Ren Dhark® Der Bitwar‐Zyklus Band 7
Proxima Centauri Herausgegeben von HAJO F. BREUER Scan: Puckelz K‐Leser: CC Layout: Puckelz
! Ein Universum Release, nur für den internen Gebrauch !
HJB®
Proxima Centauri von CONRAD SHEPHERD (Kapitel 1 bis 5) ACHIM MEHNERT (Kapitel 6 bis 10) JO ZYBELL (Kapitel 11 bis 15) UWE HELMUT GRAVE (Kapitel 16 bis 20) und HAJO F. BREUER (Expose)
1. Auflage HJB Verlag & Shop KG Postfach 22 01 22 56544 Neuwied Bestellungen und Abonnements: 0 26 31‐35 48 32 Fax:0 26 31‐35 6102 E‐Mail:
[email protected] www.ren‐dhark.de © REN DHARK: Brand Erben Herausgeber: Hajo F. Breuer Titelbild: Ralph Voltz Druck und Bindung: Ueberreuter Buchproduktion © 2005 HJB Verlag REN DHARK und HJB sind eingetragene Warenzeichen Alle Rechte vorbehalten ISBN 3‐937355‐10‐3
Der Bitwar-Zyklus Das Ende der Erde scheint unausweichlich: eine gigantische Roboterstreitmacht greift das Sonnensystem an. Und als wäre das nicht schon genug, gibt es im Nachbarsystem Proxima Centauri die Antwort auf alle Fragen zum Tod unserer Sonne. Doch diese überlebenswichtigen Antworten sind geschützt von einer schier undurchdringlichen Wand aus purer Energie… Uwe Helmut Grave, Achim Mehnert, Conrad Shepherd und Jo Zybell schrieben einen packenden SF-Roman nach dem Expose von Hajo F. Breuer. Diese Buchausgabe präsentiert die Saga über das Leben des Sternenabenteurers Ren Dhark: eine Science Fiction-Serie, genau wie sie sein muß! Erstveröffentlichung
Vorwort Welchen Einfluß hat das reale Leben auf die Arbeit von Autoren? Kann es sein, daß wir gerade deshalb eine langsam unter dem Eis erstarrende Erde schildern, weil uns die Sommerhitze so sehr plagt? Man weiß es nicht genau… Auf jeden Fall macht der aktuelle Handlungsstrang der REN DHARK‐Saga unmißverständlich klar, wie verletzlich das Leben auf der Erde tatsächlich ist. Unsere Welt umkreist einen atomaren Glut‐ ofen, der eine Kugel von 20 Metern Durchmesser darstellen würde, wenn die Erde die Größe eines Fußballs hätte. Brandneue For‐ schungsergebnisse zeigen, daß in der Realität die Sonne gerade so aktiv ist wie seit 8000 Jahren nicht mehr. Und alle Wissenschaftler gehen davon aus, daß auf einen solchen Aktivitätshöhepunkt viel‐ leicht noch zu unseren Lebzeiten eine erneute »Ruhephase« folgen und dann auf der Erde eine neue Eiszeit anbrechen könnte – ganz ohne das Zutun bösartiger Roboter, die zusätzlich an unserem Zentralgestirn herummanipulieren! Man sieht also, die SF ist oft viel näher dran an der Realität, als ei‐ nem lieb sein kann. So nah wie möglich an der Realität geblieben sind wir auch mit unserem neuen Mini‐Zyklus DER MYSTERIOUS: Arc Doorns Leben auf der Erde in den vergangenen fast zweiein‐ halbtausend Jahren wird in sechs packenden Episoden geschildert, deren historische Hintergründe exakt recherchiert wurden. Ich hatte schon immer eine ganz persönliche Vorliebe für die Verknüpfung von Science Fiction und historischer Realität – wie so etwas aussehen kann, schildert DER MYSTERIOUS in sechs spannenden Abenteu‐ ern. Bereits erschienen sind die beiden Bände mit den Titeln »Ale‐ xander« und »Nero«, in Kürze folgen »Attila«, »Marco Polo«, »Wal‐ lenstein« und »Tunguska«. Diese Leckerbissen sollte sich kein REN DHARK‐Fan entgehen lassen.
Wie alle unsere Paperbacks sind auch die sechs Ausgaben von DER MYSTERIOUS exklusiv nur im HJB‐Shop erhältlich und nicht über den Buchhandel. Wir bekommen täglich Anfragen, ob REN DHARK‐Abonnenten die Serie automatisch erhalten – dem ist nicht so. Wer DER MYSTERIOUS lesen möchte, muß die Serie oder ein‐ zelne Bände daraus gesondert abonnieren bzw. bestellen. Ebenfalls allerbeste SF‐Unterhaltung verspricht die neue Serie aus dem Hause HJB: TERRA 55oo von Jo Zybell. Die sechs Bände sind mittlerweile ausgeliefert und die Reaktionen mehr als erfreulich: RD‐Autor Zybell hat einen eigenen Kosmos erschaffen, der viel düsterer und bedrohlicher ist als der von REN DHARK. In TERRA 55oo haben es die Menschen nicht mit einer Bedrohung aus den Tiefen des Alls zu tun, sondern mit dem schlimmsten Feind, den die Menschheit überhaupt haben kann: mit dem Menschen! TERRA 55oo ist ein Epos, das in keiner SF‐Sammlung fehlen darf! Nun aber genug des Vorworts! Kommen Sie mit auf eine Reise ins Weltall, lassen Sie sich von Ren Dhark und seinen Mitstreitern ent‐ führen nach Proxima Centauri… Giesenkirchen, im Juli 2005 Hajo F. Breuer
Prolog Im Frühsommer des Jahres 2062 gehen drei ruhige Jahre des Aufbaus für die Erde zu Ende. Mit dem aus der Galaxis Orn mitgebrachten Wissen ist es den Menschen erstmals vergönnt, Ovoid‐Ringraumer der neusten Ent‐ wicklungsstufe zu bauen. Doch keinem dieser neuen Schiffe und nicht ein‐ mal der legendären POINT OF ist es noch möglich, die Galaxis der Worgun anzufliegen. Irgend etwas verhindert jeden weiteren Kontakt… Ren Dhark ist nicht länger Commander der Planeten. Dieses Amt be‐ kleidet nun Henner Trawisheim. Eine seiner ersten Amtshandlungen war es, Ren Dhark als Belohnung für dessen unzählige Verdienste um die Ret‐ tung der Menschheit zum privaten Eigentümer der POINT OF zu ernen‐ nen. Trawisheim glaubte, den unvergleichlichen Ringraumer auch in Zu‐ kunft für die Zwecke der terranischen Regierung einsetzen zu können, denn der Unterhalt eines Schiffes dieser Größe übersteigt Ren Dharks finanzielle Möglichkeiten bei weitem. Doch der Großindustrielle Terence Wallis, der auf der im Halo der Milchstraße gelegenen Welt Eden seinen eigenen Staat gegründet hat, zog Trawisheim mit der Einrichtung der POINT OF‐Stiftung einen dicken Strich durch die Rechnung. Denn die großzügigen Finanzmittel der Stif‐ tung schenken Ren Dhark völlige Unabhängigkeit. Und so bricht er im Frühjahr 2062 zu einem Forschungsflug nach Babylon auf, um endlich das Geheimnis des goldenen Salters ohne Gesicht zu lösen, der dort nun schon mehr als tausend Jahre im Vitrinensaal unter der eben‐ falls goldenen Gigantstatue eines Menschen ohne Gesicht ausgestellt ist. Die Spur führt auf die vom Atomkrieg verseuchte Welt der Kurrgen – als die POINT OF einen Notruf erhält: Unbekannte Raumschiffe greifen die Zentralwelt der heute mit den Terranern verbündeten Grakos an. Die auf Grah stationierten Schiffe älterer Bauart sind für den unheimlichen Gegner keine echte Bedrohung. Als Ren Dhark eine Flotte hochmoderner neuer Ovoid‐Ringraumer ins Gefecht führt, kommt es zu einer erbitterten Schlacht im All: Der unbekannte Gegner ist wesentlich stärker als vermutet!
Doch schließlich flieht er mit unbekanntem Ziel, und Ren Dhark kann seine Suche nach dem Geheimnis der Goldenen fortsetzen. Die führt ihn zu einer unbekannten Welt in den Tiefen des Alls, auf der er den Worgun Dalon trifft – jenen Boten der wohlmeinenden Mutanten, der einst vor über tausend Jahren auch Margun und Sola auf ihre Einzigartigkeit hinwies. Unbeabsichtigt verrät Dalon, daß auch Arc Doorn ein Worgunmutant ist, der seit fast zweieinhalbtausend Jahren auf der Erde wohnt! Dhark hat mittlerweile erfahren müssen, daß die heimatliche Sonne nicht mehr genug Energie abgibt. Wenn die Entwicklung so weitergeht, wird die Erde zum Eisplaneten gefrieren! Auf der Suche nach einer Rettungsmög‐ lichkeit wird die POINT OF in den Kampf mit einem Raumschiff eines Robotervolkes verwickelt. Artus, der intelligente Roboter, Erdenbürger und persönlicher Freund von Ren Dhark, nutzt die Gelegenheit, um die Menschheit angeblich zu verraten. Er schlägt sich auf die Seite der Roboter – doch nur, um sie auszuspionieren! Mit wertvollem Wissen im Gepäck kehrt er nach Terra zurück. Leider kommt er nicht allein: 2500 Roboterschiffe verfolgen ihn… Zur gleichen Zeit geht General Thomas J. Jackson, Oberbefehlshaber der kleinen, aber schlagkräftigen Raumflotte von Eden, mit einem völlig neuar‐ tigen Ringraumer aus Carborit auf Erprobungsflug. Auf einem einsamen Himmelskörper, der aus der Milchstraße herausstrebt, trifft er auf ein merkwürdiges Volk – und gerät in höchste Gefahr…
1. Die THOMAS antwortete nicht. Obwohl General Jackson noch einmal versuchte, die Schiffszentrale zu rufen, blieb das Vipho stumm. Das winzige Karree der Bildfläche zeigte nichts als ein Flimmern, und die Tonübertragung beharrte hartnäckig darauf, inaktiv zu bleiben. Der große, kräftige Mann von Anfang Vierzig runzelte die Brauen in dem kantigen Gesicht und warf einen Blick über die Schulter nach hinten: In der Tiefe des hell erleuchteten Hangars erhob sich der schwarzschimmernde Carborit‐Ringraumer wie eine ringförmige Trutzburg. Warum reagierte niemand an Bord des Schiffes? Was steckte dahinter? Als Jackson den Kopf drehte, begegnete sein Blick dem von Manuel Rayes, der nervös wirkte. Dann sah er zu den beiden Soldaten hi‐ nüber und nickte. Die beiden Männer erwiderten sein Nicken und hoben leicht die Waffen; sie würden alles daran setzen, im Falle einer möglichen Konfrontation mit dem pelzigen Völkchen aus dem Un‐ tergrund Solitudes das Leben der beiden Offiziere und ihr eigenes zu schützen. Jackson richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Toschi Notron, der eben mit seiner quäkenden Stimme verkündete: »Sehen Sie jetzt ein, daß Sie keine andere Wahl haben, als uns Ihr Schiff zu übergeben? Tun Sie es endlich, ehe ich zu ernsthaften Maßnahmen greifen muß!« General Thomas J. Jackson stemmte die Fäuste in die Seiten und blickte finster aus seiner Höhe auf den kleinen Toschi herab, der sich damit brüstete, Oberbefehlshaber aller auf Solitude lebenden Teddys zu sein, und diesen Machtanspruch damit zu unterstreichen ver‐ suchte, daß er martialisch mit den Knopfaugen rollte – was eher komisch als bedrohlich wirkte. Auch die Laserpistole in seiner sech‐
sfingrigen Hand glich mehr einem Spielzeug als einer echten Waffe, was einen weniger vorsichtigen Mann wie Jackson vermutlich zu einer falschen Einschätzung der Lage verleitet hätte. »Was haben Sie mit meinem Schiff gemacht?« knurrte der General aufgebracht. Seine Brauen zuckten bedrohlich wie ein paar verär‐ gerte Raupen, während er ein, zwei Schritte in Richtung des prächtig herausgeputzten Toschis machte. Der Gravitationsverstärker in den Stiefelsohlen ließ wenigstens ein vernünftiges Gehen zu, wie Jackson registrierte. Er und seine Begleiter hätten ansonsten in der Niedrig‐ schwerkraftumgebung des kahlen Gesteinsbrockens von nicht mehr als 0,17 g nur mit ungelenk wirkenden, schwimmenden Bewegungen herumgehampelt. Die Menge der Teddys geriet in Aufregung und wich schnatternd und pfeifend einige Meter zurück. Lediglich Notron blieb unbeirrbar auf seiner Position; es hätte ihm in seiner Stellung als Oberbefehlshaber auch schlecht angestanden, Furcht zu zeigen. »Ich habe Ihnen nur demonstriert, daß Sie eigent‐ lich keine Chance haben«, übersetzte der Translator seine piepsende Stimme, »meine Forderung abzulehnen.« »Habe ich mich verhört, oder wollen die tatsächlich, daß wir ihnen die THOMAS übergeben, Sir?« Manuel Rayes’ Stimme hallte laut durch den Hangar und übertönte den Lärm der aufgeregten Toschis. Der Erste Offizier sah mit besorgtem Stirnrunzeln zu Jackson hinü‐ ber. »Sie haben sich nicht verhört, Nummer Eins«, erwiderte der Ge‐ neral. Rayes sog mit einem scharfen Geräusch die Luft ein. Seiner Miene war anzusehen, daß seine Nerven bis zum Zerreißen gespannt war‐ en. »Ich will keinen unangebrachten Pessimismus verbreiten«, fuhr er fort, »weder vor mir selbst noch Ihnen gegenüber, aber das ganze scheint mir auf eine Konfrontation hinauszulaufen, Sir.« Jackson winkte ab. »Noch ist das letzte Wort nicht gesprochen, Nummer Eins«, sagte
er. Und an das Oberhaupt der Toschis gewandt: »Ich bin mal neu‐ gierig, wie Sie Ihre Forderung in die Tat umzusetzen gedenken, Notron. Denn wie heißt es so schön bei Jesus Sirach? ›Gib acht, wage dich nicht zu weit vor und werde nicht wie die, denen der Verstand fehlt.‹« »Das bezieht sich wohl auf Sie! Sie werden kapitulieren, Mensch«, versicherte Notron aus der Tiefe seiner geringen Körpergröße. Und als wären seine Worte ein Signal gewesen, brach plötzlich ein Tu‐ mult aus. Aus dem Hintergrund wurden einzelne schrille Laute hörbar, die von den weiter vorne stehenden Toschis aufgenommen und in Richtung der Terraner transportiert wurden. Was genau gerufen wurde, ließ sich nicht verstehen. Die Translatoren der Männer waren nicht in der Lage, den ausbrechenden Tumult in verständliche Be‐ griffe zu übersetzen. Die quirlende Menge der kleinen Teddys gab schreiend und quäkend irgendwelchen Zuspruch für etwas, das Jackson und seinen Begleitern verborgen blieb, und in der kreuz und quer sich bewegenden Menge aus bepelzten Wesen entstand eine zielgerichtete Bewegung: kein planloses Durcheinanderlaufen, son‐ dern ein entschlossenes, zielbewußtes Vorwärtsdrängen in Richtung auf die vier Terraner. Offenbar hatte Notron einen Befehl gegeben. Befehl zum Angriff? Es hatte den Anschein. »Vorsicht, Sir!« rief Rayes und hob den Strahler. »Pfeifen Sie Ihre Streitmacht zurück«, warnte Jackson den Toschi, »wenn Sie ein Desaster vermeiden wollen!« Das fremdartige, kleine Pelzwesen, nicht mehr als zirka sechzig Zentimeter groß, quäkte etwas, das der Translator vergeblich zu übersetzen versuchte; Jackson vernahm nur Bruchstücke eines Ser‐ mons, der von der Furchtlosigkeit und großen Tapferkeit des Volkes der Toschis kündete, die es Fremden gegenüber an den Tag zu legen pflegte. Seine Worte wurden von seinen Anhängern mit lautem Bei‐
fallsgeschrei quittiert, die, sich gegenseitig Mut machend, nur noch entschlossener auf die Terraner eindrangen. Vereinzelte Laserblitze zuckten durch die Halle. Noch ungezielt, schlugen sie ohne Schaden anzurichten in die Decke. »Also gut«, grollte Jackson laut, genervt von der Erkenntnis, daß sie um so eher mit Zwischenfällen rechnen mußten, je länger sie untätig blieben. »Sagen Sie nachher nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt, Notron.« Er hob die Hand. »Sten, Conelly! Zeigen wir ihnen, womit sie es zu tun bekommen«, erklang sein harter Befehl. Im nächsten Augenblick sah Rayes Lichtblitze und hörte eine Se‐ kunde später die erste Detonation, der rasch weitere folgten. Die beiden Soldaten, mit genauen Instruktionen über ihr Vorgehen versehen, begannen mit Nadelstrahlen zu feuern. Dabei zielten sie mit ihren brandneuen Multikarabinern GEH&K Mark 10/62 nicht auf die Teddys, sondern schossen vor ihnen in den freien Hangarboden, um sie am Vordringen zu hindern. Ein feuriges Chaos entstand. Durch die geballte Energie der Nadelstrahlen brach der Boden auf und explodierte regelrecht. Die Toschis wurden von den Druckwel‐ len durcheinandergewirbelt und wie Puppen auf den wie bei einem Erdbeben schwankenden Boden geworfen, wo sie mit strampelnden Gliedmaßen versuchten, wieder auf die Beine zu kommen. Die Luft im Hangar schien zu erglühen. Es entstand ein heilloses Durchei‐ nander, aus dem sich nur langsam eine Gegenwehr zu organisieren schien. Ein Geheule und Gekreische aus nichtmenschlichen Kehlen erhob sich über dem verklingenden Nachhall der Explosionen. Notron riß die Hände hoch, fuchtelte mit seinem Strahler und schoß in Richtung der Terraner. Zum Glück war seine Zielsicherheit miserabel, und die Strahlen gingen meist an ihnen vorbei. Dennoch streifte einer der Laserblitze den Ersten Offizier der THOMAS am Arm und versengte
ihm Kleidung und Haut. Die Überraschung ob dieses unerwarteten Treffers entlockte Rayes einen kurzen, ärgerlichen Laut. »Verdammt«, stieß er hervor, »hat mich doch dieses fiese Kerlchen tatsächlich erwischt!« Jackson stürzte sich mit einem wütenden Schnauben auf Notron, der zwar alle Anstrengungen machte, sich mit einem Kreischen dem Zugriff des für ihn riesigen Terraners zu entziehen, aber keinen Er‐ folg damit erzielte. »Nichts da, Freundchen«, knurrte Jackson, schlug dem Toschi die Waffe aus der Hand, packte ihn am Kragen seiner protzigen Uniform und klemmte sich den strampelnden und zeternden Oberbefehl‐ shaber aller Teddys wie eine zu groß geratene Puppe einfach unter den Arm. »Sind Sie in Ordnung, Nummer Eins?« wandte er sich dabei an Rayes. »Brauchen Sie Hilfe?« »Geht schon, Sir«, gab Manuel Rayes zu verstehen, während er kurz den Arm bewegte. »Ist nur ein Kratzer.« »Conelly wird Sie verarzten, sollte es nötig sein.« Der Erste Offizier winkte ab. »Später, Sir. Sobald Zeit ist«, erwiderte er. Inzwischen hatten die beiden Soldaten ihre Multikarabiner auf Paralyse umgeschaltet, bestrichen das Durcheinander in der Halle großflächig mit Strich‐Punkt und schickten die Toschis reihenweise ins Land der Träume – falls diese einen derartigen Zustand der In‐ aktivität kannten. Für einen Moment stockte der Angriff der Teddys; ihres Anführers beraubt, schienen sie sich unschlüssig über ihr weiteres Vorgehen. »Lassen Sie mich mal die Wunde ansehen, Sir!« Thore Conelly legte die Waffe aus der Hand, kniete neben dem in der Hocke kauernden Ersten Offizier und fingerte ein Wundspray aus einer der vielen Taschen seines Notfallpacks. »Nicht der Rede wert«, wehrte Rayes ab, ließ es aber dann doch geschehen, daß ihn der Soldat mit gekonnten und raschen Bewe‐
gungen verarztete. »Danke«, setzte Manuel Rayes an, als Conelly fertig war, aber der Soldat hatte sich schon wieder abgewandt und widmete sich seiner eigentlichen Aufgabe: Toschis ins Land der Träume schicken. Die Pelzwesen hatten sich wieder gesammelt und schickten sich an, ei‐ nen neuen Ansturm zu versuchen. Aus Lautsprechern gellte Alarm, kamen quäkende Stimmen, die eindeutig Anweisungen waren. Im Hintergrund, in der Tiefe der Halle, öffneten sich Schotts, und Verstärkung drängte in den Hangar. Von Rayes und dem General unterstützt, feuerten die beiden Sol‐ daten ohne Unterlaß; langsam häuften sich die besinnungslosen Toschis zu einem Wall. »Wir befinden uns hier wie auf dem Präsentierteller«, machte Rayes dem Kommandanten klar, bemüht, unbesorgt zu klingen. »Wir sollten uns eine bessere Ausgangslage verschaffen, zu wenig Deckung hier, Sir.« »Sie sagen es, Nummer Eins«, bestätigte der General, der den sich wild sträubenden Notron unter dem Arm hatte und dessen Flut von Drohungen und Beschimpfungen ignorierte. »Wir müssen heraus‐ bekommen, was dem Schiff widerfahren ist. Dazu brauchen wir aber Bewegungsfreiheit, die wir hier nicht haben.« »Das sehe ich genauso, Sir«, bekannte Manuel Rayes und schickte zwei Toschis, die sich zu nahe herangewagt hatten, mit einem Para‐ lysestrahl zu Boden. »Wohin also?« »Jedenfalls nicht ins Freie«, bekannte der General. »Dort oben existiert keine Atmosphäre.« Sein Blick fiel auf den Ringraumer, der sich im Hintergrund des Hangars wie eine uneinnehmbare Festung erhob. Rayes, dem der Blick des Generals nicht verborgen geblieben war, sagte bedauernd: »Leider ist die THOMAS nicht erreichbar. Nie‐ mand reagiert auf unsere Rufe. Bleibt uns nur die Flucht innerhalb des Mondes, Sir.«
Jackson nickte knapp. »Wir müssen herausbekommen, was vor‐ gefallen ist«, wiederholte er, und die Sorgenfalten auf seiner Stirn vertieften sich. »Los jetzt!« * Kurze Zeit vor diesem Ereignis: Waffentechniker Martin‐Yves One hatte nicht gerade die beste Laune. Nein, das konnte man nicht sagen. Im Grunde war sie sogar mies. Ausgerechnet jetzt gab es Schwierigkeiten in einem der acht Wuchtkanonentürme der THOMAS. Schwierigkeiten aber bedeuteten Ärger – hauptsächlich für ihn, da er aufgrund des Dienstplans dazu auserkoren war, nach dem Rech‐ ten zu sehen. Viel lieber hätte er die Begegnung mit den Teddys in der kleinen Bildkugel der technischen Zentrale mitverfolgt, aber ausgerechnet jetzt hatte der Hyperkalkulator in der Wartungszent‐ rale eine mechanische Störung in der Munitionszufuhr des Ge‐ schützes Nr. 7 gemeldet, die eine Überprüfung durch den dienstha‐ benden Waffentechniker erforderlich machte. Und der war nun mal er. Bedauerlich, aber nicht zu ändern. Kleinere Störungen traten bei einem Prototypen auf dem Jungfernflug immer wieder mal auf, das war nichts Ungewöhnliches. Er öffnete das Schott und betrat den Geschützturm. Es herrschte Grabesstille; keine Menschenseele hielt sich hier drin auf. Es gab auch keine Bildschirme, die das Geschehen draußen im Hangar ins Innere übertrugen; der Turm war pure, nackte, massive Technik. »Dann wollen wir mal…« Martin‐Yves One – der von allen an Bord nur My One gerufen wurde – setzte sich mit gespitzten Lippen vor die Kontrollkonsole und rief das Diagnoseprogramm auf. Lautlos pfiff er vor sich hin – eine Marotte, derer er sich immer dann be‐ diente, wenn es galt, ein noch unbekanntes technisches Problem zu lösen – und studierte die Aufrisse der einzelnen Komponenten der
Kanone, die in rascher Folge auf dem Bildschirm erschienen. Wie sich herausstellte, wurde das gemeldete Problem tatsächlich von einer Störung in der Munitionszuführung verursacht. My One fand den Fehler im betroffenen Segment innerhalb kürzester Zeit, was ihm ein zufriedenes Zungenschnalzen entlockte. Üblicherweise erfolgte die Zuführung der exakt 31,47 Tonnen wiegenden Tofiritkugeln vollautomatisch mittels Antigravfeldern, was eine Schußfolge im Sekundentakt zuließ. Bei Notfällen ließen sich die Wuchtkanonen jedoch auch über eine eigens für diese Be‐ lastungen ausgelegte Mechanik beschicken; diese gewährleistete, daß das Schiff mit entsprechend verminderter Taktfolge weiter feuerbereit blieb. Und just in einem Gelenk dieser Mechanik maß der Diagnosesuprasensor einen erhöhten Biegewiderstand. Keine große Sache, My mußte nur das Gelenk nachjustieren. Routinearbeit, die nicht einmal erhöhten körperlichen Einsatz erforderte. Nachdem alle Parameter wieder im vorgeschriebenen Bereich la‐ gen, fertigte er ein Datenprotokoll an, das seine Arbeit und die ge‐ troffenen Maßnahmen dokumentierte. Als er die Datei speicherte, schrillte plötzlich Alarm durchs Schiff, den My One im Geschütz‐ turm nur gedämpft wahrnahm. Aufgeschreckt blickte er auf die Instrumente der Reparaturkonsole, als könne er dort die Ursache für den Alarm feststellen, doch er forschte vergeblich. Der Alarm hielt ein paar Sekunden an, dann brach er ab. Martin‐Yves One wartete auf den üblichen Lärmpegel, der un‐ weigerlich jetzt im Schiff entstehen mußte. Nichts geschah, es blieb still. Für einen Moment kaute er überlegend auf seiner Unterlippe he‐ rum. Dann öffnete er die Phase zur Wartungszentrale. Seine Unruhe verstärkte sich, als er von dort keine Antwort bekam. Auch sonst meldete sich keine Station mehr, obwohl er mit wach‐ sender Ungeduld versuchte, Kontakt zu bekommen. Ein Defekt in der Bordverständigung?
Nicht sehr wahrscheinlich, dennoch vorstellbar. Schließlich war die THOMAS ein Prototyp und befand sich in der Erprobungsphase, um eventuelle Fehler in den teils völlig neu entwickelten Bordsystemen aufzuspüren. Aber warum dann der Alarm, der vom Hyperkalkulator übli‐ cherweise nur bei Gefahr für das Schiff und seine Besatzung ausge‐ löst wurde? Und weshalb meldete sich niemand? My One grunzte. »Das hat nichts Gutes zu bedeuten«, sagte er zu sich selbst. »Auf schnellstem Weg in die Kommandozentrale.« Mißtrauisch bis in die Haarspitzen verließ er den Geschützturm. Die Drucktür öffnete sich zischend, als er näherkam. »Die Technik scheint also noch zu funktionieren«, setzte er sein Selbstgespräch fort. Auch die Lichter flammten auf, sobald er den Gang betrat; die Bewegungsmelder waren auf alle Fälle nach wie vor intakt. Er hatte noch keine drei Schritte hinter sich gebracht, als er merkte, wie ihm schwindlig wurde. Er schüttelte den Kopf, hoffte, sich so der Benommenheit ent‐ ledigen zu können. Aber es wurde nur schlimmer. Seine Nasenflügel weiteten sich, als er die Luft einsog. Ein fremdartiger Geruch reizte seine Schleimhäute. War das Gas, oder spielten ihm seine Sinne einen Streich? Er blickte auf das Arm‐ bandkombigerät, dessen farbige Indikatoren blinkten. Die Anzeigen wiesen die Luft als unbedenklich aus. Sollte er sich getäuscht haben, oder war das Gerät zum Messen physikalischer Vorgänge von einer fremdartigen und unbekannten Substanz überfordert? Nein, da pulsierte eine rote Linie. Eine gasförmige Substanz war in der Raumluft, in ziemlich dünner Konzentration, aber dennoch spürbar und mit Auswirkungen auf seinen Kreislauf. Er mußte etwas dagegen unternehmen, und das schnell, ehe er womöglich ohnmächtig wurde. Ziemlich flach atmend, soweit es
ihm möglich war, blickte er den Gang hinunter. In den Seiten waren Schränke angebracht, deren Türen Brandschutzzeichen trugen. Er riß die nächstgelegene auf. Ein gesichtsloser Helm über einem silber‐ glänzenden Anzug starrte ihm entgegen, wie er bei Einsätzen zur Brandbekämpfung Verwendung fand. Daneben hing eine Atem‐ schutzmaske mit integrierter Filterpatrone. Er riß sie vom Haken. »Wer sagt’s denn…« sprach er mit sich selbst, während er die Maske überstreifte und die ersten tiefen Atemzüge machte. »Genau das brauche ich.« Die Auswirkungen des beginnenden Schwindels verklangen rasch, als frischer Sauerstoff in seine Lungen strömte. My One überlegte bereits seine weiteren Schritte. Er mußte he‐ rausfinden, inwieweit die THOMAS von diesem Gasangriff beeint‐ rächtigt war – denn inzwischen ging er davon aus, daß es einen Angriff gegeben haben mußte. Nur war er sich noch nicht klar dar‐ über, von wem dieser gestartet worden war. Er wußte nur eines: Er mußte in die Zentrale, nur dort konnte er Kenntnisse darüber erlan‐ gen, was vorgefallen war. Die Stille im Schiff hatte etwas Erschreckendes. Allerdings glaubte My One, daß die Exhaustoren der Lufterneuerung lauter schnurrten als sonst. Versuchten sie etwa mit staub‐ oder gasförmigen Fremd‐ stoffen fertig zu werden, die jemand in den geschlossenen Kreislauf der Schiffsatmosphäre eingebracht hatte? Auf seinem Weg zur Zentrale fand My One die ersten reglosen Körper; etwa ein halbes Dutzend Männer lag still auf dem Haupt‐ korridor, die zusammengekrümmten Körper teilweise übereinander. My One atmete laut unter der Maske, als er sich zu einem der Reglosen hinunterbeugte; seine Finger suchten die Halsschlagader. Dann sog er erleichtert die Luft ein, der Mann war nur bewußtlos, ebenso die anderen. Es war keine Gewalteinwirkung festzustellen, bei niemandem. Die Männer waren unverletzt. Ein Kampf hatte je‐ denfalls nicht stattgefunden, soviel stand fest. Ein Umstand, der Martin‐Yves One ungemein erleichterte. Und dann grinste er ver‐
zerrt, als einer der Bewußtlosen leicht zu schnarchen anfing. My One legte die letzten hundertvierzig Schritte in Richtung Schiffszentrale zurück. Das Hauptschott ließ sich ohne Widerstand öffnen. Ungehindert ging sein Blick ins Innere der hellerleuchteten zweistöckigen Brücke. Die fünf Hauptbildschirme, die im Zentrum der kreisrunden Zentrale frei über den Konsolen schwebten, waren in Betrieb und zeigten Bilder des Geschehens draußen vor dem Schiff. Die Besat‐ zung hing bewußtlos in ihren Kontursitzen. Das Verhängnis war augenscheinlich urplötzlich und keineswegs vorhersehbar über die THOMAS gekommen. Es war zu erkennen, daß die Männer voll‐ kommen überrascht worden waren. Lediglich die Haltung Alain Sanets, des Zweiten Offiziers, ließ erahnen, daß er unmittelbar vor seiner Bewußtlosigkeit das Unheil hatte kommen sehen und es im letzten Augenblick abzuwenden versucht hatte: Seine Hand um‐ schloß noch den zentralen Alarmschalter auf der Hauptkonsole. Wie stark das Gas auch gewesen sein mochte, lange hatte es nicht vorgehalten; noch während My One sein weiteres Vorgehen über‐ legte, rührten sich schon die ersten Männer wieder. My One ging zum Kommunikationspult und inspizierte die In‐ strumente. Er nahm einige Schaltungen vor. »Mal sehen«, murmelte er, »ob ich den Kommandanten erreichen kann…« Er hatte noch nicht ausgesprochen, als er ein leises, saugendes Geräusch in seinem Rücken vernahm, gefolgt von einem schwachen Luftzug, als hätte jemand eine Tür geöffnet und gleich wieder geschlossen. My One spürte, wie es ihm kalt den Rücken hinunterlief. Er fuhr auf dem Absatz herum – dann holte er tief Luft und sagte scharf: »Na, Kleiner, was tust du denn hier drin?« * Das fremdartige kleine Pelzwesen stand drei Schritte von Mar‐ tin‐Yves One entfernt, nicht mehr als etwas über sechzig Zentimeter
groß. Es starrte den Techniker aus seinen Knopfaugen an, offenbar überrascht, ihn wach und bei Bewußtsein zu sehen. My One starrte aus der Sichtscheibe der Atemschutzmaske zurück; der Toschi war unbekleidet, sein kleiner Körper von Kopf bis Fuß von weichem, graubraunem Pelz bedeckt, und er war ganz offen‐ sichtlich unbewaffnet. Er trug nichts am Körper, hielt nichts in den Händen. Martin‐Yves One hatte noch nicht ganz realisiert, wie sein Besucher die THOMAS hatte betreten können. Nirgends war eine technische Vorrichtung an ihm zu erkennen, mit deren Hilfe der Winzling – wie auch immer! – an Bord gelangt war. Sie beobachteten einander regungslos einige lange Sekunden. Der Toschi schien sich über My One den Kopf zu zerbrechen, unschlüs‐ sig, weshalb dieser nicht ebenso ohnmächtig und vom Gas betäubt war wie die anderen an Bord des Ringraumers. Plötzlich hob er die kurze Fingerpfote und steckte sie sich in den Mund. Während My One noch über den Sinn dieser Bewegung nachdachte, brachte der Teddy einen tennisballgroßen Metallkörper aus seinem Maul hervor. My One atmete scharf ein. Eine Bombe! Noch ehe er reagieren konnte, warf der Toschi die Kugel auf den Boden und verschwand innerhalb eines Augenzwinkerns aus der Zentrale, indem er sich einfach in Luft auflöste. Martin‐Yves One spürte den Adrenalinstoß, der seinen Körper durchfuhr. Seine Sinne waren aufs äußerste gespannt, während er sich gehetzt nach einer Deckungsmöglichkeit umsah. Aber da gab es schon einen merkwürdig gedämpften Knall. In einer verzweifelten Abwehrreaktion riß er beide Arme hoch und legte sie schützend über seinen Kopf. Er spürte ein Pochen in den Schläfen – und stellte gleich darauf mit einiger Verwunderung fest, daß er noch atmete. Dem dumpfe Knall war keine Detonation ge‐ folgt, wie von My One erwartet, der eigentlich mit seinem Leben schon abgeschlossen hatte, sondern nur ein scharfes Zischen. Die Bombe war nicht explodiert, sondern strömte Betäubungsgas aus, wie My One vor Augen geführt wurde, als er sah, wie die eben
erwachenden Männer in der Zentrale erneut in tiefe Bewußtlosigkeit versanken. Er mußte handeln, schnell. Jeden Moment konnten weitere Toschis in der Zentrale auftauchen und weitere Betäubungsgranaten werfen. Seine vordringlichste Aufgabe war, die Besatzung der Zentrale vor weiteren Gasattacken zu schützen. Feuer an Bord eines Raumschiffes war eine der schlimmsten Ka‐ tastrophen. Deshalb gab es ausgeklügelte Vorkehrungen für den Brandfall. Auf jedem Deck gab es ausgewiesene Bereiche, in denen hochmoderne Versionen von Brandschutzausrüstungen für jeder‐ mann zugänglich waren. So auch in der Hauptzentrale. My One lief in den Sicherheitsbereich und riß die Schotts auf; die silbern glänzenden Schutzanzüge hingen wie leere Kokons in ihren Halterungen; sie hatten ihre eigene Luftversorgung. Daneben lager‐ ten aber auch Atemmasken, um die Besatzung vor Qualm und hochtoxischer Rauchentwicklung zu schützen. Der Waffentechniker arbeitete schnell und konzentriert und ver‐ sorgte die Offiziere in der Zentrale mit den Masken, was in wenigen Minuten erledigt war. Er wartete nicht auf das Ergebnis seiner Ret‐ tungsaktion, sondern lief hinüber zur Waffenkammer, um sich mit einem Paralysator zu bewaffnen. Irgendwo in seinem Hinterkopf rumorte die Gewißheit, daß jede Sekunde weitere Toschis mit Gasgranaten in der Zentrale erscheinen würden. Er hoffte, daß die Offiziere bis dahin wieder auf dem Damm war‐ en, um Abwehrstrategien zu entwickeln; sein Wunsch ging nicht in Erfüllung. Mit einem Geräusch, als würde Luft seufzend in ein Vakuum ge‐ saugt, erschien nur wenige Schritte von der Hauptkonsole entfernt ein Teddy. Die nichtmenschliche Physiognomie des Toschis erlaubte keine Hinweise darauf, ob ihn der Anblick des Terraners mit einer Atemschutzmaske vor dem Gesicht erschreckte oder verblüffte. Dennoch kam es My One vor, als würde der Teddy bei seinem
Anblick zurückscheuen. Irgendwo begann etwas zu heulen. Das Geräusch schien aus dem Nichts zu kommen, und der Waffentech‐ niker glaubte sogar, ein leichtes Vibrieren in der Luft zu spüren. Wollte der Toschi sich gar wieder verdrücken? Aber ehe das kleine fremde Pelzwesen auch nur eine Bewegung machen konnte, wurde es bereits von My Ones Paralysestrahl ge‐ troffen. Mit verdrehten Gliedmaßen fiel es zu Boden. Martin‐Yves One wartete eine Sekunde, dann ging er hinüber und beugte sich über den Toschi. Einen winzigen Augenblick zögerte er. Doch dann zuckte er mit den Schultern und griff beherzt zu. Seine Finger öffneten den Mund des Wesens, und er schaute hinein. Tatsächlich, eine Bombe. »Ich hab zwar keine Approbation als Zahnarzt«, murmelte er in einem Anflug von Galgenhumor, als er die Reihen spitzer Zähne sah, »aber was soll’s?« Er griff hinein und holte die tennisballgroße Me‐ tallkugel heraus, die noch nicht aktiviert war, wie er mit großer Er‐ leichterung feststellte. Und exakt in diesem Augenblick hörte Martin‐Yves One ein Stöh‐ nen hinter sich…
2. Das erste, was Heather spürte, war heißer Sand, der an ihrem schweißnassen Rücken klebte. Das nächste, was in ihr Bewußtsein drang, waren Geräusche: das Klatschen von Wasser, Wind, der in Blättern rauschte, in der Nähe Vogelgezwitscher, etwas weiter weg das Kreischen von Seevögeln. Dann drangen Gerüche in ihre Nase: Salzwasser, Ozon, der ferne Duft exotischer Blüten. Wo war sie? Auf einem verlassenen Eiland wie einst Robinson Crusoe? Ein Schatten fiel über sie, jemand berührte sie und schüttelte sie leicht. So als probiere man, ob noch Leben in ihr war. Ob das Freitag war, den das Schicksal einem Schiffbrüchigen sandte? Instinktiv grub sie ihre Hand in den Sand und schloß die Finger um ein glattes Stück Treibholz, das dort lag. Nun denn, dachte sie, noch einmal überrumpelt mich niemand. Ganz langsam öffnete sie die Augen. Hier in Bodenhöhe wirkte alles verschwommen, unscharf, überzeichnet vom hellen Sonnen‐ licht. Der dunkle Schatten des Mannes drängte das Kreischen der Vögel und das Geräusch der Dünung zurück. Er wirkte schwarz und riesig gegen das Kobaltblau des Himmels von Aloha. Sie blinzelte gegen die Helligkeit. Langsam wurde ihr Blick schärfer. Nein, sie war nicht Robinson Crusoe, und dies war nicht Freitag, sondern Terence Wallis, der sich über sie beugte. »Sind Sie verletzt?« »Ja«, fauchte sie wütend. »Ich bin verletzt, vor allem in meinem Stolz.« Sie setzte sich stöhnend auf und rieb sich die Halsseite, wo sie die eisenharte Handkante der kleinen Chinesin getroffen und ins Land der Träume geschickt hatte. »Behandeln Ihre Lakaien harmlose Strandläufer immer so?«
»Lassen Sie mal sehen…« reagierte Wallis beschwichtigend auf ihren Zorn. »Finger weg!« stieß sie hervor und schwang den Treibholzknüppel gegen ihn, so daß er mit einer schnellen Bewegung und dem Aus‐ druck völliger Überraschung und Verblüffung zurückwich. »Und sagen Sie dieser Furie, sie soll mich nicht noch mal angreifen. Sonst…« Sie verstummte und stöhnte wieder. Wallis’ Leibwächterin hob den Blick von Heathers Ringkamera, die sie penibel überprüft hatte, und lächelte mit spöttischer Überheb‐ lichkeit. »Sonst was?« fragte sie. »Meinen Sie vielleicht, ich hätte Angst vor Ihrem Zahnstocher?« Sie deutete mit spitzem Finger auf den Knüppel in Heathers Hand. Die junge Reporterin von Terra‐Press ließ das Stück Holz fallen, stand vorsichtig auf, bewegte unter den argwöhnischen Blicken der Chinesin prüfend Hals und Schultern und suchte sich gründlich nach weiteren Verletzungen ab. »Alles in Ordnung?« Wallis sah sie an. »So empfindlich bin ich nun auch wieder nicht«, schnappte Hea‐ ther Sheridan und schüttelte den Kopf, daß ihre blonde Mähne nur so flog. »Na«, meinte der Industriemagnat und Besitzer von Eden, »dann ist es ja gut.« Er drehte sich um und ging in Richtung des Pavillons. Nach zwei Schritten drehte er sich noch einmal um. »Ich entschul‐ dige mich dafür, daß meine Sicherheitschefin etwas überreagiert hat, als Sie und Ihr Begleiter«, er machte eine Handbewegung in Rich‐ tung Trico Pallas, der, bewacht von zwei muskulösen Sicherheits‐ männern, wie ein begossenes Häufchen Elend im Sand hockte, »so plötzlich bei uns auftauchten. Miß Morei sieht immer und überall potentielle Attentäter, die mir nach dem Leben trachten.« Natürlich! Heather Sheridan fiel es wie Schuppen von den Augen. Die kleine Chinesin war Wallis’ persönliche Leibwächterin, seit Jon Vassago 2058 beim Attentat der Brotherhood of Black Muslims auf den Industriemagnaten ums Leben gekommenen war. Die 1,60 Me‐
ter große Chinesin nahm ihren Job sehr ernst, dazu gehörte, daß sie in allen wichtigen asiatischen Kampfsportarten firm war; sie be‐ herrschte elf traditionelle Nahkampfsportarten perfekt und hatte eine zwölfte selbst entwickelt. Diese Einzelheiten hatte Heather She‐ ridan aus einem internen Dossier, das Terra‐Press Eden zugespielt worden war, als abzusehen gewesen war, daß der weltgrößte Me‐ dienkonzern seinen Stammsitz nach Eden verlegen würde. »Mit einer Mikrokamera ist das wohl kaum möglich«, versetzte jetzt Heather spöttisch. »Ich hätte Ihnen kaum mehr als einen Kratzer damit zufügen können, Mister Wallis.« »Wollen Sie etwas dazu sagen, Liao?« Es war weniger eine Frage als eine Aufforderung von Seiten des Milliardärs. »Ich konnte gar nicht anders handeln«, verteidigte sich die Chine‐ sin kategorisch. Ihre Miene blieb dabei undurchdringlich. »Die von mir angemessene Energie der Ringkamera hätte sowohl von einer Waffe wie von einer Bombe stammen können. Sie waren einfach schon zu nahe ran, Miß Reporterin, für Fragen blieb keine Zeit. Also habe ich gehandelt. Inzwischen weiß ich, daß Sie nur neugierig waren.« »Da haben Sie Ihre Antwort«, versetzte Terence Wallis mit einem dünnen Lächeln und wandte sich endgültig vom Ort des Geschehens ab. Auf eine Handbewegung Moreis hin stellten die beiden Body‐ guards Trico Pallas auf die Beine, ließen ihn aber noch nicht los. »Aua!« lamentierte Trico gekonnt, in seiner Stimme lag ein ver‐ führerisches Falsett. »Paßt doch auf! Ihr reißt mir die Arme aus den Schultern, ihr brutalen Burschen.« Die beiden nahmen so schnell ihre Hände von Trico, als hätte die‐ ser Aussatz. »Sie beide können gehen«, gab Liao Morei Heather und ihrem Be‐ gleiter zu verstehen. »Und kommen Sie nicht zurück«, schärfte die Chinesin ihnen ein. »Dieser Strand ist persönliches Eigentum von Wallis Industries, wir legen hier großen Wert auf Privatsphäre,
wenngleich ihr Medienleute diesen Begriff wohl längst aus eurem Wortschatz verdrängt haben dürftet.« * Der Wind hatte aufgefrischt und fing sich in der Leinenbedachung des Pavillons; der Geruch von Salz und Ozon erfüllte die Luft. Weiße Brecher rollten aus der flachen tropischen See heran. Terence Wallis hatte die Hände auf die umlaufende Brüstung des ansonsten offenen Bauwerks gestützt, und sein Blick wanderte über den Strand. Eben verschwanden Heather Sheridan und ihr Alibibe‐ gleiter um die vorgezogene Landzunge, hinter der es zum Mani‐ loa‐Resort ging. Für einen Moment verlor sich Wallis in Gedanken, hatte seine Begleiter scheinbar vergessen, die sich hinter ihm zwanglos in Sesseln um niedrige Tische gruppierten und halblaut unterhielten. »Einen Drink, Terence?« holte ihn eine helle Stimme in die Wirk‐ lichkeit zurück. Er drehte sich um. Regina Saam stand hinter ihm und hielt ihm eine ausgehöhlte einheimische Frucht hin, die einer terranischen Ananas glich, aus der ein dicker Strohhalm lugte. »Alkohol?« »Mehr Fruchtsaft als Alkohol, Chef.« Die gebürtige Schweizerin, Biologin von Rang und Profession, strich sich mit der ihr eigenen Bewegung eine vorwitzige Strähne ihres blonden Haares aus der Stirn. Sie hob ihre Frucht. »Cheers!« »Danke, Regina«, sagte Wallis. Sie sah ihn genau an und meinte leise: »Terence, ich glaube dich einigermaßen zu kennen. Aber heute entdecke ich etwas in deinem Gesicht, das mir fremd ist.« »Was? Etwa Falten?« Ein ironisches Lächeln spielte um die Mundwinkel des Multimil‐
liardärs, dem seine frühere sportliche Karriere als Basketballspieler noch immer anzusehen war, auch wenn er inzwischen zum leiden‐ schaftlichen Golfer konvertiert war. »Deinem Sarkasmus fehlt die gewohnte Schärfe. Nein, Falten sind es nicht«, erwiderte sie ernsthaft. »Du siehst zwar äußerlich blen‐ dend erholt aus, deine Bräune ist beneidenswert, aber du hast da einen Ausdruck in den Augen, als würdest du ein Problem mit dir herumtragen. Gehe ich fehl in der Annahme, daß dieses Problem ausnehmend hübsch ist und den Namen Heather Sheridan trägt?« Er sog an dem dicken Halm. »Bin ich so leicht zu durchschauen?« fragte er leichthin. »Nur für jemanden, der dich so kennt, wie wir es tun.« Sie machte eine vage Handbewegung in die Tiefe des Pavillons. »Dann ist es ja gut«, murmelte er. »Komm, Regina«, hob er die Stimme. »Gehen wir zu den anderen.« Die anderen waren das norwegische Genie Robert Saam in unge‐ wohnt legerer Strandkleidung, der kanadische Wissenschaftler George Lautrec sowie der indonesische Funk‐ und Ortungsspezialist Saram Ramoya. Diese drei Männer – und Regina Saam, geborene Lindenberg – bildeten das Team für sämtliche bahnbrechenden Er‐ findungen und technischen Innovationen des Entwicklungsstabes von Wallis Industries. Eine einmalige Synthese von Intelligenz und Wissen, Logik und einer ausgefeilten deduktiven Methode, an eine Aufgabe heranzugehen, mochte sie noch so ungewöhnlich sein. Die Kombination dieser Eigenschaften führte in den meisten Fällen zum Erfolg; man konnte zwar nicht das Universum aus den Angeln he‐ ben, aber es gab fast kein Problem, das sie nicht zu lösen imstande waren. »Nun, bist du zu einem Ergebnis gekommen?« fragte Robert Saam, als Wallis zwischen ihnen Platz genommen hatte. »Diese Sheridan betreffend?« Saam nickte heftig. Wallis sagte: »Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß diese Re‐
porterin hinter uns her ist. Ich denke, etwas an unserer Vorstellung hat sie irritiert. Vielleicht haben wir auch übertrieben.« »Könnte gut sein«, meinte Regina Saam. »Erst die rührselige Ge‐ schichte im Werkskindergarten, dann die Zerstörung der HOLE‐IN‐ONE und der Tod eurer Lebensgefährtinnen…« Sie lä‐ chelte süffisant und ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. »Es konnte nicht gutgehen. Es war einfach zu dick aufgetragen. Ich glaube, jeder nur einigermaßen vernünftige Mensch hätte zumindest leichte Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser rührseligen Homestory angemeldet. Bei einer Reporterin vom Schlage einer Heather Sheri‐ dan mußten da doch alle Alarmglocken läuten…« »Ihr angeblicher Urlaubstrip nach Aloha spricht Bände«, warf Sa‐ ram Ramoya ein. Regina Saam nickte. »Diese Reporterin ist uns auf der Spur. Ich traue ihr nicht.« »Sie könnte gefährlich werden für unseren Plan«, bestätigte der Indonesier. »Wir sollten ihr keine Gelegenheit geben, noch länger Nachforschungen zu betreiben.« »Nun mach mal halblang«, beschwichtigte George Lautrec. »Du siehst zu schwarz.« »Und du bist zu blind, willst die Realität nicht sehen…« »Schluß der Debatte«, beendete Terence Wallis die Diskussion, winkte seine Sicherheitschefin herbei und sagte: »Ich weiß, Liao, Sie würden die Reporterin am liebsten aus dem Weg räumen« – ein unergründlicher Blick aus den carboritschwarzen Augen der Chine‐ sin traf Terence Wallis – »aber ich befürchte, damit ist das Problem auch nicht aus der Welt. Ich habe den Verdacht, daß sie inzwischen eine Reihe von Leuten bei ihren Recherchen kontaktiert hat, zumin‐ dest ihre unmittelbaren Vorgesetzten werden über ihre Aktivitäten im Ansatz informiert sein. Nein, ich werde die Sache selbst in die Hand nehmen, um herauszufinden, inwieweit sie schon ihre Kreise gezogen hat.«
* Heather Sheridans Laune war noch immer als mörderisch zu be‐ zeichnen, als Trico Pallas und sie in ihrem Bungalow im Mani‐ loa‐Resort angelangt waren. Auf dem Weg vom Strand hatte Trico kaum ein Wort über die Vorkommnisse am Pavillon verloren. Heather war zu sehr mit ihrem eigenen Zorn über diese, wie sie meinte, Niederlage auf der ganzen Linie beschäftigt, um zu erkennen, daß sich ihr Partner auf Zeit mit ähnlich gelagerten Problemen herumschlug, die allerdings in eine ganz andere Richtung liefen. Wortlos gingen beide in ihre Apart‐ ments. Heather war noch so mit den Ereignissen am Strand beschäftigt, daß sie keinen Blick für den Luxus hatte, mit dem ihr Bun‐ galowapartment ausgestattet war. Sie duschte kurz und zog sich um; ein dienstbarer Geist hatte während ihrer Abwesenheit ihr weniges Gepäck gebracht. Ihr Blick fiel auf die Verbindungstür, die in Trico Pallas’ Apartment führte. Sie klopfte kurz und öffnete die Tür, ohne auf Tricos Aufforderung zum Eintreten zu warten. »Was hältst du davon, wenn wir uns an diesem Abend…« Sie ver‐ stummte, als sie sah, was ihr Alibipartner zu tun im Begriffe stand. Ihre Augenbrauen schnellten in die Höhe. »Und was wird das?« fragte sie vorsichtig. »Wonach sieht’s denn aus?« meinte er mit einem etwas verlegenen Gesicht und schloß die Reisetasche; auf dem Boden daneben stand der Rest seines Gepäcks: eine wesentlich größere Tasche mit farben‐ frohen Aufklebern. »Du gehst«, stellte sie fest. »Stimmt.« Trico lächelte dünn. »Mir ist das alles hier zu ge‐ fährlich«, begann er mit einer Erklärung, aber Heather winkte ab. »Du mußt nichts erklären«, sagte sie und war ein bißchen traurig.
»Ich verstehe dich, wirklich.« Sie kannte Trico Pallas, der trotz seiner athletischen Figur der sanftmütigste Mensch war, der ihr je unter‐ gekommen war. Mit Gewalt in jeglicher Form kam er nicht zurecht. Die Ereignisse am Strand mußten ihm ganz schön zugesetzt haben; sie fühlte sich fast ein wenig schuldig, daß sie ihn diesem Durchei‐ nander ausgesetzt hatte. »Es tut mir leid«, fuhr er fort, »wenn du in mir so etwas wie einen Beschützer gesehen hast, der ich nun mal nicht bin, wie dir bekannt sein dürfte.« »Das weiß ich doch«, erwiderte sie. »Und ich mache dir auch kei‐ nen Vorwurf deswegen.« Er schien erleichtert. »Komm doch mit zurück! Wir sind sowieso aufgeflogen, damit hat sich die Sache doch erledigt, oder etwa nicht?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich bleibe.« Trico Pallas ergriff seine Taschen. An der Tür versuchte er noch einmal, sie zu überreden. »Was hält dich hier?« »Es würde zu weit führen, es dir zu erklären«, versicherte sie, ihn damit sein schlechtes Gewissen vergessen lassend. Als er gegangen war, befahl Heather dem Suprasensor, die Hel‐ ligkeit im Zimmer zu verringern; das grelle Licht der tropischen Sonne wich einem augenschonenden Halbdunkel, als die Lamellen der sensorgesteuerten Jalousien das Sonnenlicht dämpften. Sie setzte sich mit untergeschlagenen Beinen in einen Sessel und lauschte der Musik, die aus den Akustikfeldern kam. Die Bässe einer Orgel bil‐ deten die Basis für eine herrliche Melodie. Sie schloß die Augen und überlegte ihre nächsten Schritte, als es an der Tür klopfte. Wahrscheinlich Trico, der etwas vergessen hatte. Doch es war nicht Trico, der vor der Tür stand, sondern Terence Wallis, der sich hinter einem riesigen Strauß exotischer Eden‐Blüten versteckte und sich erst zu erkennen gab, als er dahinter hervorlugte. »Sie!« entfuhr es ihr, und sie gab sich keine Mühe, ihre innerhalb von Sekundenbruchteilen in die Nähe des Gefrierpunktes gesunkene
Laune zu verbergen. »Mit Ihnen hätte ich am allerwenigsten ge‐ rechnet. Daß Sie sich überhaupt hierher trauen? Weiß Ihr Zerberus davon, oder haben Sie sie womöglich gar nicht um Erlaubnis ge‐ fragt?« »Geschieht mir ganz recht«, sagte er und wirkte so übertrieben zerknirscht, daß sie fast versucht war zu lachen. »Ich würde an Ihrer Stelle noch ganz anders reagieren.« »Sie sind nicht an meiner Stelle«, stellte sie nüchtern richtig. »Also, was wollen Sie?« »Wie?« »Mann«, sagte sie kühl und beherrscht, »wie Sie zu Ihrem Reich‐ tum gekommen sind, ist mir ein Rätsel. Sind Sie immer so schwer von Begriff? Sie wollen doch etwas, weshalb sonst suchen Sie mich auf?« Er räusperte sich. »Ahm, natürlich. Ich möchte mich für die Unannehmlichkeiten, die Sie durch meine Leibwächterin erleiden mußten, entschuldigen. Ich bedaure den Vorfall zutiefst. Als Wiedergutmachung möchte ich Sie zum Abendessen einladen. Was halten Sie davon?« Heather Sheridan zögerte mit der Antwort. Zwar war sie sauer auf Wallis, sah aber aus professionellem Interesse keinen Grund, die Einladung nicht zu akzeptieren. Hatte es vor kurzem noch so aus‐ gesehen, als sei sie in einer Sackgasse gelandet, befand sie sich nun plötzlich wieder mitten im Spiel. Was wollte sie mehr? »Gut«, sagte sie. »Akzeptiert, wenn es nicht zu lange dauert. Wann und wo?« »Lassen Sie sich überraschen«, erwiderte Terence Wallis. »Ich werde Sie um 19 Uhr abholen und verspreche, Sie noch vor Mitter‐ nacht wohlbehalten wieder hier abzuliefern. Einverstanden?« Sie nickte. »Einverstanden.« »Ich freue mich«, sagte Wallis und machte auf dem Absatz kehrt. Nach zwei Schritten erreichte ihn Heathers Stimme: »Haben Sie nicht
etwas vergessen, Mister Wallis?« Er drehte sich um. »Und das wäre?« fragte er vorsichtig. »Oh«, sagte sie, »die Blumen da, die sind doch sicher für mich.« * Sie hatte wenig geredet beim Essen. Einmal, weil sie hungrig war und es köstlich schmeckte, zum anderen, weil sie sich vorgenommen hatte, den Part der naiven Zuhörerin zu übernehmen und Terence Wallis das Gefühl zu geben, die Hauptrolle zu spielen. Was dieser auch gerne tat. Es hatte ihm sichtlich Spaß gemacht, sich in Erinnerungen zu ergehen und eine Reihe von iro‐ nisch‐humorigen Anekdoten zum besten zu geben. Wie versprochen hatte Wallis sie zum exakten Zeitpunkt abgeholt und war mit ihr an den Strand gefahren. Dort hatte sie einen üppig gedeckten Tisch vorgefunden, an dem nur zwei Stühle standen. »Oh, sind wir allein?« hatte sie gefragt und an den exotischen Blü‐ tenarrangements geschnuppert. »Natürlich«, hatte er geantwortet. »Oder sagen Sie bloß, ein Te‐ te‐a‐Tete in einem Schnellrestaurant wäre Ihnen lieber?« »Das gerade nicht«, war ihre Antwort gewesen. »Aber wirklich al‐ lein sind wir hier ja auch nicht, oder?« Die Leere am Strand war das Werk von Liao Morei und ihren Leuten, die diesen Abschnitt weiträumig und unauffällig abge‐ schirmt hatten. Er hatte tief geseufzt und die Hände in einer um Verzeihung bit‐ tenden Geste ausgebreitet. Betrübt hatte er bekannt: »Das Los aller berühmten Leute… sie sind in den meisten Fällen niemals wirklich allein. Das läßt ihre ex‐ ponierte Stellung schon gar nicht zu. Aber zumindest können wir uns allein fühlen.« Das war vor einer Stunde gewesen.
Inzwischen hatte sich die Dämmerung über Aloha ausgebreitet, am Himmel standen fremdartige Sternkonstellationen in einer Dichte, daß ihr Licht den Schein eines Mondes überstrahlt hätte, wäre ein solcher Himmelskörper vorhanden gewesen. Die Luft war weich und samtig und duftete betäubend nach Eden‐Hibiskus und Jakaranda. Noch ehe die Dunkelheit vollständig wurde, hatte Wallis eine bei‐ läufige Handbewegung gemacht. Schwebende Lampen erhellten nun den Tisch mit blendfreiem Licht. Heather Sheridan und Terence Wallis boten ein elegantes, kont‐ rastreiches Bild. Er trug einen locker geschnittenen, sehr teueren Anzug aus licht‐ blauem Material und einen schwarzen, dünnen Smokingpullover. Heather hatte sich in das einzige Kleidungsstück geworfen, das sie für derartige Anlässe dabeihatte, ein raffiniert einfach, aber immens teuer wirkendes Kleidchen, dessen Gewebe mit Metallfäden durch‐ wirkt war. Der Stoff modellierte jede Rundung ihres grazilen Kör‐ pers. Das blonde Haar trug sie offen. Über ihr rechtes Ohr hatte sie eine einzelne Blüte aus der Tischdekoration gesteckt, was ihr das Aussehen einer Inselschönheit gab. Jetzt legte sie die Gabel aus der Hand. Aus dem Schatten jenseits des Lichtkreises tauchte sofort der gol‐ den schimmernde Butlerroboter auf und räumte die Teller ab. Wallis wartete. Schweigen senkte sich über die Oase des Luxus, diesen Fremdkörper am Strand, ein merkwürdiges Schweigen. Im Hintergrund die Geräusche der tropischen Nacht eines Planeten, der 56.000 Lichtjahre von der Erde entfernt lag: das Zirpen von Insekten, die Rufe nachtaktiver Vögel und dazwischen plötzlich der Schrei eines Dschungeltiers nach einem Artgenossen. Der Butlerroboter kam zurück, ein Antigravtablett vor sich her‐ schiebend. »Einen Cognac?« fragte Wallis und tupfte sich die Lippen mit einer
weißen Serviette ab. Heather neigte zustimmend den Kopf. »Ich würde nicht nein sa‐ gen«, gestand sie. Der mechanische Butler ließ an der Spitze seines rechten Zei‐ gefingers eine kleine Flamme entstehen. Damit entzündete er den Docht eines altmodischen Öllämpchens. Dann nahm er zwei Cog‐ nacschwenker vom Tablett und wärmte sie über der Flamme. Schließlich goß er bernsteinfarbenen Cognac aus einer unettiketier‐ ten, aber sehr alt wirkenden Flasche in die zwei Gläser. Heather konnte sich nur mit Mühe diesem Ritual entziehen, das die Maschine zelebrierte. »Bevorzugen Sie nicht schottischen Whisky? Single Malt, nicht wahr? Ohne Wasser und Eis.« Wallis lächelte, er war offenkundig amüsiert. »Sie kennen meine Vorlieben?« Die wären inzwischen Allgemeingut, gab Heather zu verstehen, zumindest in Medienkreisen. »Nun, heute ist mir nach Cognac zumute«, meinte er und prostete ihr zu. »Delikater Tropfen«, sagte sie, nachdem sie einen Schluck ge‐ nommen hatte. »In der Tat«, bestätigte Wallis und machte wieder eine lässige Handbewegung. Dann beugte er sich etwas vor und fixierte Heather Sheridan mit einem zwingenden Blick. »Finden Sie nicht auch«, fragte er, »daß es an der Zeit wäre, das Kriegsbeil zu begraben?« »Welches Kriegsbeil?« stellte sie die Gegenfrage und drehte das Cognacglas zwischen ihren Fingern; das weiche Licht der schwe‐ benden Lampen brachte ihr Haar zum Schimmern. »Haben wir denn eines ausgebuddelt?« »Es schien mir so. Im Ernst, verehrte Heather, irgend etwas verun‐ sichert Sie. Was ist es? Wollen Sie nicht darüber reden?« Sie schwieg, verfolgte den Taumelflug eines wunderschönen Fal‐ ters, der in den Lichtkreis geraten war und offenkundig nicht wußte,
wohin er sich wenden sollte. Als er sich in einem Blütenkelch nie‐ derließ und die prächtigen Flügel anlegte, erschien ein zufriedener Ausdruck auf ihrem Gesicht. Den Blick wendend, merkte sie, daß Wallis auf eine Antwort wartete. Sie beschloß den Stier bei den Hörnern zu packen. »Eigentlich war ich nur auf ein paar Bilder scharf, wollte unserem Publikum vermitteln, wie sich jemand fühlt, der von einem Augen‐ blick auf den anderen gute Freunde und die eigene Lebensgefährtin verloren hat. Sagen Sie« – jetzt war sie es, die sich vorbeugte und Terence Wallis scharf ansah – »wie geht man wohl mit einem derar‐ tigen Verlust um?« »Vermutlich wie jeder andere fühlende Mensch?« schlug er vor. Sie lachte hart. »Das sollte man meinen. Aber Sie und die anderen, Lautrec, Ramoya, scheinen die berüchtigte Ausnahme von der Regel zu sein. Oder wie sonst soll ich Ihre ausgelassene Feier in dem Pa‐ villon verstehen, wo Sie doch zutiefst trauern müßten?« »Das also ist es, was Sie beschäftigt.« Wallis seufzte und lächelte etwas mühsam. Er machte Anstalten, ihre Hände zu nehmen, aber sie schien seine Reaktion vorausgeahnt zu haben und lehnte sich zurück, was sie aus seiner Reichweite brachte, wollte er sich nicht mit dem ganzen Oberkörper über den Tisch legen. Sie schwieg und schaute ihn nur an. Schließlich sagte er. »Also gut. Ich konnte ja nicht erraten, was in Ihrem hübschen Köpfchen vorging. Jetzt, da ich es weiß, sehe ich ein, daß ich Ihnen eine Erklärung schulde. Es ist weit weniger drama‐ tisch, als Sie glauben, Heather. Und Sie sehen auch keinen gemüts‐ rohen Kerl vor sich. Die Wahrheit ist, daß die Tragödie der HOLE‐IN‐ONE meine Mitarbeiter und mich sehr getroffen hat. So sehr, daß wir von unseren Ärzten ein neuartiges Antidepressivum verordnet bekamen, welches in den Labors unseres Tochterunter‐ nehmens Biotechnologique entwickelt worden ist und kurz vor der Markteinführung steht.« »Es muß hervorragend wirken«, meinte sie und strich sich eine
Haarsträhne aus dem Gesicht, »so wie Sie drauf sind.« »Das tut es«, bestätigte er, »und es ist außerdem völlig ohne Ne‐ benwirkungen.« »Wow! Sie haben nicht zufällig ein paar Ärztemuster zur Hand? Könnten mir bestimmt helfen, wenn ich wieder mal so richtig am Boden bin.« »Ich werde Sie auf die Verteilerliste für VIPs setzen lassen«, ver‐ sprach er. »Das war ein Scherz«, meinte sie. »Auch von mir«, sagte er auf eine Weise, die völlig offen ließ, ob seine Behauptung der Wahrheit entsprach. Sie runzelte die Stirn. »Wo sind eigentlich die Kinder?« fragte sie, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. »Tja, die Kinder«, sagte er und wedelte ein vorwitziges Insekt vom Rand seines Cognacglases. »Die sind nach wie vor in New Pitt‐ sburgh. Wie Sie selbst sehen konnten, kümmern sich professionelle Betreuer um sie, die ihnen alles geben, was Kinder so brauchen…« »Liebe, Wärme, Geborgenheit«, zählte Heather Sheridan auf. »Und Sie glauben, das funktioniert?« »Ja, ich weiß, es hört sich herzlos an«, gestand Wallis freimütig, »aber weder ich noch die Wissenschaftler der Gruppe Saam sind das, was man als gute Eltern bezeichnen könnte. Leider. Da die Mütter durch diesen tragischen und noch immer unverständlichen Vorfall ums Leben gekommen sind, sahen wir nur diesen Weg, die Kinder großzuziehen.« »Was ist mit den Saams?« »Als sich deren Zwillinge ankündigten, war für beide von Anfang an klar, daß keiner auf seine Arbeit verzichten würde. Es verstand sich von selbst, daß die Kinder von Nannys großgezogen werden.« Heather fand das ein wenig merkwürdig, behielt ihre Gedanken darüber jedoch für sich. Immerhin erschien ihr das Verhalten der Saams akzeptabel. Und eine Weile später wurde ihr auf einmal klar, daß sie ihren eigenen Kinderwunsch auch nur so würde realisieren
können, wollte sie nicht auf ihren geliebten Beruf verzichten. Daß es zu diesem Wunsch noch keinen passenden Partner gab, erfüllte sie mit einer gewissen Verdrossenheit. Aber was nicht war, konnte ja noch werden, sagte sie sich. Und je länger der Abend fort‐ schritt, um so attraktiver erschien ihr Terence Wallis. Es wurde nichts aus dem guten Vorsatz, den Abend vor Mit‐ ternacht zu beenden. Sie unterhielten sich angeregt, kamen von ei‐ nem Thema zum anderen, tasteten sich gegenseitig ab. Sehr spät stiegen Heather und Wallis in den offenen Strandschweber und fuhren zum Maniloa‐Resort. Sie machte keine Anstalten, Terence Wallis zu einem Espresso zu überreden, und er unterließ jeden Versuch, auf die berühmte Tasse Kaffee eingeladen zu werden. »Es war ein kurzweiliger Abend«, sagte sie an der Tür ihres Bun‐ galows. »Danke, Terence.« »Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite«, behauptete er mit einer gewissen Selbstzufriedenheit. Sie blickten einander schweigend an. »Was ich noch sagen wollte…« begann er zögernd. »Ja?« fragte sie, als er innehielt. »Da Sie ganz offenkundig ein gewisses Interesse an Terence Wallis als Industriemagnat und angeblich reichstem Mann der Galaxis he‐ gen – anders kann ich Ihr Verhalten hier auf Aloha nicht interpre‐ tieren –, was wäre, wenn ich Ihnen anbiete, ein wenig Einblick in mein wirkliches Leben zu nehmen? Rein privat, und nur, wenn Sie die Kamera weglassen.« »Auf die Kamera kann ich verzichten«, sagte sie. »Aber ich kann nicht versprechen, meine Augen zu verschließen. Wenn Sie also das Risiko eingehen wollen, nehme ich Ihr Angebot an, Terence.« Nachdem Wallis in die Nacht verschwunden war, ging Heather als erstes duschen. Sie brauchte das aus mehreren Gründen. Einmal war die Nacht heiß und schwül, zum anderen hatte sie entgegen ihrem Vorsatz, sich zurückzuhalten, doch etwas zuviel getrunken – aber
vor allem herrschte in ihrem Kopf ein heilloses Durcheinander. Ver‐ treiben ließ sich das nur auf die einzig richtige Weise: Sie drehte den Kaltwasserhahn auf und hielt den Kopf direkt in den Strahl. Sie drehte erst ab, als sie zu frösteln anfing. Dann stieg sie aus der Dusche, verzichtete auf die Dienste des chromblitzenden mechanischen Masseurs, schlang ein Badetuch um sich und ging zurück in den Wohnbereich. Dort schenkte sie sich ein Glas Eiswasser ein, trat an die Panoramascheibe und blickte in die Nacht. Ihre Gedanken kreisten um die vergangenen Stunden. Stunden, in denen sie wenig gesagt, nur ab und zu Fragen gestellt hatte. Dafür hatte Wallis um so mehr geredet, hatte sie mit seinem enormen Wissen beeindruckt, seinen kühnen Phantasien, die sie faszinierten und erstaunten. Kein Zweifel, Terence Wallis war ein Mann mit Visionen. Sie sah den kommenden Tagen mit einiger Spannung entgegen. An diesem Punkt ihrer Überlegungen angelangt, merkte sie, daß sie hundemüde war. Sie trank ihr Glas aus und lag wenig später im Bett. Während sie schon einschlief, dachte sie noch mit einem winzigen Bedauern daran, daß Wallis nicht einmal ansatzweise den Versuch unternommen hatte, sie zu küssen. Dabei war sie sicher, daß er sich für sie interessierte. * Heather Sheridan erwachte aus einem traumlosen Schlaf. Einen Moment lang lag sie still und wußte nicht, wo sie sich befand. Dann schwappte die Erinnerung wieder an die Oberfläche ihrer Wahr‐ nehmung: Sie befand sich hier in ihrem luxuriös eingerichteten Bungalow im Maniloa‐Resort auf Aloha, dem tropischen Urlaubs‐ paradies von Eden. Die Tür zur Veranda hin stand offen. Eine Brise bauschte die
leichten Vorhänge. Sie setzte sich auf, zog die Knie an und schlang die Arme darum. Dann sah sie sich um, als müsse sie sich jede Ein‐ zelheit genauestens einprägen. Tageslicht sickerte durch die heruntergelassenen Sonnenblenden; schmale Streifen von Licht und Schatten erstreckten sich über den Boden. Ihr Kopf fühlte sich prima an; es war das erste, dessen sie sich nach dem Erwachen vergewisserte. Die Antikaterpille, die sie vor dem Dinner mit Wallis eingenommen hatte, hatte ihre Schuldigkeit getan. Gähnend strampelte sie das dünne Laken von sich, schwang die langen Beine vom Bett, stand auf, kratzte sich gedankenverloren zwischen den Brüsten und gähnte wieder. Ärgerlich schüttelte sie den Kopf, daß ihre blonden Haare nur so flogen. Mit leicht verquollenen Augen trottete sie ins Bad und duschte, was wesentlich dazu beitrug, ihren Kreislauf auf Trab zu bringen und sie vollends wachzumachen. Während sie sich unter dem mit Duftstoffen angereicherten Luftstrom trocknete, betrachtete sie sich selbstkritisch im Wandspiegel. Was sie sah, fiel nicht zu ihren Ungunsten aus. Nein, das konnte sie wahrlich nicht behaupten. Sie war attraktiv, langbeinig, braunhäutig, blond‐ und langhaarig, hatte dunkelblaue, strahlende Augen und ein apartes Gesicht mit hohen Wangenknochen; durch die gebräunte Haut wirkte sie, als hielte sie sich ständig im Freien auf. Das waren aber rein äußerliche Attribute; an inneren Werten besaß sie jede Menge praktischer und theoretischer Intelligenz, war vielseitig be‐ gabt – und sah einer großen Zukunft bei Terra‐Press entgegen. Zu‐ mindest hatte ihr Chef, Gabriel Tarrant, es ihr gegenüber so formu‐ liert. Doch trotz ihrer jetzt 27 Lebensjahre war sie noch immer allein; bis auf ein paar flüchtige Bekanntschaften hatte sie noch keine feste Beziehung gehabt. Woran das wohl lag? Sie hatte sich das schon öfter gefragt, ohne jedoch eine be‐
friedigende Erklärung dafür zu finden. Sie beugte sich näher zum Spiegel, betrachtete sich prüfend und selbstkritisch. Und dann wußte sie es plötzlich: Das Problem war sie. Sie ganz allein! Nicht, daß sie älter wurde, 27 Jahre waren kein Alter, um Himmels willen nein, es lag auch nicht an mangelnder Attrakti‐ vität! Nein, daran lag es wirklich nicht, sondern vielmehr an dem Um‐ stand, daß sie schon viel zu lange das Leben führte, wie sie es sich eigentlich zu führen vorgenommen hatte: Unabhängigkeit war der Dreh‐ und Angelpunkt ihres Daseins. Unabhängigkeit in finanzieller und persönlicher Hinsicht. Zumindest war sie bis heute dieser Mei‐ nung gewesen, obwohl sie schon mal der eine oder andere Zweifel plagte, ob sie damit richtig lag. Vielleicht lag es daran, daß sie bisher noch nicht dem Richtigen begegnet war. Oder war sie etwa zu wählerisch? Plötzlich streckte sie sich die Zunge heraus. »Was soll diese elegische Gefühlsduselei, dumme Pute?« herrschte sie ihr Spiegelbild an. »Die Galaxis ist voll von attraktiven Männern, du mußt nur die Hände ausstrecken…« Sie schlüpfte in ein kurzes, ärmelloses Nichts von Morgenmantel und trat mit bloßen Füßen auf die Veranda hinaus. Sie sog in tiefen Zügen die jetzt noch frische Morgenluft ein, die voll Blütenduft und Salz des Meeres war. Sie war sich noch nicht klar darüber, was sie mit dem heutigen Tag anfangen sollte. Mitten in ihre Überlegungen zirpte das Vipho. Sie ging zurück in den Wohnraum. Sekundenlang starrte sie das Bildsprechgerät an, dann sagte sie schulterzuckend: »Ja?« Ihre Stimme aktivierte die Anlage. »Hallo, Heather!« Wallis’ Lächeln entblößte zwei Reihen makellos weißer Zähne. Seine Stimme klang warm und tief, und er sah ver‐ boten gut aus. Innerlich seufzte sie; was hatte sie vorhin noch für Gedanken Männer betreffend gewälzt? »Hallo, Terence«, sagte sie. »Wollen Sie
sich erkundigen, ob ich den gestrigen Abend lebend überstanden habe?« Er legte den Kopf schief und grinste leicht. »Eigentlich nicht.« »Sondern?« »Frage: Haben Sie schon gefrühstückt?« Sie verneinte. »Darf ich Sie dann zum Frühstück in meinen Pavillon einladen? Sozusagen als Start dessen, was ich Ihnen gestern angeboten habe, um…« »Einblick in Ihr Leben zu nehmen«, unterbrach sie ihn. »Ich weiß, ich habe es nicht vergessen.« »Und?« »Warum nicht?« »Sie akzeptieren?« »Selbstverständlich«, sagte sie mit einem Lächeln. »Wann«, so fügte sie mit einem gekonnten Augenaufschlag hinzu, »hat eine hart arbeitende, ewig unterbezahlte Reporterin schon mal Gelegenheit, auf Kosten anderer luxuriös frühstücken zu können?« »Vermutlich nie«, meinte Wallis mit unbewegtem Gesicht. »Sie sagen es, wenn auch nicht gerade charmant.« Er setzte eine zerknirschte Miene auf. »Verzeihen Sie mir meine unsensible Bemerkung.« »Schon vergessen«, winkte sie ab und grinste leicht. »Wenn wir noch länger geistreicheln, wird vermutlich der Champagner warm, den Sie hoffentlich kredenzen werden.« Jetzt lachte er offen. »Es ist dafür gesorgt, daß das nicht geschieht. Ich werde ver‐ anlassen, daß man Ihnen einen Schweber schickt.« »In Ordnung. Geben Sie mir zehn Minuten.« Sie brach einen Rekord: Sie benötigte nur vier Minuten, um sich anzuziehen und weitere fünf, jene Prozedur zu ihrer Zufriedenheit zu beenden, die man im weitesten Sinne als »Toilette machen« ver‐
stand. Als letztes wählte sie von ihrem Apartment aus ihr Büro auf Eden an und hinterließ auf ihrem eigenen Anrufbeantworter eine Nach‐ richt, wo sie zu finden sei. Für alle Fälle… Aus den zehn Minuten wurden elf, dann stieg Heather in den soeben vorgefahrenen schneeweißen Luxusschweber aus dem Fuhrpark des Maniloa‐Resorts, den ein Angestellter des Hotels chauffierte.
3. Heather Sheridan näherte sich mit gemischten Gefühlen dem Pa‐ villon, der von dienstbaren, auf Hochglanz polierten Robotern in eine luxuriöse Frühstückslandschaft verwandelt worden war. Terence Wallis kam ihr entgegen und nahm ihren Arm. Die frische Brise, die über das Meer kam, zauste sein schon etwas schütteres Haar, das er zu einem verwegenen Piratenzopf geflochten trug. »Willkommen« rief er halblaut, und sie genoß seine bewundernden Blicke. »Kommen Sie!« Er nahm sie leicht am Ellbogen und führte sie zu einem Stuhl neben dem seinen. Heather ließ ihre Blicke schweifen und nickte in die Runde, dann setzte sie sich, nicht ohne eine gewisse Anspannung, die sich auch an ihrer Körperhaltung festmachte. »Was ist?« fragte Terence Wallis leise, als er ihre Zurückhaltung bemerkte. »Ich bin ziemlich beeindruckt…« »Ich hoffe doch von mir?« »… von diesem diskret auffälligen Mega‐Luxus. Ich stamme aus relativ einfachen Verhältnissen, müssen Sie wissen.« »In unseren Kreisen ist Luxus unabdingbar, meine Liebe. Das ge‐ hört zur Show, wie Ihnen bekannt sein dürfte. Aber keine Hem‐ mungen. Bedienen Sie sich.« Sie waren alle da: die Saams, George Lautrec, Ramoya – und Liao Morei, die mit undurchschaubarer Miene schräg gegenübersaß. Die Chinesin beteiligte sich nicht an der allgemeinen Unterhaltung, sondern beobachtete die Reporterin. In ihren Augen funkelte Härte, und Heather konnte die Animosität regelrecht fühlen, die ihr von Wallis’ Leibwächterin entgegenschlug. Obwohl die Chinesin ein betont gleichgültiges Benehmen an den Tag legte, täuschte sie Hea‐ ther nicht. Sicher war sie längst von Moreis Meßgeräten durch‐
leuchtet worden. Aber Heather hatte ihr nicht den Gefallen getan, sondern auf ihre leider gar nicht so geheime Mikrokamera verzich‐ tet. Heather ließ sich von Moreis offenkundigem Mißtrauen nicht beeindrucken, sondern frühstückte mit Genuß und ließ sich von dem Ambiente beeindrucken. Im Grunde war Liao Morei nur eine Lohnabhängige wie sie auch – und das relativierte die Verhältnisse dann doch etwas… Terence war ein aufmerksamer Gastgeber und bezog sie geschickt in die Gespräche mit ein, aber ihr wurde schnell klar, daß dieses Frühstück mehr als Arbeitsbesprechung gewertet werden mußte. Heather erinnerte sich, daß dies eine von Wallis’ bevorzugte Ar‐ beitsstrategie war: das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden – oder umgekehrt, das kam auf die Betrachtungsweise an. Und so war Heather Sheridan nicht erstaunt, daß sich seit Minuten die Unter‐ haltung nur um die 16 Ikosaederraumer der Terence‐Klasse drehte, über die Edens Flotte mittlerweile verfügte. »Und du sagst, die Umbauten an den Raumschiffen sind ab‐ geschlossen?« Saam nickte nachdrücklich, es war der gleiche Nachdruck, mit dem er einer Eden‐Krustazee die Hauptschere knackte und sich über das hellrote Fleisch hermachte. »Ich werde dir noch heute die Einheiten vorführen«, versprach er, »aber später, nach diesem süperben Frühstück.« Gelächter kam auf. Liao Morei war die einzige in der Runde, die sich an der all‐ gemeinen Heiterkeit nicht beteiligte. »Klären Sie mich auf, Mister Saam«, wandte sich Heather un‐ erwartet für alle an das norwegische Technikgenie, »sind die Iko‐ saederraumschiffe technisch nicht überholt? Jetzt, wo die Mensch‐ heit über die Worgun‐Technologie verfügt, sind da nicht Zweifel über ihre Effektivität angebracht? Wäre es nicht besser, in neue Schiffe zu investieren und ein fortschrittlicheres Konzept auf Wor‐ gun‐Basis zu entwickeln?«
Saam verschluckte sich fast an dem Krebsfleisch. Während ihm seine Frau auf den Rücken klopfte, rang er nach Luft und blickte wie hilfesuchend auf Wallis. Der aber gab den Blick ungerührt zurück und meinte: »Ich glaube das eigentlich auch, aber du wirst mich sicher eines Besseren belehren, denke ich mal, oder?« Robert Saam hatte endlich das Stück Schalentier hinunterbefördert und spülte mit einem gewaltigen Schluck Champagner seine Kehle frei. Mit einem Handwedeln bedeutete er seiner Angetrauten, das Klopfen zwischen seinen Schulterblättern zu beenden. »Ist ja schon gut, Liebes.« Seine Stimme klang noch etwas angestrengt. »Es sei denn, du willst mir das Rückgrat brechen.« Er wandte sich direkt an Heather. »Sie scheinen ein verteufelt kluges Mädchen zu sein.« »Worüber sind Sie dann so wenig erbaut?« Saam legte die Stirn in Falten. »Schönheit und Klugheit sind eine seltene Kombination. Sollten sich diese Eigenschaften in Ihnen zu einer gelungenen Synthese vereint haben?« »Gefällt Ihnen das nicht?« »Ich halte mich mit meinem Urteil zurück«, gab Saam zu verste‐ hen. »Aber um Ihre ursprüngliche Frage zu beantworten: Die Iko‐ saeder waren in der Tat technisch ein wenig ins Hintertreffen gera‐ ten, wenn ich es einmal so salopp formulieren darf. Aber das war vor der Generalüberholung der Schiffe. Übrigens«, er wechselte einen schnellen Blick mit Terence Wallis, der Heather entging, weil sie die letzten Stücke aus ihrem geeisten Fruchtcocktail fischte, »ist mir eben eine großartige Idee gekommen.« Heather blickte auf. »Sollte die etwas mit mir zu tun haben, so wie Sie es betonen?« Sie hätte ursächlich mit ihr zu tun, bestätigte Robert Saam und er‐ läuterte seinen Einfall. »Was hältst du davon, Terence«, wandte er sich an den Besitzer von Eden, »wenn uns Miß Sheridan nach New Pittsburgh begleitet und dort mit einem Kamerateam die Neuentwicklungen dokumen‐ tiert? Bei ihrer Professionalität und ihrem Können ergibt das mit
Sicherheit einen erstklassigen Werbefilm für das neuste Produkt von WI Space Technologies.« Heather schaltete blitzschnell. »Mein Team steht auf Abruf bereit«, versicherte sie. Und dann setzte sie hinzu: »Für ein entsprechendes Honorar schaffe ich Ihnen mit meinen Leuten ein Kunstwerk für den Sam‐Dhark‐Gedächtnispreis.« »Darunter würde ich es gar nicht akzeptieren«, ließ Terence Wallis ernsthaft verlauten und nickte Saam zu. Merkwürdigerweise konnte Heather sich des Gefühls nicht er‐ wehren, daß hier eine geheime Absprache stattfand, von der sie ausgeschlossen war. Doch dann schalt sie sich eine dumme Pute, als sie das offene Lächeln des superreichen Besitzers von Eden sah, mit dem dieser sich wieder ihr widmete. Innerlich schüttelte sie den Kopf. Langsam, so schien ihr, entwickelte sie eine handfeste Para‐ noia, die sie überall Verschwörungen sehen ließ. Aber das war der Preis dieses beinharten Geschäftes, das sie betrieb. Ihre beste Freun‐ din Maeve würde sagen, es wäre der Preis des Ruhms. Doch davon, nämlich berühmt zu sein, war sie noch ein gehöriges Stück Weg entfernt. * In der außerhalb des Feriengebiets Palau Palms gelegenen Haupt‐ transmitterstation Alohas herrschte morgendliche Betriebsamkeit. Von allen Orten Edens kamen Sonnenhungrige auf der tropischen Insel an. Ein Gedränge herrschte wie bei der alltäglichen Rush Hour Alamo Gordos. Aber wie überall sonst galt auch hier der Grundsatz: Alle Menschen sind gleich – nur ein paar sind gleicher. Das traf im besonderen auf den Staatspräsidenten Edens und sein Gefolge zu, wie Heather wieder einmal in aller Eindringlichkeit vor Augen ge‐ führt wurde. Liao Moreis Truppe schirmte ihr Staatsoberhaupt und dessen Gäste wie mit einem undurchdringlichen Energiefeld von
allem ab und schuf den Freiraum, der es ihnen ermöglichte, ohne Verzug in den für Wallis Industries reservierten Transmitterbereich zu gelangen. Liao Morei legte ein Tempo vor, daß Heather Mühe gehabt hätte, zu folgen, wäre sie nicht eine durchtrainierte Langläuferin gewesen. Aber so hatte sich nicht einmal ihr Puls erhöht, auch ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig, während sie hinter Terence Wallis den Transmitter betrat, der wie die übergroße Kabine eines von beiden Seiten begehbaren Klinikaufzugs wirkte. Kaum hatte sich die Tür hinter ihnen geschlossen, öffnete sich die gegenüberliegende – und sie befanden sich in der Transmitterstation in Terence Wallis’ altem Stamm werk New Pittsburgh. »Wieviel Zeit brauchen Sie, um sich mit Ihrem Team ins Ver‐ nehmen zu setzen?« fragte Wallis. Keine zehn Minuten, bedeutete ihm die Reporterin. »Gut, wir treffen uns vor der Lobby.« Sprach’s und verschwand mit seinem Troß in den hinteren Räumen. Heather Sheridan sah sich forschend in der Lounge um, dann nickte sie zufrieden. Willie Cassoni, der Toningeneur, und Peter Fox, ihr Kameramann, warteten bereits auf sie. Wallis’ Anruf hatte ihnen alle Tore geöffnet. »Ich hatte eine Verabredung zum Mittagessen«, beschwerte sich Cassoni und rümpfte seine römische Nase, während er sich gleich‐ zeitig den Kopf kratzte; sein schwarzes, lockiges Haar wirkte wie frisch geölt. »Jetzt wird sie aber arg sauer auf mich sein.« »Wer? Etwa Eileen, die kleine, farblose Kunststudentin, die als Aushilfe in der Nachrichtenredaktion arbeitet?« Heather hielt sich sehr zurück. »Sie wird mal Dozentin für moderne Kunst«, begehrte Cassoni auf. »Und sie ist alles andere als farblos.« »Von mir aus«, erwiderte Heather und zuckte mit den Schultern. »Die Arbeit geht vor.« »Ja, ja«, bemerkte Peter Fox. In seinen Augen funkelte unauffällige
Häme. »Das Leben kann man mit einem Derby vergleichen. Die lie‐ ben Vorgesetzten reiten einen mit Peitsche und Kandare. Geht’s nicht schnell genug, bekommt man außerdem noch die Sporen.« Hier kam eindeutig Fox’ Affinität zum Reitsport durch. »Der Zufriedene ist stets glücklich«, dozierte Heather Sheridan. »Sie scheinen unzufrieden, Peter. Haben Sie die Ausrüstung über‐ prüft?« Peter Fox war ein mittelgroßer, massiger Schotte mit einer virtuo‐ sen Technik, wenn es galt, Geschehnisse und Ereignisse mit der Kamera einzufangen und in bewegte Bilder umzusetzen. Was er in Angriff nahm, hatte Hand und Fuß und mußte kaum nachbearbeitet werden. Jetzt zog er eine Grimasse. »Natürlich, bereits zweimal. Wir hatten ja sonst nichts anderes zu tun. Was genau machen wir eigentlich hier?« fragte er ohne viel Begeisterung. Die schlanke, blonde Heather sah von Fox zu Cassoni und wieder zurück. »Ihnen wurde nichts gesagt?« Willie Cassoni stieß ein Schnauben aus. »Nur daß wir hier antan‐ zen sollen«, gab er mürrisch zu verstehen; er trauerte noch immer der Verabredung zum Mittagessen nach. »Zum Glück ist unser Gleiter ständig einsatzbereit und mit allem ausgestattet, was wir für eine schnelle Reportage brauchen. Es wird doch eine schnelle Re‐ portage, oder?« »Eine Reportage schon«, versprach Heather. »Doch schnell – nun, wir werden sehen. Aber hört zu…« Rasch klärte sie die beiden im Aussehen und Temperament so un‐ terschiedlichen Männer, die ihre Sympathien füreinander meist hin‐ ter ironischen Sätzen versteckten, darüber auf, was anlag. Sie war kaum damit fertig, als ein Werkschutzmann auf dem Plan erschien und ihnen eröffnete, daß sie auf dem Parkplatz vor dem Verwaltungsgebäude erwartet wurden. Als sie ins Freie traten, wartete eine Feodoraflotte auf sie –einsitzige, offene Bodenschweber, wie sie hauptsächlich für den
raschen Transport auf weitläufigen Sportanlagen Verwendung fan‐ den. Ein hinterer offener Frachtkasten diente entweder als Gepäck‐ ablage, zum Transport von Golf Schlägern oder als Notsitz. Drei waren noch unbesetzt; ihre Bodenplatten schwebten nicht ganz eine Handbreit über dem Beton. Toningenieur und Kameramann holten ihre Ausrüstung aus dem langgestreckten Gleiter, an dessen Flanke ein dunkelrotes Band ver‐ lief, auf dem in weißer Schrift »Terra‐Press Eden« zu lesen war, und verstauten sie in den Transportkästen. »Wir können«, sagte Peter Fox zu Heather Sheridan, die in‐ zwischen schon in ihrem einsitzigen Schweber Platz genommen hatte. Die Reporterin nickte. »Wir sind soweit«, sagte sie laut. Wallis hob die Hand. »Los!« sagte er mit Nachdruck. Nahezu lautlos setzte sich die Schweberkolonne in Bewegung. Auf Terence Wallis’ Firmengelände, das schätzungsweise achtzig Quadratkilometer umfaßte, erstreckten sich unzählige Gebäude‐ komplexe, die in keinem erkennbaren Muster angeordnet waren: Labortrakts, Hangars, domartige Werkshallen, bizarre Energiever‐ sorgungsanlagen und scheinbar endlos sich erstreckende Ferti‐ gungsstraßen. Manche der gewaltigen Tore standen offen. Heather erhaschte beim Vorüberfahren einen schnellen Blick auf überdimen‐ sionale Bandstraßen, auf denen ganze Raumschiffe zusammenge‐ baut werden konnten. Vollautomatisiert. In Fließbandarbeit. Das kreischende Geräusch von Hochleistungsfräsen peinigte die Ohren der Vorüberfahrenden. Lichtbogenschweißautomaten wet‐ terleuchteten im Innern und schufen eine gespenstische Szenerie. Überall waren nur Roboter zu sehen oder halbrobotische Ma‐ schinen. Man erblickte kaum ein menschliches Wesen. Dann wurden die Hallen weniger; der Konvoi der kleinen Schwe‐ ber näherte sich dem hinteren Teil des riesigen Areals, über das sich
Wallis Industries erstreckte. Durch das offene Schiebetor der letzten Halle, an der sie vorbeikamen, erhaschte Heather einen Blick auf ein wirres Durcheinander von metallenen Fragmenten, die sich zu ei‐ nem Berg türmten, der bis zur Decke zu reichen schien. Dann blieb die Halle auch schon zurück, und Heather ver‐ schwendete keinen Gedanken mehr an das, was sie gesehen hatte. Etwas anderes fesselte ihre Aufmerksamkeit. Schon von weitem war zu erkennen, was Robert Saam seinem vä‐ terlichen Freund und Gönner zeigen wollte: Auf einer weiten Gras‐ fläche jenseits des doppelten Hochsicherheitszaunes, der die Indust‐ rieanlage in ihrer Gänze umschloß, standen 16 je 600 Meter hohe Ikosaederraumschiffe wie urzeitliche Monolithen eines Volkes von Riesen. Die Kolonne steuerte auf das Tor zu, das aus einem Energie‐ vorhang zwischen zwei massiven Säulen bestand. Aus ihrem Schweber heraus deaktivierte Liao Morei die ener‐ getische Sperre, und die Feodoras glitten hindurch, um in ge‐ bührender Entfernung von den Raumschiffriesen anzuhalten. Wallis kletterte langsam aus dem Schweber, musterte den Leiter seiner Entwicklungsabteilung nachdenklich, während sich langsam eine Falte über seiner Nasenwurzel bildete, die seinen beginnenden Ärger dokumentierte. Heather Sheridan, die die sich anbahnende Auseinandersetzung nicht aus den Augen ließ, bedeutete ihrem Team mit Handzeichen, mit den Aufnahmen zu beginnen. Peter Fox hatte bereits während der Fahrt in diesen Teil des Ge‐ ländes seine Aufnahmeeinheit mit den beiden Schläfenkameras übergestreift und hatte Impressionen des Areals auf das Speicher‐ medium gebannt. Jetzt nahm er abwechselnd Terence Wallis, Robert Saam und die 16 geparkten Schiffe im Hintergrund in den Fokus seines Augenschirmes, der ihm ein dreidimensionales und tiefen‐ räumliches Bild dessen gab, was die Objektive aufnahmen. Aus den Augenwinkeln sah Heather, daß Willie Cassoni den eigroßen Flug‐
roboter des Mikrophons bereits im Einsatz hatte. »Waren wir uns nicht einig, Robert«, ertönte Wallis’ Stimme eben, »daß wir Edens Oberfläche nicht mit Raumhäfen verschandeln wol‐ len? Zu keinem Zeitpunkt!« »Wir waren uns einig, ja«, erwiderte Saam schlicht. »Hast du deine Meinung jetzt geändert?« »Ich habe nichts dergleichen vor«, bekräftigte Saam. Er hob sein Armbandvipho an den Mund und sprach hinein. Mit unergründlichem Gesichtsausdruck verfolgte Terence Wallis, wie die gewaltigen Ikosaeder im Boden versanken. Es geschah ohne Lärmentwicklung; keine Staubwolken stiegen empor und verdun‐ kelten den Himmel. Für einen Moment schien die Szene zu einem Standbild erstarrt. Dann sagte Saam: »Sieh dorthin!« Wallis drehte sich in die angegebene Richtung, beschattete seine Augen mit der Hand; über ihnen wölbte sich der stahlblaue Himmel Edens, und die Sonne stand im Mittag. Ebenso geräuschlos, wie sie verschwunden waren, stiegen die Ikosaeder etwa zwei Kilometer von ihrem ursprünglichen Standort entfernt wieder aus dem Untergrund hervor, um ihre Schatten über das Land zu werfen. Saam wiederholte dieses Spiel ein paarmal; es glich einem Ballett von Riesen, nur mit dem Unterschied, daß es mit der schwebenden Leichtigkeit von tanzenden Sylphiden vonstatten ging. Zum Schluß arrangierte er die 16 riesigen Monolithen purer Technik in einem zum Zaun hin offenen Halbkreis. Peter Fox fing jede Einzelheit mit seiner Kamera ein. Wallis fixierte Saam. »Nette Überraschung«, gestand er. »Ist es das, was ich vermute?« »Ja«, erwiderte Robert Saam mit Begeisterung. Er freute sich wie ein Kind, Wallis mit seiner Vorführung überrascht zu haben. »Ich habe aber noch einige andere Dinge in petto, wie du dir denken kannst.«
»Auch dies vermutete ich bereits«, erwiderte Wallis knapp mit ei‐ nem ebensolchen Lächeln. »Und was ist es genau, was Sie vermuten, Terence?« brachte sich Heather Sheridan zu Gehör. Sie war dem Multimilliardär nicht von der Seite gewichen, schließlich hatte sie einen Auftrag. Wallis sah sie an. »Später«, wehrte er ab. »Die Erklärung erfolgt im Werk. Haben Sie, was Sie brauchen?« Seine Frage richtete sich an Peter Fox, der dabei war, einen neuen Speicher in seine Aufnahmeeinheit zu laden. »Eigentlich nein. Da es ein Werbefilm werden soll«, erklärte der Schotte, »möchte ich zur Vorsicht noch einige Aufnahmen zwischen den Raumschiffen machen, um deren Präsenz für die potentiellen Käufer so richtig zur Geltung zu bringen.« »Nur zu«, gab Wallis sein Einverständnis. Fox’ Feodoraschweber, nicht mehr als ein Sitz über einer Antig‐ ravplatte, fuhr los und entfernte sich in Richtung der hochragenden Ikosaederschiffe, um wie ein winziges Insekt zwischen ihnen zu verschwinden. Es waren beeindruckende Bilder. Die riesigen Raumer der Teren‐ ce‐Klasse schwebten auf ihren Antigravpolstern etwa drei Meter über dem Boden, ohne daß ein physischer Kontakt zustande kam; das grünsilberne Gras wurde wellenartig durch kleine Windstöße bewegt. Zwischen Boden und Unterseite der riesigen Zwanzigf‐ lächner ging der Blick ungehindert hindurch bis an den Rand des Areals und darüber hinaus zu den Ausläufern eines Gebirgszuges, dessen eisbedeckte Gipfel aus der Ferne herüberleuchteten. Da die Feodoras nicht mehr als drei Meter über Grund aufsteigen konnten, Fox aber unbedingt die Raumschiffsgiganten aus einer anderen als der Wurmperspektive aufnehmen wollte, schickte er eine fernge‐ steuert Kamerasonde – nicht größer als ein Tennisball – in die Höhe. Sie filmte beim Aufsteigen die sich scheinbar endlos erstreckenden Wandungen und fing einen Ausschnitt direkt von oben ein. Fox, der die Szenen auf dem heruntergeklappten, münzgroßen Augenschirm
verfolgte, war hochzufrieden mit den erzielten Ergebnissen. Und diese Zufriedenheit äußerte sich in einer Reihe zustimmender Laute. »Es scheint Ihnen zu gefallen, Peter?« fragte Heather direkt. Fox hatte vergessen, daß er mit seiner Chefin und Willie per Funk verbunden war. »Ja«, erwiderte er und grinste, was sie nicht sehen konnte. »Vergessen Sie nicht, daß Sie nicht zu Ihrem Vergnügen hier sind.« »Schade«, meinte er und grinste stärker. »Ich fing gerade an, Sie recht sympathisch zu finden.« »Ich schlage vor, daß Sie zurückkommen«, sagte sie im ge‐ schäftsmäßigen Ton. »Mister Wallis legt Wert darauf, daß wir im Werk die Ausführungen Mister Saams für das zukünftige Käufer‐ klientel der modifizierten Raumschiffe filmen.« »Ich beuge mich der rohen Gewalt«, erwiderte Fox und beorderte das fliegende Auge zurück. * »Mit den Daten über die Ringraumerwerften, die wir von wohl‐ meinenden Verbündeten erhalten haben, ist es meinen Mitarbeitern und mir gelungen, die Ikosaederraumer vollständig auf Wor‐ gun‐Technologie umzurüsten. Das Ergebnis dieser Modifikation konnte vor kurzer Zeit draußen vor dem Werksareal in Augenschein genommen werden.« Robert Saam strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und klemmte sie hinter dem Ohr fest. »Wie fanden Sie üb‐ rigens die Vorführung? Es scheint Ihnen gefallen zu haben, Miß Heather, nicht wahr?« Sie waren erst vor Minuten vom Außengelände zurückgekehrt und befanden sich jetzt in Saams weitläufigem Arbeitsraum. Eine Cateringfirma hatte zwischenzeitlich einen kleinen Imbiß angeliefert und die Platten mit Kanapees dekorativ auf einem der langen Labortische arrangiert, wo sich jeder selbst bedienen konnte. »Ja«, sagte die Reporterin. »Die Luft war wirklich atembar dort
draußen.« »So, so«, sagte Saam ohne viel Begeisterung, während seine Frau ein kleines, glucksendes Lachen zum besten gab und Wallis offen grinste. »Kleiner Scherz«, gestand dann auch Heather zu Saam gewandt und setzte eine zerknirschte Kleinmädchenmiene auf. »Ich ent‐ schuldige mich dafür. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, aber manchmal flüstert mir ein kleiner Teufel ins Ohr, derartige Dinge zu tun. Tatsächlich fand ich die Vorführung des Balletts der Giganten gelungen. Sie müssen mir mal erklären, wie Sie das gemacht haben. Soviel ich mit meinem kleinen Verstand«, (sie kokettierte gern) »be‐ griffen habe, gelingt so etwas nur, wenn ein Intervallfeld zur Ver‐ fügung steht. Aber was genau wurde denn nun modifiziert?« »Das hätte ich auch gerne gewußt.« Wallis drehte eine Zigarre zwischen den Fingern, zündete sie jedoch nicht an. Robert Saam war nicht nachtragend und antwortete nach einem kurzen Räuspern: »Wir haben zunächst die Triebwerksleistung verdoppelt. Da die Carborithülle eines Ikosaeders trotz ihrer Größe nicht mehr wiegt als ein 190 Meter großer Ovoid‐Raumer der Rom‐Klasse aus Unitall, stand genügend Volumen zur Verfügung, um zwei komplette Ringraumer‐Triebwerke in einem Iko zu integ‐ rieren. Ab sofort arbeiten keine Suprasensoren mehr in den Schiffen, sondern Hyperkalkulatoren.« Saam verstummte und wechselte einen Blick mit George Lautrec, der fortfuhr: »In die Hülle integriert sind Antennen für alle bekann‐ ten Worgun‐Waffen. Zu diesem Zweck haben wir einfach noch wei‐ tere 20 Zentimeter Carborit auf die Außenwandungen laminiert, die jetzt eine durchgehende Stärke von 1,20 Meter aufweisen, wobei die Antennen in der oberen, 20 Zentimeter starken Schicht sitzen.« »Die Schiffe«, übernahm Saram Ramoya den Fortgang der Auf‐ zählung, »verfügen nun über Doppelintervallum…« »Aha!« machte Heather, und ihre Augen blitzten. »… KFS, SLE und Sternensog. Natürlich sind sie jetzt auch in der
Lage, zu transitieren…« »Gibt es etwas, was sie nicht können?« unterbrach die Journalistin, deren Kopf von den technischen Erläuterungen schwirrte, die Liste der neuen Spezifikationen. »Wir haben bis jetzt nichts gefunden«, erklärte Saam schlicht. »Brennkreis und Brennpunkt«, nahm Ramoya den Faden wieder auf, »können sowohl oberhalb als auch unterhalb des Schiffes – also in Flugrichtung ›vorn‹ oder ›hinten‹ – projiziert werden.« »Habt ihr auch an den Waffen etwas verändert?« erkundigte sich Terence Wallis und sah dabei seinen Chefwissenschaftler an. Das hätten sie, bestätigte Saam. Obwohl ihre Zahl mit zwölf Stück unverändert geblieben war, besaßen die Ikosaeder neue Wuchtka‐ nonen. Aufgrund des Energieüberflusses an Bord war deren Kaliber von fünf auf fünfeinhalb Zentimeter erweitert worden. Dadurch wog eine Tofiritkugel statt 31,470 Tonnen nun 41,886 Tonnen und entwi‐ ckelte somit ein Drittel mehr Wucht beziehungsweise Energie bei der Umwandlung. Heather kramte in ihren Erinnerungen. Die Wuchtkanone war ein von Robert Saam entwickeltes Waffen‐ system, bei dem ein modifiziertes Antigravaggregat ein röhrenför‐ miges Feld aufbaute, in dessen Innerem die Wirkung von Masse neutralisiert wurde. Dieses hellgelb leuchtende Röhrenfeld baute sich überlichtschnell auf und besaß eine Reichweite von bis zu einer Lichtsekunde. Eine simple Kugel aus massivem Tofirit, von einem Kraftfeldprojektor in der Kanone dank Massefreiheit ohne Verzö‐ gerung auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt, durchraste diese Feldröhre in maximal einer Sekunde. Sobald das Röhrenfeld auf ein Hindernis traf, war die Tofiritkugel nicht mehr massefrei, aber noch immer lichtschnell. Sie knackte üb‐ licherweise jeden Schutzschirm und die darunterliegende Schiffs‐ wandung – oder auch Festungsanlagen auf Planetenoberflächen. Durch die Modifikationen kam ein neuer Ikosaederraumer in sei‐ ner Kampfkraft an zwei Ovoid‐Ringraumer heran.
»Wir konnten außerdem die Reichweite der Geschütze von 300.000 auf 330.000 Kilometer steigern«, ließ Saam noch wissen, um dann anzufügen, daß von der gesamten Technologie die Patente gesichert seien. Letztere Bemerkung begeisterte vor allem Wallis, dem der mögli‐ che monetäre Aspekt aller seiner von Wallis Industries oder Wallis Space Technologies entwickelten Produkte stets sehr am Herzen lag. »Dir habt gute Arbeit geleistet«, lobte er sein Forschungsteam und ordnete im gleichen Atemzug an, zehn der neuen Schiffe zu einer Promotiontour nach Terra zu schicken. »Bei der Gelegenheit können wir der TF auch gleich die neuen Multikarabiner und die Sprung‐ peiler präsentieren, von denen ich mir ein erhebliches Auftragsvo‐ lumen verspreche.« »Die werden sich freuen«, versprach Robert Saam und grinste faunisch, was für Sekundenbruchteile wieder den früheren Robert Saam aufblitzen ließ, den Nonkonformisten und das Enfant terrible in wissenschaftlichen Kreisen, »wenn sie wieder für etwas bezahlen müssen, das eigentlich in ihren eigenen Labors hätte entstehen müssen.« »Sei nicht so gehässig, Schatz!« Regina schlug ihren Mann leicht auf den Arm. »Wann denken Sie, haben Sie den Bericht fertig?« wandte sich Wallis an die Reporterin, die eben ihre Notizen auf ihrem Hand‐ suprasensor sichtete, während Cassoni und Fox die Aufnahmen beendeten und die Geräte wegpackten. Heather sah kurz auf ihr Chrono. »Es ist jetzt früher Nachmittag. Wenn wir gleich aufbrechen, mich niemand in der Redaktion mit so unsinnigen Dingen wie Reisekos‐ tenabrechnungen nervt und ich in Ruhe arbeiten kann, wird der fertige Bericht noch heute an die Hauptredaktion in Alamo Gordo gehen«, versprach sie. »Dann will ich Sie und Ihre Leute nicht länger aufhalten«, be‐ merkte Wallis und erhob sich. »Tun Sie Ihr Bestes.«
»Das tue ich immer«, sagte sie mit ernsthaftem Gesicht und trank ihr Glas leer. »Was ich Sie schon die ganze Zeit fragen wollte, Te‐ rence…« »Ja?« sagte er, als sie stockte. Während Heather ihrem Team nachblickte, das eben durch die Tür verschwand, fuhr sie fort: »Haben die Untersuchungen eigentlich etwas ergeben?« »Welche Untersuchungen?« Wallis Frage klang ein wenig zö‐ gerlich, so als müsse er erst darüber nachdenken, was Heather mit ihrer Frage meinte. »Wissen Sie inzwischen, wer für die Zerstörung Ihrer Yacht und den Tod aller Insassen verantwortlich ist?« Sie hatte absichtlich vermieden, explizit den Tod von Wallis’ Lebensgefährtin sowie der Ehefrauen Lautrecs und Ramoyas zu erwähnen, um nicht kaum verheilte Wunden erneut aufzureißen. Er schien überrascht. Sein Schweigen dauerte nach Heathers Mei‐ nung einige Sekundenbruchteile zu lang, aber vielleicht mußte er sich erst sammeln, weil ihn die Erinnerung an den Tod seiner Le‐ bensgefährtin zu sehr schmerzte. Vermutlich hatte er die Gescheh‐ nisse gerade soweit verdrängt, daß er damit zurecht kam, nun mußte sie die Wunde wieder aufreißen. Sie hätte sich dafür ohrfeigen kön‐ nen. »Leider gibt es keine gesicherten Erkenntnisse, noch immer nicht.« Wallis hob die Schultern in einer resignierten Geste. »Aber ich hege die Hoffnung, daß die für uns alle so schmerzlichen Vorkommnisse in naher Zukunft aufgeklärt werden können. Danke für Ihre Anteil‐ nahme.« Sie nickte, dann verabschiedete sie sich. Im Studio angekommen, arbeitete sie schnell und konzentriert an der Fertigstellung des Berichts. Einmal kamen Kolleginnen aus der Nachbarredaktion herein, um den üblichen Tratsch abzuhalten, aber sie warf sie umgehend wieder hinaus.
Gabriel Tarrant, ihren Redaktionsleiter und Chef des Unter‐ haltungszweiges von Terra‐Press Eden, konnte sie nicht so einfach rauswerfen. Er versank ihr gegenüber in dem hochmodernen Form‐ sessel, brachte sie mit seinen Fragen aus dem Rhythmus, trank von ihrem Kaffee und war sich auch nicht zu schade, den Rest des wirk‐ lich delikaten Cognacs auszutrinken, den sie für besondere Anlässe zwischen den bereits gesendeten Folgen von DYNAMITE in einer Schublade ihres Arbeitstisches aufbewahrte – und von dem er leider wußte. Weshalb sie es schlecht verleugnen konnte, als er danach fragte. Schließlich kam er dann doch zur Sache. »Wie weit ist die Sache mit unserem gemeinsamen Freund gedie‐ hen? Wann kann ich mit einem abschließenden Bericht rechnen, oder anders gefragt: Wann senden wir?« Heather lächelte zurückhaltend. »Das wird noch etwas dauern«, versetzte sie. »Mir fehlen noch ei‐ nige entscheidende Fakten. Ich verfolge da eine ganz bestimmte Spur, Chef. Leider erhalte ich keinen Zugriff auf den Unfallbericht, den die Raumfahrtbehörde angefertigt hat, was mich für den Mo‐ ment etwas ausbremst.« »Ist doch nicht so einfach, wie Sie sich das vorgestellt haben, nicht wahr junge Dame? Ich überlege, ob ich das Projekt nicht besser von der Bildfläche verschwinden lassen soll.« Heather Sheridan erschrak, schwieg aber. Gabriel Tarrant blickte sie abschätzend eine Weile an und bemerkte schließlich kühl: »Aber Sie haben unglaubliches Glück – inzwischen bin ich selbst neugierig geworden.« Heather atmete innerlich auf, die Spannung war fast unerträglich geworden. Tarrant war aufgestanden, um den Schreibtisch der jungen Repor‐ terin herumgegangen und hatte sich nun dicht hinter sie gestellt. Es roch nach sehr teurem Rasierwasser. »Was ist das?« erkundigte sich der Redaktionsleiter und nickte in
Richtung der beiden Monitore, die Heather verwendete, um die auf dem Werksgelände von Wallis Industries gefilmten Szenen zu schneiden. Er hörte einen Moment in den von Heather unterlegten Text hinein. »Haben Sie etwa Ihre Meinung bezüglich Wallis geän‐ dert?« zeigte er sich erstaunt. »Mitnichten«, erklärte ihm seine beste Reporterin. »Dies ist kein Meinungsumschwung, sondern solide Auftragsarbeit. Wallis hat uns angetragen, einen Werbefilm über seine Raumschiffproduktion zu machen. Er hat sogar Mister Patterson kontaktiert und durchgesetzt, daß Terra‐Press die weltweite Ausstrahlung auf der Erde über‐ nimmt. Den Vertrag finden Sie morgen auf Ihrem Schreibtisch.« »Wie schön, wir werden Wallis Industries eine gehörige Stange Geld für die Werbung abknöpfen.« Dann merkte Tarrant schließlich doch, daß er nur zu stören schien, und verabschiedete sich mit einem gemurmelten »Habe noch zu tun«. Die nächsten dreißig Minuten konnte sie ungestört weiterarbeiten. Dann summte das Vipho. Sie unterdrückte einen wenig damenhaften Fluch und sagte laut und aggressiv: »Wer stört?« Es war Taggert, ihr Maulwurf in der zivilen Raumfahrtbehörde Edens. »Du rufst mich an!« sagte sie erstaunt. »Was ist geschehen? Wird Eden von teuflischen Invasoren heimgesucht?« Taggerts Schlangenaugen musterten sie auf eine Weise, daß sie Kälte verspürte. »Sag schon, was gibt es?« Taggert antwortete nicht gleich. Heather verkniff sich eine Be‐ merkung dazu, es war besser, ihn nicht zu bedrängen, während er sich eine Antwort überlegte. »Ich bin auf etwas gestoßen«, begann er schließlich und blickte sich mißtrauisch um, als befürchte er, jemand könne hinter ihm stehen und seine Indiskretion bemerken. Was natürlich Unsinn und Aus‐
druck seiner allgegenwärtigen Paranoia war, die ihn überall nur Verfolger und Attentäter vermuten ließ. Er hätte besser in die Zeiten der Heiligen Inquisition gepaßt als in die des 21. Jahrhunderts. »Wallis hatte es ziemlich eilig, die Überreste seiner Raumyacht ber‐ gen zu lassen. Du weißt schon, die mit dem komischen Namen…« »HOLE‐IN‐ONE«, nickte Heather, während sie plötzlich den Berg Metallfragmente vor ihrem inneren Auge sah, der ihr auf dem Werksgelände von Wallis Industries aufgefallen war. »Was ist da‐ mit?« »Nun, das Kampfschiff, das bei der zerstörten Raumyacht eintraf, rief einen Bergungskreuzer zu Hilfe. Es war ein ziviles Unterneh‐ men, das die Überreste nicht wie vorgesehen direkt nach New Pitt‐ sburgh brachte, sondern erst auf den Schrottplatz der Bergungsfir‐ ma, wo sie für drei Stunden blieben, bis jemand den Irrtum bemerkte und die Überbleibsel in New Pittsburgh ablieferte.« »Na und? Ein alltäglicher Vorgang, Irrtümer passieren immer wieder. Wo liegt der Clou?« Taggert schloß die Augen und sog scharf die Luft ein. »Du scheinst nicht wirklich an meinen Informationen interessiert zu sein«, be‐ schwerte er sich verärgert. »Ich laufe mir für dich die Hacken ab, riskiere mein Leben – na ja, fast«, relativierte er seine Bemerkung, als er Heathers spöttisch Miene sah, »und du glaubst mir nicht.« »Ich weiß doch noch gar nicht, worum es geht, Taggert«, machte ihn Heather aufmerksam. »Wie… ach so. Siehst du, du bringst mich ganz durcheinander.« Bitte, bitte, dachte Heather mit gelinder Verzweiflung, komm endlich zur Sache. Das Schicksal hatte ein Einsehen mit ihr; Taggert kam zur Sache. »Einer der Inspektoren der Bergungsfirma wollte nicht glauben, daß von der Besatzung nichts mehr zu finden war, und forschte nach DNS‐Spuren.« »Fand er etwas?« interessierte sich Heather plötzlich. »Er wurde fündig. Da waren Spuren.«
»Wem konnten sie zugeordnet werden?« »Niemandem. Die Spuren stammten weder von einem Besat‐ zungsmitglied noch von einem der Passagiere.« Heather runzelte die Stirn, während ihre Gedanken rasten. »Wenn nicht menschliche, welche Überreste waren es dann?« »Der Bericht spricht nur von organischen Spuren ohne verwertbare Gensequenzen.« »Aliens? Das verstehe, wer will«, sagte Heather. Taggert nickte wortlos – und blendete sich ebenso wortlos aus. Heather starrte eine Weile auf den dunklen Viphoschirm und hing ihren Gedanken nach. Was sie eben gehört hatte, war ein weiteres Stück des Puzzles, das zusammenzusetzen sich als immer schwieri‐ ger erwies. Aber sich jetzt intensiver damit auseinanderzusetzen, würde sie nur von der übrigen Arbeit abhalten. Sie beschloß, die Information, die Taggert ihr gegeben hatte, vorläufig in einem Fach ihres Ge‐ dächtnisses mit der Aufschrift NOCH ZU ERLEDIGEN abzulegen. * Schließlich war der Bericht fertig. Sie ließ ihn noch einmal in der endgültigen Fassung durchlaufen, verbesserte hier und da ihre Aussprache, setzte dann noch einige Glanzpunkte an Stellen, wo sie es für nötig erachtete und fand, daß er perfekt gelungen war. Sie komprimierte den fertigen Beitrag, um ihn per To‐Richtfunk nach Terra zu schicken. Dann fuhr sie den Sessel zurück, legte die Füße auf die Konsole und schloß für einen Moment die Augen… Ihr war keine Ruhe vergönnt. Sie hörte verschiedene Geräusche vor der Tür, die Stimme ihrer Assistentin, die versuchte, jemanden vom Betreten des Büros abzuhalten; sie hatte keinen Erfolg damit, Sekunden später klopfte es an der Tür. Na, immerhin ein höflicher Mensch, dachte Heather, nahm ergeben
die Füße von der Konsole und setzte sich auf. Wieder klopfte es. »Immer herein, dies ist eine freie Welt!« »Das haben Sie schön gesagt«, freute sich Wallis und schloß die Tür hinter sich. Heather gelang es, nicht überrascht zu wirken. »Terence!« sagte sie leichthin. »Nett, daß wir uns wieder einmal sehen. Wie lange ist das jetzt schon her, seit wir uns das letztemal begegnet sind?« »Schon gut, schon gut«, wehrte er lachend ab. »Es mag für Sie aufdringlich wirken, aber ich hatte in der Nähe zu tun und dachte, ich schaue mal vorbei.« Na, wenn das mal stimmt, dachte sie. Wallis war ohne Zweifel eine faszinierende Persönlichkeit, keine Frage. Aber was Heather störte, war die offen zur Schau getragene Selbstverständlichkeit, mit der Wallis glaubte, über anderer Men‐ schen Zeit verfügen zu dürfen, wann immer ihm danach war. »Sie haben so einen erlebnishungrigen Ausdruck in Ihren Augen, Terence. Wollen Sie etwa den Film sehen, bevor ich ihn nach Terra schicke?« »Nein.« Dann eben nicht, dachte die junge Frau. Laut fragte sie: »Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen lassen?« »Nein«, sagte er wieder, diesmal lächelte er dabei. »Ich habe vor, Sie zu entführen.« Sie blinzelte. »Wo haben Sie die Pferde stehen?« Er lachte offen. »Gut gekontert, junge Dame. Im Ernst, ich würde Sie gerne wieder zum Abendessen einladen.« »Au ja!« Sie sah ihn an und zwinkerte. »Wieder am Strand von Palau Palms?« »Nein. Ich dachte, es wäre nett, wenn wir beide einen etwas grö‐ ßeren Ausflug machen würden.« »Woran dachten Sie?«
»An eine Stippvisite auf Terra.« Ein ungläubiger Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht. Nach einer Weile sagte sie matt: »Mit meinen Ohren muß etwas nicht stimmen, ich habe verstanden, daß Sie mich nach Terra einge‐ laden haben. Mal so eben zum Abendessen.« »Ihren Ohren – die übrigens sehr entzückend sind – fehlt nichts. Ich sagte wirklich Terra. Ich kenne da ein ausgezeichnetes Lokal im Amüsierviertel von Cent Field. Schon mal etwas vom Los Morenos gehört?« »Gehört habe ich schon was darüber«, sagte sie reserviert; sie hatte das Gefühl, daß er ihre Zustimmung bereits voraussetzte. »Besucht habe ich das Lokal allerdings noch kein einziges Mal.« »Da ist Ihnen etwas entgangen«, versicherte Wallis. »Meinen Sie. Ist das nicht eine Raumfahrerkneipe mit nicht mehr als 30 Sitzplätzen? Und da gibt es was Gutes zu essen?« »Das ist keine Raumfahrerkneipe, sondern ein Feinschmeckerres‐ taurant für spanische Spezialitäten. Die Fischplatten der beiden Brüder sind berühmt. Nicht umsonst ist das Los Morenos das Stammlokal von Ren Dhark und anderen illustren Persönlichkeiten.« »Sie eingeschlossen, vermute ich mal.« Sie blickte spöttisch. »Was ist, einverstanden?« drängte er und lächelte erwartungsvoll. »Es kommt etwas überraschend«, sträubte sie sich. »Der Beitrag von heute morgen muß noch auf den Weg gebracht werden.« »Diese Ausrede nehme ich Ihnen nicht ab. Sie können den Speicher mit dem Bericht doch einfach mitnehmen und am Transmitter‐ bahnhof von Alamo Gordo einem Mitarbeiter von Terra‐Press übergeben.« »Sie haben an alles gedacht, nicht wahr?« »Dafür bin ich berühmt«, erwiderte er, offen grinsend. »Wann?« Sie war nun doch halb überredet. »Jetzt gleich.« »Ich müßte erst noch einmal in mein Apartment. Duschen, um‐ kleiden.«
»Das können Sie alles während der Transmittertour machen«, ver‐ sicherte Terence Wallis. »Unsere Reisemodule sind mit allem aus‐ gestattet, was der Bequemlichkeit der Reisenden dient.« »Sie meinen natürlich die Module, die Ihr Wappen tragen, nicht wahr?« »Selbstverständlich«, bekannte er freimütig. »Immerhin sind Sie ehrlich. Wird Ihre kleine Freundin auch mit von der Partie sein?« »Freundin…?« dehnte Wallis; einen Augenblick wußte er nicht, auf wen Heather Sheridan anspielte. Dann verstand er. »Natürlich kommt Liao Morei mit; sie und ihr Team. Allerdings in einem zwei‐ ten Container. Es sind nun mal unsichere Zeiten. Außerdem bin ich Staatspräsident; derart exponierte Persönlichkeiten bewegen sich niemals ohne Leibwächter in der Öffentlichkeit, wie Sie wohl wissen. Ich könnte ja entführt werden. Aber ich verspreche Ihnen, daß sie uns nicht stört. Auch nicht im Los Morenos. Liao hat die seltene Gabe, sich unsichtbar zu machen, falls sie es darauf anlegt.« »Na gut«, gab sie ihr Einverständnis. »Fahren wir hin! Es darf aber nicht zu spät werden.« »Was?« »Unsere Rückkehr.« »Natürlich nicht. Ich sorge dafür.«
4. Wallis hatte eher untertrieben, als er behauptete, das Reisemodul sei mit allen Bequemlichkeiten ausgestattet. Das Interieur war Luxus pur und nicht zu vergleichen mit der Ausstattung der Transport‐ container, mit denen Terra‐Press den Umzug nach Eden bewältigt hatte. Während der einstündigen Reise von Eden nach Terra, wobei sie zehn Transmitterstationen durchliefen, konnte Heather duschen und sich aus einer Auswahl der schicksten Kleider bedienen, die Wallis hatte bereitlegen lassen. Die Auswahl der richtigen Abendgarderobe beanspruchte den größten Teil der Reise zur Erde. Als Heather nach reiflicher Überle‐ gung und Anprobe sämtlicher Vergleichsstücke schließlich der Überzeugung war, das richtige Kleid gefunden zu haben, trat sie aus der Ankleidekabine und machte ein paar Schritte in den Raum hi‐ nein. »Wie finden Sie es?« fragte sie erwartungsvoll und drehte sich graziös einmal um ihre Achse. Sie trug ein raffiniert einfaches, aber immens teures Kleid; der Stoff modellierte jede Rundung ihres Körpers. Das blonde Haar trug sie offen. »Ist es so schrecklich, daß Sie keine Worte finden?« »Wie… oh!« Erst jetzt merkte Wallis, daß er sie unverhohlen an‐ gestarrt hatte. Er räusperte sich. »Bitte verzeihen Sie mein Schwei‐ gen. Nein, nein, Sie sehen überhaupt nicht schrecklich aus. Im Ge‐ genteil, verehrte Heather. Ich bin gebührend beeindruckt; Sie sehen einfach atemberaubend aus.« »Danke«, sagte sie und genoß sichtlich seine bewundernden Blicke. »Ein Rat vielleicht«, sagte Wallis. »Vergessen Sie nicht, sich einen warmen Mantel auszusuchen. Die Abende auf Terra sind kühl, kühler als sonst im September. Ein Wetterphänomen, über dessen
Ursache noch gerätselt wird.« Die Reise endete ziemlich genau nach einer Stunde. Im Transmitterbahnhof von Alamo Gordo verfügte Wallis In‐ dustries über eine eigene, weiträumige und nur mit einer speziellen Berechtigung zu betretende Halle, in der der Transmitterverkehr nach und von Eden abgewickelt wurde. Am Eingang wartete bereits ein Bote von Terra‐Press, dem Heather die Datei aushändigte. In Alamo Gordo war es früher Abend. Als Heather und Wallis den Transmitterbahnhof verließen, traten sie hinaus auf eine breite Fußgängerallee. Gleich danach begann die Reporterin zu frösteln; es war tatsächlich unverhältnismäßig kühl in der Stadt. Sie schlug den Mantel eng um sich und zog den Gürtel fest. »Wollen wir gleich ins Los Morenos?« fragte Wallis. »Ist es dafür nicht zu früh?« »Die Moreno‐Brüder haben rund um die Uhr geöffnet, man ist nie zu früh oder zu spät.« Sie überlegte. »Lassen Sie uns erst noch ein bißchen bummeln«, bat sie dann. »Nur zu, ich bin dabei.« Wallis griff nach ihrem Arm und dirigierte sie durch den abendli‐ chen Fußgängerverkehr; halb Alamo Gordo schien auf den Beinen zu sein. Laden reihte sich an Laden, Bäume säumten die Seiten, es gab Straßencafes und Straßentheater. Heather lief von einem Schaufenster zum nächsten. Wallis wollte sie davon abhalten, jede Auslage zu begutachten. Es war sinnlos. Glänzender, funkelnder Schmuck, schicke Kleidung, alles übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf die junge Frau aus. Er konnte nichts weiter tun als jedesmal mit ihr stehenzubleiben und dabei ein möglichst interessiertes Gesicht zu machen. Doch schließlich hatte Heather genug; es war, so vermutete Wallis, eben doch etwas anderes, wenn man all die tollen Sachen nur an‐
schauen konnte, anstatt sie zu kaufen und damit sich und sein Zu‐ hause zu schmücken. Sie zupfte ihn am Arm. »Wollen wir?« »Wie versprochen. Aber nicht zu Fuß, ich glaube, ich bin genug gelaufen heute.« Er winkte ein Schwebertaxi herbei und nannte dem Fahrer die Adresse. Im Taxi drehte sich Heather um und blickte durch das Rückfenster. »Ich kann nirgends Ihre Leibwächterin sehen, Terence. Hat sie den Anschluß verloren?« »Das ist unwahrscheinlich. Aber wir können ja mal die Probe aufs Exempel machen.« Er hob das Handgelenk an den Mund. »Liao?« »Wir sind hinter Ihnen, Sir«, kam Moreis Stimme aus Wallis’ Gerät. »Gibt es ein Problem?« »Nein, kein Problem. Wollte nur mal hören, ob Sie auch etwas tun für das horrende Gehalt, das ich Ihnen bezahle.« »Ich lache später«, kam Moreis ungerührte Antwort. »Kann sie das überhaupt?« fragte Heather, als Wallis sein einem wertvollen Chrono nachempfundenes Vipho deaktivierte. »Was soll sie können?« Heather blickte durch die Scheibe hinaus in das verschwimmende Licht des Tages; eben hatte der Schweber den zentralen Bereich Alamo Gordos verlassen und strebte Cent Field zu. Zwischen der Stadt und dem größten Raumhafen der Erde gab es keine klar er‐ sichtliche Trennlinie mehr. »Lachen«, meinte die Reporterin. »Ich habe sie jedenfalls noch nicht lachen sehen. Nicht mal ein Lächeln, wenn ich’s recht bedenke. Hat sie nichts zu lachen? Sie erscheint mir ziemlich unfreundlich.« »Unsinn«, versetzte er. »Sie betreiben Wortspielereien, Verehrteste. Sie müssen sich ja nicht lieben, das verlangt keiner.« »Dann ist es ja gut.« Heather lehnte sich in die Polster und schwieg den Rest der Stre‐ cke.
* Der Laden war voll wie immer. Das Los Morenos erfreute sich so großer Beliebtheit, daß die drei‐ ßig vorhandenen Plätze nahezu jeden Abend ausgebucht waren. Wallis und Heather, die in ihrer eleganten Abendgarderobe ein wenig aus dem Rahmen fielen, drängten sich durch die Gäste zur Theke vor. Heather war überzeugt, keinen Platz zu finden, äußerte diese Meinung aber nicht laut. »Hallo, Jose«, begrüßte der Multimilliardär die eine Hälfte der Moreno‐Brüder. »Ziemlich voll heute.« »Guten Abend, Mister Wallis«, erklang die dröhnende Stimme. »Lange nicht mehr gesehen.« Jose Moreno war ein großer, kräftiger Spanier, der das Lokal zusammen mit seinem jüngeren Bruder Juan betrieb. »Keine Bange, Mister Wallis. Ich habe zwei hübsche Plätze für Sie und Ihre Begleiterin. Sie werden zufrieden sein.« Jose Moreno führte sie in den hinteren Teil des Lokals in eine kleine private Ecke, wo sie etwas abgeschirmt von den übrigen Gästen Platz nahmen. Wallis orderte das Menü, dessen Hauptgang aus einer der be‐ rühmten Fischplatten für zwei Personen bestand, und als Getränk dazu eine Flasche des besten spanischen Cava, den die Morenos in ihrem Weinkeller hatten. Bevor Jose die Bestellung zur Küche brachte, zündete er die Kerze auf dem Tisch mit einem anerken‐ nenden Blick auf Heather an. Sie saßen in einer wirklich gemütlichen Ecke mit Blick auf das Lo‐ kal, ohne selbst sonderlich exponiert zu sitzen. »Und, wie gefällt es Ihnen hier?« »Mm‐m. Es ist urig.« Erst blickte er sie relativ fassungslos an, dann lachte er. »Ich habe schon viele Bezeichnungen fürs Los Morenos gehört«, bekannte er. »Urig war nicht darunter.«
Sie zog die Schultern hoch; die Kerzenflamme schien ihre Haut in exotische Seide zu verwandeln. »Sie haben mich gefragt.« Nach dem Aperitif und einer »Suppe Mediterran« legte Wallis den Löffel weg und sagte: »Ich habe Sie jetzt einige Zeit beobachtet, habe gesehen, wie Sie arbeiten, mit welcher Professionalität Sie Ihren Be‐ ruf ausüben. Ich war ziemlich beeindruckt. Von Ihrer Arbeit und von Ihnen…« »Hoppla!« sagte sie. »Was haben Sie vor?« »Wie kommen Sie darauf, ich könnte etwas vorhaben?« Sie seufzte. »Ich bin nicht übermäßig begeistert, wenn Fragen mit Gegenfragen beantwortet werden.« »Verzeihen Sie.« »Schon geschehen. Was wollten Sie mir eigentlich sagen?« Wallis kam nicht dazu, es ihr zu sagen; Jose Moreno erschien mit dem Hauptgang. Mit aus langer Praxis geborenen Bewegungen arrangierte er Platte, Teller und Beilagen gekonnt auf dem Tisch. »Und wie geht das Geschäft?« erkundigte sich Wallis, während der Wirt den Cava in die schlanken, hohen Gläser füllte. »Ausgezeichnet«, verriet der Spanier. »Wollen Sie nicht mit Ihrem Bruder die Zelte hier abbrechen und nach Eden kommen, Jose? Sie hätten dort ungleich mehr Möglich‐ keiten.« »Gästen soll man zwar nicht widersprechen, dennoch muß ich Ihr Angebot, so verlockend es auf den ersten Blick erscheinen mag, ab‐ lehnen, Senior Wallis. Ist der Cava nach Ihrem Geschmack?« Wallis probierte, nickte. »Und warum?« »Es gibt auf Eden kein Grundeigentum für den Normalsterblichen, habe ich mir sagen lassen«, erklärte Jose. »Und wir Morenos haben einen Grundsatz: Niemals auf gepachtetem Grund wirtschaften, nur auf eigenem. Und nun guten Appetit.« Jose Moreno widmete sich wieder den anderen Gästen. Heather ließ ein kleines, glucksendes Lachen hören. »Scheint nicht
geklappt zu haben, Ihre freundliche Übernahme.« »Sie meinen die Morenos?« Heather nickte. »Man muß auch mal verlieren können«, gestand Wallis und stimmte in ihr Lachen ein. Sie aßen mit sichtlichem Genuß; hin und wieder machte einer den anderen auf eine bestimmte Geschmacksnuance oder ein besonderes Gewürz aufmerksam. »Was wollten Sie mir eigentlich vorhin sagen?« Heather hob das Glas und musterte Wallis über den Rand hinweg. Er hob den Blick aus seinem Glas und zog die Brauen hoch. »Fällt mir im Augenblick nicht ein.« Sie hob ungläubig die Brauen. »Das kann ich mir bei Ihnen überhaupt nicht vorstellen.« »Ja«, seufzte er, »ich werde leider von vielen verkannt. Dennoch stimmt es – verständlich eigentlich; Sie als Gegenüber, da läßt das Langzeitgedächtnis schon sehr zu wünschen übrig.« Sie lachte hell. »Ich hör’s zwar gern, Terence Wallis, aber übertrei‐ ben Sie’s nicht.« »Wie sind Sie eigentlich mit Ihrem Job zufrieden?« fragte er plötz‐ lich; sie hätte alles erwartet, aber bestimmt nicht diese Frage. Sie beugte sich über den Tisch, so daß ihr Gesicht ziemlich dicht vor dem seinen war. Ihr exotisches Parfüm mischte sich mit seinem herben Rasierwasser zu einer betäubenden Duftnote. »Was soll die Frage?« »Warum beantworten Sie sie nicht einfach?« »Da muß ich nachdenken.« Sie dachte an die vielen kleinen häßli‐ chen Nadelstiche, die man ihr schon versetzt hatte, wog sie gegen die Erfolge auf, die sie mit harter Arbeit erzielen konnte, sah vor ihrem inneren Auge den Betrag auf der Habenseite ihres letzten Konto‐ auszugs und sagte: »Doch, ja. Schon. Ich bin zufrieden.« »Sehr überzeugend klingt das nicht für mich.« »Sie sind auch nicht ich. Wenn ich auch nur einen Moment an den
Mammon denke, den Sie allein schon dadurch verdienen, daß Sie am Morgen die Augen aufmachen, wird mit schwindlig.« Wallis lachte; er hatte sich schnell gefaßt. »So also sehen Sie mich. Wie würde es Ihnen gefallen, wenn ein wenig Glanz auch auf Sie fallen würde?« »Was müßte ich dafür tun?« Plötzlich zeigte ihr schmales Gesicht unerwartete Zurückhaltung. Er beugte sich vor und legte eine Hand auf ihre Finger; sie ließ es geschehen, obwohl er dachte, sie würde sie sofort zurückziehen. »Ich brauchte eine persönliche Referentin, die im Umgang mit den Medien bewandert ist. Jemand wie Sie, Sie haben sich bereits einen Namen gemacht, Ihnen nimmt man ab, was Sie sagen, wenn Sie et‐ was über Wallis Industries an die Öffentlichkeit bringen. Die Posi‐ tion ist ziemlich hoch dotiert«, lockte er. »Ich zahle Ihnen das Vier‐ fache von dem, was Sie im Augenblick per anno verdienen. Die Unmengen von Vergünstigungen, die Ihnen selbstredend zur Ver‐ fügung stehen, lassen sich auf die Schnelle gar nicht aufzählen. Ich…« »Stop!« unterbrach sie ihn. »Mir schwirrt der Kopf; das geht mir zu schnell. Verstehen Sie?« »Natürlich. Ich will Sie in keiner Weise zu irgendwas drängen…« Er verstummte, ließ seinen Blick umherschweifen. Plötzlich war am Eingang des Lokals Lärm entstanden. Auf‐ gebrachte Gäste schimpften verärgert, als sich eine kleine, zierliche Chinesin rücksichtslos durch die Tische drängte, jeden, der ihr im Weg stand, zur Seite stieß und erst vor Wallis’ und Heathers Tisch Halt machte. Hinter ihr waren die Bodyguards aufmarschiert und bildeten eine Art Gasse, die vom Eingang bis in die Nähe der Stelle reicht, an der sich Wallis und Heather Sheridan aufhielten. »Liao!« stieß Wallis ungehalten hervor. »Was soll dieser Auftritt?« Mit plötzlich aufkeimender Furcht sah Heather die ungewöhnliche Blässe auf Liao Moreis Gesicht. Die Leibwächterin des Multimilliardärs beugte sich jetzt zu dessen
Ohr und flüsterte ihm etwas zu. Wallis’ Züge verhärteten sich. Trotz des Kerzenlichtes sah Heather, wie auch er erbleichte. Jetzt nickte er rasch ein paarmal zustimmend, und Liao Morei trat zwei Schritte zurück. »Was ist…?« begann Heather Sheridan, während sie plötzlich fror, als sei die Kälte der beginnenden Nacht ins Lokal gedrungen, zu‐ sammen mit etwas Ungeheuerlichem, Unaussprechlichem. Wallis beugte sich zu ihr hinüber, in seinen Augen lag ein sor‐ genvoller Ausdruck. »Hören Sie zu«, sagte er halblaut. »Wir müssen das Lokal sofort verlassen. Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe? Wir müssen das Lokal verlassen und in die Botschaft Edens fliehen. Das Sol‐System wird in diesem Augenblick von einer unbekannten Raumflotte angegriffen…« »Was?« »Ich habe keine genauen Informationen«, wehrte Wallis ab und zog sie hoch, »es ist nur wichtig, daß wir von hier verschwinden.« Er drückte sie an sich und drängte sich mit ihr durch die Gäste, nach allen Seiten abgeschirmt durch Liao Morei und ihre Männer. Es war längst dunkel geworden. »Es ist ein Gewitter aufgezogen«, sagte Heather, leicht schaudernd in der kalten Luft, und deutete nach oben. Der Nachthimmel über Alamo Gordo wetterleuchtete. Ein bösartiges, stakkatoartiges Glühen, das ihr Angst machte. * Der terranische Ovoid‐Ringraumer CHEPHREN flog seinen Kurs um den murmelgroßen, schmutziggelben Ball, den jemand in der Flotte »Klotz« getauft hatte, weil er genau das war: ein steiniger, unwirtlicher, mit Kraternarben übersäter Felsklotz. Punktum. Klotz war der innerste Planet einer schwachen, rotleuchtenden Sonne namens Proxima Centauri, jenes Sterns, der sich mit seiner
lächerlich geringen Entfernung von lediglich 4,3 Lichtjahren dem Sol‐System am nächsten befand, sozusagen in Terras Vorgarten. Die CHEPHREN bewegte sich auf ihrem Kurs um den »Klotz« im vorderen Drittel einer weit auseinandergezogenen Formation mit 49 weiteren Ringraumern der neuen Rom‐Klasse. Ihr Kommandant, Major Grant Holubowicz, hatte den Oberbefehl über den Flotten‐ verband, dessen Einheiten als Wachpatrouille im Proxi‐ ma‐Centauri‐System zurückgelassen worden waren, nachdem sich Brigadegeneral Clark mit den restlichen 150 Ringraumern der Ersten Schlachtdivision wieder nach Terra in Marsch gesetzt hatte. In den Tiefen der Maschinendecks waren Wandler und Konverter auf Höchstlast gefahren, die Waffenstationen in permanenter Ge‐ fechtsbereitschaft. Für sämtliche Schiffe des Verbandes galt höchste Alarmstufe. Alle jeweils sechs Besatzungsmitglieder waren auf ihren Alarmposten. Nur die CHEPHREN als Flaggschiff des Verbandes konnte 50 Mann an Bord vorweisen. Die Helligkeit im Innern der Ringraumer war vom Hyperkalkula‐ tor heruntergefahren worden. Die normaloptischen Systeme waren ausgeblendet. Statt dessen zeigte sich auf den großen Schirmen und in der zentralen Bildkugel die von den Hyperkalkulatoren erzeugte dreidimensionale Darstellung des Centauri‐Systems innerhalb eines tiefenräumlichen Gitterrasters, in dem grünleuchtende Dreiecke die Positionen der eigenen Ringraumer markierten. Die Taster waren weit offen, ließen sie Proxima Centauri I nicht aus ihren Fängen und suchten unablässig nach den charakteristischen Signaturen, die das Auftauchen der zehn Roboterschiffe aus dem planetaren Karoschirm anzeigen würden. Das Proxima‐Centauri‐System war so ziemlich der letzte Ort, an dem sich ein vernunftbegabtes Lebewesen gerne aufgehalten hätte. Ein bedeutungsloses System mit vier atmosphärelosen Wüstenpla‐ neten. Deswegen war es völlig ohne Bedeutung für Terra und wurde auch nie von der Flotte angeflogen.
Wie gesagt, bedeutungslos. Bis vor kurzem, als es sich ganz plötz‐ lich in den Mittelpunkt terranischen Interesses katapultiert hatte, nachdem das Forschungsschiff MAX PLANCK während einer wis‐ senschaftlichen Mission nach Proxima Centauri in dem System zehn Roboterschiffe geortet und außerdem festgestellt hatte, daß der in‐ nere Planet komplett von einem Schutzschirm umgeben war, der es unmöglich machte herauszufinden, was darunter lag. Die Nachricht von feindlichen Schiffen nur 4,2 Lichtjahre von Terra entfernt, quasi vor der Haustür, hatte die terranische Regierung in eine mittlere Krise gestürzt und zu einer massiven Reaktion der TF geführt. Raummarschall Ted Bulton hatte sofort 200 neue Ovoid‐Ringraumer unter dem Oberbefehl von Brigadegeneral P. S. Clark in Marsch gesetzt, der das Problem lösen sollte. Wenn das so einfach gewesen wäre! Clarks Flotte erschien keine Stunde nach der Flucht der MAX PLANCK im System Proxima Centauri. Die Ferntaster der Ersten Schlachtdivision zeigten die erwähnten zehn fremden Ro‐ boterschiffe, die um den innersten Planeten mit seinem Schutzschirm kreisten. Beim Näherkommen der Flotte flogen sie einfach durch den Schirm auf den Planeten hinunter und entzogen sich so der übermächtigen Feuerkraft von Clarks Flotte. Die versuchte zwar diesen Schirm mit konzentriertem Beschuß aufzubrechen, mußte aber erkennen, daß sie dabei an ihre Grenzen stieß. Zweihundert Ovoid‐Ringraumern, die aus allen Geschützen auf einen Punkt von knapp zwanzig Quadratmetern feuerten, gelang es nicht, den fremdartigen Schutzschirm zu knacken. Die Wuchtka‐ nonen, Nadel‐ sowie Duststrahlen und Mix des terranischen Kampfverbandes entfesselten die Kräfte der Hölle über einen Zeit‐ raum von 600 Sekunden, ohne ein Ergebnis zu erzielen. Der Schutzschirm, der das inzwischen schon sattsam bekannte Karomuster zeigte, hielt allen Angriffen stand. Auf dem Planeten mußten enorme Energiequellen vorhanden sein, aus denen er seine
Kraft schöpfte. Holubowicz war seit geraumer Zeit in die Betrachtung des strate‐ gischen Holoschirms vertieft. Jetzt drehte er den Kopf ein paar Zen‐ timeter zur Seite. »Mister Naniu!« schnitt seine Stimme durch das gedämpfte Sum‐ men der Zentralegeräusche. Der Kopf des Offiziers ruckte herum. »Kapitän?« »Status?« »Unverändert, Sir. Alle Systeme gefechtsbereit«, meldete der Erste Offizier der CHEPHREN. »Sehr gut, Nummer Eins. Mister Crain?« »Sir?« »Etwas auf den Tastern?« »Negativ, Sir«, meldete der Funk‐ und Ortungsoffizier von seinem Platz. »Geben Sie gut acht, Leutnant. Ich will, daß sich jeder in Ihrer Ab‐ teilung größter Aufmerksamkeit befleißigt.« »Jawohl, Sir«, sagte Steph Crain mit forscher Stimme und sah kurz auf seinen Kommandanten. Dessen Gesicht blickte ausdruckslos, kein Zeichen von Nervosität war darauf zu erkennen. Jetzt hob er den Kopf. »Mister Crain. Öffnen Sie die Kommandophase zu den Schiffen!« »Sonderfrequenz, Sir?« »Natürlich!« schnappte sein Vorgesetzter. Crain lief rot an und sah sich für einen Moment von den Augen seines Kommandanten gemustert. Unbewußt wappnete er sich für einen Verweis, aber nichts derg‐ leichen geschah. Crain ärgerte sich über seine unbedachte Reaktion; ohne weiteren Verzug schaltete er den To‐Richtfunksender der CHEPHREN auf die erwähnte Frequenz um. Diese »Sonder‐« oder »exotische Frequenz« hatte man in der ter‐ ranischen Flotte nach dem Angriff der Robotraumer auf Grah ge‐
funden, als die Fremdraumer den gesamten Funkverkehr zwischen den Flotteneinheiten gestört und lahmgelegt hatten, ehe man da‐ hinterkam, wie man dem begegnen konnte. Bei ihrem Einsatz übersetzte der Hyperkalkulator jetzt jeden aus‐ gehenden Funkspruch automatisch in das uralte Idiom der Cheyenne; der Hyperkalkulator des Empfängers einer auf diese Weise verschlüsselten Botschaft wandelte die Nachricht automatisch wieder in Angloter um. Bis auf wenige Ausnahmen konnte kaum jemand in der Flotte etwas mit dem uralten Cheyennedialekt anfan‐ gen. »Phase steht, Kommandant!« Der Verbandskommandeur wandte sich an seine Kapitäne, die in dem holographischen Ring zu sehen waren, der sich oberhalb seiner Konsole aufbaute. »Holubowicz an alle«, kam seine Stimme über die Lautsprecher jedes einzelnen Schiffes seines Verbandes. »Gehen Sie auf Nahbe‐ reichsortung. Ich wünsche ein lückenloses Suchraster. Jede noch so kleine Anomalie, jede noch so winzige Strukturerschütterung muß beachtet werden. Nichts darf unseren Tastern entgehen. In dem Augenblick, in dem die zehn Robotraumer auftauchen, eröffnen wir das Feuer. Es sei denn, sie signalisieren in irgendeiner Form die so‐ fortige Kapitulation. Dann ist das Feuer sofort einzustellen. Ver‐ standen?« »Verstanden, CHEPHREN…« Die Bestätigungen der einzelnen Raumschiffskommandanten lie‐ fen in rascher Folge ein. »CHEPHREN – verstanden.« Dann eine harte Stimme, der man den nur mühsam unterdrückten Zorn des Besitzers anmerkte: »Bereit, Major. Sollten sie ihr Mause‐ loch verlassen, reißen wir ihnen den Arsch auf!« Holubowicz spürte, wie ein Runzeln seine Stirn in Falten legte; seine Brauen zuckten. Der da so markige Worte sprach, war Tarn Halldor von der
PHARAO, der für alle ersichtlich nach Blut lechzte. Verständlich, dachte Holubowicz, hütete sich jedoch, es laut zu äu‐ ßern. Im Frühjahr dieses Jahres war Halldor Kommandant der MANTIS gewesen, eines Giant‐Raumers, der zu den 300 im Gerrk‐System stationierten Einheiten aus Beuteschiffen gehörte, die den Schutz von Grah übernommen hatten. Darunter auch die ATHENA unter dem Kommando von Kapitän Chris Cole. Beide Männer waren seit ihrer Ausbildung in der Flottenakademie Freunde, unzertrennliche Freunde. Als im Mai 2062 ohne jegliche Vorwarnung zirka 500 der kampf‐ starken Robotraumer Grah angriffen, wurde die ATHENA bereits beim ersten Aufeinandertreffen vollkommen zerstört; niemand von der Besatzung überlebte. Auch Halldors MANTIS war von einem Schwarzen Strahl in zwei Hälften geschnitten geworden, als sie Cole zur Hilfe eilte. Dabei starben 70 Prozent der Besatzung, der Rest wurde von einem Ring‐ raumer der inzwischen eingetroffenen Flotte unter der Führung von Ren Dhark gerettet; unter den verletzten Überlebenden war Halldor gewesen. Wieder auf dem Damm, erhielt er eine Auszeichnung und das Kommando über die PHARAO, einen der neuen Ovoid‐Ringraumer der Ersten Schlachtdivision… Die restlichen Bestätigungen aus den Hauptzentralen der Ring‐ raumer kamen ohne Verzögerung. Als das letzte Schiff, die NOVA, seine Bereitschaft erklärt hatte, schloß die Funkzentrale die Phase. * Auf der CHEPHREN blickte Holubowicz in die zentrale Bildkugel und beobachtete, wie sich die fahle Dämmerungslinie des Termina‐ tors über die Oberfläche des unter ihm liegenden Planeten schob.
Der Major kniff die Lippen zusammen, als er über die letzten Stunden nachdachte. Die Erinnerung an den Versuch General Clarks, den Schutzschirm um den trostlosen Felsklotz Centauri I zu durchbrechen, schnürte ihm die Kehle eng und ließ ihn für die Zukunft Terras nichts Gutes ahnen. Konnte es sein, daß der »Klotz« eine seit längerer Zeit schon be‐ stehende Basis für die Robotraumer war? Zog man die ungewöhnliche Stärke des planetaren Schutzschirmes in Betracht, war eine derartige Annahme nicht einmal so abwegig. Was geschah dort unten im Verborgenen? Was verbarg sich auf dieser atmosphärelosen Felskugel? Der Abwehrschirm des Feindes war durch keine noch so starke Waffe der Ringraumerflotte zu durchbrechen gewesen. Auch nicht, als Clark der Hälfte seiner Flottille befohlen hatte, nur mit den Wuchtkanonen auf den Karoschirm zu feuern. Die Geschosse aus Tofiritkugeln hatten sich beim Aufprall programmgemäß in reine Energie verwandelt, der nichts zu widerstehen vermochte. Bis auf diesen Schirm. Holubowicz biß sich hart auf die Innenseiten seiner Wangen und spürte, wie sich Kälte zwischen seinen Schulterblättern ausbreitete angesichts der Tatsache, daß niemand vorhersagen konnte, was sich wirklich auf Centauri I abspielte. »Kapitän!« Ein Funktechniker vor seiner Konsole hob die Hand. »Funkspruch vom Flottenoberkommando!« »Öffnen Sie die Phase«, befahl der Kommandant, und eine Falte zeigte sich über seiner Nasenwurzel. »Hier Oberst Saladin. Major Holubowicz«, kam P. S. Clarks Stell‐ vertreter unverzüglich zur Sache, noch ehe der Kommandeur des Wachverbandes die vorgeschriebene Begrüßung loswerden konnte, »beenden Sie die Überwachung des Proxima Centauri‐Systems und setzen Sie sich unverzüglich in Richtung Terra in Marsch.« »Darf man den Grund wissen, Sir?«
»Den werden Sie erfahren«, bellte Tarek Saladin, »wenn Sie mit Ihrem Verband hier auftauchen. Nur soviel: Es geht um Leben und Tod – ich sage nur Grah! Wir benötigen Sie hier. Also zögern Sie keine Sekunde, schirren Sie die Gäule an! Haben wir uns verstan‐ den?« »Aye, Sir!« Holubowicz wollte salutieren, ließ aber dann die Hand sinken. Der Oberst hatte sich schon ausgeblendet. Der Major straffte seine Gestalt im Kommandantensitz. Dann gab er seine Befehle an die Funk‐Z. »Verbindung zu allen Einheiten!« rief er. »Verbindung hergestellt«, meldete die Funkzentrale. »Holubowicz an alle Einheiten! Befehl vom Flottenoberkommando: Alarmstart zur Erde! Unser Patrouillendienst hier ist beendet, wir sollen uns unverzüglich mit der Ersten Schlachtdivision vereinen. Und damit niemand aus der Übung kommt, bleibt Alarmstufe Rot weiterhin bestehen. Bestätigung auf der üblichen Frequenz. Holu‐ bowicz Ende.« Während der Verband sofort Fahrt aufnahm und senkrecht zur Ekliptik das Centauri‐System verließ, um sich außerhalb zu einer Halbschale zu formieren, gingen nacheinander die Bestätigungen der einzelnen Kapitäne ein. Zehn Minuten später transitierten 50 Ovoid‐Ringraumer am Rande des Proxima Centauri‐Systems und tauchten im heimischen Son‐ nensystem wieder aus dem Hyperraum auf. * »Eine Flotte von 2500 Roboterschiffen ist im Anflug!« »Sir?« Holubowicz’ Brauen schnellten in die Höhe. Er glaubte sich verhört zu haben. »Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe, Holubowicz –Roboterschiffe!« wiederholte P. S. Clark und beugte sich vor. Die holographische Wiedergabe seines Oberkörpers auf Holubowicz’
Viphoschirm erweckte fast den Eindruck, als trete er aus der Schirmbegrenzung heraus. »Und nicht bloß zehn, fünfzig oder fünfhundert wie im Gerrk‐System!« fuhr er mit harter Stimme fort. »Nein! Eine Armada von 2500 Schiffen bewegt sich auf Sol zu.« Sofort nachdem Holubowicz’ Verband im Sonnensystem aus dem Hyperraum getreten war, hatte der Major Kontakt mit der FREDERICKSBURG aufgenommen, sich bei Clark wie befohlen zum Einsatz gemeldet und um Aufklärung gebeten. Holubowicz war nicht gänzlich überrascht über das Gehörte. Nach Saladins Erwähnung von Grah konnte er sich ausmalen, daß es sich bei dem neuen Auftrag vermutlich um die Abwehr eines Angriffs handelte. Aber daß dieser eine derartig gewaltige Dimension an‐ nehmen würde, hätte er nicht für möglich gehalten. »Wo kommen die so plötzlich her, General?« fragte er jetzt. Clark bewegte in einer wie hilflos scheinenden Geste den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß sie nicht zu einem Freund‐ schaftsbesuch kommen; sie wollen die Erde, die Menschheit ver‐ nichten!« Der bullige Brigadegeneral wirkte nervös, ungeduldig, fast wie ein Getriebener. »Was können wir ihnen entgegensetzen?« »Wir haben nur 1030 Ringraumer hier im Sol‐System stationiert – Ihren Verband eingeschlossen, Major –, die in zwei Flotten operieren werden. Eine wird in Höhe der Venusbahn von Raummarschall Bulton befehligt, die andere, etwas weiter draußen in Höhe der Marsbahn, steht unter meinem Kommando. Ihre Einheiten werden in meine Flotte integriert. Verstanden?« »Zu Befehl, Sir.« Grant Holubowicz legte die Stirn in Sorgenfalten. »Lediglich 1030 Ringraumer«, wiederholte er, »ist das alles, womit wir uns verteidigen können?« Clarks Lippen zuckten. »Die Giant‐Beuteschiffe in die Schlacht zu schicken, käme einem Todesurteil für die Besatzungen gleich; sie haben absolut keine
Chance gegen die Robotraumer. Und die 180 neuen 400‐Meter‐Ikosaederraumer machen das Kraut auch nicht fett.« Grant Holubowicz holte tief Luft. »Das wird knapp werden, Sir«, gab er seiner Befürchtung Ausdruck. »Knapp ist gar kein Ausdruck, Major«, versetzte der General düs‐ ter und legte die Fingerspitzen zu einer Pyramide zusammen. »Es reicht weder vorne noch hinten, um es einmal unprofessionell aus‐ zudrücken. Wir werden wie die Berserker kämpfen müssen.« »Das tun wir, General«, erwiderte der Major, und ein harter Glanz erschien in seinen Augen. »Das haben wir immer getan…« * Während der Verband Major Holubowicz’ sich in Brigadegeneral Clarks Flotte integrierte, die auf Höhe der Marsbahn operierte, hatte sich Ren Dharks POINT OF Raummarschall Bultons Kampfgruppe in Höhe der Venusbahn angeschlossen. Zwischen beiden Raumschiffsverbänden lag die Erde unter ihrem Nogk‐Schirm. In der Zentrale der POINT OF hatte Ren Dhark seinen Platz im Kommandositz eingenommen. Seine Führungsoffiziere waren ebenfalls in der Zentrale ver‐ sammelt: Hen Falluta und Leon Bebir, Glenn Morris, Tino Grappa und die anderen. Amy Stewart hielt sich in Dharks unmittelbarer Nähe auf und nickte ihm mit einem Lächeln zu, als sein Blick sie kurz streifte. Er lächelte zurück, suchte mit seinen Blicken eine ganz bestimmte Person – und fand sie: Artus. Wie vor einem antiken Tribunal hatte der Roboter den Menschen noch einmal die Motive für sein Handeln erläutert. Ein Handeln, das die Besatzung der POINT OF vor kurzer Zeit noch einhellig als »Verrat an der Menschheit« gegeißelt hatte, einhellig und fast ein‐ stimmig. Aber: Die Betonung lag auf »hatte«. Denn inzwischen konnte sich bei Dhark und seinen Offizieren die Erkenntnis durch‐ setzen, daß Artus keineswegs zum Feind übergelaufen war, wie von
vielen angenommen und befürchtet, sondern daß er sich mit einem ganz bestimmten Plan an Bord von Vektor begeben hatte. Er hatte dem intelligenten Rechner vorgaukeln können, wie er zu sein. So war es ihm gelungen, Vektor zu überlisten und ihm die Informatio‐ nen über die Position von Eins zu entlocken, dem Heimatplaneten der seltsamen Maschinenwesen. Artus’ leidenschaftsloser Bericht über die Auseinandersetzung mit Vektor um dessen »Körper« machte allen klar, daß der terranische Roboter einen gewaltigen Kampf ausgefochten hatte. Einen Kampf, der ihn bis an den Rand der Selbstzerstörung ge‐ bracht hatte. ∗ »Wie konntet ihr nur an mir zweifeln?« fragte Artus. »Es sah so überzeugend aus«, unternahm Shanton den schwachen Versuch, ihr Verhalten zu rechtfertigen. Shanton und Arc Doorn waren felsenfest von Artus’ Geschichte überzeugt, zumal dieser sie, kaum daß er zurück war an Bord der POINT OF, mit ein paar Tricks und Kniffen überrascht hatte, mit denen das Abwehrprogramm zum Schutz der eigenen Rechner noch offensiver gegen das Volk vorgehen konnte. Auch der Checkmaster, obwohl anfangs »wütend« darüber, daß er zweimal fast »umgebracht« worden war, wie er sich Dhark gegenüber äußerte, gab schließlich zu erkennen, daß er Artus’ Ge‐ schichte kaufte. »Wir konnten gar nichts anderes annehmen, als daß du uns verra‐ ten hast«, machte Hen Falluta deutlich. »Menschen«, so fügte er mit einem schwachen Lächeln hinzu, »lassen sich nun mal von Gefühlen, von Emotionen leiten, die ihre Urteilskraft beeinträchtigen und mi‐ tunter das logische Denken ausschalten. Leider. Roboter machen diesen Fehler nicht.« »Es war einfach notwendig, daß der ›Verrat‹ absolut echt aussah«, erläuterte Artus und schilderte die Gegner, mit denen man es in Kürze zu tun bekommen würde, als intelligente Großrechner mit ∗
Siehe Bitwar‐Zyklus Band 6: »Das Judas‐Komplott«
Bewußtsein, deren »Körper« Raumschiffe waren. »Du willst damit sagen, daß jedes Roboterschiff eine Art elektro‐ nisches Lebewesen ist?« warf Amy Stewart ein. Artus bestätigte. »Und was ist mit den Robotern, die sich an Bord dieser Schiffe be‐ finden und die manchmal, so wie auf Grah geschehen, ausgeschleust werden?« erkundigte sich Leon Bebir. »Welche Funktionen erfüllen sie, welche Aufgaben haben sie zu bewältigen?« »Es sind Werkzeuge der Großrechner, ihre Augen, Hände, Füße, Waffen. Wird eines der Raumschiffe vernichtet, stirbt quasi ein in‐ telligentes Wesen.« »Schießt du da nicht ein bißchen übers Ziel hinaus?« machte sich Glenn Morris mit rauher Stimme bemerkbar. Der Erste Funkoffizier repräsentierte den Teil der Besatzung der POINT OF, der Artus noch immer mit mißtrauischer Reserviertheit begegnete; nicht alle an Bord waren von den lauteren Absichten dieses Roboters überzeugt. Seit seiner Rückkehr beziehungsweise »Rettung« durch Dhark, der ihn mit der 002 in letzter Sekunde aus dem explodierenden Vektor ge‐ holt und so vor der sicheren Vernichtung bewahrt hatte, herrschte auf den Decks der POINT OF eine verhaltene Unruhe. Eine Mi‐ schung aus Nervosität und unbestimmter Ablehnung nistete in den Köpfen vieler, dämpfte die ansonsten vorherrschende Zuversicht, denn im stillen erwartete man, daß Artus erneut bei der nächsten Gelegenheit zum Verräter werden würde. Trotz dessen Beteuerun‐ gen, aus einem ganz bestimmten Kalkül gehandelt zu haben. »Ma‐ schinen können nicht sterben«, fuhr Glenn Morris fort. »Sie werden abgeschaltet, stillgelegt, ausgeschlachtet, zerlegt…« »Es reicht, Glenn!« beendete Ren Dharks scharfe Stimme die Auf‐ zählung des Ersten Funkoffiziers. »Ich…« Weiter kam er nicht. Die Ortung produzierte eine Folge von Warntönen. Grappas Augen flogen über die geschäftig laufenden Anzeigen seiner Konsole, dann riß er die Augen auf. »Kommandant!« schrie er. »Sie kommen! Die Roboterschiffe
kommen!«
5. Da waren sie: 2500 Roboterschiffe materialisierten kugelförmig verteilt jenseits der Saturnbahn in den für sie typischen »weichen«, nicht anmeßbaren Transitionen im normalen Raumzeitkontinuum. Von einem Moment zum anderen erschienen sie einfach im All; wo die Ortungen der terranischen Verbände eben noch die Leere des Tiefraumes außerhalb der Oortschen Wolke auf ihren Anzeigen hatten, waren einen Lidschlag später Schiffe zu sehen. »Unheimlich«, gab Tino Grappa seiner augenblicklichen Ver‐ fassung Ausdruck. »Keinerlei Gefügeerschütterungen anmeßbar!« Wie Tropfen fielen die fremden Raumschiffe aus dem Nichts. Kaum hatten sie den Hyperraum verlassen, formierten sie sich zu Vierergruppen, nahmen von allen Seiten Kurs auf die Erde, die im Zentrum der von ihnen gebildeten imaginären Kugel lag, und rasten mit achtzig Prozent Lichtgeschwindigkeit und voll aktivierten Schutzschirmen ins Innere des Sonnensystems hinein. Grappa hatte sie bereits im Fokus seiner Taster. »Der Kursvektor zielt eindeutig auf Terra!« meldete er. »Geschwindigkeit?« fragte Dhark. »Achtzig Prozent Licht, Kommandant, das bedeutet…« »Daß sie die Erde in gut einer Stunde erreichen«, unterbrach Dharks Erster Offizier, Hen Falluta, den Ortungsoffizier. »Falls sie auf Transitionen im System verzichten«, gab Anja Riker zu bedenken, die hinter ihrem Mann stand und diesem die Hände auf die Schultern gelegt hatte, als suche sie einen festen Halt. »Danach sieht es nicht aus«, Grappa beugte sich über seine Kon‐ sole. »Seit sie aus dem Hyperraum gekommen sind, hat sich ihre Geschwindigkeit weder gesteigert noch verringert.« Ren Dhark umkrampfte die Armlehnen seines Drehsitzes, daß die Knöchel weiß hervortraten, und löste mit einem verbalen Befehl an das Bordgehirn Alarm aus.
Der Checkmaster fuhr die Waffensysteme hoch. »Gib mir eine visuelle Darstellung«, befahl der Kommandant dem Rechner in das Verebben des Warnsignals hinein. In der zentralen Bildkugel, dieser 2,86 Meter durchmessenden dreidimensionalen Bildprojektion, die frei in der Mitte der Ring‐ raumerzentrale schwebte, wurde der Feind sichtbar, erschienen die Abbilder seiner Schiffe vor dem Sternenhintergrund und gleichzeitig die neuesten Ortungsdaten. »Sie haben ihre Schutzschirme aktiviert«, meldete Tino Grappa. »Ihre Waffensysteme sind energetisch auf hundert Prozent! Sie sind voll gefechtsbereit.« »Es wird ernst«, ließ sich Amy Stewart in einer relativen Phase der Stille hören. »Mein Gott! Die Dimensionen lassen einen schaudern. 2500 intelligente, kampfstarke Roboterschlachtschiffe, jedes einzelne von ihnen ein riesiges Gehirn, umgeben von einem gepanzerten Körper…« Anja Riker orakelte: »Die Erde steht vor ihrer wohl schwersten Stunde.« »Nicht nur die Erde«, sagte Dan Riker, der den Platz des Stellvert‐ retenden Kommandanten eingenommen hatte, mit finsterer Miene. »Die gesamte Menschheit sieht sich ihrer größten Bewährungsprobe gegenüber. Das, was jetzt auf uns zukommt, dürfte sogar die Giant‐Invasion übertreffen.« * Marschall Ted Bultons von Hause aus rötliches Gesicht zeigte im Augenblick eine eher graue Farbe; schuld daran war die Si‐ tuationsanalyse, die ihm sein Erster Ortungsoffizier vor wenigen Minuten geliefert hatte. Und diese war nicht dazu angetan, Bultons Laune entscheidend zu verbessern. Im Gegenteil, sie fiel noch weiter in den Keller, als die Funkzentrale mitteilte, daß der Funkverkehr innerhalb des Sol‐Systems zusammengebrochen war. Gleich darauf
kam eine weitere Hiobsbotschaft, als die Funk‐Z einen Hyperfunk‐ impuls anmaß, dem gleich darauf ein Virenangriff auf die Rechner der ORN folgte. Doch deren Hyperkalkulator wehrte den Angriff erfolgreich ab; das neue Schutzprogramm bewährte sich, wie Ted Bulton mit großer Genugtuung registrierte, der damit eine Sorge weniger hatte. Auch von den anderen Schiffen der beiden Schlacht‐ divisionen kamen gleichlautende oder ähnliche Meldungen über Virenattacken, die im Gefolge der Hyperfunkimpulse auftraten. Dann brach der gesamte Funkverkehr zwischen den Flotteneinheiten zusammen. Die Störsender der Robotraumer hatten ganze Arbeit geleistet. Aber das war erwartet worden. »To‐Richtfunksender auf die vereinbarte Frequenz umschalten!« kam Bultons Anordnung. Der Raummarschall bezog sich dabei auf die exotische Kommunikationsfrequenz, auf der die Roboterschiffe des »Volkes« ihre mechanischen Diener steuerten. Die Roboter konnten das gesamte Hyperfunkspektrum stören, aber da sie selbst auf Kommunikation nicht verzichten konnten, blieb diese Frequenz von der Blockade verschont. Mittels To‐Hyperfunk konnten die terranischen Funkzentralen diese Frequenz für ihre eigenen Zwecke nutzen, ohne befürchten zu müssen, von den Robotern abgehört zu werden. Zusätzlich griffen sie zu einem kleinen Trick. Der dazwischengeschaltete Hyperkalku‐ lator übersetzte jeden abgestrahlten Funkspruch automatisch in das uralte Idiom der Cheyenne. Der Hyperkalkulator des Empfängers einer so verschlüsselten Botschaft übersetzte diese automatisch zu‐ rück ins Angloter. Auf diese Weise hatten schon die Amerikaner im Zweiten Weltkrieg verhindert, daß die Japaner sie abhörten. »Verstanden, Sir. Frequenz gewechselt.« »Wir sollten diesen Vorgang von den Hyperkalkulatoren au‐ tomatisieren lassen«, schlug Scott Sabitz vor, »auf jedem Schiff. Was meinen Sie, Raummarschall?« »Ausgezeichnete Idee«, stimmte Ted Bulton zu. »So gewinnen wir
Zeit. Erinnern Sie mich daran, daß ich es zur Sprache bringe, sobald dies hier vorüber ist.« Auf allen Einheiten der beiden Ringraumerflotten wiesen jetzt die Kommandanten ihre Funkzentralen an, auf die Geheimfrequenz zu gehen, um eine störungsfreie Kommunikation untereinander zu gewährleisten. So hatte es der Marschall seinen Generälen und Kommandeuren für den Fall einer Funkstörung eingeschärft. Bultons Augen waren zusammengekniffen und auf einen Punkt fixiert. Dieser Punkt war die zentrale Bildkugel vor ihm in der Luft über dem doppelten Konsolenring des Flaggschiffes. In einer scho‐ nungslosen Situationsanalyse hatte ihm der Hyperkalkulator einen Überblick über die Geschehnisse im Sonnensystem gezeigt. Jetzt deaktivierte Bulton mit einem verbalen Befehl an den Hy‐ perkalkulator die Holoprojektion in dem kugelförmigen Bild‐ wiedergabesystem. Dann seufzte er fast angewidert, drehte sich we‐ nige Zentimeter zur Seite und blickte grimmig auf seinen Kapitän, Oberst Sabitz, der in Grundstellung abwartend neben ihm stand. »Nehmen Sie endlich Platz, Scott«, knurrte der Raummarschall. »Danke, Sir!« Sabitz ließ sich, obwohl ihm mulmig war, mit undurchdringlicher Miene auf seinem Sitz nieder. Vor zehn Minuten hatten alle im Sonnensystem zusammenge‐ zogenen Einheiten der Terranischen Flotte gemeldet, daß sie ihre Positionen eingenommen hatten und bereit waren. Bereit für den Kampf mit einem – wie es den Anschein hatte – übermächtigen Feind. Einem Feind, der keine Gnade, kein Erbarmen und kein Mit‐ gefühl zeigte, wie die Auswertungen der Kampfhandlungen über Grah ergeben hatten. »Wir haben definitiv ein Problem, Scott«, sagte der Raum‐ marschall. »Das haben wir«, bestätigte der Kapitän der ORN, Bultons Flagg‐ schiff. Bulton schlug mit den Fingern seiner linken Hand kleine, ab‐
gehackte Trommelwirbel auf die verbreiterte Armlehne seines Ses‐ sels, die verteufelt an Maschinengewehrfeuer gemahnten. Düster bekannte er: »Wir haben entschieden zuwenig Schiffe.« »Eindeutig, Sir«, pflichtete ihm der Oberst bei. »Die taktische Analyse aller Hyperkalkulatoren hat es einwandfrei ergeben.« Die Temperatur in der Hauptzentrale der ORN schien um einige Grade weiter zu fallen. Ein rein subjektives Empfinden; die Um‐ weltkontrolle hielt alle Parameter konstant im Wohlfühlbereich. »Gegen die 625 Vierergruppen können unsere beiden Flotten wenig ausrichten«, fuhr Bulton fort und rieb sich das Kinn. »Die Taktik des Feindes zwingt uns, unsere hergebrachten Angriffs‐ und Verteidi‐ gungsstrategien über Bord zu werfen und eine etwas unorthodoxere Vorgehensweise zu wählen.« »Sie haben eine Vorstellung, wie diese aussehen könnte?« Sobitz hob fragend die Brauen. »Wir werden die Ringraumer aufteilen müssen, wollen wir die Roboterschiffe abfangen«, erklärte Bulton kategorisch. »Wie sich bei verschiedenen Gelegenheiten gezeigt hat, ist es mit zwei Ringrau‐ mern machbar, einen Roboter zu bezwingen und außer Gefecht zu setzen.« »Dann haben wir definitiv nicht genug Kampfeinheiten«, bemerkte Scott Sobitz mit gefurchter Stirn; der Kapitän des Flaggschiffes mußte nicht nachrechnen, um das Mißverhältnis zu sehen; die Sorge über den ungleichen Kampf grub sich in sein Gesicht. »Dennoch müssen wir so handeln«, beschied ihm Bulton. »Natürlich, Sir.« Die Miene des Marschalls wurde spröde. »Wir sollten die Ver‐ bandskommandeure davon in Kenntnis setzen und den Bri‐ gadegeneral. Mister Tadros!« »Aye, Sir?« Chad Tadros war der Erste Funkoffizier der ORN. »Rundspruch an alle Einheiten.« Tadros’ Hände flogen über die Tastaturen seines Pultes. »Verbindung steht, Sir.«
Marschall Bulton wandte sich an die Generäle, Verbands‐ kommandeure und Kapitäne der terranischen Flotteneinheiten. »Hier Bulton. An alle. Wir werden unsere Flotte in Verbände zu je acht Ringschiffen aufteilen, die auf direktem Kurs den Feind ang‐ reifen. Ab sofort gilt: Feuer frei! Und nun noch das Wort eines gro‐ ßen Strategen aus der Vergangenheit der Erde, der vor ähnlichen Problemen gestanden hat: ›Vertraut auf Gott und haltet das Pulver trocken‹. Bulton Ende.« Über die zentrale Bildkugel verfolgten der Marschall und seine Führungsoffiziere an Bord der ORN, wie sich die Flotte neu for‐ mierte und den Anordnungen des Befehlshabers folgte. Auf Nebenschirmen war zu sehen, daß sich General Clarks Kampf verband ebenfalls umorientierte. Der Marschall wurde in seinen Betrachtungen gestört. »Funkspruch von der POINT OF, Sir!« informierte ihn die Funk‐ zentrale. »Was will der Commander von mir?« murmelte Bulton. Laut sagte er: »Öffnen Sie die Phase.« In der Bildkugel erschien Dharks Konterfei. »Commander Dhark?« Bulton wölbte fragend die Brauen. »Ich habe eine Bitte, Marschall«, kam Ren Dhark ohne Umschweife zur Sache. »Wenn ich sie erfüllen kann«, erwiderte Bulton zurückhaltend. Konnte er wissen, was der Commander von ihm wollte? »Unterstellen Sie sieben Ihrer Schiffe meinem Kommando, Mar‐ schall.« »Weiter nichts?!« Bultons Mundwinkel zuckten. »Sie haben keinen militärischen Rang mehr, Commander. Ich weiß nicht, ob meine Kapitäne da mitspielen.« »Unsinn«, versetzte Dhark gröber, als er es eigentlich beabsichtigte. »Wenn Sie es befehlen, folgen mir Ihre Leute in die Hölle.« Bultons rechte Braue wölbte sich. »Schön gesagt, Commander«, brummte er, »und vermutlich wahr. Schließlich waren Sie einmal der
Mann an der Spitze, und Ihr Ruf ist noch…« »Geschenkt«, unterbrach ihn Ren Dhark. Wie es aussah, saß er in seinem Kommandostand, der Aufnahmewinkel sprach dafür. »Der Dhark existiert nicht mehr. Aber um der alten Zeiten willen, Mar‐ schall, entsprechen Sie meiner Bitte. Ich möchte mich mit meiner Mannschaft aktiv an dem Kampf beteiligen. Schließlich geht es um die Erde, um unsere Heimat.« Ob es dieses Argument war oder die Tatsache, daß Bulton einst im Rang unter Ren Dhark gestanden hatte – egal. Jedenfalls nickte der Marschall. »Sie bekommen die Schiffe, Commander. Auf Ihre Kampferfah‐ rung können und wollen wir nicht verzichten.« In der Bildkugel atmete Dhark sichtbar auf. »Sie werden Ihre Entscheidung nicht bereuen, Marschall«, gab er seiner Dankbarkeit Ausdruck. »Bei Gelegenheit werfe ich Ihnen ei‐ nen Stein in den Garten.« »Unterstehen Sie sich, Ren!« drohte der Marschall und blendete sich aus. * Die sieben Ovoid‐Ringraumer, die Bulton für Dhark abkom‐ mandierte, schlossen unverzüglich zur aktuellen Position der POINT OF auf. Die Kapitäne meldeten sich über To‐Richtfunk. Sie tauschten sich kurz aus, besprachen ein paar Details und stimmten zu, als Dhark ihnen sagte, daß sie beim Kampf frei in ihren Entscheidungen wären. Er verlangte nur, daß sich immer zwei Schiffe gegenseitig deckten, wie bei den Jagdfliegern früherer Zeiten, und diesen Ver‐ bund nach Möglichkeit auch beibehalten sollten, bis das Ziel, bis der Gegner ausgeschaltet war. Dann gingen sie in eine vom Checkmaster der POINT OF ge‐ steuerte Kurztransition. Sofort nachdem er den Hyperraum verlassen hatte, bildete der
kleine Verband vier Zweiergruppen und ging auf Abfangkurs zu einer der Vierergruppen der Fremdraumer, die mit rund vier Fünftel Lichtgeschwindigkeit ins Innere des Sonnensystems vorstießen. Dharks kleiner Kampf verband, der eine etwas erhöhte Position zur Planetenebene hatte, war weit außerhalb der Umlaufbahn des Saturn rematerialisiert. Mit Sternensog und im vollen Tarnmodus nahm er Kurs auf die aktuelle Position der Roboterschiffe, paßte sich deren Kurs und Geschwindigkeit an. Acht hochgerüstete und mit den neuesten Errungenschaften der Worgun‐Technik ausgestattete Ringraumer schickten sich an, gegen einen Gegner zu bestehen, der bisher nur Angst und Schrecken in der Galaxis verbreitet und sich als nahezu unbesiegbar erwiesen hatte. In der Zentrale der POINT OF verfolgte die Besatzung in der Bildkugel und den anderen Bildwiedergabesystemen die Licht‐ punkte, die sich von der kosmischen Schwärze des Alls abhoben. Fremdraumer! Noch immer erschienen welche an den Grenzen des Sol‐Systems. Ren Dhark versuchte den metallischen Geschmack im Mund zu ignorieren und konzentrierte sich auf die Informationen in der zentralen Bildkugel. Am unteren Rand der Holographie strahlte für alle sichtbar die Sonne; sie war aus dieser Entfernung nur ein heller Stern. In unmittelbarer »Nähe« die vier Fremdraumer, nur pulsie‐ rende, rote Symbole, von der Ortung in die Bildkugel geschrieben. Die POINT OF und die übrigen sieben Ringraumer der terrani‐ schen Kampfgruppe flogen in etwa 3000 Kilometer Entfernung von dem Viererpulk der Roboterraumer, die mit unverminderter Ge‐ schwindigkeit in das Sonnensystem hineinrasten. Für das Auge waren sie in dem Gewimmel der Hintergrundsterne nicht zu entde‐ cken; 3000 Kilometer ließen sie nicht einmal als stecknadelgroße Punkte sichtbar werden. Die Dimensionen waren einfach zu winzig, gemessen an denen des Weltraumes. »Gib mir eine visuelle Darstellung«, verlangte Dhark vom Check‐
master. »Maximale Vergrößerung.« Die tiefenräumliche Ansicht des Alls in der Bildkugel zwinkerte kurz, dann zeichneten sich vor dem Hintergrund der Sterne mons‐ tröse Gebilde ab. Im Zentrum der Bildkugel wuchsen durch den Vergröße‐ rungsfaktor die bizarren Formen der Fremdraumer förmlich aus der holographischen Sphäre heraus. Die Konfigurationen entsprachen so gar nicht dem üblichen Erscheinungsbild von Raumschiffen. Nicht einmal eine einheitliche Grundform war zu erkennen. Jedes der Schiffe schien ein Unikat zu sein. Nirgends gab es glatte oder fließende Formen. Jedes dieser Raumfahrzeuge wirkte, als hätte irgendeine übellaunige Macht das Innere des Schiffes nach außen gestülpt, dann ein paarmal in sich gefaltet und das auch noch als schön befunden. Allerdings gab es eine Gemeinsamkeit, wenn es denn eine war: Die Datensequenzen, die von der Ortung in die Holokugel geschrieben wurden, bescheinigten den vier Schiffen einen Durchmesser zwi‐ schen 300 und 400 Metern. Von Parametern wie exakter Länge oder genau definiertem Durchmesser konnte man natürlich nicht spre‐ chen. Die Ortung produzierte eine Folge von Warntönen. Tino Grappas Augen flogen über die geschäftig laufenden Anzei‐ gen seines Kommandostandes. »Wir werden abgetastet«, meldete er ganz sachlich. »Kein Irrtum möglich? Wir sind immerhin getarnt!« »Die Parameter sind eindeutig, Kommandant.« »Dann haben sie also entdeckt, daß jemand zu Besuch kommt«, sagte Hen Falluta laut. »Offensichtlich.« Glenn Morris, der Erste Funkoffizier, hob die Stimme. »Angriff auf die Bordrechner, Kommandant!« Und drei Sekunden später: »Abgewehrt.« Ren Dhark nickte zufrieden und wechselte einen Blick mit Dan Riker, seinem Stellvertreter.
»Das Schutzprogramm scheint zu funktionieren«, bemerkte der Freund und langjährige Gefährte. »Geben wir ihnen etwas, woran sie zu kauen haben«, verlangte Dhark vom Checkmaster. Das Bordgehirn der POINT OF funkte auf der angreifenden Welle der Roboter das von Artus modifizierte Programm ab. Niemand zählte in der Zentrale die Sekunden, aber es konnten nicht viele gewesen sein, bis der attackierte Fremdraumer von innen heraus aufleuchtete wie ein von den Brennern aufgeheizter Ballon. Unmittelbar darauf trieb eine gewaltige, lautlose Explosion die Zelle des fremden Schlachtkreuzers auseinander und verstreute sie als glitzernde Trümmerwolke im Weltraum. »Gegner beenden Kommunikationsversuche mit uns«, meldete Glenn Morris mit erhobener Stimme gegen die verhaltenen Beifalls‐ bezeugungen der Zentralebesatzung. »Was ist mit der Funksperre unserer normalen Flottenfrequenz?« »Besteht nach wie vor«, bedauerte der Erste Funkoffizier. »Achtung! Die anderen drei Fremdraumer nehmen direkten Kurs auf uns, Kommandant!« »Sie fliegen Angriffskurs«, meldete auch Grappa. »Sie erhöhen die Geschwindigkeit.« »Angriffskurs auf wen?« Ren Dhark blickte in die Bildkugel. Greifbar nahe schienen die Robotraumer; in Wirklichkeit waren sie 2000 Kilometer entfernt. Der Checkmaster löste die Frage, in dem er die Daten der Ortung über Geschwindigkeit und Bahnrichtung der Fremdraumer extrapo‐ lierte und in ein Schaubild umwandelte, das der Besatzung der POINT OF zeigte, was in den nächsten Minuten geschehen würde, wenn sich nichts Grundlegendes änderte. Die sieben Ovoid‐Ringschiffe aus Bultons Flotte und die POINT OF bildeten eine annähernde X‐Formation. Dabei hatte die VASALL die Position an der Spitze des linken Schenkels inne, die POINT OF hielt sich an der Spitze des rechten Schenkels auf.
Die VASALL bewegte sich relativ zum Angriffsvektor gesehen näher bei den Fremdraumern. Und bekam auch den ersten und für sie letzten Feindkontakt zu spüren. »Sie schießen nur auf die VASALL!« gellte die Stimme des Ersten Offiziers durch die Zentrale der POINT OF. Deutlich war in den bildgebenden Medien zu verfolgen, wie die drei verbliebenen Fremdraumer in einer Zangenbewegung ihr Kompri‐Nadelfeuer auf die VASALL konzentrierten. Pinkfarbene Lichtfluten sprangen aus den Waffenkuppeln der Roboterschiffe, bewegten sich überlichtschnell auf die VASALL zu. Dem Feuersturm hatten Doppelintervallum und KFS nichts entge‐ genzusetzen; sie brachen sofort zusammen, die Hülle des Ringrau‐ mers wurde durchschlagen, und die unvorstellbaren Energien vol‐ lendeten ihr todbringendes Werk im Innern. Die VASALL explodierte. In einem gleißenden Lichtbogen der absoluten Destruktion zerlegte sie sich in ihre elementarsten Partikel. Als die Lichtwolke zerstob, war der Weltraum leer. Die VENTUS wollte ihr zur Hilfe kommen – mußte sich aber überhastet aus dem Staub machen, um nicht vom Schicksal der VASALL ereilt zu werden. Sie schaffte es gerade in allerletzter Se‐ kunde, dem pinkfarbenen Lichtfächer aus den Abstrahlantennen der drei Fremdraumer zu entkommen. Mit aufgerissenen Augen und ohnmächtiger Wut im Leib starrte Amy Stewart in die Bildkugel, in der eben noch die beiden Ovoid‐ schiffe zu sehen gewesen waren. Nun war da nichts mehr, nur der leere Weltraum und eine glitzernde Materiewolken, die einmal die VASALL gewesen war. Dhark hörte ihr entsetztes Keuchen, konnte sich aber nicht um sie kümmern. »Die Formation auflösen!« befahl Ren Dhark mit harter Stimme über die Kommandofrequenz, seine Kiefermuskulatur arbeitete. »Immer zwei nehmen sich einen dieser Höllenhunde vor. Lassen Sie die Hyperkalkulatoren die Angriffs‐ und Verteidigungssequenzen
übernehmen, sie sind allemal schneller in den Entscheidungen als wir. Vergessen Sie nicht, unsere Gegner sind Rechengehirne. Wir sind ihnen als organische Wesen in puncto Reaktion und Entschei‐ dungsfindung unterlegen. Bestätigen.« Über die Funk‐Z kamen die Bestätigungen herein. Dann strebten die Ringschiffe in Zweiergruppen auseinander – und der Danse macabre begann. * »Achtung! Feindliches Schiff im Anflug«, meldete der Check‐ master. »Aktiviere Abschirmung.« In der Bildkugel zeichnete sich vor dem Hintergrund des sternen‐ erfüllten Alls das monströse Gebilde eines Fremdraumers ab. »Sie schießen auf uns!« gellte der Schrei des Ersten Offiziers durch die Zentrale. Deutlich war in den bildgebenden Medien zu verfolgen, wie aus der Breitseite des Angreifers eine schwarze Lichtflut sprang, die sich in einzelne schwarzleuchtende Lichtpfeile auffaserte und auf die POINT OF und die VERTIGO zubewegte, den »Flügelmann« von Dharks Ringraumer. Dhark preßte die Kiefer aufeinander. Der Schwarze Strahl war eine Art Hyperraumwaffe, die Schiffe aus dem Kontinuum riß. Bislang hatten sich noch keine Hinweise gefunden, daß diese Waffe der Grakos auch anderen Mächten zugänglich gemacht worden war, dennoch setzten die Roboterschiffe des Volkes sie bei ihrem Angriff auf Grah ein. »Checkmaster?« hob Ren seine Stimme. »Alle Schirme maximale Feldstärke, Massegeneratoren arbeiten mit voller Energie«, beruhigte der Checkmaster. Im Innern der POINT OF war keine Erschütterung zu spüren, als sie von der Breitseite der schwarzen Flut getroffen wurde. Mit pausenlos zuckenden schwarzen Blitzen kam der Fremdrau‐
mer auf die POINT OF zu. Dhark überließ in dieser Situation die Führung der POINT OF ganz dem Checkmaster. Die Zentralebesatzung verfolgte in erzwungener Untätigkeit das sich abspielende Geschehen. Der Checkmaster reagierte. Die POINT OF vollführte unter der Steuerung des Bordrechners eine komplizierte Ausweichbewegung und entfernte sich scheinbar aus der Umklammerung des Fremdraumers. Es hatte den Anschein einer Flucht, war aber nur ein genau kalkuliertes Ausweichmanöver. Die erste Doppelsalve Kompri‐Nadel ging ins Leere. Jetzt trennten sich beide Ringraumer. Die VERTIGO tauchte nach »unten« weg, die Point of gelangte »über« den Fremdraumer. Arc Doorn in der Zentrale der POINT OF zog eine Grimasse und ließ ein anerkennendes Knurren hören, als er sah, was der Check‐ master vorhatte. Beide Ringraumer hatten das Roboterschiff plötzlich zwischen sich. »Feuer frei…!« gab das Bordgehirn über seine Sprachausgabe zu verstehen. Nadelstrahlen, Mix‐2 und Mix‐4 verließen die Antennen der POINT OF und auch die der VERTIGO, schlugen von beiden Seiten in das Schutzfeld des Fremdraumers ein, der in violett, pink und rot zu leuchten begann und das typische Karomuster zeigte. Der Schutzschirm zeigte keine Spur von Überlastung. »Keine Wirkung«, verkündete Hen Falluta und ließ seiner Enttäu‐ schung freien Lauf. »Sie haben ihre Schutzschirme noch mehr verbessert«, mutmaßte Elis Yogan, der zweite Funker. Doch als der Checkmaster auch die schweren Wuchtkanonen ein‐ setzte, drehte das Roboterschiff ab. Der Checkmaster gab unablässig Manöver‐ und Entfernungs‐ angaben über die Bildkugel bekannt und schickte pausenlos kon‐ zentrierte Feuerstöße aus sämtlichen Antennen in Richtung des Ro‐ boter‐Kampfkolosses, die dieser mit aufleuchtenden Ab‐
wehrschirmen zurück in den Weltraum warf. Die Angriffs‐ und Abwehrtaktiken auf beiden Seiten waren das Ergebnis logischer Algorithmen von Suprasensoren auf Seiten des Roboterschiffes und Hyperkalkulatoren sowie Checkmaster auf ter‐ ranischer Seite, die ein Ausweichmanöver nach dem anderen be‐ rechneten, während sie gleichzeitig versuchten, eigene Wirkungs‐ treffer anzubringen. Ren Dhark betrachtete einen der Sichtschirme über seiner Kom‐ mandantenkonsole: Die anderen Schiffe seines geschrumpften Ver‐ bandes waren in die gleichen Kämpfe und Manöver verwickelt, hatten die gleichen Schwierigkeiten wie die POINT OF und die VERTIGO. Er öffnete eine Kommunikationsphase nach draußen und lauschte für kurze Zeit den Anordnungen und Kommentaren der anderen Kapitäne, die wie fernes Gemurmel über die exotische Frequenz an sein Ohr drangen. Dann konzentrierte er sich wieder auf die POINT OF. Eben vollführte der blauschimmernde Ringraumer ein hals‐ brecherisches Manöver, um dem Kampfkoloß des Robotervolkes auszuweichen, der zum wiederholten Mal versuchte, die beiden Ringraumer der Terranischen Flotte zu stellen, wobei seine Strahl‐ antennen einem verwickelten Muster folgend pausenlos feuerten. Es schien sich ein Patt abzuzeichnen. Dennoch glaubte der Fremdraumer, ein As im Ärmel zu haben… Die Kollisionswarner heulten durch sämtliche Decks der POINT OF. »Die wollen uns rammen!« schrie Walter Brugg, der Dritte Funker. »Ist das zu fassen!« Der Checkmaster reagierte Sekunden vor dem unvermeidlich scheinenden Aufprall und brachte die POINT OF aus der Gefah‐ renzone, indem er das Schiff in einem Neunziggradwinkel um vier‐ zig Kilometer versetzte. »Puh«, stöhnte jetzt Anja Riker, »das war aber knapp.«
»Knapper ging’s nicht«, bestätigte Dan Riker. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn; mechanisch wischte er sie weg. Ren Dhark pflichtete dem Freund im stillen bei. Der Ringraumer war in Sekundenbruchteilen über eine Distanz von vierzig Kilometern versetzt worden. Dennoch war im Innern des Schiffes nichts davon zu spüren gewesen. Nicht der geringste And‐ ruck, nicht die leiseste Vibration! So gesehen machte die POINT OF ihrem Ruf als technisches Wunderwerk wieder einmal alle Ehre. »Kommandant!« Glenn Morris hatte sich aus seinem Kom‐ mandostand erhoben. Ren Dhark löste den Blick von der Bildkugel. »Ja?« »Dringlichkeitsspruch auf der Flottenfrequenz. Die ORN ruft uns! Der Oberkommandierende persönlich.« Der Erste Funkoffizier der POINT OF schaltete an seiner Konsole. Marschall Bultons Oberkörper war in der zentralen Bildkugel zu sehen. An dem eingeblendeten Symbol in der linken oberen Ecke erkannte Dhark, daß es sich um einen Rundspruch handelte; der Marschall war zeitgleich in den Zentralen sämtlicher Flotteneinhei‐ ten im gesamten Sonnensystem zu sehen. Dharks Augen verengten sich; das verhieß nichts Gutes. Bultons massiges Gesicht trug Spuren einer tiefgreifenden Mü‐ digkeit, die ihre Ursache nicht in zuwenig Schlaf hatte, sondern mehr der augenblicklichen Bürde entsprang, die auf seinen Schultern las‐ tete, ohne daß er sie abschütteln konnte. Er räusperte sich rauh, setzte zum Sprechen an, verstummte und versuchte es wieder. Diesmal gelang es ihm. »An alle Einheiten der Ersten und Zweiten Schlachtdivision. Be‐ enden Sie die Kampfhandlungen und kehren Sie unverzüglich zur Erde zurück; die Schiffe werden ohne Ausnahme hier gebraucht. Die ersten Angreifer haben Terra erreicht und nehmen den Nogk‐Schirm unter Beschuß. Wie mir mein Stab mitteilte, flackert er bereits an
einigen Stellen und zeigt die ersten Auflösungstendenzen. Bulton Ende.« Das Hologramm in der Bildkugel verblaßte und verschwand, als die ORN die Verbindung kappte. In der Zentrale wandten sich angespannte Gesichter dem Kom‐ mandanten zu; tiefgreifende Sorge überschattete die Mienen vieler. Ren Dhark suchte und fand den Blick Amy Stewarts. Unmerklich nickte sie ihm zu, ihr winziges Lächeln gab ihm Kraft. Er erhob sich aus seinem Kommandostand, stützte die Fäuste auf die Konsole. »Mister Morris, öffnen Sie die interne Phase und schalten Sie die anderen Schiffe meines…«, er unterbrach sich, setzte neu an, »des angeschlossenen Verbandes zu uns auf.« »Phase steht, Kommandant.« »Sie haben alle gehört, was uns das Flottenoberkommando eben mitgeteilt hat. Wir kehren unverzüglich ins Innere des Systems zu‐ rück. Hyperraumsprung. Die Erde braucht unsere Hilfe. Wir sollten sie nicht enttäuschen…«
6. Das Stöhnen in seinem Rücken ließ Martin‐Yves One instinktiv herumfahren. Unwillkürlich erwartete er eine Gefahr, doch es war kein weiterer unvermittelt aufgetauchter Teddy hinter ihm, sondern York Merier. Der Körper des Dritten Offiziers bäumte sich auf. Noch halb bewußtlos machte er Anstalten, sich die Atemmaske vom Ge‐ sicht zu ziehen. Mit einem Satz war One bei ihm und drückte die Arme des Kana‐ diers beiseite. »Nicht, Sir. Lassen Sie die Maske auf.« Merier öffnete die Augen und schaute den Techniker mit glasigem Blick an. Unverständnis war darin zu erkennen. In diesem Zustand war er eine Gefahr für sich selbst. Das verdammte Gas würde ihn auf der Stelle zurück ins Reich der Träume schicken. My One empfand ein nervöses Kribbeln im Nacken. Jeden Moment konnten weitere Invasoren an Bord der THOMAS auftauchen und Unheil anrichten. Vorsichtig hob er Meriers Kopf an und tätschelte ihm die Wangen, genau darauf achtend, daß der nicht erneut nach der Maske griff. Einen Offizier ohrfeigen, dachte One mit einem Anflug von Sarkas‐ mus. Wie gut, daß keine Überwachungseinrichtungen aktiv sind. Immer‐ hin zeigte sein Vorgehen Wirkung. »Wo… bin ich?« Meriers Blick begann sich zu klären. Er brachte ein schwaches Nicken zustande, als er die vertrauten Einrichtungen in der Zentrale der THOMAS erkannte. »Was ist geschehen?« »Wir sind überfallen worden. Eindringlinge haben Betäubungsgas gegen die Mannschaft eingesetzt. Wäre ich im Geschützturm nicht vom Rest des Schiffes abgeschottet gewesen, hätte es mich ebenfalls erwischt. Dann sähe die Lage noch viel dramatischer aus.« In knap‐ pen Worten lieferte er einen Abriß der Geschehnisse seit der Alarmmeldung. »Ich erinnere mich dunkel.« Merier richtete sich auf. »Ich sah einen
Teddy in der Zentrale auftauchen. Er hatte eine Bombe bei sich. Dann gingen auch schon die Lichter aus.« »Keine Bombe, Sir, jedenfalls keine richtige. Zum Glück. Das Ding war nicht zur Detonation bestimmt, sondern enthielt das Betäu‐ bungsgas, das alle bis auf mich umgehauen hat.« Merier stützte sich auf die Unterarme und kam auf die Beine. Er schwankte noch ein wenig, doch die Wirkung des Gases ließ all‐ mählich nach. Nachdenklich betrachtete er zunächst die Kapsel, die nicht gezündet hatte, und danach das kleinwüchsige behaarte We‐ sen, das betäubt am Boden lag. »Haben Sie ihm Uniform und Waffengurt abgenommen?« One schüttelte den Kopf. »Er ist so in der Zentrale aufgetaucht. Wenn er kein Exhibitionist ist, habe ich auch keine Erklärung dafür.« Auch die anderen Offiziere begannen sich nach und nach zu regen. Ehe er dazu kam, sich um sie zu kümmern, registrierte er eine Be‐ wegung. Unvermittelt erschien ein weiterer Teddy in der Zentrale. Auch er trug als einzige »Bekleidung« sein Körperfell. Mit einer ra‐ schen Bewegung griff er sich in den Mund, um den tennisballgroßen Metallkörper hervorzuziehen. My One reagierte instinktiv. Er riß seinen Strahler in die Höhe und zog den Abzug durch. Mit einem überraschten Aufschrei sackte der Toschi in sich zusammen, als ihn der Paralysestrahl erfaßte. Vor seinem Gesicht wurde eine minimale Trübung der Luft sichtbar. »Gas! Er hat die Bombe schon aktiviert!« »Wir müssen auf die Masken der anderen achten.« Der Körper des kleinen Wesens zuckte und bäumte sich auf. Nun zeigte sich, daß es einen fatalen Fehler begangen hatte. Das Betäu‐ bungsgas strömte bereits aus, obwohl der Teddy die Metallkapsel noch zur Hälfte in seinem Mund hatte. »Das Gas bringt ihn um.« Der Techniker kniete neben dem Ein‐ dringling nieder und zog die Kapsel ganz heraus. Es war zu spät. »Da ist nichts mehr zu machen. Die direkte Dosis im Mund war wohl zu groß. Er ist tot.«
»Anscheinend sind diese Wesen ziemlich empfindlich«, folgerte Merier. »Um so verwunderlicher ist, daß sie diese Gasbomben im Mund transportieren. Von ihrem nackten Auftauchen ganz zu schweigen.« »Was wollen sie überhaupt an Bord? Das Schiff übernehmen?« »Darüber können wir später nachdenken. Oder auch fragen, schließlich haben wir einen Gefangenen. Zunächst müssen wir den Rest der Besatzung mit Atemmasken wieder auf die Beine bringen. Die Betäubung durch das Gas wird zwar von allein nachlassen, aber wir können nicht sicher sein, daß wir alle Teddys erwischen, die mit Nachschub auftauchen. Um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein, geben wir Atemmasken für sämtliche Besatzungsmitglieder aus. Sie beginnen am besten im Maschinenraum, Mister One. Die THOMAS muß so schnell wie möglich ihre volle Einsatzbereitschaft zurückerlangen.« »Ich bin schon unterwegs, Sir.« Der Techniker lief aus der Kommandozentrale, während Merier die anderen Offiziere über die Lage unterrichtete. Um im Ernstfall nicht länger auf die Atemmasken angewiesen zu sein, legten sie die foliendünnen Raumanzüge der Worgun an, die für Notfälle wie diesen überall an Bord in ihren Halterungen hingen. Da war My One bereits auf dem Weg in den Maschinenraum. Die Frage, wie die Toschis an Bord gelangt waren, ging ihm nicht aus dem Kopf. * Im Maschinenraum sah es nicht besser aus als im Rest des Schiffes. Auch dort war die Besatzung außer Gefecht gesetzt. One sah sich besorgt um, doch seine Kollegen hatten Glück gehabt. Während er ihnen Schutzmasken anlegte, deren Filterpatronen sich automatisch aktivierten, stellte er fest, daß sich niemand ernsthaft verletzt hatte, als das Gas wirksam geworden war. Gut für die Teddys, ansonsten
hätte er ihnen bei nächster Gelegenheit das Fell über die Ohren ge‐ zogen. Bei der Vorstellung fragte er sich erneut, wieso die Toschis nackt an Bord aufkreuzten. Zweifellos gehörte ein solches Verhalten nicht zu ihrer Lebensphilosophie, und bei einem Einsatz in einem fremden Raumschiff widersprach es sowieso jeder Vernunft. »Aufwachen, Jungs«, murmelte er in Gedanken, während er auf das kaum wahrnehmbare Summen der Klimaanlage lauschte. Merier hatte sie auf Höchstleistung gestellt, um die Reinigung der Luft zu beschleunigen. Nicht lange, und der Spuk würde vorbei sein. Hastig kontrollierte One einige Maschinen. Sie arbeiteten so ans‐ tandslos wie die Suprasensoren. Entweder ging es den Teddys nicht darum, Schaden anzurichten, oder sie hatten bisher trotz der Be‐ wußtlosigkeit der Menschen keine Gelegenheit dazu gefunden. Ein Geräusch schreckte den Techniker auf. Diesmal stammte es von keinem seiner Kameraden, der eben wieder zu sich kam. One feuerte, als ein weiterer bepelzter Winzling wie aus dem Nichts auf‐ tauchte. Ihm blieb keine Zeit, sich zu orientieren und seinen Auftrag auszuführen. Mit einem schrillen Ton sackte das Wesen in sich zu‐ sammen. »Langsam reicht es«, knurrte One, darauf vorbereitet, noch mehr Toschis auszuschalten. Es kamen keine, aber anderswo im Schiff mochte das ganz anders aussehen. Dennoch verstand er die Taktik der Eindringlinge nicht. Es konnte ihnen nicht nur darum gehen, die Besatzung der THOMAS für ein paar Stunden schlafen zu schicken. Was hatten die Invasoren vor? Er untersuchte den Teddy und zog ihm vorsichtig, um sie nicht zu beschädigen, die Metallkapsel mit dem Gas aus dem Mund. Dann wartete er darauf, daß seine Kollegen wieder zu sich kamen. * »Laß mich los, Mensch! Laß mich runter, oder du wirst es be‐
reuen!« Jackson ignorierte das Zetern des Toschis, das vom Transla‐ tor auf beinahe penetrante Weise übersetzt wurde. Der Winzling wand sich in seinem Griff, konnte gegen die überlegene Kraft des Generals aber nichts ausrichten. Um so mehr steigerte er sich in seine Tiraden. Auch der letzte Rest von formeller Höflichkeit war nun von ihm abgefallen. »Ein trotziges Herz nimmt ein böses Ende«, zitierte Jackson unge‐ rührt aus dem Buch Jesus Sirach, wobei er sich mit der freien Hand durch seinen Vollbart fuhr. »Wer aber das Gute liebt, den wird es geleiten.« Die vier Männer hasteten durch einen kahlen Gang, der sanft ge‐ neigt war. Sie hatten die Gravitationsverstärker in den Sohlen ihrer Anzugstiefel abgeschaltet, was ihnen bei den herrschenden Schwer‐ kraftbedingungen ein rasches Vorankommen ermöglichte. Mit wei‐ ten Sprüngen verschafften sie sich einen Vorsprung vor den klein‐ wüchsigen Toschis. »Die müssen doch einsehen, daß sie mit uns nicht mithalten kön‐ nen.« Rayes warf einen Blick nach hinten. Er entdeckte zwar keine Verfolger, doch der Lärm verriet, daß Notrons Anhänger nicht auf‐ gaben. »Die denken gar nicht dran. Wir haben ja erlebt, daß sie genauso fanatisch sind wie ihr Oberbefehlshaber.« »Dann ist das Schiff vielleicht in Gefahr, Sir. Wir müssen unbedingt zurück.« Jackson schüttelte den Kopf. Eine Rückkehr in den Hangar war ausgeschlossen, wollte man nicht abermals in der Falle stecken und einer zahlenmäßig weit überlegenen Übermacht gegenüberstehen. »Das bringt uns keinen Schritt weiter. Die Armee, die dort auf uns wartet, können wir nicht durchbrechen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als herauszufinden, was auf diesem Mond passiert.« Dabei konnte er die Gedanken des bulligen Spaniers durchaus nachvollziehen. Auch seine Sorge galt primär dem Schiff. Er fragte sich, was dort vor sich ging, glaubte aber nicht, daß es in Gefahr war.
Beim Versuch, in die THOMAS einzudringen, hätten sich die Teddys die Zähne ausgebissen. Oder verfügten sie über Möglichkeiten, die er bisher nicht kennengelernt hatte? Warum meldete sich die Zent‐ rale nicht mehr? Jackson lief, so schnell es ihm möglich war. Solange sie die Toschis nicht endgültig abgehängt hatten, blieb keine Zeit für eine Ver‐ schnaufpause, zumal immer noch kein Funkkontakt mit dem Schiff zustandekam. »Da vorn kommt eine Abzweigung.« Sten und Conelly eilten den beiden Offizieren voraus und sicherten den Weg. Bei dem Aufmarsch, den sie miterlebt hatten, mußten sie davon ausgehen, daß Millionen von Teddys Solitude bewohnten. Nur, wo waren sie dann? Die Erkundungsflüge der Flash hatten zwar gewaltige Werften und weitläufige Anlagen gezeigt, die das reinste Labyrinth bildeten, aber keine entsprechend große Bevölke‐ rung. Wenn sie nicht im hiesigen militärischen Bereich untergebracht war, dann vermutlich in weiter entfernt liegenden zivilen Regionen. Vorsichtig näherte sich die Gruppe der Abzweigung. Unvermittelt stellte Notron seine Gegenwehr ein. Auch sein Gezeter endete. »Hat es unserem Kleinen die Sprache verschlagen?« fragte Rayes spöttisch. »Erwartest du einen Hinterhalt deiner Leute?« In den großen dunklen Augen des Pelzwesens blitzte es auf. »Wenn nicht hier, dann anderswo, Mensch. Euer Weg ist bald zu Ende. Ihr habt mich nicht ungestraft entführt und als Geisel ge‐ nommen.« »Schon gut, Nummer Eins«, hielt Jackson seinen Piloten zurück, dem eine harsche Entgegnung auf der Zunge lag. »Entweder will Notron uns provozieren, oder er ist wirklich so überheblich und selbstherrlich.« Wenn er an die Ereignisse nach der Landung dachte, kam al‐ lerdings nur die zweite Möglichkeit in Frage. Rayes’ Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet. Die zwei abzweigenden Gänge waren verlassen. Dafür erwiesen sie sich für
die Menschen als beinahe unpassierbar. Sie waren keinen Meter hoch und nicht annähernd so breit. »Da kommen wir nur kriechend durch«, befand Conelly. »Und davon rate ich dringend ab. Da drin sind wir nämlich eine leichte Beute, wenn unsere Gegner plötzlich von vorn kommen.« »Außerdem ist eine Richtung so gut wie die andere«, knurrte der Pilot mit einem bösen Seitenblick zu Notron. »Sie führen alle ins Ungewisse.« Zum wiederholten Male versuchte der General erfolglos, einen Funkkontakt zur THOMAS herzustellen. Sie kam nicht zustande. Die einzige Erklärung, die sich ihm bot, war eine Art Abschirmung, die jeden Kontakt unmöglich machte. Wenn das stimmte, ließ sie sich irgendwo abschalten. Überhaupt mußte es eine zentrale Stelle geben, an der sämtliche Fäden Solitudes zusammenliefen. Natürlich konnte sie sogar auf der anderen Seite des Mondes liegen, doch ihnen blieb keine andere Wahl, als auf diese Weise ihr Glück zu versuchen. Er ärgerte sich, den Hangar nicht mit einer stärkeren Gruppe betreten zu haben. In dem Fall hätte er versucht, mit Gewalt wieder ins Schiff zu gelangen, doch solche Spekulationen waren müßig. »Weiter, Männer«, trieb er die kleine Gruppe an. »Anscheinend haben wir unsere Verfolger abgeschüttelt«, über‐ legte der Erste Offizier, als er sich wieder in Bewegung setzte. »Vielleicht ist Notron deshalb so still.« Die beiden Soldaten übernahmen auch weiterhin die Vorhut. In immer kürzeren Abständen passierten die Männer abzweigende Gänge, die auf die körperlichen Maße der Toschis zugeschnitten waren. Ausnahmslos waren sie verlassen. Auch gab es keine Hin‐ weise, wohin sie führten. Immer mehr zeigte sich, daß die Teddys weite Teile von Solitude ausgehöhlt hatten. Wenn es auf dem ge‐ samten Mond so aussah, war er durchlöchert wie ein Schweizer Kä‐ se. Der Gang, durch den sich die Gruppe bewegte, knickte nun mehrmals willkürlich ab. War er zunächst kahl und leer gewesen,
zeigten sich inzwischen kantige Vorsprünge aus einem dunklen Metall. Die schränkten die Bewegungsfreiheit der Männer ein und erschwerten zudem die Sicht. Wie die vorausgehenden Soldaten hielt auch Rayes seine Waffe erhoben. »Das gefällt mir gar nicht. Hier entdecken wir die Teddys erst, wenn wir über sie stolpern.« Wie recht der Pilot hatte, zeigte sich, als sich ein Laserstrahl zwi‐ schen den Männern in die Wand bohrte. * »In Deckung, Sir!« gellte Stens Stimme. Im selben Moment traten die neuen Multikarabiner der beiden Soldaten in Aktion. Die rosa‐ roten Strahlen jagten dorthin, von wo der Angriff kam. Notron stieß einen schrillen Schrei aus. »Ich habe es dir gesagt, Mensch. Es ist besser für euch, wenn du mich freiläßt und mir euer Schiff übergibst.« Jackson konnte nicht fassen, wie der Toschi‐Anführer die Lage verkannte. Er begriff nicht einmal, daß er in Gefahr war, versehent‐ lich von seinen eigenen Leuten erschossen zu werden. Der General verstärkte den Griff seines Arms, bis Notron wieder Ruhe gab, und erwiderte das Feuer der Angreifer mit seinem Handstrahler. Sten und Conelly huschten hinter zwei Vorsprünge und trieben die Angreifer aus ihrer Deckung. Die Nadelstrahlen ihrer GEH&K Mark 10/62 schufen glühende Narben auf dem Untergrund und verwan‐ delten einen Ausschnitt der Wand in reine Energie. Schlagartig breitete sich Hitze aus, während von vorn entsetzte Schreie ertönten. Mehrere Toschis sprangen aus ihren Verstecken und suchten ihr Heil in der Flucht. »Nachrücken, bevor sie eine andere Deckung finden!« Der General sprang vorwärts und bestrich den abknickenden Gang mit seinem Handparalysator. Zwei Gegner überschlugen sich und blieben am Durchbruch zu einem verwinkelten Raum paralysiert
liegen. Die restlichen verschwanden in alle Richtungen und tauchten zwischen einigen massigen Containern unter. Jackson drückte sich in eine Ecke und hielt die Umgebung im Au‐ ge. Auch wenn Notron klein und nicht besonders schwer war, war er doch hinderlich. Rayes sicherte das Gelände von einer fünf Meter entfernten Position aus. In ihrer Lage konnten die beiden Offiziere sich gegenseitig Feuerschutz geben, falls die Angreifer einen weite‐ ren Vorstoß wagten. Mehrere Feuerstöße sirrten durch die Luft, die von wüsten Schreien begleitet wurden. Sekundenlang verlor der General seine Soldaten aus den Augen, als sie nachsetzten, um die Toschis end‐ gültig zu vertreiben. Mit einem raschen Blick vergewisserte er sich, daß aus dem hinter ihnen liegenden Gang keine Gefahr drohte. An‐ scheinend waren sie lediglich auf eine versprengte Gruppe gestoßen. Andererseits waren bestimmt noch mehr der »Kampfteddys« un‐ terwegs. »Wir müssen weiter und unseren Standort wechseln, bevor sie Unterstützung erhalten.« Jackson gab seinem Ersten ein Zeichen, und gemeinsam sprangen sie auf. »Dort entlang!« Sie passierten einen Maschinenblock, hinter dem Dampfschwaden waberten. Wie Geister traten die beiden Soldaten daraus hervor. Mit keiner Miene verrieten sie, daß sie eben noch einen Kampf mit töd‐ lichen Waffen geführt hatten. »Sie sind weg«, erklärte Sten mit beinahe gelangweilter Routine. Jackson nickte und gab die Richtung vor. Mehrere ähnliche Räume schlossen sich an, in denen es nichts zu sehen gab, was den Männern von der THOMAS weitergeholfen hätte. Danach folgten sie dem Verlauf eines weiteren Korridors, von dem wiederum zahlreiche enge Gänge abzweigten, die für Menschen zu klein waren. »Ziemlich bedrückend«, fand Rayes, der sich immer wieder um‐ sah. Die Bauweise der Toschis wirkte auf die dreimal so großen Menschen zwangsläufig klaustrophobisch. Zum Glück wiesen sämt‐ liche Bereiche, durch die sie liefen, aufgrund der künstlichen At‐
mosphäre atembare Luft auf. An der Mondoberfläche sah das ganz anders aus. Dort hätten die Menschen ohne Raumanzüge nicht at‐ men können. Eine Flucht dorthin verbot sich also von allein. Als sie etwa einhundert Meter in die Tiefe gestiegen waren, griffen die Teddys wieder an. Auch diesmal waren es nicht mehr als ein Dutzend Soldaten, die Jacksons Gruppe attackierten. Dank der überlegenen Waffen der Menschen ließen sie sich mit ein paar Warnschüssen vertreiben. Vor den Nadelstrahlen, die den umlie‐ genden Bereich mühelos verwüsteten, zeigten sie gehörigen Respekt. Trotzdem wünschte der General, es hätte eine andere Art der Ver‐ ständigung gegeben. »Wir haben keine von deinen Leuten getötet«, versuchte er Notron zu überzeugen. »Wenn du endlich vernünftig wirst, können wir die Kämpfe einstellen.« »Ihr habt damit angefangen.« Der Generalstabsführer von Ret‐ tungswelt klang jetzt völlig ruhig. »Ihr habt meine Soldaten angeg‐ riffen. So etwas lassen wir uns nicht gefallen.« Der Spanier kochte innerlich vor Wut und machte eine weg‐ werfende Handbewegung. »Ich frage mich, wie jemand, der so klein ist, soviel Unsinn verzapfen kann. Wir haben uns nur verteidigt, also verdreh hier nicht die Tatsachen. Ihr wolltet unser Schiff stehlen.« »Ich bin der Oberbefehlshaber aller Toschis. Dieses Schiff befindet sich auf unserem Territorium und gehört deshalb mir.« »Dir?« höhnte Rayes. »Das schlägt doch dem Faß den Boden aus.« »Überhebe dich nicht, damit du nicht fällst und Schande über dich bringst«, zitierte Jackson aus seinem reichlichen Fundus an Bibel‐ sprüchen. Ihm behagte nicht, daß Notron seinen Widerstand an‐ scheinend aufgegeben hatte. Er wandte sich nachdenklich an seinen Piloten. »Lassen Sie es gut sein, Nummer Eins. Hier ist jede Diskus‐ sion sinnlos.« Er konnte nur hoffen, daß sie jemanden fanden, der zugänglicher für vernünftige Argumente war. Doch wer sollte das sein? Wenn Notron wirklich der oberste Toschi war, gab es niemanden, der ihm
ebenbürtig war und gleichberechtigte Verhandlungen führen konn‐ te. In der Tat schienen ihm, wie sich bei dem blindwütigen Anrennen nach der Landung gezeigt hatte, seine sämtlichen Untergebenen blind zu gehorchen, so sinnlos seine Befehle auch sein mochten. Vor den Männern weitete sich der Gang und mündete in einen geschwungenen Torbogen. Er führte in eine weitgezogene Halle, in der es summte wie in einem Bienenstock. »Aktive Aggregate«, stellte Rayes fest. Mit angeschlagenem Kom‐ bistrahler trat er in die Halle. »Sie könnten der Energieerzeugung dienen.« »Dort drüben, Sir!« Conelly lief los. Auch Jackson hatte die Bewegung gesehen. Eine ganze Gruppe der Winzlinge verdrückte sich durch ein gewölbtes Schott. Erstaunli‐ cherweise machte keiner von ihnen Anstalten, auf die Menschen zu schießen. »Hinterher!« entschied der General. »Wenn sie nicht auf uns feuern, sind sie vielleicht bereit zu reden.« Auch wenn seine Zweifel daran mit jeder Minute wuchsen. * Die Geräusche unzähliger Maschinen, wie sie typisch für eine Werft waren, empfingen die Männer. Ringsum waren Bewegungen von Kränen und automatischen Fer‐ tigungsanlagen zu sehen. In selbststeuernden Schienen verrichteten Laserschweißautomaten ihre Arbeit. Hier und da blitzte es grell auf, wenn Wan‐ dungssegmente miteinander verbunden wurden. Jeder Teil der Halle schien in Bewegung. »Die Kerlchen sind verschwunden«, ärgerte sich Conelly, der ver‐ geblich losgerannt war. Suchend schaute er sich nach den Toschis um. »Kein Wunder. Hier gibt es tausend Möglichkeiten, sich zu ver‐ stecken.«
Jackson nickte. Und tausend Hinterhalte, aus denen seine Gruppe überrascht werden konnte. Die Halle war noch höher als die vor‐ hergehende. Zahlreiche Fragmente von Raumschiffen in unter‐ schiedlichen Stadien der Fertigung standen darin. Gigantische Scheinwerfer strahlten Ausschnitte der Hüllen an, wo Arbeiten im Gange waren. »Die Maschinen brauchen kein Licht für ihre Tätigkeit«, warnte er seine Männer. Wenn schon keine Toschis an dem Schiffsbau beteiligt waren, führten sie zumindest die Aufsicht über die Produktionsan‐ lagen und nahmen Kontrollen vor. Also steckten sie irgendwo in diesem Labyrinth, auch wenn sie es vorzogen, sich nicht sehen zu lassen. »Ich verstehe zwar nicht, daß diese Teddys vor uns fliehen, wäh‐ rend ihre Kollegen Jagd auf uns machen«, wunderte sich der Pilot. »Aber ich an deren Stelle würde den direkten Weg quer durch die Halle nehmen.« Auch Jackson gelang es nicht, die Situation eindeutig zu bestim‐ men. Immer mehr verschob sich die Grenze zwischen Jägern und Gejagten. »Ich schlage vor, daß Sten und ich das jenseitige Ende der Halle erkunden.« Conelly hatte seinen Multikarabiner jetzt lässig geschul‐ tert, ohne den Finger vom Abzugsbügel zu nehmen. »Wir bleiben zusammen«, lehnte Jackson ab. Er wollte die ohnehin kleine Gruppe nicht noch weiter aufteilen. Bei den Dimensionen des unterirdischen Reichs konnte jeder Feindkontakt die Männer trennen und dazu führen, daß sie sich nicht wiederfanden. Allein oder zu zweit waren sie noch angreifbarer. Schon ein einzelner gut plazierter Schuß aus einem Lasergewehr konnte sich fatal auswirken, wenn Unterstützung und Rückendeckung durch die Kameraden fehlten. Sie passierten ein stählernes Gerippe, das fünfzig Meter in die Höhe reichte und in einer Art Aufhängung verankert war, die an eine riesige Spinne erinnerte. Das Segment der Schiffszelle war be‐ reits an mehreren Stellen verkleidet und verwehrte die Sicht auf die
dahinterliegenden Bereiche. Jackson lief links herum und spähte zwischen den Streben hin‐ durch. Wieder hatte er das Gefühl, Bewegungen zu registrieren, die nicht von Maschinen stammten. Sobald er sich auf sie konzentrierte, waren sie schon wieder verschwunden. Er lief ein Stück in diese Richtung in der Hoffnung, versteckte Teddys aufzuscheuchen, doch nichts geschah. Mit jedem zurückgelegten Meter fühlte er sich stär‐ ker an einen Irrgarten auf einem irdischen Jahrmarkt erinnert. Notron verhielt sich völlig passiv und gab keinen Ton von sich. Jackson wurde den Eindruck nicht los, daß sein Gefangener auf et‐ was Bestimmtes wartete. »Die spielen Katz und Maus mit uns, Sir. So kommen wir jedenfalls keinen Schritt weiter.« »Nur die Ruhe, Nummer Eins.« Jackson kannte das heißblütige Temperament seines spanischen Piloten. »Da drüben! Kein Zweifel diesmal!« Jackson zählte fünf oder sechs Teddys. Sie schienen nicht bewaffnet zu sein, auch wenn sich das aus der Entfernung schwer beurteilen ließ. Aber wenn es sich bei ihnen wirklich um einfache Werftarbeiter handelte, hatten sie auch keinen Grund, Waffen zu tragen. Der General spurtete los. Er wollte endlich ein paar Antwor‐ ten, die er nicht erhalten würde, wenn er kein Risiko einging. Sie befanden sich hundert Meter vor ihm. Hinter sich vernahm er einen unterdrückten Fluch von Rayes, der sich sofort an seine Fersen hef‐ tete. Als er die Hälfte der Strecke überwunden hatte, zuckte der Ausleger eines Krans von der Decke herab und setzte ein schweres Maschinenteil vor ihm ab. Rayes stieß einen warnenden Ruf aus. »Schon gut, Nummer Eins. Kein Angriff.« Jackson hatte nur zufällig den Arbeitsbereich des Krans gekreuzt, der an einem mächtigen Kabelbaum hing. Ohne anzuhalten, wich er dem abgesetzten Bauteil aus und verlor die Teddys für Sekunden aus den Augen. Als er den Ausleger umrundet hatte, hatte er das rückwärtige Ende der Halle beinahe erreicht. Die Toschis waren verschwunden.
»Das gibt es doch nicht«, murmelte er ungläubig und wandte sich an seinen Gefangenen. »Was für ein Spiel treibt ihr hier mit uns?« Zu seiner Überraschung erhielt er sogar eine Antwort. »Das ist kein Spiel. Unsere Leute haben Angst vor Eindringlingen wie euch. Du wirst noch früh genug merken, wie todernst wir eure Invasion neh‐ men.« »Invasion?« echote Sten. »Was für ein Unsinn.« »Wenn du meinst, Mensch.« »Sieht verlassen aus«, überlegte Rayes, der sich an Jacksons Seite gesellte. »Die Kerle haben sich in Luft aufgelöst. Aber immerhin scheinen wir diesmal die Auswahl zu haben.« Denn in der Wand zwanzig Meter vor ihnen waren mehrere tor‐ bogenähnliche Zugänge zu sehen. Offenbar waren die von ihnen ausgehenden Gänge ausnahmslos groß genug für die Menschen. In diesem Moment begann der nächste Angriff. * »In Deckung, Männer!« »Diese hinterhältigen Kerlchen haben also doch auf uns gelauert.« Rayes suchte nach einem Ziel und feuerte. Ein Teddy kippte hinter einer Verkleidung hervor, hinter der er sich halb verschanzt hatte, und blieb regungslos am Boden liegen. Auch Sten und Conelly handelten schnell und präzise. Da das Ge‐ lände übersichtlich und ihre Trefferchancen wesentlich größer waren als zuvor, stellten sie ihre Multikarabiner auf Strich‐Punkt‐Modus um. In Sekundenschnelle jagten sie mehrere Schüsse hinaus, bevor die attackierenden Toschi‐Kämpfer ihre Laserwaffen auch nur ein‐ mal abfeuern konnten. Unter Notrons entsetzten Blicken sank ein halbes Dutzend seiner Gefolgsleute betäubt zu Boden, ehe sie be‐ griffen, wie ihnen geschah. Jackson konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Sten und Conelly waren absolute Profis, die eiskalt und zielgerichtet vorgingen. Er
nickte ihnen anerkennend zu, als sie drei weitere Angreifer aus‐ schalteten. Wie auf ein stummes Kommando floh der Rest in blinder Panik. Einen derartigen Gegner, der ihnen so bedingungslos den Schneid abkaufte, waren die Pelzwesen offensichtlich nicht gewohnt. Die Männer sicherten die Umgebung und warteten eine Minute lang ab, doch nichts geschah. Die Toschis kehrten nicht zurück. »Aus Schaden wird man klug«, kommentierte Rayes. »Hoffentlich haben sie jetzt genug und fangen allmählich mal an zu denken.« »Daran zweifle ich.« Jacksons Blick wanderte zu den Torbögen. Er wünschte, es hätte einen Hinweis gegeben, welcher am vielverspre‐ chendsten war, doch sie unterschieden sich durch nichts voneinan‐ der. »Vorschläge, Nummer Eins?« Der Spanier hob ratlos die Schultern. »Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als uns auf unser Glück zu verlassen. Es sei denn, unser freundlicher Führer gibt uns einen Tip.« »Es ist gleichgültig, wohin ihr geht«, zischte Notron. »Ihr lauft immer weiter in die Falle.« Rayes nickte. »Da kann er leider recht haben, Sir. Dieses Herum‐ gestochere im Nebel behagt mir ganz und gar nicht.« Auch dem General war bei ihrem planlosen Vorgehen nicht ganz wohl. Sie entfernten sich immer weiter vom Schiff. Schon jetzt hatte er die Befürchtung, sich in dem unüberschaubaren unterirdischen Labyrinth verlaufen zu haben. »Wenn ich einen Vorschlag machen darf, Sir«, mischte sich Conelly ein. Jackson machte eine auffordernde Handbewegung. »Ich habe beobachtet, durch welchen Tunnel die Winzlinge ver‐ schwunden sind.« Der Soldat deutete zu einem bestimmten Durch‐ gang. »Mag sein, aber das ist kein Argument, ihnen zu folgen.« »Mit Verlaub, aber das sehe ich anders, Sir. Auch wenn die Kerl‐ chen uns weiterhin nicht mit offenen Armen empfangen, wissen wir zumindest, daß wir in dieser Richtung in absehbarer Zeit überhaupt
wieder auf jemanden treffen. Beim Benutzen der anderen Gänge laufen wir vielleicht stundenlang durch die Gegend und kommen doch keinen Schritt weiter.« »Die Überlegung hat etwas für sich«, stimmte Rayes zu. »Was sagst du dazu, Notron?« Jackson dachte über Conellys Worte nach, als er ein Zucken des Toschi‐Oberbefehlshabers bemerkte. »Ich will endlich runter«, ver‐ suchte das Pelzwesen seine instinktive Reaktion zu überspielen. Jackson brauchte nicht lange zu überlegen. Entschlossen deutete er in die Richtung, die Conelly vorgeschlagen hatte. Als die Männer diesen Weg einschlugen, rechneten sie damit, möglicherweise in einen weiteren Hinterhalt zu geraten, doch der Gang lag verlassen vor ihnen. Er war zu übersichtlich, als daß sich jemand darin hätte verstecken können. Mit leichter Neigung führte er gut fünfzig Meter geradeaus, bis er sich seitlich krümmte und in diffusem Zwielicht versank. »Hier müssen sie durchgekommen sein.« Eine runde Röhre lag vor den Männern, die nach wenigen Metern unvermittelt abbrach. Als sie sich dem rückwärtigen Ende näherten, verschob sich ein Segment des Untergrunds, und rötliches Licht flutete aus der Tiefe. Ein Schacht führte etwa fünf Meter tief hinab. »Die Rampe ist ziemlich steil.« Rayes deutete auf Metallsprossen, über die man hinabsteigen konnte. »Die Teddys können nur diesen Weg genommen haben. Anscheinend sind sie hier nach unten ge‐ klettert. Für meinen Geschmack sieht das nach einer Falle aus.« »Gibt es eine Antigraveinrichtung?« »Negativ, Sir. Und auch nicht nötig für uns. Wir können klettern oder springen.« Jackson spähte in die Tiefe und nickte. Daß am Grund des Schachts keine Toschis zu sehen waren, bedeutete gar nichts. Dies war die ideale Stelle für einen Hinterhalt. Dafür bot sie den Menschen eine Möglichkeit, die die kleinwüchsigen Gegner nicht hatten, weil für sie der Höhenunterschied viel zu groß war.
»Wir springen«, entschied er. »Wenn sie da unten auf uns lauern, bereiten wir ihnen eine böse Überraschung, denn damit rechnen sie bestimmt nicht.« Der Pilot nickte. »Ich gehe als erster.« »Nichts da, Sir. Da ist meine Aufgabe.« Ohne sich auf eine Diskus‐ sion einzulassen, drängte sich Sten an Rayes vorbei, ging in die Ho‐ cke und ließ sich fallen. Im Sekundentakt folgte ihm der Rest der Gruppe. Als Jackson federnd aufkam und sich abrollte, ließ er Not‐ ron keinen Spielraum für einen Fluchtversuch. Die warnenden Rufe seiner Soldaten bewiesen ihm, daß es die richtige Entscheidung ge‐ wesen war, den schnelleren Weg nach unten zu nehmen. Schon fauchten die ersten Schüsse. * »Die haben uns erwartet!« Kompromißlos setzten die beiden Soldaten ihre Multikarabiner ein und drängten die Angreifer zurück. Mehrere Toschis stieben schreiend auseinander und suchten nach Deckung. Bevor ihre Laser Schaden anrichten konnten, hatten Sten und Conelly bereits die Stellung gewechselt. Der umliegende Bereich war unübersichtlich und bot eine ganze Reihe von Deckungsmöglichkeiten. Bereits nach Sekunden tobte ein heftiges Feuergefecht. »Die haben uns nicht erwartet«, raunte Jackson seinem Ersten Of‐ fizier zu und deutete auf ein schweres Schott. Die starke Wach‐ gruppe der Teddy‐Soldaten war offenbar dazu abkommandiert, es zu bewachen. Er dachte an das verräterische Zucken Notrons. »Scheint so, als ob wir etwas Wichtiges entdeckt haben.« »Warum haben die Fliehenden uns dann hierher geführt?« »Unbeabsichtigt. Sie haben nicht damit gerechnet, daß wir ihnen folgen.« Jackson mußte den Kopf einziehen, als ein Laserstrahl in seine Richtung jagte. Inzwischen nahm er die Last, die Notron darstellte,
kaum noch wahr. Unter irdischen Bedingungen mochte der dreißig, maximal vierzig Kilo wiegen. Hier waren es nicht mehr als sechs oder sieben. Blitzschnell lief der General in geduckter Haltung ein Stück weiter, tauchte aus seiner Deckung auf und schaltete einen Angreifer aus. Bevor die anderen sich auf ihn einstellen konnten, hatten sie ihn schon wieder aus den Augen verloren. Plötzliche Schreie, die ebenso schnell wieder verstummten, zeigten ihm, daß es fast gleichzeitig weitere Toschis erwischte. Trotz ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit waren sie Jacksons kampferfahrenen Soldaten hoffnungslos unterlegen. Ihren Nachteil machten sie durch ihre Ortskenntnisse zumindest teilweise wett. Aus den Augenwin‐ keln registrierte der General eine Bewegung. Er fuhr instinktiv he‐ rum und starrte in die angeschlagene Waffe eines Gegners. Wo kam der Kleine her? Der eingeklemmte Notron stieß einen triumphie‐ renden Ruf aus. Jackson blieb keine Zeit, um lange nachzudenken. Mit einem Satz warf er sich aus der Schußbahn, ließ Notron los, rollte sich ab und feuerte. Der Angreifer wurde durch den Treffer aus nächster Nähe regelrecht von den Beinen gefegt. Jackson erkannte sofort, daß er trotz Paralysemodus tot war. Das hatte er nicht gewollt, aber er konnte sich deswegen auch keinen Vorwurf machen. Wer sich in Gefahr begab, kam eben manchmal darin um. »So haben wir nicht gewettet!« zischte er, als Notron die Gunst des Augenblicks nutzen und verschwinden wollte. Er hechtete hinter seinem Gefangenen her und bekam ihn mit der freien Hand zu pa‐ cken. »Du bleibst schön hier, denn ich bin sicher, daß wir dir diesen ganzen Schlamassel zu verdanken haben.« Notron gab einen grollenden Laut von sich, den der Translator nicht übersetzte. »Das wirst du noch bereuen, Mensch.« »Tu nichts ohne Rat und Überlegung, dann hast du dir nach der Tat nichts vorzuwerfen«, konterte Jackson mit einem Bibelzitat. Er entdeckte mehrere Toschis, die von Waffenfeuer getrieben aus einer
Deckung zurückwichen. Sie waren so verstört, daß sie trotz erhobe‐ ner Waffen nicht mehr schossen. »Verschwindet endlich!« schrie Conelly mit donnerndem Baß. »Oder wollt ihr euch alle für euren Oberbefehlshaber opfern?« Für einen Moment stockten die Teddys, als wollten sie sich berat‐ schlagen, dann drehten sie sich um und suchten das Weite. Die Waffenruhe wirkte beinahe unwirklich auf Jackson, der mit mehr Widerstand gerechnet hatte. Sie wurde jäh durchbrochen, als Notron die Stimme erhob. »Bleibt stehen, ihr Feiglinge!« keifte er wütend hinter seinen Ge‐ folgsleuten her und bäumte sich verzweifelt auf. »Kommt zurück und befreit mich, oder ich lasse jeden einzelnen von euch erschie‐ ßen.« Seine Worte verklangen erfolglos. Resignierend sackte er in Jack‐ sons Griff zusammen. »Da fangen also doch welche an zu denken«, kommentierte Rayes die Flucht der Toschis. »Du hast deine Leute wohl nicht richtig im Griff.« Jackson verzog nachdenklich das Gesicht. Eine unbestimmte Ah‐ nung sagte ihm, daß es sich nicht wirklich um Notrons Leute ge‐ handelt hatte. Zumindest waren sie ihm längst nicht so vorbehaltlos ergeben, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte. Was ging hier vor sich? Sein Blick blieb an dem stählernen Schott hängen. Es war nicht umsonst von einer starken Wachgruppe gesichert gewesen, auch wenn die gegen die vier Menschen letzten Endes auf verlore‐ nem Posten gestanden hatte. Er war überzeugt, auf der anderen Seite zumindest den Ansatz einer Antwort auf seine Fragen zu finden. »Alles in Ordnung, Sir?« Sten und Conelly hatten sich zu ihm gesellt. Trotz ihres Sieges be‐ hielten sie die Umgebung im Auge. Sie trauten dem Frieden nicht so recht. Jackson selbst war bei Notrons verstummtem Gekeife sicher, daß die Teddys nicht zurückkehren und sich auf einen weiteren Kampf einlassen würden. Er hatte das Gefühl, daß sie froh waren,
ihren Oberbefehlshaber los zu sein. »Alles in Ordnung«, bestätigte er und ging zu dem Schott hinüber. »Öffnen!« Die beiden Soldaten untersuchten das Schott, ohne einen Me‐ chanismus zu entdecken. Kopfschüttelnd gaben sie ihre Versuche zwei Minuten später auf. »Massiv, Sir. Da ist nichts zu machen«, meldete Sten. »Es gibt keine Bedienungseinrichtung. Vermutlich läßt sich das Tor nur mit einem elektronischen Impulsgeber öffnen.« »Den hast du nicht zufällig in der Tasche?« wandte sich der Pilot an ihren Gefangenen. »Es geht auch mit den Multikarabinern«, entschied Jackson sich für die Brachialmethode. »Umstellen auf Dust, meine Herren. Verschaf‐ fen Sie uns Zutritt.« Die beiden Soldaten nahmen die Umschaltung ihrer GEH&K Mark 10/62 vor und legten auf das massive Schott an. Als die olivgrünen Strahlen sich in das Metall fraßen und es aufzulösen begannen, wand sich Notron in Jacksons Griff. Es wurde immer deutlicher, daß er seine Felle davonschwimmen sah. Stück für Stück lösten die Duststrahlen das Schott auf und gaben den Blick auf eine große Halle dahinter frei. Ein gutes Dutzend Teddys hielt sich darin auf und war an die hintere Wand zurückge‐ wichen. Unschlüssig standen sie dicht beieinander. Aus großen Au‐ gen schauten sie den eindringenden Menschen entgegen. Jackson erkannte den Unterschied auf den ersten Blick. Diese To‐ schis unterschieden sich von allen, die sie bisher kennengelernt hat‐ ten, durch ihr Äußeres. Sie trugen keine Uniformen, sondern waren zivil gekleidet. Offenbar handelte es sich um Gefangene.
7. Vorsichtig stieg Jackson durch den ausgefransten Rahmen und sah sich in der Halle um. Bis auf die Toschis und ein paar Einrichtungs‐ gegenstände war sie leer. Die Insassen waren in bunte Gewänder gekleidet, die ihnen einen harmlosen Ausdruck verliehen. Obwohl dem General klar war, daß er auf solche Äußerlichkeiten normaler‐ weise nicht viel geben durfte, faßte er in diesem Fall unwillkürlich Zutrauen zu den Fremden. Es lag an ihm, dafür zu sorgen, daß diese Tatsache auf Gegenseitigkeit beruhte. »Waffen runter«, raunte er seinen Soldaten deshalb zu, die ihre Karabiner noch immer erhoben hielten. »Die haben auch keine.« Widerstrebend kamen die beiden Männer seinem Befehl nach, wi‐ chen aber nicht von seiner Seite, um sofort eingreifen zu können, wenn es sich als nötig erwies. Nach den vorangegangenen Erlebnis‐ sen blieb auch Rayes mißtrauisch. Er wies Conelly an, den Einstieg zu sichern, um keine böse Überraschung in ihrem Rücken zu erleben. Dichtgedrängt standen die Toschis zusammen, verunsichert und erschreckt zugleich, wie es Jackson schien. Sie tuschelten miteinan‐ der. Ihre Blicke gingen zwischen den Menschen und Notron hin und her. Der General stellte ihren Oberbefehlshaber auf die Beine, um sie nicht zu brüskieren. Er gab Rayes einen unauffälligen Wink, darauf zu achten, daß Notron keinen weiteren Fluchtversuch unternahm. Doch der machte keine Anstalten zur Gegenwehr. Im Angesicht seiner Artgenossen war er völlig in sich zusammengesunken und wirkte wie ein Häufchen Elend, das seine Niederlage eingesehen hatte. Auch wenn der General die Zusammenhänge nicht durch‐ schaute, hatte er das untrügliche Gespür, auf dem richtigen Weg zu sein. »Ich bin Thomas J. Jackson«, stellte er sich vor. »Meine Begleiter und ich sind mit einem Raumschiff gelandet und wurden von Not‐ ron in eine Falle gelockt.«
Die Blicke sämtlicher Teddys richteten sich gleichzeitig auf ihn. Verwunderung war in ihren großen Augen zu erkennen. »Du sprichst unsere Sprache?« fragte einer der Toschis erstaunt. Er trug einen besonders farbenprächtigen Umhang, mit dem er aus seinen Begleitern herausstach. »Dieses kleine Gerät ist dafür verantwortlich, daß wir einander verstehen«, erklärte der General den mitgeführten Translator. Mit wem hatte er es hier zu tun? »Wir sind Menschen vom Planeten Eden und kommen nicht als Gegner, wie Notron fälschlich annahm.« »Notron!« Die Namensnennung klang verächtlich. »Raton, wer sind diese Riesen?« erhob einer der anderen Teddys aus der Gruppe zaghaft die Stimme. »Sie machen uns Angst.« Die Worte bestärkten Jackson, es bei den in dieser Halle Ein‐ gesperrten nicht mit Feinden zu tun zu haben. »Dazu besteht keine Veranlassung. Wir kommen in friedlicher Absicht«, versicherte er und wandte sich an den Farbenprächtigen. »Dein Name ist also Ra‐ ton. Wenn ich nicht irre, bist du der Wortführer dieser Leute.« Raton zögerte. Jackson entging nicht, daß er mißtrauisch auf die Waffen der Menschen schielte. Da sie sie aber weggesteckt hatten beziehungsweise gesenkt hielten, gab er sich schließlich einen Ruck und richtete sich zu seiner ganzen Größe von sechzig Zentimetern auf. »Diese Leute, wie du sie nennst, bilden meine Regierung. Ich selbst bin der frei gewählte Präsident meines Volkes und Regierungschef von Rettungswelt.« Mit einem Schlag begann Jackson zu verstehen. »Und Notron?« fragte er, um sicherzugehen. »Notron ist ein Aufrührer und Verräter. Der Verbrecher hat eine Menge Anhänger aus Reihen des Militärs um sich geschart und weitere Toschis mit Drohungen in seine Dienste gezwungen.« »Er hat dich und deine Regierung überrascht und einsperren las‐ sen?« »Ich sehe, daß du verstehst, Mensch.« Raton betrachtete Notron
vorwurfsvoll. »Ihr habt ihn gefangengenommen?« »Uns blieb keine andere Wahl. Er hat uns ebenfalls angegriffen, um sich unser Raumschiff anzueignen. Nein, mach dir keine Sorgen. Es ist ihm nicht gelungen, sich auf diese Weise weiter zu verstärken, und seine Anhänger laufen ihm ebenfalls weg. Es wird euch nicht schwerfallen, sie dingfest zu machen.« Raton trat aus der Gruppe hervor und baute sich vor dem dreimal so großen Menschen auf. Ein vertrauensvoller Glanz trat in seine Augen, als er den Kopf in den pelzigen Nacken legte. »Also laßt ihr uns frei?« Jackson musterte Notron, der kein einziges Wort zu seiner Vertei‐ digung hervorgebracht hatte. Er brachte nicht einmal mehr die Kraft für einen Fluchtversuch auf. Vermutlich dämmerte ihm allmählich, daß es ein nicht wiedergutzumachender Fehler gewesen war, sich gegen die fremden Besucher zu stellen. Sein Schweigen war ein deutliches Eingeständnis seiner Schuld. »Wir haben kein Recht, euch festzuhalten. Wir…« »Sir!« rief Conelly vom zerstörten Schott her. »Draußen ziehen Teddys mit schweren Geschützen auf. Dagegen richten wir nichts aus.« Plötzlich straffte sich Notrons Gestalt wieder. »Das sind meine Anhänger«, verkündete er triumphierend. »Ich habe doch gesagt, du wirst es bereuen, Mensch. Dieser Moment kommt schneller, als du gedacht hast.« »Was können wir tun?« fragte Raton. »Wir würden euch gerne unterstützen, doch dazu fehlen uns die Möglichkeiten. Wir sind unbewaffnet und können uns nicht einmal gegen die Verräter ver‐ teidigen. Ihr habt es gut gemeint, doch nun seid ihr ebenso gefangen wie wir selbst.« »Noch haben wir Handlungsfreiheit«, hielt ihm Rayes entgegen. »Außerdem werden sie nicht blindwütig eindringen, um Notron nicht zu gefährden. Vielleicht sollten wir ihnen damit drohen, ihn zu erschießen, wenn sie sich nicht zurückziehen.«
Notron lachte schrill auf. »Ich kenne euch Menschen nicht, aber ich bin sicher, daß ihr das nicht tun werdet.« Da hatte er leider recht. Selbst wenn es sich nur um einen Bluff gehandelt hätte, war eine solche Erpressung nicht Jacksons Stil. Ratlos preßte der General die Lippen zusammen. Seine Einschätzung, daß von Notrons Anhän‐ gern keine große Gefahr mehr ausging, erwies sich als Irrtum. Sie holten zu einem letzten gewaltsamen Schlag aus, um ihren Anführer zu befreien. Wenn ihnen das gelang, hatte sich die Lage der Men‐ schen um keinen Deut verbessert. Gegen schwere Geschütze waren selbst Sten und Conelly mit ihren Multikarabinern machtlos. Da es offenbar keinen zweiten Ausgang aus der Halle gab, saßen sie in der Falle. Die einzige Option war, selbst in die Offensive zu gehen und einen Ausbruchsversuch zu wagen, bevor die Aufrührer sich in eine günstige Position gebracht hatten. In diesem Moment schlug Jacksons Armbandvipho an. York Me‐ rier war in der Phase. »Wir waren bewußtlos, haben die THOMAS jetzt aber wieder un‐ ter Kontrolle«, begann er. »Es gab ein paar Zwischenfälle an Bord. Toschis sind eingedrungen und…« »Keine Zeit für lange Erklärungen«, unterbrach Jackson ihn. »Sie melden sich genau im richtigen Moment. Wir werden angegriffen. Peilen Sie mein Vipho an, und schicken Sie vier Flash, die uns hier herausholen.« Grußlos unterbrach er die Verbindung und lief zum Schott hinü‐ ber, neben dem inzwischen auch Sten Position bezogen hatte. Erste Strahlenschüsse rasten durch die mannsgroße Öffnung im Metall. Erschrocken redeten die eingesperrten Toschis durcheinander. Bei ihrem Angriff auf die Menschen schreckten die Aufrührer nicht einmal davor zurück, Mitglieder der eigenen Regierung zu gefähr‐ den. »Das werden immer mehr da draußen.« Die beiden Soldaten kauerten links und rechts der Öffnung und nahmen die Angreifer unter Feuer. »Lange gelingt es uns nicht, sie aufzuhalten.«
Raton gab einen erstaunten Laut von sich, als etwas die rück‐ wärtige Wand durchdrang. Mit einem raschen Blick überzeugte sich Jackson, daß die erwarteten Flash eintrafen. Merier hatte keine Zeit verloren, sondern die Beiboote unverzüglich in Marsch gesetzt. Die Halle war groß genug, die vier Flash aufzunehmen. Nebeneinander setzten sie auf ihren dünnen Auslegern auf. »Ihr bereitet uns einige Überraschungen«, sagte Raton mit leuch‐ tenden Augen. »Nun verstehe ich, daß Notron euer Schiff stehlen wollte. Es darf ihm auf keinen Fall gelingen.« Als die zylinderförmigen Boote sich öffneten, packte Jackson sich den Anführer der Verräter und klemmte ihn sich in gewohnter Ma‐ nier unter den Arm. »Wir müssen hier weg. Raton, wir bringen dich in Sicherheit.« Der Regierungschef zögerte, weil er seine Leute nicht im Stich las‐ sen wollte. »Geh schon«, forderte ihn eines der Regierungsmitglieder auf. »Uns werden die Aufrührer nichts antun. Es wird ihnen auch wei‐ terhin ausreichen, uns festgesetzt zu haben. Sie sind nur hinter den Menschen her. Es ist wichtig, daß du wieder in Freiheit bist.« »Los jetzt, Raton. Uns bleibt keine Zeit für weitere Diskussionen. Nummer Eins, Sie nehmen Raton mit an Bord.« Jackson kletterte in einen Flash, der von einem jungen Holländer namens Johan Stap pilotiert wurde. Er ließ sich in den freien Sitz fallen und setzte sich Notron auf den Schoß. Sten und Conelly gaben ein paar ungezielte Schüsse nach draußen ab und liefen ebenfalls zu den wartenden Beibooten, die Sekunden später starteten. Als die Toschi‐Aufrührer in die Halle stürmten, drangen die Kleinstboote wie Geister durch die Wand und ver‐ schwanden. Ungläubig starrten die Pelzwesen dem unbekannten Phänomen hinterher. Da waren die Flash bereits auf dem Rückweg zur THOMAS. *
An Bord des tiefschwarzen Ovoid‐Ringraumers hatten sich die Verhältnisse inzwischen normalisiert. Die Belüftungsanlage hatte die verbliebenen Gasrückstände ausgefiltert, die Mannschaft war wieder vollständig einsatzbereit. York Merier, der die Betäubung nach dem heimtückischen Angriff als erster überwunden hatte, erstattete einen vollständigen Bericht, der Jackson nachträglich einen Schauer über den Rücken jagte. Wenn My One nicht durch puren Zufall von dem Gas verschont geblieben wäre, hätten sie die THOMAS verloren. Der General durfte sich die Konsequenzen gar nicht ausmalen. »Es tut mir leid, daß unser Volk euch auf diese Weise empfangen hat«, entschuldigte sich Raton, der den Bericht über den Translator mitverfolgt hatte. Angesichts der ungewohnten Schwerkraft fiel ihm das Sprechen schwer. Wie Notron, der zusätzlich mit A‐Gravfesseln fixiert war, saß er in einem Sessel, der viel zu groß für seine Kör‐ perabmessungen war. »Leid? Wieso leid?« keifte Notron. Obwohl er auf sich allein ge‐ stellt war, fand er allmählich seinen Mut zurück, da er begriffen hatte, daß die Menschen ihm nichts antun würden. »Sie sagen, sie kommen als Freunde, haben unsere Grenzschichtgänger aber be‐ denkenlos getötet.« Auch Raton war entsetzt angesichts der drei nackten Pelzwesen, die regungslos am Boden lagen. »Nur einer von ihnen ist tot«, korrigierte der Zweite Offizier Alain Sanet. »Aber dafür sind nicht wir verantwortlich. Er ist an seinem eigenen Gas erstickt. Die beiden anderen sind nur betäubt, damit sie keinen Schaden anrichten.« Medoroboter hielten die betäubten Toschis im Auge. Jackson hatte sie angewiesen, ihnen eine Injektion zu verabreichen, sobald ihre Paralyse nachließ. Solange er nicht genau wußte, was es mit ihnen auf sich hatte, hielt er es für sicherer, wenn sie nicht zu sich kamen. Sie waren aus dem Nichts an Bord aufgetaucht, also mochten sie auf die gleiche Weise auch wieder verschwinden, wenn man sie nicht
hinderte – nur um dann womöglich weitere feindselige Aktionen einzuleiten. »Das ist Barbarei«, ereiferte sich der selbsternannte Oberbe‐ fehlshaber der Teddys. »Ich dulde nicht…« »Was duldest du nicht?« Notron verstummte, als sich Conelly drohend vor seinem Sessel aufbaute. Die bloße Präsenz des grimmig dreinschauenden Soldaten erzielte seine Wirkung. Jackson nickte, als Merier mit einem Gürtel ankam, den er dem Regierungschef umlegte. Die Wirkung des eingebauten A‐Gravgenerators, der auf 0,17 Gravo eingestellt war, setzte sofort ein und verschaffte dem Regierungschef Linderung gegen die un‐ gewohnte Schwerkraft. Raton richtete sich in seinem Sitz auf und bewegte sich vor und zurück, als er die gewohnten Werte spürte. »Ihr habt uns einiges voraus«, stellte er beeindruckt von der terra‐ nischen Technik fest und zeigte auf die Bewußtlosen. »Könnt ihr auch für die Grenzschichtgänger die Gravitation senken?« Jackson dachte kurz nach und entschied sich dagegen. »Sie leiden keinen Schaden, auch wenn sie später vielleicht einen Brummschädel haben.« »Du nanntest sie Grenzschichtgänger«, kam Sanet der nächsten Frage des Generals zuvor. »Was bedeutet diese Bezeichnung?« »Das geht die Menschen nichts an«, warf Notron grollend ein. Der Regierungschef ignorierte den Verräter, der ihm gewaltsam seines Amtes beraubt hatte. »Um das zu begreifen, muß ich 500 Jahre in unserer Geschichte zurückgehen«, erklärte er. »Damals bemerkten unsere Vorfahren, daß die Strahlung in der Galaxis immer weiter anstieg.« Jacksons Gedanken überschlugen sich. Die galaktische Strahlung. Mit ihr hatten auch die Menschen so wie alle anderen Völker in der Milchstraße zu kämpfen gehabt. Viele von ihnen waren im Laufe der Jahre vor den Strahlenstürmen in den scheinbar sicheren Halo der Milchstraße geflohen und kehrten erst nach deren Verschwinden zu ihren Heimatwelten zurück. Mit einem dieser heimkehrenden Völ‐
ker, den aggressiven Buccaneers oder Kartak, wie sie sich selbst nannten, hatte Jackson vor zweieinhalb Jahren unliebsame Be‐ kanntschaft gemacht, als sie versucht hatten, die Erde und Eden zu erobern. * Er verscheuchte die Erinnerung, als Raton mit seiner Schilderung fortfuhr. »Unsere Heimatwelt war nicht mehr sicher. Unsere Wissen‐ schaftler zeichneten düstere Visionen für unser Volk, sollten wir keine neue Heimat finden, der die Strahlenstürme weniger zu‐ setzten. Sie sahen nur eine Möglichkeit. Wir mußten unseren Plane‐ ten verlassen und anderswo neu anfangen. Erst kurz zuvor hatten wir Raumschiffe mit einem Sprungantrieb entwickelt, der 1,7 Licht‐ jahre überwinden konnte.« »1,7 Lichtjahre?« fragte Rayes, der Ratons Worten ebenso gebannt lauschte wie der Rest der anwesenden Offiziere. Er warf dem Gene‐ ral einen vielsagenden Blick zu. 1,7 Lichtjahre. Die Geschichte wiederholte sich, denn natürlich war das kein zufälliger Wert. Auch die Terraner hatten zunächst diesen Überlichtantrieb entdeckt und ihn auf den Namen »Time«‐Effekt getauft. Da er bis zum heutigen Tag nur ansatzweise erforscht war und zudem ausgereifte Alternativen zur Verfügung standen, wurde er in der irdischen Raumfahrt kaum noch eingesetzt, nachdem Sam Dharks GALAXIS im Mai 2051 durch eine Fehlfunktion dieses Ant‐ riebs über 4300 Lichtjahre weit ins Unbekannte geschleudert worden war. Erst in jüngster Zeit griff die Schwarze Garde bei ihren Kurz‐ streckenbooten wieder auf den inzwischen stark verbesserten »Ti‐ me«‐Effekt zurück. Der Toschi sah Rayes aus seinen großen Augen fragend an. »Die Frage klingt so, als ob auch euch diese Entfernung nicht unbekannt ist.« Jackson lächelte. »Das ist eine andere Geschichte. Fahre doch bitte mit deiner Schilderung fort.« *
Siehe Ren Dhark Sternendschungel Galaxis Band 1 »Der goldene Planet« und Band 6 »Transmitterüberfall«
»In ihrer Verzweiflung schickten unsere Vorfahren eine Reihe von Forschungsschiffen aus«, kam Raton der Aufforderung bereitwillig nach. »Die anfänglichen Expeditionen brachten keinen Erfolg, und sie waren bereits der Aufgabe nahe. Doch schließlich entdeckten sie einen planetenlosen Mond, der durchs All trieb. Er befand sich auf einem Kurs, der ihn immer weiter aus der Galaxis hinausführte. Sie tauften ihn auf den Namen Rettungswelt und bauten ihn nach un‐ seren Bedürfnissen aus. Nach und nach siedelte unser ganzes Volk mit unseren Diskusschiffen hierher um. Anfangs hatten wir Proble‐ me, da wir an die 0,7 Gravo unseres Heimatplaneten gewöhnt war‐ en, doch im Laufe der Zeit stellten wir uns auf die geringe Schwer‐ kraft hier um. Uns blieb nichts anderes übrig, da wir im Gegensatz zu euch Menschen nicht über die Möglichkeit der Schwerkraftma‐ nipulation verfügen.« »Das ist immer noch keine Erklärung für die Grenzschichtgänger«, warf Sanet ein. »Vielleicht doch. Immerhin leben wir nun seit 400 Jahren unter Bedingungen, die wir ursprünglich nicht gewohnt waren. Untersu‐ chungen zufolge ist das nicht gut für unser Volk. Schon seit gerau‐ mer Zeit gehen die Geburtenraten zurück. Immer wieder kommt es zu Fehlgeburten und anderen Geburtsfehlern, die häufig tödlich verlaufen. Es gibt eine Menge von geistigen und körperlichen De‐ generationen, aber die Geburt der drei Grenzschichtgänger könnte darauf hinweisen, daß die Toschis sich verändern. Vielleicht passen wir uns den veränderten Bedingungen an.« »Hm«, machte Jackson nachdenklich. Bei diesen sogenannten Grenzschichtgängern schien es sich um Mutationen zu handeln. Er fing an zu verstehen, wie es ihnen gelungen war, unbemerkt mit ihrer gefährlichen Fracht an Bord der THOMAS zu gelangen. »Sie sind also in der Lage, sich an einen anderen Ort zu versetzen.« »Das ist ihre Fähigkeit. Allerdings können sie nicht weiter als 300 Meter gelangen.« Wie auch die zuvor genannten Lichtjahr‐ und Zeitangaben hatte der Translator eine Umrechnung vorgenommen
und die Angaben in irdische Werte übersetzt. »Dabei gibt es für sie keine Hindernisse?« »Nur energetische Schutzschirme. Die können die Grenz‐ schichtgänger nicht durchdringen.« Intervallfelder vermutlich also auch nicht, überlegte der General. Zu‐ mindest gab es also eine Sicherheit gegen die Fähigkeit, die ihm ziemlich unheimlich war. Auf diese Weise könnte immerhin eine ganze Armee an Bord gelangen. Rayes war neben die Bewußtlosen getreten. »Aber wieso sind sie nackt? Ich meine… bis auf ihr Fell.« »Sie können nur ihren Körper selbst versetzen«, erklärte Raton. »Und das, was vollständig davon umschlossen ist.« »Deshalb trugen sie die Gasbomben im Mund.« Jackson nickte. Etwas Ähnliches hatte er sich nach den anfänglichen Erläuterungen bereits gedacht. »Nur auf diese Weise konnten sie sie mit sich füh‐ ren.« Die Tatsache, daß die Grenzschichtgänger sich einem Aufrührer wie Notron angeschlossen hatten, behagte ihm ganz und gar nicht. Doch zum Glück war es gelungen, sie auszuschalten, bevor es zum Äußersten gekommen war. »Existieren nur diese drei?« »Soweit wir wissen ja. Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß sich weitere Grenzschichtgänger unerkannt verborgen halten, wenn ich mir auch keinen Grund dafür vorstellen kann.« »Vielleicht um nicht ebenfalls mißbraucht zu werden wie die drei dort«, überlegte Merier wenig diplomatisch. Jackson konnte nicht umhin, ihm zuzustimmen. »Wir haben sie niemals mißbraucht. Wir haben sogar versucht he‐ rauszufinden, was hinter ihrer Veränderung steckt«, verteidigte sich Raton. »Als wir mit ihrer Existenz konfrontiert wurden, beschloß ich, ein Raumschiff in die Milchstraße zu schicken, um weitere Messun‐ gen und Untersuchungen der Strahlenstürme vornehmen zu lassen. Leider kam es immer wieder zu Pannen beim Bau und in der Vor‐ bereitung.«
»Nicht von allein, wenn ich mich nicht irre«, mischte sich Funker Grissom Lewald ein. »Da hatte doch jemand seine kleinen Finger im Spiel.« Raton sah auf, als Notron ein glucksendes Geräusch von sich gab, das der Translator als Lachen interpretierte. Der Regierungschef erhob sich aus seinem Sessel und begab sich zu dem Aufrührer. Er sah seinen Gegner lange an und wandte sich schließlich wieder ab. »Du kannst dir deine Schadenfreude sparen, du Verräter. In‐ zwischen ist mir klar, daß du für die Pannen verantwortlich warst. Trotzdem waren deine Sabotageaktionen sinnlos.« »Also ist euer Forschungsschiff gestartet?« erkundigte sich Jackson. »Vor zwei Jahren war es soweit«, bestätigte der Toschi. »Vor einem Jahr kehrte das Schiff zurück. Es überbrachte eine überraschende Erkenntnis, mit der niemand von uns gerechnet hätte. In der Galaxis gibt es keine Strahlung mehr. Die Gefahr ist verschwunden. Damit gibt es auch keinen Grund mehr für unseren Exodus, und eigentlich könnten wir in unsere angestammte Heimat zurückkehren. Doch damit fingen unsere Probleme erst richtig an.« Jackson nickte. Er konnte sich vorstellen, worauf Raton anspielte. Das eigentliche Problem hieß Notron. * »Es gab unterschiedliche Meinungen über die Zukunft der To‐ schis.« Raton ließ sich wieder in seinem Sessel nieder. »Ja, so war es. Ge‐ meinsam mit der Regierung hatte ich beschlossen, zu unserer Hei‐ matwelt zurückzukehren. Warum sollten wir künftig weiter durchs All treiben, wenn unserer Heimat keine Gefahr mehr drohte? Doch nicht alle waren dieser Ansicht.« Jackson konnte sich den Fortlauf der Geschichte vorstellen, doch er wollte seinem Gast nicht vorgreifen. »Es war Notron, der nicht dei‐ ner Meinung war«, sagte er nur.
»In der Tat. Er argumentierte, die Gefahr könne jederzeit wieder auftreten. Dann müßten wir erneut fliehen, vielleicht mit weniger Glück als bei unserem ersten Exodus. Doch ich begriff rasch, daß das nur fadenscheinige Beweggründe waren«, bestätigte Raton. »Tat‐ sächlich hatte er ganz andere Interessen im Auge, nämlich seine eigenen. Er wollte schlicht und einfach seine Macht nicht mehr ab‐ geben. Auf Rettungswelt unterstand das Militär zwar theoretisch der Zivilregierung, hatte aber faktisch die Macht in Händen. Notron wußte, daß sich dieser Zustand in der Heimat ändern würde, und rebellierte deshalb gegen die Regierung. Da wir nicht mit einem solchen Vorgehen gerechnet hatten, fiel es ihm leicht, uns zu über‐ rumpeln und einzusperren.« »Wer waren die Besatzungen der Diskusraumer, die eure Stellun‐ gen am Boden beschossen haben?« »Regierungstreue Einheiten, denen es im letzten Moment gelungen ist, die Kampfschiffe unter ihre Kontrolle zu bringen und von Ret‐ tungswelt zu starten. Vor eurem Auftauchen waren sie das letzte Hindernis, das Notron noch davon abhielt, endgültig die Herrschaft über Rettungswelt zu übernehmen.« »Uns gegenüber hat er die Besatzungen der Diskusraumer als die Rebellen bezeichnet.« Der General erkannte, daß er mit seinem Ein‐ greifen nach der Entdeckung von Solitude einen Fehler begangen hatte. Ohne es zu wissen, hatte er die Aufrührer mit der Feuerkraft der überlegenen THOMAS unterstützt. »Ich bleibe auch dabei«, beharrte Notron auf seinem Standpunkt. »Die Rückkehr in die Heimat ist Rebellion. Die einmal getroffene Entscheidung kann nicht wieder rückgängig gemacht werden. Heute so und morgen so, das geht nicht.« »Es geht so, wie es die frei gewählte Regierung beschlossen hat.« »Aber nicht, wenn die Regierung ihre eigenen Entscheidungen umwirft, wie es ihr gerade gefällt. Es war meine Pflicht, im Interesse der Toschis einzugreifen.« »Indem du einen Bürgerkrieg heraufbeschwörst?« Empörung über
seinen Widersacher schwang in Ratons Stimme mit. »Nie zuvor ha‐ ben Toschis gegen Toschis gekämpft. Du hast die zivile Bevölkerung als Geisel genommen.« »Schluß jetzt!« Das Wortgefecht der beiden Teddys nervte Jackson. Ein Streit brachte sie nicht weiter. Er dachte an die 1,5 Kilometer durchmessenden Diskusschiffe an der Mondoberfläche. »Raton, die großen Schiffe dienen der Rückführung der Toschis in die Heimat?« »Das ist der einzige Zweck, zu dem sie konstruiert wurden.« »Also war eine solche Möglichkeit von vornherein einkalkuliert«, folgerte Rayes. Notron gab ein verächtliches Schnauben von sich. »Das ändert gar nichts.« In Jacksons Augen hingegen sprach diese Tatsache für sich. Sie be‐ stätigte Ratons Ansprüche in jeder Hinsicht. Notron hingegen war das, was sogar ein General wie Jackson selbst als sturen Kommißkopp bezeichnet hätte. Dennoch fragte er sich, ob er das Recht hatte, sich in diese Ausei‐ nandersetzung einzumischen. »Sir! Sehen Sie sich das an!« Meriers Stimme riß ihn aus seinen Gedanken. Unwillkürlich ging sein Blick zum Bildschirm. Noch immer hielten uniformierte Teddys den Hangar besetzt, in dem die THOMAS lag. Jetzt zogen sie sich ein wenig zurück und machten Platz für ein schweres Lasergeschütz, das auf transportablen Lafet‐ ten in den Hangar bugsiert wurde. »Sollen wir starten, Sir?« fragte Rayes, der bereits im Pilotensitz Platz genommen hatte. »Wir können auch ihr Arsenal mit einem gezielten Feuerschlag außer Gefecht setzen«, bot Merier in seiner Funktion als Waffenleit‐ offizier eine Alternative an. »Wir haben eine befestigte Stadt. Zu unserem Schutz baute der Herr Mauern und Wälle.« Zur Untermalung seines Zitats schüttelte Jackson in aller Ruhe den Kopf. »Selbst mit ihren schwersten Waffen können sie uns nichts anhaben. Ich hoffe, sie sind klug genug, das
einzusehen. Wir bleiben ruhig und unternehmen nichts. Mal sehen, wie weit sie gehen.« Gleich mehrere Dutzend Toschis brachten die schweren Geschütze in Stellung. Der General beobachtete ihr Vorgehen mit dem gleichen unguten Gefühl wie Raton. Er konnte sich nicht vorstellen, daß die Pelzwesen wirklich so dumm waren, das Feuer auf den schwarzen Riesen zu eröffnen. Ihnen mußte klar sein, daß ein einziger Feuer‐ schlag ihrer aller Leben beenden konnte, wenn die THOMAS sich wehrte. Natürlich hätte Jackson eine solche Handlungsweise niemals auch nur in Betracht gezogen, doch das konnten die Teddys nicht wissen. »Nimm doch Vernunft an«, beschwor Raton seinen Gegner. »An‐ scheinend folgt dir das Militär vorbehaltlos. Also bist du auch der einzige, der diesen Wahnsinn mit einem Befehl beenden kann. Du darfst zu deinen Leuten sprechen, wenn du ihnen befiehlst, die Waffen niederzulegen.« »Wahnsinn? Der einzige Wahnsinn ist dein Widerstand«, höhnte Notron. »Gesteh deine Niederlage ein und ergib dich meinen Leuten. Dann werde ich dich verschonen. Andernfalls wirst du mitsamt deinen neuen Freunden weggefegt.« Jackson schüttelte verständnislos den Kopf. Der Anführer des To‐ schi‐Militärs hatte jeglichen Sinn für die Realität verloren. Da er den Kampf der THOMAS gegen die Diskusraumer miterlebt hatte, kannte er deren Stärke. Nur ein machtbesessener Irrer konnte diese Überlegenheit ignorieren. »Sir, die Teddys eröffnen das Feuer.« Meriers Stimme war schwer wie Blei. »Diese Narren begreifen nicht, was sie tun! Sie beschwören ihren eigenen Untergang herauf.« Draußen im Hangar brach die Hölle los. * Baumstammdicke Strahlen fluteten gegen die von keinem Schirm
geschützte Hülle der THOMAS und richteten… … nichts an. Das Feuer aus den schweren Batterien konnte die Hülle nicht ein‐ mal ankratzen. Der Verbundwerkstoff aus Kohlefaser und minima‐ len Beimengungen an Tofirit verkraftete Temperaturen von 200.000 Grad Celsius sowie jede erdenkliche mechanische Belastung. Win‐ zige Sonnen bildeten sich dort, wo die Strahlenbündel nach der pechschwarzen Carborithülle griffen und diese völlig unbeeindruckt ließen. Die Strahlen wurden zurückgeworfen und jagten auf bizarren Bahnen durch den Hangar. Querschläger zuckten hin und her. Bin‐ nen Sekunden verwandelte sich der Hangar in eine kochende Hölle. Blasenwerfend verformten sich die Wände, verwandelte sich der Boden an manchen Stellen in einen glutflüssigen Untergrund. Raton schrie entsetzt auf, als die Besatzung eines Lasergeschützes von einem reflektierten Strahl getroffen und mitsamt dem Fahrzeug in kochendes Gas verwandelt wurde. Der Tod kam schneller, als die Toschi‐Soldaten ihn begreifen konnten. Einige Fußtruppen taumelten schreiend umher, am ganzen Körper verbrannt. Sie tappten blind durch die Gegend und rannten sich gegenseitig über den Haufen. Sie waren bereits tot, sie wußten es nur noch nicht. Jackson preßte die Lippen zu zwei blutleeren Strichen zusammen. Die Knöchel an seinen zu Fäusten geballten Händen traten weiß hervor. Die Schreie der Unglücklichen bohrten sich wie Speere in seinen Verstand, und es dauerte einige Sekunden, bis er begriff, daß er nur einen Nachhall in seinem Kopf vernahm. Lewald hatte mit einer entschlossenen Handbewegung die Au‐ ßenmikrofone abgeschaltet. Gespenstisch leise nahm die Tragödie ihren Fortgang. Nur Sekunden waren vergangen. Die Toschis schossen nicht mehr. Diejenigen, die noch dazu in der Lage waren, flohen in blinder Panik aus dem Hangar, in dem selbst die Luft kochte.
»Das ist eure Schuld!« Trotz seiner Fesseln und der für ihn hohen Schwerkraft bäumte Notron sich in seinem Sitz auf. »Ihr Menschen seid Mörder! Raton, du bist ein Mörder!« Wie in Zeitlupe drehte sich der Regierungschef zu seinem Gegner um. Er zitterte am ganzen Leib. Jackson erkannte, daß Raton nahe daran war, die Kontrolle über sich zu verlieren und sich auf den Wehrlosen zu stürzen. »Du bist es, der dafür bezahlen wird, Not‐ ron«, brachte er tonlos hervor. »Ich werde dich dafür zur Rechen‐ schaft ziehen.« Teile des Hangars standen in Flammen. Dichter Rauch breitete sich aus, wo automatische Löscheinrichtungen das Feuer bekämpften, und machte eine Außenbeobachtung beinahe unmöglich. Ohnehin hatte Jackson genug gesehen. Noch immer konnte er nicht glauben, was geschehen war. Er machte sich Vorwürfe, nicht auf Rayes’ Vor‐ schlag gehört zu haben und mit der THOMAS aus dem Hangar ge‐ flohen zu sein. Dann wäre es nicht zu diesem Massaker gekommen. Gleichzeitig faßte er einen Entschluß, von dem ihn nichts mehr abhalten konnte. Ratons Regierung hatte Unterstützung verdient, damit dieser Irrsinn beendet wurde. »Nummer Eins, wir starten im Intervallflug!« ordnete er an. »Wir haben noch etwas zu erledigen.« Zu lange hatte er gezögert. Damit war es nun vorbei.
8. Wie ein Racheengel umkreiste die THOMAS Solitude. Durch ihren Tarnschutz war sie nicht nur dagegen gefeit, angemessen zu werden. Ihre schwarze Carborithülle gewährte zudem einen optischen Sicht‐ schutz. Man mußte schon sehr nahe an sie herankommen, um sie zu entdecken. Diesen Umstand machte Rayes sich zunutze, als er das Schiff in großer Entfernung zum Mond nach den Vorgaben der Or‐ tung steuerte. »Ziel anvisiert«, kommentierte York Merier, als er seine Waf‐ fensysteme auslöste. »Feuer!« Blaßblaue Strich‐Punkt‐Strahlen rasten aus den Antennen licht‐ schnell auf die Oberfläche von Solitude hinab und fanden ihr Ziel, eine Laserstellung der Toschis. Rein äußerlich trat keine Verände‐ rung ein, doch jedermann in der Zentrale des Carboritraumers kannte die Trefferwirkung. »Feuerintensität konstant bei den berechneten Werten?« fragte Jackson. Unbeweglich verfolgte er den Verlauf der bläulichen Strah‐ len, die in der Schwärze des Alls deutlich zu sehen waren. Bei nor‐ malem Tageslicht hingegen hätte man sie kaum wahrgenommen. »Positiv«, bestätigte der Dritte Offizier. Jackson nickte zufrieden. Die Intensität von Strich‐Punkt ließ sich von paralysierend bis tödlich regulieren. Für die einem Menschen körperlich weit unterlegenen Teddys hatte man eine auf ihre Kons‐ titution abgestimmte Stufe gewählt, die ausreichte, sie für einige Stunden ins Reich der Träume zu schicken. »Nächstes Ziel ansteuern, Nummer Eins!« Der General konnte sich die hektische Aktivität vorstellen, die bei den Militärs an der Mondoberfläche ausbrach. Allein – sie half den Toschis nicht. Sie waren dazu verdammt, tatenlos mit anzusehen, wie eine Laserstellung nach der anderen ausgeschaltet wurde. Ihre Kampfschiffe trieben nach wie vor im All, mit paralysierten Besat‐
zungen, die zumal nicht Notron angehörten, sondern Raton und der Regierung ergeben waren. Inzwischen mußten dort die ersten Be‐ satzungsmitglieder wieder zu sich kommen. Er warf Notron einen beiläufigen Blick zu. Anfangs, als der Verrä‐ ter den Plan gehört hatte, hatte er einen Tobsuchtsanfall bekommen, weil er nichts gegen das drohende Verhängnis tun konnte. Doch der hatte ihn bei der ungewohnten Schwerkraft so viel Kraft gekostet, daß er inzwischen zu keiner Regung mehr fähig war. Wie ein nasser Sack hing Notron in seinem Sessel. Er war so hilflos wie seine Un‐ tergebenen in ihren Geschützstellungen. Jackson verfolgte, wie Merier die nächste Stellung unter Feuer nahm. Der Vorgang bis zur Vollzugsmeldung dauerte nur Sekun‐ den, dann beschleunigte Rayes den Ovoidraumer und jagte ihn dem nächsten Ziel entgegen. Die Aktion lief planmäßig und ungefährdet ab, so daß Jackson den nächsten Schritt einleiten konnte. Er öffnete eine Phase zu den Flashdepots. Die Piloten hatten die Beiboote bereits bemannt und warteten nur noch auf ihren Einsatz‐ befehl. Wie für den Rest der fünfzigköpfigen Stammbesatzung war auch für sie der Erprobungsflug unversehens zum Ernstfall gewor‐ den. »Es geht los, Männer«, erteilte Jackson den Startbefehl. »Viel Glück.« Sekunden später zeigte die Bildkugel die in den Raum gestarteten Beiboote. Mit eingeschalteten Intervallfeldern setzten sie Kurs auf Solitude. Gleichzeitig arbeiteten Rayes und Merier Hand in Hand und schalteten die verbliebenen Laserstellungen aus. Die Flash hat‐ ten freie Bahn. »Bist du bereit, Raton?« erkundigte sich der General. »Ich kann es kaum mehr erwarten, endlich aufzubrechen, Freund Jackson.« In den Augen des Regierungschefs funkelte es unterneh‐ mungslustig. »Es wird Zeit, daß ich zu meinen Gefolgsleuten komme und ihnen den Stand der Dinge erkläre.« Jackson erhob sich aus dem Kommandantensessel. »Dann laß uns
aufbrechen, bevor die Besatzungen eurer Kampfschiffe aus Unwis‐ senheit einen sinnlosen Angriff gegen die Bodenstellungen von Rettungswelt fliegen.« Gemeinsam begaben sie sich zu einem startbereiten Flash, der für Jackson und seinen Gast bereitstand. * Die Koordinatenpeilung von General Jacksons Vipho war in die Rechner sämtlicher Flash überspielt worden. Johan Stap verließ sich auf die Automatik, die den kleinen Verbund im Intervallflug syn‐ chron steuerte. Eine manuelle Übernahme war nur für den Fall vor‐ gesehen, daß ein unerwarteter Zwischenfall eintrat. Mißtrauisch behielt er den Bildschirm über seinem Kopf im Auge. Rasend schnell wurde Solitude größer. Kaum ein Detail ließ sich an der Oberfläche des schwarzen Mondes erkennen. Der Holländer hatte keine Einwände, solange es sich bei der ersten konkreten Wahrnehmung nicht um einen gebündelten Laserstrahl handelte, der von Solitude kam und nach den anfliegenden Flash griff. Es war ein seltsames Gefühl, einem festen Himmelskörper ungeb‐ remst entgegenzurasen. Obwohl man genau wußte, was geschah, blieb ein Hauch von archaischen Zweifeln, daß sich eine solche Kol‐ lision auch mit der High Tech der Worgun nicht verhindern ließ. Ganz würde sich Stap vermutlich nie an den Gedanken der Durch‐ dringung gewöhnen, die das vom Intervallfeld erzeugte Zwischen‐ kontinuum ermöglichte. Erst als der Flash im Boden versank, wurde die Theorie für seinen Piloten einmal mehr zur Wirklichkeit. Daß er beim Anflug nicht beschossen worden war, war gleichzeitig die Bestätigung für die Inaktivität der Laserstellungen. Die THOMAS hatte ganze Arbeit geleistet. Schwärze wechselte sich in rasender Folge mit den schlag‐ lichtartigen Impressionen von künstlich erschaffenen Hohlräumen
ab. Der Reizstrahl gewährleistete auch in diesem Zustand die opti‐ sche Wahrnehmung und ließ den Piloten an der Außenwelt teilha‐ ben. Nur folgten die wechselnden Eindrücke bei dieser Geschwin‐ digkeit viel zu schnell aufeinander, um sie aufnehmen und verar‐ beiten zu können. Stap konnte nur hoffen, daß die Gefangenen nicht an einen ande‐ ren Ort verlegt worden waren. In den unterirdischen Anlagen sah er kaum eine Chance, sie zu entdecken. Der Befreiungsversuch basierte auf der Annahme, daß die Rebellen nicht mit einer solchen Aktion rechneten und keine entsprechenden Maßnahmen in die Wege ge‐ leitet hatten. Dann bremste der Flash mit Irrsinnswerten ab. Ehe Stap sich ver‐ sah, hatte er minimale Geschwindigkeit erreicht, sank durch eine letzte Trennschicht, setzte auf und kam zum Stillstand. Um ihn lag die Halle, die der Pilot von seinem ersten Rettungsflug her kannte. Wachhabende Offiziere, erkannte er mit einem raschen Blick auf den Bildschirm, der ihm einen Überblick über die Halle lieferte. Sie waren vor dem zerstörten Schott postiert und schreckten beim Anb‐ lick der Eindringlinge auf. Damit hatte Stap gerechnet. Mit fliegenden Handbewegungen ak‐ tivierte er die Bordgeschütze. Bevor sie einen Schuß abgeben konn‐ ten, sanken die Wachen zu Boden. Als keine weiteren von draußen nachrückten, richtete der Pilot seine Aufmerksamkeit auf die Re‐ gierungsangehörigen der Teddys. Er identifizierte sie anhand ihrer farbenprächtigen Kleidung, die im krassen Gegensatz zu den Uni‐ formen der Militärs stand. Gleich neben ihm waren die anderen Flash gelandet. Er öffnete das Beiboot und sprang ins Freie. Aus einigen Metern Entfernung erschienen die Pelzwesen tatsäch‐ lich wie irdische Teddys, wie man sie auf der Erde millionenfach in Kinderzimmern fand. Nur daß diese hier lebten und mit Intelligenz gesegnet waren. Schon lösten sich die ersten aus ihrer Erstarrung und kamen zu ihm herüber. Mit einem raschen Blick vergewisserte sich Stap, daß seine Kolle‐
gen ihre Flash ebenfalls geöffnet hatten. Im Gegensatz zu ihm stiegen sie jedoch nicht aus, sondern warteten an Bord auf ihre Passagiere. »Wo ist Raton?« fragte einer der Toschis. »Euer Regierungschef ist in Sicherheit. In diesem Moment befindet er sich auf dem Weg zu eurem Flaggschiff. Wir sind hier, um euch zu holen und auf die Schiffe eurer Flotte zu verteilen.« Angesichts des kleinwüchsigen Wesens, auf das er herabschauen mußte, fühlte Stap sich seltsam berührt. Beim direkten Kontakt mit einem Wesen, das dreimal so groß war wie er und mit dem er noch nie zu tun gehabt hatte, wäre ihm selbst ganz schön die Muffe gegangen. »Dann machen wir, daß wir hier wegkommen.« Sein Respekt vor den Kleinen, wie er sie im Stillen nannte, wuchs gewaltig. »Verteilt euch«, forderte er die Toschis auf, die sich ihrem Wort‐ führer mittlerweile angeschlossen hatten. »Jeweils zwei Mann in ein Beiboot.« »Johan, Vorsicht!« Der Warnruf kam von einem seiner Pilo‐ tenkollegen. In der Schottöffnung entstanden hektische Bewegungen. Unifor‐ mierte Teddys sprangen in die Halle. Das Bordgeschütz eines Flash spie Strich‐Punkt und bestrich den Bereich um das zerstörte Schott. »Los jetzt! Bewegt euch!« trieb Stap die Gefangenen an. »Jeden Moment kann Verstärkung kommen!« Die Teddys rannten los. Beim Einstieg in die Flash streckten sich ihnen die hilfreichen Hände der Piloten entgegen und zogen sie ins Innere. Gehetzt sah Stap sich um. Keine weiteren Angreifer bisher. Er sprintete zu seinem Flash und schwang sich hinein. Mit einem letzten Rundblick überzeugte er sich davon, keinen Gefangenen vergessen zu haben, als auch schon die ersten Beiboote vom Boden abhoben und sich in ihre Intervalle hüllten. »Da kommen sie«, rief Staps Passagier. Laserstrahlen sirrten durch die Halle und drangen widerstandslos durch die Intervalle, ohne die darin eingehüllten Beiboote berühren zu können. Sie richteten keinen Schaden an.
Wie Geister entschwanden die Flash durch die Wand. * Ein einsamer Mond in der Unendlichkeit des Weltalls war ein un‐ gewohnter und zugleich trister Anblick. Um so beeindruckender war das funkelnde Sternenband der Milchstraße, das sich hinter Solitude spannte. Jackson steuerte seinen Flash aus Richtung des intergalak‐ tischen Leerraums kommend und hatte daher die gesamte Heimat‐ galaxis 10.000 Lichtjahre in Blickrichtung vor sich. Doch so faszinie‐ rend die sich bietenden Eindrücke auch waren, der General hatte nur einen beiläufigen Blick dafür übrig. Die Ortungseinrichtungen des Flash liefen auf Hochtouren. Auf dem Monitor über seinem Kopf waren die Standorte der treibenden Diskusraumer eingeblendet. Einer war etwas größer als die übrigen und damit auch optisch unverwechselbar zu identifizieren. »Die HEIMAT, das Flaggschiff meiner Flotte«, erklärte Raton. Bisher gab es keine Reaktion auf den Anflug des Flash, doch das würde sich ändern, sobald ein Toschi an Bord der Flotte auf ihn aufmerksam wurde. Zwangsläufig würde man ihn als Feind katego‐ risieren. Schließlich hatte die THOMAS auf die Diskusse gefeuert, und woher sonst sollte das kleine Beiboot stammen? »Ich öffne eine Phase und rufe dein Flaggschiff«, erklärte Jackson seinem Passagier. »Du kannst sprechen.« »Hier spricht Regierungschef Raton an Bord des anfliegenden Boots«, meldete sich der Toschi. »Ich rufe die HEIMAT. Wenn mich jemand hört, bitte antworten.« Einige Sekunden herrschte Stille, dann erklang eine überraschte Stimme. »Hier ist Kommandant Lagton. Regierungschef? Wie ist das möglich? Was ist geschehen? Wir wurden von einem fremden Raumschiff angegriffen.« »Ich werde alles erklären, sobald ich an Bord bin. Sämtliche Offi‐ ziere sollen sich in der Zentrale versammeln.«
Jackson konnte die Erleichterung seines Gastes spüren. Beim Anf‐ lug auf das Flaggschiff kontrollierte er die Ortungsanzeigen. Sie hatten sich gerade noch rechtzeitig gemeldet und ihr Kommen an‐ gekündigt, denn drüben erwachten nacheinander die Aktivsysteme zum Leben. Selbst wenn ein überraschender Feuerschlag den Flash nur minimal gefährdet hätte, wollte Jackson erst gar keine Mißver‐ ständnisse aufkommen lassen. Er maß einen Hohlraum an, der groß genug war, und steuerte das Beiboot mit eingeschaltetem Intervall hinein. Zum ersten Mal wur‐ den ihm die für einen Menschen viel zu kleinen Abmessungen be‐ wußt. Im Inneren von Solitude waren die Dimensionen bei vielen Gängen und Räumen noch großzügig bemessen, hier war das an‐ ders. Es gab kaum eine Passage, die für einen Erwachsenen Platz genug bot. Er war schon froh, für den Flash überhaupt einen adä‐ quaten Landeplatz zu finden. »Ich fürchte, ich kann dich nicht begleiten.« »Die Zentrale ist ganz in der Nähe«, widersprach Raton. »Es führt ein Hauptkorridor dorthin. Du wirst zwar ein wenig den Kopf ein‐ ziehen müssen, aber er dürfte ausreichen.« Jackson brauchte nicht lange zu überlegen, sondern kletterte ebenfalls ins Freie. Erst mit festem Boden unter den Füßen verspürte er ein sanftes Vibrieren, das die Schiffshülle durchlief. Gemeinsam liefen die zwei ungleichen Wesen Richtung Kommandozentrale. Selbst in gebückter Haltung hatte der General Schwierigkeiten, sich nicht den Schädel anzuschlagen. Überraschte Rufe wurden laut, als sie die Kommandozentrale der HEIMAT betraten. Eine Gruppe Toschis hatte sich dort versammelt und starrte den fremdartigen Riesen an. »Der Mensch Jackson ist ein Freund«, verkündete Raton, bevor sich einer der Anwesenden zu einer unbedachten Handlung hinreißen ließ. »Regierungschef! Es stimmt also wirklich.« Amüsiert erkannte Jackson, daß die Teddys erst ihre Verwun‐
derung über ihn ablegen mußten, bis sie begriffen, was wirklich geschah. Ihr Oberhaupt, das sie eigentlich in Gefangenschaft wähn‐ ten, war wieder da. In aller Eile informierte Raton sie darüber, was geschehen war. Mit ungläubigem Staunen lauschten sie seinen Worten. Es verwandelte sich in verhaltenen Jubel, als er seinen Be‐ richt beendete. Sofort griffen sich mehrere Toschis an den Kopf. »Wir haben furchtbare Kopfschmerzen«, klagten sie. »Das sind die Nachwirkungen unserer Betäubungsstrahlen«, ent‐ schuldigte sich Jackson. Strich‐Punkt zeigte selbst bei Menschen Nachwirkungen, nachdem sie aus einer davon ausgelösten Betäu‐ bung wieder erwachten, also waren sie bei den kleinen Pelzwesen um so schmerzhafter. Fast alle Anwesenden trugen Uniformen, ge‐ hörten also dem Militär an, während nur wenige Teddys zivil ge‐ kleidet waren. »Ich dachte, die Offiziere haben sich Notron angeschlossen«, wunderte sich Jackson. »Längst nicht alle«, wehrte ein hochrangiger Offizier ab. »Die meisten unter uns mißbilligen Notrons Putsch. Auch nur ein Bruch‐ teil der Soldaten ist zu ihm übergelaufen.« Dafür hatte er allerdings einen beachtlichen Erfolg erzielt. Offenbar hatte er sich seine Strategie genau überlegt und seine Anhänger im richtigen Augenblick zuschlagen lassen. Unwillkürlich fragte sich der General, ob ein ähnlicher Putsch auch bei der irdischen Hierar‐ chie Aussicht auf Erfolg hätte. Er konnte es sich nicht vorstellen, und er wollte es auch lieber nicht. »Einen Rundruf an sämtliche Schiffe schalten«, ordnete Raton an, der keine Zeit verlor. »Ich will wissen, ob es noch Ausfälle gibt oder ob alle einsatzbereit sind.« Die positiven Rückmeldungen kamen im Minutentakt. Aus fast allen Schiffen gab es zwar auch Klagen über Kopfschmerzen, doch die Besatzungen erholten sich nach und nach. »In Kürze treffen bei den meisten Einheiten fremde zylinderför‐
mige Beiboote ein. Auf keinen Fall das Feuer eröffnen. Es handelt sich um verbündete Menschen, die unsere befreiten Regierungs‐ mitglieder bringen. Ich wiederhole, auf keinen Fall das Feuer eröff‐ nen. Ich erbitte Bestätigung.« Raton war erst zufrieden, nachdem die Kommandanten sämtlicher Diskusschiffe sich gemeldet hatten. Jackson atmete auf. Das war in die Wege geleitet, die Flash konnten mit den befreiten Teddys kommen. Wenig später traf der sehnsüchtig erwartete Funkspruch ein. Die Regierungsmitglieder waren befreit und konnten nicht mehr als Geiseln mißbraucht werden. * Raton handelte mit einer Entschlossenheit, die Jackson ihm nicht zugetraut hätte. Ihm wurde klar, daß er noch viel zu wenig über das Volk der Teddys wußte, um sich ein Urteil erlauben zu können. Un‐ ter der Ägide ihres Regierungschefs stieß die HEIMAT auf Solitude hinab, den Rest der Flotte im Schlepp. Johan Stap meldete sich und teilte mit, daß sämtliche Regierungsmitglieder auf die Diskusschiffe übergewechselt waren. Der Einsatz war erfolgreich und ohne eigene Verluste beendet worden. Gewaltige Hangartore öffneten sich an der Mondoberfläche, durch die die Kampfschiffe eintauchten. Kaum daß sie sich wieder ge‐ schlossen hatten und die Hangars mit atembarer Luft geflutet waren, schleusten sie mehrere Hundertschaften regierungstreuer Soldaten und Zivilisten aus. Die teilten sich auf und begaben sich an die neu‐ ralgischen Stellen. Da der Großteil von Notrons Anhängern in den Laserstellungen ausgeschaltet worden war, gab es nur schwachen Widerstand. Eine Weile wogten die Kämpfe hin und her, doch die verbliebenen Aufrührer standen auf verlorenem Posten. Nachei‐ nander fielen ihre Rückzugsgebiete. »Wir schätzen, daß sich einige Dutzend Umstürzler tiefer in die
ausgebauten Anlagen zurückgezogen haben, um sich zu verste‐ cken«, erklärte Raton seinem neuen Freund von Eden. »Auf Dauer wird ihnen das nicht gelingen. Starke Suchtrupps werden die ver‐ steckten Bereiche bis in den letzten Winkel durchkämmen.« »Was geschieht mit Notron?« erkundigte sich der General. »Mir wäre am liebsten, wenn er bei euch an Bord bliebe. Dann wären wir ihn los.« In Ratons großen Augen blitzte es schalkhaft auf. »Keine Sorge, Jackson. Ich habe das nicht ernst gemeint. Er wird sich in einem Gerichtsverfahren verantworten müssen. Ein solcher Um‐ sturzversuch darf sich niemals wiederholen, wenn die Zukunft meines Volkes sicher sein soll.« Hin und wieder erhielt Raton knappe Meldungen. Die Lage nor‐ malisierte sich in weiten Bereichen. Die Soldaten, die erkannten, daß der Putsch gescheitert war, ergaben sich den regierungstreuen Truppen. Sie wurden umgehend unter Arrest gestellt. Der Umsturz war endgültig Geschichte. Nun galt es für die Ted‐ dys, die Trümmer zu beseitigen, die entstanden waren. Jackson machte sich nichts vor. Nach einem Bürgerkrieg konnte man nicht von heute auf morgen zur Tagesordnung übergehen. Dabei blieben Narben, die auch nach Jahren nicht ganz verheilten. Doch er war optimistisch, daß Raton alles tun würde, seinem Volk über die schwere Zeit zu helfen und eine Versöhnung zwischen den Zerstrit‐ tenen zu erreichen. »Nun steht eurer Rückkehr in die Heimat nichts mehr im Wege. Ich freue mich für euch.« »Das tue ich auch. In den nächsten Tagen werden wir damit be‐ ginnen, die großen Transportschiffe an der Oberfläche in einen startbereiten Zustand zu versetzen. Es wird nicht schwerfallen, da sie ständigen Wartungen unterzogen wurden.« Jackson kontaktierte die THOMAS und veranlaßte Notrons Rück‐ kehr nach Solitude. Vier Flash brachten ihn und die zwei überle‐ benden Grenzschichtgänger sowie die Leiche des dritten zur Ret‐ tungswelt der Teddys. Zur Sicherheit erhielten die beiden Überle‐
benden noch einmal eine Injektion, damit sie nicht erwachten und es zu guter Letzt nicht doch noch zu einem weiteren Zwischenfall kam. Der General wartete, bis die Flash wieder von Solitude gestartet waren, und verabschiedete sich von Raton. Es gab nichts mehr, was er hier noch tun konnte. Endlich konnte er den unplanmäßig unterbrochenen Erprobungsflug der THOMAS fortsetzen.
9. Die THOMAS raste mit Sternensog auf das funkelnde Band der Milchstraße zu. Ihr Ziel war der Orionarm, in dem das irdische Sonnensystem lag. Bei dem Probeflug waren Schiff und Besatzung keine Beschränkungen auferlegt. Warum also zwischendurch nicht auch einen kleinen Ausflug zur Erde unternehmen, von der die Be‐ satzung stammte, auch wenn sie mittlerweile dem Staat Eden ange‐ hörte? Das Intermezzo mit dem heimatlosen Mond Solitude hatte diesen Plan aufgeschoben, aber nicht aufgehoben. General Thomas J. Jackson saß entspannt in seinem Kom‐ mandantensessel und nippte genüßlich an einem Becher mit damp‐ fendem Kaffee. Das Aroma hatte sich in der gesamten Zentrale des Ovoid‐Ringraumers ausgebreitet, die Wirkung des starken Gebräus hingegen breitete sich in Jacksons Eingeweiden aus. Nicht nur er freute sich darauf, den Planeten seiner Geburt wiederzusehen. Den meisten aus der Besatzung ging es nicht anders. Wohin auch immer es einen trieb, seine Wurzeln konnte man nun einmal nicht verleug‐ nen. »Wir wollen uns am Gut deines Hauses sättigen, am Gut deines Tempels«, murmelte Jackson einen Dankspruch aus den Psalmen und nahm einen weiteren Schluck, der seinen Gaumen und seine Eingeweide erwärmte. Manuel Rayes’ Fingerkuppen huschten über die Sensorfelder sei‐ ner Konsole, als er eine minimale Kurskorrektur vornahm. Er leistete sich den Luxus, den Kurs nicht vorab programmiert zu haben. In‐ dem er den Carboritraumer direkt steuerte, hatte er das Gefühl, durch unsichtbare Nervenbahnen mit ihm verbunden zu sein. Der gewaltige Ring war lediglich eine Verlängerung seiner Arme und Hände. »Was halten Sie davon, ein paar Transitionen einzuschieben, Sir?« fragte er beim Anblick der weit entfernten Sternbilder.
Jackson strich sich nachdenklich über den Bart. »Haben Sie es eilig, Nummer Eins?« »Scheint beinahe so«, warf York Merier mit einem anzüglichen Grinsen ein. Als mit seinen 51 Jahren ältestes Besatzungsmitglied nahmen ihm auch seine Vorgesetzten einen bissigen Kommentar nicht übel, solange er nicht die Borddisziplin verletzte. »Man merkt, daß unser Spanier einer alten Seefahrernation entstammt. Mit Ver‐ laub, Sir, an den Traditionen hat sich in den vergangenen Jahrhun‐ derten wohl nicht viel geändert. In jedem Hafen eine Braut, so sagt man doch.« »Weiß Nummer Drei etwas, das mir als Kommandanten bisher verschwiegen wurde?« bohrte Jackson amüsiert nach. Für einen bi‐ belfest verheirateten Familienvater wie ihn, der aus einer bis in die Gründerjahre Amerikas zurückreichenden Methodistenfamilie stammte, war eine derartige Lebensweise zwar unvorstellbar, den‐ noch war er durchaus in der Lage, sich in seine jungen Offiziere hi‐ neinzuversetzen. Wie sie ihr ohnehin knapp bemessenes Privatleben gestalteten, ging ihn nichts an. Wenn er auch selbst konsequent nach den Geboten der Bibel lebte, konnte er das noch lange nicht von seinen Untergebenen verlangen – schließlich dienten sie nicht auf einem Missionarsdampfer. »Purer Neid«, wehrte der Pilot mit einem spöttischen Zucken um die Mundwinkel ab. »Und ehrlich gesagt weiß ich überhaupt nicht, worauf unser alter Mann anspielt. Um Versuchungen mache ich grundsätzlich einen großen Bogen.« »Apropos Bogen«, nahm der vor der Funkzentrale hockende Grissom Lewald das Stichwort auf. »Die ROBERT ist doch ebenfalls auf dem Weg zur Erde. Wie wäre es mit einem Rendezvouskurs? In Gesellschaft fliegt es sich doch viel besser.« »Unsere Gesellschaft ist wohl nicht ausreichend, was?« Der Kommandant des modernsten Raumers aus den Werften von Eden lächelte. »Das hat Mister Lewald bestimmt nicht gemeint. Dennoch muß ich den Vorschlag ablehnen. Wir werden nämlich
unterwegs noch ein paar Manöver durchführen, während die ROBERT und ihre Begleitschiffe auf direktem Kurs zur Erde sind.« »Die armen Kerle wissen gar nicht, was ihnen hier draußen ent‐ geht.« »Leere, Leere und nochmals Leere«, fügte der Zweite Offizier Sanet hinzu. »Aber so ist das nun mal im intergalaktischen Leerraum. Hat man einen Kugelsternhaufen im Milchstraßenhalo hinter sich, kommt erst mal eine ganze Weile gar nichts. Die Idee mit einer Transition ist gar nicht so schlecht.« »Die ROBERT hat eine andere Priorität als die THOMAS«, belehrte Jackson seine aufgekratzten Offiziere. Das erfolgreich abgeschlosse‐ ne Zwischenspiel auf Solitude hatte sie in eine gelöste, beinahe eu‐ phorische Stimmung versetzt. Zugegebenermaßen erging es ihm selbst nicht viel anders. Derartige Zwischenfälle waren einer der Gründe, warum sich Raumfahrer in der kalten Unendlichkeit he‐ rumtrieben. Ohne daß man etwas erwartete, geschahen überra‐ schende Dinge, und fremde Wesen, die man gestern noch nicht ge‐ kannt hatte, wurden unverhofft zu Freunden. Leider erweisen sich ähnlich viele neue Kontakte nicht als Freunde, son‐ dern als Feinde, ging es dem General durch den Sinn. Irgendwie schien das Universum in zwei Lager gespalten zu sein, und beide waren gleichermaßen und nicht auf den ersten Blick er‐ kenntlich in Gottes Schöpfung eingebettet. In Gedanken versunken leerte Jackson seinen Becher und drehte sich in Richtung der Hauptbildkugel. »Was sagt die Ortung, Mister Sanet?« Der Zweite Offizier kontrollierte seine Anzeigen. »Keine Schiffe im gesamten Sektor. Wir sind allein.« »Mister Lewald, Funkverkehr?« »Negativ, Sir.« Lewald hatte seine Meldung kaum abgegeben, als ein Ruck durch seinen Körper ging. »Haben Sie das gerochen, Sir? Wenn man den Esel nennt, kommt er gerennt.« »Geht es auch etwas weniger kryptisch?« wies Sanet den Funker
zurecht. »Eben kommt ein Hyperfunkruf von der ROBERT herein.« »Von Generalmajor Jensby?« »Höchstpersönlich, Sir.« Augenblicklich war Jackson hellwach. Er war bei verschiedenen Gelegenheiten mit dem 2022 im dänischen Ärhus geborenen Be‐ rufssoldaten zusammengetroffen, der bereits im Alter von 18 Jahren sehr zum Leidwesen seiner grün‐alternativen Eltern in die Terrani‐ sche Flotte eingetreten war, was die niemals verwunden hatten. Als Friedensbewegte hatten sie kein Verständnis für Berufssoldaten. Die beiden Offiziere hatten sich einmal über dieses Thema unterhalten. Jakob Jensbys Eltern lebten noch heute auf einem heruntergekom‐ menen Öko‐Bauernhof in Dänemark und waren sauer darüber, daß ihr Sohn so weit fortgezogen war. Dabei war ihm keine andere Wahl geblieben, wenn er seine Karriere vorantreiben wollte. In der TF hatte er den Rang eines Majors bekleidet, aufgrund der Spar‐ maßnahmen der irdischen Regierung auf Jahre hinaus ohne Aussicht auf eine Beförderung. Daher war er im Sommer 2060 umgesiedelt und in den Dienst Edens getreten. Seit damals versuchte er seine jüngere Schwester bei seinen seltenen Besuchen auf der Erde eben‐ falls zu einem Umzug nach Eden zu bewegen. Die Gedanken schossen Jackson in Sekundenschnelle durch den Kopf. Er kannte Jensby gut genug, um zu wissen, daß der General‐ major der Flotte von Eden die THOMAS nicht ohne einen triftigen Grund anfunken würde. »Phase öffnen, Mister Lewald!« »Aye, Sir.« »Hier General Jackson an Bord der THOMAS«, meldete sich der Geburtshelfer der Eden‐Streitkräfte. »Was kann ich für Sie tun?« »Ich belästige Sie nur ungern, Sir«, erklang Jensbys Stimme. »Aber es ist ein Umstand eingetreten, der mir keine andere Wahl läßt.« »Ich weiß, daß Sie uns nicht wegen einer Nichtigkeit rufen würden, Jakob.« Jackson war der merkwürdige Unterton in Jensbys Stimme
nicht entgangen. »Sie klingen besorgt. Was ist geschehen?« »Wenn ich das nur wüßte.« Für einen Moment trat Stille ein, dann fuhr der Generalmajor fort. »Ich kann nur eines definitiv sagen. Es ist unmöglich geworden, die Erde zu erreichen. Sie ist von allen Ver‐ bindungen abgeschnitten.« * In der Zentrale herrschte Totenstille. Jackson fühlte die Blicke sämtlicher Offiziere auf sich lasten. »Wir haben mehrmals versucht, die Erde über Funk zu erreichen«, fuhr Jensby fort. »Nicht einmal per To‐Richtfunk sind wir durchge‐ kommen. Eden hat es ebenfalls erfolglos versucht.« »Mister Lewald!« Jackson nickte dem Funker zu, der sich bereits an seiner Anlage zu schaffen machte. Er nahm eine Reihe von Schal‐ tungen vor und verzog das Gesicht. Es war offensichtlich, daß sie nicht den Erfolg brachten, den er beabsichtigte. Wütend sprang er aus seinem Sessel auf und stieß einen Fluch aus. »Das gibt es doch nicht. Ich komme auch nicht durch. Nichts zu machen, Sir.« Der General hatte bereits mit der abschlägigen Meldung gerechnet. »Haben Sie weiterhin Kontakt nach Eden, Jakob?« »Mühelos, General.« »Dann soll Wallis sofort eine Abteilung in Marsch setzen und über die Transmitterstrecke zur Erde schicken. Wir müssen wissen, was da los ist.« »Das hat man bereits versucht. Die Transmitterverbindung ist auf der letzten Etappe zusammengebrochen. Anscheinend wurde die terranische Endstation abgeschaltet. Wir haben keine Ahnung, wer dafür verantwortlich ist. Allerdings scheint es sich nicht um Sabo‐ tage zu handeln, sondern um eine Abschaltung mit Zugriffsberech‐ tigung. Jedenfalls gibt es kein Durchkommen. Und… Wallis ist momentan auf der Erde. Auch von ihm haben wir kein Lebenszei‐
chen.« »Da stimmt doch etwas nicht«, rutschte es Rayes heraus. Bis auf seine Worte hätte man ringsum eine Stecknadel fallen hören können. Jacksons Gedanken überschlugen sich. Die Situation erinnerte ihn an die Ereignisse des Jahres 2060. Zweieinhalb Jahre waren seither vergangen, in denen er stets mit einem Rachefeldzug der Buccaneers gegen die Erde gerechnet hatte. War dieser Fall nun eingetreten? »Wenn es keine Funkverbindung gibt, bleibt nur eine Alternative«, entschied er. »Wir müssen vor Ort mit eigenen Augen nachsehen, was los ist. Jakob, Ihre zehn Ikos sind einsatzbereit?« »Ja, General.« »Ausgezeichnet. Ich übernehme das Kommando über den ge‐ samten Verband. Alle Schiffe beschleunigen mit höchstem In‐ tervalltempo, auch die THOMAS. Nummer Eins, möglicherweise zählt jede Minute.« Der Pilot nickte. »Schon verstanden, Sir.« Höchstes Intervalltempo, das bedeutete maximale Beschleunigung mit Sternensog über die halbe Strecke und danach volle Bremsver‐ zögerung. Diese Art des Langstreckenflugs war zwar extrem schnell, aber auch sehr energieintensiv und somit teuer. Deshalb wurde sie nur in Ausnahmesituationen angewendet, und genau eine solche Situation lag nun vor. »Jakob, übermitteln Sie uns Ihre Position.« »Kommt sofort, General.« »Mister Lewald, gerichteten und verschlüsselten Funkspruch nach Eden absetzen. Ich will nicht, daß irgendwelche Unbefugten durch einen Zufall mithören. Teilen Sie den zuständigen Stellen mit, daß wir mit der Ikosaederflotte auf dem Weg zur Erde sind. Und daß es nicht mehr darum geht, die Ikos potentiellen Käufern auf Terra schmackhaft zu machen, sondern daß sie möglicherweise in einen militärischen Einsatz gehen.« »Aye, Sir.« Was einen baldigen Treffpunkt und den gemeinsamen Weiterflug
zum Sol‐System anging, wurde Jackson enttäuscht. Die eintreffenden Daten von der ROBERT zeigten, daß die zehn Ikosaeder in Bezug auf die Hauptachse des Milchstraßensystems viel zu weit entfernt war‐ en, um unterwegs zu ihnen zu stoßen. »Wir treffen uns am Rand des Sol‐Systems. Sollten Sie vor uns dort eintreffen und bei der Beurteilung der Lage zu dem Schluß kommen, mit einem Eingreifen nicht auf uns warten zu können, zögern Sie nicht, nach eigenem Ermessen vorzugehen. Wir handeln umgekehrt ebenso. Viel Glück, Generalmajor.« »Danke. Ihnen auch, General.« Damit wurde die Verbindung unterbrochen. Und Manuel Rayes holte aus den Flächenprojektoren heraus, was drin war. * Die Erde wird von einer mächtigen, unbekannten Raumflotte angegriffen! Liao Moreis Worte hallten in Terence Wallis nach, während er wie in Trance seiner Sicherheitstruppe folgte. Seine Informationsquellen gehörten mit zum Besten, was man sich vorstellen konnte. Wenn sie keine genaueren Details lieferten, waren die Angreifer wirklich keine alten Bekannten der Menschheit. »Dort hinüber, Mister Wallis!« dirigierte ihn seine Sicher‐ heitschefin. Die kleine Chinesin hatte dafür gesorgt, daß nur wenige Meter vom Los Morenos entfernt in einer Parkbucht ein Gleiter bereitstand, um ihren Chef aufzunehmen und auf dem schnellsten Weg in die Botschaft von Eden zu bringen. Wenn Terra angegriffen wurde, war ein Abflug durch den planetenumspannenden Schutzschirm der Nogk nicht möglich. Dann blieb nur die Transmitterstraße, die die beiden von Menschen besiedelten Welten miteinander verband. Wie selbstverständlich hielt sich Heather Sheridan an Wallis’ Seite. »Sehen Sie sich den Schutzschirm an.« Heather deutete in den
Himmel, als der Gleiter vom Boden abhob. Wallis schaute nach oben und sah die Farbspiele am Himmel, wo sonst nichts zu sehen war. Normalerweise war der Schutzschirm, der die Erde vor Angriffen wie diesem schützen sollte, unsichtbar. Jetzt geisterten Leuchterscheinungen durch seine Energiestruktur, die an Wetterleuchten erinnerten, und tobten durch die Schwärze der Nacht. »Dafür kann nur der Beschuß mit starken Energiewaffen ver‐ antwortlich sein«, folgerte er. »Aber wieso greifen die Fremden ausgerechnet Alamo Gordo an?« »Nicht ausgerechnet. Alamo Gordo ist keineswegs ihr einziges Angriffsziel.« Morei zog den Gleiter in die Höhe und jagte ihn durch eine Straßenschlucht. »Wenn sie logisch vorgehen, konzentrieren sie ihren Angriff auf die Generatorstationen, die den Nogk‐Schirm speisen. Wenn sie genügend davon ausschalten, bricht der Schirm zusammen.« Und eine dieser Generatorstationen stand am Standrand von Alamo Gordo, das wußte Wallis. »Die kennen sich gut aus.« »Viel zu gut«, fand auch Sheridan. »Woher haben die ihre In‐ formationen? Bei den gewaltigen Energieemissionen überall auf der Erde ist es selbst für die besten Ortungseinrichtungen kaum möglich, speziell all die Generatoren zu lokalisieren, die für den Schirm ver‐ antwortlich sind.« Eine Tatsache, die auch dem Staatsoberhaupt von Eden zu denken gab. Bei diesem Angriff handelte es sich nicht um einen Schnell‐ schuß. Er war von langer Hand vorbereitet. Die Unbekannten ver‐ fügten über Insiderinformationen, wenn sie so zielgerichtet gegen die Generatoren vorgingen. Er malte sich aus, daß an vielen Stellen auf Terra in diesem Moment das gleiche geschah wie über der irdi‐ schen Hauptstadt. »Funken Sie die Botschaft an, daß wir auf dem Weg sind.« »Geht nicht. Der Funk ist ausgefallen. Ich habe von dem Angriff durch einen persönlichen Überbringer erfahren. Ansonsten kommt
nichts mehr durch.« »Auch das noch.« Nun verstand Wallis, wieso seine Sicher‐ heitschefin nur mit spärlichen Informationen über die Angreifer dienen konnte. »Da fällt mir etwas ein. Die Buccaneers hatten doch eine Möglichkeit, Funkkontakt zu unterbinden.« »Aber sie stecken nicht hinter dem Angriff. Deren Schiffe sind be‐ kannt, und wir wüßten längst, woran wir sind. Wir haben zwar noch nicht viel mitbekommen, aber anscheinend sehen die angreifenden Schiffe ganz anders aus als die Kegelstümpfe und Zylinderraumer der Gorillas.« Wobei es vielleicht sogar besser gewesen wäre, wenn man es er‐ neut mit den Buccaneers zu tun gehabt hätte. Einen bereits bekann‐ ten Gegner konnte man nämlich leichter einschätzen als einen völlig unbekannten. Zudem kannte man die Möglichkeiten der Kartak, schließlich hatte man sie schon einmal abgewehrt. In ihrem Pilotensitz stieß Morei einen derben Fluch aus, als aus einer Seitenstraße mehrere Fahrzeuge auftauchten und sie schnitten. Sie riß den Gleiter in die Höhe und vollführte gleichzeitig einen Schlenker. Wallis hatte das Gefühl, die Zugluft der anderen Fahr‐ zeuge zu spüren, was in dem geschlossenen Gleiter natürlich reine Einbildung war. »Diese Idioten hätten uns fast abgeschossen«, beschwerte sich einer der Leibwächter. »Chaos.« Die Chinesin beschleunigte das Tempo. »Die Leute ka‐ pieren, was hier geschieht. Statt einen kühlen Kopf zu bewahren, geraten sie in Panik. Gerüchte sind schneller als Nadelstrahlen.« »Einen kühlen Kopf bewahren? Das sagen ausgerechnet Sie mit Ihren extravaganten Flugkünsten? Die Menschen haben einfach nur Angst um ihr Leben. Sie jagen uns noch in eine Hauswand. Erzählen Sie mir also bloß nicht, Sie hätten einen kühlen Kopf.« Heather machte keinen Hehl daraus, daß sie Liao nicht besonders sympa‐ thisch fand. »Den bewahre ich immer. Ich denke, ihr Reporter steht so auf Ac‐
tion.« »Bitte, meine Damen«, mischte sich Wallis ein. »Wie wäre es, wenn sich jede von Ihnen auf Ihren Job konzentriert und die andere in Ruhe läßt?« Zahlreiche Menschen waren mit unbekanntem Ziel unterwegs. Auch Wallis erkannte, daß tatsächlich eine Panik auszubrechen drohte. Oder besser: Sie war bereits ausgebrochen. Viele Menschen suchten ihr Heil in sinnloser Flucht, ohne überhaupt zu wissen, wo‐ hin sie rannten, doch es war nicht an ihm, sie deshalb zu verurteilen. Womöglich hätte er an ihrer Stelle genauso gehandelt, wenn er im Gegensatz zu ihnen nicht über den Luxus eines funktionierenden Fluchtwegs verfügt hätte. Heather Sheridan fuhr in ihrem Sitz herum und drückte sich die Nase an der Scheibe platt. »Da unten wird geschossen.« Mehrmals flammten Lichtblitze am Boden auf. Zwischen Straßen‐ lampen und unzähligen Leuchtreklamen waren zahlreiche Passanten zu erkennen. Offenbar hatten sie sich zu zwei Gruppen zusammen‐ geschlossen, die sich aus unbekanntem Grund gegenüberstanden. »Diese Idioten streiten um ein paar lächerliche Bodenfahrzeuge.« »Lächerlich? Damit kann man vielleicht sein Leben retten.« »Wohl kaum. Jedenfalls nicht, wenn der Nogk‐Schirm fällt und die TF die unbekannten Invasoren nicht aufhalten kann. Und danach sieht es nicht aus, sonst wären die nämlich gar nicht erst bis zur Erde vorgedrungen, sondern schon am Rand des Sol‐Systems aufgehalten worden.« Wallis hatte keine Lust, sich an der Diskussion zu beteiligen, weil sie müßig war. Trotz des dichtgewobenen Sicherheits‐ und Ab‐ wehrsystems im Sonnensystem gab es keine absolute Sicherheit für die Erde. Das war schon einmal beim Eindringen der gigantischen Grakostationen klar geworden, die eine Schneise der Verwüstung geschlagen und zahlreiche Ast‐Stationen zerstört hatten. Wallis zog die Stirn in Falten, denn ihm ging ein anderer, viel naheliegenderer Gedanke durch den Kopf.
»Weit und breit keine Sicherheitskräfte. Vielleicht können wir die Streithähne zerstreuen.« »Was?« fragte Morei ungläubig. »Einmal nach unten stoßen und ihnen einen kräftigen Schrecken einjagen.« »Nichts für ungut, Chef, aber das vergessen Sie mal ganz schnell wieder.« »Wie bitte?« An Wallis’ Schläfe pochte das Blut in einer Ader. Am liebsten hätte er selbst die Steuerung übernommen, doch dazu war in dem Gleiter keine Gelegenheit. »Wenn die sich da unten die Köpfe einschlagen, können Sie auch nichts dagegen tun. Kurz nach unten stoßen und ihnen einen Schrecken einjagen – das ist doch Unsinn. Ich setze Ihr Leben jeden‐ falls nicht aufs Spiel.« Wallis biß die Zähne zusammen, um keinen unangebrachten Kommentar von sich zu geben. Natürlich hatte die Chinesin recht. Gegen die bebende Volksgewalt konnte er nichts ausrichten, und sie ging nur ihrem Job nach. Demzufolge hatte seine Sicherheit oberste Priorität. Dafür wurde sie bezahlt. Wenn sie dabei versagte, gab es niemanden mehr, der ihr Gehalt überwies. Morei trieb den Gleiter aus der Häuserschlucht heraus und raste über einen offenen Platz. Im Schein schwebender Laternen waren zwei Fahrzeuge zu erkennen, die ineinandergekracht waren und einen Stau verursachten. Mit verkniffener Miene beobachtete Wallis die Szene. Längst handelte es sich um keinen Einzelfall mehr. Auf‐ ruhr und Panik breiteten sich in den Straßen der Hauptstadt aus. Und vermutlich nicht nur hier, sondern auf der gesamten Erde. Ich muß meine Flotte weiter ausbauen, schoß es ihm durch den Kopf. Ich muß garantieren, daß alles Menschenmögliche zur Sicherung von Eden getan wird. Das war er all den Menschen schuldig, die ihn bei seinem Umzug in die neue Heimat begleitet hatten oder ihm dorthin gefolgt waren. Er war für sie verantwortlich, und diese Last lag schwer auf ihm. Bis
zum Erreichen der Botschaft versuchte er die Szenen, deren Zeuge er unterwegs wurde, zu ignorieren. Es gelang ihm einfach nicht. * In der Botschaft war Alarm ausgelöst worden. Die geisterhaften Leuchterscheinungen am Nachthimmel waren auch von dort aus zu sehen. Mehrere Botschaftsangehörige hatten sich auf dem Dach des Gebäudes versammelt und beobachteten die tobenden Energie‐ strömungen im Nogk‐Schirm, der ursprünglich als Schutz gegen die Schwankungen des galaktischen Magnetfelds installiert worden war. Hin und wieder waren die aus dem Raum kommenden Strahlen‐ bündel zu sehen, die den Schirm erst zu einer Reaktion brachten. Botschafter Nicodem Bletsas empfing Terence Wallis mit ehrlicher Erleichterung. »Es wird Zeit, daß Sie endlich eintreffen. Wir hatten bereits befürchtet, daß niemand Sie erreicht hat oder daß der Schirm zusammenbricht, bevor Sie wieder in der Botschaft sind.« »Unkraut vergeht nicht, Nico. Gibt es verläßliche Angaben, wie stark die Belastung des Schirms ist?« Der Botschafter Edens auf Terra, der ursprünglich aus Grie‐ chenland stammte, schüttelte den Kopf. Der 1,72 Meter große Mann war mit seinen 82 Kilogramm für seine Körpergröße etwas zu füllig, was von seinem dicken, schwarzen Haar zusätzlich unterstrichen wurde. Wallis hatte die Daten des Mannes, der früher als PR‐Chef für Wallis Industries gearbeitet hatte, auswendig im Kopf. Bletsas, den Freunde und Vertraute zumeist bei seinem Spitz‐ namen Nico riefen, war am 30. Oktober 2026 auf Samos geboren worden, seit zwei Jahren verheiratet, aber kinderlos, und redete gern und viel. Wallis mochte den sympathischen Griechen, der in seiner Freizeit dem Sammeln alter Autos mit Verbrennungsmotor frönte, einem Hobby, das zwar teuer war, welches er sich bei dem seiner Stellung angemessenen Salär aber leisten konnte.
»Darüber kann uns wohl nur die terranische Regierung Auskunft geben, doch bisher sind wir nicht bis zu Trawisheim vorgedrungen. Über das, was dort oben vorgeht, müssen wir größtenteils spekulie‐ ren.« »Spekulationen bringen uns nicht weiter. Wenn der Normalfunk schon nicht funktioniert, probieren wir es eben mit To‐Richtfunk.« Wallis machte sich Sorgen, daß auf Eden eine vergleichbare Situation herrschte wie auf Terra. Bletsas gab den Befehl sofort weiter und scheuchte einige Mitar‐ beiter auf. Wallis entging nicht die angespannte Atmosphäre, die auch in der Botschaft herrschte. »Bereiten Sie alles für unsere Flucht vor, Nico. Wir benutzen den Transmitter im Keller. Abgesehen davon, daß mir die Straßen zu unsicher sind, geht das schneller. Vom Transmitterbahnhof aus springen wir per Vorrangschaltung nach Eden. Vielleicht können wir von dort aus etwas unternehmen, um Terra zu unterstützen.« »Sie wollen die Botschaft aufgeben?« fragte Sheridan, die nach wie vor nicht von Wallis’ Seite gewichen war. »Ein solcher Rückzug sieht Ihnen gar nicht ähnlich.« »Nur äußerst ungern, das dürfen Sie mir glauben. Aber im Inter‐ esse meiner Mitarbeiter bleibt mir keine andere Wahl. Zu ihrem ei‐ genen Schutz werde ich sie ebenfalls evakuieren. Sie kommen natür‐ lich mit mir zurück nach Eden.« Er wandte sich an den Botschafter: »Nico, lassen Sie sämtliche Mi‐ tarbeiter informieren, daß wir in Kürze aufbrechen. Sie sollen nicht anfangen, lange zu packen. Nur persönliche Dinge mitnehmen. Darüber hinaus gibt es nichts, was wir auf Eden nicht ersetzen kön‐ nen.« Bletsas gab sofort die nötigen Anweisungen, als auch schon die nächste Hiobsbotschaft eintraf. »To‐Richtfunk ist ebenfalls ausgefallen. Wir erhalten keine Ver‐ bindung nach Eden.« Die Angelegenheit schmeckte Wallis immer weniger. Einmal mehr
fühlte er sich an die Buccaneers erinnert. Er lief aufs Dach der Bot‐ schaft und überzeugte sich mit eigenen Augen von der dramatisch verlaufenden Entwicklung. Großflächig leuchtete der Nogk‐Schirm auf, so hell, daß man die Sterne hinter dem Leuchten nicht mehr erkennen konnte. Bizarre Verästelungen liefen durch seine Struktur und bewiesen, wie anfällig er trotz allem war. Auch wenn man da‐ hinter keine Raumschiffe sehen konnte, ließ sich erahnen, wie nah die kämpfenden Einheiten der Erde waren. Wie Blitze rasten Ener‐ giestrahlen durch den erdnahen Raum, und immer wieder entstan‐ den kleine Sonnen, wenn eines der Schiffe in einer gewaltigen Ex‐ plosion verging. So weit entfernt und doch so nah. Eine eisige Hand griff nach Wallis’ Herz. Was er sah, erweckte nicht den Anschein, daß es der Terranischen Flotte gelang, die Ang‐ reifer zurückzuschlagen. Ganz im Gegenteil, sie näherten sich Terra unaufhaltsam. Ihm wurde klar, daß er noch viel stärker an seinem Geburtsplaneten hing, als er das als Oberhaupt einer anderen Staatsmacht zugeben durfte. Ich kann die Erde doch nicht im Stich lassen! Doch der Gedanke war Makulatur. Es gab nichts, was Wallis tun konnte. Wie sehr er sich irrte, sollte er kurz darauf erkennen, als Bletsas ihn völlig außer Atem aufsuchte. »Wir haben Verbindung zu Henner Trawisheim. Es gibt Neuig‐ keiten, und wahrlich keine guten.« * Ren Dharks Nachfolger als terranischer Regierungschef meldete sich über eine alte Festkabelleitung. Seine Stimme klang beherrscht, wie es von einem mit überragenden intellektuellen Fähigkeiten ausgestatteten Cyborg auf geistiger Basis zu erwarten war. Nur seine Wortwahl verdeutlichte, unter welcher Anspannung er stand. So wie die Verantwortung für Eden in Wallis’ Händen lag, lag die für die
Erde in den seinen. »Das wurde auch Zeit, Wallis. Wo treiben Sie sich denn rum? Jede Minute ist kostbar.« »Dann machen Sie mir keine Vorhaltungen, Henner, sondern kommen Sie zur Sache.« Trawisheim stutzte. »Sie haben recht. Bitte entschuldigen Sie, aber die Ereignisse drohen uns zu überrollen. Ich fürchte, die Flotte ist nicht mehr lange in der Lage, die Roboterschiffe aufzuhalten.« »Roboterschiffe?« Also keine Buccaneers! Wallis hatte damit ge‐ rechnet. »Das heißt, wir kennen den Gegner? Wir sind hier völlig vom Funk abgeschnitten.« »Wir auch«, erklärte der Mann mit dem Memory‐Implantat und dem theoretischen Intelligenzquotienten von 276 Punkten. »Nur Kabelverbindungen sind nicht gestört. Außerdem gibt es eine ziem‐ lich exotische Funkfrequenz, über die wir mit der Flotte in Verbin‐ dung stehen. Sie ist die einzige, die noch funktioniert. Wir haben sie bei ein paar alten Robotern auf Grah entdeckt.« In kurzen Sätzen schilderte Trawisheim die sich zuspitzende Lage außerhalb des Nogk‐Schirms. »Es steht schlecht um die Erde. Die Roboter greifen mit aller Macht den Schirm über Alamo Gordo an. Offenbar wissen sie um die Bedeutung unserer Hauptstadt. Auch wenn er nicht komplett ausfällt, sondern es ihnen nur gelingt, eine ausreichend große Lücke hineinzusprengen, ist ihnen Alamo Gordo auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.« Nicht schon wieder! Mit Schrecken erinnerte sich Wallis an die Giant‐Invasion. Sie lag über zehn Jahre zurück, war aber immer noch als einschneidendes Ereignis in den Köpfen der Menschen verankert. Wenn sich eine solche Invasion ein zweites Mal ereignete, würde sie zu einem tiefen Trauma werden, das sich nie mehr tilgen ließ. »Woher haben sie dieses Wissen?« Unwillkürlich erinnerte sich Wallis an den Verdacht, den er bereits zuvor gehegt hatte. Die Ang‐ reifer – diese ominösen Roboter – verfügten über Informationen, die sie eigentlich nicht hätten besitzen dürfen.
»Selbst wenn wir das wüßten, würde es uns wahrscheinlich nicht weiterhelfen. Im Moment zählt nur eines, nämlich daß der Nogk‐Schirm nicht ausfällt. Wenn das geschieht, sind wir verloren. Wie es aussieht, kann das Kraftwerk am Stadtrand bald nicht mehr genug Energie liefern, und dann tritt genau dieser Fall ein. Was das bedeutet, brauche ich Ihnen wohl nicht zu erklären. Es reicht, wenn ich sage, wir brauchen dringend zusätzliche Energie, um den Schirm zu stärken.« Das Staatsoberhaupt von Eden nickte gedankenverloren. »Wie kann ich dabei helfen?« »Wenn Sie das nicht wissen, kann ich es Ihnen nicht sagen, Wallis. Ihre Botschaft und Ihre sämtlichen Einrichtungen auf der Erde sind für uns fremdes Territorium. So gern ich es täte, habe ich leider kei‐ nen Zugriff darauf, auch wenn manche in meinem Stab mich vom Gegenteil zu überzeugen versuchen.« Wallis konnte sich vorstellen, worauf Trawisheim hinauswollte. Ohne daß er es wollte, nahm in seinem Kopf ein Gedanke Gestalt an, den er nicht verdrängen konnte. Allerdings bedeutete das, daß er seine sämtlichen Botschaftsangehörigen vor den Kopf stoßen mußte. Ganz zu schweigen davon, daß er sich selbst in Lebensgefahr brachte. Doch Trawisheim hatte recht. Jede Sekunde zählte. Wallis durfte nicht zögern, sondern mußte den notwendigen Befehl auf der Stelle geben, so sehr er ihn persönlich auch schmerzte. »In Ordnung, Henner«, sagte er mit tonloser Stimme. »Sie be‐ kommen Ihre zusätzliche Energie.« Er konnte die fragenden Blicke, die Bletsas und die Leibwächter auf ihn richteten, beinahe körperlich spüren. Sie begriffen seine Worte erst, als er über Kabelleitung seinen Transmitterbahnhof er‐ reichte und den schicksalhaften Befehl gab. »Sofort Transmitterstraße abschalten und das Großkraftwerk unter dem Bahnhof über das städtische Leitungsnetz mit dem Schirm‐ kraftwerk von Alamo Gordo koppeln!«
Damit saßen sie auf der Erde fest. * »Unser Fluchtweg ist abgeschnitten!« Nicodem Bletsas sah Wallis verstört an. »Das heißt, wir kommen hier nicht weg.« »Ich weiß, Nico. Leider sehe ich keine Alternative. Gäbe es eine, wäre Trawisheim nicht auf diese Weise zu Kreuze gekrochen. Es dürfte ihm ziemlich schwergefallen sein. Der Cyborg ist nun mal nicht so offen und eloquent wie sein Vorgänger.« »Trotzdem haben Sie mit Ihrer Entscheidung möglicherweise un‐ ser aller Todesurteil unterschrieben«, hielt der Botschafter ihm ent‐ gegen. »Wenn Terra untergeht, ist kein Menschenleben mehr etwas wert.« Davon war Wallis fest überzeugt. Er hatte seine Entscheidung aus dem Bauch heraus getroffen, weil gar keine Zeit blieb, lange darüber nachzudenken. Im Grunde war er froh darüber, sonst wäre er wo‐ möglich selbst ins Zweifeln gekommen, ob es richtig war, was er tat. Er würde es ohnehin erfahren. Entweder wenn seine Entscheidung dazu beitrug, die Angreifer abzuwehren, oder wenn ihnen der Durchbruch gelang und Wallis mit dem Rest der Menschheit unter‐ ging. Jedenfalls war er überzeugt davon, daß er sein Leben auch mit einer Flucht nicht gerettet hätte. Terra und Eden waren viel zu sehr miteinander verknüpft, als daß ein solcher Aggressor den einen Planeten erobert und den anderen ignoriert hätte. »Sie haben es tatsächlich geschafft, mich zu verblüffen«, gestand Heather Sheridan. »Uneigennutz hatte ich wirklich nicht von Ihnen erwartet. Nun geht er sogar soweit, daß Sie das Wohl der Erde über Ihr eigenes stellen.« »Sparen Sie sich Ihren Zynismus, meine Liebe. Dazu ist die Lage zu ernst.« Wallis brachte die Worte schärfer hervor, als sie sein sollten. »Ich mag Sie in mancherlei Hinsicht verkennen, Sie mich aber auch«, konterte die Reporterin. »Ich habe meine Feststellung
durchaus ernst gemeint. Was Sie da eben getan haben, hätten die wenigsten getan.« »Ich kann nicht nur an Eden denken und Terra dabei vernach‐ lässigen. Hier wie dort leben Menschen. Es ist zweitrangig, daß sie durch einen politischen Akt in zwei Staatswesen geteilt wurden. Jedes einzelne Individuum ist trotzdem derselbe Mensch, der es vorher war, und alle zusammen sind wir die Menschheit, nach wie vor.« »Solche Worte aus Ihrem Mund? Wenn ich sie nicht mit eigenen Ohren gehört hätte, würde ich niemandem glauben, daß Sie sie je‐ mals ausgesprochen haben.« Wallis lächelte. Er wunderte sich selbst ein wenig. Aus seinem Mund klang sein Bekenntnis zur Menschheit beinahe ein wenig pa‐ thetisch. Dabei meinte er es durchaus so, wie er die Worte gesagt hatte. Wenn Heather von seiner Entscheidung beeindruckt war, und das schien sie durchaus, hatte er nichts dagegen einzuwenden. Je‐ denfalls gab es keinen Anlaß, sentimental zu werden, und öffentlich schon gar nicht. Nicht jeder brauchte die Kratzer in seiner Oberfläche als harter Geschäftsmann und Politiker zu bemerken. Dafür gab es etwas, das viel zu sehr in seinem Magen rumorte. Roboterschiffe. Die Vorstellung einer seelenlosen Gemeinschaft von Maschinen, die nach der Menschheit griff, bereitete Wallis beinahe körperliche Übelkeit. Kamen sie aus eigenem Antrieb, oder gab es jemanden, der sie schickte, während er selbst unsichtbar und unerkannt im Hin‐ tergrund blieb? »Begleiten Sie mich aufs Dach«, forderte er die Reporterin auf. »Ich will doch mal sehen, ob meine Entscheidung überhaupt etwas be‐ wirkt.« Als sie oben ankamen, wurde die Veränderung auf den ersten Blick ersichtlich. Das Leuchten am Himmel hatte nachgelassen. Jetzt konnte man sogar die Sterne wieder sehen. Heather atmete erleich‐ tert auf, als sie den Erfolg der zusätzlichen Energieeinspeisung in das
Schirmkraftwerk sah. »Sieht so aus, als ob wir noch einmal davongekommen wären.« Wallis nickte kaum merklich. »Für eine Weile. Fragt sich nur, für wie lange.« Denn ein Gegner, der eine so großangelegte Offensive startete, wie die Roboterschiffe es taten, gab bestimmt nicht so schnell auf.
10. »Feuer!« Ren Dhark preßte das Wort zwischen seinen beinahe ge‐ schlossenen Lippen hervor. Es war unnötig, doch die verbale Bestä‐ tigung nahm ihm einen winzigen Teil des Drucks, der auf ihm las‐ tete. Keinem Offizier in der Kommandozentrale ging es anders als ihm. Trotz all der Erfahrung, über die seine Mitstreiter verfügten, konnte niemand seine Anspannung verbergen. Zu viel stand auf dem Spiel. Und zu viel drohte in diesen Minuten verloren zu gehen. Das Abbild der Erde versetzte dem weißblonden Mann einen Stich. Sie lag da wie auf dem Präsentierteller, klein und verletzlich. Zu allem Übel wußten die verdammten Roboter offenbar genau darüber Bescheid, wo an der Erdoberfläche die Generatorstationen standen, die den Nogk‐Schirm mit Energie speisten. Eben war wieder ein Angreifer ausgeschaltet worden, der einen der neuralgischen Punkte unter Feuer genommen hatte, doch für jedes zerstörte Roboterschiff rückte mindestens ein Ersatz nach. »Commander, die CALGARY, sie…« Leon Bebirs Stimme versagte. Unwillkürlich folgte Ren dem Blick seines Zweiten Offiziers zu ei‐ nem anderen Ausschnitt des Raums, den die Bildkugel zeigte. Der angesprochene Ringraumer war angeschlagen und nicht mehr in der Lage, sich in Sicherheit zu bringen. Dhark war versucht, ihm zu Hilfe zu eilen, doch es war zu spät. Wie ein Film, den er bereits kannte, spielte sich das Drama vor seinen Augen ab, ohne daß er es verhindern konnte. Ren fühlte sich ohn‐ mächtig angesichts der neuartigen Waffe der Roboter, die sich in völliger Selbstüberschätzung als das Volk bezeichneten. Als das Volk, das es sich zum Ziel gesetzt hatte, sämtlichen »Bio‐ müll« in der Galaxis zu vernichten. Biomüll – nicht einmal ein son‐ derlich verniedlichender Euphemismus für die Lebewesen der Milchstraße. Dhark hatte das Gefühl, daß sich ihm der Magen um‐
drehte. Wie die Roboter ihr Ziel zu erreichen suchten, sah er vor sich. Mit Kompri‐Nadel, todbringenden Strahlen, die Nadel glichen, wobei die Energieabgabe im Ziel aber auf einen ungleich geringeren Durchmesser gebündelt und dadurch selbst Intervallfeldern gefähr‐ lich wurde. Was Arc Doorn so beinahe harmlos klingend benannt hatte, zeigte seine erschreckende Wirkung einmal mehr. Eine kleine Sonne leuchtete im All auf und flutete mit ihrem Lichtblitz die Bildkugel der POINT OF. Unzählige Strahlenbahnen waren darin zu sehen, die von den bizarren Roboterschiffen stamm‐ ten und nach den irdischen Verteidigern griffen, von denen gerade wieder einer vernichtet worden war. Die CALGARY existierte nicht mehr. Und als nächstes sollte die POINT OF an der Reihe sein – aber nicht mit ihm. Mit höchster Konzentration flog Ren Dhark einen Aus‐ weichkurs, um nicht gleich mit einer ganzen Rotte Angreifer zu‐ sammenzustoßen. Die Antennen des Ringraumers spuckten Nadel in die gegnerischen Karoschirme, was die kaum aufleuchten ließ. So war ihnen nicht beizukommen, doch die Roboter waren für Sekun‐ den beschäftigt. »Hyperkalkulatoren des Verbands zusammenschließen! Check‐ master, Koordination übernehmen!« Dharks Gruppe bestand neben seinem Schiff aus sechs weiteren Raumern. Einen hatte er verloren. Dafür war er jetzt so erdnah wie kaum eine von Bultons Einheiten, und er dachte nicht daran, sich auch nur einen Schritt weiter zu entfernen. Das Bordgehirn hatte keine Probleme damit, die verbliebenen sieben Ringraumer wie eine Einheit zu steuern. Schon übernahm das Bordgehirn der POINT OF, änderte den Kurs, errechnete in Nanosekunden eine Angriffsstrate‐ gie und aktivierte den Gefechtsnexus. Die Gruppe jagte an einem Roboterschiff vorbei, das aussah wie die ins Gigantische vergrößerte und dabei verunglückte Version eines Kinderkreisels, der mit zahlreichen Auslegern gespickt war. Sekundenlang stand ein Vorhang aus rosaroten Strahlen in der
Schwärze des Alls, die sich in den Schirm des einzelnen Schiffs bohrten. Sie waren nur eine Finte. Im selben Moment, in dem sie erloschen, traten hellgelbe, sich lichtschnell aufbauende Röhrenfel‐ der an ihre Stelle. Wuchtkanoneneinsatz! Dharks Gedanken waren so schnell wie die stärkste Waffe der Menschheit. Im Innern des gelben Felds wurde jegliche Masse neutralisiert. Erst wo es auf ein Hindernis traf, das größer war als der Röhrendurch‐ messer selbst, kam es zu einem Verwerfungseffekt im Feld, der des‐ sen Wirkung aufhob und jeder Materie ihre Masse zurückgab. In diesem Fall einer kleinen, auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigten Tofiritkugel. Oder besser: gleich vielen davon. Der Checkmaster feuerte eine Breitseite aus allen acht Ge‐ schütztürmen der POINT OF gleichzeitig und bezog auch die sechs Begleitschiffe mit ein. Gebannt verfolgte Dhark das Schauspiel, als sich auf dem leistungsstarken Schirm des Roboterschiffes unter der enormen Belastung der Einschläge karoförmige Muster bildeten. Die Offiziere in der Zentrale des Ringraumers hielten die Luft an, als der Karoschirm aufflackerte, sich gegen das Verhängnis stemmte und… kollabierte. In einem eruptiven Aufblitzen verging der Krei‐ sel. Niemand war zum Jubeln zumute, denn ein abgeschossener Ge‐ gner war nicht mehr als der berühmte Tropfen auf einen heißen Stein. Trotzdem besaß jeder Erfolg auch einen psychologischen Ef‐ fekt. Sie ließen sich knacken, auch wenn die Verluste ungleich ver‐ teilt waren. Mochte die Anzahl der Ausfälle auch annähernd gleich sein, verfügten die Roboter über den wesentlich höheren Nachschub, den sie in die Waagschale werfen konnten. »Der Nogk‐Schirm flackert heftiger«, stieß Dan Riker aus. »Ver‐ dammt, Ren, da ist wieder einer durchgedrungen.« Die Durchbrüche der Roboterraumer zur Erde ließen sich nicht
vollständig verhindern, so sehr sich die Verteidiger ihnen auch ent‐ gegenwarfen. Die Schlacht tobte im gesamten Sonnensystem, da erzielten die Angreifer zwangsläufig Erfolge. Wer von ihnen durch war, war durch. Bultons in zwei Flotten aufgeteilte TF konnte keine Schiffe zum Schutz der Erde abstellen, da sie ausnahmslos in Kämpfen gebunden waren. Noch versuchten die beiden Rotten ihre Positionen auf Höhe der Venusbahn und der Marsbahn zu halten und die Gegner dort zu binden. Nur schlüpften halt immer wieder welche durch. Durch jede einzelne Einheit, die der Marschall zum Schutzschirm beordert hätte, wären zwangsläufig weitere Angreifer freigesetzt worden. Sie hätten den Nogk‐Schirm erst recht zerstört. Doch auch so ließ sich der Augenblick seines Zusammenbruchs absehen. Argwöhnisch verfolgte Dhark den Verlauf der Kampfhandlungen, während der Checkmaster einen weiteren Angriff flog. Wenn sie sich weiter Richtung Erde verlagerten, war es nur eine Frage der Zeit, wann die Hauptstreitmacht der Roboter über Terra stand. »Tino, halten Bultons Verteidigungslinien?« »Der Flottenchef weicht keinen Meter zurück«, antwortete der Mailänder von seinen Ortungseinrichtungen. »Allerdings häufen sich seine Verluste. Wenn es so weitergeht, werden seine Reihen löchrig wie ein Schweizer Käse.« »Vielleicht sollten wir ihm zu Hilfe eilen«, schlug Riker vor, der bis vor knapp drei Jahren Bultons Vorgesetzter gewesen war. »Er kann jedes Schiff brauchen.« »Nicht nur er. Er hat uns nicht umsonst sieben seiner Schiffe zur Unterstützung gegeben, sondern weil er genau weiß, was hier ab‐ geht. Tut mir leid, Dan«, lehnte Dhark ab. »Wir werden hier ge‐ braucht, wenn noch mehr Roboter durchkommen. Bulton würde mir zustimmen.« »Schon gut. Du hast ja recht.« Verzweifelt überlegte der ehemalige Commander der Planeten, was er tun konnte, um das drohende Schicksal des Untergangs ab‐
zuwenden. Bisher hatte er noch immer einen Weg gefunden. Schlagartig befiel ihn Ernüchterung. Danach sah es diesmal nicht aus. Auch einen Ren Dhark mußte irgendwann das Glück des Tüchtigen verlassen. Wie es aussah, schien dieser Tag gekommen zu sein. Doch Ren war nicht bereit, sich damit abzufinden. * »Ein weiterer Gegner ist vernichtet«, verkündete Hen Falluta. Der Erste Offizier versuchte, zuversichtlich zu klingen, doch es gelang ihm nicht. Die gelegentlichen Abschüsse der Roboterschiffe konnten nicht über die eigenen Ausfälle hinwegtäuschen. Der Checkmaster agierte und reagierte schneller, als der beste Kommandant das jemals gekonnt hätte. Ren ließ ihn gewähren, auch wenn er jederzeit bereit war, manuell in die Schiffssteuerung ein‐ zugreifen, sobald es sich als nötig erwies. »Zehn Robotraumer sind an anderer Stelle durchgebrochen. Sie haben die Mondbahn bereits hinter sich gelassen.« Grappa kontrol‐ lierte seine Ortungsergebnisse und extrapolierte den Kurs. Sein Ge‐ sicht wirkte eingefallen, als er in seinem Sessel herumfuhr. »Sie nä‐ hern sich Alamo Gordo.« »Checkmaster, Kurs ändern«, reagierte Dhark sofort. »Ist bereits eingeleitet.« Wie zur Bestätigung der Aussage des Bordgehirns vollführte die POINT OF einen Schwenk und jagte 100.000 Kilometer außerhalb der Atmosphäre dem neuen Ziel ent‐ gegen. »Die Roboter feuern bereits!« kommentierte Falluta die Darstellung der Bildkugel überflüssigerweise. Alle in der Zentrale Versammelten wurden Zeuge des massiven Feuerschlags. Die Strahlenbahnen ka‐ men anscheinend aus dem Nichts und zerteilten den erdnahen Raum in streng begrenzte Abschnitte. Die feuernden Schiffe selbst waren noch nicht zu sehen, was den Vorgang unheimlich erscheinen ließ.
»Die wissen genau, wo sie treffen müssen, um den Nogk‐Schirm auszuschalten«, meldete sich Arc Doorn zu Wort. »Wenn wir nichts unternehmen, hält er nicht mehr lange durch. Eine kleine Lücke an der richtigen Stelle, und die Kompri‐Nadelstrahlen finden ihren Weg zum Generator. Wenn das passiert, macht es richtig bumm.« »Roboterschiffe in der Vergrößerung zu sehen«, meldete Bebir. »Eines ist häßlicher als das andere.« »Wenn das unser einziges Problem wäre, wäre ich glücklich und zufrieden«, knurrte der Worgun in Menschengestalt. »Leider haben die ein bißchen mehr drauf als nur ihr unästhetisches Aussehen.« Und das setzten die Angreifer ein. Wo die Besatzung unter dem Schirm Alamo Gordo wußte, leuchtete der Schirm gefährlich hell auf. In einem Ausschnitt von mehreren hundert Quadratkilometern Ausdehnung tobten Energiegewitter, als die einschlagenden Ener‐ giemengen absorbiert wurden. »Ich habe ein Roboterschiff für einen Angriff ausgewählt«, kün‐ digte der Checkmaster an. Es war dasjenige, das am weitesten vorgerückt war. Plötzlich wurde es in einen blendenden Lichtschein getaucht. In gespen‐ stischer Stille spielte sich der Vorgang der Zerstörung ab und in ra‐ sender Schnelle. Der Checkmaster bündelte die Feuerkraft aller sie‐ ben Ringraumer und konzentrierte sich auf das ausgewählte Opfer. Die Einschläge, das Erlöschen von Kompri‐Nadel, der Ausfall des Karoschirms und die Explosion geschahen beinahe gleichzeitig. Bevor die Männer in der Zentrale den Erfolg verarbeitet hatten, drehte die POINT OF bereits ab. »Die anderen Schiffe reagieren nicht«, wunderte sich Riker. Tatsächlich machten sie keine Anstalten, sich gegen die Ringrau‐ mer zu verteidigen. Ihr einziges Augenmerk richtete sich auf den Nogk‐Schirm. Um ihn auszuschalten, nahmen sie in Kauf, aus‐ nahmslos zerstört zu werden. »Roboter«, bemerkte der Erste Offizier abschätzig. »Nehmen auf ihr eigenes elektronisches Dasein so wenig Rücksicht wie auf die
Lebewesen, die sie umbringen.« Noch einmal, dachte Ren bei sich. Der Meinung war der Checkmaster auch. Er startete einen weiteren Anflug und raste auf die Phalanx der Gegner zu, die sich weiterhin nicht beirren ließen, sondern mit der Sturheit von Maschinen ihr gesetztes Ziel verfolgten. »Elende Blechbüchsen«, schimpfte Doorn. »Dieses Desinteresse grenzt an unverhohlene Arroganz. Besser können sie nicht demons‐ trieren, was sie von uns halten.« Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als sich ein weiteres Ro‐ boterschiff in eine Miniatursonne verwandelte. »Das geht eine Spur zu leicht«, überlegte Bebir. »Die lassen sich abschießen wie die Tontauben. Noch achtmal anfliegen, und das Thema ist erledigt.« Ren verkniff sich eine Antwort. Er traute dem Frieden nicht. Auch wenn die Maschinen ihrem Ziel stur und emotionslos folgten, konnten sie nicht zulassen, bis auf das letzte Schiff vernichtet zu werden. Das hätte nämlich zwangsläufig das negative Ende ihrer Mission bedeutet. »Das bringt nichts.« Es waren die ersten Worte, die Artus seit einer ganzen Weile her‐ vorbrachte. Dafür waren sie um so zutreffender. Denn als der Checkmaster den Verbund zum dritten Mal in Angriffsposition brachte, geschah etwas, was seine bisherigen Erfolge konterkarierte. Zwei weitere Roboterschiffe stießen zu den acht verbliebenen. Und plötzlich flogen diese zehn Einheiten wie eine. * »Sie ändern ihre Taktik!« Rikers Warnruf gellte durch die Kommandozentrale. Auf einmal kümmerten sich die zehn Roboterschiffe nicht mehr um den Schutzschirm. Kaum hatten sie das Feuer eingestellt, als Bewegung
in die unterschiedlich geformten Raumer kam. In einer Ausschnitt‐ svergrößerung war ihr abrupter Kurswechsel zu sehen. »Anscheinend haben wir sie doch zu sehr geärgert«, schloß Doorn aus dem veränderten Verhalten. »Jetzt haben sie die Nase voll, und wir sind dran.« Die Roboter vollführten einen Schwenk und versuchten in die Flanke des Ringraumerverbands zu gelangen. Sie schossen gleich‐ zeitig. Ihre Kompri‐Nadelstrahlen jagten in die Intervalle der irdi‐ schen Schiffe, durch die ein schwacher Ruck lief. Die Andruckab‐ sorber schnellten auf Höchstleistung, als der Checkmaster die Schiffe aus dem Kurs riß. Unerwartet befanden sich die POINT OF und ihre Begleiter mitten im Gefecht. »Immerhin haben wir sie abgelenkt«, überlegte Riker. »Dafür haben wir sie im Nacken«, konterte Falluta. Ein paar di‐ rekte Treffer ließen die Intervalle aufleuchten, doch der Checkmaster brauchte nur Sekunden, um den Verbund wieder zu befreien. Gleichzeitig ließ er die Antennen sprechen. »Wuchtkanonen wurden aktiviert«, meldete sich Bud Clifton aus der WS‐West. »Normalerweise würde ich nicht darauf hinweisen, aber normalerweise schießen wir auch nicht daneben.« Und das bei der Treffsicherheit des Checkmasters. Gerade hatte Ren noch überlegt, selbst die Kontrollen zu übernehmen, doch sofort verwarf er den Gedanken wieder. Wenn das Bordgehirn, das um ein Vielfaches schneller war als er, in Schwierigkeiten geriet, drohte ihm das erst recht. »Wir erhalten nur sporadische Treffer«, kommentierte Falluta. »Der Checkmaster und die Roboter neutralisieren sich. Eine typische Pattsituation.« Mit der den Roboterschiffen nicht gedient sein konnte. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als zusätzliche Bemühungen zu unternehmen, wenn sie ihr Ziel erreichen wollten. Dhark hatte ein mulmiges Ge‐ fühl. »Artus, hast du eine Erklärung? Wieso steuern die Roboter jetzt
auch im Verbund?« »Ihre Gehirne sind durchaus in der Lage, eine ziemlich hohe An‐ zahl von Raumschiffen gleichzeitig zu steuern«, antwortete der hu‐ manoide Großserienroboter, aus dem dank eines Turing‐Sprungs ein intelligentes, denkendes und fühlendes Wesen geworden war. »Während meiner Anwesenheit bei ihnen habe ich erfahren, daß sie über Hierarchien verfügen, die in Lagen wie dieser die Unterord‐ nung großer Kontingente unter einen Ranghöheren ermöglichen.« »Warum hast du das bisher nicht erwähnt?« fragte Grappa. Das Gesicht des Leutnants an den Ortungseinrichtungen drückte Skepsis aus. Artus war bewußt, daß ihm viele in der Zentrale nach seinem vorgetäuschten Verrat an der Menschheit und seinem scheinbaren Überlaufen zu Hyperbel noch nicht wieder vertrauten. Zu seiner Erleichterung gehörte der von ihm hochgeschätzte Ren Dhark nicht zu den Skeptikern an seiner Aufrichtigkeit. Dabei gehörte seine Loyalität ausnahmslos der Menschheit und seinen Freunden an Bord. Da er sich nichts vorzuwerfen hatte, sah er es auch nicht ein, sich ständig zu rechtfertigen. »Bisher hat mich niemand danach gefragt«, antwortete er kurz angebunden. »Keine andere Antwort habe ich erwartet.« Ohne Artus eines Bli‐ ckes zu würdigen, widmete sich der Mailänder seinem Kontrollpult. »Ich stimme Artus zu«, sprang Dhark für den intelligent ge‐ wordenen Roboter in die Bresche. Mißmutig beobachtete er den um‐ liegenden Raum. Unter Leitung des Checkmasters gelang es dem Verbund nicht, einen Vorteil zu erzielen. Allerdings geriet er durch die Roboter auch nicht in ernsthafte Gefahr. »Tino, Verluste anzeigen«, forderte Ren. »Die Flotte hat weitere 28 Schiffe verloren«, las der Mailänder die nüchternen Zahlen ab. »Die Roboter 34.« »Das sieht nicht gut aus.« Denn diese 34 ließen sich aufgrund der absoluten Flottenstärke wesentlich leichter kompensieren. Riker fuhr
aus seinem Sessel in die Höhe und stapfte zur Bildkugel hinüber. »Aber je länger sich dieses Geplänkel hinzieht, desto länger hält der Schirm stand.« »Zu früh gefreut«, stöhnte Grappa. Seine Finger flogen über die Bedienungselemente. Rasch setzte er seine Anzeigen visuell um, indem er eine weitere Vergrößerung schaltete. In einem Segment der Bildkugel zeichnete sich die schlechte Nachricht für alle ersichtlich ab. »Weitere zehn Roboterschiffe nähern sich dem Nogk‐Schirm.« Für einen Moment schloß Ren die Augen. Mit einer solchen Ent‐ wicklung hatte er gerechnet. Diese Unterstützung für die Roboter konnten sie beim besten Willen nicht mehr auffangen. Selbst der geniale Checkmaster konnte keine Taktik erstellen, sich zwei ebenbürtigen Flotten zu stellen und sie vom Schutzschirm fernzuhalten. »Ich wollte, es wäre Nacht oder die Preußen kämen«, flüsterte Doorn. Er erinnerte sich noch deutlich an den Ausspruch, den der Herzog von Wellington angesichts einer bedrohlichen Lage gegen Napoleons Truppen in der Schlacht von Waterloo getan hatte. Da‐ mals war Doorn dabeigewesen, und heute war die Lage noch viel dramatischer. Als Ren die Augen wieder öffnete, nahm das Verhängnis seinen Lauf. Die Roboter griffen den Nogk‐Schirm an. Diese letzte Bewäh‐ rungsprobe konnte er nicht überstehen. * Ich konnte Tino Grappa keinen Vorwurf machen. Vielleicht hätte ich an seiner Stelle ebenso meine Zweifel gehabt. Schließlich war ich allein bei Hyperbel gewesen, und niemand konnte bezeugen, was dort wirklich geschehen war. Doch wenn ein Mensch dabeigewesen wäre, hätte er meine Ausführungen später auch nicht bestätigen können. Er wäre längst tot. Oder, wie das Volk sich ausdrückte, als Biomüll entsorgt worden.
Nur nebenbei bekam ich das Auftauchen von zehn weiteren Ro‐ boterschiffen mit. Etwas anderes beschäftigte mich so sehr, daß ein Großteil meiner Kapazitäten davon erschöpft wurde. Das durfte bei meinem extrem leistungsfähigen Gehirn nicht passieren, und doch war es so. Daher schloß ich, daß es etwas immens Wichtiges sein mußte, mit dem ich mich beschäftigte. Das Dumme war nur – ich konnte mich nicht daran erinnern. Bereits seit wir uns den ersten durchgebrochenen Schiffen gestellt hatten, sinnierte ich darüber nach. Wie konnte ich etwas vergessen haben, mir aber gleichzeitig darüber bewußt sein, daß das so war? Es hatte etwas mit den Roboterschiffen zu tun, wenn ich nicht irrte. Oder sogar mit Hyperbel? Je stärker ich mich darauf konzentrierte und versuchte, den Gedanken zu fassen, desto schwammiger wurde er. Trotzdem war ich sicher, keinem Irrtum aufzusitzen. Irgendwo in meinen Speichern steckte die Lösung. Natürlich war ich klug genug, kein Wort von meinem Dilemma zu erwähnen. Ein solches Eingeständnis hätte Grappas Mißtrauen in meine Person noch mehr geschürt, und das einiger anderer auch. Ich überlegte, ob ich Ren Dhark unter vier Augen darauf ansprechen sollte, entschied mich aber dagegen. Im Moment hatte er genug an‐ dere Probleme um die Ohren. Ja nachdem, wie diese Sache hier ver‐ lief, war meine Erinnerungslücke sowieso bald nicht mehr wichtig, weil wir dann alle tot waren. Oder zerstört, wie ein paar Unverbesserliche sich ausdrückten, wenn es um mich ging. Mich ärgerte nur die Ahnung, daß mein verlorenes Wissen ausge‐ rechnet in unserer momentanen Situation außerordentlich wichtig war. Ansonsten hätte mein Unterbewußtsein nicht gerade in der lebensbedrohenden Lage, der wir ausgesetzt waren, so vehement darauf hingewiesen. Ich saugte das Abbild der Roboterschiffe in mir auf und hatte den Eindruck, ein sonores Wispern zu vernehmen, das nur ich allein wahrnehmen konnte, weil es direkt in meinem Kopf entstand. Als
ich mich angestrengt darauf konzentrierte, sah ich nur ein undeut‐ liches, verschwommenes Bild. Es lieferte mir nicht mal einen Anhaltspunkt dessen, was es mir sagen wollte. Ob in den Köpfen der Menschen ähnliche Vorgänge abliefen, wenn sie sich im Unterbewußtsein an etwas erinnerten, das partout nicht mehr an die Oberfläche kommen wollte? Vermutlich schon. Wir waren uns noch viel ähnlicher, als sie ahnten, doch auch diese Er‐ kenntnis half mir nicht weiter. Mein abhandengekommenes Wissen blieb mir – zumindest vor‐ läufig – verborgen. Ich fand in die Wirklichkeit zurück, als ein überraschter Schrei Tino Grappas an meine Schallrezeptoren drang. * »Raumschiffe außerhalb des Sol‐Systems!« meldete der Mailänder mit vor Erregung heiserer Stimme. »Sie fliegen mit hoher Ge‐ schwindigkeit und befinden sich auf direktem Anflug.« Ein Raunen ging durch die Kommandozentrale der POINT OF. Irgendwer fluchte vernehmlich. Der Schutzschirm um die Erde stand endgültig vor dem Zu‐ sammenbruch. Leuchterscheinungen und Energiegewitter tobten an seiner gewölbten Oberfläche und prophezeiten sein bevorstehendes Ende. Eigentlich konnte es nicht mehr schlimmer kommen, und nun das. »Noch mehr Roboterschiffe?« fragte Dhark tonlos. Grappa schwieg und hantierte an seinen Kontrollen. Wie ein Der‐ wisch überprüfte er die eingehenden Daten, weil er sie im ersten Moment für fehlerhaft hielt. Schließlich schüttelte er ungläubig den Kopf. »Kneif mich mal einer, damit ich sicher bin, nicht zu träumen.« »Tino!« schnitt Rikers Stimme scharf durch die Luft. »Freund oder
Feind?« »Intervallfelder. Das sind Ringraumer. Liebe Güte, kann mir mal jemand sagen, wo die herkommen?« sprudelte es aus dem Mailänder heraus. Augenblicklich schwappte eine Welle der Hoffnung durch die Zentrale. Ren saß vor Anspannung kerzengerade in seinem Sitz. »Funk‐Z, kriegen wir irgendwas rein?« »Negativ. Wer immer die sind, sie scheinen ebenfalls Probleme mit ihrem Funk zu haben, und offenbar wissen sie nichts von unserer Spezialfrequenz.« »Dafür bekomme ich weitere Werte herein«, meldete sich wieder Grappa zu Wort. »Ich muß mich korrigieren. Die Schiffe verfügen zwar über Intervalle und kommen mit Sternensog, aber es sind keine Ringraumer. Haltet mich für verrückt, aber das sind… Ikosaeder.« »Ikos mit Intervalltechnik? Kein Zweifel möglich, Tino?« »Nein.« Der Leutnant schüttelte den Kopf. »Die Messungen liefern jetzt glasklare Daten. Es sind tatsächlich Ikos, zehn Stück an der Zahl. Aber das ist noch nicht alles. Sie werden angeführt von einem Ovoid‐Ringraumer, und der besteht ebenfalls aus Carborit.« Verblüfft starrte Dhark seinen Ortungschef an. Eins stand fest: Die elf Schiffe stammten nicht von der Erde. Wenn er sich nicht irrte, konnte es nur einen anderen Herkunftsort für sie geben, und der lag in M53. * »Flotte im Anflug auf das Sol‐System«, meldete Manuel Rayes, während er die THOMAS weiterhin mit Maximalwerten abbremste. »Ausgezeichnet, Nummer Eins. Ich bin sicher, dort wird man über unser Auftauchen erfreut sein.« »Anscheinend stecken unsere Brüder und Schwestern von Terra gewaltig in der Klemme.« Was vermutlich stark untertrieben war.
Bereits die Langstreckensensoren hatten erfaßt, daß im irdischen Sonnensystem schwere Kämpfe tobten. Sämtlichen Or‐ tungsergebnissen zufolge schien es sich um eine Invasion zu han‐ deln, auch wenn noch detaillierte Informationen fehlten. Jackson hätte sich gern über Funk Informationen vom Oberbefehlshaber der TF eingeholt, doch vor wenigen Minuten war die Hyperfunkver‐ bindung der Flotte zusammengebrochen. Dafür hatte das Rendez‐ vous der THOMAS mit den zehn Ikos wie erhofft geklappt. »Wallis steckt mittendrin, wenn ihm in dem Chaos nicht noch die Flucht gelungen ist.« Das konnte der General sich nicht vorstellen. Zweifellos war Edens Staatschef nicht so dumm, die Erde mitten in einer ausgewachsenen Raumschlacht zu verlassen. Per Transmitter konnte er auch nicht geflohen sein, da die Verbindung unterbrochen war. »Mister Lewald, ich will informiert werden, wenn die Funk‐Z auch nur den kleinsten Funken auffängt.« »Aye, Sir. Bisher ist das nicht mehr als statisches Hinter‐ grundrauschen .« »Mister Merier, Mister Tepermann, sämtliche Waffensysteme in Bereitschaft versetzen. Ich fürchte, daß wir sie schneller brauchen, als uns lieb ist.« Jackson strich sich scheinbar gelassen durch seinen Vollbart, dabei war er alles andere als das. Er hatte sich zwar einen Erprobungsflug unter ernsthaften Bedin‐ gungen gewünscht, doch an eine Raumschlacht hatte er dabei be‐ stimmt nicht gedacht. Allerdings hatte er auch nicht für den Bruchteil einer Sekunde ge‐ zögert, der Erde zu Hilfe zu eilen. Alain Sanet hegte die gleichen Gedanken. »Erst die Teddys und jetzt das. Ganz schön viel Rummel für den ersten Raumflug unserer Schönheit. Hoffentlich bringen wir sie in einem Stück wieder nach Hause.« »Rüste dich, halte dich bereit, du und dein ganzes Heer, das bei dir versammelt ist; sei mit ihnen auf dem Posten«, rezitierte Jackson aus
der Bibel. »Keine Sorge, Nummer Zwei. Mit unserer kleinen Flotte sind wir alles andere als wehrlos.« Der Ortungschef nickte. »Trotzdem wäre mir wohl, wenn ich wüßte, in welches Wespennest wir da stoßen.« »Das werden wir möglicherweise bald erfahren.« Lewald nahm eine für ihn selbst ungewohnte Einstellung an der Funkanlage vor. »Ich empfange etwas auf einer Frequenz, die mir völlig unbekannt ist.« »Lassen Sie mal hören.« Zunächst waren nur unzusammenhängende Brocken zu verstehen. Es dauerte eine Weile, bis der Funker die Störungen und Randge‐ räusche herausgefiltert und einen verständlichen Empfang bewerk‐ stelligt hatte. Dafür überschlugen sich danach die hin‐ und herge‐ jagten Rufe. »Das läßt nur einen Schluß zu. Bis auf diese eine Frequenz sind alle anderen tot. Ich frage mich, wo die Terranische Flotte die ausgegra‐ ben hat. Was ist das überhaupt für ein Kauderwelsch? Ich verstehe kein Wort.« »Hauptsache die Übertragung funktioniert.« Rayes war schon mit wenig zufrieden. Wenn er den Ovoid‐Raumer ins Feuer führte, wollte er zumindest wissen, woran er war. »Ist es möglich, einen Kontakt zur TF herzustellen?« »Am besten direkt zu Marschall Bulton, um überflüssige Dienst‐ wege zu umgehen«, forderte Jackson. »Wie es aussieht, ist nämlich nicht viel Zeit für Erklärungen.« Lewald nickte. »Ich arbeite dran.« »Ich messe zahlreiche schwere Explosionen an«, meldete Sanet. »Das sieht nicht gut aus. Da fliegen ganz schön die Fetzen.« Jackson nickte. Was das bedeutete, war klar. Das waren nicht nur ein paar kleinere Geplänkel. Um das Sol‐System tobte eine gewaltige Schlacht, die nur dann einen Sinn machte, wenn jemand versuchte, Terra zu erobern oder zu vernichten. »Was ist mit den Waffensys‐ temen?«
»Ohne Einschränkungen einsatzbereit«, antwortete Tepermann von der Waffensteuerung. »Ausgezeichnet.« In der Bildkugel war inzwischen das Son‐ nensystem der Menschheit zu sehen. Der General kniff die Lippen zusammen, als eine Vergrößerung einen Pulk bizarr geformter ang‐ reifender Schiffe zeigte. Für einen Moment schien es, als spränge die THOMAS mitten zwischen sie, dann hatten sich Augen und Ver‐ stand an die übergangslos veränderte Darstellung gewöhnt. Plötzlich fuhr Lewald zu seinem Kommandanten herum. »Ich habe Verbindung, Sir. Marschall Bulton für Sie.« »Herein damit!« Im nächsten Moment erklang die ungläubige Stimme des irdischen Marschalls, die Jackson noch aus früheren Zeiten kannte. »Sind Sie das, Oberst Jackson?« »Jackson stimmt noch, ansonsten inzwischen aber General. Doch keine Nebensächlichkeiten, Marschall. Wir sind hier, um Ihnen un‐ sere Hilfe anzubieten.« »Die wird dankend angenommen, General. Ich kann Ihnen keine langen Erklärungen geben, Sie müssen mir vertrauen. Im Gegensatz zu uns funken Sie Klartext, was sich als verhängnisvoll für Sie er‐ weisen kann. Die Roboterschiffe, die uns angreifen, verfügen über Virenprogramme, gegen die wir mit Schutzprogrammen ausgerüstet sind, Ihre Schiffe aber nicht. Daher müssen Sie absolute Funkstille einhalten.« »In Ordnung, Marschall.« Jackson kannte Bulton gut genug, um zu wissen, daß der seine Gründe hatte, wenn er eine solch drastische Forderung stellte. »Wir sind nicht in die taktische Lage eingebunden. Was sollen wir also tun?« »Meine Schiffe sind in der Nähe des Mars gebunden. Nehmen Sie direkten Kurs auf die Erde. Der Feind versucht, den Schutzschirm um die Erde zu durchbrechen. Sie müssen ihn unter allen Umstän‐ den daran hindern. Und denken Sie daran, General: Absolute Funk‐ stille wahren.«
»In Ordnung. Wir machen uns sofort auf den Weg. Jackson Ende. – Sie haben es gehört, Nummer Eins. Direkter Kurs auf die Erde. Wollen doch mal sehen, ob wir nicht das Zünglein an der Waage spielen können. Mister Lewald, Rundruf an die Ikos.« »Verbindung steht. Phase ist offen, Sir.« So kurz wie möglich gab Jackson seine Befehle durch. »Unsere primären Angriffsziele sind die Schiffe, die den Nogk‐Schirm unter Feuer nehmen. Keine falsche Bescheidenheit, meine Herren Kano‐ niere. Je mehr Gegner wir ausschalten, desto größere Chancen hat Terra, der Invasion zu entgehen. Und von jetzt an will ich von kei‐ nem Schiff mehr einen Mucks hören«, schloß er. »Wer unaufgefor‐ dert den Funk benutzt, schiebt sein Schiff zurück nach M 53. Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt.« Ohne die Bestätigungen der Kommandanten abzuwarten, been‐ dete er die Verbindung. Schräg von oben kommend, hatte die kleine Flotte das Sol‐System inzwischen erreicht und schickte sich an, auf die Bahnebene der Planeten einzuschwenken. Als die Erde im Zentrum der Bildkugel stand, fühlte Jackson sich seltsam berührt. Er schob den Gedanken von sich, weil er ihn von seiner eigentlichen Aufgabe ablenkte. Die zeigte sich, kaum daß Grissom Lewald den Funk komplett abgeschaltet hatte. In der Ortung verfolgte der General, wie die zehn Ikos in Fä‐ cherformation gingen. Jeder steuerte einen anderen Angriffspulk über dem grell leuchtenden und an manchen Stellen gefährlich fla‐ ckernden Schutzschirm an. »Wir sind dran, Nummer Eins.« In Jacksons entschlossenen Zügen traten die Wangenknochen hervor. »Bringen Sie uns runter.« »Kurs, Sir?« »Kurs Alamo Gordo. Zur Hauptstadt der Erde.« Eruptionen von Lichtkaskaden drangen aus dem Nogk‐Schirm und spritzten als Hunderte Meter lange Jets in den Raum. Sie wur‐ den ausgelöst von Kompri‐Strahlen, die aus den Geschütz‐ mündungen von sechs Roboterschiffen stammten.
»Viel Feind, viel Ehr«, bemerkte Josh Laudrup, der Pilot der ROBERT, angesichts der Angreifer, die den Schutzschirm über der Generatorstation außerhalb von Rio de Janeiro beschossen. Die kleine Flotte hatte sich aufgelöst. Wie die anderen Schiffe agierte nun auch die ROBERT auf eigene Faust. Jakob Jensby ließ sich von dieser Tatsache kein bißchen be‐ eindrucken. Er war die Gelassenheit in Person. Sie war das Marken‐ zeichen des 1,76 Meter großen und hageren Mannes, den viele als dürr bezeichneten. Dieser Anschein wurde noch verstärkt durch seinen spitzen Kopf mit der Glatze. Obwohl der Generalmajor äu‐ ßerlich alles andere als attraktiv war, hatte er das gewisse Etwas, das ihn bei fast jeder Frau landen ließ. Vielleicht war das der Grund, warum der Vegetarier aus Leidenschaft, der in seiner Freizeit nicht nur gern, sondern auch sehr gut malte, bisher überzeugter Jungge‐ selle geblieben war. »Ihre überlegene Anzahl sagt nichts über ihre Fähigkeiten aus«, wies er seinen Piloten zurecht. »Der Überraschungseffekt ist zudem auf unserer Seite.« »Ich bin sicher, die haben uns längst bemerkt«, warf Luca Tardelli ein. Der stämmige Schweizer mit dem raspelkurzen schwarzen Haar hockte vor seiner Funk‐ und Ortungsanlage wie eine auf Beute lauernde Spinne in ihrem Netz. »Warum ignorieren sie uns dann?« »Weil sie uns nicht ernst nehmen.« Jensby lächelte. »Könnte sein. Also verschaffen wir uns mal ein wenig Aufmerksamkeit. Mister Laudrup, bringen Sie uns mitten in den Pulk hinein, aber nicht mit angezogener Handbremse, wenn ich bitten darf.« »So habe ich es gern.« Das war jedem an Bord bekannt. Bevor Laudrup, Däne wie sein Kommandant, bei der Flotte von Eden an‐ geheuert hatte, hatte er sich einen Namen als waghalsiges Fliegeras bei interplanetaren Flug Wettbewerben gemacht. Der Generalmajor persönlich hatte ihn mit der Aussicht gelockt, auch mal größere
Schiffe fliegen zu können als die zwar schnellen, aber kleinen Kreu‐ zer, die er bis dato pilotiert hatte. Nun zeigte der Pilot, was er in seinem früheren Leben gelernt hat‐ te. Die ROBERT sprang den Roboterschiffen buchstäblich entgegen. Auf den Monitoren zeichneten sich erste Details ab, besonders die mächtigen Geschütztürme, die Jensby respektvoll begutachtete. »Ganz schöne Ballermänner«, kommentierte Cliff Joel, der die Waffensteuerung handhabte. »Aber Bangemachen gilt nicht. Ich bin überzeugt, daß wir mit unseren neuen Wuchtkanonen da mithalten können. Gefechtsnexus ist programmiert.« Das glaubte Jensby auch. Außerdem vertraute er auf das Interval‐ lum, das dank zweier Worgun‐Kraftwerke doppelt so stark war wie das der Ringraumer. Auch die Effizienz des Kompaktfeldschirms war auf die doppelte Leistung erhöht worden. Wer sich mit der ROBERT anlegte, brauchte schon ein paar schlagkräftige Argumente. »Annäherung auf 500 Kilometer«, las Tardelli von seinen Anzeigen ab. »Immer noch keine Reaktion.« »Feuer!« Der Kommandant spie das Wort mit der Vehemenz eines Geschosses aus. Bis zuletzt hatte Joel damit gerechnet, die Programmierung auf‐ heben und beim Angriff improvisieren zu müssen. Seine Aufgabe erschien ihm zu einfach, und auch jetzt reagierten die Invasoren nicht auf den anfliegenden Ikosaeder. Joel hieb auf eine Taste seiner Station und löste das vorprogrammierte Chaos aus. Hektische Anzeigen tanzten über seine Konsole, während eine schematische Darstellung die Feuerstöße dokumentierte. Die ROBERT jagte eine volle Breitseite aus elf Wuchtkanonen auf ein einziges Ziel. Das erweiterte Kaliber von 5,5 Zentimetern verlieh den Tofiritkugeln eine noch destruktivere Wirkung. Gleichzeitig feuerte sie mit sämtlichen in ihre Hülle laminierten Nadelstrahl‐ und Dust‐Antennen. »Synchrones Feuer aus allen verfügbaren Waffen. Ausnahmslos im Ziel.«
Die Offiziere sahen nur die Wirkung. Von einem Moment auf den anderen brach der Karoschirm eines Roboterraumers zusammen, als hätte er nie existiert. Die nun ungebremsten Nadel‐ und Duststrah‐ len stanzten Krater in das dunkle Metall des Schiffs und lösten den Umwandlungsprozeß von Materie in Energie um. »Der Kasten explodiert.« In der Zentrale setzte verhaltener Jubel ein, als inmitten des Pulks eine kleine Sonne entstand, die sich rasend schnell ausbreitete. »Sie stellen das Feuer auf den Schirm ein!« Plötzlich kam Bewe‐ gung in die Invasoren. »Achtung, sie nähern sich uns und versuchen uns einzukreisen.« »Raus hier, Mister Laudrup! Bringen Sie uns auf Distanz!« Der Pilot beschleunigte und legte einen waghalsigen Schlingerkurs hin, um kein Ziel zu bieten, doch er kam nicht weit. Die Gegner handelten mit der Zielstrebigkeit von seelenlosen Maschinen. Nicht einmal Jensby ahnte ihr koordiniertes Manöver voraus. Eben noch hatten sie sich nach eigenem Gutdünken dem Nogk‐Schirm gewidmet, nun feuerten sie mit einer Abstimmung im Nanosekun‐ denbereich. »Sie setzen Kompri‐Nadel ein!« Fünf feine Strahlen jagten in den Raum hinaus und vereinigten sich im Ziel. Jäh flackerte das verstärkte Intervallum der ROBERT auf, wurde zu einer strahlenden Glocke und brach übergangslos in sich zusammen. Sofort griff der Hyperkalkulator ein und baute den KFS auf. Für Sekunden nur, dann stand er auch unter Feuer. »Wir müssen raus aus der Umklammerung! Sonst knacken die uns!« »KFS flackert. Der verabschiedet sich gleich. Fluchtkurs, Laudrup.« Der Däne führte einen halsbrecherischen Tanz mit dem Iko auf und beschleunigte mit SLE, doch die bizarren Schiffe hatten ihre Trägheit überwunden und flogen in seinem Kielwasser, ohne sich abschütteln zu lassen.
Im nächsten Moment brach der KFS zusammen. Nur noch die Carborithülle stand zwischen der ROBERT und ihrer Vernichtung. Laudrup prügelte sie in ein scharfes Ausweichmanöver, zog sie hin und her und jagte sie an der Peripherie des Nogk‐Schirms entlang. Vergeblich. Es gelang ihm nicht, einen rettenden Vorsprung zu gewinnen. Da feuerten die Roboter schon wieder…
11. In der Bildkugel brannte das All. Feuer, Glut, Blitze, Tod. Die Ge‐ wißheit des Endes traf ihn wie ein Fausthieb. Plötzlich wurde ihm klar, daß er nichts zurücklassen würde, nichts. Die Innenbeleuchtung flackerte. Bleiche Gesichter in den Ar‐ beitsbuchten rund um die Bildkugel und aus dem Bordfunk ein Gewirr von Stimmen. Manche überschlugen sich, manche klangen gepreßt, manche beherrscht, und dazwischen immer wieder die monotone Kunststimme des Hyperkalkulators. Volltreffer, schoß es Jensby durch den Kopf, ein verfluchter, ver‐ dammter, beschissener Volltreffer… »Volltreffer!« kam es prompt aus dem Maschinenleitstand und wie zur Bestätigung gleich darauf auch aus dem Gefechtsstand. »Dop‐ pelintervallum zusammengebrochen! Temperaturalarm auf Segment West drei‐siebzehn…!« Die Zentrale der ROBERT hallte von den Hiobsbotschaften wider. »Kompaktfeldschirm zusammengebrochen! Volltreffer in West drei‐siebzehn! Mindestens zwei Waffenantennen ausgefallen! Volltreffer in West drei‐siebzehn! Volltreffer in West drei‐siebzehn…!« Jensby warf sich in seinen Sessel im Kommandostand. So rasch kam der Tod? So unerwartet? Temperaturalarm und ausgefallene Waffenantennen – das konnte doch nur eines heißen: Die Carbori‐ thülle war aufgeplatzt! Aufgeplatzt… ich lasse nichts zurück, nichts… Einen Atemzug lang brach die Innenbeleuchtung vollständig zu‐ sammen. Jensby war ein alter Hase, Jensby hielt sich für abgebrüht, Jensby glaubte auf diesen Augenblick vorbereitet zu sein. Falsch. Angst hatte er, wie gelähmt war er. Nur die Bildkugel erleuchtete die Zentrale jetzt noch: Eine Glut‐ kugel, eine Flammenkugel, eine Kugel aus Blitzen, grellen Lohen und Lichtschlieren. Als würde das Höllentor selbst in der Zentrale
schweben, so kam es Jensby vor. Auf einmal standen ihm seine Eltern vor dem inneren Auge. Neben ihnen der Hofhund, hinter ihnen die Stallungen zwischen den Lin‐ den und Geräte im Maisfeld. Seine Schwester saß auf einem Traktor. Sein Vater blickte ihn vorwurfsvoll an, seine Mutter traurig. Sie würde er zurücklassen. Einen unversöhnten Vater und eine traurige Mutter… Im gleichen Moment wurde ihm klar, daß es den gut zweihundert Männern und Frauen an Bord in diesem Moment nicht anders ging als ihm selbst; Männer und Frauen, für die er verantwortlich war. Weg mit den Bildern! »Die Ortungsdaten in die Kugel!« brüllte er. »Ich will sie sehen, die verdammten Roboter…!« Die Innenbeleuchtung flammte wieder auf, in der Holo‐ grammkugel erlosch die Hölle, und an ihrer Stelle glitzerten die Reflexe von fünf zerklüfteten Metallklumpen: die Angreifer! Fünf Robotraumer! Fünf von ehemals sechs! »Was ist los auf West drei‐siebzehn?!« brüllte Jensby ins Mikro. Er brüllte gegen seine Todesangst an. »Druckverhältnisse, Temperatur, Gravitation, Luftgemisch! Welche Geräte genau sind ausgefallen! Die Daten, wo bleiben die Daten…?!« Das Gebrüll half – sein Kopf wurde kalt, seine Hände hörten auf zu zittern. Die Leuchtskizze der ROBERT erschien auf seinem Kontroll‐ monitor. Der getroffene Bereich leuchtete rot und blinkte. Listen von Ziffern, Zeichen und Buchstaben blätterten sich auf – Gravitation, Temperatur, Atemluft, Druck in den Räumen unterhalb des getrof‐ fenen Außenbereiches: Die Temperatur war auf über 30 Grad Celsius gestiegen, alle anderen Werte pendelten unterhalb der kritischen Marke. Jensby hatte Schlimmeres erwartet. Vier Waffenantennen waren ausgefallen. Doch wie stand es um die Intervallwerfer? Und wie um die KFS‐Generatoren? Wenn die De‐ fensivwaffen nicht mehr funktionierten… »Dann gute Nacht«, zischte der Däne. »Gute Nacht und leb wohl…« »Sie hat gehalten!« jubelte es plötzlich aus dem Bordfunk.
Die Stimmen aus dem Maschinenleitstand und Gefechtsleitstand übertönten einander. »Die Carborithülle hat gehalten!« Die Männer schrien ihre Erleichterung hinaus. »Die Schäden sind offenbar mi‐ nimal! Die Hüllenintegrität steht nicht in Frage…!« Die erste Kampferfahrung der fabrikneuen ROBERT. Niemand hatte erwarten können, daß die verstärkte Carborithülle den verfluchten Komp‐ ri‐Nadeln standhalten würde. Immerhin waren die in der Lage, Unitall zusammenzufalten wie ein Stück Papier. »Gott segne Robert Saam.« Jakob Jensby sank zurück gegen die Sessellehne. Er seufzte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Möge er ewig leben! Möge er ewig saufen, vögeln und Raumschiffe bauen…« Drei Sekunden, um einmal Luft zu holen und zweimal den Kons‐ trukteur seines Schiffes zu segnen – mehr Zeit blieb dem General‐ major von Eden nicht. Schon stürzten die nächsten Meldungen aus den einzelnen Abteilungen auf ihn ein: Der Hyperkalkulator zählte die Koordinaten des Fluchtkurses herunter, die Ortung peilte wei‐ tere feindliche Verbände im Anflug an, die fünf Robotraumer for‐ mierten sich erneut zum Angriff. »Kommandant an Bordtechnik!« Der hagere Offizier sprang auf und stützte sich auf die Instrumentenkonsole. »Was ist los mit den Defensivsystemen?« Sein Blick flog zwischen den Roboterraumern in der Bildkugel und der Leuchtskizze seines Flaggschiffes hin und her. »Kommandant an Ortung! Guckt euch den Stachelpanzer aus, der uns am nächsten ist! Kommandant an Gefechtsleitstand: Grüßt ihn aus allen Waffengattungen! Alle noch verfügbaren Geschütze auf einen Roboter, ist das klar?! Kommandant an Technik – ich will wissen, was mit den Defensivsystemen…!« »Bordtechnik an Zentrale.« Die Stimme des Chefingenieurs der ROBERT unterbrach Jensby. »Über den Zustand der Feld‐ schirmaggregate liegen uns noch keine Informationen vor. Das Doppelintervallum ist vorübergehend zusammengebrochen, aber grundsätzlich intakt. Wir arbeiten daran!«
»Davon gehe ich aus! Beeilen Sie sich…!« Und wieder leuchtete die Bildkugel auf: Ein greller Lichtkranz aus haarfeinen Nadelstrahlen löste sich aus dem Fünferverband der Robotraumer. »Kurskorrektur!« brüllte Jensby. »Neunzig Grad Süd!« Der Lichtkranz oszillierte zwischen rot und weiß, verlängerte sich blitzartig ins All hinein und verfehlte die ROBERT nur knapp. Der Hyperkalkulator hatte rechtzeitig ausweichen können. »Kommandant an Technik – noch einmal: Beeilen Sie sich!« Der hagere Generalmajor im Kommandostand hatte jetzt auch seine Stimme wieder im Griff. »Die Roboter nehmen uns plötzlich ver‐ dammt ernst, wie Sie merken!« Nur nicht die Besatzung verrückt machen, immer Ruhe ausstrahlen, Ruhe… »Um Gottes willen – be‐ eilen Sie sich…!« Ruhe, Ruhe… es gelang ihm nicht. Wie aus dem Nichts wuchs eine blaugrüne, orange und ro‐ safarbene Lichtwand in der Bildkugel. Sie verdichtete sich zu Ener‐ giestrahlen und Glutkaskaden, raste den unförmigen Robo‐ tereinheiten entgegen und konzentrierte ihre Zerstörungskraft auf eines der fünf Schiffe. Der Gefechtsleitstand feuerte aus fast allen noch zur Verfügung stehenden Geschützen. Nadelstrahlsalven, Mix‐2, Mix‐4 und Geschosse der neuen Wuchtkanonen trafen den Raumer der Roboter. »Treffer«, sagte die emotionslose Stimme des Hyperkalkulators. »Entfernung des getroffenen Objekts: 323.987 Kilometer.« Das war fast am Ende der Reichweite der neuen, verbesserten Wuchtkanonen vom Kaliber 5,5 Zentimeter. Eine künstliche Sonne blähte sich an der Stelle auf, wo in der Bildkugel eben noch der erste der Robotraumer heranflog. Männer und Frauen sprangen von ihren Sesseln hoch und jubelten. »Treffer! Treffer…!« Nur vier Angreifer verfolgten jetzt noch die ROBERT. »Kommandant an Ortung – was ist mit dem Nogk‐Schirm?« Eine ungeheure Sehnsucht nach der Erde und nach der dänischen Provinz hatte Jensby plötzlich ergriffen; lächerlich, aber unwiderstehlich. »Hält«, kam es vom Aufklärungsstand. In der Bildkugel erschien
die Erde. Der sie umgebende Schutzschirm leuchtete nur noch schwach. Nirgends mehr die bedrohlich glühenden Stellen, die ei‐ nem Zusammenbruch vorausgingen. Jakob Jensby atmete auf. Die terranischen Verteidiger hatten offensichtlich einen Weg gefunden, die Generatorstationen mit zusätzlicher Energie zu versorgen. »Ortung an Kommandant – feindlicher Verband aus Süd 34‐91‐17!« Terra, die gute alte Erde – so nah und doch so fern! Der Gene‐ ralmajor riß sich vom Anblick des alten Heimatplaneten los und konzentrierte sich auf sein Arbeitshologramm. Wieder ein Fün‐ ferverband! Auch der schien den Beschuß des Nogk‐Schirms aufge‐ geben zu haben, um Jensbys Flaggschiff aus dem Kosmos zu schaf‐ fen. »Mist!« Der Generalmajor von Eden ballte die Hände zu Fäusten. »Kommandant an Hyperkalkulator…!« Er gab einen Fluchtkurs vor und wies den Bordrechner an, die Geschwindigkeitsgrenzen des SLE‐Antriebs auszureizen. »Kommandant an Technik – was ist jetzt mit den Schirmen? Wir brauchen sie! Wir brauchen sie jetzt, oder wir sind erledigt…!« Im Zickzackkurs raste die ROBERT durch das erdnahe Son‐ nensystem. Die Gravitationsneutralisatoren liefen auf Hochtouren, ihre Aggregate arbeiteten mit höchstmöglicher Leistungsabgabe. Irgendwie gelang es dem Hyperkalkulator, den feindlichen Komp‐ ri‐Nadelsalven auszuweichen, und irgendwie gelang es ihm, die Distanz zwischen Jensbys Flaggschiff und den Verfolgern von Se‐ kunde zu Sekunde zu vergrößern. Endlich dann die erlösende Meldung des Chefingenieurs: »Technik an Kommandant – das Doppelintervallum steht wieder!« »Ich schlage Sie bei Wallis zur Beförderung vor, Mann!« Jensby riß beide Arme hoch und legte seinen Kopf in den Nacken, als würde über der Gewölbedecke der Zentrale ein Gott wohnen, dem er dan‐ ken wollte. »Und was ist mit dem KFS?« »Ist in wenigen Sekunden wieder einsatzbereit…«
* An einigen Plätzen standen sie noch immer, klatschten noch immer in die Hände, rissen von Zeit zu Zeit die Arme hoch und schüttelten die Fäuste. Besonders Rayes und Sanet, die beiden Südländer, taten sich mal wieder durch wilde Gesten und lautes Jubelgeschrei hervor. Nun ja, sie hatten allen Grund zu Ole und Bravo: Jensby, dieser Ver‐ rückte, hatte es tatsächlich geschafft, einem Pulk von sechs Roboter‐ raumern den Beschuß des Nogk‐Schirms über der Generatorstation von Rio de Janeiro zu vermiesen. Der Kommandant selbst jubelte nicht, applaudierte nicht einmal. Er redete leise mit sich selbst; oder besser: Er redete mit seinem Gott. »Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe…« Säulengleich und mit auf dem Rücken verschränkten Armen stand Jackson vor der zentralen Bildkugel. Über dreitausend Lichtpunkte glitzerten darin. Rot die immer noch weit über zweitausendvier‐ hundert feindlichen Robotraumer, grün die nicht einmal mehr tau‐ send Schiffe der Terranischen Flotte. Es stand schlecht um die Ver‐ teidiger. Und es stand schlecht um Terra. »Er errettet dich vor dem Strick des Jägers und vor der ver‐ derblichen Pest…« Keine Bewegung der in Kleinverbänden operierenden Einheiten entging ihm, jeden erlöschenden Ortungsreflex registrierte er, und wenn es ein grüner war, der aus dem Hologramm verschwand, schnürte es ihm das Herz zusammen. »… er wird dich mit seinen Fittichen decken, und Zuflucht wirst du haben unter seinen Flügeln…« Mit besonderer Aufmerksamkeit beobachtete er jetzt den einzelnen grünen Reflex, der von neun roten Punkten verfolgt wurde. Noch war Jensby nicht aus dem Schneider. Allerdings vergrößerte sich der Abstand zwischen dem Gejagten und seinen Jägern lang‐
sam, aber stetig. Inzwischen manövrierte der Ikosaederraumer au‐ ßerhalb der Reichweite der Roboterwaffen. Gerettet! Die ROBERT hatte es geschafft! Jakob Jensbys neues Schiff hatte zwei Robotrau‐ mer vernichtet und war dem eigenen Abschuß knapp entkommen. »… wenn auch tausend fallen zu deiner Seite und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen…« Auf den Kampfstationen beruhigten sich die Männer allmählich wieder. Jubel und Applaus verstummten, die Leute konzentrierten sich auf ihre Aufgaben. Nur die Lippen des bärtigen Kommandanten bewegten sich noch immer murmelnd. General Thomas J. Jackson betete einen der vierzig Psalmen, die er auswendig konnte. Keiner der Offiziere in der Zentrale der THOMAS hörte ihn, aber alle wuß‐ ten, daß er betete. Jackson betete oft, und irgendwie waren sie froh, unter einem Mann fliegen zu dürfen, der beten konnte. »Der Nogk‐Schirm glüht nicht mehr so stark, mon General.« Die Stimme des Ortungsoffiziers tönte aus dem Bordfunk. »Etliche Ro‐ botraumer stellen den Beschuß ein und greifen statt dessen Ring‐ raumer der Terranischen Flotte an…!« »… und unsere zehn Ikosaeder, ich weiß es, Mister Sanet, ich weiß es.« Als Dreijähriger hatte Jackson angefangen, die uralten Gebete und Lieder der Bibel auswendig zu lernen, jedes Jahr einen neuen Psalm. Hundertfünfzig Psalmen enthielt das Alte Testament. »… und ich wünschte, es wären mehr Ringraumer der Flotte hier, die sie ang‐ reifen könnten.« General Thomas J. Jackson war fest entschlossen, als hundertdreiundfünfzigjähriger Veteran im Bett zu sterben. Mit dem hundertfünfzigsten Psalm auf den Lippen. »… denn der Herr ist deine Zuversicht, der Höchste ist deine Zu‐ flucht. Es wird dir kein Übel begegnen, und keine Plage wird sich deinem Hause nahen…« »Jensby hat es geschafft!« Manuel Rayes, Jacksons Erster Offizier, drehte sich nach dem General um und reckte den rechten Daumen in die Höhe. »Jensby hat es noch einmal gerade so geschafft!«
Der HERR hat es geschafft, lag es Jackson auf der Zunge, aber er nickte nur. Zu viele schafften es nicht, zu viele starben im Feuer der tödlichen Kompri‐Nadeln. Über vierzig Schiffe der Terranischen Flotte hatten die Roboter bereits vernichtet und selbst sechsundsieb‐ zig verloren. Sechsundsiebzig Maschinen und über vierzigmal min‐ destens sechs Menschenleben, bei manchen Schiffen auch viel mehr. Die Rechnung drängte sich gegen seinen Willen in sein Hirn und in seine Gebete: Mindestens vierzig mal sechs Menschenleben, min‐ destens zweihundertvierzig Männer und Frauen. Alle hatten sie Väter und Mütter. Viele hatten Ehemänner und ‐frauen, etliche hat‐ ten Geliebte, Brüder, Schwestern, Freunde, Söhne, Töchter, Enkel‐ kinder… Und schon erhob sie sich wieder, die uralte Frage, die böse Frage, schon stand sie in seinem Hirn auf: Warum ließ Gott so etwas zu? Solche Schlachtereien? Solche sinnlosen Schmerzen? Solche uner‐ meßlichen Verluste an Menschenleben? General Thomas J. Jacksons Gestalt straffte sich. »Weiterhin Kurs auf Alamo Gordo!« Seine Stimme klang tonlos und streng. »Noch vierhundertneunzigtausend Kilometer«, sagte Rayes, sein Erster Offizier. »Im Prinzip sind wir da. Oder wollen Sie etwa lan‐ den, Sir?« »Reden Sie keinen Unsinn, Nummer Eins!« Jackson verließ seinen Kommandostand und trat vor die Bildkugel. Der Hyperkalkulator hatte die Ortungsdaten in visuelle Darstellungen umgerechnet, und der General sah genau das, was zu sehen er befürchtet hatte: Die Angriffe der Roboter konzentrierten sich auf die wichtigste Stadt Terras. »Gott…!« entfuhr es dem General dennoch. Und dann leiser: »Gott ist unsere Zuversicht und Stärke…!« Die nur noch knapp zehn Millionen Kilometer durchmessende Kugelformation der Feindflotte schloß die Erde inzwischen förmlich ein. In 625 Vierergruppen hatten die Roboter sich aufgeteilt. Einigen Dutzend war der Durchbruch zur Erde gelungen, und fünf davon griffen den Nogk‐Schirm über Alamo Gordo an.
Zwanzig Feindschiffe also, und gerade mal neun terranische Raumer verteidigten den Schutzschirm über der Hauptstadt; ein Ringraumer alter Worgun‐Bauweise sowie acht Schiffe der etwas größeren Rom‐Klasse, neue Ovoid‐Ringraumer mit dem charakte‐ ristischen ovalen Rumpfquerschnitt. Weitere, kleinere Einzelverbände versuchten an anderen Stellen des Schutzschirms, andere Vierergeschwader der Roboter zu ver‐ treiben, denen der Durchbruch ebenfalls gelungen war. Der größere Teil der Terranischen Flotte jedoch warf sich dem mörderischen Überraschungsangriff der Roboter entgegen. Die eine Hälfte unter Raummarschall Bulton etwa vier bis sechs Millionen Kilometer ent‐ fernt Richtung Süden und Marsbahn, die zweite unter General Clark zwei bis vier Millionen Kilometer entfernt Richtung Norden und Venusbahn. Wie vielen Viererverbänden der Roboter tatsächlich bereits der Vorstoß zum Nogk‐Schirm und damit zur Erde gelungen war, wußte niemand an Bord der THOMAS, und wohl auch an Bord der anderen zehn Einheiten von Eden nicht. Auf Jacksons Carborit‐Ringraumer und den zehn Carborit‐Ikosaedern unter seinem Kommando herrschte absolute Funkstille. »Treffer!« Sanet, der Erste Ortungsoffizier, hob entsetzt beide Ar‐ me. »Mon Dieu! Sie haben einen Ovoid‐Ringraumer abgeschossen!« Thomas J. Jackson verstummte. In der Bildkugel blähte sich eine Glutkugel auf. Vier Roboterraumer hatten sich auf den einzelnen Terraner eingeschossen, während die anderen sechzehn den übrigen acht Verteidigern einen Scheinangriff geliefert hatten. Jackson preßte die Lippen zusammen. Wie viele Männer und Frauen waren da eben unter seinen Augen gestorben? Wie viele Mütter, Väter, Kinder, Partner und Geliebte würden in den nächsten Tagen in Schmerz erstarren? Niemandem in der Zentrale war noch nach Jubeln zumu‐ te. Pinkfarbene Lichtkränze aus haarfeinen Nadelstrahlen blühten plötzlich im All rund um die Roboter auf, und jeder noch so feine
Strahl war ein Bündel aus unzähligen, hyperkonzentrierten Ener‐ giefasern, deren Durchmesser sich im Nanometerbereich bewegte und denen kein Intervallum, kein Kompaktfeldschirm auf die Dauer widerstehen konnte. Ein Teil der gigantischen Vernichtungsenergie fuhr unter die acht terranischen Verteidiger, die größere Menge traf den Nogk‐Schirm über Alamo Gordo und ließ ihn aufglühen. »Kurs auf die zwanzig Roboter, Nummer Eins!« befahl General Thomas J. Jackson. Ein Satz des jungen Davids aus dem Buch Samuel fiel ihm ein: Du kommst zu mir mit Schwert, Lanze und Spieß, ich aber komme zu dir im Namen des Herrn Zebaoth… »Das ist unser Platz!« rief er. »Hier greifen wir an!« »Verstanden, Sir.« Manuel Rayes’ Stimme klang belegt. Aus schmalen Augen beobachtete der General das Kugelho‐ logramm. Sieben der acht verbliebenen Terraner manövrierten auf‐ fallend synchron, als würde ein Bordhirn ihre Aktionen ko‐ ordinieren. Ihr Feuer konzentrierte sich auf einen einzigen Roboter‐ raumer. »Sehen Sie sich das an, Messieurs!« Alain Sanet deutete auf die Bildkugel. »Sie schießen aus allen Geschützen auf ihn!« schrie der Franzose. »Außer Mix‐1 und Hy‐Kon kann ich alles anpeilen!« Der Roboter explodierte, und ein Jubelschrei wie aus einer Kehle erfüllte die Zentrale. Jackson triumphierte: »Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich…« Fünfzehn Roboterraumer steuerten unbeirrt und mit hoher Ge‐ schwindigkeit die Formation der acht terranischen Schiffe an. Die Ringraumer reagierten mit gewagten Ausweichmanövern und Feuer aus Wuchtkanonen und Mix‐2. Die Schirme der Roboter glühten unter Treffern. Sie belegten die Terraner mit Kompri‐Nadel, schos‐ sen gleichzeitig auf den die Erde umgebenden Nogk‐Schirm und rasten mitten hinein in die sich auflösende Achterformation. Sieben der Ringraumer fanden rasch wieder zu einem leidlich
geordneten Geschwader zusammen und nahmen den nächsten Ro‐ boter unter konzentrierten Beschuß aus Mix‐1, Mix‐4 und Wucht‐ kanonen. Ein terranischer Raumer jedoch entfernte sich besonders weit von diesem koordiniert operierenden Verband. »Ist das der zweite Ovoid‐Ringraumer, den sie da abgedrängt ha‐ ben?« fragte Jackson. »Ja, mon General!« antwortete Sanet. »Sie haben ihn gezielt von seiner Gruppe getrennt!« Die vier Roboterschiffe, die den ersten Ovoid‐Ringraumer ver‐ nichtet hatten, eröffneten nun das Feuer auf den zweiten; Komp‐ ri‐Nadel! Innerhalb von Sekunden verwandelte sich sein Intervallum in ein gleißendes Spinnennetz. »Das hält sein Schirm nicht lange durch!« rief der Erste Offizier. »Beeilung, Mister Rayes!« sagte Jackson. »Steuern sie die vier Ro‐ boter mit Höchstgeschwindigkeit an! Wir müssen sie vom Terraner ablenken!« »Gefährliches Spiel, Sir!« Der Erste Offizier wirkte nervös. »Die Aufmerksamkeit der anderen fünfzehn ist uns sicher. Denken Sie an Jensby…!« »Was reden sie da, Nummer Eins! Kein Spiel, Rayes, blutiger Ernst! Wir aber kommen im Namen des Herrn…!« * Konzentrierte Stille in der Zentrale. So still, daß Ren Dhark die Atemzüge der Männer und Frauen an den Konsolen zu hören glaubte. Sein Herz schlug ihm in der Kehle, er schritt den Umkreis des Hologramms ab. Der künstliche Glutball darin erlosch nach und nach. Nur eine Gaswolke war von dem Ovoid‐Ringraumer noch übriggeblieben. Auch die verblaßte bereits und trieb auseinander. »Sie wenden unsere Taktik an.« Artus, der Roboter, brach das Schweigen als erster. »Schließen sich zu von einem Rechner ge‐
steuerten Verbänden zusammen und konzentrieren ihre Kampfkraft auf einen Ringraumer!« Er wandte sich an Ren Dhark direkt. »Und glaub mir, Dhark – ein Roboterverband, der von einem ranghohen Kunsthirn koordiniert wird, ist schlagkräftiger als jeder von einem Checkmaster geführte Verband.« Ren Dhark winkte ab. Er wollte davon nichts hören. Und vor allem sollten seine Leute dergleichen nicht hören müssen. Für den Kampf brauchte er zuversichtliche Männer und Frauen und einen freien Kopf. »Wir müssen das angegriffene Schiff so schnell wie möglich unter die Kontrolle des Checkmasters bringen!« rief Chris Shanton. »Sonst ist es das nächste Opfer!« Das stimmte nicht – das nächste Opfer war ein Roboterraumer. Der Checkmaster der POINT OF koordinierte die Waffensysteme aller sieben Einheiten, und farbige Feuerklingen zerschnitten die Schwärze des Alls. Sie trafen den Schirm des Angreifers an sieben oder acht Stellen und vereinigten sich in kürzester Zeit zu einem einzigen Glutspeer. Der konzentrierte alle Vernichtungsenergie auf einen Punkt. Der Schirm brach zusammen, Feuer hüllte den zer‐ klüfteten Metallbrocken ein, und zehn, zwanzig Sekunden später stand dort, wo eben noch ein Roboterraumer geflogen war, eine künstliche Sonne. »Treffer«, kam es aus dem Bordfunk. Niemand kommentierte die gute Nachricht. Neunzehn Roboterschiffe waren noch nicht getrof‐ fen. Sie hatten sich zu synchron operierenden Verbänden von zehn, vier und fünf Schiffen zusammengeschlossen. Der Sechserverband hatte eine Einheit verloren. »Die zehn Ikosaeder von Eden haben sich rund um die Erde ver‐ teilt«, meldete Tino Grappa. »Sie greifen jeden Roboter an, der den Schirm beschießt.« »Gut«, sagte Dhark. »Aber nicht gut genug.« Dan Riker stieg vom Kommandostand. »Die verdammten Stachelmonsterkähne haben die Jagd auf sie schon
eröffnet. Unsere Freunde von Eden mögen dem Nogk‐Schirm und uns eine Galgenfrist verschaffen, aber selbst wenn jeder von ihnen zwanzig Roboter mit in die Hölle nimmt, bleiben immer noch genug, um den Schirm zu löchern.« Er kam zu seinem alten Freund und Kampfgefährten Dhark, blieb neben ihm stehen und starrte mit ihm in die Bildkugel. Fünfzehn Roboterschiffe griffen an. »Es ist zum Kotzen, es ist dermaßen zum Kotzen…!« »Mr. Riker hat recht!« Bert Stranger meldete sich zu Wort. Der kleine, dicke Starjournalist mit den abstehenden Ohren sprach mit ungewöhnlich heiserer Stimme. Ren Dhark wollte es sogar scheinen, als zitterte sie. Stranger stand hinter Bebir und Amy auf dem Kom‐ mandopodest, und sein bleiches Gesicht stand in Kontrast zu seinem roten Haar. »Wir sind erledigt… o Gott…! Terra ist verloren…!« »Raus hier!« Ren Dhark wurde laut. »Bringt ihn raus hier!« Leon Bebir, der Zweite Offizier der POINT OF, sprang auf und winkte drei Fähnrichen. Die verließen ihre Arbeitsplätze und stiegen zum Kommandostand hinauf. »Kommen Sie, Mr. Stranger.« Bebir faßte den Journalisten von Terra‐Press am Arm. »Wir bringen Sie besser in Ihre Kabine.« Stranger nickte nur. Widerstandslos ließ er sich von Bebir und den drei Fähnrichen zum Hauptschott West führen. Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Er machte ganz den Eindruck eines Mannes, der sich für seinen Ausrutscher genierte. Das Schott schloß sich hinter ihm und den Fähnrichen. Leon Bebir kehrte in den Kommandostand zurück. »Solange wir noch atmen, sind wir nicht erledigt!« Ren Dhark blickte sich unter den Männern und Frauen in der Zentrale um. »Aber das brauche ich Ihnen nicht zu sagen!« Zuletzt blieb sein Blick auf Dan Riker ruhen. »Nicht Ihnen!« Riker erwiderte nichts, wies aber mit einer Kopfbewegung aufs Hologramm. Fünfzehn Roboterraumer verschwanden darin hinter einer Wand aus gleißendem Licht. »Kompri‐Nadelbeschuß!« tönte es aus dem Bordfunk. Und dann gingen die Meldungen fast zeitgleich ein: Intervallum und Kom‐
paktfeldschirm zu über neunzig Prozent belastet; bei zwei Schiffen der Siebenerformation brachen die Defensivsysteme zusammen; eine gewaltige Kompri‐Nadelsalve traf den Nogk‐Schirm direkt über der Generatorstation Alamo Gordo; der Checkmaster mußte die Kampfformation des Siebenerverbandes kurzzeitig aufgeben; und der ursprünglich attackierte Ovoid‐Ringraumer wurde abgedrängt. »Die vier Roboter greifen die VENTURA an.« Grappa sprach von den vier feindlichen Einheiten, die schon das erste Schiff des Ver‐ bandes vernichtet hatten. Sie taten tatsächlich genau das, was auch die POINT OF und die sechs anderen Ringraumer taten, die der Checkmaster übernommen hatte und koordinierte: Sie konzentrierten ihr Feuer auf jeweils ein Schiff; leider mit dem gleichen Erfolg wie die POINT OF und ihr Verband. »Sein Intervallum versagt!« Vergeblich bemühte Grappa sich um eine nüchterne Tonlage. »Sie machen ihn fertig, verflucht! Sie ma‐ chen ihn fertig…!« Die beiden Ovoid‐Ringraumer waren unerwartet zum Siebe‐ nerverband der POINT OF gestoßen; das war höchstens vier Mi‐ nuten her. Bulton hatte ein Geschwader aus fünf neuen Schiffen nach Alamo Gordo gesandt, um die wichtigste Stadt Terras zu verteidi‐ gen. Nur zwei hatten ihr Ziel erreicht, nur eines war übriggeblieben. Und das drohte in diesen Sekunden ebenfalls im Kompri‐Nadelfeuer der Roboter verlorenzugehen. »Mayday, Mayday…!« Die Funkzentrale leitete den Notruf des Ovoid‐Ringraumers im O‐Ton in die Zentrale. »Mayday, Mayday!« »Nehmen Sie Kurs auf die VENTURA!« Ren Dhark fuhr herum. »Machen Sie hin, Leutnant Bebir! Wir müssen ihn raushauen…!« Die Innenbeleuchtung flackerte, das Hologramm strahlte in glei‐ ßendem Weiß, als wollte es explodieren, irgend jemand schrie, und irgend jemand fluchte. »Sie feuern aus allen Geschützen!« Grappas Stimme überschlug sich schier. »Sie legen eine regelrechte Feuer‐ wand zwischen uns und die VENTURA…!«
»Wir kommen nicht durch!« Dan Riker rannte zurück zum Kom‐ mandostand. »Die verfluchten Monsterschildkröten lassen uns nicht durch…!« Im Hologramm verblaßte der gleißende Lichtsturm. Ren Dhark konnte sehen, wie der Checkmaster die POINT OF und die sechs Ringraumer zu einer bumerangförmigen Formation zusammenzog – und das Feuer aus Mix‐2, Mix‐4 und Wuchtkanonen auf einen der Roboter eröffnete. »Einzelner Ringraumer aus Nord 13‐84‐21!« meldete Grappa. »Anfunken«, verlangte Bebir. »Über die Geheimfrequenz und mit Cheyennecode!« »Er steuert die VENTURA und die vier Roboter an!« Wieder Grappas Stimme. »Der Fünfzehnerverband zieht sich auseinander. Fünf Roboterraumer ändern ihren Kurs…!« »Funkzentrale an Kommandanten!« Elis Yogan, der Zweiter Fun‐ ker, machte Meldung. »Der Ringraumer identifiziert sich nicht. Er reagiert nicht auf unsere Funksignale.« »Der Raumer ist nicht aus Unitall«, kam es von der Ortung. »Es ist aus Carborit!« »Dann ist es ein Schiff von Eden«, rief Dan Riker. »Die hat Bulton zur Funkstille verdonnert!« »Eden hat nur einen Ringraumer im System: Die THOMAS unter General Jackson!« Ren Dhark rannte zu Grappas Arbeitsbucht. »Was hat er vor?« »Er will der VENTURA zur Hilfe kommen.« Die tonlose Stimme Artus’ tönte wieder durch die Zentrale. Der Roboter stand hinter Chris Shanton und Arc Doorn an der Hauptschnittstelle und ver‐ folgte die Manöver des Checkmasters. »Ein Fehler«, sagte er. »Ein tödlicher Fehler, er kennt die Roboter noch nicht.« »Aber du kennst sie, Artus!« rief Riker. »Du warst bei ihnen, du kennst sie doch! Was sollen wir tun?« »Ich denke die ganze Zeit nach, irgendeine Möglichkeit ist noch offen, aber ich komme nicht darauf. Laßt mir Zeit.«
»Wie können wir dir etwas lassen, was wir nicht haben…?« Ren Dhark ließ sich neben Grappa in einen Sessel fallen und beäugte die Ortungsmonitore. Die THOMAS schob sich zwischen die VENTURA und die vier Roboter. Sie feuerte aus Wuchtkanonen, mit Nadelstrahl und Mix‐2. Die VENTURA hinter ihr drehte ab und suchte ihr Heil in der Flucht. Sie zog einen Feuerschweif hinter sich her. »Sie ist schwer getroffen!« Dan Riker ballte die Hände zu Fäusten. »Verdammt noch mal, sie haben sie erwischt!« »Sie haben recht, Tino!« Ren Dhark beugte sich vor, konzentriert beobachtete er die Ortungsmonitore. »Fünf von ihnen scheren aus! Was haben die vor?« Der Fünferverband der Roboter trennte sich von den zehn anderen und nahm Kurs auf das Carboritschiff von Eden. »Hinterher!« rief Ren Dhark. »Geht nicht«, sagte Bebir. »Der Checkmaster braucht jedes Schiff, um die zehn Roboter zu beschäftigen.« »Denn brechen wir gemeinsam durch!« Ren Dhark verließ die Ar‐ beitsbucht der Ortung und lief zum Kommandostand hinüber. »Commander an Checkmaster! Erstens: koordinierter Durchbruch! Hundertprozentiges Risiko, um die VENTURA zu retten! Notfalls muß die POINT OF selbst vorübergehend aus dem Verband aus‐ scheren! Zweitens: Da ist ein Ringraumer von Eden aufgetaucht – mit ihm muß uns gelingen, was wir mit den beiden Verlusten nicht geschafft haben. Er muß unter deine Kontrolle, Checkmaster, hast du das verstanden?« Das Bordgehirn hatte verstanden und gab sein Okay. Während es aus den Geschützen aller sieben Schiffe des Synchrongeschwaders Feuerschutz legte, schoß die Bumerangformation in einem steilen Winkel nach oben, beschleunigte mit SLE bis an die Grenzen der Triebwerkskapazität, jagte über die zehn Roboter hinweg und dem feindlichen Fünferverband hinterher, der THOMAS entgegen. »Treffer!« jubelte Sergio Scagliettis Stimme aus dem Bordfunk. In der Bildkugel explodierte ein Roboterschiff. »Nur noch achtzehn!«
Außer Rochards Fähnrich im Waffenleitstand verfiel niemand in Euphorie. Zu deutlich zeichnete sich das Schicksal der getroffenen VENTURA ab. Noch immer funkte sie Mayday. »Die VENTURA hat sechzehn Flash und acht Rettungskapseln abgesetzt!« meldete Grappa. Im Hologramm sah man einen Robo‐ terraumer aus dem Viererverband ausscheren. Ein Treffer der THOMAS hatte ihn beschädigt. Jacksons Gefechtsleitstand hatte ihn mit Wuchtkanonen unter Feuer genommen. »Noch siebzehn.« »Dhark an Checkmaster! Gib den Ringraumer frei, der dem Hava‐ risten am nächsten steht! Er soll die Flash und die Rettungskapseln an Bord nehmen…!« »Die LINCOLN nimmt Kurs auf den Havaristen«, meldete das Bordgehirn. »Der Fünferverband ist bis auf vierhunderttausend Kilometer an Jacksons Schiff heran«, meldete Grappa. »Ein, zwei Minuten noch, dann ist sein Schiff in Schußweite von acht Roboterraumern.« »Und wir? Wie weit sind wir noch entfernt?« wollte Ren Dhark wissen. »Siebenhundertsechzigtausend Kilometer«, sagte Riker. »Entweder unser Checkmaster nimmt die THOMAS unter seine Fittiche, oder die Roboter schießen sie ab.« Shanton sprang auf und starrte in die Bildkugel. »Wie denn?« rief Arc Doorn. »Wie soll der Checkmaster die Steuerung übernehmen, wenn die Edenschiffe ihren Funk deak‐ tiviert haben?!« Kompri‐Nadel zerteilte das All in unzählige Fächer. In der Bild‐ kugel verschwand die THOMAS hinter einem Schleier aus pinkfar‐ benem Licht. »Ihr Schirm bricht zusammen!« schrie Grappa. »Das Doppelintervallum hält den Beschuß nicht aus! Der Kompaktfeld‐ schirm gibt auch schon nach…!« »Commander an Checkmaster und Gefechtsleitstand!« »Wir hören, Sir«, antwortete Rochards Stimme aus dem Bordfunk. »Für zwei Minuten Feuerpause auf der POINT OF…« Im zentralen
Kugelhologramm konnte Dhark beobachten, wie eine Salve Komp‐ ri‐Nadel die THOMAS traf. Billardkugeln aus grellem Licht gleich sprangen die Energieladungen vom gewölbten Rumpf des Carbo‐ rit‐Raumers ab und rasten als Querschläger ins All. Der neue Schiffstyp schien eine Menge auszuhalten. »Feuerpause? Habe ich richtig verstanden, Sir?« »Ich bin noch nicht fertig, Rochard«, sagte Ren Dhark. »In der Feuerpause schießen sie Duststrahlen ab. Geringste Intensität und weiteste Streuung! Es geht nur darum, daß die Strahlung in sieben‐ hunderttausend Kilometern Entfernung noch anzupeilen ist.« »Okay, okay – aber…« »Und jetzt hören Sie gut zu, Rochard: Ich brauche die schwachen Duststrahlen in ganz bestimmten Intervallen…«
12. »Technik an General – Doppelintervallum steht wieder! KFS hält! Aber noch so einen Treffer stehen wir nicht durch! Noch so ein Ding, und beide Defensivsysteme brechen zusammen!« »Waffenleitstand an General – Treffer! Ein Roboterraumer schert beschädigt aus dem Viererverband aus!« »Preiset den Herrn!« Thomas J. Jackson breitete beide Arme aus. »Gut so, Mister Merier!« Er schüttelte die geballte Rechte in Richtung des Gefechtsleitstandes. Dort arbeitete York Merier. »Und weiter so! Packt euch den nächsten!« Der grauhaarige Kanadier reckte den Daumen nach oben und nickte. Jacksons Nummer Zwei war ein abgebrühter Veteran und der dienstälteste Offizier an Bord der THOMAS. »Was ist mit dem angeschossenen terranischen Ring‐ raumer, Monsieur Sanet!?« »Brennt. Schleust weitere Rettungskapseln aus. Ein planmäßiges Manöver sieht anders aus, mon dieu!« »Er funkt immer noch Mayday!« Grissoms Stimme aus der cock‐ pitartigen Bucht mit den Kommunikationsinstrumenten. »Die Mannschaft muß das Schiff aufgeben, wenn ich richtig verstanden habe!« »Der Herr behüte euch vor allem Übel«, murmelte Jackson. »Er behüte eure Seelen.« Und dann laut an die Adresse seines Ersten Offiziers: »Nehmen Sie Kurs auf den Havaristen, Mister Rayes! Wir müssen die Besatzung aus dem All einsammeln!« »Unmöglich, Sir! Die Roboter greifen schon wieder an! Drei von Süd 92‐23‐0,9, fünf von Nord 7‐59‐18!« »Dem Herrn ist nichts unmöglich, Nummer Eins…!« Im Zentral‐ hologramm verhüllten plötzlich weiße Glutschlieren das All. Die Innenbeleuchtung flackerte, für den Bruchteil einer Sekunde erloschen die Lichter sämtlicher Kontrollinstrumente, flammten aber sofort wieder auf.
»Technik an Zentrale! Treffer! Hundertsechzigprozentige Über‐ lastung der Sicherheitssysteme! Doppelintervallum zu‐ sammengebrochen, Kompaktfeldschirm hält noch…!« »Maschinenleitstand an Zentrale! Energieversorgung hat auf die Notaggregate umgeschaltet! Der KFS braucht zu viel Stoff…!« Jackson sprang aus seinem Sessel. »Kommandant an Hyperkalku‐ lator: Pendel‐, Schlinger‐ und Schaukelkurs auf allen Raumebenen!« Er brüllte. »Höchstgeschwindigkeit ausreizen!« »Ortung an General – das Siebenergeschwader der Terranischen Ringraumer nimmt Kurs auf uns! Es hat den Zehnerverband, Ver‐ zeihung, den Neunerverband der Roboter überflogen!« »Versuchen wir die THOMAS an seine Ostflanke zu manövrieren!« rief Jackson. »Dann fliegt das Geschwader zwischen uns und den Robotern! Im Feuerschutz der sieben kratzen wir unsere Energiere‐ serven zusammen und aktivieren wieder das Intervall!« »Und wenn es die POINT OF ist?« Manuel Rayes, der kleine, bul‐ lige Südländer mit dem carboritschwarzen Stoppelhaar, machte eine hoffnungsvolle Geste. »Und wenn es der Verband von Commander Ren Dhark ist!« Niemand reagierte. Die POINT OF? Jackson hatte seine Zweifel. Andererseits: Bevor die Funkzentralen seiner THOMAS und der zehn Ikosaederraumer von Eden auf Raummarschall Bultons Befehl hin verstummt waren, hatte sein Funkoffizier immerhin noch mithören können, wie Ren Dhark den Marschall um sieben Ringraumer bat, damit er als Kleinverband operieren und einzelne Roboterschiffe vor dem Nogk‐Schirm ab‐ fangen und beschießen konnte. Sieben Schiffe…? »Manuel könnte richtig liegen!« rief Sanet. »Ich habe sieben Reflexe in der Ortung, mon General! Es sind sechs Schiffe der Rom‐Klasse und eines der älteren Worgun‐Bauweise! Sehen Sie doch!« »Ich bin nicht blind, Nummer Drei!« Jackson spähte ins zentrale Hologramm. »Ein Ringraumer schert aus dem Synchrongeschwader aus!« Wie‐
der Alain Sanet vom Ortungsstand. »Er nimmt Kurs auf den bren‐ nenden Ovoid‐Ringraumer!« »Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, und Seine Güte währet ewig…«, flüsterte der bärtige General. Er hatte inzwischen gemerkt, daß er den Havaristen kaum noch rechtzeitig erreichen konnte. Und dann tönte sein Baß durch die Zentrale: »Überlassen wir ihm die Schiffbrüchigen! Wir nehmen weiterhin Kurs auf den verbündeten Verband, manövrieren an seine Ostflanke und fahren die Energie‐ versorgung samt Intervall wieder hoch!« »Verstanden.« Von allen Seiten kamen die Bestätigungen. »Und danach ordnen wir uns in den Verband ein und schießen ausschließlich auf die feindlichen Einheiten, die auch er unter Feuer nimmt!« Jackson ließ sich wieder in seinen Kommandosessel fallen. »Sehr gut, Sir!« Manuel Rayes wiederholte die Befehle und gab sie an die einzelnen Abteilungen weiter. Der Erste Offizier hatte wieder Hoffnung geschöpft. Er war Feuer und Flamme. Wie immer tat er, was er tat, mit Herzblut. Ein guter Mann, dieser kleine Spanier. Schon auf der TERENCE hatte er als Jacksons rechte Hand gedient. Im Hologramm zeigten die visualisierten Ortungsdaten, wie das einzelne Schiff sich dem Wrack näherte und die ersten Ret‐ tungskapseln an Bord schleuste. Die sechs in der Bumerangforma‐ tion verbliebenen Ringraumer feuerten mit Nadelstrahl, Mix‐2, Mix‐4 und vor allem mit Wuchtkanonen. In einem raffinierten Ma‐ növer hatte das terranische Geschwader sich zwischen den ange‐ schossenen Ovoid‐Ringraumer und das Rettungsschiff geschoben. Rayes steuerte die THOMAS in einem wilden Schaukelkurs unter dem verbündeten Geschwader hindurch, um ebenfalls dahinter zu gelangen. Auf einmal stellte der Ringraumer an der Spitze des Bumerangs das Feuer ein und raste in einem Neunziggrad‐Südkurs nach »un‐ ten«. »Das Schiff der älteren Bauweise«, meldete Sanet. Jackson beo‐ bachtete es schweigend im Hologramm, nicht einmal seine Lippen
bewegten sich noch. Er konnte sich keinen Reim auf das Einzelma‐ növer des Terraners machen. Knapp fünfhunderttausend Kilometer entfernt schien er der THOMAS folgen zu wollen. »Er schießt mit Duststrahlen«, meldete Sanet. »Wir peilen Duststrahlen an!« »Wieso Dust?« Jacksons große Gestalt straffte sich. »Und auf wen?« Er runzelte die Stirn. »Je ne sais pas, mon General! Duststrahlen auf niemanden und nichts! Extrem niedrigenergetische Duststrahlen außerdem!« Mit ungläubigem Staunen beobachtete Sanet seine Ortungsschirme. »Damit löst er nicht einmal die Oxidschicht von der Oberfläche eines Roboterraumers! Mon dieu, warum macht er so einen Quatsch?« »Geschwindigkeit drosseln! Heranzoomen! Ich will ihn so groß wie möglich im Hologramm haben!« Jackson belauerte die Bildkugel. »Näher, größer, los, los…!« Kein vernünftiger Kommandant eines Kriegsraumers schoß mit Duststrahlen niedrigster Energiestufe, wenn er nicht einen plausiblen Grund dazu hatte. Sekunden später hatte der Hyperkalkulator das Bild des Ringrau‐ mers ins Zentralhologramm gerechnet. An der Westseite seines Rumpfes leuchtete es auf, und ein Hauch von Grün zeichnete sich vor der Schwärze des Alls ab. »Tatsächlich – Duststrahlen…« Jack‐ son schüttelte den Kopf. »Er muß verrückt geworden sein!« entfuhr es Leutnant Poul Te‐ permann, Meriers Assistent im Feuerleitstand. »Komplett überge‐ schnappt muß der sein…!« Thomas J. Jackson drehte sich um und blickte seinem Leutnant streng ins Gesicht. »Also gut, Leutnant – zu rasche Urteile sind nun einmal Sache der Jugend, und ich will Ihnen die Verunglimpfung eines terranischen Offiziers für dieses eine Mal nachsehen.« Teper‐ manns kantiges Gesicht errötete und verzog sich zu einem verlege‐ nen Lächeln. »Ganz ohne Disziplinierung aber kommen Sie mir nicht weg!« Jackson schlug einen strengeren Ton an. »Denken Sie ein zweites Mal und gründlicher nach, und liefern Sie mir eine bessere
These. Das ist ein Befehl! Beeilen Sie sich!« »Verstanden, Sir«, murmelte Tepermann. Jackson konzentrierte sich wieder auf das Hologramm. Die Dust‐ salven des Ringraumers leuchteten immer nur kurz auf, dann ver‐ strichen ein paar Zehntel Sekunden, und der nächste Grünschimmer leuchtete auf. Die Intervalle zwischen den grünlichen Energiesalven aus den Tiefen des Alls kamen Jackson regelmäßig vor, die Dauer der einzelnen Salven dagegen wollte ihm unterschiedlich lang er‐ scheinen. »Ortung an Kommandant – der Ovoid‐Ringraumer ist explodiert!« Raunen und Stöhnen ging durch die Zentrale. »Du, Herr, sei nicht ferne, meine Stärke, eile mir zu helfen…« Jackson betete leise. Er seufzte tief und fuhr sich mit der Rechten über die Augen. »Errette meine Seele vom Schwert…!« »Ich glaube, ich habe eine These, Sir.« Mit verlegener Geste mel‐ dete Tepermann sich zu Wort. Seine Scheu, wieder danebenzuliegen, paßte irgendwie nicht zu seiner athletischen Erscheinung und seinen kantigen Zügen. »Reden Sie schon, Leutnant!« »Er weiß, daß wir nicht funken dürfen. Also versucht er auf diese Weise, uns eine codierte Botschaft zu senden.« »Eine Botschaft mit Duststrahlen?« Rayes macht Anstalten, sich an die Stirn zu tippen, besann sich aber rechtzeitig. »Ich bin stolz auf Sie, Leutnant«, sagte Jackson. »Eine Botschaft aus Duststrahlen, genau so ist es, Nummer Eins. Haben sie nicht ge‐ merkt, daß die schwachen Salven unterschiedlich lang sind, Sanet?« »Doch, mon General«, räumte der Erste Ortungsoffizier kleinlaut ein. Um die blauen Augen des jungen Leutnants dagegen zeigten sich unzählige Lachfältchen. Merier, sein direkter Vorgesetzter, klopfte im anerkennend auf die Schulter. »Der Mann, der in diesem Schiff im Kommandosessel sitzt, ver‐ steht seinen Verstand zu benutzen.« Jackson drehte sich um und sah in die Runde seiner Offiziere. »Es sind natürlich Morse‐Signale, die
das Schiff uns senden will. Auf diesem Gebiet bin ich ehrlich gesagt nicht ganz sattelfest. Versteht sich einer von Ihnen auf diese antike Kommunikationsweise?« »Er hat aufgehört!« rief Sanet. »Die Roboterraumer beschießen ihn! Keine Duststrahlsignale mehr! Der Ringraumer nimmt wieder Kurs auf seinen Bumerang‐Verband!« »Ich kann Morsecodes dechiffrieren, Sir.« York Merier verließ den Waffenleitstand. »Habe ich bei den Pfadfindern gelernt.« Im Lauf‐ schritt kam er zum Kommandostand herüber. Der General ließ sich vom Hyperkalkulator die Ortungsprotokolle der vergangenen zwei Minuten auf einen Bildschirm spielen. Ge‐ meinsam mit seinem Zweiten Offizier beobachtete er das Aufleuch‐ ten und Erlöschen der Dustsalven auf dem Monitor. Merier hatte einen Stift gezückt und kritzelte Notizen auf seine Handfläche. Die visuelle Aufzeichnung endete, der Kanadier studierte die Zeichen in seinem Handteller. »Und?« Voller Erwartung sah Jackson seine Nummer Zwei an. Alle Augen in der Zentrale hingen am Waffenoffizier. »Die Botschaft lautet: ›Aktiviert den Hyperfunk. Senden Vi‐ renschutz. Dhark von der POINT OF.‹« * »Einstellung der Duststrahlsignale«, befahl Ren Dhark. »Rückzug zur Hauptformation!« Der Zweite Offizier bestätigte. »Jensbys ROBERT hat im Al‐ leingang zwei Roboter vernichtet!« meldete Grappa. »Außerdem habe ich sieben Abschüsse terranischer Einheiten angepeilt…!« Die Männer und Frauen in der Zentrale stöhnten auf. Die Ausfälle der Terranischen Flotte waren zwar geringer als die der Angreifer, wo‐ gen aber wegen der mehr als doppelt so großen Zahl der Roboter viel schwerer. Die Waagschale senkte sich immer mehr zugunsten der Angreifer.
»Reagiert die THOMAS schon auf unsere Signale?« wollte Dhark wissen. Grappa verneinte. »Codierte Nachricht von Marschall Bultons Flaggschiff an Terra aufgefangen – bisher sind 128 Schiffe ausgefallen, davon 93 Total‐ verluste!« Glenn Morris’ Meldung aus der Funkzentrale bestätigte Grappas Peilungen. Zwei Atemzüge lang war es sehr still in der Zentrale. »Position an der Spitze der Bumerangformation wieder einge‐ nommen«, meldete Leon Bebir. »Der Neunerverband unterschreitet jeden Moment die Reichweite seiner Geschütze!« Grappas Stimme war schon heiser vom vielen Rufen. »Immer noch keine Reaktion von General Jackson!« »Ausweichen, Checkmaster«, befahl Ren Dhark. »Konzentriere dich auf eines der drei Roboterschiffe, die unsere Kameraden auf dem Gewissen haben!« »Verstanden, Commander«, kam es ruhig und monoton aus der Bordverständigung. »Hört, hört!« Jimmy, der synthetische Hund Shantons meldete sich zur Abwechslung mal wieder zu Wort. »Wir Roboter haben also ein Gewissen…?« »Halt’s Maul, Jimmy!« Chris Shanton wurde unwillig. »Wären Roboter mit einem Gewissen ausgestattet, hättest du jetzt ge‐ schwiegen. Es ist nämlich nicht die Zeit für Scherze!« »Scherze?« schnarrte der Robothund. »Hat hier jemand einen Scherz gemacht?« »Vielleicht solltest du an einem gewissensbegabten Prototyp ar‐ beiten«, schlug Arc Doorn mit grimmigem Blick auf den Ma‐ schinenhund vor. »Wird langsam Zeit für einen Modellwechsel.« Sonst reagierte niemand auf die Bemerkung. Viele bekamen sie nicht einmal mit, auch Dhark nicht. Die Reflexe, Bilder, Zahlen und Ta‐ bellen auf den Schirmen seines Kommandostandes fesselten seine Aufmerksamkeit ganz. »Total Verluste Nummer 94 und 95«, meldete Glenn Morris. Au‐
ßerdem hatten mittlerweile 37 Einheiten beschädigt aufgeben müs‐ sen. Nur noch 898 Schiffe der Terranischen Flotte also verteidigten die Erde gegen rund 2300 Angreifer; hinzu kamen elf Einheiten von Eden. Die Roboter hatten gut 200 Schiffe verloren. »Meldung der LINCOLN.« Wieder Morris’ Stimme aus dem Bordfunk. »Sie konnte fünfzehn Flash und neun Rettungskapseln bergen. Drei Flash und vier Rettungskapseln mit insgesamt siebzehn Mann Besatzung werden vermißt.« Dan Riker schlug die geballte Faust in die Handfläche und stieß einen Fluch aus. »Die LINCOLN soll so schnell wie möglich zum Verband zurückkehren und sich wieder unter die Kontrolle des Checkmasters begeben«, befahl Ren Dhark. »Was macht der Nogk‐Schirm?« »Duststrahl von der THOMAS!« rief Grappa. »Die haben’s kapiert, die benutzen die gleiche Methode wie wir!« »Dem Himmel sei Dank!« Der Commander atmete auf. »Auf‐ zeichnen und dechiffrieren, Checkmaster.« »Bin schon dabei«, sagte der Bordrechner aus dem Off. Noch einmal wandte Ren Dhark sich an den Chef der Ortung: »Wie steht es um den Nogk‐Schirm?« »Stabil.« Grappa wechselte die Ansicht des Zentralhologramms. Von jetzt auf nun sahen die Männer und Frauen die Konturen des blauen Planeten unter dem flirrenden Schutzschirm. An keiner Stelle der sichtbaren Seite waren von Einschüssen überlastete Punkte zu erkennen. »Die verfluchten Roboterschiffe beschäftigen sich im Augenblick hauptsächlich mit terranischen Verteidigern«, kommentierte Dan Riker. »Hoffentlich bleibt das so.« Amy Stewart machte ein Gesicht, als glaubte sie das selbst nicht. »Das bezweifle ich«, sagte Grappa. »Immer mehr Viererverbände der Roboter brechen durch unsere Verteidigungsformationen.« Ren Dhark blickte sich nach Artus um. Der Roboter stand reglos hinter
Shanton und Doorn. Er reagierte nicht einmal auf Dharks erwar‐ tungsvollen Blick. Der Commander machte sich nichts vor: Je mehr Roboterraumer zur Erde vorstießen, desto mehr Verteidiger mußten Bulton und Clark ihnen hinterherschicken. Und je lichter die Vertei‐ digungsformation wurde, desto mehr Roboter würden den Durch‐ bruch schaffen. Dhark verbarg das Gesicht in seinen Händen und rieb sich die Augen. Es war ein Teufelskreis. Eine Frage der Zeit, bis die Angreifer den konzentrierten Beschuß des terranischen Schutzschirms wieder aufnehmen würden. Der Commander überlegte fieberhaft. Eine grundlegend neue Strategie mußte her, und zwar schnell. Aber welche? Ihm fiel keine ein. Sein Checkmaster war der einzige Bordrechner der Flotte, der mehrere Schiffe koordiniert in den Kampf führen konnte. Doch wie sollten elf Edenschiffe, weniger als tausend terranische Kampfrau‐ mer und die POINT OF allein zweitausenddreihundert Angreifern standhalten? Ausgeschlossen! Wenige Sekunden später die beruhigend eintönige Stimme des Checkmasters: »Der Morsecode von der THOMAS ist entschlüsselt. General Jackson läßt in genau dreißig Sekunden den Hyperfunk öffnen und erwartet unsere Daten. Neunundzwanzig, achtund‐ zwanzig…!« »Commander an Funkzentrale: Machen Sie das Datenpaket fertig, Leutnant Morris!« »Verstanden, Sir! Mr. Tschobe ist schon dabei!« »Sechsundzwanig, fünfundzwanzig, vierundzwanig…« »Sie greifen die LINCOLN an!« rief Tino Grappa. Ren Dhark saß plötzlich kerzengerade auf der Kante seines Sessels. Was er auf sei‐ nen Monitoren und im Zentralhologramm sehen mußte, schnürte ihm die Kehle zu: Drei Fünferverbände der Roboter jagten in die Bumerangformation hinein und zwangen die sechs Schiffe zu ris‐ kanten Ausweichmanövern. Zwei Roboter nahmen Kurs auf die LINCOLN. Sie eröffneten das Feuer mit Kompri‐Nadel, noch bevor
sie auf Schußweite heran waren. »Enge Kugelformation!« brüllte Dhark. »Rotierende Positionen! Nimm den Nächststehenden mit sämtlichen Strahlwaffen und Wuchtkanonen aller sechs Schiffe unter Dauerfeuer, Checkmaster! Und versuche den Durchbruch zur LINCOLN!« »Jackson meldet offene Hyperfunkfrequenz!« Manu Tschobes rauhe Stimme meldete sich aus dem Bordfunk. »Wir schicken jetzt den Virenschutz hinüber…!« Innerhalb von zwei Minuten hatte Dharks Verband die Kugel‐ formation eingenommen. Kein Schiff war jetzt noch weiter als zehn‐ tausend Kilometer vom anderen entfernt. Im Zwanzigsekundentakt ließ der Checkmaster die einzelnen Einheiten ihre Positionen tau‐ schen. So blieb jedes Schiff ein schwer zu treffendes Ziel für die Ro‐ boter. Die LINCOLN aber war bald eingehüllt von feindlicher Ver‐ nichtungsenergie. Jacksons Carboritraumer kam ihr zur Hilfe und griff die zwei Roboter an, die sich auf sie eingeschossen hatten. Das feindliche Feuer ließ nach. »Das Schutzprogramm ist auf der THOMAS angekommen!« mel‐ dete Tschobe. »Jacksons Funkzentrale hat die Frequenz wieder dichtgemacht…!« »Wenn er sich meldet, stellen Sie ihn sofort zu mir in die Zentrale durch!« befahl der Commander. »Die THOMAS muß unter die Regie des Checkmasters…!« »Zwischenbericht von der FREDERICKSBURG«, meldete Glenn Morris einen Atemzug später. Die FREDERICKSBURG war das Flaggschiff der Ersten Schlachtdivision der Terranischen Flotte. Einer der beiden Kommandeure der Schlacht selbst befehligte diese zweihundert neuen Ovoid‐Ringraumer: Brigadegeneral P. S. Clark. »Neunzehn weitere Robotereinheiten haben den Verteidigungsring durchbrochen und Kurs auf die Erde genommen…!« »Sechsundsiebzig Monsterschiffe…!« Riker sackte in seinem Sessel zusammen. »Die Götter der Milchstraße mögen uns beistehen…«
»… soeben ist der sechsundneunzigste Ringraumer der Terrani‐ schen Flotte explodiert.« Ren Dhark blieb keine Zeit, die schlimmen Nachrichten zu kom‐ mentieren. Er ahnte dunkel, daß dies erst der Beginn einer fürchterlichen Niederlage war. Im Hologramm mußte er mit ansehen, wie drei Roboterraumer in seine Kugelformation eindrangen und bei einem seiner sechs Schiffe beide Defensiv Systeme zusammenbrachen. Er ballte die Fäuste. Der Checkmaster konzentrierte das Geschwaderfeuer auf einen der drei Roboter im Inneren der rotierenden Kugelformation. Seine Schutzschirme versagten, die Geschosse aus über zwanzig Wuchtkanonen durchschlugen seine zerfurchte, zerklüftete, von hunderten Ausstülpungen gezeichnete Hülle und verwandelten ihn in eine kleine Sonne. »Nur noch sechzehn!« rief Sergio Scagliettis Stimme aus dem Bordfunk. Kaum hatte er den Satz zu Ende gesprochen, explodierte die VANUATU… * Einen Augenblick nur hatte General Thomas J. Jackson gezögert, dann ließ er die Hyperfunkfrequenz öffnen, und der Ringraumer, dessen Kommandant behauptete, Ren Dhark persönlich zu sein, sandte ein großes Datenpaket. Jackson ließ es in einer doppelt gesicherten Datenbank der Funk‐ zentrale speichern, die seine Spezialisten zuvor vom Hyperkalkula‐ tor abgekoppelt hatten. Danach wies er Grissom an, den Funk wie‐ der zu deaktivieren, und ließ das Team seines Chefkybernetikers die neuen Dateien unter die Lupe nehmen. So groß Jacksons Gottvertrauen auch war – ein Risiko ging er nur ein, wenn es sich nicht vermeiden ließ.
Ein unvermeidliches Risiko in Jacksons Augen: Dem unter Feuer geratenen Entsatzschiff mit den Schiffbrüchigen an Bord zur Hilfe zu kommen. Merier und Tepermann feuerten aus den Wuchtkanonen, bis die beiden Roboter vom Ringraumer abließen und die THOMAS angriffen. Rayes flog Pendel‐ und Zickzackkurs, und der Gefechtsleitstand brachte die feindlichen Schirme an die Grenzen ihrer Kapazität. Doch schon scherten zwei weitere Roboterraumer aus dem größe‐ ren Verband aus und nahmen Kurs auf Jacksons Schiff. »Cameron an Zentrale!« tönte es aus dem Bordfunk. »Die Dateien sind sauber!« Dr. Maynard Cameron war der Chefkybernetiker der THOMAS. »Tatsächlich ein Antivirenprogramm. Ziemlich kompli‐ ziert und ziemlich groß, aber ein Virenschutzprogramm. Offenbar greifen die Roboter die Hyperkalkulatoren mit Viren an. Deswegen also das Funkverbot.« »Installieren«, sagte Jackson knapp. Und leiser: »Danket dem Herrn, denn seine Güte währet ewiglich und seine Wahrheit für und für…« Nur ein Atemzug für ein Stoßgebet an den Boß des Univer‐ sums, wie er seinen Gott zuweilen nannte. Die Angreifer fesselten seine Aufmerksamkeit. Zwei feuerten von Ost 46‐34‐18 mit Kompri‐Nadel auf seinen Carboritraumer, zwei rasten mit höchster Sublicht‐Geschwindigkeit von Nordwest 78‐13‐55 heran. Die Schutzschirme des Rettungs‐ schiffes standen, aber sein Kurs würde es unweigerlich die imagi‐ näre Kugel tangieren lassen, bis zu deren Außenhülle die feindlichen Kompri‐Nadelstrahlen reichten. »Mon dieu!« rief Alain Sanet. »Er muß seinen Kurs ändern, sonst gerät er in grandes problemes!« »Technik an Kommandant – Intervall unmittelbar vor dem er‐ neuten Zusammenbruch!« »Fluchtkurs. Dem Ringraumer hinterher…!« Im nächsten Moment starrte Jackson auf seine Kontrollinstrumente – sämtliche Alarm‐ leuchten blinkten. Das Doppelintervallum war zu‐
sammengebrochen. Da die Angreifer mit ihrem Dauerfeuer exakt im Ziel lagen, konnte der Kompaktfeldschirm erst gar nicht aufgebaut werden. In der zentralen Bildkugel sah Jackson weiter nichts als gleißendes Licht. »Temperatur‐ und Druckalarm in Segment Ost eins‐dreiundzwanzig!« Die erregte Stimme des Chefingenieurs aus dem Bordfunk. »Eine Löschmannschaft und eine Reparaturkolonne vor Ort!« be‐ fahl Jackson. »Auch wenn die Temperatur wieder nur um neun Grad angestiegen sein sollte… ich will keine bösen Überraschungen erle‐ ben!« »Cameron an Zentrale! Antivirenprogramm auf Hyperkalkulator installiert. Probelauf erfolgreich.« »Danke, Maynard!« Dr. Cameron war der einzige Mensch an Bord der THOMAS, mit dem der General sich duzte. »Funken Sie die an‐ gebliche POINT OF an, Grissom! Benutzen Sie diesen alten India‐ nercode! Ich will Commander Dhark sprechen, wenn er es wirklich ist!« Wieder traf eine Salve Kompri‐Nadel die THOMAS. Die Innenbeleuchtung und die Kontrollinstrumente flackerten. Im Hologramm sah man kugelblitzartige Querschläger von der Hülle des Schiffes abprallen und ins All jagen. »Gottverdammte Scheiße!« rief York Merier, der Erste Waf‐ fenoffizier. »Keine Flüche, Nummer Zwei!« blaffte Jackson. »Auf meinem Schiff wird der Name des Herrn nicht mißbraucht! Ist das klar…?!« Nur die Offiziere, die schon auf der TERENCE unter Jackson ge‐ dient hatten – Rayes, Sanet und Merier selbst – begriffen, worum es ging. Die anderen waren viel zu sehr damit beschäftigt, ihre Panik zu unterdrücken. »Wir sind außerhalb der Schußweite«, meldete Rayes. »Chefingenieur an Zentrale – KFS steht, Doppelintervallum kommt gleich…!« »Funkzentrale an General – Commander Ren Dhark will Sie spre‐
chen!« Aus den Glutnebeln in der zentralen Bildkugel schälten sich die Konturen eines weißblonden Mannes – Ren Dhark persönlich, der Kommandant der legendären POINT OF. Unwillkürlich nahm Jackson Haltung an. »Taub und kurzsichtig sind wir ohne Funk, Commander, und taub und kurzsichtig irren wir seit Stunden durch dieses kosmische Schlachtfeld. Wie steht es um Terra und die Terranische Flotte?« »Nicht gut, General.« Der ehemalige Commander der Planeten wirkte sehr ernst. »Fast hundert Total Verlusten und vielen weiteren Ausfälle wegen technischer Probleme oder Schäden durch Treffer stehen zwar mehr als zweihundert zerstörte Roboter gegenüber, aber das bei zweifacher Überlegenheit der Angreifer. Wir geraten von Minute zu Minute mehr ins Hintertreffen.« »Das ist bitter«, sagte Jackson leise. »Sehr bitter sogar. Übrigens gehen erstaunlich viele Feindab‐ schüsse auf das Konto Ihrer Ikosaeder. Was haben Sie nur aus diesen bisher so plumpen Pötten gemacht? Danke jedenfalls für Ihre Hilfe. Trotzdem droht die Angelegenheit auf ein Fiasko hinauszulaufen – sechsunddreißig Viererformationen der Roboterflotte ist inzwischen der Durchbruch zur Erde gelungen. Das sind fast hundertfünfzig Schiffe. Und in jeder Minute werden es mehr. Unsere beiden Vertei‐ digungslinien lösen sich notgedrungen auf, bald werden die Ang‐ reifer den Nogk‐Schirm wieder unter Dauerfeuer nehmen. Dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis er zusammenbricht.« »Sie klingen mir entschieden zu pessimistisch, Commander Dhark.« »Nicht pessimistisch, General Jackson – realistisch.« »Was sollen wir tun?« »Sie?« Der Mann im Hologramm lächelte grimmig. »Was Sie wol‐ len, General Jackson. Wenn Sie auf Nummer Sicher gehen wollen, dann rufen Sie Ihre zehn Ikosaeder aus dem Kampfgebiet und ver‐ lassen Sie so schnell wie möglich das Sol‐System. Sie sind zu nichts verpflichtet. Wenn Sie uns aber beistehen wollen, lassen Sie die
neuen Schiffe weiterkämpfen und unterstellen Sie Ihr Schiff der Steuerung meines Checkmasters. Das Bordhirn der POINT OF ist leider das einzige weit und breit, das ein ganzes Geschwader steuern und koordinieren kann…« »Die Ikosaeder aus dem Kampf rufen? Das Sol‐System verlassen?« An Jacksons rechter Schläfe schwoll eine Ader, seine Wangen und seine Stirn liefen rot an, sein Bart und sein Haupthaar sträubten sich. »Wollen Sie mich beleidigen, Commander Dhark? Wir gehören zwar zur Flotte von Eden, dennoch sind und bleiben wir Terraner. Sie machen mir noch einmal einen derartigen Vorschlag, und ich rede nie wieder ein Wort mit Ihnen!« »Verzeihen Sie, General…« Dhark räusperte sich. »Es ist nur…« Er lächelte wehmütig. »Die Lage ist hoffnungslos und wird immer hoffnungsloser. Ich kann nicht von Ihnen und Ihren Besatzungen verlangen, daß Sie freiwillig…!« »Genug jetzt!« Mit beiden Händen säbelte der General von Eden durch die Luft, als wollte er ein Symphonieorchester zum Ver‐ stummen bringen. Jackson war ernsthaft zornig. »Wir greifen die sechzehn Roboterraumer an, die Gott uns in den Weg gestellt hat, und sollten wir diesen Kampf überstehen, reden wir weiter, Dhark! Ihr Checkmaster kann mein Schiff übernehmen. Das war’s vorläu‐ fig.« »Danke, General…« Möglicherweise hatte der Commander noch mehr zu sagen, doch Thomas J. Jackson unterbrach die Verbindung. Er stieg aus dem Kommandostand und begann vor der fast drei Meter durchmes‐ senden Bildkugel auf und ab zu tigern. »Zwei Roboterraumer rasen mit höchster Sublichtgeschwindigkeit über uns vorbei und nehmen Kurs auf den Rettungsraumer«, mel‐ dete Sanet. Jackson blieb stehen und starrte ins Hologramm. Die Roboter eröffneten das Feuer. »Hinterher!« schnauzte Jackson. Noch immer grollte er Dhark wegen dessen Vorschlag, die Flucht zu ergreifen.
»Ebenfalls mit Höchstgeschwindigkeit.« Rayes stieß ein paar Brocken Spanisch aus, die verdächtig nach Flüchen klangen. Jackson konnte kein Spanisch, also schwieg er. Manuel Rayes aber, der Erste Offizier, stand auf. »Zu spät.« Er ver‐ ließ seinen Pilotensessel. »Unser Hyperkalkulator hat sich abgemel‐ det. Stand‐by. Der Checkmaster kontrolliert die THOMAS.« Er kam zu seinem Kommandanten und stellte sich neben ihn vor die Bildkugel. Dharks Verband, verfolgt von zehn Robotern, raste dem Rettungsschiff und seinen Angreifern entgegen. En‐ ergiestrahlen zerfurchten die Schwärze des Alls. Das Intervallum des einzelnen Ringraumers brach zusammen. »Das Rettungsschiff funkt Mayday!« meldete die Funkzentrale. »Es heißt LINCOLN.« »Mir gefällt das nicht«, sagte der kleine Spanier leise. »Einfach die Steuerung meines Schiffes einem Fremden überlassen? Dhark weiß doch, daß unsere Carborithülle widerstandsfähiger ist als seine Unitallschiffe. Er wird uns überall dahin schicken, wo es am hef‐ tigsten brennt. Wir sind ihm ausgeliefert. Das schmeckt mir ganz und gar nicht.« »Sehen Sie, Nummer Eins – genau das tut einer, der glaubt.« Jack‐ son legte die Rechte auf die Schulter seines Ersten Offiziers. »Einer, der zu glauben beginnt, gibt gleichsam die Navigation seines Lebens an einen anderen ab, an einen, der größer ist als er selbst. Er liefert sich bedingungslos an Gott aus.« Ein paar Atemzüge später explodierte die LINCOLN unter dem konzentrierten Beschuß feindlicher Kompri‐Nadel. Ein Aufschrei ging durch die Zentrale der THOMAS. Zu spät, sie kamen zu spät. Kaum jemanden hielt es auf seinem Platz. Nicht einmal Artus. Der Roboter kam hinunter an die Bildku‐ gel. In ihr leuchtete ein rötlicher Stern, umgeben von einem weißen Strahlenkranz und einer nebelartigen Korona. Unter anderen Um‐ ständen wäre eine solche Erscheinung schön zu nennen gewesen.
Doch jetzt trieb sie Ren Dhark nur die Tränen in die Augen. Und nicht nur ihm. Neben den fünfzig regulären Besatzungsmitgliedern waren fast vierzig gerettete Männer und Frauen aus der zerstörten VENTURA an Bord der LINCOLN gewesen. »O Scheiße!« schrie Dan Riker. »Oh, was für eine Scheiße…!« An‐ dere fluchten leise oder schlugen die Hände vor das Gesicht oder wandten sich ab. Tiefe Enttäuschung und Resignation beherrschte sekundenlang die Atmosphäre in der Zentrale der POINT OF. Nie‐ mand sprach ein hilfreiches Wort. Selbst der Commander fühlte sich wie gelähmt. Amy Stewart war es schließlich, die sich entschlossen gegen den Sog der Verzweiflung stemmte. »Weiter!« rief sie. »Wir müssen weiterkämpfen! Greifen wir sie an, die verdammten Roboter! Greifen wir sie an, solange noch Wut genug in uns kocht!« Ihre Worte und mehr noch die Leidenschaft, mit der sie diese Worte in die Zentrale schleuderte, wirkten wie ein Weckruf. Jeder Mann, jede Frau an den Instrumentenpulten konzentrierte sich wieder auf die Arbeit. Ren Dhark drehte sich um und sah seine Ge‐ liebte dankbar an. Danach wandte er sich an den Checkmaster. »Die THOMAS hält mehr aus als wir und die anderen Unitallschiffe. Ich schlage vor, das Schiff an die Spitze des Verbandes zu stellen.« »Genau das geschieht in diesem Moment«, antwortete der Checkmaster. Er klang seelenruhig, fast gelangweilt. Drei Ringraumer hatte Ren Dharks kleine Flotte inzwischen verlo‐ ren. Nun stieß die THOMAS zu ihr, und der Checkmaster manöv‐ rierte das Carboritschiff von Eden an die Doppelspitze einer Keil‐ formation aus sechs Raumern; noch vor die POINT OF. Der Checkmaster täuschte auf Ren Dharks Anweisung hin ein Fluchtmanöver vor. Die sechs Ringraumer beschleunigten Richtung Marsbahn. Die sechzehn Roboter nahmen die Verfolgung auf. Die THOMAS und die POINT OF schienen ihnen lohnende Ziele zu sein. Zwei Millionen Kilometer von der Erde entfernt – die Verfolger hatten sich zu vier Viererverbänden formiert – drosselte der
Checkmaster plötzlich die Geschwindigkeit, steuerte die sechs Ringraumer in einem Hundertfünfundvierziggradkurs nach Süden, so daß sie sich plötzlich »unterhalb« des Roboterverbandes befan‐ den, und jagte sie dann um neunzig Grad nach Norden. Von unten stieß das terranische Geschwader in die Formation der sechzehn Roboterraumer hinein. Im Durchstoß aktivierte das Bordhirn sämt‐ liche Strahlgeschütze und die Wuchtkanonen aller sechs Schiffe. Als das Geschwader die Roboter unter sich zurückließ, blähten sich zwei Glutkugeln im feindlichen Verband auf. »Treffer!« jubelte Fähnrich Scaglietti im Gefechtsleitstand. »Nur noch vierzehn!« Der Verband wiederholte das Manöver und schoß prompt das siebte Roboterschiff ab – und sieben Minuten später das achte. Nur noch zwölf Angreifer. Immer war es General Jacksons THOMAS, die das Komp‐ ri‐Nadelfeuer der Invasoren auf sich zog. Die Roboterbirne hatten ihre speziellen Stärken erkannt und wollten sie unter allen Um‐ ständen vernichten. Doch trotz ständig zusammenbrechender De‐ fensivsysteme hielt ihre Carborithülle stand. Noch einmal elf Minu‐ ten später jagten nur noch elf Roboterraumer das Geschwader um die POINT OF. Der Jubel in der Zentrale war grenzenlos. Nur Ren Dhark, Dan Riker und Artus stimmten nicht mit ein. Selbst als sie das nächste Roboterschiff im Hologramm explodieren sahen, zeigten sie keinen Anflug von Begeisterung. Immerhin stand ihr Verband noch einer fast doppelten Überlegenheit von elf Ang‐ reifern gegenüber. Sie dachten daran, daß allein der Checkmaster der POINT OF die Kapazität besaß, mehrere Schiffe gleichzeitig und koordiniert zu steuern – ein Tropfen auf dem heißen Stein. Meldungen aus der Funkzentrale konfrontierten auch die Mann‐ schaft der Zentrale rasch mit den harten Fakten: Erst meldete die FREDERICKSBURG den Durchbruch von über zweihundert feind‐ lichen Viererverbänden und wenig später das Flaggschiff des Raummarschalls den einhundertdreizehnten Totalverlust der Terra‐
nischen Flotte. Die Ernüchterung kam plötzlich und schmerzhaft. Sie fegte auch die letzte Spur von Euphorie aus den Hirnen und Herzen der Män‐ ner und Frauen in der Zentrale. Niemand jubelte, als der Gefechts‐ leitstand kurz hintereinander Abschuß elf und zwölf meldete. »Wir können es nicht schaffen«, sagte Dan Riker so leise, daß nur Dhark und Artus ihn hören konnten. »Es geht einfach nicht.« Weder der Commander noch der Roboter widersprachen. »Die Roboter haben ihre Taktik geändert«, meldete Grappa. »Ich peile kaum noch feindliche Verbände an, die den Nogk‐Schirm be‐ schießen. Die meisten Roboterraumer scheinen sich zu zentral ge‐ steuerten Fünferverbänden zusammengeschlossen zu haben. Sie veranstalten eine regelrechte Treibjagd auf die Einheiten der Terra‐ nischen Flotte.« »Wie viele haben die Verteidigungsformation durchbrochen?« wollte der Commander wissen. »Meine Instrumente peilen tausenddreiundvierzig Schiffe an«, sagte Grappa. »Weit über hundert mehr, als uns selbst noch zur Verfügung stehen. Was auf der anderen Seite von Terra geschieht, erfaßt die Ortung nicht. Und von ›Verteidigungsformation‹ würde ich lieber nicht mehr sprechen…« Der Italiener hatte recht: Clarks und Bultons Verbände waren längst in Auflösung begriffen. Mehr als die Hälfte ihrer Einheiten jagten den Angreifern nach und versuchten sie zu stellen, bevor die Erde und ihr Schutzschirm in die Reichweite ihrer Komp‐ ri‐Nadelgeschütze geriet. Meistens schafften sie das – doch nur, weil die Roboterraumer unerwartet kehrtmachten und sich in Fünfer‐ verbänden auf einzelne Verfolger stürzten. Innerhalb weniger Minuten peilte Grappa über zwanzig weitere Abschüsse an. Rasch standen hundertsechsunddreißig terranische Totalverluste zweihundertvierundachzig Ausfällen auf Seiten der Angreifer gegenüber. »Die Zahlen sprechen für sich«, raunte Riker seinem Freund Dhark
zu. »Es gibt hier nichts zu gewinnen, auch wenn unser Checkmaster seine Sache perfekt macht.« Der Commander preßte die Lippen zusammen, und Artus sagte: »Wenn ich unsere bisherigen Erfolge hochrechne, könnten wir den Neunerverband der Roboter in anderthalb Stunden vernichten und würden dabei selbst nur drei oder vier weitere Einheiten verlieren. Abgesehen davon, daß wir danach unseren Verband ergänzen müßten, würden den Roboterraumern anderthalb Stunden reichen, um weitere hundertzwanzig terranische Einheiten zu vernichten und nebenbei noch den Nogk‐Schirm aufzubrechen.« »Danke, Artus«, Riker bedachte den Roboter mit einem wütenden Blick. »Danke für die schönen Aussichten.« Der Roboter wandte seinen metallischen Schädel zwischen Dhark und Riker hin und her. Offensichtlich war er verwirrt. »Was soll das, Dan«, flüsterte Ren Dhark. »Artus benennt die Fakten, weiter nichts. Wenn wir der Wahrheit nicht ins Auge sehen, haben wir überhaupt keine Chance.« Er drehte sich um und sah in die Runde. Verstohlene Blicke von allen Arbeitsplätzen trafen ihn. Die Männer und Frauen der POINT OF begannen am Sieg der Terranischen Flotte zu zweifeln. Nur ein Blinder konnte das noch übersehen. Die nächsten Minuten waren nicht dazu angetan, diesen Zweifel auszuräumen. Edens kampfstarken Ikosaeder‐Schiffen gelang es zwar immer wieder, umzingelte Einheiten der Terranischen Flotte herauszuhauen, doch das änderte nichts an der grundsätzlichen Überlegenheit der Angreifer: Bald operierten an die zwölfhundert Roboterschiffe in unmittelbarer Nähe der Erde. Bultons und Clarks Verteidigungsformationen lösten sich in Nichts auf, und dem Funkverkehr zwischen Terra und Marschall Bulton lauschte Glenn Morris den hunderteinundfünfzigsten Abschuß einer terranischen Einheit ab. Daß die Roboter mittlerweile rund vierhundert Schiffe verloren hatten, war kein Trost. Die Stimmung in der Zentrale hätte nicht mehr weiter abstürzen
können. Dan Riker stieg in den Kommandostand, warf sich in einen Sessel und legte den Kopf in den Nacken. Die Kuppelwölbung über der Zentrale schien ihm den letzten Ausweg zu verheißen. Amy Stewart preßte die gefalteten Hände gegen die Lippen, als würde sie beten, Arc Doorn trommelte mit den Fingerkuppen auf seiner Ar‐ beitskonsole herum, Chris Shanton streichelte gedankenverloren seinen Roboterhund, und Ren Dhark, der Commander, stand wie festgewachsen vor der zentralen Bildkugel. Das war der Augenblick, in dem Artus wie von der Tarantel ge‐ stochen hochfuhr. »Hy‐Kon«, brüllte er. Ren Dhark reagierte nicht gleich. »Wir müssen Hy‐Kon einsetzen«, wiederholte der Roboter. »Das ist die Lösung!« Dhark sah ihn an. Unglaube und Staunen lag in seinem Blick. »Ich verstehe nicht…« »Wie konnte ich nur so ineffektiv sein…« Der Roboter wirkte fast menschlich in seiner Dringlichkeit. »Was für ein dummer Roboter bin ich doch! Die Lösung heißt Hy‐Kon! Bitte setze sofort Hy‐Kon ein, Dhark…«
13. »Hy‐Kon?« Ren Dhark schüttelte den Kopf, als glaubte er sich verhört zu haben. »Wieso ausgerechnet Hy‐Kon? Wie kommst du darauf, Artus?« »Ich war doch bei ihnen, ich kenne die Roboter doch ein biß‐ chen…!« Artus wurde sich der unfreiwilligen Ironie seiner Worte bewußt. »Ich meine… ich meine – diese fremden Roboter. Ich war Teil eines ihrer Schiffe.« Er sah zu den Männern und Frauen in den Arbeitsbuchten. Alle hatten aufgehorcht. »Das künstliche Hyper‐ kontinuum – das scheint mir die einzige Möglichkeit…!« »Blödsinn«, sagte Chris Shanton, und auch Arc Doorn winkte ab. »Erstens viel zu energieintensiv, und zweitens brauchen sie nur künstlich die Masse des angegriffenen Schiffes zu erhöhen, und kein Hy‐Kon‐Geschütz des Universums wird sie aus dem Raum‐Zeitgefüge schleudern.« »Wer wendet heutzutage noch Hy‐Kon an?« Arc Doorn schüttelte den Kopf. »Du hast doch mit eigenen optischen Sensoren gesehen, was deine Artgenossen aufhält – Wuchtkanonen und noch einmal Wuchtkanonen. Und das von mindestens zwei Ringraumern gleichzeitig. Leider haben wir nur einen Checkmaster…« »Ihr habt schon recht«, unterbrach Artus. »Nur…« Beschwörend wie ein Mensch in großen Schwierigkeiten wandte Artus sich wieder an Ren Dhark. »Nur kenne ich diese Roboter besser als ihr. Ihre Stärke ist zugleich ihre Schwäche. Ihre Stärke: Sie sind extrem wi‐ derstandsfähig gegen plötzliche Gravitationsveränderungen. Sie haben zwar künstliche Schwerkraft an Bord ihrer Schiffe und ver‐ fügen auch über Andruckneutralisatoren. Doch weil ihre Maschi‐ nenkörper robuster und um ein Vielfaches belastbarer sind als orga‐ nische Körper, waren sie nie gezwungen, besonders leistungsstarke Gravitationsmodulatoren zu entwickeln! Das ist ihre Schwäche.« »Das leuchtet mir ein.« Chris Shanton hatte sich von seinem Sessel
erhoben. Er stieg aus dem Schnittstellenpult und kam zu Dhark und Artus. Auch Dan Riker und Amy Stewart hatten sich mittlerweile an der zentralen Bildkugel eingefunden. Alle waren sie neugierig ge‐ worden. »Und weiter«, forderte Shanton den Roboter auf. »Die Andruckneutralisatoren an Bord ihrer Schiffe bringen nicht einmal dreißig Prozent der Leistung eines Gravitationsmodulators an Bord eines terranischen Ringraumers.« Artus breitete die Arme aus und wies an seinem Körper hinunter. »Seht mich an! Ich ver‐ krafte dreiundvierzigmal soviel Anziehungskraft wie euer organi‐ sches Skelett. So auch die Roboter. Und weil das so ist, sind sie nicht auf Hochleistungsgravitationsmodulatoren angewiesen. Das kann ich bezeugen, ich war viele Tage lang bei ihnen! Ich war doch prak‐ tisch Teil eines ihrer Schiffe…!« »Und du bist sicher, daß die Roboter über keine anderen tech‐ nischen Möglichkeiten zur Massenerhöhung verfügen?« Dan Riker blieb skeptisch. »Fast sicher.« Artus machte diese kleine Einschränkung. »Aber warum sollten sie eine Technik entwickeln, die sie einfach nicht nötig haben? Verlaßt euch auf meine Beobachtungen und meine Berech‐ nungen. Ich würde die Leistungsfähigkeit meiner 24 Gehirne ernsthaft in Zweifel ziehen, wenn die Roboter unter Hy‐Kon‐Beschuß ihre Schiffsmassen signifikant erhöhen könnten.« »Das klingt vielversprechend«, sagte Amy Stewart. »Das klingt schlüssig!« Ren Dhark lief zum Kommandostand und stieg zu seinem Sessel hinauf. »Funkzentrale an Commander – wir haben einen Funkspruch der ORN an Terra aufgefangen.« Der neue Ovoid‐Ringraumer ORN war Marschall Bultons Flaggschiff. »Schlechte Nachrichten. Beide Ver‐ teidigungsformationen sind vollständig zusammengebrochen. An die zweitausend Roboterraumer nehmen jetzt Kurs auf Terra. Die Zahl unserer Ausfälle wächst rapide, schon hundertdreiundsechzig Totalverluste!« Wieder ging ein Aufstöhnen durch die Zentrale. »Es tut mir so leid,
daß ich nicht früher darauf gekommen bin…« »Niemand macht dir einen Vorwurf, Artus.« Als wäre der Roboter ein trostbedürftiger Mensch, legte Shanton ihm seinen Arm um die Schultern. Riker dagegen beäugte ihn mißtrauisch. »Commander an Checkmaster. Feuer aus konventionellen Waf‐ fensystemen einstellen! Guck dir einen Roboterraumer aus und nimm ihn unter Hy‐Kon‐Beschuß! Ich wiederhole…!« Der Check‐ master bestätigte. »Commander an alle Schiffe! Feuer aus allen Waffenarten wird in dieser Sekunde eingestellt. Wir versuchen es mit Hy‐Kon!« »Jackson an Dhark!« tönte plötzlich die Stimme des Generals von Eden aus dem Funk. »Was soll das? Die erhöhen einfach ihre Schiffsmassen, und damit hat sich’s! Wieso Hy‐Kon? Ich verstehe Sie nicht…!« »Dhark an Jackson. Lassen Sie sich doch einfach überraschen. En‐ de.« Der Commander sprang auf und lief wieder hinunter zur zentralen Bildkugel. Dort standen sie inzwischen zu viert und blickten ge‐ spannt ins Hologramm. Auch hinter Grappa im Ortungsstand hatten sich sechs oder sieben Männer und Frauen versammelt und beo‐ bachteten die Monitore der Ortung. Im Hologramm sah man mit der THOMAS die Spitze der eigenen Formation, und man sah die restlichen neun Roboter. Sie manöv‐ rierten in zwei Formationen: Fünf Angreifer jagten in flachem Win‐ kel von vorn und von Süden heran, vier stießen steil von Norden auf die Flugebene von Dharks Pulk hinunter. »Sie versuchen die THOMAS aus der Formation zu trennen«, sagte Ren Dhark. Schon eröffneten die vier Roboterschiffe das Feuer. Das Intervallfeld um Jacksons Ringraumer glühte auf. Doch dann erfüllte plötzlich weißes Flimmern und Flirren das All. Es verdichtete sich zu einer unregelmäßigen, silbrig gleißenden Struktur, die an ein Spinnennetz erinnerte. »Checkmaster schießt von fünf Schiffen aus mit Hy‐Kon!« meldete
Grappa. Ren Dhark hielt den Atem an, Amy griff nach seiner Hand und drückte sie. Das gleißende Energienetz streckte sich dem Vie‐ rerpulk entgegen. Ein paar Sekunden lang sah das All wie eine dunkle Scheibe aus, die plötzlich zersplitterte und hinter deren Sprüngen eine riesige Sonne sichtbar wurde. Zwei Roboter gerieten in die Reichweite des sich ausdehnenden Energienetzes. Ihre Schir‐ me berührten das silbrige Lichtnetz, und sie strahlten so hell auf, als würden sie keine Raumschiffe, sondern weiße Zwergsonnen um‐ schließen. »Der Viererverband stellt das Feuer ein!« rief Grappa. »Sie ändern ihren Kurs! Der Fünferverband schießt mit Kompri‐Nadel auf uns!« Es war deutlich zu sehen, wie die vier Angreifer aus der Nord‐ richtung eine scharfe Schleife flogen und in einem viel flacheren Winkel von Dharks Verband wegstrebten. Doch nur zweien gelang das. Die beiden von Hy‐Kon getroffenen Roboter schleppten schwer an dem silbrig glühenden Energienetz, strahlten heller und heller, bis ein einziges Energiegitter sie zu umschließen schien, und auf einmal schrumpfte das Gleißen innerhalb weniger Sekunden zu einem blendendhellen Punkt zusammen und erlosch dann schlagartig. Jubel brandete auf. »Sie sind verschwunden! Sie sind im Hyper‐ kontinuum verschwunden!« Von allen Seiten tönte es. »Der Check‐ master hat sie aus dem Universum geschleudert!« Auch den von Süden gegen die Formationsbahnebene hoch‐ stoßenden Angreifern strahlte bereits das Energienetz entgegen. Ren Dhark schloß geblendet die Augen. Um ihn herum jubelten seine Leute, klatschten und schlugen sich auf die Schultern oder umarm‐ ten sich gar. Er aber beobachtete fasziniert, wie die Hy‐Kon‐Energie aus den Antennen seines Verbandes zwei weitere Roboterraumer einhüllte. Auch aus der THOMAS raste nun die charakteristische Silberlicht‐Struktur. Gleißende Lichtkugeln wuchsen, das Energie‐ netz zog sich zusammen und stieß zwei weitere Angreifer aus dem Normalraum. »Dhark an Funkzentrale!« Der Commander rannte zurück zum
Kommandostand. »Verbindung zur ORN und zur FREDE‐ RICKSBURG! Schnell…!« * Keinen hielt es auf seinem Sessel, alle waren aufgesprungen, alle hielten den Atem an, alle beobachteten die zentrale Bildkugel oder einen der Ortungsmonitore. Als der vierte Roboterraumer im glei‐ ßenden Energienetz aufstrahlte und zwei Sekunden später aus dem Sol‐System in den Hyperraum geschleudert wurde, schrien sie auf wie ein Mann. Sanet und Rayes am lautesten; natürlich, wer sonst? General Thomas J. Jackson aber schloß die Augen und betete murmelnd: »Der Herr ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten? Der Herr ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen…« Die Besatzung in der Zentrale der THOMAS geriet indessen außer Rand und Band. Jeder jubelte auf seine Weise. Eben noch waren sie Menschen ohne Hoffnung gewesen, eben noch hatten sie Terra insgeheim aufgege‐ ben und einige sogar mit dem eigenen Leben abgeschlossen. Jetzt jedoch machte sich ihre grenzenlose Erleichterung Luft, jetzt schöpften sie wieder Zuversicht. »An die Arbeit, meine Damen und Herren!« Jacksons tiefe Stimme donnerte durch die Zentrale. Nach und nach legte sich das Gelächter und das Stimmengewirr, die Leute setzten sich und konzentrierten sich wieder auf ihre Aufgaben. »Dharks Checkmaster jagt uns den restlichen fünf Roboterraumern hinterher!« Tatsächlich hatten die Roboterraumer die Flucht angetreten. »Funkzentrale an General – ein dechiffrierter To‐Richtfunkspruch von der POINT OF an Raummarschall Bulton!« »Legen Sie ihn auf den Bordfunk, Mister Grissom!« Kurz darauf tönte die Stimme Ren Dharks aus den unsichtbaren Lautsprechern: »Commander Dhark an die Befehlshaber der Terra‐
nischen Flotte: Wir haben soeben innerhalb von drei Minuten vier Roboterschiffe mit Hy‐Kon in den Hyperraum geschleudert! Drin‐ gende Empfehlung: Setzen Sie Hy‐Kon ein! Die Roboter verfügen nicht über Gravitationsmodulatoren, die stark genug wären, einen Beschuß mit Hy‐Kon zu neutralisieren! Ich wiederhole: Setzen Sie Hy‐Kon ein…!« »Ortung an General Jackson – zehn Roboter aus Nord 33‐68,4‐19, Entfernung 7,4 Millionen Kilometer, Geschwindigkeit 15 Prozent Licht!« Prompt flogen die fünf flüchtenden Roboterraumer eine scharfe Schleife von über hundertzwanzig Grad nach Süden. Se‐ kunden später jagten sie in einem Siebziggradwinkel von unten der Flugbahn des POINT‐OF‐Geschwaders entgegen. »Mon dieu! Sie wenden das gleiche Angriffsmanöver an wie wir…!« »Sie lernen eben schnell«, sagte Jackson heiser. »Und sie werden sich auf uns einschießen, auf die THOMAS. Sind die zehn anderen schon in Schußweite?« »In achtzehn Sekunden, mon General!« sagte Sanet. »Kommandant an alle Abteilungen – wir werden gleich viel Ener‐ gie für die Defensivsysteme benötigen. Sorgen Sie dafür, daß sie zur Verfügung steht, soweit Sie noch Einfluß auf Ihre Geräte haben!« Dann mit einem Seitenblick zu York Merier und Poul Tepermann. »Deaktivieren Sie vorübergehend die offensiven Waffensysteme.« Die beiden sahen sich kurz und erstaunt an, nickten dann aber. »Beim Leben meiner Mama!« Alain sprang auf, aus großen Augen starrte er seine Ortungsinstrumente an. »Dharks Checkmaster schickt uns genau zwischen die beiden feindlichen Verbände…!« »Verdammt!« Ray es schlug mit der Faust auf seine Instru‐ mentenkonsole. »Ich werde wahnsinnig, wenn ich mein Schiff nicht bald wieder selbst steuern kann! Das ist mir zuviel des Glaubens…!« »Vertrauen Sie, Nummer Eins!« tönte Jackson. »Überlassen sie einfach dem Herrn und dem Checkmaster die Navigation.« »Wenn das so einfach wäre! Außerdem…!« Der kleine Spanier machte eine grimmige Miene. »Ich will Ihnen nicht zu nahe treten,
General Jackson – aber einfach über den Willen des Checkmasters hinweg die Waffensysteme abschalten, um Energie für die Schutz‐ schirme zu sparen, das zeugt auch nicht gerade von großem Ver‐ trauen…!« »Das zeugt von großem Verantwortungsgefühl, Mister Rayes!« donnerte der General. »Zum Beispiel für Ihr bißchen Leben!« Drei Sekunden lang etwa konnte er noch im Hologramm beobachten, wie zwei Ringraumer die fünf Roboter angriffen und drei die zehn Neuankömmlinge. Dann erfüllten Strahlenkränze das All, und die Bildkugel wurde von der Lichtflut für einen Moment überlastet. Eine schrille Stimme aus dem Bordfunk behauptete, das Doppelinterval‐ lum würde jeden Moment versagen und der KFS sowieso. Rayes fluchte auf Spanisch, irgend jemand meldete einen Treffer und ir‐ gend jemand begann tatsächlich laut zu beten. Jackson registrierte es mit Wohlgefallen. Als die Bildkugel wieder funktionierte, war sie erfüllt von silbrig schimmernden Netzstrukturen und mindestens fünf grell leuchten‐ den kleinen Sonnen. Die erloschen nacheinander, und Sanet meldete die Vernichtung von sechs weiteren Roboterraumern durch Hy‐Kon. General Thomas J. Jackson machte diese Meldung seines Ortungsof‐ fiziers so fassungslos, daß ihm nicht einmal gleich ein Dankgebet einfiel. »Ikosaederraumer aus Nord 36‐43‐19«, meldete Sanet. »Vielleicht die ROBERT? Die vier restlichen Roboter ziehen sich endgültig zu‐ rück.« »Funkzentrale an General – Verbindung zur ROBERT, Gene‐ ralmajor Jensby will Sie sprechen.« Sekunden später erschien die dürre Gestalt eines relativ kleinen Mannes im Hologramm. Er hatte einen schmalen, fast spitzen Kahl‐ kopf. »Ich hoffe, Sie und Ihre Besatzung sind wohlauf, General Jackson«, sagte er. »Nun, dem Allmächtigen sei Dank, aber ich habe momentan keine gegenteiligen Informationen. Und Sie, Jensby? Waren Sie an dem
Hy‐Kon‐Zauber eben beteiligt?« »Es war mir eine Ehre, Ihnen einen kleinen Gefallen zu tun, Gene‐ ral. Betrachten Sie es als bescheidenen Dank für Ihre Hilfe vor zwei Stunden. Mein Schiff hat eine Menge Treffer kassiert.« »Ich weiß, ich weiß, mein Lieber. Bewährt sich der Hy‐Kon‐Beschuß denn auch im großen Stil?« »Die Terranische Flotte und unsere Ikosaeder beginnen eben erst die Waffe anzuwenden, aber die terranischen Verluste haben auf‐ gehört, während die Roboter allein in den letzten Minuten einund‐ sechzig Schiffe verloren haben.« »Das nenne ich Gerechtigkeit«, seufzte Jackson, und an Jensbys Adresse: »Stellen Sie sich Dhark und seinem Checkmaster zur Ver‐ fügung, Generalmajor. Wir sollten so schnell wie möglich wieder in die Kämpfe eingreifen.« Das Bordhirn der POINT OF übernahm auch die Kontrolle der ROBERT. Der Siebenerverband nahm Kurs auf die Erde. Überall peilte Sanet jetzt die charakteristischen Energieentladungen von Hy‐Kon‐Beschuß an. Je näher der Verband der Erde kam, desto häufiger beobachteten Jackson und seine Besatzung die typischen, silbern gleißenden Glutnetze im Hologramm. Der codierte Funkverkehr zwischen Terra und den beiden Flagg‐ schiffen der Rotte ließ keinen Zweifel mehr an der Wirksamkeit von Hy‐Kon: Innerhalb von zwanzig Minuten belief sich die Verlustrate der Angreifer auf über hundert, während die Terraner in der glei‐ chen Zeit nur noch einen weiteren Ringraumer verloren. Als die THOMAS im Verband der POINT OF wieder Feindbe‐ rührung hatte, meldete die FREDERICKSBURG den Abschuß des vierhundertneunzehnten Roboters. Der Checkmaster griff zwei Fünferverbände an, die den Nogk‐Schirm über Alamo Gordo be‐ schossen. Der Kampf währte nur wenige Minuten – sieben Roboter‐ raumer schoß Dharks Bordhirn in den Hyperraum. Die anderen drei flohen. »Nachricht von der ORN«, tönte Grissoms Stimme aus dem Bord‐
funk. »Roboterflotte zieht sich auf breiter Front zurück!« Sanets Ortungsinstrumente bestätigten die Meldung. »Sie geben auf!« rief er. »Mon dieu, was für eine Freude – sie ergreifen die Flucht!« Die Männer und Frauen in der Zentrale sprangen auf, schüttelten sich die Hände oder umarmten sich. Einige weinten vor Er‐ leichterung. Merkwürdig still ging es zu dieses Mal. »Ich will den Herrn loben!« betete Jackson laut. »Sein Lob soll immerdar in mei‐ nem Munde sein…« Die Roboterraumer sammelten sich zu Verbänden von hundert Schiffen und nahmen Kurs auf das äußere Sonnensystem. Clark und Bulton verfolgten sie mit etwa achthundert Ringraumern. An die vierzig Roboterraumer konnten sie noch mit Hy‐Kon vernichten. Schon jenseits der Jupiterbahn sprangen die ersten Feindschiffe in den Hyperraum. Nach und nach verschwanden 2021 Roboterraumer aus dem Sonnensystem. Ihre weichen Transitionen waren nicht an‐ zupeilen. Die Terranische Flotte sammelte sich nur wenige Millionen Kilo‐ meter entfernt in zwei Großverbänden. Einhundertsiebenundachtzig Ringraumer hatten die Angreifer vernichten können. Einhundert‐ zweiunddreißig waren so stark beschädigt, daß sie Reparaturwerften anflogen oder mit Traktorstrahlen dorthin geschleppt werden muß‐ ten. Eine knappe Stunde nach Ende der Schlacht erschien die massige, untersetzte Gestalt des Raummarschalls von Terra in der zentralen Bildkugel der THOMAS. »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, General Jackson«, sagte er. Er wirkte ausgesprochen bedrückt. »Ich habe die leitenden Kommandeure meiner Verbände zu einer Konferenz auf mein Flaggschiff gebeten. Ich wäre sehr dankbar, auch Sie auf der ORN begrüßen zu können. Immerhin sind wir jetzt Kampfgenossen und de facto Verbündete.« Jackson nahm Haltung an. »Es wird mir eine Ehre sein, auf Ihr Schiff zu kommen, Marschall.«
Das Konterfei des Flottenchefs verblaßte. »Kurs auf die ORN«, be‐ fahl Jackson. Er zwirbelte an seinem Bart herum und grinste ver‐ schmitzt. Sein Erster Offizier sah ihn fragend an. Jackson verriet ihm nicht, was er dachte. Er dachte daran, daß er in wenigen Minuten gewissen Kom‐ mandeuren gegenüberstehen würde, die seiner Karriere in der Ter‐ ranischen Flotte eine Menge Steine in den Weg gelegt hatten; große Steine, und das, wo sie nur konnten. Vor drei Jahren noch war er ihnen als Oberst der Flotte mit seiner Gewissenhaftigkeit auf die Nerven gegangen. In ein paar Minuten würde er ihnen als General und Kommandeur der Edenflotte gegenübertreten. Diese Aussicht bereitete ihm eine diebische Freude. * Sterne glitzerten in der Bildkugel. Dhark identifizierte Antares, Rigel und Beteigeuze. Über sechzig Millionen Kilometer entfernt zog eine strahlend helle Venus ihre Bahn. Das All wirkte still und erha‐ ben, als wäre nichts geschehen. Der Commander drehte sich um. Amy lächelte ihm vom Kom‐ mandostand aus zu. Er lächelte zurück. Männer und Frauen in den Arbeitsbuchten sprachen leise miteinander. Tino Grappa erläuterte zwei Fähnrichen die Konstellationen der Ortungsreflexe auf seinen Monitoren. Arc Doorn und Chris Shanton hatten die Köpfe zusam‐ mengesteckt und debattierten über ein theoretisches Problem der Massenerhöhung. Die Atmosphäre in der Zentrale hatte sich gelöst. Man traute sich wieder zu lachen. Auch Bert Stranger war in die Zentrale zurückgekehrt. Er zog mit aktiviertem Aufnahmegerät von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz und sammelte Eindrücke aus der zurückliegenden Schlacht. Er wollte eine Reportage darüber schreiben. Ren Dhark hatte nichts dagegen. Er wandte sich an Riker. »Begleitest du mich auf die ORN, Dan?« Riker brummte eine unverständliche Zustimmung und nickte. »Und
du auch?« fragte Dhark an die Adresse des Roboters. Artus zögerte. Zu bewußt war ihm, daß er bis vor wenigen Stunden noch als Ver‐ räter gegolten hatte. »Wir brauchen dich, Artus. Niemand kennt die feindlichen Roboter so gut wie du.« »Einverstanden. Ich begleite dich, Dhark.« »Danke.« Die ORN kam in Sichtweite, Bebir meldete sich in Bultons Zentrale. Ein paar Minuten später bekam Dhark einen Transmittertermin, und zwanzig Minuten danach betrat er mit Artus und Dan Riker den Ringtransmitter auf der Galerie oberhalb der Zentrale. Vor dem Ringtransmitterausgang auf der ORN begrüßte ihn Ted Bulton persönlich. Lange schüttelte er dem weißblonden Mann die Hand. »Danke für Ihre Hilfe, Commander Dhark. Sie und die Män‐ ner und Frauen der POINT OF sind Terras wichtigster Kampfver‐ band; unsere Geheimwaffe sozusagen.« »Danke, Marschall, aber bitte übertreiben Sie nicht.« Bulton begrüßte Riker und den Roboter, wobei er darauf ver‐ zichtete, Artus die Hand zu reichen. Überhaupt wirkte er etwas zu‐ rückhaltend ihm gegenüber. Der Marschall und sein Erster Offizier führten das Trio von der POINT OF in die Offiziersmesse des Flaggschiffs. Dort warteten bereits um die zwei Dutzend Männer und Frauen: Kommandeure der Terranischen Flotte mit ihren Ersten Offizieren. Dhark erkannte Brigadegeneral P. S. Clark, Generalmajor Luigi Brigone, Brigadegeneral Jeff Daniels, General John Martell sowie einige andere Kampfgefährten und prominente Militärs. Ted Bulton begrüßte das Trio von der POINT OF noch einmal offiziell und wiederholte seinen Dank. Die versammelten Kommandeure erhoben sich und applaudierten. Dhark deutete eine Verbeugung an, Riker, peinlich berührt von soviel öffentlicher Aufmerksamkeit, blickte nur finster um sich und flüchtete sich in den Sessel, den der Marschall ihm zugewiesen hatte. Kaum saßen die drei von der POINT OF, führte der Erste Offizier
der ORN einen bärtigen, kräftig gebauten und hochgewachsenen General und einen kleinen Oberst mit südländischem Habitus in die Messe. »Willkommen an Bord der ORN, General Jackson und Oberst Rayes!« Mit ausgebreiteten Armen eilte der Marschall auf die Män‐ ner zu. »Im Namen der Terranischen Flotte und der Regierung von Terra danke ich Ihnen für Ihren…!« Der Rest ging in Applaus und Hochrufen unter. Bei dem Namen Jackson waren die meisten an‐ wesenden Offiziere aufgesprungen. Wieder brachten sie stehende Ovationen dar. Der Beifall verklang. Bultons Dankesrede an Jackson und die Kommandanten seiner Ikosaeder fiel knapp aus. Etwas länger ver‐ weilte er bei den vielen Opfern der Schlacht. Er sprach von über elfhundert gefallenen beziehungsweise vermißten Angehörigen der Terranischen Flotte. Nach einer Schweigeminute für die Toten kam er sofort zum Anlaß der Konferenz. »Der Angriff mit Hy‐Kon und die vielen Verluste in doch relativ kurzer Zeit haben die Robotinvasoren überrascht«, begann er. »Doch wenn sie zurückkehren – und sie werden zurückkehren, da sollten wir uns keinen Illusionen hingeben – wenn sie also wiederkommen, werden sie sich in irgendeiner Form auf Hy‐Kon‐Beschuß vorbereitet haben. Mit anderen Worten: Ihre zweite Invasion darf uns auf keinen Fall derart überraschen, wie es der heutige Überfall getan hat.« Er blickte in die Runde seiner Kommandeure. »Was aber können wir tun? Ich bitte um Ihre Vorschläge.« Nach ein paar Augenblicken schweigenden Nachdenkens ergriff General John Martell das Wort. Er forderte, die Produktionskapazität der neuen Ringraumerwerft voll auszunutzen und sprach sich für Patrouillen rund um das Sol‐System aus, die mehrere hundert Lichtjahre tief in das All hinein gestaffelt sein sollten. Der Vorschlag wurde diskutiert, doch die meisten hielten ihn für eine allenfalls mittelfristig zu verwirklichende Option. Gebraucht wurde jedoch eine kurzfristig anwendbare Strategie. Brigadegeneral Clark regte den Bau einer Mega‐Hy‐Kon‐Waffe an.
Die Kombination ausgemusterter Schiffe mit bestehenden Ast‐Stationen hielt er für einen wichtigen ersten Schritt. Er glaubte, daß sein Konzept sich in relativ kurzer Zeit verwirklichen ließ. Nur eine Minderheit der Kommandeure wollte ihm in dieser Ansicht folgen. Brigadegeneral Jeff Daniels schlug vor, auf verstärkte Aufklärung zu setzen. Er skizzierte den Plan einer Flotte von Aufklärern, die in Ringen von hundertzwanzig Lichtjahren Abstand in konzentrischen Kreisen um Sol herum stationiert werden sollten. Zu diesem Zweck wollte er Schiffe älterer Bauart zu unbemannten halbmobilen Or‐ tungs‐ und Funkstationen umrüsten. Daniels’ Ideen fanden allgemeine Zustimmung. »Man müßte eini‐ ge solcher Schiffe zusammen mit automatischen Raumsonden ent‐ lang der Route nach Eins positionieren«, meldete Artus sich zu Wort. Alle Augen richteten sich auf ihn. Zwei Atemzüge lang sagte nie‐ mand etwas. Die meisten runzelten verständnislos die Stirn, auch Ted Bulton. »Die Route nach wohin? ›Eins‹…? Ich verstehe nicht…« Hilfesuchend wanderte sein Blick zwischen Dhark und dem Roboter hin und her. »So nennen die feindlichen Roboter ihren Zentralplaneten – Eins.« Ren Dhark machte sich klar, wie unzureichend die Informationen zwischen der POINT OF und dem Flottenkommando in den letzten Tagen geflossen waren. »Der Planet liegt in einem System auf der anderen Seite der Milchstraße, 68.000 Lichtjahre von Terra entfernt. Artus hat Ende August mehrere Tage auf Eins verbracht. Er ist erst kurz vor der Invasion zurückgekehrt. Einen ausführlichen Bericht haben die Turbulenzen der zurückliegenden Stunden noch nicht zugelassen. Es tut mir leid…« Geraune und Getuschel ging durch die Reihe der Offiziere. Einige hielt es vor Erregung nicht mehr auf ihren Plätzen. Auch Brigade‐ general Clark nicht. »Du warst in der Hauptbasis dieser Kunsthir‐ ne…?« Mit einer Mischung aus Unglauben und Schrecken starrte er den Roboter an.
»Du kennst die Koordinaten ihres Zentralplaneten?« Bulton flüs‐ terte fast. Wie festgefroren hockte er in seinem Sessel. Die Neuigkeit verschlug ihm buchstäblich den Atem. Im allgemeinen Stimmenge‐ wirr fielen Worte wie ›Attacken‹, ›Gegenangriff‹, ›Revanche‹. Bulton griff sie sofort auf. »Wenn das so ist…« Er stand auf und begann erregt zu gestikulieren. »Wenn das so ist, dann liegt doch auf der Hand, was wir zu tun haben! Wir müssen so rasch wie möglich einen Gegenschlag organisieren…!« »Ich sehe das anders, wenn du erlaubst…« Artus’ Einwand ging unter in der allgemeinen Begeisterung über die guten Nachrichten. Ren Dhark und Dan Riker beugten sich zu dem Roboter, um seine Argumente zu hören. »Ich bitte um Ruhe, Gentlemen!« rief Bulton. Aufregung und Stimmengewirr legten sich. »Bis wann, meine Herren, bis wann bringen wir eine schlagkräftige Flotte für diese Expedition in die Startlöcher?« »Nun, es ist ein weiter Flug.« Clark zuckte mit den Schultern. »Sechshundert Einheiten würden vermutlich wohl schon morgen startklar sein, aber die anderen…« Er schnitt eine skeptische Miene. »Unsere Mannschaften brauchen nach der heutigen Schlacht ein wenig Ruhe«, sprang Daniels ihm bei. »Außerdem benötigen wir Zeit, um die Schiffe, die heute im Einsatz waren, zu warten, aufzu‐ munitionieren und mit Tofirit zu betanken…« »Ich bitte um das Wort!« Ren Dhark reckte beide Arme in die Hö‐ he. Bulton bedeutete ihm zu sprechen. »Artus hat exaktere Informa‐ tionen über die Flottenstärke der Roboter.« Der Commander wandte sich an den Roboter. »Bitte, Artus.« »Ich habe keine Informationen darüber, wie viele Schiffe genau dem Volk zur Verfügung stehen, aber daß es mehr als zehntausend sind, weiß ich sicher…« »Welchem ›Volk‹?« unterbrach Bulton. »So nennen die Roboter ihr Kollektiv«, erklärte Artus. »Manchmal sprechen sie auch von Funktionsgemeinschaft, und deine Gattung,
Bulton, zählt aus ihrer Perspektive zum Biomüll; so nennen sie orga‐ nisches Leben.« Eine peinliche Pause entstand. Clark lief rot an vor Zorn, und er war nicht der einzige. »Wie auch immer«, fuhr Artus fort. »Von zehntausend Robo‐ terschiffen weiß ich sicher, daß sie existieren. Während meines Aufenthaltes auf Eins hörte ich jedoch von weiteren größeren Flot‐ tenverbänden, die auf verschiedenen planetaren Basen stationiert sind.« »Selbst bei einem Überraschungsangriff… gegen zehntausend Einheiten wäre unsere Flotte überfordert«, gab Dan Riker zu be‐ denken. »Da ist was dran.« Zerknirscht versank der Raummarschall in sei‐ nem Sessel. »Da nützt uns auch Hy‐Kon nichts mehr.« »Sie dürfen nie wieder bis ins Sonnensystem vordringen!« Clark brauste auf. »Nie wieder! Ich plädiere dafür, alle bisher gemachten Vorschläge mit Nachdruck zu verfolgen! Eine wesentlich optimierte Aufklärung aber scheint mir im Moment am wichtigsten zu sein. Deswegen sollten wir uns darauf mit besonderem Nachdruck kon‐ zentrieren.« »Möglicherweise ist es eine göttliche Fügung, daß Edens Schiffe Terra ausgerechnet in diesen Tagen anfliegen, denn in dieser Hin‐ sicht habe ich interessante Neuigkeiten für Sie, denke ich.« Zum ersten Mal meldete sich General Thomas J. Jackson zu Wort. »Auf Eden hat die Gruppe Saam ein neuartiges Ortungsgerät entwickelt, mit dem sich die ›weichen‹ Transitionsimpulse der Roboter anpeilen lassen. Dr. Saam nennt es Sprungpeiler. Wir haben das Gerät erst kürzlich praktisch erprobt, und zwar an Einheiten der ›Funktions‐ gemeinschaft‹. Es peilt deren Transitionsimpulse im Umkreis von dreihundert Lichtjahren zuverlässig an.« Ausrufe des Staunens gingen durch die Runde. »Weiche Transi‐ tionsimpulse auf eine Entfernung von dreihundert Lichtjahren?« Clark schüttelte ungläubig den Kopf. »Das wäre ja eine Revolution!« »Die Roboter überwinden mit einem Hypersprung bis zu fünf‐
hundert Lichtjahre«, sagte Ren Dhark. »Zu überwachen wären also Raumkugeln in sensiblen Gebieten mit Durchmessern von tausend Lichtjahren. Die Sprungpeiler können innerhalb einer Raumkugel von sechshundert Lichtjahren Angreifer aufspüren. Mit einem Sprungpeiler ist es also bei weitem nicht getan.« »Wir haben viele sensible Zonen, brauchten also eine Menge sol‐ cher Geräte.« Clark rieb sich nachdenklich das Kinn. »Die Ikosaederflotte führt leider nur eine kleine Anzahl von De‐ monstrationsgeräten mit sich.« Jackson breitete bedauernd die Arme aus. »Neben anderen militärischen Neuentwicklungen übrigens. Mister Wallis wollte die neusten edenschen Errungenschaften bei Ihnen vermarkten. Das dauert natürlich seine Zeit, aber wenn wir uns beeilen, kommen Sie sicher schnell ins Geschäft mit Mister Wal‐ lis…« »Geschäft?!« Jetzt war es an Ted Bulton, vor Zorn zu erröten. »Vermarkten? Er will Geld für diese Geräte? Unverschämtheit!« »Nun, er ist Geschäftsmann.« Jackson versuchte zu lächeln. Die Angelegenheit war ihm sichtlich peinlich. »Und die Entwicklung der neuen Erfindungen war teuer, soviel ich weiß. Aber darüber reden Sie besser mit Mr. Wallis persönlich. Ich bin sein Flottenkomman‐ deur und nicht sein Wirtschaftsminister.« »Erfindungen? Plural? Darf ich fragen, um welche Neuerungen es sich noch handelt?« erkundigte sich Clark. Jackson, froh, das Thema wechseln zu können, berichtete. Von den Sprungpeilern, von dem neuen Multikarabiner GEH&K Mark 10/62, von Ringraumern aus dem neuen leichten Werkstoff Carborit, von den Ikosaedern mit Worgun‐Technologie und zwei Triebwerken an Bord. Vor allem was die Ikosaeder betraf, fragten die Kommandeure dem armen Jackson schier Löcher in den Bauch. Alle hatten sie mitbe‐ kommen, mit welcher Schlagkraft die zehn Prototypen unter den Robotern gewütet hatten und wie widerstandsfähig ihre Außenhülle selbst gegen massiven Kompri‐Nadelbeschuß war. Begehrlichkeit blitzte in den Blicken der meisten Kommandeure, während Jackson
den neuen Schiffstyp beschrieb. »Ich denke, das reicht jetzt«, sagte Bulton irgendwann mißmutig. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Gemeinsam mit Mr. Trawisheim sollte sich die Flottenführung so schnell wie möglich ein Bild von den neuen Geräten machen und dann rasch mit Wallis verhandeln. Fliegen wir also nach Terra, Gentlemen!«
14. Einige Zeit davor, Anfang August: Die Spinne saß auf einem der mannshohen Farnzweige. So groß wie der Handteller einer Frau und von einem samtenen Schwarz lauerte sie am Rand ihres Netzes. Das spann sich klebrig zwischen dem Farn und dem Stamm des Mammutbaums aus. Ein Regentrop‐ fen traf es, es bebte. Er beobachtete das Tier. Es war schön. So schön, daß er für Au‐ genblicke das Rascheln im Unterholz vergaß. Julian liebte Spinnen. Ein Pfiff zog seine Aufmerksamkeit ab von der schwarzen Räuberin in Samt. Wieder der Pfiff. Der miserabel imitierte Ruf eines Spechts; hundertfünfzig, vielleicht zweihundert Meter von seinem Versteck entfernt. Unerbittlich näherten sich die Schritte. Er lauschte – Schritte von mindestens sechs Kämpfern. Es mußten Schwarze sein, es konnten nur Schwarze sein! Wenn sie ihn hier schon erwischten, hier im Farnfeld zwischen den Mammutstämmen, dann war der Kampf entschieden, bevor er rich‐ tig begonnen hatte. Julian griff nach dem Kolben seiner Waffe. Er schloß die Augen und atmete gegen den Trommelschlag in seiner Brust an. Sein Herz drosselte das Tempo. Das Rascheln kam näher, direkt auf ihn zu. Als würde jemand mit zwölf Füßen zwei große Schritte machen, sich suchend umschauen und dann wieder zwei Schritte tun. Julian nahm die klobige Waffe in beide Hände. Er preßte den Rücken gegen den rissigen Stamm, zog die Knie an die Brust und zwang sich zu langsamen, tiefen Atem‐ zügen. Ja kein Geräusch machen! Nur nicht jetzt schon alles ver‐ masseln! Rascheln, Splittern kleiner Äste, Flüsterstimmen – zum Greifen nahe schienen die Geräusche jetzt. Höchstens vier oder fünf Schritte entfernt. Dann wurde es auf einmal sehr still. Nur den Aufschlag der Regentropfen in den Laubkronen hörte man noch.
Julian zielte in die Farnblätter und ‐stiele. Die samtene Jägerin lauerte höchstens zwanzig Zentimeter über ihm am Rande ihres Netzes. Wenn die Schwarzen angriffen, würden sie diese schöne Todesfalle zerstören. Was zum Henker hatte ein derart großer Stoß‐ trupp von Schwarzen in dieser Gegend des Waldes verloren? Kann‐ ten sie etwa den Plan? Suchten sie etwa schon nach ihm? Dann wieder Rascheln, Astsplittern, Flüstern; die Schritte ent‐ fernten sich. Zögernd nur, aber sie entfernten sich. Julian grinste. Ein kleiner, hellgrüner Falter verfing sich im Spinnennetz. Blitz‐ schnell schoß die Spinne aus ihrer Deckung und wickelte ihn in klebrige Fäden. Ein Späher schrie. Einmal, zweimal… Kerzengerade hockte Julian plötzlich im Unterholz. Jede Muskel‐ faser seines drahtigen Körpers war jetzt angespannt. Da! Wieder der Doppelruf! Das war kein Späher, das war Hagen! Und sein Ruf kam aus der Richtung, in der auch der Stoßtrupp der Schwarzen unter‐ wegs war! Der Ruf entsprach dem vereinbarten Zeichen. Nicht vor‐ gesehen jedoch waren Schwarze auf der Linie zwischen Julian und Hagen. Er entschied schnell und wie meistens aus dem Bauch heraus. Ein letzter Blick auf die Spinne, die Waffe in den Gurt, raus aus dem Farnfeld – leise, leise! – hinter den nächsten Stamm und in der De‐ ckung der Bäume hinter dem Stoßtrupp der Schwarzen her. Der Regen wurde stärker. Arschkalt war es. Der Tag neigte sich bereits, kaum sah man noch seinen eigenen Schatten. Unterholz und junge Bäume verschwammen mit den Stämmen der Buchen, Tannen und Mammuts. Gut so! Bald sah er Bewegungen im Gestrüpp. Männer mit schwarzen Stirnbändern und schwarzen Jacken. Bis auf zwanzig Schritte pirschte er sich an sie heran. Er packte ei‐ nen kurzen Ast, schleuderte ihn weit hinter sich und duckte sich in die Blaubeerbüsche. Die Nachhut blieb stehen, blickte sich um, winkte den anderen. Sie kamen zurück. Ihre Reihe zog sich ausei‐ nander, sie durchkämmten das Unterholz in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Julian verharrte in seiner Deckung und zog die Waffe. Im Blau‐ beergestrüpp hingen ausschließlich grüne Früchte. Und das Anfang August! Vielleicht würde er auf einen schießen müssen… Keine zehn Schritte rechts von ihm stampfte einer vorbei. Still! Nicht atmen! Die Schritte entfernten sich. Plötzlich rasselnder Atem ganz nah. Julian hob den Kopf – und sah in ein schwarzverschmier‐ tes Gesicht. Der Schwarze riß den Mund auf. »Hierher…!« Julian riß die Waffe hoch – ein trockenes Ploppen, ein nasser, roter Fleck auf der Brust des Gegners. Blitzschnell rollte Julian zur Seite, schoß auf einen heraneilenden Schwarzen, traf seinen Hals, sprang auf und spurtete los… * Hagen ahmte den Schrei des Tannenhähers zum zweiten Mal nach. Er verhallte im Wald. Mehr konnte er nicht tun. Kritisch spähte er noch einmal zum Erdloch unter dem Wurzelwerk der umgestürzten Tanne hinunter. Es war mit Wasser gefüllt. Schwere Regentropfen klatschten in den Tümpel. Ein geniales Versteck für die Datenkapseln. Hagen hatte seine Spur mit Reisig verwischt und sorgfältig jeden Zweig im Unterholz eingesammelt, den er abgebrochen hatte. Die Nylonschnur konnte nur einer entdecken, der am Rand des Tümpels im Morast kniete und das Wurzelgeflecht des Baumes mit einer Ta‐ schenlampe untersuchte. Und Taschenlampen hatten die Schwarzen nicht. Niemand hatte hier Taschenlampen. Hagen klemmte das Kleiderbündel und den Stiefel unter den Arm, robbte ins Unterholz und zog sich die Unterhose, die Hose und die Socken an. Seine eigene Hose und die Socken hatte er im Tümpel versenkt. Die Schlammspuren wären zu verräterisch gewesen. Hemd und Jacke waren leidlich sauber geblieben. Und naß war bei dem Wetter sowieso alles. Er stieg in den Stiefel. Nur einen hatte er noch. Schade. Aber so
wollte es der Plan. Auf dem Bauch robbte er anschließend weiter durch das Unterholz. Die Dämmerung fiel schon über den Wald. Hagen fror und hatte Hunger. Der Regen durchdrang bereits Jacke und Hemd. Was für ein Scheißwetter! Und das, obwohl Anfang August eigentlich die hei‐ ßeste Zeit des Jahres sein sollte! Vorsichtig kroch er durch Dornen‐ gestrüpp. Immer wieder lauschte er. Der Wald war voller Geräusche. Und bald hörte er auch das typische Rascheln und Ästeknacken, das menschliche Schritte verursachten. Hagen stand auf. Etwa neunhundert Meter lagen jetzt zwischen ihm und dem Tümpel. Das war die Mindestentfernung, die Julians Plan vorsah. Ein guter Plan, ein verteufelt guter Plan. Er huschte von Baum zu Baum, kroch manchmal auch noch auf Knien und allen vieren, um sich nicht verdächtig zu machen. Er hätte zwanzig Dollar darauf gesetzt, daß sie ihn bereits im Visier hatten. Acht oder neun Minuten später sprang einer von ihnen etwa drei‐ ßig Meter entfernt aus der Deckung einer alten Buche. »Gelber in siebzehn‐drei‐acht!« brüllte er. »Kampfgruppe nach sieb‐ zehn‐drei‐acht…! Gelber in…« Ein einzelner Späher! Die waren in der Regel unbewaffnet! Ganz im Gegensatz zu den Kampfgruppen! Hagen rannte los. Zweihundert Meter weit nutzte er die Deckung des Dornenge‐ strüpps aus. Immer wieder verharrte er kurz und lauschte. Als er endlich hörte, aus welcher Richtung die Gegner stürmten, sprang er auf und spurtete davon. Sollten sie ihn ruhig sehen! Jetzt kam es nicht mehr darauf an, jetzt kam es nur noch darauf an, die Jäger so weit wie möglich vom Tümpel und vom Fluß wegzulocken… * Wilde Freude sprengte ihm schier die Brust. Zwei hatte er getrof‐ fen, drei hatte eine der beiden Flankengruppen erwischt, die ihn seit Beginn des Kampfes mit dreihundert bis vierhundert Metern Ab‐
stand eskortierten. Den sechsten hatten sie gefangengenommen. Er brach durch Büsche, kletterte über umgestürzte Bäume, wühlte sich durch von den Stämmen hängende Kletterpflanzen und über‐ sprang kleinere Bachläufe. Er wußte genau, wohin er wollte, lenkte seine Schritte dorthin, wo Wald und Unterholz immer dichter wur‐ den, dorthin, wo er die entwurzelte Tanne erahnte. Ein Schwarm Waldtauben flatterte auf. Julian warf sich zwischen einen Haselnußstrauch und eine Gruppe junger Birken. Er lauschte. Eine Minute, zwei Minuten, drei. Kein Splittern, kein Rascheln, nichts – er selbst hatte die Vögel aufgescheucht. Ein Glück. Er rief sich die Fotos ins Gedächtnis. Luftaufnahmen. Der Leutnant hatte sie ihnen vor dem Kampf gezeigt. Er sah sich um. Nur noch Umrisse von Büschen, Stämmen und Gestrüpp. Dennoch war er sicher, auf dem richtigen Weg zu sein. Weiter. Etwa zwanzig Minuten später sah er die mächtige Nadelkrone der entwurzelten Tanne. Er pirschte einmal um sie herum, lauschte und spähte die möglichen Deckungen aus. Niemand in der Nähe. Nur von fern tönte Geschrei und Kampflärm. Er robbte zur Tanne, dann an ihrem Geäst zu ihrem Wurzelwerk und zum Erdloch. Dort ließ er sich bis zum Tümpel hinunterrollen. Er glitt ins Wasser, watete zur Mitte des Wurzelgeflechts und tastete darin herum. Schon beim vierten Versuch erwischte er die Nylon‐ schnur. An ihr zog er den Stiefel aus dem Wasser. Das offene Ende des Schaftes hatten sie umgeknickt und im Feuer mit dem unteren Teil verschmolzen. Julian schüttelte den Stiefel: kein Plätschern. Dafür klapperten die fünfundzwanzig Datenkap‐ seln gegeneinander. Jetzt kam alles darauf an, daß er rasch den Fluß erreichte und daß die anderen ihren Job so perfekt wie nur möglich erledigten. Julian kletterte aus dem Tümpel und dann die Böschung hinauf ins Unterholz. Ein Platzregen donnerte ins Laub der Baumkronen und der Bü‐ sche. Vielleicht gar nicht schlecht. Er rannte los. Naß bis auf die Haut
war er inzwischen. Was für ein Sauwetter! Was für eine bescheuerte Veranstaltung! Bald war es stockdunkel. Endlich lichtete sich der Wald. Noch dreißig oder vierzig Schritte, dann mußte er den Fluß erreicht haben. Behutsam tastete er sich voran. Ein paar Minuten später kniete er vor einer steilen Böschung. Fünfzehn, sechzehn Meter unter ihm, tief im Gelände eingekerbt, der Flußlauf. Julian sah ihn nicht, er hörte aber das Wasser rauschen. Er rutschte die Steilböschung hinunter, schälte sich aus Jacke, Hemd, Hose und Stiefeln und stieß, wie vereinbart, den Schrei eines Marders aus; den Todesschrei eines Marders, den ein Uhu griff. Ein paar Pfiffe ertönten entlang des jenseitigen Ufers, vielleicht zwei‐ hundert Meter entfernt. Dann hörte er das Getrampel vieler Schritte auf Holzplanken. Ein Trupp seiner Männer stürmte die Brücke. Es ging los. Julian steckte die Waffe in den Bund seiner Unterhose, packte den Stiefel und huschte zum Ufer. Dort atmete er ein paarmal tief durch. Danach klemmte er den Stiefel zwischen die Zähne, glitt ins Wasser und tauchte. Nach dreißig Metern berührten seine Knie und Ellbo‐ gen wieder Geröll. Er tauchte auf, kroch bäuchlings auf die Bö‐ schung und lauschte. Kampfgeschrei von rechts an der Brücke. Dort, zweihundert Meter entfernt, versuchten mindestens fünf seiner Männer zum Basislager durchzubrechen. Kampfgeschrei von links, vielleicht dreihundert Meter entfernt. Dort versuchten seine beiden Flankengruppen ebenfalls zu gelangen. Zuletzt waren sie noch zu acht gewesen. Julian duckte sich und spähte zur Böschung hinauf. Er fror so stark, daß er zu zittern begann. Warum hatte es in diesem Sommer noch keinen einzigen warmen Tag gegeben, geschweige denn eine warme Nacht? Seine Augen versuchten die Dunkelheit zu durchdringen. Er hörte, spürte und entdeckte nichts, was auf die Gegenwart von Schwarzen schließen ließ. Hoch mit dir, Julian Burns. Du schaffst es… Den Stiefel zwischen den Zähnen kletterte er die Böschung hinauf.
Nur etwa vierhundert Meter trennten ihn noch vom Basislager… * »Wenn du so weitermachst, bist du bald am Ende…« Nur noch achtunddreißig Punkte glitzerten im Hologramm seines mobilen Hyperkalkulators; zweiundzwanzig schwarze Punkte, sechzehn gelbe Punkte. Die Gelben hatten also schon neun Mann verloren, die Schwarzen erst drei. »Wenn er so weitermacht, sind seine Gelben in einer Stunde erle‐ digt«, murmelte der Leutnant. »Warum läßt er sich auf solch durch‐ sichtige Manöver ein?« Leutnant Buck war allein im Gleiter, er sprach mit sich selbst. Sein Gleiter schwebte über dem unwegsamen Waldgebiet südwestlich von Star City. Regen prasselte auf die Karosserie. Buck verstand nicht, was da unten im Wald und am Fluß vor sich ging. An zwei Stellen hatten sich fünf bis acht gelbe Punkte am Flußufer festgebissen. Kurt Buck fragte sich, welche Strategie er selbst an‐ wenden würde, wenn er anstelle der jungen Gardisten dort unten durch Regen und Gestrüpp hetzen müßte. Jedenfalls wäre es ihm niemals in den Sinn gekommen, die Brücke direkt anzugreifen. »Sein Eigensinn, sein verdammter Eigensinn«, murmelte er. Er sprach von einem zwanzigjährigen Fähnrich namens Julian Burns. Unter den Dozenten der Universität von Star City galt er als ungewöhnlich begabt und zugleich als ungewöhnlich schwierig. Wieder erlosch ein gelber Punkt im Hologramm. Ein einzelner, und zwar direkt am Flußufer. Nur noch fünfzehn von ursprünglich fünfundzwanzig Gelben. Wenn eine Gruppe den dreizehnten Mann verlor, mußte sie aufgeben und galt als Verlierer. Buck wußte, daß Burns die Führung der Gelben übernommen hatte. Er übernahm fast immer die Führung. Nicht alle seine Kom‐ militonen liebten ihn dafür. Die Übung ging jetzt in die fünfte Stun‐ de. Die Nacht war längst angebrochen.
Kurt Buck holte sich die Protokolle der vergangenen vier Stunden ins Hologramm. Irgendeinen Plan mußten die Gelben doch verfol‐ gen. Möglicherweise hatte er eine Vorwärtsbewegung nicht richtig interpretiert. Es handelte sich um die Variation eines uralten Manövers. Die Gelben starteten von ihrem Basislager aus. Es lag auf einem Hügel dreihundert Meter vom Flußufer entfernt. Ein neutraler Geländering von hundert Metern Durchmesser umgab es. Ihre Aufgabe: fün‐ fundzwanzig Datensätze für den Bau einer neuen Superwaffe aus einem zehn Meilen entfernten Bunker holen und sie in ihre Basis bringen. Die Aufgabe der Schwarzen: möglichst viele Gelben mit den fin‐ gergroßen Datenkapseln erwischen und die Daten zu ihrer freige‐ wählten Geheimbasis irgendwo im Wald schaffen. Es durften Gefangene gemacht und ausgetauscht werden, und jede Gruppe hatte zwei Faustfeuerwaffen, die rote Farbpatronen ver‐ schossen. Mit einem Treffer an Kopf oder Oberkörper oder mit zwei an Armen und Beinen schied man aus. Gewonnen hatte, wer nach acht Stunden die meisten Kapseln mit Datensätzen in sein Basislager geschafft hatte. Buck überflog die Protokolle. Alle Bewegungen sämtlicher fünfzig Junggardisten konnte er auf ihnen verfolgen. Die Schwarzen hatten sich darauf beschränkt, den Gelben ein paar Späher hinterherzu‐ schicken, und sich ansonsten auf die Belagerung des feindlichen Basislagers konzentriert, in das die Gelben ja mitsamt der Daten‐ kapseln zurückkehren mußten. Eine alte Strategie. Ziemlich lang‐ weilig, aber sehr wirksam, wenn der Gegner kein Mittel dagegen fand. Die Gelben hatten die Datenkapseln aus dem geheimen Versteck geholt und sich dann in vier Fünfergruppen und fünf Einzelgänger aufgeteilt. Anhand der Protokolle konnte Buck nachvollziehen, daß mindestens zwei dieser Einzelgänger in einem Abstand von einer knappen Meile die gleiche Route zum Fluß und zum Basislager
wählten. An einer Stelle verweilten beide länger als zwei Minuten. Eine vage Ahnung beschlich den Leutnant. Sollten die Gelben die Datenkapseln auf nur einen oder zwei Kämpfer verteilt haben? Sollten alle anderen Aktionen nur Ablenkungsmanöver sein…? Er zuckte zusammen, weil unerwartet das akustische Signal des Funkgeräts ertönte. Das war eigentlich nur für das Ende der Übung vorgesehen. Buck aktivierte die vereinbarte Frequenz. Im Hologramm erschien die Gestalt von Julian Burns. Er hielt sich in der Basis der Gelben auf. Der Fähnrich trug nur Unterwäsche und war tropfnaß. »Die Scheißübung ist zu Ende, Leutnant Buck.« Lässig leerte er eine große Menge Datenkapseln aus einem Stiefel. »Ich habe die Schnauze voll, lassen Sie uns endlich nach Hause gehen, ver‐ dammt!« »Was erlauben Sie sich, Fähnrich…!« Buck brauste auf. Er stauchte den Jungen zusammen und unterbrach die Verbindung. Ausge‐ schlossen, daß die Gelben bereits sämtliche Datenkapseln ins Basis‐ lager geschafft hatten! Oder…? Buck flog ins Lager. Alle fünfzig Junggardisten erwarteten ihn dort. Die Gelben mit den gelben Stirntüchern und den gelben Flecken auf den Jacken strahl‐ ten, die Schwarzen wirkten mürrisch und ließen die Köpfe hängen. Buck überzeugte sich davon, daß Burns’ Truppe tatsächlich alle Da‐ tenkapseln in ihr Lager geschafft hatte. Das war der Fall. Unglaub‐ lich! »Ziemliches Risiko, alle Daten auf einen Mann zu konzentrieren, Fähnrich Burns!« sagte Buck scharf. Insgeheim bewunderte er den hellblonden Burschen. Der war mittelgroß und drahtig. Sein Schmollmund verlieh ihm einen beinahe femininen Zug. »Nicht, wenn man die Sache so differenziert durchgeplant hat wie ich.« Unwillige Blicke seiner Gefährten trafen ihn, weil er ich sagte statt wir. »Sie haben neun Ihrer Leute geopfert.« »Wir haben das Manöverziel fast in der Hälfte der vorgegebenen
Zeit erreicht!« Widerwillig mußte Buck ihm und seiner Gruppe offiziell den Sieg zusprechen. »Ich werde mich morgen beim Rektor beschweren«, nörgelte Burns. »Es ist eine Schweinerei, uns bei diesem Sauwetter mit nichts als einer Uniform am Leib durch Schlamm und Dreck zu jagen.« Zustimmendes Gemurmel wurde laut. »Muß die Schwarze Garde seit neuestem sparen?« Julian Burns legte nach. »Ich dachte immer, wir verfügen über die beste Ausrüstung der ganzen Flotte.« »Das tun wir, Fähnrich, das tun wir. Aber im Ernstfall steht die nicht immer zur Verfügung.« Buck grinste. »Und manchmal findet so ein Ernstfall auch bei schlechtem Wetter statt. Und das haben wir nun einmal in letzter Zeit. Und warum? Sie vermuten vielleicht, daß das damit zusammenhängt, daß Sie gerade Ihre Ausbildung absol‐ vieren. Aber ich fürchte, das Wetter ist eines der wenigen Phäno‐ mene, das sich nicht nach Ihrer Nase richtet. Doch warum ist das so? Das wäre doch mal ein Thema für Ihre Doktorarbeit…« * Vier Wochen später, Anfang September, in der Universität von Star City. Das Wetter war noch schlechter geworden. Julian Burns trat mit einer Collegemappe unter dem Arm in Leutnant Kurt Bucks Büro. Der Fähnrich hatte Buck um einen Vieraugentermin gebeten. Vier‐ augentermine mit Burns waren eine Sache für sich. So mancher Do‐ zent an der Universität der Schwarzen Garde konnte eine Geschichte darüber erzählen. Burns schloß die Tür hinter sich, Buck wies ihm mit einer Kopf‐ bewegung einen Platz vor seinem Schreibtisch zu. Er hatte nicht die blasseste Ahnung, was der blonde Fähnrich von ihm wollte. Er tippte auf eine Beschwerde oder einen »Betriebsverbesserungsvorschlag«, wie Burns seine oft zwanzigseitigen Ergüsse über vermeintliche Mißstände an der Uni zu nennen pflegte. Buck nannte sie »Klug‐
scheißerdichtung«. »Was kann ich für Sie tun, Fähnrich?« fragte er. »Das hier lesen.« Burns öffnete seine Mappe, zog einen Stapel ge‐ hefteter Blätter heraus und legte sie vor Buck auf den Schreibtisch. »Es ist die Vorarbeit für meine Doktorarbeit, ein Entwurf, wenn Sie so wollen.« »Und ich soll Ihnen das Thema absegnen, oder wie?« Er nahm die Papiere und warf einen Blick auf das Deckblatt. Meteorologische Ver‐ änderungen auf Terra seit Januar 2060, lautete der Titel. Die einen Monat zurückliegende Szene nach der Geländeübung blitzte ihm durch das Hirn. Für einen Moment glaubte er, Burns könnte versuchen, ihn auf den Arm zu nehmen. Doch dann blätterte er in der Arbeit und fand eine Menge Tabellen und Listen mit me‐ teorologischen Daten. Die Sache sah ernstgemeint aus. »Nun, Burns. Das ist nicht mein Thema. Das kann Ihnen nur der zuständige Fachkollege genehmigen.« »Ich habe nichts von genehmigen gesagt, Herr Leutnant. Ich will, daß Sie das lesen.« Auf Burns’ Zügen erschien die trotzige Arroganz, die so charakteristisch für ihn war und die Buck so innig liebte. »Bitte«, fügte er dann wider Erwarten hinzu, und: »Es ist sehr wich‐ tig.« Kurt Buck seufzte, lehnte sich zurück und begann zu lesen. Zuerst gemächlich und ohne Eile, doch bald blätterte er immer hektischer um, runzelte dabei ständig die Stirn und bedachte seinen Fähnrich mit ungläubigen Blicken. Nach zwanzig Minuten etwa legte er die Papiere beiseite. »Wenn Sie einverstanden sind, informiere ich den Oberbefehlshaber der Schwarzen Garde.« »Von mir aus.« Buck aktivierte das Vipho auf seinem Schreibtisch. Zwei Minuten später war er mit Christopher Farnham verbunden. »Ich habe hier etwas, das Sie interessieren dürfte, Herr Generalmajor.« Buck be‐ nutzte den Hörer, der Fähnrich mußte Farnhams Reaktion nicht
unbedingt mitbekommen. »Ein Fähnrich stellt mir eben den Entwurf seiner Promotionsarbeit vor. Es geht um Meteorologie. Der betreffende Student hat eine Unmenge Daten von Raumschiffen, Satelliten und öffentlichen Da‐ tenbanken zusammengetragen und in unserem Observatorium ei‐ gene Messungen angestellt. Alles öffentlich zugängliche Quellen. Ich bin nicht vom Fach, aber nach allem, was ich verstehe, behauptet seine Hauptthese, das anhaltend schlechte Wetter der letzten Zeit hinge mit einem Masseverlust der Sonne zusammen. Ich lese hier etwas von sinkendem Energieniveau unseres Zentralgestirns, von allmählich sich verändernden Umlaufbahnen der inneren Planeten, von…« Buck unterbrach sich und zog die Brauen hoch. »Wie meinen Sie das, Sir…? Ich verstehe… ja… gut. Bis morgen.« Buck deaktivierte das Vipho, lehnte sich zurück und betrachtete den Fähnrich, als wäre der sein Hausarzt, der ihm soeben die Diag‐ nose einer Geschlechtskrankheit mitgeteilt hatte. »Was sagt der Generalmajor?« wollte Burns wissen. »Er will Ihre Arbeit lesen. Sie sollen mit niemandem darüber reden, das ist ein Befehl.« »Das habe ich schon.« Buck schlug mit der Faust auf den Tisch. »Von nun an kein Wort mehr zu einem Dritten darüber, Burns! Und morgen haben wir einen Termin bei Farnham!« * Am nächsten Tag aßen Buck und Burns in Alamo Gordo mit Farnham zu Mittag. Der Generalmajor hatte Burns’ Arbeit in der Hand. Er blätterte sie durch und fand ein paar anerkennende Worte. »Was Sie da aufgegriffen haben, könnte eine ganz heiße Sache sein, Fähnrich Burns.« »In der Tat. Wenn ich mich nicht völlig verrannt habe – was ich für
unwahrscheinlich halte –, droht Terra eine Katastrophe.« »So sehe ich das auch. Deshalb habe ich uns einen Termin beim Commander der Planeten geben lassen.« Buck zog erstaunt die Brauen hoch, und Burns grinste. »Ja, wenn das so weitergeht, können wir irgendwann unsere Hei‐ zungsrechnung nicht mehr bezahlen.« »Mir ist nicht nach Witzen zumute, Fähnrich«, fuhr Farnham ihn unerwartet heftig an. * Am frühen Nachmittag saßen sie in einem Empfangszimmer des Regierungshochhauses dem ersten Mann von Terra gegenüber. Trawisheim schien nicht viel Zeit zu haben, jedenfalls kam er sofort zum Punkt. »Ihre Arbeit hat mich beeindruckt, Mister Burns. Die von ihnen zusammengestellten Daten sind korrekt, die von Ihnen selbst erho‐ benen ebenfalls, und mit Ihren Schlußfolgerungen treffen Sie ins Schwarze. Kurz: Sie haben recht – die Sonne stirbt…« Die drei Gardisten glaubten sich verhört zu haben. Doch Trawis‐ heim berichtete von den deckungsgleichen Forschungsergebnissen einer Spezialistengruppe um Professor Monty Bell, sprach vom Be‐ ginn einer Eiszeit und behauptete, daß die Erde schon im übernäch‐ sten Jahr unbewohnbar sein würde. Der Schweiß brach dem Leut‐ nant aus. Seine Knie schienen sich mit heißer Schokolade zu füllen, und der Boden unter seinen Stiefelsohlen wogte und flatterte wie eine Flagge im Wind. »Sie müssen sich ein anderes Thema für Ihre Doktorarbeit suchen, Mister Burns«, schloß Trawisheim. »Von Regierungsseite aus halten wir das Thema vorläufig streng geheim. Wir sind es den Bürgern von Terra einfach schuldig, jede Panik zu vermeiden. Verstehen Sie das?« Der blonde Schmollmund nickte. »Haben Sie bereits mit Kameraden über Ihre Arbeit gesprochen?« Wieder ein Nicken. Trawisheim
wandte sich an Farnham. »Dann muß die gesamte Garde zum Still‐ schweigen verpflichtet werden.« Zurück in Star City ließ Farnham die komplette Schwarze Garde im großen Auditorium der Universität antreten. In knappen Worten unterrichtete er die Offiziere, Offiziersanwärter und Mannschafts‐ dienstgrade über die katastrophalen Prozesse innerhalb der Sonne. »Würden diese Probleme vor Beginn möglicher Evakuierungen bekannt werden, meine Herren, müßten wir mit Panikreaktionen, Rebellion und Bürgerkrieg auf dem ganzen Globus rechnen. Die öffentliche Ordnung würde zusammenbrechen, Hunderttausende kämen ums Leben. Daher verpflichte ich Sie zu absolutem Still‐ schweigen. Niemand in Ihrem persönlichen Umkreis darf von diesen Dingen erfahren. Nicht einmal Ihre Eltern oder Ihre Frauen und Freundinnen. Ich verlange von Ihnen, daß Sie hier und jetzt schwö‐ ren, dieses Geheimnis so lange für sich zu bewahren, bis die Regie‐ rung selbst das Schweigen bricht.« Große Betroffenheit machte sich unter den Gardisten breit. Niemand wollte zunächst glauben, was er da eben gehört hatte. Fragen erhoben sich. Farnham mußte die Fakten eingehender dar‐ stellen. Eine halbe Stunde später endlich hatten die leitenden Offiziere die Ablegung des Schwurs organisiert. Die Schwarze Garde verpflich‐ tete sich geschlossen und unter Eid, über die schlimmen Nachrichten Stillschweigen zu bewahren. »Ich danke Ihnen, meine Herren«, sagte Farnham, bevor er die Männer entließ. »Ich weiß, daß ich nicht vor irgendwelchen Soldaten stehe, sondern vor Terras Elitetruppe. Ich weiß, daß ich mich auf Sie verlassen kann. Im übrigen sollen Sie wissen, daß ich mich noch heute mit Professor Bell in Verbindung setzen und ihm unsere Zu‐ sammenarbeit anbieten werde. Wenn unser Heimatplanet vor derart existentiellen Herausforderungen steht, darf das wissenschaftliche Potential einer Elitetruppe wie der unsrigen nicht ungenutzt blei‐ ben…«
15. Dhark vermutete, daß der Himmel dunkelgrau war. Er schloß das aus dem strömenden Regen und dem Dämmerlicht. Es war früher Nachmittag und dennoch so düster wie am späten Abend. Sehen konnte der Commander den Himmel nicht, obwohl er auf dem Raumfeld von Cent Field stand, und zwar im Freien. Über ihm wölbte sich der Rumpf der THOMAS, und in der unmittelbaren Umgebung des schwarzen Carborit‐Ringraumers ragten die zehn neuen Ikosaederschiffe von Eden sechshundert Meter hoch in den verregneten Himmel. Die POINT OF und die elf Eden‐Raumer waren in einem Abstand von fünfhundert Metern gelandet. Da blieb kein Platz mehr für ein Stück Himmel. Dhark kam sich vor wie in einer gigantischen Höhle voller überdimensionaler Stalagmiten. Seine vertrautesten Weggefährten waren bei ihm: Dan Riker, Arc Doorn, Chris Shanton, Manu Tschobe, Amy und Artus. General Jackson plauderte mit Jakob Jensby und einer hochgewachsenen Frau mit blütenweißer Haut und blauschwarzem Haar, Besat‐ zungsmitglied eines Ikosaederraumers. Jensby und Jackson waren offenbar nicht die einzigen, die sich von ihr angezogen fühlten – auch Jacksons Erster Offizier und die Männer, die den Präsentati‐ onsstand für die neusten Geräte der Saam‐Gruppe aufbauten, konnten nicht anders, als immer wieder zu der technischen Soldatin zu blicken. Sie war schön. Das entging auch dem Commander nicht. Obwohl sie schön war, wandten Jackson und vor allem Jensby dennoch von Zeit zu Zeit den Blick von ihr und sahen nach oben. Nicht zum Himmel, sondern in den Regendunst, der das obere Viertel der ROBERT verhüllte. Die stand neben der THOMAS. An der Außenhülle von Jensbys Ikosaederraumer schwebte in fast vierhundert Meter Höhe und halb von Dunst und Regen verhüllt eine Antigravplattform. Ein Technikerteam von Eden inspizierte die
beschädigte Carborithülle des Raumschiffs. Unter ihnen Robert Saam, der Chefwissenschaftler, der Cheftechniker, der Chefkons‐ trukteur von Eden. Robert Saam, das eigentliche Gehirn von Wallis Industries, war über die wieder aktivierte Transmitterverbindung auf die Erde gekommen. Wahrscheinlich war es gut, hier unten zu stehen, im Trockenen, und nicht dort oben zu schweben, wo man den Himmel sehen mußte, von dem Ren Dhark annahm, daß er schwarzgrau war. So einen Himmel wollte er nicht sehen. Er sehnte sich nach Sonne und milder Luft. Doch es war lausig kalt. Höchstens vier Grad Celsius. Derart kalt war es in dieser Gegend der Welt im September ge‐ wöhnlich nicht einmal nachts. Ein Gleiter näherte sich und hielt unter dem Rumpf der THOMAS neben dem halb aufgebauten Präsentationsstand. Ein großer, schlanker Mann stieg aus. Der Wind wehte ihm sein langes dunkel‐ blondes Haar ins Gesicht. Eine nur unwesentlich kleinere Frau ver‐ ließ nach ihm den Gleiter. Sie war von einem Blond, das kein nor‐ maler Mann übersehen konnte, und bewegte sich mit der Ge‐ schmeidigkeit einer Großkatze. Den Mann erkannte Dhark sofort: Terence Wallis, der Gottvater von Wallis Industries, der ehemals reichste Mann der Erde und seit drei Jahren der erste und reichste Mann des Paradiesplaneten Eden. Man sah ihm seine fast fünfzig Jahre nicht an. Die Frau konnte Ren Dhark zunächst nirgendwo einordnen. Sollte der große Wallis sein Herz wahrhaftig an diese Lady verloren ha‐ ben? Unvorstellbar eigentlich. Das Herz des Industriellen gehörte Wallis Industries und dem Geld, das er mit dem Unternehmen ver‐ diente. Jeder wußte das. Seite an Seite gingen die beiden am halbfertigen Stand vorbei und grüßten die arbeitenden Männer dort mit freundlichem Nicken. »Sind sie ein Paar?« fragte Amy leise. Dhark zuckte mit den Schul‐ tern. Wallis trug einen schneeweißen Trenchcoat über einem dunklen
Dreiteiler. Die Weste schien aus Zebrafell, der Binder war schreiend rot. Mit Handschlag begrüßte er General Jackson und die Offiziere um ihn herum. Die blonde Grazie an seiner Seite ließ sich die Männer und die Frau vorstellen. Jackson schien sie bereits zu kennen. Ir‐ gendwo hatte Dhark sie schon gesehen. Wallis winkte schon von weitem, während er auf Dhark zulief. Der Commander und Amy Stewart gingen dem Paar entgegen. Wallis griff in seinen Mantel, holte ein Haargummi heraus und band sich sein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen, damit der Wind es ihm nicht länger ins Gesicht peitschte. Die Frau band sich ein schwarzes Tuch um den Kopf. Sie begrüßten sich mit Handschlag. Wallis gestattete sich sogar die Geste eines Schulterklopfers. »Freut mich sehr, Sie zu sehen, Ren.« »Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Terence.« Beide Männer schätzten sich, beide Männer bewunderten einander, beide Männer trauten sich nicht hundertprozentig. Eine Beziehung knapp diesseits der Grenze, hinter der für Ren Dhark echte Freundschaft begann. Er fand das in Ordnung so. Mehr als einen oder höchstens zwei Freunde – wirkliche Freunde – hielt er sowieso für illusorisch. Terence Wallis begrüßte Amy und stellte dann die Frau an seiner Seite vor. »Das ist Heather Sheridan.« Ihr goldblondes Haar war schulterlang, ihre Augen dunkelblau, ihr Gesicht schmal und wirkte sehr edel. Die hohen Wangenknochen gaben ihr einen reizvollen, aristokratischen Hauch. »Redakteurin von DYNAMITE, sie arbeitet an einer Reportage über meine Firma und mich.« Wallis lächelte wehmütig. »Und was geschieht? Ehe sie sich versieht, befindet sie sich mitten in einem Krieg.« »So viel Pech, Terence, das kann eigentlich nur an Ihnen liegen«, sagte die Frau halb scherzhaft. Und plötzlich erinnerte sich Dhark: Sie war früher bei Terra‐Press. Er stutzte. Heather Sheridan? War diese Journalistin nicht für ihre kritische Haltung gegenüber dem politischen System von Eden bekannt gewesen? Nun, möglicher‐ weise täuschte ihn sein Gedächtnis.
Der Regen wurde stärker. Die Kälte drang in den Stoff von Dharks Kombi. Er spielte mit dem Gedanken, sich einen Mantel von der POINT OF bringen zu lassen. Die Techniker an der Außenhülle der ROBERT senkten die Antig‐ ravplattform aus schwindelnder Höhe Richtung Flugfeld hinab. Sie landete im Schutz des Ringkörpers der THOMAS. In Ihrer Mitte standen ein kleiner Instrumentencontainer und ein Prallfeldgenera‐ tor. Jemand schaltete ihn aus und deaktivierte damit den energeti‐ schen Regenschirm. Ein hagerer Mann mit dichtem Blondhaar stieg von der Plattform. Robert Saam. Er wirkte schlechtgelaunt. »Ich habe eine zusätzliche Carboritschicht auflaminieren lassen, und die ist an der Trefferstelle fast vollständig weggeplatzt!« Er schimpfte. Unter dem Arm trug er ein Gerät, aus dem Kabel, Anschlüsse und Sonden hingen. »Das wundert mich überhaupt nicht, Dr. Saam«, sagte Jakob Jens‐ by. »Wir haben zwei Volltreffer und etliche Streifschüsse abgekriegt. Kompri‐Nadel, wohlgemerkt.« »Ach was!« Saam winkte ab. Er trug einen schwarzen Ledermantel und einen dicken Wollschal. »Kompri‐Nadel, daß ich nicht lache!« Hinter ihm kletterte ein kleiner Asiate von der Plattform. Dhark kannte ihn flüchtig. Er hieß Saram Ramoya und stammte ursprüng‐ lich von den indonesischen Inseln. Der Commander mochte ihn nicht. »Die Werft hat die Herstellungstoleranzen nicht beachtet!« Saam klopfte auf seinen mobilen Kontrollrechner. »Außerdem habe ich Restmengen von Lösungsmittel im Carborit gefunden! Von wegen Volltreffer! Schlamperei nenne ich das!« Er wandte sich an seinen Chef. »So etwas darf einfach nicht passieren, Terence!« »Da hast du völlig recht, Robert.« Wallis lächelte besänftigend. »Ich werde ein ernstes Wort mit der Produktionsleitung reden.« »So etwas darf einfach nicht passieren!« Saam war ernsthaft ent‐ rüstet. Dhark hatte ihn noch nie so erlebt. Ramoya legte ihm den Arm um die Schultern. »Seien wir doch
froh, daß die anderen Schiffe die Feuerprobe bestanden haben, Ro‐ bert. Und so schlimm ist es nun auch wieder nicht. Die Treffer haben nur die zusätzliche Außenhaut zerrissen, und die ROBERT ist nach wie vor voll einsatzfähig!« Er blickte sich lächelnd um. Offenbar waren seine Worte auf die potentielle Kundschaft gemünzt. »Wir fliegen sie zurück nach Eden und reparieren sie.« Die Männer ent‐ fernten sich Richtung Präsentationsstand. »Selbstverständlich müs‐ sen wir die anderen Schiffe überprüfen…« Dhark, Amy, Wallis und die anderen sahen ihnen nach. Obwohl die ROBERT mehrere Treffer erhalten und Teile ihrer äußeren Ca‐ boritschicht verloren hatte, war sie noch immer voll einsatzfähig? Ren Dhark war tief beeindruckt. Und er fragte sich beunruhigt, wann seine POINT OF technisch überholt sein würde. Morgen schon? Oder erst übermorgen? Schließlich wandte sich Wallis an den Commander. »Wenn Sie ge‐ statten, Ren, möchte ich Ihnen etwas schenken.« »Oh!« Der Commander war überrascht. »Ich glaube, von Ihnen würde ich mir sogar gern etwas schenken lassen, Terence.« »Das glaube ich tatsächlich«, grinste Wallis. »Und wenn sie es ge‐ sehen haben, sowieso.« Er wandte sich an die Männer am Stand. »Ladet die Container aus! Und die sechs Kisten von der ROBERT zu mir, bitte!« * Während Thomas J. Jackson und Jakob Jensby ihrem Chef Wallis einen kurzen Bericht über die zurückliegende Raumschlacht gaben, schwebten aus verschiedenen Richtungen Transportgleiter heran. Sie transportierten zehn Container mit neuem technischen Gerät von den Ikosaederraumern zum Präsentationsstand. Wallis wollte natürlich vor allem wissen, was für eine Figur seine Flotte und ihre Besatzungen gemacht hatten. Jacksons Bericht be‐ friedigte ihn sehr. Er bedankte sich bei seinen Offizieren. »Das wird
unsere Verhandlungsposition erheblich stärken«, hörte Ren Dhark ihn sagen. Er machte eine vergnügte Miene. Viel fehlte nicht, und er hätte die Hände aus seinem weißen Trenchcoat gezogen und sie sich gerieben. Die Sheridan sah Wallis von der Seite und mit hochgezogenen Brauen an. Nicht wie eine kritische Journalistin, sondern wie eine Frau, die einen Kratzer im Lack ihres Luxusgleiters entdeckt hatte. Plötzlich merkte sie, daß Dhark sie beobachtete. Ihr schönes Gesicht verzog sich zu einem hinreißenden Lächeln. »Die Roboter kämpfen mit einem Virenprogramm«, berichtete der General dem ersten Mann von Eden. »Sie schleusen es über aktive To‐Funkempfänger in den Hyperkalkulator eines Schiffes. Das Kil‐ lerprogramm bringt den Rechner zum Absturz, und vorbei ist es!« Jackson klatschte in die Hände. »Doch die Güte des Herrn währet ewiglich: Mr. Shanton und Mr. Doorn haben ein Schutzprogramm gegen die Viren entwickelt und es uns während der Schlacht zur Verfügung gestellt. Selbstverständlich habe ich es inzwischen auf allen zehn Ikosaederraumern installieren lassen und einen Spei‐ cherkristall mit dem Programm via Transmitter nach Eden geschickt. In diesen Stunden dürfte unsere gesamte Flotte damit ausgerüstet werden.« »Wie gut zu hören!« Wallis Heiterkeit stieg noch um einige Grade. »Ich danke Ihnen, General Jackson!« Er drehte sich nach Ren Dhark und seinem Team um. »Und vor allem danke ich Ihnen, Ren.« »Reiner Selbstschutz.« Der Commander zuckte mit den Schultern. »Nur auf diese Weise konnten wir mit General Jackson kommuni‐ zieren und die THOMAS in unseren Kampfverband einbinden. Es hat sich gelohnt, das können Sie mir glauben, Terence.« Ein Unteroffizier steuerte eine Antigravplattform zu ihnen. Eine große und fünf kleinere Kisten standen auf der Ladefläche. Der Mann hielt an und öffnete einen der fünf kleineren Kunst‐ stoffbehälter. Wallis trat auf die Plattform, mit einer Handbewegung bedeutete er Dhark und seinen Begleitern näherzukommen. Das
Team von der POINT OF stieg zu Wallis auf die Ladefläche und beugte sich über die Kiste. Sie enthielt schwere Handfeuerwaffen. Wallis griff sich das oberste Gewehr. »Unser neuer Multikarabiner GEH&K Mark 10/62. Ein Wunderwerk der Mikrotechnik für die mobile Infanterie.« Er schlug mit der flachen Hand auf den kurzen Lauf. »Mit dieser Waffe im Einsatz haben Sie fünf Optionen: Dust, Nadel und Strichpunkt sowie 98 Schuß hülsenlose Patronen 7,62 Millimeter im Wechselmagazin und Fünfzentimeter‐Raketenwerfer unter dem Hauptlauf. Dagegen ist das alte Modell 08/56 nicht viel mehr als ein besserer Vorderlader.« Riker pfiff durch die Zähne. Tschobe holte einen zweiten Multikarabiner heraus und wog ihn prüfend in der Rechten. »Sie können die Optionen wahlweise manuell einstellen.« Wallis deutete auf eine kleine Schaltfläche an der rechten Kolbenseite. »Oder über Helmfunk. Das System läßt sich selbstverständlich in den Kampfhelm integrieren. Der Mikrorechner macht Ihnen sogar Vorschläge für die geeignete Munitionswahl.« Er reichte Dhark die Waffe. »Alle Achtung. Ich hätte sie für schwerer gehalten.« Der Com‐ mander strich über das Gewehr. »Das nenne ich Wertarbeit. Wenn man das Gerät so in der Kiste liegen sieht, traut man ihm soviel Ka‐ pazität gar nicht zu.« »Wallis Industries legt eben mehr Wert auf Inhalt als auf äußere Form«, lächelte Wallis. Er ging zu dem gut zwei mal zwei Meter großen Behälter. »Und das hier ist der Sprungpeiler, von dem Sie schon gehört haben, Ren. Ich werde Ihnen die schönen Dinge noch vorführen lassen, damit Sie dem geschenkten Gaul nicht selbst und heimlich ins Maul schauen müssen.« »Geschenkter Gaul?« Ren Dhark und seine Gefährten sahen sich erstaunt an. »Sie wollen andeuten, daß Sie uns das Gerät zur Ver‐ fügung stellen?« »Nicht nur das.« Wallis wies auf die fünf kleineren Behälter. »Auch
die Waffen hier gehören von jetzt an zur Bordausrüstung der POINT OF. Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft, und Sie wissen doch: Wenn ich schon eine Stiftung gründe, dann aber richtig!« Der Chef von Wallis Industries lächelte. Es befriedigte ihn, das abge‐ brühte Team von der POINT OF für einen Moment aus der Fassung geraten zu sehen. »Ich bin sprachlos«, sagte Ren Dhark. Geschenke entgegen‐ zunehmen gehörte nicht zu seinen Stärken. Das Gefühl, zu einer Revanche verpflichtet zu sein, behagte ihm auch in diesem Fall nicht besonders. Außerdem fühlte er sich von Heather Sheridan beobach‐ tet. Die blonde Grazie von DYNAMITE schien jedes Wort aufzu‐ saugen, das gesprochen wurde. Dhark wurde nicht schlau aus der Lady. Er reagierte intuitiv und gehorchte seiner inneren Stimme. »Ich nehme an und sage einfach mal danke.« Dhark drückte dem ersten Mann von Eden die Hand. Wallis zeigte sich sehr zufrieden. »Gern geschehen, Ren. Bei Ihnen weiß ich unsere Geräte in besten Händen.« Auch Riker und die anderen bedankten sich. Der Commander machte sich einmal mehr klar, wie großzügig Terence Wallis die POINT OF‐Stiftung ausstattete – und das wirklich selbstlos. »Der Commander der Planeten!« Heather Sheridan deutete auf eine Gleiterkolonne, die zwischen der POINT OF und der ROBERT heranschwebte. Das dritte Fahrzeug war ein Großraumgleiter von der Sorte, die der Regierungschef zu benutzen pflegte. Die Kolonne hielt unter der THOMAS. Die Luken wurden geöffnet, bewaffnete Sicherheitsbeamte sprangen aus den Fahrzeugen vor und hinter dem Großraumgleiter. Dem entstiegen Henner Trawisheim, Raummarschall Ted Bulton und Generalmajor Christopher Farnham. Sechs Leibwächter, zwei Erste Offiziere, zwei Adjutanten und ein Chefsekretär folgten ihnen. Wallis ging dem Regierungschef und seinen militärischen Kom‐ mandeuren entgegen. Seine Offiziere und die Besatzung der POINT
OF begleiteten ihn. Ren Dhark registrierte, daß Amy das Gespräch mit der blonden Journalistin suchte. Deren Stimme klang angenehm und gelöst. Die Nummer Eins von Eden und das terranische Staatsoberhaupt begrüßten einander. Einer stellte dem anderen seine Begleiter vor – soweit der sie noch nicht kannte –, und dann kam die Sprache ohne Umweg über höfliche Plaudereien sofort auf die abgewehrte Inva‐ sion. »Ich danke Ihnen im Namen Terras für Ihre Unterstützung im Kampf gegen die Roboter«, sagte Trawisheim förmlich. »Bitte richten Sie auch Ihren Besatzungen unseren Dank aus. Wir werden Ihnen das niemals vergessen.« »Ich bitte Sie, Henner!« Obwohl er sich erkennbar geschmeichelt fühlte, hob Wallis abwehrend die Hände. »Das war doch selbstver‐ ständlich! Auch wenn wir inzwischen eine andere Welt als diese unsere Heimat nennen, so bleiben wir doch Terraner.« »Das freut mich zu hören, Terence.« Trawisheim warf einen zwei‐ ten Blick auf die blonde Journalistin. Er war ähnlich entzückt wie der erste, allerdings glaubte Dhark eine Spur Mißtrauen in den Augen des Staatsoberhauptes zu erkennen. »Das freut mich wirklich.« Schon konzentrierte er sich wieder auf sein Gegenüber. »Denn Ihre Worte bestärken mich in der Überzeugung, daß Sie uns mit der gleichen Selbstverständlichkeit Ihre neue Waffen‐ und Raumschiffs‐ technologie überlassen werden.« »Sicher werde ich das tun, Commander«, lächelte Wallis. »Und Sie können davon ausgehen, daß ich Ihnen faire Preise machen werde.« Ein Reißverschluß ging durch Trawisheims Miene. »Da ich Sie kenne, wäre ich davon sowieso ausgegangen. Darüber hinaus jedoch dachte ich an einen kostenlosen Austausch von Neuentwicklungen. Immerhin hat die Katastrophe der zurückliegenden Stunden uns das Joch der Waffenbrüderschaft auferlegt.« »Das sehen meine Offiziere und ich genauso. Was den Austausch betrifft, so sind wir natürlich gespannt, ein Auge auf Ihre neuen
Entwicklungen werfen zu dürfen. Selbstverständlich rechnen auch wir mit fairen Preisen, wenn Sie etwas anzubieten haben. Bis dahin jedoch muß ich auf die üblichen Gepflogenheiten des Marktes be‐ stehen. Immerhin habe ich eine Menge Geld in die Entwicklung der Schiffe und der Waffen investiert. Besonders der Sprungpeiler war ziemlich teuer. Und denken Sie an die Kosten für die Patentie‐ rung…!« Sein Lächeln nahm einen ironischen Zug an. »Dr. Saam ist ein ungewöhnlich fähiger Mann, aber an dem Geniestreich, Eisen in Tofirit zu verwandeln, arbeitet er noch. Die Kosten müssen also auf anderem Weg wieder hereinkommen.« Er berührte den säuerlich lächelnden Trawisheim am Arm und führte ihn zu den inzwischen aufgebauten Präsentationsständen. »Wie gesagt: Wir gewähren Ihnen Freundschaftspreise. Zum Beispiel bin ich bereit, Ihnen je einen Ringraumer und einen Ikosaeder aus Carborit zu äußerst günstigen Konditionen mit einem Leasingver‐ trag zu überlassen, damit Sie das neue System in Ruhe testen kön‐ nen…« »Was ist das denn für ein unglaubliches Gerät?« Farnham blieb stehen und deutete auf ein Hologramm über dem Reprä‐ sentationsstand. In ihm sah man einen Infanteristen von Eden in Kampfmontur, der mit einer schwarzen, nicht einmal übermäßig großen Waffe auf ein gepanzertes Kettenfahrzeug zielte. Flankiert von echsenartigen Reittieren brach es aus einem dichten, brennen‐ den Wald. Auf den Echsen saßen Insektoide mit Gewehren. Flammen schlu‐ gen rund um das Fahrzeug aus dem Unterholz, weil der Infanterist mit Nadelstrahlfeuer ins Gestrüpp geschossen hatte. Die Reittiere scheuten, mit lautlosen Projektilgeschossen tötete der Infanterist eines nach dem anderen. Er warf sich hinter einen umgestürzten Mammutbaum in Deckung und feuerte auf das gepanzerte Fahr‐ zeug. Mikroraketen durchschlugen dessen Wandung, Bruchteile von Sekunden später explodierte es und blieb stehen. Acht Insektoide jedoch stürmten mit ihren Waffen im Anschlag die
Deckung des edenschen Soldaten. Der rollte am Boden von einer Seite zur anderen und feuerte auf die Angreifer. Diesmal sah man weder Nadelstrahlen noch Raketen noch das typische Mündungsfeuer von Projektilgeschossen – doch im blaßblauen Strich‐Punkt‐Feuer brach ein Angreifer nach dem anderen zusammen und blieb reglos im Unterholz liegen. »Ist das ein Werbegag, oder kann diese Waffe all das wirklich?« Farnham war begeistert, Ted Bulton wirkte mürrisch und erstaunt zugleich, und Trawisheim bewahrte eine scheinbar unberührbare Pokermiene. »Für Werbegags müssen Sie sich an einen anderen Dienstleister wenden, Generalmajor Farnham.« Wallis nahm einen Multikarabi‐ ner vom Stand und reichte ihn dem Chef der Schwarzen Garde. »Die Waffe kann all das, was Sie eben gesehen haben, und noch mehr. Und dennoch kostet sie nur fünfzigtausend Dollar.« Er erklärte Farnham, was er wenige Minuten zuvor schon Ren Dhark erklärt hatte. »Dieses Exemplar jedoch schenke ich Ihnen, Generalmajor, damit Sie sich ohne Zeitdruck von seiner Qualität überzeugen kön‐ nen.« Ren Dhark und Amy tauschten amüsierte Blicke. Beide grinsten in sich hinein. Wallis war ein Fuchs, ohne Zweifel. Aber ein sympathi‐ scher Fuchs. Und hatte er nicht das Recht, für seine und seiner Leute Leistung einen angemessenen Preis auszuhandeln? Das hatte er, wurde dem Commander klar. Die Multikarabiner waren genial, die Sprungpeiler ein Segen in dieser gefährlichen Situation, und wie wertvoll die Carboritschiffe im Kampf gegen die Roboter sein wür‐ den, hatte jeder gesehen, der an der verlustreichen Schlacht teilge‐ nommen hatte. Aber Dhark wollte sich lieber nicht vorstellen, was die Entwicklung all dieser Neuerungen tatsächlich gekostet hatte. »Und nun bitte ich um Ihre Aufmerksamkeit für General Jackson!« Wallis wies auf seinen bärtigen Flottenkommandeur. Der bibelfeste Offizier saß bereits in einem Teil des Repräsentationsstandes, der einer Arbeitsbucht in einer Ringraumerzentrale nachgebildet war.
Der Arbeitsplatz eines Aufklärers, wie Dhark sofort erkannte. Die üblichen Ortungsinstrumente waren nur skizzenhaft angedeutet. Original dagegen schien ihm eine Instrumentenleiste zu sein, die ihn an die Peilgeräte für Hyperraumimpulse erinnerte. »Danke für Ihre Aufmerksamkeit, meine Herrschaften«, begann Jackson, ganz Referent der alten Schule. »Ich habe die Ehre, Ihnen den neuen Sprungpeiler von Wallis Industries vorzuführen.« Eine dreidimensionale Bildkugel flammte über dem improvisierten Or‐ tungsstand auf. »Hier sehen Sie Aufnahmen von unserem Testflug.« Jackson kommentierte die Animation in dem Hologramm. Ein unbemanntes Testschiff von Eden spürte mit dem Sprungpeiler Transitionsimpulse einiger Roboterraumer auf, flog die angepeilten Koordinaten an und traf dort in der Tat einen Roboterverband. Hier endete die Animation. Eine Dokumentationstabelle brachte eine Flut von Daten in die Bildkugel: Koordinaten, Geschwindigkeiten, Ent‐ fernungen, Impulsstrukturen, Hyperraumverzerrungskoeffizienten und so weiter und so fort. »Selbstverständlich stellen wir Ihnen all diese Daten zur Ver‐ fügung, damit Ihre Spezialisten sie überprüfen können«, sagte Jack‐ son. »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Abgesehen von Gott‐ vertrauen natürlich.« Er schien das ernst zu meinen, denn seine Miene nahm einen feier‐ lichen Ausdruck an. Dem Commander war der General nicht ganz geheuer. »Ich fasse zusammen«, schloß Jackson. »Dieses neuartige Or‐ tungsgerät vermag sogenannte weiche Transitionen anzupeilen, wie die Roboterschiffe sie ausführen, und das über eine Entfernung von immerhin dreihundert Lichtjahren hinweg.« Es gab höflichen Beifall. Sogar Trawisheim applaudierte. »An der Erhöhung der Reichweite arbeiten wir noch«, sagte Saam, als der Beifall sich legte. »Und wenn Sie die Reichweite um fünfzig Prozent gesteigert ha‐ ben, werden Sie auch den Preis für dieses Aufklärungssystem um die
Hälfte erhöhen, oder wie?!« polterte Bulton los. »Raffiniertes Marke‐ ting, gratuliere!« Niemand empfand die Bemerkung als besonders diplomatisch, und ein paar Sekunden betretenen Schweigens folgten. General Thomas J. Jackson fand als erster wieder Worte; Worte der Heiligen Schrift selbstverständlich. »Dem Ochsen, der drischt, sollst du das Maul nicht verbinden«, zitierte er den Apostel Paulus. Keiner außer Arc Doorn hatte je mit einem hungrigen Ochsen ein Feld gepflügt oder Getreide gedroschen; keiner außer Doorn (der Paulus übrigens persönlich begegnet war) begriff also dieses uralte Sprichwort. Am allerwenigsten Ted Bulton. »Was soll das Gerede, General? Ich weiß nichts von Ochsen und dreschen, ich weiß aber von Maschinen, die Ochsen und Menschen für Biomüll halten, der aus der Welt – sprich: aus dem Universum geschafft werden muß!« Er wandte sich an die Umstehenden. »Ist es in dieser lebensbedroh‐ lichen Situation nicht ein Gebot des Anstandes, Terra diese Geräte kostenlos zur Verfügung zu stellen?« »Was General Jacksons Zitat sagen will, ist folgendes«, ergriff Wallis das Wort. »Wir haben hart gearbeitet, um Ihnen heute diese Geräte präsentieren zu können. Wir haben viel Zeit und Geld inves‐ tiert. Also steht uns ein Lohn zu.« »Ein Lohn?« brauste Bulton auf. »Ist es nicht Lohn genug, Terra mit überlebenswichtiger Technik beschenken zu dürfen? Wo bleibt Ihr Patriotismus, Wallis? Ich vermisse jede Spur davon!« »Von Patriotismus allein kann ich weder meine Mitarbeiter er‐ nähren noch Eden erhalten.« Wallis schlug jetzt ebenfalls einen schärferen Ton an. »Meine Mitarbeiter haben eine Menge Kraft und Zeit investiert, ich eine Menge Dollars. Beides muß auf irgendeine Weise zurückfließen, so funktioniert das Leben, Bulton, so funktioniert die Wirtschaft, und das ganze Universum funktioniert so. Ihre Astrophysiker werden Ihnen das bestätigen, wenn Sie es hören wollen.« »Wir sind im Krieg, Wallis, verdammt noch mal!« Bulton ließ alle
Höflichkeit fahren. »Denken Sie an die Schlacht! Commander Dhark hat nicht mit Jackson verhandelt, er hat ihm einfach die Software für den Virenschutz zur Verfügung gestellt! Um zu siegen, um zu über‐ leben! Warum geht das nicht in Ihren Kapitalistenschädel hinein? Was würden Sie denken, wenn wir Ihnen das Virenschutzprogramm nachträglich in Rechnung stellen?« »Ein ganz und gar unvergleichbarer Fall!« tönte Wallis. »Ich darf Sie daran erinnern, daß die POINT OF von einer gemeinnützigen Stiftung finanziert wird, nicht von der terranischen Regierung. Ich darf Sie darüber hinaus daran erinnern, daß die Gelder dieser Stif‐ tung aus meinem Privatvermögen stammen. Ich sehe mich also in keiner Weise dazu verpflichtet, für ein Geschenk dieser Stiftung mehr zu zahlen als Sie! Was hat Commander Dhark Ihnen denn für das Virenschutzprogramm in Rechnung gestellt?« Bulton lief rot an, schnappte nach Luft und wandte sich knurrend ab. »Weiche Transitionen!« rief Jackson plötzlich. Alle Augen richteten sich auf den Bärtigen. »Der Sprungpeiler mißt über hundert Austritte aus dem Hyperraum an, nein, was sage ich – über zweihundert!« »Wo?!« Rayes, sein Erster Offizier, und Jakob Jensby liefen zu ihm in den Repräsentationsstand. Alle starrten sie das Hologramm über dem Stand an. Die Ortungsreflexe waren nicht zu übersehen. Doorn interpretierte die Daten als erster. »Es sind genau zwei‐ hundertdreiundfünfzig Schiffe, und sie sind genau vierkommazwei Lichtjahre entfernt.« »Proxima Centauri!« rief Ren Dhark. »Es kann nur das System Proxima Centauri sein!« »Dann müssen es Roboterschiffe sein«, sagte Artus. Ted Bulton aktivierte sein Armbandvipho. »Bulton an Clark, Bul‐ ton an Clark – schicken Sie sofort einen getarnten Aufklärer nach Proxima Centauri! Wir haben Hinweise auf zweihundert‐ dreiundfünfzig Roboterschiffe im System Proxima Centauri! Ich wiederhole…!«
* »Es stimmt.« Ren Dhark unterbrach die Verbindung zur Zentrale. »Zweihundertdreiundfünfzig Roboterraumer im System Proxima Centauri.« Er ließ sich im freien Sessel der Sitzgruppe nieder. Vier Augenpaare hingen an seinen Lippen. »Ihr Sprungpeiler funktio‐ niert, Terence. Der Aufklärer hat seine Ortungsdaten soeben bestä‐ tigt.« »Es ist nicht mein Sprungpeiler«, sagte Wallis. »Er geht auf das Konto der Gruppe Saam. Allerdings wird die von mir bezahlt.« »Wie auch immer: Die Roboter sind in der Nähe.« Trawisheim preßte die zusammengelegten Fingerkuppen an die Unterlippe. Das tat er manchmal, wenn er ungewöhnlich nervös war. »Und sie scheinen sich auf einen neuen Angriff vorzubereiten.« »Das können wir nicht sicher wissen«, schränkte Farnham ein. »Wir können es aber auch nicht ausschließen«, sagte Bulton. »Nach allem, was wir wissen, und nach allem, was geschehen ist, müssen wir sogar davon ausgehen.« Niemand widersprach ihm. Etwas mehr als eine halbe Stunde war vergangen, seit der neue Sprungpeiler die weichen Transitionen im System Proxima Centauri angepeilt hatte. Reiner Zufall, wie so vieles in der jüngsten Ge‐ schichte von Terra. Oder eine Fügung irgendwelcher unbekannten Götter? Jedenfalls hatte Trawisheim sofort eine geheime Konferenz anbe‐ raumt. Nur fünf Männer und auf der POINT OF. Der Ort seiner Wahl hatte vor allem Wallis erstaunt. Den kleinen Konferenzraum neben der Offiziersmesse hatte der Regierungschef vor dem Treffen nach Wanzen absuchen lassen. »Was jetzt?« fragte Wallis. »Was konkret planen Sie jetzt zu tun?« »Sollte die Frage nicht eher lauten: Was planen wir zu tun?« ent‐ gegnete Trawisheim scharf.
»Was soll dieser Ton, Henner?« Wallis neigte den Kopf auf die Schulter. Aus schmalen Augen belauerte er den Commander der Planeten. »Und was soll diese Sitzung hier? Werde ich jetzt Mitglied einer Verschwörung?« »Damit liegen Sie zumindest nicht hundertprozentig daneben.« Henner Trawisheim beugte sich vor. »Wir haben Ihnen etwas zu sagen, Terence.« Sein Blick bohrte sich in Wallis’ Augen. »Es ist wichtig, existentiell wichtig sogar. Und es ist geheim. Deswegen die Ortswahl.« »Ich höre.« »Was ich… was wir Ihnen anvertrauen wollen, Mr. Wallis, darf unter keinen Umständen bekannt werden. Ihren Freunden nicht, Ihren engsten Mitarbeitern nicht, Ihren leitenden Offizieren nicht. Und dieser Journalistin, die Sie zur Zeit begleitet, schon gar nicht; besonders ihr nicht. Niemandem. Ich brauche Ihr Ehrenwort, Te‐ rence.« Der erste Mann von Eden lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Eine Zeitlang schwieg er und sah von einem zum anderen. Dhark wollte es scheinen, als würde er die Situation genießen. »Ich schwöre«, sagte Wallis schließlich und hob die rechte Hand. »Ich schwöre bei meiner Ehre: Ich werde schweigen.« »Die Sonne stirbt«, sagte Trawisheim. »Bitte?« Wallis zog die Brauen hoch. »Sie haben richtig gehört: Unser Zentralgestirn erkaltet. Ist Ihnen die niedrige Temperatur nicht aufgefallen?« »Schon…« Wallis suchte Dharks Blick. »Nach dem aktuellen Stand unserer Forschung wird mit dem kommenden Winter auf der Nordhalbkugel der Erde eine Eiszeit einsetzen«, sagte der Kommandant der POINT OF. »In spätestens zwei Jahren wird die Erde unbewohnbar sein. Und in neun Jahren wird die Sonne endgültig erlöschen.« Ren Dhark beschränkte sich bewußt auf die schmerzlichen Fakten.
»Das ist die Wahrheit, Terence. Kein Weg führt an ihr vorbei.« »Das ist nicht wahr…« Wallis war plötzlich blaß geworden. »Das ist eine Art von Verhandlungsführung, die ich ablehne.« Er stand auf. »Ich gehe. Wenn Sie zu seriösen Gesprächen bereit sind, geben Sie mir Bescheid.« Er ging zum Schott. »Bleiben Sie hier, Terence«, sagte Ren Dhark. »Von mir aus kriegen Sie jeden Preis. Mir geht es nur darum, unser Sonnensystem zu ret‐ ten.« Wallis’ Augen wurden sehr schmal. Er blickte von einem zum an‐ deren. Seine Lippen öffneten sich, aber er sagte kein Wort. »Im Zentrum unserer Sonne scheint es eine Art Schwarzes Loch zu geben.« Farnham ergriff das Wort. »Das ist die These Monty Bells und seines Spezialistenteams. Durch dieses Phänomen verliert un‐ sere Sonne immer mehr Masse. Der Prozeß scheint mit Proxima Centauri zu korrespondieren, denn dieser Stern nimmt an Masse zu.« »Und zwar im gleichen Maße, wie unser Muttergestirn sie ver‐ liert«, fuhr Bulton fort. »In Proxima Centauri muß es ein Art Pendant zum Schwarzen Loch in unserer Sonne geben. Monty Bell und seine Spezialisten nennen es vorläufig ›Weißes Loch‹.« »Egal, wie wir es nennen«, schaltete Trawisheim sich wieder ein »die physikalischen Phänomene in beiden Sternen stehen in einem Zusammenhang.« »Und auf eine uns bisher unbekannte Weise haben die Roboter damit zu tun«, sagte Ren Dhark. »Davon bin ich jedenfalls über‐ zeugt.« »Ist das wirklich wahr?« flüsterte Wallis. Er kam zurück und ließ sich in seinen Sessel fallen. »Ich kann es nicht glauben…« »Wir auch nicht.« Henner Trawisheim seufzte. »Deswegen schauen wir uns täglich die Daten unserer Wissenschaftler an. Nur die moti‐ vieren uns noch.« »Motivieren?« Wallis blickte in die Runde. »Motivieren wozu?« »Zur Rettung der Menschheit«, sagte Trawisheim knapp. »Und
damit bin ich bei Ihnen: Wie viele Menschen können Sie über die Transmitterstraße auf Eden aufnehmen, Henner?« »Sie sind ja verrückt…!« »Leider nicht, Wallis«, knurrte Bulton. »Wie viele?« »Jedenfalls nicht einmal ein Prozent der Erdbevölkerung, bevor Terra unbewohnbar wird, wie Sie sagen! Aber das wäre doch Irr‐ sinn!« Der erste Mann von Eden schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. »Selbst wenn wir 24 Stunden am Tag Menschen durch die Transmitter schicken, würden wir nicht mehr als eine Million täglich retten können. 365 Millionen in einem Jahr, 730 bis zum Weltuntergang – maximal. Und das bei 38 Milliarden Erdbewoh‐ nern. Stellen Sie sich doch nur einmal vor, die erste Million wäre über Transmitter von Terra nach Eden abgewandert – was glauben Sie, was hier los wäre? Jeder wollte doch der nächste sein! Jeder hätte doch Angst zurückzubleiben! Die Nachricht von der bevorstehenden Katastrophe würde sich wie ein Computervirus über den Erdball verbreiten! Es gäbe Bürgerkriege, es gäbe Sekten und Rebellen‐ gruppen! Teile der Flotte würden putschen, Flüchtlingsströme würden Richtung Alamo Gordo ziehen und Freischärler die Trans‐ mitterstation belagern! Das Chaos wäre perfekt! Das ist doch Irr‐ sinn…!« »Immerhin könnten wir ein paar Millionen retten, Wallis!« Farn‐ ham schlug einen beschwörenden Tonfall an. »Die Erde müßten wir aufgeben, aber mit ein paar Millionen Geretteten könnten wir auf Eden neu anfangen!« »Wir würden die menschliche Zivilisation erhalten«, sagte Tra‐ wisheim leise. »Eden wäre die Keimzelle einer zweiten kulturellen Blüte der Menschheit…« »Nein!« Wallis’ Rechte zersäbelte die Luft. »Nein, das will ich nicht! Kein unkontrollierter Zustrom nach Eden! Sie bekommen von mir jede Unterstützung im Kampf gegen die Roboter. Ich stelle Ihnen meine Flotte zur Verfügung, ich baue Ihnen Evakuierungsschiffe im Dutzend, aber nicht, um Millionen Menschen nach Eden zu bringen.
Nein! Es gibt genug andere Planeten. Eden muß etwas Besonderes bleiben!« »Etwas Besonderes wie Sie, nicht wahr, Wallis?« Bulton war pu‐ terrot. »Elitär und exklusiv, habe ich recht? Himmel, Sie kotzen mich an!« »Sie wollen Geld für lebensrettende Technik, Terence.« Auch Tra‐ wisheim drohte der Kragen zu platzen. »Sie stecken ein hochkomp‐ lexes Virenschutzprogramm einfach so in die Tasche und verlangen von uns fünfzigtausend Dollar für einen lächerlichen Multikarabi‐ ner! Sie wollen Flüchtlingen den Zutritt zu Ihrem Planeten verwei‐ gern. Flüchtlingen, die vom sicheren Tod bedroht sind, wohlge‐ merkt. Wissen Sie, wie ich das nenne? Eiskalt nenne ich das! Eiskalt, selbstsüchtig und profitgierig!« »Genug!« Wallis sprang auf. »Das muß ich mir nicht länger anhö‐ ren!« Er stürmte zur Tür, riß sie auf und wollte verschwinden. Vier betroffene Männer starrten ihn an. Schließlich schloß der In‐ dustrielle die Tür wieder und kehrte, deutlich um Fassung bemüht, zu seinem Sitz zurück. Fast zwei Minuten lang sagte keiner mehr ein Wort. Schließlich brach Bulton das Schweigen. »Vergessen wir un‐ sere persönlichen Eitelkeiten und konzentrieren wir uns auf die Fakten. Beschäftigen wir uns mit Proxima Centauri und mit dem Schutzschirm um den Klotz.« »Der ist nicht zu knacken«, sagte Farnham. »Jeder Schutzschirm ist zu knacken«, sagte Ren Dhark. »Haben Sie eine Idee?« Trawisheim klang alles andere als zu‐ versichtlich. »Vielleicht«, sagte Dhark. Er stand auf und begann in dem kleinen Konferenzraum herumzugehen. »Ja, ich glaube, das wäre ein Weg…«
16. »Raptorstrahlen?« entfuhr es Henner Trawisheim verblüfft. »Sie wollen veraltete Giant‐Technik gegen den hochmodernen Schutz‐ schirm einsetzen, der Proxima Centauri 1 umgibt?« »Veraltet«, wiederholte Ren Dhark nachdenklich. »Wie schnell ei‐ nem dieses Wort doch über die Lippen kommt. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, daß die Menschheit zu ihren ersten bemannten Flügen ins All aufbrach. Und jetzt, verhältnismäßig kurze Zeit spä‐ ter, gilt die Giant‐Technik bereits als veraltet. Manchmal frage ich mich, ob wir durch die schicksalhafte Entdeckung der Wor‐ gun‐Technologie und den damit verbundenen Riesensprung nach vorn nicht zu anspruchsvoll geworden sind – um nicht zu sagen: zu arrogant.« »Die Zeit bleibt nun mal nicht stehen«, entgegnete Terence Wallis. »Früher glaubten wir, die einzigen denkenden Wesen des Univer‐ sums zu sein – das nenne ich arrogant.« »Ihre halbphilosophischen Überlegungen in Ehren – aber könnten wir zum Wesentlichen zurückkommen?« warf Marschall Ted Bulton ungehalten ein. »Wir verfügen über zu wenige Beuteraumer, um einen Schirm von solcher Stärke mit Raptorstrahlen zu knacken. Die gesammelte Kapazität ihrer Raptoren wird dafür nicht ausreichen.« »Wie können Sie sich da so sicher sein?« fragte ihn Generalmajor Christopher Farnham. »Bisher haben wir noch gar nicht alle Mög‐ lichkeiten der Giant‐Technik ausgeschöpft.« Die Stimmung in dem kleinen Raum hatte sich wieder ein bißchen entspannt. »Seit wir über die Worgun‐Dateien verfügen, sind wir ziemlich nachlässig geworden, was die Untersuchung von Fremdtechnik be‐ trifft«, fuhr Farnham fort. »Die Raptortechnik wurde nie richtig weiter erforscht. Ich wäre bereit, die besten Wissenschaftler der Schwarzen Garde darauf anzusetzen.«
»Und was versprechen Sie sich davon?« wollte der Marschall wis‐ sen. »Wir könnten uns gezielt und intensiv darauf konzentrieren, die Geheimnisse dieser Technik vollständig zu entschlüsseln und zweckentsprechend zu modifizieren«, erhielt er zur Antwort. »Das verursacht natürlich enorme Kosten, vor allem, wenn es schnell ge‐ hen soll.« Terence Wallis verstand den Wink mit dem Zaunpfahl. »Sie haben meine volle Unterstützung«, sicherte er dem obersten Chef der Schwarzen Garde zu. »Und die meines Mitarbeiters Robert Saam und seines Teams.« »Wieviel Leihgebühr verlangen Sie denn für Ihre Superhirne?« fragte Bulton gehässig. »Wahrscheinlich werden wir uns die kleinen Genies gar nicht leisten können.« »Ich übernehme die gesamten Kosten«, sicherte Wallis ihm zu. »Das Wohl der Erde liegt mir am Herzen…« »Wie edelmütig«, merkte der Marschall ironisch an. »… weil es mit dem Wohl von Eden eng verknüpft ist«, fuhr Wallis unbeirrt fort. »Ich bin und bleibe halt ein eigensüchtiger Mensch. Nebenbei bemerkt: Es sind keine kleinen Genies, sondern große.« Damit war alles gesagt. Es folgte noch etwas Geplänkel, dann war die Konferenz beendet. Beim Hinausgehen nahm Bulton Trawisheim kurz beiseite und flüsterte brummig: »Der Geiznickel hilft uns doch nur deshalb so ›selbstlos‹, damit er später nicht wieder einen teuren Agenteneinsatz finanzieren muß, um an die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Raptor‐Projekts zu gelangen.« Damit spielte er auf das waghalsige Schurkenstück von Edens ausgekochtestem Geheimagenten Arnold Puteen an, der sich bis in die Höhle des Löwen – ins Regierungsviertel von Alamo Gordo – vorgewagt hatte, um sich die Worgun‐Dateien anzueignen, wobei er Terras ausgebufftestem GSO‐Agenten Jos Aachten van Haag stets eine Nasenlänge (oftmals auch nur eine Nasenspitze) voraus gewe‐
sen war… * Der »Geiznickel« hatte gute Ohren (und Bulton eine viel zu laute, zum Flüstern total ungeeignete Stimme), aber er verkniff sich jed‐ wede Bemerkung. * Wie überall im Land ging auch in Star City früh am nächsten Morgen die Sonne auf. Chris Shanton und Arc Doorn versammelten sich gemeinsam mit der Führungsspitze der Schwarzen Garde sowie allen Offizieren und Offiziersanwärtern, von denen jeder über ein hohes Maß an wissenschaftlicher Bildung verfügte, im Auditorium maximum – kurz: Audimax – dem größten Hörsaal der Hochschule. Jeder der Anwesenden wußte Bescheid, wobei es bei diesem Projekt ging, das den Decknamen »Technikschub« trug – und jeder war zu strengster Geheimhaltung verpflichtet worden. Über eine sündhaft teure, von Wallis Industries finanzierte Stand‐ leitung waren Robert Saam und sein Team zugeschaltet. Es war ver‐ einbart worden, die To‐Richtfunkleitung nach Eden so lange offen‐ zulassen, bis der neue Raptor einsatzfähig war und die bisherigen Raptoren auf sämtlichen Giant‐Schiffen entsprechend umgebaut werden konnten. Obwohl Chris Shanton kein Gardist war, waren alle damit einver‐ standen, ihm die Leitung des Programms zu übertragen. Das machte ihn stolz, aber irgendwie empfand er es auch als selbstverständlich. »Typisch mein Dicker«, lästerte Jimmy. »Überall drängelt er sich vor. Glücklicherweise hat er mich, seinen treuen Freund und Hel‐ fer.« Mit seiner losen Metallzunge fiel er unangenehm auf. »Wenn auch nur ein Wort von dem, was hier besprochen wird, an die Presse dringt, kommt es auf Terra zu einer Massenpanik«, be‐ *
Siehe Ren Dhark Sternendschungel Galaxis Band 4, »Syntie‐Falle«
merkte einer der Offiziere und deutete auf den Roboterhund. »Sind Sie sicher, daß Ihr geschwätziges Etwas seine vorlaute Klappe hält? Ich halte es für besser, das Ding von der Sitzung auszuschließen.« »Ding?« entrüstete sich Jimmy. »Etwas? Sag ihm, wer ich bin, Di‐ cker, und daß ich ein gewisses Maß an Respekt von allen Anwesen‐ den erwarte. Das gilt auch für einen unrasierten Offizier, der seine Schulterklappen offenbar in der Lotterie gewonnen hat.« »Meinen Rang habe ich mir sauer verdienen müssen«, erwiderte der Getadelte und betastete leicht verschämt seine unübersehbaren Bartstoppeln; er hatte sich die ganze Nacht auf diese Versammlung vorbereitet und nach dem Duschen keine Zeit mehr für eine Rasur gehabt. »Streiten Sie lieber nicht mit Jimmy«, riet ihm Shanton, »er will nämlich immer recht behalten, komme was wolle. Im übrigen kann es unmöglich Ihr Ernst sein, eine Maschine hinauszuschicken, weil sie sich möglicherweise des Hochverrats schuldig machen könnte. Ebensogut könnten Sie von mir verlangen, meine Handfeuerwaffe oder meine Kommunikationsgeräte vor die Tür zu bringen, weil sie eventuell etwas ausplaudern könnten.« »Ich bin mehr als nur eine Maschine, das weißt du genau!« regte sich Jimmy auf. »Und deshalb bestehe ich darauf, aus diesem Hör‐ saal verbannt zu werden.« »Meinethalben«, brummte Shanton. »Du weißt ja, wo der Ausgang ist. Mach dir in der Stadt einen schönen Tag.« »Du wirfst mich raus, Dicker? Nicht mit mir! Ich bleibe!« »Meinethalben«, wiederholte Shanton. »Mir war eh klar, daß du nicht gehen würdest, dafür bist du viel zu neugierig.« »Neugierig?« fragte der Offizier verwundert. »Eine Maschine?« »Ich schlage vor, Sie zerbrechen sich darüber nicht den Kopf«, mischte sich Robert Saam ungeduldig ein. »Jimmy ist ein unerklär‐ licher Ausnahmefall. Er bleibt, und damit basta! Und jetzt sollten wir endlich mit der Aufgabenverteilung beginnen.« »Ganz meine Meinung«, stimmte Shanton ihm zu.
Der korpulente Ingenieur hatte es nie so ganz verwunden, daß sein Roboterhund dem norwegischen Genie genauso zugetan war wie ihm, seinem Erbauer. Saam benahm sich manchmal, als wäre Jimmy sein Hund. Shanton fand daher, daß es höchste Zeit war, ihm un‐ mißverständlich klarzumachen, wer hier und jetzt das Sagen hatte. Deshalb teilte er Saam als erstes seinen Aufgabenbereich zu. Die erwarteten Widerworte blieben überraschenderweise aus. Der Norweger und sein Team unterwarfen sich Shantons detailliert vorbereiteter Planung kommentarlos. Es gab auch von anderer Seite keinen Protest, als der Ingenieur eine sorgsam zusammengestellte Liste mit Aufgaben verlas, die von mehreren Teams in möglichst kurzer Zeit abgearbeitet werden mußte. Auf Diskussionen hätte sich Shanton sowieso nicht einge‐ lassen, allerdings ließ er den Gardisten bei der Zusammenstellung der einzelnen Gruppen weitgehend freie Hand. Umgehend bildeten sie mehrere Teams, überwiegend Vierergruppen. Eine Arbeitsgruppe bestand ausschließlich aus Fähnrichen. Leiter des Quartetts war Julian Burns. Shanton nahm sich vor, den zwar begabten, aber vielleicht ein wenig zu ehrgeizigen und noch etwas unreifen jungen Mann im Auge zu behalten. Darin hatte er schließ‐ lich Erfahrung; seine Zusammenarbeit mit Saam war anfangs auch nicht immer reibungslos verlaufen. Mittlerweile schien Wallis’ ganz spezieller Schützling erwachsener geworden zu sein, zumindest wollte er nicht mehr ständig mit dem Kopf durch die Wand, ohne Rücksicht auf Verluste. »Und welche Aufgabe weist du mir zu?« fragte Jimmy, nachdem alle Anwesenden wußten, was genau sie zu tun hatten. »Du bist mein Zettbevau«, antwortete ihm sein Schöpfer. »Meine Geheimwaffe zur besonderen Verwendung.« »Verstehe«, meinte der Roboterhund. »Ich muß mal wieder auf dich aufpassen.« *
Schwere, harte Arbeitstage hatten einen großen Vorteil: Man wußte den Feierabend mehr zu schätzen als an Tagen, an denen es nur we‐ nig zu tun gab. Zur Entspannung trafen sich die Gardisten in der Milkywaybar, einer der wenigen »Vergnügungsstätten« von Star City. Hier wurden nur alkoholfreie Getränke angeboten. Der Ausschank von »Hoch‐ geistigem« war in dieser Stadt nicht erlaubt. Die hochintelligenten Bewohner sollten ihren klaren Verstand nicht unnötig trüben. Normalerweise galt es als verpönt, nach Feierabend ständig nur von der Arbeit zu reden. An diesem Abend war das jedoch anders, schließlich ging es um das Überleben der Erde. Bei Milchshakes, Fruchtsäften, Eis und kleinen Snacks wurde selbst noch in der Frei‐ zeit über das Projekt »Megaraptor« debattiert. Das größte Problem war die noch nicht vollständig gelungene Entschlüsselung der als überholt geltenden Raptorentechnik. Auf diesem Gebiet war in der Vergangenheit eine Menge versäumt worden. Ständig hatte man vermeintlich Wichtigerem den Vorrang gegeben, was auch Kurt Buck bemängelte, der mit seinen Freunden darüber diskutierte. Julian Burns setzte sich zu ihnen an den Tisch. Er beteiligte sich an dem Gespräch, stieß aber aufgrund seiner arroganten Art schon bald auf Ablehnung. »Du weißt immer alles besser, wie?« bemerkte ein Gardist är‐ gerlich. »Und wenn schon«, entgegnete Burns. »Kann ich was dafür, daß mir mein Verstand angeboren wurde? Soll ich ihn etwa verleugnen?« »Zufälligerweise sind auch wir anderen keine Dummköpfe«, sagte Kurt Buck. »Mag ja sein, daß Sie sich bei Ihrer früheren Truppe stark unterfordert gefühlt haben, Fähnrich. Wahrscheinlich sind Sie sich vorgekommen wie der einzig Weise unter lauter Idioten. Doch Ihre jetzigen Kameraden sind von ganz anderem Kaliber. Je eher Sie das begreifen…«
»Befürchten Sie, ich könnte Sie auf der Karriereleiter überholen?« fragte ihn Burns in Anspielung auf Bucks schnelle Beförderung zum Leutnant. »Sie sind hier doch so etwas wie das verhätschelte Lieb‐ lings Wunderkind der Garde, wenn ich das mal so sagen darf, bei allem Respekt.« Von diesem Moment an herrschte eisige Stimmung bei Tisch… … bis das »Auftau‐Trio« die Bar betrat: Chris Shanton, Arc Doorn und Jimmy. Ein vollbärtiger Dicker, ein muskulöser Rotschopf und ein rabenschwarzer Scotchterrier, von dem mittlerweile alle wußten, daß er mehr war als nur ein gewöhnlicher Hund – allein durch ihren Anblick erregten sie Aufsehen. Zudem eilte ihnen ihr Ruf voraus. * Shanton blickte in die Runde und fand, daß der beste Platz an je‐ nem großen Tisch war, an dem Buck und Burns saßen. »Ist hier noch ein Stuhl frei?« fragte er – nur so pro forma, denn er saß bereits, noch bevor er den Satz ausgesprochen hatte. Arc Doorn knurrte nur irgendwas Unverständliches, als er sich hinsetzte, und Jimmy gab gar keinen Laut von sich, nicht mal sein gewohntes Kläffen. »Nur Milchmixgetränke und Säfte?« regte sich Shanton auf, nach‐ dem er einen Blick in die Karte geworfen hatte. »Cognac hatte ich hier eh nicht erwartet, aber wenigstens ein Lager.« »Ein Lager?« wunderte sich der junge Barmann, der an den Tisch getreten war, um die Bestellung aufzunehmen. »Was soll das sein?« »Na, was schon?« antwortete der Ingenieur. »Bier natürlich.« »Ach so… nein, Bier gibt es bei mir nicht.« Chris bestellte sich einen Drink, der überwiegend aus Ananassaft bestand. Die weibliche Bedienung brachte ihm das Glas – mit Schirmchen und Strohhalm – und stellte es vor ihm ab. »Lassen Sie es sich schmecken«, sagte sie lächelnd. Kaum hatte sie ihrem Gast den Rücken zugedreht, zog dieser das
lästige Beiwerk aus dem Glas, trank einen Schluck ab und holte eine Taschenflasche hervor. Voller Vorfreude ließ er eine klare Flüssigkeit in den Saft rinnen. Der Barmann hatte gute Augen – und eine noch bessere Nase. Leicht verärgert begab er sich zu Shantons Tisch. Im Grunde ge‐ nommen hatte er nichts gegen das berühmte Genie, er mochte Shanton sogar, doch es gab in dieser Bar nun einmal Regeln, für deren Einhaltung er verantwortlich war. Zudem hatte er gewisse Prinzipien… »Alkohol ist hier verboten«, sprach er den Ingenieur an, wobei er bemüht war, höflich zu bleiben. »Das gilt auch für Rum.« »Rum ist kein Alkohol«, behauptete Shanton. »Lediglich Rum‐Verschnitt kann man den alkoholischen Getränken zurechnen, nicht aber echten Rum – der ist pure Medizin.« »Medizin gegen was?« »Gegen meinen Durst. Und jetzt verzieh dich wieder hinter deinen Tresen, mein Junge, und laß mich in Frieden.« Vom Alter her hätte der schmächtige, kleinwüchsige Barmann in der Tat Shantons Sohn sein können – doch darauf legte er sicherlich nicht den geringsten Wert. »Nennen Sie mich gefälligst nicht ›mein Junge‹«, wies er seinen aufmüpfigen Gast zurecht. »Mein verstorbener Vater gehörte einst den Guttemplern an und war sein Leben lang Abstinenzler. An ihm sollten Sie sich ein Beispiel nehmen, das wäre auch gut für Ihre Fi‐ gur.« Normalerweise reagierte er nicht so gereizt, doch Shantons herab‐ lassende Art ärgerte ihn fast noch mehr als dessen Verstoß gegen das Alkohol verbot. Er hatte schon viel von dem Mann gehört, aber so hatte er sich ihn nicht vorgestellt. Auch Chris war an diesem Abend schlechter drauf, als man es von ihm gewohnt war. Ihm reichte es jetzt, er wollte sich nicht länger von jemandem maßregeln lassen, der fast noch wie ein halbes Kind aus‐ sah. Shanton erhob sich von seinem Stuhl und baute sich in voller
Größe vor seinem Gesprächspartner auf. »Besser, du gehst jetzt in Deckung«, warnte er ihn. »Ich be‐ absichtige nämlich, tief einzuatmen, und dabei könnte ich dich ver‐ sehentlich inhalieren.« »Ich habe einen effektiveren Vorschlag«, erwiderte der Barmann furchtlos. »Atmen Sie lieber kräftig aus – dann sterbe ich schlagartig an Alkoholvergiftung.« »Laß es gut sein, Marc«, warf Kurt Buck ein. »Besondere Umstände erfordern manchmal halt eine besondere Medizin. Mister Shanton braucht, was er braucht, und das läßt er sich nicht gern wegneh‐ men.« Der Angesprochene nickte kurz und ging dann zurück an die Bar. Offensichtlich hatte er vor dem Leutnant mehr Respekt als vor der »lebenden Legende« Chris Shanton. Der korpulente Ingenieur nahm wieder Platz. Alle nahmen an, er sei jetzt stocksauer, doch das Gegenteil war der Fall. »Der Junge gefällt mir«, sagte er grinsend. »Er hat Mut und ist ungeheuer schlagfertig. Wie lautet sein Name?« »Marc Cram«, antwortete Leutnant Buck. »Er arbeitet als Zi‐ vilangestellter in Star City, ohne festen Aufgabenbereich, z.b.V.!« Zettbevau? Jimmy horchte kurz auf, sagte aber nichts. Das hatte bei ihm allerdings nicht viel zu bedeuten; es war ein Fehler, daraus die falschen Schlüsse zu ziehen und ihn für einen »braven Hund« zu halten. Wenn er schweigend irgendwo herumlag, heckte er entweder etwas aus, oder er registrierte jedes gesprochene Wort, um es bei unpassender Gelegenheit gegen den Sprecher verwenden zu kön‐ nen. »Marc, der wie wir alle der Geheimhaltung unterliegt, springt überall dort ein, wo Not am Mann ist«, fuhr Buck fort. »Als der Barkeeper aufgrund eines familiären Ereignisses ausfiel, war Marc sofort zur Stelle. Auch sonst kann man ihn zu allen möglichen Ar‐ beiten einteilen. Er mag nicht der Hellste sein, ist aber überaus viel‐ seitig und lernt schnell.«
Shanton fand Cram immer sympathischer. Er mochte Menschen, die sich überall durchboxten, allen Knüppeln, die ihnen das Schick‐ sal zwischen die Beine warf, zum Trotz. Manch einer bekam den Grips halt nicht gleich mit in die Wiege gelegt – und wenn man zu‐ dem noch das Pech hatte, nicht als Millionärssohn auf die Welt ge‐ kommen zu sein oder als Adliger mit guten Beziehungen zur soge‐ nannten Oberschicht, mußte man sich ungeheuer anstrengen, um beruflich nicht auf der Strecke zu bleiben. »Marc ist der Neffe von MacCormacks Ehefrau, der Oberst ist also sein angeheirateter Onkel«, berichtete Buck weiter. »Wahrscheinlich ist das der Grund, warum er für einen Zivilangestellten ungewöhn‐ lich viele Sondergenehmigungen ausgestellt bekommt. Cram darf zahlreiche militärisch geschützte Bereiche betreten. Offenbar hat die Führungsspitze vollstes Vertrauen zu ihm.« Shanton verzog mürrisch das Gesicht. Seine Sympathie für Marc Cram schwand plötzlich dahin. Er hatte nicht viel übrig für Men‐ schen, die bei ihrem beruflichen Aufstieg ausschließlich auf Bezie‐ hungen setzten statt auf ihre eigene Leistung. »Und Sie, Buck?« fragte er den Leutnant. »Vertrauen Sie Cram ebenfalls?« »Ich mag ihn und habe mich mit ihm angefreundet – aber grund‐ sätzlich vertraue ich niemandem, schon aus Prinzip nicht«, gab Kurt Buck ihm ehrlich zur Antwort. »Nicht einmal Ihnen, Mister Shanton, auch wenn Sie mich jetzt dafür ein Leben lang hassen.« »Geht schon in Ordnung. Würden Sie anders denken, wären Sie mit Sicherheit der falsche Mann für eine Elitetruppe.« Dies war Shantons erste Begegnung mit Marc Cram. Zu diesem Zeitpunkt ahnte er noch nicht, daß »sein Junge« noch des öfteren, auch außerhalb der Bar, seine Pfade kreuzen würde. * Schon bald entspannte sich die Gesprächsrunde, und das Thema in
der Milkywaybar drehte sich erneut um die Raptorstrahler. Die in‐ offizielle Besprechung dauerte bis nach Mitternacht. In dieser Zeit ließ sich Chris Shanton so manches Glas Ananassaft an den Tisch bringen, den er auf gewohnte Weise »veredelte« – sehr zu Crams Mißvergnügen. Marc schickte nur noch die Bedienung an den Tisch und kümmerte sich ausschließlich um die anderen Gäste. »Die Funktionsweise einer Raptorwaffe ist wohl jedem geläufig«, sagte Chris Shanton. »Raptorstrahlen sind in der Lage, die Schutz‐ schirme gegnerischer Raumschiffe nach entsprechender Abtastung so zu modulieren, daß sie ihnen Energie abziehen und dem Ener‐ giehaushalt ihres eigenen Schiffes zuführen können. Mittlerweile wissen wir jedoch definitiv, daß der Strahler für die Modulation zunächst einmal eine enorme Energiemenge aus dem Bordreaktor benötigt, bevor es mit dem Energieabsaugen aus dem fremden Schirm losgeht. Um einen starken Schirm wie den um den ›Klotz‹ zu überwinden, brauchen wir Energiemengen in einer Größenordnung, die kein Bordreaktor zur Verfügung stellen kann.« »Und sollte es uns gelingen, dieses Problem zu lösen, würden wir aus dem Schirm Energien in viel zu großen Massen absaugen«, er‐ gänzte Leutnant Buck die Zusammenfassung der bisherigen Ergeb‐ nisse. »Das verkraftet das Bordsystem nicht.« »Möglicherweise scheitert an dieser Problematik unser ganzes Vorhaben«, befürchtete Shanton. »Deshalb schlage ich vor, wir teilen einigen unserer Arbeitsgruppen neue Aufgabenbereiche zu. Die eine Hälfte befaßt sich weiter mit dem Projekt ›Megaraptor‹ – die zweite Hälfte sucht nach anderen Wegen zum Durchbrechen des Schutz‐ schirms. Das stinkt mir zwar, da ich kein Freund von halben Sachen bin…« »Mir stinkt das auch«, unterbrach ihn Fähnrich Burns. »Geben Sie immer so schnell auf?« »Das Wort Aufgabe existiert in meinem Sprachschatz überhaupt nicht«, erwiderte Shanton grantig. »Aber manchmal ist es vernünf‐ tiger, seine Fühler in verschiedene Richtungen auszustrecken, als
seine Zeit nur auf eine von vielen Möglichkeiten zu verwenden.« »Oder haben Sie eine bessere Idee, Fähnrich?« fragte Arc Doorn. »Falls ja, sprechen Sie jetzt – oder schweigen Sie für immer.« »An guten Ideen mangelt es mir nie«, entgegnete Burns unbe‐ scheiden. »Außerdem verfüge ich über die beneidenswerte Fä‐ higkeit, den Wald trotz der vielen Bäume zu sehen – sprich: Im Ge‐ gensatz zu euch allen entgeht mir nicht das Naheliegende. Sieht es denn keiner von euch?« »Hören Sie auf, in Rätseln zu sprechen«, forderte Shanton ihn auf. »Ich bin schon ein wenig entspannt und habe keine Lust zum Raten.« »Besser gesagt: Ihr Gehirn hat die Lust am Denken verloren«, be‐ merkte Marc Cram, der beim Abräumen der Gläser und Teller vom Nachbartisch Shantons letzten Satz zufällig mitbekommen hatte. »Das kommt vom Alkohol.« Chris warf ihm einen bösen Seitenblick zu, den Marc mit einem frechen Grinsen erwiderte. »Wir verfügen über einen leistungsfähigen, mächtigen Generator mit einer riesigen Aufnahmekapazität«, fuhr Burns fort, nachdem Cram wieder hinter der Theke verschwunden war. »Er befindet sich direkt vor unser aller Nase. Bin ich eigentlich der einzige, der ihn sehen kann? Das Ding ist doch wohl groß genug, oder?« Alle am Tisch machten ein ratloses Gesicht – bis auf Arc Doorn, dem eine ganze Lichterkette aufging. »Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen«, sagte er zu Burns. »Den‐ noch brauchte man dafür eine riesige Anlage, die unmöglich in ein Raumschiff paßt.« »Ist auch nicht nötig«, meinte Burns. »Wir installieren sämtliche Aggregate und sonstige Apparaturen nicht in einem Schiff, sondern montieren sie auf einer Raumplattform.« »Genial«, erwiderte Doorn. »Und ich kenne sogar jemanden, der mit dem Bau raumtauglicher Riesenplattformen große Erfahrung hat – einen Mann, der seinen Hauptfirmensitz quer durchs All transpor‐ tiert hat.«
»Darf ich mal erfahren, worum es eigentlich geht?« warf Shanton ein. »Was hat Wallis Industries mit unserem Projekt zu schaffen? Und von welchem Mordsgenerator ist die Rede?« Burns’ Antwort schlug ein wie eine Megabombe. Shanton war auf einen Schlag stocknüchtern. Mit den Worten »Warum bin ich Voll‐ idiot nicht selbst darauf gekommen?« sprang er auf, legte die Zeche auf den Tisch und eilte – Jimmy im Gefolge – aus der Gaststube. Auch die anderen Gesprächsteilnehmer zahlten rasch und begaben sich dann schnellstens nach draußen. Es zog sie in ihre Labors – obwohl es mitten in der Nacht war. Zurück blieben ein paar vereinzelte verwunderte Gäste und ein völlig konsternierter Barmann, der sich fragte: Was war so besonders an der Sonne Proxima Centauri, daß allein die Erwähnung ihres Namens fast die gesamte Bar leerte? * Kommunikation war eine feine Sache im September 2062. Hatten noch im zwanzigsten Jahrhundert Telefonkonferenzen abgehalten werden müssen, bei denen man seinen Gesprächspartner selbst dann nicht sehen konnte, wenn er in der Nachbarstadt wohnte, präsen‐ tierten sich heutzutage sämtliche angeschlossenen Teilnehmer auf großen Wandbildschirmen – sogar dann, wenn sie auf fremden Pla‐ neten lebten –, und man konnte bei Bedarf jede Person vergrößern beziehungsweise verkleinern, je nach Wichtigkeitsgehalt ihrer Aus‐ führungen. (Da Regina Saam öfter als andere herangezoomt wurde, obwohl sie nur recht wenig sagte, hielt man sie offenbar für ganz besonders wichtig – oder aber es lag an dem tiefen Ausschnitt ihrer schlichten Bluse.) Generalmajor Farnham, die Gruppe aus der Bar sowie Robert Saams Team tauschten ihre bisherigen Erfahrungen aus. Fähnrich Burns bekam Gelegenheit, seine Idee ausführlich darzulegen, und er konnte sich der Unterstützung seiner Kameraden genauso sicher
sein wie der vollen Zustimmung von Shanton und Doorn, die das Szenario in ihren Labors inzwischen durchgespielt und diverse Be‐ rechnungen angestellt hatten. Auf die Meinung des Multigenies Saam waren alle besonders ge‐ spannt. »Ist es möglich, Energie über einen modifizierten To‐Richtstrahl aus einer Sonne zu zapfen und in umgekehrter Richtung nach dor‐ thin abzustrahlen?« fragte Burns ihn direkt heraus. »Ja oder nein?« »Ich habe mal so etwas entwickelt«, antwortete Robert Saam nachdenklich. »Aber…« »Ja oder nein?« wiederholte Burns eindringlich; er wollte sich nicht mit einer Wischiwaschi‐Antwort abspeisen lassen. »Aber ich habe das nicht weiterverfolgt, weil…« »Ja oder nein?« Saam seufzte laut und vernehmlich und sagte schließlich: »Ja!« Und er fügte hinzu: »Sie erinnern mich an einen leichtsinnigen, viel zu ehrgeizigen Menschen, Bums, den ich mal sehr gut kannte.« Damit meinte er sich selbst. »Ich habe die ganze Sache nicht weiterverfolgt, weil die dafür be‐ nötigten Anlagen viel zu klobig ausfallen würden«, setzte er seine Ausführungen fort. »Außerdem würden sie nur über eine bestimmte Entfernung zur Sonne zuverlässig funktionieren.« Über einen separaten Datenkanal erhielt Saam umgehend alle er‐ forderlichen Dateien. Er überflog sie kurz, stellte ein, zwei Berechnungen an und kam zu dem Ergebnis: »Es könnte klappen. Die Entfernung zur Sonne wäre nahezu perfekt. Der Klotz würde sich bei dem Angriff auf seinen Schutzschirm zwischen der Raumplattform und der Sonne befinden, nicht sonderlich weit entfernt von der Plattform, in idealer Reich‐ weite.« »Worauf warten wir dann noch?« fragte Julian Burns ungeduldig. »Eden verfügt über unschätzbare Erfahrungen im Bau großer, raumtauglicher Plattformen«, sagte Generalmajor Farnham in Ans‐
pielung auf den spektakulären Umzug von Wallis Industries. »Wie schnell könnten Sie fünf solcher Plattformen liefern, jeweils einen Quadratkilometer groß?« »Kommt ganz auf die Ausstattung an«, antwortete das nor‐ wegische Genie. »Die Plattformen brauchen lediglich mit einem einfachen Transi‐ tionstriebwerk ausgestattet zu sein«, erwiderte Farnham. »Modifi‐ zierte Raptoren, die Maschinen zum Energiezapfen und so weiter stellen wir auf der Erde her.« Saam überlegte nur einen Augenblick, dann erklärte er sich ein‐ verstanden. »Am besten, ich mache mich sofort an die Arbeit.« »Und wie lange dauert…?« fragte Farnham noch rasch, aber Saams Bild war bereits erloschen. Innerhalb weniger Sekunden verschwanden auch die Gesichter seiner drei Teammitglieder von den Hologrammen der übrigen Ge‐ sprächsteilnehmer. »Ein fixer Junge«, stellte Farnham ein wenig pikiert fest. »Läßt ei‐ nen nicht mal ausreden.« »Je früher er mit der Arbeit beginnt, um so eher ist er damit fertig«, entgegnete Chris Shanton. »Wir sollten uns ein Beispiel an ihm nehmen.«
17. Anfang Oktober fiel in Alamo Gordo der erste Schnee – zu wenig, um in der Stadt ein »weißes Chaos« auszulösen, aber ausreichend für eine dünne, glitzernde Schneedecke auf den Straßen, Bürgersteigen und Laufbändern. Aufgrund ihrer ausgezeichneten Berichterstattung von Eden hatte man Heather wieder nach Terra zurückgeholt, wo sie mittlerweile zum Star der Terra‐Press‐Boulevardmagazine avanciert war. Terence Wallis freute sich für sie, bedauerte das aber auch ein wenig, denn er hätte sie lieber auf Eden gehabt, in seiner Nähe. Auf derlei Ent‐ scheidungen hatte er jedoch keinen Einfluß, Heather hatte ihren eigenen Kopf. »Es ist nicht ausgeschlossen, daß ich irgendwann wieder auf Eden tätig werde«, tröstete sie ihn, als sie ihn an der Transmitterstation von Alamo Gordo abholte. »Schließlich befindet sich dort mittler‐ weile der Hauptsitz von Terra‐Press. Meine Rückversetzung könnte schneller erfolgen, als man denkt. Ruhm ist vergänglich. Bevor man sich’s versieht, ist man beim Publikum und damit auch bei seinem Chefredakteur unten durch und wird ins Exil geschickt.« »Ins Exil? Na, hören Sie mal!« entrüstete sich Wallis. »Eden ist ein Paradies. Manch einer würde sich die Beine ausreißen, um bei uns leben zu dürfen.« »Ich bin aber nicht manch einer«, gab Heather ihm zu verstehen. »Im übrigen brauche ich meine Beine noch.« Und was das für Beine waren! Terence schaute wie unter Zwang ständig hin (es war ihm schon selbst ein bißchen peinlich): Sie wuchsen aus einem Paar dunkelro‐ ter, zierlicher Schuhe heraus und mündeten in einen tiefblauen, für dieses Wetter viel zu kurzen Rock. Ob Heather eine Strumpfhose trug, war auf den ersten Blick nicht erkennbar.
Insbesondere für Frauen gab es in Fachgeschäften hauchdünne, durchsichtige Textilien, die sich so eng um den Körper der Trägerin schmiegten, daß man sie mit bloßem Auge kaum wahrnahm. Derlei raffinierte Kleidungsstücke ließen sich allerdings ertasten, voraus‐ gesetzt, man(n) war sensibel genug und nahm sich dafür etwas Zeit. »Ich habe gleich noch ein paar geschäftliche Dinge zu regeln«, er‐ klärte Wallis seiner schönen Begleiterin. »Doch heute abend gehöre ich ganz Ihnen, versprochen. Was halten Sie von einem spanischen Abendessen bei Kerzenschein?« Heather seufzte leise. »So hatte ich mir das eigentlich nicht vor‐ gestellt. Kaum sind wir zusammen, schicken Sie mich auch schon wieder weg. Na schön, treffen wir uns halt im Los Morenos. Soll ich Sie noch ins Hotel bringen? Mein Schweber steht draußen auf dem Parkplatz.« »Danke, nicht nötig«, lehnte Terence Wallis ab. »Ich übernachte im Gästetrakt der hiesigen Botschaft und werde gleich von einem Mi‐ tarbeiter abgeholt. Wenn es Ihnen recht ist, werden wir im Bot‐ schaftsgebäude zu Abend speisen.« »Haben Sie nicht von einem spanischen Abendessen gesprochen?« wunderte sich Heather. »Richtig«, bestätigte Wallis. »Und haben Sie nicht vor kurzem die Küche des Los Morenos in den höchsten Tönen gelobt?« »Ebenfalls richtig.« »Und betonen Sie nicht immer, das Beste vom Besten sei gerade gut genug für Sie?« »Noch mal richtig. Worauf läuft das jetzt hinaus? Wollen Sie mich bei einer Quizsendung anmelden und testen vorab meine Intelli‐ genz?« Natürlich wußte Terence ganz genau, worauf Heathers Fragen ab‐ zielten – er wollte sie lediglich ein bißchen foppen. »Sie speisen grundsätzlich nur das Beste vom Besten, und das Es‐ sen im Los Morenos ist Ihrer Meinung nach unübertrefflich«, zählte
sie auf. »Warum wollen Sie mich dann partout in die Botschaft ein‐ laden? Ist der Kantinenkoch dort besser als die Moreno‐Brüder?« »Bisher hat sich noch niemand vom Botschaftspersonal über ihn beklagt«, entgegnete Wallis schmunzelnd. »Warum warten Sie nicht einfach ab, was ich Ihnen zu bieten habe, statt mich mit neugierigen Fragen zu löchern?« »Entschuldigung, ist wohl so eine Art Berufskrankheit. Als Jour‐ nalistin bin ich es nun mal gewohnt, alles zu hinterfragen, was mir spanisch vorkommt.« … was mir spanisch vorkommt, wiederholte Wallis amüsiert in Ge‐ danken. Er fragte sich, ob Heather dieses kleine Wortspiel absichtlich ver‐ wandt hatte, in Anspielung auf die Moreno‐Brüder, oder ob es sich eher um einen »Zufallsgag« handelte. Obwohl er sie natürlich längst hatte überprüfen lassen, stellte er fest, daß er im Grunde genommen recht wenig über sie wußte. In Eingangsnähe der Transmitterstation parkte der geräumige, mit einer Bar ausgestattete Schweber der Botschaft von Eden. Wallis ging darauf zu. Heather nahm er bei der Hand und zog sie sanft mit sich. »He, ich will noch nicht mit!« protestierte sie. »Es reicht völlig aus, wenn ich Sie heute abend in der Botschaft aufsuche.« »Ohne die nötigen Vollmachten kämen Sie nicht weiter als bis ans große Tor«, erwiderte Terence. »Eine Botschaft ist kein öffentliches Gebäude, in dem man herumspazieren kann, wie es einem gerade beliebt. Ich lasse Ihnen einen VIP‐Paß ausstellen, der Sie als privile‐ gierte Besucherin ausweist – zumindest für den heutigen Tag. Damit dürfen Sie sogar Räumlichkeiten betreten, die für den Normalbürger tabu sind, beispielsweise meine Privaträume.« »Heißt das, ich darf in jedes Zimmer?« entgegnete Heather erfreut. »Kann ich auch Aufnahmen machen?« »Sie können jedes Zimmer betreten, das nicht verschlossen ist und vor dem kein Wachmann steht«, antwortete Wallis. »Also Räume, in denen es absolut nichts Interessantes zu sehen gibt. Oder denken Sie,
in der Botschaft lägen geheime Unterlagen überall auf Tischen und Stühlen herum?« Als sie am Schweber eintrafen, befreite sich Heather aus dem Griff ihres Begleiters. Sie mochte es, wenn er ein wenig energisch wurde, ließ sich aber auch nicht gern gängeln. »Was wird aus meinem Schweber?« fragte sie. »Es wird mir eine Ehre sein, mich darum zu kümmern«, versprach ihr der Chauffeur der Botschaft, der ausgestiegen war, um die beiden zu begrüßen. »Ich veranlasse umgehend eine Abholung.« »Na bitte, alles ist in schönster Ordnung«, meinte Wallis. »Und zu ein paar exklusiven Bildern verhelfe ich Ihnen auch, versprochen. Morgen treffe ich mich auf Cent Field mit ein paar wichtigen Per‐ sönlichkeiten. Können Sie es ermöglichen, mit einem Kamerateam dort zu sein? Über den genauen Zeitpunkt informiere ich Sie noch, ich erfahre ihn selbst erst nachher.« »Kein Problem«, erwiderte die Reporterin und stieg ein. »Falls ich den Zeitpunkt rechtzeitig genug erfahre, rufe ich mein Stammteam zusammen. Andernfalls muß ich halt improvisieren. In der Nähe des Raumhafens hat Terra‐Press ständig ein Kamerateam postiert, für den Fall, daß dort etwas Wichtiges passiert.« Ich weiß, ich weiß, dachte Terence Wallis. Aber diesmal bestimme ich, was für euch wichtig ist und was nicht. * In der Botschaft von Eden hatte Terence Wallis einen kleinen Speisesaal für sein romantisches »Dinner for two« reservieren lassen. Die Tischdekoration und das übrige Ambiente überprüfte er ab‐ schließend noch einmal persönlich und entfernte einigen übertrie‐ benen Schnickschnack, schließlich sollte sich sein Gast in ungez‐ wungener Atmosphäre wohlfühlen. Als Heather hereinkam, blieb ihrem bereits anwesenden Gastgeber fast das Herz stehen. Nachdem er am Nachmittag mit dem Bot‐
schaftspersonal sämtliche Besuchsformalitäten geklärt hatte (prob‐ lemlos, denn sein Wort war hier Gesetz), hatte er Heather vorge‐ schlagen, gleich in der Botschaft zu bleiben – doch sie hatte vorher noch nach Hause gewollt, um sich, wie sie sagte, »etwas Bequemeres überzuwerfen«. Wenn das was Übergeworfenes ist, möchte ich nicht wissen, wie sie aus‐ sieht, wenn sie ernst macht und sich richtig aufbrezelt, dachte er faszi‐ niert. Seiner Meinung nach war es nahezu unmöglich, ohne Hilfe in ein derart hinreißendes Kleid zu steigen, das auf ihn wie eine futuristi‐ sche Kampfrüstung wirkte. Es war im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend: Den Frauen schnitt es die Luft ab, und bei den Männern sorgte es für leichte Erstickungsanfälle. Obwohl sie dieses außergewöhnliche Kleidungsstück eigentlich an allen Ecken und Enden hätte zwicken müssen, bewegte sich Heather darin gazellenhaft und unbeschwert. Nicht einmal den hohen Pfen‐ nigabsätzen ihrer zierlichen Schühchen gelang es, sie zu Fall zu bringen oder sie beim Gehen wenigstens ein klein bißchen lächerlich aussehen zu lassen. Sie kam so leichtfüßig daher, als ginge sie auf Wolken… Terence Wallis war ganz hin und weg – was er sich jedoch nicht anmerken ließ. Souverän wie immer, ganz Herr der Lage, rückte er Heathers Stuhl zurecht. Zu seinem grenzenlosen Erstaunen konnte sie sich ohne Schwierigkeiten hinsetzen; nicht die winzigste Naht platzte dabei aus, der hochwertige Stoff dehnte sich lediglich ein wenig. Aus der angrenzenden Küche zogen verlockende Gerüche durch den kleinen Saal. Ein Kellner kam herein und erkundigte sich nach den Wünschen für den Aperitif. »Juan?« wunderte sich Heather. »Wie kommen Sie hierher?« »Mit dem Schweber, allerdings nur bis zum Lieferanteneingang, den Rest mußte ich zu Fuß bewältigen«, scherzte der Spanier. »Ist Jose auch hier?« erkundigte sich Heather und gab sich die
Antwort gleich selbst: »Natürlich ist er hier. Jede Wette, er kreiert nebenan gerade ein himmlisches Menü.« »Wette gewonnen«, sagte eine ihr wohlbekannte Stimme. Jose kam herein, um sie zu begrüßen. »Ein himmlisches Menü ist für einen Engel wie Sie goldrichtig«, bemerkte er galant. »Schleim hier nicht rum und sieh zu, daß du mit dem Essen fertig wirst«, ermahnte ihn sein Bruder, was nicht ganz ernstgemeint war. »So gut wie wir bezahlt werden, können wir uns keine einzige Mi‐ nute Verspätung leisten.« »Ist Ihr Lokal heute geschlossen?« fragte Heather. »Es ist unser freier Tag«, erwiderte Juan. »Aber unter gewissen Umständen sind wir manchmal bereit, auf unseren freien Tag zu verzichten.« Und von diesen »gewissen Umständen« hatte Terence Wallis eine ganze Menge. * Obwohl sich Wallis den ganzen Abend über redlich Mühe gab, gelassen zu wirken, konnte er nicht die Augen von Heather lassen. Offensichtlich hatte sie es darauf angelegt, ihn aus der Fassung zu bringen, und es ärgerte ihn ein wenig, daß sie damit Erfolg hatte. War er etwa im Begriff, sich zu verlieben? Nein, unmöglich, er stand über solchen Dingen… »Gefällt Ihnen, was Sie sehen?« fragte Heather ihn beim Nachtisch völlig unvermittelt. Frechheit! dachte Wallis, der sich durchschaut fühlte. »Sind meine Blicke so auffällig?« stellte er ihr die Gegenfrage. »Ich gebe zu, Sie ziehen meine Aufmerksamkeit wie magisch an. Ihr Kleid ist wirklich einmalig, und ich frage mich, wer der glückliche Mann war, der Ihnen beim Anziehen helfen durfte.« »Das sollte Ihnen egal sein«, entgegnete sie und lächelte ihn ver‐
heißungsvoll an. »Solange Sie der Glückliche sind, der es mir aus‐ ziehen darf.« * Als Heather um vier Uhr in der Frühe die Augen aufschlug, glaubte sie erst, im falschen Film zu sein. Was sie erblickte, war mit Sicherheit nicht ihr Zuhause. Die Einrichtung des in schummriges Licht getauchten Zimmers entsprach ganz und gar nicht ihrem Stil. Es war zweifelsohne das Zimmer eines Mannes – der den Luxus liebte, aber auch einen Sinn fürs Einfache und Praktische hatte. Trotz ihres umfangreichen Bekanntenkreises kannte sie nur einen Mann, auf den diese Beschreibung voll und ganz zutraf. Offensich‐ tlich befand sie sich im Schlafzimmer des reichsten Mannes der Erde und auf Eden… Wie hatte das nur passieren können? War etwa der Wein schuld daran? Nein, ganz sicher nicht; dem Alkohol konnte man höchstens eine gewisse Mitschuld anrechnen. Solange Sie der Glückliche sind, der es mir ausziehen darf. Dieser Satz spukte dauernd in Heathers Kopf herum. Sie hatte diese Worte zu Terence gesagt, mit dem Geschmack einer herrlichen spanischen Nachspeise auf den Lippen. Eigentlich hatte sie nur ein bißchen kokettieren wollen, indem sie ihrem Begleiter in Aussicht stellte, daß es irgendwann einmal zwischen ihnen funken könnte, an einem unbestimmten Tag, eventuell, vielleicht, möglicherweise, theoretisch… Doch Terence Wallis war kein Mensch, der sich mit der Theorie zufriedengab. Er hatte die Herausforderung angenommen und war praktisch zum Direktangriff übergegangen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie jede seiner Reaktionen nahezu vorhersehen können, sie hatte das Zepter in der Hand gehabt, ihn beherrscht – aber von ei‐ nem Augenblick zum anderen hatte sich das Blatt gewendet, und er hatte umgekehrt damit begonnen, die Kontrolle über sie zu über‐
nehmen. Heather hatte das Botschaftsgebäude als selbstbewußte Frau be‐ treten – und jetzt lag sie im Bett eines Mannes, der sie zu einem hilf‐ losen Etwas degradiert hatte. Wieso hatte sie das zugelassen? Schließlich wußte sie, wie man sich gegen derartige Manipulationen wehrte. Gegenwehr hatte Wallis allerdings erst gar nicht zugelassen. Er hatte sie geschickt umgarnt (wo sie doch ihn hatte umgarnen wol‐ len), bis sie es gar nicht mehr hatte erwarten können, ihm in seinen Privattrakt innerhalb der Botschaft zu folgen. Ursprünglich war sie die Spinne im Netz gewesen – und plötzlich hatte sie selbst in den klebrigen Fäden gehangen, gefesselt und wehrlos… Und das schlimmste war: Heather fühlte sich auch noch wohl da‐ bei, sie schämte sich nicht das kleinste bißchen. Was sie getan hatte, hatte sie freiwillig und gern getan, es gab also keinen Anlaß zur Reue. Und falls jemand meinte, sie müsse sich in diesem Punkt än‐ dern: Sollten sich doch die anderen ändern – sie gefiel sich so, wie sie war! Terence gefiel ihr auch. Er schlief ruhig und friedlich und sah dabei so selbstzufrieden aus wie ein Dieb, der kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte, weil er nur Leute beklaute, die es nicht anders ver‐ dient hatten. Wovon er wohl träumte? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden: Heather weckte ihn. Wallis reckte und streckte sich und gähnte herzhaft. »Schon Zeit zum Aufstehen? Schade, ich hatte gerade so schön ge‐ träumt.« »Von mir?« fragte Heather ihn gespannt. Er wischte sich den Schlaf aus den Augen, lächelte sie an und sagte: »Nein, von Ralf.« »Von einem Mann?« entgegnete Heather verwundert. Wallis nickte. »Ralf betrieb einen Kiosk in Pittsburgh, Ecke Longstreet, nur ein paar Fußminuten entfernt vom damaligen Hauptsitz meines Unternehmens. Sein Sortiment war klein, aber
beständig, und er beschaffte seinen Kunden alles, was sie bei ihm bestellten. Seine Familie stammte ursprünglich aus Deutschland, wo man den Kiosk sozusagen erfunden hat. Ralf hatte für die Alltags‐ sorgen seiner Kundschaft stets ein offenes Ohr. Es gab jeden Morgen frische Brötchen, gekühltes Flaschenbier für den Frühschoppen, und – für mich am wichtigsten! – er kochte den besten Kaffee in der Stadt.« »Du machst mir Appetit. Warum setzen wir uns nicht in einen Jett, fliegen nach Pittsburgh und trinken einen guten Ralf‐Kaffee?« »Das geht leider nicht.« »Verstehe, er ist inzwischen nach Eden umgesiedelt. Na, dann hast du ihn ja wieder ständig in deiner Nähe.« »Schön wär’s«, seufzte Terence Wallis. »Ich hätte ihn gern auf meinen Planeten mitgenommen – aber er wollte partout hierblei‐ ben.« »Warum?« »Weil er tot war. Sein Herz blieb plötzlich stehen, mitten in der Arbeit. Sämtliche Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos. Aus und vorbei. Am Tag zuvor hatte Ralf seinen 111. Geburtstag ge‐ feiert.« Sein letzter Kaffee war wohl etwas zu stark gewesen, dachte Heather und zog in Erwägung, sich zum Frühstück lieber einen Fencheltee zu bestellen. Terence zog sie in die Arme und machte ihr klar, daß er noch lange nicht ans Frühstücken dachte… Heather staunte über seine Vitalität. Obwohl er fast fünfzig war, schien er leistungsfähiger zu sein als ein Mann in den Dreißigern. Zudem sah er viel jugendlicher aus als andere in seinem Alter. »Das liegt an der erstklassigen Behandlung und Pflege, die ich mir täglich gönne«, erklärte er ihr, als sie ihn nach dem Aufstehen – unter der Dusche – darauf ansprach. »Wäre ja auch noch schöner, wenn ausgerechnet der Staatschef von Eden herumlaufen würde wie ein Greis.«
* An diesem Morgen hielten sich in Star City verdächtig viele Men‐ schen im Freien auf: Gardisten, Lehrkräfte, Besucher… sie alle schauten immer mal wieder zum Himmel empor und warteten auf ein ganz bestimmtes Ereignis. Doch außer leichtem Schneegeriesel war noch nichts zu sehen. Allmählich bekamen einige der Neugierigen einen steifen Nacken vom vielen Hinauf starren. Dabei war es gar nicht notwendig, lau‐ fend nach oben zu blicken. Das, was gleich von dort kommen würde, konnte man gar nicht übersehen. Erst war es nur ein winziger schwarzer Punkt, der sich aus der Ferne näherte. Allmählich wurde der Punkt jedoch größer und grö‐ ßer… Und dann verdunkelte sich der Himmel. Über ganz Star City schien sich eine Sonnenfinsternis auszubreiten. Nun hielt es nie‐ manden mehr auf seinem Platz. Alle eilten aus den Gebäuden oder zu den Fenstern; nur wer unterirdisch arbeitete, bekam nichts von der Lichtveränderung draußen mit. Etwas Großes, Rundes schwebte über der Reißbrettstadt der Schwarzen Garde: eine gewaltige Plattform, an deren Unterseite Nacht herrschte. Langsam senkte sich die runde Platte herab, so als wolle sie die gesamte Stadt mit all ihren Bewohnern unter sich be‐ graben. Trotzdem versuchte keiner von ihnen zu flüchten, denn jeder wußte, daß ihm nichts zustoßen würde. Der kleine Raumflughafen von Star City war vollständig geräumt worden. Die kolossale, kreisrunde mattschwarze Plattform, deren Durchmesser bei 1,14 Kilometern lag, belegte bei ihrer Antigrav‐ landung jede nur erdenkliche Freifläche des Hafens, der sie gerade so aufnehmen konnte. Ein winziger Bedienungsfehler hätte bereits genügt, um umliegende Gebäude zu beschädigen – aber Fehler
wurden bekanntlich von Menschen gemacht, nicht von Maschinen. »Wie wird das Ding eigentlich gesteuert?« fragte ein Gardist, der die Landung von nahem beobachtete. »Von Robotern«, meinte sein Kamerad, der neben ihm stand. »Oder per Fernsteuerung«, warf ein Dritter ein und deutete auf einen Ovoid‐Raumer mit einer tief schwarzen Carborithülle, der die Plattform begleitete: zweifelsohne die THOMAS, das Schiff von Ge‐ neral Thomas J. Jackson. Die beiden Gardisten hatten unrecht. Zwar konnte die Plattform auch aus dem sie begleitenden Ringraumer gesteuert werden, per To‐Richtfunk, doch die Landung auf dem Raumhafen von Star City erfolgte vollautomatisch. Trotz ihres gewaltigen Durchmessers betrug die Dicke der Platt‐ form nur einen Meter. In der Mitte der Scheibe befand sich eine Ku‐ gel von zwanzig Metern Durchmesser, die oben und unten jeweils 9,50 Meter herausragte. In ihr befanden sich die technischen Ein‐ richtungen fürs A‐Grav, ein verhältnismäßig leistungsschwaches Sublichteffekt‐Antriebssystem sowie ein Transitionstriebwerk. Der Kommandant der THOMAS wartete ab, bis die Plattform si‐ cher gelandet war, dann drehte der Ringraumer ab und flog davon. Ein Eingreifen war nicht notwendig gewesen, alles war reibungslos verlaufen. Was sich jetzt auf dem kleinen Raumhafen abspielte, war beinahe noch faszinierender als die Landung. Von allen Seiten schwebten Lastengleiter heran. Zahlreiche Gardisten und Roboter begannen damit, modifizierte Raptoren auf der Oberseite der Scheibe zu mon‐ tieren. An der Unterseite wurden Energiezapfer und ‐abstrahler befestigt. Für die Montage wurden viele Maschinen mit unterschiedlichen Funktionen eingesetzt. Farnham, der die Arbeiten persönlich über‐ wachte, hatte alle vorhandenen Kräfte mobilisiert, damit die ganze Sache glatt über die Bühne ging – exakt und schnell. Kurt Buck erstattete ihm eine Zwischenmeldung. »Wallis’ Leute
haben alles bestens vorbereitet. Die Aufnahmen und Anschlüsse für unsere Anlagen sind im Carborit vorhanden und passen perfekt. Auch die Öffnungen für die massiven, von der Ober‐ zur Unterseite führenden Energieleitungen sind samt und sonders dort, wo sie hingehören, und verfügen über die richtigen Maße.« »Ich habe auch nichts anderes erwartet«, erwiderte Farnham, ohne sich anmerken zu lassen, daß er innerlich erleichtert aufatmete. Er hatte größtes Vertrauen in die Fähigkeiten der Gruppe Saam und der Arbeiter von Wallis Industries, dennoch konnte man men‐ schliche Fehler nie gänzlich ausschließen. Zwar wurden die meisten Tätigkeiten in den Werkshallen heutzutage von Robotern bewältigt – doch diese wiederum wurden von Menschen programmiert. Und immerhin war dies das erste Projekt, an dem zwei Arbeitsgruppen gemeinsam werkelten, die durch die nicht unerhebliche Distanz von 56.000 Lichtjahren von einander getrennt waren. * Wie gewohnt wurden in den ersten Tagen des Monats in sämtli‐ chen terranischen Medien die aktuellen Arbeitslosenzahlen verkün‐ det. Im Prinzip verlief dieses politische Ritual stets nach dem glei‐ chen Schnittmuster: Obwohl sich kaum etwas verändert hatte, ver‐ suchte der Wirtschaftsminister krampfhaft, die errechnete prozen‐ tuale Senkung (meist nur der Bruchteil eines Prozentpunkts) den Bürgern als einen »Riesenschritt nach vorn« zu verkaufen, als einen Ruck, der durch ganz Terra gegangen sei. Wie üblich hatte niemand etwas davon gespürt. In Star City widmete man den Arbeiten an der mattschwarzen Riesenplattform hundert Prozent mehr Aufmerksamkeit als der ste‐ reotypen monatlichen Ministerrede. Und auch auf Cent Field hatte man derzeit besseres zu tun, als sich die Wiederholung einer Wie‐ derholung anzuhören. Terence Wallis war auf dem Raumflughafen von Alamo Gordo
eingetroffen, in Begleitung von Heather und jenem Kamerateam, das ständig in Hafennähe präsent war. Als Marschall Bulton und Henner Trawisheim hinzustießen, blieb Heather für einen Moment die Spu‐ cke weg. Zwar hatte Terence ihr versprochen, sie heute mit wichti‐ gen Persönlichkeiten zusammenzubringen, aber daß sie hier ausge‐ rechnet auf das Regierungsoberhaupt der Erde und den schon le‐ gendären Oberbefehlshaber der Flotte treffen würde, hatte sie in ihren kühnsten Träumen nicht erwartet. Sie schaute sich nach allen Seiten um. Ihr entging nicht, daß sich im Hintergrund mehrere bewaffnete Männer aufhielten, die bemüht waren, sich möglichst unauffällig zu benehmen: die Leibwächter des Commanders der Planeten. Wahrscheinlich würde bereits eine fal‐ sche Bewegung oder eine mißgedeutete Bemerkung ausreichen, um auf dem Raumhafen ein Chaos auszulösen, deshalb ermahnte Hea‐ ther ihre Kameraleute und das übrige Technikerteam zur Beson‐ nenheit. »Und verzichtet bitte auf politische Witze aller Art«, fügte Terence Wallis leise hinzu. »Der Häuptling der Terraner versteht in dieser Hinsicht mitunter keinen Spaß. Heute scheint er ganz besonders schlecht drauf zu sein.« In der Tat war »Häuptling Henner« augenblicklich nicht nach Spaßen zumute. Und ein großer Journalistenfreund war er sowieso noch nie gewesen, er sah diese Berufsgruppe lediglich als notwen‐ diges Übel an. Meistens erschwerten ihm die Reporter seine Arbeit, aber manchmal waren sie ihm auch ganz nützlich – vor allem, wenn sie vom Schlage eines Bert Stranger waren. Von Boulevardjournalismus hielt das Staatsoberhaupt rein gar nichts. Obwohl ihm Terence Wallis vorab erklärt hatte, warum dieses Zusammentreffen mit Heather Sheridan unbedingt vonnöten war, wäre er ihr lieber aus dem Weg gegangen. Wallis’ Redegewandtheit hatte er allerdings nicht viel entgegenzusetzen gehabt. »Wie oft ha‐ ben Sie sich schon über reißerische Presseberichte in solchen Maga‐ zinen geärgert?« hatte ihn der Unternehmer am Vipho gefragt. »Jetzt
haben Sie endlich die Gelegenheit, es diesen Sensationsgeiern heimzuzahlen. Wir tricksen die ganze Bande blitzsauber aus.« * »Glauben Sie wirklich, Sie könnten hier irgend jemanden aus‐ tricksen?« stellte derweil Marc Cram Chris Shanton eine Frage; beide hielten sich im Raumhafengebäude von Star City auf. »Jede Wette, daß Sie den Inhalt der Packung wieder einmal ›veredelt‹ haben. Al‐ kohol am frühen Morgen – mir dreht sich gleich der Magen um.« »Wo muß ich eigentlich hingehen, um dir in dieser Stadt nicht zu begegnen, mein Junge?« entgegnete Shanton knurrig und nahm ei‐ nen ordentlichen Schluck – aus einer Getränkepackung mit der Aufschrift Milch. »Mich trifft man in Star City überall an«, entgegnete Marc grin‐ send, »mal da, mal dort. Momentan hat man mich beauftragt, den Technikern bei der Arbeit auf der Plattform ein wenig zur Hand zu gehen.« »Ach, darfst du ihnen das Bier holen?« neckte ihn Shanton. »Zufälligerweise verfüge ich über einige technische Kenntnisse«, antwortete ihm der vielseitige Zivilangestellte. »Im übrigen würde ich niemals so tief sinken, Säufern den Alkohol bis an den Arbeits‐ platz zu tragen. Und daß Alkohol in Star City verboten ist, habe ich Ihnen nun schon mehr als einmal mitgeteilt.« Shanton hob kurz die Milchpackung an. »Es ist wirklich nur das drin, was draufsteht, ob du es glaubst oder nicht.« »Ist doch egal, was ich glaube. Tatsache ist, daß Sie eines Tages einem schweren Leberschaden erliegen werden.« »Schau an, medizinisch gebildet bist du auch.« »Ich gebrauche nur meinen gesunden Menschenverstand. Sollten Sie auch mal probieren, es tut überhaupt nicht weh.« Mit diesen Worten ließ Marc den korpulenten Ingenieur wie einen Schuljungen stehen und begab sich nach draußen auf die Plattform,
auf der hektisches Treiben herrschte. »Der Kerl hat eine verdammt freche Klappe«, sagte Shanton ärger‐ lich zu seinem vierbeinigen Dauerbegleiter. »Da wird einem glatt die Milch sauer.« »Wüßte ich nicht genau, daß du zum Kinderzeugen viel zu faul bist, könnte man den Jungen glatt für deinen Ableger halten«, erwi‐ derte Jimmy, dessen Metallklappe ebenfalls nicht ganz ohne war. »Ich finde es okay, daß er sich von dir nichts gefallen läßt.« »Nun mach aber mal einen Punkt!« regte sich Shanton auf. »Ich tu ihm doch gar nichts. Im Gegenteil, er ist derjenige, der ständig auf mir herumhackt.« »Du Ärmster«, spöttelte Jimmy. »Zu dumm, daß du es dem frechen Bürschchen nicht heimzahlen kannst, wie?« »Das werden wir ja sehen«, entgegnete Shanton, verließ das Ge‐ bäude und betrat ebenfalls die Plattform. Auf der gesamten riesigen Scheibe wurde hart gearbeitet, in einem Tempo, daß dem Ingenieur allein vom Anblick ganz schwummrig wurde. Offensichtlich hatte Farnham seine besten Leute mit dieser Aufgabe betraut – was kein Kunststück war, denn in der Schwarzen Garde gab es eh nur »beste Leute«. Auch Cram machte seine Sache sehr gut, wie Chris zugeben mußte. Mit flinken Fingern bewältigte der junge Angestellte ein paar schwierige Anschlußarbeiten, ohne sich ein einziges Mal dabei zu vertun. Als Marc Cram merkte, daß ihm jemand über die Schulter sah, drehte er sich kurz um. »Wollen Sie was lernen?« fragte er Shanton provozierend, obwohl er über dessen Genialität bestens informiert war; in technischer und wissenschaftlicher Hinsicht war Shanton so gut wie unschlagbar. »Nein, ich will dir nur auf die Finger sehen«, erwiderte Chris. »Sind Sie dazu überhaupt befähigt?« »Befähigt – und befugt! Ich verfüge nämlich auch über einige technische Kenntnisse, zufälligerweise. Aus diesem Grund hat man
Doorn und mir die Aufsicht über die Arbeiten übertragen. Und über die Arbeiter.« Der letzte Satz klang wie eine Drohung. Marc schluckte. Das konnte ja heiter werden… * Heather Sheridan und ihre Kameraleute gelangten problemlos in den militärischen Teil des Raumflughafens Cent Field –selbstverständlich nur, weil sie in Begleitung von Henner Trawis‐ heim, Ted Bulton und Terence Wallis waren. Die Reporterin hatte nicht ihr gewohntes Team bei sich, sondern eines, das ständig in Raumhafennähe auf der Lauer lag und dessen personelle Zusammenstellung laufend wechselte. Im Augenblick war ihr das egal, Hauptsache, sie konnte großartige Aufnahmen und spannende Interviews an Terra‐Press schicken. Das Gelände, auf das man sie führte, erstreckte sich so weit nach allen Seiten, daß man die äußere Abgrenzung nicht mehr sehen konnte. Es war wie geschaffen zum Landen und Starten von großen Raumschiffen – allerdings waren keine da. »Irre ich mich, oder befinden wir uns auf einem Raumhafen?« be‐ merkte Heather. »Wo sind die Schiffe?« »Die meisten befinden sich im All, wo sie hingehören«, antwortete der Marschall. »Einige stehen natürlich auch auf dem Raumhafen, aber anderswo. Diesen Bereich mußten wir aus besonderem Anlaß freimachen.« »Aus besonderem Anlaß?« wiederholte die Journalistin. »Sie ma‐ chen mich neugierig.« Sie schaute Terence Wallis an. »Willst du mir nicht wenigstens einen kleinen Tip geben?« »Nicht nötig«, erwiderte Wallis und streckte Arm und Zeigefinger aus. »Sieh mal nach dorthin.« Heather blickte gen Himmel und sah vier dunkle Punkte zwischen den Wolken, die allmählich näherkamen. Offensichtlich setzten vier
große Schiffe zur Landung an. War das schon der ganze »besondere Anlaß«? Bald darauf stellte die Reporterin fest, daß es sich um keine ge‐ wöhnlichen Schiffe handelte. Sie waren größer als groß und kreis‐ förmig und eigentlich viel zu platt für Raumschiffe… »Fliegende Scheiben«, entfuhr es. »Riesige fliegende Scheiben.« Mehr fiel ihr dazu nicht ein, so sehr faszinierte sie der Anblick. Die vier Ringraumer, welche die Plattformen aus Sicherheitsgründen begleiteten, nahm sie nur ganz nebenbei wahr. Eine einzige Plattform hatte bereits genügt, um es in Star City für kurze Zeit Nacht werden zu lassen (wovon Heather natürlich nichts wußte) – hier und jetzt landeten vier Exemplare von der gleichen Größe. Sie verdunkelten den Himmel so sehr, daß Trawisheim an‐ nähernd eine Vorstellung davon bekam, wie es nach dem Erlöschen der Sonne auf ganz Terra aussehen würde. Gemächlich, als hätten sie alle Zeit der Welt, senkten sich die Plattformen auf den Hafen von Alamo Gordo herab – wie riesige nachtschwarze Ungeheuer aus dem Weltall, die gekommen waren, um diesen Planeten unter sich zu begraben. Nacheinander setzten die kolossalen Scheiben auf dem Boden auf, was weniger Lärm ver‐ ursachte, als Heather geglaubt hatte. Sie und ihre Leute filmten, was das Zeug hielt. Dafür mußten sie ständig die Position wechseln. Mal lief die kleine Gruppe am Rand der Freifläche entlang, mal stand sie mitten darauf, um die Landung aus allernächster Nähe aufzunehmen. Mehrmals mußte Ted Bulton Sicherheitskräfte losschicken, um die Journalisten, die völlig aus dem Häuschen waren, aus der Gefahrenzone zu holen. »Die sind ja total verrückt!« schimpfte der Marschall. »Für ein bißchen Medienrummel riskieren die ihr Leben. Was nutzen ihnen ihre ach so tollen Nahaufnahmen, wenn sie von den Kolossen zer‐ quetscht werden?« »Erstklassige Aufnahmen zu schießen ist nun mal ihr Job«, ent‐ gegnete Wallis. »Schließlich schrecken auch Sie und Ihre Flottenan‐
gehörigen nicht vor der Lebensgefahr zurück, wenn der Job es von Ihnen verlangt.« »Das ist etwas anderes«, meinte Bulton. »Wir tun es für die Menschheit, nicht für reißerische Medienberichte.« »Auch Journalisten arbeiten für die Menschheit, schließlich hat die Bevölkerung ein Anrecht auf aktuelle Informationen.« Bulton bekam Wallis’ letzten Satz nicht mehr richtig mit. Er war damit beschäftigt, den Männern von der Flughafensicherung neue Befehle zu erteilen. Henner Trawisheim hingegen hatte jedes Wort deutlich ver‐ standen. »Bleichgesicht redet mit falscher Zunge«, raunte er Wallis zu – und gab ihm damit zu verstehen, daß er das mit dem »Häuptling« eben‐ falls mitbekommen hatte. Terence seufzte unhörbar. Entweder hatte der erste Mann Terras extrem gute Ohren – oder besonders gut versteckte Abhörgeräte. »Sie predigen die Informationsfreiheit und verhindern gleichzeitig, daß das Volk die volle Wahrheit erfährt«, fuhr Trawisheim fort. »Wie paßt das zusammen?« Wallis zuckte mit den Schultern. »Gar nicht, denke ich. Aber wo steht denn geschrieben, daß alles auf der Welt perfekt zu‐ sammenpassen muß? Manchmal ist man halt gezwungen, zwei ent‐ gegengesetzte Dinge gleichzeitig zu tun. Das hört sich nur scheinbar wie ein Widerspruch an…« Henner winkte ab. »Schon gut, ich weiß ja, was Sie meinen. Würde ich darüber nicht genauso denken, würde ich mich jetzt nicht zu Ihrem Komplizen machen.« So gegensätzlich wie beide Männer waren: Wenn sie am selben Strang zogen, erwiesen sie sich stets als ein gutes Team. * Nachdem die Plattformen gelandet waren, bekamen Heather und
ihre Kollegen die Erlaubnis, die Scheiben zu betreten, um auch dort Aufnahmen zu machen. Die Journalistin war ganz außer sich; so viel Entgegenkommen seitens des Militärs hatte sie nicht erwartet. Ganz offensichtlich hatte es seine Vorteile, mit einem mächtigen Mann wie Terence Wallis liiert zu sein… Um die vier Begleitraumer, die fern auf einer angrenzenden Frei‐ fläche landeten, kümmerte sie sich nicht. Selbst als weitere Ring‐ raumer und vereinzelte Ikosaederschiffe hinzukamen, schenkte sie dem kaum Beachtung. Derlei Landungen und Starts konnte sie jeden Tag filmen, das riß keinen Zuschauer mehr aus dem Sessel. Daher galt ihre volle Konzentration den außergewöhnlichen schwebenden Scheiben – wie Wallis und Trawisheim es beabsichtigt hatten. Terence Wallis hatte die Landung seiner Flotte von Eden ab‐ sichtlich mit der aufsehenerregenden Landung der vier Plattformen zusammengelegt, selbstverständlich mit Trawisheims Genehmi‐ gung. Achtzehn schwere Ikosaeder – darunter die mittlerweile voll‐ ständig reparierte ROBERT – und neunundvierzig brandneue Ovoid‐Ringraumer aus Carborit regneten auf Cent Field herab, nicht alle auf einmal, sondern nach und nach, sozusagen tropfenweise, damit ihr geballtes Auftauchen aus dem All nicht so auffiel. Obwohl sich eine der besten Reporterinnen von Terra‐Press mit einem Kamerateam in unmittelbarer Nähe der landenden Flotte aufhielt, wurden von diesem scheinbar belanglosen Ereignis keine Aufnahmen gemacht. Wenn überhaupt, geriet mal eines der Schiffe aus Versehen vor die Kamera, was keiner der Journalisten sonderlich beachtenswert fand. Wallis und Trawisheim hatten für genügend Ablenkung gesorgt. Oder ahnte Heather doch etwas? Ganz gegen ihre Art überließ sie die weitere Arbeit den Kameraleuten und stieg von der Plattform herunter. Henner und Terence schauten sich verdutzt an. War der Schwindel aufgeflogen? Heathers Worte ließen jedenfalls keinen Zweifel daran, daß ihr ir‐ gend etwas Ungewöhnliches aufgefallen war: »Ich möchte Sie jetzt
bitten, mir die volle Wahrheit zu sagen, Mister Trawisheim. Oder haben Sie wirklich geglaubt, ich würde mich mit den Aufnahmen von den Plattformen begnügen?« »Die volle Wahrheit?« stammelte der Commander der Planeten, der sich ertappt fühlte. »Wie… wie meinen Sie das, Miß Sheridan?« Heather deutete über die Plattformen hinweg auf eins von Wallis’ Ikosaederschiffen, das soeben zur Landung ansetzte. Der Multimilliardär stieß innerlich einen unfeinen Fluch aus. Of‐ fenbar hatten der Commander und er die schöne Journalistin unter‐ schätzt.
18. Heather deutete über die Plattformen hinweg auf eins von Wallis’ Ikosaederschiffen, das soeben zur Landung ansetzte. Genauge‐ nommen zeigte ihr Finger aber nicht auf das Schiff, sondern auf den Horizont – der Raumer geriet eher zufällig dazwischen und interes‐ sierte sie nicht im geringsten. »Das ist der ideale Hintergrund für ein Interview«, sagte sie zu Henner Trawisheim. »Ich schlage vor, Sie stellen sich auf die erste Plattform, und meine Kameraleute wählen einen Blickwinkel, der sowohl die drei übrigen Plattformen als auch den leicht bewölkten, etwas schneeverhangenen Himmel erfaßt. Sollten die Kameras zu‐ fällig ein startendes oder landendes Raumschiff mit einfangen, macht das die ganze Sache nur noch authentischer.« Trawisheim war erleichtert, zeigte es aber nicht. »Sie wollen ein Interview?« »Natürlich. Oder dachten Sie, ich gebe mich damit zufrieden, die riesigen Scheiben zu filmen? Man bekommt nicht alle Tage die Ge‐ legenheit, ein Gespräch mit dem Commander der Planeten zu füh‐ ren.« »In Ordnung«, erklärte sich Trawisheim einverstanden. »Ich be‐ antworte allerdings nur Fragen zum Sinn und Zweck der Plattfor‐ men. Versuchen Sie also erst gar nicht, mir Kommentare zu irgend‐ welchen brisanten politischen Themen zu entlocken, andernfalls breche ich das Interview auf der Stelle ab.« »Keine Sorge, ich bleibe beim Thema«, versicherte ihm die Repor‐ terin und winkte ihr Kamerateam heran. * Henner Trawisheim zog alle Register seines Könnens. Rede‐ gewandt berichtete er über das angebliche Vorhaben der terrani‐
schen Regierung, mit fünf unbemannten, technisch hochaufge‐ rüsteten »Forschungsplattformen« die Herkunft der fremden Robo‐ terschiffe zu erkunden. Mit der gleichen Eloquenz beantwortete er Heathers Fragen, wobei er nicht müde wurde, immer und immer wieder die »neue Qualität der Zusammenarbeit zwischen Terra und Eden« hervorzuheben. »Eden ist führend in der Verarbeitung des Werkstoffes Carborit, weshalb die Forschungsplattformen dort gebaut wurden. Auf der Erde werden sie nun mit terranischen Hightech‐Forschungsgeräten ausgerüstet. Plattform Nummer fünf wurde direkt zum Raumflug‐ hafen von Star City beordert, wo sie derzeit von den Wissenschaft‐ lern und Technikern der Schwarzen Garde mit allen notwendigen Apparaturen ausgestattet wird. Das geht natürlich nicht von heute auf morgen, so daß wir die vier übrigen Plattformen zunächst einmal auf Cent Field Zwischenlagern. Sobald die erste Plattform fertig be‐ stückt ist, tauschen wir sie gegen eine unfertige aus. Bis Ende Okto‐ ber müßten alle fünf einsatzbereit sein. Dann starten sie mit einer Handvoll Begleitraumer ins All.« »Vorhin erwähnten Sie, die Plattformen seien vollautomatisch von Eden nach Terra geflogen und auf Cent Field gelandet. Wozu wer‐ den dann überhaupt Begleitraumer benötigt?« »Auf Eden hatte man die Plattformen exakt auf das Ziel Terra, be‐ ziehungsweise Cent Field programmiert. Neue Ziele und neue Auf‐ gaben erfordern laufend neue Programmierungen, die von den Be‐ gleitraumern aus direkt vor Ort vorgenommen werden. Bei Bedarf kann man die Forschungsplattformen auch manuell steuern. Selbst auf dem vollautomatischen Flug von Eden zur Erde wurden Raum‐ schiffe mitgeschickt. Da man mit einem Schiff jeweils nur eine Scheibe steuern kann, befanden sich insgesamt fünf Raumer ein‐ satzbereit in der Nähe, um im Notfall die Koordination zu über‐ nehmen.« Heather beendete das Interview. Sie hatte, was sie wollte: eine plausible Story, die ihre Einschaltquoten schlagartig in die Höhe
treiben würde. Das Ganze mußte lediglich noch redaktionell bear‐ beitet werden, eine lästige Tätigkeit, die sie so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. Mit einem flüchtigen Kuß verabschiedete sie sich von Terence Wallis und eilte mit ihren Kameraleuten auf und davon. War’s das jetzt zwischen Terence und mir? fragte sie sich. Sie hatte bekommen, was sie wollte: eine Superstory. Und er? Er hatte ebenfalls das erhalten, worauf er ausgewesen war: sie. War damit ihre Romanze für immer und ewig beendet? War es überhaupt jemals eine echte Romanze gewesen? Auch Terence Wallis dachte an Heather. Er stellte sich die gleichen Fragen. Fragen, auf die er keine Antworten kannte. Ob ihre Bezie‐ hung von Dauer war, würde die Zeit zeigen… »Die Zeit?« murmelte Wallis und schaltete sein Vipho ein. »Nie‐ mand schreibt mir vor, was ich zu tun und zu lassen habe – schon gar nicht die Zeit!« Sekunden später lächelte Heather ihn auf dem kleinen Bildschirm an. Sie war gerade im Begriff gewesen, ihr Vipho einzuschalten und ihn zu kontaktieren. Beide verabredeten sich zum Abendessen. Zwischenzeitlich landete auf Cent Field das letzte Schiff der Flotte von Eden: General Jacksons THOMAS. * »Bist du zufrieden, Dicker?« fragte Jimmy seinen Erbauer, der mit schnellen Schritten das Raumflughafengebäude von Star City durchquerte, vorwurfsvoll. »Du hast den armen Kerl in einem fort herumgescheucht und wegen jeder Kleinigkeit zusam‐ mengestaucht.« Chris Shanton rieb sich schadenfroh die Hände. »Ja, das habe ich, und zwar mit wachsender Begeisterung. Das wird ihm eine Lehre sein. Noch mal redet Cram mich nicht dumm von der Seite an, wenn ich mir einen winzigen Schluck genehmige.«
»Mir tat der Junge leid«, entgegnete Jimmy. »Du hast ihn seelisch völlig zermürbt.« »Unsinn, du übertreibst«, meinte Shanton. »Ich habe ihm lediglich gezeigt, daß man sich mit mir nicht ungestraft anlegt. Auch dann nicht, wenn man gute Beziehungen zur obersten Etage der Garde hat. Was kümmert mich Marc Crams Verwandtschaft mit Oberst MacCormack? So etwas beeindruckt mich in keiner Weise. Ich gehöre weder der Terranischen Rotte noch der Schwarzen Garde an und muß mir deshalb nicht gleich ins Hemd machen, wenn einer daherkommt und mit seinen guten Verbindungen prahlt.« »Marc hat MacCormacks Namen nicht ein einziges Mal erwähnt«, stellte Jimmy richtig. »Daß er der Neffe von MacCormacks Frau ist, hat man dir in der Milkywaybar erzählt. Hast du schon mal über‐ prüft, ob das Gerücht überhaupt stimmt? Vielleicht hat man ihm seine guten Beziehungen zum Oberst nur angedichtet.« »Und wenn schon. Der Kleine hat sich mir gegenüber respektlos benommen, und ich habe ihm gezeigt, wer der Stärkere von uns beiden ist – damit ist der Fall für mich erledigt, wir sind quitt. Also versuche erst gar nicht, mir ein schlechtes Gewissen einzureden. Ich bedaure nichts.« Das stimmte nur zum Teil. Zeitweise war er sich vorgekommen wie ein wütender Elefant, der eine wehrlose kleine Maus zerstamp‐ fte, weil ihn ihr Piepsen störte. Ein Viphoanruf von Shantons Freund Arc Doorn hatte Crams »Qualen« schließlich beendet. Doorn war von Ren Dhark gebeten worden, an einer Besprechung im Konferenzraum des Flaggschiffs der Flotte von Eden teilzuneh‐ men, um über den Fortgang der Arbeiten an der Plattform Bericht zu erstatten. Konferenzen waren dem Worgunmutanten allerdings von jeher zuwider. »Ich kann jetzt nicht aus dem Labor weg«, hatte er zu Shanton ge‐ sagt. »Im übrigen bin ich kein großer Redner, wie du weißt. Du kannst den hohen Herrschaften unseren Standpunkt zum Projekt
›Technikschub‹ viel besser deutlich machen als ich; deshalb habe ich dem Commander mitgeteilt, daß du an meiner Stelle nach Cent Field kommst. Die Bauarbeiten auf der Plattform kann inzwischen irgen‐ dein Stellvertreter überwachen, schließlich müssen wir nicht überall persönlich anwesend sein. Ich werde dort später mal nach dem Rechten schauen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, hatte Arc Doorn die Verbindung unterbrochen. Es war alles gesagt – für einen schweigsamen Mann wie ihn war das bereits ein ellenlanger Monolog gewesen. Chris Shanton und Jimmy bestiegen ihren Schweber und machten sich auf den Weg nach Cent Field. An Marc Cram verschwendete der Ingenieur keinen Gedanken mehr. Aber noch war die Sache für ihn nicht ausgestanden… * Im Flaggschiff der Flotte von Eden hatten sich Ren Dhark, Terence Wallis, Henner Trawisheim, Marschall Theodore Bulton und General Thomas J. Jackson zu einer Besprechung zusammengesetzt. Bulton drückte seine Mißbilligung über den »Aufmarsch der Wal‐ lis‐Kriegsflotte« (Originalzitat des Marschalls) aus. Selbstverständ‐ lich hatte ihn Trawisheim vorab über die geplante Landung der Ikosaederraumer und Ovoid‐Ringraumer informiert – andernfalls wären die Schiffe schon im Weltall von der TF abgefangen worden –, doch Bulton war von Anfang an dagegen gewesen. Er betrachtete Eden als eine ganz normale außerirdische Macht und somit auch als ein ganz normales Sicherheitsrisiko. »Keiner anderen Planetenregierung hätten wir gestattet, derart viele Kriegsschiffe auf der Erde zu postieren«, beendete er seine Ausführungen. »Vergessen Sie nicht, daß die Bürger von Terra und die Bürger von Eden zum selben Volk gehören«, erwiderte Dhark. »Die Schiffe werden von Menschen geflogen, nicht von Aliens. Eden und Terra
sind verbündete Planeten.« »Trotzdem ist mir nicht wohl bei dem Gedanken, daß…« setzte Bulton zu einer mürrischen Erwiderung an, als er von Jacksons donnernder Stimme unterbrochen wurde. »Merke auf meine Worte, und neige dein Ohr meiner Rede!« Schlagartig war Bulton still. Alle schauten gespannt den General an, der sich zu Wallis hinüberneigte und kurz mit ihm flüsterte. Edens Staatschef nickte zustimmend. »Die Plattformen verfügen über keine Schutzschirme«, sagte Jack‐ son dann in die Runde. »Hätte man auf Eden welche konstruiert, hätte der Bau wesentlich länger gedauert. Es ist mit heftigen Ang‐ riffen der Roboterschiffe auf die Plattformen zu rechnen, eben des‐ halb sollten möglichst viele unserer Kriegsschiffe zum Schutz mitf‐ liegen. Im Klartext: Die Flotte von Eden ist zur Unterstützung der Terranischen Flotte gekommen und nicht zu einer Demonstration der Stärke. Zum Beweis unterstelle ich mich dem terranischen Oberkommando, sobald wir nach Proxima Centauri aufbrechen.« Bulton zog ungläubig die Stirn kraus. »Heißt das, Sie befolgen ausschließlich die Anweisungen der terranischen Regierung und nicht die von Mister Wallis?« Jackson nickte. »So soll es sein – für die gesamte Dauer des Ein‐ satzes. Übernehmen Sie das Einsatzkommando, Marschall? Ich habe vollstes Vertrauen in Ihre militärischen Fähigkeiten. Ein weiser Sohn ist seines Vaters Freude.« »Das hätte mal jemand meinem Vater sagen sollen«, brummelte Bulton. »Ständig hatte er was an meinen Schulnoten auszusetzen.« Er beugte sich zu Trawisheim hinüber und redete leise mit ihm. »Vertrauen gegen Vertrauen«, sagte der Marschall kurz darauf in normaler Lautstärke. »An der Aktion beteiligen sich vierhundert terranische Kampfraumer. Nach Absprache mit Terras Re‐ gierungschef unterstelle ich die Kommandanten unserer Schiffe Ih‐ rem Befehl, General. Sie werden den Einsatz leiten.« Jackson fühlte sich geschmeichelt, lehnte aber ab. »Für solch eine
lebenswichtige Mission kommt nur einer aus unserer Mitte als Flot‐ tenkommandeur in Frage. Ich schlage vor, das Kommando Ren Dhark zu übergeben.« »Eine sehr gute Idee!« meinte Bulton, der insgeheim mit diesem Vorschlag gerechnet hatte, schließlich wußte er, wie sehr Jackson den Commander der POINT OF bewunderte. »Augenblick mal, da habe ich wohl auch noch ein Wörtchen mit‐ zureden!« warf Dhark ein. »Ich gehöre nicht mehr dem Militär an, weder der Terranischen Flotte noch der Flotte von Eden, und ich habe nicht vor, mich wieder in die militärische Maschinerie einbin‐ den zu lassen. Selbstverständlich bin ich in Ausnahmefällen bereit zu helfen, wenn es in meiner Macht steht, aber allmählich werden derlei Ausnahmefälle zur Regel. Es ist eine Sache, die Menschheit gegen Angriffe aus dem All zu verteidigen und das Militär nach Kräften zu unterstützen – doch es ist eine andere Sache, die Gesamtleitung mi‐ litärischer Aktionen zu übernehmen.« »Wir brauchen Sie!« beschwor Bulton ihn. »Sie haben von uns allen die meiste Erfahrung mit außerirdischen Intelligenzen und deren Kampf Strategien. Niemand verlangt von Ihnen, daß Sie wieder in den Dienst der Rotte treten. Wir möchten Sie lediglich zum Flotten‐ kommandanten auf Zeit ernennen. Sie haben völlig freie Hand, we‐ der der General noch ich werden Ihnen reinreden. Wir nötigen uns Ihnen nicht einmal als Stellvertreter auf. Dafür ist Mister Riker viel besser geeignet, schließlich sind Sie beide ein perfekt aufeinander eingespieltes Team.« Ren Dhark fühlte sich wie in einer Fallgrube. Man würde ihn nur dann herausziehen, wenn er die Bedingungen derjenigen erfüllte, die ihn in die Grube gestoßen hatten. »Was gibt es da noch zu überlegen?« fragte ihn General Jackson. »Sie und Ihr legendärer Ringraumer gehören an die Spitze des Ge‐ schwaders. Die Schiffe beider Flotten können jeweils nur eine Platt‐ form steuern. Im Gegensatz zur POINT OF. Oder haben Sie Ihren einzigartigen Bordrechner mittlerweile ausgebaut?«
Dhark grinste. »Wohl kaum, das würde der sich auch gar nicht so ohne weiteres gefallen lassen. Sie haben recht, General, der Check‐ master ist als einziger in der Lage, alle fünf Raptor‐Plattformen gleichzeitig zu koordinieren – ein Argument, das mich überzeugt. Ich nehme die Herausforderung an.« * »… und bringen Sie mir einen Cognac, einen großen!« »Ein Glas Orangensaft würde dir besser bekommen, mein Dicker.« Noch bevor sich die Tür zum Konferenzraum geöffnet hatte, wußten die Anwesenden, wer gleich hereinkommen würde: Chris Shanton und sein »Brikett auf Beinen«. Shanton begrüßte alle mit Handschlag und ließ sich dann in einen extrabreiten Sessel fallen. »Saft, Milch und Wasser«, stöhnte er. »Andere Getränke kennt man in Star City offenbar nicht. Und zu allem Überfluß mußte ich mir auch noch oberlehrerhafte Ermahnungen vom Sohn eines Guttemp‐ lers anhören. Zum Glück bekam ich Gelegenheit, ihm seinen vor‐ lauten Mund zu stopfen.« »Geschunden hat er den armen Jungen«, behauptete Jimmy. »Der Dicke hat sich wie ein Tyrann aufgeführt.« »Ich habe ihm nur gezeigt, wie man schneller arbeitet«, entgegnete Chris grinsend. »Dabei geriet er ganz schön ins Schwitzen.« Einer der Leibwächter, die draußen im Vorzimmer Posten bezogen hatten, kam herein, mit einem Cognacschwenker in der Hand – gut gefüllt, denn er kannte Shantons Vorliebe für dieses Getränk. Trawisheim schüttelte amüsiert den Kopf. »Sie sind unmöglich, Mister Shanton. Die Männer vor der Tür sind kampfgeschulte GSO‐Mitarbeiter und kein Bedienungspersonal.« »Macht mir nichts aus«, sagte der Leibwächter. »Meine Mutter ar‐ beitet als Serviererin, das ist ein ehrbarer Beruf.« »Dann haben Sie sicherlich nichts dagegen, uns allen einen Kaffee
zuzubereiten«, meinte Henner. »Ist schon so gut wie fertig«, versprach ihm der breitschultrige Mann und verließ den Raum mit demselben diskreten Lächeln auf den Lippen, mit dem er ihn betreten hatte. »Mir sind diese lautlosen Muskelpakete immer irgendwie un‐ heimlich«, bemerkte Jackson in gedämpftem Tonfall. »Sie scheinen nicht einmal beim Gehen Geräusche zu verursachen. Und sie sind so… so austauschbar. Einer sieht wie der andere aus.« »So ist es auch beabsichtigt«, erwiderte Trawisheim. »Je weniger äußerliche Auffälligkeiten ein Leibwächter hat, um so besser kann er in der Masse untertauchen – beziehungsweise plötzlich und uner‐ wartet aus der Masse auftauchen, wenn die zu beschützende Person angegriffen wird.« Er wandte sich Shanton zu. »Wie kommen die Arbeiten voran?« »In Star City läuft die Aktion ›Technikschub‹ wie geschmiert«, antwortete der Ingenieur, der jetzt wie durch Zauberei ein leeres Glas in der Hand hielt. »Wenn wir das Tempo halten können, sind in zwei, drei Wochen alle fünf Raptorplattformen vollständig bestückt und einsatzbereit. Allerdings…« Shanton stockte, suchte nach den richtigen Worten. »Sprechen Sie«, forderte Ren Dhark ihn auf. »Doorn hat bereits angedeutet, daß Sie und er gegen den Plan sind. Mehr konnte ich leider nicht in Erfahrung bringen. Wir wissen ja alle, wie gesprächig Arc Doorn ist.« Shanton holte tief Luft und sagte dann: »Es stimmt, Arc und ich sind strikt gegen einen überstürzten Angriff auf den Klotz. Wir sind der Meinung, es müßten erst noch einige Bedenken ausgeräumt werden.« »Was für Bedenken?« fragte Marschall Bulton verwundert. »Wir haben alles gut durchgeplant.« »Eben nicht«, widersprach Shanton ihm. »Mal angenommen, es gelingt uns, den Schutzschirm um den Planeten mit dem Megaraptor zu knacken. Laut Plan landen dann zahlreiche Schiffe auf der Ober‐
fläche des Klotzes und suchen sie nach Installationen ab.« »So ist es«, bestätigte Bulton. »Die Schwarze Garde ist für solche Einsätze bestens ausgebildet. Man wird in einer Blitzoffensive alles vernichten, was auch nur annähernd nach technischen Anlagen aus‐ sieht. Auf diese Weise verhindern wir, daß der Schutzschirm gleich wieder aufgebaut werden kann. Wenn sich die Gelegenheit bietet, jagen wir auch noch ein paar Waffenfabriken in die Luft, um den Roboterschiffen die Aufrüstung zu erschweren. Wir ziehen eine Bahn der Verwüstung über den gesamten Planeten. Das klingt hart, aber wir haben keine andere Möglichkeit, uns zu wehren.« »Doorn und ich gehen davon aus, daß die Manipulation der beiden Sonnen höchstwahrscheinlich von einer Anlage gesteuert wird, die sich auf dem Klotz befindet«, warf Shanton ein. »Um so besser«, meinte der Marschall. »Wir zerstören sie, und das Problem ist erledigt. Keine Anlage – keine Manipulation mehr.« »Genau das ist der Punkt!« erwiderte Chris Shanton. »Es ist über‐ haupt nicht absehbar, was geschieht, wenn man diese Anlage kur‐ zerhand ausradiert. Das Schwarze Loch im Inneren von Sol könnte außer Kontrolle geraten – und dann sitzen wir erst recht ganz tief in der Tinte.« Schweigen breitete sich aus. Darüber hatte man sich bisher noch keine Gedanken gemacht. »Haben Sie einen besseren Plan?« fragte Trawisheim den In‐ genieur. Shanton schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Militärstratege. Ich habe lediglich den Finger auf die Wunde gelegt, um auf das Problem aufmerksam zu machen.« »Wir nehmen die Anlage ein und untersuchen sie gründlich«, schlug Bulton vor. »Möglicherweise finden wir einen Weg, um sie abzuschalten. Gott sei Dank sind die Männer der Garde nicht nur kampferprobte Soldaten, sondern gleichzeitig auch Techniker und Wissenschaftler.« Insgeheim fragte er sich, wie die Terranische Flotte früher ohne
diese Elitetruppe zurechtgekommen war. »Leider wissen wir nicht, wo genau sich die Anlage befindet«, entgegnete Dhark. »Wollen Sie den ganzen Planeten danach ab‐ suchen?« »Wenn es sein muß«, antwortete der Marschall grimmig. »Unsere Schiffe sind vollgestopft mit Meßgeräten aller Art. Es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn es uns nicht gelingt, eine Anlage von diesen Ausmaßen aufzuspüren. Wahrscheinlich ist es die größte auf dem Planeten. Um an einem Schwarzen Loch herumzudoktern, benötigt man mächtige Energieerzeuger – und die kann man anmessen.« General Jackson war der gleichen Ansicht. »Die Anlage zu finden, dürfte unser geringstes Problem sein. Aber um sie zu untersuchen, müssen wir erst einmal hineingelangen. Mit Sicherheit wird sie schwer bewacht. Ach Herr, wie sind meiner Feinde so viel und set‐ zen sich so viele wider mich!« * Als Chris Shanton nach Star City zurückkehrte, gönnte er sich erst einmal eine Mütze voll Schlaf. Am nächsten Morgen fühlte er sich frisch und ausgeruht, bereit für neue Schandtaten aller Art. Oberst Kenneth MacCormack rief ihn an und bat ihn in sein Büro. Shanton ahnte nichts Gutes. »Jetzt kriegst du dein Fett weg«, prophezeite ihm Jimmy. »Um was wollen wir wetten, daß Marc Cram dich beim Oberst angeschwärzt hat? Und weißt du womit? Mit Recht! Du hast deine Position des Stärkeren schamlos ausgenutzt, um dich an ihm für seine Sprü‐ cheklopferei zu rächen. Das war katzengemein von dir. Nun kriegst du deine Quittung. Ich kann es kaum erwarten, mitzuerleben, wie dich der Oberst zusammenfaltet.« »MacCormack kann mir gar nichts«, knurrte Shanton. »Und was dich angeht: Du bleibst hier.« »Das könnte dir so passen, Dicker. Denkst du, ich lasse mir diese
Schau entgehen? Der Oberst wird dich so kleinmachen, daß du hin‐ terher aufrecht unter dem Teppichboden Spazierengehen kannst.« Das Zimmer, das Shanton bewohnte, war mit einer verschließbaren Abstellkammer ausgestattet, für die der Ingenieur bislang noch keine sinnvolle Verwendung gefunden hatte. Endlich wußte er, was er darin abstellen und einschließen konnte… »Laß mich sofort raus!« zeterte Jimmy, nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. »Sonst rede ich nie wieder ein Wort mit dir!« »Kann ich mich fest darauf verlassen?« fragte sein Erbauer la‐ chend. »Oder sind das wieder nur leere Versprechungen?« Jimmy verlegte sich aufs Betteln. »Laß mich nicht allein! Ich fürchte mich im Dunkeln.« »Dann mach’s Licht an!« bemerkte Shanton trocken, kurz bevor er sein Zimmer verließ. * Kenneth MacCormack erhob sich hinter seinem Schreibtisch und reichte Chris Shanton die Hand. Dabei fiel ihm auf, daß ihn sein Besucher nicht anschaute, sondern auf den Boden blickte. »Suchen Sie etwas?« fragte der Oberst. »Nein, ich wollte nur Jimmy ermahnen, nicht so aufgeregt zwi‐ schen meinen Füßen herumzuwuseln«, antwortete Shanton. »Für einen Augenblick hatte ich glatt vergessen, daß er sich in… äh, in der Werkstatt befindet, zur Reparatur. Offensichtlich habe ich mich schon so sehr an seine ständige Nähe gewöhnt, daß ich ihn sogar dann sehe, wenn er gar nicht vorhanden ist.« »Sie beide sind wirklich ein außergewöhnliches Gespann«, ent‐ gegnete MacCormack lächelnd und öffnete eine seiner Schreibtisch‐ schubladen. »Sie trinken doch einen Cognac, oder?« »Aber hallo! Ich hätte nicht gedacht, daß Sie mir welchen anbieten würden. Star City kann man nicht gerade als Mekka für Cognac‐ liebhaber bezeichnen.«
»In der Schwarzen Garde wird nur selten Alkohol getrunken«, erwiderte der Oberst. »Das Zeug vernebelt die Sinne und beschädigt nachhaltig die Gehirnzellen. Betrunkene Soldaten wären kein gutes Aushängeschild für eine Elitetruppe.« Er schenkte Shanton ein und ließ die Flasche auf dem Tisch stehen. »Trinken Sie keinen mit?« fragte Chris. »Nicht im Dienst«, antwortete der trinkfeste MacCormack knapp. »Aber lassen Sie es sich trotzdem schmecken.« »Worauf Sie sich verlassen können«, sagte Shanton und kippte das Glas in einem Zug weg. »Warum haben Sie mich zu sich bestellt?« fragte er, während er sich ohne viel Federlesens das zweite ein‐ schenkte. »Es geht um Marc Cram, meinen Neffen«, erklärte MacCormack. »Na ja, genaugenommen ist es der Neffe meiner Frau, der Sohn ihrer verstorbenen Schwester Kathy, aber ich sehe mich halt als seinen Onkel. Marc hat sich Ihretwegen an mich gewandt, Mister Shanton.« »Wie ich es mir gedacht habe«, murmelte Chris. »Bitte? Ich habe Sie eben nicht richtig verstanden.« »Ich sagte: Wie der Zufall so spielt – ich lernte ihn bereits kennen.« »Ich weiß, er hat mir davon erzählt.« Na bitte, das Guttempler‐Söhnchen hat mich verpetzt, dachte Shanton. »Marc war ganz aus dem Häuschen, als er hörte, daß Sie nach Star City kommen würden«, fuhr Oberst MacCormack fort. »Schon als Kind hat er sich sehr für Sie und Ihre Arbeit interessiert. Die Errich‐ tung der Ast‐Stationen zählt für Marc zu Ihren wichtigsten Großta‐ ten.« Shanton glaubte, sich verhört zu haben. Der Junge bewunderte ihn? »Ich möchte mich nur ungern mit fremden Federn schmücken«, sagte er bescheiden. »Am Ast‐Projekt war mein Freund Arc Doorn maßgeblich beteiligt – von den vielen tausend Mitarbeitern ganz zu schweigen.« »Marc ist ein cleveres Bürschchen«, meinte der Oberst. »Leider
nicht clever genug, um in der Oberliga mitzuspielen. Obwohl er nicht dumm ist, hat er etliche Prüfungen in den Sand gesetzt, mög‐ licherweise aus Lampenfieber. Naja, immerhin hat er’s versucht, im Gegensatz zu manch anderen Möchtegernkarrieristen, die fortwäh‐ rend von ihren großen Zukunftschancen reden, aber nie an den Start gehen. Marc strampelt sich wenigstens ab.« Shanton konnte das gut nachvollziehen. »Der Junge rennt und rennt, und kurz vor Erreichen der Zielgeraden stellt ihm jemand ein Bein.« »Dieser Vergleich trifft es in etwa. Allerdings stellt ihm keiner ein Bein – er bringt sich meistens selber zu Fall. Immer, wenn er im Be‐ griff ist, einen allgemein anerkannten Erfolg zu verbuchen, steht er sich dabei selbst im Weg und gerät ins Stolpern. Bei Befragungen durch Prüfer starrt er Löcher in die Luft und stottert sich irgendwas zurecht. Im Endeffekt blieb ihm gar nichts anderes übrig, als sich autodidaktisch weiterzubilden. Die Offizierslaufbahn in der Schwarze Garde ist ihm ohne Doktorwürde versperrt, doch er ist überglücklich, daß er wenigstens als Zivilangestellter in Star City arbeiten darf. Ich persönlich unterstütze ihn dabei, wo immer ich kann – weil ich an ihn glaube.« »Und weil er Ihr Neffe ist.« »Dennoch würde ich mich nie für ihn stark machen, würde ich nicht an ihn glauben. Manchmal frage ich mich, ob sein Leben anders verlaufen wäre, wäre er in geordneteren Familienverhältnissen auf‐ gewachsen. Der Mann meiner Schwägerin…« »… gehörte dem Orden der Guttempler an«, ergänzte Shanton den Satz, ohne MacCormack ausreden zu lassen. »Ich kann mir gut vor‐ stellen, wie sehr Marc darunter gelitten hat, in einer derart sitten‐ strengen Familie aufzuwachsen.« Der Oberst schaute ihn fassungslos an. »Sittenstreng? Carl und Kathy Cram? Soll das ein Scherz sein? Falls ja, war es jedenfalls kein besonders guter.« »Ich verstehe nicht…«, stammelte Shanton.
»Die Schwester meiner Frau ist das schwarze Schaf der Familie«, klärte Kenneth MacCormack ihn auf. »Sie ist mehrfach vorbestraft und lebt mit irgendeinem ebenfalls zigmal vorbestraften Windbeutel in Australien zusammen. Marc kennt nicht einmal ihre Anschrift.« »Und sein Vater?« »Hat sich totgesoffen. Es war die typische Trinkerkarriere: Job weg, Freunde weg, Frau weg… er eröffnete ein Weinlokal und war selbst sein bester Gast. Die Folge waren mehrere vergebliche Entzie‐ hungskuren, schwere Leber‐ und Nierenschäden und ein qualvolles Dahinsiechen. Dies alles hat mein Neffe tapfer weggesteckt. Übli‐ cherweise fallen Kinder aus solchen Familien in ein tiefes Loch. Marc hat es jedoch geschafft, seinen Kopf über Wasser zu halten. Er beging keine Straftaten wie seine Mutter und wurde kein Trinker wie sein Vater. Der Junge raucht nicht mal. – Noch einen Cognac, Mister Shanton?« Chris lehnte dankend ab. »Ich denke, ich habe genug für heute – und für die nächsten Wochen; meine Arbeit erfordert volle Kon‐ zentration.« »Ich habe Sie hergebeten, um Sie zu bitten, meinen Neffen wäh‐ rend der Dauer Ihres Aufenthaltes in Star City ein wenig unter Ihre Fittiche zu nehmen«, ließ MacCormack nun die Katze aus dem Sack. »Ich hätte allerdings vollstes Verständnis, würden Sie mein Ansin‐ nen ablehnen.« »Ablehnen? Das würde er niemals tun«, vernahm Chris Shanton eine ihm wohlbekannte Roboterstimme. »Der Dicke ist ein herzens‐ guter Mensch, auch wenn man ihm das nicht ansieht.« Jimmy stolzierte fröhlich‐frech zur Tür herein. »Entschuldigen Sie bitte mein unangemeldetes Eindringen, Sir«, sagte er betont höflich zum Oberst. »Aber Ihre Bürotür war nur an‐ gelehnt. An den Wachen vor dem Gebäude kam ich problemlos vorbei. Es hat halt gewisse Vorteile, der bekannteste Hund des gan‐ zen Universums zu sein.« »Herzlich willkommen, Jimmy«, entgegnete MacCormack er‐
heitert. »Ich freue mich, daß du die Reparatur unbeschadet über‐ standen hast.« Jimmy zog aus seinen Worten umgehend die richtige Schluß‐ folgerung. »Ach ja, die Reparatur… die war nur halb so schlimm, ich habe mir die paar lockeren Schrauben selbst festgezogen. Dabei mußte ich mich allerdings ein bißchen verrenken, wodurch die Strahlenwaffe in meiner ausfahrbaren Metallzunge versehentlich aktiviert wurde.« »Laß mich raten«, sagte Shanton ärgerlich zu ihm. »Die Tür zur Abstellkammer war der Bahn des Energiestrahls zufällig im Weg.« »Ein reines Versehen«, versicherte ihm Jimmy, »wofür man mich juristisch nicht belangen kann.« MacCormack fragte erst gar nicht nach, was es damit auf sich hatte. Er ließ private Geheimnisse gern dort, wo sie hingehörten. Nur bei seinem Neffen machte er eine Ausnahme, weil er hoffte, Shantons Einfluß würde Marc guttun. »Wieso kommen Sie eigentlich ausgerechnet auf mich, Herr Gene‐ ralmajor?« erkundigte sich Chris Shanton. »Ich bin doch alles andere als ein gutes Vorbild für den Jungen. Ich schlafe viel zu lange, esse viel zuviel und saufe wie ein Pferd. Außerdem prügele ich mich ab und zu und habe sogar mal eine Frau niedergeschlagen.« »Mit Absicht?« »Um Gottes willen, nein! Ich habe bis heute nicht begriffen, wie das überhaupt passieren konnte! * Auf jeden Fall bin ich das schlechteste Vorbild für Ihren Neffen.« MacCormack lächelte. »Ihre Ehrlichkeit widerspricht Ihnen, und zwar ganz energisch, Mister Shanton. Zudem hat es sich längst überall herumgesprochen, daß Sie der Mann sind, der das verrückte Genie Robert Saam gezähmt hat. Sie haben also reichlich Erfahrung mit unreifen, aber intelligenten jungen Leuten.« Shanton hob abwehrend die Hände. »Ich ergebe mich, Sie haben *
Siehe Drakhon‐Zyklus Band 23, »Margun und Sola«
gewonnen! Einverstanden, ich kümmere mich um Ihren Marc. Diese Vereinbarung gilt jedoch nur solange, bis ich aus Star City weg bin. Vielleicht komme ich von unserem Einsatz im All nicht mehr zu‐ rück.« »Damit müssen wir alle rechnen«, erwiderte Kenneth Mac‐ Cormack. »Ich persönlich würde lieber daheim bleiben und meine Beine auf dem Sofa ausstrecken. Marc hingegen wäre überglücklich, würden wir ihn zu diesem Einsatz mitnehmen. So unterschiedlich sind halt die Bedürfnisse der Menschen.« »Das mit dem Beineausstrecken kommt meinen Bedürfnissen schon ziemlich nahe«, entgegnete Chris Shanton und stand auf. »Doch auf Dauer dürfte das ganz schön langweilig werden. Mal ehrlich, wie lange würden Sie es wirklich auf dem Sofa aushalten?« »Wahrscheinlich keine zwei, drei Stunden«, gab MacCormack zu. »Man träumt wohl immer von dem, was man gerade nicht hat. Wer einsam ist, sucht eine Frau, und wer verheiratet ist, sehnt sich nach seinen Junggesellenzeiten zurück. Wer arbeitslos ist, wünscht sich eine feste Beschäftigung, und wer in einem Beschäftigungsverhältnis steht, erhofft sich einen satten Lotteriegewinn, damit er seinem Chef endlich einmal kräftig in den Allerwertesten treten kann. Diese Bei‐ spiele könnte man stundenlang fortsetzen.« »Aber ohne mich«, sagte Shanton und reichte ihm die Hand. »Ich habe noch jede Menge zu tun. Komm, Jimmy!« * »Weißt du, wie ich mich fühle?« sagte Chris Shanton zu Jimmy auf dem Weg zur Plattformbaustelle. »Durch und durch mies!« »Das könnte daran liegen, daß du durch und durch mies bist«, er‐ widerte Jimmy mitleidlos. »Für deinen ganz speziellen Fan Marc muß eine Welt untergegangen sein, als er begriff, daß sein Idol Kratzer hat.« »Ich kann doch nichts dafür, daß er jahrelang eine völlig falsche
Vorstellung von mir hatte. Wer Personenkult betreibt, muß immer mit einer Enttäuschung rechnen, wenn er seinem ›Götzen‹ plötzlich Auge in Auge gegenübersteht. Mal sehen, ob ich das irgendwie wieder hinbiegen kann. – Was hat er sich eigentlich dabei gedacht, seinen verstorbenen Vater als Guttempler auszugeben?« »Ist doch klar, Dicker: Der Guttemplerorden hat es sich zur Auf‐ gabe gemacht, weltweit den Alkoholgenuß zu bekämpfen. Marcs Vater ist an unverantwortlichem Alkoholmißbrauch gestorben. Der Sohn schämt sich dafür und behauptet deshalb, sein Vater sei ein Guttempler gewesen.« »Klingt einleuchtend«, meinte Shanton. »Hast du heimlich ein Psychologieprogramm entwickelt?« »Auf diesem Gebiet war ich schon immer unübertrefflich«, erwi‐ derte Jimmy unbescheiden. »Was machen wir jetzt? Suchen wir Marc auf? Meinen Informationen nach wartet er heute im Schulungscenter einige technische Geräte.« »Nein, meine Arbeit hat Vorrang. Im übrigen halte ich es für bes‐ ser, dem Jungen erst einmal für ein paar Tage aus dem Weg zu gehen und etwas Gras über die vergangenen Ereignisse wachsen zu las‐ sen.« »Feigling. Hattest du dem Oberst nicht versprochen, dich ein biß‐ chen um seinen Neffen zu kümmern?« »Alles zu seiner Zeit«, sagte Chris Shanton. »Manche Dinge im Leben erledigen sich von ganz allein – wie in einem Buch: Man schlägt ein neues Kapitel auf, und von einem Augenblick zum an‐ deren sind sämtliche Schwierigkeiten ausgeräumt.«
19. Ende Oktober war Alamo Gordo total verschneit. Die »weiße Pracht« fiel unaufhörlich vom Himmel, so daß die neu angeschafften vollautomatischen Schneeräumfahrzeuge rund um die Uhr im Ein‐ satz waren. In engen Seitenstraßen oder allzu abgeschiedenen Au‐ ßenbezirken erfolgte die Räumung des Bürgersteigs allerdings noch wie zu Großmütterleins Zeiten: mit dem Besen – sprich: Man drückte seinem Haushaltsroboter den Besen in die Greifklaue und schickte ihn nach draußen. Auch auf Cent Field erinnerte man sich an vergangene Zeiten. »Kaum zu glauben, daß Schnee früher den gesamten Flugverkehr lahmgelegt haben soll«, bemerkte Marc Cram. »Ich kenne Flugzeuge zwar nur aus Geschichtsbüchern, aber nach allem, was ich darüber gelesen habe, war diese Art der Fortbewegung nicht nur recht um‐ ständlich und viel zu teuer, sondern auch ganz schön gefährlich. Die Maschinen sollen gleich dutzendweise abgestürzt sein.« »Manche Historiker neigen zu Übertreibungen«, erwiderte Chris Shanton. »Es trifft zu, daß Flugzeuge erst einmal tüchtig Anlauf nehmen mußten, bevor sie sich in die Luft erheben konnten. Auch beim Landen brauchten sie freie Bahn. War die Landebahn zuge‐ schneit, konnte es schon mal passieren, daß sie über dem Flughafen kreisten…« »… und abstürzten, weil ihnen das Benzin ausging.« »Unsinn, man konnte jedes Flugzeug problemlos in der Luft be‐ tanken. Die vielen Abstürze hatten unterschiedliche Ursachen – Kraftstoffmangel fiel dabei kaum ins Gewicht. Genaugenommen waren es gar nicht so viele Abstürze, statistisch gesehen. Aber über Tausende und Abertausende einwandfrei verlaufene Flüge lohnte es sich halt nicht zu berichten. Ein einziger Absturz hingegen rief wo‐ chenlang Zeitung, Rundfunk und Fernsehen auf den Plan, immerhin war solch ein Unglück mit vielen Toten verbunden – und Tote lieb‐
ten die damaligen Medien genauso wie die heutigen. Wen interes‐ sieren schon Hunderttausende von einwandfrei verlaufenden Flü‐ gen, bei denen die Passagiere heil und gesund an ihrem Reiseziel eintreffen?« »Also waren all die Toten nur halb so schlimm?« »Das habe ich nicht gesagt, Marc. Mit deiner Art, mir das Wort im Mund zu drehen, könntest du Politiker werden.« »Und mit deiner Art, die Dinge schönzureden, Chris, könntest du mein Pressesprecher werden.« »Ich soll ein Schönredner sein?« erregte sich der Ingenieur. »Ich sage nur, was ich denke – und daran werde ich auch nie etwas än‐ dern.« »Das ist auch gut so, deswegen wurde ich nämlich zu deinem Fan. Wegen deiner inneren Stärke, nicht wegen deiner charakterlichen Schwächen.« Shanton schüttelte fassungslos den Kopf. »Höchste Zeit, daß du deine Einstellung änderst. Wahre Fans akzeptieren nicht nur die Stärken ihrer Idole, sondern auch ihre Schwächen. Davon abgesehen halte ich Personenkult nach wie vor für albernes Gehabe. Jeder Mensch ist ein Individuum, deshalb finde ich es lächerlich, be‐ stimmte Individuen aufs Podest zu erheben und über die sogenannte breite Masse zu stellen.« »Genau aufgrund dieser Lebenseinstellung bewundere ich dich ja«, entgegnete Marc Cram. »Wärst du anders, wärst du nicht mein Idol.« »Und was ist, wenn ich gar nicht dein Idol sein will?« »Zu spät, du bist es bereits. Ich wünschte, ich wäre wie du. Wenn ich könnte, wie ich wollte, würde ich jetzt mit ins All fliegen, um die Menschheit zu retten. Leider muß ich mich damit abfinden, hier‐ zubleiben und mich damit zu begnügen, euch die Daumen zu drü‐ cken. Ihr seid Helden für mich, weil ihr euer Leben für andere ein‐ setzt und vor keinem Risiko zurückschreckt.« Marc Cram und Chris Shanton hielten sich im Raumhafengebäude von Cent Field auf, am Ausgang zum Flugfeld. Shanton war ab‐
flugbereit. Jimmy auch. Cram hingegen mußte auf der Erde bleiben. »Könnte ich mit dir tauschen…« sagte Shanton. »… würdest du dich trotzdem für den Flug ins All entscheiden«, unterbrach Marc ihn und lächelte. »Tatenloses Herumsitzen auf dem Raumhafen ist nicht dein Ding, dafür bist du viel zu kribbelig.« Shanton seufzte. »Offenbar kennst du mich tatsächlich besser als ich mich selbst. Es stimmt, ich würde ums Verrecken nicht auf der Erde bleiben, solange sie weiterhin in größter Gefahr schwebt.« Marc Cram wußte Bescheid über die Mission. Er hatte in Star City eine Vertrauensstellung inne, die ihn zur militärischen Ge‐ heimhaltung verpflichtete. Somit wußte er mehr über die fremden Roboterschiffe als der nichteingeweihte größte Teil der Menschheit. Marc und Chris waren in den zurückliegenden beiden Wochen recht gute Freunde geworden. Shanton hatte für sich behalten, was Oberst MacCormack ihm an‐ vertraut hatte, aber inzwischen hatte ihm Cram von sich aus seine wahre Familiengeschichte offenbart. Daß Shanton in Marcs Gegen‐ wart keinen Cognac mehr trank, hing allerdings nicht mit dessen harter Kindheit zusammen. Shanton hatte zeit seines Lebens acht‐ gegeben, daß Alkohol und Arbeit nicht miteinander kollidierten. Wenn es ihm abverlangt wurde, blieb er monatelang »trocken«, freiwillig, ohne jeden Druck. Der bevorstehende Angriff auf den Klotz war für ihn Grund genug, die Finger von der Flasche zu lassen. Schon bei den Abschlußvorbereitungen hatte er keinen Schluck Al‐ kohol mehr zu sich genommen – sein letztes Glas hatte er im Büro von Oberst MacCormack gekippt. Auf dem verschneiten Flughafen von Cent Field standen acht‐ undsechzig Schiffe der Flotte von Eden und vierhundert der Terra‐ nischen Flotte startbereit. Auch die fünf mit Megaraptoren bestück‐ ten Plattformen warteten nur noch auf das Startsignal. Das Flaggschiff des kampfstarken Verbandes war die POINT OF. Ren Dhark leitete den gesamten Einsatz. »Worauf warten die noch?« fragte Marc Cram. »Warum starten sie
nicht endlich?« »Ich vermute mal, daß zwei relativ unbedeutende Personen den ganzen Verkehr aufhalten«, erwiderte Shanton. »Ich bin eine davon. Bevor ich nicht an Bord gegangen bin, hebt die POINT OF nicht ab. Schließlich haben Arc Doorn und ich eine wichtige Aufgabe: die Koordinierung der Forschungsplattformen.« »Na, dann mach’s gut, mein Freund«, verabschiedete sich Cram von ihm. »Ich will Doorn und dich nicht unnötig aufhalten. Wo steckt er eigentlich?« »Arc befindet sich bereits auf der POINT OF. Dort wartet man nur noch auf mich.« »Und wer ist dann die zweite ›relativ unbedeutende Person‹?« »Dein Onkel Kenneth. Es wurde vereinbart, daß die Schwarze Garde als erstes startet. Offensichtlich ist MacCormack noch nicht soweit.« Chris Shanton nickte Cram noch mal kurz zu und begab sich dann ins Schiff. Marc wäre gern an seiner Seite mit ihm gegangen… * Oberst Kenneth MacCormack war stocksauer. Trawisheim und Bulton hatten ihm zugesichert, den Antrag von Generalmajor Farn‐ ham, der Schwarzen Garde endlich ein eigenes Schiff zu bewilligen, »wohlwollend« zu prüfen. Der heutige Einsatz schrie geradezu nach einem der vielen Ringraumer, die auf Terras Werften gebaut wurden – aber offenbar hatten die Verantwortlichen gemeinschaftlich be‐ schlossen, diese Schreie zu überhören. »Jetzt müssen wir sogar von Verbündeten mitgenommen werden!« schimpfte MacCormack, während seine Männer die ROBERT be‐ stiegen, die auf dem Raumhafen von Star City gelandet war. »Kann eine Elitetruppe wie unsere noch tiefer sinken?« »Wenn Ihnen und Ihrer erfolgsverwöhnten Mannschaft mein Schiff nicht gut genug ist, können Sie ja alle zu Fuß laufen«, erwiderte Ge‐
neralmajor Jakob Jensby grantig. »Beeilt euch, wir haben nicht ewig Zeit!« »Schlagen Sie gefälligst einen anderen Ton an!« brauste MacCor‐ mack auf. »Die Garde steht einzig und allein unter meinem Kom‐ mando, verstanden?« »Mag sein. Aber die ROBERT ist mein Raumschiff – und auf mei‐ nem Schiff habe ich das Sagen und sonst niemand!« »Die Einsatzleitung hat Ren Dhark. Er gehört der Terranischen Flotte an. Sie haben sich dem Commander der POINT OF unter‐ zuordnen, Herr Generalmajor.« »Dem Commander ja, aber nicht Ihnen, soweit kommt es noch! Im übrigen wurde Dhark nur zum Flottenkommandanten auf Zeit er‐ nannt. Sobald der Einsatz beendet ist…« Beide Männer stritten sich in der Zentrale der ROBERT – bis ihnen plötzlich bewußt wurde, was für ein schlechtes Beispiel sie für die anderen anwesenden Offiziere boten. MacCormack erinnerte sich an seine erste Begegnung mit dem Spanier Hector Elizondo, dem Kommandanten der HAMBURG. Captain Elizondo und er hatten lange gebraucht, bis sie sich zu‐ sammengerauft hatten. So viel Zeit hatten Jensby und er nicht… »Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte er versöhnlich zum Kommandanten seines »Leihschiffes«. »Wir tun einfach so, als wäre ich gerade erst hereingekommen. Wir beide sehen uns zum ersten‐ mal – und wir sind uns auf Anhieb sympathisch.« Jensby runzelte kurz die Stirn, dann sagte er: »Herzlich will‐ kommen in der Kommandozentrale der ROBERT, Herr Gene‐ ralmajor, ich freue mich, Sie kennenzulernen.« »Gleichfalls, Herr Generalmajor«, erwiderte MacCormack. »Danke, daß ich der Zentrale mitfliegen darf. Meine Jungs sind inzwischen komplett an Bord, so daß dem Start nichts mehr im Wege stehen dürfte.« Beide Männer zwangen sich zu einem Lächeln, das ziemlich gequ‐ ält wirkte. Immerhin hatten sie begriffen, daß kleinliches Kompe‐
tenzgerangel hier fehl am Platze war. Mit »meine Jungs« meinte Kenneth MacCormack die Schwarze Garde, unter anderem die »üblichen Verdächtigen« Kurt Buck, Jan‐ nis Kaunas, Wladimir Jaschin und Yo Ho. Natürlich war auch Julian Burns mit von der Partie; man hatte ihn inzwischen zum Oberfähn‐ rich befördert. Das Schicksal der gesamten Menschheit hing von der Schwarzen Garde ab. Sobald der Schutzschirm, der den Klotz umgab, zusam‐ mengebrochen war, würden die Gardisten zum Einsatz kommen – als schnelle Eingreiftruppe, wie sie es gewohnt waren. An eines durften sie jetzt allerdings nicht denken: Die Rückkehr nach Star City würde manch einer von ihnen nicht mehr erleben… Jensby gab den Startbefehl. Der Ikosaederraumer erhob sich ma‐ jestätisch zum Himmel empor. Für die vierhundert terranischen Ringraumer und die Schiffe von Eden war der Start der ROBERT das Zeichen zum allgemeinen Auf‐ bruch. In einer vorab festgelegten Reihenfolge schwebten sie in die Höhe – eine mächtige Einheit von großen, waffenstarrenden, furcht‐ einflößenden Kampfraumern, deren Anblick beeindruckend und beängstigend zugleich war. Die bestückten Plattformen hatten sie in ihre Mitte genommen. Sie schützten sie wie eine Glucke ihre Eier. Die Rotte sammelte sich im All. Dort ging sie in Transition. Ihr Ziel: Proxima Centauri. * … müssen wir zu unserem größten Bedauern den Tod von Ron Newton, geboren am 02.01.2010, und Mike Newton, geboren am 10.10.2033, be‐ kanntgeben. Wir fühlen mit den Angehörigen, denen es hoffentlich ein Trost ist zu wissen, daß beide Männer in Erfüllung ihrer Pflicht ums Leben kamen – als die Menschheit einer ihrer gefährlichsten Bedrohungen gegenüber‐ stand. Doreen Newton legte das leicht zerknitterte Schreiben, auf das sie
schon so viele Tränen geweint hatte, zurück in die Schublade mit ihren persönlichen Unterlagen. Absender war das Oberkommando der Terranischen Flotte, unterschrieben hatte es Marschall Theodore Bulton. Doreen bezweifelte, daß sich Bulton den Text vor der Un‐ terzeichnung gründlich durchgelesen hatte. Wozu auch? Damals, nach dem großen Grako‐Angriff am 24. August 2058, waren viele hundert solcher fast gleichlautenden Mitteilungen verschickt wor‐ den. Nach dem Tod ihres Ehemannes und ihres ältesten Sohnes war ihr nur noch Mikes jüngerer Bruder geblieben. Auch er hatte Soldat werden wollen, der Familientradition folgend, aber sie hatte ihn beschworen, nicht zur Flotte zu gehen… Ihr Sohn hatte schließlich nachgegeben. Damit er nicht doch noch in Versuchung geriet, sich bei der TF zu bewerben, war sie später mit ihm nach Eden umgezogen. Ein schwerer Fehler, denn Terence Wal‐ lis hatte tatkräftige Menschen zum Aufbau einer eigenen Armee gesucht, zur Verteidigung seines Staates. Doreen Newtons einziger Sohn, das letzte Mitglied ihrer Familie, hatte nicht länger widerste‐ hen können… Mittlerweile war er knapp 25 Jahre alt – wie sein Bruder, als der ums Leben kam –, und er flog auf einem der neuen Ikosaederraumer aus Carborit. Daß es sich dabei um eines der sichersten Raumschiffe der Flotte von Eden handelte, tröstete seine Mutter nur wenig. Sie hatte Angst, daß ihr auch von ihrem Jüngsten nichts weiter bleiben würde als ein lapidares Schreiben – und eine posthum verliehene Medaille, die bestenfalls Blechwert hatte. Den Text des Beileidsschreibens der TF konnte man bei der Flotte von Eden gleich übernehmen, denn wieder einmal stand die Menschheit einer ihrer gefährlichsten Bedrohungen gegenüber. Würde das jemals anders sein? Doreen Newton haßte den Krieg! Sie wußte aber auch, daß es keine andere Möglichkeit gab, als die fremden Roboterschiffe im Weltall zu bekämpfen; andernfalls wür‐ den sie über die Erde herfallen.
Ihr Sohn hatte sich vom Raumflughafen aus per Vipho gemeldet, einen Tag vor dem Abflug. »Mach dir keine Sorgen«, hatte er zu ihr gesagt. »Wir ziehen dies‐ mal nicht in den Kampf. Es handelt sich um eine vergleichsweise harmlose Forschungsmission.« Sie hatte ihm kein Wort geglaubt. »Du weißt mehr, als du mir sagen darfst, nicht wahr?« hatte sie ihm vorgehalten. »Wie gefährlich ist das Ganze wirklich?« Selbstverständlich war Newton junior über Sinn und Zweck der »Forschungsmission« genauestens informiert, aber auch im familiä‐ ren Umfeld durfte er nicht gegen seine militärische Ge‐ heimhaltungspflicht verstoßen; das hätte für ihn dieselben Kon‐ sequenzen gehabt wie auf der Erde. »Wir werden jede Konfrontation mit den Roboterschiffen vermei‐ den«, hatte er seiner Mutter wider besseres Wissen versichert. »Es sei denn, sie greifen uns an, sobald wir bei Proxima Centauri eintreffen. Aber das halte ich für sehr unwahrscheinlich, nachdem sie bei der letzten Auseinandersetzung den kürzeren gezogen haben.« * Die Terra‐Eden‐Flotte wurde angegriffen, kaum daß sie bei Pro‐ xima Centauri aus dem Hyperraum trat. Rund dreihundert Robo‐ terschiffe jagten heran und nahmen die unerwünschten Eindring‐ linge sofort unter Beschuß. Die Ringraumer und Ikosaederraumer erwiderten das Feuer mit aller Macht. Ren Dharks Schiff hielt sich weitgehend aus den Kämpfen heraus, schließlich hatte die POINT OF genügend damit zu tun, die Platt‐ formen mit den Megaraptoren zu steuern und zu beschützen. Die meisten der besonders widerstandsfähigen Eden‐Ringraumer hatte er ebenfalls zum Schutz der Raptor‐Scheiben abkommandiert. Dadurch wurden die Angreifer erst richtig auf die Plattformen aufmerksam. Sie konnten sich wohl denken, daß es damit etwas
Besonderes auf sich haben mußte, wenn man derartige Schutz‐ maßnahmen ergriff. Nunmehr gingen die Roboterschiffe gezielt ge‐ gen die Plattformen vor. Das konnte Dhark unmöglich zulassen. »Ihr habt es nicht anders gewollt«, murmelte er und gab allen Schiffen den Befehl, Hy‐Kon gegen die Roboterschiffe einzusetzen – obwohl er diese Waffe haßte. »Na endlich!« bemerkte der frischgebackene Ortungsoffizier der SARAM, einem Ikosaederschiff aus der Flotte von Eden. »Ich dachte schon, Dhark würde diesen Befehl niemals geben.« »Reißen Sie sich am Riemen, Leutnant Newton!« ermahnte ihn der Erste Offizier Wolfram Waldtorf. »Es steht Ihnen nicht zu, die Ent‐ scheidungen unseres Flottenkommandanten zu kommentieren.« Der Kommandant räusperte sich. Major Celentano war zwar sizilianischer Abstammung, sein Tem‐ perament hielt sich jedoch in Grenzen. Er legte größten Wert auf Harmonie innerhalb seiner Mannschaft und ging daher persönlichen Auseinandersetzungen mit seinen Untergebenen möglichst aus dem Weg. Zudem fiel es ihm unheimlich schwer, Entscheidungen zu treffen, weshalb genaugenommen sein I.O. das Sagen auf der SARAM hatte. »Wolf« war mehr als nur der Ratgeber und Stellvert‐ reter des Majors, er war der eigentliche Chef. (Mittlerweile hatte auch Terence Wallis gemerkt, daß er mit Celentano einen Fehlgriff getan hatte, und er plante, ihn auf einen ruhigen Schreibtischposten zu versetzen.) Im Gegensatz zum Major ging der befehlshabende Offizier an der Waffensteuerung voll und ganz in seinem Job auf. Privat war der polnische Oberleutnant Kosatzki ein friedliebender Kerl, aber wenn es darum ging, die Menschheit vor ihren Feinden zu schützen, kannte er kein Erbarmen. »Leutnant Newton hat völlig recht«, ergriff er für Lester Newton Partei. »Mit Hy‐Kon fegen wir die abartigen Maschinen in Null Komma nichts aus dem All. Ich kann es kaum erwarten, sie reihen‐
weise ins Nirgendwo zu befördern.« Auf allen Schiffen der Verteidiger wurde eine der übelsten Waffen eingesetzt, die es in der Galaxis gab. Abgesehen davon, daß ihr Ein‐ satz sehr energieintensiv war, mußte man vorsichtig damit agieren, um nicht die eigenen Raumer in die Hölle zu schicken. Und dann geschah das, was Ren Dhark insgeheim bereits be‐ fürchtet hatte… * »Sie… sie sind immun gegen Hy‐Kon«, stammelte Oberleutnant Kosatzki fassungslos. »Dummes Zeug!« erwiderte der Erste Offizier. »Niemand ist im‐ mun gegen diese Waffe. Aber man kann sich auf sie vorbereiten – und genau das haben diese fliegenden Schrotthaufen in den ver‐ gangenen Wochen getan. Sie haben ihre Schwerkraftgeneratoren so umgebaut, daß sie die Masse der Schiffe erhöhen können, ausrei‐ chend, um gegen Hy‐Kon gefeit zu sein. Die Roboterschiffe sind häßlich – aber nicht dumm.« Als ob sie ihm widersprechen wollten, setzten die Angreifer nun den Schwarzen Strahl ein, eine gemeine, dem Hy‐Kon eng ver‐ wandte Waffe, die den Terranern im Kampf gegen die Grakos schwer zugesetzt hatte – weshalb sie sich längst dagegen gewappnet hatten, ebenfalls mittels Masseerhöhung. Den Roboterschiffen hätte das eigentlich bekannt sein müssen, dennoch probierten sie es wie‐ der, natürlich ohne Erfolg. »Unentschieden«, meinte Lester Newton. »Welche Taktik wenden wir nun an?« Darüber beriet man sich auch auf der POINT OF – kurz und schmerzlos, denn für lange Diskussionen war im Kampfgetümmel keine Zeit. Artus setzte sich durch. Er empfahl, ja, er drängte Ren Dhark geradezu, einzelne Roboterschiffe abzusondern und mit konzentriertem Beschuß total zu vernichten.
»Nur weil Hy‐Kon versagt hat, müssen wir doch zwangsläufig nicht auf andere altbewährte Methoden verzichten, Dhark! Wir sind denen zahlenmäßig überlegen, das ist unsere große Chance.« Der Commander zögerte keine Sekunde länger und gab die ent‐ sprechenden Befehle. Den Schutz der Megaraptor‐Plattformen dünnte er etwas aus, um mehr Raumer für die Jagd auf die Robo‐ terschiffe zur Verfügung zu haben. Obwohl den fliegenden Monsterrechnern bewußt war, was ihre Gegner vorhatten, kamen sie nicht dagegen an. Die Ringraumer und Ikosaeder bildeten kleinere Einheiten, die einzelne Roboterschiffe einkreisten und unter Dauerbeschuß nahmen. Schiffe, die den Ein‐ gekesselten zu Hilfe kommen wollten, wurden von den übrigen gegnerischen Raumern in Kämpfe verwickelt, so daß sie gezwungen waren, sich selbst zu verteidigen und nötigenfalls in Sicherheit zu bringen… Auf diese Weise büßte »das Volk«, wie sich die Roboter nannten, acht seiner bizarren Raumer ein. Sie hatten acht Totalverluste. Acht von ihnen fanden den »Tod«, welche Bedeutung dieses Wort für sie auch immer haben mochte. »Sie ziehen sich zurück!« jubelte der junge Ortungsoffizier auf der SARAM. »Wir haben sie besiegt!« »Freuen Sie sich nicht zu früh, Leutnant«, unkte der Kommandant. »So schnell geben die nicht auf. Wahrscheinlich lecken sie sich auf dem Klotz erst einmal ihre Wunden, beraten sich untereinander, und dann gehen sie erneut zum Angriff über.« Die Karoschirme der Roboterschiffe verschmolzen mit dem plane‐ tenumspannenden Gigantschirm. Die Flüchtenden brachten sich dahinter in Sicherheit. Hier konnte man ihnen nichts mehr anhaben. »Könnten auch wir einfach so durch den Schirm schweben, wäre unser Auftrag ein Kinderspiel«, meinte Oberleutnant Kosatzki. »Dieses Biest muß doch irgendwie zu knacken…« »Um Gottes willen!« rief Lester Newton dazwischen. »Es sind nicht alle hinter den Schutzschirm geflohen! Vier Schiffe befinden sich
noch auf dieser Seite des Schirms!« »Die schnappen wir uns!« erwiderte Waldtorf, dessen Uniform erst ein einziger läppischer Orden zierte. »Wo sind…?« Die Frage blieb ihm im Hals stecken, als er auf die Anzeigen blickte. Die vier Roboterschiffe, die Newton ausgemacht hatte, um‐ zingelten die SARAM. Ein terranischer Ringraumer, die WALKING, jagte heran, um den Verbündeten zu helfen. Schon wenige Augenblicke später bereute dessen ungarischer Kommandant seinen Wagemut, denn die vier Schiffe wandten sich jetzt ihm zu. Der Ikosaederraumer war eine härtere Nuß als der Ringraumer, weshalb sich die bizarren Riesen‐ roboter für die leichtere Beute entschieden… * Minuten zuvor: »Da stimmt was nicht«, argwöhnte Ren Dhark. »Die haben ir‐ gendeine Schweinerei vor!« »Sie bereiten ihre Flucht vor«, meinte Tino Grappa. »Kein Wunder, immerhin haben wir acht von ihnen erledigt.« »Eine Fluchtformation sieht anders aus«, entgegnete Dan Riker. »Die Roboterschiffe fliegen durcheinander wie aufgeregte Vögel.« »Das ist kein Durcheinander«, widersprach Dhark. »Sie wollen uns verwirren, uns von irgend etwas ablenken.« Als die fliegenden Großrechner kurz darauf mit dem Planeten‐ schutzschirm verschmolzen und dahinter verschwanden, griente Grappa triumphierend. Das Grinsen erstarb ihm schlagartig, als er sah, daß Dhark mit seinem Kämpferinstinkt richtig gelegen hatte. Die scheinbar kopflosen Flugmanöver hatten tatsächlich der Ab‐ lenkung gedient. Vier Roboterschiffe hatten sich in dem Getümmel unbemerkt abgesondert und kreisten nun die SARAM ein. Offen‐ sichtlich wollten sie auf der Flucht wenigstens noch ein gegnerisches Schiff zerstören.
Die WALKING unter dem Kommando von Colonel Csardez hielt sich am nächsten bei der SARAM auf. Ohne lange nachzudenken, ging er auf den Feind los, wobei er ein regelrechtes Strahlengewitter abfeuerte. Und plötzlich befand er sich selbst in Bedrängnis… Drei der Roboterschiffe nahmen die WALKING mit Komp‐ ri‐Nadelstrahlen unter Beschuß. Das vierte Schiff gab ihnen so gut es ging Feuerschutz, indem es gegnerische Raumer am Näherkommen hinderte. Die SARAM leistete der WALKING umgehend Schützenhilfe, aber es war bereits zu spät. Der terranische Ringraumer wurde schwer beschädigt. Die vier Roboterschiffe suchten schleunigst das Weite und brachten sich auf dem Klotz in Sicherheit. Auf der WALKING gab es Tote und Verletzte. Roboter löschten Brände. Maschinen fielen aus. Das Notsystem schaltete sich ein. Es herrschte helle Aufregung, aber niemand verfiel in Panik, jeder wußte, was er in einer solchen Situation zu tun hatte. Rettungsaktionen wurden eingeleitet. Über Transmitter und mit‐ tels Flash wurden die Überlebenden evakuiert und auf mehrere Schiffe verteilt. Colonel Csardez kam auf der SARAM unter. Als hoher Offizier durfte er in der Kommandozentrale mitfliegen, sich aber nirgends einmischen. * Für Ren Dhark gab es keinen Grund, sich an den Rettungs‐ maßnahmen zu beteiligen. Die ganze Aktion lief ab wie am Schnür‐ chen, ohne sein Hinzutun. Das war auch gut so, denn auf der POINT OF hatte man eine schwierige Aufgabe zu bewältigen – die wohl schwierigste auf dieser Mission. Die fünf Raptorplattformen an die richtige Stelle zu plazieren, er‐ forderte viel Konzentration. Die Männer an den Steuerungs‐ und
Meßgeräten leisteten Präzisionsarbeit. Roboterschiffe ließen sich vorerst keine mehr blicken, aber Dhark war fest davon überzeugt, daß sämtliche Vorgänge im All vom Klotz aus genauestens beo‐ bachtet wurden. »Bis die merken, was wir vorhaben, ist ihr Monsterschirm nur noch ein schwach flackerndes Lichtlein«, meinte Chris Shanton, der sich mit Arc Doorn in der Zentrale aufhielt. Doorn war weniger zuversichtlich. Zwar hatten sie das Szenario in den Labors wieder und wieder durchgespielt, doch es gab einen bedeutsamen Unterschied zwischen den Simulatoren und der Wirk‐ lichkeit, nämlich den, daß die Wirklichkeit wirklich war. Die Stunde Null war gekommen. Der Checkmaster fuhr die ge‐ waltigen Maschinen auf der Unterseite der Plattformen hoch… Über modifizierten Hyperrichtfunk wurde die Sonne Proxima Centauri angezapft. Unmengen von Energien, die kein normales Raumschiff hätte aufnehmen können, strömten in die auf den Platt‐ formen befindlichen Anlagen, wo sie wie begierig aufgesaugt wur‐ den. Und dann erwachten die Mammut‐Raptoren auf den Oberseiten der Scheiben plötzlich zum Leben!!! Von außen konnte man ihnen nichts ansehen, und im luftleeren Raum war auch nicht das kleinste Geräusch zu hören – aber die auf der POINT OF angemessenen Werte sprachen für sich: Dort draußen blähten sich mächtige, kampfbereite Ungeheuer auf, fauchende Be‐ stien, die Ausschau hielten nach einem ebenso mächtigen Gegner, mit dem sich messen konnten. »Jackson würde jetzt sagen: Und es wurde Licht!« bemerkte Dhark zufrieden. Denn nun wurden die Bestien losgelassen: Unbändige Ener‐ giemassen schössen aus den gigantischen Raptoren und belegten den Schutzschirm um den Klotz mit flirrenden Strahlen. Augen‐ blicklich zeigte der Schirm sein Karomuster, das den bevorstehenden Zusammenbruch ankündigte.
»Es geht zu leicht«, brummte Arc Doorn. »Viel zu leicht.« »Dir kann man es aber auch nie recht machen«, entgegnete Chris Shanton. »Wäre es schwieriger, würdest du dich auch beschweren.« »Etwas mehr Skepsis würde dir ebenfalls nichts schaden, du trinkfreudige Frohnatur«, konnte sich Jimmy einen Kommentar nicht verkneifen. Auf den Plattformen vollzog sich jetzt ein Umkehrprozeß. Das Abzapfen der Sonnenenergie wurde beendet – statt dessen wurde Energie nach Proxima Centauri abgestrahlt. Vereinfacht ausged‐ rückt: Die Sonne bekam wieder zurück, was man sich von ihr »aus‐ geliehen« hatte. Immer stärker setzten die Raptoren dem Karoschirm um den Klotz zu. Der Zusammenbruch war nur noch eine Frage der Zeit. Auf dem Planeten hatte man offenbar erkannt, welche Gefahr von den Plattformen ausging. Alle auf dem Klotz stationierten Roboter‐ schiffe starteten zu einem konzentrierten Vorstoß ins All. Gut vier‐ hundert Bizarraumer »schmolzen« sich durch den Schirm und hiel‐ ten direkt auf die Raptorplattformen zu.
20. Mehr als vierhundert bizarr wirkende Roboterschiffe hatten sich zu einer geballten Macht formiert, zu einer starken, schlagkräftigen Einheit, fest entschlossen, sich durch nichts und niemanden aufhal‐ ten zu lassen. Ren Dhark war allerdings weder ein Nichts noch ein Niemand, sondern ein geschickter Stratege, der den Pulk von allen Seiten angreifen ließ und ihn auseinandersprengte. Der Erfolg dieser Aktion war nur von kurzer Dauer. Jedes einzelne, versprengte Roboterschiff hielt weiterhin stur auf die Plattformen zu. Für die fliegenden Großrechner ging es um alles oder nichts, des‐ halb verfolgten sie verbissen ihr Ziel, ohne Rücksicht auf ihre eigene Existenz, wie es schien. »Die Kamikaze‐Methode«, murmelte Dhark, der an der Bildkugel sämtliche Feindbewegungen sowie die Flugmanöver der eigenen Flottenschiffe konzentriert mitverfolgte. »Das bezweifle ich«, widersprach Dan Riker. »Kamikazeflieger opferten ihr Leben für einen ›heldenhaften Märtyrertod‹. Mit dem Heldentum scheint es bei den Großrechnern jedoch nicht weit her zu sein, nach allem, was Artus uns berichtet hat.« »Die Großrechnerschiffe hängen an ihrem Dasein«, bestätigte ihm der Roboter. »Gemessen an der durchschnittlichen Lebenserwartung der Menschen sind sie, so wie ich, relativ unsterblich. Ab und zu wird mal ein technisches Ersatzteil fällig, doch dank ihrer Arbeits‐ roboter stellt das kein großes Problem dar. Selbst größere Beschädi‐ gungen führen nicht zwangsläufig zum Auslöschen der Existenz. Nur wenn der im Schiffsleib installierte Rechner selbst stark beschä‐ digt ist, wird es kritisch.« »Sie haben also Angst um ihre Existenz«, resümierte Dhark, und er klang fast erleichtert. »Gut so. Wer sich fürchtet, ist auch angreifbar.« Die Raumschiffe des Terra‐Eden‐Flottenverbands stellten sich den Roboterschiffen entgegen und ließen sie nicht auf Schußweite an die
Plattformen herankommen. Dabei gruppierte Dhark die Flotte so, daß es die Angreifer immer mit einer Übermacht zu tun hatten, gleich wie viele Haken sie auch schlugen. Da beide Parteien geschickte Ausweichmanöver flogen, erfolgten die ersten Treffer erst relativ spät – die hatten es dann aber in sich! Die Roboterschiffe wurden auf altbewährte Weise von mehreren Seiten unter Feuer genommen. Gegen ein solch massives Energie‐ bombardement hatten sie keine Chance. Jeder Einschlag setzte den Großrechnern schwer zu, aber es war immer der letzte, der ihr wie auch immer geartetes Leben auslöschte. Einhundert der bizarren Kampfraumer wurden komplett zerstört. Leider waren auch sechzehn terranische Schiffe und ihre Be‐ satzungen nicht mehr zu retten. Niemand hörte ihre Todesschreie. Nach jedem erfolgten Volltreffer leuchtete es im tiefschwarzen Wel‐ tall farbenprächtig auf, so als ob gerade etwas ganz Wundervolles geschehen sei. Eine kleine Sonne wurde geboren – die Sekunden später aber für immer verlosch, mit allem, was einst in ihr gelebt hatte. Der Tod hatte viele trügerische Gesichter. Die Besatzungen der Ikosaederraumer und der Ovoid‐Ringraumer Edens fühlten sich dank ihrer Carborithüllen relativ sicher, nahezu unangreifbar – bis einer ihrer Ringraumer als Folge eines massiven Kompri‐Nadelbeschusses in einer gewaltigen lautlosen Explosion verging. Eines der dafür verantwortlichen Roboterschiffe war zu nahe dran und wurde schwer beschädigt. Schon vor der Explosion hatte es wie eine eingedrückte Konservendose ausgesehen, jetzt hatte es die Druckwelle noch mehr zusammengequetscht, und überall klafften scharfkantige Risse. »Sofort komplett vernichten!« ordnete Dhark an. »Wozu soll das gut sein?« flüsterte Doorn Shanton zu. »Das Schiff hat so viel abgekriegt, daß es uns nicht mehr gefährlich werden kann.« Er irrte sich. Ein angeschossenes Roboterschiff war wie ein ver‐
wundetes Tier: unberechenbar. * Der Großrechner im Inneren des zerquetschten, aufgerissenen Bi‐ zarrschiffs fühlte, daß er nur noch kurze Zeit existieren würde. In seinen letzten Augenblicken wünschte er sich nur noch eins: Rache! Rache an denen, die er für die Auslöschung seines langen Daseins verantwortlich machte. Ich hasse diesen minderwertigen Biomüll! fluchte er lautlos in sich hi‐ nein und wandte noch mal all seine Energien auf, um zu den Platt‐ formen zu gelangen. An Bord der SARAM wurde man auf das beschädigte »Kamika‐ ze‐Schiff« aufmerksam. Colonel Csardez erkannte es wieder: Es war jener Roboterraumer, der den drei Schiffen, die seine WALKING auf dem Gewissen hatten, Feuerschutz gegeben hatte. »Verfolgung aufnehmen!« ordnete Major Celentano an. »Verpas‐ sen wir ihm den Gnadenschuß – und zwar schnell, bevor es sein Ziel erreicht.« »Geht klar«, versprach ihm Oberleutnant Kosatzki. »Das zerbeulte Ding entwischt mir nicht.« Lester Newton verfolgte die Jagd auf seinem Ortungsbildschirm mit. Sekunden später war das fremde Schiff verschwunden. Ein Volltreffer hatte es komplett ausgelöscht. »Gut gemacht, Kosatzki«, lobte der Erste Offizier Waldtorf den Mann an der Waffensteuerung. »Gar nichts habe ich gemacht«, erklärte der Oberleutnant. »Die POINT OF ist mir zuvorgekommen. Das war ein Volltreffer, wie er im Buche steht. Dabei war Dharks Schiff viel weiter von dem Robo‐ terraumer entfernt als ich.« *
Die Großrechnerschiffe mußten akzeptieren, daß sie gegen die gegnerische Flotte keine Chance hatten, zumindest nicht im offenen Kampf. Mehr als hundert Schiffe hatten sie verloren, während ihr Gegner nur 17 Einheiten eingebüßt hatte – bis auf den einen Carbo‐ rit‐Ringraumer lauter terranische Schiffe. Um nicht noch mehr Ver‐ luste wegstecken zu müssen, entschlossen sie sich zur Flucht. In einer weichen Transition entfernten sie sich aus diesem System. Ihr Austrittspunkt war selbst mit den neuen Sprungpeilern nicht anmeßbar. Offensichtlich befand er sich außerhalb der Reichweite von 300 Lichtjahren. Noch immer widerstand der Karoschirm um den Klotz den Me‐ garaptoren. In der Theorie hätte er schon längst zusammenbrechen müssen, doch die Praxis sah anders aus. Doorn und Shanton arbeiteten mit Hochdruck an dem Problem. Sie stellten fest, daß vom Klotz aus ebenfalls die Sonne angezapft wurde. Proxima Centauri versorgte sowohl die Raptoren als auch den Rie‐ senschirm mit Energie. »Also ein klares Unentschieden«, konstatierte Dhark, nachdem man ihn über den Stand der Dinge unterrichtet hatte. »Nicht zwangsläufig«, meinte Shanton. »Wir könnten trotzdem die Stärkeren sein.« »Wir könnten?« warf Doorn ein. »Wir sind die Stärkeren!« Wie zum Beweis brach der Monsterschirm endlich zusammen… Eine halbe Sekunde später baute er sich jedoch wieder auf. »Er spielt mit uns«, bemerkte Tino Grappa. »Er?« fragte Dan Riker stirnrunzelnd. »Wir haben es hier mit kei‐ nem lebenden Wesen zu tun.« »Bist du dir da so sicher?« entgegnete Dhark mit einem Au‐ genzwinkern. »Dieses Energiebündel erscheint mir doch sehr leben‐ dig.« Er ordnete den Einsatz von Flash an, um die Oberfläche zu er‐ kunden. »Fliegen Sie dicht an den Schirm heran, ohne sich selbst zu gefährden«, wies er die Piloten an. »Sobald der Schirm erneut zu‐
sammenbricht, nehmen Sie so viele Messungen vor, wie Sie nur können.« »Geben Sie auch mir einen Flash, Commander«, bat Chris Shanton. »Ich möchte so nahe wie möglich am Geschehen sein.« Arc Doorn schloß sich seiner Bitte an. Natürlich wollte auch Jimmy mit, doch das wurde ihm von Shanton untersagt – aus Platzgründen. »Ich bin so winzig, mich nimmst du doch kaum wahr«, bettelte der Roboterhund. »Im übrigen könnte ich eigene Messungen anstellen.« »Das ist eine gute Idee«, meinte Ren Dhark, der viel von Jimmys Fähigkeiten hielt. »Schaden kann es jedenfalls nichts; je mehr Daten wir sammeln, um so größer ist unsere Chance, die Station ausfindig zu machen, die die Sonne anzapft und den Schirm mit Energie ver‐ sorgt.« Auch Artus bot seine Mithilfe an, doch Dhark fand, er sei an Bord der POINT OF besser aufgehoben. »Deine Aufgabe ist es, die Ikosaederraumer in eine günstige Posi‐ tion zu bringen«, erklärte ihm der Commander. »Sobald wir he‐ rausgefunden haben, wo genau auf dem Planeten sich unser Ziel befindet, benötigen wir die geballte Feuerkraft der achtzehn Schiffe, um den Energiezapf er für den Schirm ein für allemal zu vernichten. Das muß innerhalb der kurzen Zeit geschehen, die der Schirm braucht, um sich wieder aufzubauen, also zieh die Ikosaederflotte nicht zu sehr auseinander.« »Wie soll ich die Raumer günstig positionieren, wenn ich nicht weiß, wo sich voraussichtlich das Ziel befindet?« fragte Artus. »Ebendeshalb habe ich dich damit beauftragt«, erwiderte Dhark, der von Artus’ Potential mehr als nur überzeugt war. »Stell ein paar Wahrscheinlichkeitsrechnungen an oder sonstwas – du machst das schon. Ich habe vollstes Vertrauen zu dir.« * Doorn und Shanton bekamen Protter und Scott als Piloten zu‐
geteilt. Zusammen mit vier weiteren Flash, die ebenfalls mit je zwei Personen besetzt waren, näherten sie sich dem Klotz. Mittlerweile war der Schirm bereits ein zweites Mal »eingeknickt«, hatte sich aber innerhalb kürzester Zeit erneut aufgebaut. Nun wartete man auf den nächsten Zusammenbruch. Die Megaraptoren leisteten gute Arbeit, doch das Knacken des Schutzschirms war kein leichtes Unterfangen – schließlich bezog er seine Stärke aus derselben unerschöpflichen Energiequelle wie die Raptoren. Der Fixstern Proxima Centauri veranstaltete sozusagen ein Tauziehen gegen sich selbst, und das konnte er weder verlieren noch gewinnen. Jeder Flash suchte sich eine geeignete Ausgangsposition für die bevorstehenden Messungen. Als der Karoschirm sein bekanntes Muster zeigte und zu flackern begann, wußten die Flashpiloten, daß er gleich zum drittenmal entkräftet in sich zusammensinken wür‐ de… »Seid ihr alle bereit?« fragte Doorns Pilot Protter die fünf anderen Piloten. »Bereit!« erhielt er sechsmal zur Antwort – aus Scotts Flash wurde ihm zweimal geantwortet, da Jimmy unbedingt seinen Senf dazu‐ geben mußte. Für eine knappe halbe Sekunde wurde der Monsterschirm durch‐ lässig. In dieser kurzen Zeitspanne arbeiteten sämtliche Meßgeräte in den Flash auf Hochtouren… * »Mit den paar Meßergebnissen können wir verdammt wenig an‐ fangen!« schimpfte Chris Shanton. »Wir sollten beim nächsten Aus‐ fall abtauchen und unsere Nachforschungen direkt auf dem Planeten fortsetzen. Oder sehen deine Messungen besser aus als meine, Arc? Das würde mich wundern.« Die kurze Zeitspanne, die ihm zur Verfügung gestanden hatte,
hatte hinten und vorn nicht ausgereicht. Arc Doorn, mit dem er ständig in Funkverbindung stand, konnte ebenfalls keine nen‐ nenswerten Erfolge verzeichnen. »Wir müssen weiter runter«, teilte er Shantons Meinung. »Von hier aus erfassen wir den Sonnenzapfer nie! Jedenfalls nicht mit hun‐ dertprozentiger Genauigkeit. Die brauchen wir aber, oder sollen wir Edens Ikosaeder auf gut Glück auf irgendwas schießen lassen?« »Mit den bisherigen Daten können wir kaum was anfangen – die‐ ser Meinung ist sogar Jimmy, der mir sonst dauernd widerspricht. Ich gehe davon aus, daß es sich bei der Schutzschirmstation um eine Riesenanlage handelt. Aber die Anlage, die für das langsame Sterben unserer Sonne verantwortlich ist, dürfte mit Sicherheit auch kein Winzling sein. Wie sollen wir beides voneinander unterscheiden, ohne uns an Ort und Stelle zu orientieren? Eine Verwechslung könnte fatale Folgen haben.« Und wieder einmal verlosch der Schutzschirm um den Klotz für einen begrenzten Zeitraum. »Jetzt oder nie!« rief Shanton und jagte mit seinem Flash auf die Planetenoberfläche zu. »Kommst du mit, Arc?« Arc Doorn antwortete ihm nicht – er saß in jenem Flash, der noch vor Shantons Flash auf den Klotz niederraste. Die Piloten Scott und Protter protestierten nicht, sie waren nur die Befehlsempfänger ihrer prominenten Passagiere. Shanton und Doorn konnten zahlreiche technische Einrichtungen auf der Planetenoberfläche anmessen, wesentlich mehr, als es ihnen aus der Ferne möglich gewesen war. Aus nächster Nähe erfaßten sie mit ihren hochempfindlichen Geräten sogar Energieemissionen, die unter Tarnglocken lagen und die sie deshalb bisher gar nicht wahr‐ genommen hatten. Der Schirm um den Klotz schloß sich wieder – so als ob hinter ih‐ nen jemand die Tür zumachte. »Hoffentlich gelingt es den Raptoren noch mal, ihn in die Knie zu zwingen«, sagte Shanton. »Ansonsten sitzen wir auf dem Klotz fest – bis dessen Bewohner zurückkommen,
um sich an ihren Gegnern zu rächen.« »Was glaubst du wohl, warum Dhark keinem Raumschiff erlaubt hat, den Schirm zu passieren?« entgegnete Doorn. »Die Gefahr, hier für immer eingeschlossen zu werden, ist viel zu groß. Zum Glück hat er uns den Vorstoß ins Ungewisse nicht verboten.« »Wie auch? Wir haben ihn ja gar nicht gefragt.« »Aus gutem Grund. Er hätte die Landung auf dem Klotz nie er‐ laubt.« »Wir landen doch gar nicht«, mischte sich Jimmy ein. »Wir über‐ fliegen den Planeten lediglich, auf der Suche nach der Schirmstation. So gesehen verstoßen wir gegen keine Anweisung.« »Du hättest Anwalt werden sollen, spitzfindig wie du bist«, erwi‐ derte Shanton sarkastisch. »Wir brauchten jetzt keinen Anwalt, sondern einen Funkexperten«, sagte Arly Scott. »Der wüßte vielleicht, wie wir mit den anderen Verbindung aufnehmen könnten. Augenblicklich sind wir vom Rest des Flottenverbandes abgeschnitten. Ich fange nicht das winzigste Signal auf und kann auch keines aussenden.« Larry Protter ging es genauso. »Sobald der Schirm erneut zusammenbricht, haben wir wieder Kontakt«, war Shanton überzeugt. »Unter Garantie!« bestätigte sein Pilot. »Weil ich nämlich umge‐ hend ins Weltall zurückkehre, sobald mir der Monsterschirm nicht mehr den Weg versperrt. Es war der pure Leichtsinn, ohne geeignete Sicherheitsmaßnahmen und ohne Absprache mit dem Commander auf die Planetenoberfläche herabzufliegen. Ich schätze, das bringt uns noch einen Haufen Ärger ein.« Shanton versprach ihm, bei der nächstbesten Gelegenheit den Klotz wieder zu verlassen. »Bis dahin versuchen wir allerdings, die Schirmstation mitsamt dem Sonnenzapfer aufzuspüren«, ordnete er an. Er konnte es Scott nicht verdenken, daß der so schnell wie möglich von hier weg wollte.
Dieser Planet sah aus wie ein Friedhof für Schrottmonster. Man hatte das Gefühl, jeden Moment würden sich all die Metallteile, die weiträumig über den Klotz verstreut waren, miteinander verbinden und sich gegen die unerwünschten Eindringlinge erheben. Sogar einige Gebäude sahen aus wie Metallungeheuer. * Dank ihrer Meßgeräte gelang es Shanton und Doorn nach einiger Zeit, jene monströse Anlage ausfindig zu machen, die den Schutz‐ schirm mit Sonnenenergie versorgte. Sie verglichen ihre Daten und hatten keinen Zweifel, am richtigen Ort zu sein. Beide Flash umkreisten die riesige Station. Schmale, hohe Bau‐ werke, die Fabrikschornsteinen ähnelten, reckten sich dem Schutz‐ schirm entgegen, schienen ihn fast zu berühren. Zu Füßen der me‐ tallenen »Schornsteine« erstreckten sich niedrige Gebäude, die an fensterlose Baracken eines Kriegsgefangenenlagers erinnerten. Ihre systemlose Anordnung konnte man bestenfalls als Zickzackstil be‐ zeichnen. Dazwischen standen Meiler, Aggregate und Strahlenge‐ schütze – beziehungsweise unbekannte technische Anlagen, die wie Meiler, Aggregate und Strahlengeschütze aussahen. »Nehmen wir das Gelände unter Beschuß?« fragte Arc seinen Freund Chris. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit leistete sich der Worgun einen kleinen Scherz – denn ernstgemeint war seine Frage mit Si‐ cherheit nicht. Mit den Bordwaffen hätten die Flashpiloten die gi‐ gantische Sonnenzapfanlage kaum angekratzt. Der Vergleich mit einer in die Wüste kackenden Fliege lag auf der Hand. Hier mußten Wuchtkanonen her, und zwar nicht zu knapp. Plötzlich jagten zwei Strahlenbahnen auf die beiden Flash zu. Ausgangspunkt waren die geschützähnlichen Maschinen, die un‐ geordnet übers gesamte Gelände verstreut waren. Offensichtlich hatte die Ankunft der Flash eine automatische Alarmanlage ausge‐
löst. »Wir scheinen in der ›Schutzschirmfabrik‹ nicht willkommen zu sein«, sagte Shanton. »Vielleicht verlangen die Arbeitsroboter mehr Lohn und halten uns für Streikbrecher«, entgegnete Doorn. »Arc, mein Freund, du versetzt mich in Erstaunen! Das war jetzt der zweite Scherz innerhalb weniger Minuten. Willst du etwa Jimmy Konkurrenz machen?« Sogar die Flashpiloten mußten lachen. Anlaß zur Sorge hatten sie nicht. Ihre Ausweichmanöver waren nur Routine. Erst als sich immer mehr Bodengeschütze auf sie ausrichteten, ge‐ rieten sie in Bedrängnis. Man entschied sich für den Rückzug. Kaum waren die Flash weit genug weg, wurde der Angriff auf sie eingestellt. Auf beiden Bordrechnern hatte man die Standortdaten genaues‐ tens abgespeichert. Mehr konnten die vier Männer mit Hund au‐ genblicklich nicht tun. Alles weitere war jetzt Sache der mächtigen Raumschiffe, die auf der anderen Seite des Schirms Position bezogen hatten. »Zu dumm, daß wir Dhark nicht erreichen können!« schimpfte Doorn. »Bereiten Sie einen Blitzfunkspruch vor, Protter. Sobald der nächste Schirmzusammenbruch erfolgt, senden Sie sämtliche erfor‐ derlichen Daten direkt an die POINT OF, damit der Beschuß der Schirmstation erfolgen kann, noch bevor sich der Schirm erneut aufbaut.« »Wozu die Eile?« fragte Shanton. »Auf ein paar Minuten oder Stunden kommt es jetzt nicht mehr an. Sobald sich der Schirm öffnet, fliegen wir hinaus ins All und erstatten dem Commander in aller Ruhe Bericht. Artus kann dann die Ikosaederraumer an geeigneter Stelle zusammenziehen, und dann…« »Und dann lauert ihr alle fieberhaft auf den nächsten Schirm‐ crash«, unterbrach ihn Jimmy. »Du bist wahrlich ein Gemütsmensch, mein Dicker. Für dich scheint der Schutzschirm nichts weiter zu sein
als ein Tor, das in schöner Regelmäßigkeit auf‐ und zugeht. Schon mal daran gedacht, daß die Megaraptoren versagen könnten? Oder daß die Roboterschiffe mit Verstärkung zurückkommen? Vielleicht gibt es nur noch eine einzige, letzte Chance, die Schirmstation zu zerstören. Und die willst du verpassen?« »Jimmy hat recht«, schloß sich Arc Doorn den Ausführungen des Roboterhundes an. »Eile mit Weile ist hier völlig fehl am Platz.« »Wie auch immer, solange der Schirm den Planeten umschließt, können wir nichts weiter tun, als uns auf die Suche nach der zweiten Anlage zu begeben, die verantwortlich ist für die Manipulation an Sol.« * Der Klotz war recht groß, aber Shanton und Doorn waren ja nicht zu Fuß unterwegs. Die Meßgeräte in ihren Beibooten suchten den Planeten unablässig nach Besonderheiten ab – und nach starken Energieemissionen. Schon bald stießen die vier Männer auf einen Maschinenpark, der mindestens zehnmal so groß war wie das Gelände, auf dem sich der Sonnenzapfer befand, der den Schirm mit Energie versorgte. Shan‐ ton und Doorn hatten keinen Zweifel daran, daß von hier aus das Schwarze Loch im Inneren von Sol beeinflußt wurde. Eine genauere Erkundung ließ die automatische Überwa‐ chungsanlage nicht zu. Kaum näherten sich die beiden Flash dem Komplex, wurden sie unter massiven Strahlenbeschuß genommen. Die Intervallfelder bewahrten die Boote vor dem Schlimmsten. Da aber mit dem Einsatz von Kompri‐Nadel zu rechnen war, drehten die Piloten vorsichtshalber bei. Auch in diesem Fall wurden die Standortdaten abgespeichert, da‐ mit die Schwarze Garde wußte, wo sie zu landen hatte. »Die Anlage einzunehmen dürfte ein hartes Stück Arbeit für die Jungs werden«, sagte Shanton. »Und wenn sie drinnen sind, wird es
noch härter, weil sie dann herausfinden müssen, welche Auswir‐ kungen eine totale Vernichtung der Anlage auf das Schwarze Loch, beziehungsweise unsere Sonne haben könnte.« »Die Gardisten packen das schon«, war Doorn überzeugt. »Sind sie erst einmal auf dem Gelände, finden sie garantiert Mittel und Wege, die Maschinen abzuschalten.« »Heute versetzt du mich laufend in Erstaunen«, erwiderte Chris Shanton. »Erst machst du einen Scherz – ach nein, sogar zwei –, und jetzt entpuppst du dich als verkappter Optimist.« »Ich habe halt Vertrauen in die Schwarze Garde, schließlich haben sämtliche Gardisten die beste nur erdenkliche Ausbildung genos‐ sen«, entgegnete Doorn. »Mit Optimismus hat das nichts zu tun.« Der Tonfall, mit dem er das Wort »Optimismus« aussprach, ließ darauf schließen, daß er es als eine Art Beschimpfung empfand, wenn man ihn als Optimist bezeichnete. Die beiden benehmen sich wie ein altes Ehepaar, dachte Protter. Offenbar sind sie schon sehr lange miteinander befreundet und werden einander immer ähnlicher. Er hütete sich, seine Gedanken laut zu äußern – weil er befürchtete, daß Doorn ihn dann aus dem Flash stieß. * Im Weltall tobte weiterhin ein lautloser Kampf: Megaraptoren ge‐ gen Großrechnertechnik. Der letzte Schirmzusammenbruch lag be‐ reits eine geraume Weile zurück. Ren Dhark befürchtete, daß der Schirm den Raptoren dauerhaft widerstehen könnte. »Vielleicht finden Shanton und Doorn ja eine Möglichkeit, ihn vom Planeten aus zu deaktivieren«, überlegte Dan Riker laut. »Zutrauen würde ich es ihnen.« Dhark hielt das für ausgeschlossen. »Die Großrechnerschiffe haben mit Sicherheit Vorsorge getroffen.« Artus teilte seine Meinung. »Ich schätze, es werden sofort rigorose
Maßnahmen ergriffen, sobald sich Unbefugte der Schirmstation nä‐ hern. Außerdem wimmelt es auf dem Gelände bestimmt von schwerbewaffneten herkömmlichen Wachrobotern.« Ren Dhark zerbrach sich den Kopf, wie er seinen verschollenen Besatzungsmitgliedern helfen könnte. Er haßte es, wenn ihm die Hände gebunden waren, aber in diesem Fall konnte er nichts weiter tun als warten. Warten auf das Erlöschen des Schutzschirms. Warten auf die Rückkehr seiner Männer. Warten auf den nächsten Angriff der Roboterschiffe. Ohne Vorwarnung wendete sich das Blatt. Unter dem hartnäckigen Raptoransturm erlitt der Schirm um den Klotz einen weiteren Kol‐ laps. Danach ging alles ganz schnell. Die beiden Flash schossen mit ra‐ santer Geschwindigkeit ins All. Gleichzeitig schickte Doorn seinen vorbereiteten Funkspruch an die POINT OF und gab ihr den Stand‐ ort der Schirmstation bekannt. Artus handelte wie eine Präzisionsmaschine (die er ja auch war). Eilends sandte er neue Befehle an die Kommandanten der Ikosae‐ derraumer aus und versetzte sie in die jeweils günstigste Schußposi‐ tion. Dank seiner guten Vorarbeit nahm die Koordination nur wenig Zeit in Anspruch. Ihm kam zugute, daß der Schirm diesmal wesentlich länger brauchte, um sich wieder aufzubauen. »Vielleicht schafft er es ja gar nicht mehr, auf die Beine zu kom‐ men«, äußerte sich der Ortungsoffizier hoffnungsvoll. »Worauf du dich verlassen kannst!« erwiderte Artus. »Dafür wer‐ de ich schon sorgen.« Die achtzehn Schiffe feuerten ihre Wuchtkanonen beinahe gleich‐ zeitig ab. Ein Volltreffer nach dem anderen schlug in der Sonnen‐ zapferstation ein… Auf der ROBERT wurde jeder Einschlag lautstark bejubelt. Die Gardisten konnten es kaum erwarten, auf dem Klotz zu landen und ihrem Job nachzugehen. In Raumschiffen kamen sie sich mitunter
wie Gefangene vor. Erst wenn ihr Fuß den Boden eines fremden Planeten berührte, fühlten sie sich wirklich frei. Auf dem Klotz gab es eine mörderische Explosion. Fast zeitgleich löste sich ein mächtiger Energieblitz aus der Sonne und schlug kra‐ chend auf dem Gelände der Schirmstation ein. Die gesamte Anlage wurde regelrecht von ihrem Standort weggefegt. Darüber hinaus richtete der Blitz kilometerweit schwere Zerstörungen an. Riesige Gebäude und Maschinen waren von einem Moment auf den anderen nicht mehr da – sie zerschmolzen in der glühenden Hitze. Weiter außerhalb des Einschlagortes knickten stählerne Bauwerke wie Kar‐ tenhäuser ein. Anderswo verschwanden ganze Maschinenparks in gigantisch breiten Bodenrissen. Die größte technische Anlage auf dem Planeten blieb weitgehend unversehrt – jene Anlage, die vermutlich nur für einen Zweck er‐ richtet worden war: um die Sonne Sol zum Erlöschen zu bringen. * Während auf dem Klotz nur Gebäude, Straßen und leblose Ma‐ schinen zerstört wurden, brachte der Sonnenblitz im Weltall mehr‐ fach den Tod. Drei der Ikosaederraumer befanden sich direkt in seiner Bahn. Trotz ihrer Carborit‐Panzerung verdampften sie inner‐ halb von Sekundenbruchteilen. Auf den Ortungsanzeigen vollzog sich dieser Vorgang ohne viel Spektakel. Drei Lichtpunkte erloschen einfach, als hätte es sie nie gegeben… Ein viertes Licht flackerte hektisch, um dann ebenfalls zu ver‐ löschen. Die ROBERT! schoß es Ren Dhark durch den Kopf. Die Schwarze Garde! Jensbys Schiff verschwand mitsamt der Besatzung und den vierhundert Gardisten aus der Ortung und aus der Bildkugel der POINT OF.
* Minuten zuvor: Auf der ROBERT herrschte ausgelassene Stimmung. Die zum Warten verdammten ungeduldigen Gardisten begeisterten sich über jeden Volltreffer, der in der Sonnenzapfer‐Anlage einschlug. Lange würde die Station nicht mehr durchhalten… Oberst MacCormack hatte die Erlaubnis erhalten, den Bordfunk einzuschalten, damit man auf dem gesamten Schiff die Zerstörung der Schirmstation und den damit verbundenen endgültigen Zu‐ sammenbruch des Monsterschirms mitverfolgen konnte. Endlich war es soweit: Die Station explodierte. An Bord der ROBERT brach frenetischer Jubel aus. Sekunden später schoß ein rotglühender gigantischer Sonnenblitz durchs schwarze All. MacCormack starrte wie gebannt auf die An‐ zeige, als sich der Blitz aus der Sonne löste. Todesangst befiel ihn… Das Schiff von Generalmajor Jensby wurde innerhalb weniger Augenblicke zum Backofen. »Das ist doch unmöglich«, stammelte Jensby. »Die Carbo‐ rit‐Umhüllung schützt…« Er brachte den Satz nicht mehr zu Ende. * Auf der SARAM spielten sich ähnliche Vorgänge ab. Auch dort war man froh, endlich etwas gegen die Schirmstation unternehmen zu können. Die kurz bevorstehende Zerstörung der »kleinen« Son‐ nenzapfer‐Anlage bezeichnete der Erste Offizier Waldtorf als per‐ fektes Vorspiel für die Vernichtung der vermutlich weitaus größeren Anlage, die der Erde die Lebensgrundlage entzog. »Würde es nach mir gehen, würden wir die zweite Anlage eben‐ falls unter konzentrierten Beschuß nehmen«, machte »Wolf« aus seiner Meinung keinen Hehl. »Ich halte es für falsch, sich mit lang‐
wierigen Untersuchungen zu befassen, während Sol allmählich der Saft ausgeht.« »Das Ende der Station ist nur noch eine Frage von Sekunden«, meldete Kosatzki von der Waffensteuerung, der gerade voll in sei‐ nem Element war. Er behielt recht. Die Schirmstation verging in einer diabolischen Explosion. Daß ihr ein gewaltiger Sonnenblitz den Rest gab, davon bekam die Besatzung der SARAM nichts mehr mit. Ihr Schiff befand sich mitten auf dem Pfad des Blitzes und verdampfte innerhalb we‐ niger Augenblicke. Es war ein schneller, gnädiger Tod. Die Männer nahmen die Glut‐ hitze nicht einmal richtig wahr. * An Bord der ROBERT hingegen spürte man die Hitze. Sie schien von überallher zu kommen – aus den Wänden, durch die Fußbö‐ den… Der Geräteschutz wurde vollautomatisch aktiviert, so daß hit‐ zebedingte Beschädigungen an den wichtigsten Apparaturen ver‐ mieden werden konnten. Die Menschen auf dem Schiff verfügten über keine derartigen Schutzmaßnahmen. Die Auswirkungen des Sonnenblitzes, der verdammt nahe an der ROBERT vorbeischoß, trafen sie unvorbereitet und mit voller Wucht. Jakob Jensby schaffte es nicht einmal, seine Verwunderung auszudrücken – mitten im Satz brach er bewußtlos zusammen. Sowohl in der Kommandozentrale als auch im Mannschaftsbereich fielen zahlreiche Besatzungsmitglieder in eine plötzliche Ohnmacht. Nur wer eine wirklich gute Kondition hatte, konnte sich halbwegs auf den Beinen halten und einigermaßen klar denken. Das traf auf MacCormack und einen weiteren Brückenoffizier zu. Beide brachten Jensbys Schiff aus der Gefahrenzone. Auf der POINT OF atmete Ren Dhark erleichtert auf. Nur ganz
kurz war die ROBERT aus der Bildkugel verschwunden gewesen –jetzt war sie wieder klar und deutlich zu sehen. Dhark vermutete, daß die zeitweilige Ortungsstörung mit der Nähe des Schiffes zum Sonnenblitz zusammenhing. Fast hätte die Entladung den Ikosae‐ derraumer gestreift. Im Gegensatz zur ROBERT tauchten die drei Schiffe, die der Ener‐ gieblitz voll erwischt hatte, nicht mehr in der Bildkugel und auf den Ortungsanzeigen auf. Sie blieben auf ewig verschwunden, mitsamt ihren Besatzungen. * Zum x‐ten Mal nahm Doreen Newton die beiden Medaillen zur Hand, die ihr als einziges von ihrem Ehemann und ihrem ältesten Sohn geblieben waren. Sie hatte plötzlich ein ungutes Gefühl… Doreen brauchte jemanden zum Reden. Sie rief eine Nachbarin an, mit der sie befreundet war. »Ich fühle, daß ihm was zugestoßen ist«, sagte sie am Vipho. »Eine Mutter spürt das!« »Mach dich bitte nicht verrückt, Doreen«, entgegnete die Nachba‐ rin. »Der Junge ist zäh, der schlägt sich schon durch.« »Das haben mein Mann und mein Ältester damals ebenfalls von sich behauptet. Aber es hat ihnen nichts genützt. Die Terranische Flotte hat sie auf dem Gewissen – und nun hat mir die Flotte von Eden auch noch meinen Jüngsten genommen.« »Nicht die TF hat deinen Ehemann und deinen Sohn getötet, son‐ dern die Grakos. Sie starben als Helden.« »Mir wäre es lieber, sie wären Feiglinge und noch am Leben.« Der Gedanke an den möglichen Tod ihres zweiten Sohnes ließ Doreen Newton den ganzen Tag über nicht mehr los. Manchmal gelang es ihr, sich Mut zuzusprechen, sich einzureden, daß ihm vielleicht doch nichts zugestoßen war… Sie ahnte, daß sie sich dabei selbst belog.
* In der Zentrale der ROBERT sah sich Jakob Jensby die Scha‐ densmeldung an. »Die Beschädigungen halten sich glücklicherweise in Grenzen«, sagte er zu MacCormack und den mittlerweile erwachten Brücken‐ offizieren. »Verletzte gibt es nur sehr wenige. Sie sind fast alle wie‐ der auf ihren Posten, bis auf einen jungen Fähnrich, der böse gestürzt ist und sich den Arm gebrochen hat. Man hat ihn zur Beobachtung auf der medizinischen Station untergebracht.« Soeben hatte Jensby – nach kurzer Absprache mit Dhark – die Landung auf dem Klotz befohlen. Auf eine medizinische Unter‐ suchung verzichtete er vorerst, er fühlte sich wieder topfit. Einer der Brückenoffiziere meldete, daß die ROBERT langsamer wurde. »Der Hyperkalkulator bricht den Anflug ab, Sir.« Bevor Jensby eine nähere Erklärung erhielt, meldete sich die POINT OF. »Landen Sie nicht auf dem Klotz, und kehren Sie sofort um!« wies Ren Dhark ihn an. »Aber die Gardisten brennen darauf, auf dem Planeten abgesetzt zu werden.« »Der Checkmaster hat ein absolut tödliches Niveau an Hyper‐ strahlung angemessen, wahrscheinlich als Folge des Blitzeinschlags. Dagegen schützt Sie nicht einmal die Abschirmung Ihres Carborit‐ schiffes. Und Menschen können Sie dort unten schon gar nicht ab‐ setzen.« Diese Angabe deckte sich mit den Informationen, die Generalmajor Jakob Jensby soeben vom Hyperkalkulator der ROBERT erhielt. »Verdammt und zugenäht!« fluchte er. »Noch solch eine Hi‐ obsbotschaft, und ich quittiere den Dienst!« »Dann wünsche ich Ihnen viel Spaß in Ihrem neuen Leben als Zi‐ vilist«, erwiderte Dhark mit ernster Miene. »Ich kann Ihnen nämlich eine zweite schlechte Nachricht nicht ersparen: Unsere neuen
Sprungpeiler orten soeben die Eintauchimpulse von 3200 Roboter‐ schiffen in 270 Lichtjahren Entfernung.« MacCormack blieb die Spucke weg. »3200? Was für eine riesige Roboterflotte! Werden uns die Schiffe angreifen? Oder sind sie un‐ terwegs nach Terra?« »Ich denke, wir werden gleich wissen, welche Richtung sie ein‐ schlagen«, antwortete Ren Dhark, der die Ortungsanzeige nicht aus den Augen ließ. Die Zeit lief den Männern allmählich davon. Proxima Centauri »bediente« sich weiterhin unablässig von Sol und gewann dadurch immer mehr an Masse. ENDE Ein Universum Release
REN DHARK im Überblick Mittlerweile umfaßt die REN DHARK‐Saga 96 Buchtitel: 16 Bücher mit der überarbeiteten Heftreihe, 31 mit der offiziellen Fortsetzung im DRAKHON‐ und BITWAR‐ Zyklus, 27 Sonderbände, jeweils sechs Ausgaben der abgeschlossenen Reihen FORSCHUNGSRAUMER CHARR, STERNENDSCHUNGEL GALAXIS und DER MYSTERIOUS, drei Spezialbände sowie ein umfangreiches Lexikon zur Serie. Der nun folgende Überblick soll Neueinsteigern helfen, die Bücher in chronologisch korrekter Reihenfolge zu lesen. Erster Zyklus: 2051: Handlungsabschnitt HOPE/INVASION Band 1: Sternendschungel Galaxis (1966 / 1994) Band 2: Das Rätsel des Ringraumers (1966 / 1995) Band 3: Zielpunkt Terra (1966, 1967 / 1995) Band 4: Todeszone T‐XXX (1967 / 1996) Band 5: Die Hüter des Alls (1967 / 1996) Sonderband 4: Hexenkessel Erde (1999) Sonderband 7: Der Verräter (2000) Sonderband 1: Die Legende der Nogk (1997 und Platinum 2004) 2052: Handlungsabschnitt G’LOORN Band 6: Botschaft aus dem Gestern (1996) Band 7: Im Zentrum der Galaxis (1997) Band 8: Die Meister des Chaos (1997) Sonderband 2: Gestrandet auf Bittan (1998) Sonderband 3: Wächter der Mysterious (1998)
2056: Handlungsabschnitt DIE SUCHE NACH DEN MYSTERIOUS Band 9: Das Nor‐ex greift an (1967 / 1997) Band 10: Gehetzte Cyborgs (1967, 1968 / 1997) Sonderband 12: Die Schwarze Garde (2001) Band 11: Wunder des blauen Planeten (1968 / 1998) Band 12: Die Sternenbrücke (1968 / 1998) Band 13: Durchbruch nach Erron‐3 (1968 / 1999) Sonderband 8: Der schwarze Götze (2000) Band 14: Sterbende Sterne (1968, 1969 / 1999) Sonderband 5: Der Todesbefehl (1999) Sonderband 6: Countdown zur Apokalypse (2000) Band 15: Das Echo des Alls (1969 / 1999) Band 16: Die Straße zu den Sternen (1969 / 2000) Zweiter Zyklus: 2057/ 58: DRAKHON‐Zyklus 2057: Handlungsabschnitt DIE GALAKTISCHE KATASTROPHE Band 1: Das Geheimnis der Mysterious (2000) Band 2: Die galaktische Katastrophe (2000) Sonderband 10: Ex (2000) Sonderband 9: Erron 2 – Welt im Nichts (2000) Band 3: Der letzte seines Volkes (2000) Band 4: Die Herren von Drakhon (2000) Band 5: Kampf um IKO 1 (2001) Sonderband 11: Türme des Todes (2001) Band 6: Sonne ohne Namen (2001) Band 7: Schatten über Babylon (2001)
Band 8: Herkunft unbekannt (2001) Sonderband 13: Dreizehn (2001) Sonderband 14: Krisensektor Munros Stern (2001) Band 9: Das Sternenversteck (2001) Band 10: Fluchtpunkt M 53 (2002) Band 11: Grako‐Alarm (2002) Sonderband 16: Schattenraumer 986 (2002) Band 12: Helfer aus dem Dunkel (2002) Sonderband 17: Jagd auf die Rebellen (2002) 2058: Handlungsabschnitt EXPEDITION NACH ORN Band 13: Cyborg‐Krise (2002) Band 14: Weiter denn je (2002) Sonderband 18: Rebell der Mysterious Sonderband 19: Im Dschungel von Grah (2003) Band 15: Welt der Goldenen (2002) Band 16: Die Verdammten (2003) Band 17: Terra Nostra (2003) Sonderband 20: Das Nano‐Imperium (2003) Band 18: Verlorenes Volk (2003) Band 19: Heerzug der Heimatlosen (2003) Sonderband 21: Geheimnis der Vergangenheit (2003) Band 20: Im Zentrum der Macht (2003) Band 21: Unheimliche Welt (2003) Band 22: Die Sage der Goldenen (2004) Sonderband 22: Gisol‐Trilogie 1: Der Jäger (2003) Sonderband 23: Gisol‐Trilogie 2: Der Rächer (2004) Sonderband 24: Gisol‐Trilogie 3: Der Schlächter (2004) Band 23: Margun und Sola (2004) Band 24: Die geheimen Herrscher (2004) Sonderband 15: Die Kolonie (2002; Kurzgeschichten aus ver‐ schiedenen Zeiträumen des Serienkosmos)
Sonderband 25: Jagd nach dem »Time«‐Effekt (2002) FORSCHUNGSRAUMER CHARR (sechsteiliger, abgeschlossener Mini‐Zyklus, 2004) Sonderband 26: Wächter und Mensch (2004) STERNENDSCHUNGEL GALAXIS (sechsteiliger, abgeschlossener Mini‐Zyklus, dessen Handlung zwischen Drakhon‐ und Bitwar‐Zyklus spielt, 2005) Dritter Zyklus: 2062: BITWAR‐Zyklus Band 1: Großangriff auf Grah (2004) Band 2: Nach dem Inferno (2004) Band 3: Die Spur des Tel (2004) Band 4: Die Sonne stirbt (2005) Band 5: Die goldene Hölle (2005) Sonderband 27: Nogk in Gefahr (2005) DER MYSTERIOUS (sechsteiliger, abgeschlossener Mini‐Zyklus, 2005) Band 6: Das Judas‐Komplott (2005) Band 7: Proxima Centauri (2005) Einzelromane ohne Handlungsbindung an die Serie, welche ca. sie‐ ben bis acht Jahre nach dem Ende des ersten Zyklus in einem »al‐ ternativen« RD‐Universum spielen: Spezialband 1: Sternen‐Saga / Dursttod über Terra (2001) Spezialband 2: Zwischen gestern und morgen / Echo aus dem Weltraum (2002) Spezialband 3: Als die Sterne weinten / Sterbende Zukunft (2003)