Terra Astra 340
Projekt Mikrokosmos DONALD A. WOLLHEIM
Die Hauptpersonen des Romans: Warren Alton - Ein Reporter reis...
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Terra Astra 340
Projekt Mikrokosmos DONALD A. WOLLHEIM
Die Hauptpersonen des Romans: Warren Alton - Ein Reporter reist in den Mikrokosmos C. B. Carlyle - Ein Publizist mit einem guten Riecher Margaret McElroy - Altons Begleiterin Leopold Steiner - Ein genialer Wissenschaftler Jack Quern - Ein Spion
1. William Bassett sah die Saurier, als er in den Sitz seines Traktors stieg, um sein Feld zu pflügen. Genauer gesagt: Zuerst sah er den Dschungel, der fast die ganze gegenüberliegende Hälfte des Ackers einnahm - ein Gürtel von riesigen, exotischen Pflanzen, so weit das Auge reichte. Bassett sah keine Bäume, sondern ineinander verschlungene Riesenfarne und meterhohes Gras. Und noch während er sich die Augen rieb und sich einzureden versuchte, daß er einer Täuschung zum Opfer gefallen sein mußte, tauchten die beiden Echsen auf. Bassett erinnerte sich später daran, daß die Ungeheuer fast vier Meter 2
hoch waren und lange, pferdeähnliche Köpfe und wuchtige Körper besaßen. Sie bewegten sich wie Riesenkänguruhs in großen Sprüngen vorwärts. In den Mäulern saßen gewaltige Zahnreihen, die Haut der Monstren war graublau, und die Augen blitzten gelblich. Das alles nahm der Farmer nur unbewußt wahr. Er trat aufs Gaspedal, wendete den Traktor und fuhr in wilder Panik auf das Haus zu. Bassett wagte sich nicht umzudrehen. Jeden Augenblick mußte er den heißen Atem der Saurier in seinem Nacken spüren. Am Rand des Feldes angekommen, sprang er aus dem Sitz und rannte ins Haus. Erst kurz vor der Tür drehte er sich um, um nach den Verfolgern zu sehen. Es gab keine Saurier mehr. Wo sich der gewaltige, urweltliche Dschungel erstreckt hatte, breitete sich sein Acker aus, dahinter lagen die bewaldeten Hügel des Tales, und in der Ferne war die Kette der Berge zu erkennen. Der Spuk war so schnell verschwunden, wie er gekommen war. Eine Woche, nachdem die Lokalzeitungen über Bassetts Erlebnis berichtet hatten, 'befanden sich zwei. Jungen aus Cullenville, einer kleinen Stadt etwa fünfundzwanzig Kilometer von Bassetts Farm entfernt, auf dem Weg in die Berge, um in den klaren Gebirgsbächen ihr Glück beim Fischfang zu versuchen. Sie hatten die Meldungen über den seltsamen Vorfall nicht gelesen. Ihre einzige Sorge war es, den kleinen versteckten Bach zu finden, in dem es von herrlichen Forellen wimmeln sollte. Die Angler in Cullenville verrieten ihre Geheimnisse nicht, und so hatten die beiden nur eine recht vage Vorstellung davon, wo sie suchen mußten. Die Gegend um Cullenville war, im Norden von New York gelegen, ein unwirtschaftliches Gebiet. Der Boden war schlecht, und nur wenige Farmer hatten sich hier angesiedelt. Oft gab es weit und breit keine menschliche Siedlung, und die 3
Berge waren nur reizvoll für Jäger. So kam es, daß die beiden Jungen mehr als drei Stunden lang die Wälder durchstreift hatten, ohne auf einen Menschen zu treffen. Sie fanden einen kleinen Pfad und folgten ihm, bis sie vor einer felsigen Anhöhe standen. Sie kletterten hinauf, um eine bessere Übersicht über das Gelände zu haben. Sie hatten eine Schlucht erwartet, ein Tal oder weiter ansteigendes Gebiet, übersät mit Pinien, Baumstümpfen, Felsbrocken und wild wuchernden Büschen, aber sie sahen eine lange, ausgedehnte Ebene, die bis zum Horizont zu reichen schien. Der Anblick verschlug ihnen den Atem. Sie blickten auf eine Stadt, wie sie sie noch nie zuvor gesehen hatten. Die Häuser sahen aus wie große Bienenkörbe, aus Steinen und Mörtel gebaut und mit goldenen Dächern versehen. Die Jungen sahen Wesen, die sich zwischen den Häusern bewegten, aber die Entfernung war zu groß, um Einzelheiten ausmachen zu können. Auf den Feldern rings um die Stadt wurde gearbeitet. Die beiden Jungen sahen sich an. Dann rannten sie los, zurück durch die Wälder, die Hügel hinab, um auf der erstbesten Straße jemanden anzuhalten, dem sie ihre Entdeckung zeigen konnten. Als sie nach einer halben Stunde in Begleitung eines Jagdaufsehers zur Anhöhe zurückkehrten, gab es keine Stadt und keine Ebene mehr. Vor ihnen breitete sich ein kleines Tal aus, übersät von Büschen und allerlei Geröll. Natürlich glaubte man ihnen kein Wort, als sie ihre Geschichte in der Stadt erzählten. Trotzdem gelangte sie in die Tageszeitungen. Warren Alton saß an seinem Schreibtisch im 75. Stockwerk des Carlyle-Verlagsgebäudes und starrte gedankenversunken auf die Mappe mit den Zeitungsausschnitten, die er bei seiner Rückkehr aus Peru vorgefunden hatte. Warren hatte seine Story in der Tasche - neuentdeckte Inka-Ruinen, von denen sich die 4
Wissenschaftler eine reiche Ausbeute an wertvollen Funden und Informationen erhofften. Ein guter Stoff, der Carlyle begeistern würde. Was sollten nun diese Ausschnitte aus einigen Lokalzeitungen? Warren war früh am Morgen ins Büro gekommen, weil Carlyle angeblich einen neuen Auftrag für ihn hatte. Kaum saß er an seinem Schreibtisch, als auch schon Carlyles Sekretär hereingestürzt kam und ihm die Mappe mit den Zeitungsausschnitten brachte. Er sollte einen Blick hineinwerfen und um elf Uhr in Carlyles Büro kommen. Warren ging also die Meldungen durch. Er las von Bassetts Dschungelvision, von der seltsamen Stadt in den Bergen und von weiteren mysteriösen Erscheinungen. Das erste, was ihm dabei auffiel, war, daß all diese Vorfälle sich in einem begrenzten Gebiet im Norden zugetragen hatten. Das zweite war der Umstand, daß keine der Beobachtungen mit einer anderen identisch war. Der Pilot, der Kopilot und die Passagiere eines Charterflugzeugs wollten auf dem Flug von Montreal nach New York über einem bergigen Gebiet drei riesige Kreaturen gesehen haben, die hintereinander durch die Luft segelten. Es waren keine Vögel, vielmehr erinnerten sie an die Rekonstruktionen prähistorischer Flugsaurier mit ledernen Schwingen, grauenhaften Krallen und langgestreckten, roten Köpfen. Jedes der Tiere war nach den Schilderungen etwa fünf Meter lang, und sie flogen mit einer Geschwindigkeit von weit über zweihundert Kilometern in der Stunde. Nur langsam konnte sich die Maschine nach Aussage des Piloten an ihnen vorbeischieben, ohne daß die Monstren sie beachteten. Dann gerieten die Flugsaurier in eine Wolke, die vorher noch nicht dagewesen war. Als der Pilot wieder von seinen Instrumenten aufsah, waren sie verschwunden - die Wolke und die Tiere. Nach der Landung hatten alle Reisenden das gleiche berichtet. Es fiel schwer, daran zu glauben, daß sie alle zur 5
gleichen Zeit die gleiche Halluzination gehabt hatten. Mehrere Leute gaben an, ganze Herden fremdartiger Tiere auf den Straßen und auf Feldern gesehen zu haben. Die gesamte Bevölkerung eines kleinen Dorfes berichtete von einem Vulkanausbruch in unmittelbarer Nähe ihrer Ansiedlung. Über den relativ kleinen Bergen war nach ihrer übereinstimmenden Aussage wie aus dem Nichts ein riesiger Bergkegel entstanden und hatte glühende Lava gespien. Die Deutungsversuche der Zeitungen, daß es sich um Nordlichter gehandelt habe, wiesen die Menschen entrüstet zurück. Das Ganze sollte nur drei Minuten gedauert haben, dann war an die Stelle des blutroten Himmels und der Lavaströme wieder das sternen-übersäte Firmament getreten. Alle Beschreibungen stimmten exakt überein, wie bei den Aussagen der Passagiere der Chartermaschine. Aber etwas anderes erschien Warren wichtiger: Niemand hatte Schwefelgeruch wahrgenommen, und niemand hatte den Donner der Explosionen gehört. Das machte es den Wissenschaftlern leicht, von einer optischen Täuschung zu sprechen, zumal nirgendwo die geringsten Erschütterungen der Erdkruste registriert worden waren. Alton erschien diese Erklärung einleuchtend. Er war selbst einmal in der Antarktis gewesen und hatte genug Nordlichter gesehen, um zu wissen, wie echt die Lichterscheinungen wirken konnten. Trotzdem hielt er fest, daß sich die betreffende Kleinstadt in jenem begrenzten Bereich befand, in dem überall die seltsamen Phänomene beobachtet worden waren. Es gab einige Dutzend ähnlicher Fälle. Warren sah sie durch und schob anschließend die Mappe beiseite. Was erwartete der Chef von ihm? Was versprach er sich von diesen Meldungen? Warren sah auf seine Armbanduhr. Kurz vor elf. Zeit, Carlyle aufzusuchen. C. B. Carlyle hatte hart an seinem Magazin, People, 6
gearbeitet, so lange, bis es zu einer echten Konkurrenz für Luces Life und Cowles Look geworden war. Carlyle hatte von seinen Mitarbeitern vollen Einsatz verlangt und sich selbst am wenigsten geschont. Seine Begeisterung hatte die anderen mitgerissen. Doch das Geheimnis des Erfolgs war wohl eher Carlyles Riecher, was gute Stories und brisante Zeitthemen anging. In den letzten zehn Jahren hatte er fast hellseherische Fähigkeiten „ entwickelt. Seine Reporter waren an Ort und Stelle, wo immer es gärte und sich wichtige Ereignisse anbahnten. Es war schon fast zur Tradition seines Magazins geworden, daß seine Star-Reporter bereits am Schauplatz waren, bevor irgend etwas geschah. Carlyles Büro war prunkvoll eingerichtet, aber Carlyle selbst war ein Mann, der niemals seine einfache Herkunft verleugnet hatte, ein Mann aus dem Volk, der selbst als kleiner Reporter angefangen und sich allmählich zum Chef eines der größten Magazine des Landes emporgearbeitet hatte. Carlyle stand auf, als Warren eintrat. Der kleine, grauhaarige Publizist kam dem jungen Reporter entgegen und schüttelte ihm die Hand. „Willkommen daheim, Alton, und Glückwunsch zu der InkaStory. Ich -war selbst ganz hingerissen beim Le-- sen." „Danke, Chef", sagte Warren, als er , sich vor den riesigen Schreibtisch setzte, hinter dem Carlyle wieder Platz genommen hatte. „Es hat mir 'ne Menge Spaß gemacht. Aber was ist mit diesen Zeitungsberichten? Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was Sie..." C. B. nahm die Mappe entgegen und blätterte die Ausschnitte kurz durch. „Eine Story, Alton. Da steckt Zündstoff drin." Warren runzelte die Stirn. Es war ihm anzusehen, daß er nicht viel davon hielt. „Ich weiß, was Sie sagen wollen, Alton", begann Carlyle. „Aber mein Gefühl hat mich bisher selten getrogen, und genau dieses Gefühl sagt mir, daß wir hier einer ganz großen Sache 7
auf der Spur sind. Natürlich kann ich mich täuschen, und es ist nur eine große Seifenblase, aber auch das verkauft sich. Denken Sie an die UFO-Hysterie in den vierziger Jahren. Life machte damit das große Geschäft. Etwas Ähnliches könnten wir hier vor uns haben. Wenn wir die Angelegenheit richtig anpacken, wird ganz Amerika kopfstehen. Fernsehen und Zeitungen werden das Thema ausschlachten. Ich sehe schon die Schlagzeilen, und wir werden die ersten sein, die sie bringen. Sie, Alton, werden sich der Sache annehmen." Der Reporter zuckte die Schultern. „Und wo soll ich anfangen? Wir haben es mit einer Unmenge verschiedener Phänomene zu tun, im Gegensatz zu den Fliegenden Untertassen. Der einzige Anhaltspunkt ist, daß alle Beobachtungen in einem bestimmten Gebiet gemacht wurden." Carlyle lächelte und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Ganz genau, Alton. Und ich möchte, daß Sie sich in diesem Gebiet umsehen, in Cullenville und überall dort, wo die Erscheinungen beobachtet wurden. Reden Sie mit den Leuten, und versuchen Sie, Licht in die Sache zu bringen. Vielleicht wächst in dieser Gegend ein Kraut, das bei den Anwohnern Halluzinationen verursacht, vielleicht enthält die Luft zuviel Sauerstoff und macht die Leute wirr im Kopf. Vielleicht steckt eine neue Art von religiösem Wahn dahinter. Aber was immer es ist, irgend etwas steckt dahinter! Finden Sie es heraus, Alton, und machen Sie eine gute Story daraus!" Carlyle lachte, als er Warrens skeptischen Blick sah. „Schreiben Sie Ihre Story, Alton. Was immer Sie herausfinden, ich werde es drucken lassen. People ist ein seriöses Magazin. Wenn es einleuchtende Erklärungen gibt, werden wir sie als erste bringen. Aber ich bin sicher, daß mehr dahintersteckt als ein paar berauschte Männer und Frauen. Es wird Schlagzeilen machen, Alton. Wir werden das ganze Land in Aufregung Versetzen, bis die Leute Dinosaurier in Kansas 8
und Vulkane in Oregon sehen. Es wird eine zweite UFO-Story werden, Alton, und Sie werden derjenige sein, der den Stein ins Rollen bringt." „Einverstanden, Chef", sagte Warren. „Wann soll ich aufbrechen?" Wieder lächelte Carlyle. „Wenn's geht, noch heute. Ich werde veranlassen, daß Sie einen guten Phonographen bekommen. Ich verlasse mich auf sie, Alton." Kurz vor zwei Uhr nachmittags parkte Warren Alton seinen Dodge in der Tiefgarage des Hochhauses und ließ sich vom Lift in die 75. Etage tragen, um den Photographen abzuholen. Er hatte eine Kleinigkeit gegessen, einige Kleidungsstücke zusammengepackt und die Unterlagen noch einmal studiert. Anstelle des erwarteten Photographen saß ein Mädchen im Sessel und las in einem Filmmagazin. Als sie ihn eintreten hörte, lächelte sie und nickte ihm zu. Warren sah in zwei grüne, arglose Augen unter schwarzen Stirnponys. Das dunkle Haar fiel dem Mädchen glatt bis auf die Schultern herab. „Ja?" fragte der Reporter verwirrt. „Kann ich etwas für Sie tun?" Sie nickte. Mit einem spöttischen Lächeln antwortete sie: „Ich hoffe, schon. Ich soll Sie begleiten. Sie sind doch Warren Alton, der Star-Reporter. Ich war begeistert von Ihrer letzten Story, Sie wissen schon, über ..." Alton schüttelte verständnislos den Kopf. „Eigentlich hatte ich einen Photographen erwartet, der hier..." „Das bin ich", schnitt das Mädchen ihm das Wort ab. „Ich bin Ihr Photograph. Hier, sehen Sie!" Sie zeigte auf den Fußboden neben dem Schreibtisch. Warren sah eine Kamera, eine große Ledertasche mit diversen Ausrüstungsgegenständen und eine rote Reisetasche. „Ich heiße Margaret McElroy. Sie können mich nicht kennen, weil ich erst seit einer Woche für People arbeite. Sie sind mein 9
erster großer Job, wissen Sie? Mein Onkel, er ist Vertriebsleiter für den ganzen Osten, hat mir eine Menge über Sie erzählt, Mr. Alton. Sie können mich Marge nennen, alle meine Freunde tun das. Was dagegen, wenn ich Sie Warren nenne? Ich hasse diese übertriebenen Förmlichkeiten." Warren stöhnte. „Einen Augenblick", sagte er und griff zum Telephon. Man versicherte ihm, daß Miß McElroy eine exzellente Photographin sei und bereits mehrere Preise gewonnen habe. Warren legte auf und sah das Mädchen lange an. „Also schön. Mein Wagen steht unten in der Garage." Während der ersten beiden Stunden sprach Warren kein Wort. Erst als sie Poughkeepsie hinter sich gelassen hatten, begann er aufzutauen. Sie machten bei einer Imbißstube hält und tranken einen Kaffee, und als sie Coningo County erreichten, hatten sie sich soweit angefreundet, daß sie sich über ihre Arbeit unterhalten konnten. Gegen fünf Uhr erreichten sie Cullenville. Warren hielt bei einem etwas außerhalb der Stadt gelegenen Motel an und schlug vor, hier ihr erstes Quartier zu beziehen. „Nichts dagegen", sagte das Mädchen. „Ich bin gespannt, ob sie einen Swimming-Pool haben." Warren unterdrückte ein Stöhnen. „Swimming-Pool oder nicht, wir haben eine Menge Arbeit vor uns. Sollten Sie es nicht bereits gemerkt haben, Miß McElroy: Unser Job besteht darin, so schnell wie möglich eine gute Story auf die Beine zu stellen und dann unverzüglich nach New York zurückzukehren. Carlyle wartet auf uns. Danach können Sie nach Coney Island, Rockaway oder überall dorthin fahren, wo Sie gerne schwimmen möchten. Ich werde mich nach einem gemütlichen Appartement umsehen, mich in die Badewanne legen und bei einem Bier ein gutes Buch lesen." Sie lächelte spitzbübisch. „Hört sich ganz gut an. Vielleicht sind doch nicht alle 10
Zeitungsschreiber so verdreht, wie ich immer dachte." Am nächsten Morgen klopfte Warren lange gegen Marge McElroys Zimmertür, ehe eine schläfrige Stimme antwortete. „Aufstehen!" rief er. „Die Arbeit wartet." Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. „Was soll das?" fragte sie und gähnte. „Gerade sieben Uhr." Warren setzte sein liebenswürdigstes Lächeln auf. „So ist das nun einmal, wenn man mit mir unterwegs ist. Ich erwarte Sie unten im Wagen." Eine gute halbe Stunde später waren sie unterwegs zu Bassetts Farm. Allem Anschein nach war Bassett der erste gewesen, der die Erscheinungen gesehen hatte. Sie entdeckten den Farmer auf einem seiner Felder. Er war ein untersetzter Mann Anfang Vierzig, intelligent und mit guten Manieren. Dennoch wirkte er verschlossen, als Warren seine Fragen stellte. „Allmählich habe ich von euch Reportern die Nase voll", sagte Bassett. „Ihr bekommt eure Story, aber niemand glaubt mir wirklich. Ich kann nur sagen, was ich gesehen habe." Warren sprach lange mit Bassett, und allmählich legte sich das Mißtrauen. Bassett schien zu begreifen, daß Warren nicht einer von den vielen Lokalreportern war, denen es lediglich um eine willkommene Schlagzeile ging. Der Farmer ließ sich sogar auf dem Sitz seines Traktors photographieren. Er erlag sogar Marge McElroys jugendlichem Charme und zeigte ihnen die Stelle, wo er den Dschungel gesehen hatte. Er beantwortete alle Fragen, und Warren machte eifrig Notizen. Der Reporter zeigte Bassett ein Buch mit Abbildungen von Dinosauriern, aber der Farmer wollte sich nicht festlegen. „Einige von ihnen haben eine gewisse Ähnlichkeit mit den Biestern, die ich gesehen habe, aber keines gleicht ihnen vollkommen", sagte er und beschrieb die Ungeheuer zum wiederholten Mal. 11
Warren registrierte mit Genugtuung, daß die Beschreibung nicht von jener abwich, die er in dem ersten Zeitungsbericht gelesen hatte. Das, so fand er, sprach für die Glaubwürdigkeit des Farmers. Der Reporter suchte den Boden nach eventuellen Spuren ab, aber Bassett schüttelte den Kopf. „Sie werden nichts finden, Mister." Warren verabschiedete sich und sprach noch kurz mit Bassetts Frau, dann machten Marge McElroy und er sich auf den Rückweg. „Fehlanzeige", sagte das Mädchen. „Was meinst du, Warren? Ein Trinker?" „Nein, Marge", entgegnete Warren, nun endlich auch die vertrauliche Anrede gebrauchend. „Ich dachte zuerst ebenfalls daran, deshalb sprach ich mit seiner Frau und sah mir dabei das Haus an. Alles machte einen ordentlichen Eindruck. Bassett ist ein braver Mann, der jeden Sonntag in die Kirche geht und nur für seine Familie da ist. Er ist glaubwürdig, Marge." Sie fuhren zurück nach Cullenville, sprachen mit dem Sheriff und fragten einige Geschäftsleute nach Bassett aus. Marge machte einige Bilder von der Hauptstraße. Danach wollten sie mit einem der beiden Jungen sprechen, die die fremdartige Stadt in den Bergen gesehen hatten. Er war in der Schule, aber seine Mutter versicherte ihnen, daß ihr Sohn niemals gelogen hätte und daß sie überzeugt sei, daß er auch jetzt die Wahrheit gesagt habe. „Wie können sie so sicher sein, eine Stadt gesehen zu haben, die es nicht geben kann?" fragte Marge im Auto. „All diese Leute sind verdammt sicher", antwortete Warren nachdenklich. „Die Beschreibung dieser Stadt könnte auf einige primitive Dörfer im afrikanischen Busch zutreffen, wie ich sie schon gesehen habe. Aber wie kann ein solches Bild um die halbe 12
Welt gehen?" Sie verbrachten den Nachmittag damit, weitere Leute zu befragen und mußten immer wieder feststellen, daß die Berichte sich vollkommen deckten. Es gab keinen schwachen Punkt, an dem sie einhaken konnten. Die Bewohner dieser Gegend waren in der Regel aufrichtige Leute, die absolut glaubhaft wirkten. Auch der nächste Tag bestätigte diesen Eindruck. Darüber hinaus konnten Warren und Marge erstaunliche Zusammenhänge feststellen. Sie unterhielten sich mit allen möglichen Leuten und erfuhren von Ereignissen, die niemals in den Zeitungen gestanden hatten. Mehrere Menschen hatten fliegende Drachen beobachtet, die genau denjenigen entsprachen, die die Piloten und Passagiere des Charterflugzeugs gesehen haben wollten. Tatsächlich gaben zwei Augenzeugen an, während der Erscheinung ein Flugzeug am Himmel ausgemacht zu haben. Am Morgen des dritten Tages hatten Warren und Marge eine Unmenge von Material gesammelt, alle möglichen Leute interviewt und photographiert, aber immer noch keinen schlüssigen Hinweis auf die wahre Natur der Erscheinungen gefunden. „Und wie soll's nun weitergehen?" fragte Marge beim Frühstück. „Ich glaube, ich habe eine Idee", sagte Warren. Minuten später standen sie in seinem Appartement vor einem großen Tisch, auf dem Warren die Landkarte ausgebreitet hatte. „Nimm dir einen Bleistift und mache überall dort, wo ich dir's sage, ein Kreuz." Marge nickte und beugte sich über die Karte. Warren setzte sich auf den Bettrand und ging seine Aufzeichnungen durch. Überall, wo Leute irgendwelche Erscheinungen beobachtet hatten, machte Marge ein Kreuzchen. Als sie fertig waren, standen fast dreißig Markierungen auf der Karte. 13
Warren betrachtete das sich daraus ergebende Bild. Alle Kreuze befanden sich innerhalb einer fast kreisförmigen Fläche mit einem Durchmesser von etwa sechzig Kilometern. „Und nun paß auf!" Warren nahm ein Lineal und verband die einzelnen Punkte durch Striche, bis die Karte von einem feinen Netz überzogen war. „Jetzt begreife ich", sagte Marge. „Du glaubst, daß wir auf diese Weise das Zentrum dieses ... Unruhegebiets finden können?" Warren nickte. Er zeigte auf einen Punkt, an dem sich fast alle Linien, die gegenüberliegende Markierungen verbanden, schnitten. „Ganz in der Nähe befindet sich eine kleine Ortschaft", stellte der Reporter fest. „Bloomfield Corners, wir kamen gestern fast daran vorbei. Versuchen wir unser Glück. Wenn es etwas zu entdecken gibt, dann finden wir es dort am ehesten. Irgendwo in der Nähe dieses Dorfes liegt die Quelle der Visionen - oder es gibt keine..." „Vielleicht werden wir selbst eine Erscheinung beobachten können", spekulierte Marge und zeigte auf die kleine Kamera, die sie immer griffbereit bei sich hatte. Warren zuckte die Schultern. „Bloomfield Corners wird unser neues Hauptquartier werden. Hole deine Sachen, in zehn Minuten fahren wir los, und dann werden wir weitersehen. Vielleicht entdecken wir tatsächlich ein paar urweltliche Monstren. Wenn du sie auf deinen Film bannen kannst, ist dir die Titelseite sicher." Kurz darauf saßen sie im Dodge. Nach einer halben Stunde sahen sie am Rand der gewundenen Landstraße einen schäbigen kleinen Kaufladen und ein ebenso heruntergekommenes Farmhaus. Auf einem verwitterten Schild auf der Frontseite des Ladens stand „Bloomfield Corners". Sie entdeckten noch eine alte Benzinpumpe - das war aber schon 14
alles. Hinter der „Ortschaft" verengte sich die Straße und führte in die Berge, die an dieser Stelle steil anstiegen. Warren und Marge sahen dichtbewaldete Hügel. Dazwischen ragten für diese Gegend ungewöhnlich schroffe Felsgebilde auf. Warren stellte den Motor ab. Sie stiegen aus und betraten den Laden.
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2. Es war ziemlich dunkel. Warren und Marge erkannten eine Ladentheke, dahinter Regale mit allen möglichen Lebensmittelkonserven. Auch an den anderen Wänden standen Regale, und davor große Fässer mit diversen Gütern. An einer Stange hingen einige Overalls, und in einer Ecke des Raumes befand sich ein zerkratztes Fenster. Warren entdeckte einige Briefkästen und ein Schild mit dem Emblem der Postbehörde. Ein alter Mann kam aus einem Hinterzimmer und fragte, ob er etwas für sie tun könnte. Warren begrüßte den Alten und stellte sich als Reporter des Magazins People vor. „Vielleicht können Sie uns helfen. Wir machen eine Reportage über..." „Ich weiß schon", unterbrach ihn der Alte. „Sie beide müssen die Zeitungsleute sein, von denen hier alle erzählen. Sie sind hinter den Bildern her, oder?" „Stimmt", sagte Warren. „Vielleicht kennen Sie jemand in dieser Gegend, der uns weiterhelfen kann." Der Mann sah Warren und Marge mißtrauisch an und zuckte mit den Augenlidern, als Marge ein Blitzlichtphoto von ihm machte. Erst nach einer Viertelstunde taute er allmählich auf. Ja, er hatte, zusammen mit seiner Frau und einem Nachbarn, eine plötzlich wie aus dem Nichts aufgetauchte Viehherde beobachtet, die wie eine Stampede über die Straße rannte, auf die Berge zu. Seine Frau hatte von einer „Geisterherde" gesprochen, aber er hatte sie vom Dachfenster aus genauer beobachtet, riesige Tiere mit buschigen Schwänzen. Es war, als ob sie von irgend etwas gejagt wurden, aber bevor er einen Verfolger entdecken konnte, war die Erscheinung bereits wieder verschwunden. „Keine Hufspuren auf der Straße?" fragte Warren. „Keine 16
Geräusche, als sie an Ihnen vorbeirannten?" Der alte Mann schüttelte den Kopf. „Nichts, keine Spuren, kein Laut. Vielleicht hatte meine Frau recht und es war tatsächlich eine Geisterherde. Aber das ist nicht alles. Einmal sahen wir riesige Berge, wo gar keine sein konnten. Und dann war plötzlich mitten auf der Straße ein See. Wie die Herde, verschwanden auch diese Bilder nach ein paar Minuten wieder, aber sie alle wirkten verdammt echt, Mister." Warren notierte alles. Er hatte also recht gehabt. Sie mußten sich in unmittelbarer Nähe der Quelle all dieser Erscheinungen befinden. Bisher war ihm kein Fall bekannt, daß an der gleichen Stelle mehrere Phantombilder entstanden waren. Trotzdem befand sich Bloomfield Corners zwar in der Nähe des auf der Karte gefundenen Schnittpunkts der Verbindungslinien, aber das exakte Zentrum mußte weiter oben in den Bergen liegen. „Lebt dort oben jemand?" fragte er den Ladenbesitzer. Der Alte nickte. „Es gibt eine Reihe von Ferienhütten auf Old Thunderhook, aber die meisten sind verlassen. Nur eine ist bewohnt. Wissenschaftler, nehme ich an, Leute von irgendeiner Universität." Warren wechselte einen schnellen Blick mit Marge. „Wissenschaftler? Wie kommen Sie darauf?" „Ganz einfach", sagte der Alte. „Ich bin hier der Postmeister, und ich sortiere ihre Post, die immer von irgendwelchen großen Universitäten kommt." „Das kann uns weiterhelfen", sagte Warren zu Marge. „Wir werden ihnen einen Besuch abstatten." Der Ladenbesitzer schüttelte den Kopf. „Sie werden es nicht mögen, Mister. Sie lassen keine Fremden zu sich herauf. Die Straße ist Privatweg, es sieht so aus, als hätten sie alles Land rings um Old Thunderhook aufgekauft." 17
„Zeigen Sie uns den Weg", bat Warren. „Wir werden uns schon mit ihnen einigen." Der Alte trat vor die Tür und deutete hinaus auf die sich verengende Landstraße hinter dem Farmgebäude. „Nach hundert Metern zweigt eine alte Straße nach rechts ab. Sie führt direkt zum Old Thunderhook hinauf. Aber fahren Sie vorsichtig. Es gibt 'ne Menge scharfer Kurven und Abhänge." Warren und Marge verabschiedeten sich und stiegen in den Dodge. Als Warren vor dem Laden wendete und die beiden Gebäude hinter sich ließ, bemerkte er im Rückspiegel einen schwarzen Kombiwagen, der mit großer Geschwindigkeit aus der Richtung von Cullenville kam. Der Wagen wurde vor dem Laden scharf gebremst, und ein hünenhafter Mann mit scharfgeschnittenem Gesicht sprang heraus und verschwand im nächsten Augenblick im Laden des Alten. Warren konzentrierte sich auf die Straße. Links und rechts stiegen dichtbewaldete Hügel steil an. Der Reporter bemerkte die schmale, geröllbedeckte Seitenstraße erst, als sie schon daran vorbei waren. Er setzte zurück. Bevor er einbog, warf er einen weiteren Blick in den Rückspiegel und sah, wie der Fremde aus dem Laden gestürzt kam und sich in den Kombi schwang. Reifen quietschten, als der schwarze Wagen aus dem Stand beschleunigte und auf die Straße schoß. Eine Sirene erklang. Warren zögerte keine Sekunde. Er beschleunigte seinerseits und jagte mit hoher Geschwindigkeit über die holprige Straße. Marge schrie auf, aber Warren nahm den Fuß nicht vom Gaspedal, im Gegenteil, er holte das Äußerste aus seinem Dodge heraus. Vor ihnen tauchte eine Kurve auf, und der Wagen geriet ins Schleudern. Staub wirbelte auf und nahm Warren für einen Moment die Sicht, aber er fuhr blind weiter. Hinter ihnen heulte die Sirene des Kombis. Zu beiden Seiten der Straße standen die Bäume und Büsche jetzt so dicht, daß Warren oft nur wenige Meter weit sehen konnte. Marge war 18
kreidebleich geworden. „Langsamer!" stöhnte sie. „Du bringst uns um. Wenn uns jemand entgegenkommt..." Warren biß die Zähne zusammen und hielt das mörderische Tempo. Der Weg stieg jetzt steiler an. Kleine Steine wurden zur Seite geschleudert. Manchmal schien Warren direkt in die grüne Wand des Waldes hineinzurasen, bis im letzten Augenblick eine scharfe Kurve auftauchte. Gott sei Dank hatte der Wagen gute Stoßdämpfer, sonst wären sie längst irgendwo im Unterholz neben der Straße gelandet. „Ich will wissen, was hier gespielt wird", sagte der Reporter. „Und ich bin verdammt sicher, daß die Antwort direkt vor uns liegt, oben in den Bergen. Alles paßt zusammen." Marge überwand sich und löste den Blick von der Straße vor ihnen. Sie drehte sich um und fuhr zusammen, als sie sah, wie steil der Weg war. Als sie eine längere gerade Strecke hinter sich hatten, sah sie den Kombi um eine Kurve schießen. Die Sirene hallte in ihren Ohren. „Er ist immer noch hinter uns her", sagte sie leise. „Kein Wunder", brummte Warren. „Er gehört zu den Leuten auf dem Berg." „Es ist Privatbesitz, Warren!" „Und wenn schon!" Der Wagen geriet ins Schleudern, als er einen plötzlich aufgetauchten großen Felsblock umkurvte. Sofort trat Warren das Gaspedal wieder voll durch. Die Reifen quietschten, und der Dodge schoß mit einem Ruck nach vorne. Allmählich entkrampfte Marge sich ein wenig. Sie nahm die Kamera und drehte sich erneut um, wartete, bis der Kombi wieder auftauchte und machte ein paar Photos. „Wenn wir im Gefängnis oder im Leichenhaus landen, kann People nun wenigstens ein paar Bilder von unseren letzten Minuten bringen", meinte sie mit einem Schuß Galgenhumor. Die Straße führte jetzt an einem steilen Abhang vorbei, 19
während zur anderen Seite mächtige Felsblöcke in den Himmel ragten. Warren schwitzte. Eine weitere Kurve, dichter Wald, ein etwa fünfzig Meter langes, gerades Stück Weg, dann eine erneute Biegung... Hinter ihnen heulte die Sirene des Verfolgers. Und dann verschwanden die Bäume. Die Straße schien sich vor Warren und Marge aufzulösen. Von allen Seiten drang gleißendes Licht auf die beiden Menschen ein. Warren war geblendet und trat instinktiv auf die Bremse. Der Wagen drehte sich ein paarmal um die eigene Achse, schlitterte einige Meter über eine Straße, die gar nicht mehr zu existieren schien, und kam endlich zum Stillstand. Warren und Marge blickten fassungslos auf das Bild, das sich ihnen bot. Unmittelbar vor ihren Füßen breitete sich ein weites, von warmem Sonnenlicht überflutetes Tal aus. Der Himmel war grünblau, ein paar kleine Wolken leuchteten hellorange. Im Zentrum des Tales lag eine Stadt, wie sie kein Mensch jemals zuvor gesehen hatte. Warren und Marge sahen schlanke Türme, große Kuppeln aus Glas und Metall und blinkende Verkehrswege, auf denen sich fremdartige Fahrzeuge bewegten. Auf einigen der Türme wehten Flaggen, und an ein paar Stellen stieg schwarzer Rauch in den Himmel, dazwischen blitzte es hier und da auf, als ob irgendwelche Objekte explodierten. Außerhalb der Stadt erstreckten sich ausgedehnte, offene Felder, und überall lagen Soldaten am Boden. Bei genauerem Hinsehen konnten die beiden Menschen erkennen, daß es sich um zwei feindliche Armeen handelte, die in heftige Kämpfe verwickelt waren. Wieder sahen sie Explosionen, wenn die Geschosse feindlicher Geschütze in den Reihen der Gegner einschlugen. Sie konnten sich nicht länger um die Kämpfenden im Tal kümmern, denn jetzt bemerkten sie, daß eine breite Straße zu 20
ihnen heraufführte, und über diese Straße rollten Dutzende von seltsamen Tanks direkt auf sie zu, Maschinen mit Geschütztürmen, aber an beiden Seiten mit rauchenden Rohren versehen und mit mehreren Radachsen anstelle von Ketten. Aus den Geschütztürmen ragten die Körper von Männern in fremden Uniformen. Warren spürte, wie Marges Hand sich in seinen Arm krampfte, als einer der Soldaten auf sie zeigte und den anderen etwas zurief. Der erste der Panzer richtete die Kanone auf das Auto. Marge schrie laut auf und riß Warren aus der Erstarrung, die ihn bei dem unverhofften Anblick ergriffen hatte. Er nahm den Fuß von der Bremse und gab Gas. Marge brachte es fertig, die Kamera hochzureißen und eine Aufnahme von den anrückenden Tanks zu machen. Warren versuchte, sich an die Straße zu erinnern. Wenige Meter vor ihnen befand sich eine Kurve. Er mußte blind fahren... Plötzlich gab es keinen grünblauen Himmel mehr, keine herabbrennende Sonne, keine Stadt und keine Tanks. Direkt vor dem Dodge tauchte eine Felswand auf. Warren sah die Kurve und reagierte augenblicklich. Der Wagen wurde herumgeschleudert und raste nur wenige Zentimeter an den Felsen vorbei, wo er wieder auf die steinige Straße kam. Im nächsten Augenblick hörten die beiden das Quietschen von Bremsen, das sich in das Sirenengeheul mischte. Dann krachte der Kombi frontal gegen die Felswand. „Das war knapp", flüsterte Warren. „Unsere Freunde haben weniger Gluck gehabt. Hätte ich nicht die Kurve gesehen, bevor die Vision entstand..." Er hatte das Tempo verlangsamt. „Was willst du tun?" fragte Marge. „Helfen wir ihnen?" Warren schüttelte den Kopf und beschleunigte erneut. „Es hat keinen Zweck. Wir können hier nicht wenden, und ich habe keine Lust, die Fortsetzung zu unserer Vision zu erleben. Wir fahren weiter. Wenn wir oben jemanden finden, kann er ihm helfen. Denke immer daran, was für uns auf dem 21
Spiel steht." „Dann fahre langsamer", beschwor Marge den Reporter, „oder alles, was uns dieser Job einbringt, wird eine Todesanzeige in People sein." „Du hast recht", gab Warren zu. „Jetzt haben wir Zeit. Aber wir wissen nun endgültig, daß die Leute nicht gelogen haben. Wir haben selbst eines dieser Geisterbilder gesehen und keinen Laut gehört. Wir waren Zeugen, als die Bomben explodierten, aber es gab keine Geräusche." „Aber ich habe ein Photo gemacht", sagte Marge. Warren winkte ab. „Wenn das alles nur eine Halluzination war, wird dein Film nur die reale Landschaft zeigen, nicht mehr." Sie fuhren jetzt langsamer. Allmählich verbreiterte sich die Straße. Die Bäume standen nicht mehr so dicht beieinander, und nach etwa fünf Minuten hörte der Wald auf. Warren und Marge erblickten auf der rechten Seite der Straße ein Gebäude. Es wirkte auf den ersten Blick wie ein Schlößchen. Die Fassade war mit Stuck verziert, und das schräg abfallende Dach bestand aus Ziegeln. Hinter dem Gebäude waren Teile weiterer Komplexe zu erkennen. Sie wirkten teilweise steril und auf reine Zweckmäßigkeit ausgerichtet. Warren sah quaderförmige Komplexe, große Hallen und eine riesige Kuppel, die ihn sofort an ein Observatorium erinnerte. Sie schien nur aus Metall zu bestehen. Warren brachte den Wagen vor der Tür des Schlößchens zum Stehen. „Wir sind da. Versuchen wir also unser Glück. Kommst du mit?" „Du schüttelst mich so schnell nicht ab", sagte Marge lächelnd. Sie gingen auf die große Tür zu. Bevor sie sie erreichten, wurde sie von innen geöffnet. Zwei große muskulöse Männer, offensichtlich Wachen, standen im Rahmen. Einer von ihnen sah die Eindringlinge mit 22
hochgezogenen Brauen an. Er hatte stechende, blaue Augen und eine Narbe auf der rechten Wange. „Was habt ihr beide hier zu suchen?" fragte er. Der zweite, ein vierschrötiger Geselle mit einem Boxergesicht, stieß seinen Kameraden mit dem Ellbogen an. „Es ist wohl besser, wenn wir sie zum Chef bringen. Er wird wissen, was mit ihnen geschehen soll, Jack." Der mit ,Jack' Angesprochene nickte. „Also herein mit euch!" Warren zuckte die Schultern und ließ Marge den Vortritt. Als sie an ihm vorbeiging, flüsterte er: „Willkommen in meinem Netz, sagte die Spinne zur Fliege..." Sie betraten einen breiten Korridor. Hinter ihnen fiel die schwere Tür ins Schloß. Sie gelangten durch ein kleines Vorzimmer in einen riesigen, geschmackvoll eingerichteten Raum. In einem großen Steinkamin brannte ein kleines Feuer und vermittelte eine behagliche Atmosphäre. Die Wände waren von Bücherregalen bedeckt, und um einen langen Holztisch herum standen mehrere Sessel. Einige Türen führten in die anderen Komplexe des Gebäudes. Jack verschwand in einer von ihnen. Eine Minute später kam er mit einem älteren grauhaarigen Mann zurück. Der Mann musterte Warren und Marge aus zusammengekniffenen Augen unter dichten, grauen Brauen. „Darf ich fragen, welchem Umstand wir Ihren unerwarteten Besuch zu verdanken haben?" Warren griff in seine Tasche und zeigte ihm seinen Presseausweis. Der ältere Mann runzelte die Stirn, während Warren sich und Marge vorstellte. „Also von People", sagte der Mann nachdenklich. „Ich will Ihnen gleich sagen, daß Ihr Besuch uns höchst ungelegen kommt. Wir können keine Publicity gebrauchen, und ich fürchte, daß Sie bei uns keine Story für Ihr Magazin finden werden. Mein Name ist übrigens Enderby, Dr. James 23
Enderby." Warren lächelte freundlich. Enderby schien nicht so recht zu den beiden Muskelmännern zu passen, die sich etwas zurückgezogen hatten, sie aber nicht aus den Augen ließen. „Möglich", sagte Warren. „Aber vielleicht können Sie uns helfen, Licht in eine andere Angelegenheit zu bringen, die Miß McElroy und mich brennend interessiert." „Und die uns hierhergeführt hat", ergänzte Marge, die sich in einen der bequemen Sessel gesetzt hatte. „Das alles hier macht einen ziemlich geheimnisvollen Eindruck. Sie scheinen die Freundlichkeit nicht gerade gepachtet zu haben. Zuerst brechen wir uns fast den Hals auf der Fahrt hierher und erschrecken uns fast zu Tode, und dann erleben wir einen solchen Empfang." Enderby wechselte einen schnellen Blick mit den beiden Männern an der Tür. „Wovon reden Sie? Was hat Sie erschreckt?" Marge schüttelte ungehalten den Kopf. „Na, diese Autokino-Vorstellung, die Sie uns unterwegs präsentierten. Sagen Sie nicht, daß Sie nichts davon wissen!" „Autokino-Vorstellung?" fragte Enderby, nun völlig verwirrt. „Was haben Sie...?" Bevor er aussprechen konnte, hörten sie, wie die schwere Eingangstür aufgerissen wurde. Im nächsten Moment betrat ein Mann in zerfetzter Kleidung und mit blutigen Schrammen am Kopf und an den Händen den Raum. Warren erkannte ihn sofort wieder. „Das sind sie!" rief der Hüne. „Ich habe versucht, sie zu stoppen, als sie die Straße hinauf jagten. Wenn nicht diese verdammte Vision gewesen wäre, hätte ich sie erwischt. Sie haben hier nichts zu suchen!" Der Fahrer des schwarzen Kombis fuchtelte wild mit den Armen in der Luft herum und warf Warren und Marge wütende Blicke zu. „Ich hatte Glück und wurde aus dem Wagen geschleudert. 24
Der Kombi liegt zerschmettert zwischen den Bäumen. Das war für euch bestimmt!" knurrte er. „Es ist genug, Kenster!" sagte Enderby scharf. „Gehe in dein Quartier und bringe dich erst einmal wieder in Ordnung. Um den Wagen kümmern wir uns später." Kenster verließ fluchend den Raum, und Warren berichtete Enderby von dem, was auf der Straße vorgefallen war. „Erzählen Sie uns nun nicht, daß Sie nichts von der Vision und von den Erscheinungen wissen, die die Leute in dieser Gegend verrückt machen. Sie verstecken sich hier oben in den Bergen und lassen niemanden an sich heran, als ob Sie eine Verschwörung planten. Miß McElroy und ich arbeiten für eines der größten Nachrichtenmagazine, und Sie können uns nicht hier festhalten, ohne daß unsere Leute davon Wind bekommen und nach uns suchen. Den damit verbundenen Rummel können Sie sich vielleicht vorstellen, Dr. Enderby. Es wäre also besser für Sie, uns reinen Wein einzuschenken und auf weitere Mätzchen zu verzichten." Enderby sah Warren nachdenklich an. „Glauben Sie nicht, daß mich Ihre Position beeindruckt, Mr. Alton. Ich bin imstande, jede Berichterstattung zu unterbinden. Diese Anlage und das ganze umgebende Gebiet gehören der Lansing-Stiftung. Wir arbeiten für sie, und ich kann Sie beruhigen. Hier geht nichts Kriminelles vor, wir arbeiten sogar mit voller Unterstützung der Regierung." Warren war verblüfft. Natürlich kannte er die LansingStiftung, eine der größten Forschungsgesellschaften in den Staaten. Die Lansing-Stiftung war eine ernstzunehmende, einflußreiche Institution, die bereits viele Erfolge auf allen Gebieten der Forschung auf zuweisen hatte. Trotzdem gab Warren nicht auf. „Die Lansing-Stiftung ist nicht die Regierung, Doktor. Und wenn Ihre Forschungen mit einer Gefährdung der Öffentlichkeit verbunden sind, ist es die Aufgabe der Presse, 25
die Bürger zu informieren und, wenn nötig, Ihr Projekt zu bekämpfen. Die Leute in Coningo County sehen alle möglichen Dinge und werden unruhig. Am Ende könnte eine Panikwelle stehen, die das ganze Land überzieht. Ich brauche nicht zu erwähnen, daß auch wir einen ziemlichen Einfluß ausüben können." Enderbys Miene verhärtete sich. Aber bevor er etwas entgegnen konnte, betrat ein Mann in einem weißen Arbeitskittel den Raum durch eine Hintertür. Unter dem Arm trug er einige Papiere. „Ja, Dr. Weidekind?" fragte Enderby gereizt. Weidekind, ein kleiner, dünner Mann, dem die Haarsträhnen bis über die Augen fielen, schien nicht zu bemerken, daß außer Enderby noch jemand im Raum war. „Wir hatten Ärger mit den Abschirmungen, Jim", sagte er hastig. „Es ist möglich, daß es wieder irgendwo in der Nähe ein Geisterbild gegeben hat. Wir konnten eine kurze Szene auf dem zweiten Planeten von NNW 2/65 einfangen, einen Kriegsschauplatz. Ich glaube, wir müssen die Abschirmung im Sektor..." „Später, Weidekind, ich vermutete etwas Ähnliches. Wir können jetzt nicht darüber reden, wir sind nicht allein." Erst jetzt bemerkte der kleine Wissenschaftler die Besucher. „Tun Sie, was Sie für richtig halten, Weidekind", sagte Enderby. „Ich komme so schnell wie möglich nach." Noch während Weidekind verschwand, fiel Warren das leise Summen auf, das von irgendwo aus dem Hintergrund zu kommen schien. Was ging hier vor? Was bedeuteten Weidekinds Worte? „Falls Sie an einer Kommunikationsmöglichkeit mit anderen Welten arbeiten, sollten Sie gerade mit der Presse zusammenarbeiten", sagte Warren. „Ein solches Projekt läßt sich nicht geheimhalten." Enderby fuhr herum und starrte den Reporter wütend an. 26
„Wieso schaffen wir sie uns nicht einfach vom Hals, Chef?" fragte der Mann mit dem Boxergesicht. „Ein kleiner Autounfall bei den Felsen, und wir sind sie los und können in Ruhe weiterarbeiten." „Dummkopf!" rief Jack. „Das ist keine Lösung." Kenster war inzwischen zurückgekommen und unterstützte den Vorschlag des Boxergesichts. „Ich warne Sie, Enderby", stieß Warren wütend aus. „Man wird nach uns suchen und uns finden. Ein Mann wie C. B. Carlyle wird alle Hebel in Bewegung setzen'" Enderby wurde hellhörig. „Sagten Sie C. B. Carlyle?" „Sie haben ganz richtig gehört. Es wird Sie interessieren, daß Carlyle selbst uns den Auftrag gab, uns um die mysteriösen Vorgänge in dieser Gegend zu kümmern." „Lassen Sie mich mit der Stiftung sprechen", sagte Enderby nach einer Weile. „Sie werden einen Weg finden, die Sache auszubügeln." Er ging zu einem Schreibtisch in einer Ecke des Raumes und hob den Telephonhörer ab. Während er eine Nummer wählte und auf die Verbindung wartete, machte Warren schnell einige Notizen. Die drei Wächter unterhielten sich flüsternd miteinander. Die Hintertür, durch die das summende Geräusch kam, öffnete sich, und mehrere Männer in weißen Kitteln kamen herein. Weidekind war bei ihnen. Er kam auf Warren und Marge zu, während die anderen sich in die Sessel fallen ließen. „Tut mir leid, daß ich Sie unterbrochen habe, wir haben nicht oft Besuch hier oben, und schon gar nicht eine solch charmante junge Dame." „Vielen Dank", sagte Marge und lächelte den Wissenschaftler an. „Es scheint doch noch freundliche Menschen in diesem exklusiven Club zu geben." 27
Ein anderer Mann, etwa dreißig Jahre alt und dunkelhaarig, gesellte sich zu ihnen. „Willst du uns nicht vorstellen, Hans?" „Luis Marco", sagte Weidekind. Der Dunkelhaarige deutete eine galante Verbeugung an. „Dies dort hinten sind Roger Stanhope, Leopold Steiner und Carter Williams. Sie werden Sie sicher noch näher kennenlernen." „Das möchte ich bezweifeln", meinte Warren. „Sie sehen alle wie Ingenieure aus. Ich nehme kaum an, daß Sie hier sind, um neue Methoden modernen Ackerbaus zu entwickeln?" Die Männer lachten. Weidekind winkte amüsiert ab. „Das Landwirtschaftsministerium hat uns bestimmt nicht hierhergeschickt, da können Sie sicher sein. Aber Ingenieure sind wir schon in gewisser Beziehung. Haben Sie noch nie von Steiner gehört?" Warren musterte den Mann mit der hohen, fast kahlen Stirn und der dicken Brille. „Doch, jetzt erinnere ich mich. Ich habe sein Bild gesehen, aber es ist eine Weile her." „Ich auch", sagte Marge unerwartet. Steiner war aufgestanden und zu ihnen getreten. „Sie haben einige Theorien über Galaxien entwickelt, oder?" Steiners Gesicht hellte sich auf. Warren nahm den Faden auf. „Sie sind also alle Astrophysiker? Dann handelt es sich hier um ein Observatorium?" Bevor jemand antworten konnte, legte Enderby den Hörer des Telephons auf und bedeutete den Männern, zu schweigen. „Sie sagten, daß Ihr Verleger C. B. Carlyle sei, Mr. Alton?" Warren nickte. „Schön. Dann rufen Sie ihn bitte jetzt von hier aus an. Er wird einige neue Instruktionen für Sie haben." Der Reporter blickte Enderby mißtrauisch an. Dann ging er zum Telephon. Nach kurzer Wartezeit hörte er die Stimme seines Chefs. 28
„Hallo, Alton", sagte Carlyle. „Sie haben also wieder einmal den richtigen Riecher gehabt, gute Arbeit, Alton. Trotzdem müssen wir umdisponieren. Es sieht ganz so aus, als ob die Lansing-Stiftung an einer Sache arbeitet, gegen die die Atombombe winzig ist. Ich weiß selbst noch nicht, um was es sich handelt, aber ich habe mit den Direktoren der Stiftung gesprochen und einen Kompromiß schließen können. Sie und Marge werden so lange dort oben bleiben, bis das Experiment abgeschlossen ist. Als Gegenleistung für unsere Zurückhaltung werden Sie alle Rechte für den offiziellen Bericht erhalten. Sie werden die offiziellen Chronisten sein, Alton, und ich versichere Ihnen, das wird die Story Ihres Lebens. Bleiben Sie auf Old Thunderhook und machen Sie sich nützlich. Marge soll fleißig Photos anfertigen. Die Arbeit wird vielleicht noch mehrere Monate in Anspruch nehmen. Bleiben Sie am Ball. Ich vertraue Jim Enderby vollkommen. Vielleicht erinnern Sie sich daran, daß er vor sieben Jahren den Nobelpreis für Physik bekam. Alles, was ich über die Experimente weiß, ist, daß sie unter dem Namen ,Projekt Mikrokosmos' laufen, was immer das auch bedeuten mag. Viel Glück, Alton, und nun geben Sie mir Enderby an den Apparat, damit ich ihn informiere." Warren gab Enderby den Hörer. Projekt Mikrokosmos? Was, um alles in der Welt, hatte das nun wieder zu bedeuten? 3. Nach dem gemeinsamen Abendessen, an dem außer den Diensthabenden alle an dem Projekt Beschäftigten teilnahmen, führte Enderby Warren und Marge durch die gewaltige Anlage. Der Wissenschaftler hatte sich für die unfreundliche Begrüßung entschuldigt. Sie mußten übervorsichtig sein, denn 29
in dem Experiment steckte so viel Zündstoff, daß jederzeit mit dem Auftauchen von Spionen gerechnet werden mußte. „Sie werden vieles von dem, was hier vorgeht, nicht verstehen oder zumindest ziemlich merkwürdig finden", sagte Enderby, als sie vor der großen Kuppel standen, „In diesem Planetarium befindet sich das Phantastischste, das eines Menschen Auge je erblickt hat, und dennoch wurde es von Menschenhand geschaffen. Alles basiert auf Dr. Steiners Erkenntnissen. Er ist sozusagen der geistige Vater unseres Projekts." Enderby zeigte den Besuchern den Atommeiler, der den Forschern die zu ihren Experimenten benötigte gewaltige Energiemenge lieferte. Er warnte davor, den Meiler ohne Begleitung zu betreten, obwohl alle denkbaren Vorsichtsmaßnahmen getroffen worden waren. Hinter dem Meiler befanden sich drei flache, langgezogene Gebäude. Eines diente als Quartier für die hier arbeitenden Menschen, in den beiden anderen waren die Aufzeichnungen und Akten und die Computer untergebracht. Außerdem befanden sich dort einige Laboratorien und Forschungsräume. Enderby zeigte seinen Gästen alles, aber die große Kuppel schien er sich bis zuletzt aufsparen zu wollen. Seine Stimme nahm fast einen andächtigen Klang an, als sie schließlich vor ihr standen. „Hier befindet sich das Herz von ,Projekt Mikrokosmos', und Sie werden sehen, daß die Bezeichnung vollkommen zutrifft." Sie betraten das vermeintliche Planetarium und fanden sich auf einem Rundgang wieder, der an der Innenwand der Kuppelhülle entlanglief. Was von außen wie eine Halbkugel aussah, war in Wirklichkeit ein riesiger, kugelförmiger Innenraum, dessen untere Hälfte unter der Erdoberfläche lag. Warren und Marge starrten ungläubig auf das, was sich plastisch vor ihren Augen ausbreitete. Es dauerte einige Minuten, bis der Reporter die Sprache 30
wiederfand. „Mein Gott", brachte er leise hervor. „Was ist das, Enderby? Es ist phantastisch - aber es jagt mir Furcht ein." Warren war unfähig, den Blick von dem Wunder zu nehmen, in das er zu sinken drohte, je länger er es betrachtete. Milliarden heller Punkte in einer undurchdringlichen, schwarzen Masse. Punkte, die funkelten und sich ständig zu bewegen schienen. Eine einzige große Spirale aus Licht und Leben, die den Betrachter in sich aufzusaugen schien. Er blickte auf ein räumlich begrenztes Gebilde, aber er glaubte, in die Unendlichkeit zu sinken, Millionen Lichtjahre tief... Marge war kreidebleich geworden und brachte kein Wort hervor. Enderby lächelte und legte Warren die Hand auf die Schulter. „Es ist großartig, nicht wahr? Es ist ein Universum, das wir geschaffen haben. Ein Mikrokosmos, Mr. Alton, ein wirkliches, kleines Universum. Die hellen Punkte sind Sterne, wirkliche Sterne eines Miniaturuniversums. Und die Schwärze ist nichts anderes als der Leerraum zwischen den einzelnen Sonnensystemen." „Eines Miniaturuniversums?" fragte Warren ungläubig. „Es ist unvorstellbar! Eine lebensechte Projektion einer ganzen Galaxis!" „Keine Projektion", erwiderte Enderby. „Es ist real. Sie blicken in ein wirkliches Universum." Warren schüttelte den Kopf. „Aber wie ist das möglich? Ein Mikrouniversum in einem Planetarium!" „Überzeugen Sie sich selbst", sagte Enderby und führte ihn zu einem riesigen Teleskop, das auf die Lichtspirale gerichtet war. „Blicken Sie hindurch, Mr. Alton", sagte Steiner, der an einem der Geräte gearbeitet hatte. „Sie werden sehen, daß alles real ist." Warren folgte der Aufforderung nach kurzem Zögern. Zuerst sah er endlose Schwärze, in der unzählige kleine Lichtpunkte 31
zu schwimmen schienen. Er justierte die Optik des Teleskops. Größere Sterne gerieten ins Blickfeld, aber sie wirkten kälter als die Sterne am Nachthimmel der Erde. Eine vergleichsweise riesige Sonne tauchte auf und schleuderte mächtige Protuberanzen hinaus in den Mikrokosmos. Warren betrachtete das Schauspiel mit steigender Faszination. Erst als Marge ihn anstieß, drehte er sich zu Steiner und Enderby um, während Marge ans Teleskop trat. „Es sieht aus wie ein Stern", sagte Warren. „Aber er ist winzig! Er müßte längst ausgebrannt sein!" Steiner schüttelte den Kopf. „Diese Sonne ist nicht winzig, Mr. Alton. In ihrem Universum ist sie größer als unsere Sonne. Die Gasschleier in der Korona sind vergleichsweise Tausende von Kilometern hoch." „Unmöglich!" entfuhr es dem Reporter. „Sie widersprechen sich, wenn Sie einerseits behaupten, daß es sich um keine Projektion handelt, sondern um ein reales Universum in dieser Kuppel, und im nächsten Augenblick behaupten, daß es Millionen mal größer als dieser Raum, ja, als unsere ganze Welt ist." „Und doch ist es wahr - beides", entgegnete Steiner ernst. „Es handelt sich um ein in sich abgeschlossenes Universum, das nichts mit dem unseren zu tun hat. Uns, den Beobachtern und Schöpfern dieser Welt, kommt es winzig vor, aber an den Maßstäben des Mikrokosmos gemessen, ist es so groß wie unser gesamtes Milchstraßensystem. Das, was Sie hier sehen, gehört nicht zu unserem Universum." Marge hatte sich zu den Männern gesellt und zugehört. „Ich kann es sehen, also existiert es hier - auf der Erde, in unserem Universum." Steiner zeigte auf eine lange Bank an der Innenwand der Kuppel. Warren und Marge setzten sich. „Ich will versuchen, es Ihnen so einfach wie möglich zu 32
erklären", begann der Wissenschaftler, während die beiden wie gebannt auf das spiralförmige Gebilde inmitten der Schwärze des Kuppelinneren starrten. „Eigentlich begann alles mit einem Gedanken, den ich vor etwa zehn Jahren hatte. Sie erinnern sich vielleicht daran, daß wir damals beim Studium des Atomaufbaus gewaltige Fortschritte in der Erkenntnis der Struktur der Materie und unseres Universums machten." „Ich las darüber", sagte Warren. „Vieles davon war nur durch die Erfindung und Perfektionierung des Zyklotrons möglich, das uns gestattete, Materiepartikel zu beobachten, die sich mit bislang unvorstellbarer Geschwindigkeit bewegten. Durch unsere Versuche mit der Kernspaltung entdeckten wir, daß unsere damaligen Vorstellungen von Materie und Energie oberflächlich und unvollkommen waren. Wir haben bis heute Dutzende verschiedener subatomarer Partikel entdecken können, unter ihnen solche wie das Anti-Proton und das AntiNeutron, von denen wir annahmen, daß sie in unserem Universum gar nicht existieren könnten. Diese Partikel haben die gleichen Eigenschaften wie ihre positiven Gegenstücke in unserer normalen Materie, obwohl ihre elektrische Ladung genau entgegengesetzt ist. Sie können nicht länger als einen winzigen Sekundenbruchteil zusammen mit positiven Partikeln existieren. Und doch existierten sie. Es muß sogar ganze Antimaterieuniversen geben, die natürlich nicht mit unserem Universum in Berührung geraten dürfen. Unzählige Universen, die nicht greifbar, aber denkbar sind. Wir kamen zu dem Schluß, daß es uns möglich sein müßte, sie zu schaffen, so unglaublich sich das für Sie anhören muß." Steiner legte eine Pause ein. „Dann ist das", Warren zeigte auf den Mikrokosmos, „ein Antimaterieuniversum?" „Das weiß niemand von uns", erklärte Steiner. 33
„Wahrscheinlich nicht. Die eben skizzierten Überlegungen gaben nur den Anstoß. Die Idee war, daß wir etwas schaffen mußten, das nicht in diesem Universum existieren konnte, nicht existieren durfte. Es war ein faszinierender Gedanke. Zwei Dinge bestimmten unser weiteres Vorgehen. Wir mußten bis an die Grenzen dessen vordringen, was unser Universum ausmacht, um eine Möglichkeit zu finden, die durch die Naturgesetze vorgegebenen Grenzen zu durchbrechen und etwas zu schaffen, das außerhalb unseres Universums lag. Es war einmal der Gedanke, daß sich nichts schneller als das Licht bewegen konnte, zum anderen der absolute Nullpunkt der Temperatur, unterhalb dessen keine Temperatur mehr denkbar war. Alles hing nun davon ab, ob es uns gelingen würde, eine dieser Grenzen - oder beide - zu sprengen. Unsere Versuche blieben lange Zeit ergebnislos. Es gelang uns, Teilchen bis nahe an die Grenze der Lichtgeschwindigkeit zu beschleunigen, aber es war unmöglich, diese höchst denkbare Geschwindigkeit zu erreichen. Ähnlich verhielt es sich mit den Experimenten den absoluten Nullpunkt betreffend. Wie Sie wissen werden, ist die Temperatur eines Objekts abhängig von der relativen Geschwindigkeit seiner Moleküle. Wenn ein Körper erhitzt wird, ist der Abstand der einzelnen Moleküle zu einander größer, und sie bewegen sich schneller, als dies bei einem abgekühlten Körper der Fall ist. Beim absoluten Nullpunkt würde jede Bewegung aufhören, es gäbe keinen Abstand mehr zwischen den Molekülen, sie würden verschmelzen und eine einzige, unbewegte Masse bilden. In unzähligen Versuchen gelang es uns, Temperaturen zu erzeugen, die nur knapp über dieser Grenze lagen, aber der absolute Nullpunkt selbst war nicht zu erzeugen. Schließlich kam mir der Gedanke, beide Operationen zu kombinieren, zu versuchen, ein Materiepartikel gleichzeitig bis fast zur Lichtgeschwindigkeit zu beschleunigen und seine Temperatur auf den absoluten Nullpunkt zu senken. Es war 34
eine jener spontanen Ideen, die urplötzlich kommen, wenn man an einem scheinbar unlösbaren Problem arbeitet." „Ich verstehe", sagte Warren. „Jede der beiden Operationen sollte als Katalysator auf die jeweils andere wirken." Steiner nickte. „Das war der Gedanke. Es dauerte vier Jahre, bis ich eine Möglichkeit fand, diese Operationen simultan durchzuführen. In dieser Zeit stellten Marco und Weidekind mathematische Berechnungen zu unserem Problem an, bis wir uns eine hohe Erfolgsmöglichkeit ausrechneten. Wir wandten uns an die Lansing-Stiftung und erhielten alle Unterstützung, die wir brauchten. Die Leute von der Stiftung begriffen schon damals, daß wir etwas gefunden hatten, das unser ganzes wissenschaftliches Weltbild umstürzen könnte. Und sie sollten recht behalten." „Wie ging es weiter?" fragte Marge. „Wir waren uns dessen bewußt, daß das Resultat unseres Experiments ein Etwas sein würde, das nicht in unserem Universum existieren konnte. Die Urzelle eines völlig neuen Universums würde ent-. stehen, vergleichbar jenem Uratom, das am Anfang der Schöpfung stand. Ein Wasserstoffatom von unvorstellbarer Masse, in dem das gesamte Materiepotential steckte, das einmal ein Universum ausmachen würde. Wir gingen davon aus, daß sich dieses Superatom im gleichen Augenblick aus unserem Universum herauskatapultieren würde, in dem es entstehen würde. Irgendwo jenseits unseres Raum-Zeit-Gefüges würde ein neues Universum entstehen, ohne jegliche Verbindung zu dem unseren. Ich muß zugeben, daß diese Aussicht dazu geeignet war, einige von uns resignieren zu lassen. Das Ergebnis unserer Arbeit würde für uns aufhören zu existieren, bevor wir es überhaupt zu Gesicht bekamen. Dann ergaben neue Kalkulationen, daß es möglich sein mußte, durch entsprechend starke Abschirmungen eine Blase in unserem Kosmos zu schaffen, in dem das neue Raum35
Zeit-Kontinuum sich ausbreiten konnte, ohne sich aufzulösen. Und wir hatten recht. Vor vier Jahren gelang es uns, das Uratom zu schaffen. Was daraus geworden ist, sehen Sie hier." „Eine ganze Miniatur-Galaxis". „Keine Miniatur", korrigierte Steiner. „An den Maßstäben dieses Mikrokosmos gemessen, ist sie so groß wie unsere Milchstraße - hunderttausend Lichtjahre im Durchmesser. Wir konnten es anhand der Geschwindigkeit des Lichtes innerhalb dieses Mikro-Universums bestimmen, die der in unserem Kosmos entspricht. Das Licht eines dieser winzig erscheinenden Lichtpunkte an einem Ende der Mikro-Galaxis benötigt einhunderttausend Jahre, um zum anderen Ende zu gelangen. Für unsere Begriffe ist das Gebilde klein, aber für die Begriffe eines Lebewesens innerhalb des Mikrokosmos unendlich groß. Das System hat mittlerweile das Entwicklungsstadium unseres eigenen Universums erreicht. Es gibt Sonnensysteme, auf deren Planeten sich vielfältiges Leben entwickelt." „Aber unser Kosmos besteht aus Millionen, ja Milliarden von Galaxien und ist unendlich. Dieser Mikrokosmos hingegen umfaßt eine Galaxis, und er ist durch die abschirmenden Magnetfelder begrenzt. Abgesehen von diesem Unterschied was erhoffen Sie sich von dem Experiment?" „Sie haben recht, Mr. Alton", sagte Steiner. „Der tatsächliche, praktische Wert dieses Projekts wurde uns erst später klar. Zunächst gingen wir davon aus, daß wir anhand der Entwicklung des Mikrokosmos, die sich für unsere Begriffe rasend schnell vollzieht, in der Lage sein würden, die Entwicklung unseres Universums beobachten zu können, Prozesse zu verfolgen, die in unserer Welt Milliarden von Jahren in Anspruch nehmen würden. Wir sahen an diesem realen ,Modell', wie ein Universum geboren wurde, und in absehbarer Zeit werden wir seinen Zusammenbruch erleben und damit um Jahrmilliarden in unsere eigene Zukunft greifen. 36
Über das Ende unserer Welt können wir vorerst nur Hypothesen aufstellen, aber in den nächsten Monaten werden wir hier auf Thunderhook alle Antworten haben. Der Mikrokosmos ist begrenzt, was die räumliche Ausdehnung betrifft, aber in ihm herrschen die gleichen Naturgesetze wie in unserem Universum. Was wir hier erleben, spiegelt die Entwicklung unseres eigenen Kosmos wider, zumindest unserer Galaxis, da unser Universum keine Grenzen hat." Warren nahm den Blick nicht von dem Wunder, das sich vor seinen Augen ausbreitete. „Wenn Sie recht haben", sagte er, „muß es in diesem Mikrokosmos Planeten geben, die unserer Erde ähnlich sind, und möglicherweise Leben, das...", Warren sprach den Satz nicht zu Ende, denn die Konsequenz seiner Überlegungen war zu phantastisch. „Richtig!" bestätigte Steiner. „Völlig richtig. Wir haben Planeten mit Leben gefunden, Welten, die der Erde fast vollkommen gleichen. Und wir konnten beobachten, wie sich dieses Leben entwickelte. Es gibt auf mindestens fünfzehn bisher entdeckten Welten Lebensformen wie auf der Erde, sogar menschenähnliche Völker, die gerade dabei sind, Zivilisationen aufzubauen. Das ist vielleicht die sensationellste aller unserer Entdeckungen. Können Sie sich vorstellen, was das bedeutet? Wir werden verfolgen, wie sie uns in ihrer Entwicklung überholen und uns ihre künftigen Erfindungen nutzbar machen können. In wenigen Wochen werden wir das Geheimnis der interstellaren Raumfahrt, der Antigravitation, völlig neuer Energiequellen kennen! Die Geschöpfe des Mikrokosmos werden Tausende von Jahren brauchen, um diese Erfindungen zu machen, in ihrer Zeit. Wir auf Old Thunderhook werden sie übernehmen können. Unser Projekt hat dadurch eine ungeahnte Dimension bekommen. Was wir hier entdecken, wird für die Menschheit von unvorstellbarem Nutzen sein." 37
Während er sprach, hatte Steiner sich über das Geländer gebeugt und mit glänzenden Augen das von Menschenhand geschaffene Wunder betrachtet. Erst nach Minuten fand er zu sich zurück und entschuldigte sich dafür, daß er sich hatte hinreißen lassen. „Mir ging's ebenso", wehrte Warren ab. Marge war aufgestanden und zu dem Wissenschaftler getreten. „Eines verstehe ich nicht", sagte sie. „Wie können Sie in diesen Mikrokosmos hineinsehen, um seine Geheimnisse zu ergründen? Wenn seine Planeten so unvorstellbar klein sind und der Zeitablauf dort dringen millionenfach beschleunigt ist wie können Sie dann einzelne Entwicklungsphasen dieser Welten einfangen?" „Eine gute Frage", sagte Steiner. „Es war unser größtes Problem, nachdem sich die ersten Planeten aus den kosmischen Gaswolken entwickelt hatten und wir die Entstehung des Lebens beobachten wollten. Zwar haben wir unerhört leistungsfähige Teleskope, mit denen wir die einzelnen Planeten beobachten können, aber auch sie reichen nicht aus, um Einzelheiten auf der Oberfläche auszumachen. Und dann half uns der Zufall. Eines Tages entdeckten wir ein merkwürdiges Phänomen. Wir nannten es ,korrespondierende Phasenüberlappungen'. Später bürgerte sich allgemein die Bezeichnung ,Geisterbilder' ein." „Die Visionen!" entfuhr es Warren. Steiner nickte. „In unserem Mikrokosmos gibt es die gleichen immanenten Kräfte und Vibrationen wie in unserer Welt. Sobald sich in beiden Universen ähnliche, besser gesagt: artverwandte physikalische Vorgänge phasenweise abspielten, kam eine gewisse Überlappung zustande. Für kurze Augenblicke wurden Vorgänge, die sich auf irgendwelchen Welten des Mikrokosmos abspielten, ,herüberprojiziert'. Hier auf Old Thunderhook konnten wir diese Geisterbilder seit mehreren 38
Wochen beobachten, später tauchten sie dann in der näheren Umgebung ebenfalls auf. Immer, sobald auf einer Welt des Mikrokosmos eine kurze Adäquanz zu einem bestimmten Punkt der Erde auftritt, entsteht eine Vision. Wir erleben für einen kurzen Augenblick, was sich in dieser Zeit auf der korrespondierenden Welt im Mikrokosmos abspielt." „Diese Visionen haben uns auf Ihre Spur gebracht", erinnerte Warren. „Wir haben alles Mögliche versucht, um diese Geisterbilder zu unterbinden", erklärte Steiner. „Aber wir glauben, daß wir weitere Erscheinungen dieser Art jetzt durch zusätzliche Magnetblöcke verhindern können. Natürlich verlieren wir damit eine Möglichkeit, Vorgänge auf den Welten des Mikrokosmos zu verfolgen, aber wir haben eine zweite Möglichkeit gefunden, eine ungleich wirkungsvollere. Mit dieser Methode sind wir in der Lage, alles, wirklich alles zu erfahren, was sich dort entwickelt." Steiner schwieg. Warren und Marge versuchten, das Gehörte zu verarbeiten. Es war zu phantastisch. Und doch sahen sie es vor sich - eine von Menschenhand geschaffene Welt, Milliarden von kleinen, hellen Punkten, jeder davon eine Sonne, um die Planeten kreisten. Und auf einigen dieser Planeten mochten Menschen wie sie leben... Als sie das Planetarium verlassen hatten, blieben sie eine Weile stehen, sahen in den blauen Himmel und über die bewaldeten Hügel hinter der Station und sogen die frische Luft ein. „Phu!" stieß Marge aus. „Es war ganz schön unheimlich dort drinnen. Ich kam mir wie ein kleiner Gott vor, aber mir war gar nicht wohl dabei." „Mir geht es ähnlich", sagte Warren. „Es war, als ob wir in dieser anderen Welt versinken würden, und es ist ein verdammt gutes Gefühl, wieder den festen Boden der guten alten Erde 39
unter sich zu spüren. Trotzdem haben wir unglaubliches Glück gehabt. Wir erleben hier möglicherweise einen Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit mit." „Ich kann das alles immer noch nicht begreifen", murmelte Marge. „Steiner sagte, wir sollten uns die Aufzeichnungen ansehen, vielleicht wird uns dann einiges klarer. Wenn die Photos, die sie gemacht haben, Fälschungen sind, wird es dir nicht schwerfallen, sie als solche zu erkennen, und wir wissen, woran wir sind. Wenn sie echt sind, werden sie dich eher überzeugen als Steiners Ausführungen." Der Komplex, in dem sich die Aufzeichnungen befanden, war eines der langgezogenen Gebäude, die Warren und Marge schon bei ihrer Ankunft bemerkt hatten. Die Tür war verschlossen. Warren klopfte an. Sie hörten Schritte, und dann wurde ihnen geöffnet. Roger Stanhope stand im Eingang. Er trug einen weißen Kittel und hatte eine Mappe unter dem Arm. Warren und Marge traten ein und fanden sich in einem langen Raum wieder, der von Projektoren, Karteikarten und aufgespannten Projektionsleinwänden ausgefüllt war. Hinter einer kleinen Tür erkannten sie verschiedene Geräte, die zum Entwickeln von Filmen dienten. „Ich war gerade dabei, einige Akten zu sortieren", erklärte Stanhope. „Sie müssen schon entschuldigen, wenn meine Laune zu wünschen übrig läßt. Jemand hat in den Unterlagen und Karteien herumgewühlt, und das nicht zum ersten Mal. Es ist meine Aufgabe, die Photos zu machen, sie zu entwickeln und darauf zu achten, daß sie in der richtigen Reihenfolge eingeordnet werden. Wenn schon jemand sich hier zu schaffen macht, wenn ich nicht da bin, sollte er mir wenigstens vorher Bescheid sagen." Warren stutzte. „Wer hat denn außer Ihnen noch einen Schlüssel?" „Außer mir nur Steiner, Marco und Enderby, aber niemand 40
von ihnen würde eine solche Unordnung anrichten. Irgend jemand durchwühlt die Karteien und macht sich an den Entwicklungsgeräten zu schaffen." „Wer würde ohne Ihre Erlaubnis hier eindringen?" fragte Warren, während er sich in der Entwicklungskammer umsah. Stanhope zuckte die Schultern. „Eben das kann ich mir nicht erklären, und es geschieht nun schon seit Wochen." „Und wenn es hier auf Thunderhook Spione gibt?" fragte Marge. „Spione?" Stanhope wurde bleich. „Sie meinen, daß ein Spion hier eindringen und unsere Aufzeichnungen kopieren würde? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen." „Vielleicht hat sie recht", sagte Warren. „Wie oft kommt es vor, daß Sie irgendwelche Unterlagen am falschen Ort finden?" „Nicht oft, vielleicht jede Woche einmal. Ich bemerkte es zum erstenmal, nachdem wir mit dem Verzögerungsverfahren begonnen hatten." „Verzögerungsverfahren?" fragte Warren. „Was ist das nun wieder?" Stanhope deutete auf eine Reihe von numerierten und mit Daten versehenen Kästen. „Sie werden es besser verstehen können, wenn Sie sich vorher einige Aufnahmen ansehen, die wir während der letzten Wochen machen konnten. Wir haben sie alle chronologisch geordnet. Sie sind Teil einer umfassenden Übersicht über unsere Arbeit, nach dem Abschluß des Projekts werden wir sie eventuell in einer Publikation zusammenfassen. Zu jeder Aufnahme finden Sie eine ausführliche Beschreibung der beobachteten Vorgänge." Warren und Marge setzten sich und begannen, einen Stapel der Photographien durchzusehen. Warren betrachtete sie der Reihe nach und las laut die beigefügten Notizen vor. Die ersten Bilder zeigten, wie die Forschungsstation auf Old 41
Thunderhook errichtet wurde, die Arbeiten am Atommeiler, der die ungeheuren Energien lieferte, die zu dem Experiment benötigt wurden, und die letzten Vorbereitungen des Projekts. Das nächste Bild zeigte eine strahlend weiße Kugel in einem endlos scheinenden Meer aus Schwärze - das Uratom kurz vor seiner Entstehung. Dann waren die einzelnen Phasen der Expansion zu sehen, und schließlich begannen sich aus den grauen Gasschleiern einzelne Nebel zu bilden - die Geburtsstätte der Sonnen. Warren nahm weitere Stapel aus der Kartei. Das Universum nahm Form an. Die ersten Sterne entstanden, dann die Planeten... „Ein Jahr nach dem Beginn des Experiments", las Warren ab. „Die bisher durchgesehenen Photos zeigen die Entwicklung des Mikrokosmos in den ersten dreihundert Millionen Jahren seiner Zeit." „Dreihundert Millionen Jahre!" stieß Marge aus. „Das bedeutet, daß die Zeit im Mikrokosmos dreihundert Millionen Mal so schnell abläuft wie in unserem Kosmos!" Warren nahm sich den nächsten Stapel vor. Die Spirale der galaktischen Systeme wurde erkennbar. Weitere Sterne wurden geboren, und im Laufe der nächsten siebenhundert Millionen Jahre verschwanden fast alle Gaswolken. Die nächsten Photos zeigten Ausschnitte aus dem Mikrokosmos. Dank der Teleskope war es möglich, die Entstehungsgeschichte einzelner Planeten zu verfolgen. Warren und Marge sahen, wie sich feste Krusten bildeten, Welten mit Landmassen und großen Meeren, die einmal erdähnlich werden würden. Andere Planeten entwickelten sich zu Gasriesen wie Jupiter. Die folgenden Aufnahmen konzentrierten sich auf die Entwicklung erdähnlicher Welten mit fester Oberfläche. Die ersten grünen Flächen entstanden, urzeitliche Dschungel zwischen rauchenden Vulkanen. Einige markierte dunkle 42
Flecken zeigten erste Herden von Tieren. Hier wurden die Grenzen der Instrumente deutlich, die den Forschern zur Verfügung standen. Stanhope war herbeigekommen und sah über Marges Schulter. „Interessant, nicht wahr? Die Planeten, die wir uns herausgepickt haben, befinden sich im Vergleich zu unserer Galaxis an fast der gleichen Stelle wie unser Sonnensystem - in den äußeren Sektoren der Spiralarme." Warren nahm das nächste Bild und stieß laut die Luft aus. Das Photo zeigte eine Siedlung primitiver Eingeborener. Es war von unglaublicher Schärfe. Zwischen den Hütten waren einige humanoide Gestalten zu erkennen. • „Wie ist das möglich?" „Augenblick", sagte Stanhope und nahm Warren das Bild aus der Hand. „Das gehört nicht hierhin. Irgend jemand muß sich an den Photos zu schaffen gemacht haben, vermutlich, um Kopien davon anzufertigen." „Also doch ein Spion", entfuhr es Marge. „Jetzt gibt es keinen Zweifel mehr!" „Mich interessiert jetzt vor allem, wie Sie es fertigbrachten, diese Aufnahme zu machen", sagte Warren. Stanhope antwortete nicht sofort. Er war sichtlich erregt. Erst nachdem er das Photo richtig eingeordnet hatte, sagte er: „Wir verdanken es dem von uns entwickelten Verfahren, das uns gestattet, die Zeitabläufe im Mikrokosmos künstlich zu verzögern, natürlich nur in Relation zu unserem Kosmos. Für die Geschöpfe der Mikrowelt hat sich nichts geändert. Marco fand eine Möglichkeit, die Kräfte der Magnetfelder in das Mikrouniversum hineinwirken zu lassen und den relativen Zeitablauf für Stunden zu verzögern. In dieser Zeit sind wir in der Lage, Informationen zu sammeln. Das Bild, das Sie sahen, wurde während einer solchen Phase aufgenommen." Stanhope zeigte Warren und Marge weitere Aufnahmen, die 43
während der Verzögerungsphasen gemacht worden waren. Plötzlich stutzte Warren. Auf einer Notiz zwischen zwei Photos fand er neben den üblichen Daten einige Namen, die ihm zunächst nichts sagten. Dann begriff er, daß es sich dabei um Namen von Bewohnern der beobachteten Welt handeln mußte. „Das verstehe ich nicht", sagte er zu Marge und reichte ihr die Notiz. Er drehte sich nach Stanhope um, aber der Wissenschaftler war in der Dunkelkammer verschwunden und entwickelte einen neuen Film. „Wie können sie wissen, welche Sprache auf diesem Planeten gesprochen wird, und woher können sie die Namen einzelner Personen kennen? Es gibt keine Maschine, die die Gedanken dieser Wesen lesen kann." „Der vierte Planet der Sonne NWE 61", las Marge. „Die Bewohner nennen ihre Welt ,Chundra'. Hier wird die Geschichte eines Stammesfürsten erzählt. Die Sache wird mir unheimlich, Warren." Der Reporter schüttelte den Kopf. Zuviel war innerhalb weniger Stunden auf sie eingeströmt. „Wir werden am Ball bleiben, Marge. Ehrlich gesagt, frage ich mich, ob dies nicht alles nur ein Traum ist." Stanhope kam aus der Dunkelkammer und gähnte. „Zeit zum Abendessen", meinte er. „Ich bin halb-verhungert, und Sie sehen aus, als ob Sie auch einen Happen vertragen könnten." Marge und Warren standen auf. Warren hatte eine Reihe von Fragen auf der Zunge, schwieg aber vorerst. Bei Gelegenheit würde er sich Enderby vorknöpfen. Stanhope brachte die Photos wieder an ihren Platz und schloß den Schrank mit den Aufzeichnungen ab. „Es nützt Ihnen nicht viel, wenn der Spion einen zweiten Schlüssel hat", bemerkte Warren. „Ich werde sofort mit Enderby über die Angelegenheit reden", erklärte Stanhope. „Sie ist ernst, sehr ernst. Spione 44
könnten unsere ganze Arbeit ruinieren." Sie verließen das Gebäude. Mittlerweile war es Nacht, und die Sterne des wirklichen Universums standen am Himmel. Warren hatte ein seltsames Gefühl, als er über den Rasen auf das Hauptgebäude zuging. Eben noch hatte er die Sterne eines anderen Universums betrachtet. Gab es jemanden, der auch sie auf ähnliche Weise beobachtete, jetzt, in der Vergangenheit und bis zum Ende ihrer Welt? Unsinn! versuchte Warren sich einzureden. Wir wissen, daß unser Universum grenzenlos ist! Aber konnten die Bewohner des Mikrokosmos wissen, daß ihres Grenzen hatte? 4. Im Laufe der nächsten Tage hatten Warren und Marge Gelegenheit, sich mit den weiteren Einzelheiten des Projekts Mikrokosmos vertraut zu machen. Marge arbeitete mit Stanhope zusammen im Photolabor und nutzte jede Gelegenheit, die Wissenschaftler in der großen Kuppel zu beobachten, wenn sie neue Aufnahmen machten. Marge entpuppte sich als eine lernbegierige junge Frau, die viel von ihrer Arbeit verstand. Wer immer dafür gesorgt hatte, daß sie bei People angestellt wurde, mußte von ihren Qualitäten als Photographin gewußt haben. Warren beschäftigte sich mit der immensen Fülle von Daten, die die Wissenschaftler seit Beginn des Experiments zusammengetragen hatten. Die Beobachtungen waren so zahlreich, daß es für die Forscher unmöglich war, sie alle auszuwerten und entsprechend nach bestimmten entwicklungsgeschichtlichen Kategorien zu ordnen. Warren 45
versuchte, den Ablauf des Experiments zu skizzieren. Er schrieb in Stichworten die Geschichte des Mikrokosmos. Später einmal würde er sie ausführlich in einer Publikation darlegen können, aber noch war das Experiment nicht abgeschlossen. Beim Studium der Aufzeichnungen stieß er immer wieder auf Details aus der Entwicklungsgeschichte eines Volkes, für die er keine Erklärung fand. Weder Enderby noch einer der anderen hatte bisher darüber geredet, auf welche Weise diese Beobachtungen zustande gekommen waren. Es war fast so, als ob einer der Männer sich mitten unter den Eingeborenen der fremden Welten befunden und dort an Ort und Stelle Erfahrungen gesammelt hätte. Aber das war unmöglich! Warren versuchte, beim gemeinsamen Abendessen aus der Unterhaltung der Wissenschaftler etwas herauszuhören, das ihn weiterbrachte, aber meist sprachen sie über abstrakte Dinge, die sie im Laufe des Tages beobachtet hatten. Sie waren nie alle auf einmal anwesend. Er hatte mit Enderby über seinen Verdacht gesprochen, daß sich innerhalb der Forschungsstation ein Spion befinden könnte. Enderby hatte die Lansing-Stiftung informiert. Immerhin, so argumentierte er, bestand vorerst nicht die Gefahr einer Sabotage. Der Spion würde das Ende des Experiments abwarten. Erst jetzt begann jene Phase, die die wirklich wichtigen Informationen liefern würde. Die Entwicklung der humanoiden Rassen im Mikrokosmos begann, die Evolution der irdischen Menschheit zu überholen. Warren widmete sich weiter seiner Arbeit. Immer wieder tauchte die gleiche Frage auf: Woher bezogen die Wissenschaftler die Informationen über die Entwicklung einzelner Rassen, ja, einzelner Personen auf den Welten des Mikrokosmos? Sie gaben auf seine Fragen nur ausweichende Antworten. Enderby erklärte ihm, daß er alle Informationen 46
erhalten würde, wenn die Zeit dafür reif wäre. Erst am Abend des vierten Tages auf Old Thunderhook sollte er die Antwort erhalten. Warren und Marge machten nach dem Abendessen noch einen kleinen Spaziergang über das Gelände der Station. Plötzlich blieb das Mädchen stehen. „Diese kleine Kuppel dort, neben dem Observatorium - warst du schon einmal drinnen?" fragte Marge. Warren schüttelte den Kopf. „Ich habe ihr nie besondere Beachtung geschenkt. Aber wenn du willst, sehen wir uns einmal um." „Warum nicht?" meinte Marge und war auch schon unterwegs zu der einzigen Tür, die in die Kuppel führte. Warren öffnete sie, und Marge trat an ihm vorbei in einen kleinen, runden Raum. „Kein Licht", sagte Marge. Warren versuchte, etwas im Innern des Raumes zu erkennen. Nur langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Er sah zuerst nur einen schweren Tisch direkt neben dem Eingang, dann konnte er Einzelheiten ausmachen, einen Schreibblock, ein Lineal, Zeichenstifte und einen Stuhl. „Ein Mann!" rief Marge. „Dort liegt ein Mann, Warren!" Jetzt erkannte der Reporter eine kleine Öffnung in der gegenüberliegenden Wand, aus der ein fahler Lichtschimmer drang. Direkt darunter lag ein Körper auf einer Art Pritsche, seltsam verkrümmt und sich windend, als ob er unter großen Schmerzen litt. Warren und Marge beugten sich über ihn. „Er ist gefesselt", rief Warren. „Es ist Carter Williams, Marge." „Mein Gott, Warren, was geht hier vor?" Marges Stimme klang brüchig. Es war offensichtlich, daß sie vor irgend etwas Angst hatte, vor etwas, das sich dem Wissen der beiden Menschen entzog... 47
Carter Williams war an die Pritsche gefesselt. Er konnte nur den Kopf bewegen. In dem fahlen, aus der Öffnung dringenden Licht konnte Warren sehen, wie sich seine Pupillen wie rasend hin und her bewegten. Williams versuchte, sich aufzubäumen, aber die Fesseln hielten ihn auf der Liege. „Heute morgen beim Frühstück war er noch vollkommen in Ordnung", flüsterte Warren. „Wir müssen ihm helfen", sagte Marge ebenso leise, als ob überall in der kleinen Kuppel versteckte Beobachter lauern könnten. „Ich bin sicher, daß der Spion ihn überwältigt hat. Jack sagte mir heute mittag..." „Mir ist ziemlich egal, was Jack sagt. Hilf mir lieber, Williams zu befreien. Sollte er tatsächlich von einem Spion überfallen worden sein, kann er ihn vielleicht identifizieren." Marge half dem Reporter Williams Fesseln zu lösen. Der Mann stöhnte und schlug wild mit dem Kopf bin und her. „Er muß Schmerzen haben", flüsterte sie. Warren hatte den Wissenschaftler an den Schultern gepackt und rüttelte ihn leicht, bis die Benommenheit allmählich zu schwinden schien. „Aufwachen. Williams!" Carter Williams sah Warren lange an, aber sein Blick schien ihn zu durchdringen. Dann richtete der junge Wissenschaftler sich auf. Er saß auf der Pritsche und sah sich verwundert um. Seine Hand fuhr über die schweißbedeckte Stirn. Er murmelte einige Worte, die Warren nicht verstand. „Sind Sie in Ordnung?" fragte Warren. „Sollen wir Sie in die Sanitätsabteilung bringen?" Williams' Augen weiteten sich. Plötzlich stieß er einen wilden Schrei aus und sprang von der Pritsche auf. Im nächsten Augenblick hatte er Warren gepackt und zu Boden gerissen. Bevor der Reporter überhaupt reagieren konnte, hatte Williams beide Hände an seiner Gurgel und schrie wie besessen. Es waren Worte in einer fremden Sprache. 48
Marge schrie hysterisch auf. Williams fuhr herum und lockerte den Griff seiner Hände. Warren erkannte seine Chance und hieb dem Wissenschaftler eine Faust in die Magengrube. Williams stöhnte und sprang auf. Wieder hörte Warren die fremden Worte. Einen Moment lang schien Williams nicht zu wissen, ob er sich auf Marge oder wieder auf Warren stürzen sollte. Sein Blick fiel auf den großen Arbeitstisch neben dem Eingang. Im nächsten Augenblick hatte er das lange, metallene Lineal in der Hand und holte damit aus. Warren sprang zurück. Als Williams ihm folgte, erkannte Marge ihre Chance. Sie rannte aus der Kuppel und rief laut um Hilfe. Warren wich Schritt um Schritt zurück. Der Verrückte kam immer näher und schwang das schwere Lineal. Williams' Gesicht war zu einer grauenhaften Fratze geworden. Wo blieb die Hilfe? Marge schrie nun schon seit einer Minute, aber Warren kam es wie eine Stunde vor. Er machte einen Satz hinter den Arbeitstisch. Williams fluchte und schlug nach ihm, aber Warren konnte dem Lineal ausweichen. Er versuchte, in den funkelnden Augen seines Gegenübers etwas zu erkennen. Eines stand für ihn außer Zweifel: Der Mann war nicht jener Carter Williams, den er kannte. Welches Drama vollzog sich hier? Was hatten Enderby und die anderen ihm und Marge bisher verschwiegen? Williams stieß einen animalischen Laut aus und fegte den Tisch mit einer einzigen Bewegung der freien Hand beiseite. Warren glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Er sah den Verrückten auf sich zuspringen. Williams holte aus. Warren wollte zurückweichen, aber hinter ihm befand sich die Innenwand der Kuppel. Der Reporter schloß die Augen und riß die Hände vors Gesicht. Aber der erwartete Schlag blieb aus. Plötzlich hörte Warren Stimmen von draußen. Kenster und Enderby stürzten 49
in den Raum. Der Wächter griff Williams von hinten an und schlang seine Arme um die Brust des Tobenden. Enderby schlug ihm mit der flachen Hand ein paarmal ins Gesicht, wobei er seinen Namen rief. Die Arme des Wissenschaftlers sanken herab. Kenster mußte ihn stützen. Plötzlich schien jede Kraft aus Williams' Körper gewichen zu sein. Sein Gesicht entzerrte sich. Er schloß die Augen für einige Sekunden, dann sah er Enderby an und sagte mit völlig normaler Stimme: „Hallo, Doktor. Das war plötzlich. Wer hält mich fest?" Enderby gab Kenster ein Zeichen, und der Wächter ließ Williams los. Der Wissenschaftler ging zur Pritsche und setzte sich. Nach einer Weile lächelte er Warren verlegen an. „Ich habe Ihnen einen schönen Schrecken eingejagt, nehme ich an. Aber das war nicht eigentlich ich. Sie hätten die Fesseln nicht lösen sollen. In einer halben Stunde hätte Hyatt mich zurückgerufen." Warren schüttelte wütend den Kopf. „Ich glaube, es wird allmählich Zeit, mit der Geheimnistuerei Schluß zu machen. Wenn Sie nicht Sie selbst waren, wer war es dann, der mich um ein Haar ins Jenseits befördert hätte?" „Sie werden es vielleicht nicht glauben wollen", sagte Williams lächelnd, „aber Sie kämpften soeben mit dem Hauptmann der Königlichen Palastwache von Gwath-modr, einem großen Reich auf dem zweiten Planeten der Sonne NNW 2/65..." „Es war wohl doch ein Fehler, Sie nicht früher einzuweihen", sagte Enderby, als er die ungläubigen Blicke sah, die Warren und Marge sich zuwarfen. „Ich hielt es nicht für gut, Ihr Vorstellungsvermögen über Gebühr zu strapazieren und wollte warten, bis Sie das bisher Erfahrene verarbeitet hatten." Enderby machte Williams ein Zeichen. „Gehen Sie ruhig und schreiben Sie Ihre Erinnerungen auf, bevor Sie sie verlieren." „Sie haben recht", sagte der Wissenschaftler. „Ich habe vier 50
aufregende Monate hinter mir." Er setzte sich an den Arbeitstisch, den Kenster wieder zurechtgerückt hatte, nahm Papier und einen Stift zur Hand und begann zu schreiben. Enderby bat Warren und Marge, ihm ins Freie zu folgen. „Wieso vier Monate?" fragte Marge. „Heute morgen saß er noch mit uns zusammen." Enderby nickte. „Das ist richtig, Miß McElroy. Aber zwischen dem Frühstück und jetzt hat er vier Monate auf einem Planeten des Mikrokosmos verbracht." „Ich dachte, daß niemand den Mikrokosmos betreten könnte?" „Körperlich nicht", gab Enderby zu. „Aber wir haben eine Möglichkeit gefunden, das Bewußtsein eines Menschen für eine bestimmte Zeitspanne in die Mikrowelt zu versetzen. Kommen Sie mit in die Kuppel. Ich werde es Ihnen erklären." „Das war überfällig", knurrte Warren. Kurz darauf standen sie wieder auf dem Rundgang an der Innenwand der Kuppel, und beim Anblick der weißen Spirale aus Milliarden von Sternen erschien Warren selbst das Unmögliche realisierbar. Enderby zeigte auf die verschiedenen Teleskope, die rund um das Gebilde aufgebaut waren. „Es war ein Zufall, der uns auf die Möglichkeit des Bewußtseinsaustauschs mit Bewohnern des Mikrokosmos aufmerksam machte. Vor etwa zwei Monaten fand Rendell Weidekind, den er an den Teleskopen ablösen sollte, bewußtlos neben einem der Geräte. Rendell rief mich, und gemeinsam gelang es uns, Weidekind zur Besinnung zu bringen. Er berichtete, daß er einen Planeten mit einer Zivilisation beobachtet hätte, die der unseren glich. Weidekind hatte den relativen Zeitablauf so stark wie möglich verzögert, um Detailaufnahmen zu machen. Er konzentrierte sich vollkommen auf den Planeten und seine Aufgabe und fühlte 51
sich dann, wie er sagte, plötzlich von leichtem Schwindelgefühl gepackt. Das Teleskop war auf eine Ansammlung dunkler Punkte gerichtet, eine Stadt auf dem Planeten. Weidekind fühlte sich in diese Stadt hineingerissen. Er konnte die Augen nicht vom Teleskop und dem Bild, das er sah, nehmen. Es war, als ob ihn irgend etwas in den Mikrokosmos hineinzog. Dann war ein Augenblick lang eine nie gekannte Leere in ihm, und danach hatte er das Gefühl, als stritten zwei Bewußtseine in seinem Kopf um den Besitz seines Körpers. Wieder spürte er die Leere, und dann befand er sich von einem Augenblick zum anderen in einer fremdartigen Szenerie. Er stand zwischen nie gesehenen Gebäuden und blickte in einen fremden Himmel. Um es kurz zu machen, er fand sich im Körper eines der Bewohner dieser Stadt wieder. Er konnte alles verstehen, was er sah und hörte, denn ihm stand das gesamte Erinnerungsvermögen des Fremden zur Verfügung, in den er „hineingerutscht" war, während das Bewußtsein des anderen von Weidekinds Körper Besitz ergriffen hatte. Weidekind wußte alles über den Mann, den Namen, das Alter, den Beruf und alles, was er in seinem bisherigen Leben erlebt hatte. Weidekind lebte ein ganzes Jahr im Körper des Fremden unter den Bewohnern des Planeten. Als wir ihn bewußtlos neben dem Teleskop fanden, war hier nur kurze Zeit vergangen, nicht einmal eine ganze Stunde. Als wir Weidekind zu sich brachten, kehrte sein 'Bewußtsein zurück und verdrängte das des Fremden, das Gott sei Dank nicht in der Lage war, in der Zwischenzeit die Kontrolle über Weidekinds Körper zu übernehmen. So etwas passiert nur selten, trotzdem läßt sich jeder von uns, der sich auf eine Reise in den Mikrokosmos begibt, vorher fesseln. Weidekind konnte sich an fast alles erinnern, was er als Bewohner des Mikrokosmos erlebt hatte, und schrieb es nieder. Wir erhielten ein exaktes Bild der Kultur, die diesen Teil des 52
Planeten beherrschte, erfuhren von ihren Gebräuchen, ihrer Religion und ihren Hoffnungen, Die Bewohner standen etwa auf der Stufe unserer Römer. Später fanden wir heraus, daß der Bewußtseinsaustausch auf ähnliche Weise zustande kam wie die Geisterbilder. Es funktioniert, sobald der Beobachter am Teleskop auf ein Bewußtsein ,stößt', das auf uns noch unbegreifliche Weise mit dem eigenen korrespondiert - zwei verwandte Charaktere, die die gleichen Schwingungen aussenden, Wenn Sie so wollen." Enderby schwieg und starrte in den Mikrokosmos. Nach einer Weile fragte Warren: „Und von dieser Hypothese ausgehend, führten Sie weitere Bewußtseinsübertragungen durch?" Enderby nickte. „Regelmäßig. Allerdings darf jeder von uns höchstens eine ,Reise' pro Tag unternehmen, weil sonst die psychische Belastung zu groß würde. Zusätzlich zu den Fesseln verabreichen wir den betreffenden Personen ein starkes Beruhigungsmittel, das auf den Körper wirkt, nicht aber das Bewußtsein lahmt. Sie konzentrieren sich auf die Zielwelt im Mikrokosmos, und wenn sie auf ein korrespondierendes Bewußtsein stoßen, findet der Austausch statt. Nachher schreiben sie ihre Erinnerungen nieder, denn diese verschwinden mit der Zeit wie die Erinnerungen an einen Traum. Williams und Hyatt unternehmen regelmäßige ,Ausflüge' in den Mikrokosmos, Weidekind und Rendell beschränken sich auf gelegentliche Besuche. Wir gewinnen so ungeheure Erkenntnisse über die einzelnen Entwicklungsphasen der Völker im Mikrokosmos. Trotzdem haben wir viel zu wenig Leute, um all die Planeten zu besuchen, die eine vielversprechende Kultur hervorgebracht haben." „Wenn also beispielsweise Williams jeden Tag ein und demselben Planeten einen Besuch abstattet, sind zwischen den 53
einzelnen Aufenthalten auf der betreffenden Welt dort Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte vergangen", vermutete Warren. „Ganz richtig", bestätigte Enderby. „Wir erhalten ein gestrafftes Bild ihrer Entwicklung. Verstehen Sie jetzt, welchen Wert unser Projekt darstellt?" „Und was geschieht, wenn das Wesen, in dessen Körper das Bewußtsein eines Beobachters steckt, getötet wird?" wollte Marge wissen. „Wer stirbt wirklich?" Enderby zuckte die Schultern. „Ehrlich gesagt, haben wir in dieser Hinsicht keine Erfahrungen gemacht. Wir wissen es nicht." Warren lächelte plötzlich. „Wissen Sie, Enderby, es ist ein Teil meines Berufs, fremde Länder zu besuchen. Ich glaube, ich könnte einen guten Beobachter abgeben. Wie ist es? Nehmen Sie mich in die Liste der Transferierer auf? Ich melde mich freiwillig, wenn Sie so wollen." Der Wissenschaftler lachte. „Herzlich gern, Mr. Alton. Meinetwegen können Sie schon morgen anfangen. Am besten studieren Sie bereits heute die Daten über den sechsten Planeten des Systems SSW 20." „Und mich fragt niemand?" beschwerte sich Marge. „Immerhin wäre es ganz gut, eine dieser Welten aus dem Sichtwinkel einer Frau beobachten zu lassen." „Überschlafen Sie's lieber noch einmal", sagte Enderby. „Morgen sehen wir dann weiter." Marge stieß in gespielter Entrüstung laut die Luft aus. Am nächsten Morgen wurde Warren bereits von Enderby und Williams in der kleinen Kuppel erwartet. Das an das Planetarium angeschlossene kleine Bauwerk diente ausschließlich dem Zweck, Reisen in den Mikrokosmos durchzuführen und danach die Ergebnisse schriftlich festzuhalten. 54
Warren hatte sich ausführlich über die Welt, auf die er transferieren sollte, informiert. Der Planet war bisher nur zweimal von Mitgliedern des Forschungsstabs aufgesucht worden. Zwischen den beiden Besuchen lag ein Zeitraum von mehreren hundert Jahren auf der Mikrowelt. Der Reporter war sich darüber im klaren, daß er sich einem Ungewissen Schicksal aussetzte. Wenn er erst einmal in den Körper eines Bewohners des Planeten geschlüpft war, würde es Monate dauern, bis er zurückkehrte. Er hatte keine Ahnung, was er in dieser Zeit sein würde, ein Wissenschaftler, ein Arbeiter oder ein Soldat - alles war denkbar. Es würde ein Abenteuer werden, von dem er noch vor wenigen Tagen nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Warren legte sich auf die Pritsche und ließ sich von Williams fesseln. Enderby gab ihm die Injektion, die seinen Körper träge machte, sein Bewußtsein aber schärfte. Enderby lächelte dem Reporter aufmunternd zu und öffnete die kleine, runde Klappe in der Wand über Warrens Kopf, hinter der die Öffnung lag, durch die er direkt in die größere Kuppel sehen konnte. Williams zog einen schwenkbaren Teleskoparm herüber, an dessen Ende sich Spiegel und eine Anzahl kleiner Linsen befanden. Das Licht des Mikrokosmos fiel aus der Öffnung auf die Spiegel und wurde durch die Linsen direkt auf Warrens Augen gerichtet, wobei das Bild so stark vergrößert wurde, daß einzelne Sternsysteme erkennbar waren. Williams stellte die Vorrichtung so ein, daß Warren direkt auf die Sonne Süd-Südwest 20 blickte. Noch einmal wurde das Bild vergrößert, und nun tauchte die Kugel des sechsten Planeten aus der Schwärze des Weltalls auf. Warren hatte das Gefühl, in ein Teleskop zu sehen. Er nahm helle und dunkle Flecken wahr, die Land- und Wassermassen sein mußten. Der Planet besaß zwei Monde, einen großen, der strahlend weiß wirkte, und einen kleineren, dunkleren. 55
Warren konzentrierte sich auf das Bild des Planeten. Schon nach wenigen Minuten fühlte er, wie sich ein leichtes Schwindelgefühl einstellte. Die Stimmen der beiden Männer neben der Pritsche wurden leiser und verstummten dann völlig. Alles versank in einem Meer aus Dunkelheit, nur der Planet war noch vorhanden und füllte Warrens Bewußtsein aus. Irgend etwas ergriff Besitz von ihm. Seine letzte bewußte Wahrnehmung war das Gefühl, an zwei Orten gleichzeitig zu sein, zweimal zu existieren... Und dann gab es nur noch Schwärze um ihn herum.
5. Der Mond glitzerte wie ein Juwel in der Dunkelheit des Weltraums. Warren wußte, daß er sich dem Himmelskörper mit rasender Geschwindigkeit näherte, daß er sich in einer winzigen Kapsel befand, die die Nase einer atomgetriebenen Rakete bildete, daß er in kurzer Zeit auf dem Trabanten landen würde... Warren wußte, daß er Dau Wool-house hieß und der Kommandant des ersten bemannten Raumschiffs war, das auf dem größeren der beiden Monde landen sollte. Er war unter zahlreichen Bewerbern von der Armeeführung seines Landes, der Rätedemokratie von Souva, ausgewählt worden. Er, Dau Wool-house, sollte der Kolumbus des Weltraums für den Planeten Komar sein. Er blickte sich um. Warrens Bewußtsein hatte längst erkannt, daß der Transfer geglückt war. Er wußte alles über Wool-house aus dessen Erinnerungen, und er wußte alles über Komar, das auch Wool-house wußte. Die Kapsel war winzig. Warren war in einem tiefen Sessel 56
festgeschnallt. Das Bewußtsein aus einer anderen Welt steuerte die Handbewegungen des Kommandanten. Aus einem Lautsprecher drang ein Knacken, dann meldete sich eine Stimme: „Bodenstation an Kommandant Wool-house, können Sie uns hören? Kommandant Wool-house in der Kah-eins. Bitte melden Sie sich!" Warren drückte einen Knopf. „Hier Wool-house. Alles in Ordnung, ich habe keine Schwierigkeiten." „Glückwunsch, Dau", sagte die Stimme aus dem Lautsprecher. „Der Vorsitzende des Rats läßt dir seine ganz persönlichen Grüße ausrichten. Wir haben dich auf den Schirmen, wie sieht's dort oben aus, Dau?" Warren berichtete ruhig und beantwortete alle Fragen mit einer Selbstverständlichkeit, die ihn selbst überraschte. Warren/Dau las verschiedene Daten von den Instrumenten ab und gab sie an die Bodenstation durch. Warren kannte jede Stimme, die zu ihm redete. Alles, was in Daus Gehirn gespeichert war, stand ihm zur Verfügung. Innerhalb weniger Sekunden hatte Warren erfahren, wie sich das bisherige Leben des Raumpiloten abgespielt hatte, er erinnerte sich an die langen Jahre des harten Trainings, das unbeschreibliche Glücksgefühl, als er, Wool-house, ausgewählt wurde, den ersten wirklichen Schritt ins Weltall zu tun. Die Komarianer waren humanoid, etwa einen Meter achtzig groß und kahlköpfig. Jeder Komarianer hatte vier Finger an jeder Hand, strahlend blaue Augen und runde, flach anliegende Ohren. Ansonsten glichen sie den Menschen der Erde. Warren trug einen einteiligen Raumanzug, der es ihm später gestatten würde, sich im freien Weltraum zu-bewegen. Der von einer dicken Eisschicht bedeckte Mond übte eine wachsende Faszination auf ihn aus. Warren sehnte die Landung herbei. Wieder meldete sich die Bodenstation auf Komar. Warren 57
versicherte immer wieder, daß es ihm gut ging und gab laufend neue Daten durch. Immer wieder mußte er den Eismond beschreiben. Mit jeder Minute tauchten neue Einzelheiten auf der Oberfläche auf. Warren wußte aus Daus Erinnerungen, daß der Satellit etwa 16000 Kilometer durchmaß, während Komar selbst Erdgröße hatte. Auch das Verhältnis von Land und Wasser entsprach dem auf der Erde. Es war unerhört wichtig, den Mond vor den anderen zu erreichen. Warren wußte, daß es auf Komar zwei rivalisierende Machtblöcke gab, die Rätedemokratie von Souva und Tannol, eine Diktatur. Wer den Mond für sich in Anspruch nehmen konnte, würde auch auf Komar dominieren. Warren war vier Tage unterwegs, vier Tage, in denen er sich mit den Zielen, Wünschen und Hoffnungen, selbst mit den Ängsten Daus zu identifizieren begann. Manchmal vergaß er, wer er wirklich war. Dann erschien ihm die Welt, aus der er kam, fremd und unendlich weit entfernt. Warren hatte das Gefühl, immer schon hier, auf Komar, gelebt zu haben. Er sah die Sterne eines fremden Weltraums, der sich nach allen Seiten hin bis ins Unendliche auszudehnen schien. Und doch wußte er, daß der Eindruck trog. Er befand sich als Bewußtsein innerhalb eines von Menschen geschaffenen Mikrokosmos, der kaum größer als ein Dutzend Meter war. Vielleicht saß Steiner oder einer der anderen gerade jetzt an einem Teleskop und beobachtete die Sonne, um die Komar kreiste. Warren schob die Gedanken beiseite, als die Rakete in eine Kreisbahn um den Eismond einschwenkte. Er sah spitze Eisnadeln, die hoch in den Himmel aufragten, freie, glatte Flächen und lange, breite Spalten. Der Abstand zur Oberfläche verringerte sich schnell. Je näher Warren herankam, desto mehr Einzelheiten machte er aus. Es war eine Welt voller Wunder. Das Licht der Sonne wurde gebrochen und in allen Farben des Regenbogens reflektiert. 58
Jetzt erkannte Warren kleine Einschlagkrater von Meteoren. Warren setzte zur Landung an, als er plötzlich etwas Helles am Horizont aufblitzen sah. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, über der glitzernden Eisfläche etwas zu erkennen. Wieder blitzte es am Himmel des Eismondes auf. Und jetzt sah Warren, daß sich ein zweites Raumschiff auf die Oberfläche herabsenkte. Aber das war unmöglich! Warren rief die Station auf Komar und schilderte seine Beobachtungen. Er konnte die Antworten nicht verstehen, weil er bereits zu nahe am Mond war. Deshalb beschloß er, zunächst die andere Rakete zu ignorieren, bis er sicher gelandet war. Warren erkannte ein riesiges Eisfeld direkt vor ihm. Das Raumschiff würde nicht wie die Raketen der Erde mit dem Heck nach unten landen, sondern auf am Rumpf angebrachten Kufen aufsetzen und über das Eis gleiten, bis es durch die Bremsraketen zum Stillstand gebracht werden würde. Die Rakete berührte den Boden, wurde in die Höhe geschleudert und landete wieder auf den Kufen. In rasender Fahrt glitt sie über die freie Eisfläche, auf eine Reihe von steil in den Himmel ragenden Eisblöcken zu. Warren wurde durchgeschüttelt, aber die Gurte hielten ihn im Sitz fest. Die Geschwindigkeit war zu hoch, um das Schiff unter Kontrolle zu bringen. Die Eisblöcke wuchsen beängstigend schnell in die Höhe. Warren ließ das Schiff eine Wendung um 180 Grad vollführen und zündete die Bremsraketen. Er wurde hart in seinen Sitz gepreßt und hatte Mühe, die Fahrt zu steuern. Endlich wurde er langsamer. Noch wenige Meter... Ein Ruck fuhr durch die Kabine. Warren prallte fast mit dem Kopf gegen die Instrumente. Er hörte das Knirschen von berstendem Metall. Dann war nichts mehr. Warren schüttelte benommen den Kopf und löste den Gurt. Er war unverletzt, aber das Schiff mußte schwer beschädigt sein. Wahrscheinlich würde er nie mehr starten können. 59
Warren nahm seinen Druckanzug aus einem kleinen Schrank und legte ihn in aller Eile an. Dann öffnete er die Verbindungstür zum Mittelteil des Raumfahrzeugs. Die Luft aus seiner Kabine entwich explosionsartig und warf ihn nach vorn. Warren sah, daß die Außenhülle der Rakete an einigen Stellen zerstört war. Sämtliche Atmosphäre war entwichen. Damit stand endgültig fest, daß es keine Rückkehr nach Komar geben würde. Er hatte nur noch eine Aufgabe zu erfüllen. Warren betrat die kleine Schleuse im Mittelteil des primitiven Raumschiffs und öffnete langsam das Außenschott. Er holte tief Luft, dann sprang er auf das Eis hinab. Die Anziehungskraft des Mondes war gering, und Warren fühlte sich leicht wie eine Feder, als seine Füße den gefrorenen Boden berührten. Es ist geschafft! durchfuhr es ihn. Warren fühlte den Triumph, und es war Daus Triumph. Dau Wool-house würde zwar nie mehr nach Komar zurückkehren können. Die Nahrungs- und Luftvorräte reichten noch für einige Wochen. Dann würde er einsam auf dem Eismond sterben, aber sein Opfer war nicht umsonst gewesen. Warren betrachtete das Wrack. Die Rakete war mitten in ein Feld aus auseinandergebrochenem Eis gerutscht, das sich meterhoch auftürmte. Die Heckpartie war vollkommen zerstört. Warren holte einen stählernen Mast aus dem Schiff, an dem die Flagge Souvas befestigt war. Mit ein paar Schlägen rammte er den Mast ins Eis. Der Raumpilot trat einige Meter zurück und betrachtete sein Werk. Eigentlich sollte er jetzt gerührt und stolz sein, aber plötzlich kam ihm die Flagge nur noch wie ein kindisches Spielzeug vor. Millionen von Sternen schienen auf die weite, glitzernde Oberfläche des Mondes herab, und am Horizont war die Scheibe Komars zu sehen. Warren fühlte den Hauch der Ewigkeit, der ihn von allen Seiten entgegenzuschlagen schien, wurde sich bewußt, wie klein er angesichts der gewaltigen 60
Schöpfung doch war, und wie unbedeutend das schlaff am Mast hängende Symbol einer abstrakten Macht war, die sich Souva nannte. In dem Raumschiffskommandanten Dau Wool-house ging eine tiefgreifende Veränderung vor. Aus dem Souvaner wurde ein Komarianer. Ein Blitz am Himmel lenkte Warren ab. Das andere Raumschiff setzte zur Landung an - auf dem gleichen Eisfeld. Warren wurde für einen Augenblick geblendet, als aus den Steuerdüsen einige Feuerstöße fuhren, die das Schiff bereits vor der Bodenberührung abbremsen sollten. Die Rakete setzte unsanft auf und glitt über das spiegelglatte Eis, bis sie hinter den aufgetürmten Brocken verschwand, in die Warren gerast war. Sekunden später breitete sich der Lichtschein einer Explosion über den Himmel aus. Warren rannte los. Er hatte vergessen, daß der Pilot des anderen Schiffes ein potentieller Gegner war. Das war Vergangenheit. Vielleicht konnte er ihm helfen. Die geringe Schwerkraft machte ihm die Fortbewegung leicht. Warren lief und sprang um den Eishügel herum und sah die Rakete. Sie war frontal in eine Eiswand hineingerutscht. Noch aus der Entfernung konnte Warren sehen, wie eine Gestalt aus dem Schiff stieg und über das Eis taumelte. In der Hand hatte sie eine Stange, an deren oberem Ende eine Flagge hing. Der fremde Pilot wiederholte die Zeremonie, die Warren Minuten vorher vollzogen hatte. Einen Augenblick lang war Warren unsicher, ob er sich weiter nähern sollte. Der andere konnte bewaffnet sein. Der Fremde sah auf, genau in die Richtung, aus der Warren kam. Das war der Augenblick, in dem Warren sich von seinen Gefühlen übermannen ließ und alle Vorsicht vergaß. Er brach in unkontrolliertes, hysterisches Lachen aus und rannte auf den anderen zu. Sekunden später lagen sie sich in den Armen, 61
lachten und weinten zugleich. Zwei Bürger einer Welt. „Wir brauchten drei Monate, um aus den heil gebliebenen Teilen der beiden Schiffe ein flugfähiges Raumfahrzeug zusammenzubauen. Die Tanks und Maschinen des TannokSchiffes waren unbeschädigt, und nachdem wir sie mit der Kapsel meiner Rakete zusammenmontiert hatten, flogen wir nach Komar zurück." Warren starrte in das flackernde Kaminfeuer, das den großen Raum im Hauptgebäude der Station erleuchtete. Fast alle Mitglieder der Forschungsgruppe waren anwesend. Niemand unterbrach Warren, als er berichtete. Sie hörten fasziniert zu, denn Warrens Erlebnisse im Mikrokosmos unterschieden sich in einem wesentlichen Punkt von denen anderer Reisender. Zum erstenmal war die Schwelle zur Zukunft überschritten worden. Warren hatte als Dau Wool-house etwas erlebt, das der irdischen Menschheit bisher versagt geblieben war. „Wenn ich jetzt darüber nachdenke", fuhr der Reporter fort, „frage ich mich, wie diese plötzliche Reaktion zustande kam. Wir beide waren von unseren Nationen zum Mond geschickt worden, um ihn für unsere Auftraggeber zu erobern. Es läßt sich schwer mit Worten ausdrücken, aber als wir die Scheibe unserer Heimatwelt am Himmel stehen sahen, eingebettet in die Weite des Alls, gab es plötzlich keine Nationalstaaten mehr. Es gab nur noch Komar für uns, und wir waren stolz, Komarianer zu sein. Vielleicht war es nötig, einen solch ungeheuren Abstand von der Heimatwelt zu gewinnen, um zu erkennen, wie lächerlich alle politischen Geplänkel zwischen den Machtblöcken waren. Während des Fluges zum Mond hatten wir nur den Gedanken im Kopf, als erster die Flagge unseres Landes zu hissen, aber als wir dann vor dem winzigen Mast standen, merkten wir, wie belanglos dieser Wimpel war. Wir beide waren Menschen von Komar, und vielleicht war es die Euphorie über unser neues Selbstverständnis, die uns die 62
Kraft gab, aus den beiden Wracks ein funktionierendes Raumschiff zu bauen. Wir hatten nichts zu verlieren, versuchten unser Glück und schafften es. Während des Rückflugs nach Komar erkannten wir, welche Chance sich uns bot. Wir landeten in einer neutralen Region, einem kleinen Land, das schon oft in unserer Geschichte vermittelnd zwischen den beiden Machtblöcken eingegriffen hatte. Wir baten die Regierungsoberhäupter unserer beiden Nationen, zu uns zu kommen - und sie folgten unserer Bitte. Sie mußten es ganz einfach tun, denn die öffentliche Meinung setzte sie unter Druck. Es war, als ob ganz Komar erwacht und zur Vernunft gekommen wäre. Unsere Erlebnisse auf dem Mond und die geglückte Rückkehr wurden zum Symbol für die Stärke einer geeinten Welt. Als ich nach zwei Monaten aus dem Mikrokosmos ,abberufen' wurde, gab es keine Souvaner und Tannoki mehr, sondern nur noch Komarianer. Ich weiß nicht, wie sich die Geschicke des Planeten weiterentwickeln werden, aber ich bin voller Zuversicht." Eine Weile herrschte Stille. Dann begannen alle, laut durcheinanderzureden. Enderby löste schließlich die Versammlung auf und schickte die Wissenschaftler in die Betten, da es spät geworden war. Als nur noch er und Warren im Raum waren, fragte er: „Haben Sie alle Details aufgeschrieben? Die Konstruktion des Schiffes, den Antrieb, die technischen Einzelheiten?" Warren lächelte. „Ich habe alles notiert, Chef, unsere erste wirkliche Entdeckung wird uns erhalten bleiben. Ich werde vor dem Schlafengehen noch einige zusätzliche Notizen machen." „Sehr schön", meinte Enderby. Dann verabschiedeten sie sich und suchten ihre Quartiere auf. Warren beschrieb alle Details des Schiffes noch einmal. Es fiel ihm leicht, denn immerhin hatten er und sein Kollege drei Monate Zeit gehabt, die Raketen genauestens zu studieren. 63
Vielleicht, so überlegte Warren, würde es nicht nur eine neue technologische Entwicklung sein, die am Ende der Experimente stehen würde. Vielleicht würde die Menschheit etwas anderes, Wichtigeres lernen können...
6. Am nächsten Morgen stellte Warren Alton fest, daß seine Aufzeichnungen durchwühlt worden waren. Irgend jemand mußte im Laufe der Nacht in sein Zimmer eingedrungen sein. Es fiel nicht schwer, sich vorzustellen, wonach der Fremde gesucht hatte. Vermutlich hatte er Kopien gemacht. Damit war auch der allerletzte Zweifel beseitigt. Einer der an dem Projekt arbeitenden Männer war ein Spion, der die Erkenntnisse aus den Reisen in den Mikrokosmos einer fremden Macht übermittelte. Vielleicht würde er den Abschluß des Projekts abwarten, vielleicht aber stand er die ganze Zeit über mit seinen Auftraggebern in ständiger Verbindung. Warren verließ sein Zimmer und schloß die Tür gut ab. Die Aufzeichnungen lagen relativ sicher unter seiner Matratze. Nach dem Frühstück berichtete er Enderby über den Vorfall. Der alte Wissenschaftler war sichtlich schockiert. Es wurde beschlossen, von nun an alle Aufzeichnungen der Transferierer unmittelbar nach der Niederschrift bei Enderby abzuliefern, der sie in seinem Safe aufbewahren würde, bis das Projekt Mikrokosmos abgeschlossen war. Außerdem sollte der Safe Tag und Nacht durch einen der drei Wächter beobachtet werden. Die Räume, in denen sich die Karteien mit Photos und dem Übersichtsmaterial über die allgemeine Arbeit der Station befanden, sollten mit neuen Schlössern versehen werden. Nach dem gemeinsamen Mittagessen berief Enderby eine 64
Konferenz ein und verkündete seine Beschlüsse. Danach wurde die allgemeine Marschroute für die weitere Arbeit am Projekt festgelegt. Die Wissenschaftler kamen darin überein, ab sofort jedem Transferierer eine ganz bestimmte Welt zuzuweisen, auf die sich seine Beobachtungen konzentrieren sollten. Dadurch wurde eine kontinuierliche Berichterstattung gewährleistet. Da Warren bei seiner ersten Reise in den Mikrokosmos den Planeten Komar besucht hatte, würde es künftig seine Aufgabe sein, die Entwicklung der Komarianer zu verfolgen. Williams, Hyatt, Weidekind, Rendell und Warren sollten ferner mindestens dreimal in der Woche zu „ihren" Planeten transferieren, um allzu große Lücken in ihren Beobachtungen und der Geschichte der betreffenden Völker des Mikrokosmos zu vermeiden, die fast alle an der Schwelle des interstellaren Weltraumflugs standen. Trotzdem würden Jahrtausende zwischen den einzelnen Reisen liegen - in der Relativzeit des Mikrokosmos gemessen. Es hing davon ab, wie oft und wie stark der relative Zeitablauf im Mikrouniversum verzögert werden konnte. Schließlich wurde vereinbart, daß alle zwei Tage eine Konferenz der Transferierer stattfinden sollte, wo die neugewonnenen Informationen ausgetauscht und zu einem umfassenden Bild abgerundet werden sollten. Während der nächsten Tage würden die Reisenden auf Völker stoßen, die die Fesseln ihrer Heimatwelten abgestreift hatten und Weltraumfahrten zu weit entfernten Systemen unternehmen würden. Der Tag lag nicht mehr fern, an dem es zu den ersten Kontakten der raumfahrenden Völker des Mikrokosmos kommen würde. Alles, was die Transferierer von nun an an Erfahrungen mitbringen würden, würde von unschätzbarem Wert sein. Schon am nächsten Tag lag Warren wieder auf der Pritsche in der kleinen Kuppel. Er erhielt die Injektion, wurde gefesselt und starrte auf das Bild des Mikrokosmos, das genau in seine 65
Pupille gespiegelt wurde. Komar entstand aus der Vergrößerung, einen Moment wurde Warren vom Schwindel gepackt, dann folgte die bekannte Leere, das Gefühl, sich für einen kurzen Augenblick an zwei Orten zugleich zu befinden... Die Besatzung des Sternenschiffs war sorgfältig ausgesucht worden. In drei Tagen würde es zum Nachbarstern aufbrechen - die erste interstellare Expedition der Komarianer. Der neue Sternenantrieb würde das Schiff bis nahe an die Lichtgeschwindigkeit beschleunigen. Die Männer und Frauen an Bord würden auf einem der Planeten landen, ihn untersuchen und vermessen und nach erfüllter Aufgabe wieder zurückkehren. In etwa 40 Jahren sollte das Schiff wieder das Heimatsystem erreichen. Lo Brake-hold kannte alle Einzelheiten der Expedition, denn er war eines der zwölf Mitglieder der Crew. Lo Brake-hold der Mann, in dessen Körper Warren Alton erwacht war. Ebenso wie bei seinem ersten Transfer, verfügte Warren über alle Informationen und Erinnerungen, die in Los Gehirn gespeichert waren. Lo Brake-hold saß in einem bequemen Sessel und verfolgte die Rede des Präsidenten der Weltregierung. Neben ihm saßen seine Frau und die beiden Kinder. Sie hatten sich damit abgefunden, vierzig Jahre lang auf ihren Mann und Vater verzichten zu müssen. Brake-holds Frau würde sich in einem Hospital in eine Tiefschlafkammer legen und erst wieder zum Leben erwecken lassen, wenn ihr Mann zurückgekehrt war. Die Kinder würden beim Wiedersehen älter sein als ihre Eltern. Drei Tage herrschte unvorstellbare Hektik rings um das Raumhafengelände. Riesige Scharen von Komarianern waren aus allen Teilen des Planeten angereist, um den historischen Augenblick mitzuverfolgen. Und dann war es soweit. Warren Alton alias Lo Brake-hold verabschiedete sich von seiner Familie und bestieg mit den anderen elf Raumfahrern 66
das Sternenschiff. Fod Stone-gorge, der Präsident der Weltregierung, war selbst anwesend. Das Raumschiff war gewaltig. Es trug den Namen jenes Mannes, der dem Planeten Komar und seinen Bewohnern eine neue Epoche der Evolution eröffnet hatte: Dau Wool-house. Warren spürte, wie ihn die Rührung ergriff. Die Erinnerung an sein kurzes Gastspiel im Körper dieses Pioniers war noch frisch. In Lo Brake-holds Gedächtnis fand Warren alle Daten über das Sternenschiff, die auch dem Raumfahrer geläufig waren. Das Schiff war das Ergebnis von fünfhundert Jahren Raumfahrtgeschichte, in denen Komar ein kleines Imperium errichtet hatte. Fast sämtliche Planeten des Sonnensystems waren kolonisiert. Aber erst heute wagte man den Sprung hinüber zum nächsten, sechs Lichtjahre entfernten System. Das gewaltige, trotz der auf reiner Zweckmäßigkeit basierenden Form ästhetisch wirkende Schiff, verfügte über künstliche Gravitation und bot der Besatzung allen denkbaren Komfort. Erst jenseits der Bahn des äußeren Planeten würde es seine maximale Geschwindigkeit entfalten. Der Antrieb basierte auf der Umsetzung der kosmischen Strahlung in Energie. Nach Verlassen des Systems würde man riesige Segel ausfahren, die die kosmischen Partikel auffingen, vergleichbar den Sonnensegeln irdischer Satelliten. Das Sternenschiff würde buchstäblich zum Nachbarsystem hinübersegeln. Der Start verlief reibungslos, und die Dau Wool-house ließ die äußeren Planeten hinter sich. Eine letzte Grußbotschaft erreichte die zwölf Raumfahrer, dann wurden die Segel ausgefahren, und das Sternenschiff stieß in die Unendlichkeit des interstellaren Raumes vor. Es fädelte sich in die kosmischen Ströme ein und ließ sich durch die Schwärze des Alls treiben. Auf den Schirmen stand hell und lockend der Zielstern, jene Sonne, die den Forschern in der Station auf Old Thunderhook als SSW 19 bekannt war. Warren erinnerte sich 67
daran, daß sie katalogisiert war. Er hatte den Weltraum in unmittelbarer Nähe von Komar studiert - leider nicht intensiv genug, wie er jetzt feststellen mußte. Er wußte nicht, ob SSW 19 Planeten hatte oder ob sich dort gar eine Zivilisation entwickelt hatte. Vielleicht würde Steiner ihm eine Auskunft geben können, aber es gab keine Möglichkeit, mit ihm in Kontakt zu treten. Nach zwei Tagen begaben sich die zwölf Besatzungsmitglieder in die Tiefschlafkammern. Der Flug des Schiffes wurde von nun an automatisch gesteuert. Die Männer und Frauen würden erst wieder geweckt werden, wenn sie das Nachbarsystem erreicht hatten, es sei denn, daß sich während des Fluges etwas Unvorhergesehenes ereignete. Als Warren wieder zu sich kam, befand er sich in der kleinen Kuppel neben dem Observatorium auf Old Thunderhook. Er begriff augenblicklich, was geschehen war. Wahrscheinlich hatte er monatelang in der Tiefschlafkammer der Dau Woolhouse gelegen. Hyatt, der gerade die Fesseln lösen wollte, hatte ihn nach der verabredeten Zeitspanne wieder „zurückgeholt". „Wir müssen gleich wieder transferieren", sagte Warren hastig, nachdem er aufgestanden war. „Etwa in drei Stunden, schätze ich. Dann werde ich dabei sein, wenn zum erstenmal Menschen ihren Fuß auf eine Welt eines anderen Sonnensystems setzen." Warren nahm sich Papier und Schreibgerät und machte eilig Notizen. Er beschrieb den Antrieb des Sternenschiffs, das Prinzip der Antigravitationserzeugung, die Erkenntnisse der komarianischen Weltraumforschung und vieles mehr. Die Stunden vergingen wie im Flug. Enderby kam in den Raum und ließ sich in Stichworten erklären, was Warren erlebt hatte. „Es wird Zeit für mich", sagte der Reporter. „Es wird ein Sprung ins Ungewisse werden, vielleicht ist das Schiff längst gelandet, vielleicht ist es noch so weit vom System SSW 19 entfernt, daß ich schon wieder auf Thunderhook bin, bevor es 68
einen Planeten findet." Hyatt fesselte ihn und gab ihm die Injektion. Noch während Warren darauf wartete, daß das Bild jenes Raumsektors erschien, in dem sich seiner Meinung nach das Schiff jetzt befinden mußte, fiel ihm ein, daß er vergessen hatte, Steiner nach dem Zielsystem zu fragen. Jetzt war es zu spät dazu, Warren spürte, wie sich die Welt um ihn herum aufzulösen begann... Allmählich kehrte das Bewußtsein zurück. Warren begriff, daß er wieder Lo Brake-hold war und daß der Weckmechanismus ihn aus dem Tiefschlaf geholt hatte. Er hatte keine Ahnung, wie lange er seit der geglückten Transferierung geschlafen hatte und wie lange er noch im Mikrokosmos verweilen konnte, bevor er von Hyatt zurückgeholt würde. Die zwölf Raumfahrer trafen sich in der Zentrale des Sternenschiffs. Auf den Bildschirmen stand groß und beeindruckend der Zielstern. Schnell angestellte Analysen ergaben, daß die Sonne drei Planeten hatte, zwei Gasriesen und einen erdähnlichen. Medikamente und ein spezielles Trainingsprogramm sorgten dafür, daß die Raumfahrer nach wenigen Stunden vollkommen frisch waren. Jeder von ihnen fieberte der Landung entgegen. Die Dau Wool-house wurde langsamer und schlug eine Kreisbahn um den erdähnlichen Planeten ein. Die Besatzung sah weite, grüne Flächen, langgezogene Bergketten und riesige Ozeane. Atmosphäre, Größe und Schwerkraft glichen den Verhältnissen auf Komar. Das Sternenschiff landete, und eine aus sechs Personen bestehende Gruppe wurde ausgeschleust. Warren gehörte dazu. Die Pioniere überquerten eine grasbewachsene Ebene, ohne Anzeichen für größeres tierisches Leben zu finden. Nur kleine Insekten schwirrten durch die Luft. Die sechs erreichten einen leicht ansteigenden Hügel aus 69
brauner Erde und kleinen Felsen. Nach etwa hundert Metern entdeckten die Pioniere die Höhlen. Die Raumfahrer blieben stehen und beschlossen, in eine von ihnen einzudringen, als sie die Bewegung bemerkten. Zwei der Komarianer wurden von den Monstren getötet, noch bevor sie ihre Waffen ziehen konnten. Warren sprang zurück und feuerte mit der Laserpistole auf die Angreifer. Die vier überlebenden Raumfahrer rannten zurück zum Sternenschiff, die riesigen, fünf Meter langen Rieseninsekten im Rücken. Plötzlich sprangen überall vor ihnen menschenähnliche Wilde auf, die bisher im Gras versteckt gelegen hatten. Zwei weitere Raumfahrer wurden bei dem Versuch, sich mit den Eingeborenen zu verständigen, getötet. Warren feuerte wild um sich und mußte mit ansehen, wie auch der fünfte Mann den Rieseninsekten zum Opfer fiel. Er schoß weiter auf die Monstren, bis ihn ein kräftiger Hieb im Nacken traf. Warren fiel ins Gras und versuchte, sich weiter auf das Raumschiff zuzuschleppen. Er brachte es fertig, sich ein letztes Mal aufzurichten und sah, wie von der Dau Wool-house das Feuer auf die Angreifer eröffnet wurde. Dann traf ihn ein weiterer Schlag am Kopf. Lo Brake-hold starb. Das letzte, das er bewußt wahrnahm, war die Feuerwand, die über die Ebene fuhr und die Ungeheuer hinwegfegte. 7. „Damit wissen wir nun, was einem von uns passiert, wenn sein Wirtskörper im Mikrouniversum während der Zeit des Bewußtseinstausches stirbt", stellte Enderby sachlich fest. „Der Betroffene kehrt augenblicklich in seinen Originalkörper zurück und kommt zu sich." 70
Warren saß in einer Ecke des Raumes und betrachtete nachdenklich die Wissenschaftler, die eifrig über seine Schilderungen diskutierten. Warren fühlte sich elend, er hatte nach dem Erwachen seine Erlebnisse niedergeschrieben und die Aufzeichnungen dann Enderby übergeben. Sie enthielten unter anderem Details über den Sternenantrieb. Enderby hatte sie in seinen Safe eingeschlossen. Der mündliche Bericht war eine Tortur für den Reporter gewesen. Warren sehnte sich nach einigen Stunden der Ruhe. Etwas Schlaf würde ihm guttun. Zum erstenmal machte der Reporter sich Gedanken darüber, wie sich bei fortgesetzter Transferierung die Erlebnisse im Mikrokosmos auf die Reisenden auswirken würden. Sie mußten sich innerhalb kürzester Zeit auf verschiedene Identitäten einstellen, wurden Teil von anderen Wesen mit all ihren Wünschen, Hoffnungen, Ängsten... Die Wissenschaftler sprachen noch eine halbe Stunde über Warrens Erlebnisse, dann löste Enderby die Versammlung auf. Nach dem Abendessen war die übliche kleine Konferenz fällig, an der alle Transferierer teilzunehmen hatten. Warren nutzte die Stunden bis dahin zur Entspannung. Er aß nichts und verfolgte aufmerksam die Berichte der anderen. Der Schlaf hatte ihm neue Kraft gegeben, und so war er wieder vollkommen bei der Sache. Insgesamt wurden acht Welten des Mikrokosmos regelmäßig besucht. Die Berichte der Transferierer lagen vor und ergaben eine verblüffende Übereinstimmung. Enderby faßte die Beobachtungen zusammen. „Wir haben uns nun auf acht weit voneinander entfernte Planeten konzentriert, acht von Hunderttausenden, auf denen nach unseren Berechnungen intelligentes Leben entstanden ist, und von diesen acht haben sieben Rassen hervorgebracht, die fast gleichzeitig den Schritt ins Weltall wagen. Zwei haben bereits den Sternenflug entwickelt, und die anderen werden 71
ihnen bald folgen. Alles deutet darauf hin, daß wir hier tatsächlich eine Gesetzmäßigkeit in der Entwicklung intelligenten Lebens feststellen können - eine Gesetzmäßigkeit, der auch wir unterliegen. Was wir hier beobachten können, ist die Geschichte der Menschheit in den nächsten tausend Jahren." Enderby machte eine Pause und sah die anderen bedeutungsvoll an. „Die Frage, die sich als nächste stellt, ist folgende: Was wird geschehen, wenn zwei der raumfahrenden Völker irgendwo im Mikrokosmos auf einander stoßen? Früher oder später wird es dazu kommen, je weiter die Raumschiffe ins All vorstoßen." Warren nickte. „Komar unternahm den ersten Schritt auf diesem Weg. Das erklärte Ziel der Regierung ist die Kolonisierung von fernen Planeten. Am Ende wird ein Sternenimperium stehen." Williams konnte Warrens Prognose bestätigen. Jene Welt, die er regelmäßig besuchte, hatte bereits ihre ersten beiden Kolonien gegründet. „Wir brauchen mehr Männer", sagte Warren. „Die Entwicklung wird nun rasend schnell voranschreiten, und wir können es uns nicht leisten, zu große Lücken entstehen zu lassen." „Steiner und Marco sind unabkömmlich", erklärte Enderby. „Ihre Forschungen sind der eigentliche Zweck des Projekts, vergessen Sie das nicht. Unsere Ausflüge in den Mikrokosmos sind letztlich nur ein Nebenprodukt - wenn auch eines von unschätzbarem Wert." „Ich wüßte jemanden ...", meinte Warren schmunzelnd. „Sie meinen doch nicht im Ernst, daß wir eine Frau in den Mikrokosmos schicken sollen?" fragte Enderby. „Wieso nicht? Marge hat schon oft genug bewiesen, daß sie durchaus ihren Mann stehen kann. Vergessen Sie einmal Ihre Vorurteile, Enderby. Sie brennt darauf!" 72
Enderby sah sich um. Marco und Weidekind grinsten, Steiner nickte aufmunternd. „Also schön", stöhnte Enderby. „Holen Sie sie her." Marge war begeistert. Schon am nächsten Morgen lag sie auf der Pritsche und ließ sich von Williams die Injektion geben. „Wohin geht die Reise?" fragte sie Warren, der neben ihr stand. „Ins Zentrum der Mikrogalaxis. Die Sterne stehen dort viel zu dicht beieinander, um dir einen bestimmten auszusuchen. Du wirst eine Welt ganz für dich allein bekommen, irgendwo wird es schon ein Bewußtsein geben, das mit deinem korrespondiert." Marge lag still auf dem Rücken und blickte in die Linsen, die Williams über ihrem Kopf in die richtige Position gebracht hatte. Dann schwand ihr Bewußtsein. Marge befand sich im Mikrokosmos. Warren und Williams saßen am Arbeitstisch und unterhielten sich über verschiedene Dinge. Zweimal stöhnte Marge und murmelte einige Worte in einer fremden Sprache. Die Transferierung war geglückt. Warren beobachtete den reglosen Körper mit gemischten Gefühlen. Es war auch mehr als Sympathie. Warren fühlte sich verantwortlich für das Mädchen, noch mehr: Er freute sich über jede Stunde, die er mit ihr zusammen verbringen konnte. Er war... Warren verscheuchte die Gedanken. Sie führten zu nichts. Nach sechzig Minuten weckte Williams die junge Frau. „Das Fest", stammelte sie. „Jetzt versäume ich das Fest, und wir hatten so lange dafür gearbeitet. Konntet ihr nicht noch ein paar Minuten warten?" „Oha!" machte Warren und blinzelte Williams zu. „Das ist typisch Marge. Andere riskieren ihr Leben in Kriegen oder unmöglichen Raumschiffen, und sie feiert Feste!" „Lach nicht!" schimpfte Marge. „Wahrscheinlich wäre ich 73
innerhalb der nächsten Stunden auf dem Opfertisch gelandet. Wir feierten das Fest der Sonnen, und ich, beziehungsweise Trince, mein Gastkörper, war unter den Geweihten. Kurz vor dem Höhepunkt habt ihr mich zurückgeholt, kein sehr feiner Zug von euch!" „Du schreibst jetzt besser alles auf, was du erlebt hast", riet Warren. „Nur noch eine Frage vorher. Hatten die Leute, die du besucht hast, den Sternenflug entwickelt?" „Schon lange", sagte Marge. „Die Sterne stehen dort so nahe beisammen, daß man fast danach greifen kann. Die Leute dort haben ein ganz anderes Weltbild als wir. Sie leben mit dem Kosmos, Warren! Der Himmel war niemals dunkel, die Sterne hingen wie leuchtende Ballons über uns. Es war herrlich unbeschreiblich!" Marge schüttelte den Kopf und begann zu schreiben. Hyatt kam herein und machte Warren darauf aufmerksam, daß es Zeit "für seine nächste Transferierung sei. Marge wurde gebeten, ihre Aufzeichnungen in ihrer Unterkunft zu Ende zu führen. Warren legte sich auf die Pritsche und ließ die übliche Prozedur über sich ergehen. Diesmal richtete Hyatt die Spiegel nicht auf die Sonne Komars, sondern auf den Weltraum in der näheren Umgebung des Systems. Neith Heart-in-hand stand in einer der unzähligen Frachtschleusen des gigantischen Raumschiffs und blickte auf die hektische Aktivität auf dem Landefeld hinab. Immer noch standen Hunderte von großen Containern auf dem Betonfeld. Seit acht Tagen wurde das Schiff nun schon beladen. Wenn alles nach Plan verlief, würde die Ladung morgen mittag an Bord sein. Dann kamen die Menschen an die Reihe. Neith ging wieder zu seinem Tisch und beugte sich über die Schulter eines Offiziers, der ihn beim Registrieren der Fracht abgelöst hatte. „Lassen Sie nur, Kommandant", sagte der Komarianer. „Sie sehen müde aus und müssen ausgeschlafen sein, wenn's 74
losgeht. Ich mache für Sie weiter." „Danke, Szek", murmelte Neith. Er nahm seine Sachen und stieg in einen Lift, der ihn nach unten trug. Überall huschten die Raumfahrer umher, verstreuten die Ladung und entluden Container. Die Fracht war alles andere als gewöhnlich. Sie reichte von Lebensmitteln über Haushaltsgegenstände, Kleidung und Maschinen bis hin zu wertvollen Kunstgegenständen und Zeugnissen der planetaren Kultur. Es wurde alles an Bord geschafft, das im Schiff Platz fand. Am Schluß würden die Menschen in die Lifte steigen - die letzten Kolonisten. Neith Heart-in-hand, in dessen Körper Warren zu sich gekommen war, war der Kommandant des riesigen Raumkreuzers Formidable. Neith verließ das Schiff und bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge, die den Raumhafen umlagerte. Die Männer und Frauen erkannten ihn als den Mann, der sie in wenigen Tagen in Sicherheit bringen sollte, weg von der furchtbaren Sonne, die kurz vor der Explosion stand. Neith bestieg einen Gleiter und ließ sich in den bequemen Sitz fallen. Er programmierte den Kurs zu seiner provisorischen Unterkunft, einem verlassenen Luxushotel, wo er mit seiner Familie wohnte. Unter ihm zog die ehemals blühende Stadt vorbei, die Hauptstadt des Planeten Morlna, einer reichen Kolonialwelt. Jetzt war sie verlassen. Warren fand in Neiths Erinnerungen alle Informationen, die er brauchte, um sich ein umfassendes Bild zu machen. Morlna war eine der ältesten Kolonien des Galaktischen Imperiums von Komar. Vor achthundert Jahren waren die ersten Siedler gelandet, zweihundert Jahre nach der ersten Sternenexpedition der komarianischen Geschichte. Warren erfuhr, daß jenes Schiff, mit dem er als Lo Brake-hold das Nachbarsystem Komars angeflogen hatte, nach vielen Jahren mit der Hälfte der Besatzung zurückgekehrt war. Aber die Komarianer hatten sich 75
nicht entmutigen lassen. Inzwischen beherrschten sie einen beträchtlichen Teil der Galaxis. Morlna war eine von vielen Kolonien. In wenigen Tagen, spätestens in ein bis zwei Wochen, würde sie nicht mehr existieren. Die Sonne blähte sich zur Nova auf und würde in einer furchtbaren Explosion ihre Planeten verschlingen. Hunderte von Raumschiffen hatten bereits den größten Teil der Bevölkerung in Sicherheit gebracht. Die Formidable war das letzte Schiff. Zweitausend Männer, Frauen und Kinder warteten noch auf ihre Rettung. Neith erreichte seine Unterkunft und begrüßte seine Frau und die beiden Kinder. Er war so müde, daß er nach wenigen Minuten ins Bett ging. Am anderen Tag half er seiner Frau beim Einpacken der wichtigsten persönlichen Dinge, dann brachen sie auf. Als der Gleiter den Raumhafen erreichte, waren schon fast alle Passagiere an Bord des Kreuzers. Neith verabschiedete sich von seiner Familie und begab sich in die Zentrale des Schiffes. „Es sieht alles so ruhig und friedlich aus", sagte Szek, der Erste Offizier. „Als ob es niemals eine Nova geben würde." „Ich habe ein ungutes Gefühl", meinte Neith. „Ich kann mir nicht helfen, aber ich glaube, daß die Sonne schon heller wird und größer." Nach weiteren, endlos scheinenden Stunden war die Formidable startbereit. Ihr gewaltiger Leib erhob sich in den grünen Himmel Morlnas, beschleunigte und jagte auf die Bahn der äußeren Planeten zu. Bereits unmittelbar nach dem Verlassen der Atmosphäre wußten die Männer und Frauen in der Zentrale der Formidable, daß sich die Wissenschaftler in der Zeit geirrt hatten. Die Sonne begann sich aufzublähen. Gewaltige Eruptionen schossen ins All hinaus und verbrannten die inneren Planeten mit ihren Monden. Warren kannte die 76
Beschleunigungskapazität des Kreuzers, und er wußte, daß es denkbar schlecht für sie aussah. Sie hatten zu lange warten müssen. Die mehr als zweitausend Menschen an Bord des Raumschiffs befanden sich in einem Wettrennen mit dem Tod. Der Kreuzer jagte mit Höchstwerten aus dem System. Morlna wurde zu einer kleinen, grünblauen Scheibe. Neith/Warren sah dunkle Flecken auf der Oberfläche, die sich schnell ausbreiteten, und er wußte, daß die Wälder und Grünflächen zu brennen begonnen hatten. Die Sonne war bereits doppelt so groß wie beim Start. In wenigen Minuten würde die Formidable ihre maximale Geschwindigkeit erreicht haben, aber auch das reichte nicht aus. Die Sonne schickte ihre todbringenden Strahlen mit Lichtgeschwindigkeit hinter den Flüchtlingen her, und sie wurden sie einholen, bevor sie weit genug im Leerraum zwischen den Sternen waren. Außer dem Kreuzer gab es keine Schiffe mehr in diesem Raumsektor. Die letzten waren vor Wochen von Morlna aufgebrochen. Und dann explodierte die Sonne. Die Planeten verbrannten zu Asche, und die Strahlen erreichten das fliehende Schiff. Neith und die Besatzung kämpften gegen das über sie hereinbrechende Chaos an. Die Temperaturregler des Kreuzers fielen aus, unerträgliche Hitze erfüllte die Zentrale. Neith versuchte, so lange wie möglich bei Bewußtsein zu bleiben, versuchte, noch mehr aus den Antriebsmaschinen herauszuholen, versuchte das Unmögliche... Dann erfolgten die ersten Explosionen. Das Licht an Bord fiel aus. Kontrollinstrumente brannten durch. Neith glaubte, einen grellen Blitz zu sehen, der alles um ihn herum zerriß. Dann verlor er das Bewußtsein. Als er zu sich kam, glaubte Warren einen Moment lang, wieder auf der Pritsche zu liegen, aber dann sah er die flackernden Kontrollichter. Er hörte das Stöhnen von Männern und Frauen. Warren richtete sich unter Schmerzen auf und 77
stellte fest, daß er immer noch Neith Heart-in-hand war, der Kommandant der Formidable. Zunächst weigerte sich sein Verstand, an ein Wunder zu glauben, aber es gab keinen Zweifel daran, daß sie der sich ausdehnenden Nova entkommen waren. Sogar die ausgefallenen Geräte und Systeme arbeiteten wieder einwandfrei. Neith Heart-in-hand überprüfte den Kurs des Kreuzers und stellte erstaunt fest, daß sie weit abgetrieben worden waren. Sie befanden sich bereits hinter jenem Sonnensystem, das das Ziel ihrer Flucht gewesen war. Die Formidable konnte diesen Riesensprung niemals aus eigener Kraft getan haben. Warren erklärte sich das Phänomen damit, daß mit dem Energieausbruch der explodierenden Nova Kräfte auf das Schiff eingewirkt hatten, die es wie einen Stein hinweggeschleudert hatten. Die Formidable mußte sich schneller als das Licht bewegt haben! Sie befand sich mehrere Dutzend Lichtjahre vom System Morlnas entfernt im Raum! Neith und seine Offiziere beschlossen, das Schiff zu wenden und den nächsten komarianischen Stützpunkt anzufliegen. Ihnen war klar, daß sie mehrere Jahrzehnte unterwegs sein und bei der Rückkehr Fremde sein würden. Tage und Wochen vergingen, und die Formidable trieb fast lichtschnell durch unbekannte Regionen des Weltraums, bis das fremde Raumschiff auftauchte. Mehrere Männer und Frauen der Besatzung brachen in Jubel aus, weil sie glaubten, daß sie von einem Suchschiff gefunden worden wären, aber Warren, der die Geschichte des Mikrokosmos kannte, wußte, daß jener Augenblick gekommen war, von dem Enderby gesprochen hatte: die erste Begegnung zwischen zwei raumfahrenden Rassen. Der fremde Raumer kam bis auf wenige Kilometer an die Formidable heran. Szek und andere Offiziere gerieten in Panik und drängten Neith, das Feuer auf die Fremden zu eröffnen, 78
aber Warren winkte barsch ab. Er wußte, welche Chance sich ihnen hier bot. Bei dem Raumschiff blitzte es dreimal kurz hintereinander auf. Neith sah jetzt, daß es sich um ein projektilförmiges Schiff handelte, vollkommen anders konstruiert als die Raumer der Komarianer. Neith gab die Anweisung, ebenfalls dreimal die Außenscheinwerfer aufflammen zu lassen. Es mußte sich um ein Signal der Fremden handeln. Warren klammerte die Möglichkeit, daß die Unbekannten kriegerische Absichten hatten, einfach aus. Sie alle wären verloren gewesen. Der Raumer blinkte wieder, dann näherte er sich weiter. Langsam trieb er vor der Formidable her. Es war offensichtlich, daß das komarianische Schiff ihm folgen sollte. Neith gab den entsprechenden Befehl. Die Mannschaft widersprach nicht, aber sie traute dem Frieden nicht. Auch Warren war längst nicht so selbstsicher, wie er sich nach außen hin gab. Die beiden Schiefe nahmen Kurs auf eine nahe stehende Sonne. Lichtjahre entfernt von der nächsten komarianischen Basis, in einem völlig unbekannten Teil der Galaxis ... Plötzlich schleuste der Fremdraumer ein Beiboot aus, das auf die Formidable zutrieb. Warren wußte, daß der alles entscheidende Augenblick bevorstand, als er als Neith Heartin-hand seinen Raumanzug anlegte und sich in den Hangar hinabtragen ließ, in den das Beiboot einfliegen würde. Ein historischer Moment, die erste Begegnung von Komarianern mit einer anderen raumfahrenden Rasse, vielleicht sogar die erste Begegnung zweier Intelligenzen in diesem Mikrokosmos überhaupt. Neith stand im Hangar und sah, wie die Schotte zur Seite fuhren und das Boot hereinschwebte. Das Herz des Raumfahrers klopfte wild. Bevor die Fremden ausstiegen, wurde es Neith schwarz vor 79
Augen. Im gleichen Augenblick erwachte Warren in der kleinen Kuppel auf Thunderhook.
8. Im Laufe der nächsten sechs Wochen ging mit den Transferierern eine unerwartete Veränderung vor sich. Die Reisenden lebten in dieser Zeit körperlich 42 Tage auf Old Thunderhook, aber ihr Bewußtsein weilte Tag für Tag für viele Monate im Mikrokosmos. Aus den Monaten wurden Jahre, aus den Jahren Jahrzehnte, in denen die Männer und Marge immer wieder neue Identitäten annahmen. Sie fühlten mit den Wesen des Mikrokosmos, erlebten ihre Entwicklung mit und wuchsen allmählich in diese Entwicklung hinein. Sie wurden gewissermaßen Teil der unheimlich schnell vor sich gehenden Evolution eines lebenden Universums, teilten die kleinen und großen Sorgen, Hoffnungen und Ängste der Wesen. Sie begannen, sich mit ihnen zu identifizieren. Die Transferierer bemerkten es weniger als die „Außenstehenden" in der Station. Am auffallendsten war die Veränderung bei Marge McElroy. Aus dem zuweilen recht naiven Großstadtmädchen wurde eine gereifte Frau, die bei ihren zahlreichen Besuchen auf „ihrer" Welt im Zentrum des Mikrokosmos all das erlebt hatte, was ihr in ihrem bisherigen Leben versagt geblieben war Verantwortung, Mutterglück, Liebe, Engagement für Ideale und religiöse Erfahrungen. Jack Quern, mit dem Marge in den ersten Wochen auf Thunderhook heftig geflirtet hatte, beobachtete jede ihrer Bewegungen mit Argwohn, seitdem sie nicht mehr das geringste Interesse für ihn zeigte. Die Tage der kindischen Spielereien waren für Marge vorbei, aber Jack deutete die 80
Veränderung auf seine Weise. Er witterte einen Konkurrenten und war entschlossen, den Nebenbuhler zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen. Marge fand kaum noch Zeit für ihre Arbeit mit Steiner und Marco. Sie transferierte so oft wie möglich. Die Welt im Zentrum der Mikrogalaxis hatte sie völlig in ihren Bann geschlagen. Die Bewohner des Planeten hatten eine weit weniger materialistische Weltanschauung entwickelt als die Menschen der Erde und die anderen Intelligenzen im Mikrokosmos. Ihr Leben war durch eine starke religiöse Bindung an die Lebenskräfte ihres Kosmos bestimmt, und Marge ließ sich von dieser Bindung mitreißen. Auch Marges Planet war im Laufe der schnell fortschreitenden Entwicklung im Mikrokosmos von fremden Raumfahrern besucht und schließlich in den mittlerweile entstandenen Verbund der Intelligenzen des Mikrouniversums aufgenommen worden, der wie ein Netz die Galaxis überzog. Je weiter die Raumschiffe der einzelnen Rassen in den Raum vordrangen, desto öfter trafen Völker aufeinander. Diese ersten Begegnungen verliefen nicht immer so friedlich wie der Kontakt der vor der Nova fliehenden Formidable mit dem fremden Raumer. Warren hatte auf einer seiner Reisen im geschichtlichen Archiv der Universität von Komar die betreffenden Aufzeichnungen abgerufen und erfahren, daß diese Begegnung der Beginn einer langandauernden Freundschaft zwischen Komar und dem stellaren Reich der Rewgni gewesen war. Manchmal war es zu Gefechten und verheerenden Raumschlachten gekommen, aber auch diese, hatten ein Ende gefunden, als immer mehr Völker auf der galaktischen Bühne erschienen waren. Sternenreiche vereinten sich und bildeten größere Föderationen, und der Tag, an dem alle raumfahrenden Völker des Mikrokosmos einen einzigen großen Verband bilden würden, hatte sich lange vorher abgezeichnet. Wieder 81
war es Warren, der Zeuge des gewaltigen Galaktischen Kongresses wurde, in dessen Verlauf alle großen Sternenreiche sich zu einer einzigen großen Planetenliga vereinten. Der Kongreß wurde auf Dau, dem Hauptplaneten der Südwest-Föderation, abgehalten, und Warren nahm im Körper eines der 62 Delegierten daran teil. Die unterschiedlichsten Wesen waren zusammengekommen, meist waren es Humanoide. Dau wurde zur Hauptwelt der Galaxis bestimmt, zur zentralen Kontaktstelle aller Rassen des Mikrokosmos. Die Wissenschaftler hörten fasziniert zu, als Warren nach seiner Rückkehr von dem Kongreß berichtete. Weidekinds Begeisterung kannte keine Grenzen, denn er würde als nächster in den Mikrokosmos reisen und sehen können, was sich innerhalb der ersten Jahre aus dem Galaktischen Verbund entwickelt hatte. Enderby sprach seine Überzeugung aus, daß hier am „Modell" eine Entwicklung beobachtet werden konnte, die auch, in sehr ferner Zukunft, die Geschichte der intelligenten Völker des eigenen Universums bestimmen würde. Warren führte aus, daß das Hauptproblem bei der Zusammenarbeit der Rassen in der Zeit bestand, die die Schiffe und Nachrichten benötigten, um von einer Welt zur anderen zu gelangen, denn auch im Mikrokosmos hatte man bisher keine Möglichkeit gefunden, die Barriere, die durch die Geschwindigkeit des Lichtes gesetzt war, zu durchbrechen. Die Bewohner des Mikrouniversums hatten es gelöst, indem sie ein ähnliches Verfahren entwickelten wie die Wissenschaftler auf Old Thunderhook. An vielen Stellen ihrer Galaxis errichteten sie Blöcke aus genau aufeinander abgestimmte Materie, deren Schwingungen miteinander korrespondierten und eine zeitlose Nachrichtenübermittlung möglich machten. Es war eine der Besonderheiten des Kongresses, daß sich hier Wesen trafen, die sich niemals wieder gegenübersitzen würden, und diese einzigartige Begegnung machte den Kongreß zu 82
einem Symbol für die Einheit der Galaxis. Nach Warrens Bericht und der Diskussion wurde von Enderby das Problem des Spions angesprochen. Es gab Anzeichen dafür, daß der Unbekannte wieder versucht hatte, wertvolles Datenmaterial zu kopieren, aber die Versuche konnten bisher jedesmal vereitelt werden. Nichtsdestoweniger bestand die Gefahr, daß es dem Spion gelingen könnte, die Sicherheitsmaßnahmen zu umgehen. Enderby erklärte, daß man mittlerweile wissenschaftliche Erkenntnisse zusammengetragen hätte, die die Menschheit erst in den nächsten zwanzigtausend Jahren gewinnen würde. Von Tag zu Tag wurden die Aufzeichnungen wertvoller und das Risiko größer. Als der Abend hereinbrach, verließ Warren sein Quartier, um einen kleinen Spaziergang zu machen. Es war ihm mittlerweile zur Gewohnheit geworden, bei Anbruch der Dunkelheit die Station zu verlassen und in der umgebenden Natur Entspannung zu suchen. Oft saß er stundenlang auf einem der kleinen Hügel und betrachtete das Sternenzelt, das sich über seine Welt spannte. Er rauchte eine Pfeife und versuchte, das im Laufe des Tages Erfahrene zu verarbeiten. Es war bereits dunkel, als Warren einen der Hügel erreichte. Plötzlich sah er einen Schatten vor sich im hohen Gras. „Ist da jemand?" rief er leise. Die Gestalt richtete sich auf. Sie sah Warren an, und dann hörte er eine vertraute Stimme. „Ich bin's", flüsterte Marge. „Ich hielt's in der Station nicht mehr aus, mir geht zuviel im Kopf herum." „Mir auch", sagte Warren. „Was dagegen, wenn ich mich zu dir setze?" Einige Minuten lang starrten die beiden in den Abendhimmel und sprachen kein Wort. „Es ist wundervoll", flüsterte Marge schließlich. „Nicht wie der Himmel über der Welt, auf der ich war. Dort hängen die 83
Sterne so tief, daß sie dich zu erdrücken drohen. Du fühlst dich mitten in dem ewigen Strom kosmischen Lebens, jenseits von Zeit und Raum. Es ist, als ob du den Hauch der Ewigkeit spürst, Warren." Warren nickte und machte einen Zug an seiner Pfeife. Nach einer Weile fuhr Marge leise fort, als ob sie zu sich selbst spräche: „Ich fühle einerseits eine unendliche Ehrfurcht vor all dem, was uns umgibt, andererseits könnte ich vor Glück singen. Ich fühle mich mit allem Lebenden verbunden, mit den Bäumen, dem Gras, den Insekten und selbst mit dem Wind. Es ist alles so anders geworden, Warren. Wenn ich in den Himmel blicke, ist es so, als ob alles verschmelzen würde, als ob ich ein Teil eines gewaltigen Ganzen wäre. Kannst du das verstehen?" „Du hast dich verändert, Marge", sagte Warren, während er die Sterne betrachtete. „Ich glaube, wir alle haben uns verändert." Marge richtete sich auf und sah Warren in die Augen. Sie lächelte, und dieses Lächeln berührte ihn tief. Warren und Marge saßen noch eine halbe Stunde schweigend im Gras, und als sie schließlich aufstanden, um zu ihren Quartieren zurückzugehen, wußten sie, daß sie zusammengehörten. Sie waren als Fremde hierhergekommen, aber die letzten Wochen hatten sie zusammengeschweißt. Sie verabschiedeten sich. Marge ging in ihr Zimmer, während Warren sich davon überzeugte, daß die Halle mit den Aufzeichnungen abgeschlossen war. Als er sich auf den Weg in sein Quartier machen wollte, tauchte eine Gestalt aus der Dunkelheit auf. Warren erkannte Jack Quern. Jack packte Warren am Arm. „Hören Sie gut zu, Alton. Es paßt mir nicht, daß Sie sich mit meinem Mädchen herumtreiben. Lassen Sie Ihre Finger von Marge, oder..." „Oder was?" 84
Jack schlug zu, aber Warren wich geschickt aus. Er versetzte dem Wächter einen Haken in die Magengrube und einige Schläge ins Genick, bis Jack ächzend am Boden lag. Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, verschwand Warren im Hauptgebäude. Es hatte keinen Zweck mehr, sich darüber hinwegtäuschen zu wollen, daß er Marge liebte. Leopold Steiner hatte nur wenige Male eine Reise in den Mikrokosmos gemacht. Aber eine Woche nach Warrens Bericht über den Galaktischen Kongreß war er der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Wissenschaftler. Denn was er zu berichten hatte, war von allergrößter Wichtigkeit. Auf einen simplen Nenner gebracht, lautete das Ergebnis seiner Beobachtungen: Der Mikrokosmos hatte die Grenzen seiner Expansion erreicht und stand vor seinem Zusammenbruch. „Er beginnt, sich zusammenzuziehen, weil es keine weitere Möglichkeit für die aus dem Uratom entstandene Materie gibt, sich nach außen hin auszudehnen. Die Grenzen, die durch unsere Abschirmungen gesetzt sind, sind erreicht. Das Mikrouniversum wird in sich zusammenfallen." Warren saß etwas abseits von den anderen in seinem Sessel und hörte Steiner zu. Marge war bleich geworden. „Sie meinen, daß bald alles zu Ende sein wird? Daß die Geschöpfe des Mikrokosmos keine Chance mehr haben?" fragte sie Steiner. Der Physiker zuckte die Schultern. „Wir wußten von Anfang an, daß es eines Tages geschehen würde. Es kann noch zwei oder drei unserer Jahre dauern, bis unser Experiment und damit die Geschichte des Mikrokosmos beendet ist. Es wird uns viele interessante Aufschlüsse geben." „Und das Leben?" fuhr Marge auf. „Wann werden all die Wesen sterben müssen, die dieses Universum hervorgebracht hat?" Steiner fuhr sich mit der Hand über die Stirn. 85
„Wahrscheinlich werden sie schnell von der Bildfläche verschwinden, lange bevor es zum endgültigen Kollaps kommt. Bisher konnten wir nur beobachten, daß die äußeren Enden der Spiralarme an die Grenze des Mikrokosmos kamen und, wenn ich es so ausdrücken darf, zurückgeschleudert wurden. Langsam, aber sicher, beginnt sich die Galaxis wieder zusammenzuziehen. Es werden sich wieder riesige Gaswolken bilden, die Sterne werden zusammenfallen und aufhören, Wärme zu produzieren. Am Ende werden sie ins Zentrum der Galaxis zurückstürzen, eine unvorstellbare Masse von Energie und Materie bilden und sich wieder zum Uratom vereinigen, das wir schufen. Was die Planeten und das Leben angeht, so werden sich die widerstandsfähigsten Lebensformen wohl noch einige Millionen Jahre halten können. Ihre Planetenliga dürfte jedoch in spätestens hunderttausend Jahren, am Zeitablauf des Mikrokosmos gemessen, der Vergangenheit angehören - trotz aller Anstrengungen, die die intelligenten Völker dieser Galaxis zweifellos unternehmen werden." Warren spürte, wie der Ärger in ihm aufstieg. „Wenn ich Sie richtig verstehe, Dr. Steiner, sollen wir nun voller wissenschaftlichem Ehrgeiz beobachten, wie dieses Universum zusammenbricht und all die Völker, die in ihm leben, hilflos zugrunde gehen. Sollte es denn wirklich keine Hoffnung mehr für diese Menschen geben?" Weidekind antwortete für Steiner: „Woher sollte diese Hilfe kommen? Jede Welt hört einmal auf, zu existieren. Es wird sehr interessant für uns sein, zu beobachten, wie die einzelnen Völker sich gegen den Untergang wehren werden." „Ein schrecklicher Gedanke", sagte Enderby. Marge hielt es nicht mehr länger in ihrem Sessel aus. Sie sprang auf und rief wild gestikulierend: „Sie mit Ihrer göttlichen Wissenschaft! Kann sich denn niemand von Ihnen in all die Männer und Frauen 86
hineinversetzen, die in diesem Augenblick merken, daß ihnen etwas Schreckliches bevorsteht? Milliarden und Abermilliarden von Intelligenzwesen, die ihr Leben lang, unzählige Generationen hindurch, dafür gekämpft haben, daß ihre Nachkommen eine bessere Welt vorfinden würden? Völker, die unter unsäglichen Mühen ihren Kosmos erobert haben, Kontakte knüpften und eine uns unvorstellbare Lebensgemeinschaft eingingen - soll das alles mit einem Schlag zu Ende sein? Tragen wir nicht die Verantwortung für sie?" Die Wissenschaftler schwiegen betroffen. Dann sagte Steiner: „Ich fürchte, daß wir nichts für sie tun können. Eines Tages wird die Menschheit das gleiche Schicksal erleiden, obwohl unser Kosmos unbegrenzt ist." Marge schüttelte energisch den Kopf. „Diese Männer und Frauen leben jetzt! Maßen Sie sich an, Gott zu sein?" Enderby schritt ein, bevor Steiner eine heftige Entgegnung machen konnte. „Wir haben mit dem Experiment begonnen und müssen es zu Ende führen. Wir durften die Geburt des Mikrouniversums beobachten, jetzt müssen wir verfolgen, wie es stirbt. Es gibt kein Zurück mehr." Die Atmosphäre in der Station auf Old Thunderhook war nach Steiners Eröffnungen umgeschlagen. Die Transferierer kapselten sich mehr und mehr den anderen gegenüber ab. Diejenigen, die den Mikrokosmos besuchten, teilten mit, daß die Angehörigen der Planetenliga zwar beunruhigt von der stagnierenden Expansion und den erschreckenden Phänomenen in den Außenbezirken ihrer Galaxis waren, aber noch lange nicht daran dachten, daß ihnen das Ende ihrer Welten bevorstand. Im Gegenteil, das Leben im Mikrokosmos trieb einer ungeahnten Blüte entgegen. Diese verschiedenen, ständig miteinander in Kontakt stehenden Völker befruchteten sich 87
gegenseitig in ihrer Entwicklung. Die Wesen im Mikrokosmos lebten mit- und füreinander. Am nächsten Tag war Warren wieder an der Reihe. Er ging mit einer gewissen Unruhe in die kleine Kuppel, denn vor dem Schlafengehen hatte er ein Gespräch zwischen Stanhope und Enderby belauscht, in dem Stanhope von Fremden gesprochen hatte, die er in der Nähe der Station gesehen haben wollte. Enderby hatte den Kollegen gebeten, über die Beobachtung zu schweigen. Er selbst hätte veranlaßt, daß die Stiftung zusätzliche Wachen schickte, um zu verhindern, daß Mittelsmänner des Spions mit ihm in Verbindung treten oder gar einen Überfall auf die Station verüben konnten. Irgend jemand auf Thunderhook, vielleicht sogar einer der Wissenschaftler, war ein anderer als der Mann, für den er sich ausgab. Warren ließ sich fesseln. Minuten später befand sich sein Bewußtsein im Mikrokosmos. Blasen, Hunderte von Blasen in allen möglichen Farben, die am blauen Himmel trieben. Warren stand irgendwo und beobachtete Blasen. Er kniff die Augen zusammen und sah genauer hin. Jetzt erkannte er, daß es sich um kugelförmige Gebäude handelte, die langsam über ihn hinweg schwebten. Warren drang in die Erinnerungen des Komarianers ein, dessen Körper er übernommen hatte. Er befand sich auf Dau, aber der Planet hatte sich völlig verändert. Er glich kaum mehr jener Welt, die er besucht hatte, als jener denkwürdige Kongreß stattfand. Die Städte bestanden aus großen Kugeln, in denen die Menschen lebten. Ihre Heime schwebten in der Luft, über einer völlig rekultivierten, grünen Naturlandschaft. Der Mann, in dessen Körper Warren geschlüpft war, wandte sich vom Fenster ab und ließ sich in einen schalenförmigen Sitz fallen, der ihn auf einem Antigravpolster durch die Räume seines Heimes trug. Wundervolle Klänge erfüllten die Kugel, dreidimensionale Bilder an den weißen Wänden sprangen ihm 88
direkt ins Bewußtsein und erweckten angenehme Empfindungen. Warren ließ sich in eines der Arbeitszimmer tragen, das gleichzeitig der Kommunikation mit der Außenwelt diente. Jeder Mann und jede Frau auf Dau hatten eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen. Dau war die zentrale Kontaktwelt der Planetenliga. Hier wurden alle Daten gespeichert, in riesigen Archiven war alles Material zusammengetragen, das die geeinten Völker dieses Universums im Laufe ihrer Entwicklung gesammelt hatten. Dau sah in eine große, gläserne Kugel. Wie alle anderen Komarianer auf Dau, war Warrens Wirt ein Kontakter zu einer der vielen bewohnten Planeten des Mikrokosmos. Sein Kommunikationspartner, viele Lichtjahre entfernt, hatte eine korrespondierende Kugel zur Verfügung, die auf Warrens abgestimmt war. Warren machte sich an die Arbeit. Er redete mit führenden Wissenschaftlern und Politikern der ihm anvertrauten Welt, speicherte alles, was neu und wichtig war, und übermittelte die Daten hinterher an die Archive auf Dau, wo sie registriert, katalogisiert und eingeordnet wurden. Den Rest des Tages verbrachte er in der Gesellschaft von Freunden, die von „ihren" Welten berichteten. Sie tranken zusammen 'und entspannten sich bei Denkspielen. Das war Warrens Alltag. Die Arbeit wurde niemals langweilig, denn jeden Tag wurde er mit neuen Wundern konfrontiert, neuen Errungenschaften und Entdeckungen in den Tiefen des Kosmos. Mehrere Wochen vergingen auf diese Weise. Dann erfolgte eines Tages eine Unterbrechung aller Kommunikationskanäle. Warrens Kugel wurde dunkel, dann blitzte sie dreimal hintereinander rot auf. Warren war überrascht und beunruhigt. Das Signal bedeutete, daß eine wichtige Nachricht bevorstand, die auf allen bewohnten Welten des Universums gleichzeitig empfangen werden würde. Warren las aus der Erinnerung seines Wirtskörpers, daß dies zum letzten Mal vor mehr als drei 89
Jahren geschehen war. Das Gesicht eines berühmten Astrophysikers erschien auf der Kugel. „Ich bitte um Ihr Verständnis für die Unterbrechung, meine Freunde, aber es handelt sich um eine Angelegenheit von äußerster Wichtigkeit. In wenigen Minuten werden Sie eine neue Prophezeiung des Orakels vom Weißen Stern hören. Vorher bringen wir eine Aufzeichnung einer Prophezeiung, die das Orakel vor zweihundert Jahren machte." Wieder wurde die Kugel dunkel, dann erschien ein neues Gesicht, eine weißhäutige Frau, die überhaupt nicht den komarianischen Schönheitsidealen entsprach. Um die Stirn hatte sie ein breites Kopftuch gebunden, auf dem ein großes Diamantemblem in Form eines Sternes steckte. Die Augenbrauen zogen sich weit über die beiden unergründlich tiefen, schwarzen Augen. Eine kleine, spitze Nase und ein Mund mit ungewöhnlich schmalen Lippen vervollständigten das unheimliche Gesicht. Warren wußte, daß Menschen dieser Art in den Zentrumszonen der Galaxis lebten, wo sich auch der Sitz des „Orakels vom Weißen Stern" befand. Die Frau begann zu sprechen. Es waren jene Worte, die vor zweihundert Jahren für beträchtliche Unruhe auf den Welten der Liga gesorgt hatten, denn sie verkündeten das bevorstehende Ende der Welt. Das Universum hatte, nach der Aussage der Prophetin, die Grenzen seiner Ausdehnung erreicht und würde wieder zu jenem Ball von Urmaterie zusammenfallen, aus dem es einst hervorgegangen war. Das Gesicht verschwand. Kurz darauf erschien der Astrophysiker erneut auf der Projektionsfläche der Kugel. „Zweihundert Jahre lang prüften wir die Prophezeiung, und jetzt sind wir in der Lage, die Aussage zu bestätigen. Unser Universum ist zum Stillstand gekommen. Es beginnt bereits zu schrumpfen. Die äußersten Sonnen stürzen auf das Zentrum zu. Die Entwicklung kehrt sich um. Das Orakel hatte recht, dank 90
seiner faszinierenden Gabe, in die Zukunft zu sehen. Wir bringen Ihnen nun einen neuen Spruch des Orakels vom Weißen Stern." Wieder verdunkelte sich die Kugel, und wieder erschien kurz darauf das Gesicht einer weißhäutigen Frau. Es war nicht die gleiche wie jene, die vor zweihundert Jahren vom Ende der Welt gesprochen hatte. Dennoch besaß sie die gleiche Ausstrahlung. Sie forderte die Wesen des Universums auf, sich gegen den drohenden Untergang zu wehren. Sie drängte sie, nach Wegen zu suchen, dem Ende zu entgehen und die Leben der zahllosen intelligenten Völker des Kosmos zu retten. Es würden noch einige tausend Jahre vergehen, bevor alles Leben ausgelöscht sein würde. Bis dahin mußte eine Möglichkeit gefunden sein, die zerstörerischen Kräfte der umgekehrten Evolution zu besiegen. Die Prophetin wiederholte ihren Appell einige Male. Sie schien davon überzeugt zu sein, daß es einen Ausweg für die Intelligenzen des Universums gab, aber sie mußten ihn selbst finden. Warren ließ sich in seinen Sessel sinken. Er fragte sich, woher diese Frau über ein Wissen verfügen konnte, das eigentlich den Wissenschaftlern auf Old Thunderhook vorbehalten sein sollte. Als sie vor zweihundert Jahren das Ende der Welt ankündigte, waren die Rassen des Mikrokosmos noch völlig ahnungslos. In der Erinnerung seines Wirtskörpers fand Warren weitere Informationen über das Orakel. Es hatte vor einigen tausend Jahren zum ersten Mal von sich reden gemacht. Immer war es eine Frau, die die Prophezeiungen verkündete, aber es war niemals die gleiche. Das Orakel war im Mikrokosmos zu einer unsterblichen Institution geworden. Sobald eine Prophetin starb, trat eine andere Frau an ihre Stelle und übernahm ihren Titel. Die jeweilige Verkünderin hüllte sich in einen Mantel der Unnahbarkeit, sprach in Gleichungen und gab wichtige Anstöße, die schon oft zu neuen Entwicklungen in 91
Wissenschaft und Technik geführt hatten. Das Orakel war eine Kraft, die die Entwicklung der universellen Lebensgemeinschaft weiterführte und zu neuen Höhepunkten trieb. Aber wie konnte eine Frau - beziehungsweise eine unendlich scheinende Aufeinanderfolge von Frauen gleicher Art - Dinge voraussehen, die selbst den fähigsten Wissenschaftlern verborgen blieben? In den folgenden Wochen und Monaten ging ein Ruck durch den Mikrokosmos. Die Intelligenzen begriffen, daß sie zum Untergang verurteilt waren, wenn es ihnen nicht gelang, selbst einen Ausweg zu finden. Niemand zweifelte am Spruch des Orakels. Warren verfolgte die Diskussionen, bis er in seinen eigenen Körper auf Thunderhook zurückkehrte.
9. Warren stand in der großen Kuppel und betrachtete den Mikrokosmos. Die ersten Anzeichen der vor sich gehenden Veränderung waren bereits deutlich zu erkennen. Diejenigen, die nach Warren den Mikrokosmos besucht hatten, berichteten von den bisher fruchtlosen Bemühungen der Völker, eine Rettungsmöglichkeit zu finden. Früh am nächsten Morgen transferierte Warren erneut. Wieder befand er sich auf Dau. Seit seinem letzten Besuch waren sechshundert Jahre vergangen. Mittlerweile hatten sich unzählige neue Philosophien entwickelt. Die meisten verherrlichten den Untergang und predigten die meditative Versenkung in die Kräfte des Kosmos. Ihr großes Ziel war es, mit der Schöpfung unterzugehen. Andere forderten die Bewohner ihrer Welten auf, ihren Planeten mit starken 92
Energiefeldern zu umgeben, so daß sie das Ende um einige Jahrtausende hinauszögern konnten. Sogar der kollektive Selbstmord wurde verherrlicht. Aber die weitaus einflußreichste Philosophie war diejenige, die die Suche nach Möglichkeiten predigte, die Grenzen von Zeit und Raum zu durchbrechen und in andere Universen zu fliehen. In einem Kraftakt ohnegleichen sollten die Barrieren, die den Mikrokosmos begrenzten, überwunden und durchstoßen werden. Diese Anschauung wurde vom Orakel vom Weißen Stern unterstützt, ebenso wie von allen führenden Köpfen der Völker der Galaxis. Die Wesen des Mikrokosmos konnten nicht glauben, daß jenseits der Grenze nichts mehr war. Wenn es also gelang, sie zu durchbrechen... Das Orakel hatte sich endgültig zur treibenden Kraft entwickelt. Es peitschte die Völker voran, beschwor immer wieder ihren Überlebenswillen. Und die Intelligenzen des Mikrouniversums befolgten seine Ratschläge. Warren erlebte mit, wie erste Konzepte entwickelt wurden. Das Leben im Mikrokosmos bereitete sich auf seinen letzten, gemeinsamen Kampf vor. Das Bewußtsein, eingeschlossen zu sein, hatte die unterschiedlichen Rassen zu einer Einheit zusammengeschweißt. Es gab nur noch ein Leben in der Galaxis, und dieses Leben war entschlossen, zu kämpfen. Es wußte, daß es sich auf etwas Ungeheuerliches einließ, denn nur eine Kraft, die der Kraft des Universums gleichwertig war, konnte seine Grenzen aufreißen. Warren berichtete nach seiner Rückkehr über die von ihm beobachteten Vorgänge. Die Wissenschaftler hörten zu und schüttelten die Köpfe. Steiner versicherte, daß es vollkommen unmöglich sei, daß das Mikrouniversum von innen heraus gesprengt würde, selbst wenn seine Bewohner einen ganzen Teil ihrer Galaxis „zünden" würden, um die Raum-ZeitStruktur aufzureißen. Nebenbei bemerkte Steiner, daß die Abschirmungen in der großen Kuppel erheblich verstärkt 93
worden seien. Weidekind sprach von dem Wert für die Wissenschaft, den der Überlebenskampf der Intelligenzen im Mikrokosmos darstellen würde. Je länger er redete, desto mehr fühlte Warren sich von seinen Worten angeekelt. All diese berühmten Männer sahen nur das Experiment - nicht aber die Not der Wesen, die sie geschaffen hatten. Nur ein Mensch im großen Besprechungsraum verhielt sich neben Warren - anders. Marge saß zitternd und kreidebleich in ihrem Sessel und starrte Steiner erschüttert an. Abgrundtiefe Verzweiflung sprach aus ihrem Gesicht. Mit jedem Tag stieg die Unruhe innerhalb der Station auf Thunderhook. Es hatte sich eine spürbare Kluft zwischen den Transferierern und den Männern um Steiner gebildet. Die Transferierer kapselten sich noch mehr ab und hingen ihren verzweifelten Gedanken nach. Es war unmöglich, von einer Minute zur anderen von tiefer Verzweiflung als Bewohner des Mikrokosmos auf unbeschwertes Dasein als Erdenbürger umzuschalten. Zu den hieraus resultierenden Spannungen kam Enderbys Vermutung, daß der Spion in Kürze, zuschlagen würde, denn die für ihn wichtigen Daten waren nun vervollständigt. Der Mikrokosmos kämpfte ums Überleben. Umwerfende Erfindungen waren nicht mehr zu erwarten. So kam zu den tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Forscherteams das gegenseitige Mißtrauen. Jeder konnte der Verräter sein. Alle, die in diesen Tagen den Mikrokosmos besuchten, berichteten von der Aktivität des Orakels, das sich zur Stimme aller Völker gemacht hatte, die entschlossen waren, zu überleben. Sie versicherte immer wieder, daß es ihnen gelingen würde, mit vereinten Kräften die Grenzen ihres Universums zu sprengen. Ihre Appelle waren so überzeugend, daß sich unter den Wissenschaftlern auf Thunderhook Unruhe ausbreitete. Bisher hatten sich alle Prophezeiungen des Orakels erfüllt. 94
Was war, wenn es auch diesmal recht hatte? Bedeutete nicht ein Aufreißen der Barrieren des Mikrokosmos das Ende des eigenen Universums? Immer wieder versicherte das Orakel, daß es außerhalb der Galaxis ein anderes, größeres Universum gab. Die Wissenschaftler auf Thunderhook diskutierten erregt die Frage, woher das Orakel dieses Wissen bezog. Es mußte sich um ein Wissen handeln, denn die Selbstverständlichkeit, mit der es von dem anderen Universum sprach, übte eine gerade hypnotische Wirkung aus. Die Worte des Orakels ließen keinen Zweifel daran zu, daß es sich seiner Sache vollkommen sicher war. „Manchmal frage ich mich", sagte Warren eines morgens zu Marge, „auf welcher Seite ich eigentlich stehe. Ich bin ein Mensch dieses Universums, ein Mensch der Erde, und doch hoffe ich, daß die Geschöpfe des Mikrokosmos Erfolg haben." Marge sah ihn prüfend an. „Steiner und Marco sind ganz bestimmt ausgezeichnete Wissenschaftler, aber vergiß nicht, daß ihre Gegenspieler im Mikrouniversum ihnen um Jahrhunderttausende voraus sind. Und sie kämpfen mit dem Mut der Verzweiflung." Warren und Marge sahen sich lange in die Augen. Sie hatten die gleichen Gedanken, Hoffnungen und Wünsche. Beide waren zwischen zwei Welten hin und her gerissen. Eine Stunde später lag Warren wieder auf der Pritsche. Er glitt hinüber in den Mikrokosmos, wo mittlerweile seit dem Spruch des Orakels zweitausend Jahre vergangen waren. Wieder befand er sich auf Dau, aber es gab keine Kugeln mehr, die am Himmel trieben. Der Planet war verwildert. Wie bei allen anderen Welten der Liga, hatten die Bewohner Daus alle Energie liefernden Stoffe abgebaut und alle künstlichen Energiequellen von ihrem Planeten abgezogen, um sie dem Weltenschiff zuzuführen, das in einer Kreisbahn um Dau gebaut wurde. In diesem gigantischen Schiff sollte der Same 95
des Lebens zu den Grenzen des Universums getragen werden, wo die unzähligen Weltenschiffe sich zum großen Durchstoß vereinen würden. Dau war eine verwüstete Welt. Überall, wo wertvolle Rohstoffe für den Bau des Schiffes abgebaut worden waren, war die Kruste des Planeten aufgerissen. Vulkane hatten sich aufgetan und verwüsteten weite Teile der Oberfläche. Die Parks waren zu Dschungeln geworden, in denen wilde Tiere umherstreiften. Jene Menschen, die nicht an einen Erfolg des Projekts glaubten, hatten mit ihren Wohnkugeln große Städte in den Polregionen Daus errichtet, wo Anarchie und Chaos herrschten. Warren arbeitete sieben Monate lang als Ingenieur am Zusammenbau des Weltenschiffs mit. Es war das Großartigste, das er jemals im Mikrokosmos gesehen hatte. Das Schiff war zweitausend Meter lang und an seiner dicksten Stelle fast ebenso breit. Einmal auf seinem Weg, würde es die Energien ganzer Sonnen verschlingen, um zu seinem weit entfernten Ziel am Rand der Galaxis zu gelangen. Mehr noch: Die Komarianer würden künstliche Novae erzeugen, deren Energien es vor sich her peitschen würden. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung Daus würde in ihm Platz finden, und in den Laderäumen sollten die wichtigsten Teile des universellen Archivs von Dau untergebracht werden. Bis das Schiff auf seine Reise gehen würde, würden weitere tausend Jahre vergehen. Jede bedeutende Welt des Mikrokosmos war dabei, ähnliche Weltenschiffe zu bauen. Später einmal sollten sie eine gigantische Flotte bilden, die beispiellos in der Geschichte des Mikrokosmos war. Sie würden an einer Stelle zwischen den Spiralarmen der Galaxis, wo die Gravitationskräfte des Universums am geringsten waren, den Durchbruch versuchen. Die Stimme des Orakels war allgegenwärtig. Sie verkündete ein größeres, unendliches Universum jenseits des eigenen, 96
sterbenden. Aufzeichnungen der einzelnen Botschaften wurden ununterbrochen gesendet, bis der Mikrokosmos sich in einem wahren Rauschzustand befand. Warren kehrte zurück und hörte aufmerksam den anderen Reisenden zu. die über den Fortgang der Bemühungen im Mikrokosmos berichteten. Der Konferenztisch im Besprechungsraum der Station wurde zu einem regelrechten Kriegsrat. Steiner und Enderby versuchten, den Zeitpunkt des großen Durchbruchsversuchs so präzise wie möglich zu bestimmen. Es war unverkennbar, daß sie Angst hatten. Dazu kamen die alarmierenden Nachrichten, daß jemand versucht hatte, die Aufzeichnungen zu stehlen. Nicht alle Unterlagen konnten in Enderbys Safe untergebracht werden und lagen in der Halle, in der die Photos archiviert wurden. Der Eindringling hatte die Tür zerschmettert und die Halle bereits betreten, als die Alarmsirenen ertönt waren und ihn in die Flucht geschlagen hatten. Es war anzunehmen, daß seine Hintermänner schon bald auf der Bildfläche erschienen. Und dann kam der Tag, an dem der Durchbruch der vereinigten Intelligenzen des Mikrokosmos stattfinden sollte. Alle Transferierer hatten gleichlautende Aussagen gemacht. Warren hatte bei seinem letzten Besuch auf Dau beobachten können, wie das Weltenschiff beladen und startklar gemacht wurde. Enderby versetzte die Mannschaft in Alarmbereitschaft. Die Entscheidung bahnte sich an. Gegen dreiundzwanzig Uhr Erdzeit würde die Flotte der Weltenschiffe die Grenze ihres Universums erreicht haben. Nach dem Abendessen gingen Warren und Marge in die große Kuppel, um den Mikrokosmos zu beobachten. Steiner hatte Marco als diensthabender Beobachter abgelöst. Die drei Menschen standen schweigend über das Geländer des Rundgangs gebeugt. Sie wußten, daß in diesem Augenblick Millionen von intelligenten Wesen auf dem Weg zur Grenze 97
ihres Universums waren, aber sie versuchten vergeblich, etwas zu erkennen. Das Summen der magnetischen Felder, die das Mikrouniversum einschlossen, erfüllte die Kuppel. Marge schüttelte sich. „Die Zeit hier auf Thunderhook kommt mir wie eine Ewigkeit vor." Warren nickte. „Es ist eine Ewigkeit vergangen, Marge. Wir kamen als sensationshungrige Reporter her und dürfen nun an einem der größten Wunder aller Zeiten teilhaben." Steiner sagte leise: „Wir sahen dieses Universum wachsen und konnten verfolgen, wie sich das Leben in ihm entwickelte. Sie werden mich für einen Menschen halten, der nur die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus dem Projekt im Kopf hat. Vielleicht haben Sie sogar recht. Aber es ist ein verdammt schlechtes Gefühl, den Gott zu spielen, der für eine ganze Schöpfung verantwortlich ist und zusehen muß, wie sie nun vergeht. Bald werden wir nur noch einen verwaschenen, leuchtenden Nebelfleck sehen, nachdem diese Verrückten gegen ihre Grenzen angerannt sind. Sie sind ebenso in Zeit und Raum gefangen wie wir. Es wird einen gewaltigen Blitz geben, und dann nichts mehr." „Ich bin nicht so sicher", sagte Warren. „Sie konzentrieren all ihre Energie auf eine winzige Stelle am Rand ihres Universums." „Gebe Gott, daß sie es nicht schaffen", sagte Steiner und verriet damit, daß er selbst Zweifel an der Wirksamkeit der Abschirmungen hatte. „Es würde vielleicht eine furchtbare Explosion geben, eventuell würde unser ganzes Universum aus den Fugen geraten. Aber keine Sorge. Sie haben gegen die immanenten Gesetze ihres Kosmos und gegen unsere Abschirmungen zu kämpfen. Beides können sie nicht überwinden." 98
Steiner zeigte auf die leicht flimmernden Energiefelder rings um die Mikrogalaxis. „Von wo aus werden die Felder gesteuert?" fragte Marge unvermittelt. „Beim großen Teleskop befindet sich eine Schalttafel", erklärte Steiner. „Aber sie dient lediglich zur Steuerung. Die Energie wird vom Atommeiler geliefert, und nur von dort aus läßt sie sich verstärken und bei Bedarf ausschalten. Wieso?" „Ach, nichts", versicherte Marge. Sie standen schweigend am Geländer und betrachteten den Mikrokosmos. Nach einer halben Stunde fragte Marge: „Wird heute abend noch jemand transferieren?" Warren schüttelte den Kopf. „Enderby hielt es für zu gefährlich, obwohl es reizvoll gewesen wäre, an dem Ausbruchsversuch teilzunehmen." „Ich darf gar nicht daran denken", flüsterte Marge. „Sollte der Versuch scheitern, möchte ich niemals mehr hinübergehen. Ich würde es nicht ertragen." Warren gab keine Antwort. Er verstand Marges Gefühle nur zu gut, denn sie waren seine eigenen. Er starrte in den Mikrokosmos. Es war, als ob er die Stimme des Orakels bis hierhin hören konnte, immer und immer wieder die Beteuerung, daß es jenseits der Grenzen des Kosmos ein größeres, unendliches Universum gab. Irgendwo erklang ein akustisches Signal, das ankündigte, daß es bis zum entscheidenden Zeitpunkt nur noch eine Stunde war, gleichzeitig erschienen Marco und Enderby. Wie die Geier, dachte Warren, Geier, die auf den Tod ihres Opfers lauerten. Plötzlich heulten die Alarmsirenen auf. Die fünf sahen sich verwirrt an. Enderby, der am nächsten beim Ausgang stand, rannte hinaus und stieß einen derben Fluch aus. „Kommt alle her! Draußen wird gekämpft!" 99
Und dann überschlugen sich die Ereignisse.
10. Warren rannte hinter Enderby her ins Freie. Er hörte Schüsse und eine Stimme, die irgendwelche Befehle zu schreien schien. Er erkannte sie sofort. Sie gehörte Jack Quern, dem Wächter, aber er benutzte eine fremde Sprache, kein Englisch. Überall huschten Gestalten umher, mehr, als es Männer innerhalb der Station gab. Warren begriff, daß die Hintermänner des Spions den Augenblick allerhöchster Spannung ausgenutzt hatten, um zuzuschlagen. Und es gab keinen Zweifel mehr, daß Jack der Spion war. Wenn es den Fremden gelang, in den Besitz der Aufzeichnungen zu kommen, würde ihr Land in kurzer Zeit zur mächtigsten Nation der Erde aufsteigen. Das mühsam aufgebaute Gleichgewicht der Kräfte würde innerhalb kürzester Zeit zusammenbrechen. Die Folgen mußten katastrophal sein. Warren sah einige Hubschrauber, die im Gras neben der Station gelandet waren und mit laufenden Propellern darauf warteten, daß ihre Leute mit den Aufzeichnungen zurückkamen. Der Gegner hatte im denkbar ungünstigsten Moment zugeschlagen. Warren sah Männer, die mit ganzen Karteikästen aus der Halle rannten, in der die Aufzeichnungen untergebracht waren. Andere Männer tauchten auf, sprangen aus den Bäumen und eröffneten das Feuer auf die Angreifer. Warren wußte, daß es sich um die von Enderby angeforderten zusätzlichen Wachen handelte. Einer der Helikopter ging in Flammen auf, als sein Treibstofftank von einigen Schüssen getroffen wurde. Ein gespenstischer Lichtschein erhellte die Szene. Überall wurde 100
gekämpft. Warren sah Stanhope bewußtlos vor dem Eingang der Halle liegen, in der die Aufzeichnungen untergebracht waren. Sein Gesicht war blutverschmiert. Offenbar war er es gewesen, der den Alarm ausgelöst hatte. Aber Warren hatte keine Zeit, sich um den Wissenschaftler zu kümmern. Steiner und Enderby versuchten, einen kräftigen Mann mit einem Schnurrbart aufzuhalten, der mit Folien auf einen der wartenden Hubschrauber zulief. Warren wollte ihnen zu Hilfe kommen, als ihn ein Faustschlag von hinten am Kopf traf. Er fuhr herum und wich einem zweiten Hieb aus. Dann krachten seine Fäuste gegen das Kinn des Fremden, der bewußtlos zu Boden ging. Wie schon gegen Jack Quern, kamen ihm jetzt die Tricks zugute, die er in der Armee und bei Guerillakämpfern gelernt hatte, über die er einmal eine Reportage gemacht hatte. Ein weiterer Helikopter brannte, aber auch aus dem Archivraum drangen Flammen. Warren schrie um Hilfe, aber im Kampfgetümmel hörte ihn niemand. Allmählich zogen die Angreifer sich zurück. Sie hatten begriffen, daß sie verloren hatten und steckten nun weitere Gebäude der Station in Brand. Die Fremden flohen, aber ihre Helikopter waren mit wenigen Ausnahmen nur noch ausgebrannte Wracks. Die Sicherheitsbeamten jagten hinter ihnen her, und es würde wohl die ganze Nacht über dauern, bis sie alle gefaßt hatten. Die Schießerei verlagerte sich in die Hügel rings um die Station. Plötzlich fiel Warren auf, daß er Marge seit dem Alarm nicht mehr gesehen hatte. Er lief zur Kuppel zurück, ohne eine Spur von ihr zu finden. Der Gedanke, daß sie im Handgemenge verletzt oder sogar getötet worden sein könnte, brachte ihn fast um den Verstand. Dann sah er eine weibliche Gestalt auf das Gebäude zurennen, in dem der Atommeiler untergebracht war. Er rief laut nach ihr. Sie drehte sich nach ihm um, rannte aber weiter. Warren lief hinter ihr her. Er glaubte zu wissen, was sie vorhatte. Der Durchbruchsversuch der Weltenschiffe mußte 101
jeden Augenblick erfolgen. Als er den Eingang erreichte, stand Marge bereits am Kontrollpult, von dem aus die Energieabgabe des Meilers gesteuert wurde. Ihre Finger huschten über die Schalter und Knöpfe. „Marge!" schrie Warren. „Mach keinen Unsinn!" Aber sie achtete nicht auf ihn. Sie hatte den Hauptschalthebel gefunden, mit dem alle Energiezufuhr zu den Magnetfeldern in der Kuppel abgestellt werden konnte. „Laß das, Marge!" schrie Warren. Aber die Frau hatte den Hebel mit beiden Händen umklammert und riß ihn nach unten. Im gleichen Augenblick gingen die Lichter aus. Die einzelnen Gebäude der Station lagen im Dunkeln, nur durch den Schein der Feuer beleuchtet. Immer noch war der Tumult zwischen den Gebäuden so groß, daß noch niemand den Stromausfall bemerkte. Warren erreichte Marge und versuchte, den Hebel wieder nach oben zu drucken, aber Marge fiel ihm in den Arm und zerrte ihn weg. „Komm mit nach draußen", beschwor sie ihn. Irgend etwas in ihrer Stimme verwirrte Warren. Er ließ sich von Marge aus dem Gebäude ziehen. „Jetzt achte auf die Kuppel", flüsterte Marge. „Die Magnetfelder sind abgeschaltet. Jetzt müssen sie den Durchbruch schaffen, ich weiß, daß sie es schaffen!" Noch während Marge sprach, blitzte es oben auf der Kuppel auf. Es war, als ob plötzlich ein winziges Loch in der Außenhülle entstanden wäre, durch das das Licht aus dem Innern drang. Aber es gab keine solche Öffnung, und es konnte kein Licht im Innern der Kuppel geben - kein normales Licht. Ein unheimliches Summen erfüllte die Luft, schwoll zu einem hellen Singen an, und der weiße Lichtfleck auf der Kuppel breitete sich schnell aus. Sekunden später floß er auseinander. Tausende von winzigen Funken erhoben sich in den Himmel, 102
wurden zu silbern schimmernden Punkten, die schnell wuchsen, während sie immer schneller an Höhe gewannen. Das Singen wurde so schrill, daß Warrens Ohren es nicht mehr wahrnehmen konnten. Dafür hatte er das Gefühl, daß sich einen Augenblick lang ein ungeheuerer Druck von außen auf seine Trommelfelle legte. Warren blickte den Lichtpunkten nach, die immer noch aus der Kuppel drangen, und plötzlich wußte er, daß es Raumschiffe waren, die ganze Flotte der Weltenschiffe. Die Bewohner des Mikrokosmos hatten ihr Ziel erreicht. Die Punkte rasten in den nächtlichen Himmel, den fernen Sternen der Milchstraße entgegen und wuchsen. Jetzt konnte Warren mit bloßem Auge die charakteristische Form der Weltenschiffe erkennen. Die ersten von ihnen waren bereits mehrere Meter lang, und sie würden so lange wachsen, bis sie die Größe erreicht hatten, die sie im Mikrokosmos hatten. Erst nach Minuten riß der Strom aus der Kuppel ab. Der Himmel war von der Armada des Mikrokosmos verdunkelt. Wenn die Sterne wieder sichtbar wurden, waren die Intelligenzen aus dem Mikrouniversum bereits weit außerhalb des Sonnensystems, auf dem Weg zu einer neuen, unbegrenzten Heimat. „Sie haben es geschafft", flüsterte Marge ergriffen. „Ich habe es ihnen gesagt, immer und immer wieder. Ich habe ihnen ein neues, grenzenloses Universum versprochen, und nun sind sie gerettet." Warren fuhr herum. „Du hast ihnen versprochen? Dann warst du...?" „Das Orakel vom Weißen Stern, Warren. Ich habe ihnen geholfen. Wenn du so willst, war ich ihr Verbündeter. Sie hatten einen Helfer hier auf Thunderhook, obwohl sie nichts davon ahnen konnten." Marge sah Warren lächelnd an. Ihre Augen strahlten und 103
verrieten ihren Triumph. „Aber das Orakel bestand aus Tausenden von Frauen! Du kannst unmöglich..." „Ich war die erste Prophetin, Warren. Ich schlüpfte in den Körper einer großartigen Frau; die ihren Artgenossen um Jahrhunderte voraus war. Als ich zurückkehrte, blieb ihr Bewußtsein in mir. Durch sie war es mir möglich, jederzeit in Verbindung mit ihren Nachfolgerinnen auf dem Weißen Stern zu treten, ohne selbst transferieren zu müssen. Ich verlor nie den Kontakt, Warren. Sie wußte alles, was auch ich wußte und gab es an die jeweilige Verkünderin im Mikrokosmos weiter. Ich war ihr Spion in unserem Universum, und ich weiß, daß ich richtig handelte." Marge lächelte und schüttelte den Kopf. „Das ist nun vorbei. Ich verlor den Kontakt mit ihr, als die Rettungsflotte in unser Universum eindrang. Das Orakel wird bald vergessen sein. Die Wesen an Bord der Schiffe werden neue Welten finden und sich fortentwickeln. Und eines Tages werden wir ihnen begegnen, Warren. Die Daten sind vernichtet, aber wir kennen die Zukunft." Als Marge auf Warren zutrat und die Arme um ihn legte, blickte Warren nicht in die tiefen Augen einer weißhäutigen Prophetin, sondern in das lächelnde Gesicht einer attraktiven jungen Frau, einer Frau, die wahrend der Wochen auf Thunderhook ebenso gereift war wie er selbst. „Laß uns den Mikrokosmos vergessen, Warren. Wir haben jetzt nur unsere Zukunft vor uns. Willst du mir dabei helfen, eine Zukunft für uns beide zu finden?" ENDE
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