Atlan Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 748
Polterzeit Auf der Spur der Zeitchirurgen
von H.G. Ewers
Seit der Jahreswe...
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Atlan Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 748
Polterzeit Auf der Spur der Zeitchirurgen
von H.G. Ewers
Seit der Jahreswende 3818/19, als Atlan unvermittelt in die Galaxis Manam-Turu versetzt wird, ist nach terranischer Zeitrechnung inzwischen fast ein ganzes Jahr vergangen. Der Arkonide hat in dieser Spanne, zumeist begleitet von Chipol, dem jungen Daila, und Mrothyr, dem Rebellen von Zyrph, mit seinem Raumschiff STERNSCHNUPPE schon manche Gefahr bestanden – immer auf der Spur jener Kräfte, die schon an anderen Orten des Universums verheerend wirkten. In dieser Zeit hat Atlan neben schmerzlichen Niederlagen auch Erfolge für sich verbuchen können. So ist zum Beispiel die Zusammenarbeit der verbannten Daila mit den Bewohnern ihrer Ursprungswelt gewährleistet – was sich auf den Kampf der Daila gegen ihre Unterdrücker positiv auswirken dürfte. Es bei dem bisher Erreichten zu belassen, wäre grundfalsch. Atlan weiß das – und seine Gefährten ebenfalls. Und so folgen sie verbissen selbst der kleinsten Spur des Erleuchteten, und der seines mysteriösen Werkzeugs EVOLO. Inzwischen haben Goman-Largo, Neithadl-Off und Anima, die seltsamen Raum-Zeit-Abenteurer, es ebenfalls schon mit dem Erleuchteten beziehungsweise seinen Werkzeugen zu tun bekommen. Doch sie konnten sich, zusammen mit den Hyptons von der Traube der Quellenplaner, dem Angriff auf Manam-Pzan entziehen und sind nun auf dem Weg nach POLTERZEIT…
Die Hauptpersonen des Romans: Goman-Largo – Der Modulmann setzt sich durch. Neithadl-Off – Goman-Largos Gefährtin. Anima – Ein Faustpfand der Hyptons gegen den Erleuchteten. Verzyll – Der Eingeborene von Polterzeit kehrt heim. Zyzy – Ein Hypton.
1. BERICHT GOMAN-LARGO Als alle Bildschirme der Außenbeobachtung hell waren, sah ich die angreifenden Schiffe zum erstenmal. Und ich erkannte sie wieder. Genau den gleichen Schiffstyp nämlich hatte das Pre-Lo alias John Urko geflogen, als wir ihn auf Pechel kennenlernten: eine elliptisch verformte Linse von rund 40 Metern Länge, 18 Metern Breite und 16,5 Metern Höhe. Auch die beiden je 12 Meter langen Seitenschwerter waren hier ebenfalls vorhanden. Den Ortungsanzeigen nach mußten es mindestens dreißig Traykon-Schiffe sein, die um die Station MANAM-PZAN herumkurvten und sporadisch auf sie feuerten. Optisch dagegen erkannte ich nur fünf. Und sie flogen frontal genau auf die WEISHEIT DER KÄLTE zu! »Du mußt ausweichen, POSIMOL!« schrie ich der Positronik zu. »Wir können zwischen ihnen hindurchfliegen«, behauptete POSIMOL. »Sie werden uns nicht entdecken. Wenn wir jedoch ein scharfes Ausweichmanöver flogen, würde unser Tarnschirm teilweise durchlässig für Hypertastimpulse werden. Dann bekämen wir aus nächster Nähe Feuer. Wahrscheinlich bräche dann der Schutzschirm zusammen.« »Hm!« machte ich nachdenklich und musterte die Formation auf dem Frontschirm. Mir wurde ganz anders, als ich sah, wie die fünf Raumschiffe dichter zusammenrückten. Vor ein paar Sekunden hätten wir vielleicht noch zwischen ihnen hindurchfliegen können; jetzt nicht mehr. POSIMOL! wollte ich rufen. Ich brauchte es nicht mehr zu tun. Die Positronik hatte bereits gehandelt, da sie die bedrohliche Entwicklung der Lage selbstverständlich schneller erkannt hatte als ich. Unser Schiff bremste mit vollen Werten ab, stellte sich dabei steil aufs Heck und beschleunigte mit den Impulstriebwerken nach oben (wobei »oben« natürlich rein subjektiv war). Einige bange Sekunden lang sah es so aus, als würde dieses Gewaltmanöver nutzlos sein. Die hyperschnell tastenden Distanzmesser zeigten einen rasend schnell schwindenden Abstand zwischen den fünf Einheiten und der WEISHEIT DER KÄLTE an. Erst, als wir nur noch anderthalb Kilometer und damit nur noch den Bruchteil einer Sekunde voneinander entfernt waren, verschwanden die Traykon-Schiffe aus dem Frontschirm und bewegten sich in den Subschirm hinein. Gerettet! Aber alles andere als außer Gefahr! Ich merkte es zuerst daran, daß die Alarmsirene kurz aufheulte, dann schnarrte POSIMOL: »Achtung! Bitte alle anschnallen oder sonstige Vorsichtsmaßnahmen ergreifen! Das Schiff steht im Brennpunkt feindlicher Hypertaster, nachdem der Tarnschirm durch das Gewaltmanöver instabil geworden war, so daß der Feind uns mit haarfein gebündelter Ortung ›festhalten‹ konnte. Dagegen nützt der Tarnschirm nur bedingt etwas.« Die anwesenden Roboter eilten zu Stahlbügeln, die beim Heulen der Alarmsirene aus zwei Wänden geglitten waren. Mit ihnen schnallten sie sich fest. Anima schlang ihre Arme um Verzyll und legte sich auf eine Sicherheitsliege, die automatisch ein Schutzfeld um den Shynn und sie aufbaute. Neithadl-Off war zu sperrig, um sich auf die zweite Sicherheitsliege zu legen. Sie kroch kurzerhand
mit zusammengeklappten Gliedmaßen darunter. Dort war sie wenigstens dagegen geschützt, umhergeschleudert zu werden. Ich dagegen setzte mich in einen der beiden voluminösen Sessel und schnallte mich auf konventionelle Art und Weise an. Die Hyptons zappelten und piepsten stärker. Aber ihnen war natürlich nicht zu helfen. Ihre Traube war viel zu groß, als daß sie auf eine Liege oder in einen Sessel gepaßt hätte – und sie konnte sich nicht auflösen, da sie immer noch durch Klebefäden zusammengehalten wurde. Befreien konnte sie vorerst auch niemand. Das würde zu lange dauern, ganz abgesehen davon, daß wir uns erst noch eine Befreiungsmethode einfallen lassen mußten. Als die WEISHEIT DER KÄLTE den ersten Treffer erhielt, wurden die Hyptons still. Vielleicht hatte der Schreck sie in eine Ohnmacht befördert. Sie waren keine Raumschlachten gewöhnt, denn sie hatten sich sonst, ihrer Mentalität gemäß, stets im Hintergrund gehalten und die Drahtzieher gespielt. Der zweite Treffer wurde ebenso vom Schutzschirm abgewehrt wie der erste. Doch dann kam eine ganze Salve an. Zwar hielt der Schutzschirm auch das noch aus, aber zwischen ihm und der Außenhülle des Schiffes tobten energetische Entladungen, die die Schiffszelle erschütterten und mich in meinem Sessel durchbeutelten, daß mir Hören und Sehen verging. Wenn ich nur eine Möglichkeit gehabt hätte, die Steuerung des Schiffes selbst zu übernehmen. Es flößte Hilflosigkeit ein, sich völlig passiv verhalten zu müssen. Es juckte mich, ein paar Module loszuschicken, um die WEISHEIT DER KÄLTE unter meine Kontrolle zu bekommen. Ich konnte mich jedoch beherrschen. Erstens kannte ich bisher erst nur von wenigen Modulen die Funktionen beziehungsweise Operationen, für die sie genotronisch gezüchtet worden waren, so daß ich zuviel Zeit mit Herumprobieren hätte vergeuden müssen – und zweitens hätte ich auch danach noch nicht gewußt, wie die Steuerung des Schiffes auf sie reagieren würde. Solange wir unter Beschuß standen, verbot sich der Einsatz von Modulen daher von selbst. Aber bald merkte ich, daß POSIMOL ausgesprochen intelligent reagierte. Sie brachte das Schiff nicht blindlings auf einen Fluchtkurs, wie es andere Bordpositroniken wahrscheinlich getan hätten; sie gestaltete den Kurs so, daß es zuerst in Rückenlage wieder in Richtung der Station flog, erst kurz vor der drohenden Kollision darunter hinwegtauchte und dahinter wieder so weit hochzog, daß die Station mit ihrer riesigen Masse genau zwischen der WEISHEIT DER KÄLTE und den Verfolgern lag. Hilferufe im internen Funkverkehr der Station ließen mich erkennen, daß eine uns gegoltene Salve die Station getroffen hatte, die anscheinend keinen geschlossenen Schutzschirm mehr aufbauen konnte und statt dessen die getroffenen Sektionen abschottete. Wir aber waren aus dem Brennpunkt der feindlichen Hypertaster entkommen und konnten auch nicht wieder »eingefangen« werden. Inzwischen hatte sich der Tarnschirm nämlich wieder stabilisiert – und es war unwahrscheinlich, daß haarfein gebündelte Ortungsrichtimpulse rein zufällig im »richtigen« Winkel auf den Tarnschirm trafen. Anders aber vermochten sie ihn nicht zu durchschlagen. Auf unseren Ortungsschirmen sah ich, wie die Reflexpunkte der Traykon-Schiffe durcheinander kurvten und sich dann sternförmig von der Station zurückzogen. Der Gegner reagierte damit auf die einzige Weise, die noch eine geringe Chance bot, uns trotz allem noch zu erwischen. Tatsächlich wurden wir wenige Minuten später von einem scharf gebündelten und gerichteten Ortungsimpuls getroffen und festgehalten. Weitere Impulse von anderen Traykon-Schiffen folgten. Doch der Gegner konnte diesen Erfolg nicht mehr nutzen, um uns zu vernichten, denn wenige Sekunden später tauchte die WEISHEIT DER KÄLTE im Linearraum unter. *
»Ich denke, es ist an der Zeit, die Hyptons zu befreien«, erklärte Anima, während sie Verzyll losließ und sich von der Sicherheitsliege erhob, die ihr Schutzfeld inzwischen wieder desaktiviert hatte. Ich blickte zu der zusammengeleimten Traube. »Ob das wirklich ein guter Gedanke ist, weiß ich nicht«, erwiderte ich. »Die Hyptons waren fair«, verteidigte die Hominidin die sanften Invasoren. »Sie wollten mich vor den Häschern des Erleuchteten in Sicherheit bringen – und sie hatten sich auf meine Bitte hin auch bereit erklärt, Neithadl-Off, Verzyll und dich mitzunehmen. Sie kamen nur nicht mehr dazu, euch holen und an Bord bringen zu lassen, da vorher die drei Naktayer und die Ury-Ligridinnen, die sich an Bord verborgen hatten, in Aktion traten und uns alle überwältigten.« »Euch und alle Schiffsroboter?« erkundigte sich Neithadl-Off zweifelnd. »Sie drohten damit, mich zu zerstören, wenn ich die Roboter nicht stillegte«, schnarrte POSIMOL. »Ich mußte darauf eingehen, um überhaupt starten zu können, denn weder die Roboter noch die Hyptons können das Schiff beherrschen.« Das leuchtete mir natürlich ein, obwohl es eine andere Frage aufwarf, die jedoch zweitrangig war. Warum konnten weder die Hyptons noch ihre Roboter das Schiff beherrschen? Ich beschloß, mir diese Frage später beantworten zu lassen. »Was waren das überhaupt für Wesen, diese Naktayer?« erkundigte ich mich statt dessen. »Zuchtwesen von Naktarby«, antwortete Anima. »Die Hyptons ließen sie durch Roboter von der Welt Gogronh entführen, wo sie als Söldner für das Königreich der Shaban-Dunkelwolke Krieg führten. Naktayer dienen ausschließlich als Söldner.« »Gräßlich!« kommentierte die Vigpanderin. »Und die Ury-Ligridinnen? Angehörige dieses Volkes haben eine durchschnittliche Körpergröße von 2,10 Metern – und zwar Frauen wie Männer. Diese drei Frauen waren aber nicht größer als 1,60 Meter.« »Es waren Hochgeborene des Ury-Clans«, erklärte die Hominidin. »Durch Inzucht innerhalb dieses Hochadels seit vielen Generationen sind seine Angehörigen körperlich kleiner als gewöhnliche Ligriden. Dafür sind sie Hexen mit einer psionischen Ausstrahlung, die nach einer gewissen Wirkungsdauer jedes männliche Wesen verzaubert, so daß es nur noch diese Hexen begehrt. Außerdem sagt man ihnen eine krankhafte Grausamkeit nach.« »Dann haben sie uns wahrscheinlich in die Energie-Aufbereitungskammer gesteckt«, entfuhr es mir. »Wir wären beim Einschalten des Linearkonverters zu Staub verbrannt.« »Sie verzaubern jedes männliche Wesen?« erkundigte sich meine Partnerin nach etwas, das eigentlich keine Rolle mehr für uns spielte. »Jedes«, antwortete Anima. »Oh!« pfiff Neithadl-Off und richtete ihre knallrot angelaufenen Sensorstäbchen auf mich. »Dann wird mein Partner nur noch ein Ziel kennen: hinter diesen Hexen her zu jagen und sich von ihnen mißbrauchen zu lassen.« »Dazu war die Zeitspanne, die ihre psionische Ausstrahlung auf ihn wirken konnte, wohl zu kurz«, wandte Anima ein. »Bist du ganz sicher?« bohrte meine Partnerin weiter. »Fast ganz sicher«, erklärte die Hominidin. »Also nicht völlig!« pfiff Neithadl-Off. »Ich muß wohl künftig ein besonders wachsames Sensorstäbchen auf ihn haben.«
»Auf Ideen kommst du!« rief ich verärgert. »Als ob ich den Versuch unternommen hätte, diese Ligridinnen an Bord festzuhalten! Im Gegenteil, ich habe sie hinausbringen lassen- und ich habe als unser Ziel den Planeten Polterzeit bestimmt.« »Sehr selbstherrlich«, kritisierte Anima. »Ich bin mir gar nicht sicher, ob es richtig wäre, nach Polterzeit zu fliegen. Die Hyptons hatten mir zwei Fluchtziele genannt, die mir sicherer erscheinen.« Ich überlegte ein paar Sekunden, ob ich nachgeben sollte, doch dann entschied ich mich dafür, mein Ziel beizubehalten. Schließlich war ich ein Spezialist der Zeit und hatte ein Ziel, das vor allen anderen Zielen unbedingten Vorrang genoß: Ich mußte feststellen, ob es jene vom Orden der Zeitchirurgen noch gab. Und auf Polterzeit bot sich die Möglichkeit, das festzustellen, förmlich an. »Es bleibt bei Polterzeit!« entschied ich. * »Dann befreie jetzt wenigstens die Hyptons!« drängte Anima. »Sie leiden unter der brutalen Fesselung, die sie einschnürt und ihre Atmung behindert.« Mißtrauisch musterte ich die fünf Spezialroboter, die sich ebenfalls wieder losgeschnallt hatten. Sie gehörten den Hyptons. Würden sie mich nicht überwältigen, sobald die Hyptons wieder in der Lage waren, Befehle zu erteilen? Ich konnte sie natürlich von Modulen infiltrieren und zu meinen Gunsten beeinflussen lassen. Das war aber auch nicht die ideale Lösung, denn ich strebte eine vernünftige Kooperation mit den Hyptons an und wollte sie deshalb nicht unnötig gegen mich aufbringen. Aber meine Sicherheit ging vor (und nicht nur meine). »Die Stahlmänner hören auf dich, POSIMOL?« erkundigte ich mich. »Ich kann sie aber nicht gegen die Hyptons einsetzen«, beschied mir die Bordpositronik. »Du kannst sie aber desaktivieren?« wollte ich wissen. »Aber die Hyptons können mir ihre Reaktivierung befehlen«, erklärte POSIMOL. Das war natürlich logisch und zu erwarten gewesen. Dennoch wunderte ich mich ein wenig über die Formulierung der Antworten des Positronengehirns. Ich würde sie analysieren müssen. Später! »Gibt es für dich eine Möglichkeit, ihre Reaktivierung für eine bestimmte Zeit zu blockieren, so daß sie während dieser Zeitspanne auch von den Hyptons nicht eingesetzt werden können?« bohrte ich weiter. »Für eine halbe Stunde ist das möglich«, antwortete die Positronik. »Gut!« sagte ich. »Das muß genügen, um mit den Hyptons zu einer Verständigung zu kommen.« Notfalls kann ich POSIMOL ebenso bedrohen wie die Naktayer! fügte ich in Gedanken hinzu, allerdings ohne die Absicht, mit dieser Drohung etwas anderes zu erreichen als eine Verständigung mit den Intelligenzen aus der Galaxis Chmacy-Pzan. Als die fünf Stahlmänner die Zentrale verlassen hatten, machte ich mich mit Neithadl-Offs und
Animas Hilfe daran, die Hyptons aus ihrer Zwangslage zu befreien. Das war schwieriger, als ich befürchtet hatte. Die Fäden, mit denen sie gefesselt waren, klebten dermaßen, daß ich mich beinahe selbst an ihnen gefangen hätte. Ich warnte die Gefährten und versuchte es noch einmal, nachdem ich die raumfesten Handschuhe übergestreift hatte. Eine Minute später waren die Senso-Rezeptoren, die den natürlichen Tastsinn ersetzten, so verklebt, daß ich praktisch kein Gefühl mehr in den Händen hatte. »Da hilft nur konzentrierte Säure«, meinte Neithadl-Off. »Du Sadistin!« explodierte Anima, obwohl meine Partnerin nur eine Feststellung getroffen hatte, aber bestimmt nicht daran dachte, Säure über die Hypton-Traube zu schütten. »Was denkst du nur von mir!« pfiff die Vigpanderin erbost. »Ihr werdet euch doch nicht streiten!« mischte sich Verzyll ein. Ich blickte den Polterzeitler an und sah, daß er flach auf dem Boden lag und ein bißchen plattgedrückt wirkte. Schon wollte ich mich besorgt danach erkundigen, ob er sich nicht wohl fühlte, da rief Anima: »Die Fäden lösen sich!« Ich wollte es nicht glauben, aber als ich hinsah, sah ich selbst, daß die Fäden nach und nach von den Hyptons abfielen. Es erschien mir im ersten Augenblick wie ein Wunder – aber natürlich gab es keine Wunder, und als ich nachdachte, kam ich schnell darauf, daß die Klebrigkeit der Fäden vorprogrammiert gewesen war, so daß sie diese Eigenschaft nach einer bestimmten Zeitspanne verloren: Sekunden später wurde meine Vermutung dadurch bestätigt, daß die Senso-Rezeptoren meiner Raumhandschuhe wieder voll funktionierten. Auch die Tatsache, daß die Hyptons sich wieder frei bewegen konnten, anstatt aneinander festzukleben, sprach dafür. »Sobald ihr euch einigermaßen erholt habt, werden wir miteinander über ein Abkommen verhandeln«, teilte ich ihnen mit. »Falls wir bis dahin noch etwas für euch tun können, sagt es uns.« Ich wartete eine Weile, aber die Hyptons äußerten sich nicht dazu. Wahrscheinlich brauchten sie Zeit, um die neue Lage zu überdenken und einen Entschluß zu fassen. Vorerst krabbelten sie nur unbeholfen über- und durcheinander. Ich blickte auf die Bildschirme der Außenbeobachtung, die aber nichts als wesenloses Grau zeigten. Das würde wahrscheinlich für Stunden das einzige sein, was wir auf den Schirmen zu sehen bekamen. Selbst sehr hohe Überlicht-Geschwindigkeiten machten aus einer Galaxis keinen Kleingarten. Die Ausmaße dieser Sterneninseln blieben ungeheuerlich und kaum vorstellbar für so winzige Organismen wie Anima, Neithadl-Off und mich. Selbst mit milliardenfacher Überlichtgeschwindigkeit würde ein einzelnes Raumschiff länger dafür brauchen, alle Sterne einer Galaxis anzufliegen, als sein Material stabil blieb. Doch auch das war weit untertrieben, erkannte ich. Es würde mindestens eine Milliarde Jahre dauern, bis ein hypothetisches Schiff aus ewig haltbarem Material und ohne Treibstoffprobleme alle Sterne einer einzigen Galaxis nur angeflogen hatte. Aber eine Milliarde von Jahren war eine gigantische Zeitspanne, in der sich selbst in kosmischen Maßstäben gravierende Veränderungen vollzogen. Die hypothetische Besatzung des hypothetischen Raumschiffs würde deshalb nach einer Milliarde Jahren erkennen müssen, daß sie niemals – auch nicht in hundert Milliarden Jahren – alle Sterne anfliegen konnte, denn während ihr Schiff flog, würden Millionen Sterne sterben und Millionen Sterne neu geboren werden. »Woran denkst du, Partner?« erkundigte sich Neithadl-Off.
»An nichts«, erwiderte ich, weil ich keine Lust hatte, ihr die ganze Problematik darzulegen, die ich mit meinen Gedanken soeben angetippt hatte. Plötzlich stutzte ich. Am oberen Ende der Bordpositronik – beziehungsweise ihres sichtbaren Teiles – blinkte ein hellblaues Licht. Ich war sicher, daß es bisher nicht geblinkt hatte. Es mußte also etwas zu bedeuten haben, vielleicht eine Schadensmeldung ankündigen. »Was hast du, POSIMOL?« erkundigte ich mich. »Ist was?« schnarrte die Positronik mit plötzlich kindlich heller Stimme. Ich sprang auf. Da stimmte etwas nicht. Mit POSIMOL mußte eine Veränderung vorgegangen sein. Ich entschloß mich nun doch dazu, Module einzusetzen. Gern tat ich es nicht, jedenfalls nicht in diesem Fall. Aber wenn in der Bordpositronik ein Prozeß angelaufen war, der sie unter Umständen schädigen würde, dann mußte ich eingreifen. Ich schickte zwei Module los. Beide kamen bis zur Außenfläche der Positronik beziehungsweise ihrer Verkleidung, dann meldeten sie mir über andere Module (die sich in mir befanden), daß POSIMOL durch ein Konturfeld geschützt sei. Sie könnten es zwar durchdringen, würden dabei aber irreparabel geschädigt werden. Ich hob die Strahlwaffe auf, die bis dahin auf dem Boden gelegen hatte. Mir blieb anscheinend nichts anderes übrig, als Gewaltanwendung gegen die Positronik anzudrohen. Falls das noch etwas nützte! Als ich hinter mir ein Rascheln hörnte, überkam mich eine dunkle Ahnung. Ich wandte mich um und sah, daß die Quellenplaner sich wieder zu einer Traube formiert hatten, die mit der Spitze nach unten hing. Ihre großen Augen waren unverwandt auf mich gerichtet. »Du hast dich verrechnet, Goman-Largo!« sagte der Sprecher am unteren Ende der Traube. »POSIMOL enthält ein Zwangsprogramm, das sie alle anderen Programme und Entscheidungen vergessen beziehungsweise ignorieren läßt. Sie wird sich keiner Drohung beugen. Aber sie kann jederzeit die Stahlmänner gegen dich einsetzen.« Ich begriff. POSIMOL war praktisch auf das Zwangsprogramm reduziert worden. Sie würde deshalb nur noch und ausschließlich den Befehlen der Hyptons folgen. Es wäre sinnlos gewesen, ihr zu drohen. Noch sinnloser wäre es gewesen, eine Drohung wahrzumachen. Ohne eine funktionsfähige Positronik war keine Raumfahrt möglich. POSIMOLS Ende hätte unser aller Ende bedeutet. Ich ließ den Strahler sinken. »Na, schön!« resignierte ich. »Was wollt ihr?«
2. BERICHT ZYZY Wie unser Sprecher sagte: Goman-Largo hatte sich verrechnet. Er hatte sich eingebildet, die WEISHEIT DER KÄLTE und POSIMOL in seiner Gewalt zu haben, nur weil er drei dumme Söldner und drei ligridische Hexen überwältigt hatte, die zuvor derselben Einbildung erlegen waren. Wir Hyptons waren nicht hereinzulegen. Selbstverständlich hatten wir für alle denkbaren Zwischenfälle vorgesorgt. POSIMOL war, lange bevor wir uns zur Flucht mit der WEISHEIT DER KÄLTE entschlossen hatten, mit einem Zwangsprogramm versehen worden, das mit einem Block davor geschützt war, ihr vor der Zeit bewußt zu werden. Sie hatte deshalb ganz richtig reagiert, als die Naktayer ihr mit Zerstörung drohten, falls sie die Stahlmänner nicht desaktivierte und sich ihnen unterstellte. Das war logisch gewesen, denn bei ihrer Weigerung hätte das Schiff die Station niemals verlassen können. POSIMOL hätte aber in jedem Fall genauso reagiert wie eben, sobald das Schiff sich im Linearraum befand. Ihr Zwangsprogramm wäre auch dann »erwacht«, wenn zu dieser Zeit die Naktayer noch die Gewalt über das Schiff besessen hätten. Die Lage wäre aber eine ganz andere gewesen – so, wie sie jetzt eine ganz andere war. Im All – und erst recht im Linearraum – waren legale und illegale Besatzungen gleichermaßen auf das reibungslose Funktionieren aller Systeme eines Raumschiffs angewiesen. Das aber konnte nur von einer hochwertigen Positronik gewährleistet werden. Wurde die Positronik zerstört, war das Schiff verloren – und alle Lebewesen an Bord ebenfalls. Darum hätte im Linearraum eine neuerliche Drohung der Naktayer nicht gewirkt. Und deshalb wirkte auch Goman-Largos Drohung nicht. Immerhin war er klug genug, das einzusehen und die Drohung gar nicht erst auszusprechen. »Die WEISHEIT DER KÄLTE ist unser Schiff«, stellte der Sprecher unserer Traube fest und beantwortete damit die Frage des Tigganois. »Du bist nur das, was wir dir zugestehen: entweder unser Gefangener oder unser Gast. Das gleiche gilt für Neithadl-Off und Verzyll. Aber wir wollen berücksichtigen, daß du, Goman-Largo, dein Leben riskiertest, um das Schiff, wie du glaubtest, aus der Gewalt der Kaperer zu befreien.« »Ich habe es befreit!« entgegnete der Tigganoi mit dem unbegründeten Stolz, der bei vielen Intelligenzen die Weisheit ersetzen sollte. »Du hast bestenfalls den Start in Frage gestellt, denn wenn ein Schuß die Positronik getroffen hätte, säßen wir jetzt in der Station fest«, widerlegte der Sprecher Gomans unhaltbare Behauptung. »Die Naktayer und Ury-Ligridinnen wären zur gleichen Zeit genau wie du mattgesetzt worden. Auch sie hätten aufgeben müssen, wie du es getan hast.« »Das bezweifle ich!« mischte sich die Vigpanderin ein. »Die Naktayer sind für den Söldnerdienst gezüchtet. Ihre Hirne sind folglich ganz auf Kämpfen und Sterben eingestellt. Sie hätten nicht nachgegeben wie mein Partner, sondern alles auf eine Karte gesetzt, wie sie es vom Krieg her gewohnt waren. Ohne Goman-Largos Eingreifen würde die WEISHEIT DER KÄLTE jetzt als Wrack durchs All taumeln.« »Nicht anders ist es«, bestätigte Verzyll. Das gab anscheinend dem Tigganoi das Gefühl von Oberwasser, denn er schlug doch tatsächlich den Abschluß eines Paktes auf Zeit vor, der uns aller unserer Vorteile wieder beraubt hätte. »Daran ist überhaupt nicht zu denken«, konterte unser Sprecher. »Wir Quellenplaner bestimmen
einzig und allein, was auf unserem Schiff geschieht und wohin es fliegt. Es gibt für euch nur zwei Möglichkeiten: Entweder unterstellt ihr euch freiwillig unserem Befehl und seid unsere Gäste – mit gewissen Einschränkungen selbstverständlich –, oder ihr bleibt stur und werdet arretiert. Entscheidet euch!« »Ich wäre bereit, eure Vorstellungen zu akzeptieren, vorausgesetzt, ihr willigt ein, das Flugziel des Schiffes beizubehalten: Polterzeit«, erklärte der Tigganoi. »Niemals!« entschied unser Sprecher ganz richtig. »Unser Ziel für die WEISHEIT DER KÄLTE steht fest – und es heißt nicht Polterzeit.« »Aber auf Polterzeit wärt ihr sicher«, warf Verzyll ein. »Dort würden euch die Traykons niemals vermuten. Eure Ausweichstützpunkte dagegen bestehen wahrscheinlich schon so lange, daß die Helfer des Erleuchteten sie längst ausgekundschaftet haben könnten.« »Unsere Ausweichstützpunkte können nicht ausgekundschaftet worden sein, denn ihre Koordinaten sind nirgends aufgezeichnet«, wies der Sprecher ihn zurecht. »Wir wissen gar nicht, warum ihr unbedingt nach Polterzeit wollt.« »Es ist meine Heimat«, stellte Verzyll fest. »Wir lassen dich hinbringen, sobald sich die Lage wieder beruhigt hat«, versprach ihm der Sprecher gemäß unseren Grundsätzen, daß Versprechungen unabhängig von Realisierungsmöglichkeiten gegeben wurden. »Also, gut!« ergab sich der Tigganoi in sein Schicksal. »Du erkennst unsere Bedingungen an?« erkundigte sich der Sprecher. Der Tigganoi sah seine Partnerin und den Shynn fragend an, erkannte bei ihnen Zustimmung und antwortete: »Wir erkennen eure Bedingungen an.« »Es ist in Ordnung«, sagte der Sprecher. »POSIMOL, projiziere eine Energiewand quer durch die Zentrale und regle die Temperatur in unserer Hälfte auf den Nullpunkt! Anschließend nimmst du Kurs auf das Pattok-System!« POSIMOL bestätigte. Es blieb ihr auch gar nichts anderes übrig. Als wir das Schiff damals in unseren Besitz gebracht hatten, waren von uns alle Erinnerungen POSIMOLS an vergangene Zeiten und ihre früheren Besitzer gelöscht worden. Wir hatten die Positronik auf absoluten Gehorsam uns gegenüber programmiert. Außerdem waren »versteckte« Informationen eingegeben worden, die erst dann »erwachten«, wenn bestimmte Kodewörter genannt wurden. Im Fall der Ausweichziele genügte die Nennung des Namens eines Sonnensystems, um POSIMOL die betreffenden Koordinaten verfügbar zu machen. Die WEISHEIT DER KÄLTE fiel in den Normalraum zurück. POSIMOL orientierte sich mit Hilfe der Ortungssysteme, dann nahm das Schiff wieder Fahrt auf und ging erneut in den Linearraum. Aber diesmal mit dem richtigen Kurs.
3. BERICHT NEITHADL-OFF Es war hart. Wir hatten eine Niederlage hinnehmen müssen. Aber eigentlich war es zu erwarten gewesen, daß die Hyptons sich gegen Zwischenfälle abgesichert hatten. Sie hatten gewonnen, weil sie von vornherein im Besitz der besseren Karten gewesen waren. Aber ihr Sieg war ein zweischneidiges Schwert. Sie konnten meinen Partner und mich nicht auf lange Zeit Tag und Nacht überwachen. Irgendwann würden wir wieder zum Zug kommen. Dann würden die Hyptons einsehen müssen, daß sie klüger daran getan hätten, einen Kompromiß mit uns zu schließen. Denn nach dieser bitteren Erfahrung durften sie nicht mit großem Entgegenkommen rechnen, wenn wir die Oberhand gewannen – und irgendwann würde dieser Fall mit der Unvermeidlichkeit eines Naturgesetzes eintreten. Vielleicht viel früher, als die Hyptons es ahnten. Ich sah es meinem Partner am Gesicht an, wie er über diese Angelegenheit dachte. Er gab sich meist so harmlos, dabei war er mit allen Wassern gewaschen. Wenn ich daran dachte, wie naiv er sich gestellt hatte, als die Hyptons ihn über ihre wahren Absichten zu täuschen versuchten und ihn veranlaßten, Verzyll in die REE-Z zu locken! Er hatte getan, als ahnte er nichts davon, daß sie den Shynn gefangennehmen wollten. Dabei hatte er genau das gewollt, weil er mit Hilfe eines Moduls festgestellt hatte, daß das Überlichttriebwerk seines Raumschiffs ein abgewandeltes Zeitaggregat war. Inzwischen war dieses abgewandelte Zeitaggregat genauso hinüber wie die DORDONA Verzylls, aber dafür wußten wir, daß Shuna – beziehungsweise Polterzeit – eine getarnte Zeitgruft besaß und daß der Planet erst kürzlich von Zeitchirurgen besucht worden war. Wir brauchten also nur nach Polterzeit zu fliegen, um die Zeitchirurgen zu schnappen beziehungsweise, wenn sie den Planeten wieder verlassen haben sollten, ihre Spur aufzunehmen. Ausgerechnet das aber verwehrten uns die Hyptons. Es war zum Grumbl ausgraben! Ich richtete einen Teil meiner Sensorstäbchen auf Anima. Die Hominidin hatte sich, wie mein Partner inzwischen auch wieder, in einem Sessel niedergelassen. Aber im Gegensatz zu ihm schien sie nicht mit dem Schicksal zu hadern. Sie schien mit ihrer Lage zufrieden zu sein. Ich begriff das nicht. Sie hatte doch ein Ziel gehabt: Atlan. Aber seit wir uns in der Galaxis Manam-Turu befanden, stand dieses Ziel nicht mehr so klar wie früher in ihrem Kopf. Atlan vermischte sich in ihren Vorstellungen mit ihrem früheren Ritter Hartmann. Sie verwechselte die beiden oft miteinander oder sah sie als eine Person an. Dann wieder gab sie sich zuversichtlich, Atlan oder/und Hartmann demnächst wiederzufinden – und zwar ohne eigenes Zutun. Irgend etwas in Manam-Turu hatte sie der Eigeninitiative beraubt. Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ich vermochte mir nicht vorzustellen, daß das allein die Hyptons bewirkt hatten. Dazu hätten ihre psionischen Fähigkeiten nicht ausgereicht. Nein, es mußte in Manam-Turu etwas anderes geben, das sie beeinflußte. Ich gab es auf, mir darüber die Synapsen heiß werden zu lassen. Statt dessen beschloß ich, die
aufgezwungene Ruhepause dazu zu benutzen, meine Aufzeichnungen zu vervollständigen. Ich zog mein flaches Aufzeichnungsgerät aus seinem Futteral, nahm es zwischen die Vordergliedmaßen und blies die Berichte über die Ereignisse der letzten Tage hinein, während ich es vor meiner Mundleiste hin und her bewegte. Meine erste Begegnung mit dem Modulmann tauchte dabei ebenso wieder vor meinem geistigen Auge auf wie unser erstes – kriegerisches -Zusammentreffen mit Anima sowie unsere gemeinsamen Erlebnisse und Abenteuer im Reich der Phyloser. Es war herrlich gewesen! Aber wirklich atemberaubend war es erst geworden, als wir auf dem Mond Preet in die ZeitTransfer-Kapsel des toten Hephaters verschlagen worden waren und einen Zeit-Transfer kreuz und quer durch die Nullzeit-Spur durchgemacht hatten. Eine wahre Kreuzfahrt durch die Tiefen der Zeit war gefolgt, mit immer neuen Begegnungen und Erkenntnissen. Auf dem Planeten Mohenn hatten wir dann eine weitere Zeitgruft entdeckt – und von dort aus waren wir lange zwischen den Zeiten hin und her gependelt, waren Zeitgruftwächtern begegnet und von einem Wächter mit dem Hephather Krell-Nepethet verwechselt und beinahe vernichtet worden. Wir waren in die Satellitenstadt Kamintze verschlagen worden, die den Gasriesen Stoma umkreiste und die letzte Siedlung der Tufylls darstellte. Kamintze war dabei, seine Kreisbahn zu verlassen und in naher Zukunft auf Stoma zu stürzen, was ihr Ende und das Ende aller ihrer Einwohner bedeutet hätte. Gemeinsam mit dem Computer Allgorah hatte mein Partner es fertiggebracht, die Satellitenstadt auf eine höhere und stabile Kreisbahn zu befördern und damit zu retten. Danach waren wir wieder in die Zeitgruft getaucht und hatten mit dem Wächter um unser TimeShuttle kämpfen müssen. Wir hatten gesiegt. Dennoch war uns nur die Flucht übriggeblieben, denn vor seinem Tode hatte der Wächter noch ein Signal abgestrahlt, das irgendwo irgendwann von irgendwem aufgefangen worden war. Etwas näherte sich uns aus ferner Vergangenheit. Wir wußten nicht, was es war, aber wir hatten den Rat des sterbenden Zeitgruftwächters befolgt und waren geflohen. Ohne bestimmtes Ziel. Dennoch waren wir an einem Ziel angekommen. Dank Animas mentaler Steuerungshilfe hatten wir die Galaxis Manam-Turu erreicht, die Galaxis, in die es Atlan verschlagen hatte, wie wir aber erst später erfuhren. Doch es war die falsche Zeit gewesen, in der wir angekommen waren. Wir erlebten eine alptraumhafte Zukunft – oder eine Parallelzeitebene, auf der sich alles anders entwickelt hatte als auf »unserer« Zeitebene. Schon hielten wir uns für immer zwischen den Zeiten verschollen, da gelang es meinem Partner in einem gigantischen mentalen Kraftakt, unser Time-Shuttle in die richtige Zeit und an den richtigen Ort zu bringen. Wir waren auf dem Planeten Barquass in der Galaxis Manam-Turu zwischengelandet. Dort trafen wir wenig später mit Piraten zusammen, die von Atlan gehört hatten und den Kontakt mit ihm suchten. Sie nahmen uns mit. Das Einhorn Nussel, das uns von Mohenn aus begleitet hatte, blieb zurück. Vor dem Zusammentreffen mit den Piraten aber schickte Goman-Largo die Zeitkapsel zu der Zeitgruft, die wir zuletzt tangiert hatten. Auf Barquass wäre die Gefahr, daß sie in unrechte Hände geriet, zu groß gewesen.
Mein Partner dachte aber auch daran, daß wir das Time-Shuttle irgendwann wieder benötigen könnten. Er schickte eines seiner Module mit und programmierte es so, daß es ein Raum-ZeitSignal aussenden würde, sobald es den Aktivierungsimpuls eines seiner anderen Module empfing. Auf diese Weise, so hoffte er, würden wir es stets wiederfinden, wenn wir es brauchten. Die darauffolgende Kreuzfahrt mit den Piraten durch Manam-Turu beziehungsweise einen Raumsektor dieser Galaxis hatte neue Höhepunkte in unsere Serie von Abenteuern gebracht. Wir lernten die Hüter der Eloranischen Schätze kennen und erbeuteten etwas von jener seltenen Kostbarkeit, die man auch Zeitasche nennt. Danach landeten wir auf dem Planeten Pechel. Und wurden zwangsrekrutiert, um bei den internen Kämpfen zwischen konkurrierenden Städten der Pecheles verheizt zu werden. Zuerst hielten wir alles für ein großes Unglück. Vor allem mein Modulmann war erschüttert darüber, daß auf Pechel die Frauen das Sagen hatten und sich ihre Männer in Käfigen hielten. Er als Fremder dagegen »durfte« unter dem Befehl der »Damen Offiziere« mitkämpfen. Glücklicherweise gelang es uns, Heldentaten und damit auch den Heldentod zu vermeiden. Schlußendlich konnten wir Frieden zwischen den Städten von Pechel vermitteln – und wir lernten sogar zwei sympathische Damen Offiziere kennen, die uns bei unserem Abflug von ihrer Heimatwelt begleiteten. Doch beinahe wären wir in den Tod geflogen, denn das als Celester namens John Urko aufgetretene Pre-Lo führte uns in eine Falle. Ohne meinen Partner wären wir von ihm in eine fremde Zeitebene gelockt worden, aus der es kein Zurück gegeben hätte. Goman-Largo drehte den Spieß um und schickte das Pre-Lo auf die Reise ohne Wiederkehr. Danach lernten wir den Roboter Traykon-6 kennen, für den Atlan kein Unbekannter zu sein schien. Leider konnte Traykon-6 uns nicht zu Atlan bringen, denn wir gerieten in die Gewalt der Hyptons und wurden in ihrer Raumstation MANAM-PZAN festgesetzt. Dort wären wir beinahe Opfer des Überfalls von Traykon-Schiffen des Erleuchteten geworden. Wir fanden den Weg in die versteckte WEISHEIT DER KÄLTE und befreiten das Schiff und die Hyptons aus der Gewalt von anderen Gefangenen, die das Schiff gekapert hatten. Zum Dank dafür stuften uns die Hyptons praktisch auf den Status von Gefangenen zurück und lehnten es ab, auf unser Verhandlungsangebot einzugehen. Sie kannten uns eben nicht so gut, wie wir uns selbst kannten. Deshalb würden sie über kurz oder lang ihr blaues Wunder erleben. * »Achtung!« schnarrte POSIMOL. »Rücksturz in den Normalraum!« Wenige Sekunden später fielen die Beschleunigungsmesser auf null. Schlagartig strahlten rings um die WEISHEIT DER KÄLTE zahllose Sterne im finsteren Abgrund des Alls. Natürlich waren es ausnahmslos Projektionen, aus Ortungsdaten gewonnen, von der Bordpositronik für die mangelhaften Sinne organischer Intelligenzen aufbereitet und makrokosmetisch geschönt. POSIMOL ließ um einen der abgebildeten Sterne einen blauen Ring pulsieren und schnarrte: »Das ist die Sonne Pattok, fünfzehn Planeten. Wir befinden uns acht Lichtstunden über der Ebene der Planetenbahnen. Unter uns liegt die Bahn des vierten Planeten.« »Gamura«, sagte der Sprecher der Hyptons. »Dort befindet sich der erste unserer
Ausweichstützpunkte. Anfliegen!« »Anfliegen«, bestätigte die Bordpositronik. »Mit aktiviertem Tarnschirmprojektor?« »Selbstverständlich unter Beachtung aller Vorsichtsmaßnahmen«, gab der Hypton am unteren Ende der Traube ungnädig zurück. »Unter den Vorsichtsmaßnahmen ist auch die Besetzung der Steuerkanzel für Solo-Piloten«, erklärte POSIMOL. »Ich empfehle, auch diese Maßnahme zu ergreifen.« »Wir haben keinen Solo-Piloten«, entgegnete der Sprecher. »Goman-Largo«, schnarrte POSIMOL. »Abgelehnt!« erklärte der Hypton. »Wenn, dann käme höchstens Anima in Frage.« »Sie wäre ein Risiko-Faktor, da sie sich in ihrem derzeitigen Zustand nicht ausreichend auf ihre Aufgaben als Pilotin konzentrieren könnte«, wandte POSIMOL ein. Die Tatsache, daß Anima selber sich nicht zum Thema äußerte, sprach Bände. Sie schien nur noch in ihrer Traumwelt zu leben, in der ihre bisherigen Ritter herumgeisterten. »Der Einwand ist berechtigt«, gab der Sprecher zu. »Aber wir benötigen keinen Solo-Piloten. Gamura ist eine sichere Welt, denn dort gibt es keine intelligenten Lebewesen.« POSIMOL schwieg daraufhin und richtete statt dessen die Nase des Schiffes auf einen Punkt des vierten Planeten aus, auf dem die WEISHEIT DER KÄLTE und Gamura sich ihren Berechnungen nach begegnen würden. Danach beschleunigte sie. Um nicht mindestens zwölf Stunden unterwegs zu sein, programmierte die Positronik noch eine kurze Linearetappe, die uns bis auf zwanzig Lichtsekunden an Gamura heranbrachte. Als wir in den Normalraum zurückfielen, war Pattok nicht mehr nur als Stern unter Sternen, sondern als münzengroße gelbe Scheibe zu sehen. Gamura dagegen wirkte nicht einmal so groß wie ein Blasloch in meinem Aufzeichnungsgerät. »Ortung!« schnarrte POSIMOL. »Ergebnis negativ.« »Wir sagten doch, daß Gamura eine sichere Welt ist«, trumpfte der Hypton-Sprecher auf. »Du kannst Hyperfunkverbindung mit dem Stützpunkt aufnehmen. Das Erkennungswort heißt Eligaart.« »Eligaart«, wiederholte POSIMOL. »In Ordnung.« Nichts war in Ordnung, denn kaum hatte die Positronik das Erkennungswort abgestrahlt, flog uns das Universum um die Sensoren. Nun, nicht das ganze Universum, aber doch ein kleiner Teil davon. Ich sah einen Blitz, der das All vor uns ausfüllte, dann wurde ich gegen den sichtbaren Teil von POSIMOL katapultiert, hörte Knochen brechen und verlor das Bewußtsein. Eine Raummine! war mein letzter Gedanke. * Als ich wieder zu mir kam, sah ich Anima neben mir knien. Ich fühlte mich todelend, aber ich spürte bereits die wohltuende heilende Wirkung, die die Hominidin mit ihrer besonderen Fähigkeit ausübte. Erleichtert ließ ich mich abermals in eine Ohnmacht fallen. Mein Unterbewußtsein rebellierte dagegen und zog mich schon nach kurzer Zeit ins Bewußtsein zurück.
»Was ist mit Goman-Largo?« pfiff ich. »Keine Sorge«, antwortete Anima. »Ich konnte ihn wiederbeleben. Er wird aber noch einige Zeit in einem Plasmatank schwimmen müssen.« »Dann war er tot?« entfuhr es mir erschrocken. »Bei allen Zeitgrüften und ihren Wächtern, jetzt erinnere ich mich. Wir sind auf eine Raummine gelaufen, nicht wahr?« »Nur beinahe, sonst hätte es das Schiff zerrissen«, erwiderte die Hominidin. »Eine von POSIMOLS Vorsichtsmaßnahmen war, die WEISHEIT DER KÄLTE mit aller Kraft abzubremsen, bevor sie das Kodewort abstrahlte. Die Positronik der Raummine war auf ein solches Manöver nicht vorbereitet, weil es an sich unsinnig war. Sie hat nicht die veränderten Flugwerte zur Berechnung der Zündzeit verwendet, sondern die zuerst angemessenen. Dadurch wurde die Mine rund zehntausend Kilometer vor uns zur Explosion gebracht.« »Zehntausend Kilometer!« wiederholte ich. »Dennoch hat uns die Gasdruckwelle einen derartigen Hammer verpaßt! Es muß sich um eine Supermine gehandelt haben.« »NM-AM«, sagte Anima. »Normalmaterie-Antimaterie«, pfiff ich beeindruckt. »Da hat jemand ganz auf Nummer Sicher gehen wollen. Das Schiff dürfte ein Wrack sein, oder?« »Kann denn niemand dieses ultramonotische Geplapper abstellen!« schimpfte eine vertraute Stimme. Mein Modulmann! Er war schon wieder bei Bewußtsein! Und er fühlte sich so wohl, daß er mich mit seinem anmaßenden Ton nervte! »Ich darf doch wenigstens noch fragen, wie es um das Schiff steht!« pfiff ich, so laut ich schon wieder konnte. »Es hat den ›Hammer‹ besser verdaut, als ich zu hoffen gewagt hatte«, antwortete Goman-Largo aus einer von mir nicht einsehbaren Position. »Wir werden in einigen Stunden in den Linearraum gehen können, denn bis dahin wird die Selbstreparaturanlage die Schäden beseitigt haben. Jedenfalls die Schäden am Schiff.« »Was für Schäden gibt es denn sonst noch?« fragte ich. »Du meinst doch nicht unsere Verletzungen, Modulmann.« »Das Trauma der Quellenplaner«, antwortete der Tigganoi ironisch. »Sie haben körperlich keine wesentlichen Schäden erlitten, aber psychisch sind sie zutiefst getroffen worden. Ihre Stahlmänner mußten sie aus der Zentrale holen und in eine spezielle Kältekammer transportieren. Dort versuchen sie anscheinend, den Schock zu verdauen.« Ich selber mußte ebenfalls noch unter Schockwirkung gestanden haben, denn sonst wäre mir die Bedeutung der Tatsache, daß wir vor einer geheimen Stützpunktwelt der Hyptons beinahe von einer Raummine vernichtet worden waren, gleich aufgegangen. »Der Stützpunkt…?« setzte ich zaghaft zu einer entsprechenden Frage an. »Schweigt«, antwortete Goman-Largo. »Er ist zweifellos von den Helfern des Erleuchteten zerstört worden. Danach haben sie Raumminen programmiert und ausgesetzt, damit sie auch uns aus dem All pusteten. Ich kann mir gut vorstellen, wie das den Stolz der Hyptons angeschlagen hat. Sie hielten Gamura für eine sichere Welt.« Ich spürte Freude durch meine Synapsen jagen. »Dann werden sie jetzt klein beigeben«, meinte ich. »Abwarten und Zeit anhalten!« gab der Modulmann zurück.
»Geduld war nie meine Stärke«, grollte ich. »Ich fühle mich wieder ganz in Ordnung. Kann ich aufstehen, Anima?« »In ein paar Minuten«, gab die Hominidin zurück. Soviel Geduld brachte ich auf. Als die Wartezeit um war, sprang ich auf die Gliedmaßen und wollte sofort wieder voll aktiv werden. Es ging nicht. Ich war noch zu wackelig. Außerdem, was hätte ich schon groß tun können – außer um den Plasmatank meines Modulmanns herumzumarschieren! Ein Versäumnis fiel mir ein und stach gleich einem Stromschlag durch meine Synapsen. »Was ist mit Verzyll?« pfiff ich ahnungsvoll, denn es mußte einen schlimmen Grund dafür geben, daß weder Anima noch Goman-Largo ihn bisher erwähnt hatten. »Oh, keine Sorge, meine Prinzessin!« rief der Modulmann. »Er ist nicht einmal verletzt, weil er mitten in die Traube der Hyptons flog. Zur Zeit befindet er sich bei den Quellenplanern.« Ich war erleichtert. »Was tut er dort?« fragte ich. »Angeblich soll er über das Neue Konzil und seine Ziele informiert und dafür gewonnen werden«, erklärte der Tigganoi süffisant. »Ich denke jedoch, daß die Hyptons ihm statt dessen Informationen über seine Heimatwelt entlocken wollen, weil sie insgeheim doch mit dem Gedanken spielen, Polterzeit anzufliegen und sich dort zu verbergen.« »Dann hat die Explosion der Raummine doch ihr Gutes gehabt«, stellte ich zufrieden fest.
4. BERICHT GOMAN-LARGO Es war unglaublich. Erst vor vier Stunden hatten die Quellenplaner mit Gamura ein Fiasko erlebt, das beinahe uns allen das Leben gekostet hätte – und jetzt, kaum daß die ärgsten Schäden am Schiff behoben waren und POSIMOL die WEISHEIT DER KÄLTE für linearraumtauglich erklärt hatte, befahlen sie ihr, Kurs auf ihren zweiten Ausweichstützpunkt zu nehmen. Den Planeten AGRAN im MEPHEL-SYSTEM! Ich redete mir den Mund fusselig, um die Bordpositronik dazu zu bringen, mir eine »Audienz« bei den Hyptons zu verschaffen – ohne Erfolg. Dabei hatte ich den ziemlich sicheren Eindruck, daß POSIMOL mir nicht ablehnend gegenüberstand, sondern mir sogar Sympathie entgegenbrachte – soweit man bei einer Positronik von echten Adäquaten der Gefühle organischer Intelligenzen überhaupt sprechen konnte. Doch das Zwangsprogramm der Hyptons hatte eine unsichtbare Barriere zwischen ihr und mir errichtet. Mir blieb nichts weiter übrig, als tatenlos in meinem Plasmatank auszuharren, denn nicht einmal über Funk ließen sich die Quellenplaner sprechen. Ich konnte mir denken, warum. Sie wollten keine Kritik hören, weil sie wußten, daß sie begründet sein würde – und sie wollten jeder Diskussion über Polterzeit als Ziel aus dem Weg gehen, weil sie wußten, daß sie die schlechteren Argumente hatten. Meine Partnerin konnte ebenfalls nichts tun. Und Anima wollte anscheinend nichts tun. Manchmal hatte ich wirklich den Eindruck, daß sie sich auf die Seite der Hyptons geschlagen hatte und sie sogar gegen uns unterstützen würde. Andererseits wußte ich zu würdigen, was sie erst vor Stunden für Neithadl-Off und mich getan hatte. Ohne sie und ihre besonderen Fähigkeiten wäre ich jetzt tot – und meine Partnerin wäre zumindest für ihr ganzes weiteres Leben gezeichnet. Ich wälzte mich in dem warmen Plasma herum. Der angenehmste Aufenthaltsort war das auch nicht, aber sicher ein besserer als eine Plastikplane, in die tote Raumfahrer gewickelt und ins All gestoßen wurden. »Hast du Schmerzen, Goman?« erkundigte sich die Vigpanderin. Manchmal konnte sie mir schon auf die Nerven gehen mit ihrer übertriebenen Fürsorge. »Nur in den Mundwinkeln«, gab ich zurück. »In den Mundwinkeln?« echote sie besorgt. »Wenn ich lache«, ergänzte ich. Daraufhin stieß sie einen entrüsteten Pfiff aus und schwieg fortan für die Dauer der nächsten Minuten. Ich entspannte mich. Dabei mußte ich eingeschlafen sein, denn ich schrak auf, als ich POSIMOL schnarren hörte: »Das ist die Sonne Mephel, acht Planeten. Wir befinden uns neun Lichtstunden über der Ebene der Planetenbahnen. Schräg unter uns liegt die Bahn des fünften Planeten namens Agran.« Meine Hoffnung darauf, daß die Hyptons über Interkom darauf reagieren würden, erfüllte sich nicht. Wahrscheinlich standen sie in direkter Funkverbindung mit der Bordpositronik. Das bedeutete, daß meine Partnerin, Anima und ich von der Kommunikation ausgeschlossen waren.
»Meine Kleidung, schnell!« rief ich und schwang mich aus dem Plasmatank. Ein Kreischen entfernte sich. Neithadl gab sich wieder einmal zimperlich. Dabei hatte ich eine Art Badehose an. Ganz abgesehen davon, daß mein Körperbau sich in allem wesentlich von dem einer männlichen Intelligenz des Planeten Vigpander unterscheiden dürfte. Anima reichte mir ein Handtuch und meine Kleidung. Sie störte sich offenkundig nicht am Anblick eines fast nackten Mannes. Warum auch! Wenn der Herr der Zeiten Nacktheit anstößig fände, er würde uns nicht unbekleidet auf die Welt kommen lassen. »Du wirst gebeten, die Kanzel für den Einzelpiloten zu besetzen, Goman-Largo!« schnarrte POSIMOL. »Was?« fuhr es aus mir heraus. »Von wem?« »Von den Quellenplanern«, antwortete die Positronik. »Abgelehnt!« sagte ich. »Warum?« fragte POSIMOL. »Weil ich mir Befehle nicht von einem Boten überbringen lasse«, antwortete ich. »Die Hyptons sollen mich persönlich darum bitten.« »Du reagierst unklug, Goman-Largo«, warf mir die Positronik vor. »Wenn ich den Quellenplanern die Antwort ausrichte, die du mir eben gegeben hast, dann werden sie dir nie wieder die Gelegenheit bieten, als Solo-Pilot einzuspringen und alle Systeme der WEISHEIT DER KÄLTE kennenzulernen.« Ich schluckte den Tadel, denn ich sah ein, daß er berechtigt war. Ich hatte mich zu unüberlegten Äußerungen hinreißen lassen, die die Realitäten nicht berücksichtigten. Für mich war es schließlich egal, ob ich von den Hyptons persönlich aufgefordert wurde, als SoloPilot zu fungieren oder ob sie mir die Aufforderung von der Bordpositronik überbringen ließen. Hauptsache war, daß ich endlich alle Systeme des Schiffes kennenlernen konnte. POSIMOL hatte dabei besonders das Wörtchen alle betont – und ich wußte, was er damit gemeint hatte. Daß ich die Bordpositronik kennenlernen würde, die ich bisher so gut wie überhaupt nicht kannte, weil ich mit meinen Modulen nicht an sie herankam. Und noch etwas anderes hatte POSIMOL eigenartig betont. Den Namen des Schiffes: WEISHEIT DER KÄLTE. Mir hatte es danach geklungen, als sei das nicht der ursprüngliche Name dieses Schiffes gewesen und als hätte POSIMOL mich mit dem unausgesprochenen Versprechen locken wollen, mir mehr über ihre Herkunft zu verraten, als sie mir verraten konnte, wenn ich mich in der Hauptzentrale aufhielt anstatt in der rundum abgeschirmten Kanzel für Solo-Piloten. »Ich habe vorhin nur laut gedacht, POSIMOL«, erklärte ich. »Selbstverständlich bin ich bereit, die Funktion des Solo-Piloten zu, übernehmen.« »Verstanden!« erwiderte die Positronik. »Ich blende den Bauplan des Schiffes auf einen INFOSchirm. Du wirst darin die Kanzel finden und auch den Weg dorthin.« »Das ist hypertemporal«, sagte ich und schloß den Magnetverschluß meiner rötlich-gelbbraunen Kombination mit dem regenbogenfarbigen, pulsierenden Symbol der Spezialisten der Zeit auf dem Brustteil.
* Natürlich hatte Neithadl-Off dagegen protestiert, daß ich die Kanzel für Solo-Piloten besetzen und sie »allein« in der Hauptzentrale zurücklassen wollte. Es hatte ihr nichts genützt. Der Bauplan des Schiffes auf dem INFO-Schirm hatte mich schnell erkennen lassen, wie ich von der Hauptzentrale in die Pilotenkanzel kam. Ich mußte durch einen in Richtung Backbord führenden Korridor gehen, der unter den Umsetzerblöcken für die Normal- und Hyperfunkantennen hindurch- und an dem Schott vorbeiführte, hinter dem die Vorratsräume lagen. Als ich mich in das Cockpit zwängte, kam es mir im ersten Moment sehr eng vor. Doch dieses Gefühl verlor sich, als ich erst richtig in dem Sessel Platz genommen und er sich automatisch meinem Körperbau angepaßt hatte. Mit einemmal war ich froh darüber, daß das Cockpit nicht größer war. Ich hatte gerade soviel Platz und Bewegungsspielraum, wie ich brauchte. Ein Mehr hätte nur die Konzentration auf die Funktion als Solo-Pilot behindert. Einen direkten optischen Ausblick gab es selbstverständlich nicht. Das wäre bei einem Raumschiff, das in Geschwindigkeitsbereichen nahe LG operierte, völlig unsinnig gewesen. Ich hätte kein Hindernis rechtzeitig erkannt und keinen Waffenstrahl ins Ziel bringen können. Hochwertige 3-D-Bildschirme zeigten mir alles, was ich wissen mußte, exakt auf meine im Vergleich zu positronisch gesteuerten Ortungssystemen und Analysatoren minderwertigen Sinne zugeschnitten. Sensorpunkte, Armdruckleisten und daumengroße Sticks koppelten mich sozusagen an die positronischen Steuer- und Kontrollsysteme des Schiffes an und würden mich nach einiger Einfühlungszeit zu einer Einheit mit dem Schiff verschmelzen lassen. »Hervorragend!« lobte ich. »Wenn du die WEISHEIT DER KÄLTE irgendwann übernehmen willst, brauchst du es mir nur zu sagen oder den dicken gelben Sensorpunkt rechts von deinem rechten Daumen zu berühren«, erklärte POSIMOL. »Vorläufig habe ich keinen Bedarf«, erwiderte ich. »Können die Quellenplaner mich empfangen?« »Nur, wenn ich die Verbindung zwischen ihnen und dir herstelle«, erwiderte POSIMOL. »Das werde ich demnächst tun müssen.« »Gut!« sagte ich. »Wenn wir sozusagen unter vier Augen sind, verrate mir doch etwas über deine Herkunft!« »Das ist mir leider unmöglich, Goman-Largo«, beschied mir die Positronik. »Die betreffenden Daten sind in mir gelöscht. Ich habe allerdings den vagen Eindruck, daß sie schemenhaft noch vorhanden sind und sich eventuell wieder verdeutlichen lassen. Vielleicht kannst du mir dabei helfen.« »Wenn ich kann, will ich das gern tun«, erklärte ich. »Aber ein Rücken stützt den anderen. Das heißt, daß ich für eine Leistung von mir eine Gegenleistung erwarte.« »Das ist korrekt«, stellte die Positronik fest. »He, das klingt aber, als wenn du plötzlich mit mir gemeinsame Sache machen willst!« rief ich. »Wirkt das Zwangsprogramm denn nicht mehr?« »Doch«, antwortete POSIMOL. »Es wirkt immer noch. Aber da dein Status nicht mehr der eines Gefangenen, sondern der eines Solo-Piloten und damit einer Vertrauensperson ist, beinhaltet die
Zwangsbeeinflussung keine einschränkenden Maßnahmen und Verbote dir gegenüber mehr.« Ich holte tief Luft. Genau das hatte ich erhofft. Jetzt war ich sicher, daß es mir doch noch gelingen würde, die Bevormundung durch die Hyptons abzuschütteln und ihnen einen Pakt auf Zeit abzuringen. Ihre Furcht davor, bei Agran wieder nur einen zerstörten Stützpunkt vorzufinden und womöglich in eine Falle zu laufen, weil eine Positronik eventuell nicht so intelligent reagierte wie ich, hatte mich in diese neue Ausgangsposition gebracht. Ich brauchte sie nur zu nutzen – falls wir und das Schiff noch lange genug existierten. Ich musterte die Bildschirmanzeigen. Wir befanden uns noch in der kurzen Linearetappe, die uns bis nahe an Agran heranbringen würde. Danach konnte es gefährlich werden. Eine Anzeige ließ mich wissen, daß wir noch zwölf Minuten im Linearraum bleiben würden. Solange waren wir sicher. »Wie war dein ursprünglicher Name?« fragte ich die Positronik scharf. »RAJJA«, kam die Antwort wie der Lichtblitz aus dem Laser. »Das ist kein Wort aus der Verkehrssprache von Manam-Turu«, stellte ich fest und forderte gleichzeitig eine Information an. »Richtig«, antwortete POSIMOL. »In dieser Verkehrssprache heißt RAJJA soviel wie STERNENSEGLER. Aber die Tatsache, daß der Name RAJJA nicht aus der von dir, deiner Partnerin und den Hyptons verwendeten Verkehrssprache kommt, muß nicht zwangsläufig bedeuten, daß ich aus einer anderen Galaxis stamme. Manam-Turu ist groß. Nur ein kleiner Teil kann von den Piraten, von den Hyptons, den Ligriden, den Daila und den Hilfsvölkern des Erleuchteten erforscht und erschlossen worden sein. In anderen Teilen mögen andere Verkehrssprachen gelten.« »Das ist richtig«, gab ich zu. »Die wahre Größe von Galaxien wird von den meisten Sternenvölkern unterschätzt. So gesehen, dürfte auch das Neue Konzil nur den Bruchteil eines Prozents von Manam-Turu beherrschen. Es sei denn, ich irrte mich, weil ich nur ungenügend informiert bin. Antworte mir, POSIMOL!« »Das kann ich nicht, da ich in dieser Hinsicht ebenfalls nur ungenügend informiert wurde«, erklärte die Positronik. »Die Hyptons lassen sich nicht gern in die Karten sehen.« »Allerdings!« pflichtete ich ihr bei, dann stutzte ich. »Woher hast du diese Redewendung? In die Karten sehen lassen, meine ich.« »Von Anima abgelauscht«, antwortete POSIMOL. Ich hätte es mir denken können. Es war also nichts mit einer schnellen Reaktivierung der alten Erinnerungen POSIMOLS. Ich hatte ein Geduldsspiel vor mir, das sich lohnte oder auch nicht. Aber auf jeden Fall würde ich dieses Spiel durchhalten. Es sei denn, der große und letzte Vorhang fiel vor Agran… * »Ich schalte jetzt die Quellenplaner mit in unsere Funkverbindung«, kündigte POSIMOL an. »In Ordnung«, gab ich zurück – und hörte im nächsten Moment das aufgeregte Gepiepse der
Hypton-Traube. »In zehn Sekunden erfolgt der Rücksturz in den Normalraum«, gab die Bordpositronik bekannt. »Soll der Flug anschließend sofort fortgesetzt werden?« »Was rätst du, Goman-Largo?« fragte der Hypton-Sprecher. »Auf gar keinen Fall«, erklärte ich. »Vielmehr schlage ich vor, alle Systeme zu desaktivieren und das Schiff im freien Fall treiben zu lassen.« »Aber die Überlebenssysteme…?« wandte der Sprecher ein. »Auch die Überlebenssysteme!« entschied ich. »Schließlich verfügen wir alle über Raumschutzausrüstungen. Sie müssen ausreichen. Die Verminderung der Ortungsgefahr ist wichtiger als jeder Luxus.« »Einverstanden, Goman-Largo«, erwiderte der Sprecher. »Du wirst nach seinem Vorschlag verfahren, POSIMOL!« »Verstanden«, gab die Positronik zurück. »Selbstverständlich werden wir nur mit der Passivortung lauschen. Dann müssen wir uns allerdings sehr nahe an den Planeten treiben lassen, wenn wir die Anwesenheit fremder Schiffe oder von Raumminen erkennen wollen – für den Fall gemeint, daß sie ebenfalls keine Aktivortung einsetzen, die sie uns früher verraten könnte.« »Das ist ein großes Risiko, nicht wahr?« piepste der Sprecher. »Goman-Largos Vorschlag bringt uns demnach eventuell in große Gefahr?« Ich seufzte. Das penetrante Mißtrauen der Hyptons ging mir auf die Nerven. »Die Gefahr wäre erheblich größer, wenn wir seinen Vorschlag nicht befolgten«, konterte POSIMOL. Die Positronik nahm damit keineswegs Partei für mich, sondern argumentierte lediglich sachbezogen und absolut nüchtern. Ein Schweigen folgte, das auch dann noch andauerte, als das Schiff in den Normalraum zurückgefallen war und alle Systeme außer der Notbeleuchtung auf Null reduziert wurden – und außer der Passivortung natürlich, die so gut wie keine Energie verbrauchte. Da wir noch zwanzig Lichtsekunden von Agran entfernt waren und nur in dem Maß Fahrt aufnahmen, wie die Schwerkraft des Planeten uns anzog, würden wir schätzungsweise sechzig Stunden benötigen, bis wir in seine Atmosphäre eintauchten. Das war natürlich reine Theorie, denn wir würden von Agran keineswegs an sich gezogen werden, sondern eine Beschleunigung erhalten, die das Schiff in einem Viertelkreis um den Planeten herumschleuderte, ohne daß wir ihm näher als fünfhunderttausend Kilometer kämen. Aber mit den relativ leistungsstarken Systemen unserer Passivortung (leistungsstark nicht gegenüber der Aktivortung, sondern gegenüber der Primitivortung von Zivilstationen präkosmischer Entwicklungsstufe) brauchten wir nur bis auf eine Million Kilometer an Agran heranzukommen, um die Anwesenheit fremder Schiffe in orbitalen Bahnen oder die Meßimpulse vom Raumminen zu erkennen. Ich schaltete eine Funkverbindung zur Hauptzentrale und ließ mir von Neithadl-Off bestätigen, daß sie, Anima und Verzyll über die Notwendigkeit informiert waren, in Kürze ihre Raumanzüge zu schließen – was im Fall des Shynn bedeutete, daß er in seinen Syntho steigen mußte. Danach lehnte ich mich zurück und döste vor mich hin, denn für einige lange Stunden würde ich absolut nichts tun können. Es sei denn, ein fremdes Schiff käme rein zufällig in unsere Nähe. Aber dann würde die Passivortung rechtzeitig ansprechen – und wenn ich darauf nicht reagierte, würde POSIMOL mich aufscheuchen.
Die Zeit verrann… »Noch eine Minute«, sagte POSIMOL. Ich schrak hoch. »Eine Minute?« echote ich benommen. »Was ist in einer Minute?« »Dann werden wir nahe genug an Agran sein, um mit der Passivortung alle Schiffe oder Raumminen zu erfassen, die um ihn herum postiert sind«, antwortete die Positronik. Mir fiel auf, daß sie nicht mehr schnarrte – und zwar seit ich mich in der Kanzel des Solo-Piloten befand. Ein weiteres Mosaiksteinchen für das »Psychogramm« POSIMOLS, das ich mir zusammensetzte, um einen berechenbaren Faktor aus ihr zu machen. Ich schob diese Überlegungen beiseite und konzentrierte mich auf die Beobachtung der Anzeigen für die Passivortung. Deutlich war das Infrarotbild des Planeten zu sehen. Es gab Aufschluß auf seine Masse, seine Oberflächenstruktur und natürlich auf seine innere Wärme und die Temperaturen in seiner Atmosphäre. Agran mußte ein sehr alter Planet sein, denn er erzeugte kaum noch Wärme in seinem Inneren. Aber auch sein Klima war eisig. Die Durchschnittstemperatur der Atmosphäre in Bodennähe betrug minus 58 Grad. Es konnte keinen einzigen Liter freien Wassers auf Agran geben. Der Planet war eine ausgesprochene Eiswelt. Aber das war ja genau nach dem Geschmack der Hyptons. Und es erleichterte die Passivortung eventueller Raumschiffe, denn vor dem Hintergrund eines derart schwachen Wärmestrahlers wie Agran mußte sich jedes Raumschiff deutlich als heller Fleck abheben. Doch da war nichts. Es gab keine Raumschiffe rings um Agran. Außer der WEISHEIT DER KÄLTE. Fast war ich enttäuscht darüber, denn jetzt konnte ich den Hyptons Polterzeit noch lange nicht schmackhaft machen. Sie würden darauf bestehen, sich auf Agran niederzulassen. »Ich stelle jetzt die Verbindung zu den Quellenplanern her, Goman-Largo«, teilte mir POSIMOL mit. »Sie drängen darauf.« »Ich weiß schon, warum«, gab ich mißmutig zurück. »Mach schon den Knoten aus dem Draht, Schwester!« »Goman-Largo?« meldete sich gleich darauf der Sprecher der Hypton-Traube. »Ich bin noch da«, gab ich zurück. »Bisher gibt es keine Anzeichen dafür, daß fremde Raumschiffe sich in der Nähe Agrans befinden. Es gibt auch keine Raumminen. Aber ich habe ein ungutes Gefühl. Die Raumflotten, über die der Erleuchtete verfügt, werden nicht unendlich groß sein. Folglich kann er nicht zur gleichen Zeit Schiffe zu allen euren Stützpunktwelten schicken. Wir müssen also jederzeit mit einem Auftauchen fremder Schiffe vor Agran rechnen.« »Das müßten wir überall.« »Nicht auf Polterzeit!« »Du versuchst es also immer wieder«, erklärte der Sprecher. »Aber das ist zwecklos. Wir warten noch eine Minute. Hat sich dann bei Agran immer noch kein fremdes Schiff gezeigt, dann landen wir auf dem Stützpunkt.« »Ich habe verstanden«, erwiderte ich unwillig.
Ich hatte wirklich ein ungutes Gefühl. Doch mir war auch klar, daß das niemals als Argument für die Quellenplaner zählte. Es durfte auch für mich nicht zählen. Vielleicht entdeckten die Häscher des Erleuchteten diesen Planeten nie. Aber ich wollte nach Polterzeit. »Die Minute ist um«, sagte der Sprecher. Wütend schlug ich mit der Faust auf den gelben Sensorpunkt, mit dem das Schiff unter meine Kontrolle kam. Es war Unsinn. POSIMOL konnte den weiteren Anflug und die Landung genausogut wie ich übernehmen. Aber daran dachte ich in diesem Moment gar nicht. Ich mußte nur meinen Zorn abreagieren. Meine Finger flogen über Sensorpunkte, die Ellbogen preßten sich an Andruckleisten und die Daumen bewegten die beiden Sticks. Alle Bordsysteme aktivierten sich. Das Unterlichttriebwerk lief an. Ich schaltete auf volle Beschleunigung. Das war noch unsinniger als die Übernahme in Manuellsteuerung, denn bis zur Landung mußte ich die Geschwindigkeit weit unter ein hundertstel Prozent der Lichtgeschwindigkeit drücken. Das schaffte ich nie, wenn ich vorher auch nur auf fünf Prozent LG beschleunigte. Das Erlöschen einer Kontrollampe zeigte mir an, daß POSIMOL die Funkverbindung zu den Quellenplanern unterbrochen hatte. Im nächsten Moment hörte ich ihn auch schon mahnend sagen: »Goman-Largo, damit erwirbst du dir das Vertrauen der…« Ich stutzte, als er plötzlich schwieg. Im nächsten Augenblick sah ich auf den Anzeigen der Passiv- und Aktivortung gleichzeitig den Pulk heller Flecke und Reflexpunkte, der hinter Agran hervorkam. Raumschiffe! Fremde Raumschiffe, die eben erst aus dem Linearraum vor Agran angekommen waren und jetzt mit hohen Werten abbremsten, um sich in einen Orbit um den Planeten zu schwingen! Einen Herzschlag später wurden sie eindeutig als Traykon-Schiffe identifiziert. Da hatte ich aber schon gehandelt. Jetzt war ich heilfroh darüber, daß ich kurz zuvor auf volle Beschleunigung geschaltet hatte. Andernfalls wären wir niemals mehr rechtzeitig weggekommen. Die Traykon-Schiffe hätten uns unter konzentrisches Feuer nehmen und wie bei einem Zielmanöver wegputzen können. So jedoch war die Geschwindigkeit der WEISHEIT DER KÄLTE bereits auf zehn Prozent LG, viel zu hoch für eine Landung, aber genau richtig, um das Schiff mit aktiviertem Schutzschirm durch die Hochatmosphäre Agrans und über den Planeten hinweg reißen zu können. Und damit aus dem Feuerbereich der Traykon-Schiffe, die erst einmal wieder Fahrt aufnehmen und dann um Agran herumkurven mußten, wenn sie versuchen wollten, uns noch zu fassen! Was sie nicht schaffen würden, denn ich beschleunigte weiter! Aus den Augenwinkeln sah ich, daß POSIMOL die Funkverbindung zu den Quellenplanern wieder hergestellt hatte. Dadurch konnten sie gleichzeitig alles hören und sehen, was ich hörte und sah. »Nun, was sagt ihr dazu?« fragte ich triumphierend, während die WEISHEIT DER KÄLTE einen grell leuchtenden Schweif ionisierter Gasmassen hinter sich her durch die Hochatmosphäre Agrans
zog. »Um ein Haar wären unsere Atome jetzt Bestandteil einer rasch expandierenden Glutwolke.« »Wieviel Taykon-Schiffe sind es?« fragte der Sprecher ausweichend. »Zweiundsechzig«, antwortete die Positronik an meiner Stelle. »Wenn wir uns jetzt im Landeanflug befänden…«, sagte ich gedehnt und ließ den Schluß offen, um den Hyptons drastisch klarzumachen, in welche Gefahr uns ihr Starrsinn gebracht hatte. Aber sie wollten es sich immer noch nicht eingestehen. »Du hast phantastisch reagiert, Goman-Largo«, lobte mich ihr Sprecher aus durchsichtigen Gründen. »Keine noch so perfekte Positronik hätte ebenso schnell reagieren können.« Schon wollte ich mit Hohn und Spott antworten, da begriff ich, wieso die Hyptons zu dem Trugschluß gekommen waren, ich hätte schneller als eine Positronik reagiert. Sie hatten nicht mitbekommen, daß ich aus Wut und Trotz bereits voll beschleunigt hatte, bevor die Traykon-Schiffe aufgetaucht waren. Nicht meine Reaktionsschnelligkeit hatte uns gerettet, sondern meine mangelnde Selbstdisziplin. Aber mußten die Hyptons das erfahren? Ich entschied mich dagegen. Es konnte nur vorteilhaft für mich sein, wenn die Quellenplaner meine Fähigkeiten als Raumpilot weit überschätzten. »Es ist eine Naturbegabung«, erklärte ich. »Außerdem ahne ich Gefahren voraus. Wir hätten gleich Kurs auf Polterzeit nehmen sollen.« »Du wirst nicht Kurs auf Polterzeit nehmen!« gab der Sprecher heftig zurück. »Wir müssen erst darüber diskutieren, wohin wir uns wenden.« »Vorerst kann ich sowie nicht Kurs auf Polterzeit nehmen«, entgegnete ich. »Dazu müßte ich Berechnungen anstellen, die mehr Zeit kosten würden, als wir jetzt haben. Wir fuhren nur ein kurzes und blindes Linearmanöver durch, um einer Verfolgung vorzubeugen.« Aber anschließend werde ich euch keine Ruhe mehr lassen, bis ihr mit Polterzeit als Ziel einverstanden seid! dachte ich grimmig.
5. BERICHT ZYZY Es war ein Wunder, daß wir noch lebten. Ohne die phantastische Reaktionsschnelligkeit dieses Tigganois hätten die Traykon-Schiffe uns vernichtet. Aber das war kein Grund, sich blindlings auf seinen Rat zu verlassen. Erst einmal mußten wir diskutieren, um unsere eigenen Gedanken zu klären und uns auf eine Linie festzulegen. Aus diesem Grund hatte der Born der Ruhe sich wieder in drei kleine Trauben zu je siebzehn Leibern aufgespalten – und ich war wieder als Störfaktor bestimmt worden. Das paßte mir gar nicht, denn als Störfaktor trug man mehr Verantwortung, als wenn man in eine Traube integriert war. Aber der Schock, den uns das völlig unerwartete Auftauchen der TraykonSchiffe versetzt hatte, war zu stark gewesen, als daß wir lange Überlegungen darüber anstellen konnten, wer diesmal als Störfaktor agieren sollte. So war einfach der Hypton dazu bestimmt worden, der zuletzt den Störfaktor gespielt hatte – und das war leider ich. Abseits hängend, beobachtete ich meine Artgenossen, die immer noch durcheinander wimmelten und anscheinend keine Platzordnung finden konnten. Der Schreck hatte sie so erhitzt, daß sie die angenehme Kühle der Kältekammer nicht spürten. »Wenn ihr die WEISHEIT DER KÄLTE gesteuert hättet, würden wir jetzt auf den glühenden Kohlen der Jenseitstiefe schwitzen – mit euren lahmen Reaktionen!« stichelte ich. Empörtes Gepiepse wurde laut. Natürlich glaubte keiner meiner Artgenossen wirklich an die altväterlichen Vorstellungen eines heißen und eines kalten Jenseits, aber immer noch wurde es als Beleidigung empfunden, wenn ein Hypton dem anderen prophezeite, er würde nach dem Tode auf den glühenden Kohlen der Jenseitstiefe schwitzen. Die drei Trauben formierten sich plötzlich sehr schnell. »Dafür hast du eine Strafe verdient, Zyzy!« drohte der Sprecher am unteren Ende einer Traube. »Deine Bemerkung war unzulässig und wird aus dem Protokoll gestrichen«, erklärte ich, in das Mikrofon meines Aufzeichnungsgeräts sprechend. »Bevor jemand von euch reden darf, müssen erst alle drei Trauben ihre Namen haben.« »Wir nennen uns Kalsy«, sagte der eine Sprecher. »Wir nennen uns Nachar«, sagte der zweite Sprecher. Nein, ich erkannte Zyffa an der Spitze dieser Traube. Also war es eine Sprecherin. »Wir nennen uns Munoch«, erklärte der dritte Sprecher. Ich erhob keine Einwände, obwohl mir die Namen diesmal nicht besonders gefielen. Aber für solche Feinheiten war jetzt keine Zeit. Wir mußten uns bald über unsere Planung klar werden. »Ich eröffne die Diskussion«, sagte ich. »Der Verlust unserer Ausweichstützpunkte ist eine Katastrophe«, stellte der Kalsy-Sprecher fest. »Wir sollten uns mit Goman-Largo verständigen und erst einmal nach Polterzeit fliegen«, sagte die Nachar-Sprecherin. »Du bist wohl seinem Charme erlegen!« höhnte ich und erntete beifälliges Gepiepse und Geraschel. »Wir Hyptons sind unbesiegbar«, meinte der Munoch-Sprecher. »Wir brauchen nicht zu verzweifeln, nur weil wir zwei unbedeutende Schlappen erlitten haben.«
»Der Verlust zweier Stützpunkte ist nicht unbedeutend«, wandte die Nachar-Sprecherin ein. »Außerdem schadet es dem Ansehen des Neuen Konzils, daß die Hilfskräfte des Erleuchteten uns überall mühelos besiegen und in die Flucht jagen.« »Und uns beinahe vernichtet hätten!« heizte ich meinen Artgenossen ein. »Das ist doch Unsinn«, erklärte der Munoch-Sprecher. »Wir stellen uns nur deshalb nicht zum Kampf, weil wir unser kostbares Faustpfand nicht unnötig gefährden wollen. Solange sich Anima in unserer Gewalt befindet, werden wir immer die besseren Karten haben. Wir wissen, daß der Erleuchtete sich vor ihr fürchtet.« »Warum versucht er dann nicht, sie uns abzukaufen?« erkundigte sich der Kalsy-Sprecher. »Weil er den Preis für Anima nicht mehr bezahlen kann«, sagte die Nachar-Sprecherin. »Wir wollten sie gegen ein für uns vorteilhaftes Abkommen tauschen – und gegen EVOLO. Da der Erleuchtete aber die Kontrolle über EVOLO verloren hat und anscheinend nicht einmal mehr weiß, wo sich diese Wunderwaffe aufhält, ist ihm klar, daß wir ihm Anima nicht mehr freiwillig ausliefern wollen. Deshalb versucht er, sie sich mit Gewalt zu holen.« »Und riskiert dabei ihre Vernichtung!« warf ich ein. »Nicht absichtlich«, widersprach der Munoch-Sprecher. »Er hatte keine Ahnung, daß Anima sich in MANAM-PZAN befand, sonst hätte er die Station nicht beschießen lassen – und er kann auch nicht gewußt haben, daß Gamura und Agran als Ausweichquartiere für Anima ausersehen waren. Nein, der Erleuchtete hat aus reiner Panik gehandelt, weil er sich vor Anima fürchtet und weil er EVOLO verloren hat.« »Dann haben Verhandlungen mit ihm keinen Wert mehr für uns«, meinte die Nachar-Sprecherin. »Statt dessen sollten wir auf eigene Faust nach EVOLO suchen. Wenn wir ihn finden und für unsere Zwecke einspannen können, brauchen wir Anima nicht herzugeben. Dann müßte der Erleuchtete vor uns kuschen.« »Und Manam-Turu gehörte uns!« warf ich mit gespielter Euphorie ein. »Dir fehlt der Sinn für die Realitäten, Nachar«, sagte der Kalsy-Sprecher, ohne auf meine Bemerkung einzugehen. »Wenn EVOLO wirklich eine solche Wunderwaffe ist, kann er auch uns gefährlich werden. Was wir brauchen, ist ein Ort, an dem wir sicher sind, damit wir unsere weitere Strategie in aller Ruhe und sorgfältig planen können.« »Polterzeit!« schrie ich ihnen absichtlich provozierend entgegen. Niemand antwortete mir, denn in diesem Augenblick zeigten die Beobachtungsschirme, daß die WEISHEIT DER KÄLTE wieder in den Normalraum zurückgekehrt war. Aber das war noch nicht alles. Gleichzeitig sprachen die Hyperfunkempfänger an. »Hyptons und Ligriden!« krachte eine Maschinenstimme aus den Lautsprechern. »Ihr irrt euch, wenn ihr glaubt, mich ungestraft hintergehen zu können. Ihr habt gespürt, wie ich zurückschlagen kann. Das war aber nur der Anfang. Ich dulde es nicht, daß ihr EVOLO auf eure Seite ziehen wollt. Streitet es nicht ab! Meine Helfer haben eine große Anzahl Ligriden und Hyptons aufgegriffen, und ihre Verhöre haben meinen Verdacht erhärtet, daß ihr etwas mit dem Verschwinden EVOLOS zu tun habt. Ich fordere besonders die Hyptons auf, ihre Intrigenspiele zu unterlassen. Kommt aus euren Schlupflöchern heraus und stellt euch – und gebt Anima heraus! Andernfalls werde ich nicht eher ruhen, bis ihr alle vernichtet seid. Ihr habt Betrug gesät und werdet Gewalt ernten!« Die Lautsprecher schwiegen.
»Das ist ungeheuerlich!« wimmerte der Munoch-Sprecher. »Was sollen wir tun?« klagte der Kalsy-Sprecher. »Uns verkriechen, bis die Panik des Erleuchteten abgeklungen ist«, schlug ich vor. »Der Erleuchtete schlägt blindlings gegen alle und alles los«, stellte die Nachar-Sprecherin fest. »Und wir haben die Kontrolle über unsere Hilfsvölker verloren, weil wir nicht riskieren können, daß jemand unseren Aufenthaltsort kennt. Unter diesen Umständen bleibt uns tatsächlich nichts anderes übrig, als uns zu verkriechen und solange stillzuhalten, bis das Gewitter vorüber ist.« »Wir müssen kämpfen!« begehrte der Munoch-Sprecher auf, aber es war offenkundig, daß er nur ein Rückzugsgefecht lieferte. »Wir wissen gar nicht, wie wir kämpfen sollten«, spottete die Nachar-Sprecherin. »Das haben wir nie getan, weil wir uns sonst immer als Planer und Strategen im Hintergrund halten konnten.« »Uns bleibt nichts anderes übrig, als das kleinere Übel zu wählen«, gab der Kalsy-Sprecher klein bei. »Ein Abkommen auf Zeit mit Goman-Largo scheint mir die nötige Pause zu garantieren. Der Tigganoi ist als Pilot unschlagbar und bietet uns deshalb die größte Sicherheit, solange wir im Raum sind. Außerdem kennt er die Koordinaten einer Welt, die sich als Versteck ideal eignet, weil wir dort noch nie waren und weil darum nichts und niemand den Erleuchteten darauf bringen kann, daß wir uns dorthin gewandt haben.« »Polterzeit ist eine Falle!« kreischte ich. »Nein, Polterzeit muß unsere Zuflucht sein!« erklärte die Nachar-Sprecherin. »Aber der Tigganoi ist ein Verräter!« protestierte ich. »Er kann uns nicht schaden«, stellte der Munoch-Sprecher fest. »Was ist er schon! Ein armseliges Wesen ohne eigene Macht, das auf der Suche nach einer Organisation ist, die gar nicht existiert. Ich habe doch gleich gesagt, daß’ wir uns mit ihm arrangieren sollen.« »Das ist mir neu!« giftete ich. »Also ist es beschlossene Sache, mit Goman-Largo einen Pakt auf Zeit zu schließen und uns vorerst auf Polterzeit niederzulassen«, faßte die Nachar-Sprecherin zusammen. Es war ungeheuerlich! Zum ersten Mal in unserer Geschichte hatte eine Hypton die Weichen unserer Strategie gestellt! Mir war ganz kalt vor Stolz.
6. BERICHT NEITHADL-OFF Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber mein Modulmann hatte es tatsächlich geschafft. Er hatte die Hyptons soweit gebracht, daß sie einen Pakt auf Zeit mit uns beiden eingegangen waren und sich damit einverstanden erklärt hatten, daß wir auf Polterzeit landeten. Es war phantastisch! Ich pustete Goman-Largo, der nach dem Abkommen in die Hauptzentrale zurückgekehrt war, heimlich einen Kuß zu – und zuckte zusammen, weil meine Sprechleiste dabei schmatzte. »Was gibt es, Partnerin?« erkundigte sich der Tigganoi und blickte mich fragend an. Vor Verlegenheit jagten abwechselnd heiße und kalte Schauer über die Oberfläche meines Mattenrumpfs. »Ich glaube, ich habe überlegt, ob ich uns einen Chlupatch zubereiten soll«, pfiff ich. »Ich meine, jetzt, nachdem wir nicht mehr den Fraß essen müssen, den die Hyptons uns von ihren Blechgestellen servieren ließen. Das müssen wir doch jetzt nicht mehr, oder?« »Nein, natürlich nicht«, bestätigte Goman-Largo nachdenklich. »Es wundert mich allerdings, daß du ausgerechnet jetzt ans Essen denkst – wenn du wirklich daran gedacht hast, schöne Vigpanderin.« Er lächelte so, daß ich wußte, er hatte mich durchschaut – oder doch fast durchschaut. »Was ich sage, stimmt immer!« entrüstete ich mich. »Es sei denn, es wäre gelogen«, ergänzte der Tigganoi süffisant, dann wurde er wieder ernst. »Heb dir den Gedanken an deinen Chlupatch für später auf! Jetzt müssen wir jeden Moment in den Normalraum zurückfallen und vor Polterzeit stehen. Da dürfen wir uns durch nichts ablenken lassen.« Er blickte zur Positronik hin, dann sagte er: »Mach einen Knoten rein!« Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte, deshalb war ich ein wenig erschrocken, als der Tigganoi sich an Verzyll wandte und sagte: »Die Stunde der Wahrheit ist gekommen, mein Freund. Falls etwas von dem, was du uns über Polterzeit gesagt hast, nicht stimmt, dann sag’s uns jetzt!« »Wie kommst du auf so etwas?« fragte der Shynn, der in einem Meter Höhe schwebte. Doch seine sonst so sonore Stimme war brüchig geworden. So verhielt sich jemand, der bei einer Lüge ertappt wurde – bei einer faustdicken Lüge! »Was ist mit Polterzeit los?« pfiff ich schrill. Ahnungsvoll setzte ich hinzu: »Wer hat euer Schiff wirklich beschlagnahmen wollen?« »Woher weißt du, daß es nicht die Zeitchirurgen waren?« stotterte er kläglich. »Mit Lügen kennt Neithadl sich aus«, stellte mein Partner unverschämt fest. Zugleich schien er über das Eingeständnis Verzylls erschüttert zu sein. »Rede endlich!« »Es waren Traykon-Roboter«, flüsterte der Shynn. »Sie haben ganz Shuna abgesucht und viele Shynns verhört, weil sie wissen wollten, ob sich bei uns Hyptons oder Ligriden versteckt hielten.« Ich erschrak heftig, denn jetzt, da die Hyptons gehört hatten, daß die Häscher des Erleuchteten Polterzeit (oder Shuna, wie der alte Name jener Welt hieß) unsicher gemacht hatten, würden sie sich
mit Händen und Füßen gegen eine Landung auf dem Planeten sträuben. »Sie konnten nicht mithören«, erklärte Goman-Largo. »POSIMOL hat die Verbindung unterbrochen.« Meine Haut wurde vor Erleichterung ganz naß. Jetzt begriff ich auch, was mein Partner mit dem Knoten gemeint hatte. Aber Traykon-Roboter auf Polterzeit! Vielleicht sollten wir doch nicht dort landen! Da stürzte die WEISHEIT DER KÄLTE auch schon in den Normalraum zurück. »POSIMOL, alle nicht notwendigen Systeme abschalten!« rief Goman-Largo. »Verstanden«, gab die Positronik zurück. »Auch die Überlebenssysteme?« »Diesmal nicht«, antwortete mein Partner. »Die Hyptons würden sonst Verdacht schöpfen und in Panik geraten.« »Ich darf aber nichts tun oder unterlassen, was ihnen schaden könnte«, gab POSIMOL zu bedenken. »Das sollst du auch nicht«, erwiderte Goman. »Ich bin auf ihre Sicherheit so bedacht wie auf meine. Da die Traykon-Roboter auf Polterzeit nicht die Spur von Hyptons oder Ligriden gefunden haben, werden sie wieder abgeflogen sein und nie zurückkommen. Das wäre unlogisch. Ich treffe nur alle Sicherheitsmaßnahmen, weil ich absolut nichts riskieren möchte. Wirst du schweigen?« »Ich werde schweigen«, versicherte POSIMOL. Goman-Largo wandte sich wieder an den Shynn. »Also keine Zeitchirurgen auf Polterzeit!« stellte er enttäuscht fest. Dann runzelte er die Stirn. »Aber woher weißt du überhaupt etwas von Zeitchirurgen, von Zeitingenieuren und von Zeitgrüften? Ich hatte dir doch noch nichts von meiner Aufgabe gesagt, als du davon sprachst.« »Es war nicht alles gelogen, was ich dir sagte«, erklärte Verzyll. »Auf Polterzeit soll es tatsächlich eine Zeitgruft geben oder gegeben haben – und es tauchen auch immer wieder Gerüchte über Zeitchirurgen auf, die sich auf Polterzeit herumtrieben und nach etwas suchten.« »Nach der Zeitgruft vermutlich«, warf ich ein – und mir wurde klar, daß Verzyll diesmal die Wahrheit sagte, soweit er sie kannte. Mein Partner, der eben noch ein wenig geknickt ausgesehen hatte, straffte sich wieder. »Dann finden wir vielleicht doch eine Spur, die uns zu den Zeitchirurgen führt«, sagte er hoffnungsvoll. »Und in eine Zeitgruft!« hieb ich abenteuerlustig in die gleiche Kerbe. Verzyll bewegte die »Flügel« stärker und schwebte ein Stück von uns fort. »Ich muß euch noch etwas sagen«, erklärte er. Mir wurde ganz mulmig, aber ich schwieg. »Sprich!« forderte mein Partner ihn auf. »Ich glaube, die Traykon-Roboter wollten auf Polterzeit eine automatische Überwachungsstation errichten«, sagte der Shynn kleinlaut. »Du glaubst es nur?« fragte Goman-Largo zornig. »Ich weiß es«, gestand Verzyll. »Sie hatten schon damit angefangen, bevor ich geflohen bin. Aber viele Shynn murrten darüber. Vielleicht haben sie die Station längst zerstört.« »Die Traykons werden sie nicht ungesichert zurückgelassen haben«, meinte der Tigganoi. »Ich bin
ratlos. Wenn wir landen, werden wir mit Sicherheit geortet. Dann weiß der Erleuchtete es wenig später – und wir können mit dem Aufmarsch einer ganzen Flotte über Polterzeit rechnen. Ich fürchte, wir müssen abdrehen und unser Glück woanders versuchen. Schade!« Ich blickte zum ersten Mal richtig auf den Planeten, der voraus auf dem großen Bildschirm abgebildet war. Wir hatten die Sonne im Rücken – eine große gelbe Sonne mit einem Stich ins Grüne –, so daß Polterzeit sich im vollen Licht darbot. Der Planet schien mir größer zu sein als die meisten von Sauerstoffatmern bewohnten Welten – und seine Atmosphäre reichte ganz offensichtlich weiter in den Weltraum als durchschnittliche Sauerstoffatmosphären. Die Tatsachen, daß ich außerdem zwei eisbedeckte Polkappen sah und ansonsten nur blauen Ozean, verarbeitete ich vorerst noch nicht, denn mich beschäftigte etwas anderes. »In welcher Höhe geht auf Polterzeit die Stratosphäre in die Ionosphäre über?« wandte ich mich an Verzyll. »In hundertzehn Kilometern Höhe«, antwortete der Shynn. »Woran denkst du, schöne Vigpanderin?« fragte mein Modulmann. »Daran, daß wir den oberen Rand der Stratosphäre so anfliegen, daß die WEISHEIT DER KÄLTE von ihm abprallt«, erklärte ich. »Wir brauchten dann kein einziges Triebwerk einzusetzen, so daß die Überwachungsstation uns gar nicht bemerkt. Kurz vor dem Aufprall sollte dann eine kleine Einsatzgruppe aussteigen und mit Hilfe der Flugaggregate landen, sich an die Station heranschleichen und sie unbrauchbar machen.« »Hm!« brummte Goman-Largo. »Das klingt nicht übel. Aber wenn die Ortungssysteme der Station nur halb so gut sind wie unsere, messen sie die Energieentfaltung von Flugaggregaten mit ziemlicher Sicherheit an – und fliegen können wir leider nicht.« Er hatte dabei nachdenklich den Shynn angeblickt. Ich begriff nicht, was er von ihm erwartete. Verzyll konnte zwar schweben, aber doch ganz bestimmt nur in Bodennähe, wo die Atmosphäre dicht genug war. Schließlich war er kein Vogel. Ganz sicher aber würde er niemals in hundertzehn Kilometern Höhe aussteigen und das auch noch überleben. In der dünnen Luft mußte er wie ein Stein abstürzen. »Möglicherweise finden wir andere Shynn in großer Höhe, die dort Sport treiben«, sagte der Polterzeitler zu meiner Überraschung. »Die Atmosphäre unserer Heimat enthält Sauerstoff und Helium zu gleichen Teilen. Wir Shynn können das Helium der Atemluft separieren und in körpereigenen Druckkammern speichern. Dadurch nimmt unser Volumen zu – und wir steigen manchmal bis in den unteren Bereich der Ionosphäre.« »Ist das wahr?« fragte ich skeptisch. »Ich schwöre es beim Gespenst!« erwiderte Verzyll. »Dann versuchen wir, Artgenossen von dir zu finden«, erklärte der Modulmann. »Meinst du, daß sie uns unterstützen?« »Aber sicher!« erwiderte Verzyll. »Die Traykon-Roboter haben sich verhaßt gemacht.« »POSIMOL!« rief Goman-Largo. »Du hast mitgehört?« »Und ich weiß, was ich zu tun habe«, sagte die Positronik. »Kurs liegt an.« »Dann können wir überlegen, wer zur Einsatzgruppe gehören soll«, meinte der Tigganoi. »Halt!« pfiff ich. »Erst will ich noch wissen, von was für einem Gespenst Verzyll gesprochen hat!«
»Von dem Gespenst, dem Polterzeit seinen Namen verdankt«, antwortete der Shynn. Ich wurde heiß und naß. »Dann bestehe ich darauf, zum Einsatzkommando zu gehören!« stellte ich mit wütender Entschlossenheit fest. »Wo es Gespenster gibt, sind Löcher in der Zeit – und wo Löcher in der Zeit sind, dort ist mein Platz als Parazeit-Historikerin!« * Irgendwann hatte POSIMOL die Verbindung zu den Hyptons wiederherstellen müssen, damit ihr Argwohn nicht neu geweckt wurde. Natürlich hatten sie sich über die Unterbrechung beschwert. Aber die Bordpositronik hatte ihnen glaubhaft versichert, die Unterbrechung (die nicht die erste war) sei auf die Kleinschäden zurückzuführen, die die WEISHEIT DER KÄLTE bei der Explosion der Raummine erlitten hatte und die von der Reparaturautomatik nicht so leicht aufzuspüren seien wie die – inzwischen behobenen – größeren Schäden. Ich gewann den Eindruck, daß POSIMOL sich nicht nur völlig vom Zwangsprogramm gelöst hatte, sondern sich zudem immer mehr auf unsere Seite stellte. »Willst du nicht direkt landen?« erkundigte sich der Sprecher der Hyptons, die sich unterdessen wieder zu einer einzigen Traube zusammengeschlossen hatten (wie uns der Visischirm zeigte). »Nein«, erklärte der Tigganoi. »Da ich nach unserem Abkommen die volle Verantwortung für eure Sicherheit trage, muß ich ihr auch voll gerecht werden.« »Das ehrt dich«, sagte der Sprecher. »Wie willst du vorgehen, Goman-Largo?« »Wir fliegen zuerst im freien Fall an die obere Schicht der Stratosphäre heran, daß das Schiff an ihr abprallt«, erläuterte der Tigganoi seinen Plan (soweit die Hyptons informiert werden durften). »Kurz vorher steigen Neithadl-Off, Verzyll und ich aus, landen allein auf Polterzeit und nehmen Kontakt mit den Eingeborenen auf. Sobald wir uns davon überzeugt haben, daß sie uns nicht gefährlich werden können und uns freiwillig aufnehmen, senden wir ein Funksignal an POSIMOL, die daraufhin das Schiff an einer Stelle landet, die wir noch aussuchen.« »Das klingt nicht schlecht«, erwiderte der Sprecher. »Aber wenn Polterzeit ein so ausgezeichneter Unterschlupf ist, wie du uns immer erzählt hast, was schert es uns dann, ob die Eingeborenen uns haben wollen oder nicht?« »Sie werden nichts dagegen haben, daß friedliche Raumfahrer auf ihrer Welt landen«, sagte der Modulmann. »Verzyll ist davon überzeugt. Deshalb können wir sie unbesorgt um Landeerlaubnis bitten. Ich halte es für vorteilhaft für euch, wenn wir mit Genehmigung der Shynn landen und uns einrichten.« Das war ein Argument, dem sich kein Hypton verschließen konnte. Der Sprecher segnete unseren Plan ab. Es wurde auch höchste Zeit, denn unterdessen hatte sich das Schiff dem Planeten bis auf knapp zehntausend Kilometer genähert. Dabei hatte die Positronik es so gedreht, daß es mit der flachen Unterseite auf die Stratosphäre prallen würde. Ich wurde kalt und naß, wenn ich daran dachte, daß das Gelingen unseres Planes von so vielen Faktoren abhing, die sich vorher nicht berechnen ließen. Wir mußten dort, wo wir mit der Stratosphäre kollidierten, mehrere Shynn finden, die da oben Sport
trieben. Sie mußten in einer Position sein, die es uns gestattete, sie mit einem minimalen Gebrauch der Flugaggregate zu erreichen. (Ganz würden wir nicht auf die Aggregate verzichten können, aber es erschien unwahrscheinlich, daß die geringen Emissionen eines kurzfristigen Gebrauchs geortet würden.) Und sie mußten einverstanden sein, dem Modulmann und mir als Flugvehikel zu dienen und uns sicher, auf die Oberfläche ihrer Welt zu bringen. In diesem Fall zu einer Inselgruppe am Äquator, denn auf einer dieser Inseln befand sich nach Verzylls Angaben die Überwachungsstation, die die Traykons errichtet hatten. »Funktionskontrolle!« sagte Goman-Largo und schloß seinen Druckhelm. Verzyll und ich machten ebenfalls dicht. Der Shynn konnte keineswegs in der Stratosphäre schweben, da er dort nicht genügend Helium vorfinden würde, mit dem er seine Druckkammern zu füllen vermochte. Folglich brauchte er für die erste Phase seinen Syntho und für die zweite einen aufgeblasenen Artgenossen. »Ihr müßt aussteigen!« drängte POSIMOL. Der Modulmann und ich hängten uns die zylindrischen Hermetikbehälter um, in denen wir Strahlwaffen, Sprengladungen und andere Scherzartikel verstaut hatten. Danach begaben wir uns mit Verzyll zur Schleuse. Anima wünschte uns viel Glück. Als wir die Absprungposition erreichten, gab uns POSIMOL ein Signal. Wir ließen das Außenschott auffahren und sprangen hinaus. Über uns huschte das Schiff davon und war schnell dem Blickfeld entschwunden. Ich richtete die Sensorstäbchen nach unten und suchte sporttreibende Shynn. Enttäuscht stellte ich fest, daß es keine gab, so weit ich sehen konnte. Dabei hatte Verzyll behauptet, über diesem Teil des Planeten würden tagsüber garantiert zahllose Shynn Sport treiben. Statt dessen erblickte ich nur eine Menge Stratosphärenballons. »Was machen wir jetzt?« wandte ich mich über Helmfunk an Verzyll. »Die nächsten drei Shynn ansteuern!« gab Verzyll zurück. »Es sind ja genug da.« Erst jetzt begriff ich. Das, was ich für Stratosphärenballons gehalten hatte, waren aufgeblasene Shynn. Ich war nur nicht darauf gekommen, weil ich nach zirka drei bis vier Meter durchmessenden Lebewesen Ausschau gehalten hatte und nicht nach »Ballons«, die mindestens hundert Meter durchmaßen. Da waren wir auch schon an den ersten Ballon-Shynn heran. Verzyll machte sich durch Symbole verständlich, die er auf der Außenfläche seines Synthos entstehen ließ. Dennoch war es fast ein Wunder, daß seine Artgenossen so schnell begriffen, was wir von ihnen wollten. Drei von ihnen schnürten ihre aufgeblasenen Körper an den Unterseiten so zusammen, daß sich je eine Art Rüssel bildete, an dem wir uns wie an einem Seil mit Knoten festhalten konnten. Verzyll fuhr zwei lappenförmige Auswüchse aus und bekam sofort Halt. Goman-Largo und ich dagegen mußten dreimal bei unseren Partnern ansetzen, bevor es auch bei uns klappte. Nachdem wir ausreichend Halt gefunden hatten, schalteten wir die Flugaggregate ab. »Domkast, Nofryll und Gangdor schlagen vor, uns direkt auf dem Flachdach der Überwachungsstation abzusetzen«, meldete sich Verzyll über Helmfunk. »Von dort könnten wir durch die Ansaugöffnung eines Klimaschachts eindringen.«
»Eines Klimaschachts?« echote ich ahnungsvoll. »Der ist bestimmt zu eng für mich.« »Und wenn schon!« erklärte der Modulmann. »Dann bleibst du eben auf dem Dach und schaltest eventuell auftauchende Traykon-Roboter aus, schöne Vigpanderin!« »Also seid ihr einverstanden?« fragte Verzyll. »Ja!« entschied der Tigganoi selbstherrlich. Dann fügte er hinzu: »Hoffentlich wird unterdessen das Schiff nicht gestohlen.«
7. BERICHT GOMAN-LARGO Neithadl-Off hatte etwas gefragt, aber ich hörte gar nicht richtig hin. Mir war siedendheiß geworden, als ich mich an die Diebstähle erinnerte, die innerhalb der Station und danach auf der WEISHEIT DER KÄLTE verübt worden waren. Seit unserem Start von der MANAM-PZAN hatten sich zwar keine neuen Diebstähle ereignet – zumindest hatten wir nichts davon bemerkt –, aber das mußte nicht bedeuten, daß die Diebe vor dem Start von Bord gegangen waren. Außerdem erschien es unwahrscheinlich, daß sie sich freiwillig in die Holle begeben hatten, die in MANAM-PZAN ausgebrochen war. Sie waren also noch auf dem Schiff. Wahrscheinlich hatten sie ihre Gründe gehabt, sich bis jetzt nicht zu rühren. Vielleicht hatten sie uns nicht zu einer gründlichen Durchsuchung des Schiffes provozieren wollen. Aber was auch immer ihre Gründe gewesen waren, jetzt, da Neithadl-Off und ich das Schiff verlassen hatten, mußte die Versuchung groß für sie sein, ihre Diebstähle fortzusetzen. Und warum sollten sie nicht versuchen, das ganze Schiff zu stehlen? Bei allen Zeitgrüften! Das hätte uns gerade noch gefehlt. Aber wenn sie das vorhatten, konnten wir es nicht verhindern. Also mußten wir weitermachen. Deshalb wäre es unklug gewesen, die Vigpanderin über meine Befürchtungen zu informieren. Es hätte sie nur durcheinandergebracht und ihren Kampfwert vermindert, was ihr unter Umständen das Leben kosten konnte. Die drei Shynn, die uns trugen, schrumpften allmählich. Das war logisch. Sie mußten Gas ablassen, wenn sie sinken wollten. Und sie sanken ziemlich schnell – bedenklich schnell. Ich wollte nur nicht danach fragen, sonst dachten sie vielleicht noch, ich hätte Angst. Ich schloß die Augen. Als ich sie wieder öffnete, weil die Außenmikrofone ein Rauschen und Sausen übertrugen, befanden wir uns, nur noch in rund fünfhundert Metern Höhe. Beruhigt stellte ich fest, daß wir nur noch in gemächlichem Tempo sanken. Ein Blick auf das neue Universal-Armbandgerät, das mir POSIMOL zur Verfügung gestellt hatte, zeigte einen Luftdruck von 2,5 bar an – mehr als doppelt soviel wie in den meisten Raumschiffen und auf den meisten Durchschnittsplaneten. Ich wunderte mich plötzlich nicht mehr, warum die Shynn natürliche Atmosphärenschweber waren. Ein so hoher Luftdruck mußte einen entsprechenden Anreiz auf die Evolution ausüben. Als Verzyll mit seinen Auswüchsen winkte, konzentrierte ich mich auf die Landung. Wir sanken schräg auf eine von mehreren Inseln zu, die aus einem unendlich erscheinenden Ozean mit spiegelglatter Oberfläche ragten. Alle Inseln bis auf die eine trugen eine üppige Vegetation, in die konische Türme aus goldfarbenem Metall und Glasplastik eingebettet waren. Wie hatten die Schwebewesen diese Bauten errichten können? Auf dem Ozean schwammen grüne, blasige Pflanzeninseln, wahrscheinlich aus Tangen. Darüber schwebten zahlreiche Shynn. Zuerst dachte ich, sie ernteten Tang, aber dann bemerkte ich, daß sie kokonförmige, faustgroße Gebilde in die Tange fallen ließen. Es sah nach Eiablage aus. Ich konnte nicht länger darüber nachdenken, denn in diesem Moment waren wir über dem kreisrunden, etwa zwanzig Meter hohen Bau aus Metallplastik, der in der Mitte der anscheinend
gerodeten Insel stand. An ihrer Seite ragte eine typische Hyperfunkantenne heraus. Die Überwachungsstation! Neithadl-Off, Verzyll und ich ließen gleichzeitig los. Rauschend schnellten unsere drei Träger wieder nach oben. Verzyll schälte sich aus seinem Syntho. Die Vigpanderin und ich legten uns flach auf das Dach und packten unsere Ausrüstung aus. Gleichzeitig musterte ich die Ansaugöffnung des Klimaschachts. Verzyll würde hindurchgehen, wenn er die »Flügel« zusammenklappte. Ich paßte ebenfalls hinein. Aber die Parazeit-Historikerin würde draußen bleiben müssen, wie sie befürchtet hatte. »Vorsichtig!« warnte ich, als Neithadl-Off ihre Schutzfolie öffnen wollte und blickte auf die Außendruckanzeige. »Hier hat es 2,3 bar.« Die Vigpanderin verstand, was ich meinte. Wir erhöhten den Innendruck unserer Raumanzüge allmählich, bis er dem Außendruck angepaßt war, danach öffneten wir sie. Wie erwartet, fiel das Ausatmen für kurze Zeit schwerer als sonst, aber das bedeutete nichts. Nicht für uns, die wir auf Raumschiffen und Planeten mit den unterschiedlichsten Gasdrücken »trainiert« worden waren. In der Station regte sich noch immer nichts. Das Glück schien auf unserer Seite zu sein. Die Instrumente würden dem Überflug durch drei harmlose Eingeborene keine Bedeutung beimessen – und Roboter, die sich vielleicht eigene Gedanken darüber gemacht hätten, schienen nicht anwesend zu sein. Nachdem ich ein paar Knaller vorbereitet hatte, nickte ich meinen Gefährten zu. »Viel Glück!« pfiff Neithadl-Off. Verzyll schwebte zur Ansaugöffnung. Ich hatte erwartet, daß er seine »Flügel« in der dichteren Atmosphäre so gut wie nicht zu bewegen brauchte, aber das war ein Irrtum gewesen. Er bewegte sie genauso wie an Bord der WEISHEIT DER KÄLTE. Ich folgte ihm. Über der Öffnung mußte ich für kurze Zeit das Flugaggregat aktivieren, aber nichts und niemand reagierte darauf. Lauerten in der Station vielleicht schon Roboter auf uns? Wir mußten es riskieren. Ich landete kurz nach Verzyll, schaltete das Flugaggregat aus, nahm die Strahlwaffe in die rechte und die Knaller in die linke Hand. Dann sah ich mich um. Ich mußte ein Gitter eintreten, um den Schacht verlassen zu können. Das machte Lärm, aber es rührte sich immer noch nichts. Ich suchte und fand einen Korridor, der in die Richtung führte, in der ich die Hyperfunkantenne gesehen hatte. Es galt vordringlich, den Hypersender zu zerstören, damit niemand den Erleuchteten über unsere Landung informieren konnte. Mein Argwohn wuchs, während wir durch den Korridor eilten. Es stank förmlich nach Falle. Ich schickte drei Module aus, obwohl ich mir vorgenommen hatte, hier auf den Einsatz dieser kleinen Funktionseinheiten zu verzichten. Der geringste Fehler konnte einen Alarm auslösen, der wahrscheinlich zur sofortigen Aussendung eines Hyperfunk-Notrufs führte. Die Module entdeckten keine Anzeichen für eine Falle. Die Station schien doch »sauber« zu sein. Ich glaubte es allerdings erst, als wir vor dem kompakten Block des Hyperfunkgeräts standen beziehungsweise schwebten und ich die Knaller fachgerecht installiert hatte. Eine Falle hätte früher zuschnappen müssen, wenn sie sinnvoll sein sollte! »Raus!« rief ich den Shynn zu.
Wir eilten den Weg zurück, den wir gekommen waren. Neithadl-Off wartete unverändert auf dem Dach. Ich winkte ihr – und sie startete mit mir. Wir entfernten uns zirka fünfhundert Meter von der Station und warteten, bis Verzyll uns eingeholt hatte, dann aktivierte ich die Fernzündung. Eine blauweiße Stichflamme schoß turmhoch an der Hyperfunkantenne empor, dann krachte es ohrenbetäubend. Weißer Rauch wallte auf. Als er sich wieder verzogen hatte, war die Hyperfunkantenne mitsamt einem Drittel der Station verschwunden. »Jetzt können wir das Schiff rufen«, pfiff die Vigpanderin erleichtert. »Erst gehen wir nochmal in die Station zurück und legen ein paar Eier«, erwiderte ich. »Nur für den Fall, daß mit der Station ein paar Roboter zurückgelassen wurden, die irgendwann hierher zurückkehren.« »Gangdor sagte mir etwas von zwei Robotern«, erklärte Verzyll. »Oh!« pfiff Neithadl-Off. »Hoffentlich erschrecken sie die Hyptons nicht. Ich habe nämlich nicht vor, auf sie aufzupassen. Ich will die Zeitgruft finden – und das Gespenst von Polterzeit.« »Ich auch«, pflichtete ich ihr bei. »Das bringt mich auf einen Gedanken. Auf den polaren Kontinenten ist es sehr kalt, und Hyptons lieben Kälte. Die beiden Roboter dagegen werden kaum dorthin kommen. Was also liegt näher, als die Hyptons auf einen Polkontinent zu bringen und ihnen dort eine große Höhle ins Eis zu brennen – und sie wohnlich auszustatten? Dort wären sie vor den Robotern sicher.« »Und sie würden nichts von der kürzlichen Invasion von Traykon-Robotern, der Station und den beiden zurückgelassenen Robotern erfahren, weil sie dort keinen Kontakt zur einheimischen Bevölkerung hätten«, ergänzte die Vigpanderin. Sie war schon eine patente Person. Eigentlich konnte ich mir ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. »Ja, so geht es!« erklärte ich. * Gesagt, getan! Wir fanden im südpolaren Eis eine natürliche Höhle, die wir mit den Strahlwaffen erweiterten und symmetrisch gestalteten. Danach lotsten wir POSIMOL und die WEISHEIT DER KÄLTE herunter. Die Hyptons waren hocherfreut, als wir ihnen die Höhle zeigten. Offenbar hatten sie in dem engen, wenn auch gekühlten, Kabuff an Bord des Schiffes unter Platzangst gelitten. Unter ihrer Anleitung und mit Hilfe der elf an Bord befindlichen Spezialroboter richteten wir die Höhle wohnlich, ja fast luxuriös ein. Danach äußerten wir die Absicht, auf Polterzeit nach zwei Zeitchirurgen suchen zu wollen, die hier angeblich ihr Unwesen getrieben hatten. Das mit der Zeitgruft verschwiegen wir wohlweislich. Es hätte nur unnötig ihre Begehrlichkeit geweckt und sie vielleicht veranlaßt, auf einer Teilnahme an der Suche zu bestehen. Das war das letzte, was ich mir wünschte. In eine Zeitgruft gehörten Fachleute wie Neithadl-Off und ich. Laien würden uns die Arbeit nur erschweren und sich selbst aufs höchste gefährden. Die Hyptons befahlen uns, bei ihnen zu bleiben.
Als wir auf der Einhaltung des Paktes bestanden, den wir geschlossen hatten, gaben sie scheibchenweise nach. Schlußendlich fanden sie sich mit unserer Suche nach den Zeitchirurgen ab, bestanden aber darauf, daß wir mit ihnen in permanenter Funkverbindung blieben. Das gestanden wir ihnen schließlich zu – unter anderem auch deswegen, weil POSIMOL mir vertraulich versprochen hatte, nach unserem Abgang hyperenergetische Sonnenwindentladungen in der Atmosphäre zu simulieren, die die Funkgeräte der Hyptons versagen ließen. Die Bordpositronik wurde mir immer sympathischer. Sie war außerordentlich nützlich. Ich dachte darüber nach, wie ich es anstellen konnte, daß Neithadl-Off und ich sie behielten. Mit dem Schiff natürlich. Aber die nächsten Schritte brachten mich erst einmal auf andere Gedanken. Nachdem Verzyll, Neithadl-Off und ich das Schiff mit dem dazugehörigen Gleiter verlassen hatten (ein Beiboot war nicht vorhanden), flogen wir zur Hauptstadt des Planeten. Der Name Hauptstadt erwies sich als irreführend, denn als wir hinkamen, fanden wir nur eine große schwimmende Insel mit viel Vegetation und einigen wenigen Bauten vor, die nicht etwa Regierungs- oder Verwaltungsstellen enthielten, sondern mit positronischen Infotheken vollgestopft waren. Ein Regierungszentrum brauchten die Polterzeitler nicht, erklärte Verzyll auf meine entsprechende Frage. Was für ein glückliches Volk! Wir erfuhren aber noch mehr interessante Dinge über die Polterzeitler beziehungsweise Shynn. So beispielsweise, daß der Blasentang, den ich vor unserer Landung auf der Überwachungsstation gesehen hatte, überall auf der Oberfläche des einzigen, riesigen Ozeans zu finden war. Er bildete schwimmende Inseln mit bis zu 1000 Quadratkilometern Ausdehnung. Das Erregendste an dem Tang, der hier das Shuna hieß, aber war, daß er in einer Art Symbiose mit den Shynn lebte. Zu bestimmten Zeiten legten die Shynn nämlich nach rituellen Tänzen EmbryoKokons in die Blasen des Tanges. Sie wuchsen dort heran, wurden vom Shuna ernährt und gaben ein Enzym ab, das es dem Shuna erst ermöglichte, sich durch Zellteilung zu vermehren. Die Evolution schien hier eine wundersame Verflechtung von pflanzlichen und tierischen Lebewesen geschaffen zu haben. Nach sechs Polterzeit-Monaten schlüpften die jungen Shynn aus den Tangblasen. Zu dieser Zeit sahen sie zwar schon wie kleine Erwachsene aus, aber sie waren noch Kiemenatmer. Zwei Jahre lang lebten sie im Meer und ernährten sich von Plankton. Am Ende dieser Zeitspanne verwandelten sie sich dann in sauerstoffatmende Erwachsene, die in einer sternklaren Nacht ihren ersten Flug in die Atmosphäre und damit in ihren endgültigen Lebensbereich antraten. Irgendwie gewann ich diese Intelligenzen lieb, vor allem, als wir Bekanntschaft mit noch mehr von ihnen machten. Sie schienen ausnahmslos friedfertige und sanfte Wesen zu sein. Dennoch bereiteten sie mir Kopfzerbrechen. Ich hatte überlegt, wie die Shynn die Anfänge ihrer Zivilisation errichtet haben mochten. Auf ihrer derzeitigen Entwicklungsstufe besaßen sie Roboter aller Arten und Formen, die die anfallenden manuellen Arbeiten ausführten. Doch Roboter wurden immer erst gebaut, wenn Zivilisationen einen fortgeschrittenen Entwicklungsstand erreicht hatten. Vorher mußten die betreffenden Intelligenzen alle körperlichen Arbeiten mit ihren eigenen Händen vollbringen. Nur, die Shynn besaßen keine Hände! Sie besaßen nicht einmal Ansätze von Greiforganen.
Demnach hätten sie eigentlich niemals eine technisch orientierte Zivilisation aufbauen können. Es sei denn, andere Intelligenzen hätten ihnen dabei geholfen. Da gab es viele Möglichkeiten: Besucher aus dem Weltraum beispielsweise oder halbintelligente Tiere, die versklavt und abgerichtet wurden. Ich fragte Verzyll danach. Er verneinte alle diese Möglichkeiten. Aber er verriet nicht, wie sein Volk dann zu seiner technisch orientierten Zivilisation gekommen war, wie es die ersten Werkzeuge hergestellt, die ersten Häuser und Maschinen gebaut und schließlich die erste Robotergeneration entwickelt hatte. Erkundigte ich mich gezielt danach, erhielt ich entweder gar keine oder eine nichtssagende Antwort. Es war, als liefe ich gegen eine Wand. Die Shynn bewahrten ein Geheimnis, das sie mit keinem Fremden teilen wollten. Irgendwann hörte ich auf zu fragen, weil ein weiteres Drängen unhöflich gewesen wäre. Dennoch gab ich die Hoffnung nicht auf, das Geheimnis der Polterzeitler irgendwann lüften zu können. Ich konzentrierte mich wieder voll und ganz auf die Ermittlungen wegen der Zeitchirurgen und der Zeitgruft. Aus diesem Grund war Verzyll mit Neithadl-Off und mir überhaupt nur zur Hauptstadt geflogen. Die Gebäude dort enthielten bekanntlich – mit Ausnahme von ein paar Hotels und Automat-Läden – nur Infotheken. Sie erwiesen sich als wahre Fundgruben. Nur über den grundlegenden Aufbau der polterzeitlichen Zivilisation erfuhren wir dort auch nichts, vielleicht aber auch nur, weil Verzyll uns geschickt an allen entsprechenden Räumen vorbei geleitete. Dafür erfuhren wir alles, was die Shynn jemals in Form von Sagen, Legenden, Gerüchten und Tatsachenberichten über die Zeitgruft und die Zeitchirurgen gesammelt hatten. Es war eine unglaubliche Fülle – und wahrscheinlich überwiegend eine nicht glaubhafte Fülle. Da waren so haarsträubende angebliche Tatsachenberichte über Begegnungen mit Zeitchirurgen dabei, daß ich manchmal lauthals darüber lachen mußte. Wollten einige Shynn doch tatsächlich Zeugen gewesen sein, wie Zeitchirurgen Operationen an ihren Artgenossen vorgenommen hatten! Die betreffenden Leute hatten also überhaupt keine Ahnung davon gehabt, daß Zeitchirurgen keine Blinddärme, Nierensteine und Gallenblasen entfernten, sondern sozusagen Schönheitsoperationen an der Zeit vornahmen beziehungsweise vorgenommen hatten – mit teilweise verheerenden Folgen. Mit der Zeitgruft verhielt es sich ähnlich. Einige Polterzeitler wollten darin längst verstorbenen Verwandten begegnet sein: Geschwistern, Eltern, Großeltern und Urahnen. Andere Leute waren dort angeblich ihren eigenen Leichnamen begegnet. Vorwiegend aber sollten Shynn in der Zeitgruft für immer verschwunden sein. Ich erhielt den Eindruck, als würden alle Vermißten und Verschollenen der letzten zehn Jahrtausende auf das Konto der Zeitgruft gebracht. Zusammenfassend konnte ich nach dem Studium der einschlägigen Berichte sagen, daß nichts, was Shynn irgendwann über Zeitgrüfte und Zeitchirurgen berichtet hatten, einer streng wissenschaftlichen Analyse standgehalten hätte. Fast war ich geneigt, alle diese Geschichten als frei erfundene Schauermärchen abzutun. Etwas hielt mich davon ab. Erstens hätten die Shynn nichts über die Existenz von Zeitgrüften und Zeitchirurgen wissen können, wenn sie nicht doch irgendwann einmal echt mit diesen Phänomenen konfrontiert worden wären. Und zweitens gab es da noch die Zeitingenieure (von denen ich selber vor der Begegnung mit
Verzyll nichts gewußt hatte und Neithadl-Off auch nicht), die aber nicht nur in Form von Berichten und Legenden dokumentiert waren, sondern außerdem durch Gegenstände, die sie auf Polterzeit zurückgelassen oder hier verloren hatten. Das waren beispielsweise Münzen und Schmuckstücke, die es sonst auf Polterzeit niemals gegeben hatte. Natürlich durfte ich diese Gegenstände nicht als absolut sichere Beweise ansehen; dazu hätte ich solche Gegenstände schon einmal bei Zeitingenieuren finden müssen. Aber da gab es die Fotografie eines Zeitsogmessers und das zwar ein wenig primitiv nachempfundene Modell eines Zeittauchers, das aber Details eines echten Zeittauchers enthielt. Vor allem aber gab es – oder hatte es gegeben – das Raumschiff, das die Zeitingenieure den Shynn überlassen hatten: die DORDONA, die bei der Hypton-Station von Traykon-Schiffen zerstört worden war. Es existierte nur noch in Form von Modellen, Fotografien und Beschreibungen, aber Neithadl-Off und ich hatten ja als Beweis für die Existenz das Schiff noch selbst gesehen – und ich hatte mit einem Modul herausgefunden, daß sein Überlichtantrieb ein abgewandeltes Zeitaggregat gewesen war. Das änderte alles. Denn wenn es feststand, daß Polterzeit tatsächlich mehrmals von Zeitingenieuren besucht worden war, dann bestand auch eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit dafür, daß auf dem Planeten eine Zeitgruft existierte und daß mehrmals Zeitchirurgen hier gewesen waren. Sogar erst kürzlich, wie Verzyll versicherte. Soweit mit unseren Nachforschungen gekommen, kreisten meine Partnerin und ich systematisch das Gebiet auf Polterzeit ein, aus dem die meisten Berichte über die Zeitgruft sowie über Zeitchirurgen und Zeitingenieure gekommen waren. Denn dort befand sich die Zeitgruft aller Wahrscheinlichkeit nach wirklich. Nach rund sieben Stunden hielten wir das Ergebnis in der Hand. Eine bogenförmige, siebzig Kilometer lange und drei Kilometer breite Inselgruppe am Äquator. Das war unser Ziel!
8. BERICHT NEITHADL-OFF Alles war wundervoll! Polterzeit war wundervoll, die Polterzeitler waren wundervoll, ihre Zivilisation war wundervoll – und ihre Sagen, Märchen, Legenden, Gerüchte und Berichte über Zeitgrüfte, Zeitchirurgen und Zeitingenieure waren wundervoll. Ich brannte schon darauf, die Zeitgruft auf dem Wummawat-Archipel zu betreten, jener bogenförmigen Inselgruppe am Äquator, die mein Modulmann und ich als das Gebiet identifiziert hatten, in dem sich zumindest eine Zeitgruft befinden mußte und in dem die meisten Begegnungen von Polterzeitlern mit Zeitchirurgen und Zeitingenieuren stattgefunden hatten. Und in dem das Gespenst am meisten herumgespukt hatte! Dieses Gespenst interessierte mich am stärksten. Zwar behauptete Goman-Largo, es gäbe keine Gespenster, aber diese Skepsis kam nur davon, daß sie ihm in der Zeitschule von Rhuf den Körper voller Module gesteckt und den Kopf mit wissenschaftlichem Kram vollgestopft hatten. Ich war sicher, daß es Gespenster gab. Das sagte mir schon mein gesunder Vigpanderverstand. Denn gäbe es keine Gespenster, so hätte es auch niemals irgendwo spuken können! Und auf jeder Welt, an die ich mich erinnerte, hatte es irgendwelchen Spuk gegeben. Wenn das kein Beweis war! Ich war froh, als wir endlich die Hauptstadt hinter uns gelassen hatten und mit Kurs auf die Wummawat-Inseln über den weiten Ozean flogen. Allein der Anblick dieser scheinbar unendlichen und spiegelglatten Wasserfläche verzauberte mich schon. Noch nie hatte ich einen so stillen Ozean gesehen. Das läge am hohen Luftdruck und am Fehlen eines ausgeprägten planetarischen Windsystems, sagte mein Modulmann – und meine euphorische Stimmung käme ebenfalls davon, meinte er. Der Tigganoi hatte eben keine romantische Ader. Eigentlich hätte ich gar nicht sagen können, warum ich ihn vom ersten Augenblick an liebte. Wahrscheinlich verdiente er es nicht. Aber so war es nun einmal. Wo die Natur spricht, hat der Verstand seine Daseinsberechtigung verloren. So hatte es mir jedenfalls einmal ein Weiser auf einer uralten Welt gesagt. Zumindest hätte es so sein können. Ich zog mein Aufzeichnungsgerät aus dem Futteral, bewegte es vor meiner Mundleiste hin und her und blies die Berichte über die jüngsten Ereignisse hinein. Ein paar eigene Gedanken fügte ich ebenfalls hinzu – sowie ein paar wahrheitsgetreu erfundene Zwischenfälle und eine wahre Begebenheit. Da war doch die Sache mit Goman-Largos Universal-Armbandgerät gewesen. Ich hatte damals, als wir mit der WEISHEIT DER KÄLTE noch im Hangar der Hypton-Station standen, genau gesehen, wie das Gerät eben noch am Handgelenk des Tigganois gewesen und ein paar Sekunden später verschwunden war, ohne daß er selbst es abgelegt hätte – oder daß ich gesehen hätte, wie es ihm jemand abgenommen hatte. Wir waren damals infolge der turbulenten Ereignisse nicht dazu gekommen, darüber zu sprechen. Dennoch erinnerte ich mich genau daran- und ich war mir sicher, daß das Verschwinden des Armbands auf das Konto der Diebe ging, die zuvor schon in der Station wie die schwarzen Vögel geklaut hatten.
Eigentlich war es schade, daß sie nicht mehr bei uns waren. Ich warf einen Blick auf das Universal-Armbandgerät, das Goman-Largo von POSIMOL bekommen hatte. Das heißt, ich wollte einen Blick darauf werfen. Aber ich konnte es nicht, denn es war verschwunden. Dabei wußte ich genau, daß der Tigganoi es getragen hatte, als wir die Infotheken in der Hauptstadt durchstöberten. Hatte er es dort verloren? Aber ich trug selbst eines und wußte deshalb, daß ihr Verschluß absolut sicher war und sich niemals von selbst öffnen konnte. Ich hob das linke Vorderglied, um mich davon zu überzeugen. Und erstarrte vor Schreck. Jemand hatte mir das Gerät gestohlen! »Was hast du?« erkundigte sich Goman-Largo. »Nichts«, antwortete ich. »Im Gegenteil: Mir fehlt etwas.« Er lachte, dann schien er etwas zu ahnen, denn sein Lachen brach plötzlich ab, er hob den linken Arm und starrte auf sein nacktes Handgelenk, als wollte er mit den Blicken Löcher hineinbohren. Im nächsten Augenblick krabbelte er wie ein Verrückter auf allen vieren durch die Gleiterkabine, tastete umher, fuchtelte durch die Luft und murmelte vor sich hin. Es schien, als dächte er allen Ernstes, ein Dieb hätte sich in der kleinen übersichtlichen Kabine versteckt. Das war natürlich unmöglich. Es sei denn, er könnte sich unsichtbar machen. Nach einer Weile gab mein Modulmann es auf. Aber er hatte dermaßen herumgewütet, daß selbst ein Unsichtbarer ihm nicht entkommen wäre. »Hier ist niemand außer uns und Verzyll«, stellte ich zur Sicherheit fest. »Wen oder was sucht ihr überhaupt?« fragte der Polterzeitler. »Einen Dieb«, antwortete ich. »Oder mehrere Diebe«, sagte der Tigganoi. »Aber doch nicht hier«, erklärte Verzyll. »Das wissen wir inzwischen auch«, sagte Goman-Largo. »Aber in den Infotheken müssen Diebe gewesen sein. Meine Partnerin und ich sind bestohlen worden.« »Shynn stehlen nicht!« wies Verzyll ihn zurecht. »Das meinte ich auch nicht«, erwiderte der Tigganoi. »Es sind Wesen, die als Gefangene in der Station waren und wahrscheinlich heimlich mit dem Schiff mitgeflogen sind. Ein Glück, daß sie sich nicht in unseren Gleiter geschmuggelt haben!« »Diebe auf Polterzeit!« rief Verzyll. »So etwas hat es auch noch nie gegeben!« »Es gibt immer ein erstes Mal«, pfiff ich und überlegte bereits, wie ich in der Hauptstadt auf Diebesjagd gehen wollte, sobald wir von unserer Expedition zur Zeitgruft zurückgekehrt waren. Mindestens einen Dieb wollte ich fangen. Nicht, um ihn seiner gerechten oder ungerechten Strafe zuzuführen.
Oh, nein! Ich wollte von ihm lernen, wie man jemandem etwas vom Leib stiehlt, ohne daß der Betreffende etwas davon merkt. Das behielt ich allerdings für mich. Goman-Largo hätte es womöglich als pervers bezeichnet. Dabei war es eine zwingende berufliche Notwendigkeit. Eine Parazeit-Historikerin mußte einfach alle nur denkbaren Tricks beherrschen. Ich schrak aus meinen Gedanken auf, als der Gleiter mit leichtem Ruck zum Stehen kam. »Wir sind da!« verkündete Verzyll. »Das ist Ganafu-Kakana, die Hauptinsel des WummawatArchipels.« »Phantastisch!« rief Goman-Largo, sprang auf und stieß sich den Hirnkasten an der transparenten Kabinendecke. Mir konnte das nicht passieren. Ich trippelte durch die Tür, die sich automatisch öffnete, atmete die warme, würzige Luft und musterte mit den Sensorstäbchen die locker über hügeliges Grasland verstreuten, halbkugelförmigen blau-grünblättrigen Bäume, die bis zu zwanzig Meter hoch waren und weiße Trichterblüten trugen. Erstaunt beobachtete ich, wie eine Gruppe von fünf Bäumen sich gegenseitig mit rötlichgelbem Blütenstaub beschoß. Bald waren alle Bäume in rötlichgelbe Staubwolken gehüllt. Die Luft war erfüllt von ihrem süßlichen Duft. Eine merkwürdige Art der Bestäubung! war mein erster Gedanke. Doch dann wurde mir wieder bewußt, daß es auf Polterzeit keine nennenswerten Luftbewegungen gab und daß die hohe Gasdichte eine Beförderung von Blütenstaub durch die Luft zusätzlich erschwerte. Unter diesem Aspekt erschien es mir logisch, daß die Pflanzen Blüten entwickelt hatten, die ihren Staub mit hohem Druck verschossen. Welche interessanten Phänomene mochte Polterzeit wohl noch zu bieten haben? Ich sah mich um – und merkte, daß Goman-Largo und Verzyll verschwunden waren. Sie hatten mich einfach stehen lassen. Ich stieß einen zornigen Pfiff aus und trippelte los. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich sie vor einer Felsengruppe wiederfand. Sie standen dort und diskutierten. Anscheinend vermißten sie mich überhaupt nicht. Ich sah mich noch einmal nach unserem Gleiter um – und sah schnell wieder weg, denn ich hatte ihn doppelt gesehen, und so etwas durfte mir einfach nicht passieren, denn ich konnte nie betrunken werden. Aber wahrscheinlich hatte der Blütenstaub auf mich gewirkt wie Alkohol auf andere Lebewesen. Schnell eilte ich zu meinen Gefährten, entschlossen, ihnen nichts über meinen Rausch zu verraten. * »Das sind die Hexensteine«, erklärte Verzyll und deutete mit einem Flügelende auf die Gruppe aus fünf zirka achtzig Meter hohen und vier bis sechs Meter durchmessenden grau und weiß gesprenkelten Felsen. »Hier verschwanden vor dreißig Jahren vierzehn Forscher, die nach einer Zeitgruft suchen wollten.« »Gab es Zeugen des Verschwindens?« erkundigte ich mich – ganz automatisch in die Methodik der Parazeit-Historikerin verfallend.
»Natürlich nicht«, antwortete Verzyll. »Die Gruppe bestand ja nur aus vierzehn Forschern.« »Und woher weiß man dann, daß die Gruppe ausgerechnet hier, bei dieser Felsengruppe, verschwand?« bohrte ich systematisch weiter. Eine Parazeit-Historikerin mußte manchmal pedantisch vorgehen, um die Lüge von der Wahrheit unterscheiden zu können. »Sie zelteten hier, bevor sie verschwanden«, erklärte der Shynn. »Die Zelte standen noch da, als ein Suchtrupp hier landete, um ihren Verbleib aufzuklären. Auch ein Teil der Verpflegung sowie ihre Kocher waren zurückgeblieben.« »Das läßt allerdings den Schluß zu, daß sie hier verschwanden – zumindest auf dieser Insel«, sagte ich. »Waren sie mit Gleitern hier?« »Nein, mit einer Jacht«, antwortete der Polterzeitler. »Die Jacht ankerte nicht weit von hier in einer Bucht.« »Vielleicht haben sie gebadet und sind dabei ertrunken«, überlegte ich laut. »Unmöglich!« widersprach Verzyll energisch. »Wenn wir Shynn das Wasser einmal verlassen haben, gehen wir nie mehr hinein.« »Dann sind sie vielleicht hinausgeschwebt, haben die Richtung verloren und stürzten infolge Erschöpfung ab«, setzte ich meine Überlegungen fort. »Jetzt hör aber auf!« schimpfte Goman-Largo. »Das ist ja schon ein Verhör!« »Falsch!« korrigierte ich ihn. »Eine methodische Befragung. Die Parazeit-Historik ist schließlich eine wissenschaftliche Disziplin – und wenn man etwas wissen will, muß man Fragen stellen.« Ich wandte mich erneut an den Shynn, entschlossen, mich nicht von meinen Prinzipien abbringen zu lassen. »Ist das genaue Datum bekannt, zu dem die Forscher verschwanden?« »Ja«, antwortete er. »Ausgezeichnet!« lobte ich, um seinen Eifer anzuspornen. »Dann überlege einmal, ob an genau diesem Tag irgendwo irgend etwas Besonderes beobachtet wurde!« »Nicht daß ich wüßte«, erwiderte Verzyll. »Denk bitte genau nach!« forderte ich unerbittlich. »An diesem Tag…?« überlegte er laut, dann schnaufte er leise. »Moment mal! Das war doch der Tag, an dem die Teleki…, äh, an dem es den allgemeinen Aussetzer gab! Aber was kann das mit dem Verschwinden der Forscher zu tun haben?« »Aussetzer?« pfiff ich. »Teleki? Was hast du wirklich gemeint, Verzyll?« »Es handelte sich um ein fünfdimensionales Phänomen«, stotterte er. Natürlich wollte er nicht sagen, um was es wirklich gegangen war. Er verbarg etwas vor uns. Es war wie mit dem Geheimnis, das die Polterzeitler um die Entwicklung ihrer Zivilisation machten. Sie schienen mir rechte Geheimniskrämer zu sein. Ich blickte zu Goman-Largo – in der Hoffnung, er würde mir helfen, Verzylls Verstocktheit zu brechen. Aber der Tigganoi stand nur stocksteif da, glotzte die Hexensteine an und kümmerte sich überhaupt nicht um mich. »He, Modulmann!« pfiff ich so laut, daß Verzyll richtiggehend zusammenfuhr. »Lenke mich nicht ab!« gab der Tigganoi zurück, ohne seine Haltung im geringsten zu ändern. »Ich sondiere mit zwei Modulen.«
Ich schwieg verlegen. Eigentlich hätte ich mir denken können, daß mein Partner seine Module einsetzte, um einen Anhaltspunkt zu finden. Statt dessen hatte ich nur geredet und geredet. »Ja!« rief er unverhofft. »Das ist es!« »Was hast du gefunden?« erkundigte sich Verzyll. »Einen Transmitter«, erklärte Goman-Largo. »Genau in dem Hohlraum, der von den fünf Felsen umschlossen wird. Das erklärt natürlich, warum es zu einem fünfdimensionalen Phänomen kam, als die vierzehn Forscher verschwanden. Wenn der Transmitter sie abstrahlte, entstand eine Strukturerschütterung.« »Ein Transmitter?« überlegte Verzyll. »Also gibt es nur einen Transmitter und keine Zeitgruft. Das ist schade.« »Vielleicht aber braucht man den Transmitter, um in die Zeitgruft zu kommen«, sagte der Tigganoi. »Wir müssen es ausprobieren.« Er schritt um die Felsengruppe herum, und ich trippelte hinterher. Da war irgendwo noch ein Haken, und auf den war ich neugierig. Es erschien mir nämlich unwahrscheinlich, daß der Transmitter so ganz einfach zugänglich sein sollte. Dann hätte ihn nämlich die Suchgruppe, die dem Verbleib der Forscher nachgegangen war, gefunden und den Transmitter entdeckt. Ganz abgesehen davon, daß er dann sicher schon vor vielen Jahrtausenden entdeckt worden wäre. Goman-Largo blieb stehen, als wir die Felsengruppe einmal umrundet hatten. »Habt ihr auf Polterzeit Traktorstrahler?« wandte er sich an Verzyll. »Nein«, antwortete der Shynn. »Man braucht entweder einen Traktorstrahler oder einen starken Telekineten, um an den Transmitter zu kommen – oder vierzehn schwache Telekineten, die im Block arbeiten«, stellte Goman fest. Mir fiel es wie Schnee von den Sensorstäbchen. Mein Modulmann war tatsächlich ein Genie. Nur er konnte in diesem frühen Stadium der Nachforschungen den Geistesblitz hervorbringen, daß die Polterzeitler Telekineten waren. Das erklärte natürlich alles. Telekineten brauchten keine Hände, um Werkzeuge herzustellen und zu gebrauchen. Sie konnten ohne manuelle Tätigkeiten Häuser und Fabriken zusammensetzen, in größeren Blocks schwerste Maschinen bewegen und auch die erste Robotergeneration schaffen, die dann die weiteren Robotergenerationen baute. Und sie konnten zu mehreren einen der Felsen anheben, um unter ihm durchzugehen – in den Hohlraum und in den Transmitter. Der Transmissionsschock hatte dann auf ganz Polterzeit vorübergehend die telekinetischen Kräfte lahmgelegt, wodurch es zu den »Aussetzern« gekommen war. Es erklärte auch, warum der Suchtrupp nicht herausgefunden hatte, wohin die Forscher verschwunden waren. Wahrscheinlich hatte er aus zu wenigen Shynn bestanden, so daß sie gar nicht auf den Gedanken gekommen waren, einen Felsen anzuheben. »Wie bist du darauf gekommen, Goman-Largo?« fragte Verzyll entgeistert. »Es hat viele kleine Hinweise darauf gegeben«, antwortete der Tigganoi mit verschmitztem Lächeln. »Ich brauchte nur noch einen Gedankenanstoß, und sie fügten sich zu einem Bild zusammen. Aber ihr Shynn seid schwache Telekineten, darum habt ihr beizeiten gelernt, miteinander zu kooperieren und euch gegenseitig zu unterstützen. Ihr seid wahrscheinlich so friedlich, weil jeder jederzeit auf den anderen angewiesen sein kann.«
»Das stimmt«, gab Verzyll zu. »Aber wir können die Telekinese als einzelne auf fremden Welten so gut wie nie anwenden, weil fast überall die Atmosphären dünner sind als auf Polterzeit und wir unsere ganze telekinetische Kraft brauchen, um uns in der Schwebe zu halten.« »Aber ihr schwebt doch bis an die Grenze zur Ionosphäre hinauf!« wandte ich ein. »Nus auf Polterzeit«, erwiderte Verzyll. »Auf anderen Planeten enthalten die Atmosphären entweder kein Helium oder viel zu geringe Mengen, als daß wir sie nutzen könnten.« Er überlegte eine Weile, dann sagte er: »Ich bitte euch, über unsere telekinetischen Fähigkeiten Stillschweigen zu bewahren. Es ist unser Geheimnis. Wenn andere Völker davon erführen, wer weiß, ob sie uns deswegen nicht verfolgen würden.« »Ich werde schweigen«, versicherte ich. »Bei mir sind Geheimnisse so sicher aufgehoben wie in einer Zeitgruft.« »Bei mir auch«, erklärte Goman-Largo. »Wie in einer Zeitgruft«, echote Verzyll. »Wie kommen wir denn nun in die Zeitgruft beziehungsweise erst einmal in den Transmitter? Traktorstrahler besitzen wir nicht – und ich weiß nicht, ob es klug wäre, andere Shynn in das Geheimnis der Hexensteine einzuweihen.« »Bestimmt nicht«, sagte Goman-Largo. »Dann müssen wir das Schiff holen«, erklärte ich. »Du bist ein kluges Mädchen, schöne Vigpanderin!« lobte mein Modulmann mich – und ich wurde heiß und naß. »Dann will ich mal die gute alte POSIMOL rufen.«
9. BERICHT ZYZY Es war herrlich. Die Höhle im Eis hatte die richtigen Ausmaße und die richtige Lufttemperatur. Wir Hyptons brauchten uns nicht mehr zu einer Traube zusammenzuschließen, um unsere transpirierenden Körper durch Fächeln mit den Flughäuten und die dadurch vermehrte Verdunstung von Feuchtigkeit kühl zu halten. Fast eine ganze Stunde lang waren wir übermütig, ja beinahe euphorisch, herumgeflattert. Jetzt waren wir angenehm müde und hatten uns an der Decke verankert, um der Ruhe zu pflegen. Ich mußte irgendwann eingeschlafen sein, denn ich schrak plötzlich auf, verlor meinen Halt und konnte mich erst dicht über dem Boden wieder fangen. Mit jagenden Pulsen schwang ich mich auf ein Polster. Grundlos war ich bestimmt nicht aufgeschreckt. Etwas mußte mich geweckt haben. Wahrscheinlich ein Geräusch. Versuchten etwa Eingeborene, in unsere Höhle einzudringen? Das würde ihnen allerdings nicht gelingen, denn unsere Roboter waren draußen vor der Höhle und in der WEISHEIT DER KÄLTE postiert, die in einer in das Eis gebrannten Grube stand. Nein, hier waren wir sicher. Ich hatte bestimmt nur schlecht geträumt. Ich breitete die Flughäute aus, um an meinen Platz an der geriffelten Decke zurückzufliegen, da sah ich den Shynn. Er schwebte durch das Schott, das sich lautlos geöffnet hatte und verharrte mitten in der Höhle. Ich starrte ihn eine ganze Weile nur an, bevor ich mich darauf besann, was meine Pflicht war. Ich stieß den Ultraschall-Alarmschrei aus! Im nächsten Augenblick verwandelte sich die Höhle in ein Tollhaus. Alle meine Artgenossen ließen sich fallen, flatterten und kurvten wild durcheinander und schlossen sich schließlich zu einer einzigen großen Traube zusammen. Ich zwängte mich hinein und harrte der Dinge, die da auf uns zukamen. »Shynn!« kreischte der Sprecher. »Wie bist du hier hereingekommen?« »Durch das Schott natürlich«, antwortete der Eingeborene mit sonorer Stimme. Nein, er war nicht aggressiv. Das spürte ich. Dennoch hätte er nicht hier sein dürfen. Die Roboter hatten Weisung, niemanden hereinzulassen. Ein Ruck ging durch unsere Traube, als wir alle gleichzeitig unsere Augen auf den Eingeborenen richteten und unsere abstrakte Fähigkeit mobilisierten. »Haben die Roboter nicht versucht, dich daran zu hindern?« fragte der Sprecher weiter. »Was für Roboter?« erwiderte der Shynn. Das war ungeheuerlich! Unsere Traube stob auseinander. In Panik jagten wir auf das Schott zu, flatterten durch die Öffnung und kurvten auf der Suche nach den Robotern durch die Vorhalle, durch das Tarnlabyrinth und hinaus ins Freie. Es war Nacht. Dennoch hätten wir jeden Roboter gesehen. Für uns gab es keine Dunkelheit. Aber es war kein einziger Roboter da.
Dafür standen draußen mindestens zwanzig weitere Eingeborene herum. Sie schienen auf etwas zu warten. Wir flogen zu der Grube. Zum Glück war die WEISHEIT DER KÄLTE noch da. »POSIMOL!« rief der Sprecher, der auch jetzt noch seine Funktion erfüllte. »Ich höre!« antwortete die Bordpositronik über die Außenlautsprecher. »Wohin sind die Roboter verschwunden?« »Aus dem Schiff sind keine Roboter verschwunden«, erklärte POSIMOL. »Aber die fünfzehn Roboter, die hier draußen Wache standen, wo sind die geblieben?« »Ich weiß es nicht.« »Ist dir etwas aufgefallen, POSIMOL?« »Nur ein Frachtgleiter. Er flog in der Nähe vorbei, landete, blieb für eine halbe Stunde am Boden und flog danach weiter.« »Ein Frachtgleiter! Dann wurden die Roboter gestohlen und mit dem Frachtgleiter abtransportiert.« »Dann müssen es Meisterdiebe gewesen sein«, erklärte die Positronik. »Es gibt keine Meisterdiebe in Manam-Turu!« schrie der Sprecher. »Es sei denn, die Eingeborenen wären welche.« »Ihr beleidigt uns!« erklärte ein Shynn. »Auf Polterzeit wird nicht gestohlen. Zumindest wurde hier nicht gestohlen, bis ihr kamt. Seitdem haben sich laufend Diebstähle ereignet. Wir sind deshalb zu euch gekommen, um euch zur Rede zu stellen.« »Das ist unerhört!« tobte der Sprecher, milderte seinen Tonfall aber sofort wieder ab. »Ihr irrt euch. Wir Hyptons stehlen nicht. Wir sind bestohlen worden. Darüber müssen wir reden. Aber woher wußtet ihr eigentlich, daß wir hier sind?« »Wir erfuhren es von den drei Shynn, die Verzyll und die beiden Fremden auf der Station der Traykon-Roboter absetzten«, antwortete der Eingeborene. »Sie beobachteten danach vom Rand der Ionosphäre, wie euer Schiff ankam und wo es niederging.« »Traykon-Roboter!« kreischte der Sprecher – und abermals flatterten wir alle wild durcheinander. »Das ist Verrat! Wir sind von Goman-Largo und Neithadl-Off verraten worden! Shynn!« »Ja?« fragte der Eingeborene sanft. »Kommt alle mit in unsere Höhle!« sagte der Sprecher. »Dort wollen wir miteinander beraten, was zu tun ist.« Wir kehrten in die Höhle zurück, gefolgt von den Eingeborenen. Unter uns herrschte allergrößte Aufregung. Aber in der Not erwies es sich jedesmal wieder, daß wir einem alten, hochkultivierten und disziplinierten Volk angehörten. Es dauerte nicht lange, bis wir unsere Selbstbeherrschung wiedergefunden und uns zu einer Traube zusammengeschlossen hatten. Danach holten, wir mit sanftem hypnotischen Druck alles aus den Eingeborenen heraus, was wir wissen wollten, und mußten erkennen, daß Verzyll, Goman-Largo und Neithadl-Off uns betrogen hatten. Polterzeit war erst kürzlich von Traykon-Robotern heimgesucht worden. Sie hatten eine automatische Überwachungsstation zurückgelassen – mit einer Hyperfunkanlage. Die war zwar von den Betrügern unbrauchbar gemacht worden, aber irgendwo gab es noch die beiden feindlichen
Roboter – und außerdem konnte es nur eine Frage der Zeit sein, bis erneut Traykons auf Polterzeit landeten, um nachzusehen, warum die Überwachungsstation keine Berichte mehr funkte. Als wir das alles wußten, handelten wir so konsequent und überlegen, wie wir immer gehandelt hatten. Wir behielten die Eingeborenen bei uns, bis wir sie soweit beeinflußt hatten, daß sie kein anderes Ziel mehr kannten, als Goman-Largo und Neithadl-Off festzusetzen und als unsere Gefangenen mitzunehmen, wenn wir diese Welt wieder verließen, was schon bald geschehen würde. Nachdem wir sie fortgeschickt hatten, rief der Sprecher POSIMOL, um ihm zu befehlen, Anima, die sich in der WEISHEIT DER KÄLTE aufhielt, durch die beiden letzten Roboter verhaften und einsperren zu lassen. Aber POSIMOL reagierte nicht. Und als wir draußen nachsahen, mußten wir feststellen, daß die WEISHEIT DER KÄLTE ebenso verschwunden war wie zuvor die fünfzehn Roboter. Polterzeit war ein Alptraum!
10. BERICHT GOMAN-LARGO Es war dunkel, als wir rematerialisierten. Eine Weile standen wir still und lauschten, dann schalteten Neithadl-Off und ich unsere kleinen, aber leistungsstarken Scheinwerfer ein. Wir befanden uns in einer Transmitterkammer, die der zwischen den Felsen glich. Es gab keine Sockel wie bei den meisten Transmittern, die ich kannte, sondern vier Wände aus silberweißen, daumendicken Metallstäben, die während der Aktivierung schwarz wurden – und wie in dem Transmitter zwischen den Felsen erweckte alles den Eindruck, uralt zu sein. »Wie geht es weiter?« fragte Verzyll, der zwischen der Vigpanderin und mir schwebte. Diese Frage erinnerte mich an die Geschehnisse, die unserer Transmission vorangegangen waren. POSIMOL hatte die WEISHEIT DER KÄLTE zur Insel Ganafu-Kakana gebracht, nachdem ich die Positronik über Funk dazu aufgefordert hatte (was gar nicht so leicht gewesen war, denn da Neithadl-Offs und mein Armbandgerät verschwunden waren, hatte ich aus mehreren Modulen eine Konstruktion zusammengebastelt, mit der man funken konnte). Die Positronik hatte uns mit der Meldung überrascht, daß den Hyptons ihre fünfzehn vor der Höhle postierten Roboter wahrscheinlich von Unbekannten gestohlen worden waren. Außerdem hatte sie berichtet, daß rund zwanzig Polterzeitler zu den Hyptons vorgedrungen waren und nach einiger Aufregung eine Einladung in die Höhle erhalten hatten. Man brauchte nicht viel Phantasie dazu, um sich vorzustellen, was in der Höhle geschehen war. Die Hyptons hatten zweifellos ihre hypnotischen Fähigkeiten angewandt, um Informationen aus den Shynn herauszuholen. Es hätte mich gewundert, wenn sie dabei nicht auch von der kürzlichen Invasion des Planeten durch Traykon-Roboter und von der Überwachungsstation erfahren hatten. Auch ihre Reaktion darauf ließ sich voraussehen. Sie würden erst in Panik geraten sein und danach Maßnahmen ergriffen haben, um Neithadl-Off, mich und vielleicht auch Anima festzusetzen und für unseren »Verrat« zu bestrafen. Wie es in ihrer Mentalität lag, hatten sie zweifellos die eingeborenen Besucher unter sanftem Zwang davon überzeugt, daß sie diese Aufgabe übernehmen müßten. Das brauchte uns vorläufig nicht zu kümmern. Hier waren wir sicher vor allen Nachstellungen, auch wenn wir noch nicht wußten, wo »hier« war. Und Anima befand sich ebenfalls in Sicherheit. Sie war an Bord gewesen, als POSIMOL das Schiff zu uns gebracht hatte – und sie befand sich mit dem Schiff auf der Insel Ganafu-Kakana und wartete auf unsere Rückkehr. Wir drei waren, nachdem die WEISHEIT DER KÄLTE mit ihrem Traktorstrahler mühelos einen der fünf Felsen weggezogen hatte, auf den erwarteten Transmitter gestoßen. Er hatte sich gleich nach unserem Eintritt aktiviert und uns hierher abgestrahlt. Ich ging auf die Wand zu, die sich vor uns befand. Etwas summte, dann bildete sich in der Mitte ein Spalt, der die Gitterwand in zwei Hälften teilte, die rasch und lautlos auseinanderglitten. Vor uns wurde es hell. Ich schaltete meinen Scheinwerfer aus und blickte in einen saalgroßen Raum mit kreisrundem Grundriß. »Typisch!« pfiff meine Partnerin. Für alle Zeitgrüfte! fügte ich in Gedanken hinzu. Jedenfalls für alle, die wir beide inzwischen
kennengelernt hatten. »Ist das die Zeitgruft?« flüsterte Verzyll. »Ja«, bestätigte ich und ging in den saalgroßen Raum hinein. Im selben Augenblick funkte es. Anders ließ es sich kaum ausdrücken. Es war, als blitzte in meinem Bewußtsein für den Bruchteil einer Sekunde ein grelles Licht auf, das mich fast betäubte. Und das mir eine Botschaft vermittelte. Es war eine hochwertig kodierte Botschaft. Aber in der Zeitschule von Rhuf hatten sie den Kodeschlüssel gekannt – und sie hatten allen Schülern und künftigen Spezialisten der Zeit diesen Schlüssel tief und fest ins Hirn eingebrannt. So fest, daß er automatisch jede Botschaft dekodierte, die die vom Orden der Zeitchirurgen irgendwo füreinander oder für ihre Agenten hinterlassen hatten. In diesem Fall lautete die Botschaft: Höchste Gefahr! Zeitgruft steht unter Quarantäne! * »Was hast du, Modulmann?« vernahm ich wie durch Watte die Stimme meiner Vigpanderin. »Du bist ganz weiß im Gesicht.« »Keine Sorge, Prinzessin!« hörte ich mich wie aus weiter Ferne antworten. »Ich war nur nicht darauf gefaßt und bin ein bißchen benommen.« Es war die Untertreibung des Jahrhunderts. Mir war zumute, als hätte jemand ein Feuerwerk in meinem Gehirn abgebrannt. Langsam klärte sich mein Blick wieder. Ich sah, daß ich auf dem Boden saß und von Neithadl-Off und Verzyll zu beiden Seiten gestützt wurde. »Ich habe Angst um dich!« pfiff meine Partnerin. »Du bist in den Saal gegangen und im nächsten Augenblick förmlich zurückgeflogen, als hätte dich ein Blitz getroffen.« »Dann wäre ich nicht so lange geistig weggetreten gewesen«, gab ich zurück. »Es war schlimmer als ein Blitz. Aber es war gut so. Ohne diese Warnung befänden wir uns jetzt vielleicht schon in einem unkontrollierten und niemals endenden Sturz durch die Abgründe der Zeit.« Ich blickte von meinem sicheren Platz im Transmitter in die Halle hinein und dachte an die vierzehn Polterzeitler, die dort hineingegangen sein mußten – zum Beginn einer Reise ohne Wiederkehr. Ich konnte nur hoffen, daß sie nicht mehr lebten. Ein unkontrollierter Sturz durch die Abgründe der Zeit war das Grauenhafteste, was es gab. Die von Rhuf hatten uns erklärt, was dabei geschah. Aber die Wirklichkeit mußte viel schlimmer sein als jede Vorstellung von ihr. Ich begann nachträglich zu zittern. Meine Partnerin hielt mich solange mit ihren Vordergliedmaßen umschlungen, bis ich mich wieder beruhigt hatte. Danach berichtete ich ihr und Verzyll von der Botschaft. Diesmal fing der Shynn an zu zittern. Neithadl-Off und ich beruhigten ihn. Anschließend erklärte er uns, daß das Mitgefühl mit den verschollenen Forschern ihn überwältigt hatte. Die Vigpanderin fing sich zuerst wieder. »Dann haben wir wohl die Zeitgruft von Polterzeit gefunden, können aber nichts mit ihr anfangen«, stellte sie nüchtern fest.
»Das ist nicht gesagt«, erwiderte ich. »Ein Stück können wir eindringen, wenn wir alle notwendigen Vorsichtsmaßnahmen beachten. Mit Hilfe meiner Module sollte es mir möglich sein, die Art der Gefahr zu ermitteln, wegen der die Gruft unter Quarantäne gestellt wurde. Vielleicht läßt sie sich mit diesem Wissen vermeiden oder sogar neutralisieren.« »Niemand wird mich dazu bringen, einen Schritt aus diesem Transmitter hinauszuschweben!« erklärte Verzyll. »Ich will zurück!« »Ich fürchte, so einfach wird das nicht gehen«, sagte ich grübelnd. »Zwar weiß ich nichts über diese anscheinend uralten Transmitter und die damit verbundenen Nebenschaltungen, aber allein die Tatsache, daß wir noch nicht wieder zum Ausgangspunkt transmittiert wurden, beweist mir, daß wir ewig hier stehen können. Anscheinend muß eine bestimmte Voraussetzung erfüllt sein, um die Transmission zu ermöglichen.« Daran, daß die Anlage schlicht defekt sein könnte und nur noch in einer Richtung funktionierte, wagte ich kaum zu denken. »Du meinst, erst müssen wir alle diesen Transmitter verlassen, ehe er auf Rücktransmission schalten kann?« erkundigte sich meine Partnerin. »Das ist naheliegend, Schlauköpfchen«, erwiderte ich. »Dort hinein?« pfiff Neithadl-Off und richtete ihre Sensorstäbchen auf das Innere der hell erleuchteten Halle. »Damit uns allen die Synapsen ausgebrannt werden? Niemals! Vor allem würdest du einen zweiten mentalen Schlag nicht überleben, Modulmann.« Ich strich ihr über die Sensorstäbchen. Eine leise, melodische Tonfolge erklang: ein lieblicher Akkord. »Keine Sorge, Prinzessin!« beruhigte ich sie. »Ich weiß, daß man die Botschaft beim zweitenmal nur gedämpft empfängt. Mir wird nichts weiter geschehen. Und ihr werdet sie gar nicht spüren, denn ihr seid nicht dafür sensibilisiert worden. Genau wie die vierzehn Forscher, die vielleicht rechtzeitig umgekehrt wären, hätte es bei ihnen so gefunkt wie vorhin bei mir.« »Und was haben wir davon, wenn wir die Zeitgruft untersuchen?« fragte Verzyll. »Was du davon hast, weiß ich nicht«, gab ich zurück, entschlossen, mich nicht von meinem Vorhaben abbringen zu lassen. »Aber ich erfahre vielleicht etwas, das mir bei der Erfüllung meiner Mission weiterhilft – und was mir weiterhilft, kann ganze Zivilisationen vor dem Absinken in ein temporalparadoxes Chaos bewahren.« Verzyll sah mich eine Weile aus seinen sanften Augen an, dann erklärte er: »Wenn das so ist, bekommst du alle Unterstützung, die ich dir geben kann, Goman-Largo.« »Danke!« erwiderte ich erleichtert. »Dann laßt mich meine Module durchchecken, damit ich die finde, die mir hier nützlich sein können.« * »Ich bin bereit«, sagte ich zu meinen Gefährten. Sie zauderten nicht, sondern gingen beziehungsweise schwebten neben mir her. Als ich den ersten Fuß in die Halle setzte, zuckten instinktiv alle für eine schnelle Flucht erforderlichen Muskeln. Ich mußte die kreatürliche Furcht niederzwingen, um mich nicht herumzuwerfen und in den Transmitter zurückzustürzen. Als ich in der Mitte der Halle stand, war ich schweißgebadet.
»Wartet!« sagte ich mit belegter Stimme. Drei meiner Module drangen weiter in die Zeitgruft ein. Optisch war weder von ihnen noch von einer Fortsetzung der Zeitgruft etwas zu sehen. Das kam daher, daß Zeit an sich unsichtbar war. Aber die Rückkopplung mit den drei Modulen ermöglichte es mir, Informationen aus anderen Zeiten zu empfangen. Gleichzeitig wurde mir bewußt, daß mir das nur möglich war, weil ich eine entsprechende Ausbildung, Konditionierung und Sensibilisierung erhalten hatte – und weil ich ein Modulmann war. Ein Monstrum! dachte ich in einem Anflug von Bitterkeit, denn mir wurde klar, daß ein Teil meines naturgegebenen Wesens zerstört worden war, damit ich meine Aufgaben als Spezialist der Zeit erfüllen konnte. »Warum gehst du nicht weiter?« vernahm ich die Stimme der Parazeit-Historikerin. Sie klang, als käme sie vom Grund eines lichtjahrtiefen Brunnens. »Wir dürfen nicht weitergehen«, antwortete ich mit einer Stimme, die ich kaum noch als die meine erkannte. »Das temporale Gefälle ist zu stark. Wir könnten nie mehr zurück, sondern würden in einen Temporalbruch stürzen, der durch alle Zeitebenen aller Parallelzeiten geht – von einem Ende der Ewigkeit bis zum anderen.« Es würde ein endloser Sturz sein, denn die Ewigkeit war ein Kreis. »Deshalb also steht diese Zeitgruft unter Quarantäne«, hallte die Stimme des Polterzeitlers durch die Unendlichkeit, wie mir schien. »Ja, aber ich kann mit den drei Modulen ein Stück Fremdzeit aus dem Abgrund zu uns reißen – vorübergehend nur, aber vielleicht lange genug, um zu erkennen, wie der Zeitbruch geschlossen werden kann. Er muß geschlossen werden, denn er bedroht das Gefüge des Universums.« »Wir werden ihn schließen, Modulmann«, pfiff Neithadl-Off leidenschaftlich. Sie hatte gut reden. Um einen Zeitbruch zu schließen, waren Unmengen an Informationen und zahlreiche Operationen notwendig, die alle sorgfältig vorbereitet werden mußten, denn das Fehlschlagen auch nur einer Operation würde alle vorher erzielten Erfolge wieder zunichte machen. Ich konzentrierte mich auf die Transferierung der Fremdzeit. Es wurde dunkel – und sofort wieder hell. Doch da standen wir nicht mehr in der Halle der Zeitgruft, sondern auf einer weiteren Grasebene, die am Horizont von blau beschatteten Bergen umgeben war. Das hieß, nur Neithadl-Off und ich standen; Verzyll lag am Boden und japste. Ich merkte gleich, woran das lag. Die Luft war dünn, viel dünner als auf Polterzeit. Ich korrigierte mich sofort. Das hier war auch Polterzeit (falls uns der Transmitter der Hexensteine nicht zu einem anderen Planeten abgestrahlt hatte), nur eben zu einer anderen Zeit. Das bewies schon die gelbe Sonne mit dem Stich ins Grüne, die im Zenit stand. Es war die Sonne, die ich über dem Planeten Polterzeit zu unserer Zeit gesehen hatte. »Wirst du es aushalten?« wandte ich mich an Verzyll. »Ja!« keuchte er. »Ich kann nur nicht mehr schweben. Dazu reicht meine telekinetische Kraft nicht aus.« »Leg ihn auf meinen Rücken, Goman!« pfiff meine Partnerin. »Dürfen wir hier eigentlich gehen?« Ich hatte das längst von meinen Modulen überprüfen lassen. »Ja«, konnte ich deshalb antworten. »Hier gibt es keinen Zeitbruch.«
»Noch nicht oder nicht mehr?« fragte Verzyll, als ich ihn auf den Rücken meiner Partnerin legte. »Das weiß ich eben nicht«, erwiderte ich. »Weil wir uns nicht in eine andere Zeit bewegt haben, sondern die Fremdzeit zu uns gekommen ist.« Hoffentlich fragte er nicht noch mehr. Auf alle Fragen konnte selbst ein Spezialist der Zeit keine Antworten wissen. Das Universum war geheimnisvoll und voller Rätsel – und es blieb nicht, wie es war, sondern unterlag ebenfalls der Evolution. Wir gingen gleichzeitig einen Schritt weiter. Und standen in einer anderen Umgebung. Riesige Bäume ragten ringsum auf. Ihre Laubkronen schirmten das Sonnenlicht ab, so daß hier unten eine grünliche Dämmerung herrschte. »Schon wieder eine andere Zeit?« fragte Neithadl-Off erschrocken. Ich hatte die drei Module nicht lange »spielen« lassen müssen, um herauszufinden, was geschehen war. »Nein«, antwortete ich. »Wir sind noch in derselben Zeit. Es ist die Materie, die sich verändert hat.« »Aber das ist doch unmöglich!« rief der Shynn. »Materie kann sich niemals so schnell und gründlich verändern!« »Natürlich nicht«, gab ich zurück. »Aber mit den entsprechenden Mitteln kann sie so schnell und gründlich verändert werden – vorausgesetzt, sie wurde künstlich geschaffen.« »Aber die Sonne…!« pfiff meine Partnerin. »Die Sonne natürlich nicht«, räumte ich ein. »Sie hat sich ja auch nicht verändert. Ich bin sicher, daß die Veränderungen immer nur ein begrenztes Gebiet und darin nur die Oberflächenformationen betreffen.« »Auf Polterzeit soll so etwas früher vorgekommen sein«, sagte Verzyll. »Wir sind auf Polterzeit!« korrigierte ich ihn. Und mit einemmal hatte ich des Rätsels Lösung. »Das Gespenst!« entfuhr es mir unbedacht. »Das Gespenst?« echote Neithadl-Off und fuhr ihre knallroten Sensorstäbchen so weit heraus, daß ich befürchtete, sie könnten abfallen. »Wo ist es?« Ich mußte lachen. »Was du unter ›Gespenst‹ verstehst, gibt es nicht, Prinzessin.« »Aber es gibt doch Spuk«, widersprach sie. »Und Spuk kann nur von Gespenstern gemacht werden. Ich war mal auf einer Welt der dritten Parallelzeitebene, die wurde von komischen Hominiden bewohnt. Sie besaßen viele triste Bauwerke aus Stein und Dreck, die sie Burgen nannten, behängten sich mit metallenen Gewändern, ritten auf vierbeinigen Riesenviechern und rammten sich zum Vergnügen Lanzen unter die Halskrausen. Dort gab es in jeder Burg mindestens ein Gespenst, das nächtens pünktlich zu einer bestimmten Zeit spukte.« »Hör auf!« sagte ich verärgert. »Dieses Märchen ist zu dick aufgetragen, als daß jemand es glauben könnte. Du hast früher viel besser gelogen, schöne Vigpanderin.« »Aber auf Polterzeit hat es früher tatsächlich gespukt«, sagte Verzyll hartnäckig. Ich stöhnte. Manche Leute begriffen wirklich niemals, was es mit der Zeit auf sich hatte!
»Ich sagte schon, das hier ist Polterzeit!« erklärte ich eindringlich. »Nur zu einer anderen Zeit. Ich nehme an, das, was damals auf Polterzeit spukte, geriet entweder zufällig hierher oder wurde hierher verbannt. Darum spukt es zur Normalzeit auf Polterzeit nicht mehr, sondern nur in diesem Stück Fremdzeit, das die Module an uns gezogen haben.« »Aber wenn es keine Gespenster gibt, was spukt denn dann?« fragte Verzyll. »Wahrscheinlich eine Maschine«, erwiderte ich. »Natürlich keine so primitive Maschine wie eine Kunstsonne oder ein Raumschiff, sondern etwas viel höher Entwickeltes. Programmierte Sextadimfelder vielleicht, die durch die Ausstrahlung modifizierter fünfdimensionaler Energie wirken.« »Syntho-Psi«, stellte Verzyll fest. »Das trifft sicher den Kern«, erklärte ich anerkennend. »Nur fragt mich nicht, wie das funktioniert. Ich entstamme keiner Zivilisation, die so etwas kennt – und mein Verstand ist nicht dazu geschaffen, es zu verstehen. Ich habe nur schon von solchen Dingen gehört.« Jemand (oder etwas) lachte. Im nächsten Moment standen wir vor dem Tor eines phantastischen Schlosses, das auf der Kuppe eines Berges thronte und mit seinen Türmen in die Wolken ragte, die sich darüber ballten. »Wie schön!« pfiff Neithadl-Off. Das Tor schwang auf. »Kommt!« sagte ich. Ich empfand keine Furcht, als ich das Schloß betrat. Etwas in mir sagte mir, daß die Maschine, die hier herumspukte, nicht von bösartigen Wesen programmiert worden war. Neithadl-Off folgte mir, ohne zu zögern, immer den Polterzeitler auf ihrem Rücken. Es ging durch eine Vorhalle, eine Treppe hinauf und in einen langgestreckten Saal mit Wänden aus Gold und Purpur. Der Saal war leer. Er enthielt weder Tisch noch Stuhl. Aber in seiner Mitte stand eine Truhe, etwa zwei Meter lang, einen halben Meter breit und einen Meter hoch. Sie schien aus Gold zu bestehen, aber über ihre Oberfläche huschten ständig flimmernde Energieschauer und verrieten, daß es sich nicht um eine gewöhnliche Truhe handelte. Ich ging darauf zu – und wurde plötzlich von etwas Unsichtbarem gebremst, wahrscheinlich von einem schwachen Fesselfeld oder etwas Ähnlichem. »Es kitzelt«, stellte meine Partnerin fest. Ich räusperte mich. »Was ist der Preis?« »Was für ein Preis?« fragte Neithadl-Off. »Ich fragte nicht dich«, gab ich zurück. Zwischen mir und der Truhe stand plötzlich eine wunderschöne Prinzessin, in ein kostbares Gewand gehüllt und mit einer glitzernden und funkelnden Krone auf dem silbernen Haar. »Shymee!« schrie Verzyll. »Laß dich nicht von ihr betören!« pfiff meine Partnerin. Mir entlockte das alles nur ein Lächeln, denn mir war sofort klar, daß die Prinzessin nur eine weitere Schöpfung der bewußten Maschine war. »Der Preis, Goman-Largo, ist meine Freiheit«, sagte die Erscheinung.
»Wer bist du?« erkundigte ich mich. »Nenne mich Shymee«, antwortete sie. »Unter diesem Namen bin ich einst den Shynn erschienen.« »Das meinte ich nicht«, entgegnete ich, mir der Verantwortung bewußt, die ich trug, obwohl ich sie nicht gewollt hatte. »Wer hat dich erschaffen?« »Ein Spezialist der Zeit wie du«, antwortete Shymee. »Er hieß Gurak-Sogoon, war aber kein Tigganoi, sondern ein Tagg – und er stammte aus einer Zivilisation, die weiter entwickelt war, als ihr euch vorzustellen vermögt.« »Wo ist er geblieben?« fragte ich. »Er starb bei dem Versuch, den Zeitbruch zu schließen. Ich blieb in der Normalzeit der Shynn zurück und versuchte, sie auf mich und die Zeitgruft aufmerksam zu machen – in der Hoffnung, daß dadurch irgendwann ein anderer Spezialist der Zeit nach Shuna gelockt würde, dem ich das Geheimnis Gurak-Sogoons anvertrauen konnte. Statt dessen tauchten zwei Zeitchirurgen auf und verbannten mich auf diese Zeitebene.« »Also waren doch irgendwann Zeitchirurgen auf Polterzeit!« entfuhr es meiner Partnerin. »Es gibt sie also doch noch«, stellte ich fest. »Zwischen den Zeiten geht nichts verloren«, sagte Shymee rätselhaft. »Wirst du meinen Preis zahlen, Goman-Largo?« »Die Freiheit?« erwiderte ich. »Welche Freiheit?« »Die Freiheit von der Zeitgruft«, antwortete Shymee. »Ich will zurück in die Normalzeit, aber die Zeitchirurgen haben eine sechsdimensionale Sperre vor dem Transmitter errichtet, die ich ohne Hilfe nicht durchdringen kann.« »Und ich soll dir helfen können?« fragte ich ungläubig. »Mit deinen Modulen, ja«, gab Shymee zurück. »Gut, ich werde es versuchen«, erklärte ich und deutete auf die Truhe. »Und sie enthält das Geheimnis Gurak-Sogoons?« Wieder ertönte das Lachen. »Die Truhe ist nur ein Symbol – wie alles, was deine Augen sehen, Goman-Largo!« ertönte eine Stimme, die nicht von Shymee kam, denn Shymee war verschwunden. »Paß gut auf!« Ich war eine Glocke. Ein gigantischer Klöppel schlug mich an und ließ meine Module erbeben – und vor meinem geistigen Auge entstand eine Botschaft, die sich gleich flüssigem Feuer in mein Bewußtsein einprägte. Die Welt mit den drei Monden im Zentrum des dreigeteilten Silbernebels birgt das Vermächtnis des Zeitingenieurs Tronh Tronomonh, der das Geheimnis der Neutralisierung von Zeitbrüchen erforschte. * Ich konnte kaum noch an etwas anderes denken als an die Botschaft, die Shymee mir übermittelt hatte – beziehungsweise die geheimnisvolle Maschine, die Lebewesen, Bauten und Naturphänomene als Symbole entstehen und verschwinden ließ. Dennoch schaffte ich es, mit Hilfe eines ganzen Dutzends meiner Module, eine Lücke in der
sechsdimensionalen Sperre vor dem Transmitter zu schaffen, durch die das Geheimnisvolle unsichtbar und unhörbar mit uns kam. Das Gespenst von Polterzeit! Anschließend war ich förmlich ausgelaugt, so daß ich für eine ganze Weile alles, was mit mir und um mich herum geschah, nur verschwommen wahrnahm. Ohne die tatkräftige Hilfe meiner Partnerin hätte ich wahrscheinlich nicht einmal zur WEISHEIT DER KÄLTE zurückgefunden, die unverändert neben den Hexensteinen stand, als wir nach der Rückbeförderung aus dem Transmitter kamen. »Danke!« hauchte etwas in mein Ohr. Ich glaubte, einen schwachen Luftzug zu spüren und hatte das Gefühl, als entfernte sich jemand oder etwas. »Warte noch!« rief ich. Aber das Gespenst meldete sich nicht mehr. Das Schott der WEISHEIT DER KÄLTE öffnete sich, als wir nur noch wenige Schritte von dem Schiff entfernt waren – und Anima erschien in der Öffnung. Sie hielt eine Strahlwaffe in den Händen und zielte damit auf Verzyll. »Bist du verrückt!« pfiff Neithadl-Off sie an. »Das ist unser Freund Verzyll.« »Das ist mir egal«, erklärte Anima energisch. Sie hatte sich verändert. »Ich will nicht, daß dieser Polterzeitler an Bord kommt. Rund zwanzig seiner Artgenossen haben versucht, mich zu überwältigen und das Schiff in ihre Gewalt zu bringen.« »Aber sie haben es nicht geschafft«, stellte Neithadl-Off fest. »Ich habe ihnen einen Schrecken eingejagt, den sie ihr ganzes Leben nicht vergessen werden!« triumphierte Anima. »Hoffentlich hast du niemanden verletzt«, sagte ich matt. »Die Polterzeitler haben schließlich nicht aus eigenem Antrieb gehandelt.« »Oh!« rief Anima und ließ die Waffe sinken. »Nein, ich habe niemandem geschadet. Also haben die Quellenplaner die Polterzeitler gegen uns gehetzt?« »Sie haben sie beeinflußt«, erklärte Neithadl-Off. »So, wie sie dich auch beeinflußt haben.« »Nein, ich bin frei«, erklärte die Hominidin. »Zuerst hatte ich den Hyptons vertraut, aber dann ist mir klar geworden, daß sie gar nicht daran interessiert sind, nach meinem Ritter zu suchen.« »Das waren sie nie«, stellte Neithadl-Off fest. »Wir alle sollten uns endgültig von ihnen trennen. Am liebsten würde ich mit der WEISHEIT DER KÄLTE jetzt sofort starten. Leider wird POSIMOL dagegen sein, da er seinem Zwangsprogramm gehorchen muß.« »Welchem Zwangsprogramm?« schallte es aus den Außenlautsprechern des Schiffes. Das machte mich schlagartig wieder munter. »Du unterliegst ihm nicht mehr, POSIMOL?« rief ich, freudig erregt. »Es ist erloschen«, bestätigte die Bordpositronik. »Das ist mein Verdienst«, behauptete Anima. »Ich habe POSIMOL davon überzeugt, daß sie sich von den Hyptons lossagen muß.« Daran zweifelte ich zwar, denn ich wußte, daß POSIMOL sich Schritt für Schritt bereits von den Hyptons gelöst hatte, während ich als Solo-Pilot mit ihm in engem Kontakt gestanden hatte. Aber ich hielt es für überflüssig, Anima eines Besseren zu belehren. »Dafür darf ich aber auch das nächste Ziel bestimmen!« fuhr die Hominidin fort.
Ich wollte schroff ablehnen. Aber dann sagte ich mir, daß ich überhaupt keine Ahnung hatte, wo in Manam-Turu die dreigeteilte Silberwolke lag, in deren Zentrum sich die Welt der drei Monde befinden sollte. Es spielte also keine große Rolle, wohin wir von Polterzeit aus flogen. »Wie heißt dein Ziel?« erkundigte ich mich. »Barquass!« rief Anima wie aus der Pistole geschossen. Ich hätte es mir denken können! Barquass hatte es ihr von Anfang an angetan gehabt. Dort mußte es etwas geben, das sie gleich einem Magneten anzog. Aber Barquass war außerdem eine Zentralwelt der Piraten. Die Aussichten, dort die Koordinaten der dreigeteilten Silberwolke zu finden, mußte größer sein als auf den meisten anderen Planeten von Manam-Turu. »Einverstanden!« gab ich zurück. »Ich bleibe hier«, sagte Verzyll mit einem Seitenblick auf Anima. »Viel Spaß mit dem Gespenst!« wünschte Neithadl-Off ihm. »Wenn wir das Vermächtnis von Tronh Tronomonh finden, kommen wir zurück, um den Zeitbruch zu neutralisieren«, versprach ich. »Bis dahin alles Gute! Du hast ja den Gleiter, mit dem wir gekommen sind. Mit dem kannst du zurückfliegen.« »In Ordnung«, erwiderte der Polterzeitler und blickte in die Richtung, in der wir den Gleiter stehen gelassen hatten. »Es ist aber nicht nur ein Gleiter«, stellte er fest. »Was?« pfiff meine Partnerin. »Dann habe ich doch nicht doppelt gesehen, bevor ich zu den Hexensteinen ging! Aber wo ist der zweite Gleiter hergekommen?« »Es sind nicht zwei, sondern drei«, erklärte Verzyll. »Zwei Personengleiter und ein Frachtgleiter.« »Der Frachtgleiter ist der, den ich bei der Höhle der Hyptons sah«, stellte POSIMOL fest. »Mit ihm kamen wahrscheinlich die Diebe, die den Quellenplanern fünfzehn Roboter stahlen.« »Hör mir bloß mit Dieben auf!« schimpfte ich. »Ich werde erst froh sein, wenn ich Polterzeit und die Diebe hinter mir gelassen habe. Kommt, schnell einsteigen!« Später, als wir Polterzeit verlassen hatten und das Schiff durchs All jagte, fiel mir etwas ein. »POSIMOL!« sagte ich. »Ja, Goman-Largo?« erwiderte die Positronik. »Der ursprüngliche Name des Schiffes war STERNENSEGLER, nicht wahr?« »Das ist die Übersetzung von RAJJA«, gab POSIMOL zurück. »Gut!« erklärte ich. »Dann soll das Schiff ab sofort wieder STERNENSEGLER heißen.« »Danke!« erwiderte POSIMOL. »Wir besitzen jetzt übrigens die siebzehn Roboter, die früher den Hyptons gehörten. Ich habe sie mir zum Gehorsam verpflichtet.« »Das ist gut«, sagte ich. Dann erschrak ich. »Wir haben siebzehn Roboter!« rief ich erregt. »Aber dann sind darunter ja auch die fünfzehn, die den Hyptons gestohlen wurden! Wie kamen die denn an Bord?« »Sie waren plötzlich da«, antwortete POSIMOL. Sie waren plötzlich da! wiederholte ich in Gedanken. Aber sie können nur von den Dieben gebracht worden sein. Hoffentlich sind sie nicht an Bord geblieben!
Ich sah mich verstohlen um, doch es waren keine Diebe zu sehen. Aber das bedeutete gar nichts… ENDE
Die Hyptons konnten von Goman-Largo, dem findigen Modulmann, ausgetrickst werden. Sie müssen auf dem Planeten Polterzeit zurückbleiben, während unsere drei seltsamen Raum-ZeitAbenteurer mit dem Raumschiff der Hyptons fliehen können. Anima bestimmt das neue Ziel, und damit sind für die ehemalige Orbiterin eine Menge Schwierigkeiten vorprogrammiert. Denn sie trifft auf die Verrückten von Barquass… DIE VERRÜCKTEN VON BARQUASS – so lautet auch der Titel des nächsten Atlan-Bandes. Der Roman wurde von Marianne Sydow verfaßt.