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Das Buch Die nahe Zukunft: Das Spaceshuttle Intrepid legt von der Internationalen Raumstation ab und leitet das Eintauchen in die Erdatmosphäre ein – als von der Missionsleitung die Anweisung kommt, im Orbit zu bleiben. Der Grund: Ein unbekanntes Flugobjekt wurde über dem südlichen Afrika gesichtet, eine Position, die die Intrepid bei der nächsten Erdumrundung überfliegen wird. Tatsächlich entdeckt dann auch die Shuttlebesatzung das mysteriöse Objekt und gegen größte Sicherheitsbedenken der NASA erhält sie aus Washington den Befehl, es näher zu untersuchen. Das hat jedoch katastrophale Folgen: Gemeinsam mit dem Objekt wird die Intrepid tausende von Jahren in die Vergangenheit geschleudert, in eine Zeit, in der sich auf der Erde eine gigantische Klimakatastrophe anbahnt. Da Nahrungsmittel und Sauerstoff zur Neige gehen, entschließt sich die Besatzung zu einer Notlandung. Die gelingt auch, doch für die unfreiwilligen Zeitreisenden beginnt das Abenteuer erst. Denn in Unterägypten steht der Bau der Pyramiden offenbar kurz vor dem Abschluß – 5000 Jahre früher, als die Historiker bislang behaupteten. Und diese Pyramiden dienen nicht als Grabmäler …
Der Autor H. D. Klein, 1951 im oberbayerischen Wolfratshausen geboren, studierte in München Luft- und Raumfahrttechnik sowie Fotografie. Nach dem Studium eröffnete er sein eigenes Fotostudio – in dem er immer noch tätig ist – und widmete sich außerdem dem Schreiben von Science-Fiction-Romanen. Mit seinem 2000 erschienenen Debüt »Googol« (Heyne 06/6349) konnte er auf Anhieb einen großen Erfolg verbuchen. »Phainomenon« ist sein zweiter Roman. Mehr zu Autor und Werk unter: www.phainomenon.de.
H. D. KLEIN
Phainomenon Roman
Originalausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/6444
Redaktion: E. Senftbauer Copyright © 2003 by H. D. Klein Copyright © 2003 dieser Ausgabe by Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG, München Der Wilhelm Heyne Verlag ist ein Verlag der Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG http://www.heyne.de Deutsche Erstausgabe 7/2003 Printed in Germany 5/2003 Umschlagbild: Chris Moore Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin ISBN 3-453-87057-3
Für die Wally, die mir immer wieder neue Wege ermöglicht hat.
Phainomenon (altgriechisch): das Erscheinende; das, was sich zeigt; das unmittelbar Gegebene
1. Kapitel Martha sah sich ungeduldig nach ihrem Mann um, der in einem Liegestuhl saß und in einer Illustrierten blätterte. »Robert!« Er reagierte nicht auf ihren Anruf. Statt dessen schien er gerade in diesem Moment einen besonders interessanten Artikel in seiner Lektüre gefunden zu haben. Er lehnte sich entspannt zurück und hielt dabei umständlich die Zeitung in einer Hand. Mit der anderen tastete er vorsichtig nach seinem Glas Bier, das er in einem Halter an der Stuhllehne abgestellt hatte. Robert wußte genau, was Martha von ihm wollte. Eigentlich erstaunte es ihn, daß es so lange gedauert hatte, bis sie ihn deswegen ansprach, denn seit fast einer Stunde unterhielt sie sich mit ihrer gemeinsamen Tochter, die Tausende von Kilometern entfernt an irgendeinem luxuriösen Pool in irgendeinem exotischen Land lag. Da die beiden fast jeden Tag miteinander Kontakt aufnahmen, würde ihnen bald der Gesprächsstoff ausgehen und dann mußte er als Grund dazu herhalten, die Verbindung und damit den täglichen Tratsch zu verlängern. »Robert, hörst du? Juliane ist auf den Philippinen!« Und wenn schon, dachte er und bemühte sich, seine gespielte Konzentration auf die Zeitung möglichst echt aussehen zu lassen. Heute ist sie auf den Philippinen, morgen auf den Bahamas und übermorgen sonst wo. Heute fährt sie ein blaues
Auto, morgen ein rotes. Sie konnte es sich leisten, schließlich war sie nach ihrer Scheidung von einem bekannten amerikanischen Arzt mit einem kleinen Vermögen in einen neuen Lebensabschnitt gestartet. Kleines Vermögen! Robert blieb mit seinen Gedanken an dieser untertriebenen Bezeichnung hängen. Zehn Millionen Dollar und ein Penthouse in New York. Und das Häuschen in Key Biscane. Und wahrscheinlich dazu noch ein monatlicher Scheck in beträchtlicher Höhe. Und was machte die Göre damit? Ihr fiel nichts besseres ein, als sich jeden Tag an einen anderen Strand zu legen. In diesem Alter! Ihm wäre an ihrer Stelle alles andere in den Sinn gekommen als sich untätig in der Sonne rösten zu lassen. Er verzog das Gesicht und versuchte, seine Gedanken wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Du bist ungerecht, ermahnte er sich. Was sollte sie denn sonst machen? Etwa arbeiten? Blödsinn! Mit zehn Millionen Dollar auf dem Konto würde er ebenfalls keinen Finger rühren. Auch wenn es seiner Meinung nach nicht unbedingt schicklich war, sich mit 37 Lebensjahren so ausschließlich dem Nichtstun hinzugeben. Irgendwie blieb ein schlechter Nachgeschmack. Robert räkelte sich vorsichtig, um Martha nicht auf sich aufmerksam zu machen. Außerdem konnte er sich nicht beschweren, schließlich hatte seine Tochter mit ihrer extravaganten Heirat und der lukrativen Scheidung einen großen Teil zu seinem jetzigen bequemen Leben beigetragen. Er konnte vorzeitig in den Ruhestand gehen und wohnte zudem mit Martha in ihrem geräumigen Haus in der Nähe von Frankfurt. Zusätzlich besaßen sie den kleinen Bungalow in Hanglage im Taunus, wo sie sich gerade aufhiel-
ten. Alles war in Ordnung. Es könnte eigentlich nicht besser sein, wenn nicht … Er schielte zu Martha hinüber, die immer noch eifrig mit ihrer Tochter sprach. Es war das Ding auf ihrem Kopf. Man nannte es Cyberfon. Ein Telefon mit integriertem Bildschirm. Man setzte es wie einen Helm auf und konnte damit die audiovisuellen Eindrücke des Senders nahezu real miterleben. Und natürlich umgekehrt. Martha hatte das neuzeitliche Telefonieren zu ihrem Hobby erkoren. Sie lief nur noch mit dieser gräßlichen Haube herum und erlebte die Realität sozusagen im realen Cyberspace. Selbst wenn sie nicht telefonierte, behielt sie den Helm auf und schaltete lediglich die kleine externe Kamera ein, um sich zur Orientierung ihre Umgebung auf den Bildschirm zu holen. Robert hatte es aufgegeben, sie auf diese Unhöflichkeit ihm gegenüber hinzuweisen. Er kannte die Antwort darauf inzwischen auswendig: ›Wenn du mit mir nie in Urlaub fährst, muß ich jede Gelegenheit nutzen, mir diese herrlichen Welten ansehen zu können!‹ Es gab mittlerweile Cybertheken, die über alle möglichen Themen und Informationen aller Länder der Erde verfügten, die man sich bequem auf den Rundumschirm eines Cyberfons legen lassen konnte. Alles war Cyber heutzutage. CyberTV, Cyber Movies, Cyberspiele, Cyber Museen, Cyber Sports, Cyber News. Dabei war Robert neuen Entwicklungen gegenüber nicht unaufgeschlossen – warum auch? Er hatte als ehemaliger Ingenieur selbst am Fortschritt mitgearbeitet, für ihn war es verständlich, daß sich die Menschen an neuer Technik begeisterten.
Aber doch nicht seine Martha! Und vor allem nicht in diesem ungezügelten Ausmaß, das schon fast einem Religionsersatz gleichkam. Ständig hatte sie ihre ›Cibes‹ auf dem Kopf, wie das Cyberfon in der modernen Umgangssprache bezeichnet wurde. Inzwischen hatte sie sich sogar daran gewöhnt, manche Haus- oder Handarbeiten ›blind‹ auszuführen. Selbst beim Staubsaugen hatte sie die Cibes angelegt und orientierte sich nur ab und zu über die kleine Außenkamera. Daß ihre Frisur durch das ständige Tragen litt, störte sie nicht. Noch vor wenigen Monaten wäre alleine schon das Aufsetzen von einfachen Kopfhörern eine Zumutung gewesen. »Robert, jetzt komm doch mal her! Du mußt dir den Strand und die Palmen ansehen!« »Jaja, ich komm ja schon!« Er stemmte sich widerstrebend aus dem Liegestuhl hoch und warf die Zeitung mißmutig auf den kleinen Tisch vor sich. Nicht, daß ihn Strand und Palmen sonderlich interessiert hätten, aber er tat es seiner Tochter zuliebe, die letztendlich für alle Kosten und Gebühren des Cyberfons aufkam. Er holte tief Luft, nachdem er sich neben seiner Frau niedergelassen hatte, und setzte das Zweitgerät auf. Im Stehen hätte er mit ernsten Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt, denn jede unbedachte Kopfbewegung desjenigen, der die Bilder sendete, konnte beim Empfänger ernstliche Gleichgewichtsstörungen auslösen und damit konnte die Übertragung einen ungewollten Balanceakt bewirken. Kaum hatte er die Cibes übergestülpt, hatte er das Gefühl, eine Zeitreise ausgeführt zu haben. Die grüne Wiese und die Bäume des Taunus waren wie weggewischt. Das Geräusch von
donnernder Brandung und im Wind wiegende Palmen umgaben ihn. Die Übertragung war so perfekt, daß er meinte, das salzige Meer zu schmecken und die warme Brise zu spüren. Für einen Augenblick glaubte er sogar den Duft von Hibiskusblüten und eine Mischung von Sonnenöl und Kokosnuß zu riechen. Direkt vor sich erblickte er die rotlackierten Fußnägel seiner Tochter, die sich frech auf und ab bewegten. »Hallo, Kleines, wie geht es dir?« »Hi, Dad! Natürlich phantastisch, das siehst du doch, oder?« Dad! Jetzt war er schon zu einem amerikanischen Serienvater mutiert. Aber das brachte wohl die fremde Kultur mit sich, in der sie lebte. »Es ist einfach herrlich hier! Habt ihr nicht Lust, mich zu besuchen? Ich denke, ich bleibe noch eine ganze Woche hier!« »Das ist sehr lieb von dir gemeint«, sagte Robert schnell, um Martha zuvorzukommen, weil er nicht sicher war, ob sie nicht spontan zusagen würde. »Aber ich fürchte, daraus wird nichts. Du weißt doch, daß mir das Fliegen nicht gut bekommt!« Das war natürlich eine Lüge, mit der er sich in den letzten Jahren immer wieder vor jeder größeren Reise drückte. Er wollte nicht, daß seine Tochter alles bezahlte, obwohl die Kosten für einen Flug für sie nicht der Rede wert waren, aber er verspürte nicht die geringste Lust, seine eigene kleine Welt zu verlassen. »Außerdem kann ich ja mit diesen Dingern alles genauso gut von hier erleben, auch wenn ich nichts von dir sehe.« Sie verstand seine versteckte Anspielung sofort und ein helles Lachen klang laut in seinen Ohren. »Moment, auch das kann ich dir frei Haus liefern!« Die Palmen wackelten, und Robert hielt sich verkrampft an
seinem Stuhl fest, als seine Tochter ihre Cibes abnahm und sie mit den beiden Objektiven der Kamera vor sich auf den Tisch legte. »Na, wie sehe ich aus?« Sie hätte sich wenigstens etwas anziehen können, dachte Robert, als er auf ihren braungebrannten und entblößten Oberkörper blickte. Er hörte Martha neben sich entrüstet sagen: »Aber Kindchen!« »Prima, schön braun bist du geworden!« lenkte er ab. Von ihrem Gesicht konnte er nicht viel sehen, da es von einem großen Sonnenhut und einer noch größeren Sonnenbrille weitgehend verdeckt war. Um die Peinlichkeit zu überspielen, forderte er sie scherzhaft auf, ihnen etwas vom Hotel oder der Umgebung zu zeigen. Zu seinem Leidwesen ging sie sofort auf seinen Vorschlag ein und nahm ihre Cibes vom Tisch. Robert schloß entsetzt die Augen, als auf seinem Bildschirm die heftigen Bewegungen in einem wirren Streifenteppich aufflackerten. Vorsichtshalber machte er sie auch während der ausführlichen Besichtigungstour nicht wieder auf, die im Anschluß folgte. Entspannt lauschte er der erklärenden Stimme seiner Tochter, die von fremd klingenden und exotischen Hintergrundgeräuschen untermalt wurde. Es dauerte nicht lange und er war eingeschlafen. Vier Stunden später befanden sie sich auf dem Weg zurück nach Frankfurt. Nach der herbstlichen Abenddämmerung war es rasch dunkel geworden, und Robert hatte das computergesteuerte Lenksystem des Chryslers aktiviert. Ohne menschliche Beeinflussung glitt der luxuriöse Wagen elegant über die enge Landstraße. Natürlich war auch der Wagen ein Geschenk ihrer
Tochter. Irgendwie muß sie uns gegenüber ein schlechtes Gewissen haben, dachte Robert, als sein Blick über die matt leuchtenden Armaturen wanderte. Dabei hatte sie gar keinen Grund dazu. Sie war schon von klein auf sehr selbständig gewesen, hatte ihre Ausbildung als medizinische Genassistentin mit Auszeichnung hinter sich gebracht und viel Freizeit für ihre Weiterbildung aufgewendet. Sie selbst hatte eine sichere Anstellung bei Bayer abgelehnt und war statt dessen der Einladung eines amerikanischen Konzerns nach USA gefolgt, wo sie bald ihren zukünftigen Mann kennengelernt hatte. Danach hatte sich nicht nur ihr Leben merklich verändert. Dieses Auto, dessen automatischer Steuerung er fasziniert zusah, war nur eine der vielen Veränderungen in Roberts Leben. Er fragte sich, ob es eine Verbesserung war, denn wie so oft in der letzten Zeit überkam ihn das Gefühl, absolut überflüssig zu sein. Ich brauche ein Hobby, redete er sich ein. Oder ich lege mir ein Haustier zu. Mit irgendwas muß ich mich beschäftigen, sonst werde ich noch zum Säufer. Mit einem Seufzer steckte er die halbvolle Bierdose in die Halterung und warf einen Blick auf seine schlafende Frau, die in einer ungemütlichen Haltung halb auf dem Beifahrersitz lag und mit offenem Mund leise schnarchte. Ihre Cibes hielt sie wie ein kleines Kind fest an sich gepreßt. Vielleicht sollten wir doch eine Reise unternehmen, dachte er. Aber nicht mit dem Flugzeug. Und auch nicht mit dem Auto. Martha würde sonst nur wieder mit dem Helm neben ihm sitzen und ihm erzählen, wie schön es anderswo auf der Welt sei. Eine Fahrt mit einem Schiff auf der Mosel vielleicht, mit an-
deren Menschen … Robert hob den Kopf zum Rückspiegel, als ihm der Bordcomputer ein Fahrzeug meldete, das sich noch in einiger Entfernung hinter ihnen befinden mußte. Merkwürdigerweise war nichts zu sehen. Im nächsten Moment erlosch das dezente türkise Blinken am Armaturenbrett. Wahrscheinlich war das Fahrzeug abgebogen. Mit einem Schiff auf der Mosel! Er schüttelte den Kopf. Martha würde die Idee nicht gefallen. Für sie mußte es mindestens die Karibik sein. Oder wenigstens die Kanarischen Inseln. Oder das Mittelmeer. Die griechischen Inseln vielleicht. Damit könnte er sich ebenfalls anfreunden. Zuerst mit dem Zug nach Italien und von dort eine Kreuzfahrt über das Ägäische Meer. Wieder fing das längliche türkise Licht mit der Aufschrift ›Fahrzeug nähert sich von hinten‹ leicht an zu glimmen. Gleichzeitig setzte für einen Moment der Motor aus. Ein leichtes Rucken ließ Marthas Kopf nach vorne nicken. Robert überflog die Anzeigen für den Motor, aber alle Lichter zeigten ein beruhigend grünes Leuchten. Auch das Motorgeräusch, sofern man bei diesem Wagen überhaupt noch von einem Geräusch sprechen konnte, hörte sich absolut normal an. Keinerlei Anzeichen von einer Störung. Robert setzte sich auf und wartete ab. Als ehemaliger Ingenieur war er gegenüber unerklärlichen Unregelmäßigkeiten zu mißtrauisch, um den Aussetzer als einmaliges Vorkommnis abzutun. Das Warnlicht für die Fahrzeugannäherung war wieder erloschen. Vielleicht ein Computerfehler? Wenn ja, dann wäre das der denkbar ungünstigste Zeitpunkt dafür. Das nächste Dorf war mindestens noch zwölf oder dreizehn Kilome-
ter entfernt. Nicht, daß das hier ein großes Problem gewesen wäre, denn mit Hilfe seines Handys oder Marthas Cibes würde es keine Viertelstunde dauern, bis ein Pannenwagen bei ihnen eintreffen würde, aber er hatte keine Lust, sich die abfälligen Kommentare eines Mechanikers über die Technik importierter Luxuslimousinen anhören zu müssen. Ganz abgesehen davon käme bei einem Computerausfall nur ein Abschleppen des Wagens in Frage, und das wäre ihm sehr unangenehm. Wieder ein kleines Rucken. Oder bildete er sich das nur ein? Die Scheinwerfer strahlten gleichmäßig den von einem leichten Regen nassen Asphalt an, der wie ein schwarzes Band unter dem Wagen verschwand. Unsicher lehnte er sich zurück. Gerade als er beschlossen hatte, die Automatik abzuschalten und manuell weiterzufahren, blinkte das türkise Licht auf, um gleich darauf wieder zu erlöschen. Dann gingen alle Lichter aus, auch die Scheinwerfer. Und der Motor. Schlagartig war alles dunkel um ihn herum. Mit einem lauten Fluch packte er fest das Lenkrad und trat mit ganzer Kraft auf das Bremspedal. Ohne die Servolenkung und die hydraulischen Bremshilfen hatte er das Gefühl, als müßte er einen Eisenbahnwaggon mit der Hand aufhalten. Dazu kam noch, daß er im ersten Moment absolut nichts von seiner Umgebung sehen konnte. Erst nach einigen Sekunden war eine Orientierung an den blaß schimmernden Leitpfosten an der Straße möglich. Mit einem befreienden Aufatmen und weichen Knien brachte er den schweren Wagen mit einem ungefährlichen letzten Rutscher auf der nassen Straße zum Stehen. Neben ihm im Dunkeln schreckte seine Frau aus dem Schlaf hoch.
»Was … Robert, wo bist du? Was ist denn? Wo sind wir?« »Beruhige dich, ich bin hier. Neben dir im Auto. Irgend etwas muß mit der Stromzufuhr sein. Der Motor läuft nicht mehr.« Er ärgerte sich mehr über die Folgen des Totalausfalles als über die Ursache selbst. Es mußte doch möglich sein, eine Notbatterie in diesem rollenden Ungetüm unterzubringen, die ein bißchen Licht erzeugte, um in einem Fall wie diesen wenigstens noch etwas von der Straße zu erkennen. Diese Situation mitten in der Nacht war auf jeden Fall lebensgefährlich gewesen. »Gib mir bitte die Taschenlampe aus dem Handschuhfach! Ich geh mal nachsehen. Wahrscheinlich hat sich ein Kabel an der Batterie gelöst.« Marthas Cibes fielen auf den Fahrzeugboden, als sie sich nach vorne beugte, um an das Fach zu gelangen. Robert tippte mißmutig den Schalter für die Pannenblinkleuchte an. Natürlich tat sich auch hier nichts. Er glaubte nicht an ein gelockertes Kabel. Der Wagen war fast neu und wahrscheinlich würde alles fest an seinem Platz sitzen. Eher lag der Fehler am Bordcomputer, und das würde bedeuten, daß sie ums Abschleppen nicht herum kamen. »Steig besser aus! Nicht daß noch jemand auf den unbeleuchteten Wagen auffährt und du noch drinnen sitzt!« »Wenn du meinst«, sagte sie und reichte ihm die Taschenlampe. »Aber wenn jemand vorbeikommt, dann hat der doch sein Licht an und müßte uns sehen …« »Jaja, müßte er. Trotzdem …« Er beugte sich nach vorn und entriegelte die Motorhaube. Gott sei Dank geht das mechanisch, dachte er, als er das charakteristische Knacken hörte. Endlich
etwas, das ohne den verdammten Computer funktionierte. Vorsichtig öffnete er die Seitentür und stieg aus. Frische, feuchte Luft umgab ihn. Es roch etwas modrig. An den Bäumen raschelten kraftlose Blätter, und von den nassen Ästen fielen unentwegt einzelne Tropfen auf die dicke Laubschicht. Der Strahl der Taschenlampe verlor sich zwischen den nahen Stämmen. Auch auf dem nassen Asphalt wurde das Licht kaum reflektiert. Dafür blendete der helle Lack des Wagens um so mehr, als Robert nach vorne ging und die Motorhaube öffnete. »Zieh dir deine Jacke an!« rief er Martha zu, als er das Öffnen der Beifahrertür hörte. »Es ist frisch hier draußen!« Er stützte sich auf den Rand der Kühlerhaube und leuchtete den Batteriekasten an, der sich direkt unter ihm befand. Er sah genauso aus, wie er ihn sich vorgestellt hatte: neu, sauber, trocken, ohne Anzeichen eines Defektes oder eines lockeren Kabels. Also mußte er wohl die weiße Schutzkappe entfernen, um letzte Gewißheit zu erlangen. Mit einem Seufzer legte er die Taschenlampe auf die breite Hutze des Luftfilters und suchte nach den Klammern, die die Kappe festhielten. Er wußte schon jetzt: Eine davon würde er leicht finden und sie würde problemlos zu lösen sein, die zweite war hundertprozentig irgendwo am Rand versteckt und nur zu öffnen, wenn man dazu bereit war, seine Fingerkuppe zu opfern oder sich wenigstens eine Schramme einzuhandeln. »Robert!« Marthas Stimme klang ängstlich. »Da kommt was!« Er griff schnell nach der Taschenlampe. Wahrscheinlich war das der Wagen, den ihm der Bordcomputer vorhin mehrmals angezeigt hatte. Vielleicht war es besser so. Bevor er sich hier in
der Einöde den Kopf über einen unwahrscheinlichen Defekt an der Batterie zerbrach, konnten sie hoffentlich mit dem Fremden mitfahren und den Chrysler zurücklassen. Große Ambitionen, seine Ingenieursfähigkeiten unter Beweis zu stellen, hatte er sowieso nicht. Warum auch? So würde es viel bequemer sein. Er trat neben den Wagen auf die Straße und schwenkte mit der Lampe hin und her. Nach der Art der Lichter, die rasch auf sie zukamen, mußte es ein großer Lastwagen sein, denn sie befanden sich hoch über der Straßenoberfläche. Außerdem waren sie sehr unregelmäßig an der Front des Fahrzeugs angebracht. Er erkannte drei sehr helle Lichtflecke in der Mitte und unzählige kleine weit außerhalb des vermeintlichen Zentrums. Eigentlich schon so weit außerhalb, daß sie über die Seitenbegrenzung der Straße hinausragten. Das konnte nicht sein. Oder doch? Ein Schwertransport! schoß es ihm durch den Kopf. Jetzt, um diese Zeit? Aber warum nicht. Logischerweise wurden die meisten sperrigen Güter nachts transportiert, wenn weniger Verkehr herrschte. Aber wieso hier auf dieser gottverdammten engen Landstraße? Er kniff die Augen zusammen und versuchte die Entfernung abzuschätzen. Die Ladung mußte sehr hoch sein. Wenn ihn seine Sinne nicht täuschten, eigentlich in Baumwipfelhöhe. Das konnte nicht sein. Zu hören war auch nichts. Jetzt war der Transport stehengeblieben. Robert vermißte das vertraute Abblasen der Luftdruckbremsen. Alles war ganz ruhig. Dafür spürte er einen kaum wahrnehmbaren Luftzug, der aus der Richtung des merkwürdigen Gefährts kam. »Robert, was ist das?« Martha ging mit vorsichtigen Schritten
um den Chrysler herum und stellte sich hinter ihn. »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich ein großer Lastwagen mit einem Kran hintendrauf oder so etwas«, antwortete er mit sachlicher Stimme, um sie zu beruhigen. Er spürte, irgend etwas war hier nicht in Ordnung. Martha spähte über seine Schulter. »Warum fährt er nicht weiter und bleibt dort stehen?« »Weil … ich weiß es nicht.« Ihm fielen alle möglichen Erklärungen ein. Vielleicht überlegte der Fahrer, wie er am besten an ihrem Wagen vorbeikam. Oder ob er besser zurücksetzen sollte. Nein, das war unwahrscheinlich. Jeder normale Mensch würde zunächst heranfahren, um sich zu informieren. Vielleicht haben die etwas zu verbergen? Robert sah sich in seiner wildesten Phantasie schon einem illegalen Transport von atomaren Brennstäben gegenüber, und ihr blöder Chrysler stand wie ein Wachturm unbeleuchtet am Straßenrand. Und er schwenkte auch noch wie ein Verrückter eine Taschenlampe und machte sie auf sich aufmerksam! Er senkte den Arm und faßte einen Entschluß. »Also, ich gehe jetzt dorthin und frage, ob sie uns mitnehmen! Du bleibst hier und wartest auf mich!« »Robert, ich weiß nicht. Bleib lieber hier, das Ding ist mir unheimlich!« Gerade, als er sie mit einer scherzhaften Bemerkung beruhigen wollte, kam Bewegung in das ›Ding‹. Zuerst schwenkte einer der drei Scheinwerfer nach unten. Dann schoben sich alle Lichter mit einem Ruck nach oben. Auf der Straße bildete sich ein blauer Lichtkreis ab, der nun langsam auf sie zukam. »Das gibt es doch nicht …«, keuchte Robert, als er im nächt-
lichen Dunkelgrau eine riesige schwarze Silhouette wahrnahm, die mindestens dreißig Meter über dem Boden schwebte. Undeutlich erkannte er darin die Form einer langgestreckten Ellipse, mit einer Andeutung einer schmalen Wulst im oberen Drittel. Die Enden an beiden Seiten standen weit über den darunterliegenden Straßenrand hinaus. Er schätzte die Breite des unheimlichen Objekts auf etwa vierzig Meter, wenn nicht sogar mehr. Trotz der jetzt beschleunigten Annäherung war keinerlei Motorengeräusch zu hören. Lediglich ein leichter Luftzug stellte eine Verbindung zur Realität und zu einer dreidimensionalen Bewegung her. Unwillkürlich rutschten sie beide um die Kante des Chryslers und gingen hinter der aufgestellten Motorhaube in Deckung. »Das ist ein UFO, nicht wahr«, stellte Martha hinter ihm nüchtern fest. »So etwas, das aus dem Weltraum kommt!« »Blödsinn. Es gibt keine UFOs«, antwortete Robert unwirsch. Er beobachtete besorgt den kreisrunden Lichtpegel, der genau auf sie zukam. Es mußte eine andere Erklärung für diesen lautlosen Flugapparat geben, nur welche? Im Moment beschäftigte ihn jedoch mehr die Tatsache, ob ihnen eine Gefahr drohte, denn ohne Zweifel hatten die Insassen sie entdeckt und steuerten genau auf sie zu. Robert sah sich unruhig nach allen Seiten um. Vielleicht wäre es besser, wenn sie in den Wald flüchteten. Dort konnten sie sich auf jeden Fall besser verstekken. Hier auf der freien Straße standen sie wie auf einem Präsentierteller. »Wir verschwinden besser von hier!« Er bemühte sich ruhig zu sprechen. »Los, in den Wald! Aber vorsichtig, gleich neben der Straße geht es steil runter!«
Martha tastete sich an der Motorhaube entlang zum Straßenrand. Robert warf noch einen letzen Blick auf das herannahende Flugobjekt und wollte gerade seiner Frau folgen, als der Lichtkegel mit einem Satz auf sie zuraste. Martha, die sich schon einige Schritte in den Wald hineingewagt hatte, flüchtete mit einem ängstlichen Kiekser wieder zurück hinter die Motorhaube, wo sie heftig mit ihrem Mann zusammenstieß, der sich erschrocken auf den Asphalt geworfen hatte. Für einen endlos lang erscheinenden Moment spürten sie förmlich den harten Lichtfleck, der sie umgab. Gleich darauf war er jedoch schlagartig verschwunden. Robert drehte sich im Liegen herum und sah ihn die Straße hinunterrasen. Darüber hing die schwarze Silhouette wie ein riesiger Raubvogel, der in der Nacht nach einer Beute suchte. Nach einigen hundert Metern schwenkte er nach links über den Wald und erhellte die Baumkronen in einem gespenstisch blauen Lichtschweif. Robert war unfähig, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Er hatte nichts gespürt, außer diesem kaum wahrnehmbaren Luftzug, der eher von einer elektrischen Statik herzurühren schien. Es gibt keine UFOs, redete er sich ein. Das muß irgendein Geheimprojekt sein. Ein neuartiger Antrieb, der nachts getestet wird oder eine Art lautloser Hubschrauber mit schallgedämpften Rotorblättern. Aber wieso hatte er dann keinerlei Luftverdrängung gespürt? Bei dieser Geschwindigkeit, die das Fluggerät in den letzten Sekunden erreicht hatte, müßte sogar die aufgestellte Motorhaube starke Verwindungen gezeigt haben, aber sie hatte ruhig und aufrecht gestanden. Es schossen ihm alle möglichen technischen Errungenschaften des letzten Jahr-
hunderts durch den Kopf, aber er fand keine Erklärung für dieses Phänomen. Das Objekt war nun über den Baumwipfeln verschwunden, als hätte es nie existiert. »Also, für mich war das ein UFO!« erklärte Martha mit fester Stimme. Unbeeindruckt von dem Vorfall erhob sie sich und zupfte nasse Blätter von ihrem Rock. »Auch, wenn du sagst, so etwas gibt es nicht. Und jetzt nehme ich meine Cibes und rufe Hilfe herbei! Ich habe keine Lust, noch länger hier in der Einöde festzusitzen und mich vor fliegenden Schatten in den Dreck zu werfen!« Robert stand ebenfalls auf, öffnete die Tür des Chryslers und griff nach der Bierdose. Er bemerkte, daß seine Hände zitterten. Unmöglich! UFOs gibt es nicht. Wenn doch, mußte es von dieser Welt sein. Und sie waren unfreiwillig Zeuge davon geworden. Wahrscheinlich liefen in geheimen Stellen schon die Drähte heiß. »Sag nichts von einem UFO! Das glaubt uns sowieso keiner!« rief er ins Wageninnere hinein. »Wieso nicht? Ich hab’s doch gesehen!« Martha tastete im Dunkeln nach ihren Cibes. »Mein Gott, weil … wenn du der Pannenhilfe so etwas erzählst, halten die dich doch für verrückt und kommen erst gar nicht!« Er lehnte sich an den Wagen und trank das Bier aus. Verrückt! Einfach verrückt! Jetzt, einige Minuten nach dem Vorfall, kam es ihm wie ein schlechter Traum vor. Vielleicht war es ein modifiziertes Luftschiff gewesen. Eine Art moderner Zeppelin. Erneut überfiel ihn der Gedanke, daß es sich um ein gehei-
mes Projekt handeln könnte und sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Vielleicht wäre es besser, von hier so schnell wie möglich zu verschwinden und den Wagen zurückzulassen. Er sah sich rasch um. Unmöglich. Der einzige Weg, den sie in der Nacht einigermaßen vernünftig begehen konnten, war die Straße. Sonst gab es nur dunklen Wald und feuchte Wiesen. In diesem Moment fingen die Pannenblinkleuchten des Chryslers mit einem leisen Klicken wieder an zu arbeiten. Robert stürzte ins Wageninnere. Martha blickte ihn überrascht an. »Ich habe noch niemanden erreicht!« sagte sie entschuldigend. »Brauchst du auch nicht«, antwortete er atemlos, zog die Codekarte am Armaturenbrett heraus und steckte sie gleich wieder in den Schlitz für die Zündung. Mit einem sanften Singen startete der Motor. »Er geht wieder. Jetzt nix wie weg von hier!« Robert schaltete die Leitsteuerung aus und beschleunigte den Wagen heftig mit auf dem Laub durchdrehenden Reifen. »Sachte, sachte …«, beruhigte er sich selbst. Er aktivierte das Navigationssystem und zog den kleinen Monitor auf dem beweglichen Arm zu sich heran, um ihre Position zu bestimmen. Bad Homburg war nicht weit weg, aber sie befanden sich noch auf einer kleinen Landstraße am Fuße des Herzberges. Selbst wenn sie schnell vorankamen, würde es bestimmt noch eine Viertelstunde dauern, bis sie die ersten Häuser des nächsten Dorfes erreichten. Robert spähte durch die Seitenscheibe ins Dunkel, das teilnahmslos an ihnen vorbeihuschte. Da ist nichts, redete er sich ein. Und keiner will was von uns. Einfach nur weiterfahren und ruhig bleiben. Er warf einen Blick auf seine Frau, die ihren futuristischen Helm auf dem Kopf hatte.
Überall Aliens, dachte er belustigt. »Die Cibes laß ich auf«, sagte Martha, die sein Grinsen bemerkt hatte. »Wenn das UFO wieder auftaucht, nehme ich alles auf und sende es an unsere Mailbox nach Frankfurt. Dann können wir beweisen, was wir gesehen haben!« »Gute Idee«, meinte er und ging nicht weiter darauf ein. Ihn beschäftigte der unerklärliche Ausfall der Stromversorgung des Autos. Es mußte mit dem Erscheinen des Objektes zu tun gehabt haben. Aber was könnte so einfach aus der Entfernung den Motor oder die Batterie beeinflußt haben? Unwillkürlich suchte er wieder die dunkle Umgebung und den Himmel ab, aber es war nichts zu entdecken. Oder doch? Einen halben Kilometer vor ihnen blitzte etwas auf. Oder war es Einbildung gewesen? Robert drosselte die Geschwindigkeit. »Da vorne war was, nicht wahr?« sagte Martha mit der stoischen Ruhe eines Jägers, der auf das Erscheinen des Wildes am Rande einer Lichtung wartete. Ihm war unverständlich, wie gelassen sie das alles aufnahm. Gleichzeitig bestätigte sie ihm mit ihrer Bemerkung, daß auch sie etwas gesehen hatte. Seine Gedanken begannen zu rasen. Sollte er nicht besser umkehren? Ihn erfaßte die unangenehme Vorstellung, daß dieses Objekt hinter ihnen her war. Gleichzeitig erschien es ihm lächerlich. Jetzt war nichts mehr zu sehen, aber soweit er sich an die Strekke erinnern konnte, mußten sie gleich in eine langgestreckte Kurve einbiegen … Im nächsten Augenblick trat er entsetzt auf die Bremse. Dort hing es in der Luft! Unmittelbar vor ihnen! Keine zehn Meter über der Straße. Blaues Licht erhellte den dunklen Asphalt und die angrenzenden Bäume. Und das Ding war riesig groß!
2. Kapitel Robert kam langsam wieder zu sich, als er eine energische Stimme neben sich hörte. »He, Mann! Aufwachen! Mein Gott, muß der besoffen sein!« Der Polizist rüttelte Robert an den Schultern. »Christian, komm doch mal her, wir müssen unseren Freund hier an die frische Luft befördern!« Der Angesprochene kam um den Chrysler herum und bückte sich, um nach Roberts Beinen zu greifen. Zusammen mit seinem Kollegen zog er ihn aus dem Fahrzeug heraus. »Hier, neben den Wagen. Wir legen ihn erst mal in die Sonne, vielleicht wird er dann schneller nüchtern.« »Ich weiß nicht, Richard, er sieht gar nicht so aus, als hätte er zuviel getrunken. Alkohol rieche ich jedenfalls nicht. Ich hol ihm erst mal eine Decke.« Hauptkommissar Richard Lohmann brachte Roberts schlaffen Körper in eine Seitenlage und sagte zu sich selbst: »Himbeerwein, ganz klar. Den riecht man nicht. Oder Erdbeerwein. Auf jeden Fall rieche ich Fahrverbot, Freundchen. Mindestens für ein Jahr.« Robert versuchte, sich mit einer lahmen Bewegung gegen die ihm unangenehme Position zu wehren. Sein Instinkt sagte ihm, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. Er war noch nicht soweit, um die Situation zu erfassen oder gar zu begreifen. Das
erste einigermaßen klare Bild, das sich in seinem Gehirn zusammensetzte, war eine perspektivisch verzogene Ansicht seines Chryslers, den er von unten zwischen einigen Grashalmen hindurch wahrnahm. Sein erster Gedanke war, daß der Wagen anscheinend unversehrt war. Es erstaunte ihn, wie beruhigend der cremefarbene Lack auf ihn wirkte, dabei hatte er die Farbe nie gemocht. Martha und seine Tochter hatten die Auswahl getroffen. Seine Meinung war nicht gefragt gewesen. Sei’s drum, der weiche Kontrast mit den Pastellfarben der Wiesenblumen und dem dezenten Vogelgezwitscher dämpfte zunächst den Vorgang des Begreifens. Erst als sich sein Verstand mit den grünen Uniformen der Streifenpolizisten beschäftigte, brach die Informationsflut über ihm zusammen. Er stemmte sich dagegen an und versuchte, eine Verbindung zwischen dem Jetzt und den Geschehnissen in der Nacht zu finden. Er stützte sich mühsam auf einen Ellbogen und atmete tief durch. »Martha?« Seine Stimme krächzte ein wenig, deswegen räusperte er sich und wiederholte den Ruf nach seiner Frau: »Martha!« Oberkommissar Christian Wegener kam vom Streifenwagen zurück und legte ihm behutsam eine Decke über die Schulter. »Beruhigen Sie sich, Herr Varell, es ist alles in Ordnung!« Er übersah Roberts verständnislosen Blick und winkte seinen Kollegen zur Seite. »Der Wagen ist auf Robert Varell zugelassen. Das Bild der Erkennungsbehörde und auf seinem Führerschein stimmen überein. Er ist Rentner, seine Frau heißt Martha. Sie muß hier irgendwo in der Nähe sein. Auf dem Beifahrersitz liegt eine Handtasche.«
Robert zog sich am Kofferraum seines Wagens hoch und schaute unsicher in die Umgebung. Der Chrysler stand mitten in einer Wiese. Er konnte sich nicht erinnern, in eine Wiese gefahren zu sein. Der letzte Moment, der ihm im Gedächtnis haftete, war das erneute Aussetzen des Motors und der heftiger Kampf mit dem Bremspedal. Aber er hatte es geschafft, auf der Straße zu bleiben. Das wußte er noch ganz genau. Dann war viel blaues Licht um sie herum gewesen und dann … Ein blauer Lichtdom! Er hatte den Eindruck gehabt, als wären sie in eine lichtdurchflutete Diskothek hineingefahren. Martha hatte noch begeistert aufgeschrien: »Ich hab alles drauf!« Robert konnte sich noch an seine verwunderten Gedanken erinnern, daß Martha angesichts dieser unglaublichen Situation anscheinend überhaupt keine Angst gezeigt hatte. »Herr Varell!« Der jüngere Streifenpolizist berührte ihn leicht an der Schulter. »Fühlen Sie sich in der Lage, uns zu sagen, was passiert ist?« Robert ging nicht auf seine Frage ein. »Meine Frau … Martha?« Der Polizist sah unsicher seinen älteren Kollegen an. »Wir wissen es nicht«, sagte Richard Lohmann. »Jedenfalls haben wir sie nirgendwo gesehen.« Robert nickte, als wüßte er mehr darüber. »Wo ist die Straße?« »Ähm, hier dort drüben, wo unser Streifenwagen steht.« Robert setzte sich wankend in Bewegung, gefolgt von den beiden Beamten, die sich seiner nicht sicher waren. Sie folgten ihm jedoch schweigend hinüber zur nahen Straße. Falls er einen Fluchtversuch unternehmen wollte, würde er in seinem Zu-
stand jedenfalls nicht weit kommen, dazu machte er einen allzu gebrechlichen Eindruck. Als er den Straßenrand erreichte, blickte er nach beiden Seiten die Straße entlang. Dann drehte er sich um und inspizierte die Wiese, in deren Mitte der Chrysler stand. »Es gibt überhaupt keine Spuren im Gras«, murmelte er. »Wie ist der Wagen da hin gekommen?« Jetzt riss Lohmann der Geduldsfaden. »Hören Sie mal, Herr Varell! Es wäre an der Zeit, daß Sie uns erklären, was passiert ist! Und vor allem, wo ist Ihre Frau? Mit diesen Mätzchen kommen Sie bei mir nicht weit!« Er ignorierte die warnenden Handbewegungen seines Kollegen. »Ist doch wahr! Er ist nicht der erste, der auf verrückt macht, weil er seine Frau um die Ecke gebracht hat! Also, Herr Varell, was ist mit Ihrer Frau?« Robert winkte ab. »Es war nicht hier. Es müßte … warten Sie, das Waldstück weiter da drüben und davor die Kurve. Das müßte … Können Sie mich die Straße zurückfahren, vielleicht ein oder zwei Kilometer?« Richard Lohmann holte tief Luft. Bevor er verärgert antworten konnte, sagte Wegener beschwichtigend: »Können wir, Herr Varell, aber dort sollten Sie uns schon erklären, was eigentlich vorgefallen ist, sonst müssen wir andere Maßnahmen ergreifen!« Lohmann stapfte wütend zum Streifenwagen und riß die Tür auf. Schweigend stiegen alle ein. Robert registrierte nicht, daß sich Hauptkommissar Lohmann demonstrativ neben ihm auf der Rückbank niedergelassen hatte. Auch seine bohrenden Blicke berührten ihn nicht. Er begann, sich ernsthaft Sorgen um seine Frau zu machen. Bisher war ihm alles wie ein einstudiertes Spiel erschienen. Auch die Streifenbeamten hatte er nicht
wirklich ernst nehmen können. Erst in dem Moment, als er in der Wiese stand und keinerlei Reifenspuren ausmachen konnte, wurde er unsicher. Würde jemand tatsächlich einen solchen Aufwand treiben und ein fast anderthalb Tonnen schweres Auto mit einem Kran oder gar einem Hubschrauber in eine jungfräuliche Wiese versetzen, um Spuren zu verwischen? Welche Spuren? Was für einen Sinn sollte es haben, wenn er kilometerweit von der Stelle in seinem Wagen aufwachte, wo in der Nacht etwas Unerklärliches passiert war? Jetzt war es Tag, nicht mehr ganz früh am Morgen. War es überhaupt der darauffolgende Tag? Robert wagte nicht, den grimmigen Polizisten neben sich danach zu fragen, aber seinem ertragbaren Hungergefühl nach zu schließen, nahm er an, daß heute der nächste Morgen war. Einige Minuten später bedeutete Robert dem Polizisten langsamer zu fahren. Als sie über die Stelle an der Kurve hinaus waren, wo er in der Nacht zum zweiten Mal heftig auf die Bremse getreten war, ließ er ihn anhalten. Eilig stieg er aus, gefolgt von zwei mißtrauischen Beamten, und trabte gebückt wie ein Fährtensucher die Straße hinunter. Heftig nach Atem ringend erreichte er die Stelle, an der er das schwarze Objekt vor sich über der Straße hatte schweben sehen. »Hier, sehen Sie«, sagte er zu den beiden Polizisten, die neben ihn getreten waren und merklich ungeduldiger wurden. »Hier sind die Bremsspuren zu sehen. Hier habe ich heute nacht angehalten.« »Na prima!« antwortete Lohmann sarkastisch. »Und dann sind Sie also von hier aus direkt in die Wiese geflogen?« »Nein, natürlich nicht, ich … äh …« Robert wußte nicht, wie
er es erklären sollte. »Herr Varell«, begann Wegener vorsichtig. »Jetzt sagen Sie uns doch einfach, was in der Nacht vorgefallen ist!« Immerhin hatten sie nun schon mal die Information, daß es in der Nacht gewesen sein mußte. Robert suchte die Baumwipfel ab, in der Hoffnung, dort eine Auffälligkeit oder gar einen gebrochenen Ast zu entdecken, der ihm die Gewißheit gab, nicht alles geträumt zu haben. Aber es war nichts zu sehen. »O.K. Gut. Na gut, ich erzähle Ihnen alles, aber sie dürfen mich nicht unterbrechen!« Robert begann, sein Erlebnis von der letzten Nacht wahrheitsgemäß wiederzugeben, ohne Ausschmückungen hinzuzufügen und ohne ein Detail wegzulassen. Er wagte nicht während seiner Schilderung einem von den beiden in die Augen zu sehen, er konnte sich auch so vorstellen, wie sie bei der einen oder anderen Stelle ungläubig die Augen verdrehten. Zwei- oder dreimal war er drauf und dran, mit seiner Geschichte aufzuhören, weil seine Darstellungen von der letzten Nacht selbst für ihn unwahrscheinlich klangen. Jetzt rede ich mich ins Irrenhaus, dachte er, als er bei der Stelle angelangt war, als das Objekt ohne eine merkliche Luftbewegung über sie hinweg gezogen war. Plötzlich kniff Wegener die Augen zusammen und machte eine warnende Handbewegung. »Was ist?« fragte Lohmann gelangweilt. »Noch ‘n UFO?« »Sei still! Da ruft jemand!« Alle drei drehten sich hin und her und lauschten in die Umgebung. Wegener ging einige Schritte zum Straßenrand und spähte über die niedrigen Büsche den steilen Abhang hinunter.
»Da unten bewegt sich etwas«, sagte er und suchte nach einer günstigen Abstiegsmöglichkeit. »Wir brauchen das Seil aus dem Kofferraum. Hier kommen wir nicht so einfach hinunter.« Während die beiden Polizisten zum Streifenwagen gingen, versuchte Robert über die Büsche zu spähen. Keine fünf Meter unter ihm, auf einem moosigen Absatz hing ein beigefarbener Fleck, der seine Position ab und zu veränderte. »Martha?« rief er zögernd, dabei wußte er, daß es sich um seine Frau handeln mußte. Ganz deutlich erkannte er die hellblauen Streifen auf dem Kostüm. »Martha, nicht bewegen, gleich kommt Hilfe!« Ungeduldig beobachtete er, wie die Beamten ihre Mützen im Wagen deponierten und anschließend umständlich mit einem Seil hantierten. Es kostete ihn einige Überwindung, keine beißende Bemerkung loszuwerden, aber er hielt sich zurück, denn nach ihren Gesichtern zu schließen, hielten sie die ganze Operation offensichtlich für die Folgen eines wirren Ehedramas, mit dessen Auswirkungen sie sich nun gezwungenermaßen zu beschäftigen hatten. Nachdem Wegener auch noch seine Uniformjacke ausgezogen hatte, schlang er ein Seilende um die Hüfte und sicherte sich mit einem gekonnten Knoten. Sein Kollege befestigte das andere Ende kurzerhand an der Anhängerkupplung des Streifenwagens und hängte sich das Seil um Hüfte und Schulter. Robert hielt den Aufwand für die Aktion angesichts des ungefährlich erscheinenden Abhanges für etwas übertrieben, aber er schwieg auch diesmal, besonders als Wegener auf seinem Weg nach unten anscheinend ausrutschte und Lohmann sich heftig in das Seil stemmen mußte. Nach einigen Minuten bangen Wartens hörte Robert leise
Marthas klagende Stimme nach oben dringen. Erst jetzt bemerkte er die Anspannung, die sich aus Sorge um seine Frau in ihm breitgemacht hatte. Gleichzeitig spürte er eine quälende Müdigkeit als Folge der Ereignisse. Erschöpft lehnte er sich an den Wagen und überließ dankbar den Polizisten die Bergung seiner Frau. Er versuchte verzweifelt, die geheimnisvollen Vorgänge der letzten Nacht in sein Gedächtnis zurückzurufen, aber alles, an das er sich noch erinnern konnte, war das Aufflammen des blauen Lichtes, das sie plötzlich von allen Seiten umgeben hatte. Auch die Umrisse des riesigen schwarzen Objektes, das er kurz zuvor über der Straße schwebend erblickt hatte, waren vor seinem geistigen Auge präsent. Manchmal meinte er, daß einzelne Bilder kurz irgendwo in einer Ecke seines Gehirns aufflackerten, um sogleich wieder zu verschwinden. Er konnte sie jedoch nicht definieren oder beschreiben. Es waren Momente, die er nicht in seine Vergangenheit einzuordnen vermochte. Wie verblaßte Wischer aus einer anderen Welt. »Robert!« Martha stand vor ihm. Ihr Kostüm war als solches fast nicht mehr zu erkennen. Überall klebte nasses Laub an ihrem Körper, aber sie schien wohlauf zu sein. Sie spuckte kleine Fetzen von Moos von den Lippen und stürzte unter Tränen auf ihn zu. »Gott sei Dank, du lebst!« rief sie, während sie ihn heftig umarmte. »Ich bin O.K.«, antwortete er verblüfft. »Aber um dich habe ich mir Sorgen gemacht! Was ist denn eigentlich geschehen?« Als er die Frage aussprach, bereute er seine voreilige Neugier auch schon. Was würde seine Frau antworten? Und wie würden die Beamten reagieren, die scheinbar unbeteiligt das Seil wieder
im Kofferraum verstauten, aber dabei ganz offensichtlich ihre Unterhaltung nicht nur beiläufig verfolgten. »Ich weiß es nicht«, sagte sie zu seiner Erleichterung. »Vor einer Stunde ungefähr bin ich da unten aufgewacht. Ich weiß auch nicht, wie ich dahin gekommen bin. Ich hatte die ganze Zeit über Angst, daß ich noch weiter nach unten rutsche, deswegen habe ich nach Hilfe gerufen, aber es hat mich niemand gehört. Dann ist der Polizist erschienen.« Sie schaute sich besorgt um. »Wo ist unser Auto? Haben wir einen Unfall gehabt?« Robert beschloß, bei der Wahrheit zu bleiben und erzählte ihr seine Erlebnisse. Martha nickte immer wieder heftig und bestätigte damit seine Version der Vorgänge in der Nacht. »Richtig, an das blaue Licht kann ich mich noch genau erinnern, aber dann weiß ich nichts mehr. Es war ganz eindeutig ein UFO!« Sie blickte die beiden Beamten auffordernd an, als wollte sie von ihnen eine weitere Bestätigung haben. »Frau Varell«, wich Wegener aus. »Ich glaube, es ist das beste, wenn wir Sie beide erst einmal nach Hause bringen. Ich muß Sie aber bitten, spätestens morgen auf unser Revier zu kommen, damit wir Ihre Aussagen aufnehmen können!« »Was ist mit unserem Wagen?« fragte Robert. »Können Sie veranlassen, daß man ihn aus der Wiese herausholt? Ich glaube nicht, daß ich ihn alleine dort herauskriege.« Lohmann nickte. »Wir machen das schon. Sie müssen aber verstehen, daß wir das Fahrzeug vorerst beschlagnahmen, bis die Umstände vollständig aufgeklärt sind. Es ist mir ein Rätsel, wie Sie in eine Wiese fahren konnten, ohne Reifenabdrücke zu hinterlassen. Deswegen muß ich die Spurensicherung benach-
richtigen. Ich schätze, es wird ein paar Tage dauern, bis Sie den Chrysler bei uns abholen können.« Robert war einverstanden. Schließlich hatte er nichts zu verbergen und vielleicht konnte die Polizei die rätselhaften Vorgänge aufklären, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, daß etwas dabei herauskam. »Wie Sie meinen«, erklärte er bereitwillig. »Ich weiß, daß unsere Erklärungen verrückt klingen, aber wir haben Ihnen alles genauso geschildert, wie wir es erlebt haben. Wir haben nichts verschwiegen …« Robert stutze plötzlich und wandte sich an Martha. »Deine Cibes! Wo ist dein Cyberfon? Du hattest doch irgendwann gesagt, du willst alles aufnehmen!« Martha faßte sich an den Kopf, als würde sie ihren Hut vermissen. »Herrgott, ja richtig! Natürlich, ich habe doch alles aufgenommen!« Sie lief zum Abhang und lugte vorsichtig über die Büsche. »Vielleicht habe ich sie dort unten verloren. Oder sie liegen im Auto.« Robert hörte Lohmann leise aufstöhnen. »Martha, wir brauchen sie nicht. Du hast doch gesagt, du würdest die Aufnahmen nach Hause senden. Wir sehen sie uns dort an. Und wenn die Dinger noch funktionieren, wissen wir auch, wo sie abgeblieben sind!« Wegener sah Robert zweifelnd an. »Wollen Sie damit sagen, Sie haben das … äh … die Vorgänge von heute nacht aufgenommen?« »Ja freilich, junger Mann!« Martha blitzte ihn beinahe zornig an. »Bringen Sie uns nach Frankfurt und überzeugen Sie sich
davon, daß wir Ihnen keine Märchen aufgetischt haben!« Lohmann öffnete ohne weiteren Kommentar eine Tür des Streifenwagens und lud sie zum Einsteigen ein. »Bitte, wir sind sehr gespannt!« Ich auch, dachte Robert. Hoffentlich hatte seine Frau keinen Fehler gemacht, sonst wären sie endgültig blamiert. Andererseits, was hatten sie schon zu verlieren! Die Fahrt verlief größtenteils schweigend. Vorher hatten sie kurz bei dem Chrysler haltgemacht, um nach den Cibes zu suchen, aber ohne Erfolg. Die Streifenbeamten hatten dabei oberflächlich die Karosserie des Wagens nach verdächtigen Kratzspuren untersucht, um herauszubekommen, wie der Wagen auf die unberührte Wiese gelangt sein könnte. Ohne Erfolg. Sichtlich verärgert, weil sie nach wie vor glaubten, daß man sie an der Nase herumführte, hatten sie die flüchtigen Untersuchungen eingestellt und auf eine Weiterfahrt gedrängt. Robert saß nun im Fond des Streifenwagens und rief sich immer wieder den Moment ins Gedächtnis, als sie das Licht in der Nacht umhüllte. Doch danach kam nichts. Manchmal reihten sich farbige Schatten an diese letzte Erinnerung, aber das konnten auch Bilder aus seiner Bewußtlosigkeit sein, die sich ihm aufdrängten. Es war alles so rätselhaft. Ihm gingen Berichte von Leuten durch den Kopf, die angeblich von UFOs entführt worden waren. Bisher hatte er darüber nur gelacht. Einmal hatte ihm Martha einen Zeitungsartikel über solche Entführungen vorgelesen. ›Das sind alles Wichtigtuer, die sich gerne produzieren‹, hatte er verächtlich bemerkt und sich nicht weiter um den Blödsinn gekümmert. Und jetzt? Jetzt saß er in einem
Streifenwagen mit zwei Polizisten, denen er praktisch erklärt hatte, daß auf seinem Videogerät ein UFO zu sehen wäre. Und wenn er sich das alles nur eingebildet hatte? Aber was war mit Martha? Können sich zwei erwachsene Leute das gleiche einbilden? Nein, er schüttelte energisch den Kopf, so daß Martha ihn fragend ansah. Er war sich sicher, sie hatten beide alles real erlebt. Wir werden es ja gleich sehen. Oder auch nicht, fügte er in Gedanken hinzu. Robert wurde zusehends nervöser, als er die Türe zu ihrer Wohnung aufschloß. Ohne sich um die Polizisten und um Martha zu kümmern, rannte er fast ins Wohnzimmer, um nach dem Recorder zu sehen. »Da!« rief er laut aus. »Er läuft noch! Die Cibes übertragen immer noch Aufnahmen!« Mit zitternden Fingern tastete er an der Fernbedienung herum. »Die DVD läuft seit 14 Stunden. Hier da! Sehen Sie!« Er deutete auf die verschiedenen Displays, als müßte er den Polizisten eine neue Technik erklären. »Martha legt immer eine neue ein, wenn wir wegfahren, falls sie etwas von unterwegs aufnehmen will …« Ein auf- und abschwellender Ton ließ ihn verstummen, als er den Fernsehmonitor einschaltete. Sekunden später erschien ein wirres farbiges Bild. Ein Testbild, dachte er. Blödsinn, Testbilder gab es schon lange nicht mehr. »Das ist das Bild, das die Cibes jetzt im Moment aufnehmen!« Es klang fast wie eine Entschuldigung. Auf der linken Seite war ein schmaler grüner Streifen zu sehen, der zur Mitte hin an Helligkeit zunahm. Diagonal dazu
liefen viele kleine Lichtpunkte nach oben in ein dunkles Gelb hinein. Sie sahen auf jeden Fall wie Lichtpunkte aus, es konnten aber auch helle Kegel oder kleine Vertiefungen sein, die Lichtquellen simulierten. Ein undeutlicher blaßblauer Zacken ragte von der rechten Seite über einige der Lichter und verdeckte sie. Darunter lag ein stumpfes Grau, das von feinen gelben Linien durchbrochen wurde, die sich nach unten hin zu verbreitern schienen. Bewegungen waren keine zu entdecken. »Hübsch«, sagte Martha. »Im Wald liegen meine Cibes auf jeden Fall nicht!« Sie sahen sich das farbige Bild eine Weile schweigend an. »Da tut sich nichts«, sagte Lohmann schließlich. »Gehen Sie einmal zum Anfang zurück. Ich meine dorthin, wo die Übertragung in der Nacht beginnt!« Robert unterbrach den Empfang und aktivierte die Aufzeichnung. »Na bitte!« triumphierte Martha, als auf dem Monitor Robert im schwachen Schein der Armaturenbeleuchtung zu erkennen war. Nach einigen heftigen Schwenks zwischen einem konzentriert aussehenden Robert und der beleuchteten Straße blieben die Kameras der Cibes auf einem glimmenden Licht, das hinter den Bäumen hervorschimmerte. Gebannt blickten vier Augenpaare auf die Szene, die sich vor ihnen abspielte. Lohmann fand als erster die Sprache wieder. »Das … ist ja unfaßbar!« sagte er leise. »Ich glaube es einfach nicht!«
3. Kapitel Thomas Schweighart begann sich zu langweilen. Vor drei Stunden hatte das Space Shuttle Intrepid von der Raumstation ISS abgekoppelt. Seitdem war nicht sehr viel Aufregendes passiert, wenn man einmal davon absah, daß sich das Shuttle gleich nach der Trennung im sogenannten ›Barbecue Mode‹ unentwegt um seine Achse drehte, um das Raumschiff einer gleichmäßigen Erwärmung durch die Sonne auszusetzen. Dabei hatte Schweighart noch das Privileg, gleich hinter den Piloten im Oberdeck zu sitzen. Trotzdem konnte er durch die nahen Bugfenster nichts erkennen, außer einer zweifelhaften Schwärze des Weltraums, der in einer Höhe von 350 Kilometern über der Erdoberfläche von den meisten Astronauten wohl mehr als die letzten Ausläufer der Atmosphäre bezeichnet wurde. Die Erde, die sich scheinbar um das Shuttle drehte, konnte er von seinem Platz aus nicht sehen. Dafür verfolgte er mit müden Augen die sich stetig verändernden Schatten auf den unzähligen Armaturen vorne im engen Cockpit. Er lehnte sich mit einem Seufzer zurück und versuchte sich zu entspannen. Er hatte vier Monate auf der Raumstation zugebracht und war während des Aufenthalts ausgiebig in den Genuß des Anblicks der Erde gekommen. Jetzt war er auf der Heimreise. Das Shuttle hatte mit einer neuen Besatzung für die Raumstation und Versorgungsgütern vor drei Tagen an der ISS angelegt. Außerdem hatte es die
unterschiedlichsten Paletten mit fertig montierten Laborsegmenten im Laderaum mitgebracht, die sofort von den Neuankömmlingen in der Raumstation installiert und in Betrieb genommen wurden. Es waren sehr hektische Tage gewesen. Einem unbeteiligten Beobachter wäre es fast so vorgekommen, als würde die neue Besatzung die alte regelrecht aus ihrer exotischen Behausung hinauswerfen. Aber der junge deutsche Astronaut konnte sie verstehen. Als er mit der Französin Annick Denny, dem Russen Ilja Kohlschovsky und dem amerikanischen Ehepaar Kenneth und Hilary Cochran im Frühjahr an der ISS andockte, hatten sie ebenfalls die Raumstation sofort in ihren Besitz genommen. All ihre Konzentration hatte sich auf die bevorstehenden Experimente und die weiteren Aufgaben gerichtet. Jeder, der nicht damit zu tun hatte, war ein Ablenkungsfaktor gewesen und wurde mit Respekt ignoriert, ohne dabei gegen ihn unhöflich zu sein. Vielleicht war es eine Art Selbstschutz, den man dabei entwickelte. Alle Ratschläge von den Vorbewohnern wurden wohl zur Kenntnis genommen, richtig hingehört hatte dennoch keiner. Jeder glaubte, seine eigenen Erfahrungen sammeln zu müssen, um seine eigenen vorgefaßten Meinungen und Vorstellungen zu verwirklichen, obwohl jeder wußte, wie wichtig die Erkenntnisse der Vorbesatzung sein konnten. Trotzdem waren sie erleichtert gewesen, endlich allein auf der Station zu sein. Und dann, nach intensiver Arbeit in den ungewohnt beengten Dimensionen, war trotz der langen vier Monate Aufenthalt die Zeit auf der Raumstation plötzlich vorbei. All die Mühen in der Vorbereitungszeit, das Bangen und Hoffen, einer der wenigen Auserwählten zu sein, hatte mit dem ersten Besuch im
Weltraum ein glückliches Ende gefunden. In zwei Stunden würde alles vorbei sein. Bald würde der Commander die Rotation stoppen und das Shuttle drehen, um danach die Primary Thrusters zu zünden. Knappe drei Minuten würden die Hauptlagetriebwerke feuern und das Shuttle damit in einen elliptischen Orbit versetzen, der es der Reibung der Erdatmosphäre ausliefern würde. Danach wäre es nur noch eine knappe Stunde bis zur Landung in Florida. Es geht alles viel zu schnell, dachte Schweighart. Am liebsten hätte er seine Gurte gelöst und wäre nach vorne ins Cockpit geschwebt, um noch einmal einen letzten Blick auf die Erde werfen zu können. Ihm lag die Bitte auch schon auf der Zunge und er beugte sich leicht nach vorne, aber dann traute er sich doch nicht. Er wußte nicht warum, aber irgendwie verbreitete der amerikanische Commander eine unterschwellig knisternde Spannung in der Kabine. Vielleicht lag es daran, daß die Astronauten des Johnson Space Centers die Raumfähre als eine Art nationales Heiligtum ansahen, das durch die Anwesenheit von drei Europäern zeitweilig entheiligt wurde. Schweighart sah von dem Commander im linken vorderen Sitz nur die rechte Schulter und einen Teil der Beine, aber das Gesicht des Amerikaners hatte bei der ersten Begegnung einen tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen: mürrisch dreinblickende Augen, deren grünbraunen Farbton man unter den dichten Brauen kaum ausmachen konnte. Harte Gesichtszüge, die keinen Widerspruch duldeten. Die kurzen grauen Haare zeugten von Disziplin. Seine knappen Befehle und Kommentare versah er mit einem ironischen Unterton, durchsetzt mit beleidigendem Sarkasmus. Ein Kotzbrocken also, wie er im Buche stand.
Schweighart lehnte sich resignierend zurück und überprüfte zum wiederholten Mal seine Gurte und die Anschlüsse der kleinen Sauerstoffflasche, die an seinem Oberschenkel befestigt war. Laß es gut sein, sagte er sich. Irgendwann komm ich wieder in den Weltraum. Und dann vielleicht sogar weiter als nur bis zur Raumstation. Er sollte sein Glück jetzt nicht überstrapazieren. Er atmete tief durch und blickte nach links. Neben ihm, im zentralen Sitz des Oberdecks saß die gedrungene Gestalt des Missionsspezialisten Ilja Kohlschovsky. Ein Russe, dessen Eltern aus Polen stammten. Er selbst lebte seit acht Jahren in den USA. Unser Vorzeige-Russe, wie ihn der Commander gestern einmal genannt hatte. Kohlschovsky hatte die abfällige Bemerkung entweder überhört oder es hatte ihn nicht weiter berührt. Schweighart tippte auf Zweiteres, denn den Russen schien so schnell nichts aus dem Gleichgewicht zu bringen. Auch jetzt, so kurz vor der Landung, machte er das Beste aus der langweiligen Situation: Er schlief mit zur Seite geneigtem Kopf und mit leicht geöffnetem Mund. Seine Hakennase sah unter diesem Blickwinkel wie eine Mißbildung aus. Unter dem oberen Rand des Helmes kringelte sich eine verschwitzte Haarlocke hervor. Soweit Schweighart wußte, war Kohlschovsky damals vom Johnson Space Center als großzügige Geste an die ehemalige Sowjetunion in den Kader der amerikanischen Astronauten übernommen worden. Es war letztendlich ein groß aufgemachter PR-Gag gewesen, der die guten Beziehungen zwischen Ost und West unterstreichen sollte. Kohlschovsky hatte seine Chance jedenfalls genutzt. Bisher war er der einzige nichtamerikani-
sche Astronaut, der in den Rang eines Missionsspezialisten aufgestiegen war und damit abwechselnd zu einer festen Besatzung eines Space Shuttles gehörte oder gar, wie in den vergangenen Monaten, als ergänzendes Mitglied in der Raumstation gearbeitet hatte. Von rechts vorne war leise die Stimme des Piloten zu hören, der sich mit Houston unterhielt. Von links vorne kam nur Schweigen. Der Commander hatte sich seit einer halben Stunde nicht einmal gerührt. Commander James Jefferson DeHaney war sich der gespannten Stimmung durchaus bewußt, die von ihm ausging, auch wenn er es nach außen hin nicht zugeben wollte. Dabei konnte er keinen direkten Grund für seine Gereiztheit angeben, ganz im Gegenteil, alles lief reibungslos, und der Ablaufplan des Fluges lag genau in der Time Line. Der wahre Kern seines Problems lag viel tiefer verborgen. Gerade in solchen Momenten wie in diesen, in denen er nicht viel zu tun hatte, außer die computergesteuerten Überwachungsprogramme des Shuttles auf den Monitoren zu beobachten, haderte er besonders mit seinem Schicksal. Es war sein sechster Flug mit einem Space Shuttle. Alle sechs Missionen waren nichts anderes gewesen als Menschen und Material in den nahen Orbit zu befördern und wieder zur Erde zurückzubringen. Dieser ›Vorgang‹, wie er insgeheim seine Aufgabe bezeichnete, war für ihn nichts Besonderes mehr: Man ließ sich aus dem Stand nach oben schießen, steuerte die Raumstation an, sagte dem Computer, daß man wieder nach unten wollte und landete genau da, wo man einige Tage zuvor gestartet war: 28 Grad, 36 Minuten nördlicher Breite und
80 Grad, 36 Minuten westlicher Länge, Kennedy Space Center. Scheiß Perfektion! dachte er bei sich. Nein falsch, die Perfektion war O.K. es lag am Ziel! Er war nun 49 Jahre alt. Wenn er viel Glück hatte, würde man ihm vielleicht noch eine weitere Tour zugestehen. Die gleiche Prozedur. 300 Meilen rauf und 300 Meilen runter. Der Mond zum Beispiel war für ihn Lichtjahre entfernt, der Mars befand sich in einem anderen Universum. Alles, was er jetzt machte, war den Weg für Jüngere zu ebnen, die bald zu interessanteren Zielen aufbrechen würden. Er dagegen würde dann zum Zusehen verurteilt sein. Er lebte zur falschen Zeit, wie man so schön zu sagen pflegte. Dabei hatte es zu Beginn seiner Karriere nicht danach ausgesehen. Wäre das amerikanische Raumfahrtprogramm normal verlaufen, dann gäbe es diese verdammte Weltraumstation schon längst, und alles wäre bereit gewesen für das große Abenteuer Mondbasis oder Marsflug. Aber dann hatte im Jahre 1986 ein Dichtungsring an einer Feststoffrakete der Raumfähre Challenger versagt. Damit hatte nicht nur der unglückselige Orbiter mit seiner siebenköpfigen Besatzung ein tragisches Ende gefunden, sondern mit ihnen auch die weitere Entwicklung der amerikanischen Raumfahrt. Man hatte den Grund für die Katastrophe gesucht und ihn gefunden. Aber anschließend wurden das System der Raumfähre und ihre zukünftigen Aufgaben neu definiert. Zwei Jahre vergingen bis zum nächsten Start eines Shuttles. Inzwischen wurde von den Medien die alte Leier von Sinn und Zweck, Wert und Nutzen der Eroberung des Weltraums wieder hervorgezerrt und abgespielt. Alles war erneut in Frage gestellt. Zurück zum Anfang.
Schließlich die Columbia-Katastrophe im Januar 2003. Aus DeHaneys Sicht ein noch größerer Rückschlag für die Raumfahrt, denn mit der bis dahin ältesten Raumfähre verglühten auch die Träume für einen Flug zum Mars in der nahen Zukunft. Für die Öffentlichkeit lag es auf der Hand, daß die NASA ihre Hausaufgaben nicht gemacht und keine Lehren aus der Vergangenheit gezogen hatte. Wie sollten Menschen zum roten Planeten und wieder unbeschadet zurück gelangen, wenn man es noch nicht einmal schaffte, die Technik für den erdnahen Orbit zu beherrschen. DeHaney wußte, daß er ungerecht urteilte. Und genau das war sein Problem. Er war viel zu intelligent, um mit der Vergangenheit unzufrieden zu sein, denn er verdankte ihr seine Erfolge. Und gleichzeitig war er zu inkonsequent, um einen Schlußstrich zu ziehen. Er hatte während der letzten Jahre einfach seine Perspektiven verloren. Nachdenklich sah er zu seinem Piloten rechts neben ihm. Timothy Caesar Cooper war gerade einmal 33 Jahre alt. Sein Vater hatte ihm den pompösen zweiten Vornamen gegeben, nachdem er kurz vor der Geburt seines Sohnes im Caesar’s Palace in Las Vegas mehrere tausend Dollar an einer Slotmachine gewonnen hatte. Es war Coopers erster Flug. Und bestimmt nicht sein letzter. Der ganze Weltraum lag noch vor ihm. Oder wenigstens der Mond. DeHaney dagegen war am Ende seiner Karriere angelangt, ohne zu wissen, was das für ihn bedeuten würde. Sicherlich würden sich einige ›alte‹ Freunde für ihn stark machen, damit er einen lukrativen Job bei der NASA übernehmen konnte, aber er wußte, daß er nicht dafür geschaffen war, anderen
beim großen Spiel zuzuschauen. Also würde er sich in irgendeine komfortable Höhle auf dem Land verkriechen. Seine Frau Autumn hatte sogar schon eine gefunden und war eifrig damit beschäftigt, sie einzurichten: ein großräumiges Landhaus in der Nähe von Burlington, Vermont. Dort würden sie die restlichen Dekaden ihres Lebens verbringen, im Winter mit knisternden Holzscheiten im offenen Kamin und im Sommer auf der kleinen Yacht auf dem Lake Champlain. Zu gegebenen Anlässen würden die Kinder vorbeischauen und ansonsten würden er und seine Frau die Rolle eines ehemaligen Astronauten plus Ehefrau spielen, sehr zur Freude des Bürgermeisters, der damit einen Prominenten mehr in seiner Gemeinde vorzeigen konnte. DeHaney fluchte innerlich. Sein Mentor John Young war vor ein paar Jahren auch noch mit dem Shuttle unterwegs gewesen, aber er hatte wenigstens in den Anfängen der Raumfahrt in einer besseren Konservenbüchse die Anziehungskraft der Erde abgeschüttelt, als einer von zwölf Menschen den Mond betreten und den ersten Flug eines Space Shuttles befehligt. Young hatte Glück gehabt. Ihm hätte der Orbit allein auch keinen Spaß gemacht mit all diesen Computern, die das Shuttle praktisch selbständig steuerten und ihn mit quietschenden Piepsern und elektronischem Getöse daran erinnerten, was er als nächstes zu tun hatte. Oder der junge Deutsche rechts hinter ihm. Bald würden die Europäer ihr eigenes Shuttle nach oben schicken. Schweighart – war das sein Name? – hatte vier Monate auf der ISS verbracht. Mit seiner Erfahrung als Pay Load Specialist und mit seinen jungen Jahren stand er ganz oben auf der Liste für künftige Missionen. Ebenso die kleine Französin, die unten im Mittel-
deck saß. Eine europäische Astronautin aus Paris. Die Boulevardpresse überschlug sich seit Monaten mit immer neuen Berichten über ihr Leben vor und während der Mission. DeHaney grinste schmierig. Nach der Landung könnte sie vom ›Playboy‹ wahrscheinlich jede Summe für eine ausklappbare Hochglanzseite verlangen. Sie sah einfach phantastisch aus. Eine hochgewachsene, grazile Person mit einer dunklen Lokkenmähne, lebhaften grünen Augen und einem großen Mund, auf dem ständig ein herausforderndes Lächeln lag. Sie war eine von den Frauen, die man nur aus der Ferne anbeten konnte. Unnahbar und doch begehrenswert. Ob sie während der Zeit auf der Station etwas mit dem Deutschen gehabt hatte? DeHaney preßte wie unter plötzlichen Schmerzen die Augen zusammen und blickte auf die sanfte blaue Rundung der Erde, die sich langsam über ihn hinwegdrehte. O Mann, Jim, du verwandelst dich allmählich in einen bösen alten Mann! Hätte Kenneth Cochran seine schmutzigen Gedanken lesen können, so wäre er von ihm unverzüglich ans Kreuz genagelt worden. Wahrscheinlich saß er jetzt mit glücklichem Gesichtsausdruck im Mitteldeck und hielt zufrieden die Hand seiner Frau. DeHaney hatte die beiden Biologen bei seinem ersten Flug kennengelernt. Deren puritanische Vorfahren hätten ihre wahre Freude an ihnen gehabt. Ken und Hilary Cochran lebten nach strengen moralischen Gesetzen. Ihre Lebensphilosophie bestand aus Arbeit, Disziplin und Demut. Und vor allem aus einer stoischen Hingabe zur Zufriedenheit und nach außen getragenem Glücklichsein. Er nahm ihnen nicht alles ab, aber er hatte bisher noch keine Abweichung von ihrem keuschen Lebenspfad feststellen können. Wozu auch? Sie
waren hervorragende Wissenschaftler, die auf allen Kontinenten anerkannt waren und sich im Weltraum bewährt hatten. Auf der Erde begann ihr Tag um fünf Uhr früh mit Sport und anschließenden Lobpreisungen des Herrn und endete friedlich um neun Uhr abends mit einem Gebet. Bestimmt stellten sie ihr Müsli selbst her und widmeten sich ansonsten ganz ihrer Arbeit. DeHaney konnte sich nicht vorstellen, daß sie Zeit damit verbrachten, an so etwas Ähnliches wie Sex zu denken, geschweige denn überhaupt etwas damit zu schaffen zu haben. Cooper rechts neben ihm rührte sich. »O.K. Jim, wir haben noch gut zwei Stunden bis zur Landung. Ich beende hiermit unsere Grillstunde. Anschließend überprüfe ich das OMS und lade das Reentry Programm.« Er bedachte DeHaney mit einem skeptischen Blick. »Und … ähm … Jim, vielleicht sollten wir beide jetzt auch den Helm aufsetzen.« Der Commander griff wortlos nach seinem Helm, den er die ganze Zeit über mit der linken Hand auf seinem Oberschenkel festgehalten hatte. Wenn es nach ihm ginge, würde er die Fähre ohne den Kopfschutz landen, nur um zu demonstrieren, wie sicher das System war. Aber Cooper hatte, wie vorher mit Houston abgesprochen, für die Landung das Kommando, also mußte er auch darauf achten, daß sich alle an die Vorschriften hielten. Außerdem wäre es einem indirekten Todesurteil gleichgekommen, den Helm nicht aufzusetzen. Sein direkter Vorgesetzter, William D. Wakefield, hätte ihn höchstpersönlich nach der Landung aus dem Cockpit geprügelt und ihn anschließend als Landesverräter, der ein zwei Milliarden Dollar teueres Objekt in Gefahr gebracht hatte, an den Pranger gestellt.
Sie halfen sich gegenseitig beim Verriegeln der Helme und überprüften anschließend die Kommunikationseinheiten. DeHaney stellte einmal mehr fest, daß sich das Aussehen eines Menschen total veränderte, wenn er einen Helm aufsetzte. Von Coopers affenähnlichem Gesicht mit den großen abstehenden Ohren und den kurzen dunklen Haaren war nichts mehr zu sehen, statt dessen blitzten DeHaney nun zwei ehrgeizige blaue Augen aus dem geöffneten Visier entgegen. Keine Frage, Cooper stand der Weg in die Zukunft offen. »O.K. Leute, Sprechprobe«, sagte Cooper laut. »Time Line bei Landing minus eine Stunde und 34 Minuten. Ilja, alles klar bei dir …?« DeHaney ignorierte die weiteren Klarmeldungen und beschloß, den Ausblick auf die Erde zu genießen. Vielleicht war dies ja sein letzter Flug und vielleicht würde er von sich aus auch nicht mehr die Energie aufbringen, einen weiteren Start zu wagen. Er wußte, alle Gedanken und Überlegungen an eine Mission zum Mond oder gar zum Mars waren verschwendete Zeit. Die Leute vom Johnson Space Center waren nicht blind. Auch sie waren sich darüber im klaren, daß ein fast fünfzigjähriger Astronaut nicht mehr das Feuer und die Begeisterung eines weitaus jüngeren haben konnte. Sie würden sich sehr genau überlegen, wem sie ein Kommando für die weiteren Schritte im All übertragen würden. Die nächsten anderthalb Jahre waren für den Ausbau der Raumstation verplant. Parallel dazu verlief die Erprobung einer Raumfähre, die von einem Shuttle-Trägerflugzeug in die Atmosphäre gebracht wurde. Damit würden die spektakulären Starts von Rampe 39 A und 39 B der Vergangenheit angehören. Genau betrachtet saß er schon
jetzt in einem Museumsstück, denn für die Intrepid waren noch drei Starts vorgesehen, danach würde sie wahrscheinlich in irgendeinem Raumfahrtmuseum vor sich hinrosten. Er strich fast liebevoll über die Schalter links neben sich. Das alles würde in Zukunft gänzlich anders aussehen. Touch Screens und großflächig beleuchtete Tasten würden das Bild eines modernen Cockpits bestimmen. Monitore für die Computer, die sprechen und wahrscheinlich auch gesprochene Befehle ausführen konnten … »Houston befiehlt einen Stop für den Deorbit Burn!« sagte Cooper plötzlich neben ihm. DeHaney schreckte hoch. »Was?« »Houston sagt, wir sollen uns auf mindestens fünf weitere Umläufe einrichten!« klärte ihn Cooper auf. DeHaney überzeugte sich kurz davon, daß der HOT Mode seines Kommunikationssystems auf Houston eingestellt war. »Houston, hier ist Intrepid, Commander DeHaney. Wo liegt das Problem? Over.« Zu seiner Überraschung erklang die Stimme von Bill Wakefield in seinen Kopfhörern. »Es gibt keine Probleme, Intrepid, nur eine kleine Verzögerung. Hauptgrund dafür ist ein kleines Unwetter über dem Ausweichlandeplatz auf der Edwards Airbase. Die seitlichen Windgeschwindigkeiten über der Landebahn sind zu hoch. Wir möchten kein Risiko eingehen und verschieben eure Landung um etwa sieben Stunden, over!« »Roger, over and out!« DeHaney blickte nachdenklich auf den runden Erdball über seinem Kopf und fixierte dort einen Punkt, als würde er nach
dem Unwetter in Kalifornien suchen. Die Begründung war absoluter Blödsinn. Vor einer Stunde noch war von einem absolut blauen Himmel über Edwards die Rede gewesen. Es gab dort selten ein Unwetter, und wenn doch, dann kam es nicht so plötzlich. Trotzdem zuckte er widerspruchslos die Achseln. Meinetwegen, dachte er, ich habe es nicht eilig. Wahrscheinlich hatte sich ein wichtiges Kongreßmitglied in den Kopf gesetzt, bei der Landung in Cape Canaveral anwesend zu sein und hatte sich verspätet. Deswegen mußte man ihm aber nicht mit solch fadenscheinigen Gründen kommen. Er verkniff sich eine dementsprechende Bemerkung und sagte zu Cooper: »Na gut, dann eben nicht. Räumst du bitte mit Kohlschovsky die Fläche vor der Toilette wieder frei. Ich fahre inzwischen den Computer herunter und gebe die Bestätigung an Houston durch. Vergiß nicht, den Cochrans zu sagen, daß sie aufhören können zu beten!« Cooper klappte mit einem pflichtbewußten Grinsen sein Visier hoch und gurtete sich los. Mit einem Klaps auf DeHaneys Schulter hangelte er sich vorsichtig an ihm vorbei und war wenig später nach hinten verschwunden. DeHaney überprüfte den Status für das OMS. Dann meldete er sich ordnungsgemäß bei der Kontrolle in Houston. »Houston, hier ist Intrepid, Prestart von APU abgebrochen, RCS ist out, alle Schalter auf out, Druck und Tank out, Schalter eins bis acht, Crossfeed Schalter auf out. OMS wieder auf Stand by, over.« »Roger, Intrepid, OMS auf Stand by, out.« He, he, so einfach kommt ihr mir nicht davon, Leute! Er
meldete sich erneut. »Houston, hier ist Intrepid, kann ich mit Bill sprechen?« Es dauerte keine Sekunde bis Wakefield sich meldete. »Intrepid, hier Wakefield. Jim, was gibt es? Over.« »Dieses … äh … furchtbare Unwetter über Edwards, hast du genauere Informationen für mich? Over.« »Hab ich. Ich schicke sie dir gerade über den Ticker nach oben. Over.« DeHaney wurde jetzt doch nachdenklich. Über den ›Ticker‹, wie das moderne Mail-System mit der veralteten Bezeichnung liebevoll umschrieben wurde, bedeutete, daß die Informationen nicht für alle Ohren zugänglich sein sollten. Irgend etwas war nicht in Ordnung. Aber was? Soweit er die Situation in der Raumfähre beurteilen konnte, war hier oben alles normal. Es gab keinerlei Anzeichen für einen Fehler in einem der Systeme. Alle fünf Computersysteme hatten übereinstimmend funktioniert. Also mußte etwas auf der Erde nicht seinen gewohnten Gang gehen. An das Unwetter glaubte er nach wie vor nicht. Schon gar nicht, wenn Wakefield die Informationen über die verschlüsselte Mail-Leitung schicken wollte. Resignierend hob er eine Augenbraue. Er würde gleich mehr wissen. »Roger, Houston, out.« Wenig später bemerkte er eine Bewegung neben sich. Cooper kam wieder ins Cockpit und wedelte mit einem Blatt Papier vor DeHaneys immer noch geschlossenem Visier herum. »Hier, für dich! Sagt dir das Codewort ›MARTHA‹ irgend etwas?« Gespannt beobachtete Cooper seinen Commander, aber des-
sen Reaktion glich der eines defekten Getränkeautomaten, in den man soeben seine letzte Münze hineingeworfen hatte. Nach einer endlosen Minute öffnete DeHaney das Visier seines Helms und griff nach der Nachricht. ›Commander’s Eyes only‹, las er dort. Reines Gewäsch. Jeder hier an Bord konnte die Nachricht lesen. Gerade solch eine Einstufung zur Geheimhaltung reizte zum sofortigen Lesen der Mitteilung. Coopers Bemerkung war der beste Beweis dafür. ›Ab sofort tritt Code MARTHA in Kraft. Momentaner Sendeort Südspitze von Madagaskar. Mit langsamem Standortwechsel. Weitere Informationen bis auf weiteres ausschließlich über verschlüsselte Mail.‹ DeHaney öffnete mit einer lahmen Bewegung den Helmverschluß. Nachdem er seinen Helm abgenommen hatte, strich er sich kurz über seine blonde Stoppelfrisur. Dann griff er mit einem tiefen Seufzer in ein Fach neben seinem Sitz und zog einige zusammengeheftete Blätter heraus. Mit einem Kopfschütteln übergab er seinem Piloten die schmale Akte. Während er sich losgurtete und vorsichtig aus dem Sitz schob, klärte er Cooper über den Inhalt auf: »Einen Tag vor unserem Start kam Wakefield mit einem Typen zu mir. Wurde mir nicht vorgestellt, aber dunkler Anzug, ernstes Gesicht, Aktentasche, alles Marke ›Ganz wichtig‹. Nur die schwarze Sonnenbrille hat noch gefehlt. Angeblich kam er von irgendeinem Unterverein vom CIA. NRO oder so ähnlich. Steht aber alles da drin.« Er sicherte seinen Helm, indem er einfach ein Gummiband durch das offene Visier zog und es anschließend um die Rükkenlehne seines Sitzes wickelte.
»Vor einigen Monaten«, fuhr er fort, nachdem er sich überzeugt hatte, daß der Helm fest verankert war, »wurde in Deutschland ein älteres Ehepaar von einem UFO entführt. So was ist ja nix Neues. Nur dieses Mal hat die Ehefrau, die übrigens mit Vornamen Martha heißt, das UFO und alles was mit der Entführung zu tun hatte, auf DSD abgelichtet. In bester Qualität und Stereoton. Der NRO-Typ hat mir das Material gezeigt.« Cooper hing mit offenem Mund quer an seinem Sitz und starrte DeHaney ungläubig an. »Ein UFO?« »Ja, MARTHA ist ein UFO! Und jetzt kommt der Gag an der Geschichte: Dummerweise haben die schusseligen Aliens vergessen, der lieben Martha ihre Kamera wieder mitzugeben, als sie ausgestiegen ist. Und seitdem sendet das Ding Bilder aus dem UFO!« Cooper wußte nicht, ob er seinem Commander Glauben schenken sollte. DeHaney war berühmt für seine ironischen Späße. »Ein UFO? Ein echtes UFO? Jim, jetzt mal im Ernst …« DeHaney klopfte ihm auf die Schulter und hangelte sich an ihm vorbei. »Du kannst es mir glauben, auch wenn es sich vollkommen irre anhört, aber unser Flugplan wurde tatsächlich wegen eines angeblichen UFOs geändert. Frag Wakefield. Aber benutz den Codenamen. Muß ja nicht gleich jeder wissen, daß wir ein UFO jagen!« »Wir jagen das UFO?« »Mehr oder weniger. Steht alles in der Akte.« Cooper blickte auf die wenigen Blätter, die er in der Hand hielt.
»Da drinnen?« Er sah seinem Commander nach, der anscheinend im Begriff war, das Cockpit zu verlassen. »Wo willst du überhaupt hin?« »Nach hinten. Ich will ‘ne Runde schlafen.« »Schlafen … jetzt? Bist du verrückt? Was soll ich denn mit dem UFO machen?« DeHaney grinste ihn an. »Steht alles da drin!«
4. Kapitel Als der Commander mit einem grimmigen Lächeln an ihm vorbeischwebte, wußte Schweighart, daß sich der Flugplan geändert haben mußte. Schon vor einigen Minuten hatte er besorgt die Aktivitäten der beiden Piloten beobachtet, aber keinerlei Schlüsse daraus ziehen können. Neben ihm war Kohlschovsky aufgewacht und starrte mit rotgeränderten Augen nach vorne ins Cockpit. »Ich glaube, ich schaufele schon mal die Toilette wieder frei«, sagte er mit kratziger Stimme. Schweighart musterte ihn skeptisch. »Meinst du, es dauert länger?« Kohlschovsky gähnte herzhaft und streckte sich in den engen Gurten. »Ich wette, daß sich Jim in seine Koje haut. Wahrscheinlich herrscht schlechtes Wetter über einem der Ausweichlandeplätze, was wahrscheinlich bedeutet, daß irgendein Kongreßabgeordneter es nicht rechtzeitig schafft, bei der Landung anwesend zu sein.« »Das meinst du doch nicht im Ernst?« Kohlschovsky grinste und gurtete sich los. »Es ist aber so. Eigentlich unterscheiden sich die Amerikaner gar nicht so sehr viel von uns Russen. Bei uns mußte auch immer ein Mitglied des Zentralrates bei der Landung anwesend sein. Nur eins ist mir bei der Prozedur noch unklar: Wird das
Wetter schlecht, weil es wichtige Leute nicht rechtzeitig für die Landung schaffen oder schaffen es die wichtigen Leute nicht, weil das Wetter schlecht wird. Hilfst du mir bei der Toilette?« Schweighart dachte noch über die merkwürdige Aussage Kohlschovskys nach, als er die Stimme des Piloten in seinem Helmlautsprecher hörte. »Hier spricht Cooper. Leute, wir haben eine Schlechtwettermeldung über der Edward Airbase. Das heißt, unsere Landung verschiebt sich um rund sieben Stunden. Also kein Grund zur Besorgnis. Äh … das ist vorerst alles.« Kohlschovsky schaute bei der letzten Bemerkung des Piloten kurz hoch und runzelte die Stirn. Als Schweighart daraufhin nach vorne ins Cockpit blickte, bemerkte er, daß Cooper hektisch in einem dünnen Ordner blätterte. Er wandte sich an den Russen, der gerade seinen Helm abnahm. »Meinst du, es ist irgend etwas nicht in Ordnung?« Kohlschovsky schüttelte beruhigend den Kopf. »Keine Angst. Wenn Feuer unterm Dach wäre, hätte der Commander sich nicht zum Schlafen hingelegt. Wahrscheinlich muß sich Cooper erst mit der Betriebsanleitung vertraut machen. Schließlich ist es seine erste Landung.« Danach lachte er laut auf, als hätte er einen brandneuen Witz erzählt. Nachdem sie ihre Anzüge und die Helme verstaut hatten, tauchten sie hinunter ins Mitteldeck, wo die drei restlichen Besatzungsmitglieder ebenfalls dabei waren, es sich für die nächsten Stunden bequem zu machen. Kenneth Cochran kramte gerade ein magnetisches Schachspiel hervor und befestigte das Brett mit einem Tape an der
Wand. »Ilja, Sie kommen genau richtig! Ihr Russen seid doch wahre Meister im Schachspielen. Nutzen wir die Zeit, um unsere Gehirnzellen zu trainieren! Wie wäre es mit einer Partie?« Kohlschovsky verzog das Gesicht, als hätte ihm Cochran einen Regenwurm aus den Laborbeständen zum Essen angeboten. »Um Gottes willen, nein, da müßte ich ja denken. Außerdem kann ich mir nie merken, wie die Figuren hin- und hergeschoben werden. Wenn ich nur an die Pferde mit dem verwinkelten Gehopse denke, überkommt mich ein Grausen.« Cochran rümpfte seine asketische Nase und lächelte säuerlich. »Die korrekten Begriffe lauten ›Springer‹ und ›Rösselsprung‹!« Bevor eine peinliche Situation entstehen konnte, sagte Schweighart: »Ich spiele gerne mit Ihnen, wenn Sie noch ein wenig warten können. Ich räume nur schnell mit Ilja die Toilette frei …« »Sie meinen das ›Extended Duration Orbiter Improved Waste Collection System‹ oder kurz EDO IWCS«, murmelte Cochran betreten. Er schien ernstlich verlegen deswegen zu sein, daß man einen solch privaten und hygienischen Ort respektlos als Toilette bezeichnete. Und wenn doch, dann könnte man höflicherweise das Wort ›washroom‹ benutzen … Schweighart hatte vier Monate mit Cochran im All verbracht und wußte, wie penibel der Mann in allen Lebenslagen reagierte. Anfangs hatte er die ständigen Berichtigungen als eine ironische Charaktereigenschaft eingestuft, aber schon bald hatte
er feststellen müssen, daß es der puritanische Amerikaner absolut ernst mit seinen korrekten Bezeichnungen meinte. Als Schweighart gleich in den ersten Tagen auf der Raumstation mehrmals die Schwerelosigkeit mit dem englischen Ausdruck ›weightlessness‹ beschrieb, wies Cochran ihn an, zukünftig das Wort ›microgravity‹ zu verwenden, weil eine absolute Schwerelosigkeit in Erdnähe und dazu noch in einer Raumstation keinesfalls zutreffend wäre. Der Vorfall hatte dazu geführt, daß die Crew der Station in den folgenden Tagen geradezu peinlichst darauf achtete, alle Bezeichnungen und Beschreibungen präzise auszudrücken. Cochran fühlte sich dadurch jedoch auf den Arm genommen und schon bald entstand der erste Konflikt an Bord, der aber schnell von seiner Frau entschärft wurde. Hilary Cochran war ein Wesen, das viel und gerne lachte und diese Eigenschaft in allen Lebenslagen ausführlich demonstrierte. Als ihr Mann wieder einmal eine beißende Diskussion über die Disziplinlosigkeit der Crew entfachte, stellte sie ihn vor der Mannschaft bloß, indem sie ihn als ›herrschsüchtigen Oberlehrer‹ bezeichnete. Alle hielten nach ihrem Tadel die Luft an, aber erstaunlicherweise zeigte er sich nicht beleidigt, ganz im Gegenteil, ihm schien die negative Charakterisierung seiner Person zu schmeicheln. Er brachte sogar ein Lächeln zustande, was wiederum ein herzhaftes Lachen seiner Frau zur Folge hatte. Als daraufhin die ganze Mannschaft zunächst zögerlich, dann aber ebenso laut lachte, war das Thema erledigt. Schweighart war sich bis heute nicht sicher, ob Hilary Rose Cochran eine hervorragende Psychologin war oder lediglich eine einfach gestrickte Person, die das Leben als positive Erfahrung ansah. Was er ebenfalls nicht wußte, war, was ihn mit der Zeit mehr genervt
hatte: die immer wieder auftretende Kleinkariertheit Cochrans oder das helle Lachen seiner Frau, das ständig durch die Raumstation hallte. »Richtig, das meinte ich«, sagte er und grinste Hilary Cochran an, die eben einen Schrank schloß. Sie lächelte wissend und dabei deuteten sich unzählige Fältchen rund um ihre Augen an. »Schach wäre jetzt nicht schlecht«, meinte sie. »Kenneth, wie wäre es, wenn wir die Partie von Anatolij Karpow gegen Judit Polgar nachspielen?« »Die von Budapest oder Stockholm?« fragte er mit einem lauernden Blick. »Budapest, die zweite Partie. Ich habe nie ganz begriffen, mit welchem Coup sie Karpow besiegt hat.« Schweighart schüttelte den Kopf. Die beiden blieben für ihn ein Rätsel, wenngleich auch mit unterschiedlichem Hintergrund. »Du bist ein … ja, was bist du eigentlich, Hil?« fragte er sie leise, als er sich anschickte, Ilja nach hinten zu folgen. Hilary Cochran zu duzen, war kein Problem für ihn. Kenneth Cochran dagegen würde er nie so nahe kommen. Dessen ›Du‹ war ausschließlich für Gott reserviert. Sie lachte laut auf. »Seine Frau!« Ilja Kohlschovsky und die Französin Annick Denny waren damit beschäftigt, den Zugang zum WCS freizulegen, der hauptsächlich mit den mobilen Sitzen zugepackt war, die für die überzähligen neuen Besatzungsmitglieder der Raumstation installiert worden waren. Der Laderaum des Shuttles war bis obenhin beladen mit ausrangierten Teilen und nicht mehr
benötigten Laboreinrichtungen. Und mit Müll jeglicher Art. Jeder im Shuttle war froh gewesen, als sie die Luke zum Laderaum endlich schließen konnten, denn die strengen Gerüche waren fast nicht mehr auszuhalten. Kohlschovsky schob in der Schwerelosigkeit einen Sitz an die Decke und hielt ihn dort fest, indem er sich mit einem Bein an einer Wand und mit dem Rücken an der anderen Wand abstützte. Annick Denny schwebte heran und befestigte den Sitz provisorisch mit Klebebändern. »O.K. das reicht«, sagte Kohlschovsky. »Solange wir keine großartigen Beschleunigungen ausführen, fällt uns der Himmel nicht auf den Kopf!« Annick Denny lachte. »Beim Beneleus, ich glaube, du hast recht, Majestix!« antwortete sie mit gespielt tiefer Stimme. Kohlschovsky schaute sie stirnrunzelnd an. Den Gag hatte er nicht verstanden. »Asterix und Obelix. Französische Comicfiguren. Nie davon gehört oder vielleicht sogar gelesen?« fragte sie. »Spielt im alten Gallien zu Zeiten der Römer. Und die Gallier haben vor nichts Angst, außer, daß ihnen der Himmel auf den Kopf fallen könnte.« »Verstehe ich nicht«, brummte Kohlschovsky. Er war schon zu lange Amerikaner, trotz seiner europäischen Wurzeln. »Was passiert denn, wenn mir der Himmel auf den Kopf fällt?« Sie überlegte kurz. »Eigentlich nichts, glaube ich. Es ist mehr im sprichwörtlichen Sinn gemeint, verstehst du. Das faustische Prinzip.« »Ah, ich verstehe.« Er hatte gar nichts verstanden. Ihm waren die Europäer ein Rätsel. Seiner Meinung nach war die europäi-
sche Kultur schon seit langem an einem Endpunkt angelangt. Es konnte einfach nichts Neues mehr aus diesem Erdteil mit der umständlichen Sprachenvielfalt entspringen. Und trotzdem regenerierte sich der europäische Geist mit einer beängstigenden Beständigkeit immer wieder aufs neue. Die junge Französin war ein typisches Beispiel dafür. Nicht nur, daß sie unglaublich gut aussah. Es lag an ihrer Art, ohne viel Aufhebens mit den verschiedenen Kulturen umzugehen. Gleichzeitig verstand sie sich ganz selbstbewußt als Abkömmling einer vieltausendjährigen Geschichte. Und wahrscheinlich kleidete sie sich ganz in Schwarz, wenn sie durch Paris flanierte. Eine geradezu schreckliche Vorstellung für einen Amerikaner. Thomas Schweighart gesellte sich zu den beiden und bugsierte den letzten Sitz in Richtung Decke. »Sag mal, Ilja, hat sich unser Commander tatsächlich zum Schlafen in seine Koje gelegt?« fragte er vorsichtig mit einer Spur Hochachtung in seiner Stimme. »Jim?« Kohlschovsky lachte lautlos. »Der ist stinksauer, sag ich dir. Von Schlafen keine Rede. Wahrscheinlich starrt er jetzt mit hochrotem Kopf die Wand an …« Er machte eine Pause, als hätte er verbotenerweise zu viel über seinen Commander ausgeplaudert. »Er ist O.K. Ich glaube, er weiß nur nicht, was er will. Ist er auf der Erde, will er in den Weltraum, und hält er sich im Weltraum auf, wird ihm langweilig und er will so schnell wie möglich wieder zu Mutter Erde zurück. Ich glaube, es liegt daran, daß ihn der Job nicht ausfüllt. Mond oder Mars wären für ihn eigentlich genau das Richtige. Dafür hätte er das geeignete Alter und die Erfahrung, denn er ist der Beste, ohne
Zweifel.« Er hielt erneut inne, dann fügte er mit einem verschmitzten Lächeln hinzu: »Übrigens, es würde mich nicht wundern, wenn er doch schliefe.« Schweighart verzog das Gesicht und blinzelte anschließend Annick Denny zu, die dieser nebulösen Beschreibung amüsiert zugehört hatte. »Ah ja, das …« Weiter kam er nicht, da in diesem Moment Coopers Stimme aus dem Lautsprecher ertönte. »Hallo, Leute! Kommt ihr mal bitte kurz zu mir hoch, es gibt da ein Problem, nein, sagen wir mehr eine Mitteilung, die ich mit euch besprechen möchte, danke!« »Oh, oh!« machte Kohlschovsky in typisch amerikanischem Slang. Schweighart und Annick Denny schauten sich nur stumm an. Cooper saß mit konzentrierter Miene in seinem Sitz. Um ihn herum klebten auf den Instrumentenkonsolen verschiedenfarbige kleine Zettel wie exotische Schmetterlinge, die das Cockpit als vorübergehenden Landeplatz ausersehen hatten. In seiner Hand hielt er eine schmale Akte, die er nervös hin- und herwippte, während er darauf wartete, bis alle einen einigermaßen sicheren Halt gefunden hatten. DeHaney war nicht unter ihnen. Der linke Sitz war leer – und er wurde auch von den anwesenden Astronauten nicht genutzt. Keiner von ihnen hätte es gewagt, sich dort aufzuhalten. »Also, es ist nichts Problematisches …«, begann der Pilot umständlich. Dann holte er tief Luft und sagte mit verlegenem Gesichtsausdruck: »Es ist so … wir sollen nach einem UFO
Ausschau halten!« Es folgte keine sichtbare Reaktion von seiten der Besatzung, außer von Hilary Cochran, die einmal mehr hell auflachte. Bevor jemand seine Gedanken sortieren oder einen abfälligen Kommentar äußern konnte, hob Cooper die Akte hoch und sagte schnell: »Es wird das Beste sein, wenn ich euch kurz erzähle, was hier drin steht. Recht viel mehr weiß ich übrigens auch nicht.« Thomas Schweighart wußte nicht, was er davon halten sollte. Zuerst dachte er, Cooper hätte einen Witz gemacht. Als niemand reagierte, außer Hilary Cochran, dachte er, das Ganze sei als eine Art Übung gedacht und die Aktion hinter dem Codewort ›UFO‹ versteckt. Jetzt aber schilderte Cooper mit leicht rotem Kopf die Vorfälle während einer UFO-Sichtung in der Nähe von Frankfurt. Dazu zeigte er Fotos, die er der schmalen Akte entnahm und ihnen zur Begutachtung reichte. Schweigend sah sich die Besatzung der STS-198 die Aufnahmen an, die aus dem Recorder des Ehepaares Varell stammten. Das erste Bild zeigte eine in blaues Licht getauchte Straße, über der ein riesiger rochenartiger Schatten schwebte. Dann eine Nahaufnahme von Robert Varell, der mit ängstlich aufgerissenem Mund in die Kamera blickte, im Hintergrund das halboffene Seitenfenster eines Autos. Unwirkliches, grelles Licht umgab seinen Kopf wie ein Heiligenschein. Mehrere Motive mußten aus großer Höhe aufgenommen sein, denn man erkannte von oben beleuchtete Bäume und den Rand des Wagens. Eines davon zeigte anscheinend die Unterseite des UFOs, kurz bevor das Auto samt Insassen mit unsichtbaren Kräften in das Objekt befördert wurde. Kohlschovsky und Annick Denny grinsten sich gegenseitig
spitzbübisch zu, als sie sich eine Aufnahme ansahen, die den schweren Wagen in einer hell erleuchteten Umgebung zeigten. Robert Varell stieg gerade mit abwesendem Blick aus, wobei er sich schwerfällig mit einer Hand vor der gleißenden Lichtquelle schützte. Das vorletzte Bild bestand hauptsächlich aus farbigen Wischern, nur in der oberen rechten Ecke war so etwas wie eine rundum laufende Empore zu erkennen. Schließlich begutachteten alle die expressionistisch anmutende Standaufnahme, die die Varells und die beiden Streifenbeamten als erstes Bild auf dem Recorder entdeckt hatten. »Leute, ich weiß, daß die Sache reichlich seltsam klingt, aber die Akte ist eine Alpha-Order, und ich muß euch darauf hinweisen, daß ihr als Besatzung der STS-198 den Bestimmungen des Verteidigungsministeriums und damit der strengsten Geheimhaltung unterworfen seid!« Cooper versuchte sich in einem grimmigen Blick in Richtung des Russen und der beiden Europäer. »Außerdem habe ich eben mit Vertretern der NSA und der … ähhh …« – er suchte auf einem seiner farbigen Zettel auf der Instrumentenkonsole herum – »und der NRO gesprochen. Sie haben mir mit Nachdruck bestätigt, daß wir es tatsächlich mit einem echten UFO zu tun haben.« Bevor jemand dazu kam, genauer nachzufragen, murmelte Kenneth Cochran: »NSA heißt National Security Agency und NRO National Reconnaissance Office.« Alle, Cooper eingeschlossen, blickten ihn erwartungsvoll an. »Es sind … nun ja, es sind Abteilungen, die es bis vor einigen Jahren offiziell eigentlich gar nicht gab. Erst als der öffentliche Druck aufgrund einer Anhäufung von UFO-Sichtungen zu groß wurde, hat man eine Handvoll Akten zu dem Thema
freigegeben. Dabei kamen eben diese Organisationen ans Tageslicht. Man vermutet, daß die NRO alleine in einem Jahr mehr Gelder von der Regierung und von privaten Institutionen erhält, als die NASA für all ihre Projekte zusammen …« »Das schwarze Budget!« murmelte Kohlschovsky geheimnisvoll. »Es scheint so«, nickte Cochran. »Dabei handelt es sich aber nicht nur um die Bearbeitung von UFO-Sichtungen, sondern hauptsächlich um die Schaffung eines weltumspannenden Informationsnetzes oder besser ausgedrückt, um die Einrichtung von Spionagesatelliten, die gründlich und vor allem sehr schnell arbeiten.« Er schaute unsicher in die Runde. »Soll ich noch mehr erzählen, oder …?« »Nur zu«, forderte ihn die Französin auf. »Hier oben scheint man mehr über amerikanische Aktivitäten in dieser Richtung zu erfahren als unten auf der Erde.« »Unter der Reagan-Regierung wurde das SDI-Programm offiziell eingestellt, aber Clinton hat es einfach umbenannt«, erzählte Cochran ungeniert. »Es heißt jetzt Ballistic Missile Defense oder kurz BMD. Dabei handelt es sich, wie erwähnt, hauptsächlich um ein Satelliten-Kommunikationssystem, das unter dem Codewort MILSTAR läuft. Der erste Satellit, MILSTAR I, wurde bereits 1994 ins All geschossen. Dazu parallel wurde die Weiterentwicklung des Stealth-Flugzeuges vorangetrieben. Uns allen bekannt unter dem Decknamen ›AuroraProjekt‹. Obwohl der Name in den Medien schon seit 15 Jahren bekannt ist, hat noch niemand dieses Geisterflugzeug offiziell zu Gesicht bekommen. Wahrscheinlich wird es allein aufgrund seiner ungewöhnlichen Form oft für ein UFO gehalten …«
»Vielleicht hat ja das alte Ehepaar in Frankfurt so ein Ding gesehen und die ganzen Aufnahmen irgendwie inszeniert. Ist doch heutzutage mit den digitalen Kameras und anschließender Bildbearbeitung kein Problem mehr«, winkte Kohlschovsky verächtlich ab. Sein Interesse an der Diskussion ließ sichtlich nach. Cooper schüttelte den Kopf. »Dann würden die da unten nicht solch einen Wirbel veranstalten. Laut den letzten Meldungen hat man die Aussendung von dem Standbild der Cibes vor gut einer Stunde auf Madagaskar lokalisiert. Und außerdem …« – er blinzelte Cochran verschwörerisch zu – »hat der Mensch von der NRO erwähnt, daß bereits zwei Aufklärer vom Typ ›Aurora‹ dorthin unterwegs wären! Sie jagen das UFO schon seit Monaten und haben es an den verschiedensten Orten auf der Erde gesichtet.« Cochran nickte wissend, erwiderte aber nichts darauf. »Na ist doch prima!« rief seine Frau von hinten. »Dann sollen die sich doch um MARTHA kümmern. Was geht uns das an?« Cooper fuhr sich zerfahren mit einer Hand übers Gesicht. »Wir … nun ja, wir überfliegen Madagaskar in etwa einer Viertelstunde. Die Order lautet, daß wir die metrische Kamera aktivieren und uns außerdem für … äh … ungewöhnliche Sichtungen bereithalten sollen.« »Na toll, und was heißt das? Dummerweise habe ich in meiner Pocketkamera keinen Film mehr!« meinte Kohlschovsky scherzhaft. »Bitte, Ilja, ich kann dir auch nicht mehr sagen, als hier drinnen steht und was mir die Typen da unten erzählt haben!«
entgegnete Cooper ärgerlich. »Sei also bitte so nett und laß die metrische Kamera während des Überfluges über Madagaskar mitlaufen, damit die Leute zufrieden sind. Wenn wir Glück haben, ist die Sache damit gegessen und wir können danach endlich unsere Landung einleiten.« Er klappte demonstrativ die schmale Akte zu und verstaute sie in einer Ablage neben seinem Sitz. Dann sammelte er verdrossen seine bunten Klebezettel ein und vermied es dabei, den Europäern ins Gesicht zu sehen. Er war sich nicht ganz sicher, ob diese seine Vorgesetzten wegen der Gründe für den Abbruch der Landung nicht für vollkommen verrückt hielten. Schweighart, der die ganze Zeit über verwundert zugehört hatte, wandte sich an Cochran: »Ken, ich habe immer geglaubt, diese Meldungen über UFOs seien Phantasien von einigen Verrückten, aber anscheinend beschäftigt sich Ihr Land sehr intensiv damit.« Cochrans Haltung wurde steif, was sich gleich durch eine leichte Drehbewegung in der Schwerelosigkeit bemerkbar machte. Er stützte sich mit einer Hand an der Decke ab und entgegnete kühl: »Mr. Schweighart, unser Land befaßt sich mit allen möglichen Phänomenen, selbst wenn sie im ersten Moment als sehr unwahrscheinlich erscheinen mögen. Aber gerade die Bereitschaft zum Unmöglichen hat Amerika jung erhalten, was man im übrigen nicht von allen Ländern dieser Erde behaupten kann.« Schweighart beschloß nach kurzem Zögern die offene Aggressivität zu ignorieren und bohrte vorsichtig weiter. »Ich wollte Sie nicht beleidigen. Mir ist nur der Gedanke gekommen, daß Ihre Regierung in manchen Bereichen sehr … hm … sagen
wir mal, sehr weit in die Zukunft denkt …« »Amerika ist die Zukunft, mein junger Freund«, unterbrach ihn Cochran heftig. »Hier dieses Shuttle zum Beispiel. Sie können es – übrigens zu meinem größten Bedauern – getrost als Weltraummüll betrachten. Die nächste Generation der Raumfähre wird nicht nur eine Verbesserung sein, sondern ein gigantischer Sprung in eine neue Dimension. Und das zu einem Zeitpunkt, in dem, mit Verlaub gesagt, das gute alte Europa sich gerade einmal anschickt, unsere Anfangsleistungen zu kopieren!« Er hatte die letzten Sätze mit lauter Stimme gesprochen, so daß alle auf ihn aufmerksam wurden. Nach einigen Sekunden peinlicher Stille sagte Annick Denny sarkastisch: »Wobei Sie die Anfangsleistungen Ihrer Nation auf anderen Gebieten wohlweislich verschweigen.« Cochran schnappte hörbar nach Luft. »Was erlauben Sie sich!« »Annick, bitte!« Thomas Schweighart sah die Französin wütend an. Sie hatte mit Cochran während der vergangenen vier Monate auf der Station oft genug politische Rededuelle ausgetragen und dabei immer wieder die aggressive Außenpolitik der Amerikaner gegenüber den arabischen Ländern und gegenüber China kritisiert. Ihre Antipathie wurzelte zum großen Teil in ihrer Abstammung. Der Vater war Marokkaner, der sich trotz des großen Erfolges seiner Tochter den Medien stets verweigert hatte. Seiner Meinung nach war es allein schon ein Frevel, islamischen Boden zu verlassen. Ein Raumflug war für ihn nichts anderes als ein Märchen, ein konstruiertes Trugbild der kapitalistischen und degenerierten westlichen Welt. Einiges von
dieser grundsätzlichen Einstellung hatte er als Bodensatz seiner Tochter vererbt. Washington hatte Annick Denny aufgrund einiger derber Äußerungen über die amerikanische Kriegsführung in den Golfkriegen und in Afghanistan strikt abgelehnt. Es war im Vorfeld zur Auswahl der Besatzung der Raumstation deswegen unter den Verantwortlichen immer wieder zu hitzigen Debatten gekommen. Erst eine barsche Intervention der französischen Regierung, in der Paris mit der Kürzung von Geldern für die Raumstation drohte, hatte die Teilnahme der Französin gesichert. Thomas Schweighart trat nicht zum ersten Mal als Schlichter zwischen den beiden auf. Es war ihm vollkommen rätselhaft, wie das Johnson Space Center so verschiedene Charaktere in den Weltraum schicken konnte. Sie waren nicht nur zwei absolut gegensätzliche Pole, sondern zusätzlich auch noch Menschen, die sich wegen ihrer gegensätzlichen sozialen und politischen Einstellung abgrundtief zu hassen schienen. Im Laufe ihrer heftigen Diskussionen scheuten sie sich nicht, alle nur möglichen Register zu ziehen und verließen dabei sehr schnell den Boden sachlicher Diskussion. Der Amerikaner war im Laufe der letzten Wochen dadurch sehr reizbar geworden und reagierte jedesmal überspitzt auf alle Themen, die sein Land auch nur am Rande tangierten. Schweighart fluchte innerlich über seine eigenen ungeschickten Worte, mit denen er die Frage über die UFO-Nachforschungen der USA formuliert hatte. Mit einem durchdringenden Blick auf Annick Denny wandte er sich erneut an ihn: »Mr. Cochran, bitte, ich wollte Sie wirklich nicht verletzen! Ich finde es phantastisch, daß die USA sich ernsthaft mit dem UFO-Problem
auseinandersetzt. Ich möchte lediglich mehr darüber erfahren und Sie scheinen sehr viel darüber zu wissen.« Mein Gott, dachte er, jetzt rede ich schon wie mit einem verstockten Kind! Cochran warf noch einen vernichtenden Blick auf seine Widersacherin und erwiderte dann leise: »Reden nicht Sie mit mir, als ob ich irre wäre, Schweighart!« Nach einem kurzen Augenblick siegte jedoch sein Mitteilungsbedürfnis. Er atmete tief durch, bevor er mit mühsam kontrollierter Stimme weitersprach. »Es ist so, daß meiner Meinung nach die meisten Sichtungen logisch erklärbar sind. Meteore im direkten Fall auf die Erde oder seltener im Durchqueren der Atmosphäre. Militärische Flugobjekte in allen Größen und alle meistens geheime Projekte. Davon gibt es mehr als genug und glauben Sie mir, mehr als Sie sich in Ihrer Phantasie vorstellen können. Im Grunde genommen ist zunächst einmal alles, was sich am Himmel bewegt und nicht registriert ist, ein unidentifiziertes Flugobjekt, also ein UFO. Auch der viel zitierte Wetterballon gehört dazu und ist letztendlich real erklärbar. Natürlich sind auch die Sichtungen von bewußtseinsgestörten Menschen erklärbar. Sie finden ausschließlich in ihren kranken Gehirnen statt. Sie glauben gar nicht, was manche Leute alles anstellen, um Beachtung zu finden. Bedauernswert darunter sind diejenigen, die von ihren Wahnvorstellungen selbst überzeugt sind. Wenn Sie wollen, können Sie sogar Marienerscheinungen und Ähnliches unter dem Thema ablegen.« Er wurde von Kohlschovsky unterbrochen, der sich an ihm vorbeidrängte. »Tim, die Kamera ist klar!« Er grinste Cochran an. »Erzählen Sie nur weiter, Professor, ich höre zu!«
Cochran warf ihm einen unsicheren Blick zu und fuhr, wieder zu Schweighart gewandt, mit seinen Ausführungen fort: »Sehen Sie sich doch nur einmal die angeblich authentischen Fotos von UFOs an. Alle unscharf, verwackelt oder unterbelichtet. Und das, obwohl heutzutage fast jeder eine automatische Kamera hat!« Vom Cockpit her war hektisches Klackern der Computertasten zu hören. Kurz danach lugte Cooper von seinem Sitz her nach hinten zu ihnen. »Schweighart, Cochran, Kohlschovsky. Wo sind Hilary und Annick?« »Runter ins Mitteldeck gegangen!« antwortete Kohlschovsky von hinten. »Raumfahrerin Denny kriegt von Mutter Cochran gerade eine Lektion über das richtige Benehmen in einem Shuttle!« Kenneth Cochran zog leicht die Augenbraue hoch, und Thomas Schweighart versagte es sich, die deftige Antwort von Ilja zu kommentieren. Cooper murmelte etwas Unverständliches. Dann sagte er: »Ilja, sag ihnen, daß ich das Shuttle auf den Rücken lege. Ich zünde die Primaries in fünf Minuten. Jim weiß Bescheid!« Für den Betrieb der metrischen Kamera mußte das optische Fenster auf der Oberseite des Shuttles zur Erde gedreht werden. Schweighart suchte sich einen sicheren Halt, indem er einfach seine Füße hinter dem Kapitänssitz einklemmte und sich mit der linken Hand an der Rückseite sicherte. Der Pilot hatte keine vorschriftsmäßige Sicherung durch Gurte befohlen. Die schwachen Gegenschübe, die die Raumfähre aus dem immer noch bestehenden Barbecue Mode in eine stabile Rückenlage brachte, würden nicht sehr groß sein.
»Trotz aller logischen Erklärungen und den nicht zu vergessenden Naturphänomenen«, fing Cochran wieder an, »gab es in der Vergangenheit immer wieder Vorfälle, auf die weder die Militärs, noch die NRO eine Antwort wußten.« Er sicherte sich vorsichtig an der Seitenwand. »Und MARTHA scheint wieder solch ein Vorfall zu sein, aber ein ganz besonderer, denn dieses Mal existieren anscheinend unumstößliche Beweise. Kein Wunder, daß die da unten so aufgescheucht wirken.« Er hatte seine Erklärungen sehr bedächtig hervorgebracht, ohne Schweighart dabei anzusehen. Der junge Deutsche hatte sein Gesicht während der ganzen Zeit in Ruhe studieren können. Cochran war der Älteste hier an Bord, aber nur wenige Jahre älter als der Commander, trotzdem wirkte er mit seinen buschigen Augenbrauen und den grauen gewellten Haaren wie ein Methusalem unter Halbwüchsigen. Seine große Hakennase verstärkte diesen Eindruck zusätzlich. Hilary, seine Frau, war über 15 Jahre jünger, aber sobald sie mit ihrer hausmütterlichen Art in seiner Nähe war, bildeten sie nach außen hin ein perfektes Paar. »Zündung in einer Minute!« rief Cooper laut über das Intercom. Schweighart sah über den Sitz nach vorne zu dem langsam rotierenden blauen Erdhorizont, dessen Anblick ein Teil seines Lebens geworden war. In seinem Verständnis der Natur würde selbst hier oben in diesem hochtechnisierten Gefährt ein angebliches UFO keinen Platz finden. Er hatte von der Raumstation aus viele Phänomene beobachten können, angefangen von der funkelnden Sonnenkorona, die alle 90 Minuten hinter dem Erdball aufzog bis hin zu wehenden Nordlichtern und gewalti-
gen Blitzentladungen auf dem nächtlichen südamerikanischen Kontinent. Er hatte gelassen in die mahlenden Augen von gigantischen Hurrikans geblickt und die Spur von schmutzig gelben Sandstürmen verfolgt. Ein mutmaßlich außerirdisches Flugobjekt paßte nicht in dieses Szenario. »Zündung in fünf Sekunden! 4 … 3 … 2 … 1 … Zündung!« Ein harter Knall ertönte mittschiffs und Schweighart ruckte leicht nach oben. Zwei weitere schwache Schläge folgten, dann stand die blaue Linie ruhig über den großen Cockpitfenstern. »O.K. Ilja, starte die Kamera!« Cooper starrte nach oben, wo gerade die Westküste Afrikas über ihn hinwegzog. »Aye, aye, Sir! Kamera läuft! Alle UFOs bitte freundlich gukken da unten!« Kohlschovsky machte kein Hehl aus seinem Unglauben. Mit ruhiger Stimme gab Cooper über eine normale Leitung den Status der Fähre nach Houston durch. Jeder nicht gewünschte Mithörer würde glauben, daß die Intrepid die zusätzliche Zeit im Orbit mit Vermessungsaufnahmen füllte. Danach schaltete er die Verbindung ab und aktivierte den verschlüsselten Kanal. »Control, hier Intrepid, Status wie befohlen, was können wir weiter tun? Over.« Einige Sekunden war aus den Lautsprechern nichts zu hören, außer einem gleichbleibenden Rauschen, dann jedoch ertönte nach einem kurzen Knacken eine fremde Stimme: »Intrepid, hier spricht Fineday, wir kreisen über der Ostküste von Afrika. Halten Sie alle verfügbaren Kameras im Shuttle bereit! Ich wiederhole: alle Kamerasysteme! Warten Sie auf weitere Befehle! Over and out!«
Cooper drehte sich verwirrt zu Cochran um, der sich weiter nach vorne geschoben hatte und sich nun über dem Pilotensitz aufhielt. »Eine ›Aurora‹. Wir haben das Privileg erhalten, direkt mit einem Geisterflugzeug zu sprechen«, erklärte Cochran lapidar. »Na toll, was meint er mit alle Kamerasysteme? Sollen wir mit Handkameras aus den Fenstern filmen, falls MARTHA vorbeizischt?« »Vermutlich. Ich hole die Videokamera und die Mittelformatkamera von hinten aus den Fächern«, sagte Cochran ungerührt und hangelte sich aus dem Cockpit. Mit einem leichten Herzklopfen kletterte Schweighart vorsichtig auf die linke Abstützung der Rückenlehne des Commandersitzes, bis er mit Cooper auf gleicher Höhe war. Ihn zu fragen, ob er sich auf DeHaneys Sitz festgurten dürfte, hätte er nie gewagt. Der Pilot hätte ihm wahrscheinlich auch nie seine Zustimmung gegeben. »Mein Gott, das wird ja richtig spannend«, entfuhr es ihm. »Ist so etwas schon öfters vorgekommen?« Cooper zuckte ablehnend mit der Schulter. Der Deutsche drang ihm eindeutig zu weit in sein Reich vor. Als er aber merkte, daß dieser respektvoll versuchte, in einem gewissen Abstand zu bleiben, brummte er versöhnlich: »Für mich ist das genauso neu wie für dich. Übrigens wußte ich gar nicht, daß es in Deutschland auch UFOs gibt!« Thomas Schweighart grinste. »Massig. Vor einigen Jahren hat es in Belgien …« Eine aufgeregte Stimme ertönte plötzlich im Lautsprecher. »Houston, hier Badnight! MARTHA bewegt sich. Habe jetzt
Sichtkontakt in zwei Uhr, etwa 3 000 Fuß unter mir. Es startet! Enorme Beschleunigung! Es dreht mit einer weiten Schleife nach Südosten aufs Meer hinaus! Versuche zu folgen, over!« »Roger, Badnight! Intrepid, hier Houston Control, ihr müßt direkt darüber sein! Macht die Augen auf! Over!« Cooper schnappte nach Luft. »Verstanden, Houston, wir …« Plötzlich nahmen beide eine Bewegung hinter ihnen wahr. »Raus aus meinem Cockpit, Schweighart! Machen Sie Platz!« Thomas Schweighart zuckte erschrocken zusammen. DeHaney war unvermittelt hinter ihm aufgetaucht und schob sich rücksichtslos an ihm vorbei in den Sitz. »Houston, DeHaney hier, wir sind bereit! Over and out!« Mit einer herrischen Handbewegung packte er Schweighart, der verzweifelt versuchte einen Halt zu finden, an der Schulter und schob ihn nach oben weg. »Ken, wo bleiben die Kameras! Komm hier nach vorne! Hier zwischen die Sitze! Schweighart, verschwinden Sie endlich!« Der Deutsche fand nach einem langsamen Drift an die Decke einen Halt und zog sich mit hochrotem Kopf aus dem Cockpit. Unter ihm hastete Cochran mit den Kameras nach vorne. Die Szene glich der in einem engen Aquarium, in dem ein Raubfisch erschienen war. »Schweighart, wo wollen Sie hin? Wie gut kennen Sie sich mit einem Raumanzug aus?« pfiff ihn DeHaney zurück. »Raumanzug? Auf der ISS war ich etwa 12 Stunden draußen …« »Sehr gut. Machen Sie sich fertig für eine EVA! Sie und Ilja. Wie lange brauchen Sie, um den Anzug anzulegen?« »Zwanzig Minuten, aber wir brauchen eine gewisse Zeit, um
uns an das Gasgemisch anzupassen. Selbst mit dem angepaßten Gas dauert es …« »Ich weiß, wie lange es dauert!« schnitt ihm DeHaney unwillig das Wort ab. »Ich verändere ab jetzt die Atmosphäre im Schiff. Setzen Sie sich die Maske als erstes auf, das verkürzt die Zeit. Ilja zeig es ihm. In einer halben Stunde will ich euch mit einer Kamera draußen haben!« »Jawohl … äh … Sir!« Er hastete verwirrt ins Mitteldeck. In den Anfangsjahren hatten die Vorbereitungszeiten für einen Ausstieg noch Stunden gedauert. Seit die Raumanzüge mit einem speziellen Gasgemisch ausgerüstet waren, hatte sich die Anpassungsprozedur enorm verkürzt. Trotzdem lag die empfohlene Zeit noch bei einer Stunde, auch wenn der Commander den Kabinendruck und die Atmosphäre in der Raumfähre veränderte. Kohlschovsky erwartete ihn schon mit den vorbereiteten Anzügen. Er zog sich gerade die Thermounterwäsche mit den Flüssigkeitsleitungen an und hatte eine Maske aufgesetzt, die er an eine der beiden Versorgungseinheiten der Reserveanzüge angeschlossen hatte. »Hier, nimm die zweite Maske. Funktioniert alles nicht ganz hundertprozentig, geht aber.« Als er Schweigharts besorgten Blick bemerkte, fügte er noch hinzu. »Hab’s früher schon mal ausprobiert.« »Eine halbe Stunde«, murmelte Schweighart. »DeHaney will uns wohl umbringen. Was sollen wir überhaupt da draußen?« »Vertrau mir, es funktioniert. Hinterher ist dir ein bißchen übel, aber bis dahin sind der Kabinendruck und die Atmosphäre dem Gemisch in den Anzügen angeglichen und dann geht es
dir schnell wieder besser.« Er war schon beim Anziehen des Unterteils vom Unterteil des Anzugs. »Wir nehmen die große Videokamera hier mit.« Er zeigte auf eine Kamera in einem Schutzkokon, die in einem offenen Schrank befestigt war. Sie kämpften in der Enge des Raums einige Minuten lang schweigend mit der Schwerelosigkeit und den Teilen der Anzüge. Immer wieder wurden sie dabei von den externen Masken behindert. Bald waren beide schweißgebadet. Aus den Lautsprechern ertönten unregelmäßig die Stimmen der Aurorabesatzungen, die mit knappen Worten Beschreibungen des UFOs und die Positionsangaben durchgaben. Schweighart konnte wegen seines eigenen rasselnden Atems und den Geräuschen, die sie beim Anziehen der Anzüge verursachten, jedoch nichts verstehen. Nach jedem Teilstück überprüften sie gegenseitig den Sitz und die Funktion. »Immer ganz tief durchatmen, auch wenn dir schwindlig wird!« ermahnte ihn Kohlschovsky. Unter der Maske war er kaum zu verstehen. »Das ist doch Scheiße, Mann! Und das alles wegen einem angeblichen UFO!« erregte sich Schweighart, nachdem er einige Male das Gasgemisch in sich hineingepumpt hatte. Seine Konzentration auf die Atemtechnik ließ nach, als er sich überlegte, ob er als internationales Besatzungsmitglied der Raumstation überhaupt zu solchen verrückten Aktionen verpflichtet war. In seiner Wut scheute er sich nicht, seine Gedanken Kohlschovsky mitzuteilen. »Wenn Jim will, kann er dich auch die Toilette mit der Zahnbürste putzen lassen«, tönte es ihm hohl entgegen. »Er ist der Kapitän der Raumfähre. Halt also endlich die Klappe und vergiß das Schnaufen nicht!«
5. Kapitel Jim DeHaney saß schweigend im Cockpit und schnippte gedankenverloren am Mikrophon vor seinem Mund herum. Er hätte nie gedacht, daß er die Anweisungen jemals ausführen mußte, die er vor einem Monat in einem streng geheimen Gespräch von einem distanziert wirkenden NRO-Mann erhalten hatte, der sich knapp mit dem Namen Taggert vorgestellt hatte. Die Art und Weise, wie er den Namen aussprach, ließ DeHaney vermuten, daß er wahrscheinlich falsch war. Er hätte auch Smith oder Jones heißen können. »Wenn Sie das Codewort übermittelt bekommen, Commander, stellen Sie keine Fragen, sondern handeln strikt nach den Befehlen, die hier in der Akte stehen!« Selbst Wakefield, der ebenfalls anwesend war, hatte ernst mit dem Kopf genickt. »Damit Sie einen Eindruck von der Dringlichkeit der Sache gewinnen, zeige ich Ihnen jetzt die CD von der Entführung. Ich möchte nochmals mit Nachdruck darauf hinweisen, daß die Aufnahmen echt sind. Die Regie hatte eine gewisse Frau Varell, nicht Spielberg!« Der seichte Scherz war alles, was er sich an Humor erlaubte. Die Bilder waren unglaublich. Anfangs wußte DeHaney nicht, was ihm unrealistischer erschien, die perfekte Auflösung des Materials oder die Szenen, die vor seinen Augen abliefen.
Selbst der Ton war von außerordentlich guter Qualität. ›Da vorne war was, nicht wahr?‹ las DeHaney den englischen Untertitel unter der Aufzeichnung. Der ängstliche Tonfall war deutlich aus der deutsch sprechenden Stimme herauszuhören. Die Kamera schwenkte hektisch hin und her und erzeugte einen Wirbel aus farbigen Klecksen, die sich einmal kurz in eine dunkle Silhouette eines konzentriert männlichen Gesichtes stabilisierten und dann wieder die Aussicht aus der Frontscheibe eines Autos zeigten, wo sich die langen Lichtfinger der Scheinwerfer auf dem Asphalt der Straße abzeichneten. Knapp darüber war schemenhaft eine blaue Korona zu sehen, die teilweise von den Umrissen der Bäume verdeckt wurde. Ein waberndes Licht wurde immer deutlicher, als der Wagen um eine Kurve fuhr und anschließend mit harten Rutschen der Räder zum Stehen kam. Ein feines Singen, unterbrochen von einem statischen Knistern lag in der Luft, als sich der blaue Lichtkegel in Bewegung setzte und auf das Auto zukam. Von einem der beiden Insassen war lediglich noch ein erstickter leiser Ruf zu hören, der nicht übersetzt wurde. Sekunden später war die Szene in gleißendes Licht getaucht. Die Blendenautomatik der Kamera benötigte einige Zeit, um sich auf die Überbelichtung neu einzustellen, dann schälte sich eine Umgebung heraus, die nun nicht mehr aus der Straßenbegrenzung und den Bäumen bestand, sondern eindeutig künstlicher Natur war. Entweder hatte sich das UFO auf den Wagen herabgesenkt oder er wurde in das Objekt hinaufgezogen. DeHaney fiel die veränderte Kameraführung auf. Sie war ab diesem Zeitpunkt nicht mehr konzentriert, sondern erschien willkürlich und fahrig. Oft zeigte sie einfach nur den Fußraum des Beifahrersitzes, um
dann nach kleinen Erschütterungen ruckartig nach oben oder zur Seite zu rutschen. Er meinte, ein kurzes krampfartiges Keuchen zu hören, unterbrochen von einem langgezogenen Stöhnen. Taggert ging nicht auf die Geräusche ein und zeigte statt dessen auf den Bildschirm: »Sie sehen hier oben am Rand deutlich eine umlaufende Empore.« Er hielt das Bild an. »Wir haben … ähm … die CD zeigt später sehr interessante Einzelheiten. Leider habe ich keine Befugnis, sie Ihnen zu zeigen.« Er schüttelte entschuldigend den Kopf. »Sie unterliegen der absoluten Geheimhaltung, und ich darf sie nicht so einfach mit mir herumtragen. Ich denke, Sie verstehen mich, Commander!« Nach seiner umständlichen und steif formulierten Erklärung ließ er die Aufzeichnung weiterlaufen, die ab nun jedoch nichts weiter mehr zeigte als das surreale Standbild, das die Cibes von Martha Varell ununterbrochen sendeten. »Das Cyberfon muß durch irgendwelche Umstände vom Kopf von der Entführten heruntergefallen sein und irgendwo in einer Ecke des UFOs liegen«, erklärte er. Falls ein UFO überhaupt Ecken besitzt, dachte DeHaney ironisch. »Die Objektive der Kamera werden anscheinend nicht bewegt«, dozierte der NRO-Mann weiter. »Deswegen senden die Cibes jede Stunde eine aktuelle Aufnahme. Manchmal erfahren sie eine kleine Erschütterung und dann empfangen wir für einige Sekunden ein leicht verändertes Bild, aber im Prinzip ist es immer der gleiche Aufnahmewinkel. Wegen der reduzierten Sendungen werden die Batterien der Cibes wohl jahrelang Energie abgeben. Und Frau Varell hat uns erzählt, daß sie frisch
aufgeladen waren.« »Sie haben mit den Entführten gesprochen?« fragte DeHaney erstaunt. »Natürlich haben wir mit dem Ehepaar gesprochen, was glauben Sie denn!« Er wirkte verärgert. »Wir haben alle an dem Vorfall beteiligten Personen überprüft und sie mit allen uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten verhört. Auch unter Hypnose.« Ungeduldig atmete er tief durch. »DeHaney, ich möchte Sie noch einmal darauf aufmerksam machen, daß wir den Vorfall als absolut echt ansehen. Und ich empfehle Ihnen dringend, unserem Beispiel zu folgen! Auf Grund des Sendesignals der Cibes haben unsere speziellen Aufklärungsflugzeuge MARTHA, wie wir das UFO nennen, in den vergangenen Monaten mehrmals aufgespürt und verfolgt.« »Dann sind Sie doch bestimmt ebenfalls im Besitz von weiteren Aufnahmen. Ich meine, wie soll ich denn wissen, wie es aussieht, falls es einmal in die Nähe von meinem Shuttle kommt?« DeHaney schmunzelte. Er glaubte nicht an die Existenz von UFOs, auch wenn sich dieser Mensch alle Mühe gab, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Er fragte sich nur, wozu dieser ganze Aufwand gut sein sollte. Taggert reagierte nicht auf seinen sarkastischen Unterton. Trotzdem war ihm anzusehen, daß er sich nur mühsam beherrschte. »MARTHA ist in der Lage, mit uns unbekannten Techniken absolut verdeckt zu agieren. Es verfügt über unglaublich hohe Beschleunigungskräfte und über die Möglichkeit, abrupte Manöver in der Richtungsänderung vorzunehmen. Wir sehen uns nicht in der Lage, dafür eine Erklärung zu liefern. Sie kön-
nen sich deshalb vorstellen, daß wir an dieser Technik sehr interessiert sind«, fuhr er scheinbar ungerührt fort. »Und um auf Ihre Frage zurückzukommen: Falls Sie je in die Situation kommen sollten, MARTHA zu begegnen, werden Sie keine Mühe haben, das Objekt zu identifizieren!« Er hob warnend den Zeigefinger. »Und falls dieser Fall jemals eintreten sollte, DeHaney, verlange ich von Ihnen, daß Sie Ihr blödsinniges Gegrinse über Bord werfen und die Befehle ausführen, die wir Ihnen zukommen lassen. Keine Eigenmächtigkeiten. Ihr Shuttle ist im Vergleich zu MARTHA wie ein Einbaum zu einem Stealth-Bomber!« Auch ein Einbaum hat seine Vorteile, dachte DeHaney, sprach es aber in weiser Einsicht nicht aus. Er war von der Vorführung nicht überzeugt, auch wenn sich der Typ durch seine Unverfrorenheit eindrucksvoll in Szene gesetzt hatte. Irgendwann würde er schon erfahren, welchen Hintergrund der Zirkus hatte. Taggert ließ die DSD-Scheibe aus dem Abspielgerät fahren und überzeugte sich davon, daß es keine Möglichkeit gegeben hatte, eine Kopie zu überspielen. »Mr. Wakefield, unterrichten Sie bitte Ihren Kapitän noch einmal von seiner Verpflichtung zur absoluten Geheimhaltung!« Er bedachte DeHaney mit einem mitleidigen Blick und verließ grußlos den Raum. Wakefield hatte anschließend noch eine halbe Stunde mit ihm wie mit einem ungehörigen Jungen geredet, bis DeHaney wütend entgegnete: »Ja, ich hab’s ja verstanden. Wenn ich ein UFO sehe, rufe ich euch an und mache dann, was ihr sagt!« »Genau in der Reihenfolge, Chief, mehr nicht!«
Und jetzt saß er hier in 450 Kilometern Höhe und hörte den Meldungen zu, die nun nur noch sporadisch aus den Lautsprechern kamen. Neben ihm hielt Cooper erwartungsvoll eine Kamera in der Hand. Cochran kauerte mit einer Hasselblad zwischen den Sitzen. Beide hatten den Kopf zurückgelegt und spähten nach oben auf den breiten Horizont des über sie hinwegziehenden Erdballs. Seit dem ersten Kontakt mit den beiden Aurora-Flugzeugen war eine knappe halbe Stunde vergangen. »Ilja, wie weit seid ihr?« »Bereit zum Ausstieg!« ertönte es knapp in seinem Kopfhörern. »Gut. Wir öffnen die Tore der Cargo Bay. Danach gehst du als erster raus! Warte aber meinen Befehl ab! «Er warf Cooper einen Blick zu. »Tim, öffnest du bitte den Laderaum!« Cooper befestigte seine Kamera an einer Gripleiste neben seinem Sitz und gurtete sich los, um sich nach hinten zu den Kontrollen für die Cargo Bay zu begeben, die sich an der Rückseite des Flight-Decks befanden. »O.K. ich beginne mit dem Öffnen der Bay«, rief er, als er angekommen war. »O.K. verstanden«, entgegnete DeHaney vorschriftsmäßig. »Alle Riegel in Bewegung – Bay entriegelt und frei!« »Verstanden.« »Tore in Bewegung!« Und nach einer Weile: »Cargo Bay ist offen!« »O.K.« DeHaney lauschte im Kopfhörer den mittlerweile spärlich gewordenen Berichten der beiden Stealth-Piloten. Seit den hektischen Anfangsminuten der ersten Sichtung gaben sie
nur noch knappe Standortmeldungen an Houston weiter. Er vermutete, daß sie von einer höheren Stelle aus Anweisungen bekommen hatten, so wenig Informationen wie möglich über Funk herauszulassen. »Intrepid, hier Houston, MARTHA hat soeben Mauritius überflogen. Gleichbleibende Höhe in etwa 8 000 Fuß. Fineday und Badnight sind weiterhin dicht dran, over!« »Roger, Houston, Cargo Bay ist offen. Kohlschovsky und Schweighart sind in Bereitschaft und warten auf den Befehl zum Rausgehen. Die Entscheidung liegt bei euch. Ansonsten ist unser Status unverändert, over!« »Roger, over and out!« Er entspannte sich. Die Jagd nach dem UFO spielte sich inzwischen nicht mehr direkt unter der Raumfähre ab, sondern lag mittlerweile weit hinter dem Horizont. Durch die enorme Geschwindigkeit, mit der die Intrepid über den Erdball raste, hatte sie MARTHA und die beiden Flugzeuge schon längst überholt und hinter sich zurückgelassen. »Jim, uns wird langsam warm in den Anzügen!« jammerte Kohlschovsky. »Dürfen wir nun zum Spielen raus oder nicht?« »Solange ich von Houston keinen Befehl dazu erhalte, bleibt ihr dort, wo ihr jetzt seid und haltet euch weiterhin bereit! Seid froh, daß ihr noch ein wenig länger an der neuen Luft schnüffeln dürft!« »Ja, danke, Paps, vielen Dank auch!« kam die sarkastische Antwort vom Unterdeck. DeHaney warf einen Blick auf die Kontrollen für die Bordatmosphäre. Wenn sie den Status noch länger beibehielten, atmeten bald alle in der Raumfähre das gleiche Gasgemisch.
Dann konnten die beiden die Helme abnehmen. Es würde allerdings auch bedeuten, daß sich die Landung zeitlich noch weiter verzögern würde, bis wieder die anfänglichen Bedingungen für einen Deorbit hergestellt waren. Cooper, der sich wieder im Pilotensitz angegurtet hatte, sprach es offen aus: »Ich glaube nicht, daß wir vor morgen nachmittag wieder zu Hause sind. Die Verabredung mit der kleinen drallen Maus aus Orlando kann ich wohl abschreiben.« »Laß das, bitte!« sagte DeHaney gereizt. Er war nicht in der Stimmung für die üblichen Scherze. Aus dem Lautsprecher kamen nun überhaupt keine Informationen mehr. Das Ganze wurde allmählich lächerlich. Ihm klangen schon jetzt die Sticheleien seiner Kollegen in den Ohren, wenn sie wieder auf der Erde waren. Er konnte nur hoffen, daß Houston eine plausible Erklärung für den verlängerten Aufenthalt im Orbit parat hatte. Er steigerte sich immer mehr in einen selbst produzierten Ärger hinein und dachte beschämt an die Situation mit Schweighart, als er ihn mit barschen Worten aus dem Cockpit gejagt hatte. Hoffentlich hielt er den Mund und erzählte seinen Chefs in Europa nicht, wie die Amerikaner zum Zeitvertreib UFOs mit der Raumfähre jagten. Die Französin hatte ihn eh schon mit einem ungläubigen Blick bedacht, als er sich wie ein Verrückter aus seiner Koje nach vorne ins Cockpit gehangelt hatte. »Das wird wohl nichts mehr«, meinte Cochran neben ihm. DeHaney bemerkte erst jetzt, daß der Biologe immer noch schweigsam mit der Kamera in der Hand neben ihm zwischen den Sitzen klebte. Er hatte recht. So konnte das nicht weitergehen.
»Houston, hier Intrepid! Habt ihr irgendwelche Anweisungen für uns? Over.« »Jim, hier ist Wakefield. Hast du deine Leute zur Beobachtung draußen? Over.« »Nein, Bill, sie warten an der Schleuse …« »Schick sie sofort raus! Over and out!« DeHaney starrte verblüfft seinen Piloten an. »Was soll denn …? Himmelherrgott noch mal!« entfuhr es ihm. Er atmete tief durch. »Ilja, du hast es gehört. Du gehst zuerst raus! Aber vorsichtig, keine Hektik!« Es fehlte ihm gerade noch, daß sie wegen diesem Blödsinn in Schwierigkeiten gerieten. »Roger. Na endlich!« Kohlschovsky schien erleichtert darüber, daß er etwas unternehmen konnte. »Intrepid, hier Houston, MARTHA hat stark beschleunigt und steigt voraussichtlich in den Orbit hinauf. Fineday und Badnight haben die Verfolgung bei 90 000 Fuß über dem Indischen Ozean abgebrochen. Haltet die Augen auf! Over.« »90 000 Fuß?« staunte Cochran und hob unwillkürlich die Kamera an. »Sind das Flugzeuge oder Raketen?« Der Commander suchte die gigantische Wasserfläche über sich ab. Sie zogen über den Pazifischen Ozean. Vor ihnen wälzte sich der amerikanische Kontinent in die Dämmerung des Abends hinein. MARTHA war immer noch sehr weit hinter der Raumfähre zurück. Wakefields Stimme hatte jedoch sehr nervös geklungen. »Roger!« bestätigte er mit belegter Stimme. Ihm kam zum ersten Mal der Gedanke, ob das angebliche UFO vielleicht sogar eine Gefahr für sie darstellen könnte. In der Akte war nichts über feindliche Aktivitäten aufgeführt gewesen, außer, daß sich
MARTHA einen Chrysler geschnappt hatte. »Houston, was … ich meine, wie sollen wir uns verhalten, wenn MARTHA tatsächlich in unsere Nähe kommt, over?« »Jim, absolut nichts tun, außer beobachten. Bisher ist MARTHA immer nach einem steilen Aufstieg von unseren Schirmen verschwunden. Wir wissen nicht, wie oder wohin. Ihr bleibt passiv, keine Heldentaten, verstanden, over!« Wie sollten wir auch aktiv werden, dachte er belustigt, wir hätten noch nicht einmal einen Stein, den wir werfen könnten. »Roger!« »Es nähert sich der Raumfähre sehr schnell, es ist jetzt etwa 500 Meilen hinter euch, in einer Höhe von 200 Meilen, over!« »Was? Es war doch eben noch …« DeHaney schnippte wieder an seinem Mikrophon. »Ilja, wie weit seid ihr?« »Wir sind draußen, aber ich bezweifle, daß wir etwas von MARTHA sehen. Es wird schnell dunkel!« Mit einer langsamen Bewegung lehnte sich DeHaney zurück. Über ihm dehnte sich die Dämmerung über die Westküste aus. Vor ihm leuchteten die Lichter der Städte des Mittelwestens und die Intrepid begann die Nacht über den Vereinigten Staaten zu überfliegen. Schon brachen sich an der Umrandung des Cockpitfensters die letzten Sonnenstrahlen. »Hi, Captain!« Hilary Cochrans blonde Locken schwebten dicht über ihm. »Mächtig spannend heute, was?« sagte sie mit dem typischen Slang einer Hausfrau aus dem Mittelwesten und grinste ihn dabei an. »Ja«, knurrte er unwillig. Er war ein wenig erschrocken über ihr plötzliches Auftauchen. »Ich würde an deiner Stelle nicht so frech sein, MARTHA hat anscheinend eine Vorliebe für Pro-
dukte aus Detroit.« »He, ich wußte gar nicht, daß unser Commander so etwas Ähnliches wie Humor besitzt!« flötete es nun hinter der Amerikanerin mit französischem Akzent. Annick Denny hatte sich neben Hilary Cochran geschoben und blitzte DeHaney mit frechen Augen an. Neben ihm grinste Cooper belustigt. »Vielleicht ist es mehr das berühmte Pfeifen im Wald, kurz bevor …« Er verstummte unter dem vernichtenden Blick, der ihm von DeHaney entgegenloderte. Von Kenneth Cochran kam etwas, das sich wie ein verhaltenes Lachen anhörte. »Mr. Cooper hat recht. Irgendwie ist die Situation etwas angespannt.« Noch lange kein Grund für dumme Bemerkungen, dachte DeHaney. Außerdem seid ihr bestimmt genauso nervös wie ich. Im Cockpit wurde es dunkel. Nur die fahle Instrumentenbeleuchtung ließ ihn die Konturen der Astronauten erahnen, die um ihn herum in die Nacht spähten. »Es ist tatsächlich unheimlich«, flüsterte die Französin nach einer Weile. »Obwohl ich die nächtliche Erde von hier oben schon so oft gesehen habe, komme ich mir vor, als würden wir in eine andere Welt einfliegen.« Niemand widersprach ihr. Alle starrten sie schweigend nach oben auf den in Schwarz liegenden Kontinent, auf dem die Lichter der Städte und die spärlichen Aufhellungen auf dem Land wie zufällige Sprenkel auf einem schattigen Tuch wirkten. DeHaney ertappte sich dabei, daß er begann, den friedlichen Anblick zu genießen. Bisher war die Passage durch den Erdschatten für ihn nichts weiter als Routine gewesen. Kopfschüt-
telnd versuchte er, sich an seinen ersten Durchflug vor vielen Jahren zu erinnern, aber selbst da war der Eindruck nicht so intensiv gewesen wie jetzt. Seine Augen saugten sich förmlich an dem aschgrauen Gemälde der Natur fest, das unter ihnen langsam vorbeizog. Irgendein Teil seiner Seele schien ihn förmlich dazu zu zwingen, das Bild in sich aufzunehmen und unauslöschlich auf seiner Netzhaut einzubrennen. »Intrepid, hier Houston Control!« Alle im Cockpit zuckten wie unter einem elektrischen Schlag zusammen. Jeder von ihnen hatte konzentriert die nächtliche Szene der Erde auf sich wirken lassen, so daß sie ihr Umfeld und die Situation ganz vergessen hatten. »Wir können Entwarnung geben!« fuhr die Stimme von Wakefield fort. »MARTHA ist von unseren Schirmen verschwunden!« Ein kollektives Seufzen der Erleichterung ging durchs Cockpit. »Jim, ich würde vorschlagen, ihr geht in einigen Stunden wieder auf den Vorbereitungsstatus zum Deorbit. Weitere Anweisungen geben wir in Kürze durch, over!« DeHaney atmete tief durch und setzte zu einer bissigen Bemerkung an, schluckte sie aber dann hinunter. »Roger, over and out!« Er zupfte mißmutig an seinen Gurten und blinzelte dabei in die aufgehende Sonne, der sie jetzt entgegenflogen. »O.K. Leute, ihr habt gehört, was uns der Chef befohlen hat! Tim, du hast wieder das Kommando!« Er atmete nochmals tief durch. »Ich hau mich in die Koje.« Um ihn herum waren flapsige Kommentare über die Aktion
zu hören, die sie in der letzten Stunde gefangen gehalten hatte. Er war nicht in der Stimmung, sich daran zu beteiligen. Eigentlich war ihm schlagartig alles gleichgültig geworden. Er beschloß, ab jetzt all seine Energie auf eine sichere Landung zu konzentrieren und danach war für ihn das Kapitel Raumfahrt beendet. Auf der Erde würde er noch dem arroganten NROMann ein paar passende Worte um die Ohren hauen, obwohl er sich ziemlich sicher war, daß es diesen nicht sehr beeindrucken würde. Er wollte sich gerade vorsichtig aus seinem Sitz entfernen, als es im Lautsprecher kratzte. Dann ertönte leise Kohlschovskys Stimme: »Ich glaube, deine Koje muß noch warten, Jim!« Und nach einer kurzen Pause: »MARTHA hängt genau schräg über uns! Keine 500 Meter entfernt!«
6. Kapitel Dichtgedrängt starrten alle im Cockpit auf den kleinen Monitor, der die Aufnahmen von Kohlschovskys Videokamera zeigte. »Soll ich das Shuttle auf den Kopf stellen, dann können wir es direkt sehen?« flüsterte Cooper heiser. »Wir rühren uns keinen Inch von der Stelle!« bestimmte DeHaney, ungeachtet der Tatsache, daß die Raumfähre mit annähernd 27 000 Stundenkilometern um die Erde raste. Die körperliche Nähe der anderen erhöhte die unerträgliche Spannung, in der er sich befand. Am liebsten hätte er die Besatzung ins Mitteldeck verbannt, um sich in Ruhe einen klaren Kopf zu verschaffen. Was sich ihnen auf dem Monitor bot, glich einem Filmplakat für einen Science-Fiction-Film. Vor der restlichen Nachtschwärze der Erde schwebte ein mattschwarzes Objekt, das sich, von der aufgehenden Sonne beleuchtet, von hinten an das Shuttle heranschob. »Es kommt näher, aber es scheint über uns hinwegzuziehen«, kam nun Kohlschovskys Stimme leise aus dem Lautsprecher. Laut wagte sich seit dem Erscheinen des UFOs keiner mehr zu äußern. Auch die harmlose Bezeichnung MARTHA schien aus dem Wortschatz gestrichen, dafür war der Anblick des länglichen Schattens auf dem Bildschirm zu furchteinflößend. »Ihr müßtet es gleich sehen können!«
Wie auf Kommando hoben sich alle Köpfe nach oben, aber noch war nichts zu sehen. Nur die Terminatorlinie auf der Erde schob sich gemächlich von vorne auf sie zu. Von Houston war nichts zu hören. Wahrscheinlich saßen die Controller ebenso gebannt auf ihren Plätzen vor den Monitoren wie die Besatzung der Intrepid. Als DeHaney vor einer halben Stunde eine sichere Videoleitung hergestellt hatte, kam sofort danach eine Warnung von Wakefield durch. »Keine Aktivitäten, Jim! Ihr verhaltet euch absolut passiv!« Er wiederholte sie alle Minuten mit einer monotonen Stimme, die anscheinend beruhigend auf sie wirken sollte, aber genau das Gegenteil bewirkte. Nachdem DeHaney ihm mit scharfen Worten erklärt hatte, daß sie auf keinen Fall etwas unternehmen würden, blieben sie von weiteren Ermahnungen des Missionsleiters verschont. Als eine dunkle runde Silhouette im oberen Teil der Cockpitfenster vor die Sonne trat, kam ein erschrockener Laut von Hilary Cochran. »Scheiße, das Ding ist verdammt nahe an uns dran«, entfuhr es Cooper, obwohl es schwierig war, die Größe zu bestimmen. DeHaney nickte. »Ich schätze, keine 300 Fuß. Und wenn meine Schätzung richtig ist, dann wäre es verdammt groß!« Das harte Sonnenlicht wurde durch eine riesige Scheibe allmählich abgedeckt. Unendlich langsam kroch der Schatten über die Gesichter und schließlich über die Armaturen, bis mit einem letzten Aufblitzen das Cockpit im Dunklen lag. »Es sind überhaupt keine Strukturen zu erkennen, außer daß die Seitenränder nach unten geneigt erscheinen«, stellte Kenneth Cochran fest. Seine Stimme zitterte etwas.
»Ken, erzähl das denen da unten! Beschreibe, was du siehst!« DeHaney stupste Cooper an. »Tim, die Kamera! Halte drauf!« »Wie? Ah ja, natürlich.« Nervös riß er seine Videokamera hoch und richtete sie nach oben. »Houston, hier DeHaney. Kann ich meine Leute reinholen?« Er klopfte ungeduldig mit den Fingerspitzen auf sein Knie. Die Vorstellung, daß sich zwei seiner Besatzungsmitglieder in dieser Situation im offenen Laderaum befanden, behagte ihm überhaupt nicht. »Ähm … Moment … ja, O.K. … äh … ja, die Entscheidung liegt bei dir, Jim!« Mit einem abfälligen Grunzen schnippte er an sein Mikrophon. Er konnte sich gut vorstellen, daß Taggert da unten im Kontrollraum es wahrscheinlich gerne sähe, wenn das Geschehen hier oben in bester Bildqualität vom Laderaum aus dokumentiert wurde als durch die Fenster des Cockpits. »Ilja, ihr kommt jetzt rein!« »O.K. Roger, aber es macht uns nichts aus, wir können auch noch …« »Nein. Ich will, daß ihr reinkommt!« »Reinkommen. Roger. Aber ich montiere die Kamera auf den Ausleger, dann können wir sie von innen bedienen.« »Nein … na gut, meinetwegen, aber beeil dich!« Er legte eine Hand auf Cochrans Schulter, der seine Beschreibungen unterbrach und zu ihm aufsah. »Ken, mal ehrlich, was ist das da draußen? Ein richtiges UFO oder ist das was von den Russen oder Japanern?« Kenneth Cochran grinste hölzern. »Ganz genau kann ich dir das erst dann sagen, wenn ich dem Piloten in die Augen sehen
kann. Aber im Ernst: Ich glaube nicht, daß unsere Jungs von der … äh … Informationsbeschaffung so etwas übersehen hätten. Gehen wir also einmal davon aus, daß wir es tatsächlich mit etwas Unbekanntem zu tun haben.« DeHaney strich sich zerfahren mit der Hand über die Stirn und verfolgte, wie der rochenartige Schatten düster über das Shuttle glitt. Das Objekt sah genauso aus, wie das der Varells. Er konnte jetzt ganz deutlich die herabgebogenen Seitenränder ausmachen, die dem Objekt ein bedrohliches Aussehen verliehen. Fehlt nur noch ein Stachel am Ende, dachte er. Das UFO war immer noch fast direkt über ihnen, deswegen konnte er weiterhin nur die Unterseite sehen, über die sich nun schemenhaft Lichtreflexe hinwegschoben, die vom Shuttle durch das harte Gegenlicht der Sonne verursacht wurden. »Es sieht real aus, man kann sogar die Lichtreflexe des Shuttles auf der Oberfläche sehen«, beschrieb Cochran neben ihm den Vorgang für die Bodenstation. »Hoffentlich fallen bei uns nicht alle Instrumente aus wie bei dem Chrysler der Varells …« Mit einem Ruck drehte sich DeHaney zu Cochran herum. »Mal den Teufel nicht an die Wand! Meinst du, das wäre möglich?« »Warum sollte es hier oben anders sein als auf der Erde?« Genau, warum sollte es anders sein? Er überflog die Armaturen. Bis jetzt war keine Veränderung zu bemerken, alles war normal. Wieso war dieser Gipskopf Taggert da unten noch nicht auf den Gedanken gekommen und hatte sie vor einem eventuellen Stromausfall gewarnt? Wütend unterdrückte er einen Fluch. Ihm lag schon ein scharfer Tadel an die Adresse
Taggerts auf der Zunge, als ihm klar wurde, daß sie im Grunde sowieso auf sich allein gestellt sein würden. Was würde passieren, wenn der Strom ausfiel? Die Lufterneuerung wäre unterbrochen. Druckabfall. Die ganze Klimaversorgung würde zusammenbrechen. Wie lange würden sie ohne die Aggregate auskommen? »Ilja und Schweighart, ihr bleibt in euren Raumanzügen!« Ohne eine Antwort abzuwarten wandte er sich an Hilary Cochran. »Hil, bereite Raumanzüge für uns vor, damit wir sie im Notfall sofort anlegen können! Annick Denny soll dir dabei helfen!« Mit einer nervösen Bestätigung verschwanden die beiden Frauen ins Mitteldeck. Mittlerweile fiel das Sonnenlicht wieder ins Cockpit. Das UFO stand nun klar voraus als gekrümmte Linse vor der blauen Erdsichel. »Mir scheint, als bewege es sich nicht mehr«, stellte Cochran fest. »Der Abstand bleibt gleich.« »Das wäre schlecht«, erwiderte DeHaney. »Denn das würde unter Umständen bedeuten, daß es uns im Visier hat.« Er ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihn Cochrans Beobachtung von vorhin aus dem Gleichgewicht brachte. Kurz zuvor noch war er trotz der realen und unheimlichen Erscheinung zu der Überzeugung gelangt, daß sich MARTHA nach dem Passieren des Shuttles als eine geschickte Computersimulation oder eine neuartige Projektionstechnik herausstellen würde, die sich irgendein Schwachkopf von einer dieser arroganten Psychoabteilungen ausgedacht hatte, um wieder einmal mehr die Belastbarkeit von Astronauten in außergewöhnlichen
Situationen auf die Probe zu stellen. Wenn das vermeintliche UFO in der Nähe blieb, standen auf jeden Fall weitere Prüfungen auf dem Programm und er wußte nicht, wie lange er dem Unsinn noch gewachsen war. Eigentlich hatte er fest damit gerechnet, daß der ganze Spuk mit dem Vorbeiflug als Höhepunkt bald zu Ende gehen würde, aber nun schien es so, als würde man ihnen noch weitere Überraschungen zumuten wollen. Er sah sich momentan nicht in der Lage, eine vernünftige Entscheidung zu treffen, ganz gleich welcher Art. In erster Linie trug er die Verantwortung für die Besatzung und das Shuttle. Deswegen hatte er absolut kein Verständnis für derartige hochtechnische Spielereien, die sein Nervenkostüm über Gebühr strapazierten. Er weigerte sich nach wie vor, an die Existenz einer außerirdischen Spezies zu glauben. Die Möglichkeit erschien ihm zu unmöglich und zu fantastisch, auch wenn Wakefield und Taggert ihm standhaft versicherten, daß es sich tatsächlich um eine Begegnung mit einer fremdartigen Technologie handelte. »Houston, hier DeHaney! Habt ihr irgendwelche Anweisungen?« Ihm kam ein Gedanke, der ihn hinterhältig grinsen ließ. »Oder könnt ihr das Objekt von der Erde aus sehen? Over.« Es dauerte etwas, bis eine Antwort kam. »Intrepid, wir haben die Bedeckung, das heißt, den Vorgang, als MARTHA über euch hinweggezogen ist, ganz deutlich verfolgen können. Jetzt steht das Objekt vor dem Sternenhimmel. Man kann es nur entdecken, wenn man weiß, daß es da ist. Es gibt so gut wie keine Reflexe vom Sonnenlicht ab. Außerdem können wir einen gleichbleibenden Abstand zum Shuttle bestä-
tigen.« »Das heißt aber auch, daß andere Stellen das Objekt ebenfalls bestätigen werden!« Pause. Ein Knacken und ein Rauschen war in der Verbindung zu hören. Dann, wie gedanklich abwesend, sagte der Controller: »Ja, das ist zu befürchten.« Cochran schüttelte den Kopf. »Konfus. Das ist alles konfus. Die wissen auch nicht mehr als wir.« DeHaney wurde nachdenklich. »Haben wir eine Möglichkeit zu überprüfen, ob das Ding tatsächlich da ist? Ich meine, so richtig, als materielles Objekt.« »Du meinst, wir haben es mit einer Projektion zu tun?« »Ja, verdammt! Irgend etwas in dieser Richtung, oder glaubst du etwa an den ganzen UFO-Quatsch? Daß ausgerechnet wir mit Außerirdischen Kontakt haben sollen? Das ist doch ausgemachter Humbug. Die da unten haben sich ein nettes Psychospielchen ausgedacht, um unser Nervenkostüm auf die Probe zu stellen.« »Warum fliegst du dann nicht einfach rüber zu dem Objekt und siehst nach? Wenn MARTHA eine Projektion ist, würde das Shuttle einfach durch die Abbildung fliegen«, sagte Cochran mit einem lauernden Blick. »Weil ich die Anweisung habe, daß wir uns nicht von der Stelle rühren sollen, darum!« Er beugte sich nach vorn. »Aber etwas kann ich tun, um mir Gewißheit zu verschaffen, ob das Ding echt ist. Ich verändere den Winkel vom Shuttle zu der Unterseite von unserem UFO und benutze den InfrarotEntfernungsmesser der Andockvorrichtung für die Raumstation. Wenn wir keine eindeutigen Werte für eine Reflexion des
Infrarotstrahls erhalten, ist dort draußen nichts, was ich mit der Hand anfassen könnte.« Ohne auf einen möglichen Einwand Cochrans zu achten, informierte DeHaney die Besatzung über die bevorstehende Lageänderung der Raumfähre. Nachdem er die Daten in den Computer eingegeben hatte, zögerte er einen Moment und dachte darüber nach, ob er Houston über sein Vorhaben informieren sollte. Streng genommen war er dazu verpflichtet, aber er fürchtete, daß die Bodenstation ihm keine Erlaubnis erteilen würde. Vielleicht erwarteten sie ja aber auch ein selbständiges Handeln von ihm, so als eine Art Test in unvorhergesehenen Situationen. Nein. Er schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich würde er sich eine saftige Rüge einhandeln, aber das war ihm gleichgültig. Was sollte schon großartig passieren, wenn er das Shuttle drehte. Dann gibt es eben bei seiner Verabschiedung eine Ehrennadel weniger an seinem Revers. Nach zwei kurz aufeinanderfolgenden Schlägen der Thrusters zeigte die Nase der Intrepid genau auf die Unterseite des UFOs. Danach aktivierte DeHaney mit fliegenden Fingern das Programm der Andockvorrichtung. Neugierig zog sich Cochran vorsichtig am Pilotensitz hoch und las laut die in rot erscheinenden Werte ab. »276,43 Meter!« Er sah seinen Commander von der Seite an. »Bleiben uns also die drei genannten Möglichkeiten: UFO, Russen oder Japaner. Alle wären gleich schlecht.« »Richtig«, murmelte DeHaney. An ein russisches oder japanisches Raumschiff glaubte er nicht. Taggert hatte also kein falsches Spiel mit ihm getrieben. Dort draußen trieb ein echtes
UFO vor ihnen her und niemand wußte, was als nächstes geschehen würde. Hilarys Kopf erschien neben ihm. »Kann es uns denn gefährlich werden?« Statt einer Antwort blickte DeHaney über die Rückenlehne seines Sitzes nach hinten ins Flight-Deck. Zufrieden registrierte er, daß die Raumanzüge ausgebreitet und mit Tape an den Wänden befestigt waren. Das Deck sah aus wie eine unaufgeräumte Umkleidekabine. »Ich habe keine Ahnung«, flüsterte er schließlich. »Und ich fürchte, es gibt niemanden, der uns die Frage beantworten könnte.« Die folgende Stunde war geprägt von einer lähmenden Ratlosigkeit. Selbst Houston Control konnte sich zu keiner Entscheidung durchringen, obwohl DeHaney mehrmals auf eine sofortige Landung drängte. Als Kapitän des Schiffes lag ihm die Unversehrtheit seiner Mannschaft näher als die Erforschung einer fremdartigen Technik. »Wenn ihr uns schon nicht landen laßt, dann gebt uns wenigstens den Befehl, das UFO näher zu untersuchen! Kohlschovsky und Schweighart können es gar nicht erwarten, rauszugehen und dort drüben anzuklopfen. Over, verdammt noch mal!« Er verzog leicht die Mundwinkel, denn seine letzte Bemerkung sollte wie ein Scherz klingen. Er hatte die beiden natürlich nicht nach ihrer Bereitschaft gefragt, eventuell zu MARTHA hinüberzufliegen. »Negativ, Jim. Das kommt überhaupt nicht in Frage. Ihr bleibt absolut passiv! Wir können uns jetzt keinen falschen
Schritt erlauben.« DeHaney schnaubte verächtlich. Er konnte sich gut vorstellen, wie denen da unten die Köpfe rauchten, denn mittlerweile hatten die Nachrichtenagenturen natürlich mitgekriegt, daß mit dem Flug STS-198 etwas nicht in Ordnung war. Die offizielle Verlautbarung der NASA lautete immer noch, daß nicht alle Landebedingungen auf der Erde optimal wären, aber diese Information ließ sich nicht mehr lange halten. Wahrscheinlich würden jetzt schon unzählige Nachrichten das Internet überlasten und viele Quellen genau wissen, warum sich die Intrepid noch immer im Orbit befand. Und genauso wahrscheinlich hätte er an Stelle von Houston Control auch keine andere Entscheidung getroffen, aber die Situation an Bord wurde langsam unerträglich. Kohlschovsky und Schweighart verharrten weiterhin geduldig in ihren Raumanzügen. Viel bewegen konnten sie sich damit im engen Mitteldeck nicht. Cooper hatte für sie einen beweglichen Monitor installiert, auf dem sie wenigstens etwas von MARTHA sehen konnten. Die beiden Cochrans waren im Moment damit beschäftigt, die Pantry wieder in Betrieb zu nehmen, denn sie hatten alle schon seit Stunden nichts mehr gegessen. Annick Denny hielt sich hinter ihm an den Kontrollen des Laderaums auf und bediente den Ausleger mit der Kamera. Eigentlich war es nicht notwendig, denn das UFO stand nach wie vor an derselben Stelle vor dem Shuttle wie vor einer Stunde, aber sie versuchte sich an mehreren Blickwinkeln, die im Endeffekt jedoch immer das UFO vor der Erdsichel zeigten. Beschäftigungstherapie, nichts weiter. »Äh … Jim, ich habe mich gerade mit Schweighart besprochen, wir würden uns die Kiste gerne aus der Nähe ansehen. Ich
meine, wir sind bereit dazu, wenn du uns die Erlaubnis gibst!« Sehr überzeugend klang Kohlschovskys Stimme jedoch nicht gerade. »Du hast doch gehört, was Houston gesagt hat. Es kommt nicht in Frage.« »Ja, hab ich. Ich meinte damit auch nur, daß wir dazu bereit wären, falls der Wunsch dazu geäußert werden würde.« Er dehnte den Konjunktiv mit einem Hauch aristokratischer Gelassenheit. »Respekt! Ich hätte Schiß, da raus zu gehen. Wer weiß, was das Ding für Absichten hat. Vielleicht möchte es ja zur Abwechslung einmal junge Astronauten untersuchen anstatt ein Auto samt Ehepaar in mittlerem Alter.« Kohlschovsky zögerte mit einer Entgegnung. »Also mal im Ernst: Besonders wohl würde ich mich dabei nicht fühlen, aber andererseits würde ich mich später vielleicht einmal darüber ärgern, wenn wir die Chance nicht genutzt hätten.« »Darüber würde ich mir keine Gedanken machen«, sagte DeHaney und blickte aus dem Cockpitfenster. »Von hier aus sehe ich keinen Eingang oder etwas Ähnliches, durch den oder das ihr in das UFO eindringen könntet. Und wenn doch, was soll ich dann befehlen? Daß ihr reingeht? Das kommt nicht in Frage!« Es knackte kurz in der Leitung, als sich Schweighart zuschaltete. »Warum nicht, Commander? Falls es ein Problem mit der Befehlsorder geben sollte, würde ich mit Annick gehen. Wir unterstehen nicht dem direkten Kommando der NASA.« DeHaney schnappte nach Luft, als er die dreiste Bemerkung des Europäers hörte und sie prompt falsch interpretierte. Was
erlaubte sich dieser Bengel? Es klang so, als wären die Amerikaner zu feige, sich zu dem UFO hinüber zu wagen. »Schweighart!« sagte er in scharfem Ton. »Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie sich an Bord meines Schiffes befinden! Und damit unterstehen Sie meinem Befehl, ganz gleich, was Sie sich für einen Sticker an Ihren Overall gepappt haben. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?« Es dauerte einige Sekunden, bis eine Antwort kam. Ein unterwürfiger Zynismus war als gequälter Unterton jedoch deutlich herauszuhören. »Ja, Sir! Jawohl, Sir!« Mit einem scharfen Zischen ließ DeHaney Luft zwischen seinen zusammengepreßten Zahnreihen ab. Er hätte gerne eine bissige Bemerkung hinterhergeschickt, aber er beherrschte sich doch noch rechtzeitig. »Damit würde ich das Thema gerne beenden!« »Ich wollte nicht … ich habe verstanden, Commander!« Schweigharts Stimme verklang im Kopfhörer. Hinter DeHaneys Sitz war ein belustigtes Lachen von Hilary Cochran zu vernehmen. Vorsichtig bugsierte sie ein Tablett mit einer warmen Mahlzeit in Richtung seiner Knie. Daran festgebunden baumelte eine Reihe von trockenen Früchten und Nüssen. »Eine Coke oder einfaches Wasser dazu, Captain?« Sie schob sich in halber Höhe zwischen die Sitze. »Du mußt gestärkt in einen Krieg gegen Europa ziehen!« Er funkelte sie zunächst böse an, entgegnete dann aber mit einem Grinsen: »Coke natürlich. Nur echte amerikanische Erzeugnisse geben die nötige Kraft!«
Mit einem lauten Lachen verschwanden ihre Locken wieder nach hinten. Er befestigte das Tablett an seinem Oberschenkel und suchte danach die Frequenz eines Nachrichtensenders. Während er umständlich die Hühnchenteile in den Mund beförderte, lauschte er der ernsten Stimme des Sprechers, der ausschließlich die Intrepid zum Thema hatte. Anscheinend war jetzt doch schon einiges an die Öffentlichkeit gelangt. »… wie die Nachrichtenagentur Reuter berichtet, gibt es außer den bereits bekannten Problemen mit den Landeplätzen weitere Schwierigkeiten auf der Raumfähre Intrepid. Anscheinend befindet sich in unmittelbarer Nähe des Space Shuttles ein nicht zu identifizierendes Objekt, das eine sofortige Rückkehr aus dem Orbit unmöglich macht. Bisher hat die NASA dazu noch keine Stellungnahme abgegeben. Sicher ist jedoch, daß alle Besatzungsmitglieder wohlauf sind …«
7. Kapitel Die Stimmung im Kontrollraum in Houston glich einer elektrisch aufgeladenen Schlechtwetterlage. Direkt an der Front arbeiteten die Controller mit einer aufgesetzt stoischen Ruhe, aber hinter den Reihen der Computerkonsolen wurden vor allem zwei Themen heftig diskutiert. Im Vordergrund stand die Frage des weiteren Vorgehens, was das Shuttle betraf. Die Verantwortlichen und deren Berater hatten sich in zwei Lager gespalten. Die einen forderten den unverzüglichen Abbruch des Unternehmens, um die Raumfähre samt Besatzung in Sicherheit zu bringen. Die anderen rieten zu Gelassenheit und meinten, man solle erst einmal in Ruhe abwarten, wie sich die Situation entwickeln würde. Sie hatten vor allem die ungeheuren Möglichkeiten vor Augen, die sich mit einer eventuellen Erkundung des fremdartigen Objektes ergeben würden. Beide Gruppen sahen sich jedoch bald mit einem ganz anderen Problem konfrontiert. Vor einigen Minuten waren im Free Web erste unscharfe Bilder vom Shuttle mit seinem unerwünschten Begleiter aufgetaucht. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Nachrichtenagenturen seriöse Quellen erschlossen hatten, die die Bilder bestätigen und kommentieren konnten. Vor diesem neuen und weltweit zugänglichen Hintergrund der Medien würden die zukünftigen Entscheidungen der NASA in einem anderen Licht erscheinen.
William Wakefield spürte förmlich, wie die Handlungen seiner Leute hektischer und damit auch unsicherer wurden. Sie wurden sich zunehmend bewußt, daß ihnen bald die Weltöffentlichkeit auf die Finger schauen würde und sie sich damit zur Zielscheibe der bevorstehenden Aktionen verwandelten, ganz gleich welcher Art sie auch immer sein würden. Er wußte schon nicht mehr, wo im Kontrollraum der für ihn strategisch günstigste Platz war, denn er pendelte ständig von seiner Konsole in die hinteren Räume, um sich mit Beratern und Verantwortlichen zu besprechen, unter anderem mit dem Pressesprecher der NASA, John Havel, der ihn ständig bedrängte, ihm endlich eine bessere Ausrede für die Verzögerung des Raumfluges zu erlauben als die bisherige. »John, verflucht noch mal, was soll ich denn sagen? Daß unser Shuttle von einem UFO verfolgt wird und wir nicht wissen, wie wir uns verhalten sollen?« Wakefield versuchte, sich mit einer nervösen Bewegung durch die verschwitzten Haare zu fahren, bis er bemerkte, daß er in jeder Hand ein Handy hielt. Mit einem weiteren Fluch wischte er die feuchten Geräte an seiner Hose ab. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wer ihm die Telefone in die Hand gedrückt hatte. Er selbst trug einen Head Screen, wie die meisten hier im Kontrollraum. Es war die modernste Kommunikationseinheit, die zur Zeit auf dem audiovisuellen Markt zu haben war, obwohl die Einheit rein äußerlich einem etwas zu groß geratenen modernen Kopfhörer glich. Der entscheidende Unterschied war jedoch in dem Augenblick zu erkennen, wenn der herunterklappbare Bildschirm benutzt wurde, der den Träger augenblicklich in einen martialisch aussehenden Kommunikations-Ritter verwandelte, je nach
der individuellen Gestaltung der nun sichtbaren Außenfläche. Auf jeden Fall trug die unterschiedliche Bemalung zum Erkennungswert des jeweilig Verborgenen bei, ein großer Vorteil gerade jetzt während der außergewöhnlichen Geschehnisse, bei denen alle im Kontrollraum die Ereignisse möglichst wirklichkeitsnah miterleben wollten und deshalb reichlichen Gebrauch von diesem modernen Gerät machten. John Havel winkte ärgerlich ab und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das mit dem UFO weiß inzwischen wahrscheinlich schon jeder Bierbrauer in Milwaukee. Ich habe keine Lust mehr, hier rauszugehen und da draußen dieser Horde von Presseleuten zu erzählen, daß wir nicht landen können, weil auf der Edward Base starker Seitenwind herrscht. Wenn ich das noch einmal bringe, kriege ich garantiert den Golden Globe für die beste Comedy-Darstellung!« Wakefield brachte ein gequältes Lächeln zustande. Fast gleichzeitig fingen beide Handys zu klingeln an. Er blickte sie angewidert an und warf sie achtlos auf einen Tisch. »Jeder Möchtegern will wissen, was an der Sache dran ist und ob wir eine Invasion aus dem Weltall zu erwarten haben.« Er fuhr sich nun mit beiden Händen durch die Haare. »O.K. ich weiß, ich weiß. Paß auf, wir machen folgendes: Du sagst ihnen, daß wir in einer Stunde im Presseraum eine Erklärung herausgeben. Damit haben wir sie vorerst vom Hals, weil sie gleich rüberrennen, um sich dort um die besten Plätze zu prügeln. Ist doch genial, oder?« »Vorerst, ja.« Havel grinste verschlagen. »Ich denke, sie werden laufen wie durstige Rinder, die ein Wasserloch riechen.
Und weiter …? Geben wir denn in einer Stunde eine Erklärung heraus und wenn, was?« »Komm schon, John. Sei nicht so naiv! Irgend etwas wird sich bis dahin ereignet haben. Wenn das Theater hier so weitergeht, müssen wir soundso irgendwann einmal damit rausrükken, was dort oben los ist.« Havel ließ ihn erleichtert stehen. Trotz des Drucks, der auch auf ihm lastete, freute er sich schon auf die Hektik der Presseleute, die seine Ankündigung auslösen würde. Wakefield blieb unschlüssig zurück. Für einen kurzen Moment tat sich eine Verschnaufpause für ihn auf. Es war nicht so sehr das Problem der Entscheidung über die weitere Vorgehensweise der Mission, die ihn beschäftigte, sondern vielmehr das ungewisse Schicksal seiner Leute im Erdorbit. Er wußte, daß die Entscheidung darüber andere Leute treffen würden. Und zwar nicht in Form von Befehlen, sondern Empfehlungen, die mit einer gewissen Nachdrücklichkeit an ihn herangetragen werden würden. Er schaute sich suchend um. Dieser Taggert umkreiste schon die ganze Zeit über den Kontrollraum und die angrenzenden Bereiche wie ein wachsamer Schäferhund das Weideland seiner Schafherde. Jede unruhige Bewegung an den Computerkonsolen erregte seine Neugier und zog ihn nahezu magisch an. Er plazierte sich unauffällig in der Nähe von diskutierenden Gruppen und hielt sich wie beiläufig an strategisch günstigen Punkten auf, von wo er einen guten Überblick über die Vorgänge auf den Monitoren hatte. Immer häufiger nahm er Nachrichten von Personen entgegen, die urplötzlich von irgendwoher in den Raum kamen und die Wakefield vorher noch nie zuvor gesehen
hatte. Vor einer Stunde etwa waren sie wie Vorboten einer beginnenden Epidemie im Kontrollbereich aufgetaucht und hatten nahezu jeden Raum mit einer dezenten, aber trotzdem wahrnehmbaren Präsenz infiziert. Wakefield zwang sich dazu, diese augenfällige Infiltration der NRO zu ignorieren, denn er wußte, daß er nichts dagegen unternehmen konnte, solange die Arbeit seiner Leute dadurch nicht beeinträchtigt wurde. Mißmutig klappte er das Visier seines Head Screens herunter, auf dessen Außenseite ein Tigerkopf mit fletschenden Zähnen aufgemalt war. Nicht besonders einfallsreich, wie die meisten seiner Mitarbeiter anfangs meinten, denn deren Motivpalette auf ihren Screens reichte von Darth Vader bis Elvis. ›Besser als Micky Maus!‹ pflegte Wakefield auf entsprechende Bemerkungen zu antworten. Und mittlerweile mußten seine kleinlichen Kritiker ihm zugestehen, daß er durch seine geschickte Motivwahl seinen Head Screen meistens ungestört benutzen konnte, weil nicht wenige es scheuten, den aggressiven Tigerkopf anzusprechen. Kaum hatte er den gekrümmten Monitor seines Head Screens aktiviert, bot sich ihm der vertraute, aber stets aufs neue, atemberaubende Ausblick vom Space Shuttle auf den weiten, blauen Horizont der Erde. Die Bilder stammten von der Kamera auf dem Ausleger im Nutzlastraum, dessen Tore weit geöffnet waren und einen nahezu ungehinderten Blick auf den Pazifischen Ozean zuließen. Normalerweise klang in Wakefield immer ein kleiner Rest von Wehmut auf, wenn er dieses herrliche Panorama sah, denn er selbst hatte es nie bis in den Orbit geschafft. Eigentlich hatte er auch nie eine reelle Chance gehabt,
denn als die ersten reinen Spezialisten für die Raumstation ausgebildet wurden, stieg er gerade eine völlig andere Karriereleiter hoch. Zugegeben, mit etwas mehr Entschlossenheit und einem härteren Willen wäre der Zug vielleicht nicht ohne ihn abgefahren, aber die Aussichten bei seiner damaligen Firma waren mehr als nur rosarot gewesen. Er hatte sich dies in den letzten Jahren immer wieder eingeredet, aber letzten Endes mußte er sich doch eingestehen, daß ihm eben der letzte Kick Durchsetzungsvermögen gegen sich selbst gefehlt hatte, um die Erde direkt von diesem außergewöhnlichen Standort betrachten zu dürfen. Mit einem beinahe ehrfürchtigen Blick sah er in die obere Hälfte des Head Screens, wo ein flacher schwarzer Schatten das obere Drittel der blauen Erdsichel durchschnitt. DeHaney war angewiesen worden, den Abstand zu dem unbekannten Flugobjekt aus Sicherheitsgründen etwas zu vergrößern, aber selbst aus einiger Entfernung ging von dem UFO immer noch eine bedrohliche Wirkung aus. Ein Fremdkörper im Sonnensystem. Wakefield hätte es seinem Pressesprecher John Havel gegenüber nie zugegeben, aber er wußte mit absoluter Sicherheit, daß dieses Objekt nicht von der Erde stammen konnte. Er arbeitete lange genug in der Luft- und Raumfahrtindustrie und war zudem mit sämtlichen geheimen und geheimsten Projekten in aller Welt vertraut, deswegen kannte er den aktuellen Stand des technisch Machbaren. Dieser schwarze Schatten war nicht möglich und würde noch sehr lange unmöglich bleiben. Er hatte während der Entwicklung des AURORA SPACE JET eine beratende Funktion bei der Finanzierung eingenommen, hatte eine wichtige Position bei den Verhandlungen mit den Russen
innegehabt, die das Ergebnis erbrachten, daß die beiden Großmächte in Zukunft gemeinsam an einem revolutionären Triebwerk für künftige Flugzeuge forschen würden. Er kannte die Wahrheit über die sagenumwobene Area 51. Und nirgendwo, selbst an diesem streng geheimen Ort nicht, gab es eine auch nur annähernd futuristische Technik, wie sie sich ihm auf seinem Head Screen darbot. Auch die Europäer, die mittlerweile kurz davor standen, die amerikanische Industrie im zivilen Flugzeugbau hinter sich zu lassen, waren nicht in der Lage, solch ein phantastisches Fluggerät aus dem Hut zu zaubern. Blieb vielleicht noch China, aber an diese Möglichkeit verschwendete er keinen Gedanken, zu groß war sein Vertrauen in die CIA oder in die NSA, die verläßliche Informationen über den Stand der dortigen Technologie besaßen, und deren Berichte über den ›Roten Drachen‹ waren in dieser Hinsicht alles andere als besorgniserregend. Also waren Taggert und sein ominöser Verein, die NRO, in all den letzten Jahren doch keinem Phantom hinterhergejagt. Wakefield hatte nie verstanden, warum ein so immenser Anteil des Verteidigungshaushaltes in diese geheimnisvolle Abteilung geflossen war. Als Taggert vor einigen Jahren großkotzig und arrogant in seinem Büro aufgetaucht war und ihm in einer schlichten Aktenmappe Vorschriften und Verhaltensmaßregeln ›zur Wahrung nationaler Interessen‹ auf den Schreibtisch gelegt hatte, hatte er seine Beziehungen spielen lassen und versucht, vorsichtige Recherchen in Richtung NRO zu starten. Im Endeffekt waren sie alle im Sande verlaufen. Und es war sogar noch schlimmer gekommen: Der Senatspräsident persönlich hatte ihm in einem freundlichen, aber knappen Telefongespräch
mitgeteilt, daß jede weitere Nachfrage, so verständlich sie im Interesse der NASA auch sein mochte, unverzüglich zu unterbleiben hätte, andernfalls könne er für ein loyales Verhalten von Seiten der Regierung seiner Person gegenüber nicht mehr garantieren. Wakefield konnte sich noch heute an den genauen Wortlaut des Gespräches erinnern, als sei es erst gestern gewesen. Der Senatspräsident hatte ihn am Schluß mit einem jovialen ›Wir verstehen uns schon, nicht wahr?‹ dermaßen vor den Kopf gestoßen, daß er nach dem Gespräch den Hörer noch minutenlang ungläubig in der Hand gehalten hatte. In dem Telefonat wurden nie die NRO oder seine Erkundigungen direkt erwähnt, immer war lediglich von einer ›bestimmten Sache‹ die Rede, aber die Botschaft war deutlich genug: Halte dich da raus, das geht dich nichts an! Seitdem ließ er zähneknirschend Taggert seine obligatorischen Gespräche mit den jeweiligen Commandern der Shuttles führen und gestattete ihm sogar während einer Mission die High End Camera auf bestimmte Punkte der Erdoberfläche auszurichten. Natürlich war dabei bisher nichts Zählbares herausgekommen und natürlich hatte der NRO-Mann bisher nur stillen Hohn und Spott von den Leuten im Kontrollzentrum eingefahren, aber er hatte alles mit einer beinahe aufreizend stoischen Ruhe und Gelassenheit über sich ergehen lassen, so daß man ihm mittlerweile sogar einen gewissen Respekt entgegenbrachte. Vielleicht auch deshalb, weil er durch sein Durchhaltevermögen und die eiserne Rückendeckung aus Regierungskreisen allmählich ein unsicheres Klima in Wakefields Reich geschaffen hatte. Offen sprach niemand darüber, aber insgeheim gestand jeder Taggert die vage Möglichkeit von
einem geheimen Wissen zu, das nur noch nicht zur Wahrheit gereift war. In Wakefields Head Screen begann ganz sachte ein blaues Band durch das obere Drittel des Bildes zu laufen. Damit zeigte ein Bewegungsmelder dem Träger des Screens an, daß sich ihm eine Person näherte. Eine kleine vernünftige technische Einrichtung, die schon manchem einen gehörigen Schrecken erspart hatte, wenn der völlig von der Außenwelt Abgeschottete plötzlich angesprochen oder ihm – wenn auch vorsichtig – eine Hand auf die Schulter gelegt wurde. Wakefield tippte auf die Ein/Aus-Taste des Screens am rechten Kopfhörer. Der Weltraum verblaßte und die nach oben fahrenden Lamellen gaben den Blick auf Taggert frei, der geduldig wartete, bis Wakefields Augen ihn fixierten. »Der Präsident würde gerne mit Ihnen sprechen«, teilte ihm Taggert leidenschaftslos mit. Selbst in den Momenten, in denen er eigentlich Triumphe feiern müßte, blieb er neutral. Wakefield nickte. Das Gespräch war längst überfällig. Wortlos folgte er Taggert in die hinteren Arbeitsräume des Kontrollzentrums. Die NRO hatte dort in den letzten Stunden ganz unbürokratisch einige Büros in Beschlag genommen. Wenn man den Vorgang genauer beschreiben wollte, wäre ›heimlich unterwandert‹ wohl zutreffender gewesen. Und nicht nur das. Die Räume waren in ein absolutes High-Tech-Zentrum verwandelt worden. Mobile Computer-Racks hatten Schreibtische verdrängt (sie standen jetzt aufgestapelt auf dem Flur) und kompakte Kommunikationseinheiten paßten sich in aufgeklappten Koffern auf Rollen den jeweiligen Gebrauchssituatio-
nen in den beengten Räumen an. Vor den Türen verhinderten zusätzliche elektronische Spreizgitter, die mit hydraulischen Druckvorrichtungen in den Türrahmen installiert waren, jeden unbefugten Zugang (der sowieso unmöglich war, da jeweils zwei unauffällig gekleidete, aber sichtlich bewaffnete Herren davor auf und ab patrouillierten). Quantico macht einen Betriebsausflug, dachte Wakefield amüsiert, als er die Sicherheitsvorkehrungen sah. Für ihn war das ganze Theater reine Scharlatanerie, trotz der beklemmenden Ereignisse im Erdorbit. Die NRO mochte über einiges Wissen verfügen, von dem er nicht den Hauch einer Ahnung hatte, aber das rechtfertigte nicht dieses derart überhebliche und wichtigtuerische Auftreten. Seiner Meinung nach baute sich da eine eigene Macht im Staat auf, die in einer fiktiven Welt agierte und die nichts mit einem normalen Leben gemein hatte. Ein weiterer Mr. Unauffällig, diesmal mit breiten Schultern, trat aus dem Scherengitter und winkte ihn heran. »Bitte hier herein, das Telefon steht dort drinnen!« Wakefield hätte beinahe laut aufgelacht. Er hatte in den letzten Monaten einige Male mit dem Präsidenten gesprochen und immer über seinen Head Screen, der laut Aussage der Technical Resource, einer speziellen Sicherheitstruppe der Regierung, absolut abhörfrei war. Und nun dieses Affentheater! Nur mühsam unterdrückte er ein Überkreuzen seiner Handgelenke als Andeutung darauf, ob er angesichts dieser wichtigen und wertvollen Einrichtungen nicht besser Handschellen tragen sollte. Statt dessen legte er die Hände hinter seinen Rücken und folgte dem Mann bereitwillig in ein Büro, das eigentlich seiner Herr-
schaft unterstand. Er wußte, es ging um das Schicksal seiner Besatzung im Orbit, und das würde sich hier und jetzt entscheiden. Taggert blieb dicht hinter ihm. Aus irgendeinem Grund hatte er mehr Hektik in dem Raum erwartet, aber trotz der Vielzahl der Personen, die sich an den verschiedenen Geräten zu schaffen machten, war die Atmosphäre ruhig und gelassen. Das lag wohl hauptsächlich daran, daß alle Anwesenden Head Screens oder einfache Kopfhörer trugen und unsichtbare oder unhörbare Partner ›an der Strippe‹ hatten. Gesprochen wurde nichts. Dafür nickten ihm alle unisono zu, gerade so, als wenn sie ihm mit dieser stummen Geste Mut zusprechen wollten. Wakefield blieb in der Mitte des Raums stehen und drehte sich fragend zu Taggert um, der sich auch gleich eilfertig an ihm vorbeidrängte, um einen aufgeklappten grauen Koffer zurechtzurücken. Der im Deckel eingelassene Flachbettmonitor zeigte das Wappen des Weißen Hauses. Neben dem unscheinbaren Objektiv über dem Monitor leuchtete ein rotes Licht; das Zeichen dafür, daß die Kamera in diesem Moment das Bild aus diesem Raum nach Washington übertrug. Neben dem Objektiv entdeckte Wakefield das kaum wahrnehmbare Schimmern eines zweiten Objektivs, einer sensiblen Infrarotkamera, die in der Lage war, die Wärmeverteilung auf der menschlichen Haut zu erfassen und sie zu einem, selbst für einen Laien, leicht lesbaren Bild umzusetzen. Solche technischen Mätzchen wurden neuerdings gerne bei polizeilichen Verhören eingesetzt, um die Reaktion des Verdächtigen auf bestimmte Fragen zu beobachten. Die Kamera in dem Koffer mußte nicht aktiv sein, aber es war eine Dreistigkeit, daß sie sichtbar installiert war. Wake-
field beschloß, nicht darauf einzugehen, aber er behielt vorsichtshalber seine schwitzenden Hände auf dem Rücken. Taggert stellte sich vor den Bildschirm und sagte laut: »Taggert in Houston, wir sind bereit für das Gespräch. Teilnehmer: Präsident Jefferson Kurt Meyers und William Wakefield.« William Dwight Wakefield, fügte Wakefield berichtigend in Gedanken hinzu, unterließ es aber, Taggert laut zu korrigieren. Er wollte diese Situation so schnell wie möglich hinter sich bringen und zu einer Entscheidung kommen, um endlich vernünftig handeln zu können. Der Bildschirm flackerte kurz auf und zeigte die abgewandte Schulter des stehenden Präsidenten, der sich gerade mit einem Unbekannten außerhalb des Erfassungsbereiches der Kamera unterhielt. Schließlich machte irgend jemand Meyers darauf aufmerksam, daß die Leitung stand. Eine kurz auftauchende Hand machte eine einladende Bewegung in Richtung der Sitzgelegenheit vor der Kamera. Der Präsident nickte, knöpfte sein Jackett auf und erschien großformatig auf dem Monitor vor Wakefield. Er kniff konzentriert die Augen zusammen, als müsse er sich ins Gedächtnis rufen, wen er da auf dem Monitor erblickte. »Hi, Bill, schön Sie zu sehen! Wie geht es Ihrer Frau Judith und den Kindern?« O Gott, nicht diese Masche, wenigstens nicht jetzt! stöhnte Wakefield innerlich auf. Er hatte den Präsidenten genau zweimal persönlich getroffen. Das erste Mal war er ihm während der Vorwahlen vor drei Jahren bei einem großen Bankett hier in Houston kurz vorgestellt worden. Ungestörte Redezeit vielleicht zweieinhalb Minuten. Das zweite Treffen fand anläßlich der
umstrittenen Budgetzuteilung für die NASA letztes Jahr statt. Immerhin hatte er dabei zwanzig Minuten Zeit, wegen der drastischen Kürzungen seine Bedenken für die Zukunft der amerikanischen Raumfahrt zum Ausdruck zu bringen. Er konnte sich nicht erinnern, bei einer der beiden Begegnungen etwas über seine Frau erzählt zu haben, ganz zu schweigen über seine Kinder. Trotzdem brachte er ein Lächeln zustande, als er sachlich antwortete: »Danke für die Nachfrage, Mr. President, es geht ihnen gut!« Dabei fiel ihm ein, daß er seit dem Beginn der ungewöhnlichen Ereignisse tatsächlich nicht ein einziges Mal an seine Familie gedacht hatte. Bestimmt hatte seine Frau versucht, ihn telefonisch zu erreichen, war aber wegen des Trubels nicht bis zu ihm durchgedrungen. Oder nein, er konnte sich vorstellen, daß Judith es gar nicht erst probiert hatte. Wahrscheinlich hatte sie sich in ihrer abgeklärten Art gesagt, daß er sich im Augenblick mit anderen Dingen beschäftigten mußte. Ich sollte sie nachher mal kurz anrufen, nahm er sich vor. Gleich, wenn ich das hier hinter mich gebracht habe. Jefferson K. Meyers nickte zufrieden und blickte dann direkt in die Kamera. »Bill, ich brauche wohl nicht lange drum herumzureden, wir wissen beide worum es sich bei diesem Gespräch handelt. Und wir haben beide dasselbe Problem, nämlich wie gehen wir in dieser Sache vor. So, wie ich die Situation sehe, können wir zwischen drei Möglichkeiten wählen.« Meyers hob die Hand, hielt demonstrativ drei Finger vor die Optik und fing an, die Optionen abzuzählen. »Wir holen das Shuttle unverzüglich aus dem Orbit, wir lassen die Intrepid in der Nähe des UFOs und
beobachten das Objekt so lange, wie wir es verantworten können, oder wir werden aktiv und versuchen, mehr über die Technik des unbekannten Flugobjekts herauszubringen!« Wakefield atmete tief durch. Gerade von der letzten Möglichkeit hatte er erhofft, daß sie noch nicht einmal in Erwägung gezogen würde. Aber er erkannte sofort an der gekünstelten Formulierung, daß alles noch viel schlimmer kommen würde. Mehr noch: Es sah sogar so aus, als würde es keinen Spielraum für Diskussionen geben. Er sah Taggert von der Seite an, aber der reagierte nicht auf die simple Provokation und blickte stur geradeaus. Wakefield ließ ganz bewußt einige Sekunden verstreichen, ehe er sich wieder dem Monitor zuwandte. »Ich nehme an, Mr. President, daß Sie sich bereits für eine Möglichkeit entschieden haben!« Er ließ ihn ganz bewußt zappeln. Er wollte auf keinen Fall, daß es so aussah, als ob er eine Entscheidung herbeigeführt hätte. Meyers war bestimmt von seinen erfahrenen Mitarbeitern dahingehend beraten worden, daß der Chef der NASA einen gewissen Teil der Verantwortung übernehmen sollte, falls nicht alles nach Plan lief. Der Präsident merkte, daß er das Gespräch nicht so einfach in seine vorausgedachten Bahnen lenken konnte und verbarg seinen Ärger hinter einem freundlichen Lächeln. »Nun ja, Bill, was würden Sie denn unter den jetzigen Umständen vorschlagen?« Wakefield lächelte zurück. Jetzt hatte er es ihm zu einfach gemacht. »Vorschlagen? Ich weiß nicht, ob ich die Kompetenz habe, in solch einer außergewöhnlichen Situation, die für mich schon
nahe an einen politischen Konflikt heranreicht, vernünftige Vorschläge zu machen. Ich bin dafür verantwortlich, daß eine Mission, die nicht nur von unserer Nation, sondern auch noch von etlichen anderen Ländern finanziert wird, zu einem erfolgreichen Ende gebracht wird. Außerdem, und das möchte ich dreimal dick unterstreichen, liegt mir vor allem am Herzen, daß meine Leute wohlbehalten wieder zurückkommen. Und wenn nur irgend möglich, mit dem Gerät, mit dem sie gestartet sind.« Er machte eine kurze Pause, in der er sich wieder das unbewegliche Profil Taggerts ansah. Dann fügte er hinzu: »Wenn Sie also einen Vorschlag von mir hören wollen, dann muß ich Ihnen sagen, Mr. President, daß es aus meiner Verantwortlichkeit heraus keinen anderen Weg gibt, als die Intrepid sofort zurückzuholen. Alles andere wäre in meinen Augen ein zu hohes Risiko.« Meyers blickte ihn für eine kleine Weile abwesend an. Dann nickte er und atmete tief durch. »Die Loyalität zu Ihren Männern ehrt Sie, Bill. Wirklich, Sie haben meinen vollen Respekt, obwohl ich mir von Ihnen etwas mehr, sagen wir es einmal salopp, etwas mehr Abenteuerlust erwartet hatte. Ich weiß, das klingt sehr leichtfertig, aber ich glaube, wir verstehen uns.« Er sah zur Seite und runzelte die Stirn. »Bill, wir haben es uns in den letzten Stunden auch nicht leicht gemacht. Gerade das Wohlergehen unserer Leute, und natürlich auch das der ausländischen Crew, stand und steht bei unseren Überlegungen immer an erster Stelle. Auch die finanziellen und sachlichen Beteiligungen unserer Partner können nicht einfach mal eben unter den Tisch gewischt werden. Aus diesen Gründen habe ich gerade vor einer Stunde mit dem
Premierminister in Frankreich und dem Bundeskanzler in Deutschland Kontakt aufgenommen. Ich will Sie nicht mit Einzelheiten langweilen, aber wir sind nach intensiven Gesprächen dahingehend einig geworden, daß man versuchen sollte, mehr über das unbekannte Flugobjekt in Erfahrung zu bringen. Wer weiß, vielleicht bietet sich uns diese Gelegenheit so schnell nicht wieder.« »Und das heißt im Klartext?« fragte Wakefield eine Spur zu aggressiv. Meyers verzog leicht die Mundwinkel. »Wir haben eine Art Expedition beschlossen, bestehend aus zwei Besatzungsmitgliedern der Intrepid. Sie sollen sich mit aller gegebenen Vorsicht dem Objekt nähern und versuchen – wenn möglich – ins Innere zu gelangen.« Wakefield schnappte unwillkürlich nach Luft. »Das können Sie nicht verantworten. Die Leute sind Wissenschaftler und keine Marines …« »Mein Gott, Bill, jetzt beruhigen Sie sich doch!« winkte Meyers ungehalten ab. »Gerade weil sie Wissenschaftler sind, werden sie um einiges vorsichtiger agieren als jede Spezialeinheit.« »Sie reden an der Sache vorbei. Die Leute sind dort oben, weil sie einen Auftrag erfüllen, für den sie sich freiwillig zur Verfügung gestellt haben. Sie kannten die Risiken, bevor sie gestartet sind. Und die Risiken sind deshalb gering, weil wir alle hier im Zentrum darauf trainiert wurden, ohne Verluste zu agieren, ganz gleich, auf welchem Gebiet. Die Situation, jetzt, dort oben im Orbit, kann sich jede Sekunde ändern. Vielleicht fragen Sie die Crew erst einmal nach ihrer Meinung, was sie gerne tun würde, schließlich sind es keine Soldaten, die Sie nach
Ihrem Gutdünken so einfach herumkommandieren können.« Wakefield hatte jegliche vornehme Zurückhaltung dem Präsidenten gegenüber aufgegeben. Mit ein Grund dafür war das stoische Verhalten Taggerts neben ihm, der wie ein folgsamer Hund den Worten seines Herrn auf dem Monitor lauschte. Meyers hob beschwichtigend die Hand. »Richtig, ganz richtig. Auch diese Punkte haben wir in den Unterredungen bedacht. Auch in Abstimmung mit unseren Freunden in Europa. Übergeordnet sind wir uns alle einig darin, daß das unbekannte Flugobjekt unter Umständen eine Bedrohung darstellen könnte. Wir handeln also primär aus einem Sicherheitsbedürfnis heraus und dieses rechtfertigt die Expedition, von der ich gesprochen habe. Auf der anderen Seite kann die Nation der Vereinigten Staaten nicht von Angehörigen eines anderen Staates verlangen, daß sie sich auf Grund unseres Handlungsbedarfs in eine möglicherweise gefährliche Situation begeben. Deshalb sind wir zu folgendem Entschluß gekommen: Es sollen ausschließlich Amerikaner sein, die das Wagnis eingehen werden das Objekt zu untersuchen. Die beiden Piloten, also Commander DeHaney und Cooper, bleiben auf jeden Fall im Shuttle. Schweighart und Denny sind Europäer, Kohlschovsky ist erst seit einiger Zeit im Besitz der amerikanischen Staatsbürgerschaft …« »Sie wollen doch nicht etwa die Cochrans zum UFO schikken?« kam ihm Wakefield zuvor. »Ken ist fast sechzig und Hilary ist auch nicht viel jünger!« »Sie sind fit für einen Raumflug, Bill! Und das Wichtigste ist: Sie sind beide von der Persönlichkeitsstruktur her am besten für solch einen Einsatz geeignet, der Fingerspitzengefühl und zudem ein umfassendes Wissen verlangt. Im Grunde genom-
men genau die richtigen Leute zur rechten Zeit am richtigen Ort.« Das hat ihm irgend jemand eingeredet, ging es Wakefield durch den Kopf. Ganz abgesehen von der Auswahl der beiden ältesten Astronauten an Bord der Intrepid konnte er sich nicht vorstellen, wie in so kurzer Zeit ein Abkommen mit den Europäern zustande kommen konnte. Er selbst hatte an Verhandlungen teilgenommen, in denen aus nationalem Stolz stundenlang über metrische Maßeinheiten oder über ›nach Inch-Maß bedingte Steigungswinkel‹ bestimmter magnetischer Schrauben diskutiert wurde. »Nehmen wir einmal an, die Cochrans sind einverstanden«, sagte Wakefield, dem im gleichen Augenblick bewußt wurde, daß die Entscheidung längst gefallen war. Ganz abgesehen davon konnte er sich kaum vorstellen, daß das Ehepaar sich die Gelegenheit zur Erforschung dieses absoluten ›Neulandes‹ entgehen lassen würde. »Wie sollen sie vorgehen? Ich meine, welches Werkzeug sollen sie mitnehmen? Einen Dosenöffner?« Meyers quittierte seine ironische Anspielung mit einem süffisanten Gesichtsausdruck. »Auch darüber haben wir uns Gedanken gemacht, beziehungsweise das Team um Colonel Taggert hat eine Vorgehensweise erarbeitet, die mit Hilfe von früheren Videoaufzeichnungen von dem Flugobjekt und authentischen Augenzeugenberichten entstanden ist. Nach diesen Beobachtungen und aus einigen … äh … älteren Erfahrungen werden keine speziellen Geräte notwendig sein, um an, beziehungsweise vielleicht sogar in das UFO zu gelangen. An Bord des Shuttles sind laut Taggerts Aussagen ausreichend Ausrüstungsgegenstände vorhan-
den. Und bestimmt ist auch ein Dosenöffner darunter!« Der witzigen Bemerkung und dem letzten Teil von Meyers Ausführung schenkte Wakefield keine große Aufmerksamkeit. Colonel Taggert! Colonel! Er konnte es nicht fassen. Die NRO war also in militärischen Rängen organisiert. Und Taggert war Colonel. Das erklärte vieles und versprach gleichzeitig Ärger. Wakefield konnte sich jetzt schon das Gerangel um Kompetenz und Verantwortung ausmalen, das entstehen würde, sobald die ersten Entscheidungen anstanden. Er mußte auf jeden Fall versuchen zu verhindern, daß Taggert das Kommando im Kontrollzentrum übernahm. Nach einem erneuten Blick auf Taggert sah er auf seine Uhr. So ging das nicht weiter. Für die Besatzung des Shuttles mußte der Zustand des Abwartens unerträglich sein. Wie er DeHaney kannte, würde der ihm bald die Pistole auf die Brust setzen und eine Entscheidung verlangen – und das zu Recht. »Wer hält für diese Aktion seinen Kopf hin?« fragte er direkt. »Bill, Sie wissen genau, daß ich Ihnen nicht einfach jemanden vor die Nase setzen kann. Wenn Sie es präziser haben wollen: Verantwortlich sind letztendlich wir beide. Sie und ich.« »Das habe ich befürchtet. Wie groß sind die Chancen für meinen Vorschlag zur sofortigen Rückkehr der Intrepid?« Meyers schüttelte stumm den Kopf. »Keine Chance, es sei denn, das UFO löst sich in den nächsten Minuten in Luft auf.« Wakefield blickte stumm zur Seite. Das ganze Gespräch war eine Farce gewesen. Es war nicht um seine Meinung gegangen, sondern darum, wie sehr er dazu bereit war, eifrig mit dem Kopf zu nicken. Es blieb die Frage, ob er nicht dazu verpflichtet war, seine
Leute vor unvorhergesehenen Gefahren zu schützen, ganz gleich, was mit ihm passierte. Für einen kurzen Moment stellte er sich die Situation einer Art Rebellion im Zentrum vor, in der er der Besatzung die sofortige Landung befahl und der Präsident auf einer anderen Leitung von DeHaney wütend die Erforschung des Objektes forderte. Was würde passieren, wenn er dem Commander der Intrepid befehlen würde zu landen? Würde er vor Gericht gestellt? Wäre er der Feigling der Nation? Mit einem Ruck befreite er sich von den fiktiven Gedanken. »O.K. ich werde DeHaney Ihre Überlegungen darlegen«, sagte er steif. Meyers sah ihn scharf an. »Gut, tun Sie das«, antwortete er leicht verstimmt. »Aber vergessen Sie dabei nicht, die Dringlichkeit des Unternehmens zu betonen!« Dann fügte er knapp hinzu: »Wir bleiben in Verbindung.« Abrupt erschien auf dem Monitor das Wappen des Weißen Hauses. Wakefield war sich sicher, daß er sich in dieser Minute einen neuen Feind geschaffen hatte. Mit einem inneren Seufzer lehnte er sich zurück. Taggert erschien in seinem Blickfeld und legte einen Ordner mit einem kunstvollen blauen Stempel vor ihn hin, der diagonal über das Deckblatt verlief. ›NRO/SCI Blue Code.‹ SCI – Sensitive Compartmented Information. Wakefield fragte sich, wo diese Manie für geheimnisvolle Stempel herrührte. Sie mußte noch aus einer Zeit stammen, in der beflissene Beamte eifrig ihre unzähligen Akten sortierten und stolz darauf waren, wenigstens ein paar besondere Objekte in ihrer Samm-
lung zu wissen. »Einen Moment noch«, sagte er unwirsch und schob die Akte zur Seite. Taggert sollte spüren, daß es Wichtigeres gab als seine Geheimniskrämerei. Zwei kurze Fingertips an die Tasten an der rechten Seite seines Kopfhörers und er war mit Flight Control verbunden. Das kleine Mikrophon schwenkte automatisch vor seinen Mund. »Flight? Bill hier, gibt es etwas Neues von der Intrepid?« Richard Presley, der Flugleiter antwortete ohne Verzögerung. Wakefield wußte von der Konzentration, die von diesem Mann ausging, und er spürte die Anspannung, die ihn in dieser besonderen Situation gefangenhielt. »Nichts Neues, Bill. Die Intrepid liegt nach wie vor eine Meile hinter MARTHA. Abstand gleichbleibend. DeHaney läßt dir ausrichten, daß er langsam die Schnauze voll hat. Er will endlich wissen, ob er den Warp-Antrieb Richtung Heimat aktivieren oder die Klingonen mit seiner Laser-Konone vom Himmel pusten soll.« Wakefield grinste verhalten. »Sag ihm …« Taggert wedelte plötzlich hektisch mit der Hand vor ihm herum und deutete dabei auf die Akte. Wakefield legte seine Hand darauf und entschied sich für eine neutrale Nachricht. »Sag ihm, daß ich gerade mit dem Präsidenten gesprochen habe. Ich bin in zehn Minuten drüben bei euch.« »Roger, bis gleich.« Er unterbrach die Verbindung und wandte sich Taggert zu, der erneut auf die Akte deutete und mit ernstem Ton sagte: »Als erstes brauche ich von Ihnen eine Bestätigung, daß ab sofort alle Nachrichten über unseren eigenen Satelliten laufen. Nur so
haben wir die Gewährleistung für eine absolut abhörfreie Verbindung mit der Intrepid. Hier, gleich die erste Seite.« Er schob sich leicht vor ihn und wollte die Akte aufschlagen. Wakefield gab sie jedoch nicht frei und ließ seine Hand darauf ruhen. »Einen kleinen Moment noch, bitte!« Er strich unruhig mit der Hand auf dem Aktendeckel hin und her. »Was macht sie eigentlich so sicher, daß jemand in das UFO eindringen könnte?« Ungehalten ließ Taggert die Luft zwischen seinen Zähnen entweichen. »Hören Sie, Wakefield, das ist jetzt nicht der richtige Moment, um Sie mit Erkenntnissen vertraut zu machen, für die wir Jahre gebraucht haben …« »Doch, das ist genau der richtige Moment!« zischte Wakefield ihn an und hieb mit der Hand auf die Akte. »Ich will wissen, welchen Gefahren meine Leute ausgesetzt sind, falls Sie das überhaupt beurteilen können. Und ich will wissen, mit welchen Versprechungen Sie den Präsidenten und den ganzen Senat dazu gebracht haben, daß alle vorbehaltlos hinter Ihrem Verein stehen. Kein vernünftiger Mensch geht ein Jahr vor den Wahlen solche Risiken ein. Und ein Präsident Jefferson Kurt Meyers schon gar nicht.« Taggert atmete tief durch und antwortete nach einigen Sekunden mit mühsam kontrollierter Stimme: »Ich verstehe Ihre Erregung, aber wir haben nicht die Zeit …« »Sie verstehen eben nicht, Taggert! Ich will es Ihnen anders erklären. Keine Angst, ich brauche nicht lange dazu.« Er nahm die Akte in beide Hände und genoß den momentanen kleinen Triumph, den NRO-Mann schwitzen zu sehen. »Da draußen im
Kontrollraum sitzen qualifizierte Leute, die ich eigentlich festbinden müßte. Sie würden in der freien Wirtschaft das Dreifache verdienen. Sie sind allein deswegen noch da, weil ich mich nach jeder Mission in einen Prediger verwandle, der ihnen das Heil des Ruhms und den Dank des Vaterlandes verspricht. So allmählich fallen mir aber keine Argumente mehr ein. Ich brauche für diesen Job aber Top-Leute, die kontinuierlich da draußen in den Schützengräben vor den Monitoren sitzen, sonst könnten wir nicht reibungslos ein Shuttle nach dem anderen in den Orbit schicken. Was ich damit sagen will: Auch ich könnte in der Gesellschaftszivilisation das Dreifache verdienen und ich könnte sehr gut ohne den tollen NASA-Sticker am Ärmel und den ganzen Orden auskommen. Und … jetzt hören Sie mir gut zu! Es macht mir nichts aus, hier rauszugehen und DeHaney zu befehlen, sofort die Landung einzuleiten.« »Das würden Sie nicht wagen!« keuchte Taggert. »An Ihrer Stelle würde ich nicht darauf wetten!« Taggert sprang auf und lief ziellos im Raum umher. Dabei sah er jedem seiner Mitarbeiter, dem er auf seiner Wanderung begegnete, wortlos in die Augen. Niemand sprach ein Wort. »Ich habe Ihr Versprechen, daß Sie über das, was Sie erfahren, Ihr Stillschweigen bewahren?« fragte er laut von der gegenüberliegenden Seite des Büros. Wakefield zuckte die Achseln. »Meinetwegen.« »Und Sie unterschreiben die Papiere in den Akten?« Wakefield sah auf die Akte in seinen Händen, als wäre sie urplötzlich aus der Luft materialisiert. Was gab es denn so Wichtiges in den Akten, daß Taggert so ein Theater darum machte? »Das habe ich nicht gesagt.« Er schlug die erste Seite auf, wo
es hauptsächlich darum ging, eine absolut abhörsichere Möglichkeit zu schaffen. Die jetzigen Verbindungen waren zwar recht sicher, aber Wakefield mußte einräumen, daß er dafür keine hundertprozentige Garantie geben konnte. Er traute es der NRO vorbehaltlos zu, daß sie fortschrittlichere Methoden in der Kommunikationstechnik besaß und hätte keine Probleme damit, das Papier zu unterschreiben, zumal bei militärischen Missionen die Übertragung meist ebenfalls durch eine spezielle Einheit des Pentagons übernommen wurde. Als er weiterblätterte, verengten sich seine Augen, er stutzte, las eine Passage etwas genauer, blätterte weiter, seine Gesichtsfarbe wurde um Nuancen grauer. Es dauerte etwa fünf Minuten, bis er sich einen groben Überblick über die Akte verschafft hatte, und er war sich absolut nicht sicher, ob er das alles tatsächlich so verstehen sollte, wie er es gelesen hatte. Taggerts Gesicht erschien unangenehm nahe neben ihm. »Verstehen Sie jetzt, warum ich mir vor Nervosität fast in die Hosen mache«, sagte er leise und schüttelte unmerklich den Kopf. »Nein, nicht wegen des Inhalts der Akte, sondern weil ich Sie respektiere, Wakefield. Sie haben es soeben selbst gelesen. Draußen vor dem Gebäude warten in mehreren Transportern Spezialisten, die auf meinen Befehl hin Ihr Zentrum innerhalb weniger Minuten übernehmen können, ohne daß sie Ihre Controller lange fragen müssen, an welchem Problem sie gerade arbeiten. Sie sind absolut online, wie man heute sagt. Und nicht nur das. Meine Leute haben bereits in der – wie haben Sie es bezeichnet – Gesellschaftszivilisation das Dreifache verdient, wenn nicht sogar mehr. Sie befinden sich jetzt auf einem Niveau, auf dem sie ihr Geld nicht nur wegen ihres Könnens
bekommen, sondern auch dafür, daß sie sich meinen Anweisungen ohne großes Nachfragen fügen. Und das tun sie, nebenbei bemerkt, nicht wegen des Geldes. Sie haben mit der Zeit eine Art Verantwortung für unsere Nation entwickelt.« Er machte eine kleine Pause und atmete tief durch. Es war das erste Mal, daß Wakefield bei ihm so etwas wie eine menschliche Regung bemerkte. »Ich brauche Ihnen als Führungskraft nicht zu erklären, wie förderlich diese Kombination von Eigenschaften für schwierige Aufgaben und Ziele ist.« Es sind Verrückte! dachte Wakefield im Stillen. »Ich weiß, was Sie jetzt denken«, fuhr Taggert fort. »Es ist eine gefährliche Kombination und eine meiner Hauptaufgaben besteht darin, die Aktivitäten in die richtige Richtung zu lenken. Deswegen wäre es mir am liebsten, wenn dort oben im Orbit nicht Ihre Leute im Shuttle säßen, sondern welche von meinen Spezialisten, denen gegenüber ich kein schlechtes Gefühl haben müßte, wenn ich ihnen befehle, sich MARTHA näher anzusehen.« Wakefield hakte sofort nach. »Sie geben also zu, daß es sich dabei um ein gefährliches Unternehmen handelt?« Taggerts Gesicht wurde hart. »Ich weiß es nicht. Ich habe gerade versucht, Ihnen deutlich zu machen, warum ich mich in einer gewissen Anspannung befinde. Einer der Gründe dafür ist der, daß wir noch nie so nahe an MARTHA dran waren. Das weiß natürlich auch Präsident Meyers und deswegen ist auch er in einer prekären Lage. Niemand kann sagen, was passiert, wenn wir das Wagnis eingehen, in das Objekt einzudringen. Bisher sind das deutsche
Ehepaar Varell und eine Handvoll anderer Augenzeugen die einzigen Menschen, die sich in dem UFO aufgehalten haben und unbeschadet wieder herausgekommen sind.« Wakefield legte seine Stirn in Falten und sah ihn fragend an. Taggert hob die Hand und sagte schnell: »Bevor ich Ihnen mehr erzähle, schlage ich vor, Sie sprechen zuerst einmal mit DeHaney wegen der Expedition. Ich fürchte, die Zeit rennt uns davon.« Was eine Lösung aller Probleme wäre, dachte Wakefield. Ich sollte noch mehr auf Zeit spielen, vielleicht verschwindet das UFO inzwischen da hin, wo es auch immer hergekommen ist. »Dann müssen wir in den Kontrollraum«, sagte er. »Sie können auch von hier aus mit ihm reden.« Wakefield sah zu ihm auf. »Wenn wir das wirklich mit meinen Leuten durchziehen wollen, muß ich ihnen wenigstens teilweise erklären, was Sache ist. Andernfalls wäre es mir lieber, Sie holen sofort Ihre Truppe herein und machen das selbst. Ich kann Ihnen dann aber nicht garantieren, ob DeHaney auf das hört, was Sie ihm vorschlagen. Er kann manchmal sehr störrisch sein.« Taggert nickte wissend. Das genau war das Problem, das er auch vor einer Stunde versucht hatte Präsident Meyers deutlich zu machen. Meyers hatte nämlich gefordert, daß Taggert das Kontrollzentrum wegen der dringlichen Lage sofort mit seinen Spezialisten besetzen sollte. Er würde die Verantwortung dafür übernehmen. Taggert hatte ihm widersprochen, da er wußte, daß er es an den entscheidenden Stellen mit äußerst starken Charakteren zu tun haben würde und dadurch noch mehr Zeit verlieren würde. Gerade DeHaneys Persönlichkeitsprofil kannte
er in und auswendig. Er war zwar ein Draufgänger, aber er würde niemals voreilig handeln, wenn Gefahr für das Schiff oder seine Crew bestand. Selbst Meyers würde sich bei ihm nicht durchsetzen können, dessen war sich Taggert sicher. Wakefield stand langsam auf und deutete auf die Akte. »Das mit den Unterschriften ist wohl hinfällig. Nach all dem, was ich da drinnen gelesen habe, brauchen Sie meine Zustimmung wohl nicht. Es würde mich nicht wundern, wenn Sie nicht auch schon Verträge über das Bildmaterial mit einem Fernsehsender ausgehandelt hätten …« Er ließ den Satz unbeendet und sah Taggert stumm an. Der erwiderte den Blick emotionslos. »Wir haben uns über noch ganz andere Sachen Gedanken gemacht, glauben Sie mir. Nicht umsonst hat Präsident Meyers so großes Interesse an …« Er brach ab und sagte knapp: »Können wir jetzt gehen?« Er ging mit schnellem Schritt voraus. Wakefield paßte sich ihm in der Geschwindigkeit an, weil Taggert sich anscheinend entschlossen hatte, ihm einige Informationen über MARTHA mitzuteilen. »Wir sind seit Jahren hinter dem Objekt her. Es gibt noch einen weiteren Typ, aber viel kleiner in den Abmessungen. Wir glauben, daß die kleinere Ausgabe von MARTHA die Funktion der umfassenden Beobachtung hat, während MARTHA selbst sammelt und untersucht.« »Sammelt?« fragte Wakefield atemlos. »Was sammelt MARTHA denn?« »Alles. Wobei Technik anscheinend nicht sehr wichtig erscheint. MARTHA hat es hauptsächlich auf Menschen abgese-
hen. In den vergangenen drei Jahren können wir in etwa 50 Fällen nachweisen, daß MARTHA Menschen entführt hat. Spurlos. Einfach weg.« »Weg? Wohin?« Wakefield hatte nun Mühe, mit Taggert Schritt zu halten. »Endgültiges wissen wir noch nicht. Was wir wissen, ist, daß das UFO meistens zuerst in der Antarktis gesichtet oder neuerdings durch die Sendungen von Frau Varells Cibes geortet wird. Diese älteren Cibes besitzen eine viel größere Reichweite als die moderneren Screens. Unter günstigen Bedingungen und mit leistungsfähigen Geräten kann man die Aussendungen noch in 500 Kilometern Entfernung empfangen. Deswegen konnten wir zuletzt den Weg, den das Objekt auf der Erde zurückgelegt hat, ziemlich genau verfolgen. Zwischendurch verschwindet es einfach von der Bildfläche. Wir nehmen an, daß es sich dann irgendwo auf einem Meeresgrund versteckt hält. Nach einigen Wochen, in denen es sich sporadisch überall auf der Erde herumgetrieben hat, fliegt es in den Weltraum. Nicht weit, höchstens 400 bis 1 000 Kilometer in den Orbit. Dort hält es sich einige Stunden auf und verschwindet dann plötzlich. Wir wissen nicht wie und wohin. Nach etwa einem halben Jahr geht das Spiel von neuem los. Sichtung in der Antarktis und so weiter und so weiter …« Er wedelte bei diesen Worten abwertend mit der Hand, als spräche er von einem einfachen, natürlichen Vorgang. Wakefield ging langsamer und blieb hinter Taggert zurück. Kein Wunder, daß die Entwicklung des Aurora Space Jets so rasch vorangetrieben worden war und daß die fertiggestellten Maschinen überall auf der Erde stationiert waren. Sogar ein
Flugzeugträger mit einer überlangen Startbahn für die neuen High-Tech-Flugzeuge war letztes Jahr vom Stapel gelaufen. Er fragte sich nur, was das alles sollte, wenn man MARTHA am Ende doch nur hinterherhecheln konnte. »Wakefield, wo bleiben Sie denn?« Taggert stand am Eingang zum Kontrollraum und hielt ungeduldig die Tür auf. »Warum hat man das Ding denn nicht einfach abgeschossen?« fragte Wakefield, als er ihn erreichte. Taggert verdrehte leicht indigniert die Augen. »Wir wollen möglichst kein Wrack. Wir versuchen, das Objekt zu beobachten und die Technik zu studieren. MARTHA muß ein Produkt einer hochtechnisierten Welt sein, wo auch immer diese existiert. Dieses Gerät hat einen unschätzbaren Wert. Leider ist es nach meiner Meinung und den bisherigen Erfahrungen zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich, an das UFO heran- oder sogar hineinzukommen, aber wir wollen natürlich keine Gelegenheit ungenutzt lassen.« Als Wakefield an ihm vorbeiging, sagte er leise: »Und wir brauchen dringend einen Erfolg. Wollen Sie wissen, warum?« Wakefield sah in den Raum hinein, wo alle Anwesenden verstummten, als sie die beiden bemerkten. Visiere von Head Screens gingen hoch, Screen Specters wurden auf die Stirn geschoben und in den Schützengräben drehten sich die Controller zu ihnen um. Er wandte sich um und schüttelte stumm den Kopf. Taggert war kaum zu verstehen, als er leise sagte: »Weil Präsident Meyers vor den Wahlen einen Erfolg braucht. Und ich habe Angst davor, daß er ungeduldig wird und beim nächsten Mal den Abschuß von MARTHA befiehlt!«
Er wollte mit ernster Miene an Wakefield vorbeigehen, als dieser ihn schroff am Arm festhielt. »Soll ich Ihnen einmal sagen, wovor ich Angst habe, Sie eiskalter Hund!« schrie er ihn in einer Lautstärke an, daß jeder im Raum es hören konnte. »Dieses verdammte UFO hält sich nicht rein zufällig in der Nähe des Shuttles auf. Ganz im Gegenteil: Es hat die Intrepid ganz gezielt angeflogen. Und wenn nur halbwegs intelligente Kreaturen da drinnen sitzen oder es von solchen gelenkt wird, dann haben die irgendeine Schweinerei vor, denn Fotos von einem Space Shuttle werden sie ja wohl in der Vergangenheit schon zur Genüge gemacht haben. Ich warne Sie, Taggert, wenn meinen Leuten etwas zustößt, werden Sie keine ruhige Minute mehr haben, das verspreche ich Ihnen!« Er ließ Taggert mit einem abfälligen Blick stehen und ging direkt auf den Flight Controller zu. »Rich, sag DeHaney, daß ich persönlich mit ihm sprechen will … mit der ganzen Besatzung. Ich will, daß sie alle hören, was ich zu sagen habe.« Er drehte sich zu Taggert um. »Und Mr. Taggert hier will euch erklären, was er vorhat!«
8. Kapitel Hilary Cochran hielt sich mit der rechten Hand an der Lehne von Coopers Sitz fest und stabilisierte ihre Lage in der Schwerelosigkeit, indem sie ein Bein leicht gegen die Seitenlehne des Pilotensitzes drückte. Mit einem zweifelnden Blick auf die restliche Besatzung der Intrepid fuhr sie sich grübelnd mit dem Daumennagel der linken Hand über den Nasenrücken. Jeglicher Frohsinn und Optimismus, die sie selbst in prekären Situationen auszeichneten, schienen aus ihr entwichen zu sein. Auch von den Grübchen dicht neben den Mundwinkeln war nichts mehr zu sehen. Die Stimmung an Bord der Intrepid war zehn Minuten nach Wakefields persönlicher Ansprache alles andere als euphorisch. »Äh … Jim, wir hätten da eine Bitte. Ich weiß, es klingt etwas … ähm … abenteuerlich, aber ich habe gerade mit Präsident Meyers gesprochen. Er und auch die Regierung sind der Ansicht, daß wir die einmalige Chance nutzen und MARTHA genauer erkunden sollten. Damit meinen wir, es wäre nicht schlecht, wenn zwei von euch einen kleinen Ausflug machen und sich das Objekt aus der Nähe anschauen würden. Ganz vorsichtig natürlich, wir wollen MARTHA nicht verjagen.« Gekünsteltes Lachen. Eine kleine Pause. Beiderseitiges Schweigen in der Leitung. »Und was ist deine Ansicht, Bill?« fragte DeHaney schließ-
lich. Schweigen. Und dann: »Ich war dagegen. Nachdem ich mir einige Argumente von Präsident Meyers und Taggert angehört habe, bin ich jetzt aber der Meinung, daß wir es versuchen sollten.« Natürlich Taggert. Und Meyers. DeHaney versuchte sich vor Augen zu führen, welche Kämpfe Wakefield geführt hatte, bis er klein beigeben mußte. Dabei hatte er wahrscheinlich nie auch nur den Hauch einer Chance gehabt. Es war von Anfang an eine beschlossene Sache gewesen. Er entschied, gegen die bereits gefallene Entscheidung nicht weiter anzugehen. »Hat Taggert … habt ihr darüber geredet, wer von uns das machen soll?« »Hilary und Ken. Sie haben unserer Meinung nach die größte Erfahrung.« DeHaney hätte beinahe laut losgelacht. Die größte Erfahrung worin? Im Erforschen von UFOs? »Kommt nicht in Frage …«, entfuhr es ihm impulsiv. Dann überlegte er und sah hinter sich in die Runde der Besatzung, die der Unterredung aufmerksam folgte. »Können wir das unter uns hier oben kurz besprechen oder …« Er ließ die Frage unbeendet. Fast wäre ihm ein ›oder hat dir Taggert da auch keine Wahl gelassen‹ herausgerutscht. »Natürlich. Aber bitte nicht zu lange, Jim, wir stehen unter einem gewissen Zeitdruck. Ich höre gleich wieder von dir, ja?« »Roger.« Er unterbrach die Verbindung. Ihm machte in erster Linie Wakefields Entscheidung zu
schaffen. Sie entsprach in keiner Weise dem Charakter des NASA-Direktors, der normalerweise keine Gelegenheit ausließ, die Sicherheit einer Mission an oberste Stelle zu setzen. Es mußte mit Taggert und seiner Deckung durch die Regierung zusammenhängen, daß Wakefield die Besatzung so unvermittelt diesem risikoreichen Beschluß gegenüberstellte. Natürlich konnte man sich die Chance nicht entgehen lassen, solch ein exotisches Objekt zu erforschen, aber der vernünftige Weg wäre gewesen, zuerst die Meinung des Commanders einzuholen, um eine vielleicht mögliche Bereitschaft der Besatzung für dieses wahnwitzige Unternehmen auszuloten. Auf der anderen Seite war die Situation absolut unvorstellbar. Keiner von ihnen hätte sich je träumen lassen, jemals mit einem realen UFO konfrontiert zu sein. In der vergangenen Stunde hatte DeHaney sich mehrmals versucht vorzustellen, welche Hektik dort unten auf der Erde in den verschiedenen Regierungen und mittlerweile bestimmt auch in den Medien ausgebrochen war. Es mußte ein Schock für alle gewesen sein. Rationale Entscheidungen konnten nicht möglich sein, weil sie gleichzeitig ein Hohn für jegliche Realität waren. Blieb noch die in DeHaneys Augen unmögliche Auswahl der beiden Astronauten, die sich MARTHA ›näher ansehen‹ sollten. Hilary und Kenneth Cochran. Er wandte sich steif um und musterte die Runde, die ihn schweigend anblickte. Ihm wurde schlagartig klar, daß es nur die beiden hatte treffen können. Natürlich sahen Taggert und vor allem President Meyers das Unternehmen aus streng amerikanischer Sicht. Damit kamen die Europäer, auch Kohlschovsky, für den Job nicht in Frage. Ihn selbst würde Wakefield nicht gehen lassen und Cooper war
oder würde bald ein fähiger und gewissenhafter Pilot eines Space Shuttles sein, aber was ihm fehlte, war die Intuition für ein Unternehmen dieser Art. Mit innerlicher Genugtuung stellte sich DeHaney vor, daß sich Meyers wegen dieser unglücklichen Konstellation der Besatzung wahrscheinlich am liebsten in den Hintern beißen würde. Wäre dies eine rein amerikanische Militärmission gewesen, hätte er nur mit den Fingern geschnippt und die Besatzung wäre schon längst ohne Wenn und Aber an MARTHA dran. Also Hilary und Ken. Und die Zeit drängte. »O.K. ihr habt gehört, was unser Chef gesagt hat. Eigentlich kommt es jetzt nur darauf an, was Hilary und Ken dazu sagen. Wärt ihr zu einem kleinen Ausflug bereit?« Er sah direkt in die Augen von Kenneth Cochran, der sich unmittelbar hinter dem Pilotensitz aufhielt und wußte sofort, daß es unnötig war, ihm solch eine Frage zu stellen. Für Cochran gab es nur eine Institution: Gott allein. Und da der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika durch Gottes Gnade sein Amt ausübte, sah er in ihm einen verlängerten Arm des Allmächtigen. Damit war alles erklärt. Unterstützt durch seinen strengen und kompromißlosen Glauben gab es folgerichtig nur eine Antwort. »Ich bin bereit«, sagte Cochran lapidar. Er besaß zusätzlich noch die Charaktereigenschaft, sich sofort auf eine neue Situation einstellen zu können. Ihm wäre nicht im Traum eingefallen, ein Wort darüber zu verlieren, daß er sich nun seit über vier
Monaten im All befand und mehr als jeder andere das Recht hatte, sich zurückzulehnen und sich auf den Heimflug zu freuen. Im Prinzip war seine Frau Hilary aus dem gleichen Holz geschnitzt. Ihr Problem war, daß ihre aufrichtige und bisweilen überschäumende Lebensfreude dem reinen Glauben manchmal ein wenig im Weg stand. Außerdem war ihr die Realität nicht fremd. Sie konnte sich sehr gut vorstellen, welche gute Ausgangsposition Meyers bei den nächsten Wahlen haben würde, wenn die Erforschung eines UFOs ein nur halbwegs passables Ergebnis erbrächte. Allein schon die Aufnahmen von zwei vor dem UFO schwebenden amerikanischen Astronauten wären eine Sensation, die wahrscheinlich noch höher einzuschätzen war als die Mondlandung vor rund 50 Jahren. Und sie wußte um den Glauben ihres Mannes an die amerikanische Nation. Nicht selten hatte sie mit ihrem fraulichen Einfluß seinen Eifer in etwas vernünftigere Bahnen lenken können, ohne daß sein religiöses Ego allzu großen Schaden erlitt. Nur lagen dieses Mal die Gegebenheiten weitaus ungünstiger als in früheren Situationen. Sie würden beide außerhalb des Shuttles auf sich alleine gestellt sein, eingeengt in ihrer Entscheidungsfreiheit, die nicht nur durch die sperrigen Raumanzüge bedingt war. Jeder Schritt, den sie in Richtung absolut Neuem und Unbekanntem wagten, war ein Risiko mit fraglichen Chancen. Sie fühlte Wut in sich aufsteigen. Eine ohnmächtige Wut, die sich aus einer Hilflosigkeit gegen diese unglaubliche und unwirkliche Situation richtete. Gleichzeitig fühlte sie, daß ihre Bereitschaft für die Aufgabe wuchs. Es war im Grunde genommen der gleiche Vorgang wie unzählige Male zuvor in ihrem
Leben, und sie wußte, wenn sie jemals den bequemen Weg wählen würde, wäre es an der Zeit, sich einen anderen Beruf zu suchen. »Wir machen es«, schloß sie sich mit fester Stimme ihrem Mann an. DeHaney sah sie ernst an. Ihm waren ihr abwesender Blick und die langen Querfalten auf ihrer Stirn nicht entgangen. »Hil, hier an Bord der Intrepid bin ich der Commander. Wenn einer meiner Leute der Meinung ist, eine Sache ist nicht machbar oder zu gefährlich, dann ist sie auch für mich gestorben. Außerdem habe ich kein Problem damit, so eine Entscheidung vor Houston zu vertreten …« »Wir machen das«, wiederholte sie fest und hatte damit ihre Trittsicherheit wiedergefunden. »Wir gehen da raus und machen das!« »O.K.« Mit einem letzten langen Blick in die Runde vergewisserte er sich der Zustimmung der restlichen Mannschaft. Die Europäer Schweighart und Denny hingen schweigsam an der Rückwand des Decks. Sie hatten beide nicht den Eindruck, als wäre ihre Meinung überhaupt gefragt, geschweige denn daß im Falle einer Kritik von ihrer Seite irgendeine Reaktion die Folge gewesen wäre. Nach einem bekräftigenden Nicken aktivierte DeHaney die Funkverbindung. »Control, hier ist die Intrepid. Hilary und Kenneth Cochran sind bereit, den Auftrag zu übernehmen. Wie sollen sie vorgehen?«
9. Kapitel Hilary Cochran glaubte einen Moment lang, der Unendlichkeit nahe zu sein. Das Gefühl der Orientierung war vollkommen verflogen. Reine Panik drohte sie zu überwältigen. Sie schloß die Augen und redete sich ein, alles wäre in Ordnung. Mit großer Willensanstrengung zwang sie ihren Pulsschlag zu einer einigermaßen normalen Frequenz, die die Controller in Houston nicht in allzu große Besorgnis versetzte. Lachhaft. Was mach ich mir Sorgen über die Gedanken von Leuten, die keine Vorstellung davon haben, was es heißt, sich hier, 400 Kilometer über der Erde, einem Objekt zu nähern, das es eigentlich gar nicht geben sollte. Mit einem Blinzeln öffnete sie wieder die Augen. Vor ihr hing eine schwarze Fläche, die vor einem Universum mit abertausenden kleinen weißen Punkten stand. Wären da nicht die feinen blauen Reflexe auf dem matten Material gewesen, oder aus was auch immer MARTHA gebaut war, die von der seitlich von ihr stehenden blauen Erdkugel stammten, so könnte sie meinen, einfach ins Weltall hinauszutreiben. Eine weiteren innerlichen Halt gab ihr der von der Sonne weiß reflektierende Raumanzug ihres Mannes, der keine fünf Meter links von ihr scheinbar unbeweglich vor dem Sternenhimmel hing.
Sie schwebten beide vorsichtig auf die vor ihnen aufragende Wand zu, die eigentlich die Unterseite des UFOs repräsentierte. Ihre Annäherungsgeschwindigkeit betrug auf den letzten Metern nur wenige Zentimeter pro Sekunde. Während ihrer langen Zeit im Weltraum hatten beide den sensiblen Umgang mit den Steuerdüsen ihrer Anzüge bis zur Perfektion beherrschen gelernt, weswegen es für sie keine Schwierigkeit gewesen war, sich von der Intrepid, die keine 100 Meter hinter ihnen wartete, mit äußerster Zurückhaltung an das UFO heranzupirschen. Trotz aller Vorsicht lagen aber die beiden rechten Hände der Cochrans jeweils auf der Bedienung der Düsen, um im Notfall so schnell wie nur möglich den Rückzug antreten zu können. Äußerlich gaben sich beide in ihren knappen Kommentaren kühl und überlegt, aber Hilary Cochran hätte einiges dafür gegeben, wenn sie sich wenigstens ab und zu in ihrem steifen Anzug ohne große Schwierigkeiten zu dem sicheren Anblick des Shuttles hin hätte umdrehen können. Sie mußte sich eingestehen, daß ihre Nerven kurz vor dem Kontakt mit dem UFO schlicht und einfach blank lagen. Zudem trugen die Bemerkungen von Taggert, den man ihnen als CapCom zugeteilt hatte, nicht unbedingt als Beruhigungsmittel bei. ›Direkter Berater‹ hatte man das in Houston bezeichnet. »Sehr gut, Sie machen das ausgezeichnet, beide, meine ich! Können Sie schon Einzelheiten erkennen? Sprechen Sie einfach mit mir! Am besten wäre es, wenn Sie laufend Ihre Eindrücke durchgeben, ich filtere mir dann die wichtigen Details heraus. Scheuen Sie sich nicht, munter darauf los zu reden …« »Hören Sie mir einmal gut zu, Taggert!« vernahm Hilary die Stimme ihres Mannes in ihrem Helm. »Ich habe meinen Kopf
zum Platzen voll mit Gedanken, was da direkt vor mir auf mich warten könnte, und keine Lust dazu, wie ein Bekloppter vor mich hin zu plappern. Sie sehen doch alles vor sich in Ihrem Screen, was unsere Helmkameras aufnehmen. Tun Sie mir also den Gefallen, lehnen sie sich zurück und schauen sie sich die Show in aller Ruhe an. Wenn wir irgend etwas sehen, das nicht schwarz ist und über das wir munter reden können, geben wir Ihnen rechtzeitig Bescheid!« »Ähm … ja. Verstanden … ich meine Roger, Intrepid.« Das folgende laute Gelächter, das in Hilarys Helm erklang, konnte Taggert nicht hören, aber sie war sich sicher, daß im Kontrollzentrum nicht wenige damit zu kämpfen hatten, ihre vor Schadenfreude grinsenden Gesichter zu verbergen. Der kleine Zwischenfall brachte sie wieder dazu, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Mit Besorgnis sah sie, wie die beiden gerichteten Lichtkegel der Helmscheinwerfer ihres Mannes auf der Oberfläche des UFOs immer größer wurden. »Vorsichtig, Ken, du mußt gleich dran sein!« »Keine Angst, Liebes. Ich denke, ich habe noch einen halben Meter«, antwortete er ruhig. Sie hatten beide Erfahrung darin, Entfernungen zu Objekten an dem Durchmesser der Lichter von der reflektierten Fläche abzuschätzen. Kleine Wölkchen aus den Steuerdüsen zeigten ihr an, daß er sich zum relativen Stillstand gegenüber der Unterseite des UFOs gebracht hatte. So wie er da völlig bewegungslos im fahlen reflektierten Licht seiner Helmscheinwerfer vor der dunklen Wand hing, erinnerte er sie an einen Spielzeugroboter, der auf ein Hindernis getroffen war und nicht mehr weiterkam. Gleichzeitig erkannte sie nun unmittelbar vor sich die ersten
schwachen Aufhellungen. Behutsam betätigte sie den winzigen Joystick der Düsen und setzte damit ihre ohnehin schon geringe Geschwindigkeit weiter herab. Die zwei kreisrunden Lichtkegel wurden in den nächsten Sekunden nur unwesentlich heller, aber trotzdem meinte sie, eine körnige Oberflächenstruktur zu erkennen. »Interessant«, hörte sie ihren Mann neben sich sagen, als sie ebenfalls zum Stillstand gekommen war. Er hatte einen Scheinwerfer von seinem Helm aus der Befestigung herausgenommen und hielt ihn fast parallel zur Fläche nach oben. »Sieht im Streiflicht aus wie die Plakoidschuppen eines Selachiis.« »Cochran, bitte wiederholen Sie den letzten Satz!« quäkte Taggerts Stimme aufgeregt in den Helmlautsprechern. »Er meint damit die rauhe Außenhaut eines Haifisches«, klärte Hilary ihn auf. Als sie beobachtete, wie Kenneth langsam den Arm hob, um die Wand zu berühren, warnte sie ihn hastig: »Vorsichtig, Ken, nicht anfassen, du weißt nicht, wie scharf die Spitzen sind!« Auch von Houston kam ein erschrockener Laut, den sie aber nicht beachtete. »Zu spät«, sagte er in einem eigensinnigen Tonfall. »Soweit ich es durch den Handschuh spüren kann, ist es tatsächlich eine rauhe Oberfläche, die … ach, Mist, verdammter!« »Was ist passiert? Ist dein Handschuh beschädigt?« fragte sie ängstlich. »Nein, aber ich glaube, ich klebe mit einem Finger fest!« meinte er verblüfft. »Du bist doch ein altes, starrköpfiges Kamel! Rühr dich nicht von der Stelle, ich komm rüber zu dir.«
»Aber ganz vorsichtig, Hil, bleib von der Wand weg!« Unter einigen kräftigen Flüchen über seine Unvernunft und die hektischen Kommentare Taggerts ignorierend, dirigierte sie sich sachte über ihn. »Warte, warte, langsam«, sagte er beruhigend. »Es sieht so aus, als kriegte ich den Finger wieder frei, wenn ich ihn ganz vorsichtig ablöse. Es kann nur sein, daß ich mich dabei etwas mit meinem ganzen Körper drehe. Am besten ist es, du hältst mich an den Beinen fest und paßt auf, daß ich nicht auf das UFO zutreibe.« »Ich habe verstanden. Meinst du, du kommst los?« In ihrer schlimmsten Vorstellung sah sie sich beide wie Fliegen an der Außenwand kleben. »Jaja, es pappt mehr wie ein löslicher Kleber«, antwortete er sachlich. Von Houston kam nur bestürztes Schweigen. Konzentriert positionierte sie sich an seinen Beinen und legte lose ihre Hände an seine Knie. »O.K. ich bin bereit. Wenn du siehst, daß du frei kommst, fahre ich uns vorsichtig nach hinten.« »Sehr gut. Ich fange jetzt an, meinen Finger zu drehen.« Eine kleine Weile hörte sie nichts mehr von ihm. Währenddessen behielt sie die matte Fläche im Auge, um sofort reagieren zu können, falls sie sich ihr näherten. »Geht, funktioniert, geht immer noch … bin gleich los … jetzt!« Bei ›jetzt‹ umfaßte sie fest seine Beine und gab vorsichtshalber einen kleinen Schub auf die Steuerdüsen, der sie beide vom UFO wegbeförderte.
Nach einem beinahe unhörbaren leisen und befreienden Aufschrei, der die angespannten Teilnehmer an den Screens und Monitoren in Houston leicht zusammenzucken ließ, atmete sie tief und heftig durch. »Kenneth Abraham Cochran«, japste sie. »Mußt du denn überall mit deinen Pfoten hinlangen …?« »Ganz ordnungsgemäß, so wie Clarke und Kubrik das in ›2001‹ beschrieben haben«, verteidigte er sich erleichtert. »In dem Film haben die Affen und sogar die Astronauten auf dem Mond den Monolithen angefaßt, obwohl sie nicht wußten, ob es gefährlich sein könnte. Es wäre allerdings für die Handlung des Films lächerlich gewesen, wenn sie daran kleben geblieben wären. Man sieht also wieder einmal, daß die Realität um einiges humorvoller ist als die Fiktion. Aber mal im Ernst: Es ist besser, wir haben diese Erfahrung auf diese Weise gemacht, als wenn ich mit dem ganzen Anzug da dran gehangen wäre.« Sie stoppten ihre leichte Drift gleichzeitig und richteten sich wieder zum UFO aus. »Houston, hier Cochran, habt ihr das gewußt? Ich meine damit, daß MARTHA klebt?« »Negativ«, antwortete Taggert. »Wir sind nie so nahe herangekommen. Haben Sie eine Erklärung dafür? Glauben Sie, daß das ganze Schiff … äh … klebt?« Cochran überlegte und versuchte, die ganze Unterseite zu überblicken. »Keine Ahnung«, meinte er zögerlich. »Ich könnte es mir jedoch vorstellen. Vielleicht ist das eine Art physikalische Molekülbindung, um die Reibung in den verschiedenen Medien
herabzusetzen.« »Können Sie das bitte näher erläutern, Cochran?« »Natürlich, gerne. Die Oberfläche des Objekts ist mikroskopisch fein aufgerauht. Das allein würde schon genügen, um zum Beispiel Luftmoleküle darin zu stauen oder temporär festzuhalten. Damit bildet sich ein Luftpolster um das ganze Schiff, der die Reibung bei einem Flug durch die Atmosphäre verringert. Mit einem Superkleber erhöht sich logischerweise die Konsistenz des Polsters und die Reibung wird noch weiter herabgesetzt. Das gleiche Prinzip funktioniert auch im Wasser, deswegen rauhen Regattasegler die Rümpfe ihrer Boote leicht mit feinkörnigem Sandpapier auf. Allerdings kenne ich keine Masse, die es fertigbringt, an den winzigen Spitzen der Poren haften zu bleiben und auch noch einen einseitigen Klebeeffekt zu bewirken. An meinem Handschuh ist, soweit ich es beurteilen kann, jedenfalls nichts Klebriges zurückgeblieben.« Taggert in Houston versuchte diese Erklärung zu verarbeiten. Er konnte sich nicht vorstellen, daß die Technik eines UFOs mit den biederen Schlaumeiertricks eines Regattaseglers zusammenhing. »Houston, habt ihr Vorschläge für das weitere Vorgehen? Sollen wir nach der Luke suchen, die in der Akte von MARTHA beschrieben wird?« Taggert schreckte aus seinen Grübeleien hoch. Er war sich nicht sicher, ob ihn Cochran mit seiner angewandten Haushaltswissenschaft vielleicht veralbert hatte. Außerdem störte ihn schlicht und einfach der Gedanke, daß ein UFO eine klebrige Oberfläche besaß. »Positiv, Cochran. Haben Sie ein stockähnliches Gebilde aus
der Fähre mitgenommen, wie ich es vorgeschlagen hatte?« »Haben wir. Ein Flanschrohr, 20 Millimeter mal 125 Millimeter vom Ausleger, matt und reflexfrei geschwärzt«, antwortete Cochran trocken. Für Taggert war nun offensichtlich, daß ihn der Astronaut nicht ganz ernst nahm, aber er war diese Art von Ablehnung ihm gegenüber gewohnt und ging nicht weiter auf die ironisch gemeinte Information ein. »Sehr gut. In Richtung Bug, das müßte etwa 40 Fuß über ihnen sein, ist ein Rechteck in der Größe von acht mal sechs Fuß im Boden eingelassen. Es ist zwar viel kleiner als die sogenannte Ladeluke, die sich achtern befindet, aber ich fürchte, wir haben nicht so viel Zeit, um uns mit größeren Sachen zu befassen.« »Sie haben uns bisher noch nicht verraten, wohin das UFO verschwindet, nachdem es im Orbit angelangt ist, Taggert«, meinte Cochran beiläufig, als er sich zusammen mit seiner Frau an der Unterseite vorsichtig nach oben bewegte. »Wir wissen es nicht«, gab Taggert widerwillig zu. »Aber ich schwöre Ihnen, daß …« »Versündigen Sie sich nicht, mein Sohn«, tönte es mahnend aus den Lautsprechern seines Screens. »Für mich zählt nur Gottes Wille und die Realität. Und meine Frau und ich sind freiwillig hier. Falls etwas Außergewöhnliches geschehen sollte, tragen Sie keine Schuld. Es reicht völlig aus, wenn Sie mir Ihr Unwissen eingestehen.« Cochran konnte förmlich das empörte Luftanhalten seines Gesprächspartners spüren und lächelte boshaft in sich hinein. Gleichzeitig vernahm er ein warnendes Zischen von seiner Frau, mit dem sie ihm signalisierte, daß er wieder einmal nahe
daran war, sich einen weiteren Feind zu schaffen. »Hier ist etwas zu sehen«, lenkte sie ab. »Es hebt sich schwach von der Oberfläche ab. Jetzt wird es deutlicher. Ich verstehe nicht, warum wir es nicht schon früher bemerkt haben. Ah ja … deswegen.« Es folgte ein kurzes Schweigen. Im Kontrollraum in Houston starrten alle gespannt auf das Rechteck. »Es fängt an zu leuchten«, kommentierte Cochran. »Die Hausherrn haben uns freundlicherweise das Licht an der Eingangstür angemacht.« Das Bild, das Kohlschovsky vom offenen Frachtraum aus mit seiner einfachen digitalen Handkamera aufnahm und nach Houston sendete, sollte in die Reihe der historischen Aufnahmen der Zeitgeschichte eingehen. Angesichts der Tatsache, daß es von dem Moment an, in dem in der Luke ein Licht aufleuchtete und das Astronautenehepaar wie über einem magentafarbenen Rechteck schwebte, eine lückenlose Dokumentation von verschiedenen Videoaufnahmen gab, war es erstaunlich, daß gerade diese etwas unscharfe Aufnahme die meist veröffentlichte in den Medien war. Danach wurde sogar nach einer Umfrage, die von einer der bekanntesten Zeitungen der Welt, der Herald Tribune, in Auftrag gegeben wurde, das Lächeln von Leonardo da Vincis Mona Lisa als bekanntestes Abbild der Geschichte nur noch als Nummer zwei angegeben. Vielleicht lag es auch daran, daß die beiden Astronautenhelme durch Kohlschovskys unsichere Hand einen unscheinbaren Wischer erfuhren und dadurch zwei Heiligenscheinen nicht unähnlich waren. Die
Cochrans symbolisierten somit eine Art sakrale Inbesitznahme des fremdartigen Flugkörpers, und selbst den größten Kritikern an dieser Handlungsweise ging dieses Bild nicht mehr aus dem Kopf. »Houston, aus dem Innern des Schiffes schimmert ein magentafarbenes Licht durch die Luke«, beschrieb Kenneth Cochran den Vorgang. »Roger. Uns ist durch Augenzeugenberichte bekannt, daß der Eingang beleuchtet wird, wenn man sich ihm nähert«, bestätigte Taggert und erklärte weiter: »Der Farbton stammt von der Gelatineschicht, die den Innenraum abschließt und gleichzeitig wie eine Schleuse arbeitet.« »Woher wissen Ihre Augenzeugen das? Waren sie etwa schon einmal im UFO gewesen?« »Positiv. Wir haben insgesamt fünf Personen ausfindig gemacht und natürlich auch mit ihnen gesprochen. Alle können sich aber lediglich eines schmalen Schachts oder eines engen Gangs entsinnen. Von dem, was sich dahinter, oder genauer, darüber befindet, hatten sie keine Erinnerung mehr.« In Houston konnte man verfolgen, wie Kenneth Cochran behutsam etwas näher herandriftete und dabei einen rechten Winkel zum Standort seiner Frau einnahm. Von der Intrepid aus gesehen, hatte es den Anschein, als würden beide über den Rand einer modernen mystischen Höhle blicken. Es war der Moment, in dem Kohlschovsky sein berühmtes Foto schoß. »Na schön«, meinte Cochran und versuchte, in der hellblauen Fläche etwas zu erkennen. »Wieso Gelatineschicht? Was heißt das?«
»Das werden Sie gleich sehen. Nehmen Sie bitte das … äh … Flanschrohr und stoßen Sie es vorsichtig in die Schicht hinein!« Langsam und sorgfältig darauf bedacht, der klebrigen Außenhaut nicht zu nahe zu kommen, nestelte Cochran an den Klettverschlüssen am Oberschenkel seines Raumanzuges, an denen er das Rohr befestigt hatte. »Wie groß ist der Widerstand, wenn ich die Oberfläche berühre?« »Gering. Sie werden sehen, daß Sie die Schicht problemlos durchdringen werden. Gleichzeitig tritt ein wenig Haftung auf.« Der Puls von Hilary Cochran erhöhte sich merklich, als sie beobachtete, wie das Rohr in die rötliche Fläche eindrang und auch noch dahinter sichtbar war. Sie war in diesem Augenblick gefesselt von dem Gedanken, dieses fremdartige Schiff zu erforschen. Ihre anfänglichen Bedenken waren zwar nicht verflogen, aber durch einen aufkommenden euphorischen Entdeckergeist etwas in den Hintergrund getreten. Sie ahnte, was als nächstes auf sie zukommen würde. »Taggert, erzählen Sie uns doch einmal, was dieses nette Experiment bewirken soll«, forderte sie ihn auf. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie sich damit zufriedengeben, ein stockähnliches Gebilde in eine Gelatineschicht zu stoßen!« Als sie die Zweideutigkeit ihres Satzes erkannte, bekam sie einen hochroten Kopf. Houston hatte die Leitung unterbrochen und schwieg dezent. Hilary Cochran konnte sich aber auch ohne Verbindung sehr gut die prustenden Gesichter der Kontroller an ihren Monitoren vorstellen. »Liebes, das nennt man eine Sache auf den Höhepunkt brin-
gen«, hörte sie ihren Mann sagen. »Hoffentlich bringen die da unten bald wieder den nötigen Ernst auf, damit wir hier weitermachen können.« Er zog das Rohr wieder aus der Gelatineschicht heraus und wunderte sich nicht, daß es ohne Schwierigkeiten gelang. Für ihn stand fest, daß diese technischen Eigenarten nur Beiläufigkeiten einer fremden Welt waren. Während er das Rohr wieder an seinem Oberschenkel befestigte, blickte er bewundernd an der mattschwarzen Wand des Schiffes hoch. Für ihn war es von einem UFO zu einem Raumschiff mutiert, und er wußte, diese außergewöhnliche technische Konstruktion wartete auf ein Zeichen, auf einen Befehl oder ein Ereignis. Es hatte einen Auftrag ausgeführt und war bereit für eine Rückkehr in eine ferne Heimat, die seiner Meinung nach auf keinen Fall in diesem Sonnensystem liegen konnte. Seltsamerweise hatte er nie das Gefühl gehabt, daß MARTHA von einer menschenähnlichen oder organischen Besatzung befehligt wurde. Es war ein gigantischer Roboter, der einen Befehl ausgeführt hatte und nun bereit war, die Ergebnisse nach Hause zu tragen. An dem Ganzen störte ihn nur eine Tatsache, die kein Zufall sein konnte: Das Schiff hatte nicht ohne Grund genau über der Raumfähre haltgemacht, als es von der Erde in den Orbit gestiegen war. »Intrepid … äh … Cochran, hier Houston. Entschuldigung wegen der Unterbrechung. Wir haben das hier natürlich gerade mal kurz diskutiert, das mit dem Experiment, meine ich. Abgesehen davon habe ich hier eine weitere wichtige Information: Es existiert eine sehr gut recherchierte Statistik über die Verweildauer des UFOs im Erdorbit. Die Durchschnittszeit liegt bei etwa fünfeinhalb Stunden … und … ähm …« Taggert brach ab
und schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Wieviel Zeit haben wir noch?« fragte Cochran unwirsch. »Was … hm … wie bitte?« »Taggert, reden Sie nicht um den heißen Brei herum! Wieviel Zeit haben wir noch, durch diese Gelatine-Schleuse zu gehen und uns im Schiff umzuschauen, bevor es zwischen den Sternen verschwindet?« »Ich würde sagen …« Er brach ab, als er von Cochran ein ungehaltenes Schnauben vernahm. »Eine halbe Stunde«, sagte er kurz. »Großzügig oder eher knapp gerechnet?« »Eher knapp.« »Ken, willst du wirklich da reingehen?« Hilary Cochrans Frage galt mehr dem Schicksal für sie beide, als nur der Besorgnis um das Vorhaben ihres Mannes. »Hil, ich möchte jetzt nicht lange über die Gründe dafür oder dagegen diskutieren. Du wartest hier, und ich sehe nach, wie weit man in den Vorraum, oder was immer das ist, eindringen kann.« Sie schüttelte energisch den Kopf und übertrug damit ungewollt einen leichten Drehimpuls auf ihren Raumanzug, so daß sie in einem leichten Bogen vom Schiff wegtrieb. Mit einer schnellen Korrektur an den Steuerdüsen driftete sie nahe an ihren Mann heran. »Keine Chance, Kenneth Cochran, ich bin dicht hinter dir!« Er mußte unwillkürlich lächeln. Nicht etwa, weil seine Frau ihn unter keinen Umständen allein lassen wollte, sondern weil er darin eine Bestätigung für sein gewagtes Abenteuer sah. Wenn das Unternehmen Hilary Cochran zu risikoreich gewe-
sen wäre, hätte sie ihn energischer davon abgehalten – und er wäre ihrem Rat gefolgt. So aber wußte er, daß auch sie neugierig auf das Innere des Schiffes war. »Du weißt, daß wir weniger als eine halbe Stunde haben«, erinnerte er sie trotzdem noch einmal. »Wenn wir es nicht mehr schaffen, das UFO zu verlassen, bevor es verschwindet, fliegen wir eben mit. Irgendwann kehrt es ja anscheinend immer wieder zur Erde zurück«, gab sie ironisch zur Antwort. »Wenn es Gottes Wille ist«, murmelte er. »O.K. Houston, wir gehen rein. Worauf müssen wir achten?« »Roger. Das Eindringen durch die Gelatineschicht bereitet laut den Berichten keine Schwierigkeiten. Wir würden trotzdem empfehlen, nicht zu schnell durchzugehen, damit die Schicht nicht reißt. Wir haben aber keine gesicherten Erkenntnisse darüber.« »Roger, Houston, ich beginne als erster mit dem Einstieg.« Ein kurzes zweimaliges Piepsen in seinem Kopfhörer ließ ihn in seiner Bewegung innehalten. »Hier Intrepid, DeHaney spricht, Ken und Hil, ihr müßt da nicht reingehen. Ein Wort von mir und …« »Das ist nett von dir, Jim, aber du stiehlst uns gerade etwas von unserer Zeit«, unterbrach ihn Cochran. Er wußte, daß es zu den Pflichten eines Commanders gehörte, seine Crew vor Gefahren zu schützen, und Jim wäre der Letzte gewesen, der dieses Unternehmen befürwortet hätte, besonders unter diesem hohen Risiko. »Ich verstehe, Ken, viel Glück!« Man konnte über Kenneth Cochran denken, was man wollte.
Die meisten verabscheuten seine Besserwisserei und seine arrogante, penible Art. Viele wollten mit ihm nichts zu tun haben, weil ihnen seine unendliche Gottergebenheit auf die Nerven ging und sie letztlich für eine Masche hielten. Manche beneideten ihn schlichtweg seiner Frau wegen. Einige wenige, und dazu gehörte auch Commander James DeHaney, hielten uneingeschränkt zu ihm, obwohl auch er von dem verletzenden und spöttischen Verhalten Cochrans nicht immer ausgenommen wurde. Ein absolutes Plus der Qualitäten des ältesten Astronauten in den Diensten der NASA war seine hohe Konzentrationsfähigkeit, gepaart mit einer unerschütterlichen Ruhe, mit der er Aufgaben selbst in schwierigsten Situationen meisterte. So auch in dem Moment, als er durch die feine Gelatineschicht des Einstiegs glitt. Sein Puls war kaum höher als zuvor, wenngleich er sich auch zugestehen mußte, daß er wahrscheinlich jetzt, mit dem Betreten des fremden Raumschiffs, den größten Fehler seines Lebens beging. Doch dann dachte er nicht mehr weiter darüber nach. Es war unvermeidlich, diesen Schritt zu wagen, wollte man mehr über die Herkunft und Technologie erfahren. Wie so oft in der Geschichte der Menschen, mußten und würden auch in der Zukunft einzelne Schicksale einen Preis dafür zahlen oder im günstigsten Fall, den Ruhm allein genießen. »Es gibt keine Probleme«, berichtete er. »Es ist, als ob man durch eine dünne farbige Haut stoßen würde. Das Zeug dichtet mich vollständig ab. Jetzt bin ich drinnen. Von der Schicht ist nichts an mir haften geblieben. Etwa einen halben Meter über mir existiert eine zweite Schicht. Houston, könnt ihr mich
überhaupt hören? Kommen die Bilder von meiner Helmkamera durch?« »Laut und deutlich. Auch die Bildübertragung steht hervorragend!« Taggerts Stimme klang höher als sonst. Er konnte seine Erregung nicht verbergen. »Sehr schön. Ich gehe, oder besser: Ich schwebe jetzt durch die zweite Schicht. Übrigens sind hier Vertiefungen in den Wänden, an denen man sich problemlos festhalten und abstoßen kann.« Die beiläufigen Beschreibungen und Hinweise von Cochran wurden in Houston nicht sonderlich beachtet. Alle starrten gebannt auf die Aufnahmen, die sie aus dem Orbit erreichten. Gleich würden sie sehen, wie ein Raum beschaffen war, den es laut der Meinung von 95 % der Menschen eigentlich gar nicht geben durfte. Für einige quälend lange Sekunden zeigten die Monitore ausschließlich die magentafarbene Farbschicht der Gelatine. Dann tauchte Cochran in eine Märchenwelt ein. Zunächst konnte er nichts erkennen, weil ihn eine Lichtquelle blendete, die auf den Eingang gerichtet war. Dann blickte er auf ein in warmes Licht umhülltes Objekt, das ihm an einer Wand gegenüberstand. »Ach du lieber Himmel!« entfuhr es ihm. Er war in den vergangenen Stunden in vorauseilenden Gedanken alle nur denkbaren Variationen von Ansichten durchgegangen, die ihn im Innern des Schiffs erwarten könnten, aber so etwas wäre ihm nicht im Traum eingefallen. Vor ihm, in etwa acht Metern Entfernung, protzte eine Art
Thronsessel, den selbst ein überaus phantasievoller Erzähler aus Tausend und einer Nacht nicht hätte perfekt beschreiben können. Er sah sich rasch um. Viel mehr war sonst nicht auszumachen, denn alles außer dem Thron, lag im Dunkeln, aber auch der ganze restliche Raum mutete ihn orientalisch an. Der Anblick bannte ihn so sehr, daß er jegliche Gefühlsorientierung für die Situation verlor. Houston war plötzlich weit weg. »Hil, komm rein, das mußt du dir ansehen!« Der Sessel erinnerte ihn mehr an ein Designerstück als an einen Thron und war in einem merkwürdig goldenen Orange gehalten. Die Größe schien ihm etwas wuchtiger als ein menschlicher Sitzgegenstand. Demnach mußten die Konstrukteure eine humanoide Form besitzen. Vielleicht kam MARTHA doch von der Erde. Er schüttelte den Kopf. Das war unmöglich. Die Technik war zu fortgeschritten. War das, was er sah, vielleicht nicht real? Ein Eulenspiegel seiner Phantasie? Ein leichter Schwindel überfiel ihn, aber das kam daher, daß im Schiff eine leichte Schwerkraft herrschte, die ihn ganz sanft dem Boden entgegenzog. Hinter dem Sessel wallten in ordentlich gelegten Falten Tücher, ähnlich wie Vorhänge, in einer satten roten Farbe von der Decke herab und umflossen die überproportionierten Füße der prunkvollen Sitzgelegenheit. Halbrechts davor stand eine Art kleine antike Kommode, deren Zweck rätselhaft blieb. Das ganze Arrangement badete in einem weichen Licht, das jeder guten Theaterbühne zur Ehre gereicht hätte.
»Wow!« Hilary Cochran sank von hinten an seine Seite. »Man läßt dich einen Moment aus den Augen und schon hältst du dich in einem Etablissement auf! Ist das noch Realität oder sind wir in ein Märchen eingetaucht?« Ihr Mann antwortete nicht sofort. In Gedanken versunken forschte er in seinem Gedächtnis nach einem Bild, das ihn an diese Szene erinnerte. Irgendwo hatte er Ähnliches schon einmal gesehen … »Cochran, hier Houston, so melden Sie sich doch endlich!« Beiden fiel erst jetzt auf, daß sie die ganze Zeit über das hektische Geplappere in ihren Kopfhörern ignoriert hatten. »Wir können Sie gut hören, Taggert!« antwortete Hilary Cochran. »Bevor Sie fragen: Ja, wir stehen vor dem, was Sie auf den Monitoren sehen. Haben Sie dazu irgendwelche Informationen?« Es dauerte einige Sekunden, dann sagte Taggert: »Ein Augenzeuge hat einmal in einer Hypnosebefragung einen goldenen Thron erwähnt. Das erschien uns … äh … unglaubwürdig. Beschreiben Sie bitte den Raum!« Sie tänzelte in der Beinahe-Schwerelosigkeit in einem dezenten Bogen um ihren Mann herum, der nach wie vor grübelnd in der Mitte des Raums stand. »Es gibt hier eine leichte Schwerkraft, vielleicht ein zehntel Ge. Die Wand hinter dem Sessel ist mit Zeichen verziert. Soweit ich sie von hier aus sehen kann, kommt mir aber keines bekannt vor. Die Seitenwände sind unbeleuchtet und nur schwach auszumachen. Ich schätze die Größe des Raums auf ungefähr 20 mal 15 Meter … und …« »Was ist? Haben Sie etwas entdeckt?« »Ja, die gegenüberliegende Wand ist ein einziger großer bis
in die Seitenwände gebogener Monitor! Er ist mir bisher deswegen nicht aufgefallen, weil ich mich erst an die Dunkelheit hier im Raum gewöhnen mußte. Ich kann die Sterne sehen! Und am äußersten rechten Bildrand gerade noch die blaue Atmosphäre der Erde. Einfach gigantisch, das ist ein Kommandoraum!« »Gibt es irgendwelche Zugänge zu anderen Räumen?« Es fiel ihr schwer, sich von dem überwältigenden Anblick loszureißen. So deutlich und klar hatte sie den Sternenhimmel selbst bei ihren zahlreichen EVAs nicht gesehen. Wahrscheinlich wurde die Darstellung auf dem riesigen Monitor noch durch optische Raffinessen verstärkt. »Irgendwelche Zugänge. Ich kann keine entdecken. Es ist nicht sehr hell hier drinnen. Wenn, dann vielleicht neben dem Sessel.« Sie passierte ihren Mann, der sich in der geringen Schwerkraft bedächtig auf den Thron zu bewegte. »Ken, ist mit dir alles in Ordnung?« »Jaja«, murmelte er geistesabwesend. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich schau mich rasch nach weiteren Räumen um und dann sehen wir zu, daß wir hier wieder verschwinden.« Besorgt beobachtete sie ihren Mann, wie er vor dem Sessel stehenblieb, sich in seinem Raumanzug unbeholfen umdrehte und versuchte, auf dem überdimensionalen Thron eine Sitzposition einzunehmen. »Sie müssen größer sein als wir«, meinte er. »Vielleicht so um die zwei Meter, zwei Meter zehn. Übrigens glaube ich, daß es hier eine Atmosphäre gibt, denn ich kann dich auch ohne Funk hören. Vielleicht ist sie sogar atembar.« Er lag mit seinem starren Raumanzug mehr auf dem Sitz, als daß er saß.
»Du siehst aus wie eine große silberne Puppe auf einem Plüschsessel«, lachte sie. »Das Bild wird um die Welt gehen!« Sie hielt ihren Helm mit der Kamera für einen Moment möglichst ruhig und machte sich dann wieder auf die Suche nach einem Zugang oder etwas Ähnlichem. Sie brauchte sich nicht lange zu bemühen, denn kaum hatte sie sich dem rechten Teil der Rückwand genähert, flammte ein verborgener Strahler auf und tauchte ein Rechteck in rötliches Licht. »Hier ist eine Tür. Anscheinend von der gleichen Art wie der Eingang.« »Warte, wir sollten uns nicht trennen«, rief Ken Cochran und stieß sich von dem Sessel ab. Er schwebte in einem kleinen Bogen nach oben und landete sanft auf dem Boden, der von der Beschaffenheit her einem weichen Teppich glich. »O.K. Houston, ich gehe zuerst«, kündigte Hilary Cochran an. Ganz bewußt durchstieß sie dieses Mal die Gelatineschicht schneller als die beiden ersten Male, um herauszufinden, ob sie wirklich reißen könnte. Nichts dergleichen geschah. Ganz im Gegenteil. Sie hatte das Gefühl, noch weniger Widerstand gespürt zu haben, sofern man im Raumanzug solche Feinheiten überhaupt wahrnehmen konnte. »Hier ist ein Gang«, kommentierte sie die Aufnahmen ihrer Helmkamera, die wegen des Weitwinkelobjektivs in Houston perspektivisch verzerrt ankamen. »Vielleicht fünf Meter lang. Am Ende wieder eine Tür.« Sie bewegte sich unwillkürlich schneller, denn sie ahnte, daß dort hinter dieser Tür sich realere Informationen verbargen als
in dem märchenhaften Kommandoraum. »Langsam, Hil«, wurde sie von ihrem Mann ermahnt, der hinter ihr skeptisch die Wände und die Decke des Durchgangs musterte. Sie waren nicht deutlich zu erkennen, aber auch hier in den Seitenwänden gab es dunkelblau schimmernde Rechtekke, von denen er annahm, daß es Türen waren, die jedoch bei einer Annäherung nicht aktiviert wurden. Anscheinend ließ es das Schiff nicht zu, daß sie alles inspizieren konnten. »Wir haben noch gut zehn Minuten Zeit.« »Statistisch gesehen«, ergänzte sie ihn. »Wer garantiert uns denn, daß MARTHA es dieses Mal nicht eilig hat?« Trotzdem durchschritt sie das rötliche Rechteck erst, nachdem sie einmal kräftig durchgeatmet hatte. Sie kam auf einer kleinen Empore heraus. Ein großer Raum. Spärlich beleuchtet. Automatisch suchte sie nach einem Lichtschalter, aber plötzlich wurde es auch ohne ihr Zutun allmählich heller. Aus dem Halbdunkel schälten sich Gegenstände heraus, die scheinbar wahllos auf dem Boden verstreut lagen oder auf verschieden hohen Ebenen einsortiert lagen, die in den Raum eingezogen waren. »Wow, ich schätze, MARTHA war auf der Erde einkaufen!« rief sie erstaunt aus. »Und hat nicht vom Billigsten genommen«, fügte Ken Cochran hinzu, nachdem er flüchtig die Sachen überflogen hatte. Es handelte sich ausnahmslos um sogenannte Luxusgüter. ›Zivilisationsmüll‹, wie er geringschätzig zu sagen pflegte. Sein erster Gedanke galt dem ungesicherten Durcheinander. Keiner der Gegenstände war in irgendeiner Weise festgezurrt oder wenigstens in Behältern verpackt. Gleich unter ihm er-
blickte er mit Erstaunen zahlreiche offene Kisten mit verschiedenen Flaschen von Champagner neben einem wirren Haufen von den geschmacklosesten und teuersten Pelzmänteln, die er sich überhaupt vorstellen konnte. Darauf lag achtlos ein Designer-Surfbrett mit glitzernden Wasserfall-Motiven, die nur einem gelangweilten und protegierten Künstler aus der Szene einfallen konnten. Gleich daneben standen technisch aufwendige TV-Sets und Digital Player, samt einem ganzen Regal von DVD-Scheiben und Laserdisketten. Weiter hinten parkte schräg ein kleiner japanischer Geländewagen, eingerahmt in ein Wirrwarr von Kartons, dessen Inhalt er von hier oben nicht identifizieren konnte. »Sag mir, daß ich das sehe, was ich sehe«, meinte Hilary Cochran. »Das ist doch irgendwie verrückt, oder?« »Nicht nur das«, grübelte er und betrachtete die teuren Parfümflakons, die nicht weit von ihm achtlos in einer Tüte lagen. »Ehrlich gesagt, ich fühle mich etwas unbehaglich. Zum einen, weil ich glaube, daß wir hier in eine Art Maschinerie hineingeraten sind, denn meiner Meinung nach ist das Schiff unbemannt. Und ›unbemannt‹ ist die richtige Bezeichnung, denn wenn tatsächlich im nächsten Moment ein Wesen durch eine dieser High-Tech-Türen hervortreten sollte, dann ist es mit Sicherheit menschenähnlich. Hier, diese Empore ist mit einem Geländer versehen, der Thron stellt in seiner Grundform nichts anderes als einen Stuhl dar, die Türen sind hochformatig konstruiert, das Licht entspricht der Frequenz, in der wir es wahrnehmen können. Hier gibt es außer einer überlegenen Technik nichts, das fremdartig für uns erscheint.« »Wenn die Technik so überlegen ist, warum klaut MARTHA
dann einen Geländewagen mit einem primitiven Benzinmotor?« Ihr Mann schob sich ganz nahe an sie heran, als müßte er ihr eine geheime Erkenntnis zuflüstern. »Das ist der zweite Punkt, der mich beunruhigt«, sagte er leise, als fürchtete er, daß jemand zuhörte. »All diese Sachen müssen für denjenigen, für den sie bestimmt sind, eine Seltenheit darstellen, etwas, das er oder sie nicht ohne weiteres bekommen kann. Das Schiff hat einen ganz klar definierten Auftrag: Es sammelt Luxus, Unterhaltung, Spielsachen – Entertainment sagt man wohl heutzutage dazu.« Er streckte den Arm aus und deutete auf einen Haufen von länglichen schwarzen Gegenständen fast am Ende des Raums. »Das einzige, was nicht hierher paßt, ist diese Ansammlung von Schrotflinten. Dabei hätten wir doch auf unserem Planeten bestimmt Besseres zu bieten, als diese ordinären Schießprügel.« Hilary Cochran sah in die angegebene Richtung. »Vielleicht sind es wertvolle antiquarische Stücke …« Sie beugte sich etwas nach vorne, weil sie dachte, eine Bewegung neben den Waffen wahrzunehmen. »Nein, nein, auf keinen Fall. Ich kenne das Fabrikat. Billig, aber trotzdem erstaunlich zuverlässig.« »Ken, dort neben den Gewehren! Ist das nicht ein Stiefel und ein Hosenbein?« Er beugte sich vor, um besser sehen zu können. Mit kleinen Hüpfern hangelte er sich am Geländer entlang, bis er zum Ende der Empore an der Seitenwand kam. Dabei mußte er einen Kontakt ausgelöst haben, denn plötzlich klappte ein Stück Boden nach unten weg. Gleichzeitig schob sich ein rötliches
Band hinunter auf die Grundebene des Raums, auf dem er sanft nach unten transportiert wurde. »Jesus, bin ich jetzt erschrocken!« rief er seiner Frau erleichtert zu. »Du brauchst dich nur auf das Band zu stellen. Frag mich nicht warum, aber es hält dich gerade, so daß du in der geringen Schwerkraft nicht davonsegelst!« Ohne weiter auf sie zu achten, bewegte er sich so schnell wie möglich auf die Stelle zu. Er ahnte, daß seine Frau richtig beobachtet hatte und schon wenige Meter bevor er ankam, sah er einen menschlichen Körper auf dem Boden liegen. Reitstiefel, blaue Jeans, weiße Bluse, blonde Haare. Eine Frau. Ihr Oberkörper bewegte sich. Ein Zeichen dafür, daß sie lebte und ein Zeichen für atembare Luft und einen annehmbaren Druckzustand im Schiff, was er schon die ganze Zeit über vermutet hatte. Um ihren Kopf herum waren lauter braune Pfützen zu sehen. Wahrscheinlich hatte sie sich wegen der geringen Schwerkraft erbrochen. Anscheinend hatte sie ihn kommen hören, denn sie hob mühsam den Kopf. Das Gesicht war angeschwollen und die Augen traten leicht aus den Höhlen, ebenfalls Folgen der fehlenden Anziehungskraft der Erde und ihres wahrscheinlich unfreiwilligen Ausflugs ins Weltall. Trotzdem war unschwer zu erkennen, daß sie vielleicht gerade einmal das zwanzigste Lebensjahr hinter sich hatte. »Bleiben Sie ganz ruhig, es ist alles in Ordnung«, versuchte er sie zu beruhigen und wurde sich gleich der Unsinnigkeit seiner Worte bewußt, da sie ihn wegen seines Raumhelmes gar nicht verstehen konnte. Ihre Augen wurden noch größer, als sie ihn erblickte, und sie
rutschte angsterfüllt nach hinten auf den Stapel der Schrotflinten zu, von denen einige durch den heftigen Kontakt hochgewirbelt wurden und in wilden Drehungen nach allen Seiten auseinanderflogen. In einem aufkommenden Hustenanfall drehte sie sich erschrocken um und befand sich augenblicklich in einer unkontrollierten Drehbewegung, mit der sie sich einen halben Meter nach oben schraubte. Mit heftig rudernden Armen suchte sie Halt in dem Haufen von Gewehren, wischte erneut einige aus dem Stapel und kam schließlich wieder auf dem Rücken zu liegen. »Was ist das hier?« keuchte sie unter erneutem Husten Er konnte sie durch den Helm nur gedämpft verstehen. »Bin ich in Quarantäne? Was habt ihr mit meinem Pferd gemacht?« Sie sprach ein hartes Englisch mit einem niederländischen Akzent. »Kenneth, du Trottel, hilf mir, sie zu beruhigen! Du siehst doch, daß sie vollkommen durcheinander ist!« Hilary Cochran war ihm gefolgt und wollte sich an ihm vorbeidrängen, aber er hielt sie zurück. »Warte, warte«, sagte er und machte sich an seinem Helmverschluß zu schaffen. Sie mußten sich zuerst mit ihr verständigen können. Seine größte Sorge war, daß sich die Unbekannte in ihrer Angst eines der Gewehre greifen und, falls sie geladen waren, sie in Gefahr bringen könnte. Er schnüffelte durch einen kleinen Spalt seines hochgehobenen Helms. Die Luft erschien ihm weitgehend normal, soweit er es beurteilen konnte. Auch der Luftdruck schien irdischen Verhältnissen zu entsprechen. »Bleiben Sie ganz ruhig. Wir werden Ihnen alles erklären«,
sagte er so gelassen wie möglich. In Wirklichkeit war er keineswegs so beherrscht wie er sich gab. Ihn beunruhigte die Gewißheit, daß sie vor dem Problem stehen würden, der jungen Frau einen Raumanzug zu verschaffen, um sie so schnell wie möglich in die Raumfähre zu transportieren – falls sie es verkraften konnte, wo sie sich befand. Wenn sie uns das überhaupt glaubt, fügte er in Gedanken hinzu. »Intrepid, könnt ihr mich hören?« »Ken, hier ist Jim. Wir haben alles mitgekriegt. Ilja ist schon auf dem Weg zur Schleuse und Schweighart hilft ihm dabei, einen Anzug vorzubereiten. Ken, ihr seid schon über der Zeit. Ich würde vorschlagen, ihr schnappt euch das Mädchen und begebt euch so schnell wie möglich in die Nähe des Eingangs, damit ihr bald von dort wegkommt. Falls etwas Unvorhergesehenes passiert, verlaßt ihr sofort das Schiff! Notfalls müßt ihr sie zurücklassen.« »Das kommt überhaupt nicht in Frage!« empörte sich Hilary Cochran, die inzwischen ebenfalls den Helm abgenommen hatte. Mit mütterlichem Gebaren wandte sie sich an das Mädchen. »Kindchen, wie heißt du? Wie bist du hierher gekommen? Weißt du überhaupt, wo du dich befindest?« »Janine«, flüsterte das Mädchen, hustete und spuckte aus. Verwundert und mit großen Augen starrte sie ihrer Spucke hinterher, die in weitem Bogen einige Meter weit flog. »Houston, hier Ken Cochran, ich nehme an, ihr habt alles auf den Monitoren gesehen. Habt ihr weitere Informationen für uns?« Er überließ Janine der Obhut seiner Frau und beschloß die Zeit zu nutzen und sich noch ein wenig umzusehen. Dabei
fielen ihm Unmengen von leichten und wasserdichten Windjacken und Anoraks auf, die ebenfalls in ungeordneten Haufen überall herumlagen. »Hier Houston. Richtig, wir haben alles gesehen und sind der Meinung, daß Sie versuchen sollten, das Mädchen zu retten und dann schnell zu verschwinden. Sie sind bereits über der Durchschnittszeit.« Sehr schön, daß wir einer Meinung sind, dachte Cochran sarkastisch und blickte zurück auf die beiden Frauen. Er war heilfroh darüber, daß sich das Mädchen einigermaßen vernünftig verhielt. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie in dieser Situation durchgedreht wäre, wobei er nicht wußte, ob ihr Hilary überhaupt die Wahrheit erzählte. Allerdings würde alles andere genauso phantastisch klingen. »Houston, es sieht so aus, als ob MARTHA neben Luxusartikeln auch für die Opfer einer Überschwemmungskatastrophe sammeln würde. Hier liegen Regenmäntel, Gummistiefel und große Plastikplanen. Und aufblasbare Schlauchboote …« Er verstummte, als er das Objekt entdeckte, das unter anderem für seine jetzige Lage verantwortlich war. »Houston, empfangt ihr noch das Bild von dem Cyberfon des Ehepaars aus Deutschland?« »Wie … äh … ja, natürlich«, antwortete Taggert. »Würden Sie einmal kurz die Qualität überprüfen?« »Was hat das … ja, einen Moment, bitte!« Es ärgerte ihn, daß sich Cochran offensichtlich mit Nebensächlichkeiten beschäftigte. Seiner Meinung nach gab es wichtigere Dinge zu erledigen. Wenig später war er fast wütend darüber, daß ihm von dem kleinen Monitor, der ständig das Signal des verlorengegan-
genen Cyberfons empfing, das Gesicht des Astronauten ansah. Dieser verzog dabei keine Miene, aber es entging Taggert nicht, daß Cochran absichtlich nicht besonders intelligent dreinblickte. »Ähm … wir können Sie sehen«, preßte er hervor. »Wo haben Sie es gefunden?« Das Gesicht verschwand, und es erschienen wieder die verschwommenen Flächen, die seit Monaten zu sehen waren. »Es liegt hier auf dem Boden vor farbigen Plastikplanen«, erklärte er wie beiläufig und ging nicht weiter darauf ein. »Übrigens muß das Schiff über eine Technik verfügen, die jegliche Beschleunigungskräfte absorbiert. Andernfalls würde es hier in dem Raum keine heilen Champagnerflaschen geben. Außerdem habe ich immer noch keine Anzeichen für eine Besatzung gefunden. Ich glaube auch nicht, daß jemand an Bord ist.« »Cochran, uns läuft die Zeit davon. Können Sie irgend etwas entdecken, das für uns wertvoll sein könnte?« Kenneth Cochran seufzte innerlich auf. Es würde immer Menschen von der Sorte geben, die nichts anderes im Kopf hatten, als aus allem einen Vorteil herauszuschlagen. Taggert war ein ganz besonderes Exemplar davon. Er fragte sich, was diesen Mann zu solchen Ambitionen trieb. Geld konnte es nicht sein. Davon hatte er bestimmt genug. Was er nicht hatte, war die Zeit es auszugeben, weil ein Mann in seiner Position immer präsent sein mußte. Und selbst wenn er Zeit gehabt hätte, würde ihn sein schlechtes Gewissen mit dem Gedanken, eine neue Entwicklung zu verpassen, sofort wieder in die vordersten Linien treiben. Wahrscheinlich ging es um die Macht, die sein Job ihm verlieh. Nein, eher ein Machtgefühl, denn Leuten wie
Taggert fehlte jegliches Gespür für Macht. Er war ein Gefolgsmann, ein Wachhund, der die Herde zusammenhielt und dankbar zu seinem Herrn aufsah, wenn er gelobt wurde. »Cochran, sind Sie noch da? Haben Sie mich verstanden?« »Ja ich bin noch da und habe Sie auch verstanden«, antwortete er mißmutig. »Taggert, hier gibt es bestimmt sehr viel zu entdecken, aber wie Sie schon erwähnt haben, fehlt uns die Zeit dazu. Es gibt hier auf jeden Fall keine Anzeichen für Kontrollelemente oder Steuermechanismen, von denen wir etwas ablesen oder erfahren könnten, wie dieses Schiff konstruiert ist. Soweit ich die Abläufe beobachten und erfahren konnte, funktioniert alles im Verborgenen.« Er kam auf seiner Wanderung, die wegen der geringen Schwerkraft mehr mit einem federleichten Schlurfen zu vergleichen war, wieder zu den Frauen zurück und stellte mit Erleichterung fest, daß Janine halbwegs auf den Beinen stand und mit Hilfe seiner Frau auf das Transportband zuging. Er übernahm ihren Helm und folgte nach einem kurzen Zögern. Es war keine Frage, auch er war enttäuscht, daß sie das Schiff verlassen mußten. »Houston, wir begeben uns jetzt wieder in den Thronsaal«, berichtete er weiter, um seine Eindrücke möglichst aktuell zu dokumentieren. »Es mag merkwürdig klingen, aber meiner Meinung nach ist die Technologie dieses Schiffes gar nicht so weit fortgeschritten, wie es auf den ersten Blick erscheint. Es sind lediglich zwei oder drei Bereiche, in denen jedoch zweifellos Grenzen überwunden wurden, von denen wir noch nicht einmal wissen, wie wir an sie herankommen sollen.« »Und das nennen Sie … nein, ist O.K. sprechen Sie weiter!« Cochran grinste in sich hinein. Taggert war nichts weiter als
ein Pragmatiker ohne Sinn für Phantasie. »Ich muß mich verbessern, wahrscheinlich ist es nur ein einziger Bereich, in dem uns die Unbekannten weit überlegen sind«, reizte er ihn mit Absicht. Er glaubte auch sogleich ein unwilliges Keuchen in seinen Kopfhörern zu vernehmen. »Gesteuerte Manipulation von atomaren Verhalten der Moleküle oder sogar der Quanten«, dozierte er hochnäsig, wohlwissend, daß er damit eine billige Version der Weltformel von sich gab. »Nein, im Ernst. Sie sind in der Lage, ein fundamentales Grundprinzip zu nutzen, sind aber noch weit von der allerletzten Konsequenz entfernt.« Er brach ab und beobachtete, wie die beiden Frauen ohne Schwierigkeiten auf dem rötlichen Band nach oben zur Empore glitten. »Ken, bevor du weiterhin dein Halbwissen von dir gibst, könntest du vielleicht Taggert erzählen, daß Janine mit Nachnamen Lindemulder heißt und aus Südafrika stammt. MARTHA hat sie anscheinend während eines Ausritts entführt. Ihre Eltern wären bestimmt überglücklich, wenn sie erfahren, daß ihre Tochter in Sicherheit ist!« »Taggert, Sie haben bestimmt vernommen, welchen wichtigen Vorschlag meine Frau vorgebracht hat?« gab er durch. Frauen wurden immer unlogisch, wenn es um Kinder ging. »Wir kennen den Fall«, antwortete Taggert sofort. »Janine Lindemulder, 22 Jahre alt. Wurde von MARTHA während eines Ausritts in der Nähe von Pretoria entführt. Ihr Pferd kam allein zurück. Ich bezweifle aber, daß ihre Eltern sehr erbaut wären, wenn sie wüßten, wo sich ihre Tochter zur Zeit aufhält. Ganz abgesehen davon würden sie es nicht glauben.« Es ent-
stand eine kurze Pause, weil er sich erst wieder die letzten Sätze von Cochran ins Gedächtnis rufen mußte. »Was meinen Sie damit: ›Fundamentales Grundprinzip‹ und ›allerletzte Konsequenz‹?« »Sie sind in der Lage, bis zu einem gewissen Grad die schwachen atomaren Kräfte für sich arbeiten zu lassen«, sagte Cochran und ignorierte die wütenden Blicke seiner Frau. »Damit können sie, wie ich schon sagte, die Beschleunigungskräfte eliminieren. Oder diese Gelatinetüren und dieses Rollband, auf dem ich jetzt nach oben zur Empore fahre, sind meiner Meinung nach hauchdünne atomare Schichten, die durch einen ganz bestimmten Spektralbereich des Lichtes gesteuert werden. Eine großartige Sache, zweifellos. Aber wenn man schon in der Lage ist, Atome zu manipulieren, dann ist die Konstruktion dieses Rollbandes geradezu lächerlich. Ich hätte an ihrer Stelle ein variables Gravitationsfeld benutzt, das …« »Cochran, darüber können wir später spekulieren«, unterbrach ihn Taggert. »Beschreiben Sie bitte, was Ihnen sonst noch auffällt!« Nichts, du Ignorant, dachte Kenneth Cochran und wollte schon aufbrausen, beherrschte sich aber gerade noch rechtzeitig. »Das Geländer. Die Größe der Türen. Der Thron. All diese Gegenstände, die beschafft wurden. Sie müssen menschenähnlich sein, aber größer in der Statur.« Außerdem haben sie ein junges Mädchen entführt, fügte er in Gedanken hinzu, und das wird wohl auch kein Zufall gewesen sein. »Ken, hier Intrepid«, hörte er DeHaney sagen. »Ilja ist jetzt in
der Schleuse und in ein paar Minuten bei euch!« »Roger. Wir sind im Gang zum Thronsaal«, erwiderte er und befühlte im Vorbeigehen die dunkelblauen Rechtecke, von denen er annahm, daß es Türen waren, die ihnen jedoch verschlossen blieben. Er konnte in der Struktur keinerlei Übergang zur Wand erspüren. »O.K. wir sind gleich wieder im Thronsaal. Alles ist unverändert.« Er war seiner Frau und dem Mädchen, das sich nun sehr apathisch verhielt und hin und wieder die Umgebung mit einem verwirrten Blick musterte, in den Saal gefolgt und wandte sich erneut dem Thron zu. Nun fiel ihm auch ein, woran ihn dieses schlichte, aber dennoch beeindruckende Arrangement erinnerte. Vor einigen Jahren hatten er und seine Frau eine Vernissage eines Malers besucht, der in seinen Werken vorwiegend Instrumente der Macht abbildete. Unter anderem war eine ungewöhnliche Perspektive eines leeren Thrones ausgestellt, von einem tiefen Standpunkt aus, etwa von der Höhe der Sitzfläche aus gesehen. Er konnte in seinem Raumanzug nicht in die Hocke gehen, um diese Ansicht zu erreichen, aber als er durch den Schacht in das Schiff gekommen war, hatte er in etwa in dieser Perspektive den Thron erfaßt. Diese unglaubliche Technik gepaart mit einem beinahe lächerlich ausgeschmückten Thronsessel. Für sein Empfinden paßte diese ungewöhnliche Kombination nicht zusammen. Ratlos zuckte er die Achseln. Was wußte er schon von der Kultur von Aliens. Trotzdem kam ihm das Ganze fast schon kindisch vor … Plötzlich vernahm er die aufgeregte Stimme von Ilja Kohlschovsky in seinem Kopfhörer.
»Houston, hier Kohlschovsky. Ich bin jetzt draußen, und MARTHA ist genau über mir, nur … ich habe das Gefühl, das UFO wird größer. Es senkt sich auf uns herab. Könnt ihr das bestätigen? Oder Jim, kannst du das nachprüfen?« Es folgten einige Sekunden lähmenden Schweigens. DeHaney war der erste, der sich meldete. »Warte, ich hab’s gleich. Scheiße, du hast recht! Es nähert sich. Bisher nur wenige Fuß, aber es kommt näher. Ilja, komm sofort rein! Ken, habt ihr mitgehört?« »Positiv. Roger«, kam die knappe Bestätigung. »Ihr kommt ebenfalls sofort zurück! Das Mädchen holen wir später, wenn wir wissen, was da passiert. Habt ihr verstanden?« »Negativ, Jim, wir lassen sie nicht zurück, außerdem …« »Ken, das ist ein Befehl!« unterbrach ihn DeHaney scharf. »Schon gut, Jim, aber wir können ihn nicht befolgen«, beschwichtigte ihn Cochran. Seine Stimme klang resignierend. »Das Licht über dem Eingang ist ausgegangen. Die Gelatineschicht ist nicht mehr durchlässig, sie ist hart wie Stahl. Mit anderen Worten: Die Tür ist zu.« Im Kontrollzentrum in Houston herrschte zunächst hilfloses Entsetzen. Manche der Controller vollführten mit den Maustasten unsinnige Klicks ins Leere, andere schnappten sich einen Stapel Papiere, standen geschäftig auf, um gleich darauf an irgendeiner Ecke zu lehnen und den großen Monitor anzustarren. Die meisten jedoch blickten auf Wakefield und Taggert, die beide nach Cochrans Worten wie angewurzelt über den Schützengräben standen. Als erster fand Wakefield seine Sprache wieder. »Wie weit steht das UFO jetzt über dem Shuttle«, fragte er tonlos nach
rechts zu einem Monitor hin. »Von anfangs 350 Fuß auf jetzt ungefähr 210 Fuß«, antwortete eine Stimme. »Es nähert sich gleichbleibend mit etwa 10 Fuß pro Sekunde.« »Intrepid, hier Wakefield …«, begann er mit zwanghaft ruhiger Stimme. Täuschte er sich oder huschten über den Monitor kleine flirrende Streifen. Seinen Head Screen hatte er abgelegt, er brauchte so viele Informationen von seiner Umgebung wie nur möglich. »Jim, versuch dich abzusetzen. Manuelle Steuerung nach eigenem Ermessen. Und zwar schnell!« Die Antwort kam nicht sofort. Dafür wurde die Übertragung schlagartig schlechter. Nach nun deutlich verzerrten Streifen auf dem riesengroßen Bildschirm, kamen auch die Worte von DeHaney nur noch bruchstückhaft aus den Lautsprechern. »… nicht. Alle Instrumente … rückt. Keine Reaktion auf den … trolls. … trau mich nicht, auch … eine Taste … zu … ieren. Könnt ihr mich …?« »Schnell. Bildschirmteilung. Alle Aufnahmen von dort oben auf den großen Monitor!« Wakefield ahnte, daß sie hier unten ab jetzt nur noch Zuseher waren, die hilflos eine Katastrophe miterlebten. Die Frage war nur, von welcher Art und von welchem Ausmaß die Katastrophe sein würde. Kenneth Cochran war nicht sonderlich überrascht gewesen, als ihn ein erschrockener Laut seiner Frau auf das erlöschende rötliche Licht aufmerksam machte. Sie waren mit logischer Konsequenz in eine simple Falle geraten. Seltsamerweise war er nicht imstande, sich Vorwürfe zu machen, wie es sonst stets der
Fall gewesen wäre. Die Situation war nicht nur vollkommen abstrakt, sie war weit jenseits von allem Außergewöhnlichen. Er fühlte, nein er wußte es, auch wenn es sehr dramatisch klang, dies war der Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Vielleicht sogar der letzte. Er hatte keine Angst davor. »Ganz ruhig«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Wir können nichts tun. Nur abwarten.« Von irgendwoher spürte er eine leise Vibration. Dann brach der Kontakt mit Houston ab. Im Cockpit der Intrepid saß Jim DeHaney angeschnallt auf dem linken Pilotensitz. Er hatte beide Hände ungläubig ausgebreitet und verfolgte das widersinnige Stakkato der Kontrollampen. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn im nächsten Moment Funken aus den Armaturen geschossen wären. Über dem oberen Rand des Cockpitfensters ahnte er mehr die Masse des UFOs, als daß er den breiten Schatten gegen den schwarzen Sternenhimmel ausmachen konnte. Es war völlig zwecklos, eine Sequenz in den Computer einzugeben. Selbst harmlose Befehle wie das Schließen der Ladebucht zeigten keine Wirkung. Und die Verbindung mit Houston wurde zusehends schlechter. Zwei seiner Leute waren in dem verdammten UFO eingeschlossen, Schweighart und Denny waren unten an der Schleuse, Cooper hielt sich wahrscheinlich mit großen Augen irgendwo hinter ihm auf. Kohlschovsky war noch draußen. »Ilja, verflucht, komm endlich rein!«
Der Befehl war noch in verzerrter Form im Kontrollzentrum in Houston zu verstehen. Es war das letzte, was man von dem Shuttleflug STS-198 hören sollte.
10. Kapitel Bei Ilja Kohlschovsky bezwang in den meisten Fällen seine Neugier die Furcht. Doch dieses Mal fehlte ihm die Grundlage der Erfahrung. Als sich das mächtige unbekannte Schiff wie ein schwarzer Raubvogel auf das im Vergleich zierlich wirkende Space Shuttle herabsenkte, verspürte er zum ersten Mal in seinem Leben wirkliche Angst. Für einen Moment war er nicht imstande, sich auch nur einen einzigen Zentimeter von dem Auslegerarm zu lösen, von dem er sich kurz zuvor noch mit dem Raumanzug für das Mädchen in Richtung des UFOs abstoßen wollte. Es dauerte jedoch nicht lange, und er war wieder in der Lage, halbwegs vernünftig zu denken. Trotzdem, der Gedanke an eine sicherere Hülle als die seines eigenen Raumanzuges war beinahe übermächtig, und die Schleuse lag noch in unmittelbarer Reichweite. Er drehte den Kopf zur Seite, um den Weg dorthin abzuschätzen und nahm mit dieser Bewegung das ganze Szenario wie in einer Weitwinkelaufnahme mit einer kurzen Belichtungszeit in sich auf: sein Aufenthaltsort in der offenen Ladeluke, rechts als gerundete blaue Wand die Erde, die Sonne als grell flutenden Scheinwerfer etwas abseits über der linken Bordwand des Shuttles und das fremde Objekt über sich, dessen langsame Annäherung er mehr spürte, als daß er sie sichtbar wahrnahm. Willenlos ließ er sich in diese Konstellation hineintreiben.
Wenig später erlag er der Faszination dieses irrealen Schauspiels und beobachtete mit paralysiertem Verstand, aber mit wachen Sinnen das weitere Geschehen. Minuten vergingen, bis der schwarze Schatten über ihm zum Stillstand gekommen war. Die Kommentare in seinem Kopfhörer nahm er zunächst nicht wahr. Erst nachdem DeHaneys Aufforderung als eine durch Störungen entstellte Information zu ihm durchkam, war er zu einer Reaktion fähig. Er bestätigte den Befehl und zog sich vorsichtig am Ausleger auf die Schleuse zu, ohne das UFO aus den Augen zu lassen. Dabei meinte er, zarte Schlieren an den Flanken des Schiffes zu erkennen, die in langen gewundenen Fahnen nach allen Seiten wehten. »Jim, da passiert etwas …!« rief er laut. Zuerst drehte sich die Sonne weg. Genau genommen glaubte Kohlschovsky zu sehen, daß die Sonne in einer Seitwärtsbewegung aus seinem Blickfeld verschwand. Ein leichtes Schwindelgefühl erfaßte ihn. Er dachte zunächst, daß die beiden Schiffe durch eine Einwirkung von außen aus ihrer Bahn geworfen würden, doch als er keinerlei Beschleunigung verspürte, suchte er nach einer anderen Erklärung. Die schnell ablaufenden Ereignisse ließen ihm jedoch keine Zeit dazu. Dann wurde es dunkel um ihn herum. Einen Augenblick lang verlor er jegliche Orientierung. Es dauerte einige Sekunden, bis er ein fahles bläuliches Licht auf dem Ausleger wahrnahm, das ihm verdeutlichte, daß er sich nach wie vor in der offenen Luke des Laderaums aufhielt. Sein Verstand gab ihm keine Erklärung für den Vorgang. Vielleicht hatten ihm seine Augen einen Streich gespielt und
gaukelten ihm diesen Unsinn vor. In seinem Kopfhörer vernahm er einen dumpfen Laut, gefolgt von einem hastigen Keuchen. »Ilja, bist du noch da?« hörte er DeHaney fragen. Die Verbindung war sehr schlecht, er hörte den Commander wie aus weiter Ferne. »Ja«, erwiderte er knapp. »Ja, ich bin noch da!« wiederholte er mit lauter Stimme. Woher kam das schwache blaue Licht? Er hob den Kopf. Das UFO konnte er nicht sehen. Über ihm war alles schwarz. Nein, jetzt allmählich, nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, tauchten die Sterne an den Flanken des geheimnisvollen Raumschiffes auf. Unverändert wie zuvor. MARTHA war also noch da. »Ilja, verdammt, was ist da draußen los?« brüllte DeHaney. »Was ist mit der Sonne passiert? Auf dem Monitor sehe ich absolut nichts. Hier spielen alle Systeme verrückt und nach vorne raus sehe ich auch nichts!« Kohlschovsky drehte sich nach rechts zur Erde hin und blickte zu seiner Überraschung auf die Nachtseite des Planeten. Das blaue Licht kam von der beleuchteten Atmosphäre, das von der Sonne stammen mußte, die unbegreiflicherweise jetzt hinter der Erde stand. »Das ist unmöglich!« entfuhr es ihm. »Was ist unmöglich?« Er konnte DeHaney jetzt klarer hören. Anscheinend stabilisierten sich die Verhältnisse wieder. Er teilte dem Commander seine Beobachtung mit. »Das gibt es nicht!« stellte dieser lakonisch fest. »Ilja, ist mit dir alles in Ordnung?« Mit mir schon, dachte Kohlschovsky.
Indem er jedes Wort bewußt laut betonte, antwortete er: »Ich, Ilja Robert Kohlschovsky, halte mich hier am Ausleger fest und sehe auf die Nachtseite der Erde!« Er atmete ein paar Mal tief durch und fügte mit normaler Stimme hinzu: »Ich weiß, das klingt verrückt, aber so ist es. Warte, ich richte die Kamera darauf, damit du es sehen kannst.« Er hantierte am Ausleger und justierte die Videokamera. Dann winkte er kurz als Beweis ins Objektiv, daß die Aufnahme von seinem Standort kam. »Das gibt es nicht«, wiederholte DeHaney. »Vielleicht hat uns dieses verdammte UFO für eine halbe Umkreisung betäubt, oder so etwas Ähnliches«, meinte Kohlschovsky halbherzig. Mit einem Blick auf die Digitaluhr in seinem Helm war diese Theorie hinfällig. Seit dem Vorfall waren keine fünf Minuten vergangen. »Blödsinn, das Ganze ist erst …« »Ich weiß«, fiel ihm Kohlschovsky ins Wort. »War nur so eine Idee. Was sagt Houston dazu?« »Nichts. Die Leitung ist unterbrochen. Aber es scheint sich so langsam alles zu normalisieren. Wir werden gleich mehr wissen.« Er machte eine kurze Pause, als wäre ihm etwas eingefallen. »Wir klären das später. Ken, könnt ihr mich hören?« »Positiv. Inzwischen wieder ganz klar und deutlich. Alles O.K.« »Und was ist mit dem Eingang?« »Negativ. Nach wie vor verschlossen.« »Ich verspreche dir, wir holen euch dort raus, und wenn ich persönlich die Tür eintreten muß!« Cochran ging nicht auf seine Durchhalteparole ein. »Hör
mal, Jim. Ich meine zu wissen, daß wir uns nicht auf der anderen Seite der Erde befinden, wie Kohlschovsky sagt.« DeHaney fragte nicht nach, deshalb fuhr er fort: »Hier auf diesem großen Monitor hat sich die Stellung der Sterne zwar geringfügig verändert, aber im Grunde genommen ist es dieselbe Konstellation. Wir befinden uns nach wie vor an der gleichen Stelle im Weltraum.« »Und das heißt?« fragte DeHaney skeptisch. »Ich weiß es nicht …« »Ich bitte dich, Ken, ›Ich weiß es nicht‹ kommt in deinem Wortschatz nicht vor. Du vermutest doch etwas. Sag es mir, auch wenn es blödsinnig klingt!« Cochran brummelte etwas Unverständliches, dann sagte er: »Ich wüßte schon etwas Blödsinniges …« »Ken, laß dir bitte nicht alles aus der Nase ziehen. Raus mit der Sprache!« »Jaja, gleich … ich überlege gerade, ob es nicht doch eine andere Schlußfolgerung gibt. Also: Der Monitor hier bei uns zeigt ziemlich die gleiche Sternenkonstellation wie vor dem Ereignis …« »Richtig. Und weiter?« »… aber wir befinden uns plötzlich auf der Nachtseite, richtig?« »Ja, das stimmt«, bestätigte DeHaney ungeduldig. »Wenn man diese Umstände als Tatsache betrachtet und daraus eine logische Schlußfolgerung zieht, könnte es bedeuten, daß wir unter Umständen eine temporale Versetzung erfahren haben.« »Temporale Versetzung? Was ist das? Ein Zeitsprung?«
Cochran konnte sich regelrecht vorstellen, wie sein Commander nach Luft schnappte. »Richtig. Der Wechsel der Standorte der Sterne war zwar gering, aber immerhin doch deutlich zu bemerken. Ich will dabei noch keine zu negativen Voraussagen wagen, nur … Kohlschovsky, was sehen Sie auf der Nachtseite der Erde?« Es dauerte einen Moment, bis dieser antwortete. »Blitze, Gewitter, Wolkenformationen, die von den Blitzen aufgehellt werden.« »Und sonst?« Weitere Sekunden verstrichen. DeHaney zog in einer fahrigen Bewegung den Monitor, auf dem die Bilder der Kamera auf dem Ausleger zu sehen waren, ganz nahe zu sich heran. Auch Cooper und die beiden europäischen Astronauten hangelten sich näher zu dem Gerät heran. »Nichts!« antwortete Kohlschovsky mit erstaunter Stimme. »Alles dunkel …« »Alle auf die Plätze und sichern!« befahl DeHaney. »Ich drehe das Shuttle. Ilja, halte dich irgendwo fest. Das will ich mit eigenen Augen sehen, und zwar sofort.« Er und Cooper gingen einen völlig widersinnigen Schnellcheck der Systeme durch, bei dem keiner von beiden richtig bei der Sache war. Auch daß die Thrusters anschließend problemlos funktionierten, nahmen sie nicht besonders zur Kenntnis. Sie wollten so schnell wie möglich den freien Blick auf die Erdoberfläche haben, um das zu überprüfen, was ihnen der Monitor ›nicht‹ zeigte und was Ilja Kohlschovsky mit seinem Schweigen zu bestätigen schien. Der Bordcomputer richtete mit einem letzten pistolenartigen
Schlag der Thruster das Shuttle 90 Grad zur Erde aus. Der Hall klang vibrierend durch die Schiffszelle und beendete das Manöver wie mit einem Schlußakkord. Die Bestätigung, die sie haben wollten, hatten sie schon während der Drehung erhalten. Auf der Nachtseite der Erde waren keine Lichter zu sehen, die auf ein Vorhandensein von Städten hindeuten würden. Die künstlichen Grenzen, verursacht durch Millionen von Lampen und deren Reflexionen an den Wolken, waren verschwunden. Einzig und allein die Blitzentladungen von gewaltigen Gewittern unter grünlichen Wolkentürmen erhellten ein mattgraues einheitliches Schwarz und zeugten allein von altbekannten Aktivitäten der Natur. Inzwischen kündigte der Terminator das Heraufziehen eines neuen Tages über dem Atlantik an. Sie erkannten ihre Welt nicht mehr.
11. Kapitel Für Annick Denny waren die Geschehnisse schlichtweg ein groß angelegter Schwindel von Seiten der Amerikaner. Sie hielt das Ganze für eine technisch geschickt auffrisierte Form von ›Candid Camera‹ des 21. Jahrhunderts. Anfangs war sie noch beeindruckt und zugegebenermaßen sehr verunsichert, als der riesige schwarze Schatten des unbekannten Schiffes über das Shuttle strich. Als aber der kleine Monitor von Iljas Kamera angeblich eine Erde ohne sichtbare Spuren der Zivilisation zeigte, fand sie, daß der Gipfel der Geschmacklosigkeit erreicht war. Sie war nur noch wütend. Wütend darüber, daß man eine teure und zudem noch wissenschaftlich wertvolle Mission zum reinen Unterhaltungswert für gelangweilte Fernsehzuschauer degradierte. In diesem Moment schwor sie sich, nie mehr ein amerikanisches Raumschiff zu betreten, selbst wenn es noch einige Jahre dauern sollte, bis das erste europäische Shuttle seine Arbeit aufnehmen sollte. Verärgert suchte sie mit den Augen heimlich die Kabine nach versteckten Kameras ab, die verzweifelte und ratlose Reaktionen der Astronauten in die Wohnzimmer in aller Welt übertragen sollten. Geradezu unverständlich fand sie das Gehabe ihrer Kollegen, die erschüttert im Cockpit das Bild eines vorzeitlichen Planeten anstarrten. Es mußte ein immenser technischer Aufwand gewesen sein, die Cockpitfenster in große Screens zu verwandeln, um die Besat-
zung realistisch täuschen zu können. Natürlich waren auch die Scheiben der Raumhelme zu Screens umfunktioniert worden, so daß der arme Ilja dort draußen tatsächlich glaubte, was er sah. Und die Cochrans sind eingeweiht, redete sie sich in ihrer Verwirrung ein. Sitzen irgendwo außerhalb der Intrepid und erzählen Märchen über ein UFO, das überhaupt nicht existiert. Trotz aller Differenzen, die sie mit Ken Cochran gehabt hatte, hätte sie nie gedacht, daß er sich für einen solchen Schwindel verkaufen würde. Wütend stellte sie ihr Sendegerät auf ›Vox‹, um allen im Schiff ihre Meinung über dieses Schauspiel mitzuteilen, überlegte es sich dann jedoch anders. Sie beschloß, die Sache zunächst einmal auszusitzen. Sollten sich doch die anderen zum Affen machen lassen. Besonders Cooper schien sehr instabil zu sein. Sie beobachtete ihn beinahe amüsiert, wie er immer wieder zum Cockpitfenster schwebte, in die Kabine zurückkam und dann verwirrt seine Stirn an die Wand legte. Erste Tränen liefen ihm über das Gesicht. Sie konnte noch nicht einmal Mitleid mit ihm empfinden. Die Situation war einfach widerlich. Schweighart hangelte sich mit kreidebleichem Gesicht an ihr vorbei, um Kohlschovsky zu helfen, der wieder ins Shuttle zurückkehrte. Sie folgte ihm nach einigem Zögern. »Was hältst du von dem Theater?« fragte sie ihn unvermittelt, als sie an der Schleuse ankam. Er antwortete nicht sofort. »Du meinst, es ist nicht echt«, überlegte er, doch dann meinte er: »Der Gedanke ist mir auch
schon gekommen, aber der Aufwand wäre zu groß, eigentlich nicht machbar. Außerdem, wozu sollte das gut sein?« »Wozu? Mediengeilheit, was sonst. So ganz nebenbei verkaufen die Amerikaner diese alberne Show für gutes Geld an alle Sender und verdienen sich dabei dumm und dämlich. Auf unsere Kosten.« Er antwortete nicht und beobachtete Kohlschovsky, der gerade den Ersatzanzug durch die erste Schleusenluke schob. Hoffnungsvolle Zweifel kamen in ihm auf. Vielleicht war es ja tatsächlich eine groß angelegte Täuschung. Zuzutrauen wäre es den Amerikanern. Wahrscheinlich würde die Story über mehrere Fernsehgenerationen im Umlauf bleiben. ›Ahnungslose Astronauten lassen sich von virtuellen Aliens entführen.‹ Er mußte innerlich schmunzeln. Und er wäre einer der Deppen gewesen. Doch dann schüttelte er den Kopf. Nein, unmöglich. Die politische Lage der Raumfahrt und insbesondere die der NASA war zu prekär. Alle Führungsspitzen hätten bei diesem Schwindel ihre Zustimmung geben müssen, und die hätten die ›Firma‹ niemals für ein solches Spektakel hergegeben. Und Wakefield schon gar nicht. Die ganze Raumfahrt wäre zur reinen Lachnummer geworden und hätte nur wieder das Feuer derer geschürt, die schon immer wegen den immensen Kosten auf den Barrikaden standen. »Nein«, sagte er. »Es ist nichts in der Art.« »Du bist genauso ein Dummkopf wie die andern!« fauchte sie. »Oder bist du auch ein Teil von diesem Zinnober?« Die Schleuse ging mit einem sanften Schmatzen auf und ein kalter und steifer Raumanzug segelte ins Deck. Gleich dahinter
schob sich Kohlschovsky auf sie zu. Schweighart zog sich Handschuhe über und half ihm dabei den Helm zu öffnen. »Schrei nicht so laut, Baby, du hast deinen Sender auf ›Vox‹ stehen«, informierte sie Kohlschovsky mit einem nachsichtigen Ausdruck im Gesicht. »Wir haben soeben alle klar und deutlich mitgekriegt, was du von uns mediengeilen Amerikanern hältst. Ich weiß, daß es schwer zu begreifen ist. Ich habe es auch noch nicht verdaut, aber was ich dort draußen gesehen habe ist real. Absolut. Man kann heutzutage zwar viel türken, aber wie sollte man ganze Bildsequenzen auf einem angeblichen Screen in meinem Helm projizieren, wenn ich den Kopf drehe und damit immer wieder neue und vor allem für einen Außenstehenden nicht vorhersehbare Szenen vor mir habe?« Sie wurde wegen des offenen Kanals knallrot im Gesicht. Na, wenn schon, früher oder später wäre es so oder so zu einer Konfrontation gekommen. Starrsinnig und mit festem Blick schaute sie ihm direkt in die Augen, aber nirgendwo in seinem Gesicht war ein unsicheres Blinzeln oder eine verräterisch zwinkernde Falte zu entdecken. Es dauerte einige Sekunden, ehe sie sich auf die vollkommen neue Situation einstellen konnte. Sie wendete irritiert den Blick von ihm ab und starrte auf die Schleuse. »Aber …«, begann sie und brach ab. »Nichts aber. Wenn du mir nicht glaubst, dann untersuche deinen Anzug sorgfältig nach irgendwelchen Manipulationen, geh anschließend raus und überzeuge dich selbst.« Er atmete tief durch. »Annick, ich weiß nicht, was passiert ist. Dieses UFO hat uns irgendeine verdammte Arschkarte ziehen lassen, und
nun stecken wir tief in der Scheiße!« Sie blickte ihm einen Moment lang wieder in die Augen. Dann wandte sie sich abrupt ab und glitt mit kontrollierten Bewegungen nach oben ins Flugdeck. Dort ›rannte‹ sie Cooper förmlich über den Haufen, der geistig abwesend und wie eine willenlose Puppe hinter den Pilotensitzen hing. Nach einem kräftigen Armzug und einer gekonnten Rolle war sie in einer sitzähnlichen Position auf dem Platz des Co-Piloten und gurtete sich fest. Ihr Heimatplanet rollte direkt unter ihr in der gewohnten Geschwindigkeit eines niedrigen Orbits. Auf einem Drittel der Oberfläche hatte der Tag begonnen. Aber das war auch schon alles, was sie auf den ersten Blick wiedererkannte. Das vertraute Azurblau des Horizonts war einem undurchsichtigen Blaßblau gewichen, das an manchen Stellen durch ein türkises Aufleuchten durchbrochen wurde. Die sichtbare Erdsichel aus der Höhe von 400 Kilometern glich ansonsten der Atmosphäre einer antiquierten Waschküche, auf der die Sonnenstrahlen grell reflektierende Flächen erzeugten, die schmerzend in die Augen stachen. Vereinzelt zeigten spiralförmige Wolkenwirbel die Auswirkungen von schweren Orkanen und hohen Windgeschwindigkeiten. Einzige Hoffnungsträger in dem tristen Szenario waren kleine streifenartige Gebiete, die als satte grüne Flächen durchschimmerten. Auf den ersten Blick konnte Annick Denny keine Umrisse der Kontinente ausmachen, doch nach genauerem Hinsehen erkannte sie einige bekannte Konturen. Die Bugspitze des Shuttles zeigte im Augenblick genau auf die gewaltige Bergkette des Himalaja, die wie eine steile Inselformation aus einem
schmutzigen Wolkenmeer herausragte. Die unscharfen Konturen der Wolkenflächen setzten sich übergangslos in alle Richtungen fort. Nur die hohen angrenzenden Ausläufer des Hindukusch und des Hochlandes von Tibet markierten als geologische Leuchtfeuer im glänzenden Sonnenlicht die Grenzen der unsichtbaren Länder. Weiter erblickte sie etwas, das ihr buchstäblich das Blut zu Eis gefrieren ließ: Gletschermassen, die weiß durch zerrissene Wolkenfelder strahlten und bis hinunter in die Mongolei zu reichen schienen. »Unmöglich«, flüsterte sie leise. »Lady, ich wünschte, ich könnte Ihnen eine bessere Aussicht bieten«, hörte sie DeHaney vom linken Sitz her sagen. Sie drehte sich erschrocken zu ihm hin, als wäre er gerade aus der Luft materialisiert. »Und ich versichere Ihnen: Ich wäre einer der glücklichsten Menschen hier an Bord, wenn das da unten ein virtuelles Machwerk meiner amerikanischen Landsleute sein sollte, wie Sie vorhin behauptet haben.« Sie antwortete nicht und wandte sich wieder den Landschaften zu, die gemächlich unter dem Shuttle vorbeitrieben. »Wir sind in einer anderen Umlaufbahn«, bemerkte sie wie nebenbei. »Richtig. Oder genauer – beziehungsweise eigentlich ungenau gesagt – befinden wir uns plötzlich in einer Umlaufbahn, die uns im Norden und Süden fast bis an die Pole heranträgt.« Sie ignorierte seinen lauernden Unterton und räusperte sich kurz. »Na gut. Und was ist also Ihrer Meinung nach mit der Erde passiert?« Er hob die Schultern und machte ein ratloses Gesicht. »Meine Meinung ist ebenso gut wie Ihre. Suchen Sie sich eine aus«,
erwiderte er lässig. Als er an ihrem Gesichtsausdruck bemerkte, daß er mit seiner schludrigen Antwort zu weit gegangen war, richtete er sich auf und sagte schnell: »Sie haben recht. Sarkasmus bringt uns nicht weiter. Also: Ich dachte zuerst, es hat einen Atomschlag unten auf der Erde gegeben, und wir haben das irgendwie mit Nachhilfe unserer lieben MARTHA verpennt oder so etwas in der Richtung.« Er deutete mit dem Kopf nach oben, wo ganz schwach die Unterseite des UFOs zu sehen war. »Aber dann müßten wir immer noch wenigstens irgendein Signal oder ein Lebenszeichen von der Erde hören können. Und wenn es nur ein Peilton von einem Satelliten wäre. Aber da ist nichts. Absolut gar nichts.« Er breitete die Hände aus und schwieg einen Moment lang. »Dann dachte ich wie Sie an so einen virtuellen Scheißdreck. Pardon! Nur … ich wüßte nicht, wie das funktionieren sollte … und bei allem Respekt gegenüber der Unterhaltungsindustrie …« Er lachte trocken auf. »Das wäre wohl einige Striche zuviel unter dem schlechten Geschmack, trotz guter Einschaltquoten.« Mittlerweile waren auch die übrigen drei Besatzungsmitglieder herangekommen und lauschten schweigsam seinen Ausführungen. »Ich möchte nichts vorwegnehmen und zuerst die Meinung von den Cochrans hören. Hilary ist unter anderem Geologin«, fuhr er vorsichtig fort. »Im UFO kann man auf dem großen Bildschirm die Erde nicht sehen. Bis jetzt haben sie noch keine Möglichkeit gefunden, wie sie ihn bedienen könnten. Ken holt gerade das Cyberfon von dem deutschen Ehepaar aus dem Laderaum. Cooper, meinst du, wir können ihm darauf ein Bild von unserer Kamera übertragen?«
Der Angesprochene zuckte zusammen. »Wie? Ja, ich denke, er muß nur die Telefonanwahl deaktivieren, dann funktionieren die Geräte wie ein Walkie Talkie. Auf die kurze Distanz von hier bis zum UFO müßte das auf jeden Fall gehen«, antwortete er stockend. DeHaney musterte ihn nachdenklich. Auf den Jungen würde er aufpassen müssen. Er erschien ihm nicht besonders stabil. Andererseits fragte er sich, ob Cooper nicht vielleicht schon viel früher als er selbst begriffen hatte, welche Katastrophe über sie hereingebrochen war. Er konnte sich die Konsequenzen von dem, was er mit eigenen Augen durch das Cockpitfenster sah, noch gar nicht vorstellen. Das Szenario war zu verblüffend und zu unwirklich, um es sofort in die Realität umsetzen zu können. Das einzige, was er in die neue Situation mit hinüber retten konnte, war die Erkenntnis, daß sie sich nach wie vor über dem Planeten befanden, von dem aus sie gestartet waren. Aber das war auch schon alles, was er mit Gewißheit bestätigen konnte, obwohl ihm die durch dichte Wolken angedeuteten Umrisse der Kontinente irgendwie fremd erschienen. Manche Küstenlinie oder Bergkette war vertraut, andere dagegen paßten überhaupt nicht in das gewohnte Schema, das er von zahlreichen Umkreisungen der Erde im Gedächtnis hatte. Das Schlimmste war jedoch – und dagegen wehrte sich sein Verstand mit aller Vehemenz – das Fehlen jeglicher Anzeichen von Zivilisation auf dem Planeten. Wie zur Unterstreichung seiner Gedanken sagte die Französin neben ihm plötzlich: »Das ist nicht die Erde in unserer Zeit. Da unten laufen Vorgänge ab, die während oder kurz nach der letzten Eiszeit aufgetreten sind.«
»Langsam, langsam«, versuchte er sie zu bremsen. Sie beachtete ihn nicht und schob sich näher an das Cockpitfenster heran. »Hier zum Beispiel«, sagte sie entschieden und deutete auf den blassen Horizont. »Die Gletscherflächen schieben sich bis nach Sibirien hinein. Man sieht, wie sich das Eis unter den Wolkenlücken in der Sonne spiegelt.« »Sie hat recht, Jim!« Die Stimme von Hilary Cochran klang aus den Lautsprechern. »Das Cyberfon funktioniert, und ich kann die Bilder von der Kamera klar und deutlich empfangen. Von dem, was ich bis jetzt gesehen habe, kann ich nur bestätigen, was Annick sagt. Die Erde befindet sich anscheinend in einem Stadium kurz nach der letzten kleinen Eiszeit. So etwa 10 000 Jahre vor unserer Zeit. Vielleicht sogar etwas länger. Genaueres kann ich erst sagen, wenn ich den Winkel der Erdachse zur Ekliptik weiß, beziehungsweise in welchem Zeitpunkt der Präzession wir uns befinden.« »Präzession? Hab ich schon mal irgendwo gehört«, meinte DeHaney. »Die Erdachse pendelt im Laufe von 26 000 Jahren zwischen 11,5 Grad und 24 Grad zur Ekliptik«, belehrte sie ihn. »Dazu führt die Erde eine Art Drallbewegung aus, die sie alle 72 Jahre um ein Grad zum Sternenhintergrund versetzt. Deswegen durchläuft die Sonne relativ zur Erde in dieser Zeit alle zwölf Sternzeichen. Anfang des Jahres 2 000 haben wir uns nach landläufiger Meinung vom Sternzeichen der Fische in das Sternzeichen des Wassermanns bewegt …« Ilja Kohlschovsky räusperte sich laut und sagte ungeduldig: »Entschuldigt, wenn ich mich in eure wissenschaftliche Unterhaltung einmische, aber nur einmal grundsätzlich gefragt: Sind
wir nun tatsächlich in die Vergangenheit versetzt worden, ich meine damit, geht das überhaupt, und wenn, wie kommen wir zurück?« Er sprach damit die Fragen laut aus, mit denen sie sich in Gedanken alle in den letzten Minuten beschäftigt hatten. Ein allgemeines Schweigen war die Antwort. Nach einiger Zeit wagte Kenneth Cochran in der vermeintlichen Kommandozentrale des UFOs eine vorsichtige Analyse. »Ich hoffe nicht, daß das alles reale Fakten sind. Laut den Aussagen von Einstein und auch von Wissenschaftlern unserer Zeit widerspricht eine Reise in die Vergangenheit keinem Naturgesetz. Ich kann letztendlich nicht mit Sicherheit sagen, ob wir uns in der Vergangenheit befinden, aber …« – er machte eine bedeutungsschwere Pause – »es deutet alles darauf hin. Ja, ich glaube, daß es so ist. Ich spüre es.« DeHaney holte tief Luft. »Langsam, ganz cool bleiben, Leute«, wiederholte er beschwichtigend. »Ich würde vorschlagen, wir überprüfen erst einmal alle Daten, die wir haben …« »Einen Scheißdreck haben wir!« fauchte ihn Annick Denny an. »Und hören Sie mit Ihrem Geschwätz auf! Sie und Ihre großartigen UFO-Jäger haben uns hier reingeritten, ohne sich Gedanken über die Risiken zu machen. Jetzt stehen Sie wenigstens dazu und lassen sich etwas einfallen!« Die linke Hand des Commanders umschloß vor Entrüstung und Wut fest die Lehne seines Sitzes, aber er verlor nicht die Beherrschung. Er wußte, daß die Französin im Grunde genommen recht hatte. Sie hatte ihn genau an dem wunden Punkt getroffen, weswegen er sich seit Beginn dieses aberwitzigen Unternehmens die größten Vorwürfe machte. Es war nicht die
Aufgabe dieser Mission gewesen, sensationelle Entdeckungen über ein UFO zu präsentieren, sofern überhaupt eine Chance dazu vorhanden gewesen war. Dazu war die falsche Besatzung mit der falschen Einstellung an Bord. Er hatte den Auftrag erhalten, Menschen und Material sicher zur Raumstation und zurück zu bringen. Dafür waren die Risiken durch Jahrzehnte lange Erfahrung einkalkuliert und dementsprechend minimiert worden. Alles andere war ein Tanz auf dünnem Eis. Trotzdem fühlte er sich verletzt und tief in seinem Stolz getroffen, als ihn Annick Denny so vehement attackierte. Dieses verdammte kleine Aas hatte kein Recht, ihn in seinem Schiff dermaßen zu beleidigen. »Hören Sie, wenn es Ihrem Seelenfrieden dient, entschuldige ich mich hiermit für mein Handeln«, entgegnete er indigniert. »Außerdem können Sie mich und die Vereinigten Staaten verklagen, wenn Sie jemals die Gelegenheit dazu bekommen, aber jetzt und in dieser Situation wäre es angebracht, wenn Sie einfach einmal die Klappe halten, falls Ihnen nichts Vernünftiges zur Verbesserung unserer Lage einfällt!« Ihre Augen blitzten, als sie wütend antwortete: »Etwas Vernünftiges? Kein Problem. Wie wäre es denn damit: Falls wir an unserer Situation nichts ändern können, was haben Sie dann vor? Hier im Orbit bleiben, bis wir verhungern oder mit dem Shuttle dort unten in der Waschküche landen?« Sie verstummte und erschrak selbst über den waghalsigen Vorschlag, den sie soeben in ihrer Erregung von sich gegeben hatte. Wie auf ein Kommando blickten alle zu den Cockpitfenstern und starrten hinunter auf den scheinbar entvölkerten Planeten,
der sich nach wie vor als eine Urlandschaft unter ihnen vorbeischob. »Oh, Scheiße!« entfuhr es Kohlschovsky. »Wir können dort unten auf keinen Fall landen«, meinte Cooper, der sich etwas gefangen hatte. »Es gibt keine geeignete Landebahn und selbst wenn, das Shuttle ist ein reines Schönwetterflugzeug, falls man überhaupt von einem Flugzeug sprechen kann. Es fliegt nicht im Sinne von Fliegen, es ist mehr ein kontrolliertes Fallen. Bei diesen Wetterbedingungen kämen wir noch nicht einmal in Bodennähe. Wahrscheinlich würden uns die Turbulenzen in der oberen Troposphäre schon in sämtliche Einzelteile zerlegen.« »Wir kommen vielleicht noch nicht einmal bis in die oberen Luftschichten«, meinte Ilja Kohlschovsky fassungslos. »Wahrscheinlich hat die Atmosphäre eine ganz andere Zusammensetzung, die einen völlig neu berechneten Eintrittswinkel erfordert. Wir verglühen oder wir prallen ab und werden in den Weltraum zurückgeschleudert.« Er überlegte kurz und fügte geheimnisvoll hinzu: »Nein, ich glaube, wir müssen das Problem einer Landung ganz anders angehen …« DeHaney sagte nichts dazu. Es war in seinen Augen völlig absurd, Gedanken an eine Landung zu verschwenden. Es mußte eine andere Lösung geben. Und der Schlüssel dazu befand sich über ihnen, in dem verdammten UFO. Irgendwie mußten sie es schaffen, das Objekt dazu zu bewegen, mit ihnen wieder in die Gegenwart zurückzukehren. Er schüttelte hilflos den Kopf. Jetzt akzeptierte er schon ohne Widerspruch, daß sie sich in der Vergangenheit befanden. Vielleicht war doch alles nur Einbildung? Er mußte sich mehr Gewißheit verschaffen, bevor sie sich
alle von verrückten Ideen ins Verderben führen ließen. »Ken, kannst du mich hören?« Keine Antwort. »Ken?« Der Lautsprecher blieb stumm. Beinahe gleichzeitig beugten sich DeHaney und die neben ihm sitzende Annick Denny nach vorn, um nach dem UFO zu sehen. Der schwarze Schatten war verschwunden. »Ach verdammt, das hat uns noch gefehlt!« entfuhr es ihm. Kohlschovsky schob sich von hinten neben ihn und blickte in den Sternenhimmel über dem Shuttle, wo bis vor einigen Minuten noch das UFO zu sehen gewesen war. »Weg? Na toll!« rief er enttäuscht aus. »Damit ist meine Idee für eine problemlose Landung also auch hinfällig geworden.« Der Commander schwieg und sah ihn fragend an. Kohlschovsky sah suchend aus dem Cockpitfenster, ob er nicht doch noch das UFO irgendwo entdecken könnte. »Ich dachte einen Moment daran, ob es nicht eine Möglichkeit gäbe, in das UFO umzuziehen und darauf zu warten, bis es vielleicht auf der Erde landet.« Er zog sich mit einem letzten ratlosen Blick auf die Erde zurück. »Wäre bestimmt keine schlechte Idee gewesen.«
12. Kapitel Die beiden Astronauten in dem UFO bemerkten nicht, wie sich der Sternenhimmel auf dem großen Monitor zuerst langsam, und dann in einer schnellen Aufwärtsbewegung nach links oben verschob, bis hin zu dem Punkt, an dem der lang gebogene Horizont der Erde sichtbar wurde. Kenneth Cochran ›saß‹ auf dem roten Thronsessel und hielt sich in der geringen Schwerkraft mit der rechten Hand an der Rückenlehne fest. Er trug das Cyberfon auf dem Kopf und betrachtete fasziniert die Aufnahmen, die von der Videokamera des Space Shuttles gesendet wurden. Seine Frau Hilary hatte ihm kurz zuvor das Gerät überlassen und sich um die verstörte Janine Lindemulder gekümmert, die seitlich an einer Wand lehnte und immer wieder ungläubig die beiden Astronauten in ihren unförmigen Raumanzügen anstarrte. Alle vorsichtigen Erklärungsversuche von Hilary Cochran prallten an ihr ab, so daß die Astronautin schließlich dazu überging, sie wenigstens in ein unkompliziertes Gespräch zu verwickeln. Von Beschleunigungskräften war in dem feudalen Raum nichts zu spüren, auch nicht, als das UFO schon mit hoher Geschwindigkeit auf die oberen Schichten der Atmosphäre des Planeten traf. Als Kenneth Cochran schließlich erste kleine Störungen bei der Übertragung der Bilder feststellte und daraufhin versuchte, Kontakt mit der Intrepid aufzunehmen, war
es schon zu spät. Er riß sich den Screen vom Kopf, der plötzlich nur noch verwaschene Flächen zeigte und sah auf dem großen Monitor die Erdoberfläche rasend schnell auf sich zuwachsen. Hilary Cochran hatte seine heftige Bewegung aus den Augenwinkeln bemerkt und wandte sich ihm fragend zu. Dann folgte sie seinem Blick und bekam einen fürchterlichen Schrecken, als sie erkannte, was passiert war. Gleichzeitig wurde sie von einem starken Schwindelgefühl erfaßt. Die Darstellung auf dem Schirm war derart realistisch, daß sie den Eindruck hatte, sie würde von großer Höhe auf die Erde herabstürzen. Instinktiv suchte sie Halt, ruderte mit den Armen und fiel dabei auf Janine, die einen Entsetzensschrei ausstieß und versuchte, sich an ihr festzuklammern. »Ruhig, ganz ruhig bleiben!« rief Kenneth Cochran laut. »Wir stürzen nicht ab. Es kann nichts passieren.« Er vertraute vollkommen der fremden Technik, obwohl er keine Ahnung hatte, auf welche Weise sie arbeitete. Die optische Wiedergabe des Schirmes war dreidimensional und absolut perfekt in der Auflösung, so daß er keinen Unterschied zur Realität feststellen konnte. Durch das Fehlen jeglicher Beschleunigungskräfte und durch die geringe Schwerkraft glaubte er, förmlich in den Monitor hineingezogen zu werden, obwohl er nach wie vor auf dem Thron verharrte, wenngleich auch mit fest verkrampften Fingern an der Lehne. Konzentriert versuchte er, die rasante Fahrt hinunter auf den Planeten bewußt in sich aufzunehmen. Er wußte, daß dieses Abenteuer einmalig war. Das UFO stieß mit unvorstellbarer Geschwindigkeit und gleichzeitig mit leichter Eleganz durch die ersten verwehten
Wolkenfasern und traf wenig später auf hoch aufgetürmte Ansammlungen von massiv erscheinenden Wänden aus Wasser und Dampf. Fast übergangslos tauchte das Flugobjekt in das brodelnde Wolkenmeer aus schmutzigem Grau und grünen Gischtschwaden, die wie verwaschene Algenstränge an den Seiten des Schirmes vorüberglitten. Kenneth Cochran zuckte erschrocken zusammen, als ein langgezogener Blitz sie von hinten lautlos überholte und in einem fernen Punkt vor ihnen zu explodieren schien. Weitere Blitze folgten, blieben als gezackte Markierungen für Sekundenbruchteile am Rande der Flugbahn stehen und wischten dann zur Seite weg. Mit unverminderter Geschwindigkeit durchbrachen sie geräuschlose Regenvorhänge, die plötzlich und unerwartet vor ihnen auf dem Monitor standen und gleich darauf nicht mehr existent schienen. Von irgendwoher sorgte ein gradliniger Sonnenstrahl für einen kurzen freundlichen Moment in dem Inferno. Sehr spät und unerwartet begann die normale Erdanziehungskraft zu wirken. Irgendwo in dem fremden Schiff hatte ein hochkomplizierter Mechanismus seine Tätigkeit eingestellt und die künstliche Schwerkraft abgeschaltet. Der Vorgang lief sehr behutsam ab, so daß die unfreiwilligen Fluggäste das Gefühl hatten, sich in einem abbremsenden Fahrstuhl zu befinden. Gleichzeitig verließ das UFO die Wolkenregion und schwebte nun sichtlich langsamer über von Nebeln verhangene grüne Wälder. Kenneth Cochran lag von der normalen Erdschwerkraft zusammengestaucht in dem Thronsessel und kämpfte mit seinem Kreislauf. Er hatte fast vier Monate im All verbracht und war trotz intensiven täglichen Trainings seiner Muskeln auf der
Raumstation die Anziehungskraft der Erde nicht mehr gewohnt. Die aufkommenden Schmerzen glichen denen von Muskelkrämpfen und durchfluteten ihn in wallenden Schüben. Er versuchte die Reaktionen seines Körpers mit einer einstudierten Konzentrationsübung zu ignorieren. Dabei wußte er, daß es ihm gut getan hätte, wenigstens aufzustehen und vorsichtig einige Schritte zu gehen, aber die Bilder auf dem Monitor fesselten ihn viel zu sehr. Was ihn am meisten überraschte, war die abrupte Geschwindigkeitsverminderung, von der er absolut nichts gespürt hatte. Er schätzte, daß sie nun nicht schneller als ein normales Sportflugzeug in einer Höhe von etwa 600 Metern in einem völlig ruhigen Flug über die Baumwipfel glitten. Ihm kam der Gedanke, daß die Erbauer oder Besitzer dieses Fluggeräts von den unfreiwilligen Passagieren wußten und ihnen absichtlich eine Demonstration der hervorragenden Eigenschaften ihres technischen Wunderwerkes boten. Und diese beschränkten sich nicht nur auf die außergewöhnlichen Fähigkeiten des UFOs, sondern auch auf die Wiedergabequalität des Monitors, die in beinahe erschreckendem Maße die Landschaften unter ihnen wirklichkeitsgetreu darstellte. Der Astronaut hatte den Eindruck, die dampfige Luft der Nebel einzuatmen und den Geruch der Wälder wahrzunehmen. Zudem hatte die Fläche des Schirmes in den letzten Minuten wie ein sich öffnender Kinovorhang zu den Seitenwänden des Raums zugenommen, so daß man beinahe unbehindert in alle Richtungen blicken konnte. Er hatte keine Vorstellung davon, über welche Gebiete des Planeten sie hinwegflogen. Die letzten Bilder, die er durch das Cyberfon gesehen hatte, stammten von den südlichen Regionen
des Nordpols. Er wußte noch, daß er am Horizont das eisbedeckte Alaska erkannt hatte und daß er gespannt darauf gewesen war, wie sich ihm Kanada und die Vereinigten Staaten präsentieren würden. Aber die Bilder stammten noch von der Kamera des Shuttles, und er hatte keine Ahnung, wie lange das UFO schon unterwegs zur Erdoberfläche war. Wenig später lichtete sich der Nebel. Schräg einfallendes Sonnenlicht erhellte die Weite einer savannenähnlichen Landschaft, in der er in der Ferne gewaltige Herden von großen Tieren ausmachen konnte. Als sie näher herankamen, hatte er die Gewißheit, daß das Land auf keinen Fall Nordamerika sein konnte. Elefanten. Und Giraffen. Hilary Cochran war neben den Sessel gekrochen und legte den Kopf auf die Lehne. Auch sie versuchte ihre Beschwerden zu ignorieren und verfolgte fasziniert die Vorgänge auf dem Schirm. Selbst Janine Lindemulder, die sich eben noch heftig übergeben hatte, rutschte auf allen vieren heran und betrachtete das Schauspiel. »Das ist Afrika!« rief sie laut und hustete dabei. Ein Speichelfaden lief ihr aus dem Mundwinkel. »Bringen Sie mich heim? Haben Sie etwas über mein Pferd erfahren? Wissen Sie, ob es verletzt ist?« Sie sah die Astronauten erwartungsvoll an, aber es kam keine Reaktion. Dabei war es weniger die physische Erschöpfung, die beide schweigen ließ, als mehr die geistigen Bemühungen das alles zu verstehen, was in den letzten Stunden über sie hereingebrochen war. Seltsamerweise wurde ihnen erst jetzt, beim Anblick der gewaltigen Herden von Elefanten und Wasserbüf-
feln, vollends bewußt, wie sehr sich ihr Leben ändern würde, sofern sie in dieser neuen alten Welt überhaupt überleben konnten. Sie würden alles zurücklassen müssen, was ihnen bisher lieb und teuer gewesen war. Freunde, Besitz, die Gewohnheiten und Erfahrungen ihres bisherigen Lebens. Andererseits, aber daran wagte Kenneth Cochran aus Angst vor dem, was sie am Ende ihrer Reise erwarten würde gar nicht zu denken, ließen sie damit auch die meisten negativen Eigenschaften der Gesellschaft ihres Planeten zurück, vor denen sie in der Vergangenheit oft zu flüchten versucht hatten. Er lächelte bei dem Gedanken. Flucht vor der Vergangenheit in die Vergangenheit. Ein Paradoxon als Neuanfang. Neben ihm setzte sich seine Frau vorsichtig auf. »Mein Gott, ist das schön!« schwärmte sie, als sie weiter in das Panorama hineinflogen, wo nun eine orangerote Sonne eine goldgelbe Steppe mit ihrem abendlichen Licht überflutete. »Wenn wir tatsächlich … ich meine, was denkst du, wie weit sind wir in die Vergangenheit versetzt worden?« fragte sie zögernd. Er wiegte nachdenklich den Kopf. »Es ist nicht sicher, ob wir uns tatsächlich in der Vergangenheit befinden, es könnte auch eine ferne Zukunft sein. Bis jetzt habe ich noch keine Anzeichen von einer menschlichen Zivilisation entdecken können«, antwortete er schließlich und fügte hinzu: »Aber eigentlich auch nichts, was es nicht auch in unserer Zeit gegeben hat. Das da unten könnte genau so gut ein Naturschutzpark in Afrika sein. Und es ist Afrika, ohne Zweifel. Es gibt Giraffen und die Elefanten haben große Ohren.« Sie diskutierten einige Minuten lang darüber, welche Merkmale ihnen helfen könnten, zu bestimmen, in welcher Zeit sie
sich befanden und hielten nebenbei Ausschau nach Spuren von menschlichen Behausungen oder künstlich angelegten Wegen, die auf Menschen hindeuten würden. Sie verstummten beide gleichzeitig, als ein leiser Schluchzer sie diskret darauf hinwies, daß sie noch eine Begleiterin hatten, die kein Wort von dem verstand, was sie da heftig debattierten. Janine Lindemulder blickte sie unter Tränen an. »Warum sagen Sie mir nicht endlich, was passiert ist?« Sie tauschten kurz einen Blick, bis Hilary Cochran schließlich seufzte und meinte: »Du hast natürlich recht, entschuldige bitte. Weißt du, das ist alles nicht ganz so einfach zu erklären …« Kenneth Cochran war froh darüber, daß er der Südafrikanerin nicht verständlich machen mußte, wie es um ihre Heimkehr stand und beobachtete wieder die Landschaft unter ihnen, in der es jetzt rasch dunkel wurde. Einmal glaubte er, ein Feuer aufflackern zu sehen, konnte aber nicht erkennen, ob es natürlichen Ursprungs war oder ob es von einer Ansiedlung stammte. Wenige Augenblicke später vollführte das UFO eine enge Kurve und steuerte genau auf die untergehende Sonne zu, die nur noch als schwacher roter Bogen hinter dem dunstigen Horizont stand. Sie überflogen dschungelartige Wälder, die immer wieder von Flächen mit hohem Steppengras unterbrochen wurden. Im Gegenlicht war in der Ferne eine weite glitzernde Wasserfläche zu erkennen. Er dachte zunächst an einen See, erkannte aber bald, daß es ein mächtiger Fluß war, dessen Ufern sich ihr Flugobjekt langsam näherte. Nachdem sie einen steinigen Abgrund überquert hatten, schwenkten sie in einer harten Kurve direkt über das Wasser ein und folgten dem Verlauf. Ihre Höhe betrug nun höchstens noch 100 Meter.
Wieder einmal war er beeindruckt von den flugtechnischen Eigenschaften ihres Gefährts. Selbst während des harten Einschwenkens waren keinerlei Andruckkräfte zu spüren gewesen, nur die optische Schräge des Bildschirms veranlaßte ihn unwillkürlich zu einer Gegenbewegung. Unter ihnen wälzten sich schmutzige braune Wassermassen einem unbekannten Meer zu. Er fragte sich, welchen Zweck diese niedrige Flughöhe haben könnte und vermutete, daß sie dem Ende ihrer Reise näher kamen. Plötzlich wischte eine Schneise in den Urwald rechts unter ihnen hinweg. Er glaubte auch in dem kurzen Moment einen Kanal erkannt zu haben, an dem Menschen arbeiteten, war sich aber nicht sicher und rief seine Frau, die immer noch auf das Mädchen einredete und nur ab und zu nach vorne zu dem großen Monitor sah. »Es geschieht etwas«, berichtete er. »Hier, siehst du, links und rechts an den Ufern entlang sind angelegte Kanäle zu erkennen.« Er deutete auf die geraden Linien, die jetzt häufiger im Dämmerlicht auszumachen waren. »Eben gerade meinte ich, sogar Menschen gesehen zu haben.« Er warf einen kurzen Blick auf Janine Lindemulder, die regungslos vor sich hinstarrte. »Wie geht es ihr?« »Ich habe versucht, unsere Situation so zu schildern, wie sie ist, beziehungsweise, wie wir glauben, daß sie sein könnte. Ihre Reaktion darauf siehst du ja. Entweder sie hat einen Schock oder sie fängt gleich an zu schreien«, meinte sie respektlos und wandte sich den Bildern auf dem Monitor zu. Die Landschaft jenseits der Ufer nahm allmählich eine andere Gestalt an, ohne daß man auf Anhieb erklären konnte, worin die Veränderung bestand. Kenneth Cochran meinte, daß es an
der zunehmend fehlenden Wildheit lag. Die letzte Herde von Tieren, die sie gesehen hatten, graste bestimmt 50, wenn nicht gar 80 Kilometer hinter ihnen. Auch die steilen Felstäler, die ab und zu im Osten aus den dichten Wäldern geragt hatten, waren immer seltener geworden. Das ganze Land vor ihnen war flacher und in der Artenvielfalt eintöniger geworden. Auf einmal erblickten sie das riesige Rechteck einer Plantage, in der unzählige Bäume in akkurat geraden Reihen gepflanzt waren. Und Menschen. Sie standen zunächst abwartend in Gruppen zwischen den Baumreihen und stoben in alle Richtungen auseinander, als sie das UFO bemerkten. Das Überfliegen und die schnellen Bewegungen auf dem Boden vollzogen sich so schnell, daß Cochran nicht erkennen konnte, wie die Leute aussahen. Trotzdem glaubte er, eine Art Regenschutz ausgemacht zu haben, obwohl er für das Klima eigentlich eine leichte Bekleidung erwartet hätte. Seine Frau beschäftigte anscheinend der gleiche Gedanke. »Wir wissen nicht, wie warm es draußen ist. Und vielleicht ist Sonnenschein eine Ausnahme.« Wie zur Bestätigung vernahmen sie fernes Donnergrollen. »Prima. Und Stereoton hat unsere Panoramaleinwand ab jetzt anscheinend auch«, stellte sie fest und blickte nach Osten, wo eine tiefschwarze Gewitterfront fast übergangslos in den dunklen Abendhimmel überging. »Für das, was da auf sie zukommt, werden sie mehr als einen Regenschirm brauchen.« Kenneth Cochran reagierte nicht auf ihre Worte. Statt dessen beobachtete er aufmerksam den stetig zivilisierter wirkenden
Landstrich unter ihnen. Am meisten beschäftigten ihn die Kanäle, in denen augenscheinlich kein Wasser lief. Auch konnte er keine logische Verbindung zwischen den Baumplantagen und den Kanälen herstellen, die meistens schnurgerade durch die Anpflanzungen führten und stets eine gleichbleibende Breite von etwa zwei Metern aufwiesen. Ihre Bedeutung war ihm unverständlich. Für Bewässerungszwecke waren sie bestimmt nicht gedacht, dafür waren sie zu aufwendig und zudem unnütz, denn an Wasser mangelte es nicht. Dann fiel ihm die ungewöhnliche Form der Bäume in den Plantagen auf. Sie bestanden hauptsächlich aus einem dicken und vollkommen geraden Stamm, aus dem erst nach zwei Dritteln ebenso gerade Äste wuchsen, an denen direkt ohne eine weitere Verzweigung unverhältnismäßig kleine Blätter hingen. Die Bäume erinnerten ihn an Malereien von Kindern, die mit ersten einfachen Strichen versuchten, wesentliche Merkmale eines Baumes darzustellen. Er stupste seine Frau an, die gerade einen langen besorgten Blick auf Janine warf, die zusammengesunken neben ihnen am Sockel des Thrones lehnte. »Sieh dir diese Bäume an! Hast du je einmal so etwas Verrücktes gesehen?« »Seit den Kritzeleien meines Neffen nicht mehr. Sie schauen überhaupt nicht natürlich aus. Wie aus einem Baukasten zusammengesetzt und dann auch noch geklont. Von hier oben sieht einer aus wie der andere.« Er nickte nachdenklich. Vielleicht lag sie mit ihrer spontanen Beschreibung gar nicht so falsch. Im nächsten Moment wurden sie von etwas Merkwürdigem
abgelenkt. In einem Kanal lag ein großer Quader, der fast bis an die Seitenbegrenzung reichte. Länge und Höhe lagen etwa bei zwei beziehungsweise ein oder anderthalb Metern. Er war vollkommen ebenmäßig und sah aus wie ein kleiner Container. »Dort vorne liegen noch mehr!« machte sie ihren Mann aufmerksam, der den einzelnen Quader fixierte, bis er am unteren Rand des Bildschirms verschwunden war. »Steinquader … nein, unmöglich. Aber aus was sollte der Quader sonst bestehen«, murmelte er vor sich hin. Zu seiner Verblüffung gab es einige Kilometer später eine weitere Überraschung. Zu beiden Seiten eines Kanals trabte je ein Kamel mit einem Reiter. Ein dritter Mann stand auf einem Quader und kontrollierte ein Seil, das einfach um das hintere Ende des Quaders geschlungen und jeweils mit einem Geschirr mit den Kamelen verbunden war. Der Quader glitt mit einer eleganten Leichtigkeit den Kanal entlang. Das UFO bemerkten die Reiter im Gegensatz zu den Menschen in der Plantage nicht oder sie waren an den Anblick gewöhnt. »Wenn der Quader aus Stein ist, müßten die Kamele die Kraft von einigen Bulldozern besitzen. Ein Stein dieser Größe wiegt bestimmt einige Tonnen«, sagte Hilary Cochran. »Entweder das, oder …« Er ließ sich erschöpft in den Sessel fallen, denn die Schwerkraft machte ihm zunehmend zu schaffen. »Oder sie haben eine Möglichkeit gefunden, die Reibung nahezu aufzuheben. Bliebe aber immer noch die enorme Masse des Steines. Wenn sie an eine Steigung gelangen, und sei sie noch so gering, wird es trotzdem schwierig …« Die Antwort auf seine Frage ließ nicht lange auf sich warten. In der Dämmerung tauchten primitive Hütten auf, die von
großen Stallungen umgeben waren. Um das weitläufige Gelände herum weidete gemächlich eine Herde von Elefanten. In dem Kanal, der direkt an den Bauten vorbeiführte, stauten sich die Quader. Eine Reihe von Kamelen kamen ihnen entgegen, geführt von ihren Reitern, die ohne Überraschung zum UFO hochblickten. Hinter ihnen war zu sehen, wie Elefanten mit ihren Treibern die aufgereihten Quader übernahmen und sie mit sichtbarem Kraftaufwand über eine kaum wahrnehmbare Anhöhe zogen. Kenneth Cochran registrierte das Vorgehen mit einem zufriedenen Nicken und schob nachdenklich das Kinn nach vorn. Also waren die Quader anscheinend tatsächlich aus gehauenem Stein. Wozu schleppten die Menschen Tonnen schwere Blöcke meilenweit durch die Gegend? Und offensichtlich machten sie das nicht erst seit kurzer Zeit, denn dazu war das Transportsystem zu aufwendig angelegt. Plötzlich wußte er es. Eigentlich war es mehr eine Ahnung, aber sein Gefühl sagte ihm, daß er recht hatte. »Hil, welcher Fluß könnte das sein?« Sie wog abschätzend den Kopf. »Das da unten ist ein Fluß oder besser gesagt ein Strom, der durch einen Dschungel fließt. Wenn ich nicht wüßte, daß wir in Afrika sind, hätte ich Amazonas gesagt. Allerdings sind die Ufer und die Umgebung zu felsig, soweit ich das bei dem Wetter und bei dem schwachen Licht erkennen kann. Keine Ahnung. Der Niger oder vielleicht der Kongo?« Er schüttelte den Kopf. »Du darfst nicht außer acht lassen, daß wir uns wahrscheinlich weit in der Vergangenheit befinden. Das Klima hat sich in unserer Zeit grundlegend geändert.«
Sie blickte ihn zweifelnd von der Seite an und wollte ihn fragen, ob er etwas herausgefunden hatte, was ihr entgangen war. Sie kannte dieses Spiel zur Genüge. Er hatte mit seinem brillanten Verstand und seiner Logik ein Puzzle zusammengesetzt und erwartete von ihr, seine Gedanken nachzuvollziehen, um letztendlich eine Bestätigung für seine Theorien zu erhalten. Manchmal, wenn sie nicht mehr weiterwußte, gab er ihr kleine Hinweise, aber dieses Mal war in seinem Gesicht keine Bereitschaft dafür zu erkennen. Er blickte mit zusammengekniffenen Augen starr geradeaus. Es dauerte eine Weile, bis sie merkte, daß sein unbewegter Gesichtsausdruck nicht mehr zu dem Spiel gehörte, sondern daß er in diesem Moment etwas entdeckt hatte. Als sie seinem Blick folgte, sah sie im letzten Licht des Tages den Grund für sein Erstaunen. Sie war erschüttert und gleichzeitig sprachlos angesichts dieses majestätischen Anblicks. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte sie etwas derartig Schönes gesehen. Vor ihnen, weiß glänzend im Restlicht der Dämmerung und vollkommen ebenmäßig, lagen die drei großen Pyramiden von Gizeh, umgeben von einer grünen Landschaft und sich im Wind biegenden Palmen. Als sie langsam darüber hinwegflogen überholte sie eine Regenflut, die das ganze Landschaftsgemälde unter ihnen wie mit einem großen nassen Schwamm wegwischte. »O nein!« brachte sie hervor. »Es ist der Nil – und wir befinden uns tatsächlich in der Vergangenheit!« Er nickte zustimmend und sank kraftlos zurück in den Sessel. »Bingo, Mrs. Cochran.«
13. Kapitel Als auf dem Monitor nur noch eine verwaschene Regenwand zu sehen war, ergriff selbst den ansonsten so nüchtern denkenden Kenneth Cochran große Hilflosigkeit. Natürlich trug auch die Erschöpfung einen Teil zu seiner Depression bei, aber gleichzeitig wurde ihm erst jetzt bei diesem trostlosen Anblick bewußt, in welcher Lage sie sich befanden. Würde es eine baldige Rückkehr in ihre Zeit geben? Und wenn, auf welchem Weg? Aus einem nicht nachvollziehbaren Grund heraus konnte er sich nicht vorstellen, daß die Besitzer dieses Fluggeräts ihre vermeintlich blinden Passagiere so einfach wieder zurückschicken würden. Wie würden sie mit dem neuen Leben umgehen können? Sie hatten alles zurückgelassen, auch wenn vieles in seinen Augen nicht unbedingt lebenswichtig war. Ihren Besitz in Oregon, ihre Freunde – nicht sehr viele, aber immerhin. Seine Eltern lebten nicht mehr, und für eigene Kinder hatten sie nie Zeit gehabt, beziehungsweise hatte er vorgegeben, keine Zeit zu haben. Hil hätte bestimmt nicht nein gesagt, wenn er jemals auf das Thema zu sprechen gekommen wäre, aber er hatte es immer gekonnt verstanden, es nicht soweit kommen zu lassen. Seine Gedanken um ihrer beider Leben wirbelten durcheinander. Hils Vater lebte noch, und sie hing sehr an ihm. Das Nachbargrundstück, das sie letzten Frühling dazugekauft hatten, war noch nicht
ganz abbezahlt, und irgendwo lag zu Hause eine Steuernachzahlungsforderung, die bisher ebenfalls noch unbeglichen war. Sie hatten Witze darüber gerissen, ob ihnen ein Beamter vom Finanzamt bis in die Raumstation folgen würde, um den Betrag einzutreiben. Seine Bibliothek und seine Sammlung von klassischer Musik würde ihm fehlen. Die Katze vom Nachbarn, die ab und zu herüberkam und seinen Sessel im Arbeitszimmer für einen sonnigen Nachmittag beschlagnahmte. Alles in allem gesehen, hatten sie recht zurückgezogen gelebt, eigentlich die richtigen Kandidaten für eine Strandung oder für eine Reise ohne Wiederkehr. Als er versuchte, sich sein gewohntes Weltbild ins Gedächtnis zurückzurufen, verspürte er eine Wehmut, wie er sie vorher nie gekannt hatte. Erst jetzt wurde ihm das Ausmaß der Katastrophe so richtig bewußt. Was wohl die Kontroller in Houston für Gesichter gemacht hatten, als das UFO und das Shuttle von den Monitoren verschwanden? Falls sie verschwunden waren. Vielleicht war es ja doch nur eine Art von geistiger Projektion, die sie erlebten. Er schüttelte heftig den Kopf, als wollte er eine lästige Fliege vertreiben. Seine Gedanken drehten sich im Kreis, ohne einen Halt. Er mußte erst wieder einen Ankerpunkt in der neuen Welt finden, um seinem Leben eine neue Orientierung zu geben. Mühsam rutschte er von dem Thronsessel. Irgendwie mußte er seinen Kreislauf wieder in Schwung bringen, und wenn er wie ein Betrunkener auf allen vieren durch den Raum kroch. Er brauchte Ablenkung, wenigstens vorerst. Später dann war immer noch Zeit, Mutmaßungen oder Theorien aufzustellen.
Mit den phantastischen Eindrücken und den gleichzeitig dürftigen Informationen würde er der Wahrheit nicht näherkommen. Er konnte nichts anderes tun, als abzuwarten. Vorsichtig balancierte er sein Gleichgewicht aus und versuchte aufzustehen, was ihm nach einigen Anläufen auch gelang. Er wagte einen vorsichtigen Schritt nach vorn, dann noch einen. Er sollte es nicht übertreiben. Wenn er nicht aufpaßte, konnte er sich bei solchen unkontrollierten Übungen ernsthaft verletzen und auf medizinische Hilfe konnte er vielleicht nicht hoffen. Mit einem leisen Ächzen fiel er auf die Knie und betrachtete den undurchdringlichen Schleier von schwerem Regen auf dem großen Schirm. Würde ihr Immunsystem den neuen klimatischen Bedingungen überhaupt standhalten? Gab es dort draußen Krankheiten, die im 21. Jahrhundert nicht vorkamen? Neben ihm richtete sich seine Frau mühsam auf. Nachdem die Pyramiden hinter dem Regenvorhang verschwunden waren, hatte sie sich stumm zur Seite fallenlassen. »Mein Gott, Ken, das ist ein einziger Alptraum!« Er wußte, was sie damit sagen wollte. »Es geht mir nicht anders. Die Pyramiden von Gizeh, makellos und mit weißem Kalkstein überzogen. Aber eine ist nicht ganz fertiggestellt. Hast du es gesehen? Ich meine, daß an der größten, der Cheops-Pyramide, noch gebaut wird.« Sie schüttelte Kopf. »Möglich. Das habe ich bei dem Regen nicht erkennen können. Aber sie sehen aus, als ob sie gerade neu erbaut wurden. Diese weiße Verkleidung. Selbst in dem schwachen Licht hatte man den Eindruck, sie würden von innen heraus strahlen. Unglaublich.« Mit einem Stirnrunzeln
blickte sie in den Regen hinaus, den man jetzt mehr hören als sehen konnte. »Unglaublich …«, wiederholte sie. »Nur … die Zeit paßt nicht mit dem Klima zusammen. Die Pyramiden wurden vor gut 4500 Jahren erbaut, aber fast ganz Sibirien und halb Europa sind noch unter einer Eisdecke begraben wie am Ende der kleinen Eiszeit. Das aber war vor rund 12 000 Jahren. Auch diese Wetterbedingungen hier am Nil würden zu diesem Zeitpunkt passen. Wir haben den Planeten von oben gesehen. Das ganze Klima der Erde entspricht dem Ende der Eiszeit, auf keinen Fall aber dem Klima, das vor 4500 Jahren geherrscht hat …« Ihr Mann sah sie mit einem Lächeln an. »Also? Was folgern wir daraus?« Sie schloß die Augen und verzog mißmutig den Mund. »Kenneth Cochran, es geht mir gesundheitlich nicht besonders und ich habe keine Lust, mich auf populärwissenschaftliche Diskussionen einzulassen. Ich weiß, worauf du hinauswillst, und ich kann dir mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, daß die Pyramiden nicht älter sind als 4500 Jahre. Das ist bewiesen und eine unumstößliche Tatsache. Komm mir also nicht mit dem Quatsch, sie wären am Ende der letzten Eiszeit erbaut worden, wie ein paar Spinner vor einigen Jahren behauptet haben, um mit ihren wirren Thesen Geld zu machen!« Er hob die Schultern leicht an und kratzte sich am Kinn. »Und wenn sie doch recht haben? Außerdem ist deine Behauptung von den unumstößlichen Beweisen meiner Meinung nach nicht richtig. Soweit ich weiß, gibt es keinerlei Aufzeichnungen aus dieser Zeit. Was die Erbauungszeit der Pyramiden von Gizeh betrifft, hat lediglich Herodot einige Jahrhunderte
vor Christus von jemandem etwas gehört, das dieser wiederum von irgend jemand anderem erfahren hat. Und von einem angeblichen Erbauer, Pharao Cheops, der übrigens damals noch nicht einmal Pharao genannt wurde, existiert lediglich ein kleines Figürchen. Weiterhin wird an seiner, also an der großen Pyramide noch gebaut, und die war ja angeblich als erste fertig …« Mit einer unwirschen Handbewegung schnitt sie ihm das Wort ab. »Ach komm, bitte laß das! Es ist so, wie ich es dir gesagt habe. Glaub es mir einfach!« »Wenn ich mir die Fakten logisch und objektiv darlege …« Ein wütender Blick von ihr ließ ihn innehalten. »Nein, vergiß es!« zischte sie ihn leise an. Dann wendete sie sich ohne ein weiteres Wort Janine Lindemulder zu, die regungslos in einer Embryohaltung auf der Seite lag. Solche Meinungsverschiedenheiten hatte es zwischen ihnen schon immer gegeben und sie verliefen in der Regel recht harmlos. In den letzten Jahren hatte seine Frau ihm zunehmend öfter Paroli geboten, was ihm im Grunde genommen auch sehr entgegenkam, denn dadurch sah er sich dazu gezwungen, seine Argumente noch präziser zu überdenken und darzulegen. Für ihn war das eine Möglichkeit, sein logisches Denken zu trainieren, um absolute Perfektion zu erreichen. Dabei war er durchaus bereit zuzugeben, daß dieses wechselhafte Spiel ein übertrieben arrogantes Denken von seiner Seite war, aber er glaubte, daß sein Verstand, und natürlich auch der von Hilary, letztendlich davon profitieren würden. In manchen Fällen hatte er in der Vergangenheit unvorsichtigerweise dünnes Eis betreten,
denn es gab durchaus Wissensgebiete, auf denen seine Frau ihm weit überlegen war. Meistens flüchtete er dann in die Rolle des Unwissenden, der vorgab, neue Aspekte in die Diskussion einbringen zu wollen und resignierte erst dann, wenn die Argumente der Gegenseite keinen Spielraum mehr zuließen. Jetzt war er unzufrieden. Zum einen, weil er genau wußte, daß Hilary nichts mehr haßte, als über Theorien zu diskutieren, die ihrer Meinung nach auf nicht fundiertem Wissen basierten, und er sie unnötigerweise provoziert hatte. Und zum anderen, weil ihm die Situation allmählich zuviel von seinen geistigen und körperlichen Kräften abverlangte. Er war ungeduldig und wollte ein Ergebnis sehen, ein Ziel erreichen. Im Moment sah es nicht danach aus. Außerdem beschäftigte ihn zunehmend ein ganz anderes Problem. Sie beide – und auch gewissermaßen das Mädchen – hatten das große Glück gehabt, dank der Technik des UFOs heil auf die Erde zu gelangen. Was aber würde mit der Besatzung der Intrepid geschehen? Das Space Shuttle war nicht für einen Flug durch eine dermaßen instabile Atmosphäre geeignet. Weiterhin konnte er sich nicht vorstellen, daß irgendwo auf dem Planeten eine annähernd sichere Landemöglichkeit vorhanden war. In seinen Augen lag die Lösung einzig und allein in einem Rettungsflug mit dem UFO. Die Frage war nur, konnte man die Besitzer dieses ungewöhnlichen Fluggeräts, falls es überhaupt welche gab, dazu überreden, einen derartigen Flug zu unternehmen. Allzulange durfte man damit allerdings nicht warten, denn die Aufenthaltsdauer des Shuttles im Orbit war begrenzt. Eine Woche vielleicht. Trotz der prekären Situation mußte er dennoch schmunzeln. Eine interessante Aufgabe.
Astronaut bittet Aliens, seine Kollegen zu retten. Auf dem Monitor war außer einer undefinierbaren Schwärze nichts zu erkennen. Man konnte nicht einmal beurteilen, ob das UFO noch in Bewegung war oder ob es einfach still in der Luft stand. Sein Körper signalisierte ihm im Augenblick noch nicht einmal Schmerzen. Er fühlte sich wie in Watte gepackt. Am meisten ärgerte ihn seine körperliche Unbeweglichkeit, die ihn zur Untätigkeit zwang, aber daran war in den nächsten Tagen nichts zu ändern. Gerade als er beschlossen hatte, wieder auf den Thronsessel zurück zu kriechen, meinte er ein verwaschenes gelbliches Licht auf dem Monitor zu erkennen. Schließlich schälte sich ein leuchtendes, quer liegendes Rechteck aus dem Dunkel. Das UFO flog auf ein breites Lichtband oder auf eine große Öffnung zu. Ohne das Bild aus den Augen zu lassen, langte er zur Seite und tippte seine Frau an. »Hil, wir sind anscheinend angelangt!« »Was ist das?« Ihr Ärger von vorhin war verflogen. »Keine Ahnung. Vielleicht eine Art beleuchteter Hangar.« Sie kamen langsam näher. Vom Wind gepeitschte Regengüsse blitzten im Gegenlicht auf, aber das UFO schien das Unwetter einfach zu ignorieren und schwebte gleichbleibend ruhig auf das Lichtband zu. Jetzt waren die ersten Einzelheiten zu erkennen. »Sieht tatsächlich aus wie ein Tor zu einer größeren Halle«, sagte Kenneth Cochran. »Da hinten auf halber Höhe ist so etwas Ähnliches wie eine Balustrade oder eine Gangway.« Als hätte das Flugobjekt die Witterung seines Stalls aufgenommen, ruckte es plötzlich aus seiner gemächlichen Fahrt an
und schoß nun förmlich auf den Eingang zu. Von einem Moment zum anderen wuchsen die Seitenwände heran und verbannten Wind, Regen und die Dunkelheit. Ein warmes und angenehm kontrastarmes Licht füllte den Monitor. Trotzdem brauchten ihre Augen einige Zeit, bis sie feine Konturen in dem unscharf wirkenden Raum ausmachen konnten. Ein feines Glühen ging von den Wänden und der Decke aus, das eine genauere Identifizierung von Einzelheiten erschwerte. Dafür war die Rückwand mit der Balustrade, auf die sie nun in langsamerem Tempo zuschwebten, nur spärlich beleuchtet. Sie machte den Eindruck einer Bühne, die für eine Vorstellung vorbereitet war. Wie auf ein Stichwort begann sich die Balustrade in Form und Größe zu verändern. Als der Bug des UFOs nur noch wenige Meter entfernt war, wurden die äußeren Bereiche der Balustrade nach außen geschoben, die Rückwand nach hinten geöffnet und in ein weiches Licht getaucht, so daß dadurch eine imaginäre Weite entstand. Gleichzeitig ging mit dem großen Bildschirm im Innenraum des UFOs eine Veränderung vor sich. Kenneth Cochran konnte nicht genau erklären, wieso er eine Veränderung wahrnahm, aber plötzlich hatte er das Gefühl, die Außenwelt nicht mehr über ein künstliches Medium vermittelt zu bekommen, sondern tatsächlich direkt nach draußen zu sehen. Wahrscheinlich lag es an dem leichten Luftzug, den er verspürte und an dem frischen Geruch von warmem Regen, der ihm entgegenwehte. Auf jeden Fall war auf optischem Wege der Übergang nicht zu unterscheiden gewesen. Die Vorwärtsbewegung des UFOs stoppte in dem Augenblick, als die untere Kante des ehemaligen großen Bildschirmes auf die vordere Begrenzung der Bühnenebene traf. Täuschte er
sich oder hatte er soeben einen sanften Ruck wahrgenommen? Anscheinend galten ab jetzt wieder die gewohnten Gesetze von Massenbeschleunigung und Schwerkraft. Der reale Zustand ließ ihm keine Ruhe. Er kroch schwerfällig nach vorne und tastete mit der Hand nach dem Bühnenboden außerhalb des UFOs. Es gab keinen Zweifel. Was er vorher auf dem Bildschirm gesehen hatte war nun greifbar und echt. Verblüfft wischte er mit seinem Handschuh über den glatten Boden. Vielleicht war der Bildschirm nie ein Bildschirm gewesen und sie hatten durch ein großes Fenster, das nicht aus fester Materie, sondern aus einer Art Energiefeld bestanden hatte, nach draußen gesehen. Vielleicht bin ich auch verrückt und vielleicht bilden wir uns das alles tatsächlich nur ein, dachte er und hoffte inständig, daß dieses Abenteuer ein Hirngespinst wäre, das irgend jemand in ihre Köpfe projizierte. Gerade als er beschlossen hatte, weiter in die Bühne hineinzukriechen, hörte er aus dem hinteren Bereich Stimmen und gleich darauf Schritte, die näher kamen. Erschrocken schob er sich hastig zurück und hielt schließlich schwer atmend auf seitlich abgewinkelten Knien inne. Er konnte nichts anderes tun, als abzuwarten, was da auf sie zukam. In einigen Metern Entfernung bog eine Gruppe von etwa sieben oder acht Menschen um eine Ecke, die als solche in dem diffusen Licht nicht zu erkennen gewesen war. Menschen. Die Gruppe, die in einer humanoiden Fortbewegungsart da auf ihn zu marschierte, glich einem zusammengewürfelten Haufen von bunt gekleideten männlichen Typen, die alle ver-
schiedenfarbige Regenmäntel und Anoraks trugen. Aber sie waren eindeutig menschlicher Natur und sie waren dunkelhäutig. Und sie waren alle von großer Statur, bestimmt über zwei Meter groß. Bis auf die kleine Gestalt, die in der Mitte vorausging und anscheinend die Gruppe anführte. Im Gegensatz zu den anderen hatte sie einen weißen, bis an die Knie reichenden Kittel an und war eindeutig ein Weißer. War das UFO also doch irdischer Herkunft? Er registrierte eine Bewegung neben sich. Hilary war an ihn herangerutscht und auch das Mädchen hatte sich aufgerappelt und blickte der Gruppe neugierig entgegen. Man spürte förmlich das Selbstvertrauen, das von den auf sie zuschreitenden Männern ausging. Es gab keinerlei Anzeichen von Erstaunen oder Zögern. Sie schritten ganz gezielt auf das UFO zu, als wüßten sie von den Passagieren. Als sie noch wenige Meter entfernt waren, hob die Gestalt im weißen Kittel unmerklich die Hand, und ihre Begleiter blieben in einer sanft auswiegenden Bewegung stehen. Die Gestalt selbst trat bis an den Rand der Bühne vor, die nun gleichzeitig die Begrenzung des Thronsaales bildete. Es war ein kleiner Mann mit einem hageren Gesicht und einem kaum sichtbaren Bärtchen über den schmalen Lippen. Auf dem schmalen Nasenrükken saß eine altmodische Brille, die anscheinend oft mit primitiven Mitteln geflickt worden war, denn man konnte deutlich kleine Erhebungen von Lötzinn auf dem billigen Drahtgestell sehen. Er nickte ihnen zu und sagte dann mit überraschend angenehmer Stimme: »Steinvogel. Jonathan Steinvogel.« Verblüfft blickte Kenneth Cochran seine Frau an. Was hatte
das Männchen gesagt? Jonathan. Ein Name. Mit einem deutschen Akzent? War der unscheinbare Mann ein Deutscher? Er selbst beherrschte die Sprache nicht, aber sein Vater war in Deutschland stationiert gewesen und hatte ihm manchmal zackige Sätze in deutscher Sprache vorgetragen. Hilary hatte die deutsche Sprache in der Schule als Wahlfach gehabt, aber das war gut und gern dreißig Jahre her. Sie schüttelte unmerklich den Kopf und bedeutete ihm damit, erst einmal abzuwarten. Der Mann, der allem Anschein nach Steinvogel hieß, deutete auffordernd mit seinem Kinn auf ihn. Die Hände hielt er wie ein Lehrer hinter dem Rücken verschränkt. »Ja … äh … Cochran. Kenneth Abraham Cochran. USA. Ziviles Mitglied bei der NASA«, stammelte er gehorsam. Steinvogel schien einen Moment lang dem Klang von Cochrans Stimme nachzuhorchen. Dann kniff er die Augen hinter den dicken Brillengläsern etwas zusammen und überlegte kurz. »Sie stammen aus Nordamerika, richtig?« fragte er in einem harten und holprigen Englisch. Cochrans Nackenmuskeln spannten sich. Er verspürte keinerlei Verlangen danach, sich wie ein Schuljunge ausfragen zu lassen, auch wenn die Situation noch so ungewöhnlich war. Gerade als er zu einer Gegenfrage ansetzen wollte, kam ihm seine Frau zuvor, die seine widerstrebende Reaktion bemerkt hatte. »Das ist richtig. Wir kommen aus Nordamerika. Aus Oregon. Mein Name ist Hilary Cochran. Wir sind verheiratet«, antwortete sie in Deutsch, was ihr einen strafenden Blick ihres Mannes einbrachte.
Steinvogel ignorierte die freundlich gemeinte Geste von Hilary Cochran und nickte dieses Mal mit dem Kinn in Richtung des Mädchens. »Und sie? Kommt sie auch aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika?« fragte er emotionslos, wieder in die deutsche Sprache wechselnd. Hilary Cochran schüttelte den Kopf. »Janine Lindemulder, sie lebt in Südafrika. Wir haben sie an Bord dieses äh … Flugobjektes gefunden …« »Wieso sitzen sie auf dem Boden?« unterbrach Steinvogel sie knapp. »Und was ist das für eine Kleidung, die Sie da anhaben?« Sie blickte ihn verblüfft an. »Was hat er gesagt?« fragte Kenneth Cochran, ohne Steinvogel aus den Augen zu lassen. Sie erklärte es ihm in knappen Worten und wandte sich dann wieder an den kleinen Mann: »Mein Mann und ich, wir sind Astronauten und wir tragen Raumanzüge …« Er drehte den Kopf ruckartig zur Seite, hob das Kinn und schloß die Augen. Er sah aus, als müßte er überlegen. »Astronauten. Raumanzüge. Sie sind Raumfahrer?« Sie nickte. »Richtig. Wir waren gerade im Orbit, als …« Ohne sie anzusehen, hob er abwehrend die Hand und sagte schroff: »Davon versteh ich nichts. Gedulden Sie sich einen Moment. Ich habe etwas zu arrangieren.« Er machte entschlossen kehrt und ging zu der Gruppe zurück, die im Hintergrund teilnahmslos gewartet hatte. Dort redete er in einer fremden Sprache mit einem der Riesen, wobei er auffallend viel mit den Händen gestikulierte. Es sah fast so aus, als würde er hauptsächlich eine Zeichensprache benützen.
Dem Angesprochenen, der einen gelben Anorak trug, schien die Mitteilung nicht sonderlich zu behagen, denn er widersprach heftig mit rudernden Armen und Handzeichen, die eindeutig als Abwehr zu deuten waren. Schließlich fügte er sich und verließ mit schnellen Schritten die Halle. Steinvogel blieb bei der Gruppe und erteilte weitere Anweisungen. Hilary Cochran drehte sich zu ihrem Mann um, der im Hintergrund geblieben war und übersetzte ihm die letzte Unterhaltung. Dann fügte sie hinzu: »Ken, der Kerl ist mir unheimlich. Ich zittere innerlich vor Angst. Und weißt du, warum: Mich befällt eine schreckliche Ahnung. Vor einigen Jahren gab es doch diese gräßliche Dokumentation von diesem van Helsing, in der er behauptet, Hitler hätte damals schon fliegende Untertassen gebaut. Wie hieß der Titel gleich noch einmal? Ich komm jetzt nicht drauf.« Cochran verlagerte sein Gewicht und versuchte vorsichtig in eine sitzende Position zu gelangen. »Du meinst ›Geheimgesellschaften‹ von Jan van Helsing, wo er behauptet, daß die VrilGesellschaft schon in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sogenannte Jenseitsflugmaschinen gebaut habe.« Er überlegte einen Moment lang und schüttelte dann den Kopf. »Nein, obwohl ich zugeben muß, daß mir der Gedanke auch schon gekommen ist. Ich glaube eher, daß unser Freund hier eine Art Leidensgenosse von uns ist. Ich meine damit, er gehört ebenfalls nicht in diese Zeit. Er kennt keine Raumanzüge und das Wort ›Astronaut‹ ist ihm anscheinend unbekannt. Aber ich muß dir zustimmen. Der Typ ist mir auch nicht ganz geheuer. Wir sollten ihn auf keinen Fall reizen.« Sie warf ihm einen skeptischen Blick zu. Ihr stand absolut
nicht der Sinn danach, diesen Mann auch nur einmal falsch anzuschauen. Wenn einer hier das Potential hatte, jemanden in Rage zu versetzen, dann war das zweifellos ihr Mann. Sie wertete seine Aussage eher als einen Versuch, sich selbst im Zaum zu halten. Steinvogel kam wieder zu ihnen zurück. Inzwischen hatten zwei weitere Dunkelhäutige die Halle verlassen, die restlichen vier blieben weiterhin geduldig auf ihren Plätzen stehen. »Die Lage ist etwas ungewöhnlich«, begann er. »Sie beide, die Raumfahrer, sind meiner Überzeugung nach nicht im ursprünglichen Sinn des eigentlichen Auftrages vorgesehen. Aber es liegt nicht in meinem Aufgabenbereich, darüber eine Entscheidung zu treffen.« Im hinteren Bereich der Bühne waren schnelle Schritte zu hören. Der Mann mit dem gelben Anorak kehrte fast im Laufschritt zurück und blickte sich dabei immer wieder ängstlich um. Er war anscheinend heilfroh, seine Artgenossen wieder wohlbehalten erreicht zu haben und drängte sich erleichtert zwischen die anderen. Steinvogel quittierte sein Gehabe mit einem leichten Zucken seines Bärtchens. »Wie ich bereits erwähnte, kann ich über Ihren Fall keine Entscheidung treffen, aber wir werden später eine Lösung für das Problem finden.« Ein kollektives Aufstöhnen der Gruppe ließ ihn verstummen. Er trat einige Schritte zurück und sagte: »Bleiben Sie am Boden sitzen. Es ist gleich vorbei.« Plötzlich war irgend etwas im Raum. Cochran spürte die Ge-
fahr mehr als daß er sie sah. Eine rauschende Bewegung lag in der Luft, ohne eine konkrete Form anzunehmen. Janine Lindemulder stieß einen erstickten Schrei aus und fuchtelte dabei mit beiden Händen vor ihrem Gesicht herum. Dann kippte sie einfach mit überraschtem Gesichtsausdruck zur Seite weg und blieb regungslos liegen. Hilary Cochran machte eine helfende Geste, ließ aber von dem Mädchen ab und blickte mit Entsetzen in den Augen ihren Mann an. Hier ging etwas vor, was sie sich nicht erklären konnte. Auch Cochran spürte instinktiv die Gefahr, obwohl er nichts verstand. Sein auf Logik trainierter Verstand versuchte, wenigstens eine kleine Information zu erhaschen, aber auch er fand keine Erklärung für die Vorgänge, die im Augenblick abliefen. Vielleicht hatte Steinvogel irgendein Gas in den Raum pumpen lassen. Dem widersprechend stand die Gruppe um den kleinen Mann nach wie vor auf ihrem Platz und beobachtete nun mehr mit Interesse, wie neben ihm seine Frau leblos zu Boden sank. Leuchtende Pixel liefen von rechts nach links durch sein Gesichtsfeld. Die Bildkontraste verliefen von einem dunklen Braun zu einem absoluten Schwarz. Ein metallischer Geschmack hinter der Zunge am Gaumen. Dann brach auch Kenneth Cochran zusammen.
14. Kapitel Die Stimmung in der Besatzung war sehr angespannt. Seit dem Verschwinden des UFOs aus dem Orbit waren fast 30 Stunden vergangen. Der Hauptgrund für die Anspannung lag in den ständigen Querelen und Schuldzuweisungen von Annick Denny an die Adresse von DeHaney. Trotz geduldiger Beschwichtigungsversuche von Kohlschovsky und Schweighart beschuldigte sie den Commander und die NASA immer wieder der Leichtfertigkeit und der fehlenden Verantwortung gegenüber dem ursprünglichen Auftrag. Anfangs hatte DeHaney noch lautstark Paroli geboten, war aber bald zu einer gleichgültig wirkenden Verschlossenheit übergegangen und hatte schließlich die wütenden Anschuldigungen schweigend über sich ergehen lassen. Es war schwierig genug für ihn, sich auf einen nächstliegenden Gedankengang zu konzentrieren, soweit er überhaupt in der Lage war zu entscheiden, welcher nächste Schritt der wichtigste war. Die Situation war immer noch die gleiche. Sie umkreisten in 400 Kilometern Höhe eine klimatisch völlig veränderte Erde. Sein Verstand weigerte sich nach wie vor beharrlich zu glauben, daß sie das UFO auf eine Reise in eine vorzeitliche Vergangenheit mitgerissen hatte. Und selbst wenn ein solches Phänomen möglich war, so hatte er damit gerechnet, daß es nur von kurzer
Dauer sein konnte und sich die ursprünglichen Verhältnisse, wie auch immer, bald wieder stabilisieren würden. Aber nichts dergleichen war geschehen. Die restliche Besatzung hatte nach außen anscheinend weniger Probleme damit, diesen unglaublichen Zustand zu akzeptieren, wenn auch mit unterschiedlichen Reaktionen. Annick Denny hatte sich mißmutig in ihre Koje verkrochen. Jedenfalls hatte er in den letzten zwei Stunden keine Beschimpfungen mehr ertragen müssen. Cooper versuchte unentwegt auf allen möglichen Frequenzen mit irgend jemandem eine Verbindung herzustellen. Zwischendurch versorgte er in rührender Weise alle Besatzungsmitglieder mit Essen und Trinken, als hätte er die Befürchtung, sie könnten wegen geringer Nahrungsaufnahme schlappmachen und ihn mit den Problemen alleine lassen. Kohlschovsky und Schweighart beschäftigten sich mit der digitalen metrischen Kamera und holten Bilder des Planeten auf den großen Plasma-Monitor im Mitteldeck, um einen Überblick über die Wetterverhältnisse zu gewinnen. Zuvor hatten sie aufwendig mit einem Teleskop des Labors in der Cargo Bay das Sonnensystem und die Neigung der Erdachse zur Sonne vermessen. Das Ergebnis war in der Tat erstaunlich und erschütternd zugleich. Nach ihren Berechnungen umkreiste das Shuttle eine Erde, wie es sie vor über 10 000 Jahren gegeben hatte. DeHaney schüttelte unmerklich den Kopf und zog gedankenverloren den Gurt seines Sitzes im Cockpit fester an. Er konnte es nicht begreifen, obwohl ihn der Anblick durch die Fenster eines anderen belehrten. Im Laufe der letzten Stunden jedoch hatte sein Verstand da-
mit begonnen, sich halbwegs mit der Tatsache abzufinden, daß es so ohne weiteres kein Zurück mehr gab, also galt es, sich mit dem nächstliegenden Problem zu befassen, und das war die verbleibende Zeit, die sie im Orbit verbringen konnten. Erfahrungsgemäß würde er sagen, vielleicht noch fünf bis sechs Tage, unter besonderen Bedingungen sogar acht oder zehn, aber dann würde es schon sehr knapp werden mit den Energiereserven. Bis dahin mußten sie einen Plan ausgearbeitet haben, wie und wo das Shuttle auf dieser unwirtlichen Erde landen konnte. Falls sie es überhaupt so weit schaffen würden. An der Prozedur des Abstieges würden sie nichts ändern können. Die Schwierigkeiten würden mit dem ersten Kontakt mit der turbulenten Atmosphäre beginnen. Je weiter sie in ihren ehemals natürlichen Lebensraum hinabstießen, desto lebensgefährlicher würde ihr Flug werden. Das Shuttle war zwar unter extremen Bedingungen getestet worden, aber was sich da unten abspielte, waren keine Bedingungen, sondern Zustände, die heutzutage nur unter katastrophenartigen Wetterverhältnissen vorkamen. Heutzutage. Er lächelte gequält. Das Wort stammte aus der Zukunft. »Äh … Commander DeHaney, kann ich Sie kurz sprechen?« Schweighart hielt sich in respektvollem Abstand hinter ihm an der Wand fest. DeHaney machte eine einladende Handbewegung zum Sitz des Co-Piloten hin. Schweighart war ihm jetzt recht, jeder – und besonders jede andere – wäre ihm nur auf den Magen geschlagen, obwohl sich sein innerer Zustand von Minute zu Minute besserte. Er spürte, daß sich seine Kämpfernatur allmählich wieder zurückmeldete, wenn auch mit manchen Vor-
behalten. »Natürlich, nehmen Sie oder halten Sie Platz, wo immer Sie möchten«, antwortete er jovial. Schweighart wedelte mit einem Packet von Laserprints. »Danke. Ilja und ich haben uns die Erde oder besser gesagt, die klimatische Situation einmal genauer angesehen …« »Was lassen Sie eigentlich in der Zukunft zurück, Schweighart?« unterbrach er ihn, ohne auf die Laserprints zu achten. Der junge Astronaut stutzte zunächst, weil er die Frage nicht sofort verstanden hatte. Dann blickte er nachdenklich zum Cockpitfenster hinaus, wo die verwaschenen Landschaften der Erde träge vorbeiglitten. »Nun ja, ich denke …«, begann er vorsichtig. »Ich muß ganz ehrlich sagen, daß ich mir darüber noch keine allzu großen Gedanken gemacht habe. Es mag in Anbetracht der Tatsachen lächerlich klingen, aber ich habe irgendwie die Hoffnung, daß ich … oder besser, daß wir wieder dorthin zurückgelangen, wo wir herkommen und auch hingehören.« »Aber wenn das nicht geschieht, was würden Sie am meisten vermissen?« Schweighart überlegte und gurtete sich bedächtig an. »Meine Eltern, Freunde.« Er machte eine Pause. »Die Menschen in ihrer gewachsenen Umgebung. Damit meine ich ihre Kultur. Das, was wir alle in den letzten Jahrtausenden geschaffen und vielleicht auch zerstört haben.« »Was ist mit Ihrem Land? Woher aus Deutschland kommen Sie?« »Ich bin in der Nähe von München aufgewachsen. Und mein Land? Es ist nicht so, daß ich nicht mit Deutschland verbunden
wäre, aber ich bin seit meinem 18. Lebensjahr in so vielen Ländern herumgekommen, daß es mir schwerfallen würde zu sagen, ich würde mein Geburtsland vermissen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, das soll keine Verleugnung meiner Herkunft sein. Ich habe in allen Teilen der Welt ein Stück Heimat gefunden, eben vielleicht deswegen würde ich hauptsächlich die Menschen und ihre Geschichte am meisten vermissen.« Mit einem bedächtigen Kopfnicken gab DeHaney äußerlich zu verstehen, daß er verstanden hatte was Schweighart meinte. Innerlich hatte er gar nichts verstanden. Ihm war völlig schleierhaft, wie man seine Heimat in solchem Maße hinten anstellen konnte. Für ihn war sein Land immer der Halt gewesen, der ihm Kraft und den nötigen Antrieb für sein Leben gab. Und sein Glaube an Gott, obwohl er in die Religion bei weitem nicht das Potential investierte, wie es zum Beispiel die Cochrans taten. Seine Gedanken schweiften ab zu dem Ehepaar, das mit dem UFO verschwunden war. Wo mochten sie sich jetzt aufhalten? Die Tatsache, daß von ihnen kein Lebenszeichen zu hören war – auf welchem Weg auch immer – ließ auf nichts Gutes schließen. Eigentlich auf gar nichts, obwohl man davon ausgehen konnte, daß das Ziel des UFOs die Erdoberfläche war. Er hatte keinen Zweifel an der überlegenen Technik dieses Flugobjekts. Wahrscheinlich war es in der Lage, ohne Schwierigkeiten die aufgewühlte Atmosphäre zu überwinden und jeden Punkt auf der Erde zu erreichen. Wir können froh sein, wenn wir mit dem Shuttle überhaupt den richtigen Abstiegswinkel treffen, ohne wieder von der
Atmosphäre abzuprallen. Er wandte sich mit einem ärgerlichen Brummen wieder Schweighart zu. »Entschuldigen Sie, ich war mit meinen Gedanken woanders. Übrigens, ich heiße Jim, ohne den Commander.« Schweighart hielt vor Überraschung die Luft an. »Thomas … oder einfach Tom«, stammelte er schließlich. »O.K. mein Junge, also, was habt ihr herausgefunden?« »Nun, wenn es … dir recht ist, hole ich etwas weiter aus. Ich nehme an, daß dir das meiste schon bekannt ist, aber du kannst mich ja unterbrechen, wenn ich anfange dich zu langweilen.« Mit einem verständnisvollen Nicken bedeutete ihm DeHaney anzufangen. Dabei wunderte er sich zum wiederholten Male über das perfekte Englisch des jungen Deutschen. Er könnte glatt als ein Landsmann von der Ostküste durchgehen. »Wir haben zuerst den Neigungswinkel der Erdachse zur Ekliptik vermessen. Die Erde umläuft die Sonne ja nur scheinbar in einer stabilen und immer gleichförmigen elliptischen Bahn. In Wirklichkeit torkelt der Planet wie ein Kreisel und unterliegt damit kleinen Veränderungen, die jedoch während eines Menschenlebens kaum ins Gewicht fallen. Betrachtet man die Veränderungen über einen größeren Zeitraum, so stellt man fest, daß die geringe Instabilität in der Summe erhebliche Auswirkungen auf das Klima hat. So neigt sich zum Beispiel die Erdachse im Laufe von etwa 26 000 Jahren von einem Winkel von 12 Grad zur Ekliptik zu einem Winkel von 23 Grad und wieder zurück. Im Jahre 2011 betrug der Winkel 21,4 Grad. Vor einigen Stunden hat unsere Vermessung ergeben, daß der Winkel derzeit 14,7 Grad beträgt. Von diesen Zahlen alleine läßt sich
jedoch noch nicht der Schluß ziehen, daß wir uns etwa im Jahre 8 000 v. Chr. befinden. Wir haben weiterhin die Stellungen der anderen Planeten ermittelt und des weiteren die Veränderungen der Sternenkonstellationen. Aber erst der Vergleich mit einer Computersimulation, mit der wir die Bahnen der Planeten zurückverfolgt haben hat uns diese Jahreszahl bestätigt. Wir befinden uns demnach am Ende der kleinen Eiszeit oder lyrischer ausgedrückt, im Zeitalter des Löwen.« »Wegen der Präzession der Äquinoktien«, sagte DeHaney wissend. »Richtig. Die Erde torkelt nicht nur auf ihrer Bahn, sie verändert ihre Stellung zum Sternenhimmel dabei in knapp 72 Jahren um ein Grad. Macht also in etwa 26 000 Jahren eine volle 360-Grad-Drehung, das heißt sie durchläuft in dieser Zeit einmal den ganzen Zodiak. Und jetzt befinden wir uns im Zeitalter des Löwen, während wir zu unserer Zeit nach Sicht der Astrologen gerade das Zeitalter der Fische verlassen haben und die Sonne im Zeichen des Wassermanns aufgeht.« Er wedelte mit den Ausdrucken und steckte das erste Blatt nach hinten. »So lächerlich es klingen mag, diese Angaben sind eigentlich vorerst einmal unwichtig, wenn man von der Information absieht, daß wir uns 10 000 Jahre in der Vergangenheit aufhalten. Wichtig sind diese Fotos von der Erdoberfläche und den Bedingungen, die dort herrschen.« Er blickte DeHaney abwartend an. Er wußte, irgendwann mußten sie wahrscheinlich die Entscheidung für eine Landung treffen, falls nichts Unvorhergesehenes geschah. Bis jetzt hatte sich der Commander noch nicht dazu geäußert und auch beim
Anblick der Fotos verzog dieser keine Miene. Schweighart räusperte sich verlegen. »Nun ja, es ist so. Wir können von unserer Umlaufbahnhöhe nicht die ganze Erde überblicken, aber da wir uns jetzt in einem Orbit befinden, der uns zu nahe an den Nordpol und am anderen Scheitelpunkt fast an die Ausläufer der Antarktis hinabführt, haben wir die Möglichkeit, uns ein umfassendes Bild der klimatischen Verhältnisse des Planeten zu machen. Auf der Nordhalbkugel ist im Augenblick Sommer. Soweit wir feststellen konnten, gibt es Gebiete, über denen permanente Stürme mit viel Regen toben. Andererseits bilden sich Regionen, wo gemessen an einem statistischen Mittelwert des Gesamtklimas nahezu paradiesische Bedingungen herrschen. Zwar immer noch mit immens viel Regen, der zu bestimmten Tageszeiten fast sintflutartig niedergeht, aber auch mit absolut wolkenfreien Abschnitten. Ich kann dazu wegen der Kürze der Beobachtungen noch nichts Endgültiges sagen, meine aber, daß wir diese Gebiete vorrangig unter die Lupe nehmen sollten.« DeHaney zeigte zum ersten Mal so etwas wie Interesse. »Und welche Gebiete wären das zum Beispiel?« »Das nördliche Australien, unter Umständen Indonesien, dann käme der östliche Teil vom Golf von Mexiko in Frage, schließlich das Mittelmeer, die Straße von Hormus. Das sind alles größere Regionen, in denen – unter Vorbehalt bis zum jetzigen Zeitpunkt – Wetterbedingungen vorherrschen, die man als einigermaßen normal bezeichnen könnte.« »Die Straße von Hormus. So, so.« Mit einer energischen Bewegung setzte DeHaney einen Fuß neben die Kontrolltafel und stemmte sich fest in den Sitz. »Hm, jetzt sage ich dir mal etwas,
mein junger Freund: Bisher hat noch kein Commander eines Shuttles seine Fähre notgedrungen woanders gelandet als auf amerikanischem Boden. Und ich werde, so wahr mir Gott helfe, nicht der erste sein, der das tun wird.« Schweighart glaubte, sich verhört zu haben. Mit einem hilfesuchenden Blick drehte er sich zu Kohlschovsky um, der gerade hinter den Sitzen erschien. »Laß das ja nicht unsere streitbare marokkanische Französin hören, Jim«, sagte Kohlschovsky scherzhaft. »Die springt dir an die Gurgel, wenn dir Afrika nicht gefällt.« Als er den eisigen Ausdruck im Gesicht seines Commanders bemerkte, fügte er schnell hinzu: »Jim, da unten existieren im Moment höchstens 40 oder 50 Millionen menschliche Wesen. Sie haben keine Ahnung, was zum Beispiel eine rechtsstaatliche Demokratie sein soll, sie wissen nichts von Amerika, Europa oder Afrika oder einer ähnlichen Bezeichnung, die Grenzen markiert. Es ist völlig gleichgültig, wo wir landen. Wenn wir überhaupt so weit kommen.« Es entstand eine Pause, die DeHaney nutzte, um eine andere Position in seinem Sitz einzunehmen. Schweighart glaubte, darin eine leichte Unsicherheit zu erkennen. »Wir brauchen als Landebahn etwas ähnliches wie einen Salzsee«, erklärte DeHaney stur. »Und so etwas gibt es nur auf dem nordamerikanischen Kontinent.« Kohlschovsky blieb geduldig. »Nicht nur. Aber das ist gar nicht das Thema. Tatsache ist, daß sich in diesem Klima, das momentan vorherrscht, keine Salzseen bilden können. Es ist nicht trocken genug. Selbst wenn in Utah welche existiert haben, liegen sie jetzt unter einer Eisschicht.«
»Dann eben flaches Wasser, wie in den Everglades. Oder liegen die auch unter einer Eisschicht?« Er verstummte, weil er keine weitere Belehrung über geologische Veränderungen entgegennehmen wollte wie gerade eben. »Das wäre vielleicht eine Möglichkeit. Wir werden es überprüfen«, sagte Kohlschovsky versöhnlich. »Aber ich hätte da eine ganz andere Frage. Glaubst du denn, daß du uns überhaupt unversehrt da runter bringen kannst?« DeHaney lachte hart auf. »Gegenfrage: Was ist deine Meinung dazu?« Er winkte jedoch gleich ab. »Geschenkt. Ehrlich, ich weiß es nicht. So, wie es aussieht, würde ich nicht darauf wetten. Naja, vielleicht. Nehmen wir einmal an, wir schaffen den Abstieg aus dem Orbit in die Atmosphäre. Danach müssen wir durch diese Ursuppe. Am besten vermeiden wir alles, was nach Unwetter riecht. Gut, und dann? Wenn wir bis zu einer gewissen Höhe abgestiegen sind, könnten wir mit dem Notfallsystem raus und mit Fallschirmen abspringen, aber das würden unsere Französin und Thomas nicht überleben. Sie waren zu lange in der Schwerelosigkeit. Es gibt auch niemanden dort unten, der uns danach aufsammeln oder medizinisch versorgen könnte. Nein, wir müssen mit dem Baby hier landen. Und dafür brauchen wir einen Landeplatz, den wir von hier aus vorher bestimmen. Wir brauchen unbedingt gute Sicht und wenigstens einigermaßen ruhiges Wetter. Und danach hilft wahrscheinlich nur noch beten.« Kohlschovsky und auch Schweighart nickten. Keine guten Aussichten, aber wenigstens etwas, mit dem sie was anfangen konnten. Ihr Commander schien wieder zugänglicher zu wer-
den. Sie hatten mehr als einen Tag an den Streitereien mit Annick Denny und dem anschließenden gemeinsamen dumpfen Vorsichhinbrüten verloren, ohne daß etwas Konstruktives dabei herausgekommen war. Jetzt wußten sie, daß DeHaney sich mit den Möglichkeiten einer Landung beschäftigte. Und er war der einzige, der sie auch durchziehen konnte. Zu Coopers Fähigkeiten hatten sie kein allzu großes Vertrauen. Als hätte DeHaney ihre Gedanken gelesen, fügte er hinzu: »Noch etwas. Ich reiße mich nicht gerade darum, diesen Ziegelsteinhaufen nach unten zu bringen, aber es gibt, so wie es aussieht keine andere Möglichkeit, und ich werde mich der Verantwortung nicht entziehen.« »Haben wir denn tatsächlich keine andere Möglichkeit?« Kohlschovsky grinste bei dem Ausdruck Ziegelsteinhaufen, wie das Shuttle wegen den Wärmeschutzkacheln manchmal bezeichnet wurde. »Ich fürchte leider nein«, seufzte DeHaney. »Bei all den verrückten Dingen, die wir erlebt haben, hatte ich darauf gehofft, daß die Cochrans es vielleicht schaffen, die lieben Aliens zu überreden, uns hier im Orbit abzuholen. So als eine Art Kavallerie in letzter Sekunde. Oder etwas früher.« Er schmunzelte verlegen. »Wir können das nicht ausschließen«, meinte Schweighart ernsthaft. »Wir sollten die Frequenz von MARTHAS Cyberfon offenlassen, beziehungsweise sie permanent anrufen. Allerdings werden sie uns nur empfangen, wenn wir halbwegs direkt über ihnen stehen. Falls sie außerhalb unserer Orbiterbahn, also an den beiden Polen gelandet sind, stehen die Chancen allerdings schlecht. Aber wenn uns die Aliens schon nicht abholen wollen,
könnten die Cochrans unter Umständen versuchen, uns Informationen zu senden – vorausgesetzt, sie sind noch am Leben.« Der Commander sah sich scheu um und sagte dann leise: »Ich werde Cooper damit beauftragen. Der Junge ist total durch den Wind. Da hat er eine Aufgabe, die ihn etwas ablenkt. Er soll den Recorder mitlaufen lassen, dann verpassen wir nichts, falls wir uns mit anderen Dingen beschäftigen müssen.« Sie vereinbarten, daß sich Kohlschovsky und Schweighart mit Hilfe von Annick Denny die Beobachtung geeigneter Landezonen aufteilten und versuchen sollten, eine wetterbedingte Regelmäßigkeit für die jeweiligen Gebiete zu erarbeiten. Danach wollten sie sich für ein Zielgebiet entscheiden. Das Thema Nordamerika wurde dabei von DeHaney nicht mehr angesprochen, aber Schweighart hatte das Gefühl, daß darüber das letzte Wort noch nicht gefallen war. Als er mit Kohlschovsky auf dem Mitteldeck angekommen war, fragte er ihn leise: »Sag mal, die Sache mit der Landung außerhalb der Vereinigten Staaten, das war wohl nicht sein Ernst, wir leben doch nicht mehr im Mittelalter.« »Noch nicht«, verbesserte ihn Kohlschovsky mit einem Grinsen. »Keine Angst, das hat er nicht ernst gemeint.« Nach einem kurzen Nachdenken fügte er hinzu: »Hoffe ich wenigstens.«
15. Kapitel Kenneth Cochran fühlte sich matt und zerschlagen. Die ganze Welt um ihn herum fühlte sich matt und zerschlagen an. Und es gab viel gelbes Licht. Oder eher bräunlich? Es dauerte eine Weile, bis er überhaupt begriff, was diese Eindrücke bedeuteten. Skeptisch tasteten seine Nervenenden nach negativen Gefühlen wie Schmerzen oder etwas Ähnlichem. Vielleicht sogar irgendwelche positiven Informationen, aber da war nichts. Nur Müdigkeit, zu der er keine Einstellung fand. Und dieses fürchterliche Mattsein. Lediglich ein Rest Neugier und ein letzter Fetzen Ungeduld im Grundmuster seines Charakters hinderten ihn daran, nicht sofort wieder wegzudämmern. Etwas Hartes stupste wiederholt gegen seine Lippen, was ihn ärgerlich machte. Mit einem unwilligen Knurren wollte er dagegen angehen, aber er lag mit dem Kopf auf seinem Arm und seine Hand gehorchte ihm nicht in der gewohnten Schnelligkeit, mit der er die Belästigung hätte wegwischen können. Immerhin verlor die Mattigkeit dadurch an ihrer Beharrlichkeit. Er entschied sich dafür, der Störung dadurch zu entgehen, indem er versuchte, sich wegzudrehen, aber sein Körper schien nicht mehr unter seiner Gewalt zu stehen. Im ersten Moment dachte er, daß ihn jemand an die Unterlage gefesselt hatte, doch dann stellte er fest, daß er sich mit einiger Anstrengung problemlos bewegen konnte. Trotzdem schaffte er es nicht, der
Behelligung zu entgehen. Wieder dieses Stupsen. »Mr. Cochran!« Sein Name, ausgesprochen von einer fremden Stimme mit einem jugendlichen Klang. Weit weg. »Mr. Cochran, können Sie mich verstehen?« Jetzt näher. Besser. Ja, Herrgott, natürlich verstehe ich. »Was … ist … denn?« Er formte die Worte mehr, als daß er sie aussprach. »Hier. Sie müssen unbedingt etwas trinken«, sagte die junge Stimme. Trinken war ein guter Vorschlag. Die Mattigkeit wich noch ein wenig mehr von ihm. Das Stupsen erwies sich als eine Art Strohhalm. Er leckte die Lippen, ohne sie anfeuchten zu können. Erst als er die ersten Tropfen aufgenommen hatte, kehrte die Erinnerung an das Wort Flüssigkeit wieder zurück. »Langsam«, krächzte er. Der Strohhalm wurde weggezogen. Er hob schwerfällig den Kopf. Das Sehen funktionierte. So allmählich setzte auch sein Verstand wieder ein. Hören ging jetzt auch ganz gut. Allerdings mit einem satten Rauschen. »Janine?« Das Mädchen kniete vor ihm. »Ja. Möchten Sie noch mehr?« »Gleich. Hilf mir zuerst hoch. Ich will mich aufsetzen.« Sie zog ihn mit etwas Unterstützung von ihm in eine aufrechte Position. Sofort wurde ihm schwindelig. Er war im Gegensatz zu Janine Lindemulder die Schwerkraft nicht mehr gewohnt.
Ein Schweißausbruch überfiel ihn. Mit einigen kräftigen Atemzügen lehnte er sich gegen eine starre Wand, die einer Zeltplane glich. Sofort ging es ihm besser. Er blickte sich suchend um. »Ihre Frau liegt nebenan. Es geht ihr gut. Sie ist vor einer Stunde aufgewacht, Mr. Cochran.« »Schön. Woher kennst du meinen Namen?« Sie kicherte kindlich und zeigte auf seine Brust. Natürlich, dort war er gut lesbar neben dem NASA-Emblem angebracht. Verwundert stellte er fest, daß er immer noch in seinem Raumanzug steckte. Nach dem Gestank, der ihm von der Halsmanschette her aus dem Anzug entgegenströmte, vermutete er, daß mehr als nur einige Stunden seit ihrer Ankunft vergangen waren. Es wurde Zeit, daß er aus dem Ding herauskam. Janine mußte das auch riechen, aber sie ließ sich nichts anmerken. »O.K.« Er rief die letzten Minuten in sein Gedächtnis, an die er sich noch erinnern konnte. »Dieser Steinvogel. Was hat er mit uns gemacht?« Sie zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich bin ohnmächtig geworden und auch erst vor einigen Stunden wieder zu mir gekommen. Allerdings ging es mir gleich darauf wieder sehr gut. Ich meine …« Er winkte müde ab. Kein Wunder, sie hatte ja keinen viermonatigen Aufenthalt im Weltraum hinter sich. »Wo sind wir hier?« Wieder ein ratloses Gesicht. Allzuviel Informationsvorsprung schien sie nicht zu haben. »Ich weiß es nicht. Es kommt mir wie ein riesiges Zelt vor mit mehreren Abteilungen, in denen Leute behandelt werden. Ich würde sagen, es ist ein
Krankenhauszelt.« Ein Krankenhauszelt. Er hörte immer noch das Rauschen und schüttelte den Kopf. »Meine Ohren. Diese Rauschen …« »O ja, es regnet. Schon seit Stunden. Ich meine, eigentlich, seit ich wach bin.« Er hielt erleichtert inne mit dem Kopfschütteln. »Und? Hast du jemanden gesehen?« »Nein, nur Isel.« »Isel?« Mit einem ungeduldigen Kopfwiegen zeigte sie in eine unbestimmte Richtung und spreizte dabei affektiert ihre Finger. »Ja, Isel. So heißt das Mädchen, glaube ich. Was sie sonst gesagt hat, konnte ich nicht verstehen. Sie war da, als ich aufwachte, und vorhin hat sie mir auch so einen Drink gebracht.« Cochran taxierte sie mit zweifelndem Blick. Entweder sie war etwas zurückgeblieben oder er kam mit der klobigen Sprache der heutigen Jugend nicht zurecht. Auf jeden Fall fehlte ihr ein Gefühl für Zusammenhänge, denn sie schien die Anwesenheit von dieser Isel als etwas vollkommen Normales anzusehen. Daß er diese Person wegen seiner Bewußtlosigkeit nicht kennen konnte, war ihr anscheinend entfallen. Ihm war heiß. Die von Wasser gesättigte Luft in dem kleinen Abteil war stickig und schwül. Er wollte sofort heraus aus dem Anzug und nach seiner Frau sehen. Auffordernd streckte er Janine seinen Arm hin. »Du mußt mir helfen, hier herauszukommen. Siehst du den kleinen eingelassenen Hebel hier am Ärmel? Heb ihn an und drehe anschließend an der Manschette über dem Handgelenk. Gut so, aber in die andere Richtung.«
Sie stellte sich nicht ungeschickt an. Als sie den Handschuh in der Fassung drehte und ihn vom Ärmel des Raumanzuges abzog, gellte ihnen vom Eingang her ein markerschütternder Schrei entgegen. Erschrocken drehten sie sich beide um. Ein hochaufgeschossenes Mädchen hatte beide Hände vors Gesicht geschlagen und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Dann hastete sie mit einem letzten entsetzten Blick auf den Handschuh hinaus. »Das war Isel«, erklärte Janine. »Wahrscheinlich hat sie gedacht, ich schraube Ihnen die Hand ab.« Cochran sah verblüfft den Handschuh an. Ein Volk, das UFOs baut und keinen Handschuh von einem Raumanzug kannte? Unmöglich. Nachdenklich sah er Janine an. Isel gehörte wohl mehr zu einem Untervolk, das den UFO-Erbauern diente. Das würde auch seinen bisherigen Eindruck von den Menschen bestätigen, die er bis jetzt gesehen hatte. Steinvogel ausgenommen, obwohl auch der nicht unbedingt den intelligentesten Eindruck gemacht hatte. Es dauerte nicht lange und Steinvogel kam in Begleitung von Isel und zwei jungen Burschen ins Abteil gestürmt. Der kleine Mann begutachtete mit ungewöhnlichem Interesse das Objekt des Anstoßes. Dann hob er den Handschuh hoch und sagte etwas in einer harten Sprache zu seinen Begleitern. Mit der freien Hand machte er dabei unterstützende Gebärden. Die beiden jungen Männer lachten befreit auf und wandten sich, noch lauter lachend Isel zu, die mit hochrotem Kopf zugehört hatte und schließlich mit in das Lachen einfiel. Auch Janine, die zunächst erschrocken zurückgefahren war, als die Männer so plötzlich aufgetaucht waren, schloß sich ihnen erleichtert an.
Cochran beteiligte sich nicht an dem heiteren Zwischenspiel, in dem sogar dem ernsten Steinvogel ein angedeutetes Schmunzeln auskam, das durch ein leichtes Hochziehen der Oberlippe sichtbar wurde. Was Cochran am meisten faszinierte, war der große Wuchs der Menschen. Auch Isel mußte bestimmt über 1,80 Meter groß sein, ohne jedoch unelegant zu wirken. Ganz im Gegenteil. Sie war eine herbe Schönheit mit einem ovalen feinen Gesicht und großen braunen Augen. Auffallend war – wie auch bei den Männern – die zart angehauchte dunkle Hautfarbe und die geschmeidige Art, sich zu bewegen. Steinvogel gehörte eindeutig zu einer vollkommen anderen Kategorie. Nach dem für ihn anscheinend ungewöhnlichen Heiterkeitsausbruch wies er die beiden Männer und Isel mit einer barschen Handbewegung hinaus. Er drehte sich zu Cochran herum, schob seine billige Brille auf die Stirn und studierte Cochrans Namen auf dem Anzug. Nach einem mißbilligenden Runzeln seines Nasenrückens wegen der Gerüche, die ihm von dem Astronauten entgegenschlugen, wich er zurück und wedelte angewidert mit der Hand. »Nun, Herr Cochran«, begann er in seinem holprigen Englisch. »Ich schlage vor, daß Sie sich zunächst etwas säubern und auch eine adäquate Kleidung anlegen.« Dabei nahm er Janine den Handschuh aus der Hand, setzte seine Brille auf und begutachtete das Stück aus nächster Nähe. »Sehr saubere Arbeit«, murmelte er anerkennend. »Und das Material …« »Auf welche Weise haben Sie uns betäubt – und warum?« fragte Cochran, während Janine ihm den zweiten Handschuh
auszog. Steinvogel reagierte nicht auf seine Frage und drehte weiterhin den Handschuh dicht vor seinen Augen hin und her. »War es ein Gas?« Der Angesprochene fuhr fast zärtlich mit den Fingern über das Metall an der Manschette und legte schließlich den Handschuh weg. »Nein, es war kein Gas, Herr Cochran. Es war eine Injektion, die außer einem Betäubungsmittel noch Stoffe enthielt, die Ihren Körper gegen Krankheiten abwehrfähig machen, gegen die er höchstwahrscheinlich nicht gewappnet war. Außerdem wurde Ihre Erholungsphase zusätzlich verlängert, um sicherzugehen, daß Sie die Mittel auch gut vertragen.« »Schön und gut, aber wie …?« Steinvogel winkte ab und schickte sich an zu gehen. »Später. Erklärungen dieser Art gehören nicht zu meiner Aufgabe. Das soll jemand anders übernehmen. Hier neben dem Eingang rechts geht es zu den Waschgelegenheiten. Passende Kleidung werden Sie dort auch finden.« Er inspizierte mit schnellen Blicken den Raum und ließ die beiden ohne weitere Worte zurück. »Ein komischer Typ«, sagte Janine. »Ich wette, der weiß noch nicht einmal, was ein Raumanzug ist. Und das UFO gehört ihm auch nicht.« Wieder blickte Cochran das Mädchen nachdenklich an. In ihrer einfachen Art hatte sie die gleichen Gedanken ausgesprochen, die er auch schon gehabt hatte. Steinvogel mußte eine Art Aufseher sein. Er stammte aber eindeutig nicht aus diesen geographischen Breiten. Und wahrscheinlich ebenfalls nicht aus
dieser Zeit. Sammelte MARTHA Menschen und Material aus der Zukunft? Wofür? Für den Bau der Pyramiden? Die Pyramiden. Er erinnerte sich wieder an den phantastischen Anblick gegen Ende ihrer Reise. Aber eins nach dem anderen. Er mußte zunächst aus dem nun nutzlosen Anzug heraus und dringend unter eine Dusche, falls es hier so etwas gab. Danach wollte er nach seiner Frau sehen. »Janine, du mußt mir aus dem Raumanzug heraushelfen. Manche Verschlüsse befinden sich auf der Rückseite. Ich erkläre dir, was du machen mußt. Es könnte aber etwas … äh … unangenehm werden, weil …« »Ich weiß schon«, unterbrach sie ihn mit einem verständnisvollen Augenzwinkern. »Meine Urgroßmutter wohnt bei uns mit auf der Farm. Sie ist bettlägerig. Ich habe der Pflegerin oft dabei geholfen, sie sauberzumachen und die Windeln zu waschen.« Urgroßmutter. Er lächelte süffisant und wollte schon zu einer entsprechenden Bemerkung ansetzen, unterließ es dann aber doch. Soweit er es beurteilen konnte, hielt sich das Mädchen prächtig, und er konnte froh darüber sein, ihre Unterstützung zu haben, solange er noch nicht voll einsatzfähig war. Seine anfänglichen Befürchtungen wegen ihrer Labilität waren anscheinend unbegründet gewesen. Vielleicht lag es an ihrer Jugend, daß sie die Umstände so gut verkraftete. Im Augenblick jedenfalls zeigte bei ihr die Tatsache, von ihrer gewohnten Gesellschaft abgeschnitten zu sein und sich in der Vergangenheit zu befinden, jedenfalls keine allzu große Wirkung. »Äh … danke. Sehr gut. O.K. fangen wir an …«
Zwei Stunden später steckte er in einer seltsamen, aber angenehm zu tragenden Kleidung. Der Weg zu den Baderäumen hatte ihn sehr viel Kraft gekostet und die Reinigungsprozedur, die hauptsächlich in einem einfachen Sitzen oder ausgestreckten Liegen unter den stetig fallenden warmen Tropfen aus der Decke bestanden hatte, war lange und genußfreudig ausgefallen. Dabei hatte sein Verstand begonnen, sich mit der neuen Umgebung zu beschäftigen. Im Liegen fragte er sich, wie die Konstrukteure des Zeltes es schafften, den Wasserdruck für die angenehm sacht auf ihn zufallenden Wasserstrahlen bereitzustellen. Irgendwo mußte ein ausreichend großer Speicher existieren, der einen gleichmäßigen Druck garantierte. Er war sich sicher, daß es in dieser alten Welt viel für ihn zu entdecken gab. Allein die Kleider, die er trug, waren ein Beweis für die Anpassungsfähigkeit der Menschen an das offensichtlich schon lang andauernde feuchte Klima und die stetigen Regenfälle. Das leichte Hemd lag am Hals und den Handgelenken durch einen geschmeidigen lederartigen Saum eng an und reichte bis an die Oberschenkel hinunter, wo es durch einen beschwerenden Steg straff gehalten wurde. Unter dem Hemd wurde die Hose durch einen leichten und langen Ledergürtel gehalten, den man mehrmals über den weiten Hosenbund um die Hüfte schlang und einfach verknotete. Auf die hochreichenden Strümpfe, die jeweils am oberen Ende angebrachte Lederriemen besaßen, hatte er wegen der jetzt herrschenden Hitze verzichtet. Sie lagen mit der restlichen Ausrüstung, die er vor den Naßräumen vorgefunden hatte, in einem Bündel neben ihm. Dazu gehörte unter anderem ein jackenähnliches Kleidungsstück, das sich
ebenfalls am Kragen dicht abschließen ließ, außerdem ein fester Hut aus geleimtem Stoff, der ihn in seiner Form an einen Nordwester der Seefahrer erinnerte. Daran befestigt war ein fein gewebtes Netz, das bis auf die Schultern reichte. Er vermutete, daß es seinen Träger gegen Mücken und andere Insekten schützen sollte. Abenteuerlich waren die Stiefel, die in verschiedenen Größen reihenweise auf dem Boden standen. Klobige, über die Knöchel ragende Schuhe mit dicken Profilsohlen aus Holz. Erstaunlich war deren geringes Gewicht. Er schätzte, daß ein einzelner Schuh trotz seiner optischen Größe nicht mehr als ein moderner Sportschuh wog. Alles Sachen, die in ihrer, wenn auch primitiven Perfektion nicht in diese Zeit paßten. Hilary, ähnlich gekleidet wie er, lehnte schweigend an der gegenüberliegenden Zeltwand. Für ein längeres Sitzen fehlte ihr es einfach noch an Kraft. Janine war vor einer Viertelstunde nach draußen gegangen, um sich einmal vorsichtig umzusehen. Anscheinend hatten ihre Entführer kein großes Interesse daran, was sie gerade machten oder wie es um ihre Gesundheit stand. »Ich verstehe das nicht«, beschwerte sich seine Frau. »Da treibt man den ganzen Aufwand, entführt uns in die Vergangenheit und dann beachtet uns keiner.« Cochran schmunzelte. Die Aussage klang grotesk, auch wenn sie der Wahrheit entsprach. »Sie haben uns nicht entführt, Liebes«, entgegnete er sachlich. »Wir sind freiwillig in das UFO gestiegen.« Dann sagte er ernst: »Aber Janine wurde entführt. Und das gibt mir etwas zu denken.« Hilary fuhr hoch, sank aber gleich wieder zurück. »Mein
Gott, und wir schicken sie auch noch hinaus, um zu spionieren!« »Ich glaube nicht, daß sie im Augenblick etwas zu befürchten hat«, beruhigte er sie. »Aber wir sollten vorsichtig sein. Es muß einen Grund dafür geben, warum MARTHA sie von ihrem Pferd geholt hat.« Er lehnte sich ebenfalls an die kühle Zeltwand. »Was mich im Moment mehr beschäftigt, ist die Besatzung der Intrepid«, fuhr er fort. »Ich bezweifle, daß wir Steinvogel dazu bewegen können, sie aus dem Orbit zu holen.« »Falls er überhaupt dazu in der Lage ist«, erwiderte sie spöttisch. »Er ist doch nicht mehr als ein Handlanger. Hast du bemerkt, daß er die meisten Fragen nicht beantwortet oder auf spätere Erklärungen vertröstet? Entweder er kann nicht oder er will nicht. Vielleicht darf er auch nicht.« »Ich tippe auf eine Mischung aus den beiden letzten Möglichkeiten. Das hieße aber, daß es die großen Unbekannten gibt. Und auf die bin ich sehr gespannt.« Für einen Moment hingen sie ihren Gedanken nach. Dann stand Cochran mühsam auf und ging vorsichtig einige Schritte hin und her. Er mußte irgend etwas tun, selbst wenn es nur ein unbeholfener Anfang zur Wiederherstellung seiner Kräfte war. Mit staksigen Bewegungen erreichte er den Eingang zu ihrem Aufenthaltsort und schob umständlich die schweren Zeltplanen auseinander. Den Gang nach rechts zu den Duschräumen kannte er schon. Nach links führte er offensichtlich nach draußen, aber nach ein paar Metern verhinderten weitere Planen einen erforschenden Blick. »Meinst du, daß es Aliens sind?« fragte Hilary, als er auf
wackligen Beinen zu ihr zurückkam. Er antwortete nicht sofort. Alle Einrichtungsgegenstände in dem Flugobjekt deuteten auf eine menschliche Konstitution der Fremden hin, nur mußten sie größer sein, als ein Erdenbewohner des 21. Jahrhunderts. Die Eingeborenen, wie er sie bezeichnete, waren anscheinend alle von großer Statur, aber selbst für den roten Thronsessel wären sie nicht groß genug. Waren die unbekannten Riesen von einer Körpergröße von mehr als zwei Metern? In dem Fall wäre es kein Wunder, wenn der schmächtige Steinvogel einen Heidenrespekt vor ihnen hätte. Hatte nicht auch der eine Eingeborene Angst vor irgend etwas gehabt, kurz bevor sie betäubt wurden? Wobei er wieder bei der mysteriösen Art und Weise der Betäubung angelangt war. Er konnte sich den Vorgang einfach nicht erklären. Steinvogel hatte sich insoweit zu einer Erklärung hinreißen lassen, als er sagte, es wäre eine Injektion gewesen. Nur, wer hatte ihnen die Injektion verabreicht. Konnten sich die Riesen unsichtbar machen? Hier kam er mit seiner sonst so oft angewandten Logik nicht weiter und gerade das ärgerte ihn maßlos. Er mußte eine Möglichkeit übersehen haben. Mit sturem Eifer holte er die Szene immer wieder vor sein geistiges Auge, aber er kam nicht dahinter. Moment, war da nicht kurz vor seiner Bewußtlosigkeit ein Rauschen in der Luft gewesen? Nein, kein Rauschen, es war ein hoher Ton … ein Sirren! Überrascht blieb er stehen und schloß die Augen. Ja, ein feines Sirren dicht an seinem Ohr. Wie ein Moskito an einem schwülen Sommerabend! Und hatte nicht Janine wie nach einem Insekt geschlagen, kurz bevor sie ohnmächtig wurde!
»Ken, was ist mit dir? Wird dir schlecht?« Er wedelte ablehnend mit der Hand. Die Augen immer noch geschlossen. Ein Insekt. Winzig klein. Konnte man Insekten dahingehend beeinflussen, eine bestimmte Person zu stechen? Wohl kaum. Die Frage war, ob die Unbekannten dazu in der Lage waren. Eine interessante Theorie. Er nahm sich vor, Steinvogel bei nächster Gelegenheit darauf anzusprechen. Er würde zwar bestimmt keine Antwort erhalten, aber er konnte immerhin die Reaktion auf seine Frage beobachten. »Ken?« Hilary hatte sich aufgerappelt und schüttelte ihn besorgt am Arm. »Ja, was ist denn?« »Herrgott noch mal, hast du mir eine Angst eingejagt! Was hast du denn?« Bevor er antworten konnte, wurde die Zeltplane zurückgeschlagen und Janine trat mit zwei jungen männlichen ›Eingeborenen‹ in den kleinen Raum. Nicht schlecht, dachte er. Janine hat wohl erste Bekanntschaften geschlossen. Das kam ihm gelegen, denn es war an der Zeit, Verbündete zu gewinnen. Jetzt konnte man einen Anfang machen. »Das sind Seytofer und Casaltz«, stellte sie die beiden vor. Beim Aussprechen der Namen verzog sie fragend das Gesicht und blickte die großen schlanken Menschen zweifelnd an. Anscheinend war sie sich nicht sicher, ob sie ihre Namen richtig ausgesprochen hatte. Die beiden strahlten Janine jedoch zufrieden an. Dann sagte der eine mit kehliger Stimme etwas, das wie ›Seytofer‹ klang und fuhr mit der offenen Hand dicht an seinem
Ohr entlang. »Ach ja, ich hab was vergessen«, erklärte sie. »Sie verständigen sich nicht nur mit der Stimme, sondern auch mit den Händen. Und das gleichzeitig. ›Seytofer‹ alleine ausgesprochen ist nicht der ganze Name. Diese schräge Handbewegung vor dem Ohr gehört also dazu, sonst ist der Name nicht vollständig.« Sie sprach den Namen aus und fuhr mit der Hand an ihrem Ohr entlang, was einen begeisterten Ausruf von Seytofer auslöste. Janine deutete auf Casaltz, artikulierte seinen Namen und klopfte sich nach kurzem Nachdenken mit der Hand an die Wange. Begeisterung nun auch bei Casaltz. »Janine«, sagte Janine und fuhr mit der linken Hand andeutungsweise durch ihr blondes Haar. Seytofer und Casaltz hatten ihr aufmerksam zugehört und zugesehen und formten nun akustisch und optisch ihren Namen. Sie nickte ihnen zufrieden zu, und die samtbraunen Menschen nickten zurück. Dabei führten sie die rechte Hand in einer abgehackten Bewegung am Kinn vorbei. Cochran war nicht sicher, ob das Nicken in ihrer Kultur eine Zustimmung war oder ob sie nur höflicherweise genickt hatten, aber das würde er früher oder später auch noch herausfinden. Die Geste mit der Hand gehörte aber wohl dazu. Die drei jungen Leute blickten ihn und seine Frau abwartend an. »Jetzt müßt ihr euch vorstellen«, forderte sie Janine auf. »Und die Handbewegung nicht vergessen. Ihr könnt euch was einfallen lassen, so wie ich.« Sie fuhr sich leicht durchs Haar.
Kenneth Cochran sah seine Frau an. »Du zuerst.« »Na gut.« Sie dachte kurz nach und trat einen Schritt nach vorne. »Hilary.« Unterstützend legte sie ihre rechte Hand mitten auf die Stirn. Typisch, dachte Cochran. Seine Frau war der festen Überzeugung, daß sie ein sogenanntes drittes Auge besaß, mit dem sie Empfindungen erspüren konnte. Er hätte darauf wetten mögen, daß sie eine Geste in dieser Richtung wählen würde. Seytofer und Casaltz wiederholten konzentriert ihren ›Namen‹. Auch Janine schloß sich ihnen an. »Jetzt du«, stupste ihn Hilary an. »Ja, gleich.« Nach einem Zögern sagte er: »Cochran.« Und deutete mit dem Zeigefinger an seine Schläfe. »Kenneth!« Hilary patschte mit der Hand über seinen Hinterkopf und löste damit bei den jungen Burschen ein erstauntes ›Oh, oh‹ aus. »Benimm dich! Such dir etwas anderes aus! Das sieht aus, als wenn du jemandem einen Vogel zeigst, wenn du dich vorstellst! Los, mach schon, bevor die das übernehmen! Und benutze gefälligst deinen Vornamen!« »Jaja, ist ja schon gut!« Er fuchtelte abwehrend mit den Händen, um seine Handbewegung für null und nichtig zu erklären, was die Folge hatte, daß die beiden ein eingeschüchtertes ›Kokr’n‹, an-die-Stirn-deuten und Händefuchteln wiederholten. Es dauerte eine Weile, bis er ihnen klarmachen konnte, daß er einen neuen Versuch starten wollte. Schließlich trat auch er einen Schritt nach vorne.
Beinahe hätte er sich verbeugt, hielt aber gerade noch rechtzeitig inne. Warum eigentlich nicht? Sollen sie sich doch alle in Zukunft vor mir verbeugen, wenn sie mich ansprechen. Er ließ es dann sein. Außerdem hätte seine Frau bestimmt wieder etwas dagegen gehabt. »Kenneth«, sagte er laut und deutlich. Er konnte es nicht lassen und sprach den vollständigen Vornamen mit dem englischen ›th‹ aus. Mal sehen, wie sie damit zurechtkamen. Natürlich hatte Hilary seine kleine Boshaftigkeit erkannt und funkelte ihn deswegen böse an. Dann deutete er behutsam mit zwei nebeneinandergelegten Fingern an seine Stirn, um damit auszudrücken, daß er viel mit dem Kopf arbeitete. Er war sich nicht sicher, ob diese Menschen wußten, daß das Gehirn verantwortlich für Denkprozesse war, aber einen Versuch war es allemal wert. Ehrfürchtig wiederholten die beiden seinen Namen mit einem scharfen ›s‹ am Ende und führten die dazugehörige Geste aus. Ob sie den tieferen Sinn verstanden hatten, konnte er daraus jedoch nicht entnehmen. »Prima«, rief Janine aus. »Nachdem wir uns vorgestellt haben, machen wir einen kleinen Ausflug. Keine Angst, nicht weit. Nur vor das Zelt. Draußen ist es hell und seit einigen Minuten scheint auch ein wenig die Sonne. Ich habe die beiden mitgebracht, damit sie euch nach draußen tragen. Euch werden die Augen übergehen, wenn ihr seht, was da draußen abgeht!« »Danke, aber ich schaffe das auch alleine«, entgegnete Cochran mürrisch. »Auch gut. Hilary, wie steht es mit dir?« Janine reagierte we-
gen seiner Ablehnung nicht im geringsten beleidigt. Hilary Cochran dagegen schien der Gedanke zu gefallen. »Gerne. Wer weiß, ob ich jemals wieder in den Genuß komme, von zwei hübschen jungen Männern getragen zu werden!« Janine lachte auf und bedeutete den beiden mit fröhlichen und umständlichen Handzeichen, der Astronautin beim Aufstehen zu helfen und eine provisorische Trage mit den Händen zu formen. Sichtlich amüsiert setzte sich Hilary Cochran auf die dargebotene Schaukel und ließ sich auf starken braunen Händen und Armen wie eine vornehme Dame hinaustragen. Cochran schnaubte verächtlich, als er das sich entfernende Lachen von seiner Frau und Janine draußen auf dem Gang hörte. Mühsam richtete er sich auf. Schon bald bereute er es, auf die Hilfe von Seytofer oder Casaltz verzichtet zu haben, denn es gab an den glatten Zeltbahnen keine Möglichkeiten zum Festhalten oder Abstützen. Nachdem er einige Meter halb gehend und halb kriechend zurückgelegt hatte, fand er einen Holzstecken, der an der Wand lehnte und wohl dem Zweck diente, eine Plane offenzuhalten. An dem einen Ende befanden sich noch Wurzelreste, die kunstvoll zurechtgeschnitten waren und dadurch eine Art Haken abgaben. Mit einem zufriedenen Seufzer klemmte er sich den Stecken unter die Achselhöhle und stakste mit dem zusätzlichen dritten Bein aus Holz den Gang entlang. Nach wenigen Metern stieß er auf lange, von der Decke herunterhängende einzelne Streifen, die einen einfachen Durchgang zum nächsten Raum ermöglichten. Vorsichtig teilte er mit dem Stecken zwei schmale Planen und lugte durch den Spalt.
Ein großer Schlafraum. Lange Reihen von einfachen Hängematten waren an der von ihm einsehbaren Wand befestigt. In einigen lagen Menschen, die meisten waren jedoch leer. Weiter hinten erhellte ein Sonnenstrahl die gelbe Zeltwand. Entschlossen humpelte er durch die Streifen und schickte sich an, den Raum zu durchqueren. Ein Lazarett. Der Schlafraum entpuppte sich als ein Lazarett. Richtig, Janine hatte ja von einem Krankenhauszelt gesprochen. An der linken Wand, die er vom Eingang her nicht gesehen hatte, standen mehrere Operationstische oder genauer – Versorgungsbänke für Erste Hilfe. An einem dieser Bänke kümmerten sich mehrere ›Operateure‹ um einen Patienten, der laut wehklagend auf dem Rücken lag. Eine häßliche offene Fleischwunde lief von seiner Hüfte bis herunter zum Oberschenkel. Cochran glaubte, sogar den freigelegten Knochen sehen zu können. Er wollte näher herantreten, wurde aber energisch von den Akteuren rund um den Tisch zurückgewiesen. Ohne ihn weiter zu beachten, beugten sie sich danach wieder über den Verletzten. Cochran stand noch eine Weile unschlüssig unweit des Tisches und versuchte herauszufinden, wie sie die Wunde behandeln würden, bis ihn ein großer hagerer Eingeborener verscheuchte, der gerade einen großen Kübel Wasser heranschleppte und mit unmißverständlichen Gesten zum Ausgang deutete. Cochran atmete tief durch, warf noch kurz einen skeptischen Blick zurück und machte sich dann auf seine provisorische Krücke gestützt auf den Weg nach draußen. Vor dem halb geöffneten Ausgang, durch den helles Sonnenlicht nach innen fiel, blieb er stehen. Welches Schauspiel ihn
wohl erwarten würde? Janine hatte angedeutet, daß dort draußen ›was abgehen‹ würde. Nun, das war wohl eher die übliche übertriebene Aussage eines Teenagers. Er würde es gleich selbst beurteilen können. Kurz entschlossen schlug er die Plane beiseite und trat ins Freie. Sanftes und weiches Licht flutete ihm entgegen. Trotzdem traf ihn die Helligkeit unvermutet und schmerzhaft. Die Sonne stand hoch am Firmament. Er legte schützend eine Hand vor die Augen und blinzelte in eine grandiose Kulisse. Mein Gott, was für ein Anblick! So etwas hatte er noch nicht einmal auch nur annähernd in seiner kühnsten und gewagtesten Vorstellung erwartet. Das riesige Zelt, das er eben verlassen hatte, stand auf einer kleinen Anhöhe, auf der ein Sockel aus grob zusammengefügten Blöcken angehäuft war. Vor Cochran öffnete sich eine weite Ebene, die anscheinend hoch über dem übrigen Land lag. Er konnte jedenfalls in dem dunstigen Licht keinen Horizont ausmachen, der nicht von einem diffusen Himmel begrenzt war. Rechts und links unter ihm lagen endlose Reihen von ähnlichen Zelten, die anscheinend den unterschiedlichsten Zwecken dienten. Ganze Völkerscharen waren zwischen den Zeltreihen unterwegs. Ein stetiges Hin und Her bot sich ihm von seinem erhöhten Standpunkt. Dazwischen ragten einzelne Kamele und Elefanten hervor, die mit Lasten bepackt waren. Laute Rufe unterbrachen ein eintöniges Stimmengewirr, das ihn wie ein unruhiger Klangteppich umfloß. Aber das bunte Treiben wirkte nahezu anrührend und trivial gegenüber den drei gewaltigen und künstlichen Steinbergen, die
matt glänzend im weichen Sonnenlicht lagen. Die Pyramiden von Gizeh. Ihre geraden Kanten, die in himmlischen Linien steil nach oben flohen, fügten sich nahtlos in die pastelle Mittagslandschaft und bildeten dennoch einen harten Kontrast zu den geradezu kümmerlich erscheinenden Zelten und der wogenden Menschenmasse. Cochrans Verstand weigerte sich, dieses Bild zu verarbeiten und zu akzeptieren. Wie ein Gemälde projizierten seine Augen den optischen Eindruck auf seine Netzhaut, ohne eine unterstützende Rückführung von Informationen von seinem Gehirn zu erhalten. Was er da sah, war einfach nicht möglich. Der Anblick der Pyramiden und die trotz der lärmenden Menschenmenge fast schon ausgelassene Stimmung paßten einfach nicht zusammen. Das ganze Treiben um ihn herum galt unmißverständlich dem Bau der Pyramiden und die Umgebung fieberte anscheinend der Fertigstellung entgegen, denn das größte Monument von den dreien, die Cheops-Pyramide war noch nicht vollständig. Es fehlten noch ungefähr 30 Meter bis zur Spitze. Aber wo waren die erforderlichen Hebelmaschinen oder Rampen, um die Steinblöcke nach oben zu schaffen? Wurde MARTHA als Arbeitsmaschine eingesetzt, um die tonnenschweren Blöcke dort hinauf zu transportieren? Sollte die Lösung für ein Problem, über das sich alle Gelehrten bisher den Kopf zerbrochen und mühsam unbefriedigende Theorien konstruiert hatten, so einfach und gleichzeitig so phantastisch sein? Sein Gefühl sagte ihm nein. Wozu dann all diese Menschen
und die aufwendig gebauten Kanäle, die sie auf dem Flug hierher gesehen hatten? Wieso eine Reise in die Zukunft, um Material und Menschen hierherzubringen? Wozu überhaupt Pyramiden? Grübelnd schleppte er sich einige Meter weiter. Seine Frau und Janine saßen auf einem rohen Holzstamm, der direkt vor einem mannshohen Steinblock lag. Sie lehnten mit dem Rücken an dem Block und betrachteten schweigend die Szene vor sich. Einige Meter rechts daneben saßen die beiden Jünglinge. Sie blickten ihn ehrfurchtsvoll mit großen Augen an, als er greisenhaft langsam heranschlurfte. »Die Cheops-Pyramide wurde also als letzte der drei Pyramiden von Gizeh gebaut«, stellte seine Frau nüchtern fest, als dokumentierte sie eine naturwissenschaftliche Abhandlung vor Ort. Die Erkenntnis, daß sie praktisch persönlich am Bau der Pyramiden von Gizeh teilnahm, hatte sie offensichtlich geistig schon längst bewältigt. »Es sieht ganz danach aus«, murmelte Cochran mißmutig und nahm ebenfalls auf dem Holzstamm Platz. Von der Seite kannte er seine bessere Hälfte noch gar nicht. So extrem sachlich veranlagt war sie bisher nie gewesen, daß sie von der überwältigenden Schönheit dieser Bauwerke und der Umgebung nicht übermäßig beeindruckt wäre. Oder spielte sie ihm dieses übertrieben wissenschaftliche Interesse nur vor, um ihm zu imponieren? Wie dem auch sei, er hatte im Augenblick nicht die Energie, über verborgene wissenschaftliche Eigenschaften von Hilary zu grübeln. Ihm reichten schon die Rätsel der vergangenen 48 Stunden, von denen er noch nicht einmal ansatzweise ein
einzelnes lösen konnte. Außerdem hatte er furchtbare Rückenschmerzen. Seine Bandscheiben protestierten gegen die ungewohnte Erdenschwere, aber sooft er auch seine Sitzposition änderte, keine brachte eine Linderung. Schließlich hing er in einer gekrümmten Haltung halb auf dem Baumstamm, halb lehnte er gegen den Steinblock, das Gesicht von den gewaltigen Bauwerken abgewandt. Die Sonne tat ihm gut, auch wenn sie nur als schwacher gelblicher Ball in der dunstigen Atmosphäre zu sehen war. Ab und zu schielte er unter fast geschlossenen Augenlidern hinüber zu den Pyramiden. Sie ragten wie eine machtvolle Denkaufgabe vor ihm auf. An der Cheops-Pyramide wurde noch gebaut. Rund um die oberste Steinlage hingen merkwürdige muschelartige Gebilde. Sie sahen aus wie riesige Baumschwämme und mußten mit ihren halbkreisartigen Formen bestimmt über zwanzig Meter messen. Es war ihm völlig schleierhaft, welche Funktion sie erfüllen sollten. Ganz offensichtlich hingen sie aber mit der Vollendung des oberen Teils der Pyramide zusammen. Vielleicht Aufzüge, mit denen man die Blöcke an Seilen nach oben schaffte? Nein, unmöglich, das würde zu lange dauern, und außerdem waren an den glattpolierten Seiten der Pyramide keinerlei Spuren zu entdecken. Ganz abgesehen davon würde die Reibung an den schrägen Flächen viel zu groß sein. Und selbst wenn diese Schwierigkeiten bewältigt waren, wie oft würde es vorkommen, daß ein Aufzug bei einem Mißgeschick unkontrolliert nach unten raste und dabei Menschen verletzte oder gar tötete? Gab es deswegen das Lazarett? Bei dem Begriff Reibung fielen ihm wieder die rätselhaften
Kanäle ein, die sie während des Fluges hierher gesehen hatten. Zwei Kamele hatten in einem gleichmütigen Trott einen Felsblock hinter sich hergezogen. Die Menschen mußten irgendeine Möglichkeit gefunden haben, die Reibung der Felsblöcke auf dem Untergrund soweit zu reduzieren, daß es ein leichtes war, sie von der Stelle zu bewegen. Blieb aber immer noch die Masse von mehreren Tonnen, die man erst einmal beschleunigen mußte. Immerhin, mit dem Heruntersetzen der Reibung wäre ein großes Problem gelöst … Cochran war nahe dran einzuschlafen. Immer wieder zuckte er zusammen, nachdem ihm die Augenlider schwer geworden waren und er zur Seite rutschte. Erst als es wieder zu regnen begann und erfrischende Tropfen auf sein Gesicht fielen, ruckte er erschrocken hoch. Janine flüchtete vor den schweren Tropfen und rannte an ihm vorbei ins Zelt. Als er, benommen wie er war, nicht sofort auf den Regen reagierte, rüttelte ihn Hilary im Vorbeigehen dermaßen heftig an der Schulter, daß er fast von dem Holzstamm gerutscht wäre. Murrend richtete er sich auf und blickte auf die Menschen unten zwischen den Zelten, die sich von diesem plötzlichen Wetterumschwung nicht beeindrucken ließen. Unbeirrt gingen sie ihren gewohnten Aufgaben nach. Lediglich die hin und her wogende Farbe ihrer Bekleidung hatte sich geändert, als sie Kapuzen überzogen und die merkwürdigen Hüte zum Schutz gegen den Regen hervorkramten. Ein undurchdringlicher Wasservorhang zog von Westen her vor die Pyramiden und ließ sie völlig verschwinden. Von einem Moment zum anderen schien die Welt nur noch von seinem Standpunkt bis zu den ersten Zelten unter ihm zu
reichen. Er richtete seinen Blick zum Himmel und genoß die erfrischende Kühle der Wassertropfen, die in einem gleichbleibenden Rhythmus auf ihn niederprasselten. Gleichzeitig wurde ihm bewußt, wie sehr sie ab jetzt von der Natur und von dem geheimnisvollen Volk abhängig waren. Und von den Unbekannten, die in dieser Zeit herrschten. Er mußte auf dem schnellsten Weg einen Kontakt zu ihnen herstellen. Sie konnten der Besatzung des Space Shuttles helfen – wenn sie bereit dazu waren. Aus seiner Sicht war das die einzige Lösung. Andernfalls war eine Katastrophe nicht mehr abzuwenden. Steinvogel mußte her, und zwar so schnell wie möglich.
16. Kapitel In der Intrepid war es so kühl wie in einer schattigen Kapelle. DeHaney hatte nach einer knappen Ankündigung alle Versorgungssysteme auf Minimalstatus heruntergefahren. Diese kleine autoritäre Maßnahme ohne vorherige Absprache mit der Crew hatte eine nicht zu unterschätzende Signalwirkung auf die Besatzungsmitglieder. Kurz zuvor hatte immer noch eine lethargische Stimmung an Bord geherrscht, die in ihrer Hilflosigkeit und Ohnmacht gegenüber den Geschehnissen eine unterschwellig explosive Mischung gebildet hatte. DeHaney hatte instinktiv zum richtigen Zeitpunkt das Ruder wieder in die Hand genommen. Selbst Annick Denny, die in den vergangenen Stunden keine Gelegenheit ausgelassen hatte, versteckte aggressive Spitzen dem Amerikaner gegenüber abzuschießen, quittierte die Entscheidung mit einem beifälligen Kopfnicken. Als der Commander aus dem Cockpit kam, spürte er die Veränderung sofort. Alle Köpfe drehten sich schweigend und erwartungsvoll zu ihm hin. Er tat so, als bemerke er es nicht. Sein Charakter war trotz seiner Tendenz zur Sturheit zu feinsinnig, um die Gelegenheit für eine Machtdemonstration zu nutzen. »O.K. Ich will versuchen, ehrlich zu euch zu sein. Ich muß gestehen, daß ich mir bis jetzt etwas vorgemacht habe. Ich dachte, die Probleme würden sich vielleicht von selbst lösen.«
Er machte eine Pause und blickte geistesabwesend Cooper an, der ihn zweifelnd ansah. Nach einer Weile fuhr er fort: »Wir sind also auf uns alleine gestellt. Im Klartext heißt das, daß wir mit dem Shuttle auf der Erde landen müssen. Spätestens in einer Woche. Ein früherer Zeitpunkt wäre jedoch besser. Alle Systeme laufen ab jetzt im Sparmodus. Jegliche Energie, die wir im Moment nicht benötigen, wird abgestellt. Damit meine ich nicht nur die technischen Geräte. Wir selbst müssen uns nun ausschließlich auf die Landung konzentrieren und darauf hinarbeiten, die bestmöglichen Voraussetzungen dafür zu schaffen.« Schweigen. Annick Denny hob kurz zu einer schwachen Entgegnung an, senkte dann aber einsichtig den Kopf. »Wir haben zwei Probleme zu lösen. Eines, das vielleicht keines ist, und ein großes. Mit dem ersten meine ich die Beschaffenheit der Atmosphäre. Reicht sie weiter in den Weltraum hinaus oder ist sie von der gleichen Beschaffenheit wie zu unserer Zeit? Davon hängt der Eintrittswinkel des Shuttles ab. Ich brauche Untersuchungen und Meinungen, egal wie weit hergeholt sie sein mögen. Das zweite Problem ist der Landeort. Wo gibt es stabile Wetterverhältnisse, oder besser: Wie können wir einige Umlaufbahnen vor der Landung sichergehen, daß in dem ausgesuchten Gebiet keine plötzlichen klimatischen Veränderungen auftreten. Ilja, Thomas und Ms. Denny haben sich damit schon ausgiebig beschäftigt. Ich würde vorschlagen, daß …« »Ich heiße Annick.«, sagte die Französin leise. Nach einem kurzen Zögern fügte sie hinzu: »… bitte!« Einen Augenblick lang hing eine sentimentale Erleichterung
im Raum. DeHaney löste sich vorsichtig von der Wand und streckte ihr die Hand entgegen. »Jim. Aber bitte nicht Jimbo, damit nervt mich schon mein Vater zur Genüge!« Ein befreiendes Lachen von allen war die logische Folge. Annick Denny klatschte andeutungsweise gegen seine Hand und besiegelte damit einen vorläufigen Waffenstillstand. Schweighart meldete sich zu Wort. »Jim, eine Frage: Wie groß sind die Chancen, daß wir eine … äh … Notlandung mit dem Shuttle überleben? Versteh mich bitte nicht falsch, aber … ich meine damit, gibt es denn Erfahrungswerte oder gar Tests, die etwas über die Stabilität der Flugzelle des Shuttles bei einer Crash-Landung aussagen?« Als DeHaney mit ernstem Gesicht lediglich seine Schultern leicht anhob, antwortete Cooper anstelle des Commanders: »Nicht mehr oder weniger als bei einem normalen Verkehrsflugzeug. Ein großes Handicap ist allerdings die hohe Landegeschwindigkeit von mehr als 250 Meilen in der Stunde. Vielleicht sind die Überlebenschancen sogar etwas besser wegen der 30 000 hitzebeständigen Kacheln an der Unterseite des Shuttles. Wir brauchen auf jeden Fall eine ebene Fläche, optimal wäre flaches Wasser. Noch wichtiger allerdings ist eine freie Sicht und einigermaßen gutes Wetter ohne Windböen. Wir haben nur einen einzigen Versuch ohne nennenswerte Korrekturmöglichkeiten. Zusätzlich erschwerend kommt hinzu, daß wir beim Anflug auf eine mögliche Landebahn keinerlei Navigationshilfen haben werden, weshalb es wichtig wäre, schon vorher natürliche Landschaftsformationen auszumachen, an denen wir
uns orientieren können. Ich befürchte aber, daß es uns nicht gelingen wird, einen aus dem Orbit ausgemachten Landeplatz punktgenau anzufliegen. Das mögliche Landegebiet sollte so groß wie möglich sein, wenn wir eine Chance haben wollen, heil anzukommen.« Er zögerte einen Moment und fügte dann hinzu: »Ich möchte hinsichtlich unserer Überlebenschancen kein Spielverderber sein, aber die hohe Landegeschwindigkeit ist ein großes Problem. Allein das Verzögerungsmoment beim Kontakt mit dem Boden oder mit einer Wasseroberfläche wird enorm hoch sein. Verformungen am Rumpf oder gar ein Auseinanderbrechen sind nicht auszuschließen. Ich denke, ich muß nicht näher darauf eingehen, welche Folgen das für die Besatzung haben kann. Als letzte Möglichkeit bleibt uns auch noch der Notausstieg aus dem Shuttle, falls der Landeanflug total daneben gehen sollte. Allerdings sind Jim und ich der Meinung, daß wir den Ausstieg wirklich nur als letzte Maßnahme ins Auge fassen sollten.« DeHaney nickte zustimmend. Nebenbei registrierte er zufrieden, daß sich sein Co-Pilot anscheinend wieder gefangen hatte. Nach Coopers Ausführungen herrschte Schweigen. So allmählich wurde der Besatzung das ganze Ausmaß der auf sie zukommenden Risiken und Gefahren bewußt. Für einige Augenblicke machte sich jeder seine eigenen Gedanken und Vorstellungen über die bevorstehenden Aktionen. Annick Denny fand als erste ihre Sprache wieder. Ihre Stimme vibrierte mit einem unsicheren Unterton.
»Gut, ich glaube, wir haben verstanden. Wir brauchen eine optimale Vorbereitung. Wie sollen wir vorgehen?« »Näheres besprechen wir später«, nahm DeHaney den Faden auf. »Jetzt erst einmal im Groben: Tim, wir beide werden uns das Problem mit dem Eintrittswinkel vornehmen und zuerst die Fainsworth-Tabellen durchsehen, vielleicht hilft uns das weiter. Annick und Thomas suchen weiter nach einem Landegebiet, stellen Wetterprognosen für die in Frage kommenden Regionen auf. Ilja, du gehst die Ladelisten durch. Wir schmeißen alles raus, was unnötigen Ballast verursacht. Wenn du auf Gegenstände triffst, die wir nach einer geglückten Landung möglicherweise gebrauchen könnten, überlegst du zweimal, bevor du sie von der Liste streichst. Eine Flasche Whiskey kann an Bord bleiben.« Kohlschovsky grinste verhalten. Eher fand man an Bord einer Raumfähre eine doppelschwänzige Katze als eine Flasche mit harten Sachen. »Wenn du meinst, daß uns eine leere Flasche etwas nützt. Denn falls ich eine finden sollte, brauche ich den Inhalt, um den Abstieg zu überstehen.« Niemand reagierte auf den Scherz. Nach einem gegenseitigen stummen Zunicken begaben sie sich auf ihre Plätze. Vier Stunden später fuhr sich Cooper müde über die Augen. »Wenn du einverstanden bist, haue ich mich für zwei Stunden in die Koje.« Entschuldigend fügte er hinzu: »Ich kann keinen Anhaltspunkt dafür finden, den Eintrittswinkel zu verändern. Vielleicht fällt mir vor dem Einschlafen etwas dazu ein. Falls es einen Anlaß dafür geben sollte, müßten wir uns
vielleicht eher mit einem veränderten Sonnendruck beschäftigen, als direkt mit der Atmosphäre.« DeHaney war mit einer Pause einverstanden. Nachdem sich sein Co-Pilot ohne eine weitere Erklärung verabschiedet hatte, schweiften seine Gedanken von den aktuellen Problemen ab. Er mußte sich und auch den anderen dringend Ruhepausen gönnen. Sie hatten alle mit kleinen Unterbrechungen nun fast 36 Stunden nicht mehr geschlafen. Zuvor wollte er jedoch unbedingt wenigstens eine halbwegs eindeutige Antwort auf das Problem mit dem Eintrittswinkel haben. Vielleicht konnte ihm die Französin mehr über eine mögliche Beschaffenheit der Atmosphäre sagen. Kurz nach dem Zeitsprung hatte sie mit ihrer Beschreibung der Erde jedenfalls den Eindruck gemacht, als ob sie einiges über die jüngere Eiszeit wüßte. Als er nach dem Intercom langte, zögerte er einen Moment. Ohne einen ersichtlichen Grund hatte er Hemmungen, mit ihr alleine zu sprechen. Schon allein diese klaren grünen Augen, die ihn in manchen Situationen abschätzend musterten und ihn dann in einem selten erlebten Selbstzweifel überließen, machten ihn unsicher. Und dieser spöttische Zug um ihren Mund während der Diskussionen. So als würde sie jedes Argument von vornherein in Frage stellen. Vielleicht wäre es vernünftiger, Schweighart mit hinzuzuziehen, er könnte als eine Art Vermittler dienen. Blödsinn, Jim, jetzt fang bloß nicht an zu spinnen! Entschlossen drückte er auf die Taste für die Verbindung. »Annick, hier Jim, kannst du bitte einen Moment ins Cockpit kommen!«
Es dauerte nicht lange, bis sie sich wie selbstverständlich auf den rechten Sitz hangelte und die Gurte festzog. Sie hatte ihr Haar mit einem blau gemusterten Tuch zusammengebunden, so daß ihr Gesicht völlig frei lag. Ihre schwarzen Locken bildeten eine dichtgekräuselte Krone, die je nach Kopfbewegung einmal über ihr schwebte und dann wieder langsam in ihren Nacken sank. Zum ersten Mal fiel DeHaney der lange schlanke Hals auf, den diese schöne Frau besaß. Zusammen mit den schwarzen Haaren wirkte sie wie eine großgewachsene Afrikanerin mit einem klassisch europäischen Gesicht. Sie blickte einen Moment lang starr geradeaus und präsentierte ihm ein perfektes Profil. Dann sah sie ihn unvermittelt an, ohne jedoch etwas zu sagen. »Die Atmosphäre«, begann er konzentriert. Er nahm sich vor, sachlich zu bleiben. »Inwieweit könnte sich die Atmosphäre der Vergangenheit von der in unserer Zeit unterscheiden? Wobei eigentlich nur ein Faktor zählt: Reicht sie weiter in den Weltraum hinaus, weniger weit oder ist sie in etwa gleich. Davon hängt der Eintrittswinkel der Fähre ab.« »Ich weiß«, antwortete sie knapp und ihre Gesichtszüge wurden etwas weicher. »Es ist ein schmaler Korridor, der uns einen sicheren Wiedereintritt gewährleistet. Treffen wir zu flach auf die Atmosphäre, prallen wir ab. Zu steil, und wir verglühen. Zusätzlich wird die Ionen-Hülle um die Erde an der sonnenzugewandten Seite zusammengedrückt, an der abgewandten Seite reicht sie weiter ins Weltall hinaus. Man spricht im Astronautenjargon von glattem und rauhem Wasser. Für den Wiedereintritt eignet sich die abgewandte Seite besser, weil …« »O.K.! O.K.!« unterbrach er sie mit einem verlegenen Lä-
cheln. »Ich sehe, du kennst dich aus. Ich wollte eigentlich mehr über mögliche Faktoren wissen, die zu einer deutlich veränderten Atmosphäre geführt haben könnten.« »Nun ja, jetzt existiert wahrscheinlich eine größere Anzahl von Tieren, die für eine erhöhte Methankonzentration verantwortlich ist, andererseits werden von den wenigen Menschen keinerlei Abgase produziert. Die vulkanischen Aktivitäten dürften auch nicht sehr ins Gewicht fallen. Es ist in den meisten Regionen kälter, also gibt es weniger chemische Reaktionen. Auf der anderen Seite fällt viel mehr Regen.« Sie wiegte abschätzend den Kopf hin und her. »Schwer zu sagen. Meiner Meinung nach dürfte sich das alles im Gleichgewicht halten, aber das ist nur eine vorläufige Meinung.« »Cooper und ich sind zu dem gleichen Ergebnis gekommen«, stimmte er zu. »Ich dachte, es gebe vielleicht etwas, das wir übersehen haben.« Ihre Augen verengten sich leicht, während sie überlegte. »Vorläufig fällt mir nichts dazu ein.« Er lockerte seine Gurte etwas und drehte sich mehr zu ihr hin. »Du hältst nicht sehr viel von uns Amerikanern?« Im ersten Moment war er selbst über seine provokative Frage erschrocken, aber ihr zurückhaltendes Gehabe ging ihm ziemlich auf die Nerven. »Ach weißt du«, antwortete sie nach einer Weile. »Amerikaner oder nicht, das ist nicht das Problem. Ich mag keine Eroberer, die mit Überheblichkeit altes Wissen und alte Kulturen zur Seite wischen und meinen, allein ihre Art zu leben sei gültig.« »Geschichtlich gesehen steht ihr Europäer den Amerikanern
da aber in nichts nach«, entgegnete er. »Ich bin Afrikanerin. Meine Familie lebt in Marokko. Die Vorfahren meiner Mutter stammten aus Afrika.« Nach ihrer Feststellung folgte ein langes Schweigen mit einer geradezu greifbaren Spannung. »Mein Großvater«, sagte sie schließlich. »Er ist über 100 Jahre alt. Er verfügt über Fähigkeiten, die weit jenseits des menschlich Begreifbaren liegen. Er weiß zu jeder Zeit, ob es den Familienmitgliedern gut geht oder ob ihnen ein Leid geschieht. Er wacht über uns und leitet uns mit seinen Gedanken.« Jetzt auch? dachte DeHaney, wagte jedoch nicht, die Frage laut auszusprechen. »Ich weiß, was du jetzt denkst«, fuhr sie fort. »Ja, ich glaube, er weiß, was mit mir geschehen ist. Ich spreche mit ihm in meinen Träumen. Er steht mir bei, und das ist es, was mich stark macht. Es gibt mir das Gefühl, mit ihm und der Natur eins zu sein. Ein mächtiges Gefühl, das nichts mit Macht gemein hat, sondern mir zeigt, daß es mehr gibt als Reichtum und Herrschaft.« DeHaney zog es vor, weiterhin zu schweigen. Er fragte sich, wie es dieser heißblütige Hitzkopf geschafft hatte, in das Raumflugprogramm aufgenommen zu werden. Normalerweise erkannten die Psychologen solch fanatische Tendenzen sehr schnell und verweigerten trotz ausgezeichneter anderer Eigenschaften des Probanten die Teilnahme an einem Raumflug. »Nun gut«, lenkte er ein. »Ich glaube, wir waren bei der Beschaffenheit der Atmosphäre stehengeblieben. Wie sieht es denn bis jetzt mit einem Landeplatz aus?« Der Blick, den er für sein Ausweichmanöver erntete, war
nicht geeignet, die Stimmung zwischen ihnen zu verbessern. Einen Augenblick dachte er, sie würde ohne eine Antwort das Cockpit verlassen. »Wir laufen Gefahr, uns bei der Suche zu verzetteln«, sagte sie dann aber sachlich. »Wir können nicht beliebig viele Regionen beobachten. Dazu fehlt uns die Zeit. Thomas und ich schlagen vor, die favorisierten Landemöglichkeiten auszuwählen, die Meinungen von euch allen dazu zu hören und uns dann auf eine oder meinetwegen zwei Möglichkeiten zu konzentrieren. Alles andere wäre ein sinnloses Herumstochern im Nebel.« DeHaney drehte sich wieder zum Cockpitfenster hin und starrte den Horizont der Erde an, der wie ein riesiger blauer Mühlstein um die Fensterbegrenzung kreiste. »Ja, ich denke, das wäre ein guter Vorschlag«, murmelte er müde. Minuten später zuckte er erschrocken zusammen, als er merkte, daß er kurz davor war, einfach einzuschlafen. Von rechts kamen leise und gleichmäßige Atemzüge. Annick Denny war eingeschlafen. Ihre linke Hand schwebte in einer einladenden Geste dicht neben ihm. Fast hätte er sich dazu hinreißen lassen, sie leicht zu berühren, aber bei dem Gedanken, daß sie aufwachen und diese Annäherung falsch deuten könnte, wandte er sich wieder dem Problem mit der Landung zu. Sie mußten möglichst bald eine Entscheidung treffen. Die Zeit würde knapp werden. Später … Dann schlief auch er ein. Ein unsanftes Rütteln weckte ihn. Mit einem heftigen Ruck versuchte er sich aufzusetzen, aber die Gurte hielten ihn in seiner verkrümmten Stellung.
»Jim, wach auf! Ken hat sich gemeldet!« Ken. Welcher Ken? »Was …?« Abwehrend streckte er die Hand aus. Cooper hing über ihm. Seine Stimme überschlug sich vor lauter Aufregung. »Mit dem Cyberfon! Wir haben seine Stimme auf dem Recorder. Irgendwann in den letzten Stunden müssen wir seinen Standort auf der Erde überflogen haben! Mein Gott, beinahe hätten wir es übersehen!« Er verschwand nach hinten. DeHaney lockerte seine Gurte und sah sich um. Der Sitz rechts neben ihm war leer. Benommen löste er die Gurte und zog sich in den hinteren Teil des Flight-Decks, wo ihn Cooper neben dem Aufzeichnungsgerät ungeduldig erwartete. Vom Mid-Deck her waren die aufgeregten Stimmen der übrigen Besatzungsmitglieder zu hören. »Langsam, Tim, laß mich erst einmal ganz wach werden. Habe ich das richtig verstanden, ihr habt eine Nachricht von Cochran empfangen?« »Ganz genau. Hier, ich spiele sie dir vor!« Er hantierte kurz am Recorder, während DeHaney sich näher heranschob und einen sicheren Halt gleich neben dem Gerät suchte. »… ruft die Intrepid. Wir befinden uns nach der Landung von MARTHA auf dem Plateau von Gizeh in Ägypten. Sichtbarer Orientierungspunkt sind die drei großen Pyramiden. Intrepid, könnt ihr mich hören? Kenneth Cochran ruft die Intrepid. Wir befinden uns …«
Mit verwundertem Blinzeln starrte er Cooper an. »Häh …?« Cooper grinste verlegen. »So erging es mir auch, als ich die Nachricht vorhin hörte. Der Text wiederholt sich übrigens.« »Das meine ich nicht. Wieso Pyramiden? Soweit ich weiß, sind die Pyramiden irgendwann 2 000 vor unserer Zeitrechnung erbaut worden. Da stimmt doch etwas nicht.« »2 500 v. Chr.«, antwortete sein Co-Pilot. »Ich weiß nicht, wo der Fehler liegt. Vielleicht sind wir gar nicht soweit in der Vergangenheit. In 25 Minuten überfliegen wir den Mittelmeerraum, dann werden wir mehr wissen.« »Das hoffe ich doch. Tim, richte die große Antenne aus, geh ans Funkgerät und gib Kenneth durch, daß wir ihn gehört haben. Jetzt sofort. Wir brauchen alle Informationen, die uns helfen könnten. Und zwar so schnell wie möglich.« Als er das Mitteldeck erreichte, erwartete ihn eine konzentriert arbeitende Mannschaft, die wie Schimpansen um den Plasma-Monitor hingen und den großen Bildschirm gebannt anstarrten. Annick sah kurz zu ihm auf und zwinkerte ihm zu. Ihre Laune schien sich also gebessert zu haben. »O.K. Wie sieht es aus?« fragte er Annick. »Wir gehen gerade die Aufnahmen der letzten Umkreisungen durch«, antwortete sie. »Über Kairo, oder genauer: Über dem Gebiet, wo Kairo einmal entstehen wird, liegt eine dichte Wolkendecke. Außerdem überfliegen wir die Region bei unserer jetzigen Umkreisung zu weit im Norden. Wir müssen unbedingt unsere Umlaufbahn ändern.« Das ging ihm zu schnell. »Eins nach dem andern. Zuerst will
ich hören, was Cochran sagt.« »Aber wenn …« Sie verstummte, als er sie mahnend anblickte. »Wir wissen nicht, was dort unten geschehen ist«, sagte er versöhnlich. »Außerdem bringt es uns nicht viel weiter, wenn wir die Umlaufbahn verändern. Durch die Erddrehung überfliegen wir nach jeder Umkreisung in einer versetzten Umlaufbahn ein anderes Gebiet. Und wir haben nicht soviel Treibstoff, um jedesmal unsere Position zu korrigieren.« »Ja, entschuldige … natürlich du hast recht«, lenkte sie widerstrebend ein. Überzeugend klang das nicht, aber er konnte sie verstehen. Endlich hatten sie einen Punkt gefunden, wo man den Hebel ansetzen konnte, und auch er spürte zugegebenermaßen den Drang nach mehr Informationen über den Aufenthaltsort der Cochrans. Aber bis jetzt hatten sie lediglich die Nachricht erhalten, wo sie sich aufhielten, und das besagte im Hinblick auf ihre zukünftigen Aktionen rein gar nichts. Er ließ die Gruppe allein und verschwand im Tunnel zum Flight-Deck. Cooper empfing ihn mit einem angedeuteten Kopfschütteln, während er weiterhin laut und deutlich Kenneth Cochran anrief. DeHaney spähte durch das Cockpitfenster. Das nördliche Eismeer und unzählige Eisberge. Gleich mußten sie die Küste von Skandinavien erreichen. Danach waren es nur noch wenige Minuten bis runter zum Mittelmeer. Annick war mit ihrer Einschätzung richtig gelegen. Für Ägypten lagen sie bei dieser Umkreisung etwas zu weit nördlich. Trotzdem, was würden sie auf dem Monitor sehen? Cochran
hatte die Pyramiden von Gizeh erwähnt. Wo lag der Fehler? Hatten sich die Ägyptologen oder die Geologen geirrt? Er hielt beides für unwahrscheinlich. Offensichtlich hatte Annick … nein, dann müßten auch Ilja und Thomas mit ihren Messungen falsch liegen. Und sie hatten ohne jeden Zweifel die Zeit, in der sie sich befanden, auf den Tag genau bestimmen können. Vielleicht befanden sie sich gar nicht in ihrer eigenen Zeit, sondern waren in ein Paralleluniversum gewechselt, in dem die Zeitabläufe ähnlich lagen, aber doch verschieden waren? Ein lauter Ausruf vom Mitteldeck her ließ ihn zusammenzucken. »Mon dieu, c’est impossible!« Er fuhr herum und stieß dabei mit dem Kopf an die Armaturen an der Decke. Mit einem lauten Fluch suchte er Halt und drehte sich um. Im gleichen Augenblick erstarrte Cooper unter seinem Kopfhörer und winkte ihm hektisch zu. Im Mitteldeck waren weitere erstaunte Ausrufe zu hören. DeHaney ignorierte sie mit klopfendem Herzen und langte nach dem zweiten Kopfhörer, den ihm Cooper entgegenhielt. »… euch verstanden. Hier spricht Kenneth Cochran. Könnt ihr mich hören, Intrepid? Over.« DeHaney brauchte einige Sekunden, bis er endlich reagierte. »Hier Intrepid. Jim DeHaney. Wir hören dich laut und deutlich, Ken! Wie geht es euch? Over.« Cochran antwortete nicht sofort. Es hatte den Anschein, als ob er zwischendurch eine Unterhaltung mit jemandem anderen führte. »Wie? Ja, alles klar … uns geht es gut. Jim, ganz schnell vorab
einige Informationen. Ich weiß nicht, wie lange wir die Cibes noch benutzen können. Erstens: Wir haben keinen Kontakt zu den Aliens, aber es gibt hier einen Menschen mit Namen Steinvogel, der anscheinend für sie arbeitet. Zweitens: Er sagt, wir befinden uns im Jahre 8498 v. Chr. Drittens: Die letzte von drei Pyramiden von Gizeh wird gerade fertiggestellt. Und sehr wichtig ist der vierte Punkt: Wir werden für euch eine Landebahn herrichten. Direkt neben der Mykerinos-Pyramide, das ist die kleinste der drei Pyramiden. Wir brauchen dafür aber 4 bis 5 Tage. Hast du mich verstanden? Over.« Es ging DeHaney fast zu schnell, um eine vernünftige Antwort zu geben, aber er erkannte natürlich auch, daß er vielleicht nur jetzt in diesem Moment über die letzte Information entscheiden konnte. »Hier Intrepid. Drei Tage wären besser. Over.« Es war ihm vollkommen schleierhaft, wie Cochran in dieser Zeit eine auch nur halbwegs brauchbare Landemöglichkeit schaffen wollte, aber er hatte keine andere Wahl, als dem erfahrenen Astronauten zu vertrauen. »Wir versuchen es. Noch eine wichtige Nachricht: Wir können die Oberfläche der Landebahn behandeln und die Reibung beträchtlich herabsetzen. Mehr darüber später. Die Verbindung wird schlechter. Kontakt bei nächstem Überflug …« Dann war er weg. Erstaunt nahm DeHaney den Kopfhörer ab. Wie sich die Dinge doch in nur wenigen Minuten ändern konnten. Trotzdem galt es, auf dem Teppich zu bleiben. Eine Landemöglichkeit war noch nicht die Lösung aller Probleme. »Wow! Der alte Cochran ist der Größte!« jubelte Cooper ne-
ben ihm und klatschte begeistert in die Hände. Auch im Mitteldeck, wo man die Übertragung mitgehört hatte wurde anscheinend gefeiert. Die hellen Juchzer von Annick und das befreiende Lachen von Ilja und Thomas drangen zu ihm herauf. Als Commander war es DeHaneys Pflicht, die Lage nüchterner zu betrachten, aber er ließ seine Crew erst einmal sich austoben, schließlich waren das die ersten positiven Nachrichten seit jenem verhängnisvollen Zwischenfall. Trotzdem, die Schwierigkeiten und Probleme, die mit dieser hoffnungsvollen Mitteilung verbunden waren, mußten angesprochen werden – und das möglichst bald. Zum Feiern würden sie später hoffentlich noch Zeit genug haben. »Herrgott noch mal, was ist denn los mit dir?« schrie ihn Annick wenig später zornig an. »Jetzt haben wir einen Landeplatz, den wir sogar mit Computerdaten anfliegen können, weil die Pyramiden exakte geodätische Fixpunkte sind, wir könnten nach der ganzen Scheiße sogar darauf hoffen, in einer Art Zivilisation zu leben, und jetzt willst du trotzdem, daß wir nach weiteren Landemöglichkeiten suchen!« Es fiel DeHaney nicht leicht, in dieser Situation ruhig zu bleiben. Aber er entschied sich für Zurückhaltung und betrachtete die aufgebrachte Französin nur stumm. Ihre Ohren hatten eine merkwürdig ovale Form. Das fiel ihm jetzt zum ersten Mal auf. Außerdem waren sie zu groß. Ihr Mund war sinnlich und intelligent, nur nicht, wenn sie so ein Theater machte, wie eben jetzt. Sie waren alle im Mitteldeck zusammengekommen und hatten sich die Bilder des Überfluges über Ägypten angesehen. Die drei Pyramiden waren nicht perfekt auszumachen gewesen,
aber sie existierten tatsächlich. Und sie konnten die Stelle sehen, wo nach Kenneth Cochrans Plan der Landeplatz entstehen sollte. Genauer gesagt: Er war schon vorhanden. Eine etwa einen halben Kilometer lange und ansteigende Rampe, die vom Nilufer – der Strom verlief jetzt in der Vergangenheit näher am Plateau von Gizeh vorbei als im einundzwanzigsten Jahrhundert –, neben der südlichsten Pyramide nach oben führte. »Nun mal ganz langsam«, sagte DeHaney beschwichtigend, wohlwissend, daß er sie mit seinem väterlichen Tonfall nur noch mehr in Rage bringen würde. »Da ich bisher noch keine Gelegenheit hatte, meine Gründe für eine Fortsetzung der Suche nach möglichen Landeplätzen zu erklären …« Er warf Annick einen strengen Blick zu und fuhr mit betont beherrschter Stimme fort. »… möchte ich dies hiermit nachholen: Cochran sagt, er will den Landeplatz in drei oder vier Tagen fertigstellen. Schön und gut. Aber was machen wir, wenn zu dieser Zeit dort unten schlechtes Wetter herrscht und das vielleicht nicht nur für einige Stunden, sondern für mehrere Tage? Und wir müssen irgendwann einmal runter, weil uns sonst hier oben die Luft ausgeht!« Fast wäre DeHaney ein zynisches Lächeln entfahren. Was für ein kleiner temperamentvoller Energiebolzen sie doch war. Mit großen Ohren und klassischem Profil. »Und das ist noch nicht alles. Wenn Cochran tatsächlich meint, daß wir mit dem Shuttle auf einer ansteigenden Rampe landen sollen, ganz gleich, mit welchem Winkel an Steigung, dann brauche ich für den Landeanflug absolut freie Sicht, sonst klatschen wir trotz Computerunterstützung mit 250 Meilen pro Stunde an eines dieser afrikanischen Weltwunder.«
Er hatte die letzten Worte fast wütend hervorgebracht und mußte sich zügeln, nicht noch mehr Anspielungen auf ihre Herkunft und ihren unerbittlichen Stolz zu machen. Sie wußte, daß sie als ehemaliges Mitglied der Besatzung der Raumstation nicht das Recht hatte, sich in die Entscheidungen des Commanders eines Spaceshuttles einzumischen, aber was war in dieser Situation schon normal. Außerdem mißtraute sie dem Amerikaner von Grund auf. Nach ihrer Überzeugung versuchte er nach wie vor, die Raumfähre aus rein patriotischen Gründen auf amerikanischem Boden zu landen. »Annick«, mischte sich Schweighart ein. »Jim hat recht. Bei diesen instabilen klimatischen Bedingungen auf der Erde können wir nicht davon ausgehen, daß wir in ein paar Tagen bei den Pyramiden günstige Verhältnisse für eine Landung haben werden. Wir brauchen unbedingt Ausweichmöglichkeiten. Außerdem meine ich, daß unser vordringlichstes Problem ein geglückter Abstieg sein sollte. Mir persönlich ist es im Endeffekt ziemlich schnurzegal, wo wir landen, Hauptsache, wir kommen lebend da unten an.« Cooper nickte zustimmend. »Ich bin der gleichen Meinung. Ganz abgesehen davon, können wir für eine punktgenaue Landung nicht zu jeder beliebigen Zeit mit dem Wiedereintritt beginnen. Wir stehen nur etwa alle sechs Stunden dafür in einer günstigen Position. Und dann auch nur für die Zeit von maximal zwei Umkreisungen. Wir haben also für drei Stunden ein Fenster, in dem wir eine Landung wagen können.« DeHaney blickte die Französin nachsichtig an. Ihm war natürlich bewußt, daß sie unter der Anspannung der bevorstehenden Landung zu leiden hatte. Ihm selbst ging es nicht an-
ders. »Frieden, Annick?« fragte er vorsichtig. Sie nickte unmerklich, sah ihn dabei aber nicht an. »Frieden. Entschuldige, bitte«, antwortete sie leise. Eine Weile sagte niemand etwas. Sie ahnten alle, welche Schwierigkeiten und Gefahren auf sie warteten. Jeder hatte bis jetzt immer noch an ein kleines Wunder geglaubt, das sie in ihre gewohnte Umgebung zurückbringen würde. Nach der fast beiläufigen Erklärung von Cooper bezüglich des Landungsfensters waren alle noch nachdenklicher geworden. »Na gut, O.K.«, meinte DeHaney schließlich mit leicht resigniertem Unterton. »Komm, Tim, wir haben noch einiges im Cockpit zu erledigen …« Er zögerte einen Moment, als wollte er noch etwas sagen, wandte sich dann aber ab und verschwand nach oben ins Flight-Deck. Cooper und Kohlschovsky folgten ihm schweigend. Schweighart sah ihnen hinterher und blickte dann nachdenklich auf Annick, die schweigsam die gegenüberliegende Wand anstarrte. »Annick, meinst du nicht, daß wir ihn seinen Job erledigen lassen sollten?« begann er zurückhaltend. »Es bringt doch nichts, wenn wir uns hier in Kleinkriegen verzetteln. Außerdem habe ich nicht den Eindruck, als wollte er …« »Natürlich will er!« herrschte sie ihn mit gedämpfter Stimme an. »Er sagt es nur nicht offen. Sein verbohrter Nationalstolz wird es nicht zulassen, das Shuttle irgendwo anders zu landen als auf dem nordamerikanischen Kontinent.« Sie schüttelte entschuldigend den Kopf und fügte dann hinzu: »Ich weiß, es sieht so aus, als würde ich ähnlich überzogen reagieren, aber
unsere besten Überlebenschancen liegen dort unten bei den Pyramiden. Die Cochrans schaffen gerade die Voraussetzungen für eine sichere Landung. Dort erwartet uns eine Zivilisation, in der wir wenigstens einigermaßen leben können. In Florida warten doch nur Krokodile auf uns, im günstigsten Fall vielleicht noch ein paar indianische Vorfahren von …« Sie brach mit einer unwilligen Handbewegung ab. Schweighart glaubte ihr kein Wort. Für seine Ohren hörten sich ihre Argumente genauso widersinnig an wie die des Commanders, auch wenn sie in eine andere Richtung gingen. Es mußte noch weitere Gründe für ihre heftige Reaktion von vorhin geben. Allerdings verspürte er keine große Lust, die Hintergründe dafür gerade jetzt zu diesem arbeitsintensiven Zeitpunkt aufzudecken. »Ich denke, wir beide kennen uns lange genug, um nichts voreinander verbergen zu müssen«, sagte er schließlich. »Meine Meinung über den Ort kennst du und auch die Gründe dafür. Wobei es mir natürlich weitaus lieber wäre, sicher bei den Pyramiden herunterzukommen und von ägyptischen …« – er lächelte versöhnlich – »als von amerikanischen Krokodilen gefressen zu werden. Auch wenn du mir vielleicht nicht zustimmst: Ich glaube, daß DeHaney ähnlich denkt. Er weiß aber genau, daß unsere Chancen für einen sicheren Wiedereintritt und den Abstieg durch diese aufgewühlte Atmosphäre mehr als schlecht stehen. Auch wenn wir die Pyramiden als geodätische Fixpunkte benutzen, ist es fraglich, ob wir sie problemlos anfliegen können. Von einer geglückten Landung wage ich gar nicht erst zu reden.« Er sah sie mit einem ernsten Gesichtsausdruck an.
»Ich mache dir einen Vorschlag: Wir beide überprüfen vorrangig die klimatischen Voraussetzungen für einen Abstieg zu den Pyramiden und sehen uns auch alternative Landeplätze in der Nähe an, aber, und das wirst auch du nicht verhindern oder beeinflussen können, die letzte Entscheidung wird in DeHaneys Händen liegen. Und ich bin überzeugt, daß er die richtige Entscheidung treffen wird.« Etwas anderes wird uns auch gar nicht übrigbleiben, wollte er noch hinzufügen, unterließ es aber dann doch. Es war ohnehin nur billige Schönfärberei, gemischt mit etwas aufbauender Solidarität. Er fragte sich, wie DeHaney es überhaupt fertigbringen wollte, das Shuttle unter diesen katastrophalen klimatischen Verhältnissen auch nur annähernd in die Nähe der Pyramiden bringen zu wollen. Der Planet befand sich eindeutig in einer außergewöhnlichen Phase, die nichts mit einem normalen jährlichen Wetterablauf gemein hatte. Es mußte in jüngster Vergangenheit etwas geschehen sein, das dieses Inferno ausgelöst hatte. Nachdenklich betrachte er auf dem Monitor die Bilder der gemächlich vorbeiziehenden Erdoberfläche, die von der metrischen Kamera übertragen wurde. Nur selten konnte er durch Schleier verhangene Lücken in den wirbelnden Wolkenmassen einen farbigen Landstrich oder eine glitzernde Wasserfläche erkennen. Das also ist oder war die Erde zehntausend Jahre vor seiner Zeit. Es war nicht zu begreifen, auch wenn er sich dies in Gedanken immer wieder vorsagte. »Annick, was geht dort unten vor?« fragte er seine Kollegin, die auf seinen Vorschlag von vorhin nicht reagiert hatte . »Das
ist doch nicht normal, oder doch?« Die Französin schreckte hoch und sah ihn einen Moment lang abwesend an. Dann drehte sie sich langsam zum Monitor hin und betrachtete das Bild einige Sekunden lang ohne großes Interesse. Schließlich nickte sie zustimmend. »Es ist etwas passiert. Und es kann noch gar nicht so lange her sein. Vielleicht sogar nur fünf oder zehn Jahre. Irgend etwas, das den ganzen Erdball betroffen hat. Nichts von der Art eines Vulkanausbruchs oder eines Meteoriteneinschlags. Es muß von einer weitaus gigantischeren Größenordnung gewesen sein.« Sie blickte kurz hoch und sah ihn mit festem Blick an. »Übrigens vielen Dank für deine ehrliche Meinung und dein Angebot. Du hast recht, es bringt uns nicht weiter, wenn ich um Sachen feilsche, die vollkommen nebensächlich sind. Wichtig ist im Augenblick nur das Überleben. Es war nur … ich glaube, ich bin zu sehr fasziniert von der Vorstellung, eine Kultur zu erleben, die lange vor unserer Zeit existiert hat. Und besonders von derjenigen in Afrika. Es war für mich immer rätselhaft, woher die Vorfahren der Ägypter dieses Wissen um Weltordnung und Astronomie abgeleitet hatten. Und hier unter uns – und jetzt zu dieser Zeit, liegt die Lösung.« Sie deutete auf den Monitor. »Die Erde durchläuft momentan eine absolut instabile Klimaphase. Was du hier auf dem Monitor siehst, ist erst der Beginn einer Katastrophe. Einer Katastrophe, die in den alten Überlieferungen als Sintflut bezeichnet wurde. Der Auslöser dafür liegt, wie ich schon sagte, nur ein paar Jahre zurück. Und
er war ›hausgemacht‹, es war also keine Auswirkung von außen.« Schweighart war erstaunt über den plötzlichen Stimmungsumschwung und den Ehrgeiz, den sie mit ihren Erklärungen offenbarte, und ließ den wissenschaftlichen Redefluß bereitwillig über sich ergehen. »Wir befinden uns am Ende der kleinen Eiszeit«, fuhr sie fort. »Also einer regulären, lange währenden Klimaschwankung, die immer wieder in der Erdgeschichte auftrat. Aber dieses Mal muß noch etwas anderes passiert sein …« Sie sah ihn lauernd mit ihren hellen grünen Augen an. Schweighart erwiderte ungeduldig: »Annick, bitte, ein Kenneth Cochran ist schon schwer genug zu verkraften, willst du ihm seine Stelle jetzt streitig machen. Also raus mit der Sprache, was ist passiert?« »Eine plötzliche Erdkrustenverschiebung, denke ich. Klingt nicht sehr spannend, denn Verschiebungen der Erdkruste stehen auf der Tagesordnung, auch zu unseren Zeiten, aber nicht in diesem Ausmaß und vor allem nicht so plötzlich. Die Folge davon war eine – sagen wir einmal – globale Gewichtsverlagerung der Landmassen auf dem Planeten, Veränderung der Lage der Erdachse, Verschiebung der Pole, dadurch ein beschleunigtes Abtauen des Packeises …« »Und das hast du dir alles jetzt in den letzten Minuten ausgedacht?« fragte er skeptisch. Sie lächelte ihn hintergründig an. »Nein, natürlich nicht. Wäre unser Bibelvater Kenneth Cochran hier, wäre er mir wahrscheinlich schon an die Gurgel gesprungen. Für gestandene Wissenschaftler ist die Theorie der
plötzlichen Erdkrustenverschiebung reiner populärwissenschaftlicher Humbug. Allerdings ist auch das Gegenteil nicht bewiesen.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung und deutete wieder auf den Monitor. »Aber das ist nicht von Bedeutung. Das eigentlich Interessante ist, daß eine radikale Veränderung stattgefunden hat und als Folge davon das Erdklima verrückt spielt. Vor unseren Augen spielt sich also jetzt ein einschneidendes Ereignis der Erdgeschichte ab. Und das nicht nur in klimatischer, sondern scheinbar auch in kultureller Hinsicht, denn genau zu dieser Zeit werden auch die Pyramiden von Gizeh erbaut. Mir stellt sich die Frage: Warum hat uns MARTHA exakt in diesen einzigartigen Zeitabschnitt entführt?« Er wußte darauf keine Antwort. Genau genommen war es ihm auch gleichgültig. Er war jedoch verblüfft darüber, mit welchen Überlegungen sich die Französin beschäftigte. War sie wirklich so unbeeindruckt von der gefährlichen Situation, in der sie sich alle befanden, daß sie sich Gedanken über die Hintergründe ihrer Entführung machen konnte? Oder war es schlicht und einfach nichts anderes als eine Ablenkungsstrategie? »Ja, das ist eine interessante Frage«, murmelte er. Dann entschloß er sich, sie direkt zu fragen. »Hast du keine Angst vor dem, was uns erwarten könnte, Annick?« Sie antwortete ihm nicht sofort. »Angst?« sagte sie dann. »Naja, laß es mich einmal so ausdrücken: Ich habe Angst davor, daß wir heil auf der Erde landen
und ich danach nichts anderes zu tun habe, als ums Überleben zu kämpfen. Ich sehe in MARTHA und den Pyramiden eine Aufgabe oder eine Erfüllung, für die es sich lohnt zu leben. Deswegen will ich dahin. Und was den Abstieg und die Diskussion über den Landeort betrifft: Wir können uns noch tagelang über günstige Bedingungen für eine Landung an diesem oder jenem Ort streiten. Wir werden keinerlei zuverlässige Voraussagen treffen können, wo die Chancen besser oder schlechter stehen. Es gibt zur Zeit auf diesem Planeten keinerlei Anhaltspunkte für langfristige und lokale Wettervorhersagen. Dort unten herrscht Chaos. Für eine Landung in der Nähe der Pyramiden werden uns im Endeffekt die Cochrans ein paar Stunden vorher sagen müssen, ob wir einen Versuch wagen können. Ich meine damit, daß der Flug durch die Atmosphäre und die Landung ein reines Glücksspiel sein werden, ganz gleich, ob wir die Sümpfe von Florida anfliegen oder die Pyramiden von Gizeh. Es ist also eine rein politische Entscheidung, wo wir runtergehen. Und ich bin für die Pyramiden. Und vorher, auf dem Weg zur Erdoberfläche, wird das Schicksal entscheiden.« Sie lächelte zynisch. »… und natürlich DeHaney«
17. Kapitel Annick Denny sollte recht behalten. In den vergangenen vier Tagen hatten sie trotz intensiver Bemühungen keinerlei Anzeichen für eine stabile Wetterlage gefunden. Für keines der ausgesuchten Gebiete – die Ostküste von Florida, Mexiko, den Indonesischen Inseln und dem Hochplateau von Gizeh – war es möglich gewesen, eine auch nur einigermaßen richtige Wettervorhersage zu machen. Dabei hatten sie die nordamerikanischen Gebiete schon sehr bald als mögliche Landeplätze aus dem Suchraster gestrichen. Der ganze nördliche amerikanische Kontinent, von Alaska und Kanada bis hinunter zum Golf von Mexiko wurde von einem gewaltigen Wolkenmeer bedeckt. Durch die wenigen Lücken, die sich für kurze Zeit bildeten, waren dichte Eis- und Schneefelder zu sehen. Keiner der Astronauten – noch nicht einmal DeHaney – konnte sich bei diesem Anblick vorstellen, einen ernsthaften Landeversuch in diesen Gebieten auch nur in Erwägung zu ziehen. Als der Commander schließlich befahl, Nordamerika als mögliches Ziel außer acht zu lassen, quittierte die Französin die Ankündigung mit einem wissenden Lächeln. DeHaney übersah absichtlich ihre Reaktion. Er war nicht in der Stimmung, sich auf politische Scharmützel einzulassen,
denn ihm war mittlerweile angesichts der Bilder und Aufzeichnungen von der Erdoberfläche klar geworden, daß die Chancen, dieses Abenteuer lebend zu überstehen, denkbar schlecht standen. Seine Hauptsorge galt allerdings nicht dem unberechenbaren Wetterchaos, das auf dem Planeten herrschte, denn er vertraute auf die robuste Konstruktion der Raumfähre und auf seine Fähigkeiten. Er wußte, irgendwie würde er diesen turbulenten Ritt durch die Atmosphäre meistern und das Shuttle und die Besatzung sicher nach unten bringen. Es war immer noch das Problem des Eintrittswinkels, das ihm zu schaffen machte. Er war zwar mit Cooper wiederholt die einschlägigen Tabellen und Aufzeichnungen im Computer durchgegangen. Aber diese Berechnungen galten für eine Erde des 21. Jahrhunderts und nicht für die Zeit, in der sie sich jetzt befanden. Sie waren schließlich übereinstimmend zu dem Resultat gelangt, daß ihnen letztendlich nichts anderes übrigblieb, als auf eine gewisse Karenzbreite der Werte zu vertrauen. Trotzdem hatte er kein gutes Gefühl, wenn er an den Abstieg dachte. Im Augenblick verschwendete er keine Gedanken an den Weg durch die Atmosphäre oder an einen möglichen Landeplatz auf der Erdoberfläche. Wichtig war einzig und allein, den entscheidenden Moment des Wiedereintritts zu überstehen. Zum tausendsten Mal verfluchte er innerlich die absurde und unmögliche Situation, in die sie geraten waren. Geradezu grotesk empfand er, daß er sich dabei ertappte, dem UFO gegenüber Vorwürfe einer mangelnden Verantwortung zu machen. Wenn die Aliens sie schon in die Vergangenheit entführten, war es dann nicht auch ihre verdammte Pflicht, sich weiterhin um
sie zu kümmern? Sie mußten doch wissen, daß sie ohne technische Unterstützung von seiten der Bodenstation hilflos waren. Sein Problem war, daß er insgeheim darauf gehofft hatte, in den letzten Tagen doch noch irgendeine Hilfe von MARTHA zu bekommen. Durch dieses irreale Wunschdenken hatte er nur wertvolle Zeit verloren und nun bereitete ihm die Umstellung auf die Realität enorme Schwierigkeiten. Vor allem die Last der alleinigen Verantwortung machte ihm schwer zu schaffen. Er wußte, daß nur er den Versuch wagen konnte, die Raumfähre hinunter auf die Erdoberfläche zu bringen. Zu dem Ganzen mischte sich ein wenig die Enttäuschung über Kenneth Cochran. Schließlich hatte der unten bei den Pyramiden einen Kontakt zu einem Menschen, der wiederum Kontakt zu den Unbekannten hatte. DeHaney atmete tief durch. Nein, seine Gedanken irrten eindeutig zu sehr ins Negative ab. Die Lage wäre viel schlimmer, wenn sie nicht die Unterstützung der Cochrans auf der Erde hätten. Kenneth Cochran mochte einen eigensinnigen Charakter besitzen, aber im Grunde war er ein Mensch, auf den in jeder Hinsicht hundertprozentig Verlaß war. Die Informationen, die er während der wenigen Überflüge über dem Nildelta zu ihnen in den Orbit gesandt hatte, zeigten, daß er in der kurzen Zeit sehr viel erreicht und erfahren hatte. Die letzten Nachrichten von Ken waren kurz und präzise gewesen. Wegen der unsicheren Verbindung hatte er sich auf das Wesentliche, und vor allem immer nur auf das Wichtige für die Besatzung der Intrepid beschränkt:
Cochran: »… an Intrepid. Jim, wir haben nach wie vor keinen Kontakt zu den Aliens. Wir wissen auch nicht, wo sich MARTHA befindet. Es gibt hier einen Menschen, einen älteren und etwas schrulligen Mann mit Namen Steinvogel. Ein Deutscher, der allem Anschein nach ebenfalls vor einigen Jahren in die Vergangenheit entführt wurde. So wie es aussieht, führt er die Oberaufsicht über den Bau der Pyramiden. Seine genaue Funktion ist mir noch unklar, aber ich bin überzeugt davon, daß er mit den Aliens in Verbindung steht. Er hat hier auf dem Plateau das Kommando über die Einheimischen, die an den Pyramiden arbeiten.« DeHaney: »Verstanden. Ken, wie geht es euch? Seid ihr O.K.?« Cochran: »Wie …? Jaja, noch ein wenig wacklig auf den Beinen, aber es geht jeden Tag etwas besser. Jim, ganz wichtig: Dieser Steinvogel ist nicht sehr zugänglich, aber Hilary kommt ganz gut mit ihm aus und hat herausgefunden, daß die Aliens eine Baumart eingeführt und heimisch gemacht haben, den sie ›Iferte‹ nennen. Aus der Rinde wird – ähnlich wie bei dem Kautschukbaum – ein Öl gewonnen, das im trockenen Zustand klebrig ist. Wenn das Zeug dagegen mit Wasser in Berührung kommt, kehrt sich der Effekt um und es wird unglaublich glitschig. Nachdem es hier fast ununterbrochen regnet, benutzen es die Einheimischen, um die riesigen Steinquader zu bewegen. Das Iferte senkt dabei den Koeffizienten der Gleitreibungszahl auf nahezu Null herunter. Es ist einfach phantastisch …« DeHaney: »Tolle Sache. Hör mal, Ken, aber wenn es bei euch da unten ständig regnet …«
Cochran: »… laß mich ausreden. Es existiert eine Bahn, die bereits mit dem Iferte behandelt ist, nämlich eben genau die Strecke vom Nil herauf zu den Pyramiden. Sie wird nicht mehr benutzt und sollte eigentlich beseitigt werden. Steinvogel hat uns ein paar Leute abgestellt, die gerade dabei sind, etwa ab der Mitte der Bahn Sand zu streuen, um bei einer Landung des Shuttles die Reibung zu erhöhen. Ihr würdet ansonsten nahezu ungebremst in die Palmenwälder hier auf dem Plateau rutschen. Es dauert aber seine Zeit, den Sand aufzutragen, weil wir uns vom Rand her vorsichtig an die Bahn heranarbeiten müssen, denn ein falscher Schritt und die Leute rutschen wie auf einer glatten Eisfläche runter in den Nil …« Die Übertragung wurde schlechter, und DeHaney konnte Cochran kaum mehr verstehen. Bald darauf brach sie ganz ab. Es dauerte einige Überflüge, bis sie wieder zustande kam: Cochran: »Kannst du mich hören, Jim?« DeHaney: »Sehr leise, aber es geht. Wie ist das Wetter? Es bringt uns nichts, wenn wir eine Landebahn haben, sie aber nicht finden. Ich brauche freie Sicht …« Cochran: »Das Wetter. Richtig. Steinvogel sagt, es wird immer schlechter, aber momentan herrscht jeden Tag eine gewisse Stabilität gegen Abend zu. Es ist dann zwar recht dunstig, aber ich denke, es müßte reichen. Du mußt die Pyramiden von Osten her anfliegen. Flaches Gebiet. Über dem Nil darfst du höchstens noch 60 oder 80 Fuß Höhe haben. Am Anfang der Landebahn baut sich wahrscheinlich wegen der schnellen Erwärmung des Sandes eine Thermik auf, die kann dir helfen, die Nase des Shuttles oben zu halten. Außerdem darfst du nicht vergessen, daß die Bahn leicht nach oben ansteigt. Ich schicke
dir ein paar Standfotos rauf, wenn die Akkus der Cibes noch ein wenig durchhalten. Und noch was: Die Landefläche ist höchstens zehn Fuß breit. Wir werden versuchen, am Anfang deutliche Markierungen aufzustellen, damit du den richtigen Punkt anfliegen kannst. Ich melde mich später wieder. Will die Cibes nicht zu sehr belasten. Und mach dir wegen dem Wetter keine Sorgen. Ich weiß, daß es gut ausgehen wird …« Der Kontakt war danach abgebrochen. DeHaney saß mit erheblichen Zweifeln kämpfend vor dem Funkgerät. Die knappen Informationen von Cochran erschienen ihm zu optimistisch und von zuviel guter Hoffnung geprägt. Er fragte sich, ob Kenneth Cochran wußte, wovon er sprach. Thermik, Anflug von Osten her, eine leichte Steigung der Landebahn, vom Wetter gar nicht zu reden. Der Gleitwinkel bei der Landung eines Shuttles begann viele Meilen vor dem Landegebiet und es war mehr als unwahrscheinlich, ob sie es überhaupt bis in die Nähe der Pyramiden schaffen würden. Nach DeHaneys Einschätzung lief letztendlich alles auf einen Notausstieg aus dem Shuttle hinaus. Also mußte er seine Leute darauf trainieren, die Raumfähre möglichst rasch verlassen zu können, ganz gleich, in welch physischer Verfassung sie sich befanden. Besser ein paar Knochenbrüche riskieren oder im schlimmsten Fall vielleicht sogar den Tod eines Besatzungsmitgliedes, als daß die Fähre mit der ganzen Besatzung auf dem Boden zerschellte. Vereinzelt kamen daraufhin noch ein paar Informationen von Cochran zu ihnen durch, hauptsächlich über den Zustand
der Landebahn und schließlich auch einige niedrig aufgelöste Fotos von der Lage und Beschaffenheit der ›Rutsche‹, wie sie von Kohlschovsky bezeichnet wurde. Direkt am Nilufer waren jeweils seitlich und im rechten Winkel zur Strecke eine Reihe von Stangen in den Boden gerammt worden, die den Beginn der Landebahn kennzeichneten. Zwischen den Stangen flatterten farbige Bänder im Wind und verliehen der Konstruktion etwas Fröhliches. Aber sie zeugten auch von der Lächerlichkeit des Unternehmens, wie DeHaney traurig feststellen mußte. Den anderen gegenüber hielt er mit seiner Meinung hinter dem Berg, denn wenn sie sich auch nicht gerade euphorisch über Cochrans Aktivitäten verhielten, so schienen sie doch immerhin zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Nur Cooper blieb skeptisch. In einem unbeobachteten Moment flüsterte er DeHaney zu: »Das ist doch alles sinnlos, oder? Ich hätte schon alleine meine Schwierigkeiten damit, das Shuttle bei bedecktem Himmel nach Canaveral zu bringen – und hier fliegen wir durch ein Wetterchaos und sollen am Ende auch noch auf einer Rampe landen.« Mit einem Lächeln entgegnete DeHaney: »Du hast vergessen, daß wir ohne Fahrwerk landen werden. Aber du hast recht, es wird wahrscheinlich nicht funktionieren. Andererseits haben wir keine Alternative, außer einem schnellen Notausstieg. Ich gehe davon aus, daß wir letzteres nicht vermeiden können und damit bleibt es sich gleich, wo auf der Erde wir landen wollen. Für einen Ausstieg aus dem Shuttle brauchen wir eine möglichst geringe Geschwindigkeit und – falls wir es schaffen – niedrige Flughöhe, damit wir nach dem Absprung nicht allzu weit voneinander getrennt werden. Annick und Thomas wer-
den wahrscheinlich nach der Landung schnell medizinische Hilfe benötigen. Also müssen wir alles nur Denkbare versuchen, um mit dem Shuttle so weit wie möglich nach unten zu gelangen. Ich will hier nicht als Pessimist verschrien sein, aber ich glaube, die Rampe bei den Pyramiden können wir vergessen.« Als sie den restlichen Besatzungsmitgliedern ihre Befürchtungen mitteilten, stießen sie zu ihrer Überraschung auf keinerlei Kritik oder Unverständnis. Alle akzeptierten DeHaneys Einschätzungen über eine mögliche Landung bei den Pyramiden und waren sofort bereit, mit einem Training für einen Notausstieg zu beginnen. Der Commander registrierte diese Bereitschaft mit großer Erleichterung. Also hatte er doch eine gut ausgebildete und auch vernünftige Mannschaft an Bord. Es war drei Stunden her, daß sie den letzten Funkkontakt mit dem Astronautenpaar auf der Erde gehabt hatten. Kenneth Cochran hatte ihnen trotz der immer schlechter werdenden Verbindung ein unmißverständliches ›Go‹ für eine Landung durchgegeben. Die Wetterlage bei den Pyramiden schien sich für die nächsten Stunden stabil zu entwickeln. »… kann ich natürlich nicht mit letzter Sicherheit sagen, aber nach allem, was Hilary aus Steinvogel herausgekriegt hat, klart es sich bei den jetzigen Verhältnissen zunehmend auf«, sagte er mit vibrierender Stimme aus dem Lautsprecher. Ihm war anzumerken, daß ihn die Verantwortung für die positive Einschätzung der Lage schwer belastete. »Und ich meine auch, daß es gut aussieht … bei Gott, ich hoffe, daß ich keinen Fehler begehe. Wir sind viel zu kurz hier, um das Wetter richtig beurteilen zu können.«
»Mach dir keine überflüssigen Gedanken darüber, Ken«, hatte ihn DeHaney beschwichtigt. »In drei Stunden ist für zwei Überflüge das nächste günstige Landungsfenster. Wir kommen über die südöstliche Route. Um 16.16 Uhr Ortszeit erreichen wir mit dem ersten Überflug südlich von Madagaskar die Ostküste Afrikas und überqueren den Kontinent südwestlich von Ägypten. Vielleicht kommt währenddessen noch einmal eine Verbindung mit euch zustande, ich halte es aber eher für unwahrscheinlich. Für eine direkte Beobachtung mit der metrischen Kamera sind wir zu weit weg, außerdem muß ich zu diesem Zeitpunkt das Shuttle schon für den Wiedereintritt in die Atmosphäre ausgerichtet haben. Der zweite Überflug wird dann keiner mehr werden, denn dann sind wir schon auf dem Weg zu euch. Es muß jetzt einfach geschehen, denn so allmählich geht uns hier oben auch die Luft aus, und das nicht nur im sprichwörtlichen Sinn. Das Warten und Abschätzen zerrt an den Nerven. Außerdem kann es Annick gar nicht mehr erwarten, ihren Vorfahren endlich die Hand zu schütteln.« Die letzte Bemerkung hatte ihm noch nicht einmal einen bösen Blick der Französin eingebracht, denn dazu war die Lage zu ernst. Zudem waren sie in den vergangenen Tagen während der Proben für einen Notausstieg mental sehr eng zusammengerückt und zu einem guten Team geworden. Sie hatten auf diesen Moment hin trainiert und hatten damit begonnen, sich auf die nächsten Stunden zu konzentrieren. »Gut, gut. Es muß jetzt sein«, hatte Cochran mehr zu sich selbst gesagt. »Mit Gottes Hilfe wird die Sache gut ausgehen …« »Bei solch einem außergewöhnlichen Ereignis wie diesem
wird er bestimmt ein bißchen auf uns aufpassen, denke ich. Jetzt spar die Energie der Akkus. Vielleicht hören wir ja noch einmal voneinander. Wir sehen uns dann später.« Er hatte die Verbindung mit einer unwirschen Bewegung unterbrochen. Es war keine Zeit für große Worte. Jetzt mußte gehandelt werden. Alle Vorbereitungen waren abgeschlossen. Da DeHaney bei der bevorstehenden Notlandung niemanden von der Besatzung unten im Mitteldeck haben wollte, hatten sie einen zusätzlichen Sitz nach oben ins Flugdeck geholt und ihn unmittelbar hinter dem linken Pilotensitz montiert. Jetzt schwebte der Commander über den Sitzreihen und zog bei jedem Besatzungsmitglied die Gurte straffer. Dabei beobachteten ihn jedesmal aus einem geschlossenen Helm heraus die ängstlichen Augen des jeweiligen Besitzers. Aber der Eindruck entstand wahrscheinlich durch die fehlende Mimik der Gesichter, die durch den breiten Kinnschutz des Helms verdeckt wurden. Kohlschovsky, der rechts hinten auf dem Sitz des Mission Specialist saß, versuchte ein Zwinkern, das aber mißglückte, weil ihm ein Schweißtropfen ins Auge lief. Mit einem Fluch aktivierte er die Helmbelüftung. Dann sagte er über Vox: »Jim, ich gebe es ungern zu, aber ich glaube, ich schwitze aus Angst davor, daß ich etwas übersehen haben könnte, was für diesen Abstieg wichtig wäre.« DeHaney wußte, was den Russen so sehr beschäftigte. Kohlschovsky hatte alles aus der Fähre entfernt und in den Weltraum hinausbefördert, was sie nicht gebrauchen konnten. Dabei mußte er genauestens auf das Gewicht achten, um das die Fähre
leichter wurde. Die Angaben waren wichtig für den Wiedereintritt in die Atmosphäre, denn eine falsche Information über die Masse des Shuttles könnte zu einer Katastrophe führen. Der Commander überprüfte die Anschlüsse der kleinen Sauerstoffflasche an Kohlschovskys Anzug und sagte dann: »Du hast nichts übersehen, Ilja. Außerdem haben wir uns alle bei unseren Arbeiten gegenseitig überprüft, und keiner hat einen Fehler entdeckt. Wir haben in den letzten Tagen hart und konzentriert gearbeitet, wir haben an alles gedacht und wir sind auf alles vorbereitet.« Er klopfte ihm freundschaftlich mit dem flachen Handschuh zweimal auf den Helm. »Und jetzt gehen wir da runter, stöbern die Aliens auf und erzählen ihnen, daß wir wieder dorthin wollen, wo wir hergekommen sind. Nämlich nach Hause, in unsere Zeit. Ganz einfach.« Die kleinen Fältchen um Kohlschovskys Augen zeugten von einem breiten Grinsen. »Ladys and Gentlemen, genau so machen wir das.« Die Augen von Thomas Schweighart starrten geradeaus, als DeHaney sich ihm näherte. Der Deutsche hatte bis zuletzt ständig am Computer gearbeitet und unermüdlich versucht, Gesetzmäßigkeiten in dem Klimachaos zu entdecken, das ihnen die Vorhersage für einen günstigen Landezeitpunkt erleichtern konnte. Dann aber hatte auch er vor diesen urzeitlichen und ungewöhnlichen Verhältnissen auf der Erde kapitulieren müssen und beinahe erleichtert Cochrans Entscheidung zugestimmt. »So nachdenklich, mein junger Freund?« fragte DeHaney. Der Helm unter ihm ruckte unmerklich nach oben. »Wie man es nimmt«, antwortete Schweighart. »Ich dachte
gerade daran, daß ich vor einigen Tagen hier auf demselben Platz gesessen und mich gefragt habe, was die Zukunft mir wohl bringen wird. Zu dem Zeitpunkt meinte ich das natürlich rein beruflich gesehen.« Er lachte verhalten und hohl in seinem Helm. »Die Zukunft hat mir die Vergangenheit gebracht. Das ist doch verrückt, oder? Und rein beruflich gesehen, wird meine Karriere als Astronaut in einigen Stunden beendet sein. Schade drum.« »Warten wir es ab. Vielleicht finden wir doch noch einen Weg zurück.« DeHaney klopfte auch ihm aufmunternd auf den Helm und wandte sich Annick zu. »Was ist mit dir? Machst du dir auch Sorgen um deine Zukunft?« »Nein, absolut nicht, aber wenn es nicht bald losgeht, sterbe ich vor lauter Zittern und Verkrampfen hier im Sitz. Also verzichte bitte auf die berühmten letzten Worte. Geh nach vorne und bring uns endlich runter!« Er zögerte, weil er nicht wußte, wo er die barsche Antwort unterbringen sollte. Das Verhältnis zwischen ihnen beiden hatte sich doch eigentlich sehr zum Guten gewandelt. War das jetzt ein Rückfall in ›alte‹ Zeiten oder reagierte sie einfach nur übernervös, was angesichts der Situation nicht ungewöhnlich wäre. Irritiert beendete er die Überprüfung ihrer Gurte und der Ausrüstung ihres Anzuges. Als er sich vorsichtig aufrichtete und ihre Blicke sich dabei trafen, sagte sie: »Ach, Jim, übrigens: Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich darüber bin, daß wir dich da vorne auf dem Pilotensitz haben. Ich weiß, daß nur du es schaffen kannst.« Er sah sie lange an. Es war das erste Mal, daß sie ihn mit sei-
nem Vornamen angesprochen hatte. »Meinst du das ehrlich?« »Ganz ehrlich. Mein Großvater ist Zeuge und mit dem Wort meines Großvaters mache ich keine Späße.« Gerührt faßte er sie kurz an die Schulter. Er hätte gerne mehr gesagt, aber dazu war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt und vor allem nicht der richtige Ort. »Ich schlage vor, daß wir uns darüber später noch einmal unterhalten sollten«, meinte er aufmunternd. »Einverstanden. Sehr gerne sogar«, hallte es knapp aus seinem Helmlautsprecher. Nun war er doch etwas verwirrt. War das eine angedeutete Bereitschaft zu etwas mehr als nur Freundschaft oder hatte sie sich lediglich auf ein Gespräch nach einer hoffentlich geglückten Landung und damit symbolisch auf ihr aller Überleben bezogen? Für die erste Möglichkeit ein denkbar schlechter Zeitpunkt, dachte er bedauernd. Trotzdem schwang er sich mit ein wenig Übermut auf seinen Sitz und legte nachdenklich die Gurte an. Jetzt galt es zunächst, diese Aufgabe zu erledigen, und dazu brauchte er seine ganze Konzentration. Cooper rechts neben ihm war mit seinem Denken und Tun schon mitten in der Vorbereitung für den Abstieg aus dem Orbit. Er hatte die Fähre bereits vor einer Stunde gedreht, so daß sie nun mit dem Heck voraus flog und bereit war für die Bremszündung, nach der sie schließlich aus dem Orbit fallen würde. Sein Helm schwenkte nur wenig nach links hinüber, als er DeHaney bemerkte. »Wir sind schon mitten im Program Code 301«, sagte er mit einem leicht tadelnden Unterton. »Das Deor-
bit Computer Program ist bereits geladen und … tja, und als nächstes würde eigentlich die Go/No-Go-Entscheidung aus Houston anstehen …« »Wer braucht schon Computer oder Houston?« entgegnete DeHaney. »Wir fliegen wie in alten Zeiten. Frei nach Schnauze.« Cooper lief es bei dieser Bemerkung eiskalt den Rücken runter. Der alte Haudegen würde es doch wohl nicht wagen und die ganze Prozedur ohne Computerunterstützung absolvieren? »Nicht ganz, würde ich meinen«, wandte er vorsichtig ein. »Wir haben doch beschlossen, daß wir den Wiedereintritt und die nachfolgende Navigation durch die Atmosphäre bis zum Landepunkt ausschließlich den Computersystemen überlassen …« DeHaney lachte laut, als er erkannte, welche Befürchtungen Cooper durch den Kopf gingen. So sehr er die Fähigkeiten seines Co-Piloten in Situationen wie dieser schätzte, aber manchmal war er doch recht naiv. »Keine Angst, Tim, ich rühre diese technische Nachbildung eines Steuerknüppels nicht an«, beruhigte er ihn und tippte dabei demonstrativ auf den Joystick, der zwar aussah wie die seit Jahrzehnten gewohnte Einheit eines Space Shuttles, jetzt aber ein eigenständiges Computersystem darstellte, mit dem die Steuerbefehle elektronisch übermittelt wurden. »Sehr gut«, sagte Cooper erleichtert. »Ab jetzt geht alles automatisch. Die Systeme übernehmen den ganzen Abstieg bis hin zu den Pyramiden. Im günstigsten Fall brauchen wir nur die letzten Meter bis zum Aufsetzen manuell zu fliegen. Eigentlich könnten wir uns jetzt zurücklehnen und die Show genießen.«
DeHaney wußte, daß Cooper es nicht ernst meinte, entgegnete aber nichts. Insgeheim bewunderte er die Konzentrationsfähigkeit des jungen Piloten. Noch vor einigen Tagen war er ein nahezu psychisches Wrack gewesen, aber je mehr er die Realität akzeptiert hatte, desto mehr hatte er seine Bemühungen um eine sichere Landung verstärkt. Einen Rückblick schien es für ihn nicht mehr zu geben. DeHaney selbst dachte an die alte Erde in der fernen Zukunft, an Autumn, seine Frau. An Wakefield. Wie mochte es ihnen gehen? Konnten sie sich das Verschwinden der Intrepid erklären? Oder hofften sie noch auf ein plötzliches Wiederauftauchen des Shuttles? Für die Medien mußte das Verschwinden eine riesige Sensation gewesen sein. Für Taggert, dieses arrogante Arschloch, war der Vorfall wahrscheinlich eine Bestätigung für seine Theorien und seine Berufung. Sein pseudomilitärischer Verein würde in Zukunft jede Unterstützung bekommen, die er benötigte, falls er die nicht ohnehin schon hatte. »Eine Nachricht von Ken«, hörte er in diesem Moment Cooper sagen. »Sie ist aber sehr leise und verstümmelt. Viel kann man damit nicht anfangen. Danach ist der Kontakt abgebrochen. Ich spiele sie dir vor.« Ein lautes Rauschen schob sich in DeHaneys Kopfhörer, in das die kaum wahrnehmbare Stimme von Cochran eingebettet war. Es klang wie ein Weißes Rauschen aus dem Jenseits. »… gut … vielleicht besser …« Mehr war es nicht. Cooper spielte die Aufzeichnung noch einmal ab, aber DeHaney konnte nicht mehr als die drei Worte verstehen. »Das bringt uns gar nichts außer Verwirrung. Wir machen
weiter mit dem Countdown für die Landung. Was meinst du dazu?« »Ich bin derselben Ansicht«, antwortete Cooper knapp. Er hatte Cochran anscheinend schon aus seinem Gedächtnis gestrichen. »Wir sind bei landing minus 1:16:00. OPS 302 PRO auf panel C 2 für retro-fire and preentry coast geladen.« Der Commander lockerte seine Gurte, beugte sich nach vorn und klopfte zärtlich auf die Zentralkonsole. »Also gut, altes Mädchen, das wird dein letzter Flug werden. Laß uns nicht im Stich!« Er zog die Gurte wieder fest an und richtete sie für seine bestmögliche Bewegungsfreiheit ein. Danach ging er auf Vox. »O.K. Leute. Wir haben noch etwa eine Viertelstunde bis zur Bremszündung. Ich will keine großen Worte machen, denn ich weiß, wir haben alles getan, was in unserer Macht stand. Ab jetzt läuft alles über die Computerprogramme und den Autopiloten. Die Systeme sind in Ordnung, in unserem Landegebiet in Kairo herrscht leichter Seitenwind bei gutem Wetter und wenn alles gutgeht, sind wir …« Er brach ab. Es hatte keinen Sinn, der Besatzung solche platten Phrasen vorzubeten. »Ihr wißt, was uns erwartet«, fuhr er leiser fort. »Ich möchte euch nur sagen, daß ich ein gutes Gefühl habe, und das meine ich ehrlich. Wir sehen uns unten auf der guten alten Erde gesund wieder, davon bin ich überzeugt und das verspreche ich euch. Over und out.« Da er keine Antwort erwartete und auch keine Antwort abwarten wollte, schaltete er einfach ab. Die Verbindung zu seinem Co-Piloten stand weiterhin. »Gut gesprochen«, meinte Cooper,
»Danke«, antwortete DeHaney knapp. Die nächsten Minuten verstrichen in konzentriertem Schweigen. Cooper überprüfte zum letzten Mal den festen Sitz des schmalen Laptops, den er zusätzlich mit Tape an der beweglichen Halterung rechts neben sich positioniert hatte. Auf diesem Monitor wollte er später die Daten des Autopiloten und den Anflug in das Zielgebiet verfolgen. Der Countdown lief ohne ihr Zutun computergesteuert ab. Je näher der Zeitpunkt der Bremszündung kam, desto gebannter starrten beide auf die Monitore vor sich auf der Zentralkonsole, wo Zahlenreihen und Diagramme kurz auftauchten und wieder verschwanden, um ähnlichen Prozessen und Abfolgen Platz zu machen. Jede Fehlmeldung im System würde in einem auffälligen Rot angezeigt werden. Bisher blieben aber alle Zahlenkolonnen und Meldungen in einem beruhigenden Dunkelgrün. DeHaney schnüffelte in seinen Helm hinein. Die Atemluft roch ein wenig chemisch, war aber in Ordnung. Sie war fast eine Wohltat nach den unsauberen Gerüchen, die sie alle in den letzten Tagen hatten ertragen müssen. Er fragte sich, wie wohl die Luft dort unten auf der vorzeitlichen Erde riechen mochte, verscheuchte aber die Vorstellung daran schnell mit einem unwilligen Kopfschütteln. Noch befanden sie sich im Orbit und weit entfernt von normalen Verhältnissen. »Landing minus 1:03:00 – Auxiliary Power Unit gestartet«, hörte er Cooper murmeln. »Hydraulischer Druck, indicator one auf low green – and go.« Noch drei Minuten. Jetzt würde gleich das OMS, das Orbital Maneuvering System, zum Leben erwachen. DeHaneys Puls beschleunigte sich, und er meinte, seinen Herzschlag im Helm
zu hören. Mit einem leisen Fluch versuchte er sich zu entspannen und lockerte seine Beinmuskeln wie ein Sprinter vor dem Start. »Landing minus 1:02:00. OMS engines sind aktiviert. Digital Auto Pilot ist auf auto mode. OMS ENG Schalter vom Computer aktiviert. Alles läuft planmäßig. Kein Grund zur Sorge, Jim«, beruhigte ihn Cooper, dem die nervösen Bewegungen seines Commanders nicht entgangen waren. DeHaney staunte erneut über die Gelassenheit seines jungen Piloten. Oder war es das berühmte Pfeifen im Wald? Wie auch immer, er wirkte ruhig und konzentriert. Alles Weitere würde sich zeigen … Als nächstes müßte die Bestätigung für den ›deorbit burn‹ folgen. Er sah im Geiste, wie er dafür in früheren Zeiten manuell die Taste ›exec‹ gedrückt hatte … »Deorbit burn vom Computer bestätigt. Noch 15 Sekunden bis zur Bremszündung.« Vielleicht war es ja doch nur ein Alptraum. Vielleicht war noch Zeit, aufzuwachen und den Wahnsinn zu stoppen … »Countdown für OMS burn … drei … zwei … eins … ignition …« Es war also doch kein Traum. Der scharfe Knall der Thrusters überzeugte ihn jäh von der Wirklichkeit. Auf dem schwarzen Hintergrund mit den kalt leuchtenden Sternen, die er durch die Cockpitfenster sah, erschienen plötzlich wirbelnde Glitzerteilchen, die nach allen Richtungen davonstrebten. Feiner Staub, der sich auf der Oberfläche des Shuttles festgesetzt hatte und nun durch die Erschütterung gelöst worden war. Es war, als hätte man die Fähre mit einem gezielten Schlag aus einem
kosmischen Mauerwerk herausgelöst. Ein leichter stetiger Druck im Rücken und die Anzeige von 0,1 g auf dem Beschleunigungsmesser bestätigten ihm, daß sie den Orbit von nun an langsam und endgültig verließen. Die Brenndauer der beiden Triebwerke des OMS würde exakt 2 Minuten und 38 Sekunden betragen. »Mein Gott, wir sind tatsächlich auf dem Weg nach unten!« Cooper zeigte also doch Nerven. Außer einem leichten Flattern in der Magengegend spürte DeHaney keine Veränderung. Wahrscheinlich die Nachwirkung der zwei Liter Wasser mit den Salztabletten, die er wie alle getrunken hatte, um das Blutvolumen zu erhöhen und einen Kollaps zu verhindern. Water loading nannten die Mediziner dieses gräßliche Gesöff. Die Primary Thrusters würden die momentane Geschwindigkeit der Fähre von 27 400 km/h lediglich um lächerliche 293 Kilometer in der Stunde verringern. Erst in etwa 20 Minuten und in einer Höhe von 120 Kilometern würde ein fahles Leuchten an den Rahmen der Cockpitfenster die oberste Grenze der Atmosphäre ankündigen. Und keine Stunde später würde das Shuttle nur noch ein vier Milliarden Dollar teurer Schrotthaufen sein, dachte DeHaney. Mehr oder weniger. Ganz abgesehen davon rechnete er nicht damit, daß er das Wrack – falls er überleben sollte – jemals wieder zu Gesicht bekommen würde. Mittlerweile war er sicher, daß sie das Shuttle während des Fluges in niedriger Höhe würden verlassen müssen. Die Sache mit der Landung konnte einfach nicht funktionieren. Der Steigungswinkel von Cochrans Rampe war für sich alleine schon ein schwierig zu bewältigen-
des Problem und der Landeanflug war bei diesen Wetterverhältnissen auf keinen Fall zu bewerkstelligen, ganz zu schweigen davon, daß sie keinerlei Informationen über den benötigten Gleitwinkel hatten. Nein, sie mußten die Fähre verlassen, solange noch Zeit dafür war … Seine größte Sorge galt dabei Annick und Thomas. Sie wirkten zwar fit, aber vier Monate im All steckte man nicht so ohne weiteres weg. Ein Ausstieg aus dem Shuttle, das mit 400 Meilen pro Stunde flog, war nur etwas für Astronauten in körperlich und seelisch stabiler Verfassung. In diesem Moment verschwand der sanfte Andruck im Rükken. »OMS burn complete«, meldete Cooper. »OMS Status chekked and O.K. OPS 303 Program geladen und bereit. Shuttle wird gedreht und für den Wiedereintritt ausgerichtet. Vorgesehener Neigungswinkel plus 34,6 Grad.« Kleine und schwache Schläge zeigten an, daß die ›vernier engines‹ ansprangen, das Shuttle drehten und die Nase zur Erde ausrichteten. Auf dem Monitor vor ihm erschien ein graphisch animierter Attitude Direction Indicator, der aussah wie die schwarze 8er Billardkugel, und ihm anzeigte, in welche Richtung die Fähre rollte oder gierte. Wenig später schob sich der schmutzig-graue Horizont der Erde von rechts her direkt an den unteren Rand der Cockpitfenster und positionierte sich dort nach zwei weiteren schwachen Bremsstößen der Lagesteuerdüsen. »Orbiter’s balance point for entry bestätigt. Roll: 0 Grad. Pitch: 34,6 Grad. Yaw: 0 Grad.«
Nach einer kurzen Pause sagte Cooper: »Wir erreichen nun den loss of signal point. Eigentlich müßten wir uns hier für einige Minuten von Houston verabschieden, weil die Verbindung wegen der Ionisierung abbricht.« »Sehr witzig«, erwiderte DeHaney. Er konnte Coopers Scherzchen überhaupt nicht lustig finden, besonders nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Außerdem würde die Verbindung nicht abbrechen. Dank der Unterstützung von Satelliten würde sie höchstens ein wenig schlechter werden. Er unterließ jedoch eine entsprechende Bemerkung. Die nächsten Minuten würden darüber entscheiden, ob die Fähre in der Atmosphäre verglühen, ob sie daran abprallen, oder ob sie es schaffen würde, in das Chaos hinabzutauchen.
18. Kapitel »Landing minus 0:23:00. 24 000 km/h. Thrusters turned off. Alles läuft normal.« DeHaney spürte, wie seine Hände in den Handschuhen feucht wurden. Vor den großen Cockpitfenstern loderte ein Feuerzauber, und an den Seitenfenstern leuchtete die ionisierte Luft in einem tiefen Orange – so weit man in 75 Kilometern Höhe von Luft sprechen konnte. An der Nase des Shuttles und an den Flügelenden herrschten nun Temperaturen von bis zu 1 650 Grad Celsius. Auch die Verzögerungskräfte nahmen jetzt rasch zu. Momentan lagen sie bei 1,4 g. All die Energie, die man beim Start und während des anschließenden neunminütigen Fluges verwendet hatte, um das Shuttle in den Orbit zu bringen, wurde nun da draußen in Form von Reibungswärme wieder abgegeben. Unwillkürlich dachte er an die ColumbiaKatastrophe. Commander Husband und seine Crew mußten damals gewußt haben, daß sie in wenigen Sekunden sterben würden, als die Temperatur im Cockpit schlagartig anstieg und sich anschließend die Raumfähre schräg legte. Aber Cooper hatte recht. Alles lief normal. Bis jetzt. »Landing minus 0:20:30. 24 000 km/h. Höhe 70 100 m. Maximale Hitzebelastung.« Er legte den Zeigefinger mit leichtem Druck an die Seite des Steuerknüppels. Nicht ungeduldig werden, sagte er sich mit
einem Blick auf die Anzeigen der hydraulischen Systeme, die in einem gleichmütigen Grün schimmerten. Er hatte Cooper versprochen, die Steuerung der Fähre zunächst dem Autopiloten zu überlassen, also blieb nichts anderes zu tun, als abzuwarten. »Landing minus 0:18:00. 21 400 km/h. Verzögerung bei 1,7 g. Keine Abweichung gegenüber einem normalen Wiedereintritt.« Mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung ließ DeHaney die gleichbleibenden Verzögerungskräfte über sich ergehen, die einem kräftigen Bremsvorgang auf einer Highway glichen. Das leichte Vibrieren der Zelle ignorierte er. Er hatte bei früheren Wiedereintritten in die Atmosphäre schon heftigere Reaktionen erlebt. Allmählich wich die orange Farbe an den Fenstern zurück, aber immer noch war die Schwärze des Weltalls zu sehen. Beunruhigt blickte DeHaney auf die Anzeige des Höhenradars rechts neben dem Attitude Direction Indicator – 8-ball. 61 000 Meter. Kein Grund zur Sorge, es ging weiter abwärts. Bald würde sich die Nase der Fähre soweit senken, daß er den weit geschwungenen Horizont des Erdballs sehen konnte. Er spürte, wie er sich verkrampfte und versuchte, in den festgezurrten Gurten eine lockere Sitzhaltung einzunehmen. Erstaunlich, wie schnell ein Mensch doch fähig war, Ereignisse zu verdrängen und hinter sich zu lassen. Eben noch hatte er eine Heidenangst davor gehabt, daß sie von der Erdatmosphäre verglühen oder abprallen könnten und jetzt, keine drei Minuten später, erwartete er wie selbstverständlich die ersten Reaktionen des Shuttles auf das Eindringen in die oberen Luftschichten. Schließlich schob sich ganz langsam ein grauer Vorhang mit
einem türkisen Saum am oberen Ende nach oben in die Cockpitfenster und deutete endgültig die geglückte Rückkehr zur Erde an. »Landing minus 0:15:25. 18 000 km/h. Höhe 55 000 m. Wir sind durch. Jetzt dauert es nicht mehr lange, dann sitzen wir wieder in einem Flugzeug …« Cooper hatte kaum die letzten Worte ausgesprochen, als ein leichtes Zittern durch die Flugzelle lief. Gleichzeitig zeigte der Steuerknüppel unregelmäßige Pendelbewegungen an. DeHaney mußte sich beherrschen, nicht unwillkürlich nach dem Steuer zu greifen, um mit Hilfe der Lagetriebwerke die gewohnte erste S-Kurve zur Geschwindigkeitsverminderung zu fliegen. »Hallelujah, wir sind in der Atmosphäre, Leute«, rief er laut aus, nachdem er Vox aktiviert hatte. »Haltet euch fest, vielleicht wird es etwas ungemütlich werden …« Er wurde jäh unterbrochen, als ein brutaler Schlag das Shuttle von unten traf und hohe Beschleunigungswerte ihm die Luft aus den Lungen trieben. Verwirrt und nach Luft ringend suchte er nach einer Erklärung und schaltete Vox aus. Die Besatzung mußte nicht unbedingt die Schwierigkeiten im Cockpit mitkriegen. Nach einigen Sekunden der Erholung keuchte er: »Verflucht, was soll denn das? Tim, was ist passiert?« »Ich weiß es nicht. Normalerweise würde ich sagen, das sind Turbulenzen, aber so hoch oben in der Atmosphäre kann ich mir das einfach nicht vorstellen …« Ein zweiter Schlag fegte das Shuttle wie einen angeschlagenen Boxer zur Seite. Irgendwo von unten im Mitteldeck kam ein lautes Krachen, das sie selbst mit den Helmen auf dem Kopf
hören konnten. Das Zittern in der Flugzelle steigerte sich zu einem harten Vibrieren. »… warme Luftmassen werden stoßweise mit einer gewaltigen Thermik in die Atmosphäre geschleudert«, vernahm er die schrille Stimme Annicks in den Kopfhörern. »Da geht wahrscheinlich einiges in den Weltraum verloren …« Keine überflüssigen Erklärungen jetzt, dachte er bei sich. Er mußte die Vibrationen stoppen und zwar sofort. Außerdem verursachte ihm das Krachen vom Mitteldeck ein ungutes Gefühl. »Der Autopilot. Er versucht den geraden Kurs zum Zielgebiet zu steuern und hält gegen die Turbulenzen. Ich schalte ihn aus und übernehme das Steuer.« »Aber dann kommen wir möglicherweise zu stark vom Kurs ab«, widersprach Cooper ächzend, während das Shuttle widerstrebend in eine steile Rechtskurve flog. »Wir haben keine großen Toleranzen für den Landeanflug.« »Die Toleranzen sind mir gleich. Die Vibrationen nicht. Gib mir laufend Höhe und Geschwindigkeit an. Meinetwegen auch ab und zu, wo wir uns gerade befinden.« Cooper war immer noch zu sehr auf eine normale Landung programmiert, obwohl sie beide die Chancen dafür eher als gering eingeschätzt hatten. Aber darauf konnte er im Augenblick keine Rücksicht nehmen. »Und bereite die Besatzung auf einen Ausstieg vor!« fügte er hinzu. Als das Schütteln etwas nachließ, beugte er sich rasch vor und schaltete den Autopiloten aus. Die Vibrationen wichen augenblicklich einem ausgeglicheneren Flugverhalten, das zwar immer noch von einem unangenehmen Rütteln durchsetzt war, aber bei weitem nicht die harten Schläge durchkommen ließ wie
zuvor. DeHaney ließ dem Shuttle seinen Willen. Wie bei einem bockigen Pferd gab er die Zügel frei und rührte den Steuerknüppel zunächst nicht an. In einem langgezogenen Bogen wurde die Fähre von den wirbelnden Luftmassen nach oben gehoben und drückte dabei die Insassen tief in ihre Sitze. Urplötzlich ließ der Druck nach und der künstliche Horizont auf der Mittelkonsole zeigte nach und nach eine bedrohliche Schräglage des Orbiters an. Anscheinend hatten sie die schnell aufsteigenden und unvermutet aufgetretenen dichteren Luftschichten verlassen und durchquerten eine ruhigere Zone in der aufgewühlten Stratosphäre. Die Folge davon war ein halsbrecherisches Fallen mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit in die unteren Schichten der Atmosphäre. Der Commander wußte, allzulange durfte er diesen höllischen Ritt nicht zulassen, aber bevor er etwas Entscheidendes unternehmen konnte, brauchte er dringend mehr Druck unter den Flügeln. Falls sie sich tatsächlich in einer Luftmassenthermik befunden hatten, wie Annick vor einigen Minuten behauptete, so war davon jetzt nichts mehr zu spüren. Das Shuttle trudelte nun in einer langgezogenen Spirale und in gespenstischer Stille auf die Erdoberfläche zu. Nach einem schnellen Blick auf den 8-Ball korrigierte DeHaney mit den Lagetriebwerken die Fluglage. Nach einem heftigen Kampf schaffte er es schließlich, die Nase des Shuttles nach oben zu ziehen. »Gut so, gut so«, schnaufte Cooper erleichtert, als sie für einige Augenblicke in einem stabilen Flug dahinglitten. »Wir haben eine ›bad news, good news‹-Situation. Die schlechte
Nachricht ist, daß wir uns auf dem Weg von Janines Heimat, nämlich Südafrika befinden, die gute ist, daß wir wegen den aufstrebenden Luftmassen nur wenig an Höhe verloren haben.« Wer ist Janine, dachte DeHaney. Er bemerkte, daß ihm der Schweiß über das Gesicht lief. Die vorangegangene Aktion hatte ihn mehr Energie gekostet, als er wahrhaben wollte. Vor allem das unkontrollierte Abschmieren der Fähre nach dem unvorhergesehenen Lift hatte ihn vor große Probleme gestellt. Er hatte nicht gedacht, daß die Fähre in solch einer ungewöhnlichen Situation so gutmütig reagieren würde. Trotzdem, bisher hatten sie sehr viel Glück gehabt. Wären sie nur einige Meilen tiefer in die gleiche Lage geraten, hätte es böse enden können. Das Shuttle verfügte über keinerlei eigenen Antrieb, der als zusätzliche Kraftquelle den Flug unterstützen könnte. Noch waren allein die hohe Geschwindigkeit und die Höhe ihre wertvollsten Partner, aber das würde sich bald ändern. »Verstanden, gib mir die Kursänderung durch«, sagte er geistesabwesend. Unter ihm präsentierte sich die Erde in einem gleichförmigen Grau. Nirgendwo waren bekannte Konturen von Ländern oder Kontinenten auszumachen. Hätte er sich in seiner Zeit und in einer hoch fliegenden Passagiermaschine befunden, dann hätte eine ausgereifte Navigationstechnik das Flugzeug sicher zum Boden geleitet. Es wäre ein Genuß gewesen, in das Meer aus Wolken hineinzutauchen und wenig später zielgenau über einem vorbestimmten Ort herauszukommen und die Landung einzuleiten. Hier aber erwartete sie ein Wetterchaos, das sie mit Schallgeschwindigkeit durchqueren würden. Niemand, noch nicht einmal die Erbauer der Fähre hätten ihnen sagen können, wie dieses empfindliche Fluggerät darauf
reagieren würde. »Höhe 35 500 Kilometer. Geschwindigkeit 15 000 km/h. Wir sind noch sehr schnell«, meinte Cooper, nachdem er ihm die Daten durchgegeben hatte. »Wir überfliegen gerade Zentralafrika. Unser Zielgebiet liegt etwa 2 000 Kilometer nordöstlich.« Zielgebiet. Klingt wie eine vorausberechnete Einschlagstelle, dachte DeHaney. In gewisser Weise war es das ja auch. In den nächsten Minuten war der Flug sehr ruhig. Mehr und mehr setzten die Reaktionen der riesigen aerodynamischen Steuerflächen des Orbiters ein. Bald würden sie in die oberen Schichten der Troposphäre eindringen, dort wo sich das Wetter des Planeten bildete. Ab dann würde es sehr schnell abwärts gehen und sich die Geschwindigkeit rapide verringern. Fast unbemerkt hatte sich auch wieder die gewohnte Schwerkraft eingestellt. Für die beiden Piloten und für Kohlschovsky war das Gefühl der Erdenschwere leichter zu ertragen als für die beiden Missionsspezialisten Denny und Schweighart. DeHaney sprach kurz mit ihnen und war erleichtert, als er hörte, daß sie die Turbulenzen unbeschadet überstanden hatte. Auch die Schwerkraft bereitete ihnen bis jetzt keine Schwierigkeiten, aber das würde sich ändern, sobald sie ihre Sitze verlassen würden und auch nicht mehr das unterstützende System ihrer Sicherheitsdruckanzüge benutzen konnten. Denk nicht zu weit voraus, sagte er sich. Konzentriere dich auf die nächsten Minuten. Bald würde es dunkel werden. Die Sonne stand in neun Uhr schon tief im Westen und hob die voraus liegenden östlichen Wände der hoch aufragenden Wolkentürme in scharfen Kontrasten vor dem dahinterliegenden dunklen Hintergrund her-
vor. Ein erstes, kaum spürbares Rütteln kündigte den letzten Abschnitt ihrer Wiederkehr auf die Erdoberfläche an. »O.K. dann erledigen wir auch den Rest«, meinte er mehr zu sich selbst. »Tim, was ist, du wolltest doch zu den Pyramiden …« Er sah seinen Co-Piloten an, doch der blickte mit erstaunten Augen an ihm vorbei. »Wir haben Besuch«, sagte Cooper ohne Emotionen. »MARTHA gibt uns Geleitschutz.« DeHaney drehte sich zum linken Cockpitfenster hin und erkannte eine kleine dunkle Linse, die keine 500 Meter neben dem Shuttle aufgetaucht war. »Das ist nicht MARTHA«, antwortete er, nachdem er kurz mit zusammengekniffenen Augen das Flugobjekt gemustert hatte. »Dazu ist das Ding nicht groß genug. Wahrscheinlich die kleinere Version, von der Taggert geredet hatte.« Er hob die linke Hand und streckte dem UFO den Mittelfinger entgegen. »Mach dir keine Illusionen, Tim«, sagte er, als er in das erschrockene Gesicht des jungen Piloten blickte. »Unsere Freunde kennen das Zeichen nicht. Und helfen wollen sie uns auch nicht. Sie wollen nur sehen, was wir als nächstes machen und wie wir uns dabei anstellen.« Eine ungeheure Wut über die Dreistigkeit der Unbekannten überkam ihn plötzlich. Anscheinend wurden er und seine Crew als eine Art Versuchskaninchen angesehen, die in einem Zeitkäfig studiert werden sollten. Es kostete ihn viel Mühe, nicht die Beherrschung zu verlieren.
Dennoch zog er den Steuerknüppel hart nach links. Augenblicklich schien das UFO auf sie zuzuhalten und wischte schließlich als schwarzer Schatten über sie hinweg. »Ziemlich lahme Reaktion von euch, meine lieben Aliens«, sagte er lachend. Bei Gott, er würde diese Fähre und seine Besatzung heil nach unten bringen, schwor er sich. »Jetzt fängt es an, mir langsam Spaß zu machen. Tim, kümmere dich nicht um diese Affen. Höhe, Geschwindigkeit. Wo muß ich hin?« Cooper atmete tief durch und blickte mit kreidebleichem Gesicht auf die Armaturen und auf seinen Laptop. »Ja … äh … Höhe 15 000 Meter. Viel Geschwindigkeit. Mach 2, aber rapide abnehmend. Wir sind immer noch zu weit westlich. Wir haben Afrika fast überflogen und nähern uns dem Mittelmeer.« DeHaney warf einen letzten Blick in die Richtung, in der er das UFO vermutete, konnte es aber nirgendwo entdecken. Unter ihnen lag eine dichte Wolkendecke, die aber nach und nach durchsichtiger wurde. Eine schwarzblaue Fläche schob sich ihnen entgegen. Fast gleichzeitig verminderte sich durch eine starke Thermik die Sinkgeschwindigkeit. Das Shuttle flog nun in einem ständigen Auf und Ab, das mit einem stetigen Schütteln durchsetzt war. »Das östliche Mittelmeer. Wolkenfrei!« Cooper schrie die Information laut heraus. »Und dort unten. Das Nildelta. Jedenfalls sieht es ungefähr so aus wie in unserer Zeit.« Er schwieg einige Sekunden lang. Schließlich fügte er hinzu: »Die Informationen auf dem Laptop sind alle wertlos. Wir haben ein riesiges Glück gehabt. Eigentlich müßten wir uns 200 Kilometer westlich von hier befinden.«
»Wolkenfrei ist leicht übertrieben.« DeHaney ignorierte die Aussage über Coopers Laptop und legte die Intrepid in eine leichte Rechtskurve, so daß sie fast parallel zur Küste flogen. »Sieh dir das mal an!« Über dem nordafrikanischen Festland türmten sich dichtgedrängt gigantische Türme von Kumulonimbus-Formationen. Ihre amboßartigen Auswüchse an den oberen Enden reichten weit in die Stratosphäre hinein. Die im Abendlicht weiß reflektierenden Säulen aus Millionen Tonnen von Wasserdampf repräsentierten ein ungeheures Potential an klimatischer Macht und Energie. Es war ein überaus erhabenes und gleichzeitig erschreckendes Gemälde aus Wolken und Licht, das sich den beiden Astronauten darbot. Ein beeindruckendes Bild, das unter normalen Umständen ein phantastisches Zeugnis von der Einzigartigkeit natürlicher Elemente lieferte, jetzt aber konnte der Commander der gewaltigen Schönheit absolut nichts Positives abgewinnen. Die Mündung des Nils und das Hinterland lagen zwar noch in einem weichen und sonnigen Streiflicht, aber rings um das Gebiet lauerten dunkle und regenträchtige Wolkenzusammenballungen. Bei diesen Verhältnissen hatte es endgültig keinen Sinn, eine Landung bei den Pyramiden zu versuchen, zumal die Informationen und damit die Navigationshilfen auf Coopers Laptop wertlos waren. Nach einem kurzen Blick auf das Höhenradar sagte er: »O.K. das war es dann wohl. Wir sind jetzt etwa bei 30 000 Fuß Höhe. Ich gehe hier runter. Parallel zur Küste. Bei 6 000 Fuß steigen wir aus.« Er bekam keine Antwort von Cooper und fuhr ihn an: »Tim, verflucht, hörst du mir überhaupt zu!« Mit einem wütenden
Blick drehte er sich nach rechts. Sein Co-Pilot hatte abwehrend die Hand erhoben und konzentrierte sich auf den Laptop. »Ich kann Ken empfangen!« rief er laut. »Er sendet uns Peilsignale mit dem Cyberfon!« DeHaney atmete tief durch. »Tim, was soll das? Das bringt doch nichts! Ken kann uns nicht damit helfen, indem er …« »Natürlich hilft er uns damit«, fiel Cooper ihm ins Wort. »Ich führe schnell zwei oder drei Winkelmessungen durch und übertrage die Informationen auf den Laptop. Dadurch bekommen wir mit hundertprozentiger Sicherheit seinen Standort und die Position der Pyramiden. Versuche einfach, das Shuttle für eine Minute möglichst ruhig zu halten.« Der Flug glich nun einer Autofahrt über eine Schotterpiste. Fieberhaft versuchte DeHaney, irgendwo in dem Wolkenmeer unter sich Anzeichen für gemäßigtere Zonen auszumachen, um das Flugprofil der Intrepid zu entlasten. Manchmal kamen dermaßen harte Schläge durch, daß er fürchten mußte, die Fähre würde im nächsten Moment auseinanderbrechen. Außerdem meinte er leichte Vibrationen zu spüren, die er nirgendwo einordnen konnte, aber das konnte auch eine Täuschung sein, denn bei dem Geklapper, das von unten aus dem Mitteldeck zu hören war, hatte er mittlerweile das Gefühl, nicht nur in einem Auto über eine Schotterpiste zu fahren, sondern in einem voll beladenen Umzugswagen, bei dem man auf der Ladefläche nicht alle Möbel richtig festgezurrt hatte. »Gut so, ich habe die erste Peilung!« rief Cooper neben ihm, der trotz des unruhigen Fluges flink an der Funknavigation hantierte. Gerade wollte DeHaney ihm ärgerlich antworten, daß er un-
ter keinen Umständen eine Landung versuchen würde, als das Shuttle ein paar hundert Meter durchsackte. Nachdem er seinen Magen wieder spürte und wieder Druck unter den Flügeln war, überflog er fieberhaft die Armaturen vor sich. Einige Displays zeigten ein alarmierendes rotes X als Zeichen dafür, daß sich mehrere Computerprogramme verabschiedet hatten. Das meiste schien noch zu funktionieren. Vor allem die APUs waren wichtig. Mit einem schnellen Griff aktivierte er Vox. »Ilja, geh runter und bereite den Notausstieg vor! Wir verlassen das Shuttle so schnell wie möglich!« »Scheiße! Verstanden, ich gehe runter!« bestätigte Kohlschovsky. »Jim, ich habe die zweite Peilung!« Coopers Stimme klang verzweifelt. »Wir müssen nicht aussteigen, ich kann uns punktgenau zur Rampe führen.« »Tim, keine Diskussionen jetzt!« herrschte er seinen CoPiloten an. »Wir steigen aus! In der Reihenfolge wie wir es besprochen haben. Mach dich fertig und geh runter!« Danach achtete er nicht mehr auf Cooper. Es kam jetzt darauf an, möglichst rasch die Geschwindigkeit der Fähre herabzusetzen und an Höhe zu verlieren. Zuvor wollte er jedoch noch näher an die Küste heran, um wenigstens grob ein Absprunggebiet auszumachen. Ein See wäre ideal, eine große Sandfläche auch. Allerdings machte er sich über ein geeignetes Gebiet keine allzu großen Hoffnungen. Nach dem Absprung würde die Besatzung über mehrere Meilen verstreut sein, je nachdem, wie schnell sie die Fähre verlassen konnten. Bei einer Landung mit dem Fallschirm in der Savanne oder im Meer hätten Annick
und Thomas keine allzu großen Chancen zum Überleben. Eigentlich haben wir alle keine großen Chancen, überlegte er. Bei diesem unruhigen Flug hat mindestens einer von uns das Pech und prallt an den Flügel oder ans Hecktriebwerk. Vielleicht sollte er das Shuttle kurz vor jedem Absprung hart nach oben ziehen. Viel würde es nicht bringen, aber immerhin … »Die Luke geht nicht auf!« meldete sich Kohlschovsky. »Die Bolzen sind zwar weggesprengt, aber anscheinend ist die Flugzelle verzogen. Ich glaube, die Luke sitzt leicht schräg in der Bordwand, ist aber verklemmt. Bombenfest.« »Verdammter Dreck!« fluchte DeHaney. »Hast du versucht …?« »Hab schon alles versucht. Thomas ist auch hier, die Luke bewegt sich nicht, auch wenn wir zu zweit mit den Füßen …« »Seid ihr wahnsinnig? Sichert euch sofort! Ich melde mich gleich wieder!« Fünf Sekunden Nachdenken. Welchen Grund könnte es geben, daß diese verdammte Luke nicht abgetrennt wurde? Er kam zu keinem Ergebnis. Jedenfalls zu keinem, das in der nächsten Minute eine Lösung bringen würde. Für einige weitere Sekunden ließ er sich schweigend auf dem holprigen Luftweg durchschütteln und behielt die rechte Hand unbeteiligt am Steuerknüppel. »Also gut Tim, sieht so aus, als wäre es dein Job«, sagte er schließlich. »Du bringst uns runter! Ilja, Thomas, zurück auf die Plätze und gurtet euch an. So fest wie nur möglich. Ich will, daß ihr mit den Sitzen eins werdet. Das gilt auch für dich, Annick!« Er wartete die Bestätigungen nicht ab und wandte sich wieder an Cooper.
»Höhe. Geschwindigkeit. Kurs. Und nebenbei erklärst du mir, wie du uns da runterbringen willst. Das lenkt mich von der Scheißangst ab, die ich vor dem habe, was in den nächsten Minuten passieren wird.« »Höhe 10 500 Meter. Wir unterschreiten gleich die Schallgeschwindigkeit. Kurs beibehalten«, kam es eilfertig vom rechten Pilotensitz. Die Erleichterung über das Scheitern des Notausstiegs war deutlich aus Coopers Stimme herauszuhören. »Durch die Funkpeilungen habe ich den exakten Standort von Ken, der am Anfang der Rampe steht. Seine Position habe ich hier auf den Laptop übertragen. Bis hierher ist es einfach, oder?« »Ja, verstanden«, antwortete DeHaney knapp. Gleich würden sie die Schallmauer unterschreiten und dann … Das Rütteln verstärkte sich schlagartig zu einem Zerren und Stoßen, begleitet von einem so ohrenbetäubenden Pfeifen, daß er instinktiv den Kopf einzog. Das war kein normaler Durchgang gewesen. Irgend etwas stimmte mit dem Shuttle nicht, aber noch lag es stabil in der Luft, soweit man den Höllenritt als stabil bezeichnen konnte. Er spürte, daß er weiche Knie hatte, und kämpfte gegen seine Angst an. Nur nicht durchdrehen, noch waren sie im Rennen … »Höhe 9 800 Meter. 1 250 km/h. Weite Rechtskurve einleiten. Kurs 177 Grad anlegen. Keine Luftbremse, wir brauchen die Geschwindigkeit. Zur kleinen Orientierung und Ermunterung: Die Pyramiden liegen rechts unten von mir etwa bei fünf Uhr noch im Sonnenlicht.« »Aber nicht mehr lange, Tim. Wir fliegen mitten in einen Haufen Dreck hinein. Wie willst du von dort den genauen
Landeanflug bestimmen?« Cooper richtete sich etwas auf und betrachtete kurz die dichten Quellwolken vor der Intrepid. Dann wandte er sich beinahe desinteressiert ab und studierte wieder das Display seines Laptops. »Die Pyramiden sind exakt nach den Himmelsrichtungen angeordnet. Die Rampe reicht vom Nilufer gerade hoch zur Mykerinos-Pyramide, also von Osten nach Westen. Dort steht Ken und sendet das Peilsignal. Wir fliegen von Osten an und damit genau auf das Signal zu. Sobald sich der Einfallswinkel ändert, sind wir entweder zu weit Backbord oder Steuerbord. Wir kennen durch die Winkelmessung seine Position. Höhe und Entfernung bestimmen wir durch unsere eigenen Instrumente.« »Und das alles kriegst du hin?« argwöhnte DeHaney. »Ja, ich denke schon. Wir müssen nur noch beten, daß die Intrepid nicht vorher auseinanderfällt.« »Du spürst auch diese Vibrationen, nicht wahr?« »Ja, irgend etwas ist aus dem Leim gegangen. Vielleicht eine Verformung oder ein Riß in der Außenwand. Höhe 8 100 Meter. 980 km/h. Sind gleich bei 177 Grad. So … jetzt. Kurs halten. Wenn ich es dir sage, gehst du in eine steile Rechtskurve bis auf genau 270 Grad.« Unter einigen harten Schlägen tauchten sie in die dichten Wolken und damit in ein graues Nichts ein. An den nutzlos gewordenen Cockpitfenstern floß in dünnschichtigen Rinnsalen Kondenswasser nach außen zu den Rändern der Metallumfassungen. Beide Piloten konzentrierten sich nun ausschließlich auf die Instrumente.
»Gut. Jetzt die Rechtskurve auf 270 Grad. Höhe 6 700 Meter. 770 km/h. Das Shuttle fällt wie ein Stein.« So feinfühlig wie möglich führte DeHaney das Manöver aus und lauschte mit all seinen Sinnen nach jeder Unregelmäßigkeit. Das Vibrieren war nach wie vor unterschwellig zwischen dem inzwischen obligatorischen Stoßen und Rütteln des Shuttles deutlich zu spüren. »270 Grad liegen an. Genau diesen Kurs halten. Höhe 5 200 Meter. 690 km/h. Ich empfange das Peilsignal klar und deutlich voraus. Ein Grad nach Steuerbord. Gut so. Kurs halten.« »Tim, für einen Landeanflug brauche ich freie Sicht. Kannst du mir sagen, wann wir aus dieser Suppe herauskommen?« »Wir sind etwa 20 Kilometer von den Pyramiden entfernt. Vorhin beim Überfliegen waren das Nildelta und das Hinterland noch im Sonnenlicht gelegen. Es kann nicht mehr lange dauern, dann haben wir das Schlechtwettergebiet hinter uns gelassen. Höhe 4 800 Meter. 640 km/h. Kurs halten.« Nicht gerade überzeugend, fand DeHaney. Dabei dachte er über die Werte nach, die Cooper ihm gerade gegeben hatte. Für einen normalen Landeanflug waren sie etwas zu langsam, aber die Intrepid verfügte nun über keine nennenswerten Ressourcen mehr. Alle Energien, die sie noch besaß, steckten in der verbleibenden Geschwindigkeit und Höhe und die würden in knapp zwei Minuten aufgebraucht sein, denn spätestens dann würde sie am Boden zerschellen. Er kontrollierte den Neigungswinkel: 23,4 Grad. Zu steil nach unten. Es wäre besser, die Nase der Fähre ein wenig anzuheben, auch wenn er wegen des Geschwindigkeitsverlustes ein ungutes Gefühl dabei hatte. Vor den Cockpitfenstern hing nach wie vor ein grauer Vor-
hang. Unwillkürlich wischte er mit seinem Handschuh kurz über das Visier, aber alles blieb grau. Außer dem unangenehmen Rütteln des Shuttles deutete nichts darauf hin, daß sie sich mit annähernd 400 Meilen pro Stunde der Erdoberfläche näherten. Er konnte nur darauf hoffen, daß die Instrumente funktionierten und ihnen verläßliche Werte übermittelten. »Ganz leicht nach Backbord, vielleicht ein halbes Grad. Gut so. Höhe 3 900 Meter. Geschwindigkeit 610 km/h. Noch 13,4 Kilometer bis zur Rampe.« DeHaneys Hände umschlossen den Joystick fester. Falls sie tatsächlich bald aus den Wolken herauskamen, mußte er schnell reagieren, wenn nicht … »Mein Gott Cooper, ich mach mir gleich in die Hose«, sagte er mit belegter Stimme. »Kannst du mir nicht irgend etwas Beruhigendes über sonnenüberflutete Pyramiden erzählen!« »Ja … gleich. Ich weiß es, Jim, ich weiß, daß es so ist. Es ist gleich soweit, dann sind wir draußen … ähm … Höhe 3 500 Meter. Geschwindigkeit gleichbleibend bei 610 km/h. Noch 11,2 Kilometer bis zur Rampe. Kurs ist gut so. Halten.« Auch die Stimme des Co-Piloten klang nun etwas höher und unsicherer. DeHaney beschloß, ab jetzt den Mund zu halten. Alles würde so kommen, wie es kommen sollte. Dann fiel ihm ein, daß er Vox nicht abgeschaltet hatte und die Besatzung alles mithören konnte, aber das war vielleicht gar nicht das Schlechteste, denn damit ergab sich in dieser entscheidenden Phase ein Zusammenhalt, auch wenn er nur durch das Zuhören zustande kam. Aber trotz der Verbindung zu seinem Team, das keinen halben Meter hinter ihm saß, fühlte DeHaney ein Alleinsein. Seine Konzentration galt ausschließlich dem geschlossenen
grauen Vorhang vor ihm, der hoffentlich bald zur Seite gezogen würde. Plötzlich riß eine Bewegung am Cockpitfenster ihn aus seiner verkrampften Aufmerksamkeit. Nein, keine Bewegung, es war mehr ein schlierenartiges Fließen gewesen. Es dauerte mehrere Sekunden, bis er mit lähmendem Entsetzen erkannte, was da draußen vorging. Regen. Es hatte zu regnen begonnen. Kalt lief es ihm vor Schrecken den Rücken hinunter. Sie waren keine sieben Meilen von einem irrealen Ziel entfernt und sie flogen durch eine Regenwolke! Es mußte sogar wie aus Kübeln schütten, denn die Fenster schienen eine zweite Schicht aus fließendem Glas erhalten zu haben. Es blieb ihm noch nicht einmal die Zeit für einen lauten Fluch, da die Fähre sofort mit einem bockigen Nicken am Steuerknüppel auf das Unwetter reagierte. Mit trotziger Wut auf diesen neuerlichen Schicksalsschlag versuchte er die Intrepid in einer halbwegs waagrechten Fluglage zu halten. »Cooper! Höhe. Geschwindigkeit. Was ist los mit dir?« fuhr er seinen Co-Piloten an, der neben ihm wie gelähmt nach vorne auf die nassen Scheiben starrte. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis dieser auf die Aufforderung des Commanders reagierte. »Höhe 2 900 Meter. Geschwindigkeit … fällt auf … 530 km/h, verdammte Scheiße, wir sind fast da!« Das Shuttle wurde nun unnachgiebig nach unten gedrückt – wie ein Ringer, den seine Kräfte verließen. Beide Piloten kämpften gegen die zunehmende Resignation vor ihrem Schicksal an, aber sie wußten, daß ihnen nun nichts anderes mehr übrig
blieb, als hinter den blinden Cockpitfenstern auf ein Wunder zu warten. Verzweifelt blickte DeHaney wie ein gefangenes Tier nach allen Seiten, um vielleicht doch irgendwo einen Fetzen Hoffnung zu erspähen, aber es half nichts, sie waren von einem stumpfen und informationslosen Grau umgeben. Seine Gedanken begannen zu rasen, die Überlegungen überschlugen sich. Es blieb nichts anderes mehr übrig: Er würde die Nase der Intrepid hochziehen, einen blinden Landeanflug simulieren und auf die Instrumente hoffen. Und dann beten, daß sie auf halbwegs flaches Gebiet aufprallten. »Es wird, es wird, es wird …«, murmelte Coopers flehende Stimme in seinen Kopfhörern und störte ihn in seiner Konzentration. »Tim, verflucht noch mal, laß das!« »Jim, es wird heller! Da, direkt voraus!« Seine Stimme überschlug sich. DeHaney fixierte die Cockpitfenster. Er konnte keine Veränderung entdecken. Oder doch? War das hellere Band an der unteren Kante der Fenster eine Überreizung seiner Sehnerven oder schälten sich da jetzt tatsächlich die Konturen einer Landschaft heraus? Der Übergang aus der Regenwand in eine abendliche und von einer tief stehenden Sonne beleuchtenden Landschaft kam so plötzlich, daß er die neue Situation zunächst gar nicht erfassen konnte. »Wow … hah!« schrie er laut heraus. Von einem Moment zum anderen war er wieder voll motiviert und bereit, sich der neuen Herausforderung zu stellen.
»Ja! Ich wußte es, ich wußte es!« brüllte auch Cooper überschwenglich. DeHaney schnappte wie ein vorm Ertrinken Geretteter nach Luft und versuchte sich so schnell wie möglich zu orientieren und sich einen Überblick zu verschaffen, was nicht einfach war, denn die Landschaft und das Szenario vor ihm war mehr als phantastisch. Die Sonne stand direkt voraus tief am Horizont. Sehr schlechte Bedingungen, aber er erkannte sofort, daß das Landegebiet schon im Schatten lag. Die beiden auffälligen riesigen Dreiecke der großen Pyramiden ignorierte er nach einem kurzen Blick. Er suchte nach der von Cochran beschriebenen und vorbereiteten Rampe, die vom Fluß hoch zu der von ihm aus linken kleinen Pyramide führen mußte. Als er einen kaum wahrnehmbaren hellen Streifen sah, der vom Ufer des Nils geradewegs nach oben führte, traf er seine Entscheidungen. »Ganz ruhig, ganz ruhig, Tim! Mach dich bereit und tu, was ich dir sage! Höhe. Geschwindigkeit. Schnell!« »Ja, sofort, klar … ich bin bereit! Höhe 1 600 Meter. Geschwindigkeit 410 km/h.« »Wir sind viel zu hoch und immer noch zu langsam. Da direkt vor uns, der helle Streifen, ist das die Rampe?« »Es ist die Rampe. Ich sehe die Stangen und Bänder, von denen Ken gesprochen hat, direkt am Ufer«, kam es von Cooper nach einem kurzen Zögern. »Das Infrarot zeigt eine Entfernung von 1 800 Metern an.« »Gut. Speed brake auf 100 Prozent und wenn ich es dir sage, fährst du das Fahrwerk raus!« »Ist das nicht etwas übertrieben? Wir riskieren damit einen Abriß der Luftströmung und könnten abstürzen …«
»Wir stürzen schon seit einer halben Stunde ab. Tu, was ich dir sage und halt dich gut fest! Jetzt geht es runter!« Er zog die Nase des Shuttles in einer steilen Linkskurve hart nach unten auf einen imaginären Punkt etwa 200 Meter vor der Rampe und über der Wasseroberfläche. Dort und in einer Höhe von etwa 50 Metern würde er entscheiden, in welchem Winkel er die provisorische Landebahn anfliegen würde. Vorher mußte er jedoch an Höhe verlieren. Auch Cooper hatte die Notwendigkeit dafür schnell erkannt. Allerdings hätte er im Gegensatz zu DeHaney niemals solch einen raschen und brutalen Abstieg der Fähre eingeleitet. Von den kleinen angedeuteten S-Kurven, die der Commander jetzt auch noch zusätzlich einleitete, gar nicht zu reden. »Höhe 500, 460, 410, 380 …«, ratterte er im Sekundentakt und mit zusammengebissenen Zähnen durch. »… noch 900 Meter Entfernung. Geschwindigkeit gleichbleibend bei 410 km/h.« Wenn er nur endlich die Nase des Shuttles hochziehen würde! Mit einem besorgten Blick wandte er sich kurz nach links, aber der Commander blickte konzentriert auf das Ziel und nahm sich auch zwischendurch die Zeit, kurz die Instrumente zu kontrollieren. Und DeHaney lächelte! Cooper konnte es nicht glauben, aber das Gesicht hinter der Helmscheibe lächelte zufrieden und entspannt. »Äh … ja … Höhe 175, 150 … Entfernung 450 Meter. Geschwindigkeit jetzt bei 400 km/h …« Noch immer stürzten sie wie ein Stein auf die braune Wasseroberfläche des Nils zu. Wann gab der Commander endlich das Zeichen für das
Fahrwerk, sie waren keine 15 Sekunden mehr in der Luft! Cooper legte die Hände an die Schalter für das Fahrwerk und den Bremsfallschirm. Schließlich, nach zwei weiteren endlos scheinenden Sekunden, kam so etwas wie Bewegung in DeHaney. Ein kurzes Ziehen am Steuerknüppel und die Intrepid schien für einen langen Moment fast reglos in der Luft zu hängen. Cooper hatte das Gefühl, als befinde er sich in einem Aufzug, der mitten im Abwärtsfahren plötzlich die Richtung gewechselt hatte und wieder nach oben fuhr. »Paß auf, Tim, jetzt gleich, das Fahrwerk, und anschließend schießt du sofort den Fallschirm raus!« »Die Räder kommen aber nie mehr rechtzeitig …« »Weiß ich. Achtung! – Jetzt!« Cooper legte mit fliegenden Fingern die drei Schalter für das Fahrwerk um und aktivierte den Bremsfallschirm. Sofort danach stemmte er sich mit den Beinen ab und preßte sich fest in den Sitz. Links neben ihm trat DeHaney abwechselnd in die Ruderpedale oder korrigierte mit dem Steuerknüppel die Fluglage. Seine Bewegungen waren konzentriert und wirkten hart und bestimmt. Cooper bewunderte in diesem Moment die Professionalität und Abgeklärtheit seines Commanders. In den letzten Sekunden hatte der junge Co-Pilot von der Umgebung und auch von der Rampe vor ihnen nicht viel mitbekommen. Jetzt, da für ihn nichts mehr zu tun war, nahm er zuerst die riesigen Schattenrisse der Pyramiden rechts vor sich wahr. Dann, als das Shuttle als Folge des offenen Bremsfallschirms mit einem Ruck nach vorn kippte, sah er die steile Rampe unmittelbar vor ihnen auf sich zufliegen. Palmen links
und rechts. Unter ihm rumpelte das Fahrwerk aus den Schächten. Oder hatten sie schon Bodenkontakt? Für einen winzigen Moment war alles ganz still. Fast erhabene Stille. DeHaney sagte etwas, das Cooper nicht verstand. Seine Worte verschmolzen mit optischen Eindrücken. Die Sinne schienen auf ein gemeinsames Empfangen zusammengepreßt worden zu sein. Cooper registrierte noch, daß der Horizont oben am Ende der Rampe und die Unterkante der Cockpitfenster eine beruhigende Linie bildeten, dann spürte er ein stöhnendes Vibrieren, das sich schlagartig in ein tosendes Inferno verwandelte. Als ihn der Aufprall in seinen Sitz stauchte, schien er den Vorgang sogar zu schmecken. Durch den plötzlichen Druck schossen die Verdauungssäfte des Magens durch die Speiseröhre nach oben und hüllten seine Geschmacksnerven mit bitterem Gallensaft ein. Von irgendwoher vernahm er eine schreiende Frauenstimme. Das mußte Annick sein. Er fühlte sich beschämt, weil er ihr nicht helfen konnte, und versuchte sich trotz der von allen Seiten auf ihn einstürmenden Kräfte aufzurichten, um wenigstens das Geschehen um sich herum wahrzunehmen. Er stellte mit Erstaunen fest, daß er inzwischen nicht mehr waagrecht zu den Konsolen saß. Ein lautes Kreischen und Aufheulen zog ihn schlagartig von den Armaturen weg. Ein Luftzug, angefüllt mit hoher Feuchtigkeit umgab ihn. Plötzlich sah er direkt auf den Commander, der mit ruhigen und beherrschten Aktionen immer noch mit den Pedalen und dem Steuerknüppel arbeitete. Ein unwirklicher Anblick angesichts des Durcheinanders an
Eindrücken, die sich wie in Zeitlupe vor seinen Augen abspielten. In dem Chaos trotzte DeHaney wie ein einsamer Fels allen Einwirkungen, die nun von allen Seiten ungezügelt auf sie einstürmten. Wie ein Gottvater aller Astronauten. Eine unbekannte Kraft schleuderte den Co-Piloten aus dem Cockpit heraus. DeHaney schien es nicht zu bemerken. Er stemmte sich unbeirrt gegen die eigenwilligen Reaktionen des Shuttles, ohne einen Blick nach rechts zu werfen. In diesem Augenblick wünschte sich Cooper, daß der Commander ihm ein wenig Aufmerksamkeit schenken würde, und sei es nur eine Handbewegung. Er fühlte sich einsam. Das Bild des Commanders blieb noch einige Momente vor seinem geistigen Auge stehen, dann wurde es dunkel um ihn herum.
19. Kapitel Unruhig und von Selbstvorwürfen gequält humpelte Kenneth Cochran auf seinen provisorischen Krücken nahe am Nilufer auf und ab. Er war zwar schon wieder ganz gut auf den Beinen, aber längere Strecken wie die vom Lazarett bis hierher bereiteten ihm enorme Schwierigkeiten. Immer wieder blickte er besorgt auf die dunklen Regenwolken, die seit einer Stunde am Horizont aus dunstigen Schleiern erwachsen waren und sich nun beängstigend schnell um das Hochplateau der Pyramiden formierten. Vor knapp drei Stunden noch war die Wettersituation absolut stabil gewesen, und er hätte darauf geschworen, daß sich daran vor der kommenden Nacht nichts ändern würde. Und jetzt hing die Katastrophe in Form von regenschwangeren Ungetümen schon fast direkt über ihm. Natürlich wußte er, daß es keinen Sinn hatte, über die bereits gefallene Entscheidung über die Landung nachzudenken. Er hatte den Großteil der Verantwortung bei sich gesehen und in seinen Augen hatte er versagt. Niemals hätte er DeHaney so voreilig und unvorbereitet zu einer Landung raten dürfen, vor allem nicht mit der geringen Erfahrung, die er bezüglich der Wetterlage hatte. Ein wenig mehr Geduld und man hätte bestimmt … … hätte, hätte, hätte … Er blickte auf die Uhr, wie schon un-
zählige Male zuvor. Er gab DeHaney höchstens noch zehn Minuten, falls er es überhaupt geschafft hatte, in die Atmosphäre zu gelangen. Mit einem unheiligen Fluch auf den Lippen hinkte er zum Rand der Rampe und stocherte mit der Krücke im nassen Sand herum. Die schmale Fläche der Bahn war von den Helfern, die ihm Steinvogel zur Verfügung gestellt hatte, eben gerade noch einmal mit Wasser befeuchtet worden, das sie eifrig dafür in unzähligen Kübeln herbeigeschleppt hatten. Nötig gewesen wäre es nicht, wie ihm Seytofer mit komplizierten Handbewegungen und lachendem Gesicht erklärt hatte, denn das Iferte trocknete bei der hohen Luftfeuchtigkeit praktisch nie ein. Trotzdem war der Ongenne – so ähnlich hatte er sein Volk bezeichnet – bereitwillig losgerannt und hatte mit einer großen Anzahl Artgenossen das untere Drittel der Rampe lautstark und mit Begeisterung förmlich unter Wasser gesetzt. Den Sinn für die ganze Aktion hatte keiner von ihnen begriffen. Er hatte anfangs zwar versucht, ihnen zu erklären, was auf der schmalen Piste hoch zu den Pyramiden bald passieren würde, jedoch nur ein verständnisloses und gutmütiges Lachen dafür geerntet. Nun ja, im Grunde genommen konnte es ihm einerlei seien. Hauptsache, er hatte von Steinvogel die Erlaubnis erhalten, die Piste zu präparieren. Steinvogel. Bei dem bloßen Namen lief es ihm kalt den Rükken hinunter. Dieser kleine Mann mit dem dünnen Bärtchen und seiner billigen Brille. Es hatte lange gedauert, bis Cochran endlich mit ihm sprechen konnte, und noch länger, bis er ihm begreiflich
machen konnte, daß ein Space Shuttle eine Kombination aus Raumschiff und einer Art Flugzeug darstellte und daß dieses Gefährt unbedingt zur Erde zurückkehren müsse. Die Unterhaltung war umständlich gewesen, denn Steinvogel sprach nicht sehr gut Englisch. Zumindest gab er vor, der Sprache nicht allzu mächtig zu sein. Manchmal hatte Cochran den Eindruck, daß der kleine Mann in seinem weißen Kittel ihn sehr wohl verstanden hatte, aber ihm gegenüber gerne den Unwissenden spielte. »Jaja, Herr … Cochran«, hatte Steinvogel erwidert. »Das habe ich verstanden. Ich habe auch verstanden, daß sich ihre Gefährten in diesem Raumschiff befinden, um die Sie sich Sorgen machen. Nur, wieso kommen Sie in dieser Angelegenheit zu mir?« »Ich habe Ihnen doch erzählt, daß das Space Shuttle von diesem unbekannten Schiff entführt wurde, mit dem wir hierher gekommen sind. Sie müssen etwas damit zu tun haben, schließlich haben Sie uns ja bei der Ankunft empfangen.« »Das ist richtig, Herr Cochran«, bestätigte er mit einem Kopfnicken. Pause. Cochran platzte gleich der Kragen, aber er beherrschte sich. Wenn er Erfolg haben wollte, mußte er geduldig bleiben und mit diesem Wicht würde er noch allemal fertig werden. »Ich dachte mir, ob Sie es … nicht irgendwie veranlassen könnten, daß man meine Freunde mit diesem Wunderwerk der Technik aus dem Weltraum rettet«, sagte er lauernd und sprach dabei laut und deutlich. »Auch das habe ich verstanden. Nur denke ich, daß Sie meine Möglichkeiten überschätzen.«
Punkt. So ging es also nicht. Steinvogel hatte keinerlei Regung bei seinen Antworten gezeigt, noch nicht einmal ein Zucken in den Augenwinkeln. Vielleicht sollte er etwas ausholen. »Sie sind aus Deutschland«, stellte er fest. »Aus welcher Zeit hat man Sie entführt?« Jetzt zeigte er doch eine Andeutung von Reaktion. Steinvogels linker Fuß schabte linkisch ein winziges Stück zurück, um gleich wieder in die vorherige Position gebracht zu werden. Sein Blick wurde um eine Nuance unsteter und taxierte Cochran mit einem Anflug von Neugier. Trotzdem kam von ihm keine Antwort. »Vielleicht dürfen Sie ja nichts sagen«, mutmaßte Cochran und sah sich in dem Raum um, in dem ihn Steinvogel aufgesucht hatte. »Aber wer könnte hier mithören und das in einer Sprache, die erst in ferner Zukunft gesprochen wird.« Ihm kam plötzlich eine Idee. Möglicherweise konnte man diesen Menschen anders packen. »Übrigens stammt einer meiner Gefährten in dem Space Shuttle ebenfalls aus Deutschland. Möchten Sie nicht einem Ihrer Landsleute helfen?« Keine Reaktion. Oder doch? Steinvogel richtete sich leicht auf. Dann hatte es den Anschein, als ob er sich zum Gehen wenden wollte. Schließlich ein merkliches, tiefes Einatmen. Nach einigen Sekunden noch einmal der gleiche Vorgang. Danach erwiderte Steinvogel im Flüsterton: »Ich kann nur wiederholen: Sie überschätzen meine Möglichkeiten.« Dabei neigte er leicht den Kopf und rollte unnatürlich die Augen. Cochran erschrak bei dieser Geste – oder sollte es ein warnendes Zeichen gewesen sein, ein Wink? Oder war dieser Mann
verrückt? Steinvogel hielt den Kopf in dieser Stellung, drehte sich mit einem Ruck weg und blieb seitlich abgewandt in einer verkrampften Haltung stehen. Gerade als Cochran resignierend zu dem Schluß gekommen war, daß der Deutsche wahrscheinlich wirklich nicht ganz richtig im Kopf war, sagte der kleine Mann in den Raum hinein: »Ein Flugzeug braucht eine Landebahn, richtig? Ich werde Ihnen eine fertige Landebahn zur Verfügung stellen. Und ich werde Ihnen etwas zeigen, etwas demonstrieren.« Er winkte ihm mit einer unbeholfenen Handbewegung zu und forderte ihn auf, ihm zu folgen. Auf seine Krücke gestützt humpelte Cochran ihm nach, hinaus ins Freie. Es war früher Nachmittag, und es regnete in dampfender gleichmäßiger Stetigkeit. Steinvogel stand regungslos vor dem Eingang und wartete gleichmütig, bis Cochran herangeschlurft kam. »Hier, sehen Sie«, sagte er und hielt ihm mit nassen Händen eine kleine Blechdose hin. »Hier drin befindet sich eine Substanz, die man Iferte nennt.« Er öffnete den Deckel und hielt die Hand vor dem Regen schützend über die Dose. »Nehmen Sie ein wenig mit der Fingerspitze heraus, drehen Sie den Finger aber nicht um und reiben mit dem Daumen darüber.« Cochran führte seine Anweisungen aus und rieb den Daumen von unten an dem mit der Substanz beschichteten Zeigefinger. Das Iferte war etwas zäher als Honig und von schmutziggrüner Farbe. »Wie Sie bemerken, klebt die Substanz«, sagte Steinvogel. »So, und nun halten Sie den Finger einmal in den Regen. Sie
werden feststellen, daß die Oberfläche des Ifertes spiegelglatt geworden ist. Die untere Fläche klebt dagegen weiterhin an Ihrem Finger.« Mit dem Daumen fuhr Cochran immer wieder prüfend über seinen glitschigen Finger. Es war erstaunlich. Nur wenige Tropfen Wasser hatten die Oberfläche der Substanz aalglatt werden lassen. Als er seitlich am Zeigefinger den Rand des Ifertes mit dem Fingernagel anhob, ließ sich die aufgetragene Fläche wie ein kleiner klebriger Lappen abziehen. Das war also das Geheimnis der Transporte der Steinquader. Die Kanäle und die Steinblöcke waren mit Iferte präpariert, das von dem ständigen Regen immer feucht gehalten wurde. »Es wird von der Rinde einer speziellen Baumart gewonnen, die hier in diesen Breiten heimisch … äh … gemacht wurde.« Steinvogel schloß die Dose und fuhr in beiläufigem Tonfall fort: »Wir benutzen das Iferte zu verschiedenen Zwecken, hauptsächlich jedoch, um beim Transport der Steinblöcke die Reibung in den Zuführungskanälen herabzusetzen. Ich nehme an, daß das Fluggerät, von dem Sie sprechen, mit Hilfe von Rädern landet. Und da es ein sehr großes Flugzeug ist, benötigt es eine feste Landebahn. So etwas in der Art kann ich Ihnen aber nicht anbieten. Ich kann Ihnen lediglich eine Notlandebahn zur Verfügung stellen, die bereits mit dem Iferte behandelt wurde. Sie wird nicht mehr benötigt und sollte bald eingeebnet werden. Räder werden da allerdings nichts nützen. Der Boden ist zu weich.« Cochran stutzte bei den letzten Sätzen von Steinvogel. Wer hatte diese Baumart heimisch gemacht und woher wußte er, daß es sich bei dem Space Shuttle um ein sehr großes Flugzeug
handelte? Und natürlich beschäftigte ihn noch eine andere Frage: In welchem Jahr befanden sie sich überhaupt? Er fragte Steinvogel danach. »Sie befinden sich exakt im Jahre 8498 v. Chr. Herr Cochran«, antwortete Steinvogel wie nebenbei. Kenneth Cochran war für einen Moment sprachlos. Also waren ihre Einschätzungen, was die Zeit betraf, ungefähr richtig gewesen. Nur die bisher angenommene Erbauungszeit der Pyramiden paßte ganz und gar nicht dazu. Als er Steinvogel danach fragen wollte, war dieser schon wieder auf dem Weg in das große Zelt. Am Eingang angekommen, drehte er sich noch einmal um und fragte: »Ach, Herr Cochran, dieser Landsmann von mir, Würden Sie mir bitte seinen Namen nennen?« »Schweighart«, rief Cochran durch den fallenden Regen. »Thomas Schweighart.« Das war vor vier Tagen gewesen. Seitdem arbeitete er mit Hilary, Janine und etwa zwanzig Ongennen an der Piste. Sie hatten die Oberfläche vom oberen Ende her aufgelockert und umgegraben, um dort das Iferte zu entfernen. Wenn DeHaney es tatsächlich schaffen würde, diese altertümliche Landebahn anzufliegen, würde es nur etwas nützen, wenn der Aufsetzpunkt am Anfang wenig Reibung bot. Danach mußte das Shuttle möglichst schnell, aber gleichmäßig abgebremst werden. Bei einer geschätzten Landegeschwindigkeit von 350 bis 400 Stundenkilometern ein beinahe unmögliches Unterfangen, denn die ansteigende Piste war vom Nilufer her bestimmt nicht länger als 500 Meter. Und es wäre eine fliegerische Meisterleistung von
DeHaney, wenn ihm die Länge ausreichte. Aber Cochran traute dem alten Haudegen alles zu. Er blickte über die Piste zu den Pyramiden, die vor ihm im Abendlicht lagen. Gewaltige ebenmäßige, weiß glänzende Monumente, die er aus seiner Zeit in einem verfallenen Zustand in Erinnerung hatte. Die Pyramiden von Mykerinos, Chephren und Cheops. Er schüttelte resignierend den Kopf. Die Namen waren Schall und Rauch, denn ihre angeblichen Erbauer würden erst in etwa 6 000 Jahren hier in dieser Region regieren. Die wirklichen Bauherren dieser einzigartigen Bauwerke waren diese gutmütigen, freundlichen Geschöpfe, die sich abwartend um ihn scharten. Die Frage war nur, waren sie auch die Architekten und wozu diese ungeheure Energieleistung? Bisher war jeder Versuch von ihm, näher an die Pyramiden heranzukommen, von den dort arbeitenden Ongennen verhindert worden. Sobald er auch nur einige Meter von seinem täglichen Weg hierher zu der Rampe abwich, wurde er unmißverständlich wieder zurückgeschickt. Schließlich hatte er sich zur Geduld gemahnt. Zuerst mußten sie das hier hinter sich bringen. Zwei dumpfe Schläge aus der Ferne. Er hob den Kopf. Die Intrepid war im Anflug. Das Shuttle unterschritt die Schallmauer und schickte einen Schallteppich aus. Es kündigte seine Ankunft wie ein unsichtbarer Riese an. »Mein Gott, er hat es geschafft, er hat es tatsächlich geschafft«, flüsterte Cochran bewundernd. Für einige Augenblicke stand er benommen auf einem Fleck. Erst als seine Frau atemlos neben ihm auftauchte, kam Bewegung in ihn.
»Du hast es auch gehört, nicht wahr«, fragte er, ohne eine Antwort zu erwarten, und griff nach seiner Stofftasche, in dem er das Cyberfon aufbewahrte. »Das Wetter macht mir Sorgen«, sagte sie und suchte den Horizont nach dem Shuttle ab, obwohl sie wußte, daß sie die Fähre zwischen den aufgetürmten Wolkenmassen nie entdekken würde. »Mir auch. Besonders diese Wand, die da von Osten auf uns zukommt. Sie brauchen nur zehn Minuten, höchstens fünfzehn, viel weiter kann die Intrepid nicht entfernt sein. Und dieses Ding hier muß auch nur noch zehn Minuten funktionieren.« Er aktivierte das Cyberfon und rief die Intrepid. Zu seiner Überraschung meldete sich Cooper sofort. Schnell und ohne große Worte vereinbarte er mit ihm, ab jetzt alle zwei Sekunden ein in dem Cyberfon gespeichertes Peilsignal zu senden. »Wie geht es Ihnen?« fragte Hilary Cochran überflüssigerweise. »Keine Ahnung«, erwiderte er nervös. »Ich nehme an, daß sie O.K. sind. Schnell, schick die Leute hier weg. Sag ihnen, daß es gefährlich werden könnte oder irgend etwas, das sie von hier fernhält. Wenn es zu einer Bruchlandung kommt, ist der Bereich um die Piste nicht mehr sicher. Ich gehe noch ein Stück weiter runter zum Ufer.« Hastig setzte er sich in Bewegung. In seinem Kopf wirbelten alle möglichen Gedanken. Hatte er an alles gedacht? Für den Fall, daß das Shuttle Feuer fing, hatte er ein paar Männer mit genügend Wasservorräten in der Mitte postiert. Allerdings machte er sich keine großen Hoffnungen, was die Löscharbeiten
betraf. Es gab keine entsprechende Ausrüstung für eine ausreichende Hilfe. Wenn das Shuttle explodierte, würden sie nicht schnell und nahe genug herankommen, um die Besatzung zu bergen. Nach einer halbwegs gelungenen Landung wäre es wichtig, alle möglichst rasch aus der Fähre herauszubekommen. Oder wenigstens die Überlebenden zu bergen. Dafür hatte er Tragen aus dem Lazarett organisiert. Außerdem genügend Helfer und auch einige Leute, die ein wenig Ahnung von Erstversorgung hatten. Sie standen ebenfalls an der Piste entlang verstreut unter den Palmen. Die Frage war nur, ob sie sich auch an ein gelandetes Shuttle heranwagen würden. Er hatte zwar versucht ihnen so gut wie möglich zu erklären, was passieren könnte, war sich aber nicht sicher, ob sie nicht vielleicht aus Angst vor dem Unbekannten einfach davonliefen. Wieder zwei dunkle und fast sanft klingende Schläge. Sie waren eindeutig aus nordöstlicher Richtung zu hören gewesen. Die Raumfähre befand sich also im Anflug. Er schätzte, daß sie im Moment mit Unterschallgeschwindigkeit unterwegs war, und das bedeutete, daß sie keine fünf Minuten mehr bis zu den Pyramiden benötigte. Trotzdem gab es noch unzählige Unsicherheitsfaktoren, die den Landeanflug zu einer Katastrophe werden lassen konnten. Am problematischsten war die nun stetig zunehmende Bewölkung und der aufkommende Wind. Sicherlich würde es bald wieder wie aus Kübeln schütten. Er humpelte eilig die ausgetretenen Stufen am Rande der Piste hinab. Hier mußten noch vor kurzem unzählige Seilmannschaften mit Hilfe von umgelenkten Seilen die Steinquader hinauf zu den Pyramiden gezogen haben. Soweit er sich noch an die Geschichte des alten Ägyptens erinnern konnte, wußte
er, daß einige Steinbrüche gegenüber auf der anderen Seite des Nils existierten, weitere sogar noch Hunderte von Kilometern flußaufwärts. Also waren nicht alle Blöcke mit Hilfe der Kanäle hierher gelangt. Er achtete darauf, das Cyberfon nicht zu beschädigen. Es war in diesem entscheidenden Moment eine wichtige Navigationshilfe für DeHaney, vielleicht sogar die einzige, denn die Wolkenwand zog immer näher heran. Schwer atmend blieb er stehen und blickte nach Osten. Dort mußte die Intrepid auftauchen, direkt aus dieser grüngelben Front. Er schüttelte verzweifelt den Kopf. Wie würde DeHaney reagieren, wenn er nur so wenig Zeit hatte, um sich in dieser Situation zurechtzufinden? Das Shuttle flog zu diesem Zeitpunkt in der letzten Anflugphase mit einer Geschwindigkeit von mehr als 400 km/h und es reagierte träge. Wenn der Anflugwinkel nicht absolut korrekt war, würde es die Piste verfehlen. Schon 100 Meter nach Süden oder Norden könnten sich katastrophal auswirken. Er hätte ein großes Feuer hier unten am Ufer entzünden oder noch größere Feldzeichen aufstellen sollen. Nein, das wäre an der Kürze der Zeit gescheitert. Er konnte schon zufrieden damit sein, daß ihn dieser verknöcherte Oberaufseher Steinvogel auf die Piste aufmerksam gemacht und zusätzlich Leute zur Verfügung gestellt hatte. Bei dem Wort Oberaufseher fiel ihm ein, daß er gar nicht erfahren hatte, aus welcher Zeit das unscheinbare Männchen stammte, aber irgendwie hatte er das Gefühl, daß er aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammen mußte. Sein Puls schlug nun ruhiger, und er war auch wieder zu Atem gekommen, er beschloß aber trotzdem, nicht weiter
hinabzusteigen. Die wenigen Meter würden keinen großen Ausschlag mehr für die Zielgenauigkeit der Peilung ausmachen. Es herrschte eine merkwürdige, nahezu heilige Stimmung. Der Wind hatte sich fast vollständig gelegt, trotz der unheilvollen Wetterboten in Gestalt von schmutzig grauen Wolken, deren Ränder von der untergehenden Sonne rötlich gesäumt waren. Das Nilufer lag bereits vollkommen im Schatten, nur die Spitze der Chephren-Pyramide glühte im Abendrot. DeHaney würde direkt ins Sonnenlicht fliegen. Vielleicht auch nicht. Es würde auf die Höhe ankommen, mit der er aus den Wolken herauskam. Erst jetzt bemerkte er, daß ihm Seytofer gefolgt war. Der junge Ongenne stand ruhig und abwartend neben ihm. Ab und zu warf er einen neugierigen Blick auf das Cyberfon, wagte aber anscheinend nicht, ihn in seiner blumigen Sprache und seinen schnell ausgeführten Handbewegungen zu befragen. Cochran hatte in den letzten Tagen einiges von der seltsamen Gebärdensprache erlernt. Vor allem war er erstaunt über die Nützlichkeit der Handzeichen, die vor allem dann zum Einsatz kamen, wenn es in Strömen regnete und man sein eigenes Wort nicht verstehen konnte. Er wollte ihm gerade signalisieren, daß er wegen der drohenden Gefahr von hier verschwinden sollte, als Seytofer mit weit aufgerissenen Augen an ihm vorbeisah und zum Himmel zeigte. Er rief etwas, das sich wie ›Notache‹ anhörte und deutete kurz mit beiden Händen eine Pyramidenform an. Cochran fuhr herum und blickte konzentriert zum östlichen Himmel. Tatsächlich, die Intrepid.
Vor der heranziehenden dunklen Wolkenwand war sie schwer auszumachen, denn das Flugprofil glich von vorne gesehen dem einer schmalen fliegenden Untertasse, aber sie zog eine wirbelnde Schleppe aus Wasserdampf hinter sich her, nachdem sie aus der Regenwand in die wärmere Luft übergewechselt war. Die Fähre kam genau auf die Pyramiden zu, war aber für einen Landeanflug viel zu hoch und zu weit nördlich. In diesem Moment mußte DeHaney die Situation erkannt und gleich danach die Orientierung wiedergefunden haben, denn die Intrepid senkte augenblicklich die Nase und leitete eine scharfe Linkskurve ein. Cochran stockte der Atem bei diesem Manöver. Es sah aus, als hätte ein Habicht sein Opfer erspäht und fiel nun in einem halsbrecherischen Sturzflug aus der Höhe herab. Wenn DeHaney die Raumfähre nicht bald wieder in eine normale Fluglage brachte, würde er den Orbiter nicht mehr rechtzeitig abfangen können. Ab jetzt ging alles rasend schnell. Cochran, der etwa fünfzig Meter vom Nilufer entfernt neben der Piste stand warf das Cyberfon weg, machte unwillkürlich einige Schritte rückwärts und zog den Ongennen mit, der seine Augen von dem einmaligen Anblick nicht abwenden konnte. Die Intrepid stürzte lautlos wie ein metallener Riesenvogel mit einem langen weißen Schweif vom Himmel und war noch etwa 400 Meter vom Ufer entfernt, als sie sich plötzlich aufbäumte und ein fauchendes Rauschen vorausschickte. Gleichzeitig schwenkte die Fähre nach Steuerbord. Einen Wimpernschlag lang schien sie halb aufgerichtet in der Luft stehenzubleiben, um dann mit einem angedeuteten Slip zielstrebig auf den
Anfang der Piste zuzuhalten. Die Fahrwerkschächte öffneten sich. Viel zu spät, wie Cochran entsetzt feststellte. Sekunden danach erkannte er die Absicht des Commanders, der genau wußte, daß die Intrepid bald nur noch ein Wrack sein würde. Sein Handeln richtete sich alleine danach, Leben zu retten. Das Ausfahren des Fahrwerks sollte nur dazu dienen, den Aufprall der Fähre auf die Piste zu dämpfen. Wären die Räder beim Bodenkontakt schon eingerastet, bestünde die Gefahr, daß die Radaufhängungen und das Fahrwerk nach oben in den Rumpf schlugen. So aber würde die Konstruktion beim Zerbersten einen Teil der Energie abfangen. Mit einem hohlen Rauschen und brodelnden Kondensstreifen an den Flügelspitzen raste die Intrepid heran. Ein schönes Ungeheuer aus dem 21. Jahrhundert von der Größe eines Jumbo Jets, das seinen letzten Weg zurücklegte. Cochran duckte sich unwillkürlich und zwang sich, das Geschehen konzentriert zu verfolgen. An eine Flucht war nicht mehr zu denken, aber so, wie er den Anflugwinkel der Intrepid einschätzte, würde sie genau die Piste treffen und ihn in einer Entfernung von kaum dreißig Metern passieren. Im nächsten Augenblick touchierte das Heck des Shuttles die Wasseroberfläche unmittelbar vor der Rampe. Gleichzeitig gab es einen scharfen Knall, als der Bremsfallschirm herausgeschossen und das Shuttle ruckartig ein Stück mit der Nase nach unten gerissen wurde. Der erste Bodenkontakt, der unmittelbar darauf folgte und mehr einem flachen Aufprall gleichkam, wurde von einem metallenen Stöhnen und scharfen Kreischen der Flugzelle begleitet. An der linken Seite der Bordwand bildete sich sofort ein gezackter Riß, der bis kurz vor das Seitenleit-
werk reichte. Viel mehr bekam Cochran nicht mit, denn als sich ein dunkler Schatten von der Unterseite des Rumpfes löste und bedrohlich auf ihn zuraste, warf er sich instinktiv zu Boden und riß im Fallen Seytofer mit, der das Spektakel immer noch mit staunenden Augen verfolgte. Ein schwirrendes großes Teilstück, von dem ein schabendes Rumpeln ausging, wirbelte über die beiden geduckten Männer hinweg. Kaum war das unwirkliche Geschoß über sie hinweggezogen, richtete sich Cochran auf und blickte der Intrepid hinterher, die mit verformtem Rumpf seitwärts die Piste hinaufschlingerte. Sand spritzte in hohen Fontänen in die nahen Palmen und rieselte in dicken weißen Strahlen von den großen Blättern. Mit einem angestrengten Keuchen und einem unbeholfenen Satz sprang Cochran auf die Beine und hechelte den Abhang hinauf, nur kurz abgelenkt von einem Prasseln zwischen den Palmen, wo ein abgerissenes Teil des Fahrwerks im Unterholz verschwand. Kurzzeitig entstand ein gewaltiger und mit wirbelndem Sand gemischter Sog, der ihn nach vorne taumeln ließ. Er fiel hin, fluchte laut, rappelte sich wieder auf und bemühte sich dabei, die Intrepid nicht aus den Augen zu verlieren, die jetzt weit über ihm in einem unkontrollierten Tanz zum Ende der Rampe rutschte. Ein dumpfes Dröhnen war zu hören. Soviel er von seinem Standpunkt erkennen konnte, war von dem Rumpf nur noch ein geknickter Torso übrig, aber die vordere Flugzelle schien noch intakt zu sein. Rechts von der Piste, direkt vor der Silhouette der Pyramiden, flatterte eine Tragfläche wie
ein glitzerndes weißes Blatt vor den riesengroßen schwarzen Dreiecken. Überall am Rand und über die Piste verstreut lagen Teile der geborstenen Raumfähre. Ein einzelner Reifen drallerte zwischen den Palmen davon. Cochran machte wegen der giftigen Hydrazindämpfe der zerstörten Manövertriebwerke einen Bogen um die Trümmerstücke und spähte immer wieder sorgenvoll nach oben zur Kuppe des Plateaus, hinter der die Raumfähre verschwunden war. Bloß kein Feuer, betete er inständig. Bisher war alles perfekt verlaufen, aber ein Feuer würde dem bisher glücklichen Verlauf der Notlandung ein unverdientes Ende setzen. Für einen Moment stützte er sich schwer nach Luft ringend auf seine Krücke. Verärgert über seinen schlechten Gesundheitszustand hielt er den Atem an und lauschte angestrengt nach oben. Keine Explosion. Kein Rauch. Gut so. DeHaney hatte es bestimmt geschafft. Er mußte es geschafft haben! Alle von der Besatzung hatten es geschafft. Wenn einer diese Situation meistern konnte, dann DeHaney, der alte Hund! Verbissen sagte er diese Worte immer wieder vor sich hin, während er weiter den Hang hinaufstapfte, gerade so, als könnte er mit seinen positiven Vorstellungen das Schicksal der Besatzung zum Guten wenden. Als er Minuten später ausgepumpt die Anhöhe erreichte, fing es an zu regnen. Schwere Tropfen klatschten dumpf vor ihm in den Sand. Sekunden später umgab ihn ein dichter Regenvorhang, der seine Sicht auf wenige Meter beschränkte. Nachdem er der Trümmerspur weiter gefolgt war, ragte schräg vor ihm
das hohe Seitenleitwerk mit dem massigen Triebwerk aus dem fallenden Grau. Von dem Rest der Intrepid war nichts zu sehen. Vorsichtig näherte er sich dem abgerissenen Heckteil und wäre beinahe auf dem glitschig nassen Bremsfallschirm ausgerutscht, der quer über der Piste lag. Beklommen und voller Sorge beschleunigte er seine Schritte. Er wich einer der langgestreckten Ladetüren der Cargobay aus, die zerbeult und verbogen im Sand lag, während der Regen auf das Metall trommelte. Immer wieder mußte er sich mit der Hand über seine vom Regen verklebten Augen wischen. Schließlich konnte er eine Bewegung am Rand des Palmenhains ausmachen, der am Ende der ehemaligen Rampe lag. War es eine Täuschung oder huschten da vor ihm schemenhaft Menschen hin und her? Eine klobige und unförmige weiße Masse hatte sich zwischen die Bäume hineingebohrt, umgeben von vielen Trümmerstücken, die wie helle kleine Felsen aus dem nebligen grauen Regenmeer hervorragten. Endlich konnte er in dem Durcheinander Hilary ausmachen, die wild gestikulierend auf eine kleine Gruppe von Ongennen einredete. »Hil, schnell, sag mir, wie es ihnen geht!« rief er ihr durch die Regenwand zu. Sie bedeutete der Gruppe, einen Moment zu warten, und kam ihm einige Schritte entgegen. »Gut und nicht gut!« schrie sie ihm laut ins Ohr. »Aber keine Toten – hoffe ich zumindest. Annick hat es am besten überstanden. Sie rennt hier irgendwo herum und hilft beim Abtransport der Verletzten. Kohlschovsky hat es am schlimmsten erwischt. Er ist schon auf dem Weg ins Lazarett. Muß gleich
hinterher und die Leute davon abhalten, daß sie ihm ein Bein amputieren. Sie sind damit anscheinend sehr schnell bei der Sache. Kommt hier öfter vor. DeHaney hat Schnittwunden und einen Schock weg. Ist ansonsten O.K. Cooper haben wir noch nicht gefunden. Schweighart kotzt und hat einen Brummschädel. Ist auch auf dem Weg zum Lazarett. DeHaney steht da drüben beim Shuttle. Kümmere dich um ihn. Ich muß los!« Sie drehte sich um und bedeutete der Gruppe, ihr zu folgen. Mit einem Dankgebet auf den Lippen blieb Cochran einige Augenblicke im strömenden Regen stehen. Dann sah er sich suchend um. Jim DeHaney und einen Schock? Niemals. Ungläubig und zögernd ging er auf den geborstenen Rumpf des Shuttles zu, der mit Schrammen und Rissen übersät war. In Sturzbächen schwemmten schmutzige Schlieren von Wasser den Schmutz von der Oberfläche. Vorne an der linken Seite, am nicht mehr vorhandenen Ansatz der Tragfläche lehnte der Commander in seinem zerfetzten roten Overall und starrte mit leeren Augen in den Regen. »He, Jim!« Cochran bekam keine Antwort, humpelte näher heran und sah DeHaney zweifelnd an. »He, Jim. Alles in Ordnung?« Zu seiner Überraschung hob DeHaney in einer vollkommen normalen Reaktion den Kopf und lächelte ihn verschämt an. »He, Kenneth, mit mir schon, aber du scheinst mir nicht so recht auf dem Damm zu sein. Du humpelst.« Cochran ließ erleichtert die Schultern sinken. Was hatte ihm Hilary da für einen Blödsinn erzählt? Trotzdem wartete er erst einmal die nächsten Reaktionen des Commanders ab. DeHaney
hob matt die Hand und zeigte mit dem Daumen in das schräg liegende Cockpit, von dem man in der einsetzenden Dämmerung gerade noch etwas erkennen konnte. »Hier, das ist alles, was von unserem stolzen Mädchen übrig geblieben ist. Hab’s förmlich in den Sand gesetzt. Hast du die Sache mit dem Fahrwerk bei der Landung mitgekriegt?« »Ja, das war genial. Dadurch …« »Ein Scheißdreck war das. Eine eigensinnige und blödsinnige Entscheidung ohne sie mit Cooper vorher abzusprechen. Wir hätten uns deswegen beinahe überschlagen. Kohlschovsky wäre beinahe ums Leben gekommen. Geht alles auf meine Rechnung.« Cochran schwieg zu den Selbstvorwürfen. Es war nur zu verständlich, daß sich DeHaney in irgendeiner Form abreagieren mußte. Für keinen Piloten war eine Notlandung Alltag. Er beobachtete, wie ein Schauer durch den Körper des Commanders lief. »Na gut, die Show ist vorbei«, sagte DeHaney und stützte sich an der Bordwand ab. Plötzlich beugte er sich nach vorne. »Scheiße, Ken, mir ist kotzübel. Ich glaube, ich kipp gleich weg …« Er rutschte an der Wand entlang nach vorne, direkt in die Arme von Cochran, der gerade noch die Krücke loslassen konnte, um ihn aufzufangen. Durch das fallende Gewicht von DeHaneys Körper klatschten beide auf den nassen Boden. Als er sich endlich von dem Bewußtlosen befreien konnte, mußte er unwillkürlich an die seltsamen Vorfälle nach seiner eigenen Ankunft denken und blickte lauernd in den Regen, konnte aber nirgendwo Steinvogel und seine farbig gekleideten Begleiter entdecken.
20. Kapitel Es waren Billionen von winzig kleinen Maschinchen, die ständig in Bewegung waren, jede einzelne nicht größer als der millionste Bruchteil eines Millimeters. Ihre Struktur war sowohl biologischer als auch mechanischer Natur. Untereinander kombiniert entstanden vielfältige Cyborgs, die in der Lage waren, alle nur erdenklichen Funktionen zu übernehmen. Sie überwanden mühelos Entfernungen von mehreren Kilometern, indem sie sich durch geschicktes Zusammenfügen in kleine Flugmaschinen verwandelten. Oder in optische Geräte, in einen Destillator oder in eine Miniatur-Fabrik, die je nach Bedarf mühelos alle möglichen chemischen und biologischen Zusammensetzungen produzierte. Diese Nanomaschinen bauten Atom für Atom unzählige Formen nach, kontrollierten komplizierte Prozesse und fügten effektive Verbesserungen hinzu. Sie waren in der Lage, Fühler zu bilden, die Gegenstände beschrieben oder die Beschaffenheit von Flüssigkeiten analysierten. Zwischendurch konstruierten sie kleine leistungsfähige Computer, die in kurzer Zeit ungeheure Datenmengen verarbeiten konnten. Sie bezogen ihre Energie aus Photonen, also aus Licht, sammelten bei Tag ihre Kräfte und speicherten sie für die Nacht. Jede einzelne der Nanomaschinen war für sich allein ein kleines Wunder, aber trotzdem ein Nichts, das nur in der Gemeinsam-
keit eines mikrotechnischen Staates zu einer unsichtbaren Macht erwuchs, die nahezu allgegenwärtig war. Und über ihnen stand nur der eine, von dem sie ihre Befehle erhielten. Ihr Schöpfer. Eine dunstige und von feuchten Nebeln verhangene Sonne stieg am östlichen Horizont empor. Die Luft war angenehm warm, roch aber schimmelig und schien jeden Atemzug mit kondensiertem Wasserdampf anzureichern. Thomas Schweighart war früh aufgestanden, in der Hoffnung, nach langer Zeit endlich einmal wieder eine klare und hell vom Firmament scheinende Sonne zu erleben. Aber er wurde auch an diesem Morgen enttäuscht, geradeso wie in den vorangegangenen vier Wochen seit ihrer geglückten Rückkehr auf die unwirkliche Erde. Nichts auf dem Planeten war auch nur annähernd so, wie er es aus seinem Leben gewohnt war. Selten standen die Sterne in klaren Nächten am Firmament, die Sonne war bisher nur an wenigen Tagen ein verwaschenes Zentrum in einer milchig grauen Masse, die seine Welt schon nach wenigen hundert Metern zu begrenzen schien. Eine Welt, in der Regen und Sturm vorherrschten. Im Osten verloren sich die weißen Seitenflächen der Pyramiden im dunstigen Grau des Himmels. Unwirkliche Monumente, die in ihrer perfekten Form nicht in diese Zeit paßten. Sie glichen eher futuristischen Mahnmalen, die irgendwann in der fernen Zukunft existierten, nicht aber hier in dieser chaotischen Vorzeit, in der noch keine nennenswerte Zivilisation Fuß gefaßt hatte.
Die Menschen, die ihn umgaben, redeten in einer Sprache, die nirgendwo verzeichnet war und für die keine Schrift existierte. Ihr Lebensziel schien einzig und allein darin zu bestehen, Stein für Stein herbeizuschaffen, um diese gewaltigen Pyramiden zu errichten. Es gab keinen Hinweis auf die Herkunft dieser geschickten und immer freundlich wirkenden Handwerker, die sich nicht im geringsten von dem feuchten und unwirtlichen Klima beeindrucken ließen. Alles war ein einziges Rätsel. Auch diese seltsame Konstellation zwischen dem eigenbrötlerischen kleinen Mann in seinem lächerlichen weißen Kittel und den gewaltigen Bauwerken war mehr als bizarr. Die Ongennen gehorchten jedem seiner Befehle ohne Widerspruch, ja sogar in demütiger Haltung. Schweighart hatte sie oft von dem erhöhten kleinen Platz vor dem Lazarett unten in der Zeltstadt aus beobachtet und dabei festgestellt, daß ihm allein durch sein Erscheinen Ehrfurcht und Respekt entgegengebracht wurden. Einen Kontakt zu ihm hatte es bisher nicht gegeben. Jeder Versuch, ihn auch nur um ein kurzes Gespräch zu bitten, wurde von Seytofer und Casaltz freundlich, aber bestimmt abgelehnt. So blieb ihnen im Augenblick nichts weiter übrig, als sich über den Umstand zu erfreuen, noch am Leben zu sein, auch wenn dieses Leben darin bestand, in einem großen Zelt zu hausen, in dem es nach Feuchtigkeit roch und in dessen Gängen immer wieder die Schmerzensschreie von verletzten Arbeitern zu hören waren. Alle Besatzungsmitglieder der Intrepid hatten die Notlandung überlebt, auch Kohlschovsky, um den es zeitweise besonders schlimm gestanden hatte. Ilja war mitsamt seinem Sitz
zwischen der linken zerstörten Bordwand der Raumfähre und dem Mitteldeck eingeklemmt gewesen und hatte mehrere komplizierte Beinbrüche davongetragen. Hinzu kam ein starker Blutverlust durch eine verletzte Aorta. Es war nur den unerschrockenen Ongennen zu verdanken gewesen, daß er mit dem Leben davongekommen war. Eine ganze Gruppe von ihnen war sofort nach der Bruchlandung auf das Wrack zugelaufen und hatte ihn mit viel Geschick und Fachwissen geborgen. Anscheinend kamen auf der Baustelle öfters schlimme Unglücksfälle vor, denn die Art und Weise, wie sie Balken und Rundhölzer als Hebel- und Spreizwerkzeuge eingesetzt hatten, zeugte von viel Übung im Umgang mit derartigen Situation. Cooper hatte man während des strömenden Regens und in der einsetzenden Dämmerung nicht gleich gefunden. Die Flugzelle der Intrepid war im letzten Drittel der Rampe direkt hinter der Schleuse auseinandergebrochen und hatte die Decks offengelegt. Ein Glücksfall im Unglück, denn dadurch war es für die Ongennen ein Leichtes gewesen, die Havarierten zu bergen. Der Co-Pilot dagegen war aus dem geborstenen Cockpit herausgeschleudert worden und lag noch an der Steigung zum Plateau neben der Piste. Außer einigen Prellungen hatte er keine sichtbaren Verletzungen erlitten, allerdings hatte sein Verstand seitdem Schwierigkeiten, den Absturz zu verarbeiten. Noch jetzt, Wochen nach dem Geschehen, wirkte er abwesend und unkonzentriert. Das einzig Beruhigende war, daß er immer wieder versicherte, in Ordnung zu sein und daß er lediglich noch etwas Zeit brauche. Auch DeHaney wirkte in den folgenden Tagen unsicher und verwirrt, fand aber schnell zu seiner alten Form zurück. Die
Schnittwunden und kleinen Verletzungen, die er sich zugezogen hatte, waren schnell verheilt gewesen. Schon bald war er wieder auf den Beinen und stritt sich täglich mit den Ongennen, die der Besatzung verwehrten, sich weiter vom Zelt zu entfernen als bis zu der Plattform, auf der Thomas Schweighart jetzt stand. Auch Annick Denny, die die Notlandung der Raumfähre als einzige wie durch ein Wunder ohne einen einzigen Kratzer überstanden hatte, beteiligte sich heftig an den Bekundungen nach mehr Bewegungsfreiheit. Dabei hatte sie sich anscheinend mit DeHaney zusammengerauft, und es fiel auf, daß sie immer öfter die Nähe des Kommandanten suchte. Bald schon galt es als fast selbstverständlich, daß der Amerikaner und die Französin gemeinsam auftraten. Allerdings konnte man von einer echten Zweisamkeit nicht sprechen, weil sich alle ehemaligen Besatzungsmitglieder der Intrepid die meiste Zeit in einem einzigen großen Abteil des Zeltes aufhielten und auch dort schliefen. Aber Schweighart und auch den anderen fielen natürlich die verstohlenen und wie zufälligen Berührungen zwischen den beiden auf. Wie auch immer, Schweighart ließ diese angehende Romanze äußerlich ziemlich unberührt, reagierte insgeheim aber sehr ungehalten darüber. Nicht, daß er etwas dagegen einzuwenden gehabt hätte. Annick Denny war eine äußerst attraktive und begehrenswerte Frau, aber in seinen Augen etwas zu Ichbezogen und besaß einen für ihn unergründlichen Hang zur Macht. Er selbst hatte diese Eigenschaften damals schon bald nach ihrer Ankunft auf der Raumstation bei mehreren Gelegenheiten zu spüren bekommen. Irgend etwas trieb diese junge Frau dazu, anderen Menschen ihren Willen und ihre Vorstel-
lungen aufzuzwingen, und das möglichst schnell und nachhaltig. Sie war ungeduldig in ihrer überragenden Intelligenz. Eigentlich hätte er den Commander warnen sollen, aber er konnte sich nur allzu gut vorstellen, worauf dieses Gespräch hinauslaufen würde. DeHaney war im Augenblick viel zu sehr von der Französin eingenommen, als daß er für die Argumente eines Außenstehenden zugänglich gewesen wäre. Noch dazu von einem vermeintlichen und jüngeren Nebenbuhler. Schweighart lächelte bei diesem Gedanken. Nein, er war verärgert darüber, daß sich der Commander mehr um die Französin kümmerte, als sich mit der Situation zu beschäftigen, in die sie von diesem mysteriösen UFO gebracht worden waren. Sie hatten nach vier Wochen immer noch keinerlei Information darüber, wer diese Unbekannten waren oder was es mit dieser gigantischen Baustelle und mit den Pyramiden auf sich hatte. Er hatte darauf gehofft, daß DeHaney mit seiner Autorität das lächerliche Männchen Steinvogel dazu zwingen könnte, etwas Licht in ihre Lage zu bringen. Statt dessen stritt er sich lautstark mit den Ongennen über unbedeutende Dinge und genoß es, wenn Annick deswegen bewundernd zu ihm aufschaute. Diese Welt war zum Untergang verurteilt. Schweighart konnte das drohende Unheil förmlich spüren. Es herrschte die Epoche der Sintflut. Wenn er seinem logischen Verstand traute und die Bilder richtig deutete, die er vom Weltraum aus gesehen hatte, dann strebte der Planet Erde einer globalen Klimakatastrophe entgegen und das nicht etwa in fünfzig oder einhundert Jahren, sondern jetzt, in allernächster Zukunft. Die Lage änderte sich von Tag zu Tag zum schlechteren. Im nachhinein
gesehen waren sie mit der Intrepid zum letztmöglichen Zeitpunkt heruntergekommen. Bald würde der Nil über die Ufer treten und dann auch das Hochplateau überschwemmen, und die Zeltstadt im Schlamm versinken. Einzig und allein die Pyramiden würden auf dem felsigen Grund den anstürmenden Wassermassen trotzen können und bis in die ferne Zukunft bestehen. Er fragte sich, was mit den Menschen passieren würde. Es war ihm ein Rätsel, wie sie bisher überlebt hatten. Er konnte sich nicht vorstellen, daß in diesem Klima ohne nennenswerte Sonneneinstrahlung genügend Nahrung für alle angebaut werden konnte. In den letzten Wochen hatte die Besatzung von einem lauwarmen Brei gelebt, der anscheinend aus Hirse bestand und vermischt mit verschiedenen Obstsorten serviert wurde. Als Beilage gab es ein lappiges Brot und erstaunlicherweise eine Art frischen Salat. Alle paar Tage etwas getrocknetes Lammfleisch, das nur mit viel Wasser zu genießen war. Ein karges und durch den ständigen Regen zugleich bedrükkendes Leben, mit dem er sich auf keinen Fall zufrieden geben konnte. Er wünschte sich sehnsüchtig in seine Zeit zurückzukehren und hoffte darauf, daß es mit Hilfe der Unbekannten möglich sein würde. Es mußte einfach auf diesem Wege möglich sein, schließlich war MARTHA immer wieder in der Zukunft aufgetaucht. Steinvogel war der Schlüssel dazu, und er war wie Schweighart ein Deutscher. Deswegen mußte es doch gerade für ihn ein Leichtes sein, an diesen Mann heranzukommen. Kenneth Cochran hatte ihm gesagt, daß Steinvogel anscheinend nicht ganz richtig im Kopf war, allerdings begann
Schweighart allmählich auch an dem Amerikaner zu zweifeln. Das Ehepaar Cochran war fast nur noch in dem primitiven Operationssaal zu finden, wo sie nahezu rund um die Uhr kranke oder verunglückte Ongennen versorgten. Unterstützt wurden sie dabei von der jungen Südafrikanerin Janine, die von einer Lagerstätte zur anderen huschte und zusammen mit anderen Mädchen die Kranken betreute. Es war zum Verrücktwerden. Sämtliche Besatzungsmitglieder schienen sich ohne großes Wenn und Aber mit den Gegebenheiten arrangiert zu haben, gerade so, als wäre ihnen die Energie für ein logisches Agieren oder ein kritisches Hinterfragen verloren gegangen. Auch äußerlich hatten sie sich angepaßt, denn mittlerweile trugen alle die derbe, wenn auch praktische wetterschützende Kleidung der Ongennen. Nur Schweighart hatte den roten Overall behalten und demonstrierte damit optisch seinen eigenen Willen. Wieder fing es an zu regnen. Er wandte sich ab und ging frustriert auf den Eingang des Zeltes zu. Im Innern traf er auf Kenneth Cochran, der laut und gestikulierend auf einen jungen Ongennen einredete. Schweighart ging zielstrebig auf ihn zu und zog ihn zur Seite. »Cochran, ich halte das nicht mehr aus. Ich möchte mit Steinvogel reden. Jetzt sofort!« Der Angesprochene sah ihn ärgerlich an. »Hab ich schon versucht. Er will aber nicht mit uns reden«, erwiderte er knapp. Schweighart holte tief Luft und versuchte ruhig zu bleiben. »Er muß aber! Ich will endlich wissen, was das hier alles zu bedeuten hat. Oder wollen Sie bis in alle Ewigkeit die Kranken pflegen und dabei einmal am Tag hinausgehen und feststellen,
daß es immer noch regnet?« »Was ist daran auszusetzen?« Er funkelte Schweighart zornig an und trat einen Schritt zurück. Dabei inspizierte er ihn von oben bis unten, als ob er ihn zum ersten Mal in seinem roten Overall sähe. Schweighart seufzte und wartete auf einen der quälenden Standpauken des Amerikaners. Zu seiner Überraschung drehte sich Cochran jedoch entschlossen um und machte ein paar Schritte auf Hilary zu, die nicht weit von ihnen über einen Verletzten gebeugt war. »Ich glaube, Sie haben recht. Warten Sie hier!« sagte er über die Schulter. Verblüfft blieb Schweighart zurück. Was war das denn gewesen? Er konnte sich nur vorstellen, daß Cochran ähnlich dachte wie er und nur einen Anstoß gebraucht hatte, um endlich aktiv zu werden. Das wiederum würde aber bedeuten, daß sie zu wenig miteinander sprachen und ihre Meinungen austauschten. Wenn er genauer darüber nachdachte, mußte er zugeben, daß sie schon lange nicht mehr zusammengesessen sind und ihre Erfahrungen ausgetauscht haben. Jeder war seine eigenen Wege gegangen, besonders DeHaney und Annick. Aber das wäre für die anderen kein Grund gewesen, sich ebenso in irgendeiner Weise abzukapseln. Oder doch? Konnte eine beginnende Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen das ganze Gruppenverhalten beeinträchtigen? So lächerlich es klang, aber wenn er darüber nachdachte, war genau das der Grund für das lähmende Verhalten von ihnen allen. DeHaney war der Kopf der Gruppe. Er war eindeutig derjenige, der bisher das Sagen gehabt hatte. Jedenfalls bis vor vier Wochen. Bis zu diesem Zeitpunkt
waren die Intrepid und der Weltraum sein Revier gewesen, jetzt war er in einer fremden Welt gefangen und hatte nur noch Augen für Annick Denny. Die restlichen Besatzungsmitglieder waren in ihren Charakteren zu verschieden. Außerdem war momentan keiner von ihnen geistig oder körperlich in der Lage, eine Führungsrolle zu übernehmen. Abgesehen von den Cochrans vielleicht, aber in dem Verdrängungsprozess hatte bei ihnen bisher der soziale Aspekt anscheinend die Oberhand behalten. Schweighart selbst hatte sich in der Gruppe immer als Außenseiter gefühlt, zudem war er einfach zu jung für eine Verantwortung dieser Art. Cochran kam mit Hilary zu ihm zurück. »Sie haben recht, mein junger Freund«, wiederholte er. »Es ist an der Zeit, etwas zu unternehmen. Und nachdem unserem Commander zur Zeit wohl nicht viel daran gelegen ist, etwas an der Situation zu ändern, versuchen wir es einfach auf eigene Faust.« Er sah sich bei den Worten vorsichtig um, als könnte ihn DeHaney vielleicht gehört haben. »Gut, einverstanden«, Schweighart atmete tief durch. »Wie sollen wir vorgehen?« »Ganz einfach, wir verlassen das Lazarett. Irgendwann wird eine Abordnung von den hochgewachsenen Ongennen vor uns stehen, die uns freundlich darum bittet, wieder umzukehren. Was wir bisher auch immer ganz brav und bereitwillig gemacht haben. Dieses Mal weigern wir uns und bestehen darauf, Steinvogel zu sprechen. Wenn sie nicht darauf eingehen … naja, mal sehen.« Er zuckte die Achseln. Seine Frau lachte hell. »Große Strategen scheinen wir ja nicht
zu sein.« Cochran antworte nicht darauf und marschierte einfach auf den hinteren Ausgang des großen Zeltes zu, der in seiner Verlängerung direkt zu den Pyramiden führte. Hilary folgte ihm und zwinkerte Schweighart im Vorbeigehen zu. Sie schien das alles nicht so ernst zu nehmen. Es war ihm unverständlich. Sie waren mehr als 10 000 Jahre in die Vergangenheit entführt worden, und diese Frau benahm sich so, als erfüllten sie gerade einmal so nebenbei einen karitativen Auftrag in Afrika. Trotzdem strebten sie entschlossen durch den Gang, schoben Zeltplanen beiseite und gelangten schließlich unbehelligt an den letzten ledernen Vorhang, der als Schutz gegen den häufig aus Osten kommenden schweren Regen diente. Als Cochran die Plane aufdrückte, wäre er beinahe mit den Ongennen zusammengeprallt, die anscheinend schon auf die kleine Abordnung gewartet hatten. Und direkt mitten in der Gruppe der großen jungen Männer stand Steinvogel. Wie immer in seinem schmutzigen weißen Kittel und mit der billigen Brille auf der Nase. Einen Augenblick lang standen sich beide Gruppen unter dem kleinen Vordach des Zeltes schweigend gegenüber. Es war Steinvogel, der schließlich den ersten Schritt tat, indem er seine Brille abnahm und sie vorsichtig am Kragen seines Kittels putzte. Die Ongennen links und rechts von ihm blickten die Astronauten teilnahmslos an. »Sie wollten mich sprechen, Mr. Cochran?« fragte Steinvogel in seinem holprigen und hart klingenden Englisch. Cochran drehte sich zu Schweighart um. »Sie wollten doch unbedingt mit Herrn Steinvogel reden. Bitte schön, jetzt haben
Sie die Gelegenheit dazu!« Der junge Astronaut trat zwischen dem amerikanischen Ehepaar nach vorne und musterte den Mann, der gut einen Kopf kleiner war als er und nun umständlich die Bügel seiner schäbigen Brille auf die Ohren schob und ihn prüfend von unten ansah. »Schweighart, Thomas Schweighart aus Deutschland«, stellte er sich vor. Eine absolut lächerliche Situation! Er überlegte, ob er die Hand zur Begrüßung ausstrecken sollte, unterließ er aber, als er sah, daß Steinvogel seine Hände demonstrativ hinter dem Rücken verschränkt hielt. Der kleine Mann trat einen Schritt zurück und inspizierte Schweighart mit seinen grauen Mausaugen von oben bis unten. Dabei wippte er leicht auf den Fußspitzen vor und zurück. »Ein Landsmann«, stellte er mit teilnahmsloser Stimme fest. Plötzlich beendete er das Wippen und machte einen Schritt nach links. Die beiden Ongennen neben ihm wichen bereitwillig aus. Die jungen Männer auf der anderen Seite orientierten sich gleichzeitig rückwärts und bauten sich gut zwei Meter in einer Reihe hinter Steinvogel auf. Anscheinend waren sie an das Gehabe ihres Herrn gewohnt, der nun anfing, wie ein General vor ihnen auf und ab zu schreiten. Schweighart beachtete er nicht weiter, obwohl seine Worte an ihn gerichtet waren. »Steinvogel, Jonathan Steinvogel aus Ulm«, sagte er und beobachtete Schweighart bei der Nennung seines Namens aus den Augenwinkeln. »Was ist Ihre Berufung, junger Mann aus … wo liegt Ihre Heimatstadt in Deutschland?« »Ich stamme aus der Nähe von München«, antwortete
Schweighart verwirrt. »Geretsried, etwa 30 Kilometer südlich von München. Von Beruf bin ich Biologe …« Steinvogel stoppte seinen Gang und sah ihn scharf an. »Geretsried? Kenne ich nicht. Müßte ich aber. Bin oft in Wolfratshausen und Bad Tölz zum Wandern gewesen. Ist praktisch meine zweite Heimat, die Isar, das Loisachtal, der Blomberg, Pfaffenwinkel, kenn ich alles wie meine Westentasche.« Das ist doch absurd, dachte Schweighart bei sich. Ich stehe hier im Regen, Tausende von Jahren in der Vergangenheit und unterhalte mich mit einem kleinen Mann aus Ulm über die Wandergebiete im bayerischen Oberland. Er blickte hilflos zu Cochran, der seinerseits ihn erwartungsvoll ansah, und zuckte die Achseln. »Der Ort Geretsried entstand praktisch erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Dort wurden Vertriebene aus dem Egerland, Westböhmen, Schlesien angesiedelt …« »Soso«, unterbrach ihn Steinvogel und setzte seine Wanderung fort. »Zweiter Weltkrieg. Vertriebene. So also sieht die Zukunft aus. Klingt recht unglaubwürdig.« Er musterte Schweighart im Gehen von der Seite und wechselte abrupt das Thema. »Ich habe eine Nachricht für Sie alle. Sie können sich ab sofort überall frei bewegen. Aus Gründen der Sicherheit würde ich Ihnen allerdings raten, sich nicht weiter als bis zu den Grenzen des Arbeiterlagers zu entfernen. Auch den Bereich direkt um die Pyramiden sollten Sie meiden. Wegen der Unfallgefahr. Wenigstens so lange, bis Sie von mir eine Führung und Einweisung für das Verhalten an der Baustelle erfahren haben. Ich würde vorschlagen, daß Sie sich morgen vormittag dafür zur Verfügung halten. Ziehen Sie Regenkleidung an …« – er
musterte Schweigharts roten Overall mißbilligend – »und feste Schuhe, derbe Handschuhe und suchen Sie sich passende Schutzhüte aus. Weiterhin empfehle ich warme Unterwäsche. Sie wissen ja inzwischen, wo Sie alles finden. Falls Sie Fragen haben, wenden Sie sich an Seytofer oder Casaltz.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ er sie mit den überraschenden Informationen zurück. Er unterbrach sein hektisches Hinundherlaufen und ging einfach nach rechts weiter. Die Ongennen folgten ihm wortlos und ohne einen Blick zurück. Die Cochrans sahen Schweighart fragend an. Er versuchte, ihnen die Unterhaltung so wortgetreu wie möglich zu übersetzen. Cochran blickte der Gruppe nachdenklich hinterher. »Er hatte gewußt, daß wir mit ihm sprechen wollten«, faßte er seine Überlegungen zusammen. »Woher, frage ich mich? Außerdem scheint er in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zu Hause zu sein. Und noch etwas fällt mir auf, was aber nicht unmittelbar etwas mit Steinvogel zu tun hat: Seid ihr hier eigentlich jemals auf alte Menschen getroffen? Ich meine, habt ihr einmal einen alten Mann oder eine alte Frau gesehen. Bisher waren wir nur von jungen Menschen umgeben. Das muß doch einen Grund haben, oder?« Schweighart hörte gar nicht mehr richtig zu. Er fühlte, daß nun eine entscheidende Wendung eingetreten war.
21. Kapitel Am nächsten Morgen standen alle außer Kohlschovsky an der gleichen Stelle vor dem Zelt im Nieselregen und warteten auf Steinvogel. Seytofer hatte kurz vorher den mühsam auf zwei Krücken heranhumpelnden Kohlschovsky mit freundlichen, aber bestimmenden Worten und den dazugehörenden Gebärden wieder zurückgeschickt. Die Exkursion wäre zu anstrengend und zu gefährlich für einen angeschlagenen Mann, erklärte er mit ernsten Worten. Nachdem der Russe laut protestierend wieder abgezogen war, prüfte der Ongenne sorgfältig die angelegten Kleidungsstücke der restlichen Gruppe. Nachdem er mit zufriedenen Handzeichen seine Billigung signalisiert hatte, stellte er sie in eine Reihe und leitete sie zum Anfang eines schmalen Pfades, der von dem erhöhten Plateau hinüber zu den Pyramiden führte. Schon nach wenigen Metern waren sie alle in Schweiß gebadet. DeHaney, der schon am Abend zuvor auf die Bekanntgabe der heutigen Tour zu den Pyramiden mißmutig reagiert hatte, beschwerte sich über die Forderung Steinvogels nach warmer Unterwäsche. Es war ihm anzumerken, daß ihm der Erfolg nicht schmeckte, den die beiden Cochrans und Schweighart erlangt hatten. Er wußte genau, daß es eigentlich seine Aufgabe gewesen wäre, immer wieder bei Steinvogel zu intervenieren. Nachdem er nach einiger Zeit mit seinen Nörgeleien
einen tadelnden Blick von Annick Denny geerntet hatte, stellte er seine Bemerkungen endlich ein. Die anderen hatten seinen peinlichen Auftritt wenig beachtet, ganz abgesehen davon waren sie sehr gespannt auf das, was in den nächsten Stunden auf sie zukommen würde. Der Weg zu den Pyramiden war länger und beschwerlicher, als sie es sich vorgestellt hatten. Immer wieder mußten sie eine kurze Pause einlegen. Ihr beschränkter Aktionsradius der letzten Wochen hatte nicht unbedingt zu ihrer Kondition beigetragen, und für einige von ihnen war die Bewältigung von hundert Metern die längste Strecke, die sie seit Monaten überwunden hatten. Der Pfad war zudem naß und rutschig. Ein normales Gehen war trotz der griffigen Sohlen unmöglich. Erst als sie einen lichten Palmenhain erreichten und der Pfad sich zu einem mit kleinen Schottersteinen aufgefüllten Weg verwandelte, kamen sie schneller voran. Trotzdem hatten sie nicht den Eindruck, den mächtigen Steinmonumenten wesentlich näher gekommen zu sein. Während einer Rast auf zerbrochenen Steinblöcken, die neben einem der mysteriösen Kanäle lagen, wischte sich Cochran den Schweiß von der Stirn und blickte sich schweratmend um. Es regnete ausnahmsweise gerade einmal nicht, und wäre da nicht dieser allgegenwärtige diffuse Schleier gewesen, gegen den die Sonne vergeblich ankämpfte, hätte man sogar von einem schönen milden Morgen sprechen können. Von den Palmen rieselten im schwachen Wind ein stetiger Schwall von feinen Wassertröpfchen herab und von den Oberflächen der Blätter verdampfte in der Wärme die Feuchtigkeit in wallenden Schlieren. Cochran genoß die Ruhe. Es war mehr eine geistige Ruhe,
die ihn umgab. Jegliche Hektik, die in seiner Zeit allgegenwärtig war, schien er mit dem Wechsel in die Vergangenheit abgelegt zu haben. Nichts war mehr wichtig. Direkt neben ihm war ein steinerner Kanal angelegt. Er kam von irgendwoher aus dem grauen Nichts und führte schnurgerade auf die Cheopspyramide zu, die nun nicht weit vor ihnen in den dunstigen Himmel ragte. Plötzlich war ein Schleifen und ein fernes Rumpeln zu hören. Cochran legte den Kopf lauschend an die niedrige Außenwand der Rinne und spürte ein schwaches Vibrieren. Als er den Kopf wieder hob, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Wie auf einem Fließband bewegte sich von unsichtbaren Händen geschoben ein Steinblock auf ihn zu, glitt beinahe lautlos an ihm vorüber und strebte in Richtung Pyramide. Ein weiterer folgte, dann noch einer, schließlich schien der Strom an Blöcken gar nicht mehr abzureißen. Es war unglaublich. Die Blöcke bewegten sich wie kleine Güterwagen auf Schienen, nachdem sie einmal von einer Lokomotive in Bewegung gesetzt worden waren. Wie auf gefrorenem Eis. Oder wie ein Gegenstand, den man im Vakuum des Weltraums angestoßen hatte. Das Iferte schien die Reibung tatsächlich auf nahezu Null zu reduzieren. Wahrscheinlich wurden die Blöcke weiter oben beschleunigt und glitten nun auf der schiefen Ebene ihrer Bestimmung entgegen. Zwischen zwei Steinblöcken richtete sich Cochran auf und beugte sich über die Umrandung. Auf dem Grund der Rinne schimmerte ihm das schmutzig grüne Iferte entgegen. Gerade als er mit der Hand hineinlangen wollte, stürzte Seytofer heran und riß ihm von der Umrandung weg. Mit aufgeregten Worten und heftigen Handbewegungen wurde
er von ihm belehrt, wie gefährlich es sei, den Steinblöcken zu nahe zu kommen. Natürlich, dachte Cochran, die Masse jedes der Kolosse betrug vier oder fünf Tonnen. Man war durch die Leichtigkeit getäuscht, mit der sie sich durch die Rinne bewegten. Eine kleine Unvorsichtigkeit, und sie würden eine Hand, die sich zwischen der Innenwand und dem Block befand, glatt abtrennen. Nachdem er Seytofer beruhigt hatte und ihm versicherte, der Rinne nicht mehr zu nahe zu kommen, wandte er sich seinen Gefährten zu, die erstaunt der Blockparade zusahen. »Das ist phantastisch und einfach zugleich«, sagte Schweighart bewundernd. »Man eliminiert die Reibung und schon ist das Transportproblem gelöst.« »Ganz so einfach ist es wohl nicht«, entgegnete Cochran. »Ich frage mich, woher dieser Iferte-Baum stammt. Wir haben während des Fluges mit MARTHA ganze Plantagen gesehen. Irdischen Ursprungs kann er nicht sein. Ich habe diese Form nie zuvor gesehen. Sie wirkt künstlich, wie eine Mischung aus kristalliner und organischer Natur.« DeHaney, der mit verschränkten Armen hinter ihnen stand und immer noch mit seinem Ärger kämpfte, winkte verächtlich ab und meinte: »Na gut, sie haben das Transportproblem gelöst, aber deswegen müssen sie die Blöcke trotzdem mit erheblichem Aufwand nach oben heben. Und das wird wahrscheinlich nur mit Seilen oder Stangen zu bewerkstelligen sein. Bei dem Gewicht von den Dingern hier kann ich die armen Burschen nur bedauern, die sich damit abmühen müssen.« »Mein lieber Jim«, konterte Cochran bissig und mit einem
sarkastischem Lächeln. »Ich glaube, daß wir uns da auf eine weitere Überraschung gefaßt machen müssen. Es würde mich wundern, wenn bei der Bewältigung dieser Aufgabe auch nur ein einziges Seil im Spiel wäre.« Er deutete nach oben zur Spitze der Cheopspyramide, an der die großen halbrunden Schirme von unten aussahen wie cremefarbene Pilze, die wie riesige Schmarotzer an den steilen Seitenflächen hingen. »Ich bin überzeugt davon, daß da oben des Rätsels Lösung hängt. Ich bin sehr gespannt darauf.« Sie folgten dem Verlauf der Rinne und gelangten wenig später an den Fuß der Pyramide, wo sie von Steinvogel und seiner Garde schon erwartet wurden. Schweigend blieben sie vor der Gruppe der Ongennen und dem kleinen Mann stehen, der gelangweilt vor der Reihe seiner Leute auf- und abschritt. Cochran lehnte sich abwartend an den Rand des Kanals, der direkt durch eine große Öffnung ins Innere der Pyramide führte. Was dort im Innern mit den Steinblöcken geschah, war von seinem Standpunkt aus nicht zu sehen. Bewundernd betrachtete er die weite Fläche der weißen Verkleidungssteine, die wie eine glänzende Sphärenebene hinauf in den Himmel stieg. Obwohl es im Augenblick nicht regnete, rauschte mit einem hohlen Flüstern eine dünne, aber geschlossene Wasserwand herunter und ergoß sich in eine breite Rinne, die den Fuß der Pyramide umgab. In seinem perfekten und von den Jahrtausenden unberührtem Zustand vermittelte dieses Weltwunder keineswegs den unbegreiflichen Gigantismus, den es im 21. Jahrhundert symbolisierte, ganz im Gegenteil, selbst aus der Nähe wirkten die
strengen und eleganten Linien trotz ihrer monumentalen Ausmaße bescheiden und zierlich. Vielleicht liegt es an der für diese Region ungewohnten üppigen Landschaft und dem immerwährenden feuchten und unbeständigen Klima, dachte Cochran. Das diffuse Licht läßt es nicht zu, die Größe und die Struktur der Anlage in ihrer Gesamtheit zu erleben. Außerdem fehlte die Mystik der Vergangenheit. Steinvogel, der an diesem Tag auf seinen weißen Laborkittel verzichtet hatte und wie alle anderen warme Kleidung trug, lief immer noch wortlos vor seinen Getreuen auf und ab. Cochran war sich über den Charakter des Deutschen nicht im klaren. Entweder war der Mann unsicher und spielte ihnen ein Theater vor, oder in ihm steckte eine verborgene und unberechenbare Energie, die gefährlich sein konnte. Beide Möglichkeiten waren nicht sehr angenehm, aber Cochran schätzte Steinvogel dahingehend ein, daß in ihm eine Mischung aus beidem steckte, und das wäre mehr als nur gefährlich. Wie zur Bestätigung seiner Überlegungen unterbrach Steinvogel seine Wanderung und eröffnete ihnen in seinem harten Englisch: »Ich möchte Ihnen nahelegen, die bevorstehende Führung aufmerksam und konzentriert zu verfolgen, denn die Gänge und die Wege innerhalb der Pyramide sind eng und schlüpfrig. Bitte befolgen Sie meine Anweisungen und die meiner Bediensteten auf das Genaueste. Jegliche Nichtbefolgung könnte einen Schaden Ihrer Person oder auch der ganzen Gruppe nach sich ziehen. Achten Sie auf die korrekte Schnürung Ihres Schuhwerks.« Seine Anweisungen erfolgten wie die fundierten Empfehlungen eines Reiseführers. Folgsam beugten sich alle nach unten
und überprüften die Schnürsenkel ihrer derben Schuhe. Während er sich niederkniete, schossen Cochran plötzlich Zweifel durch den Kopf. Wieso befolgten sie eigentlich alle Befehle Steinvogels ohne Widerspruch? Es gab so viele Fragen, die unbeantwortet geblieben waren, und doch gehorchten sie blind seinen Anweisungen ohne sie zu hinterfragen. Jeder von ihnen war ein eigenständiger Charakter, der durch die Ausbildung und durch jahrelanges Training für außergewöhnliche Arbeiten im Weltraum in der Lage war, in extremen Situationen eigenständige Entscheidungen zu treffen. Erstaunlicherweise verhielten sie sich wie eine Touristengruppe, die in einem exotischen Land eine Pauschalreise inklusive Besichtigung religiöser Stätten gebucht hatte. Selbst Annick, die noch vor Wochen im Orbit die Entscheidungen DeHaneys bei jeder Gelegenheit angezweifelt hatte, benahm sich wie eine artige Schülerin, stellte sich nach der Überprüfung ihrer Kleidung bereitwillig in die Reihe und wartete auf neue Verhaltensregeln. Er lächelte bei der Vorstellung, daß es vielleicht an Steinvogels harter englischer Aussprache liegen könnte, die unwillkürlich an die düsteren Zeiten des deutschen Volkes erinnerte, in der strenge Ordnung und Disziplin fast ein neues Weltreich erschaffen hatten. Bei diesem Gedanken verging ihm allerdings das Lachen. Sie waren Gefangene einer anderen Welt und wußten so gut wie nichts über sie. Vielleicht lag er gar nicht so falsch. Als nächstes ordnete Steinvogel die Gruppe so an, daß jeweils ein Ongenne einem von ihnen zugeordnet war. Dann setzten sie sich endlich in Bewegung. Steinvogel ging voran, Seytofer bildete mit Cochran den Schluß.
Schon nach wenigen Metern war für Cochran der Mythos der Pyramide zerstört, denn künstliche Lichtbänder an den Wänden tauchten den weiten Zugang in einen hellen magentafarbenen Schein. Alle Mutmaßungen und Recherchen in der Neuzeit, daß die Gänge im Innern der Monumente während ihrer Entstehung durch Spiegel oder wenig rußende Fackeln beleuchtet wurden, waren damit hinfällig geworden. Gleichzeitig verwandelten sich die einzigartigen Bauwerke damit in Produkte, deren Entstehen offensichtlich nicht auf irdische Intelligenz zurückzuführen war. Kenneth Cochran blieb einen Moment lang erschüttert stehen. Die Erkenntnis traf ihn hart, obwohl er keinen Beweis dafür hatte, daß die technischen Errungenschaften am Ende vielleicht nicht doch menschlichen Ursprungs waren. Er war enttäuscht und überrascht zugleich. Es mußte also eine fremde und ihnen bisher unbekannte Macht geben, die hier wirkte. Steinvogel und die Ongennen allein konnten nicht die Initiatoren für solche Leistungen sein, vor allem die Motive für die Errichtung blieben im Verborgenen. Das einfache Volk hatte bestimmt keinen Nutzen von den riesigen Bauwerken und der Deutsche war in seinen Augen nichts anderes als ein Handlanger der Eigentümer von MARTHA und der Konstrukteure dieser Lichtbänder, deren rötliche Farbe einen sichtbaren Zusammenhang zwischen beiden aufwies. Es blieb also die Frage, welchen Zweck die Pyramiden erfüllten und wer die großen Unbekannten waren? Und vor allem, wo verbargen sie sich und warum? Grübelnd stolperte er weiter, nachdem ihn Seytofer mit Gesten zum Weitergehen aufgefordert hatte. Ein schmaler Steg
führte zunächst parallel zu dem Kanal tiefer ins Innere der Pyramide. Direkt neben Cochran bewegten sich Steinquader langsam und ohne zusätzliche Hilfe weiter auf dem ungewöhnlichen Transportweg ihrem Ziel entgegen. Der Gang war feucht und glitschig. In regelmäßigen Abständen ragten hölzerne Wasserleitungen aus der steinernen Decke, die anscheinend dem Zweck dienten, den Boden des Kanals stets mit Wasser zu versorgen. Schon jetzt war zu spüren, daß die Pyramide von Anfang an mit System gebaut war. Überall waren Anzeichen von sorgfältiger Planung zu entdecken, angefangen von den trittfesten Rillen neben dem Kanal, deren Zweck offensichtlich wurde, als zwei Ongennen einen Steinquader mit derben Lederriemen umschlangen und ihn damit in seiner Fahrt beschleunigten, bis hin zu den eingeschlagenen Kerben an den Wänden, um sich daran festzuhalten und dadurch mehr Zugkraft zu erlangen. Der Vorgang wurde von den beiden Arbeitern mit einer Selbstverständlichkeit erledigt, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Haben sie auch nicht, überlegte Cochran. Sie sind noch sehr jung. Außerdem haben sie wahrscheinlich ihre Erfahrung aus dem Bau der fertigen Chephren-Pyramide gewonnen. Er war auf einmal sehr gespannt auf den Zielort der Steinquader, denn dort würden sie nach oben gebracht werden. Nur auf welche Weise? Der Steg bog plötzlich mit einem scharfen Knick nach rechts in einen schmalen hohen Gang ab, der in der Breite nur Platz für einen einzelnen Menschen bot. Nach wenigen Metern führten ebenso schmale Stufen nach oben. Anschließend in die Gegenrichtung nach links. Schon bald hatten sie so viele Ände-
rungen des Weges hinter sich gebracht, daß Cochran nicht mehr in der Lage war, die Himmelsrichtungen zu bestimmen. Der Sinn dieses Verwirrspiels blieb ihm verborgen, aber er hegte den Verdacht, daß Steinvogel sie bewußt in die Irre führte. Bestimmt gab es eine Möglichkeit, das angestrebte Ziel auf einem direkteren Weg zu erreichen, denn immer wieder zweigten weitere Gänge ab oder führten schmale Stufen in neuerliche Tiefen oder Höhen. DeHaney, der vor ihm über die Stufen stapfte, begann sich lautstark zu beschweren, allerdings ohne damit eine Reaktion bei Steinvogel zu erreichen. Vielleicht laufen wir in eine Falle, schoß es Cochran durch den Kopf, verwarf den Gedanken jedoch gleich wieder. Sie waren bereits Gefangene der Zeit und damit Steinvogel und seinen Mannen ausgeliefert, also was hätte es für einen Sinn gehabt, sie hier festzusetzen. Fliehen konnten sie von hier auch nicht. Jeder Fluchtversuch würde ihre Lage nur verschlechtern. Außerdem hatte er das Gefühl, daß die Unbekannten über jeden ihrer Schritte genau informiert waren oder sie sogar in irgendeiner Weise beobachtet wurden. Also blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als sich dem Willen Steinvogels zu fügen und ihm weiter ins Innere der Pyramide zu folgen. Zehn Minuten später war er schweißgebadet, obwohl die Temperatur in den Gängen angenehm kühl war und bestimmt unter zwanzig Grad Celsius lag. Zu jeder Zeit war ein milder Luftzug zu spüren, ein weiterer Beweis für ein wohldurchdachtes und ausgeklügeltes System. Auffallend war die perfekte Verarbeitung und Lage der Steine, die Wände und Decken bildeten. Nur bei genauem Hinsehen konnte man überhaupt die feinen Stoßlinien im Mauerwerk erkennen. Keine Spur von
Mörtel oder einer ähnlichen Verbindungsmasse. Erst jetzt kam Cochran in den Sinn, daß diese Gänge in seiner Zeit unbekannt waren. Soweit er sich an die Geschichte der Cheopspyramide erinnern konnte, war das Bauwerk nach Ansicht der Ägyptologen schon bald nach seiner Fertigstellung aufgebrochen und geplündert worden. Zu dieser frühen Zeit besaßen die Diebe noch Informationen über die Lage der versteckten Zugänge und wußten, wie sie am einfachsten in die Pyramide eindringen konnten. Dabei war ihnen einzig und allein an den Schätzen gelegen, die Architektur interessierte sie nicht. Danach waren die Monumente über viele Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg von einer Aura des Sakralen und Geheimnisvollen umgeben. Im Laufe der Zeit kehrte der Respekt vor den Vorfahren des alten Reiches zurück, und man begann, die Leistungen zu achten und die Monumente zu verehren. Erst im neunten Jahrhundert nach Christus drang der Kalif Abd Allah al Mamun gewaltsam in die Pyramide ein und stieß dabei auf den ansteigenden Gang zur Großen Galerie, wie die riesige, über 47 Meter lange und 9 Meter hohe ansteigende Kammer genannt wurde. Drei sogenannte Grabkammern, fünf sogenannte Entlastungskammern, einige Gänge und Luftschächte wurden in der folgenden Zeit entdeckt und freigelegt. Mehr hatte die Cheopspyramide bis in die Neuzeit nicht preisgegeben. Dafür stieg die Anzahl der Mutmaßungen über Zweck und Sinn des Baus ins Unermeßliche. Schließlich setzten angesehene Ägyptologen eine strenge Gesinnung durch, bei der die Art der Fertigung, die Entstehungszeit, die Erbauer und der Zweck des Bauwerkes, nämlich als Grabstätte, unverrückbar festgelegt wurden. Jegliche Abweichung von dieser Meinung
galt als Hobbyarchäologie und wurde dementsprechend kommentiert oder ignoriert. Selbst der deutsche Ingenieur Gantenbrink mit seinem ferngesteuerten kleine Roboter, der einen vermeintlichen Luftschacht bis zu einem unüberwindbaren Abschlußstein im Jahre 1993 erkundete, wurde letztendlich von der Kaste der selbst ernannten Hüter der Pyramiden mit fadenscheinigen Gründen wieder nach Hause geschickt. Der Puls des Amerikaners beschleunigte sich unwillkürlich bei diesen Überlegungen, denn er wußte, daß er der Wahrheit auf der Spur war. Er begann ungeduldig zu werden und ärgerte sich über die Ignoranz DeHaneys, der immer noch laut fluchend vor ihm durch die Gänge schlurfte. »Jim, bitte, hör endlich auf mit dem Gejammere«, rief Cochran nach vorne. »Es ist nicht mehr auszuhalten!« Die Flüche verstummten, und DeHaney blieb stehen, quetschte sich in dem engen Gang an dem hinter ihm gehenden Ongennen vorbei und wartete auf Cochran. »Du willst mir doch nicht etwa sagen, daß es dir Spaß macht, hier in dieser vermoderten Ruine herumzurutschen und den Anweisungen dieses Männchens zu folgen!« zischte er Cochran wütend an. »Die Pyramide wird erst in einigen tausend Jahren zur Ruine, und ich kann keine Spur von Moder entdecken«, korrigierte er den Commander unbeeindruckt. »Und was Steinvogel betrifft, kann ich dir nur raten, seinen Anweisungen zu folgen, denn wir befinden uns auf seinem Gebiet, und ich glaube, jeder falsche Schritt – und das meine ich nicht nur wörtlich – könnte fatale Folgen nach sich ziehen.« DeHaney sah ihn aus schmalen Augenschlitzen an und sagte
nichts weiter. Erst als Cochran wieder von Seytofer angestoßen wurde, wandte er sich um und ging weiter. Es war in Cochrans Augen ganz offensichtlich, daß seinem Gefährten mehr daran gelegen war, sich an einem freundlicheren Ort seiner jungen Kollegin zu widmen, als hier in feuchten Gängen herumzuturnen. Das wird noch zu einem ernsten Problem heranwachsen, dachte er. Vielleicht sollte Hilary einmal mit Annick reden, bevor DeHaney vollkommen durchdrehte. Noch besaß der Commander ein gewisses Maß an Selbstachtung, aber wenn das so weiterging … Ein Geruch von frisch gefallenem Regen durchzog plötzlich den Gang. Cochran hob den Kopf und sog prüfend die Luft ein. Obwohl es überall feucht in der Pyramide war, konnte man das Aroma richtiggehend herausschmecken. Auch die anderen hatten es anscheinend bemerkt, denn alle beiläufigen Bemerkungen und Zurufe waren plötzlich verstummt. Dafür war nun tief aus dem Inneren ein dumpfes Rauschen zu hören, das manchmal stockte, um bald darauf wieder mit einem lauten Schlag einzusetzen. Eine Weile ging die Gruppe schweigend weiter. Jeder lauschte angespannt den Geräuschen, die drohend und geheimnisvoll den ganzen Gang auszufüllen schienen. Ein helles Licht drang auf einmal bis zu Cochran am Ende der Reihe vor, und er mußte sich beherrschen, sich nicht ungeduldig an den anderen vorbei nach vorne zu schieben. Er wurde jedoch zunächst am Weitergehen gehindert, da vor ihm alle stehengeblieben waren und ihm die Sicht auf die Geschehnisse nahmen. Erstaunte Ausrufe waren zu hören und ließen ihn
unruhig und erwartungsvoll zugleich auf der Stelle treten. Endlich fand er eine Lücke und ergatterte sich einen Platz in der ersten Reihe. Sie hatten einen schmalen steinernen Balkon erreicht, und das erste, was er durch eine dunstige Wand von unzähligen schwebenden Wasserteilchen erkennen konnte, war ein hoher Raum, der knapp über ihren Köpfen endete. Seine Ausmaße waren in der dampfigen, aber dennoch kühlen Atmosphäre schwer abzuschätzen. Er erinnerte Cochran an ein großes Kesselhaus. In der mit Wasser durchsetzten Luft brachen sich die Reflexe vom Licht der rötlichen Lichtbänder und flirrten wie Irrlichter durch die feuchten Schwaden. Direkt unter ihnen endete die Rinne vor einer quadratischen Plattform. Einige Ongennen zogen gerade mit aufeinander abgestimmten Bewegungen zwei Steinquader auf die Plattform, zurrten sie mit Seilen fest und schoben die Plattform in eine dunkle Öffnung in der Wand auf der gegenüberliegenden Seite. Das alles ging schnell und geräuschlos vor sich, nur unterbrochen von einigen wenigen Rufen und den obligatorischen Handzeichen. Verblüfft beugte sich Cochran über das steinerne Geländer und versuchte von seinem Standort aus einen Blick in die rätselhafte Öffnung zu werfen. Was konnte das sein? Eine Kammer? Oder eine Art Aufzug, in dem die Quader mit Seilen nach oben an die Spitze der Pyramide gezogen wurden? Unmöglich, denn die Arbeiter machten keinerlei Anstalten, die Plattform an irgend etwas zu befestigen oder sich in irgendeiner Weise weiterhin damit zu beschäftigen, sondern traten einfach zurück und widmeten sich den nächsten Blöcken in der Rinne.
Unterdessen schob sich wie von Geisterhand bewegt eine Steinplatte von innen her vor die Öffnung der Kammer. Kurz darauf konnte man ein mächtiges Rauschen hören, und über dem verschlossenen Rechteck zogen vier weitere Ongennen mit Hilfe von Seilen und mehreren Umlenkrollen mit äußerster Behutsamkeit eine schräg in die Wand eingelassene schwere Steinplatte bis zu einer Markierung aus ihrem Lager. Ein langgezogenes dumpfes Dröhnen, unterlegt mit dehnenden Knackgeräuschen, ließ alle auf dem Balkon erschrocken zusammenfahren. Die Ongennen unter ihnen blieben davon unbeeindruckt und schoben kurze Zeit später die schräg nach oben gelagerte Steinplatte wieder zurück in die Wand. Unmittelbar darauf traten die an der Rinne Arbeitenden zur Seite und setzten sich beinahe gelangweilt auf einen erhöhten Mauervorsprung neben der verschlossenen Öffnung. Der Sinn dieser Aktion wurde sofort ersichtlich, als die Verschlußplatte mit einem plötzlichen Ruck etwa zehn Zentimeter zur Seite rückte und ein harter, in der ganzen Höhe der Platte reichender Wasserstrahl an ihnen vorbeischoß. Erst als der Verschlußstein weiter geöffnet wurde, verwandelte sich der Strahl in eine strudelnde Wassermasse, die schnell den Boden des Raums bedeckte und schließlich gurgelnd in einer gitterähnlichen Abdeckung aus Holz verschwand. So schnell wie die Vorgänge begonnen hatten, waren sie auch schon wieder vorbei. Die Ongennen glitten von der Mauer und zogen von der Seite eine neue Palette heran, richteten sie vor der Rinne aus und schoben die nächsten tonnenschweren Quader darauf. Cochran jedoch starrte ungläubig in die rechteckige Öffnung der Kammer. Die Palette mit den beiden Steinquadern war verschwunden.
22. Kapitel Ungeheure Datenmengen durchströmten die astronomisch hohe Anzahl nicht sichtbarer Nanomaschinen, koordiniert von einer hochentwickelten Programmierung, ähnlich der des GenCodes eines Lebewesens. Durch sie war der technische Prozess der Miniaturisierung zu einer höchsten Perfektion gelangt und strebte dennoch nach weiteren Verbesserungen. Ständig erfolgte eine Auslese der Grundstruktur. Schadhafte oder unzureichend arbeitende Partikel wurden ausfindig gemacht, eliminiert oder wiederverarbeitet. Nur einwandfreie und 100 % einsatzbereite Teilchen waren in Verwendung und garantierten den reibungslosen Ablauf und die Ausführung jedes Befehls ohne jegliche Zeitverzögerung und zu jeder Bedingung. Hunger, Kälte oder ähnliche Empfindungen waren für die Nanomaschinen unbekannte Definitionen, sie existierten lediglich als Wortschatz in ihren Speichern. Das gleiche galt für Begriffe wie Befehlsverweigerung, Rückfragen oder Desertion. Sie waren in der Programmierung nicht vorgesehen und würden dort auch niemals einen Platz finden. Eine absolut gehorsame und nahezu unsichtbare Armee. Geführt von einem einzigen und alleinigen Herrscher. Für wenige Augenblicke war die Sicht in dem hohen Raum ungetrübt, die feuchten Nebel durch unsichtbare Schächte
entschwunden. Überall an den Wänden pulsierten dünne Fäden von glitzernden Wasseradern, die dem hohen Raum ein unwirkliches Leben verliehen. Das donnernde Rauschen verstummte ähnlich den Geräuschen eines Jets, der nach dem Start in den Wolken verschwindet. Thomas Schweighart konnte immer noch nicht fassen, was da gerade geschehen war. Ihm gingen alle möglichen Erklärungen für das Verschwinden der Palette mit den Steinquadern durch den Kopf, ohne auf das Naheliegende zu stoßen. Er wandte sich an Steinvogel, der mit verschränkten Armen und mit überheblichem Lächeln die Vorgänge unten im ›Kesselhaus‹ beobachtete. »Woraus bestehen diese Paletten?« fragte er Steinvogel. »Oder dürfen Sie das nicht verraten?« Inzwischen verschwand eine weitere Ladung mit viel Getöse in der Kammer. »Natürlich darf ich das, Herr Schweighart«, antwortete Steinvogel zuvorkommend. »Ich werde sogar noch mehr tun. Ich werde sie Ihnen aus nächster Nähe zeigen.« Er beugte sich nach links und gab dem neben ihm stehenden Ongennen eine Anweisung, worauf dieser lautstark die Arbeiter unten im Kesselhaus anrief. Nach einer Bestätigung winkte er seinen Gefährten auf dem Balkon, ihm zu folgen. Wenig später stand Steinvogel allein mit der Besatzung der Intrepid auf dem steinernen Balkon. »Wie Sie wohl bemerkt haben, arbeiten wir hier mit dem Element, das reichlich vorhanden ist, nämlich mit Wasser«, begann er umständlich. »Wir befinden uns hier etwa zehn Meter über der Basisebene der Pyramide. Von hier aus beträgt
der Höhenunterschied bis zur jetzigen Baustelle oben an der Pyramide etwa 120 Meter. Hier unten sehen Sie das Ende des Transportkanals, auf dem die Blöcke von einem Steinbruch in der unmittelbaren Nähe herangebracht werden. Ich nehme an, daß Herr Cochran Ihnen das Prinzip und die Wirkungsweise des Iferteöls inzwischen offenbart hat und es diesbezüglich keiner weiteren Erklärung bedarf.« Er blickte fragend in die Runde, bis endlich alle zustimmend genickt hatten, nachdem Schweighart das etwas antiquierte Deutsch übersetzt hatte. »Sehr schön«, fuhr er oberlehrerhaft fort. »Dann wenden Sie Ihren Blick bitte zur Basiskammer, das ist diese rechteckige Öffnung dort unten, in welche die zu transportierenden Blöcke mittels einer Palette plaziert werden. Wie Sie sicher inzwischen bemerkt haben, halten sich mittlerweile keine Arbeiter mehr in dem Raum unter uns auf. Den Grund dafür werden wir Ihnen gleich demonstrieren.« Er stützte beide Hände weit ausgebreitet auf die Brüstung und wartete auf das angekündigte Ereignis. Es dauerte lange, bis etwas geschah. Trotz der warmen Kleidung war allen inzwischen sehr kalt geworden. Vor allem Janine fing an, auf der Stelle zu treten und zaghaft mit den Armen zu schlagen, um die Kälte durch etwas Bewegung zu lindern. Es war Schweighart vollkommen schleierhaft, was da unten passieren sollte. Ihm war die ganze Architektur der Pyramide rätselhaft. Vor allem machten für ihn die kompliziert und verschlungen angelegten Gänge, durch die sie hierher gelangt waren keinen Sinn. Warum führten sie nicht direkt zum Ziel? Auch gleich hinter ihm befand sich eine ähnliche Öffnung, durch die man anscheinend hinunter in den Kesselraum ge-
langte. Neugierig drehte er sich um und betrachtete die Wände und die Decke genauer. Verblüffend war die absolut perfekte Verarbeitung. Kein noch so kleiner Spalt und keine Ritze waren auszumachen, selbst wenn man mit der flachen Hand über die Steine strich. Auffällig waren jedoch die Decksteine. Ihre abgesetzte Anordnung entsprach der Linienführung der Stufen darunter, gerade so, als hätte man einen Abdruck der Stufen an die Decke gehängt. Das war vollkommen widersinnig. Oder war der Schacht wie eine Art Wendeltreppe angelegt, so daß über dieser Treppe ein weiterer Gang höher hinaufführte? Es war für Schweighart die einzig mögliche Erklärung. Vielleicht war dies beim Bau der Pyramide die einzige Möglichkeit gewesen, die Gänge ohne großen Aufwand anzulegen? Auf jeden Fall gelangte er zu der Erkenntnis, daß es weitaus mehr Räume und geheime Wege in der Cheops-Pyramide gab, als zu seiner Zeit bekannt waren. Man hatte zwar immer über weitere Kammern spekuliert, war aber im Endeffekt nie auf welche gestoßen. Ein lautes Rufen ließ ihn herumfahren. Wieder war ein dröhnendes Rauschen wie aus weiter Ferne zu hören, das schnell an Gewalt zunahm. Fast gleichzeitig schossen ungeheure Wassermassen aus der Öffnung im Kesselraum und brandeten an die Wand unterhalb des Balkons. Sekundenbruchteile später stieg schlagartig eine hohe weiße Gischt empor und ergoß sich über Schweighart und die Crew. Sofort drängten sich alle an die rückwärtige Wand und duckten sich vor dem eiskalten Wasser. Janine flitzte japsend an Schweighart vorbei und suchte Schutz in dem Gang, den er eben noch untersucht hatte. Nur Steinvogel blieb am Balkongeländer stehen wie ein Kapitän auf seiner Brücke und trotzte unbeeindruckt dem nassen Element.
Nach dem überraschenden Auftakt kehrte rasch wieder Ruhe ein. Zwar strömte immer noch ein breiter Schwall aus der Öffnung, der aber nach und nach schwächer wurde. Bald war auch er versiegt und kleine Bäche liefen durch das hölzerne Gitter sowie neben der Rinne nach draußen. Mit einer vorsichtigen Handbewegung nahm Steinvogel die Brille ab und putzte sie umständlich mit einem Zipfel seiner Jacke. Dann setzte er sie wieder auf, indem er die Bügel um seine Ohren wickelte und schob sich an Janine vorbei, die eben die Stufen des Gangs nach oben kam. »Bitte folgen Sie mir!« sagte er knapp. Er sieht aus wie eine kleine nasse Ratte, dachte Schweighart amüsiert, obwohl ihm der Schrecken noch in allen Gliedern saß. Für einen kurzen Augenblick war er fast der Versuchung erlegen, der Südafrikanerin auf dem schnellsten Wege in den engen Gang zu folgen, denn die heranstürzende Flut hatte sehr bedrohlich gewirkt. Lediglich das Verhalten von Steinvogel hatte ihn davon abgehalten, sein Heil in der Flucht zu suchen. Schweigend folgte er zusammen mit den anderen dem merkwürdigen Mann. Abermals stiegen sie über glitschige Stufen. Wieder beschrieb der Gang eine Vielzahl von Biegungen, die widersinnig in alle Richtungen führten, um endlich direkt neben dem Ende der Rinne zu enden. Steinvogel dirigierte sie über flache Stege, die mit einer rauhen Oberfläche aus winzigen Granitsplittern versehen waren, zu der dunklen Öffnung und deutete im Gehen auf die Wand darüber. »Bitte beachten Sie die schwere Steinplatte, die hier oben schräg in das Mauerwerk eingelassen ist«, begann er
theatralisch. Er bedeutete ihnen stehenzubleiben und lief selbst noch einige Schritte weiter, bis er unmittelbar in der mysteriösen Pforte stand. Dank seiner geringen Körpergröße konnte er sie gerade noch aufrecht passieren und marschierte einige Schritte in das Dunkel hinein, bis man ihn fast nicht mehr erkennen konnte. Er blickte prüfend nach oben, machte dann kehrt und zeigte mit der flachen Hand an die linke Seite. »Eine zweite, aufrecht gelagerte Steinplatte dient als Verschlußstein. Die Schiebevorrichtung dafür ist in einem Raum dahinter untergebracht. Sie wird von nur zwei Arbeitern betätigt. Ich brauche Ihnen nicht zusätzlich zu erklären, daß auch hier das Iferteöl eingesetzt wird. Dieses Mal allerdings nicht nur als Gleitmittel, sondern auch zum Zweck der Abdichtung.« Er trat einen Schritt zurück und hob beide Hände nach oben. »Über mir ragt ein Schacht hinauf bis zur jetzigen Baustelle. Er war bis vor wenigen Minuten gänzlich mit Wasser gefüllt. Das Wasser wurde vorhin abgelassen, wie Sie bemerkt haben. Diese Maßnahme ist einmal in der Woche erforderlich, um den Schacht zu reinigen und ihn danach erneut abzudichten. Mit dem Vorhandensein des Schachtes erklären sich auch die Funktionen der beiden Steinplatten. Die obere schräg eingelassene Platte verschließt den Schacht, wenn darunter eine neue Palette eingeladen wird und die Verschlußplatte versiegelt den Schacht kurz bevor die obere Steinplatte wieder herausgezogen wird. Ich möchte noch erwähnen, daß auf ihnen jeweils ein Druck von 120 Tonnen Wasser lastet. Es dauert übrigens weniger als zwei Stunden, bis der Schacht wieder mit Wasser gefüllt und damit erneut betriebsbereit ist.« Seine Brillengläser blitzten im rötlichen Licht auf, als er wieder hervorkam und zu Schweighart
sagte: »Sie hatten mich doch darum gebeten, eine Palette genauer ansehen zu dürfen. Fragen Sie die beiden Damen, die dort gleich neben einer Palette stehen, ob sie so freundlich sind und sie zu mir hier nach vorne zu tragen.« Annick und Hilary blickten zuerst mißtrauisch die etwa vier mal fünf Meter messende Palette an und dann zurück zu Steinvogel, der wieder sein überlegenes Grinsen aufgesetzt hatte. Schließlich schob Hilary den hilfreich herbeieilenden Cooper zur Seite und forderte Annick mit einem aufmunternden Blick auf, die Palette anzuheben. Überrascht wäre sie beinahe ins Straucheln geraten, als sie energisch zupacken wollte und das Gewicht dabei viel zu hoch eingeschätzt hatte. Verblüfft hob sie das vermeintlich schwere Teil mit nur zwei Fingern an und trug es mit Hilfe von Annick zu Schweighart hinüber. »Lassen Sie mich raten«, sagte er und hob die Palette prüfend an. »Das Holz stammt ebenfalls von Ihrem Wunderbaum, nicht wahr? Der Auftrieb reicht aber bei weitem nicht aus, um damit zwei Blöcke nach oben zu transportieren, selbst wenn sie im Wasser an Gewicht verlieren.« Er griff nochmals an die Seite und kippte die Palette mühelos in eine aufrechte Position. »Es ist wirklich erstaunlich leicht und scheint trotzdem sehr stabil zu sein. Wie sind Sie denn an den Baum gekommen? Einfach so in der Natur gewachsen ist der bestimmt nicht.« »Natürlich reicht der Auftrieb nicht aus«, entgegnete Steinvogel. »Sind Ihnen die vielen kleinen halbrunden Erhebungen an der Unterseite aufgefallen? Es sind – sagen wir einmal – kleine Fabriken, die in der Lage sind, in Bruchteilen von Sekunden den Sauerstoff aus dem umgebenden Wasser zu lösen. Dadurch wird unter der Palette eine riesige Menge von dem Gas
freigesetzt, das die Konstruktion aus Holz und Stein zusätzlich nach oben schiebt. Zusätzlich kommt noch ein weiterer Faktor hinzu …« »Wenn Sie aus Wasser den Sauerstoff freisetzen, bleibt Wasserstoff übrig. Was passiert damit?« unterbrach ihn Cochran, der die Diskussion zwischen den beiden bisher schweigend verfolgt hatte. »… kommt noch ein weiterer Faktor hinzu«, fuhr Steinvogel mit einem tadelnden Blick auf Cochran fort, ohne auf seine Frage einzugehen. »Die Schubkraft, mit der die Palette nach oben gedrückt wird, ist knapp berechnet, damit die Steinblöcke den Arbeitern oben auf der Baustelle nicht um die Ohren fliegen. Deswegen erfährt die Palette einen zusätzlichen Anfangsschub durch eine genau bestimmte Wassermenge, die durch einen zweiten Schacht, den sogenannten Ausgleichsschacht, herangeführt wird. In diesem Moment sind dann beide Schächte miteinander verbunden. Sie erfüllen damit das Prinzip von kommunizierenden Röhren. Ich kann, glaube ich, davon ausgehen, daß Ihnen der Begriff geläufig ist.« Er blickte fragend mit erhobenen Augenbrauen in die Runde. »Sie können. Was passiert mit dem Wasserstoff?« griff Schweighart die Frage von Kenneth Cochran auf. »Und was ist mit dem Baum? Woher stammt er?« Er wollte nun endlich einmal die Art von Fragen beantwortet haben, denen der mysteriöse kleine Mann bisher immer ausgewichen war. Der Augenblick schien günstig, denn Steinvogel gefiel sich sichtlich in der Rolle eines Wissenden. »Der Wasserstoff wird sofort nach seiner Freisetzung anderweitig gebunden. Oder glauben Sie, wir wären so fahrlässig und
würden uns dem Risiko einer Explosion aussetzen?« entgegnete er unwirsch. »Über die Herkunft des Baumes kann ich Ihnen zu diesem Zeitpunkt keine Auskunft geben.« »Wann können Sie uns denn endlich einmal Auskunft geben, Herr Steinvogel?« fragte Schweighart mit erhobener Stimme. »Glauben Sie nicht, daß wir ein Recht darauf haben zu erfahren, was mit uns geschehen ist, was der Zweck dieses Bauwerkes sein soll und von wem Sie Ihre Befehle erhalten? Wer sind die großen Unbekannten?« Der Angesprochene blickte plötzlich mit einem merkwürdig gehetzten Blick um sich, als würde er von irgendwoher Hilfe erhoffen. Dann schloß er, wie in einer einstudierten Selbstberuhigung die Augen und antwortete mit einem gehässigen Ton in der Stimme: »Ihre Rechte, Herr Schweighart, haben Sie mit der Landung in dieser Welt verloren.« Er fügte eine bedeutungsschwere Pause ein, bevor er leise weiterredete. »Aber wenn es Ihre Lage erleichtert, kann ich Ihnen verraten, daß hier auf dieser Welt nur ein Recht gilt und das ist – mit Ihren Worten ausgedrückt – das Recht eines einzigen großen Unbekannten.« Es folgte Stille. Selbst die Amerikaner, die den Satz nicht verstanden hatten, spürten, daß Steinvogel etwas Entscheidendes von sich gegeben hatte. Hilary Cochran übersetzte ihn ganz leise, als wollte sie den Moment nicht zerstören. Schweighart war nach dieser Aussage einen Augenblick sprachlos und sah Steinvogel verblüfft an. Auch Cochran und die anderen drängten sich erstaunt heran. »Soll das heißen, es gibt nur ein Alien? Einen einzigen?« fragte er mit lauter Stimme. Steinvogel war etwas zurückgewichen und stand nun fast
wieder auf der dunklen Sohle des Schachtes. Er machte jedoch nicht den Eindruck, als würde ihn die drohende Phalanx übermäßig beeindrucken. Gleichmütig verschränkte er die Arme und antwortete: »Sie brauchen deswegen nicht gleich zu schreien, Herr Schweighart. Wir sind hier nicht beim Kommiß.« Er verzog den Mundwinkel, und eine Ecke seines Bärtchens schwenkte andeutungsweise nach oben. »Ich weiß nicht, was das Wort ›Alien‹ bedeutet, aber ich nehme an, es wurde aus dem Lateinischen entliehen: alienus, fremd. Oder genauer, einem anderen gehörig …« Mit einem Stirnrunzeln unterbrach er seine Ausführung und schien über etwas nachzudenken. »Ja, ein zutreffendes Wort, fürwahr.« »Sie selbst sind nicht dieser einzige und alleinige Alien?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Die Antwort ließ lange auf sich warten. Steinvogel blickte Schweighart mit zusammengekniffenen Augen an, als ob er Schmerzen hätte. Von hinten hörte man den geflüsterten Vorschlag von DeHaney, endlich die Wahrheit aus der kleinen Ratte herauszuprügeln. Schweighart tat so, als hätte er es nicht gehört. Solch eine blöde Bemerkung gerade jetzt zu diesem Zeitpunkt! Er hoffte inständig, daß der Deutsche sie nicht verstanden hatte. Nach einem schmatzenden Laut mit der Zunge kam wieder Bewegung in den kleinen mickrigen Mann. »Nein, natürlich nicht. Wo denken Sie hin. Ein absurder Gedanke«, meinte er abwesend, um gleich darauf mit erhobener Stimme fortzufahren. »Sie alle werden in den nächsten Tagen einige Regeln kennenlernen. Solange Sie unsere Gastfreundschaft genießen, unterliegen Sie diesen Regeln. Es bleibt Ihnen
freigestellt, hier zu bleiben oder Ihr Glück anderswo zu versuchen. Ich kann Ihnen jedoch versichern, daß Sie dort draußen nicht überleben werden. Mit ›dort draußen‹ meine ich die Region, die unmittelbar an das Areal der Pyramiden angrenzt. Falls jemand von Ihnen mir keinen Glauben schenkt, so bleibt es ihm selbst überlassen, meine Aussage einer Prüfung zu unterziehen, aber ich warne Sie: Lebend ist noch keiner zurückgekommen.« »Und wie viele haben es versucht?« fragte Schweighart, der die Ausführungen Steinvogels, so gut es ging, simultan übersetzt hatte und nun schnell versuchte, die hastigen Fragen seiner Gefährten vorzutragen. »Viele. Ihre Grabstätten finden Sie gleich hinter dem Wäldchen am Ende der Bahn, auf der Sie mit Ihrem Flugzeug gelandet sind.« »Was ist denn ›dort draußen‹ so gefährlich?« »Falls Sie es noch nicht bemerkt haben, Herr Schweighart: Wir leben hier in einer Epoche, in der das Chaos herrscht. Nichts ist mehr so, wie es noch vor ein paar Jahren war. Es ist wärmer geworden. Die Regenfälle haben an Intensität zugenommen. Mißernten häufen sich. Die Felder werden regelrecht weggeschwemmt. Tiere ertrinken. Als Folge davon sind überall die Menschen auf der Flucht, doch sie wissen noch nicht einmal, wohin sie ziehen sollen. Hoch im Norden ist es noch schlimmer. Von dort kommen ganze Völkerstämme, die in ihrer Not rauben und morden, nur um zu überleben. Von ihnen droht die größte Gefahr. Es sind primitive Menschen, die in allem Fremden den Grund für das herrschende Unheil sehen. Wenn Sie wollen, können Sie sie durchaus als Menschenfresser
bezeichnen, die jenseits jeglicher Vorstellungskraft agieren. Falls Sie das Glück haben und solchen Horden nicht in die Hände fallen, werden Sie in den umliegenden Sümpfen mit Schlangen und Krokodilen zu kämpfen haben, hauptsächlich aber mit Krankheiten, deren Namen Sie noch nicht einmal kennen. Des weiteren werden Sie verhungern, weil Sie sich nicht trauen, das mit allem möglichen infizierte Getier zu verzehren und von den wenigen essbaren Pflanzen werden Sie sich nicht annähernd ausreichend ernähren können. Verdursten werden Sie wahrscheinlich nicht, sofern Sie das warme Regenwasser nicht verabscheuen, denn alles andere, was sonst noch unter die Bezeichnung Wasser fällt, ist absolut tödlich.« Steinvogel hatte sich in Rage gesprochen, und alle waren verwundert, daß er dazu überhaupt in der Lage war. Danach war es still geworden. Jeder versuchte, das Bild und die Lage nachzuvollziehen, die Steinvogel beschrieben hatte. »Wie kommt es dann«, fragte Cochran schließlich, »daß gerade Sie und Ihre Leute dem Ganzen widerstehen können. Es sieht nicht so aus, als lebten hier genügend Menschen, die in der Lage sind, den von Ihnen beschriebenen Gefahren gegenüber eine vernünftige Abwehr zu leisten.« Der Deutsche lauschte den englisch gesprochenen Worten mit geneigtem Kopf und bewegte dabei leicht die Lippen, gerade so, als müßte er sich den Wortlaut innerlich noch einmal vorsagen. Danach nickte er zufrieden, drückte den Rücken durch und stellte sich wieder gerade hin. »Für diese Wilden ist das Areal eine Tabuzone«, winkte er ab. »Schon allein die mächtigen Bauwerke schrecken sie davon ab zu nahe zu kommen. Zusätzlich ist eine Wachtruppe in einem
weiten Ring um die Pyramiden stationiert, die etwaige Eindringlinge sofort entdeckt und entsprechende Abwehrmaßnahmen einleitet.« Das paßt alles nicht zusammen, dachte Cochran. Außerdem redet er ständig um den heißen Brei herum. »Ich nehme an, Sie wollen uns mit all Ihren Ausführungen verständlich machen, daß wir hier auf einer Art geschützter Insel sitzen, auf der wir uns dem Willen Ihres mächtigen Herrschers beugen sollen. Eine Frage: Wann stellen Sie uns denn dem Herrn endlich einmal vor – oder ist es eine Frau?« »Das ist nicht nötig. Er wird sich Ihnen vorstellen. Schon bald. Können wir nun den Rundgang fortsetzen? Diese feuchte Kälte ist meiner Gesundheit nicht sehr zuträglich.« Damit schien für ihn das Thema erledigt zu sein. Er wollte sich abwenden, aber Cochran ließ nicht locker. »Einen Moment noch. Ich hätte eine letzte wichtige Frage: Kann uns Ihr großer Unbekannter dabei helfen, wieder in die Zukunft zurückzukehren?« Mit einem erstaunten Blick rückte Steinvogel seine Brille nach vorn und blickte Cochran von unten her an. »Zurückkehren? Wozu glauben Sie, erzähle ich Ihnen das alles und krieche mit Ihnen in diesem Bauwerk herum? Es gibt keinen Weg zurück. Sie werden hier in der Pyramide arbeiten. Das ist Ihre Zukunft.« Diese Eröffnung verschlug allen zunächst die Sprache. Mit einem Mal wurde ihnen das ganze Ausmaß ihrer Lage bewußt. Nicht nur die Erkenntnis lähmte sie, daß sie endgültig Abschied von ihrer Zeit nehmen mußten. Viel schockierender war die Tatsache, daß sie in ein System gezwungen werden sollten, in
dem keiner von ihnen leben wollte. Niemand wollte die Worte des Deutschen kommentieren, mit denen er sie über ihre Situation informierte hatte, aber jeder suchte in den steinernen Gesichtern der anderen eine tröstende Reaktion. Hinter Steinvogel begann es im Schacht heftig zu rauschen. Nasse Klumpen einer stinkenden grünen Masse klatschten auf den Boden, die träge in einem kleinen Bach auf die Gruppe der Menschen zu schwamm. Nachdem auch hohle Rufe von weit oben zu vernehmen waren, vermutete Cochran, daß man vom Ende des Schachtes her begonnen hatte, die Wände zu säubern. Mit gerümpfter Nase betrachtete er die übelriechenden Schlieren, die auf der Wasseroberfläche an ihm vorbeizogen. »Und was passiert, wenn wir uns weigern, hier in der Pyramide zu arbeiten?« Ohne ihn anzusehen, sagte Steinvogel: »Soweit waren wir doch schon, Herr Cochran. Es bleibt ihnen freigestellt, ob Sie hierbleiben oder das Areal verlassen wollen. Die Entscheidung liegt bei jedem einzelnen von Ihnen.« Er wich dem anschwellenden Wasser mit einem kleinen trippelnden Schritt aus. »Falls Sie die Möglichkeit in Erwägung ziehen, hierbleiben zu wollen und dennoch die Arbeit zu verweigern, so möchte ich Sie darauf hinweisen, daß ich über Mittel und Wege verfüge, Sie ohne großen Aufwand nach draußen zu befördern.« Resigniert und niedergeschlagen stapften sie weiter durch enge Gänge. Zuvor war Steinvogel im Kesselhaus an den Schacht herangetreten und hatte laut einige Befehle nach oben gerufen, worauf die Arbeiter oben an den Wänden kurzfristig ihre Arbeit ein-
stellten. Anschließend hob er an der Sohle ein verschmiertes großes Brett an, das die Arbeiter anscheinend zum Schutz über ein in den Boden eingelassenes großflächiges Gitter gelegt hatten. Teilnahmslos ließen sie sich erzählen, daß der darunterliegende Bereich das Ende des zuvor erwähnten Ausgleichsschachtes darstellte, den sie als nächstes besichtigen würden. Ein warmer Strom feuchter Luft wehte ihnen entgegen. Mittlerweile war es sehr mühsam geworden, sich durch die Stollen zu zwängen. Besonders jener, durch den sie Steinvogel in den letzten Minuten geleitete, glich mehr einem nahezu senkrechten Schacht, in dem waagrecht aus den Wänden hervorstehende Steinblöcke die Stufen bildeten. Meter um Meter kletterten sie mehr, als daß sie stiegen, hintereinander in die Höhe. Mehr als einmal geriet die Gruppe ins Stocken, weil ein Weiterkommen nur durch ein Verwinden oder Drehen des Körpers möglich war. Auch hier leuchtete ein schmales rötliches Lichtband, das wenigstens das Gefühl vermittelte, daß dieser Weg ab und zu benutzt wurde. Zehn Minuten später gelangten sie durch einen niedrigen Ausstieg in einen hohen schmalen Raum. Steinvogel wartete geduldig, bis alle in einer Reihe standen und prüfte dann durch lautes Abzählen nach, ob keiner verloren gegangen war. Schweighart versuchte, im dämmrigen Licht den Raum abzuschätzen und konnte seine Überraschung kaum verbergen. Wortlos und mit einem fragenden Blick sah er Cochran an. Der nickte ihm stumm zu und betrachtete ebenfalls bewundernd den langen Anstieg und das gewaltige Kraggewölbe über ihnen. Auch die anderen waren überwältigt. Hilary Cochran strich mit den Händen fast liebevoll über die glatten Fugen, lehnte sich an
die Wand und legte den Kopf in den Nacken. Die Große Galerie. Eines der Mysterien der Cheops-Pyramide. Ein großer schmaler Raum, mit 26 Grad schräg nach oben ansteigend, über vierzig Meter lang und in der Grundbreite nur etwas über zwei Meter durchmessend. Über ihren Köpfen schlossen sich sieben weitere Steinlagen an, die eine um wenige Zentimeter über der anderen stehend. Sie bildeten ein sogenanntes falsches Gewölbe, dessen Breite am höchsten Punkt etwas mehr als einen Meter betrug. Am Boden zogen sich an den Seitenwänden jeweils zwei hüfthohe Steinrampen entlang, die eine breite Rinne formten. In keiner Überlieferung wurde eine Funktion oder Aufgabe dieses einzigartigen architektonischen Bauwerkes den nachkommenden Generationen überlassen. Es existierten unzählige Deutungen über dieses Rätsel. Diente es einer unverstandenen Symbolik oder erfüllte es einen religiösen oder gar astronomischen Zweck? Wozu hatten sich die Erbauer die Mühe gemacht, ein Kraggewölbe zu erschaffen, das mit seinen, in einem schlanken Parallelogramm geformten polierten Kalksteinen das Gewicht von Millionen von Tonnen des nahezu gesamten oberen Teils der Pyramide zu tragen hatte? Jetzt, in der neu erbauten Urform, wirkte die unerklärlich schmale Halle noch harmonischer, sogar noch funktioneller. Ehrfürchtig betrachteten alle die ebenmäßigen Linien und Kanten, die im Schein der angebrachten Lichtbänder gleichmäßig nach oben fluchteten. »Wir befinden uns hier in der sogenannten Großen Galerie«, erklärte Steinvogel emotionslos. »So jedenfalls wird sie in einer fernen Zukunft einmal genannt werden. Da ich Sie alle als
gebildete Geschöpfe einordne, nehme ich an, daß Sie diesen Raum von Zeichnungen oder gar fotografischen Abbildungen her kennen. Vielleicht hat sogar der eine oder andere die Gelegenheit benutzt und einen Bauabschnitt persönlich vor Ort besichtigt.« Er blickte fragend in die Runde, und Schweighart ertappte sich dabei, wie er bestätigend den Finger hob. Ohne ihn zu beachten, fuhr Steinvogel fort. »Ich hoffe, Ihr aller durch zahlreiche Berichte von verschiedenen Archäologen erworbenes Bild von der Großen Galerie nicht allzusehr zu zerstören, wenn ich Ihnen nunmehr mitteile, daß es sich hierbei um nichts anderes als um eine von vielen Rampen handelt, die wir zu Beginn der Errichtung der Pyramide benötigten, um Steinblöcke in großer Anzahl auf die damalige Höhe des Bauwerkes zu befördern. Zu jener Zeit, vor ungefähr zwei Jahren, existierten sechs Rampen gleicher Art. Für die unteren Steinlagen der Pyramide in der Zeit davor waren es sogar weit mehr.« Er drehte sich verärgert zu Hilary Cochran um, die laut lachend auf dem an der Wand verlaufenden Steinsockel saß und sich mit dem Handrücken die Tränen von den Augen wischte. »Bitte nicht böse sein, Mr. Steinvogel«, entschuldigte sie ihren Heiterkeitsausbruch mit deutschen Worten. »Ich habe mir nur all die gewichtigen Herren vorgestellt, die in vielen Niederschriften versucht haben, mit ungeheurem Aufwand die Existenz der Großen Galerie zu rechtfertigen und Erklärungen dafür zu finden. Ich würde gerne ihre Gesichter sehen, wenn sie mit der Wahrheit konfrontiert wären.« »Diese Herren wären noch viel mehr enttäuscht, wenn sie den jetzigen Zweck der Großen Galerie verinnerlichen müßten«, erwiderte Steinvogel mit unbewegtem Gesicht. »Sie wurde
schlichtweg zu einem großen Wassertank umfunktioniert. Sie sehen hier unten eine bewegliche, senkrecht stehende Steinplatte, die lediglich dazu dient, den Kanal zum Boden des Schachtes zu öffnen und zu schließen. Wir benötigen die Wassermenge, die in der Galerie aufgestaut wird als Schubmasse zum Anheben der Paletten am Boden des Schachtes, um eine gewisse Bodenhaftung zu überwinden. Sie sehen, der Transport der Steinquader hoch zur Baustelle erfordert explizit aufeinander abgestimmte Vorgänge, sowohl in der Berechnung des Gewichtes der Paletten, als auch in einem sekundengenauen Zeitablauf. Die verschiedenen Verschlußsteine müssen wie die Ventile in einem Ottomotor zur rechten Zeit geöffnet und geschlossen werden, sonst funktioniert das System nicht befriedigend.« »Auf welche Weise leiten Sie denn diese gewaltigen Wassermengen in die Galerie und den Schacht«, fragte sie beeindruckt. »Wasser ist kein Problem. Davon gibt es zur Genüge. Es wird oben auf der Baustelle mit speziell dafür angefertigten großen Schirmen gesammelt und durch Kanäle geleitet. Ich nehme an, Sie werden die Schirme außen an der Pyramide bemerkt haben. Abgesehen davon sorgen kleinere Schächte dafür, daß die Luft entweichen kann, wenn die Galerie oder der Transportschacht geflutet wird. Wie schon erwähnt – das erneute Füllen des Schachtes und der Galerie nach der durchgeführten Reinigung wird bei den augenblicklichen Wetterverhältnissen keine zwei Stunden in Anspruch nehmen.« Er blickte prüfend über die Kalkstein-Megalithen über sich und dann mit schmalen Augen nach oben ans Ende der Galerie. Ein zischelndes Pfeifen durch die Lücke seiner Vorderzähne war zu hören, das durch den Hall in dem engen hohen Raum
noch verstärkt wurde und anscheinend als ein Zeichen für einige Arbeiter dort in der Höhe galt. »Ich habe einige Vorbereitungen getroffen, um Ihnen die Arbeitsweise in jenen Tagen vor Augen zu führen.« Er winkte seinen Leuten zu und blickte abschätzend über die Gruppe neben sich. »Wir sind acht Personen. Wieviel werden wir zusammen an Gewicht auf eine Waage bringen? Ich veranschlage einmal im Mittel 70 Kilogramm pro Person, das wären 560 Kilogramm, sagen wir vereinfacht also etwas mehr als eine halbe Tonne. Lächerlich.« Am oberen Ende der Großen Galerie waren holpernde Geräusche zu hören. »Sie haben vorhin erwähnt, daß es früher schon weitere Rampen wie diese hier gab. Was ist mit ihnen geschehen?« »Zugeschüttet. Sie wurden nicht mehr benötigt.« Ein Holzschlitten fuhr von oben mit ruckenden Bewegungen auf sie zu. »Und warum benutzen Sie diese Art der Rampen heute nicht mehr? Warum dieser aufwendige und komplizierte Kraftakt mit dem senkrechten Schacht?« Steinvogel sah Hilary Cochran mit einem mitleidigen Blick an. »Trotz der enormen Verringerung der Reibung durch das Öl braucht es einige Muskelkraft, um die Lasten in einer angemessenen Zeit nach oben zu ziehen. Also viel Mannskraft, die einen gewissen Weg zum Ziehen benötigt; dazu Vorrichtungen für Umlenkrollen, Rinnen für den Weitertransport zum Setzen der Steine, Steinmetze für Begradigungen der Blöcke und manches andere. Ganz abgesehen davon müssen die Leute auch verpflegt
werden, man braucht eine Feldküche. Mit anderen Worten: Es erfordert einigen Raumbedarf, um schnell und effizient arbeiten zu können. Die Pyramide verjüngt sich nach oben, Gnädigste, und deswegen ist der von mir soeben beschriebene und notwendige Platz für eine Rampe nicht mehr gegeben.« Er hatte seine Belehrungen in einem gleichförmigen Tonfall heruntergeleiert, während er darauf wartete, daß der Schlitten endlich vor ihm zum Stehen kam. An lange Seile gehängt war die Konstruktion genau dem Bodenprofil angepaßt und mit einer einfachen Umrandung und Haltestangen versehen. Ohne weiter auf Hilary Cochran einzugehen, stieg er auf das primitive Gefährt und forderte die Gruppe mit einer Handbewegung auf ihm zu folgen. »Oben stehen lediglich sechs Leute, die uns alle mit Leichtigkeit hinaufziehen werden«, dozierte er. »Beachten Sie bitte mit welcher Gleichmäßigkeit sich der Schlitten bewegen wird. Übrigens wurden damals die Steinquader auf Holzmatten nach oben befördert, die leer und senkrecht stehend auf den beiden seitlich verlaufenden Sockeln wieder nach unten geschickt wurden. Auf diese Weise konnte man schon die nächste Ladung aufbereiten, während eine Matte mit Steinquadern nach oben gezogen wurde.« Nachdem er sich vergewissert hatte, daß alle einen festen Halt gefunden hatten, zischelte er abermals einen zittrigen Pfiff durch die Vorderzähne und winkte mit der Hand. Augenblicklich strafften sich die Seile und zogen den Schlitten mit einem heftigen Ruck an. Schweigend fuhren sie nach oben. Keine fünf Minuten später wurden sie von sechs jungen On-
gennen mit nackten und vor Schweiß glänzenden Oberkörpern empfangen. Sie stoppten den Schlitten an der Kante und hielten die Seile gespannt, bis alle ausgestiegen waren. »Die Kante ist sehr hoch«, sagte Hilary Cochran zu Steinvogel und kletterte als letzte über das 90 Zentimeter hohe Ende der Galerie. »Wie haben sie denn die Steinquader über diesen hohen Abriß gezogen?« »Damals war die Stelle bündig zu der Fläche. Diese Stufe wurde nachträglich aus gewissen Gründen eingebaut.« Er mußte in gebückter Haltung auf sie warten, da der anschließende Tunnel nur etwas über einen Meter hoch war. Hilary Cochran war gespannt darauf, was sie als nächstes erwarten würde. Sie wußte, daß sie gleich in einen mysteriösen Raum gelangen würden, der der Königskammer vorgelagert war. Nach der Meinung der Archäologen diente er dazu, um das Grab des Pharaos mit Fallsteinen zu verschließen und damit Grabräubern den Zugang unmöglich zu machen. Zu ihrer Überraschung fand sie nach einem kurzen Tunnelstück den drei Meter langen und etwa ebenso hohen Raum so vor, wie sie ihn aus ihrer Zeit her in Erinnerung hatte. »Ich bin etwas enttäuscht, Mr. Steinvogel«, meinte sie in sarkastischem Ton und betrachtete die Wände aus rötlichem Granit mit den vier gegenüberliegenden Rillen. Sogar das hängende Fallgatter über ihr war vorhanden. »Ich hatte mir vorgestellt, daß ich hier etwas Funktionelles entdecken würde. Irgend etwas, das mir die Aufgabe dieses merkwürdigen Raumes erklären könnte.« »Warum fragen Sie nicht mich, Gnädigste«, erwiderte Steinvogel lakonisch. »Ich kenne die verschrobenen Ansichten der
Gelehrten in unserer Zeit über diese Vorkammer. Ihrer Meinung nach sollten komplizierte Falltüren das Königsgrab vor Grabräubern schützen. Das ist natürlich absoluter Unsinn. Diese Kammer hat lediglich die Aufgabe, das Wasser zurückzuhalten, bevor die Galerie neu geflutet wird, um eine weitere Palette nach oben zu transportieren. Sie werden gleich sehen, was ich damit meine. Diese Rillen hier an der Wand …« – er deutete auf die seitlichen breiten Furchen – »waren dazu da, um schwere und aufrecht stehende Steinplatten in ihrer Position zu halten. Diese Steinplatten hatten die Aufgabe, diesen Raum zu stabilisieren, bis er wieder benötigt wurde.« Als er ihren ungläubigen Blick sah, bequemte er sich zu einer weiteren Erklärung. Er formte mit den Händen eine Pyramide und sagte: »Bis zu einer gewissen Höhe der Pyramide war oben an der Baustelle genügend Platz vorhanden, um die Steinquader mit Rampen, ähnlich der Großen Galerie nach oben zu ziehen. Das war ab der 120. Steinlage nicht mehr möglich. Ab da mußten wir mit dem senkrechten, mit Wasser gefüllten Schacht arbeiten. Dafür brauchten wir einen Vorratstank, also die Große Galerie, und zusätzliche Kammern, damit das System funktioniert. Diese Konstruktionen waren nur dann brauchbar, wenn sie absolut stabil gebaut waren und den Druck der darüberliegenden Steinmassen abfangen konnten. Und nicht nur das Gewicht der Steinlagen belastete die Kammern. Zusätzlich lasteten noch eingesickerte Wassermassen auf den Gewölben, denn die Pyramide war nach oben nicht gegen die permanenten Regenfälle geschützt. Um auf die Vorkammer zurückzukommen: Die aufrecht stehenden Steinplatten wurden zu gegebener Zeit herausgeschlagen und die Bruchstücke entfernt. Sie können sich
vorstellen, daß das Wegschlagen der Stützsteine nicht ungefährlich war. Wahrlich ein spannender Moment damals.« Sein Blick fuhr die Wände entlang und richtete sich dann nach oben, als wollte er den damaligen Vorgang noch einmal nachvollziehen. »Hier, direkt nach dem kurzen Tunnel ist oben ein Stück der Steinplatten hängengeblieben. Es hat sich wohl verkantet. Meine Arbeiter hatten alles versucht, um es wegzuschlagen, aber ohne Erfolg. Schließlich haben sie es dort oben belassen. Sie meinten, es bringe Unglück, wenn sie es entfernen. Ich habe widerwillig zugestimmt. Es ist einfach nicht ordentlich, aber manchmal muß man den Männern ein gewisses Maß an Aberglauben zugestehen.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Haben Sie sonst noch Fragen? Nein? Dann folgen wir den anderen nach. Hier geht es weiter in den Mischraum.« Ihr gingen Tausende von Fragen durch den Kopf, aber die Art und Weise, wie der kleine unscheinbare Mann die Geheimnisse dieses Bauwerks aufdeckte, raubten ihr die Sprache. Alle fachkundigen oder auch manche umständlich klingenden Erklärungen der Gelehrten wischte er einfach so vom Tisch. Wieder mußte sie sich bücken, um durch einen niedrigen, mit rotem Granit verkleideten Tunnel in die nächste Kammer zu gelangen – die Königskammer. Hilary Cochran war schon gar nicht mehr neugierig auf den Raum, von dem die Archäologen behaupteten, daß in ihm der Leichnam des Pharaos aufgebahrt wurde. Laut Aussagen der Archäologen der Hauptgrund für den Bau der Pyramide. Steinvogel hatte ihn respektlos als Mischraum bezeichnet. Wahrscheinlich hatte er auch für den an der westlichen Wand stehenden Sarkophag eine ganz einfa-
che Erklärung, die im Endeffekt nichts mit der toten Hülle eines Pharaos zu tun hatte. Alles in diesem Bauwerk war einzig und allein dazu ausgerichtet, Steinquader nach oben zu transportieren. Von einer Grabstätte keine Spur. Zu ihrer Überraschung mußte sie sich gleich am Ende des Tunnels an einem Steinquader vorbeiquetschen, der dicht vor dem Ausgang positioniert war. Es war unübersehbar, daß dieser Quader als Verschlußstein für den niedrigen Tunnel diente, denn sein Querschnitt paßte genau in die Öffnung. Seitlich angebrachte Seile, die zuerst zu zwei Umlenkrollen führten und anschließend parallel an dem Steinquader straff nach hinten gezogen waren, stützen ihre Vermutung. »Ein beweglicher Verschluß für den Tunnel«, sagte Steinvogel. »Wir haben hier eine andere Konstruktion ausprobiert. Leider. Es hat sich erwiesen, daß sie nicht so reibungslos arbeitet wie die mit den seitlich zugeführten Steinplatten.« Er hob bedauernd die Schultern. »Würden Sie mir verraten, welchen Beruf Sie gelernt haben?« fragte Hilary beiläufig. Eigentlich erwartete sie keine Antwort, war jedoch überrascht, als er sofort auf ihre Frage antwortete. »Warum nicht. Ich bin … oder genauer: Ich war Uhrmacher.« Sie glaubte zuerst, ihn nicht richtig verstanden zu haben. Als er ihren zweifelnden Blick bemerkte, überlegte er kurz und fügte knapp hinzu: »Watchmaker.« Uhrmacher. Sie gab es auf. Nichts paßte zusammen. Vielleicht war es auch gleichgültig, welche Fähigkeiten man an diesem Ort benötigte, Hauptsache, diese unzähligen Quader wurden zu einem gigantischen Steinhaufen zusammengefügt.
Nachdem sie sich endlich aufrichten konnte, hatte sie im ersten Augenblick Schwierigkeiten mit der Orientierung. In ihrer Erinnerung war die Königskammer ein mathematisch genau ausgerichteter Raum (5,81 Meter hoch mit einer präzisen Grundfläche von 10,46 mal 5,23 Meter). Mit der Auslegung der Maßzahlen hatten sich unzählige kluge Köpfe beschäftigt und ebenso viele interessante wie phantastische Erklärungen gefunden. Außergewöhnlich war das Vorkommen des als phi bekannten Goldenen Schnittes. Das für das Auge besonders harmonische Verhältnis war angeblich erst von den Phythagoreern entdeckt und für den Bau des Parthenon verwendet worden. Sie fragte sich, was den Gelehrten wohl zu dem Anblick eingefallen wäre, der sich ihr jetzt darbot. Der in ihrer Zeit ungeheuer konzentrierte und wuchtige Raum präsentierte sich jetzt vor ihren Augen in einer ungewohnten Leichtigkeit. Hauptgrund dafür war eine Konstruktion von hölzernen Stäben, die ohne eine sichtbare Befestigung in quadratischen Anordnungen das Volumen ausfüllten. Auch war die Decke keine geschlossene Fläche von den ursprünglich neun schweren Granitblöcken, von denen jeder fünfzig Tonnen wog. Es waren nur fünf davon sichtbar. Die restlichen vier waren angehoben und schienen hoch über den Lücken zu schweben. Irgendwo waren dort oben Lichtbänder angebracht und vermittelten mit ihrem hellen Schein den Eindruck eines nach oben offenen Raums. Sie folgte Steinvogel ins Innere der hölzernen Installation. Von der Decke fielen unablässig Wassertropfen herab, und an den Wänden schlängelten sich glitzernde Rinnsale. In einer losen Gruppe stand die ehemalige Besatzung der Intrepid ratlos
inmitten der vertikal und horizontal verlaufenden Stäbe. »Was sagst du dazu?« fragte sie ihren Mann, der eine Sektion weiter in den hölzernen Stäben stand. »Steinvogel hat die Wahrheit gesagt. Es ist ein Motor. Wir befinden uns im Innern eines Motors. Jedenfalls komme ich mir so vor.« »Oder in einem Apparat«, stimmte sie ihm zu. »Ich denke, wir haben lediglich einen winzigen Teil davon gesehen. Genau genommen, gerade die Teilstücke, die auch in unserer Zeit bekannt sind. Das ist kein Zufall. Steinvogel zeigt uns nur das, was wir schon kennen. Wenn auch in einem anderen Zustand.« Er blickte mit zusammengekniffenen Augen nach oben zu den schweren Granitblöcken. »Irgendwie und irgendwann werden sie die Lücken in der Decke schließen. Gleich darüber befinden sich die Entlastungskammern. Wie sie das alles bewerkstelligen wollen, ist mir ein Rätsel. Übrigens Rätsel: Im Mittelpunkt dieser Holzkonstruktion steht der Sarkophag, der meiner Meinung nach nichts anderes als einen Tank darstellt. Ich gehe jede Wette darauf ein, daß …« Er wurde von Steinvogel unterbrochen, der mit seiner hohen Stimme soeben begann, die Einrichtungen der Königskammer zu erklären. Er stand direkt vor dem Sarkophag und breitete theatralisch die Arme aus. »Wir befinden uns hier in 45 Meter Höhe über der Grundfläche in dem Raum, in dem das Iferteöl dem Wasser beigemischt wird. Das Öl dichtet als dünner Film die Flächen der darauf folgenden Kammern ab. Das ist deswegen wichtig, weil ansonsten zu viel Wasser in der Pyramide versickern würde. Um ein
optimales Mischungsverhältnis zu erlangen, wurde diese Konstruktion von Holzstäben errichtet, die mit Kohäsionskräften das Öl aus diesem Vorratsbehälter ziehen …« – er deutete nach hinten auf den schokoladenfarbenen Sarkophag, aus dem einige dickere Rundhölzer ragten, die mit weiteren, aber dünneren vertikalen Stäben verbunden waren – »und es in geringen, aber genau berechneten Mengen an das Wasser abgeben, das von hier oben direkt durch einen senkrechten Fallschacht von der jeweiligen Höhe der Baustelle und damit von den Sammelflächen nach hier unten geführt wird. Der Schacht teilt sich über den Druckentlastungskammern in vier Röhren auf, die um die Entlastungskammern herum gebaut wurden. Um möglichst viel Druck von dem Mischraum und dem Kraggewölbe der Großen Galerie abzuleiten, mußten wir die Wirkungsweise eines sogenannten Druckverteilers einsetzen, wie hier schon erwähnt, die Entlastungskammer. Aus bautechnischen Gründen kam dafür nur die Stelle direkt über dem Mischraum in Frage. Eine äußerst knifflige Angelegenheit, die zu guter Letzt jedoch perfekt gelöst wurde.« Thomas Schweighart konnte die Ausführungen und die Ignoranz Steinvogels nicht mehr ertragen. Die weitschweifenden Erklärungen hörten sich in seinen Ohren wie eine Grabrede an. Gedankenverloren betrachtete er die wirren Holzstäbe. Was würde danach folgen, wenn die Pyramide fertiggestellt war? Was würde dann mit ihnen geschehen? Die Klimakatastrophe war unabwendbar. Bald würde der Nil weiter über die jetzt schon breiten Ufer treten und alles Leben an Land wegschwemmen. Nicht nur ihr Schicksal war ungewiss, auch das der Ongennen, ja sogar das von Steinvogel. Oder hatte er einen
Handel mit dem großen Unbekannten abgesprochen? Abrupt drehte er sich um und unterbrach den Wortschwall des undurchsichtigen Mannes. »Was passiert eigentlich, wenn die Pyramide fertig ist, Herr Steinvogel?« ging er ihn direkt an. »Oder besser, für welchen Zweck errichten Sie diesen monumentalen Wahnsinn?« Steinvogel wandte sich ihm zu. »Um die Zeit zu überwinden, Herr Schweighart. Man könnte die Pyramide als eine Art Zeitmaschine bezeichnen.« »Zeitmaschine?« Er sah die anderen überrascht an. »Was soll das heißen? Ich meine, wie soll das funktionieren, eine Pyramide als Zeitmaschine?« »Hier ist nicht der richtige Ort und nicht der richtige Moment dafür, um solch ein umfassendes Thema zu erörtern«, meinte Steinvogel ausweichend. Man sah ihm deutlich an, daß er seine Aussage bereute. »Wir werden später darauf zurückkommen. Wenn Sie mir bitte folgen wollen. Wir begeben uns nun hinauf zur Baustelle.« »He, halt, nicht so schnell!« Schweighart hielt Steinvogel an der Schulter zurück. »Sie können uns nicht jedesmal einen Brocken Information vor die Füße schmeißen und uns dann damit alleine lassen.« Als er in die stechenden Augen von Steinvogel sah, zog er seine Hand beinahe erschrocken von der schmächtigen Schulter des kleinen Mannes zurück. »Ich könnte noch viel mehr, Herr Schweighart«, antwortete er kalt. Anschließend blickte er in die Runde. »Es ist keineswegs selbstverständlich, daß Sie alle noch leben. Sie sollten das besser nicht vergessen.« Er blickte in die schweigende Runde. »Nun gut. Wenn Sie mir jetzt bitte folgen möchten.«
23. Kapitel Ein eindeutiger und einfacher Befehl erreichte die Heere der Nanomaschinen, die überall auf der Erde stationiert waren: sich auf einen baldigen Abtransport vorzubereiten. Für die Überwindung von weiten Strecken waren die winzigen Strukturen nicht geschaffen. Sie stellten sofort all ihre Tätigkeiten ein und verschmolzen zu einer Einheit von der Größe eines Tennisballs, die für ihre Verhältnisse ein gigantisches Ausmaß bedeutete. Auch während sie auf ihre Verlegung warteten, blieben sie nicht untätig. Sie probierten neue Strukturformen aus, verwarfen unproduktive Varianten und bereiteten sich für die Aufgaben vor, die vor ihnen lagen. Wenn sie in wenigen Tagen ihr Zielgebiet erreichten, würden sie zusammen mit ihrem Befehlshaber eine unvorstellbare Macht darstellen, die in der Lage war, nicht nur Naturgesetzen zu trotzen. Am Abend nach Steinvogels ›Führung und Einweisung für das Verhalten auf der Baustelle‹ waren sie alle vollkommen erschöpft. Sie waren einen ganzen Tag lang in einem dunklen Gebirge aus Steinblöcken herumgeklettert, dessen Adern aus künstlichen Kanälen und Kammern für Wasserläufe und Entlüftungsschächte bestand. Das Atmen war ihnen zusehends schwerer gefallen, je länger sie sich der von Feuchtigkeit gesättigten Luft aussetzten. Hinzu kam das Gefühl von einer erdrük-
kenden Schwere, die von der düsteren Masse der Millionen von aufgetürmten Steinquadern ausging. Zeitmaschine. Nach Steinvogels Andeutung hatten sie Hoffnung geschöpft. Gab es vielleicht doch noch einen Weg zurück in ihre Zeit? Obwohl sie den Sinn seiner Andeutung nicht verstanden hatten und sich noch weniger vorstellen konnten, in welcher Weise dieser gigantische Steinhaufen die Zeit überwinden sollte, war etwas Zuversicht in ihre Herzen zurückgekehrt. Bisher schien ihnen alles unverständlich, aber sie befanden sich in einer realen Welt. Warum sollte also die Pyramide keine Zeitmaschine sein? Der Hoffnungsschimmer war zu schwach und zu undeutlich, als daß sie ihn durch hartnäckiges Hinterfragen hätten zerstören wollen. Deswegen gab es auch kein Murren, als sie nach der Besichtigung des Mischraums von Steinvogel abermals durch enge Schächte und winklige Gänge weiter nach oben, zur Plattform des Bauwerks geführt wurden. Der Weg war beschwerlich gewesen. Schweighart hegte abermals den Verdacht, daß Steinvogel sie ganz bewußt nicht auf eine bequemere und direktere Art und Weise nach oben geleitete. Sie passierten Stellen, an denen man nahezu den ganzen Körper verwinden mußte, um sich an den steinernen Vorsprüngen vorbeizuzwängen. In diesen Momenten bedurfte es all seiner Selbstbeherrschung, um nicht durchzudrehen. In Schweiß gebadet rang er nach Luft und schloß die Augen. Er versuchte, alle Gedanken zu verdrängen, die er zwangsläufig mit einem Einstürzen des Gangs oder mit einem Wassereinbruch in Verbindung brachte. Am schlimmsten erwischte es Cooper, der seit der Notlandung der Intrepid sehr mit seiner Psyche zu kämpfen hatte. In einer besonders engen Passage
versagte sein Nervenkostüm. Er schrie aus Leibeskräften und weigerte sich, den Weg nach oben fortzusetzen. DeHaney und Hilary Cochran, die sich unmittelbar über und unter ihm befanden, redeten beruhigend auf ihn ein, bis er endlich, Zentimeter für Zentimeter, weiter den Schacht hinaufkroch. Schweighart machte noch eine Entdeckung. An manchen Stellen schimmerte ein schwaches rötliches Licht durch Ritzen des Mauerwerks. Es war offensichtlich, daß es in der CheopsPyramide unzählige Räume mit spezifischen Funktionen geben mußte, die ihnen verborgen blieben. Das Monument war komplizierter, als er es sich je vorgestellt hatte. Cochran war mit seiner Bemerkung, daß ihm die Pyramide wie eine Maschine vorkäme nicht falsch gelegen. Eine komplexe Maschine von ungeheurer Größe. Aber eine Zeitmaschine? Es dauerte fast zwei Stunden, bis sie endlich den Gipfel erreichten. Ein ungemütlicher Ort. Hier oben hatte man den Eindruck, auf einem sturmumtosten Felsen mitten im Ozean zu stehen. Der Wind zerrte mit mächtiger Kraft an den riesigen Wassersammlern, die als halbrunde Konstruktionen an der dem Wind abgewandten Seite angebracht waren und beängstigend hin und her schwankten. Es schüttete wie aus Kübeln. Der Regen ergoß sich in auf- und abschwellenden Böen über die Männer, die unbeeindruckt von den Einflüssen der Natur ihre Arbeiten verrichteten. In regelmäßigen Abständen schoß in der Mitte der etwa dreißig mal dreißig Meter großen Plattform ein künstlicher Geysir in die Höhe und kündigte damit die Ankunft einer Palette mit Steinquadern an. Die Palette hob sich wie ein Korken fast einen Meter aus einem Kamin hervor, bevor sie vom
eigenen Gewicht wieder nach unten gezogen wurde. Zuvor wurde jedoch von den Arbeitern mit geübter Schnelligkeit eine Verschlußplatte seitlich in den Kamin gestoßen und damit saß die Fracht fest in der Umrandung. Mit Handzeichen signalisierten die Ongennen die weiteren Handhabungen. Selbst ein lautes Rufen hätte man in dem Inferno nicht verstanden. Eine Seite des Kamins bestand aus einer massiven Holzplatte, die trotz ihrer Masse lautlos nach unten klappte. Die Palette mit den Quadern rutschte selbständig aus dem oberen Teil des Kamins heraus und glitt wie auf einem Fließband über grobe Holzrinnen weiter zu ihrem Ziel an den Rand der Plattform, wo sie von mehreren Arbeitern in Empfang genommen wurde. Verblüfft blickte Schweighart Steinvogel an, der zufrieden den Ablauf der Arbeiten beobachtete. Ab und zu wurde sein schmächtiger Körper von einer Windbö erfaßt, die ihn ein kleines Stück über die Planken schob. Er kaschierte geschickt den für ihn peinlichen Vorgang, indem er sich an Schweighart heranschob und ihm ins Ohr brüllte: »Die Quader werden im Steinbruch schon probeweise zusammengesetzt und genau zugeschnitten. Anschließend werden sie gekennzeichnet, so daß man hier oben sofort weiß, wohin jeder Stein gehört. Alles andere ist dann nur noch Feinarbeit.« Schweighart konnte von seinem Standort aus nicht erkennen, worin die Feinarbeit bestand, denn es hasteten bestimmt mehr als fünfzig Ongennen über die noch stumpfe Spitze der Pyramide. Es waren auch sehr junge Leute darunter, die anscheinend hauptsächlich Kurierdienste verrichteten. Sie tauchten mal hier und mal da auf, zupften manchmal nur kurz am Ärmel eines Arbeiters, machten ihn durch Handzeichen aufmerksam und
verschwanden wieder. Sie brachten Essen und Getränke, Werkzeuge und Ersatzkleidung, verlegten Stege neu und schleppten Seile heran. Auffällig war, daß sie sich vom Rand der Baufläche fernhielten. Kein Wunder, dachte Schweighart, dort geht es steil bergab. Ein Abrutschen von der Kante würde bestimmt niemand überleben. Jetzt bemerkte er auch die schwirrenden Seile, die von Helfern immer wieder neu verlegt wurden, um den angeseilten Ongennen mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen. »Morgen früh sind wir mit der Ebene hier fertig«, schrie ihm Steinvogel von der Seite her zu. »Dann wird der Schacht verlängert und die Wassersammler werden um eine Lage höher versetzt!« Erst als ein dröhnendes Geräusch die Ankunft einer neuen Palette ankündigte, fiel Schweighart auf, daß der Schacht wieder mit Wasser gefüllt war. Dieser alte Fuchs Steinvogel hatte sie also deshalb so lange mit dem Aufstieg beschäftigt, damit er ihnen eine im Betrieb befindliche Baustelle präsentieren konnte. Er konnte nicht umhin, dem kleinen Mann Respekt zu zollen. Er hatte alles im Griff, seine Planung war absolut perfekt, nicht nur, was den Bau der Pyramide betraf. »Wir müssen weiter!« rief Steinvogel ihnen zu. »Wir behindern die Arbeit. Wir nehmen einen anderen Weg nach unten.« Er führte einige zackige Handbewegungen aus und deutete an den Rand der Plattform. Nachdem sie ihm zögernd und mit unsicheren Schritten gefolgt waren, erkannten sie, was er mit ›den Weg nach unten‹ gemeint hatte. Unter den gewaltigen Schirmen der Wassersammler war ein Gerüst angebracht, das als Aufzug diente. Von einigen Ongennen wurden starke Seile herangebracht und an den Gestängen
des Gerüstes befestigt. Als Schweighart vorsichtig über die Kante auf die schmalen Bohlen kletterte und nach unten sah, wurde ihm flau im Magen. Eine weite weiße Wand verlor sich im dunstigen Nebel in eine undefinierbare Richtung, die man nur von der Schwerkraft her als ›unten‹ bezeichnen konnte. Rein optisch betrachtet, konnte es auch umgekehrt sein. Der tosende Wind und der Regen taten ein übriges, um die Sinne vollends zu verwirren. Das Gerüst fing bedrohlich an zu schwanken, als sie einer nach dem anderen mit der Unterstützung der Arbeiter auf den schlanken Steg traten. »Gut festhalten!« brüllte Steinvogel überflüssigerweise. »Gleich werden die Bremsen gelöst. Die Seile sind über die Plattform gezogen und werden über Umlenkrollen auf der anderen Seite der Pyramide nach unten geführt. Dort am Boden hängt ein identisches Gerüst, auf dem einige Arbeiter warten. Wir ziehen sie also mit unserem Gesamtgewicht nach oben.« Die Fahrt im Windschatten der Pyramide war weit weniger spektakulär gewesen als der Aufenthalt oben auf der Baustelle. Während das Gerüst langsam an der weißen Wand nach unten rutschte, erklärte Steinvogel den leichten Knick in der Pyramidenfläche, sprach über die Polierung der Steine und die Unfallgefahr im gesamten Bereich des Areals. Als sie mit einem leichten Kippen des Gerüsts am Boden ankamen, versiegte sein Redeschwall, und er verließ sie ohne weitere Anweisungen. Überrascht von soviel neu gewonnener Freiheit, hatten sie zunächst überlegt, sich noch eine Weile im Gelände umzusehen, beschlossen aber dann wegen der einsetzenden Dunkelheit zu ihrer Unterkunft zurückzukehren. Ganz abgesehen davon
hatten die neu gewonnenen Eindrücke ihnen sehr viel Energie abverlangt. Sie waren tief beeindruckt von der Mächtigkeit des gewaltigen Bauwerks, das unter diesen katastrophalen Wetterbedingungen mit einer ungeheuren Disziplin errichtet wurde. Sie wußten nicht, wem sie den meisten Respekt entgegenbringen sollten. Den Ongennen, Steinvogel oder dem großen Unbekannten. Wahrscheinlich gebührte jedem ein gleich großer Anteil. Vollkommen unverständlich war jedoch der Grund der widerspruchslosen Schufterei, die in ihren Augen keinen Sinn ergab. »Fassen wir doch einfach einmal zusammen«, sagte DeHaney in die Stille, in der jeder seinen eigenen Gedanken nachhing. »Dieser Alien läßt mit Hilfe von dem komischen Kauz und den Ongennen eine riesige Pyramide bauen. Laut Steinvogel eine Zeitmaschine. Gleichzeitig steht der Planet vor einer Klimakatastrophe. Für mich ist die Sache klar: Die wollen weg. In eine andere Zeit. In einen Zeitabschnitt nach der Katastrophe. Das klingt unglaublich, aber wir haben ja am eigenen Leib erfahren, daß dieser Unbekannte Zeitreisen beherrscht. Wenn ihr mich fragt, hoffe ich nur, daß er dabei auch an uns denkt und nicht vergißt, uns mitzunehmen. Für mich ist es deswegen kein Problem, beim Bau der Pyramide zu helfen. Je eher der Steinhaufen fertig ist, desto schneller sind wir hier weg. Ich habe die Schnauze gestrichen voll von dem ständigen Regen. Mir wachsen bald Kiemen in der Feuchtigkeit.« »Steinvogel hat von einer Art Zeitmaschine gesprochen«, berichtigte ihn Schweighart. »Das könnte auch etwas anderes bedeuten. Außerdem stehen bereits zwei weitere Pyramiden.
Ich frage mich wozu. Sind das ebenfalls Zeitmaschinen?« »Keine Ahnung. Vielleicht braucht man für viele Leute viele Zeitmaschinen.« »Und wozu braucht man in einer anderen Zeit viele Leute? Man könnte doch die Zeit alleine viel bequemer in dem UFO überwinden?« Er schüttelte den Kopf. »Der Aufwand mit den Pyramiden ergibt einfach keinen Sinn. Ich glaube, wir können im Augenblick nichts anderes machen, als bis zur Lösung des Rätsels abzuwarten, und ich fürchte, daß uns bis dahin nichts anderes übrig bleibt, als in der Pyramide zu schuften.« »Wobei wir von Glück sagen können, wenn wir innerhalb der Pyramide schuften dürfen«, fügte Hilary Cochran hinzu. »Dort oben an der Spitze der Pyramide ist die Arbeit lebensgefährlich.« Alle außer Kohlschovsky nickten bestätigend. Sie hatten ihm nach ihrer Rückkehr alles ganz genau beschreiben müssen, und er hatte ihre Erzählungen förmlich in sich aufgesaugt. Besonders die einfache, aber wirkungsvolle Art und Weise des Steintransportes hatte ihn fasziniert. Kohlschovsky war ein Bastler, zudem ein reiner Technokrat. Seiner Meinung nach gab es kein Problem, das mit Hilfe der Technik nicht zu lösen war. Hilary Cochran glaubte, die Anfänge eines Auseinanderstrebens ihrer Gruppe zu spüren, wobei Kohlschovsky im Grunde genommen eine Ausnahme bildete. Sein Interesse für die Technik war nicht von Gefühlen geprägt. Anders war es bei DeHaney. Seine Interessen richteten sich eindeutig auf Annick Denny. Seine Worte von vorhin waren nur ein lahmer Versuch, so etwas Ähnliches wie Selbstsicherheit zu demonstrieren. Es war sicherlich gut gemeint von ihm, aber jeder, außer ihm selbst,
hatte seine Unkonzentriertheit und die Oberflächlichkeit seiner Aussage bemerkt. Äußerst konzentriert und hoch motiviert wirkte dagegen der junge Deutsche. Es war ihm anzusehen, daß er überhaupt nicht daran dachte, sich mit der Situation abzufinden. Manchmal erschien sein Auftreten trotz einer gewissen Reserviertheit dem Commander gegenüber sogar etwas ungestüm, aber er besaß den notwendigen Respekt, sich in diesen Momenten sofort zurückzunehmen, ohne sein Ziel aus den Augen zu lassen. Er wollte unbedingt dorthin zurück, wo er hergekommen war. Annick Denny wirkte aufgekratzt. Schon während des Rückweges hatte sie sich immer wieder zu der Pyramide hin umgedreht und von der Mächtigkeit und Eleganz des Bauwerkes geschwärmt. Auch jetzt in diesem Augenblick sprach sie unablässig von den großen Taten des afrikanischen Volkes, ungeachtet der Tatsache, daß es vollkommen unklar war, auf wessen Konto diese Leistungen gingen. Ein sehr monochrom eingefärbter Patriotismus, der Hilary Cochran allmählich auf die Nerven ging. Vollkommen unbeeindruckt von den nun aufflammenden Diskussionen blieb Cooper. Er saß auf dem Boden des Gemeinschaftsraums und war eingeschlafen. Nach seinem Aussetzer in dem engen Schacht hatte er ganz konzentriert seine Ängste niedergekämpft und die restliche Strecke durch die Pyramide mit beherrschten Gesichtszügen hinter sich gebracht. Janine blieb immer in seiner Nähe und lag jetzt schlafend in seinem rechten Arm. Hilary Cochran wollte es den anderen gegenüber nicht eingestehen, aber die Vorstellung, für immer in der Vergangenheit zu
leben, begann ihr zu gefallen. Sie wußte, daß ihr Mann ähnlich dachte, ohne mit ihm darüber gesprochen zu haben. Es wäre für sie beide eine außergewöhnliche Herausforderung ohne Kompromisse, wobei weniger die Tatsache ins Gewicht fiel, in der Vergangenheit zu leben, sondern mehr das Zusammenleben mit einem fremden Volk den Ausschlag gab. Und vielleicht der gemeinsame Kampf gegen die Naturgewalten. In der Unterkunft begann es unangenehm zu riechen. Der Gestank ging von ihrer Kleidung aus, die zwar ihren Zweck in der nassen Witterung hervorragend erfüllte, nun aber auf Grund ihrer rein biologischen Herkunft in der warmen trockenen Innentemperatur anscheinend einige heftige chemische Reaktionen auslöste. Seit Wochen lebten und schliefen sie gemeinsam in dem großen Raum, der keine Fenster hatte und zudem nur unzureichend belüftet wurde. Hilary Cochran schnüffelte deutlich hörbar in die Luft und sagte: »Es stinkt hier. Ich würde es vorziehen, eine Dusche zu nehmen und diese Kleider irgendwo anders trocknen zu lassen. Ich bin müde und außerdem habe ich Hunger. Ich würde also vorschlagen, unsere Unterhaltung morgen fortzusetzen. Gibt es Argumente dagegen?« Kohlschovsky grinste sie mit seinem breiten Gesicht an. »Und ich dachte schon, ihr hättet alle euren Geruchssinn in der Pyramide verloren. Im Gang weiter runter gibt es einen abgelegenen Raum, in dem die Ongennen ihre nassen Kleider trocknen. Offensichtlich sind sie mit dem Problem vertraut.« Er lachte laut über seinen Witz und griff nach seinen Krükken. »Heute gibt es nasses Brot mit feuchtem Lammfleisch.
Dazu leckeres Wassermüsli. Gehen wir.« Ohne Kommentar standen sie alle auf und streckten die Glieder. Morgen würde jeder von ihnen mit einem ordentlichen Muskelkater zu kämpfen haben. DeHaney bückte sich zu Cooper hinab und stieß ihn an. »Komm, Tim, wach auf! Wir gehen etwas essen.« Janine, die von der Bewegung im Raum eher erwacht war, befreite sich von Coopers Arm. Sie hatte einen Heidenrespekt vor dem Commander und war ihm bisher immer aus dem Weg gegangen. Sie sah ihn mit großen Augen an, errötete kurz und folgte schnell den anderen. Cooper fuhr sich mit beiden Händen über die Augen. »Ah, Jim. Ich bin eingeschlafen.« DeHaney lächelte ihn an. »Kein Problem, Buddy. Das Mädchen gefällt dir wohl, oder?« Cooper blickte nach links und rieb sich seinen eingeschlafenen Arm. »Janine?« Er schien zu überlegen. »Sie ist noch so jung.« Er ergriff DeHaneys angebotene Hand und zog sich hoch. »Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Der Vorfall von heute nachmittag in der Pyramide tut mir leid. Ich war für einen Moment total weggetreten. Beklemmung und ein Gefühl, als müßte ich gleich ersticken. Seit dem Absturz habe ich eine furchtbare Angst vor dem Sterben. Allein zu sterben. Ich kann es schlecht erklären. Janine ist irgendwie bei mir. Sie gibt mir Kraft. Es hat nichts mit Liebe oder so etwas Ähnlichem zu tun. Oder vielleicht doch? Komisch, oder?« DeHaney faßte ihn fest bei der Schulter. »Wir sind nicht abgestürzt. Du hast uns da runtergebracht,
erinnerst du dich? Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich unser Shuttle irgendwo in den Sand setzen müssen und wer weiß, wie das ausgegangen wäre. Wir alle haben es nur dank deiner Navigation überstanden.« »Geschenkt. Ich habe während des Landeanflugs schon die Hosen voll gehabt. Dadurch, daß ich mich auf den Laptop konzentrieren konnte, war ich abgelenkt. Nein, es war der Augenblick, kurz bevor ich aus dem Shuttle geschleudert wurde. Ein Gefühl der Einsamkeit. Es ist schwer zu beschreiben, ich kann es nicht in Worte fassen.« »Es war auch meine erste Notlandung. Aber du hast recht. Wenn man in so einer Situation auf seinen Job konzentriert ist, nimmt man seine Umgebung nicht mehr wahr. Ich war bis zum Schluß mit dem Shuttle beschäftigt. Es war keine Zeit für einen Gedanken an den Tod. Aber danach. Unmittelbar danach ist alles auf mich eingestürzt.« Er zögerte einen Moment. »Es ist nicht so, daß mich das alles nicht berührt. Ich habe es nur irgendwie verdrängt, verstehst du.« Cooper nickte abwesend. »Ich weiß … ich meine, ich weiß, daß du das kannst. Du und die anderen. Ihr seid alle so stark. Ich bin es nicht. Ihr habt euch so schnell an diese verrückte Situation angepaßt. Eine Zeitreise 10 000 Jahre in die Vergangenheit. Dann diese Monsterbauten. Der ständige Regen. Dieses ewige Dämmerlicht. Ich kann mich daran nicht gewöhnen.« Er sah DeHaney forschend an, um ein Verständnis in seiner Mimik zu entdecken, fand jedoch lediglich die Geduld, seinen Ausführungen zu zuhören. »Vielleicht brauche ich noch etwas Zeit …«, schloß er resignierend. Dankbar nahm DeHaney seine Einsicht auf. Er war kein gro-
ßer Psychologe, und es ging ihm ein wenig gegen seine Astronautenehre, daß ausgerechnet sein Co-Pilot es nicht schaffte, über seinen Schatten zu springen. »Richtig, nur nichts überstürzen. Du hast genug Zeit«, munterte er ihn auf. »Ich helfe dir dabei. Du wirst sehen, in ein paar Wochen bist du wieder ganz der alte. Bis dahin passe ich auf dich auf.« »Das wäre gut. Wirklich. Ich erlebe diese Welt wie in Trance. Es kehrt sich alles um. Im Schlaf träume ich davon, daß ich mich in der Intrepid befinde und jeden Morgen in einer Welt aufwache, die für mich keine Wirklichkeit darstellt. Du und auch die anderen, ihr seid die einzigen Bezugspunkte für die Realität. Hätte ich zum Beispiel als einziger den Absturz … die Notlandung überlebt, ich glaube, ich würde verrückt werden.« DeHaney wurde nun doch nachdenklich. Von dieser Seite hatte er die Sache noch gar nicht betrachtet. »Du hast recht. Es wäre ein einziger Alptraum.« Er bemerkte Coopers flackernden Blick und begriff zum ersten Mal in seinem Leben, was es bedeuten konnte, wenn einem der Boden der Realität unter den Füßen weggezogen wurde. »Ich passe auf dich auf«, wiederholte er sein Versprechen. Dieses Mal meinte er es jedoch ehrlich. »Gemeinsam kriegen wir das wieder hin. Sag mir gleich, wenn es dir nicht gut geht. Ich kümmere mich dann sofort um dich.« Cooper atmete tief durch. »Danke, Jim. Das hilft mir sehr.« Seine Körperhaltung wurde etwas straffer und er sah sich um. »Was hattest du vorhin gesagt? Wir gehen essen?« »Essen und duschen. Du stinkst wie ein junger Büffel aus Montana.«
»Vielen Dank für den Hinweis, du alter Büffel«, gab Cooper sichtlich befreiter und mit einem angedeuteten Naserümpfen zurück. »Übrigens: Ich denke, Janine gefällt mir doch ganz gut.« »Davon rede ich doch die ganze Zeit«, erwiderte DeHaney grinsend.
24. Kapitel In stiller Vorfreude schlich Annick Denny leise zurück in den Gemeinschaftsraum. Trotz der anstrengenden Tour durch die Pyramide hatte sie keinen Schlaf gefunden. Unschlüssig darüber, wie sie sich die Zeit vertreiben konnte, war sie in dem großen menschenleeren Zelt herumgewandert, bis ihr einfiel, daß es ihnen ja nicht mehr untersagt war nach draußen zu gehen. Als sie zögernd durch die schweren Planen in die frische und doch lauwarme Nacht hinaustrat, blieb sie überrascht stehen und blickte hoch zum Firmament. Nach wenigen Minuten kehrte sie schnell ins Innere zurück. Dieses überwältigende Erlebnis mußte sie unbedingt mit jemandem teilen. »He, Jim, wach auf! Ich muß dir etwas zeigen!« Sie bemühte sich leise zu sein, um die anderen nicht zu wecken und rüttelte dafür um so heftiger am Arm des Commanders. DeHaney brummte unwillig und verbarg sein Gesicht unter seinem Arm. »Komm schon, Jim, das mußt du einfach sehen!« Sie hielt ihm den Mund zu und kniff ihn in die Seite. Er schüttelte sich kurz und blickte verständnislos in die Dunkelheit. Eben noch war er in einem undefinierbaren Traum gefangen gewesen, in dem kleine Männer in Laborkitteln versucht hatten, ihm Bezugspunkte in imaginären Realitäten zu
erklären. Er hatte kein Wort davon verstanden und immer nur Fragen gestellt, die keiner von den Männchen beantworten wollte. »Annick …?« »Ssscht, leise. Komm mit, ich will dir etwas zeigen.« »Jetzt?« krächzte er mit belegter Stimme und sah sich um. »Es ist dunkel!« »Eben darum. Komm schon!« flüsterte sie eindringlich. »Ja, gleich, ich muß mir nur schnell etwas anderes anziehen.« Er tastete mit den Händen am Boden herum. »Du brauchst dir nichts anderes anzuziehen. Es ist warm draußen. Ich habe auch nur eine Hose und ein Hemd an.« »Wieso draußen? Was ist da draußen?« Er versuchte, ihr Gesicht im Dunkeln auszumachen. »DeHaney, vertrau mir einfach! Und paß auf, daß du über niemanden stolperst!« Seine Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, so daß er die undeutlichen Umrisse in dem Raum einigermaßen zuordnen konnte. Vorsichtig und mit angehaltenem Atem wich er den Hindernissen aus. Dann tapste er hinter der Französin her durch das weite Zelt zum Ausgang. Demonstrativ schlug sie die Plane zurück. »Voilà! Wie gefällt dir das?« Er schob sich an ihr vorbei und trat ins Freie. Im ersten Moment zog er instinktiv die Schultern ein, um dann in den vermeintlich fallenden Regen hinauszutreten, bis er merkte, daß es absolut trocken war. Verblüfft schaute er nach oben und blickte in einen überwältigenden und von klaren Sternen übersäten Nachthimmel.
»Wow!« entfuhr es ihm. Die Kulisse war mit Worten nicht zu beschreiben. So etwas hatte er selbst in klaren Winternächten in Vermont noch nie gesehen. Die Sterne strahlten in einem satten Glanz auf ihn herab und verdichteten sich mit längerer Betrachtung immer mehr. Unaufdringlich tauchten sie dabei mit ihrem gesamten Lichtspektrum die Umgebung in ein fahles Abbild der Realität. »He, wow!« wiederholte er noch einmal leise und drehte sich dabei mit in den Nacken gelegtem Kopf bewundernd um die eigene Achse. Als er am östlichen Teil des Firmaments angekommen war, fiel sein Blick unwillkürlich auf die Pyramiden, die das Sternenlicht matt widerspiegelten. »Es ist einfach phantastisch«, sagte er ergriffen. »Das müssen die anderen auch sehen. Ich geh schnell rein und wecke sie auf.« »Laß sie schlafen, wir können sie nachher immer noch holen«, entgegnete Annick. »Ich möchte dir vorher noch etwas ganz Besonderes zeigen, aber dazu müssen wir rüber zu den Pyramiden.« Er zögerte. Kenneth Cochran würde nie wieder ein Wort mit ihm sprechen, wenn ihm ein solches Ereignis entgehen würde. Sorgfältig suchte er den Himmel nach Wolken ab, aber weder das Wetter noch ein hell scheinender Mond würden diesen Anblick in den nächsten Stunden verhindern. Außerdem war es vollkommen windstill. »Na gut, O.K.«, stimmte er zu. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er zum ersten Mal mit Annick alleine war. Eine Chance, die er sich nicht entgehen lassen wollte.
Annick Denny ging voraus. Ihr war etwas mulmig zumute, denn außer ihren stolpernden Schritten war kein Laut zu hören. Die Unterkünfte der Ongennen lagen ein Stück weiter westlich, und auch dort war alles ruhig. Gemeinsam kletterten sie wenig später vorsichtig über die Transportrinnen und passierten die nordwestliche Kante der Pyramide. Allein hätte sie den nächtlichen Ausflug zu den Pyramiden nie gewagt. Selbst in der Gegenwart von DeHaney verspürte sie eine gewisse Nervosität. Immer wieder lauschte sie angespannt nach hinten, um sich seiner Anwesenheit zu versichern. Als sie den hoch aufragenden und schimmernden Bauwerken näher kamen, wurde sie unruhig. Sie blieb stehen. »Scheiße, ich habe Angst. Das ist mir zu unheimlich hier.« DeHaney, der fast auf sie aufgelaufen wäre, lachte leise und machte laut: »Buh! Hier kommt der Mumiengeist!« »Verdammt! Ich mein das ernst, ich hab Schiß!« Zuerst dachte er daran, sie zu beruhigen, wollte ihr etwas über die furchtlose Astronautin Annick Denny sagen, die ohne zu zögern zur Raumstation geflogen war, eine Notlandung überlebt hatte und nun in einer Kultur 10 000 Jahre in der Vergangenheit lebte, aber als sie so furchtsam und mit geballten Fäusten vor ihm stand, nahm er sie einfach in die Arme und küßte sie. Sie wehrte sich nicht. Ihr schlanker Körper schmiegte sich wie selbstverständlich an ihn, und all ihre Ängstlichkeit wich einer sanften Hingabe. Unwillkürlich verglich DeHaney während den Berührungen Annicks androgyne Formen mit der üppigeren Figur seiner Frau. Autumn hatte ungefähr die gleiche
Größe, aber ihre voluminösen Brüste hielten ihn immer etwas auf Distanz. Ihre Küsse hatten sich nach den vielen Jahren des Zusammenlebens in einer matriarchalischen Oberflächlichkeit verloren. Annick dagegen war durchtrainiert und besaß eine jugendliche Biegsamkeit. Ihre Lippen und ihre Zunge forderten ihn in einer Heftigkeit, daß er seine volle Konzentration brauchte, um nicht sofort seine Männlichkeit an ihr verlangendes Becken zu pressen. Annick bemerkte sein Zögern. »Nicht Aufhören«, bettelte sie. »Ich dachte, du hast Angst.« »Nicht wirklich, oder vielleicht nur ein wenig.« »Dann war das eben wohl gerade ein taktisches Spielchen von dir?« sagte er schmunzelnd und zog sie wieder an sich. »DeHaney, du bist unmöglich«, wehrte sie ihn ab. Danach machte sie unvermittelt kehrt und rannte an der nördlichen Seite der Pyramide vorbei hinunter in Richtung des Nilufers. Typisch Mann, dachte sie, während sie in einem lockeren Laufstil an den dicht stehenden Palmenreihen vorbeijoggte. Zuerst die Situation ausnutzen und dann blöde Bemerkungen machen. Natürlich war sie deswegen nicht gekränkt, es ging lediglich um eine weitere Variation des alten Spiels Mann und Frau. Sie ärgerte sich nur ein klein wenig darüber, daß sie selbst nicht gegen solch kleine Albernheiten gefeit war und es ihr sogar Spaß machte, DeHaney mit ihrer kleinen Flucht etwas zu ärgern. Nach einigen Minuten des Laufens begannen ihre Waden und Oberschenkel zu schmerzen. Der anstrengende Tag und die fehlende Bewegungsfreiheit forderten nun doch ihren
Tribut. Schade, es machte ihr eine unbeschreibliche Freude, in dieser unwirklich anmutenden Landschaft zu laufen. Sie schwebte gleichsam traumwandlerisch in einem irrealen Zustand, der sie seltsamerweise mehr stimulierte, als daß er ihr durch das geisterhafte Licht der Umgebung Furcht einflößte. Der ziehende Schmerz in ihren Beinen jedoch war real, und es wäre unvernünftig gewesen, ihre angeschlagene Muskulatur noch weiter zu belasten. Sie reduzierte ihren Trab und ging langsam auf die schräg von oben herabfallende Kante der Pyramide zu. Direkt vor ihr wurden die Reihen der Palmen lichter, und sie hatte fast freie Sicht auf den östlichen Sternenhimmel, der sich weiter unten in unzähligen kleinen Lichtreflexen flimmernd in dem mächtigen Fluß widerspiegelte. Plötzlich wich sie unwillkürlich einen Schritt zurück, als sie auf der freien Fläche einen länglichen und massigen Schatten erblickte. Es dauerte einige Sekunden, bis sie realisierte, was dieser riesengroße Felsen darstellte, der mit seiner typischen Form wie ein Wächter vor den drei Pyramiden lag. Die Sphinx. Also stammte auch dieses Kunstwerk aus vorsintflutlicher Zeit. Annick Denny betrachtete wehmütig das über 70 Meter lange Monument, das ihr scheinbar gleichgültig den Rücken zukehrte und nach Osten blickte. Wie oft war sie in ihrer Zeit über das Plateau gewandert und hatte jedes Mal zum Abschied dem liegenden Löwenkörper mit dem menschlichen Kopf noch rasch einen stummen Gruß hinterlassen. Jetzt war sie zu seinem
Ursprung zurückgekehrt. Über 10 000 Jahre in die Vergangenheit. »Wolltest du mir das zeigen? Diesen großen Felsen?« Erschrocken zuckte sie zusammen. »Jim! Du bist ein gefühlloser Trampel!« fuhr sie ihn an. Sie seufzte leise, als sie sein verständnisloses Gesicht sah und sagte: »Nimm mich in deine Arme und sei bitte eine Minute still! Der große Felsen dort ist die Sphinx und sie und ich, wir sind alte Freunde, verstehst du?« Er umfaßte sie zärtlich von hinten und rieb seine Wange an ihrem lockigen Haarschopf. Nach einer Weile sagte er erstaunt: »Ich wußte nicht, daß sie so weit von den Pyramiden entfernt ist. Das müssen doch bestimmt tausend Fuß sein. Entschuldige, aber ich war leider nie in Ägypten, ich kenne das alles nur von Bildern.« »Schon gut. Die Sphinx kommt mir jetzt viel größer und höher vor als in unserer Zeit. Ich muß sie mir unbedingt aus der Nähe ansehen.« »Aber doch nicht jetzt! Wir können das doch auch morgen bei Tageslicht machen!« »Angsthase! Nun komm schon!« Sie entwand sich ihm und nahm seine Hand. »Mir zuliebe. Bitte. Außerdem ist das, was ich dir zeigen wollte, von dort unten besser zu sehen!« Er ließ sich von ihr widerstrebend in Richtung Nilufer ziehen. Jetzt war er es, dem irgendwie unheimlich zumute war. Seiner Meinung nach herrschte hier eine trügerische Stille, obwohl er keinerlei Anzeichen für eine Gefahr erkennen konnte. Wahrscheinlich liegt es eben an der Ruhe und dem ungewohnten klaren Himmel, sagte er sich. Und an der Möglichkeit,
ungehindert umhergehen zu können. »Hier, das wollte ich dir zeigen!« Sie deutete an den Pyramiden vorbei in den südlichen Sternenhimmel, wo das Sternbild des Orion zu sehen war. Die hellen Sterne des Himmelsjägers leuchteten wie Positionslampen in einem zarten Meer von unzähligen Lichtern majestätisch auf sie herab. »Ist das nicht beeindruckend?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage von ihr. »Ich habe noch nie einen solchen dichten Sternenhimmel gesehen. Kein Wunder, daß die Menschen der Vorzeit ihre Götter dort oben vermuteten. Und der Orion bietet sich mit seiner einzigartigen Konstellation dazu gerade an.« Nach einer Weile des stillen Staunens und Betrachtens gingen sie Hand in Hand auf die Sphinx zu. Der Boden war sandig und absolut eben. Wenn es nicht wieder regnete, würde man am nächsten Morgen deutlich ihre Fußspuren sehen können. »Annick …«, sagte er in einem Flüsterton und wollte sie zurückhalten. Sie beachtete ihn jedoch nicht und zog ihn weiter. »Sieh mal, da vor den Pranken der Sphinx scheint eine Art Wasserbecken zu sein!« Sie schüttelte seine Hand ab und lief um den Koloss herum. Resignierend sah er noch einmal in die Runde, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Dann blickte er zögernd und schließlich bewundernd an der gewaltigen Skulptur entlang. Er mußte sich eingestehen, daß auch er von dem Monument beeindruckt war. Und von der Einmaligkeit der Landschaft, in der sie sich bewegten. Wenn ihm sein Verstand nicht immer wieder gesagt hätte, in welcher Situation sie sich befanden, wäre ihm gewesen, als durchstreiften sie eine Art verlassenen Ver-
gnügungspark in Las Vegas, in dem die Monumente der Vergangenheit errichtet waren. Unter einer riesigen Kuppel hell strahlender Sterne. Annick stand direkt vor dem Wasserbecken und sah hinauf in das hoch aufragende Gesicht der Sphinx. »Das Gesicht. Es sind andere Gesichtszüge!« Er trat neben sie und blickte nach oben. Anstatt der bekannten Züge des angeblichen Erbauers und Pharaos Chephren blickte ein afrikanisch anmutendes Antlitz mit sanften Augen über sie hinweg. Gleichgeblieben schien der ausladende Kopfschmuck, obwohl er breiter und höher war als auf dem Foto, das DeHaney im Gedächtnis hatte. Annick war völlig fassungslos. »Er ist afrikanischer Abstammung!« sagte sie aufgeregt. »Es muß ein Abbild des Unbekannten sein. Das ist unglaublich!« Sie ging einige Schritte hin und her, um das Gesicht aus verschiedenen Perspektiven zu studieren. »Eindeutig afrikanisch! Es ist einfach phantastisch!« DeHaney konnte ihre Erregung nicht verstehen. Zwar waren die breiten wulstigen Lippen auffallend, aber das war auch schon alles, was an einen afrikanischen Ursprung erinnerte. Die Nase erschien ihm zu schmal und zu lang. Die Augen deuteten mehr auf asiatischen Ursprung hin. Von den Ohren waren lediglich die Ohrläppchen zu sehen, weil sie von dem seitlichen Kopfschmuck bedeckt waren, aber auch sie schienen sehr groß zu sein. Wie alles an dem Gesicht, das mit einem gütigen Lächeln über sie hinwegsah. Die Skulptur hätte seiner Meinung nach auch zu einem Mayatempel gepaßt. Vielleicht lag es am fahlen Sternenlicht, das dem Kopf afrikanischen Charakter
verlieh, denn die steinernen Gesichtszüge waren nur wenig aufgehellt. Die Französin war vom Beckenrand zurückgetreten und betrachtete ehrfurchtsvoll das hoch aufragende Monument. DeHaney wollte sie nicht stören und ließ sie mit ihrer Bewunderung allein. Er ging einige Schritte hinunter in Richtung des Flusses, der mehr einem fließenden See glich. Schweighart hatte ihm noch in der Umlaufbahn Fotos von den Pyramiden und vom Nil gezeigt und ihm erläutert, daß der Fluß einen anderen Verlauf nahm als im 21. Jahrhundert und beinahe bis an das Hochplateau von Gizeh heranreichte. Unruhig blickte er flußaufwärts. Es liegt an dieser unheimlichen Umgebung, sagte er sich. Und es ist zu trocken. Er war schon richtiggehend an die Feuchtigkeit und das Rauschen des immerwährenden Regens gewohnt. Er fuhr herum, als er ein lautes Platschen vom Becken her vernahm. Annick war verschwunden. Mit einem leisen Fluch rannte er zurück und blickte suchend um sich. Die Wasseroberfläche war schwarz wie die Nacht und nur ein paar schwappende Geräusche am Rand des Beckens deuteten auf den Ort ihres Verschwindens hin. »Annick?« flüsterte er und streckte suchend die Hände ins Wasser. Er hatte keine Ahnung, wie tief das Becken sein mochte. Alle nur denkbaren Möglichkeiten schossen ihm plötzlich durch den Kopf. Die schlimmste davon war, daß sich Krokodile in dem Wasser aufhalten könnten. Erschrocken zog er die Hände aus dem Wasser.
»Suchst du vielleicht nach mir?« Ihr Kopf tauchte dicht neben ihm aus dem Wasser. »Annick, du bist unmöglich! Was machst du da drinnen?« »Na, nach was sieht das wohl aus? Ich bade. Mein erstes Bad seit über vier Monaten und es ist einfach phantastisch. Das Wasser ist herrlich warm. Man kann hier sogar richtig schwimmen, wenn man will. Ist nicht tiefer als einen Meter. Los, komm auch rein!« »Ich denke ja gar nicht dran. Wenn uns hier jemand …« Er brach ab, als ihm die Lächerlichkeit seiner Worte bewußt wurde. Außerdem konnte er sich gut vorstellen, was sie ihm darauf antworten würde. »… wenn uns hier jemand sieht? Jim, du bist nur zu feige, gib es doch zu!« Sie stieß sich kräftig vom Beckenrand ab. Trotz der mangelnden Beleuchtung war deutlich zu sehen, daß sie nackt war. Er zögerte einen Moment, dann zog er sich ebenfalls aus und stieg über den Beckenrand ins Wasser. Sie hatte recht. Das Wasser war angenehm warm, aber noch schöner war das befreiende Gefühl, sich in dieser riesigen Badewanne frei bewegen zu können. Und dann war da natürlich noch Annick. Sie lag jetzt mit dem Rücken halb auf dem Beckenrand und hielt sich mit angewinkelten Ellenbogen fest. Er wußte, daß sie ihn beobachtete. Unschlüssig legte er spielerisch ein paar Bahnen unter Wasser zurück und ließ sich anschließend auf dem Rücken treiben. Er spürte ihre Erregung und wußte, daß sie auf ihn wartete. Einen kleinen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, sie noch ein klein wenig länger warten zu lassen, aber dann gab er
schließlich doch nach. Entschlossen richtete er sich auf und watete in dem hüfthohen Wasser auf sie zu. Als er sie vorsichtig mit den Händen an den Hüften berührte, schlossen sich ihre ausgebreiteten Beine hinter seinem Rücken und zogen ihn dicht an ihren schlanken Körper heran. Wortlos schlang sie ihre Arme um seinen Nakken und küßte ihn mit Leidenschaft und fordernder Zunge. Er spürte es kaum, als sein hartes Glied wie von alleine in sie eindrang, begleitet von einem kaum merklichen Zittern ihres Körpers und einem unterdrückten Schrei aus ihrem Mund. Er verlor das Gleichgewicht und tauchte mit ihr unter die Wasseroberfläche. Für kurze Zeit nahm er sie hart und rücksichtslos, dann er zog sie zum Beckenrand, um einen Halt zu finden und umfaßte sie von hinten an der Taille. Annick hielt sich mit ausgestreckten Armen am steinernen Rand fest. Mit wohliger Vorfreude wartete sie auf die nächsten Stöße. Am meisten erregte sie das ungezügelte Verlangen dieses Mannes. Er hielt sie mit der linken Hand an ihrem Nacken fest und umfaßte gleichzeitig mit der rechten ihre Brüste. Sie spürte, daß er vergeblich versuchte, einen angenehmen Rhythmus für sie zu finden, verfiel jedoch immer wieder in seiner Gier in eine härtere Gangart. Wohlig erschaudernd gab sie sich seinem Trieb hin und wehrte sich nicht, als er sie im aufspritzenden Wasser wie einen Spielball herumwirbelte und gierig von vorne in sie eindrang. Sie fühlte, daß er sich nicht mehr lange zurückhalten konnte, und spannte instinktiv die Beine an. Ihre Bauchmuskeln hoben und senkten sich im Takt mit den harten Bewegungen des männlichen Gliedes. Ihre Gefühle, die keine klaren Gefühle
mehr waren, sondern nur noch aus unbeschreiblichen warmen Strömen bestanden, strebten heiß dem einen Punkt zu. Jetzt gleich … Die letzten Sekunden vor dem Höhepunkt waren ein egoistisches Stakkato von ihnen beiden. Keiner war mehr in der Lage, Rücksicht auf den anderen zu nehmen. Halb unter Wasser bäumten sich ihre Körper auf, um sich sofort in einem gegenseitigen Verschlingen zu verkrampfen. Irgendwo zwischen ihnen explodierte ein unbekanntes Universum. Annick hatte furchtbar viel Wasser geschluckt und suchte nach einer Orientierung, die sie schließlich an der Beckenmauer fand. Hustend und keuchend zog sie sich daran hoch. Dann versuchte sie, sich wieder auf die Umrandung zu lehnen und stöhnte leise auf, als sie bemerkte, daß ihre Ellenbogen einiges auf der harten Mauer und dem Beckengrund abgekriegt hatten. Wahrscheinlich würde auch noch der eine oder andere blaue Fleck hinzukommen. DeHaney befand sich in einem ähnlichen Zustand. Es dauerte eine Weile, bis beide in der Lage waren, einen halbwegs vernünftigen Satz zustande zu bringen. Er kroch im warmen Wasser auf den Knien zu ihr hin und wollte sie in seine Arme nehmen, aber sie streckte ihm warnend die Hände entgegen. »Bitte sei vorsichtig, mir tut alles weh. Ich glaube, ich habe überall Abschürfungen und außerdem zittern mir die Knie.« Er umfaßte sie behutsam und lachte leise. »Kommt mir bekannt vor. Irgendwie habe ich auch was mit den Knien, aber ich denke, daß es daran liegt, weil ich mich
darauf abgestützt habe.« Sie schwiegen eine Weile. Dann biß sie ihm zärtlich auf die Lippen und sagte: »Das war Klasse, Commander!« »Wenn ich mich recht erinnere, habe ich eigentlich nicht viel dazu getan.« Er legte den Kopf auf ihre Schulter und genoß die Stille dieser eigentümlichen Situation. 10 000 Jahre in der Vergangenheit, hinter ihm hoch aufragend die Sphinx und neben ihm eine leidenschaftliche Französin in einem antiken Pool. Und vor ihm das Sternenflimmern auf der Wasseroberfläche des Nils. Annick sagte etwas in ihrer Sprache. Es klang wie ein Gedicht. Ein leises Plätschern war vom Nil her zu hören. Er stutzte und hob den Kopf. Schatten. Da bewegten sich Schatten auf dem Wasser. Oder war es eine Sinnestäuschung? »Pssst, sei mal leise!« Er drückte sie leicht am Oberarm. Sie fuhr herum und blickte suchend in das Halbdunkel. Ihre Reaktion war ein Zeichen dafür, daß auch sie der Umgebung nicht ganz traute. »Was ist?« flüsterte sie und versuchte seinem Blick zu folgen. »Dort drüben, in der Mitte des Flusses. Irgend etwas ist dort. Eine dunkle Fläche.« Sie verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und richtete sich etwas auf. »Vielleicht eine Sandbank?« »Nein, ab und zu blitzt reflektiertes Licht von den Sternen
dazwischen auf. Unregelmäßig.« Jetzt sah sie es auch. Eine undefinierbare Menge von einzelnen Flecken schien über der Wasseroberfläche zu schweben. Wie dichter dunkler Nebel. Aber für Nebel war es zu kompakt und zu unruhig. »Da schwimmt was auf uns zu. Boote oder Flöße. Sehr viele Boote. Ich glaube, ich höre Stimmen.« Sie hatte recht. Unterdrückte Laute waren zu hören, zwar sehr leise, aber wegen der Reflexion der Schallwellen an der Wasseroberfläche deutlich als menschliche Stimmen zu erkennen. »Wir verschwinden besser von hier«, sagte er und blickte nach seinen Kleidern suchend über den Beckenrand. Erschrocken zog er den Kopf zurück, als wenige Meter neben ihm ein schwarzer Schatten am Becken vorbei hinunter zum Nilufer rannte. Ein weiterer folgte. Schließlich fegte eine ganze Schar dunkler Wesen an ihnen vorbei. Ongennen. Er erkannte sie an der Größe und an den Handzeichen, mit denen sie sich während des Laufens verständigten. Ihre Anzahl war schlecht auszumachen. Vielleicht fünfzig, es konnten aber auch hundert sein, denn sie kamen nicht nur hier in der Nähe der Sphinx herunter, sondern auch weiter südlich an der Mykerinos-Pyramide. Wieder rannte ein einzelner ganz dicht am Becken vorbei. In seinen Händen hielt er einen länglichen Gegenstand dicht an den Körper gepreßt. Annick stieß DeHaney in die Seite.
»Jim, dort drüben, das Licht flußabwärts! Siehst du es?« Er konnte nicht sofort erkennen, was sie meinte. Im Norden standen ebenso viele Sterne am Horizont wie in jeder anderen Himmelsrichtung. Erst als er dem Flußlauf entlangblickte, sah er es. Ein heller gelber Fleck, der mit großer Geschwindigkeit näher kam. Ein Motorboot mit einem Suchscheinwerfer vielleicht, schoß es ihm durch den Kopf, aber selbst dafür wäre das Phänomen zu schnell gewesen. Plötzlich erschienen kurz dahinter weitere von diesen Lichtflecken. Es schien, als ob Sterne vom Himmel fielen und in koordinierten Bahnen auf das Geschehen unten am Nilufer zurasten. »Da, flußaufwärts kommen noch mehr!« Sie erschienen überall, in allen Farben. DeHaney zuckte erschrocken zusammen, als dicht über ihm ein heller orangefarbener Fleck aus dem Nichts materialisierte und sich sofort auf den Weg nach unten zum Ufer machte. Auch zwischen den Pyramiden blitzten die farbigen Lichter auf, wuchsen augenblicklich in ihrer Helligkeit zu strahlenden Leuchtkugeln und flogen über den Köpfen der Ongennen hinunter zum Flußufer. Über der Wasseroberfläche formierten sie sich zu einem wirbelnden Kreisel, stoben auseinander und blieben in einem weiten und exakten Rechteck in der Luft stehen und beleuchteten mit grellem, gebündeltem Licht eine gespenstische Szene. Zahlreiche Flöße, bepackt mit Menschen. Sie suchten Schutz vor dem entblößenden Schein, brachen in Panik aus und versuchten mit Hilfe von primitiven Rudern oder Stangen ins schützende Dunkel zu entkommen.
Ein peitschender Knall war zu hören, gefolgt von einer ganzen Salve. »Gewehre. Die Ongennen haben Gewehre. Sie metzeln die Eindringlinge nieder. Die Gegner sind ihnen wehrlos ausgeliefert. In dem Licht sitzen sie in ihren Booten wie auf einem Präsentierteller.« Auf dem Fluß herrschte nun der blanke Horror. Als die ersten der vermeintlichen Invasoren auf den primitiven Flößen blutüberströmt zusammensackten, versuchten die Überlebenden ihr Heil mit einem Sprung ins Wasser. Aber selbst dort waren ihre wippenden Köpfe im Licht der hell strahlenden Leuchtkugeln gut auszumachen. Die Flußmitte glich nun einem überfülltem Aquarium mit zappelnden Fischen. Unvermittelt folgten die nächsten Salven. »Das ist brutaler Massenmord!« flüsterte Annick Denny. DeHaney antwortete nicht, aber auch er war mit Entsetzen erfüllt. Fassungslos starrte er auf das Szenarium, das in der Strömung langsam aus ihrem Blickfeld trieb. Einige der Ongennen blieben etwas zurück und schossen auf jede Bewegung im Wasser, die in Ufernähe auszumachen war. »Wenn die Nachhut der Ongennen da unten noch ein Stück weiter weg ist, hauen wir ab«, sagte er mit leiser Stimme. »Aber mit äußerster Vorsicht, vielleicht haben die hier oben ebenfalls Leute stehen, und ich glaube nicht, daß sie einen Unterschied zwischen diesen Flußmenschen und uns machen werden.« Sie warteten noch eine Weile, bis das leuchtende Viereck sich weiter flussabwärts entfernt hatte und stiegen dann leise aus dem Becken. Sie rafften ihre Kleider zusammen, zogen sich an und schlichen geduckt um die Sphinx herum.
Der Weg bis zur nordöstlichen Kante der Pyramide war frei. »Sie scheinen sich sehr sicher zu sein, daß niemand das Massaker überlebt und es weiter schafft, als bis zum Ufer. Wahrscheinlich machen die Ongennen das nicht zum ersten Mal«, meinte er, als sie die schützenden Palmenreihen erreicht hatten. »Ehrlich gesagt jagen mir diese mysteriösen Leuchtbälle mehr Angst ein als ein schießwütiger Ongenne. Sie können fliegen und bewegen sich dabei vollkommen lautlos. Was kann das sein?« Ihre Stimme zitterte. »Keine Ahnung. Vielleicht irgendein Spielzeug aus der Trickkiste unseres unbekannten Herrschers. Während des Zweiten Weltkriegs hat man solche Leuchterscheinungen Foo Fighters oder Ghost Rockets genannt, auch unseren Kollegen von der NASA sind sie schon öfters im Orbit begegnet. Angeblich sollen sie harmlos sein.« »Harmlos? Ich bitte dich, diese harmlosen Lichter haben ganz gezielt die Leute auf den Flößen angestrahlt. Für mich sind das hochmoderne Kriegsgeräte, die gegen primitive Menschen eingesetzt werden.« »Hm … ja schon«, grübelte er. »Ich denke, wir sollten nicht vergessen, was Steinvogel gesagt hat: Hier herrschen kriegsähnliche Zustände.« Nachdenklich und ohne ein weiteres Wort über die schrecklichen Ereignisse zu verlieren, erreichten sie unbehelligt das Zelt. DeHaney blickt noch einmal kurz in die Runde, bevor er durch die Plane schlüpfte. Unverändert standen die Sterne am Firmament und zauberten fahle Konturen in die friedlich scheinende Umgebung.
Die Luft schmeckte nun feuchter und am südlichen Horizont glomm ein fernes Wetterleuchten auf den heraufziehenden Wolkenformationen. Ein Gewitter kündigte sich an.
25. Kapitel Die Datenflut ebbte ab, als eine unvorstellbare Anzahl von Nanomaschinen in Stellung gegangen war. Wie ein materieloser Nebel hatten sich die unsichtbaren Teilchen auf ihr neu bestimmtes Operationsgebiet heruntergesenkt und warteten auf ihren Einsatz. Letzte Bestätigungen folgten auf letzte Befehle. Ausgleichende Informationen wurden zwischen den bereits vor Ort agierenden Strukturen und den Neuankömmlingen ausgetauscht. Danach erfolgten Überprüfungen und Korrekturen. Eine kurze Verzögerung wegen nötigen Neuproduktionen trat ein, ohne jedoch den Zeitablauf des Auftrags zu gefährden. Die Wogen des informativen Photonenmeers glätteten sich, und in dem eigenständigen Universum breitete sich Stille aus. Die letzte Aktivität war ein verabredeter Impuls an den Regenten des Nano-Staates, mit dem die Bereitschaft der unzähligen Untertanen signalisiert wurde. Nachdem sie von DeHaney und Annick Denny noch in der gleichen Nacht von den Geschehnissen am Nil unterrichtet worden waren, waren alle hellwach. Im dunklen Gemeinschaftsraum, der nur von einer kleinen flackernden Fackel beleuchtet war, erzählten die beiden von ihrem abenteuerlichen Ausflug, wobei sie das nächtliche Bad wohlweislich verschwiegen.
Neugierig geworden waren sie anschließend gemeinsam vor das Zelt gegangen, um den seltenen Sternenhimmel zu bewundern. Bei dem Anblick war es schwierig für sie, sich die blutige Abwehr der vermeintlichen Eindringlinge vor Augen zu halten. »Direkt unheimlich, diese Ruhe«, murmelte Cochran und sah zu dem Platz hinab, wo tagsüber ein reges Treiben herrschte. »Normalerweise sind dort unten auch nachts immer einige Leute unterwegs. Ich muß euren Mut bewundern. Selbst wenn Hilary dabei gewesen wäre, ich hätte mich nie runter zum Nilufer getraut.« Annick Denny übersah die Anspielung und auch den warnenden Zischlaut, mit dem Hilary Cochran ihren Mann bedachte. »Es war reine Neugier von mir«, versuchte sie abzulenken. »Ich wollte den Orion sehen. Von hier aus ist das Sternbild von den Palmen verdeckt.« Sie schaute mit unbeteiligtem Blick nach oben. Die Palmwedel begannen sich plötzlich heftig zu bewegen. Wind kam auf. Das Gewitter zog von Südosten herauf. »Ein phantastisches Bild«, meinte Cochran, als der Horizont hinter den Pyramiden hell erleuchtet wurde und den Schattenriss der Bauwerke für Sekundenbruchteile auf seine Netzhaut brannte und ein Negativbild zurückließ. Sie standen noch eine Weile schweigend auf dem Plateau. Als schließlich stürmischer Wind aufkam, flüchteten sie zurück ins Zelt. Wenig später war das dumpfe Prasseln von Regentropfen auf dem Dach zu hören.
Sie hatten alle nicht viel Schlaf gefunden in dieser Nacht. Der Regen war zu einem gleichförmigen Dröhnen angewachsen und immer wieder blähten Windböen die starken Zeltwände auf. DeHaney erwachte in Abständen aus einem unruhigen Schlaf. Nicht nur wegen des stürmischen Wetters, sondern auch weil seine Gedanken bei den Erlebnissen am Nilufer hängenblieben. Als dann zu früher Morgenstunde Annick zu ihm unter die derbe Decke kroch, war an Schlaf nicht mehr zu denken. »Ist doch gleichgültig, was die anderen denken«, hatte sie schlaftrunken geflüstert, als er leise protestieren wollte. »Halt mich lieber ganz fest in deinen Armen.« Es war ihm unverständlich, daß sie gleich wieder einschlafen konnte. Schon allein wegen der Enge auf der schmalen Pritsche. Wenig später konnte er seinen rechten Arm kaum mehr bewegen, auf dem sie ihren Kopf gebettet hatte. Alle Versuche eine halbwegs angenehme Position zu erkämpfen, scheiterten an ihren gemurmelten Widersprüchen und an der unbequemen Konstruktion der Liege. Wenigstens konnte er nach einer Weile seinen Arm vorsichtig unter ihrem Kopf hervorziehen. Er winkelte ihn an seinen Körper an und verbrachte die verbleibende Zeit bis zum Morgen auf dem Rücken liegend. Kaum war die Dämmerung einem grauen Licht gewichen, das durch die luftigen Öffnungen am Oberteil des Zeltes den Raum einigermaßen erhellte, da schlug plötzlich Steinvogel in Begleitung von zwei Ongennen die Plane am Eingang des Raumes zurück. »Meine Herrschaften, ich bitte Sie darum, sofort aufzuste-
hen! Eine Menge Arbeit erwartet uns!« Verschlafenes und fragendes Gemurmel war die Antwort, bis sich alle endlich auf ihren Pritschen in eine sitzende Position erhoben hatten. Hilary Cochran brummelte ein verärgertes ›Guten Morgen, Herr Steinvogel‹ und fuhr sich durch die Haare. Unbeeindruckt von ihrer spitzen Bemerkung fuhr Steinvogel fort: »Ich hatte Ihnen ja bereits angekündigt, daß Sie ab sofort für die Arbeiten an der Pyramide eingesetzt werden. Der Sturm heute nacht …« Sein Blick blieb an DeHaney und Annick Denny hängen. Von den Ongennen hinter ihm war ein unterdrücktes Gekicher zu hören. Dann konnten sie sich nicht mehr halten und verfielen in ein lautes Lachen. Jetzt richteten sich alle Blicke erstaunt auf DeHaney und Annick Denny, die sichtlich verlegen Seite an Seite auf ihrer Liege saßen. Über das ansonsten versteinerte Gesicht Steinvogels huschte so etwas wie ein wissendes Lächeln. »Respekt, Sie beide haben sehr schnell herausgefunden, wo sich hier in der Nacht vornehmlich Liebespaare tummeln. Ich kann aber mit Sicherheit davon ausgehen, daß Sie in Zukunft auch den zweiten Schritt vollziehen und sich danach gründlich säubern werden.« Verständnislos hatten alle zuerst Steinvogel zugehört und sahen dann wieder zu dem Amerikaner und der Französin. Janine räusperte sich und sagte dann vorsichtig zurückhaltend: »Ich weiß ja nicht, wo ihr euch getummelt habt, aber ihr seht aus, als wäret ihr in einen Farbtopf gefallen. Eure Gesichter
sind ganz grün.« Erschrocken blickten sich die beiden an. Und brachen dann ebenfalls in schallendes Gelächter aus, als sie in das grasgrüne Gesicht ihres Gegenübers sahen. Ebenso schnell wie sie in Heiterkeit verfallen waren, verging ihnen auch gleich das Lachen, als ihnen bewußt wurde, daß der grüne Farbton vielleicht schädlich sein könnte. »Ich kann Sie beruhigen«, sagte Steinvogel, der anscheinend ihre Gedanken gelesen hatte, mit ernster Miene. »Unter der Dusche gründlich abschrubben, und Sie sind wieder so rein wie zuvor. Das Iferte im Becken der Sphinx ist nicht schädlich, wobei ich einmal davon ausgehe, daß Sie nicht im Verteilerbekken in der Königskammer gebadet haben. Allerdings schreibt man dem Öl eine gewisse Stimulanz für … nun, Sie wissen schon, was ich meine.« Er wandte sich kurz den beiden Ongennen zu, die sich daraufhin bemühten, ihr Grinsen einzustellen. »Troigamer und Choches werden Ihnen Ihre zukünftigen Arbeits- und Schlafplätze zeigen. Wie ich eben gerade andeuten wollte, hat der Sturm heute nacht erhebliche Schäden vor allem oben an der Baustelle verursacht. Wir brauchen jede Arbeitskraft, die wir aufbringen können.« Er machte kehrt und wandte sich der Tür zu, blieb aber kurz davor stehen. »Übrigens, ich hätte gerne mit Ihnen unter vier Augen gesprochen, Herr Kapitän. Wenn Sie bitte nach Ihrer Säuberung zu mir kommen würden. Nach oben, in den ersten flachen Bau gleich hinter dem Zelt.« Er legte die Hände auf den Rücken, nickte allen kurz zu und verschwand ohne jeden weiteren Kommentar.
DeHaney machte sich mit gemischten Gefühlen auf den Weg zu dem von Steinvogel beschriebenen Bau. Wenn er von seinem nächtlichen Ausflug mit Annick absah, bewegte er sich zum ersten Mal frei auf dem Gelände und konnte nun ungehindert in alle Himmelsrichtungen blicken. Bisher kannte er lediglich die kleine Terrasse, die südlich an das Lazarettzelt anschloß, das östliche Panorama mit den Pyramiden und die kleine Stadt aus Zelten, die unmittelbar unter der Terrasse lag. Ein gleichmäßiger Nieselregen hatte die heftigen Gewitterschauer in der Nacht abgelöst, und die Lufttemperatur war nun deutlich geringer als in der Nacht zuvor. Er zog seinen unförmigen Hut tiefer in die Stirn und ging um das Zelt herum. In einiger Entfernung sah er einen weißen Flachbau durch die dichten Palmenreihen schimmern. Nicht weit dahinter befand sich ein ähnliches Gebäude, allerdings überragte es den kleinen Bungalow um einiges. Sogar der obere Teil war über den Palmenwipfeln noch zu sehen. Das mußte der Hangar sein, in dem die Cochrans und Janine mit MARTHA angekommen waren. Seitdem waren noch nicht einmal fünf Wochen vergangen. Erstaunlich, wie schnell man sich an andere Umstände gewöhnte. Umstände. Er lachte bitter auf, als ihm das Wort in den Sinn kam. Eine sehr harmlose Umschreibung für die katastrophale Situation, in der sie nun lebten. Besonders die Ereignisse in der letzten Nacht hatten gezeigt, daß dieses Abenteuer mehr als nur harmlos war. Was konnte Steinvogel von ihm wollen? Cochran und die anderen hatten ihn fragend angesehen, als
ihn Steinvogel um die Unterredung gebeten hatte, aber er konnte nur ratlos die Achseln zucken. Wenigstens hatte ihn keiner mehr nach den näheren Umständen mit der grünen Farbe gefragt oder anstößige Bemerkungen gemacht. Er betrachtete seine Hände. Sie schimmerten immer noch in einem hellgrünen Glanz, trotz intensiven Schrubbens mit einer groben Bürste. Annick hatte aus einer Trotzreaktion heraus ihre Haare nicht gewaschen und lief nun mit einer lockigen grünen Mähne herum. In Begleitung eines Ongennen hatte sie kurz vor ihm zusammen mit Schweighart, der nach wie vor ebenso trotzig seinen roten Overall trug, das Zelt verlassen und ihn dabei forsch angegrinst. Mit dem komplementären Aussehen schienen die beiden wie aus einem Comicfilm entsprungen. Annick. Was für eine leidenschaftliche Frau! Ein sehnsüchtiger Schauer lief ihm über den Rücken. Wieso war sie ihm nicht schon früher begegnet, in einer normalen Zeit? Mit einem Kopfschütteln vertrieb er die Gedanken. Er mußte einen klaren Kopf haben, wenn er mit Steinvogel sprach. Als er auf den Bungalow zuging, fiel ihm auf, daß Fenster oder irgendwelche Öffnungen fehlten. Auch eine Tür war nirgendwo zu entdecken. Skeptisch umrundete er den flachen Bau, bis er vor einem magentafarbenen Rechteck in die Wand stand. Er trat näher heran. Cochran war damals einfach durch die Schicht hindurch gegangen. DeHaney traute dem Frieden jedoch nicht und versuchte, die Schicht mit dem Zeigefinger zu durchstoßen. »Sie können getrost hindurchgehen!« sagte Steinvogels
Stimme aus dem Innern. Erschrocken prallte er zurück. Seine Sinne waren ganz auf die farbige Schicht konzentriert gewesen. Er atmete tief ein und ging durch das Rechteck. Es war nichts zu spüren. Keine Haftung, kein irisierendes Flimmern oder dergleichen. Erstaunt blickte er zurück. Man konnte ganz deutlich die Umgebung von draußen sehen. »Warum die Umstände?« fragte er und bemühte sich mit zugekniffenen Augen irgendein Anzeichen der Schicht zu erkennen. »Was meinen Sie damit?« DeHaney drehte sich um. Der Raum, in dem ihn Steinvogel empfing, schien einiges an Überraschungen zu bieten. Das gedämpfte Licht von draußen drang ungehindert durch die südliche Wand herein und erweckte den Eindruck, als wäre der Bungalow nach einer Seite offen. Daneben entpuppte sich der Raum als eine Art Konstruktionsbüro mit integrierter Werkstatt. Überall hingen Zeichnungen an den Wänden, während auf mehreren großen Tischen Werkzeuge für alle Anwendungen und in unterschiedlichsten Formen herumlagen. Daneben häuften sich Materialien und undeutbare Gegenstände. Eigentlich stellte der Raum eine einzige große Unordnung dar. »Warum machen Sie sich die Umstände, Steinquader mit zwar wirksamen, aber primitiven Mitteln zu bewegen, wenn Sie doch augenscheinlich über eine sehr viel fortgeschrittenere Technik verfügen.« Er deutete auf die Fenster und die Einrichtung. »Ganz zu schweigen von dem riesigen – ja, wie nennen Sie es? – Fluggerät, das über erstaunliche Eigenschaften verfügt.« Steinvogel neigte den Kopf zur Seite und schaute zur Decke,
als müßte er über die Bedeutung von DeHaneys Worten nachdenken. »Sie meinen den Volanten.« »Meinetwegen. Wenn Sie ihn so bezeichnen wollen.« Er hatte das Wort noch nie gehört. »Warum laden Sie die Steine nicht einfach in den … Volanten und fliegen sie hinauf auf die Pyramide?« Immer noch verharrte Steinvogel in der gleichen Stellung, nur seine Augen richteten sich auf den Commander. »Dazu fehlt es an den nötigen Kraftquellen. Diejenigen, die noch zur Verfügung stehen sind voll ausgelastet und werden für andere Unternehmungen gebraucht. Leider stehen nicht mehr sehr viele zur Verfügung.« Er sprach sehr langsam und deutlich. Man sah ihm an, daß er in seinem Wortschatz nach den englischen Ausdrücken suchen mußte. »Ich verstehe«, sagte DeHaney. In Wahrheit verstand er gar nichts. Er überlegte, ob er versuchen sollte, Steinvogel weitere Informationen aus der Nase zu ziehen. Manchmal schien der Mann recht zugänglich zu sein, aber DeHaney konnte ihn absolut nicht einschätzen. Er beschloß daher, nicht allzu forsch mit seinen Fragen vorzugehen und sah sich weiter in dem Raum um. Als er näher an die Zeichnungen herantrat, verblaßten sie vor seinen Augen. Erst jetzt bemerkte er, daß sie nicht real gewesen waren, sondern Projektionen. Oder die Wand war ein einziger großer Monitor. Dieser alte Fuchs, dachte er. Natürlich läßt er sich nicht in die Karten sehen. Und mit moderner Technik kann er auch umgehen. Ganz so unbedarft war er also nicht, wie er manchmal vorgab zu sein.
DeHaney verbiss sich einen Kommentar wegen der Zeichnungen und wandte sich wieder Steinvogel zu. »Sie wollten mich sprechen?« fragte er knapp. »Richtig, Herr Kapitän. Hier bitte, setzen Sie sich doch!« In Steinvogel kam wieder Leben. Er deutete auf zwei grobe Stühle, die an einem der großflächigen Tische standen. »Einen Kaffee? Oder lieber Tee?« DeHaney wollte gerade Platz nehmen, jetzt hielt er überrascht in seiner Bewegung inne. »Sie haben Kaffee?« fragte er ungläubig. »Auch Sekt oder Wein. Zugegebenermaßen Erzeugnisse aus der Zukunft. Stammen aus den … äh … der Volant hat sie besorgt.« »Ich bin ein sehr neugieriger Mensch, Mr. Steinvogel.« DeHaney bemühte sich geduldig zu bleiben. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir etwas mehr über den mysteriösen Unbekannten zu erzählen? Oder vielleicht wenigstens etwas über …?« Steinvogel unterbrach ihn mit erhobener Hand. »Ich verstehe Ihre Ungeduld, wirklich, glauben Sie es mir, Herr Kapitän. Es ist auch nicht meine Absicht, Sie unnötig im Ungewissen zu lassen. Mir ist die Situation, in der Sie und Ihre Mannschaft sich befinden, nur zu bekannt. Ich habe sie vor gut drei Jahren am eigenen Leibe erfahren und wenn es Ihnen ein Trost ist, ich habe als einziger von vielen überlebt, und mir erging es danach weitaus schlechter als Ihnen. Ich meine damit vor allem in geistiger Hinsicht.« Er holte unter dem Tisch zwei Kaffeetassen und eine Kanne aus Porzellan hervor. Nachdem er dem staunenden Commander unaufgefordert eine Tasse mit
dampfendem Kaffee serviert hatte, sagte er bedauernd: »Ich hoffe, Sie bevorzugen ihn schwarz. Zucker und Milch sind rar.« DeHaney nippte vorsichtig an seiner Tasse. »Ist schon in Ordnung. Ist gut, der Kaffee, danke.« »Ich nehme an, Sie sind der Leiter Ihrer Expedition, deswegen kann ich offen mit Ihnen sprechen.« Er sah ihn fragend an. »Nun ja«, DeHaney wischte sich umständlich den Mund ab, um etwas Zeit zu gewinnen. Anscheinend sah Steinvogel in ihm einen adäquaten Ansprechpartner, dem man vertrauliche Mitteilungen zukommen lassen konnte. Die Chance durfte er nicht ungenutzt verstreichen lassen. »Ja, natürlich, ich bin der Commander, der Kapitän der Expedition«, beeilte er sich zu versichern. Steinvogel nickte zufrieden. »Die Versetzung Ihres Raumschiffes in die Vergangenheit hierher war nicht vorgesehen«, stellte er fest. »Aber dadurch ändert sich nichts an Ihrer persönlichen Lage. Ich habe also die Anweisungen bekommen, Sie und Ihre Mannschaft in die Arbeit einzubinden …« »Von wem erhalten Sie die Anweisungen? Ich meine, wer oder was ist das?« Nach einem Zögern sagte Steinvogel entschlossen: »Belvedere. Er nennt sich Belvedere. Er oder es ist ein Wesen, von dem noch nicht einmal ich Ihnen sagen kann, ob er menschlichen Ursprungs ist. Ich berichtige mich: ob er von der Erde abstammt, obwohl er wie ein Mensch aussieht. Er ist von sehr großer Statur, über 2,20 Meter groß …« DeHaney rechnete schnell um: über sieben Fuß hoch. Ein Riese.
»… schlanker, stolzer Kopf, lange Nase, die Augen sind schmale Schlitze, wulstige Lippen. Er ist keiner mir bekannten Rasse zuzuordnen …« »Der Kopf, der auf der Sphinx dargestellt ist«, sagte DeHaney. Steinvogel stutzte, bis ihm einfiel, wann der Amerikaner die Sphinx gesehen haben könnte. »Richtig. Sie haben ein genaues Abbild der Gesichtszüge von Belvedere gesehen. Im übrigen besitzt er eine hagere Gestalt, nur seine Hüften und der Bauch treten eigentümlich hervor. Seine Erscheinung als Mann ist dadurch nicht besonders attraktiv, eigentlich fast häßlich. Diese äußerlichen Merkmale sind jedoch normalerweise nicht sehr auffällig, denn er trägt meistens weite, fallende Gewänder.« Er unterbrach seine Beschreibung und fuhr mit der Hand über den Tisch. Man sah ihm deutlich an, wieviel Überwindung es ihn kostete, über dieses Wesen zu sprechen. DeHaney vermied jede noch so kleine Bewegung und unterdrückte sein Verlangen, Steinvogel sofort mit weiteren Fragen zu bedrängen. Er spürte, daß sich jetzt die Möglichkeit auftat, wichtige Informationen von dem sonst so verschlossenen kleinen Mann zu erhalten. Die Situation war sehr angespannt. Jede unbedachte Äußerung konnte den Moment kippen. Unschlüssig strich sich Steinvogel über die Stirn. Fast schien es so, als wollte er gleich aufstehen und die Unterredung beenden. Dann blickte er DeHaney jedoch kurz mit einem unsicheren Blick an und sprach weiter. »Belvedere ist vom Charakter her äußerst sensibel, unstetig, unberechenbar. Er liebt Inszenierungen. Er spielt mit den
Menschen. Seine Stellung bei den Ongennen ist einem Gott gleichzusetzen. Das Volk stammt übrigens nicht von hier aus dieser Region. Ich vermute, daß die Leute von ihm hier angesiedelt wurden. Das ist aber vor meiner Zeit geschehen. Nur junge Menschen, nur wenige Frauen. Ähm … Frauen, ein heikles Thema. Belvedere besitzt einen ausgeprägten Sexualtrieb. Die Frauen der Ongennen sind für ihn aus einem mir unbekannten Grund tabu, aber nicht diejenigen aus den Stämmen in der Nachbarschaft. Dort lebt er seinen Trieb aus und wahrscheinlich auch überall sonst auf der Erde.« Er winkte mit der Hand ab, um seine Geringschätzung zu demonstrieren. Für DeHaney war dieses Thema zu speziell. Er wartete aber trotzdem geduldig ab. Steinvogel starrte schweigend auf den Boden. »Wie unterhalten Sie sich mit ihm? Spricht er deutsch?« Er hatte die Frage nach der Sprache mehr scherzhaft gemeint. Zu seiner Überraschung nickte sein Gegenüber. »Er kann sich in allen Sprachen verständigen. Zumindest ist er in der Lage, sehr schnell eine Sprache zu erlernen. Er ist ein Genie. Zudem besitzt er Geräte, die ihm die Beherrschung von einer Sprache erleichtern.« »Wo ist er überhaupt? Dort oben in dem großen Gebäude?« Steinvogel richtete sich auf. DeHaney wußte in diesem Augenblick, daß er heute nicht mehr sehr viel von ihm erfahren würde. »Nein. Ich vermute ihn zur Zeit auf der südlichen Halbkugel der Erde. In der Nähe der Antarktis. Dort lebte sein Volk, bis es zu einer Katastrophe kam. Der Kontinent versank im Meer. Er sucht dort unter anderem nach einem Material oder einem
Element, das er für die von mir bereits erwähnten Kraftquellen benötigt.« »Atlantis?« »Wenn Sie so wollen. Ich nehme an, daß die Legende dort ihren Ursprung hat. Er hat die Katastrophe einmal mit den jetzigen Zuständen auf der Erde in Zusammenhang gebracht, aber ich verstehe nicht viel davon.« Es war Steinvogel anzusehen, daß seine Geduld nun erschöpft war. »Hören Sie, Herr Kapitän, ich sehe Ihre Neugierde ein, aber für heute soll es gut sein. Ich hatte Sie eigentlich aus einem ganz anderen Grund zu mir gebeten. Es betrifft die Ongennen und ihre Handhabung der Waffen, die ihnen Belvedere aus der modernen Welt beschafft hat. Diese Menschen, und zugegebenermaßen auch ich, haben wenig Ahnung davon, wie man richtig damit umzugehen hat. Daher schwebt mir vor, daß Sie die jungen Leute in der Waffentechnik unterrichten und ihnen gleichzeitig etwas Disziplin beibringen.« »Wie kommen Sie auf die Idee, daß ich etwas davon verstehe?« fragte DeHaney erstaunt. »Sie sind doch ein Kapitän, oder nicht? Sie müssen doch über Disziplin wachen und dafür sorgen, daß sie eingehalten wird.« »Ja, natürlich, aber …« Er beschloß, nicht weiter zu widersprechen. Anscheinend sah Steinvogel in ihm einen Kapitän von militärischem Rang, dem der Umgang mit Feuerwaffen selbstverständlich geläufig war, deswegen hatte er DeHaneys Einwand nicht auf den Umgang mit Waffen bezogen. Er überlegte kurz. Es könnte bestimmt vorteilhaft sein, wenn er seinen Rang ausnutzte und dadurch näher an Steinvogel dranbleiben konnte.
»Ja, natürlich, gerne«, beeilte er sich schnell zu berichtigen. »Sehr gut. Ich wußte es.« Steinvogel stand auf. »Wir gehen sofort zum Übungsgelände. Sie glauben gar nicht, wie oft ich Verwundete oder gar Tote unter den Wachmannschaften zu beklagen habe, nur weil diese Dummköpfe mit den Waffen herumspielen.«
26. Kapitel Kohlschovsky war glücklich. Die Knochenbrüche, die er sich bei der Notlandung zugezogen hatte, waren gut verheilt, und seit er wieder ohne Beschwerden gehen konnte, arbeitete er meistens im Kesselraum der Pyramide. In den letzten Wochen hatte er sich immer mehr eingearbeitet und sah sich nun fast schon als ein integriertes Bestandteil des gigantischen Bauwerks. Er wollte es den anderen gegenüber nicht zugeben, aber die Arbeit machte ihm Spaß. Die geniale Lösung des Transportes der Steinquader nach oben zur Spitze der Pyramide hatte seine Begeisterung erweckt. Es war jedesmal ein Erlebnis, wenn die genau abgestimmten Vorgänge in perfekter Präzision abliefen und die grollenden Wassermassen ihre Arbeit aufnahmen. Dabei war es weniger der immer wieder gleichbleibende Ablauf, der ihn erstaunte, sondern vielmehr die ausgeklügelte Technik, mit der die Maschinerie jedesmal reibungslos funktionierte. Auch die Zusammenarbeit mit den Ongennen, die ihn eingewiesen hatten, erwies sich als problemlos. Bald schon war auch die Orientierung in den verwinkelten Gängen für ihn Routine, was lebenswichtig war, denn er stellte fest, daß das geschickt angelegte System für einen Uneingeweihten sehr schnell zur Falle werden konnte, aus der es kein Entrinnen mehr gab, wenn
man nicht in der Lage war, geheime Zeichen zu lesen, die auf versteckte Ausgänge und Türen hinwiesen. Oft führte ihn daher seine Neugierde in die entlegensten Räume, und er kroch in den niedrigsten Gängen herum, wobei ihm seine geringe Körpergröße zugute kam. Seine freie Zeit verbrachte er meistens mit Isel, was ihm häufig eine dumme Bemerkung einbrachte, denn Isel war einen ganzen Kopf größer als er. Trotzdem, Kohlschovsky war rundum zufrieden. Ganz im Gegenteil zu seinen Gefährten, die immer noch versuchten, einen Weg zurück ins 21. Jahrhundert zu finden. Nachdem alle von Steinvogel vor einigen Wochen für verschiedene Aufgaben eingeteilt worden waren, hatten sie sich etwas auseinandergelebt, auch schon allein deswegen, da sie nicht mehr alle am gleichen Ort untergebracht waren. Der Commander lebte auf der anderen Seite der Zeltstadt bei seinen ›Söldnern‹, wie er den wirren Haufen selbst nannte. Die Cochrans waren auf eine Farm einige Kilometer entfernt in die Nähe der Steinbrüche umgezogen. Schweighart wohnte zwar nicht weit entfernt bei den Ongennen, mit denen er oben auf der Baustelle der Pyramide in Schichten arbeitete, trieb sich aber ansonsten überall auf dem Gelände herum, in der Hoffnung, endlich mehr Licht in das Geheimnis des mysteriösen Herrschers zu bringen. Seinen roten Overall hatte er endlich abgelegt und gegen die praktischere Kleidung der Ongennen getauscht. Annick Denny überwachte auf einem ebenen Gelände gleich neben dem Steinbruch die Zusammensetzung und Numerierung der Quader. Sie schaute abends manchmal bei ihm im Lazarettzelt vorbei, in dem er mit Isel einquartiert war, bevor sie
für die Nacht rüber zu DeHaneys Unterkunft ging. Janine kümmerte sich nach wie vor zusammen mit Isel um die Verletzten im Lazarettzelt. Auch Cooper wohnte in dem Zelt, war aber im Grunde genommen für keine Arbeit zu gebrauchen. Er hatte es bisher nicht geschafft, sich von seinem Trauma zu befreien. Die meiste Zeit saß er entweder apathisch in dem großen Raum, wo die verletzten Arbeiter behandelt wurden, oder, wenn das Wetter es erlaubte, auf der Terrasse und starrte einfach vor sich hin. Es war zunehmend schwieriger geworden, mit ihm eine vernünftige Unterhaltung zu führen. Selbst DeHaney, der ihn häufig besuchte, hatte Mühe, ihn in ein halbwegs flüssiges Gespräch zu verwickeln. Nur Janine schien einen Weg zu seinen Gedanken und vor allem zu seinen Gefühlen gefunden zu haben. Sie kümmerte sich mit Affenliebe um ihn, und er suchte seinerseits beinahe krankhaft ihre Nähe. Das Wetter war besser geworden. Der ständige Regen war unregelmäßigen, aber kräftigen Schauern gewichen. Zwischendurch zogen kompakte Wolkenformationen über das Land, die sich mit intensivem Sonnenschein abwechselten. Die Pyramide stand kurz vor der Vollendung, aber wegen des fehlenden Wassers war der Transport der Steinquader an die Spitze ins Stocken geraten. Steinvogel wurde deswegen nervös und orderte zusätzliche Transporte über den Aufzug an der Pyramidenseite an, die die Kapazität jedoch nicht sonderlich erhöhten, da das Hochziehen sehr viel Zeit und zusätzliche Arbeiter als Gegengewicht erforderte. Eine unerklärliche Unruhe lag in der Luft. Kohlschovsky konnte sie förmlich spüren. Zudem waren in den Nächten
seltsame Leuchterscheinungen zu beobachten. Die Außenkanten der Pyramiden begannen sich mit einem verschwommenen Flimmern deutlich in der Dunkelheit abzuheben. Dann wechselte das Leuchten beinahe unmerklich auf die Umgebung über. Als Kohlschovsky das Phänomen zum ersten Mal wahrnahm, dachte er zunächst an eine Überreizung der Netzhaut seiner Augen. In der zweiten Nacht war die Veränderung jedoch deutlich sichtbar. Auch die Ongennen mußten es bemerkt haben, zeigten aber keine Reaktion darauf. Als er Jerzaer, seinen Mitarbeiter im Kesselraum, darauf ansprach, bekam er als Antwort ein verständnisloses Achselzucken. In der vierten Nacht konnte Jerzaer das Ereignis nicht mehr ignorieren, so deutlich traten die weißlichen Konturen nun hervor. Auf Kohlschovskys erneute Frage formte er wortlos und vorsichtig mit den Händen eine Pyramide. Danach fügte er das Zeichen für ›Ankunft‹ hinzu: Beide Hände deuteten mit nach innen gerichteten Handflächen auf einen imaginären Punkt. »Belvedere kommt?« fragte Kohlschovsky nach kurzem Überlegen. Jerzaer verzog augenblicklich das Gesicht und legte erschrocken die Hand über den Mund. »Warum darf ich nicht darüber sprechen?« Der Ongenne gab darauf keine weitere Information mehr preis und wandte sich mit unmißverständlichen Handzeichen verärgert ab. Belvedere kündigt also seine Ankunft mit optischen Spielereien an, dachte Kohlschovsky. Er überlegte, wie lange das Spektakel wohl noch andauern würde. Wahrscheinlich so lange, bis alle die Hosen voll hatten. Auf jeden Fall war es sehr effektiv.
Auch Isel wehrte seine Fragen mit eindeutigen Handzeichen ab. Er konnte die Angst vor dem Bevorstehenden jedoch in ihren Augen ablesen. Am nächsten Morgen traf er auf Schweighart. »Es kündigt sich etwas an, nicht wahr?« fragte er ihn. Der junge Deutsche nickte heftig. »Belvedere. Ich habe von einigen Ongennen erfahren, daß er immer eine ähnliche Show abzieht, bevor er hier ankommt. Dieses Mal ist es aber etwas Besonderes. Das Finale sozusagen.« »Das Finale?« »Die Pyramide ist fast fertig. In zwei Wochen geht die Sonne genau im Frühlingspunkt auf. Im Sternzeichen des Löwen. Die Sphinx blickt genau auf diesen Punkt im Osten. Orion steht im Süden sehr tief. Vielleicht sogar im unteren Kulminationspunkt. Alles hervorragende Anzeichen für ein großes Ereignis. Außerdem packen die Ongennen ihre sieben Sachen.« »Welche Sachen packen sie? Wieso sieben?« Schweighart lächelte hintergründig. »Eine Umschreibung in der deutschen Sprache für die Vorbereitung zu einer Reise.« »Und wie bereiten sie sich vor?« »Nun ja, man merkt es daran, daß sie verschiedene Dinge aussortieren. Nützliche Dinge werden zusammengetragen und in Säcke gepackt, Unwichtiges wird weggeworfen. Außerdem haben sie mit dem Säubern des Geländes begonnen.« Er machte eine Pause. »Das Wrack der Intrepid und alle herumliegenden Teile davon sind schon verschwunden.« »Verschwunden?« Kohlschovsky kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. »So schnell? Wohin denn?«
»Ich habe keine Ahnung. Das Shuttle war über Nacht plötzlich weg. Vielleicht haben sie alles in den Nil geworfen.« Erschüttert blieb Kohlschovsky stehen. Ihm wurde mit einem Male bewußt, daß einschneidende Veränderungen stattfinden würden. Und zwar schon in kurzer Zeit. Natürlich war er sich im klaren darüber gewesen, daß es nicht immer so weitergehen würde, aber im stillen hatte er auf eine andere Lösung gehofft. Das Wrack der Intrepid war für ihn zu einer Art Heiligtum geworden, zu einer Reliquie aus einer verlorenen Zeit. Gleichzeitig war es die Erinnerung an eine gewachsenen Realität. Durch das Verschwinden des Shuttles wurde ein wichtiges Verbindungsstück aus seinem Herzen gerissen. Er schloß mit schnellen Schritten wieder zu Schweighart auf. »Hast du herausfinden können, wohin sie gehen werden?« »Noch nicht. Bisher hüllt sich jeder in geheimnisvolles Schweigen, aber man muß nur lange genug herumfragen. Irgendein kleiner Wichtigtuer kann dann seine Klappe doch nicht halten und steckt dir unter dem Siegel der Verschwiegenheit eine Information zu. Mittlerweile kenne ich einige von der Sorte. Trotzdem können wir nicht allzu lange warten. Zwei Wochen sind schnell vorbei.« »Was hast du vor?« Sie waren inzwischen an dem Aufzug zur Pyramidenspitze angekommen, wo schon einige Ongennen warteten. Schweighart blieb etwas abseits von ihnen stehen. »Wenn ich das wüßte. Ich denke, es wäre gut, wenn wir uns heute abend alle nach der Schicht treffen würden. Hier, an dieser Stelle, kurz vor Sonnenuntergang. Unter freiem Himmel, ich habe da so meine Gründe dafür. Kannst du den anderen
Bescheid sagen?« Kohlschovsky nickte bereitwillig. »Mach ich. Sag mal, die Arbeit dort oben. Ist es hart?« »Mehr noch. Es ist mörderisch. Die Arbeitsfläche ist inzwischen sehr klein geworden und fast jeden Tag ist eine neue Lage fertig. Dann wird es gefährlich wegen der Umbauten. Die Wassersammler müssen höher gesetzt und der Kaminschacht verlängert werden. Gleichzeitig werden von außen die Verkleidungssteine angepaßt und geschliffen. Wir sind zwar alle gesichert, aber das schützt uns nicht vor Verletzungen. Man zieht sich Verbrennungen zu, wenn man das Gleichgewicht verliert und einige Meter an der Wand nach unten rutscht. Von dem Schrecken, der dir in die Glieder fährt, wenn du in die Tiefe stürzt, will ich gar nicht reden. Am häufigsten kommen Quetschungen und Abschürfungen vor, wenn man unfreiwillig mit einem gleitenden Steinquader Bekanntschaft macht. Diese großen Bauklötze besitzen eine unglaubliche Wucht, wenn sie einmal in Bewegung sind.« Vom Aufzug her ertönten laute Rufe. Schweighart winkte Kohlschovsky kurz zu und schloß sich den Ongennen an. Aus der Verabredung am gleichen Abend wurde nichts. Orkanartiger Wind und starke Regenfälle verhinderten jeglichen Aufenthalt im Freien. Auch am nächsten Abend tobten die Naturgewalten noch dermaßen, daß sogar die Bauarbeiten eingestellt werden mußten. Wahre Regenvorhänge zogen immer wieder schubweise über die Pyramiden und machten die Sicht unmöglich. Erst am dritten Tag hatte sich das Wetter soweit beruhigt,
daß an ein Treffen zu denken war. »Warum so geheimnisvoll, junger Freund«, sagte Cochran mit griesgrämigem Gesicht und schlug den Kragen hoch. Nach dem Unwetter hatte ein kalter Wind eingesetzt. »Wir hätten uns auch im Lazarett treffen können. Oder haben Sie Angst, daß uns dort Steinvogel hinter einer Zeltplane versteckt belauschen könnte?« »Nicht unbedingt Steinvogel«, antwortete Schweighart, unbeeindruckt von Cochrans Unfreundlichkeit. »Aber es gibt Anzeichen für weit intensivere Tätigkeiten.« Er wartete schweigend einige Minuten, bis alle eingetroffen waren. Auch Cooper war gekommen. Man sah ihm an, wie sehr er sich quälte. Trotzdem versuchte er konzentriert zu wirken, auch wenn seine fahrigen Handbewegungen ihn Lügen straften. Schweighart umriß zunächst die Informationen, die allen bekannt waren und fügte diejenigen an, die er zusätzlich zusammengetragen hatte. »Das ist ja alles schön und gut«, murrte Cochran. »Aber das wußten wir im Groben schon vorher: Mächtiger Alien läßt die Pyramiden errichten und wird wahrscheinlich in den nächsten Tagen die Bauwerke inspizieren wollen.« »Wir wissen aber immer noch nicht, warum er diesen Aufwand treibt und warum er den Volanten in die Zukunft schickt«, entgegnete Schweighart verärgert. Cochran hob die Schultern. »Wenn Ihre Annahme richtig ist – und daran habe ich keinen Zweifel –, daß in knapp zwei Wochen hier etwas Bedeutendes geschieht, dann werden wir ja sehen, wozu der ganze Aufwand gut war. Ändern können wir daran nichts. Demzufolge sehe ich keinen Sinn in Ihren An-
strengungen, was immer sie auch für fragwürdige Erkenntnisse bringen.« Neben ihm atmete seine Frau tief durch. »Mein Gott, Kenneth, manchmal meine ich, mit einem alten Esel verheiratet zu sein.« Als er sich daraufhin ohne jeden weiteren Kommentar abwandte, ließ sie ihn unbeachtet und fragte Schweighart: »Also, Thomas, was steckt deiner Meinung nach hinter dem Ganzen?« »Ich denke, er plant eine Reise in unsere Zeit. Die Ongennen will er mitnehmen. Und ich meine, wir sollten alles tun, um die Abreise nicht zu verpassen. Ich jedenfalls werde es nicht.« Hilary Cochran sah ihn nachdenklich an. »Nach allem, was uns Jim von seinem Gespräch mit Steinvogel erzählt hat, ist dieser Belvedere ein ziemlich eigensinniger Bursche. Warum sollte er die Ongennen mitnehmen oder gar uns? Er kann sich doch in seinen Volanten setzen und exakt in die Zukunft fliegen, in die er will.« »Kann er anscheinend nicht. Vielleicht ist ein Übergang in die Zukunft etwas komplizierter als der in die Vergangenheit.« »Das könnte möglich sein, vielleicht, ich weiß es nicht. Trotzdem bleibt uns nichts anderes übrig, als auf ihn zu warten und ihn dann zu fragen.« Sie überlegte einen Moment und sagte dann: »Du hast vorhin gewisse Tätigkeiten angesprochen. Was meinst du damit?« »Richtig. Das war eigentlich der Hauptgrund, warum wir uns hier draußen treffen sollten.« Er blickte sich kurz um und deutete auf den Stamm einer Palme gleich neben sich. Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen, und die Umgebung begann in einem geheimnisvollen Glühen zu leuchten.
»Hier, diese Lichter. Habt ihr euch diese Erscheinung schon einmal genauer angesehen? Ich dachte zuerst an Radioaktivität. Aber es ist nichts dergleichen. Es sind mikroskopisch kleine Lichtquellen, die darauf programmiert sind, sich auf einer ganz bestimmten, ihnen zugewiesenen Stelle zu positionieren.« Aus Cochrans Richtung kam so etwas wie ein abfälliges Grunzen. Schweighart ignorierte ihn und strich mit der Hand über den Stamm. Unzählige kleine Lichter wirbelten auf, um gleich darauf eilig wieder ihren angestammten Platz einzunehmen. Er wiederholte den Vorgang und wischte diesmal mit raschen Bewegungen über das Holz. Es vergingen nur wenige Sekunden, bis der Lichterstaub sich wieder formiert hatte. Jetzt wurde auch Cochran aufmerksam und fuhr mit der Hand ebenfalls über den Stamm. »Sehr interessant«, murmelte er. »Vielleicht eine Art magnetische Bindung im Zusammenhang mit pflanzlichen Strukturen«, meinte Annick. »Oder Mikrogravitation.« »Blödsinn«, wies er sie besserwisserisch zurecht. »Bevor ihr zu streiten anfangt, möchte ich euch an andere Phänomene erinnern«, ging Schweighart schnell dazwischen. »Einmal die großen Leuchtbälle, die Annick und Jim beobachtet haben, dann die merkwürdige Verabreichung von Betäubungsmitteln bei der Ankunft. Oder die phantastischen Sauerstofferzeuger unter den Paletten. Das sind alles völlig verschiedenartige Anwendungsbereiche. Und es gibt noch einen weiteren: Hört ihr den leisen tiefen Ton, der seit einigen Stunden unterschwellig in der Luft liegt?«
Janine antwortete als erste, nachdem sie alle in die Stille des Abends hineingelauscht hatten. »Ich habe den ganzen Tag über schon so ein Brummen im Ohr, aber ich hab mir einfach nichts weiter dabei gedacht. Mir ist noch etwas aufgefallen: Irgendwie hat sich auch das Tageslicht verändert, oder liegt das daran, daß jetzt öfter einmal die Sonne scheint?« Mit einem Räuspern meldete sich DeHaney zu Wort. »Die Sache mit dem Tageslicht geht schon länger so. Manchmal wirkt sogar der Regen wie eingefärbt.« »Das stimmt, ist mir auch schon aufgefallen. Ich dachte schon, das liegt an dem Fusel, den Isel mir manchmal aus dem Lazarett mitbringt«, stimmte Kohlschovsky zu. Schweighart nickte zufrieden. Endlich war es ihm gelungen, seine Gefährten ein wenig aus ihrer Lethargie zu reißen. »Ich denke, wir wissen, daß Belvedere dahintersteckt. Er kündigt mit dem Zinnober seine Ankunft an. Das ist aber im Grunde uninteressant. Ich würde gerne wissen, wie er das macht?« »Nanomaschinen«, sagte Cochran trocken. »Oder irgend etwas in dieser Richtung. Unser Alien beherrscht die Technologie von winzig kleinen Strukturen, die ihm alles zusammenbauen können und damit alles Mögliche bewirken können. Wahrscheinlich auch die Synthese von Antimaterie. Wenn man diesen Weg bis zum Ende weiterdenkt, drängt sich förmlich der Casimir-Effekt auf.« DeHaney blies hörbar die Backen auf. »Oh, bitte nicht so schnell! Wenn es geht in einer Form, so daß ein einfacher Raumschiffkommandant auch etwas davon versteht.« »Entschuldige, ich war zu sehr von der Vorstellung fasziniert,
daß so etwas funktionieren könnte, aber es ist die einzige Erklärung, die für die ganzen Vorkommnisse in Frage kommt, einschließlich unserer unfreiwilligen Zeitreise. Im Grunde genommen haben Nanomaschinen nichts mit dem Casimir-Effekt zu tun. Unter Nanomaschinen versteht man Strukturen, die in der Lage sind, im atomaren Bereich gezielte Funktionen auszuüben, ganz gleich, ob im organischen, anorganischen oder meinetwegen auch im physikalisch-mechanischen Sinn. Die Steigerung von Nanomaschinen wären sogenannte Assembler, also richtiggehende Nanocomputer, molekulare Fabriken, die alles herstellen können, auch sich selbst. Das Hauptproblem ist dabei die Kommunikation mit den Maschinen, das heißt, wie oder mit welchem Code bringt man diesen Wunderdingen bei, was man haben will und was sie machen sollen. Offensichtlich ist Belvedere dazu in der Lage. Mit Hilfe von Assemblern könnte man im Vakuum mit der Anwendung des Casimir-Effektes große Mengen negativer Energie herstellen, also Antimaterie. Dadurch öffnen und vergrößern sich Wurmlöcher, oder genauer, eine Passage durch Raum und Zeit. Wenn man diese Passagen auch noch stabilisieren kann und dazu eine Technologie beherrscht, um den ungeheuren Gravitationskräften zu widerstehen, und weiterhin genau bestimmen kann, wo oder wann die Reise durch ein Wurmloch enden soll, dann … ja dann … ich weiß auch nicht. Vielleicht wird dann die Zeit endlich.« Nach seinen Worten beschäftigte sich jeder mit seinen eigenen Gedanken. Nachdenklich beobachteten sie das geheimnisvolle Leuchten, das so etwas wie einen durchsichtigen seidenen Teppich über alles breitete und mit hellen Konturen die For-
men der Umgebung nachzeichnete. Nach einer Weile sagte Kohlschovsky in die Stille hinein: »Wirklich gespenstisch. Es ist auch kein Vogelgezwitscher mehr zu hören.«
27. Kapitel In den folgenden Tagen und Nächten änderte sich nichts an den unheimlichen Vorgängen. Nach kurzen und heftigen Regenfällen wurde es wieder wärmer. Dichte Nebelbänke zogen im Morgengrauen über das Ostufer des Nils heran und hüllten die Pyramiden weit bis in die Mittagsstunden in einen feuchten Schleier, der durch geheimnisvolle Farbeffekte in seidigen Regenbogenfarben glänzte. Am frühen Abend kehrte der Nebel wieder zurück und verstärkte durch seine unzählig feinen Wassertröpfchen die Wirkung der leuchtenden Konturen. Dann begann sich tagsüber allmählich die Sonne durchzusetzen, und die Temperaturen stiegen weiter an. Gleichzeitig wechselte der ständig zu hörende tiefe Ton in eine höhere Oktave. Es war nicht auszumachen, woher er kam. Er lag wie ein dumpfer stetiger Klang in der Luft und begann, sich lästig auf das Hörempfinden auszuwirken. Die Ongennen schienen um seine Bedeutung zu wissen, verweigerten aber jede Auskunft darüber. Steinvogel schien plötzlich an allen Orten gleichzeitig zu sein und trieb vor allem die Arbeiten an der Pyramide voran. Bis zur Fertigstellung fehlten nur noch wenige Lagen. Oben an der Pyramidenspitze konnten wegen des Platzmangels nur wenige Arbeiter eingesetzt werden, trotzdem waren fast keine Ongennen zu sehen. Kohlschovsky berichtete, daß ihm ganze Kolon-
nen auf den schmalen Gängen begegnet waren, konnte aber keine Auskunft darüber geben, wofür die große Anzahl von Ongennen innerhalb des Bauwerks benötigt wurde. Schon vor einigen Tagen waren nur noch einzelne Quader auf den Paletten nach oben gegangen, denn die Arbeitsfläche an der Spitze der Pyramide wurde immer kleiner. Alle Besatzungsmitglieder der Intrepid außer DeHaney wurden schließlich von ihren Aufgaben entbunden und beobachteten nun jeden Abend skeptisch von der Terrasse aus die Veränderungen auf dem Plateau, wo ein Großteil der Zelte eingerissen und abtransportiert wurde. Die Straße, ebenso die Trampelpfade wurden dem Gelände angeglichen, Latrinen und Waschgelegenheiten mit Bauschutt eingeebnet. Bei dem Tempo, in dem die nur noch wenigen Ongennen dort unten arbeiteten, würde es nicht mehr lange dauern, bis alle Spuren einer ehemaligen Siedlung beseitigt waren. »Ich sage euch, das ist alles reine Beschäftigungstherapie«, knurrte Cochran. »Es interessiert doch keinen Menschen, wie es hier aussieht, wenn der ganze Zirkus vorbei ist. Ich verstehe auch nicht, warum Jim immer noch seine Truppen drillt. Es traut sich schon seit Wochen kein Fremder mehr in diese Gegend.« Er bekam keine Antwort von den anderen, die um ihn herumstanden. Niemand hatte eine Erklärung dafür, was um sie herum geschah, außer, daß die Ankunft von Belvedere vorbereitet wurde. Aber was würde nach seinem Erscheinen passieren? »Alles Humbug«, brummte er leise. Es war ihm anzumerken, daß er sich nicht wohl in seiner Haut fühlte. Wenn er ganz ehrlich war, mußte er zugeben, daß er Angst hatte. Alle hatten
Angst. Nicht nur er oder seine Gefährten, auch die Ongennen. Und Steinvogel. Man konnte die Angst förmlich sehen und wahrnehmen. Sie äußerte sich in den Bewegungen, in der schrillen Sprache, an den ungeduldig und fahrig ausgeführten Handzeichen, mit denen sie sich dort unten verständigten. »Auf jeden Fall ist es sehr aufregend«, sagte Annick. »Und ich bin sehr gespannt auf Belvedere.« Cochran antworte mit einem geringschätzigen Zischen. Dann sagte er: »Darauf bin ich nicht im geringsten neugierig. Laut Steinvogel soll er ein recht arroganter Bursche sein. Vielleicht wäre es besser …« Er brach ab und sah seine Frau an. »Im Steinbruch hat uns ein Arbeiter erzählt, daß es im Süden in den Bergen ein Tal gibt, in dem die Lebensbedingungen ganz passabel wären. Hilary und ich haben uns überlegt, ob es nicht besser wäre, dorthin zu verschwinden, bevor hier die Show losgeht.« »Das können wir uns immer noch überlegen«, warf Hilary schnell ein. »Vielleicht gibt es ja doch einen Weg zurück.« »Zurück? Daran glaube ich nicht. Und wenn, dann kommen wir vielleicht in einer falschen Zeit zurück, und ich treffe auf einen zweiten Cochran. Gräßliche Vorstellung.« Er schüttelte sich bei dem Gedanken. »Triffst du nicht. Sonst hättest du dich schon getroffen. Irgendwann in der Vergangenheit. Aber ich muß dir recht geben: Die Vorstellung, daß es zwei von deiner Sorte geben könnte, wäre der reine Horror.« Ihr obligatorisches Lachen klang diesmal unecht. Das nächtliche Herumstreifen war für Schweighart zur Gewohnheit geworden, auch wenn er sich eingestehen mußte, daß
die gewonnenen Erkenntnisse immer rarer wurden. Besonders jetzt, da die Ongennen unruhig waren und sich zum Aufbruch zu einem unbekannten Ziel vorbereiteten, waren die hinter der Hand geflüsterten Informationen gänzlich ausgeblieben. Im Augenblick war er im Zweifel darüber, welchen Sinn es hatte, überhaupt noch irgend etwas erfahren zu wollen. Die Anzeichen für die Ankunft Belvederes waren offensichtlich, und vielleicht wußten nicht einmal die Ongennen, was danach geschehen würde. Gedankenverloren wanderte er durch die seltsam illuminierte Landschaft, die in sanften Farben pulsierte und den Eindruck einer kitschig aufgemachten Postkarte hinterließ. Nichtsdestoweniger war Schweighart gefangen von der zauberhaften Stimmung. Lautlos wirbelten unzählige kleine Lichtpunkte um ihn herum, die durch seine Schritte aus ihrer befohlenen Position gebracht wurden, um sich gleich hinter ihm wieder an ihren angestammten Platz zu setzen. Die Einmaligkeit der Landschaft um ihn herum und die Ungewißheit über den Fortgang seines Lebens schufen eine bedrückende Melancholie, die er aber in gewissem Maße genoß. Wie viele Menschen konnten von sich behaupten, am Fuße der eben gerade fertiggestellten Pyramiden zu wandeln. Viele, sagte er sich, aber wahrscheinlich haben nur wenige sie auch in dem Zustand gesehen, der 10 000 Jahre in der Zukunft lag. Wie betäubt betrachtete er von der Terrasse aus die feinen geraden Linien der drei Pyramiden, die als einzige in einem kräftigen Weiß inmitten der Farbigkeit hervorstachen. Die Cheops-Pyramide war fast vollendet, nur ein einziger Regensammler und ein von unten lächerlich klein wirkendes Gerüst
klebten in der Höhe und verbargen die unfertige Spitze. Daneben, fast ebenso hoch, glänzte eine makellose Chephren-Pyramide, und, etwas versetzt von den beiden großen Monumenten, die mit ihren siebzig Metern fast als Anhängsel erscheinende Mykerinos-Pyramide. Über allem glitzerte ein unnatürlich wirkender Sternenhimmel, der trotz einer Mondsichel im Westen kontrastreich ins Auge stach. Das ruhige und schöne Wetter war ungewöhnlich stabil geblieben in den letzten Tagen. Eine absolute Wohltat nach den ständigen Regenfällen. Als Folge davon schien die Welt ihre Erleichterung darüber in einer einzigen optischen Explosion von unzähligen Blüten aller Arten auszudrücken. Zudem lag ein feuchter und schwerer Geruch in der Luft, eine Mischung aus vergangenem Moder und beginnendem Duft. Zögernd riß sich Schweighart von dem einmaligen Anblick los. Er war müde und beschloß, seine sinnlose Wanderung zu beenden. Vielleicht konnte er seine Unruhe durch ein geduldiges Warten auf einen Schlaf überwinden. Als er einen letzten Blick in die Runde warf, fiel ihm ein rötlicher Schatten auf, der aus der Richtung von Steinvogels Bungalow längs über den Boden lief. Neugierig geworden trat Schweighart einige Schritte zur Seite und spähte hinüber zu dem flachen Bau. Tatsächlich, das in Magenta scheinende Rechteck der Tür war hell erleuchtet, was bedeutete, daß der Eingang offen war. Zum ersten Mal während der Nachtstunden. Bisher war Steinvogel immer nach Einbruch der Dämmerung in seinem Bau verschwunden und war danach bis zum nächsten Tag nicht mehr erschienen.
Schweighart näherte sich dem farbigen Schein mit vorsichtigen Schritten und blieb unschlüssig vor dem Eingang stehen. Er lauschte mit angehaltenem Atem, konnte jedoch kein Geräusch von innen hören. Nach einer Weile trat er mit einem flauen Gefühl im Magen durch die Schicht hindurch. Der Raum war so, wie ihn DeHaney beschrieben hatte. Hell erleuchtet und voller Unordnung. Selbst auf dem Boden lagen Werkzeuge verstreut, dazwischen verschiedenartige Teile, unter ihnen Zahnräder, die auf metallenen Scheiben montiert waren. Er ging langsam in den Raum hinein, stets darauf bedacht, nirgendwo anzustoßen oder ein Geräusch zu verursachen. Steinvogel schien nicht zu Hause zu sein. Die Wände waren kahl. Keine Zeichnungen oder dergleichen. Die Südseite des Bungalows schien offen, obwohl man von draußen auf eine Mauer blickte. Trotz der hellen Beleuchtung im Raum war das nächtliche Panorama deutlich zu erkennen. Schweighart zuckte erschrocken zusammen, als er ein leises Klingen vernahm. Es hörte sich an, wie wenn zwei Gläser ganz sachte aneinander gestoßen wären. Er blickte sich rasch um. Hier im Raum konnte er dem Geräusch nichts zuordnen, was der Auslöser hätte sein können. Doch dann entdeckte er im äußersten hinteren Winkel den Ansatz einer steinernen Treppe, die nach unten führte. Wahrscheinlich der Zugang zu Steinvogels Wohnraum, denn hier oben gab es nichts, was auf eine Schlafstelle oder Kochgelegenheit hinwies. Er sah wachsam nach unten. Sollte er weiter vordringen? Mehr als hinausschmeißen konnte ihn Steinvogel nicht, also,
was sollte ihm schon weiter passieren? »Kommen Sie nur herunter, Herr Schweighart, haben Sie keine Hemmungen!« Abermals fuhr Schweighart erschrocken zusammen. Steinvogel hatte also die ganze Zeit über von seiner Anwesenheit gewußt. Na gut, wenn schon! Nach einem tiefen Durchatmen stieg er die Stufen hinunter. Der Raum war nur etwa halb so groß wie der darüberliegende und anscheinend aus dem Steinplateau herausgehauen worden. Eine einfache Liege aus dem Lazarett stand an der hinteren Stirnseite, dazu ein Tisch und zwei hölzerne Bänke mit Lehnen. Die groben Wänden waren mit bis zur Decke reichenden Regalen zugestellt, die mit Flaschen aller Art gefüllt waren. Rotwein, Weißwein, Sekt, dazwischen Getränke von höherem Prozentgehalt, hauptsächlich die gängigen Whiskysorten des 21. Jahrhunderts. Steinvogel saß auf einer Bank und drehte ein leeres Weinglas zwischen den Händen. Vor ihm standen mehrere Flaschen Rotwein. »Setzen Sie sich doch, Herr Schweighart. Trinken Sie ein Glas Wein mit mir!« Nach seiner Aussprache zu schließen, mußte er schon einiges getrunken haben. Er ließ Schweighart nicht aus den Augen, als dieser sich ihm umständlich gegenübersetzte. »Ich hatte gesehen, daß die Tür offen war und da bin ich …« »Ersparen Sie sich eine Entschuldigung, es ist schon in Ordnung.« Er wirkte nicht unbedingt betrunken, hatte aber gewisse Schwierigkeiten bei der Aussprache der stimmhaften Konsonanten. »Schon in Ordnung. Ich hoffe, Sie mögen Rotwein. Ein
kräftiger Pibarnon aus dem Jahre 1998 vielleicht?« Bei der Nennung der Jahreszahl lächelte er belustigt. Dann holte er mit einer schwungvollen Bewegung ein zweites Glas aus dem Regal, schob es vorsichtig über die holprige Oberfläche des Tisches Schweighart zu. »Jetzt ist es an der Zeit zu feiern. Drei lange Jahre und jetzt eine Woche nur feiern.« Wieder drehte er sein Glas in den Händen. Angesichts der Regale, in denen nicht nur volle Flaschen standen, hatte Schweighart den Eindruck, daß der kleine Mann nicht nur heute feierte, aber diese Angewohnheit kam ihm sehr gelegen. Er griff zur Flasche und füllte Steinvogels Glas. Anschließend gönnte er sich ebenfalls etwas Rotwein, der erste seit gut einem halben Jahr. »Nur ein bißchen, nur ein bißchen!« sagte Steinvogel, akzeptierte aber bereitwillig das volle Glas. »Sie sind also schon seit drei Jahren hier«, stellte Schweighart fest. »Darf ich fragen, aus welchem Jahr Sie hierher entführt wurden?« »Dürfen Sie, Landsmann, dürfen Sie. Aus dem Jahr des Aufbruchs. 1924. In der Nacht zum 23. Juli 1924. Direkt im Anschluß nach einem reizenden Besuch in einem Biergarten in Kochel am See. Auf geradem Weg hierher in den Regen und die Tristesse.« »Wieso gerade Sie? Ich meine, warum wurden Sie ausgewählt?« »Roulette, Glücksspiel, Sie können es nennen wie Sie wollen. Mit mir befanden sich etwa dreißig Passagiere in dem Volanten. Ich bin als einziger übrig geblieben. Rien ne va plus.«
Steinvogel war anscheinend in der Stimmung, über alles bereitwillig Auskunft zu geben, und Schweighart widerstand fürs erste der Versuchung, ihn mit Fragen zu überhäufen. Er entschied sich zunächst dafür, ihn einfach über sich selbst etwas erzählen zu lassen. »Sie sind Uhrmacher. Was hat ein Uhrmacher mit dem Bau einer Pyramide zu tun?« fragte er wie beiläufig. »Uhrmacher, ja, früher einmal. Zuletzt habe ich Musikmaschinen entworfen und gebaut.« Er verschluckte sich an einem hastigen Zug aus seinem Glas und deutete gleichzeitig mit dem Finger auf das Regal hinter Schweighart. »Hier sehen Sie. Ich zeige Ihnen etwas. Nehmen Sie es herunter! Da oben, das, was unter dem Tuch steckt. Aber vorsichtig, es ist sehr empfindlich!« Schweighart mußte aufstehen, um den kastenähnlichen Gegenstand von der Größe eines hochgestellten Schuhkartons sicher mit beiden Händen auf den Tisch stellen zu können. Auf Steinvogels Aufforderung hin zog er das Tuch herunter und das Modell einer mechanischen Musikmaschine kam zum Vorschein. Es sah aus wie ein kleines Klavier mit einem mächtigen Aufsatz, der mit Schnitzereien und farbigen Verzierungen geschmückt war. Durch winzige Fensterschlitze konnte man im Innern der Maschine feine Schläuche erkennen. Steinvogels Augen glänzten vor Stolz und den Auswirkungen des Rotweins. »Eine Hupfeld-Phonoliszt-Violina, ein Klavier mit drei Geigen, die von einem umlaufenden Kreisbogen mit über tausend tangential gespannten Roßhaaren bespielt werden. Zu meiner Zeit hat man die ›Hupfeld-Geige‹ als achtes Weltwunder bezeichnet. Ich habe sie in den letzten Jahren in meiner
Freizeit originalgetreu nachgebaut. Und sie funktioniert! Die Blasebälge, die alles steuern, werden mit Hilfe einer kleinen Kraftquelle angetrieben. Achtung! Ich schalte sie jetzt ein.« Er drehte an einem Knebelschalter an der Seite des Modells, das augenblicklich mit asthmatischen Geräuschen zum Leben erwachte. »Sie ist jetzt bereit. Was möchten Sie hören? Es gibt verschiedene Lochstreifen zur Auswahl.« Er zog kleine Rollen aus der Seite der Maschine und legte sie vor Schweighart auf den Tisch. Schweighart versuchte, sich zu entspannen. Obwohl ihm im Augenblick nicht danach war, einem antiquierten Musikstück zu lauschen, gab er Interesse vor und entzifferte die Titel, die auf den winzigen Rollen standen. Schließlich wählte er das Ave Maria von Johann Sebastian Bach. »Hervorragende Wahl. Sehr schön, die Vorstellung wird sogleich beginnen, mein Herr«, kündigte Steinvogel an, nahm vorsichtig die Rolle vom Tisch und legte sie in das Modell ein. Dann schob er einen kleinen Hebel in Stellung, lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und schloß die Augen. Gleich darauf erwachte das filigrane Maschinchen mit einem leisen Surren zum Leben, um das Musikstück zum Besten zu geben. Trotz seiner Ungeduld war Schweighart erstaunt über die exakte und taktgenaue Wiedergabe des Liedes, auch wenn die Geigen etwas schrill klangen und das kleine Klavier einen blechernen Unterton erzeugte. Widerstrebend ließ er die Vorführung einige Minuten über sich ergehen, dann wurde es ihm zu bunt. Kurz entschlossen schaltete er die Maschine aus und stellte das Gerät wieder ins Regal zurück.
»Also Uhrmacher und Konstrukteur von Musikmaschinen. Was haben die Berufe mit dem Bau von Pyramiden zu schaffen?« Steinvogel, der etwas verärgert zugesehen hatte, wie seine Maschine wieder im Regal verschwand, nahm sein Glas in die Hand und lehnte sich mit einem überlegenen Lächeln zurück. »Die Pyramide, ja. Eine Herausforderung für die Ingenieurskunst.« Er schnalzte mit der Zunge. »Ein feinmechanisches Werk von gigantischer Größe. Natürlich lagen die meisten Pläne schon vor, aber ich habe sie verbessert, ich habe sie mit Feinschliff und Reife versehen. Fürwahr.« Seine Stimme klang wehmütig und müde. Schweighart befürchtete, daß er gleich einschlafen könnte, und fragte schnell: »Sie haben erwähnt, daß die Pyramide eine Art Zeitmaschine darstellt. Wie ist das zu verstehen?« Mit einem Ruck beugte sich Steinvogel wieder nach vorne und füllte erneut sein Glas. »Belvedere will in Ihre Zukunft, Herr Schweighart. Dorthin, wo Sie hergekommen sind. Er wird sich in den Volanten begeben, der bereits tief unter der Pyramide installiert wurde und dort mittels eines vieltausendjährigen Schlafs in Ihre Zukunft reisen.« Verblüfft sah Schweighart in Steinvogels Gesicht, in dem sich ein kleines Lächeln andeutete. »Schlafen? Sie meinen Hibernation? Ein künstlicher Tiefschlaf über eine Zeit von 10 000 Jahren? Wieso das denn? Er könnte doch mit dem Volanten die Zeit viel einfacher überwinden.« »Davon verstehe ich nichts«, meinte Steinvogel und schwenkte den Wein in seinem Glas. »Ich weiß nur soviel, daß
sich die Zukunft sehr schnell verzweigt, etwa wie die Äste eines Baumes. Zum Stamm, also zur Vergangenheit, gelangt man immer wieder, aber wenn man nach oben klettert, hat man viele Wege zur Auswahl. Belvedere will auf einen ganz besonderen Ast, eben auf denjenigen, auf dem Sie noch vor Kurzem gesessen haben, Herr Schweighart.« »Aber das ist doch …« Schweighart schlug sich auf die Schenkel und verschränkte mit einer nachdenklichen Bewegung die Arme. Tausende von Fragen schossen ihm durch den Kopf. »Das ist doch Blödsinn«, sprudelte er hervor. »Der Volant war schließlich in unserer Zeit. Sogar mehrmals …« »Er ist genau auf demselben Weg dorthin gelangt. Er wurde zur Erforschung Ihrer Zeit unter der Pyramide installiert, hat anschließend die Jahrtausende überdauert und ist dann zum ›Zeitstamm‹ zurückgekehrt. Und das mehrmals. Wenn Sie so wollen hat die Maschine inzwischen zigtausend Jahre auf dem Buckel …« »Das ist unmöglich«, fuhr Schweighart dazwischen. »Schon bei einer einzigen sogenannten Zeitreise müßte es zwei Volanten geben: einen unter der Pyramide und einen der gerade zurückgekehrt ist …« »Jaja, sehr schlau, mein Freund«, kicherte Steinvogel mit einem Lallen. »Aber Belvedere ist schlauer«, lallte er. »Er hat den Volanten jedesmal um einige Sekunden, nein, Bruchteile von Sekunden in die Zukunft versetzt. Ein bißchen in der Zukunft macht nichts aus. Bleibt fast die gleiche Zeit, sag ich. Ist nur ein ganz klein wenig gemogelt.« Unvorstellbar. Schweighart versuchte, diese ungeheuerlichen Informationen zu verarbeiten. Gleichzeitig überlegte er fieber-
haft, welche Fragen er als nächste stellen sollte, denn lange würde Steinvogel das Frage- und Antwortspiel nicht mehr mitmachen. Sein Kopf schwankte vom Alkohol benebelt leicht hin und her, und seine geröteten Augen waren in den letzten Minuten immer kleiner geworden. »Wieso ausgerechnet in meine Zeit? Ich meine, was ist daran so besonders, wieso geht er nicht noch weiter in die Zukunft?« »Schlawiner der, Belvedere ist ein Schlawiner«, amüsierte sich Steinvogel, stützte den Ellenbogen auf den Tisch und fuchtelte mit dem Zeigefinger herum. »Er will in die paradiesische Zeit nach dem schrecklichen Weltkrieg. Furchtbarer Krieg, wirklich furchtbar. War auch dabei. Im Infanterie-Regiment Nr. 78. Im April 1915, Stellungskrieg bei Courcy in Frankreich. Schlimme Sache damals. Aber dann die Zeit ein paar Jahre nach dem Krieg: ein Paradies, wie gesagt. Es ist noch nicht die Zeit, die Belvedere zusagt, sie ist noch nicht gereift, aber Ihre Zeit, Herr Schweighart, so um das Jahr 2000 herum, sie ist für Belvedere genau richtig. Die Menschen in dieser Zeit sind ihm technisch gesehen noch unterlegen, aber weiter in der Zukunft …« Er wedelte warnend mit der Hand und zog die Nase hoch. »Weiter in der Zukunft könnte die Menschheit ihm zu schlau sein, verstehen Sie? Zuviel modernes Zeugs. Vielleicht schon besser als sein Zeugs, oder zumindest ebenbürtig. Da geht er kein Risiko ein, der Schlawiner.« »Wo kommt er überhaupt her? Und wieso heißt er Belvedere? Das ist doch ein zeitgemäßer Name.« »Das ist richtig. Ihm hat der Name gefallen. Die Zukunft, Sie wissen schon. Sein richtiger Name lautet ›Notache Achetaton‹.« Er sah sich suchend um. »Möchten Sie etwas rauchen? Dazu
vielleicht einen Kaffee?« »Wie bitte? Nein … äh … oder doch, ja gerne, warum nicht?« Steinvogel wirkte plötzlich wieder wacher und mimte den aufmerksamen Gastgeber. Er zog hinter den Flaschen eine kleine Kaffeemaschine hervor und hantierte eifrig an dem Gerät. »Bester Kaffee aus Südamerika!« rief er aus. »Dazu eine gute Havanna. Was will man mehr in der heutigen Zeit?« Er stellte die Maschine auf den Tisch und kramte zwei Zigarren hervor. »Ist gleich fertig.« »Wo kriegen Sie denn den Strom für die Maschine her?« fragte Schweighart, als er das herabhängende Kabel sah. »Hier, mit dem da! Kleine Kraftquelle. Hält ein Leben lang. Ist allerdings nicht aus der Zukunft, sondern ist ein Erzeugnis von Belvederes Volk.« Er deutete auf eine kleine runde Kugel, die am Stecker angebracht war. »Weiß übrigens nicht, woher es stammt, dieses Volk, aber ich nehme an, daß es etwas mit der Sage von Atlantis zu tun hat. Hat eine große Katastrophe gegeben am Südpol. Ein ganzer Kontinent ist untergegangen. Belvedere ist der zweitjüngste Abkömmling der damaligen Herrscherfamilie. Eine neunköpfige Familienbrut, aber nicht alle haben das Unheil überlebt. Zwei davon sind vermißt, deswegen ist Belvedere die meiste Zeit dort unten und sucht nach ihnen. Er glaubt, daß sie irgendwo verschüttet auf dem Meeresgrund überlebt haben könnten oder daß er wenigstens die Toten bergen könnte. Völliger Unfug, nach der langen Zeit, aber so ist er nun mal. Seine Schwester, die jüngste der Familie, gehört zu den Vermißten. Er muß sie abgöttisch geliebt haben, aber … wie gesagt, er hat sie bis jetzt nicht gefunden. Einen kleinen
Schuß Schnaps in den Kaffee, der Herr?« »Nein, danke.« Er nahm eine Tasse mit heißem Kaffee entgegen. »Sie sagten, einige haben überlebt. Wo sind die anderen jetzt?« »Zwei davon unter der zweiten großen Pyramide. Sie sind, wenn man es einmal lyrisch ausdrücken will, bereits auf ihrem Weg in die Zukunft. Das ist übrigens ein weiterer Grund, warum Belvedere in genau dieser Zeitlinie bleiben will. Er will sich in der Zukunft wieder mit seiner Familie vereinen.« Schweighart verschluckte sich fast an dem Getränk. »Unter der Chephren-Pyramide liegen Mitglieder dieser Familie? Und was ist mit der kleinen Pyramide?« »Belvedere hat sie für seine Schwester bauen lassen, für den Fall, daß sie doch noch irgendwann den Weg hierher findet. Als Schlafstätte wird der kleine Volant installiert. Unter der Chephren-Pyramide befinden sich die Eltern von Belvedere. Wo die restlichen Überlebenden abgeblieben sind, weiß ich nicht, aber ich denke, daß sie irgendwo auf der Erde unter ähnlichen Monumenten liegen, um sich den Folgen der Klimakatastrophe zu entziehen.« Voller Unruhe stand Schweighart auf. So wie Steinvogel die Situation darstellte, schien eine Rückkehr ins 21. Jahrhundert weitaus komplizierter zu sein, als er es sich bis jetzt vorgestellt hatte. Ein Herrscher-Clan aus Atlantis, der ein Entkommen vor der Katastrophe sucht! Natürlich wußte Belvedere ganz genau, welcher Kollaps dem Planeten für die nächsten Jahrtausende drohte. Die ständigen Regenfälle waren wahrscheinlich im Vergleich dazu harmlose Vorboten. Noch existierten kontinentale Gletschermassen, die sich von den Polen aus weit bis zu den
gemäßigten Breiten erstreckten. Wenn aber diese gewaltigen Mengen gefrorenen Wassers schmolzen, würde es nicht nur bei Regenfällen bleiben. Großflächige Überschwemmungen, Landverschiebungen, Stürme, Orkane, jede nur erdenkliche Form von Klimaveränderungen wären die Folge. »Kommen Sie, Herr Schweighart, rauchen wir eine Zigarre zusammen. Ich habe Sie Ihnen schon vorbereitet!« rief ihm Steinvogel fröhlich zu. Schweighart kehrte zum Tisch zurück und nahm eine bereits angezündete Zigarre entgegen. »Warum dieser immense Aufwand mit dem Bau von Pyramiden? Sie könnten sich doch sonstwo verkriechen, sogar auf dem Mond.« »Ist doch ganz einfach«, sagte Steinvogel aus einer Wolke von beißendem Zigarrenrauch heraus. »Sie wissen, daß es die Pyramiden auch in der Zukunft noch gibt. Was man von dem untergegangenen Kontinent nicht sagen kann.« »Sie haben vorhin erwähnt, daß die Pyramide ein feinmechanisches Werk darstellt, das Sie sogar noch verbessert haben. Wofür braucht eine Pyramide Mechanik?« »O ja – oh, sogar sehr viel davon!« sagte Steinvogel und wedelte den Rauch vor seinem Gesicht beiseite. »Sobald Belvedere in seine Schlafvorrichtung gestiegen ist – diese Vorrichtung ähnelt übrigens einem übergroßen Sarkophag –, aktiviert sich ein Automatismus in der Pyramide. Alle dann noch vorhandenen Gänge werden versperrt oder unzugänglich gemacht. Blöcke verkeilen sich. Gleichzeitig entsteht ein System von neuen Schächten und schmalen Ritzen, die es dem Grundwasser ermöglicht, als Kondensat nach oben zu steigen, denn ohne
Feuchtigkeit wäre das Bauwerk bei künftiger Trockenheit nur noch ein riesiger und stetig vor sich hinbröckelnder Steinhaufen. Weiterhin werden durch einfache Verschiebungen vorbereitete Räume zugänglich, die absolut nichts mit dem ursprünglichen Sinn zu schaffen haben. Unfertige Kammern zum Beispiel, die ausschließlich dem Zweck der Verwirrung dienen. Kurz gesagt, die Pyramide verwandelt sich in eine einzige große Täuschung. In einen Irrgarten, zu einem einzigartigen Gauklerstück.« Er schlug sich vor Begeisterung auf die Schenkel, verschluckte sich am Rauch und kämpfte danach mit einem Hustenanfall. Schweighart wurde von einer seltsamen Beklemmung ergriffen. Von einem Gefühl des Ausgesperrtseins. Wortlos betrachtete er die glimmende Spitze seiner Zigarre. Die entscheidende Frage klebte ihm am Gaumen, er hatte Angst davor, sie auszusprechen, denn er fürchtete sich vor der Antwort. Statt dessen fragte er Steinvogel nach den ungewöhnlichen Erscheinungen, die draußen auf dem Areal vor sich gingen, und erwähnte den Begriff Nanomaschinen. »Nanomaschinen?« Steinvogel sah ihn mit seinen geröteten Augen an. Sein Kopf schwankte leicht hin und her. »Von solchen Maschinen weiß ich nichts, nehme aber an, daß Sie von den Heerscharen sprechen. Eine unermeßliche Machtfülle. Winzige Knechte in großer Zahl, die in der Lage sind, jeden Befehl auszuführen und alle nur erdenklichen Formen annehmen zu können. Mikroskopisch kleine Helfer, die beobachten, hören, vermitteln, sogar heilen, aber auch zerstören. Sie unterstehen ausschließlich dem Befehl von Belvedere. Manchmal darf ich mich eines Teils von ihnen bedienen. Die Handhabung
des Steuergeräts ist jedoch nicht einfach, es erfordert einige Übung und Erfahrung, um damit umgehen zu können. Alles, was Sie im Augenblick da draußen in der Landschaft wahrnehmen, die Farben, die Töne, all das ist das Werk einer unsichtbaren Armee. Belvedere benutzt sie gerne für solche Kinkerlitzchen. Seine bevorstehende Ankunft ist natürlich ein besonderer Anlaß für eine Demonstration. Reine Geschmackssache, aber Sie können sich vorstellen, daß die Ongennen von so etwas sehr beeindruckt sind, um nicht zu sagen, sie machen sich jetzt schon in die Hose.« »Warum arbeiten die Ongennen überhaupt für ihn? Wissen sie denn, daß er sich aus dem Staub machen will?« »Er hat sie aus der Katastrophe des Untergangs errettet und hierher gebracht. Etwa fünftausend von ehemals Millionen. Sie fürchten und verehren ihn. Nach der Fertigstellung der Pyramide werden sie in ein nahes Gebirgstal umsiedeln und zu den Hütern der Pyramiden werden.« »Und Sie, warum machen Sie das alles mit?« Mittlerweile war Steinvogel beim Cognac angekommen. Er ließ die goldene Flüssigkeit unbeholfen in einem übergroßen Schwenker kreisen und roch mit geschlossenen Augen an dem Glas. Seine Zigarre produzierte unterdessen an der Tischkante einen runden und zerbrechlichen Aschenstab. »Na, raten Sie mal, mein junger Herr«, entgegnete er gönnerhaft und tastete nach der Zigarre. »Zum einen blieb mir damals gar nichts anderes übrig, um überleben zu können, und zum anderen werde ich zusammen mit Belvedere in die glorreiche Zeit reisen.« Schweighart hatte so etwas Ähnliches geahnt. Irgend eine
Belohnung mußte Steinvogel ja zustehen. »Wie viele solcher Schlafplätze gibt es denn in dem Volanten?« Jetzt war sie heraus, die entscheidende Frage. Sein Gegenüber blickte ihn sogleich mit wacheren Augen an. »In jedem Gefährt sind zwei Plätze vorhanden, aber machen Sie sich keine Hoffnungen, Herr Schweighart, zu der kleinen Pyramide hat nur Belvedere Zugang und die Chephren-Pyramide ist schon besetzt. Ganz abgesehen davon kommt nach der Aktivierung einer Pyramide niemand mehr hinein, selbst für Belvedere wäre es schwierig. Der Zugang zu dem Volanten tief unter der Pyramide ist tausendfach abgesichert. Und was die Schlafplätze unter der Cheops-Pyramide betrifft: Tja, da sind Sie zu spät gekommen, im wahrsten Sinne des Wortes, tut mir leid für Sie.« Schweighart nickte teilnahmslos wie in Trance. Ihm wurde schmerzlich bewußt, daß es keine Rückkehr für ihn geben würde, ganz gleich welche Möglichkeiten er mit Steinvogels Eröffnungen durchspielte. Die wenigen Plätze für eine Reise in die Zukunft waren alle vergeben, und er bezweifelte, daß sich an der Vergabe etwas ändern würde. Es lag alles in der Hand von Belvedere. Und welchen Grund sollte es für dieses Wesen geben, ihm einen Platz zu überlassen? Er versuchte Steinvogel gegenüber seine Enttäuschung zu verbergen, was ihm aber natürlich nicht gelang. Warum auch, sagte er sich. Er hatte kein Hehl daraus gemacht, daß er unbedingt zurückwollte, warum sollte er jetzt seine Niedergeschlagenheit verbergen. Steinvogel schien seinen Kummer nicht zu bemerken, oder er war nach etlichen Gläsern Wein und dem folgenden Konsum von härteren Getränken dazu gar nicht mehr in der Lage, denn
nach einer Weile begann er ungeniert, Schweighart nach dem Leben im 21. Jahrhundert auszufragen. »Es muß doch eine einzige Wonne sein, in all dem Wohlstand und Frieden aufgewachsen zu sein«, sagte er mit bewunderndem Unterton. »Ein Leben in Luxus und Seide!« »Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen«, erwiderte Schweighart verärgert. »Sie reden schon die ganze Zeit von einer paradiesischen und glorreichen Zukunft. Woher haben Sie denn diesen Schwachsinn?« »Ich habe es gesehen. Belvedere hat mir Berichte auf einem Gerät gezeigt, das bewegte Bilder wiedergeben kann. Ähnlich wie Cinematographie. Berichte aus der Neuen Zeit. Aus den letzten Jahrzehnten. Und nach dem, was ich da gesehen habe, Herr Schweighart, können sich Ihre Eltern, und besonders Sie als Nachkommen glücklich schätzen, was meine Generation für Sie vorbereitet hat.« »Ich höre wohl nicht richtig. Was haben Sie denn da gesehen?« »Das muß ich Ihnen bestimmt nicht im Detail erzählen. Eben das, was Sie aus Ihrer Zeit gewohnt sind, Herr Schweighart. Eine friedliche Welt, Wohlstand für alle, langes und sorgenfreies Leben …« Steinvogel erging sich mit leuchtenden Augen in Beschreibungen. »Halt, Moment, einen Augenblick!« unterbrach ihn Schweighart. »Natürlich gibt es das alles, aber anscheinend hat Ihnen Belvedere nur die positive Seite des 21. Jahrhunderts gezeigt. Aber einmal abgesehen davon, was genau hat denn Ihrer Meinung nach Ihre Generation so Tolles vorbereitet, wofür ich mich glücklich schätzen darf?«
Die hellen Augen Steinvogels wechselten zu einem beinahe leidenschaftlichen Ausdruck. »Die Erschaffung und Festigung des Grundstocks der Neuen Zeit, Herr Schweighart. Das lag natürlich lange vor Ihrer Geburt. Das Deutsche Volk mußte nach dem Krieg eine Demütigung nach der anderen hinnehmen, aber es hat sich nicht provozieren lassen. Ganz im Gegenteil. Es antwortete mit großartigen technischen Errungenschaften wie zum Beispiel mit der Weiterentwicklung der Luftschiffe. Ich habe ihn oft selbst gesehen, den LZ 126 auf seinem Linienverkehr von Friedrichshafen nach Berlin, dann der rasante Fortschritt im Automobilbau, die Einrichtung des Rundfunksenders mit der ›Deutschen Stunde in Bayern‹, aus München gesendet. Ich erinnere mich noch genau an die Schubertlieder, die mich plötzlich aus meinem damals selbstgefertigten Radioempfänger erreichten.« Er summte mit geschlossenen Augen eine undefinierbare Melodie. »Eine unvergeßliche Zeit. Ganz zu schweigen von dem aufkommenden demokratischem Bewußtsein und …« »Demokratischen Bewußtsein!« höhnte Schweighart. »Gerade zu Ihrer Zeit machte sich wohl alles andere als ein demokratisches Bewußtsein breit.« »Was erlauben Sie sich!« fuhr Steinvogel ihn an, beruhigte sich jedoch gleich wieder und winkte verächtlich ab. »Ich weiß schon, Sie spielen auf den kleinen österreichischen Anstreicher und seine Sinnesgenossen an. Hitler. Lachhaft. Der war eine Saisonerscheinung, ein erbärmlicher Putschist, der die jüdische Dekomposition erwirken wollte, aber die Weltoffenheit hat ihn nach seinem lächerlichen Umsturzversuch wie ein lästiges Insekt geschluckt und ihn danach großzügigerweise nach
Landsberg ins Gefängnis gesteckt.« »Dort war er aber nicht lange. Ihre sogenannte Weltoffenheit hat ihn sehr schnell wieder ausgespuckt.« »Das ist eine infame Lüge!« ereiferte sich Steinvogel. »Er hat dort Selbstmord begangen, er wollte sich schon zuvor bei seiner Verhaftung das Leben nehmen.« Zweifel begannen in Schweighart aufzukeimen. Könnte es sein, daß er in einer völlig falschen Vergangenheit gefangen war? Oder kam Steinvogel aus einer anderen Zeit? Wie auch immer, es konnte ihm eigentlich gleich sein. Trotzdem fragte er noch einmal nach: »Und Hitlers Selbstmord haben Sie noch vor dem Juli 1924 erlebt?« »Nein. Das muß sich Jahre später ereignet haben. Belvedere hat es mir auf seinem Gerät gezeigt. Im Grunde genommen eine unbedeutende Geschichte.« Schweighart lachte bitter auf. »Hören Sie, Herr Steinvogel, ich weiß im Moment nicht, ob ich Sie nicht einfach in der heilen Welt belassen soll, die Ihnen Belvedere vorgegaukelt hat, oder ob es Sinn hat, Ihnen die Wahrheit zu erzählen. Wahrscheinlich würden Sie mir kein Wort glauben. Schade, daß Sie das Wrack der Intrepid beseitigt haben. Darin hat es ein Gerät gegeben, ähnlich wie das von Belvedere. Damit hätte ich Ihnen eine andere Wahrheit zeigen können, aber ich glaube nicht, daß sie Ihnen gefallen hätte.« Er winkte müde ab. Die Informationen, die er bekommen hatte, waren für ihn Beängstigung und Erleichterung zugleich gewesen. Endlich herrschte Klarheit in seinem Verstand. Damit konnte und mußte er leben. Die Frage war nur, wie würde es weitergehen. Würde er sein zukünftiges Leben in einem einsa-
men Tal verbringen und Tag für Tag ums Überleben kämpfen müssen? Oder gab es doch eine Alternative? Es sah nicht danach aus. Er legte seine erloschene Zigarre auf den Tisch und erhob sich. Er wollte so schnell wie möglich raus hier. Steinvogel blieb auf der Bank sitzen. Kurz bevor Schweighart die Treppe erreichte, sagte Steinvogel hinter seinem Rücken wie beiläufig: »Ich habe einige Geräte aufgehoben, die sich im Kommandostand Ihres Fluggerätes befanden. Ich dachte, man könnte vielleicht einiges davon noch verwenden.« Schweighart drehte sich um und machte eine fragende Geste mit beiden Händen. »Hier drinnen«, sagte Steinvogel, rutschte zum Ende der Bank und ging auf eine Wand neben dem hinteren Regal zu. Als er sich der blanken Wand näherte, leuchtete ein schmales magentafarbenes Rechteck auf. »Es ist nicht viel«, meinte er fast entschuldigend. »Das meiste war ja zerstört, aber manche Dinge fand ich sehr interessant, und ich wollte sie mir in Ruhe ansehen.« Er trat zur Seite, um Schweighart einen Blick auf das Sammelsurium zu ermöglichen, das ungeordnet in weiteren Regalen und auf dem Boden des kleinen Raumes lag. Und tatsächlich, da war es! Coopers Laptop stach in seiner einfachen rechteckigen Form sofort aus den mehr oder weniger erkennbaren Teilen aus dem Cockpit hervor. Es hing noch mit fest angezogenen Gripbändern an der Halterung, die sich einmal rechts neben dem Co-Pilotensitz befunden hatte und nun als zerfetztes Stück Metall am Fuße eines Regals lehnte. »Ich kann Ihnen nichts versprechen«, sagte Schweighart, als er das Laptop von den Bändern befreite. »Das Gerät wurde
inzwischen lange nicht benutzt und ich weiß nicht, ob es noch intakt ist …« Der Deckel schwang problemlos nach oben. »Es ist ein tragbarer Computer, ein Rechner. Ich meine damit, das Gerät kann nicht nur rechnen, es speichert Informationen, die man abrufen kann. Texte, Bilder, Graphiken, sogar Movies … also Filme.« Mein Gott, wie erklärt man einem Menschen aus dem Jahre 1924 einen Computer, dachte er. »Ich werde es Ihnen vorführen, falls die Akkus noch arbeiten, ich meine damit die kleinen Kraftquellen, die den Strom für den Betrieb liefern.« »Ich weiß sehr wohl, was Akkumulatoren sind«, entgegnete Steinvogel indigniert. Der Laptop erwachte mit einem leisen Knistern zum Leben. Der Ladezustand war alles andere als optimal, würde aber für eine kurze Demonstration reichen. Schweighart hoffte nur, daß Cooper nicht die Enzyklopädie gelöscht hatte, die sich normalerweise in der Grundausstattung des Computers befand. Es dauerte etwas, bis er endlich den entsprechenden Ordner gefunden hatte. Erleichtert wandte er sich an Steinvogel: »Das Gerät ist leider amerikanischen Ursprungs, das heißt, alle Artikel und die Kommentare zu den Filmen sind in englischer Sprache abgefaßt. Ich habe Ihnen eine knappe Abhandlung über das sogenannte ›Dritte Reich‹ aufgerufen.« Er erklärte Steinvogel, wie man den Kursor bewegen und durch einfaches Klicken die Clips starten konnte. Nach einigen Rückfragen setzte sich Steinvogel auf den Boden und las konzentriert die verschiedenen Artikel. Dabei fuhr er vorsichtig mit dem Zeigefinger über die Zeilen und murmelte seine eigene
deutsche Übersetzung vor sich hin. Ab und zu nahm er seine ramponierte Brille ab und bog sie in eine bequemere Form. Schweighart beobachtete sein angespanntes Gesicht, konnte jedoch keine Reaktion des Erstaunens oder des Unglaubens darin entdecken. Nach einigen Minuten ließ er Steinvogel alleine mit dem Laptop zurück und setzte sich leise auf eine Bank. Das halbe Glas Wein, das er getrunken hatte und der Rauch der Zigarren machten ihm zu schaffen. Er lehnte sich erschöpft an eine Stütze des Regals und war wenig später eingeschlafen.
28. Kapitel Als er Stunden später nach einem unruhigen, aber doch wohltuenden Schlaf wieder erwachte, meinte er, jeden Knochen einzeln zu spüren. Inzwischen lehnte er nicht mehr am Regal, sondern hatte sich irgendwann längs auf der Bank ausgestreckt. Fröstelnd verschränkte er die Hände und zog die Knie noch weiter an sein Kinn heran. Diese Stellung verführte zum Weiterschlafen, aber da die Sitzfläche der Bank sehr schmal war, hingen seine Beine darüber hinaus, und er fand auch nach vielen Versuchen keinen Haltepunkt, an dem er seine Füße hätte verankern konnte. Unwillig streckte er sich wieder der Länge nach aus und öffnete die Augen. Sein Blick ging unter dem Tisch hindurch zum Treppenaufgang, der von oben her hell erleuchtet war. Tageslicht? Oder stammte der Schein von den künstlichen Leuchten im Erdgeschoß? Es war ganz still im Raum. Er streckte den Hals und versuchte in die kleine Kammer zu sehen, in der er Steinvogel vermutete, konnte aber durch die magentafarbene Schicht nichts von ihm entdecken, geschweige denn irgendeine Bewegung ausmachen. Vollkommen gerädert setzte er sich schließlich auf. Es roch nach abgestandenem Rauch und verschüttetem Wein. Auf dem Tisch standen leere Flaschen und lag ein umgekipptes Glas, an
das er sich nicht erinnern konnte. Es sah ganz danach aus, als ob Steinvogel in der Nacht noch ein oder zwei zusätzliche Flaschen Wein geöffnet und auch getrunken hatte. Schweighart blickte noch einmal zu der kleinen Kammer hinüber. Hatte ihn Steinvogel hier alleine zurückgelassen? Benommen stand er auf und ging mit schmerzenden Gliedern auf das schmale leuchtende Rechteck zu. Die Kammer war leer, wenn man einmal von den ganzen Gerätschaften und Utensilien absah, die kreuz und quer lagen, und die noch vor Wochen einen sinnvollen Zweck im Cockpit der Intrepid erfüllt hatten. Steinvogel war nicht da. Den Laptop hatte er mitgenommen. Er überflog flüchtig das Durcheinander und entdeckte einen zerfledderten Stapel Ausdrucke. Es waren die Bilder, die sie während des Überflugs über Ägypten und das Nildelta gemacht hatten. Einige davon lagen in einer Reihe vor dem Stapel. Steinvogel mußte sie aussortiert haben. Neugierig hob er die Blätter auf. Sie zeigten das obere Nildelta, wo sich entlang des Stromes riesige Seen und Wasserflächen gebildet hatten. Ansonsten war nichts Besonderes auf den Bildern zu sehen, außer einigen merkwürdigen Knickstellen, die Steinvogel anscheinend mit dem Daumennagel in das Papier gedrückt hatte. War das Zufall, oder …? Er kniff die Augen zusammen und suchte die markierten Stellen genauer ab. Täuschte er sich oder waren da neben den Knicken tatsächlich ungewöhnlich gerade und dennoch leicht gebogene Linien in der Landschaft zu sehen? Ein leiser Verdacht regte sich in ihm. Diese Ausdrucke mußte er unbedingt den anderen zeigen.
»Es ist eindeutig. Das sind Staudämme!« meinte Kennern Cochran. »Und sie liegen an ziemlich prekären Stellen. Zum Beispiel hier – und hier – und da auch.« Er deutete mit dem Zeigefinger auf den Ausdruck. »Sie stauen Nebenflußläufe zu großen Seen auf und halten dadurch gewaltige Wassermassen zurück. Nachdem es in diesen nassen Zeiten nur einen großen Bauträger gibt, nehme ich an, daß Belvedere dahintersteckt. Oder der Teil seines Clans, der die erste Pyramide gebaut hat. Die Frage ist nur, wozu soll das gut sein? Das Problem der Bewässerung stellt sich momentan nicht.« Er kicherte über seinen Witz. »Vielleicht waren die Dämme nötig, um das Wasser für den Bau der Pyramiden niedrig zu halten«, warf DeHaney ein. »Das Ufer des Nils ist ziemlich nahe. Wenn der Wasserstand nur um einige Meter höher wäre, stünden wir hier bis zum Bauch im Wasser.« Er sah sich prüfend um und blickte über das unter ihnen liegende Areal. Sie hatten sich vor einer halben Stunde alle auf der Terrasse getroffen und mit Erstaunen Schweigharts Bericht angehört. »Nein, so hoch bestimmt nicht. Auf keinen Fall. Nein, das kann nicht der Grund sein. Wir stehen hier auf einem Plateau, und nach Osten hin fällt das Land ab. Das Wasser würde sich mehr in diese Richtung hin ausbreiten. Es sei denn …« Neben ihm nickte Hilary Cochran bestätigend. »Der Gedanke ist mir auch gerade gekommen: Es sei denn, die Dämme würden plötzlich brechen und das Wasser nicht mehr zurückhalten. Dann würde eine gewaltige Flutwelle alles überschwemmen.« Kenneth Cochran sah die beiden überrascht an.
»Aus welchem Grund sollten denn plötzlich die Dämme …? Oh, jetzt verstehe ich, er zerstört die Dämme, sobald er in seinem Sarkophag sitzt, dieser Teufel! Durch die Schlammablagerungen und die Auswirkungen der weiteren Klimakatastrophe wird die Gegend hier absolut unzugänglich sein, wenigstens für die nächsten Jahrzehnte, wenn nicht sogar für noch länger.« Er warf seiner Frau einen verschwörerischen Blick zu, äußerte sich aber nicht zu weiteren Theorien. Es war ihm anzumerken, daß er mit etwas hinter dem Berg hielt, jedoch keine Lust hatte, darüber zu sprechen. »Mein Gott, Ken, mach es doch nicht so spannend«, erregte sich Hilary Cochran und sagte zu den anderen: »Wir haben beschlossen, den Ongennen zu folgen und in dieses Gebirgstal zu ziehen. Und ich muß sagen, nach all den Dingen, von denen Thomas uns erzählt hat, kann es mir gar nicht schnell genug gehen, von hier zu verschwinden. Ilja möchte sich uns übrigens anschließen.« Kohlschovsky nickte. »Alle Ongennen, die hier mit Frauen zusammengelebt haben, sind schon weg«, meinte er. »Isel hat mir erzählt, daß Belvedere inzwischen keine Rücksicht mehr darauf nimmt, woher eine Frau stammt, wenn er … naja, wenn ihm der Sinn nach einem weiblichen Wesen ist. Sie ist übrigens auch schon mit den anderen aufgebrochen.« »Aber das sind doch alles nur Vermutungen«, warf Annick Denny ein. Sie hatte sich bisher still im Hintergrund gehalten. »Wir stellen Mutmaßungen an, von denen wir nur vom Hörensagen wissen und urteilen über jemanden, den wir überhaupt nicht kennen. Was ist, wenn sich alles ganz anders verhält und Belvedere uns sogar helfen könnte, wieder zurück in unsere Zeit
zu gelangen?« Ein verlegenes Schweigen folgte auf ihre Äußerungen. Sie alle wußten von Annicks unverhohlener Begeisterung über den ›wahren Ursprung der afrikanischen Kultur‹, wie sie den gegenwärtigen Zeitabschnitt und die Entstehung der Pyramide mit beinahe fanatischer Leidenschaft bezeichnete. Bisher hatte ihr niemand zu widersprechen gewagt, schon allein deswegen, weil es keinen Sinn hatte, ihre Illusionen in Frage zu stellen, denn in gewisser Weise entsprachen sie der Wahrheit. Nach den überraschenden Neuigkeiten von Thomas Schweighart sah die Lage jedoch etwas anders aus. Nicht die Diskussion über ein mögliches Kulturerbe stand im Vordergrund, sondern allein die Frage des Überlebens. »Ich würde vorschlagen, wir warten ab und sehen uns den Knilch an, dann wissen wir bestimmt mehr«, meinte DeHaney nach einer Weile. »Ganz abgesehen davon: Jeder kann natürlich jetzt sofort für sich entscheiden, ob er gehen möchte oder bleiben will.« Kenneth Cochran sah seine Frau an und blickte dann zu Boden. »Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, knurrte er leise. »Mir geht dieser ständige tiefe Ton in den Ohren auf die Nerven. Ich habe keine Lust, zu lange zu warten. Es könnte dann zu spät sein.« Sie brauchten nicht lange zu warten. Am Nachmittag des gleichen Tages kündigte sich zunächst ein Wetterumschwung an. Von Süden her durchdrang mit leicht auffrischenden Winden warme Feuchtigkeit die stabile Hochdrucklage und verwandelte die klare Luft schlagartig in eine fürchterliche Schwüle.
Der Blütenduft schien plötzlich schwerer, und eine unruhige Stimmung machte sich in der Natur breit. Gleichzeitig veränderte der leise tiefe Ton seine Klangfarbe. Sein Umfang erschien satter und mit einem leichten Nachhall unterlegt. Wenig später gesellten sich kaum vernehmbare hellere Dissonanzen dazu, die das Nervenkostüm von Mensch und Tier mehrere Stunden lang auf eine harte Probe stellten. Als die Dämmerung hereinbrach und die Landschaft wie an jedem Abend wieder begann, in einem regelmäßigen Pulsieren in allen Farben zu leuchten, verschwanden die akustischen Plagegeister urplötzlich. Alle atmeten erleichtert auf. Für die Ongennen war dies anscheinend ein Zeichen. Sie begannen sich ohne weitere Verständigung auf dem Gelände der ehemaligen Zeltstadt in einem losen Pulk zu versammeln und warteten dort stumm auf das bevorstehende Ereignis. Einige von ihnen waren schwer bepackt mit Bündeln voller Habseligkeiten, andere waren in ihrer gewohnten Kleidung erschienen, als kämen sie gerade von einer Arbeitsschicht von der Pyramide. DeHaney beobachtete aufmerksam die verschiedenen Gruppen und stellte fest, daß sich tatsächlich keine Frauen unter ihnen befanden. Kohlschovsky hatte also recht gehabt. Es war auch bei weitem nicht die gewohnte Anzahl von Ongennen anwesend, die sonst immer den einst stark frequentierten Platz belebten. Er schätzte, daß es jetzt höchstens ein Drittel war, die sich nun immer noch stumm, aber ab und zu mit versteckten Handzeichen unterhielten und dabei kleine aufmunternde Scherze übermittelten. Leises und verschämtes Lachen war die
Folge, das sofort im Keim erstickte. Von Steinvogel war nichts zu sehen. Mit einem dumpfen Klatschen deponierte Cochran ein Bündel neben DeHaney und Annick Denny. Ihm auf dem Fuß folgten Hilary und Kohlschovsky. Cooper und Janine standen eng umschlungen nicht weit entfernt. Schweighart wanderte ruhelos zwischen den Reihen umher. »Für alle Fälle«, erklärte Cochran mürrisch und wies mit dem Kinn auf sein Bündel. Auf der Fläche seines Gesichtes und vor allem in den Pupillen seiner Augen reflektierte sich die pulsierende Landschaft. »Kann mir nicht vorstellen, daß ich das Theater noch länger ertrage«, fügte er brummelnd hinzu. DeHaney antwortete nicht und ließ, wie schon Schweighart in der Nacht zuvor, die unwirkliche Szene auf sich einwirken. Über den Köpfen der vor ihm stehenden Ongennen auf der kleinen Anhöhe stand als einziges Zelt noch der große Lazarettbau, in dem sie seit Tagen alle übernachteten. Wer dort keinen Platz gefunden hatte, schlief direkt an den Zeltwänden im Freien. Waschen und Verpflegen fand ebenfalls dicht gedrängt an diesem Ort statt, wobei er den Eindruck hatte, daß es zunehmend Probleme mit dem Nachschub für die Verpflegung gab, denn die Küche rückte nur zögernd mit einer weiteren Portion heraus. Wahrscheinlich lag Kenneth Cochran mit seinem Drängen zum Wegziehen gar nicht falsch. Hier würde es bald außer den Pyramiden nichts mehr geben. Er atmete tief durch. Jetzt spürte er doch eine gewisse Nervosität. Ärgerlich über seine Neugier auf diesen mysteriösen
Belvedere zog er scharf die Luft ein. Es ist die reine Neugier, warf er sich vor. Nichts anderes. Die Hoffnung auf eine Rückkehr hatte er schon längst aufgegeben. Belvedere und Steinvogel würden die Reise antreten. Also gab es nur noch in dem kleinsten Monument zwei freie Plätze in die Gegenwart. Selbst wenn ihnen diese zur Verfügung standen, wer sollte über die Besetzung bestimmen? Ein Los entscheiden lassen? Er schüttelte den Kopf. Alle Überlegungen in dieser Richtung waren vertane Zeit. Belvedere würde ihnen freiwillig die Plätze niemals überlassen. Selbst wenn sie ihn und Steinvogel überwältigen konnten, es würde ihnen nicht weiterhelfen. Der Zugang zu dem Volanten tief unter der Pyramide war ihnen unbekannt und selbst wenn, sie wußten nichts über die Technik dieses Wunderwerks. Er schüttelte abermals den Kopf und legte von hinten den Arm um Annick Denny, die sich sogleich behaglich an ihn lehnte. Er lächelte grimmig bei dem Gedanken, daß er zusammen mit Annick in die Gegenwart zurückkehren würde. Was sollte er dann machen? Seine Frau Autumn verlassen? Es wäre eine Katastrophe für sie. Undenkbar. Plötzlich war dieser tiefe Ton wieder zu hören. Fast unmerklich zu Beginn, dann deutlich anschwellend. DeHaneys Nackenmuskeln spannten sich unwillkürlich an, und er blickte suchend in die Runde. Die Ongennen waren alle aufgestanden. Am Rande einer Gruppe von ihnen entdeckte er den weißen Kittel von Steinvogel. Das Pulsieren der leuchtenden Landschaft um sie herum hörte auf und begann nun langsam zu erlöschen. Die weiß glänzenden Pyramiden traten deutlicher in der
Dunkelheit hervor und schienen in ihrer Größe zu wachsen. Die Sterne strahlten in der nun tieferen nächtlichen Schwärze kräftiger und nahmen scheinbar in ihrer Zahl zu. Die Bühne war bereit für Belvederes Auftritt. Lange Zeit geschah nichts, aber aller Augen hatten sich nach Osten auf das Sternbild des Löwen gerichtet. Thomas Schweighart hatte seine ruhelose Wanderung durch die verschieden gruppierten Ongennen aufgegeben und gesellte sich schließlich zu Kenneth und Hilary Cochran. Zu spät hatte er Steinvogel entdeckt, der vor einigen Minuten wie aus dem Nichts aufgetaucht war und ganz offensichtlich jeden Blickkontakt zu dem jungen Deutschen vermied. Gerade als Schweighart sich dazu entschlossen hatte, unauffällig in die Nähe Steinvogels heranzurücken, brach unvermittelt der unterschwellige tiefe Ton ab und hinterließ ein ehrfürchtiges Schweigen. Kaum hatte sich der Nachhall in Schweigharts Ohren verflüchtigt, schienen am östlichen Firmament die Sterne als hell aufleuchtende Meteore zur Erde zu fallen. Die Illusion war so perfekt, daß er einen Moment lang dachte, der Boden hätte sich wie in einer Zeitlupenaufnahme nach oben bewegt. Instinktiv verlegte er sein Gewicht nach vorn und führte wie alle anderen einen kurzen Ausfallschritt nach vorne aus, um die falsche Reaktion wieder auszugleichen. Verhaltenes Gelächter und mahnende Zischlaute waren um ihn herum zu hören. In östlicher Richtung, direkt über den Pyramiden, waren die Sterne verschwunden und eine an den Rändern schillernde,
riesige schwarze Blase entstanden. Schweighart hatte nicht viel für Showeffekte übrig, mußte aber zugeben, daß der optische Eindruck überwältigend war. Annick Denny, die direkt vor ihm stand, hatte sich aus DeHaneys Armen gelöst und kommentierte die Vorgänge ungeniert mit leisen Lauten der Bewunderung. Ihre Begeisterung war ihm unverständlich. Für ihn war es eine reine Demonstration von Macht und Überheblichkeit, ein bewußtes Einsetzen einer fortgeschrittenen Technik gegenüber der weit unterlegenen Kultur der Ongennen. Als im schwarzen Mittelpunkt der Himmelsblase eine Blüte von farbigen Lichtern heranwuchs, beschlich selbst ihn ein Gefühl der Bewunderung, ja sogar eine Art Unterwürfigkeit. Die ersten Lichtpunkte rasten aus der Ferne heran und strichen knapp über die Köpfe der Menge. Meist nur wenige Zentimeter groß überfluteten sie zu Tausenden das Gelände, stießen in den westlichen Himmel empor und verschwanden dort zwischen den Sternen. Die nächste Welle aus langsam dahindriftenden großen Leuchtbällen brandete heran, jeder einzelne von einem vibrierenden Geräusch begleitet. Die Bälle formierten sich in einem weiten Kreis und standen schließlich still in der Luft. Ein weiterer, diesmal nicht enden wollender Strom von farbigen kleinen Lichtpunkten markierte einen breiten Weg herab von den Sternen zu dem Platz vor der wartenden Menschenmenge. Jetzt mußte es gleich soweit sein, dachte Schweighart, die Anzeichen waren unmißverständlich. Und tatsächlich, weit entfernt in der Höhe bildete sich ein zunächst formloses Lichtbündel, das im Näherkommen immer
mehr an Gestalt gewann. Noch waren keine Konturen zu erkennen, auch dann nicht, als die hell strahlende Masse aus Licht neben der Mykerinos-Pyramide scheinbar auf dem Boden aufsetzte und von einem Schweben in eine sichtbare Fortbewegung auf der Erdoberfläche überging und, teilweise abgedeckt durch die Palmenreihen, schrittweise näher rückte. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte Schweighart Umrisse oder Formen auszumachen, was ihm aber erst gelang, als die Intensität des Lichtes nachließ und eine Gruppe von großen Tieren sichtbar wurde. Ein weißer Elefant, umgeben von neun weißen Löwen schritt gemächlich auf sie zu. Auf dem Elefanten, direkt hinter den Ohren saß rittlings eine hoch aufragende Gestalt. Belvedere war groß gewachsen, sehr groß sogar. Sein nackter Oberkörper war braungebrannt und wiegte sanft im bedächtigen Schritt des Elefanten. Von weitem schon fielen sofort seine breiten Schultern auf, die in einem übermäßigen Verhältnis zu seiner schmalen Taille standen. Ein eng um die Hüften geschlungenes, dunkelgraues Tuch bedeckte seinen restlichen Körper und fiel in groben Falten bis zu den Ansätzen der stämmigen Beine seines Reittiers. Die Hände ruhten entspannt in seinem Schoß. Auf dem Kopf trug er eine spindelförmige Krone mit einem Schlangensymbol auf der Stirn und einem an den beiden Schläfen angebrachten Kopftuch, das mit einem akkurat gefalteten Knick in Höhe des Kinns bis auf seine Schultern wallte. Die spitz zulaufende Kinnpartie setzte sich in einem schmalen und festen Bart fort, von dem Schweighart annahm, daß er nicht natürlichen Ursprungs war. Eine undefinierbare Unruhe ging plötzlich durch die Ongen-
nen, bis auf einmal eine unsichere und zittrige Stimme aus den vorderen Reihen zu vernehmen war. »Ziiii – No – ta – cheee!« Schweighart konnte nicht ausmachen, wer der Rufer war, als aber alle Ongennen mit der gleichen Betonung und mit lauter Stimme die Silben wiederholten, nahm er an, daß es sich um eine Art Ritual zur Begrüßung Belvederes handeln mußte. »Ziii – No – ta – cheee!« Dieses Mal klang die Stimme erheblich sicherer. Und wieder antworteten alle im Chor. Und wieder. Im gleichen Takt. Immer wieder und wieder. Die Stimme des einzelnen Rufers und dann der Chor. Inzwischen war die spektakuläre Gruppe aus Mensch und Tieren näher herangekommen. Schweighart konnte im hellen Schein der Lichtbälle die Gesichtszüge Belvederes erkennen. Mit Erstaunen stellte er fest, daß sie mit dem Abbild der Sphinx absolut identisch waren. Bei seinen nächtlichen Streifzügen hatte er oft vor dem gewaltigen Monument Halt gemacht und über dieses langgezogene und schmale Gesicht gerätselt, das ihm so unwirklich vorkam und mehr einer überzogenen Karikatur glich. Jetzt, da er das Original nur wenige Meter von sich entfernt studieren konnte, war er sichtlich erschrocken über die außergewöhnliche Erscheinung. Belvedere widmete der Menschenmenge keine Aufmerksamkeit und blickte mit einer beinahe ironischen Gelassenheit stur geradeaus. Manchmal zeichnete sich ein belustigtes Lächeln auf seinem großen Mund ab und dabei verzogen sich seine weiblich anmutenden vollen Lippen spöttisch zu einem herzförmigen Dreieck. Gleichzeitig rümpfte er seine lange und extrem schlanke Nase, die dadurch
noch plastischer aus seinem asketischen Gesicht hervorstach. Über seinen Augen thronten lange schwarze Wimpern, die Schweighart künstlich vorkamen. Oder kosmetisch mit Farbe nachgemalt. Die Augen waren über den auffällig hochgezogenen Wangenknochen kaum zu erkennen. Es waren schmale Sehschlitze, die auf reptilienhaften Augäpfeln saßen und langgezogen fast seitlich am Kopf endeten. Trotz ihrer Fremdartigkeit schien die Augenpartie Gutmütigkeit und Nachsicht auszustrahlen. Der Eindruck änderte sich jedoch schlagartig, als Belvedere den Kopf drehte und jeden einzelnen in der Menge zu fixieren schien. Schweighart lief es eiskalt über den Rücken, als ihn die nun weit geöffneten Augen anstarrten. Er hatte das Gefühl, von einem menschlichen Scanner abgetastet zu werden. Dieses Wesen konnte nicht von dieser Welt sein. »Ziii – No – ta – cheee!« Den Tieren schien das laute Rufen nichts auszumachen. Die Löwen schlichen zwar in leicht gebückter Haltung und mit flach angelegten Ohren neben dem stoisch vor sich hin trottenden Elefanten einher, aber ihre Wachsamkeit und ihr Gehorsam galten eindeutig Belvedere, zu dem sie ab und zu aufmerksam emporsahen. Wie hatte es diese Kreatur geschafft, zehn Albinos so zu dressieren, daß sie diesen ungewöhnlichen Auftritt so perfekt hinlegten? Plötzlich kam ihm der Gedanke, daß die Tiere nicht echt sein könnten. Eine Illusion, vorgegaukelt mit Hilfe der Nanomaschinen. Vielleicht war Belvedere ebenfalls ein computergesteuertes Abbild. Er beobachtete konzentriert die spärlichen Bewegungen und das Gesicht der hochgewachsenen Gestalt. Nein,
Belvedere war echt und leibhaftig, aber die Tiere? Angespannt verfolgte er den Gang der Löwen im Vordergrund, besonders das vorsichtige Aufsetzen der Tatzen. Er konnte keinerlei Abdrücke im Boden ausmachen, auch kein Wegrollen kleiner Steinchen, wenn ein Löwe einen raschen Ausfallschritt vornahm. Die Tiere waren also nicht echt. Blieb nur noch die Frage, worauf Belvedere in Wirklichkeit saß und wie er die täuschend echt wirkenden Schaukelbewegungen zustande brachte? »Ziii – No – ta – cheee!« Belvedere richtete seinen imaginären Elefanten frontal zu der Menschenmenge aus. Die Löwen gruppierten sich zunächst in einer Reihe direkt vor ihm und legten sich dann alle gleichzeitig in einem Halbkreis vor den Elefanten. Einige von ihnen hoben den Kopf und sahen abwartend zu Belvedere hinauf. Wenn man von dem faulen Zauber wußte, war es eigentlich eine ziemlich kitschige und sentimental überladene Vorstellung, dachte Schweighart. »Ziii – No – ta – cheee!« Für die Ongennen war es Realität. »Ziiiooo – No – ta – che!« Auf den veränderten Ruf antworteten die restlichen Ongennen nicht mehr. Schlagartig trat Stille ein. Danach, wie auf einen stummen Befehl hin, bewegten sich alle rückwärts. Schweighart wurde dabei von den Ongennen mit sanften, aber bestimmten Gesten aufgefordert, das gleiche zu tun. Er konnte ihnen nicht ausweichen und stolperte langsam mit
ihnen nach hinten; weg von der imaginären und doch so real aussehenden Gruppe von Mensch und Tieren. Wenig später war Belvedere wegen den dichtstehenden Palmen nicht mehr zu sehen. Die Ongennen beendeten ihr ehrfürchtiges Rückwärtsgehen. Die Stimmung unter ihnen wurde zusehends lockerer. Zielstrebig eilten sie weiter in die Dunkelheit des Palmenwaldes hinein. Vergeblich versuchte Schweighart unter den Marschierenden den hellen Kittel von Steinvogel zu entdecken. Schließlich gab er seine Suche auf und ließ sich mit der Menge treiben. Er hatte keine Ahnung, welchen Sinn dieser nächtliche Marsch haben sollte, bis er in einiger Entfernung ein aufflackerndes Feuer auf einer Lichtung wahrnahm. Anscheinend war hier ein Treffen geplant und vorbereitet worden. Nachdem die Flammen hoch aufgelodert waren, erkannte er, daß es sich nicht nur um ein Treffen handelte, sondern um eine Festivität. Überall standen grob zurechtgezimmerte Tische und Bänke bereit. Überall um das Feuer herum packten die Ongennen laut schwatzend Essen und Trinken aus und nahmen auf den primitiven Sitzgelegenheiten Platz. Er machte sich auf die Suche nach seinen Gefährten und fand sie etwas abseits von dem Trubel neben einer umgestürzten Palme. »… nein, keine Chance. Unser Entschluß steht fest: Wir brechen heute nacht noch mit dem Teil der Ongennen auf, der in das Tal zieht!« sagte Kenneth Cochran gerade laut und bedachte den ankommenden Schweighart mit einer grimmigen und entschlossenen Miene. Die anderen schwiegen betreten.
»Jim, dieser Bursche ist ein Monstrum, dazu noch mit High Tech ausgestattet wie ein geschmückter Weihnachtsbaum«, fuhr Cochran beschwörend fort. »Was erwartest du dir von ihm? Daß er dir mit einer freundlichen Geste anbietet, doch bitte mit in seinen Sarkophag zu steigen? Einen Teufel wird er tun. Er ist ein Blasphemist, der nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist. Ich für mein Teil werde heilfroh sein, wenn ich wenigstens ein paar Meilen zwischen ihn und mich gebracht habe – und das so schnell wie möglich …« »Das ist doch alles nur Geschwätz und reine Panikmache!« fuhr Annick Denny ihn an. »Er ist als einziger in der Lage, uns wieder zurückzubringen, und gerade deshalb sollten wir versuchen, mit ihm in Kontakt zu treten. Alles, was wir von ihm wissen, haben wir nur durch Steinvogel erfahren. Wer sagt uns denn, daß Belvedere dem mickrigen Männchen alles erzählt hat? Vielleicht gibt es noch ganz andere Wege zurück in unsere Gegenwart. Ich finde, wir sollten jetzt nicht kneifen und keine Chance auslassen.« »Und ich sage Ihnen, daß Sie von seiner Erscheinung geblendet sind und die Lage völlig falsch beurteilen.« »Ich gebe zu, daß ich fasziniert bin von Belvedere. Für mich ist er der Ursprung des afrikanischen Volkes. Er verkörpert alle Charakteristika des alten ägyptischen Reiches und er hat die Grundlagen für das alte Wissen erschaffen.« »Sie reden gerade so, als wären Sie mit ihm aufgewachsen«, erwiderte Cochran spöttisch. »Und Ihr sogenanntes altes ägyptisches Reich liegt über 5 000 Jahre in der Zukunft. Belvedere hat damit nicht das geringste zu tun.« »Ich spüre ihn. Ich fühle mich mit ihm verbunden, aber das
sind urwüchsige Kräfte, von denen ein neuzeitlicher Amerikaner natürlich keine Ahnung hat«, gab sie patzig zurück. Cochran sprang wütend auf. »Gerade Sie sollten …« »Moment, Moment«, ging Hilary Cochran beschwichtigend dazwischen und wandte sich an Annick. »Kindchen, ich glaube, es wäre nicht schlecht, wenn wir bei der Diskussion auf dem Teppich bleiben würden.« Es war ihr anzumerken, daß auch sie mit den Ansichten der Französin nicht übereinstimmte. »Kenneth wollte ursprünglich nur zum Ausdruck bringen, daß er und ich den Entschluß gefaßt haben, hier in dieser Zeit zu bleiben, ganz unabhängig davon, ob es eine Möglichkeit gibt, in unsere Gegenwart zurückzukehren.« Sie blickte offen in die erstaunten Gesichter. »Wir fühlen uns wohl hier in dieser Zeit«, erklärte sie. »Trotz aller Widrigkeiten. Wir haben das Gefühl, daß wir den Ongennen auf ihrem weiteren Weg helfen können. Und Hilfe werden sie dringend benötigen, wenn sie keine Unterstützung durch Belvederes Technik mehr haben werden. Ich möchte damit nur sagen, daß wir heute nacht noch von hier verschwinden werden, ganz gleich, wie ihr darüber denkt. Wir haben erfahren, daß ein Teil von den Ongennen in den nächsten Stunden zu dem Tal aufbrechen wird. Ilja wird sich uns anschließen.« Annick Denny, die Hilary zunächst ärgerlich wegen der verniedlichenden Anrede angefunkelt hatte, blickte sie nun überrascht und betroffen an. Kenneth Cochran hatte sich beleidigt abgewandt und saß mit dem Rücken zu den beiden auf dem Baumstamm. Ein bestätigendes Brummen war seine einzige Reaktion. »Ich bleibe«, sagte Schweighart in die entstandene Stille hin-
ein. DeHaney kaute nachdenklich auf der Lippe und sah Annick zweifelnd an. »Ich denke, wir überlegen es uns noch«, meinte er schließlich. »Wir können ja jederzeit mit den restlichen Ongennen nachkommen.« »Wenn Jim bleibt, bleiben wir auch«, kam es aus dem verschlungenen Knäuel, das Cooper und Janine bildeten. Die beiden waren rein optisch gesehen einer ohne den anderen gar nicht mehr vorstellbar. Mit einem Nicken nahm Hilary Cochran die Aussagen zur Kenntnis. »Es ist eure Entscheidung. Ich will euch auch nicht weiter beeinflussen, aber ich möchte euch dennoch warnen. Ich bin derselben Meinung wie Ken und habe ein ungutes Gefühl, was Belvedere betrifft. Ich sage es ganz offen: Es wäre mir lieber, wenn wir alle zusammen sofort von hier verschwinden würden.«
29. Kapitel Schon früh am nächsten Morgen stand Schweighart auf der Terrasse und blickte in eine trübe und traurige Welt. Trübe deswegen, weil es in einer unfaßbaren Stetigkeit wie aus Kübeln goß, und traurig, weil die Ongennen noch in der Nacht damit begonnen hatten, die Palmen zu fällen. Die Gründe dafür waren ihm unbekannt, aber er vermutete, daß diese im ersten Augenblick so widersinnig scheinende Aktion dazu dienen sollte, die Verschlammung zu unterstützen, zumal die Bäume nicht abtransportiert wurden, sondern noch an der Schnittstelle hängend einfach liegen gelassen wurden. Vor ihm breitete sich ein Meer aus wehenden Palmenwedeln aus, das bereits bis hinüber zum noch stehenden dichteren Hain reichte, wo die Ongennen nun die ersten Reihen in Angriff nahmen. Nur gut, daß die Cochrans das nicht mehr sehen, dachte er, ihnen würde sich vor Gram der Magen umdrehen. Das Ehepaar und Kohlschovsky waren schon bald nach der lebhaften Diskussion mit einer kleinen Gruppe Ongennen aufgebrochen. Es war kein großer Abschied gewesen, eher ein zögerlicher Aufbruch ohne Sentimentalität, bei dem niemand genau wußte, ob es ein Wiedersehen geben würde. Schweighart hatte ein ungutes Gefühl. Aus irgend einem Grund fühlte er, daß es kein guter Tag werden würde. Ganz
abgesehen davon sah er für sich und die anderen Zurückgebliebenen einfach keine Perspektiven für die Zukunft. DeHaney und Annick Denny hatten die Nacht drüben im Camp verbracht. Schweighart hatte sich mit ihnen später am Morgen verabredet. Dort war einiges eingelagert, was zum Überleben nützlich sein konnte, denn es war an der Zeit, daß sie eine Ausrüstung zusammenstellten. Einen genauen Plan für ihr weiteres Vorgehen hatten sie nicht. Annick war der Meinung, daß sie so schnell wie möglich Belvedere aufsuchen sollten. DeHaney dagegen gab diesem Vorhaben so gut wie keine Chance. Er dachte wie die Cochrans und hatte sich mit einem Verbleiben in dieser Zeit abgefunden. Schweighart war unschlüssig. Steinvogel hatte ihn eindringlich davor gewarnt, Belvederes Domizil zu nahe zu kommen. Er konnte sich ebenfalls nicht vorstellen, daß dieses Wesen großes Interesse an ihrem weiteren Schicksal hatte, denn Belvedere stand am Beginn eines für ihn wichtigen Vorhabens, warum sollte er sich also auch noch um gestrandete Zeitreisende kümmern. Steinvogel und Belvedere hatten sich in ihre Bauten verkrochen und die Ongennen waren voll und ganz damit beschäftigt, ihren Auftrag zu erfüllen. Seytofer hatte ihm kurz zuvor voller Stolz berichtet, daß sie heute die letzten Steinquader im Schacht nach oben transportieren würden. Die letzten Lagen wurden danach mit den Außenaufzügen nach oben gebracht. Dann fehlte nur noch der Abschlußstein, die Spitze der Pyramide. Trotzdem wollte Schweighart unbedingt noch einmal mit Steinvogel sprechen. Wenn, dann kamen sie nur über ihn an Belvedere heran. Er drehte sich zum Eingang des Lazarettzeltes um. Cooper
und Janine schliefen bestimmt noch. Für ihn waren die beiden ein großes Fragezeichen. Vor allem Cooper war in letzter Zeit immer labiler geworden und hing nur noch wie ein nach Zuneigung suchender junger Hund am Rockzipfel des Mädchens aus Südafrika. Es war gar nicht auszudenken, wie es um ihn stehen würde, wenn sie sich nicht so aufopfernd um ihn gekümmert oder wenn sie seine Liebe nicht erwidert hätte. Was Schweighart erhebliche Sorgen machte, war der Umstand, daß Janine das einzige weibliche Wesen war, das sich noch in der näheren Umgebung aufhielt, Annick ausgenommen. Die Ongennen kommentierten ihren Aufenthalt im Zelt zwar nicht offen, begegneten ihr jedoch mit Erstaunen und nicht selten mit gerunzelter Stirn. Es wäre besser gewesen, sie wären alle in DeHaneys Camp gezogen, aber der Amerikaner und die Französin hatten sich in der Nacht sehr schnell und ohne einen Vorschlag von ihnen verabschiedet. Es war offensichtlich gewesen, daß sie alleine und ungestört sein wollten. Unruhig begann Schweighart hin und her zu gehen. Es regnete nun nicht mehr ganz so stark. Er verließ die Terrasse und schlenderte ohne Ziel durch das gerodete Gelände. Ohne den gewohnten Blick durch die Baumwipfel ragten die Pyramiden gewaltiger denn je in den Himmel. Zusätzlich verlieh der grüne Teppich aus den am Boden liegenden Palmwedeln den Bauwerken eine Präsenz, die etwas Bedrohendes an sich hatte. Unwillkürlich zog es Schweighart hinüber zu der MykerinosPyramide. Als er auf der kleinen Anhöhe ankam, über die das Shuttle bei seiner Notlandung hinausgeschossen war, blieb er stehen und starrte minutenlang auf die kleinste der drei Pyramiden. Dort irgendwo unter dem Monument gab es zwei
unerreichbare Plätze, die zurück in seine Welt führten. Aber würde er einen davon in Anspruch nehmen dürfen? DeHaney war der Commander. Ohne Annick Denny würde er nicht gehen. Vielleicht würde Jim sogar Cooper und Janine die Plätze überlassen. Die beiden waren die jüngsten unter ihnen, und Cooper war mit seinem Trauma in dieser Welt nicht überlebensfähig. Er selbst, Schweighart, stand damit erst an fünfter Stelle. Natürlich blieb noch die Möglichkeit, daß er allein reiste und die anderen alle zurückblieben. Er schüttelte den Kopf und verwarf den Gedanken. Es waren nutzlose Planspiele. Ohne Belvederes Einwilligung würde nichts gehen. Annick hatte recht: Sie mußten versuchen, mit ihm zu reden, alles andere waren reine Phantasien. Er stieg vorsichtig neben der ehemaligen und immer noch schlüpfrigen Rampe hinab zum Nil und wanderte am Ufer entlang nach Norden, bis er auf der Höhe der Sphinx angelangt war. Das steinerne Abbild Belvederes lächelte ihn im dunstigen Regen gütig und hintergründig zugleich an. Irgendwann in ferner Zukunft würden die Ägypter des Alten Reiches dieses Gesicht zerstören und ein anderes Antlitz schaffen. Mißmutig dreht er sich um und starrte er auf die braunen Wassermassen. Natürlich hatten sie alle Angst vor diesem geheimnisvollen Wesen. Es strahlte aus einer undefinierbaren Quelle auf sie ein und lähmte ihr Denken und Handeln. Schweighart bewunderte in diesem Moment den Entschluß der Cochrans und von Kohlschovsky. Sie hatten einen beherzten Schlußstrich gezogen und standen nun vor einem neuen Anfang. Er fragte sich, was ihn eigentlich davon abhielt, es ihnen gleichzutun. War es der
berühmte letzte Funken Hoffnung? Oder versagte einfach der Mut zum Eingestehen eines Mißerfolges? Er wandte sich vom Ufer ab und ging auf die Sphinx zu. Auch hier lagen überall gefällte Palmen, denen er immer wieder ausweichen mußte. Als er näher kam, bemerkte er eine humpelnde Gestalt, die nicht weit von der Cheops-Pyramide schwerfällig über die am Boden liegenden Palmwedel stieg. Instinktiv trat er zunächst einen Schritt hinter den Sockel der Sphinx zurück und spähte hinüber zu dem Mann, der scheinbar ziellos über die Stämme stieg. Es war Cooper. Schweighart schossen alle möglichen Gedanken durch den Kopf, als er rasch durch das Blattwerk zu seinem Gefährten hinüberhetzte. »Tim!« Der Angesprochene drehte sich erschrocken um und setzte sofort zur Flucht an. Dabei stolperte er über einen Stamm und fiel zu Boden. Bis er sich jedoch wieder aufrappeln konnte, war Schweighart bei ihm. Er packte ihn vorsichtig am Arm und wollte ihm aufhelfen, aber Cooper schrie schmerzhaft auf und schüttelte sich vehement los. Sein Gesicht war mit blauen und grünen Flecken übersät. Seine linke Augenbraue war aufgeplatzt und Blut lief ihm über das Gesicht. »Tim, um Gottes willen! Was ist denn passiert?« Erst jetzt erkannte Cooper den Deutschen. Sein Blick flackerte etwas, als er mit dem unversehrten Arm hinter sich deutete. »Die Ongennen … ich wollte …«, stammelte er und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Überrascht starrte er einen
Moment das Blut auf seiner Handfläche an und versuchte sich erneut an einer Erklärung. »Die Ongennen haben Janine geholt. Ich bin von ihrem Schreien aufgewacht. Dann gab es ein Handgemenge. Sie haben auf mich eingeschlagen … ich war dann wohl bewußtlos. Dann habe ich nach ihr gesucht … überall. Irgendeiner hat dann mit einem dreckigen Grinsen zu verstehen gegeben, daß sie bei Belvedere sei. Ich habe versucht, in das große Gebäude weiter oben reinzukommen, aber in dem Hangar waren überall Ongennen, die mich zurückgewiesen haben … wieder geschlagen. Ich weiß jetzt nicht … ich will versuchen, von der anderen Seite heranzukommen.« Schweighart schwieg entsetzt. Seine Befürchtungen bewahrheiteten sich schneller, als er erwartet hatte. »Nein, auf keinen Fall. Bist du verletzt, ich meine, hast du dir was gebrochen oder hast du Schmerzen?« Er überlegte fieberhaft, was er als nächstes tun konnte – oder mußte. Auf jeden Fall dem Mädchen helfen, aber wie? Die Ongennen standen eindeutig hinter Belvedere, Coopers Zustand war der Beweis. Steinvogel? Vielleicht, aber er glaubte nicht, daß von seiner Seite viel Hilfe zu erwarten war, selbst wenn Steinvogel dazu bereit wäre. Er konnte das nicht alleine entscheiden. DeHaney und Annick mußten benachrichtigt werden, und zwar sofort. »Tim, wie geht es dir? Kannst du gehen?« »Ja, es geht schon. Das Atmen fällt mir schwer … vielleicht ein wenig ausruhen …« »Hör zu: Ich laufe los und hole DeHaney. Du bleibst hier liegen, und wir holen dich dann ab. Danach bringen wir die Sache
wieder in Ordnung. Aber auf keinen Fall von der Stelle rühren, hast du verstanden?« »Ja, es geht schon etwas besser. Ich bleibe hier eine Weile liegen.« Besorgt blickte Schweighart den Amerikaner an. Er hatte bestimmt ein paar gebrochene Rippen, wenn nicht sogar innere Verletzungen. Außerdem wirkte er sehr erschöpft. Ihn hier zurückzulassen war bestimmt keine gute Lösung, aber ihm fiel nichts Besseres ein. Er zog seine Jacke aus und deckte Cooper damit zu. »Hier, das hält dich warm. Ich mach so schnell ich kann. Wir sind spätestens in einer halben Stunde zurück.« Er warf noch einen Blick auf das grün und blau geschlagene Gesicht und lief los. Schon nach wenigen Metern wußte er, daß er das Versprechen mit der halben Stunde nicht würde einhalten können. Es hatte wieder heftig zu regnen begonnen, und er glitt immer wieder auf dem glitschigen Boden aus. Dicke Regentropfen klatschten ihm ins Gesicht und behinderten die Sicht. Dadurch wurde die Orientierung schwieriger. Manchmal mußte er um eine ganze Gruppe gefällter Bäume herumlaufen und kurz stehenbleiben, bis er den Weg wieder fand. Und bis zum Camp waren es bestimmt drei Kilometer. Es dauerte fast anderthalb Stunden, bis er mit DeHaney und Annick an die Stelle zurückkehrte, an der er Cooper verlassen hatte. Von Cooper war weit und breit nichts zu sehen. »War es tatsächlich hier?« fragte ihn DeHaney schwer atmend. Der Regen lief in Bächen über sein Gesicht.
»Scheiße, ja. Ja, ich glaube schon.« Er sah sich suchend um. Fußspuren waren keine zu entdecken. Der Regen hatte den Boden zu einem einzigen breiigen Schlamm verwandelt. »Auf jeden Fall war es ziemlich genau zwischen der Sphinx und der Cheops-Pyramide.« DeHaney sah ihn zweifelnd an. Dann drehte er sich um und rief mehrmals laut Coopers Namen, jedoch ohne eine Antwort zu erhalten. Das Rauschen des Regens und das der vom Wind bewegten Palmenwedel überdeckte seine Stimme. »O.K. wir verteilen uns und gehen das Gebiet in Bahnen ab. Vielleicht hat er irgendwo Schutz vor dem Regen gesucht.« Sie wichen etwas zurück, bis Schweighart jeden Irrtum wegen der Stelle ausschließen konnte, an der er Cooper zurückgelassen hatte. Dann stellten sie sich im Abstand von einigen Metern auf und gingen langsam auf die Pyramide zu. Nach fast einer Viertelstunde des Suchens wedelte Annick wild mit den Armen und rief sie zu sich. »Das ist meine Jacke«, erklärte Schweighart das Kleidungsstück in ihren Händen. »Ich hatte sie ihm als zusätzlichen Schutz umgelegt.« »Das heißt also, daß er weggegangen ist«, schrie Annick laut im prasselnden Regen. »Ich denke, es ist nicht schwer zu erraten, wohin er wollte.« »Wir gehen zum Lazarettzelt«, beschloß DeHaney. »Ich will genau wissen, was hier los ist. Vielleicht verhält sich die Sache ganz anders und die Ongennen haben sich nur einen Spaß mit ihm gemacht …« Er beendete den Satz nicht, denn er glaubte selbst nicht daran, aber für den Moment tat ihnen ein wenig Hoffnung einfach gut.
Der winzige Funke Hoffnung hielt nicht lange. Nachdem sie mit schnellen Schritten die Cheops-Pyramide passiert hatten, kam ihnen eine Prozession von lärmenden Ongennen entgegen. Sie blieben stehen und wichen abwartend vor der Menge zurück. Zunächst konnten sie sich das seltsame Verhalten der Ongennen nicht erklären. Immer wieder versuchten sie von den Vorüberziehenden durch laute Fragen und Handzeichen zu erfahren, was hier vor sich ging. Kurz darauf bemerkte Schweighart als erster den schweren Lastschlitten, den die Ongennen mitten in der Menge mit sich zogen. Zwei schwere Steinquader waren darauf befestigt und auf den Quadern lagen Janine und Cooper – mit Seilen gefesselt und zusätzlich an die Steine gebunden. Er war vor Entsetzen wie gelähmt. Janine war nackt. An ihrem Körper waren Schnittwunden zu sehen, aus denen kleine Rinnsale aus Blut liefen und sich mit dem Regen vermischten. Sie schien bewußtlos zu sein. Oder tot. Ihr Kopf ruckte leblos im unregelmäßigen Takt, mit dem der Lastschlitten gezogen wurde. Cooper war bei Bewußtsein. Er schrie unentwegt und versuchte, durch heftiges Hin- und Herbewegen sich der Stricke zu entledigen. Bevor Schweighart zu einer Reaktion fähig war, stürmte DeHaney mit einem unmenschlich klingenden Schrei an ihm vorbei und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Reihe der Ongennen, die direkt neben dem Lastschlitten liefen. Durch den überraschenden Angriff und durch die Wucht des
Aufpralls riß er vier oder fünf Ongennen mit sich und landete mit ihnen in einem wirren und strampelnden Knäuel neben dem mit Schlamm bedeckten Schlitten. Annick rannte hinterher und versuchte, die auf DeHaney einschlagenden Männer zu beschwichtigen. Sie bekam einen schmerzhaften Stoß von einem Ellenbogen ab und fiel zu Boden. Mit einem schnellen Sprung packte Schweighart sie am Arm und zog sie aus der Gefahrenzone. Wenig später wurde DeHaney von der Menge mit einem kräftigen Schwung einfach zur Seite geworfen. Seit seinem ungestümen Angriff waren nur wenige Sekunden vergangen. Die Verwirrung und Verzweiflung stand ihm ebenso ins Gesicht geschrieben wie Schweighart und Annick, die sich eben gerade aufrappelte. Schweighart erkannte, daß sie auf diese Weise nichts erreichen konnten. Auch wiederholte Versuche, von den Ongennen etwas zu erfahren, schlugen fehl. Dann entdeckte er die kleine Gestalt von Steinvogel auf der anderen Seite des Zuges. Er lief mit gesenktem Kopf ein ganzes Stück neben der Menschentraube. Den Tumult schien er nicht bemerkt zu haben. Schweighart winkte DeHaney zu und deutete auf Steinvogel, dann drängte er sich ungeachtet der grimmigen Blicke der Ongennen auf die andere Seite und packte Steinvogel an der Schulter. »Steinvogel, was ist hier los? Was haben Sie mit den beiden vor?« Der kleine Mann befreite sich mit einer ruckartigen Bewegung aus Schweigharts Griff und marschierte schweigend
weiter. Schweighart blieb verblüfft stehen. »Steinvogel, verdammt!« rief er ihm nach. »Was soll das? Sind hier alle verrückt geworden?« Jetzt blieb Steinvogel stehen und wartete, bis Schweighart herangekommen war. »Schweighart, ich habe Sie gewarnt!« zischte er ihn an und setzte sich wieder in Bewegung. »Ich habe Sie alle gewarnt, mehrmals!« »Ich verstehe kein Wort von dem, was Sie sagen. Was ist mit Cooper und dem Mädchen? Wo bringen Sie sie hin?« »Ein Gottesurteil. Belvedere hat ein Gottesurteil über sie verfügt.« Schweighart glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Ein … was? Ein Gottesurteil? Was soll das heißen?« »Sie werden auf einer Palette im Schacht der Pyramide nach oben geschickt. Überleben sie den Aufstieg, sind sie frei. Überleben sie ihn nicht, dann haben sie eben Pech gehabt«, erklärte er trocken. Erst jetzt bemerkte Schweighart, daß der Zug tatsächlich auf den Eingang der Pyramide zuhielt. Er blieb überrascht stehen und versuchte, die Aussage von Steinvogel zu verarbeiten. Ein Gottesurteil. Völliger Blödsinn! Weswegen eigentlich? Durch den Schacht nach oben? Das waren über 140 Meter. Den Druck der Wassersäule konnte niemand überleben. Und selbst wenn, es dauerte einige Minuten, bis die Palette oben ankam. Bis dahin waren die beiden erstickt. »Thomas, was sagt er?« Annick und DeHaney waren inzwischen bei ihm angekommen. Schweighart schüttelte den Kopf und hastete Steinvogel hin-
terher. »Steinvogel, das ist doch absurd. Was wird den beiden überhaupt vorgeworfen? Was haben sie getan?« Der Angesprochene fuhr herum und giftete ihn an: »Warum seid ihr gestern nacht nicht mit den anderen weggegangen, ihr Verrückten? Kommt mit den Frauen auch noch hierher, präsentiert sie Belvedere wie auf einem Teller. Haben Sie mir nicht richtig zugehört, Schweighart, neulich in der Nacht, in der Sie bei mir waren? Haben Sie gedacht, da fabuliert ein besoffener alter Narr vor sich hin?« Er brach ab und atmete schwer. »Belvedere hat das Mädchen in der Nacht zu sich holen lassen. Ihr Freund hat versucht, in Belvederes Gemächer einzudringen, um sie zu befreien. Das ist das Vergehen.« »Vergehen?« Schweighart lachte bitter auf. »Das ist doch wohl ein Witz. Janine ist bestimmt nicht freiwillig mitgegangen und Cooper ist ihr Geliebter. Es ist doch verständlich, daß er sie aus den Fängen dieses Monsters befreien wollte. Was herrschen denn hier für Zustände …« Er wußte, daß er nutzlose Argumente vorbrachte, und Steinvogel gab ihm auch gleich die Quittung dafür. »Hier herrschen die Zustände von nur einem: Belvedere. Erinnern Sie sich noch an meine Worte, die ich Ihnen vor Wochen gesagt habe, Herr Schweighart?« »Verdammt noch mal, Steinvogel! Sie sind doch ein zivilisierter Mensch. Halten Sie die Ongennen auf, und dann gehen wir zu Belvedere und reden mit ihm!« Steinvogel schüttelte den Kopf. »Ich bin doch nicht lebensmüde.« Damit ließ er ihn stehen.
Schweighart versuchte sich zu beruhigen, eine Lösung zu finden. Viel Zeit hatten sie nicht mehr. Die Hälfte der Ongennen war schon im Eingang der Pyramide verschwunden. Hastig erklärte er DeHaney und Annick die Sachlage. »Das kann er nicht machen!« keuchte DeHaney mit kreideweißem Gesicht. »Das überleben die beiden nicht!« Er schob Schweighart beiseite und rannte den Ongennen und Steinvogel nach. »Jim, das nützt doch nichts, die bringen dich um, wenn … ach, Scheiße!« rief er ihm nach. Annick tauchte neben ihm auf und schob ihn an. »Geh ihm nach, schnell! Und paß auf, daß er keinen Unsinn macht!« Ihre nassen Locken klebten ihr im Gesicht. »Ich gehe zu Belvedere. Vielleicht schaffe ich es rechtzeitig, diesen Wahnsinn zu stoppen.« »Wahnsinn? Du bist wahnsinnig! Du gehst nicht! Auf keinen Fall! Du spinnst wohl. Hast du nicht mitbekommen, weswegen Cooper und Janine auf diesem bescheuerten Schlitten liegen? Was glaubst du denn, was passiert, wenn Jim erfährt, wo du hingegangen bist?« »Ich weiß, was ich tue, außerdem bin ich nicht Janine. Und ich kann mit Belvedere umgehen. Ich weiß es, ich fühle es. Also los, geh ihm nach! Wir dürfen keine Zeit verlieren.« »Annick, Jim bringt mich um, wenn er erfährt, daß ich dich habe gehen lassen. Du bleibst hier!« »Du hast mir nichts zu befehlen, außerdem geht es hier um Leben oder Tod. Und ich denke, wir sollten alles versuchen, und das sehr schnell!« Sie hatte ihm die letzten Worte wegen des heftig rauschenden Regens ins Ohr gebrüllt.
Schweighart zögerte. Die Situation hatte sich mit einem Schlag verändert. Annick hatte recht, sie durften keine Zeit verlieren, wenn es nicht eh schon zu spät war. Sie nahm ihm die Entscheidung ab, indem sie sich einfach umdrehte und die kleine Anhöhe in Richtung Lazarettzelt hinaufrannte. Sekunden später war ihre Gestalt in der grauen Regenmasse verschwunden. Schweighart blieb noch einen Moment unschlüssig stehen, dann rannte er in die entgegengesetzte Richtung auf die Pyramide zu. Nachdem er den Eingang passiert hatte, traf er bald auf das Ende des Zuges der Ongennen, die mit lauten und rhythmischen Rufen den ursprünglichen Namen Belvederes skandierten. Mutig drängte er sich durch die Menschenmasse, obwohl er hier und da ein paar heimtückische Stöße und Schläge abbekam. Sehr weit drang er nicht vor, denn schon nach wenigen Metern standen die hochgewachsenen Männer so dicht an dicht, daß an ein Weiterkommen nicht zu denken war. Er fing an zu schwitzen, und der feuchte Geruch nach Schweiß und Ausdünstungen in dem engen Gang nahm ihm fast den Atem. Gerade als er umkehren wollte, arbeitete sich vor ihm mit lauten Flüchen DeHaney aus den Leibern hervor. »Kein Durchkommen«, keuchte er, als er Schweighart erkannte. »Wir müssen irgendwie hoch zur Spitze der Pyramide. Die Chance ist gering, aber vielleicht überlebt einer von beiden diese scheußliche Sache.« »Direkt neben dem Eingang führt ein Querstollen zu dem
Treppenschacht, der nach oben führt«, sagte Schweighart. Seine Beine drohten ihm den Dienst zu versagen. Ob es vor Angst oder vor körperlicher Schwäche war, vermochte er nicht zu sagen. DeHaney antwortete nicht und bedeutete ihm mit lediglich einer auffordernden Bewegung des Kinns, voranzugehen. In gebückter Haltung kämpften sie sich zurück zum Eingang und schlüpften in den schmalen Stollen. Schweigend krabbelten sie hintereinander durch den engen Gang und erreichten nach einigen Minuten den Weg nach oben, auf dem sie vor Wochen mit Steinvogel zum Kesselhaus gelangt waren. Es war sehr dunkel in dem Gang. Schweighart stellte fest, daß die meisten der Lichtstreifen bereits abmontiert waren. Atemlos schlug er vor, die Abzweigung zum Balkon zu nehmen, um nachzusehen, was unten im Kesselhaus vor sich ging, aber DeHaney schüttelte den Kopf. »Nutzlos«, japste er, nach Atem ringend. »Die Ongennen sind wild entschlossen. Außerdem sind sie schon vor gut zehn Minuten dort angekommen. Wahrscheinlich ist die Palette längst auf dem Weg nach oben.« Sie stiegen weiter die Treppen hinauf, erklommen kantige Abschnitte und zwängten sich an Engstellen vorbei. Überall auf ihrem Weg nach oben zweigten Gänge ab, die oft nicht mehr waren als dunkle Löcher. An einigen Stellen schimmerten schmale magentafarbene Rechtecke in der Düsternis. Schweighart hatte oft auf seinem Weg hinauf zur Baustelle gerade an diesen Punkten angehalten, um zu ergründen, was dahinter verborgen sein könnte. Jedesmal hatte ihn ein freundlicher Ongenne mit sanften Schubsern zum Weitergehen aufgefordert.
Jetzt, in diesen schrecklichen Augenblicken hatte er keinen Blick mehr für diese mysteriösen Eingänge. DeHaney trieb ihn immer mehr zur Eile an. Es konnten nur noch wenige Höhenmeter sein. »Warte«, schnaufte Schweighart. »Wir sind gleich da. Hier rechts ist eine Kammer, in der Werkzeuge gelagert sind. Wir brauchen etwas, um sie von den Blöcken herunterzuschneiden.« DeHaney stürmte wortlos an ihm vorbei, während er sich seitlich in die Kammer hineinzwängte und nach einem Messer oder einem ähnlich brauchbaren Gegenstand suchte. Kurz darauf machte er sich mit zwei langen hölzernen Hebelstangen und einer leichten Säge auf den restlichen Anstieg. Fluchend krabbelte er schnell zurück, nachdem ihm die Säge aus der Hand gefallen war und auf den groben Stufen scheppernd nach unten rutschte. Als er durch eine schmale Öffnung die oberste, inzwischen sehr kleine Fläche der Pyramide erreichte, empfing ihn ein stürmischer Wind und peitschender Regen. Und eine niederschmetternde Szene … Der quadratische Kamin des Schachtes nahm mittlerweile fast den ganzen Platz der oberen Ebene ein und aus ihm heraus ragten die beiden Steinblöcke auf einer schwankenden Palette. Wasser schwappte über die Umrandung. Auf den Quadern lagen zwei leblose Körper. DeHaney saß an den Kamin angelehnt mit angezogenen Knien und schluchzte hemmungslos. Mit schnellen Schritten stolperte Schweighart hinüber, ließ die Werkzeuge fallen und zog sich vorsichtig an der schlüpfrigen Umrandung nach oben.
Er stützte sich mit den Ellenbogen auf und erkannte mit einem Blick, daß beide tot waren. Janine hatte wahrscheinlich das Glück gehabt, nichts von ihrem bevorstehenden Schicksal zu ahnen und war aus ihrer Bewußtlosigkeit in den Tod gegangen. Cooper mußte einen schrecklichen Todeskampf durchgemacht haben. Seine Augen waren aus den Höhlen hervorgetreten und blickten Schweighart aus einer unwirklichen Position an. Seine Zunge hing ihm in Fetzen aus dem Mundwinkel, aus dem ein letzter Schwall Blut hervortrat und sofort vom Regen weggespült wurde. Fassungslos schob sich Schweighart von der Umrandung zurück und sackte mit weichen Knien auf den Boden. Sein Verstand weigerte sich, das Gesehene zu akzeptieren, obwohl das Bild der beiden Toten ständig vor seinen Augen stand. Er machte sich Vorwürfe. Er hätte Cooper nicht allein zurücklassen dürfen. Vielleicht wären sie alle auch schon auf dem Weg in dieses Tal gewesen, wenn er nur nicht so stur gewesen wäre und in weniger trotziger Weise zum Ausdruck gebracht hätte, daß er auf jeden Fall bleiben würde. Er hatte dabei nur an sich gedacht. Ich denke immer nur an mich, warf er sich vor. Und nun sind Cooper und Janine tot. Er stellte sich im Geiste den Moment im Kesselhaus vor, als Cooper erkannt haben mußte, was die Ongennen mit ihm und Janine vorhatten. Was hatte er in diesem Augenblick gefühlt? Nackte, panische Angst? Oder war er schon in einem Schockzustand? Hatte er auf Hilfe von seinen Gefährten gehofft? Wieder schob sich das Bild der beiden Toten auf den Steinblöcken in sein Bewußtsein. Neben ihm regte sich DeHaney und sagte etwas.
Schweighart schreckte hoch. »Was?« »Ich habe gefragt, wo Annick ist.« Nach einigem Zögern sagte er es ihm. DeHaney sah ihn mit ausdruckslosen Augen an. Dann sagte er kalt: »Schweighart, du bist ein Idiot!« Er wußte nicht, wie lange er an der Umrandung des Kaminschachtes gesessen hatte. Jedes Zeitgefühl schien ihm abhanden gekommen zu sein. DeHaney war jedenfalls schon lange weg. War ohne ein weiteres Wort aufgestanden und gegangen. Schuld, Schuldzuweisung, Urteil. Ermessensspielraum – den Umständen entsprechend, vielleicht. Schweighart begann zu frieren. Mittlerweile war er naß bis auf die Haut. Der Regen sickerte schon nicht mehr in seine Kleidung hinein, sondern floß in kleinen Bächen an ihm hinab. Mühsam bündelte er seine Restenergie und versuchte aufzustehen. Er preßte rückwärtig beide Handflächen an die Mauer und fühlte bei der ersten Bewegung sofort Schmerzen in allen Gliedern. Ächzend wälzte er sich zur Seite und krabbelte auf allen vieren ein Stück zurück. Er scheute sich vor dem Aufstehen, weil er dann gleich wieder das Bild von den beiden Toten vor Augen hatte. Dieses Mal jedoch nicht imaginär, sondern real, dicht vor sich. Mit dem Rücken zum Kaminschacht richtete er sich schließlich auf. Er stand nun nur wenige Meter vor einer Brüstung aus bereits gesetzten Steinen, die die Außenverkleidung bildeten. Um ihn herum hing eine gleichförmige graue Masse, die haupt-
sächlich aus schwerer Feuchtigkeit bestand. Ein Ozean aus Luft und Wasser. Selbst die Steinquader vor ihm schienen aus festem Wasser zu bestehen. Mit vorsichtigen Schritten trat er an die Umrandung heran und blickte in die Tiefe. An der schrägen Außenwand lief das Regenwasser in wellenartigen Bögen über die gesamte Fläche nach unten in ein undefinierbares Grau hinab. Von hier oben war kein Übergang zwischen dem Pyramidensockel und dem Boden zu erkennen. Nur eine dunkelgraue Ebene ohne wesentliche Schattierungen. Für einen kurzen Moment dachte er daran, einfach einen letzten Schritt nach vorne zu machen, aber der Gedanke an ein haltloses und viele Sekunden langes Schlittern in die Tiefe ließ ihn erschauern. Nein, dieses Ende wäre erbärmlich, und noch steckte ein Lebenswille in ihm. Entschlossen schüttelte er einen Schwall Wasser aus den Ärmeln und wandte sich dem Schacht zu, auf dem die beiden leblosen Körper wie auf einem Opferstein lagen. Er konnte sie da oben nicht einfach so liegen lassen. Zuerst mußte er sie losschneiden, aber was sollte er danach mit den Leichen machen? Ganz nach unten bringen konnte er sie nicht, der Transport wäre für ihn viel zu gefährlich und zu anstrengend. Er überlegte, ob er sie in der Werkzeugkammer bestatten sollte, aber der Gedanke erschien ihm zu entwürdigend. Vielleicht fiel ihm später noch etwas ein, jetzt brauchte er erst einmal die Säge. Es dauerte länger, als er gedacht hatte, bis er die dicken, nassen Seile zerschnitten hatte. Dann zog er Cooper und Janine von den Blöcken, schnitt ein längeres Stück Seil ab und zog die Körper mit dem unter den Achseln durchgezogenen Seil zum
schmalen Aufstieg hinüber. Als er die Werkzeugkammer nach einem geeigneten Platz erkundete, fiel ihm ein schmaler Durchgang auf, der für eine weitere Kammer angelegt, später aber wohl nie benutzt worden war. Dorthin schleppte er die beiden Toten, indem er die Körper vor sich am Seil in den Gang hinuntergleiten ließ und sich mit den Füßen an den Wänden und den engen Stufen abstützte. Er kam einige Male dabei ins Rutschen und fing sich gerade im letzten Moment noch ab. Schweißgebadet und erschöpft bedeckte er endlich die Leichen mit losem Schutt vom Boden der Kammer und kniete für einige Augenblicke neben dem improvisierten Grab. Seine Gedanken gingen zurück an den Flug im Shuttle. Cooper hatte einen sonderbaren Charakter besessen. Mit einer nicht definierbaren latenten Unsicherheit. Irgendwie fehl am Platz, trotz seiner Fähigkeiten. Schweighart hatte nie einen engeren Kontakt zu ihm gehabt, erst in seinem traumatischen Zustand hatte er eine gefühlsmäßige Beziehung zu ihm aufgebaut. Keine sehr starke, aber Cooper war für ihn, wie auch für die anderen, zu einem sensiblen Wesen geworden, auf das man aufpassen mußte, wie auf einen kleinen behinderten Bruder. Und sie hatten versagt. Er hatte versagt. Er verstand jetzt DeHaneys kalten Blick. Diese kalte Wut in seinen Augen. Es war nicht nur wegen Annick, sondern auch wegen Cooper, und natürlich auch wegen Janine. DeHaney war der Commander, und damit hatte er eine Verantwortung für seine Crew übernommen. Alles, was der Crew widerfuhr, fiel auf ihn zurück, er nahm es auf sich und litt mit seinen Leuten, selbst wenn er oft gleichgültig schien.
»Dieser Scheißkerl!« schrie er laut mit Tränen in den Augen. Er durfte keine Zeit verlieren. DeHaney war bestimmt auf dem Weg zu Belvedere und konnte jede Hilfe gebrauchen. Hastig stemmte er sich hoch und begann mit dem Abstieg. Er mußte sich auf dem Weg nach unten mehrmals orientieren, um nicht auf zeitraubende Umwege zu gelangen. Etliche Male rutschte er auf den glitschigen Stufen aus und versuchte sich danach immer wieder in seiner Eile zurückzunehmen, um keine Verletzung zu riskieren. Der Weg kam ihm endlos vor. Als er endlich die Höhe des Kesselhauses hinter sich ließ, verminderte er seinen Schritt. Was sollte er als nächstes tun? DeHaney suchen, aber wo? Sich an Belvederes Hangar anschleichen? Steinvogel wäre eine Möglichkeit, aber von ihm war keine Hilfe zu erwarten. Wahrscheinlich blieb ihm keine andere Wahl, als zunächst die Lage zu sondieren, was jedoch schwierig werden würde. Draußen war es hell, noch nicht einmal Mittag. Vielleicht wäre es besser, sich in der Pyramide zu verstecken und die Dunkelheit abzuwarten. Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Es mußte nichts bedeuten, denn er wußte aus Erfahrung, daß dieses riesige Bauwerk ständig in seiner Struktur arbeitete. Zwischen den Steinquadern entstanden Spannungen, die sich manchmal mit einem lauten Krachen lösten oder ein ziehendes Schaben auslösten. Ablaufendes Wasser brodelte plötzlich durch schmale Ritzen und unbekannte Hohlräume erzeugten durch verirrte Windböen geisterhaft klingende Töne. Zudem hauste allerlei Getier in dem Monument. Mäuse, Schlangen und vor allem Ratten, die aber hauptsächlich in den oberen Ebenen vorkamen.
Zu dieser Vielfalt von Geräuschen kam noch eine unerklärliche Mystik. In der Pyramide existierten Kammern, die kein Ongenne freiwillig betrat. Die wenigen, die sich länger in diesen Räumen aufgehalten hatten, berichteten später von quälenden Kopfschmerzen, Unwohlsein und seltsamen Erscheinungen. Aber dieses Geräusch war nichts von alledem. Schweighart wußte sofort, daß Gefahr drohte. Vorsichtig führte er seinen nächsten Schritt aus und spähte um einen Mauervorsprung. Es war nichts zu sehen. Er befand sich dicht über dem tunnelartigen Gang, der ins Freie führte. Für einen kurzen Moment überlegte er, wieder in dem Stollen nach oben zu steigen, als er am oberen Ende eine unmerkliche Bewegung wahrnahm. Ongennen. Er konnte ihre Anwesenheit förmlich riechen. Sie warteten also auf ihn. Und anscheinend waren sie ihm nicht freundlich gesonnen. Die einzige Chance, ihnen zu entkommen, war ein schneller Spurt zum Eingang. Nicht sehr aussichtsreich, denn bestimmt waren auch dort welche postiert, aber vielleicht konnte er auf einen Überraschungseffekt hoffen. Er blickte noch einmal kurz nach oben und visierte dann die Richtung zum Eingang hin an. Jetzt war alles ruhig. Ganz langsam ging er in die Hocke und atmete ein paar Mal tief durch. Dann stieß er sich kräftig von der Mauer ab und lief los. Er kam nicht weit. Sie waren anscheinend auf eine ähnliche Reaktion von ihm vorbereitet gewesen, denn kaum war er einige Meter in dem hohen Gang unterwegs, wurde er von mehreren Ongennen verfolgt, die ihn mühelos abfingen und rücksichtslos zu Boden
warfen. Ihre Absicht war eindeutig. Als er sich heftig zu wehren begann, spürte er den Schlag kaum, der ihn gezielt hinter dem Ohr traf. Vor seinen Augen blitzte es kurz auf, danach registrierte er noch ein schwammiges Dahingleiten. Dann war nichts mehr um ihn herum.
30. Kapitel DeHaney rutschte und stolperte mit langen Schritten den engen Gang hinunter. Seine Wut über Schweighart ließ ihn jegliche Vorsicht vergessen. Erst als er sich nach einem bösen Sturz über mehrere Stufen blutige Schrammen an beiden Knien einhandelte und hart mit dem Kopf an einen überstehenden Sims schlug, kam er wieder zur Besinnung. Benommen setzte er sich unter einen der schwach glimmenden rötlichen Lichtstreifen und fuhr mit tastenden Händen über Stirn und Knie. Es war gerade noch einmal gut gegangen, jedenfalls hatte er sich nichts gebrochen. Es dauerte eine Weile bis er seine Gefühle wieder unter Kontrolle hatte. Nach einigem Nachdenken kam er zu dem Schluß, daß Schweighart im Grunde genommen gar nicht anders hatte handeln können. Im nachhinein betrachtet lagen die Fehlentscheidungen bei ihm selbst. Sie hätten alle verschwinden sollen, solange noch Zeit war. Cochran, der alte Fuchs, hatte die Lage richtig eingeschätzt und rechtzeitig das Feld geräumt. DeHaney wußte auch nicht genau, welcher Teufel ihn geritten hatte, unbedingt bleiben zu wollen. Spätestens, als ihm Cooper am Abend zuvor wie ein treuer Hund folgte und sich ohne Vorbehalte seiner Entscheidung anschloß, hätte ihm klar sein müssen, daß er immer noch die Verantwortung für seine Crew trug. Aber da war ja noch Annick gewesen. Er wußte, daß sie auf
keinen Fall mit den Cochrans gegangen wäre. Einmal schon aus reiner Opposition nicht und zum anderen weil sie unbedingt mehr über die Grundlagen der afrikanischen Kultur erfahren wollte. Sie hatte seit Tagen von nichts anderem gesprochen. Besonders der Gedanke, daß die Wiege der Zivilisation der Menschheit von einer Spezies wie Belvedere abstammen könnte, hatte sie gefangen genommen. Mit einem derben Fluch stand er auf und stieg vorsichtig im Dämmerlicht der Lichtstreifen die engen Stufen hinunter. Dieser Schwachsinn von Kultur und Zivilisation! Er mußte als nächstes herausbekommen, wo sich Annick aufhielt und wie es ihr ergangen war. Vielleicht machte er sich völlig umsonst Sorgen. Vielleicht war sie auch nur zu spät gekommen, um die Katastrophe abzuwenden. Nein. Er schüttelte den Kopf. Es gab keinen Grund in Optimismus zu verfallen. Dieses arrogante Lächeln von Belvedere gestern nacht trieb ihm einen Schauer über den Rücken. Dieses selbstherrliche Gehabe und die Entführung von Janine, kaum daß er hier angekommen war. Ganz zu schweigen von dem grausamen Ritual, dem Cooper und Janine zum Opfer fielen. All das war kein Irrtum oder Mißverständnis, sondern das egoistische Darstellen von überlegener und primitiver Machtausübung, in der ein Menschenleben nichts bedeutete. Schlimmste Befürchtungen machten sich in DeHaneys Denken breit. Letztendlich würde er Belvedere gegenübertreten müssen, aber dann sollte er vorbereitet sein. Er mußte ins Camp zurück. Dort hatte er noch einige Waffen gelagert. Wichtig dabei war, daß er ungesehen operieren konnte. Zunächst einmal untertauchen und sich informieren. Danach konnte er sich
vielleicht einen Überraschungseffekt zunutze machen. Verblüfft blieb er plötzlich vor einem schmalen Eingang in einer Mauer stehen. Er konnte sich nicht erinnern, beim Aufstieg hier durchgekommen zu sein. Wahrscheinlich hatte er bei der letzten Abzweigung den falschen Weg genommen. Mit einem erneuten Fluch wollte er schon umkehren, als er polternde Geräusche vernahm, die aber bald verhallten. Zur Vorsicht blieb er einige Zeit ruhig stehen und wartete ab. Vielleicht waren es Ongennen, die nach ihm suchten, oder, was wahrscheinlicher war, daß die Arbeit in der Pyramide wieder aufgenommen wurde. Er schätzte, daß oben an der Spitze höchstens noch 30 oder 40 Steinquader bis zur Vollendung fehlten. Die Frage war, was danach geschah. Würde sich Belvedere unverzüglich auf seine Zeitreise begeben oder würde er auch dieses Ereignis auf überhebliche Art und Weise zelebrieren? Wahrscheinlich letzteres, dachte er und wandte sich dem schmalen Spalt zu. Ein schwacher Lichtschein drang dort heraus. Neugierig schob er sich seitwärts einige Meter hinein und gelangte auf einen kleinen Absatz. Zuerst meinte er, vor einem grundlosen Abgrund herausgekommen zu sein, bis er wenige Zentimeter zu seinen Füßen eine spiegelnde Wasserfläche wahrnahm. Die Ausmaße waren nicht sehr groß, er schätzte sie auf höchstens vier mal fünf Meter, allerdings schien das Becken recht tief zu sein, denn an den Rändern waren in Abständen Lichtstreifen angebracht, deren Schein er am Grund nicht mehr erkennen konnte. Also hatte Cochran auch hier recht gehabt mit seiner Vermutung, daß es in der Pyramide Wassertanks als Reserve für die
Große Galerie geben könnte. Es war erstaunlich, welch konstruktiver Aufwand für den Bau betrieben worden war. DeHaney mochte gar nicht wissen, welche Überraschungen noch in diesem Monument verborgen waren. Ganz abgesehen davon hatte er im Augenblick andere Probleme. Er quetschte sich mit angehaltenem Atem und eingezogenem Bauch wieder zurück durch den Spalt. Wieder draußen angekommen lauschte er nach weiteren Geräuschen, aber es war nichts zu hören. Vermutlich waren es nur wenige Personen gewesen, die im Gang nach oben gestiegen waren, denn oben auf der Plattform war nur wenig Platz zum Arbeiten. Plötzlich fiel ihm siedend heiß ein, daß er Schweighart ganz vergessen hatte. War es gar der Deutsche gewesen, dessen Schritte er vernommen hatte? Zweifelnd blieb er an der Abzweigung stehen, an der er kurz zuvor den falschen Weg eingeschlagen hatte. Sollte er nach oben steigen, um eventuell Schweighart zur Seite zu stehen, wenn dieser mit den vermeintlichen Ongennen zusammentraf, oder sollte er seinen Weg nach unten fortsetzen? Der Aufstieg war weitaus kürzer, außerdem mußte er sich Gewißheit verschaffen. Also beschloß er nach kurzem Nachdenken den Aufstieg. Er würde sich eine unterlassene Hilfe nie verzeihen. Als er eine gute Viertelstunde später oben im strömenden Regen vorsichtig um die Ecke des Ausstieges lugte, fand er die Plattform verlassen vor. Der Steinquader auf der Palette war leer. Also war es doch Schweighart gewesen, der ihm gefolgt war. Vorher hatte er
anscheinend die Leichen irgendwo untergebracht. DeHaney konnte sich nicht vorstellen, daß er sie mit nach unten genommen hatte, der Transport für einen einzelnen Mann wäre nicht zu schaffen gewesen. So allmählich wurde die Situation immer verzwickter. Er trat an den Rand der Pyramide und blickte in die Ebene hinunter, konnte aber außer verwaschenen Konturen nichts ausmachen. Es regnete immer noch sehr stark. Er entschied, daß die Bedingungen ein ausreichender Schutz für seine geplanten Aktionen waren, also drehte er sich entschlossen um und betrat wieder den Gang in die Tiefe. Es dauerte dieses Mal lange, bis er die Strecke bewältigte, denn er sicherte sich ab, bevor er ein uneinsehbares Stück Weg betrat. Nachdem er die Höhe des Kesselhauses hinter sich gelassen hatte, wurde er noch vorsichtiger. Zu Recht, denn unter ihm im Quergang vernahm er laute Rufe. Irgend etwas ging da vor. Zuerst überlegte er, ob er sich nicht zurückziehen sollte, aber nachdem er in seiner Nähe keinen Ongennen entdecken konnte, wich er in den Stollen aus, den er und Schweighart am Anfang benutzt hatten und schlich auf diesem Weg behutsam weiter bis kurz über den Eingang. Gerade als er über dem Quergang herauskam, erblickte er unter sich mehrere Ongennen, die ein lebloses Bündel in ihrer Mitte nach draußen trugen. Schweighart. Sie hatten ihn also gefangen. Anscheinend war er bewußtlos, und das würde bedeuten, daß er sich nicht freiwillig ergeben hatte. DeHaney rutschte schnell etwas zurück in den Stollen, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und zog die Knie an.
Jetzt war es eindeutig. Sie waren hinter ihnen her. Aus welchem Grund auch immer. Jetzt konnte er auf keine Verständigung mehr hoffen. Das Verhalten der Ongennen und die Situation hatte sich also zum Unguten gewendet. Er mußte aus der Pyramide heraus. Die Frage war nur, auf welchem Weg. Es gab bestimmt andere Möglichkeiten, aber er wußte nur von diesem Zugang. Nachdem er einige Minuten abgewartet hatte, kroch er vorsichtig auf dem Bauch den Stollen entlang, bis er das trübe Rechteck des Eingangs sehen konnte. Sie hatten eine Wache aufgestellt. Jeweils in einer Nische standen zwei Ongennen innerhalb der Pyramide. Und sie hielten Gewehre in der Hand. DeHaney konnte das matte Schimmern der Läufe erkennen, sobald sich einer von ihnen bewegte. Regungslos auf dem Bauch liegend beobachtete er sie eine ganze Weile, aber sie blieben unbeirrt auf ihrem Posten. Hier kam er also nicht raus. Gerade als er sich rückwärts robbend aus der Gefahrenzone entfernen wollte, vernahm er leise Stimmen vom Stollenanfang her. Sie kamen von irgendwo hinter ihm an der Mündung zum Aufstiegsschacht. Gleichzeitig war auch vor ihm am Eingang Bewegung. Die Wachen begrüßten mit lauten Worten mehrere eintreffende Ongennen. Er verstand nicht viel, aber soweit er aus ihren Worten heraushören konnte, handelte es sich um eine Gruppe, die an der Pyramide weiterarbeiten sollte. Er saß in der Falle. Er mußte unbedingt von hier verschwinden, so schnell es ging. Die einzige Möglichkeit war, daß die Ongennen am Eingang vom Eintreffen ihrer Gefährten abgelenkt waren und ihn
nicht bemerkten, wenn er aus dem engen Stollen in den hohen Gang hinunterkletterte. Ihm blieben nur wenige Sekunden. Leise ging er in die Hocke und blickte noch einmal kurz zum Eingang hin, konnte aber keine Bewegung feststellen. Mit den Händen abstützend schob er sich behutsam nach vorne und sprang von dem niedrigen Sockel in den Gang hinunter. Mit einem geschmeidigen Abfedern kam er lautlos auf dem Boden auf und huschte ohne weiteres Umsehen an der Umrandung des Transportkanals ins Innere der Pyramide. Anscheinend hatte ihn dabei niemand entdeckt, denn er hörte keine lauten Ausrufe oder dergleichen. Jetzt galt es ungesehen den Aufgang zum Balkon des Kesselhauses zu passieren, denn irgendwo da oben standen mindestens zwei Ongennen. Erst in diesem Augenblick wurde ihm bewußt, daß er mit seiner Aktion nichts gewonnen hatte. Vor ihm lag eine Sackgasse, das Kesselhaus. Die einzige Verbindung von dort nach draußen war der Transportschacht nach oben zur Spitze der Pyramide und die war tödlich. Er mußte ein Versteck finden, in dem er einen günstigen Moment für eine weitere Flucht abwarten konnte. Auf der Höhe des Aufgangs wechselte er die Seite. Flach an die Wand gedrückt spähte er um die Ecke nach oben. Auch hier war noch alles ruhig, aber vom Eingang her war jetzt lautes Poltern zu hören. Anscheinend wurden die letzten Steinquader in den Kanal geschoben, die man auf Schlitten herantransportiert hatte. Und tatsächlich, nur wenig später glitten die ersten Blöcke geräuschlos im Kanal heran. Das bedeutete aber auch, daß es nicht mehr lange dauern konnte, bis die Arbeiter ihnen nachfolgen würden.
Er mußte von hier verschwinden, aber wohin? Es gab nirgendwo ein geeignetes Versteck, außer … Überrascht trat er von dem hölzernen Gitter unter seinen Füßen zurück. Hier verschwand das überschüssige Wasser aus dem Schacht, nachdem eine Palette nach oben geschickt wurde. Laut Steinvogel wurde es durch einen Stollen nach unten zum Becken vor der Sphinx geleitet, in dem er in der Nacht mit Annick gebadet hatte. Kein idealer Fluchtweg, aber vielleicht die einzige Möglichkeit. Er ging in die Hocke und packte das Gitter mit beiden Händen. Es rührte sich keinen Zentimeter von der Stelle. Verblüfft rutschte er an die andere Seite und versuchte erneut, es anzuheben. Wieder kein Erfolg, dabei sah die Holzkonstruktion gar nicht so stabil oder gar schwer aus. Vom Eingang her waren nun auch schon die herannahenden Ongennen zu hören. Leise fluchend krabbelte er geschwind wie ein Affe auf allen vieren auf der hölzernen Konstruktion herum und suchte nach einer Vorrichtung, mit der das Gitter vielleicht verriegelt sein könnte. Endlich, nach blindem Herumtasten an der einen Querseite, fand er zwei primitive Holzkeile, die zwischen den Umrandungssteinen und dem Gitterrand hineingetrieben worden waren. Sie saßen sehr fest, lockerten sich aber nach mehrmaligem Herumprobieren und gaben schließlich nach. Mit einem befreienden Seufzer warf er sie zur Seite und hob nun das Gitter mit Leichtigkeit hoch. Darunter war es dunkel. Er hatte keine Ahnung, wie tief es da hinunterging. Schnell schob er sich auf den Rand, hielt mit einer Hand das aufgestellte Gitter und hoffte mit den Füßen den Boden zu spüren, aber
vergebens. Inzwischen kamen die Ongennen immer näher. Gleich mußten sie zu sehen sein. Es gab keine andere Wahl, er mußte da rein. Er drehte sich um und rutschte auf dem Bauch liegend weiter in die Öffnung. Immer noch kein Kontakt. Dann endlich, mit der Fußspitze ertastete er einen Boden. Erleichtert setzte er beide Füße auf, bewegte das Gitter über sich langsam nach unten und paßte es der Umrandung an. Keine Sekunde zu spät, denn wenig später trampelten die Ongennen über ihn hinweg. Plötzlich blieben sie stehen. Ein lauter Ruf ließ DeHaney eilends tiefer in den Stollen hineinkriechen. Das Gitter wurde kurz angehoben und anschließend mit Fußtritten in die richtige Lage gebracht. Danach traten derbe Schuhe die beiden Keile wieder zwischen die Spalten der Umrandung und des Holzgitters. Mit einem unterdrückten Seufzer sank DeHaney an die Stollenwand. Das war knapp gewesen. Er wußte, daß er so schnell wie möglich von hier verschwinden mußte, denn sobald die erste Palette die untere Schleuse passiert hatte, würde ihn ein reißender Wasserschwall wegschwemmen. Ächzend rappelte er sich hoch und lief geduckt den Stollen hinunter. Das Gefälle war sehr gering, aber der Boden war durch die Beimischung des Ifertes spiegelglatt. Mehrmals rutschte er aus und schlitterte wie auf einer Bobbahn den engen Gang entlang. Um ihn herum war es stockdunkel, und die Luft wurde zunehmend stickiger. Er durfte gar nicht daran denken, was passieren würde, wenn der Stollen nicht am Becken endete und
das Wasser einfach in der Erde versickerte. Zweifel kamen in ihm auf. Wie lange war er schon unterwegs? Fünf oder zehn Minuten? War die Entfernung vom Mittelpunkt der Pyramide und der Sphinx nicht viel kürzer? Vielleicht führte der Stollen ja auch bis zum Nil hinunter? Hinter ihm vernahm er ein donnerndes Rauschen. Jetzt waren alle Überlegungen überflüssig und er konnte nur noch auf die Hoffnung setzen. Es würde nicht lange dauern, bis ihn die heranschießenden Wassermassen eingeholt hatten. Mit rasselndem Atem rutschte und stolperte er durch den Stollen. Das geduckte Laufen brachte ihn nicht schnell genug voran. Als die Neigung des Bodens zunahm, warf er sich auf den Bauch und rutschte haltlos und mit wachsender Geschwindigkeit durch die enge Röhre. Das Atmen bereitete ihm Schwierigkeiten. Verzweifelt versuchte er durch ein Ausstrecken der Arme auf den Rücken oder wenigstens in eine Seitenlage zu gelangen, aber er fand auf der glatten Fläche nirgendwo Halt, um seine Position verlagern zu können. Urplötzlich war die Wasserwand mit einem gewaltigen Rauschen heran. Seine Beine wurden schlagartig nach vorne gezogen und er selbst in einem tosenden Gemisch aus Luft und brodelndem Wasser herumgewirbelt. Mächtige Schubkräfte trieben ihn vor sich her, ließen kurzzeitig nach und schwappten über ihn hinweg. Trotz seiner wirbelnden Bewegungen versuchte er, nicht in Panik zu verfallen, obwohl er schon über fast keinerlei Sauerstoffreserven mehr verfügte. Plötzlich wurden die unzähligen Blasen um hin herum heller und die Schubkräfte verwandelten sich in einen Sog, der ihn
zurück in die Röhre saugte. Er mußte nahe am Ende der Röhre unmittelbar am Becken sein. In einem letzten Aufbäumen strebte er mit kraftlosen Schwimmbewegungen auf den hellen Fleck direkt vor seinen Augen zu, kam jedoch mit seinen vollgesogenen Kleidern nur zentimeterweise vorwärts. Ein wütender Aufschrei entfuhr seiner Kehle. Das durfte nicht sein, er war nur knapp vor seinem Ziel! Einen halben Meter vielleicht noch … Ein roter Schleier wischte über sein Blickfeld und gelbe Blitze stanzten sich in seine Sehnerven, als seine Fingerspitzen an einen harten Mauervorsprung stießen. Instinktiv packte er zu und zog sich daran mit letzter Kraft durch die Wasseroberfläche ins Freie. Es war schon spät in der Nacht, als er es endlich geschafft hatte, ungesehen in die Nähe des Hangars zu gelangen. Überall patrouillierten Ongennen, allerdings mit wenig Aufmerksamkeit. Trotzdem mußte er immer wieder geduldig abwarten, bis sie an seinen Verstecken vorbeigezogen waren. Jetzt war er nur noch wenige Meter vom Hangar entfernt. Durch die Zweige konnte er das schwach schimmernde und magentafarbene Rechteck einer Tür erkennen. Sie war nicht bewacht. Unschlüssig ging er in die Hocke und überlegte, was er tun sollte. Das Ganze roch sehr nach einer Falle. Belvedere konnte sich ausrechnen, daß er nach Annick suchte, und nichts wäre leichter, als ihn einfach auf sein eigenes Terrain zu locken, von dessen Beschaffenheit DeHaney keine Ahnung hatte. Der Hangar war nicht sehr hoch, dafür aber recht langgezo-
gen. Im hinteren Teil reichte er bis an eine kleine Anhöhe. Vielleicht war es besser, den ganzen Komplex erst einmal zu umrunden, damit er sich eine Übersicht verschaffen konnte. Er zog die schmalen Lederriemen fest, mit denen er das Gewehr auf den Rücken gebunden hatte. Außerdem hatte er vom Camp noch einen klobigen Revolver und ein langes Messer mitgenommen. Mehr würde er nicht brauchen. Falls es tatsächlich zu einer Schießerei kommen würde, wäre er sowieso im Nachteil, denn in dem Fall wäre sofort eine kleine Armee zur Stelle. Seine einzige Chance bestand darin, Belvedere außer Gefecht zu setzen. Über das, was danach kommen würde, hatte er sich keine Gedanken gemacht. Wenn er Glück hatte, konnte er mit Annick fliehen, aber selbst diese Möglichkeit erschien ihm sehr unwahrscheinlich. Eigentlich ist es Selbstmord, dachte er. Er hatte in den vergangenen Stunden hin und her überlegt, wie er vorgehen sollte. Das Beste wäre gewesen, für die nächsten Tage unterzutauchen und abzuwarten, aber er wußte, dazu würde er die Geduld nicht aufbringen. Annick und Schweighart waren in Belvederes Gewalt. Annick würde sich bestimmt wehren, wenn ihr Belvedere zu nahe kam. Was aber, wenn er daraufhin die beiden ebenfalls in dem Schacht nach oben schickte. Falls es vor einem neuerlichen Gottesurteil wieder zu einer ähnlichen Prozession kam, würde er nur hilflos zusehen können, und das würde seine Kräfte übersteigen. Behutsam ließ er die Blätter des Busches vor sich wieder zusammengleiten und zog sich zurück. Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen, aber überall tröpfelte es von den Sträuchern. Es kam ihm zugute, daß auch hier gefällte Bäume kreuz und quer
lagen, die ihm ausreichenden Schutz boten. Während er geduckt durch die Deckung der Palmwedel schlich, überkamen ihn Zweifel wegen seines weiteren Vorgehens. Wie würde er sich verhalten, wenn es ihm tatsächlich gelingen sollte, Belvedere Auge in Auge gegenüberzustehen? Konnte er so einfach auf einen Menschen schießen? Er wußte, daß er nur dann Erfolg haben würde, wenn es ihm gelang, einen heimtückischen Anschlag auf Belvedere zu verüben. Im direkten Zweikampf würde er ihm unterlegen sein, denn wahrscheinlich würde dieses Wesen Waffen einsetzen, von denen er noch nicht einmal eine Ahnung hatte. Die Nanomaschinen fielen ihm ein. Die Möglichkeiten, die diese winzigen Apparate boten, waren schier unbegrenzt. Außer von Steinvogel, der die Cochrans bei ihrer Ankunft mit Hilfe der Nanomaschinen betäubt hatte, waren sie von Belvedere bisher nur zu optischen und akustischen Zwekken verwendet worden. Aber das mußte nichts heißen. Es kam ihm sogar verdächtig vor, daß sie bisher noch nicht in irgendeiner Form von Waffen aufgetaucht waren. Er war ungesehen an der Rückseite des Hangars angelangt und kletterte über die niedrige Kante auf das Flachdach hinauf. In der Mitte des Daches schimmerte in einem matten Licht eine flache Kuppel in Form einer schmalen Linse. Eine magische Anziehungskraft schien von dieser Kuppel auszugehen, und DeHaney robbte auf den Ellenbogen ungeduldig die wenigen Meter hinüber zu dem vermeintlichen Glasdach. Endlich tat sich ihm eine Möglichkeit auf, einen Blick in den Hangar zu werfen. Er ließ alle Vorsicht außer acht, als der Schein sein Gesicht und seinen Körper hell beleuchtete und er ein gut sichtbares Ziel im Dunkel um ihn herum abgab. Beinahe süch-
tig nach Informationen schob er sich halb auf die flache Kuppel hinauf und spähte hinunter in Belvederes Reich. Unter ihm lag ein großer Raum. Ein roter Teppich bedeckte den Boden. Antiquierte Möbel, ein paar schwarze Stühle, zwei Tische in barockem Stil standen an den Wänden. Die Wände waren ebenfalls in einem rötlichen Ton gehalten, unterbrochen von undefinierbaren Mustern, die in aufgetragenen Schlangenlinien etwas Abwechslung in das unerträglich schwülstige Ambiente brachten. Der Raum erinnerte mehr an das Empfangszimmer einer Lebedame des 18. Jahrhunderts als an den Aufenthaltsort eines Wesens, das über hochtechnische Möglichkeiten verfügte. Das Ganze erschien ihm unglaublich degeneriert und gleichzeitig unberechenbar. Ihm wäre ein kalter technischer Raum lieber gewesen. So aber sah er ein Abbild von spielerischer Macht vor sich, gleichsam eine Verhöhnung seines Verständnisses von adäquater Zivilisation. Der Anblick trieb ihm den Angstschweiß auf die Stirn. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er von hier verschwinden mußte, und zwar sofort! In diesem Augenblick betrat Belvedere den Raum. Er war nackt. DeHaney lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Belvedere war zwar eindeutig von männlicher und damit menschlicher Statur, aber diese übertrieben ausgebildete Wespentaille und ein abstoßend sich hervorwölbender Bauch machten dieses Wesen zu einem Neutrum, dem Gefühle fremd zu sein schienen. Kurze, schwarze und krause Haare bedeckten seinen Kopf, an dem große Ohren mit langen Ohrläppchen flach anlagen. Aus der erhöhten Position war von seinem Gesicht nur der Ansatz der schmalen und länglichen Nase und die breite wulstige
Oberlippe zu sehen. Er schlenderte in seiner Nacktheit so selbstverständlich und in einer selbstgefälligen Art durch den Raum, die in DeHaney unbeschreiblichen Haß auflodern ließ. Annick war irgendwo da unten in der Gewalt dieses Wesens, kein Zweifel. Er versuchte mit aller Macht, die Bilder zu verdrängen, die augenblicklich in seiner Vorstellung erzeugt wurden. Mit einem klagenden Laut von ohnmächtiger Wut drehte er sich auf die Seite und rutschte von der Kuppel herunter. Alle Unentschlossenheit war nun verschwunden. Er mußte in den Hangar hinein und Belvedere töten. Es mußte schnell geschehen, ohne einen Moment des Zögerns. Nervös wischte er sich mit beiden Händen über das Gesicht und ging in die Hokke. Im Geist überschlug er seine Möglichkeiten. Er war mit einem modernen selbstladenden Automatikgewehr Heckler & Koch G 36 und einem Trommelmagazin ausgerüstet. 100 Schuß. Dazu der alte Colt-Revolver SAA mit einem 3,5-ZollLauf. Das genügte für einen Überraschungsangriff. Weiter vermochte er in diesem Moment nicht zu denken. Doch zunächst mußte er zurück zum Eingang. Gerade als er sich erheben wollte, ging hinter ihm das Licht in der Kuppel aus. Erschrocken duckte er sich und spähte in die Dunkelheit hinein. Alles blieb jedoch ruhig. Plötzlich entstand direkt vor ihm in der Luft ein fahles graues Rechteck, fenstergroß. Verwischte Farben erschienen und formten schließlich ein Bild. Ein erstickter Laut entfuhr DeHaneys Kehle, als er sich auf dem entstehenden Bild selbst erkannte. Es war der Moment, als er oben auf der Pyramide nach Schweighart gesucht hatte. Die
Aufnahme war aus der Luft aufgenommen, vielleicht zehn Meter über der Baustelle. Die Szene verschwamm und zeigte ihn im Quergang mit dem Gitter in der Hand. Nun materialisierten Bilder in rascher Folge. DeHaney im Becken, DeHaney auf dem Weg ins Camp, alles, was er in den letzten Stunden gemacht hatte. Dann fingen die Bilder an, sich zu bewegen. Der ganze langwierige Ablauf seines Anschleichens zwischen den gefällten Palmen spielte sich im Zeitraffertempo vor seinen Augen ab, bis zum jetzigen Moment, in dem er hier auf dem Dach ungläubig dieses materialisierte Rechteck betrachtete. Selbst in der völligen Dunkelheit war er gut sichtbar und kontrastreich auf der vor ihm schwebenden Fläche auszumachen. Die Aufnahmeeinheit, von der die Bilder stammten, schien sich unmittelbar links von ihm zu befinden, aber als er in die Richtung blickte, konnte er dort nichts erkennen. Er war die ganze Zeit über zum Narren gehalten worden. Belvedere hatte mit Hilfe seiner Nanomaschinen zu jeder Zeit gewußt, wo sich DeHaney gerade aufhielt und was er machte. Es war die perfekte Überwachung. Und natürlich war es eine Falle gewesen, in die er wie ein Idiot hineingetappt war. Belvedere zeigte ihm gerade anhand der Bilder, mit welch leichter Hand er ihm die Falle gestellt hatte. Er demonstrierte ihm seine Überlegenheit. Das letzte Bild, das DeHaney zu sehen bekam, war eine Aufnahme von Annick, die spärlich bekleidet in einem üppig ausgestatteten Bett lag. Dann zerbröselte das Rechteck vor ihm mit einem optischen Effekt und fiel als imaginärer Staub zu Boden. Von irgendwoher kam ein höhnisches Lachen. Er konnte
noch nicht einmal unterscheiden, ob er sich das einbildete oder ob es echt war. Benommen sank er auf die Knie. Der seelische Schmerz betäubte und lähmte ihn. Ein erstickter Schrei der Verzweiflung erstarb in ihm. Aus! Das war das Ende. Die Ongennen, die ihn inzwischen lautlos umzingelt hatten, nahm er schon gar nicht mehr wahr.
31. Kapitel Ein Summen erfüllte Schweigharts Kopf und stimulierte seine Sinne. Alle Informationen waren wieder da und abrufbereit. Es fehlte nur noch ein winziger Energieimpuls, den er von seiner Seite her aufbringen mußte. Aber nicht jetzt, später vielleicht. Die Entscheidung schien bei ihm zu liegen, trotzdem … Er schreckte mit einem Zucken der Augenlider hoch. Das erste, was er wahrnahm, war ein stechender Schmerz an der Kopfseite. Der Versuch, mit einem vorsichtigen Kopfschütteln ihn zu vertreiben, führte nur zu noch mehr Kopfschmerzen. Zusätzlich meldeten seine Geschmacksnerven Trockenheit und ein ungewisses Taubheitsgefühl im Mund. Der Zustand wurde auch nicht besser, als er die Augen gänzlich öffnete und einen verwaschenen Fleck fixierte, der ständig vor ihm hin und her tanzte. Immerhin signalisierte ihm sein Körper, daß er in irgendeiner Ecke eines Raumes auf dem Boden lag. Mühsam koordinierte er seine Arme und Beine, so daß er es schließlich fertigbrachte, sich auf eine Seite zu wälzen. Sein Kopf quittierte diesen Vorgang mit neuerlichen heftigen Schmerzen. »Bleiben Sie liegen«, hörte er eine hohe Stimme sagen. »Sie sind nicht in der Verfassung, um jetzt schon aufzustehen.« »Was?« Seine Stimme war nicht mehr als ein Krächzen.
»Steinvogel? Sind Sie das?« Er bekam keine Antwort. Statt dessen huschte immer nur ein Schatten vor seinem getrübten Blickfeld von links nach rechts und wieder zurück. Außerdem war ihm schlecht. Er zog ein Knie an und rutschte auf einen Ellenbogen gestützt näher an die Wand heran. So allmählich kam die Erinnerung wieder. Die Ongennen waren nicht gerade freundlich mit ihm umgegangen, nachdem sie ihn im Quergang niedergerissen hatten. Er hatte mehrere derbe Schläge einstecken müssen, bevor sie ihn brutal niederknüppelten. Er langte mit einer Hand hinter sein rechtes Ohr und ertastete eine schmerzhafte Beule. »Lassen Sie das«, ertönte die Stimme wieder. »Ich bringe Ihnen etwas zu trinken. Sie haben fast einen Tag lang nichts getrunken.« Der Schatten verschwand. Es war eindeutig Steinvogels Stimme. Einen Tag lang? War er tatsächlich 24 Stunden lang bewußtlos gewesen? Unmöglich. Das Bild von Cooper und Janine drängte sich wieder in seine Erinnerung. Und das von DeHaney Wo war DeHaney? Was war mit Annick geschehen? »Steinvogel, was …?« Er brach ab, um einen aufkommenden Würgereiz zu unterdrücken. »Hier, trinken Sie das!« Steinvogel drückte ihm ein gefülltes Weinglas in die Hand. Schweighart nahm es mit schwachen Fingern und stellte es gleich wieder auf den Boden. Mit zusammengebissenen Zähnen schaffte er es, sich aufzusetzen. So war es besser. Endlich klärte sich auch sein Blick. Er erkannte Steinvogel, der mit ruhelosen Schritten vor ihm auf und ab ging. Steinvogels grob gezimmerte
Regale mit den Flaschen darin. Also befand er sich im Keller von Steinvogels Bungalow. Ansonsten war anscheinend niemand im Raum, jedenfalls sah er niemanden. Er nahm das Glas mit beiden Händen wieder auf und nippte an der Flüssigkeit. Es war Wasser mit irgendeinem Geschmack darin, aber nicht schlecht. »Wieso macht er das?« Steinvogel unterbrach seine Wanderung. »Wer macht was?« »Belvedere. Dieses primitive Gottesurteil, diese Frauengeschichten, wieso entführt er ein junges Mädchen, was hat ihm Cooper angetan? Ich nehme an, er hat alles, oder er kann sich alles beschaffen. Was soll also der ganze Zirkus?« Mit einer abwertenden Handbewegung begann Steinvogel wieder sein Auf und Ab, nahm dann aber auf einer Bank ihm gegenüber Platz. »Das ist pubertäres Geschwätz, Herr Schweighart, Sie haben vom Leben anscheinend noch nicht viel begriffen. Belvedere macht das, eben weil er alles hat. Die Dynastie der Achetaton war die herrschende Technokratenschicht in ihrem Land, ach was sag ich, auf diesem Planeten. Diese Leute haben alles bekommen, was sie wollten, und Belvedere ist von Jugend auf an diese Macht gewöhnt. Er kennt nichts anderes. Zudem ist für ihn ein Menschenleben keinen Pfifferling wert. Ich habe in der vergangenen Zeit noch ganz andere Scheußlichkeiten erlebt, die er mit Eingeborenen, ja sogar mit Ongennen angestellt hat, die ihm nicht gepaßt haben. Ihm selbst kann nichts geschehen, ganz im Gegenteil, zusammen mit seinen unsichtbaren Heerscharen repräsentiert er eine kampfstarke und unbezwingbare Armee. Warum sollte er sich also nicht nehmen, was er will.« Steinvogel stand auf, um sich gleich
wieder zu setzen. Seine Unruhe war beinahe so schmerzhaft wie Schweigharts Beule am Kopf. »Und trotzdem hat Belvedere zwei große Probleme: Zum einen muß er seine unendliche Langeweile bekämpfen und zum zweiten der beginnenden Klimakatastrophe entgehen. Mit seiner Zeitreise will er also zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Ich möchte Ihnen nur eines sagen, Herr Schweighart: Ich kenne Belvedere mittlerweile ganz gut. Mit seiner Verfassung steht es momentan nicht zum Besten, er ist sehr nervös! So eine Zeitreise ist auch für einen Achetaton kein Kinderspiel und schon gar nicht, wenn es über 10 000 Jahre gehen soll.« »Ach, wie dumm für ihn«, höhnte Schweighart. Das Gerede von Steinvogel machte ihn wütend. Es klang wie Entschuldigungen für die Greueltaten dieser Bestie. »Ich darf Sie daran erinnern, daß Sie, Herr Steinvogel, zusammen mit dieser arroganten Kampfmaschine vorhaben, in meine Zeit zu reisen.« Er hustete und machte eine Pause. Das Reden erschöpfte ihn, außerdem kämpfte er mit Problemen beim Atemholen. Wahrscheinlich hatten ihm die Ongennen ein paar Rippen gebrochen. »Ich weiß nicht, was in meiner Macht steht«, fuhr er leise fort. »Aber ich verspreche Ihnen, daß ich alles tun werde, um das zu verhindern.« Steinvogel erwiderte nichts darauf. Er schien seine Unruhe überwunden zu haben und starrte nun mit ruhigem Blick die Wand neben Schweighart an. »Was ist mit Annick geschehen?« fragte ihn Schweighart, nachdem Steinvogel nichts mehr von sich gab. »DeHaney, wissen Sie, wo DeHaney sich aufhält?« Es dauerte etwas, bis Steinvogel sich einen Ruck gab und ihm
von DeHaneys Gefangennahme berichtete. Schweighart war blaß geworden. »Und Annick?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Steinvogel tonlos. »Ich habe sie nicht gesehen. Aber ich nehme an, daß Belvedere sie unter Drogen gesetzt hat, um sie sich gefügig zu machen. Widerspenstige Frauen reizen ihn, aber er besitzt gewisse Mittel, um letztendlich immer zum Erfolg zu kommen.« »Dieses Schwein! Das ist schlimmste Barbarei! Verdammt, Steinvogel, Sie können doch bei all dem nicht einfach tatenlos zusehen!« Er versuchte aufzustehen, schaffte es aber nur bis zur Hocke. Dann wurde ihm schwindelig. »Ich werde es auf jeden Fall nicht tun«, sagte er leise mehr zu sich selbst. »Und DeHaney? Was hat er mit DeHaney vor?« Nach einigem Zögern sagte Steinvogel: »Belvedere will heute nacht seine Reise antreten. Vorher soll der Kapitän vor den Augen der Ongennen hingerichtet werden.« Schweighart nickte. So etwas hatte er befürchtet. Ihm wurde plötzlich übel. Speichel rann ihm aus den Mundwinkeln. Er stützte sich auf die Hände und übergab sich heftig würgend auf den Boden. Danach atmete er unter Schmerzen in der Brust vorsichtig tief durch. Geistesabwesend betrachtete er den grünen Schleim auf dem Boden und sagte stockend: »Steinvogel, für mich sind Sie nichts anderes als der Handlanger eines Mörders. Ich schwöre Ihnen, die Hinrichtung werde ich verhindern. Ich weiß noch nicht wie, aber ich werde sie verhindern.« Torkelnd stand er auf und ging zur Treppe. »Schweighart, bleiben Sie stehen!« Er reagierte nicht darauf.
»Schweighart!« Er erreichte den Treppenabsatz. Plötzlich flimmerte die Luft vor ihm. Ein hell leuchtender Rahmen aus Licht bildete ein optisches Hindernis zwischen ihm und der Treppe. Er stutzte zunächst. Steinvogel hatte ihm erzählt, daß er über, wie er sich ausgedrückt hatte, bescheidene Möglichkeiten verfügte. Dieses flächige Leuchtfeuer war im Gegensatz zu Belvederes Inszenierungen als wahrlich bescheiden zu bezeichnen. Er lachte bitter, gefolgt von einem Hustenanfall. »Mein Gott, Steinvogel, ich wußte gar nicht, daß Sie Sinn für Humor haben.« Ohne den leuchtenden Rahmen zu beachten, schleppte er sich weiter, prallte jedoch erschrocken zurück, als er einen Stromschlag erhielt. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß Sie hierbleiben sollen. Kommen Sie her und setzen sich wieder hin!« Schweighart überlegte kurz, ob er mit einem raschen Sprung das Hindernis überwinden könnte, ließ es dann aber bleiben. Sein linker Arm fühlte sich taub an. Anscheinend waren die Möglichkeiten Steinvogels doch größer, als er gedacht hatte. Gehorsam nahm er auf einer Bank Platz, während der kleine Mann vor ihm wieder mit seinem ruhelosen Hin- und Herschreiten begann. Erst jetzt fielen Schweighart die merkwürdigen Handschuhe auf, die Steinvogel übergezogen hatte. Die Außenseiten waren mit unzähligen zierlichen Tasten und metallischen Verbindungsstücken versehen, als ob die Klappen und Ringe einer Klarinette auf die Handschuhe montiert wären. »Schweighart, die Berichte über den Zweiten Weltkrieg, über die furchtbare … Judenvernichtung, die ich auf Ihrem Apparat gesehen habe, entsprechen sie den Tatsachen? Sagen Sie die
Wahrheit, es ist wichtig für mich!« »Was wollen Sie denn hören? Sie haben die gesamte Geschichte vor und nach dem Weltkrieg gesehen. So, wie sie in Wort und Bild aufgezeichnet wurde. Es war jedenfalls keine geschönte Version in der Art, wie sie Ihnen Ihr Herr und Meister aufgetischt hat.« »Bitte unterlassen Sie diese Bemerkungen!« Er wandte sich ab und trat mit dem Fuß wütend gegen ein Regal, so daß die Flaschen mit einem Klirren durchgeschüttelt wurden. Einige fielen herunter und zerplatzten mit einem häßlichen Knallen auf dem Fußboden. »Hitler, Ludendorff, Röhm, dieses ganze NSDAP-Pack. Dieses Gerede von der Wiedergeburt Deutschlands, Lichtwerdung und Erwachen. Kein Mensch hat sie damals ernst genommen. Sie wurden wie lästige Ratten weggefegt, in die Löcher gescheucht, wo sie hingehörten …« »Das hatten wir alles schon. Entweder Sie glauben das, was Sie auf dem Laptop gesehen haben, oder Sie lassen es.« »Zehn Millionen Tote im Ersten Weltkrieg, ebenso viele Verwundete.« Steinvogel hörte ihm nicht zu und sprach weiter leise vor sich hin. »Er hat ein wohl bereitetes Feld vorgefunden, dieser aufgeblasene Wichtigtuer. Gott war in meiner Zeit nicht mehr anwesend. Man war auf der Suche nach etwas anderem. Die alten Ordnungen galten nicht mehr. Hitler hat die Schriften von Helena Blavatsky und der Theosophischen Gesellschaft mißbraucht. Guido von List, Heilszeichen, die isländische Mythensammlung der Edda, Adolf Lanz und wie sie alle hießen. Die Saat ist tatsächlich aufgegangen. Ich habe es nicht für möglich gehalten. Die Judenverfolgungen … alle tot und ver-
gessen … meine Söhne Joseph und Michael … tot und vergessen …« Stille trat ein. Schweighart bemerkte erst nach einer Weile, daß Steinvogel lautlos weinte. »Sie sind Jude?« Es kam keine Antwort, und er hatte auch keine erwartet. Bestätigend nickte er für sich selbst und verinnerlichte die Gefühle Steinvogels. Für ihn mußte eine Welt zusammengebrochen sein, als er die Berichte über das Dritte Reich und die Ereignisse während dieser Zeit durchgegangen war. Die Handschuhe erregten wieder seine Aufmerksamkeit. Dabei fiel ihm auf, daß nur der linke mit den zierlichen Tasten bestückt war. Der rechte sah ganz normal aus, wie ein moderner Lederhandschuh mit einer seidig glänzenden Oberfläche. Auf dem Handrücken waren einige Felder mit dünnen Linien markiert. Anscheinend waren darunter noch weitere Funktionen versteckt. Er erinnerte sich, daß Kenneth Cochran sich den Kopf über die Art und Weise der Steuereinheit für die Nanomaschinen zerbrochen hatte. Hier also war die Antwort: Die Heerscharen, wie Steinvogel die unsichtbare Armee bezeichnete, wurden mit dieser kompliziert aussehenden Konstruktion auf den Handschuhen gelenkt. Er war dermaßen fasziniert von dem Gebilde, daß er die Frage überhörte, die Steinvogel ihm gestellt hatte. »Wie bitte?« »Ich habe Sie gefragt, wie stark Ihr Wunsch ist, in die Zukunft zu reisen, und ob Sie bereit wären, dafür ein Risiko einzugehen.« Verständnislos starrte Schweighart immer noch die Hand-
schuhe an. Erst jetzt bemerkte er, daß die Hände darin zitterten. »Risiko? Soweit ich meine Lage einschätzen kann, bin ich weit entfernt davon, überhaupt ein Risiko eingehen zu können. Ich kann heilfroh sein, wenn ich dieses Abenteuer überlebe. Vielleicht ist auch das schon ein Überschätzen meiner Lage. Und Wünsche habe ich mir schon lange abgeschminkt. Warum fragen Sie?« Steinvogel umfaßte mit zwei Fingern seiner rechten Hand kurz eine bestimmte Stelle auf den Tastaturen der linken Hand. Mit einem leisen Klicken verschwand die ganze zierliche Konstruktion in der Oberfläche des Handschuhs. Dann versteckte er beide Hände hinter dem Rücken und begann mit leiser und zögernder Stimme zu sprechen. Dabei sah er Schweighart fest in die Augen: »Es gibt eine Möglichkeit, und damit meine ich eine reale Möglichkeit, Belvedere auszuschalten …« Seine Oberlippe bebte. »Oder genauer gesagt, ihn zu hintergehen. Ich will damit sagen, daß wir beide … nur Sie und ich, wir treten die Reise in die Zukunft an.« Schweighart sah verblüfft in die aufgerissenen Augen Steinvogels, die ihn lauernd beobachteten. Die Situation hatte etwas Groteskes an sich. Fast hätte er laut herausgelacht. Er wußte im ersten Moment nicht, was er sagen sollte. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Was soll das?« Steinvogel setzte sich mit einer schnellen Bewegung zu ihm auf die Bank. »Heute abend vollenden die Ongennen den Bau der Pyramide mit dem Setzen des Schlußsteins. Es wird ein großes Fest zu Ehren Belvederes geben. Danach werden die restlichen Ongennen in das Tal ziehen und Belvedere wird seine Zeitreise antreten. Aber wir kommen ihm zuvor. Der Zugang
zum Volanten unter der Pyramide wird von seinen Heerscharen überwacht, aber ich könnte für eine gewisse Zeit die Kontrolle über sie übernehmen. Belvedere ist durch die Festlichkeiten abgelenkt. Wir haben also eine gute Chance, ungesehen dorthin zu gelangen. Wenn wir es schaffen, den Mechanismus der Sarkophage zu starten und die Pyramide zu versiegeln, kann uns Belvedere nichts mehr anhaben.« Seine Augen funkelten voller Optimismus. Schweighart sah ihn skeptisch und ungläubig an. Diese Wende kam für ihn völlig unerwartet. Sein Herz begann heftig zu schlagen. Sollte es für ihn doch noch einen Weg zurück geben? »Und was ist mit dem Commander, mit DeHaney? Und Annick?« Er zuckte erschrocken zusammen, als Steinvogel mit der flachen Hand auf den Tisch schlug und ihn wütend anfuhr: »Mein Gott, Schweighart! Vergessen Sie die beiden! Die Frau ist in der Gewalt Belvederes und Ihr Kapitän ist so gut wie tot! Heute abend wird Belvedere nach der Setzung des Schlußsteins ein weiteres Spektakel veranstalten, nämlich die Bestrafung eines Mannes, der versucht hat, in sein Allerheiligstes einzudringen.« Er stand auf, ging ziellos und schwer atmend im Raum umher. Schließlich kam er wieder zum Tisch zurück. »Verstehen Sie nicht, ich habe Kopf und Kragen riskiert, um Sie aus dem Schußfeld von Belvedere zu ziehen. Er weiß nicht, wo Sie sich jetzt aufhalten, und im Grunde genommen interessiert es ihn auch nicht, aber wenn Sie ihm über den Weg laufen, dann wird er Sie ebenfalls vernichten. Sie können also froh sein, daß Sie noch am Leben sind.«
»Ich werde DeHaney nicht im Stich lassen. Eher sterbe ich.« »Sie dummer Junge! Sie wissen doch gar nicht, was es heißt zu sterben. Das ist leeres Geschwätz. Ihr Kapitän würde Ihnen dasselbe sagen.« »Das kann sein, aber ich weiß, daß er an meiner Stelle alles versuchen würde, um mich zu retten.« Steinvogel sah ihn stumm an. Dann nickte er und sagte leise: »Ich verstehe. Treue bis in den Tod, nicht wahr. Habe ich auch erlebt, diesen Schwachsinn. In den Ardennen. Waren alle in deinem Alter, mein Junge. Genützt hat es keinem etwas, am allerwenigsten ihnen.« Er ließ von Schweighart ab und blickte leer in den Raum hinein. Nach einer Weile hatte er sich wieder gefangen. »Schweighart, Sie sind nicht der einzige Grund, unter allen Umständen zu verhindern, daß Belvedere in die Zukunft gelangt. Ich hatte schon immer meine Zweifel, aber ich wollte nicht elend hier in dieser trostlosen Zeit verrecken, deswegen habe ich alles getan, was er von mir verlangte. Irgendwie, dachte ich mir, wird die fortgeschrittene Menschheit in der Zukunft schon mit ihm fertigwerden. Aber er hat mich belogen und betrogen. Er hat es schon immer getan, aber ich denke, daß ich es nicht wahrhaben wollte. Jetzt wäre die Gelegenheit, es ihm zurückzuzahlen. Und ich werde es tun, notfalls ohne Sie, Herr Schweighart. Mit Ihnen zusammen wäre es mir lieber gewesen. Ich würde Ihre Hilfe brauchen, um mich in der Zukunft zurechtzufinden.« Er blickte Schweighart abwartend an. »Ich bleibe dabei. Ich lasse DeHaney nicht im Stich«, antwortete Schweighart. Seine Stimme zitterte etwas dabei. »Na gut, es ist Ihre Entscheidung. Mein Angebot steht noch bis zum Abend«, er lächelte mit schmalem Mund. »Länger zu
warten wäre unsinnig. Und jetzt werde ich Sie zunächst einmal verarzten. Sie sehen sehr ramponiert aus. Anschließend mach ich uns was zu essen, Sie haben bestimmt schon lange nichts mehr zu sich genommen.« Der Nachmittag wurde für Schweighart zur fürchterlichen Qual. Nicht nur, daß er absolut keine Vorstellung davon hatte, wie er DeHaney helfen konnte, so zeigte ihm Steinvogel auch noch, wie absurd allein der Gedanke daran war. Mit Hilfe der ihm zur Verfügung stehenden Nanomaschinen führte er ihm vor, wie stark Belvederes Hangar bewacht wurde und wie viele Ongennen überall patrouillierten. Schwebende Monitore entstanden direkt vor ihm in der Luft und zeigten ihm die Umgebung in hervorragender Bild- und Tonqualität. Fasziniert beobachtete Schweighart die Technik der Benutzung der Handschuhe. Steinvogel quittierte sein Interesse mit einem Lächeln und erklärte ihm die Grundfunktionen der Tasten. »Sie benötigen ein ausgeprägtes Erinnerungsvermögen, um die Heerscharen vernünftig und vor allem sehr schnell einsetzen zu können. Ich muß zugeben, daß ich lange gebraucht habe, bis ich mir die unzähligen Möglichkeiten auch nur halbwegs gemerkt habe. Aber wenn Sie einmal über eine gewisse Fertigkeit verfügen, werden Sie feststellen, welche ungeahnten Fähigkeiten Sie durch diese unsichtbaren Helfer erlangen.« Eine Zeit lang wurde Schweighart durch die Spielerei mit den Handschuhen von seinen Problemen abgelenkt, aber bald schon holte ihn die Wirklichkeit wieder ein. Unmutig legte er die Handschuhe beiseite und überlegte fieberhaft, was er zur Rettung DeHaneys unternehmen konnte. Bis zum Abend waren es
nur noch wenige Stunden, und solange er hier in dem Raum eingesperrt war, konnte er überhaupt nichts bewirken. Gereizt ging er in den oberen Raum hinauf und beobachtete durch die großen imaginären Fenster die Umgebung. Und tatsächlich, das, was ihm Steinvogel mit seinen Spionen gezeigt hatte, bewahrheitete sich schmerzlich vor seinen Augen. Überall waren Ongennen zu sehen, die auf dem Areal arbeiteten und gleichzeitig anscheinend Vorbereitungen für den Abend trafen. Am Ende der ebenen Fläche vor Steinvogels Bungalow beseitigte eine Gruppe von ihnen die letzten Überbleibsel des Lazarettzeltes. Gerade schnitten sie die Zeltplanen in metergroße Stücke und stapelten sie auf einem Haufen. Wahrscheinlich für einen späteren Gebrauch in ihrer neuen Umgebung. Auch in der Senke hinter dem ehemaligen Standort des großen Zeltes schienen sich viele Ongennen aufzuhalten, allerdings konnte Schweighart von seinem Platz aus nicht sehen, was dort vor sich ging, aber er registrierte stetige Transporte von groben Rundhölzern, die auf Schlitten in das tiefer liegende Areal hinuntergeschleppt wurden. Er war überzeugt davon, daß dieses ständige Kommen und Gehen die Anzeichen von einem großen Ereignis waren, das dort unten stattfinden sollte. Eine unbeschreibliche Hilflosigkeit ergriff Besitz von ihm, und er verspürte plötzlich ein lähmendes Gefühl in den Beinen, die ihm den Dienst zu versagen drohten. Verzweifelt sank er auf einen Stuhl. Er spürte den Tod, verbunden mit einer unsäglichen Qual. Was konnte er alleine gegen diese Übermacht ausrichten? Steinvogel hatte ihm versichert, daß er hier in diesen Räumen vor den Blicken Belvederes sicher war, aber diese Sicherheit konnte er ihm da draußen nicht gewährleisten. Ein
Schritt vor die Tür, und die unsichtbaren Helfer dieser Bestie würden ihn aufgespürt haben. Er fragte sich, wie weit er Steinvogel trauen konnte. Er war jahrelang Belvederes rechte Hand gewesen und hatte seinen eigenen Worten zufolge unzählige Grausamkeiten befohlen. Warum sollte er sich im letzten entscheidenden Moment gegen ihn stellen? Nur weil ihm dieses Wesen eine falsche Geschichtsschreibung aufgetischt hatte? Das klang unwahrscheinlich. Schweighart hatte in seinem eigenen Denken in den letzten Wochen die Erfahrung gemacht, daß er sich sehr schnell an die neuen Umstände gewöhnt hatte. Seine eigene Vergangenheit wurde zu einem weit entfernten Land, das sich in eine Unerreichbarkeit verwandelt hatte. Ähnlich mußte es Steinvogel ergangen sein. Die Wahrheit um die Realität war für ihn viel zu weit weg, als daß er sich allzu große Gedanken um ihren Inhalt machen konnte. Oder gab es für ihn noch etwas anderes? Hatte Geschichte für ihn eine andere Bedeutung? Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn herumfahren. Steinvogel war ebenfalls nach oben gekommen. »Sie können ihn nicht retten, selbst wenn Sie noch so viele Pläne schmieden.« »Verdammt, Steinvogel, können Sie denn nichts unternehmen? Können Sie nicht mit Ihren Handschuhen und Ihrer kleinen Streitmacht etwas ausrichten? Oder mir wenigstens ein Gespräch mit ihm vermitteln? Wenn ich ihm verspreche, daß wir alle sofort von hier verschwinden …« »Wissen Sie, mein lieber Herr Schweighart, Ihre Vorstellungen von Belvedere sind beinahe rührend zu nennen. Sie dürfen nicht vergessen, daß Sie für ihn einfach nicht vorhanden sind,
und so merkwürdig das klingen mag, dieser Umstand könnte für Sie lebensrettend sein. Im Augenblick schützt Sie meine kleine Streitmacht, wie Sie sie eben genannt haben, vor Belvederes unsichtbaren Spionen. Diesen Schutz kann ich Ihnen nicht mehr gewähren, sobald Sie einen Schritt vor die Tür machen. Ich an Ihrer Stelle würde mir ganz intensiv Gedanken über mein Angebot machen, das übrigens nach wie vor besteht. Und ich möchte nochmals wiederholen, nein, ich bitte Sie: Ich würde Ihre Hilfe in der Zukunft dringend benötigen. Ihre Beteiligung wäre also nicht nur Ihr alleiniger Vorteil.« Schweighart ging nicht auf die Bitte ein. Statt dessen fragte er: »Ich verstehe nicht, daß Ihnen Belvedere überhaupt die Kontrolle über einen Teil seiner Nanomaschinen überlassen hat. Es ist doch ein Unsicherheitsfaktor für ihn, wenn Sie in der Lage sind, gewisse Funktionen seiner eigenen Spione zu blokkieren.« »Es war reine Bequemlichkeit von ihm. Er hat mir diese Macht übertragen, weil er diesen Ort hier aus mir unbekannten Gründen meidet. Im letzten halben Jahr ist er nur zweimal mit dem üblichen großen Brimborium hier erschienen. Auf jeden Fall hat mir diese Streitmacht den nötigen Respekt bei den Ongennen verschafft. Jedenfalls bis jetzt. Inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher, ob meine Macht vielleicht nur aus Schein besteht. Was ist, wenn er ganz genau weiß, worüber wir hier reden, und er auch mit uns eines seiner grausamen Spiele spielt? Das ist übrigens das Risiko, auf das ich Sie bei meinem Angebot angesprochen habe. Es könnte durchaus sein, daß auch wir heute Abend auf dem Richtplatz stehen werden.« Schweighart hatte den Erklärungen nur mit halbem Ohr zu-
gehört. Mit beklemmenden Gefühlen beobachtete er durch das Fenster, wie die Ongennen überall Stangen in den Boden steckten, an denen brennende Fackeln befestigt waren. »Ich muß Sie jetzt allein lassen«, fuhr Steinvogel fort. »Es wäre zu auffällig, wenn ich mich nicht sehen lassen würde. Und … wie gesagt, überlegen Sie sich meinen Vorschlag gut.« Er zögerte, verließ dann aber ohne ein weiteres Wort den Bungalow. Stunden später saß Schweighart immer noch unbeweglich auf einem Hocker und starrte in die Nacht hinaus. Sein Blick ignorierte die hell erleuchteten Pyramiden und die zahlreichen Fackeln, die scheinbar wahllos über das Areal verteilt waren und mit ihrem Schein flackernde Kreise auf dem Boden markierten. Er war von einer lähmenden Angst ergriffen. Gleichzeitig war er verzweifelt über seine Unschlüssigkeit und seine fehlende Bereitschaft, irgend etwas zu unternehmen. Seine Gedanken kreisten unablässig um DeHaneys Schicksal. Steinvogel hatte von einer Hinrichtung gesprochen, das klang nach einem unabwendbaren Urteil, also kein Gottesurteil wie bei Cooper und Janine. Gottesurteil! Die beiden hatten in Wahrheit nicht den Hauch einer Chance gehabt. DeHaney würde auch keine bekommen, dessen war sich Schweighart sicher. Vielleicht wußte DeHaney noch nicht einmal, was ihm bevorstand und lebte von der Hoffnung, daß ihm jemand zu Hilfe kommen würde. Ein verächtliches Lachen entrang sich Schweigharts Mund. Wer denn? Der einzige, der ihm beistehen könnte, saß zitternd
vor Angst und Entsetzen hier auf diesem Hocker, erging sich in Selbstvorwürfen und ließ ungenutzt die Zeit verstreichen. Wütend über sich selbst, stand er auf und krümmte sich sofort mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen. Seine Verletzungen schienen zwar nicht ernsterer Natur zu sein, aber er hatte das Gefühl, als würde ihm jemand bei jeder Bewegung unzählige Nadeln in die Brust stechen. Keine guten Voraussetzungen für einen Retter in letzter Sekunde, dachte er verbittert. Trotzdem, er mußte etwas unternehmen. Er war es dem Commander schuldig. Ganz abgesehen davon würde er ohne den Versuch einer Rettung nicht mehr weiterleben können. Mühsam humpelte er zur Tür. Erst jetzt bemerkte er, daß er sein rechtes Bein nicht mehr richtig bewegen konnte. Außerdem machte ihm sein Kreislauf zu schaffen. Schweißgebadet lehnte er sich für einen Moment an die Wand. »Scheiße, Jim. Was soll ich nur machen? Hilft es dir, wenn ich bei dir bin, wenn es soweit ist?« flüsterte er hilflos. Er atmete ein paar Mal tief ein und stieß sich von der Wand ab. Vielleicht soll es so sein, sagte er sich und wankte auf die Tür zu. Und erstarrte im gleichen Moment. Vor ihm standen vier Ongennen. Und dahinter Steinvogel. Es ging alles ganz schnell und lautlos. Sie packten ihn hart an der Schulter und drehten ihm die Arme auf den Rücken. Mit einem unterdrückten Keuchen vor Schmerz und Enttäuschung ließ er sich willenlos durch die rötliche Wand hindurchschieben, jedoch nicht ohne mit einer letzten wütenden Anstrengung in Steinvogels hämisch grinsendes Gesicht zu spucken.
Sie zerrten ihn rücksichtslos über das Areal. Als er vor lauter Schmerzen im Bein und in der Brust zusammenbrach, schleppten sie ihn wie ein Stück Vieh die letzten Meter an den Händen an den Rand der Senke und ließen ihn dort bewußtlos liegen. Es dauerte eine ganze Weile, bis er wieder zu sich kam. Zuerst dachte er, daß mit seinen Augen etwas nicht in Ordnung sei, da sein Blickfeld durch wirre Linien und schräge Lichtkanten begrenzt war. Nachdem er aber seine Umgebung durch Herumtasten erkundet hatte, stellte er fest, daß er zwischen den verschnürten Bündeln der Zeltplanen lag. Um ihn herum waren weitere Pakete mit allen möglichen Utensilien verstreut. Wahrscheinlich das Marschgepäck der Ongennen, die nach dem großen Ereignis sofort in das Hochtal aufbrechen wollten. Vorsichtig zog er sich an einem Ballen hoch und konnte nun direkt hinunter in die Senke sehen. Im flackernden Licht der Fackeln machte er auf der gegenüberliegenden Seite die Schatten von Ongennen aus, die dort mit den Gesichtern zu ihm gewandt, dicht gedrängt am Hang saßen und scheinbar zu ihm herüberschauten. Unsicher duckte er sich hinter dem Ballen, bis er bemerkte, daß sie an ihm vorbei zur Pyramide blickten. Er folgte ihren Blicken hinauf zu dem Bauwerk und nahm ein winziges dreieckiges Objekt wahr, das wie von Geisterhand bewegt langsam und hell strahlend an einer Seitenwand nach oben kroch. Er konnte sich zunächst nicht erklären, worum es sich dabei handelte, bis ihm Steinvogels Bemerkung einfiel. Der Schlußstein. Die Pyramide stand kurz vor ihrer Vollendung. Von hier unten war nicht zu erkennen, ob der Stein von Seilen gezogen wurde oder ob dieses Mal ausnahmsweise die Mächte Belvederes mit im Spiel waren. Erst als der Stein das
letzte Drittel der Wand bewältigte und sein Leuchten weiter nach oben reichte, wurden an der vorletzten Lage schmale Stege sichtbar, auf denen einige Ongennen standen und auf das Schlußstück warteten. Es war also geplant, das Monument ausschließlich durch manuelle Arbeit zu beenden. Belvedere würde noch nicht einmal bei dem allerletzten Stein mit seinen technischen Mitteln eingreifen. Ein schwieriges Unterfangen, denn dort oben gab es keine wesentlichen Haltepunkte mehr außer den wackeligen Stegen, die offensichtlich nur an Seilen hingen. Zudem begann es nun leicht zu regnen. Schweighart wußte nicht, ob er die Männer bewundern oder bedauern sollte, die auf den glitschigen Planken das Gleichgewicht hielten und in den nächsten Minuten auch noch den Tonnen schweren Schlußstein an seinen Platz setzen mußten. Zögernd wandte er seinen Blick von dem Spektakel ab und sah sich um. Es war ihm schleierhaft, warum Steinvogel ihn hierher hatte bringen lassen, denn durch diese Aktion war er nun endgültig in Belvederes Hand, obwohl er nirgendwo Anzeichen für eine Aktivität von Nanomaschinen entdecken konnte. Aber das mußte nichts heißen. Wahrscheinlich wußte diese widerwärtige Kreatur ganz genau, in welchem Zustand sich sein Opfer befand, und würde sich erst später um ihn kümmern. Ein schmerzhaftes Ziehen in der Brust ließ ihn leise aufstöhnen. Kurz darauf überzogen dünne kleine Blitze die Netzhaut seiner Augen, und er war nahe daran, wieder ohnmächtig zu werden. Vorsichtig glitt er von dem Ballen herunter und legte sich am Boden auf den Rücken. Er schloß die Augen und atmete mehrmals tief durch. Es war
alles zwecklos geworden. Ganz gleich, was mit ihm geschah, im Endeffekt wäre der Tod für ihn eine Erlösung. Seine Gedanken wanderten zurück zu den Ereignissen der letzten Monate. Was für ein Leben! Aus der Umlaufbahn der Erde heraus 10 000 Jahre in die Vergangenheit. Welcher Mensch außer ihm und seinen ehemaligen Gefährten konnte das schon von sich behaupten. Die Cochrans kamen ihm in den Sinn. Kohlschovsky. Sie hatten auf Umwegen gefunden, was sie wahrscheinlich unbewußt ihr ganzes bisheriges Leben gesucht hatten. Merkwürdigerweise war ihm das Schicksal von Annick ziemlich gleichgültig. Aber auch bei ihr hatte er das Gefühl, daß sie ebenfalls am Bestimmungsort ihres Lebens angekommen war. Nur der Tod paßte nicht in dieses Bild. Und diese unendliche Qual auf dem Weg dahin. Cooper, Janine, und bald auch DeHaney … Ein einstimmiger Begeisterungsschrei der Ongennen holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Ächzend drehte er sich um und blickte hinüber zur Pyramide, die nun mit einem hell strahlenden Schlußstein gekrönt war. Gleichzeitig benutzten die erfolgreichen Ongennen oben an der Spitze die verwendeten Seile und rutschten behende an der glatten Wand hinunter auf den sicheren Boden. Nachdem sie dort angekommen waren, brachten sie mit lauten rhythmischen Rufen ein dünneres Seil mit weit ausholenden Bewegungen in Schwingung. Ein kurzer straffer Zug auf ein Kommando und die Konstruktion der Stege geriet plötzlich in eine instabile Lage, löste sich auf und wenig später stürzten die Bohlen lautlos in die Tiefe. Wieder erklangen Rufe der Begeisterung, aber dieses Mal viel leiser als zuvor und mit einer bewundernden Ehrfurcht.
Sie hatten es geschafft. Weniger als fünftausend Menschen hatten in einer unglaublich kurzen Zeit ein Bauwerk von einzigartiger Größe für die Ewigkeit errichtet. Sie hatten eine gewaltige Leistung in einem Zeitabschnitt in der Geschichte der Erde zuwege gebracht, von der das 21. Jahrhunderts der Ansicht war, daß der Mensch gerade einmal dazu fähig war, primitiven Ackerbau und eine einfache Viehhaltung zu gestalten. Zur Verteidigung der Geschichtsschreibung mußte jedoch gesagt werden, daß ihr eine fundierte Kenntnis über den Achetaton-Kontinent fehlte, der den Planeten für lange Zeit beherrschte und der in einer Katastrophe untergegangen war. Erschöpft lehnte sich Schweighart an den Ballen und schloß erneut die Augen. Trotz der verzweifelnden Situation breitete sich für einen Moment lang eine friedliche Stille in ihm aus. Nichts berührte ihn, nur dunkle Leere … Plötzlich jedoch waren alle Ängste wieder da. Ausgelöst durch einen satten, tiefen Ton, der drohend durch die Nacht schwang. Belvedere. Schweighart rutschte ungeachtet seiner Schmerzen hastig um den Ballen herum und spähte in die Senke hinab. Er wußte nicht, ob er die ganze Zeit schon dort unten gewesen oder ob er mit einem raffinierten Trick und mit Hilfe seiner unsichtbaren Helfer dorthin gelangt war, aber auf jeden Fall saß er jetzt rechts von den Ongennen auf einem üppig ausgestatteten Thron, beleuchtet von einem Lichtkegel, der über ihm aus dem Nichts zu kommen schien. Und neben ihm, auf dem Boden, kniete Annick.
Beide waren in lange, dunkelgraue Gewänder gekleidet. Er trug die spindelförmige Krone mit dem Schlangensymbol, sie hatte ihre Lockenpracht unter einer haubenförmigen Kopfbedeckung versteckt. Ihr Blick wirkte entrückt, beinahe sogar glücklich. Den schönen langen Hals hatte sie emporgereckt und das Kinn energisch nach vorn geschoben. Belvederes Gesicht zeigte keine Regung. Er saß in entspannter Haltung auf dem Thron. Seine Hände lagen akkurat nach vorne gerichtet auf den Lehnen. Jeweils an den Seiten lagen zwei große weiße Löwen im Sand. Neutrale Beobachter hätten das Paar als königlich und die Szene als großartig und prachtvoll beschrieben, für Schweighart war sie widerlich und pervers. Er wußte, daß dies nur der Anfang von scheußlichen Vorgängen sein würde. Der Klang des tiefen Tons nahm ab und verstummte schließlich ganz. Kein Laut war zu hören, nur das leise Fallen des Regens. Belvedere stand auf und streckte die Hände waagrecht nach vorn. Und zum ersten Mal vernahm Schweighart seine Stimme. Sie schwang in einem sanften Bariton zu ihm herüber, sympathisch und eindringlich zugleich. Er sprach leise und ohne Anstrengung. Schweighart vermutete, daß Belvedere auch hier die verborgene Hilfe seiner Nanomaschinen benutzte. In der Sprache der Ongennen und mit den dazu gehörigen Handzeichen erinnerte er in ausschweifenden Beschreibungen an die Katastrophe, die das Volk erleiden mußte, von der wundersamen Rettung aller Anwesenden und von einem glorreichem Zusammenstehen in Zeiten der Not. Schweighart kannte die Sprache nicht gut genug, um alles zu verstehen, aber dem Sinn
nach handelte es sich bei den Ausführungen hauptsächlich um eine blumige Nacherzählung der Geschichte des untergegangenen Kontinents bis hin zum heutigen Tag, der für eine Wende stehen sollte. Belvedere rühmte die Treue seiner Untertanen, stimmte sie auf die kommenden Aufgaben ein und verkündete ihnen eine schwere Zeit. Er sprach von einer fernen und letztendlich glücklichen Zukunft, in der er und das Volk wieder vereint sein würden, in der die Macht und der Mythos der Achetaton wieder neu auferstehen würden. Er machte eine Pause und deutete mit der offenen Handfläche zu Annick. Er stellte sie als die Auserwählte vor, die ihn auf der langen Reise begleiten werde. Sie sei von ihm in den Stand einer Königin erhoben worden und gelte von nun an als die Zweite Macht des zukünftigen Reiches. Die Ongennen, die bisher andächtig zugehört hatten, quittierten die Ankündigung mit Rufen der Bewunderung. Schweighart blinzelte überrascht. Hatte Annick soeben tatsächlich ergeben den Kopf gesenkt, oder war es eine Täuschung gewesen? Konnte man einen Menschen in so kurzer Zeit in seinem Denken so vollkommen umdrehen? Der Lichtkegel über Belvedere teilte sich und warf einen harten Strahl auf eine Stelle, die etwa dreißig Meter von dem Thron entfernt war. Dort auf dem Boden lag eine dreieckige Holzkonstruktion mit verkanteten Stützbalken, deren Bedeutung sich Schweighart nicht erklären konnte. Einige Ongennen tauchten aus dem Dunkel auf und schleppten eine Palette heran. Ihm stockte der Atem. Auf der Palette hatte man DeHaney in einer gespreizten Stellung festgebunden. Seine Kleidung hing in Fetzen an seinem
Körper. Seine Hände und Füße waren mit Stricken an den Ecken festgezurrt. Sein Kopf lag unbeweglich auf der Seite. Die Ongennen richteten die Palette im Zentrum des Lichtkegels senkrecht auf und schoben das Unterteil in einen vorbereiteten Schlitz der liegenden Holzkonstruktion, so daß DeHaney direkt mit dem Thron konfrontiert war. Und mit dem Anblick von Annick. Schweighart konnte nicht erkennen, ob DeHaney bei Bewußtsein war. Seinen Kopf hielt er immer noch abgewendet. Der Körper war durch das Aufstellen der Palette nach unten gesackt und die Knie waren eingeknickt. Es war eine erbärmliche Haltung, die zweifellos von Belvedere beabsichtigt war. Bei Annick war keine Regung zu erkennen. Dafür erhob Belvedere seine Stimme wieder und erklärte den Ongennen, daß dieser Mann versucht hatte, die Inthronisation der künftigen Königin zu verhindern, und damit die Zukunft der Achetaton in Gefahr gebracht hatte. Wüste Beschimpfungen und Buhrufe ertönten augenblicklich von den Hängen. Steine prasselten auf die Palette. Belvedere ließ die Ongennen einige Augenblicke gewähren und hob dann die Hand. Sofort kehrte Ruhe ein. Er warf seinen Umhang ab und wandte sich einem Gestell zu, das links von ihm im Dunkel gestanden hatte und nun von zwei Ongennen herangetragen wurde. In dieser Vorrichtung steckten drei leuchtende Speere. Als die Ongennen die Waffen erkannten, jubelten sie frenetisch. Belvedere winkte ab. In seiner Stimme lag ein feierliches Pathos, als er seinem
Volk erläuterte, daß jeder, auch ein noch so unwürdiger Verbrecher, ein Recht auf die Gnade seines Gottes hatte. Deswegen würde auch dieser Mensch eine Chance erhalten. Beifälliges Gemurmel und Zustimmung. Etwa zehn Meter vor DeHaney entstand aus dem Nichts heraus eine schwarze Wand, die Belvedere die Sicht auf sein Opfer nahm. Die Ongennen verstanden mit dieser Demonstration die Regeln dieses Gottesurteils und gaben zischelnde Laute der Bewunderung von sich. Schweighart hatte ebenfalls verstanden. Es war wieder einer dieser miesen Tricks von Belvedere. Er war überzeugt davon, daß die Speere durch eine vorher präparierte Vorrichtung und mit Hilfe der Nanomaschinen todbringend ihr Ziel finden würden, ganz gleich wie richtungsgenau Belvedere die Speere schleudern würde. Die schwarze Wand verschwand wieder, Belvedere nahm abwägend den ersten Speer in die Hand und stellte sich seitlich in Wurfposition. Jetzt zeigte DeHaney eine Regung. Sein Körper war von einigen Steinen getroffen worden, er blutete aus mehreren Wunden. Langsam drehte er den Kopf Belvedere zu und fixierte ihn mit weit aufgerissenen Augen. In ihnen war keine Angst zu erkennen, nur Verachtung und Hass. Bei diesem Anblick tat sich unter Schweigharts Herz ein riesengroßes Loch auf. Alles an ihm war wie gelähmt. Seine Finger krallten sich um die Stricke des Ballens und seine Gefühle und Gedanken verwandelten sich in ein einziges Chaos. Es blieb keine Zeit mehr für Überlegungen. Er mußte da hinunter. So schnell wie möglich. Vielleicht konnte er mit seinem Erscheinen
der Situation eine Wende geben oder wenigstens dieses unmenschliche Ritual aufhalten. Er zog sein Knie an und wollte aufspringen, als er einen heißen Stich an seinem Hals verspürte. Unwillkürlich fuhr er klatschend mit der Hand an die Stelle. »Schweighart! Kommen Sie her, schnell, sofort!« Die leisen geflüsterten Worte kamen von hinten. Er drehte sich um und erkannte Steinvogel, der neben einem Ballen kauerte und nach seinen Füßen langte. Eine stummer Laut der Überraschung formte sich auf Schweigharts Lippen. Gleichzeitig spürte er einen scharfen Geschmack auf der Zunge, die sich zudem augenblicklich schwer und taub anfühlte. Das wirbelnde Chaos in seinem Gehirn zog sich zu einem gebündelten Strang zusammen und flachte schließlich in einer wohligen Ordnung ab. Keine Probleme mehr, nur Wohlbefinden. Er wollte etwas sagen, aber seine Zunge war ihm im Weg. Ein kehliger Laut war alles, was er hervorbrachte. »So ist es gut. Zu mir kommen, ganz langsam!« Einfach nur gehorchen. Seine Beine reagierten eher als sein Kopf. Sie zogen seinen Kopf einfach mit nach hinten. Irgend etwas war doch da noch gewesen. Mit einem letzten Erinnern blickte er zurück in die Senke. Dort war viel Licht und in der Mitte eine große schwarze Wand. DeHaney und ein Speer, der dicht neben seinem rechten Ohr im Holz steckte. DeHaney? Laute Rufe der Enttäuschung hallten durch die Nacht. Gleichgültig. Einfach nur Gleichgültigkeit. Und jetzt nach hinten rutschen. Der Stimme entgegen. »So ist es gut mein Junge. Glaub mir, du kannst es nicht ver-
hindern, aber du kannst ihn rächen, und diese Rache wird mehr bewirken als dein Tod!« DeHaney sah den ersten Speer nicht kommen. Er war plötzlich da. Mit einem knirschenden Splittern neben seinem Kopf. Mehr registrierte er von dem Vorgang nicht. All seine Sinne waren auf den Tod ausgerichtet. Seine Muskeln bis zum Zerreißen gespannt. Kein Schrei würde über seine Lippen kommen. Nur stumme Verachtung und unsäglicher Hass würde seine verbleibende Energie aufzehren. Kein Gedanke an das Leben, die Vergangenheit, den Tod. Alle Konzentration nach vorne richten, diesem Monster wenigstens eine kleine Niederlage zufügen, auch wenn sie sinnlos war. Die schwarze Wand ging wie ein Bühnenvorhang nach oben, und er sah, wie Belvedere nach dem zweiten Speer langte. Und Annick, die nach wie vor regungslos neben dem Thron kniete. Ihre Regungslosigkeit beruhigte ihn. Das war nicht mehr seine Annick. Viel schlimmer war die Qual gewesen, die er in dem engen Raum hatte erdulden müssen, in dem er die letzten Stunden eingesperrt war. Überall um ihn herum an den Wänden hatte ihm Belvedere den Ablauf der ersten Begegnung mit Annick im Hangar gezeigt: eine energische Annick, die unerschrocken auf das arrogante Wesen einredete, danach forderte, schließlich um das Leben von Cooper und Janine bettelte. Die blasierten Bewegungen von Belvedere, mit denen er selbstgefällig ablehnte, desinteressiert aus dem Raum ging und sie damit weiter in sein barockes Reich hineinlockte. Die Farben der Wände veränderten sich, von hellgelb bis letztendlich hin zu einem glutrot.
Dann das erste schmachvolle und lüsterne Angebot Belvederes, die empörte Zurückweisung Annicks. Ihre Verzweiflung unter dem Zeitdruck. Sein überlegenes und verschlagenes Grinsen. Ein zweites eindeutiges Angebot, gefolgt von einer freundlichen Einladung zu einem Getränk. Ihre aufkommenden Zweifel. Schließlich ihre Zustimmung, von der DeHaney nicht wußte, wieviel Bereitschaft ihrerseits schon vorhanden war. Ihr vertrauter Körper in den Armen dieses Wesens. Lustvolles Stöhnen und Bewegungen, die DeHaney bisher nur für sich beanspruchte und die nun von einem fremden, groß gewachsenen Mann genossen wurden. Und immer wieder stellte sich ihm die Frage nach dem Grad ihrer Bereitschaft. Weitere Szenen folgten, aber der optische Reiz erlahmte sehr schnell, besonders da er spürte, daß Annick im Laufe der Stunden ihre Wesenszüge verlor. Von Cooper und Janine war keine Rede mehr. Wahrscheinlich stand sie unter Drogen, die ihr Belvedere mit den exotischen Getränken verabreicht hatte. Belvedere hatte nicht verhindern können, daß er seine Augen schloß, um die Qual zu lindern, aber seine Ohren wurden dadurch um so sensibler. Zusätzlich glich seine Phantasie die fehlenden Bilder in einer derart intensiven Weise aus, so daß er schon bald wieder die Augen öffnete. Er sehnte das Ende der Qualen herbei. Durch diese Demonstration war ihm bald bewußt geworden, daß er nichts anderes war, als ein billiges Spielzeug in den Händen eines hochmütigen Herrschers. Und als ihn die Ongennen in der Nacht nach draußen schleppten und auf einer Palette fesselten, hatte er längst mit seinem Leben abgeschlossen.
Der zweite Versuch. Keine schwarze Wand. Belvedere deutete einen Wurf an und die Aktion wurde sogleich von den Ongennen mit leisen Buh-Rufen und nachfolgendem Gelächter bedacht. Die Wand erschien vor DeHaney. Unmittelbar darauf zischte das leuchtende Wurfgeschoß heran und verfehlte die Palette um Haaresbreite. Ein lächerliches Schmierentheater. Dieses Mal blieb die schwarze Wand bestehen und als die Ongennen die vermeintliche Erschwernis des letzten Wurfes von Belvedere begriffen, standen sie begeistert auf und skandierten mit rhythmischen Rufen den Namen von Notache. Jetzt also war es so weit. DeHaney fühlte eine seelische Schwere, die ihn nach unten zog. Vielleicht war das Leben nichts anderes als ein ständiges Entgegenstemmen wider eine Form von Gravitation, von der er nichts wußte. Und der Tod ein Eintauchen in eine JenseitsSchwere, ein Wechsel in ein anderes Ich? Er legte den Kopf auf seine linke Schulter und atmete noch einmal tief durch. Seine Muskeln wurden weich und locker. Er war bereit. Die letzten Eindrücke, die er noch aufnahm, war das anfeuernde Johlen der Menge und ein harter Schlag, der auf seiner Brust zu explodieren schien.
32. Kapitel Laut keuchend humpelte Schweighart hinter Steinvogel her. Er wußte nicht, warum er dem kleinen Mann folgen sollte, aber der Befehl war eindeutig gewesen. Fragen wollte er nicht stellen, ganz abgesehen davon konnte er es auch nicht, denn die Zunge lag ihm wie ein Fremdkörper im Mund und erschwerte ihm das Atmen. Erschöpft blieb er stehen. Sofort war Steinvogel bei ihm und trieb ihn an: »Los, Mensch, reiß dich zusammen! Es bleibt uns nur wenig Zeit!« Schweighart nickte gehorsam und setzte sich mit Steinvogels Hilfe wieder in Bewegung. Auf dessen Schulter gestützt torkelten sie auf die Pyramide zu. Als sie an der steil aufragenden Wand ankamen, kehrte ein Teil seiner Erinnerung bruchstückhaft zurück. Ein großer Eingang. Hier war doch einmal ein großer Eingang gewesen. »‘ng’ang?« lallte er fragend wie ein Idiot. »Der Eingang? Den gibt es nicht mehr, wir müssen hier rein.« Steinvogel hantierte an seinen Handschuhen. Gleich darauf nahm er Schweighart am Arm und schob ihn in eine dunkle Öffnung, die sich plötzlich neben ihnen aufgetan hatte. »Los, in den Gang hinein, schnell!« Ohne weiter zu überlegen, ging Schweighart in die Knie und hastete auf den Händen und seinem unversehrten Bein den niedrigen Gang entlang, der steil nach unten führte. Seine
Schmerzen in der Brust waren immer noch latent vorhanden, aber merkwürdigerweise behinderten sie ihn kaum. Er fühlte sich wie in Watte gepackt. Auch als er in der Dunkelheit mehrmals mit dem Kopf an die Decke stieß, spürte er nicht viel mehr als ein fernes, dumpfes Pochen. »Zieh den Kopf ein, Junge! Bück dich tiefer herunter, sonst verletzt du dich! Der Gang ist nicht perfekt ausgearbeitet, er wird nur einmal gebraucht, später wird er verschüttet sein«, rief Steinvogel hinter ihm. Verletzen? Der Gedanke belustigte Schweighart. Er befand sich in einer Art Rauschzustand, in dem solche Begriffe nicht existent waren. Trotzdem gehorchte er und benutzte daraufhin sein Knie zur Fortbewegung. Als er wenig später wegen seinem unkoordinierten Bewegungsablauf hart auf den Bauch fiel und ein Stück den Gang entlangrutschte, entfuhr ihm ein wirres Gelächter. Mit lauten Flüchen zog ihn Steinvogel wieder hoch und schob ihn weiter. Schweighart war jegliches Zeitgefühl abhanden gekommen. Bald wurde ihm diese unangenehme Krabbelei langweilig, aber er traute dem kleinen Mann nicht zu widersprechen, der ihn immer wieder zur Eile antrieb. Gerade, als er beschlossen hatte, sich bockig zu stellen und sich in dem Gang hinzusetzen, tauchte nicht weit vor ihm ein rötliches Rechteck auf. Die Farbe holte ihn wieder ein Stück in die Realität zurück. Das war eine Tür, ein Eingang, ein Ausgang. Er wußte plötzlich, daß man durch dieses farbige Rechteck ohne Schwierigkeiten hindurchgehen konnte. Er hörte mit seinem Gekicher auf und konzentrierte sich. Der Name von Belvedere fiel ihm wieder ein. Traurigkeit
nahm ihn in Besitz. »Schneller, da durch, los!« Sie purzelten beinahe gleichzeitig in einen großen Raum hinein. Steinvogel ließ ihm keine Zeit, den riesigen flachen Rumpf des Volanten zu bestaunen, der vor ihm aufragte und zerrte ihn durch eine schmale Öffnung in das geheimnisvolle Objekt hinein. »Gleich haben wir es geschafft. Hier unten, jetzt da durch. Dort ist der Raum, in dem die Sarkophage stehen.« Steinvogel redete mehr mit sich selbst, als daß er Informationen an Schweighart weitergeben wollte. Seine Bewegungen wirkten hektisch und fahrig. Er zuckte erschrocken zusammen, als sie in einen niedrigen Raum stolperten und automatisch das Licht anging. »Natürlich, wir brauchen Licht. Schnell, komm, du mußt dich ganz ausziehen. Alle Kleider runter vom Leib. Danach bekommst du noch eine Injektion. Sie macht dich schmerzunempfindlich und schützt dein Bewußtsein, aber das kennst du ja schon. Hat dein Leben gerettet, du dummer Junge. Gut so, alles runter, auch den Verband. Warte, ich helfe dir. Das Zeug kommt in den Behälter hier. Du schaust furchtbar aus. Überall blaue Flecken und dein Kopf blutet. Macht nichts. Wird alles heilen. Hast viel Zeit dazu. Du legst dich in Belvederes Sarkophag und dann wirst du schlafen. Für eine kleine Ewigkeit schlafen.« Schweighart stand benommen in dem Raum, den man mehr als eine Kammer bezeichnen konnte. Die Decke begann gleich über seinem Kopf und auch die restlichen Ausmaße dieses Ortes waren nicht gerade üppig zu nennen. Beherrschend waren vor allem die zwei großen schwarzen Gehäuse, die am Boden ste-
hend beinahe die ganze Grundfläche der Kammer einnahmen. Einzelheiten konnte er nicht erkennen, denn das Licht wurde von dem matten Material fast gänzlich absorbiert. Ihm fehlte immer noch die Fähigkeit, Assoziationen zwischen seinen wirren Gedanken und der Realität herzustellen. Der Begriff ›Tod‹ drängte sich ihm bei dem Anblick der unförmigen Kästen auf und plötzlich hatte er Angst. Zudem riß ihm der kleine Mann die Kleider mit fliegenden Fingern vom Leib. Ein Vorgang, den er überhaupt nicht verstand. Zuerst kam ein leiser klagender Laut über seine Lippen. Eine zunehmende Verzweiflung bemächtigte sich seiner. Schließlich begann er heftig um sich zu schlagen. Mit Erfolg, denn das Gezerre an ihm hörte sofort auf. Dafür spürte er gleich darauf ein sanftes Stechen an seinem Hals, das er kaum wahrnahm und auch mit den Vorgängen um sich herum in keine Verbindung brachte. Augenblicklich aber fand er eine neue Situation vor. Eine angenehme Schwäche brachte ihn ins Taumeln, und er suchte instinktiv nach einem Halt, einem Platz, um die torkelnden Linien um ihn herum zu beruhigen. Dankbar nahm er die zugreifenden Hände, die ihn an die Umrandung der Kästen führten, lauschte der Stimme, die ihn beruhigte und ihm vorschlug, sich doch einfach in den Kasten hineinzulegen. Willenlos glitt er von der Umrandung auf die Unterlage, die sein Taumeln beendete und ihn in ein Empfinden des Schwebens versetzte. Mit einem tiefen Seufzer ließ er sich los. Ganz kurz flackerten noch einmal Instinkte der Abwehr in ihm auf, als ein dunkler Schatten sein Gesichtsfeld verdunkelte und er in einem Schwall einer kalten und öligen Flüssigkeit versank, aber im nächsten Moment wechselte er schon in ein tiefes Dunkel hinüber.
Steinvogel befand sich in einem Zustand der Hysterie. Als sich Schweighart wie ein verwundetes Tier zur Wehr setzte, mit unglaublichen Kräften um sich schlug und ihn anschließend mit starken Armen umschlang, glaubte er nicht mehr an ein Gelingen seines Plans. Zum Glück waren Schweigharts Bewegungen unkoordiniert, so daß er sich nach einem kleinen Schwächeanfall des jungen Deutschen aus dem Wirrwarr der Gliedmaßen befreien konnte. Der Schweiß lief ihm aus allen Poren. Seine Finger glitten mehrmals auf der Tastatur der Handschuhe ab, doch dann hatte er die richtigen Funktionen eingegeben und Schweighart ging endlich in die Knie. Rasch sprang er hinzu und redete beruhigend auf ihn ein. Jetzt galt es, ihn so schnell wie möglich in Belvederes Sarkophag zu legen und anschließend die Startphase zu aktivieren. Wenn in den nächsten Sekunden alles nach Plan verlief, hatten sie es geschafft. Nur schnell mußte es gehen. Nachdem er Schweighart in eine liegende Position bugsiert hatte, hastete er zum Fußende, überlegte einen Moment lang und gab dann eilends die Befehle zur Aktivierung ein. Jetzt nur keinen Fehler machen. Seine Hände huschten über die Sensoren. Bestätigungen leuchteten kurz auf und erloschen. Schließlich das glühende Startsignal. Er bestätigte die angegebene Sequenz und wartete. Nichts geschah, außer daß sich eine flache Haube aus den Seitenteilen des Sarkophages schob und sich über den erschlafften Körper Schweigharts legte. Keine weitere Reaktion. Oder doch? Von draußen ertönte ein lautes Krachen. Steinvogel fuhr hoch und lauschte mit angehaltenem Atem. Seine Gedanken
begannen sich zu überschlagen. Welchen Ursprung hatte dieses Geräusch? War es Belvedere, der ihm auf die Schliche gekommen war? Oder waren es nur Spannungen im Gestein, die sich durch die beginnenden Vorgänge in der Pyramide gelöst hatten? Eigentlich unmöglich, denn der Volant lag über fünfzig Meter tief unter dem Bauwerk. Vielleicht die Geröllmassen, die beide Zugänge zuschütten sollten? Schweighart und er waren durch einen kleinen Stollen hierher gelangt, aber es gab noch einen weiteren Zugang von Belvederes Hangar hierher. Sollte er nachsehen? Seine Anspannung steigerte sich bis zur Unerträglichkeit. Jeden Moment erwartete er, daß die groß gewachsene Gestalt Belvederes in der Tür erscheinen würde. War da nicht ein Schatten gewesen? Oder hatte das Licht geflackert? Nein, es konnte nur Belvedere sein. Der Belvedere, der ihn immer betrogen hatte und nun wieder die entscheidende Karte in der Hand hielt. Gleich würde sein überhebliches Lachen ertönen. Die Vorstellung nahm in Steinvogels Verstand Gestalt an. Er konnte nun die Anwesenheit des Herrschers beinahe körperlich spüren und steigerte sich in einen Wahn hinein. Mit beiden Händen hielt er sich schließlich die Ohren zu. Bange Sekunden verrannen, aber nichts geschah. Er hob erstaunt den Kopf. War da nicht ein fernes Grollen zu hören gewesen? Im Geiste ging er den Ablauf der Vorgänge in der Pyramide durch, die nach der Aktivierung von Belvederes Sarkophag geschehen sollten. Als erstes würden alle noch bestehenden Gänge und Stollen
durch herabgleitende Steinplatten verschlossen werden. Danach folgte die Versiegelung der Hohlräume mit seitwärts gerichteten Steinquadern, die eine feste Grundstabilität der Pyramide für die Zukunft garantierten. Ein großangelegter Vorgang, bei dem nicht alle Steine ihren vorbestimmten Platz einnehmen würden, aber das Risiko war einkalkuliert. Danach das Auffüllen des Transportschachtes mit Sand aus den trichterartig angelegten Vorratsstollen über und neben dem Schacht, anschließend das Verschließen der Stollen wiederum mit schräg herausgleitenden Steinplatten. Das Entleeren der Wassertanks … Er schloß die Augen, hob den Kopf ein wenig höher und lauschte nach oben. Die Wassertanks. Das Grollen stammte von dem abfließenden Wasser, das mit großer Wucht in den Kanal unter dem Kesselhaus schoß. Der Sog löste hölzerne Sperriegel aus, die kurz darauf mächtige Steinquader freigaben und den Kanal abdichteten. Ja, das war es. Jetzt wurden alle kleineren Schächte und alle Entlüftungen durch schmale Platten verschlossen, die mit sensiblen Scharnieren versehen waren und nach unten klappten. Das war wichtig, um die Feuchtigkeit zu erhalten. Ein erhabenes Gefühl. Er konnte die Abläufe in seiner Phantasie spüren, ja sogar hören. Ein gewaltiges mechanisches Instrument, das nur einmal gespielt wurde. Danach würde es für alle Ewigkeit verstummen. Mit einem zufriedenen Lächeln genoß er sein Werk und lehnte sich zurück. Ein großer Sieg für ihn und eine Niederlage für Belvedere. Belvedere. Notache Achetaton.
Der Herrscher hatte ab jetzt höchstens noch eine halbe Stunde Zeit, um sich in die kleine Pyramide zu retten. Die Staudämme im Süden existierten bereits nicht mehr und die heranschießenden Wassermassen würden in kurzer Zeit den Nil in eine alles verwüstende Apokalypse verwandeln, deren Auswirkungen die Region auf Jahrzehnte, vielleicht sogar auf Jahrhunderte hinaus in eine Schlammwüste verwandeln würde. Kein Betreten dieser Region würde mehr möglich sein. Auch kein Leben. Nur die Pyramiden würden bestehen bleiben. Die Zukunft hatte es bewiesen. Mit einem kurzen Bedauern dachte er an die in der Senke verbliebenen Ongennen, die sich nicht mehr würden retten können. Mitgegangen, mitgefangen. So ist das Leben. Ein befreiendes Schluchzen kam aus dem Grund seiner Seele und hallte durch die Kammer. Es war eine Reise in sein Ich. In kleine Ewigkeiten. Und in die Tiefe der Erkenntnisse. Er traf auf die Vielfältigkeiten des menschlichen Geistes und entdeckte Wahrheiten, mit denen er bisher noch nie konfrontiert gewesen war. Seine neu gewonnenen Sensibilitäten reichten in Regionen hinein, die ihm Vertrauen und Selbstbewußtsein vermittelten. Fast beiläufig begriff er die Ordnungen und Regeln, die Leben bedeuteten. Ein Universum ohne das Ich konnte nicht existieren. Das Ich war die grundlegende Identität der Existenz, eine philosophische Singularität, die sich jenseits des materiellen Begreifens befand. Manchmal streifte er die Grenzen des Todes, und in diesen Momenten erblickte er das Prinzip der ewigen Erneuerung. Mit überraschender Selbstverständlichkeit erkannte er, daß der Tod nichts anderes war, als eine immerwährende Erneuerung des
Ichs. Ein Gefühl der Zufriedenheit, gemischt mit ein wenig Stolz über sein neu erworbenes Wissen ließ ihn Gott gleich über allem schweben. Er hatte den Schatten des Baumes der Erkenntnis erreicht. Jetzt wußte er alles. Dann wachte er auf. Und das Vergessen hatte ihn wieder zurück. Er öffnete die Augen und spürte sogleich eine Vertrautheit. Etwas, das immer schon dagewesen war, aber er konnte es geistig nicht erfassen. Eine räumliche Beschreibung war in seinem Zustand unmöglich, also beschränkte er sich darauf, nach innen zu sehen. Das Problem war nur, daß er dort ebenfalls keinen Halt fand, obwohl er von dort zu kommen schien. Also gab es kein Zurück. Seine Augen waren der einzige Rückhalt im Augenblick, auch wenn die Informationen spärlich waren. Also ein neuer Versuch. Er schloß wieder die Augen. Dunkel, unbekannte Muster, vermischt mit Schlieren ohne wesentliche Kontraste. Augen auf. Ruhige, von hell nach grau verlaufende Fläche, stabiles Bild. Sonst nichts. Außer der Vertrautheit, die von innen kam. Plötzlich gesellte sich das Fühlen dazu, eine andere Vertrautheit. Langsam zunächst, dann immer mehr ansteigend, hauptsächlich durch feine Stiche, die von seinem Rückgrat stammten. Jetzt der Geruchssinn. Weitgehend neutral. Keine Erkenntnisse. Das Hören blieb ganz weg. Tasten. Spüren. Mit Händen. Hände?
Keine Reaktion. Erinnern vielleicht? Auch kein Ergebnis. Nach einigen Minuten schlief er wieder ein. Als er zum zweiten Mal erwachte, war alles ganz anders. Er wußte sofort, wer er war und wo er sich befand, auch wenn die Erinnerung an die letzten Erlebnisse sehr diffus war. Dafür aber waren die Bilder der Ereignisse zuvor sehr ausgeprägt. DeHaney und Belvedere. Alles war wieder da. Merkwürdigerweise mußte er keine Energie dafür aufwenden, um die schmerzlichen Erfahrungen zu verarbeiten oder gar zu verdrängen. Es war einfach ein Stück Geschichte, die er vor langer Zeit erlebt hatte. Vergangenheit. Ein Traum. Jetzt war jetzt. Blieb nur die Frage: Wann war jetzt? In dem Sarkophag war es kühl. Er hatte keine Ahnung, welche Verhaltensmaßregeln es nach einem Tiefschlaf durch die Jahrtausende gab, aber er nahm an, daß ihm die Maschine, oder wie auch immer man diesen Behälter bezeichnete, einen Hinweis geben würde, was er als nächstes zu tun hatte. Nichts dergleichen geschah, also versuchte er, ein Stück nach oben zu rutschen. Es ging problemlos. Seine Gelenke waren etwas steif, aber das war auch schon alles. Auf seinem Körper klebten Rückstände von einer unbekannten Substanz. Angewidert wischte er die Reste mit der Hand weg. Das Licht in der Kammer wurde heller. Wie ein künstlicher Sonnenaufgang. Er grinste. Natürlich hatte es ein Herrscher wie Belvedere so eingerichtet, daß er das Erwachen so angenehm wie möglich erlebte. Vorsichtig rutschte er noch ein Stück höher, bis er in eine
sitzende Position gelangte. Ein leichtes Schwindelgefühl überkam ihn. Eine normale Reaktion nach 10 000 Jahren im Tiefschlaf, dachte er belustigt. Seine Stimmung war bestens, obwohl er sich den Überschwang seiner Gefühle nicht erklären konnte. Wahrscheinlich hatte ihm die Programmierung dieses schwarzen Sarkophags in der Endphase seines Schlafes ein Mittel verabreicht oder Steinvogel hatte ihm wieder eine seiner Drogen injiziert. Steinvogel. Wo war der überhaupt? Er blickte nach links zu dem zweiten Behälter, aber der war leer. Außerdem sah er unbenutzt aus. Als er die beiden Liegeflächen der Sarkophage miteinander verglich, fiel ihm ein erheblicher Unterschied auf. In seinem klebten überall gelbliche Fetzen dieser Substanz, in dem anderen waren keinerlei Verunreinigungen festzustellen. Seine Euphorie ließ ein wenig nach. Was machte ihn so sicher, daß er überhaupt in die Zukunft zurückgekehrt war? War das Ganze am Ende ein Schwindel gewesen? Mit einer drückenden Unruhe im Herzen stieg er aus dem Sarkophag und sah sich um. In der Kammer gab es keine weiteren Einrichtungen. Lediglich eine komplizierte Vorrichtung an einer Seitenwand, die einer Steuerkonsole ähnelte. Offensichtlich wurden damit die Einstellungen für die Hibernation vorgenommen. Einen kurzen Moment lang betrachtete er die halbrunden Sensorenfelder, die ihm in verschiedenen Farben stumm entgegenleuchteten. Er schüttelte den Kopf. Damit konnte er nichts anfangen. Behutsam wagte er die ersten Schritte und stützte sich mit einer Hand an der Wand ab. Dabei ertastete er eine längliche Vertiefung in der glatten Fläche. Er fuhr mit dem Finger dar-
über, konnte aber keinen Grund für die Ursache die Unregelmäßigkeit entdecken. Erst als er einen Schritt zurücktrat, erkannte er im Streiflicht, daß jemand einen Pfeil tief in das ansonsten ebenmäßige Material gekratzt hatte. Darunter befand sich eine Schrift. Sein Name. Schweighart. Da stand tatsächlich sein Name in altdeutscher Schrift geschrieben. Er hatte etwas Mühe beim Entziffern, besonders die Schreibweise des kleinen ›e‹ war ungewöhnlich. Verblüfft sah er in die Richtung, in die der Pfeil wies. Es war ein Hinweis, den Steinvogel hinterlassen hatte, aber warum in dieser ungewöhnlichen Form? Argwöhnisch ging er auf die schmale Tür zu. Draußen auf einem engen Gang sprang ihm sofort wieder ein Pfeil an der Wand in die Augen, der dort ebenfalls mit aller Kraft und sehr tief angebracht worden war. Er zeigte nach rechts. Mit beiden Händen links und rechts an die Wände gestemmt folgte Schweighart dem Zeichen. Das Gehen fiel ihm zwar leicht, aber noch hatte er Probleme mit der Balance. In etwa zehn Metern Entfernung schimmerte ihm ein magentafarbenes Rechteck entgegen. Er wußte aus der Beschreibung der Cochrans, daß dahinter der Thronsaal lag. Und er ahnte, daß sich dort die Frage nach den mysteriösen Pfeilen beantworten würde. Sein Herz schlug heftig, als er den Saal betrat. Das erste, was ihm auffiel, waren die Wände. Sie waren bis zu einer Höhe von etwa zwei Metern über und über mit Schriftzeichen bedeckt. Als er gleich links von sich die ersten Worte entzifferte, wurde ihm bewußt, daß es sich um eine Botschaft an
ihn handelte. Eine Botschaft von Steinvogel. ›Lieber Herr Schweighart. Belvedere hat mich betrogen. Ich habe es immer wieder und wieder versucht, aber der Mechanismus für meinen Sarkophag hat nicht funktioniert … ‹ Er las nicht weiter. Von einer düsteren Beklemmung ergriffen ging er weiter in den Raum hinein, bis er vor dem Thronsessel stand. Dort auf dem übergroßen Sessel saß Steinvogel. Oder das, was von ihm übrig geblieben war. Ein zierliches Skelett mit einem bleichen Totenschädel lag zusammengesunken in der Ecke von Belvederes Thron, in der rechten Hand die billige Brille. Ein brauner Staub, vermischt mit einigen grünlichen Sprenkeln bildeten eine nekrophile Unterlage und zeugten von der langen Zeit, die der Körper hier geruht haben mußte. Links auf der Lehne lagen die Handschuhe. Unversehrt von der Zeit. Benommen ging Schweighart in die Knie und setzte sich auf den Boden. Dann atmete er tief durch. Seine Vorstellungskraft reichte nicht aus für das, was der kleine Mann durchgemacht haben mußte. Die Enttäuschung, als er erkannte, daß er zurückbleiben würde. Gefangen und eingeschlossen in dem Volanten. Welche Wut und Enttäuschung. Gleichzeitig hatte er der Versuchung widerstanden, Schweighart aus seinem Tiefschlaf zu wecken und seine Stelle einzunehmen. Wie konnte ein Mensch soviel Größe und Uneigennutz in solch einer verzweifelten Lage aufbringen? Diese Einsamkeit ertragen, an deren Ende der Tod wartete? Er saß lange vor dem Thron. So lange, bis die Stille um ihn herum erdrückend wurde. Mehr noch, die ganze Situation
wurde für ihn beklemmend. Obwohl er Steinvogel, in einer realen Zeit gemessen, noch vor einer Viertelstunde vor sich gesehen hatte, fühlte er beim Anblick des Skeletts die vergangenen Jahrtausende. Er stand auf und strich mit der Hand über die schweren Vorhänge neben dem Thron. Das Material fühlte sich an wie Samt, aber es konnte kein Samt sein. Es war wie neu. Auch die beiden barocken Kommoden neben dem Sessel zeigten keine Verfallserscheinungen. Er hatte keine Erklärung dafür. Der große Monitor gegenüber dem Thronsessel war schwarz. Ihm kam in den Sinn, daß Belvedere den Volanten bestimmt in der Zukunft hatte benutzen wollen. Dafür hätte er ihn irgendwie aus dem unterirdischen Hangar hinaus bekommen müssen. Wie, war Schweighart ein Rätsel, aber er war sich sicher, daß es hierfür eine Möglichkeit gab. Vielleicht hatte sie ihm Steinvogel in seinen Aufzeichnungen hinterlassen. Dabei fiel ihm mit Schrecken ein, daß er keine Ahnung davon hatte, wie er selber aus dieser monströsen Gruft entkommen konnte. Mit schnellen Schritten ging er hinüber zum Anfang der in die Wand gekratzten Schrift und las konzentriert die weiteren Sätze. Steinvogel war mit keinem Wort auf seinen verzweifelten seelischen Zustand eingegangen, ganz im Gegenteil, was folgte, war eine nüchterne und detaillierte Zusammenfassung über die verschiedenartigen Funktionen der Handschuhe, sonst nichts. Wo aber war ein Hinweis über den Ausgang? Schweigharts Augen flogen über den Text. Vieles konnte er auf Anhieb nicht lesen, weil die Schrift an manchen Stellen nur schwach in das Wandmaterial eingedrückt war. Andere Stellen waren so verschlungen ausgeführt, daß er Mühe hatte, die einzelnen Buchstaben
auseinanderzuhalten. Nirgendwo wurde der Ausgang erwähnt. Schweiß lief ihm über die Stirn, und er versuchte, sich zu beruhigen. Wahrscheinlich würde es der gleiche Weg sein, auf dem sie hier hereingekommen waren, aber er erinnerte sich dunkel daran, daß Steinvogel zu ihm gesagt hatte, daß auch dieser Gang durch die Aktivierung der Pyramide zugeschüttet werden würde. Siedendheiß kam ihm die Möglichkeit in den Sinn, daß Belvedere sein Verließ bestimmt nicht zu Fuß verlassen hätte, sondern mit dem Volanten. Aber auf welche Weise kam dieses riesige Flugobjekt an die Oberfläche? Er durchquerte den Raum hinüber zu der gegenüberliegenden Wand und las dort weiter im Text. Es folgten Anleitungen über eine Aktivierung der Handschuhe und die Wiederherstellung eines Heeres von Nanomaschinen. Dazu würde er einen Satz von Grundbausteinen benötigen, die in einem speziellen Fach im linken Handschuh untergebracht waren. »Unwichtig«, murmelte er und ging langsam an der Wand entlang, die Augen fest auf die Schrift gerichtet. Endlich, im unteren Teil, kam Steinvogel auf andere Dinge zu sprechen. Er wies auf eine Verpflegungsstation im Volanten hin und beschrieb die Wasseraufbereitung. Er erwähnte einen Hygieneraum und warnte vor dem Betreten des Maschinenraums. Schweighart entfuhr bei der letzten Bezeichnung ein Lächeln. Er konnte sich vorstellen, daß der sogenannte Maschinenraum ein unverständlicher Komplex war, der alles andere als einen Verbund von einfachen Maschinen darstellte. Von dort würde er sich auf jeden Fall fernhalten. Ganz abgesehen davon verspürte er nur einen einzigen Wunsch: Er wollte so schnell wie möglich
ins Freie, endlich wieder frische Luft atmen. Und nicht nur das, er wollte endgültig in seine Zeit zurück. Schließlich fand er, wonach er gesucht hatte. Er atmete erleichtert auf. Es gab einen Notausgang, einen engen Kamin, der hinauf in die Pyramide führte. Gleich nach der Beschreibung folgte eine kurze Notiz darüber, daß Belvedere vorgehabt hatte, mit dem Volanten aus der Tiefe zu entfliehen. Auf welchem Weg dieses hätte geschehen sollen, erwähnte Steinvogel nicht. Schweighart konnte es gleich sein. Nur raus hier. Verwundert las er die letzten Sätze. »Mein lieber Freund, ich wünsche Ihnen alles Gute für die Zukunft. Und bitte verzeihen Sie mir meinen Egoismus. Ihr Jonathan Steinvogel.« Schweighart wandte sich von der Schrift ab und hockte sich auf den Boden. Eine seltsame Bitte, aber er hatte Steinvogel als einen merkwürdigen Kauz kennengelernt und anscheinend war er das auch bis zu seinem tragischen Ende geblieben. Einen übertriebenen Egoismus hatte Schweighart bei ihm nicht feststellen können, ganz im Gegenteil, durch seine Selbstlosigkeit hatte er ihm das Leben gerettet. Er schüttelte den Kopf und beschloß, nicht mehr weiter darüber nachzudenken. Sei’s drum, jetzt galt es zu überlegen, was er als nächstes tun sollte. Sein Verlangen nach sofortiger Freiheit war merkwürdigerweise verflogen. Als erstes wollte er ausprobieren, ob die Verpflegungsstation nach so langer Zeit tatsächlich funktionierte. Dann wäre eine Dusche recht. Und vielleicht würde er etwas zum Anziehen finden. Belvedere besaß garantiert einen feudalen Kleiderschrank, wenn auch bestimmt nicht in passender Größe für einen normal gewachsenen Menschen, aber das würde das geringste Problem sein.
Er blieb fast eine Woche tief unten in der Erde, bevor er sich auf den Weg nach oben machte. Die Verpflegungsstation hatte einfache, aber nährstoffreiche kleine Würfel produziert, die ihn an das fade Essen in der Raumstation erinnerten, aber mit etwas Wasser vermischt waren sie durchaus genießbar. Der Hygieneraum, wie ihn Steinvogel bezeichnet hatte, war ein komfortables Bad mit allen nur denkbaren Annehmlichkeiten. Der Gedanke, daß er es sich in einer übergroßen Badewanne in einem fremdartigen Objekt fünfzig Meter unter einer der großen Pyramiden gemütlich gemacht hatte, ließ ihn erschauern. Kleider hatte er zur Genüge gefunden. Natürlich waren sie zu groß, aber nachdem er einige Teile mit einem fremdartigen Schneidewerkzeug zurechtgeschnitten hatte, paßten sie ganz gut. Als er sich in dem antiken Spiegel im Bad betrachtet hatte, war er in schallendes Gelächter ausgebrochen. Mit seinem inzwischen dicht gewachsenen Bart sah er aus wie ein Beduine. Die meiste Zeit jedoch hatte er mit dem Auswendiglernen des Textes verbracht. Ausprobieren wollte er die Handschuhe erst später. Hier unten in dem Thronsaal hätten ihm wahrscheinlich die Haare zu Berge gestanden, wenn er irgendeine der vielen Funktionen erfolgreich zustande gebracht hätte. In dem unterirdischen Hangar war es finster. Schweighart hatte nicht herausfinden können, auf welche Weise man die Halle beleuchten konnte, aber wenigstens hatte er im Schiff einen kleinen verformbaren Leuchtstab gefunden, mit dem er nun die Wände absuchte. Steinvogel hatte in seinem Text den Einstieg des Kamins im rückwärtigen Teil des riesigen Raums gekennzeichnet und ihn als leicht zugänglich beschrieben. Unsicher
ging Schweighart am Rumpf des Volanten entlang. Der Abstand zwischen dem Schiff und der Wand betrug weniger als einen Meter. Es war ihm nach wie vor ein Rätsel, auf welche Weise Belvedere dieses gigantische Wunderwerk in kurzer Zeit hierher gebracht hatte. Es dauerte zu seiner Erleichterung nicht lange, bis er hinter einem Mauerabsatz den Einstieg gefunden hatte. Dahinter entdeckte er den Zugang. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend stieg er in den engen Kamin ein. Schmale, aus der Wand hervorstehende und in einer Spirale angebrachte steinerne Absätze dienten ihm zum Abstützen als Hilfe auf dem Weg nach oben. Am meisten beunruhigte ihn während des Kletterns, daß er keine Ahnung hatte, wie er am Ende des Kamins ins Freie gelangen würde. Steinvogel hatte nichts davon erwähnt. Die Vorstellung, hilflos vor einem vermeintlichen Ausgang zu stehen, ohne zu wissen, wie man ihn öffnen konnte, machte Schweighart fast wahnsinnig. Er kletterte schneller und war bald darauf am Ziel angelangt: ein kleiner niedriger Raum mit einem schmalen, umlaufenden Sims um das Loch, aus dem er nach oben gekommen war. Und nun? Nirgendwo war ein Mechanismus zu erkennen, der ihm weiterhelfen konnte. Er wußte noch nicht einmal, auf welcher Seite der Ausgang sein sollte. Alle Wände waren glatt und sahen gleich aus. Oder doch nicht? Direkt neben ihm schien zwischen den Steinplatten ein winziger Spalt zu sein. Kein Zweifel, diese Stelle hatte etwas zu bedeuten, aber wie konnte er die Platte in Bewegung versetzen? Laut fluchend klatschte er mit beiden Händen an die Wand und preßte verzweifelt die Stirn an den
kühlen Stein. Ganz ruhig bleiben, sagte er sich. Es mußte eine Lösung geben. Vielleicht hatte er etwas übersehen. Im Schein der Lampe begann er die Kanten und die Ecken der Steinplatte zu untersuchen, aber ohne Erfolg. Es war kein Hinweis auf eine Funktion zu entdecken. Auch die restlichen Wände waren ebenmäßig und ohne ein Zeichen. Es war unfaßbar. Er hatte die Zeit überwunden und stand nun in einem primitiven kleinen Raum ohne die Möglichkeit, nach draußen zu gelangen. Hatte ihn Steinvogel vielleicht ebenso betrogen wie Belvedere? Der Gedanke versetzte ihn in Panik. Das konnte nicht sein, nicht jetzt, so kurz vor dem Ziel. Abermals mahnte er sich zur Besonnenheit und rief sich Steinvogels Text ins Gedächtnis. Den Schluß. Die Stelle mit der Beschreibung des Kamins. Nein, es war die falsche Stelle. Etwas anderes war wichtig. Steinvogel hatte zu Beginn seiner Erklärung über die Funktionen der Handschuhe einen Grundsatz mehrmals wiederholt. Eindeutige Funktionen. An der Außenseite des linken Handschuhs gab es einen Sensor für eindeutige Funktionen. »Mein Gott, Schweighart, du Kamel!« rief er laut und kramte die Handschuhe aus einer Tasche seiner Kleidung. Ein kleines ovales Feld, direkt hinter dem Daumen. Er nahm die Lampe in den Mund und suchte die Stelle. Ohne den Handschuh überzuziehen fuhr er leicht über die winzige Fläche und wartete. Irgendwo unter der Steinplatte vernahm er ein leises Knakken. Dann sank sie leicht nach unten und kippte unendlich langsam zur Seite. Weitere Geräusche waren zu hören, als ein Steinquader hinter der Platte nach unten sank und ein Rechteck
aus fahlem Licht erschien. Heiße Luft strömte ihm entgegen. Mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung kroch er nach draußen. Dämmerung empfing ihn, es mußte fast schon Nacht sein. Oder war es früh am Morgen? Nein, es war später am Abend, denn es war unerträglich schwül und drückend. In der Ferne konnte er schwache Lichter erkennen. Fast wäre er abgestürzt, als seine Hände ins Leere tasteten. Er war etwa in Höhe der zehnten Steinlage herausgekommen. Unter ihm konnte er im schwachen Licht die kantigen Lagen der Pyramide erkennen. Keine Verkleidungssteine. Sein Herz begann zu rasen, als er die Oberfläche der Steinquader um sich herum abtastete. Er fühlte unregelmäßige Kanten und brökkelndes Gestein. Erst in diesem Moment wurde ihm bewußt, daß er es geschafft hatte. Er war zurück in seiner Zeit. Seine Gefühle brachen unkontrolliert aus ihm hervor. Ein befreiendes Schluchzen. Ein wirres, beinahe verlegenden klingendes Gelächter. Tränen schossen ihm in die Augen, als er mit einem Schaudern die Arme um sich schlang und in Hockstellung an einen Quader neben der Öffnung lehnte. Es war nicht zu begreifen. War das Wirklichkeit? War er tatsächlich dem Zeitgefängnis entflohen? Sein Verstand schien sich zu verselbständigen und den Körper zurück zu lassen. Einen Körper, der von der neuen Umgebung nichts verstand, sie noch nicht einmal wahrnahm. Ein Sturm von Empfindungen brach mit Macht über ihn herein, der ihn in ein willenloses Bündel Mensch verwandelte, das schluchzend und hilflos in der Pyramidenwand saß. Er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als er endlich mit dem Abstieg begann. Es war eine unendliche Leere in ihm.
Leere und eine undefinierbare Angst. Seine Seele hatte zwar wieder einen begehbaren Grund gefunden, aber sein Verstand suchte immer noch nach etwas Faßbarem. Nachdem er einige Meter hinuntergeklettert war, fiel ihm die entstandene Öffnung ein, aus der er herausgekommen war. Beinahe schuldbewußt kehrte er zurück, um sie mit dem Sensor zu verschließen, konnte sie aber in der langen Steinreihe nicht finden. Wahrscheinlich war der Mechanismus von selbst wieder in die Ausgangsstellung zurückgeklappt. Inzwischen war es stockfinster. Nirgendwo war ein Licht oder ein Anhaltspunkt auszumachen, an dem er sich orientieren konnte. Es waren auch keine Sterne am Himmel zu erkennen. Die Stimmung erinnerte ihn an die wenigen schwülen Nächte, die er noch bis vor kurzem erlebt hatte. Meistens war danach ein heftiges Gewitter heraufgezogen, als Vorbote von langen und ergiebigen Regengüssen. Der heiße Sand unter seinen bloßen Füßen zeugte jedoch von völlig anderen klimatischen Bedingungen. Er hatte den Eindruck, daß es hier schon lange keinen Regen mehr gegeben hatte. Vorsichtig und mit den Händen ins Dunkel tastend wich er großen Steinbrocken aus. Irgendwann mußte er ja auf eine Straße oder auf einen Parkplatz stoßen. Oder auf das Touristenzentrum, wo die Busse mit Besuchern eintrafen. Die ersten Ausläufer von Kairo mußten auch in der Nähe sein, aber zu Fuß doch ein gutes Stück weit weg. Merkwürdig war jedoch die völlige Stille, die ihn umgab. Verwundert blieb er stehen. Seine Augen hatten sich schon längst an die Dunkelheit gewöhnt, aber trotzdem war nirgendwo ein Anzeichen von menschlichem Leben zu erkennen. Einen Moment lang glaubte er,
mehrere Stimmen und ein lautes Lachen vernommen zu haben. In die Nacht hinein lauschend dreht er den Kopf und wanderte danach in die Richtung, aus der er meinte, die Stimmen gehört zu haben. Jetzt wurden die Stimmen deutlicher. Nachdem er eine niedrige Anhöhe überwunden hatte, sah er auf einen Lagerplatz hinab, wo mehrere Zelte in einer Reihe standen. Fackeln beleuchteten in einem gespenstischen Licht die Szene. Ein einzelnes Fahrzeug war schräg am Anfang der Zeltreihe geparkt. Ein größeres Zelt war von innen beleuchtet und die Schatten von Menschen bildeten sich auf der Außenwand ab. Er blieb stehen und überlegte, wie er am besten einen ungefährdeten Kontakt herstellen sollte. Es war bestimmt nicht ratsam, einfach so in die Runde hineinzuplatzen. Besonders nicht mit seinem Aussehen. Vielleicht wäre es besser, an dieser Stelle zu warten, bis jemand herauskam und ihn dann von hier aus anzusprechen. Unschlüssig setzte er sich auf den warmen Boden. Etwas seltsam sah der Lagerplatz schon aus. Vor allem schien das Gefährt nicht gerade das neueste Modell zu sein. Anscheinend ein Cabrio, soviel konnte er in der Dunkelheit gerade noch erkennen. »Hi, mada tafaal hona? Hayya inhadd!« Erschrocken sprang er auf. Hinter ihm standen zwei Gestalten in lange Gewänder gekleidet. Anscheinend Einheimische. In den Händen hielten sie langläufige Gewehre. Bevor er etwas erwidern konnte, stupste ihn der eine mit dem Gewehrlauf an und deutete auf die Zelte. »Hayya, insel! Tamahell latador! Irfaa yadaka faouka raaseka!« Schweighart verstand kein Wort, aber die Andeutungen mit den Gewehren waren eindeutig. Sie warteten, bis er einige
Schritte gegangen war und folgten ihm dann in sicherer Entfernung. Er wagte keine unbedachte Bewegung. Eigentlich kam ihm diese Lösung für eine Kontaktaufnahme gelegen, auch wenn sie nicht ganz ungefährlich schien. So wie er die Lage einschätzte, konnte er aber darauf hoffen, daß sich in dem Zelt zivilisiertere Menschen befanden, denen er sein Eindringen zu nächtlicher Stunde bestimmt vernünftig erklären konnte. Dabei fiel ihm ein, daß ihm niemand seine wahre Geschichte abnehmen würde. Also mußte er zunächst irgend etwas erfinden. Auf jeden Fall war es wichtig für ihn, so schnell wie möglich einen Vertreter seines Landes aufzusuchen. Oder in die amerikanische Botschaft zu gelangen. »Kiff makanek! Latatahaghek!« Sie bedeuteten ihm, neben dem Cabrio stehenzubleiben. Es war ein wahres Museumsstück. So weit er erkennen konnte, war es ein Mercer Runabout aus dem Jahre 1915. Sein Vater hatte antike Automodelle von Schuco gesammelt, die er in einer Glasvitrine aufbewahrte. Der Wagen, neben dem er stand, war in einem ausgezeichneten Zustand, trotz des Staubes, der auf der rotlackierten Karosserie lag. Sogar die lächerlich wirkende Schutzscheibe, die direkt am Lenkrad angebracht war, schien noch intakt zu sein. Der eine der beiden war im Zelt verschwunden und kam gleich darauf wieder in Begleitung eines älteren Herrn heraus, der ihn zunächst wortlos musterte und danach einen kurzen Befehl in Arabisch gab. Schweighart beschloß erst einmal nichts zu sagen, bis sich die Lage etwas entspannt hatte. Gleich darauf wurde er von dem zweiten Araber gründlich nach Waffen
durchsucht. Dabei entdeckte er die Handschuhe in seiner Tasche und zeigte sie dem älteren Herrn mit einem fragenden Blick. Als dieser daraufhin eine abwehrende Handbewegung machte, wurden sie ihm wieder in die Tasche gesteckt. Anschließend führten sie ihn in das Zelt hinein, wo ihn eine Handvoll Männer und eine Frau mit neugierigen Augen betrachteten. Es schienen alles Europäer zu sein, ihrer Kleidung nach zu schließen. Die Kleidung paßte zum Stil des Autos vor dem Zelt. In Schweighart stieg ein schrecklicher Verdacht auf, so furchtbar, daß er weiche Knie davon bekam. Er versuchte, gegen die zwingende Erkenntnis anzukämpfen, indem er sich in alle möglichen Erklärungen flüchtete, um nicht mit der Wahrheit konfrontiert zu werden. Er reagierte nicht sofort, als ihn der Ältere auf Arabisch ansprach. Statt dessen antwortete er nach einer Weile in Deutsch, einfach nur deshalb, um etwas zu sagen. Sein Gegenüber riß die Augen auf und rief laut: »Das haut doch dem Faß den Boden aus. Ein Landsmann! Wieso schleicht er sich denn nachts da draußen herum und noch dazu als Beduine verkleidet?« Schweighart antwortete nicht gleich, obwohl er mit Erleichterung die deutsche Sprache vernahm. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Seine Arme fühlten sich plötzlich taub an. »Kann … kann ich mich bitte kurz setzen?« hörte er sich sagen. Der ältere Herr griff wortlos nach einem mit Stoff bespannten Klappstuhl. Schweighart nahm den Stuhl ungeschickt mit beiden Händen
und ließ sich seitlich auf der Sitzfläche nieder. Er zitterte am ganzen Körper. »Sie sehen krank aus«, meinte der ältere Herr. »Wo kommen Sie her? Wie heißen Sie?« »Schweighart. Sagen Sie … es ist etwas ungewöhnlich …« – er hatte Angst davor, die Frage auszusprechen – »sagen Sie mir bitte, welches Datum wir heute haben. Ich meine damit, welches Jahr?« Die letzten Worte hatte er beinahe im Flüsterton gesprochen. Er hob den Kopf und sah in die Runde. Alle starrten ihn verwundert an. »Ungewöhnlich, in der Tat. Was ist mit Ihnen? Haben Sie Ihr Gedächtnis verloren?« wurde er skeptisch gefragt. »Nein … ja … bitte sagen Sie es mir.« Eine Bewegung, dann ein Rascheln und ein Klatschen auf seinen Knien. »Hier, lesen Sie es selbst. Sie können doch lesen?« Eine Zeitung. Das Berliner Tageblatt. In dem Augenblick, in dem er die geschwungenen und altmodischen Buchstaben sah, offenbarte sich ihm die endgültige Wahrheit. Er war nicht in seine Zeit zurückgekehrt. Seine Hände lagen wie gelähmt auf dem Papier. Es dauerte eine ganze Weile, bis er einen klaren Gedanken fassen konnte. Es war etwas schiefgegangen. Nein, nichts war schiefgegangen. Steinvogel. Natürlich. Es war Steinvogels Zeit. Beinahe apathisch klappte Schweighart die rechte obere Ecke der Zeitung hoch und entzifferte das zerknitterte Datum: Sonnabend 9. November 1918. Die Schlagzeile, die von der Abdankung des Kaisers berichtete, nahm er kaum wahr. Von irgendwoher sagte eine Stimme: »Die Zeitung ist leider schon drei Wochen alt.«
»Macht nichts«, flüsterte er. Vor seinem geistigen Auge las er die letzten Worte von Steinvogels Text: »… und bitte verzeihen Sie mir meinen Egoismus. Ihr Jonathan Steinvogel.« Wieder die Stimme: »Möchten Sie ein Glas Wasser zu trinken?« Er brachte ein Lächeln zustande. »Ja, Wasser. Wasser wäre eine gute Idee.«
Epilog Der Direktor der Ägyptischen Abteilung der Staatlichen Museen in Berlin, Heinrich Schäfer saß an seinem Schreibtisch im ersten Stock des Neuen Museums und schob einen Brief auf der Unterlage hin und her, den er vor drei Wochen bekommen hatte. Er stammte von Ihrer Königlichen Hoheit, Prinzessin Mathilde von Sachsen. Sie kündigte darin einen Besucher aus Ägypten an, der ein großes Interesse an den Funden aus den Ruinen der altägyptischen Stadtanlage von Teil el-Armarna zeigte und heute in Berlin ankommen sollte. Ungehalten schob Schäfer den Brief von sich weg. Ausgerechnet die großartigen Funde von Armarna, die dem Museum in den letzten Jahren einen unerschöpflichen kulturellen Gewinn bescherten. Das Problem dabei waren die immer noch ungeklärten Rechte an den unzähligen Schätzen, verbunden mit den unglücklichen Veröffentlichungen, die in den Jahren darauf erfolgt waren. Am meisten Kopfzerbrechen bereiteten Schäfer jedoch einige Einzelfunde, von denen die Öffentlichkeit bis zum heutigen Tag nichts wußte. Der Hauptgrund für diese Heimlichtuerei war eine zunehmende Verärgerung von Seiten der ägyptischen Altertümerverwaltung über die ungehörige Fortgabe von einzigartigen Kunstwerken. Der Grabungsleiter Ludwig Borchardt hatte daraufhin den Finanzier der Grabungen, den Berliner Großkaufmann James Simon, gebeten, einige wertvolle
Stücke vorläufig nicht ausstellen zu lassen, um die ungute Stimmung zwischen den beiden Ländern in Bezug auf künftige Grabungsgenehmigungen nicht noch weiter zu beeinträchtigen. Einige wenige Einzelstücke. Schäfer fuhr sich zerstreut durchs Haar. Im Grunde genommen ging es bei dem diplomatischen Taktieren um einen einzigen, dafür aber ungeheuer wertvollen und unvergleichlichen Fund: eine Büste von höchstem Kunstwert aus der altägyptischen Werkstatt des Bildhauers Thutmose in Tell el-Armarna. Sie war ein Abbild der Gemahlin des Königs Amenophis IV. und war trotz der Jahrtausende in einem hervorragenden Zustand. Es handelte sich um die Büste der Nefretiti oder besser bekannt unter dem Namen Nofretete. Borchardt hatte dieses einzigartige Stück vor einigen Jahren, am 6. Dezember 1912 während umfangreicher Grabungen in Armarna entdeckt. Im Zuge der Teilung der Grabfunde wurde im darauffolgenden Jahr die Büste von Gustav Levebre, einem Inspektor des ägyptischen Antikendienstes, der deutschen Seite zugesprochen. Damit hatte alles seinen rechtmäßigen Verlauf genommen, und das Kunstwerk war in den Besitz von Herrn Simon übergegangen. Trotzdem war es danach von den britischen Agenten des Egypt Exploration Funds zu Ärger und Unmut über den angeblich so leichtfertig weggegebenen Fund gekommen. Bisher war jedoch alles gut gegangen und die Gemüter hatten sich im Laufe der Zeit etwas beruhigt. Vor wenigen Wochen hatte Schäfer in einer kleinen geselligen Runde ein für ihn historisches Datum feiern können, den 7. Juli 1920. An diesem Tag hatte der weitherzige Kunstmäzen James Simon alle Leih-
gaben aus den Armarnafunden in eine Schenkung an das Museum und damit auch an den preußischen Staat umgewandelt. Soweit war also alles seinen Weg gegangen. Und nun tauchte dieser … Schäfer suchte nach der beigelegten Visitenkarte … Thomas Schweighart auf und ließ sich sogar von Ihrer Königlichen Hoheit empfehlen. Und nicht nur das. Schäfer lag eine telegraphische Nachricht von Gaston Maspero, dem Direktor des Antikendienstes in Ägypten und ein Schreiben von Professor Ranke vor, in denen Herrn Schweighart als redlicher Mann mit einem einwandfreien Leumund und höchster Reputation beschrieben wurde. Schäfer trommelte nachdenklich mit den Fingern auf die Unterlage seines Schreibtisches. Es handelte sich bei den Beteiligten ausschließlich um Personen, die von der Büste wußten. Mathilde von Sachsen und Professor Ranke waren damals im Dezember sogar persönlich an der Ausgrabungsstätte gewesen. Das konnte kein Zufall sein. Was könnte dieser Schweighart von ihm wollen? Vielleicht wollte er ja tatsächlich nur die Armarnasammlung ansehen und hatte die hochgestellten Persönlichkeiten nur benutzt, um eine private Führung durch den Direktor des Museums zu erwirken. Irgendwie kam Schäfer die Angelegenheit jedoch sehr undurchsichtig vor. Mißmutig legte er die Unterlagen beiseite und versuchte sich mit anderen Angelegenheiten zu beschäftigen. Kurz darauf schreckte er hoch, als es zaghaft an der Tür klopfte. Er war wirklich nicht in bester Verfassung heute. Dem vorsichtigen Klopfen nach konnte es sich nur um seine Sekretärin handeln.
»Ja, bitte, Frau Wernicke, kommen Sie rein. Was gibt es denn?« Die Tür ging gerade so weit auf, daß der Kopf seiner Sekretärin hindurchpaßte. »Herr Direktor, entschuldigen Sie bitte die Störung. Draußen ist ein Herr Schweighart, der Sie gerne sprechen möchte. Er sagt, er hätte einen Termin für heute.« »Ja doch, ja«, antwortete Schäfer ungehalten. »Bringen Sie ihn gleich herein.« Er stand auf und zog seinen Anzug zurecht. Danach atmete er einmal tief durch, um sich etwas zu beruhigen. Die Tür ging weiter auf und ein braungebrannter junger Herr mit kurz geschnittenen blonden Haaren trat herein. Schäfer war überrascht. Er hatte erwartet, daß sein Besuch um einiges älter sein würde. Dieser junge Bursche sah aus, als hätte er gerade erst die Dreißig überschritten. Er war sehr schlank, fast sportlich zu nennen, auch wenn der Gehstock, den er benutzte, den Eindruck etwas verwischte. Als er einen weiteren Schritt auf ihn zukam, bemerkte Schäfer, daß Thomas Schweighart leicht hinkte. »Herr Schweighart, es freut mich sehr, Sie begrüßen zu dürfen. Ganz außerordentlich.« Er eilte mit ausgestreckten Armen auf den jungen Mann zu und schüttelte ihm die Hand. Schweigharts Händedruck erschien ihm fest und ehrlich. Ihm fiel ein Stein vom Herzen, obwohl er den Grund dafür nicht näher definieren konnte. Dieser Mensch konnte mit den Ränkespielen der Kulturwelten nichts zu tun haben, obwohl … Schäfer war für einen Moment irritiert. Schweigharts Blick zeugte von einer Lebenserfahrung, die für dieses jugendliche Alter ungewöhnlich war.
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, erwiderte Schweighart. »Ich finde es großartig, daß Sie etwas Zeit für mich übrig haben.« »Unsinn, reiner Unsinn. Ein Mann, der von so einflußreichen Personen der Weltgeschichte empfohlen wird, muß ein redlicher Mensch sein, der meine Aufmerksamkeit verdient. Legen Sie doch bitte den Mantel ab und nehmen Sie Platz. Was ist mit Ihrem Bein passiert, wenn ich fragen darf? Eine Kriegsverletzung?« Schäfer wollte wieder an seinen Schreibtisch gehen, aber Schweighart hielt ihn davon ab. »Sehr freundlich, Herr Schäfer, aber ich möchte Sie nicht lange aufhalten. Ja, natürlich dürfen Sie fragen. Es ist keine Kriegsverletzung. Ich hatte mir vor Jahren bei einer Auseinandersetzung mit … ähm … einer ägyptischen Räuberbande das Bein gebrochen und konnte anschließend für längere Zeit nicht ausreichend medizinisch behandelt werden. Ich fürchte, nun ist es zu spät für eine Korrektur. Eine leidige Geschichte.« Schweighart schwenkte mit einer abwehrenden Bewegung seinen Stock. »Unwichtig. Lassen Sie uns über etwas anderes reden. Vorerst jedoch möchte ich mich für die großangelegten Handlungen bezüglich meiner Reputationen entschuldigen. Es war nicht meine Idee gewesen, aber Herr Borchardt hatte darauf bestanden, mir bei meinem geplanten Besuch in Berlin behilflich zu sein.« Schäfer lief es eiskalt den Rücken hinunter. Sogar Borchardt war in diese Sache mit einbezogen. Hier galt es höllisch aufzupassen und Zurückhaltung zu üben. Zudem lächelte ihn Schweighart in einer Weise an, als könne er Gedanken lesen. »Sie brauchen keine Befürchtungen in irgendeiner Richtung zu
hegen, Herr Schäfer, mit Verstrickungen auf politischer oder kultureller Ebene habe ich nichts zu schaffen. Ich habe nur einen einzigen Wunsch, nämlich einen Blick auf die Büste der Königin zu werfen. Danach werde ich mich wieder verabschieden.« Also doch. Wie er es befürchtet hatte: Es ging um die Büste der Nofretete. Aber wie auch immer, Schweighart hatte seinen Wunsch in einer aufrichtigen und glaubwürdigen Art vorgetragen, und Schäfer hatte nicht den Eindruck, als wolle dieser Mann ihn hintergehen. Ganz abgesehen davon spielte er mit offenen Karten, denn anscheinend kannte er sich in dieser heiklen Angelegenheit sehr gut aus. »Nun, ich …«, Schäfer zögerte und stützte die Hand abwartend auf den Schreibtisch. Er mußte eine Entscheidung treffen. Die Frage war, ob er dabei einen Fehler begehen konnte. Nach der Lage der Dinge jedoch schien dies nicht der Fall zu sein. Der junge Herr war ihm zwar etwas unheimlich, aber er hatte mächtige Freunde und zudem wußte er von der Existenz der Büste. Nach einem kurzen Überlegen deutete er auf die Tür. »Es ist mir eine Ehre. Wenn ich vorausgehen darf?« Schweighart hatte nie zuvor etwas derart Phantastisches gesehen. Natürlich hatte er in seiner Zeit Abbildungen der Büste der Nofretete bewundert, aber er war damals kein einziges Mal im Ägyptischen Museum in Berlin-Charlottenburg oder später auf der aufwendig neu erbauten Museumsinsel gewesen, um sich das einmalige Kunstwerk persönlich anzusehen. Nun saß er vor einer hohen gläsernen Vitrine und blickte in
das Antlitz dieser schönen Königin, die in der Mitte des 14. Jahrhunderts v. Chr. gelebt hatte. Der lebensgroße Kopf blickte ihn mit einem seltsam abwesenden Lächeln an und berührte ihn tief in seinem Innern. Es lag ein gänzlich anderer Ausdruck in diesem Gesicht als auf dem Foto, das ihm Professor Ranke unter dem Siegel der Verschwiegenheit vor einigen Wochen gezeigt hatte. Auf der Schwarzweißaufnahme hielten ein ägyptischer Arbeiter und Ranke die gerade eben aus dem Schutt geborgene und noch verschmutzte Büste in der Hand. Das Gesicht Nofretetes spiegelte in der abgebildeten Perspektive auf jenem Bild einen beinahe ängstlichen Ausdruck wider, der durch die kontrastreiche Wiedergabe der Fotografie noch verstärkt wurde. Schweighart war damals beim Betrachten ein unerklärbarer Stich durchs Herz gefahren, verbunden mit einem vertrauten Gefühl. Diese Regung hatte ihm keine Ruhe mehr gelassen, er wollte die Büste unbedingt im Original sehen. Weitere Erzählungen Rankes über die Armarnazeit hatten ihn schon vor Wochen die Wahrheit erkennen lassen, aber jetzt in diesem Augenblick mit dem Angesicht Nofretetes vor Augen, war die Wahrheit zur Gewißheit geworden: Vor ihm, in dieser Vitrine, stand die originalgetreue Abbildung von Annick Denny. Schweighart neigte den Kopf und betrachte die Büste im Halbprofil. Der Bildhauer hatte die charakteristischen Gesichtszüge Annicks hervorragend wiedergegeben. Zudem war die Darstellung des Gesichtes unglaublich realistisch gelungen. Ungewöhnlich war die hohe Helmkrone, die ihre Lockenpracht vollständig verdeckte. Dadurch wirkte das Angesicht sehr kühl und hoheitsvoll. Und um einiges femininer, dachte Schweig-
hart. Von der streitbaren Französin mit den lebhaften Augen war in dem Antlitz aus Gips nichts mehr wiederzuerkennen. Etwas hager sah sie aus und die Länge des Halses war vielleicht um eine Nuance übertrieben, aber das königliche Gesicht vor ihm war unzweifelhaft jenes der französischen Missionsspezialistin Annick Denny. »Ist sie nicht wunderbar?« hörte er Schäfer neben sich sagen. »Nofretete und Echnaton, das mystische Paar aus dem Neuen Reich …« Echnaton. Schweighart verzog unwillkürlich den Mund vor Abscheu. Echnaton, Notache Achetaton oder Belvedere. Hinter diesen Namen verbarg sich ein und dieselbe Person. Und bei jedem dieser Namen lief ihm ein Schauer über den Rücken. Professor Ranke hatte ihm im Ägyptischen Museum in Kairo mehrere Abbildungen des Pharaos gezeigt. Schweighart hatte damals fast der Schlag getroffen, als er erkannte, welche Person da in Stein abgebildet war. Erst durch dieses unheimliche Wiedersehen mit Belvedere hatte er eine Ahnung davon bekommen, was geschehen sein könnte. Belvedere und Annick mußten nach der Katastrophe in die Mykerinos-Pyamide geflüchtet sein. Aufgrund der mangelnden Energieversorgung oder eines Defektes der Sarkophage waren sie nur bis ins 14. Jahrhundert v. Chr. gelangt. Schweighart konnte sich nur zu gut vorstellen, auf welchem Wege Belvedere in dieser Zeit die Macht an sich gerissen hatte. Gleichzeitig wurde ihm bewußt, daß Annick einen großen Einfluß auf diesen unbarmherzigen Herrscher gehabt haben mußte, denn sie hatte es geschafft, daß Belvedere die Cheops-Pyramide und damit den Volanten im unterirdischen Hangar unbehelligt ließ.
Im Grunde genommen verdankte Schweighart ihr sein Leben. Er lächelte. Annick hatte es schon immer verstanden, Führungspersonen für sich zu gewinnen. »Nofretete muß eine bemerkenswerte Frau gewesen sein«, sagte Schäfer in diesem Moment. »Und sie hatte großen Einfluß auf Echnaton. Gegen Ende der Regierungszeit stand sie im Rang gleichwertig neben ihrem Gatten. Ein großer Herrscher. Ein moderner und aufgeklärter Monarch, der in seiner kurzen Regierungszeit versucht hatte, eine neue Religion im alten Ägypten einzuführen. Deswegen wurde er von der Nachwelt als Ketzerpharao bezeichnet. Schon bald nach seinem Tod wurde die neugegründete Hauptstadt Achet-Aton dem Erdboden gleichgemacht, um den Namen Echnaton in Vergessenheit geraten zu lassen.« Schweighart nickte geistesabwesend. Dann stand er auf und knöpfte seinen leichten Regenmantel zu. »Herr Schäfer, ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Sie haben mir einen großen Dienst erwiesen. Nun aber möchte ich Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen. Draußen wartet ein Chauffeur, der mich zum Bahnhof bringen wird. Ich werde heute noch mit dem Zug nach Genua fahren und mit dem nächsten Schiff nach Ägypten zurückkehren. Ich habe dort noch einiges zu erledigen.« »Sie haben die weite Reise von Ägypten bis hierher auf sich genommen, nur um die Büste zu sehen?« Schäfer wurde aufs neue mißtrauisch. »Ich gebe zu, das erscheint etwas ungewöhnlich«, antwortete Schweighart. »Wissen Sie, Herr Schäfer, ich habe mich früher nicht besonders für die altägyptische Zeit interessiert. Dann hat
mich der Zufall zu den Pyramiden von Gizeh geführt und ich war durch einige, sagen wir einmal, widrige Umstände, mehr oder weniger gezwungen, mich intensiver damit zu beschäftigen. Eine lange Geschichte, die mein Leben jedoch sehr verändert hat. Fast könnte man sagen, daß ich Nofretete meinen ganzen Reichtum, ja sogar mein Leben verdanke. Ich habe durch meinen Besuch hier in Berlin also eine gewisse Schuld abgetragen, sozusagen einen persönlichen Dank abgestattet, verstehen Sie?« Schäfer verstand gar nichts. Er war nur froh, daß er den merkwürdigen Kauz bald wieder los hatte. »Ja gut, wie Sie meinen. Wenn Sie aber schon einmal hier sind, möchten Sie sich vielleicht nicht noch die Sonderausstellung über das alte Ägypten ansehen, die wir gerade im Hause haben? Es sind sehr schöne Stücke aus der Armarna-Zeit darunter, auch welche, die den Pharao Echnaton zeigen.« »Sehr freundlich von Ihnen, Herr Schäfer«, Schweighart zögerte und malte mit der Spitze seines Stocks unsichtbare Linien auf den Boden. »Aber, nein danke. Von Echnaton habe ich eigentlich schon alles gesehen. Zudem habe ich kein besonders großes Interesse an mächtigen Herrschern.« Draußen regnete es. Der Chauffeur empfing ihn mit aufgespanntem Schirm und geleitete ihn zum Wagen. Neben der bereits geöffneten Tür zog Schweighart seinen Mantel aus und machte es sich anschließend im Fond bequem. Er schloss die Augen und ließ die vergangene halbe Stunde noch einmal auf sich wirken. Ein weit in die Vergangenheit hineinreichender Kreis hatte sich geschlossen. Schweighart war jedoch nicht von
Belvederes Verschwinden aus dieser Welt überzeugt. Wer wußte schon, über welche Möglichkeiten dieses Wesen noch verfügte. Eine letzte Gewißheit würde es wohl nicht geben, es sei denn, man könnte es schaffen, an den Volanten unter der Mykerinos-Pyramide heranzukommen, aber selbst das würde keine ausreichende Aufklärung über seinen Verbleib liefern. Nein, man müßte schon seine Leiche finden und ihn anhand seines außergewöhnlichen Skeletts identifizieren, um ganz sicher gehen zu können. Und Annick? Ihr Schicksal schien ebenso ungewiß zu sein, obwohl Schweighart das unbestimmte Gefühl hatte, daß sie einen anderen Weg als Belvedere gegangen war. Irgendwann würde man ihr Grab finden … Schweighart wurde aus seinen Gedanken gerissen, als ihn der Chauffeur ansprach und ihn fragte, ob es bei dem geplanten Ziel bleiben würde. »Ja natürlich. Wir fahren zum Bahnhof«, antwortete Schweighart. Er zog Steinvogels Handschuhe aus der Manteltasche und betätigte einige Sensoren. Als der Wagen mit einem ruppigen Kupplungsvorgang anfuhr, löste sich eine unsichtbare Wolke aus den Bäumen und folgte ihrem neuen Herrscher.
Danksagung Mein herzlicher Dank geht an Herrn Ralf Smolne, dem 1. Vorsitzenden der ›Gesellschaft für Selbstspielende Musikinstrumente‹ in Essen, der mich bereitwillig und ausführlich über die Hupfeld-Geige informiert hat, obwohl das Hauptaugenmerk des Romans – wie er selbst scherzhaft erwähnt hat – nicht gerade unbedingt auf dem ›Achten Weltwunder‹ der mechanischen Musikinstrumente liegt. Ein besonderer Dank gilt Frau Dr. Hannelore Kischkewitz vom Ägyptischen Museum in Berlin, die mich unter anderem mit authentischem Informationsmaterial über die Büste der Königin Nofretete und die Jahre der Entdeckung versorgt hat. Mit diesem Material hat mir Frau Kischkewitz den Hintergrund für den Epilog des Buches geliefert. Ich hoffe, ich habe die Person des damaligen Direktors des Ägyptischen Museums, Herrn Heinrich Schäfer, nicht allzu karikaturhaft dargestellt. Falls doch, war es keineswegs meine Absicht. Unbedingt danken möchte ich meinem Freund und Kritiker Florenz Villegas, der sich unter anderem mit der Installierung von www.phainomenon.de die Nächte um die Ohren geschlagen hat (grins).
Zu guter Letzt möchte ich mich bei den tatsächlichen Erbauern der Pyramiden von Gizeh für meine fiktive Geschichte entschuldigen. Der eine oder andere wird sich bei meinen Darstellungen mit Grausen in seinem Sarkophag umgedreht haben. Ich hoffe darauf, daß sie mir die Wahrheit über die Errichtung der Pyramiden von Gizeh erzählen werden, falls wir uns vielleicht einmal in der Ewigkeit begegnen. Ich denke, es wird ein sehr interessantes Gespräch werden …