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Raketenbomben über England
Der Einsätze von Hitlers »Wunderwaffen«
Die Deutsche Wehrmacht Im 2.Weltkrieg Tatsa...
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P Paus
Raketenbomben über England
Der Einsätze von Hitlers »Wunderwaffen«
Die Deutsche Wehrmacht Im 2.Weltkrieg Tatsachen – Berichte - Dokumente
Copyright © 1986,1994 by Autor und Verlagsunion Erich Fabel-Arthur Moewig KG, Rastatt Alle Rechte vorbehalten Umschlagentwurf und -gestaltung: Werbeagentur Zeuner, Ettlingen Umschlagfoto: Archiv VPM Printed in Germany 1994 Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin
ISBN 3-8118-6079-8 (lOer-Kassette)
Vorwort Was ab_dem.-14. Juni 1944 in Gestalt fast acht Meter langer Flugkörper über Nordfrankreich und den Ärmelkanal in Richtung Südengland flog, waren die Vorboten einer kommenden Ära des Schreckens - des Raketen-Zeitalters. Mit einem Durchmesser von 80cm, 850kg Sprengstoff in der Spitze, Stummelflügel an den Seiten und von einem PulsoSchubrohr auf über 650 km/h Geschwindigkeit gebracht, wurden diese „Fi 103’^ge-nannten Projektile besonders für die Bevölkerung Londons zu einer steigenden tödlichen Bedrohung. Von den Briten „buzz bombs“ (Brummbomben) genannt, waren die deutscherseits als „V l“ (Vergeltungswaffe 1) bezeichneten geflügelten Torpedos in der Folgezeit zu Tausenden auf die Themsemetropole und Gebiete im südenglischen Raum - später auch auf Lüttich und Antwerpen abgeschossen worden und richteten dort schwere Verheerungen an. Ein neues Massenvernichtungsmittel hatte somit in die Geschichte der Menschheitskriege Eingang gefunden - aus heutiger Sicht gleichsam „Urenkel“ jener als „Cruise Missiles“ bekannt gewordenen amerikanischen Marschflugkörper, die - im Gegensatz zu ihren V-1Vorbildern mit lediglich rd. 240 km Reichweite-, m Baumwipfelhöhe nahezu an der Grenze der Schallgeschwindigkeit fliegend, einen Atomsprengkopf über eine
Distanz von etwa 2000 Kilometern fast punktgenau in ein Ziel tragen können. Die technischen Entwicklungen jener deutschen Flügelbomben der Jahre 1944/45, ihr Einsatz und die in England erzielten Wirkungen wurden im vorliegenden Band ebenso veranschaulicht wie die Reaktionen der verantwortlichen britischen Stellen und des Geheimdienstes.
Die Luft dröhnte. Zwei Spitfires rasten im Tiefflug von Osten heran. Weiter nördlich kurvten drei amerikanische P 51 „Mustangs" herum. Aus ihren Bordwaffen züngelten glühende Geschoßketten. Alle fünf Maschinen trugen weiße Streifen um die Tragflächenwurzeln; Kennzeichen für die Luftstreitkräfte der Alliierten, die in der französischen Normandie am 6. Juni 1944 die so genannte Invasion gestartet hatten. „Die haben uns anscheinend noch nicht gewittert", sagte Wachtmeister Schraube.* „Sonst würden sie uns den Hintern aufreißen." „Abwarten", gab ihm Leutnant Hötzig Bescheid, der wie der stämmige Wachtmeister zu den beiden Jägern hinaufsah, die auf Gegenkurs seitlich an dem offenen VW vorbeirasten. Leutnant Hötzig saß vorn neben dem Obergefreiten Klodt, der den Wagen über einen holprigen Weg den Berg hinaufsteuerte. Auch der blonde Klodt blickte dann und wann in die Höhe. Der Obergefreite und der Leutnant trugen die blauen Uniformen der Luftwaffe. Der auf der hinteren
*Alle Namen, außer solchen von Persönlichkeiten der Zeitgeschichte, sind frei gestaltet.
Bank sitzende Wachtmeister Schraube dagegen steckte in einer ockergelben Kluft; am linken Arm prangte eine breite, rote Binde mit einem weißen Kreis, in dem ein schwarzes Hakenkreuz eingedruckt war. Dass die drei trotz der verschiedenen Uniformen ein und derselben Luftwaffeneinheit angehörten, war ein Teil eines Geheimnisses. Hötzig, Schraube und Klodt kannten es selbstverständlich. Die alliierten Piloten stellten ihre einsitzigen Jagdmaschinen plötzlich auf die linken Tragflächen, rissen sie herum und rasten im Messerflug (steile Kurvenlage) zurück. Ruckartig legten sie die Jagdmaschinen wieder gerade und stießen mit donnerartigem Getöse von hinten auf den VW-Kübel herab. „Sie haben uns erkannt, Herr Leutnant", schrie Wachtmeister Schraube. „Los, volle Pulle", rief der große, hagere Leutnant dem Fahrer zu; gleichzeitig blickte er nach vorn. Etwa fünfzig Meter vor ihnen begann ein Wald, der den ganzen Berg bedeckte. Dort mündete der Feldweg in ein großes, viereckiges Loch. Es sah so aus, als wäre es in Laubwerk und Geäst der Bäume sowie in die dort wachsenden Sträucher künstlich eingeschnitten worden. Klodt trat auf den „Pinn" (dicker, runder Metallbolzen, der damals das Gaspedal bildete). Der VW jagte mit erhöhtem Tempo auf den Wald zu. Die Männer flogen auf und ab, wurden hin und her gerüttelt. Das immer schneller herankommende Dröhnen der Flugzeugmotoren zerrte an den Nerven. Wachtmeister Schraube ließ die beiden Spitfires nicht
aus den Augen. Die Jäger gingen noch dichter an die Erde heran. Sie überflogen gerade die breite Straße, die von Amiens heraufkam und von welcher der VW-Kübelwagen vor gar nicht zu langer Zeit auf den Feldweg abgebogen war. „Wenn jetzt die Federn brechen, sind wir bestimmt im Eimer", kreischte der Obergefreite durch den Lärm der Motoren. Hötzig und Schraube wussten, wie recht der Fahrer hatte. Rechts und links vom Feldweg waren keine Deckungsmöglichkeiten; kein Loch, kein Graben, wo sie sich hätten verkriechen können; nur Wiesen, auf denen gelber Löwenzahn blühte. Es gab für sie nur eine Möglichkeit, das Duell um Leben oder Tod zu gewinnen: Sie mussten den Wald erreichen. Nur noch zwanzig Meter trennten den VW von dem rettenden dunklen Loch. Da sahen es Hötzig und Wachtmeister Schraube zur gleichen Zeit: An dem Vorausfliegenden britischen Jäger flackerten feurige Pünktchen auf. „Tempo, Tempo, Tempo!" schrie Hötzig. „Ich versuche es", rief Klodt. Er setzte alles auf eine Karte. Er trat den Gaspinn bis zum Anschlag durch. Der VW schoss mit heulendem Motor auf den Wald zu. Hinter ihnen zersägte die Geschoßkette den Feldweg. Kleine Erdfontänen sprühten hoch, begleitet von winzigen Blitzen. Das Rattern der Bordwaffen und das Knallen der explodierenden Geschosse malträtierten ihnen die Trommelfelle. Schraube und Hötzig sahen, wie der zweite Feind Jäger
dicht an die Erde heranpreschte. Jetzt stand er genau in Schussposition hinter ihnen. Der englische Pilot drückte auf den Auslöseknopf. Die Geschoßbahnen zogen davon. Doch in diesem Augenblick war der VW-Kübelwagen gerade im Wald verschwunden. Der Obergefreite Klodt riss den Wagen in voller Geschwindigkeit nach links auf einen schmalen Pfad, trat auf die Bremse und stellte den Motor ab. Noch bevor der VW zum Stehen kam, waren Leutnant Hötzig und Wachtmeister Schraube herausgehechtet und warfen sich hinter dicken Baumstämmen in Deckung. Sekunden später lag der Fahrer mit keuchendem Atem neben ihnen. Die drei sahen, wie die Geschosse über den Feldweg tanzten. Kurz vor dem dunklen Loch am Waldrand endete die Garbe. Die Luft vibrierte vom Gedröhne der dicht über sie Hinwegziehenden Spitfires. Als das Geräusch verebbte, standen die drei Männer auf, gingen zum Waldrand und sahen zum Himmel hinauf. Nördlich von ihnen griffen die amerikanischen „Mustangs" immer noch ein Ziel mit Bordwaffen an, das sie mit bloßen Augen nicht erkennen konnten. Rauchwolken stiegen dort auf. Die Spitfires kamen gerade wieder auf Gegenkurs zurück. „Guckt euch das an!" schrie Wachtmeister Schraube plötzlich auf. Aus dem Himmel stürzten zwei deutsche Jäger vom Typ FW 190 herunter. Blitzschnell waren sie hinter den Feindmaschinen in Schussposition. Bordwaffen blitzten 10
und knallten. Die hinten fliegende Spitfire zeigte Rauchentwicklung. Sie kippte ruckartig über den Motor nach vorn ab und schlug auf der Erde auf. Ein heftiger Knall zerriss die warme Luft, dem ein großer Rauchpilz folgte. Der zweite Tommy (Jargonwort für Engländer) hatte die Gefahr erkannt. Er riss seine Maschine herum, drückte (Sinkflug) an und jagte mit nördlichem Kurs davon. Die beiden Focke-Wulf drehten ebenfalls bei und verfolgten ihn. Doch die drei am Waldrand stehenden Männer konnten nicht mehr beobachten, was weiterhin geschah. „Der wollte uns zur Schnecke machen", stöhnte Wachtmeister Schraube, „und jetzt liegt er selbst unten." Die drei blickten noch einmal zu dem ausbrennenden Jäger hinüber, dann drehten sie sich um und gingen zu ihrem Wagen zurück. Klodt stieß ihn rückwärts auf den breiteren Feldweg, wendete und fuhr unter dem Schutz des dichten Blätterdachs den Berg hinauf. Je mehr sie sich der Kuppe näherten, desto lauter drang der dort herrschende Lärm an ihre Ohren: Rufe, Schreie, gebrüllte Befehle, das Quietschen und Knarren von Winden, das Heulen von Automotoren und das ratternde Tuckern von Elektroaggregaten. Obergefreiter Klodt steuerte den VW durch eine scharfe Krümmung. Ein paar Meter weiter tauchte vor den dreien das Plateau der Bergkuppe auf. Es war so, als würden sie in eine riesige Halle hineinfahren, deren Seiten aus Bäumen und Sträuchern und einem Dach bestanden, das durch ein Tarnnetz auf langen Stangen gebildet wurde. Die gesamte Spezialstellung war dermaßen gut getarnt, dass sie bis zu diesem Tag noch kein feindlicher 11
Aufklärer oder Jäger entdeckt hatte. Und in dieser eigenartigen Halle wimmelte es von Soldaten, die teilweise Luftwaffenuniformen trugen, teils weiß-graue Drillichanzüge. Auch ein paar Männer in Zivilkleidung wirkten in dem seltsamen Haufen mit. Inmitten der auf der Bergkuppe geschlagenen Lichtung stand ein großer, länglicher Betonklotz, auf den parabelförmig in die Höhe verlaufende Schienen montiert waren. Auf der gegenüberliegenden Seite schob gerade ein Trupp Soldaten auf einem kleinrädrigen Karren ein merkwürdiges Gebilde heran. Es glich einer riesigen Zigarre, trug ein dickes Rohr auf dem Rücken und hatte an beiden Seiten stummelartige Tragflächen. Obwohl es wie ein kleines Flugzeug aussah, war es - genau genommen - doch keines. Klodt hielt an einem Kastenwagen, aus dem eine Menge Telefonleitungen herausliefen. Unter den an der Seite stehenden beiden Masten, zwischen denen eine Antenne gespannt war, knatterte ein Aggregat. Bevor Hötzig ausstieg, drehte er sich um und sagte zu Wachtmeister Schraube: „Es sieht jetzt hier ganz anders aus als an dem Tag, als Sie uns verließen, was?" „Das kann man wohl sagen, Herr Leutnant", gab der Wachtmeister in der ockergelben Uniform zu. „Es bleibt bei dem, was ich Ihnen in Saleux befohlen habe, klar?" In Saleux, an der Somme bei Amiens, befand sich der Gefechtsstand des Flakregiments, zu dem Hötzigs Spezialeinheit gehörte. „Jawohl, Herr Leutnant", erwiderte Schraube. Der Leutnant sprang aus dem VW und verschwand in einem Kfz 15, in dem die Funkstelle einer Luftnachrich12
teneinheit, ein kleiner Klappenschrank für die Vermittlung von Telefongesprächen und auch Hötzigs provisorischer Gefechtsstand untergebracht waren. Schraube stieg aus, zog einen blauen Rucksack von der Sitzbank und ging langsam am Rand der getarnten Lichtung entlang. Dort standen zahlreiche Pkw und Lkw, die mit Splitterschutzwällen umgeben und auseinander gezogen waren. Zwischen zwei dicken Bäumen saß ein Gefreiter auf einer Munitionskiste. Vor ihm flackerte ein kleines Feuer, über dem auf zwei Steinen eine Bratpfanne stand. Der Soldat schlug gerade ein paar Eier hinein. Als er Schraube sah, sprang er auf und rief mit strahlendem Gesicht: „Guten Tag, Herr Wachtmeister, gut, dass Sie wieder da sind. Wenn Sie ein Spiegelei haben wollen, für Sie ist immer eines übrig." Schraube war bei den Männern, die ihm unterstanden, sehr beliebt. „Werde mir den Fall merken", meinte der Wachtmeister grinsend. „Doch vorerst habe ich etwas anderes auf dem Herzen." Er fragte den Gefreiten und erhielt die Antwort, die er haben wollte. Am nördlichen Ende der Lichtung stand ein Lkw in einem Kranz aus aufgeworfener Erde. Zwischen den Bäumen war ein Bindfaden gespannt, an dem eine Unterhose, ein zerlöchertes Unterhemd und ein paar blaue Wehrmachtstaschentücher zum Trocknen hingen. Schraube ging zu dem Fahrerhaus hinüber, das zwischen zwei Baumstämmen herausragte. Er legte den Rucksack auf den weichen, moderig riechenden Waldboden und rief nach einem Mann namens Ganter. 13
Im Innern des mit dunkelgrauen Planen abgedeckten Wagens rumorte es. Eine dumpfe Stimme ertönte: „Mensch, Bernd, bist du wieder da?" Die am Heck hängende Plane flog plötzlich hoch. Ein schmaler Kopf erschien an der Wagenecke, auf dem kurz geschnittene schwarze Haare wirr durcheinander standen. Unteroffizier Ganters Gesicht sah abgespannt und müde aus, doch das änderte sich, als er Schraube sah, denn der Wachtmeister war ein alter Freund von ihm. Sie waren gemeinsam durch Russland gezogen, bis in die Kalmückensteppe und zum Kaukasus. Damals noch mit einem 8,8-Zentimeter-Geschütz. Später kommandierte man sie als Flak-Artilleristen zu einer Spezialeinheit; zuerst zum Luftwaffenflugplatz Peenemünde-West, dann nach Zempin, und schließlich landeten sie in Nordfrankreich. Mit ihnen die neue Spezialwaffe, bei deren Erprobung sie dabei gewesen waren. Ganter sprang vom Lkw, ging auf Schraube zu und reichte ihm die Hand. „Freut mich, dich wieder zu sehen, Bernd, und ich hoffe, es geht dir gut. Na, wie war's beim Regimentsstab? Wie ich dich kenne, hast du dich dort nicht wohl gefühlt." Er schwieg plötzlich und starrte den anderen aus großen Augen an. Erst jetzt nahm er bewusst wahr, in welch einer Uniform der Wachtmeister steckte. „Mensch, wie siehst du denn aus? In dem Aufzug würdest du auf jedem Maskenball den ersten Preis bekommen." „Du hast gut lachen", meinte Schraube. „In den Klamotten habe ich mich noch nie wohl gefühlt. Aber was will man machen? Beim Regimentsstab liefen alle in 14
gelben OT*-Uniformen herum, als ich dort vor drei Wochen eintraf. Ich musste die Maskerade mitmachen; auf Befehl." „Und warum?" wollte der magere Unteroffizier wissen. „Aus Geheimhaltungsgründen. Das ist Befehl von ganz oben. Ich durfte mich nicht einmal umziehen, als ich mit Hötzig den Regimentsgefechtsstand verließ, um hierher zu fahren. Aber es wird nicht lange dauern, dann hole ich meine alten Klamotten wieder heraus. Am liebsten würde ich es sofort tun." Ganter staunte immer noch. „Was gibt's sonst Neues?" erkundigte sich der Wachtmeister. „Sieh dich um, dann weißt du Bescheid. Vor fünf Tagen sind wir hier angekommen. Dann gleich mit Hochdruck an die Montage. Den Erfolg siehst du dort auf der Lichtung." Er stieß den Daumen ein paar Mal nach hinten. „Hm", brummte der Wachtmeister und äugte zum Himmel hinauf, „hoffentlich war nicht alles umsonst." Am Abend war der teuflische Bogen sozusagen gespannt, die „Pfeile" lagen bereit. Das, was lange und unter größten Schwierigkeiten vorbereitet worden war, sollte nun im Juni des Jahres 1944 dem Krieg eine für Deutschland günstige Wende geben. So lauteten zumindest die Parolen. Ob sie Wirklichkeit werden sollten, würde die nahe Zukunft zeigen. Noch klangen Wachtmeister Schraube die Worte des
* OT = ..Organisation Todt", zuständig für die Durchführung von militärischen Bauten aller Art. 15
Regimentskommandeurs in den Ohren, die dieser am Morgen des Tages in seinem Bunker bei Saleux gesprochen hatte. „Nach langer Wartezeit", so hatte der Oberst erklärt, „ist heute der Tag gekommen, an dem unsere Waffe zum Einsatz gelangt. Ich weiß genau, dass die Monate, die zwischen eurer Ausbildung und dem Beginn der Montage lagen, für euch eine harte Probezeit waren. Deshalb wirkte der Montagebeginn befreiend auf uns alle. Ich habe mich an den Entladebahnhöfen und in den Stellungen davon überzeugen können, mit welcher Hingabe und Ausdauer ihr ans Werk gegangen seid und in tage- und nächtelanger ununterbrochener Arbeit eure Geschütze und Geräte herangefahren und aufgebaut habt. Dafür spreche ich allen Offizieren, Unteroffizieren und Mannschaften meinen Dank und meine Anerkennung aus. Heute nun sollen euer Warten und eure Arbeit den verdienten Lohn finden: Der Feuerbefehl ist erteilt! Voller Vertrauen zu unserer Waffe gehen wir an unseren sicherlich harten Einsatz zu einem Zeitpunkt, wo unsere westlichen Gegner um jeden Preis versuchen, auf dem Festland Fuß zu fassen. Umso wichtiger ist daher der Einsatz unserer Waffe. Und wenn wir heute und in Zukunft unsere Geschosse abfeuern, dann wollen wir immer an das Leid und den Schaden denken, den die alliierten Gegner uns mit ihrem Bombenterror bereitet haben." Mit dem üblichen Gedanken an Führer, Volk und Vaterland hatte er seine Rede beendet. Danach waren alle zu ihren Einheiten entlassen worden, um an den 16
letzten Vorbereitungen für die bevorstehende Offensive teilzunehmen. Der Abend zog seine dunklen Schleier über das Land. Die Venus blinkte wie ein hell funkelndes Auge hin und wieder durch die Löcher der langsam ostwärts ziehenden Wolkendecke. Vom Kanal her wehte ein leichter Wind, der nach Jod, Tang und Salz roch. In dem Wald, auf der Lichtung, wo die Flak-Spezialeinheit in Stellung gegangen war, herrschte Ruhe. Schreie, Rufe, Befehle, das Klirren von Kriegsmaterial, das Dröhnen von Autos und Aggregat-Motoren waren verhallt; ebenso das Motorengeräusch feindlicher Flugzeuge, die fast den ganzen Tag über im Raum Abbeville herumgeflogen waren. Die Soldaten, die bis vor wenigen Minuten noch in hektischer Eile herumgerannt waren und hart gearbeitet hatten, ruhten sich jetzt aus. Sie hockten in ihren Fahrzeugen, auf gefällten Bäumen, Stümpfen oder Munitionskisten, standen herum, rauchten, unterhielten sich oder verzehrten die kalte Verpflegung, die mit heißem Malzkaffee hinuntergespült wurde. Alle sammelten sie neue Kräfte - jeder auf seine Art. Keiner von ihnen sprach es aus, aber jeder spürte, wie die Spannung immer mehr wuchs. Wachtmeister Schraube saß auf der hölzernen Treppe, die zum Eingang des Kastenwagens hinaufführte. Er streute Tabak auf Zigarettenpapier, leckte an dessen Rand entlang und rollte mit geschickten Handbewegungen eine Zigarette. Unteroffizier Ganter stand mit einigen Soldaten vor ihm. Sie unterhielten sich leise. Leutnant Hötzig hielt sich im Kfz 15 auf. Er hockte auf 17
einem Schemel neben den beiden Funkern, die über die Kopfhörer und den Empfänger in den Äther lauschten. Hin und wieder drehte einer von ihnen an der Frequenzskala, damit sie bloß nicht den wichtigen Augenblick verpassten und das Zeichen von der Meldung der Gegenfunkstelle im unterirdischen Bunker bei Saleux überhörten. Der Feldfernsprecher auf dem Bord an der Wagenwand rasselte. Gleichzeitig fiel eine der kleinen schwarzen Klappen am Vermittlungsschrank. Der dort Diensttuende Luftnachrichtensoldat nahm den Hörer, drückte auf die Sprechtaste im Griff und meldete sich mit dem Decknamen der Einheit, der an dem Tag „Wacholderbeere" lautete. Als das Rasseln ertönte, schnellte Leutnant Hötzig herum und sah den Gefreiten der Luftnachrichtentruppe gespannt an. Wachtmeister Schraube sprang auf, kam die Treppe herauf und blickte in den Wagen, der von einem flackernden Hindenburglicht (kleine Kerze) nur notdürftig beleuchtet wurde. „Für Sie, Herr Leutnant", sagte der Gefreite am Klappenschrank und hielt Hötzig den Hörer hin. „Ingenieur Daub." „Was will der denn schon wieder?" stieß Hötzig ein wenig ärgerlich aus. Ingenieur Hans Daub war einer der wenigen Zivilisten der Einheit; ein wichtiger Mann, der sich gerade bei der Abschusszentrale aufhielt. „Wie sieht es aus, Herr Leutnant?" fragte der Ingenieur, nachdem Hötzig sich gemeldet hatte. „Das fragen Sie mich jetzt schon zum zehnten Mal in18
nerhalb von zwei Stunden, Herr Daub", gab der junge Leutnant bissig zurück. Doch ein Mann wie der ruhige, besonnene Spezialist ließ sich davon nicht umwerfen. „Sie irren sich, Herr Leutnant", gab er in ruhigem Ton zurück. „Ich habe mich nicht zehnmal, sondern zwölfmal erkundigt. Und wie steht es im Augenblick?" „Darüber bekommen Sie früh genug Bescheid", donnerte Hötzig in die Sprechmuschel und knallte den Hörer auf das braune Bakelitgehäuse. „Nichts, Herr Leutnant?" rief Wachtmeister Schraube in dem Augenblick auch noch überflüssigerweise vom Eingang her. „Machen Sie, dass Sie wegkommen!" fauchte Hötzig ihn an. Er sprang auf und stand mit einem Schritt an der Tür. „Was steht ihr überhaupt hier in der Gegend herum?" Er holte tief Luft und wollte noch etwas sagen, doch dazu kam es nicht mehr. „Herr Leutnant, wir werden gerufen", meldete einer der beiden Luftnachrichtenfunker. Sofort war Hötzigs Wut verflogen. Er drehte sich um und sah auf die Funker hinunter. Der rechts sitzende Unteroffizier hatte die kleine Lampe eingeschaltet, die am Empfänger befestigt war. Die Morsetaste klackerte leise, mit der er den Ruf erwiderte. Danach lauschten sie gespannt in den Äther. Kurz darauf huschten ihre Bleistifte über die vor ihnen auf dem schmalen Tisch liegenden Spruchblocks. Mit Buchstaben, in Fünfer-Gruppen, wurde die verschlüsselte Nachricht durchgetastet. Nach dem Schlussmorsezeichen „AR" quittierte der Unteroffizier den Empfang des 19
Spruchs. Dann sprangen beide auf, drängten sich an dem Leutnant vorbei an die vordere Wand des Kastenwagens, wo die Schlüsselmaschine „Enigma" einsatzbereit stand. Hötzig folgte ihnen und rief: „Beeilung, Herrschaften, Beeilung!" Wachtmeister Schraube, Unteroffizier Ganter und die übrigen Soldaten drängten sich an der Treppe und starrten schweigend den Wagen an. Der Unteroffizier las die einzelnen Buchstaben des Spruches vor. Der Obergefreite tippte sie auf der Tastatur ein, die der einer Schreibmaschine glich. Oberhalb der Tasten leuchteten die für den Klartext bestimmten Schlüsselbuchstaben auf, die Leutnant Hötzig ablas und auf einem Block mitschrieb. „Mist!" schrie der Leutnant plötzlich. „Dabei kommt doch überhaupt nichts heraus. Ihr Pfeifensäcke habt die Schlüsselmaschine nicht richtig eingestellt." Die Kodes der Schlüsselmaschinen wurden jeden Tag geändert, wobei natürlich Pannen auftreten konnten. Doch das war diesmal nicht der Fall. „Warten Sie doch ab", rief der Nachrichtenunteroffizier dem ungeduldigen Leutnant zu. „Sie müssten doch wissen, dass so etwas bei der Funkerei üblich ist. Bei kurzen Funksprüchen stehen am Anfang immer eine Menge Buchstaben ohne Sinn." Der Mann behielt recht. Sie entschlüsselten weiter, bis das Stichwort „Rumpelkammer" zu lesen war und der Zusatz „Ziel 42". Das war der endgültige Feuerbefehl für die Flugbombentruppe! Leutnant Hötzig rannte durch den geräumigen Wa20
gen. Die Soldaten an und auf der Treppe spritzten auseinander. Sie blickten hinter dem Offizier her, der zur Abschussrampe lief. Rufe hallten durch die Nacht. Schon vor zwei Stunden waren die Tarnnetze entfernt worden, die bis dahin die Lichtung und das Katapult gegen Sicht aus der Luft abgeschirmt hatten. Sterne blinkten durch die Fünf-Zehntel-Wolkendecke*; weit entfernt war das Brummen von Flugzeugmotoren zu hören. Von der Abschussrampe her, die auch „Schleuder" oder „Geschütz" genannt wurde, ertönte dumpfes Brummen, das schließlich in donnerndes Getöse überging. Aus dem dicken Rohr des kleinen, auf der Rampe stehenden Projektils mit den Stummelflügeln schössen lange Flammen heraus. Als das Dröhnen die höchste Lautstärke erreicht hatte, zündete man die Pulverrakete. Die Wucht ihrer Explosion fegte das kleine Stummelflugzeug an einem Starthaken über die Schienen. Es löste sich vom Startgestell und rauschte mit brummendem Motor wie ein kleiner Komet in Richtung „Ziel 42" davon: nach London. Sofort schoben die Spezial-Kanoniere auf einem Karren die nächste Flugbombe heran, die mit einem Kran auf die Rampe gehievt wurde. Das geschah am frühen Morgen des 13. Juni 1944. Einige Tage zuvor hatte die Landung der Alliierten In der Meteorologie wurde der Grad der Bewölkung zahlenmäßig in Zehnteln ausgedrückt. Zehn-Zehntel bedeutete beispielsweise geschlossene Wolkendecke. 21
(Engländer, Amerikaner und Kanadier) in der Normandie begonnen. Hitler holte nun zur Konteraktion aus. Er befahl den Einsatz der mit Sprengstoff beladenen, geflügelten Bomben. Mit ihnen wollte er London in Schutt und Asche legen, eventuell sogar die feindlichen Landungstruppen zerschlagen und den Gegner friedensbereit machen. In dieser Juninacht wurde zum ersten Mal in der Geschichte des Krieges eine neue Waffe eingesetzt: die Fi 103, von der Propaganda „V l" genannt. Die Flugbombenoffensive hatte begonnen. Im Deutschland des II. Weltkrieges gab es auf dem Gebiet der so genannten Fernwaffen zwei verschiedenartige militärische Entwicklungen. Das Heer plante, erprobte und entwickelte zum Fernbeschuss - anfangs auf dem Schießplatz Kummersdorf bei Berlin und später auf dem Versuchsplatz Peenemünde-Ost - eine reine Raketenwaffe. Das bedeutete: Eine Sprengstofflast sollte mit einer Rakete über große Entfernungen geschossen werden, um danach zu explodieren. Aus diesen Bemühungen entstand schließlich das „Gerät A 4", eine regelrechte Rakete, mit welcher der erste Schuss ins Weltall gelang. Die A-4-Rakete wurde später unter der Bezeichnung „V 2" (Vergeltungswaffe zwei) zum Fernbeschuss auf Ziele in England, vor allem in London, eingesetzt. An der Spitze dieser Testreihe standen unter anderem Männer wie Dr. Walter Dornberger und der weltbekannte Raketenprofessor Wernher von Braun. Tatsache ist, dass die in Peenemünde-Ost entwickelte Rakete wesent22
lieh dazu beitrug, die späteren amerikanischen Weltraumflüge zu ermöglichen, ihre Entwicklung zu beschleunigen und schließlich das große Ziel zu erreichen: die Landung auf dem Mond. Der Raketen-Versuchsreihe stand ein anderes Programm gegenüber, das von der Luftwaffe durchgeführt wurde. Dort dachte man weniger an eine reine Rakete, sondern vielmehr an eine fliegende Bombe. Aus dieser Sicht heraus entwickelten die Kasseler Flugzeugwerke Fieseler unter der Leitung des technischen Direktors Robert Lusser einen Flugkörper, der relativ billig war und eine Sprengladung von fast einer Tonne bis zu 240 Kilometer weit transportieren konnte. Die Geschwindigkeit betrug dabei etwa 600km/h. Die Typenbezeichnung der fliegenden Bombe lautete offiziell Fi 103, später auch FZG 76 (Flak-Zielgerät 76), „Kirschkern" oder „Maikäfer". Bei der Entwicklung des Flugkörpers sah man sich auch gleichzeitig nach einem geeigneten Triebwerk um, mit dem die Sprenglast ins Ziel geflogen werden konnte. Man griff dabei auf das Strahltriebwerk zurück, an dem der Konstrukteur Dr. Paul Schmidt bereits seit dem Ende der zwanziger Jahre arbeitete. Das Arbeitsprinzip eines Strahltriebwerkes sieht nach den Ausführungen von H. W. Stuhr folgendermaßen aus: Um auch im Bereiche geringerer Geschwindigkeiten zu brauchbaren Antriebsdrucken zu kommen, muss noch ein weiteres Drucksteigerungsmittel ausgenutzt werden. Eines einfachster Art ist die Gasschwingung. Wenn wir in einer Brennkammer mit anschließendem 23
langem Auspuffrohr eine bestimmte Menge Kraftstoff-LuftGemisch verpuffen lassen, so wird im Auspuffrohr eine Gassäule zum Strömen gebracht. Diese strömt infolge der Massenträgheit auch dann noch in derselben Richtung weiter, wenn die Expansion (Ausdehnung) der Verpuffung längst aufgehört hat. Das wiederum bewirkt, dass jetzt in der Brennkammer ein Unterdruck entsteht. Wenn nun die andere Seite der Brennkammer mit Öffnungen versehen ist, die durch einfache Klappenventile -das heißt einfache Blechplatten, die aufklappen können - verschlossen sind, so werden diese Ventile sich bei Unterdruck im Brenner in der Brennkammer öffnen und frische Luft hereinlassen. In diese braucht nun nur noch der Kraftstoff gespritzt zu werden. Da die Klappenventile einen Strömungswiderstand bilden, verbleibt ein restlicher Unterdruck, der die Gassäule im Auspuffrohr zurückströmen lässt. Dadurch bewirkt die zurückströmende Gassäule im Auspuffrohr eine Druckerhöhung, diese schließt die Ventile wieder. Das Gemisch muss dann abermals gezündet werden; der neu entstehende Druck bringt wieder die Gassäule im Auspuffrohr zum Strömen. Und derselbe Vorgang wiederholt sich, wie er eben beschrieben wurde, in immer wiederkehrender Folge. Die Zündung kann durch die zurückschlagende Auspuffflamme erfolgen, durch Ultraschallschwingungen oder aber auch durch ein besonderes Zündsystem. Man kann aber auch die beweglichen und verhältnismäßig trägen Klappen weglassen. Dann muss man an ihrer Stelle Düsen einbauen, die die Eigenschaft haben, der Strömung in Richtung in die Brennkammer einen 24
sehr kleinen, der Strömung aus der Brennkammer heraus aber einen sehr großen Widerstand entgegenzusetzen. Der Impuls der dann zeitweilig nach vorne ausblasenden Gase ergibt einen Schub (Druck), der gegen die Flugrichtung verläuft. Um ihn aber dennoch im positiven Sinne für den Antrieb auszunützen, lässt man das Gas in hornartig nach hinten gebogene Rohre Hineinblasen, die den Strahl rückwärts lenken, aber zwischen sich und dem Rohreinlauf den Eintritt frischer Luft gestatten. Die Wirkung dieses Strahlentriebwerks war verhältnismäßig gering. Deshalb versuchte man, eine Verbesserung zu erzielen. Es gab die Möglichkeit, zwei Schmidt-Argus-Rohre gemeinsam auf einer Ansaug- und Auspuffanlage arbeiten zu lassen. Dadurch kam es tatsächlich zu einer Verstärkung des Druckes und zu einer größeren Leistung. Auf dieser Arbeitsweise des Schmidtschen Strahlrohres basierten nun die Versuchsarbeiten, die die Firma Argus in Berlin unternahm. Man erzielte tatsächlich eine höhere Leistung, machte vor allem das Strahltriebwerk narrensicherer und heilte die noch bestehenden Kinderkrankheiten, von denen allerdings, das muss gesagt werden, dieser Antrieb nie ganz frei wurde. Es kam ferner zu einer Zusammenarbeit zwischen den beiden Firmen Fieseler und Argus, wobei die Kasseler die zigarrenförmigen Flugkörper für die Sprenglast lieferten und die Berliner die Montage der Triebwerke übernahmen. Ein Zusammengehen, das erfolgreich war. Den beiden Firmen gelang es auch, die oberste Führung der Luftwaffe auf sich und die neue Waffe aufmerk25
sam zu machen und sie für sich zu gewinnen. Im Juni 1942 nahmen Vertreter der Firmen Argus und Fieseler an einer Besprechung beim damaligen Generalluftzeugmeister teil: bei dem Mann also, der einen entscheidenden Einfluss auf Sein oder Nichtsein einer neuen Waffe innerhalb des Bereiches der Luftwaffe hatte. Generalfeldmarschall Milch, so hieß der Mann, erkannte den militärischen Wert des neuen Projekts und entschied, dass es weiterentwickelt werden sollte. Er selbst befasste sich ebenfalls eingehend mit der Neuerung und setzte später ein gigantisches Unternehmen in Gang, von dem noch die Rede sein wird. Damit hatten Fieseler und die Firma Argus einen wichtigen Schritt nach vorn getan, aber es war noch längst nicht der letzte. Die Vorrangeinräumung durch Generalfeldmarschall Milch löste bei der Raketengruppe des Heeres (Dr. Dornberger, von Braun) eine Reaktion aus, der wir auch Beschreibungen der Fi 103 durch ausgezeichnete Fachleute verdanken. Dornberger setzte zuerst seinen Mitarbeiter Wernher von Braun auf die Fi 103 an. Von Brauns Aufgabe bei dieser Untersuchung war es auch - vielleicht auch vor allem -, die Unzulänglichkeiten der fliegenden Bombe herauszufinden, damit man sie aus Rivalitäts- und Konkurrenzgründen eventuell auf höherer Basis aus dem Entwicklungsprogramm „abschießen" konnte. Brauns Bericht lag innerhalb kurzer Zeit vor. Darin hieß es: „Der Flugkörper wird von einer so genannten Argusröhre von 300 Kilogramm Schub angetrieben, die eine Weiterentwicklung des .Strahlrohrs Schmidt' darstellt. Sie ist auf einem besonderen Bock oben auf dem Ruck26
ende des Rumpfes aufgesetzt. Da das Gerät mit diesem Triebwerk allein nicht starten kann, wird es mit einer Pulverrakete von etwa dreißig Tonnen Schub von einer siebzig Meter langen Schleuder katapultiert. Die Steuerung während des Fluges erfolgte durch eine DreiAchsen-Kreiselsteuerung der Firma Askania, deren Kurskreiselkompaß überwacht wird." Von Braun führte weiter aus, dass die Flügelbombe in Höhenlagen von 200 bis 2000 Metern fliegen könne und dass die Luftwaffe von Sommer 1943 an etwa tausend Stück monatlich produzieren wolle. Auch vom Preis war die Rede. Eine Flugbombe kostete laut von Braun in der Serienherstellung 10000 Reichsmark (damalige deutsche Währung), die A-4-Rakete dagegen 30000. Es gibt allerdings anderes Zahlenmaterial, das der Wirklichkeit näher kommen soll. Danach lag die Fi 103 bei 1500 Reichsmark, die Großrakete dagegen bei 75000 pro Stück. Eine Tatsache war allerdings bei den Zahlenspielen nicht zu übersehen: Die fliegende Bombe würde wesentlich billiger als die Rakete des Heeres sein. Im Wirkungsgrad beim Einsatz war aber die. Heeresrakete etwas überlegen, wie sich später herausstellte. Wernher von Braun erwähnte ferner, dass die ersten Versuche mit fliegenden Bomben bereits begonnen hätten und dabei noch gewisse Schwierigkeiten auftreten würden. Dazu zählten: Mängel am Katapult, Flugsteuerung und Zündungssystem arbeiteten noch nicht einwandfrei. Nach von Braun befasste sich Walter Dornberger später ebenfalls mit dem Projekt der Luftwaffe. Er schrieb darüber: 27
„Um die Mitte des Jahres 1942 hatten wir Raketenleute nämlich Konkurrenz bekommen. Unter der Oberleitung von Fliegerstabsingenieur Bree hatte die Luftwaffe einen Strahlgetriebenen, von einer schrägen betonierten Startbahn in Schussrichtung zu katapultierenden Lufttorpedo, das Muster Fi 103, rasch fortschreitend entwickelt. Dieses geflügelte Geschoß, die spätere V l, war im Grunde ein kleiner Tiefdecker mit wenigen Metern Spannweite. Der Antrieb hatte sich angeblich auf ein altes, französisches Patent aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts gestützt. Im Triebwerk beziehungsweise Verbrennungsofen unserer Fernrakete verbrannten Spiritus und Sauerstoff. Beim Muster Fi 103 wurde minderwertiges Treiböl mit dem aus der Luft entnommenen Sauerstoff vermischt und gezündet, wodurch ein Rückstrahl entstand. Dieser geflügelte Torpedo musste stets mit gleich bleibender Geschwindigkeit fliegen. Er war also während des Fluges an eine bestimmte, spezifische Luftdichte, damit also Flughöhe gebunden, die wegen des mit der Höhe abnehmenden Sauerstoffgehaltes der Luft nicht sehr groß sein konnte. Seine Flugbahn entsprach daher jener eines Kleinflugzeuges und keineswegs der eines Geschosses. Beim A 4 hatten wir einen kontinuierlichen Antrieb, das heißt, der Verbrennungsvorgang wurde während der ganzen Brennzeit nicht unterbrochen. Beim Argusrohr hingegen, dem Triebwerk der Fi 103, fand eine intermittierende (in zeitlichen Abständen aufeinander folgende) Verbrennung mit bis zu 500 Explosionen in der Minute statt. 28
Durch an der Spitze des Rohres angebrachte, mit vielen Reihen sich nach innen öffnender einfacher Blechklappen versehene Ventilgitter wurde Luft angesaugt und verdichtet. In die verdichtete Luft wurde Treiböl eingespritzt und schlagartig gezündet beziehungsweise zur Verbrennung gebracht. Der entstehende Verbrennungsdruck schloss vorne die Ventilklappen des Gitters und drückte die Verbrennungsgase und die Im Rohr befindliche Luft unter gleichzeitiger starker Ausdehnung der Verbrennungsgase nach hinten. Es entstand der gewünschte Rückstoß. Durch das Austreiben der Luft aber bildete sich im ganzen System ein Unterdruck, die Ventilklappen öffneten sich wieder, frische Luft wurde angesaugt, der Verbrennungsvorgang begann von neuem. Das war das Grundprinzip des Antriebes der VI." Dornberger beschrieb auch die Arbeitsweise der fliegenden Bombe an sich: „Ein an der Spitze des Flugkörpers angebrachtes kleines Propellerchen war mit einem einstellbaren Zählwerk gekoppelt. Über eine bestimmte Entfernung war bei gleich bleibender Geschwindigkeit und Flughöhe die Drehzahl des Propellerchens bekannt. Zum Zeitpunkt der Ankunft der Flugbombe über dem Ziel schaltete das auf diese Entfernung eingestellte Zählwerk ein Auslösewerk ein, das das Höhenruder zum Ausschlag brachte. Das Gerät stürzte dann senkrecht zur Erde." Nach von Braun musste nun auch der Chef des Raketenprogramms eingestehen, dass die Entwicklung der FieselerFlugbombe sehr viel versprechend war und der gesamte Aufwand einschließlich der Herstellung nur 29
ein Zehntel von dem kostete, was für die große Fernrakete erforderlich war. „In engster Verbundenheit mit Peenemünde-West" (Versuchsplatz der Luftwaffe), fuhr Dr. Dornberger fort, „waren wir im Laufe des letzten Jahres Zeuge des Fortschreitens der Arbeit gewesen. Ich selbst hatte seit 1933 von meiner Dienststelle aus an der Entwicklung des Antriebes durch Diplomingenieur Paul Schmidt in München durch finanzielle Unterstützung lebhaften Anteil genommen. Um jedoch unsere Kräfte mehr auf den Antrieb im praktisch luftleeren Raum zu konzentrieren, hatte ich im Frühjahr 1940 die weitere Förderung dieses Verfahrens an das dafür besser zuständige Reichsluftfahrtministerium abgegeben. Die den Sauerstoff der Luft zur Verbrennung des Treibstoffes verwendenden Strahltriebwerke sind technisch letzte Vollendung Luftbedingter Antriebsverfahren zur Erreichung höchster Geschwindigkeiten in der Erdatmosphäre. Unsere Aufgabe lag jedoch demgegenüber im praktisch luftleeren Raum, im Weltraum. Wir rechnen ja auch schon mit ganz anderen Maßen. Wir sprachen von Machschen Zahlen, von Fluggeschwindigkeiten in Kilometer in der Sekunde und nicht, wie bei Luftfahrzeugen üblich, mit Kilometer in der Stunde." (Damals ein ungeheurer Fortschritt.) Das Muster Fi 103 bot ob seiner geringeren Größe die Vorteile einfachster Handhabung, leichten Nachschubs auf handelsüblichen Fahrzeugen und geringen Treibstoffverbrauch. Damit war die Möglichkeit des Masseneinsatzes gegeben. 30
Als Nachteile wurden aufgezählt: erstens umfangreiche ortsfeste Startstellen, die bei feindlicher Luftüberlegenheit ausfallen können; zweitens die durch die Betonstartbahn - sie bestand aus einer festen Rampe - festliegende Schussrichtung und dadurch Erleichterung der Abwehr. Drittens die zu geringe Geschwindigkeit von nur 160 Metern in der Sekunde bei zu geringer Höhe von 200 bis 2000 Metern (wie auch Wernher von Braun berichtetet), so dass der Abschuss durch feindliche Jäger, leichte und mittlere Flak auf den Einflugschneisen begünstigt wurde. Viertens noch der Nachteil der Ankündigung des nahenden Torpedos durch die charakteristischen Geräusche ihres Triebwerks und damit die Möglichkeit der Vorwarnung. Außerdem ließ sich fünftens die V l leicht durch Kurzwellenpeilgeräte erkunden. Was aber die Wirkung anbelangt, so konnte sie infolge der geringen Auftreffgeschwindigkeit die einer Ein-TonnenLuftmine nicht übertreffen*." Doch trotz aller Widerstände und Schwierigkeiten machte die Fieseler-Flugbombe weitere und vor allen Dingen schnelle Fortschritte. Bereits im Dezember 1942 fand ein wichtiger Versuch mit der fliegenden Bombe statt. Die Techniker montierten einen Prototyp des Geräts (ohne Argus-Antrieb) unter eine FW 200 „Condor" (viermotoriges Vielzweckflugzeug). Ein paar Spezialisten der Entwicklungsgruppe begaben sich an Bord, unter ihnen Gerhard Fieseler. Andere standen auf der Erde als Beobachter bereit. * Die letzte Behauptung trifft nicht ganz zu, denn die Wirkung der Fi 103 war tatsächlich enorm, wie noch demonstriert wird. 31
Die „Condor" flog zur Ostseeinsel Usedom, deren nördlicher Teil im April 1936 von Heer und Luftwaffe gemeinsam gekauft worden war. Dort entstanden im Laufe der Jahre große Versuchsanlagen zur Entwicklung und Erprobung von raketengetriebenen und Strahlrohr-Waffen. Das Heer richtete sich in Peenemünde-Ost ein, die Luftwaffe auf dem Flugplatz Peenemünde-West. Die Bauten und Anlagen wurden mit einem Masseneinsatz von Tausenden von Arbeitern, Technikern, Ingenieuren und Konstrukteuren errichtet. Trotzdem blieb alles streng geheim, was sich auf der Insel tat. Es dauerte viele Jahre, bis die Engländer hinter das Geheimnis von Peenemünde kamen. Die „Condor" kurvte ein und flog über den Flugplatz der Luftwaffe. Dabei warf sie zum ersten Mal eine fliegende Bombe ab, die einen einwandfreien Flug zurücklegte und glatt am Boden ankam. Wenig später erfolgte ein weiterer Schritt zur Erprobung der Fi 103. In Peenemünde-West errichteten Bauarbeiter und Techniker die erste Startrampe; ein Gebilde, wie es bereits beschrieben wurde. Konstrukteure und Ingenieure von Fieseler und Argus montierten einen Flugkörper mit einem Strahlrohr zusammen und bereiteten den ersten Flug vor. Am Heiligen Abend 1942 versammelte sich eine Anzahl von führenden Offizieren auf dem Flugplatz, um das Experiment zu beobachten. Es war abermals ein wichtiger Augenblick für die Flugbombe, der über Weiterentwicklung oder Einstellung des Unternehmens entscheiden konnte. Folgende Bedingungen mussten dabei erfüllt werden: 32
einwandfreier Start und ein glatter Flug über eine Entfernung von wenigstens drei Kilometern. Der Werkmeister drückte auf den Anlasserknopf und zündete so das Strahltriebwerk. Zum ersten Mal war das dumpfe Brummen, das ratternde Dröhnen (mit dem Geräusch eines Traktor-Motors vergleichbar) in Peenemünde zu hören. Die Pulverrakete zischte. Von dem starken Druck getrieben, raste das kleine Flugzeug über die Startrampe, hob ab und legte in einem einwandfreien Geradeausflug die vorgeschriebene Strecke zurück. Davon konnten sich nicht nur die Beobachter auf der Erde überzeugen, sondern auch diejenigen, die in einer Maschine vom Typ He 111 über dem Versuchsgelände herumkurvten. Durch die offiziellen schriftlichen Berichte und die mündlichen Schilderungen der Offiziere sprach es sich bei der obersten Luftwaffenführung schnell herum, welch eine viel versprechende Waffe die Fi 103 war. Jetzt schaltete sich plötzlich jener Truppenteil in die Entwicklung ein, der die Flugbombe später an der Front auch zum Einsatz bringen sollte: die Flak-Artillerie. General Walther von Axthelm von der Flak nahm sich der Sache an und trieb sie voran. Im Januar 1943 erschien er auf dem Versuchsgelände in Peenemünde, wo der Kommandant des Luftwaffenflugplatzes, Major Stahms, bereits alles für einen erneuten Flug der Fi 103 vorbereitet hatte. Der Abschuss ging ohne Mängel über die Bühne, und die fliegende Bombe hatte in General Axthelm einen neuen Freund und Verfechter der Weiterentwicklung gewonnen. Zurückgekehrt nach Berlin setzte er sich mit dem Ge33
neralstabschef der Luftwaffe, Generaloberst Jeschonnek, in Verbindung und erklärte ihm, dass durch den Einsatz der Fi 103 Ziele bis zu einer Entfernung von 360 Kilometern auf relativ einfache Art und Weise bekämpft werden könnten, ohne dass dabei Menschenleben aufs Spiel gesetzt würden. Jeschonnek zeigte sich ebenfalls nicht abgeneigt. Nach ihm bekam General Axthelm Kontakt mit Generalfeldmarschall Erhard Milch, dem Generalinspekteur der Luftwaffe. Zu diesem Zeitpunkt trat etwas ein, das wesentlichen Einfluss auf das Flugbomben-Programm haben sollte. Die beiden führenden Offiziere waren nämlich grundsätzlich verschiedener Meinung darüber, wie die fliegende Bombe zum Einsatz kommen sollte. General Axthelm war der Auffassung, die Fi 103 von vorerst hundert beweglichen Abschussrampen nach England zu schießen. Es sollten kleinere Startstellen sein, deren Bekämpfung aus der Luft nicht leicht sein würde. Doch Milch hatte etwas anderes im Sinn und bereits Pläne darüber aufgestellt. Damals trat eine Tatsache immer deutlicher hervor: Die in der Schlacht um England (1940) und auch in späteren Einsätzen immer schwächer gewordenen Bombengeschwader der Luftwaffe waren nicht mehr in der Lage, Ziele in England, darunter vor allem London, wirkungsvoll zu bombardieren. Jetzt aber tauchte für Generalfeldmarschall Milch plötzlich eine Waffe auf, mit der er wieder einen entscheidenden Schlag gegen England führen konnte und mit dem Massenangriffe der Engländer und Amerikaner auf deutsche Städte zu kontern waren. Milch erklärte zu diesem Thema: 34
„Es handelt sich nicht um Punktziele, sondern um reine Terrorangriffe und weiter nichts. Sie sehen, was die Leute mit ihren Terrorangriffen erreichen, auch wenn sie nicht zielen. Wir müssen England angreifen, damit uns England hier nicht kaputtschlägt. Legen Sie von den Engländern ein paar Millionen um. Wenn das ginge, würden sie auf ihre Angriffe gegen Deutschland schnell verzichten." Zur Durchführung der Großoffensive mit Flugbomben hegte Milch die Absicht, an der Kanalküste riesige Bauwerke zu errichten. Mächtige Betonbunker, in denen Tausende von fliegenden Bomben, das gesamte übrige Gerät und auch die Soldaten untergebracht werden konnten. Im Schutz des dicken, nicht zu zerschlagenden Betons, aus den Bunkern heraus, sollte die Flak pausenlos nach England feuern. Der Generalinspekteur dachte vorerst an die Errichtung von acht solcher Bunkergiganten; dieses Programm lief unter dem Decknamen „Wasserwerk". General Axthelm war gegen diese Idee. Er wandte ein, dass derart große Baustellen innerhalb kurzer Zeit vom Feind erkannt und bekämpft werden würden. Es sei deshalb fraglich, ob die Betonabschussbunker überhaupt einmal fertig werden könnten, da der Gegner mit Sicherheit alles daransetzen würde, eine Vollendung der Bauten zu verhindern. Er wies ferner darauf hin, wie sehr die Mammutbunker von einer ausreichenden Versorgung abhängig waren. Und dass der Feind die Nachschubwege bestimmt stören, wenn nicht lahm legen würde. In solch einem Fall würden die Bunker nicht mehr einsatzbereit sein, und der mühevolle, schwierige und vor allem auch 35
kostspieliger Aufwand wäre umsonst gewesen. General Axthelm hielt es unter den gegebenen Umständen für weitaus besser und nützlicher, wenn seine Idee von den kleinen, beweglichen Abschussrampen zum Tragen kommen würde. Das wiederum lehnte Milch ab. Man schloss schließlich den Kompromiss, dem obersten Chef der deutschen Luftwaffe, Hermann Göring, die letzte Entscheidung über die beiden Pläne zu überlassen. Die riesigen Betonbunker wurden an der Kanalküste dann aber doch gebaut. Sie beschworen Katastrophen herauf. Allerdings nicht nur für die Deutschen, sondern auch für Engländer und Amerikaner. Von diesen Vor- und Zwischenspielen wussten die Soldaten der Spezialeinheit bei Abbeville so gut wie nichts. Es gab zwar ein paar Gerüchte, doch die letzte Klarheit fehlte. Die Morgendämmerung des 13. Juni 1944 kündigte sich durch helle Streifen am östlichen Himmel an. Die zweite Flugbombe stand abschussbereit auf der Rampe. „Alles zurück! In Deckung!" rief Leutnant Hötzig. Die Spezialkanoniere setzten sich daraufhin von dem Startgestell ab. Wachtmeister Schraube und Unteroffizier Ganter sprangen in einen Graben, der zwischen den dicken Bäumen ausgehoben worden war. Sie blickten über die Lichtung, über die die letzten Soldaten rannten, um in der Erde oder hinter den Baumstämmen zu verschwinden. Zuletzt blieb nur ein Mann übrig, der in der Nähe der 36
Fieseler Fi 103 (FZG) V l
Rampe stand und auf den Auslöseknopfdrücken musste: der Werkmeister. So wie auf der Bergkuppenlichtung bei Abbeville sah es am Morgen dieses Junitages 1944 auch noch auf einigen anderen Abschussstellen an der Kanalküste aus. Die Flugbombenoffensive konnte allerdings nicht mit dem gewaltigen Feuerschlag gestartet werden, wie es die ehrgeizigen Pläne der Luftwaffenführung vorsahen. Wegen Transport-, aber auch technischer Schwierigkeiten war es nicht gelungen, alle zur Verfügung stehenden Spezialeinheiten rechtzeitig in Stellung zu bringen beziehungsweise feuerbereit zu machen. Aus diesen Gründen standen zu der befohlenen Einsatzzeit, die durch das Stichwort „Rumpelkammer" wirksam wurde, nur ein paar Einheiten aktiv zur Verfügung. Die übrigen waren noch im Anmarsch oder bei den Vorbereitungen zum Abschuss. Doch es sollte nicht mehr lange bis zum vollen Einsatz dauern, der London in Angst und Schrecken versetzte. Viele Augen starrten zu dem einzelnen Mann hinüber. Der Werkmeister blickte in die Runde. Ein paar Krähen huschten mit lautlosen Flügelschlägen über die Lichtung. Sonst rührte sich kein Lebewesen. Der Mann an der Startstelle und auch alle anderen wussten, dass mit dem Abschuss einer Flugbombe immer noch ein großes Risiko verbunden war. Schon während der Ausbildungszeit hatte es sich bei den Spezialeinheiten gezeigt, dass die fliegende Bombe zwar eine gute neue Waffe war, aber auch eine ebenso heimtückische. Immer wieder kam es vor, dass fliegende Bomben bereits nach dem Drücken des Auslöseknopfes explodierten oder so38
fort nach Verlassen der Startrampe. Deshalb war der Start ein Spiel, bei dem niemand von vornherein wusste, wie es ausgehen würde. „Zünden!" schrie Leutnant Hötzig über die Lichtung. Der Einsame an der Startrampe hob einen Arm und ließ ihn wieder fallen. Im Grau der Dämmerung sahen die Soldaten, wie er auf den Knopf drückte, um danach sofort blitzschnell in einem Deckungsloch zu verschwinden. Das Triebwerk röhrte und ratterte, die Pulverrakete zischte, und das Projektil jagte über die Startrampe, hob ab und knatterte davon. (Zum Thema Abschuss wäre noch zu sagen, dass die zusätzliche Kraft nicht immer von einer Pulverrakete stammte, sondern dass auch in geschlitzte Zylinder eingespeistes Wasserstoffsuperoxyd verwendet wurde.) Der Werkmeister tauchte aus seinem Loch auf und rief: „Alles in Ordnung." Die Soldaten kamen aus der Deckung und bereiteten den nächsten Abschuss vor, während sich der Werkmeister eine Zigarette anzündete. Es liegt ein Bericht von einem dieser Männer vor, welche die Flugbomben auslösten. Es handelt sich dabei um einen Soldaten, der nach dem Krieg in Nürnberg lebte und von Beruf Kraftfahrer war. Er sagte: „Dass ich heute noch bei Frau und Kind lebe, ist ein reines Wunder." Nach seiner Aussage hatten die so genannten „Werkmeister" ein wahres Todeskommando. Sie standen allein bei der Flugbombe, während alle übrigen in Deckung gehen konnten. Dem Berichter waren nur noch drei wei39
tere Kameraden bekannt, die wie er Werkmeister waren und den Einsatz bei der Flugbombentruppe überlebten. Sie wohnten in Glückstadt, Augsburg und Darmstadt. „Ein solches Kommando war nicht nur wegen der Explosionsgefahr ein großes Risiko", führte der ehemalige Spezialsoldat weiter aus. „Es war uns auch schon bei der Verpflichtung bekannt gegeben worden, dass keinerlei Gespräche über die neue Waffe untereinander geführt werden durften. Auf Nichtbeachtung stand die Todesstrafe! Es sind damals Erschießungen vorgekommen, weil sich zwei Angehörige der Spezialtruppen über eine technische Neuerung unterhalten hatten. Aber die größte Gefahr bestand für uns Werkmeister bei der eigentlichen Tätigkeit in den Abschussbasen. Es war (wiederum bei Todesstrafe) verboten, diese Basen im Falle eines Luftangriffes zu verlassen. Zahlreiche Werkmeister, die das Kommandogerät an der V l zu bedienen hatten, wurden durch vorzeitige Explosionen zerrissen. Längst nicht jede Rakete verließ die Schleuderanlage programmgemäß. Manche fielen auch nach kurzem Flug zu Boden und detonierten. So war jeder Druck auf den Auslöseknopf ein Spiel mit dem Tode. Über die Rolle Peenemündes bei der Herstellung der V l gibt es noch viele falsche Vorstellungen. Zwar war Peenemünde die Erprobungsstation, doch die V l wurden dort keineswegs serienmäßig hergestellt." Man hatte die Fabrikation damals völlig dezentralisiert. Die Steuereinrichtung kam aus Berlin, die Schubrohre wurden in Nordhausen (am Harz, heute DDR) gefertigt, der Druckerzeuger kam aus München, während man den 40
eigentlichen Sprengstoffbehälter im Rheinland herstellte. Alle diese Teile wurden nach Dannenberg an der Elbe gebracht, dort wurde die V l zusammengesetzt. „Von dort aus wurden die ,Vögel', wie wir die V l nannten", sagte der damalige „Werkmeister" weiter, „per Lastwagen in die Abschussbasen gebracht, wo meist bis zu hundert Stück lagen. Es gab für die Geschosse fast keine Bunker. Sie standen ohne sonderlichen Schutz in den Wäldern oder Gehölzen, in denen sich auch die Abschussschleudern befanden. Natürlich war so ein Stützpunkt sehr scharf bewacht. Doppelposten in Rufweite umgaben den Platz. Sie durften bei Luftangriffen lediglich in Erdlöcher kriechen, die nach oben mit Blech abgedeckt waren*." „Sämtliche Angehörige der V-1-Spezialtruppen durften nicht nach Hause schreiben. Feldpostnummern wie etwa L 45 268 hatten nur für die Angehörigen Bedeutung. Dass dieses Schreibverbot dennoch umgangen wurde, liegt auf der Hand, war aber viel gefährlicher als etwa eine zensierte Post, da auf diese Weise vielleicht doch wichtige Einzelheiten nach draußen gelangten. Wer fotografierte, beim Montagetrupp oder den Einstellmannschaften, war reif für das Kriegsgericht. Deswegen haben heute Aufnahmen von der V l einen großen Seltenheitswert. Selbst Gruppenaufnahmen von Kameraden fielen unter das strenge Verbot. Dazu ist zu bemerken, dass dieser ehemalige „Werkmeister" von den Verhältnissen bei der Spezialeinheit ausging, der er angehörte. Seine Ausführungen sind jedoch nicht zu verallgemeinern, örtliche Gegebenheiten sowie die geographische Lage gestalteten den Einsatz der Soldaten bei den vielen Abschussbasen sehr unterschiedlich.
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Bevor eine V l ihren Flug nach England antrat, wurden von drei Wetterstationen an der Biskaya, in Norwegen und in Deutschland genaue Nachrichten über Windrichtung, Luftdruck und sonstige atmosphärische Verhältnisse gegeben. Da bei normalen Verhältnissen nur eine Streuung von etwa hundert Metern zu berücksichtigen war, gelangte eine einmal ordnungsgemäß abgeschossene V l meist an ihr Ziel, bis dann die Ballonabwehr und die Jagdwaffe des Gegners sich auf die Raketen eingestellt hatten. Im Durchschnitt lag gut eine Stunde nach dem Abschuss auch das genaue Ergebnis vor. ,Madrid meldet rot!' hieß es bei der Durchgabe. Ob diese Nachricht wirklich über Spanien kam, kann ich nicht sagen; aber ,rot' bedeutete eine Detonation im Ziel. Als eine der ersten Rot-Meldungen kam die Detonation in der Nähe des britischen Parlaments. Doch unsere Männer fragten sich nur zu oft, warum man so sparsam mit den Schießbefehlen war und nicht von Anfang an Dauerfeuer gegeben wurde, wie später auf Antwerpen bei der RundstedtOffensive (Ardennen-Offensive). Auch haben wir nie begriffen, warum man nicht kurz vor der Invasion und während der Landung unsere mehr als tausend lagernden V l auf die feindlichen Ansammlungen abschoss. Sollte auch hier nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sein?" Wegen der damals strengen Geheimhaltung war diesem Spezialsoldaten manches nicht bekannt, was wir heute wissen. Außerdem hatte mein Gewährsmann keinen Überblick über die gesamte große Lage bei der ersten Flugbombenoffensive. 42
Während die Soldaten in der Stellung bei Abbeville unter Wachtmeister Schraubes Kommando eine weitere fliegende Bombe aus dem Depot im Wald holten, begab sich Leutnant Holzig in den Funkwagen. Ingenieur Daub und dessen Kollege Tillmann folgten. Die Männer diskutierten über die Abschüsse und waren nun gespannt und neugierig, ob sie Erfolg gehabt und das Ziel getroffen hatten. „Fragen Sie doch mal beim Regiment nach, ob bereits eine Auswertung erfolgt ist, Herr Leutnant", schlug Daub vor, der wie alle übrigen Soldaten im Wagen eine Zigarette rauchte. Hötzig ließ durch den Nachrichtensoldaten am Klappenschrank eine Verbindung herstellen. Am anderen Ende der Leitung meldete sich Leutnant Kempe, ein Verbindungsoffizier im Regimentsstab. Bevor Leutnant Hötzig seine Frage stellen konnte, rief ihm Kempe schon über den Draht zu: „Warten Sie ab, Herr Hötzig. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Weitere Befehle folgen. Ende." „Was ist denn da los?" fragte Daub verwundert, nachdem Hötzig die beiden Zivilisten informiert hatte. Der junge Offizier zuckte mit den schmalen Schultern. „Keine Ahnung, Herr Daub. Aber tun wir das, was man uns befohlen hat, warten wir ab." Daub nahm einen letzten Zug an der Zigarette und warf den Rest durch die offen stehende Tür. Der Leutnant verließ den Funkwagen und ging zur Abschussrampe hinüber. Die bleich, müde und erschöpft aussehenden Soldaten hatten auf dem niedrigen Wagen eine Flugbombe gerade bis an den Rand der Lichtung gekarrt. Alle 43
waren zum Umfallen müde. Seit fünf Tagen schon arbeiteten sie fast ununterbrochen daran, die Abschussrampe einsatzklar zu machen. Und danach war sofort der Feuerbefehl eingetroffen, der sie wiederum nicht zur Ruhe kommen ließ. „Lasst den Vogel stehen, wo er steht", rief Hötzig den Männern zu. „Warum denn das?" fragte Wachtmeister Schraube erstaunt. Er rieb mit der verdreckten rechten Hand um das eckige, mit schwarzen Bartstoppeln bedeckte Kinn. „Weitere Befehle folgen", gab ihm Hötzig Bescheid. „Lassen Sie einen Doppelposten bei der Waffe aufziehen, Schraube. Alle anderen wegtreten in die Lkw und Zelte. Nach wie vor herrscht höchste Alarmbereitschaft. Innerhalb von Sekunden hat jeder Mann einsatzbereit zu sein, wenn es befohlen wird. Klar?" „Jawohl, Herr Leutnant", echote der Haufen im Chor. Dann stoben sie auseinander, krochen in die Lastwagen oder die primitiven Zehe, in denen sie seit Tagen hausten, denn in der Stellung gab es keine festen Unterkünfte. Einige von ihnen kampierten sogar vollkommen im Freien. Sie legten sich auf den Waldboden, zogen die dünnen, grauen Wolldecken über sich und schliefen sofort ein. Nur die Posten streiften durch die Stellung und standen bei den Flugbombendepots. Leutnant Hötzig kehrte in den Funkwagen zurück. Die Ingenieure Daub und Tillmann lagen auf dem Boden und schnarchten um die Wette. „Was Neues?" fragte Hötzig die Nachrichtensoldaten am Funkgerät und am Klappenschrank. Die Antwort war negativ. 44
„Ich lege mich jetzt im Führerhaus aufs Ohr. Weckt mich sofort, wenn neue Befehle vom Regiment eintreffen." Der Leutnant verließ den Wagen und ging nach vorn, wo er sich auf die Sitzbank legte. Der neue Tag brach an. Gegen acht Uhr kurvte ein Kradfahrer auf einer ockerbraun gespritzten BMW von der nach Amiens fahrenden Hauptstraße auf den Feldweg ein, der zur Stellung hinaufführte. Er fluchte und schimpfte, als er von den Löchern, Furchen und Rillen des Lehmpfads durcheinander gerüttelt wurde. Im Schritttempo arbeitete er sich bis zum Waldrand vor. Von Nordwesten her zog Flugmotorengebrumm heran. Am Himmel waren zwei dunkle Pünktchen zu sehen, die dicht über dem Land schnell herankamen. Der Kradfahrer gab Gas und tauchte in das Loch im Gebüsch ein. Er wollte weiterfahren, doch da sprangen von der Seite zwei Soldaten auf ihn zu und hielten ihn an. Beide trugen Karabiner auf dem Rücken. Der Kradmelder schob die Schutzbrille auf die verdreckte Stirn und rief dem Doppelposten zu: „Macht Platz, ich muss Leutnant Holzig einen dringenden Befehl überbringen." „Das kann jeder erzählen", meinte der rechts an der BMW stehende Soldat. „Zeig dein Soldbuch und die Bescheinigung, dass du die Stellung betreten darfst*." Der Fahrer wies sich aus und durfte weiterfahren. Er stellte das Krad am Funkwagen ab, erkundigte sich bei den Nachrichtensoldaten und ging zum Führerhaus. Infolge der strengen Geheimhaltung waren für das Betreten der Abschussstellungen Extrabescheinigungen nötig. 45
In dem Augenblick schwoll das Gebrumm der Flugzeugmotoren zu grellem Dröhnen an. Am nördlichen Ende der Lichtung tauchten zwei amerikanische Mustangs über den Baumwipfeln auf. Die Posten sprangen aufgeschreckt in die Erdlöcher. Der Kradfahrer warf siel neben dem Kastenwagen flach auf den Boden. Mit donnerndem Getöse rasten die beiden Jäger über die Lichtung hinweg. Aus ihren Bordkanonen fiel kein einziger Schuss. Sie flogen nach Süden ab, wendeten uns zogen wieder nach Norden, zur Kanalküste hinauf. Als die beiden Maschinen genau über der Lichtung flogen, schreckte Leutnant Hötzig hoch. Er stieß die Wagentür auf, sprang nach draußen und starrte hinter den Mustangs her. Wachtmeister Schraube war von dem Lärm ebenfalls wach geworden. Er sprang von der Ladefläche des Lkw herunter und lief zu Hötzig hinüber. „Haben Sie da gesehen, Herr Leutnant?" „Ich bin doch nicht blind", knurrte der Leutnant unfreundlich. Neben ihm richtete sich der Kradmelder vom Boden auf und stand vor Hötzig stramm. „Was wollen Sie denn hier?" fuhr ihn Hötzig an. „Habe Herrn Leutnant einen Befehl vom Regiment zu überbringen", sagte der Melder, kramte in seiner Melde lasche und zog ein Papier hervor. „Ich bitte Herrn Leutnant, den Empfang zu quittieren." Hötzig unterschrieb das Schriftstück, das ihm der Kradmelder zusammen mit einem Bleistiftstummel hinhielt. Dann grüße er, drehte sich um und ging zur Maschine. Kurz darauf war er aus der Stellung verschwunden. 46
Schraube trat neugierig näher, als der Leutnant das grün liniierte Papier auseinanderfaltete und las. „Darf man fragen, was anliegt, Herr Leutnant?" „Der Beschuss ist sofort einzustellen. Die Stellung zu tarnen. Weitere Befehle folgen." „Und das, wo wir gerade so schön am Zug waren", meinte Schraube ungläubig. „Das verstehe ich nicht." „Sie haben nichts zu verstehen, Schraube, nicht zu denken, sondern zu gehorchen. Also los. Trommeln Sie den ganzen Verein zusammen." Wachtmeister Schraube spritzte davon. Kurz darauf trillerten die Pfeifen, schreckten Alarmrufe die Männer aus dem Schlaf. Keiner von ihnen ahnte, warum dieser seltsame Befehl ergangen war. Darüber hörten sie erst später etwas. Während die Angehörigen des Abschusskommandos die Stellung abtarnten, brach hin und wieder die Sonne durch Löcher in der etwa bei 2000 Meter liegenden Wolkendecke. Die Lichtung war noch nicht ganz mit den Netzen überdeckt, da erfüllte monotones Brummen die Luft. Die Soldaten hoben die Köpfe und lauschten. Noch war am Himmel nichts zu sehen. Sie stellten nur fest: Das Dröhnen der Motoren kam genau auf ihre Stellung zu. Am Nordrand der Lichtung tauchte ein Soldat mit Karabiner und Stahlhelm auf. Er blieb kurz stehen, sah sich um und rannte dann auf Leutnant Hötzig zu, der an der Abschussrampe stand. Neben ihm Schraube. „Herr Leutnant, Herr Leutnant", rief der Soldat, „zwei feindliche Bomberpulks fliegen von Norden an. Sie kommen genau auf unsere Stellung zu!" 47
„Verdammter Mist!" fluchte Hötzig. „So etwas Ähnliches habe ich schon erwartet", meinte Schraube gelassen, denn er hatte im Laufe seiner Kriegsjahre schon allerhand erlebt und war nicht leicht aus der Ruhe zu bringen. Alles starrte zum Himmel. Das monotone Brummen wurde lauter und kam immer näher heran. „Da! Da sind sie!" wehte ein Schrei über die noch teilweise offene Lichtung. Kurz darauf sahen sie die beiden Bomberpulks, die dicht hintereinander unterhalb der Wolkendecke flogen: amerikanische „Fliegende Festungen" (viermotorige Bombenflugzeuge vom Typ Boeing B-17 E). Die Soldaten gerieten in Bewegung und sprangen in die Gräben und Erdlöcher. Hötzig und Schraube blieben noch stehen und verfolgten den Flugweg der vierzig Bomber. Immer noch hatten sie die leise Hoffnung, dass sie über die Stellung Hinwegfliegen würden, ohne Bomben zu werfen. Sekunden später zerrann dieser Wunschtraum. Aus den Rümpfen der ersten Bomberwelle purzelten kleine, dunkle Gegenstände heraus: Bomben! Die Luft war plötzlich mit grellem Pfeifen, Heulen und Rauschen erfüllt. „Nichts wie weg!" schrie Schraube. Zusammen mit Hötzig sprang er in den Graben am Funkwagen. Nach den ersten Anfängen wurde das Projekt Fi 103 auf deutscher Seite vorangetrieben. Die fliegende Bombe wurde weiterentwickelt und mit dem Bau der riesigen 48
Abschussbunker im Kanalgebiet tatsächlich begonnen. Die größte Anlage dieser Art entstand bei dem Ort Watten in der Nähe von Calais. Die Engländer bekamen zum ersten Mal am 17. Mai 1943 durch Luftaufklärung Informationen darüber, dass bei Watten riesige Erdarbeiten durchgeführt wurden. Doch Duncan Sandys, der auf britischer Seite gegen die deutschen Geheimwaffen angesetzt worden war, beachtete die Meldung vorerst nicht. Erst später bekam sie wieder Gewicht. Da auf deutscher Seite zwei Projekte für Fernwaffen-Beschuss vorhanden waren, war sich die Führung nicht einig, welche Waffe den Vorrang haben sollte: die Großrakete A 4 oder die fliegende Bombe Fi 103. Aus diesem Grund beschloss man in Peenemünde, ein Wettschießen zu veranstalten. Am 26. Mai 1943 hatten sich die Mitglieder der so genannten Fernschießkommission, zusammen mit führenden Persönlichkeiten, in Peenemünde-Ost versammelt; darunter Reichsminister Speer, Großadmiral Dönitz, Generaloberst Fromm und Generalfeldmarschall Milch. Mit den A-4-Raketen gelangen zwei ausgezeichnete Schüsse. Die beiden fliegenden Bomben versagten dagegen kläglich. Das hätte das Ende des gesamten Fi-103-Programms sein können. Doch die Kommission zeigte sich weitsichtig. Man beschloss, beide Projekte nebeneinander weiterzuentwickeln. Nach und nach war man inzwischen auch in England darauf aufmerksam geworden, was sich in Deutschland auf dem Gebiet der Fernwaffen tat. Anfangs trafen Nachrichten von Geheimagenten ein. Dann lieferte die RAF (Royal Air Force, brit. Luftwaffe) durch ihre Luft49
aufklärung Fotos über Peenemünde und die seltsamen Baustellen an der Kanalküste. Doch es verging immer noch einige Zeit, bis die Engländer zu ahnen begannen, was in Peenemünde tatsächlich vor sich ging. Auf Grund der Nachrichten ließ Duncan Sandys, oberster englischer Chef für die Geheimwaffenuntersuchung, die von den Deutschen besetzte Kanalküste innerhalb einer 200Kilometerzone um London herum von Aufklärungseinheiten der RAF systematisch fotografieren. Dabei fielen besonders die großen Bauvorhaben in Nordfrankreich auf. Ein Bericht darüber erging auch an Premierminister Winston Churchill, in dem es hieß: „Es gibt Fotos, aus denen hervorgeht, dass die Deutschen gerade jetzt sehr große Bauten, die Geschützstellungen ähneln, im Raum von Calais errichten. Ob wir nun die Geschichte über neue Waffen zur Beschießung Londons ernst nehmen oder nicht: Wäre es nicht gut, diese Stellungen schon jetzt zu bombardieren, bevor die Betondächer darüber angebracht worden sind? Wenn es dem Feind lohnend erscheint, sich die viele Mühe zu machen, diese Stellungen zu bauen, scheint es für uns vorteilhaft zu sein, sie zu vernichten, bevor es zu spät ist." Doch trotz dieser Warnung und Aufforderung wurden von Engländern oder Amerikanern vorerst keine Einsätze gegen die Großbaustellen geflogen. Dagegen geschah etwas anderes, was für die Alliierten (Engländer und Amerikaner) sehr wichtig war. Im Juni 1943 erbrachte die Auswertung eines Luftfotos tatsächlich den Beweis, dass in Peenemünde-Ost mit Raketen experimentiert wurde. Man beschloss deshalb, Peene50
münde-Ost durch einen Masseneinsatz von Bombern zu zerstören, und gab dem obersten Chef der Bomberflotte, Arthur Harris, den Befehl zu diesem schwierigen Unternehmen; denn bis zu dem Zeitpunkt waren alliierte Bomber noch nicht dermaßen tief in deutsches Gebiet vorgestoßen. Der Angriff lief unter dem Decknamen „Hydra" und wurde in der Nacht vom 17. zum 18. August 1943 durchgeführt. Er richtete sich ausschließlich gegen die Heeresversuchsstelle in Peenemünde-Ost, verursachte dort schwere Verwüstungen und tötete viele Menschen. Der Versuchsplatz der Luftwaffe blieb von einer Bombardierung jedoch verschont. Doch trotz der Zerstörungen und des Verlustes an Menschenleben wurde die A-4-Rakete weiterhin entwickelt und getestet. Auch die Entwicklung der Flugbombe ging weiter. Man hatte sich inzwischen bei der Luftwaffenführung darüber geeinigt, neben den riesigen Abschussbunkern auch kleinere, beweglichere Katapulte zu fertigen und einzusetzen. Eine Entscheidung, die sich im Verlauf der späteren Flugbombenoffensive als richtig erweisen sollte. Das Programm „Flugbombe" sah vor, im August 1943 100 Stück pro Monat herzustellen und ab September deren 500. Dagegen wurde der Bau der Katapulte vernachlässigt. Der Generalstab wollte den Bau von Schleudern nicht eher befehlen, bevor 2000 „Kirschkerne" (Tarnname für die Flugbombe) einsatzbereit waren. Da griff Generalfeldmarschall Milch, der inzwischen auch den Wert der beweglichen Schleudern erkannt hatte, persönlich ein. Er befahl, dass von den neunzig erforder51
liehen Abschussanlagen sofort zwanzig gebaut werden sollten. Mitte Juni 1943 trugen die führenden Offiziere Hermann Göring Einzelheiten über das Flugbombenprogramm vor. General von Axthelm schlug dem obersten Chef der Luftwaffe vor, den Bau von vier Großbunkern und 96 beweglichen Abschussrampen zu befehlen. Die Flugbombenproduktion sollte ferner von 100 Stück im August 1943 auf 5000 im Juni 1944 gesteigert werden. Hermann Göring genehmigte die Pläne des Generals Axthelm und ging mit seinem Hang zum Überdimensionalen weit über die geplanten Stückzahlen hinaus. In der Dokumentation über dieses Gespräch heißt es: „Herr Reichsmarschall betonte, dass die Entwicklung der Fi 103 mit besonderem Nachdruck zum Abschluss zu bringen ist. Er äußerte, dass bei günstigem Entwicklungsabschluss eine entsprechende Planung vorzulegen sei. Endforderung möglichst 30000 Stück im Monat." Doch dieser bei der obersten Führung bestehende Optimismus wurde wieder einmal durch die Wirklichkeit und durch Rückschläge bei der Erprobung gedämpft. Major Strahms, der Kommandant von Peenemünde-West, richtete am 19. Juni 1943 folgendes Schreiben an seine vorgesetzte Dienststelle in Rechlin: „F 103: Insgesamt fünf Abschüsse. Davon ein Abschuss erstmalig von Walter-Schleuder mit positivem Ergebnis. Ein Abschuss von Betondamm-Schleuder führte wegen zu geringer Abgangsgeschwindigkeit zum sofortigen Absturz. Die restlichen drei Abschüsse führten zu Abstürzen. Ursache ungeklärt." Bei der „Walter-Schleuder" kam der so genannte 52
„Walter-Trieb" zur Anwendung; ein Verfahren, das von dem deutschen Ingenieur Walter entwickelt worden war und bei dem die Antriebsenergie im wesentlichen aus dem Zerfall von Wasserstoffsuperoxyd (Perhydrol) gewonnen wurde. Im Verlauf der folgenden Wochen kam es zu immer stärkeren Rückschlägen bei der Erprobung der Fi 103 in PeenemündeWest, so dass das Versuchsschießen schließlich völlig eingestellt wurde. Das Erprobungsteam machte sich an die Arbeit, um die wahren Ursachen des Versagens zu erforschen. Während dieser Zeit liefen aber die Vorbereitungen für den Einsatz der Fi 103 hinter den Kulissen der obersten Führung weiter. Anfang Juli 1943 fand eine Besprechung über die Geheimprojekte in Hitlers Hauptquartier „Wolfsschanze" (bei Rastenburg im ehemaligen deutschen Ostpreußen; heute unter polnischer Verwaltung) statt. Zugegen waren Reichsminister Speer, Generalmajor Dornberger, Keitel und Jodl (Hitlers engste militärische Berater), Wernher von Braun und Degenkolb. Hitler wurde über die Fernrakete A 4 eingehend unterrichtet, aber auch über den Großbunker Watten, die Katapulte und die noch aufzustellende Raketentruppe. Obwohl Einwände gegen die große Betonbunker-Abschussrampe Watten (Tarnbezeichnung „Kraftwerk Nordwest") vorgetragen wurden, entschied sich Hitler für das Projekt. Er verlangte sogar, dass zwei oder drei von diesen Mammutbunkern gebaut werden sollten, und war der Meinung, dass jede Tonne Sprengstoff, die von den Alliierten auf die nicht zu zerstörenden Bunker 53
geworfen würde, nicht auf deutsche Städte fallen könnte. Die Zukunft gab ihm diesmal Recht. Vorerst bekam nun die Entwicklung der A-4-Fern-rakete den Vorrang. Das führte zu einem geheim ausgetragenen Kampf zwischen dem Heer und der Luftwaffe und zwischen den an der Spitze stehenden Kontrahenten Albert Speer und Erhard Milch. Mit Verbitterung sah die Luftwaffe, wie man ihre Industrie für die Fernrakete einsetzte und ihr eigenes Projekt, die Fi 103, in der Versenkung zu verschwinden drohte. Um in diesem Kampf nicht zu unterliegen, trommelte der Luftwaffeningenieur Oberst Dr. Ing. Pasewaldt führende Offiziere des Flugbombenprojekts am 29. Juli 1943 zu einer Geheimsitzung im Reichsluftfahrtministerium (RLM) in Berlin zusammen. Hinter geschlossenen, scharf bewachten Türen versammelten sich: Major Stahms, der Kommandant der Versuchsstation Peenemünde-West, Gerhard Fieseler, Fritz Gosslau, der Vertreter der Strahlrohr-Firma Argus, Oberst Max Wachtel, der neue Kommandeur der aufzustellenden und auszubildenden Flugbombentruppe, und andere hohe Luftwaffenoffiziere. Im Verlauf der Unterredung kam man einstimmig zu der Überzeugung, dass die Flugbombe den gleichen Vorrang in der Erprobung, Entwicklung und Herstellung haben müsse wie die Fernrakete. Eine Randerscheinung dieser Konferenz war ein Vorschlag von General Axthelm. Er war der Meinung, dass die Flugbombe aus Geheimhaltungsgründen mit „FZG76" (Flakzielgerät 76) bezeichnet werden müsste. 54
Doch in der Praxis sah es später so aus, dass beide Bezeichnungen verwendet wurden. Bereits vor und dann auch wieder nach dieser wichtigen Sitzung in Berlin erprobten Flak-Soldaten vom Lehr- und Erprobungskommando unter dem Befehl von Oberst Wachtel in Peenemünde-West die Fi 103, wobei es zu insgesamt 68 Abschüssen kam. Es sah ganz so aus, als würde sich nach den Rückschlägen endlich ein gewisser Teilerfolg einstellen. Achtundzwanzig Versuche entsprachen den Bedingungen, die an die neue Waffe gestellt wurden. Der 27. Juni 1943 war dabei für die Flugbombe übrigens ein ganz besonderer Tag gewesen. Mit 590 Litern Treibstoff erzielte man einen Schuss über 235 Kilometer Entfernung, wobei eine Geschwindigkeit von 625 km/h und eine Flughöhe von 1300 Metern erreicht wurde. Dagegen machten die Schleudern an sich immer noch einige Schwierigkeiten; der Kompass und die Zündanlage waren ebenfalls noch nicht eingehend erprobt worden. Obwohl immer noch nicht alles so stimmte, wie es für den Einsatz an der Front erforderlich war, machte man bei der Luftwaffenführung und anderen Dienststellen bezüglich des Projektes Fi 103 in Optimismus weiter. Irgendjemand unterbreitete den Vorschlag, die Fi 103 auf U-Booten über den Atlantik zu transportieren, um vor der amerikanischen Küste New York zu beschießen. Doch Generalfeldmarschall Milch wandte dazu ein, dass diese Idee mit den derzeitigen Unterseebooten nicht durchzuführen sei. Reichsmarschall Göring liebäugelte wiederum mit dem Vorhaben, die Fi 103 von Süditalien 55
aus gegen Ziele in Nordafrika zu schießen, das sich zu diesem Zeitpunkt in den Händen der Alliierten befand. Doch aus diesen hochfliegenden Plänen wurde nichts. Man traf jetzt bereits die ersten Vorbereitungen, um die Flugbombe in Serie herzustellen. Die Fieseier-Werke in Kassel schalteten Ende Juli 1943 die Fabrikation von der Versuchsreihe auf Serie um. Man stellte fünfzehn Zellen her, die für den Einsatz vorgesehen waren. Zwei von ihnen gelangten, voll ausgerüstet, auf Lkw zur Firma Argus in Berlin, beziehungsweise zur Erprobungsstelle PeenemündeWest. Das Volkswagenwerk in Wolfsburg hatte bereits sämtliche Unterlagen und Konstruktionszeichnungen vorliegen, um sich sofort in die Produktion der Fi 103 einschalten zu können. Bei der Firma Argus stellte man schon die ersten 400 Strahlrohre her, denen weitere 14000 folgen sollten. Die dazu erforderlichen Rohstoffe waren bereits zugesagt worden. Zum Schutz vor Luftangriffen hatte man die Fabrikation der Flugbombe weitgehend dezentralisiert. Siebzehn Produktionsstätten standen zur Verfügung, die über ganz Großdeutschland verteilt waren, darunter vier Werke für die Endmontage. Die Luftwaffenführung hatte schon seit langer Zeit erkannt, dass die Versuchsstationen auf der Insel Usedom gegen Luftangriffe nicht genügend gesichert und daher sehr gefährdet waren. Deshalb sah man sich nach einer zweiten Erprobungsstelle um und richtete sich auf einem Gelände bei Zempin an der Ostsee ein. Das Heer traf diese Vorsichtsmaßnahme nicht, legte ferner nicht genügend - und vor allem den eventuellen Anforde56
rungen entsprechende - Luftschutzgräben und Bunker an, was später bei dem Massenangriff der alliierten Bomber mit hohen Verlusten bezahlt werden musste. Eine der größten Schwierigkeiten bei der Serienherstellung der Fi 103 war der Mangel an entsprechenden SpezialArbeitskräften, um die seitens der Luftwaffenführung ein regelrechter Kampf begann. Die Gegner in diesem Ringen waren wieder einmal die Vertreter des Fernraketenprogramms und die Flugbombentruppe, die sich gegenseitig die Arbeiter und Spezialisten abzujagen versuchten. Allgemein und im besonderen gesehen protestierte die Luftwaffe immer wieder gegen das rohstoff- und Arbeitskräftefressende, dazu noch sehr kostspielige A-4-Raketenprogramm, dessen Verwirklichung in Anbetracht der damaligen beengten Verhältnisse beinahe utopische Ausmaße annahm. Der am Ende stehende Nutzeffekt war dagegen relativ gering. Generalfeldmarschall Milch erklärte im Hinblick auf das Fernraketenprogramm: „Alles, was mit A 4 zu tun hat, scheint mir heute vollkommen verrückt zu sein. Man muss die Leute entweder in eine Irrenanstalt geben oder ihnen auf den Kopf schlagen. Wollen wir erst einmal das letztere versuchen!" Wegen der immer massiver und heftiger werdenden Kritiken und Proteste änderte Reichsminister Speer seine Meinung. Er neigte jetzt dazu, beide Programme, A-4-Rakete und Fi 103, in ihrer Dringlichkeit auf die gleiche Ebene zu stellen. Die Änderung der bis dahin eingeschlagenen Taktik des Reichsministers für Rüstung gipfelte schließlich in einer offiziellen Anweisung des 57
Rüstungsamts, in der es hieß: „Betr. Luftwaffenfertigung und A-4-Programm des Heeres. Luftwaffenprogramm darf durch A-4-Programm nicht gestört werden." Es war so, als würde eine riesige, zischende und tobende unsichtbare Wand vom Himmel auf die Erde herunterfallen. Leutnant Holzig und Wachtmeister Schraube drückten sich lief in den Graben. Im letzten Augenblick landete noch ein Funker bei ihnen. Er plumpste auf Hölzig und Schraube, die dicht nebeneinander lagen. Der Nachrichtenmann glitt zur Seite weg, zog sich zusammen und wimmerte leise. Das Heulen schwoll zu einem infernalischen Toben an. Die ersten Bomben explodierten am Nordrand der Abschussstellung. Der Boden dröhnte und bebte. Erde, Sand, Gestein, Äste, Baumteile und Stahlsplitter wirbelten und zischten umher. In rasender Eile näherte sich die Kelle der dicht neben- und hintereinander liegenden Bombenexplosionen. Von irgendwoher bellten Kanonen von Fla-Geschützen, die in einiger Entfernung von der Flugbombenstellung postiert waren. Infolge der großen Hast und Eile, mit der die Flugbombenoffensive gestartet worden war, hatte für die Abschussrampe selbst noch kein FlakSchutz herbeigezogen werden können. „Mensch, Holzig, wenn das nur gut geht", stieß Wachtmeister Schraube hervor. Der Leutnant presste die Fäuste vor die Augen und schwieg. Dieses Stillhalten, dieses Warten müssen, diese Ohnmacht, nichts tun 58
zu können, und die große Unsicherheit, ob man jetzt „dran" war oder nicht, zerrte an den Nerven, zermürbte die Männer körperlich und seelisch. Unheimlich scharfes, grelles Pfeifen drang den Soldaten in die Ohren, die neben Holzig und Schraube im Graben hockten oder lagen. Dicht vor ihnen flammten riesige Blitze auf, knallten Explosionen, der Boden unter ihren Füßen geriet in Bewegung. Ein Hagel aus Dreck, Geäst und Holzfetzen prasselte auf sie herunter. Die Explosionen wanderten weiter. Kurz darauf trat wieder Stille ein. Sie atmeten auf, hoben die Köpfe und blickten zum Himmel hinauf, den die Flak mit Blitzen und dunklen Rauchwölkchen sprenkelte. Die zweite Welle der „Fliegenden Festungen" rauschte heran, öffnete die Bombenschächte und lud ab. Noch einmal raste die Geißel des Krieges über die Soldaten und die Stellung hinweg. Zehn Minuten darauf war auch dieser Schrecken überstanden. Die Luft stank noch nach Rauch und Kordit, als sich Hötzig und Schraube hochreckten. Vorsichtig hoben sie die Köpfe und blickten über den Rand des Grabens hinweg. Neben ihnen tauchten die übrigen Soldaten langsam aus der Versenkung auf. „Da haben wir aber Schwein gehabt", sagte Unteroffizier Ganter, der am anderen Ende des Grabens stand und mit den Armen in der Luft herumfuchtelte. Leutnant Hötzig kletterte aus dem Graben. Schraube stellte sich neben ihn. Die Lichtung hatte ein anderes Gesicht bekommen. Überall gab es Bombentrichter, der Wald war teilweise zerfetzt, Bäume umgerissen. Doch 59
weder die Abschussrampe noch eines der vielen im Walde liegenden Flugbombendepots hatte einen Treffer abbekommen. Der Leutnant schickte vier Soldaten in verschiedene Richtungen los. Sie sollten eventuelle Verluste an Menschen und Material feststellen und melden. Die Ingenieure Daub und Tillmann standen bereits an der Rampe, als Schraube und Hötzig eintrafen. Sie sahen aus, als hätten sie einen Monat lang nichts mehr zu essen bekommen. Nervös und hastig zogen sie an ihren Zigaretten. „Alles klar bei Ihnen?" erkundigte sich Hötzig. „Klar?" brummte Daub. „Mir geht jetzt noch die Muffe eins zu hunderttausend. Noch so einen dicken Hammer, dann bin ich mit den Nerven total fertig." Doch der zweite „dicke Hammer" kam seltsamerweise nicht. Warum, das wusste keiner zu erklären. Nach und nach liefen die Meldungen bei Leutnant Hötzig ein, laut denen es glücklicherweise keine größeren Verluste gegeben hatte. Die Lkw hatten Splittertreffer abbekommen, am Nordende der Stellung waren ein paar Soldaten leicht verwundet, andere in einem Graben zugeschüttet worden; doch sie konnten sich schnell mit eigener Kraft wieder befreien. Drei Tage vergingen. Ein paar leichte Fla-Geschütze waren inzwischen um die Lichtung herum in Stellung gegangen, welche die manchmal auftauchenden Tiefflieger bekämpften. Aber im allgemeinen sah es so aus, als wäre die Flugbombenstellung beim Gegner in Vergessenheit geraten. Am Morgen des dritten Tages bekam Leutnant Hötzig 60
über Funk den Befehl, sofort zum Regimentsstab bei Amiens zu kommen. Er fuhr mit dem Obergefreiten Klodt los und kehrte mit neuen Anweisungen und Befehlen zurück. Nun wusste er auch, warum der Abschuss damals plötzlich eingestellt worden war. Nur wenige der fast hundert Abschussstellen hatten das Feuer eröffnen können, deshalb war der Beginn der Flugbombenoffensive um drei Tage verschoben worden. Doch jetzt - so hatte man Hötzig beim Regimentsstab erklärt - waren alle Katapulte einsatzbereit. Anfang September 1943 verkündete ein führender Flugbombenfachmann: „Die Entwicklung der Fi 103 ist praktisch abgeschlossen. Die Bauschwierigkeiten sind fast alle überwunden. Die Fertigung läuft." Auch beim Flugbomben-Flak-Regiment 155 war man optimistisch. Man hoffte, die neue Waffe am 1. Dezember 1943 zum Einsatz zu bringen. Doch das war ein Irrtum. Es gab noch viele Schwierigkeiten und Verzögerungen, die überwunden werden mussten. An der Kanalküste entstanden inzwischen sieben riesige Abschussbunker, deren Achsen auf London oder Bristol eingerichtet waren. Man baute ferner kleinere Rampen, die ebenso wie die großen Bunker den Alliierten in England viele Rätsel aufgaben. Es dauerte lange, bis man hinter dieses Geheimnis kam und zu Gegenmaßnahmen antrat. Ende September 1943 begann die Serienherstellung der Flugbomben beim Volkswagenwerk. Doch die gesamte Produktion blieb weiter hinter den Erwartungen 61
zurück, die man an die neue Waffe stellte. Bis Ende des Jahres 1943 konnten lediglich zwanzig fliegende Bomben pro Monat hergestellt werden. An einem Sonntag im Herbst fand beim neu aufgestellten Flugbomben-Flak-Regiment 155 ein besonderes Ereignis statt: Die erste fliegende Bombe sollte von der Schleuder auf dem Versuchsplatz Zempin gestartet werden. Im Kriegstagebuch der Einheit wird darüber folgendes berichtet: „Fünfzehn Uhr: Wieder steht alles in gespannter Erwartung an der Schleuderstellung eins. Die Argus-Röhre brüllt auf. Leuchtzeichen für die verfolgende Heinkel 111 steigen in den Himmel. Der Werfer tritt in Tätigkeit, und glatt, mit langem Feuerschweif, verlässt die Zelle die Startbahn. Langsam steigend, dann immer schneller werdend, gewinnt FZG 76 an Höhe und geht auf Kurs. Sehr schnell entzieht es sich den Blicken der Beobachtenden. Inzwischen ist auch die Heinkel 111, allerdings etwas verspätet, auf Kurs gegangen. Auch dieser Abschuss ist gelungen." Doch bei der weiteren Erprobung, bei der Schulung und Ausbildung der neuen Truppe machte sich der Mangel an Flugbomben schnell bemerkbar und verzögerte so den geplanten scharfen Einsatz. Die Industrie konnte einfach nicht - hauptsächlich wegen fehlender Arbeitskräfte - so viele Flugbomben liefern, wie sie die Truppe verlangte. Es traten außerdem noch Fehler an den Steuer- und Kontrollgeräten auf. Doch trotz dieser Schwierigkeiten trieb man das Flugbombenprogramm in fast hektischer Eile voran. Eine Ursache dieser überstürzten Hast war auch die Tatsache, 62
dass Reichspropagandaminister Dr. Joseph Goebbels die Kunde von dem Vorhandensein deutscher Geheimwaffen in alle Welt hinausposaunte. Für den „Reklamechef" der NSDAP (Nationalsozialistische-Deutsche-Arbeiter-Partei, Hitlers Partei) galt die Flugbombe als so genannte „Vergeltungswaffe", daher auch die Bezeichnung V l und später beim Einsatz der Fernrakete V 2. Auch Hitler selbst kündigte lauthals an, dass die Stunde der Vergeltung nahe. Und das zu einem Zeitpunkt, als es an allen Fronten brannte, als die deutschen Städte in Schutt und Asche versanken und das Reich vom so genannten Endsieg weiter denn je entfernt war. In seiner letzten öffentlichen Rede im Saal des Löwenbräukellers in München, die vom Rundfunk übertragen wurde, orakelte er über die kommenden Ereignisse: „Es mag dieser Krieg dauern, so lange er will, niemals wird Deutschland kapitulieren. Niemals werden wir den Fehler des Jahres 1918 wiederholen, nämlich eine Viertelstunde vor zwölf die Waffen niederzulegen. Darauf kann man sich verlassen: Derjenige, der die Waffen als allerletzter niederlegt, das wird Deutschland sein, und zwar fünf Minuten nach zwölf..." Obwohl die Flugbombentruppe mehr oder weniger noch ein Improvisorium war, verlegten zehn Tage nach Hitlers Rede sechs von den ersten Flugbombenbatterien in Stellungen nach Frankreich; zwei blieben noch in Deutschland. Überraschenderweise war nämlich der Bau der Abschussbunker und vor allem auch der kleineren Schleudern schneller über die Bühne gegangen, als man es erwartet hatte. Doch trotz der übereilten Verlegung der Einheiten 63
nach Frankreich kam es zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu dem großen Vergeltungsbeschuss (Deckname „Eisbär"), den die Luftwaffe erhoffte und den Hitler selbst erwartete; von nun an spukten die so genannten Vergeltungswaffen immer wieder in seinem Kopf herum. Auch auf der englischen Insel verfolgte man interessiert die neuen Propagandaparolen, in denen von Vergeltung und Wunder- oder Geheimwaffen die Rede war. Der britische Geheimdienst hatte inzwischen herausbekommen, dass es einen Zusammenhang gab zwischen dem kleinen unbemannten Flugzeug, das in Zempin aus der Luft fotografiert werden konnte, und dem Bau der geheimnisvollen Stellungen in Nordfrankreich. Diese wurden von den Alliierten wegen ihrer eigenartigen Form „Ski-Sites" (etwa zu übersetzen mit: skiförmige Gebilde) genannt. Insgesamt machte man 96 „Ski-Sites" aus, doch die Zahl stieg noch weiter an. Da man auf Grund der Meldungen und der Ergebnisse der RAF-Luftaufklärer in London jetzt mit einem Beschuss durch deutsche Fernwaffen rechnete, traf man in fieberhafter Eile Gegenmaßnahmen. Als erstes baute man um London und die Südküste einen gewaltigen Flak-Gürtel auf, in dem sich 2800 Geschütze aller Kaliber befanden. Dieser Riegel wurde noch durch 2000 Sperrballons verstärkt, in deren Netzen und Halteseilen sich die kleinen, geflügelten Projektile verfangen sollten. Schließlich zog man elf Jagdgeschwader zusammen, welche die Flugbomben in der Luft abschießen sollten. Ein weiterer Konterschlag der Alliierten war der Beschluss, die Bunker und „Ski-Sites" durch Bomben zu zerstören. Anfang Dezember 1943 traten Teile der amerikani64
sehen Luftwaffe zum Angriff an. Bis zum Heiligen Abend 1943 warfen 1300 Flugzeuge eine Bombenlast von 1700 Tonnen. Das war der größte Einsatz der amerikanischen 8. Luftflotte und zugleich auch die schlimmste Pleite. Von den hundert Abschussrampen konnten nur drei nachhaltig zerstört werden. Bei der Flugbombentruppe selbst gab es überhaupt keine Verluste; dagegen fielen dreißig französische Arbeiter den Bomben zum Opfer. Aber auch auf deutscher Seite gab es eine Panne. Den führenden Offizieren, unter ihnen Generalfeldmarschall von Rundstedt, war allmählich klar geworden, dass der Bau der riesigen Betonabschussbunker eine Fehlplanung gewesen war; eine Verschwendung von wertvollem Material und dazu noch die Bindung von Tausenden von Arbeitern der Organisation Todt, die an anderer Stelle nützlicher hätten eingesetzt werden können. Die Bauarbeiten sollten deshalb sofort eingestellt werden. Man trug Hitler die Angelegenheit vor, der die endgültige Entscheidung treffen sollte. Doch der „Führer" ging lediglich in oberflächlicher Form darauf ein. Für ihn war es nur von Bedeutung, dass die Mammutbunker eine große Masse feindlicher Flugzeuge anzogen und banden; dass dadurch riesige Bombenlasten sozusagen auf freies Feld fielen und nicht auf deutsche Städte. Er vertrat schließlich die Meinung, stärkere, Flak-Kräfte nach dem Westen zu verlagern, damit die Stellungen besser geschützt waren. Obwohl die Bombardierung der „Ski-Sites" durch die Amerikaner weiterging (bis Ende 1943 fielen 3000 Tonnen Bomben), konnten Bau und Vollendung der Kata65
pultstellungen nicht aufgehalten werden. Teilweise waren diese so kunstvoll getarnt - wie Leutnant Hötzigs Stellung bei Abbeville -, dass sie aus der Luft überhaupt nicht mehr zu erkennen waren. Zum Jahreswechsel gab der Kommandeur der Flugbombentruppe, Oberst Max Wachtel, einen Tagesbefehl an seine unermüdlich für ihre neue Waffe arbeitenden und im Einsatz stehenden Soldaten (Originalwortlaut) heraus: „Soldaten! Wieder stehen wir an der Schwelle eines neuen Jahres! Hart und unerbittlich tobt der Krieg noch um uns. Ein Krieg, der uns von den Völkern auf gezwungen wurde, die genau wie 1914 den Aufstieg unserer Nation nicht glaubten hinnehmen zu können. Jeder Versuch, der vor dem Krieg vom Führer unternommen wurde, das Ringen zu vermeiden, schlug fehl, ebenso wie die mehrmaligen Angebote an England im Jahre 1939 und 1940, den Krieg zu beenden, wirkungslos verhallten. Also muss und wird dieser gigantische Kampf bis zu seinem Ende durchgeführt werden. Dieses Ende muss und wird ein deutscher Sieg sein, wenn wir nicht uns selbst und unsere Zukunft aufgeben wollen. In diesem Kampf sind wir an eine bedeutende Aufgabe gestellt worden, und sie zu erfüllen, wird im neuen Jahr unsere schönste und höchste Pflicht sein. In diesem Sinne wünsche ich allen meinen Offizieren, Unteroffizieren und Mannschaften meines Regiments Soldatenglück für das kommende Jahr, das uns dem Endsieg und damit dem Frieden einen gewaltigen Schritt näher bringt." 66
Obwohl die Flugbombe noch manche Mängel aufwies und die Produktion sich hinschleppte, entschloss sich Hitler Anfang Januar 1944, die Vergeltungsoffensive gegen England am 15. Februar 1944 zu beginnen. Doch dazu kam es wegen Nachschubschwierigkeiten und der inzwischen erfolgreich verlaufenen Luftangriffe der Alliierten nicht mehr. Fünfundzwanzig Prozent der „Ski-Sites" waren nicht mehr funktionsfähig. Von den 35000 Arbeitern waren infolge der Bombardierungen 20 000 entweder ausgefallen oder weggelaufen. Man ging nun zum Bau von vereinfachten Abschussrampen über, von denen 10000 Arbeiter rund 50 Stellungen im Monat aufbauen konnten. Die neuen Katapulte wurden in Deutschland vorgefertigt, dort gelagert und sollten im Ernstfall schnell zum Westen gebracht und montiert werden. Dadurch waren sie nicht den großen Luftangriffen ausgesetzt. So kam es, dass die 96 „Ski-Sites" und Bunker bereits vor Februar 1944 überholt waren. Doch Oberst Wachtel gab sie nicht einfach auf, sondern ließ sie wieder reparieren. Er wollte dadurch den Gegner täuschen und von den neuen Stellungen ablenken. Ein Trick, der gelang. Da die alliierten Geheimdienste sich mittlerweile auch brennend für Oberst Wachtel selbst interessierten, musste er sich einer Tarnung unterziehen. Man kommandierte ihn zum Schein wieder zur Erprobungsstation Zempin ab. Die Soldaten bekamen die Information, dass ihr Kommandeur in Zukunft ein Oberst Martin Wolf sei, und der Regimentsstab bekam die harmlose Bezeichnung ,.OT-Oberbauleitung Schmidt". Der gesamte Regimentsstab, zu dem auch Wachtmeister Schraube vor67
übergehend abkommandiert worden war, fuhr in Zivilzeug nach Paris. Die Männer verschwanden dort in einem Haus und kamen in den Uniformen der „Organisation Todt" wieder heraus. Erst später, als die/Flugbombenoffensive wirklich begann, fiel die Tarnung. Doch trotz der eifrigen Bemühungen aller Flugbombenexperten konnten die vorgesehenen Angriffstermine aus vielerlei Gründen, vor allem Fertigungsschwierigkei-ten der fliegenden Bombe, nicht eingehalten werden. Am 17. März 1944 war es Oberst Wachtel klar, dass ihm bis Mitte des nächsten Monats nur 300 fliegende Bomben geliefert werden konnten. Andere Offiziere schlugen Kompromisslösungen vor, laut denen als „Geburtstagsgeschenk für Hitler" am 20. April 1944 etwa wenigstens 300 Flugbomben auf London abgefeuert werden sollten. Für den Morgen war Störfeuer unter dem Stichwort „Großes Wecken" vorgesehen, am Mittag ein Feuerschlag von etwa 100 Geschossen unter der Bezeichnung „Salut" und am Abend ein ständiger Beschuss mit dem Namen „Großer Zapfenstreich"; doch dieses Vorhaben verschwand, wie viele andere, stillschweigend in der Versenkung. Mit zwei Planspielen, bei denen der Ernstfall künstlich durchexerziert wurde, bereiteten sich der Regimentsstab und sämtliche Flugbombeneinheiten auf die kommende Offensive vor. Das letzte Planspiel fand am l1.April 1944 statt, bei dem in der Theorie ausprobiert wurde, wie die Flugbomben aus den Fertigungsbetrieben möglichst schnell an die Front gelangen konnten. Da sich dabei Stockungen ergaben, beschloss man, die in Deutschland lagernden Flugbomben sofort in Höhlen und Bergstollen 68
in Frankreich zu schaffen. Dadurch war eine schnellere Belieferung der einzelnen Stellungen möglich. Diese Umlagerung ging Mitte Mai 1944 vor sich. Außerdem standen bestimmte Bahnhöfe zur Verfügung, von denen aus Flugbomben unmittelbar in die Stellungen gefahren werden konnten. Damit waren die Vorbereitungen abgeschlossen. Nur zwei Angelegenheiten mussten noch geregelt werden. Einmal der Einsatzbefehl und zum anderen die Montage der vorgefertigten Katapulte auf die vorhandenen Betonfundamente in den einzelnen Stellungen. Laut Führerbefehl vom 16. Mai 1944 sollte die Vergeltungsoffensive Mitte Juni 1944 mit Bombereinsatz, Artilleriebeschuss, Abwurf von Flugbomben aus He-111Maschinen (ein Verfahren, das ebenfalls vorbereitet worden war und auch zum Einsatz kam) und durch einen Feuerschlag des Flugbomben-Regiments eröffnet werden. Der Kommandeur des Flak-Regiments 155, Oberst Wachtel, bekam den Befehl, auf das Stichwort „Rumpelkammer" innerhalb von sechs Tagen die vorgefertigten Katapulte auf die Betonklötze zu montieren. Wachtel war offenbar voller Zuversicht. Er schrieb am 2. Juni 1944 in das Kriegstagebuch des Regiments: „So gesehen, waren die vergangenen Monate ein unausgesetztes erbittertes Ringen mit einem Gegner, der gestützt auf seine Luftüberlegenheit - auch heute noch glaubt, den rocket-guns (Raketenkanonen) vor ihrem Einsatz das Lebenslicht ausblasen zu können. In dieser kurzen Zeitspanne von heute bis zum X-Tag (Einsatztag) tritt dieser Kampf in seine entscheidende Phase. Es 69
geht darum: Werden wir zuerst schießen? Oder kommt der Gegner vorher über den Kanal?" Wachtel war ferner der Meinung, dass die Flugbombe „eher drüben ist als Ami und Tommy bei uns." Er irrte sich, denn am 6. Juni 1944 landeten die Alliierten in der Normandie. Oberst Wachtel bekam Nachricht darüber, und am Nachmittag des Invasionstages das Stichwort „Rumpelkammer". Sechs Tage später also musste das Flak-Regiment 155 mit der Flugbombenoffensive beginnen. In aller Eile ging man daran, die in Deutschland lagernden Katapulte zu den Stellungen in Frankreich zu schaffen. Oberst Wachtel und seine Stabsangehörigen zogen die ockergelben Uniformen der „Organisation Todt" aus. Nur Wachtmeister Schraube lief noch weiter in der Tarnuniform herum. Kurz vor Beginn der Offensive wurde er zu seiner Stammeinheit zurückkommandiert; denn der Regimentsstab stand kurz vor einer Verlegung. Im Kriegstagebuch heißt es über diese Phase: „Mit dem 9. Juni dämmert ein wolkenverhangener, regenschwerer Tag herauf. Für den Feind bedeutet das: Lähmung der Fliegertätigkeit und damit für uns günstige Möglichkeit eines Stellungswechsels. Kurz entschlossen wird die Verlegung des Regimentsstabs in den Einsatzgefechtsstand Saleux bei Amiens befohlen. Der Stellungswechsel wird im Landmarsch durchgeführt. Obwohl sich die Wetterlage am Spätnachmittag besserte, erreichten die letzten Fahrzeuge unbehelligt von feindlichen Jägern und Jabos (Jagdbombern), die in den letzten Tagen die Nachschubwege überwachten, ihr Marschziel Saleux. Der Regimentsgefechtsstand Saleux ist unter äußerst 70
günstiger Ausnutzung des Geländes angelegt (von der Organisation Todt). Die natürliche Bewachsung des Platzes ist durch Tarnnetze und Matten so weitgehend ergänzt, dass das Barackenlager völlig unter einer Tarnkappe im Hang verschwindet. Die Stollen und unterirdischen Gefechtsbunker liegen achtzehn Meter tief unter den Baracken und sind aus diesen über rund hundert Treppenstufen zu erreichen. Aus den Schächten, die in die Stollen und Bunker führen, steigt eine feuchte, kühle Luft herauf. Mit Feldbahnen wird das Kreidegestein, das durch Sprengung aus dem Berg gebrochen wird, aus Notausgängen am Fuß des Abhangs gefahren." Bis zum 11. Juni 1944 hatten die Soldaten der Flugbombentruppe ununterbrochen an der Montage der Katapulte gearbeitet. Laut Befehl musste in der Nacht vom 12. zum 13. Juni 1944 mit dem schlagartigen Beschuss begonnen werden. Doch Oberst Wachtel erkannte, dass er den verlangten Termin nicht einhalten konnte. Es gab lange Verzögerungen beim Transport der Katapulte, da die Straßen und Wege fast ständig unter der Kontrolle von alliierten Jägern standen. Sie schössen auf alles, was sich bewegte, und bildeten so einen Teil des großen Schutzschildes, der die Invasion in der Normandie abschirmte. Der Oberst drängte auf eine Verschiebung der Angriffszeit. Man gestand ihm anfangs nur ein paar Stunden zu, die aber nicht dazu ausreichten, alle Abschussstellen einsatzbereit zu machen. Andererseits musste sich der Oberst an den Hitlerschen Befehl halten und gab das Stichwort „Rumpelkam71
mer" an die ihm unterstellten Spezialeinheiten. So kam es, dass zu Beginn der V-1-Aktion nur zehn fliegende Bomben (darunter die Abschüsse aus Leutnant Hötzigs Stellung) gestartet wurden. Da eine derartige Störfeuermethode wirkungslos war und nicht dem Sinn des Unternehmens entsprach, traf der Befehl bei den Einheiten ein, das Feuer vorläufig einzustellen. Man wollte warten, bis alle 55 Abschussrampen einsatzklar waren. Am 15. Juni 1944 war es dann soweit. Bei den Abteilungen, Batterien und schließlich bei den Feuereinheiten traf Oberst Wachtels Befehl ein: „Mit allen Geschützen auf Ziel Nr. 42, Feuerschlag, Vergleichsentfernung 200 Kilometer, Vergleichszeit 23 Uhr 18 (Einschlag 23 Uhr 40). Anschließend Dauerfeuer bis 4 Uhr 30." Die Geschütze waren so ausgerichtet, dass der Hauptzielpunkt die Tower Bridge in London war. Es kam allerdings zu erheblichen Ablagen, was einkalkuliert war. Nur eine fliegende Bombe traf später die weltbekannte Brücke. Das höllische Spektakel begann. Von den Katapulten brummten die fliegenden Bomben davon. Bis zum Mittag des 16. Juni 1944 erreichten etwa 200 V l die Weltstadt an der Themse. Doch das war noch längst nicht der Höhepunkt. Der Beschuss ging weiter und steigerte sich, und die Wirkung war verheerend. „Es muss etwas geschehen, Major Carter!" Die Stimme war fester und ruhiger als die schmale Hand. Major Carter schob die klobige Pfeife in den rechten 72
Mundwinkel und betrachtete den Mann mit seinen klugen Augen. Sein Gegenüber war unauffällig, aber elegant gekleidet. Es war ein Mann mit einem bemerkenswerten Kopf, einer, der im Gespräch und auch in der Kleidung Akzente zu setzen wusste. Das verriet die rote Nelke am Revers seines schwarzen Anzugs. Eine Blume! Und das in dieser verrückten Zeit, wo alles vor Angst auf dem Kopfstand. So etwas konnte sich nur ein Gentleman aus dem Kriegsministerium leisten. Carter war bekannt, dass sein Besucher aus den Kreisen um Duncan Sandy stammte, der schon lange alles in seiner Hand vereinigte, was mit den deutschen Geheimwaffen zusammenhing. Das Hämmern der Flak schwoll an, der seltsame Brummton in der Luft wurde lauter. Ein vollkommen neues, gefährliches Geräusch für die Bevölkerung der Themsemetropole. „Was soll geschehen, Sir?" polterte Major Carter los. Die Pfeife vibrierte. Der eckige Mann mit den breiten Schultern nahm sie nicht aus dem Mund, über dem ein rötlicher Schnurrbart prangte. Im selben Augenblick war das eigenartige Brummen über dem Haus. Grell, drohend. Der Mann im schwarzen Anzug rührte sich nicht. Seine Gefühle, symbolisch für die Angst einer ganzen Stadt, versuchten ihn hochzureißen. Doch sein kalter Verstand leimte ihn auf den Stuhl, auf dem er Platz genommen hatte. Major Carter sollte die Angst nicht sehen, die ihm unter der Haut brannte. Doch der Major war ein ausgefuchster Menschenkenner und durchschaute ihn. Seine Augen waren durch die jahrelange Arbeit im Geheimdienst geschärft. Aus die73
ser Tugend zog er kaltblütig Nutzen für seine Zwecke, wenn es sein musste. Ihm war es auch nicht entgangen, wie die Hand des Besuchers zitterte, als die fliegende Bombe heranheulte. Kaltblütig sagte er: „Ein Gruß aus Germany, Sir. Genauso, wie wir Fachleute es schon lange erwartet haben." Dabei lächelte er, und die Pfeife blieb in seinem Mund, als sei sie dort angewachsen. „Wollen wir uns das Ding nicht einmal ansehen, Sir?" Falten gruben sich in Carters Ledergesicht. Es bereitete ihm eine gewisse Freude, den anderen zu verwirren. Und das hatte einen Grund. Der Schlanke aus Sandys engerem Kreis sprang auf. Das Brummen zerrte an seinen Nerven, deshalb war er froh, sich so ablenken zu können. Sie gingen zum offen stehenden Fenster und blickten hinaus. An Londons dunklem Himmel hingen Tausende von glitzernden, künstlichen Sternen. Dazwischen Perlenketten, geschmiedet aus der Leuchtspurmunition der Fla-Geschütze. Major Carter deutete zum Himmel. „Schön und gefährlich wie eine Klassefrau." Er lachte. Woher dieses Rauhbein diese grausam-poetischen Vergleiche nimmt. Kurz darauf aber dachte er sicherlich an gar nichts mehr. Der Brummton der fliegenden Bombe setzte plötzlich aus. Major Carter wechselte die Pfeife in den anderen Mundwinkel. Der Besuchte presste die Hände an das Holz des Fensters. Weiß traten die Knöchel hervor.. Ein grässliches Pfeifen ertönte. Das Triebwerk der Flü74
gelbombe war abgeschaltet worden. Eine Tonne Sprengstoff sauste jetzt in die Tiefe. Niemand wusste, wo sie einschlagen, was und wen sie treffen würde. Sekunden später die donnernde Explosion! „Seit Tagen geht das so, Major", sagte der Nelkennann, nachdem er etwas ruhiger geworden war. „Und wie wir wissen, haben die Deutschen noch mehr von diesen Teufelseiern in der Pfanne. Es hat bis jetzt schon viele Verluste, große Zerstörungen und Brände gegeben. Die Bevölkerung ist schockiert und entsetzt. Unsere Abwehr bildet keinen wirksamen Schutz. Und dazu stehen wir erst am Anfang des Raketenkrieges." „Ihren letzten Worten kann ich nicht ganz zustimmen, Sir", wandte Carter ein. Der Major war Leiter der Abteilung, die für den Einsatz von Agenten in den von den Deutschen besetzten Gebieten zuständig war. „Das dort draußen ist die Fortsetzung, oder, sagen wir, der erste Höhepunkt einer ganz logischen Entwicklung. Meine Abteilung hat so etwas schon seit einiger Zeit kommen sehen und dementsprechend gewarnt. Aber was geschah? Sie wissen es, Sir. Zuerst glaubte man nicht an die deutschen Raketenwaffen. Dann traf man zwar ein paar Abwehrmaßnahmen, aber keine genügenden. Und vor fast fünf Tagen freute man sich sogar, denn da war der Beschuss noch mäßig. Sie wissen, was Churchill gesagt hat. ,Der Berg hat gekreißt und ein Mäuslein geboren'. So war es doch. Meine Abteilung dagegen hat aber immer wieder vor einem allzu großen Optimismus in Bezug auf die Brummbombenoffensive gewarnt, Sir. Wir aber galten als die Buhmänner, die nicht ernst zu nehmen waren. Das haben wir uns zu 75
Herzen genommen. Sie können es uns nicht verübeln wenn wir jetzt ein wenig schadenfroh sind." „Major Carter", meinte der Mann mit der Nelke ruhig „die Lage ist zu ernst, um jetzt noch die gekränkte Leber wurst zu spielen, um persönliche Wehwehchen zu pflegen." „Das will ich überhört haben", konterte der Majo bissig. „Es handelt sich nicht um persönliche Wehwehchen, wie Sie es verniedlichen. Meine Leute haben schließlich für die aufklärende Arbeit Kopf und Kragen riskiert, aber so gut wie überhaupt keinen Dank öde Anerkennung geerntet." Der andere ließ ihn poltern. Er wusste, Carter würde« sich schnell wieder beruhigen. Aber noch war es nicht soweit! „Jetzt kommen Sie wieder zu mir, Sir. Es muss etwas geschehen, verlangen Sie von mir. Die Brummbomber zermürben die Nerven der Londoner, richten Schaden an und töten viele Menschen. Jetzt zeigt es sich, dass die damals so stark gefeierten und überschätzten Erfolge nach der Bombardierung von Peenemünde und der übrigen Bunker und Abschussstellen in Frankreich für di Deutschen nur Nadelstiche waren; so, wie ich es immer gesagt habe. Plötzlich sind die deutschen Raketen wieder da. Die Gefahr ist riesengroß. Auf einmal erinnern sie die hohen Herren wieder an den alten Carter. Wie eine Puppe will man ihn aus der Schublade holen, damit er den bösen Teufel erschlägt." „Regen Sie sich ab, Major. Sie wissen ja nicht einmal genau, was ich überhaupt von Ihnen will." „Das sehe ich Ihnen an der Nasenspitze an", meinte 76
Carter gelassener; denn die erste Wut war vorüber. Er stopfte seine Pfeife mit frischem, nach Feigen riechendem Tabak. „Na gut, lassen Sie die Katze schon aus dem Sack." Sein Gegenüber blickte kurz auf seine gepflegten Hände und sagte dann: „Wir haben uns inzwischen auch Ihrer Meinung angeschlossen, Major", führte der Nelkenmann aus. „Die Brummbombenoffensive wird sich eventuell noch steigern." „Das sagte ich bereits vor Wochen", warf Carter ein. „Aber es gibt auch beruhigende Prognosen und Aussichten in diesem grausamen Spiel, Sir. Mit jedem Schritt, den unsere Invasionstruppen vorankommen, nähern wir uns den Abschussbasen dieser verdammten Bomben. Eines Tages haben wir sie in der Hand. Es ist also nur eine Frage der Zeit, wann der Spuk aufhört. Und bis dahin werden die Nerven der Bevölkerung nicht reißen. Wir haben schließlich auf diesem Gebiet schon genug erlebt." Der andere hob die Teetasse an die dünnen Lippen. Das Getränk war kalt wie die Worte, die aus dem schmalen Mund kamen: „Major Carter, wir sind erst ein paar Tage auf dem Kontinent. Noch ist es nicht vollkommen klar, ob der große Sprung tatsächlich ein Erfolg wird oder ob es den Deutschen doch noch gelingt, uns wieder ins Meer zu werfen." „Im Kriegsministerium ist es bereits ein Erfolg", stellte Carter fest. „Man muss in Optimismus reisen, Carter. Offiziell! Verstehen Sie? Die Leute müssen gerade jetzt etwas von Erfolgen hören, denn das beruhigt sie." Carter nickte. 77
„Angenommen", fuhr der Mann mit der Nelke fort „es gelingt uns nicht, die Abschussbasen in unsere Harn zu bringen. Dann ist das ein Kinderspiel, was wir bisher erlebt haben gegenüber dem, was noch auf uns zukommt. Außerdem besteht die Gefahr, dass mit der Bomben die Invasionsflotte zerschlagen oder der Nachschub gelähmt, wenn nicht vollkommen blockiert wird Und wenn das passiert, kann es ein zweites Dünkirchen geben, Major. Das heißt, die Folgen sind noch weittragender. In dem Fall haben wir den Krieg verloren. Ein zweites Mal lässt sich eine derart gigantische Maschinerie, wie sie die Invasion darstellt, nicht mehr aufstellen, Damit kommen wir also bei unserer gemeinsamen Sache an, Carter. Es muss etwas geschehen." Da stellte Major Carter seinen Groll endgültig beiseite. „Gut. Gestatten Sie mir vorher einen Einwand. Ich glaube nicht an den Einsatz der fliegenden Bomben gegen Schiffsziele, wenigstens nicht an einen erfolgreichen. Auch andere Punktziele können nicht wirkungsvoll angegriffen werden, denn dazu haben die Flugbomben eine zu große Streuung, wie wir gesehen haben." „Jetzt dürfen Sie nicht zu optimistisch sein, Major Carter", schränkte der Besucher ein. „Ich weiß etwas dass Sie noch nicht in Erfahrung gebracht haben." „Und das wäre?" „Aus einer bestimmten Geheimquelle wissen wir, dass in nächster Zeit auch geflügelte Bomben eingesetzt wer den sollen, die haargenau in vorgesehene Ziele einschlagen werden, Major." Gerüchte! dachte Carter. Darum lachte er kurz auf. „Da gibt es nichts zu lachen", warnte der andere kühl 78
„Man nimmt die Dinge sehr ernst und ist besorgt. Sie werden nicht mehr lachen, wenn ich Sie noch weiter aufkläre. Die Deutschen sollen etwas ganz Tolles planen. Es sind für uns sehr gefährliche Entwicklungen im Gange. Die Flügelbomben sollen - bemannt werden!" Mit einem Ruck riss Carter die Pfeife aus dem Mund. „Machen Sie keine Witze, Sir. Daran glaube ich nicht." „Sollten Sie aber", kam es zurück. „Die Deutschen wollen die Brummbombe umkonstruieren; ein Pilot soll sie steuern. Es wird Ihnen klar sein, was das bedeutet. Mit diesen schnellen Apparaten kann dann jedes Ziel, auch das kleinste, vernichtet werden. Auch Schiffe, Carter." „Und der Pilot?" fragte Carter verblüfft. Der Nagel des Zeigefingers tickte auf die Tischplatte, als der Nelkenmann sagte: „Der Pilot, Carter? Betrachten wir die Geschichte einmal ganz nüchtern. Ein Soldat kann zum Beispiel auf diese Art ein großes Schlachtschiff zu den Fischen schicken, eine Fabrik oder ein E-Werk zerstören. Also einen Schaden anrichten, der entscheidend für den Verlauf unserer Operationen ist. Und der Pilot - geht dabei drauf." „Ist den Deutschen so etwas zuzutrauen?" drückte Carter Zweifel aus. „Kamikaze? Bei den Japanern gibt es so etwas, wie wir wissen, doch die besitzen eine ganz andere Mentalität. Aber die Deutschen ...?" „Carter, bringen Sie mir Beweise für Ihre Einwände. Es wäre gut, wenn Sie recht behalten würden. Doch bis dahin bekommen Sie den Auftrag, diesen geheimnisvollen Dingen nachzuspüren. Wenn diese neue Waffe tatsächlich im Aufbau oder bereits vorhanden ist, müssen 79
wir uns etwas einfallen lassen, um sie zu bekämpfen. All weitere überlasse ich bis dahin Ihnen." „Das ist keine leichte Aufgabe, Sir", wandte Carter ei „Sie werden es schon schaffen." Der Gentleman lächelte zum ersten Mal seit Beginn der Unterredung. „Schicke Sie einen guten Agenten nach drüben." Der Major zog an seiner Pfeife. Gedanken schössen w Leuchtspurketten durch seinen eckigen Schädel. „Gut, Sir, wenn es diesen verrückten Plan gibt, werd ich hoffentlich etwas über ihn herausbekommen." Sein Gesprächspartner nickte, und die beiden erhoben sich. Das ratternde Brummen einer fliegenden Bombe zog wieder über das Haus hinweg. Die Flak schoss. Das Bombengeräusch setzte aus, das Projektil strich die aufgewirbelte Luft durch das Zimmer. „Beeilen Sie sich, Carter, bevor wir die bemannten Bomber auf dem Hals haben", sagte der Mann aus dem Ministerium, dann ging er. Carter stand allein am Fenster. Über London lag ei rötlicher Schimmer, der von den vielen Bränden erzeugt wurde. Leichter Nieselregen setzte ein. Eine zerlöcherte Wolkendecke zog langsam nach Osten. Die Abenddämmerung kündigte sich an. Wachtmeister Schraube lief zu Leutnant Hötzig hin über, der gerade aus dem Funkwagen kam, wo er ei: Telefongespräch geführt hatte. „Alles klar zum Abschuss, Herr Leutnant", meldet Schraube. 80
„Habe gerade mit dem Regiment telefoniert, Schraube", überging der junge Offizier die Meldung. „Beschuss haut hin. Guter Erfolg." Dann hob er die Stimme an und rief laut: „Alles in Deckung! Feuer frei!" Die Männer liefen in die Gräben, Erdlöcher und in den Wald. Der Werkmeister stand am Auslöseknopf und blickte zu Hötzig hinüber, der den rechten Arm gehoben hatte. Ruckartig ließ er ihn fallen und hetzte dann in den Deckungsgraben. Das Triebwerk der Flugbombe röhrte und knatterte, das Katapult zischte. In gewohnter Weise rauschte die Flugbombe davon, hob ab und stieg in den grauen Himmel. Doch diesmal geschah etwas Unvorhergesehenes. Bis zu dem Augenblick waren alle Abschüsse in der Hötzig-Stellung ohne Zwischenfälle verlaufen. Das änderte sich jetzt. Die geflügelte Bombe stieg bis auf etwa hundert Meter Höhe. Ein Explosionsblitz flammte mit einem Mal auf, der von einem ungeheuren Knall begleitet wurde. Das Projektil platzte auseinander. Tausende von kleinen und kleinsten Teilen schwirrten durch die Luft, bis in die Stellung hinein. Wachtmeister Schraube, der bereits aus dem Graben geklettert war, verspürte einen schmerzenden Stich im Oberschenkel. Er schrie auf, blickte an sich hinunter und sah, dass ein Splitter die Uniform durchschlagen hatte und in das Bein eingedrungen war. Ein Sanitäter versorgte später die Fleischwunde, die weiter nicht schlimm war. 81
Solche Zwischenfälle ereigneten sich in fast allen Katapultstellungen; trotzdem wurde der Beschuss fortgesetzt und gesteigert. Am Abend dieses 16. Juni 1944 hörten die Soldaten der Flugbombentruppe im Radio, wie ihre Truppe zum ersten Mal im Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht genannt wurde. Es hieß: „Südengland und das Stadtgebiet von London wurden in der vergangenen Nacht und heute Vormittag mit neuartigen Sprengkörpern schwersten Kalibers belegt." Die Eröffnung der Flugbombenoffensive ließ bei der deutschen Bevölkerung verschiedenartige Empfindungen wach werden. Es gab Meinungen und Stimmungsanalysen, die in einem offiziellen Bericht wie folgt fixiert wurden: „Nach dem Einsatz der V l wurde erzählt, die Beschießung Englands werde vierzehn Tage anhalten, und dann werde der Führer England zur bedingungslosen Kapitulation auffordern. Dass die Wirkung von V l bedeutend sei, lasse sich daraus ersehen, dass die Engländer bereits beim Papst vorstellig geworden wären, damit dieser wegen einer Einstellung der Beschießung intervenieren möge. Gerüchten aus Oberschlesien zufolge soll er diesen Schritt sogar schon unternommen haben. Dies halte die deutsche Regierung geheim. In Arbeiter- und Angestelltenkreisen Oberschlesiens läuft auch das Gerücht um, in England sei infolge der Beschießung mit V l der Generalstreik ausgebrochen, und die Bevölkerung verlange in Massendemonstrationen vor den Regierungsgebäuden einen Frieden um jeden Preis. Daraufhin sei die englische Regierung mit uns 82
in Waffenstillstandsverhandlungen eingetreten. Sie beabsichtige die Zurückziehung ihrer Truppen von der Invasionsfront. Einem anderen Gerücht zufolge habe indessen die englische Regierung gedroht, gegen die deutsche Zivilbevölkerung schwere Gasbomben einzusetzen, falls der Einsatz von V l nicht umgehend aufgegeben werde." Es waren dies Gerüchte, die dem damaligen Wunschdenken nach einer schnellen Beendigung des jahrelangen Krieges entsprachen, an der Wirklichkeit aber vorbeigingen. Doch im allgemeinen herrschte ein gewisser Optimismus, der auch auf Hitler selbst übergriff. Nach dem Dämpfer, den ihm die alliierte Landung in der Normandie versetzt hatte, glaubte er jetzt, die V l würde eine Kriegsentscheidende Wirkung haben und England friedenswillig machen. Er wagte es nun auch, bei seinen Generalen und Offizieren im Westen aufzukreuzen. Von Berchtesgaden flog er am 17. Juni 1944 nach Metz, von wo aus er mit einem geländegängigen Wagen nach Margival weiterfuhr. Bei einer Besprechung verteilte er Tadel wegen der geglückten Invasion und Lob für die erfolgreiche Flugbombenoffensive, Zwei führende Offiziere (Heinemann und Walter) wiesen Hitler darauf hin, dass auf Grund der augenblicklichen schwierigen Nachschubsitutation kein ständiger und damit wirkungsvoller Beschuss erzielt werden könnte. Sie ersuchten Hitler, die deutsche Industrie anzuweisen, wenigstens 3000 fliegende Bomben im Monat herzustellen. Hitler schloss sich zwar dieser Ansicht an, aber eine sofortige Auswirkung auf das Flugbombenpro83
gramm hatten diese Bemühungen nicht. Am gleichen Tag reiste Hitler aus den bedrohten Westgebieten wieder ab. Der 18. Juni 1944 war für das Flugbombenregiment ein besonderer Tag. Die fünfhundertste Bombe zischte von einem Katapult und flog in Richtung London davon. Am gleichen Tag kam es in der Riesenstadt zu einem großen Unglück. Eine V l schlug in eine Kapelle ein, die nicht weit vom Buckingham-Palast entfernt war. Bei der Explosion kamen über 120 Menschen ums Leben, unter ihnen 63 Offiziere und Mannschaften. Gegen Ende des Monats Juni konnte General Heinemann, Kommandeur des LXV. Armeekorps, dem das Flak-Regiment 155 (Oberst Wachtel) unterstand, den Abschuss der 2000. fliegenden Bombe an Hitler melden. Dieser telegrafierte daraufhin zurück: „Heute, nachdem der 2000. Schuss im Fernkampf gegen England abgegeben, die Fortsetzung des Feuers gesichert ist und kein Zweifel mehr an der zermürbenden Wirkung dieses Dauerbeschusses von London besteht, kann ich die Ihnen gestellte Aufgabe als gelöst betrachten. Ich spreche Ihnen, Ihrem Stab sowie allen eingesetzten Offizieren, Soldaten, Ingenieuren sowie Fachpersonal für ihre hingebungsvolle, unermüdliche Arbeit meine volle Anerkennung aus." Über den Reichsrundfunk verbreitete man in ständigen Sendungen die Kunde von dem großen Erfolg der fliegenden Bomben. Reporter erschienen beim Flak-Regiment 155, die ihre Berichte über den Abschuss der V l auf Tonband sprachen, das später im Rundfunk abge84
spielt wurde. Im Kriegstagebuch des Regiments heißt es über einen dieser Berichterbesuche: „Unweit der Stellung der 5.Batterie, an einer höher gelegenen Wegkreuzung, ist der Rundfunkwagen aufgefahren. Die Stellung liegt vorzüglich getarnt in einem Waldstück. Die Erde ringsum ist von Bomben aufgebrochen. Weiß zeichnen sich die Trichterränder auf den bebauten Flächen des Kreidebodens ab. Der Abend verdämmert. Der Himmel ist Wolkenverhangen, es regnet leicht. Bestes Schießwetter. Unter einem Baum auf erhöhtem Platz einer Böschung steht Kriegsberichter Dr. Karl Holz*, das Mikrofon in der Hand. Im Funkwagen läuft das Aufnahmegerät. Es ist eben 23 Uhr vorüber. Da leuchtet über dem Wald ein Feuerschein auf. Der Sprecher erhebt seine Stimme: ,Gleich wird es soweit sein. Ein verstärkter Einsatz von VI.' Donnernd zieht, während der Kriegsberichter das Erlebnis für die Heimat, für die Ohren der Welt festhält, V l seine Bahn. Noch zwei Abschüsse nach vierzig Minuten, und dann nach einer weiteren Stunde wieder ein Aufleuchten überm Wald, dann der Knall und das vertraute Orgeln. In der regenfeuchten Nacht gehen ein Feuerball und ein zweiter in langsamer Steigung auf Kurs Richtung London." Noch während der Flugbombenangriff auf seinem Höhepunkt stand, dachte Hitler schon wegen der immer Infolge der strengen Geheimhaltung waren für das Betreten der Abschussstellungen Extrabescheinigungen nötig. 85
weiter vorrückenden Invasionstruppen an einen Rückzug im Westen. Das brachte für die Flugbombenentwickler die Konsequenz, dass er von den neu anzufertigenden geflügelten Bomben eine Erhöhung der Fluggeschwindigkeit auf 700km/h und eine Aktionsreichweite von über 300 Kilometern verlangte. Grund: „Damit man mit den Stellungen nach rückwärts ausweichen kann." In der Nacht nach der Besprechung mit dem Abgesandten des Kriegsministeriums, in der London unter heftigem V-1Beschüß zitterte und bebte, fuhr Major Carter aus der Stadt heraus. Sein Ziel war eine Geheimdienstschule in Schottland. Dort hoffte er auch den Vollzieher für seinen Plan zu gewinnen, der das neu aufgetauchte Geheimnis der deutschen Wunderwaffe ergründen konnte. Doch seinen Agenten sollte in der Folgezeit nur ein spärlicher Erfolg beschieden sein. Im Verein mit Carters Einzelaktion gab es noch viele Maßnahmen zur Abwehr der deutschen Flugbomben. Jäger der RAF hielten sich, soweit es die Wetterlage zuließ, ständig an den Einflugschneisen in der Luft auf. Sie stießen auf die heranrasenden Flugbomben herunter und schössen viele von ihnen ab. Einige der RAF-Piloten waren dermaßen tollkühn, dass sie neben einer V l herflogen, diese mit dem Tragflächenende umkippten und so zum Absturz brachten. Auch die Flak konnte einige Erfolge verzeichnen. Die alliierte Bomberflotte galt nun in erhöhtem Maße (40 Prozent aller Einsätze!) Zielen, die im Zusammenhang mit der Flugbombenoffensive standen: Stellungen, Nachschubbahnhöfen, Transportwegen und Bomben86
depots. Anfang Juli 1944 führte die 5. englische Bombergruppe, der die legendäre Squadron 617 angehörte, einen Schlag gegen die Pilzhöhlen bei Saint-Leu-d'Esse-rent, in denen Flugbomben lagerten. Mit von Barnes Wallis entwickelten „Tallboy-Bomben" versuchte man, die aus Kalkgestein bestehenden Decken der Höhlen zum Einsturz zu bringen. Ein deutscher Offizier (Oberst Walter) berichtete über den Einsatz: „Durch die Angriffe mit schwersten Bomben auf die Höhlen brach die Decke (etwa 20 bis 25 Meter dick!) nur an einzelnen schwachen Stellen teilweise ein, was an sich die Aufrechterhaltung des Betriebes nicht beeinträchtigt hätte. Durch die großen Sprengtrichter über der Höhle aber kam der ganze Berg ins Wandern. Fortwährend fiel ein Regen von kleinen und großen Steinen, man hörte dauernd Geräusche über sich und hatte das Gefühl, dass der ganze Berg in ständiger Bewegung sei und alle Augenblicke einstürzen könnte. Selbst Menschen mit sehr starken Nerven konnte ein längerer Aufenthalt in solchen Höhlen nicht mehr zugemutet werden." Ein Luftnachrichtengefreiter flitzte aus dem Kastenwagen. Er rannte über die inzwischen wieder gut getarnte Lichtung zu Leutnant Hötzig hinüber, der zusammen mit Wachtmeister Schraube und den beiden Zivilisten Tillmann und Daub am Katapult stand. Der Gefreite klapperte mit den Hacken und übergab Hötzig einen zusammengefalteten Funkspruch. Der Leutnant überflog die Buchstaben und rief den anderen zu: „Katapult umrichten. Neues Ziel ist Southampton." (Hafenstadt in Südengland.) 87
Die Einheit ging, wie alle anderen, an die Arbeit. Was war geschehen? Schon seit einiger Zeit gab es bei der Flugbombentruppe den Plan, die wichtige Hafenstadt anzugreifen. Doch bei der Führung war man sicher, dass Hitler dieses Vorhaben nicht genehmigen würde. Deshalb entschloss man sich beim FlakRegiment 155 vorerst einmal, wichtige Hafenstädte insgeheim anzugreifen. Hitler sollte erst dann darüber unterrichtet werden, wenn Erfolg erzielt wurde. Deshalb richtete man bei einem Teil des Regiments die Katapulte um und begann mit dem Beschuss auf das neue Ziel. Doch die Aktion dauerte nicht lange. Der Oberbefehlshaber im Westen, von Rundstedt, erhielt Nachricht darüber und befahl, das Feuer sofort einzustellen und wieder konzentriert auf London zu richten. Auch Hitler gab Anweisung, aus ganz bestimmten Gründen mit größtmöglicher Wirkung nur nach London zu schießen. Deshalb mussten die Katapulte wieder umgerichtet werden. Eine Tatsache, die bei den hin und her gehetzten Soldaten Unwillen und Ärger hervorrief; aber Befehl war nun einmal Befehl. Von dem Zeitpunkt an blieb London das Hauptziel der Flugbombenoffensive bis zu deren Ende. Die Schussfrequenz (Schusshäufigkeit) konnte tatsächlich auf täglich 200 Abschüsse gesteigert werden. Einige der nachgelieferten Flugbomben wiesen Neuerungen beziehungsweise Änderungen auf. Ihre Sprengköpfe enthielten Trialen (Sprengstoff mit Aluminium), das die doppelte Wirkung erzielte. Über fünfzig Prozent der fliegenden Bomben waren nun mit äußerst scharfen Tragflächenvorderkan88
ten ausgerüstet, die unter der Masse der englischen Abwehrballons beachtliche Verluste anrichteten. Insgesamt gingen dadurch 630 Ballons verloren. In London bekam man ebenfalls den immer heftiger werdenden Beschuss zu spüren. Zur Abwehr setzte man jetzt 16 Jägerstaffeln ein. Trotzdem ließen die Erfolge nach, da die Flugbomben schneller geworden und deshalb von den Jägern nur schwer einzuholen waren. Man errichtete neue Ballonsperrgürtel, verstärkte und verlegte den Flakriegel an die Südküste, setzte neuartige Radargeräte zur schnelleren Erfassung der Bomben ein. Die Abwehrerfolge wuchsen dadurch zwar, waren aber trotzdem nur mit Nadelstichen zu vergleichen. Nach wie vor hagelte es in wahren Feuerschlägen fliegende Bomben auf die Stadt an der Themse. Mitte Juli 1944 gab es eine weitere Verwirrung in London. Plötzlich rasten fliegende Bomben aus einer Richtung heran, aus der sie bisher noch nie gekommen waren - aus Osten! Man vermutete, dass sie aus Stellungen in Belgien, aus dem Raum Ostende etwa, abgefeuert worden waren. Stellungen, die man bis dahin in England nicht einmal kannte. Das Rätsel löste sich erst später. Wie bereits angedeutet, lief in Deutschland eine weitere Entwicklung für den Einsatz der vielseitigen Flugbombe. Man baute sie in Bomber (He 111) ein, mit denen sie in Zielnähe transportiert und abgeschossen wurden. Und das war bei den zum ersten Mal aus Osten kommenden Projektilen der Fall gewesen, die von Maschinen über der Nordsee abgefeuert worden waren. 89
Nach dem missglückten Bombenattentat auf Hitler (20. Juli 1944) bekam Oberst Wachtel am Abend den Befehl, ununterbrochen und mit höchster Feuerkraft Dauerfeuer auf London zu schießen. Das geschah. Pausenlos zischten die Flugbomben von den Katapulten. In der ersten Nacht rasten 193 geflügelte Sprengladungen zur Insel hinüber, in der zweiten sogar über 200. Die Wirkung war entsetzlich. Angst und Schrecken stiegen in der leidenden Stadt. Der 2. August brachte eine neue Großaktion für das Flugbombenregiment. Während der Tag- und Nachtzeit zogen über 300 Flugbomben in Richtung London. Eine von ihnen traf dabei den ständigen Zielpunkt: die Tower-Brücke. Der angerichtete Schaden war so groß, dass die Brücke tagelang nicht benutzt werden konnte. Nicht nur englische Agenten und Agentinnen waren im Rahmen dieser Flugbombenoffensive im Einsatz, sondern auch solche, die für Deutschland arbeiteten. Sie lieferten ständig Nachrichten über die Wirkung des Beschusses. Von ihnen erfuhr man auch, dass die Londoner zum größten Teil in den Untergrundbahntunnels hausten, dass sie das Ende der schrecklichen „Kanonade" herbeisehnten, dass sie in Massen aus der bedrohten Stadt evakuiert wurden, dass täglich Plünderungen vorkamen und schließlich als Konterschlag ein Giftgasangriff auf Deutschland durchgeführt werden sollte. Diese Absicht ließ man schließlich dann aber fallen. Noch war in London das Ende der Luftoffensive nicht abzusehen. In eingeweihten Kreisen ahnte man, dass eine Steigerung noch möglich war. 90
Neben der Furcht vor einer Ausweitung des Flugbombenbeschusses gab es aber auch Hoffnung und Optimismus in England. Im August 1944 war es vollkommen klar, dass die Invasion geglückt war und die alliierten Truppen trotz des immer wieder auftretenden deutschen Widerstandes auf dem Kontinent stetig mehr an Boden gewannen. Deshalb mussten sie auch die Katapultstellungen in Nordfrankreich bald erreichen. Die Führung der deutschen Flugbombentruppe hatte diese Gefahr natürlich ebenfalls erkannt, und am 20. August 1944, morgens, feuerte Leutnant Hötzigs Einheit den letzten Schuss ab. „Und was nun?" fragte Wachtmeister Schraube, der mit dem Leutnant zum Funkwagen hinüberging. „Keine Ahnung", gab Hötzig zurück. „Laut Befehl haben wir alle Geräte verschossen. Ich habe wiederholt auf Nachschub gedrängt, erhielt aber vom Regiment nur ausweichende Antworten. Ich habe den Eindruck, dass irgend etwas Besonderes im Gange ist." „Vielleicht eine Verlegung", vermutete Schraube. „Die Tommys und Amis sollen uns schon sehr dicht auf die Pelle gerückt sein, wie man so hört." „Möglich", meinte Hötzig. Gegen Mittag desselben Tages bekam Leutnant Hötzig tatsächlich den Befehl, das Katapult abzubauen, auf Lkw zu verladen und die Abmarschbereitschaft sofort an das Regiment zu melden. Am Abend des nächsten Tages kam Hötzig von einer Besprechung beim Regimentsstab zurück. Er ließ sämtliche Unterführer am Funkwagen zusammenkommen und teilte ihnen mit, dass sich die Einheit in der kommenden 91
Nacht in Marsch zu setzen hatte. Einzelheiten wurden besprochen und festgelegt. Die durch den Vormarsch der Alliierten am meisten gefährdeten Teile des Regiments bekamen den Befehl, in die vorsorglich angelegten Stellungen hinter der Somme zu verlegen. Dort sollte, wie es hieß, eine neue Feuerlinie aufgebaut werden. Als die Dämmerung anbrach, setzten sich die ersten Lkw in Bewegung. Sie rollten über den schmalen Feldweg, bogen auf die Straße nach Amiens ein und fuhren dem neuen Ziel entgegen. Der übrige Fahrzeugpark folgte ihnen in bestimmten Abständen. Doch auch die neuen Stellungen mussten unter dem Druck des Feindes schnell wieder aufgegeben werden. Am l. September 1944 stieg die letzte Flugbombe von einem Katapult auf und zischte nach London hinüber. Danach verlegte die Einheit ihre Stellungen nach Holland und Deutschland, wo sich bereits das Gros des Regiments befand. Lediglich die zur Beschießung von London eingesetzte Bomberstaffel flog weitere Angriffe. Damit war der Höhepunkt der Flugbombenoffensive gegen die britische Hauptstadt überschritten. An der Themse atmete man zwar etwas auf, aber nicht ganz. Die führenden Kreise wussten, dass das nur eine kurze Verschnaufpause war, da die Deutschen wahrscheinlich noch andere Geheimwaffen zum Einsatz bringen würden. Am 8. September 1944 begann der Beschuss mit A-4Raketen, die „V 2" („Vergeltungswaffe 2") genannt wurden. Dieser Angriff verbreitete in London erneut Angst 92
und Schrecken, richtete Verwüstungen an und kostete viele Menschenleben. Am 14. September erhielt das Flugbombenregiment den Befehl, zwei Abteilungen für eine Großoffensive gegen die Räume Mons - Brüssel - Antwerpen in Stellung zu bringen. Eine weitere Abschusszone sollte später zwischen Ruhr und Westerwald gebildet werden. Mitte Oktober eröffnete das Regiment die Offensive gegen die belgische Hauptstadt Brüssel. Auch Leutnant Hötzigs Geschütz nahm daran teil. Doch die Waffe hatte inzwischen viel von ihrer Wirksamkeit eingebüßt. Am ersten Tag verließen nur dreizehn fliegende Bomben die Katapulte; danach kam es zum Abschuss von 55 weiteren Flugbomben. Danach mussten die Schleudern auf ein anderes Ziel umgerichtet werden - auf Antwerpen. Auch auf Lüttich, wo sich ein großer Versorgungsstützpunkt der Amerikaner befand, fielen geflügelte Bomben. Im Führerhauptquartier hatte man zwischenzeitlich erkannt, wie wichtig der Hafen von Antwerpen für die Versorgung der alliierten Invasionstruppen war. Hitler dachte sogar daran, Antwerpen zurückzuerobern. Dabei sollten nicht nur die Flugbomben, sondern auch die großen Fernraketen vom Typ A 4 eingesetzt werden. Angriffsbeginn: Mitte Dezember 1944. Das war einer der vielen wahnwitzigen Pläne der letzten Kriegswochen; entsprungen aus der Illusion, trotz der sich abzeichnenden Niederlage, eine entscheidende Wende im Westen herbeiführen zu können. Das Flugbombenregiment verlegte teilweise zur Unterstützung dieser letzten großen Operation - in die Ge93
schichte als „ Ardennen-" oder auch „Rundstedt-Offensive" eingegangen - nach Mittelholland. In hektischer Eile traf man die Vorbereitung für den großen Schlag. Die Nacht war kalt. Die Sterne funkelten. Schneeflocken fielen lautlos vom Himmel. Leutnant Hötzig hob den linken Arm und blickte auf die am Handgelenk befindliche Leuchtzifferuhr. Es war fünf Minuten vor fünf. Nach vielen Stunden geschäftiger Arbeit war in der Stellung, die von hohen Kiefern umgeben wurde, Ruhe eingetreten. „Alles in Deckung!" rief Hötzig. Die Männer sprangen in Gräben und Erdlöcher. Als letzter der Leutnant. Nur der Werkmeister stand, ein gewohntes Bild für die Männer, am Auslöseknopf. Langsam kroch der Uhrzeiger weiter. Genau um fünf Uhr brüllte Leutnant Hötzig zum Katapult hinüber: „Feuer frei!" Zur selben Zeit ertönte dieser Befehl bei siebzehn anderen Flugbombenstellungen, die verstreut in Holland lagen. Der Werkmeister drückte den Auslöseknopf. Es knallte, röhrte und knatterte. Mit einem Feuerschweif am Heck rauschte wieder einmal eine Flugbombe davon, diesmal in Richtung Antwerpen. Auch aus den übrigen Stellungen lösten sich die geflügelten Bomben. Das Flugbombenregiment war somit ein Teil der letzten großen Offensive geworden, über die der Wehrmachtsbericht vom 18. Dezember 1944 mit folgenden Worten berichtete: 94
„Starke deutsche Kräfte sind am 16. Dezember 1944, um fünf Uhr dreißig, in breiter Front aus dem Westwall nach einer kurzen, aber gewaltigen Feuervorbereitung zum Angriff angetreten und haben die vordersten Stellungen des Gegners zwischen dem Hohen Venn und dem Nordteil Luxemburgs im ersten Ansturm überrannt. Die große Angriffsschlacht nimmt, von großen Jagdfliegerverbänden geschützt, ihren Fortgang." Bei dieser Ardennen-Offensive kam es auch zum letzten großen Masseneinsatz von 1035 deutschen Flugzeugen („Unternehmen Bodenplatte"). Nach zuerst zögerndem Störfeuer erhöhten sich die Abschusszahlen beim Flugbombenregiment sehr schnell. Es kam zu einem erstaunlichen Ergebnis. Mit Teilkräften des Flak-Regiments 155 und nur achtzehn Katapulten wurden, relativ gesehen, mehr Abschüsse erzielt als bei der Offensive gegen London. Bis zum Ende des Jahres 1944 verließen insgesamt 1500 Flugbomben die Katapulte und richteten, zusammen mit dem Fernraketen-Beschuss (A 4), in Antwerpen erhebliche Schäden an. Diese Tatsache hatte zwei Ursachen. Die neuen Stellungen in Holland waren von alliierten Luftangriffen weitgehend verschont geblieben, so dass die V-1-Bedie-nungen ihre Schleudern in verhältnismäßiger Ruhe montieren konnten. Auch beim Beschuss selbst blieben sie fast unbehelligt. Außerdem lagen einmal genügend Flug bomben vom neuesten Muster in den Stellungen bereit und zum ändern klappte der Nachschub besser und reibungsloser als zuvor. Aus den Stellungen in Holland und den neu in der Eifel errichteten, setzte man auch Anfang Januar 1945 den 95
Beschuss fort. Die Einheiten verschossen täglich fast 100 Flugbomben gegen Antwerpen und Lüttich. Diese Erfolge berauschten einige führende Köpfe, so dass ein neuer Plan für eine Großoffensive der Flugbomben entstand: das Unternehmen „Mülleimer". Man wollte den Hafen und die Stadt Rotterdam aus insgesamt 300 Feuerstellungen beschießen und vernichten. Gleichzeitig tauchte auch ein neues London-Vorhaben auf. Den deutschen Konstrukteuren und Ingenieuren war es nämlich gelungen, eine verbesserte Flugbombe herzustellen. Diese bestand hauptsächlich aus Sperrholz, war deshalb also leicht und besaß einen geräumigeren Treibstofftank, der eine größere Schussweite ermöglichte (375 Kilometer). Der neue England-Einsatz lief unter dem Namen „Pappdeckel" -. Als Oberst Wachtel von dem neuen Gerät erfuhr, dachte er ebenfalls sofort an die Wiederaufnahme des Kampfes gegen London. Im Kriegstagebuch seines Regiments hieß es: „Das Regiment wird dadurch in die Lage versetzt, den Kampf gegen die britische Insel, gegen Südengland mit dem Hauptziel London, erneut aufzunehmen." Beim Flak-Regiment 155 hatte sich inzwischen eine organisatorische Umwandlung vollzogen. Der Reichsführer SS, Himmler, war schon seit langer Zeit bestrebt, die gesamten V-Waffen (Vergeltungswaffen) in seine Hände zu bekommen. Bei den Fernraketen, die inzwischen unter dem Oberbefehl des SS-Gruppenführers (Generalleutnant) Kammler standen, war ihm dies bereits gelungen. Anfang Januar 1945 griff die SS auch nach den Flug96
bombeneinheiten. Sie wurden Kammlers Armeekorps unterstellt; zu einem Zeitpunkt, wo sich Oberst Wachtel zu einer Kur im Riesengebirge aufhielt. Wachtel kehrte aber aufgrund eines Befehls zurück. Er meldete sich zuerst in Berlin bei General von Axthelm und dann bei Kammler, dessen Gefechtsstand in Haaksbergen (Holland) lag. Dort besprach man die anfallenden Probleme der Neuorganisation, aber auch kommende Pläne für die Eröffnung von Raketenund Flugbombenoffensiven. Danach kehrte Oberst Wachtel wieder zu seinem Gefechtsstand in Seelbach bei Siegen zurück. Während das Unternehmen „Pappdeckel" (England-Einsatz) vorbereitet wurde, feuerten die Stellungen in Holland ununterbrochen auf Antwerpen, Lüttich und Rotterdam weiter. Die Flugbombentruppe konnte bis Ende Februar 1945 eine beachtliche Aktivität vorweisen. Von Beginn der Flugbombenoffensive im Juni 1944 bis zum Februar 1945 waren insgesamt 19000 geflügelte Bomben verschossen worden. In den ersten Märztagen des Jahres 1945 waren nur drei Stellungen in Westholland (Delft) für das Unternehmen „Pappdeckel" bereit. Es scheiterte letzten Endes daran, dass nicht genügend Flugbomben mit der größeren Reichweite zur Verfügung standen. Nur etwa 270 V-l-Projektile verließen die Katapulte. Am 29. März 1945 brummte die letzte Flugbombe über der Stadt an der Themse herum. Das Triebwerk setzte aus, das Gerät stürzte senkrecht nach unten und explodierte in einem Haus. Es war die 2419. fliegende Bombe, die in London detonierte. Millionen Menschen atmeten auf. Die Angst verließ nach und nach die große Stadt. 97
Danach bahnte sich das Ende der Flugbombentruppe an. Die groß angelegte Ardennen-Offensive war gescheitert. Eines der Ziele, Antwerpen, konnte nicht erreicht werden. Trotz des immer noch nicht erlahmenden deutschen Widerstandes war der alliierte Vormarsch nicht aufzuhalten. Der Lärm der Front rückte näher auf die Stellungen der in Holland befindlichen Flugbombentruppe zu. Am Abend des 29. März 1945 traf ein Kradmelder in der Stellung des Leutnant Hötzig ein. Er überbrachte den Befehl, das Katapult sofort abzubauen und ins Reich zurückzutransportieren. Die Soldaten der Spezialeinheit gingen an die Arbeit. Die Lkw zogen zur Rampe vor und wurden mit den Einzelteilen beladen. Am Morgen des nächsten Tages setzte sich die Kolonne in Richtung Osten in Bewegung. Es herrschte diesiges Wetter. Die Wölken hingen tief am Himmel. Wachtmeister Schraube saß im Führerhaus neben Unteroffizier Ganter, der den Lkw steuerte. Außen auf dem Trittbrett stand der Obergefreite Klodt als Fliegerbeobachtungsposten. Klodts VW war inzwischen wegen Motorschadens ausgefallen, ein neuer nicht zu beschaffen. Deshalb fuhr er auf Ganters Lkw mit. Er hielt sich mit einer Hand am Türgriff fest, in der anderen eine Zigarette. Zu diesem Zeitpunkt rollte die Kolonne auf einer schnurgeraden Straße, an der rechts und links Birken gepflanzt waren. Der vor Ganter fahrende Lkw setzte sich wieder in Bewegung und fuhr langsam weiter. Der 98
Unteroffizier ließ die Kupplung kommen, gab Gas und schloss wieder auf. Klodt hob plötzlich den Kopf und sah zum Himmel hinauf. In das Gebrumm des Lkw-Motors mischte sich ein anderes Geräusch, das aus der Luft kam. Da sah er auch schon, wie von Westen her fünf dunkle Schatten im Tiefflug heranrasten. Sie erreichten das Ende der Fahrzeugschlange, das in einem kleinen Dorf stand. Die in den „Mustangs" sitzenden Piloten drückten auf die Knöpfe. Bordwaffen ratterten, Mündungsblitze zuckten, Leuchtspurketten jagten auf die Erde zu. „Raus, Tiefflieger!" schrie Klodt. Mit einem Satz sprang er vom Trittbrett herunter. Unteroffizier Ganter und Wachtmeister Schraube flogen förmlich aus dem Führerhaus, landeten auf der Straße und hetzten, so schnell sie konnten, über das freie Feld. Am Ufer eines schmalen Baches warfen sie sich in Deckung. Überall hasteten Soldaten herum. Jeder war bestrebt, möglichst schnell und weit genug von den Fahrzeugen wegzukommen. Im Dorf brannten die ersten Lkw. Pausenlos schießend rasten die Tiefflieger über die Kolonne hinweg. Entsetzt und erschüttert starrten Schraube und Ganter zu dem Lkw hinüber, in dem sie vor wenigen Augenblicken noch gesessen hatten. Geschoßketten schlugen in ihn ein. Eine Bombe rauschte pfeifend vom Himmel, knallte in den Wagen und explodierte. Als sich der Qualm verzog, erkannten Schraube und Ganter, dass sie in dem Lkw niemals mehr fahren und mit ihrem Katapult nie wieder würden schießen können. 99
Die gesamte Fahrzeugkolonne wurde durch wiederholte Angriffe der Jäger völlig zerschlagen. Andere Einheiten hatten mehr Glück. Sie erreichten zwar noch ihre Zielorte in Deutschland, aber das war auch alles. Die Zeit der Flugbombentruppe war abgelaufen und ihr Schicksal besiegelt - ebenso wie kurze Zeit später jenes der Machthaber des 3. Reiches und eines schwergeprüften Volkes, über dem bereits die Schatten des Untergangs schwebten. ENDE
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Raketenbomben über England Am 14. Juni 1944, als an der Invasionsfront in Nordfrankreich noch alles auf des Messers Schneide stand, zogen sie zum ersten Mal in Richtung England: von Raketen getriebene Flügelbomben, Hitlers erste Variante der viel- l gepriesenen Wunderwaffen, V l genannt. Mit 850 kg Sprengstoff in den Rumpfspitzen richteten sie schwere Verwüstungen an. Zusammen mit der später eingesetzten Fernrakete V 2 letzte Trümpfe der deutschen Machthaber, die aber den Lauf der Schicksalsuhr ebenfalls nicht mehr beeinflussen konnten.