KLEINE B I B L I O T H E K DES WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE HEFTE
H. PLETICHA-
Zwergmenschen i...
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KLEINE B I B L I O T H E K DES WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE HEFTE
H. PLETICHA-
Zwergmenschen in Afrika
I N H A L DES
T___
HEFTES
85
Der Zwerg des Pharao - Sage, Märchen oder Wirklichkeit ? - Der Zwerg Adimoku - Erwachsene, klein wie Kinder - Zigeuner des Urwalds - Ärmer'als selbst die Neger Zwerge jagen Elefanten - Ein Tag unter Zwergen - Sterbendes Zwergenvolk
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Manni
Digitally signed by Manni DN: cn=Manni, c=US Date: 2006.05.01 07:07:06 +01'00'
VERLAG SEBASTIAN LUX • MURNAU/MÜNCHEN
D e r Z w e r g des P h a r a o Um das Jahr 2000 vor Christi Geburt . . . Das Reich der Pharaonen in der Nil-Oase strebt einem neuen Gipfelpunkt zu. Die Feldzüge gegen die Völker der westlichen Wüste und gegen die Beduinen der Sinaihalbinsel sind siegreich beendet. Nun schließen sich im Süden die Eroberungszüge gegen die Nubier an. Weit über die südliche Reichsgrenze bis tief in den Sudan dringen die schnelleil Heere des Königs vor, nilauf stehen sie mitten im Herrschaftsbereich der schwarzen Stämme. Schiffe werden gebaut, zum Oberlauf des großen Stromes gesandt, um das Eroberte den Göttern Ägyptens zu sichern. Die Fürsten der südlichen Grenzgaue, denen der Schutz der vorgeschobenen Grenze obliegt, führen den stolzen Titel „Karawanenführer, der zu seinem Herrn die Erzeugnisse der Fremdländer trägt"; denn sie haben den ehrenvollen und schwierigen Auftrag, dem Herrn und König, dem Pharao im fernen Theben, den Tribut der Häuptlinge und die Handelserzeugnisse der unterworfenen- Stämme zu überbringen. Wenn die Tributkarawanen aus den ewigen Wäldern des oberen Nils reich beladen wieder heimkehren in die Städte, dann sieht man neben Gold und Straußenfedern, Pantherfellen, Elfenbein und schwarzen Sklaven auch manchmal ein kleines, häßliches, dunkelhäutiges Geschöpf, das irgendwo unter der Glutsonne der Äquatorzone oder in der schweren, schwülen Luft der Urwälder aufgegriffen wurde. Diese kleinwüchsigen Männlein sind hochbegehrt: denn sie sehen dem lustiger Ägyptergott Bes nicht unähnlich und verstehen ergötzliche und gewandte Tänze aufzuführen, wie die Nilleute sie lieben. Aber nicht allzuoft findet solch ein zwergenhaftes Wesen den Weg aus dem Innern Afrikas in das Land der Pharaonen. Auch Harchuf, Statthalter des Südgaues, weilt häufig auf solchen Eintreibungszügen in den Ländern der Schwarzen. Zum vierten Male kehrt er von beschwerlicher Ausfahrt 2
zurück; die Beute ist diesmal besonders wertvoll durch einen Zwergenmann, den man mitgebracht. Gleich nach der Heimkehr schreibt Harchuf an den Pharao Phiops IL, was mit dem Knirps zu geschehen habe. Entzückt über die Kunde, diktiert der Pharao noch am gleichen Tage einen langen Brief an den Statthalter: Er möge nur ja auf den kleinen Mann bedacht sein, ihn aufs beste pflegen und behüten und ihn gleich nach Theben bringen. Besorgt befiehlt er, das dunkle Männlein streng zu bewachen, damit es auf der Reise in die Residenz nicht in den Nil falle und dort ertrinke. Ein guter Zufall hat uns den Brief des Pharao aufbewahrt. Es heißt darin: „Du hast den Zwerg in deiner Gefolgschaft, den du aus dem Märchenlande entführt hast, damit er die Gottestänze tanze und dadurch das Herz des Königs mit Freude erfülle. Wenn du ihn zum Schiff bringst, dann wähle verläßliche Leute aus, die zu beiden Seiten des Schiffes Wache halten, damit er nicht etwa ins Wasser falle. Und wenn er des Nachts schläft, so bestimme zehn tüchtige Männer, die bei ihm schlafen. Meine Majestät sehnt sich schon sehr, diesen Zwerg zu sehen." Auch Belohnung verspricht er dem glücklichen Überbringer. Es ist eine Summe, weit größer als die, die einer seiner Vorgänger einst für einen Zwerg aus dem Goldlande Punt ausgeworfen hat. Und Harchuf, stolz über die Beglückung seines Herrn, läßt den Brief vom Steinmetzen -kunstvoll auf die Vorderseite seines Grabes meißeln, als ein Zeichen für die staunende Nachwelt, in welch hoher Ehre er beim Pharao stand. Uns interessieren heute die hohen Ehren wenig, die jener Herr Harchuf erlangte; viel wertvoller ist uns der Inhalt jenes Briefes; hier haben wir die älteste schriftliche Kunde von den Zwergmenschen Zentralafrikas, jenen kleinwüchsigen Urwaldbewohnern, die man später Pygmäen genannt hat.
Sage, Märchen oder W i r k l i c h k e i t ? Aus 4000 Jahren liegen die merkwürdigsten Nachrichten über Zwerge vor. Wohl bei fast allen bekannten Geographen des Altertums wird von ihnen berichtet. Nicht nur in Afrika, auch in Indien, ja in fast allen Gegenden der damals bekannten Welt wurde nach diesen Miniaturmenschen gesucht. „Pyg3
Pygmäen kämpfen mit den Kranichen (Altdeutscher Holzschnitt)
mäen" (das heißt „Faustgroße, Ellenmännlein") nannten sie zuerst die Griechen. Homer wußte von ihnen zu erzählen, von ihrem winzigen Wuchs, ihren langen Barten, und wie sie mit den Kranichen kämpfen. Aber schon bei Homer sind sie zu Phantasiegestalten geworden, von denen man nicht mehr recht weiß, ob sie in Wirklichkeit existieren. Reine Fabelwesen sind — nebenbei gesagt — die Zwerge vornehmlich der deutschen Sagen und Märchen, jenes „heimliche Volk" der Kobolde, Wichtel- oder Heinzelmännchen, der Erdgeister und Hollen. Sie haben mit den echten Zwergen nicht das geringste zu tun. Aber neben Sagen- und Märchenzwergen finden sich in den Werken der alten Schriftsteller vereinzelt auch Nachrichten, die unbestreitbar darauf hinweisen, daß die Zwerge im dunklen Afrika gemeint sind. So erzählt Herodot, der „Vater der Geschichte", ein vielgereister Grieche, der um die Mitte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts nach Ägypten gekommen war, daß einst fünf Jünglinge die libysche Wüste durchquert hätten und weit im Süden auf kleine schwarze Männchen ge4
stoßen und von diesen gefangen genommen worden seien. Herodot bezeichnet diese Männchen sehr bestimmt als „nicht einmal mittelgroß", weiß aber leider sonst nichts von ihnen. Klarer drückt sich schon ein Jahrhundert später ein anderer Grieche, der Philosoph Aristoteles, in einem seiner Werke aus. Sachlich berichtet er: „Die Kraniche ziehen bis an die Seen oberhalb Ägyptens, woselbst der Nil entspringt, dortherum wohnen die Pygmäen, und zwar ist dies keine Fabel, sondern die reine Wahrheit. Menschen und Pferde sind, wie die Erzählung lautet, von kleiner Art und wohnen in Höhlen." Nun, wenn auch die Kraniche nicht so weit nilaufwärts ziehen und Aristoteles hier wohl von den Kranichen Homers beeinflußt zu sein scheint, so vermerken wir doch, daß die Tatsache vom Vorhandensein der Zwerge in Afrika sehr energisch beteuert wird. Aber es bleibt leider bei dieser einzigen klaren Nachricht aus griechischer Zeit. Wie der Ursprung des Nils für die folgenden Jahrhunderte vom Schleier der Geheimnisse umwoben ist, so auch das Zwergenvolk, das irgendwo in seinem Quellgebiet leben sollte. Noch einmal tauchen die Zwerge in der Spätantike auf: Der berühmte Geograph Ptolemäos weiß im 2. Jahrhundert n. Chr. zu berichten, daß der Nil weit im Innern Afrikas an den „Mondbergen" entspringt und daß an seinen Quellen Riesen und Zwerge leben; — dann aber versagen die Nachrichten. Im Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit schwört man teils auf die Berichte des Ptolemäos, teils hält man alles, vor allem auch das Vorhandensein der Zwerge, für ein liebenswürdiges Märchen. Erst das 17. Jahrhundert liefert uns wieder Berichte, die zuverlässig erscheinen. Portugiesische Reisende wissen von einem afrikanischen Zwergvolk, dessen Name Bakke-Bakke sein soll. Auch ein Engländer namens Dapper hat in jener Zeit von Zwergen gehört, die sich unsichtbar machen können, mit geringer Mühe Elefanten schießen und im Innern Afrikas hausen. Sie sollen nicht größer sein als zwölfjährige Kinder. Ihren Namen, Bakke-Bakke, und einige Einzelheiten aus ihren Lebensgewohnheiten erfuhr Dapper aus Berichten von Eingeborenen an der Westküste Afrikas. Bis zu den Küstensiedlern sind Namen und Nachrichten von den Zwergen gedrungen; ihr Wohnsitz soll irgendwo landeinwärts, 200 bis 250 Meilen nördlich des Königreiches Kongo liegen. 5
Das 19. Jahrhundert, das eigentliche Entdeckungsjahrhundert des schwarzen Erdteils, bringt dann endlich erstes helleres Licht in das Dunkel, von dem jahrtausendelang die Urwaldzwerge umgeben gewesen sind.
Der Zwerg Adimoku Im Jahre 1840 dringen zwei Missionare, Krapf und Rebmann, von Mombosa, einem Hafen an der Ostküste Afrikas, aus westwärts in das Innere des Kontinents. Immer häufiger hören sie hier von einem seltsamen Volk, das die eingeborenen Gewährsmänner Volk der Waberikimos, d. h. der „Leute von zwei Fuß Höhe" nennen. Tatsächlich kommt ein solcher Waberikimo den beiden Forschern zu Gesicht.. Er ist etwa vier Fuß groß. Seine Winzigkeit ist Naturwuchs, nicht Verkümmerung. Krapf und Rebmann berichten über ihre Entdeckung nach Europa; aber man glaubt ihnen nicht. Man nennt diese Berichte ebenso Hirngespinste wie die Behauptungen, daß es nahe dem Äquator hohe, schneebedeckte Berge gebe. — Schnee und Eis unter der Tropensonne? Zwergmenschen im Urwald? Phantastereien von Malariakranken! Aber die beiden Missionare waren kerngesund, als sie den Kilimandscharo sahen, den Bergriesen unter dem Äquator. Hell schimmerte auf seinem 5000 m hohen Gipfel in der Glutsonne der ewige Schnee. Auch den nördlich vom Kilimandscharo gelegenen Keniaberg schauten sie mit seinen Lavahängen und Hochgletschern. Das mußten die „Mondberge" sein, die Ptolemäos erwähnt hatte; denn in der Nähe lagen die Quellen des Nils. Und seltsam, auch die „Riesen" des Ptolemäos fanden sich hier. Es waren die Watussi, ostafrikanische Hirten von über zwei Meter Länge. Riesen, Mondberge und Quellen des Nils, alles war hier beisammen, wie es der alexandrinische Gelehrte beschrieben hatte. Die beiden Missionare konnten die Gelehrtenwelt Europas nicht überzeugen. Das alles war zu phantastisch! Da gelang eine Entdeckung, die mit einem Schlage alle Zweifel beseitigte und bestätigte, was sich an undeutlichen Erinnerungen seit einigen tausend Jahren in Dichtung, Sage und erdkundlichem Schrifttum erhalten hatte. Georg Schweinfurth, ein deutscher Afrikaforscher, war 1868 unter den schwierigsten Verhältnissen nilaufwärts und 6
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, der Zwerg Adimoku hockte auf Mohammeds Rücken und warf scheue Blicke nach allen Seiten. Er konnte gründlich betrachtet und gemessen werden
dann entlang der Nebenflüsse des Nils in das Herzgebiet Afrikas vorgedrungen. Auf Pfaden, die wahrscheinlich vor ihm noch nie eines weißen Mannes Fuß betreten, bahnte er sich seinen Weg. Durch Urwald und Sümpfe, zu Land und auf den Flüssen, die durch den „Ssud", den dichten Papyrusdschungel, verriegelt waren, unter steten Kämpfen mit den Eingeborenen, hatte der kühne Reisende die Landstriche zwischen Nil und Kongo erreicht. Während der Reise, wenn Schweinfurth am Abend den Erzählungen seiner nubischen Begleiter lauschte, hörte er sie von den Menschenzwergen plaudern, die in den Urwäldern lebten. Wie jene altgriechischen Sagen, die er sehr genau gelesen hatte, wie ein morgenländisches Märchen klangen ihm die Berichte. Noch zweifelte Schweinfurth; er konnte an die Wirklichkeit dieser Zwerge nicht glauben. Aber er wollte Gewißheit haben . . . 7
Am 20. März 1870 stand der Forscher am südlichsten Punkt seiner Afrikareise; der König der Mangbattu hatte ihn in seinem Hoflager empfangen. Nicht ungefährlich war der Aufenthalt bei diesem gefürchteten Stamme; denn die Mangbattu zählten damals noch zu den grausamsten Menschenfressern Ostafrikas. Doch dem erfahrenen Menschenkenner Schweinfurth gelang das Unglaubliche: er gewann das Vertrauen des Kannibalenhäuptlings und durfte mehrere Tage im Negerlager verweilen. Der Gedanke an die vielbesprochenen Zwerge ließ ihn nicht los, und vorsichtig horchte er auf alle Gespräche, in denen von ihnen die Rede war. Da, eines Morgens erwachte Schweinfurth durch eine ungewöhnliche Unruhe vor seinem Zelt. In dem Gezeter unterschied er die Stimme von Mohammed, seinem schwarzen Diener, der nach ihm rief. Mohammed hatte einige Pygmäen beim Könige überrascht und schleppte nun trotz allen Sträubens eines der seltsamen Männlein vor Schweinfurths Zelt. Der Zwerg hockte auf Mohammeds Rücken, hielt ängstlich dessen Kopf umklammert und warf scheue Blicke nach allen Seiten. Dann saß er endlich auf einem Stuhl. Schweinfurth war sprachlos. Also doch! Aber er zögerte nicht lange, eilte ins Zelt zurück, griff seinen Zeichenblock und begann den Zappelnden zu porträtieren. Dann suchte er sich mit Hilfe des Dolmetschers mit dem Männlein zu verständigen. Es war keine leichte Sache. Es war schon mühselig gewesen, das Kerlchen zum Sitzen zu bringen; nur durch schnell hervorgekramte Geschenke war das gelungen. Ihn auf dem Stuhle zu halten, bedurfte es weiterer Bestechungen. Aber dann konnte der kleine Herr endlich zwei Stunden lang aufs gründlichste betrachtet, gemessen, porträtiert, gefüttert, beschenkt und bis zur Erschöpfung ausgefragt werden. Sein Name war Adimoku, er war das Haupt einer Familie, die eine Stunde vom Negerlager entfernt hauste. Die Familie Adimokus gehörte zum Stamme der Aka, der zum Teil dem König der Mangbattu unterworfen war. Als man ihn nach seinem Lande befragte, zeigte Adimoku nach Südsüdost: „Am ersten Tage kommst du", so sagte er dem Weißen, „nach Mummerisdorf, am zweiten Tage zum Flusse Nalobe, und von dort am dritten zu den ersten Dörfern der Aka." — Der Zwerg war ungefähr 1,50 Meter groß und ein schon etwas bejahrtes Herrchen. Das hinderte ihn aber nicht, dem Weißen und den 8
staunenden Eingeborenen noch mit unglaublicher Gewandtheit einige Tänze seines Stammes vorzuführen, bis er der Schaustellung überdrüssig wurde und meinte, nun sei's genug. Ebenso plötzlich, wie er aufgetaucht war, verschwand der kleine Herr. Es war das erstemal, daß ein Europäer Gelegenheit hatte, einen Zwerg näher kennen zu lernen und wichtige Einzelheiten über sein Volk zu erfahren. Noch einige Aka-Zwerge konnte Schweinfurth zeichnen und messen, ja er begegnete in den nächsten Tagen gleich mehreren Hundert dieser Männlein. Sie waren im Gefolge eines Bruders des Königs von einem Kriegszug gekommen und führten Schweinfurth ihre Tänze vor. Eine nähere Untersuchung war leider nicht möglich, da der Zwergenspuk am nächsten Tage schon wieder verschwunden war. Schweinfurth konnte trotzdem zufrieden sein. Ein großes Rätsel des schwarzen Kontinents hatte seine Lösung gefunden; es gab tatsächlich ein Zwergenvolk im Innern des afrikanischen Urwaldes. Sechs Jahre nach der Entdeckung der Aka hörte ein anderer Forscher, der Engländer Henry Stanley, bei seiner Durchquerung Afrikas von Zwergen, die am Kongo wohnten. Ihre Lebensgewohnheiten, ihre Waffen wurden ihm von den Eingeborenen beschrieben. Ja, ein kleiner Mann wurde sogar mit List gefangen. Stanley konnte zwar keine Einzelheiten von ihm erfahren, aber erstmals tauchte hier der Name „Wambuti" für die Pygmäen des Oberen Kongo auf. Der französische Afrikareisende Paul Du Chaillu brachte dann genauere Nachrichten. Es gelang ihm, in Westafrika solch ein scheues Zwergenvölkchen zu beobachten, ihre Hütten zu sehen, einige Männer und Frauen zu messen und ihre Namen zu erfahren. Obongo nannten sie sich selbst, Akkoa wurden sie von ihren Nachbarn genannt. Die Deutschen Stuhlmann und Emin Pascha, sowie der Italiener Casati, der langjährige Begleiter Emins, ergänzten die Beobachtungen Schweinfurths, Stanleys und Du Chaillus. Es scheint, als hätte es nur eines ersten Anstoßes bedurft, um das so lange ungeklärt gebliebene Pygmäenproblem zu erhellen; von jetzt an häuften sich die Nachrichten der Reisenden über die Zwergmenschen. Man ging daran, ihre Lebensgewohnheiten, ihre Sitten und Bräuche genauer zu erforschen. Es war nicht immer leicht; denn so scheu, wie sich die Pygmäen bei ihrer ersten Begegnung mit Europäern gezeigt hatten, blieben 9
sie auch in der Folgezeit. Mancher allzu wissensdurstige Reisende mußte sein Vorhaben wieder aufgeben, weil ihn auf schmalem Urwaldpfad plötzlich aus dem Hinterhalt die Giftpfeile der Zwerge warnend umschwärmten. Die Vorposten der europäischen Zivilisation dringen nun immer tiefer in den Urwald vor. Die Pygmäenforschung wird ein besonderes Gebiet der Völkerkunde. Es stellt sich heraus, daß man mit einigen Pygmäenstämmen leicht in Kontakt kommt. Andere wieder leben weiterhin, wie ihre Ahnen, unsichtbar für die weißen Männer im Busch, sie meiden nicht nur die Wohnstätten, sondern auch die Pfade, die der Europäer begeht. Auch heute noch kann ein Reisender tagelang durch den Urwald ziehen, immer von Zwergen umgeben und von ihnen beobachtet sein, ohne aber je einen von ihnen zu Gesicht zu bekommen. Die Kolonialverwaltung hat sich von jeher wenig um die Zwerge gekümmert; im Gegensatz zu den Negern brauchten sie keine Steuern zu zahlen. Die Steuereintreiber hätten es auch nicht leicht gehabt, bei ihnen etwas zu holen. Doch die Missionare kümmerten sich um sie. In den letzten Jahren widmeten sie sich mit besonderem Erfolg ihrer weiteren Erforschung. Unter dem Einsatz ihres Lebens stellten einige von ihnen die Verbindung zu den Zwergen her und hausten monatelang mit ihnen zusammen. Manchmal gelang es auch dem einen oder anderen der weißen Männer, das besondere Vertrauen der kleinen Menschlein zu gewinnen; so etwa Pater Schebesta, der von Negern und Zwergen den Beinamen „Baba wa Bambuti", das heißt „Vater der Zwerge" erhalten hat und dem wir wertvolle Berichte über die Urwaldzwerge verdanken. Wenn wir heute so genau über fast alle Einzelheiten des Zwergenlebens Bescheid wissen, so dürfen wir deshalb nie vergessen, welch harter Arbeit, welch großer Geduld es oft bedurfte, in ihre Lebensbereiche Einlaß zu finden. Die Forscher mußten diese Urwaldleute manchmal geradezu überlisten, oft waren ein wochenlanges Beisammensein und zahlreiche Geschenke, ja wenn es darauf ankam, sogar die Versorgung eines ganzen Stammes notwendig, ehe es gelang, das scheue Völkchen zum Reden zu bewegen. Nachricht für Nachricht kam so zusammen und fügte sich wie die Steinchen eines Mosaiks zu dem großen Ganzen eines lebendigen Bildes vom Leben und Treiben der Urwaldzwerge. 10
Die Wohngebiete der Zvsergvölker Afrikas Die Pygmäenstämme leben vorwiegend in den östlichen Urw-aldbereichen Zentralafrikas (1) westlich der großen Seen und an den Neben- und Quellflüssen des Kongo. Ihre Wohn- und- Jagdgebiete werden immer mehr eingeengt. Eine Ansiedlung der Stämme und ihre Umerziehung zum Ackerbau ist bisher nicht gelungen. Im Westen des Kontinents leben Pygmäenstämme in weniger dichten Gruppen (2, 3). Die Ziffern bezeichnen: 1. Bambuti und Aka (a)r Efe (b), ßasua (c), 2. die Bogielli, 3. die Akoa. Die Siedlungsgruppen 4 und 5 sind Pygmäenähnliche (Batwa, Buschmänner), die z. T. in Steppen leben
li
Erwachsene - klein wie Kinder Wir hörten von der Entdeckung und den Schwierigkeiten bei der Erforschung der Pygmäen — manchen Lesern werden aber andere Fragen vordringender sein: Zwerge, gut! Aber wie groß oder besser, wie klein sind sie denn eigentlich, können wir wirklich von Zwergen sprechen, sind es ihrer viele, wie sehen sie aus, wie und wo leben sie? Im heutigen Sprachgebrauch der Wissenschaft bedeutet das Wort „Pygmäe" soviel wie „Rassenzwerg". Wir wissen, daß es sich bei diesen Zwergen um Menschen handelt, die auch nicht annähernd die normale Körpergröße anderer Menschen erreichen, obwohl sie erwachsen sind. Zwerge sind Menschen, die, ohne deshalb krank oder mißgestaltet zu sein, nie über die Körpergröße von etwa zwölfjährigen Kindern hinauswachsen. Die Heimat aller Zwergvölker der Erde, ihr Lebensraum, ist der Urwald. Das gilt vor allem von den Zwergen Afrikas, von denen wir hier plaudern. Sie suchen nicht die sonnendurchglühte Wüste, nicht die Steppe mit ihrem unbeschreiblich reichen Tierleben, das die günstigeren Lebensbedingungen bietet; die dichten Urwälder im Herzen des schwarzen Erdteils sind ihr Zuhause. Ohne Wälder wären sie undenkbar. Dort, wo zweimal im Jahre wochenlang der Regen unbarmherzig zur Erde prasselt, wo die Sonne nur mühsam das dichte Blätterdach der mächtigen Bäume durchdringt, wo trotz des hohen Sonnenstandes fast immer Dämmerung herrscht, dort, wo Elefanten und Riesenaffen, wo die scheuen, nur schwer erjagbaren Okapigiraffen zu finden sind, in Gegenden, die selbst der Neger nur ungern betritt, dort leben schon seit Jahrtausenden die Zwerge. Sie zählen wohl zu den ältesten Bewohnern Afrikas, waren weit eher da als die Neger und einstmals vielleicht auch weiter verbreitet als sie. Ein Blick auf die Völkerkarte Afrikas ergibt (siehe Seite 11), daß vorwiegend der östliche Urwald Zentralafrikas am dichtesten mit Pygmäen besiedelt ist. Nur einige Gruppen leben an der Westseite des Kontinents. Westlich der großen ostafrikanischen Seen, des Victoria-, des Albert- und des Eduardsees, etwa auf der Höhe des Äquators, an der Wasserscheide zwischen den beiden größten Flüssen Afrikas, dem Kongo und dem Nil, vor allem aber an den Nebenflüssen des Kongo, sind die meisten 12
Gruppen und Stämme der Zwerge verstreut. Es ist ein Urwaldbereich von annähernd der Größe Westdeutschlands. Besonders im Gebiet des Ituri, eines echten Urwaldflusses voller Wildheit und Tücke, mit gefährlichen Stromschnellen und tosenden Wassermassen, die schließlich in den Kongo münden, leben'große Pygmäenstämme, die von den Forschern unter dem uns schon bekannten Namen „Bambuti" zusammengefaßt werden. Zu ihnen zählen die Basua, die Efe und die Aka, zu denen auch Adimoku, der Zwerg Schweinfurths, gehörte. Es sind die urwüchsigsten aller Pygmäen, die heute noch genau so wie ihre Vorfahren vor Jahrtausenden leben; Andere Pygmäenstämme wandern durch die Wälder südlich des Kongo und durch Kamerun, manche sogar nahe der Westküste des Kontinents; ihre Zahl ist aber viel geringer als die der Iturizwerge. 13
Zu diesen echten Pygmäen kommen noch „Pygmäenähnliche", das heißt Stämme, deren Angehörige nur wenig größer als die eigentlichen Zwerge sind. Ihre Heimat ist aber nur in den seltensten Fällen der dichte Urwald. Sie leben vielmehr, wenn auch nicht weniger scheu, an den Rändern der Wälder, vor allem in Ostafrika. Schließlich gehören zu den Pygmäenähnlichen auch die Buschmänner der Kalahariwüste Südafrikas, die auf einer gleichen Kulturstufe stehen wie die Urwaldzwerge des Landesinnern. Das erste, was bei der Begegnung mit Pygmäen ins Auge fällt, ist selbstverständlich ihre geringe Körpergröße. Seit Schweinfurth hat sich jeder Forscher bemüht, möglichst viele dieser kleinen Menschen genauer zu untersuchen und zu messen. Adimoku war etwa IV2 Meter groß, zählte aber, wie sich später herausstellte, schon zu den großen Mitgliedern seiner Rasse. Im Durchschnitt liegt die Körpergröße der Männer bei 1,44 Meter, die Frauen sind zumeist noch etwas kleiner und erreichen durchschnittlich nur eine Größe von 1,37 Meter. Die kleinste erwachsene Zwergenfrau, die Schebesta messen konnte, war gerade 1,10 Meter „groß"! Schön sind sie nicht, diese Urwaldzwerge, wenigstens nicht für das Schönheitsempfinden des Europäers. Auf kurzen, dünnen Beinchen sitzt ein langer, schmaler Rumpf und obenauf ein unverhältnismäßig großer Kopf. DieArmesindlangund dünn, der Bauch ist meist weit vorgewölbt. Im Gesicht fallen dem Beobachter zuerst die großen, stets unruhig blickenden Augen auf. Dazu kommt eine breite, tief eingedrückte Nase, der Mund tritt weit vor; das Kinn, das bei den älteren Männern meist von einem kurzen, verfransten Bart umrahmt ist, liegt zurück. Die Hautfarbe ist nicht wie die der Waldneger schwarz, sondern lehmgelb bis dunkelbraun, auch das Kopfhaar ist nicht so dicht gekräuselt wie bei den Negern. Der ganze Körper ist leicht mit einer rötlichbraunen, flaumartigen Behaarung bedeckt. Wenn wir uns das alles genau vorstellen können, dann haben wir einen prachtvollen Urwaldzwerg vor uns. Aber noch eines dürfen wir nicht vergessen. Nicht nur dem Auge bietet der Zwerg mancherlei Absonderlichkeiten, auch die Nase des Fremden muß sich an manches Merkwürdige gewöhnen. Die Forscher, die mit ihnen zusammenleben müssen, berichten von einem typischen Pygmäengeruch; es ist 14
ein widerlich süßer, moschusartiger „Duft", der selbst den Dingen, mit denen die Zwerge nur kurz in Berührung gekommen sind, noch tagelang anhaftet, und der oft eine starke Zumutung an den Geruchsinn der Weißen ist. Der Pygmäe jedoch liebt diesen Geruch. Es wäre falsch, die Pygmäen für eine verkleinerte Ausgabe der Neger zu halten; denn durch all die angeführten Merkmale, nicht nur durch die Größe, unterscheiden sich die Zwerge wesentlich von den umwohnenden Negern, selbst bei Mischlingen setzt sich das Pygmäenblut meist deutlich durch. Das Aussehen und die Rassenmerkmale der Zwerge lassen sich verhältnismäßig leicht bestimmen, aber eines ist den Forschern bis heute noch nicht gelungen, nämlich ihre Zahl festzustellen! Nur vorsichtige Schätzungen sind möglich und zulässig; man glaubt, daß die Kopfzahl der Ituripygmäen etwa bei 20 und 30 000, die der Kamerunpygmäen bei etwa 5000 liegt — und das in einem Bereich von der Größe Westdeutschlands, in dem sich 50 Millionen Menschen drängen.
Z i g e u n e r des Urwalds Die Pygmäen sind die Zigeuner des Urwalds. Unstet und ruhelos, ungebunden und bedürfnislos sind sie, so bedürfnislos, daß sie selbst bei den Negern, die doch gewiß keinen Luxus kennen, als arm gelten. Aber die Zwerge lieben den Urwald, sie kennen seine Geheimnisse, seine Gefahren, seine Lebenschancen. Nur für den Tag wird gelebt, was der Tag bringt, verzehrt. Die Zwerge wissen nichts von geordneter Vorratswirtschaft, sie sind Wildbeuter, sie nehmen, was ihnen die Natur, der Urwald, bietet. Ist es viel, so ist es gut; ist es wenig, nun, dann sind sie eben auch zufrieden, ein anderer Tag wird wieder mehr bringen. „Einfache Jäger und Sammler", so nennt die Wissenschaft diese Kulturstufe und Lebensweise. Wer denkt aber daran, wieviel Mühe und Arbeit, Zähigkeit und harter Lebenskampf hinter diesen trockenen Worten stecken! Der Urwald schenkt seinen Bewohnern nichts. Ein Pygmäenstamm ist nicht groß, kann es nicht sein. Eine Zusammenballung allzuvieler würde seine Beweglichkeit hindern. Scheint ein Waldbezirk nicht mehr ergiebig genug, dann zieht man eben weiter; doch immer ist man an einen bestimmten Umkreis gebunden, um möglichst keiner anderen Pygmäengruppe ins Gehege zu kommen. 15
Die Stämme mit ihren so lautreichen, wohlklingenden Namen Aka, Efe, Basua, Bekwi, Akoa u. a. leben, wandern und jagen zumeist nicht als Ganzes; gern teilen sie sich in kleinere Gruppen, die behender und freizügiger sind. Diese Unterteilung wurde wahrscheinlich von den Negern übernommen; man nennt sie in der Völkerkunde „Clan". Jeder Clan hat ein bestimmtes Totem-Tier, das heißt ein Tier, das als Glückszeichen dient und nie getötet werden darf. Oft überträgt es seinen Namen auf den Clan. So gibt es den Schimpansenclan, den Antilopen- oder den Elefantenclan, fast der ganze Tierpark des Urwaldes ist in den Clan-Namen vertreten. Der Clan bewohnt stets ein gemeinsames Lager, nur in den seltensten Fällen kann er mehrere Lager umfassen. Innerhalb des Clans halten die Sippen enger zusammen; die Familien, die einer Sippe angehören, sind eng miteinander verschwägert. Stamm, Clan, Sippe — darin erschöpft sich die ganze soziale Einteilung des Pygmäen Volkes. Mehr ist nicht notwendig. Größere Lebensgemeinschaften gibt es nicht. Zu einem Stamm gehört normalerweise ein Oberhaupt, aber da bei den Zwergen das Stammesbewußtsein nur in geringem Maße lebendig ist, ist bei ihnen für einen Stammeshäuptling kein Platz. Anders dagegen im Clan, hier ist schon vom praktischen Standpunkt aus ein gewisser Zusammenhalt notwendig; hier wird eine Art Häuptling, der „Clanälteste", geduldet — aber auch nicht mehr als das. Die Autorität ist lediglich an die persönlichen Eigenschaften des Trägers gebunden und meist sehr gering. So äußerte ein solcher Clanältester dem Forscher Schebesta gegenüber: „Wozu soll ich Befehle geben, jeder tut schließlich doch, was er will." Die Sippe ist auch die Trägerin der Wirtschaft. Jagd und Sammeln erfolgen stets im Rahmen der Sippe. Jede Sippe und Familie hat gleiches Recht auf alles Land. Bei dieser lockeren Gemeinschaftsform müßte es eigentlich zu Reibereien zwischen den einzelnen Familien kommen; aber sie tun sich im allgemeinen nichts. Es ist gewiß nicht Idealismus, der die Menschlein zusammenhält; sie sind sich vielmehr instinkthaft bewußt, daß der Einzelne gegen die Natur nichts ausrichten kann, daß dazu eine gewisse Gemeinschaft notwendig ist. Das bedeutet nicht, daß der Zwerg nun auch nur für diese Gemeinschaft lebt. Wo es geht und wo er 16
kann, da ist er Egoist; aber er achtet die ungeschriebenen Gesetze der Zusammengehörigkeit. Grausam sind die Strafen für den, der sich gegen den Clan vergangen hat. Von den Pygmäen des oberen Kongos weiß ein Reisender zu berichten, daß dort der Gesetzesübertreter während der Nacht in der Hütte so angebunden wird, daß seine Füße ins Freie ragen — das Weitere besorgen die Tiere des Urwaldes. Diese grauenvolle Strafe ist für den Betroffenen nicht immer tödlich. Pygmäen sind zäh, mancher Verkrüppelte unter ihnen, der sich durchs Leben plagt, zeugt für die Unerbittlichkeit, mit der die Gebote der Wildnis vollzogen werden. Heiraten von Sippe zu Sippe und von Clan zu Clan sind möglich; aber den jungen Burschen und Mädchen wird es nicht leicht gemacht; denn die Frau stellt für die Sippe eine wertvolle Arbeitskraft dar; heiratet sie in eine andere Sippe ein, so geht ihre Arbeitskraft der eigenen verloren. Also wird die Heirat nur gestattet, wenn die andere Sippe ein Mädchen, meist eine Schwester oder nähere Verwandte des Bräutigams, als Ersatz anbietet. So werden die Arbeitskräfte im Tausch gewechselt; nur in Ausnahmefällen wird das Herüberholen einer Frau aus einer fremden Sippe durch Kauf gestattet. Bei diesen sehr berechnenden Heiratsbräuchen ist es erstaunlich, daß es bei den Pygmäen keine Vielweiberei gibt, Einzelehen sind die Regel. Das hat nicht nur ethische Gründe. Die Neger zeigen nämlich oft eine besondere Vorliebe für Pygmäenmädchen, die von den Umworbenen um so mehr erwidert wird, da sie bei den Negern ein viel bequemeres Leben haben als bei der eigenen Sippe. Da aber Negermädchen nur sehr selten in einen Pygmäenclan heiraten, fehlt es im Zwergenvolk oft an Frauen, und manche Pygmäen Jünglinge bleiben notgedrungen unbeweibt. Neger und Zwerge sind überhaupt in eine eigenartige Abhängigkeit von einander geraten. Heute wäre an einen Fortbestand der Zwerge kaum zu denken, ständen sie nicht in gewissen wirtschaftlichen Verbindungen mit den umwohnenden Negern. Ein Zusammenhang zwischen Negern und Zwergen bestand übrigens schon zur Zeit ihrer Entdeckung. Wir erinnern uns, daß Schweinfurth die ersten Zwerge am Hofe eines Negerkönigs kennengelernt hatte und sie dort sogar als Gefolgsleute des Königs Kriegsdienste leisteten. So festgefügt, wie in diesem Falle, ist das Verhältnis 17
nicht überall. Man könnte etwa von einer Symbiose, einem „Zusammenleben zu gegenseitigem Nutzen" sprechen. Der Zwerg ist Nomade, Sammler und Jäger, diese Wirtschaftsform reicht jedoch nicht aus, all seinen Bedarf zu decken. Er braucht verschiedene Dinge zum täglichen Leben, die er sich irgendwo zusätzlich erwerben muß. Dazu gehören vor allem die Anbauerzeugnisse der Neger, Bananen, Ölfrüchte und Zuckerrohr. All das bietet ihm der Urwald nicht, so tauscht er es sich bei den Negern ein. Als Gegengabe werden Wild, Walderzeugnisse und manchmal Arbeitsleistungen geboten. Auch Jagdspeere, Messer und eiserne Pfeilspitzen tauschen die Pygmäen ein, da sie selbst das Schmiedehandwerk nicht kennen. Die Neger haben die Nötlage der Zwerge auszunutzen verstanden und sie immer fester an sich gebunden. So kommt es, daß heute in der Nähe der meisten Negerdörfer auch Siedlungen der Zwerge zu finden sind. Allzu nahe wünschen sich die Neger diese Nachbarn aber nicht heran; denn die Leutchen haben trotz ihrer kleinen Statur in den Bananenpflanzungen oft lange Finger. Deshalb hat ein Pygmäenclan meist einen Negerpatron, der die Geschäftsverbindungen aufrechterhält, von den Zwergen Fleisch und das sehr begehrte Elfenbein bezieht und ihnen dafür die Pflanzenprodukte liefert. Die Zwerge haben sich vielfach die Dialekte der Neger angewöhnt und sprechen sie selbst in ihren eigenen Lagern. Von einer gegenseitigen Achtung kann nicht die Rede sein, jede Partei zieht eben von der anderen einen gewissen Nutzen, und das genügt für ein einigermaßen friedliches Nebeneinander. Bei den Zwergen ist sogar die Meinung vertreten, daß die Neger verpflichtet seien, ihnen die Bananen zu liefern. Nach einer Pygmäensage sind es die Zwerge gewesen, die zuerst den Wert der Banane kennengelernt haben; aber sie wollen den Anbau der Stauden großzügig den Negern überlassen, da sie selbst nur zur Jagd, nicht aber zum Ackerbau taugen. Oft geschieht es, daß ein Pygmäenclan für Wochen aus der Umgebung seines Negerpatrons verschwindet und im Urwald umherschweift; nach einiger Zeit tauchen die Zwerge aber wieder auf, und der alte „Geschäftsverkehr" wird unverzüglich aufs neue begonnen. Manchmal kommt es auch zu Reibereien, denn die Zwerge sind stolz, und ihre Pfeile sitzen lose im Köcher. Die Neger versuchen gern, eigene Übergriffe und 18
Verbrechen den Pygmäen zuzuschieben. Zu Unrecht! Denn schwere Untaten fallen gewöhnlich den geheimen Negerbünden zur Last, die vor den grausamsten Ausschreitungen nicht zurückschrecken. Da ist der Anyota- oder Leopardenbund, dessen Mitglieder Feldarbeiter oder des Nachts wehrlose Schläfer überfallen, sie mit eisernen Krallen, die denen eines Leoparden nachgeahmt sind, zerfleischen und sie dann in den Urwald verschleppen und dort verspeisen. Die Kolonialverwaltung weiß aber aus langer Erfahrung Schuldige und Unschuldige genau zu unterscheiden; doch ist sie der Geheimbünde noch immer nicht Herr geworden, denn wenige kennen die Mitglieder; wer sie aber kennt, schweigt aus Furcht. Oft erfolgt die Verdächtigung nicht einmal wider besseres Wissen; die huschende, heimliche Lebensart der Pygmäen legt dem Neger leicht den Verdacht nahe, daß diese Gespensterwesen die Mitglieder der Geheimbünde stellen; aber die Pygmäen haben weder Interesse an dem Bandenwesen, noch zählen sie zu den Menschenfressern. Selbst in Zeiten, als diese furchtbare Unsitte unter den Negern noch weit verbreitet war, hielten sich die Pygmäen mit Abscheu zurück. Das bestätigen einstimmig alle Reisenden. In einem Punkte dürfen wir aber das kleine Völkchen mit besonderem Recht die Zigeuner des Urwaldes nennen. Dort, wo sie nämlich mit den Negern zusammenleben, da stellen sie auch die Musikanten, Gaukler und Tänzer. Pygmäentänzer sind überall berühmt und gern gesehen, seit sie das Herz der Ägypterkönige erfreuten. Ihre Tanz- und Musikfreude hat sich bis zum heutigen Tage nicht geändert. Wie ein Lauffeuer spricht es sich herum, wenn die Zwerge in einem Negerdorf zum Tanze erscheinen; von weither kommen die Neger, um ihnen zuzuschauen.
Ä r m e r a l s selbst d i e X e g e r Wer im Urwald lebt und umherzieht, wer keinen festen Wohnsitz kennt, wer täglich um die notwendigsten Dinge des Lebens kämpfen muß, der wird auch keinen großen materiellen Besitz sein eigen nennen. Die Zwerge Zentralafrikas jedenfalls nicht! Warum auch? Warum sollen sie beständige Hütten bauen, wenn sie schon bald wieder weiterziehen, warum stabilen Hausrat herstellen, der sie beim Marsch durch die Wälder behindert? Schon in der Bekleidung zeigt sich die 19
Anspruchslosigkeit dieser Urwäldler; das heißt, bei den Kindern zeigt sich eigentlich gar nichts, denn sie laufen so umher, wie sie Gott erschaffen. Bei den Erwachsenen genügt als Kleidung eine dünne Schnur um den Leib und ein Schurz aus Baumrinde, der mit Farbe sorgfältig bemalt und verziert wird. Die Frauen schmücken sich, wenn sie zum Tanze gehen, mit Blätterbüscheln, die ihnen der Wald in allen Formen und Farben liefert. Die Blättermode wechselt mit dem Angebot der Jahreszeiten. Schmuck kennen die Zwerge nicht; aber sie sind trotzdem ein wenig eitel. Um möglichst „schön" zu erscheinen, werden die Zähne sorgfältig zugespitzt und ganze Haarbüschel ausgerissen — auch in Afrika muß man eben für die Schönheit leiden. Sogar eine Art Tätowierung gibt es, eine Körperbemalung; aber sie erscheint nur den Eingeborenen reizvoll. Der Weiße unterscheidet die aufgetragenen Farben kaum von dem Staub und Schmutz, der die Körper bedeckt. Wenn die Zwerge auch keine festen Hütten brauchen, so sind sie doch nicht ohne schützende Behausungen. Je nachdem, ob sie für längere oder kürzere Zeit an einem Ort zu verbleiben gedenken, legen sie ihre „Wohnung" an. Ein Windschirm aus einigen Zweigen, aus Baumrinde oder den breiten Phryniumblättern genügt ihnen schon. Aber es gibt auch geschlossene Hütten, deren Bau stets den Frauen obliegt, wie überhaupt alles, was mit dem Lager und dem Lagerleben zusammenhängt, ihre Aufgabe ist. Die Zwergenfrauen sind recht geplagte Wesen, denn neben der Bedienung der Männer und dem Hüttenbau müssen auch die Kinder versorgt..werden. Als Hausrat sind in den Hütten einige Töpfe vorhanden, ein großer hölzerner Mörser, ein Tragkorb, ein Messer und die Jagdgeräte — wahrhaftig, dürftiger geht es nicht! Zu jeder Hütte gehören aber auch die Feuerhölzer. Der Pygmäe wird sein Fleisch nur selten in rohem Zustand verzehren, Feuer ist für ihn lebensnotwendig. Die Männer führen stets die Feuerhölzer mit sich. Es sind kleine Brettchen aus weichem Holz mit kleinen Vertiefungen, dazu ein Quirl aus Hartholz, der rasch auf dem Brettchen gedreht wird. Das Ganze wird mit trockenem Gras umgeben; das Holz quirlt sich heiß, bald schlägt ein Funken über und zündet. Es ist noch immer die gleiche Art des Feueranzündens, wie sie schon der Urmensch kannte. Da aber das Feueranzünden im feuchten Ur20
Ein paar in die Erde yesleckter Zweige sind das Gelüst der Hütte.
wald oft langwierig oder fast unmöglich ist, trägt man beim Weiterwandern häufig den Brand von der letzten Herdstelle mit sich, um an seiner Glut später das neue Feuer zu entfachen. Bescheiden wie der materielle Besitz ist auch das geistige Kulturgut der Zwerge. Sie haben keine öffentlichen Kultstätten oder Fetischhütten, aber sie verehren ein höchstes Wesen, dem sie die Erstlingsopfer der Jagd und der gesammelten Früchte darbringen. Unter diesem einzigen Gott stehen die Zaubergeister und Dämonen, denen sich das Zwergenvolk ausgeliefert glaubt, wie jedes Naturvolk. Gegen allen Zauber aber helfen die Amulette. Der Zwerg schwört auf ihre Wirkung; besonders schutzreich ist das Pikipiki. Hinter diesem klangreichen Namen verbirgt sich ein Holzröhrchen, dessen oberes Ende offen ist, so daß man wie auf einem hohlen Schlüssel darauf pfeifen, kann; es hat magische Kräfte und schützt 21
vor allen Feinden. Gelingt es dem Besitzer des Pikipiki, von einem Gegner irgendeine Sache, ein paar Haare etwa, zu ergattern, und sie im Holzrohr aufzubewahren und darauf zu pfeifen, dann kann der Feind nichts mehr ausrichten. Selbst bei Feindseligkeiten zwischen einzelnen Clans wird dieses magische Amulett verwendet. Es hat schon manchen Krieg beendet, bevor er noch richtig begonnen; denn der Gegner kennt die Wirkung dieser Zauberpfeife und glaubt an die unabwendbare Kraft ihrer Töne. Noch gibt es bei den Zwergen Geheimnisse, in die selbst die Europäer nicht eindringen. Mitten im dichten Urwald, weit weg vom Lager, werden die geheimen Zeremonien der Jünglingsweihe gefeiert. Nie darf ein weibliches Wesen diese geheime Handlung sehen, nie wird den Frauen auch nur das Geringste verraten. An den nächtlichen Feiern hat auch noch nie ein Weißer teilnehmen dürfen.
Zwerge jagen Elefanten Nahrungssorgen und die Vorliebe für Fleisch haben die Pygmäen zu waghalsigen kleinen Jägern werden lassen, von deren Mut, Gewandtheit und Geschicklichkeit die Reisenden erstaunliche Dinge berichten. Gewiß, sie wachsen im Urwald auf, leben in ihm und sind mit ihm aufs innigste verbunden, der dichte Wald ist ihre Welt. Aber all das würde vielleicht zu guter Fährtenkenntnis, Vertrautheit mit den Gewohnheiten des jagbaren Wildes, nicht aber zu einer so unglaublichen Waghalsigkeit führen, wie man sie den Zwergen nachrühmt. Denn nicht nur das kleine Getier, Vögel, Zwergantilopen, kleine Affen, nein, auch die mächtigsten Tiere des Urwaldes, der Elefant und der Gorilla, werden von ihnen gejagt und erlegt. Netze, Speere, Pfeil und Bogen sind dabei die einzigen Jagdgeräte. In früheren Zeiten kannten die Pygmäen im Kongowald auch diese Waffen nicht. Da zogen Männer, Weiber und Kinder zur gemeinsamen Hetzjagd aus, nur mit Knüppeln und Feuerbränden bewaffnet. War mit vieler Mühe und Geschrei ein Wild aufgetrieben, dann wurde es mit den Bränden beworfen, um es zu blenden, und schließlich mit den Knüppeln erschlagen. Eine gefährliche Art des Waidwerks! Zur Netzjagd, die auch heute noch geübt wird, legen sie Netze aus 22
Lianengeflecht aus. Die zehn Meter langen und ein Meter hohen Geflechte können aneinander gekoppelt werden. Eine einzige Netzsperre zieht sich oft hunderte Meter durch das Dickicht. Man hakt sie an das Unterholz, ins Gestrüpp und an die Wurzeln der Bäume. Die Männer verstecken sich mit Speeren und Bogen im Gebüsch, während die Frauen und Kinder das Wild in weitem Halbkreis auf die Netze zutreiben müssen. Die Treibjagden in die gestellten Netze sind noch die einfachste Art der Jägerei. Viel lieber streifen die Zwerge, nur mit Pfeil und Bogen bewaffnet, in den Tiefen des Urwaldes. Unhörbar schleichen sie das Wild an, selbst die scheue Urwaldgiraffe, das Okapi, ist vor ihnen nicht sicher. Aber auch vor dem Gorilla, dem größten und wildesten aller Urwaldaffen, zeigen sie keine Furcht. „Njagi", nennen ihn die IturiPygmäen, „der den Morgen grüßt". Das kurze wilde Brüllen des Gorilla läßt die kleinen Jäger aufhorchen. Die Winzigkeit ihrer Körper kommt ihnen diesem riesenhaften Gegner gegenüber zwar erschreckend zum Bewußtsein; aber sobald sie ihn aufgespürt haben und ihm Äuge in Auge nur wenige Meter entfernt gegenüberstehen, verrät keine Regung ihres Mienenspiels mehr, was in ihnen vorgeht; sorgfältig legen sie den Bogen an, kaum einmal geht ein Pfeil fehl. Ist ein Tier aber einmal nur leicht getroffen, so muß es trotzdem sterben; denn die Pfeile der Pygmäen sind vergiftet. Die Herstellung des Jagdgiftes ist meist Sache des ganzen Clans. Das Gift liefert die Sambali-Liane; in einem Holztrog wird sie zu Brei'zerstampft und dieser Brei ausgequetscht. Dann wird ein Feuer angefacht, die Pfeilspitzen werden in den Giftsaft getaucht und über dem Feuer getrocknet. Jeder Zwerg legt sich gleich einen möglichst großen Vorrat an Giftpfeilen zu; solange sie frisch sind, sind sie.in den Händen des Schützen besonders gefährliche Waffen. Gegen die Dickhäuter, die Elefanten, hilft aber auch der beste Giftpfeil wenig; die Elefantenkolosse werden mit der vergifteten Lanze gejagt. Nur die mutigsten und geschicktesten Zwerge sind Elefantenjäger. Ihre Waffe ist ein eineinhalb Meter langer Speer mit einer starken Klinge, die fest in das Holz eingelassen und mit Lianenseilen gesichert wird. Auch die Elefantenlanze wird in das Pfeilgift getaucht. Fieberhafte Aufregung herrscht im ganzen Pygmäenlager, wenn eine Elefantenjagd angesetzt ist; alle Stammesangehörigen sind in Aufruhr. Die 23
U — —
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Der gefürditetste Feind'der Pygmäen istjäer Gorilla
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Jäger reiben sich den ganzen Körper mit frischer Elefantenlosung ein, um sich dem witternden Wild nicht durch den eigenen Geruch zu verraten; dann nehmen sie die Jagd auf. Bald ist die Herde der Dickhäuter ausgemacht. Ein möglichst abseits stehendes Tier ist als Jagdbeute ausersehen. Vorsichtig pirschen sich die Jäger heran, heben den Speer und schlagen ihn dem Elefanten gegen die Kniekehlen der Hinterbeine; die scharfe Speerschneide durchtrennt die Sehnen. Das ist der gefährlichste Augenblick der Jagd. Die Tollkühnen springen zur Seite; denn in jäher Wut und unter wildem Trompeten wendet sich das Tier gegen die Angreifer. Wehe den Jägern, die das Opfer nicht richtig getroffen; sie werden von den trampelnden Säulen zermalmt. Ist aber der Riese gelähmt, so fallen die Zwerge über ihn her, und er verendet unter dem Schlag ihrer Waffen und Beile. Groß ist der Jubel über den Jagderfolg. Im Elefanten- oder Schimpansentanz wird die Jagd noch einmal mimisch wiederholt; das ganze Lager soll teilhaben an der Größe des Kampfes, alle sollen sie wissen, was da geleistet wurde. Und dann darf das Zwergenvölkchen sich freuen, es gibt wieder Fleisch für einige Tage, Zwar verwesen die riesigen Fleischmassen leicht in der Hitze, aber das stört die Schmausenden wenig, ein Pygmäenmagen kann vieles vertragen.
„Leckerbissen" Nicht vom alltäglichen Speisezettel der Pygmäenküche soll hier die Rede sein, sondern von den Besonderheiten, von den guten Dingen, die einen Pygmäenmagen erfreuen. Dazu gehört in erster Linie der Honig. Die Zwerge lieben ihn fast mit Inbrunst; schon bei der bloßen Nennung des Wortes schlecken sie sich genießerisch die Finger. Ist an einem Baum ein wilder Bienenstock aufgespürt, so stürmt alles mit lautem „Eio" hinaus; sie tragen einen Brand mit, die Bienen auszuräuchern. Mit affengleicher Geschwindigkeit wird der Baum erklettert, der Stock verqualmt, aufgebrochen und seines süßen Inhalts beraubt. Daß es dabei oft mehr Stiche als Honig absetzt, stört keineswegs; selbst ein Roß könnte an der Menge der Stiche zugrundegehen, nur nicht ein Zwerg. Sie scheinen mit der Zeit gänzlich unempfindlich geworden zu sein. Außer dem Honig locken noch andere leicht erreichbare „Genüsse". So die Ter25
Pygmäenvater und Tochter
miten, jene afrikanischen Ameisen, die ihre Nester oft zu harten, vielmeterhohen Buckeln und Säulen türmen. Lange werden die Ameisennester von den Zwergen beobachtet. Steht die Flugzeit unmittelbar bevor, dann bauen die Männer ein Blätterdach über dem Hügel. Die Termiten sind am Ausschwärmen gehindert und lassen sich nun leicht in Massen einfangen. Die reichhaltige Beute wird mit den Händen in Körbe geschaufelt und ins Lager geschafft. Die Zwerge können den Genuß der fetten Insekten kaum abwarten, sie werden gleich lebend verzehrt. Aber der Leckerbissen kann auch verfeinert genossen werden. Die Ameisen werden dann mit den Flügeln geröstet oder ohne Flügel in einem Holzmörser zerstampft und mit Salz gekocht; es geht eben nichts über eine gute Pygmäenküche! Mit dem gleichen Heißhunger werden auch Raupen verspeist. Auf dem Speisezettel stehen sie in roher und gerösteter Form. Raupe für Raupe.wird in glühender Holzkohle geröstet und einzeln zum Munde geführt. Nach Angaben der Forscher ziehen die Zwerge den Genuß von Ameisen, Schnecken und Raupen dem besten Wildbraten vor 26
In anderen Dingen gleicht sich der Geschmack des Pygmäen wieder mehr dem des „gesitteten" Europäers an. So zählt Tabak zu den begehrtesten Tauschartikeln, die sie von Negern und Weißen einhandeln. Er ist mindestens ebenso begehrt wie das im Urwald so rare Salz. Von den Negern haben die Zwerge auch teilweise die Unsitte des Hanfrauehens übernommen, aber glücklicherweise nur in sehr bescheidenem Maße. Ein Anregungsmittel haben sie aber sozusagen aus „erster Quelle", die Kolanuß, die mehr Koffein enthält als die kräftigste Kaffeebohne. Sie ist wahrscheinlich vom Westen her eingeführt worden und wächst heute in verschiedenen Arten wild im Urwald. Schweinfurth hatte die Nuß schon am Hofe des Kannibalenhäuptlings Munsa kennengelernt, auch bei den Zwergen ist sie beliebt. Sie wird entweder gekaut oder man braut ein Getränk daraus. Diesem Kolatrunk schreiben die Pygmäen eine überaus belebende Kraft zu.
E i n Tag unter Zwergen Lange Zeit hat Paul Schebesta unter den Zwergen Zentralafrikas gelebt, saß mit ihnen im Schatten der Barüssuspalmen, streifte mit ihnen über die Wildpfade, lauschte ihrem Palaver, sah, hörte und notierte, wie sie lebten und was sie dachten. So wurde er zum besten Kenner des Zwergenlebens und schilderte uns in ausführlichen Berichten ihren Tag mit seinen Gewohnheiten . . . Noch ist die Sonne nicht aufgegangen. Das erste Grau des Tages dringt kaum durch das dichte Blätterdach der Waldriesen. Wie verlassen liegen die kleinen Laubhütten der Urwaldzwerge. Da steckt der erste Pygmäe die Nase vorsichtig ins Freie. Bietet sich der Morgen regnerisch und kühl dar, dann bleibt das Völkchen noch in den Hütten, scheint er dagegen sonnig und warm zu werden, dann ist bald das ganze Lager auf den Beinen. Die Morgentoilette ist kurz, Waschen oder Baden liebt man nicht. Der Schlaf wird aus den Augen gewischt, und schon ist man wieder frisch für den Tag. Bald lodern die ersten Feuer auf, und unter dem Geschrei der Kinder und dem krächzenden, wenig melodischen Gesang der Mädchen sammelt sich die Weiblichkeit mit ihren Tontöpfen, um im nahegelegenen Bach das Wasser für das Morgenessen zu holen. Die Männer stopfen sich behaglich die langen, aus 27
der Rippe eines Bananenblattes geschnitzten Pfeifen mit dem Tabak, den sie sich irgendwo eingetauscht haben. Wer kein Rauchkraut hat, versucht beim glücklichen Besitzer wenigstens einen Zug zu erhaschen. Bald brodelt über dem Feuer in den Töpfen das kärgliche Frühstück. Meist ist es Pflanzengemüse oder ein Brei, dazu kommen als Leckerei vielleicht noch einige Bananen vom Vortag, ein paar Wurzeln oder einige Nüsse, öl wird als Zuspeise geschätzt; aber es ist so selten, daß sogar die Überreste der ausgequetschten Ölpalmfrüchte noch verzehrt werden. Es wird solange gefrühstückt, bis der Bauch sich vorwölbt; das Essen muß den ganzen Tag über bis zum späten Nachmittag reichen. Mehr als zwei Mahlzeiten gibt es bei den Zwergen nicht. Während die Kleinsten in Schmutz und Pfützen umhertollen und sich die größeren Buben im Pfeilschießen üben, in dem sie schon in jungen Jahren äußerst geschickt sind, gehen die Frauen daran, Körper und Gesicht mit schwarzer Farbe aus Holzkohle und dem Saft der Gummifrucht durch allerlei Linien zu „verschönern". Dann, wenn die wärmenden Strahlen der Sonne durch die Laubkronen dringen und alles Feuchte verdunstet ist, machen sich auch die Männer fertig zum Tageswerk, der gemeinschaftlichen Jagd. Den Hunden werden Holzschellen umgehängt, und bald ist die ganze Horde, Mensch wie Tier, unter Geschrei und Gelärm im Urwald verschwunden. Die Nahrung für den folgenden. Tag wird eingebracht. Doch manches Mal ist die Jagd vergebens. Nicht die geringste Beute ist aufzutreiben. Nach solch erfolgloser Pirsch werden den Hunden die Schellen mit Blättern verstopft. Niedergeschlagen und müde kehren die Männer ins Lager zurück. Der Hunger ist Weggenosse. Aber vielleicht haben die Frauen Glück; denn am Morgen sind sie bald nach den Männern aufgebrochen. Die Körbe auf den Rücken, die kleinsten Kinder tragend, ziehen sie aus, den Tagesbedarf an Pflanzennahrung zu decken. Eine kleine Gruppe wendet sich vielleicht auch ins nächste Negerdorf, Bananen und Ölbaumfrüchte einzuhandeln. Im Lager ist es ruhig an einem solchen Tage, nur einige alte Leute bleiben zurück. War aber der Jagdtag der Männer gut, dann treffen Jäger und Meute schon früh wieder im Lager ein. Je lauter das Ge28
schrei der Heimkehrenden, um so größer ist die Beute, die sie mitbringen. Die Frauen brechen die Sammelarbeit ab, sobald sie das Rufen der Männer hören, und kehren mit ihnen heim. Inzwischen ist es Nachmittag geworden. Nun wiederholt sich der gleiche geschäftige Vorgang wie am Morgen. Das Essen wird zubereitet. Wieder wird die Mahlzeit in gerecht abgemessenen Portionen unter der Sippe verteilt. Auch der Speisezettel des Abends ist einfach, karg und immer gleichbleibend: ein Gemüsebrei, einige gekochte Bananen oder Knollen, geröstetes Fleisch und Öltunke. Der Erdboden ersetzt den Tisch, große Blätter, auf denen die Bananen liegen, bilden die Teller, als Besteck dienen die Hände. Gemächlich gibt sich jeder dem Genuß des Essens hin, Streitigkeiten gibt es dabei kaum, jeder begnügt sich mit dem ihm zugewiesenen Teil. Ist die Mahlzeit beendet, dann werden die fettigen Hände sorgsam am nackten Körper gesäubert. Noch kehrt nicht Ruhe im Zwergenlager ein. Kaum ist der Abend hereingebrochen und der Urwald in der Dämmerung gespenstisch verwandelt, greift einer der Zwerge die große Lagertrommel, die neben einer Hütte steht. Dumpf dröhnen die Töne — immer schneller schlägt der Trommler mit den Holzschlegeln und der Hand auf das Instrument. Der Körper bewegt sich rhythmisch im Takt der Schläge mit, die Augen sind starr ins Leere gerichtet, das Gesicht ist eine einzige verzerrte Grimasse. Die Hingabe des Trommeins überträgt sich auf die übrigen. Eben hockten sie noch träge neben den Feuern, nun stehen sie schon im Kreise, Männer und Frauen getrennt — selbst Kinder drängen sich in die Runde. Ein Trippeln beginnt, ein Wiegen und Springen im Takt der Trommel. Lauter Gesang setzt ein. Schweißtropfen perlen über die Leiber, es gibt keine Ruhe. Nur wenn einmal die Kräfte des Trommlers erlahmen, hocken die Tanzenden atemschöpfend nieder. Mit dem ersten Schlag springen sie wieder auf. — Urwaldnacht ist inzwischen hereingebrochen. Die Tanzenden sind im fahlen Lichte der brennenden Feuer kleine schwarze Schatten. Immer noch wirbeln die Schlegel, immer noch dröhnt die Trommel. Ein Feuer nach dem andern erlischt, da verebben auch die Schläge des Trommlers und die Bewegungen der Tänzer. Die Zwerge ziehen sich ermattet zurück. Bald herrscht Ruhe in der kleinen Lichtung, auf der die 29
Pygmäenvater mit seinem Jüngsten. Der Kinderreichtum der Zwergvölker ist groß. Schon früh begleiten die Knaben die Erwachsenen auf die Jagd da sie von jung auf im Bogenschießen unterwiesen werden. Mit den Zeremonien der Jünglingsweihe schließt die Jugendzeit des Nachwuchses ab
Hütten stehen; bis zum Morgen des nächsten Tages, der nicht anders sein wird wie der vergangene. Er bringt die gleiche Eintönigkeit und den gleichen harten Kampf um die tägliche Nahrung.
Sterbendes Zwergenvolk Wir plauderten von der Entdeckung der Zwerge, von ihren Lebensgewohnheiten, ihrer Jagd und ihrem Tageslauf. Wir müssen nun aber auch von ihrem Sterben hören, nicht vom Tode des einzelnen, sondern von ihrem Tode als Volk. Nicht von innen heraus erfolgt dieses Sterben. Die Urwaldzwerge sind an sich ein lebensfähiges und gesundes Volk — Kinderreichtum gehört zu ihren Vorzügen; von außen her, von Negern und Europäern, werden sie bedrängt. Die großwüchsigen Neger haben die Zwerge, wie wir schon hörten, in ein immer größeres Abhängigkeitsverhältnis gebracht. Das künstlich geschaffene Lehenswesen, das sie den Zwergen aufzwangen, veranlaßte schon viele Gruppen, die Jagd auf Großwild aufzugeben und sich auf ihre Negerpatrone zu verlassen. Auf Gedeih und Verderb sind sie ihnen in die 30
Hände gegeben. Daneben erfolgt durch die Zivilisation der Weißen ein immer weiteres Zurückweichen in entlegene Tiefen der Wälder. Stück um Stück werden ihnen die Randgebiete des Urwaldes als Lebensräume genommen. Aber auch in ihre neuen Zufluchtsstätten stoßen die Straßen der Ingenieurtechnik vor und scheuchen die Flüchtlinge aus ihren letzten Rückzugsgebieten. Jagen, Sammeln, als freie Menschlein im tiefsten Urwald umherstreifen, das war seit undenklichen Zeiten Lebensart der Afrikazwerge. Nun, da die Urwälder dahinschwinden und Platz geschaffen wird für zahlreiche Pflanzungen der Neger und Weißen, ist ihnen der Atemraum schon weithin genommen. Wer in den Randzonen der großen Wälder geblieben ist, auf den lauert die Gefahr der Zivilisation mit Krankheiten, Geschäftemacherei und Ausbeutertum, in dem sich auch die Negerstämme mit Vorliebe betätigen. Aber auch denen, die nach Altväterbrauch noch immer das ungebundene Leben im Urwald suchen, hat sich der Lebenskampf äußert verhärtet. Immer mehr werden die Urwaldnomaden in einem zentralen Bereich zusammengedrängt. Schon kann auf enger gewordenem Raum die Jagd nicht mehr alle ernähren. Der Kampf um ein dürftiges Dasein entbrennt zwischen den einzelnen Stämmen. Wie lange noch werden sie sich halten können? Wohlgemeinte aber unzulängliche Hilfsmaßnahmen haben bisher den Verfall der besten und kühnsten Jäger des Urwaldes nicht hemmen können. Der Druck des zivilisatorischen Fortschritts in Afrika ist zu groß. Die wachsende Menschheit fordert Raum. Jeder Gewinn an kultiviertem Boden aber ist ein Schritt näher dem Untergang des einstigen Herrenvolkes der afrikanischen Wälder. Umschlagzeichnurig: Karlheinz Dobsky Abbildung auf der letzten Umschlagseite: Erwachsene Pygrnäenjäger neben einem normalgewachsenen europäischen Forscher. Die Abb. S. 21 und 30 sind dem Werk „Unter Zwergmenschen und Riesenaffen" v. G. Mittendorf entnommen
L u x - L es eb o g en N r . 85
/ H e f t p r e i s 20 P f e n n i g
Natur- und kulturkundliche Hefte — Bestellungen (viertelj. 6 Hefte DM 1,20) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, Murnau-München — Druck: Buchdruckerei Mühlberger Augsburg. ——
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plaudern die „LU X-LESEBOGEN', Gesammelt ersetzen die Hefte eine ganze Bibliothek moderner Forschung. Folgende Lesebogen sind bisher erschienen. (Die mit einem Sternchen * bezeichneten Nummern können noch nachbestellt werden) Kunst und Dichtung 1. Von der Panflöte zur Sphärenorgel 2. Der junge Dürer 3. Rembrandt 12. Mozart 15. Polizeiakte Shakespeare 17. Mit Pinsel, Feder, Gänsekiel 27./28. Kasperl 34. Film 38. Tiere d. Höhlenbilder 44. Dome der Gotik '49. Moderne Kunst *55./56. Beim Herrn Geheimrat *58. Michelangelo •61. Gemälde *72. Wilhelm Leibl *80. Formende Hände •81. J. S. Bach Geschichte 3. Im Goldland der Inka 5. Flucht in die Freiheit 6. Der Streithansl 11. Die Briefmarke 14. Coluxabus 22. Bunting — der Rattenfänger 26. Das tolle Jahr 1848 29. Mit d. Drachenbooten nach Vinland 40. 1648: Und es ward Friede
VBRLAG
•50. Pompeji *51. Cortez — Der weiße Gott *54. Im Tal der Könige *59. Jäger der Urzeit •66. Der Prozeß Sokrates •86. Das Reich der May a Völker und Länder 16. Wasser — Wüste — Weizen 31. Arktis 33. Auf dem Mississippi 39. Wüste oder Paradies? •43. Der sechste Erdteil '65. Eisbrecher erkämpfen Nordost-Passage *67. Im Reich der Höhlen •69. Japan '71. Das Land Sibir •73. Roald Amundsen •75. Urwald •77. Windhunde d. Ozeans •82. Rätsel der Osterinsel •83. Die großen Kanäle *85. Zwergmenschen im Urwald Tiere und Pflanzen 8. Anguis — der Aal 9. Gefiederte Freunde 13. Augen auf! I 18. Hagenbeck handelt mit Tieren 19. Robert Koch 21. Wale 23. Der Räuber Isegrim
SEBASTIAN
LUX
.
•24. Kalenderheft 32. Nachtgespenster •35. Der Pilzsammler 36. Insekten-Rätsel •45. Augen auf! II •47. Das überlistete Tier •52. Tier-Riesen d. Urzeit '53. Das verwandelte Tier *57. Tiervölker wandern •62. Über Wald und Heide ,64. Ringvogel 32521 •70. Tierleben (A. Brehm) •74. Hydra •78. Grimback d. Hamster Physik, Technik, Sternenkunde 4. Verhexte Zahlen 7. Die Sterne 20. Das multiplizierte Auge 26. Die gläserne Landkarte 30. Chemie keine Hexerei 37. Der gute Mond *41. Der brennende Stein 42. Vom Tretrad zur Turbine •46. Helium — der Sonnenstoff "48. Luftgaukler •60. Meteore •63. Weltraum-Raketen •68. Triumphe der Forschung •76. Die Sonne •79. Kälter als Eis •84. Rätsel des Mars
MURNAU-MUNCHBN