Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 618 Anti-ES - Xiinx-Markant
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 618 Anti-ES - Xiinx-Markant
Planetoid der Forscher von Kurt Mahr Zwei Scientologen auf Munater Die Verwirklichung von Atlans Ziel, das schon viele Strapazen und Opfer gekostet hat – das Ziel nämlich, in den Sektor Varnhagher-Ghynnst zu gelangen, um dort den Auftrag der Kosmokraten zu erfüllen –, scheint nun außerhalb der Möglichkeiten des Arkoniden zu liegen. Denn beim entscheidenden Kampf gegen Hidden-X wurde Atlan die Grundlage zur Erfüllung seines Auftrags entzogen: das Wissen um die Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst. Doch Atlan gibt nicht auf! Im Bewußtsein, sich die verlorenen Koordinaten wieder besorgen zu müssen, folgt der Arkonide einer vagen Spur, die in die Randgebiete der Galaxis Xiinx-Markant führt, wo die SOL in erbitterte Kämpfe verwickelt wird. Inzwischen herrscht im Umfeld der SOL Ruhe. Dafür aber ist in der SOL selbst der hoffnungslos anmutende Kampf gegen das Manifest C entbrannt, das das Schiff in die Vernichtung zu führen droht. Um sich die Handlungsfähigkeit und die Chance zur Rettung der SOL zu bewahren, verläßt Atlan mit seinen engsten Mitarbeitern das Schiff und dringt in die sogenannte Dunkelzone von Xiinx-Markant ein. Nach vielen gefährlichen Begegnungen in diesem Bereich stoßen Atlan und seine Gefährten schließlich auf die Quelle der Kriegsstrahlung von XiinxMarkant. Es ist der PLANETOID DER FORSCHER …
Die Hauptpersonen des Romans: Hage Nockemann und Blödel - Die Scientologen werden entführt. Atlan - Der Arkonide auf dem Planetoiden der Forscher. Breckcrown Hayes - Der High Sideryt kämpft gegen ein Manifest. Pnuul und Knaal - Forscher von Munater. Ksiil - Wächter der Quelle auf dem Planetoiden der Forscher.
1. »Laß uns das Ganze noch einmal durchgehen«, schlug Hage Nockemann vor und machte eine lockere Geste, die den komplexen und einigermaßen unordentlichen Versuchsaufbau umfaßte. »Wir sind ganz sicher, daß sich irgendwo in der Nähe unserer beiden Fahrzeuge ein Himmelskörper befindet.« »Ja«, bestätigte Blödel, Spezialrobot mit der Gestalt eines Ofenrohrs und selbsternannter Mit-Scientologe seines Herrn und Meisters. »Bjo und Federspiel nehmen die Strahlung wahr. Bjo etwas deutlicher als Federspiel, aber den Grund dafür kennen wir ja …« »Quatsch nicht so lange«, nörgelte Hage Nockemann. »Komm endlich zur Sache.« »Auch Tyari registriert die Strahlung«, fuhr Blödel unbeirrt fort, »wobei ich allerdings nicht weiß, welches ihre Qualifikationen auf diesem Gebiet sind. Es steht also fest, daß es eine Strahlung gibt, und da sie nicht vom leeren Raum ausgehen kann, muß irgendwo in der Nähe ein Himmelskörper existieren.« »Den wir nicht sehen und auch mit keiner anderen Wahrnehmungsmethode erfassen können«, ergänzte Nockemann und warf einen mißtrauischen Blick auf den Bildschirm, auf dem Tausende von Sternen der Galaxis Xiinx-Markant leuchteten. »Richtig«, bestätigte Blödel. »Folglich muß es einen Einfluß geben, der den unbekannten Körper vor unseren Augen und unseren Instrumenten verbirgt.«
»Eine Art Unsichtbarmachungsfeld.« Mit halblautem Knall fuhr an Blödels zylindrischem Körper eine Lade auf. Ein haariges Etwas, rund und von der Größe einer Faust, kam zum Vorschein. Unter dem dunklen Pelz hervor schrillte eine Stimme: »Im Namen der Wissenschaft hoffe ich, daß sich dafür ein besserer Name finden läßt.« »Du hältst den Mund, du vorlauter Bakwer«, sagte Nockemann ärgerlich. »Du verstehst von der Wissenschaft so viel wie … wie …« »Wie du von den Vorzügen des asketischen Lebens«, keifte das haarige Wesen, und schwups! war die Lade wieder zu. Der Zwischenfall ließ Hage Nockemann unbeeindruckt. Er war es gewohnt, daß man an der Integrität seines Lebenswandels zweifelte. »Weiter«, forderte er Blödel auf. »Gewiß, eine Art Feld«, versicherte dieser. »Es muß fünfdimensionaler Struktur sein, da weder die Orter noch die Taster es durchdringen können.« »So daß es uns möglich sein müßte, durch Aussendung geeigneter hyperenergetischer Wellenfronten auf dem Weg der Interferenz, eine Lücke in das Feld zu bohren.« »Richtig, so hatten wir es uns ausgemalt«, sagte Blödel. Nockemann sah ihn verwundert an. »Du klingst nicht besonders überzeugt«, tadelte er. »O doch«, versicherte der Robot eifrig. »Ich frage mich nur, was Bjo Breiskoll dazu sagen wird, wenn wir das Experiment ankurbeln und plötzlich an Bord der FARTULOON sämtliche Lampen ausgehen.« »So drastisch wird es nicht werden.« Hage Nockemann schüttelte nachdrücklich den Kopf, daß die langen grauen Haare flogen. Dann zwirbelte er mißbilligend seinen Schnauzbart. »Außerdem ist das nicht die richtige Einstellung. Die Wissenschaft lebt von der Forschung, nicht wahr?« »Ja.«
»Es muß geforscht werden. Wenn wir mit unserer Idee zu Bjo Breiskoll gegangen wären, um ihn zu bitten, daß er uns für kurze Zeit achtzig Prozent der Leistung sämtlicher Kraftwerke zur Verfügung stellt, was hätte er dann gesagt?« »Er hätte abgelehnt.« Die Lade fuhr von neuem auf, aber nur für eine halbe Sekunde. »Ausgelacht hätte er euch!« kreischte Wuschel, der Bakwer. »Also mußten wir die Dinge in die eigene Hand nehmen«, schloß Nockemann. Er lächelte ein wenig. »Es war eine ganz schöne Leistung, wie wir die NSR-Stationen anzapften, ohne daß jemand was davon merkte, nicht wahr?« »Ohne Zweifel«, bestätigte Blödel, der zwar nicht die Fähigkeit besaß, Stolz zu empfinden, aber durchaus die Gabe, ihn zu simulieren. »Gut. Dann verschwenden wir nicht noch mehr Zeit mit nutzlosem Herumreden«, entschied Nockemann, »sondern fangen an.« Er betätigte eine Reihe von Schaltern. Die unordentliche Apparatur, die drei Viertel des geräumigen Labors für sich beanspruchte, fing an zu summen. Der drastische Effekt, von dem Blödel gesprochen hatte, würde erst später eintreten. Vorerst war das Experiment damit beschäftigt, den Raum in der Umgebung der FARTULOON und der CHYBRAIN abzutasten und Informationen über das hypothetische Feld zu sammeln, das die beiden Experimentatoren zu durchlöchern gedachten. Der Versuch war im Gang – und damit hatte Hage Nockemann, ohne es vorerst zu wissen, noch eine Reihe anderer Dinge in Gang gesetzt, die sich in naher Zukunft auf höchst erstaunliche Art und Weise bemerkbar machen würden. »So«, sagte der Wissenschaftler und rieb sich zufrieden die Hände. »Jetzt verspüre ich einen Hunger, der am besten zu befriedigen wäre mit …« Er unterbrach sich mitten im Satz und starrte mit
schreckgeweiteten Augen in Richtung des Schotts, das den Haupteingang des Labors darstellte. »Mein Gott«, stieß er hervor. »Wer bist du?«
* Fassungslos starrte er das fremde Wesen an. So viele verschiedene Eindrücke wirkten auf einmal auf ihn ein, daß der Verstand Mühe hatte, sie auseinanderzusortieren. Der Fremde war nicht durch das Schott hereingekommen, soviel stand fest. Hage Nockemann erinnerte sich, eine matte, flackernde Leuchterscheinung gesehen zu haben, als der unheimliche Gast … ja, materialisierte – das war der einzig passende Ausdruck. Er hatte zwei Köpfe! Und sechs Arme! Abgesehen davon war er im großen und ganzen humanoid. Die Augen, je zwei pro Kopf, wirkten unnatürlich groß. Die Stirn nahm die Hälfte der Gesichtsfläche ein. Zwei große, spitz zulaufende Ohren zierten jeden Schädel. Die Kleidung war eintönig in der Farbgebung. Der Fremde stand auf zwei stämmigen Beinen und war etwa zwei Meter groß. Hage Nockemann versuchte, alle diese Einzelheiten in sich aufzunehmen; aber sein Verstand kehrte immer wieder zu dem einen Phänomen zurück: Zwei Köpfe! Der schmale Mund des linken Kopfes, der dem Wissenschaftler um eine Spur kleiner zu sein schien als der rechte, öffnete sich, und über die orangefarbenen Lippen kamen in verständlichem Interkosmo die Worte: »Ich bin Veh-Shmool. Sonst noch Fragen?« Es entsprach der Natur der Dinge, daß Blödel mit dieser erstaunlichen Entwicklung wesentlich rascher zurechtkam als Hage Nockemann.
»Das besagt uns nichts, Veh-Shmool«, erklärte er mit seiner durchdringenden Stimme. »Woher kommst du, wie kommst du hierher, und was ist der Anlaß deines Besuchs?« Daraufhin antwortete der rechte Kopf: »Das sind alles Dinge, über die wir uns später unterhalten können. Fürs erste ist allein wichtig, daß ihr so rasch wie möglich mit mir kommt.« »Wir können nicht mit dir kommen, Veh-Shmool …« »Ich bin nicht Veh-Shmool«, fiel ihm der rechte Kopf ärgerlich ins Wort. »Der andere ist Veh-Shmool. Ich bin Toi-Shmool.« Ich träume das alles, fuhr es Hage Nockemann durch den Sinn. Er wich langsam zurück. Er brauchte irgend etwas, woran er sich festhalten konnte – oder einen Schalter, um Alarm auszulösen. »Mir ist gleichgültig, welcher Shmool du bist«, erklärte Blödel standhaft. »Es steht auf jeden Fall fest, daß wir nicht mit dir kommen können.« Der Fremde wechselte plötzlich das Thema. »Ihr habt Versuche hier angestellt, nicht wahr?« wollte er wissen. »Ja«, sagte der Robot. »Welcher Art? Wir haben einige eurer Tests registriert und fanden die Effekte, die dabei auftraten, höchst interessant. Womit beschäftigt ihr euch?« »Das geht dich nichts an, Veh-Toi-Shmool«, erklärte Blödel. »Du bringst das alles durcheinander«, beklagte sich der linke Kopf. »Ich bin Veh-Shmool.« Der rechte Kopf fügte hinzu: »Ich bin Toi-Shmool.« »Das ist mir wohl klar«, sagte Blödel, dem nicht entgangen war, daß sein Herr und Meister sich langsam in Richtung eines Schalters der Alarm-Rufanlage vortastete. »Da ich aber niemals weiß, welchen von euch beiden ich anspreche, nenne ich euch Veh-Toi-Shmool, klar?« Veh und Toi sahen einander an. »Das ist der Ärger mit den Einköpfigen«, sagte Veh. Und Toi
ergänzte: »Sie glauben, sie wären so verdammt schlau.« »Genug geredet«, erklärte Veh-Shmool mit erregter Stimme. »Ihr kommt jetzt mit uns.« Hage Nockemann war bereits in der Nähe des kritischen Schalters. Nur noch einen kleinen Schritt rückwärts, dann … »Ich glaube, der Langhaarige hat etwas Unpassendes im Sinn«, sagte Veh-Shmool. Dabei hob er einen der drei rechten Arme und deutete mit einem Finger, der wie ein schlanker Pilz aussah, auf den Wissenschaftler. »Mach Schluß«, empfahl Toi-Shmool. »Ich habe das Gefühl, freiwillig wollen sie nicht mitkommen.« Hage Nockemann fühlte die Oberfläche des Schalters. Aber bevor er Druck ausüben konnte, begann vor ihm die Luft zu flackern. Er fühlte einen Schlag, als hätte ihn ein Maulesel gegen die Stirn getreten. Sein Bewußtsein erlosch augenblicklich. Er sah nicht mehr, wie sich ein leuchtendes, türkisfarbenes Feld um seinen Lieblingsroboter Blödel legte und diesen zu absoluter Bewegungsunfähigkeit verdammte. Eine Sekunde später war das Labor leer – bis auf die umfangreiche, unordentliche Apparatur, die leise vor sich hin summte und im Begriff stand, das Anliegen der beiden Experimentatoren zu verwirklichen, unabhängig davon, ob diese anwesend waren oder nicht.
* Das Gesicht Bjo Breiskolls, den man den »Katzer« nannte, blickte von der Bildfläche in der Kommandozentrale der CHYBRAIN. »Ja«, sagte der Mutant, »das Strahlungsfeld besteht mit unverminderter Intensität. Nein, ich kann die Quelle nicht anpeilen.« Er verstand die Nöte des Arkoniden und fuhr
eindringlicher als bisher fort: »Die Strahlung ist isotrop. Ich kann nur feststellen, daß sie intensiver oder schwächer wird, je nach dem, wohin wir uns bewegen. Ich weiß also, daß wir der Quelle in diesem Augenblick näher sind, als wir es je zuvor waren.« Er schüttelte den Kopf, und sein Gesicht nahm einen halb traurigen, halb frustrierten Ausdruck an. »Aber ich kann dir nicht sagen, in welcher Richtung du sie suchen mußt.« Atlan hob die Hand zu einer beruhigenden Geste. »Mach dir keine Vorwürfe, Bjo«, sagte er besänftigend. »Wir werden die Quelle finden.« Dann trennte er die Verbindung. Er saß allein in der Weite des Kontrollraums. Die Positionen der Schiffsleitung waren unbesetzt. Die CHYBRAIN und die FARTULOON standen still, relativ zu den benachbarten Sternen im Innensektor der Galaxis Xiinx-Markant. Vor etlichen Tagen waren sie aus dem Emtau-System aufgebrochen, einer Spur folgend, die zuerst Tyari gewiesen hatte – der Spur, die in Richtung einer geheimnisvollen Strahlungsquelle wies. Er hatte ursprünglich nicht darauf eingehen wollen. Man hatte ihm zugeredet und ihn schließlich, wie sie auf Terra sagten, breitgeklopft. Die Strahlung mochte identisch sein mit der berüchtigten »Kriegsstrahlung«, die draußen, jenseits der Dunkelzone, die Völker dieser Galaxis dazu veranlaßte, im ständigen Kampf aller gegen alle ihren einzigen Lebenszweck zu sehen. Gewiß doch war es wichtig, die Quelle dieser Strahlung zu finden – und mehr noch: verdienstvoll, sie außer Betrieb zu setzen. Seit ein paar Tagen lagen die beiden Fahrzeuge vor Ort. Die Strahlung war vorhanden, daran ließen Bjo Breiskoll und Federspiels Aussagen keinen Zweifel. Selbst Tyari war davon überzeugt, daß sie sich in unmittelbarer Nähe der Strahlungsquelle befanden, wenngleich sie sich nicht darüber auslassen wollte, woher sie diese Kenntnis bezog.
Seine Gedanken schweiften ab. Barleona – Tyari. Da lag sein Dilemma. Ein schmales Lächeln stahl sich in seine Züge, während er die Lage überdachte. Das Schicksal hatte ihn knauserig behandelt, was die ursprünglichste aller kreatürlichen Sehnsüchte anbelangte. Er hatte Freunde, oh ja – aber kein weibliches Wesen, das seine Seele fesselte. Jahrhundertelang war es so gewesen. Und jetzt, plötzlich, hatte man das Füllhorn über ihn entleert. Barleona oder Iray – die Sanfte, Zärtliche, Unschuldige. Tyari – die Intellektuelle, Herausfordernde. Es gab bislang keinen Zweifel an seinen Emotionen. Er fühlte sich zu Barleona – Iray hingezogen. Er rief sich seufzend zur Ordnung. Jetzt war nicht die Zeit, sich mit den Problemen seines Seelenlebens zu befassen. »Das ist in der Tat so«, kommentierte der Extrasinn spöttisch. »Es könnte ja sein, daß es außer den Darmverschlingungen deines Emotionaldaseins noch andere Kräfte gibt, die das Geschick dieser Expedition beeinflussen.« »Danke«, dachte Atlan trocken. »Ich brauchte eine Ermutigung dieser Art.« »Bitte«, reagierte der Extrasinn sarkastisch. »Es wurde mir von einem ungnädigen Schicksal aufgetragen, daß ich über dich zu wachen hätte.« Atlan richtete sich auf. Es war ein merkwürdiges Verhältnis, das er zu seinem Extrasinn unterhielt. Er wußte recht gut, wann er die Mitteilungen des Extrahirns als rein kommunikatives Geplapper und wann er sie als Aufforderung zum Handeln zu betrachten hatte. Die Mutanten wußten keinen Ausweg aus der verfahrenen Situation. Viel zuviel Zeit war bereits vergeudet worden. Wenn die Parakräfte versagten, mußten die Wissenschaftler an die Front. Hage Nockemann hatte vor kurzem davon gesprochen, daß er versuchen wolle, ein paar Löcher in den undurchdringlichen Schirm zu reißen, der nach allgemeiner Ansicht die Quelle der fremdartigen Strahlung verbarg. Er war mitsamt seinem Spezialroboter und dessen Einwohner, Wuschel, an Bord der FARTULOON
übergesiedelt, weil es dort umfangreiche und fortgeschrittene Laboreinrichtungen gab. Der Arkonide stellte von neuem die Verbindung her, die er vor wenigen Minuten erst unterbrochen hatte. Bjo Breiskoll erschien auf der Bildfläche. »Laß mich raten«, sagte der Mutant lächelnd. »Du bist von unseren Psi-Kräften enttäuscht und setzt deine Hoffnung darauf, daß die reine Wissenschaft mehr zuwege bringt.« Atlan nickte. Er war ernst. »So ungefähr ging es mir durch den Sinn«, antwortete er. »Läßt sich Hage Nockemann irgendwo auftreiben?« Das Lächeln schwand von Bjo Breiskolls Gesicht. »Eigenartig, daß du ausgerechnet jetzt nach ihm fragen wolltest«, sagte er. »Ich suche seit zehn Minuten nach ihm.« »Und …?« Bjo Breiskoll hob die Schultern. »Soweit wir feststellen können, ist er mitsamt Blödel spurlos verschwunden.«
* Hage Nockemann verlor den Halt und prallte mit voller Wucht gegen den Roboter. Blödel griff mit seinen langen, flexiblen Armen zu und gab dem perplexen Wissenschaftler das Gleichgewicht zurück. »Verdammter Mist«, wetterte Nockemann lauthals. »Was geht hier vor? Wo sind wir?« Er fühlte sich eigenartig leicht. Es ging ihm auf, daß die Gravitation sich verringert hatte. Er sah sich um. Den Raum, in dem er sich befand, hatte er nie zuvor gesehen. Es herrschte ein eigenartiges, milchiges Zwielicht, das es schwierig machte, die Einzelheiten der Umgebung zu erkennen. Er sah eine lockere
Gruppe von grotesk geformten Möbelstücken, womöglich Sitzgelegenheiten. Unmittelbar hinter sich hatte er eine umfangreiche technische Apparatur. Er erinnerte sich, in dem Augenblick, als er stolperte, ein fahles Flackern wahrgenommen zu haben. Da ging ein Ruck durch sein Gedächtnis. Der Doppelköpfige! VehShmool und Toi-Shmool. Wohin, zum Teufel, war er verschwunden. »Wenn mich nicht alles täuscht«, sagte Blödel, »wartet dort hinten das Empfangskomitee auf uns.« Mit blinzelnden Augen versuchte Hage Nockemann das Zwielicht zu durchdringen. Wahrhaftig, da standen sie! Auf einem breiten Podest, zu dem fünf flache Stufen hinaufführten. Drei doppelköpfige Gestalten! War der Alptraum noch immer nicht zu Ende? Er schob Blödel beiseite und stampfte zornigen Schrittes auf das Podest zu. »Wer seid ihr?« grollte er. »Wo bin ich hier? Was habt ihr mit uns gemacht? Ich verlange eine sofortige Beendigung dieser widerlichen Halluzination.« Die sechs Gesichter verzogen sich. Ein Grinsen? Ein spöttisches Lächeln? Wer mochte es wissen. Der linke, kleinere Kopf des mittleren Wesens begann zu sprechen. »Es ist keine Halluzination«, sagte der schmale Mund auf Interkosmo. »Alles, was du wahrnimmst, ist Wirklichkeit – falls in deiner Denkweise der Begriff Wirklichkeit dieselbe Bedeutung hat wie in der unseren. Das ist ein Thema, worüber wir diskutieren müssen, bevor wir zur Dissektion schreiten. Willkommen zunächst. Willkommen auf Munater, der Welt der unabhängigen Forschung. Ich bin Veh-Pnuul, der Oberste Hauptforscher. Dieser dort auf der anderen Schulter ist Toi-Pnuul. Ich bin gewiß, wir werden viele interessante Gespräche führen.« Allmählich begann Hage Nockemanns Verwirrung zu schwinden. Es brachte nichts ein, dauernd perplex zu sein. Wenn man eine
Sache nicht verstand, mußte man sie unverstanden akzeptieren. »Wer seid ihr?« wollte er wissen. »Woher kennt ihr unsere Sprache? Und wo ist der Schurke Veh-Toi-Shmool, der diesen Unfug angerichtet hat?« Einer der drei rechten Arme des Wesens, das sich Pnuul nannte, krümmte sich zur Seite und wies mit einem langen Finger nach rechts. »Da steht er«, sagte Veh-Pnuul, »Dritter Hauptforscher, und sein Forschgenosse Toi-Shmool. Wer wir sind? Vei-Munater, die Jünger der unabhängigen Forschung. Deine zweite Frage, fürchte ich, verrät nicht viel Weisheit und läßt mich unsicher werden, ob aus Unterhaltungen mit euch viel Wissenswertes abgeleitet werden kann. Belagern eure beiden Raumschiffe nicht schon seit geraumer Zeit unsere Welt, und werden nicht ständig Funksprüche zwischen ihnen ausgetauscht?« »Ihr habt den Funkverkehr abgehört und unsere Sprache daraus erlernt?« staunte Nockemann. »Ja. Und wenn dir das unbegreiflich erscheint, dann haben wir uns in dir getäuscht, und es ist nicht länger wünschenswert …« »Oh, halt die Klappe, du widerliches Großmaul«, explodierte Hage Nockemann. »Natürlich ist mir das begreiflich. Es wundert mich nur, daß ihr Doppeleierköpfe eine so hoch entwickelte Technik besitzt.« Veh-Pnuul wandte sich mit starrem Blick seiner großen Augen an die beiden Köpfe seines Nachbarn Shmool. »Doppeleierköpfe?« wiederholte er fragend. »Heheh!« lachte Nockemann. »Man kann einen Funkverkehr tagelang abhören, und es fehlen einem immer noch ein paar Brocken zum vollkommenen Vokabular. Warum brachtet ihr uns hierher?« »Deine Experimente interessieren uns«, antwortete Veh-Pnuul. »Interessieren euch? Schmäh! Ihr hattet Angst, daß es mir gelingen würde, euren lächerlichen Unsichtbarmachungsschirm zu durchdringen.«
Er warf einen raschen Seitenblick in Richtung des Roboters; aber Wuschel, der Bakwer, hatte den Ernst der Lage offenbar erkannt und verzichtete darauf, weitere Proteste gegen »unwissenschaftliche Ausdrucksweise« vorzutragen. »Das ist lächerlich«, erklärte Veh-Pnuul. »Der Schirm ist undurchdringbar. Das Rezept haben wir von Dem-der-uns-lenkt. Sein Wissen ist unfehlbar.« Nockemann wechselte das Thema. »Ich hörte da was von einer Dissektion«, sagte er. »Was ist das?« Veh-Pnuul wirkte überrascht. »Wir sind Forscher«, antwortete er. »Es geschieht selten, daß sich fremde Lebensformen auf unsere unsichtbare Welt verirren. Natürlich sind wir durch den Eid der unabhängigen Forschung dazu verpflichtet, alles fremde Leben, das uns in die Hände fällt, bis in die letzte Einzelheit seines Funktionsmechanismus zu verstehen. Das heißt …« »Ihr wollt uns auseinandernehmen?« fragte Nockemann ungläubig. »Wie sonst sollten wir erfahren, auf welche Weise ihr funktioniert? Ich rechne damit, daß ihr höchst interessante Studienobjekte sein werdet. Du und dein Begleiter, ihr seid so völlig verschieden voneinander. Wir sind gespannt darauf, zu ermitteln, wie eine Spezies derart ungleiche Exemplare hervorbringen kann.« »Und wir werden nicht gefragt?« wollte Nockemann wissen. »Ich meine, ob wir bereit sind, unser Dasein für eure Forschungszwecke aufzugeben?« »Warum sollten wir euch fragen?« antwortete Veh-Pnuul verwundert. »Ihr seid hier, und wir sind zum Forschen verpflichtet. Das ist alles.« »O nein«, sagte der Wissenschaftler. »Das ist noch längst nicht alles. Bei dir im Kopf stimmt etwas nicht. Bei dir sind eine Menge Schrauben locker. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, werden wir das untersuchen und dir womöglich zu geistiger Gesundheit verhelfen.
In der Zwischenzeit mach dir nicht zuviel Hoffnung auf die Dissektion. Sie wird nicht stattfinden.« »Was soll das heißen?« brauste Veh-Pnuul auf. »Er sagt, du bist verrückt.« Es war das erste Mal, daß Toi-Pnuul sich zu Wort meldete. »In Wirklichkeit ist er es.« »Keineswegs«, erklärte Hage Nockemann. »Bevor ihr zur Dissektion schreitet, sind unsere beiden Raumschiffe hier.« »Unmöglich!« rief Veh-Pnuul. »Der Schirm ist undurchdringlich. Sie werden Munater niemals finden.« »Unter normalen Umständen vielleicht nicht«, sagte Blödel. »Aber euer Genosse Shmool hat, als er uns abtransportierte, etwas Wichtiges vergessen.« »Was ist das?« »Er hat vergessen, unser Experiment abzuschalten.« Im Hintergrund des zwielichtigen Raumes war lautes Geschrei zu hören. Aus dem milchigen Halbdunkel materialisierte die zweiköpfige Gestalt eines Vei-Munaters und schoß auf das Podium zu. Sie sprach in hohen, schrillen Tönen zu den beiden Köpfen des Obersten Hauptforschers, und diese antworteten ihr mit knappen Worten. Hage Nockemann und Blödel verstanden nichts von der Unterhaltung, denn sie wurde in der Sprache der »unabhängigen Forscher« geführt. Aber sie sahen, wie Shmool und der dritte Vei-Munater, der bisher noch keinen Mucks von sich gegeben hatte, die Blicke wandten. Mit einem Ausdruck, der Mißtrauen und Besorgnis zu verraten schien, musterten sie die beiden Solaner. Da glaubte Hage Nockemann, die Ursache der Aufregung zu kennen. Das Experiment hatte zu wirken begonnen.
* »Wie sollten sie verschwunden sein?« fragte Tyari.
Sie war eine imposante Gestalt. Atlan hatte sich des öfteren gefragt, ob sich das Schicksal den Scherz erlaubt haben mochte, ihm auf weiten Umwegen eine Arkonidin zuzuspielen. Tyari war hochgewachsen. Ihr Haar war von derselben silberhellen Farbe, die für die Söhne und Töchter Arkons charakteristisch war. Eine leicht albinotische Rötung der Iris ließ ihre Augen im grellen Licht sanft bräunlich schimmern. »Das wissen wir nicht«, antwortete Atlan. »Aber wir müssen damit rechnen, daß wir es mit Unbekannten zu tun haben, denen ungewöhnliche Mittel zur Verfügung stehen.« »Was heißt das: Unbekannten?« fragte Tyari. »Du meinst, Nockemann und Blödel sind gegen ihren Willen abhanden gekommen? Du glaubst an eine Entführung?« »Er glaubt nicht. Er zieht nur alle Möglichkeiten in Erwägung«, sagte Iray sanft. Sie hatte sich bisher im Hintergrund des kleinen Besprechungsraums, abseits der Kontrollzentrale, gehalten und trat erst jetzt nach vorne. Ihre Erscheinung bildete einen krassen Gegensatz zu der Tyaris. Sie war kleiner. Ihre Haut hatte einen samtenen, hellbraunen Ton, und die dunklen Haare fielen ihr in dichten Locken bis auf die Schultern herab. Tyari wandte sich um. »Danke für die Belehrung«, sagte sie nicht allzu freundlich. »Die Idee klingt absurd. Orter und Taster lassen die Umgebung der beiden Schiffe keine Sekunde lang aus den Augen. Wie hätte ihnen ein Fahrzeug entgehen sollen, das sich der FARTULOON näherte?« Der Ärger macht sie noch anziehender, dachte Atlan. In der Tat war Tyari eine Frau, deren provokativer erotischer Aura sich ein Mann nur mit Mühe entziehen konnte. Tyari wußte das und zögerte nicht, die Vorzüge ihres Körpers zur Geltung zu bringen. »Wer spricht von einem Fahrzeug?« hielt er ihr entgegen. »Wir wissen, daß es in der Nähe einen Ort gibt, von dem eine geheimnisvolle Strahlung ausgeht. Aber wir können den Ort nicht
finden. Er wird vor uns verborgen. Es sind, mit anderen Worten, Kräfte und technische Mittel am Werk, die den unseren überlegen sein müssen. Ich halte es für denkbar, daß die hypothetischen Wesen, die diese Kräfte beherrschen, in der Lage sind, ohne Fahrzeug an Bord der FARTULOON zu gelangen.« »Mit einer Art Fiktivtransmitter?« fragte Barleona-Iray. Sie, deren Verstand bar allen Wissens gewesen war, als die Barleoner sich ihrer entledigten und sie Atlan übergaben, hatte sich seitdem mit heißhungriger Wißbegierde alle Kennntisse angeeignet, die in den Archiven der SOL zu finden waren. Sie kannte die Geschichte der Menschheit – des Volkes, das auch das ihre war – und wußte um die Stufen, die die technische Entwicklung durchlaufen hatte. Atlan wollte ihr antworten, aber in diesem Augenblick meldete sich Bjo Breiskoli von der FARTULOON. »Es gibt keinen Zweifel mehr«, sagte er ernst. »Sie sind spurlos verschwunden. Wir haben in jedem einzelnen Raum, in jedem Korridor, in jedem Schacht nachgesehen. Sie sind nicht mehr an Bord dieses Schiffes.« »Energetische Echos.« Es war nur ein Gedanke. »Haben die Nachweisgeräte etwas angezeigt?« Der Mutant schüttelte den Kopf. »Nein. Und um deiner nächsten Frage zuvorzukommen: Ich habe keine fremdartige Mentalstrahlung gespürt. Was nicht unbedingt etwas zu sagen hat, weil …« Die Stimme wurde zu unverständlichem Gezwitscher. Das Bild löste sich in gegeneinander verschobene Segmente auf. Knatternde Störgeräusche drangen aus dem Empfänger. »Was ist los?« rief Atlan. Der Servo, der die Kommunikation überwachte, hielt die Frage für an ihn gerichtet und antwortete: »Leistungsausfall auf Senderseite.« Sekunden später wurde das Bild wieder stabil. »… auf Notleistung umgeschaltet«, sagte Bjo Breiskoll. »Von einer Sekunde zur andern war der Ausstoß sämtlicher NSR-Stationen verschwunden, einfach weggewischt.«
»Ursache?« fragte der Arkonide. »Wir suchen danach.« Auf der Bildfläche sah man, wie Breiskolls Augen sich weiteten. Ungläubiges Staunen malte sich in seinen Zügen. »Es ist … es kommt aus Nockemanns Labor!« stieß er hervor. An Bord der CHYBRAIN schrillte ein kurzes, durchdringendes Alarmsignal. »Ortung! Ortung!« schrie es aus dem Interkom. »Wir empfangen gestörte Reflexe eines Riesenobjekts in vier Lichtminuten Entfernung!«
2. »Wer gibt uns die Sicherheit, daß dieser Plan Erfolg haben wird?« fragte Curie van Herling, ehemalige Magnidin und seit Abschaffung der SOLAG Leiterin des Kommunikationswesens. »Niemand«, antwortete Lyta Kunduran kühl. »Wir experimentieren mit unbekannten Kräften. Kein Mensch weiß, wie Erfrin reagieren wird, wenn wir versuchen, SENECA aus der Reserve zu locken.« Der Kreis der Zuhörer war klein. Der Krisenstab bestand aus Mitgliedern der Schiffsführung und Fachleuten, die etwas von Computern verstanden. Das Problem ließ sich mit wenigen Worten beschreiben und war dennoch so undefinierbar wie am ersten Tag: SENECA verweigerte die Kooperation mit der Besatzung der SOL. Die Hyperinpotronik war kaum noch ansprechbar. Erfrin, das Manifest C des übermächtigen Gegners, hatte sich in ihm etabliert. Die SOL ließ sich nicht mehr steuern. Seit zwei Wochen raste das mächtige Raumschiff unaufhaltsam auf die Dunkelzone zu, die den Kern der Galaxis Xiinx-Markant umgab. Ihre Geschwindigkeit relativ zu den Staub- und Trümmermassen, die die finstere Zone ausmachten, betrug 50 % Licht. Kein Schutzschirm konnte die SOL
davor bewahren, beim Zusammenprall mit der interstellaren Materie zerrissen und zerrieben zu werden. 86 Tage blieben dem Krisenstab noch, einen Ausweg zu finden. »Ich sehe eine andere Gefahr«, bemerkte Breckcrown Hayes. »Wenn wir eine Reihe gefährlicher Maßnahmen einleiten und SENECA entgegen unseren Hoffnungen nicht darauf reagiert – ich meine, wenn Erfrin ihn so fest im Griff hat, daß er einfach nichts unternehmen kann: Was geschieht dann?« »Unser Plan sieht vor«, erläuterte Lyta Kunduran, die man wegen ihrer hervorragenden Leistungen auf dem Gebiet der Computertechnik auch »Bit« nannte, »von verschiedenen Stellen des Schiffes aus und zu wahllosen Zeitpunkten Anweisungen zu geben, deren Ausführung die SOL in Gefahr bringen muß. Gedacht haben wir uns zum Beispiel, daß NSR-Kraftwerke bis auf Überleistung hochgefahren werden könnten, ohne daß ein Abnehmer für die erzeugte Leistung zur Verfügung steht. Ein einzelner Vorfall dieser Art bedeutet keine ernste Gefahr. Eine Häufung solcher Ereignisse stellte jedoch eine eindeutige Bedrohung des Schiffes dar. Wir gehen so vor, daß SENECA Zeit bleibt, der Bedrohung allmählich gewahr zu werden. Er kann vorhersehen, wie sich die Lage entwickeln wird, und sich entsprechend vorbereiten. Die Hoffnung besteht, daß Erfrin nicht die nötige Übersicht hat, so daß er überrascht wird, wenn SENECA versucht, die Kontrolle wieder an sich zu bringen.« »Das setzt voraus, daß SENECA tatsächlich wünscht, von Erfrin befreit zu werden«, bemerkte Gallatan Herts. »Natürlich«, antwortete Lyta. »Wenn diese Voraussetzung nicht stimmt, dann ist alles umsonst.« »Meine Frage ist noch immer nicht beantwortet«, sagte Breckcrown Hayes. »Wir fahren also die Kraftwerke hoch, bis auf Überleistung. Wir haben keinen Abnehmer für die Leistung. Es kommt zur Energiestauung. Wenn keine Abhilfe geschaffen wird, fliegt die SOL mit Mann und Maus in die Luft – oder was immer es ist, das uns da draußen umgibt. Wenn SENECA nicht eingreift,
begehen wir also Selbstmord?« »Es ist nicht ganz so«, wandte der kleine gelbe Mann ein, der sich bisher noch nicht zu Wort gemeldet hatte. »Wir haben Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Im allerletzten Augenblick – wenn wir sicher sind, daß SENECA nicht eingreifen wird besteht die Möglichkeit, die aufgestaute Energie abzublasen und eine Explosion zu verhindern.« Derblix war das einzige Mitglied der Gruppe, durch dessen Adern kein terranisches Blut rann. Er war ein Extra, ein Wesen, das die SOL auf irgendeinem der zahllosen Planeten aufgelesen hatte, die von ihr angeflogen worden waren. Aufgrund seiner nahezu unbegrenzten Lernfähigkeit hatte er sich rasch zum Spezialisten auf mehreren Gebieten entwickelt und galt an Bord der Solzelle-2, wo er eingesetzt war, als »Mann für alles« und Fachmann zbV Solanias von Terra, die die SZ-2 befehligte. Er wirkte humanoid bis auf seine vielfach schattierte gelbe Hautfarbe und den spitz zulaufenden Schädel. Lyta Kunduran hatte lange und heftige Diskussionen mit Solania von Terra geführt, bis diese bereit gewesen war, ihren »besten Mann« zum Krisenstab abzustellen. Derblix war ein Garbil. Er stammte von der Welt Garbr. Er befand sich seit unvordenklichen Zeiten an Bord der SOL und war allgemein beliebt. Über seine Vergangenheit sprach er nie. Er lebte, wie er sagte, für die Gegenwart. »Wie sicher ist das?« wollte Breckcrown Hayes wissen. Derblix gestikulierte mit beiden Händen. »Es kommt auf uns an, wie scharf wir aufpassen«, meinte er. »Die Wahrscheinlichkeit, daß wir uns selbst vernichten, ist also nicht gleich null?« »Nein«, antwortete das gelbe Wesen. »Ich würde sie auf zehn Prozent beziffern.« »Eines ist mir völlig unklar«, begann Gallatan Herts von neuem. »Wir wollen SENECA aufscheuchen, indem wir eine Gefahr für das ganze Schiff heraufbeschwören. Warum warten wir nicht einfach,
bis die SOL unmittelbar vor dem Zusammenprall mit der Dunkelzone steht? Würde das den vermaledeiten Computer nicht auf die Beine bringen?« »Sicher«, grinste Breckcrown Hayes. »Wenn du den inneren Gleichmut besitzt, so lange zu warten.« »Es gibt noch eine andere Überlegung«, sagte Lyta Künduran. »SENECA ist ein überaus komplexes Gebilde. Auch ein Wesen wie das Manifest C braucht Zeit, die Inpotronik gänzlich unter seine Kontrolle zu bringen. Je länger wir warten, desto hoffnungsloser wird SENECA in Erfrin verstrickt.« Der High Sideryt machte eine Geste, die Aufmerksamkeit heischte. »Genug geredet«, erklärte er. »Es liegt ein Plan vor, an Bord des Schiffes eine gefährliche Lage zu erzeugen, die SENECA zum Handeln aus eigener Initiative veranlassen soll. Wenn er handeln will, muß er zuvor Erfrins Joch abschütteln. Die Aussichten sind vage, die Risiken unverkennbar. Trotzdem bin ich dafür, daß wir Lytas Plan verwirklichen. Hat irgend jemand eine andere Meinung?« Es erhob sich kein Widerspruch. Lyta Kundurans Strategie war akzeptiert.
* Es brannten nur noch wenige Lichter im zentralen Kommandostand der SOL. Der weite, runde Raum war leer. Stille herrschte, nur gelegentlich noch unterbrochen vom Wispern der Geräte. Niemand hatte hier mehr etwas zu tun. Das riesige Schiff bedurfte der Lenkung nicht mehr. Es bewegte sich nach seinem eigenen Willen oder vielmehr auf Geheiß des Manifeste C, das sich in SENECA angesiedelt hatte. Breckcrown Hayes' Schritte verhallten hohl auf dem mattschimmernden Bodenbelag. Er sah die Gestalt hinter der
Konsole des Piloten, ihr Gesicht beleuchtet vom Widerschein der Kontrollampen. Eine schmächtige Gestalt, in einen kaftanähnlichen Umhang gehüllt. Aus den weiten Ärmeln ragten dünne Arme hervor. Die feingliedrigen Hände ruhten auf der freien Unterkante der Konsole, scheinbar bereit zum Zugreifen, sobald die SOL bereit war, dem Steuer wieder zu gehorchen. In Wirklichkeit bedurfte Cara Doz der Hände nicht. Sie war die erste Emotionautin, die die Zivilisation des Generationenschiffs hervorgebracht hatte. Ein Ring umspannte ihre Stirn, und von dem Ring aus liefen zwei Kabel ins positronische Kontrollsystem der Steuerkonsole. Der Ring stellte eine Modifikation der SERT-Haube dar, die von früheren Emotionauten benutzt worden war. Mit seiner Hilfe war Cara Doz in der Lage, gedankliche Befehle an die Positronik zu übermitteln und damit die Zeit zu sparen, die das Betätigen von Tasten oder selbst die Zurufe an akustische Servos erfordert hätten. Breckcrown Hayes stieg die wenigen Stufen hinauf, die die Konsole des Piloten vom allgemeinen Niveau der Kommandozentrale abhoben. »Es ist noch nicht soweit, Cara«, sagte er mit sanfter Stimme. Ein blasses Gesicht wandte sich ihm zu. »Ich weiß es, Breck«, antwortete Cara Doz mit überraschend frischer Stimme. »Aber sobald es soweit ist, möchte ich auf dem Posten sein. Ihr habt Pläne, nicht wahr?« »Die haben wir«, bestätigte der High Sideryt. »Aber wir wissen nicht, ob sie erfolgreich sein werden. Es ist undenkbar, daß du die ganze Zeit über hier sitzt und auf den Erfolg wartest. Du brauchst Ruhe.« Cara Doz schüttelte den Kopf. »Es wird bald geschehen«, sagte sie. »Ich spüre es. Bis dahin warte ich hier. Sobald ich fühle, daß die Geräte auf mich reagieren, nehme ich die SOL wieder unter meine Kontrolle.« Breckcrown Hayes nickte, dann wandte er sich wortlos ab. Er hatte
noch einen anderen Gang zu tun in dieser Nacht – »Nacht« definiert als die Dunkelperiode der willkürlich gewählten, 24 Stunden langen Hell-Dunkel-Folge an Bord des Generationenschiffs. Er fragte sich, wie es in jenen Tagen der fernen Vergangenheit gewesen sein mochte, als die Raumfahrt ausschließlich eine Sache der Männer war. Er wußte die Antwort nicht. Er wußte nur, daß es ihm lieber gewesen wäre, wenn er sich in die Koje hätte hauen können, anstatt diese nächtlichen Gänge unternehmen zu müssen, die lediglich der Seelenmassage weiblicher Besatzungsmitglieder dienten. Als er den Meldeknopf drückte, der neben dem Schott angebracht war, das zu Sternfeuers Quartier führte, war er mürrisch und niedergedrückt. Das Schott fuhr vor ihm auf. Er trat ein.
* Sternfeuer hatte es sich in einem großen Sessel bequem gemacht. Sie wirkte auf den ersten Blick ein wenig unscheinbar; erst wer sich länger in ihrer Nähe aufhielt, spürte das, was ein wortgewandter Bewunderer vor einiger Zeit »Faszination mit Zeitzünder« genannt hatte. Das weißblonde, kurz geschnittene Haar bildete einen attraktiven Kontrast zur samtenen Bräune der Haut. Der Mund war ein bißchen zu schmal geraten und schien zu schmollen. Die großen Augen, blau und unergründlich, musterten den Besucher, als sollte ihr Blick bis auf den Grund seiner Seele hinabreichen. »Nein, es gibt nichts Neues«, sagte die Mutantin anstelle einer Begrüßung. »Federspiel? Bjo?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Kein Mucks«, antwortete sie. Er setzte sich unaufgefordert. »Ihr macht mir Sorgen«, sagte er. »Wer ihr?«
»Du und Cara.« Ein Ausdruck amüsierten Interesses erschien auf Sternfeuers Gesicht. »Ach nein«, sagte sie spöttisch. »Und warum?« »Immer so dasitzen. Nichts zu tun. Ewiges Warten auf das große Unbekannte. Das zehrt an den Nerven. Ihr brauchtet mehr Abwechslung. Ich will nicht, daß ihr uns zusammenklappt.« »Ich sehe nicht, in welcher Hinsicht sich unsere Lage nennenswert von der deinen unterscheidet«, bemerkte Sternfeuer. »Das ist etwas anderes«, behauptete Breckcrown Hayes. »Was ist etwas anderes?« »Ich bin ein …« Er unterbrach sich mitten im Satz, als er erkannte, daß er der Mutantin geradewegs ins offene Messer gelaufen war. »Du bist ein Mann, nicht wahr?« sagte Sternfeuer an seiner Stelle. »Du bist stark und kräftig und hast Nerven genug zum Verleihen. Auf uns schwächliche und nervöse Weiber dagegen muß man scharf aufpassen, damit wir nicht zusammenklappen. Oh, Breckcrown Hayes, als sie die Feinfühligkeit und den Sinn für Diplomatie verteilten, da hast du wahrscheinlich ganz hinten in der Schlange gestanden.« Verletzt sah er sie an. »Aber ich wollte doch nur …« »Gewiß, du wolltest mir deinen starken Arm leihen, daß ich mich darauf stützen kann. Geh schlafen, Breckcrown. Ich brauche deinen Arm nicht, aber du brauchst die Ruhe. Und wenn du dich wirklich einmal niedergeschlagen und zermürbt fühlst, komm zu mir. Ich will schon die rechten Worte finden, um dein angeknicktes Ego wieder aufzurichten.« Er stand auf. »Das habe ich wahrscheinlich verdient«, brummte er. »Ja, das hast du, Breckcrown Hayes«, sagte Sternfeuer, und freundlicher Spott blitzte in ihren großen Augen.
* Sie ließen sich Zeit. In den ersten Stunden des Experiments kamen die Anforderungen langsam und mit großem Zwischenraum. Hier verlangte ein Umbauvorhaben nach erhöhter Leistung, dort wollte ein Projekt der Nuklearsynthese mit mehr Energie versorgt werden. Das astrophysikalische Labor der Solzelle1 beantragte den Ausstoß einer ganzen NSR-Station – angeblich, um einen hyperenergetischen Taststrahl von größter Durchdringungstiefe zu erzeugen. Alle Anforderungen waren auf die Sekunde genau terminiert. Sie wurden bestätigt. Das hieß: Zum gewünschten Zeitpunkt würde die angeforderte Leistung zur Verfügung stehen. Später liefen die Aufträge in rascherer Reihenfolge ein. Lyta Kunduran bediente sich peripherer Computer, die nicht mit SENECA gekoppelt waren, um die Energiemenge zu ermitteln, die gebraucht wurde, um eine »Bedrohung von katastrophaler Größe« zu erzeugen, wie der Krisenstab das ausdrückte. Denn in dem Augenblick, in dem den Verbrauchern die angeforderte Leistung angeboten wurde, würden diese das Angebot ablehnen und SENECA zu verstehen geben: Nein, danke – wir haben es uns anders überlegt. Dadurch kam es zum Stau, und die Inpotronik mußte zu dem Schluß gelangen, daß der SOL tödliche Gefahr drohte. Alle Hoffnungen konzentrierten sich darauf, daß in diesem Augenblick SENECAS Loyalität »seinem« Schiff gegenüber erwachte. Um rettend eingreifen zu können, mußte er den Bann abschütteln, mit dem Erfrin ihn belegt hatte. SENECA würde sich gegen das Manifest C erheben und es – so hofften sie – ein für allemal vertreiben. Inzwischen waren Werktrupps damit beschäftigt, am Ort der Verbraucher Abstrahlvorrichtungen zu installieren. Es war etwas Einmaliges an diesen Gruppen: Sie bestanden ausschließlich aus Solanern. Roboter wurden nicht eingesetzt. SENECA hatte
Verbindung mit der Robotarmee der SOL. Hätte er erfahren, daß Sicherheitsvorkehrungen gegen den Energiestau getroffen wurden, dann wäre für ihn der Zwang entfallen, im kritischen Augenblick einzugreifen. Lyta Kunduran traf der Schweiß auf die Stirn, wenn sie bedachte, wie wenig sicher die sogenannten Sicherheitsmaßnahmen waren. Mit SENECAS Reaktion durfte erst gerechnet werden, wenn die Gefahr unmittelbar bevorstand. Unmittelbar – das bedeutete bei einer Maximalabmessung des Schiffs von rund 6,5 Kilometern und einem Computer, der mit lichtschnellen Signalen arbeitete, zwanzig Mikrosekunden. Traten die Abstrahlvorrichtungen zu früh in Tätigkeit, sah SENECA keinen Grund zum Eingreifen. Begannen sie, zu spät zu arbeiten, und es gelang der Inpotronik nicht, sich aus Erfrins Bann zu befreien, dann verging die SOL in einem Feuerball aus atomarer Glut. Dazwischen lag eine winzige Zeitspanne, in der der Mensch Gelegenheit hatte, sich selbst und sein Raumschiff zu retten.
* Im Mittelteil des riesigen Schiffes hatte Lyta Kunduran sich eine Kontrollzentrale eingerichtet. Von hier aus steuerte sie die Abstrahlvorrichtungen. Die Steuersignale liefen über Kanäle, die heimlich, ohne daß SENECA davon erfuhr, angezapft worden waren. Auf demselben Weg wurden die Daten herangeführt, die Lyta brauchte, um zu entscheiden, wann es Zeit zum Eingreifen war. Die Möglichkeit der gesprochenen Kommunikation bestand nicht. In der entscheidenden Stunde war die kleine Zentrale eine Insel inmitten der Weite des Universums, so vollständig abgeschlossen von der Umwelt, als hätte man den mit technischem Gerät gefüllten Raum physisch aus dem Leib des Schiffes entfernt
und irgendwo zwischen den Sternen deponiert. Lytas einziger Mitarbeiter war Derblix. Der kleine gelbe Mann besaß die Gabe nahezu übermenschlicher Reaktionsgeschwindigkeit. Es war klar, warum Bit ihn im kritischen Augenblick an ihrer Seite haben wollte. »Bauvorhaben läuft an«, meldete er. »Phantastisch! Fünfzehn Gigawatt auf eine tote Leitung.« Lytas Anzeigegerät meldete das Einfließen von Leistung in das astrophysikalische Labor der Solzelle-1. Auch dort war die Annahme gesperrt. Die Nugas-Schwarzschild-Reaktorstationen arbeiteten mit 80 % Kapazität. In der entscheidenden Minute würden sie mit 125 % laufen. Wenn ich all diese Kraft auf die Triebwerke leiten könnte, dachte Lyta, wäre die SOL außer Gefahr. Aber diese Möglichkeit bestand nicht. Alle energieführenden Verbindungen mit den Triebwerkssektoren waren blockiert. Die Kurzzeit-Reservoire begannen sich zu füllen. Das waren Energiespeicher, in denen Leistung, die vom Verbraucher nicht zum angeforderten Zeitpunkt benutzt wurde, sich sammelte. Ihre Kapazität war begrenzt. Ein Fall wie der, den der Krisenstab geplant hatte, war in den Vorschriften für den Bordbetrieb der SOL nicht vorgesehen. Der Augenblick nahte, da SENECA aufmerksam werden mußte. »Nuklearsynthese läuft an«, sagte Derblix. »Zusätzliche achtzig Gigawatt.« Besorgt musterte Lyta das Chronometer. Die Sekunde der Entscheidung näherte sich unaufhaltsam. In den letzten Minuten häuften sich die vorprogrammierten Leistungsanforderungen. Die Kurzzeit-Reservoire würden binnen weniger Sekunden vollaufen, und dann … Sie seufzte. Vor ihr auf der Videofläche war eine blinkende Leuchtschrift erschienen. Die Buchstaben funkelten in tiefem Rot. WAS TUST DU, NÄRRIN? WILLST DU UNS ALLE
UMBRINGEN? Noch vier Minuten bis zum kritischen Zeitpunkt. Sie wußte nicht, was sie mit der warnenden Frage anfangen sollte. Hastig beugte sie sich nach vorne und tippte das Rufzeichen für SENECA. Das Videogerät reagierte sofort. DOPPELTE NÄRRIN! ICH BIN NICHT SENECA. GIB MEINEN NAMEN EIN. Es war, als gehe von den blinkenden Worten ein hypnotischer Zwang aus. Drüben an seiner Konsole saß Derblix, mit Dutzenden von einlaufenden Meldungen beschäftigt, und merkte von alledem nichts. Kaum noch drei Minuten bis zur entscheidenden Sekunde! Sie folgte dem Zwang, der auf ihr Bewußtsein einwirkte, und betätigte langsam und mit Bedacht, als müsse jeglicher Fehler unbedingt vermieden werden, die Tasten. ERFRIN … Die Buchstaben verschwammen. Zurück blieb nur das zuckende, rote Leuchten. Die Bildfläche schien sich zu weiten. Lyta hatte das Gefühl, ein weiter, höhlenartiger Raum tue sich vor ihr auf. Nebel wallte im Hintergrund. Er drehte sich spiralig und begann, eine Gestalt zu formen. Ein Gesicht entstand, eine unglaublich häßliche Fratze – eine Grimasse, in der sich Angst und Wut mischten. BRICH DEN VERSUCH AB. Lyta war nicht sicher, ob sie die Worte hörte oder unmittelbar in ihrem Bewußtsein empfand. Wie der leuchtenden Schrift zuvor haftete auch ihnen hypnotische Kraft an. Sie sträubte sich dagegen. Sie wußte intuitiv, daß sie auf dem richtigen Weg war. Erfrin spürte die drohende Gefahr und versuchte, sich dagegen zu schützen. »Gib SENECA frei!« schrie sie. Beim Klang ihrer Stimme fuhr Derblix in die Höhe. Mit der ihm charakteristischen Geschwindigkeit schnellte er sich auf Lytas Konsole zu. »Was ist, um der Sterne willen?« rief er. SELBST WENN ICH DAS WOLLTE, hämmerte es in Lytas
Bewußtsein, KÖNNTE ES NICHT MEHR RECHTZEITIG BEWERKSTELLIGT WERDEN. BRICH DEN VERSUCH AB! »SENECA, hilf uns!« schrie Lyta. »Was hast du?« fragte Derblix voller Angst. »Mit wem sprichst du?« Mit ruckenden Bewegungen der Hand wies Lyta auf die Bildfläche. »Da, sieh doch!« stieß sie hervor. »Ich sehe nichts«, keuchte der kleine gelbe Mann. SENECA KANN DIR NICHT HELFEN. ER BEFINDET SICH VÖLLIG IN MEINER GEWALT. BRICH DEN VERSUCH AB. »Abschalten, Derblix!« schrie Lyta in höchster Verzweiflung. »Leistungszufuhr drosseln, NSR-Stationen auf Leerlauf, Stauenergie abstrahlen!« »Aber warum denn …?« jammerte der Garbil. »Sofort! Frag nicht!« Das Fremdwesen hastete zu seinem Arbeitsplatz zurück. Mit einer Geschwindigkeit, der menschliche Augen nicht zu folgen vermochten, glitten schlanke Finger über die umfangreiche Tastatur. DEIN GLÜCK – UND MEINES, hörte Lyta. Die Höhle begann zu schrumpfen. Der Nebel sank in sich zusammen und verschwand. Das häßliche Gesicht war nicht mehr zu sehen. Die Bildfläche rückte wieder in den gewohnten Fokus! Sie war leer. Keine Nachricht mehr für Lyta Kunduran. Lyta sank vornüber. Die mentale Anstrengung war zuviel gewesen. Sie hörte kaum noch, wie Derblix sagte: »Experiment abgebrochen. Verdammt! Das war nicht gerade so, wie wir es geplant hatten.«
* »Ich mache Lyta keinen Vorwurf«, erklärte Breckcrown Hayes. »Es
steht fest, daß Erfrin die Fähigkeit besitzt, auf hypnotischem Weg auf seine Opfer einzuwirken. Ohne weiteres geht das allerdings nicht. Lyta mußte zuerst den Namen ERFRIN eingeben, bevor die volle Intensität der hypnotischen Kraft wirksam wurde. Derblix blieb völlig unbeeinflußt. Wir brauchen also nicht zu befürchten, daß das Manifest uns allesamt unversehens unter seinen Suggestiveinfluß zwingt.« »Also ein Fehlschlag«, sagte Gallatan Herts. »Im Sinne des ursprünglichen Planes, ja«, gab Breckcrown Hayes zu. »Aber keineswegs auf der ganzen Linie.« »Wie soll man das verstehen?« fragte Curlie van Herling. »Erfrin merkte, was auf ihn zukam. Er fürchtete sich. Das Manifest C ist nicht das übermächtige, durch nichts zu beeinflussende Gebilde, als das es sich uns gerne darstellen möchte. Es hat seine Schwächen. Eine davon haben wir heute entdeckt. Wenn die SOL in einer nuklearen Explosion vergeht, stirbt auch Erfrin.« »Damit können wir eine Menge anfangen«, spottete Gallatan Herts. »Damit nicht«, sagte der High Sideryt. »Wohl aber mit der Erkenntnis, daß Erfrin durchaus beizukommen ist. Wir brauchen neue Ideen, neue Experimente. Mit jedem Versuch lernen wir hinzu. Sechsundachtzig Tage bleiben uns noch. Ich halte es für durchaus möglich, in dieser Zeit eine Lösung zu finden.« Er blickte verwundert zur Seite, als er sah, daß Lyta Kunduran langsam den Kopf schüttelte. Ein stilles Lächeln lag auf ihren Zügen. »Du bist anderer Ansicht, Bit?« fragte er. Lyta schrak auf. »Was bin ich?« fragte sie verwirrt. »Oh, verzeih – ich hatte nicht zugehört. Ich … ich mußte an etwas anderes denken.« »Willst du uns daran teilhaben lassen?« erkundigte sich Curie van Herling nachsichtig und sanft. »Ich kann nicht verstehen …« Lyta begann zögernd und mit langen Zwischenräumen zwischen den Worten. Aber je länger sie
sprach, desto flüssiger wurde ihre Ausdrucksweise. »Ich weiß, es geschah alles unter suggestivem Zwang. Und das Gesicht, das ich jenseits der Bildfläche sah, war bei weitem das häßlichste, das mir je vor Augen gekommen ist. Aber das Merkwürdige ist …« Sie schüttelte von neuem den Kopf »… daß ich Erfrin gegenüber keinerlei Abneigung empfinden kann. Er wirkte aufrichtig. Und die Worte, oder Gedanken, mit denen er sich von mir verabschiedete ,dein Glück und meines' – klangen ausgesprochen menschlich.« Sie sah sich unsicher um und fügte hinzu: »Ich weiß nicht, ob ihr das versteht.« Eine Zeitlang herrschte verwundertes Schweigen. Dann sagte Breckcrown Hayes – und bewies damit, daß er feinfühliger sein konnte, als er sich in der vergangenen Nacht gezeigt hatte: »Wahrscheinlich nicht, Bit. Aber das spielt keine Rolle. Solange du weißt, was du empfindest, haben wir nicht daran herumzurätseln.« Das summende Geräusch eines auffahrenden Schotts war zu hören. Sie wandten sich um, selbst Lyta, die immer noch ihren verwirrten Gedanken nachhing. Unter der Öffnung stand Sternfeuer. Sie wirkte matt; ihr Gesicht war fahl. Die Lippen des schmalen Mundes bewegten sich. Kaum hörbar sprach sie die Worte: »Ich habe Verbindung … mit Federspiel.«
3. Das Bild flackerte. Es war eine Computersimulation, angefertigt auf der Grundlage der Daten, die die Orter und Taster lieferten. Der geheimnisvolle Mantel, der das fremde Objekt bisher vor den Blicken der solanischen Raumfahrer geschützt hatte, war am Zusammenbrechen. Noch aber wehrte er sich. Sekundenlang war das Bild verschwommen; für kurze Zeit verschwand es ganz und tauchte dann hell in gestochener Schärfe wieder auf.
»Wir gehen darauf zu«, ordnete Atlan an. Er wußte nicht, was den fremden Energieschirm beeinflußte; aber er mußte mit der Möglichkeit rechnen, daß er sich wieder stabilisierte. Bis dahin wollte er so nahe an dem unbekannten Gebilde sein, das der Bildschirm zeigte, daß er es nicht mehr verlieren konnte. Uster Brick, der Pilot der CHYBRAIN, nickte zustimmend. »Verbindung mit der FARTULOON«, verlangte Atlan. Eine Bildfläche leuchtete auf. Bjo Breiskoll war zu sehen. »Wir stoßen vor«, sagte der Arkonide. »Wie weit seid ihr mit eurem Energieproblem?« »Wir können sie jederzeit loswerden«, antwortete der Mutant. »Aber ich weiß nicht, ob das klug wäre.« »Was heißt das?« »Ich habe Sanny losgeschickt, sie soll sich in Nockemanns Labor umsehen.« Sanny war die zwergenhafte Molaatin mit paramathematischer Begabung. »Sie hat sich die Apparatur angesehen, die von Nockemann und Blödel zusammengebaut wurde, und ›berechnet‹, daß sie etwas mit dem Flackern des Energieschirms zu tun haben könnte.« Atlan staunte und brachte es dennoch fertig, seine Entscheidung binnen einer Sekunde zu treffen. »Verstanden«, sagte er. »Wenn Sanny das berechnet, dann tut man gut daran, sich darauf zu verlassen. Die FARTULOON bleibt vorläufig zurück. Solange der Schirm flackert, haben wir Funkverbindung. Sollte er sich wider Erwarten stabilisieren, liegt es an mir, zu entscheiden, ob wir weiterfliegen oder umkehren.« Bjo Breiskoll nickte. »Viel Glück«, sagte er, dann erlosch die Verbindung. Die CHYBRAIN hatte zu beschleunigen begonnen. Atlan betrachtete fasziniert den Bildschirm. Die Taster hatten inzwischen die Ausmaße des fremden Objekts ermittelt. Es war ein Ellipsoid – geformt, dachte der Arkonide in wehmütiger Erinnerung, wie
weiland ein amerikanischer Fußball – von achthundert Kilometern Länge und einem Maximaldurchmesser von 350 Kilometern. Es war ohne Zweifel ein künstliches Gebilde, ein synthetischer Asteroid, der fernab von den benachbarten Sonnen einsam in der Weite des Alls schwebte. Einzelheiten der Oberfläche ließen sich aus dieser Entfernung nicht erkennen. Aber das elektromagnetische Strahlungsspektrum des Objekts wies den charakteristischen, nichtthermischen »Zivilisationsbuckel« im Bereich hoher Wellenlängen auf, das unverkennbare Symptom einer technisierten Zivilisation mit intensiver Kommunikation. Das Bild war inzwischen stabil geworden. Das mochte daran liegen, daß das fremde Schirmfeld endgültig zusammengebrochen war, oder daran, daß die CHYBRAIN den Standort des Feldes bereits hinter sich gelassen hatte. Ein kurzer Nachrichtenaustausch mit der FARTULOON ergab, daß der künstliche Asteroid auch von dort aus nach wie vor einwandfrei beobachtet werden konnte und der Reflex der CHYBRAIN sich deutlich auf den Orterbildern zeigte. Das Schirmfeld existierte nicht mehr, einen anderen Schluß konnte man daraus nicht ziehen. »Wie werden sie uns dort empfangen?« fragte eine sanfte Stimme unmittelbar hinter Atlan. Er wandte sich um und sah Iray, die inmitten des allgemeinen Trubels unbemerkt an sein Arbeitspult getreten war. Er faßte sie um die Hüfte und zog sie zu sich heran. »Wohlwollend, mein Liebling«, sagte er. »Außerordentlich wohlwollend. Wer immer sie sein mögen, sie mochten mit uns nichts zu tun haben und versteckten sich hinter ihrem unsichtbar machenden Schirm. Wären sie kriegerisch, hätten sie uns angegriffen. Wir sind schließlich nicht mehr als zwei armselige kleine Beiboote.« Ein paar Schritte abseits saß Argan U, der Puschyde. Das kleine, possierliche Wesen mit dem orangefarbenen Schuppenfell hatte inzwischen neben der Qualifikation eines Astrographen auch die
eines Kommunikationstechnikers erworben. Argan U übersah den Funkverkehr, der an Bord der CHYBRAIN einund ausging. »Ruf sie an«, trug ihm der Arkonide auf. »Verwende die üblichen Symbolgruppen für die Verständigung mit Fremdintelligenzen. Sag ihnen, daß wir in Frieden kommen.« Und während der Puschyde sich an die Arbeit machte, fuhr Atlan, zu Uster Brick gewandt, fort: »Wir gehen in einen Warte-Orbit um die dickste Stelle des Ellipsoids. Abstand eine halbe Million Kilometer.« Ein unternehmungslustiges Grinsen erschien auf dem Gesicht des kleinwüchsigen Piloten, als er der Bordpositronik die entsprechenden Anweisungen erteilte.
* Das Geschrei und die Aufregung wollten nicht abreißen. Aus dem Hintergrund des Raumes kamen immer mehr Vei-Munater herbeigestürzt und wandten sich mit Heulen und Klagen an ihren Obersten Hauptforscher Pnuul. Um die beiden Gefangenen kümmerte sich niemand mehr. »Höre«, sagte Hage Nockemann zu seinem Roboter Blödel: »Wenn die Zeit je günstig war zum Durchbrennen, dann ist sie es jetzt.« »Ich rate ab«, antwortete Blödel. »Wir kennen uns hier nicht aus. Wir wissen nicht, wohin wir uns wenden sollen. Sie hätten uns im Handumdrehen wieder eingefangen.« »Na und? Das Risiko nehme ich gerne auf mich.« »Warum?« fragte Blödel. »Bis jetzt verhalten sie sich nicht feindselig.« »Nicht feindselig? Was ist das für ein Geschwätz von der Dissektion?« »Wem macht so ein bißchen Dissektion schon etwas aus?« meinte der Robot wegwerfend. »Mir jedenfalls nicht.« »Du bist das dümmste Ofenrohr, das mir je vor Augen gekommen
ist«, keifte Nockemann. »Ein bißchen Dissektion! Wenn sie mich in Stücke schneiden, bin ich hin, kaputt – verstehst du das?« »Beschwer dich nicht über mein geistiges Potential«, mahnte Blödel. »Schließlich hast du selbst mich programmiert.« »Ich an deiner Stelle«, sagte eine nicht unfreundliche Stimme in akzentbeladenem Interkosmo, »nähme den Rat meines Gefährten an.« Erstaunt fuhr Hage Nockemann herum. Im allgemeinen Trubel hatte sich unbemerkt ein Vei-Munater genähert und offenbar einen Teil seines Gesprächs mit Blödel belauscht. Es war schwer, einen der Doppelköpfe vom andern zu unterscheiden; aber der Wissenschaftler glaubte dennoch, das letzte, dem Namen nach noch unbekannten Mitglied des Trios zu erkennen, das vom Podium herab mit ihnen verhandelt hatte. »Scher dich zum Teufel«, knurrte er. »Ich brauche deinen Rat nicht.« »Die erste Hälfte deiner Aussage verstehe ich nicht«, antwortete der Vei-Munater, der laut sprechen mußte, um den Lärm zu übertönen, der vom Podium herdrang, »und die zweite möchte ich bezweifeln.« Hage Nockemann sah verwundert zu dem zwei Meter großen, zweiköpfigen Wesen auf. Es war wiederum der linke Kopf, der zu ihm gesprochen hatte. Den linken Köpfen fiel offenbar der größere Teil der Initiative zu. »Wer bist du? Was willst du?« fragte der Wissenschaftler. »Ich bin Veh-Knaal«, sagte der Vei-Munater. »Und der dort auf …« »… der anderen Schulter ist Toi-Knaal«, äffte Nockemann das Gehabe der Zweiköpfigen nach. Veh-Knaal nahm ihm das nicht übel. »Fünfter Hauptforscher«, ergänzte er. Hage Nockemann nahm sich Zeit, das Fremdwesen zu mustern. Es trug bunte Kleidung wie die anderen auch. Die individuellen
Muster und Markierungen des Gewands betrachtete der Wissenschaftler als Identifizierungsmerkmal oder Rangabzeichen. Aus dem wenigen, das er bisher erfahren hatte, ging hervor, daß die Gesellschaft der Vei-Munater in hohem Grade organisiert war. Knaals Münder waren schmal, die Fledermausohren womöglich noch größer als die seiner Artgenossen, die beiden Schädelplatten so glatt und schimmernd, als sei Körperbehaarung in diesem Volk gänzlich unbekannt. Eines fiel Nockemann besonders auf: der sanfte, fast traurige Blick der großen, braunen Augen. Veh-Knaal besaß ihn ebenso wie Toi. Es lag etwas in diesem Blick, das den Solaner zu der Ansicht bekehren wollte, mit diesem Wesen könne er Freundschaft schließen. »Also schön, Veh- und Toi-Knaal«, sagte er, »ich nehme den Rat meines Gefährten an und bleibe hier. Bist du zufrieden?« »Sehr. Wir werden viele interessante Gespräche führen.« »Bei aller Verbundenheit, mein Freund Knaal«, bemerkte Nockemann bissig, »muß ich doch betonen, daß mir mehr an meiner Freiheit und einem kräftigen Bissen zu essen liegt als an interessanten Gesprächen.« Was Veh- oder Toi-Knaal darauf zu antworten gedachte, blieb vorläufig unbekannt. Auf dem Podest nämlich war die Entwicklung in eine neue Phase getreten. Die jüngst Herbeigeeilten wichen zur Seite, von Pnuuls hektischen Armbewegungen dazu veranlaßt. Der Oberste Hauptforscher trat nach vorne bis an den Rand des Podests. Er streckte einen seiner drei rechten Arme aus und wies anklagend auf die beiden Gefangenen. Dazu kreischte Veh-Pnuul in schrillem Diskant: »Es ist alles eure Schuld!« »Gewiß doch, mein Freund«, erwiderte Nockemann mit grimmigem Spott. »Wir sind immer schuld. Nur sag mir: woran?« »Der Schirm!« zeterte Veh-Pnuul. »Er bricht zusammen. Das habt ihr mit eurem Experiment angerichtet. In unseren Kraftwerken herrgeht das Chaos. Der Schirm wurde in aller Eile errichtet, als wir
die Annäherung eurer Fahrzeuge bemerkten. Wir hatten nicht genug Zeit, die Energieversorgung unter den einzelnen Energielieferanten bis ins letzte Detail zu koordinieren.« Ein spöttisches Grinsen erschien auf dem faltigen Gesicht des Wissenschaftlers. Er zwirbelte mit Genuß seinen Schnauzbart. »Nun, ich denke, da gibt es eine recht einfache Lösung«, erklärte er fröhlich. »Welche?« wollte Veh-Pnuul wissen. »Schaltet den Schirm einfach ab.« Pnuuls vier Augen wurden noch größer, als sie ohnehin schon waren. »Schaltet … den … Schirm … einfach … ab«, ächzte er. Dann fuhr er herum und wandte sich mit fuchtelnden Armen und schriller Stimme an seine Artgenossen. Von diesen schossen ein halbes Dutzend nach wenigen Sekunden in Richtung des Ausgangs davon – ohne Zweifel mit dem Auftrag, die geniale Idee des fremden Wissenschaftlers sofort in die Tat umzusetzen. Droben auf dem Podest wurde es ein wenig ruhiger. Veh-Pnuul wandte sich von neuem an Hage Nockemann. »Das war äußerst präzise und folgerichtig gedacht.« Nockemann traute seinen Ohren nicht. Erhielt er für den offensichtlichsten und trivialsten aller Einfälle obendrein noch ein Lob? »Ich glaube entgegen meinen ursprünglichen Zweifeln, daß die Gespräche mit euch in der Tat aufschlußreich und interessant sein werden.« »Der Teufel soll eure Gespräche holen«, knurrte Nockemann. »So schlau, von eurem Standpunkt aus betrachtet, war meine Idee übrigens gar nicht. Sobald ihr den Schirm ausschaltet, habt ihr die CHYBRAIN und die FARTULOON auf dem Hals.« »Eure beiden Fahrzeuge?« erkundigte sich Veh-Pnuul. »Das läßt sich nicht ändern. Die bedrohliche Lage der Kraftwerke erforderte sofortiges Handeln. Erst das eine Problem, dann das andere. Vor deinen Artgenossen brauchen wir uns nicht zu fürchten. Wir sind unabhängige Forscher, und Der-der-uns-lenkt hat uns mit Wissen
versehen, das uns die Möglichkeit gibt, mit unerwünschten Besuchern nach unserem Belieben zu verfahren.« Er wandte sich an die verbleibende Gruppe derer, die vor etlichen Minuten aus dem Hintergrund herangestürmt waren, und erteilte auf Interkosmo – damit es die Gefangenen auch verstanden – den Befehl: »Führt diese zwei Geschöpfe in ein sicheres Quartier und achtet darauf, daß sie nicht entwischen.«
* Der Gang zog sich endlos in die Länge. Hage Nockemann hätte gern einen Blick auf die Umwelt außerhalb des Gebäudes geworfen. Aber es gab nirgendwo Fenster. Man befand sich offenbar unter der Erde – oder wie immer sich das nannte. Hinter ihm und Blödel bewegten sich zwei Vei-Munater mit platschenden Schritten. Nockemann wandte im Gehen den Kopf. »Wer seid ihr?« wollte er wissen. Eines mußte man den Zweiköpfigen lassen: Sie waren gesprächig. »Ich bin Veh-Bmuil«, sagte der linke Kopf des einen und »Ich bin Veh-Krööl«, der des anderen. Hage Nockemann wartete auf den obligatorischen Zusatz: »Und der dort auf der anderen Schulter …« Aber er kam diesmal nicht. »Ihr Tois sprecht wohl nicht viel, wie?« erkundigte er sich. »Wir sind die Forschgenossen«, antwortete Toi-Kröll. »Die Kommunikation ist eine unserer untergeordneten Aufgaben.« »Ich verstehe«, sagte Nockemann. »Wohin bringt ihr uns?« »Du wirst es gleich sehen«, lautete Veh-Krööls Antwort. »Wir sind am Ziel.« Er wandte sich nach links und öffnete eine breite, hohe Tür. Dahinter kam ein großer, spärlich ausgestatteter Raum zum Vorschein. Lumineszenzplatten in der Decke und den Wänden
sorgten für ausreichende Beleuchtung. Die Einzelheiten des Mobilars waren schwer deutbar. Man würde sie, dachte der Wissenschaftler, untersuchen müssen, um ihre Funktion zu erfahren. Im Hintergrund gab es eine zweite, kleinere Tür, die, so hoffte er, zu jenen selten diskutierten Einrichtungen führte, ohne die der zivilisierte Mensch nicht auskommen kann. An der rechten Längswand des Raumes war ein etwa einen Meter hoher, eine Handspanne tiefer Kasten installiert, aus dem es verdächtig schnurgelte und schmatzte. Oben auf dem Kasten gab es einen Deckel, und daneben standen mehrere Näpfe, jeder so groß, daß er gerade in eine menschliche Handfläche paßte. »Das ist das Wichtigste, was ihr wissen müßt«, erklärte Veh-Krööl und öffnete mit einer seiner rechten Hände den Deckel. Ein merkwürdiger Geruch stieg auf. Das Schnurgeln und Schmatzen war plötzlich lauter geworden. Mißtrauisch trat Hage Nockemann herzu und sah unterhalb der Deckelöffnung einen schmalen Trog, durch den sich mit beachtlicher Geschwindigkeit eine breiige graue Substanz bewegte. »Was ist das?« fragte er. »Nährmaterie«, antwortete Veh-Krööl. »Wenn ihr Hunger habt, nehmt einen der Näpfe dort und schöpft euch soviel, wie ihr braucht.« »Bäh«, machte Nockemann angewidert! »Was Besseres habt ihr nicht?« An den verwunderten Blicken der beiden Vei-Munater bemerkte er, daß er nicht verstanden wurde. »Fleisch? Gemüse? Früchte? Vielleicht sogar ein Stück Brot?« Veh-Krööl sagte: »Wir begreifen nicht, was du meinst. Die Nährmaterie-Leitung führt durch ganz Munater. Jeder schöpft sich daraus, was er braucht. Hunger und Durst werden damit gestillt.« »Es gibt auf dieser Welt nichts anderes zu essen?« fragte Nockemann ungläubig. »Was braucht man außer Nährmaterie?« lautete Veh-Bmuils
erstaunte Gegenfrage. »Und jeder schöpft aus diesem Trog?« fuhr der Wissenschaftler fort, wobei er so vorsichtig in Richtung des offenen Kastens deutete, als wolle er selbst mit seinem Zeigefinger dem grauen Zeug nicht allzu nahe kommen. »Jeder«, bestätigte Veh-Krööl. Dann wiederholte er: »Die Nährmaterie-Leitung führt durch ganz Munater.« Er machte eine Geste in den Hintergrund des Raumes. »Standard-Einrichtung«, sagte er. »Ihr müßt selbst zusehen, wie ihr damit zurechtkommt. Wir werden von Zeit zu Zeit nach euch sehen. Jetzt aber müssen wir an unsere Posten zurückkehren. Wir sind nur Assistenz-Forscher. Es wird scharf darauf geachtet, daß wir unsere Zeit nicht nutzlos vertun.« Sie wandten sich in Richtung des Ausgangs. Dort stand Blödel, der sich, seitdem er durch die Tür gekommen war, noch nicht gerührt hatte. Als Krööl auf ihn zuschritt, wollte er ihm ausweichen. Dabei prallte er jedoch gegen eines der wenigen Möbelstücke. Der Zusammenstoß raubte ihm das Gleichgewicht. Er kippte zur Seite und fiel mit dumpfem Knall gegen Krööls massigen Körper. »Paß auf, was du tust«, rief der Vei-Munater erschreckt. Er wich hastig zur Seite, woraufhin Blödel polternd und scheppernd zu Boden stürzte. Toi-Krööl musterte besorgt einen seiner sechs Arme. »Bist du verletzt?« erkundigte sich Veh-Bmuil. »Nicht nennenswert«, antwortete Toi-Krööl. »Nur eine kleine Schürfung.« Die Tür öffnete sich. Sekunden später waren die beiden VeiMunater verschwunden. Hage Nockemann sah mit halb mißtrauischem, halb belustigtem Blick zu, wie sich Blödel langsam erhob.
*
Die Unterhaltung, die sich kurze Zeit später zwischen dem Wissenschaftler und seiner »Dienstleistungsperson« entspann, war durchaus ernsthaft. »Du bist sicher, daß wir hier nicht abgehört werden können?« »Absolut sicher«, antwortete Blödel und zog seinen zwei Meter langen Greifarm ein, mit dem er die Decke abgesucht hatte. »Es sei denn, sie besitzen eine Abhörtechnik, über deren Funktionsweise du mich nicht programmiert hast.« Hage Nockemann nahm den umschriebenen Vorwurf nicht zur Kenntnis. »Komm her«, forderte er den Robot auf. »Wir müssen reden. Was hältst du von diesen Burschen?« »Auf pathologische Weise kriminell«, antwortete Blödel lakonisch. »Ganz meiner Meinung. Sie sind der Typ des außer Kontrolle geratenen Wissenschaftlers. Der Forschungszwang ersetzt ihnen die Moral. Sie wollten uns entzweischneiden, um zu sehen, wie wir funktionieren.« »Wollen«, verbesserte Blödel. »Wer ist dieser, den sie Den-der-uns-lenkt nennen?« fragte Nockemann unbeirrt. »Das müssen wir herausfinden«, sagte Blödel. »Ich vermute interessante Zusammenhänge.« Hage Nockemann sah verwundert auf. Etwas störte ihn am Verhalten seines Mit-Scientologen. »Du bist nicht sonderlich gesprächig heute, wie?« »Ich beschäftige mich mit einem Experiment«, antwortete Blödel. »Ich kann dir nur einen Teil meiner Aufmerksamkeit schenken.« »Der Teufel soll dich holen«, polterte der Wissenschaftler. »Ich habe dich nicht dafür gebaut, daß du …« Sein Gesicht nahm einen betroffenen Ausdruck an. »Was für ein Experiment?« wollte er wissen. »Ich vermute genetische Schwierigkeiten«, sagte der Robot. »Wir sind Scientologen, nicht wahr? Eines unserer Spezialgebiete ist Galakto-Genetik, stimmt's?«
»Genetische Schwierigkeiten bei wem?« rief Nockemann. »Den Vei-Munatern«, antwortete Blödel und sah mit seinem einzigen Auge starr und teilnahmslos vor sich hin. Eine Lade fuhr an seinem zylindrischen Körper auf. Zum Vorschein kam das wuschelige Körperbündel des Bakwers. »Soll ich für euch ein Loch durch die Wand fressen?« schrillte er. Blödel hob die Hand und schob die Lade wieder zu. »Nicht jetzt, du verfressenes Geschöpf«, sagte er im geistesabwesenden Tonfall eines Gelehrten, der bei seinen Aufgaben nicht gestört werden durfte. Wuschel protestierte lauthals, wenn auch mit gedämpfter Stimme, aus dem Innern des Robotkörpers. »Wie willst du etwas über die Genetik der Vei-Munater erfahren?« fragte Nockemann, den inzwischen der wissenschaftliche Eifer gepackt hatte. »Mit Hilfe einer Gewebeprobe«, antwortete Blödel. »Ich bin nicht umsonst gegen Krööl gefallen. Der Fetzen, den ich ihm aus der Haut riß, hat eine Masse von weniger als einem Gramm. Aber sein ganzes Erbmuster liegt vor mir.« Nockemann machte große Augen. »Manchmal«, sagte er, »bin ich ausgesprochen stolz darauf, wie gut ich dich programmiert habe.« »Ja, ja, ich weiß«, nörgelte der Robot. »Wenn ich mich dumm anstelle, ist es meine Schuld. Bringe ich etwas Gescheites zustande, kassierst du dafür das Lob.« »Quatsch nicht«, wies ihn der Wissenschaftler zurecht. »Kümmere dich lieber um deine Analyse.« Blödel war zwar ein universelles Vielzweckgerät, und einzigartig obendrein, aber seine Wiege hatte in Hage Nockemanns galaktogenetischem Labor an Bord der SOL gestanden. Er war ursprünglich aus hochspezialisierten Versuchsapparaturen hervorgegangen. Die computerisierten Funktionen der Apparatur standen ihm auch heute noch zur Verfügung. Blödels Innenleben setzte sich aus einer erstaunlichen Vielfalt an komplizierten,
makrominiaturisierten Instrumenten zusammen. Er war ein wandelndes Labor, und der Zugang zu den Laborgeräten erfolgte durch zahlreiche Klappen, die überall auf der Körperoberfläche angebracht waren. Eine dieser Klappen war inzwischen zweckentfremdet worden. Hinter ihr befand sich die Lade, in der der Bakwer Wuschel hauste. »Alles klar«, sagte Blödel nach einer Weile. »Defekt erkannt.« »Worum handelt es sich?« »Beim Lesen der genetischen Information durch RNA werden mehrere Informationseinheiten der DNA-Spirale übersprungen«, antwortete Blödel. »Diese Informationen werden genetisch nicht aktiv.« »Wie macht das RNA das?« wunderte sich Nockemann. »Ich dachte, das Ding ist dumm und liest alles, was ihm in die Quere kommt?« »Die Sprunganweisung ist in der DNA-Spirale selbst enthalten«, erklärte der Roboter. »Es ist wie ein Computerbefehl, die nächsten fünf oder sechs Anweisungen zu überspringen.« »Was machen wir daraus?« fragte Nockemann. »Nichts, solange wir den Informationsgehalt der übersprungenen Stellen nicht kennen«, sagte Blödel. »Es ist eine Reihe weiterer Untersuchungen erforderlich. Wir müssen die Chromosomenstruktur der Vei-Mutanten entschlüsseln und darauf hoffen, daß es erkennbare Analogien zu den genetischen Mechanismen bekannter humanoider Arten gibt.« »Hört sich wie ein längeres Forschungsprojekt an«, brummte der Wissenschaftler. »Was haben wir sonst zu tun? Aufs Geratewohl hier auszubrechen, wäre unklug. Wir müssen warten, bis entweder die Vei-Munater uns freilassen oder Atlan uns hier herausholt.« »In Ordnung«, sagte Nockemann. »Fang an. Sie sind so überaus erpicht darauf, sich mit uns zu unterhalten. Vielleicht liefern uns die Gespräche ein paar zusätzliche Informationen.«
Er hatte nicht damit gerechnet, daß sich seine Vorhersage so rasch erfüllen werde. Aber schon wenige Minuten später erwies sich die prophetische Begabung des Galakto-Genetikers, als die Tür sich öffnete und die Vei-Munater mit den traurigen Augen eintrat. »Ihr erinnert euch an mich?« fragte er mit dem Mund des linken Kopfes. »Ich bin Veh-Knaal, Fünfter Hauptforscher. Ich komme, um das erste Gespräch mit euch zu führen.«
* Die beiden Knaal-Köpfe hatten Hage Nockemanns Bericht aufmerksam, nicht selten staunend, manchmal sogar mit Ehrfurcht vernommen. Der Wissenschaftler hatte, während er den Lebensweg der Menschheit und das Schicksal der SOL schilderte, an ausschmückendem Beiwerk nicht gespart. Dem Vei-Munater mußte das Volk der Menschen als die glorreichste Zivilisation erscheinen, die das Universum je hervorgebracht hatte, während sich ihm die SOL als tollkühnes Raumforschungsunternehmen darbot, dessen Teilnehmer sich vor nichts und niemand fürchteten und stets alles erreichten, was sie sich vorgenommen hatten. Durch vorsichtiges Taktieren zu Anfang seines Berichts hatte Nockemann an dem Zweiköpfigen eine gewisse Leichtgläubigkeit erkannt. Er genierte sich daher nicht, so dick aufzutragen, wie es nur eben ging. Sein Ziel war selbstverständlich, Furcht vor den Besatzungen der CHYBRAIN und der FARTULOON in die Herzen der Vei-Munater zu säen. Je mehr Angst sie hatten, desto geringer war die Gefahr, daß sie ernsthaften Widerstand leisteten, wenn die beiden Raumschiffe landeten. Denn es war Nockemann inzwischen aufgegangen, daß die Doppelköpfigen zwar skrupel- und gewissenlos, aber keine Kämpfernaturen waren. Sie würden sich auf keine Auseinandersetzung einlassen, wenn das Risiko bestand, daß sie dabei ernste Verluste erlitten.
»Die Menschen«, staunte Veh-Knaal, nachdem Nockemann geendet hatte, »sind offenbar ein ganz außergewöhnliches Volk. Wieviel zählt ihr?« »Hunderte von Milliarden«, prahlte der Wissenschaftler. »Und ihr?« »Oh«, wehrte Veh-Knaal ab, »wir sind noch nicht einmal ganz eine Million. Aber eure Heimat liegt weit von hier?« »Millionen von Lichtjahren«, antwortete Nockemann, dem wohl klar war, daß dem Vei-Munater nur darum zu tun war, zu erfahren, wie dicht ihm die »Hunderte von Milliarden« auf der Pelle saßen. »Aber unsere Raumschiffe sind Wunderwerke der Technik. Eine solche Distanz legen sie in wenigen Tagen zurück. Wie steht es mit euren Fahrzeugen?« »Wir haben keine«, sagte Veh-Knaal. »Ihr habt keine? Aber ihr betreibt Raumfahrt?« »Wir gehen, wohin uns unser Auftrag führt. Der-der-uns-lenkt stellt uns die Transportmittel zur Verfügung.« »Wer ist Der-der-euch-lenkt?« erkundigte sich der GalaktoGenetiker wißbegierig. »Wir kennen seine Identität nicht. Er spricht zu uns aus der Ferne.« »Er erteilt euch Aufträge?« »Ja.« »Welcher Art?« »Verschiedener Art«, antwortete Veh-Knaal. »Wir sind ein Volk von Forschern. Unser Dasein erschöpft sich in der Forschung. Wir haben Großes geleistet …« »Zum Beispiel?« fiel ihm Nockemann ins Wort. »Wir haben das Leuchtende Auge konstruiert. Das ist der Ort, an dem Der-der-uns-lenkt sich aufhält.« Hage Nockemann war wie elektrisiert. »Ein Gebäude? Eine Festung?« fragte er mit mühsam unterdrückter Erregung.
»Nein, nein.« Knaals Hände machten eine Reihe fahriger Gesten, die Verneinung zu bedeuten schienen. »Viel größer. Es schwebt frei im Raum … glaub ich.« »Glaubst du? Ihr habt es gebaut, aber du weißt nicht, wie es aussieht?« »Ja, so ist es«, bestätigte der Zweiköpfige. »Mit vielen Dingen geht es so.« »Geht es wie? Daß ihr sie zustande bringt und euch nachher nicht mehr daran erinnert?« »Ja. Nimm zum Beispiel den Struktor.« »Was ist das?« »Die größte, gewaltigste und leistungsfähigste Maschine, die je konstruiert wurde. Ein Monstrum, das den Raum durcheilte und den Auftrag Dessen-der-uns-lenkt erfüllte.« Die Geste, deren er sich bei diesen Worten bediente, brachte unzweideutig Unwissen und Hilflosigkeit zum Ausdruck. »Aber niemand weiß heute mehr, was der Struktor ist, oder wo er ist.« Ein Verdacht materialisierte in Hage Nockemanns Bewußtsein. Die Geschichte, die Veh-Knaal zu erzählen begann, klang wie das Klagelied eines Hilfsvolks, das vor langer Zeit einer überlegenen Macht in die Fänge geraten war und seitdem Dienste verrichtete, von denen es nicht wußte, welchem Zweck sie dienten. Zusätzliche Einflußnahme hielt er nicht für ausgeschlossen. Die Vei-Munater waren nicht nur im unklaren, auf welches Ziel sie hinarbeiteten – sie hatten obendrein vergessen, wie die Dinge beschaffen waren, der Struktor zum Beispiel oder das Leuchtende Auge, die sie mit ihren Forscherkenntnissen angefertigt hatten. Es hörte sich so an, als hätte sich jemand an ihrem Gedächtnis zu schaffen gemacht, zumindest aber an ihrer Fähigkeit, sich an gewisse Dinge zu erinnern. »Wie lange?« iragte er, »nehmen die Vei-Munater schon Aufträge von Dem-der-uns-lenkt entgegen?« Um diese Frage entspann sich eine längere Diskussion. Veh-Knaal kannte zwar die Begriffe »Stunde«, »Tag« und »Jahr«aus der
Sprache der Solaner; aber er wußte nicht, was sie bedeuteten. Hage Nockemann wahrte die Geduld und näherte sich dem Ziel auf verschlungenen Umwegen. Indem er Veh-Knaal eine Aussage darüber machen ließ, wie lange er und Blödel sich bereits hier befanden, gelangte er allmählich zu dem Schluß, daß seit dem ersten Kontakt der Vei-Munater mit Dem-der-uns-lenkt neunzig bis hundert Standardjahre verstrichen sein mußten. Das war eine erstaunlich kurze Zeitspanne. Nockemann dachte an die Entdeckung, die Blödel gemacht hatte. Wenn die genetische Veränderung, die an den Vei-Munatern vollzogen worden war, in der Tat von Dem-der-uns-lenkt ausging, dann hatte sie sich in wahrhaft widernatürlicher Schnelle abgewickelt. »Früher, bevor Der-der-euch-lenkt auftauchte, wart ihr ein anderes Volk, nicht wahr?« setzte er das Gespräch fort. »O ja«, antwortete Veh-Knaal, und nicht nur seines, sondern auch Toi-Knaals Gesicht erhellte sich. »Damals hatten wir nur einen Kopf. Und Weiber.« »Und Weiber!« ächzte Hage Nockemann. »Du meinst, ihr seid jetzt eingeschlechtlich?« »Ja, nur Männer«, seufzte Veh-Knaal. »Wie pflanzt ihr euch fort?« »Synthetisch.« »O weh«, stöhnte der Wissenschaftler. »Was für ein Leben?« »Wir mußten es tun«, versuchte Veh-Knaal zu erklären. »Früher spielte das Familienleben eine wichtige Rolle in unserem Dasein. Ungebundene Individuen sind bessere Forscher, als es Familienväter je sein könnten. Um unsere Effizienz zu erhöhen, mußten wir die überkommene Gesellschaftsform abschaffen und uns zu dem wandeln, was wir jetzt sind.« »Ihr tatet das freiwillig – oder auf Geheiß Dessen-der-euch-lenkt?« erkundigte sich Nockemann. »Ich weiß es nicht mehr«, bekannte Veh-Knaal freimütig. »Ich weiß nur noch, daß wir es auf genetische Weise bewirkten. Von
einem gewissen Zeitpunkt an wurden auf Munater keine weiblichen Wesen mehr geboren.« »Und auch keine einköpfigen mehr?« forschte der Wissenschaftler. »Das ist richtig.« Eine Zeitlang herrschte nachdenkliches Schweigen in dem hell erleuchteten, mit grotesk geformten Möbelstücken ausgestatteten Raum. Dann sagte Blödel plötzlich: »Da hast du's.« »Da hab' ich was?« fuhr Veh-Knaal auf. »Ach, nichts«, winkte der Roboter ab. »Es ist nur so eine Redewendung.«
4. »Im Grunde genommen«, sagte Atlan, »ist es eine häßliche Welt.« Neben ihm saß Iray. Sie hatten beide den Blick auf den großen Bildschirm gerichtet, der die Oberfläche des synthetischen Asteroiden zeigte. Die CHYBRAIN schickte sich zur Landung an. Wenige tausend Kilometer hinter ihr folgte die FARTULOON. Dort hatte man Hage Nockemann verwaistes Experiment abgebrochen, als feststand, daß der unsichtbar machende Schirm nicht mehr existierte. »Warum sagst du das?« fragte Iray. »Sieh sie dir an. Die Natur hat sie niemals berührt. Sie ist künstlich von Grund auf. Es gibt keine Pflanzen, vermutlich auch keine Tiere. Alles ist synthetisch. Gebäude reiht sich an Gebäude. Die gesamte Oberfläche ist bepflastert. Wer dort lebte, müßte – wenn er ein Wesen nach der Art eines Terraners oder eines Arkoniden wäre – bis auf den Grund seiner Seele verkümmert sein.« »Lebt dort wer?« wollte Iray wissen. »Wir nehmen es an. Irgend jemand muß es doch sein, der Nockemann und Blödel entführt hat.«
Am Nebenpult hatte Argan U seine Bemühungen inzwischen eingestellt. Mehr als zweihundert Funksprüche, in allen bekannten Primitiv-Kodes abgestrahlt, waren unbeantwortet geblieben. Wer immer dort unten lebte, hielt es zumindest im Augenblick nicht für ratsam, Kontakt mit der CHYBRAIN aufzunehmen. Der Kreuzer hatte die künstliche Welt mehrere Stunden lang umkreist. Schließlich war die Anweisung zur Landung ergangen. Die fremde Zivilisation, wessen immer sie sein mochte, unternahm keine Anstrengung, sich des fremden Eindringlings zu entledigen. Inzwischen waren im Funklabor die Experten an der Arbeit und bemühten sich, den Informationskode zu knakken, den die Bewohner des Ellipsoids für Kommunikationszwecke verwendeten. Sobald das gelungen war, konnte man darangehen, ihre Sprache zu entschlüsseln. Die Einzelheiten, die das Bild übermittelte, ließen sich nicht deuten. Es gab wenig Homogenität – keine weiten Flächen besät mit Gebäuden ähnlicher Struktur, in denen man Wohngebiete hätte vermuten können, keine größeren Komplexe, deren Bestandteile unverkennbar ein und demselben Zweck diente. Die Individualität, hinter der Atlan reine Zweckmäßigkeit vermutete, war auf die Spitze getrieben. Die Oberflächenschwere der fremden Welt betrug 0,75 Gravos. Sie war trotz der nicht-sphärischen Form des Asteroiden überall gleich und somit zweifellos künstlichen Ursprungs – wie alles auf und über dem synthetischen Himmelskörper. Insgesamt ein Dutzend kräftige Heliostrahler waren rings um den ellipsoiden Körper im Nichts aufgehängt, und versorgten die Oberfläche mit immerwährender Helligkeit. Eines war auffallend. Das Gewirr der Straßen und Gebäude endete jeweils einhundert Kilometer vor den beiden Spitzen des Ellipsoids. Es war, als hätten sich die unbekannten Bewohner des Planetoiden die Enden ihrer Welt für eine besondere Verwendung ausgespart. Die Oberfläche der leeren Bezirke bestand, soweit es die Geräte der
CHYBRAIN erkennen konnten, aus glattem, fugenlosem Plastikguß. Der synthetische Himmelskörper rotierte nicht. Er besaß kein Magnetfeld und keine Sonne, um die er sich drehte. Die Inhomogenität der Bebauung in der sechshundert Kilometer langen Innenzone lieferte die einzige Handhabe zur Orientierung. Ein besonders weitläufiges Gebäude, etwa achtzig Kilometer vom Äquator des Asteroiden entfernt, stach ins Auge. Durch das Zentrum des sechseckigen Bauwerks legte Atlan den Nullmeridian und definierte die Asteroiden-Hälfte, auf der sich das Gebäude befand, als die nördliche. Er wies Bjo Breiskoll an Bord der FARTULOON an, auf der freien Fläche an der Südspitze des Asteroiden zu landen. Die CHYBRAIN dagegen setzte zur Landung am nördlichen Ende an. Bisher hatte es keinerlei Feindseligkeiten von Seiten der unbekannten Bewohner des synthetischen Körpers gegeben. Das war ein erstaunliches Verhalten von Seiten einer Zivilisation, die sich soviel Mühe gegeben hatte, das Auffinden ihrer Welt durch einen unsichtbar machenden Energieschirm zu verhindern. Atlan mahnte die Besatzung der CHYBRAIN und der FARTULOON zu höchster Wachsamkeit. Vielleicht warteten die Fremden nur, bis die Eindringlinge nahe genug herangekommen waren, um sie dann um so sicherer ausschalten zu können. »Darf ich die Zweisamkeit stören?« erklang eine kühle Stimme hinter dem Arkoniden. Atlan und Iray-Barleona wandten sich um. Tyaris Gesicht zeigte ein unverbindliches Lächeln. »Ich bin hier in offizieller Funktion«, sagte Atlan ein wenig unbeholfen, als empfinde er die Notwendigkeit, sich zu verteidigen. »Jeder, der etwas Wichtiges zu sagen hat, kann mich ansprechen.« Tyari griff nach dem handlichen Gerät, mit dem sich ein Lichtzeiger auf dem Bildschirm erzeugen ließ. Sie bewegte den Zeiger bis in unmittelbare Nähe des sechseckigen Bauwerks, das der Arkonide als Bezugspunkt seines Koordinatennetzes gewählt hatte.
»Dieses Gebäude dort«, sagte sie hart. »Von dort kommt die fremde Strahlung.«
* »Du hast gehört, was er sagte«, drängte Hage Nockemann. »Welche Theorie entwickeln wir, die zu seinen Äußerungen paßt?« Es war erst ein paar Minuten her, daß Knaal, noch immer beeindruckt von der Schilderung der Terraner und Solaner, die ihm zuteil geworden war, sich verabschiedet hatte. Die Diskussion der beiden Scientologen hatte kurz darauf begonnen. »Es sind offenbar zwei genetische Änderungen vorgenommen worden«, antwortete Blödel. »Die eine …« »Drei!« unterbrach ihn Nockemann. »Zwei«, beharrte der Robot. »Also gut, laß deine Theorie hören.« »Die eine betrifft die Eliminierung des weiblichen Geschlechts, die andere die Beeinflussung des Erinnerungsvermögens.« »Aha!« triumphierte der Wissenschaftler. »Also doch drei, oder wie sonst erklärst du dir die zwei Köpfe?« Blödels Augenmaß die Umwelt gewöhnlich mit starrem Blick. Aber manchmal glaubte man Regungen darin zu erkennen, so etwa wie in diesem Augenblick: nachsichtiges Bedauern. »Du glaubst nicht im Ernst, daß dem Urheber der Mutation daran gelegen war, den Vei-Munatern zwei Köpfe aufzusetzen«, sagte der Robot. Nockemann stutzte. Das Argument verdiente, beachtet zu werden. »Also was?« fragte er. »Ein Fehler? Ein Versehen?« »Niemand weiß«, dozierte Blödel, »wie die Natur darauf reagiert, wenn man eines ihrer grundlegenden Prinzipien, nämlich den Unterschied zwischen den Geschlechtern, durch genetische Manipulation auszulöschen versucht. Gewiß, die nötige Gen-
Operation läßt sich ohne Mühe durchführen. Aber wer achtet darauf, wie die benachbarten Gene darauf reagieren? Nach meiner Ansicht ist die Doppelköpfigkeit ein direktes – und unerwünschtes – Resultat der Spielerei mit den Sex-Genen.« Hage Nockemann dachte einen Augenblick darüber nach; dann nickte er. »Einverstanden. Eine andere Frage: Wer, glaubst du, ist Der-dersie-lenkt?« »Anti-Homunk, die zentrale Macht in dieser Galaxis«, antwortete Blödel ohne zu zögern. »Also auch darin stimmen wir überein«, sagte der Wissenschaftler. »Unter diesen Umständen wäre es wünschenswert, die Mutationen der Vei-Munater rückgängig zu machen. Können wir das?« »Ich bin die ganze Zeit über schon an der Arbeit«, erklärte der Robot. »Mich mit dir zu unterhalten, erfordert nur einen Teil meiner Aufmerksamkeit. Mit dem anderen Teil kann ich mich wichtigeren Dingen widmen.« »Werde nicht aufsässig«, warnte Hage Nockemann. »Wir sind ein Team, erinnerst du dich? Zwei Scientologen. Die Diskussion fördert die wissenschaftliche Effizienz.« Und als Blödel darauf nicht reagierte, erkundigte er sich: »Hast du schon etwas?« »Ich brauche eine Kultur. Ich nehme an, daß sich die Sprungbefehle in den mutierten Genen durch Rekombinationsmethoden beseitigen lassen. Danach können wir beginnen, demutiertes genetisches Material in größerem Umfang herzustellen.« »Womit?« fragte Nockemann verwundert. »Mit Luft und idealistischem Forscherdrang?« Blödel wies auf den flachen Kasten an der Wand. »Es steht uns genug organisches Material zur Verfügung. Natürlich muß es umgearbeitet werden, bevor wir es für unsere Zwecke verwenden können.« »Schön«, sagte der Wissenschaftler. »Wir produzieren also
demutiertes Material in Hülle und Fülle. Wie bringen wir es an den Mann? Wir ziehen den Stoff auf Injektionsspritzen, dann laden wir die Vei-Munater einen nach dem anderen in unser Gemach und sagen zu ihnen: ,Nun haltet mal schön den Hintern her, wir wollen euch wieder normal machen.'?« »Dein spezieller Sinn für Humor ist mit dem meinen nicht vereinbar«, antwortete der Roboter spitz. »Eine geeignete Methode schwebt mir bereits vor. Allerdings müssen Vorkehrungen getroffen werden, daß genetisches Material, das auf dem Weg über den Verdauungsstrakt in den Körper gelangt, auch im gewünschten Sinn wirksam werden kann.« »Drück dich nicht so gestolzt aus«, knurrte Nockemann. »Was hast du vor?« Abermals wies Blödel auf den flachen Kasten, aus dem es schnurgelte und schmatzte, »Sie essen alle aus demselben Trog, nicht wahr?« sagte er.
* Die drei linsenförmigen Boote glitten in geringer Höhe über die Dächer der Stadt, die den ganzen Planetoiden bedeckten. Aus der Nähe wirkte die Architektur noch fremdartiger, noch exotischer, als sie sich auf dem Bildschirm der CHYBRAIN dargestellt hatte. Wie weit mußte die Mentalität derer, die diese Stadt erbaut hatten, von der des Menschen verschieden sein! Straßen – schmal für irdische Begriffe – zogen sich wie sanft gewundene Schluchten durch das Häusermeer. Die gerade Linie schien den Fremden ein Greuel zu sein. Nirgendwo gab es scharfe Kanten; alles war abgerundet, glatt, weich. Die Straßen waren leer. Die Bewohner der Stadt ließen sich nicht sehen. Hier und da war ein abgestelltes Fahrzeug zu erkennen – plump und doch aerodynamisch wirksam geformt, Erzeugnis einer hochentwikkelten
Technologie. Das Boot, das Atlan steuerte, war mit vier Mann besetzt. Einer der vier war Tyari. Sie hatte es sich nicht nehmen lassen, diesen Einsatz mitzumachen. Barleona-Iray war an Bord der CHYBRAIN geblieben. Sie empfand kein Verlangen, sich an Unternehmen zu beteiligen, bei denen es zur Anwendung von Gewalt kommen mochte. Es war eine seltsame Einstellung, überlegte der Arkonide. Seltsam, wenn man bedachte, daß Iray in einer Rachemission unterwegs war. Ihre Rache galt Anti-ES, das ihren Bruder dazu mißbraucht hatte, Anti-Homunk zu erschaffen. Es gab Widersprüche in Barleonas seelischer Textur – und weite Lücken in ihrer Erinnerung. All das, so hoffte er, würde ein Ende finden, sobald sie ihre Rache vollzogen hatte. Seine Aufmerksamkeit wandte sich den Instrumenten zu. Das Innere des Bootes stand im Druckausgleich mit der Außenwelt. Auf der Oberfläche der fremden Welt herrschte ein Druck von 0,9 Atmosphären. Die atembare Luft war ein Gemisch aus Sauerstoff, Argon und Stickstoff sowie ein paar minderen Beimengungen. Die Außentemperatur betrug 22 Grad. Die Fremden hatten auf ihrem künstlichen Planetoiden Bedingungen geschaffen, unter denen sich ein Mensch ausgesprochen wohl fühlen konnte. Atlan erwartete, wenn er ihnen zum ersten Mal begegnete, eine Spezies humanoider Wesen zu sehen. Joscan Hellmut, der Robotik-Experte, und Uster Brick machten den Rest der Besatzung des Bootes aus. Die beiden Begleitfahrzeuge waren mit Besatzungsmitgliedern der CHYBRAIN bemannt. Das Ziel der kleinen Expedition war das mächtige, sechseckige Gebäude, das Tyari als den Ausgangsort der fremden Strahlung identifiziert hatte. Bevor die drei Boote von der CHYBRAIN aus aufbrachen, war Bestätigung von der FARTULOON gekommen. Bjo Breiskoll und Federspiel, am Südende des Planetoiden, waren ebenfalls sicher, daß die Strahlung ihren Ursprung in dem sechseckigen, festungsähnlichen Gebilde hatte. Die Instrumente allerdings zeigten
nichts an. Die Strahlung war fünfdimensionaler Natur und offenbar in einem Bereich des hyperenergetischen Spektrums angesiedelt, auf den die Meßgeräte der SOL-Technik nicht ansprachen. Es gab kaum einen Zweifel daran, daß die fremde Strahlung in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Mentaleinfluß stand, der draußen, jenseits der Dunkeizone, die Völker der Galaxis XiinxMarkant zu unaufhörlichem Kriegstreiben veranlaßten. Von diesem winzigen Asteroiden ging die Kriegsstrahlung aus, die in der Außenzone seit wer weiß wie langer Zeit schon sinnloses Blutvergießen verursachte und im Bewußtsein zahlloser Zivilisationen den Glauben verankert hatte, Kampf sei der einzige Zweck des Daseins. Noch war nicht alles klar. Der Asteroid befand sich in der Kernzone von Xiinx-Markant. Man hätte erwarten sollen, daß die Strahlung sich in seiner unmittelbaren Umgebung am deutlichsten und überzeugendsten bemerkbar machte. Das war nicht der Fall. In der Kernzone wurde nicht gekämpft – wenigstens nicht mehr als an anderen Orten des Universums auch. Hier herrschte nicht die Überzeugung, daß das intelligente Wesen sich nur in der Schlacht bewähren könne. Auch die Dunkelzone, die sich wie eine dicke Eierschale um den Kern schloß, war frei von zum Kampf treibenden Einflüssen. Lediglich draußen, jenseits der bis zu 11.000 Lichtjahre dicken, aus Staub und kosmischen Trümmern bestehenden Wand der Dunkelzone, wurde die Strahlung wirksam. Das Funktionsprinzip war bislang unbekannt. Aber Atlan glaubte, die Zusammenhänge zu durchschauen. Was von diesem Asteroiden ausging, war neutrale fünfdimensionale Energie. Es wohnte ihr sicher ein gewisser Informationsgehalt inne, jedoch hatte sie nicht die Möglichkeit, mit diesem auf die Bewußtseine intelligenter Wesen einzuwirken. Jenseits der Dunkelzone traf sie auf die MentalRelais, die zu Hunderttausenden, vielleicht gar Millionen über die Außenzone verteilt waren. Die Relais nahmen die Strahlung auf, verarbeiteten sie und gaben sie wieder von sich – in mentaler,
suggestiver Form. Mehrere solcher Mental-Relais waren von der SOL oder ihren Bordfahrzeugen in letzter Zeit entdeckt worden. Eines davon hatte Hage Nockemann mit seinen Begleitern Blödel und Wuschel außer Betrieb gesetzt, ein anderes war im Zusammenprall mit Tyaris Raumschiff vergangen, als die geheimnisvolle Fremde sich der SOL näherte und an Bord genommen zu werden verlangte. Als Atlan mit der CHYBRAIN und der FARTULOON vom EmtauSystem aufbrach, war sein Ziel gewesen, auf dem schnellsten Weg das Zentrum von Xiinx-Markant zu erreichen. Dort vermutete er den Sitz des synthetischen Wesens Anti-Homunk. Wenn es ihm gelang, dieses zu beseitigen, so dachte er, dann müßten alle Probleme gelöst sein. Das Unwesen der Manifeste würde in sich zusammenbrechen, die SOL wäre gerettet. Es hatte Mühe gekostet, ihn dazu zu überreden, daß er statt des Zentrums die Quelle der fremden Strahlung anfliegen solle, die Tyari geortet hatte. Auf Tyaris Ansinnen war er nicht eingegangen, und auch Sannys Vorschlag hatte er zunächst zurückweisen wollen. Nachträglich hielt er es für einen unmittelbaren Eingriff des Schicksals, daß Sanny ihm im entscheidenden Augenblick – wie in einer Halluzination – in der Gestalt des Fremdwesens Kik erschien, das er aus den von Wöbbeking induzierten Reinkarnationserlebnissen kannte. Das hatte den Ausschlag gegeben. Er ließ die CHYBRAIN und die FARTULOON den Kurs ändern und flog die Strahlungsquelle an. Er bedauerte seinen Entschluß nicht. Gegenüber dem grausigen Schicksal der zahllosen Sternenvölker, die der mörderischen Strahlung ausgesetzt waren, schrumpfte die Not der SOL zur Bedeutungslosigkeit. Selbstverständlich mußte das Generationenschiff gerettet werden, ganz gewiß mußten AntiHomunk ausgeschaltet und die Koordinaten von VarnhagherGhynnst wiedergewonnen werden. Aber zuerst galt es, die »Kriegszelle Xiinx-Markant« zu desaktivieren. Das Ziel lag unmittelbar vor ihm. Er hatte nicht vor, sich mit der
Außerbetriebsetzung der Strahlungsimpulse allzulange aufzuhalten. »Geschwindigkeit drosseln«, empfahl Tyari. »Distanz sinkt unter fünfzehn Kilometer.«
* Das sechseckige Gebilde war eindeutig das umfangreichste und zugleich höchste Bauwerk der Riesenstadt. Aus der Nähe wurde offenbar, daß auch hier der weiche, gerundete Baustil vorherrschte. Die Kanten des Sechsecks waren nicht gerade, sondern abwechselnd konkav und konvex gewölbt. Drei der sechs Wände waren völlig kahl, die anderen drei enthielten zahlreiche, wahllos angeordnete Fensteröffnungen. Energetische Sperrfelder verwehrten dort den Zutritt. Das Gebäude lag in der Mitte eines kreisrunden Platzes, dessen Durchmesser achthundert Meter betrug. Die Höhe des Bauwerks wurde zu 150 Metern ermittelt. Das Dach bildete eine flache Kuppel aus einem fremdartigen, eigentümlich schimmernden Material. Atlans Blick überflog die Weite des Platzes. Nachdem er mehrere hundert Kilometer von Bewohnern entblößter Stadt überquert hatte, wäre er spätestens jetzt, beim Anblick der kahlen, leeren Fläche, zu dem Schluß gekommen, daß es hier kein Leben mehr gab. Aber Joscan Hellmut überwachte mit Spezialgeräten den Funkverkehr, der sich auf dieser scheinbar toten Welt abspielte. Aus seinem Empfänger drang unablässiges, aufgeregtes Geschnatter und Gezeter. Kein einziges Wort war zu verstehen. Die Translatoren weigerten sich, die Struktur der fremden Sprache zu verstehen. Aber es gab keinen Zweifel daran, daß es dort unten, hinter den Wänden und Mauern, unter dem glatten Belag der Plätze und Straßen von Fremdwesen nur so wimmelte. »Sie machen es einem nicht leicht, eine Strategie zu entwickeln, nicht wahr?« sagte Tyari. »Was sind sie – bodenlose Feiglinge, die
sich vor zwei kleinen Raumschiffen verkriechen, oder schlaue Taktiker, die kein Risiko eingehen wollen und darauf warten, daß wir selbst uns ihnen auf einem silbernen Tablett servieren?« Atlan nickte. Dieselbe Frage beschäftigte ihn schon seit geraumer Zeit. »Es mag einfach daran liegen, daß sie mit einer solchen Möglichkeit nicht rechneten. Sie glaubten sich an einem sicheren Ort. Ihr Planetoid lag unsichtbar hinter einem Schirmfeld verborgen. Sie dachten nicht daran, daß es je einem Fremden gelingen könne, ihre Welt zu betreten.« »Dann sind sie ratlos«, analysierte Tyari. »Ratlosigkeit gebiert Unberechenbarkeit. Also sind wir genauso schlau wie zuvor.« Die drei Boote kreisten mit mäßiger Geschwindigkeit um die flache Kuppel. »Es kribbelt einem im Magen, spürt ihr es?« fragte Joscan Hellmut. »Wieso?« wollte Tyari wissen. »Durch diese schillernde Kuppel tritt Strahlung aus, die überall in den Randzonen von Xiinx-Markant Zehntausende von intelligenten Arten zu stetigem Kampf gegeneinander aufwiegelt. Bedenkt, wieviel Energie dem Strahlungsbündel innewohnen muß, daß es eine derartige Wirkung erzielen kann! Und wir fliegen direkt an seinem Rand entlang.« »Schlimmer noch«, sagte Atlan. »Wir sind womöglich mitten drin. Fünfdimensionale Vorgänge sind im Einstein-Universum nicht lokalisiert. Die Strahlung durchdringt alles. Schließlich wissen wir, daß die Verhältnisse in der Außenzone überall dieselben sind, nicht nur in einer bestimmten Richtung von diesem Punkt aus gesehen.« »Heh!« rief Uster Brick. »Ich hab' was.« Er deutete auf die Anzeigen der Meßgeräte, mit denen er seit etlichen Minuten beschäftigt war. »Die Kuppel dort – nur eine dünne Haut aus einem flexiblen Material. Dicke weniger als ein Zentimeter. Ich nehme an, daß im Innern des Gebäudes ein gewisser Überdruck herrscht, der die Haut wie eine Ballonhülle aufbläht.«
Atlan warf einen kurzen Blick hinab zu einem der beiden hohen Portale mit dem gefährlich flimmernden Energiefeld. Sein Entschluß war binnen einer Sekunde gefaßt. »Boote zwo und drei«, sprach er in den Radiokom, »ihr behaltet die bisherige Position bei. Achtet auf die Umgebung. Wir dringen durch die Kuppel ins Innere des Gebäudes ein. Gebt uns Nachricht, wenn ihr etwas Verdächtiges bemerkt.« Die Anweisung wurde bestätigt. Atlan wandte sich an seine Begleiter. »Ein einziger Schuß sollte ausreichen, die Blase zum Einsturz zu bringen«, meinte er. »Irgendwo dort drinnen liegt die Quelle der Strahlung, die in den Außenbezirken dieser Galaxis blutiges Unheil anrichtet. Wir werden sie ausschalten. Aber wir gehen sachlich und ohne unnützen Eifer vor. Wir kennen die Zusammenhänge nicht. Wir betrachten die, die die Strahlung erzeugen, als verantwortungslose Schurken. Trotzdem verlassen wir uns, wenn wir feindseligen Verteidigern begegnen, auf die Paralysatoren. Ist das verstanden?« »Alles klar«, antwortete Joscan Hellmut. Tyari lächelte eigenartig. »Manchmal meine ich, du seist von der Idee, selbst übelstes intelligentes Leben zu schonen, förmlich besessen«, sagte sie. »Aber gut, ich beschränke mich auf den Paralysator.« »Kann ich jetzt endlich …«, begann Uster Brick. Seine rechte Hand schwebte über jenem Teil der Kontrollkonsole, auf dem die Servos für das kleine Buggeschütz untergebracht waren. Atlan nickte lächelnd. »Du kannst«, sagte er.
* Ein gleißender Energiestrahl faßte nach dem schimmernden Dach der Kuppel. Ein glühender Fleck entstand. Qualm stieg auf und
wurde plötzlich mit einem Ruck in die Höhe gerissen, als der Überdruck im Innern des Gebäudes entwich. Eine matte Schockwelle brachte das kleine Boot vorübergehend zum Schlingern. Falten bildeten sich in der bisher glatten Struktur der Kuppel. Langsam und mit knirschenden, fauchenden Geräuschen, die deutlich bis ins Innere des Fahrzeugs drangen, sank das riesige Gebilde in sich zusammen. Die Öffnung, die Uster Brick geschossen hatte, war groß genug, um das Boot passieren zu lassen. Atlan wartete, bis der Prozeß des Druckausgleichs endgültig abgeschlossen war; dann manövrierte er das Boot über das Loch. Finsternis starrte ihm entgegen. Lediglich weit unten – noch unterhalb der Ebene des Platzes, auf dem das sechseckige Gebäude sich erhob -glomm ein glutend rotes Licht: Geheimnisvoll, düster, feindselig. »Keine außergewöhnliche Ortung«, sagte Joscan Hellmut. Atlan drückte das Boot nach unten. Die Finsternis nahm sie auf. Sie war nicht vollkommen. Ein wenig künstliches Sonnenlicht drang durch die Öffnung, die das Fahrzeug soeben passiert hatte, dazu kam das blutrote Leuchten aus der Tiefe. Die Augen paßten sich an. Einzelheiten wurden erkennbar. Die sechs Wände des Gebäudes umschlossen einen weiten Innenhof. Die Sohle des Hofes jedoch war in der Hauptsache ein sechseckiges Loch, das unbestimmbar weit ins Innere des Planetoiden hinabreichte. Vom Grund des Loches kam das finstere, rote Leuchten. Dort, schloß Atlan, lag die Quelle der Strahlung, die die Außenzone von Xiinx-Markant in einen einzigen, riesigen Kriegsschauplatz verwandelte. Von der Hoffläche selbst war nur noch ein zehn Meter breiter Streifen übrig, der rings um den Rand des Loches lief. Dorthin zielte Atlan. Er hatte nicht vor, das Boot in den Schacht hinein zu steuern, auf dessen Grund die Quelle lag. Joscan Hellmuts Bemerkung fiel ihm wieder ein, und es wurde ihm unbehaglich zumute. Das Boot
befand sich mitten im Strahlungskegel des unheimlichen Einflusses, der den Lebensablauf Zehntausender von sternfahrenden Völkern jenseits der Dunkelzone steuerte. Die Instrumente registrierten nichts, die Bewußtseine blieben unbeeinflußt. Aber er riskierte nicht, sich der Quelle mehr zu nähern, als unbedingt notwendig war. Der Vergleich mit einem Schwarzen Loch kam ihm in den Sinn: Aus der Ferne nimmt es sich aus wie eine herkömmliche Schwerkraftquelle. Aber wehe, du kommst ihm zu nahe! Dann fängt es dich ein und zieht dich unter seinen Energiehorizont. Das Boot führte genug Mittel der Vernichtung an Bord, um dem rot leuchtenden Ding dort unten auch über eine geraume Entfernung hinweg den Garaus zu machen. Die Nachweisgeräte zeigten keinerlei Feldschirm an, der die Quelle der mörderischen Strahlung umgab. Es würde einfach sein, das widerliche Gebilde ein für allemal aus dem Verkehr zu ziehen. Zwei Meter über dem glatten, mit Gußmasse überzogenen Rand, der das Loch umgab, hielt er das Boot an. Er vergewisserte sich mit Sorgfalt, daß es keinen Abtrieb gab. Dann setzte er das Fahrzeug sanft zu Boden. »Sprengkörper einsatzbereit«, meldete Uster Brick. »Warum läßt sich niemand sehen?« fragte Joscan Hellmut nachdenklich. »Weil niemand mit einem solchen Anriff rechnet«, antwortete Tyari. Das Schott fuhr auf. Atlan schwang sich als erster heraus. Vorsichtig schritt er am Rand des Loches entlang. In der Luköffnung wartete Uster Brick mit einem Behälter, in dem sorgfältig aufgereiht zwölf Sprengkapseln ruhten. Der Arkonide winkte ihm zu, Geduld zu haben. Dann trat er unmittelbar an die Kante der ebenen Fläche heran und spähte in die Tiefe. Ein seltsames Gefühl befiel ihn, als er das glutende, rote Auge sah, wie es aus finsterer Tiefe zu ihm emporblickte. Wem mochte die Idee gekommen sein, ein derartiges Hölleninstrument zu
entwickeln? Wenn er eine Seele besaß, gab es in ihr Züge, die der Mensch als human, als tolerant, als mitfühlend bezeichnen würde? Wie mußte es im Bewußtsein eines Wesens aussehen, das eine Strahlung entwickelte, durch die Hunderte von Milliarden denkender, fühlender Geschöpfe in einen immerwährenden, blutigen Krieg verstrickt wurden? Er richtete sich auf und wandte sich ab. Das Universum hatte immer und immer wieder Monstren hervorgebracht, die zu begreifen dem mit den Werten herkömmlicher Moral imprägnierten Bewußtseins schwerfiel. Es hatte keinen Sinn, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, warum das Schicksal solche Fehlentwicklungen zuließ. Es war eine statistische Angelegenheit. Man mußte sich damit abfinden. Plötzlich war Ungeduld in ihm. Er gab Uster Brick einen Wink. Der Pilot sprang aus der Luköffnung herab, den Behälter mit den Sprengkapseln vorsichtig balancierend. Er setzte den Kasten am Rand des riesigen Loches ab und warf einen kurzen Blick hinab. Er schüttelte sich; dann sah er den Arkoniden fragend an. »Vorsicht, hinter euch!« rief Tyari in diesem Augenblick. Atlan wandte sich um. Aus dem Dunkel des Hintergrunds kam eine merkwürdige Gestalt auf ihn zugeschritten. Sie war hochgewachsen und breitschultrig. Um den massigen Körper drapierte sich ein buntes, togaähnliches Gewand. Stämmige Beine bewegten sich in watschelndem Gang. Daß der Fremde über insgesamt drei Armpaare verfügte, täuschte nicht darüber hinweg, daß sein Phänotyp im Grunde genommen humanoid war. Nur eines störte: die beiden Köpfe, die auf den ausladenden Schultern saßen. Atlan ließ den Fremden bis auf zehn Schritte herankommen; dann hob er warnend die Hand. »Bleib stehen, wo du bist«, sagte er und verlieh seiner Stimme einen festen, jedoch freundlichen Klang, weil er wußte – oder zu wissen glaubte –, daß der Zweiköpfige ihn ohnehin nicht verstand
und sein Verhalten sich allein nach dem Tonfall richten würde, den er zu hören bekam, und nach den Gesten. Der Zweiköpfige blieb stehen. Dann geschah das, was Atlan im ersten Augenblick bereitwillig für ein Wunder hielt. Der Fremde sprach, auf Interkosmo: »Was wollt ihr hier?« Uster Brick, der am Rand des Loches neben dem Kasten mit den Sprengkapseln kniete, gab ein überraschtes Ächzen von sich. Atlan erholte sich von der anfänglichen Überraschung in wenigen Sekunden. »Wir haben vor, die Quelle des Unheils zu vernichten«, antwortete er ernst und deutete über die Kante hinab dorthin, wo in der Tiefe die rote Glut leuchtete. Der Fremde machte eine Geste mit zweien seiner rechten Hände. Als er zu sprechen bekann, bemerkte der Arkonide, daß es der linke Kopf war – er erschien um eine Spur kleiner als der rechte –, der das Reden besorgte. »Ich bin Veh-Ksiil. Zusammen mit meinem Forschgenossen ToiKsiil bin ich der Wächter der Quelle. Ich kann nicht zulassen, daß ihr dem Roten Leuchten Schaden antut.« Atlan musterte den Fremden. Er war unbewaffnet, soweit sich erkennen ließ. »Wie wolltest du uns daran hindern?« fragte er. »Ich kann euch nicht hindern«, antwortete Veh-Ksiil. »Ich bin ein Forscher und Hüter, kein Krieger. Aber wenn ihr die Quelle vernichten wollt, dann müßt ihr zuerst mich töten.« Er trat näher an den Rand des Loches, aus dem die blutrote Glut aufstieg. »Wir haben nichts dergleichen im Sinn«, erklang eine helle Stimme hinter dem Arkoniden. Noch bevor er sich umwenden konnte, erklang das helle, durchdringende Summen eines Schockers. Der Fremde mit den zwei Köpfen gab einen stöhnenden Laut von sich, drehte sich ein halbes
Mal um die Längsachse seines Körpers und brach zusammen. »Wirf die Kapseln, Uster Brick«, forderte die helle Stimme. Uster drehte sich um. Unmittelbar hinter ihm stand Tyari, mit leuchenden Augen, die Arme in die Seite gestemmt. Unsicher suchte der Pilot den Blick des Arkoniden. Atlan nickte. Da griffen Usters Hände nach den eiförmigen Sprengkapseln, zogen sie aus ihren Halterungen und schleuderten sie über die Kante des Loches hinweg in die Tiefe. Etliche Sekunden vergingen. Dann ertönte von unten ein zorniges Grollen, ein donnerndes Rumpeln, wie es diese Welt noch nie gehört haben mochte. Atlan beugte sich nach vorne und spähte in die abgrundtiefe Öffnung hinab. Das rote Leuchten war erloschen, verborgen hinter dichten, schweren Qualmwolken. Der Boden zitterte. Die Wände bebten. Atlan trat zurück und deutete auf den bewußtlosen Fremden. »Den nehmen wir am besten mit«, rief er über den dröhnenden Lärm hinweg. Tyari und Uster Brick griffen zu. Mühelos wurde das fremde Geschöpf, das sich links Veh-Ksiil und rechts Toi-Ksiil nannte, an Bord des Bootes geladen. Diesmal übernahm Uster Brick das Steuer. Das kleine Fahrzeug schoß senkrecht in die Höhe. Aus der Mündung des Schachtes quollen die Dämpfe, die die Explosion aufgewirbelt hatte. Von der roten Glut, die einst dort unten gewesen war, ließ sich keine Spur mehr sehen. »Was immer es war, das sie dort in der Tiefe installiert hatten«, sagte Atlan, als das Boot durch die Öffnung in der zusammengesunkenen Kuppeldecke glitt, »es existiert wahrscheinlich nicht mehr.« »Meldung von der CHYBRAIN«, unterbrach Joscan Hellmut seine philosophischen Überlegungen. Atlan griff nach dem kleinen Empfänger. »Ein Wunder ist geschehen. Wir haben … Verbindung mit der SOL!« sagte eine matte Stimme.
5. »Jetzt ist nicht die Zeit, Haarspalterei zu betreiben«, sagte Blödel ärgerlich und kippte einen der Eßnäpfe der mit milchiger Flüssigkeit gefüllt war, in den Nährtrog. »Ich habe gesagt: Die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs beträgt fünfundsiebzig Prozent, und dabei bleibe ich.« »Aber über die fünfundzwanzig Prozent, die zum Fehlschlag führen können, magst du dich nicht äußern«, knurrte Hage Nockemann zornig. »Verdammt, was ist das für eine Wissenschaft!« »Es gibt viele mögliche Fehlerquellen«, antwortete der Robot, der in dieser Diskussion sichtlich die Oberhand hatte. »Womöglich sogar einige, die ich übersehen habe. Am wichtigsten ist, daß das genetische Material, das wir hiermit dem Füttersystem der VeiMunater anvertrauen …« Er hob einen zweiten Napf mit milchiger Flüssigkeit und goß ihn ebenfalls hinab in den Trog, durch den der Nährbrei sich schmatzend und schnurgelnd mit beachtlicher Geschwindigkeit bewegte … »aus Magen und Därmen hinaus in den Körper gelangt. Zu diesem Zweck sind in unsere Versuchssubstanz die entsprechenden Enzyme eingebaut. Aber unsere Kenntnis der veimunatischen Biologie ist nicht perfekt. Ein wenig müssen wir uns auf das Glück verlassen.« »Als ob du was vom Glück verständest«, brummte der GalaktoGeneti-ker. »Glück ist«, dozierte Blödel, »wenn eine Chance von weniger als eins zu zehn sich verwirklicht. Diese Information habe ich unmittelbar von dir.« »Halt den Mund«, donnerte Nockemann. »Nehmen wir an, unsere Thearapie ist erfolgreich. Wie lange, bis sich bei den Vei-Munatern die ersten Wirkungen zeigen?« »Das ist eine interessante Frage«, sagte der ofenrohrförmige
Roboter, der sich offenbar vorgenommen hatte, während dieser Diskussion nicht aus der Ruhe gebracht zu werden. »Du erinnerst dich: Wir waren beide erstaunt, wie schnell sich die ursprüngliche Mutation bei den Vei-Munatern auswirkte. Wir haben es von VehKnaal, daß die erste Begegnung mit Anti-Homunk – und damit der Beginn der Beeinflussung – erst vor neunzig bis hundert Jahren stattfand.« »Richtig«, bestätigte Nockemann. »Es besteht der Verdacht, daß die ersten Auswirkungen der Mutation sich nicht erst in der nachfolgenden Generation, sondern gewissermaßen ›in corpore‹ gezeigt haben.« »Ganz recht. Warum sollten wir Ähnliches nicht auch hier erwarten?« »Also wie lange?« drängte der Wissenschaftler. »Fünf bis zehn Jahre«, schätzte Blödel. »Vielleicht mehr, vielleicht weniger.« Hage Nockemann richtete sich kerzengerade auf. »Bis dahin sind wir längst nicht mehr hier!« protestierte er. »Na und?« sagte Blödel abfällig. »Der Erfolg des Forschers wird nicht dadurch gemindert, daß er selbst ihn nicht mehr zur Kenntnis nehmen kann.« Mit diesen Worten faßte er vier weitere Näpfe und entleerte sie ebenfalls in den Trog. »Aber …«, begann Nockemann. Die Tür öffnete sich. Der eintretende Vei-Munater ließ sich anhand seines traurigen Blickes mühelos identifizieren. Er war Knaal. ToiKnaal zeigte die übliche, stoische Haltung. Veh-Knaal dagegen wirkte aufgeregt. »Ihr habt sofort zu kommen«, stieß er hervor. »Fremde sind in unsere Welt eingedrungen, Fremde eurer Art. Sie haben die Quelle zerstört und bedeuten eine Bedrohung der unabhängigen Forschung.« »Was, zum Donnerwetter«, fragte Hage Nockemann ungnädig,
»haben wir damit zu tun?« »Veh-Pnuul fordert eure Unterstützung«, sagte Veh-Knaal. »Er will, daß ihr in seinem Namen mit den Fremden verhandelt.« Nockemanns Miene erhellte sich. »Ah, das ist etwas anderes«, meinte er. »Zum Verhandeln sind wir allemal bereit.« »Dann kommt mit«, forderte Veh-Knaal ihn auf. »Die Lage ist kritisch. Die Fremden haben den Hüter der Quelle entführt.«
* Die drei Boote eilten mit bedeutender Geschwindigkeit heimwärts. Joscan Hellmut, der über ausreichende paramedische Kenntnisse verfügte, sorgte sich um den bewußtlosen Fremden. Er machte keinerlei Anstalten, zu sich zu kommen; aber Hellmut meinte, soweit er Lebenszeichen zu lesen verstehe, sei um den Zweiköpfigen nicht zu fürchten. Atlan war bis ins Innere aufgewühlt. Zusammenhänge taten sich vor seinem geistigen Auge auf, die er bisher noch nicht einmal erahnt hatte. Die Kriegsstrahlung also war es gewesen, die den telepathischen Kontakt zwischen der Expedition und der SOL verhindert hatte. Unmittelbar nach der Vernichtung der Strahlungsquelle hatte Federspiel, der sich an Bord der CHYBRAIN befand, telepathischen Kontakt mit seiner Zwillingsschwester Sternfeuer an Bord der SOL hergestellt. Während die Boote nach Norden rasten, rief Atlan die FARTULOON an. Bjo Breiskoll meldete sich. »Du hast von den Neuigkeiten erfahren?« fragte der Arkonide. Breiskoll nickte. »Ich spürte das Verlöschen der Quelle«, sagte er. »Ich fühle auch, daß der telepathische Weg zur SOL frei ist. Aber ich habe noch keine Verbindung.« Er lächelte. »In dieser Beziehung ist Federspiel besser dran als ich. Er hat einen natürlichen Bezugspunkt.«
Er spielte auf die telepathische Affinität an, die zwischen den Zwillingsgeschwistern Sternfeuer und Federspiel bestand. Federspiel war unter normalen Umständen ein überaus schwacher Telepath. Aber wenn es darum ging, Verbindung mit seiner Schwester herzustellen, leistete er Überragendes. »Was sagt Sanny zu der Entwicklung?« wollte Atlan wissen. »Sie geht davon aus«, antwortete der Katzer, »daß die Kriegsstrahlung nicht mehr existiert. Die Strahlungsquelle, meinte sie, muß im Leben der fremden Intelligenzen, die diesen Planetoiden bewohnen, eine wichtige Rolle gespielt haben. Jetzt, so berechnet sie, sind die Fremden rat- und hilflos.« »Worauf läuft das hinaus?« »Sie werden mit dir zu verhandeln suchen, sagt Sanny.« Atlan nickte befriedigt. »Darauf warte ich«, erklärte er und trennte die Verbindung. Kurze Zeit später legten die Boote bei der CHYBRAIN an. Der Arkonide wartete die Ausschiffung nicht ab. Er eilte mit weiten, raschen Schritten zum zentralen Antigravlift und glitt hinauf in die obere Kugelhälfte des Schiffes. Federspiel ruhte entspannt auf einer Liege und lächelte ihm entgegen, als er sein Quartier betrat. »Es klappt tadellos«, sagte er. »Ich erreiche Sternfeuer ohne Mühe. Es ist, als hätte jemand einen dichten Vorhang beiseite gezogen. Auch Cpt'Carchs Signale sind plötzlich wieder deutlicher.« Cpt'Carch, das Fremdwesen, dessen äußere Form auf frappierende Weise an eine Banane erinnerte, war früher Mitglied des AtlanTeams gewesen. Vor kurzer Zeit hatte er sich unter merkwürdigen Umständen von der SOL entfernt – um zu seiner Heimatwelt zurückzukehren und »endlich geboren zu werden«, wie er sich ausdrückte. Seitdem glaubte Federspiel, seine Mentalimpulse aus weiter Ferne zu spüren. »Zwei Dinge sind wichtig«, sagte der Arkonide. »Du erinnerst dich an das Gespräch, das ich während meiner letzten Reinkarnationsphase mit Wonat-Zount, dem Achten Zähler,
führte?« »Ja, du hast mir ausführlich darüber berichtet.« »Die SOL muß dringend über den Posimagno-Effekt erfahren«, erklärte Atlan. »Nur auf diese Weise kann sie Erfrin neutralisieren und SENECA wieder unter Kontrolle bekommen.« »Wird gemacht«, nickte Federspiel. »Das Rezept ist einfach genug und telepathisch leicht zu übermitteln.« »Zweitens«, fuhr Atlan fort, »ist es nötig, daß die SOL unseren Standort kennt. Cara Doz soll das Schiff schnellstens in Marsch setzen und in die Innenzone von Xiinx-Markant vordringen. Wir brauchen Verstärkung, wenn wir Anti-Homunk ausheben wollen. Ich lasse dir die Koordinaten von der Zentrale aus übermitteln.« »Auch das ist keine Schwierigkeit«, versicherte Federspiel. Minuten später erschien der Arkonide in der Zentrale. Die galaktonautischen Daten des gegenwärtigen Standorts beruhten auf einem Koordinatensystem, das SENECA unmittelbar nach dem Einflug der SOL in die Galaxis Markant ausgearbeitet hatte. Sie bildete mehrere lange Ketten von Ziffern und Zeichen, die Atlan auf den Interkom-Bildschirm in Federspiels Quartier überspielen ließ, so daß der junge Mutant sie vor Augen hatte, wenn er Verbindung mit Sternfeuer aufnahm. Damit waren alle nötigen Voraussetzungen für den Informationsaustausch mit der SOL geschaffen. Atlan wollte sich seiner nächsten Aufgabe zuwenden, dem Kontakt mit dem Volk der zweiköpfigen Fremden, das diesen Planetoiden bewohnte. Aber es war eine innere Unruhe in ihm, die ihn an der Konzentration hinderte. Er zögerte einen Augenblick; dann aktivierte er den Radiokom und gab das Rufzeichen der FARTULOON. Bjo Breiskoll meldete sich sofort. »Federspiel ist im Begriff, Verbindung mit der SOL aufzunehmen«, sagte der Arkonide. »Du kannst das mitverfolgen, nicht wahr?« »Wenn ich das will, ja«, antwortete Breiskoll. »Es erfordert geistige
Anstrengung.« »Ich bitte dich, es zu wollen«, drängte Atlan. »Ein falscher Mentalimpuls, und die ganze Information ist wertlos. Ich brauche dich als Überwacher.« »Weiß Federspiel davon?« fragte der Mutant. »Wenn du dich bereit erklärst, werde ich es ihm sagen.« »Einverstanden«, nickte Bjo Breiskoll.
* »Es verträgt sich nicht mit unserer Würde«, stieß Veh-Pnuul, der Oberste Hauptforscher, in schrillem, klagendem Ton hervor, »daß wir auf diese Weise behandelt werden.« »Dann tut etwas dagegen«, schlug Hage Nockemann sarkastisch vor. »Deine Artgenossen haben die Quelle vernichtet und den Hüter der Quelle entführt!« erklärte Veh-Pnuul anklagend. Der Raum war klein und hell erleuchtet – kleiner als die von milchigem Nebel erfüllte Halle, in der die ursprüngliche »Begrüßung« stattgefunden hatte. Der Oberste Hauptforscher saß in einem riesigen, thronähnlichen Sitzmöbel. Zwei weitere VeiMunater waren anwesend. Sie hielten kurze Stäbe in den Händen, die ohne Zweifel Waffen darstellten. Knaal hatte die beiden Gefangenen hierher gebracht und sich dann verzogen. »Was für eine Quelle wäre das?« erkundigte sich Blödel. »Die Quelle des Roten Lichts, die weit in das Universum hinausstrahlt und dafür sorgt, daß der Auftrag Dessen-der-unslenkt erfüllt wird.« »Wie lautet dieser Auftrag?«, wollte Hage Nockemann wissen. »Was geht's dich an? Das steht hier nicht zur Debatte.« »Aha!« frohlockte der Wissenschaftler. »Du weißt's nicht. Der-dereuch-lenkt ist gleichzeitig Der-der-euch-im-Dunkeln-läßt, nicht
wahr? Ich will dir sagen, was die Quelle bewirkt. Sie durchdringt mit ihrer Strahlung die Dunkelzone. Draußen, jenseits der Staubhülle, wird die Strahlung von Mental-Relais empfangen und umgesetzt. Nach der Umsetzung wirkt sie auf die Bewußtseine intelligenter Wesen ein und treibt sie zu ewigem Kampf an. Was sagst du dazu?« »Wenn das der Wille Dessen-der-uns-lenkt ist«, antwortete VehPnuul, »dann muß ich es gutheißen.« Da ging das Temperament mit Hage Nockemann durch. Soviel kaltschnäuzige Unmenschlichkeit konnte er nicht ertragen. »Verdammt sollst du sein!« schrie er in wildem Zorn. »Dort draußen sterben jeden Tag Hunderttausende intelligenter Wesen; aber weil es der Wille eures Oberbonzen ist, mußt du es gutheißen.« »Nichts geschieht gegen den Willen Dessen-der-uns-lenkt«, antwortete Veh-Pnuul nicht eben logisch. »Darum geht es hier nicht. Ich habe euch hierher holen lassen, damit ihr zu euren Artgenossen sprecht. Deren entwürdigendes Verhalten muß sofort aufhören.« »Sie werden sich einen Dreck darum kümmern, was ihr als entwürdigend empfindet«, rief der Galakto-Genetiker. »Ihr habt uns entführt. Sie werden eure Welt Stück um Stück auseinandernehmen, bis ihr uns freilaßt.« »Eure Entführung geschah im Interesse der Forschung«, erklärte Veh-Pnuul würdevoll. »Alles, was der Forschung dient, ist zulässig. Im übrigen bin ich bereit, über den letzten Punkt zu verhandeln.« »Alles was der Forschung dient, ist zulässig«, schrie Nockemann. »Einen größeren Blödsinn hab' ich mein Lebtag noch nicht gehört. Und du willst …« Er unterbrach sich plötzlich, als sein Bewußtsein schließlich registrierte, was der Oberste Hauptforscher sonst noch gesagt hatte. »Was willst du?« fragte er ungläubig. »Verhandeln? Worüber?« »Über eure Freilassung«, sagte Veh-Pnuul. Es dauerte eine Zeitlang, bis der Wissenschaftler das verdaut hatte. Ein spöttisches Grinsen erschien auf seinem faltigen Gesicht.
Nachhaltig zwirbelte er seinen Schnauzbart. »Soweit sind wir also schon«, sagte er hämisch. »Kein Wort mehr von Dissektion. Ab sofort sprechen wir von Freilassung.« »Wir müssen Opfer bringen, um unsere Würde zu wahren«, lautete Veh-Pnuuls Antwort. Er klang ungeduldig. »Wirst du nun zu deinen Artgenossen sprechen?« »Mit Vergnügen, hoher Hauptoberforscher«, strahlte Hage Nockemann.
* Es herrschte Stille an Bord der FARTULOON. In der Kommandozentrale hatte Vorlan Brick, Usters Zwillingsbruder, die Leitung übernommen, seit Bjo Breiskoll in einen trancegleichen Zustand versunken war, um an dem Gedankenaustausch zwischen Federspiel und Sternfeuer teilnehmen zu können. Sanny, die zwergenhafte Molaatin, hatte einen Sessel erklommen und es sich auf dem weichen Polster bequem gemacht. Ihre Gedanken waren mit den Vorgängen der letzten Tage beschäftigt. Sie besaß die Gabe, Zusammenhänge zu erkennen, selbst wo diese nur so schwach angedeutet waren, daß sie jedem anderen entgingen, und aus der Erkenntnis der Zusammenhänge eine logische Analyse der Lage anzufertigen, die üblicherweise bis ins letzte Detail der Wirklichkeit entsprach. »Berechnen«, nannte sie das, und ihre Berechnungen hatten nicht nur manchen schon oft überrascht, sondern obendrein in vielen Fällen die SOL vor drohender Gefahr bewahrt. Ihre Überlegungen galten den seltsamen Ereignissen im Emtau-System, wo die Besatzung der TAUPRIN durch einen unerklärlichen Effekt, der wie ein deus ex machina auf die Entwicklung einwirkte, vor dem sicheren Untergang gerettet worden war. Die Kalackter, das höherentwickelte unter den beiden intelligenten Völkern auf
dem Planeten Uhzwutz, hatten von ihren unablässigen Angriffen auf die gestrandeten und weit unterliegenden Solaner so plötzlich abgelassen, als seien sie von einer Macht im Hintergrund zurückgepfiffen worden. Kurze Zeit später hatten die CHYBRAIN und die FARTULOON Uhzwutz erreicht und die Überlebenden an Bord genommen. Es war Sanny klar, daß es, wenn es tatsächlich eine Macht im Hintergrund gab, sich bei dieser nur um Anti-Homunk handeln könne, der als Herr und Gebieter der Galaxis Xiinx-Markant fungierte und seinen Sitz irgendwo im Zentrum der Sterneninsel hatte. Anti-Homunk aber handelte im Auftrag von Anti-ES, das in der Namenlosen Zone war und dort seine eigenen Ansichten zu den zehn Relativeinheiten entwickelt hatte, für die die Hohen Mächte es aus dem kosmischen Geschehen verbannt hatten. Es schien also, als liege Anti-ES daran, die Solaner ungehindert ins Innere von XiinxMarkant vordringen zu lassen. Anti-Homunk hatte bisher keine weiteren Anschläge auf die beiden Raumschiffe verübt, und jetzt sah es so aus, als solle es auch der SOL gelingen, in die Innenzone vorzustoßen. Warum? fragte sich die Molaatin. Gesetzt den Fall, Anti-ES läge daran, die SOL bis zum Zentrum von Xiinx-Markant vordringen zu lassen. Welcher Zweck würde damit erreicht? Die negative Superintelligenz bedurfte eines Raumschiffs nicht. Die Höheren Mächte hielten sie gefangen. Eine Falle? Gewiß; aber für wen? Flüchtig dachte Sanny an Wöbbeking. Das Wesen aus Jenseitsmaterie würde unweigerlich eingreifen, wenn die SOL mitsamt ihrer Besatzung in ernsthafte Gefahr geriet. War es das, was Anti-ES beabsichtigte? Galt die Falle Wöbbeking? Sie kam nicht dazu, ihre Berechnung abzuschließen. Bjo Breiskoll, der sich in den Hintergrund des Raumes zurückgezogen hatte, um ungestört zu sein, gab ein gequältes Stöhnen von sich. Sanny sprang auf und lugte über die Armlehne des Sessels hinweg. Der Mutant hatte sich aufgerichtet. Seine Augen waren weit geöffnet. Mit einem
Ausdruck verwirrter Hilflosigkeit starrte er vor sich hin. »Was ist geschehen?« rief die Molaatin. Der Mutant sah sie an, als käme sie ihm zum ersten Mal vor Augen. Erst Sekunden später klärte sich sein Blick. »Etwas ist schiefgegangen«, sagte er mit einer Stimme, die sich so anhörte, als ob er Schmerzen empfände. »Ein kräftiger, fremder Mentalimpuls kam dazwischen, als Federspiel die Koordinaten unseres Standorts durchgab. Wenn die SOL sich nach seinen Daten richtet, wird sie uns nicht finden.« Sannys paramathematischer Instinkt erwachte. Hier war eine neue Situation, die es zu berechnen galt. »Was für Koordinaten hat er übermittelt?« wollte sie wissen. »Wenn sie wahllos waren, wird die SOL den Fehler in der Übertragung erkennen.« Bjo Breiskoll schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, der Impuls stammt von Cpt'Carch«, sagte er. »Federspiel hat die Daten des Ortes übertragen, an dem Cpt'Carch sich aufhält.« »Soweit sich erkennen läßt«, sagte der Mediker, »hat er die Paralyse ohne Nachwirkung überstanden. Er verlangt, freigelassen zu werden.« Atlan nickte dem Mann auf der Bildfläche zu. »Versteht sich«, antwortete er. »Sag ihm, daß wir zunächst noch ein paar Schwierigkeiten ausbügeln müssen. Zum Beispiel die Freilassung unserer Leute.« »Ich habe versucht, ihm das klarzumachen. Er versteht es nicht. Er gibt ohne weiteres zu, daß sich Hage Nockemann und Blödel in der Gewalt der Vei-Munater befinden. Aber er behauptet, sie seien im Interesse der Forschung festgesetzt worden, und dagegen könne doch niemand etwas haben. Die Vei-Munater bezeichnen sich als ein Volk von Forschern. Die wissenschaftliche Forschung ist ihr einziger Lebenszweck.« Der Arkonide lächelte. »Ein kleines Problem interkreatürlicher
Verhaltensweise«, sagte er. »Woher kennt er unsere Sprache?« »Sie haben den Funkverkehr zwischen unseren beiden Fahrzeugen abgehört, während wir draußen vor dem Schirmfeld kreuzten. Es ist ihnen gelungen, nicht nur unseren Informationskode, sondern auch unsere Sprache zu entziffern. Eine beachtliche Leistung, möchte ich sagen. Außerdem haben sie ein planetarisches Lernsystem, das offenbar zum Teil auf suggestiver Basis funktioniert. Nicht nur Vehund Toi-Ksiil, sondern jedermann auf dieser Welt spricht Interkosmo.« »Es wird interessant sein, sich mit diesen Wesen zu unterhalten«, sagte Atlan. »Ich danke dir für deine Mühe.« Kaum hatte er das Gerät abgeschaltet, da meldete sich der Radiokom mit eigenartigem Piepsen. Der Servo sprach auf das kodierte Geräusch an und erklärte: »Sendung aus unbekannter Quelle.« »Annehmen«, sagte der Arkonide. Die Bildfläche flackerte. Der Empfänger hatte Schwierigkeiten, sich auf den fremden Kommunikationsmodus einzustellen; aber schließlich stand das Bild. Einigermaßen fassungslos blickte Atlan in das faltige Gesicht des Galakto-Genetikers und Scientologen Hage Nockemann. »Die Wissenschaft zum Gruß«, sagte der Schnauzbärtige fröhlich. »Hast wohl kaum damit gerechnet, noch einmal von mir zu hören.« »O doch«, antwortete der Arkonide, der sich schnell von seiner Überraschung erholte. » Menschen wie du und Roboter wie Blödel sind unverwüstlich. Es bedarf mehr als einer Bande forschungssüchtiger Vei-Munater, dich unterzukriegen.« »Sieh da, er weiß schon alles«, staunte Nockemann. »Kein Wunder, natürlich. Ihr habt den Hüter der Quelle in der Hand. Darüber ist man hier sehr aufgeregt.« »So sehr, daß man dich schickt, mit uns zu verhandeln. Wo steckst du?« »Keine Ahnung. Ich habe noch keinen einzigen Blick auf die
Oberfläche dieser Welt geworfen.« »Also gut, was haben die Vei-Munater zu sagen?« »Sie möchten verhandeln«, sagte Nockemann. »Sozusagen von Mann zu Mann. Du bist eingeladen, den Wohn- und Arbeitskomplex des Obersten Hauptforschers zu besuchen. Mit Begleitung, versteht sich; das habe ich ausgehandelt.« »Sprichst du frei?« »So frei wie ein Vogel. Sie stehen hinter mir und hören jedes Wort, das ich sage. Aber ich brauche kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Sie wissen, daß wir ihnen überlegen sind. Sie sind Forscher, keine Kämpfer. Du hast nichts zu befürchten.« Atlan nickte. »Ich komme«, sagte er. »Sag mir, wie ich den Ort finde.«
* Mochten die Vei-Munater noch so verrückt sein mit ihrem Glauben an die moralische Immunität der Forschung, eines mußte man ihnen lassen: Wenn es um wichtige Anlässe ging, beachteten sie Protokoll und Etikette. Der Oberste Hauptforscher nahm zusammen mit seinen fünf beigeordneten Hauptforschern ein ausgiebiges Mahl ein. Dann warfen sie sich in ihre kostbaren Gewänder, von denen ihre Rangabzeichen in grellen Farben loderten, und begaben sich in feierlicher Prozession in die »Halle der Besprechung«, wo die beiden gefangenen Solaner unter der Aufsicht einiger Wachen bereits warteten. Die Vei-Munater nahmen Aufstellung, als gemeldet wurde, zwei fremde Fahrzeuge seien vor dem Gebäude gelandet. Augenblicke später wurden Atlan und seine sieben Begleiter von untergeordneten Forschern in die Halle geleitet. Es folgte eine ausführliche und umständliche Vorstellung und Begrüßung, bei der Hage Nockemann und Blödel die Rolle der Kommentatoren
übernahmen. Atlan beabsichtigte nicht, den Forschern die Initiative zu überlassen. Sobald das einleitende Zeremoniell beendet war, unternahm er seinen ersten Vorstoß. »Zwei meiner Mitarbeiter«, erklärte er, »sind widerrechtlich entführt worden und werden seitdem gefangengehalten. Ich verlange – erstens: die sofortige Freilassung der Mitarbeiter – und zweitens: die strenge Bestrafung derer, die für die Entführung verantwortlich sind – und drittens: die Überlassung des Geräts, mit dem die Entführung bewerkstelligt wurde.« Einen solchen Beginn der Verhandlung hatte der Oberste Hauptforscher offenbar nicht erwartet. DeutlicheBestürzung zeigte sich auf Veh-Pnuuls Gesicht, während Toi-Pnuul auf gewohnte Weise stoisch vor sich hin starrte. »Ihr seid ungebetene Gäste, Eindringlinge auf unserer Welt«, klagte Veh-Pnuul mit schriller Stimme. »Wir müßten euch alle gefangennehmen, nicht nur zwei deiner Mitarbeiter. Außerdem habt ihr die Quelle des Roten Leuchtens zerstört. Das ist ein Frevel, der nach Strafe schreit.« »Die Quelle war ein ruchloses Instrument«, sagte Atlan hart, »die unsagbares Elend über die Völker in der Außenzone dieser Galaxis brachte. Sie zerstört zu haben, rechnen wir uns als Verdienst an.« »Was kümmert uns das Elend fremder Völker?« kreischte VehPnuul. »Die Quelle einzurichten, war ein Forschungsauftrag, den Derder-uns-lenkt uns erteilte. Wir haben ihm zu gehorchen und der Forschung zu leben. Alles weitere geht uns nichts an.« Atlan horchte auf. Der-der-uns-lenkt? Er warf einen Seitenblick in Hage Nockemanns Richtung und erhielt ein bedeutungsvolles Zwinkern zur Antwort. Nockemann wußte also über die Zusammenhänge Bescheid. »Im übrigen habt ihr«, fuhr Veh-Pnuul in seiner Lamentation fort, »Ksiil, den Hüter der Quelle, entführt und zu eurem Gefangenen gemacht. Ihr seid also nicht besser als wir.«
»Ksiil befindet sich draußen in einem meiner Fahrzeuge«, sagte der Arkonide. »Ich gebe ihn dir zurück, wenn du meine drei Bedingungen erfüllt hast.« »Ich denke nicht daran!« schrie der Oberste Hauptforscher. »Ihr seid es, die Sühne zu leisten haben. Ihr seid es, die … oh, bei der heiligen Vernunft der Forschung! Was geht hier vor?« Er hatte sich mitten im Satz unterbrochen. Seine Stimme klang entsetzt. Seinen Zuhörern entging zunächst, was es war, das ihn in derartigen Aufruhr versetzte. Dann aber wandte Toi-Pnuul den Blick und sagte mit stöhnender, schmerzerfüllter Stimme zu seinem Zwillingskopf: »Oh, Veh – wie wird mir so seltsam zumute!« »Ich sehe es, ich sehe es«, keuchte Veh. »Was hast du? Was geht hier vor?« »Oh, Veh! Ich weiß nicht. Es ist mir so jämmerlich …« Die Stimme erstarb mit einem kläglichen Wimmern. Da erst sahen die Umstehenden, was den Obersten Hauptforscher so erschütterte. Toi, ursprünglich der größere der beiden Köpfe, hatte zu schrumpfen begonnen. Es war ein grotesker Vorgang. Toi wirkte wie eine aufgeblasene Attrappe, die sich der Forscher zum Spaß auf die Schulter gesetzt hatte und aus der jetzt die Luft entwich. Das Gesicht fiel in sich zusammen. Die Züge schienen flüssig geworden zu sein, zerliefen, formten kurzlebige Grimassen, lösten sich auf. Der Vorgang spielte sich mit solch unheimlicher Schnelligkeit ab, daß die entsetzten Zuschauer noch ungläubig staunend auf den Obersten Hauptforscher starrten, als Toi-Pnuul längst zu einer schlappen, unansehnlichen Hautfalte geworden war, die sich auf der Schulter des Forschers erhob. Atemloses Schweigen herrschte in der großen Halle der Besprechung. In die Stille hinein drang das rauhe Krächzen einer Stimme, einer menschlichen Stimme. Hage Nockemann sagte etwas, das Atlan im Augenblick noch nicht verstand. »Donnerwetter«, stieß er hervor. »Das es so schnell gehen würde,
hätte ich nicht gedacht!«
6. »Posimagno-Energie?« fragte Breckcrown Hayes mißtrauisch. »Was ist das?« »Magnetische Energie, die von einem Positronenstrom erzeugt wird«, antwortete Sternfeuer. Der High Sideryt schüttelte den Kopf. »Jedermann weiß«, sagte er, »daß ein Strom fließender Elektronen sich mit einem kreisförmigen Energiefeld umgibt. Verwenden wir anstelle der Elektronen Positronen, dann ist das Magnetfeld andersherum gepolt. Es ist genauso, als ob wir Elektronen in die entgegengesetzte Richtung schicken. Und das soll das Wundermittel sein?« Sternfeuer hob die Schultern. »Das ist, was Federspiel mir übermittelt hat«, meinte sie. »Mehr kann ich nicht sagen.« »Du übersiehst einen Aspekt, Breckcrown«, mischte Curie van Herling sich in die Unterhaltung ein. »Positronen sind Antimaterie. Es haftet ihnen ein anderer Strangeness-Wert an als den Elektronen. Es ist durchaus möglich, daß ein von Positronen erzeugtes Magnetfeld sich auf fünfdimensionaler Ebene durch mehr als nur die Polung von einem solchen unterscheidet, das ein Elektronenstrom hervorruft. Und selbst wenn unsere Wissenschaft davon nichts weiß – ist das ein Grund, Atlans Rat in den Wind zu schlagen?« »Nein«, entschied der High Sideryt. »Wir werden es versuchen.« Es waren Vorbereitungen erforderlich. Ein solches Vorhaben ließ sich nicht aus dem Stegreif abziehen. Fachleute diskutierten die verschiedenen Möglichkeiten. SENECA residierte im Innern einer Kugel, deren Zugänge von Hunderten unbetrügbarer Sicherheitsmechanismen bewacht wurden. Jeder Versuch, die
Positronenströme unmittelbar ins Innere der Kugel zu leiten, war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Erfrin würde erkennen, was um ihn herum vorging, und die entsprechenden Gegenmaßnahmen ergreifen. Aber es war durchaus möglich, die Positronen rings um die Kugel herum zu leiten und das PosimagoFeld durch die Kugelhülle hindurch auf SENECAS Innenleben einwirken zu lassen. Entsprechende Maßnahmen wurden sofort getroffen. Der große Hohlraum, in dessen Zentrum die SENECA-Kugel aufgehängt war, füllte sich mit röhrenförmigen Leitern. Die Röhren wurden mit einem hochgradigen Vakuum versehen. Magnetfelder sorgten dafür, daß der Positronenstrahl sich im Zentrum der Röhre bewegte und dem vielfach gekrümmten Verlauf des Leiters einwandfrei folgte. Diese Arbeiten nahmen einen halben Tag in Anspruch. Eine Sondergruppe technischer Spezialisten überwachte indes die Umgebung SENECAS mit empfindlichen Nachweisgeräten. Man wollte wissen, ob SENECA die Vorbereitungen wahrnahm und wie er darauf reagierte. In der Nähe des Raumes, in dem SENECA untergebracht war, hatte Breckcrown Hayes eine Kommandozentrale eingerichtet. Hier liefen alle Fäden zusammen. Er war ständig über den Fortschritt des Vorhabens informiert und wartete auf den Beginn des entscheidenden Experiments, das SENECA von seinem Unterdrücker Erfrin befreien sollte. Aber die erste wichtige Nachrieht, die er erhielt, kam aus einer gänzlich anderen Richtung. Solania von Terra, die Kommandantin der Solzelle-2 war es, die die Aufgabe übernommen hatte, die nahe und fernere Umgebung der SOL im Auge zu behalten, während das Riesenschiff haltlos auf die gefährlichen Gefilde der Dunkelzone zustürzte. Xiinx-Markant befand sich im Aufruhr. Jeder bekämpfte jeden. Jederzeit konnte in unmittelbarer Nähe des Schiffs die Flotte eines kampfsüchtigen Sternenvolks auftauchen. Die SOL war manövrierunfähig. Es kam darauf an, gegen alle Eventualitäten
gewappnet zu sein. Solania wirkte verwirrt, als ihr Gesicht auf der Bildfläche des Interkoms materialisierte. »Ich …«, begann sie und unterbrach sich sofort, als ihr eine Wortwahl einfiel, mit der sie ihre Nachricht wirksamer an den Mann bringen konnte. »Es ist schwer zu begreifen. Ich beobachte seit einer Stunde per Fernorter eine Raumschlacht, die sich in acht Lichtjahren Entfernung abspielt. Bis jetzt war keine der beiden Seiten in der Lage, einen entscheidenden Vorteil zu erringen.« Sie machte eine Pause. »Na und?« fragte Breckcrown Hayes. »Es sah aus, als würden sie weitermachen, bis sie sich gegenseitig aufgerieben hatten.« Solania hob die Hände zu einer Geste, die ihre Verständnislosigkeit zum Ausdruck brachte. »Aber plötzlich trennten sich die feindlichen Verbände voneinander, jeder flog nach seiner eigenen Richtung davon, und aus ist's mit der Schlacht!« Der High Sideryt lächelte. »Du hast das Neueste noch nicht mitgekriegt, Solania«, sagte er. »Es besteht wieder Verbindung zwischen Sternfeuer und Federspiel. Federspiel läßt uns wissen, daß es Atlan gelungen ist, eine Strahlungsquelle zu beseitigen, aus der wahrscheinlich – ich betone wahrscheinlich – die Kriegsstrahlung hervorging. Deine Beobachtung ist die erste Bestätigung von unserer Seite, daß die Kriegsstrahlung tatsächlich nicht mehr existiert. Gute Leistung, Solania. Halte weiter die Augen offen. Wir werden sehen, daß überall in der Außenzone von Xiinx-Markant die kriegerische Tätigkeit erlischt.« Während Solania von Terra ihn noch mit verdutztem Blick musterte, trennte er die Verbindung. Aber schon Sekunden später aktivierte sich der Interkom von neuem. Diesmal war Lyta Kunduran am anderen Ende. Als Leiterin des Krisenstabs hatte sie die Verantwortung für das Posimagno-Experiment. »Wir sind bereit«, sagte sie ernst. Breckcrown Hayes überflog die Anzeigen seiner Instrumente. »Alles in Ordnung«, brummte er. »Fangt an!«
* Ein gequälter Schrei erschütterte das mächtige Schiff – so kraftvoll, daß er bis in den hintersten Winkel der beiden Solzellen gehört wurde. Breckcrown Hayes in seiner Kommandozentrale fuhr vom Sitz auf, als er spürte, wie der Boden unter seinen Füßen zu zittern begann. Er war nicht sicher, ob er den Schrei auf akustischem Wege empfing; aber das Vibrieren des Bodenbelags war unmißverständlich. Die Leitung zu Lyta Kunduran war offen. »Was geschieht?« verlangte der High Sideryt zu wissen. Lytas Gesicht war unnatürlich weiß. Es fiel ihr schwer, den Blick in Richtung des Aufnahmegeräts zu wenden. Etwas anderes, das außerhalb des Blickfelds lag, zog ihre Aufmerksamkeit an. »Die Kugel zittert«, stieß sie hervor. »Die energetische Halterung ist überbeansprucht. Ein leuchtender Nebel dringt aus der Kugelhülle hervor. Oh, Breckcrown … hast du den Schrei gehört?« »Habe ich«, bestätigte er grimmig. »Er ging unter die Haut, nicht wahr?« Lytas Stimme wurde drängender, erregter: »Eine Gestalt formt sich aus dem Nebel! Oh,Gott, es ist dasselbe Gesicht, das ich damals sah! Er kommt auf mich zu! Ich weiß nicht …« Störungen flackerten über die Bildfläche. Breckcrown Hayes beugte sich nach vorne und bearbeitete die Tastatur des Geräts mit den Fäusten. »Lyta, melde dich!« schrie er. »Was ist los? Lyta, hörst du mich? Ich schicke dir Hilfe …« Er unterbrach sich, seiner Ohnmacht bewußt. Es gab nichts, was er in diesem Augenblick hätte tun können. Das Gewissen peinigte ihn. Er machte sich Vorwürfe, Lyta Kunduran quasi schutzlos in dieses Unternehmen geschickt zu haben. Es war unverantwortlich, ein
derart kritisches Vorhaben ohne umfangreiche Vorbereitungen vom Stapel zu lassen. Er hätte nicht zulassen sollen, daß Lyta sich kopfüber in dieses Abenteuer stürzte. Er schritt voller Aufregung und Verzweiflung in seiner kleinen Zentrale auf und ab. Seine Phantasie zählte in rascher Reihenfolge alle Vorwürfe auf, die sein Gewissen würde verantworten müssen. Auf dem Höhepunkt seiner Verzweiflung raufte er sich die Haare. Das war der Augenblick, als eine kühle Stimme aus dem Interkom ihn zur Ordnung rief. »Breckcrown, was tust du da?« Er wirbelte herum. Das Bild war stabil. Lyta Kunduran blickte ihn lächelnd an. »Was … was ist?« stieß er hervor und eilte auf den Empfänger zu. »Der Nebel, das Gesicht … was ist geschehen?« Lyta schüttelte den Kopf. »Der Nebel ist verschwunden, das Gesicht nicht mehr zu sehen. Ich habe das Gefühl …« Ein zweiter Interkom schrillte. Lyta unterbrach sich automatisch, als Breckcrown Hayes den Kopf wandte. Auf der zweiten Bildfläche erschien Cara Doz. Sie wirkte blaß und übernächtigt wie immer, aber in ihren Augen glomm das Feuer der Begeisterung. »Ich habe das Schiff unter Kontrolle«, rief sie. »SENECA funktioniert einwandfrei!« Da endlich löste sich der Krampf, der Breckcrowns Seele bisher gewürgt hatte. Es war alles in Ordnung. Das Experiment war erfolgreich gewesen, SENECA funktionierte wieder. Erfrin war vertrieben! Die aufgestaute Spannung brach sich Bahn. Breckcrown Hayes warf die Arme in die Luft und stieß einen Schrei des Triumphs aus. Aber eine Sekunde später war er wieder der stets gefaßte, sachliche Kommandant der SOL. Er wandte sich an Cara Doz. »Du hast die Koordinaten, die wir von Federspiel erhalten haben?« fragte er. Cara Doz lächelte unter dem SERT-Ring hervor.
»Ich habe sie«, lautete ihre Antwort. »Der Autopilot ist beauftragt, sich danach zu richten.« »Also dann«, grinste Breckcrown: »Worauf warten wir noch?« Er trennte die Verbindung mit der Kommandozentrale und wandte sich Lyta Kunduran zu, die mitgehört und geduldig gewartet hatte. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er. »SENECA ist frei. Wir haben Erfrin vertrieben. Die SOL …« »Ich weiß«, unterbrach sie ihn lächelnd. »Ich habe es gehört.« Er riß sich zusammen. Es war an der Zeit, ein paar gewichtige Worte zu sagen. Schließlich hatte Lyta Kunduran es unter Einsatz ihres Lebens unternommen, dieses gefährliche Vorhaben zu leiten, und zwar unmittelbar vor Ort – in der Kaverne, in der SENECAS Kugel an ihren energetischen Verstrebungen aufgehängt war. Er dachte darüber nach, was in einer Lage wie dieser zu sagen sei. Aber bevor er die ersten Worte des Dankes über die Lippen brachte, meinte Lyta Kunduran: »Ich sehe, du bist aufgeregt. Wir sprechen uns später.« Und unterbrach die Verbindung. Danach saß er eine lange Zeit vor seiner Konsole und überdachte die Vorgänge der vergangenen Stunden. Die Effekte, die auftraten, wenn die SOL zu beschleunigen begann, waren für jedermann sonst unspürbar. Aber er kannte sein Schiff. Er fühlte das niederfrequente Zittern, das den gewaltigen Schiffskörper durchlief. Er wußte, daß die SOL sich selbst wieder in der Gewalt hatte. Erfrin war beseitigt. Das Manifest C war besiegt. Er fragte sich, was aus ihm geworden sein mochte. Da erreichte sein Bewußtsein ein tastender Gedanke. »Solaner – hörst du mich?« Er schrak auf. »Ich höre dich«, antwortete er impulsiv. »Wer bist du?« »Man nennt mich Erfrin. Du kennst mich als Manifest C – das ich niemals sein wollte. Mein richtiger Name ist Erf-Zount, der Dritte Zähler.«
Breckcrown Hayes schwieg überrascht. »Ich bin auf dem Weg dorthin, wohin ich gehöre«, fuhr die Mentalstimme fort. »Ihr glaubt, einen Feind besiegt und vertrieben zu haben, nicht wahr?« »Ja«, antwortete Breckcrown Hayes. »Das glauben wir.« »Ihr täuscht euch.« Die fremde Stimme war voller Geduld und Freundlichkeit. »Ich wollte die Rolle Erfrins niemals annehmen. Ich war zufrieden mit meiner Funktion als Dritter Zähler. Anti-ES hat mich zu dem gemacht, was in SENECA stak und ihn kontrollierte. Als Manifest C war ich der Gefangene der aufgezwungenen Gestalt und hatte keinen eigenen Willen. Es blieb mit nichts anderes übrig, als nach den Befehlen zu handeln, die Anti-ES mir mitgegeben hatte. Ihr habt mich befreit. Das Manifest C existiert nicht mehr. Erf-Zount ist wiedergeboren. Ich schulde euch Dank.« »Du … du dankst uns?« fragte Breckcrown Hayes verwirrt. »Ich danke euch«, bestätigte die fremde Stimme. »Ihr habt mir meine wahre Gestalt zurückgegeben. Ich wünsche euch Glück auf euren Wegen – aber hütet euch vor Anti-ES und seinem Handlanger, Anti-Homunk.« Danach herrschte Stille im Mentaläther. Der High Sideryt hatte noch Dutzende von Fragen. Welch unglaubliche Informationsquelle hatte sich da für ihn auf getan! Er konzentrierte sich auf die Dinge, die ihn interessierten, und versuchte, mit seinen Gedanken so weit wie möglich in den Raum hinauszureichen. Aber Erf-Zount meldete sich nicht mehr. Der Wissensdurst des Solaners blieb ungestillt. Wenige Minuten später ging die SOL in den Linearraum. Breckcrown Hayes hielt es nicht mehr in seiner kleinen Kommunikationszelle aus. Er war der High Sideryt; er gehörte hinauf in die Kommandozentrale. Er schickte sich an, den Raum zu verlassen, als die Tür sich öffnete und Sternfeuer eintrat. Sie wirkte verstört. »Hast du es gehört?« fragte Breckcrown. »Die Mentalstimme, meine ich?«
Sternfeuer nickte. »Nicht nur ich«, sagte sie. »Viele haben es gehört. Erf-Zount verfügt über bedeutende telepathische Kräfte. Aber deswegen bin ich nicht hier.« »Sondern?« erkundigte er sich mit erwachender Besorgnis. »Ich bin nicht sicher, ob wir auf dem richtigen Kurs sind«, sagte die Mutantin. »Frag mich nicht, woher die Ahnung kommt. Ich weiß es nicht, und es ist gewiß nur eine Ahnung. Aber ich fühle, daß Federspiel uns die falschen Koordinaten übermittelt hat. Nicht absichtlich natürlich. Es muß sich ein sekundärer Einfluß mit seinen Gedanken vermengt haben.« Breckcrown Hayes sah auf. Über der Tür glomm das blaue Leuchtzeichen, das besagte, daß das Schiff sich im Linearflug befand. »Jetzt ist es zu spät«, sagte er. »Wir überspringen die Dunkelzone im Linearraum und tauchen in der Innenzone wieder auf. Noch ist nichts verloren, Mädchen. Wenn sich deine Ahnung als richtig erweist, hindert uns niemand, von neuem Kontakt mit Federspiel aufzunehmen und die richtigen Werte zu erhalten.« Ein aufmunterndes Lächeln spielte auf seinem vernarbten Gesicht. Sternfeuer sah es und lächelte ebenfalls.
* Als wenige Minuten später weitere zwei Hauptforscher ihre ToiKöpfe verloren, war es mit der Beherrschung der Vei-Munater zu Ende. Sie gerieten in Panik. Niemand dachte mehr ans Verhandeln. Niemand achtete auf die beiden Gefangenen. Atlan verabschiedete sich, so gut es in dem allgemeinen Tumult möglich war, und nahm bei seinem Abgang, als gäbe es in der ganzen Welt nichts Selbstverständlicheres, Hage Nockemann und Blödel mit sich. Den Hüter der Quelle mit den beiden Köpfen Veh- und Toi-Ksiil gab er frei.
Auf dem Rückflug zur CHYBRAIN berichtete ihm der GalaktoGenetiker über das Experiment, das Blödel sich ausgedacht hatte. »Es war mehr oder weniger eine Verzweiflungstat«, meinte er. »Wir kannten die genetische Struktur der Vei-Munater nicht und rechneten uns eine Erfolgschance von nicht mehr als zehn Prozent aus. Selbst wenn der Versuch gelang, dachten wir, würden wir den Erfolg nicht mehr miterleben. Genetische Prozesse brauchen ihre Zeit. Daß die Wirkung bereits am ersten Tag eintreten würde, hätten wir nicht einmal im Traum geglaubt.« »Alles weist darauf hin«, kommentierte Blödel, »daß die Mutation, die auf Geheiß Dessen-der-uns-lenkt vor neunzig bis hundert Jahren durchgeführt wurde, in einer höchst instabilen genetischen Struktur resultierte. Es bedurfte nur eine kleinen Anstoßes, um das wacklige Gebäude zum Einsturz zu bringen.« »Nichtsdestoweniger halte ich die Sache für ein kleines Wunder«, erklärte Atlan. »Wie weit wird die Veränderung gehen?« »Wenn alle anderen Phasen des Versuchs ebenso erfolgreich sind wie die erste, bis zur völligen Wiederherstellung des veimunatischen Phänotyps. Einköpfigkeit, Zweigeschlechtlichkeit, Wiederherstellung des Erinnerungsvermögens.« »Gut. Wenn die Vei-Munater dazu gebracht werden könnten, ihren Forscherdrang verdienstvolleren Zwecken zuzuwenden – wer weiß, diese Galaxis wäre vermutlich besser dran. Das bringt mich auf eine weitere Frage. Wer ist dieser Der-der-sie-lenkt?« »Anti-Homunk«, antwortete Hage Nockemann. »Sicher?« Der Wissenschaftler hob die Schultern. »Wer sollte es sonst sein?« »Sie haben Verbindung mit ihm?« »Ja. Er erteilt ihnen Aufträge.« »Darum«, sagte der Arkonide, und ein verwegenes Grinsen erschien auf seinem Gesicht, »müssen wir uns kümmern.« An Bord der CHYBRAIN lag eine Meldung von der FARTULOON vor daß es gelungen sei, den veimunatischen Informationskode zu
entziffern und die Sprache der Forscher zu entschlüsseln. Der Meldung lag ein kompletter Satz von Instruktionen bei, mit dem die Translatoren zu programmieren waren. Atlan sprach den Analytikern der FARTULOON sein Lob aus und gab Anweisung, daß der veimunatische Funkverkehr ab sofort in weitestmöglichem Umfang abzuhören sein. Im Lauf der folgenden Stunden ergab sich dieses Bild: Das Schrumpfen der Toi-Köpfe war in kürzester Zeit zur grassierenden Seuche geworden. Offenbar genügte die Einnahme einer einzigen Mahlzeit des mit dem genetischen Serum getränkten Nährbreis, die Remutation einzuleiten. Mit dem Schwinden des Toi-Kopfes ging eine drastische Veränderung der Mentalität Hand in Hand. Verschiedentlich wurden Rufe nach Abschüttelung des Joches laut, unter das Der-der-uns-lenkt die Vei-Munater gezwungen hatte. Und gar noch lasterhafter: Man wollte wieder weibliche Vei-Munater haben! Vorläufig hatten die Doppelköpfe noch die Oberhand. Bei ihnen handelte es sich offenbar um solche Wesen, die entweder seit langer Zeit keine Nahrung mehr zu sich genommen hatten oder eine besonders wirksame genetische Widerstandskraft besaßen. Aber je weiter die Seuche um sich griff, desto mehr begann die Waage zugunsten der Remutierten zu neigen. Die Einköpfe konstituierten einen Forschungsrat, der die Auswirkungen der erstaunlichen Entwicklung analysierten und für Ruhe unter der Bevölkerung sorgen solle. Als Leiter des Rates fungierte ein Vei-Munater, der sich Knaal nannte – nicht mehr Veh- oder Toi-Knaal, sondern nur noch Knaal. Als Atlan von dem langen Gespräch erfuhr, das Nockemann und Blödel während ihrer Gefangenschaft mit Knaal geführt hatten, da wußte er, wie er von nun an vorgehen müsse. Knaal musterte die unerwarteten Besucher mit unverhohlenem Staunen. Er machte eine unglückliche Figur mit dem schlappen, baumelnden Hautlappen, den Toi-Knaal hinterlassen hatte auf der rechten Schulter und der unsymmetrischen Anordnung des
verbleibenden Kopfes auf der linken. »Ihr kommt zur ungelegenen Stunde«, sagte er zu Atlan und Hage Nockemann, die ihn im provisorischen Quartier des Forschungsrates aufgespürt hatten. »Ganz Munater ist in Aufruhr …« »Wir kommen, um dir Hilfe anzubieten«, unterbrach ihn der Arkonide. »Hilfe? Ihr?« fragte Knaal ungläubig. Atlan schaltete den Translator ein, den er um den Hals trug. Als seine Worte in der Sprache der Vei-Munater aus dem kleinen Gerät drangen, horchte Knaal erstaunt auf. »Alle eure Probleme«, erklärte Atlan, »rühren daher, daß ihr ein Bündnis mit Anti-Homunk eingegangen seid, den ihr Dender-euchlenkt nennt. Ihr habt Verbindung mit ihm. Sprecht zu ihm und macht ihm klar, daß ihr das Bündnis kündigt.« Ein älterer Munater, der in der Nähe gestanden und die Worte des Arkoniden gehört hatte, trat hinzu. Atlan erkannte Ksiil, den Hüter der Quelle. Auch er hatte inzwischen seinen Toi-Kopf verloren. »Ich weiß nicht, ob Der-der-uns-lenkt davon beeindruckt sein wird«, sprach er zu Knaal, »aber als politische und taktische Geste wäre es vermutlich wirksam. Es zeigte den Doppelköpfen, daß wir es ernst meinen.« »Du bist der Hüter der Quelle«, antwortete Knaal. »Du bist derjenige, der das Gerät bedient, das die Verbindung mit Dem-deruns-lenkt herstellt. Wenn du auf den Vorschlag der Fremden eingehen willst, lege ich dir nichts in den Weg.« Ksiil zögerte einen Augenblick. Dann hob er einen seiner sechs Arme und winkte. »Kommt«, sagte er knapp. Er führte sie einen schier endlos langen Korridor entlang, der sich in sanften Windungen durch die Tiefen des Gebäudes zog. Überall herrschte hektische Betriebsamkeit. Die Vei-Munater waren in Aufruhr. Die Wesen, die dieses Bauwerk bevölkerten, waren
ausnahmslos einköpfig. Atlan überlegte, ob er den Forschern erklären solle, worauf die remutierende Aktivität ihres Innenlebens zurückzuführen war; aber schließlich entschied er sich dagegen. Der Himmel mochte wissen, wie sie reagieren würden, wenn sie erfuhren, daß sie von zwei Gefangenen hereingelegt worden waren. Früher oder später mußten sie die Wahrheit selbst erkennen; aber bis dahin waren die CHYBRAIN und die FARTULOON hoffentlich schon weit weg. Am Ende des Ganges öffnete Ksiil eine hohe Tür. Sie traten in einen großen Raum, den ein eigenartiges Halbdunkel erfüllte. Er war völlig kahl bis auf eine steinerne Säule, die sich aus dem Mittelpunkt des Gelasses zu einer Höhe von zweieinhalb Metern erhob. Oben auf der Säule war eine große Bildfläche montiert. Ksiil wartete, bis die Tür sich hinter den Eintretenden geschlossen hatte. Dann trat er vor die Säule hin, richtete den Blick auf die Bildfläche und sprach mit eigenartigem Tonfall, als rezitiere er den Text einer Inkantation: »Erhabener, Beherrscher des Galaxis, Du-der-uns-lenkt. Höre meine Bitte. Wir suchen ein Gespräch mit dir.« Er wiederholte den Spruch noch zweimal; dann wurde es auf dem Bildschirm lebendig. Im Hintergrund erschien ein Lichtfleck. Er schien auf den Betrachter zuzueilen und gewann dabei an Größe und an Form. Als das Bild sich stabilisierte, zeigte es ein Gebilde, das annähernd den Umriß und die Form eines Auges hatte und in unnatürlich grellen Farben strahlte. »Das Leuchtende Auge!« staunte Hage Nockemann. »Sprich zu uns, Erhabener!« rief Ksiil. »Was ist das Leuchtende Auge?« fragte Atlan. Ohne sich umzuwenden, antwortete Ksiil: »Es ist der Sitz Dessender-uns-lenkt. Es befindet sich im geometrischen Zentrum dieser Galaxis. Mehrere Generationen lang war es wie eine Ahnung in unserem Volk, daß wir, die Vei-Munater, das Leuchtende Auge im Auftrag des Erhabenen geschaffen haben. Meine Erinnerung kehrt
zurück. Es ist keine Ahnung mehr. Ich weiß jetzt, daß wir das Leuchtende Auge konstruiert haben.« Gleich darauf wandte er sich wieder seiner eigentlichen Aufgabe zu. »Sprich zu uns, Erhabener«, rief er in flehentlichem Ton. Aber der Erhabene sprach nicht. Ksiil wiederholte seine Bitte zum fünften Mal, da wurde das Bild auf dem Empfänger plötzlich matt und flach, und eine Sekunde später war das Leuchtende Auge vollends verschwunden. Ksiil wandte sich um. Er war enttäuscht und ließ die Schultern hängen. Der Hüter der Quelle bot einen ganz und gar erbärmlichen Anblick. »Er will nicht zu uns sprechen«, murmelte er. »Er weiß, daß wir von ihm abgefallen sind.«
* Danach hielt es Atlan nicht mehr lange auf dem synthetischen Planetoiden. Er kannte sein Ziel: das Leuchtende Auge. Er hatte keine Zeit, auf die Ankunft der SOL zu warten. Jetzt, nachdem die alles überlagernde Strahlung der Kriegsquelle erloschen war, würde es nicht schwierig sein, Verbindung mit dem Mutterschiff aufzunehmen, sobald es in der Innenzone auftauchte. Die abschließenden Verhandlungen mit den Vei-Munatern wurden in aller Eile abgeschlossen. Der Arkonide verzichtete auf die Beschlagnahme des Geräts, mit dem Shmool sich an Bord der FARTULOON transportiert und Nockemann sowie Blödel entführt hatte, als er erkannte, daß es sich in der Tat um einen Fiktivtransmitter herkömmlicher Wirkungsweise handelte. Knaal, der Leiter des Forschungsrates, erwies sich in diesen letzten Gesprächen als sehr aufgeschlossen. Er war sicher, daß es in Kürze keine zweiköpfigen Vei-Munater mehr geben werde und daß das
Volk der Forscher seine tragische Bindung an Anti-Homunk lösen könne. Daß es sich in der Zukunft würdevollereren Forsehungsaufgaben zuwenden müsse, hielt er für selbstverständlich. In diesen letzten Stunden waren auch Hage Nockemann und Blödel unterwegs, um den veimunatischen Genetikern zu erklären, wie sie vorzugehen hätten, wenn sie eine neue Generation weiblicher Wesen erzeugen wollten. Die ersten Vei-Munater-Frauen mußten naturgemäß synthetischen Ursprungs sein. Aber wenn dieser einleitende Schritt getan war, gab es keinen Grund, warum die Vei-Munater sich nicht auf natürliche Weise weiter fortpflanzen können sollten. Die Forscher wunderten sich sehr über die umfassenden Kentnisse der veimunatischen Genetik, die die beiden Solaner an den Tag legten. Aber sie stellten keine Fragen, und das Geheimnis, wer den Vei-Munatern zur Überwindung der üblen Folgen der von Anti-Homunk induzierten Mutation verholfen hatte, blieb vorläufig gewahrt. Eines Tages würden die Forscher auf die Idee kommen, ihren Nährbrei, von dem sie alle zehrten, unter die Lupe zu nehmen. Die hohe Konzentration an fremdartigen Nukleotiden und Enzymen konnte ihnen nicht entgehen. Sie würden die Wahrheit erkennen – besonders wenn sie die Spuren untersuchten, die Blödels Experiment in der Gefängiszelle hinterlassen hatte. Aber bis dahin war, wie gesagt, die CHYBRAIN und die FARTULOON schon weit weg. Hage Nockemann bemühte sich, in Erfahrung zu bringen, welch eigenartiges Schicksal die Vei-Munater auf einen künstlichen Planetoiden verschlagen hatte. Das eiförmige Gebilde war offensichtlich nicht ihre Heimatwelt. Hatten sie selbst es erschaffen? War es für sie gebaut worden? Er erhielt keine Antwort. Das veimunatische Gedächtnis war am Wiedererwachen; aber so weit zurück in die Vergangenheit reichte die Erinnerung vorläufig noch nicht. Auch dieses Geheimnis blieb also unangetastet: die Herkunft der Vei-Munater.
CHYBRAIN und FARTULOON starteten. An Bord der beiden Fahrzeuge herrschte neue Zuversicht. Die Kriegsquelle war vernichtet. Draußen, in der Außenzone, konnten die Völker von Xiinx-Markant darangehen, sich auf die wahren Werte des Daseins zu besinnen und ihre von sinnlosen Kriegen zerstörten Welten wiederaufzubauen. Und hier, in der Innenzone, hatten die Solaner ein neues Ziel, dessen Koordinaten ihnen soeben mitgeteilt worden waren: das Leuchtende Auge, Anti-Homunks Sitz, im Zentrum der Galaxis.
* Tief im Innern des Leuchtenden Auges aber hockte Anti-Homunk vor der komplizierten Apparatur seines Kommunikationssystems und zerbrach sich verstört den Kopf über die Aussichten, die die nahe Zukunft für ihn bereit hielt. Er hatte die Entwicklung auf Munater verfolgt. Die Auslöschung der Kriegsquelle hatte ihn nicht sonderlich beunruhigt; denn die Quelle war das Instrument eines Versuchs, von dessen Ausgang – ob erfolgreich oder nicht – nichts mehr abhing. Er hatte die kriegstüchtigsten, kämpferischten Völker der Außenzone ermitteln sollen. Aber das Projekt hatte seine übergeordnete Priorität längst verloren. Als Ksiil, der närrische Quellenhüter, mit ihm hatte Verbindung aufnehmen wollen, da hatte er Atlan gesehen. Das war es, was ihn störte. Der Arkonide war ihm unangenehm nahe auf die Haut gerückt. Anti-Homunk zweifelte nicht daran, daß Atlans nächstes Ziel das Leuchtende Auge sein würde. So tief war er in seine düsteren Gedanken versunken, daß er das Rufzeichen, das auf einem der Empfänger blinkte, eine Zeitlang übersah. Aber schließlich schrak er auf. Die Bildfläche zeigte das Symbol seines Herrn, der Superintelligenz Anti-ES. Hastig befahl er dem Gerät, sich einzuschalten.
»Ich sehe, es läuft alles nach Plan«, erklärte Anti-ES mit einer Stimme, aus der Anti-Homunk Genugtuung herauszuhören glaubte. »Nach Plan?« fragte er verblüfft. »Gewiß doch. Die beiden Schiffe der Solaner sind auf dem Weg ins Zentrum von Xiinx- Markant. Die SOL wird ihnen folgen. Du bist vorbereitet, nicht wahr? Sie können dich nicht überrumpeln?« »Nein, das können sie nicht«, antwortete Anti-Homunk mit Überzeugung. »Gut.« Ein kaltes, humorloses Lachen drang aus dem Empfänger. »Dann werden wir sie Stück um Stück auseinandernehmen, bis die Gefahr so groß wird, daß ihr mächtiger Helfer keine andere Wahl mehr hat, als unmittelbar ins Geschehen einzugreifen. Er wird kommen, dorthin, zu dir, ins Zentrum deiner Galaxis. Und darauf warte ich!« »Ja, er wird kommen«, murmelte Anti-Homunk verständnislos. Das Rufzeichen erlosch. Anti-ES hatte die Verbindung getrennt. Der Androide hatte keine Ahnung, was er von dem seltsamen Gespräch halten solle. Sein Herr schien bester Laune. Aber er selbst – er fürchtete sich vor den Dingen, die auf ihn zukamen.
ENDE Im Atlan-Band der nächsten Woche blenden wir wieder um, und widmen uns dem weiteren Schicksal von Cpt'Carch, dem Extra, der die SOL verließ, um auf seinem Heimatplaneten Cpt in neuer Körperform wiedergeboren zu werden. Der Planet Cpt ist auch das Ziel eines tödlichen Anschlags von seiten AntiHomunks. Mehr zu diesem Thema berichtet Horst Hoffmann in seinem Roman unter dem Titel: PLANET IN FLAMMEN