umfasste ihren Kopf. Sie war die Parun von Fonns Gilde, und zehn Jahrtausen de im Inneren des Vitu Ghazi, der sie gepflegt und ernährt hatte, hatten sie geformt. Sie war die Einheit. Ihr Herz war das Herz des Gildenpakts. Ohne sie wären die Geset ze, durch die die Gilden von Ravnica gebunden waren, schon längst im Chaos versunken. Dies war nicht nur ein Aberglaube der Selesnijaner. Es war Teil der Geschichte. Ravnica hatte eine lange Geschichte, und Fonn hatte so viel darüber gelesen, wie sie konnte. Aus der Geschichte hatte sie gelernt, dieses Wesen zu bewundern und zu lieben, nicht auf all den tausend Synoden und Versamm lungen. Sie hatte nie geglaubt, dass sie jemals die heilige Mutter sehen würde, jedenfalls nicht in ihrem Leben. Niemand hatte das. »Mat’selesnija«, flüsterte Fonn. Der Gesang war zurückgekehrt, aber diesmal verfiel sie nicht wieder in eine Trance. Dies war der echte Gesang des Lebens. Seine Schönheit raubte ihr den Atem, aber sie fühlte sich nicht von ihr beherrscht oder dominiert. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als die heilige Parun zur Seite kippte und auf den Boden fiel. Ihr Licht breitete sich um Szadeks Füße herum aus. Sie konnte nach so vielen Jahren innerhalb des Vitu Ghazi ihr eigenes Gewicht nicht tragen. Der Vampir griff mit seinen schrecklichen Klauen nach 464
Mat’selesnija, beugte sich über sie und zog sie zu sich hoch, als würde er den Kuss einer Geliebten erwarten. Er warf Kos und seiner Gruppe einen Blick zu, als er gerade den Mund öffnete, und es sah so aus, als würde er die Augen verdrehen. »Anscheinend muss ich meine Anweisungen genauer geben, Laurer«, sagte der Vampir. »Wenn ich sage ›Küm mert euch um sie‹, bedeutet das ›Tötet sie‹. Und zwar sofort.« Dann beugte er den Kopf und begann zu saugen.
K
Der Mann, der Kos festgehalten hatte, warf ihn zu Boden, wo er hart zwischen Fonn und Jarad landete. Alle drei waren leicht benommen und versuchten, sich von den Wojeks fortzubewegen. Auch wenn dies gar keine Wojeks waren. Die Wesen, die zuvor wie drei der angesehensten Offiziere ausgesehen hatten, waren jetzt Massen von wimmelnden blauen Würmern und hatten nur noch ungefähre Menschengestalt. Sie näherten sich dem be nommenen Wojek und seinen Gefährten. »Habt ihr irgendeine Idee?«, fragte Kos, als die drei sich wieder aufgerappelt hatten. Die Laurer drängten sie immer weiter in Richtung des Podiums, wo der Vampir das Leben aus der heiligen Mutter des Konklaves saugte. »Jarad«, platzte Fonn heraus. »Beim letzten Mal hast du doch …« »Wird kaum gehen«, sagte er, »aber einen Versuch ist es auf jeden Fall wert. Allerdings hätte ich etwas Hilfe 465
nötig.« Er zwinkerte zu Savras Leiche hin. »Wenn ich deren Stab in die Hand bekomme, bin ich vielleicht in der Lage, sie zu kontrollieren. Wenn sie diese Form ange nommen haben, kann ich sie spüren, genau wie ich Insekten spüren kann.« »Prima«, sagte Kos. »Dann hol dir den Stab, aber gib Acht, dabei nicht vom Vampir gefressen zu werden. Fonn, schau mal, ob du nicht was für Biracazir tun kannst. Und ich werde so lange versuchen, diese Dinger zu beschäfti gen.« Jarad und Fonn flitzten los, um ihre Aufträge zu erledi gen. Zum Glück unternahmen die Laurer keinerlei Ver such, ihnen zu folgen, sondern bewegten sich weiterhin immer näher auf ihn zu. Kos blieb nichts anderes übrig, als sich immer weiter zurückzuziehen. Je näher die Wesen kamen, desto öfter musste er sich ducken oder zur Seite springen, um einem nach ihm schlagenden Tenta kel zu entgehen. Die Laurer spielten mit ihm, weil sie sich sicher waren, dass er ihnen nicht entkommen konnte. Ab und zu nahm einer von ihnen eine vertraute Gestalt an: Gharti, Sulli oder auch andere, an deren Namen er sich nicht erinnern konnte. Allmählich konnte er sich nicht mehr weiter zurückziehen. Sein Herz setzte fast aus, als einer der Laurer für einen Moment eine sehr vertraute Gestalt annahm. Eine schimmernde, fast geisterhafte Gestalt, die Kos sofort erkannte, bevor sie wieder in eine wimmelnde Wurm masse zerfiel. 466
Der Laurer hatte die Gestalt von Myczil Zunichs Geist angenommen. Kos schrie.
K
Fonn brauchte nur Sekunden, bis sie bei Biracazir war. Der große Wolf wurde immer schwächer. Er keuchte und japste durch seine blutige Schnauze nach Luft. Der Schlag des Vampirs hatte den Unterkiefer des Wolfs zerschmet tert und die Schädelseite eingedrückt. Trauer und Zorn tobten in Fonn, aber das Mitleid gewann schnell die Überhand. Sie legte eine Hand auf den Kopf des Wolfes und kraulte ihn hinter den Ohren. Biracazir winselte leise. »Pst«, sagte Fonn, die ihre Tränen nicht länger zurück halten konnte. »Alles wird wieder gut. Alles wird wieder gut.« Sie betrachtete den Stumpf an ihrem Handgelenk und verfluchte ihre Selbstsucht. Sie konnte unternehmen, was sie wollte, sie war einfach zu ausgelaugt. Sie hatte keine Heilmagie mehr für den Wolf übrig. Im Moment hätte sie alle ihre Glieder gegeben und nicht nur eine Hand, um ihn zu retten. »Fonn«, brüllte Jarad von der Mitte des Podiums aus und durchbrach damit die Umklammerung, in der die Sorge ihr Herz fester gehalten hatte als jeder Laurer. Der Vampir, der damit beschäftigt war, Mat’selesnija auszu saugen, schenkte dem Devkarin-Jäger keinerlei Beach tung. Jarad hielt Savras Stab mit einer Hand und bückte 467
sich, um etwas von Savras Körper herunterzunehmen. »Fang!« Der grüne Stein, den die Priesterin gestohlen hatte, flog durch die Luft auf Fonn zu, und diese war geistesgegen wärtig genug, um ihn mit der ihr verbliebenen Hand zu fangen. Sie hielt den Stein in der Hand und starrte in die leicht glühenden Facetten. Sie hatte keine Ahnung, was sie damit anfangen sollte. Der Stein diente dazu, ein Wesen mit dem Selesnija-Konklave zu verbinden, aber das Konklave war tot. Aber war es das wirklich? Der Stein glühte immer noch, wenn auch nur schwach. Und obwohl der Vampir Mat’selesnija das Leben aussaugte, lebte sie noch. Fonn drückte Bayuls Stein gegen ihre Stirn.
K
Die Laurer hatten Kos schon fast an den Rand des Podi ums gedrängt, aber Jarad eilte dem Wojek zu Hilfe, bevor dieser hinunterstürzte. »Kümmre du dich um den Vampir«, sagte der Elf. »Die hier gehören jetzt mir.« »Um den Vampir kümmern?«, wiederholte Kos. »Wie denn das?« Jarad antwortete nicht, sondern hob den Stab an, zielte mit dem Knäuel aus Nekrogeißeln auf die drei vorrücken den Laurer und befahl: »Stopp!« Die Laurer blieben stehen, aber nicht die Würmer, aus 468
denen ihre Körper bestanden. Jarad schloss die Augen und konzentrierte sich, was ihm nicht leicht fiel. Ihr seid keine Sklaven, teilte er ihnen mit. Ihr seid nicht seine Kreaturen. Ihr seid größer als er. Ihr seid größer als Dimir oder Szadek. Die drei einzelnen Laurer vereinigten sich zu einer riesigen wimmelnden Masse, einer men schenartigen Gestalt, die so groß wie ein Oger, aber doppelt so breit war. »Wie hast du das geschafft?«, fragte Kos. »Es ist nicht anders als Insekten zu kontrollieren«, sagte Jarad. »Solange …« Etwas, was nur die Faust des Vampirs sein konnte, traf Jarad in den unteren Rückenbereich und ließ ihn seinen Satz nicht beenden. Der Elf hörte, wie etwas brach, aber er zwang sich, den Schmerz nicht zu beachten. Seine ganze Konzentration gehörte dem riesigen Laurer-Wesen, das mit einer Milliarde winziger Schreie zischte. Ihr seid größer als alles, selbst als euer Meister. Tötet ihn. Jarad öffnete die Augen gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der Würmerhaufen Szadek einhüllte und ihn von Mat’selesnija wegzog. Das Elementarwesen fiel schlaff auf Savras Leiche. Die Kristalle in ihrem riesigen Elementarkörper strahlten immer noch ein schwaches smaragdfarbenes Leuchten aus. Vielleicht war sie ja noch am Leben. Und vielleicht, dachte Jarad, war das ja gar nicht schlecht. Der Vampir schrie unter der Masse der Würmer, stand aber immer noch aufrecht da. Von Jarad gelenkt, fraß die wimmelnde Laurer-Masse das Fleisch des Vampirs, der 469
Elf musste dafür aber einen hohen Preis zahlen. Der Devkarin konnte durch den Stab jedes der winzigen Gehirne spüren. Und während die Würmer das Fleisch des Vampirs verzehrten, wurden sie von der Essenz des Vampirs verzehrt. Sie starben wie die Fliegen, und jeder klitzekleine Tod war wie ein Nadelstich in Jarads Kopf. Lupul und Szadek verschlangen sich gegenseitig, und das Getümmel setzte ihm stark zu. Sein Gehirn ging bis zum Äußersten, um die Würmerhorde zu befehligen, ihnen seinen Willen aufzudrücken, obwohl Lupul dagegen aufbegehrte. Er hatte Glück gehabt, das wusste Jarad. Seine Macht, einfache Gehirne zu kontrollieren, wäre nutzlos gewesen, wenn sich Lupul in eine andere Person verwandelt hätte. Jarad konnte nicht länger sprechen. Um die Kontrolle über Lupul zu behalten, erforderte es seine volle Konzen tration. Aber er konnte nebenher denken. Er ließ seinen Hass auf den Vampir in ihre winzigen Gehirne fließen und stachelte ihren Ehrgeiz an. Es war wie ein kompli zierter Tanz auf einem dünnen Seil. Der Laurer wollte mit einem Gehirn funktionieren, mit einem komplexen großen gemeinsamen Gehirn. Szadek fiel auf die Knie und schrie vor Schmerz und Wut. Jarad bleckte die Zähne. Er hat euch viel zu lange ausgenutzt. Ihr seid großartig. Er ist ein Nichts. Er hat euch genau so eingesperrt, wie sie ihn eingesperrt hatten. Fresst ihn. Fresst ihn und werdet stark. Zerstört Szadek. Zerstört ihn jetzt sofort. Die Wür mer taten ihr Bestes, um zu gehorchen. 470
K
Der Stein fühlte sich auf Fonns Stirn kalt an. Es gab keine Welle der Magie, kein Energieblitz – nichts. Es war ein fach nur ein Stein. Nach ein paar Sekunden gab sie es auf und nahm den Stein in die Hand. Biracazir keuchte leise. Er war inzwischen sogar zu schwach zum Winseln. Er hatte nicht mehr lange zu leben. Die Tränen kehrten wieder. Fonn konnte es ein fach nicht länger aushalten. Sie brach heulend zusam men und legte ihren gesunden Arm um den Nacken des Wolfs. »Es tut mir so Leid«, schluchzte sie. »Biracazir, es tut mir alles so Leid.« Der Stein in ihrer Hand wurde plötzlich warm. »Biracazir?«, flüsterte sie. Eine lächerliche Idee bildete sich in ihrem Kopf. Das war doch unmöglich. Der Wolf war immerhin ein Tier. Aber waren sie andererseits nicht alle Tiere? Fonn zwang sich, ruhig zu bleiben. Sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten, als sie auf Händen und Knien um den Wolf herumkroch, um an die zerschmetterte Schnauze zu kommen. Sie starrte auf den Stein in ihrer Hand, der schon wieder kalt wurde. Zitternd drückte sie den Stein gegen die Stirn des Wol fes. Das Resultat stellte sich unverzüglich ein und war sehr hell.
471
K
Kos hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Jarad hatte den Vampir in Würmer gehüllt, Fonn hing weinend über dem zerschmetterten Wolf, Borcas Geist war verschwunden, und er selbst konnte nicht viel mehr tun, als zuzuschau en. Er war nur ein einfacher Mensch ohne verborgene mystische Fähigkeiten, ohne Wolf und ohne einen Dienstkameraden. Kos hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so nebensächlich gefühlt. Die Kristalle in den Armen und Beinen von Mat’selesnija fingen plötzlich an zu leuchten. Es war, als ob eine Batterie Leuchtmasten der stärksten Kategorie gleichzeitig eingeschaltet worden wäre. Das Leuchten wurde schnell zu einem blendenden Glanz, dann explo dierte das blassgrüne Licht. Eine Schockwelle, die von der selesnijanischen Parun ausging, breitete sich über den Versammlungskreis aus, dann noch eine und noch eine und … Jede neue Welle traf Kos wie eine Faust, drückte ihn vom Podium durch den Kreis, bis ihn eine schließlich auf den Rücken warf. Die Wellen taten eigentlich nicht weh, sie drückten ihn lediglich weg. Er reckte den Kopf, um zu sehen, was los war, und sah, wie Jarad auf ihn zuflog. Er konnte sich gerade noch zur Seite rollen, um dem Elfen auszuweichen. Jarad landete auf dem Rücken und rutschte noch kurz weiter, bevor er zum Halten kam. Die Schockwellen trafen auch auf die wimmelnde Masse aus Szadek und Lupul – für Kos war es inzwischen unmöglich zu bestimmen, wo der eine endete und der 472
andere anfing. Der Druck trieb den Laurer immer weiter aus dem Köper des Vampirs. Das Ganze erinnerte Kos an einen Wasserschwall, der Ameisen von einem Stück Holz spülte. Die Welle trug die Würmer als kleine Wolke in die Luft, wo sie einzeln mit winzigsten Explosionen zerplatz ten. Jarad hielt sich den Kopf mit beiden Händen und biss die Zähne zusammen. Tausende der Kreaturen, die andererseits ja auch nur eine einzige Kreatur waren, starben auf der Stelle. Von seinen Angreifern befreit, widerstand der Vampir den Druckwellen zunächst, aber dann wurde auch er zu Boden geworfen. Kos konnte es schier nicht glauben, was Lupuls Verrat Szadek, der einst eine lebende Legende gewesen war, angetan hatte. In nur wenigen Minuten hatte der Laurer in seinem Zorn nicht nur die Kleidung des Vampirs weggefressen, sondern auch den größten Teil von dessen bleichem Fleisch. Die Würmer hatten die Roben weggenagt, die Muskeln der Schultern und Ober arme gefressen und sich auch an einem großen Teil des Oberkörpers gütlich getan. Nur schwärzliche Rippen hatten sie übrig gelassen. Von Szadeks Beinen waren kaum mehr als die Knochen übrig geblieben. Schwarzer Rauch stieg aus dem Körper des Vampirs auf, und Sza deks Wimmern klang erstaunlich menschlich. Die Magie des Gildenpakts war die stärkste Verzaube rung, die die Welt von Ravnica je gekannt hatte. Es war nicht nur ein Blatt Papier oder ein Handelsabkommen. Der Gildenpakt war ein Dokument, wohl war, aber er war auch ein Zauberspruch. Und dieser Zauber ermächtigte 473
unter anderem auch zur Ausübung des Gesetzes, das in ihm festgehalten worden war. Und der Bund der Wojeks war der verlängerte Arm des Gesetzes. Er, Agrus Kos, war einer der vielen verlängerten Arme des Gesetzes. Und der einzige im Moment verfügbare. Kos rappelte sich wieder auf, griff in seine Tasche und holte den zehnzackigen Stern heraus. Er trug zwar immer noch Zivilkleidung, heftete ihn sich aber trotzdem an die Brust. Dann löste er ein Paar silberner, wie Manschetten aussehender Handschellen von seinem Gürtel. Als ihn der falsche Phaskin vorhin wieder in den Dienst aufgenom men hatte, wäre ihm das Tragen des Sterns komisch vorgekommen. Jetzt bedeutete ihm das Abzeichen alles. Kos schlenderte über das Podium, beugte sich über die glimmende Gestalt, die einmal die Verkörperung des Bösen in dieser Welt gewesen war, und befestigte die Handschellen an Szadeks Handgelenken. Sie rasteten ein und begannen leicht zu glühen. Der Zauber des Gilden pakts hielt sie zusammen. Nicht einmal der Herrscher der Geheimnisse konnte sich ihrer entledigen, solange Mat’selesnija lebte. »Szadek«, sagte Kos. »Ich verhafte Sie wegen Mordes an Luda, am heiligen Bayul und an Wachtmeister Bell Borca vom Zehnten Distrikt. Falls Sie Widerstand gegen die Verhaftung leisten, werde ich Sie bewusstlos schlagen. Ich habe eine ziemlich üble Woche hinter mir.«
474
Kapitel 20
H
Keiner der Unterzeichner und auch kein Beauftragter der Unterzeichner soll je die Existenz des zehnten Unterzeich ners offen legen. Eine Verletzung dieser Regelung wird mit unmittelbarer Verhaftung und/oder Hinrichtung bestraft. Zusatz X des Gildenpakts („Verborgene Charta«, auch: »Gesetz der Gildenmeister“)
1. Seleszeni 10000 Z. C., nachmittags »Aber wo sind sie hergekommen?«, fragte Kos. Er rührte drei Stück Zucker in seinen heißen Tee und wunderte sich schon wieder darüber, wie schnell die Eigentümer das Aul-Haus wieder komplett aufgebaut hatten. »Aus ihr«, sagte Fonn und zeigte in die Mitte. »Aus Mat’selesnija. Und Biracazir hat geholfen. Wir haben ihn noch rechtzeitig aufgehalten, und Mat’selesnija war in der Lage, neugeborene Dryaden aus dem Baum zu erzeugen.« »Ihr habt ihn aufgehalten. Ich habe ihn nur verhaftet. Was bedeutet, dass niemand mir je sagen wird, was sie mit dem Bastard gemacht haben«, meckerte Kos. »Man hat mir nur gesagt, dass man sich um Szadek ›kümmern‹ würde.« 475
»Das bedeutet hoffentlich, dass er hingerichtet wurde«, sagte Jarad. »Das hoffe ich auch«, stimmte Kos zu, »aber das Ganze ist ja jetzt nicht mehr mein Problem.« Er rührte noch mehr Zucker in seine Teetasse, der ein leichter Pfeffer minzgeruch entströmte. »Allerdings bin ich froh, dass Biracazir jetzt die Oberaufsicht über die neuen Dryaden hat. Du hast da einen ziemlich klugen Wolf.« »Ich hatte einen ziemlich klugen Wolf, korrigierte Fonn ihn. Sie blickte die Zinnstraße entlang in Richtung Vitu Ghazi, wo Goblin-Arbeitstrupps und -Ingenieure dem Konklave dabei halfen, die Türme und Veranden wieder instand zu setzen, die über die Jahre in den Baum hinein gebaut worden waren. In der ganzen Stadtmitte waren die Leute betriebsam und bauten, schauten und schwätzten. Viele trauerten um Freunde und Verwandte, die ums Leben gekommen waren. Fonn wollte gerade mit ihrer fehlenden Hand nach ihrem Getränk greifen, zuckte kurz zusammen und griff dann mit der anderen Hand danach. »Ich vermisse ihn. Wenigstens kann ich ihn immer noch hören.« Fonn grinste. »Und ihr seid bestimmt froh, wenn ich euch verrate, dass er die anderen davon über zeugt hat, das Konzept der Schweiger aufzugeben. Sie sind einfach zu gefährlich. Sie sind eine Schwachstelle im Kollektiv.« »Es wird ziemlich viel Arbeit bedeuten, den Baum wie der rein zu bekommen«, sagte Jarad. »Aber ihr habt mei nen Schwur, dass so etwas nie wieder geschehen wird.« Kos betrachtete den Devkarin, der immer noch seine 476
Hosen aus Echsenhaut und seine Jagdweste trug. Das lange Zottelhaar war straff nach hinten gebunden. Als neuer Gildenmeister der Golgari trug er das silberne Siegel der Gilde auf der Brust. Niemand war mehr übrig geblieben, um ihm diesen Titel streitig zu machen, als er nach Alt-Ravnica zurückgekehrt war. Kos vermutete, dass das gar nicht so schlecht war. Er bezweifelte, dass er Jarad je würde richtig trauen können, aber er war sicher lich besser als denkbare Alternativen. Nachdem Savra getötet worden war, fielen die Streit kräfte, die die Innere Festung angegriffen hatten, ausein ander. Bereits Feders Anwesenheit in der Schlacht hatte genügt, um den Kampf kippen zu lassen. Der Engel war zurückgekehrt, nachdem er Sonnenheim nicht sofort hatte finden können. Widerwillig hatte er Ludmilla über leben lassen, solange sie ihre Strafe absaß. Falls sie sich jedoch jemals wieder an der Oberfläche von Ravnica sehen lasse, würde er sie persönlich hinrichten, das hatte er ihr versprochen. Kos war erstaunt gewesen, wie sehr sich die Persönlichkeit seines Freundes verändert hatte, seit er seine Fesseln los war. Kos kam es so vor, als ob das Silber mehr als nur die Flügel eingezwängt hatte. Jetzt war der Engel beinahe blutdürstig. Aber er hatte seine Dienstmarke nicht abgegeben und versprochen, von sich hören zu lassen, wenn es Neuigkeiten gab. Die meisten anderen Golgari hatten von einer General amnestie profitiert. Alles andere hätte bedeutet, die Gilde aufzulösen, und Ravnica konnte ohne die Golgari einfach nicht überleben. Sie waren zu fest im politischen und 477
sozialen System der Stadt eingebunden. Nun war Feder also verschwunden und durchsuchte die Welt nach den übrigen Engeln. Deren Verschwinden war ebenso seltsam wie Besorgnis erregend. Für Feder, den »letzten Engel«, war es zu einer persönlichen Mission geworden, sie zu suchen. Kos fragte sich, wie lange Ravnica wohl ohne die feurigen Krieger aus Boros Heer schar überleben konnte. Diesmal hatten die Wojeks es zwar ohne die Engel geschafft, aber sie hatten nicht vor, ihr Glück weiter so zu beanspruchen. Aber egal, was sie auch beanspruchten, sie würden es fortan ohne Agrus Kos tun müssen. »Bist du dir auch ganz sicher?«, fragte Fonn. »Willst du wirklich aufhören? Wo du doch so lange ein Wojek gewesen bist. Was willst du denn stattdessen tun?« »Ich habe darüber nachgedacht, in eine der neu besie delten Zonen zu ziehen«, berichtete Kos. »Pivlic hat mich auf die Idee gebracht. Er will da draußen sein neues Lokal aufziehen. Er hat mir angeboten, als sein Sicherheitsbe auftragter zu arbeiten, zumindest wäre das ein guter Neuanfang. Das Kapitel hier habe ich abgeschlossen, und der Bund kommt auch ohne mich zurecht, denke ich. Es ist nach einhundertzehn Jahren wirklich an der Zeit, dass ich hier mal herauskomme und etwas von der Welt sehe.« Fonn warf Jarad unauffällig einen Blick zu. Er nickte und erhob sich. »Ich muss mir mal kurz die Beine vertre ten. Gehe nur mal kurz um den Block. Bin gleich wieder da.« »Bis später«, sagte Fonn. Sie drehte sich zu Kos um, der 478
gleichzeitig erwartungsvoll als auch etwas unsicher wirkte. Er hatte sich vor dieser Unterhaltung gefürchtet, seit er die Ledev nun nach all den Jahren wieder getroffen hatte, aber jetzt konnte er ihr nicht mehr ausweichen. Sie war schon lange kein Kind mehr, da hatte sie Recht. Sie hatte die fünfzig inzwischen schon lange überschritten, wobei Elfen (und auch Halbelfen) natürlich deutlich langsamer alterten als Menschen. Einen kurzen Augenblick lang vermisste er fast die Schweiger, die irgendwie ein Talent dafür gehabt hatten, unangenehme Situationen wie diese durch ihr Erscheinen zu unterbrechen. »Warum schaust du mich so komisch an?«, fragte Fonn. »Ich habe doch noch gar nichts gesagt.« »Du wirst mir Fragen stellen wollen, Fragen über …«, begann Kos, bekam den Namen aber nicht über die Lippen. »Das – das habe ich vor, ja«, bestätigte Fonn. »Ich will die Wahrheit wissen. Ich will wissen, warum die Akten etwas anderes erzählen, wie er gestorben ist, als meine Mutter. Du warst dabei, Kos. Du weißt, was geschehen ist. Zumindest das schuldest du mir.« »Ich schulde dir noch einiges mehr«, sagte Kos. »Das tun wir alle. Du und dein Wolf habt die Welt gerettet.« »Du versuchst, Zeit zu schinden.« Fonn grinste ihn an. »Ja, das stimmt«, sagte Kos. »Auch wenn du denkst, dass du es wissen willst … Ich kann dir versprechen, dass du es eigentlich doch nicht willst.« 479
»Warum frage ich dich dann?«, sagte Fonn. »Würde es dir helfen, wenn ich dir mein Schwert in Verwahrung gebe, bis du mit der Geschichte fertig bist? Oder weißt du was? Ich schwöre, dass du dieses Teehaus bei lebendigem Leibe verlassen wirst. Auf die Ehre der Ledev.« »In Ordnung«, sagte Kos und wiegte den Kopf. »Aber du wirst es wirklich nicht mögen.« »Das ist mir egal«, antwortete Fonn. »Das ist jetzt sie benundfünfzig Jahre her. Ich will einfach nur die Wahr heit kennen.« »Die Wahrheit«, sagte Kos, »ist hässlich.«
K
VORFALLSBERICHT: 10/13MZ/430.223
EINGEREICHT: 1. Seleszeni 10.000 Z. C.
HAUPTBEARBEITER: Konst. Kos, Agrus (derz. Ltn. a. D.)
ZWEITBEARBEITER: Ltn. Zunich, Myczil (verstorben)
Kos war irgendwie froh, dass er seinen Magen schon vorhin im Lagerhaus entleert hatte. Das bedeutete, dass er sich nur mit trockenem Würgen herumplagen musste, als er und Zunich die beiden Leichen der Wojeks fanden, die als Verstärkung zu ihnen stoßen sollten. Kos hatte die beiden Polizisten entdeckt. Der Viashino und die Men schenfrau hatten es noch nicht einmal bis auf die Dächer geschafft, als die entflohene Rakdos sie getötet hatte. Die schlimm zugerichteten Leichen von Maertz und Pashak hingen wie blutige Stoffpuppen über dem vorstehenden 480
Treppenabsatz. »Etwas mit Klauen hat sie auseinander gerissen. Aber diese Bisswunden hier – die stammen von einem Men schen«, keuchte Kos, bevor ihn ein erneuter Würgereiz derart stark überkam, dass er sich gegen die Wand leh nen musste. »Stimmt doch, oder?« »Die Wunden stammen wohl von Klauen, die an den Fingerspitzen befestigt worden sind. Wahrscheinlich waren sie auch noch mit Gift versehen, also pass auf, dass sie dich nicht berührt. Gesetzt den Fall, dass wir sie hier drin überhaupt finden.« »Aber wie hat sie … Schau doch mal, das war fester Knochen.« »Stahlzähne«, sagte Zunich, während er das Dach des Gebäudes auf der gegenüberliegenden Seite absuchte. Er musste die Augen zusammenkneifen, um durch den dichten Regen überhaupt etwas erkennen zu können. Die Rakdos hatte sie zunächst vom Lagerhaus und dem Turm weggeführt, aber jetzt kamen sie langsam wieder in die Nähe des Orts, wo alles angefangen hatte. Insgesamt war es ein ziemlich weiter Bogen gewesen. Der Kopfgeld jäger hatte sich immer noch nicht wieder blicken lassen. Mit etwas Glück würde weitere Verstärkung kommen, aber Zunich hatte Kos schon gewarnt, nicht zu viel Hoff nungen darauf zu setzen. Sie hatten nur einen Vogel losschicken können. Palla war äußerst geschickt vorgegangen, um sie wie der zurück zum Lagerhaus zu locken. Einmal hatte sie bis zur letzten Sekunde gewartet, bevor sie hinter einer Ecke 481
verschwand, nur um dann auf dem nächsten Dach wie der aufzutauchen, als ihrer Verfolger an der Ecke ange langt waren. Indem sie den Abstand nie zu groß werden ließ, lockte sie ihre Gegner immer weiter hinter sich her. Kos drehte sich um, um ein anderes Dach abzusuchen. Sein Herz setzte kurz aus. Er hatte zwar nicht die Rakdos mit ihrem wilden Haar und den krummen Zähnen gese hen, dafür aber den Kopfgeldjäger – den schwer fassba ren Elfen mit der Schädelmaske. Kos berührte Zunich an der Schulter und zeigte ihm still seine Entdeckung. Der Kopfgeldjäger blickte in die andere Richtung und hatte sie wahrscheinlich noch nicht bemerkt. »Hast du eine Ahnung, was er gerade beobachtet?«, flü sterte Kos. »Einmal darfst du raten«, antwortete Zunich, dessen Stimme im pfeifenden Wind kaum zu hören war. »Die Brücke dort scheint ziemlich stabil zu sein. Wir können vor ihm dort sein. Irgendwie habe ich keine Lust mehr, mich von den beiden an der Nase herumführen zu las sen.« »Das ist keine Brücke, das ist nur ein Stapel Bretter.« »Mir egal, jedenfalls ist es eine Abkürzung. Palla wird mir nicht entkommen«, sagte Zunich. Kos musste zugeben, dass die klapprigen Holzlatten doch eher eine Brücke als nur ein Bretterstapel waren, aber trotzdem war es nicht einfach hinüberzukommen. Die nassen Latten waren zwar erst kürzlich zusammen genagelt worden, aber Flechten und Schimmel verbreite ten sich in Ravnica nun einmal ziemlich rasch. Im strö 482
menden Regen waren sie rutschiger als spiegelglattes Eis. Nach ein paar quälenden Minuten vorsichtigen Krie chens, einigen Beinaheabstürzen und Fehltritten, bei denen einem das Herz stehen bleiben konnte, hatten sie es auf das Hausdach geschafft, das der Kopfgeldjäger die ganze Zeit beobachtet hatte. Kos hätte nicht Zunichs Handzeichen gebraucht, um stehen zu bleiben, damit er nicht ins Blickfeld des Elfen geriet. Der jüngere Wojek hörte durch das laute Geprassel des Gewitters hindurch ein Kratzgeräusch, als ob Ziegel gegen Ziegel schaben würde. Er stieß Zunich an und zeigte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Dort lag ein Berg weggeworfener Bildhauerkunst, der wie ein riesiger Haufen aus steinernen Leichen aussah. Arbeiter, die diese Gegend zum Abriss vorbereiteten, hatten sie dort aufgestapelt, damit die Brocken aus Marmor und Granit keine anderen Bauwerke gefährden konnten. Alles in allem sah es wie ein perfektes Versteck aus. Der Regen war zu einem richtigen Unwetter geworden, und die hellen Blitze warfen genug Licht auf die Szene, dass sie etwas Weißes sehen konnten, das sich in den Überresten bewegte. Etwas, das so blass war wie Pallas bemalte Haut. Mehr benötigte Zunich nicht. Er zog sein Kurzschwert und griff an. Kos hatte keine Wahl, er musste ihm folgen. »Nein!«, brüllte jemand hinter ihnen. Kos riskierte ei nen Blick über die Schulter und sah den Kopfgeldjäger, der aufgesprungen war und hinter ihnen herrannte. Diesmal gab sich der Elf keine Mühe, unentdeckt zu 483
bleiben. »Sie ist nur ein Köder!«
Kos’ Augen waren immer noch auf den Kopfgeldjäger gerichtet. Er zog sein Kurzschwert und bereitete sich auf einen Kampf vor. Der Elf würde in ein paar Sekunden bei ihm sein. Zunich brüllte zurück. »Es wäre mir auch egal, wenn sie deine verschleierte Braut wäre. Sie hat mindestens drei meiner Kollegen getötet.« Kos rückte ein Stück nach rechts, um zwischen den Kopfgeldjäger und seinen Dienstkameraden zu gelangen. Er hörte, wie Zunichs Schwert in einem großen Bogen durch den Regen schwang und sich in den Stapel mit den Statuen senkte. Für vielleicht eine halbe Sekunde ertönte ein ängstlicher Schrei, der aber vom unverwechselbaren Geräusch von Wojek-Stahl, der auf Fleisch und Knochen traf, jäh been det wurde. Kos lief ein kalter Schauer über den Rücken. Der Schrei hatte auf jeden Fall nicht nach einer blutdürstigen Rakdos-Bandenchefin geklungen. »Du Dummkopf!«, brüllte der Elf und wich zur Seite aus, um Kos’ halbherzigem Schlag auszuweichen. Kos wirbelte herum, konnte den Elfen aber nicht fas sen. Der bleiche Jäger flog auf Zunich zu und warf ihn zu Boden. Zunich wurde dabei das Schwert, das mit hellro tem Blut verschmiert war, aus der Hand gerissen. Es flog in einem hohen Bogen durch die Luft und schlitterte dann auf den nassen Ziegeln außer Sicht. Der junge Konstabler fasste sein Schwert so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Der Kopfgeldjäger und 484
Zunich prügelten aufeinander ein. Von Palla war nichts zu sehen, dabei hatte Zunich doch gerade sein Schwert aus etwas gezogen, das irgendwie wie ein verängstigtes Kind geschrien hatte. »O nein, das darf doch nicht wahr sein«, flüsterte Kos. Ihn hatte ein ungutes Gefühl überkommen. Wie in Trance lief er über das Dach und beachtete dabei seinen Dienst kameraden und den Elfen nicht weiter, die wilde Schläge und fiese Tritte austauschten. Zunich würde schon um Hilfe rufen, wenn er ihn brauchte. Kos musste wissen, was sich dort unter dem grotesken Haufen aus zerbro chenen Granitarmen, marmornen Oberkörpern und leeren grauen Augen befand. Der Wojek musste sich ganz klein machen, um sich durch eine kleine Lücke zwischen den Statuen durch zwängen zu können. Er ging davon aus, dass es sich hier um das perfekte Versteck eines verängstigten Kindes handelte. Jedenfalls schien das bewegungslose Mädchen vor ihm das geglaubt zu haben. Jetzt lag sie dort und starrte mit offenen Augen in den Regen. Ihr langes schwarzes Haar breitete sich um ihren Kopf herum aus, sodass es fast so aussah, als würde sie auf dem durch weichten Dach wie in einem Fluss treiben. Die Lumpen, in die das Kind gekleidet war, waren blutdurchtränkt. Rote Lachen bildeten sich um sie herum. Bald würde das ganze Blut aus ihr herausgelaufen sein, und es würde eine Weile dauern, bis genug Regen in diesen notdürftigen Unterschlupf gedrungen war, um alles wegzuwaschen. Kos zwängte sich noch weiter, bis er bestätigen konnte, 485
dass das Mädchen tot war. Er schloss für einen Moment
die Augen, um sich zu beruhigen. Erst dann merkte der entsetzte Wojek, dass der Kopf geldjäger und sein Dienstkamerad sich nicht nur gegen seitig windelweich schlugen, sondern auch miteinander sprachen, und es klang so, als ob der Elf die schlechteren Karten hatte. Kos’ Gehirn verarbeitete die Worte, wäh rend er schweigend die Augen des toten Mädchens schloss und aus dem Unterschlupf zurück in den Sturm trat. »Was hast …« Die Schläge, die Zunich austeilte, wurden von Satzfetzen unterbrochen. »Du dir…« Peng. »Dabei gedacht …« Paff. »Ein Kind als …« Boing. »Köder zu be nutzen?!« Zunich war es gelungen, einen Arm um die Kehle des Elfen zu legen und hatte ihn in den Schwitzkasten ge nommen. Beide trugen frische Wunden im Gesicht und an den bloßen Armen. Die Augen des Elfen traten unter der Schädelmaske hervor. Kos wusste nicht, was er tun sollte. Sein Dienstkame rad hatte gerade ein unschuldiges Kind umgebracht. Er hatte keine Ahnung, wie das Kind dort hingelangt war oder warum der Elf versucht hatte, Zunich und ihn vor irgendetwas zu beschützen. In Kos’ zugegebenermaßen sehr eingeschränkter Erfahrung versuchten Leute, die Totenschädelmasken trugen, normalerweise nicht, ande re zu beschützen. Aber er wusste auch, dass Zunich den Elfen zweifellos töten würde, wenn er jetzt nichts unter nahm. Dann würde es niemanden geben, der ihnen sagen 486
konnte, wer das Mädchen gewesen war. Und das konnte Kos nicht zulassen. Leider konnte er die gepresste Antwort des Elfen nicht verstehen, da Palla genau diesen Augenblick wählte, um zuzuschlagen. Die Mörderzünftlerin hatte oben auf dem Steinhaufen gehockt, der dem namenlosen Kind jetzt als letzte Ruhestätte diente. Sie sprang herunter und traf Kos’ Schwertarm mit einem Tritt, der ihn fast umwarf. Kaum hatte der Wojek das Gleichgewicht wiedergefunden, traf ihn ein zweiter Tritt im Magen. Kos krachte auf die Schindeln und rutschte ungebremst immer weiter hinun ter. Verzweifelt griff er nach dem Dach und rammte seine Finger in das verrottete Moos und Holz. Die zerbrochenen Tonschindeln rissen ihm die Hände auf, und Holzsplitter machten es sich in seinem Handballen bequem. Aber Kos schaffte es auf diese Weise, auf dem Dach zu bleiben. Er musste fast lachen, als etwas gegen seine Finger rutschte und er erkannte, dass es das Heft seines Schwerts war. Kos zuckte kurz zusammen, dann reckte er die Klinge nach oben. Palla war schon beinahe über ihm. Sie hatte ihre Stahlkrallen ausgefahren, und in ihrem tätowierten Gesicht blitzten die Zähne, als sie nun ihren Kampfschrei ausstieß. In ihrer Kampfeslust hatte die Rakdos bei ihrem An sturm zu viel Schwung aufgenommen. Kos rollte sich auf die Seite und holte mit einem Bein aus. Er traf Palla an den Schienbeinen, als sie gerade losspringen wollte. Die Kultistin mit der wilden Frisur landete kopfüber neben ihm auf dem Dach. An ihrem knochenweißen Gesicht 487
und in ihrem zerzausten Haar klebten Moos und Schin delteile. Sie hob den Kopf und grinste. Mit diesen Verzie rungen sah sie wie ein waschechter Ghul aus. »Das ist gut«, zischte Palla. »Ich hatte gehofft, dass du dich wehrst. Die anderen sind alle viel zu schnell gestor ben.« Sie kamen beide gleichzeitig auf die Beine und umkrei sten sich auf den rutschigen Schindeln vorsichtig. Die Rakdos probierte es mit einigen Schlägen, denen Kos einfach ausweichen konnte, da sie zu seinem Schwert respektvoll Abstand hielt. Palla schob sich das feuchte und verfilzte Haar aus dem tätowierten Gesicht. »Du bist noch ein ganz grünes Bürschchen, was?«, verhöhnte sie ihn. »Kein Wunder, dass du denkst, dass du gewinnen kannst.« »Ich habe bereits verloren, meine Dame«, sagte Kos. »Sie zu verhaften ist nur der Trostpreis. Außer wenn Sie weiterhin Widerstand leisten, was mir ein großes Vergnü gen wäre.« »Du musst noch etwas Respekt vor den Rakdos lernen, Bürschchen. Du bist ja noch kaum aus deiner Ausbil dungsuniform heraus, oder?« Kos’ Wurf überraschte ihn fast so sehr wie die Kulti stin. Der kurze Flug seines Schwerts endete in Pallas Kehle. Die Rakdos stolperte und zerrte vergebens am Schwertgriff, der aus ihrem Hals herausragte. Alles wirkte so theatralisch wie ein billiger Trick in einer Gauklerbude. Kos trat auf sie zu und riss das Schwert heraus. Ohne sich darum zu kümmern, dass er dadurch den Tatort verän 488
derte, gab er der röchelnden Rakdos einen Tritt, der sie vom Dach stürzen ließ. Diese Verletzung aller elementaren Regeln sollte ihm später einen Eintrag im Führungszeugnis einbringen, den ersten in einer langen Reihe, die er in seiner Karriere noch ansammeln würde. »Mach doch … was du willst … mit mir«, krächzte eine würgende Stimme durch den Regen. »Zumindest bin ich … kein Mörder.« Zunich hielt den Elfen immer noch in einem Würgegriff. Die Befreiungsversuche des Kopfgeld jägers waren inzwischen kaum noch als Zuckungen zu bezeichnen. Lange würde er es nicht mehr machen. Und was wäre so schlimm daran? Kos dachte kurz dar über nach. Zunich hatte das Mädchen getötet, aber wenn der Elf tot war, würden nur zwei Leute das wissen. Was das Kind auch immer hier oben gesucht hatte – nichts würde es mehr zurückbringen können. Nein, der Tod des Mädchens war ein Unfall gewesen, und zwar ein tragischer. Aber was Zunich da gerade tat, war kaltblütiger Mord. Es hieß natürlich, dass die einzigen Morde, die in Ravnica zählten, Morde an Wojeks waren. Aus juristischer Sicht mochte das stimmen. Selbst der unerfahrenste Wojek wusste das. Es wurde einem wäh rend der Ausbildung monatelang immer wieder in den Kopf gehämmert. Solange nicht ein Wojek das Ziel war, wurde Mord sonst meistens als Kostenpunkt beim Ausüben von Gil dengeschäften verbucht. Aber was hier geschah, hatte nichts mit den Geschäf 489
ten einer Gilde zu tun. Das hier war einfach nur das Beenden des Lebens eines anderen aus reinem Zorn. Falls Kos das zuließe, würde er den Rest seines Lebens damit leben müssen, und das konnte er nicht. »Chef!« Er richtete sein Schwert auf seinen Dienstka meraden. Mit gemäßigten Schritten ging er über das Dach auf die Kämpfenden zu. »Lass ihn los! Bitte!« Der ältere Wojek warf Kos über die Schulter einen Blick zu. In seinen Augen stand der Wahnsinn. Ein Grin sen schob sich auf sein Gesicht. »Kos, du sollst mich doch nicht ständig Chef nennen«, sagte Zunich. Trotz seines friedlichen Gesichtsausdrucks klang diese Ermahnung eher wie eine Todesdrohung. »Du bringst diesen Mann gerade um«, sagte Kos mit fester Stimme. »Ich weiß nicht, was er angestellt hat, aber das weißt du auch nicht. Ich weiß nur, dass er das Mäd chen nicht getötet hat.« »Ja, genau«, sagte Zunich und unterbrach seinen Satz, um den Kopf des Elfen gegen einen Steinbrocken zu schlagen. »Genau das hat er getan. Er hat sie hierher gebracht. Er hat sie in Gefahr gebracht. Er hat es getan, Kos. Er. Es war sein Fehler.« »Lass ihn los«, sagte Kos. »Ich werde … ich werde dich zur Not dazu zwingen. Chef, bitte!« Zunich hob den Elfen an beiden Schultern hoch und warf ihn auf die Dachschindeln. Er drehte sich zu Kos, während der Kopfgeldjäger Blut hustete und sich vor Schmerzen wand. »Mich dazu zwingen«, wiederholte Zunich. »Wirklich. 490
Und wie stellst du dir das vor, Konstabier Kos?« »Chef, ich weiß, dass das hier eine schlimme Situation ist, aber du stehst unter Schock. Du kannst nicht mehr klar denken. Hör zu, Palla ist tot.« »Ich habe Palla getötet«, sagte Zunich. »Nein«, widersprach Kos. »Chef, ich habe sie getötet, während du …« »Ich habe Palla getötet«, wiederholte Zunich. »Genau das wirst du sagen. Und auch ich werde nichts anderes sagen. Und der hier wird gar nichts mehr sagen. Er ist nämlich einfach ein weiteres Opfer. Wird er jedenfalls sein. Und … und sie …« Zunich machte eine Handbewe gung in Richtung des Steinhaufens, der die Leiche des Mädchens unter sich barg. In diesem Moment stieg ein durchsichtiger blauer Schatten aus dem Steinhaufen. Der dürre Geist hatte die Gestalt eines kleinen Mädchens. Der Geist schwebte auf Zunich zu. Zu Kos’ großer Überraschung war an dem Geist kein Anzeichen einer Wunde oder ein anderes Zeichen dafür zu sehen, dass das Mädchen zu einem der vielen erzürnten Geistern Ravni cas geworden war. Trotz ihres gewalttätigen plötzlichen Todes schien das Mädchen nicht auf Rache aus zu sein. Eigentlich schien sie nur auf Zunich zuschweben zu wollen. Als das Geistermädchen durch Zunich hindurch schwebte, konnte man den Schock an seinen weit geöff neten Augen ablesen. Der alte Mann sank mitten im Regen auf die Knie, beugte den Kopf und begann zu schluchzen. »O ihr Götter …«, klagte er. »Nein, ich bin ein guter Mensch, Kos. Ich bin ein guter Mann. Es war ein Unfall.« 491
»Ich weiß, Mycz«, sagte Kos. Mitfühlend legte er dem Leutnant eine Hand auf die Schulter, aber dieser schüttel te sie energisch ab. »Du hast Palla getötet?« Zunich schien sich erst jetzt der Bedeutung dieser Worte klar zu werden. Er hob den Kopf und blickte durch den Regen zu Kos hoch. »Ich … ja, ich habe sie getötet.« Kos nickte. »Sie ist futsch.« »Kos«, sagte Zunich flehend. »Sag es niemandem. Kei ner darf es wissen.« »Was?«, sagte Kos. »Und wen soll ich es nicht wissen lassen? Den Bund? Ich weiß nicht, was ich …« »Sag es nicht meiner Familie«, flüsterte Zunich. »Meiner Frau. Wir haben ein kleines Mädchen. Sie dürfen nichts darüber wissen. Niemals. Sie sollen lieber denken, dass ich als Feigling gestorben bin oder dass ich mir selbst das Leben genommen habe. Aber du darfst ihnen nie erzäh len, was ich getan habe. Versprich es mir, Kos.« »Leutnant, ich …« »Versprich es mir!« »In Ordnung«, sagte der jüngere Wojek. »Aber du wirst nicht sterben, Zu …« Kos hielt mitten im Satz inne, als er hörte, dass der Elf sich wieder aufgerappelt hatte. Der maskierte Jäger beäugte die beiden Wojeks. »Ich verschwinde jetzt«, sagte der Kopfgeldjäger vor sichtig. »Ich nehme die Leiche des Kindes mit. Ihre Ange hörigen werden sie beerdigen wollen, wenn ich sie ihnen schon nicht lebendig zurückbringen kann. Solltet ihr 492
mich aufzuhalten versuchen, werde ich euch töten. Elfen erholen sich schneller als Menschen, Wojek. Probier es lieber nicht aus.« Weil Zunich nicht antwortete, brach Kos das Schwei gen. »Du warst … du warst hier, um sie zu befreien?« »Lebende Beute bringt mehr Geld ein als tote, und Be freiungen bringen noch mehr ein«, sagte der Elf nüchtern. »Und nun? Wirst du versuchen, mich aufzuhalten, oder nicht, Wojek?« Kos warf einen Blick auf Zunich, der zusammengekau ert vor sich hin schluchzte. Durch eine Lücke in dem Steinhaufen sah er die Füße des Mädchens in einer Blut lache liegen. »Was wirst du den Eltern erzählen?« Der Elf betrachtete den zusammengebrochenen Wojek. »Die Rakdos hat sie getötet. Niemand wird je etwas ande res von mir hören.« »Nein!«, brüllte Zunich. Er sprang auf und wand Kos das Schwert aus der Hand, bevor der jüngere Wojek begriff, wie ihm geschah. Kochend vor Wut, stürzte sich Zunich auf den unbewaffneten Kopfgeldjäger, der ehrlich über rascht wirkte. Er kam nicht weit. »Halt!«, rief Kos und schlug zu. Er traf seinen Dienstkameraden mit der Faust genau am Solarplexus. Zunich ging sofort die Luft aus. Er krümmte sich, ließ das Schwert los und taumelte nach hinten. Dabei rutschte er auf einer losen Dachschindel aus und kippte über die Dachkante in den Regen, bevor Kos ihn packen konnte. Kos hechtete noch hinter ihm her, aber diesmal gab es 493
keine Rettung in letzter Sekunde mit einem Fanghaken. Zunich war zu schnell gefallen. Als Kos sich über die Traufe beugte, sah er gerade noch, wie sein Kamerad tief unten auf die Pflastersteine klatschte. Der junge Wojek war wie gelähmt. Er hörte Schritte und sah ein bekanntes Paar Stiefel neben seinem Kopf stehen. Kos war nicht in der Lage, den Blick von Zunichs zerschmettertem Körper zu heben. »Das war … unerwartet«, sagte der Elf. »O ja«, sagte Kos, der im Moment nicht in der Lage war, Zorn oder sogar Angst zu empfinden. »Dich trifft keine Schuld, Wojek«, fuhr der Kopfgeldjä ger fort. »Ich habe jetzt leider keine Zeit, länger hier zu bleiben. Du hast hier ein ziemlich übles Schlamassel, aber es gilt, was ich vorhin gesagt habe. Niemand wird je etwas von mir darüber erfahren …« Blitzschnell war Kos wieder auf den Beinen und packte den Elfen an der Kehle. Die Augen des Kopfgeldjägers traten vor Überraschung etwas hervor, aber er drückte die Hände des Wojeks ohne Mühe weg. »Wie ich gesagt habe«, sagte der Elf. »Niemand wird je etwas von mir darüber erfahren.« »Hau schon ab«, sagte Kos. Seine Hände zitterten. Er konnte sein Gesicht nicht heben, um dem Elfen in die Augen zu schauen. »Wenn ich dich jemals wieder in meinem Revier erwische …« »Mich zu bedrohen hat noch niemandem gut getan«, antwortete der Elf. »Aber du kannst mir glauben, dass ich mich in diesem Teil der Stadt in der nächsten Zeit nicht 494
blicken lasse. Nach dieser Katastrophe wird es sowieso schwer für mich werden, in dieser Gegend Arbeit zu finden.« Der Kopfgeldjäger bewegte sich so geschmeidig und lautlos wie eine Katze. Mit überraschender Sorgfalt barg er den Körper des Mädchens aus ihrem Steingrab und hielt ihn beschützend im Arm. Hätte ihr Kleidchen nicht vor Blut getrieft, hätte man glauben können, dass sie friedlich schlummerte. »Ich weiß, dass du von mir nichts mehr hören und se hen willst«, sagte der Elf, bevor er über die Leiter auf der anderen Seite des Daches verschwand. Aber hier ist ein kleiner, kostenloser Rat: Gib nicht auf. Häng deinen Beruf nicht an den Nagel. Du hast etwas, was den meisten deiner Sorte fehlt: Anstand. Du hättest genauso gut zulas sen können, dass er mich umbringt.« »Ich hab gesagt, du sollst abhauen«, sagte Kos. »In Ordnung«, sagte der Elf. »Bis die Tage, ‘Jek!« Der Kopfgeldjäger holte einen Enterhaken hervor, der dem der Wojeks gar nicht unähnlich war, und hakte ihn an der Kante ein. Eine Sekunde später war er mit seiner grausi gen Last verschwunden. Kos’ Knie verweigerten ihm den Dienst, und er musste sich auf das Dach setzen. Er wusste, dass er jetzt die Wahl hatte. Er konnte seinem Gewissen folgen und die Wahrheit sagen. Er konnte die Akten und den guten Namen des großen Myczil Zunich für alle Zeiten beschmutzen, wenn er die ganze schäbige Geschichte erzählte. Zunich würde 495
als warnendes Lehrbeispiel verwendet werden. Sein bemerkenswertes Lebenswerk würde durch einen bluti gen Fehler zerstört werden, der ihn dazu gebracht hatte, einen unbewaffneten Mann ermorden zu wollen. Allerdings war die Leiche des Mädchens verschwun den, und das bahnte einer anderen Geschichte den Weg. Er konnte erzählen, wie Zunich gegen Palla gekämpft und sie in den Tod gestoßen habe, was ihn auch das eigene Leben gekostet habe. Der Zustand, in dem die Leichen waren, würde keine weiteren Fragen aufkommen lassen. Selbst wenn der Kopfgeldjäger sein Wort nicht halten würde – dann stand das Wort eines Golgari-Söldners gegen das eines eingeschworenen Verteidigers der Stadt Ravnica. Kos traf die einzige Wahl, die er treffen konnte. Am ersten Tag des zehntausendsten Jahres des ravni canischen Kalenders, siebenundfünfzig Jahre später, würde er sich anders entscheiden. Er würde die Wahrheit erzählen.
496
Epilog
H
1. Seleszeni 10000 Z. C., spätnachmittags Der Tee in den Tassen war kalt geworden und die Ge schichte zu Ende erzählt. Kos begleitete Jarad und Fonn zu den Aufzügen an Grigors Schlucht. Wie versprochen hatte er Fonn die ganze Geschichte erzählt. Wie erwartet hatte sie danach Schwierigkeiten gehabt, Kos in die Augen zu schauen. Nachdem er sich von den beiden verabschiedet hatte, fragte er sich, ob es richtig gewesen war, Fonn die Wahrheit über den Tod ihres Vaters zu erzählen und dass Jarad dabei gewesen war. Aber jetzt war es zu spät. Sie hatte nach der Wahrheit verlangt, und sie hatte es verdient, dass ihr dieser Wunsch erfüllt wurde. Er hätte sich nur gewünscht, dass ihr der Schmerz erspart geblieben wäre. Er schwor sich und Fonn, dass er der alten Akte die Wahrheit hinzufügen würde, bevor er die Bundeshalle zum letzten Mal verließ. Er winkte ihnen zu. Jarad nahm den Aufzug nach un ten in die Schlucht, während Fonn einen der vielen Übergänge benutzte, um ins Zentrum zum Vitu Ghazi zu kommen, wo sie sich erst einmal niederlassen wollte, nachdem Biracazir dem heiligen Kollektiv beigetreten war. Kos ging zu Fuß zurück zur Bundeshalle, wo das 497
vorläufige Büro des Generalkommandeurs eingerichtet worden war. Kos musste noch an einigen Stationen Halt machen. Kurz vor Mitternacht wollte er sich mit Pivlic auf dem Zeppeliden-Flugfeld treffen. In den letzten Tagen hatte er sich mit mehr Büroarbeit herumplagen müssen, als er in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Viele Papiere hatten gelesen und unterschrieben werden müssen, aber er wollte keine unerledigten Geschäfte hinterlassen. Er trabte die Stufen zu den Haupteingangstüren hoch und musste dabei unzähligen kleinen Baustellen auswei chen. Große Bereiche der Bundeshalle mussten repariert und wieder aufgebaut werden, nachdem die Schweiger hier randaliert hatten. Jetzt gab es keine Schweiger mehr, und es würde auch nie wieder welche geben. Helligan hatte die Leiche des einen aufbewahrt, der Wenvel Kolkin geähnelt hatte. Er wollte anhand des Körpers Untersu chungen anstellen, aber weder Kos noch der Labormagier glaubten, dass Kolkin eines der ursprünglichen Geschöp fe gewesen war. Die wahren Schweiger waren immer noch ein Rätsel und würden es wohl auch für immer bleiben. Sein erster Besuch galt dem Nekrolabor. Die Arbeit dort war für erfolgreiche Ermittlungen einfach zu wichtig, um es zu lange in Trümmern zu lassen. Helligan stand über den verschrumpelten und verkohlten Überresten dessen, was der Labormagier den »Wenvel-Mann« nannte. »Hallo, Kos«, wurde er von Helligan begrüßt. Der ober ste Labormagier kümmerte sich nicht groß um Ränge. 498
Nach den ganzen Beförderungen und Ernennungen von Stellvertretern konnte Kos ihm das nicht verdenken. Auch er hatte längst den Überblick verloren. Bis Mitter nacht war Kos noch der geschäftsführende Generalkom mandeur, aber morgen früh würde diese Verantwortung an die beförderte Migellic übertragen werden. Jarad hatte ihm geholfen sicherzustellen, dass unter den verbliebe nen Sesselfritzen keine weiteren Laurer mehr waren. Unter normalen Umständen wäre der neue Generalkom mandeur aus deren Reihen gekommen, aber Migellics heroische Verteidigung der Zehnten Bundeshalle hatte den Ausschlag gegeben, wobei auch Kos’ besondere Empfehlung nicht geschadet hatte. Das Revier des Zehn ten Distrikts war eines der wenigen gewesen, das noch einsatzbereit war, als sich die Wellen der Synode über die Stadt ausgebreitet hatten. »Tag auch, Helligan«, sagte Kos mit einem Kopfnicken. »Wir sind mit den Objekten deines letzten Falls fertig«, sagte der Labormagier. »Oder soll ich sagen, deines end gültig letzten Falls?« »Klingt beides nicht so toll. Komm lieber zum Punkt.« »In Ordnung. Also, die wenigen aus dem Goblingewebe gepulten Überbleibsel von Borcas Körper haben sich als Wurm-Zeug herausgestellt, und es hat sich nicht lange gehalten. Aber das bestätigt nur, was wir bereits vermutet haben.« Es bestätigte auch, warum sich Borcas Geist nicht an den Bombenanschlag erinnern konnte, aber Kos wollte das jetzt nicht erwähnen. »Als ich irgendwann mal in die Kühlschublade hineingeschaut habe, waren da nur 499
noch kleine getrocknete Reste drin gewesen, die wie Reiskörner ausgesehen haben«, fuhr Helligan fort. »Ich habe sie unter meinen Überprüfer gelegt, und da sahen sie wie ganz normale Würmchen aus. So etwas Verrück tes ist mir wirklich noch nie untergekommen.« »Heb sie an einem sicheren Ort auf«, sagte Kos. »Nein, besser wäre es wohl, wenn du sie ganz verbrennst.« »Da bin ich dir schon einen Schritt voraus«, erwiderte Helligan. »Das habe ich nämlich bereits gemacht. Die Leiche des heiligen Bayul wurde an die Selesnijaner übergeben, und damit verbleibt nur noch …« »Ich weiß.« Kos nickte. »Könntest du mich hier eine Minute allein lassen?« Helligan zuckte die Achseln. »Ich werde hier noch wo chenlang mit dem Zeug eingesperrt sein. Da ist mir alles recht, wenn ich mal kurz an die frische Luft komme. Ich bin in, sagen wir, fünf Minuten zurück?« »Das sollte reichen.« Helligan klopfte Kos auf die Schulter und verließ pfei fend das Labor. Sobald die Tür hinter dem Labormagier ins Schloss gefallen war, ging Kos zu den Schubladen, in denen die Leichen aufbewahrt wurden. Er überprüfte die Namensschilder, bis er den einen Namen fand, nach dem er suchte. Er entriegelte das Schubfach und zog es so sanft wie möglich auf. »Hallo, Luda«, sagte er. »Ich wollte dir nur erzählen, dass wir ihn erwischt haben. Du kannst …« Sie kann was, Kos? Sie ist tot. »Du kannst in Ruhe weiterschlafen«, sagte Kos. Das 500
Gesicht des Mädchens sah genauso aus wie damals, als er sie am Rand des Zinnstraßenmarkts gefunden hatte. Die Augenlider hatte man ihr zugedrückt. Kos weinte nicht. Er war schon seit geraumer Zeit über den Punkt hinaus, wo selbst ein sinnloser und schmerz hafter Tod wie der von Luda bei ihm so lange nach der Tat noch Tränen entlockte. Es war ein Teil seines Berufs. Vielleicht würde er eines Tages, wenn er diesen Beruf abgelegt hatte, trauern können. Um alle. »Es tut mir Leid, dass ich es nicht geschafft habe, dich zu retten«, sagte er. »Ich kann nur berichten, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde.« Er begegnete Helligan auf dem Weg zum Ausgang und ordnete an, dass auch die Leiche des Mädchens verbrannt werden solle.
K
Kos setzte sich ein letztes Mal hinter seinen Schreibtisch. Er war nur kurze Zeit in seiner neuen Stellung gewesen, aber er hatte bereits begonnen, das sperrige hölzerne Ding zu verachten, das ihn in Phaskins ehemaligem Büro gefangen hielt. Er warf einen Blick auf einen leeren Aktenordner und wusste nicht genau, wo er beginnen sollte. Noch etwas anderes bedrückte ihn – Zunichs Geist. Vielleicht war es Lupul gewesen, vielleicht auch nicht. Er war sich nicht sicher, und er bezweifelte, dass er je die Antwort erfahren würde. Der andere Geist, mit dem er in 501
der letzten Zeit vermehrt zu tun gehabt hatte, wählte exakt diesen Moment, um wieder aufzutauchen. »Hast du eine Minute Zeit?«, fragte Borcas Geist, als er durch die Wand von Kos’ Büro hereinkam. »Du wirst es nicht glauben, was mir in den letzten beiden Wochen alles passiert ist. Also, erst habe ich in diesem dummen Baum festgesteckt, und dann …« »Borca?«, sagte Kos verwundert. »Ich dachte, der Vam pir …« »Er hat mich geschlagen!«, beschwerte sich Borcas Geist. »Hat mich in diesen verdammten Baum gesteckt. Er kann – konnte, besser gesagt – Geistern Sachen antun, die noch nicht einmal ich dir genau erklären könnte. Hätte ich gewusst, dass ich ihn schlagen hätte können, dann würdest du jetzt den ersten Geist sehen, der zum Generalkommandeur ernannt wurde, da würde ich mein letztes Hemd verwetten. Aber natürlich bekommen immer die hübschesten Mädchen den ganzen Ruhm.« »So hübsch bin ich nun wirklich nicht«, sagte Kos. »Und jetzt? Bist du direkt hierher gegeistert?« »Da hatte ich keine Wahl«, antwortete der Geist. »Bin durch den Vertrag dazu verpflichtet. In diesem Baum festzustecken hat irgendwie wehgetan. Ich vermute mal, dass die Form, die ich zurzeit habe, nicht wirklich stabil ist, wenn ich nicht in der Nähe meines Rächers bin. Ich bin also sozusagen mit dem Harz herausgequollen.« »Na, herzlichen Glückwunsch.« »Kos, wir müssen miteinander reden.« »Und?« 502
»Du hast den Fall gelöst. Aber ich bin immer noch hier. Was ist los?« »Ich habe den Abschlussbericht noch nicht veröffent licht«, sagte Kos. »Und nicht du wurdest von der Bombe getötet. Das war ein Laurer. Soweit ich weiß, muss dich dieser Laurer schon vorher getötet haben, allerdings gibt es dafür keine Zeugen. Wenn es sich nicht ergeben hätte, dass hinter allem derjenige gesteckt hat, den wir gefasst haben, dann hätten wir wohl die ganzen Anklagen nicht durchgebracht. Außerdem habe ich mir gedacht …« »Was denn?« »Bei einer Explosion umzukommen klingt viel besser als von Würmern gefressen zu werden.« Kos schmunzel te. »Ich dachte, ich könnte dir damit eine Freude berei ten.« »Naja, vielleicht«, sagte Borcas Geist, sah dabei aber unbehaglich aus. »Mir ist langweilig. Hier ist alles so eintönig. Ohne dir zu nahe treten zu wollen, Kos, aber ich darf jetzt wirklich hier herumsitzen und dir dabei zu schauen, wie du Formulare unterzeichnest?« Die spektra le Kopie des Vertrags mit den Orzhov erschien in seiner Hand. »Da steht drin, dass ein vollständiger und ehrlicher Bericht angefertigt werden muss. Und zwar in schriftli cher Form.« Kos überlegte. Eigentlich hatte es viele Vorteile, einen unsichtbaren Geist um sich zu haben. Natürlich konnte das gelegentlich auch in eine größere Belästigung ausar ten. »Bist du dir sicher, dass du das von mir verlangst, Borca? Dann wirst du nämlich vollständig tot sein. So 503
richtig voll und ganz tot.« »Ich bin schon tot«, sagte Borcas Geist. »Und habe ich schon erwähnt, dass ich mich langweile? Mir ist langwei lig. Stinklangweilig. Verdammt langweilig. Mach es.« Er wartete einen Moment, besann sich, und sprach weiter. »Bitte. Mach es, Kamerad.« Kamerad. Wie oft habe ich Borca gesagt, dass er nicht wirklich mein Dienstkamerad ist, dachte Kos. Und war um? Um die Erinnerung an einen Mann hochzuhalten, der vor Jahren gestorben ist? Borca war ein anständiger Kerl gewesen. Er hatte Kos’ Verachtung nicht verdient gehabt. Inzwischen, nach einigen Tagen ohne Bumbat, hatte Kos allmählich erkannt, dass er selbst trotz seiner hervorragenden Aufklärungsquote ein lausiger Dienstka merad gewesen war. Und das aus keinem anderen Grund als wegen dieser ewig alten Schuldgefühle. Viele Jahre später würde der berüchtigte »Von Wür mern gefressen«-Bericht, der auch als »die Borca-Akte« bekannt geworden war, in Lehrveranstaltungen und Trainingskursen gern als Beispiel dafür zitiert werden, wie die Ermittlungstechniken von Wojeks praktisch jeder Situation angepasst werden konnten. Die Betonung würde auf den Beschreibungen liegen, auf der Art und Weise, wie in diesem Fall ermittelt worden war, und auf den historischen Hintergründen, von denen es eine Menge gab. Alles zusammen ergab für die Verteidiger Ravnicas den Beweis, dass Lupul noch existierte. Falls sich immer noch irgendwelche Laurer versteckt hielten – was Kos annahm – würden die Wojeks auf der Hut sein. 504
Nicht einer der Studenten in diesen Vorlesungen merk te je groß an, dass Kos der einzige Wojek gewesen war, der am größten Fall des Jahrhunderts gearbeitet hatte. Dabei waren oben auf dem Vorfallsbericht, der die BorcaAkte einleitete, zwei Namen aufgelistet, von denen einer unter normalen Umständen nicht korrekt sein konnte. Aber ob es jetzt Sentimentalität oder ein reiner Flüchtig keitsfehler war: Bell Borca ging als der einzige Wojek in die Geschichte Ravnicas ein, der einen Mord an sich selbst aufgeklärt hatte.
K
Helligan nahm einen Schluck von seinem Kaffee, der schon vor Stunden kalt geworden war. Selbst er brauchte ab und zu etwas Schlaf, und deswegen hatte er beschlos sen, für heute Schluss zu machen. Er hatte nur noch eine Sache auf seinem Zettel: das letzte Opfer des Zinnstraßen fiaskos ins Krematorium zu schicken. Er ging zu den Schiebefächern hinüber, in denen die Leichen aufbewahrt wurden, und öffnete die Schublade, in der Ludas Leiche lag. Er schob die Arme unter den Körper des kleinen Mädchens und schrieb dessen seltsam klumpige Beschaffenheit der Tatsache zu, dass die Leiche dort schon eine ganze Zeit untergebracht war. Länger als die meisten anderen. Die Würmer bewegten sich. Die Würmer wimmelten. Bevor Helligan, den nichts so leicht erschrecken konnte, überhaupt daran dachte, die Leiche fallen zu lassen, war 505
es schon zu spät. Der ölige Film aus wimmelnden Massen kroch seine Arme hoch und verzehrte ihn in wenigen Minuten. Der Labormagier hatte noch nicht einmal Zeit zum Schreien. Wegen der ganzen Bauarbeiten, Neurekrutierungen und Schichtwechsel stand gerade kein Wächter an der Tür, als Helligan an diesem Abend das Gebäude verließ. Deswegen fragte auch niemand, warum der als zurückge zogen und einzelgängerisch berüchtigte Labormagier ein weiß bekleidetes kleines Mädchen an der Hand führte, als er die Stufen der Zehnten Bundeshalle hinabging.
506