Seewölfe 128 1
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Seewölfe 128 1
Fred McMason 1.
Der Seewolf hatte immer noch keine Zeit, sich um die knapp vor dem Tode durch den Henker gerettete Siri-Tong zu kümmern. Hinter ihnen, im Hafen von Shanghai, war die Hölle los. Das Brüllen der Explosionen, durch die ein großer Teil des hölzernen Anlegestegs in die Luft geflogen war, verebbte. Aber immer noch herrschten Panik, Aufruhr und Geschrei. Philip Hasard Killigrew blickte über die Schulter zurück. Eine chinesische Kriegsdschunke hatte die Verfolgung aufgenommen. Sie war ein Hartläufer und segelte schnell. Der Wind blähte ihre bambusverstärkten Mattensegel und trieb sie rasch voran. Auf dem Gesicht des Seewolf lag ein hartes Lächeln. Er hatte so ziemlich das gewagteste Stück geliefert, das es je im Hafen von Shanghai gegeben hatte. Er hatte Aufruhr und Panik hinter sich gelassen, und jetzt hatten die chinesischen Soldaten einen verständlichen Zorn auf ihn. Das Schauspiel, wie der Henker gerade das Schwert hob, um die Rote Korsarin zu köpfen, und dann, von einem Pfeil durchbohrt, tot umfiel, mußte noch nachhaltig auf die Chinesen einwirken. Die Dschunke hinter ihnen, die sie jetzt gnadenlos verfolgte, hatte bereits den vierten oder fünften der gefährlichen Brandsätze abgefeuert, aber bisher lagen die tödlichen Feuer um mindestens hundert Yards zu kurz. „Ben!“ rief Hasard zu seinem Bootsmann. „Laß auch den letzten Fetzen Tuch setzen und sag Al Conroy Bescheid, daß er die beiden achteren Drehbassen kontrolliert. Sie müssen sofort einsatzbereit sein!“ Ben Brighton nickte und nahm sich noch die Zeit, hinterhältig zu grinsen, denn was sich da weit hinter ihnen tat, war nicht nur nach seinem, sondern nach dem Geschmack der gesamten Crew, die zwar aufgeregt war, sich aber diebisch freute, daß sie den Zopfmännern ein Schnippchen geschlagen hatten.
Piratenjagd
Gleich nachdem Ben das Kommando weitergegeben hatte, klang die donnernde Stimme des Profos auf. Er spuckte grinsend in die Hände, rieb sie dann gegeneinander, ballte sie zu Fäusten und stemmte sie in die Hüften. „Wie oft muß ich euch triefäugigen Seesäcken noch sagen, daß ihr viel zu lahmarschig seid, was, wie? Eure verdammten Affenärsche haben wohl schon lange keinen richtigen Tampen mehr gespürt. Hopp, hopp! Hoch mit der Blinde und schneller als sonst. Oder wollt ihr euch Zöpfe wachsen lassen, was, wie? Denkt an die Gelbsüchtigen da achtern, wenn die uns fassen, regnet es euch in die Hälse, weil euch dann nämlich die Köpfe fehlen!“ Die Männer auf dem Vordeck grinsten sich an. Der Decksälteste Smoky hatte das Kommando schon dann gegeben, als er Ben in der Kuhl auftauchen sah, in der auch der Profos beschäftigt war. Aber Ed Carberry konnte es nicht lassen. In solchen Situationen wie jetzt mußte er brüllen, schon um sich selbst freier zu fühlen. Die „Isabella“ nahm Kurs auf die offene See. Schon jetzt schmolzen die kleinen Hafenund Gemüsedschunken die in Shanghai lagen, zu einer Masse zusammen und ließen sich nicht mehr unterscheiden. Inzwischen war Al Conroy auf dem Achterdeck erschienen, zusammen mit dem rothaarigen Schiffszimmermann Ferris Tucker, der mit seiner gewaltigen Axt im Hafen so aufgeräumt hatte. Die beiden Männer überprüften noch einmal die achteren Drehbassen, die geladen und feuerbereit waren. In den Rohren steckte grobes Blei, zusammen mit Eisenspänen. Hasard blickte den Stückmeister an, sah dann zu der heransegelnden Dschunke und nickte, als Conroy die Waffen klar meldete. „Gebt acht auf die Kerle mit den Armbrüsten“, schärfte er den beiden Männern ein. „Ihr wißt, wie weit die Bolzen tragen, dabei hat auch ein Zufallstreffer unangenehme Folgen!“
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Die fünfmastige Dschunke war fraglos etwas schneller als die „Isabella“, schätzte Hasard. Sie brachte mehr Tuch an die Masten und ihre Mattensegel waren ähnlich der Lateinertakelung, so daß sie den Wind optimal ausnutzen konnte. Außerdem lag sie nicht so tief im Wasser, und sie hatte bei einem Gefecht einen noch unschätzbaren Vorteil: Sie zum Sinken zu bringen war ein Problem besonderer Art, denn der Rumpf war in mehrere wasserdichte Räume unterteilt. Lief einer voll, wurde sie kopf- oder achterlastig oder tauchte. tiefer ins Wasser ein. Die Zopfmänner hatten im Schiffsbau schnell gelernt und ständig Verbesserungen ersonnen. Und diese Kriegsdschunke, hatte annähernd einhundertfünfzig Soldaten an Bord, die vor Wut zum Bersten geladen waren. Das Land des Großen Chan konnte diese Schande nicht ungestraft auf sich sitzen lassen! „Laß die beiden Drehbassen abfeuern, Al“, sagte der Seewolf zu seinem Waffen- und Stückmeister Conroy. „Du die eine und Ferris die andere. Haltet so hin, daß die Burschen ein bißchen vorsichtiger werden und abfallen, sonst haben wir sie auf dem Hals, und wenn hundertfünfzig Mann entern, da wird auch uns das Lachen gründlich vergehen.” „Die Distanz könnte gerade reichen“. sagte der stämmige, schwarzhaarige Mann überlegend. Auf Drehbassen war er spezialisiert, er verstand es hervorragend damit umzugehen. Er nickte dem Schiffszimmermann zu, der die Drehbasse auf der schwenkbaren Lafette ausrichtete. „Warte noch, bis ich gefeuert habe, Ferris“. sagte Al. „Wir erzielen mehr Wirkung wenn wir ... verdammt“, unterbrach er sich, „die Kerle feuern Bolzen ab.“ Auf der Dschunke hatte man bemerkt, daß die Drehbassen herumschwenkten und ausgerichtet wurden. Augenblicklich traten die Armbrustschützen in Aktion. Conroy schrie noch eine Warnung, da schwirrten die Bolzen auch schon los.
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Wie silberne kleine Fische sprangen sie von der Dschunke. ein ganzer Schwarm, der sirrend heranraste. Die meisten fielen hinter der „Isabella“ ins Wasser und versanken, ein paar andere knallten mit einem dumpfen Geräusch in die Heckgalerie, und dann passierte das, wovor der Seewolf gerade eben noch gewarnt hatte. Big Old Shane, der Schmied und ehemalige Waffenmeister der Feste Arwenack, stöhnte dumpf. Er griff mit der linken Hand nach seinem rechten Oberarm und war sehr verblüfft, als er Blut zwischen seinen Fingern hervorquellen sah. Er riß das Hemd herunter und starrte auf die Wunde. Ein sauberer Schuß, das erkannte er neidlos an. Er hatte ihm einen großen Hautfetzen wegrasiert, ohne den Knochen erwischt zu haben. Es war eine Fleischwunde, die blutete, und er glaubte auch nicht, daß die Bolzenspitze vergiftet war. Hasard schickte ihn sofort zum Kutscher. „Feuer frei!“ sagte er zu Conroy, der die glimmende Lunte an das Zündloch hielt. Die Drehbasse wummerte los. Begleitet von einer schwarzgrauen Pulverwolke, die das Heck einnebelte, raste der Blei- und Eisenhagel aus dem Rohr und ging auf die Reise. Auf der Dschunke prasselten ein paar Bleibrocken in das vordere Segel. Die verstärkten Bambusbahnen zerfetzten an manchen Stellen. Faustgroße Löcher erschienen wie hingezaubert. Auf dem hohen Vordeck hatte es zwei oder drei Männer erwischt, denn sie fielen um, als hätte ein Blitzschlag sie gefällt. Ein Mann riß die Arme hoch, die Armbrust entfiel ihm. Er torkelte bis ans Schanzkleid und sprang in seinem Schmerz über Bord. Im Kielwasser der Dschunke tauchte noch einmal sein Schädel aus dem Wasser, dann war er weg. Gary Andrews und Blacky schleppten Nachschub heran und brachten grob gehackte Bleistücke und Stangenkugeln. In diesem Augenblick feuerte Ferris Tucker die zweite Drehbasse ab, die sich mit lautem Getöse entlud.
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Deutlich sah er, wie die schwereren Brocken dicht vor dem Bug der Dschunke ins Wasser sägten, aber die leichteren trafen wiederum. Kleine, sauber ausgestanzte Löcher erschienen jetzt auch im zweiten Segel. Tucker registrierte zufrieden, daß die vielen Löcher der Dschunke etwas von ihrer Vortriebskraft nahmen. Es war nicht viel, aber es genügte, sie auf Distanz zu halten. Sie segelte nicht mehr näher heran. Inzwischen enterte Big Old Shane mit grimmigem Gesicht und eiserner Entschlossenheit in den Großmars auf. Über der Schulter hatte er den riesigen selbstgefertigten Bogen hängen, in die Seite seines Hosengürtels hatte er die ebenfalls selbstgefertigten Brandpfeile gesteckt, und so enterte der Riese schweigend auf mit dem festen Entschluß. es diesen lausigen Burschen schon zu zeigen. Auf die Oberarmwunde hatte der Kutscher ihm Saft geschmiert, dann Salbe eingerieben und ein Stück Leinen drumherum gebunden. Für Shane war das nur ein läppischer Kratzer, aber er hatte den Kutscher in seiner liebevollen Besorgtheit auch nicht abweisen wollen, und außerdem murmelte der immer etwas von Verunreinigungen, und ihm solle ja keiner mit einer Blutvergiftung antanzen, mit einer lausigen, sonst könne der Betreffende aber verdammt mal was erleben und sich seine Knochen künftig selber absägen. Doch dieser kleine Kratzer brannte höllisch, wie Big Shane verwundert und ärgerlich feststellte. Genaugenommen tat die Wunde ziemlich weh, und dafür würde er den Kerlen jetzt eins auf den Pelz brennen, und wenn die Wunde auch gleich wieder aufbrach. Als er in schwindelnder Höhe angelangt war, nahm er die Lunte, die er zwischen den Zähnen gehalten hatte, aus dem Mund und blies darauf, bis sie in heller Glut rötlich leuchtete. Dann kohlte er die erste Pfeilspitze an, warf dem Ausguck Stenmark einen grinsenden Blick zu und blies weiter, bis auch die Spitze hell glühte.
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„Das schaffst du nicht, Shane“, sagte Stenmark. „Weder du noch Batuti, die Dschunke ist mehr als vierhundert Yards entfernt.“ „Normalerweise schafft man es nicht, weil man ja auch noch gegen den Wind schießen muß“, sagte Shane bedächtig. „Aber wenn man eine solche Wut im Bauch hat wie ich, dann schafft man das!“ Breitbeinig stellte sich der graubärtige Mann hin, soweit es der Beobachtungskorb zuließ, dann spannte sein mächtiger Arm den Bogen, bis das schwere Holz einen Halbkreis beschrieb. Nein, dachte der Schwede Stenmark noch einmal, und sah wie sich der Muskel an Shanes Arm wie ein Strang hervorschob. Stenmark glaubte, der riesige Bogen würde jetzt mit einem Knall auseinanderfliegen. Big Shane ließ los, seine Wunde brannte höllisch, aber er hatte seine ganze bullige Kraft in diesen Schuß gelegt. Zum Teufel mit der Fleischwunde! Ein ekelhaft lautes Sirren erklang, als der Pfeil davonflog. Noch im Flug fing seine Spitze Feuer und glühte. Die beiden Männer konnten den Flug mit dem Auge verfolgen. „Wetten, daß nicht?“ sagte Stenmark atemlos, als er sah, daß der Pfeil seinen schnurgeraden Flug änderte und leicht höher stieg. „Wetten, daß doch?“ fragte Shane gemütlich zurück. „Es hat mir bald den Arm aus dem Gelenk gerissen.“ Tief unter ihnen stand Batuti und vollführte auf dem Deck einen Freudentanz. Er selbst hatte als Kind mit dem Bogen umgehen gelernt, aber er mußte zugeben, daß er dem grauhaarigen Schmied zumindest mit diesem Schuß unterlegen war. Auf der Dschunke schlug es ein, genau ins verstärkte Segel. Der Pfeil hatte viel von seiner Geschwindigkeit verloren, und daher blieb die glutende Spitze in der Bambusverstärkung stecken. Durch das Spektiv erkannte der Seewolf grinsende Gesichter bei den Chinesen. Sie
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lachten über den Pfeil, der scheinbar nutzlos ins Segel geknallt war. Klar, dachte Hasard, sie konnten lachen, denn wahrscheinlich kannten sie die selbstgefertigten Spezialpfeile von Big Old Shane noch nicht. Sie würden sie aber gleich besser kennenlernen. Die Glut erreichte jetzt den mit Pulver gefüllten Schaft, der sich sofort entzündete. Das Grinsen auf den Gesichtern der Soldaten erlosch, als aus dem Segel ein greller Blitz aufzuckte. Es zischte leise, dann verbreitete sich schlagartig lohendes Feuer, und die ersten Fetzen des brennenden Segels flogen davon. „Getrocknete Bambusfasern brennen prächtig“, sagte Ben Brighton. „Jetzt grinst auch keiner mehr!“ „Augenblicklich haben sie andere Sorgen“, erwiderte der Seewolf. „Mann, Shane! Dem hast du es aber gegeben!“ brüllte der alte Donegal O'Flynn und klopfte mit seinem Holzbein nachdrücklich ans Schanzkleid der „Isabella“. Vom Quarterdeck, aus der Kuhl und vom Vordeck stieg freudiges Gebrüll nach oben, aber Shane achtete nicht darauf, er hatte sich schon den zweiten Pfeil zurechtgelegt und spannte den Bogen. Der nächste Schuß traf auch die Dschunke, aber der Pfeil brach am harten Holz des Bugs ab und zischte ins Wasser. Mehr als fünfzig Soldaten schlugen jetzt mit Bambusknüppeln, Tüchern und Armbrüsten auf die brennenden Lappen, die an Deck regneten oder die der Wind davontrug. Immer wieder bildeten sich Funkenregen, das alles wirkte aus der Ferne wie ein abgefeuerter Brandsatz, der dicht über dem Deck des Schiffes krepiert war. Die anderen Soldaten, die sich nicht am Löschen beteiligten, fierten unter gebrüllten Kommandos die restlichen Segel ab, rissen sie herunter und warfen sich mit ihren Körpern darüber, um das sich immer wieder aufblähende Tuch zu bergen, damit es nicht auch noch Feuer fing. Die Dschunke fiel merklich zurück. Kein einziger Brandsatz wurde abgefeuert, die
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Kerle waren damit beschäftigt, ihr eigenes Schiff vor den Flammen zu retten. In den Augen des Seewolfs blitzte es auf. Natürlich war der Gegner nicht geschlagen, er war der „Isabella“ seiner Brandsätze wegen sogar noch überlegen, denn die verfügten über eine größere Reichweite als jene, die Hasard seinerzeit erbeutet hatte. „Wir riskieren es“, sagte er zu Ben, „man sollte diesen Kerlen ruhig ein wenig Respekt beibringen. Alle Mann auf Stationen, wir luven an und gehen so hoch an den Wind, daß wir ihm eine Breitseite verpassen können. Er dreht jetzt nach Backbord, fällt ab, diese Gelegenheit kann ich mir nicht entgehen lassen.“ Wenn sie in die Dschunke acht SiebzehnPfünder setzen konnten, wenn ihnen das gelang, dachte Hasard, dann würde der Verfolger ganz sicher die Jagd aufgeben. So aber war er in der Lage, neue Segel zu setzen und sich weiterhin anzuhängen. „Ar-we-nack!“ brüllte jemand, und sofort fiel der ganze Chor lautstark ein: „Ar-wenack, Ar-wenack!“ „Hoch an den Wind, Pete!“ befahl der Seewolf seinem Gefechtsrudergänger. „So hoch, daß wir trotzdem noch Fahrt haben. Kümmere dich um nichts anderes, behalte die Segel im Auge. Wenn der Winkel zu spitz wird, fällst du sofort wieder ab. Inzwischen werden wir dem Kerl eins aufgebrannt haben.“ „Aye, aye, Sir!“ Pete schrie es fast. Er konzentrierte sich darauf, die „Isabella“ hoch an den Wind zu bringen, und Ballie verstand sich darauf – ein Manöver, das nicht ungefährlich war, denn nur ein wenig Zuviel, und schon gab es eine Katastrophe. Die Dschunke fiel weiter ab und trieb in der See. Aber schon waren die Soldaten dabei, die Segel wieder zu setzen. Der Brand war gelöscht worden, die Fetzen heruntergerissen. Sie würden ihre Brandsätze zum Einsatz bringen, das wußte der Seewolf, aber er hatte eine kleine Chance. So wie der Wind jetzt stand, hatten die Pfeile es schwer, ihr Ziel zu treffen.
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An den acht geladenen Culverinen stand jeweils ein Mann und konzentrierte seine Aufmerksamkeit ganz auf das Ziel. Eine zweite Breitseite war nicht möglich, wenn die erste heraus war. Die „Isabella“ mußte ganz schnell abfallen und auf den alten Kurs zurückgehen. Mit glimmenden Lunten standen die Männer bereit und warteten auf den Befehl. Zähneknirschend sahen sie, daß man drüben ihr Manöver genau registriert hatte. Noch während die Segel gesetzt wurden, um dem Schiff gefechtsmäßige Beweglichkeit zu verleihen, stieg der erste Brandsatz heulend in den Himmel. Es war diesmal ein weißblaues Feuer von solch intensiver Farbe, wie die Seewölfe es noch nie gesehen hatten. Hoch über den Masten der „Isabella“ entfaltete sich eine leuchtende Riesenblume, aus der blauweiße Kugeln herabregneten. „Verdammt!“ sagte Hasard leise. Seine Blicke waren überall, und schluckend wartete er darauf, daß die Feuerkugeln an Deck fielen. Der Wind trieb sie jedoch leicht zurück, und sie fielen nicht weit vom Schiff ins Meer, wo sie auf der Oberfläche kurz weiterbrannten und dann erloschen. Während er insgeheim ein Stoßgebet zum Himmel schickte, heulte schon der nächste heran. Seine Bahn war fast schnurgerade, aber er zerplatzte nicht, sondern zog nur einen dicken rauchigen Schweif aus dichtem Qualm hinter sich her. Bange Sekunden vergingen. Mit einem letzten Heulton zischte das Teufelsding dicht übers Ruderhaus, hüllte alles in Qualm und dichten Rauch ein und donnerte dann in die Kuhl, wo es als rauchende Schlange hin und her kreiselte und immer dichtere Qualmwolken ausstieß. Es war ein beizender Qualm, und das rauchende Ding war nicht zu bändigen. Es stieß an den Niedergang, überschlug sich, kreischte und heulte, und raste zurück, sprang dabei in die Höhe und fiel wieder auf Deck zurück.
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Die Männer husteten, sprangen hoch, wenn das jaulende Etwas vorbeizischte, und nahmen ihre Plätze wieder ein. Die Augen tränten ihnen, und Al Conroy sprach schluckend das aus, was die anderen auch dachten. „Die feuern rauchende Brandsätze, damit wir unser Ziel nicht mehr aufnehmen können.“ Er hatte sich gründlich geirrt, aber das wußte im Augenblick weder er noch ein anderer. Der chinesische Pfeil war ein ganz normaler Brandsatz und einer der ersten, die nicht krepierten. Die Schwefelladung hatte nicht normal gezündet und jetzt rauchte das Ding von innen heraus unter Abgabe fürchterlicher Qualmwolken. „Feuer!“ schrie Hasard in diesem Moment. Mit Verzögerungen von nur ein oder zwei Sekunden spuckten die acht Culverinen ihre Siebzehn-Pfünder aus. Die „Isabella“ krängte leicht, als die brüllenden Abschüsse aus den Rohren fauchten und die schweren Kugeln auf die Reise gingen. Der Qualm war nicht mehr so dicht geworden, daß man nichts sah, und Hasard hatte vom Achterkastell aus ohnehin die bessere Übersicht. Jetzt erst, nachdem die Pulverladung die Eisenkugeln hinausgejagt hatte, wurde der Qualm dichter, aber das war nur natürlich und rührte von den eigenen Kanonen her. Pete Ballie fiel mit Hartruderlage ab, ohne daß es eines Befehls dazu bedurft hätte. Der Winkel war mittlerweile schon so spitz geworden, daß die „Isabella“ keine weitere Höhe mehr kneifen konnte, ohne Gefahr zu laufen, rapide an Fahrt zu verlieren. Jetzt, als der Bug herumschwang, begann auf der Dschunke ein Getöse. Sechsmal hintereinander schlug es in rascher Folge ein. Zwei der eben mühsam hochgehievten Segel fielen wie leere Säcke in sich zusammen und schlugen an Deck, Taue und Falle mit sich reißend und noch im Sturz teilweise zerfetzend. Zwei Siebzehn-Pfünder waren haarscharf über das Schanzkleid geflogen, aber da sie sich im Weiterflug noch etwas senkten,
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durchbrachen sie auf der anderen Seite Teile des Schanzkleides, ohne nennenswerten Schaden anzurichten. Die anderen sechs Eisenkugeln trafen ihr Ziel. Das Holzdeck der Dschunke wölbte sich am vorderen Mast splitterartig nach oben. Planken waren zerfetzt, den im Innern angerichteten Schaden sah vorerst noch niemand. Zwei hatten sich unterhalb der Wasserlinie ihren Weg ins Schiff gesucht, während die drei restlichen die Bordwand an drei verschiedenen Stellen aufgerissen hatten. Dort leckte nur zögernd Wasser hinein, aber in den beiden anderen Löchern gurgelte es. Die Seewölfe an den Culverinen rissen die Arme hoch und stießen einen erleichterten Freudenschrei aus, aber Carberrys eiskalte Stimme ließ sie zusammenzucken. „Welcher Arsch hat da eben vorbeigeschossen?“ fragte er laut. „Ich“, sagte Bob Grey kleinlaut, „aber ich habe das Schanzkleid auf der anderen Seite noch getroffen.“ „Und welcher lausige Hurenbock noch?“ fragte Ed unnachgiebig. Luke Morgan hob schuldbewußt den Finger. „Das Zündkraut fing nicht gleich an zu glimmen, aber ich habe auch noch getroffen.“ „So, das Zündkraut fing nicht gleich an zu glimmen“, donnerte der Profos. „Das nächste Mal werde ich es dir zusammen mit einer Unze Pulver in den Hintern stecken und dich auf die Sekunde genau in die Luft jagen, du tauber Hering. Und du, Bob Grey, du verlauster Heringsschwanz, bist mit dem Messer wesentlich besser als mit der Culverine.“ Bob Grey erwiderte nichts, aber Luke Morgan, dem mitunter das Temperament durchging, und der ein Hitzkopf war, drohte dem Profos mit der Faust. „Blas dich bloß nicht so auf, du Bulle!“ schrie er hitzig. „Das kann passieren, das ist dir auch schon passiert. Ein Augenzwinkern später und schon trifft es sich schlechter.“
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„Du hast überhaupt nicht mit den Augen zu zwinkern. Reiß deine Glotzböcke gefälligst vorher weit auf.“ Es hatte ganz den Anschein, als würde sich zwischen dem Profos und Luke Morgan ein handfester Streit entwickeln, aber Al Conroy trat dazwischen, um zu schlichten, und Ferris Tucker schlug seinem Freund Carberry die Hand auf die Schulter. „Reg dich wieder ab, Ed“, sagte er friedlich, „sieh lieber zu der Dschunke hinüber. Die zieht Wasser, daß es eine Freude ist. Ihr fehlen zwei Segel und der größte Teil des Vormastes.“ „Na ja“, sagte Ed versöhnlich, „ich kann es nur nicht leiden, wenn man bei so ruhiger See halb vorbeiballert. Ist doch wahr!“ setzte er hinzu. Er drehte sich um, um die Überreste des qualmenden Dings zu untersuchen, doch das qualmte nicht mehr. Der Moses hatte eine Pütz Seewasser darüber geschüttet, und sofort hatte das Qualmen nachgelassen. Jetzt lag nur noch ein verkohlter Strunk, wie ein morscher Ast herum, der leicht blakte und Kondensdampf abblies. Es fühlte sich noch verdammt heiß an, und so tauchte es der Profos kurzerhand in die Wasserpütz, die der Bengel Bill hochhievte, um dem Teufelsding endgültig den Rest zu geben. Inzwischen hatte die „Isabella“ wieder ihren alten Kurs erreicht und segelte fast raumschots auf nördlichem Kurs weiter. Hinter ihnen versank die Hafenstadt Shanghai, und auch die angeknackste Kriegsdschunke hatte die nutzlose Verfolgung aufgegeben. Sie war stärker angeschlagen, als es den Anschein hatte. * Auf der Dschunke herrschte Zustand. Ein tobender Kapitän brüllte die Soldaten an und sprach davon, daß es eine Schande sei, sich von einem Fremden Teufel zusammenschießen zu lassen. Offiziere und Bootsmänner rannten aufgescheucht hin und her. Die
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Mannschaften wurden mit harten Fußtritten bedacht, und ein wütender Offizier schwang die Bambusgerte und schlug unbarmherzig zu. Die Dschunke hatte zwei Wassereinbrüche zu verzeichnen, und nun standen die Männer in den unteren Räumen, bildeten Eimerketten und schöpften Wasser: An ein Weitersegeln war nicht mehr zu denken. Der Kapitän Owang rief die Feuerwerker. „Bündelt die Pfeile und schickt sie den Fremden Teufeln hinterher!“ schrie er. „Oder Kuan-Yü, der Kriegsgott, wird euch bestrafen.“ Die Feuerwerker hasteten davon. Diesmal umgaben sie ihre Tätigkeit nicht mehr mit dem Mantel des Geheimnisvollen, dafür hätte der tobende Kapitän nicht das geringste Verständnis aufgebracht. Jeweils sieben „Chinesische Pfeile“ wurden gebündelt, in den Gestellen ausgerichtet und die Lunten entzündet. Das erste Bündel jagte mit ohrenbetäubendem Geheul in den Himmel und beschleunigte rasend schnell. Sofort folgte der nächste Satz. Owang preßte die Lippen zusammen. Kuan Yü schien gegen sie zu sein, die helfende Hand des Kriegsgottes hatte sie verlassen. Verärgert sah er, wie der erste gebündelte Satz knapp hinter dem davonsegelnden Schiff ins Wasser zischte und nach einer Weile verlöschte. Er legte die Hände vor die Brust, deutete drei schnelle Verneigungen an und betete zu Kuan Yü, daß er wenigstens diesen letzten Brandsatz mit sicherer Hand auf das Schiff der Fremden Teufel lenken möge. Doch der Gott der Krieger erhörte ihn auch diesmal nicht. Der zweite Feuersatz fiel noch weiter entfernt ins Wasser. Zu allem Überfluß mußte sich der Kapitän auch noch verhöhnen lassen. Er sah es ganz deutlich. Auf dem achteren Deck stand dieser schwarzhaarige wilde Teufel, dessen Haare im Wind flatterten. Er winkte ihnen höhnisch zu.
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Mit brennenden Augen starrte Owang dem Schiff nach, dem vermeintlichen Portugiesener, der ihn so schwer angeschlagen hatte. Er traute sich kaum, zurück in den Hafen von Shanghai zu segeln. Nein, er hatte sein Gesicht verloren, der Mandarin würde ihm das Kommando über die Kriegsdschunke entziehen und ihn mit Schimpf und Schande davonjagen. Ganz Shanghai würde über ihn lachen. „Wir schaffen. es nicht, das Wasser aus dem Schiff zu pumpen, hoher Herr“, sagte jemand neben ihm. Er hörte es nicht. Aus trüben Augen blickte er auf die Verwundeten und Toten und wandte sich mit zuckenden Schultern ab. Noch einmal wiederholte der Bootsmann seine Meldung. Owang hatte das Gefühl, als würde die Stimme des Bootsmannes längst nicht mehr so unterwürfig klingen wie sonst. Lachte etwa das Schiffsvolk schon heimlich über ihn, den Kapitän? „Die Schiffbauer sollen das Leck abdichten“, hörte er sich wie aus weiter Ferne sagen. Der Bootsmann wollte etwas fragen; doch er wagte es nicht. So schlich er bedrückt davon. Mehr als hundert Seeleute beteiligten sich jetzt am Lenzen. Der Schweiß stand auf ihren Gesichtern, sie arbeiteten verbissen, doch immer wieder schoß das Wasser gurgelnd und schäumend durch die großen klaffenden Lecks, deren Abdichtung so schwer fiel. Langsam liefen zwei Räume voll. Die Dschunke sank tiefer, aber sie würde nicht untergehen, das stand fest. Die anderen Schotten hielten dem Wasserdruck stand. Sie konnten, wenn auch- nur langsam und voller Mühe, zurücksegeln. Aber diese Schande! Kapitän Owang ging in seine Kammer. Dort blieb er vor den Bildern seiner Ahnen stumm stehen und betrachtete lange den kleinen Miniaturschrein aus gelacktem Holz. Er empfahl seine eine Seele Shang-Ti, die andere dem Kriegsgott Kuan Yü, der ihn so schmählich im Stich gelassen hatte.
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Dann griff er nach dem kurzen Krummschwert, setzte es auf die Stelle, wo sich sein Herz befand, griff mit beiden Händen nach dem Knauf des Schwertes und stieß es sich mit einem Ruck in den Körper. Schwer stürzte er zu Boden und war Augenblicke später tot. * Noch am selben Tag erfuhr der Kuan von Shanghai alles, was sich draußen auf See abgespielt hatte. „Owang hat sich selbst durch das Schwert gerichtet“, sagte er zu seinem Nan, der den untersten Rang des T'ang-Adels bekleidete, und dessen Einkünfte aus den Steuern von dreihundert Familien bestand. Der Nan war Regierender Minister der Wasserwohnviertel. Zudem unterstand ihm der präzise arbeitende und funktionierende Nachrichtendienst. Der Nan unterhielt allein in Shanghai mehr als zweitausend Spitzel und Zuträger, die ihn über alles unterrichteten, was überhaupt wissenswert war. Er nickte, und wenn er sprach, hatte er eine eigenartige Angewohnheit, die den Kuan immer wieder irritierte. Er stellte sich bis auf drei Schritte vor den Kuan, vollführte einen tiefen Kotau und ging dann zurück, das Gesicht aber stets dem Kuan zugewandt. Während er zurückging, redete er, bis er sich etwa zehn Schritte vom Kuan entfernt hatte. Dadurch wurde seine Stimme unwillkürlich lauter. Dann ging er dem Kuan wieder entgegen, redete fortwährend und schwieg erst, wenn er wieder drei Schritte vor dem Kuan stand. „Ich hörte es, großer Kuan“, sagte er, wobei er sich entfernte. „Ich bin erschienen, um es dir mitzuteilen. Owang hat die Soldaten des Gelben Meeres beschämt, er tat gut daran: sich zu entleiben.“ Jetzt hatte der Nan den zehnten Schritt erreicht und blieb stehen. Eine tiefe Verbeugung aus der Ferne erfolgte.
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„Wenn es dem großen Kuan recht ist, werde ich meine kümmerlichen bescheidenen Dienste anbieten und meine unwürdigen Diener mit der Botschaft losschicken, man möge auf die Fremden Teufel achten.“ Sieben Schritte waren abgelaufen, der Nan stand drei Schritte vor seinem Herrn und hörte auf zu sprechen. Wie er das immer wieder schaffte, blieb dem Kuan ein Rätsel, das ihn stets aufs neue verwirrte. Der Kuan selbst war ein Mann weniger Worte, er lehnte auch die blumenreiche Ausdrucksweise ab und begnügte sich mit knappen Redensarten. „Ich überlege, ob wir die anderen Fremden Teufel, die sich noch im Hafen befinden, nicht ins Gefängnis werfen, auspeitschen lassen und sie später zur Arbeit an der großen Mauer verurteilen.“ Der Nan nahm seine Wanderung wieder auf. „Ach ja“; sagte der Kuan schnell, „die Botschaft. Lasse sie bis in die nördlichsten Provinzen verbreiten.“ „Ich werde dir dienen, großer Kuan!“ „Wolltest du noch etwas sagen?“ „Fremde Teufel sind und bleiben Fremde Teufel“, sagte der Nan mit fester Stimme. „Aber es ist mir zugetragen worden, daß sich kein einziger dieser fremden Teufel an der Schlacht im Hafen beteiligt hat. Auch hat sich keine Hand gerührt, um die angeklagte und zum Tode verurteilte Piratin zu befreien.“ „Ist das sicher?“ „Es ist ganz sicher, großer Kuan. Meine unwürdigen Beobachter irren sich nicht.“ Der Kuan seufzte. Dann hob er matt die Hand und rettete mit dieser Bewegung eine ganze Schiffsmannschaft vor unmenschlich harter Strafe, ohne sich etwas dabei zu denken. „Sie mögen hier verweilen“, sagte er. „Aber sie dürfen den Hafen nicht verlassen. Nun geh und sorge dafür, daß die nördlichen Provinzen alles erfahren. Der jeweilige Mandarin wird dann das veranlassen, was er für richtig hält.“
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Damit war der Nan entlassen. Er verbeugte sich tief und verließ den Raum, indem er rückwärts hinausging. 2. Auf der „Isabella“ wußte von diesen Vorgängen niemand etwas. Man wußte weder, daß der Kapitän der Kriegsdschunke sich selbst gerichtet hatte, noch daß Thorfin Njal und seine Männer nur ganz knapp einem sicheren Todesurteil entgangen waren. Selbst Siri-Tong erlebte eine Überraschung. Die Rote Korsarin sah blaß aus. Sie hatte in den letzten Tagen viel gelitten, und immer noch stand vor ihrem geistigen Auge die fürchterliche Szene auf dem! Hinrichtungs-Podest, als der glatzköpfige Chinesenhenker das Schwert erhoben hatte, um ihr den Kopf vom Rumpf zu trennen. Da hatte sie die verkleideten Seewölfe in der Menge entdeckt, jedoch mit ihrer Befreiung niemals mehr gerechnet. Als dann der Henker leblos und mit einem Pfeil im Hals zu Boden sank, hatte sie das alles für einen unwirklichen Traum gehalten. Die turbulente Flucht, die Explosionen am Hafen, das alles fiel ihr noch einmal ein, dann, gerade eben, das Gefecht mit der Kriegsdschunke. Es war reichlich viel, und in der Hast, in der das alles ablief, hatte sich niemand um sie kümmern können. Sie fühlte sich elend und wollte ein wenig ausruhen, um später an Deck zu gehen, sobald sich die Gemüter etwas beruhigt hatten. Sie öffnete die Tür der Gästekammer, trat mit gesenktem Kopf ein und blieb dann stehen. Auf der Koje saß still und in sich gekehrt ein Mädchen von atemberaubender Schönheit. Das registrierte die Rote Korsarin auf den ersten Blick. Ihre Schönheit und die Anmut ihres Gesichts wurde auch nicht durch das grobe Baumwollhemd und die Leinenhose geschmälert.
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Wenn man das junge Mädchen flüchtig betrachtete, konnte man sie auf den ersten Blick für einen zierlichen Schiffsjungen halten. Siri-Tong war so fassungslos, daß sie kein Wort hervorbrachte. Sie empfand ein ganz klein wenig Eifersucht, und es gab ihrem Herzen einen leichten Stich, als sich das Mädchen von der Koje erhob, eine zierliche Verbeugung ausführte und scheu lächelte. „Wer — wer bist du?“ fragte die Rote Korsarin auf Chinesisch. Das zarte Mädchen verneigte sich wieder. Ihre Stimme klang so fein und hell' wie das zarte Läuten einer Jadeglocke im Abendwind. „Ich bin Ch'ing-chao Li-Hsia. Ich habe viel von dir gehört.“ „Wie bist du auf dieses Schiff gekommen?“ „Flüssiges Licht“ lächelte schmerzlich. „Es war reiner Zufall, Siri-Tong.“ „Du kennst meinen Namen und hast viel von mir gehört. Hat der Kapitän dir von mir erzählt?“ „Ja, der hohe Herr, dem ich mein Leben zu verdanken habe. Ich war als Flußbraut für Ho-Po ausersehen. aber der Graf des Gelben Flusses nahm das Opfer nicht, und so trieb meine Brautstatt ins Meer hinaus, wo der hohe Herr mich fand.“ Siri-Tong, mit den alten chinesischen Bräuchen noch gut vertraut, zeigte sich erschüttert. Sie ließ sich neben „Flüssiges Licht“ auf dem Rand der Koje nieder und sah sie aus ihren Mandelaugen an. „Dieser alte Brauch ist doch schon lange verboten worden. Wer ihn fortführt, wird hart bestraft. Woher stammst du?“ „Auch Xiapu.“ „Erzähle mir deine Geschichte“, bat SiriTong. „Flüssiges Licht“ erzählte bereitwillig. Sie ließ kaum eine Einzelheit aus, allerdings verschwieg sie der Korsarin den Besuch bei ihrer Mutter und erwähnte auch in ihrer Bescheidenheit nichts davon, daß sie es war, die zur Rettung Siri-Tongs entscheidend beigetragen hatte. Dann sah sie sie lange an und erhob sich.
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„Seit ich an Bord bin, habe ich dich noch nicht gesehen“, sagte sie verwundert. „Hat man dir befohlen, hier unten zu bleiben?“ „Der hohe Herr hat es so gewollt, um meiner Sicherheit willen, hat er gesagt.“ Zum ersten Mal seit langer Zeit lachte SiriTong leise. Sie fühlte sich wieder frei, sie war dem Henker entronnen, und das Leben lag wieder vor ihr. Nur an Thorfin Njal und ihre Besatzung dachte sie mit Trauer im Herzen zurück. Die lagen jetzt in Shanghai und waren bestimmt den Repressalien der Regierung ausgesetzt. Und sie war nicht in der Lage, eine Hand für die Crew zu rühren. Das bedrückte sie sehr. „Geh mit an Deck, wenn du willst“, sagte sie, „wir haben augenblicklich von den Soldaten nichts zu befürchten.“ Flüssiges Licht schüttelte lächelnd den Kopf. „Wenn du gestattest, bleibe ich hier. Du und der hohe Herr habt euch sicherlich viel zu erzählen:“ Siri-Tong nickte dem Mädchen zu, und aus einem Impuls herausstrich sie ihr sanft über die schwarzen Haare. Dann ging sie nach oben. Ein freudiges Gebrüll aus rauhen Kehlen ließ sie zusammenzucken. Die Seewölfe empfingen sie mit lauten Freudenrufen. Die sonst so harte Korsarin konnte es nicht vermeiden, daß zwei Tränen aus ihren Augen rollten. Sie war zutiefst gerührt, daß diese harten Kerle alles gewagt hatten, um sie zu retten. Sie gab jedem einzelnen die Hand und einen Klaps auf die Schultern und bedankte sich. Dann erst hatte sie Zeit, den Niedergang aufzuentern und zu Hasard zu gehen, der an der Five-Rail lehnte und unverschämt und frech grinste. „Fühlst du dich nicht wie neugeboren?“ fragte er nach der Begrüßung. Etwas wie eine kleine unsichtbare Barriere umgab den Seewolf, das fühlte die Korsarin überdeutlich. Vielleicht war auch zuviel passiert, und sie mußte sich erst wieder einleben, mußte die bestialischen Bambuskäfige und den Kerker von Shanghai vergessen.
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Sie lachte erleichtert und nickte. „Ja, so fühle ich mich. Wie habt ihr nur herausgefunden, daß ich auf einer Dschunke nach Shanghai gebracht wurde? Für Fremde ist das fast unmöglich!“ „Deine Rettung hast du einzig und allein der Flußbraut zu verdanken“, sagte Hasard ernst. „Ohne sie hätten wir gar nichts unternehmen können. Sie war es, die alles ausgekundschaftet und sich deinetwegen tagelang herumgetrieben hat, um Informationen zu sammeln und den Diener des Mandarins auszuhorchen. Sie hält sich in der Gästekammer auf.“ „Ich weiß“, sagte Siri-Tong tonlos, „ich habe sie eben kennengelernt, aber sie hat davon kein einziges Wort erwähnt.“ „Sie ist eben sehr bescheiden und zurückhaltend. Sie versucht immer, ihre Taten herunterzuspielen oder sie nicht zu erwähnen.“ „Ein phantastisches Mädchen“; sagte SiriTong leise. „Das habe ich natürlich nicht gewußt. Ich werde mich bei ihr bedanken und sie später reich belohnen für ihre Mühen und Ängste, die sie ausgestanden hat.“ Sie nickte Hasard zu und lehnte sich mit dem Rücken ebenfalls an die Five Rail. Ihr Blick suchte seine Augen. „Ich danke dir für alles, Hasard“, sagte sie schlicht. „Vergiß es, noch sind wir den Ärger nicht los, eine Menge Unannehmlichkeiten liegen noch vor uns. Ich hoffe nur, daß Thorfin in Shanghai keinen Ärger kriegt.“ „Das hoffe ich auch, ich werde zu ShangTi, dem Hauptgott beten, damit alles gut geht.“ „Eigentlich müßte ich dir jetzt eine Predigt halten, und zwar eine verdammt harte. Aber ich habe Thorfin meine Meinung gesagt, und jetzt ist der Fall für mich erledigt. Wenden wir uns lieber erfreulichen Dingen zu. Ich soll dir herzliche Grüße ausrichten, von jemandem aus Shanghai. Hat ,Flüssiges Licht' dir das nicht erzählt'? Auch sie war es wieder, die das alles herausgefunden hat.“ „Grüße an mich?“ fragte die Korsarin, und ihre mandelförmigen Augen wurden ganz
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schmal, als sie überlegte. Ja, es gab jemanden in Shanghai, aber das lag schon Jahre zurück und war wie ein lange verflogener Traum. Ihre Mutter. die sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, von der sie nicht einmal wußte, ob sie noch lebte. Aber die alte Frau würde Hasard wohl schwerlich Grüße ausrichten. „Wer ist es?“ fragte sie beklommen. Hasard lachte laut, seine weißen Zähne blitzten. „Ihr Vorname, so habe ich mir von .Flüssiges Licht' erzählen lassen. bedeutet übersetzt: Blumenschatten hinter dem Bambusvorhang.“ Siri-Tong zuckte zusammen. Hasard sah, wie es in ihrem Gesicht arbeitete und ihre Schultern zu zucken begannen, als würde sie gleich losschluchzen. „Meine Mutter!“ rief sie fassungslos. „Du hast sie gefunden? Wie geht es ihr, wo lebt sie?“ Die Worte sprudelten aus ihr heraus, wieder schimmerte es in ihren Augen, und sie verbarg das Gesicht in den Händen. „Immer eins nach dem anderen. ,Flüssiges Licht' hat deine Mutter gefunden, sie wohnt im Wasserwohngebiet von Shanghai auf einem alten Sampan. Der alten Frau ging es nicht besonders gut, ich habe ihr Silber in deinem Namen gegeben, damit sie aus dem Elendsviertel in eine bessere Gegend ziehen kann.“ Siri-Tong war tief erschüttert. Einmal über das Mädchen, das sich für sie, die Unbekannte, eingesetzt hatte, dann über die Taten der Seewölfe, die jetzt alle ihretwegen eine Menge Ärger am Hals hatten. Hasard mußte ihr alles über die alte Frau erzählen und schloß mit der Feststellung, daß sie immer noch in dem Glauben lebe, ihre Tochter Siri-Tong würde demnächst Shanghai anlaufen. Von der bevorstehenden Hinrichtung hatte Hasard ebenfalls nichts erwähnt. Nachdem er geendet hatte, atmete die Korsarin tief aus. Ein stilles Leuchten lag auf ihrem Gesicht, tiefe Dankbarkeit und Freude durchströmte sie.
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„Ich habe leider keine Worte, um meinen Dank auszudrücken“, sagte sie nach einer Weile des Schweigens, „aber ich glaube, du verstehst mich auch so. Darf ich fragen, wie es jetzt weitergeht? Was willst du unternehmen?“ Hasard warf einen Blick auf dem Kompaß und nickte dem Rudergänger Dan O'Flynn zu. Dann folgte er mit den Augen dessen Blickrichtung und sah den alten O'Flynn in der Kuhl stehen, der zu ein paar Männern gestenreich sprach. Was er sagte, war allerdings nicht zu verstehen, aber Dan grinste Hasard zu und zeigte auf seinen Alten. „Er behauptet gerade, daß wir zwei Frauen an Bord haben, und das würde uns eine Menge Unglück bringen. Auf der ,Empires of Sea' hätte es das nie gegeben.“ „Woher willst du das wissen?“ fragte Hasard verblüfft. „Ich kenne meinen Alten genau“, sagte Dan trocken. „Soll ich zwei Strich nach Steuerbord laufen?“ „Wir bleiben auf dem Kurs, Dan!“ „Wenn wir in einer halben Stunde einen Wassereinbruch riskieren wollen, meinetwegen“, sagte Dan, breit grinsend. „Wie kommst du darauf?“ Dan blieb kühl und trocken, aber er grinste noch immer. „Auf der chinesischen Seekarte sind die Riffe nicht verzeichnet“, sagte er, „und der Ausguck sieht sie auch noch nicht, er wird sie aber sicher gleich melden. Sie liegen haargenau voraus, und sind allerdings verdammt klein.“ „Du hast anscheinend eingebaute Spektive in den Augen“, sagte Hasard kopfschüttelnd. Er selbst hatte scharfe Augen, die ihn nicht trogen, aber über Dan wunderte er sich immer wieder, denn obwohl er auf die Stelle blickte, die der junge O'Flynn bezeichnete, sah er nichts. Er wußte jedoch, daß er sich auf Dan verlassen konnte. „Zwei Strich Steuerbord, daß er sich auf Dan verlassen konnte. „Zwei Strich Steuerbord, Dan“, sagte er. „Liegt bereits an, Sir!“
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Die Riffe, unsichtbare Barrieren dicht unter der Wasseroberfläche, wurden kurz darauf tatsächlich vom Ausguck gemeldet. Das Wasser kräuselte sich nur ganz gering an der Stelle, doch als die „Isabella“ eine halbe Stunde später daran vorbeisegelte, erkannte man die tückischen Hindernisse deutlicher. Sie hätten ausgereicht, den Rahsegler der Länge nach aufzuschlitzen, so scharfkantig waren sie. Dan ging wieder auf den alten Kurs zurück, sobald sie die Riffe umsegelt hatten. Inzwischen dachte Siri-Tong angestrengt nach, und dann fiel es ihr plötzlich wie Schuppen. von den Augen. Natürlich, dachte sie, sie hatte das Mädchen „Flüssiges Licht im beginnenden Sommer“ schon einmal gesehen. Da war ihr in Shanghai während der Gerichtsverhandlung ein blasser, unscheinbar wirkender chinesischer Schiffsjunge aufgefallen, dem sie nur einen flüchtigen Blick geschenkt hatte. Jetzt wurden ihr die Zusammenhänge klar, und sie entsann sich auch wieder des Gesichts, das sich durch Schminke leicht verändert hatte. Es war dasselbe Gesicht, nur sah es jetzt lieblicher und weicher aus: „Wie es weitergeht?“ fragte Hasard, der seine ganze Aufmerksamkeit dem gefährlichen Riff gewidmet hatte und sich ihr erst jetzt wieder zuwandte. „Wir werden versuchen, dich zu rehabilitieren, und weil das in Shanghai nicht gelang, und man ständig falsche Zeugen aussagen ließ, werden wir es in der Purpurnen Verbotenen Stadt versuchen.“ „Das heißt, wir segeln auf direktem Weg dorthin?“ „Zuerst möchte ich mir diesen Piratenbastard schnappen“, erwiderte Hasard. „Gelingt es uns, ihm die Mumie wieder abzujagen, sieht für dich alles anders aus. Leider hat der Kerl einen großen Vorsprung, und es wird fraglich, ob wir ihn noch kriegen.“ „Khai Wang“, flüsterte sie, und auf ihren Wangen erschienen hektische rote Flecken. „Die Geißel des gelben Meeres! Es ist mir noch etwas schuldig.“
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Haß sprühte aus ihren Augen, wenn sie daran dachte, daß diese Rechnung noch zu begleichen war. „Laß dich nicht wieder von Gefühlen verleiten“, sagte der Seewolf scharf. „Du hast gesehen, wohin es führt, gleich den Kopf zu verlieren. Wir werden ihn schon noch vor die Rohre kriegen, aber das erledigen wir kühl und besonnen und nicht wie blindwütige Hähne, die aufeinander losgehen.“ „Wenn ich an ihn denke, überfällt mich der blanke Haß!“ „Dann denke nicht an ihn!“ Sehr langsam setzte Hasard das Spektiv an die Augen und blickte zum weit entfernten Land hinüber. Schon vorhin hatte er dicht an der Küste Bewegung gesehen, ab und zu eine winzige Staubwolke, aber er hatte ihr keine Beachtung geschenkt. Durch das Spektiv sah er jedoch immer noch keine genaueren Einzelheiten, daher reichte er es an Dan weiter und übernahm solange das Ruder. „Sag mir was du an Land siehst, Dan.“ Dan O'Flynn wischte sich über die Augen, rieb das Okular des Spektivs an seinem Hemd und zog es noch etwas mehr auseinander; Sehr lange blickte er hindurch. „Reiter“, sagte er dann, „vier oder fünf Reiter, wenn mich meine Augen nicht täuschen. Sie reiten auf ziemlich kleinen Pferden, und sie bewegen sich höllisch schnell.“ „Bist du ganz sicher?“ „Ja, es sind Reiter, und die reiten, als wäre der Teufel persönlich hinter ihnen her.“ Diesmal versuchte Hasard noch einmal sein Glück, und nach einer Weile erkannte auch er Einzelheiten, aber er hatte nicht den Adlerblick Dans. der auf diesem Gebiet eine Ausnahme darstellte. Dennoch erkannte er jetzt ebenfalls dahinjagende Tiere, die ab und zu. wenn sie sandigen Boden erreichten. kleine Staubwolken aufwirbelten. Der Trupp, bestehend aus tatsächlich vier oder fünf Tieren, zog eine lange Staubfahne hinter sich her.
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„Was mag das zu bedeuten haben?“ fragte Ben Brighton, der auf dem Achterdeck erschienen war und die letzten Worte noch gehört hatte. „Das- gilt vermutlich uns“, sagte Hasard nachdenklich. „Der Kuan von Shanghai läßt uns höflicherweise in den einzelnen Provinzen anmelden, oder sie bringen unsere Bilder, die man kürzlich von uns anfertigte, voraus. Bis wir da sind, weiß jeder, was wir uns in Shanghai geleistet haben, und sie werden uns jeweils einen überaus freundlichen Empfang bereiten.“ „Ja, mit Reis und Tee und hübschen Mädchen.“ Die Reiter verschwanden und wurden kleiner, bis nur noch eine kleine Staubfahne zu sehen war, die wie ein feiner Schleier über der Küstenlandschaft hing. Hasard sah ihnen besorgt nach. Er hatte dem Kuan von Shanghai die Geschichte der Mumie erzählt, und der Mann wußte jetzt, was sie vorhatten und konnte sich immer rechtzeitig darauf einstellen. Seit sie den Tumult im Hafen angezettelt hatten, war der Kuan sicher nicht mehr gut auf sie zu sprechen. Als die Reiter verschwunden waren, spielte der Seewolf mit dem Gedanken, den Kurs zu wechseln und ins offene Meer zu segeln, aber da lag fremdes Land, wie „Flüssiges Licht“ behauptet hatte, ein Land das niemand von ihnen je gesehen hatte. Der Kurswechsel hatte aber noch einen anderen Haken: Sie würden den Piraten nicht mehr finden, denn der segelte den kürzesten und geradesten Weg nach der Verbotenen Stadt, und der führte ihn immer an der Küste entlang, wenn man jene Bucht aussparte, die auf der Karte verzeichnet war. Also ließ Hasard nach reiflicher Überlegung auf dem alten Kurs Weitersegeln. Die erste frohe Botschaft bescherten ihnen die Reiter knapp zwei Stunden später, als der Kutscher vier riesengroße Schüsseln gekochten Reis fertig hatte.
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„Boote auf Nordkurs voraus!“ meldete Gary Andrews, der im Großmars den Ausguck übernommen hatte. Gary hatte bewußt nicht Dschunken gesagt, denn es waren keine Kriegsdschunken, wie sich herausstellte. Langsam wurden die Boote größer und deutlicher. „Vier Gemüsedschunken“, sagte Ben Brighton. „Die hauen wieder einmal vor uns ab, weil sie annehmen, sie werden geplündert.“ Hasard sah Reisstroh an Bord der tief im Wasser liegenden kleinen Dschunken und erkannte Grünzeug, mit dem die Boote überladen waren. Dadurch, daß sie tief im Wasser lagen, bewegten sie sich nur sehr schwerfällig vom Fleck. Die „Isabella“ segelte genau auf sie zu, und nach einer Weile strebten zwei der Dschunken dem Land zu und wechselten den Kurs. Die anderen beiden wichen leicht nach Steuerbord aus, zur offenen See hin. Zuerst dachte sich niemand etwas dabei, doch der Seewolf wurde mißtrauisch. „Merkwürdig“, sagte er nachdenklich, „ganz offensichtlich haben sie vor uns Angst. Verständlich, daß sie dann dicht unter Land flüchten. Ich frage mich nur, weshalb die beiden anderen das nicht tun. Wenn sie von der Annahme ausgehen, daß wir sie plündern wollen, dann werden die Kapitäne doch nicht so dämlich sein und versuchen, die offene See zu erreichen.” „Völlig richtig“, erwiderte Brighton. „Mit denen stimmt etwas nicht, das Manöver ist zu offensichtlich. Aber was können uns zwei oder vier lausige Gemüsedschunken anhaben!“ „Das weiß ich noch nicht.“ Immer wieder musterten sie die Dschunken, aber auf den plumpen Fahrzeugen gab es nichts Verdächtiges zu sehen. Das einzig Ungewöhnliche auf der einen Dschunke war ein Seemann, der eine Pfeife zwischen den Lippen hielt, faul auf dem Reisstroh lag und graublaue Wolken paffte. „Entfernung etwa sechshundert Yards“, sagte Dan, der auch einen schnellen Blick
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durchs Spektiv warf. Ohne den Kieker sah man den qualmenden Kerl nicht. Hasard spürte, daß etwas auf sie lauerte, wovon sie nicht die geringste Ahnung hatten. An Land rührte sich nichts, Shanghai lag weit hinter ihnen und dieser Küstenstreifen war nicht besiedelt. Es gab keine Hütten, keine Menschen, nicht einmal Reisfelder. Noch einer war das personifizierte Mißtrauen. Der Profos stand zusammen mit Smoky auf der Back, nahe der Blinden und spuckte ab und zu ins Wasser. Die mächtigen Arme hatte er aufgelehnt und aus wachen Augen betrachtete er äußerst mißtrauisch die voraussegelnden Dschunken. Die „Isabella“ schickte sich an, mitten hindurchzusegeln, wie durch eine breite Gasse, so daß die Gemüsedschunken nachher an Backbord und Steuerbord stehen mußten. „Ich weiß nicht, Smoky“, sagte er zu dem Decksältesten, „aber die Art, wie diese Schlitzaugen den Kurs freigeben, gefällt mir ganz und gar nicht. Diese triefäugigen Wasserkäfer tun so, als ob sie Angst haben, aber dann würde der Kerl, der da so qualmt, bestimmt nicht so sicher auf dem vergammelten Gemüse liegen.“ „Verdammt, da hast du recht, Ed! Wenn einer Schiß hat, dann verzieht er sich. Aber was können die schon ausrichten?“ „Vielleicht bewerfen sie uns mit verfaultem Gemüse“, sagte Carberry und spuckte noch einmal über Bord. „No, Sir, da stinkt was“, fügte er hinzu und schob sein Rammkinn angriffslustig vor. „Aber sollen sie nur, wir werden ihnen die Affenärsche schon aufreißen.“ Ohne ein weiteres Wort wandte er Smoky den breiten Rücken zu und ging davon. Carberry hatte die Kuhl noch nicht ganz erreicht, als er auch die Stimme des Seewolfs hörte. Sie klang unnatürlich laut, dachte Ed, aber das mochte daran liegen, daß auf dem Schiff schon seit einer ganzen Weile bleierne Stille lastete. „Laß die Stückpforten hochziehen, Profos!“ rief Hasard.
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„Genau das hatte ich eben vor, Sir!“ erwiderte Ed grimmig lachend. Und für sich murmelte er: „Er hat es also. auch gleich gerochen. Tja, dem Seewolf macht so ein lausiger Kahn eben nichts vor.“ Al Conroy, der in der Pulverkammer gewesen war, erschien an Deck, als er die Kommandos hörte. Er hatte ein paar der ekelhaften Flaschenbomben mitgebracht und übergab sie Ferris Tucker. Immer noch rührte sich auf den Dschunken nichts, sie wichen auch nicht weiter aus, und damit war es klar, daß sie keine Angst hatten, sondern etwas planten. Vielleicht hatten sie von dem Zangenangriff erfahren, dachte Hasard, und wollten ihn auch hier anwenden. Nur – wie stellten die paar Kerle sich das eigentlich vor? Wenn sich hier alles so schnell herumsprach, dann würden sie ja auch mit Sicherheit wissen, was ihnen bevorstand, wenn sie sich auf einen Kampf einließen. „Stückpforten hoch, Männer, und an die Culverinen. Holt Lunten aus der Kombüse und beeilt euch, ihr müden Saftsäcke!“ „Und wer ißt jetzt den Reis?“ fragte der Kutscher empört. „Mach Schneebälle daraus und befeure die Chinesen damit“, erwiderte Blacky. „Vielleicht sind die nur sauer, daß wir ihnen das pappige Zeug wegfressen.“ „Manieren sind das“, sagte der Kutscher indigniert. Dann aber eilte er davon, um Lunten zu holen und glühende Holzkohle in Messingbecken zu füllen. * Fast jeder aus der Crew hatte das Gefühl, es würde gleich etwas passieren, denn hier sah alles viel zu harmlos aus. Am Ruder stand immer noch Dan O'Flynn. Er sah Hasard an und deutete auf die Dschunken. „Wenn wir jetzt ganz überraschend nach Steuerbord abdrehen und den anderen Kerlen die Drehbassen zeigen, können wir die beiden Dschunken schlagartig Untermangeln.“
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Hasard nickte. „Die Idee ist nicht schlecht“, sagte er, „aber wenn es doch harmlose Gemüsekutschen sind und wir uns geirrt haben, dann werden wir immer beliebter im Reich des Großen Chan. Wenn sie etwas planen, erwischen wir sie auch so. Als Ziel für die Culverinen bieten sie sich prächtig an.“ Dan O'Flynn hatte aber noch Einwände. „Angenommen, wir segeln gerade an ihnen vorbei, und sie setzten uns ein paar Brandsätze aufs Schiff! Dann ist es für uns zu spät.“ „Allerdings.“ Hasard war bei diesem Gedanken auch nicht ganz wohl, aber es würde sich ja gleich zeigen. Jetzt lagen sie fast auf gleicher Höhe, und der Bug der „Isabella“ schob sich weiter voran, bis an Backbord und Steuerbord die Dschunken lagen. Bis auf eine waren alle mit drei Mann besetzt, kleinen Gestalten, die keinen einzigen Blick auf den Rahsegler riskierten und so taten, als wäre ihnen alles gleichgültig. So allerdings taten die Seewölfe auch. Auf beiden Seiten lehnten sie am Schanzkleid, glimmende Lunten in der Hand, und die dunklen Schlünde der Culverinen drohten genau zu den Chinesen hinüber. Al Conroy brauchte die Kanonen nicht einmal genau auszurichten. Das Ziel lag genau vor ihren Augen, das hätte der Schiffsjunge Bill nicht mal mit geschlossenen Augen verfehlt. Neben Ferris Tucker lagen die selbstgebauten Flaschen, gefüllt mit kleingehacktem Blei, Eisenstückchen, Steinen und Pulver. Auf halber Höhe segelten sie jetzt, und dann ging es los, überfallartig und blitzschnell. Auf den Dschunken rief der Kerl am Kolderstock etwas, und das Wort hatte kaum seine Lippen verlassen, als es unter dem Gemüse höchst lebendig wurde. Die Schützen kauerten darunter und erhoben sich wie ein Mann. Reisstroh flog zur Seite, gespannte Armbrüste wurden hochgehoben.
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Der Seewolf schätzte mit einem Blick, daß sich auf jeder Dschunke mindestens fünfzehn chinesische Soldaten verborgen hatten, die jetzt in Aktion traten. Ferris Tucker, der Schiffszimmermann, entzündete die Lunte der ersten Flaschenbombe, nahm schnell Maß und schleuderte den Glasbehälter genau in die Mitte des kleinen Schiffes. Dann ging er sofort hinter dem Schanzkleid in Deckung. „Feuer!“ rief Hasard. Gleichzeitig mit dem Feuerbefehl schlug er seine doppelläufige Radschloßpistole an und drückte ab. Er traf einen Armbrustschützen in den Hals, der auf ihn angelegt hatte, und dessen Schuß sich genau in diesem Augenblick löste. Der Eisenbolzen pfiff an Hasard vorbei und knallte ins Ruderhaus. Die Aktionen liefen fast gleichzeitig ab, und von einer Sekunde zur anderen entstand ein Chaos. Tuckers Flaschenbombe explodierte in dem Reisstroh. Ein Hagel aus Bleibrocken flog in alle Richtungen und setzte ein paar der verwirrten Schützen außer Gefecht. Bolzen schlugen in die Beplankung der „Isabella“. Auf Steuerbord brüllte die erste Culverine auf, die sich mit donnerndem Gebrüll entlud. Sofort schlug es drüben ein. Die schwere Kugel zerfetzte das Holz der Dschunke. Ein Splitterregen stob zum Himmel. Das Gemüseschiffchen legte sich hart auf die Seite. Von den Soldaten kam niemand mehr zum Schuß, sie hatten alle Mühe, ihre eigene Haut zu retten. Auf der Backbordseite reagierten die Seewölfe genauso schnell. Auch dort brüllte eine Culverine auf, fand ihr Ziel und zerfetzte das Boot, als bestünde es aus Reisstroh. Hasard. hielt sich immer wieder vor Augen, daß die Kerle jeden Moment ihre gefährlichen Brandsätze zum Einsatz bringen konnten. Soweit durfte es nicht kommen. Er entsann sich Dans Vorschlag und fand ihn jetzt wesentlich besser als vorhin.
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„Hart Steuerbord, Dan!“ rief er. „Halte auf sie zu!“ Wieder flog ein Eisenhagel aus kleinen schimmernden Bolzen zu der „Isabella“ hin, doch die kleinen Pfeile trafen niemanden, und sie hatten auch nicht die Kraft, das Holz des Schanzkleides zu durchschlagen. Dan legte das Ruder um und nahm Kurs auf die Dschunke, die der anderen noch etwas voraus war. Der Mann am Kolderstock schrie wieder etwas, als er den Bug des Rahseglers wie ein Ungetüm heranschäumen sah. Er versuchte auszuweichen, doch die Dschunke war zu plump und schwerfällig. Die dritte Culverine an Backbord donnerte los. Auch diese Kugel fand ihr Ziel und verwandelte das Achterschiff des Gemüsebootes in einen splitternden Trümmerhaufen. Auf den Dschunken herrschten blinde Panik, Angst, kopfloses Durcheinander. _ Verwundete schrien, ein Teil des Reisstrohs ging über Bord und brannte noch auf dem Wasser. Achteraus sank die Dschunke, die den ersten Treffer erhalten hatte. Mit Schlagseite soff sie ab, drehte sich um und zeigte den Kiel, bevor sie auf Tiefe ging. „So sieht eine Dschunke also von unten aus“, sagte der Profos trocken, als er den flachen Boden sah, über dem jetzt winzige Wellen zusammenschlugen. Drei oder vier Männer trieben achtern in der See und schrien sich vor Angst die Kehlen heiser. Jetzt hatte der Bug das Schiffchen erreicht. Der Bursche am Kolderstock war immer noch verzweifelt darum bemüht, aus dem Kurs zu segeln. Vergeblich. Als er sah, daß er es nicht mehr schaffte, ließ er den Kolderstock sausen, sah ich aus angstgeweiteten Augen nach einer anderen Lösung um, fand aber nur die einzig Wahre, die ihm noch blieb. Er setzte zum Hechtsprung an und jumpte über Bord, während die im Gemüse versteckten Soldaten wild um sich schlugen, um seinem heldenhaften Beispiel zu folgen.
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Der Bug des schlanken Rahseglers schob sich auf einen Berg aus Stroh, grünen Pflanzen und Gemüse. Der Anprall schien die „Isabella“ kurz zu stoppen, aber dann überwand sie das Hindernis, hob den Bug noch höher und schob sich auf die Dschunke, die anfangs wie ein Stück Riesenseife zur Seite glitt, dann aber gepackt wurde. Unter dem Vorschiff knirschte und mahlte es, als würden Millionen kleiner Körner in einem Mörser zerrieben. Der Mast der Dschunke mangelte unter, und schoß gleich darauf abgebrochen wie ein riesiger Pfeil aus dem Wasser. Der traurige Rest, der an beiden Seiten der „Isabella“ aus dem Wasser heraustrieb, bestand nur noch aus zerfetzten Planken, auftreibendem Gemüse und schreienden Soldaten, die sich an alles klammerten, was sie im Wasser entdeckten. Die Dschunken waren schwer angeschlagen, teilweise auf Tiefe gegangen oder zerfetzt. Es blieb nur noch eine übrig, die ihr Heil jetzt in der Flucht suchte. Aber immer noch bestand die Möglichkeit, daß sie auf der flüchtenden Dschunke ihre Brandsätze abfeuerten, und das Risiko wollte der Seewolf nicht eingehen. Er war von diesen trojanischen Wasserpferden bedient. „Hart Backbordruder, Dan. Wir rammen sie, mangeln sie aber nicht unter. Verpaß ihr eins mit dem Heck, und sobald jemand sich zur Wehr setzt oder feuert, voll mit der Culverine drauf!“ Die letzten Worte galten Al Conroy, der schweigend nickte. Wieder fiel die „Isabella“ ab, diesmal so weit nach Backbord, wie der Wind es zuließ. Hasard blickte schnell zurück. Hinter dem Schiff sah es aus, als wäre ein ganzer Landstrich untergegangen. Treibholz, Gemüse, ein Kolderstock, Teile von zerfetzten Mattensegeln und Soldaten trieben in der See. Ein kunterbunter Haufen von Unrat, wenn man flüchtig hinsah. Die fünfzehn Soldaten auf der letzten noch intakten Dschunke waren wie gelähmt. Sie
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hatten sich von dem plötzlichen Überfall etwas ganz anderes versprochen, eine Überraschung, die es in sich hatte, aber keine so schmähliche Niederlage. Genau das Gegenteil war eingetreten, die Überraschten waren sie diesmal gewesen, denn die Fremden Teufel schienen es schon .lange vorher gewußt zu haben. Der Dschunkenkapitän sah das Manöver, ließ die „Isabella“ ruhig heransegeln und wollte dann nach Steuerbord ausweichen, um dem drohenden Anprall zu entgehen. Damit hatte Hasard natürlich gerechnet. Untermangeln konnten sie die Dschunke nicht mehr, aber das nahm der Kapitän wahrscheinlich doch noch an. „Irren ist menschlich“, sagte Hasard, „so was passiert schließlich jedem einmal. Zu spät, mein Sohn!“ Der Kapitän hob vor Wut, Angst und Enttäuschung die Faust und brüllte etwas herüber, während die Soldaten wie Riesenameisen aus dem Grünzeug krochen, ihre Armbrüste wegwarfen und nur noch daran dachten, wie sie heil entwischen konnten. Dan legte erneut Ruder, und während der Bug gehorsam herumschwang, traf die achtere Backbordseite die Dschunke mit großer Wucht. Eine riesige Faust schleuderte sie knirschend und krachend zur Seite und ließ sie schwerfällig auf dem Wasser pendeln. Der Anprall hätte genügt, um die Soldaten blitzartig über Bord zu schleudern. Ein Teil der Deckslast folgte ihnen, nur der Kapitän hielt sich noch zitternd und vor Wut heulend am Kolderstock fest. Dann rauschte die „Isabella“ vorüber. Der Profos lehnte impertinent grinsend am Schanzkleid, hatte die Lunte einer Flaschenbombe entzündet und ließ das Teufelsei mit fast liebevoller Besorgtheit .und spitzen Fingern in den Rest der Ladung fallen. „Gleich knallt's noch einmal, du Sohn einer milchlosen Hure“, sagte er freundlich und zog sich zurück, als ein Splitterregen die dünne Beplankung oberhalb der Wasserlinie in ein Sieb verwandelte und das Stroh in Brand setzte.
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Es brannte jedoch nicht lange, denn durch die eine Planke, die durch den Anprall zerbrochen war, schoß Wasser herein und erstickte das Feuer. Hasard sah sich nach der angeknacksten Dschunke und den Leuten um, die weit achteraus im Wasser trieben. Nein, er würde keinen dieser hinterhältigen Kerle an Bord nehmen und an Land bringen. Das fiel ihm nicht im Traum ein. Die. Dschunke würde es bis zum Land schaffen, das stand fest. Sollten die Kerle doch schwimmen! Die ersten Anstalten dazu unternahmen sie bereits, denn aus dem auf dem Wasser treibenden Grünzeug lösten sich dunkle Punkte und schwammen auf die Dschunke zu. Al Conroy ließ die Rohre wischen, um die Culverinen wieder feuerbereit zu haben, falls es einen neuen Zwischenfall gab. Siri-Tong war an Deck erschienen, nur „Flüssiges Licht“ hatte sich auf Hasards Anordnung nicht sehen lassen. Der Seewolf wollte nicht, daß man sie entdeckte. Sie konnte unter Umständen später die größten Schwierigkeiten kriegen, falls sie jemand durch Zufall wiedererkannte. Der Zwischenfall hatte auf der „Isabella“ keine Verletzten gekostet, es hatte nicht den geringsten Kratzer gegeben, denn die Überraschung war völlig gelungen. Hasard blickte wieder zum Land hin, sah, wie die Dschunke die in der See treibenden Leute auffischte und ließ Dan auf den alten Kurs zurückgehen. „Sie sind wirklich verdammt schnell, diese Chinesen“, sagte er nicht ohne Anerkennung zu Ben Brighton. „Kaum waren die Reiter verschwunden, hat man schon blitzschnell reagiert, ein paar Dschunken bemannt und für uns eine Falle aufgebaut. Ich wette, daß morgen der ganze Küstenstrich bis in den Norden hinauf von unserer Ankunft unterrichtet ist.“ „Ja leider”, sagte Ben, „und natürlich werden die Kerle sich immer wieder etwas einfallen lassen, um uns zu schnappen.“ „Ständige Feuerbereitschaft, Ben“, schärfte der Seewolf seinem Bootsmann ein. „Wir
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müssen auch nachts damit rechnen, daß man uns angreift oder in eine Falle lockt.“ „Ich lasse alle Stationen doppelt besetzen, und die Ausgucks werden pausenlos die Augen offenhalten.“ Etwas später brüllte der Kutscher lautstark, was denn nun los sei mit dem Essen, und ob vielleicht einer der edlen Herren Lust auf Reis hätte. Wenn nicht, sollten sie sich in Zukunft ihren Kram allein kochen. Die „Isabella“ blieb auf ihrem Kurs, und segelte in Küstennähe weiter dahin. Die Jagd auf den Piraten Khai Wang nahm ihren Lauf. 3. Fei Yen, Khai Wangs „Fliegende Schwalbe“ segelte mit Vollzeug nach Norden. In dieser Nacht hatte der Pirat, den sie die Geißel des Gelben Meeres nannten, ausgesprochenes Pech. Als es dämmerte, befand sich die „Fliegende Schwalbe“ auf der Höhe von Binhai in der Provinz Jiangsu. Das Wasser war fast schwarz, durchsetzt mit weißen Schaumspritzern, die vom Bug der Dreimastdschunke hochstoben und sich wie ein Schleier über das Vorschiff zogen. Khai Wang hatte sich über seinen tätowierten Oberkörper eine gelbseidene Jacke gezogen, die an den Hüften endete und von einem Gürtel zusammengehalten wurde. Er stand auf dem Achterdeck neben dem Rudergänger und prüfte im Schein einer verzierten Öllampe noch einmal den Kurs auf den Seekarten. Wu, sein verschlagener und hinterhältiger Steuermann, stand daneben und piesackte den Rudergänger, weil das Kielwasser der „Fliegenden Schwalbe“ keinen geraden Strich bildete. Der Mann am Ruder schwitzte Blut und Wasser, wenn Wu ihm aus schmalen Augen über die Schulter sah. Jeden Augenblick war er auf einen der hinterhältigen Tritte gefaßt, mit denen Wu ihn zu traktieren pflegte, und er erhielt
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diese Tritte auch immer in harter Regelmäßigkeit. Auch jetzt zuckte er wieder zusammen, als Wu ihm in die Kniekehlen trat und er die Balance verlor. „Du Sohn einer Hündin wirst es noch lernen“, flüsterte Wu, ganz nahe an dem Gesicht des Rudergängers. „Und wenn du es bis morgen immer noch nicht gelernt hast, werde ich mich mit der Peitsche hinter dich stellen.“ Dadurch, daß der Tritt in die Kniekehlen den Rudergänger vom Kolderstock weggeschleudert hatte, geriet die „Fliegende Schwalbe“ leicht aus dem Kurs. „Schon wieder“, sagte Wu erbost und schlug dem Rudergänger, der eifrig nach dem Kolderstock grapschte, die flache Hand auf den Hinterkopf. „Hoher Herr“, winselte der Rudergänger und meinte damit Khai Wang, der die Karte studierte. Aber für Khai Wang war der Rudergänger Luft, ein einfacher Mann, der es nicht wert war, daß man ihm auch nur einen einzigen Augenblick Beachtung schenkte. Der Pirat war mit seinen Berechnungen fertig und wandte sich an seinen Steuermann Wu. „Wenn die Stunde der Ziege vollendet ist, dann sagst du diesem Hundling, daß er den Kurs wechselt. Wir segeln auf Nordkurs bis Chengshanjiao, runden und laufen von dort weiter auf Ostkurs. Laß ihn die ganze Nacht das Schiff steuern und kontrolliere ihn jede halbe Stunde.“ „Es geschieht, wie Ihr befehlt, hoher Herr.“ „Ich werde mich ausruhen“, sagte Khai Wang noch, ehe er nach achtern in seine geräumige Kammer ging. Der Mann am Ruder hatte die Worte vernommen. Er verspürte Angst vor Wu, dem es Freude bereitete, ihn zu schikanieren. Vor zwei Tagen war er noch auf einer Gemüsedschunke gefahren, doch weil Khai Wang einen neuen Rudergänger brauchte, hatten sie seine Dschunke gestoppt, die zwei Besatzungsmitglieder erschlagen und die Dschunke versenkt. Ihn hatten sie als Rudergänger gepreßt, aber er
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verstand es nicht, ein so großes Schiff blitzschnell zu bedienen, und war auch nicht in der Lage, den Kurs ruhig zu halten. Daran hatte Wu seinen ganz besonderen Spaß. Die Nacht brach an, und der Rudergänger stand zitternd am Kolderstock, blickte auf den Kompaß und wünschte sehnlichst, der Wind möge sich ebenso zur Ruhe begeben wie Khai Wang. Aber der Wind tat ihm nicht den Gefallen. Er wehte handig. Außerdem erlosch etwas später die Öllampe, die den Kompaß schwach beleuchtete, und der Rudergänger konnte den Kurs nicht ablesen.. Er rief nach Wu und zitterte. „Die Lampe ist erloschen, Steuermann“, sagte er kläglich. Er sah Wu nur als Schatten, doch das hinterhältige Grinsen entging ihm nicht. „Das hast du absichtlich getan, du Hund!“ brüllte Wu und verpaßte dem Rudergänger zwei harte Schläge. „Du willst das Schiff nicht steuern, ich habe es schon lange bemerkt, nur deshalb hast du die Lampe verlöschen lassen. Aber das First du büßen!“ Wu nahm die Lampe, füllte aber nur so viel Öl auf, daß sie schon ein paar Minuten später wieder erlöschen würde. Das flackernde Licht warf zuckende Schatten auf seinen höhnisch verzogenen Mund und ließ seine Augen fast geschlossen erscheinen. „Wenn das noch einmal passiert, wirst du den Tag deiner Geburt verfluchen“, sagte er. Aus einer anderen winzigen Kanne goß er unbemerkt von dem Rudergänger etwas Öl auf die Planken. Dann trat er ihm wieder in die Kniekehlen. „Ich werde dich kontrollieren“, versprach er, „so wie der hohe Herr es befohlen hat. Und wenn die Lampe wieder ausgeht und du den Kurs nicht hältst, dann wird es dir so ergehen wie dem anderen Rudergänger, der auch nicht steuern konnte.“ Er brachte sein hämisch grinsendes Gesicht wieder ganz nahe an den schlotternden Mann heran.
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„Weißt du, wie es dem ergangen ist, du Bastard?“ „Nein Steuermann.” „Er fiel nachts über Bord und verfing sich im Ruder. Er starb einen ganzen Tag lang. Haha, paß nur auf, daß du nicht auch über Bord fällst“, sagte er lachend. Der Rudergänger zuckte zusammen, als Wu verschwand. Er bemühte sich redlich, das Schiff auf Kurs zu halten. Immer wieder sah er schattenhaft den Steuermann auftauchen, erblickte den Ausguck und starrte dann mit brennenden Augen auf den Kompaß. Die Nadel wies nach Norden, aber dieser Kompaß hatte eine andere Anordnung als sein eigener auf der Dschunke, der ohnehin nur ein lächerlich kleines Ding war. Trotz der Kühle der Nacht rannen ihm Sturzbäche Schweiß über den Körper, und immer wieder wischte er sich mit fahrigen Bewegungen die salzige Brühe aus dem Gesicht. Ab und zu blickte er nach achtern und prüfte, ob das Kielwasser noch die schnurgerade Linie bildete. Er fand sie etwas gekrümmt und versuchte vorsichtig seinen Fehler zu korrigieren, als er Wus Stimme hinter sich hörte. „Ich sehe, du tust es absichtlich. Das Kielwasser muß so gerade sein wie der Schlag mit diesem Stock!' Der brennende Schmerz auf seinem Rücken entlockte dem Rudergänger einen leisen Schrei. Genau zwischen die Schulterblätter hatte der Steuermann geschlagen. Bevor sein Stöhnen verklang, erhielt er den zweiten Schlag. Dann verschwand Wu so lautlos in der Dunkelheit, wie er erschienen war, und ließ sich nicht mehr blicken. Die beiden Schläge nahm der Rudergänger noch hin, aber als der Docht der Kompaßlampe zu flackern begann und immer kleiner wurde, erfaßte ihn Panik. Das verdammte Öl konnte doch nicht schon wieder verbraucht sein, dachte er. Das hielt doch mindestens die ganze Nacht.
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In seiner Angst schrie er nach Wu, obwohl ihm das wieder ein paar Hiebe einbringen würde. Wu erschien gerade in dem Augenblick, als die Lampe zum zweiten Mal erlosch. „Ich kann nichts dafür!“ schrie der Rudergänger jammernd. „Es ist nicht meine Schuld, wirklich nicht! Vielleicht läuft Öl aus der Lampe, sie ist undicht.“ „Du Hund!“ brüllte Wu. „Du willst uns ins Verderben führen! Du weißt genau, daß es hier Klippen gibt, und das nutzt du zu deinem Vorteil aus. Die Lampe ist dicht, du hast das Öl absichtlich verschüttet. Warte, du hinterhältiger Teufel!“ Er schlug zu, wieder und wieder, aber der Rudergänger ließ sich fallen und kroch auf allen vieren auf den Planken herum, um den harten Schlägen des Mannes auszuweichen. Das stachelte Wus Ärger nur noch mehr an. Der Kerl wollte sich nicht schlagen lassen und flüchtete einfach. In seiner Angst klammerte sich der Rudergänger an den Kolderstock, und als Wu erneut nach ihm greifen wollte, stolperte er in der Dunkelheit und riß den Kolderstock herum. Er kriegte den Mann zu fassen und ließ einen Hagel von Schlägen auf ihn los. In diesem Moment schrie die gellende Stimme des Ausgucks: „Steuerbord Ruder, wir laufen auf!“ Es war schon zu spät. Durch „Fliegende Schwalbe“ lief zuerst ein feines Zittern, dann krachte es, das Vorschiff bäumte sich auf, als wolle es in den Himmel steigen, und dann knirschte es auch mittschiffs. Ein letzter Ruck und mit harter Krängung nach Backbord blieb das Schiff liegen wie von einer Riesenfaust gestoppt. * Khai Wang hatte schon geschlafen, als das Schiff wie ein störrischer Gaul bockte. Ein harter Ruck warf ihn aus der Koje, und als er sich aufrappelte, merkte er, daß „Fliegende Schwalbe“ leicht auf der Seite lag.
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Kaum war das Geräusch von Bersten, Schurren und Krachen verebbt, da folgte ein neues. Unten hörte es sich so an, als würde ein tonnenschwerer Hammer auf das Deck schlagen. Das dumpfe Poltern durchdrang das Schiff bis in den letzten Nagel. Aufgelaufen, dachte Khai Wang, und durch die harte Erschütterung hatte es auch einen der Masten erwischt, der mit seiner Segellast an Deck gestürzt war. Vor ohnmächtiger Wut knirschte er mit den Zähnen, dann tastete er sich an Deck. Mittlerweile hatten die Männer Öllampen entzündet, und als Khai Wang erschien, hatte er zuerst das Gefühl, sich auf einem alten Wrack zu befinden. Er kannte sein eigenes Schiff nicht mehr wieder. Der mittlere Mast war zwei Yards hoch über dem Deck abgesplittert, zerfetztes Segeltuch. Tauwerk, in dem man sich nicht mehr auskannte, lag in einem wüsten Haufen an Deck herum. Es herrschte ein heilloses Durcheinander. Männer brüllten durcheinander. Der Mann, der die Wache im Ausguck hatte, lag seltsam verdreht auf den Schiffsplanken. Der herabfallende Mast hatte ihn erschlagen. „Sei froh“, sagte Khai Wang leise, „sonst hätte ich dich umgebracht.“ Vorerst gab er dem Ausguck die Schuld, Weil er die Klippen zu spät gemeldet hatte. Er hastete weiter, bis er sich durch das Knäuel aus Segeln, Tauen und Blöcken gekämpft hatte. Bis zum Achterdeck waren die bambusverstärkten Mattensegel geflogen. Er hatte Mühe sich bei dieser Schräglage auf den Beinen zu halten. Immer noch entzündeten ein paar Männer neue Fackeln und Öllampen. Er fand Wu, der außer sich vor Wut war und mit verdrehten Augen pausenlos auf einen Mann einhieb, der längst reglos an Deck lag und kein Lebenszeichen mehr von sich gab. „Wie ist das passiert?“ schrie Khai Wang seinen Steuermann an. Der schien wie aus einem Traum zu erwachen.
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„Dieser Hund war es“, sagte er schwer atmend, „er hat das Schiff auf die Klippen gesetzt, der Ausguck kann es bestätigen.“ Khai Wang trat dem Rudergänger in die Seite. Der Mann war nicht tot, denn er zuckte zusammen. „Steh auf!“ befahl er kalt und ruhig. Der Rudergänger wälzte sich stöhnend herum, aber als die kalte Stimme die Aufforderung ein zweites Mal wiederholte, nahm er alle Kraft zusammen und erhob sich mühsam. Er sah nur noch einen einzigen Ausweg. Wu würde ihm natürlich die Schuld geben und ihn hängen lassen. Das war so sicher, wie sie ihn auf dieses Schiff gepreßt hatten. Er taumelte einen Schritt zur Seite, starrte aus blutunterlaufenen Augen wild um sich und raste los, um in einem großen Bogen über Bord zu hechten. Aber durch die Schräglage des Schiffes stürzte er schon nach dem ersten Schritt, rutschte weiter bis an das tiefer liegende Bord und versuchte noch einmal, sich außenbords zu schwingen. Wus kräftige Fäuste packten ihn und zerrten ihn zurück. „Das ist der beste Beweis für seine Schuld“, sagte Wu, „erst das Schiff auf die Klippen setzen und dann abhauen. So will er sich an uns rächen!“ Männer standen auf dem Achterdeck und sahen zu. Khai Wang drehte sich gemessen nach seinem Steuermann um. „Was tun die Männer hier, Wu? Haben sie nichts zu tun, gibt es keine Arbeit? Das Schiff ist leckgeschlagen, der Mast liegt an Deck.“ „Verzeihung, hoher Herr!“ Wu prügelte in sinnlosem Zorn auf die umstehenden Männer ein und trieb sie mit Faustschlägen vor sich her. „An die Arbeit, ihr Hurensöhne. Leichtert das Schiff, räumt das Deck auf und ersetzt den Mast. Wen ich beim Faulenzen erwische, den schlage ich zum Krüppel!“ Verstört gingen die Männer an ihre ungewohnte Arbeit, von der sie ohnehin nicht viel verstanden. Bisher hatten sie sich
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in einer Situation wie dieser noch nicht befunden. Khai Wang konzentrierte sich ganz auf den Rudergänger und seinen Steuermann. Seine anfängliche Erregung hatte sich gelegt und war einer erschreckenden Kälte gewichen. Jetzt war er noch gefährlicher als sonst. „Erzähle!“ forderte er Wu auf. „Er steuerte einen falschen Kurs, hoher Herr“, sagte Wu unterwürfig, „und als ich ihn darauf hinwies, beschimpfte er mich und trat nach mir. Da schlug ich ihn.“ „Das ist nicht wahr“, winselte der Rudergänger. „Nun gut“, sagte Wu ungerührt, „ich schlug ihn also nicht, aber ich behielt ihn im Auge. Etwas später sah ich, wie er nach der Kompaßlampe griff, sie aufschraubte und etwas von ihrem Inhalt auf die Decksplanken goß. Kurz danach erlosch die Lampe.“ „Auch das ist nicht wahr, hoher Herr!“ schrie der Rudergänger. „Halt den Mund, du Kröte! Oder willst du etwa behaupten, daß mich mein Steuermann belügt? Erzähle weiter!“ „Wir gerieten aus dem Kurs, weil der Kerl den Kompaß nicht mehr ablesen konnte. Ich ging und holte neues Öl, doch nach einer Weile passierte das gleiche. Wieder erlosch die Lampe, weil er das Öl vergossen hatte. Bevor ich etwas unternehmen konnte, jagte dieser Hundesohn das Schiff auf die Klippen. Er hat sie ganz deutlich gesehen, und auch der Ausguck schrie noch, aber es war bereits zu spät, hoher Herr.“ Der Rudergänger, grün und blau im Gesicht, sank auf die Knie und hob bittend die Hände. „Hoher Herr“, winselte er, „es lag nicht in meiner Absicht, das Schiff zu zerstören. Glaubt mir, hoher Herr! Ich habe auch keinen Tropfen Öl verschüttet und die Lampe nicht berührt.“ Seine Stimme sank zu einem Schluchzen herab. „Wenn ich das getan hätte, müßte man das Öl noch auf den Planken sehen können, glaubt mir, hoher Herr!“
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Khai Wang sah ihn höhnisch an, zwar kannte er seinen Steuermann, aber das ließ sich jetzt ja ganz einfach feststellen. Er ging zum Kolderstock, hob die Lampe hoch und leuchtete auf die Planken. Wu war ihm gefolgt, den Rudergänger am Kragen, und beugte sich über die Planken. „Er wagt es, den hohen Herrn zu belügen“. zischte er, „obwohl man hier ganz deutlich die dunklen Flecken des Öls sieht. Bedarf es da noch eines weiteren Beweises, hoher Herr?“ „Nein, das genügt. Die Lampen sind in Ordnung, sie laufen auch nicht von allein aus.“ „Das wußte der Kerl“, sagte Wu gehässig, „und deshalb wollte er verschwinden. Das war die Rache für seine kleine dreckige Gemüsedschunke! Was geschieht mit ihm, hoher Herr?“ Khai Wang spuckte auf die Planken. Aus schmalen Augen sah er sich nach allen Seiten um, ob auch niemand herumstand. Aber er konnte keinen entdecken. Alle waren damit beschäftigt, das Deck zu klarieren und die zerfetzten Segel zu bergen. Auch das Beiboot war schon abgefiert werden. Alles, was nicht unbedingt gebraucht wurde, verschwand darin, um das Schiff zu leichtern. Bevor Khai Wang sich zu einer Antwort entschloß, lief ein Mann auf ihn zu, verneigte sich, daß der auf seinem Rücken baumelnde Zopf nach vorn auf die Brust flog und meldete: „Wir haben einen Wassereinbruch, hoher Herr! Aber das Wasser wird nicht weiter steigen, solange wir auf den Klippen liegen.“ „Versucht es, zu reparieren. Nehmt Fackeln und Lampen, aber seid vorsichtig. Heute nacht werden wir es nicht mehr schaffen, aber sobald es hell ist, versuchen wir, das Schiff von den Felsen herunterzuziehen.“ „Sehr wohl, hoher Herr.“ „Nun zu diesem Bastard“, sagte Khai Wang und strich mit den Fingern über seinen Lippenbart. „Er hat den schändlichsten Tod verdient, den es gibt. Leider erfordert er viel Zeit, und die haben wir nicht. Darüber werde ich morgen früh
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entscheiden. Laß ihn bis zum Morgengrauen an seinem Zopf im Mast baumeln und hängt ihm Öllampen an Arme und Beine, damit die anderen bei der Arbeit genügend Licht haben. Zieh ihm noch zehn mit der Bambusgerte über, damit sein Körper nicht friert und er gut durchblutet ist, sonst erlebt er den Morgen nicht. Du bist dafür verantwortlich, daß er morgen früh nicht tot ist, Wu!“ Wus Grinsen zeigte seine offenkundige Freude. Immer wieder verneigte er sich und beteuerte, daß alles so geschehen würde, wie der hohe Herr es anordne. „Morgen werden wir ihn so bestrafen, wie die Fremden Teufel es auf ihren Schiffen tun“, sagte Khai Wang abschließend. Das bedeutete, daß sie ihn unter dem Schiff kielholen würden, überlegte Wu. Sie hatten es einmal bei den Portugiesenern gesehen, es aber noch nie ausprobiert. Dabei spielte es selbstverständlich keine Rolle, ob das Schiff auf den Klippen lag oder. nicht. Soviel freier Platz war vorn oder achtern immer vorhanden, Wu malte sich bis ins Detail aus, ob diese Methode nicht noch zu verbessern sei, aber erst einmal verabreichte er dem Rudergänger fünfzehn Hiebe mit der Bambusgerte und verzählte sich absichtlich dabei. Dann band er dessen Zopf an ein. dünnes Tau, behängte den Mann mit Öllampen und zog ihn am Mast hoch. Sein Schreien schien niemanden zu stören. Die ganze Nacht hindurch wurde gearbeitet, geschuftet, Wasser gelenzt und abgedichtet, und immer wenn die Stunde voll war, erschien Khai Wang an Deck und überprüfte die Arbeiten. Mal war er achtern, dann tauchte er ganz überraschend vorn auf und blieb mit dem Rücken an das Schott gelehnt stehen, in dem die Worte eingebrannt waren: „Wer hier eingeht, des Leben ist für immer verwirkt.“ Nur ein einziger Mann beteiligte sich nicht an den Arbeiten. Das war Hung-wan, der alte Chronist, der früher an Bord des Schiffes „Eiliger Drache über den Wassern“ gefahren war
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und dem schwarzen Segler auch diesen Namen verliehen hatte. Der Alte war ausgebrannt. Nur noch die Hoffnung, den Großen Chan zu sehen und die Pupurne Verbotene Stadt zu betreten, hielt ihn am Leben. Seine Lungen rasselten, wenn er Luft holte, und das Ausatmen fiel ihm genauso schwer. So hockte er Tag und Nacht unter Deck in der kleinen Kammer, in der auch der verehrte tote Kapitän lag, den er mit aller Gewalt in seine Heimat zurückbringen wollte, damit er dort seine Ruhe fand und zu seinen Ahnen eingehen konnte. Der Alte bestand nur noch aus Beten und Hoffen. Ab und zu aß er eine Schale Reis am Tag oder trank einen Schluck Wasser. Mehr wollte er nicht, mehr brauchte er auch nicht. Er zehrte von seiner Erinnerung, und immer wieder lief in Gedanken vor seinem geistigen Augen die Reise des Schiffes ab. Er sah die grünen Inseln, die sie entdeckt hatten, die fremden Menschen, und er vergaß nicht die schlimme Strapaze, als Lebensmittel und Wasser zu Ende gingen und schließlich verbraucht waren, und wie es dann die ersten Toten gab, bis es auch den sehr verehrten Mandarin traf und er starb. Jetzt lag dieser Mandarin einbalsamiert vor ihm. Er hatte durch den Aufprall keinen Schaden genommen, und das stimmte den alten Chronisten Hung-wan froh. Er hörte nicht das Rumoren hoch über sich an Deck, er hatte auch kein Gefühl mehr für die Zeit. Wenn er müde war, schlief er, egal, ob es Tag oder Nacht war, und wenn er Hunger verspürte, dann brachte ihm jemand eine Schale Reis. Auch jetzt schlief er wieder, denn ab und zu forderte der alte, ausgemergelte Körper sein Recht. Langsam verging die Nacht an Bord und wich einem fahlen Dämmer, das sich mit schwachen Nebeln über dem Wasser ankündigte. Hoch oben im Mast aber hing der Rudergänger bewußtlos an seinem Zopf und schaukelte hin und her. Die Öllampen,
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die sie ihm umgehängt hatten, brannten noch immer. 4. Bei Sonnenaufgang fierte Wu die Leine ab, löste den Knoten und die Handfesseln und ließ den Rudergänger auf die Planken fallen. Sein Herz schlug noch, er atmete flach, doch ein paar Pützen Seewasser brachten ihn wieder zu sich. „Na, endlich“, sagte Wu grinsend, „du willst dir doch den Spaß nicht entgehen lassen. Du mußt dir unbedingt mal anschauen, wie es unter dem Schiff aussieht.“ Etwas anderes zählte für Wu an diesem Morgen nicht, er hatte sich schon die ganze Nacht darüber gefreut, es diesem Kerl endlich einmal zeigen zu können. Wie sich herausstellte, saß „Fliegende Schwalbe“ fast mittschiffs auf dem Riff fest, und zwar hatte sie sich zwischen zwei abfallenden Felsstücken eingeklemmt. Dieser Felsen hatte den Rumpf unter Wasser haarfein aufgerissen, zur Mitte hin aber ein großes Leck geschlagen. Es war fraglich, ob es ihnen gelang, aus eigener Kraft wieder freizukommen. Khai Wang besah sich im Laderaum das Leck. Das eingedrungene Wasser stand knöchelhoch im Raum und stieg auch nicht weiter. Der Riß, der den Rumpf durchlief, konnte mit feinen Kalfateisen, Hanf und Pech eventuell mit Bordmitteln abgedichtet werden. Das große Leck hingegen war nur sehr schwer zu reparieren. Das konnte nur ein geschickter Schiffbauer oder Zimmermann wieder richtig hinkriegen. Der Pirat wußte, daß er praktisch auf dem Präsentierteller saß. Jedes Schiff, das hier vorbeisegelte, konnte ihn unter Feuer nehmen, ohne daß er sich geschickt zu Wehr setzen konnte. Und er hatte eine ganze Menge Feine an den Küsten. Er mußte Hilfe holen, es blieb ihm nichts anderes übrig. Er rief Wu zu sich.
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„Nicht weit von hier liegt doch Sang-Yün, der alte Gauner. Sieh in der Karte nach, ob es stimmt.“ „Es stimmt, hoher Herr, ich weiß es auswendig.“ „Sieh nach, ob wir von Sang-Yün noch Tauben an Bord haben.“ Wu flitzte los und kontrollierte die Taubenverschläge, hohe Bambuskäfige, die sie immer mit sich führten. Bei jeder Fahrt wurde von den Männern, zu denen Khai Wang gute Beziehungen unterhielt, Brief tauben mitgenommen. So konnte er Nachrichten verbreiten, Hilfe anfordern oder Befehle erteilen, wozu er mit dem Schiff oft Wochen brauchte. Die fliegenden Diener aber schafften es in ein paar Stunden, mitunter benötigten sie sogar nur Minuten. Eine Gin-Ling — sich durch die Lüfte schwingende Diener, nannten sie die Tauben — entdeckte Wu noch. Es war die letzte, er sah es an der kleinen Markierung im Flügel. Sie flatterte aufgeregt herum, als Wu in den Bambuskäfig griff und sich noch einmal überzeugte, ob es ein fliegender Diener von Sang-Yün war. „Eine ist noch da“, meldete er. Khai Wang nickte. Er sah verächtlich auf den Rudergänger, der noch auf den Planken lag, sich aber nicht traute, aufzustehen. Sein Gesicht war aufgedunsen, die Augen waren ihm aus den Höhlen getreten, so hatte ihn die. Anstrengung erschöpft. Von seinem Schädel glaubte er, daß ihm die gesamte Kopfhaut fehle. Immer wieder rannen Tränen aus seinen Augen. „Dann brauchen wir nicht mit dem Boot zu segeln“, sagte' Khai Wang. „Bereite die Taube vor, ich werde eine kurze Nachricht an Sang-Yün schreiben.“ Bevor der Pirat nach achtern ging, befahl er zwei anderen Männern, gut auf den Rudergänger aufzupassen. Unterdessen bereitete der Steuermann Wu die Taube vor, wie er es schon oft getan hatte. Er holte die Taube aus dem Käfig, überzeugte sich noch einmal davon, daß es
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die richtige war, und band sie mit dem Bein außen am Käfig fest. Dann nahm er zwei zierliche kleine Windflöten und band sie an den Schwanzfedern fest. Beim Flug gaben die winzigen Flöten Töne von sich, die die Raubvögel abschreckten. Er wartete, bis Khai Wang zurückkehrte und band dann der Taube die kleine Hülse ans Bein, die Khai Wangs Nachricht enthielt. Darin stand die Position und in knappen Worten das, was ihnen widerfahren war. Jetzt ließ Wu die Taube fliegen und sah ihr nach, wie sie sich in die Luft schraubte, ein paar Kreise über dem Schiff beschrieb und dann zielsicher und pfeilschnell zur Küste jagte. Ein hoher zirpender Ton begleitete ihren Flug, den die Windflöten verursachten. Dann entschwand sie ihren Blicken. „Jetzt zu dem da, hoher Herr”, sagte Wu und verkniff sich das Grinsen. „Der hat noch Zeit“, erwiderte Khai Wang scharf. „Zuerst werden wir ein paar Sicherheitsvorkehrungen treffen. Hört mit der Arbeit auf und baut die kleinen Flöße im Laderaum zusammen. Vier Stück brauchen wir.“ „Flöße?“ fragte Wu. „Wozu brauchen wir Flöße, hoher Herr?“ „Überlege mal, du Esel. Wenn hier jemand vorbeisegelt und uns hilflos liegen sieht, und es ist zufällig einer unserer Feinde, was, glaubst du, wird er dann wohl tun?“ „Vermutlich wird er Rache an uns nehmen, hoher Herr“, erwiderte Wu nach reiflicher Überlegung. „Das würden auch die Japaner tun, wenn sie vor der Küste kreuzen und uns sehen.“ „Genau das denke ich auch. Sie würden uns angreifen, ohne daß wir uns wehren könnten. Raus mit den Flößen!“ Wu verstand trotzdem immer noch nicht, was es mit den lächerlich kleinen Flößen für eine Bewandtnis hatte. Sie brauchten sie nur, wenn sie nachts heimlich irgendwo ein Dorf plünderten oder das Wasser so seicht war, daß man die Küste mit dem großen Schiff nicht anlaufen konnte.
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Die Flöße wurden aus dem Raum geholt und zusammengebunden. Mehr als drei Mann hatten darauf keinen Platz. Wu versuchte in Khai Wangs Gesicht zu lesen, doch darauf fand sich keine Regung. Es blieb ausdruckslos und kalt. Nur ab und zu fiel der Blick seiner dunklen Augen auf den Rudergänger. Als die Flöße zusammengebunden waren, deutete Khai Wang mit dem abgewinkelten Daumen zum Schanzkleid. „Über Bord damit, bindet sie an und ruft den Feuerwerker.“ Die Flöße wurden abgefiert festgebunden. Der Feuerwerker erschien und verneigte sich. „Was befiehlt der hohe Herr?“ fragte er unterwürfig. „Du wirst jetzt auf jedem Floß einen Satz Brandpfeile seefest anbringen. Dann suchst du dir drei Männer aus, die am besten damit umgehen können. Bau die Gestelle so, daß kein Wasser sie erreichen kann. Hast du verstanden?“ Der Feuerwerker nickte eifrig, und jetzt erst ging dem Steuermann ein Licht auf, was Khai Wang plante. Ein guter Gedanke, überlegte er Khai Wang dachte aber auch an alles. „Die Flöße werden draußen verankert, und zwar soweit von unserem Schiff entfernt, wie ein Pfeil unter günstigen Umständen fliegen kann. Jedes Floß wird mit einem Mann besetzt.“ Khai Wang zeigte in die Himmelsrichtungen. „Da und dort, hinter dem Heck und vor dem Bug nehmen die Flöße Aufstellung. Vorwärts, ihr faulen Hunde, diese Arbeit wird zuerst erledigt, alles andere hat Zeit.“ Der Feuerwerker erschien wieder und brachte die drei Männer mit, die er ausgesucht hatte. „Wann sollen wir feuern, hoher Herr?“ erkundigte er sich. „Es läßt sich auch nicht abschätzen, jedenfalls nicht immer, ob wir einen Feind vor uns haben.“ „Ihr feuert, sobald sich ein Schiff auf die Reichweite der Pfeile nähert. Ich werde euch von Bord aus ein Zeichen geben. Wer
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zu dicht an die Flöße heransegelt, wird sofort beschossen.“ Die vier Männer, einschließlich des Feuerwerkers, enterten ab und betraten die festgebundenen Flöße, die unruhig auf den kleinen Wellen schaukelten. Sofort begann der Feuerwerker damit, die hohen Gestelle auf den Flößen zu verankern. Sie sahen zwar wacklig aus, aber das überschwappende Seewasser konnte sie nicht erreichen. Die Gestelle waren schwenkbar und ließen sich in alle Richtungen drehen. „Wenn ihr eure Position erreicht habt, wird ein Probeschuß abgefeuert“, befahl der Pirat. „Achtet also immer auf meine Zeichen.“ „Auf diese Idee könnt nur Ihr verfallen, hoher Herr!“ sagte Wu anerkennend. „Soll ich jetzt den Rudergänger ...“ „Ich habe gesagt, das hat noch Zeit, unsere Sicherheit geht vor, oder hast du das immer noch nicht begriffen, Wu?“ „Es war nur eine Frage, hoher Herr“, murmelte Wu. Ans Schanzkleid gelehnt, sah Khai Wang zu, wie sich das erste der kleinen Bambusflöße entfernte. Es ließ sich nicht segeln, ein Mann mußte es mit einem breiten Paddel vorantreiben. Zwei Steine, die an lange Leinen gebunden waren, dienten als Anker, damit die Flöße nicht abtrieben. Etwas später erreichte das Floß mit dem Feuerwerker die Stelle, die Khai Wang für richtig hielt. Er hob die Hand und gab das Zeichen zum Ankern. Der Feuerwerker legte das Paddel zur Seite, warf den Stein mit der langen Leine über Bord und sprang dann auf die andere Seite, um das Floß auszutrimmen. Das zweite und dritte Floß nahm die Position ein, schließlich folgte auch das vierte. Khai Wang nickte ausdruckslos. Sie lagen jetzt im Quadrat um die „Fliegende Schwalbe“ herum verteilt. Wer sie angreifen wollte, musste zuerst die Flöße ausschalten, und das war ganz sicher keine einfache Angelegenheit.
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Der Pirat gab das Zeichen zum Probeschuß. Auf dem Floß des Feuerwerkers löste sich gleich darauf ein flammendes heulendes Etwas aus dem drehbaren Gestell und zischte funkensprühend in den Himmel. Jetzt verfügten sie mit ihren Brandsätzen über etwas mehr als die doppelte Reichweite, falls es jemandem einfiel, anzugreifen. „Soll ich jetzt den Hundesohn unter dem Schiff durchziehen?“ fragte Wu lauernd und rieb sich die Hände. Er verspürte einen nahezu grenzenlosen Haß gegen den Mann, obwohl der völlig unschuldig war, und Wu selbst ihn provoziert hatte. Er räusperte sich, als Khai Wang keine Antwort gab. „Wie lange ist die Taube fort?“ fragte er statt einer Antwort. Wu eilte beflissen ins Steuerhaus und blickte auf die Wasseruhr, die die Zeit anzeigte. Es gab eine für einen Tag und eine Nacht, dann eine für die Stunden, die wiederum mit drei anderen Gläsern verbunden war. An denen ließen sich die Stunde der Ziege, der Ratte, des Schweins oder des Lotos ablesen. „Den viertel Teil der Stunde der Ziege“, sagte Wu. „Sie wird ihr Ziel wahrscheinlich schon erreicht haben, hoher Herr. Soll ich jetzt den Rudergänger ...“ „Ja, laß ihn tauchen, diesen Hund! Ihm haben wir den ganzen Ärger zu verdanken. Und schone ihn nicht!“ „Natürlich nicht, hoher Herr! Es hätte uns allen das Leben kosten können“, sagte er heuchlerisch. „Was ist dagegen schon das Leben eines lausigen Rudergängers wert?“ Khai Wang lachte und schnippte mit den Fingern. „Nicht so viel”, sagte er. „Fang an!“ 5. Hasard deutete mit der Hand auf das weit entfernte Land und wandte sich fragend an „Flüssiges Licht im beginnenden Sommer“, die zusammen mit der Roten Korsarin auf dem Achterdeck stand. „Stimmt die Seekarte noch?“
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„Sie stimmt, hoher Herr. Nach der Karte befinden wir uns jetzt auf der Höhe der Provinz Jiangsu. Ich bin aber noch nie hier gewesen, habe aber gehört, daß es hier viele Riffe gibt.“ Siri-Tong nickte beipflichtend. Die beiden Frauen verstanden sich ausgezeichnet, und als Siri-Tong von dem gefälschten Schreiben erfahren hatte, das „Flüssiges Licht“ umgeändert hatte, da konnte sie nicht anders und mußte ebenfalls lachen. Das junge Mädchen war unwahrscheinlich intelligent. Mitunter regte sich in ihr wieder wo etwas wie Eifersucht, doch die Flußbraut gab ihr nicht den geringsten Anlaß dazu, und die Korsarin hütete sich, etwas davon merken zu lassen, denn sie hatte dem Mädchen unendlich viel zu verdanken. „Warst du schon einmal hier?“ fragte der Seewolf die Korsarin. „Früher, ja, aber das ist schon sehr lange her. Ich muß mich auch auf die Karte verlassen, aber es gibt hier tatsächlich viele Felsen und Riffe, die keine Karte verzeichnet.“ Die „Isabella“ lief mit Backstagbrise ihrem noch fernen Ziel entgegen. Auf den Karten hieß die Stadt Beijing, die beiden Frauen nannten sie Peiping, und in den Hafenstädten sprach man nur von der Purpurnen Verbotenen Stadt, die so phantastisch angelegt sein sollte, daß ein Fremder keine rechte Vorstellung davon hatte. Allerdings verzeichnete die Karte zwar einen Fluß, der zu dieser Stadt führte, aber etliche Meilen vorher hörten die Eintragungen auf, und so wußte der Seewolf immer noch nicht, ob man sie nun direkt ansegeln konnte, oder ob man den Rest des Weges anderweitig zurücklegen mußte. Er sorge sich vorläufig noch nicht darum, das würde sich dann von selbst ergeben, und so wandte er sich wieder den beiden Mädchen zu, deren Haare im Wind flatterten. Verrückt, dachte Hasard, jetzt haben wir zwei Frauen an Bord und die heimlichen Unkenrufe des alten O'Flynns nahmen kein
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Ende. Für ihn war das fast so etwas wie ein Verdammnis-Urteil und - wie immer bei ihm - „konnte das nicht gut gehen“. Bisher war aber alles ganz gut gelaufen, fand Hasard, wenn man von den hinterhältigen Kerlen auf den Dschunken absah. Aber selbst das sprach wiederum nur für Old O'Flynn, denn das war das erste, was nicht gut gegangen war. Gerade als Hasard eine weitere Frage stellen wollte, erklang Matt Davies Stimme aus dem Großmars. Er lehnte sich über die Segeltuchverkleidung und schrie: „Fremdes Schiff drei Grad Steuerbord auf Nordostkurs!“ Er fuchtelte mit seiner Hakenprothese durch die Luft und zeigte in die Richtung. „Ein Zweimaster“, sagte Hasard erstaunt, „aber keine Dschunke, wie sie hier segeln.“ „Ein Spanier ist es auch nicht“, sagte Ben, „und erst recht kein Portugiese. Was kann es dann sein?“ Noch war das Schiff nicht deutlich zu sehen, aber dennoch ließ sich an der Bauweise erkennen, was es nicht war. „Frag mal Ferris, was der davon hält!“ Der rothaarige Schiffszimmermann Tucker, der gerade damit beschäftigt war, sein Werkzeug zu überprüfen und seine Riesenaxt so zu schleifen, daß man sich ohne weiteres damit rasieren konnte, stützte sich auf den mächtigen Stiel der Axt und begann zu rätseln. Er kniff die Augen zusammen und nahm das Spektiv entgegen, das der Schiffsjunge Bill ihm gab. Während er hindurchblickte, sah er seinen Freund Carberry fragend an, aber der hob nur die Schultern, schob das Kinn vor und kriegte große Augen. „Eine Mischung aus einer Dschunke, einem Rahsegler und einem Bastard“, sagte er schließlich. „Jetzt weiß ich es aber ganz genau“, brummte Hasard unwillig. „Tut mir leid, ich weiß es auch nicht besser. Aber so wie es aussieht, hält es auf uns zu und wird bald unseren Kurs kreuzen.“
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Während in der Kuhl und auf dem Vordeck darüber gerätselt wurde, was das für ein Schiff sein mochte, nahm Siri-Tong das Spektiv entgegen. Als sie es absetzte, sah sie den Seewolf an. „Es könnte ein Schiff von der Insel Nippon sein“, sagte sie. „Nippon?“ fragte Hasard. „Ein Reich, das der Schogun regiert, ähnlich dem Großen Chan. Es liegt dem Reich des Khan gegenüber, und die Portugiesen nennen die Piraten Nippons Söhne.“ „Flüssiges Licht“, wurde um eine Schattierung blasser. „Es sind grausame Barbaren“, sagte sie. „Sie haben auch schon die Küste bei uns überfallen und geplündert. Spanier und Portugiesen kennen sie. Sie werden auch uns überfallen.“ Hasard ließ sich Einzelheiten erklären, aber sehr viel mehr über die Söhne Nippons wußten die beiden Frauen nicht. „Weißt du, ob sie auch mit chinesischen Pfeilen bewaffnet sind?“ erkundigte sich Hasard. „Nein, sie haben Kanonen, aber sie kämpfen bis zur Selbstaufgabe. Es gelingt nur ganz selten, eins ihrer Schiffe zu entern, und wenn das geschieht, gibt es kaum Überlebende.“ Hasard erfragte immer mehr Einzelheiten. Siri-Tong hatte die Söhne Nippons früher auf der Dschunke kennengelernt, und auf dem portugiesischen Schiff, auf dem sie einst fuhr, waren sie den Barbaren gerade noch einmal entkommen. Inzwischen hatte das fremde Schiff den Kurs geändert. Es hatte tatsächlich etwas von einer Dschunke an sich, aber es trug Rahen an den Masten und seltsam geschnittene Segel. „Sechs kleinere Kanonen an jeder Seite!“ schrie Matt Davies aus dem Mars. „Stückpforten hoch!“ befahl Hasard hart. „Ich möchte nicht wieder eine Überraschung erleben. Legt auch Brandsätze bereit, und sobald die Söhne Nippons noch näher heransegeln, laßt die Culverinen sprechen.“
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Auf den Decks herrschte sofort emsiger Betrieb. Carberry sagte zu Tucker: „Die wollen uns anscheinend bloß beschnüffeln, weil sie selbst nicht wissen, was sie von uns halten sollen. Sie haben ihre Stückpforten jedenfalls noch nicht hochgezogen, weil ...“ „Das kann blitzschnell gehen“, unterbrach Ferris den Profos. Wieder wechselte das fremde Schiff leicht den Kurs. Es befand sich jetzt auf der Steuerbordseite der „Isabella“ und segelte dann in einem Abstand von etwa drei Kabellängen fast parallel. Undeutlich erkannte man Gestalten, die in die Wanten geentert waren und dort reglos verharrten. „Sie beobachteten uns“, sagte Dan, „und sie sehen unsere Kanonen, deshalb zögern sie. Seht ihr nicht, daß sie immer den gleichen Abstand halten?“ „Wenn sie näher heransegeln, dann setzt ihnen einen Schuß vor den Bug!“ befahl der Seewolf. „Aber nur dann. Damit wissen sie gleich, wie weit unsere Culverinen tragen.“ Die Söhne Nippons verstanden sich aufs Segeln, und ihr Schiff lief gute Fahrt, aber das, was die Masten der „Isabella“ an Tuch trugen, verlieh ihr eine etwas größere Geschwindigkeit, und schon bald hatten sie gleiche Höhe erreicht. „Sie setzen eine Flagge!“ rief Davies. „Einen weißen Lappen mit einem roten Ball darin!“ Drüben stieg ein großer weißer, an den Ecken ausgefranster Lappen hoch, der nur wenig Ähnlichkeit mit einer Flagge aufwies. „Jetzt erwarten sie das gleiche von uns“, sagte Hasard grinsend. „Teufel, die Burschen sind aber vorsichtig. Es hat den Anschein, als sollen sie sich doch nicht mit uns anlegen, vielleicht wirken unsere Kanonen so abschreckend.“ „Sollen wir die englische Flagge zeigen, Sir?“ fragte Gary Andrews den Seewolf. „Ja, setzt die Flagge, ich bin gespannt, wie sie reagieren. Aber bleibt feuerbereit!“
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Die Flagge stieg am Mast hoch und flatterte wild. Sie hing nur ein paar Augenblicke oben, da hätte es fast ein Mißverständnis gegeben. Die Söhne Nippons hatten eine merkwürdige Art an sich, zu grüßen. Drüben lösten sich aus den Kanonen graublaue Pulverwolken, eine ganze Breitseite, und Hasard fragte sich, was sie damit wohl erreichen wollten, denn er konnte sich nicht vorstellen, daß die Kugeln ihrer Kanonen auch nur annähernd das Ziel fanden. „Auf sie!“ brüllte Carberry und hob die Lunte. „Den Kahn schießen wir ihnen unter den Affenärschen weg!“ „Halt!“ donnerte die Stimme des Seewolfs dazwischen. „Noch nicht feuern, wartet noch!“ Seltsamerweise verpufften die Rauchwolken, ohne daß auch nur eine Kugel ins Wasser klatschte, geschweige denn ihr Ziel fand. Aus den Rohren wehte nichts als Rauch, und so sehr sie auch ihre Ohren spitzten, es geschah nichts weiter. „Die haben die Kugeln vergessen“, sagte Dan verblüfft, und der alte O'Flynn verstieg sich zu der Behauptung, daß sie unsichtbare Kugeln hätten, die erst später einschlagen würden. Ferris Tuck riß die Geduld. „Wenn du jetzt behauptest, ihr hättet das auf eurer verfluchten ,Empres of Sea' auch schon gehabt, dann säge ich dir dein Holzbein ab, Donegal!“ rief er. Hasard stand am Schanzkleid, schüttelte den Kopf und rieb mit der rechten Hand das Kinn. „Was soll man davon halten?“ fragte er sich selbst. „Es knallt, es raucht, und die Kerle haben freundliche Nasenlöcher. Wie reimt sich das zusammen?“ Durchs Spektiv erkannte er grinsende Gesichter, gelblich, mit geschlitzten Augen, kleine schwarzhaarige Gestalten, die keinerlei Anstalten trafen, ihre abgefeuerten Kanonen nachzuladen. „Damit demonstrieren sie ihre Hilflosigkeit“, sagte der Seewolf. „Die Breitseite ist verschossen, wenn wir jetzt feuern, sind sie nicht in der Lage, sich zur
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Wehr zu setzen. Ich kann aber nicht auf einen Gegner feuern lassen, der vielleicht gar keiner ist, oder der sich zusammenschießen läßt.“ „Vielleicht tun sie das absichtlich“, sagte der Waffen- und Stückmeister Al Conroy nachdenklich. „Ich traue diesen Kerlen nicht. Wir nehmen an, sie wären hilflos und wenn sie näher heransegeln, beharken sie uns mit Brandsätzen, die sie irgendwann einmal von den Chinesen erbeutet haben.“ Hasard glaubte das zwar nicht ganz, aber sie hatten hier schon so viel erlebt, daß er diese Möglichkeit auch nicht ganz ausschließen mochte. Eine Weile segelten sie noch nebeneinander her, dann fiel das andere Schiff langsam zurück, ohne daß sich etwas ereignet hatte, wenn man von der blinden Breitseite absah. Erst als die Söhne Nippons wieder abdrehten und einen anderen Kurs einschlugen, hatte der Seewolf eine Erleuchtung. „Vermutlich war das nichts weiter als ein vorsichtiger Begrüßungssalut“, sagte er zu Dan. „Sie belauerten uns, warteten auf eine Reaktion, aber vielleicht war es ganz gut, daß wir unsere Breitseite nicht auch verschossen haben.“ Ein gewisses Rätsel blieb trotz allem, und jeder stellte sich insgeheim fast die gleiche Frage. Hatten die Kerle sie nur prüfen wollen? Oder hatten sie es mit der Angst zu tun gekriegt, als sie die Armierung des schlanken Rahseglers gesehen hatten? Sie fanden keine Antwort darauf. Und eine so höfliche Begrüßung unter Fremden, dazu noch im Gelben Meer, wo es von Piraten und Schnapphähnen wimmelte, vermochte sich auch niemand vorzustellen. So blieb diese Frage also offen und würde vielleicht einmal zu einem späteren Zeitpunkt geklärt werden. Noch lange sahen sie den Fremden weit hinter der „Isabella“ segeln, bis er erneut den Kurs wechselte. Er lief in die Richtung ab, aus der er erschienen war, in die offene See also.
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Damit war der Vorfall vergessen, und die „Isabella“ lief unter vollem Zeug weiter. 6. Der Rudergänger erlebte das alles wie einen furchtbaren schrecklichen Traum und hatte immer öfter das Gefühl, als wäre er an dem ganzen Geschehnis nicht beteiligt. Nur ab und zu, wenn er Wus verzerrte Fratze und das höhnische Grinsen auf den Lippen sah, setzte sein Herzschlag aus, und er kehrte in die Wirklichkeit zurück. Sie hatten ein langes Tau um seine rechte Hand geschlungen, ein anderes, genauso langes, um sein rechtes Bein. Wu prüfte noch einmal die Knoten, ob sie auch fest saßen, und nickte zufrieden. „Ich möchte noch einmal den hohen Herrn sprechen“, sagte der Rudergänger leise. „Der hohe Herr will dich aber nicht sprechen, du Sohn einer verlausten Hündin!“ schrie Wu. „Der hohe Herr will, daß du endlich mal das Schiff von unten siehst, damit du weißt, was du angerichtet hast, als du es auf die Klippen steuertest.“ „Das ist nicht wahr!“ Khai Wang, der auf dem Achterdeck auf und ab schritt und immer wieder zum Land blickte, blieb stehen, als er die Worte hörte. Finster sah er auf den Rudergänger, der von den langen Leinen gehalten wurde, und in dessen weitaufgerissenen Augen nackte Angst geschrieben stand. „Vielleicht überlebst du es“, sagte er leichthin. „Viele andere haben es auch schon überlebt.“ „Ich war es doch nicht, hoher Herr“, winselte der Rudergänger, „Euer Steuermann hat mir das unterstellt.“ Er wurde mutiger, und auch seine Stimme festigte sich, während er sprach, doch der Pirat winkte ab. „Heb dir das für deine Ahnen auf. Natürlich warst du es, wer denn sonst! Mit einem Hund wie dir sollte ich eigentlich nicht reden, und ich weiß auch nicht, warum ich es tue. Genug jetzt mit deinem Geschwätz. Bringt ihn nach achtern!'
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Wu und ein anderer Mann hoben den Rudergänger hoch und schleiften ihn nach achtern. „Über Bord mit ihm!“ befahl Khai Wang mit einer herrischen Bewegung seiner rechten Hand. Sie gaben die beiden Leinen lose, dann warfen sie den schreienden Rudergänger achtern hinter dem Kolderstock über Bord, traten zurück und zogen langsam, bis er sich unter dem Schiff befand. Wu gab den anderen Mann ein Zeichen, der blitzschnell die Leine einholte, bis der Kopf des Rudergängers an der Bordwand erschien und er nach Luft japste. „Du wirst jetzt unter dem Kiel durchgezogen!“ schrie Wu hinunter. „Sieh dir genau das Leck an!“ Der andere fierte die Leine nach. und Wu spuckte in die Hände und griff mit kräftigen Fäusten nach dem Tampen. Ganz langsam holte er ihn durch, Hand über Hand. Dann hörte er plötzlich auf zu ziehen. Die Leine hatte er um die Hand geschlungen, während ein Grinsen über sein Gesicht glitt und er mit der anderen Hand zum Land deutete. „Ist das nicht ein kleines Boot?“ fragte er heuchlerisch. Khai Wang drehte sich um, während der andere Mann darauf wartete, daß Wu weiterzog. Doch der dachte nicht daran. Grinsend blickte er ins Wasser und hielt nach Luftblasen Ausschau. Weit entfernt, noch dicht unter der Küste, war tatsächlich ein kleines Boot zu erkennen, eine winzige Dschunke mit einem kleinen Segel, aber sie näherte sich nicht der „Fliegenden Schwalbe“, sondern lief weiter an der Küste entlang. „Sang-Yün kann das noch nicht sein“, sagte Khai Wang. „Der wird noch eine Weile brauchen.“ Wu stand untätig grinsend herum, die Leine fest in der Hand. Er spürte, wie es daran riß und zuckte. „Vielleicht ist er es aber doch“, wandte er ein. „Die fliegenden Diener sind schnell, und auch Sang-Yün wird schnell sein.“ Wieder gab es einen Ruck an der Leine.
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Tief unter dem Schiffsbauch hing der Rudergänger. Er wußte, was für ein unmenschlicher Hund dieser Wu war, aber seine Lebensgeister erwachten doch, als er fühlte, wie schnell die Leine unter dem Rumpf durchgezogen wurde. Er hielt die Luft an und hatte erbärmlich Angst vor dem Tode durch Ertrinken. Er versuchte zu schwimmen, aber da gab es einen Ruck und die Leine straffte sich an beiden Seiten. Auf der einen Seite wurde sie nicht mehr weiter durchgeholt, auf der anderen Seite gab es kein Zurück, weil sie dort fest gestrafft war, und bewegen konnte er sich auch nicht mehr. Panik ergriff ihn, in seiner Angst öffnete er weit die Augen. Unwirklichkeit umgab ihn. Dämmriges Wasser, darüber einen tiefschwarzen Schatten, der dicht mit Algen und Muscheln bewachsen war. Der Rumpf des Schiffes. Er strampelte wild, riß den Mund auf, zwang sich dann aber wieder zur Ruhe, weil er wußte, daß Panik das Schlimmste war, was es in seiner jetzigen Situation gab. Wieder erfolgte ein kurzer Rück, aber der brachte ihn nur noch dichter an den Rumpf heran, an dem er jetzt festklebte. Er spürte, wie die scharfkantigen Muscheln an seinem Körper rieben, wie sie ihm die Haut aufrissen und das Salzwasser, das in die Wunden drang, biß und brannte. Er schien sich jetzt direkt mitten unter dem Schiff zu befinden. In seinen Lungen stach es schmerzhaft, sein Körper glühte wie von tausend Feuern gepeinigt, er wollte schreien, brachte aber keinen Ton hervor. Warum ziehen sie denn nicht endlich weiter? dachte er voller Entsetzen. Nur ein paar Handbreiten noch, damit ich endlich den Kopf aus dem Wasser strecken kann! Oder war oben an Deck etwas passiert? Hatten sich die Leinen verfangen und kriegten sie ihn selbst nicht mehr frei? Oh, ihr Hunde, ich verfluche euch! dachte er. Ich verfluche euch für alle Zeiten! Ich verfluche euch Bastarde aus tiefster Seele. Der Teufel soll euch holen, man soll euch auf einem öffentlichen Platz die Köpfe
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abschlagen, und viele Menschen sollen dabei zusehen und ihre Freude haben! Er verlor jegliches Zeitgefühl und fühlte nur, wie seine Atemluft immer knapper wurde und er es nicht mehr aushielt. Er brauchte Luft, oder er mußte Wasser schlucken. Den Schmerz, den die Muscheln auf seiner Haut verursachten, den spürte er längst nicht mehr, der war unwichtig. Viel schlimmer war das heiße Brennen in seinen Lungen, das Bohren, die Glut, die sie zu fressen drohte. Noch einmal schlug er verzweifelt um sich. Damit nahm er sich selbst die letzte Luft, die er so dringend brauchte. Luftblasen stiegen aus seinem Mund, die Augen quollen ihm fast aus dem Kopf und dann holte er Luft. Der Schmerz wurde für eine ganze Weile unerträglich, doch dann erlebte er ein völlig neues Gefühl. Die Rettung war da, aber sie kündigte sich auf merkwürdige Art und Weise an. Das Halbdämmer des Wassers färbte sich zu wirbelnden Schatten, und aus der Ferne dröhnte ein riesiger Gong herüber. Immer wieder wurde dieser tiefe Gong geschlagen. Das Wasser wurde schwarz wie die Nacht, und tief unter ihm öffnete sich ein bodenloser Abgrund. Von da ertönte auch in regelmäßigen Abständen der tiefe dröhnende Gong. Sein Körper wurde schlaff, der Denkprozeß setzte aus. Die Taue lösten sich, und er fiel in diesen bodenlosen Abgrund. Er fiel und fiel, und er hatte keine Angst mehr, denn dort unten erwartete ihn golden schimmerndes Licht. Der Große Chan persönlich breitete die Arme aus und sagte mit wohlklingender Stimme: „Da bist du endlich, mein Sohn! Sei in meinem Reich herzlich willkommen!“ *
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„Ich muß mich getäuscht haben“, sagte Wu ausdruckslos. „Es ist nur eine kleine Gemüsedschunke, hoher Herr!“ Khai Wang entgegnete nichts. Er wußte, daß der Steuermann nur Zeit schinden wollte, die er mit langatmigen Reden umschrieb. Ihm selbst war es egal, ob der Rudergänger ersoff oder später starb. Sterben würde er in jedem Fall, und wenn Wu das besorgte, war ihm das nur recht. Immer noch blickte Wu dem Boot nach, das als kleiner Punkt in 'der Nähe. der Küste schließlich verschwand. Dann löste er umständlich die Leine von seiner Hand, packte sie fest und zog ganz langsam, innerlich dabei grinsend. Der Kerl da unten würde jetzt ganz schön zappeln, dachte er. Aber der zappelte längst nicht mehr, ganz still und ruhig hing er an der Leine. Hand über Hand zog Wu weiter und ebenso langsam fierte der andere Mann drüben das Tau nach, bis es ihm aus den Händen glitt. Der Rudergänger erschien auf der Wasseroberfläche. „Faß mit an“, sagte Wu, „er scheint bewußtlos zu sein.“ Zu zweit hievten sie den Mann an Bord und legten ihn auf die Planken. Von seinem Körper troff das Wasser. Auf dem schräggeneigten Deck rutschte er immer wieder ans Schanzkleid. Wu untersuchte ihn flüchtig. „Scheint tot zu sein“, sagte er verwundert und betrachtete mitleidslos den erschlafften Körper, den die scharfkantigen Muscheln an allen Stellen blutig geritzt hatten. „Der hält aber auch gar nichts aus“, meinte er, fast ein wenig verärgert. „Was soll nun mit ihm geschehen, hoher Herr?“ Khai Wang sah ärgerlich auf. „Leg ihn in deine Koje zum Trocknen oder wirf ihn über Bord. Such dir eine Möglichkeit aus.“ „Dann lieber die letztere“, sagte Wu grinsend. Zusammen mit dem Seemann warf er die Leiche des Rudergängers über Bord. Sie
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versank aufklatschend in der See und tauchte auch nicht mehr auf. Als der Körper verschwunden war, legte sich sekundenlang eine tiefe Beklemmung auf Wus Brust. Er konnte sich das selbst nicht erklären, ein dumpfes Gefühl war es, das ihm die Brust und das Herz zusammenschnürte. Dann war es vorbei, der Druck wich, und er kriegte wieder Luft. „Ob er uns verflucht hat?“ fragte Wu leise den Seemann. Sie waren alle beide abergläubisch und sahen sich an. „Ich glaube nicht, Steuermann.“ „Weshalb glaubst du das nicht?“ wollte Wu wissen. „Zum Verfluchen braucht man die Sprache“, wandte der andere listig ein, „aber unter Wasser kann man nicht sprechen, also kann man auch keinen verfluchen.“ „Ja, das stimmt“, sagte Wu. „Unter Wasser kann man keinen verfluchen, und an Deck hat er nichts gesagt.“ Sichtlich erleichtert scheuchte er die Männer, wieder an ihre Arbeit. Der Mast sollte erneuert werden, aber dazu mußten sie den traurigen Stumpf erst einmal herausreißen. * Die Stunde der Ratte war angebrochen, als endlich ein Boot in Sicht geriet, das direkt auf sie zuhielt. „Sang-Yün“, sagte der Pirat erleichtert. Er überzeugte sich, daß die Männer auf den kleinen Bambusflößen auf ihren Posten waren und gab vorsichtshalber mit der Hand ein Zeichen, daß dieses Boot kein Feind war, denn immer wieder gab es einen Hitzkopf, der voreilig handelte und erst feuerte und dann Fragen stellte. Sechs . Männer befanden sich an Bord der kleinen Dschunke, die mit geblähtem Segel direkt auf sie zuhielt und schnell größer wurde. An Deck stand ein Bambuskäfig, in dem mindestens sechs oder sieben Tauben flatterten.
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Der alte Sang-Yün dachte aber wirklich an alles, sogar die neuen fliegenden Diener hatte er nicht vergessen. „Er hat einen Mast mitgebracht“, sagte Wu. Der alte Chinese, ein getarnter Händler, der hauptsächlich auf Khai Wangs Kosten lebte, und ihn dafür mit allem versorgte, was er benötigte, verneigte sich schon von weitem, legte immer wieder die Hände über der Brust zusammen und grinste, daß man seine verfaulten Zähne sah. Er trug ein schwarzglänzendes Seidengewand, eine kleine schwarze Kappe auf dem Schädel und Bastschuhe, aus denen seine schmutzigen Füße hervorsahen. „Sei gegrüßt, Sohn des Himmels“, sagte er schrill. „möge dir immer die Sonne scheinen und möge ...“ „Schon gut, Sang, enter an Bord! Reicht den Mast gleich nach oben und laß deine Leute folgen.“ Der Mast, aus leichtem Holz und nicht ganz so groß wie der andere, wurde mit Tauen und vereinten Kräften an Bord gehievt. Jeder half schwitzend und keuchend mit, bis das Ungetüm an Deck lag. „Ich habe Neuigkeiten, hoher Herr. Werden hohen Herrn ganz sicher interessieren.“ Wu nahm die Tauben ah, die fliegenden Diener, die Khai Wang schon oft aus prekären Situationen gerettet hatten, und die er daher auch immer liebevoll pflegte und versorgte. „Erzähle! Was hast du erfahren?“ Die fünf anderen Leute, Schiffsbauer, Holzverarbeiter und Segelmacher, verschwanden lautlos im Raum, nachdem sie Khai Wang ehrfürchtig und still begrüßt hatten. Sie begaben sich sofort an die Arbeit und schleppten Geräte und Werkzeug mit sich. „Reiter durcheilen die Provinzen“, begann Sang-Yün zu erzählen. „Sie haben auch mir berichtet. In den Hafen von Shanghai sind Fremde Teufel eingelaufen, zwei Schiffe, ein chinesisches mit dem Namen ,Eiliger Drache über den Wassern', und ein
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anderes, das aus einem Land im Norden stammt. Es trägt den Namen einer Herrscherin, und sein Kapitän ist ein großer Pirat, ein schlimmer Mann. Sie nennen ihn einen Wolf zur See.“ Der Alte sah Khai Wang an und bemerkte, wie die Geißel des Gelben Meeres die Farbe wechselte. „Fühlt der hohe Herr sich nicht wohl?“ Khai Wang packte ihn am Kragen und schüttelte ihn. „Erzähl weiter!“ fauchte er. Erschrocken taumelte der Alte zurück, den Mund verkniffen und den Blick seiner dunklen Augen auf Khai Wang gerichtet. „Dieser Mann hat in Shanghai viel Aufsehen erregt“, sprach der Alte mit zitternder Stimme weiter. Khai Wang musterte ihn mißtrausch. „Warum viel -Aufsehen, Sang? Was hat er getan?“ „Der Kuan ließ eine Piratin hinrichten, die man mit einer Dschunke heimlich nach Shanghai gebracht hatte. Aber der, fremde Teufel hat sie direkt bei der Hinrichtung befreit.“ Die Augen des Piraten wurden ganz schmal. Sein Gesicht lief rot an, und er zuckte unwillkürlich zusammen, als der Alte mit leiser Stimme weitersprach. „Der Henker fiel tot um, als er das Schwert hob. Die Piratin flüchtete mit den fremden Teufeln, die den Hafen von Shanghai in die Luft sprengten. So ein Durcheinander hat es im Hafengebiet noch nie gegeben. Eine Kriegsdschunke hat sofort die Verfolgung der fremden Teufel auf genommen.“ „Und - was weiter? Hat man sie gekriegt?“ „Nein, der Wolf der See hat die Dschunke zerschossen, so daß sie nur mit Mühe in den Hafen zurückkehrte. Der Kapitän der Kriegsdschunke entleibte sich wegen der Schmach.“ „Scheiß auf den Kapitän!“ brüllte Khai Wang unbeherrscht los. „Ich will wissen, wo die Piratin jetzt ist!“ „Sie ist an Bord des Schiffes.“ „Wo ist das Schiff jetzt?“ „Es segelt mit Nordkurs, ehrenwerter Herr, und es wird nicht mehr lange dauern, dann
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wird es hier sein. Der Kuan hat versucht, es aufhalten zu lassen. Man hat vier Gemüsedschunken getarnt und sie mit Soldaten besetzt, die das Schiff überfallen sollten.“ „Haben sie es geschafft?“ „Nein, hoher, ehrenwerter Herr, sie haben es nicht geschafft. Der Kriegsgott war gegen sie. Der Wolf hat sie versenkt und ist weitergesegelt.“ „Und die Piratin befindet sich bei ihm an Bord?“ „So ist es, hoher Herr!“ Auch der Steuermann Wu hatte alles mitgekriegt. Er wechselte mit dem Kapitän einen schnellen Blick. „Alles ist schiefgegangen“, flüsterte er entsetzt, „und wir liegen hilflos auf dem Riff! Was tun wir, hoher Herr?“ Khai Wang fing sich wie immer erstaunlich schnell. „Wo ist das Dschunkenschiff jetzt?“ fragte er. „Es liegt im- Hafen und darf nicht auslaufen.“ „Dann bleibt uns noch Cheng-Li'', sagte der Pirat. „Er wird auch bald hier erscheinen.“ Aber der Alte vernichtete auch diese Hoffnung. „Cheng-Lis Schiff ist nur noch ein Wrack, wie ich hörte. Aber ich habe nicht mehr darüber erfahren, hoher Herr. Es heißt, der Wolf der See hat es vernichtet.“ „Ein Hexer, ein Teufel!“ schrie Khai Wang. „Er steht mit den finsteren Mächten im Bunde — und diese Korsarin auch.“ „Bestimmt ist er ein Hexer“, sagte der Alte. „Aber auch bei uns gibt es Hexer, und sie werden ihn bald kriegen. Dann wird man ihn öffentlich verbrennen.“ Khai Wang teilte diese Ansicht zwar noch lange nicht, aber er versuchte wenigstens, sich vor dem Alten nichts anmerken zu lassen. Seine Stimme klang wieder ausdruckslos und unbeteiligt. „Laß deine Leute so schnell arbeiten wie noch nie in ihrem Leben! Ohne Pause, ich befehle es. Das Leck muß abgedichtet und das Wasser aus dem Schiff gepumpt
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werden. Und dann müssen wir versuchen, von diesen Klippen abzuschwimmen.“ Der Alte verbeugte sich. „Wenn das Leck abgedichtet ist, hoher Herr, wird das Schiff noch etwas geleichtert werden. Die Flut hebt es dann von den Felsen.“ Er wollte zum Laderaum davoneilen, aber Khai Wang hielt ihn fest. „Du kannst es dir aussuchen, Sang-Yün“, sagte er leise. „Entweder schaffst du es in ganz kurzer Zeit und erhältst dafür zwanzig Silberbarren, oder du schaffst es nicht, dann kriegst du keine Silberbarren, aber ich nehme mir deinen Kopf. Er wird dann einen Ehrenplatz ganz oben am Mast haben, und du wirst das ganze Gelbe Meer überblicken können.“ Khai Wang wußte nicht, was den Alten mehr anstachelte — die versprochenen zwanzig Silberbarren oder die Aussicht, ziemlich bald schon ohne Rumpf am Mast zu hängen. Wahrscheinlich beflügelte ihn beides, dachte der Pirat. Gleich darauf wurde geklopft, gehämmert und gesägt. Die Männer eilten geschäftig hin und her. Wu arbeitete wie besessen, und auch Khai Wang legte überall Hand an, damit es voranging. Die Hiobsbotschaften, die er erhalten hatte, regten seine Phantasie mächtig an, und er wollte nach Möglichkeit vermeiden, mit dem Wolf der See zusammenzustoßen, der ein Hexer war und es fertig gebracht hatte, die Korsarin zu befreien und auch noch den halben Hafen von Shanghai in die Luft zu sprengen. Er hatte keine übergroße Angst vor diesem Mann, aber er war sich sicher, daß es einen erbarmungslosen Kampf geben würde, wenn sie mal zusammentrafen. Und . das konnte schon sehr bald der Fall sein, wenn der Wolf der See auf Nordkurs segelte. Ein Mann hielt pausenlos Ausguck. Khai Wang hatte ihm angedroht, daß er mit ihm genauso verfahren würde wie mit dem Rudergänger, wenn er nicht aufpaßte. Pausenlos ging die Arbeit voran. Die Männer, die nicht an dem Leck arbeiteten, waren damit beschäftigt, den neuen Mast aufzuriggen.
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Langsam zeichneten sich Fortschritte ab. 7. Mehr als einen Tag lang segelte die „Isabella“ mit Nordkurs an der Küste entlang, ohne daß sich etwas Nennenswerte ereignete. Kleinere Schiffe waren ihnen begegnet, aber die waren immer zur Küste hin ausgewichen und kreuzten, weil sie gegen den Wind ohnehin nur mühselig voransegelten. Die Sanduhr zeigte die fünfte Stunde nachmittags an, als sich wieder etwas ereignete. Der Ausguck sichtete Backbord voraus ein Schiff, das etwas schräg geneigt im Wasser lag und nicht besegelt war. Zuerst hielt man es für ein Wrack, doch dann wurden Leute an Deck gesichtet, und Hasard fragte sich zum wiederholten Male, ob man sie schon wieder in eine Falle locken wollte. Die Chinesen waren in dieser Hinsicht einfallsreich und scheuten keine Umstände, um die „Isabella“ zu schnappen. „Khai Wang“, sagte die Korsarin sofort, nachdem sie einen kurzen Blick durch das Spektiv geworfen hatte. „Der Pirat, der dir die, ganzen Schwierigkeiten bereitete?“ Der Seewolf lachte. „Wenn er das wirklich ist, dann haben wir ihn ja endlich. Ich kann es noch gar nicht glauben.“ „Er ist es, und wie es aussieht, ist er irgendwo auf die Klippen gelaufen und liegt nun fest.“ „Das kann auch ein Irrtum sein“, erwiderte Hasard. „Oder eine neue Teufelei steckt dahinter. Ich denke, dieser Kerl kennt die Gewässer an der Küste wie seine Hosentasche.“ „Ich weiß nicht, was da passiert ist“, sagte Siri-Tong, und Hasard bemerkte wieder diese hektischen roten Flecken in ihrem Gesicht und sah auch, wie ihre Augen vor Haß Blitze schleuderten. Sie hatte sich mit den Händen auf die Holzleiste der FiveRail aufgestützt und krallte ihre
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Fingernägel ins Holz, daß ihre Knöchel weiß hervortraten. Der Seewolf warf dem Mädchen „Flüssiges Licht“ einen schnellen Blick zu. „Es ist besser, wenn du wieder unter Deck gehst“, sagte er. Mit einer kleinen Verbeugung verabschiedete sie sich sofort, warf der Korsarin noch einen freundlichen Blick zu und verschwand dann. „Hast du Angst um sie?“ fragte Siri-Tong beiläufig. „Natürlich habe ich Angst um sie. Schließlich verläßt sie uns auf der Rückfahrt wieder, und wenn einer der Kerle sie durch Zufall später erkennt und sie bei mir an Bord gesehen hat, dann habe ich ihr ganz bestimmt keinen Gefallen erwiesen. Dann weiß jeder, daß sie es war, die alles ausgekundschaftet hat.“ „Aber sie hat sich doch verkleidet.“ „In China gibt es viele Augen, und viele Augen sehen auch dementsprechend viel. Hast du diese Weisheit schon vergessen?“ Dan enterte, ohne ein Wort zu sagen, in den Großmast, blickte sich um und konzentrierte sein Augenmerk auf das gestrandete Schiff. Damit wollte er den Ausguck, den jetzt Batuti innehatte, keinesfalls beleidigen, und der Neger faßte das auch nicht so auf, denn er sagte anerkennend: „Kleines Dan sehen mit zwei Augen immer mehr als zehn Männer mit zwanzig Augen.“ „Ich hab auch eingebaute Spektive in den Augen“, behauptete Dan O'Flynn ernsthaft. „Was kleines Dan nicht sagen! Stimmt oder wollen armes Batuti nur verarschen?“ „Das stimmt. Sir Freemont hat sie mir mal eingebaut, als wir noch in Plymouth waren. Er hatte aber nur noch zwei da, sonst hätte er es bei den anderen auch getan.“ Der gutmütige Gambia-Neger, der Dans Worte meist für bare Münze nahm, kniff die Augen zusammen und schüttelte verblüfft den Kopf. „Du mir nie gesagt“, meinte er. „Das soll auch ein Geheimnis bleiben, verstehst du? Bis jetzt weiß es nur der Kapitän, sonst niemand. Und du natürlich“, setzte er hinzu.
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Batuti war so verdattert und rätselte darüber nach, daß es ihm glatt die Sprache verschlug. Er forschte mißtrauisch in Dans Gesicht, doch das blieb völlig ernst. Dan grinste auch nicht, und so schwankte der Neger zwischen Glauben und dem Gedanken, daß Dan ihm vielleicht doch die Wahrheit sagte. Doktor Freemont war ja ohnehin ein Arzt, der Wunder vollbrachte, der wußte alles und konnte alles und hatte sogar die schweren Schädelverletzungen des Seewolfs wieder geheilt. Bevor Dan wieder abenterte, grinste er den Neger an. „Wenn wir mal Plymouth anlaufen“, flüsterte er, „dann sorge ich dafür, daß Sir Freemont dir auch ein Spektiv einbaut.“ „Wirklich? Batuti sich viel freuen.“ „Klar“, versicherte Dan treuherzig, „er wird es dir in den Hintern einsetzen, dann kannst du nach allen Seiten gucken und brauchst dich nicht dauernd umzudrehen.“ Erst nach einer Weile, als Dan schon wieder abgeentert war, fand der Neger seine Sprache wieder. „Was nur aus kleines Dan geworden“, sagte er leise. „Jetzt, wo Batuti nicht mehr brauchen aufpassen, kleines Dan immer rotziger, abergutes Seemann, bald wie Kapitän.“ Dan war inzwischen wieder auf dem Achterdeck angelangt. „Siehst du die kleinen Flöße in der See?“ fragte er den Seewolf. „Ja, ich weiß nur nicht, was sie zu bedeuten haben. Sind sie nicht jeweils mit einem Mann besetzt?“ „Richtig, Sir! Auf jedem Floß hockt ein Chinese. Offenbar ist dieser lausige Pirat doch gestrandet.“ „Und was haben die Flöße deiner Ansicht nach zu bedeuten?“ „Darf ich dir einen Vorschlag unterbreiten, Sir?“ fragte Dan. „Aber sicher, wenn er gut ist!“ „Laß das große Segel und die Blinde wegnehmen, damit wir weniger Fahrt laufen. Und dann laß den Kurs um zwei Strich nach Steuerbord ändern.“ Hasard stellte keine einzige Frage, er sah Dan nur scharf an und forschte in dem
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männlich und hart gewordenen Gesicht. Er wußte, daß er ihm vertrauen konnte. „Geit das Großsegel zu zwei Dritteln auf!“ rief er vom Achterdeck hinunter. „Nehmt die Blinde weg! Pete! Zwei Strich nach Steuerbord!“ „Zwei Strich Steuerbord, aye, aye, Sir!“ wiederholte der Rudergänger Pete Ballie. „Würdest du mir jetzt erklären, was anliegt, Dan?“ Dan nickte der Korsarin zu, die mit seinen Vorschlägen offenbar nicht ganz einverstanden war und eine steile Unmutfalte auf der Stirn hatte. Aber sie kannte Dans Gründe auch nicht. „Auf den Flößen sind Brandsätze aufgebaut“, erklärte Dan. „Vier Flöße ankern im Abstand von knapp drei Kabellängen in jeder Himmelsrichtung um das gestrandete Schiff herum. Es ist auf die Klippen aufgelaufen und liegt fest. Dieser verdammte lausige Pirat ist gar nicht so dumm, er hat sich nach allen Seiten vorzüglich abgesichert.“ Hasard nickte anerkennend. „Ich verstehe, er ist also so gut wie unangreifbar.. Nähert man sich dem Schiff, ballern die Flöße Brandsätze in alle Himmelsrichtungen. Die Entfernung ist so gewählt, daß man nicht näher an ihn heransegeln kann, ohne das Höllenfeuer zu riskieren.“ „Richtig, Sir, genau das wollte ich damit sagen Vorerst müssen wir Abstand halten, aber damit wir nicht zu schnell an dem Burschen vorbeisegeln, haben wir die beiden Segel auf gegeit. So haben wir. Zeit, um alles genau zu betrachten, ohne daß er uns einen Brandsatz nachjagen kann. Daher der Kurswechsel.“ .“Man merkt, daß du schon lange nicht mehr das vorlaute Bürschchen von früher bist“, sagte Hasard, und das war Anerkennung genug, mehr brauchte Donegal Daniel O'Flynn nicht. „Du hast noch mehr Vorschläge, wie?“ fragte der Seewolf, als das Großsegel und die Blinde im Gei hingen. „Oh, ich wüßte schon noch etwas, wie wir diesen Burschen so packen können, daß er sich die Pest an den Hals ärgert.“
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„Und wie?“ Hasard hatte selbst schon eine Idee entwickelt, und sogar der Profos, der das gestrandete Schiff ansah, stellte sich vor, wie sie den Kerlen zuleibe rücken konnten. „In etwa zwei Stunden wird es dunkel“, sagte Dan. „Wir segeln einfach weiter, bis wir außer Sichtweite sind, dann segeln wir gegen den Wind zurück, und vier von uns springen ungesehen nachts über Bord.“ „Und wenn der Mond scheint, Dan ?“ „Sieht nicht danach aus, Sir! Alles ist bewölkt.“ „Weiter!“ Dan zuckte mit den Schultern und grinste. „Ganz einfach. Wir entern die Flöße, ihr kreuzt bis zum Morgengrauen in der Nähe, und bevor der Kerl es richtig mitkriegt, brennen wir ihm aus nächster Nähe seine eigenen Brandsätze auf! Was glaubst du, wie der staunen wird!“ Der Seewolf lachte laut. „Ja, das wird er. Das wird ihn allerdings höllisch überraschen.“ „Heißt das, du findest meine Idee gut?“ „Sehr gut finde ich sie. So was kann nur auf dem Mist der O'Flynns wachsen. Aber es ist ein guter Mist“, setzte er hinzu, als Dan das Gesicht verzog. „Gut, geh in die Kuhl und sage den Männern Bescheid. Du übernimmst das Kommando, wenn du drei weitere Freiwillige gefunden hast. Es und Ferris dürfen es aber nicht sein, die sind zu groß. Nimm dir also ein paar andere.“ „Der Profos wird motzen.“ „Laß ihn motzen, er wird es einsehen.“ Dan marschierte in die Kuhl, und sogleich wurde Carberrys Protestgebrüll laut. Natürlich wollte er dabei sein, so eine Aktion ließ er sich nicht entgehen, doch schon sehr bald, als Dan mit beschwörenden Gesten glänzte, verstummte die Stimme des Profos', und er wurde nachdenklich. Schließlich kehrte Dan wieder aufs Achterdeck zurück. „Matt Davies, Sam Roskill, Smoky und ich“, zählte er auf. „Es wollten noch mehr mit, die sind ganz begeistert, Sir.“
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„Steck dir deinen ,Sir` endlich mal an den Hut!“ „Gern, Sir!“ „Es ist ein Kreuz mit dir, Dan O'Flynn“, sagte Hasard grinsend, „aber einen so guten Vorschlag habe ich schon lange nicht mehr gehört.“ In respektablem Abstand glitt die „Isabella“ stolz und majestätisch an dem gestrandeten Schiff vorbei. * Khai Wang stand mit ausdruckslosem Gesicht an Deck, als die „Isabella“ gesichtet wurde. Er gab den Leuten auf den Flößen 'mit der Hand ein Zeichen und deutete auf den Rahsegler. Wu stand neben ihm. „Die werden sich blutige Köpfe holen, hoher Herr“, sagte der Steuermann, aber er fühlte sich nicht ganz wohl in seiner Haut. Khai Wang erging es ähnlich. Da war es wieder, dieses Gefühl der dumpfen Beklemmung. Eine Aura der Gewalt schien von dem fremden Segler auszugehen - und von dem „Hexer“, der auf dem Achterdeck stand. Plötzlich wechselte der Segler den Kurs und nahm das vordere Segel und das Großsegel ins Gei. Khai Wang grinste spöttisch. „Aha, sie haben etwas gerochen“, sagte er. „Die Flöße schrecken sie ab, und der Kapitän ist nicht so dumm, es mit ihnen aufzunehmen, denn seine Kanonen reichen nicht so weit wie die Pfeile. Er hat Angst und will die Angriffsfläche verkleinern, deshalb nimmt er einen Teil der Segel weg.“ „Später wird er uns irgendwo auflauern“, sagte Wu. „Soll er, wir sind noch heute nacht oder spätestens morgen früh mit den Arbeiten fertig, da kann er lauern, solange er will. Wir laufen auf einem anderen Kurs nach Peiping.“ „Er dreht noch weiter“, sagte Wu und schlug sich auf die Oberschenkel. „Tatsächlich, die haben Angst, die Kerle.“
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Der Pirat wartete auf weitere Manöver, aber das Schiff glitt in großem Abstand vorbei, es war so weit entfernt, daß die Brandsätze es nicht erreichen konnten. Nur die Leute sah man, die in den Wanten hingen, aber sie waren zur Untätigkeit verdammt und rührten sich nicht. Wie sollten sie auch, dachte Khai Wang. Sie blickten dem schlanken Rahsegler so lange nach, bis er als kleiner Fleck an der Kimm verschwand. „Dort können sie solange warten, bis sie der Teufel holt“, sagte der Pirat grinsend. „Da werden sie noch tagelang warten. Bis dahin sind wir längst weg und haben die Mumie abgeliefert.“ * Auch auf der „Isabella“ grinsten sie. Hasard lehnte am Schanzkleid und blickte in die Kuhl hinunter. „Ich glaube, ich kenne die Gedanken dieser Halunken ganz genau“, sagte er. „Die nehmen an, wir hätten die Hosen gestrichen voll, und glauben, wir werden uns irgendwo am Horizont auf die Lauer legen. Daher überlegt dieser Khai Wang jetzt, wie er uns überlisten kann.“ „Der wird sich noch wundern“, sagte Matt Davies und hob seine blitzende Hakenprothese hoch. „Wenn er die erst einmal im Kreuz hat, vergehen ihm sämtliche Schmerzen.“ In der Kuhl wurde geflachst, dabei unterschätzten sie diesen Piraten natürlich nicht. Das war ein ausgefuchster, mit allen Wassern Asiens, gewaschener Hund, der sich nicht den Reis aus der Schüssel nehmen ließ, wie Siri-Tong versicherte. Das aufgelaufene Schiff wurde kleiner, bis es durch die Oberflächenkrümmung schließlich aus der Sicht verschwand. Gleich darauf kroch auch schon die Dämmerung am Horizont hoch. Edwin Carberry stützte die Arme in die Hüften. „So, ihr Rübenschweine“, sagte er gemütlich, „nun zeigt mal, was ihr könnt. Dreht das Schiffchen herum, ihr Hengste, aber flott! Jetzt werden wir mal ein
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bißchen gegen den Wind klüsen, damit der euch nicht ständig in den Hintern pustet!“ Er hatte Hasards Zeichen gesehen, und dann ging es los. Bis sie die Stelle wieder erreichten, wo Khai Wangs Dreimaster lag, würden mehr als zwei Stunden vergehen. Dann war es absolut finster. Der Himmel war mit Wolken bedeckt, der Mond schien nicht. Die See ging ruhig, und sie konnten fast gemütlich kreuzen, jedenfalls würde es bei diesem Wetter keine sehr große Anstrengung werden. Die Männer arbeiten verbissen an Schoten und Brassen, bis die „Isabella“ ihren Kurs um hundertachtzig Grad geändert hatte und gegen den Wind lief. Jetzt war sie natürlich langsamer, aber die Dunkelheit war in diesem Fall ihr Freund und gereichte ihnen nicht zum Nachteil. Dan, Sam Roskill, der Decksälteste Smoky und Matt Davies hatten sich Messer ausgesucht, die sie beim Schwimmen nicht behinderten. „Das wird ein verflucht langes Stück“, sagte Dan. „Soll für dich nicht jemand anderer einspringen, Matt?“ „Bist du verrückt?“ fauchte Matt aufgebracht. „Du glaubst wohl, ich kann mit meinem Haken nicht schwimmen, du Stint, was? Dir schwimm ich sogar noch im Morast davon.“ „Schon gut, reg dich wieder ab! Ich übernehme also das Floß, das am weitesten entfernt ist, Smoky schnappt sich das erste, Sam greift sich den Kerl im Süden und du nimmst das andere, Matt!“ „Alles klar, wie besprochen. Es muß absolut lautlos gehen, sonst sind wir die Dummen. Wir feuern die Brandsätze auf das Schiff ab und verschwinden wieder. Sobald das geschehen ist, schwimmen wir an Bord zurück, während unser Schiff wartet. Khai Wang kriegt dann gleich noch ein paar Grüße aus den Culverinen. Das wird ihn ganz sicher mächtig überraschen.“ „Wenn man euch so reden hört, geht das alles wie ein Kinderspiel“, sagte Hasard. „Stellt euch das bitte nicht zu leicht vor, denn dieser Khai Wang ist gewiß nicht auf
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den Kopf gefallen. Das hat Siri-Tong schon gesagt.“ „Wir schaffen es trotzdem“, sagte Dan zuversichtlich. Zum Glück ging die See nicht hoch, und so tanzten die kleinen Flöße nur unruhig auf den Wellen, ohne daß sie ständig Wasser übernahmen. Die Flöße waren gut zu sehen. Dicht unterhalb des drehbaren Gestells hing ein kleines Windlicht, dessen Flamme ruhig brannte. Die Beleuchtung reichte nicht aus, um das Floß zu erhellen, aber der Mann, der darauf kauerte, war schwach zu erkennen. Hasard gab den Männern letzte Instruktionen, dann klopfte er ihnen auf die Schultern und wünschte ihnen viel Glück. Sollte Khai Wangs Schiff in Flammen aufgehen, würden sie alles versuchen, um die Mumie von Bord zu holen, das einzige Pfandstück, das sie noch hatten und mit dessen Hilfe Siri-Tong sich vielleicht rehabilitieren konnte. „Los, springt!“ rief Dan leise, als sie die Höhe der kleinen Flöße erreicht hatten. Er sprang zuerst, gefolgt von Matt Davies, Smoky und Sam Roskill. Ihre Entermesser hatten sie zwischen die Zähne genommen. „Verflucht kalt die Brühe“, sagte Matt, als er wieder aus dem Wasser auftauchte. Ruhig schwammen sie nebeneinander her, während die „Isabella“ unsichtbar für ihre Augen, vorbeizog und mit nur wenigen Segeln kreuzte. So würde sie sich nicht allzu weit von der Stelle entfernen. Eine halbe Stunde verging. Die vier Männer schwammen immer noch nebeneinander. Sie sprachen nicht, sondern konzentrierten sich auf ihr Ziel, das in nicht allzu weiter Entfernung knapp aus dem Wasser ragte. Geisterhaft wirkten die winzigen Flöße. Ab und zu bewegte sich eine der kauernden Gestalten und nahm eine andere Stellung ein, damit ihnen nicht die Beine einschliefen. Dan schwamm in ruhigen Zügen neben Matt Davies her. „Auf die Flöße zu gelangen, wird nicht leicht sein, Matt“, raunte er dem
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Kameraden zu. „Du mußt dich wie ein fliegender Fisch hinaufschnellen.“ „Das ist kein. Problem“, erwiderte Matt gelassen. „Ich frage mich nur, ob man das nicht von dem Piratenschiff bemerkt, denn immerhin sind die Flöße erhellt.“ „Damit rechnet keiner, Matt, und ich glaube auch nicht, daß sie die Flöße ständig im Auge behalten. Die haben doch mehr Arbeit, als ihnen lieb ist.“ Das Wasser trug Geräusche deutlich weiter. Aus dem Schiffsrumpf der gestrandeten Piratendschunke waren Hämmern und Klopfen zu hören. Wenn man den Kopf kurz unter Wasser hielt, vernahm man die Geräusche noch deutlicher. Dan stieß Smoky an, den Decksältesten. „Möglichst lautlos, Smoky“, sagte er, „ein einziger Schrei von einem dieser Kerle, und wir sind geliefert.“ Smoky grinste, schnappte einen Strahl Seewasser auf und spiel ihn in hohem Bogen wieder von sich. „Äh, pfui Deibel“, sagte er, mehr nicht. „Wartet noch, ich schwimme weiter“, sagte Dan gelassen. „Zählt bis hundert, dann entert ihr, in der Zeit werde ich das andere Floß erreicht haben.“ „Schnauze halten“, zischte Matt, „die hören uns sonst.“ Von nun an war jeder auf sich gestellt. Die Männer verteilten sich, jeder schwamm das ihm zugedachte Floß an, doch kurz bevor sie es erreichten, warteten sie und traten Wasser oder ließen sich einfach treiben. , In Gedanken zählten sie, und da sie unterschiedlich zählten, war auch die Zeit verschieden, in der sie die Flöße enterten. Smoky war bis auf zwanzig Yards an sein Floß herangeschwommen. Ihn fror jetzt, denn das Wasser war nicht gerade angenehm. Doch wenn er sich erst einmal Bewegung verschaffte und sich warm prügelte, würde es schon wieder gehen. Ein letztes Mal drehte er sich in die Richtung, in der er die „Isabella“ vermutete, aber die war genauso wenig zu sehen wie das Piratenschiff, das etwa vierhundert Yards entfernt auf den Klippen
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liegen mußte. Er orientierte sich nach dem Gehör. Der Chinese auf dem Floß hockte neben dem hölzernen Gestell, aus dem sie die Brandsätze abschossen. Er trug eine wattierte Jacke und schien zu schlafen. Aber das schien nur so, denn Smoky sah seine Augen, die ihn direkt anstarrten. Dicht neben ihm schaukelte die trübe Funzel und beleuchtete sein Gesicht. Lautlos schwamm Smoky näher, bis er den Rand des Bambusfloßes erreichte. Das Hinaufschnellen war gar, nicht so einfach und konnte mit einem großen Fiasko enden. Außerdem brachte er in dem kühlen Wasser kaum die Kraft auf, sich wie ein Fisch emporzuschnellen. Er wartete noch, hörte den Chinesen etwas murmeln und sah, wie der sich aus seiner kauernden Haltung erhob. Er drückte das Kreuz durch, breitete die Arme aus und versuchte, sich umständlich hinzustellen. Smoky griff zu, als der Chinese nur eine Armlänge von ihm entfernt war und seine alte Position wieder einnehmen wollte. Er packte die wattierte Jacke und riß den Kerl mit einem blitzschnellen Griff ins Wasser. Vor Schreck, Angst und Überraschung brachte der Chinese keinen Ton hervor. Er zappelte, ging unter und strampelte. Smoky, das Messer immer noch zwischen den Zähnen, schlug ihm seine knochenharte Faust an den Schädel. Ohne einen Laut versank der Chinese in den Fluten. Smoky enterte das Floß, das bedrohlich kippte, zog sich hinauf und blieb erst einmal, nach Luft ringend, liegen. Dann orientierte er sich und betrachtete das Gestell und die Brandsätze. Mit Hilfe der kleinen Öllampe waren die Zündschnüre ganz einfach anzustecken. Er hielt nach dem Chinesen Ausschau, der so lautlos in der Tiefe verschwunden war, aber er sah ihn nicht, der Mann tauchte nicht mehr auf. Die See hatte ihn verschluckt. Smoky saß da, frierend, klatschnaß und wartete.
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Der nächste war Matt Davies. Auch er hing jetzt greifbar nahe vor dem anderen Floß und sah den Mann, der breitbeinig darauf stand, um das Gewicht auszubalancieren. Matt Davies umschwamm das Floß, bis er den Rücken des Mannes sah. Der trat immer wieder auf der Stelle, schlenkerte mit den Armen und war auch schon ganz steif im Kreuz. Eine Zeitlang beobachtete ihn Matt. Dann fesselte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Rechts hinter ihm zuckte ein kleines Flämmchen auf, und er sah undeutlich einen Mann mit einer Lampe, der über das Deck des Piratenschiffes ging. Ein zweiter trat hinzu. Die Dschunke ließ sich jetzt etwas deutlicher erkennen. Das Klopfen und Hämmern war immer noch deutlich zu hören. Sie sind anscheinend sorglos geworden, dachte der Mann mit der Hakenprothese, und sie hatten als zusätzliche Sicherung ja die bewaffneten Flöße. Außerdem mußten sie ihre Arbeit vorantreiben, damit sie die Klippen verlassen konnten. Jetzt ließ der Mann sich wieder langsam und bedächtig auf die Stangen des Floßes nieder, zwischen denen unablässig Seewasser hindurch quoll. Matt riskierte es, der Augenblick war günstig. Er hob den Arm mit dem Haken und langte nach dem Mann, der sich ausgerechnet in diesem Augenblick umdrehte, den Haken in dem schwachen Licht sah und ihn wie eine Geistererscheinung anstarrte. Matt Davies schlug zu, mit der stumpfen Seite des Hakens, traf den Kopf des Mannes und vernahm ein leises Ächzen, als der Chinese vom Floß kippte. Es klatschte leise, als er in der See verschwand. Dann zog sich Matt aufs Floß. Auch von diesem Chinesen sah er nichts mehr, der Mann verschwand spurlos. * Bei Sam Roskill lief es beinahe schief.
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Entweder hatte der Kerl ihn gesehen, oder er hatte etwas gehört als Sam sich dem Floß näherte. Jedenfalls sprang er plötzlich auf, das Floß geriet in Schräglage, und der Chinese versuchte es auszutrimmen, indem er sich der Länge nach wieder hinwarf. Roskill preßte die Zähne zusammen, schnellte aus dem Wasser und warf sich ebenfalls auf das Floß. Das kleine Ding stellte sich in einen spitzen Winkel zur See und warf alle beide ab. Der Chinese stieß einen Schrei aus. als er den Mann neben sich im Wasser sah, und griff sofort an. Er versuchte, Sam zwei Finger seiner Hand in die Augen zu drücken. Gleichzeitig paddelte er wie ein Hund im Wasser. Sam Roskill hielt ihn sich vom Leib, nahm das Messer und stach nach dem Mann, doch der war wendig und flink und wich dem Angriff in letzter Sekunde geschickt aus. Gleich darauf fühlte Sam Roskill, wie ein Bleigewicht an seinen Beinen hing, das ihn in die Tiefe zu reißen drohte. Sein Kopf geriet unter Wasser, tauchte wieder auf und knallte an das Bambusfloß. Erst ein nach unten geführter Hieb mit dem Messer verschaffte ihm Ruhe. Der Chinese ließ los, tauchte auf und versuchte es noch einmal. Sam stach zu und traf. Der Chinese ging nicht unter, er trieb auf dem Rücken weiter und starrte aus gebrochenen Augen in den pechschwarzen Himmel. Sam enterte auf, keuchte und blieb erschöpft liegen. Dann wartete er ab, bis Dan etwas unternahm. * Der junge O'Flynn schwamm sein Ziel auf geradem Weg an, bis er dicht vor dem Floß war, auf dem ein durchnäßter Mann hockte. Er brachte es fertig, sich wie ein Fisch aus dem Wasser schnellen zu lassen, stürzte sich auf den Mann und erledigte ihn so schnell, daß der Chinese gar nicht mitkriegte, was passierte.
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Dann nahm Dan seinen Platz ein, untersuchte die Brandsätze und schraubte den Docht der kleinen Öllampe etwas herunter, die zu hell brannte. Er hatte auch die Lichter an Bord gesehen und fragte sich, warum dort drüben alles erleuchtet war. Hatte jemand etwas bemerkt? Er glaubte es nicht, denn anscheinend war alles glatt abgelaufen. Da er das Floß als letzter erreicht hatte, durfte er getrost annehmen, daß die drei anderen ihre Aufgabe bewältigt hatten. Also würde er den Anfang machen und Khai Wang mit seinen eigenen Brandsätzen unter Feuer nehmen. Probehalber drehte er das Gestell, eine einfache Vorrichtung, die sich nach jeder beliebigen Richtung sowie nach unten und oben drehen ließ, ähnlich der drehbaren Gabellafette einer Drehbasse. nur noch viel beweglicher. Inzwischen war viel Zeit vergangen. Wieviel, das wußte Dan nicht, aber es mochte sicher schon Mitternacht oder darüber sein. Dann sah er, wie auf dem Piratenschiff immer mehr Leute an Deck erschienen und Lichter entzündet wurden. Auch entging ihm nicht, daß Khai Wangs Schiff nicht mehr so schräg im Wasser lag. Hieß das etwa, daß sich der Pirat verzupfen wollte? Und waren die Arbeiten abgeschlossen? Dan wartete noch einen Augenblick, ehe er nach der kleinen Öllampe griff, um die Brandsätze zu zünden. 8. Bis tief in die Nacht hinein hatten sie geschuftet, und jetzt meldete der alte SangYün, daß das Leck abgedichtet sei, nachdem sie das Wasser aus dem Bauch des Schiffes gepumpt hatten. Unmerklich richtete sich die „Fliegende Schwalbe“ auf, es gab ein leichtes Knirschen, und sie glitt sanft von dem Felsen, der fast zu ihrem Grab geworden wäre.
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Khai Wang lächelte dem Alten zu und klopfte ihm auf den Rücken. „Die Silberbarren sind dir sicher“. sagte er. „Glaubst du, daß die Räume wirklich dicht sind?“ „Ich verbürge mich dafür, hoher Herr! Wir haben getan, was wir konnten, meine Männer sind todmüde, sie haben ihr Bestes gegeben.“ „Ja, das sehe ich.“ Er wandte sich an den Steuermann Wu, der mit rotumränderten Augen herumlief. Wu war leicht reizbar, er hatte seit fast zwei Tagen nicht mehr geschlafen, und jeder ging ihm aus dem Weg. „Laß die Floße an Bord nehmen, Wu!“ befahl Khai Wang. Er hatte selbst mitgearbeitet und schwitzte trotz der 'Kühle der Nacht. Deshalb hatte er sein seidenes Hemd ausgezogen und stand mit nacktem Oberkörper an Deck. In dem schwachen Licht sah man trotzdem deutlich und geisterhaft seine Tätowierungen auf Brust und Rücken. „Hoffentlich sind die Kerle auf ihren Flößen nicht eingeschlafen“, sagte er. „Ich habe sie ein paarmal beobachtet, eins der Floße hat so bedenklich geschaukelt, daß der Kerl fast über Bord gefallen wäre.“ Während Sang-Yün seine versprochenen Silberbarren erhielt, und sich immer wieder tief verneigte, erschienen seine Männer an Deck, verabschieden sich von Khai Wang und gingen in das kleine Boot, das sie hergebracht hatte. Wu wollte in das andere Boot steigen, um die Floßwächter zu holen. Er befand sich gerade darin, als es auf den Flößen lebendig wurde. Die Piraten trauten ihren eigenen Augen nicht. Von einem der Floße loste sich ein greller Feuerschweif, ein Brandsatz stieg unter infernalischem Geheul schräg in den Himmel und zog eine lange Flammenspur hinter sich her, aus der grellweiße Funken stoben. Khai Wang blieb wie erstarrt stehen. „Sind die denn wahnsinnig!“ schrie er mit schriller Stimme. „Die befeuern uns, diese Idioten.“
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Er schrie und tobte, und zu seinem grenzenlosen Entsetzen bemerkte er, wie sich die glühenden Perlschnüre rasend schnell näherten, dann in der Luft zerplatzten und das Muster einer purpurroten Feuerblume bildeten. Wu stand wie gelähmt in dem Boot, er begriff einfach nicht, was da draußen vorging. In den Kerl, der den Brandsatz auf das eigene Schiff abfeuerte, mußte der Teufel gefahren sein. Die Blume aus reinem Feuer zerplatzte immer weiter, ergoß sich dann über dem Schiff und regnete farbenprächtig herab. Sekunden später war die Hölle los. Alle Kerle auf den Flößen schienen den Verstand verloren zu haben. Aus vier verschiedenen Himmelsrichtungen rasten Brandsätze mit bestialischem Geheul heran. Einer fauchte in wilden Schlangenlinien über das Schiff, ein anderer zerplatzte direkt am Mast, und einer raste dicht vor der „Fliegenden Schwalbe“ ins Meer. Im Nu herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander. Aus der finsteren Nacht wurde gleißend heller Tag, als sich die teuflischen Pfeile entzündeten. Das Vorschiff fing Feuer, der neu auf geriggte Mast drohte zu brennen, und überall an Deck zuckten kleine Feuer auf, Flammen, die rasend schnell um sich griffen. Während die Besatzung schreiend durcheinanderrannte und fast den Kopf verlor, lief Khai Wang von einem zum anderen, hieb unbarmherzig auf jeden ein und schrie und brüllte. Wu stand immer noch in dem Boot, stierte zu den Flößen hinüber und sah, wie dort eine Öllampe nach der anderen erlosch. Über sich horte er wüstes Getrappel, Gebrüll, Geschrei, das Knistern der Flammen und hatte das Gefühl, als würde das Schiff jeden Augenblick in einer brüllenden Explosion auseinanderfliegen. In der ersten Panik wollte er mit dem Beiboot davonsegeln. Er wusste nicht mehr, was er tat.
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„Hoffentlich bist du bald an Bord!“ peitschte die Stimme Khai Wangs zu ihm hinunter. Halb gelähmt vor Furcht und Entsetzen enterte er auf und befand sich inmitten tanzender und springender Flammen, die ihn von allen Seiten ansprangen. Sie hatten ein Mittel, um den Brand zu ersticken. Die Feuerwerker hatten es selbst entwickelt, denn immer wieder konnte der Fall eintreten, daß sie selbst mit Brandsätzen angegriffen wurden. Er hastete durch Qualm und Rauch an den verängstigten Männern vorbei, die in ihrer Angst sinnlos mal vom Vorschiff, dann wieder zum Achterdeck liefen, und nicht wußten, was sie tun sollten. Eine Panik war aber das schlimmste, sie würde ihnen allen das Leben kosten. Wu entsann sich, daß das grüne Zeug, mit dem der Brand am schnellsten gelöscht werden konnte, irgendwo neben der Kammer lag, in der auch die Brandsätze aufbewahrt wurden. Um Himmelswillen! dachte er. Wenn das Feuer die Kammer erreichte, würde es das Schiff in tausend kleine Fetzen reißen. Wie ein Glutball würde es auf der See verschwinden. Ein Teil des Niedergangs brannte leicht. Die Feuerkugeln hatten sich in den Ritzen der Decksplanken festgefressen, breiteten sich darin aus und erzeugten immer mehr Hitze. Er stieß einen Seemann, der stocksteif und mit aufgerissenen Augen dastand, in den Rücken und gab ihm noch einen Tritt. Der Mann sauste den Niedergang hinunter, fiel aufs Gesicht und blieb reglos liegen. „Zur Waffenkammer!“ horte er Khai Wang schreien. „Alle Mann zur Waffenkammer!“ Rauch, dichter Qualm und Feuer schlug Wu immer noch entgegen, aber es halb nichts, er mußte die Kammer erreichen und das grünliche Pulver nach oben bringen. In die wild umher rennenden Männer kam Ruhe, als sie Khai Wangs brüllende Stimme horten. Der Pirat hatte sein Krummschwert in der Hand und hieb es jedem erbarmungslos übers Kreuz, der sich nicht auf dem Weg zur Kammer befand.
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Inzwischen wurde der Brand großer und breitete sich aus. Der neue Mast glühte an der oberen Spitze, die langsam verkohlte. Männer behinderten sich gegenseitig, getrieben von Angst, Gebrüll und den Streichen des Krummschwertes, das der Pirat so gut handhabte. Endlich hatte Wu die Kammer erreicht. Seine Augen tränten, der beizende Geruch von brennendem Holz und qualmenden Brandsätzen nahm ihm die Luft. . Halbblind tastete er um sich, bis er die kleinen Fässer fand, die das lebensrettende Zeug enthielten. Er riß den Faßdeckel ab und schleppte das Zeug nach oben, wo er es wahllos auf Deck verstreute. Neben ihm lief Khai Wang, das kleine Faß unter dem Arm, in das er pausenlos hineingriff, um das Feuer zu ersticken. Traf das Pulver auf brennendes Holz, so färbten sich die Flammen zuerst grünlich, dann wurden sie violett und erloschen schließlich. Ungeheuer dichte Qualmwolken stiegen dort auf, wo das Pulver die Flammen erstickte. „Der Mast brennt!“ schrie Khai Wang einen Seemann an. „Los, hinauf! Hier ist das Pulver.“ Auch das Feuer am Mast wurde schließlich erstickt, aber immer noch flackerten kleine Brände auf. Die Leute rannten hin und her, schrien sich gegenseitig an und behinderten sich. „Fliegende Schwalbe“ glich einer Fackel, die langsam verlöschte. * Als Dans Brandsatz abgefeuert war und sein Ziel fand, grinste der junge Mann. Er warf die Öllampe ins Wasser, sprang von dem Floß und schwamm zu Matt Davies hinüber, der auch gerade seinen Brandsatz auf die Reise geschickt hatte. Drüben lohte es, die Nacht wurde zum Tage, als auch der dritte und vierte Brandsatz losheulten, noch in der Luft zerplatzten und ihren grausamen Funkenregen verstreuten. „Mann, das war das ein Erfolg“, sagte Dan begeistert. „Die Kerle sind völlig
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durcheinander. Wir sollten die Gelegenheit nutzen, Matt, der Zeitpunkt ist günstig.“ „Du meinst ...“ „Matt Davies sprach nicht weiter, aber er wußte, was Dan ausdrücken wollte. „Klar, wir entern. Wir sind vier Mann, wir haben das Glück auf unserer Seite, und wenn wir jetzt da drüben in Rauch und Qualm erscheinen, hält man uns für die Teufel persönlich.“ „Aber Hasard wird das Schiff unter Feuer nehmen“, wandte Matt Davies ein. „Solange er nicht weiß, wo wir sind, läßt er ganz sicher nicht feuern, außerdem ist er noch zu weit weg.“ „Halleluja“, sagte Matt und war von dieser Idee jetzt genau so fasziniert wie Dan. „Vielleicht gelingt es uns, die Mumie zu klauen. Wir könnten sie mit einem Floß zurück zur ‚Isabella' bringen.“ „Lösch das Licht, und darin nichts wie rüber zu Smoky”, sagte Dan. „Kannst du noch schwimmen?“ „Verdammt! Weshalb sorgst du dich immer darum, ob ich noch schwimmen kann?“ knurrte Matt. „Klar kann ich!“ Er schleuderte die Öllampe ebenfalls über Bord und sprang dann hinterher. „Die werden sich vielleicht wundern“, sagte er grinsend, wobei seine Arme das Wasser teilten. ..Die denken doch sicher, ihre eigenen Leute hätten sie beschossen.“ „Sieh nur, wie das brennt“, sagte Dan fast andächtig. Immer heller wurde die Nacht, seit der letzte Brandsatz sein Ziel gefunden hatte, und immer größer und höher flackerten die Brände auf. Das Riff auf dem das Piratenschiff lag, war hell erleuchtet. Jede Einzelheit war deutlich zu erkennen. „Das Feuer wärmt sogar meine kalten Knochen“, sagte Matt, ;,ob du es nun glaubst oder nicht!“ „Um so besser.“ Sie erreichten Smokys Floß, der die Lampe ebenfalls gelöscht hatte. Grinsend und frierend hockte der Decksälteste da und sah in die hell lodernden Flammen. „Jetzt wird der Seewolf wohl doch von unserer Mission überzeugt sein“, meinte er.
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„Auf der ‚Isabella' muß man dieses Höllenfeuer doch deutlich sehen können.“ „Klar, das leuchtet über das ganze Gelbe Meer. Und das beste dabei ist, daß die Kerle es nicht mehr löschen können.“ Smoky war sofort begeistert dabei. mit vier Männern das Schiff zu entern. Drüben herrschten Panik und Chaos, alles rannte wie verrückt von einem Deck zum anderen. „Los jetzt, zu Sam rüber, der hockt immer noch auf seinem Floß und starrt sich die Augen aus.“ Roskill war von hier aus ebenfalls deutlich zu sehen. Der Widerschein des Feuers erhellte ihn. Es wunderte sie nicht, daß ihnen niemand die geringste Beachtung schenkte. Sie hatten alle Hände voll zu tun, um den Brand zu löschen. „Da rennen sie vergeblich“, sagte Sam Roskill bibbernd. „Wir haben mit einem einzigen Brandsatz schon Ärger genug gehabt, und Ferris hat das halbe Schiff zusammengeschlagen.“ Auch er glitt ins Wasser. Nebeneinander schwammen sie auf das Schiff zu. „Wir entern achtern auf“, sagte Dan, „da ist es am günstigsten, und wir gelangen auch leichter an Bord.“ „Schwimmt nicht so schnell“, warnte Smoky. „Die Reise war ganz schön anstrengend, und wir haben noch etwas vor!“ Dan schien es nicht zu hören. Der Ehrgeiz hatte ihn wieder einmal gepackt. Vorn brannte der Mast, wie sie sahen, und der größte Teil der Männer stürzte schreiend und fluchend einen Niedergang hinunter. der in dichte Qualmwolken gehüllt war. Lautes Knacken und Prasseln war zu hören, als der Brand sich unaufhaltsam weiterschob. Immer noch fiel es keinem der Chinesen ein, einmal über Bord zu schauen, zu sehr hatte sie die Panik erfaßt. Kurz bevor sie das Achterschiff erreichten, sahen sie die Chinesen gestikulierend an Deck strömen. Rufe und Befehle
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erklangen, und Smoky starrte enttäuscht nach oben. „Verdammt, die haben ein Mittel, das den Brand löscht. Seht nur, wie die Flammen kleiner werden.“ „Tatsächlich!“ stieß Dan hervor. Auf dem Vorschiff erloschen die größten Flammen, aber dafür breitete sich ätzender, beißender Qualm aus, der in dichten Schwaden über das Deck trieb und alles einhüllte. Der leichte Wind wehte die ätzenden Schwaden bis aufs Wasser hinunter. Matt Davies hustete, aber er steckte sofort den Kopf unter Wasser, um sich nicht zu verraten. So wurde aus seinem Husten nur ein lautes Blubbern, und das war ein absolut unverdächtiges Geräusch. Dan zog sich am Ruderblatt hoch, Smoky hielt sich daran fest und schob ihn am Hintern hoch. Gegenseitig halfen sie sich. Als sie fast das Achterschiff erklommen hatten, spürten sie die gewaltige Hitze wie einen Gluthauch der Hölle, der sich beklemmend auf die Lungen legte. Gerade eben trieb eine leuchtend-grüne Pestwolke auf sie zu und hüllte sie mit dem bestialischen Gestank ein. Auf dem Achterdeck brannte es nicht, und demzufolge hielt sich hier auch niemand auf. Sie sahen jedenfalls keinen, als sie ausgelaugt an Bord jumpten. „Wartet noch“, flüsterte Dan, „erst mal Luft holen, bis dieser Gestank abgezogen ist.“ Nur sehr langsam zerteilte sich die Wolke und trieb achteraus. Zwischen den Nebelschwaden erkann- ten sie Männer, die aus kleinen Fässern grünliches Pulver auf die Brandstellen streuten. Nachdem das Pulver violett verfärbt war, erstick- ten die Flammen meistens. Dan stieß den Decksältesten an. „Das ist er“, raunte er, „der Pirat!“ Auf dem Vordeck stand ein großer Chinese mit nacktem muskulösem Oberkörper, der in der Hand ein Krummschwert hielt und Befehle schrie: Er griff auch immer wieder selbst mit zu, scheute sich jedoch auch nicht, den Leuten, die zu langsam
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arbeiteten, unbarmherzig eins mit dem Krummschwert überzuziehen. Sie waren so fasziniert von dem Geschehen an Bord, daß ihnen der Mann entging, der achtern aus einer kleinen Kammer trat. Er sah die triefnassen Männer an Deck, die mit Messern bewaffnet waren, und stieß einen überlauten Schrei des Entsetzens aus. Die vier Seewölfe fuhren wie auf ein Kommando herum. „Verdammt!“ schrie Dan und rannte auf den Chinesen zu, um ihn am Schreien zu hindern. Doch dazu war es zu spät. Der Kerl schrie wie am Spieß, noch bevor Dan ihn erreichte, und alarmierte das ganze Vorschiff. Einige Augenblicke blieb alles wie erstarrt stehen. Dann wurde die Szene plötzlich lebendig, und alles wickelte sich in rasender Eile ab. Dans durch die Luft wirbelndes Entermesser setzte dem Schreier ein jähes Ende. Er hörte auf zu schreien und zu leben. Khai Wang, dessen Augen von dem hellen Feuerschein geblendet waren, weil er vom Hellen ins Dunkle sah, kniff die Augen zusammen, packte dann sein Krummschwert fester und stürmte los. Ohne daß es von Dan eines Befehls bedurft hätte, verteilten sich die Seewölfe blitzartig nach Backbord und Steuerbord. Dan sprang drei hölzerne Stufen hinunter und stürzte sich auf den ersten Mann, den er erwischen konnte. Er prügelte den Chinesen bis zur Bordwand, trat barfuß in einen glühenden Brandsatz, der noch flackerte, und stieß einen wilden Schrei aus. Der Chinese kriegte seine Wut zu spüren. Dan schlug ihn mit einem wilden Schwinger über Bord. Es klatschte laut, als der Mann schreiend im Wasser verschwand. Im Nu war der Teufel los. Sam Roskill, der sich auf einen Chinesen stürzte, kriegte eine Ladung von dem grünen Zeug ins Gesicht, als der Chinese blitzschnell in das Faß griff. Er sah nichts mehr, und als der Mann ihn angriff, konnte
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er sich nur wehren, indem er blindlings und mit schnellen kreisenden Bewegungen um sich stach. Das hielt den Chinesen vorläufig auf Distanz. Khai Wang schrie Kommandos. Von den Seewölfen verstand ihn niemand, aber die Chinesen rotteten sich zusammen und griffen nun ihrerseits wild schreiend an. Noch hatten die vier Seewölfe das Überraschungsmoment auf ihrer Seite, aber die Übermacht war zu groß, als die Chinesen sich formierten, Schwerter, Knüppel und Harthölzer ergriffen und wild um sich schlugen. Sie waren harte Kämpfer, die Piraten von Khai Wang, und nachdem sie den ersten Schreck überwunden hatten, verloren sie auch ihre Panik. Zudem hatten sie den Vorteil, jeden Winkel des Schiffes genau zu kennen. Dan kämpfte jetzt gegen zwei Männer, dann waren es drei und schließlich sah er sich von einer ganzen Meute umringt, die wahllos auf ihn einhieb. Mit dem Messer verschaffte er sich Luft, das er dem toten Chinesen aus dem Körper gezogen hatte, der die anderen gewarnt hatte. Smoky wütete mittschiffs wie ein Berserker. Er sah ein, daß sie sich etwas zuviel vorgenommen hatten, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Er prügelte sich bis in Dans Nähe, ergriff dann den Zopf eines Chinesen und wirbelte ihn von Dan mit einem wilden Ruck fort. Ein Schrei begleitete den Flug des Chinesen, der mit dem Schädel an das Schanzkleid stieß und benommen liegenblieb. „Verdammt, das werden immer mehr!“ schrie er durch den Lärm des jungen O'Flynn zu. Smoky steckte, ohne zu knurren, einen harten Schlag mit einem Bambusknüppel ein. Der Schlag lähmte ihn fast, aber er stachelte auch seine Wut noch mehr an. Dan bezog ebenfalls Prügel, und pausenlos bedrängten ihn zwei Kerle, die kurze krumme Harthölzer in der Hand trugen. Er setzte sich, so gut er konnte, zur Wehr, doch immer wieder quollen Chinesen aus
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unsichtbaren Räumen und überfluteten das Schiff wie kleine wendige Ameisen. Dabei waren die Chinesen völlig perplex, denn was sich hier abspielte, hätten sie nie für möglich gehalten. Vier fremde Teufel setzten ihnen hart zu und kämpften mit einer unglaublichen Verbissenheit gegen eine große Überzahl. Und diese fremden Teufel waren einfach nicht klein zu kriegen. Sie waren wahrhaftige Teufel, schnell und flink mit dem Messer, hart mit den Fäusten und blitzschnell beim Zuschlagen. Schon hatten sie mehr als acht Mann flachgelegt, und noch immer hieben sie verbissen um sich. Auf dem Achterdeck sah sich Matt Davies plötzlich dem Kapitän des Piratenschiffes gegenüber. Im selben Augenblick hatte auch Khai Wang ihn erspäht. Davies steckte das Messer blitzschnell in den Hosenbund und grinste bösartig. Dann hob er die rechte Hand mit dem mörderischen Eisenhaken. Khai Wang hatte das Krummschwert erhoben, stutzte und blickte entsetzt auf den scharfgeschliffenen Haken, der statt einer Hand aus dem Ärmel des Hemdes herausragte. Matt Davies' Grinsen wurde noch bösartiger. Seine Hakenhand zuckte lauernd vor und zurück und wartete darauf, daß sich der Piratenkapitän eine Blöße gab. „Sieh ihn dir an“, sagte er grimmig, „sieh ihn dir an! Damit werde ich dir die Bilder auf der Brust nachzeichnen.“ Khai Wang tänzelte einen Schritt zurück, hob das Schwert und schlug schnell und hart zu. Die breite Klinge traf den Eisenhaken, es gab ein metallisches Geräusch, und die Klinge prallte ab. Sofort zuckte die Hakenhand wieder vor, griff nach Khai Wang, der schnell zurückwich, und erwischte ihn an der Schulter. Eine blutige lange Spur entstand, die der Pirat entsetzt anstarrte. Er wirbelte das krumme Schwert durch die Luft, aber dieser verdammte scharfe Haken zerstörte alle seine Schläge schon im
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Ansatz. Wie eine eiserne Schlange zuckte er vor, riß man hier eine kleine Wunde, traf dann wieder mit der gebogenen Seite empfindlich und trieb Khai Wang immer wieder zurück. Ein Teufel, dachte er, ein Teufel, der auch noch grinste und sich über ihn lustig machte. Wie gebannt starrte er auf den wild hin und her zuckenden Haken, der ihm pausenlos die Haut ritzte. Er trat den Rückzug an, langsam, das Krummschwert dabei über seinen Kopf schwingend, und der Hakenmann folgte ihm unerbittlich, schnell und wendig. Doch dann hieb er ganz überraschend mit dem Schwert zu, verpaßte der Hakenhand einen Schlag, daß Funken nach allen Seiten stoben, und drang ungestüm und geschmeidig auf den Hakenmann ein, der jetzt zurückweichen mußte. So tobte der Kampf hin und her, bis Smoky über Bord flog. Khai Wang trieb Matt Davies aufs Mitteldeck – einer Horde brüllender Chinesen entgegen, die ihn mit Knüppelhieben empfing. Sie trafen seinen Schädel, seine Schulter, und er benutzte seine eiserne Hand jetzt, indem er sie kreisen ließ und gleich zwei Kerle auf einmal erwischte. Einem Schlag mit dem Krummschwert entging er nur, indem er sich platt auf die Planken warf. Haarscharf neben ihm zuckte die Klinge in das Holz. Ein Stoß ins Kreuz beförderte Matt ans Schanzkleid, wo der Pirat ihn mit dem Schwert festnageln wollte. Davies schlug ihm hart die Hand ins Gesicht, aber dann drangen sie brüllend auf ihn ein, und ihm blieb nicht anderes übrig, als sich ebenfalls über Bord fallen zu lassen. Sein Haken verfing sich in einem Hals, krallte sich daran fest und riß den Mann gleich mit. Fluchend landete er im Wasser. Sein ganzer Körper brannte. Jetzt kämpften nur noch zwei an Deck, und es dauerte nicht lange, bis auch Roskill den Weg der anderen ging. Er ließ sich über die Bordwand fallen, als es ganz so aussah, als wolle man ihn wie ein Stück Vieh schlachten.
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Die Menge brüllender und blutrünstiger Chinesen wandte sich Dan O'Flynn zu, für den jetzt das Entern ebenfalls vorbei war. Mehr als fünfzehn Mann stürmten auf ihn los. Dan wartete, bis die beiden ersten heran waren, stieß den einen mit der Klinge des Entermessers nieder und säbelte den zweiten mit einem mörderischen Hieb um. „Bis später, Freunde“, sagte er verzerrt. „Wir sehen uns noch!“ Bevor sie ihn erwischten. flankte er in einem eleganten Bogen über Bord und suchte die anderen. Fässer wurden ihnen nachgeworden. Holztrümmer flogen hinterher, dicht neben Dan sauste ein Schwert ins Wasser. „Nichts wie weg!“ rief er den anderen zu. „Haltet auf die Flöße zu. dahinter liegt irgendwo unser Schiff!“ So schnell es ging, schwammen sie davon. immer wieder tauchend. prustend und keuchend. Dan. dessen Gesicht blutete, blickte sich um. Rechts von ihm paddelte Matt mit grimmig verzogenem Gesicht im Wasser, dahinter erkannte er Smoky und Sam Roskill, der kaum noch aus den Augen sehen konnte, so verquollen waren sie. Ihre Messer hatten sie verloren, aber sie hatten den Chinesen eine empfindliche Schlappe beigebracht, ohne es zu wissen. An Deck der „Fliegenden Schwalbe“ lagen sieben Tote, ein paar blieben unauffindbar, und andere waren verwundet. Und das Schiff war schwer angeschlagen. Roskill mußten sie in die Mitte nehmen, er war kaum noch in der Lage, zu schwimmen. „Die setzen Segel, verdammt“, ächzte Matt Davies, der auf dem Rücken schwamm und sich ausruhte. Sein Körper brannte von oben bis unten. und er fühlte sich zerschlagen. _Die sind von der Flut jetzt endgültig vom Riff gespült worden.“ Das immer noch leicht qualmende Schiff entfernte sich langsam. Die Männer arbeiteten pausenlos. Khai Wang wollte weg. so schnell wie möglich, denn wenn die vier Kerle in der Nähe waren, dann konnte ihr Schiff auch
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nicht weit sein, sondern lauerte irgendwo im Dunkel der Nacht. Er war zu angeschlagen, jetzt einen großen Kampf mit den Fremden Teufeln zu riskieren, seine Mannschaft war stark dezimiert und das Schiff ein schwelender stinkender Trümmerhaufen. So schlich er sich davon, aber er hatte die Rechnung ohne die Seewölfe aufgestellt. „Die ,Isabella'!“ schrie Dan, der aus der Dunkelheit plötzlich Lichter aufzucken sah. Er richtete seinen Oberkörper im Wasser auf, legte die Hände an den Mund und brüllte aus voller Kraft: „Ar-we-nack, Ar-we-nack!“ * „Da sind sie ja, diese lausigen Rübenschweine!“ schrie der Profos. „Und wie es aussieht, sind alle noch am Leben!“ Dan klangen die Worte wie Musik in den Ohren, und auch die anderen drei, Smoky, Matt und Sam grinsten erleichtert, als man sie an Bord zog. Sie waren lädiert, angeknackst und mit Beulen, Hautabschürfungen und Wunden überdeckt. Auf der ..Isabella“ brannten ein paar Lampen, die aber sofort wieder gelöscht wurden, und jetzt ließ Hasard die Verfolgung des Piraten aufnehmen. „Ihr seht aus wie die Ferkel“, sagte der Profos; „wo habt ihr euch herumgetrieben, was, wie?“ „Ein Spaziergang“, ächzte Dan, „war nur ein kleiner Spaziergang, aber ihr könntet uns wenigstens mal an der Rumbuddel riechen lassen, wir frieren uns den Arsch ab.“ „So seht ihr auch aus“, sagte Ed trocken. „Euch muß wohl der Affe gebissen haben, was, wie?“ „Gelbe Affen waren es!“ Der Profos brachte die vier, die so erschöpft waren, daß sie sich nur noch mühsam auf den Beinen hielten, zum Kutscher. Der Feldscher würde sie schon wieder auf Trab bringen. Dann ging er nach achtern zu Hasard.
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„Die wollten es wieder mal allein schaffen“, sagte er, „aber viel hätte nicht gefehlt, dann wäre es gelungen.“ „Verdammte Höllenhunde“, sagte der Seewolf anerkennend. „Diesem O'Flynn werde ich morgen mal die Leviten lesen.“ Doch dabei lag ein Lächeln auf seinen Lippen, und der Profos atmete erleichtert auf. Hasard folgte der feinen Rauchspur und dem kaum sichtbaren Glimmen, das in der Luft lag und die Fährte des Piraten noch eine Zeitlang verriet. Die Klippen, wo Khai Wang gelegen hatte, und die ihn nach mühevoller Arbeit wieder freigegeben hatten, waren umsegelt, als Dan schon wieder auf dem Achterdeck erschien. Er tat so, als sei nichts gewesen, aber er humpelte ein wenig. „Dort vorn ist ein Schatten“, sagte er, „da steigt Qualm auf. Er kann es sich nicht erlauben, in Küstennähe weiterzusegeln, das habe ich auf den Karten gesehen. Wollen wir ihm nicht eine Breitseite aufs Geradewohl verpassen?“ „Das hatte ich vor, Donegal Daniel O'Flynn. Sagte ich schon, daß es ein Kreuz mit dir ist?“ „Ich glaube, das sagtest du schon mal, Sir!“ „Siehst du den Schatten noch?“ „Ich glaube, ja! Wenn wir ihm eine verpassen, würde ich jede Wette halten, daß er sich nicht einmal wehrt. Sein Kahn gleicht einem Friedhof, aber der Kerl ist zäh wie eine Katze. Doch, das muß er sein“, sagte Dan. Die Dunkelheit ließ sich mit den Augen immer noch nicht durchdringen, aber Dan ähnelte von seinen Augen her ebenfalls einer Katze, oder er hatte ganz einfach den richtigen Riecher. An Backbord waren die Geschütze schon seit Stunden klar, und die Männer lauerten darauf, Khai Wang eins auszuwischen.
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Doch als er auf den Riffen lag, war es nicht möglich gewesen, noch näher heranzusegeln, sonst wäre der „Isabella“ vielleicht das gleiche Schicksal widerfahren. „Feuer!“ rief Hasard. Acht Culverinen brüllten auf, ihre langen Flammenzungen zerrissen die Schwärze der Nacht und ließen das Schiff zur Seite krängen. Das Echo erfolgte ein paar Sekunden später. Mitten in der Dunkelheit splitterte irgendwo Holz. Ein Mann schrie gequält auf. Wenigstens einer der SiebzehnPfünder mußte das Schiff des Piraten erwischt haben. Es erfolgte keine Antwort, kein Brandsatz löste sich, und man sah auch keinen Feuerschein mehr. Aber alle wußten sie an Bord der „Isabella“, daß sie Khai Wang doch noch einmal erwischt hatten. Hasard ließ die ganze Nacht kreuzen, in der Hoffnung, er würde den Piraten doch noch einmal vor die Rohre kriegen. Dann brach der Morgen an, und aus unrasierten, stoppelbärtigen Gesichtern starrten übermüdete Seewölfe aufs Wasser. Khai Wangs „Fliegende Schwalbe“ war verschwunden. Es war ihm noch einmal gelungen, zu entwischen. Die Nacht hatte ihm geholfen und ihn gerettet. Er war auf und davon und hatte sich heimlich verzogen. Aber es war nur eine Frage der Zeit, wann sie ihn wieder finden würden, es konnte nicht mehr lange dauern. Mit geblähten Segeln ging die „Isabella“ wieder auf Nordkurs. Der Pirat war flügellahm geschossen worden, und wenn sie ihn vor die Rohre kriegten, hatte er nichts mehr zu lachen. Darüber waren sie sich alle einig. Sie brannten schon darauf.
ENDE