Prävention von Entwicklungsstörungen
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Prävention von Entwicklungsstörungen herausgegeben von
Waldemar von Suchodoletz
GÖTTINGEN · BERN · WIEN · PARIS · OXFORD · PRAG TORONTO · CAMBRIDGE, MA · AMSTERDAM · KOPENHAGEN
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Prof. Dr. med. Waldemar von Suchodoletz, geb. 1944. 1963-1969 Studium der Humanmedizin in Leipzig und Berlin. Anschließend Ausbildung zum Facharzt für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Rostock und Subspezialisierung auf dem Gebiet der Kinderneuropsychiatrie. 1970 Promotion. Ausbildung in Psychotherapie und Erwerb des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. 1984 Habilitation. 1987-1993 Leiter der Abteilung für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters an der Medizinischen Akademie in Erfurt. Seit 1993 Professur an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Leiter der Abteilung für Entwicklungsstörungen. Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: Sprachentwicklungs- und Lese-Rechtschreib-Störungen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2007 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG Göttingen • Bern • Wien • Paris • Oxford • Prag Toronto • Cambridge, MA • Amsterdam • Kopenhagen Rohnsweg 25, 37085 Göttingen http://www.hogrefe.de Aktuelle Informationen • Weitere Titel zum Thema • Ergänzende Materialien Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Umschlagbild: © Bildagentur Mauritius, Mittenwald Gesamtherstellung: Druckerei Kaestner GmbH & Co. KG, Rosdorf Printed in Germany Auf säurefreiem Papier gedruckt ISBN: 978-3-8017-1980-7
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Vorwort Entwicklungsstörungen können zu einer erheblichen Reduzierung der Lebenschancen eines Kindes führen. Frühförderstellen, sozialpädiatrische Zentren, niedergelassene Therapeuten unterschiedlicher Disziplinen, Sonderpädagogen und manch andere Fachleute sehen ihre zentrale Aufgabe darin, durch eine Förderung bzw. Behandlung entwicklungsauffälliger Kinder eine Kompensation der Beeinträchtigungen und damit eine Verbesserung der Entwicklungsmöglichkeiten zu erreichen. Wenn sich Leistungseinbußen aber erst einmal manifestiert haben, ist eine Therapie und Rehabilitation langwierig, für die Betroffenen strapazierend und für die Gesellschaft kostenintensiv. Bei ausgeprägten Entwicklungsstörungen sind zudem die erreichbaren Behandlungsergebnisse selbst bei optimalen Förder- und Therapieangeboten begrenzt. Wesentlich effektiver als eine Therapie und Förderung ist eine Verhinderung des Auftretens einer Störung durch präventive Maßnahmen. Vorbeugung von Entwicklungsstörungen ist eine unglaubliche Erfolgsgeschichte. Manche Störungsbilder – wie geistige Behinderungen infolge einer Phenylketonurie oder choreoathetotische Bewegungsstörungen durch eine Neugeborenen-Gelbsucht – sind durch eine Prävention praktisch verschwunden. Das Auftreten anderer Entwicklungsstörungen ist allerdings nach wie vor kaum zu verhindern und deren Häufigkeit hat sich bis heute kaum verändert. Die Bedeutung von Prävention wird weltweit zunehmend erkannt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) rief das Präventionsprogramm „Gesundheit für alle 2000“ ins Leben und in Deutschland ist ein Präventionsgesetz in Vorbereitung, das Vorbeugung zu einem festen, gesetzlich verankerten Bestandteil der Gesundheitsversorgung machen soll. Während derzeit nur etwa 10 % der Gesundheitsausgaben für Prävention zur Verfügung gestellt werden, soll es zukünftig ein deutlich höherer Anteil sein. Von einer verbindlichen Regelung verspricht sich der Gesetzgeber nicht nur eine Verbesserung der Lebensqualität der Bevölkerung, sondern auch Einsparungseffekte. Prävention soll einen erheblichen Teil der heutigen Gesundheitsausgaben für Akutbehandlung, Rehabilitation und Pflege überflüssig werden lassen. Anliegen des Buches ist es, für die Prävention von Entwicklungsstörungen Bilanz zu ziehen und die Effektivität einzelner Interventionen kritisch zu hinterfragen. Die Schwerpunkte vorbeugender Aktivitäten haben sich in den letzten Jahren deutlich verschoben. Anfangs standen medizinische und hygienische Maßnahmen im Mittelpunkt, während in letzter Zeit psychosoziale Aspekte zunehmende Beachtung finden. Dementsprechend werden im Buch nicht nur Möglichkeiten zur Vorbeugung motorischer und kognitiver Entwicklungsstörungen besprochen, sondern insbesondere auch Anstrengungen zur Verhinderung emotionaler Störungen und von Fehlentwicklungen des Bindungs- und Sozialverhaltens. Wir hoffen, dass das Buch dazu beiträgt, effektiven Präventionsprogrammen zu einer flächendeckenden Verbreitung zu verhelfen. Durch eine konsequente Vorbeugung könnten vielen entwicklungsgefährdeten Kindern zeitaufwändige
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Vorwort
und belastende Interventionen erspart und eine unkompliziertere Kindheit ermöglicht werden. Wesentlich haben Frau Maier und Frau Feil zur Erstellung des Manuskripts beigetragen. Sie haben unermüdlich und mit großer Zuverlässigkeit zahlreiche Arbeiten, wie Korrekturen und Literaturrecherchen übernommen. Hierfür möchte ich mich ganz herzlich bedanken. München, November 2006
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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V 1.
Möglichkeiten und Grenzen von Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Waldemar von Suchodoletz
2.
Prävention motorischer Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Harald Bode
3.
Prävention von kognitiven Entwicklungsstörungen und geistiger Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Dieter Karch
4.
Prävention umschriebener Sprachentwicklungsstörungen . . . . 45 Waldemar von Suchodoletz
5.
Prävention von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten . . . . . . . . . 81 Petra Küspert, Jutta Weber, Peter Marx & Wolfgang Schneider
6.
Prävention von Rechenstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Kristin Krajewski & Wolfgang Schneider
7.
Prävention von Angststörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Judith Blatter & Silvia Schneider
8.
Prävention von Interaktionsstörungen in Familien mit autistischen Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Paul Probst
9.
Prävention von emotionalen und Bindungsstörungen . . . . . . . 167 Karl Heinz Brisch
10. Prävention von kindlichen Verhaltensstörungen mit dem Triple P-Elterntraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Kurt Hahlweg & Nina Heinrichs 11. Faustlos für Kindergarten und Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Manfred Cierpka 12. Prävention von Störungen des Sozialverhaltens – Entwicklungsförderung in Familien: das Eltern- und Kindertraining EFFEKT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Friedrich Lösel, Stefanie Jaursch, Andreas Beelmann & Mark Stemmler
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Inhalt
13. Entwicklungsbezogene Prävention dissozialer Verhaltensprobleme: Eine Meta-Analyse zur Effektivität sozialer Kompetenztrainings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Andreas Beelmann & Friedrich Lösel 14. Prävention sozial-emotionaler Störungen bei Kindern mit Behinderung (PESS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Johannes Bach Die Autorinnen und Autoren des Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
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Möglichkeiten und Grenzen von Prävention Waldemar von Suchodoletz
Gliederung 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einteilung präventiver Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nutzen von Prävention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anforderungen an Präventionsprogramme . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1.1 Begriffsbestimmung Prävention bedeutet Vorbeugung oder Verhütung (lat. prä-venire = zuvorkommen). In der Medizin wird synonym auch der Begriff Prophylaxe benutzt. Prävention überschneidet sich mit Gesundheitsförderung. Für letztere wurde 1986 mit der Ottawa-Charta von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein umfassendes Konzept erarbeitet, das später in mehreren Folgekonferenzen präzisiert wurde. Prävention und Gesundheitsförderung haben gemeinsam das Ziel, die Häufigkeit von Erkrankungen, Störungen und Behinderungen zu reduzieren. Beide Begriffe unterscheiden sich hinsichtlich des theoretischen Hintergrunds. Prävention ist mit dem Konzept der „Pathogenese“ verbunden. Durch eine Beseitigung oder Verringerung von Gesundheitsrisiken, die im Individuum oder im Umfeld liegen können, sollen Störungen bzw. deren Auswirkungen eingedämmt werden. Gesundheitsförderung hingegen geht vom Gedanken der „Salutogenese“ aus. Eine Reduktion von Erkrankungen wird durch eine Aktivierung individueller und gesellschaftlicher Ressourcen angestrebt. Maßnahmen zur Prävention und zur Gesundheitsförderung ergänzen sich somit (BZgA, 2001; Naidoo, 2003). Die große Bedeutung von Prävention ist heute unbestritten. Eine seit Jahrzehnten kontinuierlich zunehmende Verlängerung der Lebenserwartung und Verbesserung der Lebensqualität geht vorwiegend auf Prävention und weniger auf eine erfolgreiche Behandlung von Erkrankungen zurück. Zahlreiche präventive Maßnahmen sind inzwischen allgemein akzeptiert und zu selbstverständlichen Bestandteilen unseres Alltags geworden. Weit verbreitet sind z. B. allgemeine Hygiene zur Verminderung des Infektionsrisikos, Jodzugabe zum Trinkwasser und Speisesalz zur Vorbeugung eines Schilddrüsenkropfes, Vitamin-D-Gabe im ersten Lebensjahr zur Verhinderung einer Rachitis und das Vermeiden der Bauch-
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lage bei Säuglingen zur Prävention des plötzlichen Kindstods. Bemühungen um eine ausgewogene Ernährung und um mehr Bewegung sowie um eine Verminderung schädigender Faktoren (Rauchen, Alkohol, Drogen) gehören ebenso dazu. Andere gleichfalls äußerst wirksame Präventionsmaßnahmen, wie Impfungen, werden hingegen immer noch kontrovers diskutiert. Trotz der beeindruckenden Erfolge präventiver Maßnahmen, die deutlich über denen üblicher medizinischer Behandlungen liegen, finanzieren unsere Sozialsysteme vorwiegend die Therapie und Rehabilitation manifester Erkrankungen. Für Krankheitsbehandlung wird derzeit zehnmal so viel ausgegeben wie für Prävention. Erst in den letzten Jahren ist in der Politik, angestoßen durch ökonomische Zwänge, ein Umdenken zu beobachten. Die Kostenexplosion im Gesundheitswesen macht es erforderlich, Einsparungen durch eine Vermeidung von Krankheits- und Krankheitsfolgekosten zu erreichen. Auf der Homepage des Bundesministerium für Gesundheit heißt es dementsprechend: „Ein Großteil der heutigen Gesundheitsausgaben lässt sich durch aktive individuelle Vorbeugung und nachhaltige Präventionsstrategien vermeiden.“ Und Klotz et al. (2006) versehen ihre Arbeit zur Prävention und Gesundheitsförderung mit dem Untertitel: „Nur mit der Umsetzung präventiver Strategien können die sozialen und ökonomischen Herausforderungen des veränderten Krankheitsspektrums bewältigt werden.“ Gegenwärtig ist geplant, durch ein Präventionsgesetz Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung neben Akutbehandlung, Rehabilitation und Pflege zu einer eigenständigen Säule im Gesundheitssystem werden zu lassen. Im Gesetzentwurf ist vorgesehen, die Versicherungsträger zur Finanzierung präventiver Maßnahmen zu verpflichten, Präventionsziele zu definieren und Qualitätsstandards festzulegen.
1.2 Einteilung präventiver Maßnahmen Präventionsmaßnahmen lassen sich nach unterschiedlichen Gesichtspunkten kategorisieren (vgl. Tab. 1). Am häufigsten verwendet wird eine Einteilung nach den Interventionszeitpunkten (Hurrelmann et al., 2004; Walter, 2003). Tabelle 1: Kategorisierung von Prävention Einteilung nach Interventionszeitpunkten
– Primäre Prävention – Sekundäre Prävention – Tertiäre Prävention
Einteilung nach Ansatzpunkten
– Personale Prävention (Verhaltensprävention) – Strukturelle Prävention (Verhältnisprävention)
Einteilung nach Zielgruppen
– Universelle Prävention – Selektive Prävention – Indizierte Prävention
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Eine primäre Prävention soll das Auftreten einer Störung durch die Beseitigung der Ursachen verhindern. Eine sekundäre Prävention beinhaltet eine Frühbehandlung von Erkrankungen. Sie setzt ein, wenn erste Vorboten einer Erkrankung beobachtet werden und hat zum Ziel, die Manifestation ausgeprägter Symptome zu verhindern. Bei der tertiären Prävention geht es um eine Vermeidung von Verschlechterungen und Folgeschäden bei bereits bestehenden Störungsbildern. Viele Maßnahmen der kurativen Medizin sind auch tertiär präventiv wirksam, indem Komplikationen und Verschlechterungen abgewendet werden. Wenn z. B. nach einem Schädel-Hirn-Trauma durch die Sicherstellung der Vitalfunktionen oder eine Senkung des Hirndrucks sekundäre Hirnschädigungen verhütet werden, so verhindern diese Interventionen das Auftreten von Komplikationen, ohne dass die Behandlung als Präventivmaßnahme ins Auge fällt. Auch eine Rehabilitation, die durch eine Vermeidung des Einschleifens falscher Verhaltens- oder Bewegungsmuster zur Verhütung einer Verschlechterung beiträgt, gehört in den Bereich der tertiären Prävention. Therapie, Rehabilitation und Tertiärprävention sind somit nicht scharf voneinander abzugrenzen. Eine andere Unterteilung präventiver Maßnahmen unterscheidet danach, an welcher Stelle die Interventionen ansetzen. Bei der strukturellen Prävention (Verhältnisprävention) werden Bedingungen in den verschiedenen Lebensbereichen der Kinder (Familie, Kindereinrichtung, Freizeit, weiteres Umfeld) möglichst risikoarm gestaltet. Umwelt zentrierte Präventionsmaßnahmen sind sehr erfolgreich und haben erheblich zu einer Reduktion von Entwicklungsrisiken beigetragen. Durch eine personale Prävention (Verhaltensprävention) sollen Kinder und Jugendliche durch Aufklärung, Verhaltensmodifikation, Stärkung der Persönlichkeit oder auch durch Sanktionen dazu motiviert werden, Risiken zu vermeiden und sich gesundheitsfördernd zu verhalten. Da sich Einstellungen und Verhaltensnormen aber nur langsam und nur bei einer intensiven und lang anhaltenden Intervention verändern, sind die Erfolge der personalen Prävention oft enttäuschend. Präventionsprogramme im Rahmen einer universellen Prävention streben eine Einbeziehung der Gesamtbevölkerung an. Zielgruppen einer selektiven Prävention sind definierte Bevölkerungsgruppen mit besonderen Risiken. Eine indizierte Prävention ist für Einzelpersonen gedacht, wenn erste Anzeichen einer Störung beobachtet werden, ohne dass bereits eindeutige Krankheitssymptome vorhanden sind.
1.3 Nutzen von Prävention Durch Präventionsmaßnahmen ist es in den letzten Jahrzehnten gelungen, das Auftreten zahlreicher Erkrankungen des Kindesalters, von denen viele mit Entwicklungsstörungen einhergehen, zu verhindern. Trotz der beeindruckenden Erfolge stehen allerdings manche Eltern einzelnen Programmen zur primären Prävention skeptisch gegenüber und vorbeugende Maßnahmen wie Impfungen werden abgelehnt. Beispiele für besonders erfolgreiche Präventionsmaßnahmen sind Impfungen zur Vermeidung von Infektionskrankheiten sowie eine intensive Überwachung
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von Schwangerschaft, Geburt und frühkindlicher Entwicklung zur Früherkennung von Risiken bzw. ersten Symptomen. Infektionskrankheiten, insbesondere diejenigen die durch Viren hervorgerufen werden, können zu Schädigungen des Nervensystems führen. Durch Impfprogramme, eine Expositionsprophylaxe (Desinfektion, Sterilisation, Isolierung von Erkrankten) und eine Verminderung der allgemeinen Infektanfälligkeit (Verbesserung der Ernährung u. a.) haben Infektionen manches von ihrem Schrecken verloren. In diesem Zusammenhang ist auch die Zahl der im Rahmen von Infektionserkrankungen auftretenden Entwicklungsstörungen deutlich zurückgegangen. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für den Erfolg von Impfaktionen ist die Prävention der Rötelnembryopathie. Rötelninfektionen der Mutter in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten führen in ca. 25 % der Fälle zu embryonalen Schädigungen. Entwicklungsstörungen des Zentralnervensystems treten bei jedem zweiten der betroffenen Kinder auf. Rötelnimpfungen haben diese schwerwiegende Erkrankung in Europa nahezu in Vergessenheit geraten lassen. Für die primäre Prävention von Entwicklungsstörungen sind Vorsorgeuntersuchungen während Schwangerschaft, Geburt und frühkindlicher Entwicklung von ähnlich weit reichender Bedeutung wie die Impfprogramme. Durch eine regelmäßige Überwachung des Gesundheitszustands der Schwangeren können Risiken für das Kind frühzeitig erkannt und in vielen Fällen abgewendet werden. So lässt sich durch die rechtzeitige Diagnostik und Behandlung einer drohenden Frühgeburt, einer Stoffwechselentgleisung oder eines Mangelzustandes verhindern, dass beim Kind schon im Mutterleib eine Schädigung des Gehirns mit den entsprechenden Beeinträchtigungen der späteren Entwicklung auftritt. Während der Geburt können insbesondere Hirnblutungen infolge zu starker mechanischer Belastungen beim Durchtritt des Kopfes durch den Geburtskanal sowie Sauerstoffmangel zu Hirnschädigungen führen. Eine laufende Überwachung von Wehentätigkeit und Herzfrequenz des Kindes – bei der Geburtsüberwachung inzwischen Routine – lassen Gefährdungen frühzeitig erkennen. Dadurch können therapeutische Maßnahmen ergriffen werden, bevor irreversible Hirnschädigungen eingetreten sind. Entscheidend für den Erfolg sekundärer Präventionsmaßnahmen ist eine Früherkennung von Entwicklungsstörungen. Hierzu wurden 1971 die Kindervorsorgeuntersuchungen (U-Untersuchungen) deutschlandweit etabliert und in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen. Vorsorgeuntersuchungen des Kindes beginnen gleich nach der Geburt (U1) und werden bis zum mittleren Schulalter (J1 im 14. Lebensjahr) in regelmäßigen Abständen wiederholt. Ziel der ersten U-Untersuchungen ist es, Gefährdungen des Kindes zu erkennen und durch deren Beseitigung Schädigungen zu vermeiden bzw. zu minimieren. Die späteren U-Untersuchungen dienen insbesondere der Früherkennung von Entwicklungsauffälligkeiten und damit der Sekundärprävention. Bei den letzten Vorsorgeuntersuchungen stehen nicht organische Erkrankungen, sondern funktionelle, emotionale und Verhaltensauffälligkeiten im Mittelpunkt des Screenings. Wie die Vorsorgeuntersuchungen durchzuführen und welche Konsequenzen aus auffälligen Befunden abzuleiten sind, wird durch Richtlinien des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung festgelegt (Allhoff et al.,
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1991). Doch obwohl die U-Untersuchungen eine Beurteilung von zahlreichen Entwicklungsbereichen in regelmäßigen Abständen vorsieht, wird das Ziel der Früherkennung häufig nicht erreicht. Bei der Vorbeugung von Entwicklungsstörungen hinkt die Praxis den vorhandenen Möglichkeiten deutlich hinterher.
1.4 Anforderungen an Präventionsprogramme Für die Prävention von Entwicklungsstörungen stehen inzwischen zahlreiche Programme zur Verfügung. Immer wenn im internationalen Vergleich unterdurchschnittliche Sprachleistungen und Lesekompetenzen unserer Kinder oder Aggressionen in der Schule für Schlagzeilen sorgen, werden neue Initiativen für Familien, Kindergärten oder Schulen gestartet. Die Programme sind in der Regel vom Augenschein her vernünftig und sinnvoll. Ob sie für die Kinder tatsächlich einen Nutzen bringen, wird allerdings kaum einmal überprüft. Wenn dies aber geschieht, dann sind die Ergebnisse nicht selten ernüchternd. Präventionsmaßnahmen binden in der Regel erhebliche Ressourcen. Sie sind deshalb nur gerechtfertigt, wenn sie nachweislich wirksam und effizient sind. Nutzen und Risiko müssen in einem vernünftigen Verhältnis stehen und die angestrebten Zielgruppen müssen auch erreicht werden. Die Wirksamkeit eines Präventionsprogramms sollte mit aussagefähigen Methoden nachgewiesen sein. Es muss belegt werden, dass durch die Präventionsmaßnahme die Häufigkeit der Störung, Erkrankung oder Behinderung tatsächlich gesenkt wird und die Effekte auch langfristig anhalten. Zur Verdeutlichung der Notwendigkeit einer Effektivitätsüberprüfung seien die Antiraucherprogramme an Schulen genannt. Im europaweiten NichtraucherWettbewerb „Be Smart – Don’t Start“ verpflichteten sich Schüler ganzer Klassen, ein halbes Jahr lang nicht zu rauchen. Wenn mehr als 10 % einer Klasse nicht durchhielt, dann schied die Klasse aus dem Wettbewerb aus. 50 % der Klassen bestanden die Anforderungen, doch konnte ein halbes Jahr später gegenüber Vergleichsklassen kaum noch eine Reduktion im Nikotinkonsum nachgewiesen werden (Hanewinkel et al., 2002, 2006). Auch bei der Überprüfung anderer Programme zeigte sich, dass die Effekte von Antiraucher-Kampagnen in der Regel nur Monate, allenfalls wenige Jahre anhalten und sich dann die Konsummuster wieder angleichen. Den Beleg für die Wirksamkeit eines Präventionsprogramms zu erbringen ist allerdings schwierig. Die Bewertungsparameter müssen aussagefähig sein und alle wesentlichen Einflussfaktoren sind zu berücksichtigen. Wie leicht eine Nichtbeachtung von Einflussfaktoren zu einer Fehleinschätzung führt, geht aus einer Studie zur Überprüfung der Effektivität der Beratung junger Eltern hervor. Eltern wurden, bis ihr erstes Kind 18 Monate alt war, in insgesamt sechs Gruppenseminaren über Gesundheitsfragen informiert. Themen waren u. a. Stillen/Ernährung, Allergie, Impfung, Karies und Rauchen in der Familie. Der Entwicklungsstand der Kinder wurde im Alter von zwei Jahren überprüft. Die Kinder der Interventionsgruppe (n = 167) waren zu diesem Zeitpunkt den Kontrollkindern (n = 150) in mehreren Entwicklungsbereichen (Sprachver-
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ständnis, Sprachproduktion, Feinmotorik, Situationsverständnis, Selbsthilfe) eindeutig überlegen. Die signifikanten Gruppenunterschiede waren auch noch nach Berücksichtigung von Geschlecht, Schwangerschaftsdauer, 5-Minuten-Apgar-Wert, Familienstand sowie von Alter, Bildung und Nationalität der Eltern nachweisbar. Wenn aber wesentliche Erziehungsvariablen in die Betrachtung mit einbezogen wurden, dann glichen sich die Unterschiede aus (Bergmann et al., 2005). Der Entwicklungsvorsprung der Kinder der Interventionsgruppe ist also weniger auf den Erfolg der Elternberatung, sondern eher auf ein unterschiedliches Erziehungsverhalten in den Gruppen zurückzuführen. Trügerisch sind gelegentlich auch die Daten, die als Beleg für die Effektivität eines Interventionsprogramms vorgelegt werden. So wurde z. B. über einen erheblichen Rückgang der Zahl der HIV-Infizierten in Uganda von 1994 bis 2003 berichtet und dies als Erfolg einer Aufklärungskampagne gewertet. Eine genauere Betrachtung der Daten ergab jedoch, dass der Rückgang Ausdruck der hohen Sterblichkeit an HIV war. Zum Ende des Beobachtungszeitraums gab es mehr Tote als Neuinfizierte, so dass die Gesamtzahl der HIV-Infizierten sank. Effizienz ist ein weiteres Kriterium, das Präventionsprogramme erfüllen sollten. Immer ist zu fragen, ob sich vergleichbare Effekte nicht mit anderen Programmen billiger oder schneller erreichen lassen und ob der Nutzen pro eingesetztem Euro für die Bevölkerung an anderer Stelle nicht höher wäre. Das Drogenpräventionsprogramm „DARE“ (Drug Abuse Resistance Education) der USA z. B. verschlang mehrere Milliarden Dollar. Zeitweise wurden drei Viertel aller Schüler erreicht. Bei einer Evaluation fand sich dann aber allenfalls eine geringfügige Verminderung des Drogenkonsums, so dass die Effizienz dieses Programms als völlig unzureichend eingeschätzt wurde. Vor der Einführung eines Präventionsprogramms ist immer auch eine Risikoabwägung erforderlich. Auch bei sinnvollen und notwendigen Präventionsbemühungen ist nicht auszuschließen, dass negative Wirkungen auftreten. So können Programme, die sich spezifisch an Problemgruppen wenden, unbeabsichtigt zu Stigmatisierung und Ausgrenzung der Zielgruppe führen. Auch eine Verstärkung des Problemverhaltens, das zu vermindern das eigentliche Ziel war, ist nicht auszuschließen. So zeigte eine Analyse der Ergebnisse von 56 in Schulen gestarteten Initiativen gegen Alkohol, dass in 4 Fällen eine Erhöhung des Alkoholkonsums eingetreten war. Bei 20 Studien wurden keine und bei 32 positive Effekte gefunden, die jedoch nur für acht Programme über einen Zeitraum von mindestens drei Jahren verfolgt wurden. Eine längerfristige Wirkung konnte nur in einer einzigen Studie festgestellt werden (Foxcroft, 2006). Das Nutzen-Risiko-Verhältnis dieser Kampagnen ist somit trotz der unbestrittenen Notwendigkeit einer Prävention der Alkoholabhängigkeit eher als negativ einzuschätzen. Präventionsprogramme richten sich häufig an breite Bevölkerungsschichten. Einen Nutzen haben nur die von der Störung Betroffenen, deren Zahl bei selteneren Auffälligkeiten niedrig ist. Schon geringe Risiken und Nebenwirkungen, die im Rahmen einer Therapie ohne Weiteres in Kauf genommen werden, können den Sinn eines Präventionsprogramms infrage stellen. Berücksichtigt werden muss auch, dass Nebenwirkungen (z. B. Impfschäden) primär Gesunde treffen können. Großer Nutzen für die Allgemeinheit kann also einem minimalen Nut-
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zen oder gar einem Schaden beim Einzelnen gegenüber stehen, eine Situation, die als Präventionsparadoxon bezeichnet wird. Um eine Teilnahme an Präventionsprogrammen zu erreichen, wird oft der Nutzen für den Einzelnen betont. Dabei wird gelegentlich mit irreführenden Zahlen gearbeitet. So gibt es z. B. groß angelegte Kampagnen für regelmäßige Mammographieuntersuchungen zur Früherkennung des Brustkrebses. Als Nutzen wird angeführt, dass innerhalb von 10 Jahren 25 % weniger Frauen an Brustkrebs sterben, wenn diese zwischen dem 50. und 69. Lebensjahr alle 2 Jahre eine Mammographie durchführen lassen. Unerwähnt bleiben die absoluten Zahlen, die vermutlich deutlich weniger Frauen zur Teilnahme veranlassen würden. In absoluten Zahlen bedeuten die 25 %, dass wenn 1.000 Frauen 10 Jahre lang am Screening teilnehmen, dann sterben innerhalb dieser Zeit 2 Frauen weniger an Brustkrebs (6 anstelle von 8). Bei 10 bis 20 mal so vielen Frauen werden falsch positive Befunde erhoben und unnötige Gewebeentnahmen, eventuell sogar in Narkose, veranlasst. Die Nutzen-Risiko-Bilanz fällt somit bei Kenntnis dieser Zahlen deutlich schlechter aus, als die Zahl von 25 % suggeriert (Wenderlein, 2005). Viele Präventionsprogramme scheitern an der Verbreitung und Einführung in die Praxis. Rotheram-Borus und Duan (2003) gingen der Frage nach, wie viele von 14 als effektiv anerkannten Präventionsprogrammen für Kinder bzw. Eltern nach 15 Jahren tatsächlich eingesetzt wurden. Es zeigte sich, dass nur fünf der Programme den Sprung in die Praxis geschafft hatten. Als entscheidende Faktoren für den Erfolg erwiesen sich das Engagement und soziale Geschick des Entwicklers. Nur wenn sich dieser in seiner weiteren Berufskarriere für die Einführung des Programms einsetzte, zum Beleg der Effektivität Replikationsstudien durchführte und Politiker sowie Öffentlichkeit aktiv ansprach, hatte ein Programm eine Chance, sich durchzusetzen. Rotheram-Borus und Duan fordern deshalb, bei der Erarbeitung und Praxiseinführung von Präventionsprogrammen Produktentwicklungs- und Markteinführungsstrategien aus der Wirtschaft anzuwenden. Dies bedeutet, dass vor Beginn der eigentlichen Arbeiten überprüft wird, ob das Programm bei den zukünftigen Anwendern bzw. den zuständigen Behörden Akzeptanz finden wird. Marktumfragen müssen klären, ob eine Entwicklung spezieller Programmvarianten für spezifische Zielgruppen erforderlich ist. Bei der Evaluation müssen die tatsächlich wirksamen und damit unbedingt notwendigen Faktoren erfasst werden, um den Umfang des Programms auf das notwendige Maß reduzieren zu können. Außerdem sollte eine Weiterentwicklung im Verlaufe der Anwendung fester Bestandteil der Praxiseinführung sein. Als hilfreich für eine allgemeine Akzeptanz erwies sich auch eine Zertifizierung durch eine allgemein akzeptierte Institution. Manche Programme scheitern daran, dass die eigentlichen Zielgruppen nicht erreicht werden und keine Verteilungsgerechtigkeit besteht. So wurde in den USA 1979 ein außerordentlich aufwändiges, vorbildlich organisiertes Präventionsprogramm begonnen, um innerhalb von 10 Jahren Erkrankungshäufigkeit und Sterblichkeit in 15 definierten Bereichen zu reduzieren. 226 konkrete und überprüfbare Zielsetzungen wurden formuliert (z. B. Senkung der Zahl der Schwangerschaften von 16-Jährigen von 3,1 % auf 2,5 %). Insgesamt wurden
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beeindruckende Erfolge erreicht, wie z. B. eine Erhöhung der Lebenserwartung um 1 ½ Jahre. Es war aber nicht gelungen, die Unterschicht einzubeziehen, so dass im Ergebnis die Ungleichheit in der Bevölkerung hinsichtlich Gesundheit und Lebensqualität zugenommen hatte (Kühn, 1993). Zielgruppen, insbesondere wenn diese aus den unterprivilegierten Schichten kommen, müssen spezifisch angesprochen werden. Die Wege müssen kurz, die Zugangshürden niedrig und die Erreichbarkeit einfach sein. Sollen Familien mit Migrationshintergrund einbezogen werden, dann müssen auch kulturelle Besonderheiten berücksichtigt werden. Wenn die Angebote nicht auch auf bildungsferne und finanziell benachteiligte Familien zugeschnitten werden, dann wird ein Präventionsprogramm nur die Ober- und Mittelschicht erreichen, wie dies z. B. bei vielen Elterngruppen der Fall ist. Die aufgeführten Beispiele machen deutlich, dass an ein Präventionsprogramm hohe Anforderungen zu stellen sind und dass guter Wille und eine Einschätzung der Nützlichkeit einer Initiative aufgrund des gesunden Menschenverstandes bei weitem nicht ausreichen.
1.5 Schlussfolgerungen Eine Prävention von Entwicklungsstörungen ist seit langem in die Praxis eingeführt und hat sich als effektiver erwiesen als eine Förderung und Behandlung betroffener Kinder. Trotz des Erfolgs präventiver Maßnahmen liegt aber im gegenwärtigen Betreuungssystem der Schwerpunkt aller Bemühungen auf einer Therapie und Rehabilitation manifester Störungen. Allerdings hat in letzter Zeit eine Kostenexplosion im Versorgungssystem zu einem Umdenken geführt, so dass in Zukunft Vorbeugung einen höheren Stellenwert erhalten wird. Bei der Forcierung von Prävention muss berücksichtigt werden, dass nicht jede Intervention, die vernünftig und wünschenswert erscheint, auch sinnvoll ist. Manche Präventionsprogramme haben sich bei genauerem Hinsehen als unwirksam erwiesen und bei anderen steht der Nutzen in keinem vernünftigen Verhältnis zu Aufwand und Risiko. Vor dem Start neuer Initiativen ist deshalb eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung erforderlich. Aber auch nach der Praxiseinführung ist laufend zu überprüfen, ob sich eine Präventionsmaßnahme tatsächlich bewährt, damit Qualitätsmängel behoben bzw. unnütze Programme abgebrochen werden können. Der Nachweis der Effektivität von Präventionsprogrammen setzt klare und überprüfbare Aufgabenstellungen voraus. Konkrete Ziele müssen benannt und deren Erreichen mit aussagefähigen Methoden belegt werden. Dabei ist ein Nachweis langfristig anhaltender Wirkungen unverzichtbar. Um relevante Effekte zu erreichen, ist es oft erforderlich, mehrere Lebensbereiche (Schule, Familie, weiteres Umfeld) einzubeziehen. In der Praxis haben sich Präventionsprogramme, bei denen Information und Aufklärung im Mittelpunkt stehen, als relativ unwirksam erwiesen. Wenn Verhaltensänderungen erreicht werden sollen, dann sind Trainingsprogramme effektiver, die neue Verhaltensmuster, z. B. mit Rollenspielen, einüben.
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Bei der Überprüfung präventiver Maßnahmen ist eine Beachtung von Nebenwirkungen von besonderer Bedeutung. Risiken, die im Rahmen einer Therapie tolerierbar sind, können sich bei der Prävention als nicht tragbar erweisen. Selbst kleine Risiken können den Nutzen eines Präventionsprogramms zunichte machen, da Nebenwirkungen auch primär Gesunde treffen und sich bei bevölkerungsweiten Interventionen ein Nutzen meist nur für eine Minderheit ergibt, aber eine Belastung für alle entsteht. Eine Implementierung von Präventionsprogrammen in die Praxis bedarf eines engagierten und professionellen Managements, denn selbst nachweislich wirksame Maßnahmen setzen sich nicht automatisch durch. Ein Engagement für die breite Anwendung präventiver Interventionen ist aber ein lohnendes Ziel, da effektive Präventionsprogramme, die auf relevante Entwicklungsstörungen gerichtet sind, zu einer erheblichen Verbesserung der Entwicklungschancen von Risikokindern führen können.
Literatur Allhoff, P., Bachmann, K. D., Collatz, J., Flatten, G., Gey, W., Irle, U., Karch, D., Klebe, D., Lajosi, F., Seimer, S., Schirm, H. & Weidtman, V. (1991). Hinweise zur Durchführung der Früherkennungsuntersuchungen im Kindesalter. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag. Bergmann, R. L., Bergmann, K. E., Richter, R. & Dudenhausen, J. W. (2005). Über die Beeinflußbarkeit der Entwicklung von Säuglingen und Kleinkindern. Kinderärztliche Praxis, 76, 18-22. BZgA, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.). (2001). Qualitätsmanagement in der Gesundheitsförderung und Prävention, Grundsätze, Methoden und Anforderungen. Köln. Foxcroft, D. (2006). Alcohol education: Absence of evidence or evidence of absence. Addiction, 101, 1057-1059. Hanewinkel, R., Wiborg, G., Isensee, B., Nebot, M. & Vartiainen, E. (2006). „Smoke-free Class Competition“: Far-reaching conclusions based on weak data. Preventive medicine, 43, 150151. Hanewinkel, R. & Wiborg, G. (2002). Primär- und Sekundärprävention des Rauchens im Jugendalter: Effekte der Kampagne „Be Smart – Don’t Start“. Gesundheitswesen, 64, 492-498. Hurrelmann, K., Klotz, T. & Haisch, J. (Hrsg.). (2004). Lehrbuch Prävention und Gesundheitsförderung. Bern: Hans Huber. Klotz, T., Haisch, J. & Hurrelmann, K. (2006). Ziel ist anhaltend hohe Lebensqualität. Deutsches Ärzteblatt, 103, C499-C501. Kühn, H. (1993). Healthismus: Eine Analyse der Präventionspolitik und Gesundheitsförderung in den USA. Berlin: Edition Sigma. Naidoo, J. & Wills, J. (2003). Lehrbuch der Gesundheitsförderung. Hamburg: BZgA. Rotheram-Borus, M. J. & Duan, N. (2003). Next Generation of Preventive Interventions. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 42, 518-526. Walter, U. (2003). Babylon im SGB? Eine Analyse der Begriffsvielfalt zur Prävention in den Sozialgesetzbüchern. Zeitschrift Sozialer Fortschritt, 52, 253-261. Wenderlein, J. M. (2005). Prävention: Mehr Effizienzanalysen. Deutsches Ärzteblatt, 102, C1593. WHO (World Health Organization). Ottawa Charter for Health Promotion First International Conference on Health Promotion. WHO/HPR/HEP/95.1. Genf. Verfügbar unter: http://www. who.int/hpr/NPH/docs/ottawa_charter_hp.pdf (21.11.1986).
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Prävention motorischer Störungen Harald Bode
Gliederung 2.1 2.2. 2.2.1 2.2.2 2.2.3
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Motorische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spina bifida . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cerebralparesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nach der Neugeborenenperiode erworbene motorische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Umschriebene Entwicklungsstörung der Motorik. . . . . . . . 2.3 Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Theoretische Konzepte als Grundlage von Prävention . . . 2.3.2 Primäre Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Sekundäre Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.1 Experimentelle Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.2 Frühförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.1 Einleitung Die Ursachen, Symptome und Verläufe motorischer Störungen im Kindes- und Jugendalter sind außerordentlich vielgestaltig. Im Rahmen dieses Beitrages muss eine Auswahl aus der Fülle möglicher Themen getroffen werden. Es werden folgende Krankheitsbilder behandelt: 1. Spina bifida 2. Cerebralparesen 3. Nach der Neugeborenenperiode erworbene motorische Störungen 4. Umschriebene Entwicklungsstörungen der Motorik Bei der primären Prävention sollen schädigende Faktoren vor ihrer Wirksamkeit identifiziert und ausgeschaltet werden, um eine Krankheit überhaupt zu verhindern. Sekundäre Prävention umfasst Maßnahmen zur Feststellung und Behandlung von Krankheiten in einem möglichst frühen Stadium, um ihre Auswirkungen zu vermeiden oder gering zu halten. Unter tertiärer Prävention wird die Verhinderung oder Verringerung von Folgeschäden bei bereits bestehenden Erkrankungen verstanden (Bode, 2004a).
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In diesem Beitrag wird auf Möglichkeiten und Grenzen der primären und sekundären Prävention bei den genannten motorischen Störungen eingegangen. Zur sekundären Prävention zählen auch Frühinterventionsmaßnahmen („early intervention“). Maßnahmen der tertiären Prävention beinhalten bei Krankheitsbildern mit motorischen Störungen die verschiedenen Therapieverfahren. Detailliertere Informationen hierzu sind an anderer Stelle nachzulesen (Bode, 2002; Bode, 2004b). Die Prävention einer Störung bzw. eines Krankheitsbildes ist nur möglich, wenn dessen Ursache bekannt ist und spezifische Möglichkeiten der Intervention vor oder zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Wirksamkeit der schädigenden Noxe bestehen. Die in diesem Abschnitt behandelten motorischen Störungsbilder zeichnen sich durch eine unübersichtliche, oft komplexe Ätiologie und Pathogenese aus. Daher sind bei jedem Krankheitsbild mehrere Präventionsstrategien zu betrachten. In manchen Fällen ist es schwierig oder unmöglich, umschriebene Faktoren als alleinig präventiv wirksam zu identifizieren. Im Folgenden werden daher die Krankheitsbilder zunächst unter präventionsrelevanten Aspekten beschrieben. Im Anschluss werden theoretische Konzepte als Grundlage für die Prävention motorischer Störungen dargestellt. Danach werden primäre und sekundär präventive Ansätze aufgezeigt.
2.2 Motorische Störungen 2.2.1 Spina bifida Definition Neuralrohrdefekte (Spina bifida) sind angeborene Fehlbildungen des Rückenmarkes und der umgebenden Gewebestrukturen. Sie treten mit einer Häufigkeit von etwa 1:1000 Geburten auf. Je nach Ausprägung und Läsionshöhe kommt es bei den Betroffenen zu Lähmungen und Sensibilitätsstörungen insbesondere an den Beinen sowie zu Blasen- und Darmfunktionsstörungen. Häufig bestehen zusätzlich zerebrale Fehlbildungen (Mitchell et al., 2004). Ätiologie und Pathogenese Genetische (chromosomale Anomalien, mono- und polygene Ursachen) und teratogene (Fehlbildungen erzeugende) Ursachen (z. B. Antiepileptika) sind nachgewiesen. Folsäure beeinflusst in nicht genau bekannter Weise die Funktion bestimmter Gene, die für den Verschluss des Neuralrohrs mit verantwortlich sind. Die Hemmung des Neuralrohrschlusses durch schädigende Einflüsse findet zwischen dem 19. und 28. Tag nach der Befruchtung statt.
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2.2.2 Cerebralparesen Definition Cerebralparesen (CP; durch Hirnschädigungen hervorgerufene Lähmungen) sind eine Gruppe von Erkrankungen, die infolge nicht-fortschreitender Störungen im sich entwickelnden fetalen oder neonatalen Gehirn auftreten. Sie gehen mit einer Störung von Haltung und Bewegung (Spastik, Dyskinesie, Ataxie) einher und führen damit zu einer Einschränkung der Aktivitäten des Kindes. Die motorischen Störungen sind oft begleitet von Störungen der Sensorik, Wahrnehmung, Kognition, Kommunikation, des Verhaltens und von Anfallserkrankungen (Bax et al., 2005). Die Häufigkeit von Cerebralparesen liegt bei 1,5 bis 2,5 pro 1000 Lebendgeburten (Krägeloh-Mann, 2004). Sie steigt von 1 pro 1000 Lebendgeburten mit einem Geburtsgewicht von über 2500 g bis auf 50 bis 80 pro 1000 Lebendgeburten mit einem Geburtsgewicht unter 1500 g an. Eigene Untersuchungen zeigen bei in Ulm geborenen Frühgeborenen unter 1000 g keine höhere CP-Häufigkeit als in der letztgenannten Kindergruppe. Neben der Belastung für Betroffene und Familien haben Cerebralparesen eine hohe gesundheitsökonomische und sozioökonomische Relevanz. Man schätzt, dass die in den USA im Jahr 2000 geborenen Menschen mit Cerebralparese auf Basis der Kaufkraft von 2003 Lebenszeitkosten von 11,5 Mrd. $ verursachen (Centers for Disease Control, 2004a). Ätiologie und Pathogenese Cerebralparese ist ein Symptom und keine ätiologische Diagnose. Es ist eine Vielzahl von prä-, peri- und postnatalen Risikofaktoren für die Entstehung von Cerebralparesen bekannt (vgl. Tab. 1). Diese Faktoren können auch kombiniert auftreten. Je nach Stadium der Gehirnentwicklung führen schädigende Ereignisse zu unterschiedlichen Läsionsmustern des Gehirns und z. T. zu typischen neurologischen Läsionsbildern (CP-Subtypen). Die große Mehrzahl der Cerebralparesen (75 bis 80 %) sind vor der Geburt entstanden, meistens im 3. Schwangerschaftsdrittel. Etwa 8 bis 15 % der Cerebralparesen sind während der Geburt, etwa 10 % nach der Geburt entstanden. Die Prävention von Cerebralparesen muss daher im Mutterleib beginnen (KrägelohMann, 2004; Panteliades & Strassburg, 2004). Entsprechend der Vielzahl möglicher Ätiologien und pathogenen Mechanismen, die zur Entstehung einer CP führen können, kann nicht erwartet werden, dass eine umschriebene Präventionsmaßnahme die CP-Häufigkeit wesentlich beeinflusst. Dies erklärt z. T. die bislang wenig hoffnungsvollen Ergebnisse verschiedener systematischer Übersichten und Metaanalysen (zusammenfassende Auswertung mehrerer Studien) zum Effekt einzelner spezifischer CP-präventiver Maßnahmen.
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Tabelle 1: Risikofaktoren für die Entstehung einer Cerebralparese (CP) nach Panteliades (2004) Pränatal (vor der Geburt) – von Seiten der Mutter
– – – – – –
Jodmangel Drogen- oder Alkoholmissbrauch Schilddrüsenunterfunktion Epilepsie Mentale Retardierung Pränatale geburtshilfliche Risikofaktoren
Pränatal (vor der Geburt) – von Seiten des Kindes
– – – –
Gehirnfehlbildungen Infektionen Fehlbildungen erzeugende Substanzen Erkrankungen der Hirngefäße (Hypoxie, Ischämie, Thrombose)
Perinatal (um den Zeitpunkt der Geburt)
– – – – – –
Frühgeburtlichkeit Geburtskomplikationen Infektionen des Gehirns Neugeborenengelbsucht Erniedrigter Blutzuckerspiegel Sauerstoffmangel
Postnatal (nach der Geburt)
– – – – –
Neugeborenenkrämpfe Infektionen des Gehirns Blutungen im Schädelinneren Herzstillstand Schädel-Hirn-Traumen
2.2.3 Nach der Neugeborenenperiode erworbene motorische Störungen Definition und Ätiologie Verschiedenste Störungen können nach der Neugeborenenperiode zu Hirnschäden führen. Insbesondere zu nennen sind: Schädel-Hirn-Traumen (Unfälle, Kindesmisshandlung), Infektionen (Meningitis, Enzephalitis, Sepsis) und zerebraler Sauerstoffmangel bzw. Durchblutungsstörung (u. a. unterschiedlichste schwere systemische Erkrankungen, Komplikationen bei Operationen, kindliche Schlaganfälle). Unterschiedliche schädigende Mechanismen führen zu nach Art und Ausprägung variablen Läsionsmustern von Gehirn, Rückenmark und peripherem Nervensystem. Daraus ergeben sich eine Fülle möglicher motorischer Störungen. Die Häufigkeit von nach der Neugeborenenperiode erworbenen Hirnschäden ist auch heute nicht gering. Besonders wichtig wegen Häufigkeit und Schwere der daraus folgenden Funktionsstörungen sind Schädel-Hirn-Traumen. Zwischen 1981 und 2001 ist die Zahl der jährlich durch Straßenverkehrsunfälle verletzten Kinder von 425 auf 335, die Zahl der tödlich verunglückten Kinder von 6,3 auf 1,8 pro 100.000 Einwohner der Altersgruppe unter 15 Jahren zurückgegangen (Robert Koch-Institut, 2004).
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Zur Häufigkeit von Schädel-Hirn-Traumen infolge Kindesmisshandlung liegen keine gesicherten Daten vor. Daher wird in dieser Übersicht auf das wichtige Thema der Prävention von Kindesmisshandlungen nicht eingegangen. Auch zur Häufigkeit anderer nach der Neugeborenenphase entstandener Hirnschäden liegt wenig Datenmaterial vor. 2.2.4 Umschriebene Entwicklungsstörung der Motorik Definition Nach der ICD-10 handelt es sich bei der umschriebenen Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen (F82) um eine „schwerwiegende Entwicklungsbeeinträchtigung der motorischen Koordination, die nicht allein durch eine Intelligenzminderung oder eine spezifische angeborene oder erworbene neurologische Störung erklärbar ist. In den meisten Fällen zeigt eine sorgfältige klinische Untersuchung dennoch deutliche entwicklungsneurologische Unreifezeichen wie choreiforme Bewegungen freigehaltener Glieder oder Spiegelbewegungen u. a. begleitende motorische Merkmale, ebenso wie Zeichen einer mangelhaften feinund grobmotorischen Koordination“. In der DSM-IV spricht man von einer „Entwicklungsbedingten Koordinationsstörung“ (Developmental Coordination Disorder – DCD, 315-40). Sie muss mit einer signifikanten Auswirkung auf Alltagsaktivitäten oder Schulleistungen einhergehen, ohne dass eine eindeutige neurologische oder psychiatrische Erkrankung oder erhebliche Intelligenzminderung vorliegt. Die Häufigkeit dieser Störung liegt bei etwa 4 bis 10 % je nach Alter, verwendeten Testverfahren, Ein- und Ausschlusskriterien. Häufig sind Sprachentwicklungs-, Lern-, Verhaltens- oder Aufmerksamkeitsstörungen assoziiert (Gesellschaft für Neuropädiatrie, 2002). Ätiologie und Pathogenese Ursache und Entstehungsmechanismen sind unterschiedlich und im Detail ungeklärt. Diskutiert werden Normvarianten der Entwicklung, Begabungsmangel, leichte neurophysiologische oder neuroanatomische Veränderungen, Störungen der Körperwahrnehmung, der motorischen Kontroll- oder Steuerungsfunktionen und der zentralen motorischen Prozessierung (Gesellschaft für Neuropädiatrie, 2002). Einige Autoren unterscheiden einfache und komplexe Formen der neurologischen Fehlfunktion. Letztere stehen häufiger im Zusammenhang mit Geburtskomplikationen und sind besonders oft mit Lern- und Verhaltensproblemen assoziiert (Hadders-Algra, 2003). Letztlich stellt die DCD kein eigenes medizinisch-ätiologisches Syndrom dar, sondern ein Symptom, das in hohem Maß Schnittmengen mit anderen Entwicklungs- und Verhaltensstörungen zeigt (Gillberg, 2003; Henderson & Henderson, 2003).
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2.3 Prävention 2.3.1 Theoretische Konzepte als Grundlage von Prävention Bei der Erklärung motorischer Störungen im Rahmen von CP, DCD und auch von postneonatal infolge einer Schädigung des Zentralnervensystems (ZNS) entstandenen motorischen Störungen muss die Interaktion von Nervensystem, Körper und Umwelt während der normalen und gestörten motorischen Entwicklung berücksichtigt werden. Nach der „dynamischen Systemtheorie“ ist die motorische Entwicklung ein Prozess der Selbstorganisation durch eine Interaktion vielfältiger Faktoren wie Körpergewicht, Muskelkraft, Gelenkkonfiguration, Stimmung des Kindes, spezifischen Umgebungsbedingungen und der Hirnentwicklung (Hadders-Algra, 2000a). Die „Theorie der Selektion neuronaler Gruppen“ geht von einem genetisch bedingten primären neuronalen Repertoire aus, das eine Variabilität motorischen Verhaltens ermöglicht. Durch Erprobung unter Berücksichtigung von Informationen der Sinnesorgane werden die effektivsten motorischen Muster und die damit verbundenen neuronalen Gruppen (Netze) ausgewählt. Diese werden im Laufe der weiteren Entwicklung als Folge und in Anpassung an die jeweils spezifischen Anforderungen der Umwelt eingesetzt und weiter entwickelt (sekundäre Variabilität) (Hadders-Algra, 2000b). Genetische Faktoren oder Schäden während der frühen Gehirnentwicklung können das primäre neuronale Repertoire reduzieren oder stören und damit die Variabilität des primären motorischen Verhaltens einschränken. Das stereotype Bewegungsverhalten bei jungen Kindern mit DCD und CP wäre durch Schwierigkeiten in der Verarbeitung sensorischer Informationen und ein begrenztes Repertoire primärer neuronaler Netzwerke bedingt (Hadders-Algra, 2003). Aus diesem theoretischen Konzept kann abgeleitet werden, dass Prävention an den biologischen Voraussetzungen des Nervensystems bzw. Körpers, an Umweltfaktoren und an der Interaktion derselben ansetzen kann. Präventionsmaßnahmen, die das primäre neuronale Repertoire betreffen, werden im Folgenden unter den primären Präventionsmaßnahmen abgehandelt. Frühfördermaßnahmen sind sekundäre Präventionsmaßnahmen, die durch Modifikation der Umweltbedingungen und der Kind-Umwelt-Interaktion (Stressreduktion bei Neu- und Frühgeborenen, sensorische Stimulation, motorische Intervention, gezieltes Funktionstraining, Elternberatung) die Auswirkung motorischer Störungen möglichst gering halten sollen. Verschiedene Präventionsmaßnahmen sind nur teilweise für bestimmte Krankheitsbilder spezifisch; z. T. betreffen sie mehrere der besprochenen Störungsbilder und außerdem andere zerebrale Funktionsbereiche bzw. Erkrankungen (s. Kap. 3).
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2.3.2 Primäre Prävention Ernährung Wenn die Mutter zum Zeitpunkt der Befruchtung 400 μg Folsäure einnimmt, dann wird das Risiko für das Auftreten einer Spina bifida um 50 bis 70 % gesenkt (Mitchell et al., 2004; Centers for Disease Control, 2004b). Allerdings haben die bisher in etwa 40 Staaten der Welt eingeführten Programme zur Förderung der perikonzeptionellen Folsäureeinnahme nur etwa 10 % der geschätzten 240.000 Fälle pro Jahr von Spina bifida und Anenzephalie (Fehlbildung mit einem Fehlen des Großhirns), die durch Folsäureeinnahme vermieden werden könnten, tatsächlich verhindert (Oakley et al., 2004). General Movements (GM; komplexe Spontanbewegungen) im Neugeborenen- und frühen Säuglingsalter haben in mehreren Studien einen positiven Vorhersagewert für die Entwicklung umschriebener Entwicklungsstörungen der Motorik und von Cerebralparesen gezeigt (Hadders-Algra et al., 2004). Ausschließliche Muttermilchernährung bei gesunden Neugeborenen für mindestens 6 Wochen verbessert die Qualität der GM im Alter von 3 Monaten (Bouwstra et al., 2003a). Die Ergänzung der Nahrung von gesunden Reifgeborenen mit mehrfach ungesättigten langkettigen Fettsäuren während der ersten zwei Lebensmonate vermindert das Auftreten mild abnormer GM im Alter von drei Monaten (Bouwstra et al., 2003b). Ein Effekt auf die motorische Entwicklung ließ sich bei Kindern im Alter von 8 Monaten allerdings nicht mehr nachweisen (Bouwstra et al., 2003c). Eine kontrollierte Studie zum Effekt einer Hinzugabe von Omega 3- und Omega 6-Fettsäuren zur Nahrung über 3 Monate bei 5- bis 12-jährigen Kindern mit umschriebener Entwicklungsstörung der Motorik zeigte keine Verbesserung der motorischen Fähigkeiten, wohl aber des Lesens, Schreibens und Verhaltens (Richardson & Montgomery, 2005). Langfristige Effekte einer Muttermilchernährung oder mehrfach ungesättigter Fettsäuren auf die motorische Entwicklung sind bislang nicht nachgewiesen. Auch ohne dass systematische Studien vorliegen, ist anzunehmen, dass eine Jodgabe in Jodmangelbereichen während der Schwangerschaft und eine ausreichende Ernährung Schwangerer und ihrer Kinder die Häufigkeit von Schwangerschaftskomplikationen, Frühgeburtlichkeit sowie von peri- und postnatalen Komplikationen verringern und damit das Auftreten motorischer Störungen, insbesondere einer Cerebralparese, reduzieren können (Bode, 2004a; Nelson, 2003). Toxine Obwohl Studien hoher methodischer Qualität fehlen, kann angenommen werden, dass die Vermeidung toxischer Quecksilberexpositionen während der Schwangerschaft und toxischer Bilirubin-Werte beim Neugeborenen (Neugeborenen-Gelbsucht) zur Prävention von Cerebralparesen beitragen. Diese Faktoren spielen allerdings nur noch in weniger entwickelten Ländern eine Rolle (Nelson, 2003).
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Die mütterliche Einnahme bestimmter Medikamente (u. a. Valproinsäure, Carbamazepin, Phenytoin) und Genussgifte (u. a. Alkohol, Benzodiazepine, Warfarin, Retinoide, Cocain) können zu Spina bifida, zerebralen Anlagestörungen und anderen Fehlbildungen führen (Panteliades et al., 2004). Es ist auch ohne systematische Präventionsstudien klar, dass diese Substanzen in der Schwangerschaft vermieden werden sollten. Gleiches gilt für den Nikotinmissbrauch. Genetische Beratung Die Diagnose einer Spina bifida in der Schwangerschaft führt nach entsprechender genetischer Beratung häufig zu einer Schwangerschaftsbeendigung und reduziert damit die Häufigkeit dieses Krankheitsbildes unter den Lebendgeburten auf etwa 0,5 % (Dietz, 2004). Inhalt einer genetischen Beratung bei Spina bifida muss auch das erhöhte Wiederholungsrisiko bei einer erneuten Schwangerschaft und die perikonzeptionelle Folsäureprophylaxe sein. In seltenen Fällen ist eine Gehirnfehlbildung infolge einer genetischen Störung die Ursache einer Cerebralparese. Bei den insgesamt seltenen ataktischen CP (4 % aller CP) spielen genetische Ursachen eine wesentliche Rolle (Krägeloh-Mann, 2004). Dann kann eine genetische Beratung über das erhöhte Wiederholungsrisiko bei weiteren Schwangerschaften präventiv wirken. Dies gilt auch bei autosomal rezessiv vererbten Krankheiten des Zentralnervensystems oder Blutsverwandtschaft der Eltern, wenn diese nach entsprechender Beratung auf weitere Kinder verzichten bzw. soweit möglich eine pränatale Diagnostik durchführen lassen. Daten zu den Effekten dieser komplizierten und ethisch problematischen Maßnahmen hinsichtlich der Prävention bzw. Häufigkeit von Cerebralparesen liegen nicht vor. Unfallprävention Eine Vielzahl gesetzlicher Regelungen, technische Verbesserungen und eine unermüdliche Aufklärungsarbeit haben in Deutschland seit 1970 auch bei Kindern und Jugendlichen zu einem sehr deutlichen Rückgang einer unfallbedingten Körperschädigung geführt (Robert Koch-Institut, 2004). Spezifische Zahlen zu unfallbedingten Bewegungsstörungen, die durch Schädel-Hirn-Traumen, aber auch durch Wirbelsäulen- und Extremitätenverletzungen verursacht werden, liegen nicht vor. Impfungen Poliomyelitis-, Masern-, Mumps-, Röteln- und Hämophilus-Infektionen führen mehr oder weniger häufig zu bleibenden Hirnschäden und konsekutiven Bewegungsstörungen. Impfungen gegen diese Erkrankungen wirken primär prä-
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ventiv und verhindern daher bleibende Bewegungsstörungen. Trotz eindeutiger Effekte ist die Durchimpfungsrate dieser von der Ständigen Impfkommission (STIKO) empfohlenen Impfungen immer noch nicht optimal (Robert KochInstitut, 2004). Frühgeburtlichkeit Frühgeburten stellen etwa 50 % aller Kinder mit Cerebralparese. Die Rate der Frühgeburtlichkeit von etwa 7 % hat sich in den letzten 15 Jahren nicht signifikant verändert. Zahlreiche Studien haben die Effekte verschiedener Präventionsmaßnahmen bei Frühgeborenen untersucht. Die vorgeburtliche Gabe von Steroiden an die Mütter (mit dem Ziel, die Lungenreifung des Frühgeborenen anzuregen), von Magnesiumsulfat und anderen Medikamenten zur Wehenhemmung und damit zur Verhinderung einer Frühgeburt zeigten in kontrollierten klinischen Studien keinen Effekt auf die CP-Häufigkeit (Kent et al., 2005; Pryde et al., 2004; Smith, 2003). Die nachgeburtliche Gabe von Surfactant (zur Behandlung des Atemnotsyndroms des Neugeborenen), von Vitamin K, Phenobarbital, Muskelrelaxantien, Morphin, Etamsylat oder Indometazin (zur Verhinderung von Hirnblutungen), die Gabe von Erythropoetin und Eisen (zur Verhinderung von Hirnschäden unter der Geburt), von Steroiden und Stickstoffmonoxid (zur Verhinderung chronischer Lungenerkrankungen) an das Frühgeborene zeigten nicht den gewünschten Effekt bzw. verringerten nicht die CP-Häufigkeit (Bose & Langhon, 2005; Crowther & Henderson-Smart, 2001; Fowlie & Davis, 2002; Gortner & Landmann, 2005; Mestan et al., 2005; Nelson, 2003; Schulte et al., 2005). Maßnahmen zur Behandlung des feto-fetalen Transfusionssyndroms, das bei intrauterinem Tod eines Zwillings häufig zu einer CP des überlebenden Zwillings führt, haben bislang das CP-Risiko für diese Kinder nicht gesenkt (Nelson, 2003). Mehrlingsschwangerschaften Zwillinge zeigen ein 5- bis 8-fach erhöhtes, Drillinge ein 40-fach erhöhtes CPRisiko. Dieses ist wesentlich durch die Frühgeburtlichkeit sowie das feto-fetale Transfusionssyndrom bedingt. Eine Reduktion von Mehrlingsschwangerschaften im Rahmen einer In-vitro-Fertilisation (künstliche Befruchtung von Eizelle im Labor und späteres Einpflanzen der Embryonen in die Gebärmutter) kann durch einen für viele Eltern nicht akzeptablen intrauterinen Fetozid (Töten eines oder mehrerer Mehrlinge) erreicht werden. Besser ist es, die Zahl der implantierten Embryonen auf zwei zu beschränken. Dies wird durch die Fachverbände inzwischen empfohlen und praktiziert (Wimalasundera et al., 2003). Die Einschränkung der Kostenübernahme gesetzlicher Krankenkassen auf maximal drei In-vitro-Fertilisationen hat seit Anfang 2004 zu einer Abnahme der Zahl der durch künstliche Befruchtung geborenen Kinder von 17.600 (2003) auf 9.800 (2004) geführt (Deutsches
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IVF-Register, 2005). Dies dürfte mit einer Abnahme höhergradiger Mehrlingsgeburten einhergehen. Der zu erwartende Effekt auf die CP-Häufigkeit ist noch nicht abschätzbar. Intrauterine Infektionen Lange bekannt sind die TORCH-Infektionen (Toxoplasmose, Others, Röteln, Cytomegalie, Herpes). Sie sollen für bis zu 12 % der sonst unerklärten spastischen Cerebralparesen verantwortlich sein (Nelson, 2003). Eine zeitgerechte Rötelnimpfung aller Mädchen sowie ein ToxoplasmoseScreening bei Schwangeren in endemischen Gebieten wird trotz fehlender klarer Beweise zur Prävention von Cerebralparesen beitragen (Nelson, 2003). Infektionen der Plazenta (Mutterkuchen) sind bei Kindern mit einem Geburtsgewicht unter 2500 g sicher, bei sehr frühgeborenen Kindern möglicherweise mit einem erhöhten CP-Risiko verbunden. Diese überwiegend bakteriellen Infektionen werden als wesentliche Ursache der periventrikulären Leukomalazie („Erweichung“ der weißen Hirnsubstanz um die zentralen Hohlräume des Gehirns) angesehen, einer häufigen Ursache insbesondere der beidseitigen spastischen CP. Man vermutet, dass bakterielle Infektionen der Plazenta über die Ausschüttung u. a. von Zytokinen die Blutversorgung des fetalen Gehirns stören. Entsprechend erhielten infizierte Mütter in kontrollierten Studien Antibiotika. Die bisherigen Daten reichen jedoch nicht aus, einen Effekt dieser Antibiotikagabe auf die CPHäufigkeit zu belegen (Nelson, 2003). Verbesserte Perinatalmedizin Verschiedene Register zeigen weltweit relativ gleichbleibende CP-Häufigkeiten in industrialisierten Ländern während der letzten 20 bis 30 Jahre (Nelson, 2003). Daraus muss abgeleitet werden, dass entgegen ursprünglicher Erwartung die unten geschilderten Verbesserungen der Perinatalmedizin nicht zu einer wesentlichen Senkung der gesamten CP-Häufigkeit geführt haben. Dies wird durch den geringen Anteil der während der Geburt entstandenen Cerebralparesen an der Gesamthäufigkeit verständlich. Allerdings gibt es Hinweise, dass die Entbindung von Kindern in Perinatalzentren einen gewissen Schutz gegen die Entwicklung einer Cerebralparese darstellt (Gortner & Landmann, 2005; Nelson, 2003). Kontrollierte Untersuchungen zu diesem Thema für den deutschen Sprachraum liegen bislang nicht vor. Hier eröffnet der Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Qualitätssicherung in der Betreuung und Nachsorge von Risiko-Früh- und Neugeborenen neue Erkenntnismöglichkeiten (Gemeinsamer Bundesausschuss, 2005). Monitoring der fetalen Herzfrequenz. Eine Überwachung der kindlichen Herzfrequenz während der Geburt (fetales Herzfrequenz-Monitoring) hat das Ziel, eine Geburtsasphyxie („Pulslosigkeit“), die sich mit niedrigen Apgar-Werten,
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Azidose (Übersäuerung des Blutes) und neonatalen neurologischen Auffälligkeiten, insbesondere Krämpfen, präsentiert, anhand verschiedener Risikoindikatoren so frühzeitig zu erkennen, dass sie durch ärztliche Maßnahmen verhindert oder gemildert werden kann. Die Geburtsasphyxie wird als wesentliche Ursache perinatal erworbener Cerebralparesen angesehen. Mögliche Ursachen einer Geburtsasphyxie sind ein großer Plazentainfarkt, eine vorzeitige Plazentalösung, eine Umschlingung oder ein Vorfall der Nabelschnur und ein mütterlicher Schock durch Blutverlust. Metaanalysen von kontrollierten Studien zeigen, dass das elektronische fetale Monitoring nicht zu einem Abfall der CP-Häufigkeit führte. Auch niedrigere Apgar-Scores, die Aufnahme auf neonatalen Intensivstationen und Todesfälle waren nicht seltener. Die Häufigkeit der Kaiserschnitte stieg allerdings um 40 % an. In einer Studie wurde sogar eine nicht signifikant höhere, in einer anderen bei Frühgeborenen gar eine signifikant höhere CP-Rate bei elektronischem fetalen Herzfrequenz-Monitoring festgestellt. Eine Studie zeigte eine sehr hohe Rate falsch positiver Befunde beim Monitoring und bei ¾ der Kinder mit späterer CP keine auffälligen Befunde (Nelson, 2003). Kaiserschnitt. Wurden Kinder mit Anomalien im fetalen Monitoring per Kaiserschnitt geboren, lag ihre CP-Rate nicht unter derjenigen der vaginal entbundenen Kinder (Nelson et al., 1996). In einer Geburtendatenanalyse von neun industrialisierten Ländern konnte trotz eines Anstiegs der Kaiserschnittrate auf das fünffache, der zumindest z. T. bedingt durch elektronisch dokumentierte fetale Auffälligkeiten zu erklären ist, keine Abnahme der CP-Häufigkeit gefunden werden (Clark & Hankins, 2003). Die Autoren vermuten, dass die operativen Entbindungen auf der Basis eines elektronischen fetalen Monitorings möglicherweise mehr Schaden als Nutzen angerichtet hätten. Fazit: Da eine Geburtsasphyxie unter den Ursachen für eine CP einen insgesamt geringen Anteil hat, sind diese enttäuschenden Effekte verbesserter Perinatalmedizin nicht verwunderlich. Hinzu kommt, dass auch bei optimaler Perinatalmedizin immer schicksalhafte, nicht vorhersehbare Ereignisse auftreten werden, die zu einer Geburtsasphyxie führen. Dennoch bleibt es trotz fehlender Belege intuitiv vernünftig, an einer optimalen Perinatalmedizin festzuhalten und deren Qualität durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen. Im Einzelfall kann es gelingen durch eine rasche, ggf. operative Entbindung, drohenden Schaden von einem Kind abzuwenden. Für die Geburtshelfer werden dabei drohende juristische Implikationen bei nachweisbaren Hirnschäden das Handeln wesentlich mit beeinflussen. Perinataler ischämischer Schlaganfall Man rechnet heute damit, dass während der Geburt und der Neugeborenenphase bei einem von 4000 reif geborenen Kindern ein durch einen arteriellen Gefäßverschluss verursachter ischämischer Schlaganfall auftritt. Dieser führt bei vielen Kindern zu einer CP, meist einer Hemiparese (Halbseitenlähmung). Unter den
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vielen Ursachen finden sich angeborene Gerinnungsstörungen bei Mutter oder Kind, plazentare Thromben (Blutgerinnsel), Infektionen, Gefäßkatheter und chirurgische Eingriffe. Es gibt bislang keine systematischen Untersuchungen, ob und mit welchen Maßnahmen perinatale ischämische Schlaganfälle verhindert werden können (Nelson & Lynch, 2004). 2.3.3 Sekundäre Prävention 2.3.3.1 Experimentelle Therapien Bei der kleinen Gruppe der Kinder mit perinatal durch Geburtsasphyxie verursachten Hirnschäden (hypoxisch-ischämische Encephalopathie) wird versucht, durch sekundär-präventive Maßnahmen das Ausmaß der Hirnschädigung und die daraus abzuleitende Häufigkeit und Schwere der CP zu mildern. Kühlung. Die Kühlung des Gehirns asphyktischer Neugeborener wird z.Zt. systematisch studiert. Aus den wenigen bislang publizierten Studien zeichnet sich ein milder positiver Effekt von Kühlung auf die Rate gestorbener und schwer behinderter Kinder ab. Eine Studie zeigt eine Abnahme dieser Rate um 18 %. Dabei scheinen nur mittelschwer betroffene Kinder zu profitieren. Eine rasch innerhalb von weniger als fünf Stunden nach der Geburt erfolgte Ganzkörperkühlung ist möglicherweise wirksamer als eine selektive Kühlung des Kopfes. Weitere Studien werden mehr Klarheit über Effektstärke, geeignete Patienten und Ziele für diese z.Zt. noch experimentellen Therapie bringen (Papile, 2005; Shankaran et al., 2005). Medikamentöse Neuroprotektion. Aus theoretischen und tierexperimentellen Studien gibt es Hinweise auf eine positive Wirkung von Glutamat-Antagonisten, Topiramat, Erythropoietin, Xenon und anderen Substanzen auf die Hirnentwicklung. Bisher liegen Studien bei menschlichen Neugeborenen mit hypoxisch-ischämischer Encephalopathie nicht vor bzw. sind zu klein oder sie zeigen keine positiven Effekte. Stammzellen. Die Gabe von embryonalen Stammzellen aus Nabelschnurblut mit dem Ziel einer Neuroregeneration zerstörter Gehirnareale ist bislang ein theoretisch-tierexperimentelles Modell, das beim menschlichen Neugeborenen noch nicht zum Einsatz kam (Jensen et al., 2003). 2.3.3.2 Frühförderung Frühförderung („early intervention“) ist ein Oberbegriff für multidisziplinäre Leistungen für Kinder bis zum Vorschulalter, die das Ziel haben, Gesundheit, Wohlbefinden und Kompetenzen der Kinder zu fördern, Entwicklungsverzöge-
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rungen zu minimieren, bestehende oder sich entwickelnde Behinderungen zu lindern, Funktionsverschlechterungen vorzubeugen sowie die elterlichen und familiären Kompetenzen zu fördern (Shonkoff & Meisels, 2000). Neben anderen Entwicklungsdomänen spielt die Motorik in der Förderung eine wesentliche Rolle (s. auch Kap. 3). Eine frühe motorische Förderung rechnet mit der Plastizität des kindlichen Gehirns, welche in den 2 bis 3 Monaten vor und 6 bis 8 Monaten nach der Geburt besonders ausgeprägt ist (Hadders-Algra, 2000b). In einer systematischen Literaturübersicht wurden kürzlich die Effekte früher Förderung auf die motorische Entwicklung dargestellt (Blauw-Hospers & Hadders-Algra, 2005). Die insgesamt 34 sehr heterogenen Studien bei Kindern mit hohem biologischen Risiko bezogen sich meist auf Frühgeborene oder Kinder mit niedrigem Geburtsgewicht, vereinzelt auf Kinder mit verzögerter motorischer Entwicklung, manifester CP oder Down-Syndrom. In der Regel wurde eine experimentelle Intervention mit einer Standardbehandlung verglichen, da der Entzug jeglicher Förderung unethisch erschien. Damit konnten in den Studien nur zusätzliche Effekte der Intervention dargestellt werden. 20 der 34 Studien wiesen die höchste methodische Qualität auf. Von diesen Studien zeigten nur 6, d. h. 30 %, einen signifikanten zusätzlichen Effekt der Intervention auf die motorische Entwicklung. Bei den 14 Studien mit geringerer methodischer Qualität fand sich in 50 % ein positiver zusätzlicher Interventionseffekt. Die meisten Untersuchungen beschränken sich im Wesentlichen auf die ersten zwei Lebensjahre. Langzeiteffekte sind damit nicht erforscht. Auch werden überwiegend quantitative Veränderungen in der motorischen Entwicklung und nicht qualitative oder Veränderungen der Funktionsfähigkeit beschrieben. Aufgrund der Datenlage ist es heute nicht möglich, gesicherte Aussagen zu treffen, ob das Alter bei Interventionsbeginn einen Effekt auf die motorische Entwicklungsprognose hat. 17 Studien untersuchten Interventionen bei Risiko-Früh- und Neugeborenen auf der Neugeborenen-Intensivstation, z. B. das „newborn individualized developmental care and assessment program“ (NIDCAP) und die Kängurupflege. Möglicherweise bringt NIDCAP einen temporären Gewinn für die motorische Entwicklung von Risiko-Früh- und Neugeborenen während der ersten Lebensmonate (Als et al., 1994). Dieser Effekt ist allerdings nicht über das erste Lebensjahr hinaus nachweisbar. Kängurupflege zeigte keinen Effekt auf die motorische Entwicklung (Charpak et al., 2001). Eine weitere Studie lässt vermuten, dass durch ein langfristiges intensives Förderprogramm mit Beginn auf der Intensivstation bis zum Ende des zweiten Lebensjahres bei Einbeziehung der Eltern positive Effekte erreichbar sind (Resnick et al., 1988). 17 Studien untersuchten Effekte von Interventionen in den ersten Lebensmonaten nach der Entlassung von Neugeborenen-Intensivstationen auf die motorische Entwicklung. Entwicklungsneurologische (Bobath-)Behandlungen zeigten im Vergleich mit allgemeinen Stimulationsprogrammen keine Vorteile (Palmer et al., 1990; Weindling et al., 1996). Eine Intensivtherapie 1-mal wöchentlich zeigte bessere Effekte als eine 1-mal monatlich stattfindende Therapie (Majo, 1991).
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Konduktive Förderung und traditionelle entwicklungsneurologische Programme führten zu vergleichbaren Fortschritten (Reddihough et al., 1998). Zwei Studien zur Vojta-Therapie zeigten keine unterschiedlichen Effekte von Bobathversus Vojta-Therapie bzw. einen positiven Dosiseffekt intensiverer Vojta-Behandlung. Die Studien haben wegen begrenzter methodischer Qualität jedoch keine verlässliche Aussagekraft (d’Avignon et al., 1981; Kanda et al., 2004). Insgesamt besteht heute die Ansicht, dass spezifische Therapiekonzepte (z. B. Bobath, Vojta, Petö) in der sekundären Prävention motorischer Störung bei Hochrisikokindern keine nachweisbaren spezifischen Effekte zeigen. Daraus kann jedoch nicht auf eine Unwirksamkeit von Frühförderung geschlossen werden. Es werden heute eher allgemeine Entwicklungsprogramme empfohlen, in denen auch die Eltern lernen, wie sie die kindliche Entwicklung fördern können (Blauw-Haspers & Hadders-Algra, 2005). In diesen Förderansätzen sollte motorisches Lernen kind- und interessengeleitet in konkreten Spielsituationen und als alltagsrelevante motorische Aufgaben in einer ausreichenden Intensität angeboten werden (Bode, 2004b; Sugden & Chambers, 1998). Effekte früher Erfahrung auf Gehirnfunktion und Struktur. Erstmals konnte kürzlich bei jungen menschlichen Säuglingen nachgewiesen werden, dass frühe Erfahrungen die Gehirnfunktion und -struktur verändern. Bei Frühgeborenen der 28. bis 33. Woche ohne zusätzliche Risikofaktoren wurde kurz nach der Geburt für die Dauer von etwa 10 bis 14 Wochen NIDCAP eingesetzt. Im Vergleich zur Kontrollgruppe, die Standardpflege erhielt, zeigten die NIDCAP-Kinder am Ende der Förderzeit nicht nur ein besseres neurologisches Verhalten, sondern auch eine stärkere spektrale Kohärenz (Übereinstimmung der EEG-Frequenzen) im EEG zwischen Stirnhirn und anderen Hirnabschnitten als Hinweis auf eine intensivere funktionelle Verknüpfung dieser Regionen sowie eine höhere relative Anisotropie in der inneren Kapsel in der MRT-Untersuchung des Gehirns als Hinweis auf eine bessere Myelinisierung (Ummantelung) der dort verlaufenden Nervenbahnen (Als et al., 2004). Klinisch ließen sich positive Effekte der NIDCAP u. a. auf die motorische Entwicklung bis zum korrigierten Alter von 9 Monaten nachweisen. Entsprechende neurophysiologische und funktionell bildgebende Untersuchungen zum Effekt einer motorischen Förderung bei Risiko-, Früh- und Neugeborenen sowie Kindern jenseits der Neugeborenenzeit liegen bislang nicht vor. Dennoch zeigt diese Untersuchung eine neue Möglichkeit auf, Effekte von Fördermaßnahmen zur sekundären Prävention motorischer Störungen zu objektivieren. Effekte motorischer Förderung im Kleinkindalter. Die Abnahme der motorischen Leistungsfähigkeit von gesunden Kindern im Vorschul- und Schulalter während der letzten 20 Jahre wird im Zusammenhang mit einem zunehmenden Bewegungsmangel gesehen (Graf et al., 2005). Daraus kann gefolgert werden, dass vermehrte körperliche Bewegung im Alltag die motorischen Fähigkeiten verbessert. Ob diese unspezifischen Maßnahmen auch primär oder sekundär präventive Effekte bei umschriebenen Entwicklungsstörungen der Motorik haben, ist bisher
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nicht systematisch untersucht. Umschriebene Entwicklungsstörungen der Motorik dürfen nicht mit geringer motorischer Leistungsfähigkeit infolge mangelnder Übung gleichgesetzt werden.
2.4 Zusammenfassung Einige spezielle Maßnahmen zur Prävention motorischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen sind hoch wirksam. Die effektivste Präventionsmaßnahme motorischer Störungen in den letzten 50 Jahren war die Schluckimpfung. Durch sie wurden bei Millionen von Menschen Lähmungen infolge einer Poliomyelitis verhindert. Andere Impfungen haben in Deutschland und in anderen Ländern ebenfalls zu einem Rückgang vorgeburtlich (Röteln) oder nach der Geburt (Masern, Mumps, Hämophilus, Pneumokokken, Meningokokken) erworbener Hirnschäden geführt. Vielfältige Maßnahmen der Unfallprävention haben zu einem deutlichen Rückgang von Verkehrsunfällen, damit verbundenen Schädel-Hirn-Traumen und daraus entstehenden Bewegungsstörungen geführt. Die Prävention von Schädel-Hirn-Traumen im Rahmen von Kindesmisshandlungen steht noch ganz am Anfang. Eine perikonzeptionelle Folsäureprophylaxe stellt eine effektive Maßnahme zur Reduktion der Häufigkeit einer Spina bifida dar. Sie ist leider noch zu wenig bekannt und verbreitet. Sie wird selbst von Geburtshelfern nicht konsequent empfohlen. Die konsequente Behandlung der Hyperbilirubinämie des Neugeborenen hat dazu geführt, dass durch Bilirubinenzephalopathie (Kernikterus) verursachte dyskinetische Cerebralparesen bei uns praktisch vollständig verschwunden sind. Vielfältige andere Anstrengungen zur primären und sekundären Prävention von Cerebralparesen können im Einzelfall wirksam sein (Brown, 2003). Sie haben jedoch bislang die CP-Häufigkeit insgesamt nicht verringern können. Dafür ist möglicherweise auch ein verändertes Ursachen-Spektrum der CP verantwortlich. Es gibt keine gesicherten Nachweise für positive Langzeitwirkungen von Ernährung oder Frühförderung in der Prävention motorischer Störungen. Das bisherige Fehlen mancher wissenschaftlicher Evidenzen beweist jedoch nicht die Unwirksamkeit vieler Präventiv- oder Fördermaßnahmen. Einige sind auch ohne das Vorliegen entsprechender Studien als offensichtlich wirksam anzusehen und bedürfen keiner weiteren kontrollierten Studie. Nur durch gute epidemiologische und kontrollierte Interventionsstudien lassen sich weitere Erkenntnisse über die Effekte mancher noch unbewiesener und auch neuer innovativer Präventionsstrategien gewinnen. Solche Studien sind allerdings aufwändig und schwierig durchzuführen. Fragen des Datenschutzes müssen geklärt werden, adäquate gesetzliche Rahmenbedingungen z. B. für repräsentative oder bevölkerungsbezogene Krankheitsregister sowie organisatorische und finanzielle Voraussetzungen auch für die Untersuchung langfristiger Trends müssen noch geschaffen werden (Bax, 2003; Brown, 2003).
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Prävention von kognitiven Entwicklungsstörungen und geistiger Behinderung Dieter Karch
Gliederung 3.1 3.1.1 3.1.2 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.3
Kognitive Entwicklungsstörungen und geistige Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schweregrade und Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Möglichkeiten zur Prävention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primäre Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundäre Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evaluation präventiver Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3.1 Kognitive Entwicklungsstörungen und geistige Behinderung 3.1.1 Schweregrade und Diagnostik Geistige Behinderung bedeutet eine ausgeprägte kognitive Entwicklungsstörung, wobei der IQ-Wert unter 70 liegt. International und nach ICD-10 werden IQWerte zwischen 51 und 70 als leichtes Intelligenzdefizit oder milde mentale Retardierung und unter 51 als schwere mentale Retardierung definiert. Liegen die IQ-Werte zwischen 70 und 85, so spricht man in Deutschland von leichter mentaler Retardierung oder von Lernbehinderung. Hierfür findet sich im ICD10-Klassifikationssystem der Begriff „Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten“. Im Säuglings- und Kleinkindalter wird der ermittelte Intelligenzquotient einem Entwicklungsalter zugeordnet, wobei z. B. ein Entwicklungsrückstand um einen oder mehrere Monate festgestellt wird. Allerdings können die Fähigkeiten eines 6-jährigen Schulkindes mit einem IQ von 50 (entsprechend einem rechnerischen Entwicklungsrückstand von 36 Monaten) nicht mit denen eines Kindes im Alter von 3 Jahren verglichen werden. Die Häufigkeit einer Lernbehinderung wird auf ca. 3 bis 4 % eines Jahrgangs, die einer geistigen Behinderung auf
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ca. 1,5 % (schwere mentale Retardierung ca. 0,4 %) geschätzt. Sie hat sich in den letzten Jahrzehnten trotz oder wegen der medizinischen Fortschritte offensichtlich wenig geändert (Roeleveld et al., 1997; Cans et al., 1999; Stromme & Hagberg, 2000). Unabhängig von der Tatsache, dass kognitive Fähigkeiten umso schwieriger zu messen sind, je jünger ein Kind ist, unterscheiden sich auch die Testverfahren und Prüfitems für einzelne Altersstufen konzeptionell. Zur Intelligenztestung werden u. a. die folgenden Untersuchungsverfahren eingesetzt: Entwicklungstests für das Kleinkindalter (z. B. Münchener Funktionelle Entwicklungsdiagnostik, Wiener Entwicklungstest, Bayley Skalen), Leiter-Scale, Testbatterie für Geistig Behinderte, SON-R (Snijders-Oomen-Nonverbaler Intelligenztest), K-ABC (Kaufmann Assessment Battery for Children) und HAWIK-III. Nur bei der Leiter-Scale und der Testbatterie für Geistig Behinderte ist eine Differenzierung der kognitiven Fertigkeiten unter einem IQ von 50 möglich. Leiter-Scale, deren Normen veraltet sind, und SON-R sind sprachungebundene Tests. Eine geistige Behinderung ist oft verknüpft mit Störungen der Sinneswahrnehmung, motorischen Störungen oder Symptomen einer zugrunde liegenden Erkrankung. Zusätzlich können auch Verhaltens- oder psychische Störungen bestehen. Testdurchführung und Interpretation der Testergebnisse können dadurch erschwert sein. 3.1.2 Ursachen Die häufigste Ursache für eine geistige Behinderung ist ein angeborener Begabungsmangel, der nur zum Teil durch Erkrankungen bedingt ist: – angeboren: – genetisch: Chromosomenaberrationen z. B. Trisomie 21, molekulargenetische Defekte, – erworben: Infektionen (z. B. Cytomegalie-Virus), Drogen (z. B. Alkohol), Erkrankungen der Mutter; ungeklärt (z. B. Missbildungssyndrome mit Hirnaufbau- oder -reifungsstörungen), – Komplikationen und Erkrankungen während der Geburt (perinatal): z. B. Sauerstoffmangel oder Hirnblutung, – nach der Neugeborenenphase erworben (postnatal): z. B. durch ZNS-Infektionen oder -Traumata sowie bei schweren Allgemeinerkrankungen, – psychosozial: z. B. Unterernährung, Vernachlässigung, Bindungsstörung, emotionale oder andere psychische Erkrankungen der Mutter bzw. des Vaters. Aus epidemiologischen Studien ist bekannt, dass die Chance, die Ursache einer mentalen Retardierung zu finden, umso größer wird, je deutlicher die Retardierung ausgeprägt ist. Aber selbst bei Kindern mit einer erheblichen kognitiven Störung (geistige Behinderung) lässt sich bei weniger als 50 % eine definitive Ursache nachweisen. Oft können Ursachen nur vermutet werden, wie z. B. toxische Effekte von Alkohol, selbst wenn typische Merkmale des embryofetalen
3 Prävention von kognitiven Entwicklungsstörungen und geistiger Behinderung
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Alkoholsyndroms fehlen. Nicht selten lässt sich aus der biographischen Anamnese und dem psychosozialen Kontext auch nur vermuten, dass es sich um eine familiärgenetische Ursache und/oder die Folge zu geringer Anregungen bzw. eines ungenügenden Lernumfeldes aus psychosozialen Gründen handelt. Die „Aufklärungsquote“ steigt, wenn umfassende Untersuchungen durchgeführt werden; so lassen einige „biologische Marker“ zumindest eine Zuordnung in die Gruppen: Angeborene oder peri- bzw. postnatal erworbene Hirnläsion zu (Stromme & Hagberg, 2000). Die aufgezählten Ursachen können auch zu einer motorischen Entwicklungsstörung führen (s. Kap. 2).
3.2 Prävention Bei den zahlreichen Risikofaktoren, die auch nicht unabhängig voneinander sind, bieten sich theoretisch vielfältige Möglichkeiten für präventive Interventionen an, um das Auftreten von kognitiven Entwicklungsstörungen zu vermeiden oder zumindest ihre Ausprägung zu vermindern (vgl. Tab. 1). Tabelle 1: Prävention von kognitiven Entwicklungsstörungen oder geistiger Behinderung Primäre Prävention
– Genetische Beratung – Impfungen – Vermeidung von Noxen vor und während der Schwangerschaft – Ernährungsberatung (z. B. prophylaktische Gabe von Folsäure) – Vermeidung einer Frühgeburt – Verringerung psychosozialer Risiken – Politische Maßnahmen zur kognitiven Förderung – Schwangerschaftsvorsorge – Verbesserung der perinatalmedizinischen Versorgung
Sekundäre Prävention
– Früherkennungsuntersuchungen im Kindesalter – Frühförderung und frühe Therapien
3.2.1 Möglichkeiten zur Prävention Die Möglichkeit, durch bestimmte Maßnahmen eine Entwicklungsstörung oder Erkrankung zu verhindern, hängt zunächst davon ab, ob man ihre Ursachen kennt und ob wissenschaftlich gesicherte Prädiktoren oder Risikofaktoren existieren (Allhoff, 1994). Erhöhtes Risiko bedeutet, dass ein Ereignis oder eine Erkrankung mit einer höheren Wahrscheinlichkeit, als es dem Erwartungswert entspricht, eintritt. Als Beispiel für die Erfassung von Risikofaktoren als Voraussetzung für primäre Präventionsmaßnahmen sei die Bestimmung des sog. Apgar-Scores genannt, der bei allen Neugeborenen in den ersten Lebensminuten anhand einfacher klinischer Befunde ermittelt wird. Er zeigt an, wie es dem
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Neugeborenen geht bzw. wie groß das Risiko einer gesundheitlichen Gefährdung ist. Wenn der Score auffällig ist, muss aktuell gehandelt werden. So muss z. B. Sauerstoff verabreicht werden, wenn die Atemfunktion eingeschränkt erscheint. Lange Zeit war man der Meinung, dass dieser Risikoscore (für sich alleine genommen) zugleich ein Prädiktor für die spätere Entwicklung sei. Es wurde unterstellt, dass ein schlechter Apgar-Score mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Entwicklung eines Hirnschadens aufgrund geburtsbedingter Komplikationen mit der Folge einer motorischen und/oder kognitiven Entwicklungsstörung hinweise. Erst Jahrzehnte nach Einführung dieser Untersuchung konnte durch prospektive und langfristige Untersuchungen die geringe prognostische Aussagekraft dieses Risikoscores erkannt werden. Die Auswirkungen einer perinatalen Sauerstoffmangelsituation für die psychomotorische Entwicklung können nicht alleine durch einen aktuellen Befund, wie den Apgar-Score, beurteilt werden; sie sind Teil eines komplexen Systems (Karch, 1994a; Laucht et al., 1997). Ähnliche Überlegungen sind auch bei der Prävention von kognitiven Entwicklungsstörungen zu berücksichtigen. Eine weitere Möglichkeit zur Prävention bieten Therapie oder Förderung bei bestehenden Entwicklungsstörungen. Diese sekundär bzw. tertiär präventiven Interventionen beruhen auf der Annahme, dass durch spezielle Interventionen die Intelligenzentwicklung nachhaltig verbessert werden kann und dass Interventionen so früh wie möglich beginnen sollen. Durch die Förderung sollen Wahrnehmungs- und Lernprozesse angeregt und die große Plastizität der Gehirnentwicklung genutzt werden. Neuere neurobiologische Erkenntnisse sprechen dafür, dass dabei spezielle Defizite oder Läsionen z. T. kompensiert und die Ausbildung von synaptischen Verbindungen im ZNS unterstützt werden können. 3.2.2 Primäre Prävention Genetische Beratung Liegt in der Familie eine angeborene Erkrankung bzw. Entwicklungsstörung vor, ist eine erbliche Erkrankung bekannt, sind die Eltern miteinander verwandt oder hat die Mutter ein Alter von über 35 Jahren erreicht, ist vor der Konzeption eine genetische Beratung zu empfehlen. Ziel ist die Aufklärung über das Risiko bzw. Wiederholungsrisiko für eine erhebliche Entwicklungsstörung oder Erkrankung. Wird die Beratung während der Schwangerschaft durchgeführt, erfolgt sie unter besonderen, z. T. belastenden Voraussetzungen. Unter eugenischen Aspekten entschließen sich nach einer Beratung viele Eltern, auf ein Kind zu verzichten, eine spezielle Schwangerschaftsuntersuchung durchführen zu lassen oder evtl. die Schwangerschaft abzubrechen. Hierdurch verringert sich die Zahl von Kindern mit kognitiven Defiziten; wie groß dieser Effekt ist, kann allerdings nicht exakt beziffert werden. Er ist aber eher gering einzuschätzen, insbesondere im Hinblick auf eine Schwangerschaftsunterbrechung beim Nachweis eines Gendefektes, der nur bei den seltenen monogenen Defekten möglich ist. Selbst wenn bei einem Kind oder Angehörigen der Familie eine geistige Behinderung vorliegt, kann das
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Wiederholungsrisiko vielfach nur empirisch begründet und geschätzt werden, wenn die Ursache nicht bekannt ist (Tariverdian & Buselmaier, 2004). Schwangerschaftsrisiken Erkrankungen der Mutter. Chronische Erkrankungen der Mutter oder akute gesundheitliche Schwangerschaftskomplikationen, wie z. B. eine Schwangerschaftsgestose, erhöhen das Risiko für vorgeburtlich erworbene Hirnschädigungen des Kindes. Als präventive Maßnahmen wurden Schutzimpfungen in der Säuglings- und Kleinkindzeit (insbesondere Röteln) und Überprüfungen auf Antikörper gegen neurotrope Viren, Toxoplasmose und andere Infektionen sowie mehrfache Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen, einschließlich Ultraschalluntersuchungen, etabliert. Eine Infektion mit dem Cytomegalievirus (CMV), gegen das noch nicht geimpft werden kann, stellt z. B. ein relativ häufiges Risiko dar. Erkrankt die Mutter während der Schwangerschaft erstmals an einer CMVInfektion (geschätzte Häufigkeit der intrauterinen Infektion ca. 1 bis 2 %), deren Symptome oft leicht und harmlos sind, liegt das Risiko für eine Hirnschädigung mit dadurch bedingter Einschränkung der kognitiven Entwicklung bei 5 bis 10 % (Übersicht bei Adler et al., 2004). Daher sollte schon vor der Konzeption geprüft werden, ob ausreichend Antikörper vorhanden sind. Wenn Antikörper nicht nachweisbar sind, dann sollten die üblichen hygienischen Maßnahmen bei einem Kontakt mit erkrankten Kindern strikt beachtet werden. Ernährung während der Schwangerschaft. Unabhängig von dem ungünstigen Einfluss akuter oder chronischer Erkrankungen der Mutter auf die Entwicklung des Kindes können Fehl- oder Unterernährung der Mutter, wie z. B. bei Hungersnot, aber auch Anomalien der Placenta (Mutterkuchen), zu einer mangelnden Versorgung des Feten führen. Dies hat zur Folge, dass die Neugeborenen zu klein und zu leicht für die Schwangerschaftsdauer sind und/oder sie haben einen zu kleinen Kopfumfang als Ausdruck einer mangelnden Gehirnentwicklung. Eine sensible Phase für die Gehirnentwicklung beginnt Mitte der Schwangerschaft, wenn die Neuronen gebildet werden. Die Zahl der Neuronen liegt bereits nach dem 8. Schwangerschaftsmonat fest. Danach bildet sich, besonders rasch im Kleinkindalter, das Netzwerk von Neuriten und Dendriten (mit Spines) und den synaptischen Verbindungen zwischen den Neuronen aus, das seinerseits empfindlich auf eine Mangelernährung reagiert. Die Folgen einer Mangelernährung verschlimmern sich, wenn ein Kind intrauterin zusätzlichen Noxen ausgesetzt wird und die Mangelernährung über die Neugeborenenzeit hinaus anhält. Offensichtlich besteht bei manchen Müttern ein latenter Vitaminmangel, so dass z. B. die Einnahme von Folsäure vor dem Eintreten einer Schwangerschaft das Risiko für das Auftreten einer Spina bifida (Missbildung mit unvollständigem Verschluss des Neuralrohres und der Wirbelsäule) und eines Hydrozephalus (Erweiterung der Hohlräume für das Nervenwasser) vermindern kann (Mitchell et al., 2004; s. auch Kap. 2).
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Maßnahmen des Mutterschutzes in der Arbeitswelt, Ernährungsberatung im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen und gesundheitliche Aufklärung tragen daher auch zur Vermeidung von kognitiven Entwicklungsstörungen bei. Dies gilt umso mehr für den Bereich der Genussgifte. Noxen (Alkohol, Nikotin und andere Drogen). Toxische Effekte von Alkohol auf das Zentralnervensystem des ungeborenen Kindes sind weitgehend bekannt. Während man früher annahm, dass eine Gefährdung des Kindes nur bei häufigem und starkem Alkoholgenuss eintritt, weiß man heute, dass auch geringere Mengen für eine Hirnschädigung mit einer Einschränkung der kognitiven Entwicklung verantwortlich sein können (Spohr et al., 1995; Steinhausen et al., 1995; Steinhausen et al., 2003). Nach Angaben aus Finnland können Hirnaufbaustörungen auch bei relativ geringem Alkoholgenuss auftreten. Das Risiko ist bei regelmäßigem Genuss von mehr als zwei „Drinks“ (0,3 Bier, 0,12 Wein, 0,04 Schnaps/ Cognac/Likör) pro Tag groß (Autti-Rämö et al., 2002; Autti-Rämö, 2002). Ähnlich ist die Erkenntnislage beim Rauchen. Es mehren sich die Anzeichen, dass bei individueller Überempfindlichkeit, auch unter der üblichen Grenze von maximal zehn Zigaretten pro Tag, Entwicklungs- und Verhaltensstörungen auftreten können, welche die Lernfähigkeit einschränken (Law et al., 2003). Verzicht auf Alkohol und Rauchen verringert das Risiko für Entwicklungsstörungen, insbesondere auch im kognitiven Bereich, da sich sowohl Alkohol als auch Nikotin sehr ungünstig auf die Hirnentwicklung auswirken (vgl. Kasten 1). Kasten 1: Risiken des mütterlichen Rauchens für die Gesundheit des Neugeborenen
– mangelnde Gewichtsentwicklung (Im Mittel 150 bis 250 Gramm geringeres Geburtsgewicht*, 2-fach erhöhtes Risiko für Mangelgeburt**) – erhöhte Rate neurologischer und Verhaltensauffälligkeiten beim Neugeborenen in Abhängigkeit von dem Ausmaß der Nikotinbelastung (Messung der Konzentration im Speichel der Mutter***) * Andres & Day, 2000, ** Guyer et al., 1999, ***Law et al., 2003
Auch Umweltgiftstoffe, wie z. B. Blei oder Quecksilber, können zu einer Beeinträchtigung der kognitiven Entwicklung des ungeborenen Kindes führen. Umstritten ist, ob sie zu einer wesentlichen Entwicklungsstörung führen, wenn es sich nicht um toxische Mengen handelt. Frühgeburtlichkeit Da eine kurze Schwangerschaftsdauer und ein geringes Geburtsgewicht direkt mit dem Risiko einer Entwicklungsstörung verknüpft sind, ist die Vermeidung von Frühgeburten eine wichtige präventive Maßnahme, die zur Verringerung von kognitiven Störungen beiträgt. Es besteht nicht nur eine direkte Korrelation zwischen einer kurzen Schwangerschaftsdauer (unter 33 Wochen) und dem Auftreten von spastischen Bewegungsstörungen (s. Kap. 2), sondern auch zu sprachlichen,
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visuellen und kognitiven Störungen. Diese können selbst bei Kindern, die keine erheblichen motorischen Störungen aufweisen, auftreten und werden spätestens im Vorschulalter sichtbar (Wolke & Meyer, 1999; Übersicht bei Karch, 1994b und Vollmer & Krägeloh-Mann, 2002). Das Risiko für eine Frühgeburt und andere Komplikationen sind auch bei Schwangerschaften im Jugendalter („Teenagerschwangerschaft“) deutlich erhöht. Daher ist die Vermeidung zu früher Schwangerschaften nicht nur aus psychosozialen Aspekten, sondern auch zur Prävention von Entwicklungsstörungen eine wichtige präventive Maßnahme. Perinatale Medizin Die Fortschritte der perinatalen Medizin haben zu einer erheblichen Verringerung der Sterblichkeit und der Erkrankungsrate während der Geburt geführt und damit wohl auch die Häufigkeit kognitiver Entwicklungsstörungen verringert. Diese Feststellung gilt auch für das Auftreten von motorischen Störungen (s. Kap. 2). In einer internationalen Vergleichsstudie zur Entwicklung von extrem früh Geborenen bis zum Schulalter (8. bis 11. Lebensjahr) wurde festgestellt, dass die Erfolge der Perinatalmedizin in verschiedenen Ländern durchaus ähnlich sind Tabelle 2: Die kognitive Entwicklung von extrem früh geborenen Schulkindern (n = 532, Geburtsgewicht 500 bis 1000 Gramm) in 4 verschiedenen Regionen (Saigal et al., 2003). Tests
New Jersey
Ontario
Bayern
Holland
15 23 62
25 23 52
27 28 45
26 30 44
8 11 81
11 29 60
54 46
4 26 70
15 9 76
25 15 60
47 22 31
30 13 57
-
15 24 61
40 21 39
21 13 65
Intelligenz <70 70-84 >84 Lesen <70 70-84 >84 Rechnen <70 70-84 >84 Schreiben <70 70-84 >84
Anmerkung: Häufigkeitsangaben als prozentualer Anteil des Gesamtkollektivs der nachuntersuchten Kinder
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(vgl. Tab. 2). Einbezogen wurden vier prospektive Kohortenstudien mit vergleichbarem Studiendesign aus den 1980er Jahren. Die Überlebensrate lag zwischen 45 bis 49 % (Saigal et al., 2003). Obwohl sich die perinatale Versorgung inzwischen weiter verbessert hat, bleibt das Grundproblem gleich. Es überleben immer mehr Kinder mit einem Geburtsgewicht von weniger als 750 Gramm bzw. einer Schwangerschaftsdauer unter 28 Wochen einhergehend mit einem extrem hohen Risiko für eine Hirnschädigung und gleichzeitig verringert sich das Risiko bei den Kindern, bei denen bis in die 1980er Jahre die Sterbensrate bei ca. 50 % lag! Psychosoziale Risiken Seit langem ist bekannt, dass sich nicht nur finanzielle Not, sondern vor allem eine emotionale Verarmung, mangelnde Bindung sowie das Fehlen eines anregenden Umfelds ungünstig auf die psychomotorische Entwicklung auswirken. Im Extremfall sind Vernachlässigung oder gar Missbrauch bzw. Misshandlung für die Fehlentwicklung verantwortlich. Diese Bedingungsfaktoren gibt es nicht nur in den Ländern der sog. Dritten Welt. Die Folgen ungünstiger psychosozialer Bedingungen verschlimmern sich, wenn zusätzlich somatische Risiken für die Gehirnentwicklung bestehen. Je mehr Risiken nachweisbar sind, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit einer beeinträchtigten kognitiven Entwicklung. Nach Sameroff et al. (1987) gelten mehr als drei unterschiedliche Risiken als kritisch. Impfungen Zu den effektivsten primär präventiven Maßnahmen im Hinblick auf die Gesundheit der Bevölkerung und das Auftreten einer geistigen Behinderung in Folge einer erworbenen Hirnschädigung zählen die Impfungen. In gemeinsamer Anstrengung von Kinderärzten und öffentlichem Gesundheitswesen gelingt es inzwischen, Jahr für Jahr fast alle Säuglinge und Kleinkinder gegen die häufigsten Infektionskrankheiten mit einem hohen Risikopotential zu impfen. Spezielle Informationen sind auf den Internetseiten des Robert Koch-Instituts zu finden (www.rki.de). In Bezug auf die kognitive Entwicklung sind viral bedingte Enzephalitiden (Hirnentzündungen) bei Masern und Windpocken sowie Komplikationen bei Erkrankungen durch Meningokokken, Keuchhusten- oder Haemophilusbakterien von besonderer Bedeutung. Impfungen gegen Viren, die intrauterin zu Schädigungen des ZNS führen können, sind besonders erfolgreiche Maßnahmen (z. B. Rötelnimpfung von Mädchen im Jugendalter). Schädigungen des ungeborenen Kindes durch eine Rötelninfektion sind dadurch extrem selten geworden. Ernährung des Kindes In der Öffentlichkeit wird die Hoffnung suggeriert, dass die geistige Entwicklung durch eine Beachtung von allgemeinen und speziellen Regeln für die tägliche
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Ernährung gefördert werden könne. Eine gesunde Skepsis gegenüber der Vielzahl von entsprechenden Versprechungen, z. B. durch spezielle Nahrungsmittelzusätze, die Lernfähigkeit steigern und das Gedächtnis verbessern zu können, ist mehr als berechtigt, da es keine gesicherten Erkenntnisse hierzu gibt. Selbst wissenschaftlich erwiesene kurzfristige Vorteile einer hochwertigen Ernährung gesunder Säuglinge (Muttermilch oder Fertigmilch mit mehrfach ungesättigten Fettsäuren) haben vermutlich längerfristig keine relevante Bedeutung (Auestadt et al., 2003; Richardson & Montgomery, 2005). In einer philippinischen Studie konnten im Schulalter signifikant höhere IQ-Werte nur bei den Kindern, die länger als 12 Monate voll gestillt und mit zu niedrigem Geburtsgewicht (unter 2500 Gramm) geboren worden waren, festgestellt werden (Daniels & Adair, 2005). Die Zufuhr spezieller Mineralien oder Nahrungszusätze ist allerdings unerlässlich, wenn entsprechende Mangelzustände in der Nahrungskette nachgewiesen sind (z. B. Zink in bestimmten Regionen der Erde). Bevölkerungsweite Maßnahmen zur Förderung der kognitiven Entwicklung Die Prävention von Entwicklungsstörungen im mentalen und psychischen Bereich muss mehrdimensional angelegt sein. Hierzu gehören: eine Förderung von Erziehungsmaßnahmen im Hinblick auf die Kompetenz zum Lernen und Sozialverhalten, eine Verbesserung der familiären und sozialen Lebensumstände und eine Bereitstellung von geeigneten Einrichtungen, wie z. B. Kindergärten, Schulen sowie von Freizeit- und Sportmöglichkeiten. In vielen Ländern wurden zahlreiche Anstrengungen unternommen, die geistige Entwicklung von Kindern schon früh zu fördern („Head Start-Programme“). Mit einer Förderung in Kindergärten wurde in Deutschland Anfang des letzten Jahrhunderts begonnen. Inwieweit es durch primär präventive Maßnahmen gelingt, die Häufigkeit einer geistigen Behinderung zu verringern, ist eine offene Frage. Möglicherweise führen derartige Fördermaßnahmen dazu, dass die begabten Kinder am meisten profitieren und die Unterschiede in der kognitiven Entwicklung zwischen den Kindern dadurch noch größer werden. Viele der von der öffentlichen Hand finanzierten Förderprogramme beziehen sich auf so genannte Risikokinder (s. u.) im Sinne einer sekundären Prävention. 3.2.3 Sekundäre Prävention Krankheits-Früherkennungsprogramm für Kinder Vor über 30 Jahren wurde in Deutschland ein Screeningprogramm ins Leben gerufen mit dem Ziel, Erkrankungen und Entwicklungsstörungen so früh wie möglich zu erkennen und dadurch eine frühzeitige Behandlung mit besseren Erfolgsaussichten zu erreichen. Zehn Untersuchungszeitpunkte sind festgelegt;
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die meisten liegen im ersten Lebensjahr. Zum Neugeborenen-Screening gehört die Suche nach angeborenen Stoffwechselstörungen, wie z. B. nach einer Phenylketonurie und einer Schilddrüsenunterfunktion, bei denen schon in den ersten Lebenstagen abnorme Befunde im Blut zu finden sind, obwohl noch keine eindeutigen klinischen Symptome bestehen. Auch andere angeborene Erkrankungen können durch die Untersuchung einer kleinen Blutmenge, die auf ein Filzpapier getropft werden muss („Guthrie-Test“), früh entdeckt werden. Obwohl diese Erkrankungen sehr selten sind, handelt es sich um eine effiziente Prävention, da die genannten Krankheitsbilder behandelbar sind und durch eine Therapie die Häufigkeit einer geistiger Behinderung vermindert werden konnte (Roscher et al., 2001). Frühförderung/Frühtherapie Die Förderung von Kindern mit speziellen Entwicklungsrisiken oder mit bereits bestehenden Entwicklungsstörungen wird als präventive Maßnahme seit Ende des 19. Jahrhunderts in Europa und Anfang des 20. Jahrhunderts auch in den USA propagiert. Sie wurde vor allem von den Ärzten Itard, Seguin und Montessori initiiert, aber auch von den Pädagogen Fröbel und Pestalozzi. Es wurden Einrichtungen zur speziellen Förderung entwicklungsgestörter bzw. geistig behinderter Kinder gegründet und gesetzlich verankerte Frühförder- und Schulsysteme entwickelt. In den USA wurden auch „Head Start-Programme“ für Kleinkinder (später auch für Säuglinge) insbesondere aus sozial benachteiligten Familien eingeführt (s. o.). In Deutschland wurden seit den 1970er Jahren Frühförderstellen eingerichtet. Allen Initiativen lag die Idee zugrunde, dass man durch eine frühe und gezielte Förderung drohenden mentalen Entwicklungsstörungen vorbeugen und bestehende kognitive Störungen weitgehend kompensieren könne. Auch die Einführung eines Früherkennungsprogramms für Säuglinge und Kleinkinder in Deutschland war in diesem Zusammenhang ein logischer Schritt. 3.2.4 Evaluation präventiver Maßnahmen Bevölkerungsweite Maßnahmen Studien zur Effektivität von bevölkerungsweiten Programmen sind methodisch anspruchsvoll und erfordern einen hohen Aufwand; die Ergebnisse sind schwierig zu interpretieren. Da keine eindeutigen Belege für die Effektivität einzelner Programme vorliegen, werden seit Jahrzehnten immer neue Programme mit wechselnden Zielen und Vorgehensweisen entwickelt, die dem jeweiligen Zeitgeist entsprechen (Übersicht bei Shonkoff & Meisels, 2000). Aktuell unternimmt z. B. China riesige Anstrengungen, um bereits zwei- bis dreijährige Kinder Rechnen und Lesen lernen zu lassen.
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Früherkennungsuntersuchungen Durch die Einführung eines erweiterten Neugeborenen-Screenings auf Stoffwechselstörungen (Roscher et al., 2001) konnten in Bayern etwa doppelt so viele seltene Erkrankungen entdeckt werden. Die Früherkennungsuntersuchungen in den folgenden fünf Lebensjahren sind aber bei weitem nicht so effizient wie die im Neugeborenenalter. Insbesondere in Bezug auf psychomotorische Retardierungen haben sich die Hoffnungen nicht erfüllt. Dafür gibt es mehrere Gründe: Zum einen fehlen für die meisten Erkrankungen klar definierte Suchkriterien, die mit ausreichender Zuverlässigkeit das Bestehen oder das Risiko für eine Erkrankung frühzeitig aufzeigen, und zum anderen sind die Erfolge einer Behandlung bzw. Frühförderung nicht vergleichbar mit denen einer Therapie der genannten Stoffwechselerkrankungen. Auch sinkt die Teilnahmerate an den Früherkennungsuntersuchungen von ca. 100 Prozent im Neugeborenenalter auf weniger als 85 Prozent im Vorschulalter. Insgesamt erscheint der Aufwand eines bevölkerungsweiten Suchprogramms mit den bisher verfolgten Zielen nicht mehr gerechtfertigt. Viele unnötige Kontrolluntersuchungen und therapeutische Interventionen infolge falsch positiver und falsch negativer Befunde (mangelnde Sensitivität und Spezifität der Untersuchungsverfahren) haben das Früherkennungsprogramm infrage gestellt. Frühförderung Die Effekte von Förderprogrammen wurden in zahlreichen Längsschnittstudien erforscht. Die meisten Studien beziehen sich auf spezielle Entwicklungsstörungen oder Kinder, die speziellen Risiken ausgesetzt waren. Es ist üblich, zwischen psychosozialen und biologischen Risikofaktoren zu unterscheiden. Es bestehen aber von Studie zu Studie unterschiedliche Listen oder Definitionen der Risikofaktoren, so dass die Studienergebnisse nicht ohne weiteres miteinander vergleichbar sind. Umfassende Informationen zu den theoretischen Grundlagen und unterschiedlichen Zielsetzungen sowie zur Effizienz von Interventionsprogrammen finden sich bei Shonkoff und Meisels (2000) und Guralnick (1997). Eine Literaturübersicht über die Ergebnisse von Effektivitätsstudien einer Frühförderung im Hinblick auf kognitive Leistungen hat Krause (2003) vorgelegt. Er weist auf die uneinheitliche Methodik hin: Unterschiede bestehen hinsichtlich der untersuchten Erkrankungen, der Beurteilung des Entwicklungsstandes, der Festlegung von Erfolgskriterien, der Erfassung von Interkorrelationen und konfundierenden Variablen (bedeutsame Einflussfaktoren). Auch für die in Deutschland praktizierte Förderung in Frühförderstellen fehlen adäquate Evaluationsstudien. Generell wird die Effektivität einer frühen Förderung („early intervention“) als besonders hoch und nachhaltig eingeschätzt. Nach Bailey et al. (1999) führt eine intensive Förderung zu mittleren Effektstärken zwischen .40 bis .75. Allerdings sind die Erfolgsaussichten bei schwer betroffenen Kindern wesentlich geringer als bei leichteren Störungen. Auch sind die langfristigen Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung bislang nicht ausreichend untersucht.
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Die Daten einer besonders detaillierten Interventionsstudie sollen kurz dargestellt werden. Bei dem „Milwaukee Projekt“ (Garber et al., 1991) wurden 17 Kinder von Müttern mit niedrigem IQ von der Kleinkindzeit bis zur Einschulung intensiv gefördert und der Verlauf bis zum 14. Lebensjahr dokumentiert. Im Vergleich zu einer unausgelesenen Kontrollgruppe von 18 Kindern ohne intensives Förderprogramm entwickelten sich die geförderten Kinder signifikant besser; insbesondere schnitten sie in Intelligenztests beim Eintritt in die Schule besser ab. Später zeigte sich aber nicht nur eine Verringerung des Unterschieds bei den IQ-Werten, sondern auch bei den Lernergebnissen. Dieser Verlauf wurde als Hinweis darauf interpretiert, dass bei einer vorwiegend kindzentrierten kognitiven Frühförderung zwar signifikante Fortschritte erzielt werden können, aber die tatsächliche Wirksamkeit der Förderung nicht durch Tests alleine beurteilt werden kann, da im Rahmen der intensiven Förderung viele Testaufgaben geübt werden. Studien zur Wirksamkeit von Fördermaßnahmen unter Einschluss der Bezugspersonen bei Kindern mit einem Down-Syndrom zeigten, dass durch eine intensive Förderung in den ersten Lebensjahren kurzzeitige Effekte auf die psychomotorische Entwicklung insgesamt erreicht werden können. Umstritten ist ihre langfristige Bedeutung, insbesondere auch für die kognitive und sprachliche Entwicklung (Spiker & Hopman, 1997). Evaluationsstudien von unterschiedlichen Interventionsprogrammen zur Förderung der kognitiven Entwicklung bei Frühgeborenen wurden von Brisch et al. (1997) in einer Übersichtsarbeit zu Studien mit randomisierten Kontrollgruppen kritisch dargestellt. Die Dauer der Studien betrug zwischen ein und drei Jahren; es gab eine Reihe methodischer Probleme. Die Interventionen richteten sich auf die psychosoziale Situation und bei fast allen Studien fanden sich nach der Förderung signifikante Unterschiede zu den Kontrollgruppen. Inwieweit statistisch signifikante Unterschiede bei den Messwerten für den Alltag relevant sind, lässt sich aus den Studien aber kaum abschätzen; auch ihre langfristigen Auswirkungen wurden nicht untersucht. Metaanalysen (zusammenfassende Bewertung mehrerer Studien) zeigen, dass familienorientierte Förderprogramme bessere Effekte zeigen als kindorientierte, möglicherweise auch als Folge einer Wechselwirkung zwischen seelischer und sprachlicher bzw. kognitiver Entwicklung, da die Eltern-Kind-Interaktion und -Bindung gefördert wird (Dunst et al., 1989; Schlack, 1989, 1994). Die umfangreichste familienorientierte und multizentrische Studie erfasste 985 Kinder, die außerordentlich aufwändig gefördert wurden (Hausbesuche, Ganztagsförderung, Elterngruppe über drei Jahre). Dabei konnten erhebliche Fortschritte gegenüber der Kontrollgruppe erreicht werden (Infant Health and Development Program, IHDP, 1991). Wissenschaftliche Nachweisbarkeit der Effekte Addition, Kumulation und Rückwirkungen (Zirkelkreisläufe) von Störfaktoren und Risiken: Studien an Kindern mit bestimmten Risikofaktoren oder mit spe-
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ziellen Interventionen geben Auskunft über die Effekte, die während der Studie erreicht werden konnten. Es ist aber nicht eindeutig zu unterscheiden, ob die Intervention selbst oder evtl. indirekte Einflussfaktoren für die Ergebnisse verantwortlich sind. Eine frühe Förderung von Kindern im familiären Kontext bewirkt auch Veränderungen im psychosozialen Umfeld und in der inneren Einstellung der Bezugspersonen zum Kind. In vielen Studien wird auf die Bedeutung von Rückwirkungen oder Zirkelkreisläufen hingewiesen und darauf, dass die Erfolge z. T. nicht eindeutig den Interventionen zugewiesen werden können. Zudem bleibt nicht selten die Relevanz der durch Tests und Fragebögen gemessenen Effekte für den Alltag der Kinder unklar. Eine weitere Unsicherheit liegt bei vielen prospektiven Längsschnittstudien darin, dass die Art und Intensität der Therapie bzw. Förderung zwar in der Studiengruppe gut beschrieben wird, aber ihre Umsetzung nicht genau geprüft werden kann, und dass die Förderung in den Kontrollgruppen oft nicht eindeutig erfassbar und bekannt ist. Weitere Probleme ergeben sich aus eingeschränkten Informationen hinsichtlich Randomisierung (Zuteilung zu den Gruppen nach Zufallskriterien), Compliance (Zuverlässigkeit der Mitarbeit) oder Studienabbrüchen. Die Fallzahlen sind oft so gering, dass bei der Vielzahl von geprüften Variablen (Art der Interventionen und Kriterien zur Beurteilung der Effektivität) rein rechnerische Fehlerquellen bestehen. Darüber hinaus sind die Ergebnisse der Studien wegen der Heterogenität der Erkrankungen bzw. Entwicklungsstörungen, der Intensität bzw. Dauer der Interventionen sowie der Konzepte nur bedingt miteinander vergleichbar (Guralnick & Neville, 1997).
3.3 Zusammenfassung Eine primäre Prävention einer geistigen Behinderung ist effektiv möglich durch Impfungen gegen Kinderkrankheiten, die mit einem Risiko für Gehirnentzündungen verbunden sind, sowie durch eine Reduzierung von Risikofaktoren für prä- und perinatale Noxen oder Komplikationen (z. B. Einnahme von Folsäure, Verzicht auf Alkohol und Nikotin in der Schwangerschaft, Vermeidung von Frühgeburten). Exakte Angaben zur Effektivität dieser Maßnahmen existieren allerdings nicht. Eine Wirksamkeit politischer Anstrengungen, deren Ziel es ist, durch eine Aufklärung der Gesamtbevölkerung („Head Start-Programme“) die kognitive und psychosoziale Entwicklung von Kindern, die in psychosozial belasteten Verhältnissen aufwachsen, günstig zu beeinflussen, ist nur kurzfristig nachweisbar. Es liegen keine epidemiologischen Untersuchungen vor, die eine Verminderung der Häufigkeit von kognitiven Störungen durch diese Maßnahmen nachweisen. Eine Prävention ist auch bei einzelnen (seltenen) Stoffwechselstörungen, die im Neugeborenenalter durch Bluttests erkannt werden können, effektiv und verringern damit die Häufigkeit einer geistigen Behinderung. Die sekundäre Prävention von kognitiven Entwicklungsstörungen oder geistiger Behinderung durch Fördermaßnahmen bei entwicklungsgestörten Kindern ist nur erfolgreich, wenn sie umfassend und langfristig angelegt ist. Die Einbe-
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ziehung der Familie oder der nächsten Bezugspersonen, in der Regel der Mutter, sind für den Erfolg unabdingbar. Bei kindzentrierten Förderprogrammen ergeben sich zwar in psychologischen Tests bessere Untersuchungsergebnisse als bei familienzentrierten, aber der Transfer in den Alltag lässt zu wünschen übrig. Die Ausprägung einer kognitiven Entwicklungsstörung kann bei optimalem Verlauf der Förderung gemildert werden. Inwieweit eine Frühförderung und Frühtherapie zu einem selteneren Auftreten von geistiger Behinderung beiträgt, ist eine offene Frage.
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Prävention umschriebener Sprachentwicklungsstörungen Waldemar von Suchodoletz
Gliederung 4.1 4.1.1 4.1.2 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.2.6 4.3
Umschriebene Sprachentwicklungsstörungen. . . . . . . . . . Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention durch eine Vermeidung frühkindlicher Hirnschädigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention durch eine Therapie von Hör- und auditiven Wahrnehmungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention durch einen adäquaten Medienkonsum. . . . . . Prävention durch eine Sprachförderung in Kindergruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention durch eine Anleitung der Eltern . . . . . . . . . . . . Prävention durch eine kindzentrierte Sprachtherapie . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45 45 47 52 52 53 58 62 64 69 71
4.1 Umschriebene Sprachentwicklungsstörungen 4.1.1 Symptomatik Sprech- und Sprachstörungen treten im Kindesalter als spezifische Störungsbilder (u. a. Sprachentwicklungsstörung, Mutismus, Stottern, Poltern) oder im Zusammenhang mit umfassenderen psychiatrischen oder neurologischen Erkrankungen (u. a. bei Intelligenzstörungen, Autismus, infantilen Zerebralparesen) auf. Je nach Störungsbild sind jeweils andere präventive Maßnahmen wirksam. In diesem Kapitel soll auf Möglichkeiten zur Prävention von umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen eingegangen werden, da diese im frühen Kindesalter besonders häufig sind und da sie zu einer erheblichen Beeinträchtigung der sozialen Entwicklungschancen eines Kindes führen. Eine Prävention dieses Störungsbildes ist deshalb von besonderer Bedeutung. Sprachentwicklungsstörungen treten bei etwa 7 % aller Kinder auf. Jungen sind zwei bis dreimal so oft wie Mädchen betroffen (Tomblin et al., 1997).
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Sprachentwicklungsstörungen sind im Kindergarten- und Vorschulalter ein häufiger Anlass für Frühfördermaßnahmen. Gelingt es nicht, sprachliche Defizite bis zur Einschulung zu überwinden, dann sind die weiteren Entwicklungschancen eines Kindes erheblich eingeschränkt. Den meisten Kindern mit persistierenden Sprachauffälligkeiten fällt es nach Schuleintritt schwer, das Lesen und Rechtschreiben zu erlernen. Dies führt nicht nur zu einem Versagen im Deutschunterricht, sondern zu Minderleistungen in allen schulischen Bereichen. Die Folge sind vorzeitige Schulabbrüche bzw. Schulabschlüsse, die unter dem Niveau liegen, das unter Berücksichtigung der allgemeinen Begabung des Kindes zu erwarten wäre. Das im Erwachsenenalter erreichte Ausbildungsniveau und der spätere soziale Status sind entsprechend niedrig. Hinzu kommen im Schulalter infolge chronischer Misserfolgserlebnisse emotionale und Verhaltensauffälligkeiten (Übersicht über Entwicklungsverläufe sprachentwicklungsgestörter Kinder bei Suchodoletz, 2004a). Eine Prävention von Sprachentwicklungsstörungen könnte derartig ungünstige Entwicklungen verhindern und sollte deshalb ein dringendes Anliegen bei der Betreuung von Kindern sein. Die Symptomatik einer Sprachentwicklungsstörung ist vom Alter des Kindes abhängig. Manche Kinder fallen bereits im Säuglingsalter durch ein vermindertes Lallen auf. Im zweiten Lebensjahr ist ein verspätetes Erlernen der ersten Wörter und eine verzögerte Entwicklung des aktiven und passiven Wortschatzes charakteristisch. Im dritten Lebensjahr steht eine verminderte Äußerungslänge und ein weitgehendes Fehlen syntaktischer Strukturen im Mittelpunkt der sprachlichen Auffälligkeiten. Im Kindergarten- und Vorschulalter haben die Kinder besondere Schwierigkeiten bei der Bildung und dem Verständnis grammatischer Wortformen und Satzstrukturen. Im Schulalter wird die Spontansprache weitgehend fehlerfrei. Die Kinder sprechen in einfachen und kurzen Sätzen und vermeiden kompliziertere grammatische Strukturen. Probleme werden erst bei höheren Anforderungen deutlich. Den Kindern fällt es schwer, Geschichten folgerichtig zu erzählen, übertragene Bedeutungen und Mehrdeutigkeiten zu verstehen und sich schriftlich kohärent mitzuteilen. Diese Schwierigkeiten bleiben oft bis ins Erwachsenenalter hinein bestehen, werden aber erst bei besonderen Anforderungen oder einer gezielten Überprüfung deutlich. Weitere häufig zu beobachtende Sprachauffälligkeiten sind ein geringer Wortschatz, Wortfindungsund Lautbildungsstörungen. Je nachdem, ob Defizite bei der Sprachproduktion oder dem Sprachverständnis das Störungsbild prägen, wird nach der internationalen Klassifikation der WHO von einer expressiven oder einer rezeptiven Sprachentwicklungsstörung (F80.1 bzw. F80.2) gesprochen (Dilling et al., 1993). Als spezifische Sprachentwicklungsstörung werden aber nur Sprachauffälligkeiten eingeordnet, die nicht durch eine Intelligenzminderung, Hörstörung, neurologische Erkrankung oder eine unzureichende Anregung durch das Umfeld zu erklären sind. Es handelt sich also um Kinder mit einer umschriebenen Spracherwerbsstörung, die nicht durch eine offensichtliche Beeinträchtigung körperlicher oder psychischer Funktionen bedingt ist und erwartungswidrig auftritt. Die nonverbalen kommunikativen Fähigkeiten und das Kommunikationsbedürfnis der Kinder sind weitgehend unbeeinträchtigt.
4 Prävention umschriebener Sprachentwicklungsstörungen
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4.1.2 Ursachen Primäre Präventionsmaßnahmen haben zum Ziel, durch eine Beseitigung der Ursachen das Auftreten klinisch relevanter Spracherwerbsstörungen zu verhindern. Dazu ist es erforderlich, Faktoren, die zu umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen führen, genauer zu identifizieren. 4.1.2.1 Determinanten der normalen Sprachentwicklung Welche Faktoren den normalen Spracherwerb beeinflussen, dazu gibt es eine umfangreiche linguistische Literatur. Trotz des Vorliegens zahlreicher empirischer Untersuchungsergebnisse liegen aber die Auffassungen darüber, wie Kinder Sprache erwerben, weit auseinander. Im Wesentlichen stehen sich zwei Hypothesen gegenüber. Auf der einen Seite wird Sprache als erlernte Fähigkeit, deren Erwerb dem Menschen aufgrund seiner allgemeinen geistigen Potenzen möglich ist, aufgefasst (behavioristische Spracherwerbstheorien) und auf der anderen Seite wird der Spracherwerb als genetisch kodiertes Programm, das sich bei minimaler Anregung aus der Umwelt als Reifungsprozess automatisch entfaltet (nativistische bzw. generative Spracherwerbstheorien), angesehen. Behavioristische Spracherwerbstheorien, die den Spracherwerb durch einen Lernprozess erklären, sind gut nachvollziehbar. Wörter müssen gelernt werden und ohne Anregungen durch die Umwelt wird Sprache nicht erworben. Assoziation, Imitation und Verstärkung wurden anfangs als wesentliche Faktoren beim Sprachlernen aufgefasst. Genauere Beobachtungen der kindlichen Äußerungen zeigten jedoch, dass reine Imitationen nur relativ selten auftreten. Schon in der frühen Phase des Spracherwerbs bestehen kindliche Äußerungen vorwiegend aus nicht gehörten Wortkombinationen mit eigenen Gesetzmäßigkeiten. Dies führte zu der Annahme, dass Kinder Sprache weniger durch reine Nachahmung erlernen, sondern dass sie aus dem Gehörten Regeln, wie Wörter einzusetzen und zu kombinieren sind, entnehmen. Sie wenden diese an und erkennen aus den Reaktionen der Umwelt, ob ihre Vermutungen über die Bedeutung eines Wortes oder die Anwendung einer grammatischen Regel richtig sind. So korrigieren und verfeinern sie ihre Hypothesen über Gesetzmäßigkeiten ihrer Muttersprache. Wenn eine lerntheoretische Erklärung des Spracherwerbs zutreffend ist, dann ist davon auszugehen, dass der Spracherwerbsprozess entscheidend durch das Umfeld geprägt wird. In zahlreichen empirischen Studien wurde der Versuch unternommen, den Zusammenhang zwischen Sprachangebot und Sprachlernen zu belegen. Der Anstieg des Wortschatzes und die Fähigkeit eines Kleinkindes, Zwei- und Mehrwortsätze zu bilden, wurden mit zahlreichen Parametern des sprachlichen Inputs korreliert. Zusammenhänge zum Sprachentwicklungsstand eines Kindes wurden gefunden mit der Länge der Äußerungen der Mutter, der Qualität der Gespräche beim Essen, der „Intellektualität“ und der Größe des Wortschatzes der Mutter und mit der Quantität des Vorlesens und der Gespräche mit dem Kind über dessen Belange (Übersicht bei Toppelberg & Shapiro, 2000).
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Als von Bedeutung erwiesen sich aber nicht nur die Menge des sprachlichen Angebots, sondern auch Vielseitigkeit, Betonung und Responsivität (Hart & Risley, 1995). Die nonverbale Kommunikation kann sich gleichfalls auf den Spracherwerb fördernd oder hemmend auswirken. Namy et al. (2004) fanden bei ein- bis zweijährigen Kindern Beziehungen zwischen elterlichen Gesten und Wortschatzentwicklung. Schon für das Säuglingsalter konnten Korrelationen zwischen Input und präverbaler Entwicklung nachgewiesen werden. Die Sprachdiskriminationsfähigkeit sechs bis zwölf Monate alter Kinder steht in Beziehung zur Deutlichkeit der Aussprache der Mutter (Liu et al., 2003). Die geringeren sprachlichen Fähigkeiten von Unterschichtkindern werden demzufolge damit erklärt, dass Mütter aus bildungsferneren Bevölkerungsschichten weniger und uniformer mit ihren Kindern sprechen. Insgesamt sind die beschriebenen Korrelationen zwischen sprachlichen Inputfaktoren und der Geschwindigkeit des Spracherwerbs aber relativ gering und die Ergebnisse der einzelnen Arbeitsgruppen nicht widerspruchsfrei. Ein eindeutiger Beleg dafür, dass der Spracherwerb im Wesentlichen auf Lernprozessen beruht, ohne dass ein angeborenes Sprachwissen entscheidende Voraussetzung ist, konnte bislang nicht erbracht werden. Auch lassen sich lerntheoretische Spracherwerbstheorien mit einigen Beobachtungen des Verlaufs der Sprachentwicklung nur schwer in Einklang bringen. Das führte dazu, dass der lerntheoretische Ansatz von zahlreichen Sprachwissenschaftlern bezweifelt und zugunsten nativistischer Theorien verworfen wird. Seit den 1950er Jahren bestimmt die von Noam Chomsky (1957) vom Massachusetts Institute of Technology entwickelte generative Spracherwerbstheorie die Diskussion in der Linguistik. Chomsky argumentiert, dass das Sprachangebot der Umwelt so vielfältig und verwirrend sei, bestehend aus kompliziert verschachtelten Sätzen oder auch Halbsätzen, aus denen grammatische Regeln kaum zu entnehmen seien. Er postulierte ererbte Spracherwerbsstrukturen (Language acquisition device, LAD), in denen das Welt-Grammatikwissen genetisch kodiert verankert ist. Dem sprachlichen Input kommt nach seiner Theorie lediglich eine Auslöserfunktion für die konkrete Regelbildung zu, während die grammatischen Regeln selbst als im kindlichen Gehirn bereits vorhanden angesehen werden. Für die Richtigkeit der generativen Spracherwerbstheorie spricht, dass der mittlere Zeitpunkt des Erwerbs wichtiger Meilensteine der Sprachentwicklung und deren Variabilität in allen Kulturen und selbst beim Erwerb der Gebärdensprache gleich ist, unabhängig davon, ob mit Kindern viel oder wenig gesprochen wird (Fenson et al., 1994). Unterstützung fand die generative Theorie in letzter Zeit auch durch Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren. Musso et al. (2003) ließen deutsche Probanden grammatische Regeln der italienischen und japanischen Sprache lernen. In der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) wurde eine deutliche Aktivierung im Bereich der Broca-Region, in der die angeborenen Spracherwerbsstrukturen vermutet werden, beobachtet. Im Vergleich dazu trat keine Aktivierung beim Erlernen einer Kunstgrammatik auf, die universellen Grammatikprinzipien widersprach. Dass der sprachliche Input nicht so vielfältig und mehrdeutig ist, wie die Nativisten behaupten, spricht nur bedingt gegen die generative Spracherwerbs-
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theorie. Die Sprache, mit der sich Erwachsene an Kinder wenden, ist intuitiv dem Sprachentwicklungsstand des Kindes angepasst. Das so genannte „Mutterische“ ist gekennzeichnet durch einfache Satzstrukturen mit Hervorhebungen der entscheidenden sprachlichen Komponenten, Wiederholungen in Variationen und Rückmeldungen über die Richtigkeit der sprachlichen Äußerungen des Kindes. Regelhaftigkeiten werden deutlicher als in der üblichen Erwachsenensprache und können deshalb vom Kind erkannt und schrittweise erlernt werden. Ob ein Sprachangebot in Form des „Mutterischen“ aber tatsächlich den Spracherwerb fördert, ist nicht sicher (Übersicht bei Rüter, 2004). Auch in Kulturen, in denen das Mutterische nicht benutzt wird oder in denen Kleinkinder von Erwachsenen weitgehend unbeachtet bleiben, entwickeln sich Kinder sprachlich nicht langsamer als in anderen Gesellschaftsformen. In der Auseinandersetzung über lerntheoretische und generative Spracherwerbstheorien können Ergebnisse aus Zwillingsstudien wichtige Beiträge leisten. Durch den Vergleich der Ähnlichkeit der Sprachentwicklung eineiiger und zweieiiger Zwillinge lassen sich genetische und Umwelteinflüsse voneinander abgrenzen. Eineiige Zwillinge sind genetisch identisch und stimmen in Eigenschaften, die durch Vererbung bestimmt werden, völlig überein. Zweieiige Zwillinge hingegen teilen nur 50 % der individuellen genetischen Informationen und unterscheiden sich deshalb hinsichtlich vererbter Eigenschaften deutlich. Als Faustregel kann gelten, dass das Zweifache des Unterschieds der Übereinstimmung von Eigenschaften zwischen ein- und zweieiigen Zwillingen in etwa dem genetischen Anteil bei der Herausbildung eines Merkmals entspricht. Wesentliche Erkenntnisse erbrachte die Twins Early Development Study (TEDS), in der die frühe Entwicklung von etwa 3.000 Zwillingspaaren aus England und Wales verfolgt wurde. Die Studie ergab, dass im Alter von zwei Jahren etwa 25 % der Variabilität des Wortschatzes eines Kindes durch erbliche und 75 % durch Umwelteinflüsse zu erklären sind. Grammatische Fähigkeiten erwiesen sich als etwas stärker genetisch determiniert (39 % gegenüber 61 %) (Plomin & Dale, 2001). Vergleichbare Befunde wurden im Wisconsin Twin Project mit 116 eineiigen und 125 gleichgeschlechtlichen zweieiigen Zwillingen erhoben. Danach sind bei 20 bis 38 Monate alten Kindern 10 bis 30 % der Varianz des Wortschatzes und der Fähigkeit zur Bildung von Zwei- bis Mehrwortsätzen als genetisch determiniert anzusehen und 50 bis 80 % durch Umwelteinflüsse zu erklären (Van Hulle et al., 2004). Zu berücksichtigen ist, dass genetische und Umwelteinflüsse für den Erwerb der einzelnen Sprachdimensionen von unterschiedlicher Bedeutung sind. Wortschatz und sprachliche Kompetenz sind stärker von Inputfaktoren abhängig als grammatische und phonologische Fähigkeiten. 4.1.2.2 Ursachen von umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen Erklärungen für die normale Variationsbreite der Sprachentwicklung sind nicht ohne Weiteres auf Sprachentwicklungsstörungen zu übertragen. Eine genauere Aufschlüsselung der Ergebnisse der TEDS-Studie zeigte, dass der erbliche Anteil bei Kindern mit einer ausgeprägten Sprachentwicklungsverzögerung deutlich
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genetisch
Umfeld
100%
27 80%
58 60%
75
70
40%
73 20%
42 25
30
0% alle Kinder
<15
<10
<5
Kinder mit einem Prozentrang im Wortschatz
Abbildung 1: Erblicher und Umwelteinfluss, der den Sprachentwicklungsstand eines Kindes im Alter von zwei Jahren erklärt, in Abhängigkeit vom Wortschatz (TEDS-Zwillingsstudie, Plomin & Dale, 2001)
höher liegt, als bei Kindern mit einer Sprachentwicklung im Normalbereich. Bei Kindern mit ausgeprägten frühen Sprachentwicklungsauffälligkeiten (Prozentrang im Wortschatz unter 5) überwiegt der genetische Anteil mit 73 % deutlich gegenüber einem Anteil von 27 %, der durch Inputfaktoren zu erklären ist (vgl. Abb. 1). Umschriebene Sprachentwicklungsstörungen sind nach heutiger Auffassung multifaktoriell bedingt. Neben genetischen Komponenten werden psychosoziale Einflüsse sowie hirnorganische und auditorische Faktoren als mögliche Ursachen diskutiert (vgl. Abb. 2). Am überzeugendsten wurden genetische Faktoren in der Ätiologie von Sprachentwicklungsstörungen belegt. Schon seit über 50 Jahren ist eine familiäre Häufung bekannt. Bei 20 bis 40 % der Kinder mit einer umschriebenen Sprachentwicklungsstörung finden sich Spracherwerbsstörungen auch bei Verwandten ersten Grades. Das Risiko für eine Sprachentwicklungsstörung ist für Kinder aus belasteten Familien um das Zwei- bis Siebenfache erhöht. Der Erbgang ist in den einzelnen Familien allerdings unterschiedlich. Größere Mehrgenerationenstudien sprechen dafür, dass eine Sprachentwicklungsstörung bei etwa der Hälfte der familiären Formen autosomal-dominant vererbt wird, während bei den restlichen Familien unterschiedliche Erbgänge anzutreffen sind.
4 Prävention umschriebener Sprachentwicklungsstörungen
kindliche Variablen
Umwelt-Variablen
genetische Komponente
Quantität des Sprachangebots
hirnorganische Komponente
auditive Wahrnehmung
Sprachentwicklungsstörung
51
Qualität des Sprachangebots sonstige Einflüsse: z. B. Medienkonsum, Krippenbesuch
Abbildung 2: Mögliche ursächliche Faktoren für Sprachentwicklungsstörungen
Durch Zwillings- und Adoptionsstudien konnte gezeigt werden, dass die familiäre Häufung nicht alleine durch Umwelteinflüsse zu erklären ist (Übersichten bei Choudhury & Benasich, 2003 und bei Noterdaeme, 2000). Die Übereinstimmung des Auftretens einer Sprachstörung liegt bei eineiigen Zwillingen etwa doppelt so hoch wie bei zweieiigen und auch die Konkordanz hinsichtlich der Art der Sprachstörung ist bei eineiigen gegenüber zweieiigen Zwillingen deutlich erhöht (Bishop & Leonard, 2001). Der Frage, welche Gene an der Vererbung von Sprache beteiligt sind, wurde in den letzten Jahren verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt. 1990 wurde erstmals in einer Familie mit einer schweren Sprachstörung eine Mutation auf dem Chromosom 7 beschrieben (Hurst et al., 1990). Eine andere Arbeitsgruppe konnte belegen, dass ein Austausch spezifischer Abschnitte zwischen den Chromosomen 12 und 22 gleichfalls mit einer Sprachentwicklungsstörung einhergeht (Bonaglia et al., 2001). Auch Genorte auf den Chromosomen 2 und 13 wurden unlängst mit Sprachfähigkeiten in Zusammenhang gebracht. In einer groß angelegten Studie des SLI-Consortiums (2002) der USA zeigten Auffälligkeiten auf dem Chromosom 19 Beziehungen zu expressiven Sprachstörungen und auf dem Chromosom 16 zu Defiziten in der phonologischen Merkfähigkeit. Nach gegenwärtigem Wissensstand ist somit davon auszugehen, dass Sprache nicht an ein einzelnes Gen gebunden ist, sondern über Gene auf verschiedenen Chromosomen vermittelt wird. Sprachstörungen können demzufolge durch genetische Veränderungen an unterschiedlichen Genorten und durch unterschiedliche Kombinationen von Gen-Veränderungen hervorgerufen werden. Dass auch Umwelteinflüsse bei der Entstehung von Sprachentwicklungsstörungen von Bedeutung sind, dafür spricht, dass betroffene Kinder gehäuft aus Unterschichtfamilien kommen. Ungünstige Umweltbedingungen sind aber nur in extremen Ausnahmefällen alleinige Ursache einer Spracherwerbsstörung (z. B.
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Kaspar-Hauser-Syndrom). Die Wirkung von Umweltfaktoren ist eher durch moderierende Einflüsse auf eine erblich bedingte Disposition zu Sprachentwicklungsstörungen zu erklären. Eine unzureichende Förderung erhöht das Risiko für die Manifestation einer genetisch bedingten Veranlagung, während ein förderndes Umfeld kompensierend wirken kann. Kinder mit guten Sprachanlagen entwickeln sich auch unter wenig günstigen Bedingungen sprachlich erstaunlich unauffällig. Neben genetischen und psychosozialen Faktoren werden frühkindliche Hirnschädigungen als Ursache für umschriebene Spracherwerbsstörungen diskutiert. Wie Längsschnittstudien zeigen, haben Kinder mit frühkindlichen Hirnschädigungen nicht selten Sprachauffälligkeiten. Auch liegt es nahe, periphere und zentrale Hörstörungen für Verzögerungen beim Spracherwerb verantwortlich zu machen. Auditive Wahrnehmungsstörungen werden in den letzten Jahren zunehmend als Ursache für Sprachentwicklungsstörungen diskutiert, so dass überlegt werden muss, ob durch eine Prävention von Hör- oder Wahrnehmungsdefiziten Sprachentwicklungsstörungen vorgebeugt werden kann. Schlussfolgerungen für die primäre Prävention. Von den aufgeführten ätiologischen Faktoren sind einige für eine Prävention zugänglich, während andere als kaum beeinflussbar anzusehen sind. Veränderbar sind insbesondere Umweltvariablen, so dass sich präventive Maßnahmen auf eine Optimierung des sprachlichen Umfeldes des Kindes konzentrieren müssen. Unter den kindlichen Faktoren sind biologische Komponenten und die auditive Wahrnehmung als potentiell beeinflussbare Komponenten anzusehen. Zum Beispiel lassen sich durch eine Vorbeugung frühkindlicher Hirnschädigungen Faktoren, die sich hemmend auf den Spracherwerb auswirken können, vermeiden. Ein weiterer Ansatz für präventive Maßnahmen kann in einer Vorbeugung bzw. Behandlung von Hörund auditiven Wahrnehmungsstörungen gesehen werden. Genetische Komponenten hingegen bieten kaum Möglichkeiten für präventive Maßnahmen. Merke: Da erblichen Faktoren im Ursachengefüge umschriebener Sprachentwicklungsstörungen eine zentrale Bedeutung zukommt, ist insgesamt davon auszugehen, dass einer primären Prävention umschriebener Sprachentwicklungsstörungen Grenzen gesetzt sind und diese durch sekundäre und tertiäre Präventionsbemühungen ergänzt werden müssen.
4.2 Prävention 4.2.1 Prävention durch eine Vermeidung frühkindlicher Hirnschädigungen Sprache ist eine Funktion des Gehirns und Sprachentwicklungsstörungen sind Ausdruck von Hirnfunktionsstörungen. In neuroanatomischen und neuroradiologischen Untersuchungen konnten allerdings bei Kindern mit umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen keine groben Veränderungen der Hirnstruktur nachgewiesen werden. Lediglich in Bereichen des oberen Schläfenhirns, in denen verbal-akustische Informationen verarbeitet werden, und in unteren Bereichen
4 Prävention umschriebener Sprachentwicklungsstörungen
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des Stirnhirns, deren Schädigung im Erwachsenenalter zur Broca-Aphasie führt, wurden diskrete morphologische Auffälligkeiten beschrieben (vgl. Suchodoletz, 1997). Als Ursache werden aufgrund der Art der strukturellen Veränderungen, die für Schädigungen während der ersten Schwangerschaftsmonate sprechen, Migrationsstörungen durch eine frühkindliche Hirnschädigung diskutiert (Clark & Plante, 1998). Der Frage, ob eine frühkindliche Hirnschädigung zu umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen führen kann, wurde bei Kindern mit Schwangerschaftsund Geburtsrisiken in mehreren Längsschnittstudien nachgegangen. Werden Kinder mit erheblichen biologischen Risiken, wie z. B. einem extrem niedrigen Geburtsgewicht, in ihrer Entwicklung verfolgt, so fallen Störungen in der Sprachentwicklung auf, die auch nicht durch fördernde Umweltbedingungen oder therapeutische Interventionen kompensierbar sind (Wolke & Meyer, 1999). Aber auch leichtere Schwangerschafts- bzw. Geburtskomplikationen, wie sie sehr häufig vorkommen, können mit einer Beeinträchtigung der Sprachentwicklung einhergehen. Dabei ist nicht das Einzelrisiko ausschlaggebend, sondern die Gesamtzahl der Risiken, deren Effekte kumulieren. Derartige negative Einflüsse leichterer biologischer Risiken sind aber nicht anhaltend. Sie sind im zweiten Lebensjahr eindeutig zu belegen, verschwinden dann aber bis zum Ende der Pubertät. Psychosoziale Einflussfaktoren nehmen im Laufe der Kindheit an Bedeutung zu und überdecken schließlich biologisch verursachte Entwicklungsbeeinträchtigungen. Die Sprachentwicklung von Kindern mit Schwangerschafts- und Geburtsrisiken wird somit durch eine enge Wechselwirkung biologischer und psychosozialer Risiken bestimmt (Meyer-Probst & Teichmann, 1984; Meyer-Probst & Reis, 1999). Dabei finden sich Unterschiede zwischen der risikobedingten Beeinträchtigung semantischer und syntaktischer Fähigkeiten. Grammatische sind im Vergleich zu semantischen Fähigkeiten vom psychosozialen Umfeld unabhängiger und stärker durch biologische Faktoren determiniert (Rice et al., 1999). Merke: Bei Sprachauffälligkeiten als Folge biologischer Risiken handelt es sich nicht um umschriebene Sprachentwicklungsstörungen. Beeinträchtigungen anderer kognitiver Funktionen sind bei Kindern mit frühkindlichen Hirnschädigungen gleichfalls nachweisbar. Eine Prävention biologischer Risiken während Schwangerschaft und Geburt kann zu einer Prophylaxe von Störungen der Sprachentwicklung bei einer allgemeinen Entwicklungsretardierung beitragen, nicht aber zu einer Verminderung der Zahl von Kindern mit umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen.
4.2.2 Prävention durch eine Therapie von Hör- und auditiven Wahrnehmungsstörungen 4.2.2.1 Prävention durch eine Therapie angeborener Hörstörungen Sprache kann sich nur entwickeln, wenn Kinder akustische Signale wahrnehmen. Taube Kinder bleiben, wenn keine Behandlung erfolgt, stumm. Aber auch bei
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einer leichteren Beeinträchtigung der Verarbeitung auditiver Informationen ist eine Behinderung des Spracherwerbs die Folge. Wenn eine dauernde Schwerhörigkeit von über 30 dB HL besteht, dann kann dies negative Auswirkungen auf den Spracherwerb haben. Bislang werden in Deutschland taube und schwerhörige Kinder viel zu spät erkannt (Finckh-Krämer et al., 2001; Finckh-Krämer et al., 1998). Das durchschnittliche Alter, in dem hochgradig schwerhörige Kinder erfasst werden, beträgt etwa zwei Jahre. Eine leichtere Schwerhörigkeit fällt meist erst im Einschulungsalter auf. Durch den späten Zeitpunkt der Diagnostik und ein dadurch bedingtes verzögertes Einsetzen der Therapie werden derzeitig die Möglichkeiten zur Prävention sekundärer Sprach- und anderer Entwicklungsauffälligkeiten verpasst. Bei einer erheblichen Beeinträchtigung des Hörvermögens sollte eine Behandlung eigentlich bereits in den ersten sechs Monaten einsetzen. Schon in diesem frühen Alter können Kinder mit Hörgeräten bzw. bei an Taubheit grenzender Hörminderung mit einem Cochlea-Implant versorgt werden. Eine Frühdiagnostik im Säuglingsalter erfordert eine Untersuchung des Hörvermögens mit Methoden, die ohne Mitarbeit des Kindes durchführbar sind. Geeignete, einfach durchführbare Verfahren stehen seit einigen Jahren mit der Messung otoakustischer Emissionen (OAE) bzw. der Hirnstammpotentiale (BERA) zur Verfügung. Für die Sprachentwicklung relevante Hörbeeinträchtigungen können mit hoher Zuverlässigkeit erkannt werden (Joint Committee on Infant Hearing, 2000; Buser et al., 2000). In vielen Ländern (Österreich, USA u. a.) ist deshalb ein routinemäßiges Hörscreening im Neugeborenenalter in die Praxis eingeführt. Auch in Deutschland wird im Rahmen der U-Untersuchungen zunehmend häufiger ein Hörscreening mit objektiven Methoden durchgeführt und eine generelle Einführung wird diskutiert (Leder, 2005; Strutz, 2002). Somit ist damit zu rechnen, dass auch bei uns eine Früherkennung angeborener Hörbeeinträchtigungen demnächst zum Standard gehören wird. 4.2.2.2 Prävention durch die Therapie einer chronischen Schallleitungsschwerhörigkeit Im Gegensatz zu angeborenen Hörbeeinträchtigungen treten Schallleitungsschwerhörigkeiten im Rahmen von chronischen Mittelohrenzündungen (Otitis media) im Kleinkindalter sehr häufig auf. Eine konsequente Therapie durch die Gabe von Antibiotika und das Schaffen eines Abflusses der Flüssigkeitsansammlung durch einen Trommelfellschnitt (Parazentese) oder das Legen eines Paukenröhrchens ist zur Verhinderung sekundärer Entwicklungsbeeinträchtigungen gängige Praxis. Im Lehrbuch der Phoniatrie und Pädaudiologie (Wendler et al., 2005) heißt es: „Selbst eine geringfügige Schwerhörigkeit von nur 15 dB kann die kindliche Sprachentwicklung stören, wenn sie länger als 3 Monate während einer der sensiblen Phasen besteht. Deshalb muss jede nicht nur vorübergehende Schallleitungsschwerhörigkeit konsequent behandelt werden.“ Diese Empfehlung geht auf folgende Überlegungen zurück: Eine chronische Mittelohrentzündung führt zu einer anhaltenden Flüssigkeitsansammlung im
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Mittelohr. Die Übertragung der Schwingungen des Trommelfells zum Innenohr wird dadurch beeinträchtigt und eine Schallleitungsschwerhörigkeit tritt auf. Wenn diese längere Zeit anhält, verläuft die Reifung der für die Verarbeitung akustischer Informationen verantwortlichen Hirnstrukturen verzögert. Akustische Reize werden verzerrt, verlangsamt oder asymmetrisch verarbeitet. Die Folge sind auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS) einhergehend mit einer Beeinträchtigung der Unterscheidungsfähigkeit von Tönen und Geräuschen, einer Erschwerung der räumlichen Zuordnung akustischer Signale und einer Einschränkung der Fähigkeit, wichtige Informationen aus Störgeräuschen herauszufiltern. Besonders betroffen ist die Sprachdiskriminationsfähigkeit. Können Laute nicht schnell und sicher herausgehört werden, treten Lautbildungsstörungen auf. Eine verlangsamte und verzerrte Sprachverarbeitung führt außerdem dazu, dass weniger Informationen ins phonologische Arbeitsgedächtnis gelangen. Dadurch können keine längeren Sätze verarbeitet werden, was wiederum Voraussetzung für das Erkennen grammatischer Regeln ist. Ein Dysgrammatismus entwickelt sich. Als sekundäre Symptome einer chronischen Mittelohrentzündung werden aber nicht nur Sprachentwicklungsstörungen, sondern auch Lese-Rechtschreib-, Aufmerksamkeits-, Verhaltens- und emotionale Störungen angesehen (vgl. Abb. 3).
Chronische Mittelohrentzündung Längere Zeit Flüssigkeit im Mittelohr Schallleitungsschwerhörigkeit Reifungsstörung/verzögerung auditiver Hirnstrukturen Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS) Defizite in der Sprachverarbeitung
Sprachentwicklungsstörung
Lese-Rechtschreibstörung
Aufmerksamkeits-, Verhaltens-, allgemeine Lernstörung
Abbildung 3: Vermutete Auswirkungen einer chronischen Mittelohrentzündung auf die Entwicklung eines Kindes
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Diese Argumentationskette erscheint logisch und erste Untersuchungen von Kindern mit Sprach- und anderen Entwicklungsstörungen schienen diese Annahmen auch zu bestätigen und ließen eine konsequente Behandlung von chronischen Mittelohrentzündungen als dringend notwendig erscheinen. In der Praxis hat sich aber gezeigt, dass sich viele Kinder trotz häufiger und lang anhaltender Mittelohrentzündungen völlig unauffällig entwickeln. Bei einer genaueren Analyse der älteren Studien wurde zudem deutlich, dass methodische Mängel eine eindeutige Interpretation der Ergebnisse nicht zulassen (nachträgliches Erfragen der Häufigkeit von Mittelohrentzündungen, unzureichende Berücksichtigung von Einflussfaktoren). Aus diesem Grunde wurden in den letzten Jahren zur Überprüfung der Folgen chronischer Mittelohrentzündungen Längsschnittstudien durchgeführt, in denen die Entwicklung der Kinder in Bezug zur Häufigkeit, Dauer und Schwere von entzündlichen Ohrerkrankungen von der Geburt bis ins Schulalter verfolgt wurde (Übersicht bei Roberts et al., 2004). Die oben skizzierten, eigentlich einleuchtenden Annahmen zu den Folgen chronischer Mittelohrentzündungen konnten nur bedingt bestätigt werden. Bei einer systematischen Messung der Hörschwelle von Kindern mit einer Flüssigkeitsansammlung im Mittelohr zeigte sich, dass die durchschnittliche Hörbeeinträchtigung mit 5 bis 15 dB HL relativ gering ausfiel. Bei mehr als der Hälfte der Kinder war keine sprachrelevante Hörstörung nachweisbar. Nur bei 20 % fanden sich Hörminderungen von 35 bis 40 dB HL und bei 5 bis 10 % von über 40 dB HL (Gravel & Wallace, 2000). Dass eine chronische Hörbeeinträchtigung zu einer Reifungsstörung des gesamten akustischen Systems führen kann, wurde in Tierversuchen ausreichend belegt. Symptome einer auditiven Wahrnehmungsstörung konnten aber bei Kindern mit einer chronischen Mittelohrentzündung nicht durchgängig nachgewiesen werden (Paradise et al., 2005). Nur in einigen der Studien, die auditive Wahrnehmungsleistungen berücksichtigt hatten, wurden auditive Schwächen beobachtet (Moore et al., 2003). Wenn dies der Fall war, dann waren diese nur gering ausgeprägt und zudem bis ins frühe Schulalter abgeklungen. Ähnlich fielen die Ergebnisse zur Sprachentwicklung, zum Schriftspracherwerb, zu sonstigen schulischen Leistungen und zu Verhaltensbereichen aus. Insgesamt konnte durch prospektiv angelegte Längsschnittstudien eine relevante Beeinträchtigung der kindlichen Entwicklung durch eine chronische Mittelohrentzündung mit Flüssigkeitsansammlung im Mittelohr nicht bestätigt werden (Frohna, 2004; Paradise et al., 2005). Diese Ergebnisse werden durch Therapiestudien gestützt. Therapiestudien sind besonders aussagefähig, da sie experimentell angelegt werden können. Durch eine Zuteilung der Kinder zu den Gruppen nach Zufallskriterien (Randomisierung) kann vermieden werden, dass unabhängige Einflussfaktoren (z. B. sozialer Status der Familie) zu einer Verfälschung der Ergebnisse führt. In einer an mehreren Zentren der USA durchgeführten Studie wurde untersucht, ob sich eine frühe operative Behandlung einer chronischen Mittelohrentzündung mit Einlegen eines Paukenröhrchens positiv auf die Entwicklung der Kinder auswirkt. 6350 Kinder wurden in den ersten drei Lebensjahren hinsichtlich des Auftretens von Mittelohrerkrankungen beobachtet. 429 der Kinder hatten während der Beobachtungsphase eine chronische Mittelohrentzündung. Bei der Hälfte
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der Kinder wurde ein Paukenröhrchen gelegt und bei den anderen neun Monate abgewartet. Die Kinder wurden im Alter von 3, 4 und 6 Jahren nachuntersucht (Paradise et al., 2001, 2005). Dabei wurden die auditive Wahrnehmungsfähigkeit, Lautunterscheidung und Lautbildung, Sprachproduktion und Sprachverständnis, Wortschatz, Intelligenz, Konzentrationsfähigkeit, Verhalten und emotionale Stabilität erfasst. In keinem der Bereiche waren die frühzeitig operierten Kinder denen der Wartegruppe überlegen. Nach dieser groß angelegten und sorgfältig geplanten Studie führt eine chronische Mittelohrentzündung demnach nicht zu einer Beeinträchtigung in irgendeinem Entwicklungsbereich. Die Ergebnisse der verschiedenen Arbeitsgruppen sind aber nicht ganz einheitlich. Maw et al. (1999) berichteten neun Monate nach dem Legen eines Paukenröhrchens über eine etwas bessere Entwicklung der Sprachproduktionsleistungen der operierten gegenüber den nicht operierten Kindern. Dieser Effekt war jedoch nach 18 Monaten nicht mehr nachweisbar. Merke: Insgesamt sprechen die neueren Studienergebnisse dafür, dass der Einfluss einer vorübergehenden Schallleitungsschwerhörigkeit auf die Sprachentwicklung bislang überschätzt wurde. Durch eine intensive Behandlung von Kindern mit einer chronischen Mittelohrentzündung ist offensichtlich eine Verminderung der Zahl von Kindern mit einer Sprachentwicklungsstörung nicht zu erwarten. In vielen Ländern wird als Konsequenz der neueren Befunde die Indikation zu einer Operation bei einer anhaltenden Flüssigkeitsansammlung im Mittelohr wesentlich zurückhaltender gestellt als noch vor wenigen Jahren. 4.2.2.3 Prävention durch ein Training der auditiven Wahrnehmungsfähigkeit Sprachentwicklungsstörungen werden in letzter Zeit immer häufiger als Folge einer auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS) aufgefasst und zur Behandlung wird ein Training auditiver Funktionen empfohlen. Zur Therapie einer AVWS stehen inzwischen zahlreiche Verfahren zur Verfügung (Suchodoletz, 2003), die zunehmend auch zur Prävention eingesetzt werden. Gestützt wird das Konzept für eine Prävention von Sprachstörungen mittels auditivem Wahrnehmungstraining durch Untersuchungen, die eine Beziehung zwischen auditiven Fähigkeiten im Säuglingsalter und späteren Sprachleistungen gefunden haben. So konnten z. B. mit einem Elternfragebogen, mit dem die Reaktionen etwa neun Monate alter Säuglinge auf akustische Reize erfragt wurde, Sprachstörungen im Alter von drei Jahren mit einer hohen Trefferquote vorhergesagt werden (Ward, 1992). Eine andere Arbeitsgruppe fand in EEG-Experimenten (Untersuchung der Mismatch Negativity auf die Silben „ba“ versus „baa“ und „ba:ba“ versus „baba:“) Korrelationen zwischen der Fähigkeit zwei Monate alter Säuglinge zum automatischen Erkennen von Dauer- bzw. Betonungsunterschieden und den Sprachleistungen im Alter von 12 und 24 Monaten
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(Friedrich et al., 2004; Weber et al., 2005). Eine finnische Arbeitsgruppe berichtete über die Möglichkeit der Vorhersage der Sprachfähigkeit im Alter von fünf Jahren aufgrund einer Untersuchung der Diskriminationsfähigkeit von Silben bei Säuglingen kurz nach der Geburt (Guttorm et al., 2005). Auch die Fähigkeit von Säuglingen, schnell aufeinander folgende akustische Signale zu erkennen, korreliert mit späteren sprachlichen Leistungen (Benasich et al., 2002). So beeindruckend diese Ergebnisse auch sind, so ist das Konzept der auditiven Wahrnehmungsstörungen doch umstritten (Suchodoletz, 2006). Weder konnten bei Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen Defizite in der auditiven Wahrnehmung belegt werden (Suchodoletz et al., 2004), noch stehen Methoden zur Verfügung, die eine ausreichend verlässliche Feststellung auditiver Wahrnehmungsdefizite im Vorschulalter ermöglichen. Zudem hat sich ein Training der auditiven Wahrnehmung bei der Behandlung sprachgestörter Kinder als ineffektiv erwiesen (Suchodoletz, 2004). Merke: Die oben zitierten, viel versprechenden Ergebnisse im Säuglingsalter sind bislang nicht für den Einsatz bei der Früherkennung von Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen geeignet (Sachse, 2005) und bedürfen einer Bestätigung durch unabhängige Arbeitsgruppen bevor Schlussfolgerungen für die Prävention gezogen werden können. Bislang ist unklar, ob sich aus diesen experimentellen Ansätzen ausreichend verlässliche diagnostische Verfahren entwickeln lassen und ob ein Training der auditiven Wahrnehmungsfähigkeit während der frühen Phase der Sprachentwicklung zu einer Verhinderung von Spracherwerbsstörungen beitragen kann.
4.2.3 Prävention durch einen adäquaten Medienkonsum Die These, dass bei vielen Kindern mangelnde Sprachkompetenz Folge eines exzessiven Fernsehkonsums ist, hat zahlreiche Anhänger und wird in den Medien vehement vertreten. Damit stellt sich die Frage, ob eine Prävention von Sprachentwicklungsstörungen durch einen adäquateren Mediengebrauch möglich ist. Das Kommunikations- und Freizeitverhalten von Kindern hat sich in den letzten Jahrzehnten tatsächlich dramatisch verändert. Fernsehen, Computerspiele und andere moderne Massenmedien gehören nicht nur bei Jugendlichen und Erwachsenen, sondern selbst bei Vorschulkindern zu den wichtigsten Beschäftigungen. In Untersuchungen zur Bedeutung von Massenmedien hat das Fernsehverhalten die meiste Beachtung gefunden. Dabei hat sich gezeigt, dass in den letzten 20 Jahren der durchschnittliche Fernsehkonsum bei über 14-Jährigen von 2 ½ auf 3 ½ Stunden pro Tag und bei Kindergarten- und Vorschulkindern von ½ auf 1 ¼ Stunden angestiegen ist. Nach einer Untersuchung von Grüninger und Lindemann (2000) sehen über die Hälfte aller Kindergartenkinder fast täglich fern und nur 3 % fast gar nicht. Der Fernsehkonsum ist dabei als relativ stabiles Merkmal anzusehen. Vielseher im Kindergartenalter sind dies auch noch im Schulalter (Schiffer et al., 2002).
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Tabelle 1: Hypothesen zu Auswirkungen von Massenmedien auf die Sprachentwicklung Medienkonsum führt zu Sprachentwicklungsstörungen
– Verdrängungshypothese: Neue Medien verdrängen sprachfördernde Angebote – Überforderungshypothese: Medienangebote sind nicht kindgerecht und überfordern Kinder
Mediennutzung fördert die Sprachentwicklung
– Förderhypothese: Medienkonsum erhöht die Menge des Sprachangebots – Mainstreaming-Hypothese: Benachteiligung von Unterschichtkindern wird ausgeglichen
Mediennutzung ist ohne Einfluss auf die Sprachentwicklung
– Lückenbüßer-Hypothese: Medien haben Lückenbüßerfunktion bei unzureichenden Freizeitangeboten – Irrelevanz–Hypothese: Wegen des Fehlens des Mutterischen, der Interaktion und des Bezugs zum unmittelbaren Erleben des Kindes ist Fernsehen für den Spracherwerb irrelevant
Dem ungebremsten Medienkonsum werden erhebliche Auswirkungen auf die körperliche, soziale, emotionale, kognitive und kommunikative Entwicklung eines Kindes zugeschrieben. In welche Richtung sich eine exzessive Nutzung moderner Medien auf die Laut- und Schriftsprachentwicklung auswirkt, wird allerdings widersprüchlich beantwortet (vgl. Tab. 1). Hemmende und fördernde Einflüsse werden genauso vermutet wie fehlende Effekte (Übersicht bei BöhmeDürr, 2000). Die Hypothese, dass ein intensiver Medienkonsum im frühen Kindesalter zu einer Sprachentwicklungsstörung führt, geht von der Annahme aus, dass die neuen Medien sprachfördernde Angebote verdrängen (Verdrängungshypothese). Die Verminderung an adäquater Kommunikation führe zu einer Verschlechterung der Ausdrucksfähigkeit, Verarmung des Wortschatzes und zu einer Verkümmerung der sprachlichen Kompetenz. Für die Verdrängungshypothese spricht, dass Jugendliche, wenn keine Möglichkeit zum Fernsehen besteht, vermehrt lesen. Gegen eine Verdrängung sprachfördernder Aktivitäten kann aber angeführt werden, dass Vorschulkindern, die viel fernsehen, kaum weniger vorgelesen wird als denen mit einem geringen Fernsehkonsum (Ennemoser, 2003). Eine andere Hypothese ist die Überforderungshypothese, in der die Meinung vertreten wird, dass die meisten Medienangebote nicht kindgerecht gestaltet sind. Eine Reizüberflutung und die Entwicklung eines automatisierten Abschaltmechanismus seien die Folge. Die Kinder würden es verlernen, sich auf Sprache zu konzentrieren, was den Spracherwerbsprozess nachhaltig beeinträchtige. Das Fernsehen sei kein „sprechendes Bilderbuch“, wie es gelegentlich genannt wird (Lemish & Rice, 1987), denn das Kind kann nicht an interessanten Stellen verweilen oder zurückblättern. In zu schneller Folge wechseln die Bilder und die Sprache ist nicht dem individuellen Entwicklungsstand des Kindes angepasst. Der Auffassung, dass eine Dominanz von Medien bei der Freizeitgestaltung zu negativen Auswirkungen auf die Sprachentwicklung führt, stehen Beobach-
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tungen gegenüber, die eine Sprachförderung durch die Nutzung moderner Medien nahe legen (Förderhypothese). Belegt ist, dass sich der Wortschatz von Kindern durch das Fernsehen vergrößert. Bei Kindern unter drei Jahren lässt sich beobachten, dass diese Laute, Wörter und Wortfolgen aus Sendungen nachahmen und dann in der Interaktion benutzen (Lemish & Rice, 1987). Von etwas älteren Kindern werden aus Fernsehsendungen Wörter und Redewendungen, deren Gebrauch Prestige verspricht, in die Alltagssprache übernommen. Zum Einschulungszeitpunkt haben viel fernsehende Kinder einen größeren Wortschatz als Kinder ohne Fernseher in der Familie. Nach einigen Jahren gleichen sich diese Wortschatzunterschiede aber wieder aus (Schenk, 1987). Ganz so kommunikationsfeindlich, wie vielfach behauptet, sind Massenmedien nicht. Jüngere Kinder sitzen nicht still vor dem Fernseher, sondern kommentieren die Bilder und sprechen den Hauptakteur an. Wenn sie zusammen mit einem Erwachsenen fernsehen, dann reden sie sogar mehr als in einer Bilderbuchsituation (Wells, 1985). Emotional betonte Sendungen werden zudem hinterher kommentiert und mit Eltern oder anderen Kindern besprochen (Barthelmes et al., 1991). Diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass Fernsehen auch den Spracherwerb anregende Komponenten enthält. Ritterfeld und Vorderer betonen den potentiell sprachfördernden Charakter von Hörspielkassetten (Ritterfeld et al. 2006; Vorderer et al. 2006). Die meisten Kinder in Deutschland verfügen über einen Kassettenrekorder und jedes dritte Kindergartenkind hört täglich Hörspielkassetten (Grüninger & Lindemann, 2000). Kassettenrekorder haben den Vorteil, dass sie auch von jüngeren Kindern selbstständig bedient und beliebte Märchen mehrfach hintereinander gehört werden können. Der sprachliche Input wird durch dieses Medium in vorbildlich geformten Sätzen angeboten und auch rein quantitativ deutlich vermehrt. In einer Studie konnten Ritterfeld et al. (2006) nachweisen, dass sich das Hören von Märchenkassetten positiv auf die Sprachentwicklung auswirkt. Sie versprechen sich insbesondere bei sprachentwicklungsgestörten Kindern sprachfördernde Auswirkungen. Durch ein ständiges Wiederholen könnten durch Schwächen des verbalen Arbeitsgedächtnisses bedingte Beeinträchtigungen des Spracherwerbs, wie sie bei sprachentwicklungsgestörten Kindern meist zu beobachten sind, ausgeglichen werden. Neben Vermutungen zu sprachhemmenden und sprachfördernden Wirkungen von Medien wird auch die These vertreten, dass Fernsehen und andere Massenmedien keinerlei Einfluss auf den Spracherwerb hätten. Da keine Anpassung an das individuelle Sprachniveau des Kindes erfolgt, eine Interaktion fehlt und kein unmittelbarer Bezug zum Erleben des Kindes besteht, seien die Voraussetzungen für ein Lernen von Sprache nicht gegeben (Irrelevanz-Hypothese). Als Beleg dafür lassen sich Beobachtungen an zwei Kindern tauber Eltern anführen, denen als Ersatz für eine lautsprachliche Kommunikation Fernsehsendungen angeboten wurden. Die Kinder erlernten nur wenige Wörter, zeigten aber rasante Sprachfortschritte, nachdem Erwachsene regelmäßig mit ihnen sprachen (Sachs et al., 1981). Die Unsicherheit bei der Bewertung der Auswirkungen von Medien auf die Sprachentwicklung ist insbesondere darin begründet, dass zahlreiche Faktoren,
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die schwer voneinander abzugrenzen sind, den Spracherwerb beeinflussen. Kinder aus bildungsfernen Schichten verfügen meist über eine geringere Sprachkompetenz als solche aus einem anregungsreicheren Elternhaus. Gleichzeitig nutzen sie in ihrer Freizeit besonders häufig Fernsehangebote. Ob eine verzögerte Sprachentwicklung Folge einer verminderten familiären Anregung oder eines anhaltenden Fernsehkonsums ist, lässt sich deshalb nur schwer entscheiden. Dem Fernsehen könnte, ohne dass es selbst einen hemmenden Einfluss auf den Spracherwerb ausübt, lediglich eine Lückenbüßerfunktion bei einem Fehlen von Alternativen zu einer sinnvolleren Freizeitbeschäftigung zukommen (Lückenbüßer-Hypothese). Wird der Fernsehkonsum reduziert, dann werden die neuen Freizeitmöglichkeiten nicht in sinnvoller Weise genutzt, so dass weniger Fernsehen nicht automatisch mehr Anregung und damit Sprachfortschritte erwarten lässt. Wie die Aufzählung der kontroversen Auffassungen zu Auswirkungen des Fernsehens zeigt, ist zur Beurteilung der Effekte eines exzessiven Medienkonsums auf die Entwicklung der Laut- und Schriftsprache eine Beachtung zahlreicher Einflussfaktoren in ihrer wechselseitigen Interaktion erforderlich. Eine Würzburger Arbeitsgruppe führte deshalb eine Längsschnittstudie bei Kindern durch, in der nicht nur die Dauer des Fernsehens und die Art der bevorzugten Sendungen, sondern auch zahlreiche familiäre Einflussfaktoren auf den Spracherwerb Berücksichtigung fanden. Die Entwicklung von je 165 Vorschul- (Ennemoser, 2003a,b; Ennemoser et al., 2003) bzw. 8-jährigen Schulkindern (Schiffer, 2003) wurde über mehrere Jahre verfolgt. Dabei bestätigten sich die Erfahrungen anderer Arbeitsgruppen, dass Kinder mit einem besonders hohen Fernsehkonsum (Vielseher) über schlechtere Sprach- und Lesefähigkeiten verfügen als Wenigseher. Vielseher waren insbesondere in sozial benachteiligten Schichten zu finden. Aber auch die Vielseher aus Familien mit einem höheren sozialen Status erzielten in Sprach- und Lesetests schwächere Ergebnisse als eine Gruppe Wenigseher mit vergleichbarem familiärem Hintergrund. Dabei waren bei den Vielsehern nicht nur die Anfangswerte niedriger, sondern auch der Lernzuwachs im Beobachtungszeitraum. Auch unter Berücksichtigung von Intelligenz und sozialem Hintergrund erwies sich der Fernsehkonsum im Vorschulalter als Vorhersagefaktor für Lese- und Rechtschreibleistungen in der 3. Klasse. Insgesamt waren aber die Auswirkungen eines ausgedehnten Fernsehkonsums, wenn Intelligenz und Schicht bedingte Einflussfaktoren Berücksichtigung fanden, relativ gering. In der Gruppe der Vorschulkinder deutete sich zwar an, dass extrem viel Fernsehen – insbesondere bei weniger intelligenten Kindern und denjenigen aus höheren sozialen Schichten – einen hemmenden Einfluss auf laut- und schriftsprachliche Leistungen ausübt, doch konnten in der älteren Gruppe der Grundschulkinder weder hemmende noch fördernde Wirkungen eines gesteigerten Fernsehkonsums belegt werden. Die Hypothese, dass die Nutzung von Massenmedien zu einem Ausgleich schichtbedingter Bildungsunterschiede beitragen kann (Mainstreaming-Hypothese), konnte nicht bestätigt werden. Ein gesteigerter Medienkonsum scheint je nach Alter, Geschlecht, Intelligenz und sozialem Hintergrund jeweils unterschiedliche Wirkungen zu entfalten. Bei Vorschulkindern scheint aber ein unkontrollierter Fernsehkonsum durch einen eige-
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nen Fernseher im Kinderzimmer unabhängig von der Schichtzugehörigkeit zu einer Beeinträchtigung des Spracherwerbs zu führen (Kries et al., 2006). Wurde nach der Qualität der bevorzugt gesehenen Sendungen unterschieden, dann fanden sich bei einem vorwiegenden Konsum von Unterhaltungs- und Erwachsenensendungen eher negative und bei einer Bevorzugung pädagogisch ausgerichteter Sendungen tendenziell förderliche Effekte. Eine genauere Analyse der korrelativen Beziehungen sprach aber dafür, dass die kausale Beziehung eher umgekehrt verläuft. Nicht die anspruchslosere Sendung hemmt die Sprachentwicklung und die anspruchsvollere fördert diese, sondern sprachlich gewandtere Kinder bevorzugen anspruchsvollere Sendungen und umgekehrt (Ennemoser, 2003a). Merke: Empirische Untersuchungen konnten einen entscheidenden Einfluss von Medien auf die Sprachentwicklung nicht belegen. Weder konnte ein nennenswerter hemmender Einfluss noch eine erhebliche positive Wirkung auf den Spracherwerb nachgewiesen werden. Die Möglichkeiten zur primären Prävention einer Sprachentwicklungsstörung durch eine Begrenzung des Medienkonsums und die einer sekundären Prävention durch den Einsatz pädagogisch anspruchsvollerer Medien müssen als recht begrenzt angesehen werden. Eindeutig ungünstig auf die Sprachentwicklung von Vorschulkindern wirkt sich aber ein unkontrollierter Fernsehkonsum durch einen eigenen Fernseher im Kinderzimmer aus. Zumindest bei Kindergarten- und Vorschulkindern kann durch ein Verbannen eines Fernsehers aus dem Kinderzimmer negativen Auswirkungen eines exzessiven Fernsehkonsums auf die Sprachentwicklung vorgebeugt werden.
4.2.4 Prävention durch eine Sprachförderung in Kindergruppen 4.2.4.1 Sprachförderung in Kindergarten und Vorschule Dass vielen Kindern aufgrund einer unzureichenden Sprachkompetenz der Schulstart Probleme bereitet und dies langfristige negative Auswirkungen auf den Schul- und den späteren Berufserfolg nach sich zieht, ist in den letzten Jahren ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit geraten. Zunehmend wird überlegt, ob der Kindergarten nicht mehr sein kann und sollte als ein Ort zur Entfaltung kreativer Fähigkeiten und zum Erwerb sozialer Kompetenzen. Es ist deshalb zu überprüfen, ob eine spezifische Förderung vor Eintritt in die Schule die sprachlichen Fähigkeiten insbesondere auch bei benachteiligten Kindern verbessern und im Sinne einer Sekundär- und Tertiärprävention Sprachentwicklungsstörungen bessern kann. Der Effektivität einer Sprachförderung in Kindergruppen wurde bislang erst in wenigen Studien genauer nachgegangen. Dass sich der Besuch einer Vorschule positiv auf die sprachlichen Kompetenzen von Kindern auswirkt, das konnte in einer englischen Studie nachgewiesen werden (Sammons et al., 2004). Zwischen der sprachlichen Kompetenz zum Zeitpunkt des Schuleintritts und der Dauer des Besuchs einer Vorschule wurden insbesondere bei Kindern aus
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benachteiligten Familien deutliche Zusammenhänge gefunden. Der Einfluss des Vorschulbesuchs auf die Sprachkompetenz erwies sich als bedeutsamer als der Bildungsstand der Mutter, das Familieneinkommen oder der sozioökonomische Status der Familie. Welche Faktoren bei einer Kinderbetreuung in Einrichtungen zu einer Verbesserung der sprachlichen Fähigkeiten beitragen, hat McCartney (1984) untersucht. Als wesentlicher Wirkfaktor erwies sich die Dauer von Eins-zu-Eins-Interaktionen zwischen dem Kind und einem Erwachsenen. Somit sind für den sprachlichen Fördererfolg die Intensität und Qualität der Betreuung und weniger die Interaktion zwischen den Kindern von entscheidender Bedeutung. Aber auch ein gezieltes Sprachtraining in Kindergartengruppen, das von Sprachtherapeuten (Hodge & Downie, 2004) oder angeleiteten Kindergärtnerinnen (Spannenkrebs & Krügel, 2005) durchgeführt wird, ist nach den Ergebnissen von Pilotstudien effektiv. Spannenkrebs und Krügel (2005) untersuchten im Landkreis Biberach bei 1.500 vier- bis sechsjährigen Kindergartenkindern den Sprachentwicklungsstand. Etwa 500 wurden als sprachauffällig eingestuft. Diese erhielten ein sechsmonatiges Sprachtraining, das sowohl die Sprachproduktion als auch das Sprachverständnis berücksichtigte und zusätzlich ein Training phonologischer Fähigkeiten am Computer beinhaltete. Das Training wurde durch Kindergärtnerinnen, die eine spezifische Anleitung erhalten hatten, durchgeführt. Nach einer sechsmonatigen Förderphase hatten sich die Kinder in allen überprüften Sprachbereichen deutlich verbessert. Die größten Fortschritte hatten Kinder mit den ausgeprägtesten Sprachauffälligkeiten aufzuweisen. Ein vollständiges Aufholen wurde allerdings oft nicht erreicht, so dass ein Förderzeitraum von sechs Monaten als zu kurz angesehen wurde. Wegen methodischer Mängel, insbesondere des Fehlens einer Kontrollgruppe, ist die Aussagefähigkeit dieser Studie allerdings als begrenzt einzustufen. Derzeit laufen aber weitere Modellprojekte, so dass es in wenigen Jahren möglich sein wird, die Effektivität einer sekundären Prävention von Sprachentwicklungsauffälligkeiten durch eine gezielte Förderung im Kindergarten zuverlässiger einzuschätzen. 4.2.4.2 Einfluss einer Krippenerziehung In den entwickelten Industrieländern sind Frauen immer häufiger berufstätig. Es ist nicht mehr selbstverständlich, dass Mütter in den ersten drei Lebensjahren ihres Kindes zu Hause bleiben. Damit verbunden ist eine Verminderung der verbalen Interaktionen zwischen Mutter und Kind in den entscheidenden Phasen des Spracherwerbs. Da diese als wesentlicher Motor für die Sprachentwicklung angesehen werden, erscheint es nicht ausgeschlossen, dass durch eine frühzeitige Integration von Kindern in Kinderkrippen die Zahl von Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen zunimmt. Um den Einfluss einer Krippenerziehung auf die kindliche Entwicklung genauer beurteilen zu können, wurde vom National Institute of Child Health and Human Development (NICHD; USA) das landesweite Forschungsprojekt „Study of Early Child Care“ gestartet, in dem in Bezug auf den Besuch einer
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Kindereinrichtung die Entwicklung von 1.364 Kindern vom Säuglingsalter bis ins mittlere Schulalter beobachtet wird. Zahlreiche familiäre und kindliche Faktoren und viele Informationen über die Kindereinrichtung und die Dauer der Fremdbetreuung werden berücksichtigt. Neben der emotionalen, sozialen und kognitiven Entwicklung wird dem Spracherwerb besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Inzwischen liegen die Daten für die ersten drei Lebensjahre vor. Der Sprachentwicklungsstand wurde im Alter von 15 und 24 Monaten mit einem den ELFRA-Bögen ähnlichen Elternfragebogen (MacArthur Communicative Development Inventory, CDI) und mit drei Jahren mit einem standardisierten Sprachtest (Reynell Developmental Language Scales) eingeschätzt. Es zeigte sich, dass unabhängig davon, ob ein Kind eine Kinderkrippe besucht oder nicht, familiäre Faktoren den entscheidenden Einfluss auf die Sprachentwicklung ausüben. Besonders eng war die Sprachentwicklung mit dem Wortschatz der Mutter verbunden, dem Grad der Anregung durch die Mutter und mit einem Gesamtwert für die Qualität des Elternhauses, in den auch emotionale Faktoren wie Sensitivität und Responsivität im Umgang mit dem Kind eingingen. Aber auch die allgemeine Qualität der Betreuungseinrichtung und das Ausmaß an sprachlicher Anregung in der Krippe waren für die Sprachentwicklung von Bedeutung. Keinen Einfluss hatten der Zeitpunkt des Beginns der Krippenerziehung und die tägliche Dauer des Krippenbesuchs. Merke: Die Ergebnisse zeigen, dass ein Krippenbesuch, auch wenn dieser frühzeitig einsetzt und über den ganzen Tag erfolgt, nicht grundsätzlich einen Risikofaktor für die Sprachentwicklung eines Kindes darstellt. Entscheidend ist die Qualität und nicht die Dauer der Betreuung in einer Einrichtung. Wichtiger für die Sprachentwicklung sind aber auch bei Krippenkindern quantitative und qualitative Merkmale der Familie. Insgesamt kann somit davon ausgegangen werden, dass ein Krippenbesuch das Risiko für Sprachentwicklungsstörungen nicht erhöht und eine generelle Betreuung zu Hause in den ersten drei Lebensjahren nicht zu einer Prävention von Spracherwerbsstörungen beitragen kann. Möglicherweise kann eine gezielte Sprachförderung in der Kinderkrippe bei ungünstigen familiären Bedingungen sogar zu einer Vermeidung einer verzögerten Sprachentwicklung führen. Empirische Untersuchungen, die diese Vermutung bestätigen oder widerlegen würden, liegen nicht vor. Eine Überprüfung von Frühförderprogrammen für die Sprachentwicklung erfolgte bislang in Kindergärten und Vorschulen, nicht jedoch in Krippeneinrichtungen, obwohl gerade bei Krippenkindern, die sich in der sensiblen Phase der Sprachentwicklung befinden, die größten Erfolge zu erwarten wären. 4.2.5 Prävention durch eine Anleitung der Eltern Wie in zahlreichen Studien deutlich wurde, beeinflussen Quantität und Qualität der Sprache, welche die Kinder hören, die Sprachentwicklung. Sowohl der
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Wortschatz der Mutter und die Häufigkeit der verbalen Interaktionen als auch Sensitivität und Responsivität der Interaktion zwischen Mutter und Kind korrelieren mit dem Sprachentwicklungsstand eines Kindes. Somit bietet sich eine Anleitung von Eltern zu sprachförderndem Verhalten als eine Möglichkeit zur primären und sekundären Prävention an. 4.2.5.1 Anleitung von Eltern zu sprachförderndem Verhalten 1991 berichteten Whitehurst et al. (1991) über Ergebnisse einer Anleitung von Eltern zu einem sprachfördernden Umgang mit ihren Kindern. Die Kinder waren zwei Jahre alt und zeigten eine umschriebene Sprachentwicklungsverzögerung. Die Eltern wurden angehalten, das Spiel ihres Kindes zu kommentieren und Gegenstände, auf die ihr Kind gerade seine Aufmerksamkeit lenkt, zu benennen und zu beschreiben. Die Kinder der Interventionsgruppe zeigten gegenüber denjenigen der Kontrollgruppe im Wortschatz und bei der Benutzung von Wortkombinationen signifikant schnellere Fortschritte. Allerdings konnten bei einer Nachuntersuchung im Alter von fünf Jahren keine Gruppenunterschiede mehr nachgewiesen werden. Girolametto et al. (1996, 1997) adaptierten das Hanen-Programm (Manolson, 1995), um Eltern von 23 bis 33 Monate alten sprachentwicklungsverzögerten Kindern anzuleiten. Das Hanen-Programm war in den 1970er Jahren für Eltern behinderter Kinder entwickelt worden, um diese in der alltäglichen Interaktion mit ihrem Kind zu einem sprachfördernden Verhalten zu befähigen. Nach einer elfwöchigen Interventionsphase sprachen die Mütter mit ihren Kindern weniger komplex und langsamer, ließen diesen mehr Zeit zu antworten und fokussierten ihre Äußerungen stärker auf diejenigen Wörter, die gerade neu erworben werden sollten. Die Kinder selbst hatten gegenüber denen einer Kontrollgruppe einen größeren Wortschatz, verwendeten Wörter variationsreicher und benutzten im Alltag längere Äußerungen. Die Verständlichkeit der Sprache hatte durch eine Verbesserung der Lautbildungsfähigkeit zugenommen. Auch im deutschsprachigen Raum werden inzwischen Elterngruppen für Eltern sprachentwicklungsverzögerter Kinder angeboten. Amorosa und Endres (2004) berichteten über erste Erfahrungen. Das von ihnen entwickelte Programm ist in sechs Schwerpunkte unterteilt. An den beiden ersten Abenden erhalten die Eltern Informationen über eine normal bzw. auffällig verlaufende Sprachentwicklung. Während der beiden folgenden Treffen wird sprachförderndes Verhalten thematisiert und anhand von Videoaufzeichnungen demonstriert. Die Eltern werden gebeten, zu Hause eigene Videoaufzeichnungen von Eltern-KindInteraktionen anzufertigen, die an den beiden letzten Abenden diskutiert werden. Wie eine Befragung von Eltern 2- bis 4-jähriger sprachauffälliger Kinder ergab, erlebten diese das Angebot als hilfreich und unterstützend. Sie fühlten sich anschließend sicherer im Umgang mit dem Kind und den Reaktionen des Umfeldes. Ob sich eine solche Anleitung der Eltern förderlich auf die Sprachentwicklung der Kinder auswirkt, wird gegenwärtig in Heidelberg in einer kontrollierten Studie mit zweijährigen sprachentwicklungsverzögerten Kindern
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überprüft (Buschmann & Pietz, 2004). Ergebnisse wurden bislang noch nicht publiziert. Angebote in Form von Elterngruppen erreichen vorwiegend Eltern der Mittelschicht. Sprachverzögerungen betreffen aber häufig Kinder aus Unterschichtfamilien. Peterson et al. (2005) wandten sich deshalb mit ihren Programmen speziell an Problemfamilien. Bei einer Überprüfung der Effektivität dieses Vorgehens konnte nachgewiesen werden, dass es auch bei diesen Eltern gelingt, das Interaktionsverhalten zu verändern. Nach einer Anleitung zu sprachförderndem Verhalten zeigten die Eltern eine stärker responsive Interaktion, wodurch die Kinder zum Sprechen ermutigt wurden. Die Sprache der Kinder hatte sich sowohl hinsichtlich Wortschatz als auch grammatischer Kompetenz verbessert. Ein Vergleich der Sprachfortschritte, die durch eine direkte Sprachtherapie des Kindes bzw. durch eine Anleitung der Eltern zu sprachförderndem Verhalten erreicht werden, ergab, dass die Effektivität beider Interventionsstrategien vergleichbar ist. Unter Berücksichtigung der Kosten war eine Anleitung der Eltern zu sprachförderndem Verhalten pro Therapeutenstunde sogar doppelt so wirksam wie eine individuelle Sprachtherapie (Baxendale & Hesketh, 2003). Bislang gibt es erst wenige Versuche, bereits im Säuglingsalter mit einer gezielten Förderung von Kindern mit Sprachentwicklungsverzögerungen zu beginnen. Eine solche Frühförderung stößt auf Schwierigkeiten, da bisher eine ausreichend verlässliche Früherfassung von Kindern mit einem Risiko für eine Sprachentwicklungsstörung nicht gelingt (Übersicht bei Sachse, 2005). Es bleibt deshalb abzuwarten, ob sich die spektakulären Erfolge, über die Ward (1999) berichtete, bestätigen lassen. Die Autorin beurteilte mit einem Elternfragebogen zur auditiven Wahrnehmung und einem zum Kommunikationsverhalten den präverbalen Entwicklungsstand von durchschnittlich 10 Monate alten Kindern. Die Mütter von 60 der 119 als sprachretardiert eingestuften Kinder wurden von Sprachtherapeuten dazu angeleitet, vier Monate lang täglich für etwa eine halbe Stunde in vorgegebenen Spielsituationen sprachfördernd auf ihre Kinder einzugehen. Gegenstände, für die sich die Kinder gerade interessierten, sollten benannt und Spielsituationen unter bewusster Verwendung des „Mutterischen“ (Betonung wichtiger Wörter, verstärkte Wortmelodie, Verwendung einfacher Sätze, häufige Wiederholungen mit Variationen) kommentiert werden. Bei einer Nachuntersuchung im Alter von drei Jahren waren 95 % der Kinder der Interventionsgruppe sprachlich unauffällig gegenüber 15 % in der Kontrollgruppe. Jedes dritte Kind der Kontrollgruppe und keines der Interventionsgruppe stand in sprachtherapeutischer Behandlung. Diese Ergebnisse überraschen in zweierlei Hinsicht. Zum einen zeigt die Nachuntersuchung der Kontrollgruppe, dass Risikokinder mit einer Trefferquote, wie sie bislang von keiner anderen Arbeitsgruppe berichtet worden war, erkannt wurden. In einer eigenen Untersuchung lag die Trefferquote des ELFRA-1 bei 12 Monate alten Kindern nur geringfügig über dem Zufallsniveau (Sachse et al., 2005). Zum anderen liegen die Therapieeffekte weit über den bislang berichteten, obwohl die Intensität der Intervention eher geringer als in anderen Studien war. Die Zuverlässigkeit der Ergebnisse wurde deshalb mehrfach in Zweifel gezogen (Hall, 1999; Letts & Edwards, 1999; Yoder, 1999). Eine Bestätigung der Ergebnisse muss abgewartet werden, bevor aus
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diesen Untersuchungen Schlussfolgerungen für die Präventionspraxis abgeleitet werden können. Merke: Insgesamt zeigen bisherige Erfahrungen, dass sich durch eine Anleitung von Eltern zu sprachförderndem Verhalten Wortschatz und Sprachkompetenz bei sprachentwicklungsverzögerten Kindern verbessern lassen. Die Elternanleitung führt nicht nur zu einer Beschleunigung des Spracherwerbs, sondern auch zu einer einfühlsameren Interaktion zwischen Mutter und Kind und damit zu einer Entspannung der Familienatmosphäre. Die Therapieerfolge sind hinsichtlich der Sprachfortschritte mit denen einer individuellen Sprachtherapie vergleichbar und unter Berücksichtigung der Kosten sogar überlegen. Unklar ist bislang, ob sich eine solche Frühintervention auch langfristig positiv auf die Sprachentwicklung auswirkt.
4.2.5.2 Anleitung von Eltern zum dialogischen Vorlesen Gemeinsames Bilderbuchanschauen und Vorlesen gelten im frühen Kindesalter als optimale Möglichkeiten zur Sprachanregung. Eine Analyse verschiedener Alltagssituationen zeigte, dass der intensivste sprachliche Austausch beim gemeinsamen Anschauen eines Bilderbuches erfolgt verglichen mit Spiel-, Essens- oder Anziehsituationen (Hoff-Ginsberg, 1991). Auch wurden zwischen der Häufigkeit des Vorlesens und dem Sprachentwicklungsstand eines Kindes signifikante Beziehungen nachgewiesen (Übersicht bei Bus et al., 1995). Das Niveau der Unterhaltung beim Vorlesen gibt bei 3- bis 4-jährigen Kindern Hinweise auf den Sprachstand ein Jahr später (Kleeck et al., 2003). Auch experimentell konnte belegt werden, dass Vorlesen Sprachkompetenz verbessert. 72 vierjährigen Kindern wurden über zwei Wochen täglich 20 Minuten lang Geschichten vorgelesen, die entweder sehr viele (Interventionsgruppe) oder nur sehr wenige (Kontrollgruppe) Passivsätze enthielten. Die Kinder der Interventionsgruppe benutzten und verstanden bei der Nachuntersuchung Passivsätze deutlich besser als die der Kontrollgruppe (Vasilyeva et al., 2006). Diese und ähnliche Ergebnisse geben Anlass zu überprüfen, ob eine gezielte Sprachförderung durch die Anleitung von Eltern zu einem didaktisch sinnvoll gestalteten Vorlesen möglich ist. Whitehurst et al. (1988) vermittelten Eltern in einem 4-wöchigen Programm das dialogische Vorlesen. Dadurch verbesserten sich sowohl die expressiven als auch die rezeptiven Sprachleistungen der Kinder und der so erreichte Sprachvorsprung gegenüber einer Kontrollgruppe war auch noch ein Jahr später nachweisbar. Die Arbeitsgruppe entwickelte eine systematisierte Anleitung von Eltern („Head Start Program“), das sich auch für Kinder aus Unterschichtfamilien als geeignet erwies (Zevenbergen et al., 2003). Eine Förderung des Vorlesens in Familien gelingt auch mit einem relativ geringen Aufwand. In einem Modellprojekt in Illinois verteilten McCormick und Mason (1986) Bücher sowie Informationen über die Bedeutung des Vorlesens an Familien mit Kindern, die demnächst in den Kindergarten aufgenommen
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werden sollten. Dies führte zu einer Verringerung der Anzahl von Kindern mit schwachen Leseleistungen in der ersten Klasse. Auch über kinderärztliche Praxen können Eltern effektiv zum gemeinsamen Lesen angeregt werden. Dass dies zu einer Verbesserung der Sprachfähigkeit von Kindergartenkindern führt, konnte in einer Studie mit zwei bis fünf Jahre alten Kindern aus sozial benachteiligten Familien belegt werden. Mitarbeiter kinderärztlicher Praxen erläuterten den Eltern im Wartezimmer die Bedeutung des Vorlesens. Sie zeigten ihnen, wie viel Spaß gemeinsames Lesen machen kann, indem sie auf einer Matte sitzend den Kindern vorlasen und mit diesen über die Bilder bzw. die Geschichten sprachen. Die Kinderärzte betonten während der Untersuchung die Wichtigkeit gemeinsamen Lesens und gaben den Eltern altersangemessene Bücher mit nach Hause. Die Kinder der so angeleiteten Eltern zeigten deutlichere Fortschritte in der Sprachproduktion und dem Sprachverständnis als die einer Vergleichsgruppe (Mendelsohn et al., 2001). High et al. (2000) überprüften, ob eine Anregung zum Bilderbuch anschauen auch schon bei Säuglingen die Sprachentwicklung fördern kann. Familien aus der Unterschicht erhielten Kinderbücher und Informationsmaterial über das Vorlesen. Außerdem wurden Hinweise zur Gestaltung einer Bilderbuchsituation gegeben. Nach einem halben bis einem Jahr wurde der Sprachentwicklungsstand überprüft. Bei den Kindern, die zum Zeitpunkt der Nachuntersuchung 1 bis 1½ Jahre alt waren, fanden sich keine Fördereffekte, jedoch bei den 1½- bis 2-jährigen. Die Kinder der Interventionsgruppe hatten einen größeren aktiven und passiven Wortschatz, der nicht nur die Wörter aus den Bilderbüchern betraf. Eine andere zeitökonomische Möglichkeit zur Anleitung von Eltern zum dialogischen Vorlesen wurde von Whitehurst et al. (1994b) in Form eines Videotrainings entwickelt. Diese Arbeitsgruppe konnte nachweisen, dass ein Videotraining mit Eltern von zwei- bis dreijährigen Kindern effektiver ist als eine unmittelbare Elternanleitung. Sie überprüften außerdem, ob sich diese positiven Erfahrungen auch für eine Förderung im Kindergarten nutzen lassen. Kindergärtnerinnen wurden mittels Videotraining zum dialogischen Vorlesen angehalten. Sie lasen den Kindern mehrmals pro Woche vor und diese durften die Bücher mit nach Hause nehmen. Im Ergebnis zeigte sich, das sich die Sprache nur bei den Kindern, die auch zu Hause vorgelesen bekamen, verbessert hatte (Whitehurst et al., 1994a). Die Kindergärtnerinnen behielten das Vorlesen nach Beendigung der Studie auch nicht bei, so dass sich diese Form der Sprachförderung für die Betreuungssituation im Kindergarten als wenig geeignet erwies. Ein anderes Videotrainingsprogramm („Read Together – Talk Together“) wird Eltern über Gesundheitszentren empfohlen und ist über das Internet verfügbar (Pearson Early Learning, 2002). Dieses Training findet nach den Erfahrungen von Blom-Hoffman et al. (2006) bei Eltern und Gesundheitsexperten hohe Akzeptanz, wurde aber hinsichtlich seiner Effektivität noch nicht überprüft. Merke: Die aufgeführten Modellprojekte zeigen, dass sich eine Anregung von Eltern zum dialogischen Vorlesen auf die Sprachentwicklung von Kindern unterschiedlichen Alters förderlich auswirkt. Ein solches Angebot kann so gestaltet werden, dass auch Problemfamilien erreicht werden. Dabei können die
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Kosten durch den Einsatz eines Videotrainings relativ gering gehalten werden. Ein Vorlesen in der Kindergruppe scheint im Gegensatz zu einem Vorlesen in der Einzelsituation weniger effektiv zu sein. Eine Übertragung der positiven Erfahrungen mit einer Elternanleitung auf die Kindergartensituation ist somit nicht ohne Weiteres möglich. Wie genauere Analysen der Wirkmechanismen zeigen, reicht ein einfaches Vorlesen nicht aus, um positive Effekte auf den Spracherwerb zu erzielen. Entscheidend ist die sprachliche Interaktion, die durch dialogisches Vorlesen angeregt wird.
4.2.6 Prävention durch eine kindzentrierte Sprachtherapie Eine logopädische Behandlung ist im Kindergarten- und Vorschulalter die häufigste Interventionsform im Rahmen einer Frühförderung. Sie hat zum Ziel, durch eine Erhöhung und optimale Gestaltung des sprachlichen Inputs die kommunikativen Fähigkeiten sprachauffälliger Kinder zu verbessern und das Auftreten von Sekundärsymptomen zu vermeiden (tertiäre Prävention). Eine Sprachtherapie kann aber auch schon eingeleitet werden, wenn erste Hinweiszeichen auf eine Sprachentwicklungsverzögerung auffallen, um so die Entstehung einer manifesten Sprachstörung zu verhindern (sekundäre Prävention). Diese Möglichkeit zur Frühintervention bleibt aber meist ungenutzt. In der Praxis wird eine Sprachtherapie gegenwärtig vorwiegend im späteren Kindergarten- oder im Vorschulalter verordnet (Göllner, 2002). Tertiäre Prävention Die Effektivität einer Sprachtherapie im Rahmen der Behandlung von Kindern mit manifesten Sprachentwicklungsstörungen wurde trotz der weiten Verbreitung logopädischer Therapien erst relativ selten überprüft. Law et al. (2004) erstellten für die Cochrane Collaboration eine Übersicht über Arbeiten zur Effektivität sprachtherapeutischer Maßnahmen. Sie stuften von den innerhalb der letzten 25 Jahre publizierten Evaluationen 25 als aussagefähig ein. Die Zusammenfassung der Studienergebnisse zeigt, dass sich durch eine logopädische Behandlung die Lautbildungsfähigkeit und der aktive Wortschatz verbessern lassen. Hinsichtlich einer positiven Wirkung auf expressive grammatische Fähigkeiten sind die Berichte widersprüchlich. Eine Verbesserung expressiver Sprachleistungen ist nach bisherigen Erfahrungen nur bei den Kindern zu erwarten, bei denen keine Sprachverständnisprobleme bestehen. Sprachverständnisstörungen und auch der passive Wortschatz scheinen durch eine Therapie kaum beeinflussbar zu sein. Es fanden sich keine Belege dafür, dass eine Sprachtherapie den Erwerb von rezeptiven Sprachfähigkeiten beschleunigt. Diese Übersicht weist außerdem darauf hin, dass Verbesserungen von Sprachleistungen nur in unmittelbar trainierten Bereichen eintreten und dass ein Transfereffekt von einer linguistischen Ebene auf eine andere nicht eintritt. Die in der Therapie erworbenen Sprachkompetenzen werden dann aber auch zu Hause
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genutzt, so dass davon ausgegangen werden kann, dass sich Therapieerfolge unmittelbar im Alltag positiv bemerkbar machen. Bei einem Vergleich der Behandlungserfolge durch Sprachtherapeuten und durch ausreichend angeleitete Eltern konnten keine nennenswerten Unterschiede nachgewiesen werden. Beide Vorgehensweisen sind also als gleichwertig anzusehen. Auch scheint eine Behandlung in Kleingruppen genauso effektiv wie eine Einzeltherapie zu sein. Nay et al. (1987) kamen in einer Metaanalyse zu dem Ergebnis, dass die Effektstärken für kurzfristige Erfolge für alle überprüften sprachtherapeutischen Verfahren relativ hoch waren. Sie fanden aber keine Hinweise für eine generelle Überlegenheit einer der zahlreichen Methoden gegenüber anderen. Nach einer Literaturübersicht von Bode (2001) scheinen allerdings direkte Verfahren für Kinder mit relativ guter Sprachkompetenz und höherem IQ etwas besser geeignet als indirekte Methoden, von denen eher Kinder mit schlechterer Sprachkompetenz und/oder niedrigem IQ profitieren. Die beschriebenen Therapieerfolge logopädischer Interventionen beziehen sich auf Verbesserungen sprachlicher Fähigkeiten unmittelbar oder wenige Wochen nach Behandlungsende. Langfristige Effekte wurden bislang nicht belegt (Übersichten bei McLean & Woods Cripe, 1997 und Bode, 2001). Eine Persistenz von Sprachdefiziten bis ins Erwachsenenalter hinein lässt sich nach den Erfahrungen von Johnson et al. (1999) bei ausgeprägten Störungsbildern selbst durch eine intensive Sprachtherapie nicht verhindern. Ob Therapieerfolge, wie sie in Evaluationsstudien erreicht werden, auch in der täglichen Praxis eintreten, ist nicht sicher. Glogowska et al. (2000) konnten in einer gut kontrollierten Studie an 159 Kindergartenkindern lediglich geringfügige Verbesserungen beim Sprachverständnis aber keine nennenswerten Veränderungen bei der Sprachproduktion nachweisen. Die Kinder standen ein Jahr unter Standardbedingungen in logopädischer Therapie, erhielten allerdings im Durchschnitt nur sechs Behandlungen. Eine so geringe Behandlungsintensität ist offensichtlich unzureichend und könnte den fehlenden Therapieerfolg erklären. Diese negativen Ergebnisse können also nicht als Beleg für die Ineffizienz einer logopädischen Standardtherapie angesehen werden. Obwohl Verbesserungen der sprachlichen Fähigkeiten in der Praxis oft relativ gering ausfallen, sind Eltern mit den Fortschritten in der Sprachtherapie meist zufrieden. Selbst zwei Drittel der mit den Sprachfortschritten unzufriedenen Eltern geben an, dass sich die Therapie insgesamt gelohnt habe (Keilmann et al., 2004). Neben logopädischen Methoden, die direkt an der Sprache ansetzen, werden zur Behandlung sprachgestörter Kinder zahlreiche Verfahren zum Training psychischer Grundfunktionen eingesetzt, um die Voraussetzungen für den Spracherwerb zu verbessern. Für alle diese Behandlungsansätze gibt es bislang keine Belege für eine spezifische Wirksamkeit (Übersicht bei Suchodoletz, 2003). Sekundäre Prävention Eine Frühintervention während der Phase des schnellen Spracherwerbs gilt allgemein als effektiver als eine Behandlung nach dem dritten Lebensjahr. Belege
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für diese Annahme gibt es allerdings nicht. Nur wenige Arbeitsgruppen haben sich mit der Effektivität einer Behandlung sehr junger Kinder auseinandergesetzt. Vergleichende Untersuchungen über Erfolge einer Sprachtherapie in unterschiedlichen Altersstufen gibt es meines Wissens überhaupt nicht. Über Behandlungsergebnisse mit einer kindzentrierten Sprachtherapie bei zweijährigen Kindern berichteten Ellis Weismer et al. (1994). Im Alter von vier Jahren hatte eines der drei in die Studie einbezogenen Kinder eine umschriebene Sprachentwicklungsstörung und die beiden anderen Kinder hatten den Sprachentwicklungsrückstand aufgeholt. In einer kontrollierten Studie mit 21 zweijährigen sprachentwicklungsretardierten Kindern erhielten elf eine kindzentrierte Sprachtherapie über drei Monate. Im Vergleich zur unbehandelten Kontrollgruppe hatten sich Wortschatz, mittlere Äußerungslänge und Verständlichkeit der Äußerungen, aber auch die soziale Geschicklichkeit der Kinder deutlich verbessert und das Stressniveau bei den Eltern vermindert (Robertson & Ellis Weismer, 1999). Ob der Vorsprung der behandelten Kinder anhaltend war, wurde nicht untersucht. Siegmüller und Fröhling (2003) berichteten über eine signifikante Zunahme des Wortschatzes bei sechs sprachentwicklungsverzögerten zweijährigen Kindern gegenüber einer Kontrollgruppe durch die Kombination einer kindzentrierten Therapie mit einem Elterntraining. Welchen Anteil die kindzentrierte Intervention an den Sprachfortschritten hat, lässt sich nicht sagen. Merke: Insgesamt zeigt dieser Überblick, dass kindzentrierte Sprachtherapien zwar zum Standard bei der Betreuung sprachauffälliger Kinder gehören, unser Wissen über deren Wirksamkeit aber begrenzt ist. Als gesichert kann gelten, dass durch eine logopädische Behandlung eine Verbesserung in der Aussprache und im aktiven Wortschatz erreicht werden kann. Ob auch der Erwerb grammatischer Fähigkeiten durch eine individuelle Sprachtherapie beschleunigt wird und ob sich Sprachverständnisprobleme therapeutisch beeinflussen lassen, ist hingegen umstritten. Auch ist unklar, ob Therapieeffekte längerfristig anhalten und ob eine Behandlung sekundäre Folgen wie LeseRechtschreibstörungen oder emotionale und Verhaltensauffälligkeiten verhindert. Die Effektivität einer kindzentrierten Frühintervention wurde erst an wenigen Kindern genauer überprüft, so dass über Möglichkeiten kindzentrierter Sprachtherapien zur sekundären Prävention keine auf empirischen Studien beruhende Aussagen möglich sind.
4.3 Zusammenfassung Sprachentwicklungsstörungen behindern nicht nur die Aneignung neuen Wissens, sondern auch die Persönlichkeitsentfaltung. Um betroffenen Kindern eine optimale Entwicklung zu ermöglichen, ist eine Prävention von Spracherwerbsstörungen dringend erforderlich Maßnahmen zur primären Prävention haben zum Ziel, durch eine Beseitigung der Ursachen für Sprachbehinderungen eine normale Sprachentwicklung zu
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gewährleisten. Möglichkeiten zur primären Prävention sind bei umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen allerdings begrenzt, da diese überwiegend auf eine genetische Veranlagung zurückzuführen sind und fördernde bzw. hemmende Einflüsse der Umwelt von untergeordneter Bedeutung sind. Ein Ansatz zur primären Prävention besteht in einer Verbesserung der Kompensationsmöglichkeiten des Kindes, indem optimale Bedingungen für eine ungestörte Hirn- und Hörentwicklung geschaffen werden. Eine genaue Beobachtung der Entwicklung von Kindern mit Komplikationen während der Schwangerschaft und Geburt hat aber ergeben, dass durch eine Prävention frühkindlicher Hirnschädigungen nur Sprachentwicklungsstörungen, die mit einer allgemeinen kognitiven Entwicklungsverzögerung verbunden sind, vorgebeugt werden kann, nicht aber spezifischen Spracherwerbsstörungen. Eine Früherkennung und Frühtherapie von Hörstörungen wiederum verhindert nur das Auftreten audiogen bedingter Sprachstörungen. Diskutiert wird auch, ob eine konsequente Behandlung von chronischen Mittelohrentzündungen oder eine Therapie auditiver Wahrnehmungsstörungen Ansätze zu einer Prävention von Sprachstörungen bieten. Nach neueren Untersuchungsergebnissen ist eher zu bezweifeln, dass umschriebene Sprachentwicklungsstörungen Folge einer Schallleitungsschwerhörigkeit bei chronischer Mittelohrentzündung oder einer auditiven Wahrnehmungsstörung sind, so dass auch dieser Ansatz zur primären Prävention keine wesentlichen Erfolge verspricht. Möglichkeiten für eine primäre Prävention ergeben sich am ehesten durch Interventionen im Umfeld, indem der sprachliche Input verstärkt und sprachfördernd gestaltet wird und gleichzeitig die Sprachentwicklung hemmende Faktoren beseitigt werden. Als erfolgreich hat sich eine Anleitung der Eltern zu sprachförderndem Verhalten und zum dialogischen Vorlesen erwiesen. Derartige Förderangebote lassen sich durch Elterngruppen und durch Video basierte Trainingsverfahren kostengünstig gestalten. Durch ein gezieltes Ansprechen unterprivilegierter Familien können auch Kinder aus bildungsferneren Schichten erreicht werden. Inzwischen liegen die Ergebnisse mehrerer Evaluationsstudien vor, die belegen, dass derartige Förderangebote die Sprachentwicklung und die Kommunikationsfähigkeit von Kindern zumindest kurzfristig verbessern. Ob sich damit auch umschriebene Sprachentwicklungsstörungen verhindern lassen, ist bislang allerdings noch nicht erwiesen. Zu den die Sprachentwicklung hemmenden Faktoren wird ein übermäßiger Medienkonsum gerechnet. Der Einfluss des Fernsehens auf die Sprachentwicklung wird aber eher überschätzt. Werden wichtige Einflussfaktoren, wie die Schichtzugehörigkeit und die Intelligenz des Kindes berücksichtigt, dann sind weder gravierende hemmende noch fördernde Wirkungen des Fernsehens festzustellen. Lediglich ein unkontrolliertes Fernsehen bei Vorschulkindern durch einen eigenen Fernseher im Kinderzimmer konnte mit ausreichender Sicherheit als hemmender Faktor identifiziert werden. Andererseits scheinen bestimmte Medienangebote, wie das Hören von Märchenkassetten, sprachfördernde Komponenten zu beinhalten. Nach bisherigem Kenntnisstand lässt sich sagen, dass eine mäßige Mediennutzung weder eine Sprachentwicklungsstörung provozieren noch verhindern kann. Ein exzessiver Fernsehkonsum und insbesondere ein ei-
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gener Fernseher im Kinderzimmer von Vorschulkindern sollten aber vermieden werden. Eine Anregung der Sprachentwicklung scheint durch Märchenkassetten und durch pädagogisch sinnvoll gestaltete Fernsehangebote möglich, auch wenn die fördernden Effekte nicht sehr ausgeprägt sind. Wenn die Sprachentwicklung eines Kindes verzögert verläuft, dann sollten, um die Entstehung einer Sprachentwicklungsstörung im weiteren Verlauf zu vermeiden, Maßnahmen zur sekundären Prävention eingeleitet werden. Hierzu bieten sich sowohl eine kindzentrierte Sprachtherapie als auch eine Anleitung der Eltern zu sprachförderndem Verhalten an. Sprachentwicklungsverzögerungen sind allerdings erst um den zweiten Geburtstag ausreichend sicher von Varianten der normalen Sprachentwicklung abzugrenzen. Die präverbale und die ersten Stadien der verbalen Entwicklung verlaufen so variabel, dass gestörte und normale Entwicklung in den ersten beiden Lebensjahren nicht voneinander abzugrenzen sind. Zwar gibt es inzwischen mehrere Ansätze zur Früherkennung von Sprachentwicklungsstörungen, jedoch ist noch nicht abzusehen, ob daraus tatsächlich praxisrelevante Diagnostikverfahren werden. Nach gegenwärtigem Wissensstand sollte bei Kindern mit umschriebenen Sprachentwicklungsverzögerungen im Alter von etwa zwei Jahren mit einer Frühintervention begonnen werden. Kriterien für eine Sprachentwicklungsverzögerung sind ein Wortschatz kleiner als 50 Wörter und das Fehlen des Gebrauchs von Zwei- oder Mehrwortsätzen. Dass sprachentwicklungsverzögerte Kinder sowohl von einer kindzentrierten Therapie als auch von einer Anleitung der Eltern zu sprachförderndem Verhalten und zum dialogischen Vorlesen zumindest kurzfristig profitieren, kann als ausreichend gesichert angesehen werden. Wenn bei einem Kind im Alter von drei Jahren eindeutige Zeichen einer Spracherwerbsstörung nachweisbar sind, dann ist von einer Sprachentwicklungsstörung auszugehen. Zur Behandlung der Sprachauffälligkeiten und zur Verhinderung sekundärer Entwicklungsbeeinträchtigungen ist eine kindzentrierte Sprachtherapie unter Einbeziehung der Eltern erforderlich (tertiäre Prävention). Eine Sprachtherapie kann einzeln oder in Kleingruppen erfolgen. Inzwischen gibt es ausreichende Belege dafür, dass sich durch eine logopädische Behandlung Wortschatz, Lautbildungs- und Kommunikationsfähigkeit verbessern lassen. Bei Sprachverständnisstörungen sind die Therapieaussichten hingegen begrenzt. Welche der zahlreichen logopädischen Verfahren eingesetzt werden, ist individuell zu entscheiden. Keine der verfügbaren Methoden hat sich als generell überlegen erwiesen. Eine Behandlung sollte in jedem Fall direkt an der Sprache ansetzen. Ein Training auditiver oder anderer psychischer Grundfunktionen ist für eine Förderung sprachlicher Kompetenzen ungeeignet. Wenn es gelingt, eine Sprachstörung bis zum Einschulungsalter erfolgreich zu behandeln, dann erfolgt die weitere Entwicklung weitgehend unauffällig und im weiteren Verlauf ist nicht mit einer nennenswerten Beeinträchtigung von Schulerfolg oder anderer Entwicklungsbereiche zu rechnen. Eine intensive Sprachtherapie im Kindergarten- und Vorschulalter kann demnach die Entwicklungschancen betroffener Kinder entscheidend verbessern.
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Prävention von LeseRechtschreibschwierigkeiten Petra Küspert, Jutta Weber, Peter Marx & Wolfgang Schneider
Gliederung 5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.2.1 5.2.2.2 5.2.2.3 5.3
Lese-Rechtschreibschwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundäre und tertiäre Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primäre Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Grundlagen zur primären Prävention. . . . . . Förderprogramme zur primären Prävention . . . . . . . . . . . Studien zur Effektivität primärer Präventionsmaßnahmen. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5.1 Lese-Rechtschreibschwierigkeiten Lernstörungen sind neben psychosozialen Problemen die häufigste Ursache für schulisches Versagen. Dabei besteht international die Übereinkunft, zwischen allgemeiner Lernschwäche, Lernbehinderung und spezifischen Lernstörungen, wie etwa Lese- Rechtschreibstörung oder Rechenstörung, zu differenzieren. Hier wird insbesondere den Störungen des Schriftspracherwerbs seit mehr als hundert Jahren Aufmerksamkeit zuteil, wobei gerade in der Forschung der letzten zwanzig Jahre die Komplexität der Lernprozesse immer genauer entschlüsselt werden konnte. Dabei darf jedoch noch längst nicht davon ausgegangen werden, dass Hintergründe und Erscheinungsformen der Lese-Rechtschreibstörungen bislang hinreichend verstanden sind. Im Alter zwischen fünf und sieben Jahren ist die Mehrheit der Kinder sowohl in Bezug auf ihre artikulatorischen Fähigkeiten, die Ausdifferenzierung der auditiven und visuellen Wahrnehmung und nicht zuletzt durch den Stand ihrer kognitiven Entwicklung für den Erwerb der Schriftsprache hinreichend vorbereitet. Die Technik des Lesens und Schreibens wird in der Regel im Rahmen der schulischen Instruktion in der frühen Grundschulphase erworben, und die Kinder, die zumeist mit Vorfreude auf das Lesen- und Schreibenlernen in die Schule kommen, erfahren dort die schrittweise Vermittlung der BuchstabeLaut-Verbindung und eine Hinführung zur Beachtung formaler (Klang-)Aspekte der Sprache. Dabei wird in jüngerer Zeit durch die zunehmende Einübung des
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„freien Verschriftens“ der Aufbau einer alphabetischen Strategie in der Anfangsphase unterstützt. Dem Großteil der Kinder gelingt so ein mehr oder weniger reibungsloser Schriftspracherwerb; es darf jedoch nicht übersehen werden, dass eine Gruppe von Kindern persistierende Probleme aufweist (vgl. Schneider, 1997; Warnke, 1992). Dabei versagt ein Großteil der betroffenen Kinder bereits in den Anfangsphasen der Schriftsprachunterrichtung, wenn es gilt, Einzellaute aus der gesprochenen Sprache herauszuhören, Laut-Buchstabe-Verbindungen sicher abzuspeichern oder beim Lesen die Einzellaute zusammenzuschleifen. Einigen Kindern, die zu Hause intensiv üben, gelingt in den ersten Schuljahren eine „Verschleierung“ der bestehenden Probleme, indem sie etwa Lesetexte auswendig lernen oder sich Wortbilder nach hervorstechenden visuellen Details merken. Diese Kinder fallen jedoch spätestens im dritten Schuljahr auf, wenn die schriftsprachlichen Aufgaben komplexer werden. In der einschlägigen Literatur wird zwischen allgemeiner Lese-Rechtschreibschwäche und Legasthenie (Lese-Rechtschreibstörung) differenziert. Dabei werden bei ersterer in der Regel eine defizitäre intellektuelle Grundausstattung oder ungünstige psychosoziale Umstände dafür verantwortlich gemacht, dass die betroffenen Kinder in den meisten Schulfächern – und eben auch beim Lesenund Schreibenlernen – nur schwache schulische Leistungen erbringen. Von einer Legasthenie wird hingegen nur dann gesprochen, wenn die betroffenen Kinder über eine mindestens durchschnittliche Intelligenz verfügen, die in deutlicher Diskrepanz zu den schwachen – und damit erwartungswidrigen – Leistungen im Lesen und Rechtschreiben steht. In anderen Schulfächern, wie Mathematik oder Sachkunde, sollen die betroffenen Kinder gute bis sehr gute Leistungen erbringen, so dass der Leistungsausfall im Lesen und Schreiben im Sinne einer „Teilleistungsschwäche“ zu interpretieren ist (vgl. Remschmidt, 1987). Diese Annahmen werden jedoch interdisziplinär kontrovers diskutiert. So haben neuere Untersuchungen ergeben, dass sich beide Teilgruppen in anderen problemrelevanten kognitiven Bereichen nicht deutlich voneinander unterscheiden (vgl. Marx et al., 2001) und dass sie auch nicht unterschiedlich gut therapierbar sind (Weber et al., 2002). Auch die „Umschriebenheit“ der Störung im Sinne einer Teilleistungsschwäche trifft wohl nicht in der oben angedeuteten Absolutheit zu, da Probleme im Schriftsprachbereich schon zu Beginn der Grundschulzeit auch Auswirkungen auf das Verständnis mathematischer Probleme zu haben scheinen (Schwenck & Schneider, 2003). In der Praxis der Diagnosestellung zeigen sich ebenfalls Probleme mit diesen quantitativ begründeten Diagnosekriterien, und dies vielfach bei Kindern mit gerade noch durchschnittlicher Intelligenz, bei denen die Lese-Rechtschreibleistungen kaum „schwach genug“ sein können, um die nötige Diskrepanz zum IQ zu erreichen, aber auch bei Kindern mit sehr hoher Intelligenz, bei denen oft schon Lese- Rechtschreibleistungen im unteren Durchschnittsbereich in signifikanter Diskrepanz zur intellektuellen Grundausstattung stehen. Unabhängig von diesen diagnostischen Abgrenzungsschwierigkeiten gilt jedoch, dass die verringerte Schriftsprachkompetenz für die betroffenen Kinder sowohl schulisch als auch in Hinblick auf eine spätere Berufsausbildung und die allgemeine Alltagsbewältigung enorme Nachteile mit sich bringt. Vielfach
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werden das Lesen und insbesondere das Schreiben trotz intensivsten Übens nur völlig lückenhaft erlernt. Als Folge dieses Versagens entwickelt sich oftmals eine mehr oder weniger ausgeprägte „Sekundärsymptomatik“ im Sinne einer emotionalen Belastung, einer verringerten Leistungsmotivation und einer generellen Ablehnung des Themas Lesen oder Schreiben. Von einer Legasthenie im Sinne der ICD-10-Definition sind etwa 4 bis 7 % aller Schulkinder betroffen, Jungen etwa doppelt so häufig wie Mädchen; eine allgemeine Lese-Rechtschreibschwäche tritt entsprechend der weiter gefassten Definition deutlich häufiger auf (vgl. Hasselhorn & Schuchardt, im Druck; Steinhausen, 1996). Ursachen für eine solche Lese-Rechtschreibproblematik sind im genetischen, perinatalen und psychosozialen Bereich anzusiedeln. Während in den vergangenen Jahrzehnten ernste Lese-Rechtschreibschwierigkeiten erst in der späten Grundschulzeit oder gar erst in der Sekundarstufe erkannt wurden – nach vielen Jahren erfolglosen und frustranen Übens und massiver emotionaler und psychosozialer Belastung der betroffenen Schüler –, geht der Trend heute dahin, Kinder, die nicht „in die Schrift kommen“ möglichst frühzeitig zu identifizieren und zu fördern. Über standardisierte Testverfahren zur Erfassung der Lese- und Rechtschreibkompetenz lassen sich bereits zum Ende des ersten Schuljahres Rückstände zuverlässig messen; über eine qualitative Analyse der Fehlschreibungen lassen sich Hinweise auf Förderschwerpunkte gewinnen.
5.2 Prävention 5.2.1 Sekundäre und tertiäre Prävention Gerade beim Vorliegen gravierender und tief greifender Defizite erweist sich die bloße Wiederholung und Intensivierung des im Deutschunterricht bereits durchgenommenen Unterrichtsstoffes als nicht ausreichend. Hier ist die Anwendung spezifischer Trainingsprogramme indiziert. Mittlerweile liegen einige wissenschaftlich evaluierte und in der Praxis erprobte Trainingsprogramme für die Bereiche des Lesens und Rechtschreibens vor, die im Folgenden kurz dargestellt werden sollen. Lautgetreue Lese-Rechtschreibförderung (Reuter-Liehr, 2000) Das Programm „Lautgetreue Lese- Rechtschreibförderung“ (Reuter-Liehr, 2000) wurde für den schulischen Förderunterricht entwickelt und folgt einem allgemeinen Konzept, welches dem natürlichen Lese- und Rechtschreiberwerb des Kindes entspricht und primär der Sicherung einer lautgetreuen Schreibung dienen soll. Im Mittelpunkt steht die rhythmische Durchgliederung der Sprache anhand lautgetreuen Wortmaterials, welches in unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen (Phonemstufen) dargeboten wird. Die „Lerngruppe I“ beinhaltet 40 ausgearbeitete Doppelstundenabläufe für die Förderung ab Mitte des dritten Schuljahres.
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In der „Lerngruppe II“ sind 30 Doppelstundenabläufe zusammengestellt, die ab Mitte des fünften Schuljahrgangs eingesetzt werden können, hier wird nun auch der Regelbereich thematisiert. Evaluationsstudien belegen die Effektivität dieses Förderprogramms. In einer Studie von Reuter-Liehr (1993) wurden lese-rechtschreibschwache Fünftklässler über einen Zeitraum von eineinhalb bis eindreiviertel Jahre in Kleingruppen mit dem Programm gefördert. Eine Gruppe lese-rechtschreibschwacher Kinder von vergleichbarer Intelligenz diente als untrainierte Kontrollgruppe. Im ersten Versuchsdurchgang wurde wöchentlich eine Schuldoppelstunde lang trainiert (ca. 60 Sitzungen in 20 Monaten). Beim zweiten Versuchsdurchgang wurde ein leicht überarbeitetes Konzept eingesetzt (ca. 50 Sitzungen). An den Versuchsschulen des ersten Durchgangs wurde von den bereits geschulten Lehrern nun ein spezieller Förderunterricht abgehalten. Bei den Nachtests zeigten sich im Gegensatz zu den Kontrollgruppen bei allen Trainingsgruppen hochsignifikante Verbesserungen. Das mittlere Rechtschreibniveau reichte an den Durchschnittswert der entsprechenden Altersgruppe heran. Die leistungsschwachen, nicht trainierten Kinder der Versuchsschulen, die lediglich am Unterricht der speziell geschulten Lehrer teilnahmen, zeigten ebenfalls signifikante Verbesserungen im Rechtschreiben, wenn auch nicht in dem Maße wie die trainierten Gruppen. Wie eine qualitative Fehleranalyse ergab, traten Verbesserungen vor allem in den trainierten Bereichen auf. Katamnestische Eindrücke lassen auf einen langfristigen Erfolg schließen. Durch Weber et al. (2002) konnte die Wirksamkeit eines leicht modifizierten Programms bei Viertklässlern nachgewiesen werden. Marburger Rechtschreibtraining (Schulte-Körne & Mathwig, 2000) Das „Marburger Rechtschreibtraining“ (Schulte-Körne & Mathwig, 2000) zielt auf die Verbesserung der Regelkompetenz ab und sollte dementsprechend erst eingesetzt werden, wenn die lautgetreue Schreibung gesichert ist. Für die Anleitung des Trainings kommen sowohl Lehrer, professionelle Therapeuten wie auch Eltern in Frage; letztere sollten jedoch durch regelmäßige, gezielte Supervision begleitet werden. Das Programm erstreckt sich über zwei Jahre, während derer zwei- bis dreimal wöchentlich für jeweils 20 Minuten geübt werden soll. Lösungsalgorithmen werden über Entscheidungsbäume vorgegeben und erlauben so das Systematisieren der Rechtschreibfälle. Am Ende jedes Kapitels unterstützen Erfolgskontrollen die Motivation der Übenden. Das Programm soll als Fundus verstanden werden, aus dem je nach Fehlerschwerpunkten des Kindes einzelne Module angewendet und durch weitere Übungsmaterialien ergänzt werden können. Auch dieses Programm wurde mehreren wissenschaftlichen Überprüfungen unterzogen. Nach einem Jahr zeigte sich bei einer jahrgangsgemischten Gruppe von Zweit-, Dritt- und Viertklässlern eine signifikante Verbesserung der Rechtschreibleistung lediglich beim zentralen Trainingsinhalt „Schärfung“ (Schulte-Körne et al., 1997). Mangels untrainierter Kontrollgruppe ist dabei unklar, inwieweit dieser Effekt trainingsbedingt ist. Ein Jahr später (Schulte-Körne et al., 1998) hatten sich die Kinder nun auch in ihrer allgemeinen Rechtschreibleistung verbessert, allerdings
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nur recht geringfügig, so dass ihr Rechtschreibniveau weiterhin im Grenzbereich zum Unterdurchschnittlichen lag. Als positiver Befund zeigte sich eine Steigerung des Selbstvertrauens der Kinder. In einer späteren Studie, nun mit Kontrollgruppendesign (Schulte-Körne et al., 2001), ergab die statistische Überprüfung einen Therapieeffekt, der bei einer halben Standardabweichung lag. Die Leseleistung der geförderten Kinder lag nach Trainingsende im Durchschnittsbereich, die Rechtschreibleistung war jedoch weiterhin unterdurchschnittlich. Leitfaden zur Bekämpfung der Lese-Rechtschreibschwäche (Kossow, 1992) Der „Leitfaden zur Bekämpfung der Lese-Rechtschreibschwäche“ (Kossow, 1992), eine theoretisch gut fundierte und wissenschaftlich sorgfältig evaluierte Förderkonzeption zur Vorbeugung und Behandlung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, findet bereits seit mehr als 30 Jahren breite Anwendung. In Fördergruppen sollte durchschnittlich zwei- bis dreimal wöchentlich geübt werden; zum Einsatz kommen Bildkärtchen zur Lautbildung und Symbolkärtchen, die Algorithmen zur Lösung bestimmter Rechtschreibprobleme vorgeben. Das Programm beinhaltet Sprechübungen, Übungen zum Heraushören einzelner Laute, zur Lautdifferenzierung sowie zur Lautsynthese und -analyse. Daneben werden effiziente Strategien zum Einspeichern von Wortbildern und Lesetechniken vermittelt. Die Evaluation des Programms wurde an einer Stichprobe von 70 lese-rechtschreibschwachen Schülern des 2. und 3. Schuljahres durchgeführt, die spezielle LRSKlassen oder die sonderpädagogische Einrichtung einer Nervenklinik besuchten (Kossow, 1972). In den LRS-Klassen wurde ein Schuljahr lang täglich 45 Minuten trainiert, in der sonderpädagogischen Einrichtung drei bis vier Monate lang täglich 60 Minuten. Ein Teil der Kinder durchlief das vollständige Programm, der Rest ein individuelles Training nach der sog. Gate-Technik, nach der zur nächsten Einheit übergegangen wird, sobald der in einem Gate geforderte Leistungsstand erreicht ist. Eine Kontrollgruppe wurde aufgrund der positiven Ergebnisse einer Voruntersuchung nicht einbezogen. Im Laufe des Trainings verringerte sich die mit Hilfe einer Worttafel erfasste durchschnittliche Fehlerzahl der Kinder um 78 %, wobei sich signifikante Leistungsverbesserungen aller trainierten Kinder in allen Fehlerkategorien zeigten. Die Abnahme der einzelnen Fehlerarten erfolgte in zeitlicher Übereinstimmung mit der Behandlung dieser Themen im Training. Die Rechtschreibnoten verbesserten sich durchschnittlich um 1,5 Punkte. Der Erfolg blieb auch nach der Rückschulung in die normalen Klassen bestehen. Kieler Lese- und Rechtschreibaufbau (Dummer-Smoch & Hackethal, 1994, 1996) Der „Kieler Lese- und Rechtschreibaufbau“ (Dummer-Smoch & Hackethal, 1994, 1996) ist ein systematisch aufgebautes Programm zur Förderung der Lese- und Rechtschreibkompetenz bei Kindern, Jugendlichen und Erwachse-
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nen mit ausgeprägten Schwierigkeiten. Der Leseaufbau beinhaltet 14 Stufen mit steigendem Schwierigkeitsgrad; Lautgebärden sollen über eine motorische Bahnung die Speicherung der Phonem-Graphem-Korrespondenzen unterstützen. Der Kieler Rechtschreibaufbau schließt daran an; auch hier ist das Wortmaterial systematisch gegliedert und wird mit steigendem Schwierigkeitsgrad eingesetzt. Während in den ersten Phasen ausschließlich lauttreues Wortmaterial zu verschriften ist, werden anschließend auch Rechtschreibregeln thematisiert. Über „Diagnostische Bilderlisten“ können Lernfortschritte abgefragt werden. Eine kontrollierte wissenschaftliche Überprüfung der Trainingseffekte steht noch aus, so dass die Effizienz dieses Förderprogramms lediglich über positive Erfahrungsberichte aus der Praxis abgeschätzt werden kann. Die vorgestellten Programme stellen nur eine Auswahl der verfügbaren Materialien zur sekundären Prävention dar. Sie sollen verdeutlichen, dass gerade in den vergangenen Jahrzehnten hinsichtlich der Konzeption theoriegeleiteter Förderansätze und deren Evaluation große Anstrengungen unternommen wurden. Gleichwohl muss jedoch konstatiert werden, dass die Förderung der Kinder, die bereits Lese-Rechtschreibprobleme haben, im Leistungsbereich nicht immer die gewünschten Erfolge zeitigt. Allen Förderprogrammen ist gemeinsam, dass sie langfristig, zumeist über mehrere Jahre eingesetzt werden müssen, um alltagsrelevante Effekte erzielen zu können. Vielfach führen zeit- und kostenintensive therapeutische Bemühungen nur zu eingeschränkten Leistungszuwächsen, da zum einen der Leistungsabstand zwischen dem Kind und seinen Mitschülern meist zu groß ist, um wirklich beseitigt werden zu können, zum anderen die verfügbaren Förderprogramme die eigentlichen Schwachpunkte der Kinder nicht hinreichend individualisiert angehen können. Diese Erkenntnis legt zwingend nahe, nach Möglichkeiten der Prävention zu suchen, um eine ernste Lese-Rechtschreibproblematik schon im Vorfeld abzuwenden. 5.2.2 Primäre Prävention 5.2.2.1 Theoretische Grundlagen zur primären Prävention In der Tat liegen mittlerweile beeindruckende Befunde zu den Möglichkeiten primärer Prävention von Lese-Rechtschreibstörungen vor. Hierbei spielt das Konzept der „phonologischen Bewusstheit“ eine zentrale Rolle. Durch einen kurzen theoretischen Einschub soll die Herleitung der Bedeutung und der Fördermöglichkeiten der phonologischen Bewusstheit nachvollziehbar werden. Forschungsergebnisse belegen, dass der Schuleintritt nicht „die Stunde Null“ für den Schriftspracherwerb darstellt, sondern dass Schulanfänger den LeseRechtschreibunterricht mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen beginnen. Die psychologische Forschung konzentrierte sich in jüngerer Zeit insbesondere auf die Identifizierung so genannter Vorläufermerkmale oder Teilfertigkeiten, die für den Erfolg eines Kindes beim Lesen- und Schreibenlernen von spezifischer Relevanz sind und sich offensichtlich schon im Vorschulalter ausbilden. Es ist allgemein bekannt, dass beim Lesen- und Schreibenlernen auf auditive, visu-
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elle, motorische und sprachliche Fähigkeiten und Fertigkeiten zurückgegriffen werden muss. Zusätzlich identifizierte die Forschung weit spezifischere Vorhersagemerkmale, die unter dem Oberbegriff phonologische Informationsverarbeitung zusammengefasst wurden. Dabei wurden neben der sog. phonologischen Bewusstheit die Komponenten des sprachgebundenen Arbeitsgedächtnisses und der verbalen Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit als theoretisch und praktisch bedeutsam angenommen (vgl. Marx, 1997; Schneider, 1989, 2004; Wagner & Torgesen, 1987). Die „phonologische Bewusstheit“ bezieht sich auf die Fähigkeit von Kindern, die Lautstruktur der gesprochenen Sprache zu erfassen, beispielsweise Sätze in Wörter, Silben oder Laute zu zerlegen. In Anlehnung an Skowronek und Marx (1989) ist zwischen phonologischer Bewusstheit im weiteren und engeren Sinn zu differenzieren. Erstere bezieht sich auf die Fähigkeit, größere Einheiten wie Wörter und Silben zu segmentieren sowie Reime wahrzunehmen, und bildet sich normalerweise im Laufe der Vorschulzeit ohne spezielle Instruktion aus. Letztere meint die Fähigkeit, Laute in Wörtern und Silben zu erkennen und zu unterscheiden und wird hauptsächlich durch Erfahrungen im Rahmen der Schriftsprachinstruktion in der Schule erworben. Ein Risiko für den späteren Schriftspracherwerb besteht insbesondere dann, wenn nicht nur niedrige Ausprägungen phonologischer Bewusstheit registriert werden, sondern gleichzeitig Defizite im verbalen Kurzzeitgedächtnis nachweisbar sind und sprachgebundene Informationsverarbeitungsprozesse stark verlangsamt ablaufen. In den vergangenen Jahren hat sich in einer Reihe von Langzeitstudien bestätigen lassen, dass Merkmale der im Kindergartenalter erfassten phonologischen Bewusstheit im engeren und weiteren Sinn die späteren Lese- und Rechtschreibleistungen in der Grundschule bedeutsam vorhersagen (z. B. de Jong & van der Leij, 1999; Landerl & Wimmer, 1994; Schneider & Näslund, 1993, 1999; vgl. auch die Übersicht bei Schneider & Stengard, 2000). Je genauer die Wortstrukturen schon im Vorschulalter analysiert werden können, umso günstiger ist die Prognose für den späteren Schriftspracherwerb. Gerade die Befunde der Münchner Längsschnittstudie LOGIK (Schneider & Näslund, 1993, 1999) haben verdeutlicht, dass alle drei oben beschriebenen Komponenten der phonologischen Bewusstheit für die Vorhersage relevant sind. Zusätzlich spielen für die Prognose aber auch Unterschiede in der frühen Buchstabenkenntnis eine Rolle. Obwohl sich aus diesen Ergebnissen die Schlussfolgerung ableiten ließe, dass alle Komponenten der phonologischen Informationsverarbeitung frühzeitig gefördert werden sollten, beschränken sich Fördermaßnahmen in der Praxis auf die Komponente der phonologischen Bewusstheit. Dies hat entscheidend damit zu tun, dass diese Komponente vergleichsweise nicht nur am bedeutsamsten scheint, sondern sich auch am besten fördern lässt. Die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit und auch das sprachgebundene Arbeitsgedächtnis sind bislang nur eingeschränkt trainierbar. Nachdem im skandinavischen Raum mit einem Trainingsprogramm zur phonologischen Bewusstheit beeindruckende Erfolge zu verzeichnen waren (Lundberg et al., 1988), wurde ein Förderkonzept für den deutschen Sprachraum entwickelt (Schneider et al., 1994).
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5.2.2.2 Förderprogramme zur primären Prävention Trainingsprogramm zur phonologischen Bewusstheit „Hören, lauschen, lernen“ (Küspert & Schneider, 2006) Das inzwischen in fünfter Auflage vorliegende Trainingsprogramm zur phonologischen Bewusstheit „Hören, lauschen, lernen“ (Küspert & Schneider, 2006) besteht aus sechs Übungseinheiten, die inhaltlich aufeinander aufbauen und das Ziel verfolgen, Vorschulkindern Einblick in die Lautstruktur der gesprochenen Sprache zu vermitteln. Im Vordergrund steht die akustische Diskrimination bzw. die Abstraktion sprachlicher Segmente wie Wörter, Reime, Silben und Laute, während das Erlernen des Lesens oder Schreibens nicht den Inhalt des Programms bildet. Im Folgenden werden die Übungsabschnitte dargestellt und anschließend genauer beschrieben (vgl. Tab. 1): Tabelle 1: Aufbau des Trainingsprogramms „Hören, lauschen, lernen“ im Überblick Trainingseinheit
Beginn ab
Lauschspiele
1. Woche
Reime
1. Woche
Sätze und Wörter
3. Woche
Silben
5. Woche
Anlaut
7. Woche
Laute
11. Woche
Das Training beginnt mit Lauschspielen, bei denen die Kinder über konzentriertes Lauschen, Orten und Identifizieren von Geräuschen auf die Sprachspiele eingestimmt werden. Die Erzieherin erzeugt z. B. ein Geräusch (etwa Papier zusammenknüllen, Schlüsselbund auf den Boden fallen lassen) und die Kinder sollen mit geschlossenen Augen genau zuhören, um das Geräusch danach benennen zu können. Über Minimalpaare (Wortpaare, die sich nur in einem Laut unterscheiden, wie etwa „Schaf – Schal“) wird die Übertragung auf Wortmaterial eingeleitet. Ebenfalls ab der ersten Trainingswoche üben die Kinder im Umgang mit Reimen, die formale Struktur der gesprochenen Sprache zu beachten. Zu Beginn dieses Übungsabschnittes spricht die Erzieherin Reime vor und lässt die Kinder wiederholen. Man spricht im Chor und betont die sich reimenden Enden. Im Verlauf dieser Übungseinheit kommen viele bekannte Kinderreime zum Einsatz. Später dürfen die Kinder selber zu vorgegebenen Wörtern Reimwörter bilden, wobei der Bedeutungsgehalt des Reimwortes keine Rolle spielt, also auch mit „Quatschwörtern“ gereimt werden kann. Die Kinder lernen in der Einheit Sätze und Wörter, die in der dritten Woche einsetzt, dass (gesprochene) Sätze sich in kleinere Einheiten, nämlich Wörter,
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zerlegen lassen. So bekommen die Kinder die Aufgabe, in vorgesprochenen Sätzen (anfangs Zwei-Wort-Sätze, später längere Einheiten) jedes einzelne Wort durch Hinlegen eines Bauklötzchens zu markieren. Im weiteren Verlauf der Übungen lernen die Kinder, Wörter zu verbinden (z. B. ergibt die Zusammensetzung der Wörter „Schnee“ und „Mann“ das neue Wort „Schneemann“). Sie ergänzen Sätze um jeweils ein Wort und beginnen auch schon, Wörter hinsichtlich ihrer Länge (Zeit, die man zum Aussprechen braucht) zu vergleichen. Spiele zum Umgang mit Silben bilden die vierte Trainingssequenz und werden ab der fünften Woche durchgeführt. Mit der Silbenbildung sind die Kinder zumeist – etwa durch Singen oder rhythmische Übungen im Kindergartenalltag – recht vertraut, und sie vertiefen ihre Erfahrungen, indem sie vorgegebene Einzelsilben zu Wörtern zusammenfügen (Synthese) oder Wörter in Silben zerlegen (Analyse), dies immer kombiniert mit rhythmischen Bewegungen zur Synchronisierung von Sprache und Motorik. In der siebten Trainingswoche wird schließlich die kleinste sprachliche Einheit, der Laut, eingeführt. Während sich die Kinder in den vorangehenden Übungseinheiten noch auf größere sprachliche Einheiten oder den Rhythmus der Sprache beziehen konnten, gilt es nun, eine Abstraktionsleistung zu vollbringen, da Laute koartikuliert werden und entsprechend schwer zu isolieren sind. Um den Kindern den Zugang zu den Einzellauten zu erleichtern, beginnt die fünfte Trainingssequenz mit der Identifikation des Anlautes im Wort. Dabei werden zunächst relativ leicht erkennbare Laute wie Vokale oder dehnbare Laute (/m/, /s/, /r/) behandelt. Erst später werden Plosivlaute (/p/, /k/, /t/) eingeführt. Bei der Einführung in die Welt der Laute gilt es, den Kindern durch möglichst vielfältige Sinneserfahrungen diesen Schritt zu erleichtern: Laute können gehört, an der Mundstellung des anderen erkannt oder über Resonanzräume unseres Körpers erfühlt werden. Auch in der logopädischen Praxis vielfach verwendete Hilfsmittel, wie etwa eine Feder bei der Aussprache des Lautes /f/ oder ein Spiegel, der beispielsweise beim /p/ stärker beschlägt als beim /b/, leisten gute Dienste. Zu Beginn dieser Einheit spricht die Erzieherin Wörter vor, dehnt dabei den Anlaut (z. B. Ssssss-onne) und lässt die Kinder nachsprechen. Dann sollen die Kinder z. B. aus Bildkarten diejenigen aussuchen, die Wörter mit gleichem Anlaut darstellen. In der sechsten und letzten Trainingseinheit zur Analyse und Synthese von Lauten beschäftigen sich die Kinder mit den Lauten, die sie innerhalb eines Wortes hören können. Begonnen wird mit Übungen zur Phonemsynthese, wobei die Erzieherin ein Wort in Einzellauten vorspricht (>sch< >u<) und die Kinder dieses zu dem Wort „Schuh“ zusammenfügen. In ähnlicher Weise wird die Analyse eingeführt. Später wird in Spielen der Umgang mit Lauten geübt, z. B. sollen die Kinder aus einem Set von Bildkarten dasjenige heraussuchen, auf dem das Wort mit den meisten Lauten dargestellt ist, oder aber es liegen Bildkarten auf dem Tisch, und die Kinder dürfen sich alle Bilder nehmen, auf denen Wörter mit einer bestimmten Lautanzahl dargestellt sind. Schließlich beschäftigen sich die Kinder auch mit Phonemen (bedeutungsunterscheidenden Einheiten) und untersuchen, in welchem Laut sich etwa die Wörter „Dose“ und „Rose“ unterscheiden.
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Die Übungen des Trainingsprogramms werden in täglichen 10- bis 15-minütigen Sitzungen über den Zeitraum der letzten 20 Wochen des Kindergartenjahres von den Erzieherinnen mit den Vorschulkindern in Kleingruppen in einem separaten Raum des Kindergartens durchgeführt; im Vordergrund steht hier die Förderung der „schwächeren“ Kinder. Ein detaillierter und exakt einzuhaltender Trainingsplan regelt die gesamte Trainingsphase. Das Programm ist mit vielen Bildern, Bewegungs- und Singspielen sehr spielerisch gestaltet und will den Kindern nicht nur Einblick in die Welt der Laute sondern auch Freude am spielerischen und kreativen Umgang mit Sprache vermitteln. In der neu erschienenen und sorgfältig überarbeiteten fünften Auflage wurde besonderer Wert auf die Verwendung lauttreuen Wortmaterials gelegt; so sind in der letzten Einheit Wörter mit Doppelkonsonanten, Auslautverhärtung oder vokalisiertem „r“ nicht enthalten. Überdies wurde die Instruktion für die Erzieherinnen optimiert, um Unsicherheiten bei der Durchführung auszuräumen. Es empfiehlt sich, dass Erzieherinnen sich vor der Trainingsdurchführung durch die Teilnahme an Fortbildungskursen mit dem Segmentieren der Sprache in Laute und Silben vertraut machen und insbesondere auch Einblick in die Unterschiede zwischen orthographisch korrekter Schreibweise und der für die Vorschulkinder relevanten Lautung der Wörter erhalten. Die Erfahrung der vergangenen Jahre zeigt, dass Erzieherinnen nach entsprechender Instruktion hervorragend in der Lage sind, diese Aufgabe zu meistern. Buchstaben-Laut-Training „Hören, lauschen, lernen 2“ (Plume & Schneider, 2004) Das Buchstaben-Laut-Training „Hören, lauschen, lernen 2“ (Plume & Schneider, 2004) wurde als Aufbauprogramm zu „Hören, lauschen, lernen“ entwickelt, um durch die explizite Vermittlung einiger Buchstabe-Laut-Korrespondenzen gerade den schwächsten Vorschulkindern eine stabilisierte Vorwissensbasis für den anstehenden Schriftspracherwerb schaffen zu können. In diesem sehr spielerisch angelegten Programm erlernen die Kinder die Verbindung zwischen zwölf Buchstaben und den korrespondierenden Sprachlauten, wobei zu betonen ist, dass in diesem Vorschulprogramm die Schreibung der Buchstaben nicht vermittelt wird, sondern lediglich eine Verknüpfung zwischen der akustischen Form des Lautes und dessen visueller Repräsentation erreicht werden soll. In szenischem Spiel, bei Übungen mit Bildkarten und Fühlbuchstaben, Dominokarten oder Buchstabenwürfeln üben die Kinder, vorgesprochene Laute mit Buchstaben zu verbinden und umgekehrt. Die explizite Kopplung von Lauten und Buchstabensymbolen motiviert die Kinder stark und die Visualisierung unterstützt gerade auditiv schwächere Kinder. Zur Durchführung der Programmkombination werden während der ersten zehn Wochen der Förderung die Übungen aus „Hören, lauschen, lernen“ entnommen und in den folgenden zehn Wochen werden diese durch die Spiele aus „Hören, lauschen, lernen 2“ ergänzt. Die Durchführung der kombinierten Programmversion verlängert die Trainingszeit nicht; auch hier erstreckt sich die gesamte Förderung über den Zeitraum von 20 Wochen mit täglichen 10- bis 15-minütigen Übungen.
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Während Präventionsmaßnahmen, wie die eben geschilderten, direkt beim Kind ansetzen, gibt es solche, die auf die Lernumwelt der Kinder fokussieren. Drei wesentliche Umweltbereiche können unterschieden werden: Familie, Kindergarten und Schule. Ziel der Maßnahmen ist es, eine möglichst anregende und dem Entwicklungsstand des Kindes angemessene Leseumgebung zu schaffen, um so das Lernen der Schriftsprache zu erleichtern und Leseinteresse und -motivation zu fördern. Kindergarten und Schule erfüllen vor allem bei Kindern aus lesefernen Familien eine wichtige kompensatorische Funktion, indem sie kindliches Leseinteresse aufgreifen und fördern. Konkrete Maßnahmen sind das Bereitstellen von attraktivem Lesestoff bzw. Bilderbüchern, das Einrichten von Leseecken, das Veranstalten von Lesenächten, das gegenseitige Vorstellen von Lieblingsbüchern oder die Organisation von Lesepatenschaften. 5.2.2.3 Studien zur Effektivität primärer Präventionsmaßnahmen Von zentraler Bedeutung für die Forschungen zur Prävention von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten war die bereits erwähnte Studie von Lundberg et al. (1988), in der der Nachweis gelang, dass sich eine Förderung der phonologischen Bewusstheit im Kindergartenalter in besseren schriftsprachlichen Leistungen in den ersten beiden Schuljahren niederschlägt. Wie den Metaanalysen von Bus und van Ijzendoorn (1999) sowie Ehri et al. (2001) zu entnehmen ist, konnten diese Befunde inzwischen durch eine Vielzahl von Studien in verschiedenen Ländern bestätigt werden. Dabei erwiesen sich Trainings der phonologischen Bewusstheit sowohl für Sprachen mit sehr inkonsistenter Buchstaben-Laut-Zuordnung wie das Englische als effektiv (z. B. Bradley & Bryant, 1985) als auch für Sprachen, in denen eine fast perfekte Zuordnung von Buchstaben zu Lauten besteht, wie im Finnischen (z. B. Kjeldsen et al., 2003). Die Metaanalysen machten auch deutlich, dass Programme, die Übungen zur Buchstabe-Laut-Zuordnung beinhalten, rein phonologischen Trainings hinsichtlich der Effekte auf den Schriftspracherwerb überlegen sind. Im deutschen Sprachraum wurden die Effekte einer Förderung der phonologischen Bewusstheit in den 1990er Jahren überprüft. Verwendet wurde dabei das bereits vorgestellte Training „Hören, lauschen, lernen“. Die drei relevanten Längsschnittstudien (Roth & Schneider, 2002; Schneider et al., 2000) ähnelten sich in ihrem Aufbau (vgl. Tab. 2). In die Studien wurden zur Beurteilung der Trainingseffekte sowohl Kindergärten einbezogen, in denen das Training durchgeführt wurde (Experimentalgruppe), als auch Kindergärten ohne Training (Kontrollgruppe). An den ersten beiden Studien nahmen alle Vorschulkinder der Experimentalgruppe ohne jegliche Vorauswahl am „Hören, lauschen, lernen“ teil. In beiden Studien verbesserte sich die phonologische Bewusstheit in der Experimentalgruppe deutlich stärker als in der Kontrollgruppe. Dieser unmittelbare Trainingseffekt spiegelte sich in der ersten Studie allerdings nur dann in den Lese- und Rechtschreibleistungen wider, wenn die Erzieherinnen das Training konsequent bis zum Ende durchgeführt hatten (Schneider et al., 1994). In der
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Tabelle 2: Ablauf der Würzburger Evaluationsstudien 11 Monate vor der Einschulung
Vortest (Aufgaben zur phonologischen Bewusstheit) Training (außer Kontrollgruppe)
3 Monate vor der Einschulung
Nachtest (Aufgaben zur phonologischen Bewusstheit)
2 Monate nach der Einschulung
Transfertest (neuartige Aufgaben zur phonologischen Bewusstheit)
Ende des 1. Schuljahres
Lese- und Rechtschreibtests
Ende des 2. Schuljahres
Lese- und Rechtschreibtests
Ende des 3. Schuljahres (nur Studie 3)
Lese- und Rechtschreibtests
zweiten Studie, in der durch verbesserte Supervision ein konsequentes Training sichergestellt wurde, konnte auch für die Gesamtgruppe ein Effekt auf schriftsprachliche Leistungen ermittelt werden (Schneider et al., 1997). Die dritte Studie hatte dann Kinder im Fokus, denen ein erhöhtes Risiko für spätere Lese-Rechtschreibschwierigkeiten zugeschrieben wurde. Ermittelt wurden diese Kinder anhand des Bielefelder Screenings (BISC; Jansen et al., 1999). Da zu diesem Zeitpunkt die grundsätzliche Wirksamkeit des Trainings nachgewiesen war, wurde aus ethischen Gründen auf eine Kontrollgruppe mit untrainierten „Risikokindern“ verzichtet. Als Kontrollgruppe fungierten Kinder, die nicht hinsichtlich ihres Risikos getestet worden waren. Die Ergebnisse dieser Studie sind aufgrund der unterschiedlichen Voraussetzungen bei trainierten und untrainierten Kindern schwieriger zu interpretieren. Als Hinweise auf die Wirksamkeit des Trainings auch bei Risikokindern lassen sich die deutlichen unmittelbaren Trainingseffekte interpretieren sowie der Befund, dass sich die aus Risikokindern bestehende Experimentalgruppe im Lesen und Rechtschreiben kaum von der unausgelesenen Kontrollgruppe unterschied. Ein weiterer bedeutsamer Befund dieser Studie ergab sich durch den Vergleich verschiedener Trainingsvarianten. Kombinierte man das Training der phonologischen Bewusstheit mit einem Training der Buchstabe-Laut-Zuordnung (Plume & Schneider, 2004) zeigten sich die besten Leistungen im Lesen und Rechtschreiben. Die Vorteile des kombinierten Trainings gegenüber einem reinen Training der phonologischen Bewusstheit bzw. einem reinen Training der Buchstabe-Laut-Zuordnung ließen sich jedoch statistisch nicht eindeutig absichern. Besonders hervorzuheben ist, dass nur ein geringer Anteil der trainierten Risikokinder in den Lese- und Rechtschreibtests eine unterdurchschnittliche Leistung zeigte. In den ersten beiden Schuljahren lagen im Rechtschreibtest nach dem kombinierten Training weniger als 10 % der Kinder, im dritten Schuljahr 21 % der Kinder unter einen Prozentrang von 25. In dieser dritten Studie konnten somit Risikokinder, die mit dem BISC identifiziert worden waren, erfolgreich trainiert werden. Belege für die Trainings-
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effektivität bei anderen Risiko-Gruppen sind allerdings erst spärlich vorhanden. In einer neuen Würzburger Studie (Marx et al., 2005 a/b) standen deshalb zwei Gruppen von Kindern im Mittelpunkt, bei denen ebenfalls ein erhöhtes Auftreten von Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb bekannt ist, nämlich Kinder mit nicht-deutscher Muttersprache und Kinder mit Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung. Als zusätzliche Stichprobe wurden Kinder aus schulvorbereitenden Einrichtungen von Sonderschulen zur Sprachförderung („SVE-Stichprobe“) einbezogen. Das Design der Studie entsprach weitgehend den ersten drei Würzburger Studien, wobei nur in der SVE-Stichprobe eine Kontrollgruppe einbezogen werden konnte. Es wurde ausschließlich die kombinierte Trainingsversion verwendet. Die trainierten SVE-Kinder konnten sich vom Vor- zum Nachtest in den Aufgaben zur phonologischen Bewusstheit signifikant stärker verbessern als die Kontrollgruppe (Marx et al., 2005a). Allerdings waren die Steigerungsraten insbesondere in den Aufgaben zur phonologischen Bewusstheit im engeren Sinne niedriger als in den Regelkindergärten. So war dann auch der Effekt zu Schulbeginn nur noch sehr gering und bei den Lese- und Rechtschreibtests am Ende der ersten Klasse zeigte sich kein signifikanter Vorteil der trainierten Kinder mehr (Marx et al., 2005b). Bemerkenswert war jedoch, dass fast alle rechtschreibschwachen SVE-Kinder zu Beginn der ersten Klasse bereits in einem Test zur phonologischen Bewusstheit auffällig waren. Diese Ergebnisse lassen sich möglicherweise so interpretieren, dass für die schwächeren Kinder die zweite Trainingshälfte langsamer und intensiver sein müsste, um stärkere unmittelbare Trainingseffekte und in deren Folge auch Effekte auf das Lesen und Schreiben zu erzielen. Die Kinder mit Migrationshintergrund konnten während des vorschulischen Trainings in den relativ leichten Aufgaben zur phonologischen Bewusstheit im weiteren Sinne ihren teilweise recht deutlichen Vortest-Rückstand gegenüber den Kindern mit deutscher Muttersprache größtenteils aufholen. In den schwierigsten Aufgaben zur phonologischen Bewusstheit im engeren Sinne profitierten die Migrantenkinder dagegen etwas weniger. Die nach dem Training erzielten Leistungen in der phonologischen Bewusstheit hingen mit den Lese- und Rechtschreibleistungen bei den Migrantenkindern genauso eng zusammen wie bei den Kindern mit deutscher Muttersprache. Unabhängig vom Sprachhintergrund scheint die phonologische Bewusstheit eine entscheidende Bedeutung für den Schriftspracherwerb zu haben (Weber et al., 2005).
5.3 Zusammenfassung Unsere Ausführungen haben deutlich gemacht, dass sich die Möglichkeiten der primären, sekundären und tertiären Prävention bei Lese- Rechtschreibproblemen im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte deutlich verbessert haben. Gerade für die späte Kindergartenperiode liegen inzwischen Förderprogramme vor, die auch bei Risikokindern die Chancen dafür erhöhen, dass der spätere Schriftspracherwerb normal verlaufen kann. Dennoch lassen sich auch hier noch Verbesserungsnot-
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wendigkeiten erkennen, gerade etwa im Hinblick auf die angemessene Förderung von Migrantenkindern oder die von sprachentwicklungsgestörten Kindern, bei denen jeweils ein erhöhtes Risiko dafür besteht, dass der Erwerb des Lesens und Rechtschreibens in der Schule ohne rechtzeitige Prävention nicht problemlos verlaufen wird. Die Fördersituation in der Grundschule selber stellt sich immer noch defizitär dar. Es sind nach wie vor relativ wenige wissenschaftlich evaluierte Interventionsprogramme verfügbar. Die in unserem Beitrag aufgeführten Verfahren stellen hier fast die Population dar. Nach wie vor fehlen Grundschul-Förderprogramme, die sehr früh (also in der ersten Klassenstufe) einsetzen und dadurch die Möglichkeit bieten, schon zu Beginn des Schriftspracherwerbs steuernd einzugreifen. Der Mangel an Förderprogrammen für die 1. Klasse hat sicherlich mit dem Problem zu tun, dass Schwierigkeiten mit dem Lesen und Rechtschreiben in der Regel erst später diagnostiziert werden. Der Trend geht nun aber heute dahin, schon ab dem Beginn der Schulzeit genauer zu überwachen, inwieweit der Schriftspracherwerbsprozess normal verläuft. Die Initiativen einzelner Bundesländer zur Früherkennung sollten gezielt mit der Entwicklung neuer Rechtschreib-Trainingsprogramme gekoppelt werden, um Präventionsmaßnahmen in der frühen Schulzeit optimaler zu gestalten.
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6
Prävention von Rechenstörungen Kristin Krajewski & Wolfgang Schneider
Gliederung 6.1 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.3 6.3.1 6.3.2 6.4 6.4.1 6.4.2 6.5
Rechenstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Theoretische Hintergründe zur Prävention . . . . . . . . . . . . 99 Von der numerischen Handlung zur abstrakten Rechenoperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Entwicklung früher mathematischer Kompetenzen . . . . . 100 Anforderungen an eine mathematische Förderung . . . . . 103 Primäre Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Förderung basaler Fähigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Förderung höherer Kompetenzebenen . . . . . . . . . . . . . . 106 Sekundäre Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Kieler Zahlenbilder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Dortmunder Zahlbegriffstraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Fazit und Empfehlungen für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . 112
6.1 Rechenstörungen Beeinträchtigte mathematische Schulleistungen werden im Internationalen Klassifikationsschema psychischer Störungen (ICD-10; Dilling et al., 1999) wie unter dem hier vorliegenden Buchtitel den Entwicklungsstörungen zugerechnet. F 81.2 „Rechenstörung“ nach ICD-10:
„Diese Störung beinhaltet eine umschriebene Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine eindeutig unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie und Differential- sowie Integralrechnung benötigt werden ... Die Rechenschwierigkeiten dürfen nicht ... direkt auf Defizite im Sehen, Hören oder auf neurologische Störungen zurückzuführen sein. Ebenso dürfen sie nicht als Folge irgendeiner neurologischen, psychiatrischen oder anderen Krankheit erworben worden sein. ...“ (ICD-10, 1992, S. 277)
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Schwache Mathematikleistungen sind nach dieser Klassifikation nicht auf organische oder neurologische Defizite und nicht auf eine ungenügende Unterrichtung zurückzuführen, sondern treten infolge einer Entwicklungsverzögerung auf.1 Konform mit diesem Gedanken verweist die Symptomatik von Kindern mit Schwierigkeiten in Mathematik auf eine Vielfalt von „Anfängerfehlern“ beim Rechnen. Die Kinder zeigen z. B. Beeinträchtigungen in der Reihenfolge der Zahlworte, in der Zuordnung von Mengen zu Zahlen, in der Abstraktion von Mengen auf Korrelate (Punkte, Striche), im Erlernen der Ziffern des Dezimalsystems und bei der Durchführung von Operationen (Addition, Subtraktion) in der bloßen Vorstellung (Remschmidt, 2000). Vor allem ist es die Quantität, also die Vielzahl der „Anfängerfehler“, die ins Auge fällt. Die Ursache für das fehlende Verständnis arithmetischer Operationen bei Kindern mit schwergradigen Rechenstörungen kann in der Regel darin gesehen werden, dass ihnen der Aufbau abstrakter Zahlenraum- oder Zahlenstrahlvorstellungen nicht gelingt (von Aster, 2003). Auch Langzeitstudien machen deutlich, dass frühzeitige Defizite im elementaren Mengen- und Zahlenverständnis mit schwachen Mathematikleistungen in der Grundschule einhergehen und bereits im Vorschulalter erkannt werden können (Krajewski, 2003; Krajewski & Schneider, 2006). Allerdings sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass diese Schwächen im mathematischen Bereich keinesfalls ausschließlich „umschriebene“ und damit klar isolierbare Defizite darstellen, sondern bei normal intelligenten Kindern auch mit Beeinträchtigungen im schriftsprachlichen Bereich einhergehen können. So identifizierten beispielsweise Schwenck und Schneider (2003) in ihrer Studie neben Erstklässlern mit isolierter Rechenschwäche auch eine Subgruppe mit einer kombinierten Schwäche im mathematischen und schriftsprachlichen Bereich. Für die vorschulische Diagnose von Risikokindern im Bereich Mathematik macht es von daher Sinn, neben spezifischen Indikatoren wie der Mengen-Zahlen-Kompetenz auch unspezifische Merkmale wie die Intelligenz, die Gedächtniskapazität und die phonologische Informationsverarbeitung mit in die Untersuchung einzubeziehen. Die in der Längsschnittstudie von Krajewski (2003) berechneten Strukturgleichungsmodelle konnten belegen, dass solche im letzten Kindergartenjahr erhobenen unspezifischen Indikatoren einen durchaus bedeutsamen prognostischen Wert für die Kompetenzentwicklung im Bereich Mathematik hatten, auch wenn der Einfluss der spezifischen Prädiktoren vergleichsweise stärker ausfiel (vgl. Krajewski & Schneider, 2006). Um die Relevanz all dieser Merkmale besser einordnen zu können, soll im Folgenden genauer auf die theoretische Basis eingegangen werden. Für die Prävention von Schwierigkeiten beim Erlernen der Mathematik ist es in jedem Fall wichtig, angemessene theoretische Modelle über die Entwicklung von elementaren mathematischen Kompetenzen heranzuziehen. Die wichtigsten verfügbaren Ansätze werden im nächsten Abschnitt diskutiert. 1 Die in der Definition enthaltene Forderung nach einer Diskrepanz zwischen den schwachen Mathematikleistungen und einer deutlich besseren intellektuellen Begabung soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden.
6 Prävention von Rechenstörungen
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6.2 Theoretische Hintergründe zur Prävention 6.2.1 Von der numerischen Handlung zur abstrakten Rechenoperation Stufen der Durchführung mathematischer Operationen. Nach Aebli (1978) ist es für das Verständnis von Rechenoperationen zunächst notwendig, dass Kinder eine Operation a) effektiv am wirklichen Gegenstand vollziehen und als mathematische Operation verstehen können. Ist dies gelungen, wird es ihnen möglich, sich diese mathematische Operation b) auch auf Grund ihrer bildlichen (und zugleich statischen) Darstellung und schließlich c) beim alleinigen Betrachten einer Zifferngleichung vorzustellen und zu verstehen. Operationen stellen für ihn bereits auf der konkreten Ebene des realen Vollzugs Handlungen dar, die vom Ausführenden nur noch unter einem einzigen, scharf definierten Gesichtspunkt, nämlich dem quantitativen Aspekt, vollzogen werden. Die Verinnerlichung mathematischer Handlungen sollte demnach nicht auf die Verinnerlichung von Handlungen per se abzielen, sondern auf die Verinnerlichung der mathematischen Struktur der Handlung. So sollen sich Kinder auf der abstrakten Ziffernebene nicht das sinnliche Material der Handlung vorstellen, sondern die aus der Handlung verallgemeinerte, abstrahierte numerische Struktur repräsentieren. Für den Aufbau mathematischen Verständnisses ist es daher wichtig, Rechenoperationen zunächst konkret darstellen zu können. Das Wort „konkret“ zielt in diesem Sinne darauf ab, dass das Material angefasst und bewegt werden kann. Dies impliziert jedoch nicht, dass die Darstellung der quantitativen Aspekte an möglichst vielfältige alltagsnahe Situationen geknüpft werden sollte. Im Gegenteil lenken zu viele Kontextinformationen vom quantitativen Aspekt einer Operation ab. Denn Kinder verstehen die numerische Operation erst, wenn sie verstehen, dass die dargestellten Elemente zu Anzahlen zusammengefasst und beispielsweise nicht nur nach Farbe und Funktion unterschieden werden können. Abstrahierte Ausgangshandlung. Diese von Aebli geforderte Konzentration auf den quantitativen Aspekt der Handlung beschreibt Lompscher (1989) als die Gewinnung einer Ausgangsabstraktion. Nach Lompschers Theorie müssen Kinder aus einer zunächst geistig nicht durchdrungenen konkreten Handlung in einem ersten Schritt eine Ausgangsabstraktion (Aebli: die numerische Operation der Handlung) gewinnen. Dies geschieht durch bewusste pädagogische Gestaltung und Führung. Die Ausgangsabstraktion dient als Orientierungsgrundlage, um erkennen zu können, was bei unterschiedlichen Erscheinungen überhaupt wesentlich ist (der numerische Aspekt). Sie bildet einen ganzheitlichen Rahmen, in den die konkreten Einzelheiten eingebettet und gedächtnismäßig verankert werden können. Sie enthält nur die wichtigsten Merkmale und Relationen des Lerngegenstandes, also die quantitative Struktur der Handlung, und wird z. B. mit Hilfe von Modellen gewonnen. Erst wenn eine solche Ausgangsabstraktion geschaffen ist, kann nach Lompscher in einem zweiten Schritt auch das Konkrete geistig durchdrungen und reproduziert werden. Abstrakte Modelle, die numerische Sachverhalte veranschaulichen (Darstellungsmittel), sollten demnach als
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K. Krajewski & W. Schneider
Grundlage vermittelt werden, anhand derer konkrete Handlungen dann quantitativ interpretiert werden können. Ausgangsabstraktion und Durchführung mathematischer Operationen. Darstellungsmittel bieten somit eine Basis, um mathematische Operationen konkret zu verstehen und sie später bildlich und schließlich abstrakt zu repräsentieren, denn sie ermöglichen es, die Handlung auf ihren quantitativen Aspekt zu fokussieren (Ausgangsabstraktion). So kann das Studium des konkreten Lehrstoffs am abstrahierten numerischen Modell erfolgen und der Aufbau der mathematischen Operationen nach Aebli gelingen. Ein Kind, das die Anzahl von gelben Dingen (Banane, Zitrone, Sonne) mit der Anzahl von grünen Dingen (Grashüpfer, Frosch) vergleichen soll, muss demnach zunächst erkennen können, dass es die abstrakte Dimension der Quantität ist (und nicht die Farbe oder die Früchte/Tiere-Zugehörigkeit), nach der die qualitativ sehr unterschiedlichen Mengen beurteilt werden sollen. Erst dann ist es fähig, auch mathematische Operationen durchzuführen und z. B. die Differenz zwischen der Anzahl dieser Mengen auf anschaulicher, bildlicher und Ziffernebene zu bestimmen. 6.2.2 Entwicklung früher mathematischer Kompetenzen Wie dieses basale Verständnis für die Anzahl erworben wird und die Grundlage für ein tiefes Verständnis numerischer Operationen schafft, stellt das Modell zur Entwicklung früher mathematischer Kompetenzen (Krajewski, in Druck) in Abbildung 1 dar. Ebene I: Entwicklung numerischer Basisfertigkeiten. Zunächst erlangt ein Kind in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt grundlegende Fertigkeiten für den Umgang mit Mengen und Zahlen. Bereits sehr frühzeitig kann es Unterschiede zwischen Mengen wahrnehmen und diese später auch mit quantitativen Begriffen belegen („eine Menge ist weniger/mehr als die andere Menge“, vgl. Resnick, 1989: Vergleichsschema). Es wird mit der Zählprozedur und der exakten Zahlenfolge vertraut und ordnet beim Abzählen von Elementen jeder Zählzahl ein Objekt zu. Gegebenenfalls zählt es auch schon Objekte in jeder beliebigen Reihenfolge ab und zählt verschiedenartige Objekte zusammen (vgl. Gelman & Gallistel, 1978). Diese Basisfertigkeiten entwickeln sich auf der ersten Ebene noch nebeneinander, sodass das Zählen und die dabei reproduzierte exakte Zahlenfolge noch nicht mit den korrespondierenden Mengen in Verbindung gebracht werden. Zahlworte werden noch nicht zur Bestimmung und zur Anordnung exakter Anzahlen gebraucht. Die Zahlenfolge ist vielmehr noch der Buchstabenfolge vergleichbar und wird nur in ihrer Ordnungsfunktion (Ordinalaspekt) gesehen, um Elemente in eine feste Reihenfolge zu bringen (vgl. Fuson, 1988). Beim Abzählen von drei Fingern wird beispielsweise als Ergebnis auf den Mittelfinger gezeigt („Das ist die Drei!“); als „drei“ wird jedoch noch nicht die Gesamtheit aller drei gezählten Finger verstanden. Ebene II: Anzahlkonzept. Die Ausbildung der Mengenbewusstheit von Zahlen („Das sind drei!“) erfolgt auf der zweiten Ebene durch die Verknüpfung der Zahlen mit dem Mengenkonzept (Zahlen als Anzahlen). Erst hier gelangen
Ebene I: Basisfertigkeiten
6 Prävention von Rechenstörungen
exakte Zahlenfolge
Zählprozedur
Mengenunterschiede
a) unpräzises Anzahlkonzept
Ebene II: Anzahlkonzept
101
b) präzises Anzahlkonzept 1
Mengenrelationen
wenig
Teil-Ganzes Zu-Abnahme
zwei drei
viel
eins zwanzig
2
3
4
5
zwei l eins l
drei l zweil eins l
vier l drei l zweil eins l
fünf l vier l drei l zwei l eins l
sehr viel
acht
hundert
tausend eins l
Zahlen als Anzahlen
Zusammensetzung und Zerlegung von (An-)Zahlen
Differenzen zwischen (An-)Zahlen
2
2 „zwei“
l l l l l
„fünf“
3 „drei“
l l l
5
l l
„zwei“ l l l l l
Ebene III: Anzahlrelationen
Mengenrelationen als Anzahlen
3
5
„drei“
„fünf“
Abbildung 1: Entwicklungsmodell früher mathematischer Kompetenzen (Krajewski, in Druck)
Kinder über zwei Entwicklungsphasen zur quantitativen Bedeutung der Zahlenfolge. In der ersten Phase (IIa: unpräzises Anzahlkonzept) sind die Zahlworte bereits an einen unbestimmten Mengenbegriff geknüpft (vgl. auch Dehaene, 1992: „Analoge Größenrepräsentation“), repräsentieren aber noch keine exakten Mengen. Die Zahlworte „eins“ und „drei“ werden beispielsweise bereits mit einer kleinen Menge („wenig“), „zwanzig“ und „acht“ mit einer großen Menge („viel“), „hundert“ und „tausend“ mit einer sehr großen Menge („sehr viel“) in Verbindung gebracht. Da diesen groben Mengenkategorien ein ganzes
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K. Krajewski & W. Schneider
Kontinuum von Anzahlen angehört, können die Kinder jedoch innerhalb dieser groben Kategorien noch keine exakten Anzahlen unterscheiden. Ein Vergleich der (als „viel“ bewussten) Anzahlen „zwanzig“ und „acht“ ist beispielsweise noch nicht möglich, weil die exakte Zahlenfolge in dieser Phase noch nicht mit dem Anzahlkonzept verbunden ist. Dies wird darin deutlich, dass ein Kind zum Beispiel „hundert“ bereits mit der Menge „sehr viel“ in Verbindung bringt, selbst wenn es noch nicht bis 100 zählen kann. Möglich ist dies, weil es „viel“ assoziiert mit „viel zählen müssen“ (also: lange zählen) und „wenig“ assoziiert mit „wenig zählen müssen“ (nicht so lange zählen). Diese Art von Verständnis drückt sich auch darin aus, dass es auf die Frage „wie viele?“ mit dem Abzählen beginnt, aber anschließend kein Zählergebnis nennt, sondern bei nochmaligem Nachfragen abermals zu zählen beginnt. Es versteht die Frage als „Wie lange musst du zählen?“ und zeigt sehr anschaulich (durch Zeigen und lautes Zählen) als Antwort auf diese so interpretierte Frage, wie lange man an den abzuzählenden Elementen zählen kann. Mit Erreichen der zweiten Phase (IIb: präzises Anzahlkonzept) erkennt das Kind schließlich, dass die Länge des Zählens exakt mit der ausgezählten Menge korrespondiert und dass dieser Menge die zuletzt genannte Zählzahl zugewiesen wird. Es gelangt zum Kardinalverständnis der Zahlen, weil es nun den aufsteigenden Zahlen aufsteigende Anzahlen zuordnet. Die Zahlenreihenfolge wird also erstmals in ihrer quantitativen Ordnung gesehen, wodurch Zahlen nach ihrer Größe miteinander verglichen werden können. Erst mit dem präzisen Anzahlkonzept ist die grundlegende Voraussetzung für ein echtes Verständnis der Zahlstruktur geschaffen. Ebene III: Anzahlrelationen. Auf der dritten Ebene werden schließlich auch Relationen innerhalb einer Menge bzw. zwischen zwei Mengen als Anzahlen betrachtet. Wird die Erkenntnis, dass sich eine Menge in kleinere Mengen zerlegen und wieder zusammensetzen lässt (vgl. Resnick, 1989: Teil-Ganzes-Schema), mit dem präzisen Anzahlkonzept verbunden, resultiert das Verständnis für die Anzahlzerlegung („fünf Elemente [5] lassen sich in drei [3] und zwei Elemente [2] aufteilen“). Wird zudem auch der quantitative Unterschied zwischen zwei Mengen als exakte Anzahl begriffen, können Anzahldifferenzen bestimmt werden („fünf sind zwei [2] mehr als drei“). Im Vergleich zu den vorhergehenden Ebenen und im Vergleich zur Anzahlzerlegung bezieht sich die Anzahldifferenz auf eine nicht unmittelbar wahrnehmbare Beziehung zwischen zwei Mengen (die Differenzmenge mit zwei Elementen). Daher spielen bei der Ausbildung der letzten Kompetenzebene Darstellungsmittel zur Veranschaulichung der Beziehungen zwischen den Zahlen eine besondere Rolle (vgl. Stern, 1998). Die Entwicklung der hier dargestellten Ebenen ist nicht zwangsläufig an die Kenntnis der arabischen Ziffernzahlen gebunden, sondern kann bereits vor deren Erwerb mit der verbalen Zahlenfolge vollzogen werden. Ebenso werden die höheren Ebenen für kleinere Anzahlen früher durchlaufen als für größere (vgl. Fuson, 1988). Darüber hinaus können alle Kompetenzebenen an realen Darstellungsmitteln vermittelt werden (vgl. Abschnitt 6.3.2 „MZZ“), sodass auch für das Erreichen der dritten Ebene ein ausschließliches mentales Operieren in der Vorstellung nicht notwendig ist.
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6.2.3 Anforderungen an eine mathematische Förderung Mathematische Förderung sollte sowohl im Rahmen primärer als auch sekundärer Prävention drei grundlegende Anforderungen erfüllen. Sie sollte auf mathematikspezifische Inhalte abzielen, diese Inhalte systematisch aufbauen und für diesen Aufbau geeignete abstrakte Darstellungsmittel zur Verfügung stellen: a) Mathematikspezifische Inhalte. Nicht nur Studien zur Effektivität von Trainingsprogrammen in der Schriftsprachforschung weisen nach, dass die Förderung von unspezifischen Basisqualifikationen (wie z. B. Psychomotorik, visuelle Wahrnehmung, allgemeine Denkoperationen) kaum mit einer Verbesserung spezifischer (schriftsprachlicher) Kompetenzen einhergeht (Schneider, 1997). Auch im mathematischen Bereich sprechen Förderansätze gegen ein Training von unspezifischen Fähigkeiten und favorisieren demgegenüber eine inhaltsspezifische Förderung, die sich direkt mit mathematischen Inhalten auseinandersetzt (Moser-Opitz & Schmassmann, 2003; Schipper, 2001; von Aster, 2003). Ein tiefes Verständnis der hinter den Zahlen stehenden Struktur lässt sich also nur dann aufbauen, wenn hierfür auch numerische Inhalte herangezogen werden. b) Abstrakt-symbolische Darstellungsmittel. Die numerischen Inhalte müssen zudem an geeignete, abstrakte Darstellungsmittel geknüpft werden, welche die wichtigsten Merkmale und Relationen der Zahlenstruktur widerspiegeln („Ausgangsabstraktion“). Sie dienen zum einen als Orientierungsgrundlage um zu verdeutlichen, was bei den zu betrachtenden numerischen Handlungen überhaupt wesentlich ist. Zum anderen ermöglichen sie die Durchführung und Verbalisierung abstrakt-symbolischer Operationen an realen Modellen und liefern die Grundlage für die Verinnerlichung der abstrakten Zahlenstruktur. Darstellungsmittel müssen daher die mathematischen Grundideen besonders gut verkörpern. Sie sollen eine klare Struktur über den Aufbau des Zahlenraums vermitteln und zudem effektive Lösungsstrategien ermöglichen (Lorenz, 2003; Scherer, 1999; Wittmann & Müller, 2001). Wie Stern (2005) herausstellt, entwickeln auch schwächere Schüler ein besseres mathematisches Verständnis, wenn Mathematik unter anspruchsvollen Lernbedingungen, also z. B. anhand von abstrakten Veranschaulichungen, gelehrt wird. Ihre Forderung an einen anspruchsvolleren Unterricht für alle Kinder steht in Einklang mit Wygotskis Konzept der „Zone der nächsten Entwicklung“, wonach guter Unterricht die Entwicklung nicht abwarten, sondern ihr vorauseilen und sie lenken sollte: „Die Pädagogik muß sich nicht auf die kindliche Entwicklung von gestern, sondern auf die von morgen orientieren. Nur dann wird sie imstande sein, im Unterricht die Entwicklungsprozesse auszulösen, die jetzt in der Zone der nächsten Entwicklung liegen“ (Wygotski, 1934, S. 241). c) Systematischer Aufbau der mathematischen Inhalte. Mathematische Förderung muss sich also an der Entwicklungsfolge mathematischer Kompetenzen orientieren und darauf abzielen, systematisch die einzelnen Kompetenzebenen bis hin zu einer abstrakten Vorstellung über die Struktur der Zahlen aufzubauen. Hierfür kann das oben beschriebene Entwicklungsmodell früher
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K. Krajewski & W. Schneider
mathematischer Kompetenzen (Abb. 1) herangezogen werden. Wie Wygotski in seinem Ansatz betont, sollten dabei die heranreifenden Funktionen Ziel des Unterrichts sein, bereits durchlaufene Entwicklungsstadien aber dennoch zur Orientierung herangezogen werden. So kann man ein Kind nur das lehren, was es – durch Kooperation mit Erwachsenen – schon zu lernen fähig ist und was (unabhängig von seinem Alter) in seiner individuellen nächsten Zone der Entwicklung liegt.
6.3 Primäre Prävention Die oben genannten Anforderungen an mathematische Förderung ermöglichen eine inhaltliche Klassifizierung von Materialien und Programmen zur Vermittlung früher mathematischer Kompetenzen. So fokussieren viele für das Kindergartenalter verfügbare Spiele und Materialien auf Zählfertigkeiten und das Verständnis für die Anzahl (Mengen werden ausgezählt und Zahlen zugeordnet) und fördern damit mathematische Fähigkeiten bis zur zweiten Kompetenzebene (Anzahlkonzept). Meist werden hierbei die einzelnen Zahlen jedoch unabhängig voneinander thematisiert und zudem ausschließlich mit Anzahlen unterschiedlicher Elemente (z. B. eine Mütze, zwei Scheren, drei Briefe) in Zusammenhang gebracht. Diese fehlende Abstraktion auf ein einheitliches Material erschwert den Vergleich von Anzahlen (warum soll eine Mütze „kleiner“ sein als zwei Scheren?) und behindert die Ausbildung des präzisen Anzahlkonzepts (Ebene IIb). Gute Darstellungsmittel zur Vermittlung der Zahlstruktur finden sich hingegen unter den Montessori-Materialien. So eignen sich die Spindelkästen (Fächer mit den Zahlen von 1 bis 10, in die jeweils passend eins bis zehn Spindeln zu sortieren sind) besonders gut für den Erwerb des Anzahlkonzepts. Mit Hilfe der numerischen Stangen (zehn Stangen aufsteigender Länge, die in ein bis zehn gleiche Abschnitte unterteilt sind) lassen sich – wenn sie mit den arabischen Ziffernsymbolen in Verbindung gebracht werden – auch besonders gut die Anzahlrelationen darstellen. 6.3.1 Förderung basaler Fähigkeiten Die Materialsammlung Training mathematischer Grundfertigkeiten (Merdian, 2004) lässt abstrakte Darstellungsmittel vermissen. Die Sammlung besteht aus einer Fülle bunter Übungsblätter, die nach Angaben der Autorin unterschiedliche numerische Bereiche abdecken. Dennoch finden sich viele Übungsblätter, die auf inhaltsunspezifische Inhalte wie die Reizdifferenzierung nach visuell wahrnehmbaren Merkmalen (Farbe, Form, Größe), Figur-Grund-Wahrnehmung und Wahrnehmungskonstanz sowie Raumlage und Raumorientierung abzielen. Solche Inhalte finden sich auch in den Bereichen, die ausdrücklich mathematische Konzepte fördern sollen (z. B. „Immer zwei Dinge haben die gleiche Form! Welche?“). Der Ansatz soll Kinder dahin führen, dass sie sich konkrete Handlungen innerlich vorstellen. Den Kindern werden hierfür jedoch keine geeigneten
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abstrakten Darstellungsmittel in die Hand gegeben, die das Erkennen des „mathematischen Grundgerüsts“ der Handlung, also der mathematischen Struktur, erleichtern. Gerade schwächeren Kindern dürfte es daher kaum gelingen, sich die abstrakten mathematischen Konzepte nach genügend Übungsblättern selbst zu erschließen (vgl. Hasemann & Stern, 2002). Eine Evaluation der Materialien liegt zum aktuellen Zeitpunkt nicht vor. Das Programm Komm mit ins Zahlenland (Friedrich & de Galgóczy, 2004) wurde für die frühe Förderung mathematischer Kompetenzen bei Kindergartenkindern konzipiert. Über einen Zeitraum von zehn Wochen werden drei- bis sechsjährige Kinder in phantasieanregender Weise mit dem Zahlenraum bis 10 vertraut gemacht. Der Begriff „Zahlenraum“ wird hierbei als Lebensraum der Zahlen interpretiert, welche beseelte Eigenschaften besitzen und in personalisierter Weise ihre Eigenschaften kundtun. Es wird „eine märchenhafte Zahlenwelt konstruiert, in welche die Kinder mit ihrer ganzen Phantasie eintauchen können“ (Friedrich & Bordihn, 2003, S. 20). So hat im „Zahlenland“ jede Zahl einen festen Wohnort, eine einzigartige Geschichte sowie eine Zahlenpuppe mit einem spezifischen Charakter und einer unverwechselbaren Identität. Die Forderung Aeblis, Handlungen auf den quantitativen Aspekt zu fokussieren, da nur so ein Verständnis für mathematische Operationen aufgebaut werden kann, wird hier nicht umgesetzt, denn numerische Situationen werden mit viel Kontext und Emotionen angereichert. Die ganze Aufmerksamkeit der Kinder wird auf die emotionalen, belebten Komponenten der Situation gelenkt, sodass der Blick auf das numerisch Wesentliche der Situationen behindert wird. Effekte unmittelbar nach einem zehnwöchigen Training in zwei Kindergärten zeigen beim Vergleich mit einer Kontrollgruppe ohne Training zwar, dass durch das Programm basale Grundfertigkeiten auf der ersten Kompetenzebene (wie das Erfassen und Herstellen von Mengen) gefördert werden (Friedrich & Munz, 2004). Durch Zählspiele und das Zuordnen von ausgezählten Dingen zu den Zahlen wird auch der Erwerb des unpräzisen Anzahlkonzepts unterstützt (zehn sind viel, zwei sind wenig). Die Ausbildung höherer Kompetenzen, insbesondere der Anzahldifferenz (Ebene III), ist mit diesem Konzept jedoch nicht möglich. Das elementare Prinzip der Zunahme um Eins (von einer zur nächsten Zahl) kann weder mit Hilfe der Zahlenpuppen noch durch die Zahlengeschichten vermittelt werden. So tragen die Zahlenpuppen als Charakteristikum z. B. eine Zipfelmütze (Zahl 1), zwei Brillengläser (Zahl 2), vier Zöpfe (Zahl 4), fünf Knöpfe (Zahl 5) oder können drei Wünsche erfüllen (Zahl 3) und gehen wie die Zahlengeschichten (die Zwei ist ein Stotterer, der alles zweimal sagt; im Dreierland fährt man Dreirad) quantitativ nicht auseinander hervor. Demgegenüber finden sich im „Zahlenland“ durchaus auch geeignete abstrakte Darstellungsmittel wie die „Zahlentürme“ (aus Holzwürfeln in entsprechender Anzahl aufgebaute Türme) oder der „Zahlenweg“ (große, in Reihenfolge angeordnete Karten mit Ziffernzahlen). Das Konzept des Programms steht mit seiner „Beseelung“ des gesamten Zahlenraums jedoch dem Aufbau mathematischen Verständnisses entgegen, da diese den Blick auf die zugrunde liegende abstrakte Zahlenstruktur verstellt. Wenn Kinder Ziffernzahlen als beseelte Wesen statt als abstraktes Symbol kennen lernen, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich auch beim
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Operieren auf der abstrakten Ebene – also beim Lösen von Zifferngleichungen – die „beseelte“ Zahl (z. B. die stotternde Zwei) ins Gedächtnis rufen und ihren Blick nicht auf den numerischen Sinn der Aufgabe lenken. Eine Überprüfung langfristiger Effekte des Programms auf die schulischen Mathematikleistungen liegt noch nicht vor. 6.3.2 Förderung höherer Kompetenzebenen Zahlbegriffsförderung in der DDR. Ein Blick in den Bildungs- und Erziehungsplan für den Kindergarten der ehemaligen DDR (1974) zeigt, dass bereits im vorletzten Kindergartenjahr Fähigkeiten bis zur dritten Kompetenzebene vermittelt werden können. Die Kinder lernten hier im Kindergartenalltag nicht nur, die Zahlwörter bis vier zu gebrauchen und Mengen, die bis zu vier Elemente enthielten, diesen Zahlworten zuzuordnen (Anzahlkonzept, Ebene II). Die Fünfjährigen wurden darüber hinaus auch befähigt, die Differenz zwischen zwei Mengen (die bis zu vier Elemente betrug) zu ermitteln und mit dem entsprechenden Zahlwort auszudrücken (Anzahlrelationen, Ebene III). Zudem wurden sie angeleitet, ihr Vorgehen sprachlich zu begleiten und zu begründen. Purschke (1988) entwickelte in Ergänzung zu diesem obligatorischen Kindergartenprogramm ein spezielles Förderprogramm für Kinder mit Rückständen in der Zahlgenese und führte dieses Programm in zwanzig Sitzungen mit 25 „Risikokindern“ durch. Ziel ihrer Förderung war der Aufbau prozeduralen Wissens und die Übung elementarer Fertigkeiten im Umgang mit Quantitäten. Das Augenmerk ihrer Förderung lag dabei auf dem Vergleichen und Ordnen von Größen sowie dem Mengenvergleich durch Eins-zu-Eins-Zuordnung (Ebene I) und durch Zählen (Ebene IIb). Sie ließ die Kinder zudem Relationen zwischen Mengen darstellen (Ebene II), bezog dabei aber die Zahlenreihe nicht mit ein, da diese bereits in den obligatorischen Beschäftigungen im Kindergarten im Mittelpunkt stand. Drei Monate nach Schuleintritt spiegelte sich ihre Förderung in den mathematischen Schulleistungen dieser Kinder wider: die zusätzlich trainierten „Risikokinder“ schnitten im Vergleich zu einer Gruppe von „Risikokindern“, die nur das obligatorische Programm durchlaufen hatten, im Ordnen und Vergleichen von Zahlen (Ebenen I und IIb) besser ab. Es zeigten sich jedoch keine Effekte auf das Lösen von Additions- und Subtraktionsaufgaben. Dies dürfte darauf zurückzuführen sein, dass im Training nur die ersten beiden Kompetenzebenen vertieft worden waren und die Verknüpfung von Mengenrelationen mit der Zahlenreihe (Ebene III) außen vor geblieben war. Aus diesen Ergebnissen lässt sich schlussfolgern, dass auch mit rückständigen Kindern eine Förderung auf der zahlstrukturfördernden dritten Ebene angestrebt werden sollte, wie sie bereits im normalen Kindergartenprogramm verwirklicht worden war. Das Programm „Mengen, zählen, Zahlen“ (MZZ). Das Würzburger Trainingsprogramm „Mengen, zählen, Zahlen“ (MZZ; Krajewski et al., 2005b) zielt auf die Förderung aller drei Kompetenzebenen ab, denn das oben beschriebene Entwicklungsmodell (Abb. 1) lag der Konzeption des Programms zugrunde. So
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Abbildung 2: Schematische Darstellung der Zahlentreppe
setzt das zentrale Darstellungsmittel des Programms, die Zahlentreppe (Abb. 2), die numerischen Aspekte der einzelnen Kompetenzstufen in ein anschauliches Modell um und macht die quantitative Struktur der Zahlenfolge „greifbar“ (Ausgangsabstraktion). Die Seiten der einzelnen Zahlenstufen stellen die Zahlen in unterschiedlichen Formaten (Ziffern, Würfelbilder, Punkte, Finger, Zahlenstrahl, Torten) dar. So eignet sich die Zahlentreppe durch ihre aufsteigende Größe und die gleichzeitige Unterteilung der einzelnen Zahlenstufen in abzählbare Einheiten nicht nur hervorragend zur Vermittlung des präzisen Anzahlkonzepts (IIb: aufsteigende quantitative Ordnung der Zahlenfolge). Sie erlaubt darüber hinaus auch die anschauliche Darstellung der Zahlzerlegung und der Zahldifferenz auf der dritten Kompetenzebene (Anzahlrelationen). Das Programm wurde für Vorschüler konzipiert und wird im Kindergarten von den Erzieherinnen durchgeführt. Im zugehörigen Manual findet sich eine detaillierte Beschreibung der Übungen, der jeweils das Ziel der Sitzung und Leitfragen für die Erzieherin vorangestellt sind. Damit die Kinder eine Vorstellung von der Aufgabe erhalten, führt die Erzieherin die Übungen vor, verbalisiert dabei laut den numerischen Inhalt der Handlung und regt die Kinder zur Nachahmung an. Durch Leitfragen (z. B. „Bei welcher Zahl liegt eins mehr?“) werden sie auch zur Verbalisierung der mathematischen Inhalte und zu Schlussfolgerungen (z. B. „Von einer zur nächsten Zahl wird es immer genau eins mehr.“) aufgefordert. Die Sitzungen bauen systematisch von der Einübung der Basisfertigkeiten bis zur Vermittlung der Zahlenstruktur konzeptuelles Wissen auf. Durch Übungen, bei denen Mengen auszuzählen und den in einer Reihe angeordneten Zahlen zuzuordnen sind, werden zunächst die arabischen Ziffern eingeführt. Durch diese punktuelle Zuordnung lernen die Kinder die Ziffern in Verbindung mit dem präzisen Anzahlkonzept (Ebene IIb) kennen. Dieses Verständnis wird besonders
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intensiv gefördert. Es folgen schließlich Übungen, die sich auf die Förderung der dritten Kompetenzebene richten. Hier lernen die Kinder, dass von einer zur nächsten Zahl immer genau eins hinzukommt (Zunahme-um-Eins-Prinzip) und dass sich Zahlen aus kleineren Zahlen zusammensetzen lassen (Teil-GanzesPrinzip). Das Programm wurde bisher mit 71 Vorschulkindern erprobt und hinsichtlich seiner Effekte auf die mathematischen Vorläuferfertigkeiten evaluiert. In dieser Pilotstudie legten die mit dem „Mengen-zählen-Zahlen“-Programm trainierten Kinder bis zum Abschluss des Trainings deutlich stärker im spezifischen Mengen-Zahlen-Wissen zu als eine Gruppe von Kindern, die ein unspezifisches Training (zur Förderung der allgemeinen Denkfähigkeit) erhalten hatte. Sie hielten darüber hinaus ihr erhöhtes Kenntnisniveau auch über einen Zeitraum von sieben Monaten bei (Krajewski et al., 2005a). Die Pilotstudie, die bereits kurzfristige Effekte des MZZ-Trainings auf die Vorläuferfertigkeiten nachgewiesen hat, ist noch nicht abgeschlossen. Die Überprüfung langfristiger Effekte des Trainings auf die schulischen Mathematikleistungen steht unmittelbar bevor.
6.4 Sekundäre Prävention Der systematische Aufbau mathematischen Verständnisses über die oben genannten Kompetenzebenen ist nicht nur als Hinführung zum schulischen Mathematikunterricht angezeigt, sondern auch im Bereich der sekundären Prävention notwendig. Defizite in frühen Mengen-Zahlen-Kompetenzen gehen mit schwachen Mathematikleistungen am Ende der Grundschulzeit einher (Krajewski & Schneider, 2006). Die mathematischen Leistungen in der Grundschule wiederum zeigen eine große Stabilität bis in die gymnasiale Oberstufe (Stern, 2003), sodass frühe Wissenslücken über die gesamte Schulzeit kaum wettgemacht werden können. Umso dringender erscheint es, frühzeitig Misskonzepte in den Bereichen elementarer mathematischer Kompetenzen aufzudecken und abzubauen. 6.4.1 Kieler Zahlenbilder Mit den Kieler Zahlenbildern (Rosenkranz, 2001) liegt ein Programm zum Aufbau des Zahlbegriffs bei rechenschwachen Kindern vor, das sich an Aeblis Modell zum Aufbau und der Verinnerlichung mathematischer Operationen orientiert. Die Autorin konzentriert sich auf ein festes Darstellungsmittel für Zahlen, die so genannten „Kieler Zahlenbilder“ (für jede Zahl ein strukturiert angeordnetes Punktemuster). Diese besitzen die notwendige Abstraktheit, um bereits beim Operieren in der direkten Wahrnehmung die quantitativen Aspekte einer Handlung herauszustellen (Ausgangsabstraktion). So werden die Zahlenbilder zunächst auf einem Brett mit Steckern angeordnet. Dies ermöglicht den realen Vollzug mathematischer Operationen (z. B. Anzahlen zerlegen), da die Kinder die Stecker in die Hand nehmen und umstecken können. Haben die Kinder diese Operation verinnerlicht und sind nicht mehr auf das Umstecken angewiesen, um
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die mathematische Operation (z. B. die Addition) zu verstehen, wird die bildliche Darstellung der Zahlenbilder auf Karten eingeführt. Schließlich werden den Zahlenbildern auch die abstrakten Ziffernzahlen zugeordnet und Zifferngleichungen aufgestellt. Alles konkrete Tun der Kinder wird sprachlich begleitet, sodass die Verbalisierung den Fokus auf die numerischen Aspekte schärft. Der Umgang mit den Zahlenbildern fördert das Anzahlkonzept (Ebene II), denn die Kinder lernen, dass hinter größeren Zahlen größere Anzahlen stehen. Die Anordnung und die unterschiedlichen Farben der Zahlenbilder erschweren jedoch die klare Darstellung von Anzahlrelationen (Ebene III), da die Zahlenbilder nicht unmittelbar auseinander hervorgehen. Obwohl es ausdrückliches Ziel des Programms ist, Kindern anhand der Zahlenbilder den Aufbau der größeren Anzahlen aus den kleineren Anzahlen zu vermitteln, lässt sich das Zunahme-umEins-Prinzip und die Anzahlzerlegung (Ebene III) an den statischen Zahlenbildern nicht verdeutlichen, wie Abbildung 3 zeigt. So entsteht z. B. das Zahlenbild der 6 (oben links) nicht durch das Hinzufügen eines Punktes zum Zahlenbild 5 (Mitte links), sondern es werden zwei Punkte Kieler Zahlenbild 6
+ Kieler Zahlenbild 1
=
zusammen:
Kieler Zahlenbild 5
+ Kieler Zahlenbild 2
=
zusammen:
jedoch Kieler Zahlenbild 7:
Abbildung 3: Beispiele für den unsystematischen Aufbau der Kieler Zahlenbilder
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hinzugefügt und einer weggenommen. Zudem ergibt weder das Aufeinanderlegen der Zahlenbilder 6 und 1 (obere Zeile) noch der Zahlenbilder 5 und 2 (mittlere Zeile) das Zahlenbild 7 (untere Zeile). Für die geförderten rechenschwachen Schüler kommt erschwerend hinzu, dass die hier vermittelten Zahlenbilder mit den üblichen schulischen Materialien nicht kompatibel sind, da diese eine Gruppierung von Anzahlen in Fünfermengen (statt wie hier: Dreiermengen) favorisieren. Der Transfer der an diesem Material erlernten numerischen Prinzipien auf die schulischen Darstellungsmittel (ohne jegliche Hilfestellung in der Schule) stellt eine Aufgabe dar, die nicht so einfach zu meistern sein dürfte, auch wenn sie natürlich das Endziel der Förderung ist. Das Programm wird seit Jahren im Gruppen- und Einzelunterricht angewendet, wurde bisher jedoch hinsichtlich seiner Effektivität wissenschaftlich noch nicht überprüft. 6.4.2 Dortmunder Zahlbegriffstraining Das Dortmunder Zahlbegriffstraining (Moog & Schulz, 1999) wurde für rechenschwache Zweit- und Drittklässler aus Schulen für Lernbehinderte und für Regelschüler ab Ende der ersten Klasse konzipiert, die auf das Fingerzählen oder andere konkrete Veranschaulichungsmittel fixiert sind. Es wird in neunzehn halbstündigen Einzelsitzungen durchgeführt und ist nach Angaben der Autoren für Kinder geeignet, die bis etwa 15 vorwärts zählen können und diese Zahlen auch in Schriftform kennen. Kindern, die beim Rechnen bereits auf die Verwendung äußerer Anschauungshilfen verzichten können, bietet das Programm nach Angaben der Autoren jedoch keine geeigneten Lernhilfen mehr. Vorrangiges Ziel des achtstufigen Trainings ist die Förderung von Zähl- und Abzählfertigkeiten unter der schrittweisen Ausblendung von sensorisch kontrollierten Zählhandlungen. Das Programm verwendet strukturierte Anzahlanordnungen und greift hierfür auf die Kuehnelschen Zahlenbilder (Abb. 4) zurück. Obwohl diese Zahlenbilder eine Anordnungsstruktur aufweisen, die klar von (An-)Zahl zu (An-)Zahl auseinander hervorgeht und sowohl zur Darstellung von Anzahlzerlegungen als auch Anzahldifferenzen (Ebene III) geeignet ist, zielt der größte Anteil des Trainings auf die Automatisierung des Abzählens von Mengen ab (Ebene II). Nur sechs Sitzungen beschäftigen sich mit der Anzahlzerlegung (Ebene III); doch auch hier wird der Fokus der Betrachtung eher auf das Abzählen von Anzahlen als auf das Erkennen der dahinter stehenden Zahlstrukturen gelenkt. Durch dieses Vorgehen soll nach Angaben der Autoren allmählich eine interne Zahlenraumvorstellung aufgebaut werden, indem das Zählen mit den Fingern internen Zähl- und Abzählfertigkeiten weicht (Schulz, 2003). Wie Schipper (2001) betont, stellt jedoch gerade das verfestigte zählende Rechnen das häufigste Symptom für Rechenstörungen dar. Mit diesem „ist häufig die Unfähigkeit verbunden, bei Zahlen und Zahlrepräsentationen (Arbeitsmitteln wie z. B. HunderterTafel) Strukturen [eigene Hervorhebung] zu erkennen und zu nutzen. Dieses kann auch dazu führen, dass Kinder keine Stellenwertvorstellung besitzen.“ (S. 17) Für die Durchführung des Programms sei daher an dieser Stelle empfohlen, die Aufmerksamkeit der Kinder besonders auf die verwendeten Zahlenbilder zu
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Abbildung 4: Im Dortmunder Zahlbegriffstraining verwendete Kuehnelsche Zahlenbilder
lenken, die hierin erkennbare Struktur der (An-)Zahlen explizit herauszustellen und bei der Darstellung von Mengen- und Zahlenrelationen zu verdeutlichen. Es sollte nicht angestrebt werden, den Kindern so schnell wie möglich Anschauungshilfen für das Abzählen zu entziehen. Vielmehr sollte am anschaulichen Darstellungsmittel die Einsicht vermittelt werden, dass Zahlen nicht nur Mittel des Zählens sind, sondern dass sie vor allem auch zur Darstellung von Beziehungen zwischen Mengen herangezogen werden können (Stern, 1998). Denn erst wenn Kinder dieses Verständnis erlangt haben, verfügen sie über die Voraussetzungen, sich von den anschaulichen Darstellungsmitteln zu lösen und diese irgendwann intern zu repräsentieren. Auch die Ergebnisse der beiden Evaluationsstudien sprechen für diese Folgerung. Zehn Sonderschüler der zweiten und dritten Klasse (Moog, 1995) bzw. sieben Grundschüler der ersten und zweiten Klasse (Moog & Schulz, 1997) erhielten eine Förderung mit diesem Programm und wurden jeweils einer Kontrollgruppe ohne Training gegenübergestellt. Um die mathematischen Leistungen zu ermitteln, kam in beiden Untersuchungen einmal vor und zweimal nach dem Training ein informeller Rechentest zum Einsatz. In beiden Untersuchungen verwies unmittelbar nach Abschluss des Trainings der Testgesamtwert auf einen stärkeren Leistungszuwachs der Trainingskinder im Vergleich zu den Kontrollkindern (kurzfristiger Trainingseffekt). Obwohl die Aufgaben des Tests den Förderbereichen des Trainings entsprachen, ließen sich dagegen nur für die trainierten Grundschüler, nicht aber für die trainierten Sonderschüler, auch vier bis
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sechs Wochen nach dem Training bessere Gesamttestleistungen absichern (langfristiger Trainingseffekt für Grundschüler). Darüber hinaus zeigten sich jedoch selbst bei den Grundschülern keine langfristigen Verbesserungen im Teilbereich Mengen-Zahlrelationen, der das Ordnen, Vergleichen, Ergänzen und Zerlegen von Anzahlen überprüfte. Bei der Durchführung des Trainings sollte daher beachtet werden, neben der Vermittlung von Abzählfertigkeiten vor allem auch die in den Zahlbildern erkennbare Struktur der Zahlen zu thematisieren.
6.5 Fazit und Empfehlungen für die Praxis Für die Prävention von Rechenschwierigkeiten lassen sich folgende Empfehlungen geben: Eine Förderung sollte erstens immer auf mathematikspezifische Inhalte abzielen. Wer mathematische Einsichten fördern will, wird dies kaum über Bewegungsübungen erreichen. Die mathematischen Inhalte müssen zweitens systematisch aufgebaut werden. Es ist sicherzustellen, dass das Kind über die im Entwicklungsmodell aufgeführten frühen mathematischen Kompetenzen (besonders das präzise Anzahlkonzept und das Konzept der Anzahldifferenz) verfügt. Ist dies nicht der Fall, müssen zuallererst diese Konzepte gefördert werden. Zur Vermittlung der Kompetenzen sind drittens geeignete abstrakte Darstellungsmittel heranzuziehen, die sich durch ihre Konzentration auf die mathematischen Grundideen und die Struktur des Zahlenraums auszeichnen. An diesen Darstellungsmitteln sind viertens die Rechenoperationen nicht nur vom Kind nachzuvollziehen, sondern auch laut zu verbalisieren, um zugleich durch die Sprache den quantitativen Aspekt der Handlung zu betonen. Darüber hinaus sollten Kinder so lange, wie sie es brauchen, mit dem (realen oder bildlich verfügbaren) Darstellungsmittel arbeiten dürfen. Damit wird sichergestellt, dass sie die mathematischen Operationen „wirklich“ verstehen. Gerade auch im Hinblick auf die oft begrenzten Arbeitsgedächtnisressourcen rechenschwacher Kinder sollte es hingegen vermieden werden, voreilig die Verwendung von Darstellungsmitteln zu verbieten. Nur so kann es Kindern gelingen, ein Verständnis für die Struktur der Zahlen zu entwickeln und diese dann auch irgendwann zu verinnerlichen. Dies sollte zwar das Endziel der Förderung sein, aber um keinen Preis zu früh erzwungen werden.
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Prävention von Angststörungen Judith Blatter & Silvia Schneider
Gliederung 7.1 7.2 7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.4
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angststörungen im Kindes- und Jugendalter. . . . . . . . . . Prävention von Angststörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präventionsprogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention durch die Behandlung von Angststörungen der Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention durch Psychoedukation . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit und Empfehlungen für die Praxis . . . . . . . . . . . . . .
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7.1 Einleitung Ängste sind ein wichtiges Thema in der Kindheit. Dies zeigt sich nicht zuletzt an der Vielfalt von ersten Bilderbüchern für Kinder zum Thema Angst (Bohdal, 1996; Boie, 2001; Heine, 2001; Janisch & Jung, 2002; Schreiber-Wicke & Holland, 2001; Vrtal, 1996). Angst oder Furcht kennt jedes Kind. Sowohl Angst als auch Furcht gehören zur normalen Entwicklung eines Kindes. Mit Furcht wird eine wichtige, fundamentale Emotion bezeichnet, die in allen Altersgruppen, Kulturen, Ethnien und Spezies zu beobachten ist. Sie richtet sich in der Regel auf bedrohliche Reize wie beispielsweise bedrohliche Situationen, Objekte oder Tiere. Unter Angst wird hingegen ein unangenehmes Gefühl verstanden, das Furcht und Besorgnis umfasst. Angst ist im Vergleich zur Furcht weniger präzise und ungenauer. Sie ist in der Regel ein Produkt aus verschiedenen, angeborenen, fundamentalen Emotionen, die durch Lernen und Erfahrungen modifiziert werden. Angst zeigt sich in drei verschiedenen Bereichen: im Körper, in den Gedanken und im Verhalten. Im Körper macht sie sich durch Herzklopfen, Zittern, Schwitzen oder starke Bauchschmerzen bemerkbar. Typische Gedanken in Angstsituationen sind „Das schaffe ich eh nicht!“, „Nichts wie weg hier!“ oder „Das überlebe ich nie!“. Vor allem wird die Angst aber im Verhalten sichtbar. Weinen, schreien, flüchten und vermeiden der als beängstigend erlebten Situationen sind häufige Reaktionen. Eine erste Angstreaktion zeigen Kinder im Alter von etwa 9 Monaten in Form des Fremdelns. Auch in seiner weiteren Entwicklung wird ein Kind von verschiedenen Ängsten begleitet. Die Angstinhalte scheinen dabei an den Entwicklungsstand des Kindes gekoppelt zu sein. So haben beispielsweise viele der zwei bis
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vierjährigen Kinder Angst vor Dunkelheit oder vor Monstern unterm Bett. Bei diesen Ängsten, die gehäuft in einem bestimmten Alter auftreten, spricht man von alterstypischen Ängsten. Sie sind vergleichsweise mild und temporär. Ängste können aber auch zur Qual bzw. zur Krankheit werden. Hinweise für das Vorliegen einer Angsterkrankung können die Intensität, die Unangemessenheit, die Dauer der Angst und die daraus resultierende Beeinträchtigung sein. Wenn Ängste sehr stark und unangemessen sind und über die Entwicklungsphase, für die sie eventuell typisch sind, andauern, und außerdem eine Beeinträchtigung im Alltag vorhanden ist, kann das Ausmaß einer Angststörung erreicht sein. Die Grenzen zwischen einer alterstypischen, normalen Angst und einer Angststörung sind dabei fließend. Zur Abgrenzung und Diagnosestellung dienen die Kriterien der ICD-10. Angsterkrankungen gehören im Kindes- und Jugendalter mit einer 6-Monatsbzw. 1-Jahresprävalenz (Häufigkeit in den letzten 6 bis 12 Monaten) von ca. 10 % und einer Lebenszeitprävalenz (Häufigkeit des Auftretens zu irgendeinem Zeitpunkt während der gesamten Lebensspanne) zwischen 14 und 19 % zu den häufigsten psychischen Erkrankungen (Essau et al., 2004b). Entgegen früherer Annahmen wachsen sich Angsterkrankungen bei Kindern nicht einfach wieder aus. Sie sind stabil und können als Risikofaktor für die Ausbildung von Angststörungen, affektiven Störungen und Substanzabhängigkeiten im Erwachsenenalter betrachtet werden (Brückl et al., in Druck; Schneider & Nündel, 2002). 90 % der in der Studie von Brückl und Kollegen untersuchten Kinder mit Trennungsangst litten beispielsweise noch im jungen Erwachsenenalter an einer psychischen Störung. Neben diesem subjektiven Leid der Betroffenen entstehen durch Angsterkrankungen hohe Kosten für das Gesundheitswesen (Neumer & Margraf, 2000). In den USA werden beispielsweise pro Jahr 42 Milliarden Dollar für die Behandlung von Angststörungen ausgegeben, pro Patient sind das 1542 Dollar (Greenberg et al., 2001). Der Beginn von Angsterkrankungen kann bereits in der frühen Kindheit liegen. Die Replikationsstudie des National Comorbidity Survey aus den USA (Kessler et al., 2005) zeigt anhand der retrospektiven Befragung von nahezu 1000 Probanden einen Median von 11 Jahren für das Erstauftreten von Angststörungen. Der früheste Beginn wurde mit 7 Jahren für die Spezifische Phobie und die Trennungsangst festgestellt. Der Median für die Soziale Phobie lag bei 13 Jahren. Aufgrund dieser empirischen Erkenntnisse ergibt sich ein dringender Bedarf für Maßnahmen zur Prävention von Ängsten im Kindes- und Jugendalter. Im vorliegenden Kapitel werden nach einem kurzen Überblick zu den klinischen Erscheinungsbildern von Angststörungen verschiedene Präventionsansätze und Studien zu deren Überprüfung vorgestellt. Am Ende des Kapitels werden Implikationen für die Zukunft formuliert.
7.2 Angststörungen im Kindes- und Jugendalter In der ICD-10 werden vier Angststörungen im Kindes- und Jugendalter unterschieden:
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Emotionale Störung mit Trennungsangst des Kindesalters (F93.0) Phobische Störung des Kindesalters (F93.1) Störung mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters (F93.2) Generalisierte Angststörung des Kindesalters (F93.80)
Emotionale Störung mit Trennungsangst des Kindesalters (F93.0) Kinder mit einer emotionalen Störung mit Trennungsangst zeigen eine exzessive und unrealistische Angst in Erwartung oder unmittelbar bei einer Trennung von den Eltern oder anderen engen Bezugspersonen. Sie befürchten, dass ihren Eltern oder ihnen selbst etwas Schlimmes zustoßen könnte, was sie dauerhaft voneinander trennen würde (z. B. Autounfall der Eltern, Entführung des Kindes). Häufig vermeiden diese Kinder Situationen, die andere Kinder ihrer Altersgruppe problemlos bewältigen. Solche Situationen können sein: alleine, im eigenen Zimmer zu schlafen, abends mit einem Babysitter oder tagsüber ganz alleine zu Hause zu bleiben, bei Freunden oder Verwandten zu übernachten oder zum Kindergarten bzw. zur Schule zu gehen. Die Angst kann auf unterschiedlichste Art und Weise zum Ausdruck kommen, als gereizte, aggressive oder auch apathische Stimmung. Kinder mit einer Störung mit Trennungsangst weinen, schreien, schlagen um sich oder klammern sich an die Bezugsperson, um eine bevorstehende Trennung zu verhindern. Folgende körperliche Symptome sind typisch für eine emotionale Störung mit Trennungsangst: Übelkeit, Erbrechen, Bauch- oder Kopfschmerzen. Häufiger Trauminhalt dieser Kinder ist die Trennung von den Eltern. Besonders die Jüngeren unter ihnen weichen kaum von der Seite der Bezugsperson. Für die Diagnose nach ICD-10 muss die Störung vor dem 6. Lebensjahr begonnen haben, über mindestens vier Wochen anhalten und das Vorliegen einer generalisierten Angststörung des Kindesalters muss ausgeschlossen werden. Fallbeispiel:
Torben ist 13 Jahre alt und hat große Angst, wenn seine Eltern ihn abends bis etwa 23 Uhr alleine lassen möchten. Er schlägt um sich und weint bitterlich. Er möchte genau festlegen, wann seine Eltern wiederkommen und bittet sie inständig, doch zu Hause zu bleiben. Er klagt außerdem über Kopfschmerzen. Nur wenn der Vater verspricht, Torben vom Handy aus anzurufen und einen genauen Zeitpunkt angibt, wann sie wieder zu Hause sein werden, lässt sich Torben darauf ein, alleine zu bleiben. Trotzdem ruft er die Eltern im Verlauf des Abends mehrfach an und vergewissert sich, dass ihnen nichts zugestoßen ist. Bei Geräuschen schrickt Torben hoch, weil er glaubt, eine Krankenwagensirene gehört zu haben. In der Folge verstärken sich seine Sorgen um die Eltern noch. Er bleibt wach, bis die Eltern wieder zu Hause sind, und schläft erst dann vollkommen übermüdet ein.
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Spezifische Phobie (F40.2) / Phobische Störung des Kindesalters (F93.1) Die Spezifische Phobie und die Phobische Störung des Kindesalters zeichnen sich durch eine unangemessene, anhaltende und starke Angst vor bestimmten Objekten, Situationen oder Tieren, von denen keine reale Gefahr ausgeht, aus. Die Konfrontation mit dem phobischen Reiz ruft unmittelbar eine starke Angstreaktion hervor, die sich häufig in Form von Schreien, Wutanfällen, Gelähmtsein oder Anklammern an eine Bezugsperson manifestiert. Die gefürchtete Situation wird mehr und mehr gemieden. Die Folge davon sind erhebliche Beeinträchtigungen des Kindes in den Bereichen Familie, Schule und Freizeit. Für die Diagnose nach ICD-10 muss die Störung über mindestens vier Wochen bestehen und darf nicht mit einer Generalisierten Angststörung des Kindesalters einhergehen. Es werden zwei Formen von phobischen Störungen unterschieden. Für entwicklungsphasenspezifische Ängste (z. B. Angst vor Phantasiegestalten, Dunkelheit), die anhaltend oder wiederkehrend sind, ein abnormes Ausmaß angenommen haben und zu einer deutlichen sozialen Beeinträchtigung geführt haben, kann die Diagnose „Phobische emotionale Störung des Kindesalters (F93.1)“ gegeben werden. Ist die Angst vor einem bestimmten Objekt, Tier oder einer bestimmten Situation nicht entwicklungsphasenspezifisch, steht die Kategorie „Spezifische Phobie (F40.2)“ zur Verfügung. Die Diagnose Spezifische Phobie kann im Gegensatz zur Phobischen Störung des Kindesalters auch vergeben werden, wenn gleichzeitig eine Generalisierte Angststörung vorliegt. Fallbeispiel:
Simone, neun Jahre, kommt mit ihrer Mutter zum Erstgespräch. Die Mutter erzählt, dass Simone starke Angst vor Feuerwerk oder lauten Geräuschen habe. Wenn es knallt, zucke Simone zusammen, beginne zu zittern und ihr Herz klopfe stark. Sie schmeiße dann mit Dingen um sich und verkrieche sich irgendwo. Die Angst wirke sich auch auf Simones Alltag aus: aus Furcht vor platzenden Luftballons oder Tischbomben weigere sich Simone zu Kindergeburtstagen zu gehen. Sie vermeide es, andere Kinder zu besuchen und bleibe am liebsten zu Hause. Silvester habe sie es sogar geschafft, dass ihre Eltern an einen Ort fuhren, an dem kein Feuerwerk stattfand.
Soziale Phobie (F40.1) / Störung mit sozialer Ängstlichkeit (F93.2) Eine Soziale Phobie und eine Störung mit sozialer Ängstlichkeit sind gekennzeichnet durch eine anhaltende Angst in sozialen Situationen, in denen die betroffenen Kinder auf fremde Erwachsene oder Gleichaltrige treffen. Weitere Charakteristika dieser Störung sind große Befangenheit, Verlegenheit oder auch übertriebene Sorge über die Angemessenheit des eigenen Verhaltens gegenüber der fremden Person. Kinder mit einer sozialen Phobie reagieren in Erwartung
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oder während der gefürchteten sozialen Situation auf drei Ebenen: körperlich (Bauchschmerzen, Herzklopfen, Zittern, Schwitzen, Erröten, Übelkeit), kognitiv („die anderen werden mich auslachen“) sowie mit Verhaltensänderungen (Weinen, Schweigen, Weglaufen). Mit einer Sozialen Phobie geht oft auch eine eingeschränkte, soziale Kontaktfähigkeit des Kindes einher. Typische Hobbys von Kindern mit Sozialer Phobie sind daher Computer spielen, Briefmarken sammeln oder Bücher lesen. Folge davon kann ein erheblicher Leidensdruck sein. Auffallend ist, dass Kinder mit Sozialer Phobie zu Familienmitgliedern und bekannten Gleichaltrigen gute Beziehungen haben. Im Gegensatz zu der Sozialen Phobie im Erwachsenenalter, können Kinder mit Sozialer Phobie oft nicht den Grund ihrer Ängste benennen. Besonders jüngeren Kindern fehlt meist die Einsicht bezüglich der Unangemessenheit ihrer Ängste. Die Störung mit Sozialer Ängstlichkeit (F93.2) muss vor dem 6. Lebensjahr beginnen, mindestens vier Wochen anhalten und darf nicht mit einer Generalisierten Angststörung des Kindesalters einhergehen. Für die Diagnose einer Sozialen Phobie (F40.1) gibt es dagegen keine Kriterien bezüglich Beginn oder Mindestdauer der Störung. Außerdem kann bei der Diagnose Soziale Phobie gleichzeitig auch eine Generalisierte Angststörung vorliegen. Fallbeispiel:
Florian besucht seit zwei Monaten die 5. Klasse der Realschule. Während seine schriftlichen Leistungen sehr gut sind, fällt er im Unterricht auf, weil er sich mündlich nicht beteiligt. Er hat Angst, dass seine Klassenkameraden ihn bei einer falschen Antwort auslachen könnten. Wird er aufgerufen, errötet er und fängt an zu stottern. Besonders nervös wird er, wenn er vor der ganzen Klasse etwas vortragen muss. Bereits am Abend davor bekommt er Schweißausbrüche und Bauchschmerzen. In den Pausen ist er oft alleine und spielt nicht mit seinen Klassenkameraden Fußball. Zu Hause hingegen fühlt er sich wohl und spielt ausgelassen mit seiner Schwester und Freunden aus der Nachbarschaft. Seine große Leidenschaft ist War Hammer, ein beliebtes Computerspiel.
Generalisierte Angststörung des Kindesalters (F93.80) Für die Generalisierte Angststörung des Kindesalters sind übermäßig starke oder unbegründete und nicht kontrollierbare Sorgen über verschiedene Situationen und Lebensbereiche hinweg charakteristisch. Beispiele hierfür sind Sorgen über Kleinigkeiten wie Unpünktlichkeit, Sorgen darüber, sich richtig verhalten zu haben, gut genug in der Schule oder im Sport zu sein oder genug Freunde zu haben. Viele Kinder oder Jugendliche mit einer Generalisierten Angststörung zeigen ein starkes Bedürfnis nach Anerkennung und Rückmeldung über erbrachte Leistungen und ihr Verhalten im Allgemeinen. Typische körperliche Symptome sind Nervosität und Anspannung. Kinder mit einer Generalisierten Angststörung haben häufig Schwierigkeiten mit dem Ein- und Durchschlafen bzw. mit der
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Konzentration in der Schule oder bei den Hausaufgaben. Sie sind oft müde und gereizt und leiden unter Muskelverspannungen. Nicht selten grübeln Kinder mit einer Generalisierten Angststörung und kauen dabei an ihren Nägeln oder drehen Haare. Zur Diagnosestellung müssen sich die Sorgen und Ängste auf mehrere Bereiche beziehen (z. B. Schule und Familie) und nicht nur Sorgen beinhalten, die in Verbindung mit einer anderen psychischen Störung stehen (z. B. Angst vor Trennung von der Bezugsperson). Der Beginn der Störung muss vor dem 18. Lebensjahr liegen, die Sorgen müssen über mindestens 6 Monate anhalten und an mehr als der Hälfte der Tage vorhanden sein. Die Sorgen und Ängste dürfen nicht Konsequenz einer Substanzaufnahme (z. B. psychotrope Substanzen, Medikamente) oder einer organischen Erkrankung (z. B. Schilddrüsenüberfunktion) sein. Fallbeispiel:
Marco, zehn Jahre alt, macht sich in der Schule ständig Sorgen, eine Aufgabe nicht rechtzeitig zu Ende zu bringen oder von der Lehrerin aus Versehen eingeschlossen zu werden. Er grübelt auch zu Hause über vieles nach, zum Beispiel über seine Leistungen im Leichtathletiktraining oder seine Freunde. Marco kommt wegen unterschiedlichster Dinge in Stress, obwohl alles eigentlich gut läuft. Er ist gut in der Schule und bei seinen Alterskameraden akzeptiert. Abends dauert es vor lauter Sorge lange, bis Marco endlich einschläft. Dies ist zudem nur möglich, wenn das Licht im Flur brennt und die Tür zum Kinderzimmer einen Spalt weit auf bleibt; sonst fürchtet sich Marco zu sehr vor der Dunkelheit.
7.3 Prävention von Angststörungen Bislang liegen im deutschsprachigen Raum vergleichsweise wenige Präventionsprogramme für Angsterkrankungen im Kindes- und Jugendalter vor. Im Folgenden sollen diese sowie einige Präventionsansätze, die sich in der Entwicklung befinden, vorgestellt werden. 7.3.1 Präventionsprogramme FREUNDE Das FREUNDE-Programm ist die deutsche Version eines etablierten australischen Programms zur Prävention von Angstsymptomen, dem FRIENDS-Programm von Barrett et al. (2000a). Es basiert auf zwei kognitiv-verhaltenstherapeutischen Programmen, dem Coping Cat (Kendall, 2000) und Coping Koala (Barrett et al., 1994). Beide Therapieprogramme haben sich in verschiedenen Studien als erfolgreich gezeigt und werden im therapeutischen Setting häufig angewendet. Die Bezeichnung FREUNDE ist ein Akronym, das den Kindern
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Tabelle 1: Die FREUNDE-Schritte F = Fühlst du dich besorgt?
1. Schritt: Identifikation der individuellen körperlichen Symptome und Nutzung dieser als Hinweisreiz, Bewältigungsstrategien anzuwenden.
R = Relax und lass es dir gut gehen!
2. Schritt: Erlernen von Entspannungstechniken, Fokus auf positive Aktivitäten
E = Eigene Gedanken
3. Schritt: Umwandlung negativer Selbstgespräche in hilfreiche Gedanken
U = Untersuche, was du tun kannst
4. Schritt: Erlernen eines 6-PunktePlans zum Problemlösen
N = Nach dieser guten Arbeit kannst du dich belohnen
5. Schritt: Selbstbelohnung
D = Das Üben nicht vergessen
6. Schritt: Erinnerung an die Übungen
E = Entspannt und ruhig bleiben!
7. Schritt: Ermutigung, ruhig zu bleiben; Kind weiß jetzt, mit Angst umzugehen
helfen soll, die Schritte zur Angstbewältigung besser zu erinnern. Diese sind in Tabelle 1 dargestellt. Das englische FRIENDS-Programm liegt in zwei Versionen vor: einer Kinderversion für 7- bis 11-Jährige und einer Jugendversion für 12- bis 16-Jährige (Barett et al., 2000b). Ins Deutsche übersetzt wurde die Kinderversion (Essau & Conradt, 2003). Sie kann in der Schule eingesetzt werden und umfasst 12 Sitzungen, davon werden 10 im wöchentlichen Rhythmus durchgeführt. Zwei Auffrischungssitzungen finden ein bzw. drei Monate nach der 10. Sitzung statt. Dies ermöglicht den Kindern zusätzlich, die Umsetzung der während des Programms erlernten Fertigkeiten im Alltag zu üben. Zur Kinderversion wurden vier Elternsitzungen hinzugefügt. Die Elternsitzungen sind als Gruppensitzungen organisiert und finden getrennt von den Kindersitzungen statt. Die Eltern werden über die Inhalte des Programms und Möglichkeiten der Unterstützung informiert. Außerdem lernen sie mit eigenen Ängsten umzugehen und ihre Kommunikations- und Problemlösefähigkeiten zu verbessern. Die Kinder erlernen innerhalb des FREUNDE-Programms folgende Strategien: körperliche Anzeichen von Angst zu identifizieren, angstfördernde Gedanken zu erkennen und zu überprüfen sowie Bewältigungsstrategien wie Entspannung, Problemlösen und Selbstbelohnung anzuwenden. Ein wichtiger Bestandteil des Programms ist zudem die Gruppe. Die Kinder tauschen sich über verschiedene Bewältigungsstrategien aus und verstärken so gegenseitig ihre Bemühungen und Veränderungen. Dem FREUNDE-Programm liegt das Drei-Komponenten-Modell der Angst zugrunde. Es postuliert, dass physiologische, kognitive und Lernprozesse bei der Entstehung, Aufrechterhaltung und beim Erleben von Angst beteiligt sind. Diese Komponenten werden in drei Therapiebausteinen erarbeitet.
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Im ersten Baustein werden körperliche Reaktionen in einer Angstsituation thematisiert. Das FREUNDE-Programm vermittelt hierzu zum einen die Fähigkeit, sich eigener körperlicher Komponenten der Angst bewusst zu werden. Die Kinder lernen zu erkennen, was in ihrem Körper geschieht, wenn sie Angst haben und können dies als Hinweisreiz nutzen, um Bewältigungsstrategien gegen die Angst gezielt einzusetzen. Zum anderen sind das Erlernen der tiefen Atmung und der progressiven Muskelentspannung wichtige Programmelemente. Die Kinder trainieren, sich ihrer körperlichen Anspannung bewusst zu werden und sich gezielt zu entspannen. Im zweiten Therapiebaustein stehen die Gedanken, die Kinder in Angstsituationen begleiten, im Vordergrund. Oft sind das negative Selbsteinschätzungen, Befürchtungen bezüglich zukünftiger Erfahrungen, Sorgen über die Bewertung durch andere bzw. über Misserfolge und vor allem negative Selbstgespräche. Die Teilnehmer lernen, diese Gedanken zu identifizieren und in hilfreiche umzuwandeln. Eine weitere Fertigkeit im kognitiven Bereich ist das Erlernen, eigene Bemühungen realistisch einzuschätzen. Kinder mit Ängsten setzen sich selbst häufig perfektionistische Leistungsstandards und sind selten mit der eigenen Leistung zufrieden. Sie üben deshalb, sich selbst für Teilerfolge und für die Bemühung, das Beste zu geben, zu belohnen. Der dritte Therapiebaustein bezieht sich auf das Verhalten und das Erlernen neuer Bewältigungsstrategien zum Umgang mit Angst. Ein Element in diesem Modul ist der Sechs-Stufen-Prozess zur Problemlösung. Kinder mit Ängsten werden oft von Problemen überwältigt und fühlen sich unfähig, diese in Angriff zu nehmen. Sie lernen, ein Problem oder eine Herausforderung in kleine, zu bewältigende Schritte zu unterteilen. Ein anderer zentraler Bestandteil des Programms im Bereich des Verhaltens ist die Exposition. Hintergrund für die Expositionsübungen ist das Teufelskreisprinzip. Kinder mit Ängsten versuchen, beängstigende Situationen zu vermeiden, womit die Angst vor diesen Situationen nur noch größer wird. Ziel der Expositionsübungen ist es, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, indem die Kinder ihre Angstsituationen bezüglich der Schwierigkeit in eine Rangreihe bringen und sich nach intensiver Vorbereitung nach und nach diesen Situationen aussetzen. In verschiedenen Studien konnte die Effektivität des FRIENDS-Programms nachgewiesen werden (Lowry-Webster et al., 2001; Shortt et al., 2001). In der Studie von Barrett und Turner (2001) wurde das Programm an 489 Kindern zwischen 10 und 12 Jahren überprüft. Nach Beendigung der Intervention zeigte sich ein Rückgang der Ängste und depressiver Symptome. Des Weiteren wurde deutlich, dass das Programm nach sorgfältiger Einführung auch von Lehrern durchgeführt werden kann. Eine Studie von Lowry-Webster et al. (2001) mit 594 10- bis 13-Jährigen zeigte weitgehend ähnliche Ergebnisse. Zudem beobachteten die Autoren eine Reduktion der selbst berichteten Angstsymptome bei Kindern mit höherem Risiko für Angststörungen. Essau et al. (2004a) untersuchten für die deutsche Version des FRIENDS-Programms die Akzeptanz. Die Stichprobe dieser Evaluationsstudie bestand aus 208 Schulkindern zwischen neun und zwölf Jahren. Sowohl Eltern als auch Kinder berichteten über eine hohe Zufriedenheit. Außerdem konnte ein Zusammenhang
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zwischen der Akzeptanz der Eltern und Kinder und dem Trainingserfolg der Kinder nachgewiesen werden. Eltern und Kinder erlebten vor allem die Arbeit an den Gedanken und die Entspannungsübungen als hilfreich. Gesundheit und Optimismus! (GO!) Das erste deutschsprachige Präventionsprogramm für Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren zur Vorbeugung von Angststörungen und Depressionen wurde Ende der neunziger Jahre in Dresden entwickelt. Gesundheit und Optimismus! (Junge et al., 2002) wird in der Schule eingesetzt und umfasst acht 90-minütige Sitzungen. Dem Programm liegen kognitiv-behaviorale Theorien zu Angst und Depression zugrunde. Es verfolgt das Ziel, allgemeine, gesundheitsfördernde Kompetenzen zu unterstützen und störungsspezifische Bewältigungsstrategien für Angst und Depression zu erarbeiten. Zu Beginn des Programms steht die Psychoedukation zu Depression und Angst im Vordergrund. Die Jugendlichen erhalten Informationen zur Entstehung und Aufrechterhaltung der beiden Störungsbilder und erarbeiten in der Gruppe Strategien zur Bewältigung. Neben dieser störungsspezifisch-präventiven Komponente zu Angst und Depression gehören zu GO! auch unspezifisch-gesundheitsfördernde Teile wie ein Training sozialer Kompetenzen und die Vermittlung von Strategien zur Stressbewältigung. In jedem dieser vier Bereiche werden kognitive und verhaltensorientierte Elemente eingesetzt. Kognitive Elemente sind die Psychoedukation zu Stress, Depression und Angst. Die Jugendlichen lernen, ihre Gedanken, Gefühle, Verhalten und Körperreaktion in Angst- oder Stresssituationen zu identifizieren. Zudem wird ihnen die Bedeutung von Fehlinterpretationen und deren Aufschaukelungsprozess, des Teufelskreismodells, der Rolle des Vermeidungsverhaltens und der kognitiven Umstrukturierung vermittelt. Zu den verhaltensorientierten Elementen gehören Techniken zur Bewältigung von Angst (Selbstkonfrontation, positive Aktivierung) und das Training der sozialen Kompetenzen. Als Methoden werden Verhaltensexperimente, Rollenspiele, Hausaufgaben und ein Wiederholungsquiz zu Beginn jeder Einheit eingesetzt. Die Inhalte der einzelnen Sitzungen sind den Tabellen 2 zu entnehmen. Dem GO!-Programm liegt als zentrales Prinzip das 4-Komponenten Modells der Angst zugrunde. Es postuliert, dass bei der emotionalen Reaktion auf ein Ereignis (z. B. eine angstauslösende Situation) Gedanken, Gefühle, Verhaltensweisen und Körperempfindungen zusammenwirken und sich gegenseitig aufschaukeln bzw. hemmen können. In einer wahrgenommenen Gefahrensituation können das beispielsweise Gefühle von Angst oder Panik sein, Gedanken wie „Das klappt nie!“, Verhaltensweisen wie nervös werden, Fehler machen sowie körperliche Empfindungen wie Herzklopfen oder weiche Knie. Gefühle, Gedanken, Verhaltensweisen und körperliche Reaktionen sind miteinander verknüpft. Eine besondere Rolle kommt jedoch den Gedanken zu. Sie beeinflussen maßgeblich die Gefühle und das Verhalten. Dadurch kann erklärt werden, warum gleiche Situationen von verschiedenen Menschen unterschiedlich erlebt wer-
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Tabelle 2: Inhalte der GO! Sitzungen Sitzung/Titel
Ziele
1. Einführung „Let‘s GO!“
– Gegenseitiges Kennenlernen – Einführung in das Programm – Erfahrungen mit Stress
2. Denken, Fühlen und Handeln
– Stressexperiment – Das Wechselspiel von Gedanken, Gefühlen, Körper und Verhalten
3. Angst I „Angst unter der Lupe“
– – – –
4. Angst II „Sich in die Höhle des Löwen wagen“
– Spezifische und soziale Ängste – Aufrechterhaltung, Vorbeugung und Bewältigung von Angst – Strategien gegen Denkfehler und Vermeidungsverhalten
5. Depression „Die schwarze Brille“
– Depressive Stimmung und Depression – Aufrechterhaltung, Vorbeugung und Bewältigung depressiver Stimmung – Denk- und Verhaltensstrategien
6. Selbstsicherheit „Sich erfolgreich durchsetzen“
– Soziale Kompetenz – Schritte zur Selbstsicherheit – Übungen zur Selbstsicherheit
7. Stressbewältigung „Achtung: Hochspannung!“
– Stressbewältigung – Systematisches Problemlösen – Entspannung
8. Zusammenfassung und Abschluss „Das war‘s!“
– Wiederholung und Anwendung der erlernten Techniken – Richtig oder falsch? – Wie helfe ich anderen und wer hilft mir? – Rückmeldung und Kursabschluss
Was ist Angst? Gesund oder krank? Die Angstreaktion Angst vor der Angst
den. Diese vier Komponenten dienen nicht nur zur Erklärung der Entstehung und Aufrechterhaltung von Angst, sie stellen auch die Punkte dar, an denen das Programm ansetzt. Eine Vielfalt von Übungen hilft den Jugendlichen, diese Zusammenhänge zu erfahren und damit bewusste Veränderungen von Denken und Handeln einzuleiten. Die erste Evaluationsstudie zum Go!-Programm wurde von Manz et al. (2001) vorgelegt. 702 Gymnasiasten der 9. und 10. Klasse wurden vor und nach Teilnahme an dem Präventionsprogramm untersucht. Es ergaben sich keine signifikanten Unterschiede zwischen Prä- und Postvergleich bzgl. der Angst- und Depressionssymptome. Eine aktuelle Reevaluationsstudie in der Schweiz stammt von Balmer et al. (eingereicht). An der sprachlich angepassten und um eine Sitzung gekürzten Ver-
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sion des Programms nahmen 91 15-jährige Gymnasiasten sowie 90 im Durchschnitt 14,5 Jahre alte Schüler der Weiterbildungsschule (berufsvorbereitende Schule) teil. Die Arbeitsgruppe um Balmer konnte für die Gymnasiasten direkt nach dem Programm einen Wissenszuwachs nachweisen, der auch noch zum Follow-up Zeitpunkt vorhanden war. Für die Schüler der Weiterbildungsschule hingegen zeigte sich kein signifikanter Unterschied. Dies kann eventuell durch unterschiedliche kognitive Fertigkeiten der Schüler erklärt werden. Eine Reduktion der Angst- oder Depressionssymptomatik konnte für keine der beiden Gruppen weder direkt nach Ende des Go!-Programms noch zum Zeitpunkt der Follow-up Messung festgestellt werden. Zum Postzeitpunkt waren psychopathologische Auffälligkeiten im Gegenteil sogar etwas stärker als vor Teilnahme am Programm ausgeprägt. Eine klinische Relevanz dieser Zunahme von Symptomen konnte aber nicht nachgewiesen werden. Möglicherweise hat sich durch die Teilnahme am GO!-Programm die Wahrnehmung und Sensibilität der Schüler gesteigert. Die soziale Kompetenz der Schüler wurde in dieser Untersuchung durch eine fehlende bzw. geringe soziale Unsicherheit definiert. Es ergaben sich ein signifikanter Rückgang der sozialen Unsicherheit nach Beendigung des Programms sowie ein tendenzieller Rückgang zum Follow-up Messzeitpunkt. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Evaluationsstudien der beiden vorliegenden deutschsprachigen Präventionsprogramme erstaunlicherweise keine bzw. nur kleine Effekte aufweisen. Eventuell kann dies zum einen damit erklärt werden, dass beide ursprünglich als Behandlungs- und nicht als Präventionsprogramme konzipiert worden sind. Zum anderen setzen beide Programme an den aufrechterhaltenden Faktoren von Angsterkrankungen an. Möglicherweise ist dies jedoch nicht der richtige Weg, da andere Faktoren an der Entstehung von Angststörungen beteiligt sind. Obwohl das Wissen über diese Risikofaktoren eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung wirksamer Präventionsprogramme ist, untersuchten bislang jedoch erst wenige prospektive Längsschnittstudien Risikofaktoren. Dabei wurden folgende Risikofaktoren identifiziert, die zur Entstehung von Angsterkrankungen beitragen: Familiäre Häufung, biologische Risikofaktoren, Geschlecht, Behavioral Inhibition (Verhaltensgehemmtheit), frühkindlicher Bindungsstil, kognitive Risikofaktoren, elterlicher Erziehungsstil (für eine ausführlichere Übersicht zum Thema Risikofaktoren siehe Schneider, 2004). Leider fehlt jedoch ein übergreifendes Modell, das die verschiedenen Risikofaktoren verbindet. Des Weiteren fällt bei der kritischen Betrachtung beider Programme auf, dass sie sich ausschließlich an ältere Kinder bzw. Jugendliche richten. Berücksichtigt man allerdings den frühen Beginn von Angsterkrankungen sollten Primärpräventionsmaßnahmen, die das Erstauftreten von Erkrankungen verhindern möchten, bereits im Vorschulalter ansetzen. Diese Überlegungen sollen im Folgenden aufgegriffen werden. Zunächst wird eine Präventionsmaßnahme, die am Risikofaktor elterliche Psychopathologie ansetzt, vorgestellt. Anschließend werden weitere, neue Präventionsmaßnahmen diskutiert.
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7.3.2 Prävention durch die Behandlung von Angststörungen der Eltern Verschiedene Studien haben gezeigt, dass bei einem Kind das Risiko für die Entwicklung einer Angsterkrankung erhöht ist, wenn ein Elternteil an einer Angststörung leidet. Eine interessante Frage ist daher, ob eine erfolgreich abgeschlossene Psychotherapie der Eltern einen Einfluss auf die Psychopathologie des Kindes hat. Da dies bislang jedoch noch nicht untersucht worden war, ging eine Studie von Schneider et al. (eingereicht) der Frage nach, ob die Behandlung eines Elternteils mit einer Panikstörung einen positiven Einfluss auf das Kind hat. 49 Kinder wurden vor einer möglichen Therapie des betroffenen Elternteils und im Durchschnitt sieben Jahre danach untersucht. Das Durchschnittsalter der Kinder betrug 10,8 bzw. 18,2 Jahre. Die meisten Eltern nahmen nach der diagnostischen Erhebung eine kognitive Verhaltenstherapie in Anspruch. Anhand einer linearen Regressionsanalyse konnte ein Zusammenhang zwischen dem Therapieerfolg beim betroffenen Elternteil und der Psychopathologie des Kindes nachgewiesen werden. Die Effekte (ES = 1.34) sind vergleichbar mit Effektstärken, die sonst bei Therapiestudien erreicht werden. Die Ergebnisse sprechen damit dafür, dass eine erfolgreiche Therapie der Eltern einen positiven Einfluss auf die Entwicklung des Kindes hat. Sie sind ermutigend und deuten darauf hin, dass die Behandlung von Eltern möglicherweise als Präventionsstrategie gegen emotionale Störungen bei Kindern dienen könnte. Allerdings sind zukünftige Forschungsarbeiten notwendig, um die Ergebnisse zu stützen. 7.3.3 Prävention durch Psychoedukation Nur keine Panik! Eine weitere Möglichkeit der Prävention kann die frühe Auseinandersetzung mit dem Thema Angst anhand einer kindgemäßen psychoedukativen Broschüre sein. Als ein Beispiel soll hier kurz die Präventionsbroschüre „Nur keine Panik“ von Schneider und Borer (2002) vorgestellt werden. Sie ist für Kinder und Jugendliche zwischen 8 und 14 Jahren konzipiert und enthält folgende Themen: Erscheinungsbild der Angst, Abgrenzung normale vs. klinische Ängste, Ätiologie und Bewältigung der Angst. Die Informationen sind altersgerecht in Form von kurzen Texten mit Kinderzeichnungen und Comic-Figuren dargestellt (Beispiel vgl. Abb. 1). Die Broschüre ist interaktiv gestaltet, um die Motivation von Kindern und Jugendlichen zu fördern. Ziel ist es, Kinder und Jugendliche über normale Angstreaktionen und klinische Ausprägungen der Angst zu informieren. Vorteile dieser Art von Prävention sind die vergleichsweise niedrigen finanziellen Kosten und der geringe Zeitaufwand. Die Broschüre kann in öffentlichen Einrichtungen, Schulen, Kinderarztpraxen oder psychologischen Beratungsstellen ausgelegt werden und so ihre Zielgruppe erreichen. In einer Evaluationsstudie schätzten Experten die Broschüre als inhaltlich valide, didaktisch gut aufbereitet und empfehlenswert für Kinder und Jugendli-
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Wo spürst du Angst? Zeichne mit rot die Stellen ein, an denen du deine Angst im Körper spürst! Male die Körperteile blau, in denen man auch noch Angst spüren kann.
Abbildung 1: Beispiel Präventionsbroschüre (aus Schneider & Borer, 2002)
che ein (Schneider & Borer, 2003). Außerdem konnte eine hohe Akzeptanz bei Eltern und Kindern nachgewiesen werden. TrennungsAngstprogramm Für Familien – TAFF / Hat-Mut Eine weitere, moderne Möglichkeit für die Wissensvermittlung zum Thema Angst stellt das Internet dar. Vorteile dieser Art der Prävention sind zum einen, dass hiermit Techniken zur Verfügung gestellt werden, die aufgrund von sprachfreien, ton- und bildunterstützten Anwendungen eine Prävention in frühem Alter ermöglichen. Zum anderen können durch das Internet sehr viele Kinder erreicht werden. Da besonders Kinder und Jugendliche mittlerweile mit diesem Medium gut vertraut sind, steckt darin ein großes Potential für die Präventionsarbeit. Unsere Arbeitsgruppe entwickelt aktuell eine Internetseite www.taff-programm.ch (TrennungsAngstprogramm Für Familien – TAFF), die das Ziel der Prävention von Ängsten bei Kindern und Jugendlichen verfolgt. Die Seite besteht aus einer Eltern- und einer Kinderseite. Eltern können sich über Themen wie Merkmale der Angst, Entstehung und Aufrechterhaltung, Unterscheidung zwischen normaler und krankhafter Angst, evolutionsgeschichtlicher Hintergrund
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und Sinn der Angst, unterschiedliche Angsterkrankungen im Kindes- und Jugendalter und Behandlungsmethoden informieren. Außerdem gibt es mit einem Kinderangst-Screening die Möglichkeit zu überprüfen, ob es sich bei der Angst eines Kindes eher um eine normale Angst oder eine Angsterkrankung handelt. Die Kinderseite ist in eine Seite für ältere und für jüngere Kinder unterteilt. Jugendliche und Kinder, die über Lesefertigkeiten verfügen, können sich in einem Forum mit anderen Betroffenen austauschen oder sich via Email mit Sorgen und Fragen an eine Fachperson wenden. Der Teil für jüngere Kinder, die noch nicht lesen können, ist sprachfrei. Dort führt „Hat-Mut“ die Kinder in Form eines Hörspiels durch ein Mut-Training. Die Kinder lernen spielerisch, was Angst ist und wie sich Angst äußert. Außerdem werden in konkreten Situationen adäquate Bewältigungsstrategien eingeübt. Aktuell wird das Hat-Mut-Training in einer Evaluationsstudie überprüft (Martin, 2006).
7.4 Fazit und Empfehlungen für die Praxis Der derzeitige Forschungsstand zur Prävention von Angststörungen im Kindesund Jugendalter lässt noch viele Fragen offen. Obwohl mittlerweile einige Befunde vorliegen, sind weitere Forschungsarbeiten nötig, um eine umfassendere Beurteilung zu ermöglichen. Die vorliegenden Erkenntnisse sind als erste Hinweise zu verstehen. In zukünftige Forschungsarbeiten sollten folgende Überlegungen einfließen. Der Überblick über bislang vorliegende Präventionsprogramme zu Angststörungen zeigt, dass sich die erwähnten Präventionsmaßnahmen vor allem an ältere Kinder bzw. Jugendliche richten. Dies überrascht umso mehr, als dass sich gerade Angsterkrankungen bereits bei 8-jährigen Kindern manifestieren (Federer et al., 2000) und der frühe Beginn von Angsterkrankungen mittlerweile gut belegt ist (Kessler et al., 2005). Wünschenswert wären daher Präventionsmaßnahmen, die bereits im Kindergarten ansetzen. Eine mögliche Erklärung für das Fehlen solcher Programme für jüngere Kinder liefern Groen et al. (2003). Sie vermuten, dass die bislang vorliegenden Programme mit kognitiv-behavioralen Ansätzen einen bestimmten kognitiven Entwicklungsstand erfordern, der bei jüngeren Kindern eventuell noch nicht vorhanden ist. Zukünftig gilt es daher, Präventionsmaßnahmen sowie diagnostische Screeningverfahren zur Erfassung von Risikokindern zu entwickeln, die dem kognitiven Entwicklungsstand jüngerer Kinder Rechnung tragen. Des Weiteren gilt es zu überprüfen, ob störungsspezifische Präventionsmaßnahmen, die auf eine spezielle Angsterkrankung ausgerichtet sind, störungsübergreifenden überlegen sind. Anders als im Erwachsenenalter wird in Studien im Kindes- und Jugendalter häufig noch nicht zwischen den einzelnen Angsterkrankungen unterschieden. So sind keine differenzierten Aussagen zur Ätiologie oder Behandlung möglich. Eine weitere interessante Frage betrifft die Einbeziehung der Eltern. Eine Metaanalyse zur Wirksamkeit von kind- und elternzentrierter Psychotherapie,
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die von In-Albon und Schneider (in Druck) vorgelegt wurde, deutet darauf hin, dass die Einbeziehung der Eltern die Wirksamkeit einer Angstbehandlung nicht erhöht. Auf der anderen Seite legt der frühe Beginn von Angsterkrankungen eine Beteiligung der Eltern nahe. Außerdem spricht auch die Tatsache, dass viele Eltern selbst betroffen sind (Cobham et al., 1998) dafür, sie mit einzubeziehen. Überlegungen dieser Art sollten zukünftig für die Überprüfung von Präventionsansätzen aufgegriffen werden. Eine wichtige Frage für die Auswahl eines Präventionsansatzes ist das Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen. Pössel et al. (im Druck) greifen diesen Aspekt in ihrem Überblick über den internationalen Forschungsstand zur Prävention von Internalisierungsstörungen auf. In ihren Vergleich fließen unter anderem drei verschiedene Programme zur Prävention von Angststörungen ein, das Stressimpfungstraining von Hains und Ellmann, das FRIENDS-Programm sowie das GO!Programm (Pössel et al., in Druck). Die Autoren berechnen Kosten zwischen 10 und 62 Euro pro teilnehmendem Jugendlichen. Dies bedeutet beispielsweise, dass für die Behandlungskosten eines Angstpatienten ($1542, Greenberg et al., 2001) 154 Jugendliche pro Jahr am Präventionsprogramm FRIENDS teilnehmen können. Ein weiteres Ergebnis dieser Arbeit ist, dass sowohl die Qualifikation des Gruppenleiters als auch die Gruppengröße einen Einfluss auf die Programmeffekte haben. Eine weitaus weniger wichtige Rolle scheinen die Programmdauer und die Kosten zu spielen. Als Fazit kann festgehalten werden, dass die Präventionsforschung zu Angststörungen noch in den Kinderschuhen steckt, möglicherweise auch weil sie eine anspruchsvolle Forschung darstellt. Betrachtet man auf der einen Seite das persönliche Leid und die Kosten für die Allgemeinheit, die durch Angsterkrankungen im Kindes- und Jugendalter entstehen, und auf der anderen Seite die Kosten für die Teilnahme an einem universalen Präventionsprogramm, so lässt sich trotz des noch ausstehenden Forschungsbedarfs die Durchführung universaler Präventionsprogramme für Angststörungen befürworten.
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Prävention von Interaktionsstörungen in Familien mit autistischen Kindern Paul Probst
Gliederung 8.1 8.1.1 8.1.2 8.2 8.2.1 8.2.1.1 8.2.1.2 8.2.2 8.2.2.1 8.2.2.2 8.2.2.3 8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.4 8.4.1 8.4.2
Störungsbild des Autismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Symptomatik, Ätiologie, Epidemiologie und Verlauf. . . . . Familien-Adaptation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familienbasierte Rehabilitation von Kindern mit Autismus Konzept-Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktueller Stand der Autismus-Rehabilitationsforschung . Elemente des Konzeptrahmens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familienbasierte Rehabilitation von Kindern mit Autismus Psychoedukatives Eltern-Gruppentraining . . . . . . . . . . . Psychoedukatives Eltern-Einzeltraining. . . . . . . . . . . . . . Psychoedukatives Lehrergruppen-Training . . . . . . . . . . . Evaluation der Familienbasierten Rehabilitation von Kindern mit Autismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evaluation des Psychoedukativen Eltern-Gruppentrainings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evaluation des Psychoedukativen Eltern-Einzeltrainings Evaluation des Lehrer-Gruppentrainings . . . . . . . . . . . . . Fazit aus der Evaluation und Empfehlungen für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit aus der Evaluation des Trainingsprogramms . . . . . Empfehlungen für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
133 134 135 138 139 139 145 146 147 150 152 153 153 155 156 158 158 159
8.1 Störungsbild des Autismus Ansätze zur primären Prävention von Störungen des Autismus-Spektrums1, die eine Reduktion der Inzidenz (Quote der jährlich hinzukommenden Erstdiagno1 Synonym mit „Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen“ (Frühkindlicher Autismus, AspergerSyndrom, Atypischer Autismus, Nicht Näher Bezeichnete Tiefgreifende Entwicklungsstörungen, vgl. ICD-10: Dilling et al., 2000)
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sen) zur Folge hätten, stehen nach derzeitigem Stand nicht zur Verfügung. Auch eine substanzielle sekundäre Prävention (in der Bedeutung etwa von Heilung oder „recovered from autism“, Lovaas, 1987), die zu einer merklichen Reduktion der Auftretenshäufigkeit autistischer Störungen insgesamt (Prävalenz) führen müsste, ist gegenwärtig nicht möglich (vgl. Volkmar et al., 2005). So stellt sich dem Gesundheitswesen der Gegenwart vor allem die Aufgabe der tertiären Prävention, gleichbedeutend mit Rehabilitation, die darauf abzielt, bestehende Verhaltenssymptome der Behinderung zu lindern, kompensatorische Fähigkeiten zu stärken, der Entstehung zusätzlicher Störungen vorzubeugen, die psychosoziale Eingliederung und Partizipation in Familie, Schule, Arbeit und Gemeinwesen zu fördern und so ein möglichst hohes Maß an „bedingter Gesundheit“ (Schipperges, 1985) zu erreichen (Probst, 1996). Eine zentrale Aufgabe rehabilitativer psychologischer Interventionen2 ist die Stärkung der Familien-Adaptation, worunter hier die Gesamtheit der Kompetenzen, Strategien und Leistungen aller Familienmitglieder, sich an die durch das behinderte Kind geprägte Lebenssituation anzupassen, verstanden wird. Ein Hauptindikator der Familien-Adaptation ist die Qualität der Eltern-Kind-Interaktion. 8.1.1 Symptomatik, Ätiologie, Epidemiologie und Verlauf Symptomatik: Der „Frühkindliche Autismus“3 (synonym mit „Autistische Störung“) stellt innerhalb des Autismus-Spektrums das Kern-Syndrom dar. Er ist durch folgende drei Hauptsymptome definiert, die sich in den ersten beiden Lebensjahren manifestieren sollen: 1. Einschränkungen der gegenseitigen sozialen Interaktion als diagnostisches Leitsymptom (fehlender Kontakt zu Gleichaltrigen; Auffälligkeiten in Blickkontakt; Schwierigkeit, mit anderen Menschen spontan Gefühle zu teilen). 2. Auffälligkeiten der Kommunikation und Sprache (verzögerte Entwicklung oder dauerhafte Störung der Sprache bis hin zu gänzlich fehlender gesprochener Sprache – etwa 50 % der Personen mit Autismus sind averbal; Defizite in Sprachpragmatik: Anpassung von Stil und Inhalt der Sprache an die soziale Situation, Eigentümlichkeiten von Sprachmelodie und Sprachrhythmus, stereotype und echolalische Sprache; Einschränkungen des Phantasie- und Sozialspiels). 3. Begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster und Interessen (absorbierende Beschäftigung mit sehr spezifischen Interessengebieten; deutlich zwanghaftes Verhaftetsein in Ritualen; stereotype, häufig sich wiederholende Bewegungen der Finger, Hände und des Körpers; Vorliebe für Teilobjekte bei Beschäftigung mit Spielmaterialien). 2 „Psychologische Interventionen“ hier als Sammelbegriff benutzt für wissenschaftlich begründete („evidenzbasierte“) Maßnahmen aus Medizin, Psychologie, Erziehungswissenschaften, Sozial- und Pastoralarbeit zur förderlichen Modifikation von Verhalten und Erleben bei Personen mit psychischen Störungen und Behinderungen sowie zur unterstützenden Modifikation ihrer sozialen Umwelt. 3 „Frühkindlich“ bedeutet, dass die Störung in der frühen Kindheit und nicht im Jugend- oder Erwachsenenalter beginnt, wie es beim „schizophrenen Autismus“ der Fall ist.
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Unter die assoziierten Störungen, die am häufigsten auftreten, fallen Intelligenzminderung4 (ICD-10: IQ < 70), die bei etwa 70 % aller Personen mit Frühkindlichem Autismus vorkommt und Epilepsie (bei 15 bis 25 % der Personen). Weitere assoziierte Symptome und Störungen sind: Hyperaktivität, Schlaf- und Essstörungen, aggressives und selbstverletzendes Verhalten. Das Asperger-Syndrom weist definitionsgemäß in den beiden ersten Lebensjahren keine klinisch relevante Störung der Sprache und Kognition auf; Atypischer Autismus und Nicht Näher Bezeichnete Tiefgreifende Entwicklungsstörungen sind durch geringeren Schweregrad oder ein späteres Manifestationsalter charakterisiert. Ätiologie: Leo Kanner, der den Begriff „Frühkindlicher Autismus“ („infantile autism“) prägte, ging in seinen früheren Schriften offensichtlich von zwei Faktoren der Entstehung aus. Danach sind neben angeborenen biologischen Ursachen auch Defizite der Eltern-Kind-Beziehung wirksam. So beschrieb er vielfach Eltern als emotional kühl und zwanghaft-pedantisch (Kanner, 1943) und verglich die Familienverhältnisse mit „emotional refrigerators“ (1949), aus denen sich das Kind zurückziehe, um Trost im autistischen Alleinsein zu finden. Er trug dadurch erheblich zur „sozialen Viktimisierung“, d. h. zur ungerechtfertigten Verantwortungszuschreibung (Palermo, 2003) von Eltern autistischer Kinder bei. Erst in späteren Publikationen (Kanner, 1971; 1973) erhielten biologische Faktoren das Hauptgewicht. Nach aktueller Forschungslage werden übereinstimmend neurobiologische, insbesondere genetische Ursachen, für die Entstehung des Autismus verantwortlich gemacht. Auch Komplikationen vor, während und nach der Geburt werden als Risikofaktoren diskutiert. Prävalenz und Verlauf: Die Prävalenz des Frühkindlichen Autismus beträgt 1,3 pro Tausend (männlicher Anteil 80 %); des Asperger Syndroms 0,3 pro Tausend (männlicher Anteil: 87 %); des gesamten Autismus-Spektrums 3,7 pro Tausend (Fombonne, 2005): Es handelt sich somit um eine relativ häufige Entwicklungsstörung, deren Rehabilitation eine gewichtige Aufgabe für das Gesundheitswesen darstellt. Die psychosoziale Prognose über die gesamte Lebensspanne von Personen mit einem Frühkindlichen Autismus beinhaltet, dass nur knapp 20 % dieser Gruppe weitgehend selbstständig leben können, während etwa 80 % der Personen auf kontinuierliche Unterstützung angewiesen sind und die Hälfte von diesen (also 40 % der Gesamtgruppe) dauerhafte intensive Betreuung benötigt. 8.1.2 Familien-Adaptation Eltern eines autistischen Kindes sind mit besonders hohen Anforderungen und Belastungen im täglichen Leben konfrontiert. Dies drückt sich in einem ElternStress-Profil aus, das im Mittel deutlich höher ausfällt als in Familien mit Kin4 Zu beachten ist: „Intelligenzminderung“ ist nicht gleichbedeutend mit dem Begriff „Geistige Behinderung“, sondern überschneidet sich in der Unterkategorie „Leichte Intelligenzminderung“ breit mit „Lernbehinderung“ (vgl. Meyer, 2003).
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dern, die „einfache“ Intelligenzminderungen oder andere Entwicklungsbehinderungen aufweisen (Bouma & Schweitzer, 1990; Sanders & Morgan, 1997). Zur Planung und Durchführung von rehabilitativen Maßnahmen ist es nötig, mögliche Ursachen des Eltern-Stresses zu identifizieren. Legt man eine familienökologische Systemperspektive (Bronfenbrenner, 1986) als Ordnungsschema zugrunde, können Ursachen der Eltern-Stresserfahrung auf allen sozialen Systemebenen, in welche Kind und Familie eingebettet sind, lokalisiert werden: nämlich auf der sozialen Mikro-, Meso-, Exo- und Makro-Systemebene (differenzierte Darstellung bei Marcus et al., 2005; Higgins et al., 2005; Palermo, 2003). Das Mikro-System umfasst die sozialen Gruppen, in denen zwischen autistischem Kind und Bezugspersonen regelmäßig soziale Kommunikation stattfindet (Familie, Kindertagesstätte). Stressquellen in der Familie können sein: Das ungleichmäßige Fähigkeitsprofil des Kindes, das immer wieder zum Beurteilungsdilemma „Kann-mein-Kind-nicht-oder-will-es-nicht?“ führen kann; die atypische soziale Kommunikation des Kindes; auffälliges und störendes Verhalten bei Besuchen und in der Öffentlichkeit. Das Meso-System umfasst Beziehungen zwischen Mikrosystemen: z. B. zwischen Familie und Schule. Belastungen für Eltern entstehen z. B. durch eine unbefriedigende Lehrer-Eltern-Beziehung oder durch mangelhaften Informationsaustausch. Das Exo-System besteht aus sozialen Gruppen und Institutionen im kommunalen Bereich, die auf die Familie wesentlichen Einfluss ausüben können (z. B. therapeutische und sozialbehördliche Einrichtungen). Eltern-Stress entsteht häufig durch Irritationen während der diagnostischen Phase (z. B. durch unklare oder widersprüchliche Informationen) oder durch eine Konfrontation mit pseudowissenschaftlichen oder wissenschaftlich ungeprüften Interventionsangeboten (Weiß, 2002; Simpson, 2005; kritisch zur Gestützten Kommunikation: Probst, 2005). Das Makro-System umfasst übergreifende gesellschaftliche Instanzen wie Rechtswesen und Öffentliche Meinung. Betrachtet man den Bereich des Rechtswesens, so stellt z. B. die umstrittene sozialrechtliche Zuordnung autistischer Behinderungen, die Unsicherheiten in Bezug auf den Umfang sozialer Unterstützung (Eingliederungshilfen) zur Folge hat (Remschmidt & Frese, 2006), für viele Eltern einen Belastungsfaktor dar. Auch im Bereich der öffentlichen Meinung wird Eltern häufig die belastende Erfahrung der sozialen Viktimisierung zuteil. Mögliche Ursachen hierfür sind: die Auswirkungen des „Fundamentalen Attributionsfehlers“, d. h. der allgemeinen Tendenz, bei der Erklärung von Verhalten anderer Menschen den Einfluss dispositionaler Merkmale (z. B. Charaktereigenschaften) zu überbewerten und den Einfluss situationaler Variablen (z. B. zufällige, biologisch bedingte Vorgänge) zu unterschätzen. So wird die Tatsache, ein autistisches Kind zu haben, elterlichen Charaktermängeln und nicht etwa zufälligen genetischen Konstellationen oder Geburtskomplikationen zugeschrieben. Eine Beurteilungsverzerrung (attribution bias) dieser Art hat für den Beurteiler eine sowohl selbstwertschützende als auch selbstwerterhöhende Funktion (Fiktive Selbstkommunikation: Ein „Missgeschick“ dieser Art kann mir nicht passieren, da ich durch einen besseren Charakter davor geschützt bin). Eine in der gleichen Richtung wirkende soziale Beurteilungsverzerrung stellt die
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„Gerechte-Welt-Annahme“ dar, die – vereinfacht gesprochen – beinhaltet, dass „Jeder im Leben bekommt, was er verdient“. Die skizzierten Quellen für Eltern-Stress stellen allesamt Risikofaktoren für die Eltern-Kind-Beziehung und Familien-Adaptation dar. Das Eltern-Stress-Coping-Konzept (Crnic et al., 1983), das auch unter der Bezeichnung „ABCXModell“ (Pakenham et al., 2005) bekannt geworden ist, hat sich in Forschung und Praxis als valide und bei der Planung von Interventionen als heuristisch brauchbar erwiesen (vgl. Abb. 1). Die Familienadaptation (X) hängt nicht allein von den Stressoren A ab (Gesamtheit der Anforderungen und Belastungen, die aus der Aufgabe erwachsen, langfristig für ein schwerwiegend behindertes Kind zu sorgen), sondern wesentlich von Moderatorvariablen, die den Prozess der familiären Anpassung steuern. Dazu gehören B (psychische und materielle Ressourcen der Familie), C (Interpretation der Stressoren, z. B. als untragbare Belastung oder als Herausforderung und Lebensaufgabe) und BC (Familien-Coping: ein Brücken-Konzept, in dem kognitive, emotionale und aktionale Ressourcen der Familie zur Bewältigung von A [Stressoren] zusammengefasst werden). Auf extreme Formen des Scheiterns familiärer Adaptation verweisen zwei neuere Publikationen. Palermo (2003) untersuchte in einer kriminologisch orientierten Studie Fälle von Filizid (Tötung des eigenen Kindes) an entwicklungsbehinderten Kindern. Unter insgesamt 1.600 registrierten Fällen waren auch 80 Kinder mit Autismus (5 %). Als Ursachen werden u. a. genannt das Fehlen von Unterstützungs-Netzwerken und elterliche Psychopathologie (primär affektive Störungen). Mukaddes und Topcu (2006) schildern in einem Fallbericht aus der Türkei den Totschlag eines sechs Monate alten Säuglings durch seine 10-jährige autistische, mehrfachbehinderte Schwester. Auch hier wird unter den Risikofaktoren der Mangel an sozialer Unterstützung (kein Behandlungsprogramm, fehlende Supervision der Eltern) hervorgehoben.
A Stressoren
B FamilienRessourcen
Risiko- und Protektive Faktoren der Familien-Umwelt: Mikro-, Meso-, Exo- und MakroSystem-Ebene der FamilienÖkologie (s. Definition im Text)
C Interpretation
X FamilienAdaptation
BC Familien-Coping („Brücken-Konzept“)
Abbildung 1: Das ABCX-Modell der Familien-Adaptation unter Berücksichtigung von Familienumwelt-Faktoren (adaptiert nach Pakenham et al., 2005)
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Eine wichtige Ergänzung erfährt das Stress-Coping-Modell durch Konzepte der „Kontroll-Erwartung“ aus der sozialen Kognitionsforschung (Fiske & Taylor, 1991; Probst 1996; 1997; 1998b). Dazu zählen die „Selbstwirksamkeitserwartung“ (Bandura, 1977) und das „Kohärenzbewusstsein“ (Sense of Coherence, Antonovsky, 1979). Banduras Begriff bezieht sich auf die Erwartung und Zuversicht einer Person, zu eigenen Handlungen fähig zu sein (z. B. zur Teilnahme an einem Elterntraining). In Antonovskys Konzept des Kohärenzbewusstseins werden drei Faktoren hervorgehoben, die zur familiären Adaptation beitragen: 1. Verstandesmäßiges Durchdringen der Stress-Situation (z. B. Ursachen, Phänomenzusammenhänge und Folgen der autistischen Behinderung); 2. Emotionales Verstehen der Situation (empathisches Nachempfinden der Bedürfnisse des autistischen Kindes und anderer Familienmitglieder; gefühlsmäßige Einsicht in die eigene inneren Lage und die eigenen Bedürfnisse) und 3. Vertrauen in die prinzipielle Bewältigbarkeit der Situation („dauerhaft behindertes Kind“) mittels eigener Kompetenzen oder durch die Zuhilfenahme der Kompetenzen anderer Personen (Professionelle, Familienmitglieder, Freunde, auch religiöse Mächte). Bei allen rehabilitativen Interventionen an Kindern mit Autismus ist darauf abzuzielen, protektive Faktoren, die auf das Eltern- und Familien-Coping einwirken, zu stärken und entsprechend Risikofaktoren, die sich aus dem StressorenBereich ableiten, zu reduzieren. Dabei sollen alle Ebenen der sozialen Systeme, durch welche Kind und Eltern beeinflusst werden, berücksichtigt werden (vgl. Abb. 1).
8.2 Familienbasierte Rehabilitation von Kindern mit Autismus Das von uns an der Universität Hamburg entwickelte und in erster Stufe bereits evaluierte Interventionsprogramm Familienbasierte Rehabilitation von Kindern mit Autismus ist modular aufgebaut und besteht aus: 1. dem Psychoedukativen Eltern-Gruppentraining 2. dem Psychoedukativen Eltern-Einzeltraining 3. dem Psychoedukativen Lehrer-Gruppentraining. Das Lehrer-Gruppentraining wird im vorliegenden Kontext der familienbasierten Rehabilitation zugerechnet, weil Erziehungseinrichtungen ein Teil der Familienumwelt sind und die Familien-Adaptation wesentlich beeinflussen (siehe oben).
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8.2.1 Konzept-Rahmen 8.2.1.1 Aktueller Stand der Autismus-Rehabilitationsforschung Der für das Familienbasierte Rehabilitationsprogramm entwickelte KonzeptRahmen orientierte sich am aktuellen Stand der Autismus-Interventionsforschung. Kontrollierte Interventionsstudien zur Autismus-Rehabilitation sind bis jetzt von vier Forschergruppen vorgelegt worden (vgl. Tab. 1): Aus den USA (1) Eric Schopler und Gary Mesibov, (2) Ivar Lovaas; (3) Robert Koegel et al., aus Großbritannien (4) Patricia Howlin und Michael Rutter. Auch die große Mehrheit der nicht-kontrollierten Verlaufsstudien sind diesen vier Forscher-Netzwerken zuzuordnen. In Tabelle 1 sind wesentliche Merkmale und Ergebnisse der von diesen vier Gruppen entwickelten Programme zusammengestellt. Eine umfassende Darstellung findet sich in der Überblicksstudie von Probst (2001a), in der deskriptive und metaanalytische Bewertungsmethoden kombiniert wurden. Im Zeitraum von 2001 bis 2006 kamen aus der Forschergruppe um Lovaas 5 weitere kontrollierte Studien hinzu (Smith et al., 2000; Eikeseth et al., 2002; Sallows & Graupner, 2005; Smith et al., 1997; Howard et al., 2005).
Tabelle 1: Überblick zum Stand der Autismus-Interventionsforschung Forschergruppe
(1) Eric Schopler & Gary Mesibov
(2) Ivar Lovaas
(3) Robert Koegel & Laura Schreibman *
(4) Patricia Howlin & Michael Rutter
Programmbezeichnung
TEACCH (Treatment and Education of Autistic and related Communication handicapped Children); Univ. of Chapel Hill, North-Carolina, USA
Lovaas‘ Young Autism Project (YAP), Lovaas Institute for Early Intervention (LIFE); University of California Los Angeles/ (UCLA)
University of California at Santa Barbara Autism Research and Training Program (Koegel); University of California San Diego Autism Research Program (Schreibman)
Treatment of Autistic Children; Maudsley Hospital, Univ. of London
* Und weitere Vertreter eines „liberalisierten Applied Behavior Analysis (ABA)-Ansatzes“. Im „liberalisierten ABA-Ansatz“ werden neben dem in der „klassischen“ ABA dominierenden Modell der „Operanten Konditionierung“ und dem daraus abgeleiteten „Diskreten Lernformat“ (Lovaas, 1981, 2003) gleichberechtigt auch empirisch bewährte Methoden aus anderen Schulrichtungen berücksichtigt, wie z. B. Konzepte des „Modell-Lernens“, des „Selbst-Managements“ und der „interpersonellen Beziehungsförderung“ (Koegel et al., 1996, S. XIII-XVI; vgl. „BreitbandVerhaltenstherapie“, Margraf, 1996).
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Tabelle 1 (Fortsetzung) Anzahl der kontrollierten Studien (n = Anzahl der Kinder); KatamneseDauer
2 (n = 50); 1 KurzzeitKatamnese (< 6 Mo.), 1 mittelfristige Katamnese (18 Mo.)
9 (n = 274); mehrere LangzeitKatamnesen (2-4 J.)
2 (n = 36); beide Kurzzeit-Katamnesen
1 (n = 46); Mittelfristige Katamnese (18 Mo.)
Elterntraining
Eltern-Einzeltraining im klinischen u. häuslichen Bereich (Umfang: 7-10h; 1h/Wo.); 2-3 J. TEACCHorientierte VorschulKleinklasse (5-6 Kinder, 2 Lehrer) (geschätzter Umfang: 2.0003.000 h)
Häusliches Eltern- und Kind-Training (Umfang: 3.000-6.000 h; 30-40h/Wo. über 2-3 J.)
Eltern-Einzeltraining im klinischen und häuslichen Bereich (Umfang: 25-50 h)
Eltern-Einzeltraining im häuslichen Bereich (Umfang: 125 h; 1-2,5 h/Wo. über 18 Mo.)
Bevorzugtes Interventionsformat
Visuell-Strukturiertes Lernformat
Diskretes Lernformat
Naturalistisches Lernformat
KontingenzManagement-Format; Diskretes Lernformat
Gemeinsame Merkmale: Eltern-Mediatoren-Konzept, Eltern-Breitband-Beratung; Strukturierte Lernformate Theoretische Validität
zufrieden stellend
eingeschränkt
zufrieden stellend
zufrieden stellend
Interne Validität
eingeschränkt
eingeschränkt
eingeschränkt
knapp zufrieden stellend
Externe Validität
zufrieden stellend
eingeschränkt
zufrieden stellend
zufrieden stellend
ProgrammEffekte: Familien-Adaptation, KindVerhaltensadaptation, Sprachentwicklung
mittlere Größenordnung
mittlere Größenordnung
mittlere Größenordnung
mittlere Größenordnung
ProgrammAkzeptanz
hoch
hoch
hoch
hoch
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Aus Tabelle 1 wird ersichtlich, dass zwischen den Programmen der vier Forschungsgruppen drei wesentliche Gemeinsamkeiten bestehen. Die Orientierung am 1. Eltern-Mediatoren-Konzept 2. Konzept der Eltern-Breitband-Beratung 3. Methoden der Strukturierten Lernformate. Nach dem Eltern-Mediatoren-Konzept werden Eltern als wichtige Kooperationspartner (engl. co-therapist) der Therapeuten5 betrachtet. Zur Ausübung dieser sozialen Rolle eignen sich Eltern im Elterntraining handlungspraktisches Wissen für den Umgang mit dem autistischen Kind (der indirekten Zielperson des Trainings) im Alltag an und werden so zu Vermittlern (Mediatoren) von praxisrelevantem Wissen an das Kind, an andere Familienmitglieder und an die Familienumwelt (z. B. Schule). Mediatoren können auch Lehrer der Therapeuten sein, indem sie persönliches Wissen über ihr Kind mitteilen und ihre gemeinsamen emotionalen Erfahrungen austauschen (Schopler, 1994). Der Eltern-Mediatoren-Ansatz dient wesentlich auch der Prävention von Eltern-Kind-Interaktionsstörungen. Die Beziehung zwischen Eltern und Kind kann durch Stressoren der spezifischen Autismus-Symptomatik leicht aus dem Gleichgewicht geraten. So kann z. B. das seltene soziale Lächeln und Annäherungsverhalten des Kleinkinds bei den Eltern Selbstzweifel und Depression hervorrufen (Schopler et al., 1983) und in einem Circulus vitiosus dazu führen, dass die Eltern sich ihrem Kind ebenfalls weniger zuwenden. Durch ein Psychoedukatives Elterntraining kann die Gestaltung einer sinnerfüllten und reziproken Eltern-Kind-Beziehung erleichtert (Schopler et al., 1971) und damit die Akzeptanz des Kindes verbessert werden (Schopler et al., 1984). Die Breitband-Elternberatung bietet den Eltern die Möglichkeit zu sozialem und emotionalem Lernen, dadurch dass ein „breites Band“ von Problemen, die für die gesamte Familie relevant sind, thematisiert werden kann. Eine weitere Komponente dieser Interventionsform ist die aktive Vertretung der Interessen der Eltern in der Öffentlichkeit, im Gesundheitswesen und bei der Gestaltung der Beziehung zwischen Eltern und Professionellen („advocacy“, Schopler, 1994). Strukturierte Lernformate sind charakterisiert durch eine deutliche Gliederung der Lern- und Lebenssituation des Kindes und durch eine Akzentuierung relevanter Situations-Komponenten. Beim Visuell-Strukturierten Lernformat wird dieses Prinzip umgesetzt durch (a) räumliche Strukturierung (z. B. Unterteilungen eines häuslichen Raums), (b) zeitliche Strukturierung (z. B. Bereitstellung eines Tagesplans) und (c) handlungsbezogene und symbolische Strukturierung (z. B. Bereitstellung einer gut verständlichen Anleitung zur Lösung lebenspraktischer oder schulischer Aufgaben), jeweils mit visuellen Mitteln, die dem Entwicklungsstand des Kindes entsprechen (Schopler et al., 1995; TEACCH, 1996; Häußler, 2005; Bondy & Frost, 2003; Lovaas & Eikeseth, 2003; Schreibman & Koegel, 1996; Handleman & Harris, 2001). 5 Sammelbegriff für alle Professionellen und Mediatoren, die in regelmäßigem Kontakt zum Kind stehen.
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Im Diskreten Lernformat werden alle Lernsituationen in drei gut unterscheidbare (engl. discrete: voneinander verschieden) Schritte gegliedert: (1) Instruktion des Therapeuten, (2) Verhaltensreaktion des Kindes (mit anfänglicher Hilfestellung, falls sie nicht spontan erfolgt) und (3) Verstärkung der richtigen Reaktion durch den Therapeuten (anfänglich Belohnung auch von Verhaltensreaktionen, die dem Zielverhalten nur grob ähnlich sind). Nach mehreren dieser dreischrittigen Lerndurchgänge erfolgt eine Erholungs- und Spielpause (Lovaas, 2003; Watson et al., 1989). Das Naturalistische Lernformat bevorzugt natürliche Alltagssituationen (auf dem Spielplatz, auf dem Fußboden des Wohnzimmers). Der Therapeut regt durch Auswahl und Platzierung bevorzugter Gegenstände kommunikative Initiativen und Auswahlhandlungen an. Richtige soziale Kommunikation wird mit „natürlicher“ Verstärkung beantwortet (z. B. auf die Zeigegeste oder Lautäußerung „Ball“ erhält das Kind den begehrten Gegenstand). Das Schlüssel-FertigkeitenTraining (Pivotal Response Training, Schreibman & Pierce, 1993) zielt auf die Förderung von Motivation, Kommunikation und Selbst-Management in natürlichen Situationen. Beim Kontingenz-Management-Format werden soziale Problemsituationen durch eine Untergliederung in Teilprobleme und Teilziele strukturiert. Relevante Situationskomponenten werden durch Wenn-Dann-Regeln und darauf abgestimmte Verhaltensverträge akzentuiert (Howlin & Rutter, 1987; Howlin, 1998; 2004). Beispielsweise wird ein Vertrag über die schrittweise Reduktion (graduated change) von exzessivem Sammel- und Hortverhalten geschlossen. Dieser enthält verhaltensnah (kontingent) eingesetzte Anreize für die Einhaltung des Vertrags und Sanktionen bei Vertragsbruch. Aus kognitionspsychologischer Perspektive (vgl. Kaminski, 1970, S. 561, mikropsychologische Interpretation; Koch, 2002) führen Interventionen, die sich am Strukturierten Lernformat orientieren, zu ähnlichen innerpsychischen Vorgängen: Das Kind wird jeweils in die Lage versetzt, kognitive, affektive, motivationale und handlungsbezogene Teilkonzepte zu aktualisieren und zu einem neuen Gesamtkonzept zu verknüpfen. So verläuft z. B. auch operante Konditionierung, mit der Prozesse im Rahmen des Diskreten Lernformats erklärt werden (Lovaas, 2003), häufig bewusst ab und ist durch das Lernen von Erwartungen (Ehlers, 1996), durch die Aneignung von Erklärungen (Attributionen) über Zusammenhänge in der Welt und durch den Erwerb kognitiv-affektiver Schemata gekennzeichnet (etwa Freude und Stolz über eine gelungene Handlung und die anschließende Anerkennung durch den Therapeuten, was wiederum zur Stärkung der Selbstwirksamkeitserwartung beiträgt). Relevante Unterschiede zwischen den Programmen betreffen: (a) den zeitlichen Umfang (in der Lovaas-Gruppe 3.000 bis 6.000 Stunden und in den anderen Gruppen zwischen 10 und etwa 100 Stunden) und (b) den Inhalt der Intervention (bei Lovaas finden alle Interventionen im häuslichen Bereich statt [im Alter von etwa 3 bis 5 Jahren plus im Alter von etwa 5 bis 7 Jahren], demgegenüber bei Marcus et al. (2001) nur das Gesamt der Eltern-Trainingsintervention [7 bis 10 Stunden], nicht jedoch die umfängliche Vorschulerziehung nach TEACCH im Alter von 3 bis 6 Jahren, die schätzungsweise einen Umfang von 2.000 bis
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3.000 Stunden aufweist [25 h/Wo. über 2 bis 3 J.]) und (c) die Katamnese-Dauer (Langzeit-Katamnesen mit ≥ 2 Jahren liegen nur bei Lovaas vor, je eine mittelfristige Katamnese (≥ 18 Mo.) bei Schopler und Howlin und Rutter). Will man die Interventionsprogramme der vier Forschergruppen vergleichend bewerten, bieten sich drei Validitätskriterien an: – Theoretische Validität: Wie umfänglich gründet das jeweilige Interventionskonzept auf dem aktuellen interdisziplinären Wissensstand? – Interne Validität: Wie schlüssig sind die Interventionseffekte zwischen experimenteller Gruppe und Vergleichsgruppe sowie zwischen Prä- und PostZeitpunkt auf die Intervention und nicht auf andere, unkontrollierte Einflüsse zurückzuführen? Sind die Programm-Effekte klinisch-pädagogisch bedeutsam? – Externe Validität: Wie gut kann die jeweilige Interventionsmethode auf andere Personen, Situationen und Zeitabschnitte übertragen werden? In Tabelle 1 wurde zur Beurteilung der Validität eine sehr grobe Einteilung vorgenommen nach „zufriedenstellend“ und „eingeschränkt“. Bei der Einschätzung der internen Validität wurde auf die Kriterien des „Güteprofils“ von Evaluationsstudien bei Grawe et al. (1994) zurückgegriffen. Die theoretische Validität des Lovaas-Programms wurde als „eingeschränkt“ eingestuft, weil neuere Entwicklungen der Psychologie, Psychiatrie sowie Sprachund Kommunikationswissenschaft (Cohen & Volkmar, 1997; Volkmar et al., 2005) bei der Interpretation der Programm-Ergebnisse nicht hinreichend berücksichtigt wurden (vgl. Shea, 2004). Insbesondere die Behauptung, durch eine frühe und intensive behaviorale Therapie habe sich knapp die Hälfte der anfänglich deutlich intelligenzgeminderten Kinder zu normalintelligenten entwickelt („normal levels of intellectual functioning“; Lovaas, 1987; 1996; 2003), steht im Widerspruch zum interdisziplinär anerkannten Wissenstand und ließ sich empirisch nicht belegen (s. u.). Die interne Validität sowohl des TEACCH-Programms (Schopler, 1994) als auch des Programms von Koegel und Schreibman (Koegel et al., 1996) ist eingeschränkt insbesondere wegen der reduzierten „Reichhaltigkeit der Messung“ (Grawe et al., 1994, S. 75: Variabilität der Ergebnismerkmale) und der überwiegenden Kurzzeit-Katamnesen. Bei Howlin und Rutter (1987) gibt es zwar eine beispielhafte „Reichhaltigkeit der Messung“ (systematische Verhaltensbeobachtung und Elterneinschätzungen der Effekte über mehrere Funktionsbereiche) und eine längere Katamnesedauer, aber bedauerlicherweise keine Replikationsstudie. Was das Lovaas-Programm betrifft, liegen hier beachtliche Langzeit-Katamnesen und Replikationsstudien an einer beträchtlichen Zahl von Kindern vor. Die interne Validität ist aber insbesondere durch eine mangelnde „Vorsicht bei der Interpretation“ (Grawe et al., 1994, S. 75) eingeschränkt. Dieser Qualitätsmangel bezieht sich im Wesentlichen auf die Bereiche „Intelligenz“ und „Schulische Anpassung“ (vgl. Shea, 2004). Die von der Lovaas-Gruppe wiederholt berichteten erheblichen Steigerungen der Intelligenz (um 20 bis 25 IQ-Punkte, Lovaas, 1987; McEaching et al., 1993; Sallows & Graupner, 2005) in der Intensiv-Behandlungsgruppe sind vermutlich
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wesentlich durch eine „Messinstrument-Variation“ verursacht. Der bei Beginn der Therapie im Alter von zwei bis drei Jahren eingesetzte Entwicklungstest nach Bailey (1969), zit. nach Lord & Schopler, 1988) unterschätzt im Mittel die Intelligenz autistischer Kinder erheblich, weil er elementares Sprach-, Kommunikations- und Sozialverständnis erfordert, was gerade zu diesem frühen Zeitpunkt bei vielen autistischen Kindern gering ausgeprägt ist. Wenn drei bis vier Jahre später nach Abschluss der Intervention ein anderer Test zur Erfassung der Allgemeinen Intelligenz benutzt wird (etwa ein Verfahren nach Wechsler wie der HAWIK-III; Tewes et al., 1999), wird häufig ein deutlich besseres Ergebnis erzielt, weil sich das Instruktions- und Situationsverständnis und damit das allgemeine Testverhalten verbessert haben und die Sprachentwicklung vorangeschritten ist. Erwartungsgemäß sind in der „Nonverbalen Intelligenz“ nur geringe (7 IQ-Punkte nach 4 J. Intensivtherapie), in der „Verbalen Intelligenz“ aber deutliche Unterschiede zwischen Prä- und Post-Test festzustellen (Sallows & Graupner, 2005). Auch die von Lovaas (1987) und McEaching et al. (1993) vorgenommene Interpretation der Schulplatzierungsdaten steht aus methodischen Gründen auf sehr schwachen Füßen. Die Behauptung, dass knapp die Hälfte der mit Intensiver Behavioraler Intervention behandelten Kinder im Alter von sieben Jahren die Regelschule ohne Schulassistenz besuchen konnte, ist in keiner der Folgestudien repliziert worden. In einer jüngeren Untersuchung (Sallows & Graupner, 2005) nähern sich die Befunde zur schulischen Adaptation nach Intensiver Behavioraler Therapie (30 bis 40 Stunden über mindestens zwei Jahre) den Ergebnissen anderer Interventionsprogramme an: Nur 5 der 23 behandelten Kinder (insgesamt 22 %) benötigten keine besonderen Hilfen, 35 % besuchten eine sonderpädagogische Klasse und 43 % eine Ganztags-Regelklasse und erhielten regelmäßige Unterstützung oder Sprachtherapie. Die externe Validität des Interventionsprogramms der Lovaas-Gruppe ist deutlich reduziert. Als hauptsächliche Ursachen hierfür sind zu nennen: (a) die sehr hohen zeitlichen, psychischen und materiellen Anforderungen, die an die Familie und auch ihre kommunale Umwelt gestellt werden (vgl. Maurice et al., 1996; Johnson, 2006) und (b) missionarisch gefärbte Werbestrategien für die Programm-Verbreitung, die im Tenor eine Abwertung konkurrenter Programme und eine Aufwertung des eigenen Ansatzes durch extrem positive Therapieerfolgsprognosen beinhalten (vgl. Probst, 2001a; Schreibman & Ingersoll, 2005). Beide Faktoren tragen zur Konfusion bei Eltern, Professionellen und Institutionen bei und schränken die Übertragbarkeit der pädagogisch und klinisch unbestreitbar relevanten Kerne des Lovaas-Programms auf weitere Kinder, Familien und Frühfördereinrichtungen ein. Zu den Faktoren, welche die besonders hohe externe Validität des TEACCH-Programms bedingen, zählen: (a) die Integration des Programms in das öffentliche Gesundheits- und Sozialwesen; (b) der damit korrespondierende umfassende bundesstaatsweite Versorgungsauftrag, der sich auf die gesamte Lebensspanne vom Kindergartenalter (ab dem Alter von 2 bis 3 Jahren) bis zum späteren Erwachsenenalter erstreckt und die Lebensbereiche Familie, Schule, Arbeitswelt, Freizeit und Öffentlichkeit betrifft; (c) niederschwellige, flexible und individualisierte Interventionsangebote für Familien verbunden mit der Zielsetzung, einer „Aufopferungsrolle“ der Eltern vorzubeu-
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gen (ganz ähnlich bei „Howlin und Rutter“ und „Koegel und Schreibman“) – die empfohlene Mediatoren-Tätigkeit liegt unter einer halben Stunde pro Tag; das Eltern-Einzeltraining, das bei Bedarf wiederholt werden kann, umfasst einen zeitlichen Block von etwa sieben Stunden – und (d) die Etablierung von Kleingruppen-Klassen (2 Therapeuten/Pädagogen pro 5 bis 6 autistische Kinder) vom Vorschulbereich (3 bis 6 Jahre) bis zum Schulabschluss (16 Jahre) und später von entsprechend kleinen Gruppen für Jugendliche und Erwachsene im Wohnund Arbeitsbereich. Die Kleinklassen sind an öffentlichen Schulen eingerichtet, so dass integrative Kontakte möglich sind. Autistische Kinder, deren Entwicklungszustand es zulässt, werden mit individuell abgestufter Assistenzintensität in Regelklassen unterrichtet. Fazit der Validitätsanalyse: Unter Berücksichtigung der metaanalytischen Auswertung von 35 Interventions-Gruppenstudien (Probst, 2001a, zuzüglich der oben zitierten fünf Folgestudien aus der „Lovaas“-Gruppe) sowie der Bewertung ihrer theoretischen, internen und externen Validität, ergibt sich die Schlussfolgerung: Für alle vier Programme wurden vergleichbare substanzielle Effekte in den Bereichen „Familien-Adaptation“ (Eltern-Kind-Interaktion), „Verhaltensadaptation des Kindes“, „Sprachentwicklung“ und „Programm-Akzeptanz seitens der Eltern“ nachgewiesen. Die aktuellen Aussagen der Lovaas-Gruppe zu Effekten bei der Intelligenzentwicklung und die früheren Aussagen zur schulischen Adaptation (Lovaas, 1987) sind aus methodischer Sicht nicht haltbar. Sieht man von diesen beiden Ergebnismerkmalen ab, bewegt sich die Intensität der Effekte (Effektstärken) überwiegend im mittleren Bereich; die Akzeptanz ist bei allen vier Programmen hoch. Eine positive Korrelation der Effektstärke mit der Intensität der Intervention ist aus den vorhandenen Daten nicht abzulesen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Heterogenität der Studienmethodik eine Überprüfung der Beziehung zwischen Therapieintensität und Therapieeffekten nicht zulässt. Die in den Programmen angewandten Interventionsmethoden (Eltern-Mediatoren-Training, Eltern-Breitbandberatung und die in Tabelle 1 angeführten vier Strukturierten Formate) können so weit als wissenschaftlich begründet angesehen werden, dass ihrer weiteren Erprobung in Interventionsstudien nichts im Wege steht. Auf die besonderen Probleme der externen Validität des Lovaas-Programms wurde detailliert eingegangen. Unbeschadet dieser Kritikpunkte sind jedoch die Kernelemente des Lovaas-Ansatzes (Strukturiertes Lernformat) ein wertvolles methodisches Element der Frührehabilitation. Dieser Ansatz stellt, historisch gesehen, eine Pionierleistung bei der Behandlung autistischer Kinder dar. 8.2.1.2 Elemente des Konzeptrahmens Der für das Programm Familienbasierte Rehabilitation von Kindern mit Autismus verbindliche Konzeptrahmen enthält die in Kasten 1 aufgeführten Elemente: (1) beinhaltet ein allgemeines Handlungsmodell zur Verbindung von Diagnostik, Intervention und Evaluation; die Elemente (2) bis (7) beziehen sich auf die weiter oben abgeleiteten wissenschaftlich begründeten Interventionskonzepte.
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Kasten 1: Konzeptrahmen für das Programm „Familienbasierte Rehabilitation von Kindern mit Autismus“
1. Orientierung an einem übergreifenden Handlungsmodell zur Integration von Diagnostik, Intervention und Evaluation 2. Eltern-Mediatoren-Konzept (Eltern-Gruppentrainings-Format; Eltern-Einzeltrainings-Format) 3. Konzept der Eltern-Breitband-Beratung zur Ermöglichung von emotionalem und sozialem Lernen und zur Förderung der Integration der Familie in das kommunale Leben (Orientierung am Klientenzentrierten Konzept (Eckert, 1996; Tausch, 1998) und am Advokaten-Konzept (Schopler, 1994; Marcus et al., 2005) 4. Methoden des Visuell-Strukturierten Lernformats 5. Methoden des Diskreten Lernformats 6. Methoden des Naturalistischen Lernformats 7. Methoden des Kontingenz-Management-Lernformats Allgemeine Grundlage des Programms ist ein Handlungsmodell der professionellen Praxis, in dem Diagnostik, Intervention und Evaluation eine funktionale Einheit bilden (Kaminski, 1970; Pawlik, 2000). Ein besonders wichtiger diagnostischer Schritt ist dabei die Überprüfung der „Äquivalenz“ (Kaminski, 1970) zwischen der Interventionsmethode, die man einzusetzen beabsichtigt, und der Person oder Gruppe, an die sie gerichtet ist. So haben sich alle rehabilitativen Maßnahmen an Entwicklungsstand, Verhaltensadaptation, Persönlichkeit und aktuellen funktionalen Bedürfnissen des Kindes auszurichten; sie müssen aber gleichzeitig auch die individuellen Kompetenzen, Ressourcen und Ziele der Eltern berücksichtigen. Wenn z. B. Eltern die Ressourcen fehlen, eine aktive Mediator-Rolle durch Beteiligung am Eltern-Gruppentraining und häuslichen Programmen einzunehmen, sind alternative Interventionen anzubieten, wie informelle Beratungskontakte, Breitband-Beratung in größeren Abständen, Eltern-Selbsthilfe-Gruppen oder Unterstützung bei der kommunalen Integration des Kindes in Kindergarten und Schule (vgl. Marcus et al., 2005; Howlin & Rutter, 1987). Bei der „Eltern-Breitband-Beratung“ orientierten wir uns primär am „Klientenzentrierten Konzept“ (s. Eckert, 1996; Tausch, 1998; Konzentration auf das Verstehen des „inneren Bezugsrahmens“ der Eltern und weiterer Familienmitglieder) und am „Advokaten-Konzept“ (s. Schopler, 1994; Marcus et al., 2005: Vertretung der Elterninteressen im kommunalen Feld). 8.2.2 Familienbasierte Rehabilitation von Kindern mit Autismus Im Folgenden werden die drei Programm-Module unseres Programms „Familienbasierte Rehabilitation von Kindern mit Autismus“ beschrieben. Ihr Inhalt orientiert sich am Konzeptrahmen, der im vorausgehenden Abschnitt skizziert wurde.
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8.2.2.1 Psychoedukatives Eltern-Gruppentraining Das Psychoedukative Eltern-Gruppentraining wurde als Pilotstudie an 24 Eltern (Freiwilligen-Stichprobe, 83 % Mütter, 17 % Väter, mittleres Alter: 39 Jahre) von 23 autistischen Kindern (Alter: 4 bis 16 Jahre, mittleres Alter: 9 Jahre) evaluiert (Probst, 1998b; 2000; 2001b; 2003b; 2004). Das Training wurde in drei ElternKleingruppen in den Städten Potsdam, Ibbenbüren (NRW) und Hamburg im Zeitraum von 1997–1998 durchgeführt. Die Gruppengröße variierte von 3 bis 13 Eltern. Die Trainings erfolgten ganztägig an Samstagen im Abstand von 4 bis 5 Wochen. 23 (96 %) Kinder wiesen die ICD-Diagnose „Frühkindlicher Autismus“ auf. Ein Kind hatte ein Asperger-Syndrom. Die Prä-Interventions-Diagnostik umfasste einen halbstandardisierten familienbiographischen Fragebogen (52 Items) und einen „Symptom-Belastungs-Fragebogen“ (48 Items), in dem die Eltern über die subjektiven Belastungen berichteten, die sich aus den Verhaltenssymptomen des Kindes ergaben. In Tabelle 2 wird ein Ergebnisausschnitt vorgestellt, in dem die Verhaltensweisen des Kindes aufgeführt sind, die mit den stärksten Stressreaktionen der Eltern einhergingen. Tabelle 2: Belastungen der Eltern durch die Verhaltenssymptomatik des Kindes: Ausschnitt aus einem 48-Item-Fragebogen Eltern-Belastung: 3-stufige Skala:
(2) ( %)
(3) ( %)
2+3 ( %)
Mein Kind lebt in seiner eigenen, für andere schwer erreichbaren Welt.
17
61
78
Mein Kind spielt lieber allein als mit anderen Kindern.
35
40
75
Mein Kind hat schwere Wutanfälle.
22
56
78
Beim vergeblichen Versuch, sich mitzuteilen, reagiert mein Kind schnell enttäuscht.
32
42
74
Mein Kind „hört nicht“ auf uns und erkennt keine Grenzen an.
16
53
69
(1) = wenig belastend; (2) = mittelgradig belastend; (3) = sehr belastend
Das Curriculum des Eltern-Gruppentrainings (vgl. Kasten 2) gliedert sich in die drei Bereiche: „Aneignung von Wissen und Erfahrungsaustausch über Symptomatik, Ursachen und Behandlung von Autismus“ (Zielbereiche 1-3); „Erwerb von Wissen und Erfahrungsaustausch über Familienaspekte“ (Zielbereich 4); „Erwerb von alltagspraktischen Strategien und Fertigkeiten im Umgang mit dem autistischen Kind“ (Zielbereich 5). Die eingesetzten didaktischen Methoden umfassten: 1. Audiovisuell unterstützte mündliche Instruktion 2. Schriftliche Instruktion mit graphischen Illustrationen (Trainingsbegleit-Manual) 3. Vermittlung von praktischen Fertigkeiten durch Demonstrationen von Modell-Videos und von selbst angefertigten Karton- und Kunststoff-Materialien (z. B. Tagesplan)
148
P. Probst
Kasten 2: Ziele des Curriculums des Psychoedukativen Eltern-Gruppentrainings
1.
Erwerb von Wissen und Erfahrungsaustausch über Erleben und Verhalten des autistischen Kindes sowie über Grundzüge der diagnostischen Klassifikation 1.1. Aneignung von Wissen über Erscheinungsbild, Wesen (Informationsverarbeitung, Bedürfnis nach strukturierter Umwelt) und Diagnostik von Autismus 1.2. Erfahrungsaustausch der Eltern über die Entwicklung des eigenen Kindes und den Umgang mit autistischen Verhaltenssymptomen in Vergangenheit und Gegenwart in Familie und Öffentlichkeit 2.
Aneignung von Wissen über Ursachen des Autismus (genetische Faktoren, prä-, peri- und postnatale Faktoren; fehlende empirische Stützung psychogener Ursachentheorien)
3.
Aneignung von Kenntnissen über Ziele, Theorien und Methoden von Behandlungsmethoden in Therapie und Rehabilitation: 3.1. Methode des Visuell-Strukturierten Lernformats nach TEACCH 3.2. Weitere Methoden des Kognitiv-Behavioralen Spektrums (Diskretes Lernformat, Naturalistisches Lernformat, Kontingenz-ManagementLernformat) 3.3. Methoden im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts 4.
Sensibilisierung für Familienbelange, die sich aus der autistischen Entwicklungsstörung ergeben
5.
Erwerb von praktischen Strategien und Fertigkeiten zur Förderung und zum Verhaltensmanagement des autistischen Kindes: Gestaltung der räumlichen und gegenständlichen Umwelt des Kindes Gestaltung von Tagesplänen zur visuellen Strukturierung des täglichen Geschehens Gestaltung von Arbeits- und Tätigkeitsplänen sowie Arbeitssystemen Unterstützung des Lernens durch die Technik der verbalen, gestischen und physischen Hilfestellung Unterstützung des Lernens durch die Technik der Aufspaltung einer Aufgabe in kleine Schritte (vgl. Abb. 2) Unterstützung des Lernens durch Verstärkung von Zielverhalten Unterstützung des Lernens durch Erstellung von entwicklungsgerechten Aufgaben, die vom Kind als sinnvoll und motivierend erlebt werden (mit Einsatz visuell gestalteter, selbsterklärender Instruktionen; vgl. Abb. 3) Methoden zur Förderung von Sprache, Kommunikation und sozialen Fertigkeiten
5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5. 5.6. 5.7.
5.8.
8 Prävention von Interaktionssstörungen bei Autismus
149
Abbildung 2: Beispiel aus dem Elterntrainings-Begleitmanual zu: „Aufspaltung einer Aufgabe in kleine Schritte“ (vgl. Kasten 2, Curriculum 5.5.)
Abbildung 3: Beispiel aus dem Elterntrainings-Begleitmanual zu: „Erstellung von Aufgaben mit visueller, selbsterklärender Instruktion“ (vgl. Kasten 2, Curriculum 5.7.)
150
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4. Verhaltensübungen (z. B. Darbietung von physischer und gestischer Hilfestellung) 5. Kurze schriftliche Übungen zur Planung von praktischen Maßnahmen mit anschließender mündlicher Präsentation und Gruppendiskussion 6. Themenzentrierte Gruppendiskussion über Familienaspekte und Probleme des Verhaltens-Managements 7. Vergabe von Hausaufgaben zur Erprobung von Praxis-Methoden aus dem Elterntraining im familiären Alltag und zur Dokumentation der Ergebnisse in halbstandardisierter Tagebuchform. 8.2.2.2 Psychoedukatives Eltern-Einzeltraining Das Psychoedukative Eltern-Einzeltraining (vgl. Kasten 3) wurde bisher in fünf Familien im Zeitraum von 1997-2003 erprobt (zwei dieser fünf Familien hatten zuvor das Gruppentraining absolviert). Der Gesamtumfang der kontinuierlichen Interventionen variierte zwischen 15 und 100 Stunden und erstreckte sich über einen Zeitraum von 6 bis 18 Monaten. Daran schlossen sich sporadische Kontakte nach Bedarf an. Die Interventionen fanden überwiegend im häuslichen Bereich statt und wurden vom Autor durchgeführt. Die Dauer pro Kontakt betrug 1 bis 3 Stunden. Die Sitzungen in der Familie fanden im Abstand von 2 bis 6 Wochen statt. Die Curriculums-Ziele orientieren sich am Konzept-Rahmen des Gesamt-Programms (vgl. Kasten 1). Kasten 3: Ziele des Curriculums des Psychoedukativen Eltern-Einzeltrainings
1. Vermittlung eines vertieften Konzepts zum „Autismus“ (Ursachen, Wesen, Folgen) 2. Anleitung und Training der Eltern zur Aneignung von Prinzipien und praktischen Fertigkeiten für den Umgang mit dem autistischen Kind im Alltag; Förderung von elterlichem Beobachtungslernen bei der Durchführung psychologischer Interventionen durch den Therapeuten 3. Förderung von emotionalem und sozialem Lernen durch eine BreitbandElternberatung; Förderung sozialer Erfahrungen und Fertigkeiten durch Hilfestellungen bei der Durchsetzung elterlicher Interessen in schulischen, kommunalen und öffentlichen Bereichen Das Psychoedukative Eltern-Einzeltraining soll anhand einer Fallskizze zu einem der fünf behandelten Kinder demonstriert werden. Fallbeispiel:
Der zum Zeitpunkt des Therapiebeginns fünfjährige M., Kind deutsch-russischer Zuwanderer, wurde 1997 vom Jugendpsychiatrischen Dienst des Gesundheitsamts mit der Diagnose „Frühkindlicher Autismus“ (ICD-10) wegen
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151
massiver Verhaltensprobleme in Familie und Kindertagesstätte zur Behandlung an die Praxisstelle der Autismus-Projektgruppe am Fachbereich Psychologie der Universität Hamburg überwiesen. Unter Vermittlung derselben Institution hatten die Eltern davor an dem 3-tägigen Psychoedukativen Eltern-Gruppentraining (1998) teilgenommen. Der Junge lebt bis heute in der Familie der Eltern. Nach dem Besuch eines integrativen Kindergartens im Alter von 4 bis 6 Jahren erfolgte vom 7. bis zum 10. Lebensjahr eine Beschulung in einer Integrationsklasse einer Grundschule mit 17 nicht behinderten und 4 behinderten Schülern. Anschließend wechselte er in eine entsprechend zusammengesetzte Integrationsklasse des Hauptschulzweigs einer Gesamtschule (2006 Eintritt in die 8. Klasse). Eingangsdiagnostik: Die von uns durchgeführte Diagnostik ergab im ADI-R (halbstandardisiertes Eltern-Interview: Autismus-Diagnostisches-Interview-R; Schmötzer et al., 1993) auf allen drei Autismus-Skalen („Soziale Interaktion“; „Sprache & Kommunikation“; „Eingeschränktes Verhaltensspektrum“) deutlich pathologische Werte. M. wies keine Lautsprache (expressive Sprache) auf. Seine vokalen Äußerungen bestanden aus singsangartigem hochtonigem Lautieren. Auch sein Sprachverständnis war extrem eingeschränkt. Er erzielte bei der Überprüfung des passiven Wortschatzes mit dem Peabody Picture Vocabulary Test (PPVT) der Testbatterie für Geistigbehinderte (TBGB, Bondy et al., 1992) einen Prozentrang von 2. Seine visuell-räumliche Wahrnehmungsund Denkfähigkeit war hingegen erheblich höher ausgeprägt (Prozentrang 99,8 in „Bunte & Progressive Matrizen“ (BPM) der TBGB). Mit 10 Jahren erreichte M. im HAWIK-III (Hamburg-Wechsler Intelligenztest für Kinder, Tewes et al., 1999) einen Gesamt-IQ von 71, einen Verbal-IQ von 46 und einen Handlungs-IQ von 90 (mit 13 J. G-IQ = 76, V-IQ = 52, H-IQ = 97). Bei sehr unregelmäßigem Fähigkeitsprofil ist M. dem Grenzbereich von normaler Intelligenz und leichter Intelligenzminderung zuzuordnen. Jedenfalls liegt eine erhebliche Lernbehinderung vor. Das Behandlungskonzept umfasste (a) Psychologische Interventionen am Kind plus Elternanleitung (5 Diagnostik- und 10 Therapiekontakte im Umfang von je 4 Stunden im Abstand von 3-4 Wochen über einen Zeitraum von 15 Monaten (insges. 60 Std.); (b) Wechselseitige Beratung mit Erziehern, Psychologen und Logopäden in der Kindertagesstätte (15 Std.); (c) spätere wechselseitige Beratung mit Lehrern in der Integrationsklasse der Grundschule und Gesamtschule (16 Std.) und (d) Breitband-Elternberatung (10 Std.). Der Gesamtumfang aller Interventionen betrug etwa 100 Stunden. Unsere Interventionsziele betrafen: (a) Förderung der Sprachentwicklung und Kommunikation im Hinblick auf Sprachverständnis (z. B. einfache Aufforderungen), Sprachproduktion (Nachsprechen; Benennen; spontane funktionale Sprache wie Äußern eines Wunsches); (b) Förderung von SprachvorläuferFertigkeiten (z. B. motorische, gestische und vokale Imitation; Erreichen gemeinsamer Aufmerksamkeit); (c) Förderung von schul- und freizeitbezogenen kognitiven, kreativen, psychomotorischen und motivationalen Fähigkeiten (z. B. Sortier-, Zuordnungs- und Kategorisierungsaufgaben; ruhiges Sitzen
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P. Probst
auf dem Stuhl am Tisch; Selbst-Management bei der Bearbeitung von Aufgaben); (d) Förderung von Selbstständigkeit bei alltagspraktischen Tätigkeiten (z. B. Hygiene im Badezimmer; Hilfsarbeiten im Haushalt); (e) Förderung von Fähigkeiten der sozialen Interaktion (z. B. Erkennen und Beachten von Spielregeln bei gemeinsamen Spielen; Kooperation bei der Durchführung von leistungsbezogenen und spielerischen Aufgaben; Ausdruck gemeinsamen Interesses oder gemeinsamer Freude im Kontakt mit Therapeut, Eltern oder jüngerer Schwester). Die angewandten Interventionsmethoden konzentrierten sich auf (a) VisuellStrukturierte Instruktion und Förderung (z. B. durch übersichtliche Gestaltung des Arbeitsplatzes und der Spielecke; Angebot von Tagesplan sowie Arbeitsund Tätigkeitsplan; Instruktion zu alternativen Kommunikationsformen, z. B. beim Kundtun von Wünschen mit Hilfe von Bildkarten); (b) Diskretes Lernformat (Förderung elementarer Fähigkeiten der Imitation und der Sprache wie Nachsprechen, Benennen, Verstehen); (c) Naturalistisches Lernformat (Förderung spontaner funktionaler Sprache im familiären Alltag, z. B. bei Betrachtung eines Bilderbuchs, Förderung von sozialkommunikativen und interaktiven Fähigkeiten bei Bewegungs- und Singspielen); (d) Elternanleitung und -beratung.
8.2.2.3 Psychoedukatives Lehrergruppen-Training Das Psychoedukative Gruppentraining für Lehrer6 orientiert sich in Aufbau und Inhalt am Eltern-Gruppentraining. Es hat einen Umfang von 14 Stunden und Kasten 4: Ziele des Curriculums des Psychoedukativen Lehrer-Gruppentrainings
1. Vermittlung eines Behinderungs-Konzepts zur Autismus-Störung unter Einbeziehung der individuellen Erfahrungen der Lehrer mit autistischen Schülern 2. Vermittlung von theoretischem und praktischem Wissen über Methoden der „Strukturierten und Visualisierten Unterrichtung und Förderung“ (in Anlehnung an TEACCH) und damit verwandten Techniken der „Augmentativen und Alternativen Kommunikation“ (auch „Unterstützte Kommunikation“, Wilken, 2002) 3. Vermittlung von Kenntnissen über das Naturalistische Lernformat (bei Förderung der sozialen Kommunikation) 4. Vermittlung eines Konzepts zur Differentiellen Beziehungstherapie (Janetzke, 1993) zur Schaffung einer vertrauensvollen Basisbeziehung zwischen Klient und intervenierender Person 5. Vertiefung schulpraktischer Kompetenzen durch Praxisbegleitung und Supervision in der Schule 6 Unter „Lehrer“ werden hier zusammengefasst: Sonderschullehrer, Erzieher und Sozialpädagogen
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153
erstreckt sich über drei Halbtage, verteilt über 3 Monate. Dem Gruppentraining schließt sich das Lehrer-Einzeltraining im durchschnittlichen Gesamtumfang von 3 Stunden über einen Zeitraum von sechs Monaten an. Das Programm wurde bisher als Pilotstudie an 10 Lehrern (Freiwilligen-Stichprobe) in Förderschulen für Geistigbehinderte und 10 autistischen Schülern im Primarschulalter evaluiert (Leppert, 2002; Leppert & Probst, 2005). In Kasten 4 sind die Schwerpunkte des Curriculums des Lehrer-Gruppentrainings zusammengefasst.
8.3 Evaluation der Familienbasierten Rehabilitation von Kindern mit Autismus Die Programm-Evaluation der drei Programm-Module gliedert sich in die Bewertung der Programm-Durchführung und der Programm-Effekte (vgl. Rossi et al., 2004).
8.3.1 Evaluation des Psychoedukativen Eltern-Gruppentrainings Zusammenfassend war das Ergebnis der Durchführungs-Evaluation: (a) etwa 85 % der Eltern äußerten eine ausgeprägte Zufriedenheit mit Trainerverhalten, Curriculum und Gruppenklima; (b) das Training insgesamt wurde auf einer 4stufigen Beurteilungsskala (von 1 = „zufrieden“ bis 4 = „unzufrieden“) wie folgt eingeschätzt: von 82 % der Eltern mit 1 („zufrieden“) und von 18 % mit 2 („eher zufrieden“). Die Ergebnisse der Effekt-Evaluation werden in wesentlichen Ausschnitten vorgestellt: Tabelle 3 zeigt Ergebnisse aus der Katamnese-Untersuchung, die drei Monate nach Beendigung des Gruppentrainings per Fragebogenerhebung durchgeführt wurde. Gegenstand der Elternbefragung war die Einschätzung der Effekte des Elterntrainings auf die Eltern-Kind-Interaktion und die FamilienAdaptation. Zusammenfassend ergibt sich: (a) 80 bis 85 % der Eltern berichten, dass das Programm zu einer besseren Förderung des Kindes und einer besseren Bewältigung von Verhaltensproblemen im Alltag beigetragen habe; (b) 70 bis 80 % der Eltern sagen aus, dass sich das Training förderlich auf Familienklima und Gesundheit ausgewirkt habe; (c) fast alle Eltern beurteilen den Erfahrungsaustausch mit anderen Eltern als sehr hilfreich; (d) 85 % der Eltern schätzen den praktischen Teil des Eltern-Gruppentrainings als effektiv ein; einzelne Methoden wurden von 50 bis 85 % der Befragten als nützlich und übertragbar auf den Alltag eingestuft. Konsistent mit diesen Ergebnissen sind die Befunde aus dem „Erfahrungsbogen zur Umsetzung praktischer Trainingsinhalte im Familienalltag“ (Rücklaufquote: 65 %). Sie enthalten überwiegend detaillierte schriftliche Angaben über die Umsetzung z. B. von Tagesplänen, manchmal mit zeichnerischen Skizzen ergänzt.
154
P. Probst
Tabelle 3: Auswahl von Ergebnissen aus dem Katamnese-Fragebogen „Effekte des Elterntrainings auf Eltern-Kind-Interaktion und Familienadaptation“ (26 Items) Items (3-stufige unipolare Beurteilungsskalen: (1) = „trifft nicht/ kaum zu“, (2) = „trifft in mittlerem Umfang zu“; (3) = „trifft stark/sehr stark zu“
(2) ( %)
(3) ( %)
(2)+(3) ( %)
Das Elterntraining hat dazu beigetragen, dass ich mein Kind in seinen Fähigkeiten besser als früher fördern kann.
73
16
89
Das Elterntraining hat dazu beigetragen, dass ich die Verhaltensprobleme meines Kindes besser steuern kann.
63
16
79
Das Elterntraining hat sich förderlich auf meine körperliche und seelische Kondition ausgewirkt.
53
26
79
Das Elterntraining hat sich förderlich auf das Familienklima ausgewirkt.
63
5
68
Die praktischen Anleitungen zum Thema „Gestaltung des Alltags in Einklang mit den Bedürfnissen des Kindes nach Strukturierung und Sinn“ waren für mich insgesamt nützlich und hilfreich, so dass ich sie auf den Alltag übertragen konnte.
74
11
85
Die praktischen Anleitungen zum Thema „Wie kann ich den Tagesablauf für das Kind überschaubarer machen? (mittels Tagesplan etc.)“ waren für mich (…).
22
28
50
Die praktischen Anleitungen zum Thema „Wie kann ich durch die Strukturierungshilfe ‚Darbietung und Ausblendung von Hilfestellungen beim Erlernen von Fertigkeiten‘ mein Kind fördern?“ waren für mich (…).
50
22
72
Die praktischen Anleitungen zum Thema „Wie kann ich durch die Strukturierungshilfen ‚Lernen in kleinen Schritten‘ und ‚Verkettung der Schritte‘ mein Kind fördern?“ waren für mich ( … ).
67
17
84
Die praktischen Anleitungen zum Thema „Wie kann ich die Selbstständigkeit fördern (z. B. beim Zähneputzen, Ankleiden, Tischdecken?“ waren für mich (…).
59
24
83
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155
Ein Auszug aus einem Erfahrungsbogen einer Mutter (Sohn F., 9 J.) soll zur Illustration dienen: Beispiel:
„Sehr geehrter Herr Probst, … Dies habe ich bisher umgesetzt. Der Arbeitsplan auf dem Schreibtisch kommt gut bei F. an. Er arbeitet damit und begreift sehr gut, was er machen soll (kursiv: Unterstreichung im Original). Die Schilder im Schrank interessieren ihn noch nicht so. Aber er hat schon mal was aus dem Schrank genommen und das waren die richtigen Sachen. Waschen, Zähneputzen und Haare kämmen geht auch schon gut. Die Abläufe hat er schnell gelernt. ( … ). Den Tagesplan an seiner Tür hat F. auch schnell angenommen. Vielleicht könnten Sie mir noch einen Rat geben. Wie ich F. abends zum Schlafen kriege? Viele Grüße …“
8.3.2 Evaluation des Psychoedukativen Eltern-Einzeltrainings Betrachtet man den Verlauf der Entwicklung von „Sprache und Kommunikation“ und „Sozialer Interaktion“ in signifikanten Ausschnitten, sind deutliche Fortschritte wahrzunehmen. Es muss dabei im Auge behalten werden, dass in einem A-B-Interventionsplan wie dem vorliegenden, Effekte der Intervention nicht strikt von anderen Einflussfaktoren getrennt werden können. Jedenfalls haben die Ergebnisse heuristischen Wert für die Weiterentwicklung des Einzeltrainings-Programms. Fallbeispiel:
Sprache und Kommunikation: M. lernte zunächst, Vokale und Silben zu imitieren, Wörter nachzusprechen sowie Alltagsgegenstände und Personen (auf Abbildungen und in der Realität) zu benennen (6;0 Jahre). Anschließend lernte M. durch Benutzung von Bildkarten (anfänglich mit physischer Hilfestellung) einen gewünschten Gegenstand zu erhalten (z. B. „Fruchtsaft“). Das Bildkarten-System wurde allmählich durch gesprochene Sprache ersetzt. Mit 6;5 Jahren sprach M. erstmals spontan Zwei-Wort-Sätze auf Deutsch und Russisch, die mit „Will“ beginnen (z. B. „Will Apfel“) und gebrauchte soziale Routinewendungen wie „Hallo“ und „Tschüss“ im richtigen Kontext. Die Mutter von M. beteiligte sich als Mediatorin an der Sprachförderung durch regelmäßige Übungen (15 bis 20 Minuten täglich). Mit 8 Jahren sprach M. seine Eltern erstmals mit „Papa“ und „Mama“ an und begrüßte Fremde mit „Hallo Mann“. Was-ist-Fragen wurden erstmals mit 8;5 Jahren gestellt. Bei der Nachuntersuchung mit 10 Jahren berichtete seine Lehrerin, dass er einen großen Wortschatz erworben habe: er „sammele“ Wörter (auch in Englisch und Russisch, wobei Phonetik und Intonation mit der Lernquelle gut übereinstimmen). Eine Verbesserung des Sprachverständnisses zeigt sich im Peabody Picture Vocabulary Test (PPVT aus TBGB), bei dem sich der Prozentrang von 2 (mit 5;5 Jahren) auf 34 (mit 10 Jahren) verbesserte.
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P. Probst
Soziale Interaktion: Ein Bericht aus der Kindertagesstätte weist aus, dass sich dort die soziale Anpassung von M. verbessert habe (Alter: 6 bis 6;5 Jahre): Er nehme häufiger an Gruppenaktivitäten teil und spiele mit anderen Kindern. Auch in der häuslichen Umgebung entwickelten sich dem Elternbericht zufolge seine sozial-interaktiven Fähigkeiten (vermehrtes Spiel mit der jüngeren Schwester; Zeigen von Versöhnungsgesten; Suchen und Akzeptieren von Trost bei Schmerz; Versuche, die Aufmerksamkeit Anderer durch Zeigegesten auf Dinge und Ereignisse zu lenken, die ihn interessierten). Beim Übergang in die Integrationsklasse der Grundschule (7 Jahre) war für M. die Orientierung am visuell strukturierten Tagesplan hilfreich, der für ihn täglich erstellt wurde. Er enthielt bildliche Symbole über den Ablauf der verschiedenen schulischen Ereignisse. In Übereinstimmung mit den genannten Berichten steht das Ergebnis aus der Skala „Soziale Interaktion“ des ADI-R, wo sich der Wert im Alter von 10 und 12 Jahren deutlich gegenüber dem Wert im Alter von 5;5 Jahren verbessert hat. Bei der „Derzeit“-Kodierung ergab sich eine Verbesserung von 26 auf 10 Punkte; dieser „Gewinn“ bezieht sich insbesondere auf die Unterbereiche „Nichtverbale Regulation sozialer Interaktion“ und „Sozioemotionale Gegenseitigkeit“. Das Eltern-Einzeltraining wurde bei einer Nachuntersuchung 2003 im Fragebogen zur Beurteilung der Behandlung (FBB; Mattejat & Remschmidt, 1998) von der inzwischen allein erziehenden Mutter durchgängig positiv beurteilt.
8.3.3 Evaluation des Lehrer-Gruppentrainings Die Beurteilung der Trainingsdurchführung hinsichtlich Trainerverhalten und Gruppenklima auf einer vierstufigen Rating-Skala fiel überwiegend positiv aus. Die summarische Feststellung „Ich bin insgesamt zufrieden mit der Fortbildung“ wurde von 60 % der Lehrer mit „trifft zu“, von 30 % mit „trifft eher zu“ und von den restlichen 10 % der Teilnehmer mit „trifft eher nicht zu“ beantwortet. Die Ergebnis-Evaluation erfolgte sechs Monate nach Beendigung des Gruppentrainings. Während dieser sechs Monate wurde bei den Lehrern in ihren jeweiligen Klassen Einzeltraining und Beratung im Umfang von durchschnittlich drei Stunden durchgeführt. Die Evaluation der Programm-Effekte gliedert sich in die Bereiche „Schüler-Verhaltenssymptomatik“, „Lehrer-Belastung durch Schüler-Verhaltenssymptomatik“, „Auswirkungen des Trainings auf die psychische Befindlichkeit der Lehrer und auf die Lehrer-Schüler-Beziehung“ und „Implementierung von strukturierten Lehrstrategien im schulischen Alltag“. Die genannten Ergebnismerkmale wurden durch einen Lehrer-Fragebogen erfasst. Folgende Ergebnisse lassen sich hervorheben: (a) Die „Schüler-Verhaltenssymptomatik“, die durch einen 48-ltem-Lehrerfragebogen erfasst wurde, verringerte sich im Zeitraum vom Beginn (Prä-Test) bis zum Ende des Gruppentrainings (Post-Test) neun Monate später im Summenwert signifikant (p < 0,05). In Tabelle 4 sind die Verhaltenssymptome zusammengefasst, die sich am stärksten verbesserten. Es zeigen sich positive Effekte in den Verhaltensbereichen „Kooperation und Disziplin“, „Selbststän-
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Tabelle 4: Veränderung der Schüler-Verhaltensymptomatik (Prä-Post-Vergleich) Item-Bezeichnung (3-stufige Skala: 1 = tritt nie/selten auf; 2 = manchmal; 3 = häufig/sehr häufig)
Prä-PostEffektstärke*
Der Schüler bearbeitet Aufgaben, die auf seine Fähigkeiten zugeschnitten sind, nicht selbstständig.
+0.69
Der Schüler zeigt einen Mangel an Motivation, etwas Neues zu erkunden oder zu tun.
+0.69
Der Schüler ist ungehorsam und erkennt keine Grenzen an.
+1.28
Der Schüler spielt an Lichtschaltern herum.
+0.63
Der Schüler benutzt Spielmaterial auf untypische Weise.
+0.51
Der Schüler wirkt teilnahmslos und nicht ansprechbar.
+0.52
Der Schüler reagiert nicht auf seinen Namen.
+0 55
* Die Prä-Post-Effektstärke (ES) ist ein Maß für die Veränderung. ES berechnet sich aus der Differenz der beiden Mittelwerte aus Prä und Post dividiert durch die Standardabweichung (Streuung) der Differenzwerte Prä minus Post. Ein ES-Wert von 0,5 bedeutet also, dass die beiden Mittelwerte aus Prä und Post um eine halbe Standardabweichung differieren (vgl. Rustenbach, 2003, S. 81 ff). Effektstärken zwischen 0,50 und 0,80 werden dem „mittleren“ und solche über 0,80 dem „oberen“ Größenbereich zugeordnet. Positives Vorzeichen bedeutet ein Verbesserung von Prä nach Post.
digkeit und Motivation“ sowie „Aufmerksamkeit“, d. h. in Merkmalen, die das Unterrichtsklima und die Lehrer-Schüler-Beziehung wesentlich beeinflussen. (b) Die „Lehrerbelastung durch Schüler-Verhaltenssymptomatik“, die durch einen Fragebogen erfasst wurde, der dieselben 48 Items enthielt (3-stufige Rating-Skala, 1 = „belastet mich nicht/wenig“, 2 = „deutlich“, 3 = „stark“), verringerte sich im Summenwert ebenfall statistisch signifikant (p<0,05). Die relevanten Verhaltenssymptome konzentrierten sich auf die Bereiche „Kooperation und Disziplin“, „Selbstständigkeit“ („benötigt Hilfe bei Alltagshygiene“, „beansprucht eine Bezugsperson für sich“) und „Motivation“ des Schülers. (c) Die Auswirkungen des Trainings auf die „Psychische Befindlichkeit“ der Lehrer und die „Lehrer-Schüler-Beziehung“ wurden durch einen 11-ltemFragebogen (4-stufige Rating-Skalen: 1 = „trifft gar nicht zu“, 4 = „trifft vollständig zu“). Fasst man die beiden Antwortstufen „trifft vollständig zu“ und „trifft weitgehend zu“ zu einer Kategorie zusammen, so lassen sich folgende charakteristische Ergebnisse hervorheben: 70 % der Lehrer gaben an, dass sich das Training förderlich auf ihre seelische Kondition ausgewirkt habe, 80 % der Lehrer berichteten, dass sie sich durch die Erfahrungen aus der Fortbildung besser in Schüler hineinversetzen und deren Verhalten besser verstehen können, und 50 % der Teilnehmer konstatierten, dass die Fortbildung dazu beigetragen habe, dass sie die Verhaltensprobleme der Schüler besser steuern können.
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(d) Strukturierte Lehrstrategien wurden im schulischen Alltag von neun der zehn Lehrer implementiert (Erfassung durch einen halbstrukturierten Fragebogen sowie durch Verhaltens- und Situationsbeobachtungen des Trainingsleiters vor Ort in der Schule) Am häufigsten wurden Methoden der räumlichen und zeitlichen Strukturierung eingesetzt. Bei Leppert (2002) finden sich zahlreiche Fallskizzen mit graphischen Illustrationen zu dokumentierten Umsetzungen der Strukturierten Lehrstrategien im Klassenzimmer.
8.4 Fazit aus der Evaluation und Empfehlungen für die Praxis 8.4.1 Fazit aus der Evaluation des Trainingsprogramms Ausgehend vom Ziel der Prävention von Interaktionsstörungen in Familien mit autistischen Kindern wurde im ersten Abschnitt ein Konzeptrahmen vorgestellt, in dem funktionale Zusammenhänge zwischen „Stressoren“, „Familien-CopingRessourcen“, „Stressoren-Bewertung“ und „Familien-Adaptation“ deutlich werden. Wesentliche Elemente des Konzeptrahmens sind: das „ABCX-Modell“, das „Familienökologische System“ sowie die sozialkognitiven Konzepte der „Kontrollerwartung“ und des „Kohärenzbewusstseins“. Es lassen sich in diesen begrifflichen Bezugsrahmen zahlreiche miteinander konsistente Forschungsbefunde integrieren, die Folgendes beinhalten: (a) Eltern von Kindern mit Autismus und verwandten Entwicklungsbehinderungen sind mehrheitlich dem Risiko eines dauerhaft erhöhten Stressprofils und einer Gesundheitsbeeinträchtigung ausgesetzt; sie entwickeln als Folge das massive Bedürfnis nach professioneller Unterstützung; (b) Risikofaktoren und protektive Faktoren der Familienadaptation können auf allen Ebenen der Familienumwelt, von der Mikro- bis zur Makroebene identifiziert werden; (c) mit Hilfe psychologischer Interventionen können individuelle Coping-Kompetenzen der Familienmitglieder, die realistische Kontrollerwartungen und ein gestärktes Kohärenzbewusstsein einschließen, gefördert werden; (d) Maßnahmen der familienbezogenen Rehabilitation stellen eine geeignete Form der professionellen Unterstützung dar. Im zweiten Abschnitt wurde aus der Bewertung der aktuell vorgefundenen Autismus-Interventionsprogramme nach multiplen Validitätskriterien ein Konzeptrahmen für das vorliegende „Familienbasierte Rehabilitationsprogramm“ entwickelt, in dessen Mittelpunkt das „Eltern-Mediatoren-Konzept“, die „Breitband-Elternberatung“ und das „Strukturierte Lernformat“ stehen. Unter Berücksichtigung von Einschränkungen der internen Validität (geringe Stichprobenumfänge, fehlende Kontrollgruppen; geringe Reichhaltigkeit der Ergebnismessung) und der externen Validität (selektive Freiwilligen-Stichproben von Eltern und Lehrern), die für erste Evaluationsstufen eines mehrgliedrigen Programms nicht untypisch sind, lassen sich aus den Ergebnissen folgende Schlussfolgerungen ableiten: (a) Die Anwendung des Programms erbrachte substanzielle, pädagogisch-klinisch relevante Effekte im Hinblick auf „Familien-Adaptation“ (Eltern-
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Kind-Interaktion, seelische Gesundheit der Eltern), „Kind-Adaptation in Familie und Schule „ und „Lehrer-Adaptation“ (Lehrer-Schüler-Interaktion, seelische Gesundheit der Lehrer). (b) Die Programmzufriedenheit der beteiligten Eltern und Lehrer war ganz überwiegend hoch. (c) Die vorliegenden Ergebnisse sind konsistent mit zahlreichen Befunden aus der internationalen Autismus-Interventionsforschung (Probst, 2001b; Bernard-Opitz, 2005). Das Ergebnis unserer summativen Evaluation legt nahe, das untersuchte Programm auf weiteren Stufen zu erproben und dabei für zusätzliche MediatorenGruppen, etwa aus den Bereichen der Vorschulerziehung oder des Wohnens und der Arbeit im Erwachsenenalter zu öffnen. 8.4.2 Empfehlungen für die Praxis Aus der Zusammenschau der aktuellen Forschungsliteratur zur Autismus-Rehabilitation insgesamt ergeben sich folgende Empfehlungen für die klinische und pädagogische Praxis: 1. Früherkennung und Frühintervention: Es häufen sich Belege aus der Forschung, dass eine frühe Teilnahme an Interventionsprogrammen zur Optimierung von Langzeiteffekten beiträgt (Coonrod & Stone, 2005; Kusch & Petermann, 2001; Luiselli et al., 2000). Während das durchschnittliche Diagnosealter der Kinder im TEACCH-Programm (USA) 3 Jahre beträgt (Marcus et al., 2001), liegt es in Deutschland bei 4 bis 5 Jahren (vgl. Kusch & Petermann, 1990; Poustka et al., 2004; Howlin, 1998 für England). Um das Diagnosealter deutlich zu senken, sollten Screening-Verfahren (CHAT, Checklist for Autism in Toddlers, deutsche Übersetzung in Kusch & Petermann, 2001) obligatorischer Bestandteil kindermedizinischer Vorsorgeuntersuchungen werden. In spezialisierten Ambulanzeinrichtungen sollten früh standardisierte Diagnostikverfahren (ADI-R, Autismus Diagnostisches Interview-Revision, Schmötzer et al., 1993; ADOS, Autismus Diagnostische Beobachtungsskala, Rühl et al., 2004) durchgeführt werden. Durch eine frühe Diagnostik und Intervention kann z. B. einer Intensivierung von ritualisierten und zwanghaften Verhaltensweisen vorgebeugt (Howlin, 1998) und damit die Eltern-Kind-Interaktion günstig beeinflusst werden. 2. Partizipation der Eltern: Bei Frühinterventionen (im Alter von 3 bis 5 Jahren) und auch bei allen Interventionen zu einem späteren Zeitpunkt sollten die Eltern stärker, als es in den meisten Autismus-Ambulanzen in der Bundesrepublik bislang üblich ist, zur Partizipation eingeladen werden. Ein erheblicher Teil der Eltern ist motiviert (Häußler, 1998) und kompetent, an MediatorenProgrammen im Gruppen- oder Einzeltrainings-Format teilzunehmen (vgl. Amlang, 2006; Dzikowski, 2005; Cordes, 2005). Die Elternanleitung kann im Ambulanzzentrum (über Einwegscheibe oder direkte Präsenz) oder im häuslichen Bereich stattfinden (exemplarisch: Autismus-Ambulanz in Ibbenbüren,
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NRW, vgl. Autismus Deutschland, 2006. S. 50). So können über Beobachtungs- und Übungslernen wichtige Inhalte in den familiären Alltag integriert werden. Dabei soll aber hoher Anforderungsstress für die Eltern vermieden werden (vgl. autobiographischer Bericht von Johnson, 2006). Es existieren inzwischen auch sehr brauchbare Manuale und Anleitungen für Eltern und Pädagogen (Bernard-Opitz, 2005; Häußler, 2005). Die Sozialgesetzgebung sollte die Finanzierung von familienbasierter Rehabilitation absichern. 3. Evidenzbasierte Methoden: Es sollten bei Frühintervention und Rehabilitation nur wissenschaftlich geprüfte („evidenzbasierte“) Methoden eingesetzt werden (Simpson, 2005; Probst, 2001a; Poustka et al., 2004; Bernard-Opitz, 2005). Wissenschaftlich ungeprüfte Verfahren, die kein Nebenwirkungsrisiko beinhalten (Simpson, 2005), sollten nur innerhalb von Forschungsprogrammen nach umfassender Aufklärung der Eltern erprobt werden. Wissenschaftlich geprüfte Verfahren mit mangelndem Effektivitätsnachweis und hohem Risiko für schädliche psychosoziale Nebenwirkungen wie die „Gestützte Kommunikation“ (englisch „Facilitated Communication“) – nicht zu verwechseln mit der „Unterstützten Kommunikation“ (englisch „Augmented and Alternative Communication“, s. Wilken, 2002) – sollen aus Respekt vor der autistisch behinderten Person und ihrer Familie nicht eingesetzt werden (vgl. Simpson, 2005; Probst, 2003b, 2005). 4. Schulische Interventionen: Im vorschulischen Bereich (Alter: 3 bis 5 Jahre) und im Elementarschulbereich (Alter: 6 bis 10 Jahre) sollten AutismusKleinklassen (5 bis 6 Kinder, 2 Pädagogen) nach dem Vorbild von TEACCH (Marcus et al., 2001) und anderen ähnlichen schulischen Förderprogrammen (Handleman & Harris, 2001) erprobt werden. Dabei sollte eine enge Kooperation zwischen Schule und Familie angestrebt werden. Außerdem sollte eine Ausbildung und Supervision von Lehrer-Mediatoren gewährleistet sein. Eine staatliche Finanzierung der Autismus-Beschulung sollte gesetzlich wie bei TEACCH (North-Carolina, USA) abgesichert sein. 5. Interventionen innerhalb der Wissenschaft: Im Makrobereich, in dem Marcus et al. (2005) zahlreiche Stressoren für Familien und Eltern identifiziert haben, sollten ein fortgeschrittener Wissensstand und eine sachliche Kommunikation zwischen den Wissenschaftlergruppen angestrebt werden. Insbesondere folgende Punkte sind hervorzuheben: (a) Von der Gruppe um Schopler und Mesibov werden erwartet: Durchführung mittel- und langfristiger Verlaufsstudien, die eine reichhaltige und multimethodale Ergebnismessung (z. B. systematische Verhaltensbeobachtung mit Instrumenten wie ADOS) einschließen; systematische Erfassung von multiplen Programm-Effekten, die sich aus vorschulischen und schulischen, nach TEACCH-Prinzipien durchgeführten Interventionen ergeben. Da sich der zeitliche Umfang der schulbasierten Interventionen im TEACCH-Programm in der Summe auf mehrere Tausend Stunden addiert, handelt es sich um ein klinisch sehr relevantes Programm-Modul, dessen Intensität der des Lovaas-Ansatzes nicht weit nachsteht. Es sollte bei Vergleichsuntersuchungen berücksichtigt werden. (b) Von der Lovaas-Gruppe werden erwartet: Eine reichhaltigere Ergebnismessung durch Anwendung von Methoden der systematischen Verhaltensbeobachtung, eine Verbesserung
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der Qualität der Interpretation eigener empirischer Befunde, verbesserte kontrollierte Vergleichsstudien zum authentischen TEACCH-Ansatz (bei Howard et al., 2005 erhält die Vergleichsgruppe lediglich eine Interventionen-Mixtur von TEACCH-Methoden, Sensorischer Integration und Diskretem Lernformat), eine Verbesserung der externen Validität des Programms durch objektive Therapieerfolgsprognosen und eine Verbesserung der sozialen Validität durch die Verwendung eines weniger „technizistischen“ Sprachstils (Lovaas, 1981; 2003; vgl. Margraf, 1996), der sich an der „kognitiven Wende“ und am „subjektiven Behaviorismus“ (Pongratz, 1984) orientiert und so zu einer stärkeren Akzeptanz der Interventionsform durch Professionelle und Laien führt (vgl. als Beispiel für subjektnahe Sprache den Report einer Mutter über ihre Erfahrungen mit der Lovaas-Therapie, Bönsch, 2006). (c) Von beiden Gruppierungen wird ein effektiverer interpersoneller Kommunikationsstil erhofft, der den Familien die hochrelevanten Gemeinsamkeiten in den Konzepten der beiden Pioniere der klinischen Autismusforschung deutlich macht und dadurch zur Stärkung ihres Kohärenzbewusstseins und damit auch ihrer Coping-Ressourcen beiträgt.
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Prävention von emotionalen und Bindungsstörungen
Karl Heinz Brisch Gliederung 9.1 9.2 9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.2.4 9.2.5 9.3 9.3.1 9.3.2 9.3.3
Emotionale Auswirkungen von Bindungsstörungen. . . . . Primäre Prävention von Bindungsstörungen mit dem SAFE®-Programm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zielgruppe für eine Prävention von Bindungsstörungen . Inhalte des Programms SAFE® . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . SAFE®-Mentorenausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evaluation des SAFE®-Programms . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundäre Prävention von emotionalen Störungen mit B.A.S.E.® . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalte des Programms B.A.S.E.® . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse einer Pilotstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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9.1 Emotionale Auswirkungen von Bindungsstörungen Die Prävention von emotionalen Störungen etwa durch die Entwicklung einer sicheren Bindung an eine spezifische Bindungsperson ist ein hervorragendes Fundament für eine gesunde motorische, kognitive und emotionale Entwicklung von Kindern. Es ist daher eine vordringliche Aufgabe, sichere Bindungsentwicklungen von Kindern zu fördern und frühe Bindungsstörungen zu verhindern, weil mit Bindungsstörungen Verzögerungen bis zu schwerwiegenden Störungen in der kognitiven Entwicklung und in den empathischen Fähigkeiten der Kinder verbunden sind. Kinder mit Bindungsstörungen zeigen gravierende Defizite in der Aufnahme und Gestaltung von Beziehungen. Sie verhalten sich in Konflikten eher aggressiv und können sich schlecht in die emotionalen Bedürfnisse, Gedanken und Handlungsabsichten ihres Gegenübers einfühlen. Hieraus können erhebliche Missverständnisse in alltäglichen Interaktionen entstehen, was sich im Jugend- und Erwachsenenalter in Schwierigkeiten in partnerschaftlichen Beziehungen zeigen kann (Becker-Stoll, 2002; Zimmermann et al., 1997). Bindungsstörungen weisen eine gewisse Persistenz auf und können ohne neue sichere
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emotionale Beziehungserfahrungen oder therapeutische Interventionen nicht aufgelöst werden. Sie zeigen vielmehr eine Tendenz, sich zu verfestigen und können nach klinischer Erfahrung auf die eigenen Kinder übertragen und somit an die nächste Generation weitergegeben werden (Brisch, 1999, 2002, 2003a). Eine primäre Prävention von Bindungsstörungen ist daher ein vordringliches Ziel und könnte zur Förderung der emotionalen Stabilität beitragen.
9.2 Primäre Prävention von Bindungsstörungen mit dem SAFE®-Programm Eine primäre Prävention im psychischen Bereich sollte die Förderung der psychischen Gesundheit von Eltern und Kindern zum Ziel haben. Die Entwicklung eines sicheren Bindungsverhaltens ist hierbei eine grundlegende Zielsetzung, die mit erheblichen Vorteilen für die Entwicklung von Kindern verbunden ist. Kinder mit einer sicheren Bindungsentwicklung sind in der Lage, sich in Notsituationen Hilfe zu holen. Sie haben mehr freundschaftliche Beziehungen, ein ausgeprägtes und differenziertes Bewältigungsverhalten, sie können auf verschiedenste Bewältigungsstrategien zurückgreifen und sie können partnerschaftliche Beziehungen eingehen, die eine gewisse emotionale Verfügbarkeit für den Partner beinhalten und für beide Seiten befriedigend sind. In ihren kognitiven Funktionen sind Kinder mit einer sicheren Bindung kreativer, ausdauernder und differenzierter. Ihre Gedächtnisleistungen und ihr Lernverhalten sind besser. Sie lösen Konflikte konstruktiver und sozialer und sie zeigen weniger aggressives Verhalten in Konfliktsituationen. Auch die Sprachentwicklung von Kleinkindern ist besser und weist weniger Störungen auf (Dieter et al., 2005; Klann-Delius, 2002). Alle diese positiven Effekte sind bei Kindern mit einer unsicheren Bindungsentwicklung verlangsamt oder gestört und Kinder mit Bindungsstörungen zeigen erhebliche Irritationen und psychopathologische Auffälligkeiten in all diesen Entwicklungsbereichen (Brisch, 1999, im Druck; Minde, 2003; Zeanah & Emde, 1994). Das Ziel einer Prävention sollte daher darin bestehen, Eltern für die emotionalen Bedürfnisse und Signale ihrer Kinder zu sensibilisieren. Feinfühlige Eltern, die emotional für die Signale ihrer Kinder verfügbar sind, fördern eine sichere Bindungsentwicklung. Eltern, die selbst unter Bindungsstörungen leiden, können Bedürfnisse und Signale ihrer Kinder nur unzureichend erkennen, interpretieren die Signale oft falsch und fördern unsichere Bindungsentwicklungen. Wenn Eltern zusätzlich traumatisierend auf ihre Kinder einwirken, indem sie körperliche, emotionale oder sexuelle Gewalt ausüben, entstehen bei den Kindern aus diesen Erfahrungskontexten Bindungsstörungen mit verschiedensten Mustern (Brisch, 1999). In der Prävention sollte daher auf der einen Seite feinfühliges Interaktionsverhalten der Eltern eingeübt und die Eltern für die Signale ihrer Kinder mit Videofeedback sensibilisiert werden. Gerade die Videodemonstration von ElternKind-Interaktionsverhaltensweisen erweist sich als hervorragendes Instrument, um mit Hilfe dieses Mediums Eltern für die Signale und die Interpretation der Signale ihrer Säuglinge zu sensibilisieren (Beebe, 2003; Grossmann et al., 1985; Kindler & Grossmann, 1997).
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Aus der klinischen Arbeit ist bekannt, dass Eltern mit eigenen unverarbeiteten traumatischen Erfahrungen dazu neigen, ihre Kinder als Projektionsfläche zu benutzen, wenn traumatische Erfahrungen durch das Verhalten der Kinder getriggert werden. In diesen Situationen beginnen Eltern, eigene traumatische Erfahrungen mit ihren Kindern zu inszenieren und sie so zu Mitakteuren in einem alten Theaterstück zu machen. Dies sind die klassischen Situationen, in denen die Eltern durch eine Reaktivierung alter Traumata heftige Affekte erneut erleben und – unbewusst – ihre Kinder zu Opfern von körperlichen, emotionalen oder sexuellen Gewalttaten machen. Genau diese Verhaltensweisen aber führen bei Kindern zu Bindungsstörungen. Es entsteht auf diese Weise ein Teufelskreis von traumatischen Erfahrungen, die von der Eltern- auf die Kindergeneration übertragen werden, so dass aufgrund der Traumatisierung Bindungsstörungen über Generationen diagnostiziert werden können. Man könnte annehmen, dass eine solche Weitergabe von Entwicklungsstörungen genetisch bedingt ist. Die Familienanamnese zeigt aber, dass die „Familiengeschichte“ seit Generationen von Gewalt und unfeinfühligen Verhaltensweisen der Eltern gegenüber ihren Kindern geprägt ist (Brisch, 2003a-c, 2004). 9.2.1 Zielgruppe für eine Prävention von Bindungsstörungen Die Zielgruppe einer primären Prävention von emotionalen Entwicklungsstörungen sind Väter und Mütter. Insbesondere werdende Eltern, sowohl Erst- als auch Mehrgebärende, sollten an primären Präventionsprogrammen teilnehmen, damit sie schon mit Beginn der Schwangerschaft in ihren elterlichen Kompetenzen und Fähigkeiten durch Unterricht, Seminare und zusätzliche Medienmöglichkeiten wie Videofeedback gestärkt und für die Bedürfnisse ihres Kindes emotional und kognitiv sensibilisiert werden. Grundsätzlich sollten die Eltern die Motivation mitbringen, sich auf die emotionale Entwicklung ihres Kindes einzulassen und hierfür ein Präventionsprogramm als unterstützende Maßnahme in Anspruch zu nehmen. Die klinische Erfahrung zeigt, dass Eltern während der Schwangerschaft sehr mit ihren eigenen traumatischen Erfahrungen aus ihrer Kindheit beschäftigt sind. Die Beziehung zu den eigenen Eltern sowohl mit positiven als auch mit traumatischen Bindungserfahrungen werden wieder wachgerufen und sind den Eltern während der Schwangerschaft oftmals mit allen affektiven Erinnerungen von Freude, Angst, Wut und Enttäuschung sehr nahe. Die Eltern überlegen sich, ob sie im Entwurf der eigenen Mutterschaft oder Vaterschaft so werden möchten wie ihre Eltern oder ob sie auf gar keinen Fall die Erfahrungen mit ihren Eltern in der eigenen Elternschaft wiederholen möchten. Gerade während der Schwangerschaft sind Eltern aufgrund der eigendynamischen Prozesse bei der Beschäftigung mit ihrer Kindheit und Vergangenheit sehr motiviert und aufnahmebereit, sich mit den selbst erlebten Erfahrungen nochmals auseinanderzusetzen. Ist ein Baby erst einmal geboren, sind Eltern mit vielen Anforderungen der aktuellen Gegenwart, wie Füttern, Wickeln und Baden des Babys beschäftigt, so dass die Erfahrungen und Gefühle aus der eigenen Kindheit – positive wie schmerzliche – wieder in den Hintergrund treten.
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In der Phase nach der Geburt benötigen Eltern während des 1. Lebensjahres zusätzliche Hilfestellungen, da viele Fragen erst auftauchen, wenn die Eltern durch das Baby konkret damit konfrontiert werden. Oft sehen wir in der psychosomatischen Ambulanz Eltern erst dann, wenn viele interaktionelle Schwierigkeiten mit Füttern, Schlafen oder dem Beziehungsaufbau bereits ein gewisses Maß an Verfestigung und Chronifizierung erreicht haben, also ein Baby etwa bereits über mehrere Wochen täglich für viele Stunden weint und sich nicht beruhigen lässt. Die Eltern suchen unsere Ambulanz oftmals erst auf, wenn sie bereits im Stadium der psychischen Dekompensation sind. Um solche Zustände möglichst frühzeitig abzufangen und den Eltern unmittelbar bei den ersten Irritationen und Schwierigkeiten eine Hilfestellung anzubieten, sollte ein Präventionsprogramm Eltern auch in der Adaptationsphase nach der Geburt und während des 1. Lebensjahres unterstützen. 9.2.2 Inhalte des Programms SAFE® Auf diesem Hintergrund wurde ein primäres Präventionsprogramm mit dem Namen SAFE® – Sichere Ausbildung für Eltern entworfen, das spezifisch eine sichere Bindungsentwicklung zwischen Eltern und Kind fördern und die Entstehung von Bindungsstörungen und ganz besonders die Weitergabe von traumatischen Erfahrungen über Generationen hinweg verhindern soll. Aus diesem Grund wurde der Name SAFE® gewählt, der symbolisch impliziert, dass die Entwicklung sowohl für die Eltern als auch für das Kind sicher sein soll. Die Eltern werden über die Auslage von Flyern in Apotheken, Arztpraxen (Gynäkologen, Kinderärzte), Familienbildungsstätten, Schwangerschaftsberatungsstellen sowie durch Presseberichte über das Präventionsprogramm informiert und für neue SAFE®-Gruppen geworben. Es gibt unterschiedliche Finanzierungsmodelle, die davon abhängen, wo die SAFE®-Gruppen stattfinden und wer der Organisator ist. Teilweise werden SAFE®-Gruppen über Familienbildungsstätten oder Schwangerschaftsberatungsstellen organisiert und angeboten und auch über Zuschüsse mitfinanziert, so dass die Eltern selbst nur einen kleinen Teilnehmerbeitrag zahlen müssen. Manchmal werden die Gruppen auch von niedergelassenen Hebammen und Psychotherapeuten organisiert, die eine modifizierte Honorarvergütung von den Eltern erhalten, die sie direkt mit diesen vereinbaren. In der Regel werden die Gruppen von zwei MentorInnen (Leitung und Co-Leitung) über den gesamten Zeitraum von der Schwangerschaft bis zum Ende des ersten Lebensjahres gemeinsam geführt. Das SAFE®-Programm besteht aus vier Modulen (vgl. Kasten 1). Kasten 1: Die vier Module des Präventionsprogramms SAFE®
1. 2. 3. 4.
pränatales Modul (20. bis 32. Schwangerschaftswoche) postnatales Modul (1. bis 12. Monat nach der Geburt) Individuelle Traumapsychotherapie (für traumatisierte Eltern) Hotline (zur Krisenintervention).
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Im pränatalen und im postnatalen Modul treffen sich Eltern, die sich in ähnlichen Schwangerschaftsphasen befinden, in Gruppen. Die Elterngruppe stellt dabei für das gesamte Programm einen wesentlichen haltenden Rahmen dar. Es entsteht über die Kursdauer von der 20. Schwangerschaftswoche bis zum Ende des 1. Lebensjahres eine starke Gruppenkohäsion. Die Traumapsychotherapie sowie die Hotline des dritten und vierten Moduls werden von den Eltern individuell in Anspruch genommen. Somit kombiniert SAFE® gruppentherapeutische mit individualtherapeutischen Möglichkeiten in einem einzigen Präventionsprogramm. SAFE® – pränatales Modul Im pränatalen Modul treffen sich die Elterngruppen an vier Sonntagen beginnend ab ca. der 20. Schwangerschaftswoche und dann in der 24., 28. und 32. Schwangerschaftswoche. Das Programm beginnt somit zu einem Zeitpunkt, an dem in der Regel die Ultraschall-Fehlbildungsdiagnostik abgeschlossen ist und es somit an der Existenz und der Fortführung der Schwangerschaft keine großen Zweifel mehr geben sollte. Der Sonntag hat sich als exzellenter Kurstag herausgestellt, da an diesem Tag Elternpaare in der Regel recht entspannt teilnehmen können und insbesondere auch die Väter motiviert sind. Die Inhalte des pränatalen Moduls umfassen intensive Informationen und einen Austausch in der Gruppe, etwa über Kompetenzen des Säuglings und der Eltern, Erwartungen der Eltern, z. B. an das ideale Baby, die ideale Mutter und den idealen Vater, Fantasien und Ängste der Eltern, die pränatale Bindungsentwicklung und Eltern-Säuglings-Interaktionen. Die Themen werden mit Videobeispielen veranschaulicht und die Eltern werden anhand der Videos gezielt geschult, Signale eines Babys genau wahrzunehmen und richtig zu interpretieren. Dieses Video-Interaktionstraining ermöglicht den Eltern, anhand ganz konkreter Situationen, wie etwa dem Füttern, Stillen und Wickeln oder beim Spielen und im Zwiegespräch zwischen Eltern und Kind, erste Erfahrungen zu sammeln und sich auf die Signale des Säuglings feinfühlig einzustellen. Hierbei werden auch elterliche Kompetenzen und die Reaktionsbereitschaft des Säuglings mit kurzen Videosequenzen auf intensive Weise geschult. Weiterhin erlernen die Eltern bereits von Kursbeginn an Stabilisierungs- und Entspannungsverfahren, um während der Schwangerschaft und nach der Geburt mit stressvollen Situationen besser umgehen zu können. Aus der Forschung ist bekannt, dass sich Ängste und Stresserleben während der Schwangerschaft sowohl auf die emotionale Bereitschaft der werdenden Mutter, sich im Sinne der vorgeburtlichen Bindung auf den Säugling einzulassen, als auch auf den Säugling selbst, auf seine Reizbarkeit und Stresstoleranz negativ auswirken können. Die am Programm teilnehmenden Eltern können die pränatal gelernten Stabilisierungs- und Entspannungstechniken nach der Geburt sehr gezielt einsetzen, wenn mit dem Säugling stressvolle Phasen entstehen, und in der Regel entstehen sie früher oder später bei allen Eltern-Kind-Paaren. Solange das Baby aber noch im Bauch versorgt ist, haben Eltern mehr Zeit und die innere
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Bereitschaft, Entspannungstechniken zu erlernen. Ist das Baby erst einmal da und fordert die Eltern Tag und Nacht, finden diese weniger und oft keine Ruhe mehr, sich auf das Erlernen neuer Entspannungsverfahren einzulassen. SAFE® – postnatales Modul Nach der Geburt werden die Elterngruppen an sechs ganztägigen Sonntagsseminaren fortgeführt, im 1., 2., 3., 6., 9. und 12. Monat. Die Eltern werden somit während der Adaptation nach der Geburt und während der schwierigsten Zeit der Kindesentwicklung, die mit einer Umstellung in der Partnerschaft und der Neuentwicklung einer Beziehung zu dritt verbunden ist, unterstützt. Auch postnatal zeigt sich die Kohäsion in der Gruppe als hilfreicher Faktor, da alle Eltern in einem vergleichbaren Entwicklungsprozess stecken. Einzelne Eltern treffen sich mit ihren Säuglingen auch außerhalb der Gruppensonntage, um sich auszutauschen und gemeinsame Aktivitäten zu unternehmen. Es entsteht somit eine Eltern-Peer-Gruppe, die sich bereits vor der Geburt stabilisierend auf die Eltern ausgewirkt hatte. Dieser positive Effekt intensiviert sich noch nach der Geburt. Die postnatalen Inhalte des Präventionsprogramms beziehen sich auf die Verarbeitung des Geburtserlebnisses, das nicht immer nur mit positiven Erfahrungen verbunden ist. Manchmal erfolgt die Geburt notfallmäßig durch Kaiserschnitt oder auch als Frühgeburt. Dann ist eine intensivere psychotherapeutische Hilfestellung in der Gruppe oder auch individuell notwendig, damit sich die Eltern-Kind-Beziehung nicht mit Angst und Schrecken entwickelt. Unverarbeitete Erlebnisse während der Geburt können sich negativ auf den Aufbau der Eltern-Kind-Interaktion und -Bindung auswirken. Auch eine postpartale Depression, an der laut Längsschnittstudien 12 bis 15 % aller Mütter erkranken, könnte eventuell durch eine frühzeitige psychotherapeutische Gruppenbegleitung verhindert werden. Als weitere Inhalte nach der Geburt stehen elterliche Kompetenzen, die Dreierbeziehung zwischen Mutter, Vater und Kind, interaktionelle Schwierigkeiten mit dem Füttern, Stillen und Schlafen sowie der Aufbau der emotionalen Beziehungen im Mittelpunkt. Die Eltern bringen die Babys zu den Terminen mit. Im Mittelpunkt steht das Bindungsverhalten der Eltern und das des Kindes sowie das Explorationsverhalten des Babys, das in der Gruppe direkt beobachtet und somit daraus gelernt werden kann. Während dieser Zeit werden von den Eltern und ihrem Baby auch individuelle Videoaufnahmen mit Interaktionen beim Wickeln, Füttern, Stillen und Spielen angefertigt. Diese Videoszenen werden sowohl mit der Mutter als auch mit dem Vater in einem individuellen Feedbacktraining besprochen. Ziel ist es, dass die Eltern nun mit den realen aktuellen Erfahrungen mit ihrem Baby lernen sollen, dessen individuelle Signale besser zu erkennen und richtig zu interpretieren sowie angemessen und prompt darauf zu reagieren. Irritationen und emotionale Schwierigkeiten der Eltern sowie Fehlinterpretationen und Projektionen aus der eigenen Kindheitsgeschichte können in diesem Stadium frühzeitig erkannt, besprochen und korrigiert werden. Wenn die Eltern einverstanden sind, werden ihre individuellen Videoaufnahmen mit ihrem Baby auch in der Gruppe als Feedback-
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training für alle Teilnehmer verwendet. Meist sind Eltern sehr motiviert, ihre Interaktionsverhaltensweisen auch der Gruppe zur Verfügung zu stellen, damit alle aus den positiven, aber auch aus den schwierigeren Interaktionen lernen können. Insbesondere aus Feinabstimmungsschwierigkeiten oder „Missverständnissen“ in der Interaktion bekommen andere Hinweise, was sie bei ihrem Baby vielleicht anders sehen und besser interpretieren könnten. Da sich inzwischen innerhalb der Gruppe Vertrauensbeziehungen entwickelt haben, bestehen in der Regel keine größeren Hemmungen, sehr offen über Ängste, Befürchtungen und auch interaktionelle Schwierigkeiten zu sprechen. Individuelle Traumapsychotherapie Mit allen Eltern wird ein Erwachsenen-Bindungs-Interview (Adult Attachment Interview – AAI) durchgeführt. Der Zweck dieses Interviews ist es, bei der werdenden Mutter bzw. dem Vater festzustellen, welche Bindungsressourcen und welche eventuell noch ungelösten traumatischen Erfahrungen von den Eltern mit in die Beziehung zu ihren Kindern hineingebracht werden. Nach den bisherigen Erfahrungen zeigen ca. 30 % der an dem Präventionsprogramm teilnehmenden Eltern solche ungelösten Traumatisierungen, so dass sie eine individuelle Psychotherapie benötigen. Ungelöste traumatische Erlebnisse sind von großer Bedeutung. Wie die klinische Erfahrung zeigt, können Kinder durch ihre Verhaltensweisen bei ihren Eltern ganz ungewollt traumatische Erinnerungen und die dazugehörigen Affekte wachrufen. Diese sind wie „Geister im Kinderzimmer“ (Fraiberg et al., 1975), die ungerufen kommen. So können etwa das Weinen eines Kindes, die Suche nach Zärtlichkeit, Wutanfälle oder auch Forderungen des Kindes nach Nähe und Kontakt ungelöste traumatische Erlebnisse bei der Mutter oder dem Vater in Erinnerung bringen. Wenn dies unkontrolliert und unbewusst geschieht, können sich die Eltern plötzlich im Kampf auf einer imaginären Bühne befinden. Ihr Kind wird im schlimmsten Fall gleichzeitig Akteur und Opfer in einem alten traumatischen Theaterstück, in dem ihm eine Rolle zugeschrieben wird, die es sich selbst nicht ausgesucht hat. Es kann zur Zielscheibe und Projektionsfläche für gewalttätige Fantasien werden. Im schlimmsten Fall kann es zu einer realen Wiederholung von Gewalterfahrungen kommen, indem das Kind z. B. unbeabsichtigt von der Mutter oder dem Vater geschüttelt wird. Solche oft zeitlich kurzen traumatischen Reinszenierungen können fatale Folgen haben, wenn das Kind infolge des Schütteltraumas durch eine Hirn- oder Augenblutung zeitlebens behindert oder geschädigt ist. Wenn sich im Bindungsinterview zeigt, dass die Eltern solche unverarbeiteten traumatischen Erfahrungen mitbringen, werden sie von uns darauf hingewiesen, dass diese wegen der Nichtverarbeitung einen Risikofaktor darstellen. Es könnte sich zu irgendeinem Zeitpunkt eine Situation ergeben, in der die Eltern solche eigenen traumatischen Erlebnisse mit ihrem Kind wiederholen und sich dadurch der Teufelskreis von selbst erlebter Gewalt und der Weitergabe dieser Gewalt an die nächste Generation schließt. Ein spezielles Ziel von SAFE® besteht darin,
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diese Teufelskreise zu durchbrechen. Wenn Eltern sich motivieren lassen und bereit sind, bieten wir ihnen bereits während der Schwangerschaft im Sinne einer Stabilisierungsphase eine Traumatherapie in getrennten individuellen Sitzungen an. Nach der Geburt besteht die Möglichkeit, den Eltern mit modernen Methoden der Traumatherapie (z. B. mit EMDR) in traumazentrierten psychotherapeutischen Sitzungen zu helfen, ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten. Gerade dieser Anteil von SAFE® zielt auf eine Prävention der Wiederholung eines erlebten Traumas mit den eigenen Kindern. Hotline Ein weiteres Interventionsmodul besteht in einer „Hotline“. Nach der Geburt sind Schwierigkeiten bei Adaptationsprozessen, wie etwa beim Einschlafen, relativ typisch. Eltern geraten jetzt in der Regel zum ersten Mal in Not, wenn sich z. B. ihr Kind nicht ablegen lässt und stundenlang weint, ohne dass sie das Baby beruhigen oder für das unstillbare Schreien einen Grund ausmachen können (Brisch, im Druck). Aus der klinischen Erfahrung ist bekannt, dass Eltern in diesen sehr stressvollen Situationen oft viel zu spät Hilfe suchen. Im schlimmsten Fall kommen sie erst in die Kinderklinik, wenn es bereits zu einer Gewalthandlung gegenüber dem schreienden Baby gekommen ist. Die Hotline bietet den Eltern die Möglichkeit, die SAFE®-GruppenleiterInnen anzurufen und sich unmittelbar Rat und Unterstützung zu holen. Hierbei ist es von großem Vorteil, dass die Eltern die- oder denjenigen, der an der Hotline erreichbar ist, bereits aus den Gruppensitzungen vor der Geburt kennen und dass dort ein Vertrauensverhältnis entstanden ist (Brisch, 2000). Die möglichen Interventionen sind sehr gezielt einsetzbar, weil die individuelle Geschichte der Eltern und ihre Ressourcen sowie ihre besonderen Risiken und Schwierigkeiten dem Gruppenleiter/In durch die vorausgegangenen Seminartage sowie auch durch das Erwachsenen-Bindungsinterview gut bekannt sind. In der Regel konnten die Fähigkeiten der Eltern, Signale eines Babys wahrzunehmen und zu interpretieren, auch schon vor der Geburt während des Videotrainings beurteilt und gefördert werden. Aus den individuellen Videoaufnahmen, die mit den Eltern und ihrem Baby etwa beim Wickeln und Füttern erstellt wurden, sind die elterlichen Kompetenzen und Ressourcen gut bekannt, so dass bei einem Anruf über die Hotline eine rasche und gezielte Interventions- und Beratungsmöglichkeit besteht. Falls die Eltern eigene unbewusste Ängste und Erwartungen auf ihr Baby projizieren und diese die Ursache der Interaktionsstörung sind, können die Eltern frühzeitig erfasst und im Rahmen einer Eltern-Säuglings-Therapie behandelt werden (Bakermans-Kranenburg et al., 1998; Beebe, 2003; Bodeewes, 2002; Brisch, 1995; Brisch & Lehmkuhl, 2003; Kühle et al., 2001; Papousek, 2000; Schmücker et al., 2005; Zelenko & Benham, 2000). Die Häufigkeit der Inanspruchnahme der Hotline ist sehr unterschiedlich und schwankt je nach individuellen Krisen- und Belastungssituationen, die sich nur schwer voraussagen lassen, sowohl beim einzelnen Elternpaar als auch zwischen den Elternpaaren.
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Ziel des gesamten SAFE®-Programms ist es, dass nach Ablauf des 1. Lebensjahres Kinder von Eltern, die an der SAFE®-Gruppe teilgenommen haben, sichere Bindungsmuster aufweisen und dass sich die Erfahrungen elterlicher Traumata nicht mit dem Säugling wiederholen. 9.2.3 SAFE®-Mentorenausbildung Zur Verbreitung des Programms besteht die Möglichkeit, sich in München als SAFE®-Mentor am Dr. von Haunerschen Kinderspital ausbilden zu lassen (Info unter http://hauner.klinikum.uni-muenchen.de/dt_psy.htm). In Zukunft sollen aber auch regionale Ausbildungsgruppen entstehen. Als potentielle SAFE®-Mentoren können sich grundsätzlich alle Berufsgruppen melden, die mit Schwangeren oder mit Eltern und ihren Säuglingen arbeiten, wie etwa Schwangerschaftsberaterinnen, Hebammen und Stillberaterinnen, Krankenschwestern, Geburtshelfer, Psychologen, Kinderärzte, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, Pädagogen, Sprachheilpädagogen und Sprachtherapeuten. Entscheidend für die Arbeit in SAFE®-Gruppen ist die Fähigkeit, sich auf Schwangere und auf Eltern mit Säuglingen einzulassen. Möglichst sollten bereits aus der alltäglichen beruflichen Praxis „hands on“ Erfahrungen mitgebracht werden. Die Ausbildung zum SAFE®-Mentor umfasst drei ganztägige Seminartage und zusätzliche Praxistage, die je nach Vorerfahrung unterschiedlich lang und intensiv sein können. Die Mentoren organisieren dann unter ihren spezifischen Arbeitsbedingungen jeweils vor Ort SAFE®-Gruppen. Vorzugsweise arbeitet man als Mentorenpaar im Sinne einer Gruppen- und einer Co-Leitung. Dieses Leitungsmodell eröffnet die Möglichkeit, dass einer der Mentoren Inhalte vermitteln kann, während der andere die gruppendynamischen Prozesse im Auge behält und die Gruppe leitet. 9.2.4 Evaluation des SAFE®-Programms In der Pilotphase konnte das SAFE®-Programm mit seinen Inhalten sehr gut realisiert werden. Zurzeit wird eine prospektive, randomisierte Längsschnittstudie durchgeführt, in der die SAFE®-Gruppenintervention im Vergleich zu einer herkömmlichen Schwangerschafts- und Geburtsvorbereitung und Stillbegleitung evaluiert wird. Die Kontrollgruppe trifft sich für die gleiche Seminardauer und -häugfigkeit wie die SAFE®-Gruppe, so dass die Effekte der unterschiedlichen Interventionen – SAFE®-Gruppe versus konventionelle Schwangerschafts, Geburtsund Nachgeburtsbegleitung – untersucht werden können. In der Kontrollgruppe treffen sich die Eltern im gleichen Zeitfenster bis zum Ende des 1. Lebensjahres ihres Säuglings an Sonntagen zu ganztägigen Seminartagen. In der SAFE®- und der Kontrollgruppe werden jeweils zu den gleichen Zeitpunkten die Mutter- und die Vater-Kind-Interaktionen mit Videoaufnahmen beim Wickeln, Füttern und beim Spielen erfasst. Am Ende des 1. Lebensjahres wird auch die Entwicklung der Bindungsqualitäten der Säuglinge untersucht und ausgewertet.
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Zusätzlich werden mit Hilfe von Fragebögen prä- und postnatale Daten erhoben und bei allen Eltern werden Erwachsenen-Bindungsinterviews durchgeführt. Sowohl bei den Müttern als auch bei den Vätern werden vor und nach solchen Interviews sowie auch bei den Kindern vor und nach der Untersuchung der Bindungsqualität physiologische Stressparameter anhand von Speichelcortisoluntersuchungen erhoben. 9.2.5 Zusammenfassung Das Hauptziel einer präventiven Intervention mit dem SAFE®-Programm ist es, möglichst viele Eltern so zu unterstützen und zu fördern, dass ihre Kinder zu ihnen eine sichere Bindungsentwicklung aufbauen können. Die Eltern sollen auch bei eigenen schmerzlichen bis traumatischen Erfahrungen durch die Hilfestellungen im SAFE®-Programm für die Signale ihrer Kinder emotional verfügbar werden und angemessen feinfühlig darauf reagieren können. Das SAFE®-Programm beginnt bereits während der Schwangerschaft und wird bis zum Ende des 1. Lebensjahres des Säuglings fortgesetzt. Es nutzt sowohl gruppentherapeutische Effekte als auch die Möglichkeiten einer individuellen einzelpsychotherapeutischen Beratung bis zur traumazentrierten Psychotherapie. Auf diese Weise kombiniert es Effekte von Gruppen- und Einzelberatung bzw. Therapie. Es eröffnet die Möglichkeit, dass Eltern Teufelskreise von selbst erlebter Traumatisierung, insbesondere von Gewalt, durch eine individuelle traumazentrierte Psychotherapie durchbrechen können. Die Hotline bietet für interaktionelle Schwierigkeiten im Alltag Sicherheit und stellt einen „kurzen Draht“ zu kompetenten Mentoren her. Diese sind im optimalen Fall in der Lage, schnell auf elterliche Hilferufe einzugehen, weil sie deren Geschichte bereits kennen. Das SAFE®-Programm steht allen Eltern – Müttern und Vätern – sowie Alleinerziehenden offen. Es wird bewusst nicht nur so genannten „Risikoeltern“ mit bekannten psychosozialen Risiken angeboten, da aus der klinischen Erfahrung bekannt ist, dass traumatisierte Eltern in allen sozialen Schichten vorkommen. Gerade Eltern aus der Mittel- und Oberschicht fällt es schwer, über traumatische Erfahrungen zu sprechen und sich jemandem anzuvertrauen. Bei diesen Eltern besteht aber genauso wie bei denjenigen unterprivilegierter Schichten die Gefahr, eigene traumatische Erfahrungen an ihre Kinder durch Reinszenierung weiterzugeben. Durch die grundsätzliche Offenheit des SAFE®-Programms für alle Schichten von Eltern ist die Möglichkeit gegeben, viele soziale Gruppierungen mit den unterschiedlichsten psychischen Problemen und Strukturen zu erreichen. Die Durchführung der Elternseminare an Sonntagen ermöglicht es offensichtlich auch Vätern besonders gut, an der SAFE®-Gruppe teilzunehmen. Das frühe Ansprechen bereits während der Schwangerschaft, wenn die Eltern noch mit ihrer individuellen Entwicklung von Mutter-, Vater- und Elternschaft beschäftigt sind und die Schwierigkeiten, ein Baby zu versorgen, noch nicht im Vordergrund stehen, scheint die Motivation für die Teilnahme an einer SAFE®-Gruppe zu
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erhöhen. Durch das Einbinden in einen 1 ½ jährigen individuellen und gruppentherapeutischen Prozess wird die Zuverlässigkeit und Verbindlichkeit an der Teilnahme gefestigt. Es ist zu erwarten, dass das SAFE®-Programm von vielen Eltern angenommen wird, weil es keine Elterngruppe stigmatisiert. Wenn das Programm durch Mentoren eine größere Verbreitung findet, könnten zukünftig mehr Kinder eine sichere emotionale Bindung zu ihren Eltern aufbauen und damit eine bedeutungsvolle Grundlage für ihre weitere soziale, emotionale und kognitive Entwicklung zur Verfügung haben.
9.3 Sekundäre Prävention von emotionalen Störungen mit B.A.S.E.® Ziel von B.A.S.E.® (Babywatching gegen Aggression und Angst zur Förderung von Sensitivität und Empathie) ist die sekundäre Prävention von aggressiven und ängstlichen Verhaltensstörungen bei 3- bis 6-jährigen Kindergartenkindern durch die Entwicklung einer besseren Feinfühligkeit und Empathiefähigkeit. Kinder mit fehlender oder wenig ausgeprägter Empathiefähigkeit verhalten sich in Konflikten häufig aggressiv gegenüber Gleichaltrigen und sind häufig unsicher gebunden (Parens, 1989, 1993a, 1993b; Parens & Kramer, 1993; Parens et al., 1995; Suess et al., 1992). Kinder, die nach frühen Traumatisierungen eine Bindungsstörung entwickelten, haben extreme Schwierigkeiten, sich in die Fühlund Denkwelt von anderen hineinzuversetzen (Fonagy, 1998a, 1998b, 2003a, 2003b). Mit der Entwicklung von Empathie und von selbstreflexiven Kompetenzen soll erreicht werden, dass sich Kinder weder feindselig noch ängstlich gegenüber anderen verhalten, da sie deren Absichten, Gefühle und Intentionen besser verstehen können. Stattdessen sollen die Kinder in der Kindergartengruppe kooperativer, prosozialer und insgesamt kreativer und aufmerksamer werden und Verhaltensstörungen, wie Aggressivität, Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und oppositionelles Verhalten, sollen in den Hintergrund treten. 9.3.1 Inhalte des Programms B.A.S.E.® In diesem Programm, das auf den Arbeiten von Henri Parens beruht (Parens & Kramer, 1993), beobachten 3- bis 6-jährige Kinder über einen Zeitraum von ca. einem Jahr eine Mutter mit ihrem Säugling. Für viele Einzelkinder ist dies die erste und oft einzige Möglichkeit, die Meilensteine der Entwicklung eines Babys während des gesamten ersten Lebensjahres kontinuierlich zu erleben. Der Säugling ist nur wenige Wochen alt, wenn die Mutter zum ersten Mal mit ihm in die Kindergruppe kommt und sich mit ihrem Säugling von den Kindergartenkindern in einem Stuhlkreis beobachten lässt. Diese Form der teilnehmenden Interaktionsbeobachtung wird ungefähr bis zum Ende des 1. oder Anfang des 2. Lebensjahres fortgeführt. Wenn der Säugling zum freien Laufen gekommen
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ist und die ersten Worte spricht, verabschiedet sich die Mutter wieder von den Kindern. In der Regel kommt die Mutter mit ihrem Säugling einmal pro Woche in den Stuhlkreis und bleibt ca. 20 bis 30 Minuten. Die Kinder werden angeleitet, Mutter und Kind sowie die Interaktion zwischen beiden während dieser Zeit zu beobachten. In der Regel führt eine Erzieherin die Gruppe und eine andere leitet die Kinder an. Über die Beobachtungen der Kinder wird Protokoll geführt. Dabei fokussiert die Erzieherin auf verschiedene Ebenen: Die Kinder beschreiben unter Anleitung der Erzieherin, wie die Handlungsebene aussieht, d. h., was die Mutter mit dem Säugling macht, und auch, was der Säugling unternimmt und wie sich beide wechselseitig in ihrer Interaktion beeinflussen. Danach oder gleichzeitig machen sich die Kinder Gedanken über die Motive der Handlungen von Mutter und Kind. Eine dritte Ebene der Beobachtung ist die emotionale Ebene: Die Kinder fühlen sich in die emotionale Situation von Mutter bzw. Baby ein und beantworten Fragen, wie es der Mutter und dem Baby während dieser oder jener Interaktion emotional geht. Die letzte Stufe der Babybeobachtung ist die Empathiestufe. Hierbei sollen die Kinder die Frage beantworten, wie es ihnen selbst erginge und was sie selbst emotional erleben würden, wenn sie sich probeweise in die Situation der Mutter bzw. des Babys hineinversetzen würden. 9.3.2 Ergebnisse einer Pilotstudie In einem prospektiv randomisierten Design mit einer Kontrollgruppe wurden in einem Kindergarten die Verhaltensauffälligkeiten von Kindern (N = 50) vor dem Babywatching und ein Jahr danach eingeschätzt. Sowohl die Erzieherinnen als auch die Eltern füllten neben verschiedenen anderen Fragebögen auch die ChildBehavior-Checklist (CBCL) (Achenbach, 1991) aus, mit der Verhaltensauffälligkeiten erfasst werden können. Die Ergebnisse vor und nach 1 Jahr Babywatching wurden miteinander verglichen. Es zeigten sich nach dem Babywatching signifikante Unterschiede zwischen der Kontroll- und der Interventionsgruppe. Insgesamt fanden sich positive Effekte auf externalisierende und internalisierende Auffälligkeiten. Sowohl Jungen als auch Mädchen verhielten sich nach der Einschätzung der Erzieherinnen und auch der Eltern nach einem Jahr weniger aggressiv, zeigten mehr Aufmerksamkeit und weniger oppositionelles Verhalten. Zusätzlich fanden sich positive Veränderungen bei internalisierenden Störungen, denn sowohl Jungen wie Mädchen waren auch weniger ängstlich-depressiv, zogen sich nicht so schnell zurück und waren in Konfliktsituationen emotional reaktiver. Die Mädchen der Interventionsgruppe klagten nach der Einschätzung ihrer Erzieherinnen über weniger körperliche Beschwerden und nach der Einschätzung ihrer Eltern hatten sie auch weniger Schlafstörungen. Veränderungen wurden von den Erzieherinnen und den Eltern jeweils in die gleiche Richtung angegeben. Bei der Kontrollgruppe konnten solche positiven Veränderungen nicht festgestellt werden.
9 Prävention von emotionalen und Bindungsstörungen
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9.3.3 Zusammenfassung Das Babywatching war für alle Beteiligten ein emotional positives Erlebnis. Es zeigte sich, dass die Fähigkeiten, die während der Empathieförderung durch eine Mutter-Kind-Beobachtung erworben wurden, auf die Interaktion im Spiel und die Interpretation der Verhaltensweisen der Spielkameraden untereinander übertragen wurden. Dies erklärt die Veränderungen, die bei den Kindern nach dem Jahr beobachtet wurden. Das Babywatching ist eine kostenneutrale, sekundär-präventive Intervention mit positiven Ergebnissen bei Jungen und Mädchen, die sich sowohl auf externalisierende als auch auf internalisierende Verhaltensstörungen auswirkt. Die Ergebnisse sind allerdings vorläufig und werden derzeit in weiteren Evaluationsstudien mit randomisiertem, prospektivem Design überprüft. Das Babywatching ist insbesondere für soziale Brennpunkte mit einem hohen Anteil von Kindergartenkindern mit Verhaltensauffälligkeiten gedacht. In Zukunft soll es auch für andere Altersgruppen erprobt und z. B. in Grundschulklassen eingesetzt und ggf. eingeführt werden. Dank. Ein besonderer Dank gilt der „Aktion Mensch“ und dem „Hauner Verein zur Unterstützung des Dr. von Haunerschen Kinderspitals“, die das Programm SAFE® finanziell unterstützen. Das „Bündnis für Kinder. Gegen Gewalt“ der Bayerischen Staatsregierung fördert ebenfalls die Verbreitung dieses Programms, da SAFE® auch ein Programm zur Prävention von elterlicher Gewalt gegen Kinder ist. Ein weiterer Dank gilt den Eltern und ihren Kindern, die an diesem Programm teilgenommen haben und die mit der Möglichkeit der Forschungsevaluation zur Qualitätssicherung dieses Programms beigetragen haben. Abschließend möchte ich meinen Mitarbeiterinnen, Frau Dipl.-Psych. Lisa Speer, Frau Dipl.Psych. Borbala Balazs, Frau Dipl.-Psych. Christiane Roithmaier, Frau Dipl.-Päd. Anke Laukemper sowie Frau cand. psych. Simone Luber danken, die mit großem Engagement zur Verbreitung dieses Programms beigetragen haben, sowie meiner Sekretärin Frau Roswitha Schmid, die viele Aufgaben der Koordination und Anmeldung der Eltern dankenswerterweise souverän bewältigt hat. Mein besonderer Dank gilt den Erzieherinnen, Eltern und den Müttern mit Säuglingen, die das Babywatching durchgeführt und sich an der Datenerhebung beteiligt haben, sowie den Kindern, die sich – mit viel Spaß – auf diese neue Form der Empathie-Schulung eingelassen haben. Frau cand. psych. Simone Luber und Frau cand. med. und psych. Michaela Kohler sei Dank für die zuverlässige Vorbereitung der Datenerhebung und Datenerfassung.
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Prävention von kindlichen Verhaltensstörungen mit dem Triple P-Elterntraining Kurt Hahlweg & Nina Heinrichs
Gliederung 10.1 10.1.1 10.1.2 10.2 10.3 10.3.1 10.3.2 10.3.3 10.4 10.4.1 10.4.2 10.5
Kindliche Verhaltensstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie und Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbeugen statt Behandeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elterntrainings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erziehungsfertigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirksamkeit eines Elterntrainings . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiele für Elterntrainingsprogramme. . . . . . . . . . . . . . Triple P – Positive Parenting Training. . . . . . . . . . . . . . . . Ziele und Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse von Evaluationsstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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10.1 Kindliche Verhaltensstörungen In allen industrialisierten Staaten stellt Gewalt ein großes soziales Problem dar, auch auf Grund der hohen Kosten, die durch delinquentes und aggressives Verhalten verursacht werden. So schätzen Munoz et al. (2004), dass ein derartiger „Fall“ über die Lebensspanne Kosten von 1,5 Mill. € verursacht. Unter anderem deshalb wird das Thema Prävention von oppositionellem und aggressivem Problemverhalten in den letzten Jahren nicht nur in der klinisch-psychologischen und pädagogischen Forschung, sondern auch in der Öffentlichkeit verstärkt diskutiert, insbesondere im Zusammenhang mit einem vermuteten Anstieg von Gewalt in Kindergärten und Schulen und den spektakulären Einzelfällen, wie den Morden in einer Erfurter Schule durch einen jugendlichen Einzeltäter.
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10.1.1 Epidemiologie und Verlauf Internationale epidemiologische Studien zeigen, dass ca. 18 % aller Kinder und Jugendlichen in einem Zeitraum von 6 bis 12 Monaten klinisch bedeutsame Verhaltensauffälligkeiten wie Ängste, Depressionen und vor allem aggressives Verhalten, oppositionelles Trotzverhalten und hyperkinetische Störungen aufweisen (Ihle & Esser, 2002). Dies bedeutet, dass in der Bundesrepublik Deutschland ca. 2 Millionen Kinder im Alter von ein bis 15 Jahren betroffen sind. Aggressives und delinquentes Verhalten von Jugendlichen und Erwachsenen ist dabei häufig das Ergebnis eines Prozesses, der schon in der frühen Kindheit beginnen kann. Je früher und häufiger das problematische Verhalten auftritt, je ausgeprägter und vielfältiger es sich äußert und je unabhängiger vom jeweiligen Kontext, desto stabiler ist auch der Verlauf. Diese Kinder sind stärker als andere gefährdet, Trunkenheit im Straßenverkehr, Verkehrsunfälle, Arbeitslosigkeit, Missbrauch durch Eltern und Geschwister, Lernschwierigkeiten in der Schule, ungeschützten Geschlechtsverkehr, Selbstmord oder Tod durch äußere Gewalteinwirkung zu erleiden. Aggressives Verhalten scheint über den Entwicklungsverlauf sehr stabil zu sein, d. h. viele der betroffenen Kinder behalten dieses Verhalten von der Kindheit bis in die Jugend bei (Lösel et al., 2006; Vermeiren, 2003). Neuere prospektive Langzeitstudien über ca. 20 Jahre zeigen, dass aggressives Verhalten über mindestens drei Generationen hinweg stabil bleiben kann und über inkonsistente und aggressive Erziehungspraktiken der Eltern vermittelt wird (z. B. Capaldi et al., 2003). 10.1.2 Risikofaktoren Die Entstehung und Verfestigung von psychischen Problemen ist multifaktoriell bedingt (Lösel & Bender, 2003). Frühe biologische und psychosoziale Risikofaktoren spielen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen im Kindesalter eine wichtige Rolle. Sie lassen sich folgenden Bereichen zuordnen: – biologische und genetische Faktoren sowie frühe Entwicklungsrisiken, – frühe Verhaltensfaktoren, Eltern-Kind-Interaktionen und familiäre Faktoren, – soziale Problemlösedefizite, mangelnde Impulskontrolle und mangelnde soziale Kompetenzen, Schulleistungsprobleme. Viele Kinder sind familiären Risikofaktoren ausgesetzt. Allein durch Scheidung waren in der BRD im Jahre 2003 ca. 170.000 Kinder betroffen. Ein großes Problem ist darüber hinaus die Verbreitung familiärer Gewalt. Verlässliche Zahlen sind nicht verfügbar; Schätzungen gehen von ca. 100.000 Kindesmisshandlungen und 150.000 bis 300.000 Fällen von sexuellem Missbrauch pro Jahr aus (Schneewind, 1999). Sind einige dieser familiären Faktoren vorhanden und kommen ungünstige sozioökonomische Faktoren wie schlechte Wohn- und Schulverhältnisse, Arbeitslosigkeit und Armut hinzu, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder Problemverhalten entwickeln (Shaw et al., 1994; Bradley & Corwin, 2002).
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Für die Prävention von Verhaltensstörungen im Kindesalter sind vor allem der zweite und dritte o. g. Bereich von entscheidender Bedeutung, da sich folgende familiäre Risikovariablen für Problemverhalten bei Kindern herauskristallisiert haben, die prinzipiell zu verändern sind: – inkonsistentes und bestrafendes Erziehungsverhalten, – negative familiäre Kommunikationsmuster, – Ehekonflikte, – psychische Störungen der Eltern, insbesondere depressive Probleme der Mutter. Eine Reduktion zumindest der familiären Risikovariablen durch möglichst frühzeitige präventive Interventionen bereits im Kindergartenalter erscheint nach vorliegenden Befunden als dringend geboten: Je früher interveniert wird, desto größer ist auch die Chance, dass sich das Verhalten nicht bereits stabilisiert hat.
10.2 Vorbeugen statt Behandeln Therapeutische Maßnahmen haben eine relativ geringe Reichweite. Interventionen im Kindesalter sollten deshalb früh einsetzen, da sich in der klinischen Praxis eine Behandlung chronifizierter Störungen als schwierig erweist (Döpfner & Lehmkuhl, 2002; Weiss et al., 1999). Zudem besteht im Bereich der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie schon jetzt eine massive Unterversorgung. Präventionsprogramme unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Zielgruppe: – Universelle Programme zielen auf die Allgemeinbevölkerung ab. – Selektive Programme beschränken sich auf Individuen oder Subgruppen mit erhöhtem Risiko für die zukünftige Entwicklung einer psychischen Störung (Vorhandensein biologischer oder sozialer Risikofaktoren). – Indizierte Programme fokussieren auf Individuen mit prodromalen Symptomen einer psychischen Störung, die die Kriterien einer psychischen Störung noch nicht vollständig erfüllen. Anforderungen an Präventionsprogramme Bei präventiven Maßnahmen besteht die wichtigste Aufgabe in der Entwicklung eines Konzeptes, das auf wissenschaftlich begründeten Kriterien beruht (Flay et al., 2005; Heinrichs et al., 2002; Nation et al., 2003). 1. Ziele. Eine präventive Maßnahme sollte die Auftretenshäufigkeit von kindlichen Verhaltensstörungen reduzieren durch eine Verbesserung der elterlichen Erziehungspraktiken und/oder durch eine Stärkung der Resilienzfaktoren bei Kindern bzw. durch eine Verminderung familiärer Risikofaktoren oder durch eine Stärkung von sozialen Schutzfaktoren. Sie sollte stabile Effekte erzielen, kostengünstig sein und von den Adressaten eine hohe Akzeptanz erfahren.
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2. Theoretische Fundierung. Präventive Interventionsprogramme sollten auf Interventionszielen beruhen, die nachweislich in einem empirischen Zusammenhang mit der Verhinderung von Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen stehen. Die zu Grunde liegenden empirisch bestätigten theoretischen Annahmen sollten genau beschrieben sein. 3. Empirische Fundierung. Präventive Programme sollten bezüglich ihrer Wirksamkeit überprüft sein, was ihre Manualisierung (exakte Beschreibung der Durchführung in einer Handlungsanweisung) voraussetzt. Die Überprüfung umfasst zwei Komponenten: a) den Nachweis, dass das Programm im Stande ist, das Zielverhalten (bei Eltern und/oder Kindern und Jugendlichen) wie beabsichtigt zu implementieren und b) den Nachweis, dass das veränderte Eltern- und/oder Kindverhalten die Inzidenzrate (Neuauftretensrate) für Störungen bei Kindern und Jugendlichen vermindert. 4. Gute Erreichbarkeit. Präventionsprogramme müssen leicht zugänglich sein. Das kann zum Beispiel flexible Öffnungszeiten von Beratungszentren erfordern oder auch logistische Stützen wie Kinderbetreuung während der Elterntrainings. Familien, die besonders dringend Hilfe benötigen, haben häufig keinen Zugang zu entsprechenden Stellen im Gesundheitswesen und finanziell schlechter gestellte Familien nehmen Hilfsangebote auch seltener wahr (SnellJohns et al., 2004). 5. Wissenschaftlich begründete Wirksamkeit. Eine präventive Maßnahme muss hinsichtlich ihrer Wirksamkeit überprüft werden. Die Anzahl an Elternratgebern und Erziehungskursen ist groß, aber nur selten wird eine empirische Überprüfung dieser Programme durchgeführt. Diese Anforderungen stehen in Übereinstimmung mit den Schlussfolgerungen des kürzlich veröffentlichten WHO-Berichtes zur Prävention psychischer Störungen (Hosman et al., 2005).
10.3 Elterntrainings Die Grundidee von Elterntrainings ist, Eltern Hilfen bei der Erziehung ihres Kindes an die Hand zu geben, um zum einen den Teufelskreis von ungünstigem Erziehungsverhalten und Verhaltensauffälligkeiten des Kindes gar nicht erst entstehen zu lassen und zum anderen, um Eltern zu helfen, eine positive Beziehung zu ihrem Kind aufzubauen und so einen schützenden Rahmen für die Entwicklung des Kindes zu schaffen (Patterson, 1982). Erziehung ist natürlich nur einer von vielen Risikofaktoren, aber dieser ist am besten zugänglich und modifizierbar. Solche Elterntrainings spielen eine umso größere Rolle, je jünger die Kinder sind. 10.3.1 Erziehungsfertigkeiten Bisher haben sich vor allem im angloamerikanischen Sprachraum entwickelte Elterntrainings auf kognitiv-verhaltenstherapeutischer Basis als wirksam erwie-
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sen, in denen empirisch begründete Erziehungskompetenzen vermittelt werden (Brezinska, 2003). Diese Elterntrainings unterscheiden sich zwar in Aufbau und Dauer des Programms, vermitteln jedoch überwiegend folgende elterlichen Erziehungskompetenzen: Eine gute Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist die Grundlage aller Erziehung. Dazu gehört zuallererst ein respektvoller und liebevoller Umgang mit dem Kind. Einige Erziehungsfertigkeiten (z. B. wertvolle Zeit mit den Kindern verbringen, Zuneigung zeigen) helfen, eine positive Beziehung herzustellen. Weitere elterliche Erziehungskompetenzen (z. B. beschreibend loben, Aufmerksamkeit schenken, ein gutes Vorbild sein) sind insbesondere für die Förderung der kindlichen Entwicklung und das Erlernen neuer Verhaltensweisen wichtig. Für Situationen, in denen die oben genannten Methoden alleine nicht greifen, werden den Eltern von Kindern im Vor- und Grundschulalter Erziehungsfertigkeiten vermittelt, die ihnen helfen sollen, z. B. mit aggressivem und trotzigem Verhalten ihrer Kinder besser umzugehen. An erster Stelle steht hier das gemeinsame Vereinbaren von Familienregeln in einem Familiengespräch. Weiterhin gehören hierzu auch das direkte Ansprechen, wenn die Regeln missachtet werden, sowie die Anwendung logischer Konsequenzen von kurzer Dauer. Diese sind jedoch nicht immer erfolgreich und manchmal gibt es keine sinnvollen logischen Konsequenzen. Für diese Fälle ist die Erziehungsfertigkeit „Auszeit“ wichtig, die eingesetzt werden kann, wenn die anderen Maßnahmen nicht ausreichen. 10.3.2 Wirksamkeit eines Elterntrainings Die Wirksamkeit von psychotherapeutischen oder präventiven Interventionen wurde in Meta-Analysen untersucht. Dabei handelt es sich um Zusammenfassungen von Einzelstudien, in denen eine behandelte Gruppe mit einer unbehandelten Kontrollgruppe verglichen wurde. Die Zusammenfassungen erfolgen mit Hilfe von statistischen Analysen, in denen „Effektstärken“ (ES) berechnet werden, die etwas über die Bedeutsamkeit der Verbesserungen oder Verschlechterungen aussagen. Effektstärken bis 0.39 gelten als geringe, zwischen 0.40 bis 0.79 als mittlere und über 0.90 als hohe Effekte. Bezüglich der Wirksamkeit von Elterntrainings wurden mehrere Meta-Analysen veröffentlicht (Beelmann, 2006; Lundahl et al., 2006). Alle Analysen belegten positive Effekte in mittlerer Höhe; z. B. lag die durchschnittliche Effektstärke bei Serketich und Dumas (1996) in Abhängigkeit von der Beurteilerquelle zwischen 0.70 bis 0.85. In der neuesten englischsprachigen Meta-Analyse von Lundahl et al. (2006) werden zum einen behaviorale (verhaltensorientierte) und nicht-behaviorale Elterntrainings in ihrer Effektivität verglichen und zum anderen Moderatoren der Wirksamkeit gesucht. Insgesamt wurden 63 randomisierte (Gruppenzuordnung nach Zufallskriterien) kontrollierte Studien einbezogen, von denen n = 9 (14 %) nicht-behavioral waren. Die nicht-behavioralen Elterntrainings schnitten kurzfristig genauso gut, längerfristig jedoch deutlich schlechter ab als die behavioralen. Eltern, die mit sozialer Benachteiligung zu kämpfen
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haben, erleben Elterntrainings als weniger wirksam als solche mit durchschnittlichem oder hohem sozialen Status. Nicht alle Eltern profitieren also gleich gut von den gegenwärtig verfügbaren Elterntrainings. Allerdings beruhen die Daten auf Studien, die überwiegend im Rahmen indizierter Prävention durchgeführt wurden. Unseres Wissens wurde die Effektivität von Elterntrainings im Rahmen universeller Prävention in internationalen Studien mit ausreichend großen Stichproben nicht untersucht und ist deshalb der Fokus unserer Studien in Braunschweig, über die weiter unten berichtet wird. Bis zum Jahr 2002 gab es kein evidenzbasiertes Elternprogramm zur wirksamen Vorbeugung von emotionalen Auffälligkeiten und Verhaltensproblemen bei Kindern (Heinrichs et al., 2002). Neben dem evaluierten Triple P-Programm (s. u.) gibt es inzwischen in Deutschland allerdings noch mindestens zwei Programme, die sich gegenwärtig in der Evaluationsphase befinden (indizierte Prävention: Präventionsprogramm für Expansives Problemverhalten – PEP, Arbeitsgruppe um Döpfner in Köln, Wolff Metternich et al., 2002; universelle Prävention: Nürnberg-Erlanger Präventions- und Entwicklungsstudie (Lösel et al., 2006). Auch das Gordon-Elterntraining weist ebenso wie das STEP-Programm einige empirische Evidenz auf. Untersuchungen zu den beiden letztgenannten Programmen sind jedoch methodisch nur wenig stringent und die Effekte werden mit der Zeit schwächer (Überblick bei Heinrichs et al., in Vorbereitung). 10.3.3 Beispiele für Elterntrainingsprogramme Elterntraining nach Patterson (1982) Als „Ur-Vater“ der Elterntrainings kann die Arbeitsgruppe um Gerald Patterson am Oregon Social Learning Center (OSLC) in den USA gelten. Patterson befasst sich seit den 70er Jahren mit der Erforschung von Interaktionen in Familien mit aggressiven Kindern im Alter zwischen 3 und 14 Jahren sowie mit den Möglichkeiten einer Intervention. Viele der oben erwähnten Erziehungskompetenzen wurden von der Patterson-Arbeitsgruppe beschrieben. Als Beispiel für den Patterson-Ansatz soll das Programm „Parenting through Change“ (Martinez & Forgatch, 2001) dargestellt werden. An der Evaluationsstudie nahmen allein erziehende Mütter teil, die einen Sohn in den Klassenstufen 1 bis 3 hatten. Im Fokus stand zum einen der Aufbau einer emotional positiven Beziehung zum Kind und die Unterstützung prosozialen Verhaltens des Kindes und zum anderen die Reduktion von ungünstigen, negativen Interaktionen zwischen Mutter und Kind und der frühe, angemessene Einsatz von Disziplinierungsmaßnahmen. Das 14-wöchige Gruppentraining umfasste das Erlernen von fünf wissenschaftlich begründeten Erziehungsstrategien: angemessener Umgang mit Problemverhalten (z. B. durch logische Konsequenzen, Auszeit), Förderung kindlicher Fertigkeiten, Beaufsichtigung des kindlichen Verhaltens, Problemlösen und Entwicklung einer positiven Eltern-Kind Beziehung. Fünf Erhebungszeitpunkte wurden realisiert (Prä- und 6, 12, 18 und 30 Monate nach dem Training). Das Programm bewirkte einen klassischen Präventionseffekt: Während
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der Entwicklungsverlauf von Söhnen der Kontrollmütter sich mit zunehmender Zeit verschlechterte (sie zeigten mehr Ungehorsam und verstärkt oppositionelles Verhalten), blieb der von Söhnen der Trainingsmütter gleich bleibend stabil. Es stellte sich außerdem heraus, dass beide Erziehungsstrategiebereiche – positive Strategien zur Förderung von erwünschtem Verhalten und disziplinierende Strategien (wie Grenzen setzen, Auszeit) – zur Handhabung von unerwünschtem Problemverhalten notwendig sind, um das Kind in seiner Entwicklung zu fördern. Interessant ist, dass die Verbesserungen noch neun Jahre nach dem Training nachweisbar waren. Die Mütter, die an dem Elterntraining teilgenommen hatten, hatten darüber hinaus deutlich höhere Einkommen als die Mütter in der Kontrollgruppe, so dass sich ihre soziale Situation entscheidend verbesserte. Für den deutschen Sprachraum wurde das Elterntraining nach Patterson im Rahmen des Forschungsprojekts an der Universität Erlangen als Präventionsprogramm für das Vorschulalter adaptiert (s. Lösel et al., 2006). Präventionsprogramm für Expansives Problemverhalten – PEP Das 10-wöchige „Präventionsprogramm für Expansives Problemverhalten“ (Wolff Metternich et al., 2002) wurde auf der Grundlage des Therapieprogramms für Kinder mit Hyperkinetischem und Oppositionellem Problemverhalten – THOP (Döpfner et al., 2002) und des daraus entwickelten Elternbuches „Wackelpeter und Trotzkopf“ (Döpfner et al., 2000) entwickelt. PEP besteht aus zwei Komponenten und wird im Rahmen einer indizierten Prävention eingesetzt: 1. Elternprogramm (PEP-EL). Das PEP-EL zielt darauf ab, das Erziehungsverhalten von Eltern in kritischen Situationen, in denen expansive Verhaltensprobleme des Kindes auftreten (z. B. in der Öffentlichkeit), zu verändern. Damit sollen die in der Familie auftretenden expansiven Verhaltensprobleme des Kindes vermindert werden. Das Elterntraining hat folgende Inhalte: Mein Kind: Freud und Leid; Der Teufelskreis und ein Ausstieg; Energie sparen und Auftanken; Familienregeln und Aufforderungen; Positive Konsequenzen: Gut gemacht! Negative Konsequenzen: So nicht! Hilfe, mein Kind rastet aus! Wenn sich Ihr Kind in der Öffentlichkeit problematisch verhält; Wie Hund und Katz: Wenn Kinder sich ständig streiten; Auch Spielen will gelernt sein: Das Spieltraining. 2. Erzieherprogramm (PEP-ER). Das PEP-ER ist parallel zum Elternprogramm aufgebaut und leitet Erzieherinnen an, durch gezielte Interventionen im Kindergarten expansive Verhaltensprobleme von Kindern dort zu vermindern. Am Ende jeder Sitzung werden die Interventionen in der Familie bzw. im Kindergarten anhand von Aufgaben für die nächste Woche (PEP-Praxis) spezifiziert. Außerdem werden sowohl mit den Eltern als auch mit den Erziehern „Auffrischsitzungen“ nach jeweils drei Monaten durchgeführt. Mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) werden die Effekte des neu entwickelten PEP-Programms zurzeit untersucht.
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10.4 Triple P – Positive Parenting Training 10.4.1 Ziele und Inhalte In unserer Arbeitsgruppe in Braunschweig untersuchen wir das Triple P-Elterntraining (Positive Parenting Program). Dieses Erziehungsprogramm ist international weit verbreitet (z. B. USA, Canada, Singapur, Hongkong, England, Holland, Schweiz, Deutschland) und wurde bisher in ca. 25 kontrollierten Studien erfolgreich empirisch überprüft (Sanders et al., 2003). Triple P wurde in Brisbane, Australien, durch Prof. Dr. Matthew Sanders und Mitarbeiter entwickelt. Bislang nahmen mehr als 400.000 Eltern weltweit, davon rund 30.000 Eltern im deutschsprachigen Raum, an Triple P-Elternkursen teil. Für eine detailliertere Darstellung der Inhalte und Ansatzpunkte des Programms siehe Hahlweg (2001) oder Sanders et al. (2003). Ziel dieses wissenschaftlich fundierten Programms ist es, Eltern dabei zu unterstützen, eine liebevolle und fördernde Beziehung zu ihren Kindern aufzubauen. Es werden Wege aufgezeigt, Kinder auf konstruktive, nicht verletzende, gewaltfreie Weise zu erziehen, ihre gesunde Entwicklung zu fördern sowie sie dabei zu unterstützen, die altersspezifischen Anforderungen zu meistern. Die wichtigsten Grundlagen sind liebevolle Zuwendung und eine angemessene Kommunikation in der Familie. Triple P unterstützt Eltern darin, ihre Kinder mit einem autoritativen, manchmal auch partizipativ oder demokratisch genannten Erziehungsstil zu erziehen. Entsprechend fördert das Programm sowohl Warmherzigkeit, Liebe und Zuwendung als auch Struktur, klare Regeln und Konsequenzen. Ein besonders wichtiges Konzept bei Triple P ist die Selbstregulation. Dazu gehört insbesondere, dass Fertigkeiten vermittelt werden, welche die Eltern in die Lage versetzen, Probleme unabhängig und selbstständig zu lösen. Da Eltern und Kinder heute in sehr verschiedenen Situationen und Konstellationen zusammen leben und auch ihre Wünsche, Bedürfnisse und Ressourcen unterschiedlich sind, sollte ein präventives Programm zur Unterstützung von Eltern die Möglichkeit bieten, auf diese individuell einzugehen und dabei möglichst niedrig-schwellig anzusetzen. Deshalb umfasst Triple P fünf Ebenen mit steigender Intensität der Unterstützung: Ebene 1: Universelles Triple P Ebene 1 umfasst Informationen über Erziehung für alle Eltern, etwa durch die Medien oder Informationsmaterialien (s. www.triplep.de) wie die Broschüre „Positive Erziehung“, das Begleitvideo „Überlebenshilfe für Eltern“ sowie durch die altersspezifischen „Kleinen Helfer“, kurze Informationen für ca. 60 verschiedene Problembereiche, die sich im Familienleben ergeben können. Für viele Eltern sind solche kurzen Informationen und Anregungen bereits ausreichend, so dass sie keine weiteren persönlichen Kontakte mit Beraterinnen benötigen. Zu dieser universellen Strategie gehört aber auch die breite Streuung von Informa-
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tionen in der Öffentlichkeit, z. B. durch Artikel in Printmedien sowie Funk- und Fernsehbeiträge. In diesen wird über Inhalte der Positiven Erziehung informiert, wodurch die gesellschaftliche Akzeptanz von Elternberatung und Elterntrainings gefördert werden soll. Ebene 2 und 3: Triple P-Kurzberatung Die Triple P-Kurzberatungen umfassen für Eltern mit spezifischen Erziehungsfragen bis zu vier Einzelberatungen, die z. B. durch Kinderärzte, Erzieherinnen, Hebammen oder Lehrerinnen, die in Erziehungsfragen oft erste Ansprechpartner für Eltern sind, durchgeführt werden. Gerade innerhalb von regelmäßigen und niedrig-schwelligen Kontakten können präventive Strategien gut umgesetzt werden. Ebene 4: Triple P-Elterntraining Das Triple P-Elterntraining verbindet ein breites Informationsangebot mit einem Training von Erziehungsfertigkeiten. Das Elterntraining kann in Form eines Gruppenkurses, als Einzeltraining oder zu Hause mit Hilfe eines Elternarbeitsbuches erfolgen. Als universelle Präventionsmaßnahme wendet sich das Triple P-Training an Eltern, die Interesse an einem breiten Spektrum von Erziehungsstrategien mitbringen, aber auch als indizierte Prävention an solche Eltern, die Schwierigkeiten in der Erziehung überwinden wollen und deren Kinder bereits Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Triple P-Elternkurse bestehen aus vier zweistündigen Gruppentreffen und vier sich anschließenden individuellen Telefonkontakten. Bei allen acht Terminen spielt die Reflexion des eigenen Erziehungsverhaltens, der Werte und Normen, die Eltern an ihre Kinder vermitteln wollen, und ihre Erziehungsziele eine wichtige Rolle. Ebene 5: Erweitertes Triple P Die Interventionen der fünften Ebene des Triple P-Systems wurden für Eltern entwickelt, die nach der Teilnahme an einem Angebot der Ebene 4 weiterhin Schwierigkeiten haben und vertiefende Anleitung brauchen, unter erziehungsrelevanten Partnerschaftskonflikten leiden oder Stressbelastungen besser bewältigen wollen. Triple P-Beratungen und Kurse für Eltern von Kindern gibt es dort, wo Eltern sich mit ihren Fragen zur Erziehung hinwenden z. B. in Kindergärten, Schulen, Beratungsstellen und Familienbildungshäusern zahlreicher Träger (ASB, AWO, Caritas, Diakonie, Malteser u. a.), in Einrichtungen der Kommunen, sowie in kinderärztlichen und psychotherapeutischen Praxen. Unabhängig vom institutionellen Rahmen darf Triple P nur von ausgebildeten Fachleuten (z. B. Erzieher, Kinderärzte, Lehrer, Psychologen, Sozialpädagogen), die an einer ent-
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sprechenden Fortbildung teilgenommen und die eine sich anschließende Prüfung erfolgreich absolviert haben, durchgeführt werden (Informationen und Anbieterliste s. www.triplep.de). 10.4.2 Ergebnisse von Evaluationsstudien Es wurden eine Reihe von kontrollierten und breit angelegten Untersuchungen zur Wirksamkeit von Triple P durchgeführt, v. a. in Australien (z. B. Sanders, 1999; Sanders et al., 2000). Bei allen Untersuchungen zeigte sich eine signifikante Abnahme kindlicher Verhaltensprobleme und eine Steigerung der elterlichen Erziehungskompetenz sowie eine hohe Zufriedenheit der Eltern mit dem Programm. Im Folgenden sollen erste Ergebnisse von drei deutschen Studien dargestellt werden, die zurzeit an der TU Braunschweig durchgeführt werden. Projekt „Zukunft Familie I“ (universelle Prävention) Primäres Ziel der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG (HA 1400/4-4) geförderten Studie ist die Überprüfung der Wirksamkeit des Triple P-Elterntrainings an Hand einer universellen Stichprobe. Ein zweites Ziel ist der Vergleich der mütterlichen und väterlichen Beurteilung der Wirksamkeit des Programms. Erwartet wurden eine Verbesserung des elterlichen Erziehungsverhaltens und eine langfristige Reduktion externaler und internaler Störungen. Darüber hinaus wurde erwartet, dass sich die individuellen Belastungen der Eltern kurz- und langfristig reduzieren und sich die partnerschaftliche Zufriedenheit langfristig verbessert (s. Heinrichs et al., 2006). Siebzehn zufällig ausgewählte Kindertagesstätten (Kitas) in Braunschweig wurden zuerst hinsichtlich des Sozialstrukturindexes (niedrig, mittel, gehoben) und der Anzahl der Kinder parallelisiert. Der objektive Kita-Sozialstrukturindex (OKS) ist ein Maß für die soziodemografische Struktur des Einzugsbereiches einer Kita. Er wurde auf Grund objektiver Daten (Arbeitslosenquote, Rate von Sozialhilfeempfängern, Ausländeranteil, Sozialraumtyp) bestimmt. Im Anschluss wurden die parallelisierten Einrichtungen nach Zufallskriterien (randomisiert) entweder dem Präventionsprogramm (Triple P-Elterntraining in Gruppen) oder der Kontrollbedingung zugewiesen. Die langfristige Wirksamkeit des Elterntrainings (Follow-ups bis zu 4 Jahren nach dem Training) wird mit einer multimethodalen diagnostischen Batterie (Interviews, Fragebögen, Videoaufnahmen von Mutter-Kind-Interaktionen, Befragung der Erzieherinnen, Intelligenztestung der Kinder) an n = 280 Familien überprüft. Die Eltern waren ca. 35 Jahre und die Kinder ca. 4 Jahre alt. Als Fragebögen kamen zum Einsatz: a) Erziehungsfragebogen (EFB: Arnold et al., 1993; in deutscher Übersetzung von Miller, 2001), b) Elternfragebogen über das Verhalten von Klein- und Vorschulkindern (CBCL 1½ – 5: Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist, 2000), c) Depression-Angst-Stress-Fragebogen (DASS: Lovibond & Lovibond, 1995; in deutscher Übersetzung von Köppe,
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2001) und d) Fragebogen zur Beurteilung einer Zweierbeziehung (FBZ-K: Sharpley & Rogers, 1984; in deutscher Übersetzung von Köppe, 2001). Es handelte sich um eine Stichprobe aus der mittleren bzw. oberen Sozialschicht, die nicht als repräsentativ für die Bevölkerung gelten kann, aber typisch ist für universelle Präventionsstudien (Heinrichs et al., 2006a). Kurszufriedenheit. Insgesamt nahmen 143 Mütter an dem Triple P-Gruppentraining teil. Die Zufriedenheit wurde mit Hilfe eines Kursbeurteilungsfragebogens erhoben, der direkt im Anschluss an das Training ausgefüllt wurde. 91 % der Mütter gaben an, mit dem Programm zufrieden bis sehr zufrieden zu sein, 86 % empfanden die Atmosphäre der Gruppensitzungen als angenehm und 94 % fanden das Programm hilfreich bzw. sehr hilfreich (für eine differenzierte Analyse der Kursbeurteilungen von insgesamt 341 Teilnehmern am Triple P-Gruppentraining siehe Heinrichs et al., 2006b). Ergebnisse (s. Heinrichs et al., 2006a). Es ergaben sich für die Triple PMütter im Vergleich zur Kontrollgruppe bedeutsame Verbesserungen in fast allen Variablen (für die Post-Effektstärken, ESPost, vgl. Abb. 1, Studie 1). Die größte Veränderung wurde wie erwartet im Erziehungsverhalten (ESPost = 0.77;
1,4 1,2 1 EFB
0,8
CBCL Int CBCL Ext
0,6
DASS FBZ
0,4 0,2 0 Studie1
Studie 2
Biblio
Abbildung 1: Effektivität einer Prävention mit Triple P Prä-post-Intergruppen-Effektstärken aus Sicht der Mütter für die Studie 1 (universelle Prävention, Triple P-Elterntraining in Gruppen), die Studie 2 (selektive Prävention, Triple P-Elterntraining in Gruppen und Einzel) und die Bibliotherapie (universelle Prävention). EFB = Erziehungsfragebogen; CBCL 1½ – 5 = Elternfragebogen über das Verhalten von Klein- und Vorschulkindern, Int = Internalisierend, Ext = externalisierend; DASS = Depression-Angst-Stress-Fragebogen; FBZ = Fragebogen zur Beurteilung einer Zweierbeziehung.
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ESFU1 = 0.58) gefunden, einhergehend mit Verbesserungen auf Seiten der Kinder hinsichtlich ihrer internalisierenden (ESPost = 0.30; ESFU1 = 0.28) und externalisierenden (ESPost = 0.39; ESFU1 = 0.32) Verhaltensprobleme. Die Mütter berichteten über weniger depressive Symptome und geringeren Stress (ESPost = 0.22; ESFU1 = 0.35). Im Bereich Partnerschaftszufriedenheit zeigte sich bei der Ein-Jahres-Nachkontrolle (ESFU1) eine signifikante Verbesserung (ESPost = 0.06; ESFU1 = 0.34). Dieses verzögerte Ergebnis mag dadurch zu erklären sein, dass die Auswirkungen in den anderen Bereichen Zeit brauchen, um auch die partnerschaftliche Beziehung zu verbessern. Es fanden sich keine Anzeichen für eine differenzielle Wirksamkeit des Trainings für Jungen oder Mädchen bzw. für bestimmte Altersstufen. Interessanterweise fand sich aus Sicht der Mütter aber nicht nur eine Reduktion bereits vorhandener Probleme (die per definitionem in einer universellen Stichprobe klein sein müssen, da die Mehrzahl der Eltern keine Probleme mit ihrem Kind berichteten), sondern auch wie intendiert eine Reduktion der Inzidenzrate. In der Kontrollgruppe traten bei den Kindern zwischen der Prä- und der Follow-up Messung nach einem Jahr etwa drei- bzw. zweimal so viele neue internalisierende (6.1 %) bzw. externalisierende (4.5 %) Probleme auf wie in der Triple P-Gruppe (2.1 %/2.1 %). Bei den Vätern fand sich nur im Erziehungsverhalten ein signifikanter Effekt zum Post-Zeitpunkt (ESPost = 0.27; ESFU1 = 0.15). Dies ist erstaunlich, da nur ein kleiner Anteil der Väter überhaupt an dem Training teilnahm, was theoretisch eine Grundvoraussetzung für das Erzielen von Effekten wäre. Auch findet sich eine ähnliche Wahrnehmung der Reduktion von Prävalenz (Gesamthäufigkeit zum Untersuchungszeitpunkt) und Inzidenz (Anzahl neu aufgetretener Fälle) der kindlichen internalisierenden und externalisierenden Verhaltensprobleme wie bei den Müttern. Allerdings beurteilen Väter das kindliche Verhalten im Allgemeinen als weniger problematisch und zwar zu allen Messzeitpunkten, was typisch ist (Duhig et al., 2000). Dies kann ein Grund sein, warum bei der dimensionalen Erfassung der Probleme (Beurteilung des Ausprägungsgrades) kein signifikanter Effekt auftritt. Für die Väter konnten die Hypothesen somit überwiegend nicht bestätigt werden, da sich bei ihnen weder im Bereich des kindlichen Problemverhaltens noch in der individuellen psychischen Belastung und der Partnerschaftszufriedenheit signifikante Unterschiede zwischen Experimental- und Kontrollgruppe zeigten. Unter Berücksichtigung der geringen väterlichen Teilnahmerate sind diese Ergebnisse aber möglicherweise wenig überraschend. Projekt „Zukunft Familie II“ (selektive Prävention) Das Risiko eines Kindes für die Entwicklung von emotionalen und/oder behavioralen Problemen ist mit dem sozialen Status assoziiert. Wadsworth und Achenbach (2005) berichteten über Befunde, die die soziale Verursachungshypothese für eine Reihe psychopathologischer Phänomene im Kindes- und Jugendalter stützen: ein niedriger sozioökonomischer Status trägt zu vermehrten neuen Fällen schwerer Psychopathologie bei, insbesondere auch bei aggressivem und de-
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linquentem Verhalten. Die Bedeutsamkeit dieses Befundes liegt darin, dass es nicht nur genau diese sozial benachteiligten Familien sind, die ein besonderes Risiko für die Entwicklung kindlicher Probleme tragen, sondern dass auch die Barrieren für einen Zugang zu effektiver psychosozialer Unterstützung für diese Familien besonders hoch sind (Snell-Johns et al., 2004). Wie aus der oben berichteten Studie ersichtlich, ist es im Rahmen universeller Prävention schwierig, sozial benachteiligte Eltern für die Teilnahme an einem Elterntraining zu gewinnen. Die entsprechende Rekrutierungsrate im DFG-Projekt „Zukunft Familie I“ betrug ca. 23 % in der unteren sozialen Schicht (im Gegensatz zu 44 % in der oberen und 27 % in der mittleren sozialen Schicht). Im Rahmen einer von der Jacobs-Stiftung (Zürich) geförderten Studie sollte im Sinne selektiver Prävention untersucht werden, ob sich unterschiedliche Anreize (Bezahlung/Nicht-Bezahlung für die Teilnahme) bzw. Settings (Gruppen-/Einzeltraining) auf die Teilnahme und die Wirksamkeit des kognitiv-behavioralen Triple P-Elterntrainings auswirken (Heinrichs et al., 2006c). 197 Eltern aus 15 Kindertagesstätten in sozial benachteiligten Braunschweiger Stadtgebieten nahmen an dem Training teil, nachdem ihre Kita randomisiert einer der vier Bedingungen zugewiesen wurden (einzeln/unbezahlt, einzeln/bezahlt, Gruppe/unbezahlt, Gruppe/bezahlt). Die Stichprobe unterschied sich deutlich von der oben beschriebenen universellen Stichprobe: 37 % waren Migranten im Gegensatz zu 10 % in der DFG-Stichprobe, 35 % hatten einen Hauptschulabschluss (10 %) und 54 % bezogen Sozialhilfe (11 %). Es zeigte sich, dass das Elterntraining auch in einer sozial benachteiligten Umgebung zum Post-Zeitpunkt deutliche Effekte hervorruft (die 1-Jahres Nachkontrolle wurde gerade erst abgeschlossen), die vergleichbar mit den Effekten aus der DFG-Studie sind (für die Post-Effektstärken vgl. Abb. 1, Studie 2). Die größte Veränderung wurde wie erwartet im Erziehungsverhalten (ESPost = 0.88) gefunden, einhergehend mit Verbesserungen auf Seiten der Kinder hinsichtlich ihrer internalisierenden (ESPost = 0.19) und externalisierenden (ESPost = 0.28) Verhaltensprobleme. Die Mütter berichteten über weniger depressive Symptome und geringeren Stress (ESPost = 0.30). Im Bereich Partnerschaftszufriedenheit zeigte sich eine signifikante Verbesserung (ESPost = 0.23). Die beiden Anreizbedingungen beeinflussten Teilnahme und Wirksamkeit in unterschiedlicher Weise. Während Bezahlung (im Gegensatz zum Setting) die Teilnahmebereitschaft von Eltern deutlich erhöhte, wirkte sich nur das Setting (Einzeltraining) positiver auf Veränderungen des Erziehungsverhaltens aus. In der Bedingung Gruppe/unbezahlt meldeten sich 26 % der Eltern an. Diese Bedingung ist vergleichbar mit der Rekrutierungsstrategie in der ersten Studie (Zukunft Familie I). Die dortige Teilnahme betrug 23 %. Die Teilnahmerate ist also in beiden Studien sehr ähnlich (analog zu einer internen Replikation). In allen anderen Bereichen gab es keine Unterschiede in der kurzfristigen Effektivität in Abhängigkeit von den Rekrutierungsstrategien. Diese Ergebnisse unterstützen die Empfehlung, Eltern aus sozial benachteiligten Gebieten für die Teilnahme an präventiven Programmen zu bezahlen, da (1) ein größerer Teil der fokussierten Population erreicht wird und (2) die Bezahlung sich nicht negativ auf das kurzfristige Ergebnis auswirkt.
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Der in dieser Studie gefundene Setting-Effekt wurde auch in der Meta-Analyse von Lundahl et al. (2006) als ein Moderator der Wirksamkeit für Elterntrainings identifiziert. Die Ergebnisse der Braunschweiger Studie stimmen daher mit internationalen Resultaten gut überein. Aus diesen Ergebnissen lässt sich auch ableiten, dass sozial benachteiligte Eltern nicht unbedingt von Elterntrainings in Gruppen am meisten profitieren, wie bisher in der Literatur unter Bezug auf das Argument der sozialen Unterstützung oft dargestellt wird. Auch die Zufriedenheit der Eltern mit dem Training war bedeutsam größer im Einzel- als im Gruppentraining (Heinrichs et al., 2006c). Projekt „Zukunft Familie III“ (universelle Prävention, Bibliotherapie) Trotz der Wirksamkeit von Elterntrainings ist deren breitflächige Anwendung, die notwendig ist, um deren Präventionspotenzial voll auszuschöpfen, begrenzt. Dies liegt zum einen daran, dass insgesamt nur wenige Eltern (ca. 10 % nach Sanders, 1999) die Angebote wahrnehmen, und dass Eltern aus sozial niedrigeren Schichten bei solchen Kursen unterrepräsentiert sind (Heinrichs et al., in Druck). Zum anderen kann der Besuch von Elternkursen, die überwiegend in Gruppen stattfinden, die Gefahr der Stigmatisierung („Die Mutter kann ihre Kinder nicht erziehen!“) mit sich bringen und ist mit Aufwand verbunden (Babysitter für die Kinder finden, Fahrtkosten, Terminschwierigkeiten). Die Berücksichtigung insbesondere der Faktoren Erreichbarkeit, Anonymität, geringer logistischer Aufwand und Kosten lässt Selbsthilfe als universelle Präventionsmaßnahme attraktiv erscheinen. Vor allem Biblio- oder Literaturtherapie wird für diesen Zweck seit langem bei verschiedenen psychischen Störungen benutzt, z. B. bei Angststörungen, Depression, Rauchen oder Alkoholmissbrauch und führt häufig zu Verbesserungen (Mains & Scogin, 2003). Tatsächlich schlussfolgern auch Lundahl et al. (2006), dass zur Steigerung der Erziehungskompetenz von Eltern Selbsthilfetrainings mit einer mittleren ES von 0.47 genauso wirksam sind wie persönliche („face-to-face“) Trainings. Allerdings gab es bislang keine deutsche Studie zu dieser Frage. In einer Kontrollgruppenstudie mit 63 Familien wurde deshalb im Projekt „Zukunft Familie III“ die Wirksamkeit einer Bibliotherapie zur Steigerung der elterlichen Erziehungskompetenz untersucht (gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG, HA 1400/4-4). Durch Randomisierung wurden 32 Familien der Bibliotherapie-Gruppe (BT) und 31 Familien der Wartelistenkontrollgruppe zugewiesen. Ca. 75 % der Mütter hatten Abitur. Bibliotherapie. Das Triple P-Elternarbeitsbuch (Selbsthilfe-Ratgeber zur positiven Erziehung mit praktischen Übungen. Sanders et al., 2003) ist ein für zehn Wochen konzipiertes Programm, das Eltern eigenständig durcharbeiten können. Es umfasst zehn Kapitel, in denen die positiven Erziehungsstrategien vorgestellt und die Eltern in Übungen angeregt werden, diese praktisch auszuprobieren und in ihrem Alltag einzusetzen. Die Eltern wurden instruiert, das Triple P-Elternarbeitsbuch wochenweise über zehn Wochen durchzuarbeiten. Während der sieben Telefonate, die in den ersten vier Wochen wöchentlich, in den letzten sechs Wochen zweiwöchentlich stattfanden, wurden Verständnisfragen der Teilnehmer
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geklärt. Die Telefonkontakte, die zwischen 20 und 30 Minuten dauerten, wurden von zwei lizenzierten Triple P-Trainerinnen durchgeführt. Die Evaluation erfolgte mit den gleichen Instrumenten wie in den beiden Vorgängerstudien. Es zeigte sich, dass die Bibliotherapie zum Post-Zeitpunkt deutliche Effekte hervorruft (die 6-Monats-Nachkontrolle wird zurzeit durchgeführt), die vergleichbar mit denen aus den beiden anderen bzw. sogar stärker ausgeprägt sind (für die Post-Effektstärken vgl. Abb. 1, Biblio; Feldmann et al., in Druck). Die größte Veränderung wurde wie erwartet im Erziehungsverhalten (ESPost = 1.23) gefunden, einhergehend mit Verbesserungen auf Seiten der Kinder hinsichtlich ihrer internalisierenden (ESPost = 0.46) und externalisierenden (ESPost = 0.72) Verhaltensprobleme. Keine signifikanten Effekte traten hinsichtlich depressiver Symptome auf (ESPost = 0.03). Im Bereich Partnerschaftszufriedenheit zeigte sich eine signifikante Verbesserung (ESPost = 0.24). Vor allem die mittleren bis hohen Effektstärken im Erziehungsverhalten überraschen, wohingegen die ES in der CBCL kongruent sind mit denen in der Meta-Analyse von Lundahl et al. (2006). Es muss allerdings bedacht werden, dass es sich bei der Bibliotherapie um eine Intervention mit geringer therapeutischer (telefonischer) Beteiligung handelt, die vor allem von Müttern mit hoher Schulbildung in Anspruch genommen wurde. Diese Form der Prävention mag bei dieser Klientel besonders gut wirksam sein und man muss abwarten, ob sich die Verbesserungen auch noch beim 6-Monats-Follow-up zeigen. Insgesamt stehen diese Resultate in Einklang mit den meta-analytischen Ergebnissen. Deutlich gemacht werden sollte, dass die Wirksamkeit dieser Präventionsstrategie deutlich vom sozioökonomischen Status der Familie und dem Lebensumfeld abhängt. Eine zweite wichtige Beobachtung ergibt sich, wenn man schaut, wie die hohen ES in der Bibliotherapie-Studie verursacht wurden. Zum einen kann man eine Verbesserung in der Experimentalgruppe beobachten und zum anderen eine Verschlechterung in der Kontrollgruppe. Beide Faktoren addieren sich bei der Berechung der ES: In der DFG-Studie (Projekt Zukunft Familie I) ergab sich die ES durch eine Verbesserung der Experimentalgruppe, die deutlicher als die in der Kontrollgruppe ebenfalls aufgetretene Verbesserung war. Allein die Betreuung und der regelmäßige Kontakt mit einer Familie kann also möglicherweise bereits eine positive Wirkung erzielen. 10.5
Schlussfolgerungen
Die Ergebnisse der Triple P-Evaluationsstudien lassen eine Reihe von Schlussfolgerungen zu. Legt man die von Heinrichs et al. (2002) oder Flay et al. (2005) formulierten Forderungen, die präventive Programme vor ihrer breitflächigen Einführung erfüllen müssen, zu Grunde, kann eine weitreichende Verbreitung des Triple P-Programms mit seinen verschiedenen Ebenen im deutschsprachigen Raum empfohlen werden: 1. Implementation des Zielverhaltens: Über drei unabhängige Studien hinweg zeigte sich, dass die elterliche Erziehungskompetenz durch das Training bzw. die Bibliotherapie signifikant verbessert wird.
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2. Reduktion von Verhaltensauffälligkeiten: In allen Studien zeigte sich eine Reduktion der kindlichen Verhaltensauffälligkeiten, in der universellen Triple P-Gruppenstudie auch eine Reduktion der Inzidenzraten. Dieses Kriterium sichert auch die Validität der programmspezifischen Konkretisierung von allgemeinen theoretischen Annahmen, die dem Programm zu Grunde liegen. 3. Manualisierung: Um erfolgreich evaluierte und somit evidenzbasierte Programme breitflächig in die Praxis zu überführen, sollten Manuale und ausgearbeitete Trainings für Multiplikatoren vorhanden sein. Auch diese Bedingungen erfüllt das Triple P-Programm, da Trainings- und Lizenzierungsstandards erarbeitet wurden und für jede Ebene/Intervention Manuale vorhanden sind. Von dem Ziel, Erziehungshilfen für alle Eltern zur Verfügung zu stellen, sind wir zurzeit noch weit entfernt. Unsere Studien zeigen jedoch: wenn alle Eltern ein solches evidenzbasiertes Elterntraining als universelle Präventionsmaßnahme in Anspruch nehmen würden, könnte ein bedeutsamer Beitrag zur Senkung der Inzidenz- und Prävalenzraten psychischer Störungen im Kindesalter, insbesondere auch von aggressiven und dissozialen Störungen, geleistet werden. Im deutschen Sprachraum gibt es zurzeit eine Anzahl von Elterntrainings, die von Heinrichs et al. (in Vorbereitung) vergleichend hinsichtlich ihrer Evidenzbasierung untersucht wurden. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die Verbreitung eines Programms kein Beleg für seine Effektivität ist. Aus einer Public Health-Perspektive sollten nur evidenzbasierte Präventionsangebote eingesetzt werden, um ein günstiges Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen zu erreichen. Nach dem Aspekt der Augenscheinvalidität entwickelte oder ausgewählte Programme können hierzu nicht beitragen. Es empfiehlt sich, bereits vorhandene und auf wissenschaftlich begründeten Strategien beruhende Programme zu nutzen und mit diesen weitere Effektivitätsstudien durchzuführen. Dies erscheint Erfolg versprechender als die Entwicklung und Verbreitung immer neuer Programme, die dann keiner ausreichenden Wirksamkeitsüberprüfung unterzogen werden. Anmerkungen. Die Studien „Zukunft Familie 1“ und „Bibliotherapie“ wurden durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG, Projekt HA 1400/14-1) finanziell gefördert. Die Studie „Zukunft Familie 2“ wurde finanziell gefördert von der Jacobs Stiftung, Zürich (Schweiz) mit einem „Young Investigator Grant“ für Dr. Nina Heinrichs. Wir bedanken uns insbesondere bei den beteiligten Familien für ihr großes Engagement und bei Frau Joswig-Gröttrup und Frau Hamilton Kohn, Jugendamt der Stadt Braunschweig, Abteilung Kindertagesstätten, sowie bei allen Mitarbeitern der beteiligten städtischen Kindertagesstätten für die gute Unterstützung und Kooperation.
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11
Faustlos für Kindergarten und Schule Manfred Cierpka
Gliederung 11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 11.6
Alltägliche Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen auf Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozial-emotionales Lernen als Gewaltprävention . . . . . . Die entwicklungspsychologischen Dimensionen von Faustlos. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Curriculum Faustlos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse von Evaluationsstudien . . . . . . . . . . . . . . . . .
203 204 207 210 210 212
11.1 Alltägliche Konflikte Konflikte sind im Leben allgegenwärtig und gehören auch für Kinder zum Alltag. Beim Durchlaufen dieser Konflikte erwerben sie die Kompetenz, mit weiteren Konflikten umzugehen. Konflikte treten mit Erziehungspersonen oder mit Spielkameraden auf: Ein Kind will nach dem Essen aufstehen und sofort zum Spielen gehen. Die Mutter sagt „Moment mal!“ und fordert es auf, sich beim Aufräumen des Tisches zu beteiligen. Oder: Die Geschwister möchten unterschiedliche Fernsehsendungen sehen oder streiten um den Computer. Kinder müssen von Beginn ihres Lebens an ihr eigenes Verhalten mit dem der Mitmenschen abstimmen. In aggressiv gefärbten Situationen ist dieser Abstimmungsprozess besonders sensibel. Wenn ein Kind z. B. auf der Straße von einem Ball getroffen wird, muss es in kurzer Zeit herausfinden, was gerade passiert ist. Es stellt sich sofort die Frage: Bin ich zufällig getroffen worden oder steckt eine Absicht der Spielkameraden dahinter? Das Curriculum zur Förderung des sozial-emotionalen Lernens Faustlos will die Fähigkeit der Kinder zur Konfliktlösung stärken. Die interpersonelle Intelligenz wurde von dem Erfolgsautor Goleman (1995) als „emotionale Intelligenz“ bezeichnet. Er beschreibt, wie die ihr zu Grunde liegenden besonderen Fähigkeiten bei Kindern schon sehr früh gefördert werden können. Wenn Kinder in ihren Beziehungen zu anderen stimuliert werden, sich auf das Gegenüber einzustellen und dabei lernen, dessen Absichten zu erkennen, dann werden sie im Miteinander sicherer. Kinder können dazu angehalten werden, in sozialen Interaktionen die Signale des Gegenübers korrekt wahrzunehmen, angemessen zu interpretieren und dann entsprechend zu handeln. Da
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M. Cierpka
die Intentionen des anderen oftmals mit den eigenen Vorstellungen in Konflikt liegen, werden Abstimmungsprozesse mit den anderen notwendig. Das kann zu dem Ergebnis führen, sich angemessen durchzusetzen oder aber auch sich anzupassen oder gegebenenfalls einen Kompromiss einzugehen. Auf diesem Weg fördert das Lernen des Lösens von Konflikten langfristig die emotionalen Kompetenzen. Das Photo der Abbildung 1 ist den Faustlos-Materialien für die Grundschule der Einheit I „Empathie“ entnommen. Anhand einer Transparenzfolie werden Kinder in der Grundschule mit dieser Lektion an die soziale Fähigkeit, „Ich-Botschaften“ zu formulieren, herangeführt. Dabei wird betont, dass diese Fähigkeit für den Umgang mit den eigenen heftigen Gefühlen sehr wichtig ist. Illustriert wird dies durch eine Situation beim gemeinsamen Spiel. Leonie und Steffen basteln miteinander. Leonie hat Steffen den Klebestift weggenommen und Steffen ist offensichtlich wütend. Das ist die modellhafte Konfliktsituation, welche die Kinder zu lösen haben.
Abbildung 1: Leonie und Steffen im Konflikt
11.2 Reaktionen auf Konflikte Im Beispiel „Leonie und Steffen im Konflikt“ handelt es sich um eine alltägliche Konfliktsituation, welche die Kinder in allen möglichen Varianten kennen. Leonie und Steffen sind gute Freunde und das möchten sie auch bleiben. Manchmal ist das gar nicht so einfach. Um eine Lösung zu finden, müssen sowohl die eigenen Interessen als auch die der anderen berücksichtigt werden. Damit ein Kind einen Konflikt in einem Dialog angemessen angehen und lösen kann, muss es auf bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten zurückgreifen
11 Faustlos für Kindergarten und Schule
205
können, die als sozial-emotionale Kompetenzen bezeichnet werden. Diese für die Konfliktlösung erforderlichen Kompetenzen sind von Entwicklungspsychologen identifiziert worden. In Crick und Dodge’s (1994) Modell des sozialen Informationsaustauschs werden die einzelnen Schritte beschrieben, wie Kinder soziale Situationen begreifen lernen und wie sie sich in einer bestimmten Interaktionssituation zurechtfinden. Die Autoren stellen die Wahrnehmung und das Interpretieren der sozialen Situation als die beiden ersten Schritte dar (vgl. Abb. 2). Leonie und Steffen möchten beide den Klebestift benutzen, das ist das Problem. Die Interpretation der sozialen Situation ist für das weitere Vorgehen maßgebend. Wenn Steffen denkt, dass Leonie ihm den Stift weggenommen hat, um ihn zu ärgern, dann geht das möglicherweise auf entsprechende Erfahrungen mit Leonie zurück. Solche Erfahrungen werden ihn dann bei der Interpretation der Situation leiten. In manchen Konflikten müssen die Situation und die damit einhergehenden Signale sehr schnell interpretiert werden. Es macht einen großen Unterschied, ob die Situation als Zufall abgetan wird oder als Angriff und absichtliche persönliche Verletzung. In einem dritten Schritt muss das Kind sich darüber klar werden, was es erreichen will. Wie wichtig ist der Klebestift für Steffen in diesem Moment? Gibt es Alternativen beim Weiterbasteln? Gibt es noch einen Stift? Im vierten Schritt dieses Modells werden Alternativen des Handelns durchgespielt, wobei die Konsequenzen der Handlungen in Gedanken vorweg genommen werden (Antizipation). Leonie und Steffen müssen zum Beispiel herausfinden, welche Möglichkeiten beim Weiterbasteln es geben könnte. Leonie könnte
4. Handlungsentwürfe
5. Entscheidung für eine Antwort
Emotionaler Prozess • Emotionalität/Temperament • Emotionsregulation • Hintergrundemotion
3. Klären der Ziele
DATENBASIS • Gedächtnis • erworbene Regeln • soziale Schemata • soziales Wissen • Affekt-ErgebnisVerknüpfung
6. Beziehungsverhalten
2. Interpretation der Signale
Bewertung und Reaktion durch die anderen Kinder
1. Wahrnehmung von Signalen
Abbildung 2: Sozialer Informationsaustausch nach Crick und Dodge (1994)
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M. Cierpka
sich in Steffen hineindenken und sich fragen, was könnte Steffen jetzt machen? Was könnte Leonie selbst tun, wenn sie den Klebestift wieder zurückgibt? Was könnte andererseits Steffen ihr für den Stift anbieten? Viele dieser Überlegungen bleiben den Kindern unbewusst und geschehen in Bruchteilen von Sekunden. Leonie hat zu überlegen, was mit ihrer Freundschaft mit Steffen passiert, wenn sie stur bleibt. Steffen wird erwägen, ob es sich lohnt, mit Leonie wegen des Stifts einen Streit zu beginnen. Die gewählte Antwort (Schritt 5) entscheidet über das Beziehungsverhalten (Schritt 6). Wenn sich die Kinder zu einer Handlung entschließen, wird diese an der Reaktion des Anderen überprüft. Dies kann die eigene Absicht noch einmal verändern. Wenn Leonie feststellt, dass sich Steffen enttäuscht von ihr zurückzieht, wird sie sich vielleicht fragen, ob sie nicht doch einen Kompromiss suchen sollte. Bei den Entscheidungen spielen manchmal auch die Machtverhältnisse eine Rolle. Eine aggressive Handlung wird möglicherweise deshalb zurückgestellt, weil sich das Kind vor der Übermacht der Peers fürchtet. Wenn das vom Ball getroffene Kind in den Gesichtern der anderen Kinder die Häme erkennt und wütend wird, kann die Übermacht der anderen trotzdem dazu beitragen, dass das Kind seinen Weg fortsetzt und so tut, als ob nichts gewesen wäre. In mehreren Schritten durchläuft das Kind einen sozial-emotionalen Regulierungsprozess, der in eine mehr oder weniger angemessene Handlung mündet. Auf diese Handlung werden wiederum die Anderen in einer nächsten Schleife reagieren. Soziale Konfliktsituationen durchlaufen oftmals mehrere Schleifen bis sie gelöst sind. Das erfordert von den Kindern eine gewisse Spannungs- und manchmal auch Frustrationstoleranz. Das Konfliktlösungsverhalten wird sehr stark durch emotionale Prozesse beeinflusst. Lemerise und Arsenio (2000) haben deshalb das Modell von Crick und Dodge erweitert. Sie weisen zu Recht darauf hin, dass die emotionalen Prozesse als motivationale, kommunikative und regulatorische Funktionen beim Lösen von Konflikten eine große Rolle spielen. In Kombination mit kognitiven Prozessen (Aufmerksamkeit, Lernen, Gedächtnis, Logik) bestimmen sie ganz wesentlich das Durchlaufen der Kommunikationsprozesse in Interaktionen mit. Wahrnehmung, Interpretation, durchgespielte Alternativen und schließlich die Handlung sind von emotionalen Umgebungsfaktoren wie z. B. der Emotionalität in einer Situation oder der Atmosphäre abhängig. Im Beispiel mit dem vom Ball getroffenen Kind wird die Reaktion vom Ausmaß der Verletzung abhängig sein. Größere Schmerzen haben heftigere emotionale Reaktionen zur Folge. Die individuelle Kompetenz zur Emotionsregulation ist dann stärker gefordert. Das Temperament des Kindes oder seine aktuelle emotionale Verfassung (Hintergrundemotion) beeinflussen seine Reaktion. Wenn das Kind gerade in der Schule die schlechte Benotung einer Schularbeit erfahren hat und deshalb in seinem Selbstwertgefühl geschwächt ist, kann es aktuell passieren, dass es schneller „ausrastet“ und sich auf den vermeintlichen Verursacher des Ballwurfs stürzt. Auf dem Hintergrund von vergangenen positiven oder negativen Erfahrungen mit Gleichaltrigen wird die Wahrnehmung und die Interpretation der Situation emotional gefärbt. Steffen wird sich an einige Erfahrungen mit Leonie erinnern und diese durchgehen, um eine Einstellung zu ihrem Handeln zu finden. Nach entsprechenden Vorerfahrungen, die sich als verinnerlichte
11 Faustlos für Kindergarten und Schule
207
Schemata von Beziehungserfahrungen, die immer mit Emotionen verknüpft sind und sich in seinem Seelenleben niedergeschlagen haben, kann er gekränkt und wütend reagieren oder sich beleidigt zurückziehen. Oder er weiß inzwischen, dass er bei ihr gut durchkommt, wenn er nur lange genug seinen Wunsch nach dem Klebestift wiederholt. Dann hat er (mit ihr) die Erfahrung gemacht, dass man mit Trotz und Widerstand zu einem bestimmen Ergebnis kommen kann (Affekt-Ergebnis-Verknüpfung). Auch Leonie wird bei der Suche nach Möglichkeiten zur Konfliktlösung ganz wesentlich durch ihre Gefühle gesteuert. Diese sind wiederum gleichfalls abhängig von ihren Vorerfahrungen mit Steffen. Auch sie hat sich ein „Beziehungswissen“ im Laufe ihrer noch jungen Jahre angeeignet, das von Lemerise und Arsenio als „soziales Wissen“ bezeichnet wird. Die abgespeicherten Schemata bestimmen neben den situativen und kontextuellen Faktoren ganz maßgebend ihre Antwort auf Steffens Initiativen. Emotionen tragen ganz wesentlich zum psychologischen Funktionieren von sozialen Beziehungen bei, weil sie Informationen zu beabsichtigten oder wahrscheinlichen Verhaltensweisen von anderen beisteuern. Emotionen haben aber auch eine innerseelische Funktion. Die Emotionsregulierung führt auf der inneren Bühne zu einem Bewertungs- und Abstimmungsprozess, durch den angepasstes und zielgerichtetes Verhalten in einer bestimmten Situation erst möglich wird. Diese funktionelle Sicht der Emotionen wird durch die neuere neurobiologische Forschung unterstützt (Roth, 2002). Abbildung 2 veranschaulicht die verschiedenen Schritte beim Durchlaufen des Kreisprozesses in der sozialen Informationsgewinnung. Interessant sind die Rückkopplungen mit den emotionalen Prozessen, die wiederum sehr eng mit den Strukturen des Gehirns zusammenhängen. Die Speicherung von Erfahrungen im Gedächtnis umfasst auch das Lernen von sozialen Rollen, die Verinnerlichung von Schemata und sozialem Wissen. Lemerise und Arsenio betonen in diesem Zusammenhang auch die Verknüpfungen von Affekt und Ereignis, die in der Amygdala stattfinden (der Mandelkern ist eine Gehirnstruktur, die maßgebend für die Emotionsverarbeitung zuständig ist). Diese Verknüpfungen beeinflussen das Erleben von späteren sozialen Erfahrungen entscheidend. Wenn bestimmte Ereignisse affektiv besetzt sind, dann können spätere ähnliche Ereignisse auch Emotionen auslösen. Der zufällige Blick eines anderen kann z. B. von einem Jugendlichen, der entsprechende Gewalterfahrungen in seinem Leben machen musste, als Angriff verstanden werden und eine heftige aggressive Handlung auslösen.
11.3 Sozial-emotionales Lernen als Gewaltprävention Für die Prävention inadäquater Reaktionen auf Konflikte bietet das Kreismodell des sozialen Informationsaustauschs viele Möglichkeiten zur Intervention. Sozial erwünschtes Verhalten kann durch eine Berücksichtigung derselben Zusammenhänge, durch die problematisches Verhalten erlernt wurde, gelehrt werden. Da sowohl die Wahrnehmung, das Erleben und die Phantasien über andere als auch Emotionen die Begegnungen mit anderen Menschen regulieren und bei allen
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M. Cierpka
Schritten des Dialogs beteiligt sind, gibt es auch mehrere Möglichkeiten zur Intervention. Einer der wichtigsten Ansatzpunkte ist die Schulung der Wahrnehmung (Schritt 1). Die Wahrnehmung einer Situation und der damit einhergehenden Affekte ist oft für die nachfolgenden Handlungen entscheidend. Die Einstellung des Gegenübers lässt sich zum Beispiel an dessen Gefühlen in dieser Situation ablesen. Wenn das Gesicht und die Körpersprache Wut ausdrücken, wird man vorsichtiger reagieren. Ärger und Wut müssen dafür aber auch richtig erkannt und dürfen nicht mit Traurigkeit oder Schmerz verwechselt werden. Das zutreffende Erfassen der Gefühle von anderen ist für das soziale Funktionieren entscheidend. Die Differenzierung und richtige Zuordnung von Gefühlen kann nachreifen, ist also einer Schulung zugänglich. Ein Ereignis muss auch richtig interpretiert werden (Schritt 2). Eigene Sichtweisen aufgrund von leidvollen Vorerfahrungen können die Wahrnehmung verzerren und die Interpretation beeinflussen und dadurch eine spannungsreiche Situation in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen. Die Interpretation von Ereignissen kann geübt werden, damit alternative Sichtweisen entstehen können. Diese sog. Reflexions- bzw. Mentalisierungsprozesse sind wesentlich, um zielgerichtetes Handeln und mögliche Folgen von Handlungen als Probehandeln zu üben. In Schritt 3 wird gelernt, sich bewusst zu machen, welche Ziele durch die eigenen Reaktionen erreicht werden sollen. Wie wichtig ist das Ziel des Besitzes des Klebestifts? Ist es wichtiger, als vielleicht die Freundschaft aufs Spiel zu setzen? Schließlich kann auch das Handlungsrepertoire reflektiert und erweitert werden (Schritt 4), um zu einer größeren Flexibilität im eigenen Handeln zu kommen. Flexibilität in der Antwort ist insbesondere dann gefordert, wenn heftige Gefühle in schwierigen Konfliktsituationen auftreten. Je mehr alternati-
5. Entscheidung für eine Antwort
4. Handlungsentwürfe Alternativen
Impulskontrolle Emotionaler Prozess • Emotionalität/Temperament • Emotionsregulation • Hintergrundemotion
3. Klären der Ziele
DATENBASIS
6. Beziehungsverhalten
• Gedächtnis • erworbene Regeln • soziale Schemata • soziales Wissen • Affekt-ErgebnisVerknüpfung
Problemidentifikation
Umgang mit heftigen Gefühlen
2. Interpretation der Signale Empathieförderung
1. Wahrnehmung von Signalen z.B. Gefühle unterscheiden
Abbildung 3: Möglichkeiten, sozial-emotionales Lernen zu fördern
11 Faustlos für Kindergarten und Schule
209
ve Handlungen phantasiert werden können, umso mehr Lösungsmöglichkeiten ergeben sich. Kompromisse können so leichter gefunden werden. Wenn Handlungsalternativen nicht zur Verfügung stehen, kann es zu Kurzschlussreaktionen kommen. Jemand, der sich angegriffen fühlt, reagiert evtl. impulsiv und aggressiv. Er greift dann auf das Beziehungsschema des Durchsetzens zurück, das ihm eine schnelle Lösung verspricht, nämlich auf die Gewalt. Allerdings geschieht diese Impulsivität dann auf Kosten der Mitmenschen. Die andere mögliche Kurzschlussreaktion besteht in einer schnellen Anpassung und Unterwerfung. Bei einer mangelnden Anpassungsflexibilität können Handlungen auch unterdrückt werden, wenn z. B. jemand in einer Situation zu erregt ist und eigene impulsive Handlungen befürchtet. Auch wenn vom Kind gar keine Reaktion erfolgt, ist dies natürlich eine Antwort. Das Durchspielen möglicher Handlungsalternativen zum Vermeiden der beiden Kurzschlussreaktionen hört sich nach einem einfachen Rezept an. Tatsächlich müssen Handlungsalternativen jedoch immer wieder geübt werden. Im Faustlos-Curriculum wird die Fähigkeit, auf Konflikte flexibel zu reagieren, im Rollenspiel vertieft und praktisch erfahrbar gemacht. Das Wissen über alternative Möglichkeiten reicht alleine nicht aus. Die Strategien müssen durch Wiederholung und Verinnerlichung zum festen Inventar im Beziehungsrepertoire werden. Das Erlernen dieser Kompetenzen findet immer in Beziehungen als zwischenmenschliche Erfahrung statt. Die Verinnerlichung von funktionalen Beziehungserfahrungen in Konflikten führt bei den Kindern zu einer empathischen Kompetenz. Fonagy (1998) bezeichnet diese empathische Kompetenz als die „reflexive Funktion“, welche die folgenden Dimensionen enthält: Sich und andere als denkend und fühlend erleben zu können, die Reaktion anderer vorhersagen, die Perspektive der anderen übernehmen und die Veränderung von inneren Zuständen und deren Folgen reflektieren zu können. Mit der letztgenannten Dimension ist gemeint, dass der eigene innere Zustand, der mit einem bestimmten Gefühl verbunden ist, einem selbst einen Hinweis auf das Lösen eines Konfliktes liefert. Wenn man bei sich selbst feststellt, dass man traurig wird, empfindet man einen Verlust. Ein Traurigkeits-Signal würde Leonie möglicherweise dazu bewegen, auf den Klebestift zu verzichten. Dann würde sie vielleicht doch lieber einen Kompromiss suchen, um nicht zu riskieren, die Freundschaft zu Steffen zu verlieren. Das Erkennen von Gefühlen ist also nicht nur beim Gegenüber notwendig. Um in Konfliktsituationen gute Lösungen zu finden, müssen auch die eigenen Gefühle beachtet werden. Man könnte einwenden, dass diese Kompetenzen schon eine gut funktionierende Persönlichkeit bei einem Kind voraussetzen. Kinder mit der Fähigkeit, Situationen angemessen wahrzunehmen und zu interpretieren, müssten schon über eine gute Vorstellung von sich selbst und von anderen verfügen, um in Kommunikationen klar, direkt und echt sein zu können. Auch könnte man darauf hinweisen, dass die meisten Kinder über gewisse soziale Kompetenzen verfügen und weniger Schwierigkeiten bei Konflikten haben. Für die Gewaltprävention ist aber entscheidend, dass sozial-emotional schwächere Kinder die einzelnen Schritte zur Konfliktlösung durch ständiges Wiederholen „nachholen“ können, so dass ihre Persönlichkeit dadurch nachreift.
210
M. Cierpka
11.4 Die entwicklungspsychologischen Dimensionen von Faustlos Bei Menschen, die in spannungsreichen Konfliktsituationen unangemessen rasch und in der Reaktion inadäquat aggressiv reagieren, fand man in vielen Untersuchungen Probleme in den Kompetenzen, die notwendig sind, um einen Dialog aufrecht zu erhalten. Faustlos will dazu beitragen, dass alle Kinder über die gleichen Möglichkeiten im sozialen Miteinander verfügen. Defizite im sozial-emotionalen Lernen sollen ausgeglichen werden. Das Curriculum umfasst Lektionen, in denen die einzelnen Dimensionen des Crick und Dodge-Modells aufgegriffen und durch Informationen und Übungen verinnerlicht werden. Welche spezifischen psychologischen Entwicklungsprozesse werden durch Faustlos angestoßen? Faustlos fördert vor allem die Empathiefähigkeit. Eine adäquate Wahrnehmung, insbesondere der unterschiedlichen Affekte, und eine angemessene Interpretation der Beziehungssituation ist für die Empathiefähigkeit eines Menschen wesentlich. Die Empathie zu fördern bedeutet, sich in die Gefühle und das Denken des Gegenübers hineinversetzen zu können und die Reaktionen des Anderen zu erahnen. Dies wird dann möglich, wenn man die Perspektive des Anderen zumindest für den Moment übernehmen und sich in seine Lage versetzen kann. Das Fördern der Empathie bei gefährdeten Personen gilt in der Gewaltforschung als eine der wichtigsten Möglichkeiten für die so genannte personenzentrierte Prävention, jenen vorbeugenden Maßnahmen, die unmittelbar am einzelnen Menschen ansetzen. Als weitere Dimension wird in Untersuchungen zur Gewaltentstehung während der kindlichen Entwicklung das Problem der Impulskontrolle hervorgehoben. Die Impulskontrolle hängt nicht nur mit der individuellen Spannungs- und Frustrationstoleranz zusammen, sondern auch mit der Fähigkeit, unterschiedliche Handlungsalternativen zuerst in der Phantasie und dann im Handeln durchspielen zu können. Auch die Fähigkeit, eine Entscheidung zu treffen, die möglicherweise zum eigenen Nachteil sein könnte, gehört zu diesem Bereich. Gute Kompetenzen im Handlungsrepertoire und in der Impulskontrolle erhöhen die Problemlösefähigkeit. Um mit Konfliktsituationen emotional zurechtzukommen, ist schließlich ein angemessener Umgang mit Ärger und Wut notwendig. Schwierigkeiten im Umgang mit diesen heftigen und schwierig zu steuernden Gefühlen sind in zahlreichen Studien bei Menschen, die zu aggressivem Verhalten neigen, als Problembereich identifiziert worden. Kinder, die die genannten Fertigkeiten nicht in ihrem Beziehungsrepertoire haben, sind oftmals auch als Jugendliche und Erwachsene nicht in der Lage, kooperative Konfliktlösestrategien zu entwickeln, um sich in zwischenmenschlichen Beziehungen angemessen und sicher bewegen zu können.
11.5 Das Curriculum Faustlos Das Curriculum liegt in zwei Versionen vor: Ein Curriculum wurde für die Grundschule (Cierpka, 2001) und ein neueres speziell für den Kindergarten
11 Faustlos für Kindergarten und Schule
211
(Cierpka, 2004) entwickelt. Beide Curricula basieren auf dem amerikanischen Programm Second Step (Beland, 1988; 1991), das vom „Committee for Children“ in Seattle erarbeitet wurde und in den USA seit vielen Jahren erfolgreich Anwendung findet. Das Curriculum enthält für Erzieher und Lehrer vorbereitete Lektionen und kann leicht in die Strukturen von Kindergärten und Grundschulen integriert werden. Das Curriculum ist in Lektionen unterteilt, die aufeinander aufbauend von den Lehrkräften unterrichtet werden. Das Grundschul-Curriculum umfasst 51 Lektionen und das Kindergarten-Curriculum besteht aus 28 Lektionen (vgl. Tab. 1). Tabelle 1: Abfolge von Einheiten und Lektionen Einheiten
Lektionen 1. Klasse
2. Klasse
3. Klasse
Einheit I Empathieförderung
1–7
8 – 12
13 – 17
Einheit II Impulskontrolle
1–8
9 – 14
15 – 19
Einheit III Umgang mit Ärger und Wut
1–7
8 – 11
12 – 15
Insgesamt
22
15
14
Aufgrund der entwicklungspsychologischen Orientierung von Faustlos wurden für Kindergärten und Grundschulen jeweils separate, altersspezifische Unterrichtsmaterialien erarbeitet. Für die Grundschule stehen für die Vermittlung der Lerninhalte Fotofolien zur Verfügung, die während des Faustlos-Unterrichts an die Wand projiziert werden und Kinder in verschiedenen sozialen Situationen zeigen. Die einzelnen Lektionen sind in einem Anweisungsheft zusammengefasst. Die Anweisungen für eine Lektion gliedern sich in einen Vorbereitungsteil, eine Geschichte mit Diskussionsfragen und einen Vertiefungsteil mit Rollenspielen und anderen Übungen zur Übertragung des Gelernten. Zudem steht den Lehrern ein Handbuch zur Verfügung, das neben dem theoretischen Hintergrund alle Informationen zur Durchführung von Faustlos enthält. Für die Vermittlung der Lektionen für den Kindergarten werden Fotokartons eingesetzt, die Kinder in verschiedenen sozialen Situationen zeigen. Auch bei dieser Version gibt es ein Anweisungsheft für die einzelnen Lektionen und ein Handbuch, das neben dem theoretischen Hintergrund alle Informationen zur Durchführung von Faustlos enthält. Um die Vermittlung der Lerninhalte für Kindergartenkinder möglichst attraktiv und lernförderlich zu gestalten, umfassen die Materialien für Kindergärten auch zwei Handpuppen: Einen Hund mit Namen „Wilder Willi“ und eine Schnecke mit Namen „Ruhiger Schneck“. Diese beiden Tiere sind in einigen Lektionen die Haupttransporteure der Lerninhalte. Ein Curriculum für die Sekundarstufe ist in Entwicklung und wird 2007 vorliegen. Die Kieselschule wird das Faustlos-Curriculum ergänzen und ebenfalls 2007 zur Verfügung stehen. Es ist ein auf Lernen mit Musik basierendes Curriculum, das nonverbal die sozial-emotionalen Kompetenzen der Kinder in den drei Faustlos-Dimensionen Empathie, Impulskontrolle und Umgang mit Ärger und Wut spielerisch fördert. Das Faustlos Begleitbuch (Cierpka, 2005) für Eltern und
212
M. Cierpka
Lehrkräfte informiert über Theorie und Praxis. Eine Faustlos-Elternschule wird an den Kindergärten und Schulen angeboten, um die Zusammenarbeit zwischen Eltern, Schulen und Kindern weiter zu stärken. Die Qualität und Effektivität von Faustlos wird durch eine der Anwendung vorangestellte Fortbildung für die Erzieherinnen und Lehrerinnen durch zertifizierte Trainer gewährleistet. Diese Fortbildungsveranstaltung umfasst ein eintägiges Trainingsseminar mit anschließenden Supervisionsmöglichkeiten1. Faustlos wurde inzwischen an über 2.000 Schulen und ca. 1.000 Kindergärten implementiert2.
11.6 Ergebnisse von Evaluationsstudien Sowohl das Original-Curriculum Second Step als auch Faustlos wurden und werden kontinuierlich evaluiert. Die Effektivität des Programms Faustlos konnte in zahlreichen Studien belegt werden (Überblick bei Schick, im Druck). Bereits in den Pilotstudien zu Second Step (Beland, 1988b) konnte gezeigt werden, dass sich das Programm förderlich auf die unterrichteten „violence prevention skills“, wie z. B. die Vorhersage von Konsequenzen, Ärger-Management und Brainstorming-Fähigkeiten, auswirkt. Auch mit der ersten deutschsprachigen Version des Curriculums verbesserten sich die sozialen Kompetenzen der Kinder und sie lehnten aggressive Verhaltensweisen als Mittel der Konfliktlösung verstärkt ab (Hahlweg et al., 1998). Grossman et al. (1997) fanden in ihrer Untersuchung, dass die Teilnahme an Second Step körperliche und verbale Aggressionen der Kinder verminderte und zu einer Steigerung prosozialer und neutraler Interaktionen führte. Frey et al. (2005) konnten diese Ergebnisse replizieren. Auch die Studie von McMahon et al. (2000) zur Kindergarten-Version belegte einen Rückgang verbaler und körperlicher Aggressionen und zeigte, dass „Second StepKinder“ andere Kinder weniger häufig ablenken oder stören, Gefühle besser identifizieren und die Folgen von Handlungen besser vorhersagen können als Kinder ohne Second Step-Unterricht. Eine Studie zur Effektivität des Faustlos-Programms für Kindergärten, die mit der finanziellen Unterstützung der Landesstiftung Baden-Württemberg durchgeführt werden konnte (Schick & Cierpka, 2004; Schick & Cierpka, im Druck), bestätigt diese Ergebnisse. Faustlos bewirkte deutliche Verbesserungen der sozial-kognitiven Gewaltpräventionskompetenzen der Kinder. So konnten die Faustlos-Kinder Gefühle anderer Menschen differenzierter beschreiben und besser identifizieren, sie entwickelten für zwischenmenschliche Probleme mehr Lösungsmöglichkeiten, gaben an, in verschiedenen Konfliktsituationen häufiger sozial kompetent zu reagieren, antizipierten mehr negative Konsequenzen aggressiver Verhaltensweisen und verfügten über ein größeres Repertoire an Beru1 Das Training wird vom Heidelberger Präventionszentrum (Email:
[email protected],
Internet: www.faustlos.de) durchgeführt. 2 Vielen Institutionen, politischen Mandatsträgern und Sponsoren ist zu danken. Ins-
besondere wird Faustlos von der Stiftung „Bündnis für Kinder – gegen Gewalt“ in München großzügig unterstützt.
11 Faustlos für Kindergarten und Schule
213
higungstechniken. Diese neu erlernten sozial-kognitiven Kompetenzen setzten die Kinder aus der Sicht ihrer Eltern nach einem Jahr Faustlos allerdings noch nicht in sichtbare Verhaltensänderungen um. Nur die Erzieherinnen und auch die objektiven Beobachterinnen und Beobachter konnten einige Verhaltensänderungen der Faustlos-Kinder feststellen. Die Erzieherinnen gaben an, dass die Kinder durch Faustlos häufiger mit anderen Kindern verhandeln würden, mehr konstruktive Vorschläge machten und beim Spielen häufiger mit anderen abwechseln würden. Objektive Verhaltensbeobachtungen belegten darüber hinaus, dass die Faustlos-Kinder seltener verbal aggressiv reagierten. In einer Dreijahres-Längsschnitt-Studie mit Kontrollgruppen-Design (Schick & Cierpka, 2005) konnte zudem gezeigt werden, dass das Faustlos-Curriculum für die Grundschule eine spezifische angstreduzierende Wirkung hat und in hohem Maße einen Transfer der neu hinzugewonnenen Kompetenzen in den Alltag der Kinder unterstützt. Bemerkenswert ist dies vor allem deshalb, weil hier Effekte auf der emotionalen Ebene erzielt wurden, für die aus einer emotionspsychologischen Perspektive ein breites Spektrum besonders nachhaltiger Verhaltensänderungen antizipiert werden kann. Entsprechend den Ergebnissen von Webster-Stratton (2000) ist bei einer Zunahme von Emotionsregulationsstrategien mit einer Verbesserung des Sozialverhaltens zu rechnen. Insgesamt zeigten sich in der Dreijahres-Studie für ein Präventionsprogramm recht große Effekte. Dies ist insofern hervorzuheben, weil mit Präventionsprogrammen im allgemeinen meist nur geringe Effekte erzielt werden können, da die Mehrheit der angesprochenen Kinder nicht verhaltensauffällig ist und deshalb von vornherein keine dramatischen Veränderungen zu erwarten sind (Beelmann et al., 1994; Durlak & Wells, 1997; Wilson et al., 2003). Die beschriebenen positiven Entwicklungen spiegeln sich auch in den qualitativen Rückmeldungen von Lehrkräften, Erzieherinnen und Erziehern wider, die mit Faustlos arbeiten. So bemerkten die Lehrkräfte, die an der DreijahresStudie teilnahmen, dass sich das Sozialverhalten der Schülerinnen und Schüler verbessert hatte, und auch bzgl. deren aggressiven Verhaltens zeigten sich aus der Sicht der Lehrkräfte positive Effekte. Zudem berichten Lehrkräfte immer häufiger von positiven „Nebeneffekten“ des Programms, wie einer spürbaren Verbesserung des Klassen- und Lernklimas, einem deutlichen Zuwachs an verbalen Kompetenzen der Kinder und positiven Auswirkungen auf ihren eigenen Interaktionsstil. Auch aus der Sicht der Erzieherinnen und Erzieher hatten sich die sozial-emotionalen Kompetenzen der Kinder verbessert und deren aggressives Verhalten wurde verringert. Besonders bemerkenswert ist, dass die Erzieherinnen und Erzieher angaben, sie hätten persönlich von der Durchführung des Programms profitiert und würden das Programm weiterempfehlen.
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Prävention von Störungen des Sozialverhaltens – Entwicklungsförderung in Familien: das Eltern- und Kindertraining EFFEKT Friedrich Lösel, Stefanie Jaursch, Andreas Beelmann & Mark Stemmler
Gliederung 12.1 12.2 12.3 12.3.1 12.3.2 12.4 12.4.1 12.4.2 12.5
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erlangen-Nürnberger Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschreibung der Präventionsprogramme . . . . . . . . . . . EFFEKT-Kindertraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . EFFEKT-Elterntraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evaluationsergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Implementierung und Prozess-Evaluation . . . . . . . . . . . . Wirkungsevaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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12.1 Einleitung Aggressives, delinquentes und anderes dissoziales Verhalten unter Kindern steht in letzter Zeit stark im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Dies ist vor allem auf spektakuläre Einzelfälle extremer Gewalt an Schulen zurückzuführen. Selbst wenn dadurch das Thema in den Medien wellenartig hochgespielt wird, besteht an der Notwendigkeit verstärkter Bemühungen um Prävention kein Zweifel. Probleme des Sozialverhaltens sind weit verbreitet. Etwa 10 % aller Kinder und Jugendlichen haben schwerwiegende und viele andere zumindest leichtere und vorübergehende Störungen in diesem Bereich (Ihle & Esser, 2002; Lahey et al., 1999). Zwar führen temporäre Probleme in der Entwicklung von Kindern keineswegs generell zu längerfristigen, klinisch relevanten Störungen (Lösel & Bender, 2003), aber sie erschweren die weitere Anpassung des Kindes (Petermann & Hermann, 1999).
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So kommt es teilweise zur Ablehnung der Kinder durch Gleichaltrige, was weitere soziale Lernerfahrungen beeinträchtigt (Little & Garber, 1995). Werden die Anforderungen einer Entwicklungsperiode nicht gemeistert, erschwert dies die Bewältigung zukünftiger Entwicklungsaufgaben (Cicchetti, 1990; Cicchetti & Cohen, 1995). Dies manifestiert sich in einer vergleichsweise hohen Stabilität des Problemverhaltens über die Zeit: Demnach bleiben die Probleme bei etwa 50 % der bereits im Vorschulalter auffälligen Kinder längerfristig bestehen, teilweise sogar bis ins Jugend- und junge Erwachsenenalter (Campbell et al., 1996; Moffitt et al., 1996; Patterson et al., 1998). Neben den sozialen Defiziten und den Schwierigkeiten mit Gleichaltrigen besteht ein beträchtliches Risiko für frühe Lernstörungen und Schulprobleme (Beelmann, 2004; Lösel & Bender, 2003). Schulversagen, Schulschwänzen und der Abbruch von Schullaufbahnen und Berufsausbildungen sind wiederum wichtige Korrelate und Prädiktoren delinquenten Verhaltens (Hawkins et al., 1998; Lösel & Bender, 2006). Für eine frühe Prävention von Problemen des Sozialverhaltens spricht auch, dass die spätere Behandlung von jungen Straffälligen zwar durchaus erfolgreich sein kann (Lösel, 1993; Lösel & Bender, 2005), aber schwierig und kostspielig ist. Bei Verhaltensproblemen im Kindesalter nehmen nur ca. 10 % der betroffenen Eltern eine adäquate professionelle Hilfe in Anspruch (Heinrichs et al., 2002). Präventionsprogramme unterscheiden sich darin, auf welche Zielgruppe sie sich beziehen (vgl. Munoz et al., 1996): Universelle Programme zielen nicht auf spezifische Risikogruppen, sondern auf die Allgemeinbevölkerung ab. Selektive Programme sind für Personen oder Gruppen mit erhöhtem Risiko für die zukünftige Entwicklung einer psychischen Störung konzipiert. Indizierte Programme setzen bei Individuen oder Gruppen mit ersten Anzeichen einer psychischen Störung an, ohne dass alle Kriterien nach ICD oder DSM erfüllt sein müssen. Gerade für die universelle Prävention ist es von großer Bedeutung, die Ursachen der Störungen zu kennen. Denn da noch kein abweichendes Verhalten verändert wird, müssen die Präventionsprogramme an den Risiken für die Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten ansetzen. Dabei ist eine multifaktorielle, bio-psychosoziale Perspektive notwendig (vgl. Lösel & Bender, 2003, 2006). Einzelne Faktoren haben zumeist nur einen geringen Effekt auf das Problemverhalten und ihr Einfluss variiert auch in den verschiedenen Lebensphasen. Im Vorschulalter sind vor allem die elterliche Erziehung und die soziale Kompetenz des Kindes bedeutsam. Aus transaktionaler Sicht ist das elterliche Erziehungsverhalten eine Schnittstelle individueller, familiärer und sozialer Entwicklungsrisiken (Sameroff & Fiese, 2000). Erziehungsdefizite korrelieren bedeutsam mit kumulierten sozialen Risiken, wie sie in einem Multi-Problem-Milieu auftreten (Shaw et al., 1998), mit einem schwierigen Temperament des Kindes (Caspi & Silva, 1995), das auf prä-, peri- und postnatale Komplikationen und genetische Faktoren zurückzuführen ist (Moffitt, 1993a), sowie mit dissozialen Verhaltensproblemen des Kindes (Rothbaum & Weisz, 1994). Der sozialen Kompetenz des Kindes kommt ebenfalls eine zentrale Stellung zu. Ihre Komponenten der sozialen Wahrnehmung, Informationsverarbeitung, Empathie, Emotionsregulation, Selbstkontrolle und Handlungsfertigkeiten sind Voraussetzungen für die aktuelle und zukünftige Lösung von sozialen Problemen (Beelmann & Lösel, 2005; Crick
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& Dodge, 1994). Ähnlich wie die elterliche Erziehung bilden sie ein komplexes Ergebnis von biologischen Dispositionen und Einflüssen der sozialen Umwelt (Huesman, 1997; Lösel et al., im Druck). Dementsprechend setzen Maßnahmen zur Prävention von Problemen des Sozialverhaltens häufig in diesen beiden Bereichen an. Zum einen handelt es sich um Elterntrainings zur Förderung der Erziehungskompetenz (vgl. Beelmann & Bogner, 2005; Lundahl et al., 2006; Risser & Lovejoy, 2006), zum andern um Trainings zur Förderung der sozialen Kompetenz beim Kind (vgl. Kazdin, 1997; Lösel & Beelmann, 2003; Webster-Stratton & Taylor, 2001). In manchen Präventionsprojekten werden beide Ansätze in komplexe Programme integriert (z. B. Fast Track; Conduct Problems Prevention Research Group, 2002). Strukturierte verhaltenstherapeutische Elterntrainings haben sich in internationalen Studien als wirksam erwiesen (vgl. Beelmann, 2006; Kazdin, 1998). Sie zielen darauf ab, dysfunktionales Erziehungsverhalten zu reduzieren und positive Interaktionen zwischen Eltern und Kindern zu fördern (z. B. Beelmann et al., 2006; Sanders et al., 2000). Zum Beispiel sollen Eltern lernen, angemessen und konsequent auf kindliches Problemverhalten zu reagieren und insbesondere dessen Verstärkung durch positive Aufmerksamkeit zu vermeiden (Miller, 2001). Bei den Trainingsprogrammen zur Förderung sozialen Problemlösens bei Kindern sollen soziale und kognitive Fertigkeiten vermittelt und eingeübt werden, um in Alltagskonflikten konstruktive, nicht-aggressive Lösungen zu ermöglichen. Auch zu diesen Programmen liegen international zahlreiche Evaluationen vor, die vor allem für die Wirksamkeit strukturierter, multimodaler, sozial-kognitiver Trainings sprechen (vgl. Lösel & Beelmann, 2003, 2005; Wilson et al., 2003). Zu beiden Arten von Programmen sind jedoch methodisch gut kontrollierte Evaluationen mit längerer Nachbeobachtung und relativ „harten“ Wirkungskriterien des kindlichen Alltagsverhaltens nach wie vor selten (Beelmann, 2006; Lösel & Beelmann, 2003). Dies gilt besonders für Deutschland. Hier hat man zwar etliche präventive Eltern- und Kindertrainings aus dem Ausland adaptiert und implementiert (z. B. Cierpka, 2001; Kuschel et al., 2000; Lösel et al., 2004; Petermann et al., 2002; Wolff-Meternich et al., 2002), jedoch sind kontrollierte Evaluationsstudien selten (vgl. Beelmann, 2000; Gerken et al., 2002; Heinrichs et al., 2006; Lauth et al., 2005; Lösel et al., 2006; Schick & Cierpka, 2003). Teilweise werden Präventionsprogramme in Deutschland weit verbreitet, ohne dass ihre positiven Wirkungen stichhaltig nachgewiesen und eventuelle negative Effekte auszuschließen sind (dazu McCord, 2003). Allenfalls verweist man auf interkulturell kaum zu generalisierende anglo-amerikanische Studien oder verzichtet – vor allem bei schwach strukturierten Angeboten – ganz auf jegliche kontrollierte Evaluation (vgl. Lösel et al., 2006). Angesichts dieser Situation wurde die Erlangen-Nürnberger Entwicklungsund Präventionsstudie konzipiert und durchgeführt (vgl. Lösel et al., 2004, 2005, 2006). Beginnend im Vorschulalter kombiniert sie eine prospektiv-längsschnittliche Untersuchung der Ursachen und Entwicklung kindlicher Verhaltensprobleme mit einer experimentellen Evaluation eines Eltern- und Kindertrainings zur universellen Prävention. In diesem Kapitel werden hauptsächlich die Inhalte und Methoden des Programms „Entwicklungsförderung in Familien: Eltern- und
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Kindertraining EFFEKT“ beschrieben. Außerdem gehen wir kurz auf das Gesamtprojekt und einige Evaluationsergebnisse ein.
12.2 Die Erlangen-Nürnberger Studie Bei der vom Bundesfamilienministerium geförderten Studie handelt es sich um die bislang einzige kombinierte Entwicklungs- und Präventionsstudie in Deutschland. Die Entwicklungsstudie erforscht prospektiv die Entstehung und Verfestigung von Verhaltensproblemen ab dem Kindergartenalter. Die komplexe Datenerhebung umfasst Elterninterviews, Fragebögen, Hausbesuche, Verhaltensbeobachtungen, Kindertests, physiologische Messungen, pädiatrische Untersuchungen, Einschätzungen der Erzieherinnen im Kindergarten und Urteile der Lehrerinnen in der Grundschule (vgl. Lösel et al., 2005). Ziel der Präventionsstudie ist die Entwicklung und Evaluation kind- und elternzentrierter Präventionsmaßnahmen. Der Präventionsansatz ist universell, das heißt, es wurde keine spezielle Risikogruppe ausgewählt. In der ersten Forschungsphase enthielt der Untersuchungsplan drei Erhebungen im jährlichen Abstand. Bei einem Teil der Stichprobe gab es nach der ersten Erhebung eine Interventionsphase, in der das Kindertraining, das Elterntraining oder eine Kombination beider Programme durchgeführt wurden. Zur Evaluation der Maßnahmen wurden zu den drei Experimentalgruppen Kontrollgruppen gebildet. Nach einer organisatorischen Vorauswahl erfolgte eine zufällige Zuweisung auf Gruppenebene. Um die Äquivalenz der Gruppen zu sichern, wurden sie außerdem nach Alter, Geschlecht und sozialer Schicht parallelisiert und hinsichtlich der Verhaltensprobleme vor dem Training statistisch kontrolliert. Derzeit wird die Studie auf die späte Kindheit und frühe Jugend ausgedehnt und prospektiv weitergeführt. Die repräsentative Kernstichprobe der Studie bestand aus 675 Kindern (336 Jungen, 339 Mädchen) aus 609 Familien in Nürnberg, Erlangen und Umgebung. Die Untersuchung begann, als die Kinder im Durchschnitt 4;7 Jahre alt waren (Standardabweichung = 9 Monate). Neben den Müttern nahmen auch fast 90 % der Väter an der ersten Erhebung teil. Zirka 45 % der Familien gehörten der unteren Mittel- oder der Unterschicht an und etwa 11 % hatten einen Migrationshintergrund. Um möglichst wenig Ausfälle zu haben, wurde der Kontaktpflege mit den Familien große Aufmerksamkeit gewidmet (Lösel et al., 2005). Dadurch gelang es, die Ausfallrate von der ersten bis zur dritten Erhebung mit 5 % sehr niedrig zu halten. Für die laufenden Erhebungen zum 5. Zeitpunkt konnten noch fast 90 % der Familien gewonnen werden. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich aber auf die Darstellung der Ergebnisse der ersten Projektphase.
12.3 Beschreibung der Präventionsprogramme 12.3.1 EFFEKT-Kindertraining Im Kindertraining zum sozialen Problemlösen sollen zentrale Aspekte der sozialen Informationsverarbeitung gefördert werden, die bei dissozialen Kindern
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und Jugendlichen oft unzureichend ausgebildet sind (vgl. Crick & Dodge, 1994; Huesmann, 1997; Lösel & Bliesener, 2003; Moffitt, 1993b). Bei dem von uns eingesetzten Programm „Ich kann Probleme lösen“ (IKPL) handelt es sich um ein soziales Kompetenztraining für Kindergartenkinder (Beelmann et al., 2004). Es orientiert sich an dem Trainingsprogramm „I Can Problem Solve“ (ICPS) der Arbeitsgruppe um Spivack und Shure (Shure, 1992a,b; Spivack & Shure, 1989). In ihm werden folgende Fertigkeiten für effektives soziales Handeln als bedeutsam erachtet: 1. Soziale Wahrnehmung (Sensitivität für soziale Probleme und die Identifikation von Gefühlen) 2. Alternatives Denken (Generieren von Lösungen für interpersonelle Probleme) 3. Mittel-Ziel-Denken (Planung von Handlungsschritten) 4. Konsequenz-Denken (Vorhersehen von Handlungskonsequenzen) 5. Kausales Denken (Erkennen von Ursachen sozialen Handelns und Perspektivenübernahme). Diese Fertigkeiten werden in unterschiedlichen Entwicklungsphasen erworben und haben jeweils eine altersspezifische Bedeutung im Prozess der sozialen Anpassung. Tabelle 1 gibt einen Überblick über Art, Ziele und Inhalt des Kindertrainings. Tabelle 1: Das EFFEKT-Kindertraining „Ich kann Probleme lösen (IKPL)“ Zielgruppe
Vor- und Grundschulkinder (4-7 Jahre)
Umfang
15 Sitzungen à 45-60 Minuten
Art des Trainings
Manualisiertes Gruppentraining 6-10 Kinder, 2 Kursleiter
Umsetzung
3 Wochen täglich oder 5 Wochen lang 3-mal/Woche in Gruppenräumen des Kindergartens
Inhalte/Themen
1. Grundlagen der sozial-kognitiven Problemlösung Wortkonzepte (z. B. einige-alle, gleich-verschieden) Identifikation von Gefühlen (z. B. fröhlich, wütend) Gründe und Ursachen des Verhaltens (Kausalitätsprinzip) 2. Sozial-kognitive Problemlösefertigkeiten Alternative Lösungsvorschläge Antizipation von Handlungskonsequenzen Bewertung von Handlungskonsequenzen
Methoden
Modellspiele, Bildbetrachtung mit Frage-Antwort-Runden Bewegungsspiele, Rollenspiele, Fragespiele Begleitend: Ausmalen von Bildvorlagen, Singspiele
Besonderheiten
Moderation durch Handpuppen Maßnahmen zur Förderung der Identifikation
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Im Folgenden wird das Vorgehen kurz erläutert. Das Trainingsprogramm ist speziell für Kinder im Alter von vier bis sieben Jahren konzipiert. Dieses Alter ist für das soziale Problemlösen besonders wichtig, da hier Beziehungen zu Gleichaltrigen aufgebaut und grundlegende soziale Fertigkeiten erworben werden. Die Problemlösefertigkeiten werden den Kindern in Form von stufenweise aufeinander aufbauenden, kindgerechten Spielen vermittelt. In der amerikanischen Originalversion besteht das ICPS-Programm aus 58 Sitzungen (Preschool-Version). Da in unserer Studie nicht alle Kinder eines Kindergartens, sondern nur die am Projekt beteiligten einbezogen werden konnten, war es erforderlich, die Sitzungshäufigkeit zu reduzieren, um den normalen Ablauf in den Kindergärten nicht zu sehr zu beeinträchtigen. Auch unsere Pilotstudien sprachen für eine zeitliche Komprimierung (vgl. Beelmann, 2000). Wir reduzierten das Training auf 15 Sitzungen mit insgesamt 39 Einheiten. Es wurde entweder drei Wochen lang täglich oder fünf Wochen lang dreimal pro Woche durchgeführt. Durch die geringere Zahl der Sitzungen verlängerte sich deren Dauer von 20 bis 30 Minuten auf 45 bis 60 Minuten. Es wurden deshalb zusätzliche Elemente integriert, um die Motivation und Mitarbeit der Kinder aufrechtzuerhalten (z. B. Sing- und Bewegungsspiele). An den Kursen nahmen jeweils sechs bis zehn Kinder teil, wobei homogene Altersgruppen angestrebt wurden, um die Übungen möglichst gut auf das kognitive Entwicklungsniveau der Kinder abzustimmen. Die Kurse wurden jeweils von zwei Trainerinnen am Vormittag in separaten Räumen der Kindergärten durchgeführt. Inhaltlich gliedert sich das Training in die zwei Bereiche vorbereitende Problemlösespiele (Sitzungen 1 bis 6, Übungseinheiten 1 bis 17) und Problemlösespiele (Sitzungen 7 bis 15, Übungseinheiten 18 bis 39). Anhand der vorbereitenden Problemlösespiele werden den Kindern spielerisch Begriffe beigebracht, die zur Entwicklung von Problemlösefertigkeiten gebraucht werden. Dabei geht es insbesondere um kognitive und sprachliche Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Problemlösung. Die Kinder sollen sich daran gewöhnen, nach mehreren Lösungen zu suchen. Darauf aufbauend sollen sie lernen, eigene Gefühle und die Gefühle anderer zu erkennen und zu benennen. Hier wird den Kindern nahe gebracht, dass es verschiedene Wege gibt, die Gefühle anderer herauszufinden. Im Anschluss sollen die Kinder sich bewusst werden, dass ein bestimmtes Verhalten verschiedene Ursachen haben kann. Wenn die Kinder die notwendigen Begriffe und Denkweisen beherrschen, werden sie auf ausgewählte, alterstypische Probleme angewandt. Dabei wird ein strukturierter Gedankenablauf zur Lösungsfindung eingeübt. Die Kinder werden jeweils durch Fragen zu Lösungen und deren Konsequenzen gelenkt. Dabei wird keine Lösung vorgegeben, auch werden die Lösungen nicht unmittelbar bewertet. Die Kinder sollen lernen, selbstständig zu entscheiden, welche Lösung am besten geeignet ist. Der Ablauf der Stunden ist anhand des Manuals strukturiert (vgl. Beelmann et al., 2004). Die einzelnen Sitzungen beginnen und enden jeweils mit einem Sing- und Bewegungsritual. Die vorbereitenden Problemlösespiele dienen dem Erwerb von sprachlichen und kognitiven Grundvoraussetzungen einer nicht-aggressiven Problemlösung. Sie bestehen aus drei Abschnitten. Die erste Stunde befasst sich mit grundle-
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genden Wortkonzepten (drei Übungen), die für die soziale Problemlösung bedeutsam sind (z. B. einige-alle, gleich-verschieden). Diese Wortkonzepte dienen im Folgenden als Hinweisreize für die erforderlichen Gedankenabläufe. Dadurch, dass sie wiederholt vorkommen, schaffen sie eine Denkgewohnheit, die den Kindern hilft, Probleme systematisch zu reflektieren und zu lösen. In den folgenden drei Trainingsstunden werden Gefühle thematisiert (sieben bis acht Übungen). Die Kinder sollen eigene Gefühle und die Gefühle anderer erkennen und benennen, um Situationen und die Konsequenzen des eigenen Handelns besser einschätzen zu können. Anhand von Illustrationen werden den Kindern bestimmte Emotionen nahe gebracht (z. B. „Fridolin Fröhlich“, „Willi Wütend“), welche sie in verschiedenen Spielen identifizieren oder nachahmen sollen. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass es mehrere Zugänge zu Gefühlen gibt (z. B. fragen, sehen), für die die Wahrnehmung der Kinder geschärft werden soll. Der fünfte und sechste Trainingstag behandelt in einfacher Form das Kausalitätsprinzip (sechs Übungen). Hier werden wichtige Konzepte für das Erkennen der Ursachen für bestimmte Gefühle und Verhaltensweisen vermittelt und vertieft. Sie sollen die Voraussetzung für eine Antizipation von Handlungskonsequenzen schaffen (z. B. warum-weil, gerecht-ungerecht). Dies dient zum einen der angemessenen Wahrnehmung einer Situation und zum andern wird hierdurch eine Grundlage geschaffen, um mögliche Konsequenzen des eigenen Handelns zu beachten. Anhand mehrerer Spiele werden die Kinder dazu aufgefordert, verschiedene Beweggründe für bestimmte Verhaltensweisen herauszufinden. Die Problemlösespiele dienen der Anwendung der gelernten Denkmuster auf typische Problemsituationen (z. B. Streit um ein Spielzeug). In der siebten und achten Stunde wird die Generierung alternativer Lösungsvorschläge gefördert (fünf Übungen). Den Kindern soll vermittelt werden, dass es mehrere Wege gibt, ein Problem zu lösen. Anhand illustrierter Problemsituationen werden die Kinder dazu angehalten, möglichst viele verschiedene Lösungen zu finden. Die folgenden drei Trainingsstunden haben die Antizipation von Handlungskonsequenzen zum Inhalt (sieben Übungen). Es sollen mehrere mögliche Konsequenzen erfragt werden, da die Kinder sonst eventuell negative Konsequenzen außer Acht lassen würden. Das „Wenn-Dann-Spiel“ bringt den Kindern z. B. nahe, dass ein bestimmtes Ereignis oder eine bestimmte Handlung immer auch bestimmte Folgen hat. Die Trainingstage 12 bis 15 befassen sich mit der Bewertung von Handlungskonsequenzen (acht Übungen). Hier werden Fertigkeiten trainiert, die für die Auswahl einer angemessenen Handlungsalternative bedeutsam sind. Die Kinder werden dazu aufgefordert, die gefundenen Lösungen für die Probleme zu beurteilen und dies zu begründen. In den abschließenden zwei Übungen der letzten Trainingsstunde werden alle Stufen der sozialen Problemlösung in komplexe Problemlösespiele integriert. Den Kindern sollen anhand des Trainings Denkstrategien vermittelt werden, die es ihnen ermöglichen, selbstständig soziale Konflikte zu lösen. An unterschiedlichen Beispielen aus dem sozialen Alltag der Kinder wird wiederholt ein Dialog nach einem festgelegten Schema geübt, um diese Art des sozialen Denkens zu automatisieren. Diese kognitive Automatisierung betrifft:
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1. die Problemdefinition (Was ist passiert? oder Was ist das Problem?) 2. die Identifikation von Gefühlen oder Gründen für das Verhalten anderer (Wie fühlen sich die Beteiligten? oder Welche Gründe gibt es für das Verhalten?) 3. die Generierung von Handlungsalternativen (Was kann ich tun?) 4. das Abschätzen der Folgen einer Handlung (Was passiert dann?) 5. die Bewertung der Handlung (Ist das eine gute Idee?) Die Übungseinheiten verwenden unterschiedliche Materialien und Aktivitäten (z. B. Ausmalen von Bildvorlagen, Sing- und Bewegungsspiele). Zwei Handpuppen – Ernie und Bert aus der Sesamstraße – moderieren die Sitzungen und dienen als Modelle, um die vorgegebenen Probleme und Konfliktsituationen in spielerischer Form zu bearbeiten. Die Handpuppen sollen auch die Beziehung zu den anfangs unbekannten Trainerinnen fördern. Sie erklären die Spiele und äußern Fragen, durch die ein neues Thema oder Problem eingeführt wird. Sie spielen auch eigene Konflikte vor, dienen der Auflockerung und werden im Laufe des Trainings zu Identifikationsfiguren, die mit dem IKPL-Trainingsprogramm verbunden sind. Zudem werden den Kindern die Handpuppen in Form von Fingerpuppen verteilt, um die Rollenspiele selbstständig durchführen zu können. Zur weiteren Identifikation der Kinder mit dem Trainingsprogramm dienen Mappen zum Sammeln der Bildvorlagen, individuell gestaltete Namensschilder sowie Mützen mit dem Trainingslogo. Alle Materialien samt Trainingsmanual und Literatur befinden sich in einem kompakten Trainingskoffer. 12.3.2 EFFEKT-Elterntraining Das Elterntraining verfolgt das Ziel, durch konkrete Hilfen die Erziehungskompetenz zu fördern. Als Grundlage unseres Programms wählten wir das Curriculum for parents with challenging children, das auf den Arbeiten des Oregon Social Learning Center um Patterson basiert (vgl. Dishion & Patterson, 1996; Fisher et al., 1997). Anhand verschiedener Methoden soll angemessenes Erziehungsverhalten gefördert und der Umgang mit schwierigen Erziehungssituationen geübt werden. Langfristiges Ziel des Kurses ist die Stärkung einer positiven Eltern-Kind-Beziehung, um Verhaltensproblemen des Kindes wirksam vorzubeugen sowie Belastungen und Stress für Eltern abzubauen. Dadurch sollen jene Zwangsprozesse in der Eltern-Kind-Interaktion vermieden werden, die als ein Risikofaktor in der Entwicklung von dissozialen Kindern gelten (Patterson et al., 1992). Wir übersetzten wesentliche Teile des amerikanischen Programms ins Deutsche, adaptierten und modifizierten die Übungen für hiesige Verhältnisse und fügten eigene Module hinzu. Auch dieses Programm wurde in Voruntersuchungen erprobt (vgl. Beelmann, 2000). Ein zentrales Anliegen war es, das Elterntraining so kurz zu halten, dass auch weniger aufgeschlossene Eltern daran teilnehmen und nicht vorzeitig abbrechen. Falls dies gelingt, sind bei Bedarf spätere Vertiefungen oder die Vermittlung anderer Hilfen sinnvoll. Das Programm wurde so konzipiert, dass neben dem einführenden Elternabend im Kindergarten
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nur fünf Sitzungen erfolgen. Tabelle 2 gibt einen Überblick über den Ablauf, die Themen und die Methoden des Trainings. Anschließend wird das Training kurz beschrieben. Zu den Details siehe Beelmann und Lösel (2004). Tabelle 2: Das EFFEKT-Elterntraining „Förderung der Erziehungskompetenz“ Zielgruppe
Eltern von Vor- und Grundschulkindern (3-10 Jahre)
Umfang
5 Sitzungen à 90-120 Minuten
Art des Trainings
Manualisiertes Gruppentraining 10-20 Teilnehmer, 1-2 Kursleiter
Umsetzung
5 wöchentliche Termine in Gruppenräumen des Kindergartens
Inhalte/Themen
Grundregeln positiver Erziehung Bitten und Aufforderungen Grenzen setzen, schwierige Erziehungssituationen Überforderung in der Erziehung (Stress, Verhaltensprobleme) Soziale Beziehungen in der Familie
Methoden
Vortrag, Arbeitsgruppen, Gruppendiskussionen, Rollenspiel, Hausaufgaben, strukturierte Arbeitsmaterialien
Das Elterntraining richtet sich an Eltern von Kindern im Alter von drei bis zehn Jahren. Vor allem sollen solche Eltern davon profitieren, die unter besonderer Belastung stehen (z. B. Berufstätigkeit beider Elternteile, allein erziehende Eltern) oder deren Kinder als „schwierig“ erlebt werden (z. B. weil sie Aufforderungen nicht nachkommen, trotzig ihren Willen durchsetzen oder leicht wütend werden). In unserer Durchführung blieb es den Eltern überlassen, ob beide teilnehmen oder nur die Mutter bzw. (gelegentlich) nur der Vater. Da es zu jeder Sitzung ausführliche Arbeitsmaterialien und Zusammenfassungen gab, ist davon auszugehen, dass sich die Eltern untereinander austauschten. Von den Eltern wurde erwartet, dass sie regelmäßig und pünktlich erscheinen, sich aktiv an den Sitzungen beteiligen, die Hausaufgaben bearbeiten und einige Fragen zur Anwendung im Alltag beantworten. Die typische Gruppengröße lag bei 15 Personen. Der Kurs wurde in fünf wöchentlich aufeinander folgenden Sitzungen zu jeweils 90 bis 120 Minuten von jeweils zwei Kursleiterinnen/Kursleitern durchgeführt. Die Kursräume sollten möglichst nahe an der Wohnung der Eltern liegen, um die zeitliche Beanspruchung der Eltern gering zu halten. Besonders geeignet waren Räume im Kindergarten oder – bei kirchlichen Trägern – in der Gemeinde. Um auch allein erziehenden oder im Schichtdienst tätigen Eltern die Teilnahme zu ermöglichen, boten wir den Kurs je nach Bedarf nachmittags oder abends an und waren bei der Organisation der Kinderbetreuung behilflich. Im Kurs werden folgende Inhalte behandelt: Informationen zur Entwicklung im Vor- und Grundschulalter, Stärkung des Selbstvertrauens und der Kooperation des Kindes, Einüben von sozialen Regeln, erfolgreich Grenzen setzen, Förderung der Familienbeziehungen und Freundschaften des Kindes. Der Ablauf der Stunden folgt jeweils dem Schema (1) Begrüßung, (2) Besprechung der Hausaufgaben, (3) Einführung in die Themen der Stunde, (4) intensive Aufarbeitung
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des jeweiligen Themas durch Gruppenarbeit, Rollenspiel und Diskussionen, (5) Übungen für Zuhause und (6) Beantwortung der Fragen zur jeweiligen Sitzung. 1. Stunde: Entwicklung fördern – Positiv erziehen: Nach einer kurzen Vorstellungsrunde wird zunächst eine Übersicht zum Elternkurs gegeben. Im ersten Abschnitt geht es dabei um Grundregeln positiver Erziehung. Zu Beginn soll die Aufmerksamkeit auf erfreuliches Verhalten des Kindes gelenkt werden. Zudem werden Regeln der positiven Erziehung vermittelt, mit dem Ziel, den Einfluss des elterlichen Erziehungsverhaltens auf die kindliche Entwicklung zu verdeutlichen. Dahinter steht das Prinzip, erwünschtes Verhalten des Kindes zu stärken. Mit den Eltern wird eine Übung durchgeführt, in der sie sich explizit an positive Erlebnisse mit ihrem Kind erinnern sollen. In einem Kurzvortrag werden Regeln der positiven Erziehung dargestellt (Beispiele: „Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf erfreuliches Verhalten“; „Loben Sie Ihr Kind – auch und vor allem für alltägliche Dinge“; „Haben Sie realistische Erwartungen“). Der Fokus liegt auf einer positiven Grundhaltung der Eltern. Zum Abschluss wird ihnen eine Hausaufgabe gestellt: Sie werden aufgefordert, fünf Dinge aufzuschreiben, die ihnen an ihrem Erziehungsverhalten gefallen: „Was finde ich an meinem Erziehungsverhalten gut?“ 2. Stunde: Spielregeln in der Familie: Hier geht es darum, wie Bitten und Aufforderungen an das Kind effektiv gestellt werden können und wie sich die Kooperationsbereitschaft des Kindes verbessern lässt. Nach der Begrüßung und einer kurzen Übersicht zur Stunde werden die Hausaufgaben der letzten Stunde besprochen. Anschließend wird eine Einführung in die Themen der Stunde gegeben. Anhand einer Beobachtungsübung zum Bitten und Auffordern im Alltag werden in einer Gruppendiskussion Regeln für solche Situationen zusammengetragen. Zum Beispiel: „Achten Sie darauf, dass Ihnen Ihr Kind aufmerksam zuhört“; „Beschreiben Sie möglichst genau, was Ihr Kind tun soll“; „Belohnen Sie Ihr Kind, wenn es einer Aufforderung nachgekommen ist“. Daran anschließend wird eine Hausaufgabe gestellt. Die Eltern sollen in den nächsten drei Tagen jeweils eine Situation beobachten, in der sie eine Bitte oder Aufforderung an ihr Kind stellen. Auf Übungsblättern sollen Fragen hierzu beantwortet werden. Im zweiten Teil der Stunde geht es darum, die Kooperation des Kindes zu fördern. Dies wird zuerst anhand eines Kurzvortrages verdeutlicht. Beispiele: dem Kind ein Vorbild sein; dem Kind Verantwortung übertragen. Abschließend wird die Handhabung eines Punkteplans erläutert, mit dessen Hilfe die Eltern neue Fertigkeiten oder bestimmte Regeln in der Familie einüben können. 3. Stunde: Grenzen setzen in der Erziehung: Zentrales Thema ist hier der Umgang mit schwierigen Erziehungssituationen und angemessenen Konsequenzen. Es soll vermittelt werden, wie ein konsequenter Erziehungsstil mit Regeln des alltäglichen Zusammenlebens eingehalten werden kann. Zunächst wird das Thema „Grenzen setzen in der Erziehung“ kurz dargestellt. In einer Übung sollen sich die Eltern veranschaulichen, wie sie sich in schwierigen Erziehungssituationen verhalten. Anschließend werden einige Regeln für den Umgang mit schwierigen Erziehungssituationen erläutert. Beispiele: „Versuchen Sie, möglichst ruhig zu bleiben“; „Kündigen Sie realistische und angemessene Konsequenzen an“;
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„Führen Sie diese konsequent durch“. In einer Gruppendiskussion nennen und erörtern die Eltern mögliche Folgen für ungehorsames und störendes Verhalten des Kindes. Diese werden anschließend zu angemessenen Vorgehensweisen zusammengefasst. Beispiele: Verhalten nicht beachten, Wiedergutmachung, Entzug von Belohnungen und Privilegien. Als Hausaufgabe erhalten die Eltern Übungsblätter, anhand derer sie ihr eigenes Verhalten in schwierigen Erziehungssituationen beobachten und ihre Reaktionen notieren sollen. 4. Stunde: Überforderung in der Erziehung: In dieser Sitzung liegt der Schwerpunkt auf dem Umgang mit Stress sowie mit Verhaltensproblemen des Kindes. Ziel ist es, einen angemessenen und nicht die Probleme verstärkenden Umgang damit zu lernen. Nach einer Einführung in das Thema „Stress“ wird in Kleingruppen erarbeitet, wie die Eltern damit in Alltagssituationen und insbesondere mit dem Kind umgehen. Nach einer Zusammenfassung wird zur Beschreibung von „Verhaltensproblemen“ übergeleitet. An Beispielen wird der angemessene Umgang mit Verhaltensproblemen des Kindes erarbeitet (Definition des Problems, Beobachtung des Problemverhaltens und der eigenen Reaktionen, Entscheidung für bestimmte Konsequenzen). In einer Übung für zu Hause sollen die Eltern beobachten und festhalten, wie sie sich gegenüber ihrem Kind in Stresssituationen verhalten. 5. Stunde: Soziale Beziehungen stärken: Dieses Modul ist der Unterstützung von Freundschaften des Kindes und der Förderung des Familienlebens gewidmet. Zunächst sollen die Teilnehmer in Kleingruppen erarbeiten, wie sie als Eltern Freundschaften des Kindes fördern können. Hierzu gibt es einen zusammenfassenden Kurzvortrag. Beispiele: Soziale Kontakte ermöglichen; bei Streitigkeiten und Konflikten zwischen den Kindern vermitteln. Des Weiteren notieren die Eltern auf einem Arbeitsblatt, was sie in ihrer Familie zur Förderung des Familienlebens tun. Beispiele: Gemeinsame Aktivitäten mit der Familie planen und ausführen; gemeinsame Rituale und Gewohnheiten pflegen; Zuneigung äußern. Gesondert eingegangen wird auf das Thema „Streitigkeiten unter Geschwistern“. Beispiele: Altersgemäße Rechte und Pflichten festlegen; bei Vergleichen Alter und Fähigkeiten der Kinder berücksichtigen; jedem Kind individuelle Zeit widmen. Als eine weitere Methode, um das Zusammenleben in der Familie zu regeln und mögliche Konflikte zu lösen, wird zum Abschluss der „Familienrat“ erläutert. In ihm werden Bedürfnisse, Vorstellungen und Wünsche der einzelnen Familienmitglieder zu verabredeten Zeitpunkten unter vereinbarten Regeln abgesprochen und dann einer möglichst für alle befriedigenden Regelung zugeführt.
12.4 Evaluationsergebnisse 12.4.1 Implementierung und Prozess-Evaluation Das Kindertraining wurde in acht Kindergärten mit 21 Trainingsgruppen durchgeführt. Insgesamt nahmen 178 Kinder teil. Die Inanspruchnahmerate (im Verhältnis zu den Kindern, die ein Trainingsangebot erhielten) war mit 93,7 % sehr
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hoch. Ähnliches gilt für die Teilnahme: 96 % der Kinder waren bei mindestens der Hälfte der Termine anwesend. Um die Qualität der Durchführung zu erfassen, wurde das Verhalten der Kinder nach jeder Stunde von den Kursleiterinnen danach beurteilt, ob sie gut mitgemacht haben und bei der Sache waren („relevantes On-Task-Verhalten“) oder sich störend verhielten (negatives „OffTask-Verhalten“). Die Kinder zeigten überwiegend programmbezogenes Verhalten. Der Mittelwert für das relevante On-Task-Verhalten über alle Sitzungen betrug 79,2 %. Das störende Off-Task-Verhalten lag im Mittel nur bei 7,2 %. Dies spricht für eine gelungene praktische Umsetzung (Implementierung) des Kindertrainings. Bei den Elterntrainings wurden zwölf Kurse durchgeführt. Acht Kurse wurden am Abend abgehalten, vier am Nachmittag mit begleitender Kinderbetreuung. An den Elterntrainings nahmen 163 Mütter und 48 Väter aus 170 Familien teil. Bezogen auf das Angebot an 255 Familien, entspricht dies einer Inanspruchnahmerate von 68,6 %. Bei 75 % der Familien wurde zumindest die Hälfte des Programms absolviert. Um die Teilnehmer-Zufriedenheit abzuschätzen, beurteilten die Eltern nach jeder Sitzung und am Ende des Kurses anonym verschiedene Aspekte des Trainings. Die Bewertungen legen ebenfalls eine adäquate Umsetzung nahe. Die Durchschnittsnoten betrugen bei den verschiedenen Kriterien zwischen „sehr gut“ und „gut“ und fielen bei der persönlichen Beurteilung der Trainerinnen am besten aus (vgl. Lösel et al., 2005). 12.4.2 Wirkungsevaluation Um die Wirkung der Kurse auf das Sozialverhalten der Kinder zu überprüfen, wurden die Gruppen, bei denen ein Training stattgefunden hatte, Kontrollgruppen ohne Intervention gegenübergestellt (siehe oben 12.2.). Die Trainings- und Kontrollgruppen waren hinsichtlich des Ausmaßes der Verhaltensprobleme vor dem Training vergleichbar. Die folgenden Ergebnisse beziehen sich auf jene Gruppe, bei der die Kinder oder Eltern an mindestens der Hälfte des jeweiligen Programms teilgenommen hatten. Dies waren 227 Kinder in den Trainingsgruppen und dementsprechend auch 227 Kinder in den Kontrollgruppen (vgl. Lösel et al., 2006). Aktuelle „Intent to treat-Analysen“, die auch die Abbrecher einbeziehen, kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Kurzfristige Effekte. Die Erzieherinnen beurteilten knapp ein Jahr vor der Durchführung sowie zwei bis drei Monate nach dem Abschluss der Präventionsprogramme anhand des „Preschool Social Behavior Questionnaire“ (Tremblay et al., 1992) das Sozialverhalten der Kinder. Während in der Kontrollgruppe das Ausmaß der Verhaltensprobleme insgesamt mit der Zeit leicht zunahm, ergab sich bei jenen Kindern, die selbst oder deren Eltern an einem Programm teilgenommen hatten, ein Rückgang (vgl. Abb. 1). Der Gesamteffekt der Prävention war statistisch signifikant, die Effektstärke (d = 0,30) liegt im mittleren Bereich (0,2 bis 0,5). Neben dem dargestellten Gesamt-Problemwert ergaben sich signifikante Effekte für die Teilbereiche Störungen des Sozialverhaltens, Hyperaktivität/Auf-
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14 13
Skalenwerte
12 11
vorher nachher
10 9 8
Trainingsgruppen
Ku rs e
ku be
id
e
rn te El
er nd Ki
rs
ku rs
se Ku r
be
id
e
rn te El
Ki
nd
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ku
ku rs
rs
7
Kontrollgruppen
Abbildung 1: Ausmaß der Verhaltensprobleme in den verschiedenen Trainingsgruppen und den entsprechenden Kontrollgruppen vor und nach den Trainings
merksamkeitsprobleme und emotionale Probleme. Kinder, die am Problemlösetraining teilgenommen hatten, wiesen aus der Sicht der Erzieherinnen insgesamt weniger Verhaltensprobleme auf als vorher und auch weniger als die Kinder der untrainierten Kontrollgruppe (Gesamteffekt d = 0,26). Das Elterntraining zeigte die geringsten und teilweise nicht signifikante Effekte auf das Verhalten der Kinder (Gesamteffekt d = 0,22). Bei der Kombination von Eltern- und Kindertraining fielen alle Unterschiede signifikant aus. Hier zeigten sich auch die größten Effektstärken (Gesamteffekt d = 0,39). Insgesamt bestand bei allen Kontrollgruppen eine Tendenz zu negativen Veränderungen im ersten Jahr (vgl. Lösel et al., 2006). Differentielle Effekte. Einschlägige Meta-Analysen legen nahe, dass sich in Gruppen mit höherem Risiko stärkere Effekte ergeben als in Gruppen mit geringerem Risiko (z. B. Farrington & Welsh, 2003; Lösel & Beelmann, 2003; Lösel et al., 2006). Wir haben deshalb eine differentielle Auswertung vorgenommen, in der die Trainings- und Kontrollgruppen jeweils nach dem Ausmaß der Verhaltensprobleme im Vortest eingeteilt wurden. Tatsächlich profitierten jene Kinder am meisten von den Präventionsprogrammen, die vorher mehr Verhaltensprobleme hatten. Die Vorher-Nachher-Differenzen in der letztgenannten Gruppe betrugen zwischen d = 0,25 (Elterntraining) und d = 0,66 (Kombiniertes Training). Dabei handelte es sich nicht nur um eine Regression zur Mitte, denn die Vorher-Werte korrelierten mit dem Ausmaß der Veränderung in den Trainingsgruppen wesent-
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lich stärker als in den Kontrollgruppen (vgl. Lösel et al., 2006). Das heißt, die größeren Effekte bei den Kindern mit mehr Problemen sind zumindest teilweise auf das Training zurückzuführen. Proximale Effekte. Neben dem Sozialverhalten der Kinder untersuchten wir auch die Auswirkungen des Trainings auf die direkt trainierten Inhalte. Diese waren im Kindertraining die Problemlösefähigkeiten und im Elterntraining das Erziehungsverhalten. Den Kindern wurden sowohl vor als auch nach dem Training Bilderserien präsentiert, auf denen jeweils Problemsituationen aus dem Alltag der Kinder dargestellt waren. Die Kinder sollten möglichst viele Handlungsalternativen für den dargestellten Konflikt generieren. Die Trainingskinder nahmen im Vergleich zur Kontrollgruppe die Konfliktszenarien nach dem Training differenzierter wahr, sie erwogen zahlreichere Handlungsalternativen und nannten mehr kompetente und weniger aggressive Problemlösungen (vgl. Beelmann & Lösel, 2005). Hinsichtlich des Erziehungsverhaltens konnten wir kleine bis moderate Effekte feststellen. Die Teilnehmer gaben nach dem Training signifikant mehr positive und weniger inkonsistente Erziehungsmerkmale an. Dies war sowohl bei den Müttern als auch bei den Vätern der Fall (vgl. Beelmann et al., 2006). Langfristige Effekte. In weiteren Auswertungen prüften wir, inwieweit die Trainingseffekte auch langfristig Bestand haben. Hierzu werteten wir die Grundschulzeugnisse der Kinder aus. Für 88 % unserer Evaluationsstichprobe konnten wir die Zeugnisse der ersten Grundschulklasse einsehen. Der Zeitabstand zwischen Training und den Zeugnisbeurteilungen variierte je nach Einschulungszeitraum der einzelnen Kinder und betrug bei den Jahreszeugnissen durchschnittlich mehr als zwei Jahre (M = 25,2 Monate; SD = 8,4). In einer Inhaltsanalyse erfassten wir die von den Lehrkräften genannten Probleme in verschiedenen Verhaltensbereichen (z. B. Konfliktverhalten, Umgang mit Regeln, Arbeitsverhalten, Aufmerksamkeit, Selbstständigkeit, soziale Integration). Obwohl die Zeugnisbemerkungen wegen ihrer Verstärkerfunktion weit überwiegend positiv formuliert sind, fanden sich bei den trainierten Kindern signifikant weniger solche Problemdiagnosen als in der Kontrollgruppe. In einer personenbezogenen Analyse haben wir nur solche Kinder betrachtet, die mehrere Probleme aufweisen. Tabelle 3 zeigt die Prozentraten von Kindern, bei denen die Lehrerinnen mehrere Verhaltensprobleme genannt hatten. Tabelle 3: Vergleiche zwei Jahre nach dem Training hinsichtlich des Anteils der Schüler mit mehreren Verhaltensproblemen Gruppe
Trainingsgruppen
Kontrollgruppen
Alle Trainings
4,4 %
9,2 %
Kindertraining
3,2 %
8,0 %
Elterntraining
5,0 %
7,8 %
Kombiniertes Training
5,1 %
11,8 %
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229
Bei allen Vergleichen gibt es in den Trainingsgruppen weniger „Problemkinder“. Wegen der geringen Prozentraten ist zwar nur die Differenz zwischen den großen Stichproben des Gesamtvergleichs tendenziell signifikant und die Effektstärken sind mit maximal d = 0,20 gering. Die Unterschiede sind aber durchaus praktisch relevant. Beim Kinderkurs liegt die Rate der Problemkinder um 60 % unter jener der Kontrollgruppe, beim Elternkurs um 36 %, beim kombinierten Kurs um 57 % und bei der gesamten Trainingsgruppe um 52 %. Dies zeigt, dass sich auch noch im schulischen Kontext und in nicht-reaktiven Aktendaten Auswirkungen der Präventionsprogramme nachweisen lassen.
12.5 Ausblick Die Ergebnisse sprechen für eine gelungene Umsetzung des EFFEKT-Präventionsprogramms. Sie lassen auch auf eine gute Akzeptanz bei den Teilnehmern schließen. Hinsichtlich der Wirksamkeit zeigte sich, dass die in EFFEKT enthaltenen Trainings nachweisbare Effekte auf die Kinder haben. Dies gilt für den zwei- bis dreimonatigen Zeitraum der Nacherhebung, aber auch noch für die Follow-up-Erhebung nach zwei Jahren in der Grundschule. Die Trainingsgruppen schnitten in allen Bereichen besser ab als die Kontrollgruppen. Die besten Effekte wurden im Nachtest bei der Kombination beider Maßnahmen beobachtet. Dies spricht dafür, Prävention möglichst multimodal zu betreiben (vgl. auch Conduct Problems Prevention Research Group, 2002; Kazdin et al., 1992). Da sich gerade bei solchen Kindern die Verhaltensprobleme verringert haben, bei denen sie vorher relativ ausgeprägt waren, sollten gerade jene Zielgruppen Präventionsmaßnahmen erhalten, bei denen ein besonderer Bedarf besteht. Das Ergebnis spricht aber nicht notwendig für einen indizierten und gegen einen universellen Präventionsansatz, denn die Hochrisiko-Gruppen sind schwer zu erreichen, fühlen sich teilweise bereits etikettiert und fallen öfter aus (vgl. Le Blanc, 1998; Lösel, 2002). Unser Befund bestätigt lediglich, dass bei universeller Prävention geringere Effektstärken zu erwarten sind als bei indizierten Programmen (vgl. Lösel & Beelmann, 2003; Lösel et al., 2006), da hier viele Personen trainiert werden, die sich auch ohne Training positiv entwickeln. Im Sinne von Public Health-Modellen können aber auch die niedrigeren Effektstärken universeller Maßnahmen durchaus das Risiko der Problemgruppen verringern (vgl. Coid, 2003). Insgesamt sind die Effektstärken in unserer Studie meist niedrig. Sie entsprechen damit den Befunden internationaler Meta-Analysen zu universellen Präventionsprogrammen in diesem Bereich (vgl. Beelmann, 2006; Farrington & Welsh, 2003; Lösel & Beelmann, 2003). Bei manchen proximalen Erfolgskriterien (direkt trainierte Aufgaben), wie den getesteten Problemlösefertigkeiten der Kinder, fallen sie auch höher aus. Hierbei handelt es sich aber um kein Alltagsverhalten. Wenn man in dem sich entwickelnden „Markt der Prävention“ die Ergebnisse zu manchen Programmen genau betrachtet, dann fallen in der Regel bei längerfristiger Evaluation und bei „harten“ Verhaltenskriterien die Effekte deutlich ab (vgl. Beelmann, 2006; Lösel et al., 2006). Man sollte deshalb gegenüber allzu rosigen Aussichten auf eine langfristige Wirkung skeptisch sein,
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denn bei den meisten Untersuchungen handelt es sich um kurzfristige, reaktive Erfolgsmessungen. Wenn aber, wie in unserer Studie, die Trainingsgruppe noch nach zwei Jahren nur etwa halb so viele „Problemkinder“ in der Schule aufweist wie die Kontrollgruppe, so ist auch ein statistisch geringer Effekt keineswegs praktisch unbedeutsam. Ermutigt durch solche Befunde haben wir damit begonnen, das Präventionsprogramm EFFEKT in der Praxis zu verbreiten. In Kooperation mit dem Roten Kreuz wurden inzwischen zahlreiche Trainer(innen) in ganz Deutschland für die Durchführung von EFFEKT-Kursen ausgebildet. Nach den Erfahrungen mit türkischen Eltern haben wir unser Training auch für diese Zielgruppe speziell adaptiert. Eine allgemeinere Version für Migranten („EFFEKT-Interkulturell“) ist in Vorbereitung. Auch das Kindertraining ist noch etwas mehr auf Kinder mit Migrationshintergrund zugeschnitten worden. In einer anderen Trainingsadaption geht es um Hilfen für depressive Mütter. Da man von relativ kurzen, punktuellen Trainings keine Wunderdinge erwarten kann, haben wir auch eine Auffrischung der Intervention im Grundschulalter vorgenommen (Booster-Training). Hierbei handelt es sich um eine komprimierte und adaptierte Version des PATHS-Curriculum aus dem Fast-Track-Programm (Greenberg et al., 1998). Ein Teil der Kinder, die das EFFEKT-Kindertraining oder deren Eltern das Elterntraining absolviert hatten, erhielten in der Grundschule zusätzlich dieses Training im Problemlösen, TIP (Lösel et al., 2004). In der bisherigen Evaluation zeigt sich, dass bei Kindern mit Trainingserfahrung im Kindergarten größere Verhaltensänderungen bestehen als bei den Kindern der Kontrollgruppe. Durch solche intensivierten Präventionsbemühungen lassen sich eventuell auch langfristig Effekte auf das kindliche Sozialverhalten aufrechterhalten. Unsere bisherigen Ergebnisse zu EFFEKT ermutigen in dieser Hinsicht, doch sind weitere Forschungen und Bestätigungen der Ergebnisse nötig. Den einen Königsweg oder gar einen Nürnberger Trichter gibt es in der Prävention sicher nicht. Anmerkung: Die Studie wurde durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert.
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13
Entwicklungsbezogene Prävention dissozialer Verhaltensprobleme: Eine Meta-Analyse zur Effektivität sozialer Kompetenztrainings Andreas Beelmann & Friedrich Lösel
Gliederung 13.1 13.2 13.3 13.4
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meta-analytische Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
235 237 237 248
13.1 Einführung Die weite Verbreitung aggressiver, delinquenter und krimineller Verhaltensprobleme unter Kindern und Jugendlichen sowie das relativ große Risiko einer Problemstabilisierung im Entwicklungsverlauf haben in den letzten Jahren dazu geführt, dass die Forschung zur entwicklungsbezogenen Prävention deutlich intensiviert wurde (vgl. z. B. Farrington & Coid, 2003; Loeber & Farrington, 1998, 2001; Peters & McMahon, 1996; Sherman et al., 2002; Welsh & Farrington, 2006). Vor allem Untersuchungen zu sogenannten „Frühstartern“ (Moffitt, 1993) haben zahlreiche Präventionsprogramme angeregt. Damit ist eine relativ kleine Gruppe von Kindern gemeint, die bereits früh im Entwicklungsverlauf auffällig wird und die einem erheblichen Risiko unterliegt, längerfristig delinquent und straffällig zu werden (Lösel & Bender, 2003; Moffitt et al., 1996; Patterson et al., 1998). Zwar zeigen neue Forschungsarbeiten, dass auch später einsetzende gravierende Problemverläufe möglich sind (Moffitt et al., 2002), dennoch weisen viele jugendliche Intensivtäter bereits in der Kindheit erhebliche Entwicklungsprobleme auf (Loeber et al., 1998). Derartige Entwicklungspfade sind in der Regel mit zahlreichen Problemen und Risiken bei den Kindern und im sozialen Umfeld verknüpft: Erziehungsmängel im Elternhaus, ein allgemein depriviertes Milieu, Impulsivität, Defizite in den neuropsychologischen Funktionen, Schulschwänzen und Schulversagen, Anschluss an delinquente Cliquen, deviante Einstellungen sowie letztlich ein Mangel an sozialen und anderen Kompetenzen, der die weitere Entwicklung negativ beeinflusst (Lösel & Bender, 2003).
236
A. Beelmann & F. Lösel
Entsprechend diesen vielfältigen Risikofaktoren gibt es unterschiedliche Präventionsansätze (Beelmann & Lösel, in Druck a; Lösel, 2004). Dazu gehören z. B. Erziehungsberatung, Elterntrainingskurse, Hausbesuche für junge Mütter, heilpädagogische Tagesstätten, Familientherapie, vorschul- oder schulbasiertes Kindertraining, Lehrertraining, multisystemische Therapie oder kombinierte Programme in der kommunalen Kriminalprävention (z. B. Beelmann, 2000; Beelmann & Raabe, in Druck; Farrington & Coid, 2003; Farrington & Welsh, 2003; Gottfredson, 2001; Loeber & Farrington, 2001; Lösel, 2004, Sherman et al., 2002). Relativ häufig werden Trainingsprogramme zur Förderung der sozialen Kompetenz für Kinder und Jugendliche durchgeführt. Solche Trainingsprogramme basieren hauptsächlich auf kognitiv-verhaltensorientierten Konzepten des sozialen Lernens und Problemlösens (z. B. Kazdin, 1996; Spence, 2003). Die Programme bestehen typischerweise aus einem strukturierten Ablauf mit einer begrenzten Anzahl von Sitzungen, bei denen nichtaggressive Formen der sozialen Wahrnehmung, angemessene Attributionen, Selbstkontrolle, Bewältigung von Ärger und Wut, Einfühlung in die Interaktionspartner, interpersonale Problemlösefertigkeiten und ähnliche Kompetenzen vermittelt werden sollen. Dies dient dazu, sozial kompetentes Verhalten in sozialen Interaktionen und Beziehungen zu fördern (Caldarella & Merell, 1997) und sozialen Verhaltensproblemen vorzubeugen. Soziale Kompetenztrainings sind durch die Grundlagenforschung zum sozialen Lernen, sozialen Problemlösen und zur sozialen Informationsverarbeitung theoretisch gut fundiert (vgl. Akhtar & Bradley, 1991; Bandura, 1977; Chang et al., 2004; Crick & Dodge, 1994; Lösel & Bliesener, 2003; McMurran & McGuire, 2005). Sie haben verglichen mit anderen Präventionsstrategien auch praktische Vorteile: Die Angebote erreichen relativ leicht die gesamte Zielpopulation (z. B. durch ein Training in der Schule), verursachen relativ geringe Kosten (z. B. als Gruppentraining durch den regulären Klassenlehrer), sind leichter umzusetzen als familienorientierte oder gemeindebezogene Programme und vermeiden eventuelle Stigmatisierungen. Letzteres gilt vor allem, wenn die Prävention universell angelegt ist, d. h. eine ganze Alterskohorte, Schule oder Schulklasse einbezogen wird. Aber auch dann, wenn man im Sinne der selektiven Prävention an spezifischen Risikogruppen ansetzt (z. B. bei Unterschichtkindern) oder sich im Sinne der indizierten Prävention auf Kinder mit bereits bestehenden Verhaltensproblemen konzentriert, scheint die Gefahr von Nebenwirkungen solcher umschriebener Kompetenztrainings geringer zu sein als bei anderen Maßnahmen (vgl. McCord, 2003). Übersichtsarbeiten zur Evaluation legen nahe, dass soziale Kompetenztrainings in der Regel positive Effekte haben und eine Erfolg versprechende Strategie zur Prävention von Delinquenz sein können (z. B. Ang & Hughes, 2002; Beelmann et al., 1994; Brestan & Eyberg, 1998; Denham & Almeida, 1987; Durlak & Wells, 1997; Greenberg, 2001; Kazdin, 1996; Wilson et al., 2001, 2003). Es gibt aber auch Probleme, die eine klare Aussage zur Wirksamkeit schwierig machen (vgl. Beelmann et al., 1994; Bullis et al., 2001; Gottfredson, 2001; Lösel, 2002; Taylor et al., 1999). So ist nur ein Teil der Wirkungsstudien methodisch stichhaltig angelegt. In zahlreichen Studien wird nicht speziell die
13 Entwicklungsbezogene Prävention dissozialer Verhaltensprobleme
237
Prävention von Delinquenz und Aggression untersucht. Die signifikanten Effekte werden teilweise nur in Kriterien gefunden, die eng an die Trainingsinhalte angelehnt sind (z. B. soziale Fertigkeiten in Testsituationen). Im dissozialen Alltagsverhalten sind dagegen weniger konsistente Effekte nachgewiesen. Dies gilt insbesondere für längerfristige Katamnesezeiträume bzw. Follow-up-Daten. Um die Wirksamkeit verschiedener Präventions- und Behandlungsmaßnahmen zur Delinquenz und Kriminalität systematischer zu untersuchen, initiiert die Crime and Justice Group der Campbell Collaboration (Farrington & Petrosino, 2001) seit einigen Jahren Meta-Analysen zu methodisch besonders aussagekräftigen Studien. Meta-Analysen sind nach dem derzeitigen Stand die beste Methode, um den wissenschaftlichen Kenntnisstand auf einem Gebiet möglichst umfassend, systematisch, unverfälscht und mit statistisch fundierten Methoden zu dokumentieren (vgl. Beelmann & Bliesener, 1994, Lösel, 1987). Im Folgenden berichten wir über die Ergebnisse aus einer dieser Arbeiten, die sich mit den präventiven Wirkungen sozialer Kompetenztrainings bei Kindern und Jugendlichen befasst. Dabei geht es speziell um die Prävention von Dissozialität.
13.2 Meta-analytische Methodik Wir wollen an dieser Stelle nur die wichtigsten Aspekte unseres methodischen Vorgehens skizzieren. Eine detailliertere Beschreibung findet sich in früheren Publikationen (vgl. insbesondere Lösel & Beelmann, 2003). 13.2.1 Auswahl der Studien Die analysierten Primärstudien wurden nach folgenden Kriterien ausgewählt: – Art des Programms: Die Studien mussten die Evaluation eines sozialen Kompetenztrainings zur Prävention dissozialen Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen enthalten. Studien mit zusätzlichen Programmkomponenten (z. B. Elterntraining, Lehrertraining oder Hausbesuche) wurden ausgeschlossen. Ebenfalls unberücksichtigt blieben Programme, die sich auf andere Verhaltensprobleme wie etwa Ängstlichkeit und sozialen Rückzug bezogen. – Studiendesign: Die Studie musste eine Behandlungs- und eine Kontrollgruppe haben, die in einem experimentellen (randomisierten) Design verglichen wurden. Obwohl Quasiexperimente grundsätzlich ausgeschlossen wurden, berücksichtigten wir stratifizierte Arten der Randomisierung, wie z. B. gruppen- oder blockweise Randomisierung, Kombination von Matching und Randomisierung (Randomisierung = Zuteilung zu den Gruppen nach Zufallskriterien; Matching = Zuteilung zu den Gruppen, so dass Übereinstimmung hinsichtlich wesentlicher Merkmale erreicht wird). In allen Studien mussten mindestens Vor- und Nachtestdaten vorliegen. – Alter: Die Personen in den Programm- und Kontrollgruppen durften nicht älter als 18 Jahre sein.
238
A. Beelmann & F. Lösel
– Präventiver Ansatz: Das Programm musste im engeren Sinne präventiv sein. Wir berücksichtigten sowohl primäre oder universelle Präventionsprogramme als auch Programme für spezielle Risikogruppen (selektive oder indizierte Prävention). Dementsprechend bezogen wir auch Programme ein, die für Kinder mit Störungen des Sozialverhaltens oder oppositionellem Trotzverhalten konzipiert waren, da es sich hier um Risikogruppen für die Delinquenzentwicklung handelt. Ausgeschlossen wurden dagegen Behandlungsprogramme für bereits verurteilte jugendliche Straftäter oder andere klinische Gruppen, da es sich hier um keinen präventiven Ansatz handelt. – Abhängige Variable: Die Studien mussten entweder über Ergebnisse zu einem Maß des dissozialen Verhaltens berichten (z. B. Selbstberichte, Elternberichte, Lehrerberichte, Berichte von Gleichaltrigen, direkte Verhaltensbeobachtungen, Aktendaten) oder über Ergebnisse zu Maßen der sozialen Kompetenz (etwa zu Interaktionsverhalten, prosozialem Verhalten oder sozial-kognitiven Fertigkeiten wie Selbstkontrolle oder soziales Problemlösen). Die Ergebnisse mussten ausreichend dokumentiert sein, um Effektstärken berechnen zu können. – Formale Aspekte der Publikation: Wir berücksichtigten alle verfügbaren publizierten und unpublizierten Berichte in englischer oder deutscher Sprache bis zum Jahr 2000. 13.2.2 Literaturrecherche Zur Identifikation relevanter Untersuchungen wurden multiple Suchstrategien eingesetzt. Zuerst wurde eine umfangreiche Recherche in elektronischen Datenbanken wie PSYCINFO, MEDLINE, ERIC und DISSERTATION ABSTRACTS durchgeführt. Dann wurden die Literaturlisten von einschlägigen Übersichtsarbeiten durchsucht. Eine weitere Datenquelle bildeten die Literaturangaben bereits identifizierter Primärstudien. Mittels dieser Strategien wurden 851 Artikel zu unserem Thema gefunden. Davon mussten 230 Berichte in einer ersten Runde ausgeschlossen werden, da sie ganz offensichtlich nicht den Selektionskriterien entsprachen. Die verbleibenden 621 Artikel (80 % publizierte und 20 % unpublizierte) wurden genauer analysiert. In einem schrittweisen Selektionsprozess (vgl. Lösel & Beelmann, 2003) verblieben schließlich 84 Forschungsberichte, die unsere Kriterien erfüllten (siehe Anhang). Da eine Reihe von Berichten mehr als eine Programm- und Kontrollgruppe oder separate Analysen für verschiedene Altersgruppen oder die beiden Geschlechter enthielten, konnten insgesamt 136 Vergleiche zwischen trainierten und untrainierten Gruppen erfolgen. Darin wurden insgesamt 16.723 Kinder untersucht, von denen 8.746 (52,3 %) zu den Programmgruppen gehörten. 13.2.3 Kodierung und Berechnung der Effektstärken Die Kodierung der Vergleiche wurde vom Erstautor und einer speziell für die Kodierung trainierten Studentin durchgeführt. Das detaillierte Kodierschema
13 Entwicklungsbezogene Prävention dissozialer Verhaltensprobleme
239
enthielt Merkmale der Publikation (z. B. Jahr, Herkunftsland), der Forschungsmethoden (z. B. Design, Follow-up), der Intervention (z. B. Art, Intensität, institutioneller Kontext) und der trainierten Kinder (z. B. Alter, Geschlecht, vorhandene Risikofaktoren). Eine Auswahl dieser Variablen findet sich im Ergebnisteil (vgl. Tab. 1). Um die Zuverlässigkeit der Kodierung zu überprüfen, wurde eine Teilstichprobe von 24 Vergleichen von zwei Auswertern kodiert. Die Übereinstimmung variierte je nach Kategorie zwischen 81 % und 100 %. Im Mittel betrug sie 96 %. Als ein einheitliches Maß der Effektstärke verwendeten wir den d-Koeffizienten nach Cohen (1988). Dabei wird die Differenz zwischen Vor- und Nachtest-Mittelwerten in der Behandlungs- und Kontrollgruppe durch die gemittelten Vortest-Standardabweichungen geteilt. Wenn die erforderlichen Mittelwerte und Standardabweichungen in der Primärstudie nicht angegeben waren, musste auf Rückrechnungs- und Schätzverfahren zurückgegriffen werden (siehe Lipsey & Wilson, 2001). Wurden nicht signifikante Ergebnisse ohne weitere Details berichtet, werteten wir dies als Nulleffekt. Zwar müssen nicht signifikante Ergebnisse nicht bedeuten, dass die Effektstärke null war (Weisburd et al., 2003), doch ist bei fehlenden statistischen Angaben eine solche konservative Schätzung angemessen. 13.2.4 Integration und statistische Analyse In einigen Vergleichen zwischen Trainings- und Kontrollgruppen wurden die Effekte nicht unmittelbar nach dem Training, sondern einige Monate später gemessen. Andere Studien enthielten dagegen unmittelbare Nacherhebungen sowie Follow-up-Untersuchungen nach Zeitintervallen, die zum Teil kürzer waren als die ersten Messungen anderer Studien. Wir schufen deshalb eine einheitliche Zeitmetrik mit zwei Kategorien: Jede Effektstärke, die sich auf Messungen bis zu drei Monaten nach der Intervention bezog, wurde als Post-Effekt betrachtet. Alle späteren Messungen wurden unter die Follow-up-Kategorie subsumiert. Es ergaben sich 509 Post-Effektstärken (81,3 %) und 117 Follow-up-Effektstärken (18,7 %). Für jede nicht redundante Erfolgsvariable berechneten wir einzelne Effektstärken, die inhaltlich zwei groben Ergebniskategorien (soziale Kompetenz und dissoziale Verhaltensprobleme) zugeordnet wurden. Dann wurden die verschiedenen Effekte innerhalb dieser Kategorien und für den Gesamteffekt des Vergleichs auch über die beiden Ergebniskategorien hinweg zusammengefasst. Dementsprechend gab es pro Vergleich nur eine Effektstärke für jede Ergebniskategorie und den Gesamteffekt (jeweils getrennt nach den beiden Messzeitpunkten). Damit war ausgeschlossen, dass Studien mit zahlreichen Effektkriterien stärker gewichtet eingingen als solche mit nur einem Effektmaß. Die Berechnung der zusammenfassenden Effektstärken über die Vergleiche hinweg erfolgte nach dem Modell von Hedges und Olkin (1985). Dabei werden die Studieneffektstärken bei der Integration mit ihrem Stichprobenumfang gewichtet. Zuerst wandten wir bei der Integration der Einzeleffekte das FixedEffekt-Modell an (vgl. Lipsey & Wilson, 2001). Da die meisten Verteilungen der
240
A. Beelmann & F. Lösel
Effektstärken heterogen waren, wurde schließlich das Random-Effekt-Modell zur Schätzung der Populationseffektstärke herangezogen (vgl. Lipsey & Wilson, 2001). Dieses Modell verwendeten wir auch in allen Analysen von Moderatoren der Effektstärken (siehe Tabellen).
13.3 Ergebnisse 13.3.1 Beschreibung der Studien Tabelle 1 enthält eine Auswahl von deskriptiven Merkmalen der 84 Forschungsberichte und der 136 Trainings-/Kontrollgruppen-Vergleiche. Tabelle 1: Deskriptive Merkmale der analysierten 84 Forschungsberichte und 136 Vergleiche zwischen Trainings- und Kontrollgruppen
Allgemeine Studienmerkmale a
Methodische Merkmale
Studienmerkmale
Kategorien
Häufigkeit
Prozent ( %)
Publikationsjahr
Bis 1980 1981–1990 1991–2000
19 39 26
22,6 46,4 31,0
Publikationsart
Fachzeitschriften Monographien Unveröffentlicht
78 2 4
92,9 3,6 7,3
Land
USA Kanada Andere
71 8 5
84,5 9,5 5,9
Stichprobengröße
< 30 30–49 50–149 150–500 500
58 43 16 15 4
42,6 31,6 11,8 11,0 2,9
Zeitpunkte der Effektmessung b
Nach dem Training (Post) Post und Follow–up Nur Follow–up
102
75,0
25 9
18,4 6,6
Zeitpunkt der letzten Nachuntersuchung
Bis 1 Monat 1 – 2 Monate 3 – 6 Monate c 12 Monate c mehr als 12 Monate c
50 5 17 11 6
60,7 4,5 12,3 12,3 5,6
Durchschnittliche Dropout-Rate
Bis 5 % 5 – 10 % 11 – 20 % mehr als 20 %
82 12 27 15
60,3 8,8 19,9 11,0
13 Entwicklungsbezogene Prävention dissozialer Verhaltensprobleme
241
Tabelle 1 (Fortsetzung)
Merkmale der Programme
Studienmerkmale
Kategorien
Häufigkeit
Prozent ( %)
Art des Trainings
Verhaltensorientiert Kognitiv Kognitiv–behavioral Beratung, Therapie, usw.
38 29 48 21
27,7 21,3 35,3 15,4
Anzahl der Sitzungen
Bis 10 11 – 30 31 – 60 > 100 Keine Angaben
56 46 22 1 11
44,8 33,8 16,2 0,7 8,1
Programmdauer
Bis 1 Monat 1 – 2 Monate 2 – 4 Monate 4 – 6 Monate 6 – 12 Monate > 12 Monate Keine Angaben
24 46 38 12 11 2 3
18,0 31,8 27,9 8,8 8,1 1,5 2,2
Trainingsformat
Individuelles Training Gruppentraining Individuelles + Gruppentraining Selbstlernbedingung Individuelle Betreuung
14 106 8
10,3 77,9 5,9
3 5
2,2 3,7
Vorschule, Kindergarten Schule Klinik, Sondereinrichtungen Gemeinde Andere
10
7,4
101 9
74,2 6,6
6 10
4,4 7,4
31 35
22,8 25,7
22
16,2
30 4 14
22,1 2,9 10,3
Institutioneller Kontext
Trainer
Lehrer Psychosoziales Fachpersonal Studienautoren, Forscher Trainierte Studenten Andere Keine Angaben
242
A. Beelmann & F. Lösel
Tabelle 1 (Fortsetzung)
Merkmale der Klientel
Studienmerkmale
Kategorien
Häufigkeit
Prozent ( %)
Alter (in Jahren)
4–6 7–9 10 – 12 13 – 18
26 54 38 8
19,1 39,7 27,9 13,2
Geschlecht ( % männlich)
0 40 – 59 60 – 79 80 – 99 100 Keine Angaben
7 44 28 18 24 15
5,1 32,4 20,6 13,2 17,6 11,0
Präventionstyp
Universell Selektiv Indiziert
31 54 51
22,8 39,7 37,5
Anmerkungen: a Angaben basieren auf 84 Forschungsberichten, b Post = alle Effekte bis 3 Monate nach der Intervention; Follow-up = alle Effekte, die 3 Monate oder länger nach der Intervention gemessen wurden, c Mangels Kontrollgruppendaten konnten nicht alle Follow-up-Messungen berücksichtigt werden.
Der weitaus überwiegende Teil der Untersuchungen wurde in den letzten 20 Jahren in den Vereinigten Staaten durchgeführt und in Fachzeitschriften veröffentlicht. Der für eine umfassende Meta-Analyse relativ geringe Anteil unpublizierter Berichte hat möglicherweise damit zu tun, dass wir uns auf Studien mit einem hohen methodischen Standard (Randomisierung der Versuchsgruppen) beschränkten. Tabelle 1 macht aber auch einige Forschungsdefizite deutlich. Wie in anderen Interventionsbereichen hatten die meisten Vergleiche Stichproben, die kleiner als 50 waren. Noch größer war der Anteil an Untersuchungen, die keine Follow-up-Erhebung vornahmen (75 %). So wurden nur in fünf Vergleichen mehr als ein Jahr nach Beendigung der Intervention Daten erhoben und nur in einer dieser Studien wurden die Daten so dokumentiert, dass eine Effektstärkenberechung vorgenommen werden konnte. Besser war die Bilanz hinsichtlich des Ausfalls von Teilnehmern während der Studie (Dropout-Rate). In über 60 % der Studien lag die Rate unter 5 % und stellte somit nur eine geringe Gefährdung der Aussagefähigkeit dar. Fast 85 % der Programme waren verhaltenstherapeutisch und/oder kognitiv-behavioral orientiert. Dies ist insofern plausibel, als soziale Trainingsmaßnahmen historisch vor allem im Kontext lerntheoretischer Ansätze entwickelt wurden (vgl. Spence, 2003). Am häufigsten waren kombinierte Ansätze, die sowohl auf die Veränderung problematischer sozialer Denkmuster als auch auf die Förderung konkreten Sozialverhaltens ausgerichtet waren. Andere Programme, wie beratende Interventionen, psychotherapeutische Hilfen oder intensive Betreuungsprogramme, wurden seltener untersucht. Die meisten Programme waren
13 Entwicklungsbezogene Prävention dissozialer Verhaltensprobleme
243
nicht sehr intensiv. Fast die Hälfte umfasste nicht mehr als 10 Trainingssitzungen und/oder dauerte nicht länger als zwei Monate. Das typische Trainingsformat war ein in Schulen durchgeführtes Gruppentraining. Etwa ein Viertel der Trainer war psychosoziales Fachpersonal; die nächst größte Gruppe stellten die Lehrer dar, gefolgt von Mitgliedern der Forscher-Teams. Das durchschnittliche Alter der trainierten Kinder variierte zwischen 4 und 18 Jahren. Mehr als 85 % der Vergleiche bezog sich auf Kinder unter 12 Jahren. Studien mit Jugendlichen waren sehr selten. Dies bestätigt den präventiven Schwerpunkt der Programme. Die meisten Studien enthielten gemischte Stichproben aus Jungen und Mädchen. Entsprechend ihren höheren Prävalenzraten bei Aggression und Delinquenz waren aber Jungen in den Studien deutlich stärker repräsentiert. Programme für Kinder mit bereits bestehenden dissozialen Verhaltensproblemen (indizierte Prävention) oder für Kinder mit anderen Risikofaktoren (selektive Prävention) waren häufiger als Programme für nicht ausgelesene Gruppen (universelle Prävention). 13.3.2 Allgemeine Wirksamkeit und Wirksamkeit nach Erfolgskriterien Insgesamt konnten 509 einzelne Effektstärken für die Postinterventionsmessung und 117 Effektstärken für die Follow-up-Beurteilung berechnet werden. Der ungewichtete Mittelwert der Postmessung lag bei d = 0,39 (Post-Messung) mit einer Bandbreite von -1,89 bis 4,91. Dabei waren 16,1 % der Effektstärken negativ, favorisierten also in der Post-Messung die Kontrollgruppe. Der ungewichtete Mittelwert der Follow-up-Effektstärken lag bei d = 0,38 mit einer Bandbreite von -2,39 bis 4,33. Die statistisch zuverlässigeren gewichteten Gesamteffektstärken sind in Tabelle 2 zusammengestellt. Da bei der Integration der Effektgrößen nach dem Modell von Hedges und Olkin (1985) sowohl bei der Posttestmessung (χ2 (df = 126) = 283,23, p < 0,001) als auch der Follow-up-Messung (χ2 (df = 34) = 82,20, p < 0,001) signifikante Heterogenität auftrat, mussten wir davon ausgehen, dass die Varianz der Effektstärken zwischen den Untersuchungen so groß war, dass sie nicht mehr allein auf Stichprobenfehler zurückzuführen war. Insofern gingen wir bei den folgenden Analysen nach dem Random-Effekt-Modell vor, das in diesen Fällen angemessener ist (vgl. Lipsey & Wilson, 2001). Nach diesem Modell lag der Gesamteffekt aller 127 Posttest-Vergleiche bei d = 0,39, der entsprechende Follow-up Effekt bei d = 0,28. Beide Effekte waren signifikant von Null verschieden, zeigten also substanzielle Wirkungen der Programme an. Dies galt auch, wenn wir die Wirkungen danach differenzierten, welche Erfolgsvariablen zugrunde gelegt wurden (vgl. Tab. 2). Sowohl bezogen auf Maße der sozialen Kompetenz, als auch bezogen auf dissoziale Verhaltensprobleme waren die Effekte kurz nach den Trainings und im Follow-up statistisch bedeutsam. Allerdings zeigten die Analysen, dass die Kennwerte stärker bei Maßen der sozialen Kompetenz waren und schwächer bei den Verhaltensproblemen ausfielen. Insgesamt ließ auch die Wirksamkeit mit der Zeit etwas nach.
244
A. Beelmann & F. Lösel
Tabelle 2: Durchschnittliche Effekte der Trainings auf die Förderung der sozialen Kompetenz und die Prävention dissozialen Verhaltens Erfolgskriterien
Anzahl der Einzeleffekte
k
Gewichtete mittlere Effektstärke d a
Postintervention Soziale Kompetenz
319
92
0,43b
Dissoziales Verhalten
190
82
0,29b
Gesamt
509
127
0,39b
Follow-up Soziale Kompetenz
71
24
0,31b
Dissoziales Verhalten
46
20
0,20b
117
34
0,28b
Gesamt
Anmerkungen: k = Anzahl der Trainings-/Kontrollgruppenvergleiche, a Berechnet nach dem Random-EffektModell, b Effektstärke ist signifikant von Null verschieden.
Ergänzend zu den Inhalten der Erfolgskriterien verglichen wir die Wirksamkeit auch danach, welche Methoden und welche Informanten bei den Erhebungen eingesetzt wurden. Diese Ergebnisse waren vor allem in Bezug auf dissoziales Verhalten bedeutsam (vgl. Lösel & Beelmann, 2006). So erzielten in diesem Bereich Eltern- und Expertenbefragungen die höchsten Posttest-Effekte (d = 0,55 bzw. 0,36), während Selbstberichte und Aktendaten (z. B. Gerichtsund Polizeidaten) deutlich geringere Wirkungen der Programme anzeigten und nicht signifikant waren (d = 0,16 bzw. 0,23). Bei den verschiedenen Erhebungsinstrumenten waren die Effektstärken bei Verhaltensbeobachtungen höher (d = 0,48) als bei standardisierten Fragebögen und anderen Datenquellen (Tests u. a.; d jeweils 0,23). Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass nicht nur die Inhalte sondern auch die Methoden und Informanten der Erfolgsmessung einen Einfluss auf Programmeffekte haben. Aus unserem Datensatz können wir den Schluss ziehen, dass insbesondere Selbstberichte und Offizialdaten sowie Ergebnisse aus standardisierten Erhebungsinstrumenten geringere Effekte im dissozialen Verhalten anzeigen. 13.3.3 Analyse von Moderatoren des Erfolgs Selbstverständlich interessierten wir uns auch für die Frage, ob zum Beispiel bestimmte Programme effektiver oder ob einzelne Trainings besser für bestimmte Gruppen geeignet waren. Aus Platzgründen werden an dieser Stelle jedoch nicht alle durchgeführten Analysen zu den Variablen aus Tabelle 1 dargestellt, sondern nur eine Auswahl, die praktisch besonders relevant ist (vgl. umfangreicher Lösel & Beelmann, 2003, 2005, 2006). Dabei handelt es sich um die Art der Programme, die Intensität der Trainings, die Trainer, das Alter der Kinder und die
0,07 0,12 0,53a
Präventionstyp Universell Selektiv Indiziert 13 27 42
16 50 15
44 27
24 49 9
25 15 26 16
k
0,45a 0,40a 0,44a
0,43a 0,40a 0,67a
0,34a 0,53a
0,43a 0,42a 0,60a
0,50a 0,47a 0,41a 0,30
d
23 33 36
18 61 13
42 36
39 49 4
22 21 41 8
k
0,36a 0,31a 0,49a
0,33a 0,38a 0,51a
0,33a 0,47a
0,39a 0,38a 0,46a
0,34a 0,41a 0,43a 0,37a
d
30 46 51
24 85 18
60 50
48 69 10
37 25 48 17
k
-0,05 0,15 0,48a
0,12 0,17 0,78a
0,23a 0,20
0,12 0,17 0,30a
0,12 -0,06 0,50a 0,16
d
2 10 8
1 17 2
13 5
3 11 6
4 3 7 6
k
0,14 0,30a 0,40a
0,72a 0,24a —
0,28a 0,37a
0,22 0,34a —
0,34a 0,41a 0,27a 0,30
d
4 10 10
5 19 —
15 8
5 19 —
4 8 11 1
k
0,15 0,23a 0,41a
0,60a 0,22a 0,78a
0,27a 0,34a
0,22 0,31a 0,30a
0,17 0,36a 0,37a 0,17
d
Gesamt
4 18 12
6 26 2
21 10
7 21 6
5 9 14 6
k
Anmerkungen: k = Anzahl der Trainings-/Kontrollgruppen-Vergleiche, a Effektstärken sind signifikant von Null verschieden (p < 0,05), b Kodierung: gering = bis 10 Sitzungen oder zwei Monate Gesamtdauer, mittel = 11 bis 40 Sitzungen oder drei bis acht Monate Gesamtdauer, hoch = mehr als 40 Sitzungen oder acht Monate Gesamtdauer.
0,19 0,24a 0,61a
Alter der Kinder 4 – 6 Jahre 7 – 12 Jahre 13 – 18 Jahre
0,33a 0,24a
0,20 0,31a 0,46a
Programm-Intensitätb Gering Mittel Hoch
Trainer Lehrer, psychosoziale Praktiker Autoren, Projektmitarbeiter, Studenten
0,14 0,14 0,49a 0,38a
d
Soziale Kompetenz
Dissoziales Verhalten
Gesamt
Dissoziales Verhalten
Soziale Kompetenz
Follow up-Effekte
Posttest-Effekte
Art des Trainings Verhaltensorientiert Kognitiv Kognitiv-behavioral Beratung, Therapie, andere
Moderator
Tabelle 3: Einfluss verschiedener Moderatoren auf die Wirksamkeit sozialer Kompetenztrainings 13 Entwicklungsbezogene Prävention dissozialer Verhaltensprobleme 245
246
A. Beelmann & F. Lösel
Art der Prävention. Tabelle 3 zeigt die entsprechenden Effektstärken jeweils für die soziale Kompetenz und das dissoziale Verhalten sowie den Gesamteffekt. Bei den Ergebnissen im Posttest wurden substanzielle und tendenziell signifikante Unterschiede zwischen den vier Behandlungskategorien gefunden (χ2 (df = 3) = 7,11, p < 0,06). Danach waren kognitiv-behaviorale Programme am erfolgreichsten. Nur sie hatten signifikante Ergebnisse sowohl bei der Förderung sozialer Kompetenz als auch bei der Prävention dissozialen Verhaltens. Beratungsprogramme, Tagesbetreuung und sonstige Behandlungsansätze hatten ebenfalls einen signifikanten Gesamteffekt im Posttest. Längerfristig nahm die Wirksamkeit jedoch deutlich ab und war vor allem im Hinblick auf dissoziales Verhalten nicht mehr signifikant. Vergleichsweise schlechte Erfolgsbilanzen wiesen reine Verhaltenstrainings oder rein kognitive Programme auf. Intensive Programme erzielten die größten durchschnittlichen Effektstärken, vor allem bezogen auf dissoziales Verhalten im Follow-up. Die Unterschiede zwischen Programmen mit geringerer, mittlerer oder hoher Intensität waren aber nicht signifikant (p > 0,10). Die Ergebnisse für verschiedene Trainergruppen fielen zumindest tendenziell unterschiedlich aus (χ2 (df = 1) = 2,82, p < 0,09). Wenn Autoren, Projektmitarbeiter und supervidierte Studenten als Trainer arbeiteten, waren die Effekte etwas größer als bei Lehrern und anderen Praktikern. Dies galt aber nur im Hinblick auf die soziale Kompetenz. Beim Alter der Programmteilnehmer zeigten sich keine signifikanten Unterschiede in der Gesamteffektivität im Posttest. Programme mit älteren Kindern hatten allerdings größere Posteffekte für dissoziales Verhalten (χ2 (df = 2) = 6,08, p < 0,05). Ein ähnliches Ergebnis, das aber nur auf zwei Untersuchungen basierte, zeigte sich auch im Follow-up. Im Follow-up unterschieden sich die Altersgruppen auch insgesamt (χ2 (df = 1) = 16,59, p < 0,001). Hier schnitten die älteste und die jüngste Gruppe besonders gut ab. Für letztere konnte vor allem ein signifikanter Langzeiteffekt auf die soziale Kompetenz nachgewiesen werden (d = 0,72). Der tendenzielle Effekt des Alters der Kinder steht möglicherweise in Zusammenhang mit der Art der Prävention, da sich die meisten Vergleiche mit älteren Kindern auf indizierte Präventionsprogramme bezogen. Dieser Ansatz hatte stärkere Effekte auf das dissoziale Verhalten als andere Präventionsstrategien, und zwar sowohl im Posttest (χ2 (df = 2) = 13,25, p < 0,01) als auch im Follow-up (χ2 (df = 2) = 4,84, p < 0,05). Universelle und selektive Präventionsmaßnahmen hatten dagegen nur signifikante Effekte in Maßen der sozialen Kompetenz, wobei sich dieser Effekt bei universellen Maßnahmen im Follow-up nicht bestätigen ließ. Die meisten anderen Moderatoranalysen zu methodischen und inhaltlichen Variablen erbrachten nicht signifikante Ergebnisse (vgl. Lösel & Beelmann, 2003, 2005, 2006). Eine wichtige Ausnahme war allerdings die Stichprobengröße, die (trotz Gewichtung der Effektstärke mit dieser Variablen) einen negativen Zusammenhang mit der Wirksamkeit zeigte (χ2 (df = 2) = 6,20, p < 0,06). Studien mit geringen Stichprobenumfängen (bis n = 30) hatten die höchsten Effekte (d = 0,50, k = 66 Vergleiche), Studien mit Stichproben über 100 Kindern und Jugendlichen die geringsten Effekte (d = 0,25, k = 15). Studien mit Stichprobengrößen
13 Entwicklungsbezogene Prävention dissozialer Verhaltensprobleme
247
zwischen 30 und 100 lagen dazwischen (d = 0,34, k = 46). Diese Ergebnisse fanden sich auch für das Follow-up und galten nicht nur für den Gesamteffekt, sondern auch für die beiden Ergebniskategorien (soziale Kompetenz und dissoziales Verhalten). 13.3.4 Vergleich zu Ergebnissen anderer Meta-Analysen In den letzten Jahren sind zahlreiche Meta-Analysen zu Präventionsprogrammen dieser und anderer Art erschienen (vgl. Beelmann, 2006), die sich zu einem großen Teil mit der Wirksamkeit in der Dissozialitätsprävention befassten. Tabelle 4 fasst Ergebnisse dieser Arbeiten zusammen (vgl. Beelmann & Lösel, im Druck b). Tabelle 4: Übersicht zu den Ergebnissen (Posttest-Effekte) ausgewählter Meta-Analysen zur Prävention dissozialen Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen Autoren
Maßnahmen
Mittlere ES
Anzahl der Studiena
Ang & Hughes (2002)
Training sozialer Kompetenz (nur gezielte Prävention und Behandlung)
0,62
41
Beelmann & Bogner (2005)
Elterntraining (alle Präventionsarten und Behandlung)
0,64
110 (75)
Farrington & Welsh (2003)
Familienorientierte Kriminalitätsprävention (alle Präventionsarten)
0,22b
40 (39)
Lundahl, Risser & Lovejoy (2006)
Elterntraining (gezielte Prävention und Behandlung)
0,47c
83 (63)
Serketich & Dumas (1996)
Elterntraining (indizierte Prävention und Behandlung)
0,65c
36 (26)
Tremblay & Craig (1995); Tremblay & Japel (2003)
Entwicklungsbezogene Kriminalitätsprävention (universelle und gezielte Prävention)
0,09bc
49
Tremblay, LeMarquand & Vitaro (1999)
Alle Präventionsprogramme mit Ein-Jahres-Follow-up (universelle und gezielte Prävention)
0,24bc
20
Wilson, Gottfredson & Najaka (2001)
Schulbasierte Delinquenz- und Suchtpräventionsprogramme (alle Präventionsarten)
0,10bc
216 (165)
Wilson, Lipsey & Derzon (2003)
Schulbasierte Prävention von aggressivem Verhalten (alle Präventionsarten)
0,25b
221
Anmerkungen: ES = Effektstärke, a Der aufgeführte Studienpool ergibt sich aus der Anzahl der Treatment-/Kontrollgruppen-Vergleiche als Analyseeinheit. In Klammern ist (soweit verfügbar oder abweichend) die Zahl der Studien/Publikationen angegeben, b Es wurden nur Dissozialitätsmaße integriert, c Werte beziehen sich auf Schätzungen, da keine mittleren Effektstärken angegeben wurden.
248
A. Beelmann & F. Lösel
Die mittleren Posttest-Effektstärken in den aufgeführten Arbeiten zeichnen insgesamt ein sehr heterogenes Bild. Sie variieren von nahe Null bis zu 0,65. Analysen vergleichbarer Arbeiten zu sozialen Trainingsprogrammen kommen teilweise zu höheren (Ang & Hughes, 2002), teilweise zu geringeren Effektivitätsschätzungen (Wilson et al., 2001, 2003). Wie in anderen Interventionsfeldern kommt es offenbar darauf an, welche Zielgruppen betrachtet und welche Erfolgsmaße zugrunde gelegt werden. Allgemeine Wirksamkeitsparameter können daher nur ein sehr grobes Bild der Verhältnisse liefern. Mit den Ergebnissen von eltern- und familienorientierten Maßnahmen sowie umfangreichen Programmen der Frühintervention (vgl. Beelmann & Bogner, 2005; Farrington & Welsh, 2003; Serketich & Dumas, 1996; Tremblay et al., 1999) sind die Effekte von sozialen Trainingsprogrammen durchaus vergleichbar, zumindest wenn kurzfristige Erfolgsmessungen zugrunde gelegt werden. Teilweise werden aber bei diesen Interventionen deutlich längere Follow-up-Erhebungen durchgeführt (vgl. insbesondere Farrington & Welsh, 2003; Tremblay et al., 1999). Allerdings sind auch dabei Programme mit langfristig positiven Effekten die Ausnahme (vgl. z. B. das Perry Preschool Project, Schweinhart et al., 2005, mit über 35-jährigen Katamnesen).
13.4 Diskussion Das wichtigste Ergebnis unserer systematischen Integration der vorliegenden Forschung ist der insgesamt positive Effekt sozialer Trainingsprogramme. Es wird die soziale Kompetenz der Kinder und Jugendlichen durch solche Programme nachweisbar gefördert und das Ausmaß dissozialen Verhaltens verringert sich. Mit 127 Vergleichen zwischen trainierten und untrainierten Gruppen und einem gesamten Stichprobenumfang von über 16.000 Kindern und Jugendlichen hat dieser Befund eine solide Datenbasis. Die durchschnittlichen Gesamteffekte von d = 0,39 (Posttest) und d = 0,28 (Follow-up) sind ähnlich denen aus familiären Programmen zur Delinquenzprävention (Farrington & Welsh, 2003) und liegen über den Effekten der späteren Behandlung junger Straftäter (Lösel, 1995, 2001b). Ein d-Koeffizient von 0,39 entspricht etwa einer Korrelation von r = 0,20. Dies kann grob so interpretiert werden, dass in der Behandlungsgruppe etwa 20 Prozent mehr positive Ergebnisse auftreten als in der Kontrollgruppe. Da viele Kindertrainingsprogramme relativ kurz sind und im Gruppenformat angeboten werden, können sich die kleinen Effekte unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten durchaus auszahlen (Welsh & Farrington, 2001). Der längerfristige kriminalpräventive Nutzen solcher Programme muss aber vermehrt in Langzeituntersuchungen überprüft werden. Insgesamt lässt die Wirksamkeit mit der Zeit etwas nach und die wenigen bisherigen Primärstudien mit einer Nachbeobachtung von mehr als einem Jahr zeigen noch keine konsistenten Ergebnisse (z. B. Dishion & Andrews, 1995; Hundert et al., 1999; Kazdin et al., 1987; Lochman et al., 1993; Michelson et al., 1983). Bei anderen Studien mangelt es an aussagekräftigen Daten. Eine weitere Einschränkung betrifft das Ergebnis, dass die Effekte auf dissoziales Verhalten insgesamt geringer ausfallen als die Effekte in Maßen der sozi-
13 Entwicklungsbezogene Prävention dissozialer Verhaltensprobleme
249
alen Kompetenz. Dies ist insofern plausibel, als die hier trainierten Gruppen oft noch kein ausgeprägtes Problemverhalten zeigen. Auch ist bei Maßen der sozialen Kompetenz oftmals kein Transfer der Lerninhalte in den Alltag erforderlich. Teilweise werden in dieser Kategorie Erfolgskriterien erhoben, die sehr eng an die Trainingsinhalte angelehnt sind. Die geringeren Effekte im aggressiven, delinquenten oder sonstigen dissozialen Alltagsverhalten stehen auch im Einklang mit anderen Meta-Analysen (z. B. Beelmann et al. 1994; Wilson et al., 2001, 2003) sowie groß angelegten Einzelstudien wie dem Fast Track Projekt (Conduct Problems Prevention Research Group, 1999, 2002). Gerade im Hinblick auf die Kriminalprävention müssen aber auch die nicht signifikanten Ergebnisse bei den offiziellen Quellen und den Selbstberichten zur Delinquenz betont werden. Denn dies sind gerade jene Daten, die in der Forschung zur Jugendkriminalität am meisten verwendet werden (z. B. Loeber et al., 1998). Erfolgskriterien aus Polizei- und Gerichtsakten wurden bei der Evaluation präventiver Kompetenztrainings bislang viel zu selten herangezogen. Wir fanden z. B. keine einzige solche Studie mit Follow-up. Natürlich muss dabei der Schwerpunkt der entwicklungsbezogenen Prävention im Kindesalter berücksichtigt werden. Der Mangel an offiziellen Daten ist aber zugleich ein Ausdruck fehlender Langzeitstudien, bei denen diese Erfolgskriterien wichtiger würden. Wir brauchen deshalb dringend längerfristige Evaluationen von Kindertrainingsprogrammen mit umfassenden Erhebungen verschiedener Erfolgsmaße. Dabei darf man natürlich von einmaligen kurzen Trainings keine unrealistischen Langzeitwirkungen erwarten. Unsere Daten zur Intensität der Programme deuten tendenziell auch an, dass umfangreiche Hilfen erfolgreicher sind. Deshalb ist es sinnvoll, die Programmintensität zu staffeln und z. B. frühere Lerneffekte im Kindergarten durch spätere Angebote in der Schule zu festigen oder aufzufrischen (vgl. Beelmann, 2000; Lösel et al., 2006). Eine weitere wichtige Botschaft unserer Arbeit ist die große Bandbreite der Ergebnisse. Neben überwiegend positiven Effekten konnten wir auch negative oder Null-Effekte feststellen (vgl. Lösel & Beelmann, 2003). Die Studien, in denen die Kontrollgruppe besser abschnitt als die Trainingsgruppe sind eine wichtige Mahnung: Gute Absichten allein reichen nicht aus. Auch wenn etwas gut gemeint ist, kann es unerwünschte Wirkungen haben (vgl. Dishion et al., 1999; McCord, 2003). Deshalb muss man bei der Auswahl und Durchführung von Programmen sehr sorgfältig die vorhandene empirische Datenbasis prüfen sowie die teilweise signifikanten Einflüsse von Erfolgsmoderatoren berücksichtigen. Unsere Daten deuten zum Beispiel darauf hin, dass einige Interventionen erfolgreicher sind als andere. Insbesondere kognitiv-behaviorale Programme zeigten konsistent signifikante Effekte, sowohl insgesamt als auch hinsichtlich der verschiedenen Erfolgskriterien. Diese Ergebnisse können auch als relativ zuverlässig gelten, weil sie auf der größten Zahl von Primärstudien basieren. Das positive Ergebnis kognitiv-behavioraler Kindertrainingsprogramme steht ebenfalls im Einklang mit der Evaluation der Straftäterbehandlung (z. B. Lipsey & Wilson, 1998; Lösel, 1995, 2001b). Dass rein kognitive Trainings oder reine Verhaltenstrainings geringere Effekte haben, zeigt die Notwendigkeit eines multimodalen Ansatzes in der Prävention (vgl. Beelmann, 2000; Lösel, 2004; Yoshi-
250
A. Beelmann & F. Lösel
kawa, 1994). Die Multimodalität könnte auch ein Grund dafür sein, dass die eher heterogenen Betreuungs-, Beratungs-, Therapie- und sonstigen Programme bei einigen Erfolgskriterien einen positiven Effekt hatten. Ein weiterer Grund dürfte darin liegen, dass sie teilweise durchaus strukturierte Elemente des kognitiv-behavioralen Ansatzes enthalten (z. B. Big Brothers/Big Sisters Program; Grossman & Tierney, 1998). Ein anderer praktisch relevanter Befund aus unserer Forschungssynthese betrifft das Alter der Kinder. Die größten Effekte wurden in der ältesten Gruppe der 13- bis 18-Jährigen gefunden. Dies widerspricht auf den ersten Blick dem zentralen Präventionsgedanken, möglichst frühzeitig in der Entwicklung anzusetzen. Bei genauerer Betrachtung ergibt sich jedoch ein Zusammenhang mit dem Präventionstyp. Indizierte Programme mit bereits etwas auffälligen Teilnehmern kamen unter älteren Kindern und Jugendlichen häufiger vor und waren erfolgreicher als die selektiven und universellen Präventionsprogramme, zumindest bezogen auf dissoziales Verhalten. Dies liegt wohl daran, dass bei Kindern aus den unausgelesenen Gruppen die große Mehrheit auch ohne Training keine ernsthaften Verhaltensprobleme entwickeln würde. Folglich ist das Verbesserungspotential gegenüber der unbehandelten Kontrollgruppe gering. In den Studien mit bereits leicht auffälligen Kindern können dagegen die Programme ihre potentiellen Effekte deutlicher demonstrieren, da die Teilnehmer ein höheres Risiko der Fehlentwicklung haben. Die positiven Befunde zur indizierten Prävention sind auch kein Artefakt der Regression zum Mittelwert, da nur randomisierte Studien mit äquivalenten Behandlungs- und Kontrollgruppen untersucht wurden. Unser Ergebnis spricht einerseits dafür, Präventions- und Interventionsmaßnahmen speziell auf die Risikogruppen zuzuschneiden und nicht nach dem „Gießkannenprinzip“ vorzugehen. Andererseits darf nicht übersehen werden, dass universelle Programme leichter implementiert werden können und eventuelle Stigmatisierungen vermeiden (vgl. Lösel, 2002; Offord et al., 1998). Die größeren Effekte indizierter Prävention sollten auch nicht auf Kinder mit massiv kumulierten Risikofaktoren generalisiert werden, da hier Erfolge besonders schwierig sind. Wahrscheinlich besteht eher ein umgekehrt U-förmiger Zusammenhang zwischen Risikostatus und der Effektstärke in Programmevaluationen (Lösel, 2001a). Da Risikoprognosen im Kindesalter nur begrenzt treffsicher sind (vgl. Lipsey & Derzon, 1998; Lösel, 2002), halten wir es für sinnvoll, stufenweise vorzugehen. Kostengünstige universelle Präventionsansätze (mit begleitender Diagnostik) wären dabei ein Einstieg in verschiedene Programmpfade, die bei den Hochrisikogruppen zu individuell zugeschnittenen, intensiven Maßnahmen führen. Zusätzlich zu den Moderatoreffekten von Merkmalen der Programme und der Klientel hatte auch die Stichprobengröße einen Einfluss auf die Effektstärke. Zumindest im Posttest gab es bei größeren Stichproben kleinere Effekte. Eine Erklärung dafür könnte im so genannten „publication bias“ liegen. Große Untersuchungen erzielen leichter signifikante Ergebnisse und werden so auch bei kleineren Effekten von den Autoren oder Zeitschriftenherausgebern eher veröffentlicht (vgl. Weisburd et al., 2003). Bei kleineren Studien wären dagegen größere Effekte erforderlich, um die Publikationsschranke zu überspringen. Eine
13 Entwicklungsbezogene Prävention dissozialer Verhaltensprobleme
251
solche Publikationsverzerrung schließen wir nicht aus. Unsere Ergebnisse aus unveröffentlichten Studien und andere Daten sprechen aber dagegen, dass dies die einzige Ursache für geringere Effekte in großen Studien ist (vgl. Lösel & Beelmann, 2003). Eine andere Erklärung bezieht sich auf die Umsetzung der Programme. In großen Studien können mehr Schwierigkeiten bei der Aufrechterhaltung der Programmintegrität und der Sensitivität des Designs auftreten (Lösel & Wittmann, 1989; Weisburd et al., 1993). Dies würde für lokal gut supervidierte Präventionskonzepte sprechen. Die von uns festgestellte Tendenz zur geringeren Effektivität groß angelegter Programme scheint jedenfalls kein Artefakt zu sein, sondern wird in anderen Bereichen bestätigt. Zum Beispiel fanden Farrington und Welsh (2003) eine inverse Korrelation zwischen Stichprobengröße und Effektstärke familienbezogener Präventionsprogramme. Lipsey und Wilson (1998) beobachteten einen ähnlichen Zusammenhang bei Studien zur Behandlung junger Straftäter. Um den Einfluss der Stichprobengröße näher aufzuklären, wären genauere Prozessevaluationen zur Implementierung von sozialen Kompetenztrainings für Kinder erforderlich. Unsere Meta-Analyse gibt nicht nur einen systematischen Überblick über die Programmwirkungen und Moderatoren der Effektstärke, sondern zeigt auch Defizite in der Forschung auf: Bislang stammen die weitaus meisten randomisierten Studien aus den Vereinigten Staaten. In Deutschland erfüllte dagegen nur eine einzige Untersuchung die methodischen Anforderungen unserer MetaAnalyse (Beelmann, 2000). Es ist erfreulich, dass in letzter Zeit der Forschung über soziale Kompetenztrainings für Kinder mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird (z. B. Beelmann, 2003, 2004; Cierpka, in diesem Band; Gerken et al., 2002; Schick & Cierpka, 2003; Lösel et al., in diesem Band). Die methodisch fundierte Evaluationsforschung steht allerdings noch ziemlich am Anfang (vgl. Heinrichs et al., 2002). Sie ist nötig, weil die Programme und Ergebnisse aus den Vereinigten Staaten nicht ungeprüft auf unseren kulturellen Kontext übertragen werden können. Dabei muss es sich nicht nur um randomisierte Studien handeln. Je nach Gegenstandsbereich und Kontext können auch andere Untersuchungen eine relativ gute Aussagekraft haben (Heinsman & Shadish, 1996). Systematische Evaluationen und deren Synthese tragen zu einem kontinuierlichen Lernprozess bei, durch den wir erfolgreiche Wege und Irrwege der Prävention von Verhaltensproblemen junger Menschen besser erkennen als bisher. Nach den hier dargestellten Befunden kann vorsichtig gefolgert werden, dass soziale Kompetenztrainings wahrscheinlich keine Sackgasse der Prävention darstellen.
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14
Prävention sozial-emotionaler Störungen bei Kindern mit Behinderung (PESS) Johannes Bach
Gliederung 14.1 14.1.1 14.1.2 14.1.3 14.2 14.2.1 14.2.2 14.3
Sozial-emotionale Störungen bei Kindern mit Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozial-emotionale Störungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriff der Behinderung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Risiko- und Schutzfaktoren für sozial-emotionale Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Programm PESS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretisches Rahmenmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele und Wirkweise des Programms PESS . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . .
259 259 263 265 268 268 272 276
14.1 Sozial-emotionale Störungen bei Kindern mit Behinderung 14.1.1 Sozial-emotionale Störungen Sozial-emotionale Störungen im Kindes- und Jugendalter weisen eine sehr hohe Prävalenzrate (Auftretenshäufigkeit) auf. Entgegen der in den Medien propagierten Meinung betrifft dies nicht nur externalisierende Störungen wie Gewalt und Aggression. Zwar zeichnen sich aggressive Verhaltensweisen, delinquentes Verhalten und Risikoverhalten durch eine hohe mediale Präsenz aus, sei es aufgrund extremer Einzelfälle wie z. B. in Erfurt oder der effekthascherischen Propagierung einer allgemeinen Zunahme der Gewalt im Jugendalter. Gleichzeitig haben wir es jedoch mit massiven Problemen im Bereich internalisierender Störungen wie Angst und Depression im Kindes- und Jugendalter zu tun. Die Prävalenzraten sozial-emotionaler Störungen lassen sich dabei nur schwer vergleichen, da häufig unterschiedliche Kategoriesysteme und Definitionen zu Grunde gelegt werden (Petermann, 2005). Eine der größten epidemiologischen Studien der letzten Jahre ist die British Child and Adolescent Mental Health Study (Ford et al., 2003), welche in
260
J. Bach
Großbritannien mit 10.438 Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 5 und 15 Jahren durchgeführt wurde. Es zeigte sich, dass nach den Kriterien des Klassifikationsschemas der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft (DSM-IV) 9,5 % der Teilnehmer zumindest eine psychiatrische Diagnose aufwiesen. Hierbei fielen 5,9 % auf die externalisierenden Störungen und 3,8 % auf Angststörungen. Auffallend war, dass ein Fünftel der betroffenen Kinder eine „nicht näher bezeichnete“ Störungsdiagnose aufwies, d. h., dass diese Kinder deutliche Beeinträchtigungen zeigten, ohne die Kriterien einer definierten Störung vollständig zu erfüllen. Weiterhin wurde deutlich, dass fast ein Drittel aller betroffenen Kinder und Jugendlichen (29,7 %) mehr als eine Störung aufwiesen, die Komorbiditätsrate demnach sehr hoch zu sein scheint. Dies galt in besonderem Maße für Depression mit einer Rate von 66 %. Die beiden letztgenannten Phänomene werfen die Frage auf, ob die kategoriale Diagnostik eine angemessene Beschreibung der Phänomene der sozial-emotionalen Störungen darstellt. Insbesondere die Tatsachen, dass sich eine Reihe von Störungen nicht zuordnen lassen und die Komorbidität unter den einzelnen Störungen sehr hoch ist, lassen den Schluss zu, dass eine dimensionale Beschreibung von Störungen (Angabe des Ausprägungsgrades der einzelnen Symptome) eine adäquatere Annäherung an die Problematik ist. Gerade im Kindes- und Jugendalter gestaltet sich zudem die Unterscheidung zwischen dem Vorliegen und Nichtvorliegen einer klinischen Störung schwierig, da diagnostische Kriterien hinsichtlich ihrer klinischen Bedeutung nicht eindeutig definiert sind und/oder nicht auf empirischen Belegen beruhen (Petermann, 2005). Bei der dimensionalen Betrachtungsweise wird im Unterschied zur kategorialen Betrachtungsweise in besonderem Maße berücksichtigt, dass ein fließender Übergang zwischen Normalität und Pathologie besteht (Rutter & Sroufe, 2000). Aus diesem Grund sind weitere epidemiologische Studien nötig, welche sich an anderen Kriterien (wie z. B. psychosoziale Beeinträchtigung) orientieren und in stärkerem Maße den kontinuierlichen Übergang zwischen Gesundheit und Krankheit berücksichtigen als dies bei Anwendung bestehender diagnostischer Kategoriensysteme der Fall ist. Auf der Analyseebene können sozial-emotionale Störungen in die beiden Bereiche emotionale und soziale Störungen unterschieden werden. De facto treten diese beiden Störungsbereiche parallel auf und sind in unterschiedlichen Ausprägungen gleichzeitig zu beobachten. Der Begriff der Störung kann allgemein als eine nicht gelungene Passung zwischen der Person und ihrer Umgebung, welche die Person selbst und/oder ihre Umgebung beeinträchtigt, definiert werden (Resch, 1999). Im Folgenden werden die einzelnen Störungsbereiche dargestellt, welche die beiden Dimensionen sozial-emotionaler Störungen kennzeichnen. Die genannten Beispiele sind auf den Kinder- und Jugendbereich eingegrenzt, um eine thematische Fokussierung vorzunehmen. Von zentraler Bedeutung für emotionale Störungen ist die fehlende oder eingeschränkte Emotionswahrnehmung (vgl. Kasten 1). Diese bezieht sich auf die Person selbst und kann als Unfähigkeit beschrieben werden, die eigenen Emotionen wahrzunehmen bzw. Zugang zu den eigenen Gefühlen zu finden. Beispielhaft wird dies bei einem depressiven Menschen deutlich, welcher im Gegensatz zu der alltagspsychologischen Vermutung nicht Trauer empfindet,
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sondern häufig nur sehr eingeschränkt in der Lage ist, eigene Gefühle wahrzunehmen. Sehr ähnlich stellt sich die Problematik bei Jugendlichen dar, die sehr starken Stimmungsschwankungen unterliegen und denen es sehr schwer fällt, einen Zugang zu den eigenen Emotionen zu finden. Im Extremfall wie z. B. beim selbstverletzenden Verhalten wird zum „Ritzen“ oder anderen autoaggressiven Verhaltensweisen gegriffen, um den eigenen Körper zu spüren und somit einen Zugang zu den eigenen Emotionen zu finden. Einen weiteren Bereich stellt die Unfähigkeit der Wahrnehmung von Emotionen anderer Personen dar. Dies kann sich beispielsweise in der Fehlinterpretation emotionaler Zustände äußern. So hat sich beispielsweise gezeigt, dass aggressive Jugendliche neutrale Situationen falsch (z. B. bedrohlich) einschätzen und aufgrund dessen inadäquat reagieren (de Castro, 2005). Die Fähigkeit der Emotionswahrnehmung in sozialen Situationen ist allerdings die Voraussetzung für angemessenes Verhalten (Denham, 1998). Kasten 1: Zentrale Bereiche emotionaler Störungen
– – – –
Unfähigkeit, Emotionen wahrnehmen zu können (Selbst/Andere) Unfähigkeit, Emotionen ausdrücken zu können Unfähigkeit, Emotionen regulieren zu können (funktionale Regulation) Unfähigkeit, auf ein Ereignis (intern, extern) emotional adäquat reagieren zu können
Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch der Emotionsausdruck: Verfügt der Heranwachsende über ein breites Gefühlsvokabular? Kann er in schwierigen Situationen Gefühle wie Trauer oder Angst verbalisieren und damit eine emotionale Bindung zu anderen Personen herstellen? Dies ist insbesondere bei Personen mit einem niedrigen Sprachniveau und eingeschränkten intellektuellen Fähigkeiten häufig problematisch (Janke, 2002). Weiterhin stellt sich die Frage, ob der Heranwachsende in der Lage ist, seinen Emotionen mimisch und gestisch in angemessener Weise Ausdruck zu verleihen. Hierbei spielt der Adressat allerdings eine wichtige Rolle, da Gefühle gegenüber Peers anders kommuniziert werden (müssen) als gegenüber Erwachsenen. Einen weiteren zentralen Bereich stellen Probleme in der Emotionsregulation dar. Werden Verhaltensweisen gewählt, welche für die Person selbst schädlich sind, kann von einer dysfunktionalen Emotionsregulation gesprochen werden. Artikuliert beispielsweise ein Kind seine Wut dadurch, dass es andere bespuckt und tritt, stellt dies keine funktionale Regulation der eigenen Emotionen dar, da das Verhalten in der Regel negative Konsequenzen auch für das Kind selbst hat. Dies gilt gleichermaßen für internalisierende Verhaltensweisen. Wird auf Trauer dauerhaft mit Sprachlosigkeit, Resignation und Rückzug reagiert, können hieraus für die Gegenwart wie auch die Zukunft verfestigte problematische Verhaltensmuster erwachsen (von Salisch, 2002a). Funktionale Emotionsregulation bedeutet, auf ein Ereignis emotional adäquat reagieren zu können. Dies gilt sowohl für äußere Ereignisse (z. B. eine angsterzeugende Situation wie das Erkunden einer neuen Umgebung) als auch für innerpsychische Zustände. Die situationsangemessene kontrollierte Anpassung
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der Emotionen an soziale Bedingungen kann man auch als Emotionsmodulation bezeichnen. Der erste Bereich sozialer Störungen beschreibt eine ganz grundlegende und schwerwiegende Störung: die Unfähigkeit, überhaupt in einer Gruppe Gleichaltriger interagieren zu können, d. h., sich auf eine Gruppe von Peers einzulassen und mit ihnen in einen Austauschprozess zu treten (vgl. Kasten 2). Diese Problematik bezieht sich im Fall von Heranwachsenden häufig auch auf die Interaktion mit anderen Altersgruppierungen, vor allem Erwachsenen. Von entscheidender Bedeutung für die Gestaltung des Alltags ist jedoch der Umgang mit Gleichaltrigen (Webster-Stratton, 2000). Kasten 2: Zentrale Bereiche sozialer Störungen
– Unfähigkeit, in einer Gruppe Gleichaltriger interagieren zu können – Unfähigkeit, dauerhaft den Regeln einer Gruppe folgen zu können – Unfähigkeit, sich in eine andere Person hineinzuversetzen (kognitiv und emotional) – Unfähigkeit, die eigene Person und ihre Grenzen zu akzeptieren Mit der Unfähigkeit zur Interaktion mit anderen im Rahmen einer Gruppe ist häufig ein zweiter Aspekt der sozialen Auffälligkeit verbunden: Schwierigkeiten beim Einhalten von Gruppenregeln. Dies gilt für spezielle Vereinbarungen wie Regeln zu Alltagsroutinen (z. B. Schuhe ausziehen in der Gruppe), aber auch für allgemeine Übereinkünfte wie z. B. Rituale innerhalb einer Gruppe. Die fehlende Empathiefähigkeit, welche sich sowohl auf den emotionalen als auch den kognitiven Bereich bezieht, hat besonders weit reichende Folgen. Durch die mangelnde Perspektivenübernahme kommt es häufig zu Fehleinschätzungen von Situationen, z. B. wird das Verhalten eines anderen Kindes als feindselig interpretiert, obwohl dieses nur alleine spielen möchte. Die Folgen sind situativ inadäquate Verhaltensweisen, welche häufig in negative Handlungsmuster oder Teufelskreisläufe gegenseitiger Missverständnisse münden. Die Konsequenzen der eigenen Aggression für den anderen werden häufig unzureichend realisiert, während neutrale Verhaltensweisen anderer nicht selten unberechtigterweise als Aggression eingeschätzt werden (Crick & Dodge, 1994). Ähnliches findet auch auf emotionaler Ebene statt und führt zu unangemessenen Empfindungen und Verhaltensweisen wie beispielsweise zu roher Gewalt aus mangelndem Mitgefühl (Lemerise & Arsenio, 2000). Ein letzter Bereich, von dem insbesondere Kinder mit Behinderung in sehr starkem Maße betroffen sind, ist die ungenügende Akzeptanz der Begrenztheit der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Als Resultat ständiger Vergleichsprozesse neigen hierbei vor allem Heranwachsende dazu, auf Bereiche zu fokussieren, in denen sie keine oder nur geringe Fähigkeiten und/oder Aussicht auf Erfolg und Anerkennung besitzen. Versteifen sich die Betroffenen in diesen Problembereichen auf absolute Leistungsparameter und allgemeine soziale Akzeptanz, kann dies ein niedriges Selbstwertgefühl und Rückzugsverhalten zur Folge haben. Dies gilt sowohl für Vergleichsprozesse mit anderen behinderten als auch mit nicht
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behinderten Personen. Diese Problematik wird häufig dadurch verschärft, dass es den betroffenen Kindern und Heranwachsenden aufgrund kognitiver Einschränkungen schwer fällt, von Einzelsituationen oder einzelnen Fähigkeiten zu abstrahieren und eine globalere Betrachtung der eigenen Potenziale vorzunehmen. 14.1.2 Begriff der Behinderung Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert in der ICIDH-2 (1999) Behinderung nach der „Funktionsfähigkeit“ („functioning“) eines Menschen. Diese wird in drei Bereiche aufgegliedert: 1. Körperfunktionen/Körperstrukturen, 2. Aktivitäten und 3. Partizipation. Der Bereich der Körperfunktionen betrifft die Abhängigkeit des Menschen von seinem Körper, d. h. von seinen anatomischen Strukturen. Störungen auf dieser Dimension werden als Schäden („impairments“) bezeichnet und in Funktions- und Strukturschäden unterschieden. Der zweite Bereich umfasst die Aktivitäten des Menschen als selbstständig handelndes Subjekt. Aktivitäts- oder Leistungsstörungen werden als Beeinträchtigungen („activity limitations“) angesehen und anhand von Leistungstests operationalisiert. Der dritte Bereich umfasst schließlich die Partizipation am sozialen Leben, d. h., der Mensch wird als Subjekt in Umwelt und Gesellschaft angesehen. Hierbei wird in besonderem Maße betont, dass der Mensch stets im Kontext seiner physikalischen Umwelt betrachtet und in seinen sozialen Bezügen beurteilt werden muss. Laut Weltgesundheitsorganisation äußert sich die Daseinsentfaltung des Menschen in seiner aktiven Teilhabe an Aktivitäten und seiner Wertschätzung in diesen Aktivitäten. Die Aufgabe der Rehabilitationspolitik besteht demnach darin, Voraussetzungen für die Bewältigung von Lebenssituationen behinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen zu schaffen. Mögliche Partizipationsbereiche sind in einer entsprechenden Klassifikation der Behinderung angegeben. Laut Schuntermann (1999) bleiben bei dieser Klassifikation von Behinderung jedoch einige Aspekte offen: Zum einen wird das Verhältnis von Gesundheit bzw. eingeschränkter Gesundheit und Funktionsfähigkeit nicht hinreichend geklärt. Zum anderen wird die mangelnde Funktionsfähigkeit Behinderter auf Störungen aus anderen Bereichen der ICD-10 (Internationale Klassifikation der Erkrankungen der WHO) zurückgeführt, was nur teilweise zutreffend ist. Aufgrund der aufgezeigten Probleme schlägt Schuntermann (1999) eine Erweiterung des Behinderungsbegriffs vor. Bei bisherigen Definitionen wurde deutlich, dass die Aspekte der gesundheitlichen Beeinträchtigung und der Funktionalität gewichtet werden müssen. Der Begriff der Partizipation wird in diesem Zusammenhang relational definiert. In ihm werden insbesondere Umweltfaktoren wie Einstellungen, Werte und Überzeugungen der Gesellschaft mit berücksichtigt. Schuntermann (1999, S. 361) kommt dabei zu folgender Definition von Behinderung: „Behindert ist eine Person, deren Teilhabe am Gesellschaftsleben,
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Gesundheitliche Beeinträchtigung – Regelwidriger (körperlicher, geistiger, seelischer) Zustand oder – Funktionsstörungen/Strukturschäden (im Zusammenhang mit regelwidrigem Zustand) oder – Aktivitätsstörungen (im Zusammenhang mit regelwidrigem Zustand)
Umwelt Faktoren der sozialen und physikalischen Umwelt (Umweltfaktoren)
können wechselwirken zu • erheblicher Gefährung oder • Einschränkung/Aufhebung der
Partizipation an einem oder mehreren Lebensbereichen (Teilhabe am Gesellschaftsleben, insbesondere am Arbeitsleben)
Abbildung 1: Das Modell der Behinderung des Definitionsvorschlages für den Begriff der Behinderung basierend auf der ICIDH-2 (mod. nach Schuntermann, 1999, S. 362)
insbesondere am Arbeitsleben, infolge ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung aufgehoben oder nur vorübergehend eingeschränkt ist. Eine ‚gesundheitliche Beeinträchtigung’ ist (a) eine Gesundheitsstörung im Sinne eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes oder (b) damit im Zusammenhang stehend ein anatomischer Strukturschaden oder eine psychische oder physiologische Funktionsstörung oder Aktivitätsstörung.“ Diese Zusammenhänge sind in Abbildung 1 graphisch zusammengefasst. Das Modell bezieht sich bei der ICIDH-2 der WHO nur auf den Erwachsenenbereich und wählt dementsprechend Beispiele des Erwachsenenlebens aus. Für Heranwachsende muss der Begriff der gesellschaftlichen Partizipation jedoch genauer spezifiziert werden. Kinder und Jugendliche betrifft dies insbesondere in Bezug auf die schulische Partizipation. Eine solche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben im Sinne einer Gemeinschaft der Gleichaltrigen ist durch die frühe Selektion und Ausgrenzung behinderter Kinder vom Regelschulsystem weitestgehend nicht gegeben. Ein weiterer Problembereich behinderter Kinder umfasst die eingeschränkten Möglichkeiten der Teilhabe an Aktivitäten in Sport und Freizeit. Auch in diesem für die Ausbildung eines außerschulischen Selbstkonzepts und Selbstwertgefühls immens wichtigen Bereich kommt es häufig zu Ausgrenzungen. Obwohl technisch wie organisatorisch häufig durchaus möglich, sehen die meisten institutionellen Sport- und Freizeitangebote eine Partizipation von Behinderten überhaupt nicht vor. Der Mangel an Interaktionserfahrungen mit nicht behinderten Peers führt jedoch nicht selten zur Ausbildung oder Verstärkung bestehender sozial-emotionaler Störungen. Hinzu kommt die konzeptionelle Problematik, dass in der Sonderpädagogik in der Regel ein schulsystemimmanenter Behinderungsbegriff verwendet wird,
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der eine fächerübergreifende Diskussion dieser Thematik erschwert. Einige Autoren wie z. B. Fischer (2003) kritisieren den Behinderungsbegriff der WHO, bieten allerdings keine alternativen Definitionsvorschläge an. 14.1.3 Risiko- und Schutzfaktoren für sozial-emotionale Störungen Im Folgenden sollen einige Risiko- und Schutzfaktoren dargestellt werden, welche sich auf die Ausbildung einer sozial-emotionalen Störung auswirken und insofern von zentraler Bedeutung für diesbezügliche Präventionsmaßnahmen sind. Hierbei wird von einem allgemeinen Risiko- und Schutzmodell ausgegangen, vor dessen Hintergrund die spezifische Problematik von Kindern mit Behinderung dargestellt wird. Problematisch ist in diesem Zusammenhang der Mangel an empirischen Untersuchungen. Auf Seiten des Kindes gibt es eine Reihe von Risikofaktoren, welche sich negativ auf die sozial-emotionale Entwicklung auswirken können (vgl. Kasten 3). Hierzu gehören vor allen Dingen temperamentbezogene Faktoren wie beispielsweise eine Verhaltenshemmung. Nach Essau (2003) können diese zu ängstlichen Verhaltensweisen führen, die sich im Laufe der Zeit mehr und mehr stabilisieren und entsprechende Reaktionsmuster hervorrufen. Gleichermaßen stellt eine allgemeine Entwicklungsstörung des Kindes einen Risikofaktor zur Ausbildung einer sozial-emotionalen Störung dar. Kognitive Funktionen wie Wahrnehmung oder Informationsverarbeitung spielen für die emotionale Entwicklung eine wichtige Rolle. Fehler in der Wahrnehmung sozialer Konstellationen sind häufig die Grundlage einer Fehleinschätzung von Situationen, was in der Folge situationsunangemessene Reaktionen begünstigt und zu erheblichen generalisierten Problemen in der sozialen Interaktion führen kann (de Castro 2005). Kasten 3: Risikofaktoren für die emotionale Entwicklung auf Seiten des Kindes (mod. nach Petermann & Wiedebusch, 2003, S. 96)
– temperamentsbedingte Vulnerabilität, z. B. Verhaltenshemmung, Überaktivität – allgemeine Entwicklungsstörung, z. B. Verzögerung – erhöhte physiologische Reaktivität – mangelnde Responsivität – Probleme in der Wahrnehmung – Probleme in der Informationsverarbeitung Andererseits erbrachte die empirische Forschung in den vergangenen Jahren klare Hinweise auf Schutzfaktoren für die kindliche Entwicklung, welche im Rahmen einer Intervention in besonderem Maße berücksichtigt werden sollten (vgl. Kasten 4). Hierzu zählen positive Temperamentsfaktoren wie eine gute emotionale Ansprechbarkeit, Auslenkbarkeit und Beruhigbarkeit, die allerdings bei Kindern mit Entwicklungsauffälligkeiten nur selten gegeben sind. Weitere
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Schutzfaktoren stellen altersgemäße Selbstregulationssysteme für Aufmerksamkeit und Verhalten dar. Auch diese sind bei Kindern mit Behinderung jedoch oftmals beeinträchtigt. Kasten 4: Schutzfaktoren für die emotionale Entwicklung auf Seiten des Kindes (Katz et al., 1999)
– Positive Temperamentsfaktoren – Selbstwirksamkeitsregulationssysteme für Aufmerksamkeit, Erregung, Verhalten – „Freude am…“ – positive Leistungsmotivation – Positives Selbstwertgefühl, Attraktivität – Begabungen, die von der Person selbst sowie der Gesellschaft geschätzt werden – Gute Beziehungen zu Freunden/Peers – Gute Schulbildung – Spiritualität und religiöse Systeme Wichtig ist auch die Förderung der Leistungsmotivation. Hierzu müssen Themen gefunden werden, welche Kinder und Heranwachsende interessieren und ihnen wiederholte Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglichen. Insbesondere ein positives Selbstwertgefühl, eine gute intellektuelle Begabung sowie eine gute Schulbildung stellen allerdings Schutzfaktoren dar, über die behinderte Menschen oft nicht in hinreichendem Maße verfügen. Zugleich darf nicht außer Acht gelassen werden, welche Risiko- und Schutzfaktoren auf Seiten der Eltern behinderter Kinder bestehen. Als Risikofaktoren sind psychische Störungen der Eltern bedeutsam, insbesondere wenn diese selbst an einer sozial-emotionalen Störung wie z. B. einer Depression oder Angststörung leiden (Jones et al., 2001; McClure et al., 2001). Problematisch ist darüber hinaus auch ein unangemessenes Erziehungsverhalten, d. h. inadäquate Reaktionen auf das Verhalten des Kindes (vgl. Kasten 5). Weiterhin wirken sich eine geringe Responsivität, d. h. ein wenig feinfühliger Umgang mit Signalen des Kindes, und eine geringe Unterstützung beim Aufbau Kasten 5: Risikofaktoren für die emotionale Entwicklung auf Seiten der Eltern (mod. nach Petermann & Wiedebusch, 2003, S. 97)
– Psychische Störung eines Elternteils, z. B. Depressivität der Mutter – Unangemessenes Erziehungsverhalten, z. B. Überprotektion oder Laisserfaire-Stil – Soziale Belastung der Eltern bzw. des Familiensystems (geringe Paarzufriedenheit, niedriger sozio-ökonomischer Status) – mangelnde Responsivität – häufiger Ausdruck negativer Emotionalität (expressed emotions) – geringe Unterstützung bei der kindlichen Emotionsregulation
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von Emotionsregulationsstrategien negativ auf die emotionale Entwicklung des Kindes aus. Hinzu kommen indirekte Faktoren auf Seiten der Eltern wie z. B. niedrige Paarzufriedenheit oder niedriger sozial-ökonomischer Status, welche die Lebenssituation des Kindes mittelbar belasten, indem beispielsweise Ressourcen gebunden werden, welche andernfalls zur Förderung des Kindes eingesetzt werden könnten. Demgegenüber gibt es eine Reihe elterlicher Schutzfaktoren, welche sich positiv auf die emotionale Entwicklung eines Kindes auswirken (vgl. Kasten 6). Hierzu zählt zunächst ein responsives Elternverhalten, d. h. die korrekte Wahrnehmung der Signale des Kindes sowie eine feinfühlige Reaktion in einem angemessenen Zeitraum (Denham et al., 1997). Eine zentrale Rolle nimmt dabei das Verbalisieren eigener Gefühle durch die Eltern ein, da das Kind auf diese Weise ein Modell für den eigenen Gefühlsausdruck erhält (Garner, 1999). Kasten 6: Schutzfaktoren für die emotionale Entwicklung auf Seiten der Eltern und sozialen Systeme (Katz et al., 1999)
– Responsives Elternverhalten – Verbalisieren von Gefühlen (Modellverhalten): positive und negative Gefühle – Unterstützung bei der Modulation von Emotionen seitens des Kindes (positiver und negativer Emotionen) – Aufbau eines sicheren Bindungssystems zum Kind – Gute Beziehungen zu anderen kompetenten und fürsorglichen Erwachsenen – Kommunale Organisationssysteme Weiterhin wichtig ist die Unterstützung des Kindes beim Umgang mit seinen Gefühlen sowie beim Aufbau von Strategien der Emotionsmodulation. Voraussetzung hierfür ist die Ausbildung eines sicheren Bindungssystems. Auf der Basis einer sicheren Bindung wird das Explorationsverhalten des Kindes begünstigt und durch vermehrte Umwelterfahrungen sein Handlungsrepertoire im Umgang mit Gefühlen erweitert. Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass über den Umgang mit Mutter und Vater hinaus auch der Austausch mit anderen kompetenten und fürsorglichen Erwachsenen einen positiven Einfluss hat. Das gleiche gilt für kommunale Organisationssysteme, die sich über eine Unterstützung der Eltern auch positiv auf die emotionale Entwicklung des Kindes auswirken. Risikofaktoren des Kindes einerseits sowie der Eltern andererseits haben einen kumulativen Effekt und erhöhen beim Vorhandensein mehrerer Faktoren die Wahrscheinlichkeit der Ausbildung einer sozial-emotionalen Störung überproportional. Dies gilt insbesondere dann, wenn keine Schutzfaktoren, welche die Risikofaktoren abmildern und die Ausbildung emotionaler Kompetenz trotz kritischer Einflüsse fördern, als Puffer greifen. Daher ist eine möglichst frühe Intervention bei Kindern mit einem erhöhten Risiko sinnvoll, um zum einen vor der Verfestigung negativer Interaktionsketten einzugreifen und zum anderen eine möglichst frühe Ausbildung emotionaler Kompetenzen zu unterstützen (vgl. Abb. 2).
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Risikofaktoren beim Kind
Schutzfaktoren beim Kind
Gestörte E-KInteraktion
Risikofaktoren bei den Eltern
Risikofaktoren
Schutzfaktoren im sozialen Umfeld
Sozialemotionale Entwicklung des Kindes
Intervention/ Prävention
Sozial-emotionale Störung
Förderung emotionaler Kompetenz
Abbildung 2: Prävention bei sozial-emotionalen Störungen
14.2 Das Programm PESS 14.2.1 Theoretisches Rahmenmodell Wie im ersten Abschnitt deutlich wurde, besteht ein immens hoher Bedarf an Präventions- und Interventionsprogrammen, welche sich speziell mit sozial-emotionalen Störungen befassen und gleichzeitig für eine Zielgruppe zugeschnitten sind, die kognitive und sprachliche Defizite aufweist. Generell bleibt zu kritisieren, dass momentan sowohl im angloamerikanischen als auch im europäischen Kontext ein deutliches Übergewicht an kognitiv orientierten Programmen herrscht. Vorläufer bzw. Rahmenmodell stellt in originären oder veränderten Formen fast immer das Modell von Crick und Dodge (1994) dar. Auch wenn man berücksichtigt, dass es sich bei den vorliegenden Programmen nie um „nur“ kognitive Programme handelt, stellt sich den-
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noch die Frage, inwieweit die vorliegenden Erklärungsmodelle genügen, um sich dem Phänomen der Aggression in ausreichendem Maße zu nähern. Eine Übersichtsarbeit von Lösel und Beelmann (2003) hat verdeutlicht, dass die kognitiven Programme zum Teil sehr gute Erfolge aufzuweisen haben, was aufgrund des großen Überhangs an kognitiv-behavioralen Programmen zumindest zum Teil auf eine Verzerrung durch die Betrachtungsweise zurückzuführen ist. Außerdem haben Erweiterungen des Modells um emotionale Aspekte wie beispielsweise die von Lemerise und Arsenio (2000) nur eine scheinbare Verbesserung erbracht. Ausgegangen wird nach wie vor davon, dass eine Veränderung der Wahrnehmung und Bewertung Gewalt auslösender Situationen zu einer Verbesserung des Verhaltens führt. Eine weitere Schwäche nahezu aller aktuell vorliegenden Programme besteht in einer Sprachlastigkeit. Inwieweit diese eine Bedingung der kognitiven Orientierung der Programme darstellt oder aber zwangsläufige Folge dieser Orientierung ist, sei dahingestellt. Dennoch finden sich in den unterschiedlichen Programmen sowohl zu Aggression (z. B. FAUSTLOS) als auch zu Ängsten (FREUNDE) eine zu geringe Handlungsorientierung und ein überhöhter Einsatz an Geschichten, die gelesen oder vorgelesen werden müssen. Hierdurch erhalten die Programme zuweilen „Deutschstundencharakter“ – diese Kritik wurde von Teilnehmern wortwörtlich so geäußert – und bleiben gewissen Zielgruppen somit verschlossen (Bach, 2004). Insbesondere Programme, welche sich mit sozial-emotionalen Störungen befassen, sollten jedoch auch und gerade kognitivsprachlich schwächeren Kindern zugänglich gemacht werden. In der einschlägigen Literatur wird immer wieder darauf hingewiesen, dass eine sehr genaue Zielgruppenorientierung der Programme einen Schlüssel zu ihrem Erfolg darstellt (Durlak, 1997; Greenberg et al., 2001; Heinrichs et al., 2002). Gegenwärtig werden jedoch in wachsendem Umfang eher universelle anstelle von problem- und zielgruppenspezifischen Programmen aufgestellt und manualisiert. Von den jeweiligen Anwendern wird dann erwartet, dass sie diese selbstständig an die jeweilige Zielgruppe anpassen und insbesondere für Kinder mit Behinderung Vereinfachungen vornehmen. Bei dem Programm „Prävention Emotionaler und Sozialer Störungen bei Kindern mit Behinderung – PESS“ wird hingegen versucht, bereits in der Konzeption des Programms auf die Zielgruppe einzugehen und den Schwerpunkt dabei auf den Bereich sozial-emotionaler Praktiken zu legen. Als theoretischer Hintergrund wurde dazu das Modell von Carolyn Saarni (1999, 2002) gewählt, da in ihrem Ansatz die Bereiche der sozialen und emotionalen Entwicklung innerhalb des Konzeptes der Emotionalen Kompetenz verbunden sind. Andere Modelle nehmen in diesem Zusammenhang eine einseitige Fokussierung vor. Salovey und Mayer (1990) orientieren sich an der Vorstellung multipler Intelligenzen und erweitern sie um den Bereich des Emotionalen. Neben empirischen Einwänden, die gegen dieses Konzept vorgebracht werden können, weist das Modell auch konzeptionelle Schwächen auf, da es auf das Individuum fokussiert und somit den Einfluss des Kontextes und die Problematik sozialer Interaktionen nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt. Auch die Einteilung in richtige und falsche Emotionen erscheint fragwürdig (von Salisch, 2002b).
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Das Modell von Rose-Krasnor (1997) fokussiert demgegenüber auf die soziale Kompetenz und versucht, kognitive und emotionale Werte in Form einer Pyramide zu vereinen und hierarchisch zu organisieren. Es ist insgesamt sehr komplex aufgebaut und erlaubt die Entwicklung unterschiedlicher Hypothesen zu einzelnen Teilbereichen der Entwicklung. Letztlich dürfte es jedoch schwer fallen, die Einzelaspekte des theoretischen Modells in der Praxis zu operationalisieren und empirisch zu kontrollieren. Des Weiteren wird ein deutlicher Schwerpunkt auf den Bereich des Kontextes bzw. der Interaktionen gelegt, der Bereich der Emotionswahrnehmung und Emotionsregulation jedoch nicht ausführlich genug behandelt, um als Rahmenmodell einer Intervention dienen zu können. Halberstadt et al. (2001) schließlich fokussieren bei ihrem Modell nicht auf die Person als Individuum, sondern betrachten die Interaktion zwischen zwei oder mehr Beteiligten. Hierbei werden die drei Komponenten (oder Prozesse) „Senden“, „Empfangen“ und „Erleben“ beschrieben, die durch vier Fertigkeiten gekennzeichnet sind, welche die Interaktionsprozesse genauer beschreiben und in ihrem affektiv-sozialen Inhalt bestimmen. Kritischer Punkt dieses Ansatzes ist u. a., dass nach Halberstadt et al. (2001) das Gelingen einer Interaktion in erster Linie vom Interaktionspartner und nicht von der sozial-emotionalen Kompetenz des Handelnden abhängt. Des Weiteren gehen die Autoren von einer über die Lebensspanne relativ konstanten Struktur der affektiv-sozialen Kompetenz aus; der empirische Nachweis hierfür steht jedoch nach wie vor aus (von Salisch, 2002b). Im Unterschied zu den drei kurz skizzierten Modellen bestehen die Vorteile des Konzepts der „Emotionalen Kompetenz“ von Saarni (1999) in der Verbindung der beiden Bereiche der sozialen und emotionalen Entwicklung. Zudem fokussiert Saarni zwar auf das Individuum und seine Fähigkeiten und Fertigkeiten, bezieht jedoch in besonderem Maße auch die Wechselwirkungen mit anderen Beteiligten ein und berücksichtigt somit sowohl individuelle Sozialisationserfahrungen als auch den anhaltenden Einfluss der umgebenden Kultur. Saarni (2002, S. 10) definiert emotionale Kompetenz wie folgt: „Emotionale Kompetenz äußert sich als Selbstwirksamkeit in emotionsauslösenden sozialen Transaktionen. Selbstwirksamkeit bedeutet, dass ein Individuum die Fähigkeiten und Fertigkeiten dazu hat, ein erwünschtes Ergebnis zu erreichen.“ In dieser Definition greift Saarni den bereits von Bandura (1977) beschriebenen und in zahlreichen empirischen Studien bestätigten Aspekt einer positiven Entwicklung auf: Selbstwirksamkeitserfahrungen, aus welchen im Sinne einer erlebten Eigenkontrolle von Interaktionen emotionale Kompetenz erwächst. Saarni gliedert die emotionale Kompetenz in acht Fertigkeiten auf und beschreibt diese detailliert (Saarni, 1999). Für das Präventionsprogramm PESS wurden allerdings nur die ersten sechs Fertigkeiten ausgewählt, da nur diese für das Kindesalter von Bedeutung sind. Die Fertigkeiten werden in Kasten 7 kurz aufgelistet. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass die von Saarni skizzierten Fertigkeiten sich immer im Wechselspiel zwischen Individuum und in Interaktion
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Kasten 7: Fähigkeiten/Fertigkeiten (sozial-)emotionaler Kompetenz (Saarni, 2002, 13)
1. Bewusstheit über den eigenen emotionalen Zustand 2. Die Fähigkeit, Emotionen anderer Menschen auf der Grundlage von Merkmalen der Situation und des Ausdrucksverhaltens zu erkennen 3. Die Fähigkeit, das Vokabular der Gefühle und Ausdruckswörter zu benutzen 4. Die Fähigkeit, empathisch auf das emotionale Erleben von anderen Menschen einzugehen 5. Die Fähigkeit, aversive oder belastende Emotionen und problematische Situationen in adaptiver Weise zu bewältigen 6. Die Fähigkeit zur emotionalen Selbstwirksamkeit; die Person ist der Ansicht, dass sie sich im Allgemeinen so fühlt, wie sie sich fühlen möchte mit seiner Umgebung manifestieren. Insofern berücksichtigt das Modell Saarnis im Gegensatz zu biologischen Modellen in besonderem Maße, dass Emotionen ein Produkt der individuellen Sozialisationserfahrungen sind und sich aufgrund des Austausches mit der Umgebung in einem ständigen Wandel befinden. Das Modell der „Emotionalen Kompetenz“ bietet auf diese Weise einen theoretischen Rahmen für eine spezifische Adressierung einzelner Bereiche sozial-emotionaler Störungen. Des Weiteren besteht die Möglichkeit, die einzelnen Fertigkeiten genau zu operationalisieren, was sowohl für die Intervention als auch ihre Überprüfung von zentraler Bedeutung ist. In einem ersten Schritt beschreibt Saarni die Bewusstheit der eigenen Emotionalität, d. h. die Fertigkeit, diese überhaupt wahrnehmen zu können. In einem zweiten Schritt geht es darum, die Gefühle anderer zu erkennen und situative Merkmale mit einzubeziehen. Entsprechend verhält es sich mit dem nächsten Begriffspaar, bei dem zunächst die Fertigkeit der Person angesprochen wird, eigenen Emotionen verbal und gestisch Ausdruck zu verleihen. Darüber hinaus ist der Aufbau eines umfassenden Repertoires an Ausdrucksmöglichkeiten von Bedeutung. Dieses ist eine Voraussetzung für die emotionale Mitteilungsfähigkeit des Einzelnen. Ein weiterer Punkt umfasst die Fähigkeit, sich in Bezug auf die Emotionen anderer empathisch zu verhalten und adäquat auf sie zu reagieren. Voraussetzung hierfür ist ein sowohl kognitives als auch emotionales Hineinversetzen in die andere Person. Wichtig ist darüber hinaus ein konstruktiver Modus der Emotionsmodulation, d. h. die Fähigkeit des Individuums, in förderlicher Weise mit belastenden Situationen umzugehen und aufgrund eines breiten Handlungsrepertoires angemessen reagieren zu können. Schließlich geht es um die Inkongruenz innerer und äußerer Zustände: Inwieweit ist die Person in der Lage, eine Differenz zwischen selbst gesetzten Zielen und der Realität zu akzeptieren und die Wahrnehmung von Inkongruenzen funktional zu verarbeiten. In diesem Zusammenhang spielt die Frage, ob diese Ziele objektiv erreicht werden können (realistische vs. unrealistische Ziele), nur eine untergeordnete Rolle. Entscheidend sind die Wahrnehmungs- und Bewertungsprozesse auf Seiten der handelnden Person.
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14.2.2 Ziele und Wirkweise des Programms PESS Wie im vorherigen Abschnitt verdeutlicht wurde, stützt sich das Programm PESS auf das theoretische Rahmenmodell von Saarni (1999). Dies gilt sowohl für den konzeptionellen Aufbau des Programms als auch seine Ziele. Hierbei wird großer Wert auf die Verzahnung von Programmelementen gelegt, welche sich dominant auf die soziale Entwicklung beziehen, mit Elementen, die vor allem die emotionale Entwicklung betonen (vgl. Abb. 3). Umgang miteinander: Gruppenidentität Umgang miteinander: Gruppenregeln Ziele setzen/Ziele aushandeln Selbstwertgefühl (Person/Gruppe)
Emotionswahrnehmung I (Selbst/Andere) Emotionsmodulation I Emotionswahrnehmung II (Selbst/Andere) Emotionsmodulation II
Abbildung 3: Zentrale Elemente des Programms PESS
Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass die einzelnen Fähigkeiten wie z. B. die Emotionswahrnehmung zu einem frühen Zeitpunkt innerhalb des Programms angesprochen werden. Sie werden allerdings zu einem späteren Zeitpunkt erneut aufgegriffen und vertieft. Insofern werden die Bereiche der Emotionswahrnehmung und der Emotionsmodulation mehrfach aufeinander aufbauend adressiert. Die einzelnen Module des Programms PESS sind entsprechend dem Rahmenmodell von Saarni (1999) aufgeteilt in die Fokussierung auf die Person selbst („Wie bin ich, wenn ich wütend bin?“) und auf die Person in Interaktion mit Gleichaltrigen („Wie erkenne ich, dass mein Freund wütend ist?“). Im Bereich der Emotionen wird eine Fokussierung auf die Basisemotionen Freude, Trauer, Angst (Furcht) und Wut (Ärger) vorgenommen. Diese Emotionen wurden ausgewählt, da zum einen in kulturvergleichenden Studien nur diese Basisemotionen trennscharf identifiziert werden konnten (Ulich et al., 1999). Sie gelten als gut unterscheidbar und sind für die emotionale Entwicklung von Kindern von grundlegender Bedeutung. Zum anderen erscheint es sinnvoller, eine Beschränkung auf wenige Basisemotionen vorzunehmen und deren Wahrnehmung und Modulation zu üben, anstatt eine größere Zahl von Emotionen zwangsläufig nur kurzzeitig und eher oberflächlich abzuhandeln.
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Des Weiteren erhalten die Kinder mit diesen Basisemotionen ein Grundwerkzeug zum Ausdruck ihrer Gefühle, das einer weiteren Differenzierung offen steht. Ist beispielsweise ein Kind in der Lage, seiner Freude Ausdruck zu verleihen, wird es ihm später leichter fallen, ein mit dieser Basisemotion verbundenes Gefühl wie Stolz zu zeigen. Die Fokussierung auf Basisemotionen dient demnach nichtsdestoweniger auch der Ausbildung eines breiten Emotionsrepertoires, ohne dass diese Emotionen im Rahmen des Programms eigens angesprochen werden. Weiterhin macht diese Elementarisierung und Konzentration auf wenige zentrale Emotionen nachgerade für Kinder mit einer Behinderung Sinn, da sie die Teilnehmer kognitiv nicht überfordert. Das Programm PESS ist als Gruppenprogramm in Schulvorbereitenden Einrichtungen konzipiert und stellt somit ein sekundäres Präventionsprogramm dar (vgl. Kasten 8). Obwohl die teilnehmenden Kinder bereits häufig eine Reihe der anfangs genannten Risikofaktoren aufweisen, ist es in den meisten Fällen noch nicht zu einer Verfestigung bestehender Interaktionsmuster bzw. zu einer Chronifizierung der Störungen gekommen. Die Kinder haben bereits Vorerfahrungen im Gruppenkontext gemacht, welche sich zuweilen auch negativ auf ihr Selbstkonzept auswirken. Zugleich befinden sich Kinder in Schulvorbereitenden Einrichtungen in einer Übergangsphase zwischen Kindergarten und Schule. Entwicklungspsychologisch betrachtet gewinnen der Aufbau von Freundschaften und die Beziehung zu Gleichaltrigen in dieser Phase mehr und mehr an Bedeutung (Zollinger, 2000). Kasten 8: Ansatzpunkt und Zielgruppe des Programms PESS
– Mittlere Kindheit: Altersgruppe der 5- bis 7-Jährigen (Vorbereitung auf die Schule) – Kinder mit Auffälligkeiten im Bereich der sozial-emotionalen Entwicklung (sekundäre Prävention) – Setting: Schulvorbereitende Einrichtungen (SVE) – Personenbezogene Intervention (Gruppenprogramm) – Fokus: Kinder (primär) und Eltern (unterstützend) PESS ist als Gruppenprogramm in der alltäglichen Umgebung der Kinder konzipiert. Zum einen werden die Vorzüge der normalen Umgebung genutzt, um den Kindern ein eher niedrigschwelliges Angebot machen zu können, welches sie nicht aus ihren gewohnten Bezügen herausreißt. Zum anderen hilft das gewohnte Setting, den Transfer des Erlernten in den Alltag zu erleichtern, da die Teilnehmer neu erworbene Fertigkeiten sogleich im Gruppenalltag anwenden können. Der Gruppenkontext ist dabei von zentraler Bedeutung, um sowohl von als auch mit Peers einen sozial angepassten Umgang mit Emotionen zu erlernen. Dies gilt in besonderem Maße für emotionale Störungen, da der soziale Kontext für den Umgang mit Emotionen und die Ausbildung emotionaler Störungen eine besondere Rolle spielt. Zugleich werden eine Reihe von Problemen in der Emotionswahrnehmung und Emotionsmodulation überhaupt erst im Gruppenkontext greifbar. Dies gilt vor allem für das fehlende Bewusstsein individuell
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unterschiedlicher Wahrnehmungen oder sozial inadäquate Bewältigungsversuche einzelner Teilnehmer. Die Durchführung des Programms findet wöchentlich zweistündig über einen Zeitraum von drei Monaten statt (vgl. Kasten 9). Das Programm wird von den betreuenden Erzieherinnen und Erziehern durchgeführt, da diese bereits eine emotionale Beziehung zu den Kindern aufgebaut haben und den Transfer des Erlernten in den Alltag unterstützen können. Das pädagogische Personal der jeweiligen Einrichtung wird mit dem notwendigen Interventionsmaterial ausgestattet und vor der Durchführung des Programms geschult. Gemeinsam mit den Kindern wird ein Workbook erstellt, bei dem individuelle Aspekte der Teilnehmer eine große Rolle spielen. So dürfen die Kinder beispielsweise den Umschlag ihres Workbooks selbst gestalten. Des Weiteren werden Beispielfotos der Kinder in das Workbook eingefügt, um einen hohen persönlichen Bezug herzustellen und das Workbook zu „ihrem“ Buch werden zu lassen. Darüber hinaus sind die Erzieherinnen und Erzieher aufgefordert, auch im pädagogischen Alltag jenseits der Programmdurchführung eine Modellfunktion einzunehmen, was den positiven Ausdruck und Umgang mit Emotionen betrifft. Kasten 9: Aufbau des Programms PESS
– Wöchentliche Gruppensitzung mit Kindern über einen Zeitraum von drei Monaten – Begleitender Elternabend (Beginn/Ende) – Erstellung eines Workbooks zur Weiterführung des Erlernten mit den Kindern (mit Ergänzungsmöglichkeiten) – Auffrischungskurs nach einem halben Jahr PESS ist ein personzentriertes Programm, d. h., der Schwerpunkt der Intervention wird auf die direkte Förderung der Kinder gelegt. Unterstützend werden zwei Elternabende durchgeführt, an denen die Eltern inhaltlich über das Programm informiert werden und Hinweise zum Umgang mit Emotionen erhalten. Hierzu gehört auch ein „Elternbuch“, welches eine Ergänzung zu den Übungen der Kinder darstellt, den Transfer in den häuslichen Alltag erleichtert und der Absicherung mittelfristiger Effekte dienen soll. Ergänzend wird ein Auffrischungskurs nach einem halben Jahr angeboten, in dem reflektiert wird, inwieweit einzelne Elemente des Programms umgesetzt werden konnten. Beispielübungen des Programms PESS Im Folgenden werden einzelne Übungen des Programms PESS beschrieben, um einen Eindruck vom konkreten Aufbau des Programms zu vermitteln. Die einzelnen Übungen decken dabei häufig nicht nur eine, sondern mehrere Emotionsstufen nach Saarni gleichzeitig ab. Für die einzelnen Fertigkeiten nach Saarni wurden im Rahmen des Programms Leitfragen entwickelt, die auf kindgerechte Weise die zentralen Aspekte der jeweiligen Fertigkeit wiedergeben. Die Leitfra-
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Tabelle 1: Leitfragen zu den einzelnen Bausteinen des Programms PESS 1. Bewusstsein über den eigenen emotionalen Zustand
– Was macht mich traurig/wütend/fröhlich/ängstlich? – Wie fühle ich mich, wenn ich traurig/ wütend/fröhlich/ängstlich bin? – Wie fühle ich mich in diesem Augenblick? – Wie sehe ich aus, wenn ich traurig/ wütend/fröhlich/ängstlich bin?
2. Die Fähigkeit, Emotionen anderer Menschen auf der Grundlage von Merkmalen der Situation und des Ausdrucksverhaltens zu erkennen.
– Wie fühlt sich der andere? – Was fühlt der andere, wenn er traurig/ wütend/fröhlich/ängstlich ist? – Wie sieht jemand aus, der traurig/ wütend/fröhlich/ängstlich ist?
3. Die Fähigkeit, das Vokabular der Gefühle und Ausdruckswörter zu benutzen.
– Wie sage ich, wenn ich traurig/wütend/ fröhlich/ängstlich bin? – Wie beschreibe ich (auch fremde) Gefühle?
4. Die Fähigkeit, empathisch auf das Erleben anderer Menschen einzugehen.
– Was tue ich, wenn jemand anderes traurig/wütend/fröhlich/ängstlich ist? – Wie geht es mir, wenn andere traurig/ wütend/fröhlich/ängstlich sind?
5. Die Fähigkeit, aversive oder belastende Emotionen und problematische Situationen in adaptiver Weise zu bewältigen.
– Was mache ich, wenn ich traurig bin? – Was mache ich, wenn ich wütend bin? – Was mache ich, wenn ich Angst habe?
6. Die Fähigkeit zur emotionalen Selbstwirksamkeit; die Person ist der Ansicht, dass sie sich im Allgemeinen so fühlt, wie sie sich fühlen möchte.
– Fühle ich mich wohl? – Kann ich erreichen, was ich will?
gen werden in den einzelnen Übungen wörtlich aufgegriffen, dienen den Erzieherinnen aber auch als Orientierung bzw. handlungsleitende Fragen (vgl. Tab. 1). Eine Übung, um die Emotionswahrnehmung (Saarni I) zu fördern, stellt das Gefühlswappen dar. Dabei malen die Kinder an verschiedenen Tagen auf ein zuvor in vier Teile eingeteiltes Wappen je eine Situation, in der sie eine der vier Grundemotionen besonders stark erlebt haben. Die Wahrnehmung und das Verstehen der Emotionen anderer Menschen auf der Grundlage von Merkmalen der Situation und des Ausdrucksverhaltens (Saarni II) lässt sich im Spiel „Paare bilden“ schulen. Zusammen mit den Kindern wird hierbei ein Set von vier Bildern betrachtet. Die einzelnen Bilder zeigen den gleichen Menschen, jeweils mit dem Ausdruck einer der Emotionen Angst, Freude, Wut und Trauer. Die Gefühle werden von den Kindern benannt und genauer beschrieben. Im Anschluss erhält jedes Kind mehrere Sets à vier Fotos, auf denen die vier Emotionen jeweils von derselben Person dargestellt abgebildet sind. Die Kinder sollen nun dem bereits bekannten Bilder-Set die „neuen“ Bilder richtig zuordnen, so dass am Ende vier Stapel entstehen, die jeweils alle
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Bilder enthalten, die zur jeweiligen Emotion gehören (also ein „Wut-Stapel“, ein „Angst-Stapel“, ein „Freude-Stapel“, ein „Trauer-Stapel“). Wichtig ist nach Saarni weiterhin die Fähigkeit, Gefühlsvokabeln aufzubauen und möglichst viele Ausdruckswörter zur Verfügung zu haben (Saarni III). Im Programm PESS wird dies beispielsweise durch das Spiel „Lustige und traurige Gesichter“ gefördert. Hierbei formen die Kinder aus Knetmasse verschiedene Gesichter, welche unterschiedliche Gefühle zeigen, z. B. Freude oder Wut. Durch die gemeinsame Betrachtung der Knetgesichter lernen die Teilnehmer, dass sie ihre Gefühle in unterschiedlicher Weise erleben und ausdrücken. Einen weiteren Baustein stellt die Fähigkeit dar, empathisch auf das Erleben anderer Menschen einzugehen (Saarni IV). Hierbei steht der Umgang mit den Emotionen der anderen im Vordergrund. Eine Übung hierzu ist der „blinde Spaziergang“. Die Kinder finden sich dazu paarweise zusammen. Einem der beiden Kinder werden die Augen verbunden. Der Partner führt seinen Kameraden im Folgenden behutsam herum. Nach ein paar Minuten werden die Rollen getauscht. Im Anschluss erfolgt ein gemeinsames Gespräch. Der Spielleiter befragt die Kinder zu ihren Gefühlen beim Führen und Geführtwerden, welche Rolle ihnen angenehmer war und ob sie beim Führen merkten, welche Gefühle das geführte Kind hatte, vor allem ob es sich sicher oder unsicher fühlte. Auf diese Weise erleben die Kinder, dass es sehr schwer ist, die Gefühle der anderen richtig wahrzunehmen. Zudem lernen sie, feinfühliger auf die Gefühle anderer einzugehen. Ein wichtiger Baustein ist nach Saarni darüber hinaus die Fähigkeit, belastende Emotionen und problematische Situationen in adaptiver Weise zu bewältigen (Saarni V). Diese Fähigkeit wird im Programm beispielsweise durch das Lösen von Konfliktgeschichten gefördert. Die Erzieherin bzw. der Erzieher spielt hierzu mit zwei Handpuppen eine Geschichte aus der Lebenswelt der Kinder vor. Zunächst werden die Kinder nach den Gefühlen der in der Geschichte vorkommenden Figuren gefragt, um sodann in der Gruppe Möglichkeiten der Konfliktlösung zu sammeln. Dabei werden wiederum die Gefühle der Figuren thematisiert, wenn der Konflikt gelöst ist. Die Aufforderung, selbst erlebte Situationen zu berichten, begünstigt den Transfer der Lösungen in die individuelle Lebenswelt des einzelnen Kindes. Nach diesem spielerischen Einüben des Umgangs mit Konflikten wird in einem zweiten Schritt ein erlebter Konflikt der Kinder in einem Rollenspiel durchgespielt. Entscheidend ist dabei, dass für diesen konkreten Fall unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten gemeinsam erarbeitet und im Rollenspiel umgesetzt werden. Die Fähigkeit zur emotionalen Selbstwirksamkeit (Saarni VI) wird letztendlich als übergeordnetes Ziel durch das Programm in seiner Gesamtheit gefördert.
14.3 Schlussfolgerungen für die Praxis Im Folgenden sollen einige Beispiele erläutert werden, welche sich im Umgang mit Emotionen als hilfreich erwiesen haben und daher auch im Präventionspro-
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gramm PESS berücksichtigt wurden. Einige der genannten Beispiele sind von Webster-Stratton (2000) sowie von Denham und Burton (2003) übernommen, jedoch für die Zielgruppe modifiziert. Hilfreich sind in diesem Zusammenhang auch die Stoffsammlungen von Pfeffer (2002) und Smith (2005) sowie die bereits etwas ältere Geschichtensammlung von Jensen und Wells (1979). Es bleibt in jedem Fall zu beachten, dass vor der Verwendung des Materials überlegt werden sollte, ob der Text und das Spiel bzw. die Übung für die jeweilige Zielgruppe geeignet sind, wie dies für die Zielgruppe im Allgemeinen bereits bei der Planung des Projekts PESS geschehen ist. Zunächst sollten Kinder zu Gefühlsäußerungen und Gesprächen über Gefühle ermutigt werden. Hierbei ist es wichtig, dass emotionale Äußerungen und Reaktionen – auch in für die Erwachsenen unverständlichen Formen – akzeptiert und aufgegriffen werden. Wenn Kinder sich ausgelassen freuen, laut weinen, wenn sie traurig sind oder sich vor Angst unter der Bettdecke verkriechen, ist das ein Ausdruck ihrer momentanen Befindlichkeit. Eltern und Erzieher sollten diese Gefühlsäußerungen keinesfalls abwerten oder verbieten. Sie sollten den Kindern stets erlauben, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, ohne dass die Kinder sich dafür schämen müssen. Das gilt auch und in besonderem Maße für Trauer und Angst. Äußerungen wie „Hör auf zu weinen!“, „So schlimm kann es wohl nicht sein, stell dich nicht so an!“ oder andere Abwertungen der momentanen kindlichen Befindlichkeit können die emotionale Entwicklung eines Kindes in negativer Weise beeinflussen und zu generellem sozialen Rückzug führen. Daher ist es wichtig, dass die Kinder in ihrer eigenen Gefühlswelt ernst genommen werden und ihrem Emotionsausdruck ein hinreichender Raum eingeräumt wird. Kinder sollten aus diesem Grund u. a. nicht von ihrer Trauer abgelenkt werden, da sie die Auseinandersetzung mit der eigenen Trauer brauchen, um Gefühle an sich und anderen zu akzeptieren. Nur wenn die Heranwachsenden ein breites Repertoire an Emotionen und deren Ausdruck erfahren, können sie diese auch kennen lernen, imitieren und in ihr eigenes Verhaltensrepertoire aufnehmen. Deshalb ist es wichtig, dass Eltern und Erzieher ihre Trauer, Angst und Wut nicht vor den Kindern verstecken. Das gemeinsame Erleben von negativen Gefühlen hat zwei unterschiedliche Funktionen: zum einen normalisiert es diese Gefühle und verdeutlich den Heranwachsenden, dass jeder Angst (Wut, Trauer) hat und diese Gefühle zum alltäglichen Leben gehören. Zum anderen werden die Kinder damit vertraut, diese für einen selbst schwierigen und belastenden Gefühle in adäquater Weise zu äußern. Sie erfahren am Modell, mit diesen Gefühlen umzugehen. Eine weitere bedeutsame, in ihrer sozialen Wirkung jedoch häufig problematische Emotion stellt die Wut dar. Hier gilt es, kindliche Wut zuzulassen, solange sie nicht in destruktives oder extrem aggressives Verhalten mündet. Kinder können nur lernen, mit ihrer Wut adäquat umzugehen, wenn Wütendsein erlaubt ist. Wut sollte deswegen nicht unterdrückt werden. Die Kinder müssen aber auch die Grenzen ihrer Gefühlsäußerungen erfahren. Erwachsene müssen Vorbilder im Umgang mit Wut sein: Körperliche Gewalt oder die Zerstörung von Gegenständen stellen keine adäquaten Ausdrucksformen von Wut dar und führen zwangsläufig zu sozialen Konsequenzen, deren Tragweite Kindern nach
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Möglichkeit vermittelt werden sollte. Ziel ist es, nicht zuletzt durch das Vorbild der Erwachsenen Kinder zu einem angemessenen verbalen Ausdruck von Frustrationen und Wut anzuleiten. Hierzu gehört auch, dass ein dem Kind verfügbares Repertoire an Handlungsalternativen und/oder Ausweichmöglichkeiten für Konfliktsituationen geschaffen wird. Auch Kinder auf einem niedrigen Entwicklungsstand können Gefühle verbalisieren. Sie können in Gesprächen viel über sich selbst und ihre Gefühle lernen und üben, diese auch sprachlich auszudrücken. Eltern und Erzieher verfügen über vielfältige Möglichkeiten, Gespräche über Gefühle zu führen. Im Kindergarten oder der Schulvorbereitenden Einrichtung (SVE) kann schon im morgendlichen Stuhlkreis die Frage eingeführt werden „Wie geht es dir heute?“, die durchaus auch in einfachen Worten oder gestisch (z. B. Daumen nach oben oder unten) beantwortet werden kann. Unterstützt werden kann dies durch so genannte „Stimmungskalender“, auf denen jedes Gruppen- oder Klassenmitglied mittels Skalen zwischen Begriffspolen (schlecht – gut) oder Piktogrammen (Smileys, Wetterbilder, u. a.) angeben kann, wie es ihm geht. Berichte von Kindern über eigene Erlebnisse können als Anlass für einen Austausch über Gefühle dienen. Gezielte Fragen können dabei helfen, auf die Gefühle des Kindes in einer bestimmten Situation zu fokussieren. Lernen Kinder in Gesprächen über alltägliche Gegebenheiten, ihre Gefühle zu äußern, so fällt ihnen dies in schwierigen, angsterzeugenden Situationen leichter. Eine zentrale Funktion nehmen in diesem Zusammenhang die Emotionen Freude und Stolz ein. Wenn Kinder stolz auf eine erbrachte Leistung sind oder sich über bzw. auf etwas besonders freuen, ist es wichtig, diese Gefühle zu bekräftigen, indem man sie mit den Kindern teilt. Kinder, die ihre Affekte mit Erwachsenen teilen, werden über die Selbstwirksamkeitserfahrungen in ihrem Selbstwert unterstützt. Zugleich bietet dies die Möglichkeit, gemeinsam mit dem Kind realistische Ziele zu formulieren und Erfolg positiv zu verstärken. Fazit: Es gibt viele Ansatzmöglichkeiten, sozial-emotionalen Störungen bei Kindern mit Behinderung präventiv entgegenzuwirken. Einzelne Interventionsmaßnahmen wie z. B. das Programm PESS stellen dabei nur einen Baustein dar, der die Förderung der emotionalen Entwicklung im familiären und außerfamiliären Kontext unterstützen und ergänzen, auf keinen Fall jedoch ersetzen kann. An der Entwicklung und Evaluation entsprechender Programme besteht anhaltend großer Bedarf. Ein besonderes Augenmerk sollte hierbei auf die genaue Passung zwischen Programm und Zielgruppe gelegt werden. Der Förderbereich sozialemotionaler Entwicklung insbesondere in seiner Verknüpfung zur Behindertenproblematik stellt insofern ein Forschungsdesiderat dar.
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Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes Bach, Johannes, Dr. phil., Dipl. Psych. Dipl. Theol. Lehrstuhl für Geistigbehinderten- und Verhaltensgestörtenpädagogik Abt. für Präventions-, Integrationsund Rehabilitationsforschung Leopoldstr. 13 80802 München E-Mail:
[email protected] Beelmann, Andreas, Prof. Dr. phil. Institut für Psychologie Universität Jena Humboldtstr. 26 07743 Jena E-Mail: andreas.beelmann@uni-jena. de Blatter, Judith, Dipl.-Psych. Institut für Psychologie Klinische Kinderund Jugendpsychologie Universität Basel Missionsstr. 60/62 CH-4055 Basel E-Mail:
[email protected] Bode, Harald, Prof. Dr. med. Sozialpädiatrisches Zentrum der Universitätsklinik für Kinderund Jugendmedizin Frauensteige 10 89075 Ulm E-Mail:
[email protected] Brisch, Karl Heinz, PD Dr. med. habil. Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie des Dr. von Hauner’schen Kinderspitals Ludwig-Maximilians-Universität Pettenkoferstr. 8a 80336 München E-Mail:
[email protected]
Cierpka, Manfred, Prof. Dr. med. Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie Universitätsklinikum Heidelberg Bergheimer Str. 54 69115 Heidelberg E-Mail:
[email protected] Hahlweg, Kurt, Prof. Dr. phil. Institut für Psychologie Technische Universtität Braunschweig Spielmannstr. 12 A 38106 Braunschweig E-Mail:
[email protected] Heinrichs, Nina, Prof. Dr. rer. nat. Institut für Psychologie Technische Universität Braunschweig Spielmannstr. 12 A 38106 Braunschweig E-Mail:
[email protected] Jaursch, Stefanie, Dr. phil. Institut für Psychologie Universität Erlangen-Nürnberg Bismarckstr. 1 91054 Erlangen E-Mail:
[email protected]. uni-erlangen.de Karch, Dieter, Prof. Dr. med. Klinik für Kinderneurologie und Sozialpädiatrie Kinderzentrum Maulbronn Knittlinger Steige 21 75433 Maulbronn E-Mail:
[email protected] Krajewski, Kristin, Dr. phil. Lehrstuhl für Psychologie IV des Instituts für Psychologie Universität Würzburg Röntgenring 10 97070 Würzburg E-Mail:
[email protected]
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Autorinnen und Autoren
Küspert, Petra, Dr. phil. Würzburger Institut für Lernförderung Balthasar-Neumann-Promenade 11 97070 Würzburg E-Mail:
[email protected] Lösel, Friedrich, Prof. Dr. phil., Dr. sc. h.c. Institute of Criminology University of Cambridge Sidgwick Avenue Cambridge, CB3 9DT United Kingdom E-Mail:
[email protected] Marx, Peter, Dr. phil. Universität Würzburg Fachbereich Psychologie Wittelsbacherplatz 1 97074 Würzburg E-Mail:
[email protected] Probst, Paul, Prof. Dr. phil. Fachbereich Psychologie Von-Melle-Park 5 20146 Hamburg E-Mail:
[email protected] Schneider, Silvia, Prof. Dr. phil. Institut für Psychologie Klinische Kinderund Jugendpsychologie Missionsstr. 60/62 CH-4055 Basel E-Mail:
[email protected]
Schneider, Wolfgang, Prof. Dr. phil. Lehrstuhl für Psychologie IV des Instituts für Psychologie Universität Würzburg Wittelsbacherplatz 1 97074 Würzburg E-Mail:
[email protected] Stemmler, Mark, Prof., Ph.D. Institut für Psychologie Universität Erlangen-Nürnberg Bismarckstr. 1 91054 Erlangen E-Mail:
[email protected]. uni-erlangen.de von Suchodoletz, Waldemar, Prof. Dr. med. Institut für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Ludwig-Maximilians-Universität Nußbaumstr. 7 80336 München E-Mail:
[email protected] Weber, Jutta, Dr. phil. Universität Würzburg Institut für Psychologie IV Röntgenring 10 97070 Würzburg E-Mail:
[email protected]
Stichwortverzeichnis ABCX-Modell 158 Aggression 212 Alkohol 34 Alternativen 205 Amygdala 207 Angst 277 Ängste, alterstypische 116 Anleitung von Eltern 65 Anzahlkonzept 100, 104, 106, 109 Anzahlrelationen 102, 104, 106, 107 Apgar-Score 32 Arbeitsgedächtnis, sprachgebundenes 87 Asperger-Syndrom 135 Attributionsfehler 136 Ausgangsabstraktion 99, 100, 108 Autismus, frühkindlicher 134 Autismus-Spektrum 133
B.A.S.E.® 177 Babywatching 177 Basisemotionen 272 Basisfertigkeiten 100 Beeinträchtigung 263 Behaviorismus, subjektiver 161 Behinderung 259, 263 – geistige 29 Behinderungsbegriff 263 Beratung, genetische 18, 32 Beruhigungstechniken 212 Bewusstheit, phonologische 86, 87 Beziehungswissen 207 Bibliotherapie 196 Bielefelder Screening 92 Bindungsentwicklung 168 Bindungserfahrungen 169
Bindungsstörungen 167 Bobath-Behandlungen 23 Breitband-Elternberatung 141 Buchstabe-Laut-Zuordnung 91 Buchstaben-Laut-Training 90
Campbell Collaboration 237 Cerebralparese 13, 21, 25 Coping Cat 120 Cytomegalie 33
Darstellungsmittel 99, 103, 107, 108, 111, 112 Diskretes Lernformat 142 Durchführung von Faustlos 211
early intervention 12, 22 EFFEKT-Elterntraining 222 EFFEKT-Kindertraining 218 EFFEKT-Präventionsprogramm 229 Effektivität 5 Effektstärke 238, 240, 243 Effizienz 6 Eltern-Kind-Interaktion 145 Eltern-Mediatoren-Konzept 141 Eltern-Säuglings-Interaktionen 171 Elternprogramm 189 Elterntraining 186, 222 – nach Patterson 188 – verhaltenstherapeutisches 217 Elterntrainingsprogramm 188
Emotionsausdruck 261, 277 Emotionsmodulation 262, 272 Emotionsregulation 206, 213, 261 Emotionswahrnehmung 260, 272, 275 Empathie 177, 204 Empathiefähigkeit 210, 262 Entwicklung mathematischer Kompetenzen 100, 103 Entwicklungspfad 235 Erfolgskriterien 244, 249 Erlangen-Nürnberger Studie 218 Ernährung 36 Erwachsenen-BindungsInterview 173 Erzieherprogramm 189 Erziehung 37, 216 Erziehungsfertigkeiten 186 Erziehungskompetenz 187, 217, 223 Evaluation 38, 225 Exo-System 136
Familien-Adaptation 135, 145 Familien-Coping 137 Familienadaptation 137 Familienökologisches System 158 Fast-Track-Programm 230 Faustlos-Unterricht 211 Feinfühligkeit 177 Fernsehkonsum 58 Folsäure 12, 17, 25 Förderhypothese 60 Förderung, konduktive 24 Förderunterricht 83 FREUNDE-Programm 120
284 Früherkennung 4 Früherkennungsprogramm 37 Früherkennungsuntersuchung 39 Frühfördermaßnahmen 16 Frühförderung 22, 25, 38, 39 Frühgeburtlichkeit 19, 34 Frühintervention 12 Frustrationstoleranz 206 Funktion, reflexive 209 Funktionsfähigkeit 263
Geburtskomplikationen 14, 15 Gefühlsäußerungen 277 Gefühlsvokabeln 276 Gegenseitigkeit, sozioemotionale 156 Generalisierte Angststörung 119 Genussgifte 18 Gerechte-Welt-Annahme 137 Gesundheit, bedingte 134 Gesundheitsförderung 1 Gesundheit und Optimismus 123 Gewalt, familiäre 184 Gewalterfahrungen 173 Gruppenprogramm 273
Handlungsalternativen 209 Handlungskonsequenzen 221 Handlungsorientierung 269 Handlungsrepertoire 208 Hanen-Programm 65 Hat-Mut 127 Head Start Program 67 Hirnschädigung, frühkindliche 52 Hörstörungen 53 Hotline 174
impairment 263
Stichwortverzeichnis Impfung 18, 25, 36 Implementierung 9, 225, 251 Impulsivität 209 Impulskontrolle 210 Infant Health and Development Program 40 Infektionen, intrauterine 20 Informationsaustausch, sozialer 205 Informationsverarbeitung, phonologische 87 Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, verbale 87 Intelligenz, emotionale 203 Interaktionserfahrungen 264 Interaktionsprozess 270 Interventionen, schulische 160 Interventionsprogramm 40 Interventionsstudie 40 Irrelevanz-Hypothese 60
Jod 17 Kausalitätsprinzip 221 Kieler Lese- und Rechtschreibaufbau 85 Kieselschule 211 Kindesmisshandlung 25, 184 Kohärenzbewusstsein 138, 161 Kompetenz – emotionale 269, 270 – soziale 216, 239, 243 Kompetenztraining, soziales 219, 235, 245 Konfliktgeschichten 276 Konfliktlösung 203 Konfliktlösungsverhalten 206 Konfliktsituation 204, 212 Kontingenz-ManagementFormat 142
Kosten-Nutzen-Gesichtspunkt 248 Kriminalprävention 249 Krippenerziehung 63 Kurzzeitgedächtnis 87
Lautgebärden 86 Lautgetreue Lese-Rechtschreibförderung 83 Legasthenie 82, 83 Lehrer-Gruppentraining 156 Lehrer-Schüler-Beziehung 157 Leitfaden zur Bekämpfung der Lese-Rechtschreibschwäche 85 Leitfragen 274 Lernbehinderung 29 Lernen, sozial-emotionales 203 Lese-Rechtschreibschwäche 82 Lese-Rechtschreibstörung 81, 82 Leseinteresse 91 Lovaas-Programm 145 Lückenbüßer-Hypothese 61 Mainstreaming-Hypothese 61 Makro-System 136 Marburger Rechtschreibtraining 84 Medienkonsum 58 Medikamente 18 Medizin, perinatale 35 Mehrlingsschwangerschaft 19 Mentalisierungsprozess 208 Meso-System 136 Meta-Analyse 235, 242, 247 Migrationshintergrund 93 Mikro-System 136 Milwaukee Projekt 40 Missbrauch 36 Missbrauch, sexueller 184
Stichwortverzeichnis Misshandlung 36 Mitgefühl 262 Moderatoranalyse 246 Motorik 15 Mutter, allein erziehende 188 Mutter-Kind-Beobachtung 179 Muttermilchernährung 17 Naturalistisches Lernformat 142 Nebenwirkungen 9 – psychosoziale 160 Neugeborenen-Screening 39 Nikotin 34 Nikotinmissbrauch 18 Nutzen-Risiko-Abwägung 8
Ottawa-Charta 1 Partizipation 263 Pathogenese 1 Perinatalmedizin 20, 21 Perspektivenübernahme 262 PESS 268, 269 Phobische Störung des Kindesalters 118 positiv erziehen 224 Prävalenzrate 243 Prävention – indizierte 3, 243 – personale 3 – primäre 3 – sekundäre 3 – selektive 3, 243 – strukturelle 3 – tertiäre 3 – universelle 3, 243 Präventionsparadoxon 7 Präventionsprogramm für Expansives Problemverhalten – PEP 189 Problemlösespiele 220 Problemverhalten 183 Programme – kognitiv-behaviorale 246, 249 – kognitive 268
Programmintegrität 251 Prophylaxe 1 Prozess-Evaluation 225 Psychoedukatives ElternEinzeltraining 150, 155 Psychoedukatives ElternGruppentraining 147, 153 Psychoedukatives Lehrergruppen-Training 152 publication bias 250
Randomisierung 237, 242 Rauchen 34 Read Together – Talk Together 68 Rechtschreibregeln 86 Rehabilitationspolitik 263 Retardierung, mentale 30 Risiken – biologische 53 – psychosoziale 36 Risikoabwägung 6 Risikofaktoren 14, 236, 265, 266 Risikokind 92 Rollenspiel 209
SAFE®-Mentorenausbildung 175 SAFE®-Programm 168 Salutogenese 1 Schädel-Hirn-Trauma 14, 25 Schallleitungsschwerhörigkeit 54 Schlaganfall 21 Schlüssel-FertigkeitenTraining 142 Schriftsprachkompetenz 82 Schutzfaktoren 265, 267 Schwangerschaftsrisiken 33 Selbstkontrolle 216 Selbstwirksamkeit, emotionale 276 Selbstwirksamkeitserfahrungen 270
285 soziale Beziehungen stärken 225 Soziale Phobie 118 Sozialisationserfahrungen 271 Spastik 13 Spezifische Phobie 118 Spielregeln in der Familie 224 Spina bifida 12, 25, 33 Sprachentwicklung 47 Spracherwerbstheorie – behavioristische 47 – generative 48 Sprachförderung 62 Sprachtherapie 69 Stimmungskalender 278 Störung – des Schriftspracherwerbs 81 – des Sozialverhaltens 215 – mit sozialer Ängstlichkeit 118 – mit Trennungsangst, emotionale 117 – sozial-emotionale 260 Straftäterbehandlung 249 Stress-Coping-Modell 138 Strukturierte Lehrstrategie 158
TEACCH 144, 152, 161 Teilleistungsschwäche 82 Training im Problemlösen 230 Trainingsprogramm zur phonologischen Bewusstheit 88 Trauer 277 Traumapsychotherapie 173 TrennungsAngstprogramm Für Familien (TAFF) 127 Triple P – Positive Parenting Training 190
286
Überforderung in der Erziehung 225 Überforderungshypothese 59 Umgang mit Ärger und Wut 210 Umwelteinflüsse 51 Umweltgiftstoffe 34 Unfallprävention 18, 25 Universelles Triple P 190 Ursachen von Sprachentwicklungsstörungen 49
Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen, auditive 55 Verdrängungshypothese 59
Stichwortverzeichnis Vererbung 51 Verhalten – aggressives 183, 235, 259 – delinquentes 183, 259 – dissoziales 244 Verhaltensprävention 3 Verhaltensprobleme, dissoziale 239, 243 Verhaltensstörungen 183 Verhältnisprävention 3 Vernachlässigung 36 Verteilungsgerechtigkeit 7 Video-Interaktionstraining 171 Videotrainingsprogramm 68 Viktimisierung, soziale 136
Visuell-Strukturiertes Lernformat 141 Vojta-Therapie 24 Vorläufermerkmale 86 Vorlesen, dialogisches 67
Wahrnehmung 205, 208 Wahrnehmungstraining, auditives 57 Wirksamkeit 5 Wirkungsevaluation 226 Wissen, soziales 207 Wut 277
Zahlenstruktur 103, 107, 112 Zielgruppe 8 Zielgruppenorientierung 269