ERIC FRANK RUSSELL
PlusX Die Erde und ihre Verbündeten liegen mit Bewohnern fremder Planeten im Weltraumkrieg. Raumpilo...
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ERIC FRANK RUSSELL
PlusX Die Erde und ihre Verbündeten liegen mit Bewohnern fremder Planeten im Weltraumkrieg. Raumpilot John Leeming soll hinter den Fronten neutrale Planeten und Versorgungsquellen ausspähen. Da muß er mit seinem Raumschiff auf einem von den Gegnern beherrschten Planeten notlanden! Und Leeming bleibt nur eine einzige Waffe: sein Geschick, raffinierte Lügen zu erfinden…
Eric Frank Russell • Plus X
Hurmorvoller utopisch-technischer Abenteuerroman
GOLDMANN VERLAG (1958) ISBN: 3-442-23145-0 GOLDMANNS WELTRAUM TASCHENBUCHER Band 0145
ebook 2003 by BOOKZ 'R' US
Dieses Ebook ist nicht zum Verkauf bestimmt!
GOLDMANNS WELTRAUM TASCHENBUCHER Band 0145 Eric Frank Russell • Plus X
Von Eric Frank Russell sind zur Zeit lieferbar: Feme Sterne. 033 Plus X. 0145 [Die Grosse Explosion] In der Reihe Goldmann Taschen KRIMI ist von dem Autor des vorliegenden Buches erschienen: Die rauhe Wirklichkeit. 2174
ERIC FRANK RUSSELL
PlusX THE SPACE WILLIES
Utopisch-technischer Abenteuerroman
WILHELM GOLDMANN VERLAG MÜNCHEN Ungekiirzte Ausgabe • Made in Germany
© 1958 by Ace Books, Inc. Aus dem Amerikanischen übertragen von Tony Westermayr. Herausgegeben unter wissenschaftlicher Beratung von Dr. Herbert W. Franke. Alle Rechte, auch die der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Jeder Nachdruck bedarf der Genehmigung des Verlages. Umschlagentwurf von Eyke Volkmer. Gesetzt aus der Linotype-Garamond-Antiqua. Druck: Presse-Druck Augsburg. WTB 0145 • Sch/pit ISBN 3-442-23145-0
Inhalt Kapitel 1
5
Kapitel 2
17
Kapitel 3
33
Kapitel 4
47
Kapitel 5
60
Kapitel 6
75
Kapitel 7
92
Kapitel 8
114
Kapitel 9
136
Kapitel 10
155
1 Er wußte, daß er den Hals riskierte und daß es zu spät war, um ihn noch zurückzuziehen. So war es schon seit seiner frühesten Kindheit gewesen. Er hatte jede Herausforderung angenommen und es dann augenblicklich bedauert. Angeblich lernte man aus Erfahrung, aber wenn das zutraf, hätte die menschliche Torheit längst ausgerottet sein müssen. Er hatte in seinem Leben sehr viel gelernt und das meiste davon binnen einer Woche wieder vergessen. Es war ihm also wieder einmal gelungen, sich in eine mißliche Lage zu manövrieren, und man würde es ihm allein überlassen, sich daraus zu befreien, so gut es ging. Er klopfte ein zweites Mal an die Tür, etwas fester, aber nicht herrisch. Hinter der Holzfüllung scharrte ein Stuhl, und eine rauhe Stimme erwiderte mit offenkundiger Ungeduld: »Herein!« Er marschierte hinein und stand vor dem Schreibtisch stramm, den Kopf hoch aufgerichtet, die Daumen an den Hosennähten, die Füße im Winkel von fünfundvierzig Grad. Ein Roboter, dachte er, nichts als ein verdammter Roboter. Großadmiral Markham starrte ihn unter buschigen Brauen hervor an. Sein kalter Blick wanderte von den Füßen bis zum Kopf, glitt vom Scheitel zur Sohle. »Wer sind Sie?« »Patrouillenpilot John Leeming, Sir.« -5-
»Ach ja.« Markham starrte ihn weiter scharf an und knurrte plötzlich: »Machen Sie Ihre Hose zu.« Leeming zuckte zusammen und verriet Verlegenheit. »Ich kann nicht, Sir. Der Reißverschluß funktioniert nicht.« »Warum sind Sie dann nicht beim Schneider gewesen? Billigt Ihr Vorgesetzter, daß seine Leute schlampig angezogen vor mir erscheinen? Das bezweifle ich! Was, zum Teufel, denken Sie sich eigentlich?« »Bei allem schuldigen Respekt, Sir, ich sehe nicht ein, daß es darauf ankommt. Während des Kampfes ist einem egal, was mit der Hose passiert, solange man unversehrt davonkommt.« »Richtig«, sagte Markham. »Was mir aber Sorgen macht, ist die Frage, wieviel anderes und wichtigeres Material nicht den Anforderungen genügen mag. Wenn die zivilen Rüstungsbetriebe schon bei Kleinigkeiten wie Reißverschlüssen versagen, dann tun sie es erst recht bei großen Dingen. Solche Fehler können Verluste herbeiführen.« »Jawohl, Sir«, sagte Leeming und überlegte sich, worauf der Admiral wohl hinauswollte. »Ein neues und unerprobtes Raumschiff zum Beispiel«, fuhr Markham fort. »Wenn es wie vorgesehen funktioniert, gut und schön. Wenn nicht -« Er führte den Satz nicht zu Ende, dachte eine Weile nach und sagte schließlich: »Wir suchen Freiwillige für besondere Langstreckenerkundungspatrouillen. Sie haben sich als erster gemeldet. Ich möchte den Grund wissen.« »Wenn der Auftrag ausgeführt werden muß, hat das ja irgend jemand zu übernehmen«, antwortete Leeming ausweichend. »Dessen bin ich mir bewußt. Ich möchte aber genau wissen, warum Sie sich freiwillig gemeldet haben.« Er wartete einige Zeit und drängte dann: »Los, los, antworten Sie! Ich bestrafe -6-
keinen, der Risiken eingeht, wenn er seine Gründe dafür nennt.« Auf diese Weise ermutigt, sagte Leeming: »Ich habe eine Vorliebe für die Aktion. Ich handle gern auf eigene Faust. Ich verabscheue die zeitvergeudende Disziplin, von der man im Stützpunkt soviel hält. Ich möchte das machen, wofür ich mich eigne, und mehr steckt eigentlich nicht dahinter.« Markham nickte verständnisvoll. »Das gilt für die meisten von uns. Glauben Sie, es macht mir Spaß, am Schreibtisch zu sitzen, während ein großer Krieg im Gange ist?« Ohne auf eine Antwort zu warten, fügte er hinzu: »Ich will nichts von einem Mann wissen, der sich freiwillig meldet, weil er eine schwere Enttäuschung in der Liebe hinter sich hat oder dergleichen. Ich brauche einen tüchtigen Piloten, der Individualist ist und nicht ruhig auf seinem Hintern sitzen kann.« »Jawohl, Sir.« »Sie scheinen den Anforderungen zu entsprechen. Ihr technisches Zeugnis ist erstklassig. Ihr Betragen stinkt zum Himmel.« Er sah seinen Zuhörer mit ausdrucksloser Miene an. »Zwei Fälle von Befehlsverweigerung. Vier Fälle von Aufsässigkeit und Insubordination. Ein Fall von Vorbeimarsch mit verkehrt aufgesetzter Mütze. Wie, um alles in der Welt, sind Sie darauf gekommen?« »Ich hatte einen schweren Anfall von Wurstigkeitsgefühl«, erläuterte Leeming. »So? Na, es ist jedenfalls klar, daß Sie einem verdammt lästig werden können. Der Raumstützpunkt wäre ohne Sie erträglicher.« »Jawohl, Sir.« -7-
»Wie Sie wissen, bekämpfen wir mit ein paar Alliierten ein großes, von den Lathiern geführtes Kombinat. Die Größe des Gegners schreckt uns nicht. Was uns zahlenmäßig abgeht, machen wir durch Tüchtigkeit und Leistungsfähigkeit mehr als wett. Unser Kriegspotential ist gewaltig und nimmt schnell zu. Wir ziehen den Lathiern bei lebendigem Leibe die Haut ab, bevor wir fertig sind.« Leeming gab keinen Kommentar, weil er es satt hatte, immer nur ›Jawohl‹ zu sagen. »Wir haben eine ernste Schwäche«, teilte ihm Markham mit. »Uns fehlen ausreichende Informationen über das kosmische Hinterland des Feindes. Wir wissen, wie weit sich das Kombinat erstreckt, aber nicht, wie tief es in das Stellarfeld reicht. Es ist richtig, daß der Feind in dieser Beziehung über uns nicht mehr weiß, aber das ist seine Sorge.« Wieder schwieg Leeming. »Gewöhnliche Kriegsschiffe besitzen nicht die erforderliche Flugdauer, um tief hinter die Raumfront des Kombinats vorzustoßen. Diese Schwierigkeit wird behoben sein, sobald wir eine oder mehrere ihrer Vorpostenwelten mit Reparatur- und Treibstoffversorgungsanlagen erobert haben. Unsere Abwehr braucht so schnell wie möglich entscheidende Daten. Ist das klar?« »Jawohl, Sir.« »Gut! Wir haben ein neues superschnelles Patrouillenschiff entwickelt. Ich kann Ihnen nicht erklären, wie es funktioniert, abgesehen davon, daß es nicht den üblichen Cäsiumionenantrieb besitzt. Die Art seines Antriebs ist streng geheim. Aus diesem Grund darf es dem Feind nicht in die Hände fallen. Im äußersten -8-
Notfall muß der Pilot es zerstören, selbst wenn das bedeutet, daß er sich mit ihm in die Luft jagt.« »Ein Raumschiff vollständig zu zerstören, selbst ein kleines, ist viel schwieriger, als man denkt.« »Nicht bei diesem Schiff«, gab Markham zurück. »In der Antriebsstufe befindet sich eine hochwirksame Sprengladung. Der Pilot braucht nur auf einen Knopf zu drücken, um sie über ein weites Gebiet zu Staub zu zerblasen.« »Aha.« »Diese Ladung ist das einzige Sprengmittel an Bord. Das Raumschiff ist nicht mit Waffen ausgerüstet. Es handelt sich um ein stark vereinfachtes Modell, bei dem alles Entbehrliche zugunsten höchster Geschwindigkeit geopfert wurde, und seine einzige Abwehr besteht darin, blitzschnell das Weite zu suchen. Und dazu ist es in der Lage, das kann ich Ihnen versichern. Nichts in der gesamten Galaxis kann es einholen, vorausgesetzt, es feuert aus allen zwanzig Düsen.« »Hört sich gut an, Sir«, lobte Leeming und leckte sich die Lippen. »Es ist gut. Es muß gut sein. Die ungeklärte Frage ist die, ob es gut genug ist, die Strapazen eines sehr, sehr langen Fluges zu ertragen. Die Strahlrohre sind die empfindlichsten Bestandteile jedes Raumschiffs. Früher oder später brennen sie aus. Das ist es, was mir Sorgen macht. Die Strahlrohre dieses Raumschiffs besitzen eine ganz besondere Auskleidung. Theoretisch sollten sie monatelang halten. In der Praxis tun sie es vielleicht nicht. Sie wissen, was das bedeutet?« »Keine Reparaturen, keine Ersatzteile im feindlichen Gebiet – keine Möglichkeit zur Rückkehr«, erklärte Leeming. -9-
»Genau. Und das Raumschiff müßte zerstört werden. Von diesem Augenblick an befindet sich der Pilot, vorausgesetzt, er ist noch am Leben, irgendwo in den Nebeln des Alls. Er ist völlig isoliert. Seine Aussichten, die Menschheit noch einmal wiederzusehen, sind sehr gering.« »Es könnte Schlimmeres geben. Ich bin lieber irgendwo am Leben als hier ein toter Mann. Der Mensch hofft, solange er lebt.« »Sie bleiben also dabei?« »Gewiß, Sir.« »Dann komme es über Ihr eigenes Haupt«, meinte Markham mit grimmigem Humor. »Gehen Sie den Gang entlang, siebte Tür links, und melden Sie sich bei Colonel Farmer. Sagen Sie ihm, ich hätte Sie geschickt.« »Jawohl, Sir.« »Und bevor Sie gehen, probieren Sie den Reißverschluß noch einmal aus.« Gehorsam versuchte es Leeming. Das Ding rutschte den ganzen Verschluß hinauf wie geölt. Leeming starrte den Admiral gleichzeitig verblüfft und gekränkt an. »Ich habe von der Pike auf gedient und es nicht vergessen«, sagte Markham mit Betonung. »Mich können Sie nicht täuschen.« Colonel Farmer vom militärischen Abwehrdienst war ein massiger Mann mit rotem Gesicht, der ziemlich unbedarft aussah, aber einen scharfen Verstand hatte. Er betrachtete eine riesige Sternenkarte an der Wand, als Leeming hereinkam. Farmer fuhr herum, als rechne er damit, einen Dolch in den Rücken gestoßen zu bekommen. - 10 -
»Hat man Ihnen nicht beigebracht, daß man anklopft, bevor man ein Zimmer betritt?« »Doch, Sir.« »Warum tun Sie es dann nicht?« »Ich habe es vergessen, Sir. Ich war in Gedanken mit dem Gespräch beschäftigt, das ich eben mit Großadmiral Markham geführt habe.« »Hat er Sie zu mir geschickt?« »Jawohl, Sir.« »Ah, Sie sind also der Langstreckenerkundungspilot, wie? Kommodore Keen wird wohl kaum bedauern, daß er Sie los wird. Sie sind ihm ein Dorn im Auge, nicht wahr?« »Es hat den Anschein, Sir. Ich bin aber in den Militärdienst eingetreten, um einen Krieg gewinnen zu helfen, und zu keinem anderen Zweck. Ich bin kein jugendlicher Herumtreiber, der sich vom Kommodore oder sonst irgend jemandem eine Besserungskur verschreiben lassen muß.« »Da wäre er sicher anderer Meinung. Ihm geht die Disziplin über alles.« Farmer lachte über einen Witz, den er nicht verriet, leise in sich hinein und murmelte: »Keen läßt sich nie gehen.« Er betrachtete den anderen eine Weile und fuhr nüchtern fort: »Sie haben sich da eine harte Nuß ausgesucht.« »Das stört mich nicht«, sagte Leeming rundheraus. »Sie kommen vielleicht nie mehr zurück.« »Das ist nicht so wichtig. Letzten Endes gehen wir alle mal auf eine Fahrt, von der wir nicht wiederkommen.« »Na ja, Sie brauchen das aber nicht mit so teuflischer Befriedigung zu sagen«, beklagte sich Farmer. »Sind Sie verheiratet?« - 11 -
»Nein, Sir. Sobald mich das Bedürfnis überfällt, lege ich mich still hin, bis es wieder vergeht.« Farmer blickte an die Decke und sagte: »Gütiger Himmel!« »Was haben Sie denn erwartet?« fragte Leeming angriffslustig. »Ein Patrouillenpilot ist solo unterwegs. Er muß lernen, auf vieles zu verzichten, vor allem auf Gesellschaft. Es ist erstaunlich, ohne was man alles auskommen kann, wenn man sich wirklich Mühe gibt.« »Sicher, sicher«, meinte Farmer beruhigend. Er wies auf die Sternenkarte. »Die nächstgelegenen Lichtpunkte hier sind entlang der feindlichen Front verteilt. Das Sternengewimmel dahinter ist unerforschtes Gebiet. Das Kombinat mag viel schwächer sein, als wir annehmen, weil seine Front hauchdünn ist. Es könnte aber auch wesentlich stärker sein, wenn es sich weit nach hinten erstreckt. Die Antwort darauf können wir nur finden, wenn wir durch die feindlichen Raumlinien tief ins Hinterland vorstoßen.« Leeming sagte nichts. »Wir haben vor, ein ganz spezielles Erkundungsschiff durch dieses Gebiet zu schicken, wo die bewohnten Welten weit auseinanderliegen. Die Verteidigungslinien des Kombinats sind hier einigermaßen verstreut, ihre Detektoranlagen relativ dünn gesät.« Farmer legte den Finger auf eine dunkle Stelle der Karte. »Bei der Geschwindigkeit, die Ihr Raumschiff erreicht, wird der Gegner kaum Gelegenheit haben, festzustellen, ob Sie einer feindlichen Macht angehören. Wir haben allen Grund, anzunehmen, daß Sie ohne Schwierigkeiten durchschlüpfen und hinter die feindlichen Linien gelangen können.« »Das hoffe ich«, sagte Leeming, denn er merkte, daß man von ihm eine Antwort erwartete. - 12 -
»Der einzige Gefahrenpunkt ist hier.« Farmer rückte den Finger zweieinhalb Zentimeter nach rechts und legte ihn auf einen hellen Stern. »Ein von den Lathiern besetztes Sonnensystem mit mindestens vier großen Raummarinestationen. Wenn diese Flotten zufällig um das Schlupfloch herumschwirren, könnte es sein, daß Sie abgefangen werden. Bis dorthin soll Sie deshalb eine starke Eskorte begleiten.« »Das ist fein.« »Wenn die Eskorte in Kämpfe verwickelt wird, dürfen Sie nicht versuchen, daran teilzunehmen. Statt dessen werden Sie die Gelegenheit dazu benutzen, sich schnellstens zu entfernen und die Front des Kombinats zu durchstoßen. Haben Sie das verstanden?« »Jawohl, Sir.« »Sobald Sie durchgedrungen sind, müssen Sie sich auf Ihr eigenes Urteil verlassen. Denken Sie stets daran, daß wir nicht wissen wollen, wie weit zurück es Welten mit intelligentem Leben gibt – Sie würden nie an ihr Ende gelangen, und wenn Sie sich bis zum Jüngsten Tag bemühten. Wir möchten nur wissen, wie weit zurück es solche Welten gibt, die mit verschiedenen Mitgliedern des Kombinats in Verbindung stehen. Sooft Sie auf einen organisierten Planeten stoßen, der mit dem Kombinat zusammenarbeitet, melden Sie augenblicklich alle Einzelheiten, die Sie ermitteln können.« »Mache ich.« »Sobald Sie die Überzeugung gewonnen haben, die Tiefe des gegnerischen Gebietes beurteilen zu können, kehren Sie so schnell wie möglich zurück. Sie müssen das Raumschiff zurückbringen, falls Sie dazu in der Lage sind. Sollten Sie aus irgendeinem Grund nicht zurückkehren können, muß das - 13 -
Schiff in Schrott verwandelt werden. Es darf nicht im Weltraum aufgegeben, in einem Meer versenkt werden oder dergleichen. Das Raumschiff muß zerstört werden. Markham hat das mit allem Nachdruck betont, nicht wahr?« »Jawohl, Sir.« »Gut. Wir geben Ihnen achtundvierzig Stunden Zeit, Ihre persönlichen Angelegenheiten zu regeln. Anschließend melden Sie sich im Raumflughafen Zehn.« Farmer streckte die Hand aus. »Ich wünsche Ihnen viel Glück.« »Weil Sie glauben, daß ich es brauchen werde?« Leeming grinste und fuhr fort: »Sie rechnen kaum damit, mich jemals wiederzusehen. Man kann es an Ihrem Gesicht ablesen. Ich komme wieder – wollen Sie mit mir wetten?« »Nein«, sagte Farmer. »Ich wette nie, weil ich ein schlechter Verlierer bin. Aber wenn Sie wirklich zurückkommen, bringe ich Sie eigenhändig ins Bett.« »Abgemacht«, antwortete Leeming. Er startete eine Stunde nach Sonnenuntergang. Der Himmel war wolkenlos, samtschwarz und sternglitzernd. Sonderbar, daß es weit, weit draußen, verborgen von der unvorstellbaren Ferne, zahllose bevölkerte Welten mit Kombinatskriegsschiffen gab, die dort wachsam patrouillierten, während die alliierten Flotten der Terraner, Sirianer, Rigelaner und anderer Völker entlang einer gewaltigen Front Wache hielten. Unten zitterten lange Ketten von Bogenlampen, als eine sanfte Brise über den Raumflughafen wehte. Hinter den Absperrungen, die das Startgebiet markierten, wartete eine Gruppe von Menschen, um den Aufstieg zu verfolgen. Wenn das Raumschiff umkippt, statt emporzuschießen, dachte Leeming mit schiefem - 14 -
Lächeln, werden sie mit versengten Hinterteilen davonrennen, um irgendwo Zuflucht zu suchen. Eine Stimme drang aus dem kleinen Lautsprecher in der Kabinenwand. »Warmlaufen lassen, Pilot.« Er drückte auf einen Knopf. Etwas machte ›Mhpf‹, dann ächzte und bebte das Schiff, und eine große, kreisrunde Wolke aus staubigem Dampf rollte über die Betonfläche und hüllte die Absperrungen ein. Das leise Ächzen und Beben setzte sich fort, während er stumm dasaß und seine ganze Aufmerksamkeit auf die Instrumentenkonsole richtete. Die Zeiger von zwanzig Skalen krochen nach rechts, zitterten, erstarrten. Das bedeutete stetigen und gleichen Druck in den zwanzig Heckdüsen. »Alles in Ordnung, Pilot?« »Ja.« »Start nach Belieben.« Eine Pause, und dann: »Alles Gute!« »Danke.« Er ließ die Strahlrohre noch eine halbe Minute laufen, bevor er den kleinen Beschleunigungsknüppel langsam zu sich heranzog. Das Beben verstärkte sich; das Summen steigerte sich zu einem Heulen; die Kabinenfenster beschlugen, der Himmel wurde unsichtbar. Eine nervenzerrende Sekunde lang schwankte das Raumschiff auf seinen Heckflossen. Dann kroch er empor, einen halben Meter, einen ganzen, zehn Meter. Aus dem Heulen war ein Kreischen geworden. Der stete langsame Aufstieg veränderte sich, als das Raumschiff plötzlich einen kräftigen Schubs zu bekommen schien. Hinauf ging es, dreißig Meter, dreihundert, dreitausend. Durch die Wolken und hinein in die Tiefe der Nacht. - 15 -
Die Kabinenfenster waren klar, der Himmel voller Sterne, der Mond sah riesig aus. Die Stimme im Lautsprecher sagte leise und krächzend: »Gut gemacht, Pilot.« »Alles, was ich mache, ist gut«, erwiderte Leeming. »Auf Wiedersehen im Irrenhaus.« Er bekam keine Antwort. Man wußte, daß ihn das übersteigerte Gefühl der Freiheit befallen hatte, das als Startrausch bezeichnet wurde. Die meisten Piloten litten daran, sobald ein Planet unter ihrem Heck lag und vor ihnen nur die Sterne zu sehen waren. Die Symptome waren sarkastische Bemerkungen und Beschimpfungen, die vom Himmel regneten. »Lassen Sie sich die Haare schneiden«, schrie Leeming in sein Mikrofon. »Und hat man Ihnen das Grüßen nicht beigebracht? Größenwahn vergiftet Gehirne!« Auch darauf erwiderte man nichts. Aber unten im Kontrollturm des Raumflughafens schnitt der Offizier vom Dienst eine Grimasse und sagte zu Montecelli: »Wissen Sie, ich habe das Gefühl, daß Einstein doch nicht alles erfaßt hat.« »Wie meinen Sie das?« »Nach meiner Theorie schrumpfen die Hemmungen eines Menschen auf Null, sobald er sich der Lichtgeschwindigkeit nähert.« »Da könnten Sie recht haben«, gab Montecelli zu. »Schweinefleisch und Bohnen, Schweinefleisch und Bohnen, heiliger Himmel, Schweinefleisch und Bohnen«, krächzte es mit nachlassender Lautstärke aus dem Lautsprecher im Kontrollturm. »Ziehen Sie sich aus, ich möchte Ihre Augen untersuchen. Einatmen. Keen läßt sich nie gehen -« Der Offizier vom Dienst schaltete ab. - 16 -
2 Er entdeckte die Eskorte im Sektor Sirius, und die erste Begegnung fand statt, als er fest schlief. Der Alarm wurde von einem Wecksignal auf vorher eingestellter Frequenz ausgelöst und schrillte direkt über seinem Ohr, so daß er im Halbschlaf aus der Koje sprang. Einen Augenblick lang schaute er sich verständnislos um, während das Raumschiff vibrierte und der Autopilot tickte. »Zern kaid-whit?« schnarrte der Lautsprecher. »Zern kaidwhit?« Das war ein Code und bedeutete: ›Geben Sie sich zu erkennen – Freund oder Feind?‹ Er ließ sich im Pilotensessel nieder und drehte einen Schalter, der seinen Sender veranlaßte, eine kurze, ultraschnelle Ziffernreihe auszuspucken. Dann rieb er sich die Augen und blickte in das Sternfeld vor sich. Abgesehen vom majestätischen Glanz der im Dunkeln scheinenden Sonnen war mit bloßem Auge nichts zu erkennen. Er schaltete deshalb seine thermoempfindlichen Detektorschirme ein und wurde mit einer Reihe greller Punkte belohnt, die steuerbord seinem Kurs parallel liefen, während eine zweite Gruppe in Pfeilform weit voraus eben seinen Weg zu kreuzen begann. Er sah natürlich nicht die Raumschiffe, sondern nur die sichtbare Spur ihrer weißglühenden Strahlrohre und flammenden Hecks. - 17 -
»Keefa!« sagte der Lautsprecher und meinte: »Alles in Ordnung!« Leeming kroch wieder in seine Koje, zog sich die Decke über den Kopf, schloß die Augen und überließ alles Weitere der automatischen Steuerung. Nach zehn Minuten glitt er in einen angenehmen, tröstlichen Traum: er schlief im freien Weltraum, ohne daß ihn jemand störte. Der Lautsprecher unterbrach seine Kodemeldungen und schrie in normaler Sprache: »Sind Sie taub? Geschwindigkeit herabsetzen, bevor wir Sie verlieren!« Leeming kletterte wütend aus der Koje, setzte sich an die Steuerung und korrigierte sie langsam. Er beobachtete seine Meßgeräte, bis er fand, die Zeiger seien so weit zurückgegangen, daß die anderen zufrieden sein konnten. Dann legte er sich wieder ins Bett und versteckte sich unter der Decke. Es schien ihm, als schwinge er in einer himmlischen Hängematte und genieße herrliches Nichtstun, als der Lautsprecher brüllte: »Langsamer! Langsamer!« Er schoß unter der Decke hervor, eilte an die Konsole und verringerte die Geschwindigkeit noch mehr. Dann schaltete er das Sendegerät ein und hielt eine Rede, die sich durch große Leidenschaftlichkeit auszeichnete. Es war zum Teil ein rebellierender Ausbruch, zum Teil ein Vortrag über die grundlegenden Funktionen des menschlichen Körpers. Unter den verblüfften Zuhörern konnten zwei Admirale und ein Dutzend Kommodores sein. Wenn das der Fall war, brachte er ihnen etwas bei. Er bekam keine hitzige Antwort, keine zornige, befehlsgewohnte Stimme rief ihn zur Ordnung. Bei der Raummarine wußte man, daß die Aufgabe eines Spähpiloten - 18 -
oft zum Wahnsinn führte und daß neunzig Prozent dieser Menschen dringend psychiatrischer Behandlung bedurften. Ein Patrouillenpilot im Dienst konnte oft Dinge sagen und sagte sie, die niemand sonst bei der Raummarine zu äußern wagte. Es war herrlich, als Verrückter zu gelten. Drei Wochen lang begleitete man ihn in dem düsteren Schweigen, das eine Familie einem schwachsinnigen Verwandten gegenüber zu bewahren pflegt. Er ärgerte sich während dieser Zeit zu Tode, weil ihre Höchstgeschwindigkeit weit, weit unter der ihm möglichen lag, und die Notwendigkeit, sich den anderen anzupassen, gab ihm das Gefühl eines Autofahrers in höchster Eile, der hinter einem Trauerzug herschleichen muß. Das sirianische Schlachtschiff ›Wassoon‹, ein großes, plumpes Vehikel, war der Hauptsünder; es wälzte sich wie ein aufgedunsenes Flußpferd dahin, während ein Schwarm von schnelleren Kreuzern und Zerstörern gezwungen war, es ebenso langsam zu begleiten. Leeming kannte seinen Namen nicht, wußte aber, daß es sich um ein Schlachtschiff handelte, weil es auf seinen Detektorschirmen einer leuchtenden Erbse inmitten winziger, stecknadelkopfgroßer Pünktchen glich. Wieder einmal machte er seinem ganzen Zorn über das Schiff Luft, als der Lautsprecher sich einmischte und zum erstenmal seit vielen Tagen etwas sagte. »Ponk!« Ponk? Was, zum Teufel, war ›Ponk‹? Das Wort bedeutete etwas sehr Wichtiges, soviel wußte er noch. Hastig blätterte er in seinem Kode-Buch und fand den Eintrag: ›Feind in Sicht.‹ Auf seinen Bildschirmen war vom Feind nichts zu sehen. Offenbar befand er sich außerhalb der Detektorenreichweite und war nur von den vier Zerstörern der vorauseilenden Vorhut der Eskorte geortet worden. - 19 -
»Wählen Sie F«, befahl der Lautsprecher. Man wollte also vor dem Kampf die Frequenz wechseln. Leeming drehte den Schalter seines Vielfachbandempfängers von ›T‹ auf ›F‹ zurück. Auf den Bildschirmen wichen fünf leuchtende Punkte vom Hauptkörper der Eskorte ab. Vier waren bloße Pünktchen, der fünfte in der Mitte etwa halb so groß wie die Erbse. Ein Kreuzer und vier Zerstörer flüchteten aus dem Kampfgebiet, um sich zwischen den Feind und seinen nächstgelegenen Stützpunkt zu schieben. In einem dreidimensionalen Medium, wo die Geschwindigkeiten immens waren und der Raum von ungeheurer Weite, hatte diese Taktik nie Erfolg. Das hinderte beide Seiten nicht daran, es mit ihr zu versuchen, sooft sich die Gelegenheit dazu bot. Man mochte das als unausrottbaren Optimismus oder als penetrante Dummheit betrachten, je nach Temperament. Die kleine Gruppe von Möchtegern-Einkeßlern beeilte sich, so gut es ging, in der Hoffnung, sich im verwirrenden Durcheinander des Sternenlichts zu verlieren, bevor der Feind nah genug herankam, um das Manöver zu durchschauen. Inzwischen zogen die ›Wassoon‹ und ihre Begleitschiffe ruhig weiter. Vor ihnen, beinahe am äußersten Rand der Detektorreichweite der Flotte, griffen die vier Zerstörer an, ohne auszuschwärmen oder den Kurs zu verändern. »Zwei Gruppen von zehn Schiffen aus fünfundvierzig Grad rechts, Neigungswinkel fünfzehn abwärts«, meldeten die Zerstörer der Vorhut. »Klassifizierung?« fragte die ›Wassoon‹. »Noch nicht möglich.« - 20 -
Sechs Stunden Stille, dann: »Zwei Gruppen nach wie vor auf gleichem Kurs. Jede scheint aus zwei schweren Kreuzern und acht Turmschiffen zu bestehen.« Langsam, ganz langsam, erschienen auf Leemings Bildschirmen zwanzig kaum wahrnehmbare Punkte. Jetzt war der Augenblick gekommen, wo er und seine Begleitflotte von den Ortungsgeräten des Gegners erfaßt werden mußten. Der Feind mußte die Zerstörer der Vorhut schon vor Stunden entdeckt haben; entweder hatten ihn vier Schiffe einfach nicht gestört, oder – was wahrscheinlicher war – er war davon ausgegangen, daß es sich um Verbündete handelte. Es würde interessant sein, seine Reaktion zu beobachten, sobald er die starke Streitmacht weit dahinter wahrnahm. Leeming bekam keine Gelegenheit, dieses erfreuliche Schauspiel zu verfolgen. Der Lautsprecher krächzte plötzlich: »Achtung Zenit!« und automatisch blickte Leeming zu den Bildschirmen über seinem Kopf. Sie waren mit einem Schwarm sich rasch ausdehnender Punkte übersät. Er schätzte, daß sechzig bis achtzig Schiffe in einem Winkel von neunzig Grad auf die Eskorte hinabstürzten, hielt sich aber nicht damit auf, sie zu zählen. Ein Blick genügte, um ihm klarzumachen, daß er sich in einer höchst mulmigen Lage befand. Augenblicklich zog er den Bug seines schlanken Raumfahrzeugs hoch und schaltete auf volle Antriebskraft. Er wurde in den Sessel gepreßt. Es fiel leicht, sich die Wirkung auf den feindlichen Bildschirmen vorzustellen; man würde ein geheimnisvolles, nicht identifizierbares Schiff aus dem Zielgebiet ausbrechen und mit einer bislang für unmöglich gehaltenen Geschwindigkeit davonpreschen sehen. Wenn er Glück hatte, würde man vielleicht annehmen, daß dies den anderen ebenfalls möglich war. Wenn es etwas gab, - 21 -
was ein Raumschiffkapitän verabscheute, dann ein schnelleres Schiff, das sich hinterrücks anschlich. Das feuerspeiende Ende eines Raumschiffs war seine verwundbare Stelle, weil es in einem Bereich voller Strahlrohre keine wirksame Panzerung geben konnte. Hartnäckig behielt Leeming die Aufwärtskurve bei, die ihn, lang genug durchgezogen, seitlich weit an den herankommenden Angreifern vorbei und hinter sie führen mußte. Er richtete seine Aufmerksamkeit ganz auf die Bildschirme. Die herankommenden Schiffe hielten in enger, entschlossener Formation vier Stunden lang den Kurs. Dann verloren sie die Nerven. Die Tatsache, daß die Eskorte ungerührt Formation hielt, während ein Schiff wie ein Meteor von hinten anzugreifen schien, ließ sie eine Falle vermuten. Was dem Kombinat nie mangelte, war der Argwohn gegenüber den Motiven der Alliierten und unerschütterlicher Glaube an ihre Verschlagenheit. Die Lathier kurvten deshalb rechtwinklig auseinander und zerstreuten sich in alle Richtungen, während ihre Detektoren nach einer zweiten, größeren Flotte suchten, die gerade jenseits der Grenzen der Sichtbarkeit verharren mochte. Ein leichter lathischer Kreuzer, der mit Höchstgeschwindigkeit dahinfegte, begriff, daß sein neuer Kurs ihn in Reichweite der Raketen bringen würde, mit denen Leemings merkwürdiges, superschnelles Schiff vermutlich ausgerüstet war. Er versuchte, auf Nummer Sicher zu gehen, indem er erneut den Kurs änderte, und lieferte sich dadurch den elektronischen Feuerleitgeräten der ›Wassoon‹ aus. Die ›Wassoon‹ feuerte; ihre Raketen trafen den Kreuzer genau an dem Punkt, wo er in Reichweite gelangte. Kreuzer und Raketen versuchten zur selben Zeit denselben Raum einzunehmen. Das Ergebnis war eine lautlose Explosion - 22 -
von großer Stärke, und ein Hitzegleißen, das vorübergehend sämtliche erreichbaren Detektorschirme ausfüllte. Eine zweite Explosion leuchtete kurz im Sternenfeld auf, weit außerhalb der Reichweite der Eskortenbewaffnung. Einige Minuten später meldete eine dünne, plärrende, von statischen Geräuschen verzerrte Stimme, daß ein versprengter feindlicher Zerstörer der fernen Vorhut zum Opfer gefallen war. Dieser plötzliche Verlust, weit außerhalb des Kampfgebietes, schien den Glauben des Gegners zu bestätigen, daß die ›Wassoon‹ und ihre Begleitflotte bloßer Köder in einer todbringenden Falle sein mochten. Man schnellte weiterhin vom gemeinsamen Zentrum aus in allen Richtungen davon, bemüht, die verborgene Bedrohung ausfindig zu machen, und gleichzeitig bestrebt, nicht massiert eine Angriffsfläche zu bieten. Leeming, der sie so wie einen Schwarm erschreckter Fische davonhuschen sah, murmelte unablässig vor sich hin. Eine zerstreute Flotte wäre leichte Beute für ein superschnelles Raumschiff gewesen, das die Einheiten einzeln einholen und vernichten konnte. Ohne eine einzige wirksame Waffe war er jedoch machtlos, eine Gelegenheit zu ergreifen, die sich vielleicht nie mehr bieten mochte. Für den Augenblick hatte er seine Rolle ganz vergessen, geschweige denn die strikte Anweisung, um jeden Preis einen Raumkampf zu vermeiden. Die ›Wassoon‹ erinnerte ihn bald mit einem scharfen Ruf: »Patrouillenpilot, was, zum Teufel, treiben Sie eigentlich?« »Ich zische so in der Gegend herum«, erwiderte Leeming mürrisch. »Sie sind eher eine Belastung als eine Stütze«, gab die ›Wassoon‹ zurück, ohne seine Bemühungen zu würdigen. »Verschwinden Sie, solange es noch geht.« - 23 -
Leeming brüllte ins Mikrofon: »Ich weiß schon Bescheid, wann ich nicht erwünscht bin, kapiert? Wir werden von defekten Reißverschlüssen sabotiert, verstanden? Los, los, Beine hoch, Faulpelz -eins, zwei, drei, vier!« Wie früher gingen die Zuhörer nicht darauf ein. Leeming schlug mit seinem Raumschiff einen neuen Kurs hoch über der Eskorte und parallel zu ihr ein. Sie wurde nun auf seinen Rumpfbauchbildschirmen sichtbar und zeigte sich in ungestörter Formation, aber in weitem Bogen ausgreifend, um auf Gegenkurs zu steuern. Das bedeutete, daß die Schiffe ihn verließen und den Heimweg antraten. Der Gegner, der sich immer noch außer Schußweite befand, mußte dieses Manöver als gefährlichen Trick betrachten, weil er weiterhin auf eine direkte Attacke verzichtete. Die Anordnung leuchtender Punkte der Eskorte glitt rasch von den Bildschirmen, als Leemings Raumschiff davonschoß. Weit voraus steuerbords zeigten die Detektoren die beiden feindlichen Gruppen, die als erste aufgetaucht waren. Sie hatten sich nicht auf dieselbe Weise zerstreut wie die Hauptstreitmacht, aber ihr Kurs verriet, daß sie mit der höchstmöglichen Geschwindigkeit aus dem Kampfgebiet flohen. Das deutete darauf hin, daß es sich in Wirklichkeit um zwei Konvois von Handelsschiffen handelte, die sich in der schützenden Nähe der Kreuzer gehalten hatten. Leeming sah sie mit tiefem Bedauern entkommen. Mit den entsprechenden Waffen hätte er auf die Beute niederstoßen und ein paar schwerbeladene Schiffe zerstören können, bevor die Kreuzer auf die Gefahr aufmerksam geworden wären. In Windeseile durchstieß er die Front des Kombinats und schlug den Weg zum unbekannten Hinterland ein. Kurz bevor seine Detektoren außer Reichweite gelangten, flammte es in seinem Heckbildschirm zweimal kurz hintereinander auf. Weit - 24 -
hinter ihm hatten zwei Raumschiffe zu existieren aufgehört, und es gab keine Möglichkeit zu beurteilen, ob seine Eskorte oder der Gegner diese Verluste erlitten hatten. Er versuchte, es herauszubekommen, indem er auf der internen Frequenz fragte: »Was ist los? Was ist los?« Keine Antwort. Ein dritter Lichtblitz breitete sich auf dem Bildschirm aus. Er war durch die Ferne abgeschwächt und erstarb rasch. Leeming schaltete seinen Sender auf die Wiedergabe seines Kodesignals und rief von neuem. Nichts. Er kaute verärgert an seiner Unterlippe, hockte breitschenklig im Pilotensessel und starrte vor sich hin, während das Schiff einer dunklen Lücke im feindseligen Sternenfeld entgegenschoß. Nach einiger Zeit gelangte er über die äußerste Grenze des Nonstopbereichs alliierter Kriegsschiffe. Von da an konnte ihm niemand mehr helfen. Die erste Welt war eine Spielerei. Der Gegner hielt es für ausgeschlossen, daß irgendein Schiff der Alliierten so weit vorzustoßen vermochte, ohne aufzutanken und die Strahlrohre zu wechseln, und ging deshalb davon aus, daß jedes in der näheren Umgebung geortete Schiff verbündet oder mindestens neutral sein mußte. Als seine Detektoren Leemings Raumschiff wahrnahmen, erging nicht einmal ein Funkruf an den Piloten; man ließ ihn einfach weiterfliegen. Die erste bewohnte Welt fand Leeming, indem er einfach einen kleinen, von der Raumfront zurückfliegenden Konvoi beschattete, bis er über dessen genauen Kurs nicht mehr im Zweifel war. Da Leeming es sich aber nicht leisten konnte, sich dem relativ langsamen Tempo anzupassen und damit Tage und - 25 -
Wochen zu vergeuden, schlug er einen Bogen über den Konvoi und raste voran, bis er den bewohnten Planeten erreichte, zu dem er unterwegs war. Den Planeten zu überprüfen erwies sich als ebenso leicht. Leeming flog zweimal so niedrig wie möglich um den Äquator, um eine schnelle optische Beobachtung vorzunehmen. Eine vollständige Besichtigung des Planeten zur Klärung von Status, Entwicklung und Möglichkeiten war nicht erforderlich. Was er in einem schmalen Streifen rund um die Wölbung sehen konnte, reichte für die Zwecke der militärischen Abwehr auf Terra aus. Binnen kurzer Zeit entdeckte er drei Raumflughäfen, zwei waren leer, auf dem anderen befanden sich acht Handelsschiffe unbekannten Ursprungs und drei Kriegsschiffe des Kombinats. Andere Hinweise zeigten, daß die Welt dicht besiedelt und ziemlich hoch entwickelt war. Er konnte sie beruhigt als Prokombinatsplaneten von erheblichem militärischem Wert einstufen. Er fegte zurück in den freien Weltraum, wählte X, die besondere Langstreckenfrequenz, und gab seine Meldung durch. Er nannte auch den ungefähren Durchmesser des Planeten, seine Masse und die Raumkoordinaten. Er bekam auf sein Signal keine Antwort; doch damit hatte er auch nicht gerechnet. Er durfte ungestraft Informationen ausstrahlen, aber man konnte nicht in das feindliche Gebiet zurückfunken, ohne gegnerische Horchposten darauf aufmerksam zu machen, daß in ihrem Hinterland jemand am Werk sein mußte. Die ausgestrahlten Signale waren stark gebündelt, und der Feind war stets darauf bedacht, alle Meldungen, die von der Front der Alliierten kamen, abzufangen und zu entschlüsseln, während Funksprüche aus dem Hinterland unbeachtet blieben. - 26 -
Die nächsten zwölf Welten wurden im Prinzip genauso ausfindig gemacht wie die erste: durch die Auswertung interplanetarischer und interstellarer Schiffswege, die dann nur bis zu ihren Endpunkten verfolgt zu werden brauchten. Leeming gab über jede Welt Einzelheiten bekannt und wurde mit Schweigen belohnt. Inzwischen war er so weit, daß er das unvermeidliche Ausbleiben jeglicher Antwort bedauerte; er war lange genug unterwegs, um sich nach dem Klang einer menschlichen Stimme zu sehnen. Nach Wochen, die sich zu Monaten dehnten, und die er eingeschlossen in eine donnernde Metallflasche verbracht hatte, befiel ihn ein entsetzliches Gefühl der Einsamkeit. Inmitten dieses riesigen Sterngebiets mit unzähligen Planeten hätte er sich wahrscheinlich gefreut, aus der Ferne eine erboste menschliche Stimme zu hören, die ihn wegen eines Fehlers gehörig beschimpfte. Er wäre still sitzen geblieben und hätte sich im Strom der Beleidigungen gebadet. Gleichmäßige, nie endende Stille war am schwersten zu ertragen. Als er dann in der Hoffnung, einen dreizehnten Planeten aufzuspüren, einem Handelskonvoi nachkroch, vernahm er Laute, die wenigstens der Monotonie ein Ende bereiteten. Er hielt zu der Gruppe von Raumschiffen entsprechenden Abstand und flog weit über ihr. Der Feind, der sich in seinem ureigensten Gebiet sicher fühlte, hatte die Ortungsgeräte nicht eingeschaltet, so daß er von Leemings Gegenwart nichts ahnte. Leeming spielte an den Knöpfen seines Empfängers, stieß plötzlich auf eine interne Frequenz des Gegners und hörte ein Gespräch zwischen den Raumschiffen ab. Die unbekannten Lebewesen an Bord der Raumfahrzeuge hatten laute, etwas angriffslustige Stimmen, gebrauchten aber eine Sprache, deren Lautformen mit der terranischen eine - 27 -
sonderbare Verwandtschaft aufwiesen. Für Leemings Ohren ergab sich ein Strom von sinnlosem Gefasel, das sein Gehirn automatisch in terranische Worte übersetzte. Es hörte sich etwa so an: Erste Stimme: »Bürgermeister Snorkum wird den Kuchen legen.« Zweite Stimme: »Was ist mit dem von Snorkum gelegten Kuchen?« Erste Stimme: »Er wird seinen Schnurrbart stärken.« Zweite Stimme: »Das ist Nachtgeschwafel. Wie kann er eine laue Maus stärken?« Sie brachten die nächsten zehn Minuten mit einer bissigen Diskussion darüber zu, was der eine wiederholt eine laue Maus nannte, während der andere hartnäckig behauptete, es handle sich um eine maue Laus. Leeming entdeckte, daß die Bemühung, den Argumenten und Gegenargumenten zu dieser Streitfrage zu folgen, das Gehirn ganz gehörig anstrengte. Er litt stumm, bis es ihm zuviel wurde. Er schaltete auf Sendung und schimpfte: »Maus oder Laus, entschließt euch endlich!« Darauf folgte ein Augenblick verblüffter Stille, bis die erste Stimme zischte: »Gnof, kannst du eine Tortenkette wickeln?« Es gab wieder eine Pause, dann erklärte Gnof verärgert: »Ich werde meine Mutter verdreschen.« »Gemeiner Kerl!« sagte Leeming. »Schäm dich was!« Die andere Stimme erklärte geheimnisvoll: »Meine ist fett.« »Kann ich mir vorstellen«, gab Leeming zu. »Muschel-Bude?« fragte Gnof in einem Ton, der sich deutlich übersetzen ließ mit: ›Wer ist da?‹ - 28 -
»Bürgermeister Snorkum«, erwiderte Leeming. Aus irgendeinem seltsamen Grund, der nur fremdartigen Gehirnen verständlich war, führte das dazu, daß die Diskussion von neuem aufflammte. Sie begannen damit, sich über Bürgermeister Snorkums Vorfahren und Zukunftsaussichten zu verbreiten – so hörte es sich jedenfalls an -, und kamen schließlich wieder voll Begeisterung auf die laue Maus – oder maue Laus – zu sprechen. Es gab Augenblicke, in denen sie sich gleichzeitig über irgend etwas erhitzten, vielleicht über Snorkums Gewohnheit, seine Laus an einer Tortenkette zu führen. Schließlich ließen sie das Thema übereinstimmend fallen und befaßten sich mit der absurden Frage, wie – dem einen zufolge – ein Faden zu fiedeln oder – wie der andere meinte – eine Fiedel zu fädeln sei. »Menschenskind!« sagte Leeming staunend. Dies mußte Ähnlichkeit mit einem ziemlich drastischen Ausdruck in der Sprache der Zuhörer haben, weil sie abbrachen und Gnof wieder rief: »Muschel-Bude?« »Du kannst mich mal, mein Lieber!« forderte ihn Leeming auf. »Bosta? Mein Schinkenbrett ist Bosta, enk?« Sein Tonfall verriet ziemliche Leidenschaft, als er wiederholte: »Bosta, enk?« »Ja«, bestätigte Leeming. »Enk!« Anscheinend ging ihnen das über die Hutschnur; ihre Stimmen blieben aus, und sogar das leise Summen der Trägerwelle verschwand. Es sah so aus, als wäre es Leeming gelungen, etwas außerordentlich Ordinäres zu sagen, ohne die geringste Ahnung zu haben, worum es sich handelte. - 29 -
Bald danach erschien die Trägerwelle wieder, und eine neue Stimme meldete sich in kehligem, aber fließendem Kosmoglott: »Welches Schiff? Welches Schiff?« Leeming antwortete nicht. Eine lange Pause, dann fragte die Stimme wieder: »Welches Schiff?« Leeming kümmerte sich nicht darum. Da man keinen Ruf im Kriegskode an ihn gerichtet hatte, konnte er annehmen, daß man es nicht für möglich hielt, daß ein feindliches Raumschiff in der Nähe war. Bestätigt wurde diese Vermutung auch durch die gleichmütige Art, in der die Schiffe weiterzogen, ohne den Kurs zu ändern oder sonst erkennen zu lassen, daß man sich Sorgen machte. Nachdem Leeming ausreichende Daten über den Kurs der Gegner gewonnen hatte, überholte er sie blitzschnell und stieß nach einiger Zeit auf den dreizehnten Planeten. Er strahlte die Informationen Richtung Heimat aus und machte sich auf die Suche nach dem nächsten. Der war schnell gefunden, da er sich in einem benachbarten Sonnensystem befand. Die Zeit verging, während die Sondierungen Leeming durch ein weites Gebiet des vom Kombinat kontrollierten Weltraums führten. Nachdem Leeming den fünfzigsten Planeten geortet hatte, lockte es ihn, zur Überholung und zur Beschaffung weiterer Anweisungen zum Stützpunkt zurückzukehren. Man konnte es mit der Erforschung auch übertreiben, und er brauchte dringend einen kurzen Urlaub auf Terra; er sehnte sich nach frischer Luft, grünen Feldern und menschlicher Gesellschaft. Trotzdem entschloß er sich, weiterzuziehen, da das Schiff immer noch gut lief und der Treibstoffvorrat erst zu einem Viertel aufgebraucht war. Außerdem wußte er, daß der Triumph - 30 -
bei seiner Rückkehr um so größer sein würde, je gründlicher er seinen Auftrag erfüllte. Und auch die Aussichten auf eine schnelle Beförderung würden entsprechend besser sein. So flog er weiter und brachte es auf zweiundsiebzig Planeten, bevor er einen vorausbestimmten Punkt tief im feindlichen Hinterland erreichte, an einer Stelle vor den alliierten Vorposten rund um Rigel. Von hier aus sollte er ein verschlüsseltes Signal senden, auf das man sich melden würde. Er sendete das Wort ›Kewa‹ zwei Stunden lang in regelmäßigen Abständen. Es bedeutete: ›Kann weitermachen; erwarte Anweisungen.‹ Darauf sollte man so kurz antworten, daß der Gegner nichts aufzufangen vermochte: Entweder mit dem Wort ›Zurre‹, was hieß: ›Wir haben genügend Informationen; sofort zurückkommen; oder mit dem Wort ›Erko‹ – ›Wir brauchen weitere Informationen; setzen Sie Ihre Erkundungen fort.‹ Doch er erhielt nur ein ultrakurzes Gespräch, das er als superbeschleunigte Zahlenreihe erkannte. Sie traf so blitzartig ein, daß man sie mit dem Gehör nicht erfassen konnte; er nahm sie bei der Wiederholung auf Band und griff nach seinem Kodebuch, als er das Band langsam abspielte. Das Ergebnis lautete: ›47926 Patrouillenpilot John Leeming vom Empfangsdatum ab zum Leutnant beförderte.‹ Er starrte die Worte lange Zeit an, bevor er wieder begann, ›Kewa – Kewa‹ zu senden. Für seine Mühe wurde er mit dem Wort ›Foim‹ belohnt. Er versuchte es noch einmal und bekam wieder ›Foim‹ zu hören. Es kam ihm wie eine Lästerung vor, wie der Lieblingsfluch eines gummiartigen Wesens ohne Gaumen. Verärgert von diesem Unsinn, dachte er darüber nach und entschied, daß irgendein Störsender des Kombinats seine - 31 -
eigenen Waffen gegen ihn kehrte und verwirrende Kommentare einstreute, um ihn aus der Fassung zu bringen. Der Theorie nach sollte der Gegner eigentlich nicht in der Lage sein, dazwischenzufunken, weil er eine wesentlich höhere Frequenz als die von der Gegenseite bevorzugte benutzte. Trotzdem, irgend jemand betätigte sich hier. Er kam zu dem Schluß, daß man ihn nicht zurückgerufen hatte, und setzte die Suche nach feindlichen Planeten fort. Vier Tage später blätterte er zufällig in seinem Kodebuch und fand das Wort ›Foim‹ als Entscheiden Sie selbst‹ definiert. Er dachte nach, entschied, daß die Rückkehr mit einem Rekord von zweiundsiebzig entdeckten und identifizierten Welten eine herrliche Sache sein würde, daß aber eine hübsche, runde, eindrucksvolle Zahl wie etwa einhundert ans Wunderbare grenzte. Man würde ihn mindestens zum Raumadmiral befördern. Dieser Gedanke war so verlockend, daß Leeming sich sofort das Ziel von einhundert Planeten setzte, bevor er nach Hause fliegen wollte. Als Vorgeschmack künftigen Ruhms entdeckte er im nächsten Sonnensystem vier vom Feind besetzte Welten nah beieinander, was sein Gesamtergebnis auf sechsundsiebzig Planeten erhöhte. Er trieb den Rekord auf achtzig. Dann auf einundachtzig. Der erste Hinweis auf die bevorstehende Katastrophe zeigte sich, als er Nummer zweiundachtzig anflog. - 32 -
3 Zwei Punkte leuchteten auf seinen Detektorschirmen. Sie waren groß, aber langsam, und man konnte nicht unterscheiden, ob es Kriegs- oder Handelsschiffe waren. Sie zogen Bord an Bord dahin; offensichtlich waren sie zu einem Ort unterwegs, den Leeming noch nicht kannte. Er hielt sich an seine altbewährte Taktik, sie zu beschatten, bis er den Kurs bestimmen konnte, folgte ihnen eine Weile, bis er Gewißheit hatte, welcher Stern ihr Ziel war, und schoß dann voraus. Er hatte einen so weiten Vorsprung, daß die beiden Schiffe schon von seinen Bildschirmen verschwunden waren, als plötzlich ein Strahlrohr seine ausgeglühte Isolierschicht vierzig Meilen weit hinter sich spuckte. Leeming bemerkte es erst, als die Alarmglocke an der Instrumentenkonsole schrillte, der Zeiger eines Druckmessers um die Hälfte zurückfiel, der Zeiger des dazugehörigen Temperaturmessers der roten Marke entgegenkletterte, die den Schmelzpunkt bezeichnete. Sofort unterband Leeming die Treibstoffzufuhr zu diesem Strahlrohr. Der Druckmesser ging augenblicklich auf Null zurück, der Wärmemesser kletterte noch ein paar Grade, zögerte, verharrte einige Zeit und glitt dann widerstrebend zurück. Am Raumschiffheck befanden sich zwanzig riesige Strahlrohre, um die acht Steuerdüsen von vergleichsweise geringem Durchmesser angebracht waren. Wenn irgendein Strahlrohr ausfiel, war das nicht weiter gefährlich. Es bedeutete nicht mehr als fünf Prozent Schubverminderung und eine entsprechend verringerte Funktionsfähigkeit des Schiffes. Auf - 33 -
der Erde hatte man ihm erklärt, er könne bis zu acht Strahlrohre opfern – vorausgesetzt, sie befanden sich in symmetrischer Anordnung -, bevor Geschwindigkeit und Manövrierfähigkeit auf das bei einem Zerstörer des Kombinats übliche Maß sanken. Angesichts dieser Überlegung widerstand er dem Wunsch, umzukehren und nach Rigel zu flüchten. Statt dessen flog er weiter zum zweiundachtzigsten Planeten, erreichte ihn, nahm die nötigen Messungen vor und strahlte die Information aus. Dann entdeckte er eine Schiffsroute zwischen diesem und einem benachbarten Sonnensystem, machte sich in der Hoffnung auf den Weg, Planet dreiundachtzig zu finden und seiner Liste hinzuzufügen. Ein zweites Strahlrohr brannte auf halbem Wege dorthin aus, ein drittes kurz vor der Ankunft. Nichtsdestoweniger umrundete er die fremde Welt mit verringerter Geschwindigkeit und begab sich in der Absicht, die Daten zur Erde zu senden, in den Weltraum zurück. Er kam nicht mehr so weit. Fünf weitere Strahlrohre spuckten gleichzeitig ihre Isolierschichten aus. Er mußte sich gewaltig beeilen, die Treibstoffzufuhr zu unterbrechen, bevor die unverminderte Brennleistung sein ganzes Heck wegschmelzen konnte. Die defekten Antriebsaggregate mußten außerhalb des Mittelpunktes liegen, weil das Raumschiff nicht mehr geradeaus fliegen wollte. Statt dessen begann es einen weiten Bogen zu beschreiben, der es schließlich zu dem eben verlassenen Planeten zurückführen mußte. Noch schlimmer war, daß es dabei langsam und gleichmäßig um seine Längsachse zu rotieren begann, so daß sich der ganze Sternenhimmel vor Leemings Augen zu drehen schien. Das Raumfahrzeug war als kosmosdurchdringendes Schiff offenkundig nicht mehr zu gebrauchen; Leeming konnte - 34 -
höchstens hoffen, irgendwo zu landen, um seine eigene Haut zu retten. Er konzentrierte sich ausschließlich auf dieses Ziel. Obwohl das Raumschiff stark beschädigt war, konnte er es doch kontrollieren; die Steuerdüsen funktionierten zuverlässig, wenn sie nicht vom schräg wirkenden Schub gestört wurden, und die Bremsraketen vermochten mit voller Kraft zu donnern. Als der Planet das Bugfenster auszufüllen begann und seine runzlige Oberfläche sich zu Bergen und Tälern dehnte, schaltete Leeming alle restlichen Heckstrahlrohre ab, gebrauchte die Steuerdüsen, um das Schiff auf Kiel zu halten, und zündete wiederholt die Bremsraketen. Die Rotation um die Längsachse hörte auf, die Fallgeschwindigkeit verringerte sich, während er mit feuchten Händen die Steuerung bediente. Es stand todsicher fest, daß er nicht wie üblich landen konnte, indem er das Raumschiff auf die Heckflossen stellte. Es fehlte ihm die Schubkraft, um sich auf einer präzise gesteuerten Feuersäule hinabzulassen. Das Schiff befand sich in einem gefürchteten Zustand, den man bei der Raummarine ›Lahmarsch‹ nannte; das hieß, daß er eine Bauchlandung machen mußte. Die Geschwindigkeit mußte dabei so niedrig wie möglich sein, damit er bis zum letzten Augenblick die Kontrolle über das Raumfahrzeug behielt. Er strengte die Augen am Sichtfenster an, während sich die herannahenden Berge und Täler dehnten und sich der Flaum der Planetenoberfläche in ein Muster massierter Baumwipfel verwandelte. Dann schien das ganze Bild auf ihn zuzuspringen, als sei es plötzlich unter einem Mikroskop von gewaltigem Auflösungsvermögen tiefenscharf aufgenommen. Er zündete vier Strahlrohre und die unteren Steuerdüsen, um eine waagrechte Lage zu erreichen. - 35 -
Der Bug hob sich, während das Raumschiff durch ein Tal fegte und den gegenüberliegenden Berg nur um hundert Meter verfehlte. In den nächsten fünf Minuten sah er fünf Meilen Baumwipfel, eine Lichtung, aus der sich eine Armee von Gittermasten mit Funkantennen erhob, einen großen Ort neben einem Fluß, wieder ein riesiges Waldgebiet, gefolgt von einer sanftgeschwungenen Moorlandschaft. Das war die richtige Stelle! Er schickte ein kurzes Stoßgebet zum Himmel und sauste in einer flachen Kurve hinab, alle Bremsraketen gezündet. Trotz seiner Geschicklichkeit warf ihn der erste Aufprall glatt aus dem Sessel und schleuderte ihn an die Metallwand unter seiner Koje. Durchgerüttelt und voll blauer Flecken, aber sonst unverletzt, kroch er unter der Koje hervor, während das Raumschiff immer noch dahinrutschte. Scharrende, hämmernde Geräusche waren an der Unterseite des Rumpfes zu hören. Leeming hangelte sich zur Konsole vor, schaltete die Bremsraketen ab, legte den ganzen Antrieb still. Einen Augenblick später kam das Schiff zum Stillstand. Die Stille danach war von einer Art, wie er sie seit vielen Monaten nicht mehr erlebt hatte. Sie dröhnte geradezu in seinen Ohren. Jeder Atemzug wurde zu einem lauten Zischen, jeder Schritt zu einem lärmenden, metallischen Klirren. * Er trat an die Schleuse und prüfte den Atmosphärenanalysator. Das Gerät zeigte einen Außendruck von 6,7 Kilogramm an und gab an, daß die Luft im wesentlichen der auf der Erde entsprach, aber einen etwas höheren Sauerstoffgehalt hatte. Leeming schritt - 36 -
sofort durch die Luftschleuse, blieb an der Außentür stehen und sah, daß er sich vier Meter über dem Boden befand. Die ausfahrbare Leiter nützte ihm nichts, weil sie dazu konstruiert war, von der Luftschleuse bis zum Heck zu reichen, eine Richtung, die jetzt horizontal verlief. Er konnte sich mit den Händen am Türrahmen festhalten, baumeln und sich fallen lassen, ohne eine Verletzung zu riskieren, aber er konnte nicht vier Meter hoch springen, um wieder in das Raumschiff zu gelangen. Was ihm fehlte, war ein Stück Seil. Er fluchte leise vor sich hin, kehrte in die Kabine zurück und suchte vergeblich nach einem Seilersatz. Er wollte schon damit anfangen, seine Wolldecken in passende Streifen zu zerteilen, als ihm die Stromkabel zwischen Instrumentenkonsole und Maschinenraum einfielen. Er beeilte sich, brauchte aber doch eine halbe Stunde, um die Kabel von den Anschlüssen zu lösen und aus den Befestigungen an den Wänden zu reißen. Während dieser ganzen Zeit waren seine Nerven zum Zerreißen angespannt, und er lauschte angestrengt auf Geräusche, die das Herannahen des Gegners ankündigen mochten. Wenn die Feinde rechtzeitig erschienen, um ihn in seinem Raumschiff zu ertappen, würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als die Sprengladung zu zünden und sich zusammen mit dem Raumfahrzeug in die Luft zu sprengen. Aber die Stille war noch immer grenzenlos, als er ein Ende des Kabels im Innern der Luftschleuse befestigte, das übrige hinauswarf und daran entlang zum Boden hinunterglitt. Er landete in dichter, weicher Vegetation, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Heidekraut besaß. Er lief zum Heck des Raumschiffs, sah sich das Strahlrohrbündel an und erkannte, daß er von Glück sagen konnte, mit dem Leben davongekommen zu sein. Elf der großen Rohre besaßen überhaupt keine Auskleidung mehr, die übrigen acht waren in erbärmlichem Zustand und - 37 -
hätten zweifellos nicht mehr als zwei oder höchstens drei weitere Tage Brenndauer ausgehalten. Er schaute sich kurz auf der Welt um, auf der er gelandet war. Der Himmel war von tief dunklem Blau, das an Purpurrot grenzte; feiner wolkenartiger Dunst säumte den östlichen Horizont. Die Sonne, die schon über dem Zenit stand, wirkte eine Spur größer als Sol und hatte eine rötlichere Färbung. Unter seinen Füßen bedeckte das heidekrautähnliche Gewächs eine sanftgewellte Landschaft, die sich bis zum Horizont im Osten erstreckte, wo die ersten Baumreihen Wache standen. Im Westen wich das Gestrüpp ebenfalls hohen Bäumen. Der Waldrand schien eine halbe Meile entfernt zu sein. Leeming stand vor einem neuen Problem. Wenn er das Raumschiff in die Luft jagte, zerstörte er mit ihm vieles, was er jetzt oder später brauchen würde – vor allem einen großen Vorrat an konzentrierter Nahrung. Um wenigstens sie zu retten, würde er sie aus dem Schiff holen und in sicherer Entfernung stapeln müssen – und die ganze Zeit über lief er Gefahr, vom Feind überrascht zu werden. Ein drängendes Gefühl der Unruhe hinderte ihn daran, allzu lange über seine Lage nachzudenken. Es galt jetzt zu handeln und nicht, sich den Kopf zu zerbrechen. Er begann wie ein Wahnsinniger zu arbeiten, riß Schachteln und Dosen aus dem Lagerraum und warf sie zur Schleuse hinaus. Er machte weiter, bis die ganzen Lebensmittelvorräte draußen waren. Der Feind glänzte immer noch durch Abwesenheit. Er hob einen Armvoll nach dem anderen von dem wartenden Stapel und trug die Vorräte in den Wald. Als er fertig war, kletterte er an Bord und schaute sich ein letztes Mal nach Rettungswürdigem um. Er rollte seine Decken zusammen und schnürte sie in eine wasserdichte Folie. - 38 -
Nachdem er sich vergewissert hatte, daß nichts Brauchbares zurückgeblieben war, zog er seinen Wettermantel an und klemmte das Bündel unter den Arm; anschließend drückte er den roten Knopf an der Seite der Instrumentenkonsole. Zwischen Zündung und der folgenden Explosion sollte eine Pause von zwei Minuten liegen. Viel Zeit war das nicht. Er rannte durch die Luftschleuse, sprang hinunter und spurtete zum Waldrand. Nichts hatte sich gerührt, als er die Bäume erreichte. Er kauerte sich hinter einen dicken Baumstamm und wartete auf den Knall. Sekunden verrannen ohne Ergebnis. Irgend etwas mußte schiefgegangen sein. Vorsichtig lugte er um den Baumstamm und überlegte, ob er zurückkehren und die Anschlüsse für die Sprengladung untersuchen sollte. In diesem Augenblick explodierte das Schiff. Es flog mit einem ungeheuren, ohrenbetäubenden Donnern auseinander, das die Bäume bog und den Himmel erschütterte. Eine riesige Säule aus Rauch, Staub und formlosen Klumpen stieg in beträchtliche Höhe empor. Metallfetzen flirrten kreischend durch die Baumwipfel und rasierten Äste ab. Leeming war von der unerwarteten Gewalt der Explosion betroffen, doch schließlich riskierte er einen Blick um den Baumstamm und sah einen rauchenden Krater, umgeben von zwei oder drei Morgen zerfetzter Vegetation. Es war ein ernüchternder Gedanke, daß er zahllose Millionen Meilen weit Sprengstoff von dieser gewaltigen Stärke mitgeführt hatte. Wenn der Feind eintraf, würde er bestimmt nach der verschwundenen Besatzung suchen. Leeming hatte bei der Besichtigung des Planeten Hinweise auf eine organisierte Zivilisation gefunden, einschließlich eines Raumflughafens mit fünf Handelsschiffen und einem leichten Kreuzer des - 39 -
Kombinats. Das bewies, daß die hiesige Lebensform mindestens von normaler Intelligenz und damit durchaus fähig sein mußte, zwei und zwei zusammenzuzählen. Die geringe Tiefe des Kraters und die weite Streuung der Überreste bewiesen klar, daß das Geisterschiff nicht abgestürzt, sondern nach einer erfolgreichen Landung gesprengt worden war. Die Eingeborenen in der nächsten Ortschaft würden bestätigen können, daß zwischen dem Erscheinen des Raumschiffs über ihren Dächern und der Explosion ein langer Zeitraum gelegen hatte. Die Untersuchung der Bruchstücke würde ergeben, daß sie aus Material bestanden, das es im Kombinat nicht gab. Die unausweichliche Schlußfolgerung: daß es sich bei dem Raumfahrzeug um ein feindliches Schiff handelte und die Besatzung unverletzt entkommen war. Es war ratsam, entschied er, mehr Entfernung zwischen sich und den Krater zu legen, bevor der Feind eintraf und herumschnüffelte. Vielleicht war es ihm letzten Endes doch bestimmt, gefangengenommen zu werden, aber es lag bei ihm, diesen schlimmen Tag so weit wie möglich hinauszuschieben. Die Grundbedürfnisse des Menschen sind Essen, Trinken und Unterkunft, wobei die beiden ersten den Vorrang haben. Diese Tatsache verzögerte seinen Aufbruch ein wenig. Er hatte Nahrung genug für mehrere Monate, aber es war eine Sache, sie zu besitzen, und eine andere, sie sicher zu verwahren. Er brauchte unbedingt ein besseres Versteck, zu dem er von Zeit zu Zeit mit der Gewißheit zurückkehren konnte, daß die Vorräte noch da sein würden. Er drang tiefer in den Wald ein, in weitausholendem Zickzackkurs, um ein geeignetes Versteck zu suchen. Schließlich fand er eine höhlenartige Öffnung zwischen den großen, gewölbten Wurzeln eines riesigen Baumes. Der Platz - 40 -
war alles andere als ideal, besaß aber den Vorteil, tief im Wald verborgen zu sein. Leeming brauchte mehr als eine Stunde, um den Stapel zum drittenmal zu verlagern und säuberlich im Loch aufzuschichten. Eine kleine Menge, Rationen für eine Woche, behielt er. Als er mit seiner Arbeit fertig war, mauerte er die Öffnung teilweise mit Erdklumpen zu und füllte den Rest mit Ästen und Zweigen aus. Er hatte nun das Gefühl, daß bei einer Durchsuchung des Waldes, mit der durchaus zu rechnen war, geringe Aussicht bestand, daß die Feinde das für ihn so lebenswichtige Lager entdeckten und entweder beschlagnahmten oder zerstörten. Er stopfte die Wochenrationen in einen kleinen Rucksack, band das Deckenbündel daran fest und machte sich am Waldrand entlang in Richtung Süden auf den Weg. Er war etwa drei Stunden gegangen, als ein Düsenflugzeug über den Horizont fegte, rasch größer wurde und lautlos über ihn dahinschoß. Sekunden später folgte ein schrilles Heulen. Es war leicht zu erraten, daß die Düsenmaschine auf einen Funkruf hin erschienen war, der von einem Raumschiff in Not und einer nachfolgenden Explosion berichtet hatte. Ohne Zweifel würde auf dem Stützpunkt, von dem die Maschine kam, reges Treiben herrschen; sobald eine Bestätigung dafür vorlag, daß tatsächlich ein Raumschiff abgestürzt war, würden die Behörden annehmen, es handle sich um ein eigenes, und über Funk prüfen, welches vermißt wurde. Wenn Leeming Glück hatte, konnte es geraume Zeit dauern, bis man feststellte, daß ein Raumfahrzeug unbekannten Ursprungs, wahrscheinlich ein feindliches, so weit vorgedrungen war. Auf jeden Fall würde man von jetzt an scharf darauf achten, ob Überlebende auftauchten. Leeming entschied, daß nun der Augenblick gekommen war, vom Waldrand zu verschwinden - 41 -
und in Deckung weiterzuziehen. Er würde zwar viel langsamer vorankommen, aber wenigstens unbeobachtet bleiben. Wenn er durch den Wald ging, setzte er sich zwei Gefahren aus, aber er mußte sie als das geringere Übel hinnehmen. Zum einen konnte er sich, wenn er nicht gewaltig aufpaßte, bald verirren und in einem weiten Kreis laufen, der ihn schließlich zum Krater zurück- und genau in die Arme der dort Wartenden führen würde. Zum anderen ging er das Risiko ein, auf unbekannte Arten wilder Tiere zu stoßen, die ungeahnte Waffen und unvorstellbaren Appetit besitzen mochten. Gegen die zweite Gefahr hatte er eine Waffe, die außerordentlich wirksam, aber unerfreulich zu benutzen war, nämlich eine mächtige Druckluftpistole. Sie verfeuerte kleine, beim Einschlag platzende Kugeln, die einen so gräßlichen Gestank verbreiteten, daß alles, was lebte und atmete, stundenlang danach noch erbrechen mußte – sehr oft auch der Schütze selbst. Irgendein terrestrisches Genie war dahintergekommen, daß der wahre König der Wildnis nicht der Löwe oder der Graubär sei, sondern ein verspieltes Wesen mit der Bezeichnung Stinktier, bei dem jeder Kampf sozusagen zu einem siegreichen Nachhutgefecht wird. Ein anderes Genie hatte eine fürchterliche Flüssigkeit entwickelt, die siebenundzwanzigmal abscheulicher als die von einem Skunk verspritzte war, mit dem Ergebnis, daß ein gefährdeter Raumfahrer sich nie entschließen konnte, ob er wie der Teufel flüchten und die Gefangennahme riskieren oder stehenbleiben, schießen und sich anschließend zu Tode kotzen sollte. Die Freiheit lohnt viele Risiken, also drang er tief in den Wald ein und marschierte weiter. Nach etwa einer Stunde hörte er das Knattern vieler Hubschrauber am Himmel, die - 42 -
Richtung Norden flogen. Dem Geräusch nach mußten es eine ganze Menge sein, aber an den wenigen Stellen, wo der Himmel zwischen den Baumwipfeln hereinlugte, tauchte keiner auf. Leeming vermutete, daß es sich um ein Geschwader von Truppentransportern handelte, das eine Suchmannschaft zum Kratergebiet beförderte. Bald danach wurde er müde und beschloß, sich auf einer bemoosten Böschung auszuruhen. Er machte es sich bequem, dachte über seine Erschöpfung nach und sah ein, daß diese Welt, die ihm bei seiner Besichtigung etwa so groß wie Terra erschienen war, tatsächlich ein wenig größer oder von etwas höherer Dichte sein mußte. Sein Gewicht schien sich jedenfalls um ungefähr zehn Prozent erhöht zu haben, wenn er auch keine Möglichkeit hatte, das nachzuprüfen. Dabei fiel ihm ein, daß der Tag hier beträchtlich länger sein mußte als auf der Erde. Die untergehende Sonne stand jetzt in einem Winkel von vierzig Grad über dem Horizont. Der inzwischen von der Sonne zurückgelegte Weg bewies, daß der Tag zwischen dreißig und zweiunddreißig Stunden dauerte. Leeming würde sich darauf mit ausgedehnten Marsch- und verlängerten Schlafperioden einstellen müssen, und das würde nicht leicht sein. Wo immer sich auch die Erdbewohner befinden mögen, neigen sie von Natur aus dazu, ihr Zeitgefühl beizubehalten. Einsam irgendwo im Kosmos zu sitzen ist entsetzlich, dachte er, während er zerstreut mit dem flachen, länglichen Klumpen unter der linken Jackentasche spielte. Die Wölbung gab es schon so lange, daß er ihr Vorhandensein nur undeutlich wahrnahm; nun fiel ihm mit einem Geistesblitz ein, daß vor langer, langer Zeit irgend jemand diesen Klumpen beschrieben und als den eingebauten Rettungskasten‹ bezeichnet hatte. - 43 -
Er zog sein Taschenmesser heraus und schlitzte das Jackenfutter auf. Heraus kam ein flaches Kästchen aus braunem Kunststoff. Um den Rand verlief eine haarfeine Linie, aber es gab keine erkennbare Möglichkeit, es zu öffnen. Er zog und drückte in ein Dutzend verschiedene Richtungen, doch das führte zu keinem Ergebnis. Er rief mehrere der neun Millionen Namen Gottes und gab dem Ding wütend einen Tritt. Entweder war das die offiziell anerkannte Methode im Umgang mit dem Kästchen, oder einige von den Namen wirkten, denn es sprang auf. Augenblicklich begann Leeming den Inhalt zu untersuchen, der ihm theoretisch zur Rettung verhelfen sollte. Als erstes fand er eine winzige, perlengroße Phiole aus durchsichtigem Kunststoff, verziert mit einem Totenkopf, gefüllt mit einer öligen, gelblichen Flüssigkeit. Wahrscheinlich war das die Todespille, die man im äußersten Fall schlucken sollte. Abgesehen vom Totenkopf schien nichts die Flüssigkeit von einem Liebestrank zu unterscheiden. Als nächstes kam eine kleine, luftdicht verschlossene Dose ohne Etikett und Büchsenöffner. Sie konnte ebensogut mit Schuhcreme wie mit Rotlachs oder Fensterkitt gefüllt sein. Er traute es ihnen glatt zu, daß sie vorsorglich Fensterkitt bereitstellten – für den Fall, daß er irgendwo ein Fenster kitten und damit sein Leben retten wollte, indem er sich bei seinen Bewachern einschmeichelte. Die nächste Dose war länger, schmaler und besaß einen drehbaren Deckel. Er nahm ihn ab und entdeckte einen Streuer. Er schüttelte die Dose über der Handfläche und gewann ein Wölkchen feinen Puders, das wie Pfeffer aussah. Nun, das würde sehr nützlich beim Umgang mit einem Rudel Schweißhunde sein, vorausgesetzt, in dieser Gegend gab es so etwas. Vorsichtig - 44 -
schnupperte er an seiner Hand. Das Zeug roch genauso wie Pfeffer. Er nieste heftig, wischte sich die Hand mit dem Taschentuch ab, schloß die Dose und machte ein paar wütende Bemerkungen über die Leute im Raumstützpunkt. Das wirkte augenblicklich, denn das Taschentuch ging in seiner Tasche in Flammen auf. Er riß es heraus, warf es zu Boden und tanzte darauf herum. Er öffnete die Dose wieder und ließ ein paar Körnchen Pfeffer auf ein trockenes Stück faulendes Holz fallen. Eine Minute später spuckte das Holz Funken und begann aufzulodern. Dadurch wurde verräterischer Rauch zum Himmel geschickt, und Leeming tanzte auf dem Holz, bis die Flammen erstickt waren. Schaustück Nummer vier war eine Miniaturkamera, klein genug, um in der Hand verborgen werden zu können. Als Hilfsmittel zum Überleben war ihr Wert gleich Null. Man mußte sie zu einem anderen Zweck mit in den Rettungskasten gelegt haben. Vielleicht hatte die Abwehr darauf bestanden – in der Hoffnung, Überlebende würden nutzbringende fotografische Daten liefern. Na ja, es war angenehm, sich vorzustellen, daß jemand so viel Optimismus besaß. Er steckte die Kamera ein, nicht weil er damit rechnete, sie je gebrauchen zu können, sondern nur, weil sie ein herrliches Stück mikroskopisch kleiner Handarbeit war, zu schade, um weggeworfen zu werden. Der fünfte und letzte Gegenstand war der willkommenste und, was Leeming anging, der einzig brauchbare: ein Leuchtkompaß. Leeming schob ihn sorgfältig in eine Jackentasche. Nach einiger Überlegung beschloß er, nur die Pfefferdose zu behalten. Die Todespille warf er ins Gebüsch. Die Dose Schuhcreme, Rotlachs, Fensterkitt oder was auch immer schleuderte er, so weit er konnte. - 45 -
Das Ergebnis war ein gewaltiger Knall, eine brüllend hochzuckende Flamme; ein großer Baum hüpfte sechs Meter in die Höhe, während Erde von seinen Wurzeln regnete. Die Explosion warf Leeming in voller Länge auf das Moos; er raffte sich rechtzeitig auf, um eine hohe Rauchsäule wie einen winkenden Finger aus den Baumwipfeln ragen zu sehen. Sie war wahrscheinlich meilenweit zu sehen und nicht weniger wirksam, als wenn er an einem Ballon ein Transparent mit den Worten: ›Hier bin ich!‹ hinaufgeschickt hätte. Es blieb nur eines zu tun, nämlich so schnell wie möglich zu verschwinden. Er packte seinen Rucksack und hastete zwischen den Bäumen, so schnell es ging, nach Süden. Er hatte etwa zwei Meilen zurückgelegt, als er das ferne, gedämpfte Knattern eines Hubschraubers wahrnahm, der sich dem Schauplatz der Explosion näherte. Platz genug zum Landen war vorhanden, weil die Sprengdose zwischen den Bäumen gehörig aufgeräumt hatte. Er versuchte, seine Schritte zu beschleunigen, hetzte um Sträucher, kletterte steile Böschungen hinauf, sprang über tiefe Gräben und bewegte sich die ganze Zeit auf bleiernen Beinen. Es kam ihm vor, als trüge er Stiefel von der Schuhgröße sechzig. Er zwang sich, weiterzustapfen, bis es dunkel wurde. Dann aß er und bereitete sich in einer abgeschlossenen Lichtung ein Lager, wickelte sich fest in seine Decken und legte die Stinkpistole neben sich. Was für ein gefährliches Tier die Nacht durchstreifen mochte, wußte er nicht, und es kümmerte ihn auch längst nicht mehr. Ein Mensch braucht Schlaf, da mag kommen, was will, selbst auf die Gefahr hin, daß er im Bauch irgendeines anderen Wesens erwacht. - 46 -
4 Eingelullt von der Stille und der Erschöpfung, schlief er zwölf Stunden. Trotz der langen und angenehmen Ruhepause stellte er aber beim Erwachen fest, daß die Nacht auf dem fremden Planeten noch nicht vorbei war. Bis zum Sonnenaufgang mußten noch viele Stunden vergehen. Er fühlte sich erfrischt und hatte keine Lust, auf den Morgen zu warten; er rollte also seine Decken zusammen, zog den Kompaß zu Rate und versuchte, seinen Marsch nach Süden fortzusetzen. Nach kurzer Zeit stolperte er über unsichtbare Wurzeln und geriet bis zu den Knien in einen verborgenen Bach. Ein Nachtmarsch war in der freien Landschaft bei Sternenund Mondlicht möglich, nicht aber im Wald. Widerwillig gab er den Versuch auf. Es hatte keinen Sinn, durch kaum erhellte Waldstücke zu stolpern, die sich mit Gebieten undurchdringlicher Dunkelheit ablösten. Auf irgendeine Weise gelang es ihm, die Lichtung wiederzufinden. Dort lag er, in seine Decken gewickelt, und wartete voll Ungeduld auf die Dämmerung. Als das Tageslicht ausreichte, die Umgebung einigermaßen zu erkennen, setzte er den Marsch nach Süden fort. Bis Mittag hielt er durch. Er fand eine große, steinige Vertiefung, die ganz wie ein verlassener Steinbruch aussah. Bäume wuchsen dicht an ihrem Rand, Sträucher und kleinere Pflanzen bedeckten den Boden, verschiedene Arten von Ranken kletterten an den Wänden entlang. Eine winzige Quelle nährte ein Flüßchen, das sich am Boden dahinschlängelte, bis es in einem Loch im Gestein verschwand. - 47 -
Mindestens sechs Höhlen waren in den Wänden halb versteckt – kleine, die schmal wie ein Spalt waren, andere, die Zimmergröße hatten. Er schaute sich um und begriff, daß er ein ideales Versteck vor sich hatte. Er beabsichtigte nicht, den Rest seines Lebens hier zu verbringen, aber es konnte wenigstens als Unterschlupf dienen, bis sich die Aufregung gelegt und er Zeit gehabt hatte, sein künftiges Vorgehen zu überdenken. Er kletterte die steile, beinahe vertikale Wand unter erheblichen Schwierigkeiten hinunter. Von seinem Standpunkt aus war das aber nur gut; was für ihn schwer war, würde anderen nicht leichter fallen und mochte Suchtrupps, die sich vielleicht hierher verirrten, entmutigen. Er fand schnell eine geeignete Höhle und belegte sie mit Beschlag, indem er seine Bürde auf den trockenen, sandigen Boden warf. Die nächste Aufgabe war, sich etwas zu essen zu machen. Er entzündete ein rauchloses Feuer aus Holzsplittern, füllte sein Kochgeschirr mit Wasser und verwandelte einen Teil seiner Rationen in eine dicke Suppe. Das füllte seinen Magen und erzeugte ein Gefühl behaglichen Wohlbefindens. Nach dem Essen ruhte er sich eine Weile aus, dann begann er sein tiefliegendes Reich zu erforschen. Obwohl er jedoch alles sehr lässig und so langsam wie möglich machte, glaubte er, mit dem langen Tag nicht fertig werden zu können. Er erkundete den ›Steinbruch‹ von einem Ende zum anderen, von hinten nach vorne, aß noch zweimal, erledigte verschiedene nötige und unnötige Arbeiten, und die Sonne dachte noch immer nicht ans Untergehen. Soweit er es berechnen konnte, würde es weitere sechs Stunden dauern, bis es dunkel wurde. Es gab nur eines: beim ersten Anzeichen von Müdigkeit wickelte er sich in seine Decken und fiel in einen angenehmen, traumlosen Schlaf. - 48 -
Am Ende des vierten Tages in der Höhle fühlte sich Leeming zu Tode gelangweilt. So stellte er sich ein erfülltes Leben nicht vor, und er konnte dem Drang, sich zu betätigen, nicht mehr widerstehen. Er würde sich bald bemühen müssen, seine Lebensmittelvorräte zu ergänzen. Er fühlte, daß die Zeit gekommen war, sich an die mühsame Aufgabe zu wagen, das versteckte Lager nach Süden zu verlegen und die Vorräte in der Höhle zu verstauen. Also machte er sich in der Morgendämmerung auf den Weg und zog nach Norden, so schnell es ging. Diese Aktivität hob seine Laune ganz beträchtlich, und er mußte den Drang unterdrücken, beim Gehen vor sich hin zu pfeifen. Er machte in seiner Hast schon Lärm genug, und es hatte keinen Sinn, sein Herannahen Patrouillen, die vielleicht durch die Wälder streiften, noch deutlicher anzukündigen. Als er sich dem Schauplatz der Landung näherte, ging er immer langsamer. Wenn irgendwo, dann war hier Vorsicht von entscheidender Bedeutung, da er nicht wissen konnte, wie viele Leute des Gegners sich hier noch herumtreiben mochten. Als er in nächster Nähe seines Verstecks war, schlich er von Baum zu Baum und blieb häufig stehen, um sich umzusehen und zu lauschen. Es erleichterte ihn sehr, festzustellen, daß das Vorratslager nicht angetastet worden war. Die Lebensmittel waren intakt, genau so, wie er sie zurückgelassen hatte. Es gab kein Anzeichen dafür, daß der Feind in die Nähe gekommen war. Leeming wurde kühner und beschloß, zum Waldrand zu gehen und sich den Krater noch einmal anzusehen. Es interessierte ihn, ob die hiesige Lebensform so viel Intelligenz bewiesen hatte, die verstreuten Überreste des Raumschiffs fortzuschaffen in der Absicht, ihren Ursprung festzustellen. - 49 -
So leise und vorsichtig wie eine Katze, die sich an einen Vogel heranschleicht, schlüpfte er zum Waldrand und erreichte ihn zweihundert Meter von der Stelle entfernt, wo er den Krater sehen mußte. Er ging an den Bäumen entlang weiter, blieb schließlich stehen und betrachtete den Krater so aufmerksam, daß er nichts anderes mehr wahrnahm. Viele verformte Metallsplitter lagen noch herum, und er konnte nicht erkennen, ob man etwas mitgenommen hatte oder nicht. Er drehte den Kopf, um die ganze Fläche mit dem Blick zu erfassen, und entdeckte entgeistert drei Hubschrauber vor den Bäumen. Sie waren eine Viertelmeile entfernt, anscheinend unbesetzt, und auch in der Nähe trieb sich niemand herum. Das mußte bedeuten, daß die Besatzungen irgendwo in der Nachbarschaft waren. Augenblicklich zog er sich erschrocken in den Wald zurück. Er hatte erst zwei Schritte zurückgelegt, als Laub hinter ihm raschelte, etwas Hartes in seinen Rücken gerammt wurde und eine Stimme in rauhen, kehligen Tönen sprach. »Smudsch!« sagte sie. Wut über seine Unvernunft durchflutete Leeming, als er sich langsam umdrehte. Er sah einen Humanoiden vor sich, fünfzehn Zentimeter kleiner als er, aber fast doppelt so breit; ein untersetztes, kraftvolles Wesen in mausgrauer Uniform mit Stahlhelm, ein tödliches Instrument in der Faust, das Ähnlichkeit mit einer Schußwaffe hatte. Der Humanoid hatte eine schuppige, eidechsenartige Haut, hornhautbedeckte Augen und keine Lider. Er betrachtete Leeming mit dem kalten, lidschlaglosen Blick einer Klapperschlange. »Smudsch!« wiederholte er und stieß ihn mit der Waffe an. - 50 -
Leeming hob die Hände, zeigte ein falsches Lächeln und sagte in fließendem Kosmoglott: »Das ist ganz unnötig. Ich bin ein Freund, ein Verbündeter.« Es war Zeitverschwendung. Entweder verstand der andere Kosmoglott nicht, oder er durchschaute seine Lüge. Sein reptilhaftes Gesicht zeigte nicht den geringsten Ausdruck; seine Augen behielten ihren starren Blick bei, als er ein schrilles Pfeifen ausstieß. Zwanzig weitere Gegner reagierten, indem sie an einer Stelle, wo die Hubschrauber abgestellt waren, aus dem Wald traten. Ihre Füße polterten vernehmbar, als sie mit dem plumpen, trampelnden Gang sehr schwerer Männer heranliefen. Sie umringten Leeming und betrachteten ihn mit demselben ausdruckslos starrenden Blick. Dann schnatterten sie in einer Sprache durcheinander, die ihn ein wenig an das unsinnige Gerede im Weltraum erinnerte. »Ich möchte die Gans erläutern.« »Schnall ab. Die Bostaniks haben alle sechs Beine.« »Augenblick mal«, sagte Leening und ließ die Arme sinken. »Smudsch!« schrie sein Entdecker und bewegte drohend die Waffe. Leeming streckte die Arme wieder in die Luft und funkelte die Kerle an. Sie führten ein kurzes Gespräch, in dem häufig von Käse und Zündkerzen die Rede war. Es endete zur allgemeinen Zufriedenheit, worauf sie ihn durchsuchten. Man nahm ihm alles ab, auch seinen Gürtel. Danach wurde er zu den Hubschraubern gestoßen. Er gehorchte und ging mit, während er mit den Händen seine Hose festhielt. - 51 -
Auf einen Befehl hin stieg er in einen der Hubschrauber und drehte sich blitzschnell um, weil er hoffte, die Tür zuschlagen und die unbekannten Wesen lange genug aussperren zu können, um zu starten, bevor er abgeschossen wurde. Man gab ihm keine Chance. Einer folgte ihm auf den Fersen und war schon in der Tür, als er sich umdrehte. Vier Mann drängten hinter ihm herein. Der Pilot setzte sich an seinen Platz und startete den Motor. Die Rotoren setzten sich in Bewegung, wurden schneller. Der Hubschrauber hüpfte ein paarmal, hob ab, stieg in den rötlichen Himmel. Sie flogen nicht weit. Nachdem sie das weite Moorgebiet und den Wald dahinter überquert hatten, sank die Maschine auf ein Betonviereck hinter einem düster aussehenden Gebäude nieder. Leeming kam es wie eine Kaserne oder ein Irrenhaus vor. Sie betraten das Haus, und man stieß ihn durch einen Korridor und in eine Zelle mit Steinwänden. Man warf die schwere Tür, in der sich ein kleines Gitter befand, zu und sperrte sie ab. Einen Augenblick später schaute einer durch die vergitterte Öffnung herein. »Wir werden Murgatryds Socken biegen«, versicherte das Gesicht. »Danke«, sagte Leeming. »Sehr anständig von euch.« Das Gesicht verschwand. Leeming ging zehnmal in der Zelle auf und ab, bevor er sich auf eine nackte Holzplanke setzte, die offenbar als Bank und als Bett dienen sollte. Es gab kein Fenster, durch das man in die Außenwelt hätte blicken können, keine andere Öffnung als die Tür. Er stützte die Ellbogen auf die Knie und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Wie lange er so gesessen hatte, wußte er nicht. Man hatte ihm die Uhr abgenommen, und er konnte den Gang der Sonne - 52 -
nicht verfolgen, so daß sich ihm keine Möglichkeit bot, die Zeit zu bestimmen. Nach langer Zeit öffnete ein Bewacher die Tür und befahl ihm mit einer unverwechselbaren Geste, herauszukommen. Er trat hinaus und sah einen zweiten Bewacher im Korridor stehen. Der eine ging voraus, der andere übernahm die Nachhut, und so wurde er durch das Gebäude in ein großes Büro geführt. Dort saß ein autokratisches Wesen hinter einem Schreibtisch, auf dem die Habseligkeiten des Gefangenen ausgebreitet waren. Leeming blieb vor dem Schreibtisch stehen und hielt die Hose immer noch mit den Händen fest. Die Bewacher postierten sich zu beiden Seiten der Tür, und ihre Mienen drückten tiefe Demut aus. In fließendem Kosmoglott sagte der hinter dem Schreibtisch: »Ich bin Major Klavith. Sie werden mich respektvoll anreden, wie es meinem Rang gebührt. Verstehen Sie?« »Ja.« »Name, Rang und Dienstnummer?« »John Leeming, Leutnant, vier-sieben-neun-zwei-sechs.« »Gattung?« »Terrestrisch. Haben Sie noch nie einen Terraner gesehen?« »Die Fragen stelle ich«, gab Klavith zurück, »und Sie liefern die Antworten.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause, dann fuhr er fort: »Sie sind hier mit einem Schiff terrestrischen Ursprungs angekommen, nicht?« »Gewiß«, sagte Leeming. Klavith beugte sich vor und sagte mit starker Betonung: »Auf welchem Planeten ist Ihr Raumschiff aufgetankt worden?« - 53 -
Es wurde still, während Leeming hastig nachdachte. Offenbar konnten sie nicht glauben, daß er im Nonstopflug hergekommen war, weil dergleichen ihre technischen Fähigkeiten weit überstieg. Also gingen sie davon aus, daß er von irgendeiner Welt in den Reihen des Kombinats unterstützt worden war. Man befahl ihm, die Verräter zu nennen. Es war eine wunderbare Gelegenheit, Mißtrauen zu säen, aber leider konnte er sie nicht ganz nützen. Er hatte nichts anderes getan, als feindliche Welten zu besichtigen, ohne auf irgendeiner davon zu landen, und er konnte beim besten Willen keine Kombinatsgattung nennen oder beschreiben. »Wollen Sie mir erzählen, daß Sie es nicht wissen?« meinte Klavith sarkastisch. »Ja und nein«, erwiderte Leeming. »Die Welt wurde mir nur als XB einhundertdreiundsiebzig angegeben. Ich habe keine Ahnung, wie Sie sie nennen oder wie sie dort heißt.« »Morgen früh werden wir umfassende Sternkarten vorlegen, und Sie werden den genauen Ort dieser Welt bezeichnen. Bis dahin sollten Sie dafür sorgen, daß Ihr Gedächtnis gut funktioniert.« Wieder eine lange Pause, begleitet vom kalten, echsenhaften Blick seiner Art. »Sie haben uns große Schwierigkeiten gemacht. Ich bin hergeflogen worden, weil ich die einzige Person auf diesem Planeten bin, die Kosmoglott spricht.« »Die Lathier sprechen es.« »Wir sind keine Lathier, wie Sie ganz genau wissen. Wir sind Zangasten. Wir ahmen unsere Alliierten nicht in allem sklavisch nach. Das Kombinat ist eine Vereinigung freier Völker.« »Das mag Ihre Meinung sein. Es gibt andere.« - 54 -
»Die interessieren mich überhaupt nicht. Und ich bin nicht hier, um mit Ihnen über interstellare Politik zu diskutieren.« Klavith betrachtete die Gegenstände auf seinem Schreibtisch und schob die Pfefferdose nach vorn. »Als Sie gefaßt wurden, haben Sie diesen Behälter mit Zündpulver bei sich getragen. Wir wissen, worum es sich handelt, weil wir es ausprobiert haben. Warum sind Sie damit ausgerüstet worden?« »Es gehörte zu meinem Rettungskasten.« »Wozu brauchen Sie in einem Rettungskasten Zündpulver?« »Um ein Feuer anzuzünden, damit ich mir etwas zu essen kochen oder mich wärmen kann«, sagte Leeming und verfluchte im stillen den unbekannten Erfinder von Rettungskästen. »Sie lügen«, erklärte Klavith entschieden. »Sie haben das Mittel zum Zweck der Sabotage mitgebracht.« »Da könnte ich ja eine Menge ausrichten, nämlich viele Millionen Meilen von zu Hause ein paar Feuerchen legen. Wenn wir das Kombinat treffen, dann härter und wirksamer.« »Das mag sein«, gab Klavith zu. »Wir haben trotzdem vor, das Pulver zu analysieren. Offensichtlich entzündet es sich nicht bei der Berührung mit Luft, weil es sonst beim Transport zu gefährlich wäre. Es muß direkte Berührung mit einem brennbaren Stoff haben, bevor es wirkt. Ein Raumschiff mit einer großen Ladung von diesem Pulver könnte ganze Ernten vernichten. Systematisches Abbrennen in großem Rahmen würde einen ganzen Planeten zur Unterwerfung zwingen, nicht wahr?« Leeming antwortete nicht. »Ich bin der Ansicht, daß eines der Motive für Ihr Erscheinen darin bestand, die militärische Wirksamkeit dieses Pulvers zu testen.« - 55 -
»Warum sollten wir uns die Mühe machen, wenn wir es in unseren eigenen Ödländern ausprobieren könnten, ohne es halb durch eine Galaxis zu befördern?« »Das ist nicht dasselbe, wie wenn man es an einem Feind erprobt.« »Wenn ich es den ganzen Weg hierhergeschleppt hätte, um Riesenbrände zu legen, dann hätte ich hundert Tonnen mitgebracht und nicht bloß ein paar Gramm«, gab Leeming zurück. Klavith fiel darauf keine passende Antwort ein, so daß er das Thema wechselte und einen dritten Gegenstand berührte. »Ich habe das hier als Zwergkamera erkannt. Es ist ein erstaunliches Instrument und mit großem Geschick hergestellt. Da Luftfotografie aber viel einfacher, umfassender und wirksamer ist als alles, was Sie mit diesem Apparat erreichen könnten, sehe ich keinen Sinn darin, daß er zu Ihrer Ausrüstung gehört.« »Ich auch nicht«, gab Leeming zu. »Warum haben Sie ihn dann behalten?« »Weil er mir zum Wegwerfen zu schade war.« Diese Antwort wurde ohne Widerspruch hingenommen. Klavith ergriff die Kamera und steckte sie in die Tasche. »Das kann ich verstehen. Sie ist so schön wie ein Schmuckstück. Ab sofort gehört sie mir.« Er zeigte sein Gebiß in einem, wie er zu meinen schien, triumphierenden Grinsen. »Die Beute des Siegers.« Mit verächtlicher Großzügigkeit warf er Leeming den Gürtel zu. »Den können Sie wiederhaben. Legen Sie ihn sofort an. Ein Gefangener sollte in meiner Gegenwart ordentlich angezogen sein.« Er beobachtete stumm, wie Leeming den Gürtel umschnallte, dann sagte er: »Sie waren außerdem im - 56 -
Besitz eines Leuchtkompasses. Das kann ich begreifen. Das ist eigentlich das einzige Stück, das sinnvoll erscheint.« Leeming schwieg. »Abgesehen vielleicht hiervon.« Klavith griff nach der Stinkpistole. »Entweder ein Spielzeug oder echt.« Er zog den Abzug ein paarmal durch, ohne daß etwas geschah. »Nun?« »Echt.« »Wie funktioniert sie dann?« »Um zu laden, muß man den Lauf nach innen drücken.« »Dann ist es nicht mehr als eine Luftpistole.« »Stimmt.« »Es fällt mir schwer zu glauben, daß Ihre Vorgesetzten Sie mit einer derart primitiven Waffe ausrüsten würden«, meinte Klavith mit unverhülltem Argwohn. »Man darf eine solche Waffe nicht unterschätzen«, sagte Leeming. »Sie hat ihre Vorteile. Sie benötigt keine Explosivmunition, sie verfeuert jedes Projektil, das in den Lauf paßt, und sie ist vergleichsweise lautlos. Überdies schreckt sie genauso wie jede andere Waffe.« »Das klingt sehr plausibel«, gab Klavith zu, »aber ich bezweifle, daß Sie mir die ganze Wahrheit sagen.« »Nichts hindert Sie daran, sie auszuprobieren und sich selbst zu überzeugen«, erklärte Leeming. Sein Magen krampfte sich schon bei dem bloßen Gedanken daran zusammen. »Das habe ich auch vor.« Klavith wechselte in seine eigene Sprache über und ließ eine Flut von Worten auf einen der Bewacher los. Der Soldat lehnte zögernd seinen Karabiner an die Wand, ging durch das Zimmer und ergriff die Pistole. Auf Klaviths - 57 -
Anweisung hin preßte er die Mündung auf den Boden und drückte den Lauf nach innen. Der Lauf glitt hinein und sprang wieder heraus. Der Bewacher richtete die Waffe auf die Wand und drückte ab. Die Waffe machte ›Pfft!‹. Ein winziges Kügelchen zerbarst an der Wand, und ihr Inhalt trat sofort in den gasförmigen Zustand über. Klavith starrte den feuchten Fleck einen Augenblick betroffen an. Dann erreichte ihn der gräßliche Gestank. Sein Gesicht wurde fleckig, er beugte sich vor und spie mit solcher Heftigkeit, daß er vom Stuhl fiel. Leeming hielt sich mit der linken Hand die Nase zu, riß mit der rechten den Kompaß vom Schreibtisch und raste zur Tür. Der Bewacher, der die Waffe abgefeuert hatte, wälzte sich auf dem Teppich und schien sich von innen nach außen stülpen zu wollen, so daß er nicht wußte und sich auch nicht darum kümmerte, was die anderen taten. Der andere Soldat hatte das Gewehr fallen lassen, lehnte an der Wand und gab alles von sich, was er im Magen hatte. Nicht einer von den drei Männern war in der Lage, sich die eigenen Socken hochzuziehen, geschweige denn einen Flüchtigen aufzuhalten. Leeming, der seine Nasenlöcher noch immer zuklemmte, riß die Tür auf, rannte durch den Korridor und hinaus ins Freie. Als seine Stiefel auf dem Steinfußboden klapperten, stürmten drei Soldaten aus einem Zimmer, erstarrten und bewarfen sich gegenseitig mit ihrem Mittagessen. Draußen ließ Leeming seine Nase los. Seine gequälte Lunge pumpte frische Luft in sich hinein, während er zu dem Hubschrauber spurtete, der ihn hergebracht hatte. Dieses Fluggerät war seine einzige Chance, die Freiheit zu erlangen, weil Kaserne und Ort jeden Augenblick alarmiert werden - 58 -
mußten und er nicht hoffen konnte, den Verfolgern zu Fuß zu entkommen. Er erreichte den Hubschrauber, kletterte hinein, verschloß die Tür. Die fremde Steuerung verwirrte ihn nicht, weil er sie auf dem Herflug genau studiert hatte. Immer noch schwer atmend, mit zitternden Händen, ließ er den Motor an. Die Rotoren begannen sich zu drehen. Bis jetzt war noch niemand zu dem gestankerfüllten Ausgang herausgekommen, den er benutzt hatte, aber jemand trat aus einer anderen Tür des Gebäudes. Dieses Wesen war unbewaffnet und ahnte offensichtlich nichts von dem, was geschehen war. Es schien jedoch zu wissen, daß sich ein Unbefugter in dem Hubschrauber befand. Er brüllte und ruderte mit den Armen, als die Rotoren schneller wurden. Dann sprang er ins Haus zurück, tauchte mit einem Gewehr wieder auf. Der Hubschrauber vollführte die üblichen Startsprünge, dann stieg er empor. Unten, hundert Meter entfernt, knallte das Gewehr wie ein Feuerwerkskörper. Vier Löcher zeigten sich in der Plastikkuppel des Hubschraubers; etwas streifte Leemings linkes Ohr, das zu bluten begann; der Tachometer am Armaturenbrett zersplitterte. Ein paar heftige, hammerartige Schläge tönten aus dem Motor, aber er lief ohne Stocken weiter, und der Hubschrauber gewann an Höhe. Leeming beugte sich zur Seite und schaute hinunter. Sein Angreifer stieß aufgeregt ein zweites Magazin in die Waffe. Ein zweiter Feuerstoß kam, als der Hubschrauber hundertfünfzig Meter hoch war und schnell weiterstieg. Es gab ein scharfes ›Ping‹, als ein Metallsplitter vom Heck davonflog, aber das war der einzige Treffer. Leeming warf wieder einen Blick hinunter. Der Schütze hatte Gesellschaft von einem halben Dutzend Kameraden bekommen, - 59 -
und sie starrten alle zum Himmel hinauf. Niemand versuchte mehr zu schießen, weil der Flüchtling bereits außer Reichweite war. Während er noch hinuntersah, stürmte die ganze Gruppe durch den vom Gestank freien Eingang in das Gebäude zurück. Er konnte sich denken, wohin sie unterwegs war – nämlich zum Funkraum. Diese Tatsache erstickte jede freudige Erregung, die sich sonst eingestellt hätte, im Keim. Er hatte den Himmel für sich allein, aber nicht lange. Die Frage war nun, ob er ihn lange genug für sich behalten konnte, um einigermaßen weit zu kommen, bevor er in der Wildnis landete und wieder davonrannte.
5 Es war bestimmt nicht die einfachste Art zu entkommen. In vieler Beziehung war er sogar schlimmer dran als vorher. Zu Fuß im Wald hatte er im Verborgenen herumlaufen, sich ernähren und schlafen können. Jetzt wußte die ganze Welt – oder würde es bald wissen -, daß ein Terraner auf der Flucht war. Um während des Fliegens Ausschau halten zu können, hätte er Augen im Hinterkopf haben müssen, und selbst die würden ihn nicht retten, wenn ein superschnelles Düsenflugzeug oder gar mehrere erschienen. Und wenn es ihm gelang, unbeobachtet seinen Hubschrauber zu landen, würde er völlig unbewaffnet auf dieser Welt herumziehen müssen. Inzwischen befand er sich ein gutes Stück über dem Wald, in dem er herumgewandert war. Es fiel ihm ein, daß bei seiner Gefangennahme zwei Hubschrauber in diesem Gebiet - 60 -
stehengeblieben waren. Vielleicht hatte man sie inzwischen zu einem unbekannten Ziel geflogen. Oder sie standen noch da und würden sich auf einen Funkalarm hin erheben. Mit größter Aufmerksamkeit warf Leeming hastige Blicke in alle Richtungen, während der Hubschrauber dahinbrummte. Nach zwanzig Minuten erhob sich vom fernen Horizont ein winziger Punkt. Auf diese Entfernung war es unmöglich, zu erkennen, ob es sich um einen Hubschrauber, eine Düsenmaschine oder etwas anderes handelte. Der Motor seines Hubschraubers wählte ausgerechnet diesen Augenblick, um zu stottern und eine dünne Rauchfahne auszustoßen. Die wirbelnden Drehflügel stockten kurz und begannen wieder gleichmäßig zu knattern. Leeming schwitzte vor Aufregung und beobachtete den fernen Punkt. Wieder kam der Motor aus dem Rhythmus und spuckte Rauch. Der Punkt wurde ein wenig größer, bewegte sich aber in einem Winkel, der verriet, daß er nicht direkt auf ihn zukam. Wahrscheinlich war es der Vorbote einer Luftjagd, die ihn binnen kurzem stellen würde. Der Motor wurde asthmatisch, die Rotoren drehten sich langsamer, der Hubschrauber verlor an Höhe. Schmieriger Rauch quoll stoßweise aus dem Motor, begleitet von Fischgeruch. Wenn eine Kugel eine Ölleitung zerschossen hat, dachte Leeming, kann ich mich nicht mehr lange in der Luft halten. Es war am besten zu landen, solange er die Maschine noch in der Hand hatte. Als der Hubschrauber tiefer sank, drehte Leeming das Heck, um Zickzack zu fliegen und eine geeignete Lichtung im Gewirr der Bäume zu finden. Er sank hinab auf tausend Fuß, fünfhundert, und nirgends war eine Lücke zu sehen. Es blieb nichts anderes übrig, als einen Baum als Polster zu verwenden und auf das Beste zu hoffen. - 61 -
Er drehte den Rumpf, um die Vorwärtsbewegung zu stoppen, und sank in einen riesigen Baum, der fähig schien, ein ganzes Haus zu tragen. Der Schein erwies sich als Täuschung, denn die gewaltigen Äste waren sehr spröde und gaben unter der Last schnell nach. Zur Begleitmusik häufiger Krachlaute fiel der Hubschrauber ruckartig durch das Laub, so daß sich Leeming wie in einem Faß vorkam, das man eine steile Treppe hinunterpoltern ließ. Der letzte Sturz war der längste, endete aber in dichtem Gebüsch und verfilzten! Unterholz, wodurch der Aufprall abgemildert wurde. Leeming kroch mit zerschürftem Gesicht und durchgerüttelten Knochen heraus. Er blickte nach oben; im Blätterdach gab es jetzt eine große Lücke, aber er bezweifelte, daß sie von der Luft aus erkennbar sein würde, wenn der Beobachter nicht sehr tief flog. Der Hubschrauber war auf die Seite gekippt, die verbogenen und verdrehten Drehflügel befanden sich in schrägem Winkel zur Steuerstange, an den Rändern waren sie mit Zweigen und Rinde garniert. Hastig durchsuchte er die große, sechssitzige Kabine nach etwas Brauchbarem. Waffen fand er keine. Im Werkzeugkasten entdeckte er einen fünfzig Zentimeter langen Schraubenschlüssel aus bronzeähnlichem Metall. Er nahm ihn an sich, denn er erschien ihm besser als nichts. Unter den beiden Sitzen an der Rückwand fand er Fächer mit fremdartiger Nahrung. Es war seltsames Zeug und sah nicht besonders appetitanregend aus, aber er war so hungrig, daß er an einer toten, mit Fliegen bedeckten Ziege genagt hätte. Er versuchte also ein rundes Sandwich, das aus zwei flachen Scheiben ungewürzten Brots mit einer dünnen Schicht Fett dazwischen zu bestehen schien und auch so schmeckte. Er brachte es hinunter, es blieb unten, und er fühlte sich wohler. - 62 -
Das Fett konnte ebensogut von einer schwangeren Eidechse stammen, aber das kümmerte ihn längst nicht mehr. Sein Magen verlangte nach mehr, und er verschlang noch zwei Brote. Von diesen Sandwiches gab es einen ganzen Stapel, dazu eine beträchtliche Anzahl von blau-grünen Würfeln, bei denen es sich um eine Art von gepreßtem Gemüse zu handeln schien. Ferner eine Dose Sägemehl, das nach gehackten Erdnüssen roch und wie ein sonderbares Gemisch aus Hackfleisch und Seetang schmeckte. Und schließlich eine Plastikflasche, gefüllt mit geheimnisvollen weißen Tabletten. Da ihm das Risiko bei den Tabletten zu groß erschien, warf er sie in das Gebüsch, behielt aber die Flasche als Wasserbehälter. Die Dose mit der Trockenmasse war ebenso wertvoll; sie war dickwandig, stabil und würde als Kochgeschirr dienen können. Nun besaß er Nahrung und eine primitive Waffe, aber es fehlte ein Behälter. In die Taschen konnte er nicht alles schieben. Während er über diese Probleme nachdachte, heulte eine halbe Meile westlich etwas durch den Himmel. Das Geräusch war gerade in der Ferne verklungen, als ein zweites Heulen auf parallelem Kurs eine halbe Meile östlich zu hören war. Offenkundig hatte man zur Jagd geblasen. Er widerstand dem Drang, zu einer Stelle zu laufen, wo er von oben nicht so leicht zu sehen war, zog ein sägeartiges Instrument aus dem Werkzeugkasten und schnitt den Leinenbezug von einem der Sitze. Er eignete sich vorzüglich als Beutel und hatte genau die richtige Größe, wenn er auch formlos, ohne Griffe oder Bänder, war. Leeming füllte den Sack mit seinen Vorräten, schaute sich ein letztes Mal im Wrack um und bemerkte, daß die kleine Höhenmesserskala mit einer Vergrößerungslinse ausgestattet war. Der Rahmen um die Lupe war dick und - 63 -
stabil, und er mußte vorsichtig zu Werke gehen, um das Glas herauszuziehen, ohne es zu zerbrechen. Unter dem Motorgehäuse fand er den Behälter einer Scheibenwaschanlage. Es war eine leichte Metallflasche von etwa einem Liter Inhalt. Er zog sie aus der Halterung, leerte sie und füllte Treibstoff aus dem Tank ein. Diese beiden letzten Erwerbungen versetzten ihn in die Lage, schnell Feuer zu machen. Klavith konnte das Feuerzeug und die Pfefferdose behalten und seine Kaserne damit niederbrennen. Leeming besaß etwas Besseres. Eine Lupe nützt sich nicht ab. Er war mit seiner Beute so zufrieden, daß er gar nicht daran dachte, wie nutzlos ein Brennglas bei Nacht war. Als er jetzt abmarschbereit war, machte er sich keine Sorgen mehr darüber, wie schnell die Verfolger die Baumlücke und den Hubschrauber finden würden. Während sie dort Truppen absetzten, konnte er aus Sicht- und Hörweite fliehen, sich im Waldlabyrinth verlieren. Das einzige, was ihn störte, war die Möglichkeit, daß sie irgendeine Gattung von geschulten Tieren besaßen, die fähig waren, ihn aufzuspüren, wohin er sich auch wenden mochte. Der Gedanke an einen zangastanischen Landpolypen, der mitten in der Nacht auf ihn zukroch und ihn mit gummiähnlichen Armen umschlang, während er schlief, behagte Leeming gar nicht. Zu Hause gab es genügend Leute, für die ein solches Schicksal passender gewesen wäre – Schreihälse, die dann endlich den Mund halten würden. Nichtsdestoweniger mußte er das Risiko auf sich nehmen. Er schulterte seinen Leinensack und verließ den Schauplatz. Als es Nacht wurde, hatte er etwa vier Meilen zurückgelegt. Auch wenn er noch weitergewollt hätte, wäre es ihm nicht möglich gewesen; die Sterne und drei winzige Monde gaben nicht genug Licht. Der Luftverkehr war während dieser - 64 -
ganzen Zeit beträchtlich gewesen, hörte aber auf, als die Sonne unterging. Die beste Zuflucht, die er für die Nacht finden konnte, war eine Senke zwischen riesigen Baumwurzeln. Er baute an einem Ende mit Steinen und Erdklumpen eine Mauer, die hoch genug war, um ein Feuer vor Neugierigen zu schützen. Danach sammelte er trockene Zweige, Holzsplitter und Laub. Als alles bereit war, entdeckte er plötzlich, daß er kein Feuer entzünden konnte. Die Lupe war in der Dunkelheit nutzlos; sie eignete sich ausschließlich für den Tag, bei nicht verdeckter Sonne. Das veranlaßte ihn zu einer langen Reihe von Flüchen. Anschließend suchte er herum, bis er ein Holzstück mit scharf gesplitterter Spitze fand. Er rieb es stark und schnell im Spalt eines toten Baumstamms. Dort sammelte sich pulvriges Holz, während er mit aller Kraft weiterrieb. Es bedurfte siebenundzwanzig Minuten ununterbrochener Anstrengung, bis das Holzpulver glühte und sich dünner Rauch zu kräuseln begann. Hastig schob Leeming einen mit Treibstoff angefeuchteten Holzsplitter in die Mitte der schwachen Glut, und der Span flammte sofort auf. Der Anblick löste bei Leeming ein Gefühl des Triumphes aus, als habe er den Krieg ganz allein gewonnen. Er brachte das Feuer in Gang. Das Knistern und Prasseln war ihm in seiner Einsamkeit ein großer Trost. Er leerte das Hackfleis chseetanggemisch auf ein glänzendes Blatt von der halben Größe einer Wolldecke, füllte die Dose zu drei Viertel mit Wasser und stellte sie auf das Feuer. Er warf einen Gemüsewürfel und eine kleine Menge von dem Zeug auf dem Blatt hinein und hoffte, zu einer heißen, nährenden Suppe zu kommen. Während er wartete, bis das fremdartige Gebräu kochte, sammelte er Brennholz, stapelte es in der Nähe, setzte sich nah an die Flammen und aß ein Schmierfettbrot. - 65 -
Als die Suppe eine Weile gezogen hatte, stellte er sie auf die Seite, bis sie so weit abgekühlt war, daß er sie direkt aus der Dose trinken konnte. Als er sie schließlich probierte, schmeckte sie viel besser als erwartet; sie war dick, kräftig und hatte einen leichten Pilzgeschmack. Er verschlang das Ganze, wusch die Dose in einem nahen Bach aus, trocknete sie am Feuer und füllte das Gemisch auf dem Blatt sorgfältig wieder hinein. Er wählte die größten Holzstücke aus seinem Vorrat, tat sie so auf die Flammen, daß sie möglichst lange vorhielten, und legte sich in wärmender Nähe zur Ruhe. Er hatte die Absicht, über seine Lage nachzudenken und Pläne zu schmieden. Die gemütliche Wärme und das angenehme Gefühl der Sättigung schläferten ihn aber schon nach fünf Minuten ein. Er lag im Urwald, die hohen Bäume über, die Wurzeln neben sich, das Feuer zu seinen Füßen, während er leise schnarchte und den längsten, tiefsten Schlaf seines Lebens genoß. Bei Sonnenaufgang frühstückte er eine Dose Suppe und ein Sandwich. Er zertrat das Feuer, sammelte seine Sachen ein und machte sich auf den Weg nach Süden. Diese Richtung würde ihn weiter vom Mittelpunkt der Suche wegführen und leider auch eine größere Entfernung zwischen ihn und das Vorratslager terrestrischer Nahrung legen. Andererseits würde ihn ein Marsch nach Süden dem Äquatorgürtel näher bringen, in dem er bei seiner Umrundung drei Raumflughäfen gesehen hatte. Wo Raumflughäfen sind, gibt es auch Raumschiffe. Den ganzen Tag marschierte er also nach Süden. Ein halbes dutzendmal suchte er kurz Unterschlupf, während verschiedene Flugzeuge über ihn hinwegflogen. Als es dämmerte, befand er sich immer noch im Wald, und der Flugverkehr hörte auf. Die Nacht war eine Wiederholung der letzten; wieder bedauerte - 66 -
er den Verlust seiner Decken und hatte Schwierigkeiten, ein Feuer zu entzünden. Als er gesättigt am Feuer saß, die müden Beine ausgestreckt, wunderte er sich ein wenig darüber, daß der Gegner nicht auf den Gedanken gekommen war, die Suche auch nachts fortzusetzen. Obwohl er sein Feuer vor am Boden befindlichen Beobachtern schützte, mußte es ihn sofort verraten, wenn es von oben entdeckt wurde, ohne daß er es rechtzeitig zu löschen vermochte. Der nächste Tag verlief ohne Zwischenfälle. Die Flugtätigkeit schien aufgehört zu haben. Auf jeden Fall bekam er keine Flugzeuge zu sehen. Vielleicht konzentrierte man die Suche aus einem Grund, den der Feind allein kannte, auf einen anderen Ort. Er kam ohne Unterbrechung oder Störung gut voran; als die Sonne am höchsten stand, benutzte er das Brennglas dazu, ein rauchloses Feuer zu entzünden und sich eine Mahlzeit zuzubereiten. Wieder aß er gut, da die geschmacklose, aber zufriedenstellende fremde Nahrung keine nachteilige Wirkung auf ihn zu haben schien. Er überprüfte seine Vorräte und stellte fest, daß sie noch für fünf oder sechs Tage reichten. Zwei Tage später erreichte er am Nachmittag das Südende des Urwalds und sah eine breite Straße vor sich. Dahinter erstreckte sich bestelltes Ackerland mit mehreren weitläufigen Gebäuden, die er für Bauernhöfe hielt. In etwa vier Meilen Entfernung erhob sich in der Ebene eine Ansammlung von gemauerten Häusern, die von einer hohen Mauer umgeben waren. Bei der Entfernung konnte er nicht entscheiden, ob es sich um eine Festung, ein Gefängnis, eine Irrenanstalt, eine besonders geschützte Fabrik oder um etwas Unvorstellbares handelte, das die Zangasten vor der Öffentlichkeit verbergen wollten. Was es auch sein mochte, es wirkte bedrohlich. Sein Instinkt riet ihm, sich in angemessener Entfernung zu halten. - 67 -
Er zog sich zweihundert Meter in den Wald zurück, fand eine dicht mit Bäumen bestandene Senke, setzte sich auf einen Stamm und änderte seine Pläne. Ihm war klar, daß er nicht mehr am hellichten Tag weitermarschieren konnte. Denn vor ihm lag eine offene Ebene, die sich erstreckte, soweit das Auge reichte, und hinter dem Horizont gab es bestimmt Dörfer und Städte. Auf einem von untersetzten, echsenhäutigen Wesen bevölkerten Planeten würde ein schmächtig gebauter und hellhäutiger Terraner auffallen wie ein Riesenpanda bei einer Bischofskonferenz. Man würde ihn sofort festnehmen, vor allem dann, wenn Funk und Fernsehen seine Beschreibung verbreitet und zur Fahndung nach ihm aufgefordert hatten. Das Kombinat umfaßte etwa zwanzig verschiedene Lebensformen, von denen die Bewohner des Planeten Zangasta die Hälfte noch nie gesehen hatten. Sie besaßen aber eine grobe Vorstellung vom Aussehen ihrer Verbündeten und würden einen Flüchtling von Terra erkennen, wenn sie ihn sahen. Die Chance, daß er ihnen einreden konnte, er sei ein ihnen äußerlich noch nicht vertrauter Verbündeter, war äußerst gering; selbst wenn er ein paar Bauern dazu bringen konnte, ihm halb zu glauben, würde man ihn durch die Behörden prüfen lassen. Bis zu diesem Augenblick hatte ihn der Wald mit seiner endlosen Parade von Bäumen, seiner primitiven Art, seiner Stille und dem Mangel an sichtbarem Leben gelangweilt. Nun betrachtete er ihn als eine Zuflucht, die im Begriff war, ihm ihren Schutz zu entziehen. Von jetzt an würde er bei Nacht marschieren und am Tag schlafen müssen – vorausgesetzt, er fand geeignete Stellen, wo er sich verbergen konnte. Es waren düstere Aussichten. Das Problem war aber klar. Wenn er einen Raumflughafen erreichen und ein Patrouillenboot stehlen wollte, mußte er - 68 -
weiter, ohne Rücksicht auf das Gelände und die Risiken. Die Alternative bestand darin, auf Nummer Sicher zu gehen, indem er im Urwald blieb, ewig an seinem Rand nach Nahrung suchte und bis zu seinem Tod das Leben eines Eremiten führte. Der lange Tag mußte noch einige Stunden dauern; Leeming beschloß, zu essen und sich auszuschlafen, bevor die Nacht hereinbrach. Er machte mit dem Brennglas ein kleines Feuer, kochte Suppe und aß zwei belegte Brote. Dann rollte er sich in einem Bündel großer Blätter zusammen und schloß die Augen. Die Sonne schenkte angenehme Wärme, und er begann friedlich zu dösen. Ein halbes Dutzend Fahrzeuge summte und ratterte auf der nahen Straße vorbei; er wurde wach, verfluchte den Lärm, schloß die Augen und versuchte es von neuem. Es dauerte nicht lange, bis ihn der Verkehr wieder störte. So ging es weiter, bis die Sterne herauskamen und zwei von den fünf kleinen Monden ein unheimliches Licht auf die Landschaft warfen. Leeming stand im Schatten eines Baumes vor der Straße und wartete darauf, daß die Einheimischen zu Bett gingen – falls sie das überhaupt taten und nicht wie Fledermäuse kopfunter von den Deckenbalken hingen. Währenddessen fuhren ein paar kleine Lastwagen vorbei. Sie hatten orangefarbene Scheinwerfer und stießen Wolken weißen Rauchs aus. Sie hörten sich etwa so an wie Modelle isenbahnlokomotiven. Leeming kam auf den Gedanken, daß sie dampfgetrieben sein mochten, vermutlich durch einen holzbeheizten Kessel. Das nachzuprüfen war nicht möglich. Normalerweise hätte er sich nicht darum geschert, wie die Lastwagen auf Zangasta angetrieben wurden. Im Augenblick war es aber sehr wichtig. Die Gelegenheit, ein Fahrzeug zu stehlen, konnte jeden Augenblick kommen. Als vollausgebildeter - 69 -
Raumpilot hatte er aber nicht die leiseste Ahnung, wie man eine Dampfmaschine steuerte. Während er über seine Ausbildungsmängel nachdachte, fiel ihm ein, daß er schwachsinnig sein müßte, wenn er heimlich durch die Nacht schlich und auf die Gelegenheit hoffte, ein Auto oder einen Lastwagen zu stehlen. Der Mann der Tat macht sich seine Chancen und sitzt nicht herum und betet, sie mögen ihm in den Schoß fallen. Er schalt sich einen Esel und suchte in der Düsternis herum, bis er einen hübschen, glatten, faustgroßen Stein fand. Dann wartete er auf ein Opfer. Das erste Fahrzeug rollte in der falschen Richtung, auf der anderen Straßenseite. Es verging fast eine Stunde, bis zwei Fahrzeuge gemeinsam erschienen, auch auf der anderen Fahrspur, eines knapp hinter dem anderen. Hinter der Straße gab es keine Bäume, Sträucher oder andere Verstecke; es blieb ihm nichts anderes übrig, als hier zu bleiben und geduldig darauf zu warten, bis sich das Glück auf seine Seite stellte. Nach einer scheinbar endlosen Zeitspanne glühten in der Ferne zwei orangerote Lampen auf und glitten auf ihn zu. Als die Lichter größer und heller wurden, spannte er die Muskeln an. Genau im richtigen Augenblick kam er hinter dem Baum hervor, schleuderte den Stein und sprang in die Dunkelheit zurück. In der Hast und Aufregung verfehlte er sein Ziel. Der Stein flog um Zentimeter an der Windschutzscheibe vorbei und fiel auf die Straße. Der Fahrer hatte nur für den Bruchteil einer Sekunde einen undeutlichen Schatten wahrgenommen und fuhr ruhig weiter, ohne zu ahnen, daß er knapp einem Überfall entronnen war. Leeming fluchte, holte den Stein und setzte seine Nachtwache fort. Der nächste Lastwagen tauchte im gleichen Augenblick wie - 70 -
ein zweiter aus der Gegenrichtung auf. Leeming trat hinter den Baum. Die beiden Fahrzeuge begegneten einander fast genau auf der Höhe seines Verstecks. Er starrte den sich entfernenden Lichtern finster nach und stellte sich wieder neben den Baum. Wegen der späten Stunde war der Verkehr viel geringer geworden, und es dauerte ziemlich lange, bis wieder Scheinwerfer auftauchten, diesmal auf der richtigen Straßenseite. Leeming nahm sich mehr zusammen und zielte genauer. Ein schneller Sprung, er schleuderte den Stein, wich zurück. Das Ergebnis war das dumpfe ›Pfmm‹, als ein Loch in dem durchsichtigen Kunststoff entstand. Eine kehlige Stimme schrie etwas von einem Truthahnbein, wobei es sich wohl um einen Fluch im Ortsdialekt handelte. Der Lastwagen rollte noch zwanzig Meter, hielt an. Eine breite, untersetzte Gestalt kletterte aus dem Führerhaus und rannte nach hinten, offenbar in dem Glauben, etwas angefahren zu haben. Leeming, der mit dieser Reaktion gerechnet hatte, trat mit erhobenem Schraubenschlüssel auf ihn zu. Der Fahrer bemerkte es nicht einmal; er lief um das Heck des Lastwagens herum, der Schraubenschlüssel knallte auf seinen Schädel, und er sank lautlos zu Boden. Leeming glaubte einen schrecklichen Augenblick lang, er habe ihn getötet. Nicht, daß ein Zangaste mehr oder weniger im allgemeinen Weltplan eine Rolle gespielt hätte, aber Leeming mußte an seine eigene Lage denken. Selbst auf Terra gab es kaum Gnade für Gefangene, die auf der Flucht töteten. Das Opfer gab jedoch blubbernde Schnarchlaute von sich, wie ein Mutterschwein im Kindbett, und hatte noch genug Leben in sich. Leeming zerrte ihn an den Straßenrand, durchsuchte ihn, fand nichts Lohnendes. Das Bündel Papiergeld war wertlos für - 71 -
einen Terraner, der keine Gelegenheit bekommen würde, es auszugeben. Kurz danach brummte ein langes, niedriges Tankfahrzeug heran. Leeming packte den Schraubenschlüssel fester, beobachtete den näherkommenden Wagen und bereitete sich auf Kampf oder Flucht vor – je nach Umständen. Das Tankfahrzeug fuhr ruhig vorbei, ohne daß jemand Interesse für den abgestellten Lastwagen gezeigt hätte. Leeming kletterte ins Führerhaus, schaute sich um und stellte fest, daß das Fahrzeug nicht, wie er vermutet hatte, dampfgetrieben war. Der Motor lief noch, aber es gab keinen Kessel oder etwas Ähnliches. Der einzige Hinweis auf die Antriebsart war ein starker Geruch nach Alkohol, der offenbar mit einem hocharomatischen öl vermischt war. Versuchsweise drückte er einen Knopf am Armaturenbrett; die Scheinwerfer erloschen. Er drückte ihn noch einmal, und sie leuchteten wieder auf. Der nächste Knopf löste ein schrilles, katzenartiges Heulen aus. Der dritte zeigte keinerlei Wirkung: Leeming vermutete, daß er als Anlasser diente. Nachdem er eine Weile herumprobiert hatte, fand er heraus, daß das einzige Pedal die Fußbremse war und ein Hebel am Lenkrad das Fahrzeug vor oder zurückbewegte, und zwar mit einer Geschwindigkeit, die vom Ausmaß der Hebelbewegung abhing. Nichts zu sehen war von Zündschalter, Gangschaltung, Abblendhebel oder Handbremse. Das Ganze war eine seltsame Mischung von Ultramodernem und Veraltetem. Leeming war davon überzeugt, daß er das Fahrzeug steuern konnte, und schob den Hebel nach vorn. Der Lastwagen rollte vorwärts, beschleunigte auf mäßige Geschwindigkeit und blieb dabei. Leeming schob den Hebel weiter vor, und das Tempo nahm zu. Der Wald glitt links an ihm vorbei, die Ebene rechts, - 72 -
und die Straße war ein gelbes Band, das unter der Kühlerhaube dahinrollte. Mensch, das war das Richtige! Leeming lehnte sich zurück und fing an, vor Begeisterung ein unanständiges Lied zu singen. Die Straße teilte sich. Ohne Zögern wählte er die nach Süden führende Abzweigung. Er kam durch ein langgezogenes Dorf, in dem nur wenige Lichter brannten, gelangte in die Landschaft dahinter und fuhr eine Straße entlang, die schnurgerade über die Ebene führte. Fünf Monde standen am Himmel, und die Landschaft wirkte gespenstisch und drohend. Er schob den Hebel noch ein Stück nach vorn und raste weiter. Nach etwa achtzig Meilen kam er an einer Stadt vorbei, begegnete ein paar Fahrzeugen, fuhr aber ungestört weiter. Dann passierte er eine hohe Steinmauer, die eine Ansammlung von Gebäuden umgab und der Anlage vom Nachmittag glich. Er schaute im Vorbeifahren hinauf und versuchte zu erkennen, ob auf der Mauer Bewacher gingen, aber das war unmöglich festzustellen, ohne das Fahrzeug anzuhalten und auszusteigen. Dazu hatte er keine Lust, denn er zog es vor, solange ihn noch niemand behinderte, so schnell und so weit wie möglich voranzukommen. Er war mehrere Stunden lang ohne anzuhalten mit hoher Geschwindigkeit gefahren, als am Himmel eine Feuerspur aufblühte und wie eine winzige, blutrote Feder über die Sterne glitt. Während er zusah, schwebte die Feder in weitem Bogen herab und wurde größer und heller. Ein Raumschiff setzte zur Landung an. Links von ihm, weit über dem Horizont, mußte ein Raumflughafen sein. Vielleicht befand sich in Reichweite ein aufgetanktes Patrouillenboot, das geradezu darauf wartete, gestartet zu werden. Leeming leckte sich bei dem Gedanken die Lippen. - 73 -
Mit gleichmäßig laufendem Motor rollte der Lastwagen durch die Ausläufer eines weiteren großen Waldes. Leeming merkte sich die Gegend für den Fall, daß er binnen kurzer Zeit gezwungen sein sollte, das Fahrzeug aufzugeben und wieder zu Fuß zu fliehen. Nach den letzten Erfahrungen hegte er eine besondere Zuneigung für Wälder; auf einer feindlichen Welt waren sie der einzige Ort, der Anonymität und Freiheit bot. Die Straße wich mit der Zeit immer mehr nach links ab und führte ihn näher dorthin, wo der verborgene Raumflughafen sein mußte. Der Lastwagen brauste schnell hintereinander durch vier kleine Ortschaften, die alle dunkel, stumm und in tiefem Schlaf dalagen. Wieder gabelte sich die Straße, und diesmal befand sich Leeming in einer verzwickten Lage. Welche Abzweigung führte ihn zu den Raumschiffen? In der Nähe stand ein Wegweiser, aber die fremde Beschriftung sagte ihm nichts. Er hielt, stieg aus und betrachtete die zur Wahl stehenden Wege in der dürftigen Beleuchtung, so gut er konnte. Die rechte Abzweigung schien dem Oberflächenzustand nach zu urteilen, stärker befahren zu sein. Leeming entschied sich für sie und fuhr weiter. Es verging viel Zeit ohne den geringsten Hinweis auf einen Raumflughafen, und er glaubte schon, einen Fehler gemacht zu haben, da war am Himmel vor ihm ein schwaches Leuchten zu erkennen. Es kam von irgendwo hinter einer Bodenerhebung und wurde mit der Zeit stärker. Leeming fuhr den Berg hinauf, rollte über die Kuppe und sah in einem flachen Tal unzählige Scheinwerfer, die Gebäude, Betonbettungen, Startgruben und vier auf den Heckflossen stehende, spitzschnauzige Raumschiffe beleuchteten. - 74 -
6 Er hätte außer sich vor Freude sein müssen. Statt dessen erfüllte ihn ein Gefühl des Argwohns und der Vorahnung. Eine endgültige Flucht konnte nicht ‘so leicht sein, wie er sich das vorgestellt hatte; irgendwo mußte die Sache einen Haken haben. Er lenkte den Lastwagen an den Straßenrand, bremste und löschte die Scheinwerfer. Dann sah er sich die Szenerie genauer an. Aus dieser Entfernung wirkten die Raumschiffe zu groß und dick, um Patrouillenboote sein zu können, zu klein und veraltet für Kriegsschiffe. Es sprach sehr viel dafür, daß es Frachtschiffe waren. Nahm man an, daß sie in gutem Zustand und flugbereit waren, dann war es für einen erfahrenen, entschlossenen Piloten nicht unmöglich, eines davon ganz allein zu starten. Und wenn es mit einem Autopiloten ausgestattet war, konnte er Tage und Wochen damit fliegen. Ohne eine solche Hilfe mußte er jedoch damit rechnen, daß er vor Erschöpfung sterben würde, lange bevor er ein lohnendes Ziel erreichen konnte. Das Problem gab es bei einem richtigen Patrouillenboot nicht, weil ein Einmannschiff mit Roboterhilfen ausgestattet sein mußte. Er schätzte, daß diese kleinen Handelsschiffe gewöhnlich eine Besatzung von mindestens zwölf Mann hatten, vielleicht sogar bis zu zwanzig. Außerdem hatte er ein Raumschiff landen sehen – mindestens eines von den vier Schiffen war also nicht gewartet und konnte nicht geflogen werden. Es gab keine Möglichkeit, herauszufinden, welches zuletzt gelandet war. Aber ein - 75 -
Raumschiff in der Hand ist zehn an irgendeinem anderen Ort wert. Für einen Mann seines Berufs war der Anblick wartender Raumfahrzeuge unwiderstehlich. Der Widerwille, den Lastwagen aufzugeben, bis es unumgänglich war, und seine angeborene Kühnheit veranlaßten ihn zu der Entscheidung, daß es keinen Zweck hatte, um den gutbeleuchteten Raumflughafen herumzuschleichen und zu versuchen, ein Raumschiff zu Fuß zu erreichen. Es war besser, wenn er den Gegner überraschte, kühn hineinfuhr, neben einem Raumschiff parkte und die Leiter hinaufschoß, bevor man Zeit hatte, sich zu fassen. Sobald er einmal in einem Schiff war und die Schleuse verschlossen hatte, war er vergleichsweise sicher. Sie würden viel länger dazu brauchen, ihn herauszuholen, als er, um die fremde Steuerung kennenzulernen und den Start vorzubereiten. Er würde in einer metallenen Festung eingeschlossen sein, und der Brennbeginn seiner Strahlrohre würde die Umgebung im Umkreis von ein paar hundert Metern reinfegen. Ihr einziges Mittel, ihn daran zu hindern, bestand darin, schwere Artillerie heranzuholen und das Schiff zu durchlöchern. Bis man aber schwere Kanonen herangeschleppt hatte, würde er die Umlaufbahn des nächsten Mondes kreuzen. Er tröstete sich mit diesen Gedanken, während er den Lastwagen auf die Straße lenkte und beschleunigte, aber die ganze Zeit wußte er tief in seinem Innern, daß er im Begriff war, sich auf ein irres Glücksspiel einzulassen. Es sprach so manches dafür, daß er ein kaltes, unbetanktes Raumschiff erwischen würde. In diesem Fall brauchten die erbosten Zangasten nur abzuwarten, bis er sich ergab oder verhungerte. Daß sie so langsam reagieren und ihm die Zeit für einen Wechsel der - 76 -
Raumschiffe lassen würden, war eine Möglichkeit, die praktisch nicht existierte. Der Lastwagen donnerte die Talstraße hinunter, nahm eine langgezogene Kurve und brauste auf den Zugang zum Raumflughafen zu. Das Haupttor war fast geschlossen, nur in der Mitte blieb ein meterbreiter Spalt. An einer Seite stand ein bewaffneter Posten, hinter ihm befand sich ein kleines Gebäude, in dem seine Kameraden hockten. Als der Lastwagen auftauchte und auf ihn zuraste, starrte der Wachtposten ihn entgeistert an – die typische Reaktion eines im Frontdienst unerfahrenen Soldaten. Statt ‘seine automatische Waffe zu heben, sprang er auf die Straße und zerrte verzweifelt an den Torflügeln. Die Hälfte, an der er sich bemühte, schwang gerade rechtzeitig auf, so daß der Lastwagen hindurchschießen konnte, mit einem Zwischenraum von nur wenigen Zentimetern auf beiden Seiten. Der Wachtposten ärgerte sich über das Versäumnis des Fahrers, ›Guten Morgen!‹ oder ›Hau ab!‹ oder etwas ähnlich Höfliches zu sagen. Er schwang sein Gewehr, vollführte einen ungeschickten Kriegstanz und brüllte wütende Bemerkungen. Leeming konzentrierte sich ganz auf die Lenkung des Fahrzeugs und brauste um das Startfeld herum zu den Raumschiffen. Eine Gruppe von echsenhäutigen Wesen stob auseinander und lief um ihr Leben. “Weiter vorne glitt ein langer, niedriger, motorisierter Wagen mit Treibstoffzylindern aus einem Schuppen und blieb mitten auf der Straße stehen. Der Fahrer warf sich vom Sitz, als der Laster wild um ihn herumkurvte und umzustürzen drohte. Leeming suchte sich das Schiff aus, das ganz entfernt am Rand stand, weil der Feind dorthin am längsten brauchen würde, bremste neben den Heckflossen, sprang heraus, schaute hinauf. - 77 -
Keine Leiter. Er stieg um das Heck herum, fand die Leiter auf der anderen Seite und spurtete hinauf wie ein erschreckter Affe. Es war, als klettere man an einem Fabrikschornstein empor. Auf halbem Weg machte er eine Pause, um Atem zu schöpfen, und schaute sich um. Verkleinert durch Entfernung und Tiefe, liefen hundert Gestalten auf ihn zu. Dazu brausten vier Lastwagen und ein Fahrzeug heran, das einem Panzerwagen ähnlich sah. Er kletterte weiter, so schnell er konnte, war aber vorsichtig, weil in dieser Höhe ein Fehltritt tödlich sein konnte. Die Angst wuchs, als er sich der Luftschleuse am Bug näherte. Noch ein paar Sekunden, dann würde er außer Schußweite sein. Das wußten die anderen aber auch und würden deshalb zu knallen beginnen, solange noch Zeit war. Während er schneller zu steigen versuchte, krampfte sich sein Magen bei der Vorstellung zusammen, in letzter Sekunde könnte ihn eine Kugel treffen. Seine Hände packten rasch hintereinander ein halbes Dutzend Sprossen, erreichten den Luftschleusenrand, wo er sich den Kopf an einem Metallstab anstieß, mit dem er nicht gerechnet hatte. Überrascht blickte er hinauf und starrte geradewegs in die Mündung einer Schußwaffe. »Schatzi!« befahl der Besitzer der Pistole und deutete damit nach unten. »Amasch!« Einen irren Augenblick lang überlegte Leeming, ob er sich mit einer Hand festhalten und mit der anderen seinem Gegner die Füße wegreißen sollte. Er richtete sich auf. Entweder war der andere ungeduldig oder hatte seine Absicht erkannt, denn er hieb mit dem Lauf auf Leemings Finger. »Amasch! Schatzi – amasch!« Leeming stieg langsam und widerstrebend die Leiter hinunter. Mit jedem Schritt nach unten wuchs seine düstere Verzweiflung. - 78 -
Himmel Herrgott, er hatte es beinahe geschafft, und das machte die Lage so bitter. Jetzt würde man ihn doppelt so scharf bewachen. Selbst wenn er trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen ein zweites Mal würde entkommen können, waren seine Aussichten auf eine endgültige Flucht zu gering, um ins Gewicht zu fallen; wenn an Bord eines jeden Raumschiffs ein bewaffneter Posten war, würde Leeming den Kopf in die Falle stecken, sooft er ihn in eine Luftschleuse schob. Es sah so aus, als ob er auf dieser verdammten Welt festsaß, bis eine terrestrische Kampfgruppe sie eroberte oder der Krieg aufhörte. Das eine wie das andere konnte noch mehrere Jahrhunderte auf sich warten lassen. Er kam unten an, trat auf den Boden hinunter und drehte sich mit der Erwartung um, einen Tritt in die Magengegend oder einen Hieb auf die Nase zu bekommen. Statt dessen sah er sich einer Gruppe murmelnder Gestalten mit leeren Gesichtern gegenüber. Zu ihr gehörte auch ein Offizier, dessen Haltung aber verriet, daß er eher betroffen als erzürnt war. Er bedachte Leeming mit starren Blicken und gab einen Schwall unverständlicher Worte von sich, der mit einem fragenden Ton endete. Leeming breitete die Hände aus und zuckte die Achseln. Der Offizier versuchte es noch einmal. Leeming antwortete wieder mit einem Achselzucken und gab sich alle Mühe, reumütig zu wirken. Der Offizier nahm sein mangelndes Verständnis als Tatsache, die so oder so nichts bewies, und brüllte die Menge an. Vier bewaffnete Soldaten traten vor, trieben den Gefangenen in das gepanzerte Fahrzeug, warfen die Tür zu, schlössen sie ab und fuhren mit ihm davon. Am Ende der Fahrt stieß man ihn in das Hinterzimmer eines Steinhauses; zwei Bewacher begleiteten ihn, während die anderen beiden vor der Tür blieben. Er setzte sich auf einen - 79 -
niedrigen, harten Stuhl, seufzte und starrte zwei Stunden lang leer die Wand an. Die Wachen hockten ebenfalls da, betrachteten ihn ausdruckslos wie Schlangen und sagten kein Wort. Ein anderer Soldat brachte Essen und Wasser. Leeming nahm alles stumm zu sich und starrte wieder zwei Stunden an die Wand. Die ganze Zeit über wirbelten seine Gedanken durcheinander. Es war wohl klar, entschied er, daß die Leute hier nicht ahnten, welchen Fang sie gemacht hatten. Ihre ganze Reaktion zeigte, daß sie in dieser Beziehung nicht aus noch ein wußten. Bis zu einem gewissen Grad war das entschuldbar. Auf der Seite der Alliierten gab es eine Föderation von dreizehn Lebensformen, vier von ihnen waren menschlich, drei sehr menschenähnlich. Das Kombinat bestand aus einer wenig stabilen Vereinigung von mindestens zwanzig Lebensformen, von denen drei auch ziemlich menschenähnlich waren. Ohne Auskunft der höheren Stellen konnte dieser Haufen Pseudoreptilien Feind von Verbündetem nicht unterscheiden. Trotzdem ging man kein Risiko ein, und er konnte sich vorstellen, was vorging, während man ihn hier herumsitzen ließ. Der Offizier würde nach dem Telefon greifen – oder was sie statt dessen verwendeten – und die nächste Garnisonstadt anrufen. Der ranghöchste Offizier dort würde die Verantwortung sofort auf das militärische Hauptquartier abwälzen. Dort war wahrscheinlich Klaviths Alarm registriert und vergessen worden, und ein Zehn-Sterne-Bonze würde die Frage an die Hauptsendestation weiterleiten. Ein Funker würde eine Nachricht an die drei menschenähnlichen Verbündeten weitergeben und sie fragen, ob in dieser Gegend einer ihrer Patrouillenpiloten vermißt werde. Sobald das Signal ›Nein!‹ eintraf, würden die Hiesigen begreifen, daß man tief im Raumimperium einen seltenen Vogel - 80 -
gefangen hatte. Man würde nicht begeistert sein. Reservetruppen weit hinter der Front sind ganz am Ruhm, überhaupt nicht am Leiden beteiligt, und mit diesem Zustand sind sie zufrieden. Ein plötzliches Eindringen des Gegners dort, wo er nichts zu suchen hat, stört den ruhigen Gleichlauf des Lebens und wird nicht von Rufen kriegerischer Begeisterung begrüßt. Außerdem konnte von ihrem Standpunkt aus dort, wo sich ein Mann einzuschleichen vermag, eine ganze Armee folgen, und es ist beunruhigend, von hinten überfallen zu werden. Sobald sich die Neuigkeit verbreitete, würde Klavith in vollem Galopp eintreffen, um alle daran zu erinnern, daß dies nicht die erste Gefangennahme Leemings, sondern schon seine zweite sei. Was würde man schließlich mit ihm machen? Er war sich alles andere s schlüssig, weil er ihnen beim erstenmal keine Zeit dafür gelassen hatte, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Es war unwahrscheinlich, daß man ihn an Ort und Stelle erschießen würde. War man ausreichend zivilisiert, so würde man ihn ins Kreuzverhör nehmen und anschließend auf unbestimmte Dauer einsperren. Falls man unzivilisiert war, würde man Klavith oder vielleicht einen Verbündeten holen, der Terranisch sprach, und den Gefangenen mit unbarmherzigen und blutigen Methoden auspressen. Damals, in der Morgendämmerung der Geschichte, als Konflikte noch auf einen Planeten beschränkt gewesen waren, hatte es ein Schutzinstrument mit dem Namen Genfer Konvention gegeben. Sie hatte für neutrale Besichtigung von Gefangenenlagern gesorgt, gelegentliche Briefe aus der Heimat gebracht, Nahrungsmittelpakete geliefert, die manchem Gefangenen, der sonst gestorben wäre, das Leben gerettet hatten. - 81 -
So etwas gab es heutzutage nicht mehr. Ein Gefangener hatte nur zwei Formen des Schutzes: seine eigene Findigkeit und die Macht seiner Verbündeten, an den Gefangenen, die sie gemacht hatten, Vergeltung zu üben. Doch letzteres war eher eine potentielle als eine echte Drohung. Vergeltung ohne tatsächliche Kenntnis von Mißhandlungen kann es nicht geben. Der Tag schleppte sich dahin. Die Wachen wurden zweimal gewechselt. Essen und Wasser wurde gebracht. Schließlich zeigte das eine Fenster, daß es zu dunkeln begann. Leeming blickte verstohlen zum Fenster und sagte sich, daß es selbstmörderisch sein würde, angesichts von zwei Schußwaffen Anlauf zum Sprung zu nehmen. Das Fenster war klein und hoch; es würde schwierig sein, in großer Eile durchzukriechen. Wie er jetzt seine Stinkpistole herbeisehnte! Die erste Pflicht eines Gefangenen ist die Flucht. Das heißt, daß er mit Geduld abzuwarten hat, bis sich eine Gelegenheit ergibt, die ergriffen und bis zum äußersten ausgenutzt werden kann. Er hatte es einmal getan und mußte es wieder tun. Wenn es keinen Weg zur endgültigen Flucht gab, mußte er ihn erfinden. Die Aussichten waren schlecht und würden bald noch schlechter werden. Wenn er nur die hier gebräuchliche oder irgendeine Sprache des Kombinats beherrschen würde, wäre es ihm vielleicht gelungen, sogar den sprachbegabten Klavith davon zu überzeugen, daß schwarz weiß sei. Grenzenlose Unverschämtheit bringt oft Gewinn. Vielleicht hätte er sein Raumschiff landen, sie mit geschickten Worten, unbegrenztem Selbstvertrauen und genau der richtigen Dosis Arroganz dazu überreden können, seine Strahlrohre zu reparieren und neu auszukleiden und bei seinem Start zu jubeln, ohne daß sie ahnten, dem Feind Hilfe und Trost gespendet zu haben. - 82 -
Es war ein schöner Traum, aber ein nichtiger. Der Umstand, daß Leeming sich in keiner Sprache des Kombinats verständigen konnte, hatte jeden solchen Plan von vornherein zum Scheitern verurteilt. Man kann einen Einfaltspinsel nicht dazu überreden, seine Hose zu spendieren, indem man einfach Geräusche von sich gibt. Nun mußte auf eine andere Chance gelauert werden, die er schnell und mit beiden Händen ergreifen würde – vorausgesetzt, sie waren so dumm, ihm noch einmal eine Chance zu bieten. Er schätzte seine Bewacher genauso ein, wie er den Offizier, seine früheren Widersacher und Klavith eingeschätzt hatte, und kam zu dem Schluß, daß diese Gattung wohl nicht zu den klügsten Köpfen des Kombinats zu zählen war. Nichtsdestoweniger hatten sie einen breiten Rücken und mißmutige Gesichter und waren durchaus in der Lage, jemanden hinter Schloß und Riegel zu setzen und ihn dort lange, lange Zeit festzuhalten. Für Gefängnisaufseher waren sie wie geschaffen. Er blieb vier Tage in dem Haus, aß und trank in regelmäßigen Abständen, schlief die Hälfte der langen Nächte, dachte stundenlang nach und funkelte seine gleichmütigen Bewacher oft böse an. Er erfand, untersuchte und verwarf tausend Wege, seine Freiheit wiederzugewinnen, die meisten davon waren phantastisch und unmöglich. Einmal ging er sogar so weit, daß er den Versuch unternahm, seine Bewacher in Hypnose zu versetzen. Er starrte sie unverwandt an, bis seine eigenen Augäpfel endgültig eingerostet zu sein schienen. Es störte sie nicht im mindesten. Sie besaßen die reptilhafte Fähigkeit, bis in alle Ewigkeit regungslos dazusitzen und Blick für Blick zu geben. Am Vormittag des vierten Tages stolzierte der Offizier herein, schrie: »Amasch! Amasch!« und deutete auf die Tür. Ton und Haltung wirkten ausgesprochen unfreundlich. Offenbar - 83 -
hatte jemand den Gefangenen als Raumlaus der Alliierten identifiziert. Leeming stand auf und ging hinaus, zwei Bewacher voraus, zwei hinterher, der Offizier als letzter. Ein Kastenfahrzeug aus Stahl wartete auf der Straße. Man drängte ihn hinein, schloß ab. Zwei Soldaten standen auf der hinteren Plattform an den Türen und hielten sich an Handgriffen fest. Ein dritter setzte sich zum Fahrer. Die Fahrt dauerte dreizehn Stunden, und während der ganzen Zeit wurde der Insasse in völliger Dunkelheit durchgeschüttelt. Bis der Wagen endlich hielt, hatte Leeming ein neues und außerordentlich abstoßendes Wort erfunden. Er gebrauchte es sofort, als sich die Hecktüren öffneten. »Kwilpol – enk?« knurrte er. »Enk?« »Amasch!« brüllte der Soldat, ohne den fremden Beitrag zum Schimpfwortschatz zu würdigen. Er gab dem anderen einen heftigen Stoß. Leeming amaschte ungern. Er sah riesige Mauern in die Nacht ragen, hoch oben eine Zone grellen Lichts; dann wurde er durch ein Metalltor gestoßen und in ein großes Zimmer geführt. Hier erwartete ihn ein Empfangskomitee, das aus sechs Schlägertypen bestand. Einer der sechs unterschrieb ein von der Begleitung vorgelegtes Papier. Die Bewacher zogen sich zurück, die Tür wurde geschlossen, die sechs beäugten den Neuankömmling mit einem gänzlichen Mangel an Freundlichkeit. Einer von ihnen sagte etwas Herrisches und zeigte durch Gesten an, er möge sich ausziehen. Leeming nannte ihn einen stinkenden Kwilpol, gezeugt in fremdartigem Morast. - 84 -
Es half ihm nichts. Die sechs packten ihn, zogen ihn nackt aus, durchsuchten jeden Saum seiner Kleidung. Sie zeigten die erfahrene Technik von Leuten, die dergleichen schon zahllose Male getan hatten und genau wußten, wo und was sie suchen mußten. Keiner bewies auch nur das geringste Interesse an seinem fremdartigen Körper, obwohl er splitternackt in voller Größe vor ihnen stand. Alles, was er besaß, wurde auf die Seite gelegt, seine Kleidung warf man ihm hin. Er zog sich an, während sie die Beute durchgingen und durcheinanderschnatterten. Schließlich waren sie überzeugt, daß der Gefangene nun nicht mehr besaß, als nötig, um seine Blöße zu bedecken, und man führte ihn durch eine andere Tür, eine Treppe aus dicken Steinstufen hinauf, durch einen Korridor in eine Zelle. Die Tür fiel mit einem Donnerschlag wie beim Jüngsten Gericht zu. Im Dunkel der Nacht schienen acht kleine Sterne und ein winziger Mond durch eine dichtvergitterte Öffnung hoch oben an einer Wand. Am Rand des Spalts glomm schwach gelblicher Widerschein von irgendeiner Außenbeleuchtung. Leeming tastete im Dunkeln herum und fand an einer Wand eine Holzbank. Sie bewegte sich, als er sich dagegenstemmte. Er zerrte sie unter die Öffnung und stieg hinauf, befand sich aber immer noch einen Meter zu tief, um hinausblicken zu können. Obwohl die Bank schwer war, mühte er sich mit ihr ab, bis er sie schräg an die Wand gelehnt hatte, dann kroch er vorsichtig daran hinauf und schaute zwischen den Gitterstäben hindurch. Zwölf Meter unter ihm lag ein nackter, fünfzig Meter breiter Raum mit Steinboden, der sich nach links und rechts erstreckte, soweit er sehen konnte. Dahinter erhob sich eine glatte Steinmauer bis zu seiner Augenhöhe. Die Mauerkrone war im Winkel von sechzig Grad abgeschrägt zu einem scharfen - 85 -
Scheitel, und fünfundzwanzig Zentimeter darüber verlief ein straffgespannter Draht ohne Stacheln. Von irgendwo außerhalb seines Sichtbereichs kamen mächtige Lichtstrahlen, die das ganze Gebiet zwischen Zellenblock und Außenmauer sowie eine ebenso große Fläche hinter der Mauer überfluteten. Von Leben keine Spur. Es gab nur die Mauer, das grelle Licht, die Nacht darüber und die fernen Sterne. »Ich sitze also im Kittchen«, sagte er. »Das schlägt dem Faß den Boden aus!« Er sprang auf den Boden, und der leichte Aufprall ließ die Bank mit ohrenbetäubendem Krachen umstürzen. Es klang, als habe er eine Rakete hervorgezaubert und sich durch das Dach geschossen. Füße rannten durch den Korridor, Licht strömte durch ein Guckloch in der schweren Metalltür herein. Ein Auge erschien. »Setsch inwigia, faplap!« schrie der Aufseher. Leeming nannte ihn einen plattfüßigen Kwilpol mit Entenarsch und fügte sechs weitere Worte hinzu, die altmodisch, aber noch immer machtvoll waren. Das Guckloch fiel zu. Er legte sich auf die harte Bank und versuchte zu schlafen. Eine Stunde später bearbeitete er die Tür mit Fußtritten und sagte, als sich das Guckloch öffnete: »Faplap dich selber!« Danach schlief er. Das Frühstück bestand aus einer Schüssel lauwarmem Brei, der wie Hirse aussah, und einem Krug Wasser. Beides wurde mit Geringschätzung serviert und mit Ekel verzehrt. Es schmeckte nicht so gut wie das fremdartige Zeug, von dem er im Wald gelebt hatte. Damals war er allerdings auch nicht auf Sträflingsrationen angewiesen gewesen; er hatte die Vorräte einer bedauernswerten Hubschrauberbesatzung verschlungen. - 86 -
Einige Zeit später erschien ein schmallippiges Individuum in Begleitung von zwei Aufsehern. Mit einer langen Reihe komplizierter Gesten erklärte der Neue, der Gefangene habe eine zivilisierte Sprache zu lernen, und zwar schnell. Der Unterricht werde sofort beginnen. Leeming fragte erstaunt: »Was ist mit Major Klavith?« »Klappnase?« »Warum kann Klavith nicht mit mir reden? Ist er plötzlich stumm geworden oder was?« Dem anderen ging ein Licht auf. Er stieß ein paarmal mit dem Zeigefinger zu und sagte: »Klavith- fett, fett, fett!« »Was?« »Klavith – fett, fett, fett!« Er tippte sich ein paarmal auf die Brust, tat so, als breche er zusammen, und vermochte klarzumachen, daß Klavith unter amtlichem Beistand das Zeitliche gesegnet hatte. »Menschenskind!« sagte Leeming. Der Lehrer legte sachlich einen Stapel von Kinderbilderbüchern vor und begann mit dem Lernprozeß, während die Aufseher an der Wand lehnten und gelangweilt dreinsahen. Leeming arbeitete mit, wie man es beim Feind macht, indem er alles mißverstand, alles falsch aussprach und nichts ausließ, was ihn als sprachlich Schwachsinnigen auszeichnen konnte. Die Lektion endete mittags, und eine weitere Schüssel Mehlsuppe kam, in der ein Klumpen faseriger, gummiartiger Substanz schwamm, der wie das Hinterteil einer Ratte aussah. Leeming trank die Suppe, nagte an dem Tier, schob die Schüssel weg. Dann dachte er über die Bedeutung ihres Entschlusses nach, ihm das Sprechen beizubringen. Durch die Beseitigung - 87 -
des unglücklichen Klavith hatten sie sich selbst zu Opfern ihrer eigenen Unbarmherzigkeit gemacht. Sie hatten sich der einzigen Person auf dieser Welt beraubt, die Kosmoglott sprach. Wahrscheinlich besaßen sie auf anderen Planeten noch ein paar, die es verstanden, aber es würde Zeit und Mühe kosten, sie hierherzubringen. Jemand hatte einen Fehler begangen, als er Klaviths Exekution befahl; er wollte ihn vertuschen, indem er dem Gefangenen beizubringen versuchte, zu plaudern. Offensichtlich besaßen sie nichts, was den elektronischen Gehirnsonden der Erde glich, und konnten Informationen nur durch Frage- und Antwort-Methoden erlangen, unterstützt von unbekannten Formen des Zwangs. Sie wollten Bescheid wissen und gedachten, sich durchzusetzen. Je langsamer er die Sprache lernte, desto länger würde es dauern, bis sie ihn folterten, wenn sie diese Absicht hegten. Seine Überlegungen fanden ein Ende, als die Aufseher die Tür öffneten und hinauswiesen. Sie führten ihn durch den Korridor, die Treppe hinunter und ließen ihn in einem großen Hof voller ziellos herumschlendernder Gestalten frei. Die Sonne stach grell vom Himmel. Er blieb überrascht stehen. Rigelaner! Ungefähr zweitausend von ihnen. Das waren Alliierte, Kampfgenossen der Erde. Er betrachtete sie mit wachsender Erregung und forschte unter der Menge nach vertrauteren Gestalten. Vielleicht nach ein paar Erdbewohnern. Oder auch nach einigen menschenähnlichen Centauriern. Aber es gab keine. Nur gummigliedrige, glotzäugige Rigelaner, die wie Leute dahinschlurften, die viele vergeudete Jahre hinter sich und keine erkennbare Zukunft vor sich haben. Noch während er sie anstarrte, spürte er etwas Eigenartiges. Sie konnten ihn so deutlich sehen wie er sie, und als einziger Erdbewohner war er ein legitimes Ziel der Aufmerksamkeit, - 88 -
ein Freund von einem anderen Stern. Sie hätten herandrängen müssen, voller Fragen, um die neuesten Nachrichten vom Krieg zu erfahren, hätten auf ihn einreden und sich mit ihm besprechen müssen. Nichts davon. Sie beachteten ihn nicht und benahmen sich, als sei das Eintreffen eines Terraners ganz ohne Bedeutung. Langsam und betont ging er durch den Hof und wartete auf irgendeine freundliche Reaktion. Man ging ihm aus dem Weg. Ein paar Rigelaner sahen ihn verstohlen an, die Mehrheit gab vor, ihn nicht zu bemerken. Niemand sagte ein Wort. Augenscheinlich wollte man ihm bewußt eine Abfuhr erteilen. Er versperrte einer kleinen Gruppe in einer Ecke den Weg und fragte mit kaum verhüllter Gereiztheit: »Spricht einer von euch Terranisch?« Sie blickten zum Himmel, an die Mauer, auf den Boden, einander an und schwiegen. »Versteht jemand Centaurisch?« Keine Antwort. »Na, wie ist es mit Kosmoglott?« Nichts. Gereizt entfernte er sich und versuchte es bei einer anderen Gruppe. Ohne Glück. Binnen einer Stunde hatte er zwei- oder dreihundert Gefangene mit Fragen bestürmt, ohne eine einzige Antwort zu erhalten. Er stand vor einem Rätsel. Sie verhielten sich nicht verächtlich oder feindselig. Es war etwas ganz anderes. Er versuchte dahinterzukommen und gelangte zu der Schlußfolgerung, daß sie aus irgendeinem unbekannten Grund argwöhnisch waren, daß sie Angst davor hatten, mit ihm zu sprechen. - 89 -
Er saß auf einer Steinstufe und beobachtete sie, bis ein schriller Pfiff ankündigte, daß die Ausgangszeit beendet war. Die Rigelaner formierten sich zu langen Reihen, um in ihre Zellen zurückzumarschieren. Leemings Bewacher gaben ihrem Gefangenen einen Tritt in den Hintern und zerrten ihn in seine Zelle. Vorübergehend schob Leeming das Problem ungeselliger Verbündeter beiseite. Die Zeit zum Nachdenken kam nach dem Dunkelwerden, weil es dann nichts anderes mehr zu tun gab. Er wollte die verbleibenden Stunden Tageslicht dazu verwenden, die Bilderbücher zu studieren und sich in der hiesigen Sprache schnell weiterzubilden, während er dem Anschein nach weit nachhinkte. Die Beherrschung der Sprache mochte eines Tages von Vorteil sein. Zu schade, daß er beispielsweise nicht Rigelanisch gelernt hatte. Er widmete sich voll und ganz der Aufgabe, bis Druck und Bilder nicht mehr sichtbar waren. Er aß seine abendliche Portion Brei, legte sich auf das Bett, schloß die Augen und machte sich an die Arbeit. In seinem ganzen hektischen Leben war er nicht mehr als zwanzig Rigelanern begegnet. Nicht einmal hatte er ihre drei eng beieinanderliegenden Sonnensysteme besucht. Das wenige, das er wußte, stammte vom Hörensagen. Es hieß, ihr Intelligenzgrad sei hoch, sie seien technologisch tüchtig und seit der ersten Begegnung vor fast tausend Jahren seien sie den Menschen von der Erde freundschaftlich gesinnt. Fünfzig Prozent von ihnen sprachen Kosmoglott, etwa ein Prozent beherrschte die terranische Sprache. Wenn die Statistik stimmte, mußten mehrere hundert Männer im Gefängnishof fähig sein, sich mit ihm in der einen oder anderen Sprache zu unterhalten. Warum war man ihm aus - 90 -
dem Weg gegangen und hatte geschwiegen? Und woher diese Einstimmigkeit? Entschlossen, dieses Rätsel zu lösen, erfand, untersuchte und verwarf er ein Dutzend Theorien, die alle genügend Mängel hatten, um unglaubwürdig zu sein. Es dauerte ungefähr zwei Stunden, bis er auf die naheliegende Lösung kam. Diese Rigelaner waren Gefangene, auf eine unbestimmte Zahl von Jahren der Freiheit beraubt. Einige von ihnen mußten irgendwann einen Erdbewohner gesehen haben. Aber sie alle wußten, daß es in den Reihen des Kombinats ein paar Gattungen gab, die menschenähnlich waren. Sie konnten nicht beschwören, daß er wirklich ein Terraner war, und gingen nicht das Risiko ein, sich mit einem Spion einzulassen. Das wiederum bedeutete noch etwas anderes: Wenn eine große Menge von Gefangenen einem möglichen Verräter gegenüber übermäßig mißtrauisch wird, dann deshalb, weil man etwas zu verbergen hat. Ja, das war es! Er schlug sich vor Freude auf die Schenkel. Die Rigelaner schmiedeten Fluchtpläne und wollten sich vorläufig auf kein Risiko einlassen. Sie waren lange genug hier, um mindestens gelangweilt, höchstenfalls verzweifelt zu sein und nach den Mitteln zu einem Ausbruch zu suchen. Nachdem sie einen Weg nach draußen entdeckt hatten oder eben dabei waren, es zu tun, wollten sie nicht Gefahr laufen, daß die Verschwörung von einem Fremden zweifelhafter Herkunft aufgedeckt wurde. Sein Problem bestand nun darin, ihren Argwohn zu zerstreuen, ihr Vertrauen zu gewinnen und sich an dem beteiligen zu lassen, was im Gange war. Am nächsten Tag holte ein Aufseher am Ende des Spaziergangs im Hof mit dem schweren Bein aus und versetzte ihm den gewohnten Tritt. Leeming revanchierte sich augenblicklich - 91 -
mit einem Hieb ins Gesicht. Vier Bewacher sprangen auf und droschen den Sünder tüchtig durch. Sie machten es gründlich und mit Erfolg, so daß kein Rigelaner auf den Gedanken kommen konnte, es handle sich um Schauspielerei. Es war Anschauungsunterricht und als solcher gedacht. Die schlaffe Gestalt wurde aus dem Hof und die Treppe hinaufgetragen, mit blutig geschlagenem Gesicht.
7 Es dauerte eine Woche, bis Leeming wieder fähig war, im Hof zu erscheinen. Der Preis für das Vertrauen hatte sich als hoch erwiesen, und sein Gesicht war immer noch verschwollen. Er schlenderte durch die Menge, unbeachtet wie immer, wählte eine bequeme Stelle in der Sonne und setzte sich. Bald danach ließ sich ein Gefangener müde in zwei Meter Entfernung von ihm nieder, beobachtete die fernen Aufseher und sagte flüsternd: »Woher kommst du?« »Von Terra.« »Wie bist du hergekommen?« Leeming berichtete knapp. »Wie steht der Krieg?« »Wir drängen sie langsam, aber sicher zurück. Es wird aber lange dauern.« »Wie lange, glaubst du?« »Ich weiß es nicht. Das kann niemand sagen.« Leeming betrachtete ihn neugierig. »Wie seid ihr hergekommen?« - 92 -
»Wir sind keine Soldaten, sondern zivile Siedler. Unsere Regierung hat Voraustrupps – nur Männer – auf vier neue Planeten entsandt, die uns kraft des Rechts der Entdeckung gehörten. Zwölftausend waren wir insgesamt.« Der Rigelaner machte eine Pause, schaute sich vorsichtig um und achtete auf die Position der einzelnen Aufseher. »Das Kombinat ging in überlegener Zahl gegen uns vor. Das ist zwei Jahre her. Es war einfach. Wir waren nicht auf so etwas vorbereitet, nicht ausreichend bewaffnet, wußten nicht einmal, daß ein Krieg stattfand.« »Man hat eure vier Planeten gekapert?« »Und ob. Und uns ins Gesicht gelacht.« Leeming nickte verständnisvoll. Rücksichtslose Aneignung fremden Besitzes war die eigentliche Ursache der Auseinandersetzung gewesen, die sich nun über einen großen Raum der Galaxis ausgebreitet hatte. Auf einem Planeten hatte die Kolonie heldenhaft Widerstand geleistet und war bis auf den letzten Mann zugrunde gegangen. Das Opfer hatte den Zorn aufflammen lassen, die Alliierten hatten zurückgeschlagen und taten es noch immer, hart und folgenreich. »Zwölftausend, sagst du. Wo sind die anderen?« »In Strafanstalten wie der hier verstreut. Du hast dir wirklich einen feinen Ort ausgesucht, um das Kriegsende abzuwarten. Das Kombinat hat hier seinen Hauptstrafplaneten eingerichtet. Er liegt weit ab von der Front und dürfte kaum je entdeckt werden. Die einheimische Lebensform eignet sich kaum für Raumschlachten, ist aber gut genug, um festzuhalten, was die Verbündeten gefangengenommen haben. Sie errichten auf der ganzen Welt große Gefängnisse. Wenn der Krieg lange genug dauert, wird dieser kosmische Müllhaufen mit Gefangenen übervölkert sein.« - 93 -
»Ihr seid also schon ungefähr zwei Jahre hier?« »Allerdings – und sie kommen uns eher wie zehn vor.« »Und habt nichts unternommen?« »Nicht viel«, gab der Rigelaner zu. »Nur so viel, daß vierzig von uns erschossen worden sind.« »Verzeihung«, sagte Leeming betroffen. »Macht nichts. Ich weiß genau, wie dir zumute ist. Die ersten Wochen sind die schlimmsten. Der Gedanke, hier für immer festgenagelt zu sein, kann einen verrückt machen, wenn man nicht lernt, es philosophisch zu nehmen.« Er dachte eine Weile nach und zeigte auf einen massiv gebauten Aufseher, der an der Außenmauer entlangging. »Vor ein paar Tagen hat dieses Lügenschwein damit geprahlt, es seien schon zweihunderttausend Gefangene der Alliierten auf diesem Planeten, und nächstes Jahr würden es zwei Millionen sein. Ich hoffe nur, daß er das nicht erlebt.« »Ich verschwinde hier«, sagte Leeming. »Wie?« »Das weiß ich noch nicht. Aber ich haue ab. Ich bleibe nicht hier, um zu verrotten.« Er wartete in der Hoffnung auf eine Bemerkung über andere, die genauso empfanden, vielleicht auf einen ausweichenden Hinweis über einen bevorstehenden Ausbruch, eine Andeutung, man werde ihn vielleicht auffordern, sich zu beteiligen. Der Rigelaner stand auf und murmelte: »Na, ich wünsche dir viel Glück. Du wirst es brauchen.« Er schlurfte davon, ohne etwas verraten zu haben. Ein Pfiff ertönte, die Aufseher schrien: »Merse, faplaps! Amasch!« Und das war alles. - 94 -
In den vier Wochen danach führte er häufig Gespräche mit diesem Rigelaner und etwa zwanzig anderen, gewann sonderbare Informationsbrocken, aber sie kamen ihm seltsam ausweichend vor, sobald es um das Thema Freiheit ging. Sie waren freundlich, sogar entgegenkommend, aber sie verrieten nichts. Eines Tages führte er eine heimliche Unterhaltung und fragte: »Warum bestehen alle darauf, heimlich und im Flüsterton mit mir zu reden? Den Aufsehern scheint es doch egal zu sein, wieviel wir miteinander sprechen.« »Du bist noch nicht verhört worden. Wenn sie in der Zwischenzeit sehen, daß wir viel mit dir reden, werden sie versuchen, alles aus dir herauszuholen – mit besonderer Betonung der Vorstellungen von einer Flucht.« Leeming stürzte sich sofort auf das herrliche Wort. »Ah, Flucht, das ist alles, wofür man jetzt noch leben kann. Wenn jemand daran denkt, einen Versuch zu unternehmen, kann ich vielleicht ihnen und sie können mir helfen. Ich bin ein geschulter Raumpilot, und das ist etwas wert.« Der andere kühlte sofort ab. »Nichts zu machen.« »Warum nicht?« »Wir sind schon lange eingesperrt, und da ist uns vieles beigebracht worden, was du erst lernen mußt.« »Zum Beispiel?« »Wir haben um einen bitteren Preis entdeckt, daß Ausbruchsversuche scheitern, wenn zu viele wissen, was gespielt wird. Ein eingeschleuster Spion verrät uns, oder irgendein egoistischer Narr verdirbt alles, indem er sich im falschen Augenblick eindrängt.« - 95 -
»Ich bin weder ein Spion noch ein Narr. Ganz bestimmt bin ich nicht so dumm, mir meine eigene Chance auf das Freikommen zu verderben.« »Das mag sein«, gab der Rigelaner zu. »Die Gefangenschaft schafft sich aber ihre eigenen Gesetze. Eine Regel, die hier ohne Ausnahme gilt, ist die, daß ein Fluchtplan der ausschließliche Besitz derjenigen ist, die ihn entworfen haben, und nur sie dürfen den Versuch mit dieser Methode unternehmen. Niemand sonst erfährt etwas davon. Geheimhaltung ist ein Schutzschirm, den Fluchtwillige um jeden Preis aufrechterhalten müssen. Sie lassen keinen auch nur kurz hindurchgucken, nicht einmal einen Terraner und auch keinen geschulten Raumpiloten.« »Ich bin also ganz auf mich allein gestellt?« »Leider, ja. Das gilt aber sowieso. Wir schlafen in Sälen, fünfzig Mann in einem Raum. Du bist allein in einer Zelle. Du bist gar nicht in der Lage, irgendwo mitzuhelfen.« »Ich kann mir aber selber helfen, verdammt noch mal«, gab Leeming zornig zurück. Und dann ging diesmal er weg. Er war gerade dreizehn Wochen im Gefängnis, als der Lehrer ihm, bildlich gesprochen, einen Knallfrosch reichte. Nach einer Lektion, die sich nur durch Leemings Begriffsstutzigkeit und mangelnde Lernbereitschaft ausgezeichnet hatte, sah ihn der Lehrer finster an und begann sich zu äußern. »Es macht Ihnen Vergnügen, den Mantel der Dummheit zu tragen. Aber bin ich auch ein Dummkopf? Ich glaube nicht! Ich lasse mich nicht täuschen – Sie sprechen viel besser, als Sie zugeben wollen. In sieben Tagen werde ich dem Kommandanten melden, daß Sie zur Prüfung bereit sind.« - 96 -
»Wie war Stirnrunzeln.
das?«
fragte
Leeming
mit
verwirrtem
»Sie werden in sieben Tagen vom Kommandanten verhört.« »Ich bin schon von Major Klavith vernommen worden.« »Das war mündlich. Klavith ist tot, und wir haben keine Aufzeichnungen von Ihrem Gespräch mit ihm.« Peng fiel die Tür zu. Herein kam der Brei und ein gelbsüchtiger, ungenießbarer Klumpen. Die hiesige Verpflegungsstelle schien eine Vorliebe für Rattenhintern zu besitzen. Der Spaziergang folgte. »Ich habe erfahren, daß sie mich in einer Woche durch die Mühle drehen wollen.« »Laß dich nicht erschrecken«, riet der Rigelaner. »Sie würden dich bedenkenlos umbringen, aber etwas hält sie zurück.« »Nämlich?« »Die Alliierten haben auch viele Gefangene.« »Schon, aber was sie nicht wissen, geht ihnen nicht an die Nieren.« »Die ganze Bevölkerung von Zangasta kann etwas erleben, wenn der Sieger sehr lebendige Gefangene gegen sehr tote tauschen soll.« »Das ist sicher richtig«, räumte Leeming ein. »Vielleicht wäre es nützlich, wenn ich vor dem Kommandanten einen Strick baumeln lassen könnte.« »Es wäre nützlich, wenn ich eine große Flasche Vitz und eine hübsche Frau hätte, die mir das Haar streichelt«, seufzte der Rigelaner. - 97 -
»Wenn du nach zwei Jahren halbverhungerten Daseins so empfinden kannst, was machst du erst bei ordentlicher Verpflegung?« »Das ist alles geistig«, meinte der Rigelaner. »Ich denke gern an das, was hätte sein können.« Wieder der Pfiff. Wieder gründliches Studium, solange es hell war. Wieder eine Schüssel Ersatzporridge. Dunkelheit und ein paar kleine Sterne, die durch den vergitterten Schlitz hoch oben an der Wand lugten. Die Zeit schien stillzustehen, wie sie es immer tut, wenn sie von einer hohen Mauer umgeben ist. Er lag auf der Bank und brachte Gedanken hervor, wie ein Springbrunnen Bläschen sprudelt. Kein Ort, überhaupt kein Ort ist absolut unbezwingbar. Mit Kraft und Hirn, Zeit und Geduld gibt es stets einen Weg hinein oder hinaus. Flüchtende, die beim Ausbruch niedergeschossen wurden, hatten sich den falschen Ort und die falsche Zeit oder die richtige Zeit, aber den falschen Ort oder den richtigen Ort, aber die falsche Zeit ausgesucht. Oder sie hatten die Kraft zugunsten des Hirns vernachlässigt, ein häufiger Fehler der Übervorsichtigen. Oder sie hatten das Hirn zugunsten der Kraft benachteiligt, ein Fehler der Leichtfertigen. Mit geschlossenen Augen dachte er sorgfältig über die Lage nach. Er war in einer Zelle mit Steinwänden von graniterner Härte, mindestens eineinviertel Meter dick. Die einzigen Öffnungen waren ein schmaler, von fünf massiven Stahlgitterstäben versperrter Schlitz und eine gepanzerte Tür, die ständig im Blickfeld patrouillierender Wachen lag. An seinem Körper trug er keine Eisensäge, keinen Dietrich, kein Werkzeug irgendeiner Art, nichts als die zerknitterte Kleidung, in der er schlief. Wenn er die Bank zerlegte und es ihm auf irgendeine Weise gelingen sollte, das geräuschlos zu tun, besäße er mehrere große Holzklötze, ein Dutzend 15 cm - 98 -
lange Nägel und ein paar Stahlbolzen. Nichts davon konnte dazu dienen, die Tür zu öffnen oder die Gitterstäbe durchzusägen. Und anderes Material stand nicht zur Verfügung. Draußen erstreckte sich eine grell beleuchtete Fläche von fünfzig Meter Breite, die überquert werden mußte, wollte man in die Freiheit gelangen. Dann kam eine zwölf Meter hohe, glatte Steinmauer ohne Haltegriffe. Auf der Mauerkrone war der Scheitel viel zu scharf, als daß sich die Füße halten konnten, und es gab einen Alarmdraht, der die Sirenen auslösen würde, sobald man ihn berührte oder durchschnitt. Die große Mauer umgab das gesamte Gefängnis. Sie war achteckig, und an jeder Ecke stand ein Wachtturm mit Aufsehern, Scheinwerfern und Waffen. Wollte man hinausgelangen, würde man die Mauer unter den Augen von Beobachtern, in greller Beleuchtung, ohne den Draht zu berühren bewältigen müssen. Und damit war es noch nicht zu Ende; hinter der Mauer war noch grell beleuchtetes Gebiet zu überqueren. Ein Pechvogel konnte durch irgendein Wunder über die Mauer gelangen und dann beim Spurt in die Dunkelheit zusammengeschossen werden. Ja, das Ganze trug die Handschrift von Leuten, die wußten, wie man Gefangene an Ort und Stelle hielt. Eine Flucht über die Mauer war nahezu, wenn auch nicht ganz unmöglich. Wenn jemand, mit Seil und Enterklaue ausgerüstet, aus Zelle oder Schlafsaal fliehen konnte und wenn er einen wagemutigen Helfer hatte, der in die Stromzentrale eindrang und alles im richtigen Augenblick abschaltete, mochte er es schaffen. Die Mauer hinauf und in völliger Dunkelheit über den toten, reaktionslosen Alarmdraht. In einer Einzelzelle gibt es kein Seil, keine Greifklaue, nichts, woraus sich so etwas herstellen ließe. Es gibt keinen verzweifelten und vertrauenswürdigen Kameraden. Und selbst - 99 -
wenn das alles verfügbar gewesen wäre, hätte er ein solches Unternehmen als nahezu selbstmörderisch betrachtet. Er durchdachte die entlegensten Möglichkeiten und prüfte das Minimum an Hilfsmitteln, die er brauchte, nicht bloß einmal, sondern hundertmal. Bis lange nach Mitternacht hatte er sein Gehirn genug zermartert, so daß es alles mögliche lieferte, darunter auch schon leicht verrückte Ideen. Zum Beispiel: Er konnte einen Plastikknopf von seiner Jacke reißen, verschlucken und hoffen, daß ihm die Folgen eine Verlegung ins Lazarett bringen würden. Gewiß, das Lazarett befand sich innerhalb der Mauer, aber es mochte bessere Fluchtmöglichkeiten bieten. Dann überlegte er noch einmal und entschied, daß Darmschwierigkeiten seine Verlegung nicht unbedingt garantieren würden. Man würde vielleicht nicht mehr tun, als ihm ein starkes Abführmittel in den Hals zu schütten und so seine schon jetzt unangenehme Lage noch zu verschlimmern. Als es zu dämmern begann, kam er zu einer abschließenden Schlußfolgerung. Vierzig oder fünfzig Rigelaner, die geduldig und entschlossen Gruppenarbeit leisteten, mochten einen Tunnel unter der Mauer graben und entkommen können. Aber ihm blieb nur eine einzige Zuflucht. Die List. Etwas anderes konnte er nicht einsetzen. Er stöhnte laut und beklagte sich: »Dann muß ich eben meine beiden Köpfe gebrauchen!« Diese unsinnige Bemerkung begann in seinem Gehirn wie Hefe zu gären. Nach einer Weile setzte er sich verblüfft auf, sah zu dem Stückchen Himmel hinauf und sagte in einem Ton, der seine Stimme umkippen ließ: »Ja klar, das ist es – beide Köpfe!« - 100 -
Leeming nahm sich die Idee immer wieder vor und kam zu dem Schluß, daß es unumgänglich war, einen Gegenstand zu beschaffen. Ein Kreuz oder eine Kristallkugel bietet psychologische Vorteile, auf die man nicht verzichten kann. Sein Ding konnte von beliebiger Form, Größe und Art sein, aus beliebigem Material, solange es sichtbar und unbestreitbar ein Apparat war. Darüber hinaus würde seine Wirksamkeit größer sein, wenn es nicht aus Material bestand, das aus seiner Zelle stammte, wie Teile seiner Kleidung oder Stücke von der Bank. Vorzugsweise sollte es aus Stoff von irgendwoher sein und den unwiderstehlichen Eindruck einer fremdartigen, unbekannten Technologie erwecken. Er bezweifelte, ob ihm die Rigelaner würden helfen können. Sie schufteten zwölf Stunden am Tag in den Werkstätten des Gefängnisses, ein Schicksal, das er teilen würde, sobald man ihn verhört und seine Eignung geprüft hatte. Die Rigelaner stellten Militärhosen und – Jacken, Koppelzeug und Stiefel sowie eine Anzahl einfacher technischer und elektrischer Bauelemente her. Sie verabscheuten es, für den Feind schuften zu müssen, aber die Wahl war einfach: arbeiten oder verhungern. Nach allem, was er erfahren hatte, bestand für sie nicht die geringste Aussicht, etwas wirklich Brauchbares hinauszuschmuggeln, sei es Messer, Stemmeisen, Hammer oder Sägeblatt. Am Ende jeder Schicht wurden die Sklaven in Reihen überprüft, bis jedes einzelne Werkzeug nachgezählt und weggesperrt war. Die ersten fünfzehn Minuten der Mittagspause brachte Leeming damit zu, den Hof nach irgendeinem Gegenstand abzusuchen, der sich als nützlich erweisen konnte. Er wanderte mit gesenktem Kopf herum wie ein ängstliches Kind, das eine verlorene Münze sucht. Das einzige, was er fand, waren ein paar - 101 -
Holzstücke, vier Zoll im Quadrat, ein Zoll dick, und die steckte er in die Tasche, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, was er damit anfangen sollte. Als er mit der Suche fertig war, hockte er sich an die Mauer und flüsterte mit zwei Rigelanern. Er achtete kaum auf die Unterhaltung, und die beiden schlurften davon, als ein neugieriger Aufseher herankam. Später schob sich ein anderer Rigelaner heran. »Terraner, willst du immer noch hier weg?« »Darauf kannst du dich verlassen!« Der andere lachte leise und kratzte sich am Ohr, womit die Rigelaner höfliche Skepsis auszudrücken pflegten. »Ich glaube, wir haben eine bessere Chance, als du sie je bekommen wirst.« Leeming warf ihm einen scharfen Blick zu. »Wieso?« »Wir sind mehr, und wir sind zusammen«, wich der Rigelaner aus, als habe er erkannt, daß er im Begriff war, zuviel zu verraten. »Was kannst du allein erreichen?« In diesem Augenblick fiel Leeming der Ring am ohrenkratzenden Finger des anderen auf. Er war fasziniert. Er hatte das einfache Schmuckstück früher schon gesehen. Eine Anzahl von Rigelanern trugen ähnliche. Ebenso die Aufseher. Die Ringe bestanden aus vier oder fünf Windungen dünnen Drahts, die Enden waren zu den Anfangsbuchstaben des Trägers geformt und verlötet. »Wo hast du den Schmuck her?« fragte er. »Woher habe ich was?« »Den Ring.« - 102 -
»Ach, den.« Der Rigelaner ließ die Hand sinken und betrachtete zufrieden den Ring. »Wir machen sie in der Werkstatt selbst. Dann ist die Arbeit nicht so eintönig.« »Die Aufseher verbieten es euch nicht?« »Sie mischen sich nicht ein. Es schadet ja nicht. Außerdem haben wir eine ganze Menge für die Aufseher selbst gebastelt. Wir haben ihnen auch automatische Feuerzeuge gemacht und könnten sie für uns bauen, wenn wir Verwendung dafür hätten.« Er machte eine Pause, wurde nachdenklich und fügte hinzu: »Wir vermuten, daß die Aufseher Ringe und Feuerzeuge draußen verkaufen. Das heißt, wir hoffen es wenigstens.« »Warum?« »Vielleicht entwickelt sich ein regelrechter Handel. Wenn sie dann voll eingestiegen sind, unterbrechen wir die Lieferung und verlangen eine Beteiligung in Form von Extrarationen und ein paar inoffiziellen Privilegien.« »Gute Idee«, lobte Leeming. »Es wäre für alle Beteiligten nützlich, einen Starverkäufer zu haben, der die Ware in den großen Städten bekannt macht. Kann ich den Posten haben?« Der Rigelaner lächelte schwach und fuhr fort: »Handgemachter Tand spielt keine Rolle. Aber wenn die Aufseher merken, daß auch nur ein kleiner Schraubenzieher fehlt, ist der Teufel los. Auf der Stelle werden alle nackt ausgezogen, und der Sünder wird schwer bestraft.« »Es gäbe aber keine Schwierigkeiten, wenn eine kleine Spule von dem Draht da verschwindet, oder?« »Kaum. Es gibt genug davon, und sie machen sich nicht die Mühe, die Bestände nachzuprüfen. Was kann einer mit einem Stück Draht anfangen?« - 103 -
»Das weiß der Himmel«, gab Leeming zu. »Ich möchte trotzdem etwas.« »Damit kannst du nie im Leben ein Schloß öffnen«, warnte ihn der andere. »Er ist zu weich und zu dünn.« »Ich möchte so viel, daß ich ein paar Negerspangen davon machen kann. Ich sehe mich gern in so was.« »Und was ist das?« »Laß nur. Besorg mir den Draht – das ist alles, was ich verlange.« »Du kannst ihn bald selber stehlen. Sobald du verhört worden bist, schickt man dich in die Werkstätten.« »Ich brauche ihn vorher. Ich brauche ihn so schnell wie möglich. Je mehr, desto besser – und je eher, desto besser.« Der Rigelaner dachte nach und sagte schließlich: »Wenn du einen Plan hast, behalte ihn für dich. Laß bei niemandem ein Wort verlauten. Wenn du den Mund einmal zu oft aufmachst, kommt dir einer zuvor.« »Vielen Dank für den guten Rat, Freund«, sagte Leeming. »Wie steht es jetzt mit dem Draht?« »Wir sehen uns morgen um die gleiche Zeit.« Damit ließ ihn der Rigelaner allein und verschwand in der Menge. Am ändern Tag war er zur vereinbarten Stunde da und gab ihm den Draht. »Das hat dir niemand gegeben, kapiert? Du hast es im Hof gefunden oder es war in deiner Zelle versteckt. Oder du hast es aus dem Blauen hervorgezaubert. Aber gegeben hat es dir niemand.« - 104 -
»Keine Sorge. Ich ziehe dich nicht mit hinein. Und tausend Dank.« Der Draht war eine dicke, taschengroße Spule aus biegsamem Kupfer. Leeming rollte ihn in seiner dunklen Zelle auf. Der Draht maß ein wenig mehr als Leeming selbst, an die zwei Meter. Leeming legte ihn doppelt zusammen, bog ihn hin und her, bis er brach, und versteckte die eine Hälfte unter der Bank. Dann verbrachte er einige Stunden damit, einen Nagel aus dem Bankende zu ziehen. Es war mühsame Arbeit, und seine Finger litten nicht wenig, aber er gab nicht auf, bis der Nagel herauskam. Er griff nach einem der kleinen Holzstücke, maß ungefähr die Mitte und trat den Nagel mit dem Absatz bis zur Hälfte hinein. Im Korridor erklangen Schritte; er schob das Ganze unter die Bank und legte sich gerade noch rechtzeitig hin, als das Guckloch geöffnet wurde. Das Licht flammte auf, ein kaltes Reptilauge blickte herein, jemand brummte etwas. Das Licht erlosch, das Guckloch schloß sich. Leeming machte sich wieder an die Arbeit, drehte den Nagel hin und her und hämmerte von Zeit zu Zeit mit dem Absatz darauf herum. Die Mühe war groß, aber wenigstens hatte er eine Beschäftigung. Er hielt aus, bis er zwei Drittel durch das Holz ein sauberes Loch gebohrt hatte. Dann nahm er die eine halbe Drahtlänge, zerbrach sie in zwei ungleiche Teile und formte das kürzere Stück zu einer Schlaufe mit zwei Enden, von denen jedes acht bis zehn Zentimeter lang war. Er versuchte, die Schlinge so kreisrund wie möglich zu machen. Das längere Stück wand er fest um die Schlinge, so daß sie eine enge gewundene Spule bildete und Enden hatte, die den anderen entsprachen. - 105 -
Er lehnte die Bank an die Mauer, kletterte zum Fenster hinauf und untersuchte sein Werk im Licht der Scheinwerfer, nahm ein paar Veränderungen vor und war zufrieden. Er stellte die Bank wieder an ihren Platz und benutzte den Nagel dazu, an ihrer Kante zwei kleine Einschnitte anzubringen, die dem genauen Durchmesser der Schlinge entsprachen. Schließlich zählte er noch die Windungen der Spirale. Es waren siebenundzwanzig. Diese Einzelheiten in Erinnerung zu behalten war wichtig, weil er aller Wahrscheinlichkeit nach ein zweites Gerät würde herstellen müssen, das so ähnlich wie nur möglich ausfallen mußte. Gerade diese Übereinstimmung würde dazu dienen, den Feind zu beunruhigen. Wenn ein Verschwörer zwei geheimnisvolle Gegenstände anfertigt, die dem Augenschein nach völlig gleich sind, kann man nicht umhin zu vermuten, er wisse, was er tut, und verfolge eine böse Absicht. Um seine Vorbereitungen zu vervollständigen, zwängte er den Nagel wieder dort hinein, wo er hingehörte. Er würde ihn als wertvolles Werkzeug wieder einmal brauchen. Sie würden ihn nicht finden, weil einem Suchenden äußerlich Unberührtes nicht verdächtig erscheint. Vorsichtig zwängte er die vier Enden der umwickelten Schlinge in das gebohrte Loch und machte den Holzwürfel zu einem Tragsockel. Jetzt besaß er ein Gerät, ein Dingsbums, ein Mittel zum Zweck. Er war der Originalerfinder und Alleineigentümer des Leeming-Sowieso-Dingsda. Bestimmte chemische Reaktionen finden nur in Gegenwart eines Katalysators statt, so wie Ehen erst durch die Anwesenheit eines Beamten rechtlich gültig werden. Manche Gleichungen lassen sich nur durch die Einführung einer unbekannten Größe lösen. Wenn man nicht genug zur Verfügung hat, um das gewünschte Resultat zu erreichen, muß man das Fehlende - 106 -
hinzutun. Wenn man Hilfe von außen braucht, die nicht vorhanden ist, muß man sie erfinden. Sooft der Mensch unfähig gewesen war, seine Umwelt mit bloßen Händen zu meistern, war besagte Umwelt vom Menschen plus X überwältigt oder zur Unterwerfung gezwungen worden. So war es von Anbeginn an gewesen: der Mensch plus Werkzeug oder Waffe. Aber X brauchte nichts Konkretes oder Festes zu sein, es mußte nicht tödlich, ja nicht einmal sichtbar sein. Es konnte so ungreifbar und unbeweisbar sein wie die Drohung mit einem Höllenfeuer oder das Versprechen eines Himmels. Es konnte ein Traum sein, eine Illusion, eine faustdicke, ungeheure Lüge – einfach alles. Es gab nur einen einzigen Maßstab: ob es wirkte. Wenn ja, dann war es das Richtige. Mal sehen. Es hatte keinen Sinn, die terranische Sprache zu verwenden, außer vielleicht als Beschwörung, sollte das notwendig werden. Niemand hier verstand Terranisch, für die Leute war es nur fremdartiges Gebrabbel. Außerdem wirkte seine Verzögerungstaktik beim Erlernen der fremden Sprache nicht mehr. Man wußte, daß er sie beinahe schon so gut sprach wie die Einheimischen selbst. Er hielt das zurechtgebogene Objekt in der linken Hand, trat an die Tür, legte das Ohr an das geschlossene Guckloch, lauschte auf das Geräusch von Schritten. Es dauerte zwanzig Minuten, bis jemand in schweren Stiefeln herangepoltert kam. »Bist du da?« rief er, nicht zu laut, aber so, daß man ihn hören konnte. »Bist du da?« - 107 -
Er lief zur Bank, legte sich am Boden auf den Bauch und stellte das Gerät vor sich hin. »Bist du da?« Das Guckloch öffnete sich, das Licht ging an, ein mürrisches Auge blickte herein. Leeming beachtete den Wächter nicht, benahm sich so, als sei er in seine Tätigkeit zu sehr versunken, um zu bemerken, daß ihm jemand zuschaute, und sprach durch die umwickelte Schlinge. »Bist du da?« »Was machen Sie da?« fuhr ihn der Aufseher an. Leeming erkannte die Stimme und kam zu der Meinung, daß ihm zur Abwechslung das Glück doch einmal zu lachen schien. Dieser Mann, ein Trottel namens Marsin, konnte mit einer Pistole zielen und abdrücken oder um Hilfe rufen. In jeder anderen Beziehung konnte man ihn nicht zur Elite zählen. »Was machen Sie da?« wiederholte Marsin mit erhobener Stimme. »Ich rufe«, sagte Leeming, der scheinbar erst jetzt den anderen wahrnahm. »Rufen? Was oder wen?« »Kümmern Sie sich um Ihre eigenen KwilpolAngelegenheiten«, befahl Leeming mit gutgespielter Ungeduld. Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die Schlinge und drehte sie ein paar Grad. »Bist du da?« »Es ist verboten«, sagte Marsin. Leeming stieß einen lauten Seufzer aus wie jemand, der sich geduldig mit Narren abgeben muß und sagte: »Was ist verboten?« - 108 -
»Zu rufen.« »Zeigen Sie Ihre Unwissenheit nicht so deutlich. Meine Gattung darf immer rufen. Wo wären wir, wenn wir das nicht könnten, enk?« Das brachte Marsin gehörig durcheinander. Er wußte nichts von den Erdbewohnern oder den seltsamen Privilegien, die sie als unerläßlich betrachteten. Er hätte auch nicht sagen können, wo sie ohne sie sein würden. Überdies wagte er es nicht, die Zelle zu betreten und dem Ganzen ein Ende zu machen. Einem bewaffneten Aufseher war es strikt verboten, allein eine Zelle zu betreten, und diese Vorschrift wurde streng eingehalten, seitdem ein Rigelaner einen Aufseher niedergeschlagen, ihm die Pistole weggenommen und sechs Bewacher bei seinem Fluchtversuch erschossen hatte. Wenn er sich einmischen wollte, mußte er zum Sergeant gehen und verlangen, daß man etwas unternahm, um fremde, rosighäutige Lebewesen daran zu hindern, Laute durch Schlingen zu schicken. Der Sergeant war ein unliebenswürdiger Mann und neigte dazu, die intimsten Geheimnisse des Privatlebens anderer überall auszuposaunen. Es war die Geisterstunde zwischen Mitternacht und Dämmerung, eine Zeit, in der die Leber des Sergeant am schlechtesten funktionierte. Und letztlich hatte sich Marsin schon viel zu oft als Faplap-Mißgeburt erwiesen. »Sie hören auf zu rufen und schlafen«, erklärte Marsin fast ein wenig verzweifelt, »sonst melde ich Sie- morgen früh dem Offizier vom Dienst.« »Hock dich auf ein Kamel«, forderte ihn Leeming auf. Er drehte die Schlinge so, als müsse er sie sorgfältig einstellen. »Bist du da?« - 109 -
»Ich habe Sie gewarnt«, sagte Marsin, und sein sichtbares Auge trat aus der Höhle, als er die Schlinge betrachtete. »Verschwinde!« brüllte Leeming. Marsin schloß das Guckloch und verschwand. Nach der fast ganz durchwachten Nacht verschlief Leeming am nächsten Tag. Er wurde plötzlich und auf rauhe Weise geweckt. Die Tür sprang krachend auf, und drei Aufseher stürzten herein, gefolgt von einem Offizier. Ohne lange Zeremonie wurde der Gefangene von der Bank gerissen, ausgezogen und pudelnackt in den Korridor gestoßen. Die Bewacher durchsuchten gründlich die Kleidung, während der Offizier dabeistand und zuschaute. Er bewegte sich so graziös, daß Leeming ihn für einen Herrn der anderen Fakultät hielt. Als sie in der Kleidung nichts fanden, befaßten sie sich mit der Zelle. Sofort entdeckte einer von ihnen das Schlingengebilde und gab es dem Offizier, der es mit zwei Fingern hielt, als handle es sich um eine als Blumenbukett getarnte Bombe. Ein anderer Aufseher trat auf das zweite Stück Holz, stieß es weg und ignorierte es. Sie klopften Boden und Wände ab, suchten nach hohlen Geräuschen. Sie zerrten die Bank von der Wand und schauten dahinter nach, kippten sie aber nicht um und sahen sich nicht die Unterseite an. Sie schleppten die Bank aber ständig herum, so daß es Leeming auf die Nerven ging und er beschloß, sich zu entfernen. Er ging, nackt wie er war, durch den Korridor und bot ein Bild völliger Unbekümmertheit. Der Offizier stieß einen Wutschrei aus und zeigte mit dem Finger auf ihn. Die Aufseher stürmten aus der Zelle und brüllten Befehle. Ein vierter Aufseher, vom Lärm angelockt, kam um die - 110 -
Biegung des Ganges und richtete drohend die Pistole auf ihn. Leeming kehrte um und ging langsam zurück. Er blieb vor dem Offizier stehen, der die Zelle verlassen hatte und vor Wut kochte. Leeming nahm eine bescheidene Haltung an und sagte: »Schauen Sie, ›Männlicher Akt am Morgen‹.« Das sagte dem anderen nichts, der mit dem Schlingengebilde wedelte, einen kleinen Wuttanz aufführte und schrie: »Was ist das?« »Mein Eigentum«, erklärte Leeming mit der Würde des Nackten. »Sie haben kein Recht, es zu besitzen. Als Kriegsgefangener dürfen Sie überhaupt nichts haben.« »Wer behauptet das?« »Ich sage es!« antwortete der andere hitzig. »Wer sind Sie?« fragte Leeming uninteressiert. »Bei der Großen Blauen Sonne, ich werde Ihnen zeigen, wer ich bin! Wachen, schafft ihn hinein, und -« »Sie sind nicht der Chef«, unterbrach ihn Leeming selbstsicher. »Der Kommandant ist hier der Chef. Ich sage so, und er sagt so. Wenn Sie diskutieren wollen, fragen wir doch ihn.« Die Aufseher zögerten und wurden immer unsicherer. Sie waren sich darin einig, die Verantwortung dem Offizier zu überlassen. Der war verblüfft. Er starrte den Gefangenen ungläubig an und wurde vorsichtig. »Wollen Sie behaupten, daß Ihnen der Kommandant die Genehmigung erteilt hat, diesen Gegenstand zu besitzen?« »Ich sage Ihnen, daß er die Genehmigung nicht verweigert hat. - 111 -
Und ferner, daß Sie nicht das Recht haben, sie zu geben oder zu verweigern. Wälzen Sie sich in Ihrem eigenen Schweinestall, und versuchen Sie nicht, sich die Stellung Ihrer Vorgesetzten anzumaßen.« »Schweinestall? Was ist das?« »Das verstehen Sie doch nicht.« »Ich werde mit dem Kommandanten darüber sprechen.« Kleinlaut und unsicher wandte sich der Offizier an die Aufseher. »Schafft ihn in seine Zelle zurück, und gebt ihm sein Frühstück wie gewöhnlich.« »Wollen Sie mir nicht mein Eigentum zurückgeben, enk?« fragte Leeming. »Nicht, bis ich mit dem Kommandanten gesprochen habe.« Sie trieben ihn in die Zelle. Er zog sich an. Das Frühstück kam, der unvermeidliche dünne Brei. Leeming beschimpfte die Aufseher, weil sie nicht Bacon and Eggs gebracht hatten. Selbstsicherheit und Angriffslust gehörten dazu, um das Spiel voranzutreiben. Aus irgendeinem Grund erschien der Lehrer nicht, so daß Leeming den Vormittag damit zubrachte, mit Hilfe der Bücher seine Sprachkenntnisse zu verbessern. Mittags ließ man ihn in den Hof, und er merkte nichts von einer Sonderbewachung, während er zwischen den anderen herumging. Der Rigelaner flüsterte: »Ich habe noch eine Drahtspule mitgebracht, für den Fall, daß du was damit anfangen kannst.« Er reichte sie hinüber und sah sie in Leemings Tasche verschwinden. »Mehr klaue ich aber nicht. Frag mich nicht noch einmal. Man kann das Schicksal auch zu oft herausfordern.« »Was ist los? Wird es riskant? Wirst du verdächtigt?« - 112 -
»Bis jetzt ist noch alles in Ordnung.« Er schaute sich vorsichtig um. »Wenn andere Kameraden erfahren, daß ich Draht klaue, fangen sie auch damit an. Sie nehmen ihn mit, um vielleicht herauszubekommen, was ich damit vorhabe, damit sie ihn für den gleichen Zweck verwenden können. Zwei Jahre im Gefängnis sind zwei Jahre Ausbildung in totalem Egoismus. Jeder achtet die ganze Zeit auf irgendeinen echten oder eingebildeten Vorteil, den er einem anderen nehmen kann. Dieses verdammte Leben hier bringt nicht nur unsere beste, sondern auch unsere schlimmste Seite zum Vorschein.« »Verstehe.« »Ein oder zwei kleine Spulen wird man nie vermissen«, fuhr der andere fort. »Sobald es aber richtig losgeht, wird das Zeug in Massen verschwinden. Und dann ist der Teufel los. Ich kann es nicht riskieren, ein allgemeines Durcheinander auszulösen.« »Das soll wohl heißen, ihr könnt im Augenblick keine gründliche Durchsuchung gebrauchen?« fragte Leeming mit Betonung. Der Rigelaner scheute wie ein verängstigtes Pferd. »Das habe ich nicht gesagt.« »Ich kann zwei und zwei genauso gut addieren wie irgendein anderer.« Leeming zwinkerte ihm beruhigend zu. »Ich kann außerdem den Mund halten.« Er sah dem anderen nach, als er davonschlurfte. Dann suchte Leeming im Hof nach weiteren Holzstücken, fand aber nichts. Nun ja, das war nicht so schlimm. Im Notfall kam er auch ohne Holz aus. Es würde ihm sogar nichts anderes übrigbleiben. Der Nachmittag wurde sprachlichen Studien gewidmet, bei denen ihn niemand störte. Das war ein Vorteil, wenn man im Gefängnis saß, vielleicht der einzige. Man konnte sich bilden. - 113 -
Als das Licht zu schwach wurde und die ersten blassen Sterne durch die vergitterte Öffnung in der Wand schienen, bearbeitete er die Tür mit Tritten, bis man das Dröhnen im ganzen Block hören konnte.
8 Schritte trampelten heran, das Guckloch öffnete sich. Es war wieder Marsin. »Du bist es, faplap«, begrüßte ihn Leeming. Er schnaubte verächtlich. »Du hast natürlich plaudern müssen. Du hast dich einschmeicheln müssen, indem du mich beim Offizier gemeldet hast.« Er richtete sich zu voller Höhe auf. »Na, du tust mir wirklich leid. Ich bin fünfzigmal lieber ich als du.« »Leid?« Marsin zeigte Verwirrung. »Warum?« »Weil du leiden wirst.« »Ich?« »Ja, du! Nicht gleich, wenn dir das ein Trost ist. Zuerst mußt du die normale Periode entsetzlicher Vorahnung durchlaufen. Aber schließlich wirst du leiden. Ich rechne nicht damit, daß du mir glaubst. Du brauchst nur abzuwarten, dann siehst du es schon.« »Es war meine Pflicht«, erklärte Marsin halb zu seiner Entschuldigung. »Diese Tatsache wird mildernd berücksichtigt«, versicherte Leeming, »und deine Qualen werden in entsprechendem Maß erleichtert.« - 114 -
»Ich verstehe nicht«, beklagte sich Marsin. Irgendwo in ihm machte sich Angst bemerkbar. »Du wirst es verstehen – eines traurigen Tages. Und ebenso die stinkenden Faplaps, die mich im Hof verprügelt haben. Du kannst ihnen von mir ausrichten, daß ihr Quantum an Schmerzen schon vorbereitet wird.« »Ich darf nicht mit dir sprechen«, sagte Marsin, der dunkel erkannte, daß er um so tiefer in Schwierigkeiten geriet, je länger er am Guckloch stand. »Ich muß gehen.« »Na gut. Aber ich brauche etwas.« »Was?« »Ich will mein Fatschbumdidelzong haben – das Ding, das der Offizier mitgenommen hat.« »Du kriegst es nicht, bevor der Kommandant nicht die Erlaubnis gibt. Er ist heute nicht da und kommt nicht vor morgen früh zurück.« »Das nützt mir nichts. Ich brauche es gleich.« »Du kannst es jetzt nicht haben.« »Na gut.« Leeming winkte gelassen ab. »Ich mache ein neues.« »Es ist verboten«, erinnerte ihn Marsin schwächlich. »Ha-ha«, sagte Leeming. Als es ganz dunkel geworden war, holte er den Draht unter der Bank hervor und stellte ein zweites Drahtgebilde her, das dem ersten zum Verwechseln ähnlich sah. Zweimal wurde er gestört, aber nicht erwischt. Als er fertig war, kippte er die Bank und kletterte hinauf. Er zog die neue Spule, die er am Mittag von dem Rigelaner bekommen hatte, aus der Tasche, knüpfte ein Ende fest um den - 115 -
mittleren Gitterstab und hängte den Draht zum Fensterschlitz hinaus. Mit Spucke und Staub tarnte er die glänzende, kupferne Oberfläche des einen sichtbaren Strangs und vergewisserte sich, daß man ihn nur aus nächster Nähe sehen konnte. Er rutschte hinunter und schob die Bank wieder an ihren Platz. Der Schlitz war so hoch oben angebracht, daß man von unten die Kante und die untersten acht Zentimeter der Gitterstäbe nicht sehen konnte. Er ging zur Tür, lauschte und rief im richtigen Augenblick: »Bist du da?« Als das Licht aufflammte und das Guckloch aufgegangen war, hatte er instinktiv das Gefühl, daß sich eine ganze Gruppe an der Tür drängte und daß das Auge am Guckloch nicht Marsin gehörte. Er ignorierte alles andere, drehte langsam sein Gebilde und rief: »Bist du da? Bist du da?« Nachdem er das Gerät um vierzig Grad gedreht hatte, verlieh er seinem Ton ungeheure Befriedigung und rief aus: »Endlich bist du da! Warum bleibst du nicht in der Nähe, damit wir uns unterhalten können, ohne daß ich dich durch eine Schlinge rufen muß?« Er verstummte und nahm den Ausdruck eines angestrengt Lauschenden an. Das Auge im Guckloch weitete sich, wurde verdrängt, von einem anderen ersetzt. »Na ja«, sagte Leeming und ließ sich zu einem gemütlichen Plausch herbei, »ich zeige sie dir, sobald ich Gelegenheit habe, dann kannst du mit ihnen anstellen, was du für richtig hältst. Verwenden wir lieber unsere eigene Sprache. Hier gibt es zu viele große Ohren.« Er atmete tief ein und ratterte mit enormer Geschwindigkeit und ohne Pause herunter: »Du armer Mann du - 116 -
tust mir leid du hast ein gar so schlechtes Kleid komm her ich kleide dich sogleich und mache dich dann schrecklich reich -« Die Tür sprang auf, öffnete sich weit, und zwei Aufseher stürzten beinahe der Länge nach in die Zelle, vor Hast, einen schnellen Fang zu machen. Zwei andere blieben zusammen mit dem weibischen Offizier draußen stehen. Marsin hielt sich ängstlich im Hintergrund. Ein Aufseher packte das Gebilde, schrie: »Ich hab’s!«, und stürmte hinaus. Sein Begleiter rannte ihm nach. Beide schienen vor Aufregung hysterisch geworden zu sein. Es gab eine Pause von zehn Sekunden, bevor sich die Tür schloß. Leeming nützte sie. Er zielte mit zwei Fingern auf die Gruppe und stach mit der Hand mehrmals durch die Luft. Einem die Teufelshörner anwünschen, hatte man in seiner Kindheit dazu gesagt. Die klassische Geste, jemandem den bösen Blick anzuhexen. »Da sind sie«, rief er dramatisch und sprach mit jemandem, den keiner sehen konnte. »Das sind die schuppenhäutigen Halunken, von denen ich dir erzählt habe. Sie wollen Ärger. Sie mögen ihn, sie lieben ihn, sie leben davon. Gib ihnen soviel, wie sie vertragen können.« Leeming brachte es fertig, sie zu erschrecken, bevor die zufallende Tür ihnen den Blick abschnitt. Er lauschte am Guckloch und hörte sie miteinander murmeln und davonstapfen. Innerhalb von zehn Minuten hatte er ein Stück von dem an den Gitterstäben hängenden Draht abgebrochen und Spucke und Staub an dem verbleibenden Teil wieder ersetzt. Eine halbe Stunde später besaß er ein neues Fatschbumdidelzong. Da ihm das Holz für den Sockel fehlte, verwendete er den lockeren Nagel dazu, im Lehm zwischen den großen Steinplatten, - 117 -
aus denen der Boden seiner Zelle bestand, ein Loch zu graben. Er rammte die Enden der Schlinge hinein, drehte das Gebilde hin und her, bis die rituelle Rotation ohne Schwierigkeiten möglich war. Dann mißhandelte er die Tür aufs schwerste. Als der passende Augenblick kam, lag er auf dem Bauch und zitierte durch die Schlinge den dritten Absatz von Vorschrift 27, Teil 9, Abschnitt B der Raumfahrtbestimmungen. Er hatte ihn ausgewählt, weil er ein Juwel bürokratischer Formulierungskunst war, ein einziger Satz, tausend Worte lang, dessen Sinn nur der liebe Gott kannte. »Wo das Auftanken als Notfallsmaßnahme in einer Station zu erfolgen hat, die nicht amtlich als Heimatstation oder für besondere Zwecke als Heimatstation nach Abschnitt A – fünf Ergänzung A – fünf – B bestimmt ist, soll die genannte Station so behandelt werden, als sei sie nach Abschnitt A – fünf Ergänzung A – fünf B als Heimatstation einzustufen, unter der Voraussetzung, daß der Notfall unter die zugelassene Liste technischer Erfordernisse laut Abschnitt J, neunundzwanzig – dreiunddreißig, fällt, mit den dort folgenden Ergänzungen, soweit auf Heimatstation anwendbar, wo solche -« Das Guckloch klappte auf und zu. Jemand raste in höchstem Tempo davon. Eine Minute später erzitterte der Korridor unter einer großen Kavallerieattacke, wie es schien. Das Guckloch ging wieder auf und zu. Die Tür brach krachend auf. Sie zogen ihn wieder bis auf die Haut aus, durchsuchten seine Kleidung, durchkämmten die Zelle von einem Ende zum anderen. Ihr Benehmen war von einer Art, die jede brüderliche Liebe vermissen ließ. Sie kippten die Bank um, beklopften sie, versetzten ihr Schläge und Tritte, machten alles, abgesehen von einer Besichtigung durch eine starke Lupe. - 118 -
Leeming verfolgte das Schauspiel und ermunterte sie durch bösartiges Kichern. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er kein bösartiges Kichern zustandegebracht hätte. Aber jetzt konnte er es. Die Zahl der Möglichkeiten, wie sich ein Mensch der Lage gewachsen zeigen kann, ist unbegrenzt. Ein Aufseher warf ihm einen vernichtenden Blick zu, lief hinaus, kam mit einer Leiter zurück, stieg hinauf und besichtigte argwöhnisch den Fensterschlitz. Im Grunde war das Unternehmen ein Fehlschlag, weil es ihm lediglich um die Festigkeit der Gitterstäbe ging. Er packte jeden Stab mit beiden Händen und rüttelte daran. Seine Finger berührten den Draht nicht, seine Augen nahmen ihn nicht wahr. Befriedigt stieg er hinunter und wankte mit der Leiter hinaus. Die anderen zogen ab. Leeming kleidete sich an und lauschte am Guckloch. Er nahm leises Atmen und ein gelegentliches Rascheln wahr. Er setzte sich auf die Bank und wartete. Nach kurzer Zeit ging das Licht an, und das Guckloch sprang auf. Er richtete zwei Finger auf das Loch und deklamierte: »Stirb, Faplap!« Die Klappe fiel zu. Schritte entfernten sich viel zu laut. Er wartete. Nach einer halben Stunde völliger Stille zeigte sich das Auge wieder und erntete für seine Mühen erneut einen zweifingrigen Fluch. Fünf Minuten später quittierte es den nächsten. Es war immer dasselbe Auge und schien nicht genug bekommen zu können. Dieses Spiel setzte sich in unregelmäßigen Abständen vier Stunden lang fort, bevor das Auge genug hatte. Leeming stellte sofort eine neue umwickelte Schlinge her, schwätzte aufgeregt hinein und rief eine neue Razzia hervor. Diesmal zog man ihn weder aus noch durchsuchte man die Zelle. Man begnügte sich damit, das Gerät zu beschlagnahmen. Und man zeigte Symptome von Verärgerung. - 119 -
Es blieb gerade noch genügend Draht für einen letzten Blutdrucksteigerer. Leeming beschloß, ihn für künftigen Bedarf aufzuheben und etwas zu schlafen. Mangelhafte Nahrung und ungenügender Schlaf begannen sich auf seine körperlichen Reserven auszuwirken. Er legte sich auf die Bank, seufzte und schloß die rotgeränderten Augen. Nach einiger Zeit begann er so stark zu sägen, daß es für die Gitterstäbe gereicht hätte. Im Korridor rief das eine Panik hervor, und der ganze Haufen stürmte erneut herein. Von dem Lärm geweckt, verdammte Leeming sie in den Orkus. Dann legte er sich wieder hin. Er war todmüde – aber sie auch. Er schlief fest bis zum Mittag, ohne Unterbrechung, vom üblichen miserablen Frühstück abgesehen. Dann kam das übliche miserable Mittagessen. Zur Zeit des Spaziergangs ließ man ihn eingesperrt. Er hämmerte gegen die Tür und trat mit Füßen, verlangte zu wissen, warum er nicht in den Hof durfte, brüllte grausame Drohungen für alle und jeden. Man beachtete ihn nicht. Er setzte sich auf die Bank und dachte nach. Vielleicht war dies eine Form der Vergeltung dafür, daß er sie mitten in der Nacht wie eine Schar aufgeregter Flöhe hatte herumhüpfen lassen. Oder vielleicht war der Rigelaner in Verdacht geraten, und man hatte beschlossen, jeden Kontakt zu verhindern. Auf jeden Fall hatte er den Feind in Unruhe versetzt. Er brachte sie mutterseelenallein, weit hinter der Front, durcheinander. Das war schon etwas. Die Tatsache, daß ein Kämpfer Gefangener ist, bedeutet nicht, daß er aus dem Kampf ausscheidet. Selbst hinter dicken Mauern kann er den Gegner belästigen, seine Zeit - 120 -
und Energie in Anspruch nehmen, seine Moral unterminieren, wenigstens ein paar von seinen Leuten beschäftigen. Der nächste Schritt, entschied er, mußte darin bestehen, den Fluch zu erweitern und zu verstärken. Das mußte er so umfassend wie nur möglich tun. Je weiter er ihn verbreitete und um so vieldeutiger die Ausdrücke waren, die er gebrauchte, desto eher konnte er sich jedes Mißgeschick gutschreiben, das früher oder später einmal eintreten mußte. Das war die Technik der Warnung des Zigeuners. Die Leute neigen dazu, Vieldeutigkeiten einen bestimmten Sinn zu verleihen, sobald sich die Dinge so entwickeln, daß sie einen besonderen Sinn erlangen. Die Leute brauchen auch gar nicht einmal besonders leichtgläubig zu sein. Es genügt, wenn man sie erwartungsvoll stimmt und sie dazu bringt, sich Gedanken zu machen – hinterher. In naher Zukunft wird ein großer, schwarzer Mann deinen Weg kreuzen… Danach paßt jedes männliche Wesen über Durchschnittsgröße, das nicht blond ist, zu diesem Bild. Und jeder Zeitraum von fünf Minuten bis zu fünf Jahren wird als nahe Zukunft akzeptiert. Mamma, als der Mann von der Versicherung hier war, hat er mich ganz fest angelächelt. Weißt du noch, was die Zigeunerin gesagt hat? Um etwas Lohnendes zu erreichen, muß man sich seiner Umwelt anpassen. Unterscheidet sich besagte Umwelt wesentlich von der aller anderen, dann muß auch die Methode der Anpassung eine wesentlich andere sein. Soviel Leeming wußte, war er der einzige Terraner in diesem Gefängnis und der einzige Sträfling in Einzelhaft. Seine Taktik durfte deshalb nichts mit den Plänen der Rigelaner gemein haben. - 121 -
Die Rigelaner führten etwas im Schilde, daran gab es keinen Zweifel. Sie würden nicht grundlos so vorsichtig und geheimnisvoll tun. Es war beinahe gewiß, daß sie einen Tunnel gruben. Vermutlich befand sich eine Gruppe von ihnen auch jetzt unter dem Erdboden, schabte und grub ohne Werkzeug. Holte Gestein und Lehm in jeweils kleinen Mengen heraus. Fortschritte pro Nacht traurige fünf oder sechs Zentimeter. Das beständige, nie aufhörende Risiko, entdeckt, festgenommen und vielleicht erschossen zu werden. Ein auf Jahre berechnetes Projekt, das binnen Minuten mit einem Schrei und dem Rattern von automatischen Waffen beendet werden konnte. Aber um aus einer massiven steinernen Zelle in einem massiven steinernen Gefängnis herauszukommen, braucht man keine verzweifelte und spektakuläre Flucht zu inszenieren. Wenn man geduldig, erfindungsreich, wortgewaltig und verschlagen genug ist, kann man den Feind dazu überreden, die Türen zu öffnen und einen hinauszulassen. Ja, man kann den Witz gebrauchen, den einem Gott gegeben hat. Nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit mußten in- und außerhalb des Gefängnisses verschiedene Dinge passieren, die nicht alle erfreulich für den Feind waren. Irgendein Offizier mußte irgendwann das ärgste Bauchgrimmen bekommen!. Oder ein Soldat mußte von einer Wachtturmleiter fallen und sich das Bein brechen. Jemand mußte ein Bündel Geldscheine oder die Hose oder den Verstand verlieren. Im ferneren Bereich mußte eine Brücke einstürzen. Oder in einer Munitionsfabrik gab es eine Explosion. Oder ein Heerführer wurde vom Schlag getroffen. Er würde eine Trumpfkarte spielen können, wenn es ihm gelang, so zu tun, als habe er die Mehrzahl der Ereignisse - 122 -
verursacht. Das Entscheidende war, es so einzurichten, daß sie nicht wirksam dagegen angehen konnten und auch nicht in der Lage waren, in einer Folterkammer Vergeltung zu üben. Die ideale Strategie war, daß Leeming sie auf eine Weise von seiner Bösartigkeit überzeugte, die ihnen gleichzeitig ihre eigene Machtlosigkeit zum Bewußtsein brachte. Wenn es ihm gelang – und das war ein großes Wenn -, würde man zu dem logischen Schluß kommen, daß es nur eine Methode gab, sich vor ständigem Ärger zu schützen – nämlich Leeming loszuwerden, ohne ihm etwas anzutun. Die Frage, wie dieses phantastische Ergebnis nun praktisch zu erlangen sei, war ein Riesenproblem, das ihn sogar zu Hause entsetzt hätte. Er hätte es wahrscheinlich für unlösbar erklärt – trotz des wichtigsten Grundsatzes der Weltraumeroberung, wonach nichts unmöglich ist. Aber inzwischen hatte Leeming drei einsame Monate hinter sich, in denen eine Lösung hatte heranreifen können – und das Gehirn wurde von der bitteren Notwendigkeit ganz wunderbar angeregt. Es war eine gute Sache, daß er schon eine Idee hatte; es blieben ihm nur noch zehn Minuten, sie in die Tat umzusetzen. Die Tür ging auf, ein Trio von Aufsehern starrte ihn finster an, und einer von ihnen fauchte: »Der Kommandant möchte Sie sofort sprechen. Amasch, Faplap!« Leeming ging hinaus und erklärte: »Ein für allemal, ich bin kein Faplap, kapiert?« Der Aufseher versetzte ihm einen Tritt in den Hintern. Der Kommandant lehnte hinter einem Schreibtisch im Sessel, links und rechts von ihm stand je ein Offizier von niedrigerem Rang. Er war sehr breit gebaut. Seine lidlosen, hornüberzogenen - 123 -
Augen verliehen ihm ein starres, leidenschaftsloses Aussehen, während er den Gefangenen betrachtete. Leeming setzte sich gelassen auf einen Stuhl, und der Offizier auf der rechten Seite brüllte sofort: »Stehen Sie stramm vor dem Kommandanten!« Der Kommandant winkte ab und sagte gelangweilt: »Lassen Sie ihn sitzen.« Schon zu Anfang eine Konzession, dachte Leeming. Er blickte neugierig auf einen Stapel Unterlagen auf dem Schreibtisch. Wahrscheinlich ein vollständiger Bericht über seine Missetaten, dachte er. Das würde sich zeigen. Jedenfalls besaß er ein, zwei Waffen, die er gegen ihre einsetzen konnte. Es wäre schade gewesen, wenn er beispielsweise nicht ihre Unwissenheit hätte ausnützen können. Die Alliierten wußten nichts von den Zangasten. Umgekehrt wußten die Zangasten wenig oder nichts über verschiedene alliierte Lebensformen, einschließlich der terrestrischen. Im Umgang mit ihm hatten sie es mit einer unbekannten Größe zu tun. Und von jetzt an verdoppelte sich diese Größe durch das Hinzufügen von X. »Wie ich höre, sprechen Sie jetzt unsere Sprache«, begann der Kommandant. »Es hat nicht viel Sinn, das zu bestreiten«, gestand Leeming. »Nun gut, Sie werden uns Auskünfte über sich geben.« »Das habe ich schon getan. Bei Major Klavith.« »Das geht mich nichts an. Sie werden meine Fragen beantworten, und zwar wahrheitsgemäß.« Er legte ein Formular vor sich hin und griff nach einem Schreibgerät. »Name des Herkunftsplaneten?« »Erde.« - 124 -
Der Kommandant schrieb ihn phonetisch in seiner eigenen Schrift nieder und fuhr fort: »Name der Rasse?« »Terranisch.« »Name der Gattung?« »Homo nosipaca«, erwiderte Leeming, ohne mit der Wimper zu zucken. Der Kommandant schrieb es auf, machte ein zweifelndes Gesicht und fragte: »Was heißt das?« »Raumdurchstreifender Mensch«, erklärte Leeming. »Hm!« Der andere war sichtlich beeindruckt. »Ihr persönlicher Name?« »John Leeming.« »John Leeming«, wiederholte der Kommandant und schrieb es nieder. »Und Eustachius Vonackertiban«, fügte Leeming beiläufig hinzu. Auch das wurde festgehalten, wenngleich es dem Kommandanten schwerfiel, passende Haken und Schleifen für die Niederschrift von Vonackertiban zu finden. Zweimal bat er Leeming, den fremdartigen Nachnamen zu wiederholen, und zweimal war Leeming ihm gefällig. Der Kommandant betrachtete das Ergebnis, das einem chinesischen Rezept für Gumbosuppe mit verfaulten Eiern glich, und sagte: »Ist es bei Ihnen Brauch, zwei Namen zu haben?« »Gewiß«, versicherte ihm Leeming. »Wir können es nicht vermeiden, wenn man bedenkt, daß es zwei von uns gibt.« Der Zuhörer ließ Brauen zucken, die er nicht besaß, und zeigte leichte Überraschung. - 125 -
»Sie meinen, Sie werden stets paarweise gezeugt und geboren? Jedesmal zwei eineiige männliche oder weibliche Wesen?« »Nein, nein, ganz und gar nicht.« Leeming tat wie jemand, der das Selbstverständliche ausspricht. »Sooft einer von uns geboren wird, erwirbt er sofort einen Eustachius.« »Einen Eustachius?« »Ja.« Der Kommandant runzelte die Stirn, grub in seinen Zähnen, blickte die anderen Offiziere an. Wenn er bei ihnen Hilfe suchte, hatte er Pech gehabt; sie setzten die leeren Mienen von Leuten auf, die eigentlich nur dabei sind, um jemand anders Gesellschaft zu leisten. »Was ist ein Eustachius?« fragte der Kommandant nach einer langen Pause. Leeming starrte ihn fassungslos an. »Das wissen Sie nicht?« »Die Fragen stelle ich. Sie geben die Antworten. Was ist ein Eustachius?« »Etwas Unsichtbares, das Teil eines Ichs ist«, erläuterte Leeming. Dem Kommandanten schien ein Licht aufzugehen. »Ah, Sie meinen eine Seele. Sie geben Ihrer Seele einen eigenen Namen?« »Keine Spur. Ich habe eine eigene Seele, und Eustachius hat eine eigene Seele.« Er fügte hinzu: »Das hoffen wir wenigstens.« - 126 -
Der Kommandant ließ sich zurückfallen und starrte ihn an. Es blieb lange Zeit still, und die beiden anderen Offiziere fuhren fort, sich wie Schaufensterpuppen zu benehmen. Schließlich gestand der Kommandant: »Das verstehe ich nicht.« »In diesem Fall ist klar, daß Sie kein Gegenstück zu Eustachien besitzen«, verkündete Leeming mit aufreizend triumphierender Stimme. »Ihr seid ganz allein auf euch gestellt. Euer Pech.« Der Kommandant schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, verlieh seiner Stimme ein wenig mehr militärische Schärfe und sagte: »Was ist ein Eustachius überhaupt? Erklären Sie mir das so deutlich wie möglich!« »Ich bin kaum in der Lage, das zu verweigern«, gab Leeming mit geheucheltem Widerstreben zu. »Es spielt aber auch keine große Rolle. Selbst wenn Sie ganz begreifen, können Sie nicht das mindeste dagegen tun.« »Das wollen wir abwarten«, meinte der Kommandant erbost. »Hören Sie endlich damit auf, mir auszuweichen, und erzählen Sie mir alles, was Sie über diese Eustachien wissen.« »Jeder Erdenbewohner lebt von der Geburt bis zum Tod ein Doppelleben«, sagte Leeming. »Er existiert in enger geistiger Verbindung mit einem Wesen, das sich stets Eustachius Soundso nennt. Meiner heißt zufällig Eustachius Vonackertiban.« »Sie können dieses Wesen tatsächlich sehen?« »Nein, niemals. Ich kann ihn weder sehen noch riechen noch fühlen.« »Woher wissen Sie denn dann, daß das keine auf die ganze Rasse ausgedehnte Sinnestäuschung ist?« - 127 -
»Erstens, weil jeder Terraner seinen Eustachius hören kann. Ich kann mit meinem lange Gespräche führen, vorausgesetzt, er ist in Reichweite, und ich kann ihn in den Tiefen meines Inneren klar und logisch sprechen hören.« »Mit den Ohren hören Sie ihn nicht?« »Nein, nur mit dem Geist. Die Verbindung ist telepathischer Natur, oder, um genauer zu sein, quasitelepathisch.« »Das kann ich mir vorstellen«, erklärte der Kommandant mit beträchtlichem Sarkasmus. »Man hat Sie laut reden, ja sogar schreien hören. Schöne Telepathie, enk?« »Wenn ich meine Gedanken verstärken muß, um die erforderliche Reichweite zu schaffen, geht es besser, wenn ich sie in Worte kleide. Ähnlich machen es die Leute, die ein Problem zu bewältigen versuchen, indem sie mit sich selbst sprechen. Haben Sie noch nie Selbstgespräche geführt?« »Das geht Sie nichts an. Welchen Beweis haben Sie sonst dafür, daß ein Eustachius nicht auf Einbildung beruht?« Leeming atmete tief ein. »Er hat die Macht, viele Dinge zu tun, für die es sichtbare Beweise gibt.« Er richtete seine Aufmerksamkeit auf den gespannt zuhörenden Offizier auf der linken Seite. »Wenn mein Eustachius beispielsweise einen Groll gegen diesen Offizier hegte und mich von seiner Absicht verständigen würde, ihn die Treppe hinunterfallen zu lassen, und wenn der Offizier bald danach die Treppe hinunterfiele und sich den Hals bräche -« »Wäre das reiner Zufall«, sagte der Kommandant verächtlich. »Möglich«, gab Leeming zu. »Aber es kann auch zu viele Zufälle geben. Wenn ein Eustachius verspricht, daß er vierzig oder fünfzig Dinge hintereinander tut, und wenn sie alle - 128 -
eintreffen, dann hält er entweder seine Versprechungen, oder er ist ein verblüffend klarsehender Prophet. Niemand, ob sichtbar oder unsichtbar, kann die Zukunft so genau voraussehen, und die Eustachien behaupten nicht, Propheten zu sein.« »Mag sein.« »Akzeptieren Sie die Tatsache, daß Sie Vater und Mutter haben?« »Selbstverständlich«, antwortete der Kommandant. »Sie halten das nicht für seltsam oder widernatürlich?« »Gewiß nicht. Es ist unvorstellbar, daß man ohne Eltern geboren werden könnte.« »Und gleichermaßen akzeptieren wir die Tatsache, daß wir Eustachien haben, und wir können uns die Möglichkeit, ohne sie zu existieren, nicht vorstellen.« Der Kommandant dachte nach und sagte zu dem Offizier auf der rechten Seite: »Das hört sich nach wechselseitigem Schmarotzertum an. Es wäre interessant zu erfahren, welchen Nutzen sie gegenseitig daraus ziehen.« »Es hat keinen Zweck zu fragen, was mein Eustachius von mir hat«, warf Leeming ein. »Ich kann es Ihnen nicht sagen, weil ich es nicht weiß.« »Und Sie erwarten, daß ich Ihnen das glaube?« fragte der Kommandant, womit er bewies, daß er sich von niemandem hereinlegen ließ. Er zeigte sein Gebiß. »Wie Sie selbst behaupten, können Sie mit ihm sprechen. Warum haben Sie ihn nie danach gefragt?« »Wir Terraner haben es schon vor sehr, sehr langer Zeit aufgegeben, diese Frage zu stellen. Das Thema ist fallengelassen worden, man findet sich mit den Dingen ab.« - 129 -
»Weshalb?« »Die Antwort ist immer dieselbe. Eustachien geben bereitwillig zu, daß wir für ihr Dasein unabdingbar sind, können aber nicht erklären, wie, da sie keine Möglichkeit besitzen, uns das begreiflich zu machen.« »Das könnte eine Ausrede sein, ein Ausweichen aus Gründen des Selbstschutzes«, meinte der Kommandant. »Sie sagen es euch nicht, weil ihr es nicht wissen sollt.« »Nun, und was sollen wir Ihrer Meinung nach dagegen tun?« Der Kommandant ging nicht darauf ein. »Welchen Nutzen zieht ihr aus der Gemeinschaft?« fragte er statt dessen. »Was hilft euch ein Eustachius?« »Er bietet Gesellschaft, Trost, Information, Rat und -« »Und was?« Leeming beugte sich vor, die Hände auf den Knien, und schleuderte es ihm entgegen. »Wenn nötig, Rache!« Das saß. Der Kommandant ließ sich zurückfallen und gab gleichzeitig Zorn und Skepsis zu erkennen. Die beiden rangniederen Offiziere verrieten Betroffenheit. Eigentlich ein Scheißkrieg, wenn man befürchten mußte, von einem Gespenst niedergemacht zu werden. Der Kommandant nahm sich zusammen und zwang sich zu einem grimmigen Lächeln, während er erklärte: »Sie sind ein Gefangener. Sie sind schon seit vielen Tagen eingesperrt. Ihr Eustachius scheint noch nicht viel dagegen unternommen zu haben.« »Noch nicht«, bestätigte Leeming heiter. - 130 -
»Was soll das heißen, noch nicht?« »Da er auf einer feindlichen Welt unbehindert umherschweifen kann, gibt es genügend wichtige Dinge für ihn zu tun, die ihn einige Zeit in Anspruch nehmen. Er hat viel getan und wird noch viel tun, alles zu seiner Zeit und auf seine eigene Weise.« »Tatsächlich? Und was hat er vor?« »Warten Sie nur ab«, riet ihm Leeming. Das erfüllte sie nicht mit Freude. »Niemand kann mehr als einen halben Terraner einsperren«, fuhr Leeming fort. »Die feste, sichtbare, greifbare Hälfte. Die andere Hälfte kann durch keine erdenkliche Methode festgehalten werden. Sie entzieht sich jeglicher Kontrolle. Sie wandert frei herum, sammelt Informationen von militärischem Wert, leistet sich ein klein wenig Sabotage, tut, was ihr einfällt. Sie haben diese Lage geschaffen und sitzen jetzt fest damit.« »Wir haben sie geschaffen? Wir haben Sie nicht aufgefordert, herzukommen. Sie haben sich ungefragt aufgedrängt.« »Ich hatte keine Wahl, weil ich zu einer Notlandung gezwungen war. Es hätte ja auch eine freundlich gesinnte Welt sein können. Sie war es nicht. Wer trägt die Schuld daran? Wenn Sie darauf bestehen, gemeinsam mit dem Kombinat gegen die Alliierten zu kämpfen, müssen Sie auch die Konsequenzen tragen – einschließlich aller Entscheidungen, die Eustachius für richtig hält.« »Nicht, wenn wir Sie töten«, sagte der Kommandant bissig. Leeming lachte verächtlich. »Das würde alles nur noch hundertmal schlimmer machen.« »In welcher Beziehung?« - 131 -
»Die Lebensspanne eines Eustachius ist länger als die seines terranischen Partners. Wenn ein Mensch stirbt, dauert es sieben bis zehn Jahre, bevor sein Eustachius verschwindet. Wir haben ein altes Lied, wo es dem Sinn nach heißt, alte Eustachien sterben nie, sie verblassen langsam. Unsere Welt besitzt Tausende von einsamen, abgetrennten Eustachien, die langsam verblassen.« »Und?« »Bringen Sie mich um, dann isolieren Sie meinen Eustachius. Seine Tage sind gezählt, und das weiß er. Er hat nichts mehr zu verlieren, weil ihn die Rücksicht auf meine Sicherheit nicht mehr bindet. Weil ich tot sein werde, kann er mich aus seinen Plänen streichen und seine ungeteilte Aufmerksamkeit anderen Dingen widmen.« Er betrachtete seine Zuhörer, während er schloß: »Man darf davon ausgehen, daß er Amok laufen und eine Orgie der Zerstörung veranstalten wird. Vergessen Sie nicht, für ihn sind Sie eine fremdartige Lebensform. Im Hinblick auf Sie wird er keine Gefühle, kein Mitleid haben.« Der Kommandant dachte darüber nach. Es fiel äußerst schwer, dies alles zu glauben, und sein Instinkt neigte dazu, es rundweg zu verwerfen. Vor der Eroberung des Weltraums war es aber ebenso schwer gewesen, noch viel ausgefallenere Dinge zu glauben, die man jetzt als selbstverständlich ansah. Er wagte nicht, das ganze als Unsinn abzutun; die Zeit, in der man es sich hatte leisten können, dogmatisch zu sein, war längst vorbei. Durch die Weltraumabenteuer des Kombinats und der Alliierten war von einer unvorstellbaren Zahl von Milchstraßen, aus denen das Universum bestand, kaum eine Galaxis erobert; niemand konnte sagen, was für unglaubliche Geheimnisse noch enträtselt werden würden, vielleicht einschließlich solcher Wunder wie Eustachien. - 132 -
Ja, die Dummen glauben, weil sie leichtgläubig sind – oder sie sind wegen ihrer Dummheit leichtgläubig. Die Intelligenten nehmen nicht blindlings hin, aber sie kennen ihre eigene Unwissenheit und weisen deshalb das Unglaubliche nicht zurück. Der Kommandant war sich in diesem Augenblick der allgemeinen Unwissenheit bezüglich dieser als Terraner bekannten Lebensform nur zu deutlich bewußt. Es konnte sein, daß sie Doppelwesen waren, halb Joe, halb Eustachius. »Das alles ist nicht unmöglich«, entschied er schwerfällig, »aber es kommt mir recht unwahrscheinlich vor. Im Kombinat sind mehr als zwanzig Lebensformen mit uns verbündet. Ich kenne keine einzige, die in naturgegebener Partnerschaft mit einer zweiten lebt.« »Die Lathier«, widersprach Leeming und nannte damit die Führer der Opposition, die eigentlichen Verursacher des Kriegs. Der Kommandant war verblüfft. »Sie meinen, sie haben auch Eustachien?« »Nein. Sie besitzen etwas Ähnliches, aber Minderwertigeres. Jeder Lathier wird unbewußt von einem Wesen gesteuert, das sich Macke Soundso nennt. Davon wissen sie natürlich nichts. Wir wüßten es auch nicht, wenn uns unsere Eustachien nicht Bescheid gesagt hätten.« »Wie sind sie dahintergekommen?« »Wie Sie wissen, sind die größten Schlachten bisher alle im lathischen Sektor geschlagen worden. Beide Seiten haben Gefangene gemacht. Unsere Eustachien berichteten uns, jeder lathische Gefangene besitze eine lenkende Macke, ahne aber zu seinem Glück nichts davon.« Er grinste und fügte hinzu: »Sie haben deutlich gemacht, daß ein Eustachius von einer Macke - 133 -
nicht gerade viel hält. Anscheinend ist eine Macke eine ziemlich niedrige Form des Begleitlebens.« Der Kommandant sagte stirnrunzelnd: »Das ist etwas Konkretes, etwas, was wir selbst nachprüfen könnten. Wie wollen wir das aber anstellen, wenn die Lathier nichts davon ahnen?« »Ganz einfach«, sagte Leeming. »Die Lathier haben eine ganze Anzahl von terranischen Gefangenen. Sorgen Sie dafür, daß die Gefangenen einzeln und getrennt danach gefragt werden, ob jeder Lathier eine Macke hat.« »Genau das werden wir tun«, knurrte der Kommandant in der Art eines Mannes, der entschlossen ist, den anderen festzunageln. Er wandte sich an den rechts sitzenden Offizier. »Bajashim, funken Sie ein Signal an unseren leitenden Verbindungsoffizier im lathischen Hauptquartier, und weisen Sie ihn an, die Gefangenen zu verhören.« »Sie können es gleich doppelt nachprüfen, wenn Sie schon dabei sind«, warf Leeming ein, »damit es auch wirklich seine Richtigkeit hat. Für uns gilt jeder, der sein Leben mit einem unsichtbaren Wesen teilt, als Heini. Fragen Sie die Gefangenen, ob alle Lathier Heinis sind.« »Notieren Sie das, und geben Sie es durch«, befahl der Kommandant. Er wandte sich wieder Leeming zu. »Da Sie Ihre erzwungene Landung und Festnahme nicht voraussehen konnten und da Sie in Einzelhaft gewesen sind, besteht keine Möglichkeit der Absprache zwischen Ihnen und weitentfernten terranischen Gefangenen.« »Das ist richtig.« »Ich werde deshalb die Beurteilung Ihrer Angaben von der Antwort abhängig machen, die wir auf unser Signal bekommen.« - 134 -
Er starrte den anderen durchdringend an. »Wenn diese Antwort Ihre Behauptungen nicht bestätigt, steht fest, daß Sie in mancher Beziehung ein schamloser Lügner sind und vermutlich in jeder Beziehung die Unwahrheit sagen. Bei uns gibt es ganz besondere und sehr wirksame Methoden für den Umgang mit Lügnern«, drohte der Kommandant. »Das liegt nahe. Aber wenn die Antworten meine Angaben bestätigen, wissen Sie, daß ich die Wahrheit gesagt habe, nicht wahr?« »Nein«, sagte der Kommandant heftig. Nun war Leeming an der Reihe, schockiert zu sein. »Weshalb nicht?« Die Lippen des Kommandanten wurden schmal. »Wie ich bereits erwähnt habe, kann es praktisch keine direkte Verständigung zwischen Ihnen und anderen terranischen Gefangenen gegeben haben. Das besagt aber nichts. Es kann eine Absprache zwischen Ihrem Eustachius und den Eustachien der anderen stattgefunden haben.« Er beugte sich zur Seite, riß eine Schublade auf, stellte ein Kupferdrahtgebilde auf den Schreibtisch. Dann noch eines und noch eines. Eine ganze Sammlung. »Nun«, sagte er mit bösartigem Triumph in der Stimme, »was haben Sie dazu zu sagen?« - 135 -
9 Leeming geriet in einen Zustand, der an Panik grenzte. Der Pilot begriff, was der andere meinte. Er konnte mit seinem Eustachius reden, der seinerseits andere Eustachien zu verständigen vermochte. Und die anderen Eustachien konnten mit ihren gefangengehaltenen Partnern sprechen. Jetzt zieh dich aus deiner eigenen Schlinge! Er besaß einen scharfen Verstand, aber nach drei Monaten mangelhafter Ernährung litt Leeming an Konzentrationsstörungen. Die Unterernährung machte sich schon bemerkbar. Das Denken fiel ihm immer schwerer. Die drei hinter dem Schreibtisch warteten, betrachteten sein Gesicht, zählten die Sekunden, die er brauchte, um eine Antwort zu finden. Je länger es dauerte, um so schwächer würde die Antwort sein. Je schneller ihm etwas Gutes einfiel, desto plausibler würde es klingen. Hohn und Befriedigung begannen sich auf ihren Gesichtern auszubreiten, und er war völlig entnervt, als ihm endlich eine Idee kam. »Sie irren sich in zweifacher Hinsicht.« »Erklären Sie das.« »Erstens kann ein Eustachius über eine so gewaltige Entfernung nicht mit einem anderen Verbindung aufnehmen. Seine geistige Leistung reicht einfach nicht so weit. Um von Planet zu Planet sprechen zu können, braucht er die Hilfe eines Terraners, der seinerseits eine Funkausrüstung zur Verfügung hat.« - 136 -
»Dafür haben wir nur Ihre Behauptung«, erinnerte ihn der Kommandant. »Wenn ein Eustachius tatsächlich unbegrenzt Verbindung aufnehmen könnte, täten Sie klug daran, das zu verheimlichen. Sie wären ein Dummkopf, wenn Sie es zugeben würden.« »Ich kann nicht mehr tun, als Ihnen mein Wort darauf zu geben, ohne Rücksicht, ob Sie es glauben oder nicht.« »Ich glaube es nicht – noch nicht.« »Keine terrestrische Kampfgruppe ist zu meiner Rettung herbeigeeilt, wie es der Fall gewesen wäre, wenn mein Eustachius Bericht erstattet hätte.« »Pah!« sagte der Kommandant. »Man würde hierher viel länger brauchen, als Sie bisher in Gefangenschaft gewesen sind. Wahrscheinlich zweimal so lange. Und dann müßte noch das Wunder geschehen, daß die Schiffe unterwegs nicht zerstört werden. Das Ausbleiben einer Rettungstruppe besagt gar nichts.« Er wartete auf eine Antwort, die nicht kam, und schloß: »Wenn Sie noch etwas zu sagen haben, sollte es lieber überzeugend sein.« »Das ist es«, versicherte Leeming. »Und wir haben nicht mein Wort dafür, sondern das Ihre.« »Unsinn! Ich habe über die Eustachien nichts gesagt.« »Im Gegenteil, Sie haben gesagt, daß es eine Absprache zwischen ihnen geben könnte.« »Na und?« »Eine Absprache ist nur möglich, wenn es Eustachien wirklich gibt, und dann sind meine Angaben wahr. Habe ich aber gelogen, dann gibt es keine Eustachien, und eine Verschwörung zwischen nichtvorhandenen Wesen kann es ja wohl nicht geben.« - 137 -
Der Kommandant blieb regungslos sitzen, während sein Gesicht purpurrot anlief. Er fühlte sich wie ein in die eigene Falle geratener Fallensteller und sah auch so aus. Der links von ihm sitzende Offizier schien sich große Mühe geben zu müssen, ein spöttisches Kichern zu unterdrücken. »Wenn Sie nicht an Eustachien glauben«, fuhr Leeming unerbittlich fort, »dann können Sie auch nach den Gesetzen der Logik nicht an eine Verschwörung zwischen ihnen glauben. Glauben Sie dagegen an die Möglichkeit einer Absprache, dann müssen Sie auch an die Eustachien glauben. Vorausgesetzt, daß Sie bei Verstand sind.« »Wache!« brüllte der Kommandant. Er streckte zornig den Finger aus. »Bringt ihn in seine Zelle zurück.« Gehorsam trieb man den Gefangenen durch die Tür, als der Kommandant es sich anders überlegte und schrie: »Halt!« Er packte ein Drahtgebilde und fuchtelte wild damit herum. »Woher haben Sie das Material dafür?« v »Mein Eustachius hat es mir gebracht. Wer denn sonst?« »Aus meinen Augen!« »Merse, Faplap!« riefen die Aufseher und stießen ihm die Pistolen in den Rücken. »Amasch! Amasch!« Den Rest des Tages und den ganzen nächsten verbrachte er liegend oder sitzend auf der Bank, ließ an sich vorüberziehen, was geschehen war, plante die nächsten Schritte und bewunderte in entspannteren Augenblicken seine Begabung zum Aufschneider. Ab und zu fragte er sich, wie seine Bemühungen, mit geistigen Waffen freizukommen, wohl abschneiden würden, wenn man sie mit den Anstrengungen der Rigelaner verglich, die ihr Ziel mit den nackten Händen zu erreichen versuchten. - 138 -
Wer machte die größten Fortschritte? Und wichtiger noch: Wer würde sich die einmal gewonnene Freiheit erhalten können? Eines stand fest: Seine Methode war für einen unterernährten und geschwächten Körper weniger anstrengend, wenn auch strapaziöser für die Nerven. Ein weiterer Vorteil war, daß er seine Gegner vorübergehend von ihrer Absicht abgelenkt hatte, ihn nach militärischen Informationen auszuquetschen. Oder doch nicht? Von ihrem Standpunkt aus waren seine Eröffnungen über die Doppelnatur der Terraner möglicherweise viel bedeutsamer als Einzelheiten über die Bewaffnung, die noch dazu falsch sein mochten. Trotzdem hatte er für eine Weile ein sonst sicherlich unbarmherziges Verhör vermieden. Durch das Hinausschieben der Qual hatte er der Perle der Weisheit, nämlich, daß Frechheit siegt, neuen Glanz verliehen. Weil es ihm gerade so paßte, wartete er ab und ließ sich, als das Guckloch aufging, bei einer tiefgefühlten Danksagung an seinen Eustachius für nicht näher bezeichnete Dienste überraschen. Wie erwartet, veranlaßte das den nervösen Marsin zu der Überlegung, wer nun wohl am Scheideweg stand und das erste Opfer des mutwilligen Eustachius werden würde. Der Sergeant würde sicher auch bald darüber nachzudenken beginnen, ebenso wie später die Offiziere. Gegen Mitternacht, als er noch immer nicht einschlafen konnte, fiel ihm ein, daß es keinen Sinn hatte, alles nur halb zu tun. Wenn etwas wert ist, getan zu werden, lohnt es sich auch, es richtig zu machen – und das gilt für das Lügen ebenso wie für alles andere. Warum sich damit begnügen, nur ein wissendes Lächeln aufzusetzen, sobald der Feind von einem kleinen Mißgeschick ereilt wurde? - 139 -
Seine Taktik konnte viel weiter ausgebaut werden. Keine Lebensform war vor den Wechselfällen des Schicksals sicher. In jedem Winkel des Kosmos gab es Glück und Unglück. Es war nicht einzusehen, weshalb Eustachius nicht für beides verantwortlich sein sollte, warum er, Leeming, nicht die damit verbundene Macht, zu belohnen und zu strafen, ausüben sollte. Auch das war noch nicht die Grenze. Glück und Unglück sind positive Phasen des Daseins. Er konnte die neutrale Zone überqueren und die negativen Phasen miteinbeziehen. Durch Eustachius konnte er darauf Anspruch erheben, nicht nur für bestimmte Ereignisse verantwortlich zu sein, seien es schlechte oder gute, sondern auch für Nichtgeschehenes. Solange nichts Besonderes geschah, konnte er sich auf Dinge beziehen, die sich nicht ereignet hatten. Der Drang, gleich anzufangen, war unwiderstehlich. Er rollte sich von der Bank und behämmerte die Tür von oben bis unten. Die Wache hatte eben gewechselt, denn das hereinblickende Auge gehörte Kolum, einem Burschen, der vor nicht allzu langer Zeit einen Tritt in das verlängerte Rückgrat ausgeteilt hatte. Kolum stand eine Stufe über Marsin, weil er, gab man ihm genügend Zeit zum Überlegen, alle seine zwölf Finger abzählen konnte. »Sie sind es also!« sagte Leeming und heuchelte gewaltige Erleichterung. »Das freut mich sehr. Ich habe mich mit Ihnen in der Hoffnung angefreundet, daß er Sie in Ruhe läßt, daß er Sie wenigstens für kurze Zeit nicht belästigt. Er ist viel zu impulsiv und viel zu heftig. Ich sehe deutlich, daß Sie intelligenter sind als die anderen Aufseher und sich deshalb vielleicht bekehren lassen. Ich habe ihm klargemacht, daß Sie offenkundig zu zivilisiert sind, um Sergeant zu sein. Er ist schwer zu überzeugen, aber ich gebe mir wirklich alle Mühe.« - 140 -
»Hn?« sagte Kolum, halb geschmeichelt, halb erschrocken. »Er hat Sie also wenigstens vorerst in Ruhe gelassen«, sagte Leeming, wohl wissend, daß der andere nicht in der Lage war, das zu bestreiten. »Er hat Ihnen nichts getan – noch nicht.« Er steigerte den Ausdruck tiefer Befriedigung auf seinem Gesicht. »Ich werde alles versuchen, ihn im Zaum zu halten. Nur die Stupiden, die Brutalen verdienen einen langsamen Tod.« »Das ist wahr«, gab Kolum eifrig zu. »Aber was -« »Wohlgemerkt«, unterbrach Leeming entschieden, »es hängt von Ihnen ab, zu beweisen, daß mein Vertrauen gerechtfertigt ist, und sich damit vor dem Schicksal zu bewahren, das die Begriffsstutzigeren heimsuchen wird. Die Gehirne sind dazu geschaffen worden, daß man sie gebraucht, nicht wahr?« »Ja, aber -« »Diejenigen, die kein Gehirn besitzen, können auch nicht gebrauchen, was sie nicht haben, oder?« »Nein, aber -« »Um Ihre Intelligenz unter Beweis zu stellen, brauchen Sie nichts anderes zu tun, als dem Kommandanten eine Nachricht zu überbringen.« Kolums Augen traten entsetzt hervor. »Unmöglich. Ich wage nicht, ihn um diese Zeit zu stören. Der Wachhabende erlaubt es nicht. Er wird -« »Es wird nicht von Ihnen verlangt, daß Sie die Nachricht sofort überbringen. Sie muß ihm persönlich übermittelt werden, sobald er am Morgen erwacht.« »Das ist etwas anderes«, sagte Kolum erleichtert. »Ich muß Sie aber darauf hinweisen, daß er Sie bestrafen wird und nicht mich, wenn ihm die Nachricht mißfällt.« - 141 -
»Er wird mich nicht bestrafen, um nicht von mir bestraft zu werden«, versicherte Leeming, als betone er eine beweisbare Tatsache. »Schreiben Sie meine Nachricht auf.« Kolum lehnte seine Waffe an die gegenüberliegende Wand des Korridors und kramte Bleistift und Papier aus der Tasche. Seine Augen nahmen einen gehetzten Ausdruck an, als er sich auf die schwere Aufgabe vorbereitete, eine Anzahl von Worten niederzuschreiben. »›An den Allerhöchsten Dreckhalunken‹«, begann Leeming. »Was heißt ›Dreckhalunke‹?« fragte Kolum, während er sich damit abplagte, die fremden terrestrischen Worte phonetisch niederzuschreiben. »Das ist ein Titel. Er bedeutet ›Eure Hoheit‹. Und wie hoch er ist!« Er diktierte weiter, nachdem er sich kräftig in die Nase gezwickt hatte, sprach aber ganz langsam, um mit Kolums literarischem Talent Schritt zu halten. »›Die Nahrung ist ungenügend und von sehr schlechter Qualität. Ich bin körperlich geschwächt. Ich habe viel Gewicht verloren, meine Rippen treten hervor. Mein Eustachius mag das nicht. Je dünner ich werde, desto bedrohlicher wird er. Die Zeit kommt schnell näher, wo ich jede Verantwortung für sein Verhalten ablehnen muß. Ich bitte deshalb Eure Allerhöchste Dreckhalunkenschaft, sich ernsthaft mit dieser Angelegenheit zu befassen.‹« »Das sind viele und manchmal sehr lange Wörter«, beklagte sich Kolum. »Ich muß sie lesbarer schreiben, sobald mein Dienst beendet ist.« »Ich weiß, und ich erkenne die Mühe an, die Sie sich meinetwegen machen.« Leeming schenkte ihm einen strahlenden Blick brüderlicher Zuneigung. »Deshalb bin ich auch überzeugt, - 142 -
daß Sie lange genug am Leben bleiben werden, um den Auftrag auszuführen.« »Ich muß länger leben«, forderte Kolum, während seine Augen wieder hervortraten. »Ich habe ein Recht zu leben, nicht wahr?« »Genau dieses Argument verwende ich auch immer«, sagte Leeming in der Art eines Menschen, der sich die ganze Nacht damit abgemüht hat, das Unwiderlegliche durchzusetzen, ohne jedoch schon für den Erfolg garantieren zu können. »Ich darf nicht mehr mit Ihnen reden«, erklärte Kolum und griff nach seiner Waffe. »Ich sollte mich überhaupt nicht mit Ihnen unterhalten. Wenn der Wachhabende davon erfährt, wird er -« »Die Tage des Wachhabenden sind gezählt«, sagte Leeming gemessen. »Er wird nicht lange genug leben, um zu wissen, daß er tot ist.« Kolum, der schon die Hand ausgestreckt hatte, um das Guckloch zu schließen, erstarrte und sah aus, als habe man ihm eine mit nassem Sand gefüllte Socke auf den Schädel geschlagen. Dann sagte er: »Wie kann jemand lange genug leben, um zu wissen, daß er tot ist?« »Das hängt von der Tötungsmethode ab«, erläuterte Leeming. »Es gibt welche, von denen Sie noch nie gehört haben und die Sie sich nicht vorstellen können.« An dieser Stelle fand Kolum das Gespräch unerträglich. Er schloß das Guckloch. Leeming kehrte zur Bank zurück und streckte sich aus. Das Licht erlosch. Sieben Sterne guckten durch den Fensterschlitz – und sie waren nicht unerreichbar. Am nächsten Morgen kam das Frühstück eine halbe Stunde später als sonst, bestand aber aus einer vollen Schüssel - 143 -
lauwarmem Mus, zwei dicken mit Fett bestrichenen Scheiben Brot und einer großen Tasse warmer Flüssigkeit, die entfernt an schwachen Kaffee erinnerte. Er verschlang das Ganze mit wachsendem Triumphgefühl. Im Gegensatz zu dem, was er bisher bekommen hatte, ließ diese Mahlzeit den Tag zu einem Fest werden. Seine Laune besserte sich, je voller sein Magen wurde. Weder an diesem noch am nächsten Tag wurde er zu einem zweiten Verhör geholt. Der Kommandant unternahm über eine Woche lang nichts. Augenscheinlich erwartete seine Dreckhalunkenschaft noch immer eine Antwort aus dem lathischen Sektor und spürte keine Neigung, vorher etwas zu veranlassen. Die Mahlzeiten blieben jedoch reichhaltiger ,ein Umstand, den Leeming als deutlichen Beweis dafür auffaßte, daß jemand sich gegen ein Unglück rückzuversichern wünschte. Eines frühen Morgens dann ging es bei den Rigelanern los. Von der Zelle aus waren sie zu hören, aber nicht zu sehen. Jeden Tag, etwa eine Stunde nach Hellwerden, verklang das Trampeln ihrer zweitausend Paar Füße irgendwo in Richtung der Werkstätten. Gewöhnlich war das alles, was man hören konnte, keine Stimmen, keine beiläufige Unterhaltung, nur das müde Schlurfen von Füßen und das gelegentliche Brüllen eines Aufsehers. Diesmal kamen sie singend heraus, und ihre rauhen Stimmen klangen trotzig. In donnernder Disharmonie brüllten sie etwas von ›Asta Zangasta ist ein alter Knilch, hat Flöhe am Bauch und Dreck in der Milch‹. Eigentlich hätte es kindisch und sinnlos klingen müssen. Davon konnte aber keine Rede sein. Der gemeinsame Gesang schien eher eine unausgesprochene Drohung zu enthalten. - 144 -
Aufseher schrien auf sie ein. Das Singen wurde lauter, der Trotz steigerte sich mit der Lautstärke. Leeming stand unter seinem Fenster und lauschte angestrengt. Das war die erste Erwähnung von Asta Zangasta, vermutlich der König, Kaiser oder führende Bandit dieses Planeten. Das Brüllen von zweitausend Stimmen schwoll zum Krescendo an. Die Wachen tobten und wurden vom Geschrei übertönt. Irgendwo fiel ein Warnschuß. Die Soldaten in den Wachttürmen schoben ihre Gewehre herum und senkten die Läufe nach unten. »Oh, Asta Zangasta, der hat tausend Laster!« schrien die Rigelaner, als sie zum Ende ihres epischen Gedichts kamen. Es folgten Hiebe, Schüsse, Gepolter, Wutschreie. Eine Gruppe von zwanzig bewaffneten Aufsehern raste plattfüßig an Leemings Fenster vorbei, dem unsichtbaren Schauplatz des Geschehens entgegen. Das Getümmel hielt eine halbe Stunde an, bis es langsam erstarb. Die Stille danach konnte man beinahe fühlen. Zur Zeit des Spaziergangs hatte Leeming den Hof für sich allein. Außer ihm war nicht ein Gefangener zu sehen. Er lief bedrückt und verwirrt umher, bis er Marsin begegnete. »Wo sind die anderen? Was ist mit ihnen geschehen?« »Sie haben sich schlecht benommen und viel Zeit verloren. Sie müssen in den Werkstätten bleiben, bis sie den Produktionsausfall wettgemacht haben. Es ist ihre eigene Schuld. Sie haben zu spät mit der Arbeit begonnen, um die Leistung zu vermindern. Wir hatten nicht einmal Zeit, sie zu zählen.« Leeming grinste ihm ins Gesicht. »Und ein paar Aufseher sind verletzt worden?« »Ja«, gab Marsin zu. - 145 -
»Nicht ernst«, meinte Leeming. »Nur so, daß sie einen Vorgeschmack davon haben, was sie erwartet. Bedenken Sie das!« »Was wollen Sie damit sagen?« »Sie haben es gehört – bedenken Sie es.« Dann fügte er hinzu: »Aber Sie sind nicht verletzt worden. Denken Sie auch darüber nach!« Er schlenderte davon und ließ Marsin verwirrt und unsicher zurück. Sechsmal trottete er um den Hof, wobei er angestrengt nachdachte. Die plötzliche Rebellion der Rigelaner hatte alle in Unruhe versetzt. Leeming fragte sich, was den Aufruhr ausgelöst haben mochte. Wahrscheinlich hatten sie es getan, um einmal kurz aus der Eintönigkeit der Gefangenschaft und ihrer Verzweiflung auszubrechen. Pure Langeweile kann zu den verrücktesten Einfallen führen. Bei der siebten Runde überlegte er immer noch, als ihm plötzlich eine Bemerkung einfiel, die ihn mit der Wucht eines Hammerschlags traf. ›Wir hatten nicht einmal Zeit, sie zu zählen!‹ Donnerwetter! Das mußte der Anlaß für die lärmende Demonstration gewesen sein. Die Rigelaner hatten eine Zählung vermieden. Es konnte nur einen Grund geben, warum man die übliche Zählparade um jeden Preis hatte ausfallen lassen wollen. Er begegnete Marsin noch einmal und versprach: »Morgen werden einige von euch Aufsehern wünschen, nie geboren zu sein.« »Wollen Sie uns drohen?« »Nein, ich spreche eine Prophezeiung aus. Berichten Sie dem wachhabenden Offizier, was ich gesagt habe. Erzählen Sie es - 146 -
auch dem Kommandanten. Es trägt vielleicht dazu bei, Sie vor den Folgen zu bewahren.« »Ich werde es ihnen sagen«, antwortete Marsin entgeistert, aber dankbar. Am folgenden Morgen zeigte sich, daß Leeming mit seiner Vermutung recht gehabt hatte: Die Rigelaner waren zu klug, um sich ohne guten Grund verprügeln zu lassen. Der Feind hatte einen ganzen Tag dazu gebraucht, um zur selben Schlußfolgerung zu gelangen. Eine Stunde nach Beginn der Morgendämmerung wurden die Rigelaner in Gruppen zu je fünfzig Mann, statt wie sonst alle zusammen, aus den Schlafsälen geholt. Man zählte jedesmal fünfzig Gefangene ab. Diese einfache Rechnung geriet durcheinander, als aus einem Schlafsaal nur zwölf Gefangene kamen, die alle krank, verletzt oder auf irgendeine andere Weise behindert waren. Aufgebrachte Aufseher stürmten hinein, um die abwesenden achtunddreißig Mann herauszuholen. Sie waren nicht da. Die Tür war massiv und fest, die Gitter erwiesen sich als unbeschädigt. Die Bewacher liefen geraume Zeit kopflos durcheinander, bis einer von ihnen die geringe Verschiebung einer zertrampelten Bodenplatte entdeckte. Man wuchtete die Platte hoch und fand darunter einen engen, aber tiefen Schacht, an dessen Ende ein Tunnel begann. Widerstrebend stieg einer der Wächter hinunter, kroch durch den Tunnel und tauchte nach einiger Zeit ziemlich weit außerhalb der Mauer auf. Natürlich war der Tunnel leer. Sirenen heulten, Wachen rasten durch das Gebäude, Offiziere brüllten widersprüchliche Befehle, das ganze Gefängnis begann einem Irrenhaus zu gleichen. Die Rigelaner mußten teuer dafür bezahlen, daß sie die Zählung am vergangenen Morgen verhindert und den entflohenen Häftlingen dadurch einen ganzen - 147 -
Tag Vorsprung verschafft hatten. Man machte großzügig von Stiefeln und Gewehrkolben Gebrauch, zusammengeschlagene und bewußtlose Gestalten wurden weggeschleift. Der überlebende Rangälteste des betreffenden Schlafsaals, ein Leutnant, der stark hinkte, wurde für den Ausbruch verantwortlich gemacht, vor Gericht gestellt, verurteilt und erschossen. Leeming bekam davon nichts zu sehen, hörte aber die heiseren Befehle: »Anlegen… Achtung… Feuer!« und die folgende Salve. Er lief unablässig in seiner Zelle auf und ab, ballte die Fäuste, fluchte vor sich hin. Alles, was er sich wünschte, alles, was er erflehte, war, an einem hochgestellten Zangasten Rache nehmen zu können. Das Guckloch flog auf, schloß sich aber hastig, bevor er jemandem ins Auge spucken konnte. Die Unruhe hielt an, während wutentbrannte Aufseher die Schlafsäle der Reihe nach durchsuchten, Türe, Gitter, Wände, Böden und sogar die Decken abtasteten. Offiziere kreischten blutrünstige Drohungen, sobald Gruppen von mürrischen Rigelanern den Anweisungen nicht schnell genug Folge leisteten. Im Dämmerlicht zerrten die Bewacher sieben erschöpfte, zerlumpte Flüchtlinge herein, die man eingefangen hatte. Der Empfang war kurz und hart. »Anlegen… Achtung… Feuer!« Leeming hämmerte wie ein Wahnsinniger an die Tür, aber das Guckloch blieb geschlossen, und niemand meldete sich. Zwei Stunden später stellte er mit dem letzten Stück Draht eine neue Schlinge mit Spiralwindungen her. Er brachte die halbe Nacht damit zu, drohend hineinzusprechen, so laut er konnte. Niemand nahm auch nur die geringste Notiz von ihm. Bis zur Mittagsstunde des nächsten Tages hatte ihn ein Gefühl tiefer Verzweiflung und Enttäuschung erfaßt. Er schätzte, daß - 148 -
der Ausbruch der Rigelaner fast ein Jahr vorbereitet worden sein mußte. Ergebnis: acht Tote und einunddreißig Männer, die noch in Freiheit waren. Wenn die einunddreißig zusammen blieben, konnten sie eine Mannschaft bilden, die groß genug war, um jedes Raumschiff bis hinauf zum Zerstörer zu kapern. Aber aufgrund seiner eigenen Erfahrungen vermutete Leeming, daß sie nur wenig Aussicht hatten, einen solchen Diebstahl zu bewerkstelligen. Da von einem Ausbruch dieser Größenordnung die ganze Welt erfahren würde, mußte man damit rechnen, daß auf jedem Raumflughafen starke militärische Abwehrkräfte zusammengezogen wurden. Sie würden bleiben, bis der letzte der einunddreißig Ausbrecher gefaßt war. Vielleicht hatten einige von ihnen Glück und würden längere Zeit in Freiheit sein, doch sie saßen auf dem Planeten fest und waren dazu verurteilt, schließlich wieder eingefangen und erschossen zu werden. Inzwischen wurden ihre Kameraden entsprechend hart angefaßt, und Leemings eigene Anstrengungen liefen Gefahr, sinnlos zu werden. Leeming ärgerte sich natürlich nicht über den Ausbruch der Rigelaner, aber hätte das alles nicht ebensogut zwei Monate früher oder später stattfinden können? Er aß mürrisch die letzten Bissen des Mittagessens, als vier Aufseher hereinkamen. »Der Kommandant möchte Sie sofort sprechen.« Sie wirkten nervös und bedrückt. Einer trug einen schmalen Verband um den schuppigen Schädel, ein anderer hatte ein stark angeschwollenes Auge. Das war wohl der ungünstigste Augenblick, dachte Leeming. Der Kommandant würde beim ersten Anzeichen von Widerstand wie eine Rakete hochgehen. Mit einem zornigen Offizier kann man nicht diskutieren; die Gefühle behalten die Oberhand, - 149 -
Worte gelten nichts, die Logik fällt der Verachtung anheim. Leeming würde es sehr schwer haben. Die vier Aufseher führten ihn den Korridor entlang, zwei gingen voraus, zwei hinterher. Links, rechts, links, rechts, wumm, wumm, wumm – natürlich wurde Leeming an den Gang zur Guillotine erinnert. Hinter der Biegung, in einem kleinen dreieckigen Hof, mußten ein Priester, ein Fallbeil, ein geflochtener Korb und eine Holzkiste warten. Gemeinsam betraten sie den Raum. Der Kommandant saß an seinem Schreibtisch, aber die jungen Offiziere fehlten. Außer ihm war nur ein älterer Zivilist anwesend, der rechts neben dem Kommandanten saß; er betrachtete den Gefangenen mit scharfem, durchdringendem Blick. »Das ist Pallam«, sagte der Kommandant mit so unerwarteter Liebenswürdigkeit, daß Leeming entgeistert war. Mit einer Spur von Ehrfurcht fügte der Kommandant hinzu: »Er ist von keinem Geringeren als Zangasta selbst hergeschickt worden.« »Ein Spezialist für Geisteskrankheiten, nehme ich an«, meinte Leeming, der Angst vor einer Falle hatte. »Durchaus nicht«, sagte Pallam ruhig. »Ich interessiere mich besonders für alle Aspekte der Symbiose.« Leemings Nackenhaare richteten sich auf. Er hielt ganz und gar nichts davon, sich von einem Fachmann aushorchen zu lassen. Solche Leute besaßen meistens einen ganz unmilitärischen, scharfen Verstand und die unerfreuliche Angewohnheit, eine gute Erfindung dadurch zu zerstören, daß sie ihre inneren Widersprüche ans Licht brachten. Dieser harmlos aussehende Zivilist war ganz entschieden eine schwere Bedrohung für Leeming. - 150 -
»Pallam möchte Ihnen einige Fragen stellen«, sagte der Kommandant, »aber die kommen später.« Er setzte eine selbstzufriedene Miene auf. »Zu Beginn möchte ich erklären, daß ich Ihnen für die Informationen, die Sie bei unserem ersten Gespräch geliefert haben, sehr dankbar bin.« »Sie meinen, sie sind nützlich für Sie gewesen?« fragte Leeming, der seinen Ohren nicht zu trauen wagte. »Angesichts dieser schwerwiegenden und unvernünftigen Meuterei sogar sehr. Sämtliche für Schlafsaal vierzehn verantwortlichen Aufseher werden in Frontgebiete versetzt, wo sie in Raumflughäfen Dienst tun, die häufig angegriffen werden. Das ist ihre Strafe für grobe Pflichtverletzung.« Er blickte den anderen nachdenklich an und fuhr fort: »Mein eigenes Schicksal wäre nicht anders ausgefallen, hätte Zangasta den Ausbruch im Verhältnis zu den wichtigen Angaben, die ich von Ihnen erhalten habe, als nebensächlich angesehen.« Leeming beeilte sich trotz seiner Überraschung, Nutzen aus der Lage zu ziehen. »Aber als ich Sie bat, persönlich dafür zu sorgen, daß ich bessere Nahrung bekomme – da mußten Sie doch mit einer Belohnung rechnen, oder?« »Belohnung?« Der Kommandant war verblüfft. »An so etwas habe ich überhaupt nicht gedacht.« »Um so besser«, lobte Leeming die Großzügigkeit seines Gegenübers. »Eine gute Tat wird doppelt gut, wenn man sich keinen Vorteil davon erhofft. Eustachius wird sich das merken.« »Sie meinen, seine ethischen Auffassungen sind mit Ihren identisch?« warf Pallam ein. - 151 -
Zum Teufel mit dem Kerl! Warum mußte er seinen Senf dazugeben? Jetzt hieß es aufpassen! »In mancher Beziehung ähnlich, aber nicht identisch.« »Worin besteht der wesentlichste Unterschied?« »Hm ja«, sagte Leeming, um Zeit zu gewinnen, »das läßt sich schwer entscheiden.« Er rieb sich die Stirn, während seine Gedanken einander jagten. »Ich würde sagen, im Begriff der Rache.« »Definieren Sie den Unterschied«, befahl Pallam, der auf der Fährte schnüffelte wie ein hungriger Bluthund. »Von meinem Standpunkt aus«, sagte Leeming und wünschte dem anderen im stillen die Pest an den Hals, »ist er unnötig sadistisch.« So, das bildete den erfolgreichen Rahmen für umfassende Behauptungen, die es später aufzustellen galt. »In welcher Beziehung?« fragte Pallam. »Mein Instinkt verlangt, daß ich schnell handle und die Dinge hinter mich bringe. Er neigt eher dazu, die Qual zu verlängern.« »Erläutern Sie das näher«, drängte Pallam, der immer lästiger wurde. »Wenn Sie und ich Todfeinde wären und ich eine Pistole hätte und Sie keine, würde ich Sie erschießen. Wenn Eustachius Sie jedoch für den Tod vorgemerkt hätte, würde er langsam und schrittweise vorgehen.« »Beschreiben Sie seine Methode.« »Zuerst würde er Sie wissen lassen, daß Sie verloren sind. Dann würde er nichts tun, bis Sie sich einreden, das Ganze sei Einbildung und es werde nie etwas geschehen. An diesem Punkt - 152 -
würde er Sie mit einem kleineren Schlag erinnern. Sobald Angst und Schrecken überwunden wären, würde er härter zuschlagen. Und so weiter und so weiter über einen beliebigen Zeitraum hinweg.« »Beliebig?« »So lange, bis Ihr Untergang besiegelt und das Warten unerträglich geworden wäre.« Er dachte kurz nach und fügte hinzu: »Kein Eustachius hat jemals jemanden getötet. Er verfolgt eine ganz eigene Taktik. Er arrangiert Unfälle oder treibt sein Opfer dazu, von eigener Hand zu sterben.« »Sie meinen, er zwingt sein Opfer zum Selbstmord?« »Ja, das sagte ich.« »Und es gibt keinen Weg, einem solchen Schicksal zu entgehen?« »Doch«, widersprach Leeming. »Das Opfer kann jederzeit seine persönliche Sicherheit wiedererlangen und sich von seiner Furcht befreien, indem es das Unrecht wiedergutmacht, das es dem Partner dieses Eustachius zugefügt hat.« »Eine solche Wiedergutmachung beendet den Rachefeldzug sofort.« »Ja.« »Ob Sie nun damit einverstanden sind oder nicht?« »Ja. Wenn ich keinen Grund mehr zur Klage habe oder er nur noch in meiner Einbildung besteht, weigert sich mein Eustachius, ihn anzuerkennen oder etwas zu unternehmen.« »Es läuft also darauf hinaus, daß seine Methode Gelegenheit zur Reue bietet, während das bei Ihnen nicht der Fall ist?« fragte Pallam. »Ich nehme an.« - 153 -
»Und daß er einen ausgeglicheneren Gerechtigkeitssinn hat?« »Er kann verdammt unbarmherzig sein«, wandte Leeming ein, weil ihm im Augenblick keine gelassenere Antwort einfiel. »Das gehört nicht zur Sache«, fauchte Pallam. Er schwieg nachdenklich, dann wandte er sich an den Kommandanten. »Die Verbindung scheint nicht zwischen Gleichgestellten zu bestehen. Der unsichtbare Bestandteil ist auch der Überlegene. Praktisch ist er Herr eines körperlichen Sklaven, übt Herrschaft aber so geschickt aus, daß der Sklave als erster seine Minderwertigkeit bestreiten würde.« Er warf Leeming einen herausfordernden Blick zu. Leeming biß die Zähne zusammen und schwieg. Verschlagener alter Fuchs, dachte er – wenn er versuchen wollte, den Gefangenen zu hitzigem Widerspruch aufzureizen, würde er eine Enttäuschung erleben. Sollte er doch glauben, daß Leeming gewogen und zu leicht befunden worden war. Es ist keine Schande, einem Produkt der eigenen Phantasie gegenüber als minderwertig angesehen zu werden. Pallam fragte listig: »Wenn Ihr Eustachius es unternimmt, Rache zu üben, tut er es dann, weil die Umstände eine angemessene Bestrafung durch Sie oder die terrestrische Gemeinschaft verhindern? Trifft das zu?« »So ziemlich«, räumte Leeming vorsichtig ein. »Mit anderen Worten, er greift nur ein, wenn Sie und das Gesetz aktionsunfähig sind?« »Er schaltet sich ein, sobald es erforderlich wird.« »Sie weichen mir aus. Wir müssen diesen Punkt klären. Wenn Sie oder Ihre Mitmenschen jemanden bestrafen können und es auch tun, bestraft ihn dann auch der Eustachius?« - 154 -
»Nein«, sagte Leeming nervös. »Wenn Sie oder Ihre Mitmenschen jemanden nicht bestrafen können, greift dann ein Eustachius ein und setzt die Bestrafung durch?« »Nur dann, wenn ein lebender Terraner zu Unrecht leiden mußte.« »Der Eustachius des Betroffenen handelt dann zugunsten seines Partners?« »Ja.« »Gut!« sagte Pallam. Er beugte sich vor und sah den anderen scharf an. »Nehmen wir einmal an, Ihr Eustachius findet berechtigte Gründe, einen anderen Terraner zu bestrafen – was macht dann der Eustachius des Opfers?«
10 Es war eine geschickt gestellte Falle, die von der Voraussetzung ausging, daß Fragen nach tatsächlichen, vertrauten, alltäglichen Dingen automatisch, beinahe ohne Zögern, beantwortet werden können. Ein Lügner, der eine plausible Lüge sucht, braucht dagegen Zeit, um den Zusammenhang und die Folgerichtigkeit zu wahren. Leeming hätte eigentlich völlig das Konzept verlieren müssen. Daß das nicht der Fall war, hatte nichts mit Überlegung zu tun. Während seine Gedanken noch durcheinanderwirbelten, öffnete sich sein Mund, und die Worte »Nicht viel« schössen wie - 155 -
von selbst heraus. Einen irren Augenblick lang fragte er sich, ob Eustachius eingetroffen war und sich am Gespräch beteiligte. »Warum nicht?« Ermutigt von dem Umstand, daß seine Zunge die Lage zu beherrschen schien, ließ Leeming ihr freien Lauf. »Ich habe Ihnen schon vorher erklärt und wiederhole es, daß kein Eustachius sich auch nur für einen Augenblick mit einer Klage abgibt, die nur auf Einbildung beruht. Ein Terraner, der sich eines Verbrechens schuldig gemacht hat, besitzt kein Recht, sich zu beschweren. Er hat die Rache selbst heraufbeschworen, und das Gegenmittel liegt in seiner eigenen Hand. Wenn ihm das Leiden kein Vergnügen bereitet, braucht er nur an die Arbeit zu gehen und das Unrecht wieder gutzumachen, das er einem anderen zugefügt hat.« »Wird sein Eustachius ihn drängen oder beeinflussen, das Nötige zu tun, damit eine Strafe vermieden werden kann?« »Da ich selbst nie Verbrecher gewesen bin, kann ich Ihnen das nicht sagen«, erwiderte Leeming sittsam. »Es wird der Wahrheit wohl nahekommen, wenn man behauptet, daß sich die Terraner anständig aufführen, weil die Verbindung mit den Eustachien sie dazu zwingt. Sie haben praktisch gar keine andere Wahl.« »Andererseits vermögen die Terraner ihre Eustachien nicht dazu zu zwingen, sich anständig aufzuführen?« »Ein Zwang ist nicht nötig. Ein Eustachius ist stets den Vernunftgründen seines Partners zugänglich und handelt im Rahmen der allgemeinen Gerechtigkeit.« »Wie ich schon sagte«, erklärte Pallam dem Kommandanten, »der Terraner ist die niedrigere Form der beiden.« Er wandte sich wieder an den Gefangenen. »Alles, was Sie uns erzählt - 156 -
haben, ist akzeptabel, weil es folgerichtig ist – bis zu einem gewissen Punkt.« »Was meinen Sie damit?« »Bringen wir es bis zum bitteren Ende«, sagte Pallam. »Ich sehe keinen vernünftigen Grund, warum der Eustachius eines Verbrechers zulassen sollte, daß sein Partner zum Selbstmord getrieben wird. Da sie gemeinsam von anderen unabhängig, gegenseitig aber voneinander abhängig sind, widerspricht die Untätigkeit eines Eustachius der Grundregel des Selbsterhaltu ngstriebes.« »Niemand begeht Selbstmord, bevor er übergeschnappt ist.« »Bevor er was ist?« »Bevor er den Verstand verloren hat«, sagte Leeming. »Ein geisteskranker Mensch ist als körperlicher Partner wertlos. Für einen Eustachius ist er bereits tot und nicht mehr wert, beschützt oder gerächt zu werden. Eustachien verbinden sich nur mit geistig normalen Personen.« Pallam stürzte sich sofort auf diese Bemerkung und sagte aufgeregt: »Der Nutzen, den sie gewinnen, ist also irgendwo in den terrestrischen Gehirnen verwurzelt? Es ist geistige Nahrung, die sie aus euch ziehen?« »Ich weiß es nicht.« »Fühlen Sie sich durch Ihren Eustachius manchmal müde, erschöpft, vielleicht ein wenig benommen?« »Ja«, sagte Leeming mit Nachdruck. Wie wahr, Freund, wie wahr. Im Augenblick hätte es ihm das größte Vergnügen bereitet, Eustachius langsam zu erwürgen. »Am liebsten würde ich Monate auf dieses Phänomen verwenden«, erklärte Pallam dem Kommandanten. »Ein außerordentlich anregendes Thema. Es gibt keine Hinweise - 157 -
auf symbiotische Verbindungen unter höheren Wesen – nur bei Pflanzen und sechs Arten der niedrigen Elamen. Sie bei höheren Wirbeltieren, bei intelligenzbegabten Lebensformen zu finden, ist bemerkenswert, wirklich bemerkenswert.« Der Kommandant zeigte sich beeindruckt, ohne zu wissen, wovon der andere sprach. »Sagen Sie ihm Bescheid«, drängte Pallam. »Unser Verbindungsoffizier, Oberst Shomuth, hat sich aus dem lathischen Sektor gemeldet«, sagte der Kommandant zu Leeming. »Er spricht fließend Kosmoglott und konnte deshalb viele terrestrische Gefangene befragen, ohne eines lathischen Dolmetschers zu bedürfen. Wir haben ihm noch erläuternde Informationen zukommen lassen, und das Ergebnis ist bedeutungsvoll.« »Was haben Sie anderes erwartet?« meinte Leeming, der innerlich vor Neugier platzte. Der Kommandant ging nicht auf die Bemerkung ein und fuhr fort: »Er meldet, daß die meisten Gefangenen sich geweigert haben, einen Kommentar abzugeben oder irgend etwas auszusagen. Sie bewahrten entschlossenes Stillschweigen. Das ist begreiflich, weil nichts sie von ihrer Meinung abbringen konnte, man versuche, Informationen von militärischem Wert aus ihnen herauszulocken. Sie widerstanden Oberst Shomuths Überredungskunst und sagten kein Wort.« Er seufzte angesichts dieser Halsstarrigkeit. »Aber ein paar machten den Mund auf.« »Ein paar Schwätzer sind immer dabei«, sagte Leeming. »Bestimmte Offiziere äußerten Kreuzerkapitän Tompass – Tompus -« »Thomas?« - 158 -
sich,
einschließlich
»Ja, das ist das richtige Wort.« Der Kommandant drehte sich mit seinem Sessel und drückte auf einen Knopf in der Wand. »Das ist das entschlüsselte, auf Band aufgezeichnete und auf dem Funkweg übermittelte Gespräch.« Aus einem Lochgitter in der Wand drang ein Knistern. Es wurde lauter und sank dann zu einem Hintergrundgeräusch herab. Stimmen ertönten aus dem Gitter. Shomuth: ›Kapitän Thomas, ich bin beauftragt, gewisse Informationen zu überprüfen, die sich in unserem Besitz befinden. Sie haben nichts zu verlieren, wenn Sie antworten, nichts zu gewinnen, wenn Sie die Antwort verweigern. Es sind keine Lathier anwesend, nur wir beide. Sie können frei sprechen, und Ihre Angaben werden vertraulich behandelte Thomas: ›Ihr seid ja auf einmal recht vorsichtig gegenüber den Lathiern, nicht? Mit diesen Tricks haben Sie bei mir kein Glück. Feind bleibt Feind, ohne Rücksicht auf den Namen oder die Erscheinung. Von mir erfahren Sie nichts.‹ Shomuth, geduldig: ›Ich schlage vor, Kapitän Thomas, daß Sie sich die Fragen erst einmal anhören, bevor Sie entscheiden, ob Sie sie beantworten wollen oder nicht.‹ Thomas, gelangweilt: ›Meinetwegen. Was wollen Sie wissen?‹ Shomuth: ›Ob unsere lathischen Verbündeten wirklich Heinis sind.‹ Thomas, nach einer langen Pause: ›Wollen Sie, daß ich ganz offen spreche?‹ Shomuth: ›Ja.‹ Thomas, mit einer Spur von Sarkasmus: ›Ich sage ungern etwas gegen andere Leute hinter ihrem Rücken, selbst wenn es sich um einen lausigen Lathier handelt. Es gibt aber Zeiten, wo - 159 -
man gezwungen ist, zuzugeben, Schmutz ist Schmutz, Sünde ist Sünde, und ein Lathier ist, was er ist, hn?‹ Shomuth: ›Bitte, beantworten Sie meine Frage.‹ Thomas: ›Die Lathier sind Heinis.‹ Shomuth: ›Und sie haben eine Macke?‹ Thomas: ›Sagen Sie, woher haben Sie denn das erfahren?‹ Shomuth: ›Das ist unsere Sache. Hätten Sie die Freundlichkeit, mir eine Antwort zu geben?‹ Thomas, angriffslustig: ›Sie haben nicht nur eine Macke, sondern werden noch eine ganze Menge dazubekommen, bis wir mit ihnen fertig sind.‹ Shomuth, betroffen: ›Wie kann das sein? Wir haben erfahren, daß jeder Lathier unbewußt von einer Macke beherrscht wird. Die Gesamtzahl der Macken muß daher begrenzt sein. Sie kann außer durch die Geburt weiterer Lathier nicht gesteigert werden.‹ Thomas, hastig: ›Sie verstehen mich falsch. Ich habe gemeint, mit der Zunahme lathischer Verluste wird die Zahl vereinsamter Macken steigen. Selbst die beste Macke kann keine Leiche lenken, nicht wahr? Im Verhältnis zur Anzahl der lathischen Überlebenden werden viel mehr Macken herumlaufen.‹ Shomuth: ›Ja, ich verstehe, was Sie meinen. Und das wird ein sehr ernstes psychisches Problem werden.‹ Pause. ›Kapitän Thomas, haben Sie Grund zu der Annahme, daß eine große Zahl von partnerlosen Macken fähig sein könnte, die Kontrolle über eine andere, andersartige Lebensform zu übernehmen? Zum Beispiel über meine eigene Gattung?‹ Thomas, drohend genug, um einen Weltraumorden zu verdienen: ›Das sollte mich nicht wundern.‹ - 160 -
Shomuth: ›Sie wissen es nicht genau?‹ Thomas: ›Nein.‹ Shomuth: ›Es trifft doch zu, nicht wahr, daß Sie die wahre lathische Natur nur erkennen, weil Sie von Ihrem Eustachius darauf hingewiesen worden sind?‹ Thomas, verblüfft: ›Von meinem was?‹ Shomuth: ›Von Ihrem Eustachius. Warum wundern Sie sich?‹ Thomas, so schnell gefaßt, daß ihm das Großkreuz des Ordens gebührte: ›Ich dachte, Sie hätten R. Stachels gesagt. Dumm von mir. Ja, von meinem Eustachius. Da haben Sie völlig recht.‹ Shomuth, leiser: ›Es gibt hier mehr als vierhundert terrestrische Gefangene. Das bedeutet, daß über vierhundert Eustachien unbelästigt auf diesem Planeten herumwandern. Richtig?‹ Thomas: ›Ich bin nicht in der Lage, das zu bestreiten.‹ Shomuth: ›Der lathische Großkreuzer Weder stürzte bei der Landung ab und wurde völlig zerstört. Die Lathier schreiben das einem Bedienungsfehler der Besatzung zu. Es passierte aber drei Tage, nachdem man Sie und Ihre Kameraden hierhergebracht hatte. War das bloßer Zufall?‹ Thomas: ›Überlegen Sie selbst.‹ Shomuth: ›Es ist Ihnen klar, daß Ihre Weigerung, sich dazu zu äußern, soviel wie eine Antwort ist?‹ Thomas: ›Legen Sie das so aus, wie Sie wollen. Ich verrate keine terrestrischen Militärgeheimnisse.‹ Shomuth: ›Nun gut. Versuchen wir es mit etwas anderem. Das größte Treibstofflager in diesem Teil der Galaxis befindet sich einige Längengrade von hier entfernt. Vor einer Woche - 161 -
flog es in die Luft. Der Verlust war sehr schwer; die Flotten des Kombinats werden geraume Zeit stark behindert sein.‹ Thomas, begeistert: ›Hurra!‹ Shomuth: ›Lathische Techniker sind der Ansicht, daß ein statischer Funke einen lecken Tank zur Explosion brachte, wodurch es zu einer Kettenreaktion kam. Man darf stets davon ausgehen, daß Techniker eine passende Erklärung finden.‹ Thomas: ›Und was soll daran nicht stimmen?‹ Shomuth: »Das Lager bestand schon vier Jahre. Während dieser ganzen Zeit gab es keine statische Funkenbildung. « Thomas: ›Worauf wollen Sie hinaus?‹ Shomuth, mit Betonung: »Sie haben selbst zugegeben, daß über vierhundert Eustachien unbehindert hier herumwandern können. « Thomas, in ernstem, patriotischem Ton: ›Ich gebe gar nichts zu. Ich lehne es ab, weitere Fragen zu beantworten.‹ Shomuth: »Hat Ihr Eustachius Sie dazu angeregt, sich so zu verhalten? « Schweigen. Shomuth: ›Wenn Ihr Eustachius jetzt anwesend ist, kann ich ihn durch Sie befragen?‹ Keine Antwort. Der Kommandant schaltete ab und sagte: »Sie sehen selbst. Acht weitere terrestrische Offiziere haben mehr oder weniger dieselben Angaben gemacht. Die übrigen versuchten die Wahrheit zu verbergen, was aber, wie Sie gehört haben, nicht gelungen ist. Zangasta persönlich hat sich die Tonbandaufzeichnungen angehört und ist über die Situation sehr besorgt.« - 162 -
»Er braucht sich nicht den Kopf zu zerbrechen«, meinte Leeming. »Warum nicht?« »Weil das Ganze Quatsch ist, eine abgekartete Sache. Es hat eine Zusammenarbeit zwischen meinem Eustachius und ihren gegeben.« Der Kommandant machte ein finsteres Gesicht. »Wie Sie bei unserer letzten Begegnung betont haben, kann es ohne Eustachien keine Verschwörung geben, also spielt es so oder so keine Rolle.« »Freut mich, daß Sie das endlich einsehen.« »Lassen Sie nur«, warf Pallam ungeduldig ein. »Darauf kommt es nicht an. Die Bestätigung ist ausreichend, egal, von welcher Seite wir es betrachten.« Der Kommandant fuhr fort: »Ich habe eigene Nachforschungen angestellt. In zwei Jahren hatten wir eine lange Reihe kleinerer Schwierigkeiten mit den Rigelanern, nie etwas wirklich Ernstes. Kaum sind Sie da, findet schon ein großer Ausbruch statt, der augenscheinlich lange vor Ihrem Erscheinen geplant gewesen sein muß, aber unter Umständen stattfand, die Hilfe von außen vermuten lassen. Woher kam diese Unterstützung?« »Wird nicht verraten«, erwiderte Leeming vielsagend. »Bei der einen oder anderen Gelegenheit haben sich acht meiner Aufseher Ihre Feindschaft zugezogen, weil sie über Sie hergefallen sind. Von ihnen liegen vier im Krankenhaus, schwer verletzt, zwei weitere werden an die Front geschickt. Ich nehme an, es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch die beiden übrigen Schwierigkeiten bekommen?« »Die beiden anderen haben verhandelt und Verzeihung erlangen können. Ihnen wird nichts geschehen.« - 163 -
»Tatsächlich?« Der Kommandant wirkte erstaunt. »Dieselbe Garantie kann ich allerdings nicht im Hinblick auf das Erschießungskommando, den leitenden Offizier oder seinen Vorgesetzten geben, der befohlen hat, die hilflosen Gefangenen zu töten«, erklärte Leeming. »Wir exekutieren alle Gefangenen, die aus einem Gefängnis ausbrechen. Das ist eine uralte Gewohnheit und ein notwendiges Abschreckungsmittel .« »Wir revanchieren uns grundsätzlich bei den Henkern«, gab Leeming zurück. »Mit ›wir‹ meinen Sie sich und Ihren Eustachius?« warf Pallam ein. »Ja.« »Was kümmert das Ihren Eustachius? Die Opfer waren, keine Terraner, sondern ein Haufen widerspenstiger Rigelaner.« »Die Rigelaner sind unsere Alliierten. Und unsere Alliierten sind unsere Freunde. Das kaltblütige, unnötige Gemetzel hat mich sehr getroffen. Eustachius reagiert sehr empfindlich auf meine Gemütsbewegungen.« »Aber er gehorcht ihnen nicht unbedingt?« »Nein.« »Um genau zu sein«, drängte Pallam, der entschlossen war, ein für allemal Klarheit zu schaffen, »wenn es sich um die Frage dreht, wer wem untergeordnet ist, dann sind Sie es, der ihm dient.« »Meistens«, gab Leeming zu und machte ein Gesicht, als ziehe man ihm einen Zahn. »Nun, das bestätigt, was Sie uns mitgeteilt haben.« Pallam lächelte schwach. »Der Hauptunterschied zwischen Terranern - 164 -
und Lathiern ist der, daß Sie wissen, daß Sie beherrscht werden, während die Lathier von ihrer Stellung keine Ahnung haben.« »Wir werden nicht beherrscht, weder bewußt noch unbewußt«, widersprach Leeming. »Wir existieren in wechselseitiger Partnerschaft, so wie Sie mit Ihrer Frau zusammen leben. Manchmal gibt sie Ihnen nach, ein andermal lassen Sie ihr den Willen. Keiner von Ihnen macht sich die Mühe, nachzurechnen, wer in einer bestimmten Zeitspanne am häufigsten nachgegeben hat, und keiner besteht darauf, daß ein exaktes Gleichgewicht hergestellt wird. So steht es. Und von Herrschaft kann bei beiden nicht die Rede sein.« »Ich habe keine Ahnung, weil ich noch nie verheiratet war.« Pallam wandte sich an den Kommandanten. »Fahren Sie fort.« »Wie Ihnen inzwischen klargeworden sein dürfte, ist dieser Planet zur Hauptstrafwelt des Kombinats bestimmt worden«, erklärte der Kommandant. »Wir halten hier bereits eine große Anzahl von Gefangenen fest, in erster Linie Rigelaner.« »Und?« »Es kommen noch mehr. Zweitausend Centaurier und sechshundert Thetaner werden nächste Woche eintreffen und ein neues Gefängnis füllen. Die Streitkräfte des Kombinats werden weitere feindliche Lebensformen hierherschaffen, sobald wir sie unterbringen und den nötigen Schiffsraum bereitstellen können.« Er sah den anderen prüfend an. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie uns auch Terraner bringen.« »Stört Sie der Gedanke?« »Zangasta hat entschieden, daß er es ablehnen muß, Terraner aufzunehmen.« »Das ist seine Sache«, sagte Leeming gleichgültig. - 165 -
»Zangasta ist ein kluger Kopf«, meinte der Kommandant voll Bewunderung. »Er ist der Ansicht, daß es hieße, eine potentiell gefährliche Situation zu schaffen, wenn man auf einem einzigen Planeten eine riesige Armee von gemischten Gefangenen entstehen läßt und dieser Armee dann noch ein paar tausend Terraner hinzufügt. Er sieht Schwierigkeiten in einem viel größeren Maßstab voraus, als wir bewältigen könnten. Es könnte sogar sein, daß wir die Kontrolle über diese Welt verlieren, die an einem strategisch wichtigen Punkt hinter den Linien des Kombinats liegt, und den heftigen Angriffen unserer eigenen Verbündeten ausgesetzt wären.« »Das ist durchaus möglich«, gab Leeming zu. »Es ist sogar wahrscheinlich. Um genau zu sein, es ist nahezu gewiß. Aber das ist nicht Zangastas einzige Sorge. Es ist die, die er in der Öffentlichkeit ausspricht. Er hat auch noch eine private.« »Nämlich?« »Zangasta persönlich hat den Befehl erteilt, daß ausgebrochene Gefangene zu erschießen seien. Er muß es getan haben, sonst würde niemand wagen, sie zu erschießen. Jetzt ist er nervös, weil vielleicht ein Eustachius an seinem Bett sitzt und ihn jede Nacht angrinst. Er glaubt, daß ein paar tausend Eustachien für ihn eine wesentlich größere Bedrohung darstellen. Da irrt er sich aber.« »Warum irrt er sich?« fragte der Kommandant. »Weil es nicht nur die Reuigen sind, die keine Ursache haben, sich zu fürchten. Für die Toten gilt das auch. Die Ankunft von fünfzig Millionen Eustachien auf dieser Welt bedeutet für eine Leiche überhaupt nichts. Zangasta sollte unbedingt den Schießbefehl widerrufen, wenn er am Leben bleiben will.« - 166 -
»Ich unterrichte ihn über Ihre Mitteilungen. Eine solche Aufhebung wird aber vielleicht gar nicht erforderlich sein. Wie schon erwähnt, ist er ein kluger Kopf. Er hat eine raffinierte Strategie entworfen, die alle Ihre Behauptungen einer endgültigen, entscheidenden Prüfung unterzieht und gleichzeitig seine Probleme zu seiner vollen Zufriedenheit lösen könnte.« Leeming erschrak ein bißchen. »Darf ich erfahren, was er vorhat?« »Er hat Anweisung gegeben, Sie zu unterrichten. Und er hat bereits zu handeln begonnen.« Der Kommandant machte eine wirkungsvolle Pause, dann schloß er: »Er hat den Alliierten über Funk einen Gefangenenaustausch vorgeschlagen.« Leeming rutschte in seinem Sessel hin und her. Du lieber Himmel, der dramatische Knoten schürzte sich ungeheuerlich! Von allem Anfang an war es allein sein Bestreben gewesen, sich aus dem Gefängnis herauszureden und in eine andere Situation zu manövrieren, die einem plötzlichen Verschwinden mit hohem Tempo günstiger war. Er hatte nur versucht, sich mit seiner Zunge über die Mauer zu heben. Jetzt nahm man ihn beim Wort und verbreitete es über die ganze Galaxis! »Mehr noch«, fuhr der Kommandant fort, »die Alliierten haben uns ihre Einwilligung mitgeteilt, vorausgesetzt, daß wir ranggleiche Gefangene gegeneinander austauschen. Das heißt also, Kapitäne gegen Kapitäne, Navigatoren gegen Navigatoren und so weiter.« »Das ist angemessen.« »Zangasta«, sagte der Kommandant und grinste wie ein hungriger Wolf, »hat seinerseits zugestimmt – vorausgesetzt, daß die Alliierten die terrestrischen Gefangenen zuerst - 167 -
zurücknehmen, und zwar im Verhältnis eins zu zwei. Er wartet jetzt auf die Antwort.« »Im Verhältnis eins zu zwei?« wiederholte Leeming blinzelnd. »Sie meinen, für jeden Terraner, der zurückgegeben wird, sollen zwei Gefangene herausgerückt werden?« »Nein, nein, natürlich nicht.« Sein Grinsen wurde breiter und entblößte die Zähne bis zu den Wurzeln. »Sie müssen zwei Kombinatssoldaten für jeden Terraner und seinen Eustachius zurückgeben, die wir aushändigen. Das sind zwei gegen zwei, völlig gerecht, finden Sie nicht?« »Dazu kann ich mich nicht äußern.« Leeming schluckte schwer. »Das müssen die Alliierten entscheiden.« »Bis eine Antwort eintrifft und ein Übereinkommen erzielt wird, wünscht Zangasta, daß Sie besser behandelt werden. Sie werden in die Offiziersquartiere außerhalb der Mauer verlegt, erhalten die dort übliche Verpflegung und dürfen Spaziergänge machen. Vorübergehend werden Sie als Nichtkombattant behandelt und werden es sehr bequem haben. Es ist erforderlich, daß Sie mir Ihr Ehrenwort geben, keinen Fluchtversuch zu unternehmen.« Heiliger Jakob, schon wieder ein Haken! Der ganze Roman war doch letztlich auf Flucht abgestellt gewesen. Er konnte sein Ziel nicht einfach aufgeben. Er war auch nicht bereit, sein Ehrenwort in der zynischen Absicht zu geben, es zu brechen. »Ehrenwort verweigert«, sagte er fest. Der Kommandant starrte ihn ungläubig an. »Das ist doch nicht Ihr Ernst!« »Doch. Ich habe keine andere Wahl. Die Militärgesetze auf Terra erlauben einem Kriegsgefangenen nicht, ein solches Ehrenwort zu geben.« - 168 -
»Weshalb nicht?« »Weil kein Terraner die Verantwortung für seinen Eustachius übernehmen kann. Wie soll ich schwören, nicht auszubrechen, wenn eine Hälfte von mir gar nicht eingesperrt werden kann? Kann ein Zwilling für seinen Bruder schwören?« »Wache!« rief der Kommandant, sichtlich enttäuscht. Er lungerte nervös ganze zwölf Tage in seiner Zelle herum und unterhielt sich nachts gelegentlich mit Eustachius, um im Korridor lauschende Ohren zufriedenzustellen. Er hatte sich ganz eindeutig in eine Klemme manövriert. Die Nahrung blieb mengenmäßig erträglich, wenngleich man die Qualität nach wie vor nicht loben konnte. Die Aufseher behandelten ihn mit der Zurückhaltung, die sie Gefangenen gegenüber zeigen, die auf irgendeine Weise mit ihren Vorgesetzten unter einer Decke stecken. Vier weitere wiedereingefangene Rigelaner wurden zurückgebracht, aber nicht erschossen. Allem Anschein nach übte er auf den Gegner noch immer Einfluß aus. Obwohl er nichts zu den anderen Gefangenen gesagt hatte, waren sie dahintergekommen, daß er auf irgendeine geheimnisvolle Weise für die allgemeine Verbesserung der Lebensbedingungen im Gefängnis verantwortlich war. Beim Spaziergang behandelten sie ihn als unergründliches Wesen, das das Unmögliche zu erreichen vermochte. Von Zeit zu Zeit konnten sie ihre Neugier nicht zügeln. »Weißt du, daß die letzten vier nicht erschossen worden sind?« »Ja«, gab Leeming zu. »Es heißt, du hättest die Erschießung verhindert.« »Wer sagt das?« - 169 -
»Es spricht sich herum.« »Eben, es spricht sich nur so herum.« »Ich möchte wissen, warum man die erste, aber nicht die zweite Gruppe erschossen hat. Dafür muß es doch einen Grund geben, oder?« »Vielleicht haben die Zangasten Gewissensbisse bekommen«, meinte Leeming. »Da steckt mehr dahinter.« »Nämlich?« »Irgend jemand hat sie aus der Fassung gebracht.« »Und wer, zum Beispiel? « »Keine Ahnung. Es geht ein Gerücht um, wonach dir der Kommandant aus der Hand frißt.« »Das ist ja sehr wahrscheinlich, nicht wahr?« »Das sicher nicht. Man weiß aber bei euch Terranern nie, woran man ist.« Der andere brütete eine Weile vor sich hin, dann fragte er: »Was hast du mit dem Draht gemacht, den ich für dich gestohlen habe?« »Ich stricke mir ein paar Socken daraus. Nichts paßt besser und hält länger als echte Drahtsocken.« So wehrte er ihre Fragen ab und bewahrte Schweigen, weil er keine falschen Hoffnungen erwecken wollte. Innerlich war er tief beunruhigt. Die Alliierten im allgemeinen und die Erde im besonderen wußten von Eustachien überhaupt nichts und würden deshalb Zangastas Vorschlag mit der gebührenden Verachtung behandeln. Eine glatte Absage konnte dazu führen, daß Leeming mit peinlichen, nicht zu beantwortenden Fragen überschüttet wurde. - 170 -
In diesem Fall würden sie früher oder später dahinterkommen, daß sie es mit dem frechsten Lügner aller Zeiten zu tun hatten. Dann würden sie Prüfungen von teuflischem Einfallsreichtum erfinden. Wenn er sie nicht bestand, war er geliefert. Er sah es nicht als sein Verdienst an, daß er seine Gegner so lange hatte übertölpeln können. Die wenigen Bücher, die er gelesen hatte, verrieten, daß die Religion von Zangasta auf der Verehrung von Ahnengeistern beruhte. Die Zangasten waren ferner mit der Erscheinung von Poltergeistern vertraut. Der Boden war für Leeming schon vorbereitet gewesen; er hatte ihn lediglich umgepflügt und die Saat ausgestreut. Wenn ein Opfer schon an zwei Arten unsichtbarer Wesen glaubt, fällt es nicht schwer, ihn auch noch von der Existenz einer dritten zu überzeugen. Wenn die Alliierten Asta Zangasta jedoch kurz einluden, sie mal am Abend zu besuchen, bestand die Möglichkeit, daß sie die Wahrheit erfuhren. Er dachte darüber nach, als die Aufseher ihn erneut holten. Der Kommandant war zur Stelle, nicht aber Pallam. Statt dessen beäugte ihn höchst neugierig ein Dutzend Zivilisten. Das machte insgesamt dreizehn Feinde, eine sehr passende Zahl, um sein Schicksal zu besiegeln. Er kam sich als Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit vor wie ein sechsschwänziger Plumpbeutler im Zoo und setzte sich. Vier Zivilisten begannen augenblicklich damit, abwechselnd Fragen auf ihn abzuschießen. Sie interessierten sich nur für ein einziges Thema, nämlich Fatschbumdidelzongs. Es hatte den Anschein, daß sie stundenlang mit seinen Drahtgebilden gespielt, aber nichts erreicht hatten, als sich im Stumpfsinn zu üben, was ihnen kein Vergnügen bereitete. - 171 -
Nach welchem Prinzip funktionierte ein Fatschbumdidelzong? Bündelte es eine telepathische Ausgangsleistung zu einem dünnen, weitreichenden Strahl? Bei welcher Entfernung geriet Eustachius aus dem Bereich direkten Gesprächs, und wann mußte man mit Hilfe eines Geräts Verbindung mit ihm aufnehmen? Warum war es erforderlich, Ortungsdrehungen auszuführen, bevor man eine Antwort erhielt? Woher wußte er überhaupt, wie man eine Spiralenschlinge herstellte? »Das kann ich nicht erklären. Woher weiß ein Vogel, wie er sein Nest bauen muß? Das Wissen ist rein instinktiv. Ich weiß schon seit dem Tag, an dem ich alt genug war, einen Draht zu biegen, wie ich meinen Eustachius rufen muß.« »Kann es sein, daß Ihr Eustachius das notwendige Wissen in Ihr Gehirn einpflanzt?« »Offen gesagt, darüber habe ich nie nachgedacht. Möglich ist es aber.« »Kann man jeden Draht verwenden?« »Solange er nicht eisenhaltig ist.« »Haben alle terrestrischen Drahtgebilde dieselbe Form und Größe?« »Nein, sie sind je nach Person verschieden.« »Wir haben die bei den Lathiern gefangengehaltenen Terraner sorgfältig durchsucht. Nicht einer von ihnen besitzt einen Apparat dieser Art. Wie erklären Sie das?« »Sie brauchen keinen.« »Warum nicht?« »Wenn über vierhundert von ihnen gemeinsam gefangen sind, können sie immer damit rechnen, daß mindestens ein - 172 -
paar von ihren Eustachien zu jedem beliebigen Zeitpunkt in Reichweite sind.« Auf irgendeine Weise wehrte er sie ab, fühlte sich heiß im Kopf und kalt im Magen. Schließlich ergriff der Kommandant das Wort. »Die Alliierten haben sich rundweg geweigert, terrestrische Gefangene vor anderen Gattungen in Empfang zu nehmen, im Verhältnis eines zu zwei auszutauschen oder weiter über die Angelegenheit zu diskutieren. Was haben Sie dazu zu sagen?« Leeming nahm sich zusammen und sagte: »Hören Sie, auf Ihrer Seite gibt es über zwanzig Lebensformen, von denen die Lathier und die Zebs die mächtigsten sind. Glauben Sie, das Kombinat wäre einverstanden gewesen, wenn die Alliierten eine Gattung bei einem solchen Austausch bevorzugen wollten? Wären die Lathier und Zebs dafür, daß beispielsweise die Tansiten als erste nach Hause kämen, wenn sie die bevorzugte Gattung darstellten?« Ein hochgewachsener, autoritär wirkender Zivilist mischte sich ein. »Ich bin Daverd, persönlicher Adjutant von Zangasta. Er ist Ihrer Meinung. Er glaubt, daß die Terraner überstimmt worden sind. Ich bin deshalb beauftragt, Ihnen eine Frage zu stellen.« »Ja?« »Wissen Ihre Alliierten von Ihren Eustachien?« »Nein.« »Es ist Ihnen gelungen, sie vor ihnen geheimzuhalten?« »Es ging nie darum, ihnen etwas vorzuenthalten. Bei Freunden treten die Eustachien einfach nicht in Erscheinung. Eustachien ergreifen Maßnahmen nur gegen Feinde, und das ist etwas, was man nicht auf die Dauer verheimlichen kann.« - 173 -
»Nun gut.« Daverd kam näher und gab sich verschwörerisch. »Die Lathier haben diesen Krieg begonnen, und die Zebs machten wegen ihres Verteidigungspaktes mit ihnen ‘mit. Wir anderen sind aus unterschiedlichen Gründen mithineingezogen worden. Die Lathier sind stark und arrogant, aber, wie wir jetzt wissen, für ihre Handlungen nicht verantwortlich.« »Was geht mich das an?« »Getrennt können wir zahlenmäßig schwächeren Lebensformen gegen die Lathier oder Zebs nicht aufkommen. Gemeinsam sind wir aber stark genug, aus dem Krieg auszuscheiden und auf unserem Recht auf Neutralität zu bestehen. Zangasta hat deshalb mit den anderen Verhandlungen geführt.« Guter Gott! Ist es nicht unfaßlich, was man mit ein paar Metern Kupferdraht alles anstellen kann? »Er hat heute die Antworten erhalten«, fuhr Daverd fort. »Sie sind bereit, um des gemeinsamen und gegenseitigen Friedens willen eine Front zu bilden – vorausgesetzt, daß sich die Alliierten bereit erklären, ihre Neutralität zu respektieren und Gefangene mit ihnen auszutauschen.« »Eine so plötzliche Einmütigkeit bei den Kleinen sagt mir einiges«, bemerkte Leeming ätzend. »Was sagt sie Ihnen?« »Die alliierten Streitkräfte haben in letzter Zeit eine große Schlacht gewonnen. Irgend jemand hat eine schwere Niederlage erlitten.« Daverd war nicht geneigt, das zu bestätigen oder abzustreiten. »Sie sind der einzige Terraner, den wir auf diesem Planeten festhalten. Zangasta glaubt, daß er sich Ihrer Person auf vorteilhafte Weise bedienen kann.« »Wieso?« - 174 -
»Er hat beschlossen, Sie nach Terra zurückzuschicken. Es wird Ihre Aufgabe sein, dort die Zustimmung zu unserem Plan zu erwirken. Wenn es Ihnen nicht gelingt, werden ein paar hunderttausend Geiseln darunter zu leiden haben – vergessen Sie das nicht!« »Die Gefangenen haben dabei keine Stimme, können nicht mitwirken, tragen keine Verantwortung. Wenn Sie Ihre Wut an ihnen auslassen, wird mit Sicherheit eine Zeit kommen, wo Sie zur Rechenschaft gezogen werden – daran sollten Sie denken!« »Die Alliierten werden nichts davon wissen«, gab Daverd zurück. »Es wird hier keine Terraner und keine Eustachien geben, die sie heimlich informieren könnten. Ab sofort halten wir die Terraner fern. Die Alliierten können kein Wissen gebrauchen, das sie nicht besitzen.« »Nein«, gab Leeming zu. »Es ist völlig ausgeschlossen, etwas anzuwenden, was man nicht hat.« Man stellte einen leichten Zerstörer zur Verfügung, der mit zehn Zangasten bemannt war. Nach einem Zwischenaufenthalt zum Tanken und Einbau von neuen Stahlrohren gelangte er zu einem Versorgungsplaneten am Rande des Kampfgebietes. Diese öde Gegend war ein lathischer Vorposten, aber die Lathier zeigten kein Interesse an den Machenschaften ihrer kleinen Verbündeten und begriffen auch nicht, daß ein terranerartiges Wesen wirklich ein Terraner war. Sie machten sich daran, die Stahlrohre für den Heimflug neu auszukleiden. Inzwischen wurde Leeming zu einem unbewaffneten lathischen Patrouillenraumschiff gebracht. Die zehn Zangasten salutierten, bevor sie ihn verließen. Von jetzt an war er ganz auf sich gestellt. Der Start war scheußlich. Der Sitz war viel zu groß und dem Hinterteil eines Lathiers angepaßt, besaß also Buckel an den falschen Stellen. - 175 -
Die Steuerung war fremdartig, die Bedienungshebel lagen zu weit aneinander. Das kleine Schiff war schnell und kraftvoll, reagierte aber anders als die Raumfahrzeuge der Terraner. Er wußte später nicht, wie er vom Boden abgehoben hatte, aber er schaffte es. Danach gab es das ständige Risiko, von alliierten Detektorstationen erfaßt und mitten im Flug zerstört zu werden. Er stürmte zwischen den Sternen hindurch, hoffte das Beste und rührte sein Sendegerät nicht an; Signale auf einer gegnerischen Frequenz hätten sein Schicksal besiegelt. Er steuerte stracks Terra an. Seine Schlafperioden waren unruhig und kurz. Den Strahlrohren war nicht zu trauen, obwohl die Flugdauer nur ein Drittel derjenigen betragen würde, die er mit seinem eigenen Raumschiff durchgehalten hatte. Auf den fremden Autopiloten war kein Verlaß, allein schon deshalb, weil er von fremdartiger Konstruktion war. Dem Schiff war aus demselben Grund nicht zu trauen. Den Streitkräften seiner eigenen Seite konnte er nicht trauen, weil sie dazu neigten, zuerst zu schießen und erst hinterher Fragen zu stellen. Es war eher Glückssache, daß er die alliierte Front ohne Zwischenfall durchstieß. Es war eine Leistung, die bei der notwendigen Kühnheit auch der Feind vollbringen konnte; er hatte es aber nie versucht, weil das Risiko, in alliiertes Gebiet zu gelangen, unbedeutend im Vergleich zu dem war, wieder hinauszukommen. Nach geraumer Zeit schoß er auf Terras Nachtseite zu und landete das Raumschiff auf einem Acker ein paar Meilen westlich des zentralen Raumflughafens. Es wäre unsinnig gewesen, eine Katastrophe herauszufordern, indem man ein lathisches Raumfahrzeug mitten auf dem Raumflughafen absetzte. - 176 -
Der Mond schien hell auf den Wabash River, als Leeming sich zu Fuß dem Haupttor näherte. Ein Wachtposten schrie: »Halt! Wer da?« »Leutnant Leeming und Eustachius Vonaokertiban.« »Kommen Sie her, damit ich Sie erkennen kann.« Er gehorchte und dachte bei sich, daß ein solcher Befehl eigentlich albern war. Erkennen! Der Wachtposten hatte ihn in seinem ganzen Leben noch nie gesehen und würde ihn nicht von Maria Magerbein unterscheiden können. Na ja, es gab nichts, was es nicht gab. Am Tor erfaßte ihn ein Scheinwerfer. Jemand mit drei Winkeln am Ärmel trat aus einer Baracke, ein Prüfgerät an einem langen, dünnen Kabel in der Hand. Er bewegte das Gerät an dem Neuankömmling auf und ab, vom Scheitel bis zur Sohle, konzentrierte sich aber vorwiegend auf das Gesicht. Ein Lautsprecher in der Baracke befahl: »Bringen Sie ihn zur Abwehrzentrale.« Sie setzten sich in Bewegung. Der Wachtposten schrie plötzlich mit überschnappender Stimme: »He, wo ist denn der andere?« »Welcher andere?« fragte der Sergeant, drehte sich um und starrte in die Gegend. »Er soll Sie mal anhauchen«, riet Leeming. »Sie haben mir zwei Namen genannt«, erklärte der Wachtposten. »Na, dann bitten Sie den Sergeant höflich, daß er Ihnen noch zwei Namen gibt. Das machen Sie doch, nicht wahr, Sergeant?« »Los jetzt«, knurrte der Sergeant ungeduldig. - 177 -
Sie erreichten die Abwehrzentrale. Der diensthabende Offizier war Colonel Farmer. Er riß Augen und Mund auf und sagte »Na!« Er sagte es siebenmal. Ohne Vorrede meinte Leeming: »Was soll das heißen, daß wir uns weigern, die terrestrischen Gefangenen im Verhältnis eins zu zwei auszutauschen?« Farmer schien sich mit Gewalt aus einem phantastischen Traum zu reißen. »Sie wissen davon?« »Wie könnte ich das sonst fragen?« »Gut. Warum sollen wir auf einen derart unsinnigen Vorschlag eingehen? Wir sind ja noch bei Verstand, verstehen Sie!« Leeming beugte sich über den Schreibtisch, die Hände gespreizt »Alles, was wir müssen, ist zuzustimmen – unter einer Bedingung.« »Was für eine Bedingung?« »Daß sie die gleiche Vereinbarung im Hinblick auf die Lathie treffen. Zwei von unseren Leuten für einen Lathier mit Macke.« »Mit was?« »Mit Macke. Die Lathier werden sofort darauf eingehen. Sie haben überall herumposaunt, daß ein Lathier soviel wert ist wie zwei von irgendeiner beliebigen Gattung. Sie sind zu eingebildet um ein solches Angebot abzulehnen. Sie werden es als klaren Beweis dafür ausgeben, daß sogar ihre Feinde wissen, wie gut sie sind.« »Aber -«, stammelte Farmer. »Ihre Verbündeten werden sich gegenseitig überbieten, sofort zuzustimmen. Sie machen es aus anderen Gründen, auf die aber - 178 -
die Lathier erst kommen, wenn es zu spät ist. Probieren Sie es. Zwei von unseren Leuten für einen Lathier und seine Macke.« Farmer stand auf, wölbte den Bauch vor und brüllte: »Was, in drei Teufels Namen, ist eine Macke?« »Das können Sie schnell erfahren«, versicherte ihm Leeming. »Sie brauchen nur Ihren Eustachius zu befragen.« Farmer erschrak, senkte die Stimme zu einem beruhigenden Flüstern und sagte so sanft wie möglich: »Ihr Auftauchen hier war ein großer Schreck für mich. Vor Monaten hat man Sie als vermißt gemeldet und seitdem für tot gehalten.« »Ich habe eine Bruchlandung gemacht und bin jwd [janz weit draussen - veralteter Slang] gefangengenommen worden. Ein schlangenhäutiger Haufen, der sich Zangasten nennt. Man hat mich ins Gefängnis gesteckt.« »Ja, ja«, sagte Farmer und vollführte beschwichtigende Handbewegungen. »Aber wie sind Sie entkommen?« »Farmer, ich kann nicht lügen. Ich habe sie mit meinem Fatschbumdidelzong verhext.« »Hn?« »Ich fuhr also mit dem Zug los«, teilte Leeming mit, »und den haben zehn Faplaps getragen.« Er überraschte den anderen damit, daß er dem Schreibtisch einen Tritt gab, worauf sich Tinte über die Platte ergoß. »Jetzt wollen wir mal was von der Intelligenz sehen, die hier vertreten sein soll. Strahlen Sie das Angebot aus. Zwei für einen knallkalben Lathier und einen Macke Trampotschingus.« Er schaute sich mit rollenden Augen um. »Und besorgen Sie mir einen Platz zum Schlafen – ich bin todmüde.« Farmer hielt sich mit Mühe im Zaum und sagte: »Leutnant, spricht man so mit einem Colonel?« - 179 -
»Man spricht noch ganz anders. Bürgermeister Snorkum legt den Kuchen. Lassen Sie mal den Pudel paddeln.« Leeming gab dem Schreibtisch noch einen Tritt. »Los, bringen Sie mich ins Bett.«
- ENDE -
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