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Quell der Träume von Claudia Kern Die Kälte, obwohl allgegenwärtig, berührt sie nicht. Seit die Nacht verschwunden ist, die über drei Jahrhunderte lang wie ein Schleier über der Erde lag, ziehen ihre Geister durch die öden Trümmerfelder einer zerstörten Zivilisation. Auch das berührt sie nicht, zählt nicht im Kontext des Plans, der sie als Wettstreitende zusammenbringt und sie als Gegner voneinander trennt. Denken, forschen, handeln - so folgen sie ihrer Bestimmung, die sie in diese fremde, neue Welt gebracht hat. Der Plan muss gelingen, erst dann wird die Suche ihre Vollendung erfahren und sie werden das finden, was sie in rastloser Unruhe umherirren lässt. Eine Heimat.
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WAS BISHER GESCHAH Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Russlands und Chinas werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten … für Jahrhunderte. Als die Eiszeit endet, hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den US-Piloten Matthew Drax, dessen Jet -Staffel beim Kometeneichlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Beim Absturz wird er von seinen Kameraden getrennt und von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde … Der Wettlauf zum Kometenkrater, wo sich laut der ISS-Daten vielfältiges Leben entwickelt haben soll, hat begonnen! Doch Matt Drax, Aruula und der Cyborg Aiko sind nicht die Einzigen, die sich auf den Weg machen! Der sogenannte Weltrat (WCA) ist der Nachfolger der US-Regierung. Doch Präsident Victor Hymes und General Arthur Crow setzen ihre Ziele unerbittlich durch, indem sie barbarische Völker unterstützen, die andere Zivilisationen ständig angreifen und so klein halten. Crows Tochter Lynne leitet die WCAExpedition, begleitet von Professor Dr. Jacob Smythe, der mit Matt Drax aus der Vergangenheit kam, wahnsinnig wurde und Allmachtsfantasien entwickelte. Auch Matts Freund, der Barbarenhäuptling Pieroo hat sich aus finanziellen Gründen dem Unternehmen angeschlossen. Die zweite Fraktion, die ebenfalls von Washington aus aufbricht, ist eine Rebellengruppe namens Running Men, die gegen den Weltrat kämpft. Ihr Anführer Mr. Black ist ein Klon des früheren US-Präsidenten Schwarzenegger. Mit dabei sind u.a. Philipp Hollyday, der eine Gedächtnis-Kopie Professor Dave McKenzies in sich trägt, eines alten Kameraden von Matthew Drax, und Merlin Roots, der früher als WCA-Agent das Nordmann-P rojekt in Skandinavien leitete. Matt, Aruula und Aiko machen sich von Los Angeles aus mit Magnetgleitern auf den Weg. Durch ein Experiment hat Aruula ihre telepathischen Kräfte eingebüßt - was bei den Gefahren, denen sich die Gruppe stellen muss, nicht hilfreich ist. Im versunkenen San Francisco treffen sie auf Menschen und Hydriten, die eine neue Spezies entstehen lassen: die Mendriten, die mit ihren mentalen Kräften eine Büchse der Pandora öffnen. In Portland versagen wegen der Nähe zum magnetischen Pol die Gleiter; man steigt auf ein Schiff zur Eisgrenze um, wo ein mitgeführter Eissegler zusammengesetzt wird. Nach einigen gefahrvollen Zwischenstationen fahren die Freunde nun an der Westküste der ehemaligen USA entlang nach Norden …
(Eine Pflanze?)
(Warum nicht, Tabal'akh'lezor? Es gibt viele Arten des Lebens.)
(Hast du versucht, ihre Intelligenz zu steigern?)
(Selbstverständlich.)
(Ist es dir gelungen?)
(Nein.)
(Hättest du mit mir darüber kommuniziert, Siko'hal'arfal, wäre dir ein
Fehlschlag erspart geblieben. Es ist unsinnig, mit einer Pflanze zu experimentieren.)
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(Du fällst dein Urteil sehr schnell. Bedenke, dass auch ein Fehlschlag von Interesse sein kann. Zumindest habe ich in diesem Fall durch eine Steigerung der Alphawellen eine bemerkenswerte Veränderung erzielt.) (Zeige sie mir.) (Das ist wahrhaft bemerkenswert.) *** Jahrhunderte später, Gegenwart, 10. Juli 2518 Es gab viele Probleme, die Matthew Drax auf der Reise erwartet hatte. Schließlich fü hrte die Expedition, die er mit Aruula und Aiko Tsuyoshi unternahm, quer durch die Arktis, am neuen Nordpol vorbei, über die Beringsee und irgendwann, wenn alles gut ging, bis nach Asien hinein zum Einschlagkrater des Kometen »Christopher-Floyd«. Kälte, Hunger, Überfälle, wilde Tiere und sonstige Gefahren hatte er vorhergesehen. Nur das vielleicht Schwerwiegendste war auch ihm nicht eingefallen: Langeweile. Und die konnte seltsame Blüten treiben. »Ich sehe was, was du nicht siehst«, sagte Matt, »und das ist weiß.« »Schnee.« Aruulas Antwort klang ebenso desinteressiert wie seine Frage. Er nickte. »Richtig. Du bist dran.« »Ich hab keine Lust mehr.« »Okay.« Erneut legte sich Schweigen über das Cockpit des Eisseglers. Nur das Kratzen der Kufen und das Knattern des Segels unterbrachen die Stille. Ab und zu griff Aruula nach einem Lappen und wischte Kondenswasser von den Scheiben. Aiko saß hinter ihr und starrte durch dunkle Brillengläser nach draußen. Matt rückte seine eigene Sonnenbrille zurecht. Vor ihnen lag eine unendlich erscheinende Eiswüste, in deren Kristallen sich das Sonnenlicht brach. Es war ein schöner und gleichzeitig gefährlicher Anblick, der an das Funkeln von Diamanten erinnerte, aber Menschen erblinden ließ. Dieser Zwiespalt schien den Polarkreis, so wie Matt ihn bisher kennen gelernt hatte, zu prägen. Er hatte Momente von beinahe überirdischer Schönheit erlebt, doch sie alle bargen tödliche Gefahren. Ob es bizarre Eisformationen waren, die wie Kathedralen in den Himmel ragten und rasiermesserscharfe Kanten 4
aufwiesen, oder Fata Morganas, die riesige Seen vorgaukelten, wo es nur Schnee gab. Einem Trugbild besonderer Art waren sie vor anderthalb Wochen erst entkommen: einer Festung auf einer grünen Insel inmitten des Eises, die ein mysteriöses Wesen erschaffen hatte. Noch immer rätselten Matt und Aiko, woher dieser Organismus ursprünglich gekommen war, denn die Strahlung der grünen Kometenkristalle schied diesmal als Ursache aus. Nur für Aruula war klar, dass es ein Dämon des finsteren Gottes Orguudoo gewesen sein musste - eine Theorie, der sich die beiden Männer nicht recht anschließen wollten. Matthew Drax sah hinauf zur Sonne, die sich nur zentimeterweise dem Horizont zu nähern schien. Trotz der recht hohen Geschwindigkeit, die der Segler erreichte, verstrich die Zeit quälend langsam. Es gab kaum Bezugspunkte, nichts, worauf sich der Blick konzentrieren konnte, nur die weiße Ebene und der blaue Himmel. Menschen, die sich in ein so extremes Gebiet vorwagten, mussten gut ausgerüstet sein, und Matt hoffte, dass sie an alles gedacht hatten. In Portland - oder Pootland, wie die Stadt heute genannt wurde - hatten sie sich mit warmer Kleidung, Vorräten und Sonnenbrillen gegen Schneeblindheit ausgerüstet. Zusammen mit dem Feuerholz, einigen Töpfen und den Waffen nahm die Ausrüstung mehr als die Hälfte des Seglers ein. Den Rest der Kabine teilten sich die drei Menschen, die wie Bobfahrer hintereinander saßen. Zu Matts Leidwesen hatten sie auch nicht viel mehr Platz als Bobfahrer, so dass er als der Größte im Eissegler mit den Knien gegen den Vordersitz stieß. Aus diesem Grund überließen die anderen ihm meistens die Steuerung, denn wegen der Instrumente und Pedale saß man dort weniger beengt. Die grellweiße Ebene wirkte einschläfernd. Matt dachte an die Flugsimulationen, die er als Kadett absolviert hatte. Dort waren ähnliche Szenarien benutzt worden, um die Sinne des Piloten zu betäuben und seine Konzentrationsfähigkeit zu testen. Er hatte Glück gehabt und war im Gegensatz zu einigen Kameraden nur ein einziges Mal mit dem Steuerknüppel in der Hand eingeschlafen. Hinter ihm gähnte Aruula deutlich hörbar. »Ich hätte nie gedacht«, sagte sie dann, »dass ich die Farbe Grün einmal so vermissen würde.« 5
Matt nickte. »Oder den Anblick von Bäumen, fremden Menschen, Häusern...« Wobei er in Wirklichkeit recht froh darüber war, dass sie keinen Fremden mehr begegneten. Solange sie allein waren, hatte Aruula weniger Gründe, ihrer verschwundenen Fähigkeit des Lauschens nachzutrauern. Damit war sie in der Lage gewesen, die Gedanken von Menschen in ihrer Nähe zu lesen. Der Verlust dieser Telepathie bei einem verhängnisvollen Experiment in El'ay hatte sie lange Zeit in Depressionen gestürzt, aber zum Glück schien sie die allmählich zu überwinden. In einer Spiegelung der Frontscheibe sah Matt, wie sich Aiko vorbeugte. »Wenn du ein Haus sehen willst«, hörte er ihn sagen, »lässt sich das einrichten. Ändere mal den Kurs auf Nordost.« »Bist du sicher, dass es wirklich ein Haus ist und keine Täuschung wie die Mongolenfestung?«, fragte Aruula. Sie hatte eine abergläubische Angst vor Luftspiegelungen und glaubte, dass Dämonen damit Menschen zu sich locken wollten. Im Falle der Festung hatte das auch funktioniert, auch wenn sie keine Fata Morgana, sondern real gewesen war - jedenfalls solange das Wesen gelebt hatte, das sie entstehen ließ. »Ich bin ganz sicher«, antwortete Aiko. »Es ist ein Haus.« »Sehen wir uns das an?«, fragte Matt skeptisch. Er stellte die Beobachtung nicht in Frage, denn Aiko war als Cyborg mit Implantaten ausgestattet, die nicht nur seine Körperkraft, sondern auch seine Wahrnehmung verstärkten. Zusammen mit seinen künstlichen Armen machte ihn das zu einem nur schwer besiegbaren Kämpfer und zu einem wertvollen Begleiter. »Wie hoch schätzt du die Wahrscheinlichkeit ein, dass hier oben noch so ein Organismus existiert?«, fragte Aiko zurück, der Matts Gedankengänge nachvollzogen hatte. »Du hast Recht«, sagte Matt. »Außerdem können wir uns wohl schlecht von nun ab jeder menschlichen Siedlung fernhalten.« Er änderte den Kurs. »Da ist etwas«, sagte Aruula plötzlich. Matt ließ seinen Blick über die weiße Landschaft gleiten und fand das Gebäude fast sofort. Dunkel ragte es aus dem Eis hervor. Er holte den Feldstecher hervor und nahm es näher in Augenschein. Es war ein breites Gebäude mit einem Buntglasfenster und einem Kreuz an der Spitze der vorderen Fassade. 6
Matt hob überrascht die Augenbrauen. Eine Kirche? Es war keine Kirche, sondern eine Mission, das erkannte Matt, als er den Eissegler neben dem Gebäude stoppte und die Kabine öffnete. Das dunkle Holz wirkte alt, die Scheiben, so weit vorhanden, blind. Einige Fenster waren mit Brettern vernagelt. »Jemand kümmert sich um diesen Ort«, sagte Aiko und sprang aus dem Segler. »Sonst wäre er längst verfallen.« Matt folgte ihm nach draußen und streckte sich. Außer den Rev'rends, denen sie vor Monaten im mittleren Westen begegnet waren, hatte er in Meeraka noch keine Anzeichen für christliche Gemeinschaften entdeckt, und diese Fanatiker bauten keine Kirchen. »Die Mission«, schloss er daraus, »muss noch aus der Zeit vor Kristofluu stammen. Wahrscheinlich gibt es in der Nähe ein Dorf, das sie instand hält.« »Was ist eine Mission?«, fragte Aruula, als sie neben ihn trat. »Ein Ort, an dem Menschen früher zum christlichen Glauben bekehrt wurden und zu Gott gebetet haben.« Ihre Gesichtszüge hellten sich auf. »Dann ist es ein guter Ort zum Übernachten. Der Gott wird uns beschützen, wenn wir in seinem Tempel bleiben.« Matt dachte an die Nächte, die sie zusammengekauert in Höhlen und Felsspalten verbracht hatten, und an die, die so stürmisch gewesen waren, dass sie die Enge des Seglers nicht hatten verlassen können. Die Kapelle erschien ihm als eine annehmbare Alternative. »Du hast Recht. Lass uns hier übernachten.« Er warf einen Blick auf Aiko, um dessen Zustimmung einzuholen, aber der war zu einem offenen Anbau der Mission getreten, in dem damals wahrscheinlich Pferde oder kleinere Fahrzeuge untergestellt worden waren. Matt ging näher heran. In einer windgeschützten Ecke dicht an der Mauer zum Hauptgebäude lag ein großes Vogelnest. Die Holzreste, aus denen es bestand, schienen aus der Wand herausgebissen und mit Kot verklebt worden zu sein. »Das ist ein Eluu-Nest«, sagte Aiko. Unwillkürlich blickte Matt nach oben. Die eulenhaften Riesenvögel konnten bis zu fünf Metern groß werden und galten als äußerst aggressiv. Er hatte schon mehrere unangenehme Begegnungen mit Vertretern dieser Spezies gehabt und hoffte, an einer weiteren vorbeizukommen. 7
»Ich frage mich nur«, fuhr Aiko fort und drehte eine lange Feder zwischen den Fingern, »wieso sie ihr Nest am Boden gebaut haben. Dort werden die Jungen doch leicht Opfer von Taratzen.« Aruula schüttelte den Kopf. »Nicht so weit im Norden. Bis hierher kommen Taratzen nicht. Das einzige, was die Nestbauer fürchten mussten, waren andere Eluus.« Sie griff in das Nest und kam mit einer Armvoll Eluu-Federn wieder hoch. »Wenigstens schlafen wir heute Nacht weich.« Matt fing eine der Federn auf, bevor sie zu Boden sinken konnte. Sie war weich und geschmeidig, fühlte sich jedoch nicht wie eine Vogelfeder an. Er betrachtete die feinen Strukturen, die wie Schuppen übereinander lagen, so als sei der Eluu eine Mischung aus Vogel und Echse. ›Was für eine seltsame Welt‹, dachte er nicht zum ersten Mal und betrat das Hauptgebäude der Mission, das als Gebetsraum eingerichtet war. Gewesen war. Die Bänke, die früher einmal in ordentlichen Zweierreihen bis zum Altar gestanden haben mussten, waren verschwunden. Die abgelaufene n Holzbohlen des Fußbodens waren jedoch übrig geblieben. Einige schwarze Spuren bedeckten sie. Matt strich mit der Hand darüber; es schien ich um Teer zu handeln. Bilder, Statuen oder Bibeln gab es ebenfalls keine mehr, nur noch den steinernen Altar, zu dem zwei Stufen hinauf führten, die Aruula mit ihren Federn gerade überwand. Rechts und links des Altars standen zwei eiserne Kohleöfen, deren Rohre in den Außenwänden endeten. »Wenn die Öfen noch funktionieren«, sagte Matt, »werden wir eine warme und gemütliche Nacht haben.« Aruula nickte und begann die Federn auf dem Altar auszubreiten. Er bestand aus mehreren Steinblöcken, die übereinander geschichtet und mit eingemeißelten Figuren verziert waren. An der vorderen Breitseite befand sich ein Metallkreuz, das beinahe wie ein Schwert aussah. Matt ging neben dem Altar in die Hocke und versuchte die Geschichte zu erkennen, die er erzählte, aber Aruulas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Ich werde hier schlafen. Willst du auch Federn haben? Es ist Platz genug für zwei.« Er erhob sich und zögerte einen Moment. Weder in seinem alten, noch in seinem jetzigen Leben hätte er sich als religiösen Menschen betrachtet, aber etwas an der Vorstellung, mit Aruula auf einem Altar zu schlafen, stieß ihn dann doch ab. »Nein, ich suche mir hier unten was.« 8
Er ging zu einem der Kohleöfen und öffnete die Luke. Sie glitt mühelos und ohne jedes Geräusch zurück, wurde anscheinend öfter benutzt. Im Inneren sah er verkohlte Holzreste, die ihm ein klares Bild davon vermittelten, wo die Inneneinrichtung der Kirche im Laufe der Zeit gelandet war. Matt drehte sich um, als Aiko mit weiteren Federn auf den Armen eintrat. »Ich habe mich umgesehen, aber ein Dorf ist nirgends zu sehen. Allerdings gibt es westlich von hier einige Hügel. Vielleicht liegt es dahinter.« Er legte die Federn auf den Boden und begann sie zu einer Unterlage umzuschichten. Matt nahm dankend die Hälfte entgegen und folgte Aruula dann zum Eissegler nach draußen. »Wir sollten Wachen einteilen«, sagte sie, während sie Feuerho lz aus der Kabine zog. »Wenn wirklich ein Dorf in der Nähe ist, müssen wir vorsichtig sein.« »Das stimmt. Morgen früh können wir ja nach dem Dorf suchen und uns mit frischen Vorräten versorgen, bevor wir weiterfahren.« Er sah zu dem Gotteshaus zurück. »Außerdem würde ich zu gerne wissen, welche Geschichte hinter dieser Mission steckt.« Morgen früh. Der Begriff war eigentlich nicht mehr als eine Phrase. Hochsommer in der Arktis bedeutete neben einigermaßen erträglichen Temperaturen auch eine vierundzwanzigstündige Sonnenbestrahlung, die nachts in ihrer Intensität nicht nachließ. In einer der ersten Nächte unter hellblauem Himmel hatte Aruula sich sogar einen Sonnenbrand geholt. Seitdem rieben sie sich jede Nacht das Gesicht mit Molfett ein. ›Zum Glück riechen wir uns selbst nicht‹, dachte Matt. ›Wir müssen unglaublich stinken.‹ Im Gegensatz zu Aruula hatten er und Aiko Tsuyoshi sehr klare Ansichten über persönliche Hygiene. Dazu gehörte auch, dass man wenigstens einmal pro Woche Eis über der Feuerstelle erhitzte und sich nackt und zitternd in der Kälte stehend - wusch und rasierte. Aruula hielt das zwar für eine Verschwendung von wertvollem Feuerholz, war in diesem Fall jedoch klar überstimmt worden. Trotzdem hinterließen die Reiseumstände und das Molfett Spuren, die auch auf diese Weise nicht zu beseitigen waren. Matt dachte an die beiden Holzöfen und sah wie zufällig zum Eissegler und zu der offen stehenden Kabine.
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»Natürlich«, sagte er und hätte sich wohl mit der flachen Hand vor die Stirn geschlagen, wenn er nicht die Arme voller Holz gehabt hätte. »So kann’s funktionieren.« »Wovon redest du?«, fragte Aruula und hielt ihm die Tür zur Missionskapelle auf. Matt grinste, trat ein und wandte sich an Aiko. »Was hältst du von einem Vollbad?« Aikos Augen leuchteten auf. *** Idaho, 2436 Bei seinen Brüdern galt Rev'rend Despair als ein heiliger Mann. Seitdem die Eiszeit das Land freigegeben hatte, zog er mit seinem Motorrad quer durch den Kontinent und predigte den Heiden. Vor nichts scheute er zurück, um ihre Seelen zu retten, weder vor der Macht seiner Stimme, noch vor der Macht seiner beiden 45er Colts oder der Macht, die in seinen Fäusten steckte. Der Körper galt nichts, die Seele war alles, und wenn man den Körper eines Heiden, der den einzig wahren Glauben verlachte, opfern musste, um das unsterbliche Selbst in einer letzten Ölung dem Herrn zuzuführen, dann war das eine Aufgabe, die der Rev'rend gerne übernahm. An diesem Julimorgen des Jahres 2436 bremste er die Harley Davidson auf einem Hügel und sah in das bewaldete Tal hinab, das dahinter lag. Es war nur ein kleines Tal, dessen Äcker wohl gerade ausreichten, um die Menschen zu versorgen, die in einigen stabil wirkenden Holzhäusern lebten. Despair zählte zwanzig Häuser, aus deren Kaminen Rauch in die kühle Morgenluft stieg. Er versuchte sich die Menschen in ihren Häusern vorzustellen, die Frauen, die Brot buken oder eine Frühstückssuppe kochten, während ihre Männer Felle gerbten und die Kinder zwischen ihren Füßen spielten. Oberflächlich betrachtet eine Idylle. Doch ohne den wahren Glauben waren sie alle des Teufels, verdammt dazu, die Ewigkeit in der Hölle zu verbringen und nie das Antlitz ihres Herrn erblicken zu dürfen. Für sie durchquerte er das Land, ihnen brachte er das Heil. »Du wirst sie nicht bekommen, Satan«, sagte er und startete die schwere Maschine. Geschickt brachte er sie über den in Serpentinen verlaufenden Weg nach unten und fuhr an den Feldern vorbei, bis er die ersten Hütten erreichte. Hier ließ Despair den Motor aufheulen. Drei Mal drehte er das 10
Gas bis zum Anschlag auf, bevor er die Maschine auf dem Dorfplatz ausrollen ließ und abstieg. Er klopfte sich seine schwarze Lederkleidung ab, während er aus den Augenwinkeln die Menschen beobachtete, die verstört und überrascht aus ihren Häusern traten. Keiner von ihnen trug eine Waffe. Despair wusste, welchen Anblick er bot, hatte sein Aussehen extra auf seine Mission abgestimmt. Er konnte nichts daran ändern, dass er ungewöhnlich groß und hager war, aber um die Wirkung noch zu unterstreichen, trug er sein weißes Haar lang und offen. Den ebenfalls weißen Bart hatte er zu einem Zopf geknüpft, der bis zu seinem Bauchnabel reichte. Die Menschen schienen noch unsicher über ihre nächsten Schritte zu sein. So war es meist. Mit einer ruhigen Bewegung zog Despair seine in Leder gebundene Bibel aus der Satteltasche und hielt sie hoch. »Es steht geschrieben«, schrie er dann mit dröhnend tiefer Stimme, die niemals umschlug, »ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben!« Er machte eine Pause, drehte sich um die eigene Achse und legte seine Hand auf die Bibel. »Hier drin ist euer Gott, und er ist ein eifersüchtiger Gott, der keinen anderen neben sich duldet! Also sagt mir: Habt ihr Götter neben dem einzig wahren Gott? Wenn es so ist, dann habt ihr nur eine Gelegenheit, den Flammen der Hölle zu entgehen und ewig zu leben! Und ich bin der, der euch den Weg zum Heil weisen kann!« Er ließ die letzten Worte wie einen Angelhaken zwischen ihnen hängen, wartete darauf, dass der erste anbiss und etwas sagte. So war es immer: Wenn nur einer zu glauben begann, kamen die anderen bald nach. »Geh weg, alter Mann.« Es war ein Junge, kaum älter als zwölf, der die Worte gesprochen hatte. »Wir brauchen deinen Gott nicht.« »Gerade solche, die ihn leugnen, brauchen ihn am dringendsten.« Er drehte sich zu den anderen und begann langsam an ihnen vorbeizugehen. »Habt ihr denn keine Erinnerung mehr? Wisst ihr denn nicht, dass eure Vorfahren zum einzig wahren Gott beteten, bevor der Teufel die Welt hinwegfegte und euch in Versuchung führte?« Neben ihm begann ein kleines Mädchen zu weinen. Despair ging in die Knie und legte ihr die Hand auf den Kopf. »Euer Gott ist schwach. Er ist nicht mehr als ein Zerrbild, das euch zu verhöhnen sucht. Eure Gebete an ihn sind verschwendet, denn er kann euch weder helfen, noch kann er euch heilen.« 11
Das Weinen des Mädchens verstummte. Despair richtete sich auf. »Dem einzigen Herrn und Gott sollt ihr folgen und ihn fürchten und seine Gebote halten und seiner Stimme gehorchen und ihm dienen und ihm anhängen.« Breitbeinig blieb er stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. Wie zufällig lag die Bibel über seinem Herzen. »Und nun sagt mir, ob sich euer Gott mit meinem messen kann.« Der Junge hob die Schultern. »Komm mit. Wir ze igen ihn dir.« Es bildete sich eine kleine Abordnung, die den Rev'rend durch das Dorf bis zum Rand des Waldes begleitete. Die Menschen behandelten den Jungen mit großem Respekt, als wäre er etwas Besonderes, und Despair erkannte, dass er seinen Gegner gefunden hatte. In jedem Dorf oder Stamm gab es so eine Person, eine Art spirituellen Anführer, der über den Glauben der anderen wachte. Meistens handelte es sich dabei um einen Schamanen oder einen Priester, der stellvertretend für das Dorf mit den Göttern Kontakt aufnahm. Dass ein Kind eine solche Position einnahm, war äußerst ungewöhnlich, denn Schamanen mussten über eine große Lebenserfahrung verfügen, um den Beistand der Götter vorzutäuschen und die richtigen Ratschläge zu geben. Hatte man einem Volk erst einmal das Vertrauen in den Schamanen genommen, ließ es sich ganz leicht bekehren, diese Erfahrung hatte Despair immer wieder gemacht. Die Abordnung blieb stehen und sank auf die Knie. Vor ihnen stand ein Laubbaum, der mit bunten Stoffschleifen geschmückt war und unter dem Schalen voll Wasser in einer offensichtlich rituellen Darbietung angeordnet waren. »Dies«, sagte der Junge, der an der Spitze der Abordnung kniete, »ist unser Gott.« Ein Baum? Despair unterdrückte ein Lachen. Er ging an den Menschen vorbei und sah hinauf in die Baumkrone, wo Licht und Schatten ein komplexes Muster in die Blätter woben. Das Rauschen des Windes hüllte ihn ein, umschmeichelte ihn warm und wohlig, und er blinzelte, als ein vereinzelter Sonnenstrahl durch das Blätterdach auf sein Gesicht fiel. Er fühlte sich völlig entspannt und ruhig, eins mit der Natur, die ihn umgab, von der er kam und zu der er eines Tages zurückkehren würde. Schließlich war es die Stimme des Jungen, die den Moment beendete. »Spürst du seine Macht?« Despair zuckte zusammen. »Ich spüre nichts und sehe nur einen Baum, den verblendete Heiden zum Gott erklärt haben.« Nervös fuhr er sich mit 12
der Hand über die Augen. »Ihr solltet froh sein, dass ich zu euch gekommen bin, um euch vor der Hölle zu bewahren!« Er versuchte seine Stimme kraftvoll klingen zu lassen, aber zum ersten Mal seit Beginn seiner Missionen hörte sie sich klein und machtlos an. Die Menschen um ihn herum schienen das ihrem Gott zuzuschreiben, denn sie lächelten wissend und nickten. »Vielleicht wird das deine Meinung ändern.« Der Junge lehnte sich mit dem Rücken gegen den Baumstamm und begann leise zu singen. Die knienden Menschen wiegten ihre Körper im Rhythmus der Melodie. Despair hatte ähnliche Rituale schon oft beobachtet, spürte förmlich, wie der Junge der Wirklichkeit entglitt und in einen Trancezustand fiel. ›Jetzt beginnt die Show‹, dachte er. In seiner Vorstellung sah er den Jungen zucken, hörte, wie er in verschiedenen Stimmen zu sprechen begann, wie ein Irrer lallte und alle Anzeichen der Besessenheit zeigte. Aber nichts davon geschah. Der Junge lehnte einfach ruhig und mit geschlossenen Augen am Stamm, als würde er schlafen. Nur sein rhythmischer Gesang verriet, dass er noch wach war. Plötzlich brach er ab. Die knienden Menschen hoben die Köpfe und sahen erwartungsvoll hinauf ins Blätterdach. Despair folgte ihrem Blick und hätte beinahe erschrocken aufgeschrien, als er sich selbst zwischen den Ästen entdeckte. »Was...«, begann er, brach dann jedoch ab. Er erkannte die Szene, die sich dort oben abspielte, weil er sie nur Minuten zuvor selbst erlebt hatte. Durch die Augen des Jungen sah er sich auf dem Dorfplatz ankommen und von der Maschine absteigen. Seine Worte waren lautlos, aber alles andere war so real, dass Despair glaubte, sich selbst berühren zu können, wäre er in den Baum gestiegen. Sein Blick glitt zurück zu dem Jungen, dessen Gesicht sich völlig entspannt hatte. »Wenn ein Prophet oder Träumer unter euch aufsteht und dir ein Zeichen oder Wunder ankündigt«, flüsterte er, »und das Zeichen oder Wunder trifft ein, von dem er dir gesagt hat, und er spricht: Lass uns anderen Göttern folgen und ihnen dienen, so sollst du nicht gehorchen den Worten eines solchen Propheten oder Träumers; denn der Herr versucht euch, um zu erfahren, ob ihr ihn von ganzem Herzen und mit ganzer Seele liebt. Der Prophet aber oder der Träumer soll sterben, weil er euch gelehrt hat, abzufallen von Gott, unserem Herrn...« 13
* * *
»Das könnte tatsächlich funktionieren.« Aiko biss in ein Stück Dörrfleisch und kaute mit plötzlichem Enthusiasmus darauf herum. »Wir haben sechs Töpfe und zwei Öfen. Vier Töpfe können gleichzeitig erhitzt werden. Damit brauchen wir ungefähr dreißig Minuten, um genügend Wasser zu erwärmen.« Matt nickte. »Und die Verkleidung des Seglers ist stark genug gekrümmt, um als Wanne zu dienen. Wir müssen sie nur an beiden Seiten abstützen, damit sie nicht umkippt.« Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lehnte sich zurück auf sein Lager aus Eluufedern. »Was meinst du? Sollen wir die Haube morgen ausbauen?« »Und das erste Bad seit vierunddreißig Tagen nehmen? Meine Vorfahren waren Japaner, also kannst du dir meine Antwort wohl denken.« Matts Versuch, gleichzeitig zu lachen und zu gähnen, misslang. ›Was ist mit dir, Aruula?‹, wollte er fragen, aber als er den Kopf drehte, sah er, dass sie auf dem Altar bereits eingeschlafen war. Bis zur Nasenspitze hatte sie sich in ihren Fellmantel eingerollt. Unter ihren geschlossenen Lidern bewegten sich die Augen. ›Sie träumt‹, dachte Matt und drehte sich zurück zu Aiko, der sich gerade mit einem Fell zudeckte. »Dann ist es abgemacht«, sagte er leise. »Wir nehmen den halben Tag Verzögerung und Aruulas Ärger für ein Bad in Kauf. Okay?« Aiko grinste. »Sie ist deine Gefährtin. Du kriegst den Ärger.« Matt sah hinauf zum Gebälk der Kirche. Die Müdigkeit drückte schwer auf seine Augen. »Wer weiß, vielleicht lässt sie sich von unserem Beispiel anspornen und...« Er gähnte erneut und vergaß, was er hatte sagen wollen. Eingehüllt von der Wärme der Öfen und der Weichheit der Felle schlief er irgendwann ein... ... um irgendwann - er konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war wieder aufzuwachen. Einen Moment war Matt orientierungslos, wusste nicht, wieso er in einem Haus war. Dann erst erinnerte er sich an die Kapelle und daran, dass einer von ihnen eigentlich hätte Wache halten sollen. Ein sehr menschliches Bedürfnis hatte ihn geweckt: der Druck auf seine Blase. Er setzt sich auf und blickte sich um. 14
Aruula lag immer noch auf dem Altar, während Aiko sich auf seinem Lager zusammengerollt hatte. Beide schliefen und wachten auch nicht auf, als sich Matt die Schuhe anzog, an ihnen vorbei ging und vorsichtig die Tür öffnete. Mit halb geschlossenen Augen blinzelte er in das helle Nachtlicht, bevor er die Tür hinter sic h schloss. Wolken waren aufgezogen und dämpften das Licht der Sonne, und der kalte Wind pfiff durch seine Uniform, als wolle er ihn daran erinnern, in welchem Teil der Welt er sich befand. Trotzdem ging Matt ein Dutzend Meter von der Mission weg, um sich zu erleichtern. ›Wir haben bisher verdammt viel Glück gehabt‹, dachte er verschlafen. ›Das Wetter ist größtenteils auf unserer Seite, die Stürme halten sich in Grenzen und der Eissegler läuft problemlos. Hoffentlich bleibt das auch so.‹ Er zog den Reißverschluss seiner Hose hoch, drehte sich um - und erstarrte. Auf dem Dach der Kirche saß ein Eluu! Seine weißen Schuppenfedern boten einen interessanten Kontrast zum bewölkten Himmel und dem dunklen Kirchendach, aber Matt war nicht in der Lage, das zu würdigen. Sein ganzes Interesse galt den unterarmlangen Klauen und dem riesigen gekrümmten Schnabel, den das Tier desinteressiert hin und her bewegte. Er hatte den Eindruck, dass der Eluu ebenso überrascht über die Begegnung war wie er selbst. Vorsichtig machte Matt einen Schritt nach vorne, dann einen zweiten, als das Tier nicht reagierte. Ein dritter und vierter Schritt brachte ihn so nah an die Kapellentür heran, dass er sie fast berühren konnte. Er streckte die Hand aus. Im gleichen Moment stürzte sich ihm der Eluu lautlos entgegen. Matt schrie auf! *** Idaho, 2436 Die Gastfreundschaft der Dorfbewohner überraschte Despair, vor allem, wenn er sein eigenes Verhalten bedachte. Nachdem der Junge - sein Name war Melcemm - aus seinem Trancezustand erwacht war, hatten sie ihn zurück ins Dorf begleitet und Despair eingeladen, die nächsten Tage bei ihnen zu verbringen und von ihrem Gott zu lernen. Sie schienen zu 15
glauben, er habe sich von der Vorstellung derart beeindrucken lassen, dass er bereit sei, seinen Glauben abzulegen. Despair tat nichts, um diese Meinung zu ändern. Im Gegenteil suchte er am Abend, als alle sich zu einem gemeinsamen Abendessen zusammenfanden, Melcemms Nähe und begann mit ihm über den Gott im Baum zu sprechen. »Wieso hast du mir dieses Bild meiner Ankunft gezeigt?«, fragte er. Um ihn herum wurde es still. Jeder wollte wohl hören, was ihr Scha mane und der Fremde zu besprechen hatten. Melcemm legte ein Stück Brot zur Seite. »Ich entscheide nicht, welche Bilder man sieht. Das liegt in der Hand des Gottes. Manche, die in seiner Nähe einschlafen, zeigen uns ein Leben lang nichts anderes als ihre eigenen Träume. Ihr Geist ist zu undiszipliniert und schwach. Dann gibt es solche, denen der Gott Bilder aus der Vergangenheit schickt, damit sie darüber die Zukunft erkennen. Das ist eben geschehen. Es scheint, als sei deine Ankunft für deine und unsere Zuk unft von großer Wichtigkeit.« Despair hob in einer nichtsagenden Geste die Schultern. »Das mag sein.« Melcemm reagierte nicht auf seine Bemerkung, sondern fuhr fort: »Einigen wenigen ist es vergönnt, die Zukunft in den Bildern zu sehen. Zu diesen Wenigen gehöre ich, deshalb erlaubt mir das Dorf, so oft ich es wünsche, mit dem Gott zu sprechen.« »Und dein Gott lebt in einem Baum?« »Er lebt dort, wo es ihm behagt. Zur Zeit residiert er in diesem Baum, aber wenn er will, wechselt er in eine andere Pflanze. Er ist schließlich unsterblich, da kann er sich nicht an ein sterbliches Lebewesen binden.« »Aber er lebt immer in Pflanzen?« »So weit wir wissen, ja. Aber viele seiner Aspekte bleiben uns verborgen.« Melcemm sprach wie ein Erwachsener, doch wenn man ihn ansah, blickte man in die kindlichen Augen eines Jungen. Dennoch schien er sich der großen Verantwortung bewusst zu sein, die auf ihm ruhte, das bewies bereits seine sorgfältige Wortwahl. Als Missionar in solch schwierigen Zeiten war Despair automatisch auch zum Menschenkenner geworden, und er spürte, dass Melcemm und mit ihm das ganze Dorf von dem Glauben an dem Gott im Baum vollkommen überzeugt waren. Selbst der Tod des falschen Propheten würde nichts an dieser Überzeugung ändern, das wusste Despair, als er in die leuchtenden 16
Augen der Umsitzenden blickte. Sie begriffen nicht, dass sie dem Teufel dienten. »Euer fester Glaube ehrt euch«, log er. »Und doch möchte ich euch ein letztes Mal beschwören, euch von dem falschen Gott abzuwenden und zum wahren Glauben zu konvertieren. Nur so könnt ihr der Hölle entkommen und Frieden im Tod finden.« Seine Worte ernteten Kopfschütteln und abweisende Gesten. Melcemm sah ihn an. »Wir haben Frieden im Leben gefunden. Ist das nicht besser?« Despair stand auf und verbeugte sich leicht. »Darüber richtet nur Gott. Gute Nacht.« Er drehte sich um, ging ohne ein weiteres Wort zu seinem Motorrad und nahm den Schlafsack aus dem Beiwagen. Obwohl die Dorfbewohner ihn in einem ihrer Häuser übernachten lassen wollten, zog er eine Nacht im Freien vor. Zum einen war es warm und sternenklar, zum anderen wollte er unbeobachtet und allein sein. Er legte sich auf seinen Schlafsack und lauschte in die Nacht. Nach einer Weile verstummten die Geräusche der Dorfbewohner. Fackeln wurden gelöscht, Türen geschlossen, dann senkte sich Stille über das Tal. Leise stand Despair auf. Er nahm eine Fackel in die Hand und ging den dunklen Weg entlang, bis er die Umrisse des Waldes erkannte. Erst hier entzündete er die Fackel. Ihre Flamme beleuchtete den geschmückten Baum, entriss ihn der Nacht, die ihn bis dahin getarnt hatte. »Weißt du, wer ich bin, Dämon?« Despair sprach mit fester, leiser Stimme. »Ich bin dein Todfeind, ein Kämpfer Gottes, der diese Menschen von dir befreien wird.« Er ging näher heran, spürte, wie die Macht des falschen Gottes nach ihm griff und süßem Nektar gleich seine Seele benetzte. Wie gern hätte er sich diesem friedlichen Gefühl hingegeben, aber er wusste, dass das nur ein Trick des Teufels war. In einer plötzlichen und, wie Despair hoffte, unerwarteten Bewegung stieß er dem Baum die Fackel entgegen. Die Macht verschwand so rasch, als sei sie niemals da gewesen. Er drehte sich um die eigene Achse und ging langsam tiefer in den Wald hinein. Es war nur ein kleines Waldstück und nach kurzer Ze it spürte er erneut die süße Schwere auf seiner Seele. Despair blieb vor einem anderen Baum stehen, der etwas kleiner als der geschmückte war. 17
»Hierhin bist du also vor meinen Flammen geflohen«, sagte er. »Vielleicht bist du tatsächlich unsterblich, so wie Melcemm behauptet, aber unbesiegbar bist du nicht.« Mit langen Schritten ging er zurück zu seinem Motorrad. Er hatte einen Plan, den er noch in dieser Nacht ausführen musste - bevor der Dämon mit seinen Bildern alles verriet. *** Aruula fuhr hoch, als sie den Schrei von draußen hörte. Instinktiv griff sie nach dem Schwert, das neben ihr auf dem Stein lag, sprang auf und hatte bereits zum ersten Schritt angesetzt, als sie die Augen öffnete. Aiko, die Tak 02 in beiden Händen haltend, riss vor ihr die Eingangstür auf und wäre beinahe mit Maddrax zusammengeprallt, der im gleichen Augenblick hineinstürzte. »Ein Eluu!«, rief er und schlug die Tür hinter sich zu. »Das größte Mistvieh, dass ich je gesehen habe. Er ist direkt vor der Mission.« Aruula suchte ihren Gefährten mit Blicken nach Verletzungen ab und atmete erleichtert durch, als sie nichts fand. Maddrax ging währenddessen zu seinem Lager und nahm den Driller auf. Er schnallte ihn nachts wegen der Bequemlichkeit ab. Aruula stellte sich neben Aiko und versuchte durch die vernagelten Fenster zu sehen, aber da war nur Schnee. »Er saß auf dem Dach«, sagte Maddrax, als er ebenfalls zum Fenster trat, »und stürzte sich auf mich, als ich zurück in die Kapelle zu kommen versuchte. Er hätte mich beinahe erwischt.« »Vielleicht ist er wieder auf das Dach geflogen.« Aruula warf einen misstrauischen Blick ins Gebälk. Aiko schüttelte den Kopf. »Wir hätten gehört, wenn ein so schweres Tier gelandet wäre. Nein, ich glaube, dass er noch vor der Tür sitzt und hofft, dass seine Beute aus dem Haus kommt.« Aruula sah die Antwort in Maddrax' Augen, lange bevor er sie gab. Mittlerweile kannten sie sich so gut, dass sie Kleinigkeiten bemerkte, die ihm selbst vielleicht entgingen. Eine davon war, dass er einmal kurz nach dem Lauf des Drillers griff und dagegen drückte, als wolle er sicherstellen, dass die Waffe nicht auseinander fiel. Das tat er immer, wenn ein Kampf bevorstand, so wie jetzt. 18
Maddrax drückte kurz den Lauf des Drillers und zeigte dann auf die Tür. »Wäre es nicht unhöflich, das Mistvieh noch länger warten zu lassen?« Aiko nickte. Aruula nahm hinter ihm Aufstellung, wohl wissend, dass ihr Schwert den beiden Schusswaffen bei dieser Art Kampf weit unterlegen war. Trotzdem hielt sie sich bereit. Mit einem Tritt öffnete Maddrax die Tür und schoss im gleichen Moment. Die Kugel schlug in den Schnee, ließ ihn in einer Fontäne aus Wasser und Dampf explodieren. Dann warf sich Aiko auch schon hinaus, rollte sich ab und zielte jetzt doch auf das Dach. Maddrax fo lgte und gab ihm Deckung. »Siehst du was?«, fragte er. »Nein.« Aiko stand auf und klopfte sich den Schnee aus der Kleidung. »Weder auf dem Dach, noch im Schnee. Bist du sicher, dass es ein Eluu war?« »Hundert Prozent.« Immer noch die Waffe im Anschlag haltend, drehte er sich langsam um. »So was verwechselt man nicht.« Er sah hinauf zum Dach. »Da oben saß er, ließ mich zuerst herankommen und stürzte sich dann nach unten. Genau hier musste er gelandet sein.« »Hm. Man sieht keinerlei Spuren im Schnee.« »Jetzt, wo du es sagst...« Maddrax steckte den Driller ein und kratzte sich am Nacken. »Aber er war wirklich hier.« Aruula ließ jetzt auch das Schwert sinken und legte ihm die Hand auf den Arm. »Vielleicht ist er gar nicht gelandet, sondern weggeflogen.« »Kann sein«, sagte er. »Tut mir Leid, dass ich euch geweckt habe.« Aiko hob die Schultern. »Falsch war's auf keinen Fall. Jetzt sind wir wenigstens gewarnt.« Aruula folgte ihm und Maddrax zurück in die Missionskapelle und legte sich auf den Altar. Eine Weile raschelte es noch, dann kehrte Ruhe ein. Als Aruulas Bewusstsein zurück in den Schlaf sank, erinnerte sie sich an ihren letzten Traum, aus dem Maddrax' Ruf sie gerissen hatte. Sie hatte von einem Eluu geträumt, das fiel ihr jetzt wieder ein. Groß und mächtig war er über die Mission geflogen, bevor er sich auf das Dach setzte und seiner Beute aus großen gelben Augen entgegen sah. ›Kehrt mein Lauschsinn wieder zurück?‹, fragte sie sich. Doch noch bevor der Gedanke Halt finden konnte, war sie bereits eingeschlafen. * * *
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Nicht zum ersten Mal in seinem Leben dankte Rev'rend Despair Gott für die Erfindung des Schießpulvers. Er trug stets ein Fass und eine Patronengussform bei sich, um im Notfall eigene Munition herstellen zu können, doch in diesem speziellen Fall war ein anderer Einsatz geplant. Einer, der seine Reserven zwar vollständig vernichten, aber viel Gutes bewirken konnte. ›Vorausgesetzt, der Teufel durchkreuzt meinen Plan nicht doch noch‹, dachte Despair, während er sein Motorrad vorsichtig über den schmalen Weg schob. Die mond- und sternenklare Nacht erlaubte es ihm, auch ohne Fackel bis zu dem kleinen Waldstück zu finden. Dort ging er in die Knie und grub seine Hände in den Boden. Er war trocken wie Staub. Keine Feuchtigkeit, keine Rückstände von Wasser. Er erinnerte sich an die Worte eines Dorfbewohners beim Abendessen, der von der längsten Dürre seit zehn Sommern gesprochen hatte. Gott selbst schien das Fundament seines Planes gelegt zu haben. Despair zog den Korken aus dem Schießpulverfass und trat ins Unterholz. Weit entfernt spürte er die Macht des Dämons - oder war es in dieser Situation eher seine Ohnmacht? Es interessierte ihn nicht; nur das Schießpulver, das zu Boden rieselte, war wichtig. Despair wartete, bis sich genügend angesammelt hatte, dann trat er Schritt um Schritt zurück, umrundete das Waldstück langsam, bis er schließlich wieder neben seinem Motorrad stand. Er verteilte das restliche Schießpulver im Unterholz und zog sein Feuerzeug und einen kleinen verschraubbaren Metallbehälter hervor. Eigentlich benutzte er ihn, um Nüsse und Beeren aufzubewahren, aber heute diente er einem anderen Zweck. Despair stellte ihn auf den Sitz des Motorrads, ging erneut zum Waldrand und riss einen kleinen Keimling aus dem Boden. »Ahnst du schon, was geschehen wird?«, flüsterte er in den Wald hinein. »Weißt du, wie Gott dich besiegen wird?« Die Bäume schwiegen. Erst als Despair sein Feuerzeug entzündete und es an die Schwarzpulverspur hielt, glaubte er ein Seufzen zu hören, das den Wald wie eine sanfte Brise durchzog und im Zischen der Zündschnur unterging. Rasend schnell schossen die kleinen Flammen ihren Zielen entgegen. Der erste Knall riss den Wald für Sekunden aus der Dunkelheit, als Funken durch die Nacht sprühten und verloschen. Nur einige überlebten, setzten 20
sich als rote Flecken auf den Ästen fest, wurden größer, bis auch sie Flammen gebaren und den verschlangen, der sie aufgenommen hatte. Der zweite, dritte und vierte Knall trieb Feuerstöße über den Boden. Kleine Tie re liefen in Panik an Despair vorbei und versuchten sich in die Felder zu retten, während die Flammen an den Bäumen empor krochen. Es war ein Inferno, das den Wind entfachte und Feuer über die Felder trieb. Das hoch stehende Getreide wurde plötzlich von Ra uch und Feuer eingehüllt. Die Hitze schlug Despair wie eine Ohrfeige ins Gesicht, aber er trat keinen Schritt zurück. Vielmehr hielt er den Flammen den Keimling entgegen, als böte er ihnen ein bizarres Opfer dar. »Du weißt, dass du keine andere Wahl hast!«, schrie er über das Tosen des Feuers hinweg. »Geh hinein! Gott zwingt dich.« Despair glaubte zwischen dem Prasseln und Knacken der sterbenden Bäume die Schreie des Dämons zu hören, dann schlug etwas so heftig gegen seine Hand, dass er zwar vor Schmerzen stöhnte, aber nicht los ließ. Die Wurzeln des Keimlings begannen sich zu bewegen. Etwas durchströmte ihn mit plötzlicher Macht, berührte Despairs Finger und brachte sie zum Kribbeln. Er spürte Angst, Verzweiflung, jedoch auch Kraft und einen unbändigen, unkontrollierten Lebenswillen. Mit einem Satz war Despair bei seinem Motorrad und warf den Keimling in den Behälter. Rasch schraubte er ihn zu und wollte ihn gerade in seine Brusttasche stecken, als er inne hielt. »Melcemm sagt, du bist unsterblich«, flüsterte er. »Wollen wir das nachprüfen?« Für einen kurzen Moment war er versucht, den Keimling in die Flammen zu werfen, doch dann steckte er ihn doch wieder zurück. Wenn der Keimling verging, wartete der Dämon vielleicht nur so lange, bis eine neue Pflanze in seinem Umfeld entstand. Um seine Macht endgültig zu brechen, reichte das jedoch nicht. »Wir werden einen Ort finden, an dem die Menschen vor dir sicher sind.« Despair startete sein Motorrad und lenkte es an den Feldern vorbei auf die Hügel zu. Hinter ihm griff das Feuer auf die Häuser des Dorfes über. Menschen schrien, brannten, starben, aber er bedauerte sie nicht. Er hatte ihnen den Weg Gottes gezeigt. Wenn sie ihn im Tode annahmen, würde der Herr ihnen Gnade erweisen, so wie auch Despair ihnen Gnade erwiesen hatte... *** 21
Aruula schlug die Augen auf. Obwohl es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht gab, sagte ihr eine innere Stimme, dass es Morgen war. Und zwar ein schöner Morgen, wenn sie den Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen zwischen den Brettern fielen, trauen konnte. Hinter ihr polterte etwas, dann hörte sie Maddrax fluchen. »Shit, es passt nicht durch.« »Und wenn wir es hochkant versuchen?« Aikos Stimme klang angestrengt. »Probieren wir's... Vorsicht... etwas mehr nach links... Au!« Erneutes Poltern und ein metallisches Scheppern, dann war Aikos Stimme wieder zu hören. »Alles in Ordnung?« »Ja, ich hab mir nur die Hand in der Tür geklemmt. Setz mal ab, ich glaube, wir müssen sie aushängen.« Aruulas Schläfrigkeit wurde endgültig von der Neugier besiegt. Sie setzte sich auf und schlug die Beine übereinander. Vor ihr, am Eingang der Kapelle, standen Maddrax und Aiko und mühten sich mit einem stark gebogenen Gegenstand ab, der nicht durch die Tür zu passen schien. Während Aruula zusah, bega nnen sie damit, die schwere Holztür aus den Angeln zu heben und an die Wand zu lehnen. »Okay, zweiter Versuch.« Maddrax und Aiko hoben den Gegenstand, den Aruula erst jetzt als die Vorderseite des Eisseglers erkannte, hoch und schoben ihn vorsichtig durch den Eingang. Sie kamen ungefähr bis zur Mitte, dann schüttelte Aiko den Kopf. »Das passt noch immer nicht. Der Durchgang ist einfach zu eng.« Maddrax trat sichtlich verärgert mit dem Fuß gegen die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. »Es fehlen höchstens fünf Zentimeter. Das muss doch irgendwie gehen.« »Regt euch nicht auf«, sagte Aruula. »Die Götter versuchen nur, euch vor einer Dummheit zu schützen. Baden ist sehr gefährlich.« Aiko stellte die Front des Eisseglers an der Außenwand ab und lehnte sich gegen den Türrahmen. »Vor der Abreise aus Amarillo habe ich fast jeden Tag gebadet.« »Dann hast du viel Glück gehabt, dass du noch lebst.« Aruula konnte seinen Leichtsinn kaum glauben. Jeder wusste doch, dass der menschliche Körper von einer Schutzschicht umgeben war, die durch Wasser nach und nach abgewaschen wurde. War sie erst einmal weg, wurde der Mensch krank und starb. 22
Maddrax hob nur die Schultern, als Aruula ihm das erklärte. »Wenigstens stirbt man dann sauber«, antwortete er lächelnd. Sie hatte den Eindruck, dass er die Gefahr nicht ernst nahm. Wenigstens die Götter schützten ihn vor sich selbst, denn nach fünf weiteren vergeblichen Versuchen gaben er und Aiko schließlich auf und begannen das Frühstück zuzubereiten. Der Zustand der Vorräte war der einzige Grund, weshalb Aruula die Kälte schätzen gelernt hatte. In Pootland hatten sie frisches Obst und Gemüse gekauft, das sie nach Überqueren der Eisgrenze sofort in Eis gepackt hatten. Diese Methode kannte Aruula noch von Sorbans Horde, wo man Fleisch im Schnee eingegraben hatte, damit es länger frisch blieb. Mit dem Obst wollte Maddrax etwas verhindern, das er Skorbut nannte, eine Krankheit, die Sorban als den Fluch der ausfallenden Zähne bezeichnet hatte. Aruula wusste nicht, was ein paar Äpfel dagegen ausrichten sollten, folgte aber sicherheitshalber dem Beispiel der beiden Männer und aß jeden Tag eine Frucht. Neben ihr hob Maddrax einen Eisblock hoch und wischte mit dem Ärmel seiner Uniform über die Oberfläche. »Was würdet ihr sagen«, fragte er dann, »Deerbrust oder Erdbeeren?« Aruula betrachtete die verschwommene rote Form im Eis. »Ich weiß nicht. Es könnte beides sein.« Aiko warf einen kurzen Blick herüber. »Keine Ahnung...« Maddrax legte den Eisblock in den Topf und stellte ihn auf die Ofenplatte. »Es sind Fragen wie diese, die den Unterschied zwischen einem guten und einem interessanten Frühstück ausmachen.« »Das Frühstück ist euer geringstes Problem.« Aruula fuhr herum und reagierte ohne Zögern, als sie den in Felle gehüllten Mann am Eingang sah. Mit einem Satz erreichte sie den Altar und griff nach ihrem Schwert. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Maddrax seinen Driller zog und Aiko auf seine Maschinenpistole zu lief. Als Aruula die Hand um den Schwertgriff schloss, standen bereits zehn Krieger in der Kapelle. Sie trugen Armbrüste mit schweren Holzbolzen in den Händen und hatten sich so gut verteilt, dass man sie nicht mit einem gezielten Angriff vernichten konnte. Zwei oder drei von ihnen hätten immer noch Zeit für einen Schuss gehabt. Maddrax ließ den Driller sinken und Aiko wich von seiner Waffe zurück. Sie schienen die gleiche Schlussfolgerung gezogen zu haben. Aruula zögerte noch einen Moment, suchte nach einem Ausweg, den es nicht gab, dann legte sie das Schwert zurück auf den Altar. 23
»Wir ergeben uns«, sagte Maddrax. *** British Columbia, 2436 Rev'rend Despair stoppte die Harley Davidson auf einer Hügelkuppe und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seine andere Hand ertastete in der Satteltasche das Fernglas. Er wusste nicht, warum er sich überhaupt die Mühe machte, es herauszunehmen, denn die Staubfahnen, die über das Tal strichen, verrieten ihm, dass sie immer noch hinter ihm waren. Trotzdem setzte er das Fernglas an die Augen, fand zuerst den Staub und folgte ihm, bis er die Gruppe zwischen roten Sandsteinfelsen entdeckte. Einundzwanzig Männer waren es, die auf Frekkeuschern und Deers ritten. Ihre Gesichter waren sonnenverbrannt, ihre Haare grau von Staub. Einige hatten sich Tücher vor Mund und Nase gebunden, andere saßen schlafend und mit gesenkten Köpfen auf ihren Reittieren und ließen sich mitziehen. Nur der Junge schien niemals zu schlafen. Wann immer Despair durch sein Fernglas blickte, saß Melcemm aufgerichtet auf seinem Deer und starrte ihm entgegen. Manchmal war der Rev'rend so fasziniert von dem Hass und der Trauer in seinem Gesicht, dass er die Zeit vergaß und die Verfolger weiter herankommen ließ. In diesen Momenten, wenn er hektisch das Motorrad startete, war er oft versucht, ihnen ein Gebet zuzurufen oder seine Taten zu erklären. Aber er tat es nie, ebenso wenig, wie sie jemals mit ihm sprachen. Selbst untereinander schienen sie nicht zu reden, zumindest sah Despair keine Mundbewegungen, wenn er sie beobachtete. Vielleicht hatten sie eine Art Schweigegelübde abgelegt, bis ihr falscher Gott zu ihnen zurückgekehrt war. ›Dann werden sie niemals wieder reden dürfen‹, dachte er und startete die Maschine. Acht Tage waren vergange n, seit er den Dämon gefangen hatte; acht Tage, in denen er kaum gegessen und geschlafen hatte, weil die Verfolger stets hinter ihm waren. Nur auf den Ebenen gewann er Abstand, aber hier in den unwegsamen Bergregionen war das schwere Motorrad mit dem Beiwagen eher Hindernis als Vorteil. Oft genug blieb ihm keine andere Wahl, als es zu schieben oder Umwege zu fahren, wenn das Gelände zu schwierig wurde.
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Die Frekkeuscher und Deers seiner Verfolger kamen in den Bergen besser zurecht. Es gab kaum noch Bäume, die die Insekten an ihren Sprüngen gehindert hätten, und Deerhufe fanden überall Halt. Despair betete um eine weitere Ebene, nicht für sich, sondern für die Mission, die er zu erfüllen hatte. Die Dorfbewohner mochten vielleicht anderer Ansicht sein, aber er kämpfte auf ihrer Seite, auf der Seite ihrer unsterblichen Seelen, und dieser Aufgabe musste er sich stellen - egal, wie sehr Müdigkeit und Hunger an ihm zehrten. Die Lenkgriffe des Motorrads schlugen heftig gegen seine Hände und brachten die Schmerzen des gestrigen Sturzes zurück. Er hatte eine Steigung unterschätzt und war mitsamt der Maschine weggerutscht und auf die Felsen geschlagen. Mittlerweile waren seine Finger so stark angeschwollen, dass er die Lederhandschuhe nicht mehr ausziehen konnte. Despair widerstand der Versuchung, sich ein weiteres Mal nach seinen Verfolgern umzudrehen, sondern hielt den Blick starr nach vorn gerichtet. Eine Art Trampelpfad, der vermutlich von Tieren stammte, wand sich zwischen den Felsen hindurch und führte höher in die Berge. Vielleicht, so hoffte er, gab es sogar einen Pass, der ihn auf die andere Seite brachte. Mehrere Stunden später erkannte er, dass seine Hoffnung sich erfüllte. Der Pfad verlief mit erträglicher Steigung unterhalb des Gipfels entlang. Despair bemerkte primitive Zeichnungen an den Felswänden und einige Steinhaufen, vor denen Tierknochen lagen. ›Also keine Tiere, sondern Menschen‹, dachte er, während er trotz der nahenden Verfolger die Kultstätten sorgfältig vernichtete und mit weißer Kreide ein Kreuz an ihre Stelle malte. ›Allerdings scheinen sie in ihrem Glauben nicht mehr als Tiere zu sein. Bei meiner Rückkehr werde ich nach ihnen suchen.‹ Dann, als die Mitternachtssonne bereits über dem Horizont hing, hatte er den Berg endlich umrundet. Despair bremste, stieg ab und fiel auf die Knie. Seine Augen füllten sich mit Tränen, die den Blick verschwimmen ließen, aber die beinahe endlos wirkende Ebene sah er überdeutlich. Nichts als Sand und Felsen, kilometerweit. »Ein weiteres Mal hast du deinen unwürdigen Diener erhört«, flüsterte er. »Ich danke dir, o Herr.« Er stieg wieder auf und startete den Motor. Müdigkeit und Hunger waren verschwunden. Gegen Mittag des nächsten Tages ließ er den Berg hinter sich und erreichte die Ebene. Der Wind stach mit eiskalten Nadeln in sein 25
Gesicht, als er endlich wieder Gas gab. Im Rückspiegel wurde der Berg kleiner und verschwand... ebenso wie die Staubwolke seiner Verfolger. *** Waffen, Vorräte, Ausrüstung und persönliche Gegenstände - all das lag auf einem großen Haufen in der Mitte der Missionskapelle. Die Krieger hatten Aruula und die anderen gezwungen, alles, was sie besaßen zusammenzutragen, bevor man sie an Händen und Füßen gefesselt und an die Wand getragen hatte. Dort saßen sie jetzt und warteten auf eine Entscheidung des Anführers. Aruula zog nicht an ihren Fesseln. Sie wusste sehr gut, dass Aiko Tsuyoshi der Einzige war, der sie mit einem Ruck sprengen konnte. Es lag an ihm, den Moment dafür zu bestimmen und den Kampf zu beginnen. Sie bemerkte auch die Anspannung in Maddrax' Gesicht und die Blicke, mit denen er die Krieger musterte. Nach Räubern sahen sie zumindest nicht aus, obwohl ihr Verhalten darauf schließen ließ. Ihre Fellkleidung war sauber, ihre runden, bartlosen Gesichter narbenlos. Auch fehlte in ihren Augen die Kälte, die man bei Menschen fand, die mit Morden und Rauben ihren Lebensunterhalt verdienten. »Sie scheinen nichts geklaut zu haben, Kiskitto«, sagte einer der Krieger schließlich. »Natürlich nicht«, mischte sich Maddrax ein, bevor der Angesprochene antworten konnte. »Wir sind Reisende, keine Diebe. Wenn wir gewusst hätten, dass dieses Haus euch gehört, hätten wir um eure Erlaubnis gebeten.« Kiskitto zeigte auf die Gegenstände, die am Boden lagen. »Das sagst du. Vielleicht ist dies alles aber auch Diebesgut und ihr seid hier eingedrungen, um euch weiter zu bereichern.« »Und womit?« Maddrax drehte den Kopf, als wolle er das Innere der Kapelle erneut betrachten. »Hier ist doch schon alles ausgeräumt worden. Sehen wir aus, als wären wir zu blöd, das zu merken?« ›Sei vorsichtig‹, dachte Aruula besorgt. ›Du kennst diese Leute nicht.‹ Kiskitto ging schweigend vor ihm in die Hocke. Der Bolzen seiner Armbrust schwang hin und her, zeigte mal auf Maddrax und mal auf die Wand. »Nein«, sagte er. »So blöd seht ihr nicht aus.« 26
Das Messer lag so plötzlich in seiner Hand, dass Aruula nicht bemerkt hatte, wie er danach griff. Unwillkürlich sah sie zu Aiko, der seinen desinteressierten Gesichtsausdruck abgelegt hatte und deutliche Anspannung zeigte. Er war bereit zum Kampf. Kiskitto lachte plötzlich und schnitt Maddrax mit einem Ruck die Fesseln durch. »Nur ein Mann mit einem guten Gewissen ist in der Lage, eine solche Entrüstung zu zeigen.« Aruulas und Aikos Fesseln fielen ebenfalls, dann stand Kiskitto auf und zeigte auf die Ausrüstung am Boden. »Helft den Reisenden, alles wieder aufzunehmen. Sie sollen nicht glauben, dass Kiskitto und seine Leute Barbaren sind.« »Auf die Idee wären wir nie gekommen«, sagte Maddrax in einem Tonfall, den Aruula als Sarkasmus zu interpretieren gelernt hatte. Dann streckte er Kiskotto seine Hand entgegen. »Mein Name ist Maddrax, das sind Aruula und Aiko.« »Meinen Namen kennst du ja bereits.« Erst jetzt entfernte der Krieger den Bolzen aus der Armbrust und steckte ihn in eine Lederschlaufe, die mit anderen Holzgeschossen bestückt war. »Wir bekommen hier oben nur selten Besuch, und wenn, sind es entweder Trapper, die Izekeepirs erlegen wollen, oder Idioten, die an die Legende vom großen weißen Mol glauben. Ihr seht weder nach Trappern noch nach Idioten aus.« Aruula biss sich auf die Lippe und dachte an den Morgen, als sie dem großen weißen Mol gegenübergestanden hatten. Aiko schien den gleichen Gedanken zu haben, denn er senkte den Blick, während Maddrax sich räusperte. »Nein«, sagte er dann. »Wir sind einfache Reisende auf dem Weg nach Norden.« »Als Reisende habt ihr sicherlich Spannendes erlebt und könnt uns viel erzählen. Kommt, wir haben euer Frühstück unterbrochen. Lasst es uns wieder gutmachen, indem wir euch ins Dorf einladen. Wir haben zu essen, zu trinken, und heute Abend findet sogar ein Fest statt. Was sonst könntet ihr verlangen?« Aruula sah Maddrax' Zögern und dachte an die lange Reise, die ihnen noch bevorstand. Jeder Aufschub verlängerte sie unnötig. Wenn sie auf das Angebot eingingen, verloren sie mindestens einen Tag, vielleicht noch mehr. Kiskotto, der während seiner kurzen Rede dicht neben Maddrax getreten war, hustete jetzt und ging ein paar Schritte zurück. 27
»Und wenn es euch gefällt«, fügte er hinzu, »könnt ihr auch unser Badehaus benutzen. Das soll keine Beleidigung sein. Ihr stinkt natürlich nicht, aber auf einer solchen Reise bekommt man sicher nur selten die Gelegen...« »Okay.« Maddrax und Aikos Antwort kam gleichzeitig. Aruula schüttelte den Kopf und sparte sich einen Kommentar. »Wie habt ihr uns eigentlich entdeckt?«, fragte sie Kiskotto, um das Thema zu wechseln. Der hob die Schultern. »Das war leicht. Wir sind einfach der Vision über dem Tempel gefolgt.« Maddrax fuhr herum. »Was!?« *** British Columbia, 2436 In den taghellen Nächten spielte der Dämon mit seinem Verstand. Dann zeigte er Despair Bilder aus einer längst vergessenen Vergangenheit. Sie erschienen viel klarer als jeder Traum und wirkten so real, als bedürfe es nur eines Schrittes, um sie zu erreichen. In den Nächten wollte er sie erreichen, an den Tagen schämte er sich dafür - und doch wartete ein Teil seiner Selbst jeden Abend ungeduldig auf den Schlaf. Es waren einfache Bilder, die er dort sah. Eine Holzhütte, ein Brunnen, einige schmale Felder unter tiefblauem Himmel. Sein Vater zog den uralten Pflug, seine Mutter schob ihn und holte Steine aus dem Boden. Stundenlang konnte er, dessen Name damals nicht Despair, sondern Johnee gewesen war, ihnen dabei zusehen, hörte das leise Knarren des Pfluges, das Schnaufen der Biisons auf der Weide, und schmeckte den süßherben Geschmack der Limonade, die seine Mutter in sorgsam abgedeckten Krügen bereit hielt. Es war ein einfaches, unkompliziertes und - wie er im gleichen Winter hatte feststellen müssen - ungeschütztes Leben. Der Dämon zeigte ihm stets nur den Sommer; an den Winter aber konnte sich Despair ganz allein erinnern. Kurz nach seinem vierten Geburtstag war es gewesen, als der fremde Mann auf dem seltsamen Fahrzeug die Farm erreichte. Johnee hatte noch nie ein Motorrad gesehen und achtete kaum auf den Mann, sondern nur auf die Maschine. Der Lärm und der scharfe Gestank faszinierten ihn. Der Mann begann sich mit seinen Eltern zu unterhalten, zuerst leise, dann immer lauter. Johnee spürte, dass sie auch über ihn stritten, hörte Begriffe 28
wie »Gott«, »Seele« und »ewige Verdammnis«; verstehen konnte er das jedoch nicht. Schließlich beteten sie jeden Tag zu dem Berg, der im Sommer die Regenwolken und im Winter den Schnee brachte. Mit Opfern stimmten sie ihn gnädig und hatten sicherlich schon so manchen Schneesturm und so manche Dürre aufgehalten. Irgendwann verschwand sein Vater in der Hütte und kam mit dem Bogen wieder hervor, den sie für die Jagd benutzten. Nur wenige Lidschläge später hörte Johnee ein weiteres Geräusch, das er noch nicht kannte: das von Schüssen. Er hatte den Tod seines Vaters nicht gesehen, war nur stumm neben dem Motorrad stehen geblieben, während seine Mutter schrie und weinte. Die chromblitzende Lenkstange reflektierte sein erstarrtes Gesicht und die Silhouette, die von hinten auf ihn zukam. Er wagte nicht, sich umzudrehen, und als die Gestalt unter seine Arme griff und ihn in den Beiwagen setzte, ließ er auch das mit sich geschehen. Johnee drehte sich nicht um, als der Mann die Maschine startete und das Tal verließ. Nicht ein einziges Mal... Despair schüttelte die Erinnerung ab. Rev'rend Fury, der Mann, der ihn damals in dem gottlosen Haus gefunden hatte, war einer der besten Menschen gewesen, die er je kennen gelernt hatte. Ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben hatte er Seelen gerettet, bis ihn der Herr in hohem Alter zu sich rief. Ihm gegenüber fühlte Despair sich wie ein Anfänger, kein Menschenfischer, sondern nur ein leidlich talentierter Angler, dem Gott hier und da einen Erfolg schenkte. Auch wenn seine Brüder ihn für einen Heiligen hielt, hatte er sich selbst stets als unzulänglich empfunden. Doch mit dieser Mission, da war er sicher, würde er endgültig aus dem Schatten seines übermächtigen Ziehvaters heraustreten. Er nahm einen Benzinkanister aus dem Beiwagen und füllte den Tank auf. Einige Brüder waren wegen der schwindenden Ressourcen auf Alkohol betriebene Motoren umgestiegen, aber Despair bevorzugte immer noch Benzin. So lange er noch welches unter den Ruinen antiker Tankstellen fand, wollte er es auch nutzen. Sein Blick wandte sich nach Norden, der nächsten Bergkette zu. Dort begann das ewige Eis und dort wollte er den Dämon in seinem Gefängnis begraben. Vielleicht würde er ihn in eine Felsspalte werfen, vielleicht würde er auch das Eis auftauen und ihn irgendwo in der Tiefe einfrieren. 29
»Verstehst du, was ich vorhabe?«, fragte er. »Verstehst du, dass du zwar ewig leben, aber niemals wieder diesen Behälter verlassen wirst? Und selbst wenn er zerstört wird, wenn er verrostet oder beschädigt wird, kann es für dich keine Freiheit geben, denn in welche Pflanze würdest du springen? Hier oben gibt es nichts. Keinen Baum, keinen Strauch, keinen Grashalm, der dich aufnehmen könnte.« Er glaubte ein Zittern in der Luft zu spüren. Eine sadistische Ader zwang ihn weiterzureden. »Du bist ein Gefangener, allein in einer leeren eisigen Welt, verdammt zur Unsterblichkeit. Selbst Luzifer würde dich bedauern, und Gott... Gott weint über jede seiner Kreaturen, die vom wahren Weg abkommt. Und deshalb werde ich für dich beten, Dämon.« Das Zittern verging so schnell, wie es gekommen war. Despair schob den Behälter wieder in seine Brusttasche und schwang sich auf den Sitz der Harley. Gerade wollte er die Maschine starten, als sein Blick auf den Rückspiegel fiel und auf die Staubwolke, die er darin sah. Er drehte den Kopf, spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte und Schweißperlen auf seine Stirn traten. Mit einem Griff hatte er das Fernglas hervorgezogen und an seine Augen gesetzt. »Der Teufel...«, flüsterte er. »Der Teufel steht ihnen bei.« Despair startete die Maschine und lenkte sie auf den Berg zu. Acht Tage lang hatte er nichts Verdächtiges bemerkt, war sicher gewesen, dass ein Gebirge und zwei Ebenen gereicht hatten, um ihn in Sicherheit zu bringen. Dass das ein Irrtum gewesen war, versetzte Despair einen fast körperlichen Schock. Das Ende seiner Mission war erneut in weite Ferne gerückt, denn seine Verfolger waren zurück. »Möge Gott sie zerschmettern!« *** Aruula hatte noch nie in ihrem Leben eine so große Badewanne gesehen. Das halbe Dorf passte dort hinein - was dadurch bewiesen wurde, dass das halbe Dorf darin saß. Die andere Hälfte war damit beschäftigt, heißes Wasser nachzugießen, die großen Wassertanks mit Eis zu füllen und Biisonkot zum Heizen nachzulegen. Ab und zu fanden sie die Zeit, die Badenden mit Getränken und gegrillten Fischen zu versorgen, die sogar Aruula die Unannehmlichkeiten des Badens vergessen ließen.
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»Seit es das Badehaus gibt«, sagte die dicke ältere Frau, die neben ihr saß und sich als Mukukaa vorgestellt hatte, »werden wir seltener krank. Außerdem macht es allen Spaß, sogar den Kindern.« ›Sie lassen ihre Kinder baden‹, dachte Aruula schockiert. ›Kennen diese Menschen denn keine Verantwortung?‹ Ihr Taktgefühl hinderte sie jedoch, die Frage zu stellen. Statt dessen sagte sie: »Wie seid ihr auf die Idee gekommen?« »Unser Gott hat es uns geraten, damals, als der gute Poplaar noch lebte.« Auf der anderen Seite der Wanne beugte sich ein uralter, kahlköpfiger Mann vor. »Sprecht ihr von Poplaar?«, rief er schwerhörig. Mukukaa antwortete ebenso laut: »Ja, Wekuus, wir reden über deinen Bruder und das Badehaus.« »Ah! Das war ein Tag. Gott hat uns selten einen größeren Gefallen erwiesen.« Der gebrüllte Austausch führte dazu, dass sich jetzt alle an der Unterhaltung beteiligen wollten. »Aber ohne Poplaar«, warf ein Mann ein, »hätten wir nie davon erfahren. Wir sollten öfter Feste in seinem Gedenken veranstalten.« »Dass du bei allem sofort an Feste denkst, wundert wohl niemanden.« Aruula hatte die klare Vorstellung, dass dieser Satz von seiner Frau stammte. »Welcher Gott erweist euch Gefallen?«, fragte sie Mukukaa. Auf den langen Reisen, die sie machten, war es wichtig, auch lokale Götter in die Gebete einzuschließen, damit man sie nicht versehentlich verärgerte. Mukukaa hob die Schultern. »Nun, Gott eben.« »Ihr habt nur einen Gott?« Maddrax, der bis zu diesem Zeitpunkt ebenso wie Aiko außer einigen zufriedenen Grunzlauten nichts gesagt hatte, zeigte zum ersten Mal Interesse. »Mehr brauchen wir nicht. Er hilft und beschützt uns. Natürlich hängt es davon ab, wie gut man ihn versteht.« »Keiner verstand ihn besser als Poplaar.« Der alte Mann sprach so laut, dass die Umsitzenden zusammenzuckten. »Das ist wahr.« Kiskittos angenehm dunkle Stimme strahlte Autorität aus. »Ich glaube aber, wir sollten unseren Besuchern erst einmal erklären, worüber wir reden.« »Du sagtest, ihr hättet uns durch eine Vision gefunden?« Jetzt schaltete sich auch Aiko in die Unterhaltung ein. Kiskitto nickte. Die Jäger, die von ihrer Arbeit zurückkehrten, bemerkten Lichter über dem Tempel. Sie waren zu weit weg um Genaueres erkennen 31
zu können, deshalb kamen sie ins Dorf. »Wir stellten einen Trupp zusammen und fanden euch.« Er hob die Hand, als er bemerkte, dass Maddrax etwas fragen wollte. »Ihr müsst wissen, dass Gott in diesem Tempel lebt, und er führt uns, indem er unsere Träume, unsere Vergangenheit und bei ganz speziellen Menschen auch unsere Zukunft enthüllt. Sie werden sichtbar, so wie der Beginn eines neuen Tages sichtbar ist.« »Gott zeigt euch eure Träume?« Dieses Mal gelang es Maddrax, eine Frage einzuschieben. »Er zeigt sie allen. Es liegt an uns, sie richtig zu deuten. Manchen zeigt er die Vergangenheit, damit sie daraus lernen können, aber Menschen wie Poplaar zeigte er sogar die Zukunft.« »Redest du noch immer von Poplaar?!« Kiskitto ignorierte Wekuus. »Er war ein besonderer Mensch. Sein Geist war größer als der unsere. Wenn er in sich ging, konnte er die Gedanken anderer lesen, als wären sie Lupafährten. Einmal ließ er seine Stimme sogar in meinem Geist erklingen, ohne dass er sprechen musste.« Aruulas Mund wurde trocken. ›Er konnte lauschen‹, dachte sie mit einer Mischung aus Faszination und Neid. Sie spürte Maddrax' Blick, wich ihm jedoch aus. »Was gescha h mit Poplaar?«, fragte sie. »Was mit den meisten geschieht. Er wurde alt und starb. Seitdem warten wir darauf, dass jemand geboren wird, der sein Erbe fortführt. Bis dahin behelfen wir uns mit einem Traumdeuter. Sein Name ist Ogisuu und ihr werdet ihn heute Abend beim Fest kennen lernen.« Kiskitto sah zuerst Aruula, dann Maddrax und Aiko an. »Wir werden euch zeigen, wie groß die Macht Gottes ist. Vielleicht wollt ihr danach sogar nicht mehr weiterziehen.« Er lächelte, aber seine Worte klangen wie eine Drohung. *** Alaska, 2436 Am Ende der achten Woche verließ Rev'rend Despair das Glück. Das Wetter, das ihm abgesehen vom schneidenden Wind keine Probleme bereitet hatte, schlug von einer Minute zur anderen um und wurde zum Schneesturm. Stundenlang irrte er durch das wirbelnde Chaos, bis endlich eine Höhle vor ihm auftauchte. 32
In der saß er seit mittlerweile vier Tagen und wartete auf das Ende des Sturms - oder den eigenen Tod, je nachdem, was zuerst geschah. »Ich darf noch nicht sterben«, krächzte er mit einer Stimme, die er kaum wiedererkannte. »Wenn ich jetzt sterbe, werden sie ihn finden.« Das Motorrad mit den Vorräten hatte er vor den Felsen stehen lassen müssen, weil er es damit nicht bis in die Höhle geschafft hätte. Nur ein wenig Nahrung und Brennholz hatte er in seinen Unterschlupf gerettet, in der irrigen Annahme, ein Sturm könne doch nicht länger als ein paar Stunden dauern. ›Vier Tage‹, dachte er und der Sturm wurde immer noch nicht schwächer, schien im Gegenteil eher zuzunehmen. Erst am Morgen hatte Despair versucht, die Höhle zu verlassen, und war vom Wind gegen die Felsen geschleudert worden. Nach nur zwei Schritten hatte er umkehren müssen. Zitternd rieb er mit den Händen über die Arme, versuchte sich so zumindest ein wenig Wärme zu verschaffen. Den Hunger verdrängte er ebenso wie den quälenden Durst. Als das Feuerholz ausging, hatte er versucht, das ungeschmolzene Eis zu lutschen, aber die Kälte hatte ihm die Zunge verbrannt und die Lippen aufgerissen. Jetzt wärmte er es zwischen seinen Handschuhen an und ließ einen Tropfen nach dem anderen in seinen Mund fallen, doch der Durst schien nie nachzulassen. Sein einziger Trost war die Nähe Gottes und die Gewissheit, dass es seinen Verfolgern noch schlechter gehen musste als ihm selbst. Durch das Fernglas hatte er ihre Ausrüstung gesehen: ein paar Felle, kaum Vorräte, ein paar ritten sogar barfuß. Vielleicht hatte der Sturm das geschafft, was ihm nicht gelungen war, und sie zum Aufgeben gezwungen. Er betete darum. Am fünften Tag endete der Sturm. Despair spürte es bereits, als er die Augen aufschlug. Das ständige Heulen war verschwunden und die Luft schmeckte klar und süß. Er musste sich an der Wand festhalten, um den Eingang zu erreichen und hinauszusehen. Die Felsen, die bei seiner Ankunft noch dunkel gewesen waren, wurden jetzt von Schnee und Eis bedeckt. Halb rutschend, halb taumelnd bewegte er sich über die Steine und schließlich hinab zu seinem Motorrad, das nicht mehr als ein grober Umriss im Schnee war. Mit beiden Händen schaufelte er den Schnee zur Seite, fand endlich seine Vorräte und fluchte, als er begriff, dass alles gefroren war. Es würde Stunden dauern, etwas davon aufzutauen. 33
Erschöpft lehnte sich Despair gegen die Maschine und sah in den langsam verwehenden Schnee. Eigentlich hätte es ihn überraschen müssen, aber als er die dunklen Punkte in der weißen Landschaft entdeckte, spürte er nur ein wenig Frustration. ›Mit einem solchen Willen‹, dachte er beinahe respektvoll, als er die Maschine startete, ›wären sie verdammt gute Rev'rends geworden - jeder Einzelne von ihnen.‹ Vorsichtig lenkte Despair das Motorrad über die Schneefläche. Der Beiwagen gab ihm zwar zusätzlichen Halt, erschwerte durch sein Gewicht jedoch den Bremsvorgang. In diesem trügerischen Gelände durfte er sich keinen Fehler erlauben. Es knirschte. Despair sah sich um, konnte aber nicht erkennen, woher das Geräusch kam, das mit jeder Sekunde lauter wurde. Instinktiv gab er Gas, hörte, wie der Motor aufheulte und die Räder durchdrehten. Etwas brach unter ihm weg, ließ die Maschine nach vorne kippen. Er sah Schnee, der wegrutschte, und dunkle Felsen, dann stürzte er ihnen auch schon entgegen. *** Beinahe gegen ihren Willen musste sich Aruula eingestehen, dass sie das Bad und den angenehmen Geruch, der ihren Körper danach einhüllte, genossen hatte. Das sagte sie Maddrax jedoch nicht, als er sich zwischen sie und Aiko setzte und einen Teller voll Fleisch in die Mitte des Tischs stellte. »Hat Kiskitto schon gesagt, wann das Ritual beginnt?«, fragte er. Aiko schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich glaube, die Frauen bereiten Ogisuu jetzt vor.« Aruula warf einen Blick über den Platz vor der Mission, wo die Dorfbewohner an langen Holztischen saßen, aßen, tranken und redeten. An jedem Tischende befand sich eine Feuerstelle, in der Steine erhitzt und zwischen die Feiernden gelegt wurden. Für arktische Verhältnisse war es zwar sehr warm, aber wenn man eine Weile still saß, begann man den eisigen Wind zu spüren. Ogisuu stand neben dem Tempel, umringt von vier Frauen, die seinen nackten Körper mit Asche einrieben. Er war ein kleiner Mann mit schütterem Haar und einem ungewöhnlich dicken Bauch. Seine Augen 34
waren weit geöffnet, schienen die Umgebung jedoch nicht wahrzunehmen. Aruula nahm an, dass er bereits in Trance gefallen war. »Irgendwie hatte ich mir einen Traumdeuter anders vorgestellt«, sagte Maddrax kauend. »Würdevoller...« »Und angezogener.« Aruula lächelte, als beide Männer lachten. Bereits seit einiger Zeit ahnte sie, dass Aiko ein wenig mehr für sie empfand, als er erkennen ließ. Zum Glück schien das jedoch keine Auswirkungen auf seine Beziehung zu Maddrax zu haben, denn in den letzten Wochen waren sie zu guten Freunden geworden. Sie hoffte nur, dass das auch so blieb. Vor dem Te mpel wandten sich die Frauen von Ogisuu ab, dessen Körper mit breiten Aschestreifen bedeckt war. Eine Weile blieb er schwankend stehen, dann ging er mit unnatürlich steifen Schritten ins Innere des Gebäudes. Zwei Dorfbewohner schlossen die Tür hinter ihm. Auf dem Platz kehrte Ruhe ein. Kiskitto kam mit vier Krügen in den Händen herüber und setzte sich neben Aruula. »Probiert das«, sagte er. »Hat meine Frau selbst gemacht.« Maddrax roch misstrauisch an dem Getränk, bevor er einen kleinen Schluck nahm. Seine Augenbrauen hoben sich. »Das ist gut. Woraus ist es... nein, ich will das lieber nicht wissen. Hauptsache, es schmeckt.« Aiko nickte. »Es ist wirklich sehr gut.« Nach diesen beiden positiven Meinungen griff auch Aruula nach dem Krug. Das Getränk glitt prickelnd über ihre Zunge und schmeckte nach Honig und Kräutern. Kiskitto grinste. »Ich kenne niemandem, der das nicht mag. Wir nennen es Quifor und...« Er unterbrach sich, als leise Trommelschläge aus dem Tempel drangen. »Lasst uns schweigen. Das Ritual beginnt.« Aruula bemerkte, dass alle Dorfbewohner um sie herum nach oben zum Dach der Mission blickten. Anscheinend erwarteten sie dort etwas zu sehen. »Egal, wie oft ich es betrachtete«, flüsterte Kiskitto, »es bleibt doch ein Wunder.« ›Was?‹, wollte Aruula fragen, doch im gleichen Moment flammte ein Bild über dem Dach auf. Es war vielleicht drei Speerlängen breit und zwei hoch und zeigte eine Eislandschaft, die unter einem trüben Winterhimmel lag. 35
Neben ihr stieß Maddrax überrascht den Atem aus, als das Bild sich zu bewegen begann. Zuerst langsam, dann immer schneller schoss die Landschaft an ihnen vorbei. Am Rande tauchte kurz das Dorf auf, aber wer auch immer das Bild kontrollierte, hielt nicht inne, sondern lief daran vorbei, ließ Ebenen und Gebirge unter sich zurück und flog hoch in den trüben Himmel. Aruula wurde schwindelig. Maddrax flüsterte irgendwas von einer »Achterbahn« . Jetzt ließ das Bild die Wolken hinter sich. Purpurne Sonnenstrahlen glitten langsam wie Pfeile, die man in Wasser schießt, durch einen grünen Himmel, zogen Schweife hinter sich her, die zu Schnee wurden und nach unten fielen. Einige Sonnenstrahlen zerbrachen am Schnee und lösten sich in tausend glitzernde Diamanten auf, die hoch schwebten und zu Sternen am Nachthimmel wurden. Dann verschwand das Bild. »Wow...« Maddrax lehnte sich vor und sah Aruula mit glasigem Blick an. Seine Stimme war schwer und undeutlich. »Hass de so was scho mal...« Er stutzte, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Aruula fragte sich, weshalb er plötzlich zwei Köpfe hatte. Verschwommen sah sie, wie Aiko auf die Tischplatte fiel, und hörte, wie Maddrax »Gift« sagte. Dann kippte er nach hinten in den Schnee. Aruula versuchte aufzustehen, aber ihre Beine reagierten nicht. Das Letzte, was sie sah, bevor die Dunkelheit sie einhüllte, waren Kiskittos grinsende Gesichter. *** Alaska, September 2436 »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.« Despair war am Ende, das wusste er bereits seit mehreren Tagen. Sein Motorrad war in eine Felsspalte gestürzt, er selbst mit knapper Not dem Tod entgangen, als er sich an einem Vorsprung festhielt. Nur - wofür? Die Vorräte lagen irgendwo tief unten im Berg, zusammen mit seinen Hoffnungen. Seine Feinde waren immer noch hinter ihm, obwohl von den einst einundzwanzig Mann nur noch zwölf übrig waren. Die anderen waren wohl Opfer von Kälte und Erschöpfung geworden. Doch die Überlebenden ließen nicht locker. Sie hatten die meisten Reittiere am Fuße des letzten 36
Gebirges geschlachtet und zogen jetzt beladen mit Fleisch durch die Eiswüste. An manchen Abenden waren sie so nah, dass er den Geruch des Gebratenen riechen konnte und darüber beinahe den Verstand verlor. Dann betete er inbrünstig und schlug sich selbst so lange ins Gesicht, bis warmes Blut auf seiner Haut gefror. »Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.« Despair wusste nicht, ob er laut oder leise betete und ob Gott ihn überhaupt noch hörte. Vielleicht war es der Wille des Herrn, der ihn auf den Beinen hielt, vielleicht war er aber auch nur zu stur, um zu sterben. Zumindest hatten die Schmerzen in seinen Zehen und Ohren aufgehört. Dort spürte er nichts mehr, im Gegensatz zu seinen Händen und Fußen, die wie im Höllenfeuer brannten. Er dankte Gott dafür, denn ohne diese Schmerzen wäre er schon längst eingeschlafen. »Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir.« So viele Pläne hatte er bereits erdacht und wieder verworfen. Er hatte den Dämon einfach im Schnee vergraben wollen, aber vielleicht war der Junge in der Lage, die Stimme seines Gottes zu hören und ihn zu finden. Eine andere Idee war ein Angriff gewesen, aber das Risiko, dabei getötet oder verletzt zu werden und den Dämon zu verlieren, war einfach zu hoch. Nur deshalb ließ er zu, dass sie ihn hetzten wie ein Stuck Wild. Despair drehte sich um, aber hinter den wirbelnden Schneeflocken blieben seine Verfolger unsichtbar. Er ging weiter, humpelte mit der letzten Kraft, die noch in ihm steckte, über das unebene Eis. Noch nie war er so allein mit Gott gewesen, so getrennt von allem, was ihn menschlich machte. Keine Nahrung, kein Wasser, kein Schlaf. Nur die Reise und das Gespräch mit Gott. »Dein Stecken und Stab trösten mich.« Er blieb stehen und kniff die Augen zusammen. Vor ihm ragte etwas Großes, Dunkles aus dem Eis. Der Schnee verwusch die Umrisse, ließ sie mit dem Grau der Abenddämmerung verschmelzen. Mit steifgefrorenen Fingern griff Despair nach den beiden Colts an seinen Hüften und zog sie hervor. Selbst durch die Handschuhe hindurch spürte er, wie kalt das Metall war. Hoffentlich funktionieren sie noch, dachte er und ging auf den Schemen zu, nur um Minuten später auf die Knie zu fallen. 37
Es war ein Missionsgebäude, das vor ihm aufragte. Irgendwann vor Kristofluu mussten von hier aus Christen das Wort Gottes verbreitet und Ungläubige bekehrt haben. Aber jetzt war ein Teil des Dachs eingestürzt und Trümmer lagen rund um das Gebäude verteilt. Despair rutschte auf Knien auf die Mission zu, sprachlos in der Erkenntnis, von Gott an diesen Ort geführt worden zu sein. Alle Strapazen und alles Leid fielen von ihm ab. Die Zweifel, die kaum merkbar an ihm genagt hatten, verschwanden und er erhob sich voller Ehrfurcht vor der Macht des Herrn. Ein heiseres Kreischen riss ihn aus seinen Gedanken. Despair zuckte zusammen und warf sich instinktiv zu Boden. Schnee wirbelte hoch, als ein Schatten über ihn hinweg glitt und ein riesiger Vogelschnabel unmittelbar vor seinem Gesicht zuschnappte. Despair drehte sich auf den Rücken. Das weiße Gefieder des Vogels war kaum vom Schnee zu unterscheiden. Er hob die Pistolen und schoss. Ein schrilles Kreischen war die Antwort. Despair sah Blut spritzen, richtete die Waffen darauf und zog den Abzug durch. Vier Mal donnerten Schüsse über die Ebene, dann stürzte der Vogel vom Himmel und blieb neben der Mission liegen. Zwei Mal zuckte das Tier noch, bevor es still lag. »Du bereitest mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.« Despair kroch zu dem Vogel, aus dessen Halsschlagader dampfendes Blut wie aus einem Brunnen gepumpt wurde. Er legte den Kopf darunter, ließ die Wärme über sein Gesicht streichen und trank die salzige Flüssigkeit, als sie in seinen Mund lief. »Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.« Irgendwann fand er die Kraft, ein weiteres Mal aufzustehen. Er zog den toten Vogel ins Innere des Gebäudes und verriegelte die Tür. Dann rückte er die letzte unzerstörte Holzbank vor das Fenster und setzte sich, die Waffen vor sich auf dem Rahmen liegend. »Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang...« Despair schloss zum ersten Mal seit Tagen die Augen. »... und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.« *** Kopfschmerzen. 38
Das war das erste, was Aruula spürte, als sie die Augen aufschlug. Kopfschmerzen und das unbestimmbare Gefühl, etwas verpasst zu haben. Sie lag auf dem Altar, dort, wo sie auch am Morgen erwacht war, aber in ihrer Erinnerung gab es keinen Hinweis darauf, wie sie in den Tempel gekommen war. Sie endete mit einem Gespräch am Tisch, bei dem... Gift. Maddrax' Wort stand plötzlich klar vor ihrem Geist. Aruula setzte sich auf, schwang die Beine vom Altar und taumelte, als Übelkeit wie eine Welle über sie hinweg spülte. Außer ihr war niemand im Tempel. Sogar die Ausrüstung, die sie am Morgen zurückgelassen hatten, war verschwunden. Sie wusste nicht, ob die Dorfbewohner sie als Teil der Festvorbereitungen weggeräumt hatten, oder ob das während ihrer Bewusstlosigkeit geschehen war. ›Was ist hier passiert?‹, fragte sich Aruula. So weit sie es beurteilen konnte, war das Fest vollkommen friedlich und ohne Konflikte verlaufen. Weshalb hatten die Dorfbewohner so reagiert? Sie ging zur Tür, zog am Griff und musste feststellen, dass jemand sie von außen verriegelt hatte. Trotzdem konnte sie Stimmen hinter dem schweren Holz hören, jedoch nicht verstehen, was gesagt wurde. Aruula musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um über die vernagelten Bretter aus einem Fensterspalt zu sehen. Das halbblinde Glas gewährte ihr einen Blick auf einige Dorfbewohner, die Tische auseinander bauten und auf Schlitten verluden. Sie lachten und unterhielten sich dabei, als sei nichts Außergewöhnliches geschehen. Aruula spürte einen plötzlichen Stich, als sie Maddrax und Aiko in einiger Entfernung am Boden liegen sah. Fünf mit Speeren und Schwertern bewaffnete Krieger standen um sie herum und redeten. Ein sechster hatte begonnen, Aiko zu fesseln, der langsam den Kopf hob und sofort mit der flachen Seite eines Schwertes niedergeschlagen wurde. Die Krieger machten den Eindruck, als hätten sie Angst oder zumindest Respekt vor ihm. Vielleicht hat er schon gegen sie gekämpft, vermutete Aruula, wies den Gedanken aber gleich wieder von sich. Aiko hatte ebenfalls von dem Gift getrunken und konnte gerade erst aufgewacht sein. Die Angst der Krieger musste einen anderen Grund haben. Der sechste Krieger wandte sich Maddrax zu und griff nach dessen Handgelenken. Aruula hätte beinahe aufgeschrien, als ihr Gefährte plötzlich aufsprang und den Mann mit einem Tritt zur Seite warf. Ein 39
weiterer Schlag, dann hielt Maddrax dessen Schwert in der Hand und wich zurück. Aruula krallte ihre Finger in die Bretter. »Halt es höher«, flüsterte sie ihm zu. »So ist gut... Pass auf den Krieger neben dir auf... ja, ganz genau...« Maddrax ließ das Schwert langsam hin und her pendeln, sorgte dafür, dass keiner der Krieger Gelegenheit bekam, selbst anzugreifen. Aruula war zu weit entfernt, um seine Mundbewegungen erkennen zu können, aber aus seiner Körperhaltung schloss sie, dass er mit den Männern redete. Die schüttelten immer wieder den Kopf. Vor allem einer schien zu widersprechen, denn er gestikulierte heftig und zog Maddrax' Aufmerksamkeit auf sich. Als Aruula Kiskitto mit einem schweren Brett in der Hand hinter einem Stapel Tische auftauchen sah, wusste sie auch warum. »Maddrax!«, schrie sie so laut es ging. »Hinter dir!« Doch er diskutierte weiter, schien sich jetzt, wo er die Gewalt erst einmal abgewendet ha tte, sogar ein wenig zu entspannen. Die Spitze seines Schwertes sank langsam nach unten. Kiskitto kam näher. Jetzt fasste er das Brett mit beiden Händen und holte aus. »Hinter dir! Dreh dich um!« Aruulas Stimme überschlug sich. Sie hustete und versuchte die Fensterscheibe herauszudrücken, aber der Spalt war viel zu schmal. Nur noch zwei Schritte war Kiskitto von Maddrax entfernt, dann nur noch einen. »Wudan! Hilf ihm doch!« Kiskitto schlug zu. Das Brett traf Maddrax im Rücken und schleuderte ihn in den Schnee. Aruula schrie auf, als er sich aufzurichten versuchte und von den Kriegern zusammengeschlagen wurde. Der Anblick und die eigene Hilflosigkeit trieben ihr die Tränen in die Augen. Mit den Fäusten hämmerte sie gegen die Tür, als könne sie das Holz allein durch die Macht ihres Willens durchdringen. Nach einer Weile gab sie auf und ging schweratmend und mit schmerzenden Händen zurück zum Fenster. Aiko lag bereits auf dem Schlitten, und Maddrax, der gefesselt und bewusstlos zwischen den Kriegern hing, wurde gerade neben ihn geworfen. Aruula glaubte den Hass in den Augen der Männer zu sehen. 40
Während sie für Aiko nur Angst und Respekt empfanden, schienen sie Maddrax zu hassen. ›Warum nur?‹, fragte sie sich. Das war der Moment, in dem sich zwei Krieger aus der Gruppe lösten und auf den Tempel zugingen. Beide trugen ein Schwert in der Hand, einer von ihnen zusätzlich ein paar Stricke. Aruula wusste, was nun passieren würde. Sie kamen, um sie zu holen. Aruula fuhr herum, suchte hektisch nach etwas, das sie als Waffe verwenden konnte. Die Ausrüstung lag draußen, ihr Schwert hatte sie nicht bei sich, und die Bretter, mit denen man die Fenster vernagelt hatte, waren zu kurz. Sie blieb in der Mitte des Raumes stehen und drehte sich langsam, darum bemüht, keine mögliche Waffe und keinen noch so unmöglichen Fluchtweg zu übersehen. Schließlich, als sie die Stimmen der Männer bereits vor der Tür hörte, fiel ihr Blick auf den Altar und das Metallkreuz, das in die Vorderseite eingelassen war. Es hatte fast die Form eines Schwertes. Mit einem Satz erreichte sie es, ging in die Knie und begann daran zu zerren. Das Kreuz bewegte sich nicht, schien fest mit dem Altarstein verbunden zu sein. Aruula riss trotzdem daran, drückte, zog und drehte, bis etwas knirschte und grauer Staub auf ihre Hände rieselte. Sie stutzte und sah auf. Der Deckstein des Altars hatte sich verschoben, ragte jetzt über den Rand hinaus. Aruula ließ das Kreuz los und stand auf. Der Altar sah aus wie ein halb geöffneter Steinsarg. Sein Inneres war so dunkel, dass sie nicht erkennen konnte, wie tief dieser geheime Raum in den Boden ragte. Aber darüber dachte sie nicht weiter nach. Als Aruula in den Altar stieg, hörte sie, wie die Riegel am Eingangstor zurückgeschoben wurden. Sie spürte steinerne Vorsprünge wie Treppenstufen unter ihren Füßen, stieg sie herab und stemmte die Arme gegen den Deckstein. Die Tür wurde geöffnet. »Du musst keine Angst haben«, sagte eine dunkle Stimme. »Du bist nicht wie die anderen.« »Wo ist sie?!« Der Stein bewegte sich langsam und lautlos, als glitte er über Eis. Die letzten Lichtstrahlen verschwanden, dann herrschte Dunkelheit. Aruula 41
verharrte reglos auf den Vorsprüngen. Sie wusste nicht, ob die Männer sie bemerkt hatten. Die Holzdielen knarrten unter ihren Stiefeln. »Das kann doch nicht sein!« Die erste Stimme klang jetzt dumpfer, aber auch aufgeregter. »Die ist weg!« »Fakk, du hast Recht. Aber wie ist das möglich? Die Fenster vernagelt, die Tür verriegelt, und es waren die ganze Zeit Wachen hier.« »Vielleicht kann sie sich unsichtbar machen...« »Was?« Etwas klirrte, und Aruula erkannte, dass sich einer der beiden genau auf den Altar gesetzt hatte und die Scheide seines Schwertes dagegen schlug. »Wäre doch möglich, dass sie unsichtbar ist oder durch Wände gehen kann.« »Erzähl das Kiskitto, und du kannst für den Rest des Jahres mit den alten Frauen Biisonscheiße sammeln.« »Wenn du so klug bist, was willst du ihm denn dann erzählen?« Jetzt war auch der zweite Mann zum Altar gekommen. Ein feiner Lichtstrahl traf Aruulas Gesicht, nicht breiter als ein Grashalm. ›Wudan‹, dachte sie erschrocken, ›der Geheimgang ist nicht verschlossen. Der Stein bewegt sich noch.‹ Der zweite Mann musste sich gegen den Stein gelehnt haben und bewegte ihn, ohne es zu merken - noch... »Ich«, sagte der Erste, »werde ihm die Wahrheit erzählen. Soll Kiskitto sich doch den Kopf darüber zerbrechen.« Der Lichtstrahl wurde breiter Aruula kletterte vorsichtig tiefer, hoffte, dass kein Geräusch ihre Position verriet. Nach einigen Stufen spürte sie Erde unter ihren Sohlen. »Er wird einen Weg finden, uns die Schuld dafür zu geben.« Die Stimmen wurden leiser Schritte knarrten auf den Holzbohlen. »Ach, Fakk, soll er doch. Das bisschen Scheiße schaufeln wird uns nicht umbringen.« Erleichtert hörte Aruula, wie die Tür geschlossen wurde und Stille eintrat. Einem Instinkt folgend wollte sie nach oben klettern, doch dann warf sie einen Blick in die Dunkelheit, die vor ihr lag. Sie wusste, welche Entscheidung Maddrax gefällt hatte. Er hätte einfach »Warum nicht. Schlimmer als in Pootland kann es auch nicht werden« gesagt und wäre in den Gang gestürmt. Manchmal beneidete Aruula ihn ein wenig um diese Leichtigkeit, manchmal sorgte sie sich wegen dieses Leichtsinns. In diesem Fall jedoch 42
empfand sie die Entscheidung als ric htig. Rund um den Tempel suchte man vermutlich nach ihr, also war es zu gefährlich, dorthin zurückzukehren. Ihr blieb nur der Gang. Aruula verdrängte alle Gedanken an Mols, Bluugluus und anderen Kreaturen, die man in unterirdischen Gangsystemen finden konnte, und ging los. *** Alaska, September 2436 Es dauerte zwei Tage, bis Despair wieder den ersten klaren Gedanken fassen konnte. Er hatte geschlafen, getrunken und gegessen, die Trümmer der Holzbänke in den Öfen verheizt und gespürt, wie die Wärme schmerzhaft in seine Finger zurückkehrte. Seine Hände hatte er also über die eisigen Wochen gerettet, seine Zehen und Ohren waren jedoch verloren. Despair wusste, dass er sie amputieren musste, bevor sie seinen Körper vergifteten, aber dazu fehlte ihm die Zeit. An seine Verfolger dachte er auch kaum. Gott würde sie zu ihm schicken, wenn die Zeit gekommen war. Bis dahin musste er sich keine Sorgen machen. Es gab Wichtigeres zu erledigen, und so begann er am dritten Tag mit der Säuberung des Gotteshauses. Zuerst räumte er die Trümmer hinaus, dann verbrannte er die, in denen Nägel steckten. Mit den neu gewonnenen Nageln und einigen Brettern dichtete er die unteren Teile des Daches so gut wie möglich ab, verbarrikadierte die Fenster und wandte sich am fünften Tag dem Altar zu. Es war ein wunderschönes Stück, das fast dreihundert Jahre alt sein musste. Seine Rückseite zeigte die Reise der Israeliten aus Ägypten, auf der rechten Seite war Moses mit den Gesetzestafeln zu sehen. Links entdeckte Despair Abraham, der einen Dolch hob, um seinen Sohn Isaak zu töten. Die Frontseite war mit einem Metallkreuz verziert und zeigte die Kreuzigung auf dem Berg Golgatha. Despair strich mit den Fingern über die verstaubte Oberfläche und wischte etwas Schmutz beiseite. Das Kreuz schien unbeschädigt zu sein und zeigte keinen Rost. Vorsichtig zog er daran, versuchte es aus seinem Fundament zu lösen, um es besser säubern zu können. Er stutzte, als die Steinplatte des Altars zur Seite rutschte, und lächelte. Rev'rend Fury hatte ihm viel über die alte Zeit vor Kristofluu erzählt, hatte von den Priestern gesprochen, die in der Wildnis Kirchen bauten und die Heiden zu bekehren suchten. Auch wenn sie Männer des Herrn waren und den Märtyrertod sicherlich gern in 43
Kauf genommen hätten, so zogen es doch manche vor, einen anderen Weg zu gehen. Geheimgänge waren in solchen Missionen nicht ungewöhnlich. Durch sie hatte der Missionar seine Gemeinde geschickt, wenn die Heiden sich nicht auf die Heilsbotschaft Gottes einließen und auf die Idee kamen, die Mission anzuzünden. Und das war laut Rev'rend Fury nicht gerade selten passiert. Hier schien das Gebäude jedoch die Wirren der Jahrhunderte überstanden zu haben, denn es war keinesfalls jünger als der Altar. Despair stand auf und blickte in den schmalen Gang, der unter den Steinen hindurchführte. Er hatte weder das Verlangen noch die Notwendigkeit, sich näher damit zu beschäftigen. Er war nur froh, endlich den Ort gefunden zu haben, den Gott ihm versprochen hatte. Er zog den Metallbehälter aus seiner Brusttasche und betrachtete ihn ruhig. Trotz der Beulen, die er auf der Reise davongetragen hatte, war er immer noch das beste Gefängnis, das Despair sich vorstellen konnte. Es würde reichen - über die nächsten Jahrhunderte oder Jahrtausende hinweg, bis zu dem Tag, an dem Gott die Apokalypse ausrief und das Universum sein Ende fand. »Aber noch ist es nicht perfekt, nicht wahr, Herr?« Despair humpelte zur Eingangstür und zog sie auf. Er wusste nicht mehr, wann er angefangen hatte, laut mit Gott zu sprechen, aber mittlerweile erschien es ihm völlig natürlich. »Ich muss es...« Despair brach ab. Ein starker Wind blies ihm feinen Schnee entgegen. Im schwindenden grauen Licht der Abenddämmerung waren die Gestalten, die vor ihm standen, nicht mehr als Silhouetten, aber dennoch erkannte er sie. Langsam griff er zur Hüfte und zog seinen Colt. Eine von ihnen trat vor und löste die Stofffetzen, die ihren Kopf wie Bandagen umgaben. Die Augen, die er darunter sah, waren blau und hart, das Gesicht eingefallen und von der langen Re ise gezeichnet. »Sei gegrüßt, Melcemm«, sagte Despair zu dem Jungen mit dem Blick eines alten Mannes. Melcemm schwieg einen Moment, dann wischte er sich mit der Hand über das Gesicht und sah auf. »Meine Mutter ist im Feuer gestorben, mein Vater im Eis. Du hast uns alles genommen, unsere Häuser, unsere Familien, unser Land. Und doch komme ich als Bittsteller zu dir, um das einzige zu erflehen, was uns noch retten kann. Ich bitte dich: Gib uns unseren Gott zurück.« 44
Despair schoss ihm in den Kopf. *** Aruula fluchte leise, als sie mit den Zehen gegen etwas stieß. Es fühlte sich leicht an, nicht wie ein Stein, eher wie ein Stück Holz. Sie ging auf die Knie und begann danach zu tasten. Vielleicht, das hoffte sie zumindest, hatte der Erbauer des Gangs auch einige Fackeln hinterlassen. »Au!« Instinktiv nahm Aruula ihren schmerzenden Zeigefinger in den Mund und leckte das Blut ab. Sie musste an einem scharfkantigen Stein oder etwas Ähnlichem verletzt haben. Beim zweiten Versuch war sie vorsichtiger. Ihre Finger berührten etwas, nahmen es auf. Es fühlte sich seltsam kühl und doch irgendwie warm an. Man konnte es öffnen und... Aruula fluchte leise, als sie mit den Zehen gegen etwas stieß. Einen Moment überle gte sie, ob sie sich näher damit beschäftigen sollte, aber dann dachte sie an Maddrax und Aiko und beschleunigte ihre Schritte. Ihre ausgestreckten Arme verhinderten zwar, dass sie gegen größere Hindernisse stieß, aber trotzdem stolperte sie mehrfach, bis der Gang schließlich heller wurde. Jetzt, wo sie den Boden erkennen konnte, begann Aruula zu laufen. Ungefähr drei Speerwurflängen legte sie zurück, dann sah sie das Licht über sich. Sie stand am Rand einer gemauerten Röhre, die aus der Tiefe bis zur Oberfläche führte. Unter ihr war alles voller Eis, über ihr hatte jemand Metallsprossen in die Wand eingelassen, die bis zum Rand zu führen schienen. ›Das ist ein alter Brunnen‹, erkannte Aruula. Entschlossen griff sie nach der ersten Metallsprosse und stolperte, als die unter ihren Fingern zu Rost zerfiel. Im Gegensatz zum Tempel, der noch gut erhalten war, hatte sich niemand um den längst vergessenen Gang gekümmert. Kälte, Eis und Feuchtigkeit hatten den Rest erledigt. Etwas vorsichtiger berührte Aruula die zweite Sprosse. Für einen Augenblick schien es, als könne sie das Gewicht tragen, doch dann brach sie auch weg. »Shiit.« Aruula sah frustriert zum Brunnenrand, der sie von dort oben zu verhöhnen schien, dann richtete sie den Blick auf die Steine. Sie schiene n nicht sonderlich gut verarbeitet zu sein, denn an vielen Stellen ragten 45
kleine Vorsprünge in den Brunnen hinein. Wenn diese Vorsprünge bis nach oben reichten... Aruula zog die Fellstiefel aus und band sie an ihrem Gürtel fest. Dann tastete sie mit den Ze hen nach dem ersten Vorsprung; ihre Finger fanden einen zweiten und zogen sich daran hoch. Sie konnte kaum sehen, was ihre Finger berührten, wusste nicht, wie breit oder stabil der einzelne Stein war, sondern verließ sich nur auf ihren Tastsinn. Vorsprung um Vorsprung arbeitete sie sich nach oben. Ihre Muskeln verspannten sich und schmerzten. Ein Krampf zog durch ihren linken Fuß, aber dann legte sie endlich die Hände auf die Umrandung und schob vorsichtig den Kopf über die Mauer. In einiger Entfernung lagen die ersten Hütten des Dorfes. Der Tempel befand sich mehrere Speerwürfe hinter ihr. Sie konnte nicht erkennen, ob sich dort noch jemand befand, dafür sah sie aber die Schlittenkolonne, die sich langsam auf das Dorf zu bewegte. Sechs Krieger mit Armbrüsten hatten sich um einen Schlitten versammelt, der von mehreren Frauen geschoben wurde. Aruula konnte sich denken, wer darauf lag, war gleichzeitig jedoch erleichtert, da die Bewachung bedeutete, dass beide noch lebten. Sie duckte sich, als einige Krieger zwischen den sanften Hügeln auftauchten. Die Männer, die in ihren langen Fellmänteln und Kapuzen kaum zu unterscheiden waren, hatten sich verteilt und schienen die Umgebung abzusuchen. Aruula spürte einen kurzen wütenden Stich, als sie ihr Schwert in der Hand eines der Krieger bemerkte. Sie schwenkten zum Dorf, und Aruula nützte die günstige Gelegenheit, um aus dem Brunnen zu springen und hinter einer kleinen Schneeverwehung in Deckung zu gehen. Während sie die Stiefel anzog, dachte sie über die nächsten Schr itte nach. Unbewaffnet war es so gut wie unmöglich, Maddrax und Aiko zu befreien und aus dem Dorf zu flüchten. Wenn sie erst einmal den Eissegler erreicht hatten, waren sie in Sicherheit, aber bis dahin lag noch ein weiter Weg vor ihnen. Der erste Schritt war die Bewaffnung. Alles andere hing davon ab. Aruula dachte an den Mann, der ihr Schwert getragen hatte, und lächelte. Er würde nicht lange Freude daran haben. Sie entdeckte ihr Schwert nur kurze Zeit später. Sein Träger bildete mit den anderen Kriegern eine lange Kette. Vermutlich hofften sie, ihre Beute 46
auf diese Weise in die Enge zu treiben, nicht ahnend, dass sie hinter und nicht vor ihnen war. Es war nicht leicht, sich in der weißen Landschaft zu verbergen, deshalb suchte Aruula immer wieder Deckung hinter Schneeverwehungen und kleinen Hügeln. Sie wusste, dass sie ihren Gegner noch vor dem Dorf erreichen musste, gleichzeitig aber auch nicht die Geduld verlieren durfte. Wenn die anderen sie entdeckten, war alles verloren. ›Genauso wie Kamauler jagen‹, dachte Aruula, um sich von der Verantwortung abzulenken. ›Man muss ein einzelnes Tier isolieren oder die Herde trampelt einen tot.‹ Sie sah den Fellmantel des Kriegers im Schnee auftauchen und bemerkte überrascht, dass er sich langsam von den anderen entfernte, als wolle er nicht entdeckt werden. Immer größer wurde der Abstand zwischen ihm und dem nächsten Krieger, und dann war er plötzlich weg. Aruula hätte sich beinahe die Augen gerieben, so unerwartet war er aus ihrem Sichtfeld verschwunden. Außer ihr schien niemand etwas bemerkt zu haben, denn sie hörte keine Rufe. Misstrauisch schlich sie auf den Ort zu, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte, und fand eine kleine Schneeverwehung, hinter die Fußspuren führten. Hier war der Schnee relativ leicht und trocken, so dass Aruulas Stiefel nicht knirschten, dafür aber tiefer einsanken, als ihr lieb war. Sie hielt die Fäuste geballt, als sie die Verwehung umrundete, war auf einen Angriff ebenso vorbereitet wie auf eine Flucht. Nur auf die offen stehende Tür mitten im Schnee war sie nicht vorbereitet. Aruula wich zurück. Sie erinnerte sich an ihre Kindheit im Reich der Dreizehn Inseln. Damals war sie oft Menschen begegnet, die so genannte Igluus bauten. Wenn dieses Gebilde ein solches Igluu war, warum stand es hier, mitten in der Ebene, und nicht im Dorf? Wollte jemand etwas verheimlichen? Die Antwort darauf erhielt sie, als der Krieger aus seiner Höhle trat und einen Lederbeutel, den Aruula sehr genau kannte, unter dem Fellmantel hervorzog. Er schüttete ihn aus, legte einen zweiten Beutel daneben und begann die Sachen, die er fand, zu sortieren. ›Das ist unser Beutel‹, dachte Aruula mit steigender Empörung. ›Er bestiehlt uns!‹ Der Krieger war vollkommen konzentriert, betrachtete Sonnenbrillen und Verbandszeug ebenso genau wie Angelhaken, Stricke und Feuersteine. So 47
bildeten sich langsam, aber sehr methodisch zwei Stapel, und Aruula gewann den Eindruck, dass er das nicht zum ersten Mal machte. Sie griff mit der Hand in den Schnee und begann eine Kugel zu formen. In Sorbans Horde hatten sie so im Winter oft Kleintiere gejagt. Wenn man die Kugeln lange genug presste, wurden sie fast so hart wie Stein. Vor ihr hatte sich der Krieger bis zu Maddrax' Notizbuch durchgewühlt. Es war klein, in Leder gebunden und bildete die Grundlage des Schreibunterrichts, den er Aruula gab. Sie mochte das Buch und den Geruch nach Leder und Bleistift. So, das stellte sie sich manchmal vor, musste die Zivilisation gerochen haben. Der Krieger blätterte es kurz durch, rieb das Papier zwischen seinen Fingern und riss ein paar Seiten heraus. Aruula konnte sich denken, wozu er es benutzen wollte. Der Gedanke versetzte sie in eine plötzliche Wut. Mit aller Kraft holte sie aus und warf den Eisball. Es war das Pech des Kriegers, dass er die Bewegung erahnte und im gleichen Moment aufsah, denn so traf ihn die steinharte Kugel genau ins Auge. Sein schmerzvoller Aufschrei brach ab, als Aruula ihn erreichte. Mit einem Tritt schleuderte sie ihn in den Schnee und schickte einen Schlag gegen die Schläfe hinterher. Der Krieger stöhnte kurz und sackte in sich zusammen. Aruula ging neben ihm in die Knie, zog den Fellmantel aus und streifte ihn sich über. Dann schleifte sie den Bewusstlosen in die Schneehöhle, die zwar kleiner war, als sie gedacht hatte, dafür aber vollgestopft mit den verschiedensten Dingen. Der Krieger schien mehr zu stehlen, als er gebrauchen konnte. Sie fesselte ihn, nahm ihr Schwert und packte die Sachen zurück in den Beutel, den sie im Schnee vergrub. Nur das Notizbuch steckte sie nach kurzem Zögern in die Tasche des Mantels. Dann schob Aruula die Kapuze über ihren Kopf und machte sich auf den Weg ins Dorf. *** Alaska, September 2436 Du sollst nicht töten. Das Gebot war so klar und so einfach, dass man es nicht fehlinterpretieren konnte - und doch sah Rev'rend Despair sich manchmal gezwungen, nach einer tieferen Bedeutung zu suchen, eine, mit 48
der man eine Pistolenkugel im Kopf eines zwölfjährigen Jungen entschuldigen konnte. Während er in der Missionskapelle darüber nachdachte, sangen die elf Überlebenden draußen ihre Klagelieder. Selbst der Sturm, der in der Nacht aufkam, hielt sie nicht auf. Im Gegenteil hatte Despair den Eindruck, dass ihre Stimmen lauter wurden. Elf Überlebende, zwölf Kugeln - das war all die Munition, über die er noch verfügte. »Aber das wird kein Problem sein, Herr«, sagte er. »Du wirst nicht zulassen, dass ein Fehlschuss meine Mission gefährdet.« Schwerfällig stand er auf und begann an einer eingerissenen Stelle des Dachs den Teer abzukratzen. Er hatte erst wenig gefunden - die Reste bedeckten gerade mal den Boden seines Topfes, aber mit ein wenig Geduld würde genügend aufzutreiben sein. Damit war ein Problem, nämlich die Sicherung der Zelle, gelöst. Elf weitere Probleme stemmten sich draußen gegen den Sturm. Ihr Tod war ebenso unvermeidbar wie unausweichlich, und doch fragte sich der Rev'rend, ob er den Tod so vieler Menschen absichtlich herbeiführen durfte. »Was meinst du, Herr? Habe ich das Recht, die Zeugen zu töten, um der Menschheit die Erinnerung an einen falschen Gott zu nehmen?« Er humpelte zur nächsten Dachlücke und kratzte etwas mehr Teer ab. »Aber«, fuhr er dann fort, »bin ich nicht das Werkzeug, das du nach Belieben führst? Alle meine Taten werden von dir gelenkt. Damit habe nicht ich den Jungen erschossen, sondern du, o Herr. Und die Gebote, die du aufgestellt hast, gelten nicht für dich, nur für uns.« Despair lachte bitter, als ihm ein paar Bibelpassagen einfielen. »Sodom und Gomorrha... hätte es nur einen Gerechten gegeben, aber nein, es war niemand da, so wie in diesem Dorf niemand war, der sich retten lassen wollte. So hast du Sodom und Gomorrha zerschmettert, und du hast dieses Dorf zerschmettert. Und die letzten Heiden werden unter deiner Macht fallen, so wie die Mauern Jerichos.« Der Sturm ließ nach und trug den Klagegesang klar und deutlich an Despairs Ohren. Der richtete sich auf und schrie ihnen entgegen: »Als aber der Herr euer Geschrei hörte, wurde er zornig und sprach: Es soll keiner von diesem bösen Geschlecht das gute Land sehen, das ich ihren Vätern versprochen habe!« 49
»So ist es doch, Herr?«, fragte er dann leiser und mit einem Bedauern, das ihn selbst überraschte. »Keiner von ihnen wird das gute Land jemals wiedersehen.« Die Antwort Gottes kam mit einem Knall. Despair fuhr herum, als hinter ihm Holz und Glas splitterten. Ein Fenster wurde eingedrückt von etwas, das wie ein Rammbock aussah, aber aus einem langen festen Knochen bestand. Er hatte Skelette solch riesiger Tiere auf seiner Reise gesehen, jedoch nicht weiter beachtet. Ein zweiter Knall direkt über ihm. Glassplitter regneten auf seine Haare. Despair wich zurück, ließ den Blechnapf fallen und griff nach seinen Pistolen. Im orangefarbenen düsteren Licht der Öfen konnte er kaum etwas erkennen. Da flog ihm auch schon ein Speer entgegen. Er duckte sich und feuerte im gleichen Moment. Ein Schrei, kläglich und langgezogen, dann ein heftiger Aufprall, der die Holzbohlen vibrieren ließ. Despair tauchte in die Schatten ein, als nach einer kurzen Stille das Stöhnen begann. Der Mann, der mit sichtlich gebrochenen Beinen neben dem Eingang lag, hatte die Hände auf den Unterleib gepresst und wand sich vor Schmerzen. »Das ist Deev.« Die Stimme kam vom zweiten Fenster und lieferte wohl die Antwort auf eine Frage, die jemand draußen gestellt hatte. »Er lebt noch.« Despair hatte den Kopf des Rufers genau im Visier. Er hätte nur den Finger krümmen müssen, aber er hielt inne, als ihm eine Idee kam. Der Mann am Fenster lehnte sich weiter vor. »Deev, kannst du mich hören?« »Ja...« Die Stimme klang gepresst, so wie nur Menschen klangen, die unter unerträglichen Schmerzen litten. »Hilf mir, Rogg, bitte... hilf mir...« »Warte.« Der Kopf verschwand vom Fenster und tauchte nach einem Moment wieder auf. »Despair?« »Ich bin hier.« Während er antwortete, drückte er sich noch tiefer in die Schatten, um seinen Standort nicht zu verraten. »Despair, wir möchten zwei Unbewaffnete in das Haus schicken und unseren Verletzten bergen. Du hast mein Wort darauf, dass sie nicht angreifen werden.« »Ihr wollt eurem Bruder helfen?« »Ja.« 50
»Dann soll es so geschehen.« Er trat aus den Schatten hervor und legte die Pistolen auf den Altar. Deev drehte den Kopf und sah ihn an. Sein Gesicht war kalkweiß und schweißgebadet. »Ich hätte... nie gedacht«, brachte er hervor, »dass ich dir jemals danken würde.« Despair stützte die Hände auf den kalten Stein. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass der erste der beiden Männer durch das Fenster stieg. »Wenn es nur einen Gerechten gibt, sagte der Herr...« Despair lehnte sich vor. »Willst du dieser Gerechte sein? Willst du vom dunklen Weg abweichen und ins Licht kommen?« »Ich weiß nicht, wovon... du redest.« »Dann bete mit mir! Erkenne den wahren Gott an. Wende dich vom Dämon ab.« Der zweite Mann warf einige Stricke durchs Fenster und schwang ein Bein über den Rahmen. »Ich bin nur ein Bauer.« Deevs Stimme wurde schwächer. Das Blut, das seinen Fellmantel tränkte, bedeckte jetzt schon den Boden. »Was verstehe ich schon von Göttern?« »Du bist kein Bauer. Du bist der Mann, der über unser aller Seelen entscheidet. Also, ein letztes Mal: Willst du an den einzig wahren Gott glauben oder willst du in der Hölle vergehen?!« Speichel flog von seinen Lippen. Die beiden Helfer duckten sich unter seinen Worten, während sie Stricke um Deevs Brustkorb banden. »Deev?!«, schrie Despair. »Ich verlange deine Antwort!« Der sterbende Mann hob nur müde den Kopf. »Ich glaube«, flüsterte er so leise, dass man ihn kaum verstehen konnte, »an den einzig wahren Gott, an den Träumer im Wald, in dessen Traum... ich bald eingehen werde...« Er hustete. Despair schoss. Die erste Kugel traf den Helfer, der die Stricke hielt, die zweite den Mann, der bereits zum Fenster ging. Die dritte zerschmetterte den Schädel des Mannes, den Deev Rogg genannt hatte und der so dumm gewesen war, am Fenster zu bleiben. »Denn der Herr«, rief Despair mit zitternder Stimme, »ist zornig über alle Heiden und ergrimmt über alle ihre Scharen. Er wird an ihnen den Bann vollstrecken und sie zur Schlachtung dahingehen!« 51
Ein paar ungezielt geworfene Speere bohrten sich in den Boden. Despair ignorierte sie und kniete neben dem Sterbenden nieder. »Warum konntest du nicht der Gerechte sein?« Deevs Atem wurde unregelmäßig. Seine Lippen bewegten sich, als wolle er etwas sagen, doch dann war da nur noch Stille. Despair schloss ihm die Augen. *** Bei jedem zweiten oder dritten Schritt stolperte Aruula über den Saum des viel zu langen Fellmantels. Bei der Verfolgung hatte sie nicht bemerkt, um wie viel größer und breiter der Krieger war, aber jetzt machte sich das bei jeder Bewegung bemerkbar. Vor allem die Kapuze, die ihr ständig über die Nase rutschte, nervte. Aber Aruula beschwerte sich nicht, denn so gelangte sie zumindest unerkannt ins Dorf. Sie hatte versucht, den Schlitten, auf dem Maddrax und Aiko lagen, im Blick zu behalten, aber das war ihr nicht gelungen. Zu viele Menschen kreuzten ihren Weg und zwangen sie dazu Umwege einzuschlagen, da sie sich bei einer Unterhaltung verraten hätte. Als die Dorfbewohner schließlich dem Hauptplatz vor dem Badehaus entgegen strömten, wich Aruula in eine der schmalen Gassen aus und näherte sich dem Platz von der Rückseite. Sie hörte Kiskittos Worte bereits, bevor sie etwas erkennen konnte. »... alle haben es gesehen! Aber vielleicht ist unsere Wahrnehmung getrübt, deshalb lasst Ogisuu erklären, was wir gesehen haben.« Aruula schob sich zwischen aufgespannten Tierhäuten vorbei und blickte auf den Platz. Das gesamte Dorf schien dort versammelt zu sein, Männer, Frauen und Kinder. Sie bildeten einen Halbkreis um zwei Knochenpfähle, vor denen Kiskitto und Ogisuu standen. Am rechten Pfahl hing Aiko bewußtlos in den Fesseln. Ein dünner Blutfaden verlief von seinem Nacken bis in den Kragen. Maddrax hing am linken Pfahl, ebenfalls bewusstlos. Sein Gesicht war blutig und geschwollen. Aruula biss sich auf die Lippe. Ogisuu zeigte auf Maddrax, bevor er theatralisch die Hände hob. »Meine Augen sahen das gleiche Entsetzen wie die euren, als Gott uns seine Träume zeigte. Kristofluu, der Vernichter der Welt, stürzte uns entgegen, und ihr, meine Freunde, wäret vor Furcht beinahe gestorben. Nicht so dieser Mann, der über Kristofluu schwebte, als könne der Zerstörer ihm 52
nichts anhaben. Und das war kein Traum; ich bin sicher, dass es seine eigenen Erinnerungen waren. Seine Seele hat uns die Vergangenheit gezeigt!« »Aber was bedeutet das?« Die ungeduldige Stimme einer jungen Frau spiegelte Aruulas eigene Frage wider. »Das werde ich gleich berichten. Lasst uns zuerst über das reden, was wir bei dem anderen Mann wahrgenommen haben... nichts. Kein Traumbild, keine Bewegung, noch nicht einmal das leichte Flackern, das man bei Tieren auf dem Altar sieht. In seinem Geist war nichts als Schwärze.« Er machte eine Pause, schien die Aufmerksamkeit, die auf ihm ruhte, sichtlich zu genießen. Aruula dachte daran, dass sie Aikos Gedanken nie hatte lesen können. Er hatte das mit seinen Implantaten erklärt, die vielleicht auch dafür gesorgt hatten, dass seine Träume verborgen blieben. »Dann war die Vermutung, die meine Krieger vor dem Tempel hatten, also richtig?« Kiskitto verschränkte die Arme vor der Brust. »Ja. Es gibt keine andere Erklärung. Maddrax ist ein Dämon im Körper eines Mannes. Er ließ Kristofluu einst über die Welt kommen und wandelt jetzt auf ihr, um unser Leiden zu genießen. Das Wesen, das sich Aiko nennt, ist sein seelenloser Begleiter, ein Leibwächter vielleicht oder auch nur ein Spielzeug.« Ein Raunen ging durch die Menge. Einige Menschen spuckten vor den Pfählen aus, andere hoben drohend Schwerter und Armbrüste. Aruula griff nach ihrem eigenen Schwert und ließ den Blick über den Platz gleiten. Außer den rund zwölf Kriegern schienen die Dorfbewohner unbewaffnet zu sein. Die Krieger standen nicht zusammen und würden bei einem Angriff unkoordiniert reagieren. Auch hatte sie das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Aber selbst wenn sie es bis zu den Pfählen schaffte, wie sollte ihr die Flucht mit zwei Bewußtlosen gelingen? »Was machen wir jetzt mit ihnen?« Die Frage kam von einem älteren Mann. Aruula wü nschte sich die Antwort nicht hören zu müssen. Ogisuu hob die Schultern. »Es gibt ganz klare Anweisungen zum Umgang mit Dämonen, die sich in einem Menschen verbergen. Man öffnet ihre Adern, lasst sie ausbluten, bis der Funke des Lebens fast erloschen ist, dann vergräbt man sie tief im Eis. So bindet man die Dämonenseele an den toten Körper und verhindert, dass er zurückkommt und sich rächt. Seinen Diener werden wir verbrennen, um die beiden durch Wind und Eis 53
voneinander zu trennen. Da er keine Seele hat, müssen wir seine Rache nicht fürchten.« Aruula spürte, wie ihre Knie weich wurden. Hätte sie nicht gewusst, wer Maddrax und Aiko wirklich waren, wäre sie ebenfalls auf die Idee gekommen, dass das Dorf von Dämonen bedroht wurde. Die Worte des Traumdeuters bestätigten nur, was alle glauben mussten. »Dann lasst sie uns zum Heiligen Platz bringen, bevor sie aufwachen«, sagte Kiskitto. »Dort ist ihre Magie nichts wert. Und du, Ogisuu, bereitest das Ritual vor.« Die Krieger gaben Aruula keine Gelegenheit zum Eingreifen. Innerhalb kürzester Zeit hatten sie Maddrax und Aiko von den Pfählen geschnitten und auf einen weiteren Schlitten gebettet. Sie waren vorsichtig genug, ihnen auch dieses Mal Fesseln anzulegen. Dann zogen sie mit ihren Gefangenen aus dem Dorf und ließen die diskutierenden und verstörten Bewohner zurück. Aruula folgte ihnen, und erst als sie das Dorf längst hinter sich gelassen hatten, fiel ihr auf, dass niemand ihren Namen erwähnt hatte oder ihren Traum... *** Der Heilige Platz war ein Friedhof - und doch war es der schönste Ort, den Aruula je gesehen hatte. Sie war dem Schlitten in sicherem Abstand gefolgt, und als sie ans Ende der Ebene gelangte und nach vorne sah, war für einen Moment sogar die Sorge um Maddrax und Aiko verschwunden. Vor langer Zeit war die Ebene vielleicht ein Fluss und die Eiskristalle, die in unmöglichen Formen und verworrenen Mustern in der Luft eingefroren zu sein schienen, ein Wasserfall gewesen. Doch jetzt glitzerten Eiskristalle tausendfach und machten ihn zu einer Ersche inung, die selbst die Götter neiden mussten. Kein Wunder, dass die Dorfbewohner ihre Toten hier bestatteten, denn sonst wäre der Eisfall schnell die Heimat eines Gottes oder Dämons geworden, und jeder wusste, dass Menschen in der Nähe dieser Wesen niemals Frieden fanden. Die Toten, die in dunkle Felle gehüllt auf den Vorsprüngen ruhten, brachten dem Dorf jedoch Frieden, denn die Macht der Ahnen ließ keine Magie zu und schreckte selbst die mächtigsten Götter ab. Nur an solch Heiligen Plätzen war man vor ihnen wirklich sicher. 54
›Deshalb bringen sie Maddrax an diesen Platz‹, dachte Aruula, während sie im Schnee lag und die Krieger beobachtete. ›Sie wissen, dass ein Dämon hier keine Macht über sie hat.‹ Aiko schien langsam zu sich zu kommen, denn er schüttelte benommen den Kopf, als zwei Männer ihn auf eine Trage legten, die mit einem Strick und einem Flaschenzug verbunden war. Zwei weitere Krieger schwenkten den Flaschenzug über den Abgrund und ließen die Trage langsam hinab bis zum Boden. Ein kurzer Ruck und Aiko landete auf dem Eis. Dann zogen die Krieger die Trage wieder nach oben und wiederholten den Vorgang mit Maddrax, der immer noch reglos in seinen Fesseln hing. Aruula machte sich Sorgen um ihn. Nachdem sie die Trage ein zweites Mal hochgezogen hatten, ließen sich die vier Krieger auf dem Schlitten nieder und zogen ein Würfelspiel hervor. Es sah nicht so aus, als wolle einer von ihnen zum Dorf zurückkehren. Aruula fluchte stumm. Vier zu eins - das war ein Verhältnis, das ihr nur wenig Chancen bot, aber sie konnte nicht darauf warten, dass es besser wurde. Ogisuu bereitete sich schon auf das Ritual vor, und sie nahm an, dass es noch in dieser Nacht vollzogen werden sollte. Nervös spielte Aruula mit dem Knauf ihres Schwertes. Sie erinnerte sich an einen Abend, noch damals in Euree, als sie und Maddrax unter einem sternenklaren Himmel gelegen und über die Unterschiede zwischen Männern und Frauen gesprochen hatten. Maddrax hatte erzählt, dass zu seiner Zeit Frauen häufiger Konflikten aus dem Weg gehen konnten, weil sie über etwas verfügten, dass er als eine »O nein, Officer, war die Ampel wirklich rot?«-Haltung bezeichnet hatte. Aruula wusste zwar bis heute nicht, was ein Officer oder was eine Ampel war, aber sie hatte daraus gelernt, dass man Probleme abwenden konnte, wenn man sich hilflos und dumm stellte. ›Warum nicht?‹, dachte sie schulterzuckend und verbarg ihr Schwert unter dem Fellmantel. Dann wartete sie einen günstigen Moment ab, in dem keiner der Krieger in ihre Richtung sah, stand auf und lief auf sie zu. »Wudan sei Dank!«, rief sie. »Ihr habt mich von dem Dämon befreit.« Die Männer sahen sich einen Augenblick lang an, dann sprangen sie gleichzeitig auf und griffen ohne Vorwarnung an. *** 55
Alaska, September 2436 Obwohl Rev'rend Despair kein Wort lesen konnte und noch nie etwas anderes als das Kreuz geschrieben hatte, kannte er die Bibel von der Genesis bis zur Apokalypse. Dafür hatte Rev'rend Fury mit dem Stock und an manchen, besonders unkonzentrierten Tagen soga r mit der Peitsche gedroht. Despair war sicher, dass er eher seinen eigenen Namen als einen Bibelvers vergessen hätte. Einen Vers liebte er besonders: Von heute an will ich Furcht und Schrecken vor dir auf alle Völker unter dem ganzen Himmel legen, damit, wenn sie von dir hören, ihnen bange und weh werden soll vor deinem Kommen. »So soll es sein«, sagte Despair zu den Toten, die er vor dem Altar aufgebettet hatte. In der Panik, die nach seinen Schüssen geherrscht hatte, war es ihm sogar gelungen, die Leiche des Mannes am Fenster in die Kapelle zu ziehen. Sieben Heiden befanden sich also noch draußen vor der Tür. Er wusste nicht, was sie planten, aber ihre Möglichkeiten waren begrenzt. Sie konnten versuchen, die Mission niederzureißen, doch dazu fehlten die Werkzeuge. Mit Feuer hatten sie ihm zwar gedroht, aber er bezweifelte, dass sie ihren Gott auf diese Weise gefährden würden. Sie konnten höchstens versuchen, ihn auszuhungern, aber die Reste des Riesenvogels reichten noch eine Weile, wenn er die Temperatur möglichst tief hielt, und er bezweifelte, dass ihre Vorräte ausreichend waren. Wasser konnte er aus dem Schnee gewinnen, der in den Nischen des Dachs lag. »Despair!« Die Stimme kam von draußen. Es war die erste Reaktion, die er nach seinem Angriff vor einigen Stunden erhielt. »Ja!« »Wir haben nachgedacht.« »Ihr solltet besser beten. Vier eurer Freunde haben bereits ihre Seelen verloren.« »Du kannst nicht raus«, fuhr die Stimme fort, als hätte er nichts gesagt, »und wir können nicht rein. Aber wir können jagen, während du irgendwann verhungern wirst. Und dann kommen wir ja doch rein, und all das, was du getan hast, wird umsonst gewesen sein.« »Und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar«, zitierte Despair. »Aber welchen Sinn soll das haben?!« »Es ist nicht an mir, diese Frage zu stellen.« 56
Doch natürlich hatte er sich damit beschäftigt. Diese Heiden waren nicht dumm genug, um einer nach dem anderen vor die Mündung seiner Colts zu laufen. Es musste ihm gelingen, sie alle zu töten, sonst war sein Geheimnis nicht sicher. Nur wie ihm das gelingen sollte, war ihm noch unklar. »Aber vielleicht ist es an mir, sie zu beantworten. Ich habe dich gesehen, Despair. Du bist ein alter Mann am Ende seiner Kräfte. Der Winter naht und du wirst hier sterben, weil es keinen anderen Ort mehr gibt, an den du gehen kannst. Aber uns wirst du nicht mit in den Tod reißen.« Despair hörte auf, den Teer aus der Wand zu kratzen, und sah auf. Etwas schien sich vor der Mission abzuspielen. Er hörte leise, aber heftig geführte Unterhaltungen, dann sprach die erste Stimme wieder. »Wir ziehen ab. Wenn wir im Frühjahr wiederkommen, wird unser Gott noch da sein, und er wird zusehen, wie wir auf deinen Leichnam spucken.« Despair fuhr herum. Mit allem hätte er gerechnet, aber nicht damit. Der Fanatismus dieser Heiden war groß genug gewesen, um ihn monatelang durch die Arktis zu hetzen. Warum versagte er jetzt, bei dieser letzten wichtigen Konfrontation? ›Weil ich Melcemm getötet habe‹, gab er sich selbst die Antwort. ›Er war ihr Priester, ihr spiritueller Herr. Mit seinem Tod fehlt ihnen die Richtung. Jetzt wollen sie nur noch nach Hause.‹ Doch das gedachte er zu verhindern. *** Aruula bremste so heftig ab, dass sie auf dem Eis den Halt verlor und ausrutschte. Sie drehte sich, verwandelte den Sturz in eine Rolle und kam mit gezogenem Schwert auf die Beine - gerade rechtzeitig, um die Klinge des ersten Gegners abzuwehren. Er setzte sofort zum nächsten Schlag an, krümmte sich dann jedoch plötzlich zusammen, als Aruulas Stiefel zwischen seinen Beinen landete. Sie stieß ihn zurück, auf einen zweiten Gegner zu, der nicht ausweichen konnte und fiel. Das gab Aruula die Gelegenheit, den Fellmantel abzustreifen und ihn dem dritten Mann entgegen zu werfen. Der stach instinktiv mit dem Schwert danach. Für einen Moment war er abgelenkt, versuchte die Klinge aus dem schweren Fell zu ziehen. Aruula erreichte ihn mit einem Sprung und seinen Magen mit einem Tritt. Stöhnend und würgend ging er zu Boden. Den Schwertknauf, der in seinen 57
Nacken schlug und ihn in die Bewusstlosigkeit schickte, sah er nicht einmal. Aruula vollendete die Drehung, hörte das Pfeifen der Luft, als eine Schwertklinge bewegt wurde, und ließ sich fallen. Die Klinge zischte über sie hinweg, während sie sich selbst zur Seite drehte, um Abstand zu ihren Gegnern zu gewinnen. Zwei standen noch. Der dritte krümmte sich immer noch am Boden, der vierte war reglos. Sie gab den beiden keine Chance zur Absprache. Wie eine Furie stürzte sie sich ihnen entgegen, wirbelte das Schwert herum, versuchte mit jedem Stich, die Deckung der Krieger zu unterlaufen. Der schwere Atem der Kämpfenden und das Metall, das klirrend aneinander schlug, waren die einzigen Geräusche. Schlagen, Parieren, das waren die Grundformen, die sie alle drei beherrschten und in den verschiedenen Kombinationen, die der Kampf erforderte, einsetzen konnten. Aber das kostete Kraft. Jeder heftig geführte Schlag, den man ebenso heftig abwehren musste, spannte die Muskeln bis zum Äußersten an, prellte die Finger und ließ die Schultergelenke knirschen. Aruula wusste, dass sie besser als die Krieger war, aber sie wusste auch, dass diese über die größere Kraft verfügten. Wenn sie ihr den Kampf diktierten, würde sie verlieren. Also parierte sie den nächsten Schlag nicht, sondern duckte sich einfach nur darunter hinweg. Ihr Gegner, der nicht damit gerechnet hatte, wurde von der eigenen Wucht nach vorn gerissen. Der zweite Gegner sprang zurück, um nicht von der Klinge getroffen zu werden. Aruula schlug nach dem ersten, trieb ihre Klinge tief in seinen Oberschenkel. Sie hörte ihn schreien und fallen, drehte sich jedoch bereits. Das Schwert des vierten Manns schoss ihr entgegen, zu schnell, um ihm durch eine Bewegung zu entgehen. Mit der Breitseite ihres eigenen Schwertes schlug sie danach, brachte es vom Ziel weg und stöhnte auf, als etwas heiß über ihre Rippen strich. Ihr Gegner wurde mitgerissen, bot ihr für einen Lidschlag seine ungeschützte Seite dar. Aruula musste nicht mehr tun, als das eigene Schwert hochzuziehen. Der Krieger fiel nach vorne. Seine Schreie wurden zu einem Gurgeln, als der Schnee sich rot zu färben begann. Aruula wandte sich ab.
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Die beiden Krieger, die noch bei Bewußtsein waren, stützten sich gegenseitig. Die Oberschenkelwunde des einen blutete stark, und wenn er die Nacht überleben wollte, musste er dringend versorgt werden. ›Ein Toter reicht an diesem Tag‹, dachte Aruula und nickte ihnen zu. »Verschwindet.« Die Krieger antworteten nicht, sondern hinkten aufeinander gestützt langsam davon. Aruula wartete, bis sie hinter einem Hügel verschwunden waren, bevor sie nach ihrer eigenen Verletzung sah. Es war nur ein roter Striemen, der sich über ihre Rippen zog und schon fast nicht mehr blutete. Erleichtert dankte sie Wudan und widmete ihm ihren Sieg. »Aruula?« Aikos Stimme klang besorgt. »Alles in Ordnung da oben?« Ihre Knie zitterten etwas, als sie an den Rand des Abgrunds trat. Jetzt, wo das Adrenalin nachließ, spürte sie die Anstrengung des Kampfes. Aiko stand inmitten des gefrorenen Wasserfalls und hatte den Kopf in den Nacken gelegt. Neben ihm hockte Maddrax auf einem Vorsprung. Er sah aus, als hätte er Schmerzen. »Hier ist alles okee«, rief sie zurück. »Und wie geht es euch?« Maddrax stand leicht schwankend auf. »Uns gehts gut. Noch besser ginge es allerdings, wenn wir etwas mehr Distanz zwischen uns und die verwesenden Leichen bringen könnten.« Aruula schob die Trage zum Rand, nahm das Seil und ließ sie hinab. »Ich glaube nicht, dass ich euch hochziehen kann, aber wenn ich das Seil hier oben verknote, müsstet ihr klettern können.« Unten nahm Aiko die Trage entgegen und löste das Seil. Aruula verknotete ihr Ende an den Rollen des Flaschenzugs. Nach einem kurzen Belastungstest ging sie zurück zum Rand. »Seid ihr so weit?« »Ja«, sagte Maddrax. »Nein«, sagte Aiko. »Das ist doch völlig unvernünftig«, fuhr er fort, bevor Aruula nachhaken konnte. »Ich habe genug Kraft, um uns beide hochzuziehen.« Maddrax schüttelte den Kopf. »Das Seil könnte reißen. Außerdem habe ich doch gesagt, dass es mir gut geht. Es gibt also keinen Grund für ein solches Risiko.« Er trat ans Seil, legte die Hände darum und begann zu klettern. Aruula sah die Anstrengung auf seinem Gesicht und die Sorge auf Aikos. Zwei Mal rutschte er beinahe ab, bevor er sich über die Kante schob und schwer atmend liegen blieb. 59
Aruula ging neben ihm in die Knie. »Was ist los, Maddrax?« Er musste mehrmals durchatmen, bevor er antworten konnte. »Nichts, nur ein paar Kopfschmerzen. Das legt sich wieder.« »Dein Freund«, warf Aiko ein, der im gleichen Moment die Kante erreichte, »hat eine Gehirnerschütterung, Prellungen und sonstige Probleme, die er gerne ignorieren würde. Deshalb setzt er auch lieber sein Leben aufs Spiel, als sich von mir herauf tragen zu' lassen.« Er half Maddrax auf die Beine und sah ihn kopfschüttelnd an. »Matt, deine Sturheit bringt dich noch mal um.« Der hob nur die Schultern. »Ich bin oben, oder?« »Aiko hat Recht«, mischte sich jetzt auch Aruula ein. »Wenn du verletzt bist, darfst du dich nicht überanstrengen.« Sie deutete auf den Schlitten, mit dem die Krieger gekommen waren. »Also steuerst du den Schlitten und wir schieben ihn.« Maddrax fügte sich ohne Widerworte in sein Schicksal, und Aruula hatte den Eindruck, dass er insgeheim sogar froh war, keine körperliche Leistung bringen zu müssen. ›Es geht ihm wirklich nicht gut‹, dachte sie, als sie die Holzgriffe in die Hand nahm, mit denen man den Schlitten anschob. »Und wann erzählst du uns, was hier eigentlich los ist?«, fragte Aiko neben ihr. Maddrax gab die Ant wort, bevor sie etwas sagen konnte. »Das heben wir uns besser auf, bis wir die Typen mit den Armbrüsten da abgeschüttelt haben.« Aruula drehte sich um und entdeckte eine Gruppe von acht Kriegern, die mit Schwertern und Armbrüsten die Hügel überquerten. Neben ihr stemmte sich Aiko gegen den Schlitten. *** Alaska, September 2436 Despair blickte zwischen den Brettern hindurch auf den Platz vor der Mission. Draußen schnürten die Heiden ihre wenigen Habseligkeiten zu Bündeln zusammen. Ab und zu sah einer in Richtung der Kapelle, und Despair glaubte die Frustration und die Erschöpfung in den Gesichtern zu erkennen. ›Sie meinen es ernst‹, dachte er. ›Sie werden mich hier zurücklassen.‹ 60
Er verließ seinen Beobachtungsposten und ging langsam auf und ab, wohl wissend, dass er sie nicht entkommen lassen durfte, denn der neue Anführer der Heiden hatte Recht: Er hatte nicht mehr die Kraft, nach einem neuen Versteck zu suchen. Sein Leben würde hier in der Mission enden. Aber auch die Heiden mussten mit ihren Kräften am Ende sein, sonst hätten sie nicht so plötzlich aufgegeben. Oder war es vielleicht nur ein Bluff, mit dem sie ihn dazu bringen wollten, die Sicherheit der Kapelle zu verlassen? »Wenn ja«, sagte er leise, »dann werden sie genau das bekommen, Herr.« Ruhig begann er die Bretter von der Tür zu entfernen und die Barrikaden abzubauen. Er war sich nicht sicher, ob man draußen begriff, was er tat, aber das war ihm jetzt egal. Gott hatte die Entscheidung für ihn getroffen, er musste sie nur noch ausführen. Schwerfällig fiel er auf die Knie. »Ich gebe mich hin, o Gott, ganz in deine Hand. Ich bin dein Werkzeug und dein Vollstrecker.« Despair kam wieder hoch und öffnete den langen Ledermantel. Die Pistolen mit den letzten acht Schuss Munition fühlten sich leicht und geschmeidig in seinen Händen an. Ruhig blieb er vor der geschlossenen Tür stehen und atmete durch. »Du sollst den Herrn deinen Gott fürchten«, flüsterte er, »und ihm dienen und bei seinem Namen schwören. Und du sollst nicht anderen Göttern nachfolgen, den Göttern der Völker, die um euch her sind, denn der Herr, dein Gott, ist ein eifernder Gott in deiner Mitte.« Sein Fuß traf das Schloss und sprengte die Eingangstür auf. Schnee wirbelte ihm entgegen, überraschte Rufe folgten. »Amen!«, schrie Despair, trat über die Schwelle und atmete ein. Es war, als beobachte er sich selbst aus großer Ferne. Er hatte nicht bemerkt, wie dünn er in den letzten Monaten geworden war. Seine Kleidung schlackerte um einen ausgezehrten Körper, und sein Gesicht war knochig wie ein Totenschädel. Trotzdem bewegte er sich schnell wie ein Falke und elegant wie eine Raubkatze. Die Pistolen in seinen Händen stießen Blitz und Donner aus. So wie die Hände Gottes. Sein erster Gegner fiel, als Despairs Stiefel noch auf der Schwelle knarrte. Der Kopf des zweiten verschwand in einer Blutfontäne, als Schneeflocken Despairs Mantel berührten. Der dritte hatte noch Zeit, seinen Speer zu heben, dann trieb ihn der Aufschlag der Kugel auch schon in den Schnee. 61
Erst jetzt drehte Despair sich zu den anderen Männern um. Seine Blicke brauchten nur Sekundenbruchteile, um ihre Gefährlichkeit zu unterscheiden. Der erste war gebückt, ließ jetzt erst das Fellbündel fallen, das er in Händen gehalten hatte, der zweite holte gerade mit seinem Speer aus und der dritte nahm Anlauf, um sich mit einem Sprung in Sicherheit zu bringen. Ohne zu zögern erschoss Despair zuerst den Speerträger, dann den Springenden und zuletzt den Hilflosen. Erst jetzt atmete er aus. Der Donner der Schüsse hallte auf der Ebene nach. Der Geruch nach Schießpulver lag bitter auf seiner Zunge und hüllte ihn in eine graue Aura. »Möge Gott euren ungläubigen Seelen Gnade erweisen«, sagte Despair und ging langsam an den Männern vorbei, als müsse er ihnen eine letzte Ehre erweisen. Sechs von ihnen waren in nur wenigen Lidschlägen für einen Dämon gestorben, den sie Gott nannten, aber er konnte und wollte sie nicht dafür hassen. Sie hatten geglaubt, das Richtige zu tun, und mit diesem Gedanken würde er für diese sechs Männer beten. Er stutzte und fuhr herum. Sechs? In der Kapelle lagen vier, hier draußen sechs, aber bei der Ankunft hatte er elf Verfolger gezählt. Hatte der Letzte sich irgendwo verborgen, oder war er schon längst geflohen. »Ich bin hier«, sagte eine dunkle Stimme. Despair riss den Kopf nach hinten, sah die schneeumhüllte Gestalt auf dem Dachfirst stehen, die Hand erhoben, um den Speer zu schleudern. Er schoss. Daneben... *** Aruula rannte und sprang auf die Kufen, die hinten aus dem Lastschlitten hervorragten. Neben ihr lief Aiko noch einen Moment weiter, dann sprang auch er. Über die Holzlehne des Schlittens hinweg sah sie, wie Maddrax seine Beine gegen die Kufenspitzen stemmte, um damit zu lenken. Das Gefährt schien viel zu leicht zu sein, denn es hüpfte und bockte wie ein ungezähmter Frekkeuscher. Aruula musste sich mit aller Kraft festhalten, um nicht in den Schnee geschleudert zu werden. Sie drehte den Kopf und sah ihre Verfolger in einiger Entfernung auf ähnlichen Schlitten auftauchen. Der Schwung trieb sie über das leicht abschüssige Eisfeld, brachte sie näher heran. Sie zählte fünfzehn, vielleicht 62
auch sechzehn Männer, die mit Armbrüsten und Schwertern bewaffnet waren. Obwohl die Distanz ausreichte, probierte keiner der Schützen sein Glück. »Sie schießen nicht!«, rief Aruula in den Fahrtwind. »Noch nicht.« Aikos Stimme klang angespannt. »Ihre Munition ist vielleicht begrenzt und sie wollen sie nicht mit Distanzschüssen verschwenden.« Vor ihr drehte Maddrax sich um. »Aruula, du warst auf dem Hinweg als Einzige bei Bewusstsein. Wie kommen wir zurück zur Kapelle?« Sie sah auf und suchte das Gelände mit Blicken ab. Nach einem Moment nickte sie in Richtung einiger Rauchschwaden, die hinter den Hügeln aufstiegen. »Dort vorne, links von dir ist das Dorf. Wir müssen daran vorbei und dann weiter geradeaus. Du müsstest die Tempelspitze gleich sehen.« »Okay.« Der Plan war ihre einzige Chance: Zurück zur Kapelle, den Eissegler nehmen und fliehen. Aruula hoffte nur, dass die meisten Dorfbewohner weniger gierig als der diebische Krieger waren, sonst stand die nächste Etappe ihrer Reise unter einem schlechten Stern. Ohne Ausrüstung und Nahrungsmittel waren sie im Eis verloren. Sie schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte sich auf das Problem, das vor ihnen lag. Der Schlitten war an der Steigung langsamer geworden, und Aruula brauchte all ihre Kraft, um ihn weiter zu bewegen. Selbst Aiko keuchte unter der Anstrengung, aber dann hatten sie die Steigung überwunden und nahmen wieder Fahrt auf. Diese Steigungen, das fand Aruula bald heraus, waren das Einzige, das ihre Entfernung zu den Verfolgern sicherte. Auf abschüssigem Gelände waren die vollbeladenen Lastschlitten wesentlich schneller, aber bergauf verloren sie den Schwung rasch, und es kostete Zeit, die vielen Menschen auf- und absitzen zu lassen. Der Schlitten flog jetzt förmlich über das Eis, schlug aber immer wieder so heftig auf, dass Aruulas Füße den Halt auf den Kufen verloren. Sie sah besorgt zu Maddrax, der, wie sie wusste, solche Geschwindigkeiten liebte, jetzt aber nur die Zähne zusammenbiss. »Er steht das schon durch«, sagte Aiko, der ihren Blick bemerkt haben musste. »In ein paar Tagen gehts ihm wieder gut. Wir -« »Shit!« Maddrax' Fluch war so laut, dass er über den Fahrtwind zu hören war. 63
Aruula reckte den Kopf und entdeckte den Tempel, der vor ihnen im Eis auftauchte - nur den Tempel, denn der Eissegler war nirgends zu sehen. »Vielleicht haben sie ihn hinter die Mission gebracht.« Aruula wusste, dass sie verzweifelt klang, aber die Aussicht, zu Fuß durch die weiße Wüste zu irren, ängstigte sie. »Vielleicht...« Aiko legte Matt die Hand auf die Schulter, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. »Wenn nicht, müssen wir uns irgendwo ein Versteck suchen. Ohne die Ausrüstung im Segler kommen wir nicht weit.« »Ich weiß.« Aruula dachte an die Tür im Schnee, hinter der vermutlich immer noch der gefesselte Krieger lag. Sie war sich sicher, dass sie das Versteck und die Waffen, die dort lagen, wiederfinden würde. »Es gibt ein Versteck«, rief sie, »und ich glaube, dass....« Aruula unterbrach sich. Sie waren nah genug an den Tempel herangekommen, um zu sehen, dass der Eissegler tatsächlich verschwunden war. Aber das war es nicht, was Aruula irritierte, sondern die seltsamen Schneeverwehungen, die ihr vorher entgangen waren und die beinahe wie Gräber wirkten - Gräber, die ihre Toten plötzlich entließen, denn im gleichen Moment sprangen Gestalten vor ihnen aus dem Schnee. Krieger aus dem Dorf! Aruula zählte sechs, die sich jetzt auflichteten und ihre Armbrüste anlegten. »Vorsicht!«, schrie Maddrax. Im ersten Moment wusste Aruula nicht warum, doch dann bemerkte sie, wie der Schlitten kippte, als er ihn genau auf die Krieger zu lenkte. Die Kufen wurden unter ihren Füßen weggerissen. Instinktiv ließ sie los und wurde durch die Luft geschleudert. *** Alaska, 2436 ›Ich sterbe‹, dachte Despair. Der Gedanke war keine philosophische Spielerei, sondern eine Erkenntnis, die von der Speerwunde in seinem Bauch geprägt wurde. Er hatte sie so gut es ging verbunden, aber das Rasseln in seiner Lunge wurde immer lauter und das Gefühl für seinen Körper nahm stetig ab. Ein Fehlschuss, ein lächerlich geringes Zucken seiner Hand hatte ihn in diese Situation gebracht. Trotz des Schocks hatte er richtig reagiert, war zurück in die Kirche geflüchtet und hatte die Tür verbarrikadiert, bevor er den Schmerzen nachgab und das Bewusstsein verlor. 64
Das, so schätzte er zumindest, war vor rund einer Stunde gewesen; eine Zeit, die sein Gegner da draußen entweder nicht genutzt hatte oder die er nicht nutzen konnte. Vermutlich fehlte ihm die Kraft, um allein die Barrikaden zu überwinden; vielleicht war es aber auch die Angst vor der letzten Kugel in Despairs Colt. Der Rev'rend erhob sich stöhnend vom Boden und schlurfte zu einem der Öfen. Er wusste nicht, ob der Teer, der nun langsam in seinem Topf erhitzt wurde, reichen würde, um den Altar endgültig abzudichten, aber er hatte keine Zeit, nach mehr zu suchen. »O Herr, lass mich nicht sterben, bevor mein Werk vollendet ist«, sagte er und zuckte zusammen, als seine Stimme schwach und zitternd wie die eines alten Mannes klang. Er hatte keine Angst vor dem Tod, wusste, dass er seinen Platz im Himmel schon hundertfach verdient hatte, aber die Angst, Rev'rend Fury dort im Paradies als Versager gegenübertreten zu müssen, lähmte ihn beinahe. Den Dämon in den Altar zu bannen, war seine letzte Chance, sich der Nachfolge als würdig zu erweisen. »Ich werde nicht versagen, Herr«, sagte er. »Für dich und für ihn werde ich stark sein.« Den Behälter hatte er längst in den Ho hlraum unter dem Altar geworfen und den Stein geschlossen. Nur noch der Teer fehlte, um das Versteck dauerhaft zu verschließen. Wenn er sauber arbeitete, würde niemand darauf kommen, dass der Altar als Zugang in ein Geheimversteck diente. Der falsche Gott würde für alle Ewigkeit dort unten verrotten. Der Teer war schon so heiß, dass er Blasen zu werfen begann. Es dauerte nicht mehr lange, bis er beginnen konnte. Und danach musste sein letzter Gegner sterben, damit das Geheimnis bewahrt blieb. Despair zuckte zusammen, als draußen etwas zu knirschen begann. Seine rechte Hand lag auf der Waffe. Mit der anderen musste er sich an der Wand festhalten, während er nach draußen lauschte. »Hast du wirklich geglaubt, wir würden ihn allein mit dir zurücklassen?«, flüsterte eine Stimme, die sich unmittelbar auf der anderen Seite des Fensters zu befinden schien. »Hältst du uns für so schwach?« Despair hustete und schmeckte Blut auf der Zunge. »Und was hat es auch gebracht? Was kann euer Gott schon mit den Toten anfangen?« »Sie sind längst nicht mehr hier.« Erst jetzt erkannte Despair die flüsternde Stimme. Sie hatte auch vorher zu ihm gesprochen. »Aber ich bin noch hier.« Sie gewann an Kraft, klang jetzt drohend und gewaltig. 65
»Und ich komme rein.« *** Aruula tauchte ein in ein Chaos aus Schnee und Eis. Nase, Augen und Mund waren voll davon, machten sie blind und atemlos. Sie hustete und spuckte, hörte vor und hinter sich laute Männerstimmen. Eine Hand griff nach ihrem Arm, zog sie hoch. Instinktiv wollte sie sich wehren, hob die Hand... »Ich bin's.« Maddrax' Stimme. »Komm!« Sie wischte sich den Schnee aus den Augen und zog ihr Schwert. Der umgeworfene Schlitten lag wie eine Barrikade zwischen ihr und den Kriegern, die abwartend mit angelegten Armbrüsten da standen. Drei von ihnen lagen am Boden. Ihre Gesichter waren schmerzverzerrt. Sie waren wohl mit den Schlitten kollidiert. Auf dem Hügel tauchte jetzt der zweite Teil der Streitmacht auf, und Aruula vermutete, dass Kiskitto bei ihnen war. Das erklärte zumindest die Unentschlossenheit der Männer hier vor dem Tempel. Sie wussten nicht, ob sie die blasphemischen Fremden auch ohne Opferritus töten sollten. Gemeinsam mit Maddrax ging Aruula hinter dem Schlitten in die Hocke. Aiko war bereits dort und hielt die Konstruktion mit beiden Armen fest. Aruula zog ihr Schwert. »Kannst du den Schlitten tragen?«, fragte Maddrax. Aiko nickte. »Natürlich.« »Okay, dann benutzen wir ihn als Schild. Es sind nur noch drei Krieger übrig. Aruula, du greifst sie an, sobald sie ihre Armbrüste abgefeuert und hilflos sind. Ich nehme ihre Waffen und die Munition!« Sie hatte selten eine solche Härte in seiner Stimme gehört. Er fragte nicht mehr nach den Gründen ihrer Verfolgung, machte sich keine Gedanken um die Menschen auf der anderen Seite des Schlittens, sondern konzentrierte sich nur noch auf das Überleben. ›Er handelt wie ein Krieger‹, dachte Aruula mit einem gewissen Stolz, dann sprang Aiko auch schon auf. Sein Schrei stachelte sie an und als drei Armbrustbolzen nacheinander dumpf ins Holz schlugen, benötigte Aruula Maddrax' gebrülltes »Jetzt!« nicht mehr. Sie verließ die Deckung des Schlittens und schlug dem ersten Krieger das Schwert in die Seite. Seine beiden Begleiter wichen aus, waren bemüht, mit zitternden Fingern neue Bolzen aus ihren Mänteln zu ziehen. 66
Aus den Augenwinkeln sah Aruula, wie Maddrax eine Armbrust aufnahm und in den Taschen des Toten nach Bolzen suchte. Aiko hatte währenddessen den Schlitten abgestellt und griff den dritten Krieger an. Der warf die Armbrust weg, drehte sich um und rannte auf die Schlitten zu, die nur noch ein paar Steinwürfe entfernt waren. »Hey!«, rief Aiko ihm hinterher. »Ich brauch auch die Bolzen!« Aruulas Krieger traf die gleiche Entscheidung. Ein paar Schritte wich er zurück, dann begann er zu laufen. Hinter ihr lachte Maddrax erleichtert. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass er mit Armbrüsten und Bolzen beladen war. »Um was wetten wir«, rief er, »dass sie den Eissegler ins Dorf gebracht haben. Und da alle Krieger hier sind...« Aruula grinste verwegen. »... sollten wir versuchen, vor ihnen dort anzukommen.« Sie lief zurück zum Schlitten, den Aiko gerade aufstellte. Er nahm Maddrax ein paar Armbrüste ab und warf sie auf die Ladefläche. »Eins musst du mir versprechen«, sagte er zu Aruula, während er sich bereits gegen den Schlitten stemmte. »Wenn -« Zwei dumpfe, klatschende Geräusche unterbrachen ihn. Vor ihr drehte Maddrax, der gerade auf den Schlitten stieg, den Kopf. »Was war das?« Aruula sah sich schulterzuckend um. Zwei der Krieger am Boden hatten sich aufgerichtet. Ihre Armbrüste pendelten hin und her. ›Ich weiß es nicht‹, wollte sie sagen, aber dann fiel ihr Blick auf Aikos Hände, die sich so stark um das Holz geklammert hatten, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Aiko?« Er stöhnte plötzlich; ein tiefer, schmerzerfüllter Laut, der sie herumfahren ließ. Aber erst als er zusammenbrach und Maddrax ihn in den Armen hielt, sah sie die beiden Armbrustbolzen, die aus seinem Rücken ragten. *** Alaska, 2436 Ein Schuss, das war alles, was er noch hatte. Einen Schuss und einen Körper, der zu versagen begann, dessen Bewegungen mit jedem Atemzug langsamer und qualvoller wurden. 67
Despair hörte das Hämmern auf der anderen Seite des Raums. Stück für Stück wurden die Bretter der Tür entfernt, aber es gab nichts, was er hätte machen können, nur warten und hoffen, dass dieser eine Schuss sein Ziel finden würde, wenn die Zeit gekommen war. Zwischendurch musste sich auch der Angreifer ausruhen. Dann sah Despair seinen Scha tten hinter den Barrikaden auftauchen und hörte seine Stimme. »Warum bist du gekommen?« Er hatte die Frage schon oft gestellt, aber erst jetzt, nachdem Despair sich an den Altar gelehnt ausruhen konnte, fand er die Kraft, darauf zu antworten. »Um euch zu retten.« »Und warum lebt dann niemand mehr außer mir?« »Weil ihr den wahren Gott verleugnet und einen Dämon angebetet habt.« Der Heide schwieg und nahm seine Arbeit wieder auf. Bretter wurden herausgerissen und weggeworfen. Despair wusste, dass es nur noch wenig Barrikaden zwischen ihm und seinem Gegner gab. Er nahm die Pistole in die Hand und spannte den Hahn. Erneut wurde es still. »Was ist ein Dämon?«, fragte der Heide. »Eine Kreatur der Hölle, die eure Seele vernichtet und euch auf ewig von Gott trennt.« Es krachte. Die letzten Barrikaden erzitterten. »Aber wir waren vereint mit Gott! Du hast uns von ihm getrennt.« Das Knacken der Bretter klang so, als werfe sich der Mann mit aller Kraft dagegen. Ein Schrei, geboren aus Wut und Frustration, dann fielen die Barrikaden mit einem letzten Krachen zu Boden und gaben den Blick auf eine schwankende Gestalt frei, die sich halb hinter dem Türrahmen verborgen hielt. Schnee wehte hinein und bedeckte die Bretter mit einer weißen Schicht. Die plötzliche Kälte ließ Despairs Hände zittern. »Du hast uns von Gott getrennt und unsere Seelen vernichtet«, sagte der Mann schwer atmend. »Du bist der Dämon, Despair, du bist das Böse.« Er ging zu den Überresten einiger Barrikaden, die er als Deckung benutzte. Despair wagte nicht, die Gelegenheit für einen Schuss zu nutzen, bemerkte aber, dass der Mann hinkte. »Ich habe dich also doch erwischt«, sagte er. »Ja, so wie ich dich erwischen werde, Dämon.« 68
Despair sah den Kopf des Heiden kurz zwischen den Barrikaden auftauchen. Er war ein noch junger Mann mit dunklem Bart und langen Haaren. »Ich bin kein Dämon, und wenn du mir glaubst, wirst du im Angesicht Gottes leben.« »Das habe ich bereits. Ist es wahr, dass du nur noch eine Kugel in deiner Waffe hast?« Die Frage kam so unvermittelt, dass Despair zusammenzuckte. »Woher...«, begann er, biss sich dann jedoch auf die Zunge. Der Mann lachte bitter. »Gott sprach vor langer Zeit davon. Er sagte, eines Tages würden ein Lahmer und ein Sterbender über sein Schicksal entscheiden. Niemand hat die Prophezeiung damals verstanden, doch jetzt weiß ich, was gemeint ist. Du und ich, Dämon, wir werden kämpfen.« Despair spürte die plötzliche Spannung, die in der Luft lag. Er hob die Waffe und fluchte lautlos über seine zitternden, kalten Finger. »Hat die Kreatur auch gesagt, wer siegreich sein wird?«, fragte er. Der Mann stand hinter den Barrikaden auf. »Gott sagte, dass der Lahme den Sieg davontragen wird, und nichts, was du tust, kann daran etwas ändern.« Er breitete die Arme aus und ging langsam auf Despair zu... *** »Rein in die Kapelle.« »Vorsicht. Pass auf ihn auf!« Aruula schloss die Eingangstür und blieb mit angelegter Armbrust daneben stehen, während Maddrax Aiko vorsichtig am Altar absetzte. Draußen hielten die Schlitten auf dem Platz an. Männerstimmen wurden laut, einige Kommandos, Anschuldigungen. Die einzige, die Aruula klar unterscheiden konnte, war die Kiskittos. Er schien wütend zu sein. Sie drehte sich zu Maddrax um, der gerade seinen eigenen Fellmantel auszog, um Aiko damit zuzudecken. Aruula bemerkte, dass der Rücken seiner Uniform blutig war, und erinnerte sich an das Brett, mit dem man ihn niedergeschlagen hatte. ›Deshalb also die Schmerzen‹, dachte sie, doch dann kehrten ihre Gedanken zu Aiko zurück, der bleich am Altar lehnt e. Sein Blick war glasig und er schien nicht zu bemerken, dass Maddrax nach den Armbrustbolzen tastete. 69
»Ihr hättet mich liegen lassen sollen«, sagte er. »Dann hättet ihr mit dem Schlitten noch eine Chance gehabt. So sitzen wir alle hier fest.« Maddrax schüttelte den Kopf. »Wir sind gemeinsam aufgebrochen, wir werden gemeinsam ankommen.« »Oder gemeinsam sterben.« Aiko hustete. Blut und Speichel bildeten feine Bläschen auf seinen Lippen. »Das ist dumm, Matt. Warum sollen drei Menschen sterben, wenn zwei überleben könnten?« »Du wirst nicht sterben!« Aruula schrie ihm die Worte beinahe entgegen und war überrascht, wie wütend sie Aikos Fatalismus machte. »Es gibt einen Ausweg. Es hat immer einen gegeben und wir werden ihn finden. Und jetzt hör auf, vom Tod zu sprechen. Ein solches Gerede zieht Orguudoo an!« Sie sah den Blick, den Aiko und Maddrax sich zuwarfen, war sich aber nicht sicher, was er zu bedeuten hatte. »Du hast Recht,« sagte Aiko schließlich und lächelte schwach. »Niemand wird sterben, also sollten wir uns auf einen Plan konzentrieren.« Maddrax nickte. »Und dazu sollten wir erst mal wissen, warum man uns auf einmal umbringen will.« Aruula hockte sich auf den Boden und legte die Armbrust neben sich. »Weil du«, sagte sie und zeigte auf Maddrax, »ein böser Dämon bist, der Kristofluu über die Welt gebracht hast, und du...«, ihr Finger zeigte jetzt auf Aiko, »... sein seelenloser Diener.« Als sie geendet hatte, zog Maddrax den Wasserschlauch aus seinem Fellmantel hervor und flößte Aiko etwas Flüssigkeit ein. »Auf eine sehr gestörte Weise«, sagte er dann, »macht das sogar Sinn. Aber was ist mit deinem Traum, Aruula?« »Ich weiß es nicht.« Sie hob die Schultern und sah durch einen Spalt nach draußen. Kiskitto und seine Krieger standen zusammen und redeten. Auf einem Schlitten bemerkte sie etwas, das wie ein in Leder gehülltes Skelett aussah. »Aber wir müssen es wissen.« Aiko sprach bemüht, presste die Worte beinahe hervor. Es ging ihm immer schlechter, aber hier im Tempel konnten sie ihm nicht helfen. Wenn sie die Bolzen aus seinen Wunden zogen, würde er verbluten. »Wenn dein Traum, Aruula, etwas Besonderes war«, fuhr er fort, »gibt uns das vielleicht einen Verhandlungsspielraum.« Sie verließ ihren Platz am Fenster und ging neben ihm in die Knie. Sein Gesicht war bleich und schweißnass, aber sein Blick hatte sich geklärt. 70
Vielleicht halfen ihm die künstlichen Teile in seinem Körper bei der Heilung. Sie strich ihm die Haare aus der Stirn. »Aber wird das...?« »Da draußen passiert was!« Maddrax stand jetzt an einem der Fenster. Er trug eine der beiden Armbrüste, die sie ins Innere des Tempels gerettet hatten. »Kiskitto kommt mit diesem Traumdeuter... wie heißt er noch...« »Ogisuu.« Aiko versuchte sich aufzurichten, sank dann jedoch wieder zurück. »... in jedem Fall kommen die beiden auf uns zu.« Aruula stand auf und griff nach ihrem Schwert. Die Armbrust reichte sie Aiko, der dankbar nickte. »Aruula?«, rief Kiskitto von draußen. »Wir möchten dir ein Angebot machen!« *** Alaska, 2436 Despair krümmte den Zeigefinger um den Abzug und schoss. Der Knall war ohrenbetäubend, aber sein Gegner lächelte nur und ging weiter. »Das war die letzte Kugel, Dämon. Jetzt kannst du nur noch versuchen, mich zu Tode zu beten.« Despair warf ihm den nutzlosen Colt entgegen, aber die Waffe verfehlte den Heiden ebenso wie die Kugel. Er konnte nicht begreifen, weshalb er auf eine so kurze Entfernung vorbeigeschossen hatte, aber darüber durfte er jetzt nicht nachdenken. Stöhnend stemmte er sich vom Boden hoch, taumelte hint er den Altar, um ein wenig Distanz zwischen sich und den Heiden zu bringen. Der schien jedoch keine Eile zu kennen, sondern ging betont langsam auf ihn zu. »Der Lahme wird den Sterbenden besiegen«, sagte er. »Daran konnte auch deine Kugel nichts ändern.« Er hatte den Altar erreicht und strich mit der Hand darüber. »Gott ist unter diesem Stein. Ich habe ihn gefunden.« Seine Stimme klang seltsam weich, beinahe freundlich, als er sich an Despair wandte. »Es ist vorbei, alter Mann. Du kannst jetzt sterben.« Der Rev'rend richtete sich auf, ignorierte den Schmerz, der durch seine Eingeweide tobte, und das Blut, das heiß und klebrig über seinen Bauch lief. 71
»Gott allein entscheidet, wer stirbt und wer siegt.« Er wunderte sich selbst über die Schnelligkeit seiner Bewegung. Noch während er die letzten Worte sprach, griff er nach dem Topf voll kochendem Teer auf der Ofenplatte und schleuderte sie dem Heiden entgegen. Die schwarze Flüssigkeit schwappte dabei über seine Hand, aber sein eigener Schmerzensschrei ging im Toben seines Gegners unter. Despair sackte in die Knie, hustete und würgte in dem plötzlichen Gestank. Sein Wurf hatte den Heiden getroffen und dessen Gesicht in eine dampfende schwarze Masse verwandelt. Mund, Nase, Augen, alles war darunter verschwunden. Sein Körper irrte wie wahnsinnig durch die Kapelle, zuckend, dem Erstickungstod ausgeliefert. Despair rutschte hinter ihm her, als der Heide schließlich zusammenbrach, und schrie ihm ins Ohr. »Erkenne ihn an, den einzig wahren Gott! Den Gott der Christen, der Feuer regnen lässt! Dein Gott konnte gegen meinen nicht bestehen, also erkenne ihn an und bete!« Er schrie, bis er neben dem dampfenden Körper zusammenbrach und blieb dort liegen. Erst als der neue Tag erste Lichtschimmer durch die eingetretene Tür schickte, fand er zum letzten Mal die Kraft, sich aufzurichten. ›Ich habe versagt‹, dachte er mit einem Blick auf das im Schrei erstarrte schwarze Gesicht des Heiden. Der Teer, den er für das Gefängnis des Dämons hatte verwenden wollen, war verschwendet, und sein Körper ließ ihm nicht mehr die Zeit, neuen zu kochen. Obwohl er den letzten Zeugen getötet hatte, war das Geheimnis nicht vollständig gesichert. Auf Händen und Knien kroch er zum Altar und zog sich daran hoch. So nah war er seinem Ziel gekommen, dass es ihn innerlich verzehrte, seine letzte Mission nicht abgeschlossen zu haben. »Warum nur?«, flüsterte er, als sein Oberkörper auf den kalten Stein sank und seine Wange den Altar berührte. »Warum nur hast du mich verlassen?« Aber Gott schwieg, und so sank Despair allein hinab in die Stille des Todes. Ein letzter Schauder durchlief ihn, als er Melcemms Gesicht vor sich zu sehen glaubte, dann schloss er die Augen. Und träumte. *** 72
»Rede mit ihm«, sagte Maddrax. »Wir haben nichts zu verlieren.« Aruula neigte zweifelnd den Kopf, antwortete aber trotzdem. »Was willst du?«, rief sie nach draußen. Kiskitto kam näher an den Eingang heran und breitete die Arme aus, als wolle er Aruula umarmen. »Du weißt nicht, wozu du fähig bist, oder? Welche große Gabe du besitzt?« Unwillkürlich dachte Aruula an ihre verlorene Fähigkeit des Lauschens. »Ich weiß nicht, wovon du redest.« Jetzt trat auch Ogisuu neben ihn. »Ich bin ein Nichts gegen dich, Aruula. In meinen Träumen sehe ich nur Ahnungen, aber du siehst in deinen tatsächlich die Zukunft!« »Shit«, sagte Maddrax leise. »Jetzt wissen wir, weshalb sie dich nicht gehen lassen wollen.« Aruula spürte, wie ihre Knie zu zittern begannen. Sie erinnerte sich daran, was der Traumdeuter über solche Menschen und ihre Fähigkeiten zum Gedankenlesen berichtet hatte. Aber hieß das nicht auch, dass sie noch lauschen konnte und diese Kunst nur irgendwo tief in ihrem Geist versteckt war? Sie sah erst auf, als Maddrax sie anstieß. »Ich glaube, sie erwarten eine Antwort.« »Woher soll ich wissen, dass das stimmt? Ich kann mich an meinen Traum nicht erinnern.« »Natürlich kannst du das nicht.« Jetzt übernahm Kiskitto wieder das Wort. »Das Serum betäubt den Geist zu stark. Aber wir alle konnten es sehen. Du hast die Gabe, in die Zukunft zu träumen.« »Dann wollt ihr wohl, dass ich in eurem Dorf bleibe«, sagte Aruula. »Aber dafür verlange ich einen Handel.« Maddrax sah sie an. »Was hast du vor? Du willst doch nicht wirklich hier bleiben?« »Nein, aber wenn ich darauf eingehe, könnt ihr vielleicht abziehen, und sobald es Aiko besser geht, kommt ihr zurück und wir fliehen.« Sein Blick verriet, was er von diesem Plan hielt, aber ihm schien kein besserer einzufallen, denn er antwortete nicht, sondern verschränkte nur die Arme vor der Brust. »Es gibt nur einen Handel, den wir dir bieten können«, sagte Kiskitto. »Einen schnellen und schmerzlosen Tod für den Dämon und seinen Diener.« »Oh...« 73
Aruula sah zuerst Maddrax, dann Aiko an. Der lag auf der Seite, schien nichts von dem zu hören, was um ihn herum geschah. Sie wusste nicht warum, doch in diesem Moment begriff sie plötzlich, dass er sterben würde. Mühsam hielt sie die Tränen zurück, aber das Zittern ihrer Stimme konnte sie nicht unterdrücken. »Und was machen wir jetzt?« Maddrax schüttelte nur langsam den Kopf. »Ich weiß es nicht...« Er ging zurück zu Aiko und hockte sich neben ihn. »Hey, hältst du durch?« »Matt...« Er war kaum noch zu verstehen. »Ihr müsst... ausbrechen... eure letzte Chance...« »Wir bleiben hier.« Maddrax legte die Armbrust auf seine Knie und senkte den Kopf. ›Er will Aiko nicht allein sterben lassen‹, dachte Aruula. Sie machte sich nicht mehr die Mühe, Kiskitto zu antworten, sondern kniete sich an Aikos andere Seite und ergriff seine viel zu kalte Hand. Er sah sie an. Seine Lippen bewegten sich, aber was immer er sagen wollte, er konnte es nicht mehr aussprechen. Und so blieben sie stumm sitzen, bis nach einer ganzen Weile Aikos Atem versiegte. Es war Maddrax, der als Erster sprach. Er wischte mit den Fingern über die Augen und räusperte sich. »Wir sind es ihm schuldig zu überleben.« Aruula hob den Kopf. »Wir schulden ihm noch viel mehr. Jemand muss den Göttern seine Heldentaten preisen, damit sie ihn aus dem Reich der Toten befreien und an ihre Tafel holen. Seine Seele muss in Gebeten gereinigt werden und...« Sie brach ab, als Maddrax ihre Hände ergriff. »All das werden wir tun, aber nicht jetzt. Jetzt müssen wir überleben, okay?« »Okee.« Aruula stand auf und wandte den Blick ab, als Maddrax Aiko mit einem Fellmantel bedeckte. Sie hatte den Tod schon oft erlebt, zuerst auf den Dreizehn Inseln und dann in Sorbans Horde, aber noch nie hatte er sie so erschüttert. Aikos Tod erschien ihr zutiefst falsch, auch wenn sie nicht erklären konnte, warum. »Ich habe nachgedacht«, sagte Maddrax. »Die Dorfbewohner stürmen die Kapelle nicht, weil sie Angst haben, dich zu verletzen. Wenn ich dir ein Schwert an den Hals halte, schaffen wir es vielleicht, uns einen der Schlitten zu holen.« Er hob die Schultern. »Was Besseres fällt mir einfach nicht ein.« Aruula nickte. »Lass es uns probieren.« 74
Sie zog ihren Fellmantel wieder an und reichte Maddrax das Schwert. Er nahm die gespannte Armbrust in die andere Hand und hielt ihr die Klinge dicht an den Hals. »Achte immer darauf, dass du vor mir bist. Diese Armbrustschützen sind nicht schlecht.« Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass er sich noch einmal nach Aiko umdrehte und ihm zunickte, als wolle er sich verabschieden. Sie dachte an den reglosen Körper unter dem Fellmantel und öffnete nur stumm die Tür. Helles Sonnenlicht schlug ihr entgegen und blendete sie für einen Moment. »Nicht schießen!«, hörte sie Kiskitto rufen, dann klärte sich ihr Blick und sie sah, dass die Krieger mit angelegten Armbrüsten einen Halbkreis vor der Tür gebildet hatten. Sie reagierte auf Maddrax' Druck und machte einen weiteren Schritt nach draußen. »Okay!«, rief er. »Ihr wisst, dass ich ein grausamer Dämon bin, also wird es mir kaum schwer fallen, Aruula die Kehle durchzuschneiden. Und das wollt ihr doch nicht, oder?« »Nein!« Kiskitto hob abwehrend die Hände. Aruula bemerkte, dass er neben einem Schlitten stand, auf dem das Skelett eines Mannes in Lederkleidung lag. Sie sah aus wie die Kluft eines Rev'rends. Kiskitto trat vor. »Höre mich an, Dämon. Dies sind die Überreste des ersten Träumers. Sie haben große Macht, aber wir würden sie dir geben, wenn du Aruula frei lässt. In den dunklen Gefilden können solche Dinge dir mehr Nutzen bringen als eine so einfache Seele. « Maddrax ignorierte ihn. »Die Krieger rechts von mir, ihr geht jetzt alle da rüber. Ich will niemanden mehr auf dieser Seite sehen.« Aruula bemerkte, wie die Männer erst Kiskittos Bestätigung abwarteten, bevor sie reagierten und betont langsam die Seiten wechselten. Damit war der Weg zu den Schlitten frei. Maddrax drehte immer wieder den Kopf, versuchte den gesamten Platz im Auge zu behalten, während er hinter Aruula auf den kleinsten der Schlitten zuging. Er war so schmal und kurz, dass eine Person ihn von hinten steuern und anschieben konnte. Ein paar größere Lastschlitten rahmten ihn ein. »Tu das nicht«, warnte Kiskitto. »Weiche von dem Pfad ab, denn er führt ins Verderben.« ›Wovon redet er?‹, dachte Aruula irritiert, aber Maddrax' Stimme lenkte sie ab. 75
»Jetzt wird’s schwierig«, flüsterte er. »Wir müssen an dem Schlitten die Plätze wechseln, damit du hinter mir stehst und sie meinen Rücken nicht als Ziel haben. Das ist der einzig gefährliche Moment.« Sie hatten den Schlitten fast erreicht. Kiskitto und Ogisuu baten, drohten und bettelten abwechselnd, aber Aruulas Blick kehrte immer wieder zu dem Skelett auf dem Schlitten zurück. Abrupt blieb sie stehen. »Sie wissen es.« »Was?« »Mein Traum. Sie haben unsere Zukunft darin gesehen. Deshalb haben sie den ersten Träumer bereits mitgebracht, obwohl sie noch gar nicht wissen konnten, dass wir uns in der Kirche verschanzen würden.« Maddrax schluckte hörbar. »Wenn das stimmt, dann kennen sie den Plan und versuchen ihn irgendwie abzuwenden. Aber jetzt, wo der Handel fehlgeschlagen ist, was -« Die Antwort schoss als Schatten zwischen den Schlitten hoch. Aruula sah sie kaum, hörte nur das Knarren der Armbrüste hinter sich und tat das einzige, was sie noch tun konnte: Sie trat Maddrax die Beine unter dem Körper weg und stieß das Schwert zur Seite. Sie hörte seinen überraschten Aufschrei, fuhr noch in der Bewegung herum. Zwei Fäuste trafen ihre Brust, zwei Schläge, die so mächtig waren, dass sie zusammensackte und in den Schnee stürzte. Sie wollte nach dem Gewicht tasten, das auf ihren Körper drückte, aber ihre Arme bewegten sich nicht. »Wie konnte das passieren?!«, schrie jemand, aber sie hörte es kaum. Vor ihr im Schnee lag das Notizbuch, das sie eingesteckt hatte. Es musste beim Fall aus der Tasche gerutscht sein. Der Wind öffnete es, bewegte die Blätter, zeigte mal ein A, dann ein C und ein R. Sie lächelte, als sie ihre eigene krakelige Schrift neben Maddrax' geschwungener sah. Ihr R war verkehrt herum geschrieben. Weit entfernt und dumpf stieß Maddrax einen Laut aus, wie sie ihn noch nie gehört hatte. Einige Männer schrien, dann lag er plötzlich vor ihr im Schnee. Der Knauf eines reich verzierten Dolches ragte aus seiner Brust, direkt über dem Herzen, aber in seinem Gesicht las sie keinen Schmerz, nur ein unendliches Bedauern. Aruula starrte in seine gebrochenen Augen, bis sich ein dunkler Vorhang über sie senkte. *** 76
»Ich glaube nicht, dass wir das durch die Tür kriegen.« »Lass es uns zumindest probieren. Die Fronthaube sollten wir problemlos abmontieren können.« Der Tod war ein merkwürdiger Ort, wenn man dort so empfangen wurde. Aruula öffnete die Augen. Die Umgebung verschwamm in ihrem Blick, wurde dann zum Tempel, in dem alles begonnen hatte. Maddrax und Aiko saßen auf dem Boden und rechneten etwas in dem Notizb uch aus, das im blutigen Schnee gelegen hatte. »Sind das Liter?«, fragte Aiko und zeigte auf einige Zahlen auf den Blättern. »Nein, Gallonen. Soll ich die umrechnen?« Maddrax biss in eine Frucht und kratzte sich am Kopf. Aiko grinste. »Geht schon. Meine Implantate werden das Problem in den Griff kriegen.« Aruula setzte sich auf. Ihr wurde schwindelig und sie griff nach dem Altarstein. Er fühlte sich rauh und kühl unter ihren Fingern an. »Maddrax?«, sagte sie. Er drehte sich um. »Ja?« Es war beinahe unmöglich aufzustehen und zu ihm zu gehen, doch dann umarmte sie ihn, tastete sein unverletztes Gesicht ab, seine Brust, die von keinem Schwerthieb getroffen worden war und seinen trockenen Rücken. »Was ist los?« Sein Tonfall war halb belustigt, halb besorgt, aber Aruula antwortete nicht, sondern drehte Aiko herum, bis sie seinen unversehrten Rücken sehen konnte. Dann umarmte und küsste sie beide. Maddrax hielt sie an den Armen fest. »Aruula, was zum Teufel ist los?« Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. »Ihr... ihr wart tot... und ich auch. Da waren diese Leute aus dem Dorf... Ich konnte die Zukunft träumen und sie dachten, ihr wäret Dämonen. Wir wollten fliehen, dann haben sie uns umgebracht. Es war...« Sie brach ab und kämpfte mit den Tränen. Maddrax nahm sie in den Arm. »Ein Alptraum, aber er ist vorbei, okay? In ein paar Stunden wirst du nicht mehr daran denken.« Sie schüttelte den Kopf. »Du verstehst nicht, wie echt alles war.« »Manchmal sind Träume so.« Aiko stand auf und ging zusammen mit Maddrax zur Tür. Aruula setzte sich auf den Boden und trank etwas Wasser. Ihr rasender Herzschlag wurde langsamer und schließlich spürte sie sogar ein wenig 77
Hunger. Erfreut stellte sie fest, dass ihre Knie nicht mehr zitterten, als sie sich über den Vorratsbeutel beugte und nach Essbarem suchte. Hinter ihr polterte etwas, dann hörte sie Maddrax fluchen. »Shit, es passt nicht durch.« »Und wenn wir es hochkant versuchen?« Aikos Stimme klang angestrengt. Aruula drehte sich um und sah, wie Aiko und Maddrax versuchten, die Frontseite des Eisseglers durch die Tür zu schieben. Sie stellten sie ab und drehten sie. ›So wie sie es schon einmal getan haben‹, dachte Aruula. Ihr Mund wurde trocken. Maddrax hatte sichtliche Schwierigkeiten, den langen Gegenstand durch die Tür zu bekommen. »Probieren wir's... Vorsicht... etwas mehr nach links... Ah« Er ließ das Seglerteil fallen und schüttelte die Hand. Das Scheppern und Poltern kam Aruula vertraut vor. Das ist alles schon passiert. Aiko steckte den Kopf durch die Tür. »Alles in Ordnung?« Maddrax nickte. »Ja, ich hab mir...« »... nur die Hand in der Tür geklemmt.« Aruula vollendete den Satz, ohne darüber nachzudenken. Aiko und Maddrax starrten sie an. »Du willst die Tür jetzt aushängen«, fuhr sie wie in Trance fort, »aber es wird nicht reichen. Du sagst, dass höchstens fünf Zentimeter fehlen, und trittst frustriert gegen die Wand.« »Das klingt nach etwas, das ich tun würde«, sagte Maddrax verstört. Sie ließ das Stück Biisonfleisch fallen, dass sie aus dem Beutel genommen hatte. »Versteht ihr denn nicht? Das ist alles schon passiert, und zwar in meinem Traum! Und wenn das wahr ist, dann ist auch der Rest wahr. Das heißt, die Krieger werden bald eintreffen. Wir müssen weg!« Aiko strich sich über den Kopf. »Es könnte ein Deja vu sein und du glaubst einfach nur, alles schon einmal erlebt zu haben.« »Ich habe es erlebt. Ich habe die Zukunft geträumt, und wenn wir jetzt nicht von hier fliehen, dann kommen die Krieger, der Traumdeuter mit seinem Skelett und dieser Kiskitto. Dann kann uns niemand mehr helfen und wir alle werden, sterben, noch an diesem Tag!« Aruula wusste, dass sie glaubwürdiger geklungen hätte, wenn sie nicht geschrien hätte, aber die Ereignisse waren noch zu frisch in ihrer Erinnerung und Aikos skeptischer Gesichtsausdruck steigerte ihre Furcht, nicht ernst genommen zu werden. 78
»Okay.« Maddrax sah zuerst sie, dann Aiko an. »Aruula, ich weiß, dass du Fähigkeiten hast, die den unseren überlegen sind. Außerdem wird mir das alles hier entschieden zu sehr Twin Peaks. Also lasst uns verschwinden.« Aruula hätte ihn am liebsten umarmt, begann aber statt dessen damit, ihre Sachen zusammen zu räumen. Aiko sah nicht sehr glücklich aus, fügte sich jedoch der Mehrheit und trug die Seglerabdeckung zurück, um sie wieder anzuschrauben. Als sie die letzten Sachen hinaustrugen, drehte sich Maddrax zu ihr um. »Hatten wir wenigstens einen guten Tod?« Sie dachte an seinen Gesichtsausdruck im Schnee und schüttelte den Kopf. »Wir sollten nicht darüber reden.« Aruula blieb zurück, als Maddrax weiterging. Es war so viel in diesem Traum passiert, dass manche Dinge erst jetzt wieder an die Oberfläche kamen - so wie der Geheimgang unter dem Altar. Wenn er existierte, war das ein Beweis für die Echtheit ihres Traums, den auch Aiko anerkennen musste. Aruula drehte sich um und ging zurück zum Altar. Ihre Finger berührten das Kreuz. »Wo bleibt sie denn?« Matt sah ungeduldig zur Kapellentür. »Erst will sie so schnell wie möglich weg und dann trödelt sie.« Aiko verstaute die letzten Säcke in der Kabine. »Glaubst du wirklich an diesen Traum?« Er hob die Schultern. »Keine Ahnung, aber sie glaubt fest daran. Und was haben wir schon zu verlieren, wenn wir diesen Glauben ernstnehmen?« »Meinst du außer einem Vollbad?« Matt grinste. »Es wird andere Orte mit Öfen geben.« Er stieß sich von der Seglertür ab, als Aruula aus der Kapelle trat und sorgfältig die Tür schloss. »Da bist du ja.« Sie nickte und kletterte ohne ein weiteres Wort in die offene Kuppel. Matt stutzte, als er den roten Film bemerkte, den sie auf der Scheibe hinterließ. »Hast du dich verletzt?«, fragte er. Aruula runzelte die Stirn und hob dann ihren rechten Zeigefinger. Ein dünner Blutfaden lief von der Kuppe in ihre Hand. »Ich hab mich wohl irgendwo geschnitten...«
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Epilog Alaska, 2436 Der Jäger stand auf dem Hü gel nördlich des verfallenen Gebäudes. Er war von seinem Stamm als Vorhut geschickt worden, um nach einem guten Siedlungsplatz zu suchen. Sie hatten bereits viel Holz gesammelt, um Hütten und Schlitten zu bauen, aber dieses Haus versprach noch bessere Beute. Als es begann, wollte er zuerst zurückweichen und seine Götter um Schutz anflehen, doch dann blieb er ruhig auf seinen Speer gestützt stehen und betrachtete die Bilder, die wie aus dem Nichts über dem Haus erschienen. Da war eine Farm, eine kleine Hütte mit einer Scheune und einem Feld, dessen grüne Halme sich im Wind wiegten. Der Himmel war blau und von kleinen weißen Wolken durchzogen. Eine Frau tauchte auf, jung und hübsch. Sie kniete an einem Bach, der neben dem Haus verlief und wusch Wäsche. Nach einer Weile sah sie auf und strich ihr nasses Haar aus der Stirn. Lautlos sagte sie etwas zu einem Mann, der jetzt ins Bild trat. Er hatte ein gütiges Gesicht, und der kleine blonde Junge, der auf seinen Schultern saß, durfte ohne Strafe an seinen Haaren ziehen. Der Mann kitzelte ihn unter den Fußen und der Junge lachte. Er lachte, bis das Bild langsam in der Dunkelheit verging und die sternenklare Nacht über die Mission zurückkehrte. ENDE
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Die gläserne Oase von Ronald M. Hahn
Der frankokanadische Milliardär Claude De Broglie war Zeit seines Lebens ein Technik-Freak; jemand, der neue Entwicklungen förderte und damit sein Geld oftmals nutzlos verpulverte. Die Citysphere 01 gehörte zu seinen erfolgreichen Projekten. In der kanadischen Wildnis erbaut, überstand die Stadt unter der PlexiglasKuppel sogar den Einschlag »Christopher-Floyds« und bot während der nachfolgenden Eiszeit Generationen von Menschen Schutz und Ressourcen. Doch nun droht der Stadt der Untergang. Vulkanische Kräfte reißen die Erde auf; glutflüssige Seen bilden sich und kommen immer näher. Die Evakuierung läuft auf vollen Touren, als drei Fremde die Kuppelstadt erreichen - und einen perfiden Plan aufdecken...
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