ALAN DEAN FOSTER
PFADE DES RUHMS
Roman
Deutsche Erstausgabe
Science Fiction
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
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ALAN DEAN FOSTER
PFADE DES RUHMS
Roman
Deutsche Erstausgabe
Science Fiction
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
1
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY
Band 06/4533
Titel der amerikanischen Originalausgabe GLORY LANE Deutsche Übersetzung von Ralph Tegtmeier
Das Umschlagbild schuf Tais Teng
Redaktion: E. Senftbauer
Copyright © 1987 by Alan Dean Foster
Copyright © 1988 der deutschen Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Printed in Germany 1988
Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München
Satz: Schaber, Wels
Druck und Bindung: Ebner Ulm
ISBN 3-453-03123-7
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Hier ein Buch für meine Schwester Card, die Lash Larue zu imitieren versuchte und statt dessen ein neues Leben fand. In immerwährender Liebe.
3
Es gibt gewisse eigenartige Zeiten und Gelegenheiten in dieser seltsam gemischten Sache, die wir Leben nennen, da der Mensch sein ganzes Universum für einen einzigen riesigen Schabernack hält. HERMAN MELVILLE,
Moby Dick, Kapitel XCIII
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I
AN DIENSTAGABENDEN war in Albuquerque immer wenig los, aber heute abend war es noch schlimmer als sonst. Mann, es war richtig tot! so kochte es in Seeth Ransom. Er konnte nicht einmal eine streunende Katze aufstöbern, um sie mit Tritten herumzuschubsen. Also war er gezwungen, mit der gewohnten Ersatzhandlung vorliebzunehmen, in dem er vorüberkommenden Autofahrern den Mittelfinger zeigte und feixte, wenn sie so taten, als würden sie es nicht bemerken, ihr Tempo leicht erhöhend, während sie weiter eilten, den Blick unbeugsam auf die vor ihnen liegenden Straße geheftet. Das Vergnügen, das dies bereitete, war zweifellos äußerst gedämpfter Natur, aber es war immer noch besser als überhaupt nichts. So war die Welt immer hin dazu gezwungen, Notiz von ihm zu nehmen. Dennoch – es ließ sich nicht leugnen – war die Nacht stumpfsinnig genug, um sogar eine Schildkröte zu lang weilen. Er überprüfte die Uhr, die er ganz oben am Unterarm trug, damit seine Freunde nicht auf die Idee kamen, daß ihn die Uhrzeit auch nur im geringsten interessieren könn te. Kurz nach neun. Er überlegte, ob er ins Appartement zurückkehren, die Nacht einfach aufgeben und bis morgen durchpennen sollte. Das Problem war nur, daß der Tag noch langweiliger werden würde als die Nacht. Außerdem war die Bude inzwischen wahrscheinlich sowieso zum Bersten voll. Das Bett, die Couch und der Küchentisch wären bereits belegt. Das Loch wurde schnell voll. Kam man zu spät, konnte man es sich aussuchen, ob man im Stehen schlafen wollte oder sich auf einen anderen legte. Dazu hatte Seeth keine Lust. Er war aufgeputscht, voll 5
von Adrenalin und unterdrückter Energie und ganz und gar nicht in der Laune; die Augen zu schließen, und sei es auch nur vorübergehend. ›Hyperaktiv‹ hatten seine Be treuer an der Highschool ihn genannt. Sie hatten ihm auch noch andere Bezeichnungen gegeben. Seeth hatte auf gleicher Ebene geantwortet, mit dem Ergebnis, daß er und seine Alma mater sich noch vor seiner Graduierung voneinander getrennt hatten. Diese seethlose Zeremonie hatte vor einem Jahr stattgefunden. Er hatte sich gesagt, daß ihm nichts entgangen sei. Das Straßenleben war eine Lehrzeit für sich. Brauchte man Geld, nahm man mal den einen oder anderen Job an. Waren Nahrung oder etwas zu trinken oder das gelegentliche Freizeitpharmazeutikum gefragt, teilte man mit vertrauenswürdigen Freunden. Das einzige wirkliche Problem war die Langeweile – lange Phasen, in denen es nichts zu tun gab, in denen man nirgendwohin konnte. In solchen Zeiten fragte er sich gelegentlich, ob er sein Leben vielleicht nicht doch ein bißchen verpfuscht hatte. Nein, kommt gar nicht in Frage, sagte er sich entschie den. Er überlegte, ob er zum indianischen Petroglyphenpark im Nordwesten der Stadt hinüberlatschen sollte. Es machte Laune, zeitgenössische Obszönitäten in den wei chen Sandstein neben den uralten Gemälden einzuritzen. Die Spießer nannten es Vandalismus und kreischten und heulten. Aber was zum Teufel war denn der Unterschied zwischen dem, was er tat, und dem, was die Indianer getan hatten? Höchstwahrscheinlich waren einige dieser kleinen grellfarbenen eingeritzten Strichmännchen eben so obszön wie die Markierungen, die er und seine Freun de hinterließen. In tausend Jahren würden ein paar andere doofe Archäologen Seeth Ransoms Initialen finden und 6
Piggies und Dellas und sie hochschätzen, weil sie eine Verbindung zum bösen alten 20. Jahrhundert herstellten. Der Gedanke ließ ihn lächeln, und das Lächeln hob seine Laune ein wenig. Inzwischen waren die Straßen ziemlich leer geworden; die soliden Bürger hatten sich zu einem einschläfernden Abend der Betrachtung der Idiotenglotze zurückgezogen, hatten sich freiwillig in den selbst erschaffenen Todeszu stand begeben, den man als ›beste Zeit‹ bezeichnete, ohne zu merken, daß dies ein innerer Widerspruch war. Scheiß auf die Sofakartoffeln! dachte Seeth. Der Ver gleich war eine Beleidigung für Röhrenfahrer. Es hatten auch nicht mehr viele Läden offen. Alle Ein kaufsstraßen und die meisten Supermärkte hatten ge schlossen. Alles was in Albuquerque nachts aktiv blieb, waren die 7-Elevens, die K-Stores und hier und da mal eine Tankstelle. Er schlenderte hinüber zur Shamrock Station, wo Jean als Kassiererin arbeitete, und sie klönten ein Weilchen. Mehr durften sie nicht, denn es war ihr verboten, nach acht Uhr abends die Bürotür für andere aufzuschließen. Eigentlich hätte Jean das nicht sonderlich aufgehalten. Sie ging, ganz wie Seeth, ihrer Wege, aber bei den vielen Leuten, die hier kamen und gingen, den Touristen, die ständig vom I-40 herabströmten, wollte sie das Risiko nicht eingehen, so sehr er sie auch bequatschte. Sie brauchte den Job. Also schrie er sie an, und sie schrie zurück, und mit diesem bissigen Lebewohl in den Ohren schlenderte er weiter. An der University of New Mexico war immer etwas los. Dort gab es einige Pizzerien und ein bis zwei Klubs, die nie schlossen. Aber er hatte kein Geld für Pizza übrig, und er hegte nicht die geringste Neigung, einen dieser 7
Klubs aufzusuchen. Dort spielte man nichts als homoge nisierten Brei, und die zimperlich-sauberen Gäste trugen Baumwollhemden und Schuhe mit Schnürsenkeln. Und es gab dort auch keine Gelegenheit, Weiber anzugraben. Bundesschwestern und hübsche Dinger, die konzentriert mit der Suche nach einem Ehemann beschäftigt waren, neigten dazu, in ihm etwas zu sehen, das unter der Kana lisation hervorgekrochen oder von einem anderen Plane ten eingedrungen war. Natürlich wußte er, worum es dabei wirklich ging. Was sie sowohl verabscheuten und beneideten, war seine In dividualität, seine Bereitschaft, sich ungeniert auszudrük ken, während sie von der Gesellschaft gezügelt wurden und verklemmt waren. Sollten sie sich doch selbst ficken. Auf solche Gesellschaft pfiff er. Er schritt um eine Ecke. Ein Polizeikreuzer kam den Boulevard entlang auf ihn zu. Er verlangsamte sein Tem po. Obwohl Seeth den Blick auf die Straße gerichtet hielt, spürte er, wie die Blicke der Bullen ihm folgten. Er hielt die Hände außerhalb der Hosentaschen, damit man sie sehen konnte. Nach wenigen Minuten beschleunigte der Streifenwagen ein wenig und ließ ihn hinter sich zurück. Die Bullen in Albuquerque waren das, was man halb cool nennen konnte. Sie ließen dich wissen, daß sie da waren und wo du hingehörtest und daß sie dich aufstöbern könnten, wenn sie es müßten, doch in der Regel belästig ten sie dich nicht sonderlich. Albuquerque war gerade groß genug, gerade weltstädtisch genug, um Seeth und seine Freunde noch zu tolerieren, obwohl die Bullen schnell und hart zuschlagen konnten, wenn man auch nur zehn Minu ten zu lange in einer Dreißig-Minuten-Zone parkte. Wo er wirklich hingehörte, das war L.A. oder New York. Jedenfalls nicht hier draußen im riesigen, stinken 8
den, konservativen Herzen Amerikas. Das Problem war, daß man mit Gelegenheitsjobs zum Mindestlohn nicht genug Knete auftrieb, um umzuziehen und übers Land zu fliegen. Die guten Niedriglohn-Jobs gehörten alle den Hispanos. Nicht daß Seeth ihnen das verübeln konnte. Die meisten von ihnen hatten Frau und Kinder und Träume, die niemals in Erfüllung gingen. Er konnte es zwar immer noch per Anhalter versuchen, doch wahr scheinlich würde ihn dann irgendein amokrasender Stier nackentrucker umfahren. Die Buskosten waren genauso schlimm wie die Flugkosten. Er saß in der Klemme. Er kam am Diamond-Kaufhaus vorbei und musterte sehnsüchtig die riesigen Panzerglasscheiben. Möglicher weise war der Polizeikreuzer noch in der Nähe. Es war ein adrettes altes Gebäude, reich mit Granit und Beton dekoriert. Wahrscheinlich würde man es irgendwann nächstes Jahr durch einen Parkplatz ersetzen. Als er sich in der spiegelnden Scheibe musterte, mußte er zugeben, wie es jeder getan hätte, der einen Sinn für Mode besaß, daß er gelackt aussah wie immer. Eine schwarze Jacke, von der die Reißverschlüsse nur so her untertroffen, ein paar geschmackvoll verschlungene ver chromte Ketten, die schwarz-weiß gestreifte Hose, die er im Postversand hatte bestellen müssen, da man so ein Zeug bei Sears nicht von der Stange bekam, dazu als netter, markanter Kontrast der Blitzohrring, der ihm vom linken Ohrläppchen herabbaumelte. Darüber befand sich der Malteserkreuz-Ohrreif, sorgfältig rasierte Haut und sein drei Zoll hoher Irokesenschnitt. Ein bißchen altmo disch, aber um einiges leichter zu pflegen als diese ver dammten Stacheln. Als er mit den Fingern über die kahle linke Seite seines Schädels fuhr, spürte er die Anfänge von Stoppeln. Zeit, 9
mich wieder zu rasieren, sagte er sich. Dafür sah er noch recht gut aus. Ein bißchen schwarzes Augen-Make-up und ein dazu passender Lippenstift hätten ihm zwar den letzten Pfiff geben können, aber er sah nicht ein, warum er sich für einen einfachen Nachtbummel soviel Mühe machen sollte. Die parallel verlaufenden roten Streifen, die er sich auf den Hals gemalt hatte und die vom rechten Ohr bis unter den Jackenkragen führten, waren seine eigene, individuelle Note. Sie waren rein symbolischer Art. Er hätte sie weitaus blutähnlicher machen können, doch dann hätten ihn die Spießer auf der Straße wahr scheinlich ständig mit Fragen belästigt. Er überlegte, ob er nicht trotzdem zur Universität hinübergehen sollte. Was ihn abhielt, war die Mög lichkeit, dort auf ein paar uramerikanische Verbin dungstypen zu stoßen, Dumpfbacken, denen nichts mehr Vergnügen bereiten würde, als einem verirrten Punker die Därme aus dem Leib zu prügeln. Obwohl Seeth durchaus auf sich aufpassen konnte, war er nur einen Meter fünfundsechzig groß, und sein Körper gewicht in Pfund war kaum dreistellig. Klar, da gab es noch die Klinge, die er in einer speziellen Beinta sche verborgen hatte, aber wenn es tatsächlich so weit kommen sollte, daß er jemanden stechen mußte, wür de er genauso schlecht dastehen, als wenn er sich einfach zusammenschlagen ließe. Es war kaum wahr scheinlich, daß die Bullen ihm Selbstverteidigung abkaufen würden, wenn es sich beispielsweise her ausstellen sollte, daß sein Quälgeist ein Spitzenstür mer in der Footballmannschaft war. Nun kam sein eigentliches Ziel in Sicht, doch die Aufregung, die es auslöste, wich schnell – zuerst der Enttäuschung und dann der Wut. Er erkannte eine der 10
Figuren, die im Klubeingang lehnten. Trotz seiner geschwungenen, der Gravitation trotzenden Frisur und der kunstvoll zerrissenen Weste sah Mangle im mer noch aus wie ein Schlappschwanz. Der Junge gab sich mächtig Mühe, sich anzupassen, aber er hatte weder den Mumm noch die Energie, so wie ein wah rer Anarchist zu sein. Mangles wirklicher Name war Michael Liverwort oder irgend etwas in der Preisklas se. Der Junge sah ihn, und Seeth nahm seinen Blick mit einem Kopfnicken zur Kenntnis. Es hingen noch zwei Mädchen und ein anderer Typ herum. Die Mädchen hatten beide Übergewicht, obwohl die Brünette ganz hübsch sein mochte, wenn sie vierzig oder fünfzig Pfund abnahm. Das Schild über der Tür lautete: FISH HOOK Die Tür war mit Graffiti übersät, die meisten davon derb und obszön, manche auch gewalttätig. Neben dem Griff hatte jemand einen Aufkleber mit dem schreienden Slogan ATOMBOMBEN AUF DIE YUPPIES gepappt. Er übersah die anderen und sprach Mangle an. »Was ist los?« »Geschlossen«, teilte ihm der jüngere Junge kla gend mit. »Das sehe ich selbst, du Nulpe. Warum?« Nun sprach die Brünette. Sie schien begierig auf neuen Menschenkontakt. »Dort drüben, vorn. Lies selbst! Eine echte Schweinerei.« Seeth studierte den Anschlag neben dem Eingang. Er war schon immer ein schneller, wenn auch kein 11
begeisterter Leser gewesen. Die Mitteilung stammte vom Gesundheitsamt der Stadt Albuquerque. »Kakerlaken.« Mangle versuchte, hilfreich zu sein. »In der Küche.« »Dann kriegt man eben Kakerlaken in den Hamburger. Na und?« Das andere Mädchen stieß würgende Geräusche hervor, während ihre Freundin kicherte. Seeth konnte Kichern nicht ausstehen. Die spielen Theater, dachte er. Die haben hier nichts zu suchen. Spielen Gosse. Mangle mochte vielleicht ein erbärmlicher Fall sein, aber wenigstens hatte er das Herz auf dem richtigen Fleck. »Warum haben sie dann nicht einfach nur die Küche geschlossen? Warum gleich den ganzen Klub?« Mangle spreizte lange dürre Arme. »Mann, woher soll ich das wissen? Als ich herkam, haben sie gerade alle rausgejagt. Ich dachte, vielleicht war hier Randale oder so was, aber Pech gehabt.« Pech gehabt, dachte Seeth. Nicht in Albuquerque. Nie mand wollte in Albuquerque ins Gefängnis geworfen werden. Nicht zusammen mit einem Haufen Chicanos. Die ortsansässigen Spießer fanden Punker empörend, aber die armen Mexikaner von jenseits der Grenze fanden ihr Aussehen einfach nur lächerlich. Besser zusammen geschlagen als ausgelacht zu werden. »Is keine große Sache«, teilte Mangle ihm mit. »Am Wochenende machen sie wieder auf. Das hat mir Nollie gesagt. Sie müssen nur in der Küche irgend etwas sprü hen.« »Wenn sie schon dabei sind, sollten sie gleich den gan zen Bau aussprühen. Dann hätten wir wenigstens etwas Ruhe für uns.« Die Mädchen kicherten wie verrückt. Die Brünette zwinkerte ihm zu. Vielleicht war er mit seinem 12
harten Urteil doch zu voreilig gewesen. Dann erblickte er ihre Füße. Füße waren der todsichere Verrat von Leuten, die mal auf Gosse machten. Beide trugen Designerschuhe. Zwar waren sie zerschrammt und schlammig, aber es war offensichtlich, daß sie nicht bei Goodwill oder bei der Heilsarmee gekauft worden waren. Seine Meinung von den Mädchen fiel zurück auf Null. War das nicht die absolute Scheiße? Wo zum Teufel sollte er jetzt hin? Meistens machte das Fish Hook um neun auf und blieb bis drei geöffnet oder so lange, bis den Besitzern danach war zu schließen. Es war nicht gerade Greenwich Village oder Melrose. Die Unterseiten sämtlicher Tischplatten waren von versteinertem Kau gummi übersät, klumpige Erinnerungsstücke an jene Tage, als das Hook noch ein College-Klub gewesen war. Aber man konnte hier billig einen Fettburger kaufen, und außerdem hingen hier die örtlichen Musikgruppen herum. Die richtigen Gruppen. Man kam ohnehin nur wegen des Zusammengehörigkeitsgefühls und der Musik, nicht we gen des Essens. Er blickte sich um. Die Straße war vollkommen verlas sen, obwohl die geistlosen Ampeln mit ihrer Blinkroutine für nichtexistente Autofahrer weitermachten. An – aus, an und aus, genau wie seine Eltern und seine Lehrer. Ein Leben aus mechanischer Routine. Er haßte Verkehrsam peln. »He, hast du Lust auf irgendwas?« Mangle legte einen besitzheischenden Arm um eines der Mädchen. »Willste gebumst werden?« Das Mädchen kicherte. Seeth wußte, daß er ihr eine knallen würde, wenn sie noch ein einziges Mal kicherte. Er mußte weg hier. Er schüttelte heftig den Kopf und starrte die Straße an. »Ich weiß wirklich nicht, wie du das machst, Mann.« In 13
Mangles Stimme schwang Bewunderung mit. »Ich hab dich gesehen, wie du um fünf Uhr morgens rumläufst und aussiehst, als wärst du gerade erst aufgestanden.« »Das ist einfach nur Energie«, erwiderte Seeth zer streut. »Ich hab schon immer viel Energie gehabt. Schla fen ist für’n Arsch. Da sieht man nichts, erlebt nichts. Das ist wie tot.« »Wow.« Die Brünette blickte ihn mit geweiteten Augen an. »Das ist aber ‘ne schwere Nummer!« »‘ne schwere Nummer?« Angewidert wandte Seeth sich ab und schritt die Straße hinauf. Voller Hoffnung rief Mangle ihm nach: »He, wo gehst du denn hin, Seeth?« »Einen Supermarkt in die Luft jagen.« »Können wir mitkommen?« rief eines der Mädchen. Er schüttelte nur den Kopf und biß die Zähne zusam men. Er mußte einfach aus dieser Stadt verschwinden! New York, ja, oder sogar L.A. Los Angeles lag sowieso näher. Dort gehörte er hin. Zum ersten Mal in dieser Nacht vermittelte ihm etwas ein gutes Gefühl. Man konn te dort von Klub zu Klub zu Klub hopsen, ohne jemals dieselbe Band zweimal zu sehen. Leute finden, die einen anheuerten, ohne dabei gleich so auszusehen, als würden sie sich übergeben. Die einem ein paar ehrliche Dollars zahlten, solange man seine Arbeit tat, und die einen nicht nervten, egal wie man aussehen mochte. Niemand, der sich wegen deiner Haare auf dich stürzte. Nicht einmal die Bullen schauten einen zweimal an. Dort konnte man als unabhängiger Mensch leben. Das war es doch überhaupt, weshalb er Punker gewor den und ausgestiegen war. Es lag nicht einmal allein an der Musik, obwohl die ein Teil der ganzen Szene war. Es lag daran, daß er nach einiger schmerzlicher Selbstein 14
sicht entdeckt hatte, daß er tatsächlich antisozial war. Klar, man konnte auch in Jeans und Nikes antisozial sein, aber dann war man eher ein Penner als ein wahrer Rebell. Außerdem mochte er es wirklich, so auszusehen – und wie es die Spießer empörte! Sein ganzes Leben lang war er mißachtet worden, man hatte ihn übersehen, aufgezogen. Jetzt übersah ihn nie mand, niemand mißachtete ihn. Bis auf seine Eltern, aber die hatten ihn ja schon immer ignoriert. Das war kein Verlust. Er war er selbst, sein eigener Mann, ein echtes Individuum. Das war es, was zählte. Herauszuragen, eine körperliche Erklärung abzugeben, an einer Straßenecke herumhängen zu können und mit allem, was man war, herausbrüllen: Ich gehöre nicht zur Menge, ich gehöre nicht zur Herde! Während er noch überlegte, was er als nächstes tun sollte, merkte er, daß er in Richtung Universität ging. Er hatte sich schon fast entschieden, aufzugeben, ins Loch zurückzukehren und sich hinzuhauen, in der Hoffnung, daß es morgen besser sein würde, als er am Apache Bow larama vorbeikam. Es wurde von einem riesigen häßli chen Neonzeichen beherrscht, das einen stilisierten In dianer beim Bowling zeigte. Alle paar Sekunden ließ der Indianer einen Neonball fahren, der sich eineinhalb Meter fortbewegte, bevor er drei Neonkakteen umwarf. Was soll’s.? dachte er und lächelte vor sich hin. Der Parkplatz war immer noch ziemlich voll, und er war ver zweifelt. Irgendeine Altherrenveranstaltung. Wäre doch ein Heuler, die Reaktionen zu beobachten, wenn er hi neinkäme. Und nicht so gefährlich wie an der Universität. Hier gab es keine Footballstürmer. Nur ehemalige Foot ballstürmer, die zwanzig zusätzliche Jahre und dreißig Pfund Bierfett mit sich herumschleppten. Die konnte er 15
umtänzeln. Vielleicht konnte er ein paar von ihnen dazu bringen, ihn um die Snackbar zu jagen, und wenn er dann Glück hatte, riefe man die Polizei. Die würden seine Möchtegernangreifer beruhigen, und er würde sie angrin sen und zusehen, wie sich ihre Gesichtsfarbe verdunkelte. »Warum haben Sie diesen Jungen gejagt, Mister John son?« »Weil… weil, ich meine, Officer, schauen Sie ihn doch nur an!« Und Seeth würde dastehen und sich mit der Hand durch den Irokesenschnitt fahren und grinsen, während der Bulle geduldig sagte: »Ich weiß, aber das ist kein Verbre chen, Mister Johnson.« »Ja, aber«, würde der fette Bursche stottern, »es sollte eins sein.« In der Zwischenzeit würden seine Kumpel ihn anbrüllen, weil er das Spiel aufhielt, dann würden sie zu spät nach Hause kommen und dafür wiederum von ihren Frauen angebrüllt werden. Schön, Zeit für etwas Spaß. Er schritt über die Straße und bahnte sich seinen Weg durch den Parkplatz, der voller Lieferwagen und zehn Jahre alter Limousinen stand. Weder dort noch an der Tür hielt ihn irgend je mand auf. Die Musik trieb ihn fast wieder hinaus. Und die mein ten, daß seine Art von Musik unerträglich sei! Er riß sich zusammen und ging weiter. Hier fanden gerade zwei verschiedene Vereinsabende statt, einer für Männer und ein anderer für Frauen. Diese gemischte Aktivität auf den sechsunddreißig Bahnen erzeugte einen Lärm, der sich anhörte wie die Kamikazes bei Iwo Jima. Er blieb stehen, um die Kakophonie gedankenverloren zu beobachten. Wenn man richtig darüber nachdachte, war 16
das Bowling nichts anderes als sublimierte Zerstörung. Wenn er und seine Kumpel eine Autoscheibe einschlugen oder ein paar Flaschen im Park zertrümmerten, nannte man das Vandalismus. Hier dagegen, in diesem Tempel der Gewalt, vergnügten sich die braven Bürger Stunde um Stunde, Tag um Tag damit, fünfzehn Pfund Hartpla stik gegen unschuldige, unbewegliche Ziele zu schleu dern. Die Tatsache, daß die Kegel nicht zerbarsten, min derte in keiner Weise das Vergnügen, welches die Bowler dabei hatten, etwas umzuwerfen, das sich nicht wehren konnte. Man sollte Kegel erfinden, die schreien und bluten, dachte er, damit würde man ein Vermögen machen. Das ständige Getöse war leicht zu ertragen, die Musik dagegen schmerzte regelrecht. Im Augenblick blökte Merle Haggard aus den Lautsprechern. Seeth rechnete damit, jeden Augenblick Johnny Cash oder Hank Willi ams oder sogar die Judds zu hören. Er hatte einmal ein Foto von den Judds gesehen. Die Mutter war ziemlich geil. Ein paar Sicherheitsnadeln, etwas Kriegsbemalung und eine vernünftige Frisur, und sie könnte glatt im Hook auftreten. Es zog ihn zur Snackbar. Die einzige Bedienung war fast so alt wie er und sah ziemlich gut aus. Im Gehen ließ er seine Ketten rasseln und versuchte, so auffällig wie möglich zu wirken. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Köpfe sich nach ihm umdrehten. Wenn sie glaubten, daß er gerade nicht hinsah, schnitten sie Grimassen und flüsterten. Er hatte außerordentlich viel Spaß. Der wirkliche Amok war doch, daß die meinten, daß er komisch aussähe. Und das von Hausfrauen in den mittle ren Jahren in engen grünen Hosen und Bienenkorbfrisu ren. Die ersten achtzehn Bahnen gehörten den Damen. 17
Wie er so auf sie hinuntersah, hatte er das Gefühl, als würde er die Überreste eines umgestürzten Achtzehn Reifen-Lasters begutachten, dessen Kartoffelladung sich über die Straße ergossen hatte. Wenn er sie auch nicht spürte, konnte er doch alle die ›Ach-du-liebe-Güte‹ und die ›Schaut-euch-das-mal-an‹ spüren. Das Murren der Männer, deren Gebäudeteil er sich nun näherte, klang weniger amüsiert und gefährlicher. Ob wohl sie Dutzende waren und er allein, stellte er eine Bedrohung dar – für die Ordnung, die Stabilität, die Rechtschaffenheit, Gott und den American Way of Life. Die einzigen, die ihn mit etwas ansahen, das mit Toleranz verwandt zu sein schien, war das knappe Dutzend Nava jos, die zwei eigene Mannschaften hatten. Die meisten von ihnen hatten genügend Mumm, ihr Haar zu Zöpfen geflochten zu tragen, ganz auf traditionelle Art. Die wa ren wohl kaum dazu in der Lage, die Frisur eines anderen zu kritisieren. Trotz des Grollens und Murrens kam niemand auf ihn zu. Er setzte sich an die Snackbartheke. Nach seinem Eintreffen war eine zweite Kellnerin aus der Toilette gekommen. Nun debattierten sie, wer von beiden das Unglück haben sollte, ihn bedienen zu müssen. Er war froh, als schließlich die jüngere von beiden zögernd näher kam. Sie sprach mit offensichtli chem Zögern. »Kann ich Ihnen helfen, mein Herr?« Mein Herr. Amok, dachte er, Amok. »Nun denn, das ist ei ne weiterführende Frage, nicht wahr? Ich meine, sie setzt voraus, daß ich Hilfe brauche und daß Sie mir zu Hilfe sein könnten, ohne überhaupt zu wissen, um welches Problem es sich bei mir handelt. Eine faszinierende Vorstellung. Sie sind nicht zufällig telepathisch begabt?« Wie eine Kuh, die beim Wiederkäuen innehielt, ließ sie ihr 18
Kaugummi mitten im Malmen fahren und starrte ihn an. »Wie?« Er seufzte. »Gibt es hier Cherry Coke?« »Cherry Coke?« Sie faßte sich ein wenig und brachte ein Lächeln hervor. »Oh, natürlich.« Ihre Kiefer setzten sich wieder in Bewegung, nachdem das Kontrollzentrum das Signal LOS gegeben hatte. »In welcher Größe?« »Einen halben Liter, aber wahrscheinlich haben Sie den nicht.« Er erwiderte ihr Lächeln. »Einfach eine mittlere.« »Eine mittlere, gut.« Sie wollte sich gerade wieder dem Syphon zuwenden, dann zögerte sie, unsicher, ob und wie sie die Frage stellen sollte. Schließlich tat sie es einfach. »Äh, haben Sie Geld?« »Geld, Geld.« Seeths Stirn furchte sich, und er nahm die Miene eines Philosophen an, der tief in Gedanken versunken war. »Jetzt lassen Sie mich mal sehen: Geld.« Er grub in einer Tasche nach und begann damit, den In halt auf die Theke zu entleeren. Zu dem Haufen gehörte eine Handvoll Präservative, ein sehr kleines, aber äußerst abstoßend geschnitztes Ta schenmesser, das ihre Augen riesengroß werden ließ, ein paar Centstücke, ein paar Quarters, eine mexikanische 50-Centavo-Münze und etwas purpurgrauer Flaum. Er schob die Centstücke und die Quarters über die Theke. »Das genügt nicht.« Sie sagte es zögernd. Er erwartete, daß sie jeden Augenblick eines der Buttermesser grab schen könnte, um sich mit dem Rücken gegen den Ge tränkeautomaten zu stemmen, damit sie sich verteidigen konnte. Er genoß es außerordentlich. »Nicht genug? He, warten Sie mal!« Mit viel Getue fummelte er in seinen Gesäßtaschen herum. »Ich weiß genau, daß ich hier hinten irgendwo meine Platinkarte von American Express habe. Wollen Sie mir beim Su 19
chen helfen?« Damit traf er genau daneben. »Hier.« Er holte eine Karte hervor und reichte sie ihr. Sie nahm sie vorsichtig entgegen, als könnte sie irgendei ne ansteckende Krankheit enthalten, und las sie. Der Besitzer dieser Karte ist weder ein über führter Schwerverbrecher noch libyscher Ter rorist, noch leidet er unter AIDS oder unter anderen exotischen Krankheiten. Er ist nicht taubstumm, und dies ist auch kein Spenden aufruf. Tatsächlich hat diese Karte keinerlei Zweck, außer dreißig Sekunden der Zeit einer anderen überneugierigen Person in Anspruch zu neh men und zu vergeuden. Ganz erfolgreich, nicht wahr? Sie war zwar langsam, aber nicht stupide. Und sie hatte durchaus Sinn für Humor, auch wenn sie sich bisher Mü he gegeben hatte, dies zu verbergen. Nun grinste sie und reichte ihm die Karte zurück. Als sie dies tat, sah sie, daß er ihr eine Dollarnote entgegenhielt. »Auch einen?« »Tut mir leid.« Sie nahm den Geldschein. »Wir dürfen vor den Kunden weder trinken noch essen.« »Vernünftige Anordnung. Ich meine, diese ganzen Co kes, da weiß man ja überhaupt nicht, ob Sie oder die an dere Kellnerin nicht vielleicht einen Coffeinkoller krie gen und den Laden hier aufmischen, nicht?« Diesmal war ihr Lächeln nicht gezwungen. Sie kam ein Stück näher. »Wie heißen Sie überhaupt?« »Sie wären ganz schön überrascht, wenn ich tatsächlich 20
›Überhaupt‹ hieße, was?« Sie zapfte die Coke, dabei zweimal Schaum abgießend, um sicherzugehen, daß er für sein Geld einen reellen Ge genwert erhielt, gab einen Strohhalm hinzu, ohne darum gebeten worden zu sein. Er schob den Halm beiseite und nahm einen langen kalten Schluck, sprach, während er zu gleich Eis zermalmte. »Ich bin Seeth.« »Das ist ein komischer Name.« »Ich bin auch ein richtig komischer Bursche.« Er lehnte sich über die Theke, wollte näher an sie heran. »Willst du sehen, wie komisch?« Sie ignorierte es und hob statt dessen den Blick. »Ich mag Ihr Haar.« »Danke. Warum holst du dir nicht selbst welches?« »Ich?« Sie tätschelte ihre sorgfältig mit Dauerwelle be handelten Zöpfe. »Oh, nein, das könnte ich nicht.« »Warum nicht?« »Na ja, zum Beispiel weil meine Eltern auf der Stelle tot umkippen würden.« »Tut mir leid. Ich möchte erst noch einen einzigen doku mentierten Fall sehen, bei dem ein Haarschnitt die elterliche Sterblichkeitsrate erhöht hätte. Auf welchem Kopf wächst es denn eigentlich? Auf dem von deinem Vater? Dem dei ner Mutter? Oder auf deinem?« »Na ja, ich…« »Komm schon, ich weiß schon, daß es da drunter ein Ge hirn gibt!« Ihr Lächeln verschwand. »He, nicht so finster! Wenn ich versucht hätte, dich zu beleidigen, dann würde ich dabei etwas offensichtlicher vorgehen. Ich versuche nur, auf etwas hinzuweisen. Wenn dir die Art gefällt, wie mein Haar aussieht, und wenn du dasselbe für dich tun willst, wer soll dir denn dann vorschreiben, daß du das nicht darfst? Ist 21
doch nicht verboten – zumindest bisher noch nicht.« »Weißt du, ich glaube, vielleicht möchte ich…« Sie hörte auf zu reden und wich zurück. »Verschwinde, Dreck!« Seeth drehte sich um und erblickte einen größeren, etwas älteren und erheblich massiveren Mann, der böse auf ihn herabfunkelte. Er nahm sich Zeit, den anderen zu inspizieren. »Verschwinde? Wollen wir doch dieses Verb einmal in all seinen Verästelungen verfolgen, ja?« Er drehte sich auf seinem Hocker und goß etwas Cola hinunter. »Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Zunächst möchte ich erst einmal wissen: Wenn ich nicht verschwinde, wollen Sie dann dafür sorgen, daß ich verschwinde?« »Ja. Na und?« Seeth drehte sich zu dem Mädchen um und zwinkerte ihr zu. Sie hatte den Witz sofort verstanden und mußte sich Mühe geben, um ihr Lachen zu unterdrücken. Der ältere Mann musterte sie finster, dann wandte er sich wieder an Seeth. »Versuchst du etwa gerade, komisch zu sein?« »Was ist nur mit den Leuten heute abend los?« Seeth sagte es, ohne einen von beiden anzusehen. »Die ganze Welt glaubt, daß ich versuche, komisch zu sein. Da sitze ich hier und zermartere mein Gehirn, um auf ei nige der inhärenten Widersprüche unserer soziokultu rellen Matrix hinzuweisen, und alle glauben, ich wollte hier nur für eine Komödie im Spätprogramm vorspre chen. Irgend jemand hat da einen Anschluß verpaßt. Im Gegensatz zu einem Bindeglied, das hier direkt vor mir steht.« Scharf wandte er sich wieder zu dem Mädchen um. »Hast du jemals das Gefühl gehabt, daß die Welt ei 22
ne Wechselstromkaffeemaschine ist – und du bist Gleichstrom?« Eine schwere Hand landete auf seiner Schulter. »Ich habe gesagt: Verschwinde! Deinesgleichen wollen wir hier nicht haben.« »Meinesgleichen?« Seeth spannte sich an, als er zag haft auf die große Hand blickte, reagierte ansonsten aber nicht auf die Berührung. »Wessengleichen kann das denn wohl sein?« »Penner. Wichser. Punker.« »Ah. Da haben Sie mich nun erwischt, mein Herr. Das dritte will ich zugeben. Was aber das vorangegangene Paar angeht, so fürchte ich, daß Sie sehr weit ab vom Schuß liegen, aber ich sehe schon, daß Sie Ihren Ab schluß in Soziologie nicht ganz zu Ende gemacht haben, da sollte man wohl ein paar Abstriche machen.« An der Bowlingbahn neunzehn ertönten einige verär gerte Schreie. Der große Mann brüllte zurück. »Bin gleich wieder da!« Bösartig blickte er Seeth an. »Komm schon, verschwinde, bevor ich wirklich böse werde! Du hältst das Spiel auf.« »Aufhalten? He, würde mir doch nicht mal im Traum einfallen, Ihnen Ihr bißchen abendliche intellektuelle Anregung zu rauben.« Ein Seitenblick, und Seeth hatte sich vergewissert, daß zwei der Spielpartner des Mannes gerade im Begriff waren, die Stufen zur Snackbar empor zusteigen. Seeth beschloß, daß es nun, da er seine Pointe an den Mann gebracht und zugleich einen verbalen Sieg davongetragen hatte, das beste wäre, wenn er sich verzö ge. Er goß den Rest seiner Coke hinunter, glitt vom Bar hocker und unter der Hand des Mannes hinweg, dabei betont seine Hose hochziehend. 23
»Immer weg mit üblem Dreck«, knurrte der Mann. »Ja, das sehe ich.« Seeth sprach über die Schulter ge wandt, während er davonschritt. »Sehe ich doch, daß Sie ein echter Dreckkenner sind. Ach, ich bezweifle nicht einmal, daß Sie guten Dreck von bösem Dreck unter scheiden können, sobald Sie den Blick daran heften, was in Ihrem Fall vermutlich kein sonderlich seltenes Vor kommnis ist.« »Kommunistenpunk!« fauchte der Mann ihn an und gebrauchte damit die stärkste Erwiderung, die ihm zur Verfügung stand. Seeth überlegte, ob er seinen verbalen Rückzug viel leicht mit ein paar ausgesuchten Kommentaren über die Anatomie des Mannes verschönern sollte, gelangte aber zu der Überlegung, daß er noch nicht nahe genug am Ausgang war. Wenngleich er auch masochistische Freun de hatte, gehörte das Zusammengeschlagenwerden nicht unbedingt zu den verfeinerten Freuden des Lebens, was ihn betraf. Er hatte es halb bis zum Ausgang geschafft, hatte den größten Teil des Gebäudeinneren hinter sich gelegt, als ihm plötzlich jemand auf den Zuschauerplätzen auffiel. Der Bursche war ein Jahr älter als er, sehr viel größer und adrett gekleidet in einer gebügelten Hose und einem Baumwollhemd. Sein sandblondes Haar war gerade zu rückgekämmt, keinerlei Schnörkel außer vorn, wo es ihm leicht ins Gesicht fiel. Auf dem danebenstehenden leeren Stuhl hing eine hellblaue Jacke. Ein Klemmbrett ruhte auf einem Knie, und sein Besitzer schrieb wild mit einem billigen Kugelschreiber auf dem obersten Blatt herum. Ab und an hob er den Blick, um die Bahnen zu beobach ten, dann widmete er sich wieder seinem Schreiben. Seeth erkannte ihn, fragte sich, was der um diese Uhr 24
zeit hier zu suchen hatte. Oder überhaupt zu irgendeiner Uhrzeit. Er war sicher, daß er nicht den Spielstand einer der Gruppen dort unten festhielt. Seeth blickte über die Schulter und sah, daß das Masto don von der Snackbar sich zu seinen Gefährten zurück gezogen hatte: Das abendliche Soll seines Kampfes zur Errettung der Demokratie war erfüllt. Als er die Stufen hinunterschritt, hob einer der Bowlingspieler den Blick, legte die Hände zu Schalen vor den Mund und brüllte ihn an. »He, Junge, warum gehst du nicht zurück in den Wald zu den anderen Tieren?« »Geht nicht mehr!« rief Seeth zurück. »Du und deine Kumpel haben sie alle abgeknallt!« Das provozierte bei dem ersten Mann und seinen Freunden Gelächter anstatt Zorn. Ein Haufen Schwachköpfe. Die hielten Massenausrot tung für komisch. Man konnte sich jeden von ihnen in Uniform vorstellen, wie er lachte, während er auf die Knöpfe drückte, die die Atomraketen in Bewegung setz ten. Die kurze, laute Konfrontation bewirkte immerhin, daß der Schreibende von seiner Arbeit abgelenkt wurde. Er hob den Blick lange genug, um Seeth zu bemerken, dann wandte er ihn hastig wieder ab und beugte sich dicht über sein Klemmbrett, versuchte sich unsichtbar zu machen. Seeth kam kopfschüttelnd näher. »Hat keinen Zweck, Mann. Ich hab dich schon gesehen. Bist identifiziert.« »Na schön, hast du mich eben gesehen.« Langsam richtete der Mann sich wieder auf. »Und jetzt hau ab.« »He.« Seeth sprach lauter, damit die nächstgelegene Spielergruppe ihn hören konnte. »Jetzt frage ich dich, ist das etwa freundlich?« Ein paar der Spieler wandten sich 25
um, blickten verärgert in seine Richtung. »Also gut, also gut«, sagte Kerwin beunruhigt. »Setz dich schon, wenn du unbedingt mußt, aber halt’s Maul.« »Das Maul halten? Ich?« Seeth ließ sich in den gegenüber liegenden Fiberglassessel fallen und legte beide Beine auf den Rücken des vor ihm stehenden Sitzes, wobei sie das kleine Zeichen mit der Aufschrift BITTE LEGEN SIE DIE BEINE NICHT AUF DEN RÜCKEN DES VOR IHNEN STE HENDEN SESSELS blockierten. »Vor wem versteckst du dich denn hier? Vor Mami und Papi?« Als der andere nichts erwiderte, nahm er die Beine wieder zurück und beugte sich vor, versuchte auf das Klemmbrett zu linsen. »Laß mich raten. Du führst eine Studie über die physikalischen Aspekte des Bowling durch, stimmt’s?« »Nicht ganz.« »Weißt du«, fügte Seeth beiläufig hinzu, während unten zum Applaus seiner Freunde und zum Gestöhne seiner Geg ner ein Spieler einen Treffer landete, »wenn du auch noch eine Brille zu dieser Ausrüstung da hättest, würdest du so verdammt schülerhaft normal aussehen, daß unvorbereitete Menschenwesen bei deinem Anblick glatt kotzen könnten.« »Ja. Und du bist ja auch gerade erst vom Titelbild des GQ heruntergestiegen.« »Eigentlich sollte ich diesen Monat die Mittelseite von Playgirl abgeben, Mann, aber ich habe nur eine einzige Seite ausgefüllt. Da haben sie mich statt dessen für eine Wodkare klame verwendet. Du weißt schon – silberner Rolls, Dame in schwarzem Satinkleid, zwei Wolfshunde, die zu meinen Fü ßen sitzen und so aussehen, als müßten sie schon seit über einer Stunde pissen, als würden sie es aber nicht wagen, sich zu bewegen, weil sie sonst ihre Rückstände verlieren könn ten.« 26
»Worauf bist du denn heute abend, Seeth?« fragte Kerwin müde. »Na ja«, erwiderte er mit zweifelhaftem Ernst, »ich ha be gerade eine komplette mittelgroße Cherry Coke run tergespült. Wieso denkst du, daß ich diesen besonderen Abend damit verbringe, mich an Designerdrogen zu er freuen?« »Weil du hier drin bist. Du wärst doch nicht in einem solchen Schuppen, wenn du nicht high wärst.« »Ach ja? Es ergab sich einfach so, daß ich dachte, es wäre eine nette Art und Weise, sich eine Stunde die Zeit zu vertreiben, indem ich die Bauerntölpel mal anmachte. Das Fish Hook ist geschlossen. Gesundheitspolizei.« »Diese Müllkippe sollte man ganz schließen.« »Ach, immer noch der gute alte Kerwin! Immer groß zügig und verständnisvoll bis zum Gehtnichtmehr. We nigstens hänge ich nicht hier fest und kritzele Schrott vor mich hin. Was hast du für eine Entschuldigung?« Kerwin kämpfte einen vergeblichen Kampf, sein Klemmbrett abzuschirmen. »Nichts. Schlage nur die Zeit tot.« »Na klar. Hier drin.« Seeth hob beide Hände. »Ich glaube dir total. Ich meine, nur weil ich gesehen habe, wie du wie wild schreibst, muß das ja noch nicht heißen, daß du tatsächlich über irgend etwas schreibst, oder? Oder könnte es vielleicht sein, daß wir beide hier sind, um die entgegengesetzten Seiten ein und derselben Sache auszufüllen? Ich, um beobachtet zu werden, und du, um zu beobachten?« »Wieso glaubst du, daß ich irgend etwas in der Rich tung tue?« Kerwin hörte sich nervös an. »Weil ich nicht blind bin. He, komm schon«, sagte er einschmeichelnd, »was werde ich deiner Meinung nach 27
tun? Aufs Geländer klettern und diesen ganzen Witzfigu ren dort dein Geheimnis runterbrüllen? Ich verspreche dir, daß ich das nicht tue.« »Du? Du versprichst etwas? Das ist ja wohl ein Witz.« »Ach ja? Das muß wirklich die Nacht sein, in der ich anderen den Humor schenke. Hör mal, wirklich, Mann, ich sag schon nichts. Wenn du mich noch länger lang weilst, könnte ich vielleicht sogar verschwinden.« »Wenn das ein Versprechen sein sollte, dann bist du im Wort.« Seeth nickte, und Kerwin enthüllte langsam sein Klemmbrett. »Du hattest zwar die richtige Idee, aber das falsche Thema. Ich bin hier für meinen Soziologiekurs, nicht wegen der Physik.« Er nickte zu den Spielbahnen hinüber. Langsam verlor das Spiel an Schwung. Gute Baptisten und Methodisten zahlten sich gegenseitig stille Seiten wetten aus. Letzte Biere wurden getrunken, gejagt von Pfefferminztabletten, um den Alkoholgeruch abzutöten. Ehemänner und -frauen verabschiedeten sich von Freun den und Nachbarn, räumten die Reste von billigen Chee seburgern und fettigen Fritten fort. »Verstehe. Du pirschst dich an die wilden Leichtbier trinker ran? Köderst sie in ihrer natürlichen Umgebung?« »Nach allem, was ich mitbekommen habe, als du rein kamst, scheinst du weitaus mehr in dieser Richtung gelei stet zu haben, als ich es jemals könnte.« Seeth warf kurz einen Blick zur Snackbar zurück. »Ach, du kennst mich doch. Ich bin nicht wie du.« Mit einem Finger ließ er den Blitzohrring tanzen. »Du bist wie kein anderes lebendes Menschenwesen bis auf diese Mißgeburten, mit denen du rumläufst.« »Mißgeburten? Da mach aber mal halblang.« Mit ei nem Nicken zeigte er auf einen Mann mit Glatze und 28
zweihundert Pfund Bierbauch, flüssige Kalorien, wie von Magie in nutzloses Fleisch transformiert. »Das soll nor mal sein, und meine Freunde und ich sind Mißgeburten? Jetzt hör aber auf, Mann!« Kerwin wandte einfach nur den Blick ab. Schwer zu provozieren, der Mann. Außerdem, dachte Seeth unge duldig, war es wirklich Zeit, sich wieder auf den Weg zu machen. Er hatte hier drin so ziemlich alles erreicht, was er erreichen konnte. Wenn er vor den letzten ging, konnte er möglicherweise noch ein bis zwei Reifen abstechen und aus der Ferne mitansehen, wie der Besitzer purpurn anlief. Kerwin hatte wenigstens ein halbes Hirn. Der sprach wenigstens mit ihm, anstatt einfach nur Schaum vor den Mund zu bekommen. Wie jetzt gerade. »Hast du gewußt, daß Bowling der beliebteste Sport in den Vereinigten Staaten ist? In mancherlei Hinsicht ist das der perfekte Mikrokosmos der Wettbewerbsgesell schaft. Man kann eine Menge erfahren, wenn man die Spieler beobachtet.« »Ja, das verstehe ich. Hektar- und aberhektarweise Sub intellekt bei der Arbeit. Ich meine, dieses gewaltige Un terfangen zu versuchen, die Beziehung zwischen konsu miertem Bier und anschließenden Reisen zum Lokus zu bestimmen, interpretiert im Lichte verlorengegangener Mannstunden, das würde einen Institutscomputer minde stens einige Minuten auf Trab halten.« Kerwin klang ein wenig entschuldigend: »Es war etwas anderes und außerdem nicht meine Wahl. Ich wollte ei gentlich etwas über das Rathaus schreiben, aber bis die Themenliste bei mir angelangt war, blieb mir nur noch das hier übrig oder eine Fahrt hinaus ins Reservat mit einer Busladung voll anderer Studenten.« 29
»Du benutzt einfach nur deine Phantasie nicht. Du hät test deine lieben Mitstudenten dabei studieren können, wie sie die Eingeborenen studieren. Aber ich verstehe schon, warum du hierher gekommen bist. Ich meine, wenn ich ein Navajo wäre oder ein Hopi, und zu mir käme schon wieder so ein gutmeinender weißer Junge, um nachzusehen, wie ich meine Unterwäsche anziehe, dann würde ich wahrscheinlich das Familienschrotge wehr losschnallen und den Arsch mit Blei vollpumpen. Nicht daß das die anderen abhielte. Die würden es wahr scheinlich einfach nur ihren Aufzeichnungen hinzufügen, stimmt’s?« Kerwin drehte sich um, wackelte den jüngeren Mann mit seinem Kugelschreiber an. »Das ist dein Problem, und du siehst es nicht einmal. Das ist die Einstellung deiner Unterkultur. Es ist nicht die skandalöse Kleidung, es ist nicht der Widerstandsgeist; es ist das Sichverlassen auf Gewalt, sowohl verbaler als auch physischer, als Er satz für wahren Selbstausdruck.« »Wie die dort, ja?« Mit dem Kopf wies er auf die letz ten Bowler. Die meisten der Spiele waren beendet, doch manche Spieler konnten sich noch immer nicht von den Bahnen losreißen, ohne ein paar letzte Übungswürfe zu absolvieren. »Du nennst das Gewalt, ich nenne es Leben. Das Langeweile-Vermeidungs-Syndrom, sofern das kein begrifflicher Widerspruch sein sollte. Der Unterschied zwischen meinen Freunden und mir und diesen Kartof felköpfen dort unten ist der, daß wir tolerant sind. ›Ich mag deine Lebensart nicht, ich mag dein Haar nicht, ich verabscheue alles, wofür du stehst.‹ Mann, das höre ich schon, seit ich alt genug bin, um Worte zu verstehen, aber ich bin trotzdem immer noch tolerant. Es treibt mir nicht den Blutdruck hoch, jemanden zu sehen, der Cowboystie 30
fel trägt, Jeans und ein Flanellhemd, das mit den Souve nirs der Mahlzeiten der letzten Woche verziert ist. Aber laß deine sogenannten normalen Leute mich auch nur einmal anblicken, und schon greifen sie nach ihren Gewehren, nur daß sie eben zehn Minuten dazu brau chen, die Gewehrhalterung auf der hinteren Ablage ihrer Kombis aufzuschließen.« »Du redest in Stereotypen.« Kerwin sagte es mit einem Lächeln. »Du machst sie ebenso zum Klischee, wie sie es mit dir machen.« »Das sind die echten Stereotypen. Nein, Monotypen. Nicht ein einziges Individuum in dem ganzen Haufen.« »Wirklich nicht? Siehst du das Paar dort, das gerade gehen will, auf Bahn zwölf? Sein Ball ist rot, ihrer ist hellgrün. Das ist zwar nur ein winziges Beispiel, aber es ist trotzdem Individualismus.« »Ach ja, ein donnernder ästhetischer Unterschied. Wie habe ich den nur übersehen können? ›Sein Ball ist rot, und ihrer ist hellgrün.‹ Mann, die sind ja so unterschied lich wie Turner und Goya!« »Genaugenommen finde ich, daß Turner und Goya gar nicht so verschieden sind. Der eine interessierte sich für den Ausdruck im Gesicht von Menschen, der andere für den Ausdruck des Meeres. Beide haben Licht verwendet, um ein inneres Gefühl widerzuspiegeln.« »Da wir gerade bei inneren Gefühlen sind«, sagte Seeth, der sich mit sich selbst ziemlich wohl fühlte, »wie wäre es mit einer zweiten Coke?« Kerwin blickte zweifelnd drein. »Bist du sicher, daß du nichts Besseres zu tun hast?« »Na ja, es heißt zwar, daß der Tod ein echtes High wä re, aber heute nacht habe ich keinen Bock auf Selbst mord.« 31
»Also gut. Ich könnte dich ja sowieso nicht zum Gehen bewegen.« »Natürlich könntest du. Sag einfach nur ›Geh, Seeth!‹« »Also gut. Geh, Seeth!« »Keine Chance. Nicht, wenn ich mich gerade so schön amüsiere. Wie steht es mit dem Coke?« »Wie steht was mit dem?« Kerwin klang resigniert. Seeth grub in einer Tasche. »Wenn es dir nichts aus macht, Mann, ich bin ein bißchen klamm.« Kopfschüttelnd fummelte Kerwin ein paar zerknitterte Scheine hervor. »Und bring mir diesmal das Wechselgeld wieder.« »He, ich bin vielleicht ein Anarchist, aber kein Dieb.« »Dann sei auch kein vergeßlicher Anarchist, okay? Ich brauch das Benzingeld.« »Immer mit der Ruhe. Ich bin ein echter Wiederbrin ger.« Er drehte sich um und schritt auf die Snackbar zu, ließ Kerwin zurück, der ein paar letzte Notizen machte. Armer alter Kerwin, dachte Seeth, während er immer zwei Stufen auf einmal nahm. Er war fast menschlich. Und der Junge konnte auch reden. Keine Zweifel, hinter dem harten Knochen dort verbarg sich ein wenig Hirn. Nur daß es keine Verbindung zu Augen und Ohren hatte. Als er sich der Snackbar näherte, blickte er sich um, doch sein Peiniger war schon lange gegangen. Traurigerweise auch die beiden Kellnerinnen. Der stellvertretende Ge schäftsführer räumte gerade auf. »He, wo ist denn die Hübsche?« Der Bursche musterte ihn angewidert. »Nancy ist nach Hause gegangen.« »Nancy? Soll das heißen, daß sie wirklich Nancy heißt? Ich dachte immer, das wäre ein toter Name, wie Ethel. Zwei Coke, bitte.« Er schob die beiden Scheine über die 32
Theke. »Ich meine, können Sie sich ein Paar stolzer El tern in den Zwanzigern vorstellen, wie sie im Beobach tungszimmer in der Kinderstation blicken, auf dieses kleine verschrumpelte rosige Ding, und sagen: ›Nennen wir sie Ethel?‹« »Keine Ahnung. Ich bin nicht verheiratet.« Der Nacht manager kehrte Seeth den Rücken zu, während er die Getränke zapfte. Nein, und wenn du es wärst, würdest du es mir nicht sagen, dachte Seeth verbittert, weil du nämlich Angst hast, daß ich mich mitten in der Nacht dort anschleichen und die Bude abfackeln könnte. »Arbeitet sie jeden Abend hier?« »Ab und an.« Ja, und ich habe auch nicht geglaubt, daß du mir das sagen würdest, Spießi. Er lächelte, als er sein Wechsel geld entgegennahm. Es war fast ein Dollar. Er überlegte, ob er es behalten sollte oder nicht, dann beschloß er, es zu teilen. Nicht daß er die vierzig Cents wirklich brauch te, aber es war eine Sache der Prinzipien. Er wollte nicht, daß Kerwin auf richtige Gedanken kam. Sein Freund sagte nichts, als er die drei Münzen ein steckte. Er kam nicht oft genug hierher, um den Preis einer Cola oder sonst etwas zu wissen. Seeth blieb noch eine kleine Weile da, doch die Freude, den älteren Studenten zu piesacken, ließ merklich nach, als Kerwin seinen Kommentaren immer nur gelassen und höflich begegnete. Zum Teufel auch, den konnte man nicht aus der Ruhe bringen. Selbstbeherrschung. Seeth versuchte immer, ihn aufzustacheln, und es gelang ihm nur selten. Natürlich hätte er ›aus Versehen‹ seinen Drink über Kerwins säuberliche, peinlich ordentlich ausgebrei tete Notizen kippen können, doch hätte das vielleicht 33
etwas Kräftigeres provoziert als nur böse Worte, selbst von jemandem, der ein solch ausgeglichenes Tempera ment besaß wie der Soziologiestudent. Außerdem bestand der Spaß darin, ihn emotional aus der Fassung zu bringen, nicht physisch. Er verabschiedete sich von ihm mit einem letzten Kom mentar über seine Eltern, der Kerwin einen matten Hauch von Farbe ins Gesicht trieb. Es war immer noch früh. Vielleicht konnte er Midge und Dreko aufstöbern, dann konnten sie zu dritt Drecos Wagen nehmen und die Inter state entlangjagen und ein paar Touristen aufreißen. Und wenn nicht, nun, dann gab es da immer noch das Loch und einen guten Morgenschlaf. Mit ein wenig Glück würde er wieder wach sein, wenn die Sonne morgen abend unterging. War nicht falsch, zu leben wie ein Troglodyt, sagte er sich. So wurde er zwar nicht braun, bekam aber auch keinen Hautkrebs. Außerdem sah blasse Haut zu den Schwarz- und Purpurtönen, die er favorisierte, besser aus. Dann fiel es auch leichter, jemanden mit einer gelegentli chen kleinen, selbst herbeigeführten Wunde aus der Fas sung zu bringen. Rot wirkte viel besser auf weißer Haut als auf beigefarbener. Er war schon fast aus der Tür, als ihm der Bowlingspie ler auf Bahn sechsunddreißig auffiel, der letzten neben der gestrichenen Betonblockwand. An dem war nichts Ungewöhnliches. Einfach nur irgendein Bursche. Nicht viel größer als Seeth selbst. Braune Levis, langärmeliges Hemd. Das war ein bißchen merkwürdig. Es war ziem lich warm im Bowlarama, selbst zu dieser späten Nacht stunde, aber es gab eine Menge Leute, die sich leicht erkälteten. Der Mann mußte einen Siebenerschuß plazieren. Der 34
schwierigste Schuß im ganzen Spiel, zumindest soweit Seeth etwas davon verstand. Er verfolgte die Profidurchschnitte zwar nicht genau, hatte aber einmal mit ein paar Freunden ein paar Stunden damit verbracht, einen natio nalen Bowlingwettbewerb mitanzusehen – nur um festzu stellen, daß dies ihr Gehirn ebenso betäubte wie jede Droge. Eigentlich beobachtete er den Mann überhaupt nicht richtig und bekam seinen Wurf nur aus dem Augenwin kel mit. Was ihn stutzen ließ, war nicht die Tatsache, daß der Bursche die Kugel aufnahm, sondern die Art und Weise, in der er es tat. Er warf die Kugel die rechte Seite der Bahn entlang, und sie rollte auch geradewegs auf den Zehnerkegel zu, schleuderte ihn beiseite. Dann verschwand sie aus der Sicht, rollte nach hinten in den Auffangtrakt. Und da blieb Seeth so plötzlich stehen, als wäre er gerade gegen eine zentimeterdicke Panzerglasscheibe gelaufen. Die Kugel sprang wieder aus der Fassung der automatischen Rückbeförderung hervor, blieb über dem Holz schweben wie ein Mungo, das sich eine Kobra vorknöpfte, schlug einen Neunziggradwinkel nach rechts und prallte gegen den Siebenerkegel. Also gut.
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II
SEIN ERSTER GEDANKE WAR, daß mit der automatischen Kugelwiedergabe irgend etwas Seltsames passiert sei. Noch hatte er mit dem Reich des Möglichen zu tun. Doch wäre die Kugel angestoßen worden oder zurückgeprallt, hätte sie die Bahn entlang zurückrollen müssen. Mit Si cherheit jedenfalls hätte sie nicht zurückspringen, anhal ten, sich drehen und unverkennbar nach rechts rollen dürfen. Das konnte man vielleicht in einer Karikatur in der Wochenendbeilage der Zeitung tun, aber nicht mit einer siebeneinhalb Kilo schweren Bowlingkugel. Seeth drehte sich einfach nur um und blieb reglos ste hen, sah zu, hielt den letzten Rest seiner Cola mit einer Faust fest. Der Mann spielte erneut, doch diesmal wie derholte sich der Wunderschuß nicht. Wie immer er auch warf, es sah stets ganz normal aus. Er sammelte ganz gut Punkte, aber auch nicht außergewöhnlich viele. Als er sich gerade fragen wollte, ob er nicht schon ein bißchen früh am Abend halluzinierte, sah Seeth plötzlich, wie der Bursche einen Treffer plazierte. Keinen normalen Treffer, bei dem die Kugel links oder rechts vom Mittel kegel traf oder sogar diesen selbst, sondern einen, bei dem die Kugel die rechte Seite der Bahn entlangrollte, fast einen Meter vor dem Kegel zum Stehen kam, seitlich in die Mitte der Kegelanordnung hüpfte und dort eine von innen nach außen fliehende Spirale zog, bis auch der letzte Kegel umgeworfen war. Worauf die Kugel gemüt lich nach rechts wirbelte und hinten in der automatischen Auffangvorrichtung verschwand. 36
Ein Umstülpwurf. Ein völlig unmöglicher Anblick. Er rechnete fest damit, daß die Kugel zu ihrem Besitzer zurückschweben würde. Doch der Bursche wartete gelas sen ab wie alle anderen, nippte an seinem Bud, wartete darauf, daß die Automatik ihm die Kugel zurückwarf. Was sie auch tat. Na schön. Eine Verletzung der Naturgesetze war ein Zufall. Zwei Verletzungen völlig verschiedener Art wie sen auf etwas anderes hin. Nicht daß es Seeth wichtig gewesen wäre – schließlich war er ja nicht der Möchte gernwissenschaftler hier. Sollte Kerwin doch etwas dar aus machen. Der ältere hob überrascht den Kopf. »Ich dachte, du wolltest gehen.« »Dann sind wir schon zu zweit.« »Was hat dich dann zurückgeführt? Das Vergnügen meiner Gesellschaft?« »Na klar, doch, kann mich einfach nicht von den Er kenntnissen des Einsteinklons losreißen.« Er wandte den Kopf und zeigte unauffällig hinüber. »Siehst du den Ty pen dort drüben am Ende?« Kerwin drehte sich um. Die meisten dazwischenliegen den Bahnen waren inzwischen leer, und er konnte den Mann deutlich erkennen. »Was ist mit ihm?« »Könnte eine interessante Fußnote für dein Referat ab geben.« »Wieso?« Er blinzelte. »Habe nichts Ungewöhnliches an ihm bemerkt.« »An ihm vielleicht nicht, aber er macht ein paar inter essante Würfe.« »Tut mir leid. Ich beschäftige mich mit der Beobach tung von Leuten, die nicht bowlen. Das findet nur zufäl lig an einer Bowlingbahn statt.« 37
»Und dieser Bursche dort ist zufälligerweise ein AntiNewton. Und das meine ich keineswegs bildlich. Ich habe ihn die Kugel werfen sehen, habe gesehen, wie sie eine Vollbremsung machte und dann im rechten Winkel zur Bahn wieder beschleunigte. So etwas kann dir viel leicht auf dem Papier gelingen, aber nicht mit einer Bow lingkugel.« »Wirklich amüsant.« Kerwin sprach es so aus, daß es wie ein Fluch klang, während er sich wieder über sein Klemmbrett hermachte und die Aufzeichnungen über prüfte. »Ich bin gleich fertig, und du kannst ja so lange hierbleiben, bis sie das Licht ausmachen.« »Hör mal, Mann, ich meine es ernst. Beobachte den Burschen doch einfach mal, ja? Ich habe es zweimal ge sehen. Das zweite Mal war noch seltsamer als das erste. Vielleicht ist er irgendeine Art Elektronikexperte oder so was und probiert an der Kugel so eine neue Form von Fernsteuerung aus – obwohl ich nicht gesehen habe, daß er irgendwelche Knöpfe gedrückt oder akustische Befeh le gegeben hätte oder so was in der Richtung. Vielleicht will er ja Profi werden und dabei betrügen. Vielleicht hat er aber auch nur ein paar Würfe entwickelt, die alle be kannten Gesetze der Thermodynamik verletzen.« Kerwin blickte ihn stirnrunzelnd an. »Was verstehst du von Thermodynamik?« »Erinnere mich daran, dir was von der Tussi zu erzäh len, mit der ich mich letzte Woche getroffen habe, aber im Augenblick laß uns einfach nur diesen Burschen beo bachten, eh? Ist das nicht dein Fach – Beobachtung?« »Also gut. Aber nur weil du mich zum ersten Mal um etwas anderes anhaust als um Geld.« Also sahen sie zu, während der Mann einen Wurf nach dem anderen vollbrachte, gelassen und ruhig alle die 38
Dinge tat, die Bowlingspieler normalerweise zu tun pflegten. Nicht einer war ein Wunderwurf. »Na schön, demnach leide ich also unter Gehirnerwei chung«, sagte Seeth und fragte sich, ob das nicht mögli cherweise tatsächlich die Wahrheit sein konnte. »Aber ich habe ihn diese beiden Würfe machen sehen, habe ich wirklich!« Kerwin sah nicht zu ihm herüber. »Ich weiß zwar nicht, was du gesehen hast oder nicht, aber in einem Punkt hat test du recht. Er ist wirklich ungewöhnlich.« Nun war Seeth an der Reihe, verwirrt dreinzuschauen. Er mochte keine Verwirrung. »Wovon redest du da, Mann? Seit ich dir von ihm erzählt habe, hat er nichts als hundsnormale Würfe erreicht. Ich habe auch zugesehen.« »Du hast recht. Seine Würfe waren alle ganz normal. Aber etwas anderes ist nicht normal.« Seeth starrte zu dem Spieler hinüber, sah zu, wie er mit einem einfachen Wurf zwei Restkegel umlegte. »Was denn? Er tut doch gar nichts.« »Beobachte ihn mal. Beobachte seine Hände, kurz be vor er die Kugel losläßt.« Stumm tat Seeth wie ihm geheißen, versuchte, am Los lassen des Mannes etwas Ungewöhnliches zu entdecken. Vielleicht einen verborgenen Schalter oder so was. Der Bursche nahm seine drei Schritte, warf die Kugel, sah zu, wie sie die Bahn entlangrollte, um die Hälfte der Kegel umzuwerfen. Dann machte er kehrt, um methodisch einen weiteren Schluck Bier zu sich zu nehmen, während er darauf wartete, daß die Automatik die Kugel zurückrollen ließ. Ein sehr nachdenklich gewordener Seeth murmelte lei se: »Far out. Der Bursche hat sechs Finger an der rechten Hand.« 39
Kerwin antwortete mit bedächtigem Kopfschütteln. »Nein. Sieben.« »Hübsch. Frage mich, wie der das macht. Was ist denn mit seiner linken Hand?« »Das ist noch seltsamer«, meinte Kerwin. »Die ist nor mal. Sieben Finger an der rechten Hand, fünf an der lin ken. Ich frage mich, ob er auch sieben Zehen hat.« »Klar. Vielleicht ist er ja auch noch an anderen Stellen durcheinander.« Kerwin schnitt eine Grimasse. »Du bist krank.« »Möglich, aber ich kann leider nichts dagegen tun, denn bis zu einem Anspruch für Krankenfürsorge fehlen mir noch fünfzig Jahre, und bis ich soweit bin, sind die sowie so schon pleite. Ich habe noch nie jemanden mit sieben Fingern gesehen. Ich kannte mal ein Mädchen, die hatte eine Katze mit sieben Zehen an einer Vorderpfote und sechs an der hinteren.« »Menschen sind keine Katzen. Manchmal werden sie mit zwei Köpfen oder ohne Finger geboren, aber es gibt keine zusätzlichen davon. Es sind auch keine verknöcher ten Verwachsungen. Ich kann sehen, wie sie funktionieren. Sie sind völlig intakt.« »Was ist mit dem Burschen passiert? Ich meine, ist das ein Nebenprodukt der H-Bombe oder so was wie Mothra? Oder hat er sich im Kaufhaus auf dem Grabbeltisch ein paar Zusatzfinger besorgt?« »Ich weiß es nicht.« »Da stehst du nicht allein da. Der Knallkopf könnte von mir aus dreißig Finger an einer Hand haben. Das würde immer noch nicht erklären, wie er die beiden Würfe ge schafft hat, die ich gesehen habe.« »Allmählich glaube ich, daß du tatsächlich gesehen hast, was du behauptest. Hätte ich es doch auch gesehen!« 40
»Das wünsche ich mir auch. Also, was tun wir nun?« Kerwin zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Ist schließlich kein Verbrechen, sieben Finger an einer Hand zu haben.« Das Bowlarama war fast verlassen. Die Nachtmannschaft machte gerade die ersten achtzehn Bahnen sauber. Er blickte auf die Uhr. »In fünfzehn Minuten müssen wir hier raus. Die machen gleich zu.« »Und was ist mit Plastikmann dort drüben?« »Frag mich nicht.« »Dann frag ihn doch.« »Was soll ich ihn fragen? Möglicherweise ist ihm sei ne Deformation unangenehm. Der Typ kann so viele Finger haben, wie er will. Das geht niemanden etwas an.« »Welch ein Wissenschaftler! Wo bleibt dein Sinn für Neugier? Denkste, Hillary hätte den Everest jemals be stiegen, wenn der zweitausend Meter niedriger gewesen wäre? Was soll er schon tun, wenn du ihn fragst – dich rausprügeln?« »Frag du ihn doch, wenn du so neugierig bist.« Seeth richtete sich auf. »He, Mann, du bist schließlich die männliche Margaret Mead, nicht ich, Kerl. Ich halte dein Coke.« »Ich bin fertig mit meiner Coke. Und mit heute abend bin ich auch fertig.« Kerwin wollte aufstehen, doch dann setzte er sich plötzlich wieder und beugte sich über seine Notizen. »Schau dir mal die hier an!« murmelte er halblaut. »Was ist los? Bist du durchgedreht?« Seeth klang, als sei die geistige Gesundheit seines Freundes schon längst nicht mehr fraglich. »Ich interessiere mich nicht für deine dämlichen Notizen.« Kerwin griff nach oben, packte den kleineren Mann an 41
der Jacke und riß ihn an sich. »Tu einfach so!« flüsterte er angespannt. Seeth sprach angemessen leiser, seine Blicke flitzten umher wie eine Katze, die davon überzeugt war, daß es hier Mäuse gab. »Ein neues Spiel, stimmt’s? Wie heißt es denn?« »Es heißt: Lenk keine Aufmerksamkeit auf dich.« »Machst du Witze? Das ist doch mein einziger Seins grund!« Er wich zurück und schüttelte Kerwins Hand ab, warf beide Arme in die Luft. »Sieh doch, ich liebe es, Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen! Ich…« Endlich bemerkte er, was Kerwin dazu bewegt hatte, sich mit voller Konzentration wieder seinen Aufzeichnungen zu widmen. Das Paar, das durch die Hintertür eingetreten war, hätte aus zwei Footballspielern außer Dienst bestehen können. Aber nicht für die Universität. Möglicherweise für die Dallas Cowboys. Aggressive Stürmer, beide in den glei chen gepflegten braunen Anzügen. Die Mienen wirkten weich, fast aufgedunsen, doch die Schultern waren breit genug, um darauf Skateboard fahren zu können. Was Kerwins Aufmerksamkeit erregt hatte, war jedoch nicht ihre Körpergröße, sondern ihr Gesichtsausdruck gewesen. Die Art, wie sie ihre Augen bewegten, die An spannung ihrer Kinnladen. Rechnete man Augen und Mund und Körperhaltung zusammen, dann buchstabierte sich das als B-U-L-L-E-N. Sofort entwickelte Seeth ein reges Interesse an Kerwins Notizen. »Scheiße«, murmelte er, »ich halte an.« »Anhalten? Du bist wirklich verrückt.« Besorgt blickte Kerwin zu den beiden Männern hinüber, als die die Stu fen zu den Bahnen hinabstiegen. »Was hältst du an?« »Was denkst du denn, Mann?« Plötzlich ruckte Seeths 42
Gesicht dicht an Kerwins. »Den Postzug?« Wirr blickte er um sich. »Ich muß aufs Klo.« Er wollte sich schon in Bewegung setzen, dann zögerte er. Sein Ausdruck war furchterfüllt. »Ich kann nicht. Die bringen es fertig und halten mich auf.« Er begann in seinen Taschen zu wüh len. »Hier, nimm du das Zeug!« »Was, bist du jetzt durchgedreht?« Kerwin stieß ihn fort. »Ich habe nichts damit zu tun, was du in den Ta schen hast, egal ob man es rauchen, trinken oder einat men kann!« »Beruhige dich, Mann! Ist schon in Ordnung, ist schon in Ordnung. Siehste?« Die beiden Neuankömmlinge ignorierten alle im Bow larama, einschließlich der beiden sich leise streitenden jungen Männer in ihrer Nähe. Sie schritten auf Bahn sechsunddreißig zu. Der Bowler mit den zusätzlichen Griffmöglichkeiten sah sie nicht kommen. Er stand an der Rückgabe und wartete auf seine Kugel, konzentrierte sich auf die sieben Kegel, die nach seinem letzten Wurf noch stehengeblieben waren. Einer der Bullen legte dem Mann eine Pratze auf die Schulter und riß ihn herum. Die Augen des Spielers öff neten sich sehr weit, weit genug, daß Kerwin und Seeth seine Reaktion deutlich wahrnehmen konnten. Sie starr ten einander an, der Spieler und der viel größere Mann. Dann beugte sich der Bowler vorsichtig vor, um die Ku gel aufzunehmen. Der andere Bulle versperrte jeden Fluchtweg. Der Bowler sah genauso aus wie jemand in einer Fern sehshow, der nach einem Versteck suchte. Da dies das wirkliche Leben war, erschienen keinerlei mysteriöse Pfade auf wunderbare Weise mitten im Boden oder in der Betonmauer. Die Bullen packten den Mann jeweils an 43
einem Arm und schoben ihn die Treppe hinauf, drängten ihn einfach nur weiter, obwohl Kerwin nicht im gering sten daran zweifelte, daß sie ihn zur Not auch tragen konnten. »He, das ist aber nicht richtig!« ächzte Seeth plötzlich. »Ich meine, die haben ja nicht mal mit ihm gesprochen. Sie haben ihn einfach gekrallt.« »Vielleicht ist er schon einmal festgenommen worden, und sie kennen sich alle.« Kerwin wandte sich wieder seinen Aufzeichnungen zu. »Jedenfalls geht es uns nichts an.« »Typisch Yuppie. Erst das Maul aufreißen, von wegen Wahrheit und Gerechtigkeit und so, aber wenn es wirk lich mal drum geht, dann willst du bloß nicht in irgend was hineingezogen werden.« »Das solltest du auch nicht. Setz dich!« »Null, Mann. Die Chose stinkt.« Seeths Augen glitzer ten in dem Licht der Batterien von Neonlampen an der Decke. »Außerdem ist das die erste interessante Nummer, die ich den ganzen Abend zu sehen bekommen habe.« »Halt dich da raus, Seeth!« Der jüngere Mann war bereits außer Reichweite. »Wie kann ich mich da raushalten? Ich habe schließlich die ganze Nacht versucht, reinzukommen.« Kerwin ließ den Blick nervös durch die Anlage schwei fen. Es waren nur noch ein halbes Dutzend Nimmermü der übrig. Der nächste Spieler war zehn Bahnen entfernt. Bisher hatte keiner von ihnen irgendwelche Notiz von dem weitgehend stummen Drama genommen, das sich hinten auf Bahn sechsunddreißig abspielte. Die beiden Bullen waren so groß, daß sie Seeth überse hen hätten, wäre er ihnen nicht direkt in den Weg getre ten. Der Bowler mit den Sonderfingern blickte ihn auch 44
an, beide Arme eng um seine Bowlingkugel geschlungen. Die leuchtete leicht, wie Seeth bemerkte. Offensichtlich eine Sonderanfertigung. »Hallo, Jungs. Was steht denn heute nacht auf dem Programm? Schon zu spät für Strafzettel wegen Überque rens der Straße bei Rot?« Die Bullen wechselten Blicke, dann richteten sie die Augen gemeinsam auf die halbe Portion Mensch, die ihnen da den Weg versperrte. Ihr Schweigen überzeugte Seeth davon, daß sein erster Eindruck richtig gewesen war. Irgend etwas war hier mit Sicherheit nicht koscher. Anstatt zu sagen: »Geh uns aus dem Weg, Punk!« ver suchten sie, an ihm vorbeizukommen. »Sehr gesprächig seid ihr Burschen wohl nicht, wie?« Mühelos flitzte Seeth ein Stück zur Seite, um sich ein zweites Mal vor ihnen aufzubauen. »Ach, kommt schon, ich habe nicht die ganze Nacht Zeit. Was ist hier los?« Er musterte den Spieler. »Hey, Kumpel, was wird hier ge spielt, eh? Weshalb knien die sich so auf dich?« Der Bowler war entweder zu beschäftigt oder zu ver ängstigt, um etwas zu erwidern. Die beiden Bullen dräng ten ihn seitlich zwischen zwei Sitzreihen hindurch, steu erten den übernächsten Gang an. Seeth blieb stehen, wo er war, ließ sie glauben, daß er sich nicht wieder einmi schen wolle, dann legte er blitzartig einige Sitze und Gänge hinter sich, um ihnen noch ein drittes Mal den Weg zu versperren. Er war bereits zu dem Schluß ge langt, daß er zur Not auch Kreise um sie herumlaufen könnte. »Habt ihr Grunzer dafür einen Haftbefehl? Ich meine, ihr könnt hier schließlich nicht jedem was anhängen. Wir wissen, was gespielt wird. Wir glotzen alle Röhre.« Die Männer sahen sich ein zweites Mal an. Dann 45
sprach schließlich der Bulle zu Seeths Rechten. »Geh – weg.« Es war eine dunkle Stimme, und sie kam irgendwo aus der Tiefe heraufgepoltert, wie Blasen im Öl, die an die Oberfläche perlten. Obwohl man das kaum eine sonderlich umständliche Erwiderung nennen konnte, schien es Fleischkloß Nummer zwei doch erhebliche Mühe zu kosten, sie hervorzubringen. »Weg? Okay, wohin soll ich denn verschwinden?« Er warf dem Bowler einen scharfen Blick zu, doch der blieb stumm. »Hör mal, Mann, wenn du hier irgendwelche Probleme haben solltest, ich kenne einen guten Anwalt. Hat mich schon ein paarmal rausgehauen. Er hat ein Vierundzwanzigstundentelefon, er ist schnell, und er stellt dir keinen Haufen peinlicher Fragen. Soll ich ihn für dich anrufen?« »Ich… ich…«, stammelte der Bowler. Er war mehr als nur verängstigt, er war völlig entsetzt. Mehr als jemand, der einfach nur in Haft genommen worden war, dazu hätte Grund haben können. »Hör mal, es ist ziemlich offensichtlich, daß ihr Bur schen hier die Statuten vierundzwanzig und fünfund zwanzig, Paragraphen sechs bis zehn der Stadtverord nung von New Mexico verletzt. Wenn ihr mir also nicht sofort einen Haftbefehl oder eine Dienstmarke oder einen Brief von eurer Mami zeigt, würde ich sagen, ihr solltet den Burschen besser laufen lassen.« Drüben an Bahn zweiunddreißig blickte Kerwin seinen kleinwüchsigen Bekannten wie gelähmt an. Die Kinnlade klappte ihm herunter, als Seeth eine lange Chromkette loshakte und sie gemütlich in der rechten Faust schwin gen ließ. An der Kette hingen eine Handvoll Schlüssel, ein zerbeulter Mercedesstern, zwei Türgriffe, die von abgewrackten Toiletten stammten, und ein uralter Bier 46
dosenöffner. Die Kette war gute sechzig Zentimeter lang. Seeth sprach, während er zugleich die Kette in langsa men, trägen Kreisen schwingen ließ. »Keine Dienstmar ken? Keine Haftbefehle? Dann laßt ihn los!« Er grinste zu Kerwin hinüber. »He, schau dir das mal an, Mann! Showdown am OK Corral.« Kerwin wandte sich ab und versuchte, sich in seinen Sitz zu vergraben. »Geh weg«, wiederholte der erste Bulle, »oder es… passiert dir was.« »Was ist das denn?« Seeths Augen weiteten sich in ge spielter Furcht. »Androhung körperlicher Gewalt, ausge sprochen von einem Mitglied des Amts für öffentliche Sicherheit? Hier an einem öffentlichen Ort, vor Zeugen? O Graus, o Entsetzen, was sollen wir nur tun? Ihr wollt mich armes, unschuldiges kleines Würstchen zusammen schlagen? Was, wenn ich euch sage, daß ich so was sogar mag?« Der zweite Bulle streckte eine Hand vor, die groß ge nug aussah, als könnte sie Seeths Kopf ausdrücken wie einen Pickel. »Geh – jetzt.« Seeth sprang aus der Gefahrenzone, und aus seinen Augen wich der Schabernack. »He, was zum Teufel ist hier los? Ihr Burschen seid gar keine Bullen, nicht? Ihr habt nicht eine einzige Dienstmarke.« Er sah den Bowler an. »Was wird hier für eine Nummer abgezogen, Kum pel? Worum, zum Teufel, geht es hier?« »Ich…« Der Mann versuchte wieder zu sprechen, doch dann sackte er zusammen, als fiele er in Ohnmacht. Der erste Bulle griff nach unten und packte ihn am Nacken, hob ihn geradewegs hoch, bis die Füße den Fußboden nur noch streiften. Seeths Miene verspannte sich. »Also gut, Bonzo. Das genügt. Laß ihn in Frieden!« 47
Wieder griff der andere Bulle nach ihm. Diesmal im Ernst. Seeth wich nach einer Seite aus und ließ die wir belnde Kette vorschießen. Die erzeugte ein pfeifendes Geräusch, als sie durch die Luft heulte und den massigen Gegner in der linken Gesichtshälfte traf. Kerwin stöhnte auf. Seeth hatte erwartet, daß der Mann zusammenzucken oder wenigstens im Reflex die Augen kurz schließen würde. Doch er tat weder das eine noch das andere. Ein Stück Haut und Fleisch stob davon, aber das war nicht weiter überraschend. Überraschend hingegen war, daß kein Blut hervortrat. Nicht ein Tropfen. Noch überra schender war jedoch, daß die etwa eineinhalb Zentimeter große Wunde anstelle von blutigem Fleisch etwas freileg te, das wie grünlichschwarzes Walzmetall aussah. Doch es war kein Metall, denn als Seeth es anstarrte, zuckte es. »Oho!« Er wich einen Schritt zurück. »Der reinste Trip.« Die Miene des Bullen, sofern er ein Bulle war, verän derte sich, als er seinen Gefangenen losließ und Seeth ansprang. Der rannte rückwärts die Treppen hoch, schnel ler, als der andere sich vorwärtsbewegen konnte. Er hakte seine Kette wieder ein, während er um den Ständer rann te, die erste Bowlingkugel packte, derer er habhaft wer den konnte, und sie seinem polternden Verfolger mit beiden Händen entgegenwarf. Die Kugel prallte mit deut lichem Klonk von der Stirn des Mannes ab und fiel zu Boden. Sie schien ihm nicht das geringste auszumachen. Mit Sicherheit jedenfalls hielt sie ihn nicht auf. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich ebensowenig. Seeth fragte sich allmählich, ob er das überhaupt konnte. Der Mann kam weiter hinter ihm her, und Seeth warf immer mehr Bowlingkugeln nach ihm. Trotz des ersten 48
Anflugs von Panik genoß er die Aufregung durch und durch. Sein Blut kochte, zum ersten Mal seit über einer Woche strömte das Adrenalin. Bowlingkugeln hämmerten gegen den Mund, den Brustkorb, gegen die Knie des Mannes. Ebensogut hätte Seeth sie allerdings einfach auf den Boden werfen kön nen, so wenig bewirkten sie. Inzwischen war es Kerwin gelungen, seine Notizen in seine kleine Aktenmappe zu schieben. Er versuchte, an Seeth und seinem unerbittli chen Verfolger vorbeizuflitzen, um in den oberen Trakt zu gelangen. Nachdem er endlich gemerkt hatte, was hier los war, schrie der Nachtmanager die Kämpfenden wü tend an, während die verbliebenen sechs Bowler ihr Spiel unterbrochen hatten, um mit dümmlichen Mienen den ungleichen Kampf zu beobachten. In der Zwischenzeit hielt der andere Bulle seinen Ge fangenen locker im Griff, während er zusah, wie sein Gefährte den leichtfüßigen Seeth verfolgte. Es fiel ihm nicht auf, daß der Bowler seine Kugel nun nicht mehr mit beiden Händen hielt, sondern nur mit einer. Jetzt ließ der Mann die Kugel in hohem Bogen gegen die Nase des anderen prallen. Und zwar heftig. Anders als Seeths angestrengte Bemühungen, zeigte dies einige Wirkung. Der Bulle ließ ihn los, fuhr heftig an die beschädigte Stelle und stolperte rücklings, bis er die erste Stufe erreicht hatte. Dort stürzte er prompt, während der Bowler auf den Ausgang zusprintete. »Also schön!« schrie Seeth entzückt aus Leibeskräften. Er sprang vor und zurück, seinen Verfolger verhöhnend. Dort, wo er ein gutes Dutzend Bowlingkugeln abbekom men hatte, wirkte der Brustkorb des Mannes leicht einge dellt, doch es hatte ihn nicht aufhalten können. Wieder stürzte er vor. 49
Lachend sprang Seeth zur Rechten, an zwei Sitzplätzen vorbei, dann kletterte er auf das eineinhalb Meter hohe Bowlingkugelgestell. Er zeigte an dem Bullen vorbei. »Komm schon, Mann! Worauf wartest du noch? Ver schwinden wir von hier!« Kerwin war schon fast am Ziel. Jetzt starrte er Seeth fassungslos an. »Ich? Aber ich habe doch nichts…« Der angeschlagene Bulle zögerte, dann drehte er sich um und blickte zu Kerwin hinüber. »He, hör mal!« Erschreckt wich Kerwin zurück. »Ich kenne diesen Burschen nicht. Ich stehe einfach nur hier rum. Ich weiß nicht, was hier los ist, und ich will auch gar nicht wissen, was hier los ist. Ich… oh, Scheiße!« Der Bulle sprang ihn an, und es gelang Kerwin nur um Haaresbreite, diesen riesigen Händen zu entgehen. Ein Arm wie ein Eisenträger streifte seine Seite, als er davon stolperte. Die Berührung war noch kräftig genug, um ihn herumzuwirbeln. Seine Aktenmappe wurde durch die Luft geschleudert, prallte gegen den Kugelständer und sprang auf, seine Aufzeichnungen und Kugelschreiber sowie leere Blätter über den ganzen Boden verteilend. Ganz automatisch beugte er sich vor, um sie wieder ein zusammeln. Da lag auch schon eine Hand auf seiner Schulter. »Komm endlich, Mann!« Seeth zerrte ihn zum Ausgang hinüber. Der Bulle, den der Bowler kaltgestellt hatte, kam gerade wieder auf die Beine. Jedes normale Individuum hätte von dem Hieb massive Prellungen, einen Schädel bruch und schwere Blutergüsse davongetragen, doch selbst wiederholtes Schädeleinschlagen schien diese Bur schen nur geringfügig aus dem Konzept zu bringen. »Meine Notizen.« Der Bulle kam gerade wieder auf ihn zu, von einer Seite zur anderen torkelnd. Sein Gefährte 50
stieg drüben gerade die Treppen hinauf. »Verdammt!« Notizen, Aktenmappe und alles andere zurücklassend, drehte er sich zusammen mit Seeth um, und gemeinsam jagten sie der Tür entgegen. »Rette deinen Kopf, benutz deine Beine!« Seeth deckte ihren Rückzug, ließ seine Kette schwingen wie eine Gla diatorenkeule. »In welche Schweinerei hast du mich da reingezogen?« Kerwin, der kein Athlet war, keuchte bereits, als sie in die kühle Nachtluft hinausstürmten. »Was soll ich tun, wenn die mich zum Verhör auf ein Revier schleppen? Wir wissen ja nicht einmal, was der Bursche, den sie festgenommen haben, sich zuschulden kommen ließ.« »He, ich bin mir nicht sicher, daß der sich überhaupt irgend etwas zuschulden kommen ließ. Ich glaube auch nicht, daß diese Burschen aus irgendeinem Revier kom men. Aus der Zwielichtzone, vielleicht. Ich habe einen von ihnen aufgeschlitzt, und weißt du, was er unter der Haut trägt?« »Noch mehr Haut?« »Ich wollte, es wäre so. Nee, das war alles ganz grün und schwarz und glänzend. Ich kenne eine Tussi, die verwendet Make-up in dieser Farbe, aber auf der Außen seite. Es hat sich bewegt, Mann. Es hat sich bewegt wie richtiges Fleisch. Aber es war keins. Es war irgend etwas anderes. Hör mir zu, Macker. Die beiden Liebchen dahin ten, die sind aus keinem Fleisch nicht.« Wie ein wildge wordener Kreisel hüpfte er auf und ab und versuchte, über die Dächer der geparkten Wagen hinwegzublicken. Neben dem Bowlarama war ein rund um die Uhr geöffne tes Danny’s, und der gemeinsame Parkplatz der beiden Läden war ziemlich voll. »Da ist er.« Er zeigte erst, dann rannte er los. Kerwin 51
blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen, denn sein Gehirn war noch immer von den Ereignissen der vergan genen Minuten wie gelähmt. Tatsächlich, der Bowler kauerte hinter einem niedrigen Riviera. Als er sie herankommen sah, erhob er sich und wandte sich um, als wolle er davonlaufen. Er hielt noch immer die Kugel fest, wie Kerwin bemerkte. Vielleicht war es ja eine teure Spezialanfertigung. »He, bleib da, Mann! Wir sind die Typen, die dir gehol fen haben, weißt du noch? Wir wollen bloß wissen, was hier los ist.« Der Mann ging ein paar Schritte, dann blieb er stehen, beide Arme schützend um die Kugel gelegt. Etwas von seiner Furcht wich von ihm. »Ach so, ja, richtig; jetzt erinnere ich mich.« Merkwürdige Stimme, dachte Kerwin. Glatt, aber im mer genau die falschen Silben betont und schnell heraus gespuckt, wie ein Diskjockey auf Amphetaminen. »Ich sollte euch danken. Ich danke euch. Danke beide. Ich weiß nicht, wie sie mich ausfindig gemacht haben.« Er kauerte sich wieder hinter den Riviera und spähte ner vös über das lange Heck. »Ich war vorsichtig, so vorsich tig, aber wißt ihr, die finden einen, egal wohin man geht. Gerade wenn du denkst, daß du sie vielleicht endlich abgehängt hast, gerade wenn du denkst, daß du weitab vom Schuß bist, an einem Ort, von dem noch nie jemand gehört hat, finden sie dich. Verdammt sollen sie sein. Die geben niemals auf. Geben niemals auf, bis sie dich ha ben.« »Ja, solche Bullen habe ich auch schon kennengelernt.« Seeth blickte zu der doppelten Glastür hinüber, die den Ausgang des Bowlaramas darstellte. »Jetzt geht es dar um, dich von hier fortzubringen.« 52
»Hör mal, mir brauchst du nicht zu danken«, sagte Ker win zu dem Mann. »Ich hatte nichts damit zu tun. Das ist alles nur ein Mißverständnis. Ich saß nur da und habe ein paar Aufzeichnungen gemacht, habe mich auf den Unterricht vorbereitet, habe mich um meine eigenen An gelegenheiten gekümmert. Daß ich jetzt hier bin, ist ein reines Mißverständnis.« Er sah auf die Uhr. »Ich habe morgen zwei Prüfungen, beides Wochenklausuren, und wenn ich auch gern wüßte, was hier gespielt wird, kann ich trotzdem nicht länger hierbleiben.« »Wir brauchen einen Wagen«, murmelte Seeth. »Wir müssen von hier weg.« Er sah Kerwin an. »Ich nehme nicht an…?« Der schüttelte den Kopf. »Ich habe den Bus vom Stu dentenheim genommen.« »Klar, sieht dir ähnlich. Wie willst du denn dann zu rück?« »Hier geht jede Stunde ein Bus.« »Wir können nicht hier herumhängen und auf ihn war ten.« Er sah den Bowler an. »Ich nehme nicht an, daß du einen Wagen hast.« Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen per sönlichen Transport in dieser Gegend. Ich habe…« Kerwin duckte sich und machte eine deutende Bewe gung. »Da kommen sie!« Als sie herauskamen, überschatteten die beiden Männer fast alles Licht, das aus der Bowlinganlage hervorström te. Derart von hinten in ihren Umrissen beleuchtet, wurde ihr unmenschliches Aussehen noch betont. Sie ordneten ihre Kleidung und wirkten nicht weiter angeschlagen, einschließlich desjenigen, der eine Bowlingkugel voll auf die Nase bekommen hatte. »He, der Bursche auf der Linken, seht ihr den? Den ich angeschlitzt habe?« Seeth starrte ihn fassungslos an. »Der 53
sieht überhaupt nicht verletzt aus. Was ist mit der Wunde passiert?« »Ein schneller Wundverband«, meinte Kerwin. »Ja, oder eine schnelle Schweißnummer. Kommt schon.« Vorgebeugt machte er sich auf den Weg zum Restaurant. Der Bowler schien zu zögern, dann folgte er ihm. Kerwin tat das gleiche, bis ihm etwas einfiel. »He, einen Augenblick mal! Ich brauche mir doch we gen nichts Sorgen zu machen. Ich habe schließlich nichts getan.« Obwohl der Bowler drängend an seinem Arm zerrte, richtete er sich auf. Er drehte sich zum Bowlarama um. »Die können mir nichts antun. Ich werde jetzt bei Danny’s hineingehen und meinen Freund Jerry anrufen, damit er herkommt und mich abholt. Ich weiß zwar nicht, was ihr beiden jetzt gerade vorhabt, aber ich will nicht…« Plötzlich war die Luft vom scharfen Geruch von Ozon und verbranntem Karamel erfüllt. Etwas, das wie ein verirrter Lichtblitz aussah, krachte dicht an seiner linken Gesichtshälfte vorbei. Einen Augenblick später wich der Geruch dem Gestank von versengtem Haar. Von seinem eigenen. Fassungslos wandte er sich zu der Bowlinganlage um. Die Bullen hatten ihn gesehen und kamen auf ihn zuge stolpert. Jeder von ihnen trug eine Pistole. Zumindest sahen sie aus wie Pistolen. Spielzeugpistolen. Schmale dünne Chromröhren mit Manschetten am hinteren Teil, die groß genug waren, um ein Paar Hände zu beherber gen. Noch während er starrte, eröffnete einer von beiden erneut das Feuer. Zum Glück ließ sich mit den Waffen im Laufen nur schwer zielen. Der Blitz oder was immer es war durchschoß auf seinem Weg zu Kerwins Gesicht drei Wagenfenster und die Ladefläche eines Kleinlasters. 54
Diesmal verfehlte er ihn um ein knappes Stück rechts. Beim nächsten Mal würde er ihn möglicherweise nicht verfehlen. Er starrte nicht das herbeieilende Paar an, sondern den geschmolzenen Stahl, der an der Seite des Lasters in ganz kleinen Bächen herabströmte, sowie auf die geschmolze ne Glasschlacke, die von den Fenstern troff. »Wie haben die das denn gemacht? Das dürfen die doch gar nicht.« »Klar, sag es ihnen ruhig.« Seeth griff nach oben, pack te Kerwins Gürtel und riß ihn hinunter. »Komm schon, Mutter Gans! Beweg den Bürzel, sonst schießen sie ihn dir ab. Hier entlang.« Er drehte sich um und setzte sich in Bewegung. Kerwin und der Bowler folgten ihm, tief ge duckt, während Seeth sie durch das Labyrinth der gepark ten Fahrzeuge führte. »Was sind das überhaupt für Typen? Projektile, okay, aber was soll diese Lichtshow?« »Es ist schon in Ordnung.« Der Bowler flüsterte ebenso schnell, wie er sprach. »Die wollen mir nichts antun, wollen sie nicht. Das würde schlimm für sie, wenn sie mich verletzten.« »Würde mir auch nicht viel nützen. Nur lebende Beute machen, wie?« Seeth gab eine grobe Imitation von Jim my Cagney zum besten. »Diese dreckigen Ratten!« »Aber ihr beiden, da fürchte ich, daß sie nicht zögern werden, euch zu töten. Wenn sie können, werden sie eure Köpfe einschmelzen.« »He, das macht doch gar nichts. Ich habe meinen Kopf schon vor Jahren einschmelzen lassen. Aber Kerwin hier, das wäre wirklich ein Verlust. Der ist eine Erstausgabe, eine richtige Antiquität.« »Halt einfach das Maul und geh weiter!« Kerwin steck 55
te zu einem schnellen Spähen den Kopf hoch und duckte sich wieder. »Sie kommen immer noch hinter uns her, sind aber hinten an den Gebäuden. Ich glaube, wir hän gen sie ab.« »Niemals werden sie aufgeben«, sagte der Bowler. »Sie werden uns so lange verfolgen, bis sie uns haben.« »Dieser Entengang ist nicht gerade ein Heuler.« Seeth hob leicht den Kopf. »Was wir brauchen, das sind Rä der.« Während er sich auf die Suche nach einer Transport möglichkeit machte, nahm Kerwin die Gelegenheit wahr, den Mann auszufragen, den sie gerettet hatten. »Hör mal, was ist denn hier eigentlich los? Wer bist du? Worum geht es hier überhaupt?« »Sie wollen mich holen und euch töten. Ist das nicht of fensichtlich, Mann?« Seeth sprach zu ihnen, ohne hinüberzublicken, noch immer inspizierte er Wagen. »Sei gnädig mit ihm, Freund. Der ist ein bißchen langsam.« Er kicherte bei sich. »Kong und Dong unterhalten sich gerade. Fragen sich, wohin die Mäuse wohl entkommen sind. He, wo haben die bloß diese Kanonen her? Sind ja affengeil.« »Die tragen normale Polizeidienstwaffen.« »Dann sind sie also tatsächlich Bullen.« Kerwin war verwirrter den je. »Seeth hat gesagt, daß er einen von ihnen geschlagen hat, und als die Haut abging, war etwas anderes darunter. Das sind doch wohl nicht irgendeine Art von Robotern, oder?« »Ach, du liebe Güte nein, Mann, nein! Mit Robotern käme ich schon klar. Egal wie gut konstruiert und dezi diert eine Maschine ist, wenn man selbst schnell genug und schlau genug und fingerfertig genug ist – und das bin ich –, kann man ihre logischen Schaltungen meistens zu 56
Schlaufen verbiegen, bis sie stehenbleiben und nur noch mit sich selbst diskutieren. Mit Robotern käme ich schon zurecht. Aber das hier sind Oomemianer.«
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III
»SAG DAS NOCH MAL!« »Oomemianer. Viele Oomemianer gehen zur Polizei. Sie sind groß und kräftig und treu ergeben und nicht allzu intelli gent.« Seeth nickte zustimmend. »Hört sich genau wie die Bullen hier in Albuquerque an.« »Mein Name ist übrigens Arthwit Rail. Tut mir leid, daß ich mich nicht schon vorher vorgestellt habe, aber die Um stände waren nicht eben günstig.« »Sag an«, meinte Seeth. »Ich bin Kerwin. Das hier ist…« Er zögerte, da er wußte, wie der erste Name seines Freundes in Wirklichkeit lautete, und auch, wie er reagieren würde, wenn man ihn erwähnte. Das war jetzt nicht die Zeit, inneren Zwist vom Zaum zu brechen. »Sein Name ist Seeth.« »Oomemianische Bullen, wie?« Seeth studierte noch im mer die geparkten Automobile. »Ist das so was wie Nicara guaner oder so?« Seine Miene erhellte sich. »He, du bist doch nicht zufällig ein Dopeschmuggler, oder?« Rail blickte verwirrt drein. »Warum sollte jemand Dumm heit schmuggeln wollen, wenn soviel davon so leicht zu ha ben ist?« »Er hat Drogen gemeint«, meinte Kerwin. »Du mußt Aus länder sein, wenn du das nicht verstanden hast.« »Ja, das stimmt, ich bin nicht von hier.« »Wie die Bullen?« Seeth musterte den Mann, den sie geret tet hatten, von oben bis unten. »Das wird ja langsam richtig interessant. Bist du ein illegaler Einwanderer oder so was?« 58
»Etwas in der Art, ja, das ist wahr.« Kerwin mußte die Konsequenz bewundern, mit der der Mann sich an seine Bowlingkugel klammerte. In Krisen zeiten konnten vertraute Gegenstände beruhigende Wir kung auf die Psyche ausüben. Das behaupteten zumindest seine Profs. »Ich bin zwar nicht gerade eine Leuchte in Sachen Völ kerkunde«, sagte Seeth gerade, »aber ich habe immer gedacht, daß Mittelamerikaner irgendwie eine Art von Braun wären und nicht schwarz und grün.« »Das sind Oomemianer.« Je mehr Zeit verstrich, ohne daß sie entdeckt wurden, um so zuversichtlicher schien Rail wieder zu werden. »Niemand hält sie für gutausse hend. Ihre Hautpigmentierung ist ungefähr so übel wie ihr Charakter.« »Das kann ich unterschreiben. Bist du sicher, daß du keine Drogen dabei hast?« »Ganz bestimmt nicht. Ich benutze keine künstlichen Stimulanzien und heiße ihren Gebrauch bei anderen ebenfalls nicht gut.« »Lassen wir das mal.« Seeth versuchte gar nicht erst, seine Enttäuschung zu verbergen. Plötzlich grinste er. »He, ich hab’s! Du schmuggelst Bowlingkugeln, stimmt’s?« Er blickte Kerwin an. »Weißt du, da gibt es nämlich diesen Multimillionen-Dollar-Markt für illegale Bowlingkugeln. Das Großartige daran ist, daß man sie gar nicht erst verpacken muß. Man baut sie einfach auf der mexikanischen Seite auf und rollt sie rüber.« »Sehr komisch.« Kerwin lächelte nicht. »Für jemanden mit einem zerfressenen Gehirn bist du ein wirklich witzi ger Denker.« »Immerhin habe ich noch ein Gehirn und keinen Klumpen Salzwasserbrei, den jeder Retardo nach Belie 59
ben strecken und kneten kann.« »Ach ja? Dann will ich dir mal sagen, daß…« »Meine Herren, bitte!« sagte Rail besorgt. »Verschie ben wir doch die Erkenntnisphilosophie so lange, bis wir unsere gemeinsame fortgesetzte Existenz gesichert ha ben.« »Kartoffelhirn«, murmelte Seeth halblaut. »Anarchistischer Trottel«, zischte Kerwin zur Erwide rung. Seeth blickte zurück zur Kühlerhaube des Riviera. »Ich glaube, sie gehen, marschieren in die andere Richtung. Vielleicht versuchen sie es bei Danny’s.« »Sie werden nicht aufgeben«, erinnerte Rail sie war nend. »Oomemianer geben niemals auf.« »Das hast du schon mal gesagt. Schau dir den mal genauer an.« Seeth zeigte auf einen maßgeschneiderten Dodgekombi, der drei Reihen weiter parkte. Die Vorder tür stand ein Stück offen. »Ob die wohl die Schlüssel drinnengelassen haben?« Kerwin versuchte angestrengt, einen besseren Blick zu bekommen, während Seeth ihn anstarrte. »Was ist das denn? Kann das wohl sein? Denkt der Junge Wunderbar etwa daran, ein Fahrzeug zu stehlen, das nicht ihm gehört, sondern einem anderen?« »Es auszuleihen«, berichtigte Kerwin ihn. »Das hier ist eine Sache von Leben und Tod.« »Billige Ausreden. Vielleicht besteht bei dir ja doch noch Hoffnung. Wir brauchen keine Schlüssel.« Während sie sich auf den Kombi zubewegten, überlegte sich Kerwin, ob er Rail wegen seiner Bowlingkugelbe sessenheit befragen sollte. Das Ding mochte zwar teuer sein, aber es wurde langsam ein bißchen albern, es stän dig mit sich herumzuschleppen, wenn sie vielleicht noch 60
einmal um ihr Leben rennen mußten. Seeth öffnete die Tür lautlos und glitt ins Innere des Wagens. Rail und Kerwin folgten. Der vordere Teil wur de von einem Paar übergroßer Kapitänssessel beherrscht. Seeth brauchte seine asozialen Fertigkeiten nicht erst unter Beweis zu stellen, denn der Besitzer des Kombi hatte netterweise die Schlüssel im Zündschloß stecken gelassen. Es war ein wenig eng dort vorn zu dritt, von der Bowlingkugel ganz zu schweigen. Aus dem Radio plärrte Musik. »Bitte, laß mich fahren!« Rails Bitte kam ziemlich un erwartet. Seeth beäugte ihn kurz, dann zuckte er die Schultern. Er lauschte der Rockmusik, die aus den Speziallautspre chern kam, und fühlte sich wohl dabei. »Klar, Mann, warum nicht?« Er rutschte beiseite und ließ den Mann hinter das Steuer. Rail schien zu zögern, als er die Automatikschaltung begutachtete. Vielleicht war er eine Gangschaltung ge wöhnt, überlegte Kerwin. Er drehte den Schlüssel und beugte sich leicht vor. Die laute Musik half dabei, das Geräusch des startenden Motors zu dämpfen. Langsam fuhren sie aus der Parklücke. Ein Stoß weißglosender Energie versengte die linke Seite des Kombi. »Schneller, schneller!« überschrie Kerwin die HeavyMetal-Riffs von KDKW. Rail reagierte, indem er den Fuß auf das Gaspedal rammte und Reifenspuren zurück ließ, als der Campingbus aus dem Parkplatz hervorschoß und nach Osten jagte. »Affengeil!« Seeth hüpfte im Takt der Musik auf und ab, rammte Kerwin einen Ellbogen in die Rippen. Er beugte sich aus dem Beifahrerfenster und blickte zurück, 61
als ein weiterer Energiestoß, auf die weite Entfernung schwächer geworden, hinter ihnen die Straßenoberfläche versengte. »Freßt doch gleich heißen Brei, oomemianischer Ab schaum!« Er streckte Daumen und Zeigefinger und brüll te los, während er imaginäre Schüsse abgab. »Päng päng!« Kerwin mußte ihn am Hosenboden festhalten, damit er nicht hinausstürzte, als Rail den Campingbus mit wildem Schwenk um eine Kurve riß. Inzwischen wirkte ihr Fahrer etwas gelassener. Fragend blickte er Kerwin an. »Mit welcher Art von Waffe feuert dein Freund da?« »Wiiieeee?« eingeklemmt zwischen dem rätselhaften Rail auf der einen und Seeth-dem-Fall-für-die-Klaps mühle auf der anderen Seite, fühlte Kerwin sich langsam wie eine Illustration von Tenniel aus Alice im Wunder land. »Der schießt mit gar nichts.« »Oh.« Rail klang enttäuscht. »Hör mal, diese ganze Sache ist doch wahnsinnig. Wo vor laufen wir eigentlich weg?« »Sie ist nicht wahnsinnig«, meinte Rail gelassen. »Sie ist unbequem, was nicht ganz dasselbe ist.« Er hatte endlich die Bowlingkugel abgelegt. Die rollte nun hin und her, schlug mal gegen die Tür, mal gegen die Mittelkonsole, mal an die Sitzschalen. Seinem Fahrstil schien es nichts auszumachen. Kaum hörbar zischte ein dritter Energiestrahl über ihnen hinweg. »Frage mich, ob die auch einen Wagen haben.« Seeth war endlich wieder ins Innere des Wagens zurückgekehrt. Sein Irokesenschnitt wirkte zerzaust, und er sah ganz verzückt aus. »Mit Sicherheit, denke ich.« Rail fuhr um eine weitere Ecke. Er schien zu wissen, wohin er wollte. »Die sind 62
höchstwahrscheinlich nicht so schlecht vorbereitet wie ich, und sie haben mehr Mittel zur Verfügung. Einmal mehr entbiete ich euch meinen Dank dafür, daß ihr mich vor einem Schicksal bewahrt habt, das schlimmer ist als der Tod.« »Ach was!« Seeth blickte gelassen drein. »Wozu sind flüchtige Bekannte schließlich da?« Er drehte das Radio lauter, und die Musik donnerte durch den Wagen. »Schon viel besser. Was meinst du?« »Ein Ohrwurm. Vielleicht spielen sie noch etwas von X oder von den Dead Kennedys oder Siouxsie and the Banshees oder von Crumple.« Seeths Augenbrauen fuhren ein Stück in die Höhe. »Verdammt will ich sein. Ein Klassikfreund!« Er streckte vor Kerwin die geöffnete Handfläche aus. »Leg sie drauf, Compadre!« Rail starrte die Handfläche an. »Was soll wo drauf?« »Vergiß es! Fahr du nur, ich gebe uns Rückendec kung.« Er lehnte sich wieder aus dem offenen Fenster, schleuderte schrille Geräusche in die Nacht von New Mexico hinaus. Kerwin mühte sich, an ihm vorbeizusehen, versuchte, in den rechten Außenspiegel zu blicken. »Folgen sie uns?« »Kann man nicht sagen.« Um diese späte Uhrzeit waren die Straßen fast leer. Die Bullen tauschten wahrscheinlich gerade Schicht, die späte gegen die Friedhofsschicht. Mit etwas Glück würden die meisten von ihnen noch immer in den Doughnutläden unten auf der Central einander Geschichten erzählen, was auch gut so war, wenn man bedachte, daß Rail die Ge schwindigkeitsbegrenzungen um mehr als das Doppelte überschritt. Die Polizisten, die bereits Dienst hatten, wa 63
ren vermutlich damit beschäftigt, in der Nähe des Cam pus minderjährige Trinker hopsgehen zu lassen. Da muß ten zwei mit überhöhter Geschwindigkeit dahinjagende Fahrzeuge, von denen die einen Insassen mit einer Waffe unbekannten Potentials auf die des anderen feuerten, der polizeilichen Aufmerksamkeit gänzlich entgehen. »Eulenkot, da kommen sie!« Seeth duckte sich wieder ins Innere, als ein weiterer Flammenstoß den schlingern den Kombi knapp verfehlte. Mit aufgerissenen Augen sah Kerwin, wie die obere Hälfte der Antenne schmolz und wie Quecksilber zerlief. Der Radioempfang litt darunter. Seeth hopste auf und ab und hämmerte wie wild auf die Knöpfe des Empfängers. »Verdammt, das war Blowfish! Hab diesen Song schon seit Jahren nicht mehr gehört.« Er beugte sich wieder hinaus und brüllte die Straße an. »Kommt schon, ihr Bastarde, ich wickle euch um einen Telefonmast! Verdammt sollt ihr sein, üble Geißeln des Universums!« Rail hatte das Lenkrad fest umklammert und murmelte etwas, das ungefähr klang wie »Woher weiß er das?«, doch als Kerwin ihm gerade deswegen eine Frage stellen wollte, riß er den Wagen hart auf eine Seite herum, so daß er sich fast überschlug. Tatsächlich hoben sich die beiden rechten Räder ein Stück von der Straße, bevor sie wieder auf den Boden donnerten. Die Felgen hielten es immerhin aus. »He, langsam! Wenn du uns umstürzt, dann brauchen deine Oomemianer uns nicht erst zu erschießen.« Rail gewährte ihm einen kurzen Blick. »Ich kann dir versichern, daß ich mir der Beziehung zwischen Erdan ziehungskraft, Masse und Geschwindigkeit voll bewußt bin. Ich werde uns absolut aufrecht halten.« »Das reicht schon wieder für zwanzig Fragen. Warum 64
jagen die dich, und warum schießen sie auf uns? Warum sind…?« Diesmal kam die Unterbrechung nicht von ihren Ver folgern, sondern aus dem hinteren Teil des Kombis. Kerwin und Seeth blickten fassungslos zurück. Rail schien keinerlei Mühe damit zu haben, die Augen auf die Straße gerichtet zu halten. Der Bursche, der sich hinten aufsetzte, war groß, wenn gleich nicht ganz so groß wie die sie verfolgenden Oo memianer. Er versuchte sich aus einem Durcheinander verworrener Decken zu befreien. Das Mädchen, das sich neben ihm aufrichtete, war außerordentlich hübsch. Nein, nicht außerordentlich hübsch, berichtigte Kerwin sich selbst. Phantastisch. Unglaublich. Überwältigend geil. Und noch ein paar ebenso anschauliche, wenngleich we niger förmliche Adjektive fielen ihm ein. Und er ge brauchte sie. »Na, hallooooo!« Seeth lehnte sich über den Rücken des Kapitänssessels und lechzte. »Was ist hier los? Wer seid ihr?« Der Bursche wirkte ein bißchen benommen, so als käme er gerade aus dem Tiefschlaf. Oder aus etwas anderem. Bis auf die zerknüll ten Decken waren er und seine Begleiterin splitternackt. »Ich habe es dir doch gesagt«, sagte sie und klang ge langweilt. »Ich habe dir gesagt, daß ich gehört habe, wie der Kombi startet. Hast du nicht gespürt, wie er sich be wegte?« »Äh, nein, nicht unter diesen Umständen.« »Mann, was würde ich nicht dafür geben, unter diesen Umständen zu sein!« Seeth mußte sich Mühe geben, um nicht zu keuchen. Das Mädchen mißachtete ihn, reagierte völlig desinteressiert auf sein Starren, seine Kommentare und ihre eigene Nacktheit. 65
»Wichser«, murmelte sie schließlich. »Kann nicht«, teilte Seeth ihr mit. »Meine Hände sind beschäftigt. Aber gib mir eine Minute Zeit, dann werde ich’s versuchen.« Der große Bursche musterte ihn böse. »Verpiß dich, Spanner!« »Spanner?« Seeth nahm einen Ausdruck geheuchelter Konzentration an. »Tut mir leid, der Name ist Ransom. Seeth Ransom. Kenne keinen Spanner. He, geile Frisur! Ich glaube, ich habe noch nie jemanden gesehen, dem man die Haare mit einer Kreissäge geschnitten hat.« Der Bursche wollte sich erst auf Seeth stürzen, doch dann fiel ihm plötzlich ein, daß er unter den Decken nichts anhatte. Er suchte im dunklen Hinterteil des Kom bi herum. »Wo zum Teufel sind meine Klamotten? Mi randa, hast du meine Unterwäsche gesehen?« »Ich habe unter deine Wäsche gesehen, süßer Matz«, flötete Seeth, »und ehrlich gesagt bin ich nicht beein druckt.« Der Bursche schleuderte nadelspitze Blicke auf ihn. »Sobald ich ein paar Klamotten gefunden habe, komme ich nach vorn und bringe dich um, du kleiner Wichser. Du glaubst wohl, du könntest meinen Kombi klauen, während ich noch drin bin, und damit ungestraft davon kommen? Zu Brei haue ich dich!« »Wir stehlen nicht deinen Kombi.« Kerwin versuchte ihn zu beruhigen. »Wir leihen ihn uns nur für ein paar Minuten aus. Weißt du, da sind nämlich ein paar Leute hinter uns her – zumindest glaube ich, daß es Leute sind –, und die versuchen, unseren Freund hier umzubringen.« »Hinter uns her? Umbringen? Was murmelst du da?« Ein weiterer Energieschub krachte vorbei, und der Besit zer des Kombi blickte verwirrt zum Dach hinauf. »Was 66
zum Teufel war das?« Er drehte sich um, und Kerwin hörte, wie er überall anstieß, während er auf den Knien in den hinteren Teil des Fahrzeugs stakte. Er starrte aus dem Hinterfenster hinaus, und Kerwin sah, daß er nicht viel älter war als er selbst. Kreischend fuhr Rail in eine Sei tenstraße. »Hilfe!« Der Bursche wandte sich an sein Mädchen. »Da schießt jemand auf uns!« Mit viel Pomp tat Seeth so, als würde er auf eine nicht existente Uhr blicken. »Zweiundzwanzig Sekunden bis die Ohrnachricht vom Trommelfell bis zur Hirnrinde gelangt ist. Und weitere zehn für eine erste Interpretation. Nicht schlecht für einen Orang Utan.« Das Mädchen lehnte sich gegen eine Wagenwand, ge lassen und gefaßt. »So, sie schießen also auf uns. Und was können wir dagegen tun?« »Nicht sehr viel«, sagte Seeth zu ihr. »Nicht ohne Un terwäsche. Wenn du mir nun ungefähr sagen könntest, wo deine liegen könnte, wäre es mir eine Freude…« »Danke, die finde ich schon selbst.« »Hat dir schon mal jemand gesagt, daß du der schönste Organismus bist, der je über die Erde gelatscht ist?« »Jede Menge Typen.« Sie durchwühlte die Decken nach Unaussprechlichkeiten. Sie hatte mehr Glück als ihr Freund. Schon bald darauf versuchte sie ihr Haar zu ordnen. »Willste dir meinen Kamm ausleihen?« Seeth wühlte in einer Tasche und holte ein zehn Zentimeter langes Pla stikstück hervor. Zwischen den riesigen Lücken waren noch ein paar verlassene Zinken zu erkennen. Sie muster te ihn angewidert. »Danke. Lassen wir das Öl doch besser im Motor, in Ordnung?« 67
»Na klar doch, jederzeit«, erwiderte er und überhörte den Sarkasmus fröhlich. Er steckte den Kamm wieder ein. »Du heißt also Miranda, wie? Willst du wissen, war um mich alle Seeth nennen?« »Nicht besonders.« »Freut mich, daß du gefragt hast. Weil ich die ganze Zeit sauer bin. Am Kochen. Kapiert?« »Habe ich eine andere Wahl?« »Seeth Manitoba Ransom, aber das hört sich viel zu sehr wie eine Hafenstadt in Massachusetts an, deshalb nennen mich alle einfach nur Seeth.« »Ich bin Kerwin. Unser Freund hier ist Arthwit Rail.« »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Madam.« Rail wandte den Blick nicht von der Straße ab, wofür ihm Kerwin dauerhaft dankbar war. »He, ich bin keine Madam, weißt du? Einfach nur Mi randa.« Seeth blickte feierlich zum Wagendach empor. »Ein Name, den man einer der Hauptgestirnskonstellationen verleihen müßte, auf daß das ganze Firmament von sei nem Klang entzückt sei.« Sie blickte ihn einen Moment an, bevor sie Kerwin an sah. »Ist der wirklich so?« »Ich fürchte ja.« »Ich bring ihn um!« Das kam aus dem hinteren Teil des Kombi. »Das ist Brock.« Sie zeigte beiläufig mit einem Dau men in seine Richtung. »Brock?« Seeth wandte sich an Kerwin. »Und du dach test, Arthwit sei ein komischer Name.« Er wandte sich ihr wieder zu. »Niemand heißt wirklich Brock. Oder, Brock? Hast du endlich deinen Fruit Of The Loom gefunden, Früchtchen?« 68
Hinten im Wagen ertönte ein unartikulierter Schrei, als Mirandas Freund vorstürzte – um in der Dunkelheit über etwas zu stolpern und seinen Kopf ziemlich gründlich an der Barspüle anzuschlagen, die auf der linken Seite in die Theke eingelassen war. Das Mädchen schüttelte nur den Kopf. »Was habe ich nur getan, um bei diesen Clowns zu en den? Weißt du, ich glaube, ich habe einfach nur Pech.« »Keine Sorge, Süße«, versicherte Seeth ihr. »Jetzt bin ich ja da, um dich zu beschützen.« »Prima. Dann beschütz mich doch bitte auch vor dir, ja?« Rail murrte vor sich hin, blinzelte in die Dunkelheit hinaus. »Hier oben entlang; nein, nein, es muß dort drü ben sein.« Er riß hart am Steuer, ließ den Kombi hüpfen und über einen steilen Feldweg knattern, der ins Vorge birge des Sangre de Christo führte. Hinter ihnen verblaß ten die beiden Scheinwerfer, die sie unentwegt verfolgt hatten. »He, ich glaube, du hast sie möglicherweise abge hängt!« rief Kerwin. »Nur vorübergehend, wenn überhaupt. Das sind uner bittliche Spürhunde. Die werden uns schon bald genug wiederfinden.« »Nicht bald genug für mich. Hör mal, würdest du uns bitte sagen, was hier eigentlich los ist? Es ist schon schlimm genug, daß du mein Forschungsprojekt ruiniert hast…« »Ah, ein Gelehrter!« Rail wirkte erfreut. »Interessant.« »Der – ein Gelehrter?« Seeth lachte unangenehm. »Das ist wohl ein Witz. Das ist ein Berufsstudent. Der tut doch nichts anderes, als jedes Seminar zu belegen, in das man ihn reinläßt, in der Hoffnung, daß es ihm irgend etwas 69
nützen wird, wenn er seinen Abschluß macht.« »Ich bin ein Renaissancemensch«, sagte Kerwin würdevoll. »Na klar«, höhnte Seeth. »Aber Borgia, nicht Medi ci.« »Wenigstens kann ich behaupten, ein Mensch zu sein.« Leicht verwirrt blickte Rail von einem jungen Mann zum anderen. »Ich würde sagen, daß ihr beide als Menschen einzustufen seid.« »Der nicht.« Kerwin zeigte mit einem Nicken auf den kleineren Passagier. »Der gehört zu einer Unter spezies. Zu den Mißgeburten.« »Das ist aber komisch aus dem Mund eines Zombies, der anstelle eines Moralgewissens nur Knetmasse hat.« Der Kombi schlitterte heftig, als Rail eine weitere Kurve nahm. »He, mach mal halblang da vorn, ver dammt!« blökte Brock. »Hast du überhaupt eine Ah nung, wieviel die Scheinwerfer von dieser Kiste ko sten? Weißt du, wie schwierig es ist, eine gute Fiber glaskarosserie aufzutreiben?« »Nicht wirklich«, meinte Seeth im Plauderton, »aber ich würde sagen, daß sie das bei deinem Kopf ziemlich gut hingekriegt haben.« »Du kleiner Drecksack! Sobald ich meine Hosen anhabe, prügel ich dir die Scheiße aus dem Leib!« »Ach, Bret, sei doch nicht so vulgär!« ermahnte Miranda ihn müde. »Vulgär? Was zum Teufel meinst du damit, vulgär? Und außerdem heiße ich Brock.« Aus hypnotisch großen blauen Augen blickte sie zu Kerwin empor. »Hast du meine Bluse gesehen?« Kerwin schluckte und starrte. »Äh, nein, aber wenn 70
ich es tue, sollst du es als erste erfahren.« »Nimm den Ellbogen gefälligst aus meinem Gesicht, Mann!« fauchte Seeth ihn an. »Entschuldigung.« Er lehnte sich zurück und sah zu Rail hinüber. »Weißt du überhaupt, wohin du fährst? Manche von diesen Straßen, die nach oben in den Na tionalwald führen, enden nämlich plötzlich an Klippenrändern.« Rail klang entspannter als jemals zuvor, seit sie seine Bekanntschaft gemacht hatten. »Ihr braucht euch keine unnötigen Sorgen zu machen. Wir sind jetzt auf der rich tigen Strecke.« Kerwin blickte hinaus in die Nacht. Im Licht der Scheinwerfer war nichts als Feldweg und Bäume zu er kennen. »Die richtige Strecke wohin?« »Auf dem Weg, die Bullen loszuwerden, Schleim scheißer«, blatzte Seeth. »Laß ihn in Frieden. Er weiß schon, was er tut. Nicht wahr, Rail?« »Vollkommen mit Sicherheit.« Gleich wache ich bestimmt auf, sagte sich Kerwin stumm. Ich werde jeden Augenblick aufwachen. Ich bin doch kein Statist in einem Spielberg- oder Lucas-Film und werde jetzt jede Sekunde aufwachen. »Man hat noch nie in meinem Leben auf mich geschos sen.« »Lügner«, sagte Seeth. »Würdest du bitte DAS MAUL HALTEN.« Kerwin wandte sich wieder an Rail. »Das hier gefällt mir nicht eben, weißt du?« »Ich verstehe das und entschuldige mich dafür, euch unwillentlich in meine Probleme hineingezogen zu ha ben. Was kann ich tun, damit ihr das versteht?« Seit sie ihre Verfolger abgeschüttelt hatten, war sein Blick erheb 71
lich weniger verrückt geworden. »Du könntest damit anfangen, indem du uns erklärst, wieso du sieben Finger an einer Hand hast.« Rail blickte auf die fragliche Hand. »Sieben? Ich dach te, es seien sechs.« »Tut mir leid. Ich habe eindeutig sieben gezählt.« »Aber ich habe doch gar keine sieben Finger.« Er hielt die rechte Hand hoch, und Kerwin mußte zu seiner maß losen Verblüffung fünf vollkommen normal aussehende Finger erkennen. Von dem zusätzlichen Paar war kein Anzeichen zu sehen. »Also das ist wirklich ein hübscher Trick«, meinte Seeth leise. »O je, jetzt habt ihr mich verwirrt. Ich schätze, ich schulde euch eine ausführliche Erklärung. Wenn man bedenkt, wie sich die Dinge entwickelt haben und wie viele Regeln ich ohnehin schon übertreten habe, wird es wahrscheinlich nicht weiter schlimm sein, eine mehr zu brechen.« »Ja, komm schon, Bowlingsatan, immer frisch von der Leber weg!« bat Seeth. »Genau das habe ich ja vor.« Rail legte seine Hand über etwas, das wie eine gewöhn liche Armbanduhr aussah, und ließ die Finger an ihren beiden Seiten entlangstreichen. Die Uhr veränderte sich nicht. Rail dagegen sehr wohl. Seine Epidermis schien ins Fließen zu geraten, wie eine Kupferplatte in einem Säurebad vor dem Ätzen. Seine Haut löste sich in Nichts auf, und doch blieben seine Kleider intakt. Derart enthüllt, blickte Arthwit Rail aus drei kleinen Augen zu ihnen hinüber, die in einem elliptoiden grünen Schädel steckten. Die rosafarbenen Pupillen waren so winzig, daß sie wie Flecken aussahen, die in klaren Was 72
serpfützen trieben. Der Schädel war schmaler als der eines Menschen und ruhte auf einem langen drahtigen Hals, von dunkelolivegrünem Flaum vollständig bedeckt, der so rasiert worden war, daß er raffinierte Wirbel und Schnörkel aufwies, wie sie den Tätowierungen der Mao ris glichen. Sein Gesicht sah aus wie ein Minigolfplatz voller Wasserfallen. Das Lenkrad wurde von zwei langen Tentakeln fest gehalten, die sich in zwei Doppelpaare kleinerer Tentakel gabelten, die sich wiederum ein drittes Mal teilten. Als Kerwin mit hervortretenden Augen diese Gliedmaßen anstarrte, schrumpften die kleinsten Tentakel zusammen und verschwanden – nur um in regelmäßigen Abständen aufs neue zu erscheinen, wie Seeanemonen bei einer Bridgepartie. Das einzige, was sich nicht verändert hatte, war Rails Stimme. »Wißt ihr, die Verwirrung rührt daher, daß ich so viele Glieder haben kann, wie ich will. Sie auszufahren und wieder zurückzunehmen, ist eine nervöse Reaktion unter den Prufilliern, ganz ähnlich wie eure irdischen Katzen je nach Stimmung die Krallen ausfahren und zurückziehen. Wenn ich besonders beunruhigt bin, wird es auch beson ders schwierig für mich, meine Gefühlsmuster zu beherr schen, daher die zusätzlichen Finger, die du im Freizeit zentrum bemerkt hast. Manchmal kann nicht einmal das Tarnfeld alles überdecken. Du bist ein sehr scharfsinniger Beobachter.« »Gute Studiengewohnheiten«, meinte Seeth. »Na und?« Miranda schob gerade den rechten Arm in den Ärmel ihrer Bluse. »Ist er eben ein Alien.« Kerwin wählte seine nächsten Worte mit sehr viel Sorgfalt aus. »Findest du es nicht ein bißchen ungewöhn 73
lich, vor zwei mörderischen, möglicherweise nicht menschlichen Polizisten in einem ausgeliehenen Kombi zu fliehen, der gerade von jemandem in die Berge hi naufgefahren wird, der nicht von dieser Welt ist?« »Hör mal, Keith, ich meine, ich bin schon ziemlich weit rumgekommen, weißt du?« »Kerwin«, berichtigte er sie zerstreut. Es war offen sichtlich, daß Miranda kein besonders gutes Namensge dächtnis hatte. »Ja, schön, wie auch immer. Ich meine, wenn du glaubst, der wäre komisch, dann solltest du dir mal ein paar von den Pennern anschauen, mit denen ich schon zusammen war. Ich meine, manchmal glaube ich, daß die Hälfte der Typen an der Hochschule ihr Diplom in postdoktoralem Schwachsinn absolvieren.« Sie blickte in den hinteren Teil des Busses. »Anwesende natürlich aus geschlossen, Brick.« »Brock, das heißt Brock, verdammt! Wo ist mein Gür tel?« »Das ist schon besser«, sagte Seeth. »In Gürtel paß ich rein.« »Das ist gut. Das ist echt gut. Denn sobald ich meinen gefunden habe, werde ich… aua!« Der Kombi holperte durch ein weiteres Erdloch. Der Waldweg war nicht gerade wie die Interstate, und der unglückselige Besitzer des Fahrzeugs wurde gegen die Seitenwand geschleudert. Kerwin starrte Miranda immer noch verwundert an. »Erstaunlich. Einfach erstaunlich. Keine Überraschung, kein Schock, keine Furcht.« »Warum auch? He, Mann, ich gehe schließlich auch ins Kino. Dann ist er also ein Alien, und? Na schön, niemand von uns ist vollkommen. Was hast du – Vorurteile oder 74
so was?« Sie musterte nachdenklich ihren Fahrer. »Schön, vielleicht ist er kein besonders gutaussehender Alien…« »Woher willst du das wissen?« Rail klang ein wenig pikiert. »Ja, stimmt schon. He, ist nicht persönlich gemeint, verstehst du? War eine ziemlich komische Nacht für mich.« Seeth inspizierte gerade Rails richtiges Aussehen. »Ge naugenommen finde ich diesen Haarschnitt affengeil, Mann. Wer mäht dir denn deine Stoppeln?« »Ich trimme mich selbst, danke. Wenn ich Zeit dazu habe und nicht unter dem Streß eines Tarnfelds operieren muß.« »Ist das der kleine Wicht, der dich menschlich aussehen läßt?« Seeth deutete mit einem Nicken auf die Un-Uhr. »Ein teures Gerät, aber für jemanden in meiner Lage seinen Preis durchaus wert. Vor allem dann, wenn man vor den Behörden flieht.« Er griff hinunter und streichelte einmal mehr die Uhr. »Ihr werdet sehen, in ein paar Au genblicken habe ich wieder mein menschliches Ausse hen.« Die Augenblicke vergingen, das Licht schien zu wa bern, und siehe da – auf dem Fahrersitz saß ein leuchtend blaues Stachelschwein. »War wohl nichts«, meinte Kerwin verlegen. »Viel leicht solltest du es noch einmal versuchen.« »Wie?« Das Stachelschwein legte die Stirn in Falten und berührte die Uhr mit seinen Stacheln. Das Stachel schwein verschwand, um durch etwas ersetzt zu werden, das aussah wie eine Kreuzung zwischen einer Vampirfle dermaus und einem Schwertfisch. »Mist. Ich glaube, der Modulator klemmt.« 75
Kerwin versuchte, mitfühlend zu sein. »Die Computer an der Hochschule brechen auch immer zusammen.« »Das ist ja wild!« Seeth verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lehnte sich zurück. »Zieh noch so eine Nummer ab. Wenn diese Sache hier vorbei ist, werde ich versuchen, dich bei der Dick Clark Show unterzubringen. Der liebt Nummern, die er nicht verstehen kann.« »Wovon redet der?« Rail sah verwirrt aus. »Ich dachte immer, ich würde eure Sprache ganz gut verstehen. Ich habe nämlich einen Schnellkurs gemacht, bevor ich hier runterging, müßt ihr wissen.« »Kümmere dich nicht um ihn. Zunächst einmal befin det sich unsere Sprache in einem ständigen Fluß. Zum zweiten tut sein Gehirn das auch. Er weiß selbst meistens nicht so genau, was er meint. Vergiß nicht, daß ich dir gesagt habe, daß er zu einer Subspezies gehört. Die un terhalten sich normalerweise mit Einzelsilben. Alles, was etwas komplizierter ist, bringt sie leicht durcheinander.« Seeth zeigte mit dem Finger auf ihn. »Mann, dafür be kommst du nachher keine Erdnüsse, wenn der Zoo zu macht.« »Jetzt reicht es mir aber!« Nachdem er sich hinreichend angekleidet hatte, ragte Brock in dem Licht, das durch die hinteren Scheiben hereinströmte, hoch auf. »Ich will, daß alle aussteigen. Habt ihr mich gehört? Raus! Alle raus aus meinem Kombi, außer Miranda. Und zwar sofort, sonst kriegt ihr einen Tritt in den Arsch!« Er setzte sich nach vorn in Bewegung. Der hohe Kapitänssitz hatte Rail vor seinen Augen ver borgen. Nun drehte sich der Fahrer um, um ihn anzu schauen. Es war ihm gelungen, den Tarngenerator so weit zu entklemmen, daß er wieder aussah, wie er selbst: drei äugig und grün. 76
Brock bekam ihn zu sehen, und seine Augen wurden richtig groß. Er begann, seltsame blubbernde Geräusche von sich zu geben. Miranda schüttelte den Kopf und seufzte. »Setz dich, Brian. Das ist nur ein Alien.« Brock wich mehrere Schritte zurück und murmelte: »Du meinst, ein richtiger Alien? So einer von dort oben?« Mit einem Finger zeigte er gen Himmel. »Es ist schon in Ordnung, Mr. Blöke«, sagte Rail. »Ich werde Ihnen nichts tun.« Mit seinen linken Tentakeln das Lenkrad haltend, griff er mit den rechten nach hinten, um den Besitzer des Kombis mit einem freundlichen Strei cheln zu beruhigen. Da er keine Gelenke hatte, brauchte er den Körper nicht von der vor ihm liegenden Straße abzuwenden. Für Mirandas Freund sah es so aus, als würde ein Dutzend zuckender grüner Schlangen nach seiner Brust greifen. Schreiend wich er zurück und prallte gegen die Hinter türen. Der Stoß ließ das Schloß aufschnappen, und er stürzte auf den Feldweg hinab. Wegen der vielen Boden löcher und -wellen fuhren sie kaum mehr als dreißig Stundenkilometer. Er schrie noch immer, als Miranda erneut seufzte und nach hinten kroch, um die Türen wie der zu verriegeln. »Mann, was für ein Triefel. Ich meine, gut gebaut war er ja, ein richtiger Fleischberg, aber ich schätze, Muskeln sind wohl doch nicht alles, nicht wahr?« »Muskeln sind wirklich nicht alles«, versicherte ihr Seeth. »Ja. Es gibt nämlich immer auch noch Hirn.« Mit ei nem Daumen zeigte Kerwin in die Richtung des kleine ren Mannes. »So wie es ja auch immer Kloaken gibt.« »Und wo wäre die Welt von heute wohl ohne Kloaken? 77
Bis zu den Ohrläppchen in unverdauten Abfällen, Mann.« Seine Miene erhellte sich. »He, das ist gar kein schlechter Name für eine Gruppe: Unverdaute Abfälle. Ich sollte mal ein paar von den Jungs zusammentrommeln. Wir haben schon darüber nachgedacht, eine Gruppe aufzuma chen. Vielleicht könnten wir…« Miranda unterbrach ihn. Es war allerdings nicht direkt so, daß sie ihn unterbrach, es war eher so, als würden in ihrer unmittelbaren Nähe keine anderen Vokalisationen von Wichtigkeit den Äther stören, als wäre um sie herum irgendeine Art mysteriöser Strahlungswolke, die automa tisch alle Formen der Kommunikation ausschloß, die nicht ihre eigenen waren. »Könnt ihr Burschen mich zurück zur Dreiundachtzig sten, Ecke Thunderbird bringen? Ich meine, meine Eltern klinken aus, wenn ich nicht bald nach Hause komme. Die denken, ich wäre Rollschuhlaufen gegangen. Könnt ihr euch das vorstellen? Ich meine – Rollschuhlaufen! Jetzt, wo Björn den Abtritt gemacht hat, bringt er es fertig, irgend etwas wirklich Dämliches zu machen, zum Bei spiel sie anzurufen. Könntet ihr also umkehren, zum Bei spiel gleich jetzt sofort, in Ordnung?« Seeth blickte gerade in einen Außenspiegel. »Gib lieber Gas, Rail. Ich glaube, ich kann ihre Scheinwerfer wieder erkennen. Ziemlich weit hinten.« »Das könnte auch jemand anders sein«, meinte Kerwin hoffnungsvoll. »Nicht auf dieser Autobahn, Mann. Hier gibt es nur Hasen und Stinktiere.« »Ich habe euch ja gesagt, daß die Oomemianer beharr lich sind.« Rail beschleunigte so sehr, wie er es wagte. Die Federung begann zu meutern. »Bei der letzten großen Kurve haben sie dich aus den 78
Augen verloren. Wie haben sie dich dann wieder aufge stöbert?« »Ich fürchte, sie haben mein Sumash angepeilt.« »Ach so, natürlich. Warum bin ich nicht von selbst darauf ge kommen? Dein UKW- oder dein MW-Sumash?« Miranda lehnte sich wieder gegen eine getäfelte Wand und verschränkte schmollend die Arme. Es gelang ihr, trotz ihres zerzausten Haars und ihrer ebenso zerzausten Kleidung wunderbar auszusehen, sie war eine jener ein zigartigen jungen Frauen, die die ganze Baja 500 entlang fahren und am Ende mit völlig unversehrtem Make-up hervorkommen konnten. Sie lebte in einer anderen Di mension als er, wußte Kerwin, weshalb er ihr auch noch nie auf dem Campus begegnet war. Die Umstände hatten sie in große Nähe zueinander gebracht. »Hör zu, sobald wir dort sind, wo Rail hin will, und so bald wir all die Leute abgehängt haben, die ihn jagen, bringen wir dich nach Hause. Ich verspreche es dir.« »Na prima. Nach dieser Sache hier werde ich wochen langen Hausarrest kriegen.« Ein großes Stück hinter ihnen auf dem Feldweg ver suchte Brock gerade, sein Hemd zuzuknöpfen. Ein Wa gen kam auf ihn zu, und er sprang hinaus ins Licht, wie wild mit dem Armen wedelnd. »He, stehenbleiben, anhalten!« Der Wagen verlangsamte sein Tempo. Dankbar rannte er auf ihn zu. Man wußte nie, wann auf dieser einsamen Waldstraße noch mal jemand vorbeikommen würde, und zurück in die Stadt war es ein langer Fußmarsch. »Hört mal«, sagte er aufgeregt, als er sich dem geöffne ten Fenster an der Fahrerseite näherte, »diese Burschen da vorne, die haben meinen Kombi gestohlen, und sie haben etwas als Fahrer, das sieht aus wie…« Mitten im 79
Satz brach er ab, als eine Kreatur mit dem Gesicht einer krebskranken Kröte zu ihm emporblickte. Abseits der Menschen brauchten die Oomemianer kei ne Energie zu vergeuden, die zur Aufrechterhaltung ihrer eigenen Tarnfelder erforderlich war, mit dem Ergebnis, daß Mirandas ungeheuer unglückseliger Rendezvous partner der erste Mensch auf dem Planeten Erde wurde, der einen Oomemianer so zu Gesicht bekam, wie er wirk lich aussah. Sie waren nicht nur stur, sie waren auch au ßergewöhnlich häßlich. Vielleicht nicht gerade häßlich genug, um einen galaktischen Häßlichkeitswettbewerb zu gewinnen, aber immer noch schauderhaft genug, um mindestens ins Halbfinale zu kommen. Während Brock davontorkelte und interessante gur gelnde Geräusche von sich gab, berieten sich die beiden Aliens und jagten dann mit quietschenden Reifen die Straße weiter, wobei hinter ihrer Limousine neuester Bauart Dreck emporspritzte. Nachdem er nun schon zweimal auf den Feldweg gestürzt war, machte Brock kehrt und jagte wie wahnsinnig auf das nächstbeste Waldstück los. An diesem Punkt wäre er außerordentlich dankbar für den Anblick von etwas so Normalem wie einem Bären gewesen.
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IV
WENN RAIL ERST EINMAL in Gang gekommen war, war es schwierig, ihn wieder abzuschalten. Während er sprach, wogte das grüne Gestrüpp, das seinen Kopf be deckte, wie ein unreifes Weizenfeld im Wind. Kerwin vermutete, daß jedes Wogen ein ganzes Gefühlsspektrum für sich ausdrückte, wenngleich es für ihn lediglich aus sah wie wogendes Gras. »Ein Teil des Problems besteht darin, daß die Prufillier eine sehr sanfte Rasse sind. Wir mögen es nicht, wenn jemand anders versucht, sich als Herr des Universums aufzuspielen. Außerdem haben die Oomemianer keinerlei Sinn für Humor. Wenn ein Prufillier irgend etwas nicht ausstehen kann, dann ist es eine Rasse ohne Sinn für Humor.« Er lächelte. Seine Zähne waren dünn und kurz. »Das ist übrigens ein Grund, weshalb mir mein Aufent halt auf eurer Welt so sehr gefällt. Eure Rasse hat einen wunderbaren Sinn für Humor – wenn ihr nicht gerade euren menschenmörderischen Verlangen nachgebt.« Er blickte in den Rückspiegel. »Die halten sich ja für so schlau. Um mindestens die Hälfte schlauer als alle ande ren, besonders als ein bescheidener Prufillier. Noch ha ben sie mich nicht. Wir werden ihnen schon ein bis drei Lektionen erteilen.« Seeth sah Miranda noch immer schmachtend an. »Soll ich dir auch ein bis drei Lektiönchen erteilen, Sahne kuß?« Sie bearbeitete gerade ihr Haar. »Nein danke. Ein lang weiliger Typ pro Nacht genügt. Warum haust du nicht 81
nicht einfach ab? Geh schon, steig aus.« »Und wohin möchtest du, daß ich gehe, Honiglippe?« Sie schnitt eine Grimasse. »Führe mich nicht in Versu chung.« »Warum sind sie hinter dir her?« fragte Kerwin ihren Fahrer, als der Kombi auf einen schmalen Pfad abbog, der durch die Bäume führte. Unter dem Bus machte plötzlich irgend etwas peng! Mirandas Ex-Freund würde seine Maschine wohl kaum im Originalzustand zurück bekommen. »Och, wegen diesem und jenem.« Kerwin konnte nicht genau entscheiden, ob Rail be wußt ausweichend antwortete, ob er sich nur auf den Weg konzentrierte oder ob er tatsächlich die Wahrheit sagte. »Ich bin das, was man einen freischaffenden Espialer nennen könnte.« »Einen was?« Er wandte sich zu Seeth zurück, der noch immer über den Kapitänssitz hinweg Miranda anstarrte. »Weißt du, was ein Espialer ist?« »Hört sich an wie eine Abkürzung, Mann. He, du bist doch der Collegejunge. Ist das nicht einfach eines deiner Hauswörter? Manche Leute haben Hunde und Katzen, du hast Wörter.« »Dieses ist keins davon.« »Ein Wort, das ihr in eurer Sprache nicht kennt.« Rail schüttelte den Kopf, und Kerwin ging davon aus, daß diese Geste auf Prufillia dasselbe bedeutete wie auf der Erde – es sei denn, man stammte vom Balkan. »Das ist auch etwas, was ich an euch Menschen so liebe. Eure Sprachvielfalt. Natürlich hat euch das fürchterlich durch einandergebracht, aber ich bin sicher, daß ihr die Sache bald gemeistert habt. Wer hätte gedacht, daß eine einzige 82
Rasse so viele Wörter erschaffen kann, die so wenig be deuten? Hochkomplizierte Sätze konstruieren, die sich selbst widerlegen und doch scheinbar etwas bedeuten? Wenn ihr euch der Galaktischen Gemeinschaft an schließt, werdet ihr wunderbare Diplomaten abgeben.« »Galaktische Gemeinschaft?« Kerwin schluckte. »Du meinst, außer dir und den Oomemianern gibt es auch noch andere da draußen?« »Gewiß doch. Intelligentes Leben gibt es wie Sand am Meer. Es gibt Hunderte von bewußtseinsfähigen Rassen, vielleicht Tausende. Ich weiß nicht mehr, wie viele es bei der letzten Zählung waren, aber es gibt jedenfalls eine ganze Verwaltungsbehörde, deren ein zige Aufgabe darin besteht, auf dem laufenden zu blei ben. Gelegentlich wird eine intelligente Rasse vom Amt für Entwicklung und Integration übergangen oder übersehen. Dann löscht sie sich meistens selbst aus. Eine entsetzliche Vergeudung. Man kriegt nur schwer Anerkennung, wenn man sich selbst auslöscht. Büro kraten!« Wieder schüttelte er den Kopf. »Man sollte eigentlich glauben, daß entwickeltere Computer dazu in der Lage wären, alles genau zu verfolgen, aber manchmal machen sie es für uns arme Organiker nur schlimmer. Allerdings – wenn man ver sucht, eine ganze Galaxis im Auge zu behalten, da hat man kaum eine andere Wahl, als sie einzusetzen. Gibt man Maschinen künstliche Intelligenz, dann wollen sie doch als nächstes gleich dasselbe Badezimmer benut zen wie man selbst. Wenn es nach mir ginge… aber mich fragt ja keiner. Niemand will auf einen kleinen Espialer hören.« »Damit wissen wir immer noch nicht, warum die Oomemianer hinter dir her sind.« 83
Rail lächelte verlegen. »Das beruht natürlich alles auf einem Mißverständnis.« »Ach so. Gut. Dann hast du also nichts wirklich Böses ge tan.« »Nö«, höhnte Seeth. »Der ist doch so unschuldig wie ein neugeborener Wacholderstrauß. Komm schon, Mann! Wer will hier wen verarschen? Der ist so schuldig wie die Sünde. Steht ihm doch übers ganze Gesicht geschrieben. Oder viel leicht hätte ich sagen sollen, gemäht. Er ist schuldig, ich bin schuldig, wir sind alle schuldig.« »Ich nicht«, sagte Miranda mit vollkommener Selbstsi cherheit. »Ich bin keines Vergehens schuldig.« »Nein? Und wie steht es damit, viel zu schön zu sein?« »Niemand kann zu schön sein.« Sie sagte es, ohne zu ver suchen, den Inhalt seines Kompliments in Frage zu stellen. Rail blendete das Scheinwerferlicht ab. »Ich vermute, daß es vom Standpunkt der Oomemianer aus kein Mißverständ nis ist. Aber ich kann euch versichern, daß ich für den Rest der zivilisierten Galaxis so unschuldig bin wie der getriebe ne Frooflak.« »Und wie bezeichnen die dieses Mißverständnis?« dräng te Kerwin. Der grüne Bewuchs auf seinem Kopf bewegte sich gen Osten. »Nichts Großartiges. Kidnapping.« »Kidnapping?« Kerwin wich zurück. »He, ich weiß zwar nicht, wie sie dort, wo du herkommst, Verbrechen beurtei len, aber hier auf der Erde gilt Kidnapping jedenfalls nicht als bloßes ›Mißverständnis‹.« »Beruhige dich, mein Freund. So nennen die Oomemianer es, aber ich bin nicht schuldig. Ich stehe nur unter Anklage.« Kerwin atmete ein wenig erleichtert auf. »Na, dann ist ja alles in Ordnung.« »Deshalb haben sie auch die beiden Spurensucher auf 84
mich angesetzt. Denn sie wissen, daß sie keinerlei Chan ce haben, ihren Fall vor irgendeinem Gericht durchzuset zen. Es wäre viel besser für sie, die Publicity zu vermei den, die ein öffentlicher Prozeß ihnen bescheren würde. Dann müßten sie nämlich einige Dinge eingestehen, die sie lieber geheimhielten. Vor jedem anderen Gericht au ßer einem oomemianischen wären ihre Anschuldigungen nicht einen Sorbil wert.« Kerwin grübelte noch über das Gesagte nach, während er erneut in den Seitenspiegel blickte. Nur selten konnte er ein Leuchten erkennen, das möglicherweise von ver folgenden Scheinwerfern herrührte. Rail hatte keine Wit ze gemacht, als er ihnen gesagt hatte, daß die Oomemia ner beharrlich waren. »Wenn du nicht schuldig bist, dann werden wir dir so viel helfen, wie wir können. Mir gefällt die Vorstellung nicht, daß jemand sich auf einen unschuldigen Reisenden stürzt, egal woher er kommt.« »Du hast also niemanden gekidnappt?« Miranda war mit ihrem Haar fertig und zog sich nun die Schuhe an. »Natürlich nicht.« Rail lächelte breit. »Ich habe etwas befreit. Man kann es nicht wirklich als einen Jemand bezeichnen.« Kerwins Miene verdüsterte sich wieder. »Moment mal. Soll das heißen, daß du tatsächlich jemanden gekidnappt hast?« »Ich habe befreit gesagt. Zugegeben, erst ein Gericht kann den genauen Unterschied klären. Wunderbar dop peldeutig, eure Sprache.« »Wen oder was hast du denn nun befreit?« fragte ihn Seeth. »Izmir den Astarach.« »Muß doch unbedingt eine Gruppe aufstellen. Können 85
doch nicht einfach diese ganzen Wahnsinnsnamen ver geuden. Hast du diesen Izmir Soundso draußen im Wald versteckt?« »Ich nenne ihn einen Er, weil das eine sprachliche Er leichterung ist. Nein, er ist hier bei uns. Er hat uns die ganze Zeit begleitet.« Kerwins Blicke suchten den Kombi ab. »Soll das hei ßen, daß du jemanden gekidnappt hast, der unsichtbar ist?« »Kaum. Komm schon, Izmir, offenbare dich. Wir spie len nicht mehr.« Mit dem rechten Fuß stupste er die Bow lingkugel an, die dicht neben seinem Bein lag. Die rollte ein Stück vor und prallte an der Karosserie-Innenseite ab. Zum ersten Mal in dieser Nacht hatten Seeth und Kerwin einen ähnlichen Gesichtsausdruck. Kerwin musterte ihren gemeinsamen Fahrer streng. »Mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe. Diese Oomemianer haben dich ich weiß nicht wie viele Licht jahre weit verfolgt und versuchen, uns alle umzubringen, weil du eine Bowlingkugel gekidnappt hast?« »Nun werd nicht absurd.« Rail wirkte nicht besonders wütend. Vielleicht, dachte Kerwin, war er diese Frage gewöhnt. Er stupste den Ball ein zweites Mal. »Das ge nügt, Izmir. Das Spiel ist aus, zu Ende.« »Blitheract«, sagte die Bowlingkugel ganz deutlich. Kerwin starrte sie fassungslos an. Er war ganz sicher, daß nicht Rail, sondern die Kugel gesprochen hatte, es sei denn, daß er irgendeine Art interstellarer Bauchredner gewesen wäre. Zögernd griff er nach unten und berührte die glänzende, fast schillernde runde Oberfläche. »Glumelmerk!« fauchte die Kugel. Kerwin riß die Hand zurück. Die Oberfläche der Kugel bewegte sich leicht und begann zu fließen, streckte eine 86
dünne schwarze Pseudopode vor, die sein rechtes Hand gelenk umschlang. Sie war so sanft und so kräftig wie der Rüssel eines Babyelefanten. »Laß ihn in Frieden.« Rail fügte etwas in einer völlig fremden Sprache hinzu. Es hörte sich an wie statisches Knistern im Radio. Gehorsam gab die Tentakel Kerwins Handgelenk frei. Er ergriff es mit seiner anderen Hand. Der Kontakt er zeugte ein kurzes Prickeln. Während die drei Menschen zusahen, schwebte die Bowlingkugel geräuschlos empor und ging auf der Getränkehalterung nieder, die die Mo torkonsole bedeckte. Sobald sie mit ihr Kontakt geschlos sen hatte, begann sie zu explodieren, mit sich verschie benden Oberflächen, vorne an der Konsole hinunterlau fend, zur Fahrzeugdecke emporsteigend. Innerhalb dieser flexiblen Matrix waren winzige Explosionen zu erken nen, kleine Stöße intensivster Energie. Während die formbare Oberfläche weiter strömte, ver wandelte sich ihre Farbe von Schwarz in ein tiefdunkles Marineblau. Die winzigen Explosionen verwandelten sich von reinem Weiß zu Rot, Blau und Mandarinenfar be, begannen in leuchtenden Streifen zusammenzulaufen. Das Resultat war etwas, das wie ein riesiger, belebter Karamelstab aussah. Oben auf der zylindrischen Gestalt erschien ein einzelnes großes blaues Auge. Ein Paar kur zer Arme, von denen jeder in vier Fingern endete, streck te sich aus dem Hauptkörper hervor, um diesen von der Konsole abzustemmen. Das Ding trieb im Raum zwi schen den Sitzen, sein Unterteil waberte wie ein im Wind wehender Rock, und es blickte Miranda eindringlich an. Es vergingen einige Minuten, bevor sie etwas sagte. »He, gönn mir mal ‘ne Pause, ja? Erst Bowlen, dann die ser Joker da«, mit einem Finger stach sie in Seeths Rich 87
tung, »und jetzt du – und ich weiß noch nicht einmal, was du bist.« »Ffirzzen hobewl menawick.« Wörter aus verschiedenen Sprachen oder aus einer un bekannten, dachte Kerwin. »Siehste, der findet auch, daß du hübsch bist«, sagte Seeth zu ihr. »Solltest dich geschmeichelt fühlen, Frau.« Sie seufzte gelangweilt. »Habe keine Schmeicheleien nötig.« Das exotische fremde Ding ignorierend, das in weniger als dreißig Zentimetern Abstand vor ihr in der Luft schwebte, hob sie den Arm und musterte die bon bonfarbene Modeuhr an ihrem Handgelenk. »Jesus, mei ne Mutter bringt mich um!« Seeth beugte sich zu Izmir hinüber. »Das ist gar nicht schlecht, aber schaffst du auch ein richtiges Rot?« Das blaue Auge wandte sich ihm zu, indem es durch den flüssigkeitsähnlichen Körper stieß. Der Astarach nahm sofort eine leuchtende, liebesapfelrote Tönung an, wie man sie normalerweise nur bei Wagen auf wirklich großartigen Automobilausstellungen zu sehen bekam. »Ziemlich gut. Kannst du dich passend zu ihrem Uh renarmband machen?« Izmir wurde hellweiß-rosa. »Ist ja wild, Mann! So was kann man wirklich passendes Zube hör nennen! Jedes Mädchen braucht einen Alien, der zu ihrer Handtasche paßt. Hast du schon mal in einer Band gespielt, Mann?« Kerwin musterte den kleineren Mann mitleidig. »Seeth, das hier ist eine fremde Lebensform. Sie weiß nicht, wo von du redest.« Es war eindeutig, daß der ganze Kosmos sich ver schworen hatte, um zu beweisen, daß er der größte Idiot war, der noch lebend rumlief, denn die Flanken von Izmir dem Astarach verschoben sich und flossen zusammen, 88
um ein Dutzend undefinierbarer Gestalten zu bilden. Ihr Zweck war jedoch unverkennbar, denn die imitierten Instrumente begannen, den Kombi mit einer dissonanten, aber nicht gänzlich unangenehmen Musik auszufüllen. Sogar Seeth verschlug es vorübergehend die Sprache. Aber nur vorübergehend. »Wenn wir diese Oomemianer, oder was immer das sein mag, abgehängt haben, Arthwit, alter Kumpel, möchte ich, daß du mir hilfst, diesen Burschen ins MTV zu bringen. Ich meine, wenn wir Stevie Wonder oder Dave Stewart dazu kriegen könnten, diesen Weißnichwas zu produzieren, werden wir alle reich!« »Ich fürchte, dafür wird es keine Zeit geben, so sehr mich die Aussicht auf ein solches Abenteuer auch reizt.« Rail suchte jetzt gerade den Wald ab, offensichtlich in Ausschau nach irgend etwas. Kerwin behielt Izmir argwöhnisch im Auge, dieser hat te sein Musikgruppenselbst wieder abgelegt und statt dessen eine Gestalt angenommen, die wie ein heißer Ka ramelbecher aussah, komplett mit dunkelbraunen und weißen Flüssigkeiten, die an seinen Seiten herabströmten. Er sah weich aus, fast gummiartig, was durch seine of fensichtliche Flexibilität verstärkt wurde. Tatsächlich besaß der sanft glühende Körper des Astarach die Konsi stenz von Stahl, doch das wußte Kerwin nicht, weil er ihn mit Sicherheit nie wieder berühren wollte. »Warum ist er für die Oomemianer so wichtig? Ich meine, schön, er ist hübsch und klug, aber das macht ihn doch noch nicht wertvoll. Oder?« »Ist das nicht offensichtlich, Mann?« fragte Seeth. »Ich meine, das ist doch ein Künstler. Vielleicht der größte Künstler, den diese Oomemianer jemals hervorgebracht haben. Oder das größte Kunstwerk. Klar, das ist es, er 89
muß ein Kunstwerk sein. Ein sich ständig veränderndes Kunstwerk. Er kann kein Künstler sein, weil er überhaupt nicht aussieht wie diese Oomemianer, es sei denn, die können auch gestaltwandeln.« »Nein, zu ihrem Unglück bewohnen die Oomemianer, wie wir anderen alle auch, immer nur die Gestalt, in der sie geboren wurden.« Rail verlangsamte das Tempo noch ein wenig, wollte im Dunkeln nichts übersehen. »Ich weiß nicht genau, was Izmir ist, aber ein Oomemianer ist er jedenfalls nicht. Und weshalb sie ihn für so wertvoll halten, weiß ich auch überhaupt nicht.« »Das heißt, du hast ihn gekidnappt, ohne zu wissen, weshalb er wichtig ist?« fragte Kerwin. »Es war mir genug zu wissen, daß er überhaupt wichtig ist. Sehr wichtig. Noch seltsamer ist aber, daß die Oo memianer, nach allem, was ich gehört und erfahren habe, auch nicht wissen, was er ist. Aber sie haben ihn schwer bewacht und intensiv studiert, und so habe ich mir ge dacht, daß er, wenn er für sie schon wertvoll ist, auch für Prufillia wertvoll sein muß. Und wenn schon das nicht, so konnte ich ihn wenigstens den Oomemianern entreißen.« Ohne die Stimmlage im geringsten zu verändern, fügte er beiläufig hinzu: »Das hängt natürlich alles mit dem Krieg zusammen.« Kerwins Nackenhaare sträubten sich. »Krieg? Welcher Krieg?« Plötzlich begannen das wilde Gelände und der nachtumhüllte Wald, den er unter gewöhnlichen Umstän den als bedrohlich und einsam empfunden hätte, außeror dentlich einladend auszusehen. »Na, der Krieg natürlich. Ah, da sind wir ja. Ich habe schon angefangen, mir Sorgen zu machen.« »Äh, ich will ja nicht wie schwer von Begriff erschei nen«, sagte Kerwin ihm und versuchte dabei, halbwegs 90
gelassen zu bleiben, »aber hier ist kein Weg.« Diese Bemerkung hielt Rail nicht von seinem Vorhaben ab. Seeth stieß einen Schrei aus, als der Alien den Kombi über einen Vorsprung hinunter in die Büsche lenkte. Mi randa wurde von dem entsetzlichen Geholper hinten durch den ganzen Wagen gewirbelt und beschwerte sich unentwegt. Bestimmt wegen ihrer Haare, dachte Kerwin, als er sich am Boden zwischen den beiden Sitzen wieder fand. Seeth packte die hohe Rückenlehne des Sitzes und klammerte sich fest. Kerwin konnte sich nicht vorstellen, wie Rail es schaff te, den Kombi aufrechtzuhalten, während er die steile Böschung hinunterkrachte. Sehen konnte er auch nichts, weil er sich in einem Gewirr fliegender Decken, Kissen und Kopfkissen und anderen losen Gegenständen verfan gen hatte. Miranda wurde kurz in sein Gesichtsfeld ge schleudert – ein hüpfendes, wirbelndes Kompendium aus vollkommenen Augen und Lippen, zerknautschter gelber Hose und bunter Bluse, mit von den Ohren herabbau melnden Ringen, die wie Farbstreifen aussahen, sowie anderen interessanten Kleidungsstücken. Dann war sie auch schon wieder fort. Zwar zog vor seinem Auge nicht sein ganzes Leben blitzartig vorbei, dafür aber der kom plette Inhalt des Wagens. Schließlich gelangten sie zu einem Halt, weniger weil Rail sein Ziel erreicht hatte, als vielmehr wegen einer sehr großen Föhre, die mitten auf ihrem Weg stand. Da große Föhren in Sachen Vorfahrt außerordentlich unver nünftig waren, oblag es Rail, eine Kursänderung durchzu führen, um zu versuchen, an ihr vorbeizukommen. Dabei konnte er nur einen Teilerfolg verbuchen. Die rechte Seite des Wagens knautschte sich zusam men. Die Windschutzscheibe zerbarst, und diamantähnli 91
che Glassplitter spritzten überall umher. Wie durch ein Wunder erlitt niemand eine Schnittverletzung, obwohl man nie darauf gekommen wäre, wenn man Seeth zuhör te. Kerwin richtete sich mühsam wieder auf. »Was ist los? Bein, Arm?« »So ein Glück hätte ich gerne.« Seeth beugte sich zu ihm vor, sein Gesicht verzerrt, einen Arm vorgestreckt. »Schau dir das hier mal an, Mann! Das ist gottverdamm tes Handschuhleder! Vierhundert Dollar hat mich diese Jacke gekostet. Vierhundert Dollar!« Wütend funkelte er Rail an, der gerade versuchte, hinter dem Lenkrad her vorzugleiten. »Dafür versohle ich dir den Arsch, Mann!« »Der Schaden an deiner Kleidung tut mir leid.« »Leid? Leid? Hast du mich nicht gehört? Dann lies ge fälligst mal an meinen Lippen ab, Truthahn: vierhundert Dollar!« »Einen Augenblick mal.« Kerwin sah sich besorgt um. »Wo ist Izmir?« Hinter dem Fahrersitz ertönte ein Gurgeln, dann hob sich eine sich verwandelnde Gestalt. Ausdruckslos erwi derte das blaue Auge seinen Blick. »Komm, Izmir, mach so.« Mit seinen Tentakeln formte Rail eine unsichtbare Kugel. Prompt nahm der Astarach wieder die Form einer Kugel an, diesmal keiner Bow lingkugel, sondern einer, die einer gigantischen Murmel ähnelte. Allerdings behielt er das blaue Auge und die Arme bei. Das war vielleicht noch beunruhigender als seine vorhergehenden Formen. »Für ein Entführungsopfer gehorcht er dir aber ganz gut«, bemerkte Kerwin. »Das würde er auch für gewisse Oomemianer tun. Oder für euch, wenn ihr es versuchen wollt.« »Danke, ich glaube, ich verzichte und bewundere ihn 92
lieber aus der Entfernung, wenn du nichts dagegen hast.« Er zeigte auf die stille Umgebung. »Was soll denn das alles? Ich dachte, du könntest fahren.« »Ich kann auch fahren.« Rail versuchte seine Tür zu öffnen. Mit seinen Tentakeln hielt er sich fest und begann mit dem Versuch sie aufzutreten. »Genau hierher wollte ich.« »Ach ja, prima, na klar. Und was machen wir jetzt? Spielen wir im Wald mit den Oomemianern Versteck?« »Ich fürchte, wir haben keine Zeit für Spiele. Nachdem sie uns schon so nahe gekommen sind, werden unsere Verfolger nicht ruhen, bevor sie uns alle eingeholt haben. Wir können nicht länger hierbleiben.« Die Tür sprang auf. »Das leuchtet ein.« Kerwin folgte Rail nach draußen, froh, wieder aufrecht stehen zu können. »He, eine Sekun de mal. Was soll das heißen, wir können nicht? Ich muß zurück aufs College, in mein Studentenheim.« »Was ist denn los, Mann?« zog Seeth ihn auf. »Keinen Mumm in den Knochen? Wo bleibt deine Abenteuer lust?« »Mein Mumm ist genau da, wo er hingehört.« Beide jungen Männer drehten sich um, als sie ein lautes Seuf zen vernahmen. »Meine Eltern kriegen einen Herzinfarkt! Und ich krie ge ewigen Hausarrest.« »Mach dir nichts draus«, meinte Seeth. »Dann komme ich zu dir und leiste dir Gesellschaft. Wir können alte Leave it to Beaver-Wiederholungen auflegen und sie ignorieren, während wir…« »Langsam gehst du mir auf den Keks, weißt du das?« Sie saß auf dem Fahrersitz und musterte angewidert den zerborstenen Tachometer. »Das ist wirklich großartig, 93
einfach großartig! Als wenn es nicht schlimm genug ge wesen wäre, daß ich mit einem Blödmann wie Brock rummachen mußte, nein, da muß ich auch noch mit einer Mißgeburt, einem Popper, einem Alien und mit einer Bowlingkugel durch die Wälder jagen, die aus einer Le vi’s-Reklame entlaufen ist. Ich meine, es ist ja nicht so, als würde ich nicht auf mich aufpassen. Was habe ich heute nur falsch gemacht? Bin ich falsch aufgestanden? Habe ich das falsche Frühstück zu mir genommen?« »Ich habe etwas dagegen, Popper genannt zu werden«, sagte Kerwin würdevoll. »Und mich hältst du für eine Mißgeburt, Schwester?« Seeth zeigte auf ihre Beine. »Dann schau dir doch bloß mal diese Hose an!« Miranda blickte an sich herunter und zupfte an dem hellgelben Stoff. »Was ist an meiner Hose verkehrt?« »Nichts ist an der verkehrt, das ist es ja gerade, was verkehrt ist. Direkt von der Stange. Unberührt. Jungfräu liches Polyester. Keinerlei Individualität. Da ist nichts, was du schreit.« »Das schreit alles ich«, wandte sie ein. Traurig schüttelte er den Kopf. »Vinylkörper, Vaku umhirn.« »Na ja, wenigstens sehe ich aus wie ein Mensch«, er widerte sie pikiert. »Entschuldigt mich.« Rail war einige Meter weiterge gangen und drehte nun den Kopf nach ihnen um. Izmir ruhte unter einem Tentakel, er hatte seine beiden Arme um Rails langen Hals gestreckt. In dieser Fassung sah er ein bißchen aus wie ein einäugiger Affe, der nach seinem Blechbecher suchte. »Wir können hier nicht bleiben. Wir müssen uns beeilen.« »Was soll das heißen, beeilen?« Kerwin schritt um den 94
Wagen. »Ich werde bis zur Hauptstraße gehen und das erste Fahrzeug anhalten, das vorbeikommt. Ich habe demnächst eine Zwischenprüfung in Biologie.« »Wenn diese Oomemianer dich finden, schmelzen sie deinen Gehirnkopf ein.« »Macht nichts«, sagte Seeth. »Auf den kann er bequem verzichten.« Kerwin hielt inne, ließ seinen Blick von dem Punker zu Miranda hinüberschweifen, als diese vorsichtig aus dem Kombi stieg. »Wollt ihr beiden hier etwa warten und Backe-backe-Kuchen spielen, oder werdet ihr versuchen, mit mir zusammen abzuhauen?« »Abhauen?« Seeth drehte sich träge herum. »Abhauen wohin, Mann?« »Hör mal, es ist ja nicht so, als würde uns irgend etwas an ihn binden.« Mit einem Nicken zeigte Kerwin zu Rail hinüber. »Wenn wir tatsächlich auf diese Oomemianer, oder wer immer sie sein mögen, treffen sollten, könnten wir bestimmt vernünftig mit ihnen reden.« »Na klar doch. Wie draußen auf dem Parkplatz vor dem Bowlarama. Was mich angeht, ich glaube, diese Oome mianer sind die typischen Burschen, die nach der Devise ›erst das übliche Massaker, dann die Fragen‹ leben. War um sollten die dir zuhören, wenn es viel leichter ist, dei nen Kopf zu amputieren? Vereinfacht wahrscheinlich ihren Papierkrieg. Typisch Bullen.« Er schritt hinüber zu Rail und baute sich neben ihm auf, musterte ihn eindring lich. »Und außerdem, Bursche, lasse ich dich nicht aus den Augen, bis mir irgend jemand diese Jacke bezahlt hat.« »Ich bin sicher, daß wir eine Entschädigungsregelung finden können, wenn wir erst einmal in Sicherheit sind.« »Schon besser.« Er blickte zu Miranda zurück. 95
»Kommst du mit, Süßbein?« »Kann ich eigentlich machen.« Sie zeigte auf ihre Uhr. »Weißt du, wie spät es ist? Man wird mich sowieso schon umbringen. Da will ich nicht auch noch erschossen wer den.« Kerwin versuchte, es ihr mit möglichst einfachen Wor ten zu sagen. »Hör mal. Dieser Bursche hier ist ein Alien. Wir wissen eigentlich nicht sonderlich viel über ihn, außer, daß er grün ist, und das könnte auch wieder eine Verklei dung sein. Er ist ein geständiger Entführer.« Er ertappte sich dabei, wie er ihr Haar studierte. Davon gab es ziem lich viel, und es war eine Mischung aus Blond und Schwarz. Blond mit schwarzen Strähnen. Oder war es schwarz mit blonden Strähnen? Und welchen Unterschied machte das? »Also gut, geht nur mit ihm. Ich kehre in die wirkliche Welt zurück.« Er machte sich daran, den Hügel emporzu steigen. »O MEIN GOTT!« Seeth ging in eine kauernde Kampfstellung. Kerwin wir belte herum, blickte wild in der Dunkelheit um sich, wäh rend Rail sich anspannte. »Wie? Was ist los!« brüllte Kerwin. Dann sah er, daß sie sich vorgebeugt hatte und den dunklen Boden absuchte. »Ich habe einen Ohrring verloren, verdammt! Das war einer meiner Lieblingsohrringe. Ich habe ihn schon fast ein Jahr.« Kerwin sackte zusammen. Er hätte irgend etwas gesagt, wenn nicht in diesem Augenblick plötzlich hoch oben auf dem Hügel Scheinwerfer gestrahlt hätten. »Oomemianer«, flüsterte Rail. »Zeit zu gehen. Kommt mit oder bleibt, wie es euch gefällt.« Er verschwand im Wald. 96
»Verdammt.« Kerwin zögerte, dann folgte er ihm. Ge meinsam mit Seeth mußte er Miranda am Arm nehmen und sie mitzerren, sonst wäre sie noch dageblieben, um sich über einem Ohrring den Schädel zerschmelzen zu lassen. »Ich kaufe dir einen neuen. Zwei sogar«, sagte Seeth lieblich. »Wenn die Bösen Zwei, die uns da gerade jagen, dir die Ohren abschießen, brauchst du dir deswegen so wieso keine Sorgen mehr zu machen.« Sie riß sich frei. »Also gut. Ich merke selbst, wenn man mich verarscht.« »Irgendwie habe ich immer gewußt, daß deine Beob achtungsgabe über kolossale Reserven verfügt«, sagte Seeth. »Ihr glaubt, daß ich mich lächerlich verhalte, wie?« Im Mondlicht sah sie aus wie eine Göttin, dachte Kerwin. Bis auf den verbliebenen Ohrring. »Das liegt nur daran, daß keiner von euch weiß, was im Leben wirklich wich tig ist.« Rail schien trotz des fehlenden Tageslichts genau zu wissen, wohin er wollte. Zwischen den Bäumen stolper ten sie ihm nach. Kerwin verbrachte sehr viel Zeit damit, den Boden im Auge zu behalten. Er wollte gar nicht erst herausfinden, wie Oomemianer verstauchte Fußknöchel zu behandeln pflegten. »Dann sag es uns doch«, flehte Seeth sie an, »was ist denn wirklich wichtig im Leben?« Sie blickte die beiden herausfordernd an. »Kleider. Kleider sind das wichtigste. Ich meine, wenn man keine vernünftigen Kleider hat, dann ist man doch einfach nur ein Niemand.« Kerwin nickte gedankenverloren. »Ich bin sicher, daß Einstein das auch gedacht hat.« 97
»Macht schon, macht euch ruhig über mich lustig. Ei nes Tages werdet ihr schon sehen.« Zwanzig Minuten später rief ein keuchender Kerwin zum Halt. »He, wollen wir etwa nach Texas latschen oder was?« »Es ist nicht mehr weit«, versicherte Rail ihm. »Ge naugenommen sind wir bereits am Ziel.« Er legte Izmir beiseite und begann an einem Berg aus Gestrüpp und Ästen zu zerren, wobei seine zahlreichen Tentakel schnellen Prozeß mit dem Haufen machten. Unter dem toten Laub erschien etwas, das wie ein matter Platinfris bee aussah. Er schien das Mondlicht weniger zu reflektie ren als zu absorbieren. Kerwin beugte sich vor, um ihm zu helfen. »Sieht nicht so aus, als wäre es groß genug, damit wir uns alle darin verbergen können.« »Das meiste ist eingegraben. Ich war nicht in der Lage, es völlig zu vergraben. Hier in dieser Gegend gibt es sehr viel hartes Gestein, und ich war in Eile. Die Oomemianer waren mir auf den Fersen, relativ gesprochen.« »Wie lange versteckst du dich denn hier schon so? Wie lange jagen sie dich?« »Ach, die jagen mich schon eine ganze Weile, eine ganze Weile. Aber sie haben mich nicht gefangen, bisher noch nicht. So nahe wie heute sind sie noch nie gekom men, aber dank eures Eingreifens bin ich ihnen schon wieder entgangen.« Er grinste. »Ich bin sicher, daß sie außerordentlich wütend sind.« Als sie das letzte Geäst beiseite geschoben hatten, stell te sich heraus, daß die Platinkuppel ungefähr so groß war wie ein eingegrabener Greyhoundbus. Wenn der größte Teil unter der Erdoberfläche lag, mußte es von erhebli cher Größe sein, überlegte Kerwin. Er hatte eine ziemlich 98
genaue Vorstellung davon, was ›es‹ war, obwohl er sich immer noch dabei ertappte, an seiner eigenen geistigen Gesundheit zu zweifeln. Rail berührte das Gerät an seinem Handgelenk, und in der Metalloberfläche erschien eine Tür. Die große, einla dende ovale Öffnung schien durch die massive Wand hervorzuschmelzen. Licht strömte hervor, erhellte ihre Gesichter und enthüllte eine korkenzieherförmige Ram pe, die nach innen und hinunter führte. Der Alien blickte in die Bäume zurück. »Sie können nicht mehr weit hinter uns sein. Wir müssen uns beeilen.« Er schritt auf die Öffnung zu und verschwand darin. Seeth folgte ihm un mittelbar und blickte zu seinem Freund zurück. »He, du hast den Grüni doch gehört. Wir müssen uns beeilen, sonst fangen uns die Kopfschmelzer. Worauf wartest du noch?« »Mir ist gerade eingefallen, was das für ein Ding ist. Das ist kein bloßes Versteck, Seeth.« »Nö, muß ein Raumschiff sein. Was hast du denn ge glaubt, was er sucht, ein Baumhaus vielleicht? Komm schon, Mann.« »Es ist ja nur, daß ich glaube, daß wir jetzt fortgehen«, er legte den Kopf zurück und blickte zu den Sternen em por, »du weißt schon.« »Vielleicht sogar bis New York. Beweg den Arsch.« »Aber was ist dann mit meinem Examen?« Er merkte, wie seine Füße sich zu dem eingegrabenen Raumschiff bewegten, einer nach dem anderen. Ungerührt schritt Miranda an ihm vorbei. »Warum schlage ich nicht gleich den ganzen Abend tot.« Vor der Öffnung blieb sie stehen und beugte sich vor, um hineinzubrüllen. »Ich habe nur eine Frage!« Rails Stimme schwebte ihr entgegen. »Ich werde sie 99
gern beantworten, wenn ich kann.« »Dort, wo wir hingehen… kann man da einkaufen?« »Mit Sicherheit, ganz gewißlich.« »Also gut.« Zu Kerwin zurückgewandt, lächelte sie lieblich. »Ich würde nirgendwohin gehen, wo ich nicht einkaufen könnte.« Woraufhin sie elegant auf Zehenspit zen die Rampe hinuntertippelte. Seeth warf Kerwin einen Kuß zu und folgte. Dann tat Kerwin das gleiche. Es war ja nicht so, als hät te er eine Wahl gehabt. Hinter ihm schloß sich fließend die Luke. Rail führte seine Gäste tiefer ins Innere des Schiffs, das in der Tat sehr viel größer war, als man aufgrund des winzigen Teils, der von oben zu sehen gewesen war, hätte anneh men können. »Ich würde es vorziehen, eine weitere unbewohnte Welt ausfindig zu machen«, murmelte er, während sie hinabstiegen. »Unbewohnt? Aber die Erde ist doch gar nicht unbe wohnt«, wandte Kerwin ein. »Tut mir leid, aber den offiziellen Galaktographen zu folge bezeichnet man sie so. Ist nicht eure Schuld.« »Einen Augenblick mal.« Miranda blieb stehen und verschränkte wieder die Arme. »Du hast gesagt, daß wir dort einkaufen können.« »Einige der besten und einzigartigsten Waren findet man auf Planeten, die als unbewohnt eingestuft sind.« Das besänftigte sie ein wenig. »Also… gut. Aber ver giß nicht, du hast es versprochen.« Rail führte sie schließlich in einen großen Kuppelraum, der nach Kerwins Gefühl irgendwo in der Nähe der Schiffsmitte liegen mußte. Eine breite, großzügige Sicht scheibe beherrschte die gegenüberliegende Wand. Im 100
Augenblick zeigte sie Erd- und Gesteinsschichten sowie eine Taschenrattenfamilie, die bald rüde aufgeweckt wer den würde. Ihr Gastgeber troff in einen wohnzimmerarti gen Sessel, und als Kerwin daneben mehrere ähnliche Sitzgelegenheiten erblickte, fragte er sich laut, ob er und seine Freunde dasselbe tun sollten. »Nur, wenn es euch angenehmer erscheinen sollte. Das Energiefeld wird alle ruhig und stabil halten. Ihr werdet nur ganz schwach ein Gefühl von Bewegung haben, wenn wir abreisen. Es sei denn, die Oomemianer fangen zu schießen an, dann könnte ich zu einigen Ausweichmanövern gezwungen sein. Aber ich glaube, wir werden sie überrumpeln.« Miranda setzte sich prompt in einen der einladenden Sessel. Er war viel zu groß für sie, der menschlichen Gestalt aber hinreichend angepaßt, um bequem zu sein. Sie begann in ihrer Handtasche zu wühlen, die nur ein geringfügiges Stück kleiner war als eine durchschnittli che Uberseekiste. »Ich bleibe hier sitzen und lackiere mir die Nägel. Ihr macht euch ja gar keine Vorstellungen, wie sie bei dieser ganzen Hoppelei gelitten haben.« Kerwin inspizierte gerade die sie umgebenden Wände. Sie waren mit zentimeterbreiten Metallstreifen überzo gen, die Resopal glichen, offensichtlich aber sehr viel dicker waren. »Faszinierend«, murmelte er. »Blödsinn«, sagte Seeth. »Du weißt doch überhaupt nicht, was du dir da anschaust. Du hast nicht einmal ge nug Bezugspunkte, um rauszufinden, wo hier das Klo ist.« »Es ist eine hochentwickelte Technologie.« Kerwin setzte eine überlegene Miene auf. »Soviel ist offensicht lich.« 101
»Eigentlich ist dieses Wrack ziemlich alt.« Rail ließ seine Tentakelspitzen über einen Knoten sich kreuzender Resopalstreifen fahren, der sich vor ihm auf der Konsole befand. »Etwas Besseres konnte ich in der kurzen Zeit nicht auftreiben. Ich hatte es eilig und mußte ausborgen, was gerade zur Verfügung stand.« »Soll das heißen, daß du dieses Schiff auch ausgeborgt hast? So wie du dir Izmir ›ausgeborgt‹ hast?« Mit einem Nicken zeigte Kerwin in die Richtung der ExBowlingkugel. Die hatte Stangengestalt angenommen und sich neben Rail auf die Konsole gestellt, balancierte sich mit beiden Armen aus und starrte eindringlich aus ihrem einzelnen, reglosen blauen Auge auf nichts im besonderen. Ein helles, rosapurpurnes Streifenmuster floß in endlosen Strömen über ihre Oberfläche. »Dazu hat mich der Druck der Umstände gezwungen.« Das Schiff machte einen scharfen Satz, was Kerwin bei nahe zu Boden stürzen ließ. »He, paß doch auf!« Miranda mußte mit ihrem Nagel lack jonglieren. »Entschuldigung, Verzeihung.« Rail beugte sich dicht über seine Kontrollstreifen. »Ich dachte, du hättest gesagt, wir würden überhaupt keine Bewegung spüren.« Kerwin blickte sich nach etwas um, an dem er sich festhalten konnte, doch die Wände des Kommandoraums waren so glatt wie das Innere einer Billardkugel. Vorsichtig schritt er auf einen der Sessel zu. »Habe ich das? Entschuldige. Ich tue, was ich kann. Wenn wir ein bißchen seltsam abheben, müßte das Feld das kompensieren. Auf jeden Fall ist die Decke weich.« »Eine weiche Decke?« Hastig glitt Kerwin in den Sessel und suchte verzweifelt nach Sitzgurten. »Gibt es hier irgend etwas, das einen unten hält?« 102
Rail blickte nicht zurück. »Den Streifen an deiner Lin ken berühren, auf halber Höhe.« Kerwin fand die fragliche Metalloberfläche und befolg te die Anweisungen. Da packte so etwas wie eine un sichtbare Hand sanft seinen oberen Brustkorb und die Beine. Es war leicht wie eine Feder und, daran zweifelte er nicht, weitaus sicherer als Leder. Berührte er den Strei fen an einer etwas tiefer gelegeneren Stelle, löste sich die Halterung sofort wieder. »Jedenfalls ist es nett und or dentlich«, murmelte er. »Oh, dafür sorgt das Schiff schon, soweit es das kann«, teilte Rail ihm mit. »Ich bin schrecklich, was Ordnung im Haushalt angeht. Es gibt Stellen, da weigern sich sogar die automatischen Reini gungsgeräte hinzugehen. Völlig verdreckt. Kabinen und Räume, die seit Jahren nicht saubergemacht wurden. Die Oomemianer sind nicht nur häßlich, sie sind auch völlig verwahrlost. Es gibt hier Dinge, die von früheren Besit zern dieses Schiffs zurückgelassen wurden, über deren Ursprung und Zweck ich lieber nicht nachdenke. Manche davon bewegen sich, glaube ich. Wenn wir erst einmal unterwegs sind, würde ich an eurer Stelle lieber nicht durchs Schiff wandern.« »Keine Sorge.« Kerwin reaktivierte die Halterung. »Möglicherweise verlasse ich diesen Sessel überhaupt nicht mehr, bevor wir wieder gelandet sind.« Seeth war der einzige, der noch immer umherschritt, obwohl das Schiff nun als Reaktion auf Rails Befehle zitterte und wackelte. »Weißt du was, Mann? Du hast wirklich den Vogel abgeschossen.« »Den Vogel abgeschossen?« Kerwin blickte zu ihm hinüber. »Wovon redest du da?« »Du warst doch in dieser dämlichen Bowlingbahn, um Notizen für ein Referat zu sammeln, richtig?« 103
»Das ist richtig. Aber was soll…?« Er verstummte, als ihm klar wurde, worauf Seeth hinauswollte. Natürlich! Indem ihm das Schicksal ein Projekt zer schmettert hatte, hatte das Schicksal ihm eine andere, weitaus größere Möglichkeit erschlossen. Eindeutig ein malig. Warum das soziale Verhalten amerikanischer Bowlingspieler der Mittelklasse studieren, wenn er statt dessen Notizen über die Lebensgewohnheiten nicht nur einer, sondern gleich zweier fremder Rassen sammeln konnte – die der Prufillier und der Oomemianer. Ja dreier sogar, wenn man Izmir zu den Lebewesen zählte. Welch ein Referat das abgeben würde! »Notizen«, begann er zu murmeln, »muß sofort Notizen machen.« Er deaktivierte seine Halterung und setzte sich auf, ignorierte das Zittern unter sich. »He, Arthwit, hast du hier irgendwo einen Notizblock und einen Bleistift? Ich muß etwas aufschreiben.« »Tut mir schon wieder leid.« Rail konzentrierte sich auf seine Streifeninstrumente. Das Schiff war inzwischen voll aktiviert. Man spürte es in den Füßen, im ganzen Körper. Energie. »Wir Prufillier haben schon vor zig Äonen solche Aufzeichnungsmethoden abgeschafft, als man entdeckte, daß Bäume Schmerz empfinden können. Dadurch wurde das Schreiben auf Papier ein bißchen so, als würde man auf getrockneter Haut schreiben. Heute verwenden wir das Zeug nur noch für zeremonielle Zwecke und auch dann nur, wenn der Baum eines natür lichen Todes gestorben ist.« »Junge, Junge.« Miranda hob den Blick von ihrer kom plizierten Nagelarbeit. »Wie schummelt ihr denn dann in der Schule?« »Die Telepathie ist die beste Methode, es sei denn, man hat einen Sensitiven zum Lehrer. Dann kann das natürlich 104
ziemlich peinlich werden.« Er beruhte einen blauen Strei fen. Das Schiff hob sich einige Zentimeter. Hinter dem rie sigen Sichtfenster wirkten die Taschenratten erregt. Eine versuchte, die transparente Scheibe zu durchbeißen. »Aber es gibt nur sehr wenige, die zu echter Telepathie fähig sind. Wir versuchen statt dessen, durch Ausdruck viel Gefühl zu vermitteln. Wie ihr es tut, nur ohne die grobschlächtigen und unangenehmen Gesichtsverzerrun gen.« »Ein Glück, daß du nie in seinen Club gegangen bist.« Mit einem Nicken zeigte Kerwin auf Seeth. »Da hättest du ein paar wirklich grobschlächtige Verzerrungen mit ansehen können.« »Dein Tanzen ist wohl besser, nehme ich an? Foxtrott und Twostep?« »Die wurden wenigstens für menschliche Körper entwickelt. Breakdance funktioniert nur für Schimpansen und Gibbonaffen, nicht für Menschen.« »Ich dachte immer, Rom wäre etwas für Gibbons ge wesen. Du bist doch bloß neidisch, weil du deine Armund Beinbewegungen nicht koordinieren kannst, ohne über deine eigenen Füße zu stolpern.« Kerwin spürte, wie das Schiff zuckte, und aktivierte wieder seine Befestigung, dabei die Augen fest zupres send. Ich glaube es nicht, dachte er. Da machen wir uns fertig, um vor zwei außerirdischen Bullen in Gesellschaft eines interstellaren Kidnappers vom Planeten zu fliehen, und ich sitze hier und streite mich mit einem Wichser wie Seeth über Breakdance. »Mit der Freizeitbeschäftigung, von der ihr redet, bin ich vertraut«, sagte Rail unerwartet. »Was ich davon in einer eurer Videoübertragungen mitbekommen habe, war 105
faszinierend, obwohl ich glaube, daß es besser funktio nieren würde, wenn man ein paar Gliedmaßen mehr hät te.« »Na siehste«, sagte Seeth; seine Rachsucht war befrie digt. »Sobald wir zurückgekommen sind, renne ich gleich in den nächsten Beinladen und hol mir ein Extrapaar. Vielleicht kriege ich welche im Sonderangebot.« »Ich kann mich nicht erinnern, auf eurer Welt so etwas gesehen zu haben«, sagte Rail nachdenklich. »Aber die Innenstruktur eures Organismus ist simpel genug, um einen entsprechend konstruierten Satz Nervenprothesen anzubringen. Ah, jetzt geht es also los.« Irgendwo in der Tiefe ertönte ein kehliges Rumpeln. Das Schiff hob sich einen Meter. Die Taschenratten ga ben auf und flohen einen Tunnel hinunter, der in unsicht bare Regionen führte. Kerwin fand, daß sie angewidert ausgesehen hatten. »Das hier ist wohl nicht der erste Planet, auf den du ge flohen bist, nachdem du dir Izmir ausgeborgt hast, wie?« »Nein. Es ist zwar außerordentlich ungewöhnlich, aber wie ihr bemerkt habt, benimmt er sich überhaupt nicht so, als würde der Wechsel seiner Umgebung ihn auch nur im geringsten aufregen. Ich bin mir nicht sicher, ob er im selben Sinne ein bewußt und vernünftig denkendes We sen ist, wie wir das verstehen. Möglicherweise weiß er gar nicht, was mit ihm geschieht, obwohl er sich dessen bewußt ist, was um ihn herum passiert. Er scheint sich recht wohl in jeder Gesellschaft zu fühlen, in der er sich befindet. Er und ich sind in diesem wenig besuchten Teil der Ga laxis schon von einer Welt zur anderen gebummelt. Hier draußen, am galaktischen Außenrand, ist die Zivilisation dünner gesät, so daß es leichter ist, die Oomemianer ab 106
zuschütteln. Das dauert zwar um einiges länger, als wenn ich mich sofort auf Kurs Prufillia begäbe, aber das hätte ich auch nie geschafft. Zwischen Oomemia und meinem Zuhause gibt es alle möglichen Beobachtungsstationen und Relais. Manchmal ist der direkteste Weg doch nicht der sicherste.« Izmir stieß sich von der Konsole ab und schwebte durch den Raum, prallte von der Decke und vollführte mehrere Purzelbäume in der Luft mit der gleichen Leich tigkeit, mit der er Form und Farbe verändert hatte, bevor er schließlich auf einem leeren Sessel niederging. Nun begann er, sich mit den Händen an dem inzwischen drei eckig gewordenen Körper zu zupfen. »Was ich nicht verstehe«, murmelte Kerwin, »ist, war um die Oomemianer oder überhaupt jemand der Ansicht sein kann, daß ein levitierender Geistesgestörter von Wert sei.« »Das versteht niemand«, meinte Rail. »Ich habe Mes sungen durchgeführt und Tests und Versuche, bis ich rosa angelaufen bin, und ich weiß inzwischen weniger als vorher, bevor ich anfing. Er strahlt keinerlei Strahlen aus, die ich feststellen könnte, obwohl meine Instrumente natürlich nicht gerade die empfindlichsten sind. Ich müß te einmal versuchen, die Substanz zu analysieren, aus der er besteht, aber jedesmal, wenn ich eine winzige Biopsie versuche, scheitere ich. Metallklingen, Laser, nichts hat funktioniert. Alle feststofflichen Instrumente sind an seinem Körper entweder einfach zerbrochen oder sie sind abgeprallt, während Strahlungsenergie, wie sie ein Laser produziert, von ihm absorbiert wird. Nichts kann ihm etwas anhaben. Er ist nicht nur ein Gestaltwandler, er scheint auch durch und durch unverwundbar zu sein. Und was er von Zeit zu Zeit murmelt, ist, der Dol 107
metschmaschine des Schiffes zufolge, nichts als Kauder welsch, völlig sinnlos. Es weist keinerlei erkennbares Muster auf, nichts, was einer Sprache gliche, nicht einmal ein Code.« »Wie kommt es, daß wir uns nicht schneller bewegen, und wie lange dauert dieser Krieg schon, den du vorhin erwähnt hast?« »Wir sind immer noch unter der Erde, weil das hier ein altes Schiff ist und sehr lange braucht, um sich aufzu wärmen, und außerdem scanne ich die Gegend nach oo memianischen Waffen ab. Was deine zweite Frage angeht, so handelt es sich da bei gar nicht wirklich um einen Krieg. Andererseits aber doch. Die Prufillier und die Oomemianer sind noch nie gut miteinander ausgekommen, aber andererseits haben wir auch noch nie versucht, einander auszulöschen. Völ kermord ist ungezogen. Man könnte unsere langjährige Beziehung zueinander so beschreiben, daß es sich dabei um seltene Konflikte handelt, die von Perioden unruhigen Friedens unterbrochen werden. Weißt du, Prufillia und Oomemia liegen soweit auseinander, daß eine Großoffen sive der einen Seite gegen die andere nicht nur außeror dentlich schwierig sondern auch unverhältnismäßig teuer wäre. Daher besteht der Krieg hauptsächlich darin, daß wir einander Schimpfwörter zuwerfen und endlose Dro hungen funken. Tatsächliche Kampfhandlungen finden nur gelegentlich statt, draußen im freien Raum oder auf anderen Planeten. Beide Bevölkerungen scheinen mit diesem Zustand zufrieden zu sein, und der Rest der zivili sierten Galaxis toleriert ihn, solange keine unschuldigen Dritten dabei draufgehen. Immer wieder bricht auch Frieden aus, aber der hält nur selten lange vor. Die Oo memianer sind sehr extrem. 108
Beide Seiten verbringen sehr viel Zeit damit, sich zu überlegen, wie sie dem Gegner einen vernichtenden Endschlag zufügen können, doch wegen der damit zusam menhängenden Kosten gelangen großartige Schlachtflot ten niemals über das Propagandastadium hinaus. Einen interstellaren Krieg auf beliebige Entfernungen zu finan zieren, ist einfach unpraktisch. Dann würden die Leute aufhören, ihre Steuern zu bezahlen. Nicht einmal totalitä re Regierungen könnten sie dann noch im Zaum halten.« »Dann gibt es also gar keine Reiche?« »Reiche? Liebe Güte, nein, junger Mensch Kerwin. Was soll denn ein interstellares Reich? Es ist ja schon ungeheuer teuer, auch nur eine einzige rebellische Welt an der Kandare zu halten. Schon die bloßen Verwal tungskosten – nein, das ist eine rein romantische Vorstel lung. Überhaupt nicht praktisch. Wenn man sich dafür interessiert, sich auf einem anderen Planeten niederzulas sen oder dort ein Geschäft aufzumachen oder ein paar Bodenschätze auszubeuten, ist es sehr viel einfacher und billiger, sich die erforderlichen Genehmigungen zu holen und die entsprechenden Gebühren zu bezahlen, als zu versuchen, das ganze zu übernehmen. Zwischen den Pla neten gibt es ziemlich viel freien Verkehr. Alle scheinen zu glauben, daß ihr Planet der beste ist, warum sollte man also versuchen, einen zu übernehmen, der nicht so gut ist?« Er seufzte, es war ein langes, gedehntes Pfeifen. »Einen Ort wie Prufillia gibt es kein zweites Mal. Die meisten anderen Rassen hegen ähnliche Gefühle für ihre eigenen Heimatwelten. Ich meine, ein Ort wie Varnial ist zwar ganz schön für den Urlaub, aber leben will man da doch nicht. Doch trotz der Entfernungen und der damit verbunde nen Schwierigkeiten gibt es immer noch Möglichkeiten, 109
den Gegner zu irritieren. Jemanden wie mich loszuschik ken, um dem anderen Probleme zu bereiten, ist nicht ganz dasselbe, wie einen Kriegsetat zu finanzieren. Ich habe Unterstützung für mein Schiff gefunden, und es ist mir gelungen, hinter die Kontrollschirme der Oomemianer zu gelangen. Solche kleineren Irritationen werden ständig von beiden Seiten durchgeführt, doch gelegentlich gelingt es jemandem, einmal etwas Wichtigeres zu erreichen. Das war auch meine Hoffnung, für mein Volk, für mei nen Planeten – und für den gewaltigen finanziellen Bo nus, der mich nach meiner Rückkehr erwarten würde. Daher auch mein Interesse an Izmir, nachdem ich erst einmal von ihm erfahren hatte. Ihr glaubt gar nicht, mit wieviel Geheimhaltung die Oomemianer ihn behandelt haben, aber ich habe trotz all ihrer Sicherheitsvorkehrun gen vom Izmirprojekt erfahren, und es ist mir gelungen, ihn vor ihren Mometilien wegzuschnappen.« Er blickte zu Izmir hinüber, der gerade träge Purzelbäume vollführ te. »Um euch die vollständige Wahrheit zu sagen: Lang sam frage ich mich, warum ich mir diese Mühe gemacht habe. Ich hatte ja keine Ahnung, daß die Oomemianer sich eine solche beharrliche Mühe geben würden, um jemanden zurückzuholen, der so offensichtlich nutzlos ist. Gewiß, er kann auf einen reagieren, und er plappert unverständlich vor sich hin, aber nicht als Antwort auf irgendwelche Fragen. Man weiß nicht, ob er einen ver steht, und so oder so gibt es auch keinerlei Möglichkei ten, seine etwaigen Antworten zu begreifen. Alles, was sich über ihn mit Bestimmtheit sagen läßt, ist, daß er die Fähigkeit hat, seine Gestalt zu verwandeln. Man kennt keine anderen wirklichen Gestaltwandler, obwohl es natürlich immer Gerüchte gibt. Sicherlich 110
kann er sehr farbenfroh sein, wenn er will. Er scheint auch dazu in der Lage zu sein, seine Körperdichte wil lentlich zu beeinflussen. Ich mache mir ständig darüber Sorgen, daß er eines Tages durch die Schiffswand wan dern könnte, während ich gerade im selben Raum bin. Wißt ihr, das bringt er nämlich durchaus fertig. Am Be achtenswertesten aber ist, daß seine Veränderung der Dichte seine Levitationsfähigkeit anscheinend in keiner Weise beeinträchtigt.« »Nach allem, was ich bisher gehört habe«, bemerkte Kerwin und betete zur gleichen Zeit inständig darum, daß es Izmir nicht einfallen würde, irgendwelche Wände zu durchstoßen, während sie gerade draußen im Weltall trieben, »glaube ich, daß auch meine Leute sich sehr da für interessieren würden, ein gestalt- und dichteändern des, unverwundbares Wesen zu studieren. Vor allem dann, wenn es das einzige seiner Art sein sollte.« »Oh, er ist schon der einzige«, meinte Rail. »Der einzi ge Astarach, der existiert. Wäre er das nicht, glaube ich kaum, daß die Oomemianer so verrückt danach waren, ihn zurückzubekommen.« »Vielleicht glauben sie, daß er das Geheimnis der indi viduellen Levitation kennt.« »Ich weiß nicht. Möglicherweise. Wichtig ist vor allem, daß ich ihn ihnen entzogen habe. Es spielt keine Rolle, weshalb er wichtig ist, wichtig ist nur, daß er für die Oo memianer wichtig ist.« »Das ist aber böse, echt böse«, sagte Seeth. »Danke.« »Kerwin hier, der kann die Dichte seines Gehirns ver ändern, vom Fastvakuum bis zum völligen Vakuum.« »Macht mal eine Pause, Jungs.« Miranda hatte ihre Na gelpflege beendet und wirkte bereits gelangweilt. »Ich 111
wünschte, ich hätte mein Radio dabei.« Das Schiff grollte weiterhin und sammelte Kraft. »Ich muß mich dafür entschuldigen«, sagte Rail, »daß ich die Sitten der ortsansässigen Spätjugend vergessen habe. Wie ihr gesehen habt, hatte ich viele andere Din ge zu beachten.« Er ließ eine Tentakelspitze über einen Kontrollstreifen gleiten. Statik füllte den Raum aus, gefolgt von einem Wo gen ungebündelter Musik, bevor das Heavy-MetalDonnern von KMUT-FM aus Los Angeles gegen ihre Ohren anstürmte. »Na schön!« Miranda legte ihre Tasche beiseite, glitt vom Sofa und begann, sich im Rhythmus der Musik zu bewegen. »He, es funktioniert.« Seeth kam herüber, um sich ihr anzuschließen. »Konntest du nicht irgend etwas finden, das ein biß chen sanfter ist?« fragte Kerwin ihren Piloten. »Oder wenigstens die Lautstärke runterdrehen?« »O nein – mich legt ihr nicht mehr rein«, sagte Rail stolz. »Ich habe dieses Phänomen genau studiert. Die Lautstärke ist völlig richtig angemessen für diese Art von Musik.« Er sah zu Seeth zurück. »Nicht wahr?« Seeth zeigte ihm den emporgereckten Daumen. »Faszinierend, eure Rituale. Sieh mal, wie wirkungs voll sie doch miteinander kommunizieren, ohne Worte der Telepathie gebrauchen zu müssen.« Kerwin sah zu, wie Seeth mit Miranda tanzte, und mußte zu seiner Überraschung merken, daß er von heftigster Eifersucht gepackt wurde. Vielleicht hatte das etwas mit Mirandas außergewöhnlicher Schönheit zu tun. Vielleicht lag es aber auch nur an der Tatsache, daß sie nun bald der einzige weibliche Mensch im 112
Umkreis von einigen Lichtjahren sein würde. »Dein Haar!« übertönte Seeth das Gejaule. »Was ist damit?« »Du mußt irgend etwas dagegen unternehmen. Es ist zu… zu sicher.« »Nein, danke. Ich habe nichts für die Punkmode übrig.« Irgendwie schaffte sie es, eine Aura der Langeweile zu vermitteln, während sie ihren Körper durch einige außer gewöhnliche Drehungen führte. War das nur ein gespiel tes Getue, fragte Kerwin sich, oder war der Raum zwi schen ihren Ohren tatsächlich einfach nur leer? Er wandte sich ab, wohlwissend, daß er, sollte er versu chen, sich dem Tanz anzuschließen, mit dem Gesicht nach unten zu Boden stürzen würde, falls nicht noch Schlimmeres geschähe. Statt dessen schnallte er sich zögernd ab und schritt hinüber zu Rail, um ihm bei den Startvorbereitungen zuzusehen. Die Konsole war ihm ein völliges Rätsel, eine leere weiße, gewölbte Oberfläche, durchzogen von einem Kreuzmuster metallischer Strei fen, wildgewordenes Klebeband. »Wenn er schon zu nichts anderem gut sein sollte, könntest du Izmir immer noch als Bowlingkugel verwen den.« »Vielleicht. Das war nämlich seine Idee, mußt du wis sen. Er tut, was er will, und er kann seine Absichten da durch deutlich machen, indem er es einfach tut. In diesem Freizeitzentrum sind wir rein zufällig gelandet. Ich spa zierte gerade in der Gegend umher – ich schlafe nicht viel, und in einigen eurer kleineren Stadtgebiete fällt es schwer, irgend etwas zu finden, was man nachts noch unternehmen könnte. Anscheinend fand er die Bewegung der Kugeln, die die anderen Spieler stießen, ziemlich interessant. 113
Er hat mir gezeigt, daß er Ähnliches tun wollte, indem er einfach sein Auge und seine Arme beseitigte und fünf Fingerlöcher für meine Finger herstellte. Ich muß zugeben, daß ich es selbst auch recht interessant fand. Die Notwendigkeit, die richtigen Sinuskurven zu errech nen, stimuliert das Gehirn.« »Das ist aber nicht der Grund, weshalb die meisten Leute Bowling spielen.« »Wirklich nicht? Noch so eine vielsagende Überra schung. Natürlich habe ich Izmir nicht wirklich gewor fen. Ich habe nur die Bewegungen nachgeahmt, und er hat den Rest gemacht. Ich glaube, daß er nach einer Wei le gelangweilt von den ganzen Einschränkungen war und ein paar dimensionale Varianten ausprobieren wollte, was wohl auch, wie ich glaube, die Aufmerksamkeit deines Freundes auf mich gelenkt hat. Das hat mich unruhig gemacht, obwohl ich mich aus peinlichen Konfrontatio nen mit Primitiven meistens ganz gut herausreden kann. Ich weiß nicht, ob Izmir daran etwas Unterhaltsames fand. Ich weiß nicht, ob er diesen Begriff überhaupt ver stehen würde. Ich weiß nicht, ob er irgend etwas versteht. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob er ein Lebewesen ist oder eine Maschine oder etwas anderes. Vielleicht hast du jetzt den Wunsch, in deinen Sessel zurückzukehren oder dich sonstwie zu stabilisieren, Kerwin. Wir reisen nämlich jetzt ab.« Nicht weit entfernt hatte Mirandas Ex-Freund endlich mit dem Laufen aufgehört, nachdem seine Panik der Er schöpfung gewichen war. Abgesehen davon stellte seine Blase physische Forderungen, die keine Rücksicht auf emotionale Erwägungen nahmen. Das Ergebnis bestand darin, daß er gerade mitten dabei war, sich zu erleichtern, als Rails Raumschiff fast direkt 114
unter seinen Füßen plötzlich aus dem Boden hervor schoß. Obwohl er völlig aus der Puste war, gelang ihm doch ein respektabler Sprint in die entgegengesetzte Richtung. Wenn Brock für den Rest seines Lebens davon über zeugt war, daß das Universum es auf ihn abgesehen hatte, nun, wer hätte ihm das schon verübeln können?
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V
KERWIN WAR ZU SEHR von dem Anblick überwältigt, der sich plötzlich hinter dem ausgedehnten Sichtfenster zeig te, um sich noch Sorgen um sein Gleichgewicht zu ma chen. Er stand dicht neben Rails Schulter und starrte nur noch. Unter ihnen lag der mondbeschienene grüne Schaum des Nationalwaldes und dahinter die großen Schatten des Sangre de Christo Gebirges. Rail ließ das Schiff langsam rotieren, um sicherzugehen, daß seine Instrumente keine Kommunikationen verpaßten, die den Äther in ihrer un mittelbaren Umgebung stören könnten. Beispielsweise oomemianische Unterhaltungen. »Sieht bisher klar und rein aus, alles.« »Was ist denn mit unseren Leuten?« fragte Kerwin ihn. »Machst du dir keine Sorgen, daß man dich im örtlichen Radar bemerken könnte? Immerhin ist Albuquerque ein bedeutendes Zentrum der Luftfahrtbehörde, und im südli chen Teil des Staats gibt es eine sehr wichtige Raketen prüfanlage.« Drei Augen richteten sich auf ihn. »Solche einfachen Ortungsmethoden lassen sich leicht durcheinanderbrin gen. Sorgen machen mir nur die Oomemianer, deren Geräte jedes Tarnfeld durchdringen können.« Seeth hatte sich zum gegenüberliegenden Ende der Sichtscheibe bewegt und blickte hingerissen den immer schneller verschwindenden Boden unter ihnen an. »Wirk lich wild.« Miranda hob, in ihrem Sessel sitzend, den Blick. »Ich 116
schätze, es hat wohl wenig Zweck, dich jetzt darum zu bitten, mich in der Nähe meines Zuhauses abzusetzen. Ich meine, es muß ja nicht direkt vor der Auffahrt sein.« »Bedauern und Entschuldigung.« Rail ließ zwei Tenta kelspitzen über einen leuchtenden, silbrigen Streifen fah ren. »Wir können uns hier in der Gegend nicht mehr län ger aufhalten.« Sie seufzte. »Irgendwie habe ich geahnt, daß du das sa gen würdest. Und ich wette, daß es dort, wo wir hinge hen, auch kein UKW gibt.« »Da könntest du dich schon auf einige Überraschungen gefaßt machen, junge Frauenmenschin. Im Universum gibt es sehr viel mehr Vielfalt, als du oder dein Volk sich jemals haben träumen lassen. Dort kann man Unterhal tung finden, die so ziemlich jeden Geschmack befrie digt.« »Echt? Ohne Verarschung?« »Ganz im Ernst«, versicherte er ihr. Sie schwang die Beine herum und setzte sich auf die Kante des Sofas, stöberte in ihrer geräumigen Tasche. »Vielleicht wird das doch kein so ein mieser Trip. Was meine Eltern angeht, ich schätze, denen kann ich schon irgendeinen Scheiß erzählen, wo ich gewesen bin. Wäre nicht das erste Mal. He, willst du etwas Kaugummi?« Sie streckte ihrem gemeinsamen Piloten eine geöffnete Pak kung Juicy Fruit entgegen. »Nein, danke, nicht. Ich bin vertraut mit jener schreck lichen Komposition, die du als ›Kaugummi‹ bezeichnest. Da wir eine fortgeschrittene Rasse sind, sind unsere Zäh ne etwas empfindlicher als eure. Wenn ich versuchen sollte, die Substanz, die du da in deiner Hand hältst, zu kauen, würde das zu schweren Dentalschäden führen.« »Wie du willst.« Sie wickelte einen Streifen aus, schob 117
ihn sich in den Mund und verstaute den Rest wieder in ihrer Tasche. »Ich hatte mal so eine Cousine. Brauchte einen kompletten Satz falscher Zähne, als sie zwanzig wurde. Abartig.« Sie begann laut zu kauen, dann holte sie den Packen Kaugummi ein wenig zögernd wieder hervor und deutete auf Seeth. »Willst du auch welchen?« »Ich? Ach du liebe Güte, nein! Da ich ein Angehöriger einer primitiveren Rasse bin, fürchte ich, daß ich mit etwas derartig Hartem nicht zurechtkomme.« »Klugscheißer.« Sie wandte sich an Kerwin. »Du?« »Nein danke.« Er wandte den Blick nicht von der ge wölbten Sichtscheibe ab. »Na schön. Werde ich mir noch schwer überlegen, ob ich euch jemals wieder was anbiete.« Das Schiff beschleunigte und verließ langsam die At mosphäre. Es mußte eine phänomenale Geschwindigkeit erreicht haben, doch Kerwin spürte nicht das geringste davon. Das einzige Anzeichen dafür, daß sie sich über haupt bewegten, war das leise Vibrieren des Decks. Inzwischen waren sie schon mindestens auf zwanzig Kilometer Höhe. Im Norden konnte man die Lichter von Albuquerque erkennen und dahinter die kleineren Licht nester, die die Orte Taos und Santa Fe markierten. Die Erdoberfläche funkelte von kleinen Städten, die wie Ju welen vor der ruhigen, dunklen Erde glühten. »Wie schnell kann dein Schiff sich bewegen?« »Das willst du wahrscheinlich lieber nicht wissen. Ich meine, es ist nicht gerade das neueste Modell, aber es bewegt sich ganz schön schnell.« Miranda war von ihrem Sofa geglitten. »Wo sind denn hier die Örtlichkeiten?« »Die Hygieneanlagen liegen in dem Gang, durch den wir gekommen sind, die erste Tür rechts«, erklärte ihr 118
Rail. »Ich fürchte, daß dir ihr Aufbau ein wenig unver traut erscheinen wird, aber führe einfach nur die notwen digen Körperfunktionen durch, dann wird sich die Appa ratur schon darum kümmern. Sie ist dafür gebaut worden, die Bedürfnisse verschiedener Rassen zu berücksichtigen, und wird entsprechend reagieren.« »Ja, nun, okay. Soll sie mal.« Sie setzte sich in Rich tung Tür in Bewegung. »Ich meine, es ist ja nicht so, als hätte ich eine andere Wahl, weißt du. Wenn ein Mädchen mal muß, dann muß ein Mädchen eben mal.« »Dann geh schon«, meinte Seeth. »Was willst du denn noch von uns haben, eine Beglaubigungsurkunde?« »Du – du bist so, so schroff!« Er grinste entwaffnend. »Das ist mein zweiter Vorna me, Kuschelbrötchen.« Nachdem sie gegangen war, blickte er zu Kerwin hinauf. »Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, ihr IQ und deine Schuhgröße sind sich unge fähr gleich.« »Vielleicht, aber sie hat großartige…« Als er versuchte, den Satz zu beenden, hob sich das Schiff. Doch diesmal geschah es nicht langsam. Es be schleunigte nicht etwa, es sprang förmlich von Nordame rika ab. »Hätte gedacht, daß es hübscher aussieht.« Seeth mu sterte das leuchtende Rund des Globus und die schim mernde, maskierte Sonne. »Sieht einfach nur aus wie ein Film.« »Das ganze Leben ist ein Film.« »Wow! Ich meine, da ist ja echt tiefschürfend, Mann. Kann ich das weiterverwenden?« »Morgleweez gluh norpsis«, sagte Izmir von der Decke aus. »Wenn du gelegentlich mal ein Buch gelesen hättest«, 119
fing Kerwin an, doch einmal mehr bekam er keine Gele genheit, seinen Satz zu beenden. Es schien nicht sein großer Tag für das Beenden von Sätzen zu sein. Alles, was Rail ihnen über schubfreie Felder erzählt hatte und darüber, daß man die Bewegung gar nicht spü ren würde, wurde abrupt Lügen gestraft, als seine Finger über die Kontrollstreifen glitten und das Schiff scharf nach links schlingerte. Wie ein Kreisel wirbelte die Erde davon, bevor sie gänzlich aus dem Blickfeld verschwand. Vor ihnen lag nun nur noch ein sich wild verzerrendes Sternenfeld sowie ein gelegentliches intensives Licht oder zwei, die alles andere überstrahlten. Kerwin stand vorsichtig vom Boden auf und stolperte zu einem leeren Sofa hinüber, entspannte sich erst, nach dem die Gurtfelder ihn wieder angeschnallt hatten. »Was ist denn los? Was ist los?« »Oomemianer natürlich. Verdammt, verflucht! Ich hat te gehofft, daß das Paar, dem wir unten begegnet sind, die einzigen wären, die mich verfolgen, aber jetzt sieht es so aus, als hätten die anderen auf sie gewartet. Und zwar hier oben.« Er beugte sich dicht über seine Konsole. »Mindestens zwei Schiffe. Getarnt und auf uns wartend. Ich hätte damit rechnen sollen, auch wenn ich sie nicht gesehen habe. Wir müssen versuchen, sie abzuhängen.« Kerwin schluckte schwer, als sein Magen versuchte, in seine Kehle hinauf zufliegen. »Tun wir das nicht gera de?« Noch während er sprach, überschlug sich das Schiff und wich einem weiteren grellen Licht aus, um scharf am Südpol des Erdenmonds vorbeizuschießen. »Hier, da könnt ihr es sehen.« Rail betastete einen wei teren Streifen. Plötzlich materialisierte vor Kerwins Ses sel eine holographische Projektion von außerordentlicher Kompliziertheit. Vor dem Sessel, in dem Seeth Schutz 120
gesucht hatte, schwebte eine identische Projektion. Innerhalb der dreidimensionalen Blase konnte er deut lich ein Gefährt wahrnehmen, das vor zwei weiteren Schiffen floh. Ab und an löschte ein Energiestrom den Inhalt der Blase, doch brach die Projektion nie gänzlich zusammen. Ebensowenig wie das projizierte Schiff, in dem, wie er begriff, er und seine Gefährten gerade dahin jagten. »Weshalb schießen sie überhaupt auf uns?« »Um den Tod herbeizuführen. Vielleicht nicht für Iz mir, aber mit größter Wahrscheinlichkeit für uns. Wir müssen weg von hier.« »Hier? Wo ist denn überhaupt hier?« Kerwin blickte sich wild um. »Hier – das ist doch kein bestimmter Ort!« »Genau, und wir müssen einen anderen finden. Wenn ich nur meine Stellung hier verlassen könnte, könnte ich versuchen, uns zu verteidigen. Immerhin haben wir eine Kanone, wir sind nicht völlig wehrlos.« »Eine Kanone?« Seeth begann in seinem Sitz auf und ab zu hüpfen, machte soviel Bewegung, wie sein Sicher heitsfeld zuließ. »Wo denn?« »Eine kleine Energiewaffe. Sie ist in eine Blase im obe ren Teil des Schiffs eingelassen.« »Den Gang entlang und rechts abbiegen?« Die Erregt heit des Punkers war geradezu greifbar. »Nein, da ist das Badezimmer. Immer geradeaus, bis du zur Linken eine Luke erblickst. Die führt dich zu einem schmalen Schacht, an dessen Ende du den Kanoniersessel vorfindest. Soll ich annehmen, daß du den Wunsch hegst, es damit zu versuchen und sie einzusetzen?« »Das sollst du annehmen, ja, richtig. Laß mich dran!« »Das System wird sich an deine Bedürfnisse anpassen und…« 121
»Keine Sorge, Mann!« Seeth war bereits aufgesprungen und versuchte sein Gleichgewicht zu halten. »Den Rest kriege ich schon selbst raus.« Torkelnd und taumelnd lief er zum Gang. Offensichtlich hatten die schiffsinternen Kompensatoren ziemliche Schwierigkeiten mit den Fluchtdrehungen, durch die Rail das Schiff lenkte. Als Seeth an Kerwin vorbeikam, holte er ein kleines Klapp messer aus einer Tasche hervor, die auf sein rechtes Ho senbein genäht war. »Hier, Mann. Wenn sie uns entern, laß dich nicht le bendig erwischen!« Er schritt hinaus in den Gang, stieß mit Miranda zusammen, die gerade vom Klo zurückkam. »Hab jetzt keine Zeit, Mädchen. Später vielleicht.« Zur Abwechslung konterte sie nicht mit einem Fau chen, sondern zwinkerte ihn nur an und stolperte zu ih rem Sitz hinüber. Ihr Blick wirkte benommen. »Junge, das war aber komisch!« Kerwin drängte es förmlich danach, sie zu fragen, war um es komisch gewesen sei, doch er hatte nicht den rech ten Mut. Abgesehen davon war er sich sicher, daß er es tief in seinem Innersten gar nicht erfahren wollte. Doch sie redete trotzdem weiter. »Ich meine, ich hatte mal eine Freundin mit einem Bi det im Badezimmer, aber da hat man wenigstens noch rauskriegen können, wie das funktioniert.« Mit einem Zittern ging das Schiff wieder auf einen neuen Kurs. »Ah«, sagte Rail, »euer Freund hat den Ka noniersessel gefunden. Ich fürchte, daß er mehr Begeiste rung als Zielsicherheit an den Tag legt, aber vielleicht wird gerade seine Unberechenbarkeit die Oomemianer verwirren. Die werden sich auf ihre Artilleriecomputer verlassen, um entsprechend zu reagieren, und die werden wiederum Schwierigkeiten haben, weil es ihnen nicht 122
gelingen wird, in unseren Verteidigungsmaßnahmen ein logisches Muster zu erkennen.« »Das ist aber verdammt sicher«, meinte Kerwin zu ihm. »He, soll das heißen, daß Seeth das Ding tatsächlich ab feuert? Und außerdem ist er nicht mein Freund. Er ist ein Punker, ein Geschwür und eine asoziale Mißgeburt.« »Treffen tut er auch nicht«, meinte Rail nachdenklich, »aber immerhin schießt er ziemlich viel.« »Wahrscheinlich mag er bloß den Lärm. Was mich an geht, ich habe nicht viel für Kanonen übrig.« »Alles, was zählt, ist, daß er sie ein bißchen aufhält, damit wir ein wenig mehr Zeit bekommen. Die Vorberei tungen für den Gleitraumflug sind fast abgeschlossen.« »Was ist denn ein Gleitraum?« »Dort, wo sich die Sachen sehr schnell bewegen, junger männlicher Kerwin. Sehr viel schneller als im Normal raum. Wenn wir dort gleiten, bewegen wir uns auch sehr schnell. Im Normalraum können wir die Oomemianer mit Sicherheit nicht abhängen. Im Normalraum gibt es ein fach keine Verstecke, aber im Gleitraum wird alles ver zerrt, einschließlich der Ortungsgeräte. Wir sollten sie dort schon abhängen können, wenn sie uns nicht zuvor noch braten.« »Dann sei still, und konzentriere dich aufs Gleiten!« »Es spielt keine Rolle, ob ich rede oder nicht. Dieser Vorgang braucht seine Zeit, und man kann ihn nicht be schleunigen. Es ist ein bißchen so, als wollte man einen Truthahn mit Hightech-Physik rösten, wie es einige von euren Leuten wahrscheinlich ausdrücken würden. Eine ganz normale, wenn auch komplizierte Angelegenheit, ein bißchen so, als wollte man einfach vom einen Gang in den anderen schalten, ohne dabei das Getriebe kaputtzu machen.« Er hielt einen Augenblick inne, um schließlich 123
in etwas hineinzusprechen, das eine Bordsprechanlage sein mußte. »Sei ein bißchen vorsichtig und sorgfältig dahinten, Seeth. Es gibt auch so etwas wie einen Sicherheitsüber flieger. Das war gerade unser Heck, was du beinahe weg geschossen hättest. Ich glaube zwar wirklich nicht, daß du so etwas tun kannst, aber ein bißchen mehr Urteils kraft beim Schießen würden wir doch zu schätzen wis sen.« »Iehah! Yowie! Wahuu!« ertönte die Antwort. Rail runzelte die Stirn und blickte zu Kerwin zurück. »Was bedeutet das? Ich dachte immer, mein Englisch wäre vollkommen.« »Ist schon prima. Er ist derjenige, der nicht richtig re den kann. Wenn der solche Anwandlungen hat, dann kann niemand mehr mit ihm reden. Es ist ihm wirklich ziemlich egal, ob er das Schiffsheck wegschießt. Wahr scheinlich würde er es sogar tun, wenn er glaubte, daß das toll aussähe.« »He, mach mal ein bißchen halblang da unten, Rail mann. Du jagst so schnell dahin, daß ich niemanden tref fen kann.« »Feuere einfach nur weiter, Seeth, auf alles außer uns. Du machst das schon ganz gut.« »Tue ich das, ja? Geil.« Das Schiff erzitterte, als die Energiewaffe ihr Schnellfeuer wieder aufnahm. »Ich schätze, wir sind wohl zu weit entfernt, um noch KDKW oder etwas Ähnliches zu empfangen, wie?« brummte Miranda. »Ich meine, ich glaube, ich habe gera de Saturn oder Uranus oder irgendeines von diesen riesi gen Gasdingern rechts vorbeiziehen sehen.« »Ich fürchte, die Zeitverzögerung würde jeden Emp fang auf diese Entfernung unmöglich machen.« Das 124
Schiff zitterte. »Mr. Seeth?« »He, einfach nur Seeth, in Ordnung? Ich glaube, gerade hätte ich sie fast erwischt!« »Mach nur so weiter. Du machst das gut.« Rail blickte zu Kerwin und Miranda zurück. »Das tut er tatsächlich, wißt ihr. Das Vorgehen eures Freundes muß den Oomemianern verrückt vorkommen. Er ist wirklich sehr schlau.« »Schlauheit hat damit nichts zu tun. Er ist nur wirklich verrückt.« Rail lachte, ein helles, stotterndes Winseln. »Ach, ihr Menschen und euer Sinn für Humor!« Er wandte sich wieder seinen Instrumenten zu. »Die wollen Izmir aber wirklich sehr gerne zurückhaben.« »Wenn es irgend etwas gibt, mit dem du fest rechnen kannst, dann ist es Seeths Unberechenbarkeit.« Was ist das, dachte Kerwin, Eifersucht? Weshalb? Wahrschein lich betätigte Seeth die Feuerknöpfe mit seiner Nase. Er wußte ebensowenig was er tat wie die Oomemianer, was allerdings, wenn man Rail glauben konnte, unter den gegebenen Umständen tatsächlich die bestmögliche Re aktion war. »Ach, verdammt!« Sofort drehte er sich in seinem Sessel um, um zu Mi randa zurückzublicken. »Was ist los? Hast du dir weh getan?« Das Schiff wurde von einem weiteren Beinah treffer erschüttert, und diesmal zuckte selbst Rail zu sammen. »Ich habe mir einen Nagel abgebrochen. Kannst du dir das vorstellen? Nach dieser dämlichen Fahrt in dem Kombi und dem Rumjagen durch den Wald, ohne auch nur einmal zu stolpern, muß ich mich jetzt auf meine Hand setzen und mir einen Nagel abbrechen. Ich kann dir 125
eins sagen: Mir reicht es langsam.« »Oh, das tut mir leid. Vielleicht sollten wir kurz mal anhalten, rechts ranfahren und Izmir bei den Oomemia nern gegen etwas Nagelkleber eintauschen.« Sie schnitt eine Grimasse und streckte ihm die Zunge entgegen. »Alles bereit?« »Bereit wofür?« Ein angewiderter Kerwin drehte sich zu ihrem Piloten um. »Um in den Gleitraum zu gleiten. Beim ersten Mal kann einen das ziemlich mitnehmen. Vielleicht solltet ihr lieber die Augen schließen, obwohl das auch nicht allzu viel Unterschied zu machen scheint…« »Hoppla, einen Augenblick mal! Warum macht das keinen…?« Rails rechte Tentakelspitzen glitten gemeinsam vier dünne Metallstreifen entlang. Als sie unten angekommen waren, löste sich das Universum in seine Bestandteile auf. Dazu gehörte alles, was sich in Kerwins Gesichtsfeld befand: der Raum außerhalb der Sichtscheibe, Rail, das Innere der Pilotenkabine, Miranda und, am beunruhi gendsten, sein eigener Körper. Seine Finger schienen sich von der Hand zu lösen, sein Unterarm vom Ellbogen, sein Ellbogen von der Schulter und all dies im Zeitlupentem po. Alles schwebte vor allem anderen davon – oder viel leicht war »gleiten« das angemessenere Verb. Es tat nicht weh, es war nur ein Gefühl der Be schwipstheit, verbunden mit einem leichten Gefühl der Schlappheit. Da trieb plötzlich etwas Festes ins Gesichts feld. Es schien merkwürdig, daß Izmir der Astarach seine Gestalt beibehalten konnte. Hätte er sich nicht auch in seine Bestandteile auflösen müssen? Das blaue Auge blickte ihn ausdruckslos an. Dann verflachte sich Izmir 126
zu einer Wurstform, die von winzigen inneren Energie stößen pulsierte. Im nächsten Augenblick war er auch schon aus dem Gesichtsfeld getrieben. »He!« Kerwin erschien seine eigene Stimme so, als würde er durch Leim sprechen. »Wie lang geht das noch?« Rail hörte sich ebenso träge an, nur sehr viel entspann ter. Anscheinend lief alles so, wie es sein sollte, obwohl Kerwin sich nicht vorstellen konnte, wie ihr Pilot das festzustellen imstande war, da doch alle seine Instrumen te durch den ganzen Raum schwebten. »Es müßte bald vorbei sein. Wenn wir mit dem Gleiten aufhören, werden wir in einem anderen Teil des Raums hervortreten. Ich hoffe, daß es auch derjenige ist, auf den ich es abgesehen hatte. Ich hoffe außerdem, daß wir keine Gesellschaft haben werden. Meine wohlgeübten Aus weichmanöver und das undisziplinierte, aber gnadenlose Feuer deines Freundes könnten zusammen möglicherwei se dafür gesorgt haben, daß unsere Verfolger vor unserem Davongleiten keine Ankerpeilung mehr anbringen konn ten. Ah.« Kerwins Hand hatte ihre fünf flüchtigen Finger zurückgewonnen. Auch seine umherwandernden Arme und Beine fügten sich wieder seinem Rumpf an. Irgend etwas schien zu schnappen, dann spürte er, wie er nach vorn stolperte. Die Gurtfelder hielten ihn fest und verhinder ten, daß er zu einer Dekoration der Sichtscheibeninnen seite wurde. Dann merkte er, wie er mit den Augen zuckte. Alles sah wieder normal aus; das Schiffsinnere, Miranda, er selbst. Einige Augenblicke später ließ ihn eine Stimme sich umdrehen. Seeth kam in den Raum gestolpert. »Wow! Kannst du das vielleicht noch mal machen? 127
Wirklich eine geile Nummer!« »Das könnte ich schon, aber dafür besteht kein Be darf.« Rail musterte gerade seine Konsole. »Ich glaube, es ist uns gelungen, unseren Freunden durch das Gleiten zu entkommen.« »Ach, komm schon, Mann. Das mußt du unbedingt noch mal machen. Das war echt grell! So ein High hatte ich schon seit Monaten nicht mehr!« Kerwin atmete schwer, während sein Magen sich lang sam wieder beruhigte. »Das Gleiten hat dir also gefal len?« »So nennt man das? Hat sich für mich eher wie Fliegen angefühlt. Ich meine, so was nennt man doch außerkör perliche Erfahrungen.« Er blickte zu Miranda hinüber. »Und du, Süßschnute?« »War ganz okay. Nichts Besonderes. Aber es war we nigstens was anderes.« Kerwin löste sich aus seinen Pufferfeldern und schritt hinüber, um Izmir zu mustern, der nun wie eine schil lernde gelbe Kugel von der Decke hing. Eine Reihe glü hender, pulsierender schwarzer Linien zogen durch sei nen kugeligen Körper. »Als wir glitten, ist etwas Komisches passiert.« »He, das ist aber mal eine Nachricht!« meinte Seeth sarkastisch. »Möglicherweise schon. Es geht um Izmir. Er hat sich nicht verändert. Alle anderen haben sich verändert, sahen aus, als würden sie sich auflösen, aber er nicht.« »Wirklich?« Rail blickte zu dem Astarach empor. »Ich muß gestehen, daß ich nicht überrascht bin. So etwas wie ihn gibt es eben kein zweites Mal. Wiederum eine seiner einzigartigen Eigenschaften. Bist du dir ganz sicher? Da ich bisher immer das Schiff steuern mußte, hatte ich kei 128
ne Gelegenheit, um es zu bemerken. Vielleicht hast du es dir nur eingebildet.« »Nein. Alles andere sah vollkommen verrückt aus, aber er nicht. Er hat während des ganzen Gleitens seine Form beibehalten.« »Faszinierend. Ich bin sehr interessiert, was unsere For scher herausfinden werden, wenn sie Gelegenheit be kommen ihn zu untersuchen. An Bord dieses Schiffes habe ich natürlich weder die Zeit noch die Geräte, und ich habe auch nicht die Ausbildung, um eine solche Stu die zu beginnen.« »He, das ist mir völlig egal, was du rausfindest«, mein te Seeth aufgeregt. »Diesen Schießwettbwerb kann so wieso nichts mehr überbieten. Ich dachte immer, daß Schießautomaten eine Menge Spaß machen, aber das hier – einfach geil, Mann!« »Es war eine wirkliche Kanone«, erinnerte Kerwin ihn nüchtern. »Du hast auf wirkliche Leute geschossen.« »Oomemianer sind keine wirklichen Leute, Kumpel.« Rail klang zustimmend, als er sagte: »Auf Prufillia wird man dich lieben, mein junger Freund.« »Und wenn schon. Das waren schließlich die Bösen, was anderes zählt nicht. Das, und die Tatsache, daß ich nicht ständig Vierteldollarstücke hineinpumpen mußte. Ich meine, der Gleitraum ist einfach cool.« »Wir sind die ersten Menschen unseres Planeten, die sich schneller bewegen als das Licht, und alles, was dir dazu einfällt, ist nur, daß es ›cool‹ war?« Kerwin schüt telte den Kopf. »He, Mann, was soll ich denn sonst noch sagen? Bin schließlich kein Collegejunge. Habe nichts für kompli zierte Semantik übrig. Sag mal, Mähgesicht, können wir das nicht noch mal machen?« 129
»Im Augenblick gibt es keinen Grund, noch einmal in den Gleitflug überzuwechseln. Ich glaube, wir haben erreicht, was wir erreichen wollten.« »Wie steht es überhaupt?« hakte Kerwin nach. »Ich führe gerade eine letzte Kontrolle durch. Die Oo memianer können sowohl heimtückisch als auch direkt sein. Nichts würde ihnen besser gefallen, als mich davon zu überzeugen, daß ich sie abgeschüttelt habe, bevor sie sich wieder auf uns stürzen.« »Gibt es in dieser Bude eigentlich auch etwas zu es sen?« Miranda stand träge neben ihrem Sofasessel und schnalzte mit der Zunge. »Ich verhungere bald.« Sie holte einen kleinen Spiegel aus ihrer Tasche und musterte ihr Abbild, schnippte eine makellose blonde Locke wieder an ihren Ort zurück. »Wißt ihr, ich kann machen, was ich will, echt, eh, aber diesen Lidstrich kriege ich nie richtig hin.« »Im Gleitraum sieht niemand ganz richtig aus«, warf Kerwin hilfsbereit ein. »Klar, Mann, das muß es sein.« Sie steckte den Spiegel wieder weg. »Wie ist das nun mit dem Fraß?« Rails Tentakel huschten fieberhaft über die Kontrollen. »Im Augenblick bin ich vor allem damit beschäftigt, un ser Weiterbestehen zu sichern.« »Ich auch. Ich brauche Nahrung, um mein Weiterbeste hen zu sichern.« »Ach, na gut«, meinte der Alien verärgert. »Im hinteren Teil des Raums findest du ein kleines verstellbares Stirn band, das von einer dehnbaren Metallstütze herabhängt. Leg das Band um die Stirn, überzeuge dich davon, daß es rundherum eng anliegt und der Kontakt geschlossen ist, und berühre dann den blauen Streifen an der Wand rechts von der kleinen Einbuchtung. Denk an das, was du ver 130
zehren willst. Das Schiff wird sein Bestes tun, um die Nahrung, an die du denkst, zu synthetisieren.« »Echt?« fragte Seeth. »Nur, wenn du es willst.« »Kann es auch was anderes synthetisieren?« Der Eifer in der Stimme des kleineren Mannes ließ keinen Zweifel offen. »Drogen, zum Beispiel?« »Nein, nur Nahrungsmittel. Was du brauchst, verlangt den Einsatz des Medizinalsynthetisierers, und der befin det sich…« »Sag es ihm nicht«, sagte Kerwin schnell. »He, verpiß dich, Mann. Wer hat dich denn gefragt?« »Er ist nicht krank.« Kerwin schritt ein kleines Stück näher an Rail heran. »Der interessiert sich nur für ein High.« »Ach so, na ja, ich fürchte, ich kann den Gebrauch der medizinischen Anlagen zu Zwecken der Zerstreuung leider nicht dulden. Außerdem halte ich nichts davon, wie solche Chemikalien auf das menschliche Nervensystem wirken.« Seeth blickte Kerwin wütend an. »Na schön, Kumpel. Irgendwann werde ich dir auch mal einen Gefallen tun.« Miranda hatte inzwischen das Sensorband um den Kopf geschnallt und blickte nun zur Konsole zurück. »Muß ich meine Augen schließen oder so was?« »Das ist nicht nötig, es sei denn, du hast das Gefühl, daß es dir hilft, dich besser auf das Bild zu konzentrie ren.« Sie richtete sich ein Stück auf. »Wie lange dauert es, bis es funktioniert?« »Die Maschine wird einen Summton von sich geben, wenn sie ein Bild empfangen hat, das kräftig genug ist, um der Bitte entsprechen zu können.« »Okay.« Sie schloß dennoch die Augen. Kerwin dach 131
te, daß ihr dies das Aussehen des märchenhaften Dornrö schens verlieh. Hinter der Wand ertönte ein leises, musikalisches Ge räusch. Miranda blinzelte und legte den Riemen wieder ab. Die Einbuchtung in der Wand leuchtete schwach. Es gab keinen Schutzschirm, so daß Kerwin glaubte, daß die Strahlung harmlos sein mußte. Und überhaupt – niemand, der auch nur ein halbes Gehirn besaß, würde dort seinen Kopf hineinstecken. Als das Glühen verblaßte, füllte sich der Raum mit einem vertrauten, scharfen Aroma. »Schon besser.« Miranda griff in die Öffnung und holte einen großen Teller hervor, auf dem ein Riesenhaufen Pommes frites unter etwa zwei Litern Ketchup lag. Die Öffnung gab auch eine gewaltige Malzschokolade frei und, vielleicht als eine Art Nachgedanke, eine Tüte Dori tos. Genau jene Art von Nahrung, die bei normalen jun gen Menschen Nebenprodukte wie Fett und Akne zu erzeugen pflegte. Die Mirandas der Rasse jedoch waren völlig immun gegen solche Körperverstümmelungen. Kerwin bezweifelte nicht im geringsten, daß Miranda eine solche Diät mühelos überleben konnte, ohne daß ihr Gesicht oder ihre Figur auch nur im geringsten darunter leiden würden. Da es weder Tische noch Stühle gab, kehrte sie zu ih rem Sofasessel zurück, nahm Platz und mampfte munter vor sich hin. Kerwin blickte entsetzt das hochfette, schwer cholesterinhaltige Mahl an. »Wie kannst du nur so etwas essen? Das ist doch nichts als Fett und Öl.« »Fett und Öl sind sehr gesund.« Er drehte sich um und blickte Rail fassungslos an. »O ja, unsere Ernährungswissenschaftler haben schon vor langem herausgefunden, daß solche gesättigten Fette 132
lebenswichtig für die Entwicklung von Intelligenz und guter Gesundheit sind. Besonders zerlassenes Fett ist außerordentlich bedeutsam für die richtige Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten. Ja, in meinem Volk gibt es sogar welche, die dafür bekannt sind, daß sie Fettpillen in der Hoffnung einnehmen, ihren IQ zu erhöhen.« »Das ist ja wahnsinnig«, stammelte Kerwin. Behutsam wischte sich Miranda etwas Ketchup von ih ren vollen Lippen. »Meinst du, daß ich noch einen heißen Karamelbecher als Nachtisch bekommen könnte?« »Eine ausgezeichnete Wahl«, meinte Rail lobend. »Kalzium und Zucker, gar nicht zu reden von den zusätz lichen, anregenden Eigenschaften der Schokolade.« »Mi randa, meinst du nicht, daß du vielleicht lieber etwas Vernünftigeres essen solltest?« »He, wer hat dich denn gefragt?« Seeth musterte aner kennend den Synthetisierer. »Du bist doch so ein Ge sundheitsapostel, was würdest du denn zum Essen her beizaubern? Sonnenblumenkerne und Sojaextrakt?« Der Geruch frischgeschnittener, knuspriger Pommes frites war überwältigend. Kerwin stellte fest, daß er seinen Speichel immer öfter hinunterschlucken mußte. »Äh, nein. Ich dachte mehr an so etwas wie Steak, Erbsen und Zwiebeln und eine gebackene Kartoffel.« »Echte Voll wertkost«, höhnte Seeth. »Na schön, und was willst du?« »Ich? Ich bin noch nicht hungrig. Wenn man nicht viel Knete hat, lernt man, mit wenig auszukommen. Außer dem bin ich nicht gerade wählerisch. Solange etwas eßbar ist, bin ich damit glücklich. Vielleicht werde ich versu chen, irgendwas zu erfinden.« Das Schiff machte einen scharfen Ruck zur Seite, und Miranda mußte sich Mühe geben, um ihren Teller mit dem Malzgetränk und dem zerlassenen Fett beisammen 133
zuhalten. Kerwin runzelte die Stirn. »Das hat sich gar nicht richtig angefühlt. Nicht daß ich wirklich Ahnung davon hätte, wie sich interstellare Fahr zeuge normalerweise verhalten, aber…« »Deine Instinkte hatten recht. Es war auch nicht rich tig.« Rails Augen musterten eine Reihe von blinkenden Streifenteilen. »Die Oomemianer haben wir mit Sicher heit abgehängt, aber dabei haben wir uns anscheinend ein paar Schäden zugezogen. Also kann ich keinen unterent wickelten Planeten wie die Erde suchen. Wir müssen irgendwohin, wo es Raumschiffdocks gibt, wo ich den Schaden ordentlich reparieren lassen kann. In diesem Quadranten gibt es eine ganze Reihe neutraler Planeten.« Über seiner Konsole erschien eine holographische Pro jektion, und er musterte sie nachdenklich. »Wir müssen den nächstbesten nehmen und können nur darauf hoffen, daß wir nicht auffallen. Die Oomemianer haben überall ihre Beobachter. Wir müssen also einfach unsere Zanzees kreuzen und darauf hoffen, daß es uns gelingt, hineinzuhuschen, die Reparaturen durchführen zu lassen und wieder zu verschwinden, bevor sie uns geortet haben.« Miranda zuckte die Schultern, schob sich eine weitere Fritte in den Mund und leckte die Tomatenpaste und das Fett von ihren makellosen Fingern. Irgend etwas an ihrer Kopfhaltung erschien Kerwin vertraut. »He, ich kenne dich doch! Habe ich mir doch gleich gedacht, daß dein Vorname mich an etwas erinnert. Du warst doch im Finale des Schönheitswettbewerbs im letz ten Jahr, nicht wahr?« Sie gewährte ihm die Andeutung eines Lächelns. »Das stimmt. Und?« »Du hast nicht gewonnen. Ich verstehe immer noch 134
nicht, warum du nicht gewonnen hast. Bis heute nicht. Du warst viel schöner als alle anderen, die im Finale wa ren. Du bist es immer noch.« »Natürlich bin ich das, aber, weißt du, da ist noch diese Sache mit dem Talent. Du weißt schon. Man muß irgend ein Instrument vorspielen oder Ballett tanzen oder da oben rumstehen und irgendein Gedicht aufsagen oder so. Das kann ich zwar alles, aber irgendwie ist das eine müde Nummer, weißt du? Außerdem hat mich damals jemand eingeladen, an diesem Wochenende zum Skifahren mit zukommen. Es hieß also, entweder der Wettbewerb oder das Skifahren, und ich meine, da fällt die Wahl ja wohl nicht schwer, oder? Ich würde immer lieber hoch nach Colorado gehen, als irgendeinen dämlichen Wettbewerb zu gewinnen. Warum? Hättest du für mich gestimmt?« »So oft wie möglich«, erwiderte er bewundernd. »Aber letztes Jahr durfte ich noch nicht mit abstimmen. Das dürfen nur die aus dem dritten Jahr, aber ich bin immer noch im zweiten. Du bist schon im dritten, nicht wahr?« »Ja.« »Na ja, das ist ja nur ein Jahr Unterschied.« »Nein.« Sie lächelte völlig ungeziert. »Das ist eine ganze Ewigkeit.« »Ich schätze, das soll wohl heißen, daß du nicht mit mir ausgehen würdest, wenn ich dich um ein Rendezvous bäte, richtig?« »Richtig.« »He, Schwester, du bist aber gerade mit ihm ausgegan gen. Mit mir übrigens auch, wenn wir schon dabei sind.« Seeth übte sich wieder in seinem schmachtenden Blick. Sie sah zu ihm hinüber, dann richtete sie die Augen wieder auf Kerwin. »Wenn ihr meint, daß ihr das als 135
Ausgehen werten könntet, vergeßt es. Ich gehe nicht mit Freaks und Muttersöhnchen aus.« »Ich habe also immer noch eine Chance?« Seeth musterte den älteren Mann. »He, Kumpelchen, letztere Bezeichnung galt dir, Trantüte.« Kerwin sah ihn stirnrunzelnd an, dann blickte er wieder beunruhigt zu Miranda hinüber. »He, ich bin vielleicht nicht in der Footballmannschaft, aber deshalb noch lange kein Muttersöhnchen.« »Ist nicht persönlich gemeint«, meinte sie zuckersüß. »Ich meine, er ist doch wirklich ein Freak«, und mit ei nem Nicken wies sie auf Seeth, »und der da ist ein Alien« – eine Geste in Rails Richtung – »und der hier ist ein«, sie blickte zu Izmir dem Astarach empor, der sie mit sei nem einzelnen blauen Auge neugierig musterte, »na ja, niemand weiß, was der ist. Und du bist eben ein Mutter söhnchen. Ist doch nichts, worüber man sich aufregen muß. Ich meine, wir sind doch alle, was wir sind. Ich zum Beispiel, ich bin eine Prinzessin. So ist das eben. Prinzes sinnen gehen nicht mit Freaks, Aliens, undefinierbaren Dingern, die ihre Gestalt verändern, oder mit Mutter söhnchen aus. Die gehen nur mit Märchenprinzen aus.« Seeth reinigte sich gerade die Zähne mit einem ausge fransten Fingernagel. »Hat der Märchenprinz dich zum Skifahren mitgenommen?« »Man weiß nie, ob einer ein wirklicher Märchenprinz ist, bevor man ihn näher kennengelernt hat.« »Woher willst du dann wissen, daß ich kein Märchen prinz bin?« fragte Seeth gierend, »oder daß Muttersöhn chen Kerwin hier kein Märchenprinz nich’ sein kann?« »Nenn mich nicht so«, murmelte Kerwin finster. »Nennt es Instinkt«, murmelte sie. »Meine Wahrneh mung sagt mir, daß keiner von euch auch nur ein halber 136
Prinz ist. Ich meine, da läge ich bei Izmir schon richti ger.« Als sie dies sagte, stieß Izmir etwas aus, das sich wie ein entzücktes Blubbern anhörte, ließ vier Flügel sprießen und flatterte prompt wild durch den Raum, wobei seine Färbung das gesamte Spektrum sichtbaren Lichts und möglicherweise auch das des unsichtbaren durchlief. Es war zweifelhaft, ob man darin eine Reaktion auf Miran das Kommentar sehen konnte. »Wenigstens einer, der glücklich ist.« Seeth wies mit einem Nicken auf den Teller in ihren Händen. »Meinst du, ich könnte ein paar von den Fritten haben?« »Bediene dich.« Sie reichte ihm den Teller. »Wenn sie alle sind, kann ich mir bestimmt immer noch ein paar neue herbeieinbilden. Aber den Karamelbecher will ich auf jeden Fall.« Sie schob Kerwin einen Beutel zu. »Magst du ein paar Doritos?« »Nein danke«, erwiderte er steif. »Ich glaube, ich wer de mich beherrschen, bis mir nach richtigem Essen zumu te ist.« Sie war nicht im geringsten beleidigt. »Wie du willst.« Als sie zusammen mit Seeth die Fritten vertilgt hatte, nutzte sie den Synthetisierer, um eine doppelte Portion heißen Karamelbecher zu produzieren, komplett mit Schlagsahne, Nüssen, Kirschen und Zimt und Muskat, was sie in überraschend kurzer Zeit verputzte. Noch wäh rend ihm schwummrig wurde, als er sie beobachtete, fand Kerwin Zeit dazu sich zu überlegen, wie es ihrem Körper nur gelingen konnte, bei einer solchen Diät diese wun derbare Figur beizubehalten. Das war außerordentlich unfair, dachte er, und das sag te er auch zu Rail. »Natürlich ist es unfair. Doch dem Universum ist es zu 137
tiefst egal, welche individuellen Glaubenssätze und Be gierden und Philosophien wir haben. Auf Prufillia glau ben wir im allgemeinen an Arch Noy Plasna, was sich, die umgangssprachlichen Deutungen mal außer acht las send, ungefähr mit ›nichts schert sich einen Deut‹ über setzen läßt. Das Leben ist viel zu kurz, die Existenz hat keinen Sinn und das Universum kein Ziel. So ist das nun mal, Leute.« »Eine ziemlich grimmige Philosophie«, bemerkte Ker win. »Das Universum ist auch ein ziemlich grimmiger Ort, mein junger Freund. Was zu entdecken du wohl Gele genheit haben wirst, wie ich glaube. Aber das heißt nicht, daß es deswegen langweilig stumpfsinnig sein muß. Jeder von uns ist für einen relativen Augenblick hier, und dann sind wir auch schon wieder verschwunden. Das Univer sum beachtet uns nicht, wenn wir hier sind, und mit Si cherheit vermißt es uns nicht, wenn wir fort sind. Wir sind alle nichts anderes als vereinheitlichte Anordnungen von Atomen und Partikeln, schweben herum, genießen ab und an für eine Sekunde oder so Bewußtheit, bevor wir uns wieder aufteilen, um Einzelbestandteile von Bäumen und Sternen und Pommes frites zu werden. Solange wir nicht in Energie umgewandelt werden, schweben jene von uns, die Begleitpartikel sind, weiter hin durch den Kosmos, genießen eine Art fragmentari scher Unsterblichkeit, Einheit mit dem Ganzen. Wenn ihr euch zusammenklumpt, mehr oder weniger zufällig, kann es als Teil eines Steins oder einer anderen Person sein.« »Oder einer Fritte«, sagte Seeth, während er gerade den letzten Teil von Mirandas fettgetränktem Vorrat verputz te. »Irgendwie ist es nicht das, was ich mir vorstelle, wenn 138
ich an die Möglichkeit der Reinkarnation denke«, mur melte Kerwin beunruhigt. »Ich spreche nicht von Reinkarnation«, erwidete Rail. »Ich spreche davon, was aus deinen dich zusammenset zenden Atomen wird, wenn du aufhörst, als intelligentes Wesen zu existieren.« »He, das ist bei dem doch schon eingetreten, als er sechs wurde«, warf Seeth ein. »Ach, du kannst mich mal.« Kerwin wandte sich nie dergeschlagen ab und schritt in den hinteren Teil des Raums. Dann streifte er sich das Sensorband des Nah rungssynthetisierers um den Kopf und bestellte heraus fordernd einen Bananensplit. Rail warf einen Blick zurück und lächelte zustimmend. »Jetzt fängst du endlich an zu begreifen.« Mit blindem Enthusiasmus schaufelte Kerwin in das er zeugte Gebirge hinein, genoß jeden kühlen, klebrigen Happen. Sogar die Bananen schmeckten frisch. Er fragte sich, wie hoch entwickelt und fähig eine Zivilisation doch sein mußte, die etwas so Kompliziertes wie einen Bana nensplit auf der einfachen Grundlage seiner Gedanken synthetisieren konnte. Aber im Vergleich zur Fortbewe gung mit Überlichtgeschwindigkeit war das möglicher weise gar nicht so schwierig. »Vielleicht solltet ihr jetzt ein wenig auf euer Gleich gewicht achten, bitte«, teilte Rail ihnen mit. Heftig ver suchte Kerwin, den letzten Rest der Eiskrem herunterzu schlucken, während er an seinen Sitzplatz zurückkehrte. »Wir verlangsamen auf Unterlichtgeschwindigkeit. Zu mindest hoffe ich, daß wir das tun. Es könnte sein, daß die Schäden, die wir bei der Flucht vor den oomemiani schen Schiffen davongetragen haben, uns ein bis zwei Probleme beschert haben.« 139
»Welche denn, zum Beispiel?« fragte Kerwin verunsi chert. »Nun, wenn wir aus dem Gleitraum treten, könnten wir möglicherweise auseinanderbrechen. Und diesmal wirk lich.« Seeth begann, nonchalant vor sich hinzusummen»Auseinanderbrechen – das ist schweeeeer!«
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VI
KERWIN STELLTE FEST, daß er leise stöhnte, schließlich hielt er es nicht mehr aus. »Würdest du bitte mal die Klappe halten! Hast du nicht gehört, was er gesagt hat? Wir kommen sonst noch alle um.« Seine Finger klammerten sich fester um die Ränder seines Liegesessels. »Unfug.« Miranda ließ auf diese selbstgewisse Behaup tung ein sehr lautes Rülpsen folgen, blickte verlegen drein und fügte hinzu: »Wir werden schon nicht sterben.« »Warum nicht? Wie kannst du dir da so sicher sein?« Sie lächelte zu ihm hinüber, wunderbar schön, wenn man vielleicht von der leisen Ketchupspur absah, die vom linken Winkel ihres sinnlichen Mundes herabtroff. »Weil ich noch nicht fertig bin.« In diesem Augenblick vollführte das Universum einen Kopfstand. Als der Kosmos und Kerwins Magen sich wieder aufgerichtet hatten, war durch die Sichtscheibe nicht etwa leerer Raum zu erkennen, sondern das Blau, Weiß und Braun eines bewohnbaren Planeten. Man brauchte keinen Abschluß in Astronomie, um sofort zu merken, daß es sich dabei nicht um die Erde handelte. Das dreifache polare Ringsystem, das dichter war als das des Uranus, war Beweis genug dafür. Als er sich gerade wieder langsam entspannte, fing das Schiff an, wie wild zu trudeln. Er schloß die Augen und schluckte, hörte zu, als Rail eine ganze Kette alienhafter Obszönitäten in einen Funkempfänger brüllte. Noch über raschender war aber, daß ein verborgener Lautsprecher die Kabine mit einer Antwort erfüllte. Für Kerwin waren 141
die Töne und Worte völlig unverständlich. Es hörte sich eher nach einer Kreissäge an als nach einer Stimme. Dieser Austausch interrassialer Beleidigungen steigerte leicht seine Lautstärke, bevor er plötzlich abrupt unter brochen wurde. »Wir sind da. Wir haben es geschafft«, informierte Rail sie. »Wo ist ›da‹?« »Nedsplen. Eine neutrale Welt, und zudem eine höchst erfolgreiche und wohlhabende. Ein angenehmer Ort zum Leben, sowohl für jene, die hier wohnen, als auch für den gestreßten Reisenden. Atmosphäre und Gravitation wer den euch gefallen. Ein sehr merkantiles Volk, die Nedspleniter. Ihr Planet stellt so etwas wie einen Knoten punkt für diesen Teil der Galaxis dar. Da es nur logisch ist, daß wir ihn aufsuchen, sollten wir uns vor oomemia nischen Beobachtern hüten. Andererseits ist hier alles so geschäftig und aktiv und übervölkert, daß es uns mit ein bißchen Glück gelingen sollte, eine Weile unbemerkt zu bleiben.« Kerwin versuchte, mit seinem Sessel zu verschmelzen. Die Planetenoberfläche kam mit halsbrecherischer Ge schwindigkeit auf sie zugeschossen. »Es hat keinen Sinn, einen der Vororthäfen anzupei len.« Rail schien das Annäherungsmanöver mit äußerster Beiläufigkeit auszuführen. »Wenn wir ohnehin schon auf einem äußerst naheliegenden Planeten landen, können wir dort genausogut an der offensichtlichsten Stelle he runtergehen.« Zu Kerwins gewaltiger Erleichterung bremsten sie schließlich ab und schossen über ein langgezogenes, seichtes Meer, das einen gewaltigen Hafen oder eine Bucht bildete. Dann flogen sie über Wälder und Acker 142
land und kurz darauf über ein endlos erscheinendes Großstadtgebiet, dessen Gebäude aussahen wie ausge saugte Insektenkadaver, die im Spinngewebe von Trans portlinien hängengeblieben waren. »Die Hauptstadt von Nedsplen«, teilte Rail ihnen mit. »Alvin.« Kerwin runzelte die Stirn. »Die Hauptstadt dieses wichtigen Planeten nennt sich Alvin?« »Was hast du denn erwartet? ›Reichsmitte‹? ›Sitz der Macht‹?« »Ich weiß nicht. Ich hatte nur gedacht… wahrschein lich bedeutet es in der Sprache der Nedspleniter irgend etwas Wichtiges, richtig?« »Wenn wir schon dabei sind: Ich glaube nicht, daß es überhaupt irgend etwas bedeutet. Ich habe keine Ahnung, warum sie Alvin heißt.« Er beugte sich über seine In strumente. »Wir werden nicht im Zentralhafen landen. Erstens herrscht dort sowieso viel zuviel Verkehr, und außerdem gibt es jede Menge kleinerer Häfen, die über die ganze Stadt verteilt sind, wo unsere Landung weniger Aufmerksamkeit erregt.« Sie kamen zu einem Halt und blieben einige tausend Meter über einer Raumschiffparkanlage schweben. Wäh rend Rail auf Landeerlaubnis wartete, konnten Kerwin und seine Begleiter eine erstaunliche Vielfalt von Raumund Luftfahrzeugen vor dem Hafen hin und her flitzen sehen. Weiter in der Ferne reckten sich Türme aus Metall und Plastik und exotischeren Baumaterialien gen Him mel. Trotz ihrer ohnehin schon gewaltigen Höhe schienen viele davon noch immer im Bau befindlich zu sein. Rail sprach auf seine Funkanlage ein, und sie leiteten die Landung ein. Diesmal geschah es sehr langsam. Um sie herum ragten metallische Schluchten empor und ver 143
deckten die Sonne. Kerwin war einmal unten im Grand Canyon gewesen. Jetzt war es ähnlich, nach und nach schlossen sich die Wände um einen, bis sogar der obere Teil des Canyons verschwand. Nur daß dies künstliche Wände waren. Wenige Minuten später setzten sie auf. Dankbar löste Kerwin sich aus seinem Anschnallfeld. »Ein gutes Gefühl, wieder festen Boden unter den Fü ßen zu haben.« »Aber das hier ist nicht der Boden. Es ist nur das Lan defeld dieses Hafens. Der eigentliche Boden liegt noch sehr viel tiefer unter uns. Nedsplen ist eine alte Welt, ziemlich überbaut. Ganz ähnlich wie auf eurem eigenen Planeten, wo man neue Städte auf den Grundmauern von alten gebaut hat, nur daß hier die untersten Schichten immer noch in Gebrauch sind.« Kerwin brauchte nicht lange über die Bedeutung dieser Worte nachzudenken, denn Rail führte sie bereits nach draußen, wo der Schwall fremdartiger Anblicke und Ge rüche überwältigend war. Kerwin hatte immer geglaubt, daß er über eine reiche Vorstellungsgabe verfüge. Doch es war eine Sache, mit zwei Aliens wie Rail und Izmir zu tun zu haben, eine gänzlich andere hingegen, auf einen monströsen Hangar unvertrauter Bauart hinauszutreten, wo sich die Mitglieder Dutzender verschiedener Rassen versammelten. Es war ein Maßstab dafür, wie weit sie schon gekommen waren, daß er jedesmal, wenn er den säuberlich getrimmten grünen Schädel eines anderen Prufilliers bemerkte, einen Wiedererkennensschock erlitt. Menschen waren nirgendwo zu sehen. Dafür gab es aber alles andere nur Vorstellbare und auch vieles, was nicht vorstellbar schien. Die kleinsten Bewohner des Hafens waren kaum fünfundzwanzig Zen timeter hoch, während die größten fast drei Meter erreichten. Diese Riesen hatten eine Haut wie Pergament, 144
reichten. Diese Riesen hatten eine Haut wie Pergament, die sich in unregelmäßigen Abständen abpellte. Dort, wo die Haut die Bodenoberfläche berührte, löste sie sich auf wie kristallisierter Honig. Es gab Säugetiere und Reptilien, Insektoide und Was seratmer, die dazu gezwungen waren, in Anzügen voll Flüssigkeit umherzuschreiten. Diese stießen im Gedränge mit Methanatmern zusammen, und alles ging, glitt, schleimte, rutschte, scharrte oder watschelte zu offen sichtlich äußerst wichtigen Zielen. »Das ist einfach too much, Mann.« Seeth sah aus, als wäre er im siebten Himmel. »He, schaut euch das mal an!« Er zeigte auf eine Kreatur, die einem Hasen von etwa sechzig Zentimetern Größe glich, komplett mit übergro ßen rosa Augen und langen Schneidezähnen, die über den Unterkiefer hinausragten. Die langen Ohren zeigten nach vorne und nicht senkrecht nach oben. An jedem davon hing ein Dutzend klimpernder Ohrringe. Seeth schritt geradewegs auf ihn zu. »He, Mann, wo hast du die Klunker her? Ist ja wirklich ein geiles Zeug.« Der hasenähnliche Alien spie dem Menschen ein paar harte Häschenlaute entgegen, dann blickte er an ihm vor bei und plapperte Rail an, der in einer anderen Sprache als Englisch antwortete. Das schien den Hasen zu befrie digen, denn nun eilte er weiter. Rail wandte sich an Seeth. »Er hat gesagt, daß du ein impertinenter, haarloser Zweibeiner bist, der eine unzivi lisierte Sprache spricht, und daß ich, wenn ich meine Haustiere schon nicht in der Gewalt habe, sie gefälligst an der Leine zu führen hätte.« Seeths Augen verengten sich. »Ach ja, hat er das ge sagt? Vielleicht möchte er noch ein paar zusätzliche Lö 145
cher in seine Ohren kriegen.« Wie durch Magie erschien plötzlich in seiner rechten Hand sein Schnappmesser. »Bist du verrückt?« Kerwin packte sein Handgelenk. »Wir befinden uns bereits mitten in einem interstellaren Krieg. Wir sind noch keine zwei Minuten hier, und schon willst du den nächsten anzetteln.« Seeth blickte weiterhin finster drein, ließ es aber zu, daß man ihn fortführte. Inzwischen hatte Rail alle Schlupfwinkel und Ecken überprüft, während sie auf den Transportschacht zuschritten. Sie begegneten mehreren Oomemianern, doch keiner von diesen würdigte Rail und seine Gefährten eines Blicks. Zivilisten, die mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt waren. Falls es doch amtliche Beobachter waren, verhielten sie sich jedenfalls außerordentlich un auffällig. Doch nicht jedes Mitglied der oomemianischen Rasse, so erinnerte Rail sie, war Mitglied der Polizei oder der Militärbehörden. Der Transportschacht erwies sich als durchsichtiger Fahrstuhl. Es gab weder eine Kabine noch irgendein an deres Behältnis, nur einen offenen, zylinderförmigen Raum von sieben Metern Durchmesser, der ein reaktives Abstoßfeld enthielt. Kerwin blieb an der Kante stehen, starrte schwindelnd in ein Loch hinunter, das mehrere hundert Stockwerke tief war. Rail machte es vor, indem er ins Nichts hinaustrat. Seeth lächelte und vollführte ein Schwanentauchmanö ver. Miranda trat einfach vor, als würde sie den Schacht jeden Tag benutzen. »Komm schon, Mann«, zog Seeth ihn auf. »Du hast doch wohl keine Angst, oder?« Kerwin schluckte wieder, dann atmete er tief durch und beugte sich vor. 146
Eine sanfte, unsichtbare Hand ergriff ihn, und langsam schwebten sie gemeinsam in die Tiefe. Irgendwie kon trollierte Rail dabei ihre Geschwindigkeit. Izmir ignorier te das Feld, er verwandelte sich in eine flache, beinah zweidimensionale Gestalt, die zu dünn war, um noch irgend etwas anderes aufzuweisen als sein blaues Auge. Er flatterte ungehindert um sie herum wie eine verirrte, hochkolorierte Seite aus Audubon’s Elefeantenfolio. »Seht ihr«, sagte Rail, »er kann sogar einem Antigrav feld widerstehen. Es besteht also kein Zweifel, daß er bemerkenswerte Eigenschaften hat, aber ob er den Oo memianern oder sonst irgend jemanden von Nutzen sein kann, ist nach wie vor fraglich. Natürlich bin ich kein Wissenschaftler. Denen wird es obliegen festzustellen, wozu er taugt, abgesehen von seinem nebensächlichen Unterhaltungswert.« Unentwegt schossen hellerleuchtete Etagen an ihnen vorbei. Kerwin erkannte, daß es Jahre dauern würde, um auch nur das zu erforschen, was alles in unmittelbarer Gehentfernung dieses einzigen Fallschachts lag. Und in einer Stadt von der Größe Alvins mußte es Tausende ähnlicher Schächte geben, die ihre Hunderte von Ebenen miteinander verbanden. »Ich sehe schon, wie er diesem Feld widersteht«, rief Kerwin zu Rail hinüber, »aber schau dir mal seinen Kör per an. Wie bringt er so etwas fertig?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht kann er sowohl die Zu sammensetzung als auch die Anordnung seiner Atome verändern. Es würde mich nicht überraschen, wenn er plötzlich einfach verschwinden sollte.« Sie begannen abzubremsen. Seeth schoß vor, schwebte zurück, um sich ihnen wieder anzuschließen, doch wußte Kerwin nicht zu sagen, ob er diesen Trick aus eigener 147
Kraft oder nur mit Rails Eingreifen geschafft hatte. Mi randa hielt an und schritt aus dem Schacht hinaus, ohne daß auch nur ein einziges Haar an ihr seine Lage verän dert hätte. Hier unten glich Alvin vor allem einer endlosen Ein kaufsstraße. Es gab jede Menge Fußgängerverkehr, und Kerwin fragte sich, wie ein paar Menschen und Prufillier unter einem solchen Sammelsurium völlig abartig ge formter Kreaturen noch hätten auffallen können. Das hinderte Rail jedoch nicht daran, sich stets dicht an die Wände zu pressen. Es gab hier so etwas wie Hotels, und er huschte schnell in jenes, das dem Schacht am nächsten war, reservierte ein Zimmer: ein einzelnes, großes Zimmer. Es war recht geräumig und mit Gegenständen möbliert, die schlicht und eindeutig genug erschienen, um einer ganzen Viel zahl verschieden geformter Körper gerecht zu werden. Eine der Wände wurde von einer massiven holographi schen Projektionseinheit eingenommen. Sie war mit einer unglaublichen Vielfalt von Wahlmöglichkeiten pro grammiert, unter denen man auswählte, indem man mit den Händen über eine Zimmerecke wedelte. Damit konn te man sie auch einstellen. Die hygienischen Einrichtun gen verbargen sich hinter einer anderen Wand, die ebenso solide erschien wie alle anderen, durch die man aber so leicht hindurchschreiten konnte wie durch Nebel. Die Trennwand war schall- und sichtgeschützt, obwohl sie aus nichts anderem zu bestehen schien als aus einer mächtigen Illusion. »Was ist mit meinem Einkaufen?« fragte Miranda und kam sofort zur Sache. »Das wird warten müssen.« Rail schritt auf die Tür zu. »Ihr könnt es euch hier alle bequem machen. Eigentlich 148
kann ich mir so etwas nicht wirklich leisten, aber ich werde schon eine Möglichkeit finden, die Zusatzspesen zu rechtfertigen. Ich habe das Gefühl, als würde ich euch etwas schulden. Wahrscheinlich habt ihr mir das Leben gerettet.« »He, da gibt es kein ›Wahrscheinlich‹, Mann.« Seeth musterte gerade die Holowand. »Diese Oomyboomies hätten dich schon nach einer Minute kaltgemacht, wenn wir nicht eingegriffen hätten.« Er schritt von der Wand fort und sprang auf das zweite der beiden großen, runden Kissen, die die Raummitte beherrschten. Das Kissen fing ihn ungefähr einen Zentimeter über seiner eigentlichen Oberfläche ab und ließ ihn dort schweben. »Mal was anderes. Auf Luft schlafen.« »Ganz ruhig.« Die Tür materialisierte sich in der Wand, sobald Rail sich ihr auf dreißig Zentimeter genähert hatte. »Zwischen den Betten befindet sich ein Kommunikator. Wenn ihr irgend etwas braucht, ruft einfach den Zimmerservice.« »Und wie sollen wir das tun?« »Das Gerät verbindet euch mit einem Universaldolmet scher. Das hier ist ein technisch ziemlich fortschrittliches Etablissement.« »Können die auch Nahrung dolmetschen, ich meine, so wie dein Synthesizer? Was passiert, wenn ich nach einem gut durchgebratenen Steak frage?« »Das Steak wird vielleicht nicht aus Rindfleisch beste hen, aber es wird vom Original überhaupt nicht zu unter scheiden sein, das kann ich dir versichern. Aber sei ein bißchen vernünftig.« »Wie meinst du das?« Rail lächelte sanft. »Bestell nichts gut Durchgebrate nes.« Die Tür öffnete sich vor ihm. »Wo gehst du hin?« 149
»Bestimmt nicht einkaufen, da will ich wetten«, warf Miranda schnippisch ein. »Es gibt einige Dinge, um die ich mich kümmern muß, zum Beispiel die Reparaturen an meinem Schiff, und ich muß auch einige Kontakte herstellen, solange ich hier bin.« »Mußt du uns wirklich verlassen?« fragte Kerwin ihn. »So ist es sicherer. Sicherer für euch und sicherer für mich. Wie ich schon sagte, ihr wirkt hier ziemlich auffäl lig.« »Wir? Auffällig? Wir sind unterwegs an etwas vorbei gekommen, das so aussah wie eine Tarantel mit Brille und Gamaschen. Und da behauptest du, wir wären auffäl lig!« »Ihr seid Primaten. In der Hierarchie galaktischer Rassen sind Primaten selten. Meistens gelingt es ihnen, sich selbst auszulöschen, bevor sie einen Grad der Zivili sation erreicht haben, der hochstehend genug ist, um ihnen den Zutritt ins gesellschaftliche Leben der Galaxis zu gestatten. Nicht immer, aber meistens. Ich möchte nicht, daß ihr Schwierigkeiten bekommt. Ich könnte nicht zu euren Gunsten eingreifen, weil das bedeuten würde, daß ich mich den örtlichen Behörden offenbaren müßte, und die sind von den Oomemianern mit Sicherheit schon längst gewarnt worden. So hochentwickelt Nedsplen auch sein mag, glaube ich doch kaum, daß euch die Gefängnis se hier besser gefallen würden als auf eurem eigenen Planeten.« »Ach ja?« Seeth rollte sich auf der Luft ab. »Dann will ich dir mal was sagen – es gibt nichts Schlimmeres als das Gefängnis des Sheriffs in Albuquerque. Ich meine, da hocken doch nichts als Säufer und Kiffer drin.« »Hier gibt es ähnliche Probleme.« 150
»Ja? Wie sieht denn ein Säufer auf Nedsplen aus?« »Es gibt viele verschiedene, je nachdem, von welcher Wasserwelt sie stammen. Zum Beispiel… aber warum erzähle ich dir das eigentlich? Wir vergeuden nur Zeit, die wir nicht haben. Ich muß das Schiff reparieren lassen und uns dann sobald wie möglich von hier fortbringen.« »Du hast mich angelogen.« Miranda lehnte am anderen Bett und schmollte. »Es gibt hier gar nichts einzukau fen.« Rail seufzte, trat von der geöffneten Tür zurück und sprach in ein Gitter hinein, das in die Wand eingelassen war. »So. Ich habe einen kleinen Kreditrahmen – beden ke bitte, einen kleinen – bei einem örtlichen Kaufhaus ausgehandelt. Du kannst über den Kommunikator zwi schen den Betten bestellen. Aber sei bitte umsichtig. Kei ne großen Juwelen oder irgend etwas in der Art.« Zum ersten Mal, seit Kerwin sie im hinteren Teil des Wagens ihres Freundes erblickt hatte, zeigte sie so etwas wie wirkliche Erregtheit. »He, ich weiß schon selbst, wie man einkauft. Ich meine, das ist so eine Art Beruf für mich. Wie fange ich an?« »Sprich einfach mit dem Kommunikator und sage ›Ein kaufen‹. Deine Einkäufe werden automatisch auf die Zimmerrechnung gesetzt. Und noch etwas: Ich werde Izmir bei euch zurücklassen.« Der Astarach schwebte in Deckennähe. Er hatte die Ge stalt eines festen Blocks aus schwarzem Granit ange nommen, der von leuchtenden weißen Streifen durchzo gen war. Das blaue Auge bewegte sich von einer Kante des Blocks zur anderen. »Bewacht ihn mit eurem Leben.« Schnell verschwand Rail. »He, einen Augenblick mal!« Doch Rail war bereits 151
fort. Kerwin drängte den Alien aus zwei Gründen nicht länger. Zum einen war er sich ziemlich sicher, daß Rail es ernst gemeint hatte, als er sagte, daß er schnell vorge hen müsse, und zum zweiten hatte er nicht die leiseste Vorstellung, wie er die Tür öffnen konnte, die inzwischen wieder zu einem Bestandteil der Wand geworden war. »Mann, ist das hier nun eine große Nummer, oder nicht?« Seeth stand auf und sprang so hoch, wie er konn te, mit dem Rücken wieder aufs Bett fallend. Das dünne Suspensionsfeld fing ihn so sanft auf wie eine Riesen hand. Außerordentlich praktisch, dachte Kerwin. Ein Energie feld konnte sich jeder Gestalt anpassen. Und was Anpas sungsfähigkeit anging, so hatte Miranda es bereits ge schafft, auf die Holowand eine ganze Prozession exoti scher Kleidungsstücke zu zaubern. Er fragte sich, wie es der Verkäufer, ob es nun ein Alien sein mochte oder eine Maschine, geschafft hatte, ihre Rasse und Körpergröße herauszubekommen. Zweifellos war die Wand nicht nur ein Empfänger sondern auch ein Sender. Während er zusah, schien ein Teil des Schirms in den Raum hinauszuspringen und ihre stehende Gestalt in leuchtendes rotes Licht zu hüllen, das sich ihrem Körper anschmiegte. Zum ersten Mal in seinem Leben beneidete er einen Lichtstrahl. Einen Augenblick später war das Licht schon wieder verschwunden. Danach hatte alles, was auf dem Bildschirm erschien, exakt ihre Größe und Gestalt. Sie konnte die verschiedensten Kleider anprobie ren, indem sie einfach nur eine verbale Bitte äußerte, worauf ein durchaus feststofflich aussehendes, projizier tes Duplikat des fraglichen Kleids plötzlich erschien und ihre Form umhüllte. Dann verwandelte sich die Wand hilfreicherweise in einen Vierflächenspiegel, der ihr zeig 152
te, wie sie darin von vorne, von hinten und von beiden Seiten aussah. »Ich frage mich, ob es ihr nicht schadet, sich so vielen Projektionen auszusetzen.« »He, laß das Mädchen in Frieden. Siehst du denn nicht, daß es schon längst gestorben und in den Himmel ge kommen ist?« Seeth wälzte sich auf dem Bett. Kerwin nahm Platz und beobachtete die Show eine ganze Weile, bevor er bemerkte: »Äh, denk daran, was Rail gesagt hat. Du darfst sein Limit nicht überschreiten.« »Keine Bange. Außerdem hat er nicht gesagt, wie hoch das Limit ist. Ich wette, ich kann so lange bestellen, bis wir es erreicht haben, dann wird der Schirm schon ein fach aufhören, mir Zeug anzubieten.« Sie wandte sich zu ihm um. »Was hältst du von dem hier?« Er starrte sie an. Sie trug etwas, das so aussah wie ein Kleid, es schien aus dünngeschliffenen Rubinen zu be stehen, die von einem Rubinfaden zusammengehalten wurden. Die in Scheiben geschnittenen Steine wiesen eine Vielzahl von Farbtönungen auf, von Blutrot im unte ren Teil bis zu Leichtrosa in Halsnähe. Zweifellos war das alles künstlich und aufgebauscht. Ein solches Kleid aus echten Edelsteinen wäre untragbar schwer gewesen. Kerwin zweifelte nicht daran, daß sich der eigentliche Stoff leicht und bequem trug. Da der Rubin ein halbdurchsichtiger Stein war, wirkte jedes Teil wie ein winziges rotes Fenster. »Gleich fällt dir noch die Zunge aus dem Hals.« Er zuckte zusammen und sah, wie Seeth ihn hämisch angrin ste. »Paß lieber auf. Ich wette, daß dieser Schuppen hier eine individuelle Raumreinigung hat. Die saugt dir die Zunge gleich in den Müll ab. Nimm einen von diesen hier.« 153
Auf dem Kommunikator stand ein kleines Behältnis. Darin befand sich etwas, das aussah wie ein Nest aus Servietten, doch Seeth hatte entdeckt, daß es in Wirklich keit flache weiße Behälter mit einer köstlichen, eiskalten, sirupartigen Flüssigkeit waren. Nachdem er einen davon geleert hatte, warf er den leeren Behälter auf den Boden. Einen Augenblick lang wogte der Teppich verunsichert. Dann begannen die einzelnen Fasern wie winzige Hände, den Müll nach rechts zu befördern. Kerwin mußte ihm aus dem Weg springen, obwohl er ihn wahrscheinlich umgangen hätte, wäre er stehengeblieben. Als der Abfall die gegenüberliegende Wand erreicht hatte, materialisier te sich im Boden plötzlich ein Loch. Ein leises, saugen des Wimmern, und schon verschwand der leere Behälter in der Öffnung. Beunruhigt musterte Kerwin das Material unter seinen Füßen. War das irgendwie geladen oder programmiert, oder lebte es tatsächlich? Die winzigen Fasern sahen plötzlich auf beunruhigende Weise wie kleine grüne Wimpern aus. Mit vorsichtigen Schritten begab er sich zum anderen Bett, um sich zu setzen. Der Teppich prote stierte nicht. »Ausgezeichnet, um eine Party abzuhalten. Hier kannst du jede Menge Kartoffelchips auf den Boden bröseln, der reinigt sich von selbst.« Seeth saugte einen weiteren wei ßen Behälter leer und warf ihn zu Boden. Und wieder schoben Hunderte von winzigen Fasern den Abfall zur Wand. Dann sprang er vom Bett und blockierte seinen Weg. Der Teppich zögerte, dann begann er, seine Last nach links zu verschieben. Wieder trat ihm Seeth in den Weg. Kerwin sah zu, bis er sich nicht mehr beherrschen konnte. »Hör mal, wir sind hier auf einer fremden Welt, wer 154
weiß wieviele Lichtjahre von der Erde entfernt. Wir sind die ersten unserer Rasse, die so etwas erleben, und alles, was dir dazu einfällt, ist, den Teppich zum Narren zu halten?« »Eben alles, was Spaß macht, Mann.« Endlich trat er beiseite, damit der Boden seine Reinigung vollenden konnte. In der Zwischenzeit hatten sich Schachteln, die wie rie sige, starrkantige Tüten aussahen, in einer Öffnung in der gegenüberliegenden Wand aufgehäuft. Kerwin erblickte das Rubinkleid in einem der durchsichtigen Behälter. »Meinst du nicht, du solltest noch ein paar hübsche Ru binsandalen bestellen, die dazu passen?« Miranda überlegte. »Nein. Ich glaube, lieber etwas Gelbes. Mit etwas Gelbem für mein Haar und etwas Gel bem für mein Handgelenk. Das wäre Spitze.« Offensichtlich hatte sie sowohl seine Anspielung als auch seinen Sarkasmus völlig überhört. »Sag mir eins: Wie schaffst du es, auf dem College zu bleiben?« »Oh, ich habe im Schnitt eine Zwei. Ich schätze, ich könnte schon einen Durchschnitt von Eins schaffen, wenn ich wollte, aber das Studieren ist wirklich eine ziemliche Tretmühle, weißt du? Ich bin nur auf dem Col lege, weil Mami und Papi unbeugsam darauf bestanden haben. Ich meine, wir haben uns richtig gestritten deswe gen, und eigentlich hätte ich am liebsten mit der Faust auf den Tisch geschlagen, aber dann hätten sie mir das Ta schengeld gekürzt, und das wäre noch schlimmer gewe sen. Also habe ich mir gedacht, warum sollst du es nicht mal versuchen. Jetzt habe ich nur noch ein Jahr, und sie haben aufgehört, mich deswegen ständig zu nerven. Außerdem dachte ich mir, daß es eine gute Gelegenheit wäre, um ein paar scharfe Typen kennenzulernen.« 155
»Und, hast du das?« Er versuchte, nicht allzu hoff nungsvoll zu klingen. Doch es war vergebens. »Bisher noch nicht.« »Oh.« »Ich meine, Brock war schon in Ordnung, aber er war ein bißchen so was wie ein Hohlkopf, verstehst du?« »Warum bist du ausgerechnet auf die UNM gegan gen?« Er zögerte, ein Gespräch zu beenden, an dem sie tatsächlich teilnahm, anscheinend war es für sie möglich, sich erfolgreich auf zwei Dinge zur selben Zeit zu kon zentrieren, solange eines davon Einkaufen war. »Ich mag Skifahren. Und außerdem ist Houston, wo ich herkomme, so langweilig, und das Wetter dort, na ja, das ist einfach zum Kotzen. Ich wollte nicht zu weit weg von zu Hause, und wir haben gute Freunde außerhalb von Hobbs. Die haben die allergrößte Ranch. Ich meine, für die Viehzucht ist sie einfach schrecklich, aber darunter liegt pfützenweise Öl, und Onkel Joe hat mir gesagt, daß er mich gerne jederzeit in seinem Flugzeug runter nach Houston fliegen würde. Die Bedingungen sind also gar nicht so schlimm.« Sie zeigte auf etwas. »Was hältst du von diesem silbernen Ding da, ganz links außen?« Sie deutete auf etwas, das aus Blechfolie angefertigt zu sein schien – vielleicht war es aber auch gesponnenes Platin. »Dazu kann ich nicht viel sagen. Ich halte nichts von Mode.« Traurig schüttelte sie den Kopf. »Ehrlich! Ihr Jungen. Manchmal glaube ich, daß ihr einfach überhaupt nicht wißt, was wirklich wichtig ist.« »Ach ja?« Er war pikiert und war es auch leid, das stän dig zu verbergen. »Na klar. Dann stellen wir doch mal eben schnell fest, was wirklich wichtig ist, in Ordnung?« 156
nung?« Er schritt zu dem Kommunikator hinüber und sprach ihn herablassend an. »He, wer immer dort unten ist! Kannst du mir eine Frage beantworten?« Der Kommunikator antwortete in rauhem, aber recht gutem Englisch. »Ich habe Zugang zur Stadtbibliothek. Ich kann alle Fragen beantworten.« »Also schön. Ich möchte wissen, was ›wirklich wich tig‹ ist. Ich meine, die wichtigste Aktivität, die es gibt. Irgendwo. In der ganzen zivilisierten Galaxis. Was ist wirklich von Wichtigkeit? Worum geht es dabei? Was ist überhaupt der Sinn des Lebens?« »Einen Augenblick, bitte.« Die geschlechtslose Stimme verstummte. Kerwin fragte sich, was sie wohl gerade studieren mochte, welche uralten Quellen, welche unend lich ausdiskutierten philosophischen Traktate. Allgemei ne Fragen ließen sich immer am schwierigsten beantwor ten. Er hatte seine Frage beinahe scherzhaft gestellt. Da erkannte er, daß eine kleine, unwichtige Meinungsver schiedenheit möglicherweise dazu führen könnte, daß er als erster Mensch eines der großen Geheimnisse der Exi stenz erfahren könnte. Die Stimme meldete sich wieder. »Deine Frage ist be arbeitet worden. Schon vor langer Zeit wurde festgestellt, daß das Wichtigste in der zivilisierten Galaxis – das Ein kaufen ist.« Kerwins Unterkiefer sackte nach unten. Miranda lächelte einfach nur selbstzufrieden. »Siehst du? Und jetzt möchte ich das silberne Ding da mal anprobieren.« »Jawohl, Miß«, sagte der Kommunikator pflichtschul dig. Kerwin schritt langsam hinüber, um sich auf das andere Bett zu setzen. Seeth musterte ihn mitleidig. »He, nimm’s nicht so schwer, Mann.« 157
»Das kann einfach nicht sein. Das muß ein Witz sein«, murmelte Kerwin bei sich. »Es muß einfach ein Witz sein! Rail hat das Ding irgendwie programmiert. Ich habe ihm ja noch nie getraut.« Plötzlich erhellte sich seine Miene. »Ich weiß es! Sie kauft Zeug wie verrückt, da ist es ja nur natürlich, daß das Hotel oder das Geschäft oder beide sie darin ermuntern wollen. Deshalb hat das Ding so geantwortet. Jawohl.« »Na klar doch, Kumpelchen. Glaub das ruhig.« Seeth setzte sich auf. »He, Zuckerschnute, wie wär’s denn, zur Abwechslung mal die Herrenabteilung anzurufen?« »Okay. Dieses Ding hier gefällt mir sowieso nicht.« Das holographische Duplikat des Platinkleids gesellte sich wieder zu seinen wandgebundenen Gefährten. Seeth hüpfte vom Bett und schritt zu ihr hinüber, um sich neben ihr aufzubauen. »Leder. Ich will die Lederab teilung. Oder wie immer man das hier nennt. Und Nieten. Jede Menge Nieten, und zwar aus Gold, wenn sie nicht zu teuer sind. Ja, goldene Nieten.« »Jawohl, Sir«, sagte der Kommunikator. Statik füllte die Wand aus. Kerwin murmelte halblaut. »He, Mann, warum tauschst du nicht deine alten Jeans ein?« »Diese alten Jeans erfüllen noch ausgezeichnet ihren Zweck«, schoß Kerwin zurück. Er schritt hinüber zum Kommunikator und nahm sich einen der Sirupbehälter. Der vereiste sofort. Natürlich war es absurd. Das Einkaufen war doch nicht das Wichtigste im Universum! Er stand da und dachte über diese alberne Nichtigkeit nach, bis plötzlich an der Wand etwas erschien, das wie eine Kreuzung zwischen einem Smoking und einer Robin-Hood-Jacke aussah. In diesem Augenblick machte irgend etwas in seinem Ge 158
hirn lösch, lösch!. Die Zerstörung war zum Glück so lokalisiert, daß er sich noch umdrehen und zusammen hängend sprechen konnte. »Einen Augenblick mal. Mal schauen, ob sie das in meiner Größe haben.«
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VII
STUNDEN SPÄTER WAR KERWIN noch immer nicht bereit, dem Einkaufen zuzugestehen, daß es die wichtigste Handlung sei, derer sich jemand befleißigen konnte, aber immerhin bot sie nette Abwechslung. Es war sehr ange nehm, daß alle drei Reisende zum ersten Mal, seit sie zusammengewürfelt worden waren, auf derselben Wel lenlänge funkten, sich als Teil ein und derselben Sache fühlten, und wenn es vielleicht nichts anderes war als Bestellungen per Katalog. Zwar schuf es keine Verbin dungen auf einer ernstzunehmenden Gefühlsebene, doch zeigte es wenigstens, daß sie außer Alter, Sprache und Rassenzugehörigkeit noch etwas anderes gemeinsam hatten. Auch beschränkte der Kommunikator sich nicht nur auf Kleidung. Sie konnten genug zu essen und zu trinken bestellen, alles davon synthetisiert wie an Bord von Rails Schiff, und alles ebenso köstlich und zufriedenstellend. Kerwin gelang es sogar, ein bis zwei milde Komplimente von Miranda zu erheischen, weil es ihm gelang, auch jene Nahrungsmittel einigermaßen zu beschreiben, die der Kommunikator nicht richtig zu übersetzen vermochte. Sie versuchten sogar ein paar fremde Gerichte, Tagesspezialitäten, die mit ihrer Physiologie kompatibel waren. Einige der daraus sich ergebenden Geschmacksempfindungen wirkten äußerst belebend. Als Miranda schließlich entschied, mit dem Einkaufen aufzuhören und einige von den Kleidern auszuprobieren, die sie bereits erworben hatte, entdeckten Kerwin und 160
Seeth, daß die Holowand nicht nur nützlich, sondern auch unterhaltsam sein konnte, ein richtiges Multime dia-Unterhaltungszentrum – obwohl einige der Medien derart »multi« waren, daß sie schon nicht mehr wahrzu nehmen waren. Schließlich stellte Kerwin fest, daß es faszinierender war, Miranda zu beobachten. So hatte Seeth freie Hand, mit dem Gerät so lange zu spielen, bis er feststellte, daß er ebensoleicht Musikinstrumente wie Kleidung bestellen konnte. Freudestrahlend durchstöberte er einen anscheinend endlosen Katalog von Geräten, von Synthesizern, die nicht größer waren als eine Mundharmonika, bis zu Trommeln von der Größe eines Baggers. »Das mit der Band lasse ich, Mann. Ein paar von die sen Geräten da, und ich bin meine eigene Band.« »Nun gerate nicht gleich aus dem Häuschen.« Kerwin zeigte auf den Kommunikator. »Meinst du nicht, daß es langsam Zeit wäre, das Ding dort für ernsthaftere Zwek ke zu verwenden? Beispielsweise befinden wir uns mit ten in einem transgalaktischen Krieg. Vielleicht ist es langsam Zeit, daß wir etwas darüber in Erfahrung brin gen, zum Beispiel, wie er entstanden ist und seit wann er schon tobt. Vielleicht können wir irgendwie darauf einwirken. Formal gesehen sind wir ja neutral. Was meint ihr?« Miranda schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht. Zu mindest jetzt noch nicht. Muß mich erst noch um wich tigere Sachen kümmern.« Kerwin blickte zu ihr zurück. »Was denn?« »Ach, komm schon. Ich meine, siehst du das nicht selbst?« Sie zeigte auf den kleinen Paketberg. »Ich mei ne, zum Beispiel Schuhe: Ich meine, mir fehlt noch ein halbes Dutzend für die Kleider, die ich gekauft habe, 161
und ich kann keins davon, ich meine wirklich keins oh ne die richtigen Schuhe tragen.« »Richtig«, meinte Kerwin verkrampft. »Egal. Vergiß, daß ich irgend etwas gesagt habe. Ich gebe auf, ich höre auf.« Er schritt hinüber zu der großen Schüssel mit dem exotischen Konfekt, die der Kommunikator produziert hatte, und schaufelte wütend in sich hinein. Er kaute auf etwas, das wie eine Kreuzung zwischen Schokoladen sahne und Himbeerkuchen schmeckte, als plötzlich die Tür in der Vorderwand erschien und jemanden aus dem Gang hereinließ. Es war nicht Rail. Der menschengroße Nager besaß einen extrem langen Schwanz, der in einem pelzigen Knäuel endete, mit dem sein Besitzer sich den Kopf zu streicheln und sich auf die Schultern zu klopfen pflegte. Er trug einen steifen braunen Anzug, der mit vereinzel ten Goldsternen geschmückt war. Das Gesicht war flach und merkwürdig humanoid, trotz der Nagezähne, Schnurrbarthaare und hervorstechenden Ohren. Er blickte schnell durch den Raum, und die Haufen aus Nahrungsmitteln und Kleidung entgingen ihm nicht. »He, klopft ihr nie an?« brummte Seeth. »Muß nicht anklopfen.« Der Nager stellte den Kopf hörer ein, den er trug. Ein tragbares Dolmetschgerät, entschied Kerwin sofort. »Ich bin Taumun, Etagenma nager dieses Teils des Hotels, und ich habe etwas für euch. Mit den besten Empfehlungen der Hotelverwal tung.« »Großartig, noch ein Geschenk.« Seeth setzte sich auf die Bettkante. »Was ist es denn?« Zur Antwort hielt ihr Besucher einen langen Streifen empor, der wie Klebeband aussah. Als dieser sich im Luftzug der Klimaanlage leicht drehte, meinte Kerwin 162
auf dem ansonsten durchsichtigen Material so etwas wie eine Art Schrift auszumachen. »Eure Rechnung, Leute.« Taumuns Verhalten war au ßerordentlich förmlich und korrekt. »Ihr habt euer Kredit limit bei weitem überzogen, und daher hat das Hotel das Recht, einen Ausgleich zu verlangen, bevor eurer Zim merrechnung neue Belastungen hinzugefügt werden kön nen.« Seeth blickte zu Kerwin hinüber, der mit den Schultern zuckte, dann wandte er den Blick wieder dem Nager zu. »Ich verstehe das einfach nicht, Barthaar. Ich dachte, unser Kreditlimit wäre bereits festgelegt worden.« »Das ist es auch, aber«, und Taumun schnippte mit dem Band, so daß es sich zusammenrollte, »dieses Limit habt ihr mit euren mehrfachen Bestellungen in der Küche, der Konfektionsabteilung, der Bar und bei verschiedenen Geschäften außerhalb des Hotels bereits überschritten.« »Viel Spielraum gibt es wohl nicht, wie?« Kerwin ver suchte verzweifelt, Zeit herauszuschinden. »Das ist eure Sache, Leute. Also, wer von euch be gleicht jetzt das Konto? Danach werde ich gehen und euch euren Vergnügungen überlassen. Nun?« Kerwin betete unentwegt um Hilfe, die doch nicht kam. »Ich verstehe das nicht. Der Bursche, mit dem Sie spre chen müßten, ist Mr. Rail.« Nageraugen verengten sich. »Wer?« »Rail, Arthwit Rail. Der Prufillier, der uns hierher ge bracht hat. Es geht um seinen Kreditrahmen, den Sie da gerade in Frage stellen.« Die Barthaare des Managers zuckten, und seine Schnauze zog sich ein Stück zusammen. »Arthwit Rail ist in diesem Zimmer nicht gemeldet, ja im ganzen Hotel nicht.« 163
»Das ist unmöglich. Wer hat denn überhaupt den Kre ditrahmen festgelegt, den wir in Anspruch genommen haben?« »Dieser Rahmen wurde automatisch registriert, als ihr dieses Zimmer genommen habt. Ich gehe davon aus, daß ihr es wart.« »Nein, nein, da liegt irgendein Mißverständnis vor«, fuhr Kerwin besorgt fort. »Sehen Sie, dieser Bursche namens Arthwit Rail, der hat uns hier in dieses Zimmer gebracht und uns gesagt, daß er uns einen Kreditrahmen einräumen läßt, um Einkäufe zu tätigen. Ich bin sicher, daß er jeden Augenblick zurückkommen wird, dann können wir die Sache klären. Zumindest bis heute abend.« »Es ist bereits heute abend«, bemerkte Taumun steif. »Die Frist für die Begleichung eures Kontos ist bereits vor mehreren Stunden abgelaufen.« »Was sind denn schon ein paar Stunden?« fragte Ker win ihn schwach. »Was ist denn daran so schlimm?« »Was so schlimm ist«, erwiderte der Manager, wäh rend die Dolmetschmaschine ihr ideomatisches Können unter Beweis stellte, »ist die Rechnung, die ihr habt auflaufen lassen. Teure Kleidung, Konfekt, Getränke, alle möglichen Luxusgüter. Diese Angelegenheit muß sofort bereinigt werden, sonst wird es zu Konsequenzen führen.« »Ich bin ganz sicher, daß Rail gleich wieder da sein wird.« Die Schnauze des Nagers zog sich zusammen. »Wer ist dieser Rail, von dem ihr ständig redet? Wenn einer von euch die Güte hätte, die Rechnung zu begleichen, werde ich mich gerne zurückziehen. Wenn aber nicht…« 164
»Warten Sie, einen Augenblick.« Kerwin schritt zu ihm hinüber und holte sein Portemonnaie aus seiner Tasche. Es dauerte eine Weile, bis er seine Visakarte gefunden hatte. »Wie steht es hiermit?« Taumun nahm sie mit einer pelzigen Hand entgegen, musterte beide Seiten und biß, noch bevor Kerwin ihn abhalten konnte, ein Stück aus dem Plastik heraus. Er reichte sie mit abgebissener Ecke zurück und klang nach denklich. »Schmeckt gut, aber nicht sehr nahrhaft. Ich fürchte, mit einem Keks könnt ihr mich nicht bestechen.« »Womit können wir dich denn dann bestechen, Ratte?« fragte Seeth wie beiläufig. »Ihr seid impertinent. Was ich aber übergehen will, so lange ihr bezahlt.« »Wir haben kein Geld«, sagte Miranda. »Ich meine, ich habe zwar meine American Express, aber ich schätze, die wird auch nicht viel mehr wert sein, oder?« »Vielleicht schmeckt sie besser«, warf Seeth ein. »Danke, aber ich bin nicht hungrig«, erwiderte der Manager steif. »Was benutzt ihr Burschen hier überhaupt als Geld?« fragte Seeth ihn. »Es gibt eine Reihe von anerkannten Kreditchips und leitungen. Ihr habt wahrscheinlich keinen Kontakt zu den Ferrif von Placon?« »Moment mal, das werde ich gerade mal überprüfen.« Seeth kam herübergeschlendert, um mit Kerwin zu flü stern. »Komm schon, du bist doch hier der Schlaumeier. Denk dir was aus.« Kerwin blickte ihn wütend an, sah zum Manager zu rück. »Und wenn Sie unsere Habseligkeiten als Sicher heit nehmen?« Taumun sah zweifelnd drein. »Was für Habseligkei ten?« 165
»Na, unsere Kleider, nehme ich wohl an.« »Wenn du die Kleidung meinen solltest, die ihr gegenwärtig tragt, so bekommt ihr dafür in diesem Etablissement nicht mal einen Schluck Wasser. Wenn ihr die Gegenstände meint, die ihr bereits gekauft habt, so werden wir diese so lange einbehalten, bis die Hotelrechnung beglichen wurde.« »He, soll das heißen, daß ich die ganze Zeit mit Ein kaufen verbracht habe und nichts behalten darf?« »Das Leben ist eben ein richtiger Bastard, Zuckerlip pe«, meinte Seeth. »Und außerdem«, fuhr Taumun fort, »sind wir hier im Hotelgeschäft und nicht im Einzelhandel. Ich kann nur anerkannte Kreditsicherheiten annehmen.« Kerwin setzte sich auf eines der Betten. »Dann werden wir wohl einfach warten müssen, bis Arthwit Rail zu rückkommt.« »Au contraire, mein Herr. Ich habe keinerlei Beweis dafür, daß euer geheimnisvoller Mr. Rail überhaupt exi stiert. Ich fürchte sehr, daß ich euch auffordern muß, diese Räumlichkeiten zu verlassen.« »Verlassen?« Was wie ein Mißverständnis begonnen hatte, war nun plötzlich ernst geworden. »Wir können nirgendwo hin. Wir sind fremd hier und haben kein Geld. Wenn wir es hätten, hätten wir es Ihnen schon gegeben.« »Eure persönlichen Schwierigkeiten gehen mich nichts an.« »Nur ein paar Stunden. Ich bin sicher, daß Rail bis da hin zurück sein wird.« »Moment mal, ich habe eine Idee.« Seeth drehte sich zum hinteren Teil des Raumes. »He, Izmir, komm mal rüber.« Der Astarach hatte sich an die Decke geklammert. Nun breitete er sich weit aus wie ein wandelnder Sonnen 166
schirm und kam auf sie zugeschwebt. Seeth legte kame radschaftlich einen Arm um das nächstgelegene Teil der flatternden Masse. »Das hier ist Izmir der Astarach, der wertvollste…« »Seeth!« warnte Kerwin. »Wir können doch nicht…« Der kleinere Mann funkelte ihn böse an. »Was können wir nicht, Kerl? Dieser miese Kunde Rail schleppt uns durch die halbe Galaxis, lädt uns hier ab, verschwindet, und wenn man uns auf die Straße setzen will, ist er nir gendwo aufzutreiben. Also scheiß drauf.« Er sah Taumun wieder an und lächelte. »Dieser Izmir ist möglicherweise das wertvollste Ding im ganzen Universum, verstehst du? Genügt das als Sicherheit?« Der Nager zwirbelte an einem Barthaar und sah mit ei nem Seitenblick auf das schwebende Mysterium. »Er sieht nicht sonderlich wertvoll aus. Der Levitationstrick ist zwar ganz nett gelungen, aber kaum einzigartig.« »Paß mal auf«, fuhr Seeth fort, »du behältst ihn als Si cherheit für dieses Zimmer, bis unser alter Kumpel Rail wieder da ist.« »Es tut mir leid. Ich würde euch ja persönlich gerne aus dieser mißlichen Lage helfen, aber wie ich schon sagte, wir sind hier nicht im Tauschgeschäft.« Seeth nahm den Arm von Izmir, der daraufhin wieder prompt zur Decke emporschwebte. Dort blieb er schwe ben, musterte mit seinem blauen Auge das Geschehen unter sich, während Seeth sich auf dem anderen Bett zu rücklehnte. »Dann will ich dir mal was anderes sagen, Großnase. Wir werden einfach hierbleiben, und du kannst nicht das geringste dagegen tun. Also kannst du ruhig wieder in dein Nest zurückkehren, oder was immer das sein mag, und wir bleiben alle ganz ruhig hier, bis Rail wieder da ist.« 167
»Ich muß euch bitten, sofort zu gehen.« »Gehen? Du meinst wie in ›rausgehen‹?« fragte Miran da ihn. Taumun blickte runzelnd auf seinen Dolmetschkopfhö rer. »Ich dachte, das hätte ich gesagt.« »Tut uns leid, Käsefresser, wir hauen nicht ab.« Seeth verschränkte die Arme und lehnte sich zurück, genoß die Weichheit des Suspensionsfeldes. Fünf Minuten später standen sie auf einem der einkauf straßenähnlichen Boulevards vor dem Hotel und sahen trübsinnig zu, wie wohlgekleidete Gäste ungehindert den Hoteleingang passierten. Seeth hätte Taumun gerne einen Kampf beschert, doch der Manager hatte völlig unfairer weise zwei bärenhafte Typen herbeigerufen, die gerade noch klein genug gewesen waren, um sich durch die Gänge quetschen zu können – vorausgesetzt, daß sie hin tereinander gingen, im Gänsemarsch. Dieses Paar intelli genter Mammuts hatte sie sanft vor dem Hotel abgesetzt, freilich nicht ohne ihnen vorher ruhig zu versichern, daß sie beim nächsten Mal nicht so höflich behandelt werden würden. Das terranische Trio besaß jetzt nur noch die Kleidung, die es am Leib trug, sowie ein paar kleinere Gegenstände, die es vor seinem Hinauswurf hastig in die Taschen hatte stopfen können. Seeth beklagte die Tatsa che, daß sie hinausgeworfen worden waren, bevor er Gelegenheit gehabt hatte, eines der Hotelhandtücher mit gehen zu lassen – vorausgesetzt, daß es dort überhaupt Handtücher gab, die man mitgehen lassen konnte. Kerwin wünschte sich nun, daß er sich die Zeit ge nommen hätte, um sich zu duschen und die Zähne zu putzen, anstatt sich in den Strudel nutzloser Einkauferei hineinziehen zu lassen. Er fühlte sich schmutzig und entmutigt und setzte sich auf das glatte, beinahe glitschi 168
ge Pflaster. Es sah aus wie rosa Schaum. Seeth lehnte sich gegen die Mauer, sein Gleichgewicht auf einem Bein haltend, während er die vorbeiziehende Menge musterte. Miranda verschränkte die Arme. »Also ich finde, das war nicht besonders nett von denen. Überhaupt nicht nett. Was für eine Behandlung! Zu Hause in Houston würde die Bude nicht einmal einen einzigen Stern bekommen.« »Ich bin sicher, daß die ganze Firma jetzt in ihren kol lektiven Schuhen zittert«, murmelte Kerwin. »Diese ganzen schönen Kleider.« Sie seufzte. »Man könnte glatt meinen, daß wir sie nicht hätten bezahlen wollen oder so was. Ich bin noch nie in meinem Leben so beleidigt worden.« »Ich möchte einfach nur unseren Kumpel wiederse hen.« Seeth war damit beschäftigt, mit wiederholten me thodischen Schlägen eine Faust gegen eine Handfläche prallen zu lassen. »Unseren Freund Arthwit Rail. Unse ren lieben Nachbarn. Unseren Retter. Dem werde ich die komischen kleinen Zähne seinen komischen kleinen Hals hinunterrammen.« »Spar dir die Puste«, fauchte Kerwin ihn an. Izmir der Astarach hatte sich zu einer groben Parodie Seeths verzogen. Auch er lehnte gegen die Mauer, lange blaue Beine ragten aus einem schwarzen Körper hervor. Er schlug eine blaue Faust gegen eine blaue Handfläche, während gelbe Kraftströme an seinen Gliedern empor und hinab zuckten. Jedesmal, wenn die Quasifaust auf die Pseudohandfläche traf, sprühten an der Kontaktstelle Blitze hervor und grollte winziger Donner die Mauer entlang, was vereinzelte Hotelgäste irritierte. »Er wird schon zurückkommen«, erinnerte Kerwin sei ne Gefährten. »Schließlich ist Izmir bei uns, habt ihr das vergessen?« 169
Der Astarach blickte zu ihm hinüber, als sein Name erwähnt wurde. Er faltete Arme und Beine in seinen Kör per hinein, nahm eine Pyramidenform an, kippte um ein hundertachtzig Grad herum und begann zu wirbeln wie ein riesiger Kreisel. »Mann, bist du blöd.« Überrascht hob Kerwin den Blick. »Wovon redest du da?« »Blöd. B-l-ö-d. Lies es mir doch von den Lippen ab, Collegejunge. Was, wenn er nicht zurückkommt? Schön, haben wir eben Izmir. Was, wenn unser guter Kumpel Rail beschließt, daß Izmir doch zu nichts gut ist? Schließ lich wissen wir nicht, wieviel von dem, was man uns erzählt hat, wahr ist, und wieviel von diesem Golfplatz gehirn erfunden wurde. Alles, was wir gehört haben, haben wir von ihm. Vielleicht hat er sich alles nur ausge dacht, um seinen eigenen dürren Hals zu retten. Viel leicht ist Izmir nichts anderes als irgendein religiöses Symbol oder so was. Vielleicht können sie diesen Izmir doch aufspüren. Er kann schließlich ziemlich viel Energie abstrahlen, wenn er will. Irgendwie haben diese oomemianischen Burschen seine Spur immer wieder verfolgt. Diese ganzen Ringe und Linien aus Energie, die ständig aus ihm hervorexplo dieren! Denk doch mal darüber nach, was dieser Rail getan hat: Er ist abgehauen und hat uns auf dieses Nedsplen gebracht, wo man sich mit niemandem unter halten kann, ohne gleich eine Maschine zum Dolmet schen zu brauchen, hat uns hier pleite sitzenlassen, wo niemand weiß, wo die Erde ist, und hat uns dieses Izmir ding aufgehalst. Nach allem, was wir wissen, ist er inzwischen wahr scheinlich schon fast wieder auf Prufillia und lacht sich 170
halbkrank, weil die Oomemianer sich jetzt auf uns stür zen werden und nicht auf ihn. Was wird wohl passieren, wenn diese Oomemianer uns aufspüren, na? Meinst du, die haben Lust, sich die Erklärungen und Ausreden von einem Haufen Primatenprimitiven anzuhören, wie wir es sind? In Albuquerque haben sie sich auch nicht die Zeit zum Zuhören genommen, da werden sie hier mit Sicher heit auch keine Geduld aufwenden. Schön, werde ich dir eben verraten, was sie tun werden. Sie werden uns weg pusten und dieses idiotische Wasauchimmer zurück aufs gute, alte Oomemia bringen, und dann bekommen sie haufenweise Orden an das geheftet, was immer sie als Brustkorb verwenden mögen, während das letzte, was man von uns auf dieser Existenzebene hören wird, ein paar Schlagzeilen in der Morgenzeitung sein werden. ›Studenten aus New Mexico und brillanter Musiker ver schwinden über Nacht in den Bergen.‹« »Und was ist mit Brocks Geschichte?« Seeth machte ein unanständiges Geräusch. »Machst du Witze? Wenn er aufhört zu laufen, erzählt er vielleicht irgend jemandem, daß wir seinen Kombi geklaut haben. Ich glaube kaum, daß er die Sache mit den Oomemianern oder dem guten, alten Doofarthwit erwähnen wird. Die Bullen werden davon ausgehen, daß wir einfach einen Ausflug gemacht und das Ding weggeworfen oder zu Schrott gefahren oder es verhökert haben, um uns davon Drogen zu kaufen oder so was. Scheiße.« Er trat gegen den rosa Schaum unter seinen Füßen, es gelang ihm nicht, ihn einzudrücken. »Eine aufblühende Musikerkar riere, in der Blüte zerstört.« »Was für eine Musikerkarriere?« Kerwin war das Ge raunze des Punkers leid. »Meine, Mann. Ich bin gut. Auf Keyboards und Percus 171
sion, und wenn es sein muß, kann ich auch noch eine Baßgitarre bedienen.« »Wer verarscht jetzt wen? Ich habe dich doch spielen hören. Du kannst doch nicht mal zwei Strophen von ›Hoppe hoppe Reiter‹ spielen, ohne dir vorher Zahlen auf die Tasten malen zu müssen.« »Na schön, fange ich eben erst an. Jeder wird besser, je mehr er übt. Große Rockmusiker werden nicht geboren, sie werden gemacht.« »Ich habe Hunger«, meinte Miranda prosaisch. »Gib mir ein Stück von dem Konfekt ab, das du hast mitgehen lassen.« »Na klar doch, Süßschnute.« Seeth reichte ihr ein in Folie gewickeltes Quadrat. Sie berührte den oberen Teil der Verpackung, und diese reagierte auf ihre Körperhitze, indem sie sich auswickelte. Mißmutig dreinblickend, biß sie das Quadrat entzwei und begann langsam, darauf zu kauen. Da die emsigen Fußgänger sie weiterhin ignorierten, überlegte Kerwin, würden es die Bullen hier vermutlich auch tun. Und es gab jede Menge Bullen hier. Diesen Teil von Rails Geschichte konnten sie ruhig glauben. Langsam wurde es dunkel, als die künstliche Beleuch tung über der Straße matter wurde. »Frage mich, wie kalt die das hier werden lassen.« »Nur kalt genug, daß es ästhetischen Zwecken dient, Mann. Das hier ist schließlich eine fortgeschrittene Zivi lisation, weißt du noch? Die haben Klimakontrolle und alles. Die brauchen sich nicht mit so einem Schrott wie schlechtem Wetter abzuplagen.« Seeth blickte zu dem Beförderungsschacht hinüber. »Ich wette, das ist hier das ganze Jahr über das reinste Paradies.« Zwei Stunden später fanden sie sich zusammengekauert 172
unter dem Dachvorsprung eines Geschäfts wieder, wäh rend Regen durch die zahlreichen Ebenen der Stadt troff. Es war feucht und kalt. Sogar Seeth wirkte gedämpft. Doch nicht lange. Durch den Punker jagte so viel Ener gie, daß es ihm unmöglich war, länger als eine Stunde ruhig zu bleiben. »Es ist spät. Dieses Zeug müßte lang sam verschwinden. Ich wette, daß die den Wasserhahn nicht gleich die ganze Nacht anlassen.« Der Regen tröpfelte durch die Öffnungen, die von Git tern und Abflüssen gebildet wurden, als hätte jemand Manhattan überdacht. Miranda schlang die Arme um ihren Oberkörper und murrte unzufrieden: »Ich habe immer noch Hunger.« »Wie«, fragte Kerwin verbittert. »Soll das heißen, daß es doch noch was Wichtigeres gibt als Einkaufen?« »Versteh mich nicht falsch. Natürlich hätte ich gerne das ganze Zeug behalten, das ich bestellt habe. Aber es ist nicht irgendwie lebenswichtig, weißt du. Das Vergnü gen liegt darin, das Zeug anzuschaffen und zu kaufen, nicht darin, es zu besitzen.« »Manchmal wünschte ich mir, daß ich Anthropologie als Hauptfach beibehalten hätte. Tote Leute lassen sich soviel leichter verstehen.« »Ganz zu schweigen davon, daß sie berechenbarer sind«, meinte Seeth. »Hör mal, wir müssen was essen, stimmt’s? Also müssen wir auch ein bißchen Knete ma chen.« Er zeigte auf Izmir. Der Astarach hatte sich zu einem Bildschirm verformt und tat angestrengt so, als würde er den Dachvorsprung über ihren Köpfen abstüt zen. »Hier ist noch niemand stehengeblieben, um uns ein Vermögen für das Wunder des Universums anzubieten. Das bedeutet, daß es an uns liegt. Ich weiß alles übers Überleben. Ich habe mal einen Sommer in Winslow ver 173
bracht. Hier, jeder von euch nimmt eins von diesen Din gern.« Aus einer tiefen Tasche holte er drei winzige dehnbare Kopfhörer hervor. Bei jedem leuchtete die rechte Spitze sanftrosa. Kerwin zuckte bei dem Anblick zusammen. »Was ist denn das? Wo hast du die her?« »Mann, meinst du etwa, ich hätte nichts als Hackfleisch zwischen den Ohren? Die lagen in einem Schlitz unten im großen Kommunikator, in unserem Zimmer. Ich habe sie gekrallt, als du dich mit Rattengesicht gestritten hast. Sie waren nicht irgendwie befestigt oder so was. Viel leicht ein Service des Hauses. Du weißt schon, wie bei uns zu Hause, wo einem die tollen Hotels Seife und Duschhauben und lauter solchen Mist schenken.« Kerwin schraubte das Empfangsende seines eigenen Dolmetschapparats ins linke Ohr. »Das sind Wunderwer ke der Miniaturisierung.« Nervös blickte er um sich. »Die müssen teuer wie sonstwas sein. Wahrscheinlich suchen uns die Hoteldetektive bereits.« Er erinnerte sich an die haarigen Phantome, von denen sie auf die Straße gewor fen worden waren. Er hatte kein Bedürfnis, ihnen noch einmal zu begegnen. »Das muß nicht bedeuten, daß sie hier sonderlich teuer sind«, entgegnete Seeth. »Mann, hier streunen so viele verschiedene Typen herum, Hunderte verschiedener Rassen, da wette ich, daß das eines der gängigsten Geräte auf dem Markt ist. Braucht doch jeder, um sich mit sei nem Nachbarn unterhalten zu können. Ich wette, die sind verdammt billig. Möglicherweise sogar zum Wegwer fen.« Miranda hatte ihr Gerät angelegt. Es paßte vollkommen zu ihrer Kleidung. Natürlich. »Ich wünschte, die Dinger 174
gäbe es in Gelb und Gold. Und was machen wir jetzt?« »Wir geben unser Bestes, Honigmäulchen.« Seeth mu sterte Kerwin nachdenklich. »Der ist Student, also ist er nutzlos.« »He, mach mal halblang!« »Er hat aber recht. Du bist wirklich nutzlos.« Kerwin sah sie an. »Und was ist mit dir? Ich meine, du bist zwar sehr schön und so, aber ich glaube kaum, daß du auf die Einheimischen sonderlich attraktiv wirkst.« »Das will ich auch nicht hoffen. Was ist mit dir, Seeth? Was kannst du tun?« »Na ja, es ist wohl schon vorgekommen, daß ich mir gelegentlich mal das eine oder andere Zeug ausgeliehen habe, ohne vorher zu fragen, aber ich bin nicht eben das, was man einen professionellen Dieb nennen könnte, und ich wette, hier gibt es derartig hochentwickelte Dieb stahlsicherungsanlagen, daß wir sie nicht einmal erken nen würden, bis die Bullen gekommen wären und uns festgenommen hätten. Das ist also nicht drin. Außerdem brauchen wir nicht viel. Gerade genug, um uns ein Plätz chen zum Schlafen zu mieten und was zu futtern zu be kommen. Für den Anfang wenigstens.« »Viel oder wenig, das macht keinen Unterschied. Wir haben keine Möglichkeit, Geld zu verdienen.« Seeth grinste ihn an. »Noch sind die Taschen nicht ganz leer, Mann. Schau mal.« Stolz holte er zwei weitere Geräte aus dem Innern seines Leders hervor. Das eine sah aus wie die Kreuzung zwischen einer UKW-Antenne und einer Flöte. An einer Seite befanden sich Knöpfe, und es besaß drei Mundstücke. Das zweite Gerät sah aus wie eine Blume mit verschlossenem Kelch, bis er einen ver borgenen Schalter betätigte. Sofort öffnete sich das Ober teil und gab sechs blütenblattähnliche Bestandteile frei, 175
von denen jedes vier Saiten aufwies, die vom Außenrand in die Mitte der »Blume« liefen. »Was ist das denn?« fragte Miranda. »Weißt du nicht mehr? Als du damit fertig warst, soviel wie ganz Hongkong aufzukaufen, habe ich mir die Mu sikinstrumentenabteilung zeigen lassen. Die Dinger hier habe ich zur gleichen Zeit beiseite gelegt, als ich die Kopfhörer ausborgte.« »Warum diese beiden?« fragte Kerwin neugierig. Seeth zuckte die Schultern. »Es waren die einzigen, die tragbar sind – die einzigen, die sich zusammenfalten lie ßen.« Er berührte einen weiteren Schalter, worauf die Blütenblätter von innen aufleuchteten. Als er die Finger über einen Satz Saiten streichen ließ, erzeugte dies einen zarten, glockenähnlichen Klang. »Ist zwar keine Gitarre, aber mit ein bißchen Übung müßte ich sogar noch etwas Besseres hinbekommen als ›Hoppe, hoppe Reiter‹.« Kerwin war ein wenig verlegen. »Tut mir leid. Ich war nur wütend.« »Vergiß es. Ist so gut wie nie passiert.« Er wandte sich Miranda zu. »Schau mich bloß nicht so an. Ich kann überhaupt nichts spielen.« »Macht nichts. Wir schaffen das schon.« Er reichte Kerwin die Flötenantenne. »Meinst du, daß du mit dem Ding hier klarkommst?« Kerwin untersuchte das Instrument interessiert, schließ lich legte er die Lippen an eines der Mundstücke. Es war zu klein für seine Mundpartie, aber das war das Mund stück eines Dudelsacks ja auch. Ein fragendes Pusten brachte einen Ton von erstaunlicher Tiefe und Resonanz hervor. Er fing an, mit den Knöpfen zu experimentieren, 176
die sich an einer Seite des Geräts befanden, und schließ lich nahm er es wieder vom Mund. »Möglicherweise. Was haben wir vor? Ein Konzert zu geben?« »He, warum denn nicht? Siehst du hier irgendwelche Schilder, die Straßenmusik verbieten?« »Nein, aber ich sehe auch keine Straßenmusiker. Und übrigens könnten wir solche Schilder sowieso nicht le sen.« »Um so besser. Dann sind wir eben eine Neuheit. Unse re Musik mit Sicherheit.« »Ich muß zugeben, daß ich auch keine bessere Idee ha be. Ich nehme an, daß du wahrscheinlich nichts von Mo zart kannst?« »Mozart schmozart. Wollen wir nun richtige Musik spielen oder was oder wie?« »Also gut«, sagte Kerwin müde. »Ich wußte ja, daß es wahrscheinlich zuviel verlangt gewesen wäre, und ich will mich auch deswegen nicht streiten. Also fang einfach mit irgend etwas an, und ich versuche, dich zu begleiten, in Ordnung?« Das tat Seeth auch, ließ seine Hände in Kreisen über den oberen Teil der Blütenblätter fahren. Was die Flöten antenne anging, stellte Kerwin fest, daß er beachtenswert schnell damit klarkam. Es dauerte nicht lange, und die beiden spielten wie wild im Regen und der Kälte, fragten sich, ob die Klänge, die sie hervorbrachten, für die weni gen verbliebenen Fußgänger, die vorbeikamen, überhaupt verständlich oder gar anziehend waren. Nach einer Weile hörte der Regen auf, nicht etwa stu fenweise, sondern so, als hätte jemand hoch oben einen Wasserhahn zugedreht. Nun erschienen mehr Fußgänger. Die Geschäfte machten wieder auf, und der Gehsteig 177
pulsierte schon bald wieder von nächtlichen Spaziergän gern. Wenn sie einen besessen hätten, hätte Kerwin einen zum Spenden auffordernden Hut aufs Pflaster gelegt. Mirandas Langeweile wich einem sich steigernden In teresse an der Musik, die die beiden Männer auf fremdar tigen Instrumenten hervorbrachten. Zuerst nickte sie mit dem Kopf, dann lächelte sie, schließlich bewegte sie sich sinnlich durch irgendein Privatuniversum. Schon bald tanzte und wand sie sich im Einklang mit dem eklekti schen Rhythmus, wogte und trat um sich wie eine verirrte Kurve, die aus einem Oszillographen entflohen war. Nun blieb Kerwin nichts anderes mehr übrig, als sich auf seine Pseudoflöte zu konzentrieren. Das Mädchen konnte sich bewegen, obwohl es strittig sein mochte, ob ihre üppigen Drehungen auch auf Nichtmenschen reizvoll wirkten. Doch als Izmir sich ihnen anschloß und sich selbst beleuchtete wie ein atomgetriebener Weihnachts baum, gestalt- und farbwandelnd, während er zugleich unverständlich vor sich hin blökte, wurden immer mehr Passanten auf sie aufmerksam. Miranda schlüpfte aus ihren Schuhen und tanzte barfuß. Das Pflaster war angenehm kühl und trocknete schnell. Schon bald füllte sich ihr abgestelltes Schuhwerk mit einem interessanten Durcheinander aus verschiedensten Dingen, die aus Metall, Plastik und Keramik bestanden. Das Zeug sah aus wie die Überreste aus der Spielkiste eines Kindes. Izmir ließ mehrere lange Beine wachsen und versuchte, mit Miranda zu tanzen. Da es ihm nicht gelang, den glei chen Rhythmus zu halten wie sie oder die Musik, ver wandelte er sich abrupt in eine große Schicht aus glit zerndem Gold und Kupfer, wobei die sich abwechselnden Streifen dieser Riesenschärpe wie flüssiges Metall waber 178
ten. Als er sich um das Mädchen wickelte, durchknister ten elektrische Ladungen die Luft. Kerwin machte sich deswegen einen Augenblick Sorgen, doch sie versicherte ihm, daß sie überhaupt nichts spürte und daß diese neue Izmirform so gut wie nichts wog. Der Astarach schien es zufrieden, als Kleidungsstück behandelt zu werden. Miranda wirbelte ihn mühelos durch die Luft, ließ ihn über ihrem Kopf kreisen wie eine spanische Tänzerin. Die ganze Zeit trieb das einzelne blaue Auge zwischen dem Gold und Kupfer umher und musterte klagend seine Umgebung. Das Ganze war eine Darbietung, die exotisch genug war, um selbst die verwöhntesten Aliens auf der Stelle stehenbleiben zu lassen. So bildete sich eine Zuschauermenge. Kerwin flötete weiter, wobei er mit wachem Au ge Ausschau nach allem hielt, was nach Polizist aussah. Er hatte das Gefühl, daß sich ein Bulle immer als Bulle erkennen ließ, egal wieviel Gliedmaßen oder Augen er besitzen mochte. Doch erschienen keinerlei Vertreter der örtlichen Be hörden, und nach allem, was sie wußten, waren solche Gehsteigauftritte wahrscheinlich vollkommen legal. Je denfalls beschwerte sich keiner der Zuschauer. In einer Stadt von der Größe Alvins war es denkbar, daß die Poli zei stets nur reagierte, wenn ihr Gesetzesübertretungen gemeldet wurden, und daß sie nicht die Zeit hatte, solche auch noch selbst aufzustöbern. Um auch nur in hinrei chendem Ausmaß Streifendienste zu gewährleisten, hätte man eine Polizeitruppe von der Größe der französischen Armee gebraucht. Die Darbietung endete schließlich, als Kerwin aus der Puste geriet und Seeths Finger von seiner ständigen Betä tigung der Blumenmaschine langsam wund wurden. 179
Kerwin legte seine Flöte wieder zusammen, und Seeth tat das gleiche mit seinen musikalischen Blütenblättern. Miranda musterte die beiden mit einem Schmollmund. »Was ist denn los? Seid ihr etwa schon müde?« Sie sah so frisch aus wie ein Marathonläufer nach einmonatiger Pause. »Das trifft es nicht ganz«, japste Kerwin. »Zu Tode er schöpft ist wohl das passendere Wort.« »Ach, kommt schon.« Sie schnippte mit den Fingern. »Diese Musik war… na ja, total cool.« Sie wirbelte im Kreis herum, ließ die Locken fliegen. »Schalt die Maschine ab, Honigschenkel.« Seeth lehnte gegen eine Mauer und wischte sich den Schweiß von der Stirn und den rasierten Kopfseiten. »Wie wirst du ange trieben, durch Kernfusion?« »Nein.« Sie blickte die hellerleuchtete Straße hinab. »Aber da du es schon erwähnst, ich habe so etwas wie Hunger. Weißt du noch?« Seeth schlang sich sein tragbares Instrument über den Rücken. Es besaß zwar keinen Halteriemen, doch hing es an seiner Lederjacke, als wäre aus beiden Oberflächen plötzlich ein Klettverschluß hervorgewachsen. Vielleicht mochte es einfach nur Leder. Dann beugte er sich vor, um den bizarren Inhalt ihrer Schuhe zu mustern. »Geld?« überlegte Kerwin laut. Seeth schnüffelte an einem Schuh. »Sieht mir eher wie Abfall aus.« »Vielleicht haben sie damit nur ihrer Wertschätzung Ausdruck geben wollen.« »Klar. Dann ist es also entweder Abfall oder Geld.« Mit verengten Augen blickte er die Ladenlichter an. »Die einzige Methode, das rauszubekommen, besteht darin, zu versuchen, das Zeug auszugeben.« Miranda brauchte ihre Schuhe wieder, daher schaufelte 180
jeder von ihnen mit gewölbten Händen die Beute auf und stopfte sie in die Taschen. Sie schlüpfte in den rechten Schuh, dann in den linken, runzelte die Stirn und zog ihn wieder aus, drehte ihn um und schüttelte ihn. Ein Gegen stand, der aussah wie eine mausgroße Hantel, fiel schep pernd zu Boden. Wie so vieles von dem, was ihr Publi kum zurückgelassen hatte, war er mit unentzifferbarer Schrift bedeckt. Einige der Gegenstände pulsierten von innerem Licht, während andere nur sanft glühten. Kerwin steckte die Hantel ein und schloß sich seinen Gefährten an, die nun die Straße entlanggingen. Das Restaurant machten sie eher mit dem Geruchsais mit dem Gesichtssinn ausfindig, da sie keine der vielen verschiedenen Gebäudeinschriften zu lesen vermochten. Das galt auch für das große Computermenü. Zum Glück wurde es auch akustisch dupliziert, und ihre winzigen Dolmetschkopfhörer wirkten Wunder. Im Austausch gegen ein paar silbrige Fingerhüte und der Hälfte einer Spule aus goldfarbenem Draht versorgte das Restaurant sie mit drei gewaltigen Tellern, auf denen sich etwas häufte, das wie Langustenfleisch aussah, dazu ein dampfendes, purpurnes Gemüse, das wie eine unmög liche Mischung aus Erdbeeren und Spargel schmeckte, ein monströser Laib eines mit Körnern gefüllten Brots, das beim Schneiden oder Brechen einen Knall hervor stieß und sich aufblähte, zwölf verschiedene dazugehöri ge Aufstriche und große Gläser mit einer Flüssigkeit, die laut loslachte, wenn Blasen die Oberfläche durchstießen, denn jede Blase enthielt ein winziges Kichern in einer anderen Sprache. Sie gingen das fremdartige Mahl mit einigem Zögern an, doch das hielt nur ein paar Bissen lang vor. Alles schmeckte neuartig und wunderbar. Kerwin hätte nicht 181
gedacht, daß sie auch nur die Hälfte der kolossalen Mahl zeit würden vertilgen können, doch hatte er nicht mit ihrem stark gewachsenen Appetit gerechnet. Reisen und Gleiten und Kämpfen und Davonlaufen und Einkaufen und Tanzen waren harte Arbeit. Er hatte einige Probleme mit den Krebsfleischbeinen, die auf einer Seite des Tellers lagen, weil sie mehr als nur oberflächlich den Gliedmaßen eines Quartetts von Aliens glichen, die zwei Kabinen entfernt saßen. Doch war ihr Essen deutlich zu sehen, und da es ihnen nichts auszuma chen schien, wußte er, daß er sich nicht zu fühlen brauch te, als würde er gerade irgendeinen ihrer entfernten Ver wandten verputzen. Und wenn man schon dabei war: Was würde wohl ein spinnenartiger Alien davon halten, wenn er einen Menschen sah, der Affenfleisch aß? Sie boten Izmir etwas von der Üppigkeit des Füllhorns an, doch er ignorierte alles. Statt dessen nahm er die Ge stalt eines Stuhls an, blickte ausdruckslos vor sich hin, gab nur gelegentlich ein sanftes, sinnloses Murmeln von sich. Zufrieden blickte das blaue Auge aus dem Stuhlrük ken hervor. »Er schläft nicht, und er ißt nicht.« Kerwin schob sich etwas Brot in den Mund. »Ich frage mich, ob er wohl atmet?« »Nicht, wenn er eine Maschine ist, Mann«, meinte Seeth. »Er sieht nicht wie eine Maschine aus.« Kerwin zuckte die Achseln. »Genaugenommen sieht er überhaupt nicht aus wie irgendwas.« Miranda kaute auf einem Brotbrocken herum, der mit mindestens vier verschiedenen Aufstrichen dekoriert war. Jedesmal, wenn sie einen zarten Bissen nahm, ging sie daraus wieder völlig unverschmiert hervor. Kerwins gan 182
zes Gesicht glänzte dagegen von Fett. Das galt auch für Seeth, aber dem machte es nichts aus. »Ihr Burschen spielt ziemlich gut zusammen.« Grüne Marmelade troff von ihrer Brotkante. Kerwin stockte der Atem, doch stand kein Naturgesetz im Begriff, widerlegt zu werden. Das Gelee fiel zu Boden, und sie machte eine beiläufige Handbewegung. »Fast als ob ihr, wißt ihr, es schon mal gemacht hättet.« Kerwin wandte den Blick ab, nahm einen schlürfenden Schluck aus seinem lachenden Glas. »Wir haben mal ein bißchen herumgemacht. Klavier, Trommeln, alles, was wir zwischen die Finger bekamen. Als wir noch jünger waren.« »Ja«, stimmte Seeth zu, »aber das ist lange her.« »Sehr lange.« Kerwin merkte, wie er nickte. »Wir kommen nicht mehr sehr viel zusammen. Gehen gewis sermaßen verschiedener Wege.« »He, das ist, ich meine, irgendwie traurig, meine ich. Ich meine, mir kann es ja egal sein, aber das ist ein biß chen so wie das Zeug, das man im Fernsehen sieht; Ju gendfreunde, die nicht mehr miteinander zurechtkom men, ihr wißt schon, so ein Zeug eben.« Seeth stieß ein einziges scharfes Lachen hervor, das sich mehr wie ein Bellen anhörte. Er grinste bösartig. »Jugendfreunde? Von wegen.« Mit einem Nicken zeigte er auf Kerwin. »Dieser Yuppiewichser ist mein Bruder.« Kerwin musterte ihn finster. »Wen nennst du da einen Wichser, du Witzfigur? Schau dich doch mal an! Du siehst ja nicht einmal mehr aus wie ein Mensch. Du paßt voll zu diesen anderen Aliens hier.« »He, Jungchen, ich brauche von jemandem wie dir kei ne Definition, was ein Mensch ist.« Mirandas Blicke huschten von einem jungen Mann zum 183
anderen. »Echt? Ihr beide seid wirklich irgendwie Brü der, wie? Ich meine, dieselben Eltern und so?« »Sieht man das nicht, Süßschnute? Ist das nicht offen sichtlich?« Verunsichert legte sie die Stirn in Falten. »Eigentlich nicht.« Kerwin stieß ein angewidertes Schnauben hervor. »Die ser kleine Nichtstuer hätte was werden können. Rechts anwalt, Arzt, Ingenieur – seine Schulnoten waren astro nomisch gut. Das war damals, bevor er sich sein Gehirn mit dieser Musik zerröstet hat und anfing, nur noch mit Tieren rumzuhängen.« »Das bin ich, Mann.« Seeth lehnte sich in seinem Stuhl zurück und grinste stolz. »Ich sollte Rechtsanwalt wer den, aber ich wurde noch rechtzeitig davon erlöst.« »Na klar wurdest du das. Ein erlöster Affenmensch.« Das Grinsen verschwand. »Halt’s Maul, Mann. Halt einfach das Maul. Ich tue, was ich will und wann ich es will. Die Leute nehmen mich so, wie ich bin. Ich brauche keine falsche Uniform aus Anzug und Krawatte zu tra gen, damit ich genauso harmlos und sicher und nett aus sehe wie alle anderen. Ich muß nicht erst schleimen…« »Das genügt, Jungs«, fuhr Miranda dazwischen. »Ich meine, ich wollte ja nur sichergehen, daß ihr wirklich verwandt seid. Außerdem bringt ihr Izmir aus der Fas sung.« Beide Männer blickten in Richtung des Astarachs. Iz mir hatte noch immer seine Stuhlgestalt. »Sieht doch noch genauso aus wie früher«, meinte Ker win zweifelnd. »Na ja, es ist nur, ich meine, ich kann das Zeug in sei nem Inneren praktisch spüren. Nicht daß er Verstand hätte oder so was. Nur so Schwingungen und solche Din 184
ge. Ich dachte, ich hätte gerade so etwas gespürt. Ich glaube, er mag keine Streitgespräche und Zankereien. Ich glaube, er hat es gern überschaubar und ordentlich.« »Na klar«, meinte Seeth. »Deswegen wechselt er auch alle zehn Minuten die Gestalt.« »Aber jede neue Gestalt hat ihre Ordnung.« Seeth tätschelte beruhigend ihre Hand. »Ist ja schon gut, Hübsche. Ist wahrscheinlich kompli zierter als alles, womit du bisher zu tun gehabt hast, stimmt’s? Da ist es nur natürlich, daß du dir ein bißchen komisch vorkommst.« Als sie nichts gegen das Handtät scheln einwandte, versuchte er, ihr auf die Schulter zu klopfen. Sie sah ihn mißbilligend an und wich beiseite. »Paß auf, wo du hinfaßt. Ich meine, das ist hier schließ lich Öffentlichkeit und so. Wahrscheinlich haben die irgendwelche Gesetze gegen so was.« »Gegen was? Willst du mich verarschen?« Er zeigte auf die Straße hinaus. »Was ist denn daran schon öffent lich? Wir sind doch die einzigen Schimpansen in diesem Zirkus. Wir könnten es wahrscheinlich hier auf der Tischplatte treiben, und niemand würde auch nur zu sammenzucken. Wahrscheinlich würden sie nicht einmal wissen, was wir da tun.« Kerwin hätte wahrscheinlich besser den Mund gehal ten, doch er tat es nicht. »Hör auf damit, Seeth. Außer dem haben wir jetzt genug von diesem Geldzeug, um eine Weile damit auszukommen. Wir brauchen keine weiteren Auftritte mehr. Wenn diese Kreaturen irgendwie auf deinen nackten Körper reagieren sollten, dann höchstwahrscheinlich nur mit Gelächter.« Seeth sprang ihm an die Kehle, direkt über die Tisch platte. Izmir schlitterte auf seinen drei Stuhlbeinen davon, während Miranda nur seufzte und sich zur Seite beugte. Teller, Brot, Marmeladen, Aufstriche, Fleisch, Getränke 185
und Alienbesteck flogen durch die Luft. Selbstverständlich berührte sie nichts davon. Einige wenige Glückspilze wie Miranda wurden mit natürlichen Schutzfeldern geboren. Sie wurden niemals von Schmutz befleckt. Das war eines der physikalischen Wunder, die Einstein nicht erklären konnte. Wie Farbe und Ge schmack und schwache Wechselwirkung, gehörte es un mittelbar zu den esoterischsten Atomtheorien. Die Schmutzabstoßung. Ein Stück Krebsfleisch – vermutlich – schoß an ihr vorbei. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, sich zu bücken. Das hätte ja ihr Haar durcheinanderbringen kön nen. Weder Kerwin noch Seeth hatten Zeit, dieses einzigar tige Phänomen zu beobachten, denn die beiden wälzten sich gerade in Begleitung verschiedenster individueller Komponenten ihres Abendessens auf dem Boden. Ein paar Aliengäste sahen mit beiläufigem Interesse zu, machten sich aber schon bald wieder über ihre Mahlzei ten her. Die einzigen, die mehr als nur vorübergehende Sorge offenbarten, waren drei sehr kurze Insektoiden. Bis auf die offensichtliche Intelligenz in ihren Gesichtern und ihre Körperhaltung hätten sie riesige Blattläuse sein kön nen, die von irgendeinem wilden, entomologischen Kar neval entflohen waren. Sie trugen beide die gleichen Umhänge aus schwarzpurpurnem Stoff, die hinter ihren Köpfen hohe Kragen bildeten und dazu dienten, den größten Teil ihres kugeligen, birnenförmigen Körpers zu verbergen. Sie bewegten sich anmutig auf jeweils vier Hinterbeinen, als sie auf den Eßtisch zukamen, den Seeth und Kerwin Ransom gerade verlassen hatten. Kerwin riß sich aus Seeths Griff und zeigte mit dem 186
Nicken auf das Trio der Aliens. »Schau mal, Dumpfbak ke. Da sind Leute, die sind noch kürzer als du.« Seeth antwortete, indem er versuchte, seinem älteren Bruder die Nase zu brechen. Tatsächlich hatten sie sich jedoch in einem solch engen Clinch befunden, daß so gut wie kein Schaden entstanden war. Eines der Blattlausdinger wandte sich an das andere und summte. Die beiden anderen summten zurück und gestikulierten mit ihren Antennen anstatt mit den Hän den. Als die beiden Brüder gerade ihren Familienzwist wieder fortsetzen wollten, nahmen die Blattläuse Izmir in aller Gelassenheit auf und rannten wie wild zum Restau rantausgang. Miranda stand auf. »He, die versuchen, Izmir zu klau en!« Die beiden Männer lösten sich voneinander und sahen sich mißtrauisch an. »Na und, was geht uns das an?« Seeth befestigte gerade wieder sorgfältig seine Fahrradkette. Zögernd schritt Kerwin zum Ausgang. »Komm schon. Du hast gehört, was Rail gesagt hat. Wir sollen ihn mit unserem Leben bewachen.« »Bewach du ihn doch mit deinem Leben, du Clown!« Er bürstete Speisereste aus seiner Mohikanerfrisur. »Wir dürfen es nicht zulassen, daß Izmir einfach von Fremden geraubt wird. Der ist doch so hilflos wie ein Welpe.« Miranda rannte an Kerwin vorbei, hinaus auf die Straße, die Entführer verfolgend. Oder waren es Diebe? Das hing alles davon ab, um was es sich bei Izmir genau handelte. »Kannst du das glauben, Mann?« Seeth schüttelte den Kopf. »Dumme Klunte.« 187
Kerwin konnte nichts erwidern, weil er gerade von den Besitzern des Restaurants verbal attackiert wurde. Mühelos hielt seine Dolmetschapparatur mit ihrem Schnellfeuergerede Schritt. Nicht daß Dolmetschen etwa erforderlich gewesen wäre. Irgend jemand sollte für das Durcheinander bezahlen, das sie verursacht hatten. Sie hatten Kerwin an eine Wand gedrängt und beschimpften ihn gnadenlos. Einige ihrer Anschuldi gungen ließen sich allerdings überhaupt nicht dolmet schen. Auf Alvin ohne weibliche Gesellschaft ausgesetzt zu sein, so indifferent diese sich auch verhalten mochte, war immer noch schlimmer, als hinter Izmir herzuhet zen. Seeth schleuderte den Restaurantbesitzern ein paar Stücke Plastiklineal entgegen. Das schien sie sofort zu befriedigen. Dann hastete er zusammen mit Kerwin hinter der Beinahe-Schönheitskönigin her. Sie fanden sie an einem wacklig wirkenden Geländer stehend, das eine bodenlose Grube umgab. Kerwin wich vor dem Abgrund zurück und sog dabei heftig die Luft ein. Flackernde Lichter markierten die unteren Ebenen der Stadt. Es war, als würde er in einen senk rechten Unendlichkeitsspiegel blicken. »Far out, Mann«, meinte Seeth. Miranda streckte deutend den Arm aus. »Sie sind in die Richtung davon.« Sie folgten ihr um die Grube, bis das Geländer ende te, worauf sie ins Nichts hinaussprang. Schon wieder ein Transportschacht, bemerkte Kerwin nervös, als sie in die Tiefe zu schweben begann, nur daß dieser keine Wände hatte. »Die Zeit wartet auf niemanden, Mann.« Seeth sprang ihr nach. 188
Es gab sowieso keine Zeit zum Nachdenken, sagte sich Kerwin. Er schloß die Augen und trat über den Rand.
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VIII
ALS ER ZWAR SCHNELL, aber ohne Beschleunigung fiel, öffnete Kerwin die Augen und schloß sie sofort wieder. Sein Körper sagte ihm zwar, daß alles unter Kontrolle war, sein Geist sah sich jedoch unten mit Getöse auf einer festen Oberfläche aufklatschen, mit herumspritzendem Blut und Eingeweiden, mit zermalmten Knochen. Eine Hand schlang sich um seine, und als er die Augen wieder öffnete, erblickte er Miranda, die ihn beruhigend anlä chelte. Sie drückte leicht seine Hand, dann schwebte sie mit Schwimmbewegungen wieder davon. Das Tempo verlangsamte sich, und sie traten dreißig Ebenen unterhalb jener, die ihnen schon fast vertraut geworden war, aus dem Schacht. Was Aussehen und Atmosphäre anging, unterschied diese sich sehr von der anderen, die sie soeben verlassen hatten. Auf der Straße lag Müll, und die Läden sahen erheblich herunterge kommener aus. Miranda zeigte auf etwas. »Ich habe gesehen, wie sie stehengeblieben sind und dann in diese Richtung gingen, als sie den Schacht ver ließen.« Sie folgten ihr die Straße entlang. Tatsächlich: In der Ferne sahen sie drei gedrungene Gestalten, die eine vierte Gestalt mitschleppten. Izmirs Entführer waren nicht eben flink zu Fuß, obwohl jeder von ihnen ein zu sätzliches Beinpaar besaß. »Wie können die mit so kurzen Beinen überhaupt ren nen?« fragte Kerwin keuchend, während sie die Verfol gung aufnahmen. »He, laß die schnöden Witze.« Seeth schien Schwierig 190
keiten zu haben, mit Miranda Schritt zu halten, die an scheinend mühelos über das Pflaster schwebte. Als sie näher kamen, hörten sie, wie die Blattlauswesen einander zusummten. Kerwin fragte sich gerade, ob sie wußten, daß sie verfolgt wurden, als eine der Gestalten sich umdrehte, etwas aus ihrem Umhang hervortreten ließ und es auf die drei Menschen richtete. Seeth packte Ker win mit einer Hand und gab Miranda mit der anderen einen Stoß. Gemeinsam stürzten sie hinter einem Pyra midenturm auf die Straße, der eine Toilette oder auch ein Mülleimer hätte sein können. Ein Gegenstand, der sich anhörte wie eine amoklaufende Libelle, schlug auf der anderen Seite des Turms ein und ließ ihn hallen wie eine verstimmte Kirchenglocke. Seeth rollte sich ab und blickte die Straße entlang. »Gut, weiter! Bastarde!« Als sie wieder aufsprangen und um den Turm jagten, sah Kerwin, daß die andere Seite aufgerissen war. Ver bogenes, zerklüftetes Metall griff dort nach der Luft. »Woher hast du gewußt, daß das eine Kanone war?« »Komm schon, Bruder. Benutz zur Abwechslung mal deinen Nadelkopf. Was glaubst du wohl, was jemand, der gerade von dir verfolgt wird, auf dich richten wird? Einen Federbesen?« Langsam gerieten sie außer Atem. Kerwin verspürte ein scharfes Seitenstechen (er hatte beim Abendessen zuviel getrunken), und selbst Miranda wurde langsamer. Doch hatten sie die Entfernung zwischen sich und Izmirs Ent führern verringert, die auch nicht über unerschöpfliche Energiereserven zu verfügen schienen. Zwei von ihnen hielten den anscheinend ungerührten und desinteressierten Astarach. Sie kauerten vor einem aufgegebenen Laden am Ende einer Sackgasse. Wäre da 191
nicht eine matte Straßenlampe oben am Dach gewesen, sie hätten sich alle ebensogut auf irgendeinem abgelege nen Mond befinden können. Seeth verlangsamte sein Tempo, blieb stehen, keuchte noch immer schwer. »Also gut. Das ist unser Eigentum. Laßt ihn los, sonst reißen wir euch eure kleinen Käfer köpfe ab, comprende?« »He, einen Augenblick mal!« Besorgt sah Kerwin sich um. »Wo ist der dritte?« Ein schrilles Summen ließ seinen Kopf herumrucken und beantwortete zugleich die Frage. Das dritte Mitglied des Insektoidentrios erschien aus seinem Versteck hinter einem gewaltigen Transformatorhaus. Der Gegner hatte etwas gegen Kerwins Magen gerichtet, das aussah wie ein Kugelschreiber und ein Bleistift, die man miteinander verschmolzen hatte. Daraufhin begann sich Kerwins Ma gen zu einem kleinen, harten Ball zusammenzuziehen . »Verdammt!« Miranda sah an sich herab. »Das sind wirklich nicht die richtigen Kleider, um darin beerdigt zu werden.« »Vielleicht können wir die Sache auch vernünftig re geln.« Kerwin streckte beide Arme mit den Handflächen nach vorn aus, um einen Schritt auf den bewaffneten Blattlausling zuzutreten. »Hört mal, wir wissen wirklich nicht, was hier los ist. Wir sind Fremde, wir wollen uns in nichts einmischen, und wenn wir uns einfach mal kurz hinsetzen könnten, um die Sache in Ruhe durchzuspre chen…« Irgend jemand schlug ihn mit einem Hammer auf den Kopf. Er spürte, wie er fiel, begleitet von Mirandas Schrei. Der war zwar nicht sehr laut, dennoch empfand er es persönlich als auch sonst perverserweise als äußerst beglückend, daß die erste echte Gefühlsreaktion, die sie 192
aus ihr hervorgelockt hatten, darauf beruhte, daß er er schossen wurde. In der Ferne vernahm er weitere Explosionsgeräu sche, gedämpft und matt. Ein brüllender Seeth. Ein Knistern in der Luft. Miranda, die weit entfernt schrie. Immer schneller verlor er das Bewußtsein. Wenigstens, überlegte er, sterbe ich mit vollem Ma gen, auch wenn ich nicht weiß, womit mein Magen voll ist. Es schien nicht so, als wäre er sehr lange ausgeschal tet geblieben. Er merkte, wie er in vertraute Gesichter emporsah – Seeth, ganz in der Nähe, beinahe besorgt aussehend, und Miranda, die zur Abwechslung einmal erleichtert wirkte und nicht nur gelangweilt. Zu seiner Überraschung war da auch ein drittes Gesicht – ein grünes, voller Strudel und Wirbel, die zu zappeln schienen, als er sie anstarrte. Als sich sein Blick klärte, wurden sie langsamer und hörten schließlich auf. Arthwit Rail richtete sich auf, um Seeth anzusehen. »Nun, dein Freund lebt.« »Glück gehabt«, erwiderte Seeth. »Verdammtes Glück. Hat schon immer ein verdammtes Glück ge habt. Er gehört zwar zu den intelligenten Wesen, hat aber nicht mal soviel gesunden Menschenverstand wie eine Blumenzwiebel.« »Das habe ich gehört.« Kerwin war entzückt zu entdecken, daß seine Stimme wieder funktionierte. Seeth sah zu ihm herab. »Gut. Das bedeutet, daß dei ne Ohren in Ordnung sind. Was deinen Mund angeht, da hab ich mir noch nie Sorgen gemacht, daß der mal versagen könnte. Setz dich auf, Matschhirn.« Kerwin gehorchte und legte sich eine Hand auf die Stirn. »Was ist passiert?« 193
»Was denkst du denn, was passiert ist, Mann? Erschossen hat man dich.« »Ich dachte, ich wäre gestorben.« »Nur ein Streifschuß«, meinte Rail. »Ich bin mir aller dings nicht sicher, daß Streifschuß das richtige Wort ist. Das Geschoß, daß der Falarianer auf dich abgefeuert hat, ist vorzeitig explodiert. Die Druckwelle hat dich umge worfen. Das Projektil sollte eigentlich erst explodieren, nachdem es in deinen Schädel eingedrungen war, aber die Falarianer sind nicht eben für die Präzision ihrer Produk te berühmt.« Taumelnd erhob sich Kerwin. Die Sackgasse war ver schwunden. Sie befanden sich in einem Freiluftcafe, in einer düsteren, schmierigen, heruntergekommenen Ge gend. Alle setzten sich an den leeren Tisch, der in der Nähe stand. Ein paar andere Aliens genossen die zweifel haften Freuden dieses Etablissements. Sie sahen nicht annähernd so wohlhabend aus wie jene, die dreißig Ebe nen über ihnen durch die Straßen wandelten. Ein oder zwei von ihnen blickten kurz in seine Richtung, bevor sie wieder wegsahen. »Was ist mit den Follar… Falarianern?« Sein Kopf schmerzte noch immer. »Die sind inzwischen zu Düngemittel geworden«, sagte Rail gelassen. Er nippte an einem hohen Gefäß mit schmaler Öffnung. Seeths Augen glitzerten. »Rail hier hat zwei von ihnen erwischt, und den dritten habe ich selbst zu Klump gehauen.« Er schnitt eine Grimasse. »Hat mich von oben bis unten mit grünem Schleim bespritzt.« Rail schüttelte den Kopf. »Ihr primitiven Primaten und eure Neigung zur Gewalt!« »Unsere Neigung? Jetzt spiel bloß nicht den Erhabe 194
nen, Grüngesicht«, sagte Seeth. »Du hast zwei von ihnen geröstet, aber ich kann nicht entdecken, daß du deswegen jammern und klagen würdest.« »Das war notwendig, aber nicht wünschenswert. War um habt ihr das Hotel verlassen? Es hat mir einige Qua len und Sorgen bereitet, euch zu suchen.« »Wir haben es nicht verlassen.« Kerwin stützte den Kopf vorsichtig auf beide Hände, während er sich über den Tisch lehnte. Ihm war übel. »Man hat uns rausge schmissen… ich glaube, wir haben es mit dem Einkaufen irgendwie ein bißchen übertrieben.« »Ich habe euch ja davor gewarnt. Trotzdem hätte man euch nicht einfach hinauswerfen dürfen.« »Warum nicht?« Er hob den Blick. »Der Manager meinte, daß im Hotel kein Arthwit Rail angemeldet wä re.« »Habt ihr erwartet, daß ich mich an einem öffentlichen Ort so einfach zu erkennen geben kann? Alvin wimmelt nur so von Oomemianern und ihren Agenten, und alle haben es nur darauf abgesehen, mich und Izmir aufzuspü ren.« »Izmir.« Kerwins Augen weiteten sich. »He, wo ist Iz mir denn?« »Och, ich sitze gerade auf ihm.« Miranda bewegte sich ein Stück. Ein blaues Auge zwinkerte Kerwin an. »Ich glaube, er mag die Stuhlgestalt.« Sie setzte sich wieder. »Es kitzelt ein bißchen.« Seeth wollte gerade etwas sagen, doch Kerwin warf ihm einen warnenden Blick zu, und ausnahmsweise hielt sein jüngerer Bruder den Mund. Rail sprach noch immer. »Ich dachte eigentlich, daß ihr nicht weit gekommen sein könntet, schließlich seid ihr ja mit dieser Welt nicht vertraut. Aber ihr seid weiter gekommen, als ich für mög 195
lich gehalten hätte. Anscheinend habt ihr euch ganz gut arrangiert.« »Ja, mein Bruder ist der einfallsreiche Typ«, erklärte Kerwin. Seeth wirkte überrascht und angenehm berührt. »Beu tezüge sind eine der höchsten Künste menschlicher Zivi lisationen. Was ist nun mit diesem Ungeziefer? Warum haben die versucht, Izmir zu klauen?« »Die Falarianer sind die Hauptverbündeten der Oome mianer. Ich denke allerdings, daß sie ihn selbst behalten wollten, anstatt ihre Freunde zu benachrichtigen. Sonst wären wir inzwischen schon gefangengenommen wor den.« »Großartige Verbündete.« »Es wird noch weitere geben.« Rail seufzte. »Es ist ein deutig, daß es sich inzwischen herumgesprochen hat, daß wir da sind. Ich hatte gehofft, daß wir mehr Zeit haben würden.« »Die müssen diesen Stuhl da aber wirklich dringend haben wollen. Izmir, meine ich.« »Das habe ich euch doch schon gesagt.« Rail nippte wieder an seinem Getränk. »Ich bin froh, daß ich euch wiedergefunden habe.« »Ja, sind wir auch. Warum verlassen wir diesen Schrottberg dann nicht einfach und vergnügen uns an derswo?« »Ich wünschte, daß es so einfach wäre. Leider haben die Oomemianer mein Schiff geortet und überwachen es jetzt. Ich hatte extremes Glück, daß ich es merkte, bevor ich wieder an Bord gegangen bin. Wir dürfen es nicht einmal mehr wagen, zum Hafen zurückzukehren. Wenn wir versuchen sollten, auf diesem Wege zu fliehen, erwi schen sie uns sofort. Und nun sind wir auch noch verant 196
wortlich für den Tod von drei Falarianern. So haben die jetzt auch ihren Grund, uns aufspüren zu wollen.« Seeth schnitt eine Grimasse und wischte sich die Hand flächen an den Ärmeln ab. »Hoffentlich gelingt es ihnen nicht. Ich glaube diesen Schleim kriege ich nie mehr ganz ab.« »Du begreifst den Ernst der Lage nicht. Da es jetzt Tote gegeben hat, wird auch die Polizei von Alvin in die Sache hineingezogen werden.« »Sind das denn keine oomemianischen Verbündeten?« fragte Kerwin. »Nein, nein. Wie ich schon sagte, Nedsplen ist rigoros neutral. Seine Bewohner lieben weder uns noch die Oo memianer. Die Polizei wird uns suchen, wenn sie ent deckt, daß ein Verbrechen stattgefunden hat.« »Wie stehen denn die Nedspleniter zu den Menschen?« fragte Seeth. »Massiv indifferent, würde ich denken. Als primitive Besucher wärt ihr keinerlei Aufmerksamkeit wert. Die gebührt euch nur durch meine Gesellschaft.« »Genau das habe ich mir gedacht, Mann.« Er sah zu Kerwin hinüber. »Warum hängen wir diesen Typen dann nicht einfach ab? Vielleicht brauchen wir uns nur an die Zeitungen oder jemanden zu wenden, dann halten die uns schon die Oomemianer vom Leib.« »Und wie kommen wir nach Hause?« wollte Miranda wissen. »Machst du Witze, Schleckermäulchen? Du hast doch gesehen, wieviel Knete wir in ein paar Stunden gemacht haben. Möglicherweise könnten wir einen richtigen Dau ergig bekommen, vielleicht sogar in irgendeinem großen Club.« Er schnippte mit den Fingern. »Mal echtes Geld schaufeln. Bis wir uns Fahrkarten nach Hause kaufen 197
können oder eine interplanetare Limousine mieten oder irgendsowas.« »Nein danke«, meinte Kerwin. »Die Neuartigkeit unse rer Musik könnte schnell ihren Reiz verlieren. Ich möchte es nicht riskieren, hier hängenzubleiben. Also müssen wir schon bei Rail bleiben, bis der uns nach Hause schafft.« »Ich bin dankbar für diesen Gedanken.« Rail sah ent schuldigend drein. »Ich weiß ja, daß ihr keinen Grund habt, mir zu helfen oder mich auch nur zu mögen. Bisher habe ich euch nichts als Schwierigkeiten und Ärger berei tet.« »Das kannst du aber laut sagen, Mann!« knurrte Seeth. »Bisher habe ich euch nichts als Schwierigkeiten und Ärger bereitet«, sagte Rail etwas lauter. »Aber wenn ihr mir weiterhin helft, kann ich euch versprechen, daß ihr auf Prufillia von meiner Regierung reich belohnt werdet und daß man euch einen Transport zu eurem eigenen Planeten zur Verfügung stellen wird.« Seeth überlegte. »Ich würde eigentlich lieber Musik machen, als mich von Leuten erschießen zu lassen, die so aussehen wie irgend etwas, das die Kammerjäger im Kel ler meiner Tante Heida aufgestöbert haben.« »Du wirst wahrscheinlich sowieso erschossen«, erin nerte Kerwin ihn. »Weißt du noch, wie die Oomemianer arbeiten?« »Ja, da ist was dran. Es gefällt mir zwar nicht, aber… okay. Bleiben wir eben noch ein bißchen hier.« »Danke, danke!« Rails Dankbarkeit war so echt wie sie überschäumend war. »Ihr werdet es nicht bereuen.« »Ich bereue es jetzt schon, Mann, aber wie mein kluger Bruder so richtig sagt, haben wir ja keine allzu große Wahl. Also, was machen wir jetzt, wenn wir hier nicht rumhängen, aber auch nicht auf dein Schiff können?« 198
»Wir müssen eine andere Möglichkeit finden, Nedsplen zu verlassen. Ich habe Kontakte hier.« Er musterte sie unsicher, als würde er überlegen, wie er am besten fort fahren sollte. »Tatsächlich sind die Menschen jetzt die einzigen, die uns helfen können.« Kerwins Reaktion war zu erwarten gewesen. »Einen Augenblick mal! Wir sind doch Menschen!« »Nein. Ich meine die wirklichen Menschen.« Rail sah verlegen aus. »Ich bin aber ein wirklicher Mensch!« Seeth lächelte fröhlich. »Das ist nicht unumstritten.« Kerwin blickte ihn giftig an, während Rail versuchte, die Angelegenheit zu erklären. »Ihr versteht mich nicht. Aber ihr werdet es tun. Eigentlich sollte ich das wohl nicht machen: Im allgemei nen hat die Justiz etwas dagegen, wenn man uralte Ge heimnisse ausplaudert. Aber wir haben ja keine große Wahl, da diese Leute so ziemlich die einzigen auf Nedsplen sind, denen ich trauen kann.« Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Kommt.« »Wohin gehen wir?« »Nach unten.« Kerwin lehnte sich zurück, als sie an einem niedrigen Ventilationsschacht vorbeikamen, und sah plötzlich auf hundert unterirdische Stadtebenen. Ein paar Tröpfchen des vorprogrammierten Abendregens hingen noch immer an schwarzem Metall und glattem Plastik, baumelten gefährlich wie Edelsteine, die sich aus ihrer Fassung lö sten. Alles roch nach feuchtem Metall und Maschinenöl. Wie eine mexikanische Bar. »Soll das heißen, daß es noch mehr ›unten‹ gibt?« »O ja, noch sehr viel mehr«, versicherte ihm Rail. »Selbst nach galaktischen Maßstäben ist Alvin eine ziem 199
lich große Stadt, wenngleich es natürlich keineswegs die größte ist.« »Natürlich.« Kerwin bemerkte, daß sie auf einen ande ren Transportschacht zuschritten. »Welches ist denn dann die größte?« »Das weiß ich nicht genau. Es fällt nämlich schwer, in solchen Dingen immer auf dem laufenden zu bleiben. Ich würde sagen, daß Hatanga auf dem ehemaligen Yousee kia die größte ist.« »Warum sagst du ›ehemalig‹?« »Weil inzwischen alles zu Hatanga gehört. Vom ur sprünglichen Youseekia ist nichts mehr zu sehen. Es ist alles überbaut worden. Die Stadt bedeckt den ganzen Planeten bis auf das, was von den Meeren übriggeblieben ist. Die Stadt ist bis tief in die Kontinentalschelfe hinein gebaut worden, überall. Dort befinden sich die Kraftwer ke. Sie verwenden die Hitze aus dem Planetenkern. Das müssen sie. Man kann schließlich keine planetengroße Stadt auf Batterien laufen lassen, wißt ihr. Alvin ist schon recht beeindruckend, aber Hatanga ist ein sehr alter Ort, während Nedsplen relativ neu ist. Deshalb ist die Stadt hier auch nicht größer. Ah, da sind wir ja. Seid so gut und bleibt dicht bei mir. Ich möchte nicht, daß einer von euch in einem den unseren kreuzenden horizontalen Transport schacht verlorengeht. Hier unten gibt es noch sehr viel mehr davon als oben. Wißt ihr, wie man sie benutzt?« »Klar«, meinte Seeth. »Man schreitet hinaus ins Nichts, schließt die Augen, zieht den Kopf zwischen die Beine und…« »Nun gönn uns mal eine Pause, Seeth«, bat Kerwin müde. »Warum denn? Weißt du, ich habe das Gefühl, je tiefer man in diese Stadt hineinkommt, um so mehr weiß man 200
Derbheit zu schätzen. Was meinst du, Arthwit, alter Pen ner? Du magst doch auch ab und zu mal einen schmutzi gen Witz.« »Das tut jede Rasse. Obwohl die Oomemianer, wie ich schon sagte, prüde sind. Allerdings ist es selbst mit Hilfe von Dolmetschern schwierig, immer die genauen Bedeu tungen zu übertragen. Die Skatologie läßt sich nicht gut zwischen Individuen vermitteln, deren körperliche Be zugspunkte von völlig verschiedener Konstruktionsart sind. Manchmal ist der Witz des einen für den anderen eine anatomische Unmöglichkeit. Das führt dazu, daß viele dieser Witze an Humor oder Bedeutung verlieren.« »Das ist ja cool«, sagte Kerwin und zeigte mit einem Kopfnicken auf seinen kleinen Bruder. »Der hat nämlich auch weder Humor noch Bedeutung.« Seeth blickte sich gerade um. »Sobald ich etwas Trag bares und Schweres in die Hand bekomme, haue ich dir die Zähne ein.« »Bitte, Gleichmut und Selbstdisziplin! Wir haben keine Zeit für langwierige persönliche Querelen.« Sie waren am Rande des Transportschachts angelangt. Es war so dunkel wie ein ländlicher Brunnen in einer mondlosen Nacht. Rail packte Izmir an einem abstehenden Körperteil und schwang den Astarach durch die Luft. Izmir blieb in der Mitte des Transportfeldes schweben und wartete darauf, daß sie ihm folgten. Anscheinend war er auch fähig, das Feld irgendwie zu neutralisieren oder auf andere Weise auszuschalten. Ob das ein weiteres potentiell nützliches Talent sein mochte? Kerwin wußte es nicht und wollte sich auch nicht die Zeit nehmen, darüber nachzudenken. Er war sehr viel mehr daran interessiert herauszubekom men, wer die wirklichen Menschen waren. 201
Rail sprang in das Feld hinaus und begann mit dem Ab stieg. Seine menschlichen Gefährten folgten ihm, wäh rend Izmir sich in einer trägen Spiralbahn um sie herum bewegte, sie umkreiste, sich um verschiedene Achsen drehte und dabei unentwegt und unverständlich vor sich hinplapperte. Sie stiegen nicht bis ganz nach unten hinab, denn damit wären sie auf die Wartungs- und Dienstleistungsebenen gelangt, wie Rail erklärte. Kerwin hatte allerdings den Eindruck, daß sie diesen ziemlich nahe gekommen wa ren. Die Beleuchtung auf diesen tiefen Ebenen war aus schließlich künstlich. Kein Sonnenlicht drang von der weit entfernten Oberfläche herein. Kerwin musterte mit Interesse ihre städtischen Höhlenforscherkollegen. Die erschienen ihm weniger ärmlich oder herunterge kommen als vielmehr geheimnistuerisch. Jedermann sprach hier im Flüsterton oder murmelte nur. Trotz der Tatsache, daß die Straße, auf die Rail sie hinausgeführt hatte, ebenso breit war wie alle anderen, die sie in den oberen Ebenen gesehen hatten, drängten sich die Fuß gänger eng an die Mauern und gaben sich offensichtlich alle Mühe, dem Licht aus dem Weg zu gehen. »Viele, die hier leben und arbeiten, tun es, um keine Aufmerksamkeit zu erregen«, erklärte Rail unnötigerwei se. »Sie sind hier, um unbemerkt zu bleiben.« »Das scheint mir der richtige Ort dafür zu sein«, be merkte Kerwin. »Mir gefällt es hier nicht.« Mirandas Stimme strahlte die gleiche Bestimmtheit aus wie der Rest von ihr. »Es ist igittigitt.« »Liebchen, wie feinfühlig du dich doch auszudrücken vermagst!« Seeth schnalzte in gespieltem Staunen mit der 202
Zunge. »Junge, wenn ich eine derartige Sprachbeherr schung hätte, nicht auszudenken, was ich damit anfangen könnte.« »Du hältst dich wohl für mächtig schlau, Straßenpun ker? Ich wette, daß du nicht einmal eine Kreditkarte hast, und schon gar keine Platinversion.« »Da hast du recht, Strahlauge, ich habe keine Kredit karte. Ich habe keine Tankkarte. Ich habe keine Einberu fungskarte. Meine Brieftasche ist so leer wie Aschenput tels Geldkatze. Bis auf das hier natürlich.« Er grub eine Handvoll fremdartiger Münzen aus. Rails Augen traten hervor. »Wo hast du das denn her?« »Och, ein bißchen Singen, ein bißchen Tanzen.« Seeth blickte sehr selbstzufrieden drein. »Ich und mein Idioten bruder, wir haben ein paar von den Bauerntölpeln hier um einige Spindeln und Würfel und Spulen erleichtert. Weiß nicht einmal, wie erfolgreich wir dabei waren.« »Nach dem zu urteilen, was du in der Hand hältst, wart ihr recht erfolgreich.« Seeth steckte das Geld wieder ein. »Ich wußte nicht, daß ihr beiden Brüder seid, aber ich muß zugeben, daß ich jetzt die Ähnlichkeit erkennen kann.« »Ach ja?« »Er meint, daß unsere Knochenstruktur und solche Sa chen sich gleichen«, erklärte ihm Kerwin, während er beunruhigt einen Alien von der Größe eines kleinen Nil pferds beobachtete, der sich ducken mußte, um nicht an die Decke zu stoßen. Kleine ovale Augen erwiderten herausfordernd seinen Blick, und er war froh, als die Kreatur verschwunden war, obwohl sie nicht annähernd so ausgesehen hatte wie ein Oomemianer. Er gelangte zu dem Schluß, daß dies hier kein beson ders guter Ort war, um sich mittellos zu verirren. 203
Als es so aussah, als seien sie bereits um den halben Planeten geschritten, betrat Rail ein sehr großes Geschäft, dessen Regale, Stütz- und Behältnisfelder und Decke mit einer Vielzahl undefinierbarer Waren bestückt waren. Nichtsdestoweniger war der Laden faszinierend. Miranda wollte etwas untersuchen, das einer mit Edel steinen besetzten Geldbörse glich, und bekam dabei einen milden elektrischen Schlag. Der Besitzer hatte gerade einen Kunden beraten, der nur aus Augen und Mund zu bestehen schien. Nun schlurfte er herüber, um sie zu be grüßen. Sein ein Meter zwanzig langer Hals ragte aus einem sechzig Zentimeter hohen Körper hervor, der auf sechs Beinen stand. Damit konnte er mühelos über die dünne Plastiktheke blicken, konnte diese aber nicht mit seinen Händen erreichen, die an neunzig Zentimeter lan gen Armen hingen. Bis auf ein paar lange, an den Kanten gesäumte Ohren sah der Kopf pferdeähnlich aus. Beim Sprechen zuckten die Ohren unentwegt. »Ja bitte? Kann ich Ihnen mit irgend etwass behilflich sein?« Miranda stand da und lutschte an ihren Fingerknöcheln. »Das Ding da hat mich gebissen!« Das Wesen lächelte und zeigte dabei dicke, quadrati sche Zähne. »All unssere Waren ssind gesschützt. Ich kann ess für ssie aufsschließen, wenn ssie ess näher be trachten wollen.« Rail trat vor. »Meine Freunde sind mit einigen moder nen Geräten nicht so vertraut.« »Moderne Geräte?« Der Eigentümer sah verständnislos drein. »Diesser Laden isst zweihundert Jahre alt.« »Was ist das überhaupt für ein Geschäft?« fragte Ker win. Rail antwortete, noch bevor der Besitzer es konnte. »Die beste Entsprechung auf eurem Planeten wäre wohl 204
ein Gebrauchtwarenladen. Ich glaube, ihr nennt es Pfand haus, obwohl der Vergleich etwas hinkt.« Er wandte sich wieder an den Pferdekopf. »Ich muß mit Yirunta spre chen.« »Er isst hinten.« Der Besitzer musterte sie neugierig mit seinen von Natur aus hervortretenden Augen. »Ich werde ihn holen. Wen ssoll ich anmelden?« »Er kennt mich.« Rail lächelte. Das sechsbeinige Giraffending machte kehrt, dann blieb es abrupt stehen. Izmir der Astarach hatte exakt die Größe und Gestalt einer komplizierten modernen Skulp tur angenommen, die an der gegenüberliegenden Wand stand. Der einzige Unterschied zwischen beiden war der, daß das Original tiefschwarz war, während Izmir ein leuchtendes Kobaltblau gewählt hatte, wenn man von den schwarzen Streifen absah, die ständig um sein Äußeres rotierten. Der Ladenbesitzer war fasziniert. »Diessen Mimen wollt ihr wohl nicht zufällig verkau fen, wie? Ess isst ein wunderbaress Sspielzeug, oder isst ess ein freiess Individuum?« Der Besitzer spähte ange strengter hin, konnte diese faszinierende Frage aber eben sowenig beantworten, wie Rail und seine menschlichen Gefährten es hatten tun können. »Ich kann ess nicht aus machen.« »Das kann niemand«, meinte Rail, »aber es spielt auch keine Rolle. Was oder wer auch immer, er ist nicht zu verkaufen.« »Ssolltet ihr ess euch jemalss anderss überlegen…« Das Giraffending verschwand im Hinterzimmer. Inzwischen schlenderten Seeth, Kerwin und Miranda durch ein Sammelsurium von Gegenständen, die auf Nedsplen wahrscheinlich als reiner Trödel galten, von denen jeder einzelne jedoch auf der Erde unbezahlbar 205
gewesen wäre. Na ja, vielleicht doch nicht unbezahlbar. Wie Rail gemeint hatte, war Trödel und Abfall eben nur Trödel und Abfall, egal auf welchem Planeten er entstan den war. Schließlich kam eine gewaltige, klobige Gestalt aus dem Hinterzimmer gewatschelt. Vor den Augen trug sie ein paar gewaltige Vergrößerungsgläser mit eingebauten Programmen, um das wahre Alter von Antiquitäten zu bestimmen, die Reinheit und den Ursprung von Edelstei nen sowie verschiedene andere nützliche Wissensfetzen. Ein Kaufmannswerkzeug. Seine Kleidung war weniger imposant: silbrige Hosen und ein dazu passendes Jacket. »Arthwit Rail! Junge, das ist ja schon ewig her!« »Viel zu lang. Schön, dich wiederzusehen, Yirunta.« Der Prufillier und der Mensch umarmten einander, wäh rend Seeth und Kerwin den Neuankömmling fassungslos anstarrten. Nicht jedoch Miranda. Sie hätte es nicht we niger interessieren können, denn sie war in eine intensive Begutachtung des Warenbestands an Armreifen und Halsketten vertieft. Yirunta löste sich von seinem alten Freund. »Also, was führt dich…?« In diesem Augenblick bemerkte er die anderen Besucher des Geschäfts. »Ach du liebe Güte; o weh. Cromagnons.« Er blickte zu seinem Freund zurück. »Ich weiß ja, Arthwit, daß du in ein paar ziemlich anrü chige Affären verwickelt warst, aber wirklich! Croma gnons?« Rail wandte den Blick ab. »Es war unvermeidlich. Sie haben mir das Leben gerettet.« »Haben sie? Na ja, ich schätze, selbst ein Cromagnon bringt gelegentlich einmal im Ausnahmefall eine zivili sierte Handlung zustande, wenn auch aus der Geschichte nichts davon überliefert ist. Was soll das heißen, dir das 206
Leben gerettet? Warum war es denn überhaupt in Gefahr, das sag mir doch bitte?« »Deshalb.« Rail zeigte auf Izmir, der inzwischen, sei ner Skulptur müde, einen Bodenventilator imitierte, einschließlich der raffinierten Bewegung der miteinan der verflochtenen Lamellen. »Die Oomemianer schätzen ihn sehr. Schätzen ihn so sehr, daß sie seinetwegen ei nen allgemeinen Alarm auslösten, wie auch meinetwe gen, als ich ihn mir ausgeliehen habe.« »Ausgeliehen, wie? Du warst schon immer ein guter Ausleiher, Arthwit. Nur daß du dieses Mal wohl über ausgeliehen hast, wie ich vermute?« »Darauf läuft es ungefähr hinaus. Ich mußte auf den Planeten meiner Freunde dort fliehen, und nachdem sie mich vor den Oomemianern gerettet hatten, fühlte ich mich für sie in gewissem Sinne verantwortlich. Hätte ich sie zurückgelassen, so hätten die Oomemianer sie getötet. Außerdem ging alles viel zu schnell, um mögli che Alternativen sorgfältig durchdenken zu können.« »Ich nehme an, sie sind recht harmlos, gewiß.« Yirun ta musterte Kerwin nachdenklich. Er schritt zur Verkaufstheke hinüber. »Ich muß schon sagen, wenn man sie persönlich vor sich hat, sehen sie etwas weniger scheußlich aus, als sie in den Texten beschrieben wer den. Allerdings nicht sehr viel weniger. Die Grundele mente sind immer noch vorhanden; die schwach ausge prägten Gesichtszüge, der zusammengeschrumpfte Schädel, die verlängerte Skelett- und Muskelstruktur.« »Du bist auch nicht gerade ein Kandidat für den ersten Preis beim Schönheitswettbewerb, Mann«, meinte Seeth. »Und die grobschlächtige, derbe Art der Kommunika tion«, schloß Yirunta. 207
»Aber… aber du bist doch ein Neandertaler«, platzte es aus Kerwin heraus. Und das genau war Rails Freund auch: Der massive Oberkörper und die ebenso massiven Arme, die fliehende Stirn und die vorgereckte Kieferlade, die beachtliche Körperbehaarung – alle wiesen Yirunta sofort als einen solchen aus. Nur die Juweliersbrille, die er inzwischen auf die niedrige Stirn zurückgeschoben hatte, wirkte de plaziert. »Was sollte ich wohl sonst sein? Wenigstens weiß jeder hier vom anderen, was er ist.« Er wandte sich wieder Rail zu. »Sag mir doch bitte eins – haben sie überhaupt ir gendwelche Fortschritte gemacht?« »Ich war auf keiner soziologischen Forschungsreise vor Ort. Ich könnte es dir wirklich nicht sagen. Diese Erde kam mir ziemlich primitiv vor. Deshalb bin ich auch dorthin gegangen. Der Planet ist ja immer noch als un bewohnt kategorisiert, weißt du.« »Die arme, alte Erde.« Traurig schüttelte Yirunta den Kopf. »Ab und zu habe ich doch eine gewisse Sehn sucht… habe sie natürlich noch nie gesehen. Das hat kein Mensch, seit Tausenden von Jahren nicht. Das war Teil der Abmachung.« »Einen Augenblick mal, einen Augenblick mal!« Ker win gestikulierte besorgt. »Was soll das heißen, kein Mensch hat sie gesehen? Was ist denn mit meinen Freun den und mir?« Yirunta schürzte die dicken Lippen. »Ich nehme an, daß ihr euch selbst wohl für Menschen haltet, aber dafür könnt ihr ja nichts. Ihr seid nur die Opfer einer seit lan gem etablierten historischen soziokulturellen Fixierung.« Langsam wurde Kerwin das herablassende Verhalten dieses Burschen leid, ob er nun Rails Freund sein mochte 208
oder nicht. »Fixierung – daß ich nicht lache! Wir sind die überlegene Spezies. Ihr seid es, die ausgestorben sind, nicht wir.« »Ausgestorben!« Yirunta lachte geziert. »Wie drollig! Ihr Cromagnons habt euch schon immer auf eure unbehol fene Art amüsiert. Wir sind nicht ausgestorben, junger Primitiver. Wir sind gegangen. Umgezogen. Haben unsere Adresse geändert. Haben uns einen neuen Wohnort ge sucht.« Kerwin furchte die Stirn. »Das verstehe ich nicht.« »Nun ja, genau darum ging es natürlich auch. Du weißt wirklich nicht, was passiert ist? Nein, natürlich weißt du es nicht. Wie solltest du auch? Da du auf einem verbotenen Planeten lebst, hast du natürlich auch keinen Zugang zu eurer wahren Geschichte. Nun gut, ich habe die Schule zwar schon vor langem verlassen, aber ich werde versu chen, euch ein bißchen auf den neuesten Stand zu brin gen.« »Ich weiß nicht, ob das klug ist«, warf Rail besorgt ein. »Was passiert, wenn ich sie wieder in ihre Heimat zu rückbringe?« »Niemand wird ihnen glauben«, meinte Yirunta locker. »Das ist eine traditionelle Eigenart der Cromagnons, und zwar eine, von der ich bezweifle, daß sie sich geändert hat. Sie neigen dazu, nichts zu glauben, es sei denn, sie sind selbst dafür verantwortlich.« Er blickte zu Kerwin zurück. »Die Geschichte ist ganz einfach, Vetter. Berichtige mich bitte, falls ich einen Fehler machen sollte, Arthwit.« »Das werde ich bestimmt nicht tun. Ich weiß nicht ein mal sonderlich viel über die Geschichte Prufillias, und noch sehr viel weniger über die der Außengebiete.« »Dann muß ich die Sache wohl so einfach wie möglich ausdrücken.« 209
»Erzähl sie uns einfach, Käferatem, dann werden wir uns schon irgendwie hindurchwursteln«, versicherte ihm Seeth. »Na schön. Wie soviele Planeten, auf denen sich Intel ligenz entwickelte, wurde die primitive Erde einige Zeit von den Isotat observiert.« »Es ist doch immer nett, beliebt zu sein«, bemerkte Seeth. »Hoppla!« sagte Kerwin. »Wer sind denn diese Isotat schon wieder? Sind wir welchen von denen auf den Stra ßen begegnet?« Yirunta lächelte, es war eine außergewöhnliche Explo sion von Lippen und Zähnen. »Niemand hat jemals einen Isotat gesehen. Kein Prufillier, kein Oomemianer, nie mand. Wir haben lediglich ihre mondgroßen Schiffe ge sehen. Niemand weiß, wo sich ihr Heimatplanet befindet oder ob sie sich überhaupt noch mit einem abgeben. Möglicherweise haben sie das planetare Leben zugunsten einer Nomadenexistenz an Bord ihrer gewaltigen Fahr zeuge aufgegeben, die beachtlich viel schneller als jedes andere bekannte Transportmittel sind. Manchmal teilen sie uns etwas mit. Solche Konversationen sind stets eine Einbahnstraße. Auf unsere Nachfragen oder Ersuchen reagieren sie in keiner Weise. Sie sind freundlich, aber distanziert, besorgt, aber unbeteiligt. Die einzigen Gelegenheiten, zu denen sie sich, soweit wir wissen, in die Angelegenheiten einer anderen ver nunftbegabten Rasse einmischen, dienen der Unterstüt zung sich entwickelnder Spezies, die an der Schwelle zur Zivilisation stehen. Sie sind entweder neugierig, mitfüh lend oder beides. Jedenfalls heißt es, daß sie bei der Beobachtung der Er de natürlich den sich anbahnenden Konflikt zwischen 210
Menschen wie uns – Neandertalern, wenn ihr so wollt – und euren Cromagnonvorfahren beobachteten. Das war anscheinend etwas sehr Ungewöhnliches, daß zwei Ab kömmlinge desselben äffischen Vorfahren gleichzeitig Intelligenz entwickelten. Die Isotat gelangten zu dem Schluß, daß die Neandertaler höchstwahrscheinlich von den primitiveren, aber sehr viel aggressiveren und zahl reicheren Cromagnons ausgelöscht werden würden.« »Ihr haltet euch wohl wirklich für den überlegenen Ent wicklungszweig«, meinte Kerwin. »Ach, du liebe Güte, nein – wir haben nichts derglei chen von uns geglaubt. Wir haben keine Rassenvorurteile wie ihr Cromagnons. Ich nehme an, daß unsere Vorfah ren sie auch nicht hatten. Und was die Frage angeht, wel che von beiden Rassen die überlegene ist, so müßtet ihr schon die Isotat befragen, aber das ist natürlich völlig unmöglich. Es ist jedoch nicht immer die überlegene Form, die sich durchsetzt. Wir waren sehr viel friedfertiger und nach denklicher als ihr kriegerischen Affen. Wo wir offen und tolerant waren, wart ihr heimtückisch und im Sippenden ken verhaftet. Wir waren wahrhaftig, ihr wart verräterisch und trügerisch. Die Isotat hatten völlig recht. Gegen sol che instinktiven Waffen hätten wir nicht die geringste Chance gehabt. Individuell gesehen waren wir zwar kräf tiger, doch in Kriegsdingen wart ihr uns eindeutig überle gen. Außerdem vermehren sich die Cromagnons wie die Fliegen. So gelangte man zu dem Schluß, daß zwar beide Völ ker eine Weiterentwicklung wert seien, daß sie sich aber nicht miteinander vertrugen. Die Isotat waren der Auffas sung, daß die künstlerischer gesinnten, sensibleren Nean dertaler von der ameisenarmeeähnlichen Präzision der 211
Cromagnons überwältigt werden würden.« »Alles, was du sagst, ist umstritten«, wandte Kerwin ein. »Der historische Teil nicht, fürchte ich. Die Isotat grif fen ein und lösten das Problem, bevor es begann. Vor ungefähr sechzigtausend Jahren brachten sie einige ihrer gewaltigen Raumfahrzeuge zur Erde und lösten den Kon flikt, indem sie einfach alle meine Vorfahren, die sie ausfindig machen konnten, auf einen anderen, leeren Planeten brachten. Soweit ich weiß, wollte man ursprüng lich die Cromagnons umsiedeln, doch bis die Isotat die entsprechende Entscheidung getroffen und die kompli zierte Logistik abgeschlossen hatten, gab es bereits wie der so viele Cromagnons mehr, daß es leichter war, uns umzusiedeln als euch. Ihr seht also, daß das Ganze eine praktische Frage war und nicht etwa die Frage, wer die Vorherrschaft auf dem Planeten erringen sollte, der uns hervorgebracht hatte. Die Umsiedlung selbst verlief untraumatisch, da sowohl meine Vorfahren als auch eure zu primitiv waren, um bereits die Vorstellung von der Erde als Heimat entwik kelt zu haben. Das Heim war immer nur die jeweilige Höhle. Wir haben uns ganz gut eingewöhnt und haben uns auch dazu qualifiziert, uns der galaktischen Gemein schaft anzuschließen. Inzwischen sehen wir in Haus, dem Planeten, den die Isotat uns zuteilten, unseren Heimatpla neten. Es ist also keine Frage etwaigen Neids, es gibt auch keinen Grund, weshalb wir jemals die Erde besu chen sollten, mit Ausnahme einer anthropologischen Neugier. Leider können wir jedoch nicht einmal das tun, weil die Erde nach wie vor als unbewohnbar, unzivili siert, nicht gesellschaftsfähig und auch allgemein als für Reisen ungeeignet klassifiziert ist.« Mit einem Nicken 212
wies er auf Rail. »Aber ich nehme an, daß er euch das wohl schon mitgeteilt haben wird.« »Ich mußte es. Die Oomemianer waren hinter mir her, und ich war diesen dreien, die mich gerettet hatten, eine Erklärung schuldig.« Yirunta nickte verständnisvoll. »Kein Grund zur Sorge. Wie ich schon sagte, niemand wird ihnen glauben, wenn sie nach ihrer Rückkehr von ihren Reiseerlebnissen erzäh len sollten. Das ist schon öfter vorgekommen. Man hat die Reisenden immer ausgelacht und der Lächerlichkeit preis gegeben.« »Wieso glaubst du eigentlich«, fragte Kerwin, »daß die Isotat euch nicht einfach nur etwas eingeredet haben, was eure angebliche Überlegenheit betrifft, nur um euch leich ter umsiedeln zu können?« »Sie brauchten es gar nicht ausdrücklich zu erwähnen. Vergeßt nicht, daß wir von einer Zeit sprechen, die Zehn tausende von Jahren zurückliegt, von wirklich primitiven Völkern. Wenn die Götter vom Himmel herabsteigen und jemandem anbieten, ihn ins Paradies zu bringen, welcher Primitive würde da schon widerstehen? Natürlich haben ein paar es doch getan. Sie waren schnell genug und klug genug, um den Schiffen der Isotat zu entkommen. Also gab es nur noch sehr wenige von uns, die ihr Cromagnons zusammenschlagen konntet. Habt ihr euch denn nie ge wundert, weshalb wir so schnell ›ausgestorben‹ sind?« Er warf Rail einen Blick zu. »Ich nehme nicht an, daß sie inzwischen ihre Gewohnheiten geändert haben?« »Sie sind noch immer so zersplittert wie immer, fürchte ich«, meinte Rail enttäuscht. »Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, daß sie in absehbarer Zeit Teil der galaktischen Kultur werden könnten. Seit einer Weile haben sie Atomund Fusionswaffen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.« 213
»Das meinst du«, warf Seeth ein. »Wir werden unsere Probleme schon noch lösen, du wirst schon sehen. Ein Meinungswandel und ein paar andere Regierungen in den Vereinigten Staaten und in der UdSSR, und wir bekom men alles unter Kontrolle.« »Ich wünsche euch gewiß alles Gute«, sagte Yirunta. »Jede neue Rasse besitzt etwas, mit dem sie zur Gesell schaft beitragen kann. Vielleicht könnten wir euren An trag sogar unterstützen. Ihr wißt schon, wie man eben einem geistig behinderten Bruder behilflich ist.« Seeth wollte etwas erwidern, doch Yirunta kam ihm zuvor. »Bitte, ich will euch nicht beleidigen. Ich führe die Tat sachen lediglich so auf, wie ich sie kenne.« »Na ja, deine Tatsachen sind jedenfalls völlig durch einander.« Seeth war nur teilweise besänftigt. »Ich wette, ihr habt nicht einmal Rock ‘n’ Roll.« Yiruntas gewaltige Augenbrauen zogen sich zusam men, während er sich Rail zuwandte. »Eine Form der heutigen Volksmusik«, erklärte der Prufillier. »Eigentlich nichts anderes als Variationen über frühere Themen, die sich, wie ich mir vorstellen kann, wahrscheinlich bis zum Ursprung dieser Rasse zurück verfolgen ließen. Die jüngeren Teile gewisser dominie render Völker halten sie inzwischen für eine fortschrittli che Form musikalischen Ausdrucks. Amüsant ist daran, daß sie nicht erkennen, daß diese Musik gerade durch ihre Verbindung zu ihrer weit zurückliegenden Vergan genheit Bedeutung hat.« »Dann kann ich mir vorstellen, daß wir sie nicht ha ben.« Dennoch wirkte Yirunta neugierig. »Wir haben uns von unseren primitiven Ausdrucksweisen recht weit ent fernt. Ich würde sie gerne einmal hören. Wer weiß, welch alte Gefühle sie aufwühlen könnte?« 214
»Hör ihn dir nur an«, sagte Seeth sarkastisch. »Und die halten sich auch noch für fortgeschritten! Der glaubt wahr scheinlich, daß Bon Jovi eine Country & Western-Gruppe ist.« »Hör mal, wir sprechen hier gerade über die Geschichte der gesamten menschlichen Rasse«, teilte Kerwin ihm mit. »Könnten wir da den Rock ‘n’ Roll nicht mal eine Minute beiseite lassen?« »He, Mann, man kann doch nicht die menschliche Rasse durchdiskutieren und dabei den Rock ‘n’ Roll auslassen!« »Wieviel kostet das hier?« Miranda zeigte auf ein inter essantes Schmuckband, das für einen sehr viel größeren Hals als ihren gedacht war, oder für einen Teil einer Alie nanatomie, der nichts mit einem Hals zu tun hatte. Es leuchtete und glitzerte. Noch während Miranda darauf deutete, schwebte Izmir daneben und verwandelte sich in ein vollkommenes, wenn auch sehr viel größeres Duplikat des Halsbands. »Wirklich außergewöhnlich.« Yirunta musterte Izmir. »Was kann es noch alles imitieren?« »So ziemlich alles«, meinte Rail. »Jedenfalls haben wir noch keine Grenzen erkennen können. Er kann auch frei in alle Richtungen levitieren, sogar in einem Transport schacht. Stärke und Richtung des Felds scheinen ihm nichts auszumachen. Ich bin sicher, daß er außerdem noch Eigenschaften und Fähigkeiten besitzt, von denen wir noch nicht einmal etwas ahnen. Meine Möglichkeiten sind ja, wie ich meinen menschlichen Freunden schon mitteilte, sehr beschränkt.« Yirunta nickte. »Langsam begreife ich, warum die Oo memianer ihn so hochschätzen. Vielleicht haben sie auch keine Ahnung von seinen Möglichkeiten oder seinem Po tential.« 215
»Sie müssen irgend etwas vermuten.« Rail ließ die Fin ger durch seinen grünen Filz fahren. »Sonst würden sie mich nicht so angelegentlich verfolgen. Ein Problem bei Izmir ist, daß ihm die um ihn herum stattfindende Aktivi tät völlig gleichgültig zu sein scheint. Er schwebt mit jedem davon, wer immer ihm zuwinkt. Ich weiß nicht, was sein Name bedeutet oder ob es sich dabei um irgend eine Art oomemianischen Kode handelt.« »Namen sind Schall und Rauch«, murmelte Yirunta. »Nun, ich liebe die Oomemianer nicht. Die sind ein un gehobelter, grober Haufen. Und ich schulde dir ein paar Gefallen. Also werden wir dir helfen. Und was meine fernen Vettern angeht« – dabei musterte er die drei Men schen in seinem Geschäft – »so soll niemand behaupten können, daß wir uns nicht um unsere armen Verwandten gekümmert hätten.« »Ich schätze, da muß ich wohl danke sagen.« Kerwin trat an die Theke und streckte eine Hand vor. Yirunta wich einen Schritt zurück und wedelte ein wenig mit der Hand. »Nicht persönlich gemeint«, betonte er und versuchte, nicht allzu offensichtlich die Nase zu rümpfen, »es ist nur, daß euer Körpergeruch, na ja, er ist eben ganz an ders.« »He, Bruder Affe«, meinte Seeth, »stinken tun wir al le.« »Er muß dich gemeint haben«, warf Kerwin ein. »Wann hast du dich denn das letzte Mal gebadet, kleiner Bruder?« »Nenn mich bloß nicht kleiner Bruder, Mann. Nenn mich überhaupt nicht Bruder. Ich habe schon versucht, diese Verwandtschaft abzulegen, bevor ich geboren wur de. Und außerdem – wieso glaubst du, daß er mich ge 216
meint hat? Vielleicht stinke ich ja für dich, aber nicht für ihn.« »Ihr riecht alle mehr oder weniger gleich.« Yirunta woll te ebensogern die Wahrheit sagen wie Frieden stiften. Er blickte zu Miranda hinüber. »Das macht sechsundvierzig Yora, zuzüglich Steuer.« Miranda hatte das Schmuckstück um ihren Hals gehängt. »Ist das viel?« Yirunta unterdrückte ein Lächeln. »Nicht die richtige Frage, die man einem feilschenden Geschäftsmann stellen sollte.« »Was sind schon ein paar müde Yora?« Seeth vergrub die Hand in der Tasche und legte eine Handvoll Murmeln, Spulen, glühende Stäbe und Würfel auf die Theke. Yiruntas Brauen schossen in die Höhe. »So viel Bargeld, offensichtlich hier an Ort und Stelle erworben! Haben sich die Cromagnons etwa doch noch weiter entwickelt, als man mich glauben gemacht hat?« »Manche von uns sind eben anpassungsfähiger als ande re.« Seeth schob ihm die Kollektion hin. Yirunta wählte ein paar Würfel aus dem Währungssor timent, nahm sie auseinander und gab ihnen die Außenschalen zurück. »Euer Wechselgeld.« »Soll das heißen, daß das alles ist?« Miranda lächelte Seeth an. »Danke.« Er schob den Rest des Geldes wieder in die Tasche. »Keine Ursache, Honighaut. Die Knete gehört auch dir. Du hast immerhin getanzt.« »Klar, aber es war ja deine Idee. Das mit der Musik.« Kerwin war verlegen und fühlte sich irgendwie ausge schlossen. »Wir haben alle dazu beigetragen. Das ist auch nur richtig so. Schließlich sitzen wir alle im selben Boot.« 217
»Oooooh, wie tiefsinnig!« Seeth ließ in gespieltem Er staunen die Augen hervortreten. »Ich würde gern ein paar Tests mit diesem Izmir durch führen«, teilte Yirunta Rail mit. Der Prufillier wurde mißtrauisch. »Was für Tests?« »Immer mit der Ruhe, alter Freund. Nichts, was ihn ka puttmachen könnte.« »Ich bin mir nicht sicher, daß du ihn kaputtmachen könntest, selbst wenn du es versuchtest, aber ich möchte nicht, daß er irgendwie verändert wird.« »Ich verspreche es dir feierlich. Bring ihn nach hinten.« Während Yirunta, Rail und Izmir durch eine Hintertür verschwanden und das Giraffenwesen sich ums Geschäft kümmerte, setzten die drei Menschen ihre Inspektion des Ladens und seiner Waren fort. Schließlich schlenderten auch sie nach hinten, um nachzusehen, was dort passierte. Einige der Geräte, die Yirunta an Izmir anschloß, sahen in Kerwins Augen schrecklich hochentwickelt aus, so sehr, daß er sich zu fragen begann, ob der Neandertaler nicht möglicherweise noch etwas anderes sein mochte als nur ein Teilhaber eines billigen Trödelladens. Nachdem er eine Stunde lang seine Tests durchgeführt hatte, mußten sie wieder warten, während er in etwas Unerkennbares hinein zu Personen sprach, die ungesehen und unbekannt blieben. Als er genug von dem Gespräch hatte, gesellte er sich wieder zu ihnen. »Alles abgemacht, Arthwit. Wir werden dir helfen, Nedsplen mit diesem Izmir und deinen Cromagnons zu verlassen, ohne die Aufmerksamkeit der Oomemianer auf euch zu ziehen.« »Danke. Ich war mir nicht gänzlich sicher, ob ihr noch immer Zugang zu solchen Möglichkeiten hättet, alter Freund.« »Du würdest überrascht sein, wenn du erführest, zu 218
welchen Möglichkeiten ich noch immer Zugang habe.« Er blickte an Rail vorbei auf Izmir. »Extrem interessant, dein Izmir. Ich habe gerade ein paar Messungen gemacht, weißt du. Ich kann sie nicht deuten. Ist nicht meine Spe zialität. Aber ich habe sie an einige Leute weitergegeben, die mit den Zahlen etwas anfangen können, und die sind sehr, sehr daran interessiert, eine sehr viel umfassendere Untersuchung durchzuführen.« »Oh, oh, das klingt aber allzu wohlvertraut! Gehe ich recht in der Annahme, daß du nicht vorhast, uns auf di rektestem Wege nach Prufillia zurückzubringen?« Yirunta legte eine Hand auf die magere Schulter und sprach ganz ruhig. »Jetzt hör mal zu, alter Freund. Ohne unsere Hilfe hast du nicht die geringste Chance, auch nur auf tausend Lichtjahre an Prufillia ranzukommen, und das weißt du auch. Inzwischen haben die Oomemianer so ziemlich alles ins All geworfen, was sie riskieren konn ten, ohne gleich überall Kriege auszulösen. Du könntest nicht einmal einen Zahnstocher auf Prufillia einschmug geln, und ebensowenig auf seine Satellitenwelten, ohne daß diese Transaktion genauestens durchleuchtet würde. Soweit ich gehört habe, protestieren deine Leute zwar lauthals, aber da keine echten Kampfhandlungen damit verbunden sind, wartet alles einfach nur darauf, daß die Sache sich von selbst erledigt und auflöst.« »Ich weiß ja nicht«, Rail klang leicht zweifelnd. »An eine solche Abmachung hatte ich eigentlich nicht ge dacht.« »Wir können dich nicht nach Haus befördern.« Yirunta versuchte, die offensichtlichen Befürchtungen seines Freundes zu besänftigen. »Wenn die Oomemianer dich dort beim Eintritt bemerken oder auch nur herausbe kommen sollten, was da vor sich geht, hätten wir unseren 219
Neutralitätspakt sowohl mit Prufillia als auch mit Oome mia offiziell gebrochen. Aber es gibt einen anderen Ort, wo du in Sicherheit bist und wo einige unserer eigenen Leute dir, sagen wir mal, dabei behilflich sein werden, dir ohne Einmischung von außen Klarheit über Izmirs Mög lichkeiten zu verschaffen.« »Ich muß erst noch eine Minute darüber nachdenken«, antwortete Rail ihm geradeheraus. »Meine einzige Ab sicht war es eigentlich, ihn nach Prufillia zu bringen.« »Nicht ganz. Nach allem, was du mir erzählt hast, war es deine Hauptabsicht, den Oomemianern den Zugang zu ihm zu verwehren. Das hast du getan, und dabei werden wir dir weiterhin helfen.« »He, und was ist mit uns? Habt ihr uns vergessen?« fragte Kerwin jammernd. Die beiden Aliens ignorierten ihn, während sie ihr Streitgespräch fortsetzten. Kerwin hatte nichts dagegen, als Primitiver bezeichnet zu werden, aber als nichtzuge hörig – das war doch noch etwas anderes.
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IX
»IMMER MIT DER RUHE, JUNGCHEN.« Seeth war zum Plaudern herübergekommen. Yirunta und Rail stritten sich noch immer, feilschten noch immer. Kerwin war des Zuhörens inzwischen müde und hatte sich wieder daran gemacht, die Waren des Ladens zu inspizieren. »Siehst du nicht, daß wir hier keine Rolle spielen? Wir sind nur Übergepäck. He, die könnten uns noch glatt vergessen, dann säßen wir hier fest.« Er blickte nachdenklich drein. »Weißt du, irgendwie hätte ich nicht mal viel dagegen. Ich meine, Alvin ist jedenfalls verdammt viel interessan ter als Albuquerque. Ich könnte irgendwo einen richtigen Gig bekommen, könnte aus ein paar Einheimischen eine Begleitband zusammenwürfeln. Wir könnten einen neuen Trend in Gang setzen. Ich wette, daß an einem Ort wie diesem, wo jeder Zugang zu allem hat, eine neue Idee, eine neue Musik, ein neues Irgendwas in Würfeln und Murmeln aufgewogen wird. Möglicherweise würde es mir hier noch besser gehen als in New York. Das könnte mein großer Durchbruch werden!« »Hast du völlig den Verstand verloren?« Kerwin blick te ihn fassungslos an. »Das hier ist nicht unser Zuhause. Das ist nicht einmal die Erde. Angenommen, du bleibst hier: Was passiert denn dann, wenn du mal einen Schokoladenshake haben willst oder einen Fernseher?« »Also erstens, Mann, können diese Nahrungssyntheti sierer hier wahrscheinlich ebenso gute Schokolade her stellen wie alles andere. Und was das andere angeht, du glaubst doch wohl nicht wirklich, daß ich meine kostbare 221
Zeit darauf vergeude, in die Idiotenröhre zu glotzen, oder? Ich wette, daß die Unterhaltungssysteme hier ganz schön viel mehr drauf haben.« Er sah an Kerwin vorbei zu Miranda. »Was meinst du denn, Zuckertaille? Willste in meine Band?« Sie legte einen Finger auf ihre vollkommenen Lippen. »Ich weiß nicht. Hört sich zwar nach mächtig viel Spaß an, aber möglicherweise machen meine Alten sich dann Sorgen, wo ich bin.« »Bestimmt nicht. Wir können ihnen ja einen Brief oder so was schicken. Was immer hier das Gegenstück zum Telegrammdienst ist. Du brauchst ihnen ja nicht genau zu sagen, wo du bist. Sag ihnen einfach, du hättest die Schu le und die Stadt gewechselt und daß alles wunderbar läuft. Wenn wir hier groß rauskommen, können wir wahrscheinlich genug von diesem Müll da schaufeln«, er klimperte mit dem Geld, das mit seinem Gewicht eine Hosentasche in die Tiefe zog, »um uns ein Schiff zu mie ten, das dich auf eine Stippvisite nach Hause bringt. Ge nau wie unser Kumpel Rail es gemacht hat.« »Ich weiß immer noch nicht. Ich meine, ich muß erst mal drüber nachdenken. Aber einkaufen kann man hier wirklich toll. Ich bin sicher, daß es hier Läden gibt, die ich mir nicht mal vorstellen kann, und die Kleider haben, wie sie noch nie jemand gesehen hat. Natürlich machen Kleider keinen Spaß, wenn keine anderen Leute da sind, um sie zu bewundern.« »He, das ist aber merkwürdig«, murmelte Kerwin. »Ich dachte immer, daß sie dazu da wären, damit man nicht friert und vor den Elementen geschützt ist.« »Werd nicht albern«, tadelte sie ihn. »Dafür haben wir schließlich Klimaanlagen und Zentralheizungen.« »Genau, Schnauze, Blödian, sonst Beule!« 222
Kerwin blickte Seeth finster an. »Für heute habe ich langsam genug von dir, kleiner Bruder.« Seeths Miene verhärtete sich. »Ich habe dir gesagt, du sollst mich nicht so nennen, Mann.« Im nächsten Augenblick rollten sie wieder über den Boden, droschen aufeinander ein und fügten sich selbst dabei mehr Schaden zu als dem anderen. Yirunta blickte kurz zu ihnen hinunter und schüttelte den Kopf. »Die Isotat haben wirklich gewußt, was sie taten.« Wieder blickte er an Rail hinauf. »Du hast jetzt wahrhaf tig genug Zeit gehabt, um dir die Sache zu überlegen.« Der Prufillier stieß ein resigniertes Seufzen aus. »Also abgemacht.« »Schau nicht so enttäuscht drein. Im Augenblick ist es wirklich das beste für dich. Niemand wird ein neutrales Schiff aufhalten, das Nedsplen verläßt. Dann hast du es geschafft, Izmir den Oomemianern zu entziehen, was ja deine Hauptsorge war, und du wirst bequem reisen, noch dazu unter dem Schutz eines bewaffneten Schiffs. Deine Freunde«, fügte er als Nachgedanken hinzu, »werden ordentlich versorgt und so bald wie möglich auf ihren eigenen rückständigen Planeten zurückgebracht werden.« »Das ist es nicht. Das hört sich ja alles ganz gut an. Es ist nur, daß ich eigentlich darauf gehofft hatte – die pa triotische Pflicht einmal beiseite genommen –, daß ich auf dieser Reise ein paar Tausender abstauben könnte. Schließlich habe ich kaum geschlafen, mehrmals hätte man mir fast den Kopf vom Hals geschossen, und…« »Ich verstehe.« Yirunta lächelte wissend. »Dieses Pro blem wurde bereits ins Gespräch gebracht. Meine Leute haben mir versichert, daß sie einen offiziellen Vertrag für den Gebrauch Izmirs aufsetzen werden, sobald sie genau definieren können, was er umfassen soll, ganz zu schwei 223
gen von einer Definition Izmirs selbst. Sobald die For schungen einen praktischen Nutzen ergeben, wirst du am Gewinn beteiligt. Vergiß auch eins nicht: Wenn du ihn direkt nach Prufillia zurückbringst, bekommst du wahr scheinlich nichts anderes als ein stürmisches Dankeschön und vermutlich einen Orden, den du dann bestenfalls irgendwo verhökern könntest.« Rails Miene erhellte sich sichtbar. »Das ist wahr. Applaus ist ja ganz nett, aber es ist schon besser, etwas Konkreteres für seine Anstren gungen zu bekommen, als nur eine Beteuerung der Wert schätzung.« »Dann ist das also erledigt.« Yirunta klopfte ihm auf die Schulter, seine riesige Hand umspannte fast das ganze Schlüsselbein. Er zeigte mit einem Nicken auf Izmir. Der Astarach hatte sich in den Türrahmen eingepaßt. Schar lachrote und goldene Lichter liefen die Umrisse der Tür ab, ein Strudel aus Farben, der ungehindert um das blaue Auge über dem Türrahmen gischtete. »Wie bewegen wir das Ding?« »Wie ich schon sagte, Izmirs Laune scheint vom Ko operativen bis zum Indifferenten zu variieren. Er ist au ßerordentlich fügsam. Er wird mir folgen, wie er es auch in der Vergangenheit getan hat. Wie er allerdings darauf reagiert, wenn eure Wissenschaftler mit ihm Experimente anstellen, das soll nicht meine Sorge sein. Sobald ich ihn euch offiziell übergeben habe, habe ich nichts mehr damit zu tun.« Yirunta nickte anerkennend. »Das ist fair und vernünf tig.« Er blickte wieder zu Boden. »Und wenn du mir jetzt vielleicht helfen würdest, wollen wir die beiden Tiere voneinander trennen und ihnen in den allereinfachsten Begriffen die Lage erläutern.« Yirunta wählte sich Kerwin aus, da er der größere der 224
beiden war, hob ihn mühelos vom Boden und drückte ihm die Arme gegen die Seiten. Rail hatte etwas mehr Mühe mit dem hyperkinetischen, wenn auch kleineren Seeth. »Halt ihn mir nur vom Leib, das ist alles!« Wütend sah Kerwin seinen Bruder an, als Yirunta ihn sanft losließ. »Halt ihn mir vom Leib, dann ist alles in Ord nung.« »Klar, ist alles cool, Mann.« Seeth entglitt Rails Griff, strich sich die Jacke zurecht und fuhr sich durch die zerzauste Mohikanerfrisur. »Aber wenn der mich noch einmal ›kleiner Bruder‹ nennt, dann befördere ich ihn mit einem Tritt in einen Schacht, in dem man das Feld abgestellt hat.« »Ich wünschte, ihr würdet euch nicht streiten.« Mi randa schürzte die Lippen und lächelte beide warmher zig an. Warmherzig genug, um rostfreien Stahl zum Schmelzen zu bringen, dachte Kerwin. »Wir werden es versuchen«, sagte er zu ihr. »Es tut mir leid, wenn wir dich verärgert haben.« »Oh, ihr habt mich nicht verärgert«, erwiderte sie fröhlich. »Es ist nur, daß ihr eine Szene gemacht habt, und ich mag es nicht, vor Leuten in Verlegenheit ge bracht zu werden, egal wie sie aussehen mögen.« »Und die Einzelheiten?« fragte Rail Yirunta. Der Neandertaler beugte sich über die Theke. »Ihr werdet den Rest der Nacht und morgen hier verbrin gen. Die liebe Güte weiß, daß ihr hier in Sicherheit seid, und ihr könnt euch ausruhen und Kräfte sammeln. Morgen abend werden einige meiner Freunde kommen, um euch abzuholen. Sie werden euch auf ein Schiff bringen, aber natürlich nicht im Haupthafen. Da sind zu viele Oomemianer und ihre Lakaien. Ihr reist auf 225
unterirdischem Weg von Alvin nach Nophia, eine der Satellitenstädte der Hauptstadt. Der Hafen dort ist ge rade noch groß genug, um interstellare Raumfahrt zu ermöglichen. Wenn wir euch vom Planeten schaffen können, bevor sie begriffen haben, was passiert ist, werden sie ihre Suche hier mindestens noch einige Tage lang fortset zen. Bis dahin habt ihr genügend Raumgleitungen durchgeführt, um sie vollends abzuhängen.« »Ich wünschte, daß ich auch so zuversichtlich sein könnte. Es hört sich zwar gut an, aber du kennst die Oomemianer nicht so wie ich. Die verfolgen einen noch durchs Chaos selbst.« Yirunta nickte. »Es ist ein sehr entschlossenes Volk, da stimme ich zu, aber ich glaube doch, daß wir euch unbemerkt hinausschmuggeln können.« »Das habe ich im vergangenen Jahr schon dutzend mal geglaubt.« »Ja, und jedesmal haben sie dich wieder aufgespürt. Hast du dir darüber noch nie Gedanken gemacht?« Rail blickte verblüfft drein. »Ich dachte, sie hätten nur gute Suchpatrouillen auf mich angesetzt.« »Bestimmt haben sie das getan. Meine Güte, soll das heißen, daß du noch nie auf die Idee gekommen bist, daß sie vielleicht Izmirs Spur aufnehmen und nicht die deines Schiffs?« Rail blickte ihn nur stumm an, dann richtete er seinen dreifachen Blick auf den Izmir-Türrahmen. »Ihn auf gespürt? Ich dachte, die Strahlung, die er abgibt, sei ausschließlich lokaler Art.« »Strahlung? Oh, igittigitt!« Miranda schnitt eine Grimasse. »Sie läßt sich mit den tragbaren Instrumenten, die ich 226
hier im Geschäft habe, nicht genau messen«, erklärte Yirunta ihnen, »aber es ist sicher, daß er irgendein Kraftfeld erzeugt.« »Wieso habe ich es dann nie bemerkt?« In Rails Frage schwangen Zweifel mit. »Wenn es stark genug ist, um über große Raumentfernungen hinweg wahrgenommen zu werden, hätte ich es mit Sicherheit bei allen Moodalen auch in meinem Schiffsinneren bemerken müssen.« »Zum einen scheint er es nicht ständig abzustrahlen. Es kommt und geht. Zum anderen projiziert er es. Es wabert unbeständig hin und her. Wenn es beständig wäre, hätten die Oomemianer dich schon vor einem Jahr gefangen. Dann hättest du dich überhaupt nicht vor ihnen verstek ken können.« »Was für ein Kraftfeld?« fragte Kerwin. »Was für eine Strahlung?« »Ach, das würdet ihr sowieso nicht verstehen, fürchte ich.« Yirunta versuchte zwar, nicht herablassend zu wir ken, doch es mißlang ihm. »Macht euch deswegen keine Sorgen, denn ich tue ja auch nicht so, als würde ich es verstehen. Es ist ein subnormales Feld, nicht im Gleit raum, sondern etwas anderes.« »Was gibt es denn außer dem Normalraum und dem Gleitraum noch?« fragte Seeth. »Und wenn es weder das eine noch das andere ist, wie kannst du es dann nachwei sen?« »Es gibt auch sekundäre Feldmanifestationen. Wenn man diese extrapoliert, kann man hypothetisch die Exi stenz des anderen vermuten. Wie ich schon sagte, ihr würdet es sowieso nicht verstehen. Die dazugehörige Physik ist ungeheuer kompliziert. Am interessantesten ist, daß das Feld gleichmäßig verteilt ist. Es scheint seine Kraft über gewaltige Entfernungen hinweg beizubehal 227
ten. Es ist zwar nicht stark, aber es verblaßt auch nicht.« »Was für Entfernungen?« wollte Rail wissen. »Oh, soweit ich das berechnen kann, scheint sich jedes Pulsieren in einem Durchmesser von dreißigtausend Lichtjahren kugelförmig zu verteilen.« Kerwin schluckte. »Das ist aber ziemlich weit, nicht wahr?« Voller neuerwachter Bewunderung blickte er zu Izmir hinüber. »Das genügt, um die halbe Galaxis abzudecken. Wie kann er nur soviel Energie erzeugen?« Yirunta zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Wie ich sagte, sehr viel daran ist nur Spekulation. Wir haben es mit unbekannten Dimensionen zu tun, mit Unmöglichkei ten, mit einem anderen Raumzeitkontinuum, das mögli cherweise größer ist als unseres.« »Die Physik des Zen«, murmelte Kerwin. »Wie?« Seeth schnitt ihm eine Grimasse. »Die Physik des Zen. Etwas zu messen, was nicht da sein dürfte, es aber ist.« Er blickte Yirunta an. »Wieviel größer?« »Keine Ahnung, Vetter. Meine Instrumente sind nicht auf Beinahe-Unendlichkeiten geeicht. Ich habe nur trag bare Apparate. Wir sprechen von einem Gebiet, das einen Gesamtdurchmesser von mindestens zehn hoch achtund dreißig Parsek auf weist. Danach hat mein Rechner ein fach aufgegeben.« Alle blickten Izmir schweigend an. Bis auf Miranda, die die Ohrringe gefunden hatte. »Schaut euch das Ding nur an.« Yirunta zeigte auf den Türrahmen, wo Izmir schwebte. »Ihr wißt nicht, woraus es besteht, es widersteht Transportschachtfeldern, es ver ändert nach Belieben seine Gestalt, levitiert lautlos und scheint sich damit zu vergnügen, Plastiken und Türrah 228
men und Schmuck zu duplizieren. Kein Wunder, daß die Oomemianer ihn zurückhaben wollen.« Er verschwand im Hinterzimmer und kam kurze Zeit danach in einer braunen Weste zurück, die mit grünen Metallfäden durchschossen war, sowie einer dazugehöri gen Mütze, die an zwei Seiten seines Kopfs zwei Spitzen besaß und eine dritte an der anderen. Derart angezogen, sah er aus wie eine Kreuzung zwischen Robin Hood und King Kong. »Kommt mit mir. Ich führe euch alle zum Essen aus. Ihr werdet sowieso einen Tag lang hier eingesperrt blei ben. Gute Güte, wir haben wahrhaftig viel zu bespre chen.« Er legte einen Arm kameradschaftlich um Rails Schultern. »Vielleicht sollten wir doch lieber gleich hierbleiben, wie du gesagt hast.« Kerwin spähte auf die dunkle Straße hinaus. »Wie du inzwischen kapiert haben solltest, junger Cro magnon, ist Alvin recht groß. Ich bezweifle, daß wir gleich auf irgendwelche Oomemianer treffen werden. Die werden sich auf den Hauptraumhafen konzentrieren, auf Arthwits verlassenes Schiff und auf die Reiseknoten punkte. Außerdem verfolgen sie euch, indem sie Izmirs gelegentliches Pulsieren aufspüren. Ob wir uns nun in ein nettes Restaurant begeben, um etwas zu uns zu nehmen, oder ob wir hierbleiben, ändert nichts daran, ob sie euch finden werden oder nicht.« Yirunta gab seinem sechsbeinigen Partner Instruktionen und führte sie dann hinaus auf den heruntergekommenen Boulevard, dem nächsten Transportschacht entgegen. Seine Versicherungen hielten Kerwin nicht davon ab, nervös in jedes vorbeikommende fremde Gesicht zu spä hen. 229
»Warum erzeugt er überhaupt diese Energiepulsierun gen?« fragte Kerwin. »Wer weiß das schon? Sie scheinen völlig willkürlich zu sein. Einen Augenblick lang glaubte ich, daß es mit seinen Körperverwandlungen zu tun haben könnte, bei spielsweise als er aufhörte, die Plastik zu imitieren, um dafür das Halsband nachzuahmen, das dein Weibchen nun trägt.« »He, ich bin niemandes Weibchen«, warnte ihn Miran da. »Ich meine, ich fahre zwar nicht fürchterlich auf Fe minismus oder so was ab, aber irgendwie gehöre ich mir schon alleine.« »Das ist auch so eine Eigenart der Cromagnons, beson ders der Frauen«, meinte Yirunta im Plauderton. »Sie reden die ganze Zeit, ohne etwas zu sagen. Ich glaube, sie sind einfach nur fasziniert von den Geräuschen, die ihre Münder hervorbringen.« Ohne innezuhalten, sprach er zu Kerwin. »Jedenfalls habe ich keine Beziehung zwischen diesen Energieimpulsen und seiner Gestaltwandlung erkennen können.« »Alles, was es fertigbringt, auch nur ein schwaches Energiefeld zu erzeugen, das über dreißigtausend Licht jahre hinweg seine Stärke beibehält, muß unglaubliche Energiemengen produzieren können«, dachte Kerwin laut nach. »He, das ist aber nun wirklich eine kluge Beobach tung!« Seeth grinste den Neandertaler freundlich an. »Die Cromagnons sind nämlich nicht alle gleich, weißt du.« »Gewiß, davon bin ich überzeugt. Einige von euch müssen blöder sein als die anderen. Aber dein Freund und Verwandter hat recht. Die Frage lautet, was sind 230
seine Grenzen, und kann er etwas Stärkeres erzeugen?« Er musterte gerade Izmir, der ihnen mehrere Meter über der Straße schwebend, nachfolgte. Der Astarach hatte sich in eine große, zwirbelnde Spirale verwandelt, die sich um eine eingefaßte, blitzende Kugel drehte. »Ganz zu schweigen von der Frage, wie er es fertig bringt«, fügte Kerwin hinzu. »Wir haben nie gesehen, daß er irgend etwas gegessen hätte.« Seeth trat nach einem Stück Abfall, das die Stra ßenreinigungsmaschinen übersehen hatten. »Wie sollte er denn auch essen?« Miranda musterte Iz mir mitleidig. »Er hat doch gar keinen Mund.« »Alles, was Energie erzeugen kann, ohne sie aus Masse zu konvertieren, widerspricht den bekannten Gesetzen der Physik«, bemerkte Yirunta. »Das allein wäre schon Grund genug, ihn für unendlich wertvoll zu halten. Wenn er die Energie nicht aus örtlichen Quellen bezieht, muß er sie anderswoher holen. Ich wünschte, ich hätte mehr Mathe matik und Raumwissenschaft belegt. Es muß mit diesem hypothetischen Andersraum zu tun haben. Wenn er eine derartige Quelle anzapfen kann, ist er möglicherweise auch dazu fähig, sehr viel mehr als nur diese schwachen, wenn auch weit ausgedehnten Pulsierungen hervorzubringen.« »Du nennst einen Energiestoß, der dreißigtausend Licht jahre umspannt, schwach?« fragte Kerwin ihn. »Alles ist relativ, Vetter. Ich nenne ihn schwach, gewiß doch, ja, aber nur im Vergleich zu dem, was sein wahres Potential sein könnte. Was wäre, wenn er diesen Impuls nicht auf ein solch weites Gebiet verteilte, sondern ihn auf kleineren Raum konzentrierte? Wenn er ihn steuerte? Mei ne Freunde, wir sprechen hier gerade über unbekannte und bisher unvorstellbare Energiemengen.« Er sah Rail an. »Hast du jemals darüber nachgedacht, mein Freund, 231
wieviel Energie es bedarf, um einfach nur Gestalt und Substanz zu verwandeln, um diese schönen bunten Lich ter zu erzeugen, die über seine Oberfläche laufen? Ganz zu schweigen vom Levitieren oder davon, den Auswir kungen eines Transportschachtfelds zu widerstehen? Solche Felder manipulieren tonnenweise Fracht. Sie sind nicht dazu konzipiert, daß man ihnen widersteht, und doch entzieht er sich ihnen ohne erkennbare Anstren gung. Ach du liebe Güte, ja, das hat mit Energie zu tun! Mit unermeßlicher Energie.« »Wir haben ihn mehrmals durch die Kraftfelder gleiten sehen«, gab Kerwin zu. »Ganz wie es ihm beliebt, oder zumindest behauptet Freund Rail das. Ohne Anstrengung oder Mühe, ohne Hitze zu erzeugen oder irgendein anderes Nebenpro dukt.« »Nichts, was wir wahrnehmen konnten«, pflichtete Rail bei. »Dann befindet sich etwas ganz Außergewöhnliches in unserer Mitte, Freunde. Etwas, das zu analysieren ich nicht klug genug bin. Etwas, das den Gesetzen der Natur widerspricht.« »Vielleicht widerspricht er ihnen gar nicht.« Seeth und Kerwin blickten sich um, um Miranda anzustarren. Sie wirkte leicht verlegen. »Ich hatte mal einen Grundkurs in Physik belegt. Paßte gut in meinen Stundenplan. Habe natürlich eine Eins bekommen. Eigentlich fand ich es ziemlich langweilig. Ich meine, dieses ganze Zeug über Quantenmechanik und subatomare Partikel. Als sie an fingen, von ›Farbe‹ zu sprechen, hat es mich interessiert, aber nur so lange, bis ich rausbekam, was sie wirklich meinten. Ich dachte, es hätte etwas mit zueinander pas senden Stoffarben zu tun. Aber dieses ganze verquere 232
Zeug von wegen Bosonen und Quarks und Anti-PiMesonen, ich meine, herrje, wer braucht denn so was? Außerdem ist doch alles so offensichtlich.« »Sieh mal an«, murmelte Seeth. »Und was ist mit Izmir?« Kerwin versuchte zwar, es nicht wie eine Herausforderung klingen zu lassen, doch er konnte es nicht verhindern. »Ist der auch offensicht lich?« »O nein. Da hat Yirunta recht. Es ist nur, daß er ir gendwie, ihr wißt schon, vom physikalischen Beweisma terial ebenso überwältigt ist wie von den philosophischen Implikationen, und das führt dazu, daß seine Anfangsur teile emotional vernebelt bleiben.« »Ach du liebe Güte«, murmelte Yirunta leise. »Dann sage mir doch bitte, Cousine, was du damit meinst, wenn du behauptest, daß er keine bekannten Naturgesetze wi derlegt.« »Es ist so… ich meine, es ist doch so offensichtlich… er widerlegt keine anerkannten physikalischen Prinzipien, er manifestiert sie nur auf neue Weise. Die Mathematik ist doch solide und stabil. Es ist unsere unzulängliche Wahrnehmung, die das Ganze verwirrt. Wie wenn man versucht, etwas zu finden, das zu Goldfarbe paßt, selbst aber keine Goldfarbe sein darf, weißt du?« »Interessant.« Yirunta blickte zu Rail zurück. »Werden die Cromagnons noch immer von den männlichen Kin dern beherrscht?« Rail nickte. »Aber das ändert sich möglicherweise. Vergiß nicht, ich war nicht auf der Erde, um dort sozio logische Studien durchzuführen.« »Je eher sie zum Matriarchat übergehen, um so eher wird die Spezies bereit sein, sich in die galaktische Ge sellschaft zu integrieren. In den alten Legenden heißt es 233
ja immer, daß die Frauen der Cromagnons über mehr gesunden Menschenverstand verfügten. Zumindest wuß ten sie genug, um sich bei Regen in Höhlen zurückzuzie hen.« »Ach ja?« fragte Seeth angriffslustig. »Wie kommt es dann, daß der ganze Laden bei uns von Männern be herrscht wird?« »Eine Fehlentwicklung der Natur.« Yirunta zuckte die Schultern. »Wer weiß? Bei Cromagnons ist doch alles möglich.« Sie hatten den Schacht verlassen und schritten nun eine hell erleuchtete, geschäftige Straße entlang. »Hier ist mein Lieblingsrestaurant. Ich denke, es wird eurem Geschmack entsprechen. Ich habe mich für ordent liche Qualität und Quantität entschieden, als das Risiko einzugehen, unentwickelte Gaumen einer wahren Fein schmeckerkost auszusetzen.« »Kein Problem, Mann.« Seeth musterte begierig das sanft beleuchtete Etablissement. »Ich meine, mir brauchst du nur einen Hamburger und Fritten und etwas Ketchup zu geben, dann geht’s mir schon gut.« Kerwin fragte sich gerade, wie ihr Dolmetschkopfhörer diese Behauptung wohl umsetzen würde, doch Yirunta schien mit der Antwort zufrieden. »Das habe ich mir gedacht.« Nach einer sättigenden, wenn auch fremdartigen Mahl zeit kehrten sie in den Laden zurück und warteten unge duldig auf den folgenden Abend. Da Alvin rund um die Uhr wach war, fragte Kerwin sich, welchen Unterschied es wohl machen mochte, wenn sie versuchten, bei Nacht anstatt am Tage zu fliehen. Yirunta erwiderte, daß die Spürgeräte der Oomemianer noch so entwickelt sein mochten, daß die Dunkelheit aber immer noch mehr Schutz bot. 234
Miranda machte sich nicht die geringsten Sorgen. Ihr stand der ganze Laden zur Verfügung, um ihn in allen Einzelheiten zu erkunden, und das tat sie nach einem vierstündigen Nickerchen auch. Als Yirunta eine Bemer kung über ihr Durchhaltevermögen machte, teilte Kerwin ihm mit, daß das Einkaufen wahrscheinlich lebenswichtig für ihre Gesundheit sei. Nicht ganz so wichtig wie das Atmen, aber schon nahe dran. Als sie das zu langweilen begann, entschied man, daß es ungefährlich sei, wenn sie einige der nähergelegenen Geschäfte aufsuchte. Sie kehrte zurück, als der Abendre gen fiel, die Arme voller Plastikschachteln. Yirunta mu sterte sie verblüfft. »Ich dachte, du wolltest nur im philosophischen Sinne einkaufen gehen.« Sie runzelte die Stirn. »Wie bitte? Ich meine, so etwas wie philosophisches Einkaufen gibt es nicht.« »Du kannst das nicht alles mitnehmen.« Er klang ent schlossen, war nicht umzustimmen. Kerwin hielt sich aus den Angelegenheiten der beiden raus. »Was meinst du damit?« fragte sie angespannt. Sie blickte zu Seeth hinüber. »Er hat mir das Geld gegeben.« Dann zeigte sie auf die Schachteln. »Es ist alles bezahlt, bar. Ich werde nichts davon zurückbringen.« Yirunta versuchte es mit Geduld. »Hör mir zu. Wenn wir euch sicher und schnell von diesem Planeten fort bringen sollen, ohne die Aufmerksamkeit der Oomemia ner zu erregen, können wir nicht mit überflüssigem Bal last reisen. Wir versuchen, euer Leben zu retten, euch zu eurem Heimatplaneten zurückzubringen, zu eurer eigenen Rasse. Das hier ist schließlich keine Einkaufsreise.« »Natürlich ist es das«, erwiderte sie entschieden und 235
wies mit einem Nicken zu Rail hinüber. »Er hat gesagt, daß es eine werden würde. Er hat es mir versprochen.« Rail schluckte. »Was ich versprochen habe und was ich jetzt halten kann, das ist nicht unbedingt dasselbe. Es tut mir leid, aber wir spielen hier schließlich kein Spiel.« »Genau. Hast du etwa geglaubt, das hier wäre ein Spiel?« Sie deutete auf den Berg von Schachteln. »Ich habe Stunden gebraucht, um das alles auszusuchen. Und ohne die Sachen werde ich nicht abreisen.« Sie setzte sich auf das obere Behältnis, das trotz seines zerbrechli chen Aussehens ihr Gewicht mühelos aushielt, und ver schränkte die Arme. Yirunta beugte sich zu Rail hinüber. »Warum betäuben wir sie nicht einfach?« »Das könntet ihr wahrscheinlich«, sagte Miranda und demonstrierte mit allem anderen auch noch ein überra gendes Gehör, »aber ihr werdet es nicht tun.« »Und warum werden wir das nicht?« Sie lächelte triumphierend. »Weil ihr doch angeblich der höherentwickelte Zweig der Menschheit seid, und wenn ihr zu Gewalt Zuflucht nehmen müßtet, dann wür det ihr damit euren eigenen Anspruch widerlegen.« »Hier geht es um Leben und Tod, und ich diskutiere mit einer zurückgebliebenen Verwandten über Philoso phie!« Yirunta verneigte sich leicht in ihre Richtung. »Du gewinnst – vorübergehend. Ich werde mit Kapitän Ganun sprechen, wenn er eintrifft, dann werden wir sehen, ob er nicht auch dein Gepäck verstauen kann, zusammen mit deinem Mundwerk.« Er lächelte zuckersüß. »Vielleicht möchtest du auch noch gerne, daß das Schiff, das versu chen wird, dich in die Freiheit zurückzuführen, auf dem Weg zurück zur Erde ein paar Halts einlegt, damit du noch ein paar letzte Stücke einkaufen kannst, um etwaige 236
Lücken in deiner Garderobe zu füllen?« »Oh, Mann, das wäre einfach super!« Der Neandertaler schüttelte betrübt den Kopf. »Ist sie verrückt, oder bin ich es?« »Nach dem zu schließen, was wir vorhaben, sind wir das wohl alle«, meinte Rail. Er zeigte auf Izmir den Asta rach, der sich in eine wirmasianische Musiktruhe ver wandelt hatte. Feststoffliche Farben krochen wie belebtes Quecksilber seine Flanken entlang, während er eine sanf te, wogende Melodie spielte. Als alle Geschäfte bis auf die 24-Stunden-Läden ge schlossen hatten, kam ein halbes Dutzend von Yiruntas Freunden, um sie abzuholen. Jeder von ihnen sah aus, als hätte er in der Universitätsmannschaft im Sturm spielen können, einschließlich der beiden Frauen der Gruppe. Zu Hause auf der Erde hätten sie zwar keinen Schönheits wettbewerb gewonnen, doch Kerwin wußte auch, daß er sie mit anderen Maßstäben beurteilen mußte. Zweifellos fanden Yirunta und seine Kollegen Miranda unerträglich dürr und feingliedrig. Eine der Frauen musterte Seeth von oben bis unten und flüsterte ihrer Gefährtin zu: »Schau dir mal die Kampfaf fen an.« »Riskier bloß nicht die dicke Lippe, Blubberarsch«, schoß Seeth zurück. Die Frau knurrte ihn an. Sie knurrte tatsächlich. »Blub berarsch? Wie würdest du dir als Schmierfleck an der Wand gefallen, Affe?« Das Mitglied der Gruppe, das ihnen als Kapitän Ganun vorgestellt worden war, trat zwischen die beiden. »Noch ist keine Minute vergangen, und schon bringen die Cromagnons dich zum Zanken«, tadelte er sie. Sie reagierte entsprechend verlegen. »Die Geschichtstexte 237
hatten recht. Meine Güte, du solltest dich schämen.« »Das tue ich auch.« Sie wich zurück, kehrte Seeth den Rücken zu und murmelte: »Aber ich werde keine Belei digungen durch eine minderwertige Rasse dulden.« »Wen nennst du eigentlich minderwertig, mit einer sol chen Karosserie?« wollte Seeth wissen. »Das genügt!« Yirunta war verärgert. »Es ist nur Ga nuns Gnade zu verdanken, daß ihr überhaupt mitkommen dürft. Uns geht es nur um Arthwit und Izmir. Ihr reist nur als Geduldete mit. Wir könnten euch auch einfach zu rücklassen.« »Das paßt m…« Hastig trat Kerwin vor. »Er wollte überhaupt nichts sa gen. Er ist ganz einfach nur nervös, wie wir anderen auch.« »Wer ist hier nervös?« »Sag es ihr«, forderte Kerwin seinen Bruder streng auf, »sag ihr, daß du es gar nicht so gemeint hast.« Seeth strich sich mit einer Hand über die rasierte Seite seines Schädels. »Na klar doch, Mann. Ich habe mir gar nichts dabei gedacht. Klar. Aber wenn sie mich noch mal einen ›Kampfaffen‹ nennt…« Zwei weitere Mitglieder von Ganuns Mannschaft flü sterten miteinander. »Was glaubst du?« fragte der eine mit der blauen Frisur. »Zehn Druzins pro Stück. Meinst du, sie werden sich prügeln? Das wäre vielleicht ein An blick! Ein richtiges Stück Geschichte, gute Güte.« »Ich glaube kaum, daß es einen Unterschied machen würde.« Rail hatte es gehört. »Es sind Brüder.« »Ich habe nie gehört, daß das für Cromagnons jemals einen Unterschied gemacht hätte. Wie man hört, kämpfen sie sogar gegen ihre Eltern.« Fasziniert musterten sie die drei Besucher von der Erde. 238
»Häßliche Dinger«, sagte das andere Mannschaftsmit glied mit einem Blick auf Miranda. »Ich meine, schau dir nur mal das Weibchen an. Da ist überhaupt nichts dran, und das, was da ist, ach du liebe Güte, das ist doch völlig unausgewogen!« »Ich habe gesagt, genug!« fauchte Ganun. »Dies hier sind unsere Gäste. Trotz ihrer merkwürdigen rassischen Eigenschaften sind es unsere Zeitgenossen und keine Vorfahren, die wir aus irgendeiner Urvergangenheit her vorgezerrt hätten. Ich erwarte von euch ja nicht, daß ihr sie liebevoll ans Herz drückt, aber das Wenigste, was man von euch erwarten kann, ist Höflichkeit. Ihr werdet sie gefälligst auch wie Gäste behandeln.« Unter gewalti gen, buschigen Augenbrauen hervor musterte er Seeth böse. »Und du wirst dich gefälligst wie ein Gast benehmen.« »Jawohl, mein Herr! Aye-aye, Sir! Wohlan, Kapitän, Sir!« Seeth ging in Habachtstellung und schlug sich mit der Hand salutierend an die Stirn. »Und wenn Sie irgend eine Hilfe dabei brauchen sollten, Ihr Schiff um die Oo memianer herumzumanövrieren, fragen Sie einfach mei nen geistig behinderten Verwandten hier. Der ist nämlich Reserveoffizier.« Kerwins Lippen formten ein obszönes Wort. Seeth grinste nur. »Also gut. Setzen wir uns in Bewegung.« Ganun mu sterte beunruhigt seinen Chronometer. »Nach allem, was ihr mir erzählt habt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Oomemianer euch geortet haben, und zwar wegen der Strahlung oder was immer es sein mag, was dieses We sen dort von sich gibt.« Er wies mit einem Nicken auf Izmir. »So ist es«, sagte Rail. »Obwohl sie möglicherweise Schwierigkeiten haben, es hier auf Nedsplen zu orten, 239
weil das Energiefeld sehr schwach ist. Zuviel Hinter grundstatik.« Ganun führte die Mannschaft hinaus, und gemeinsam verließen sie den Laden. Eines der männlichen Mann schaftsmitglieder schüttelte neugierig die Kästen, die er trug. »Was ist denn hier drin? Notvorräte? Spezialnah rung für die Cromagnons?« O Gott, jetzt geht es los, dachte Kerwin nervös. Jetzt gibt es eine Meuterei oder noch etwas Schlimmeres. »Nein«, teilte Miranda den Neandertalern mit. »Ich war bloß einkaufen.« »Ach so, na, dann ist es ja in Ordnung.« Der Mann sorgte dafür, daß er die Pakete fest im Griff behielt. »Man muß schließlich Prioritäten setzen, nicht wahr?« Vorsichtig watschelte er aus der Tür. Miranda lächelte Kerwin an. »Siehst du, ich wußte doch, daß es keine Schwierigkeiten geben würde. Diese Leute sind tatsächlich höher entwickelt. Ich meine, die wissen wirklich, was wichtig ist.« Sie folgte dem Mann hinaus. Kerwin folgte ebenfalls, irgendwas von totaler Unver nunft vor sich hinmurmelnd. Er wußte nicht genau, wo der Haken lag, doch eines Tages würde er es schon he rausbekommen. Anstatt die Hauptstraße entlangzugehen, bog die Pro zession schon bald in einen Wartungsgang ein. Eigentlich hatten offiziell nur die Techniker der Stadt Zugang zu diesem verborgenen Labyrinth, doch für die Professionel len von Yiruntas Mannschaft war es ein leichtes, die elektronischen Schlösser aufzubrechen und sie wieder zu versiegeln, nachdem sie eingetreten waren. Horizontale Schächte führten sie durch die Metropole, manchmal in sanftem Winkel ansteigend, so daß sie wieder auf die 240
eigentliche Planetenoberfläche kamen, als sie schließlich die Außenbezirke der Stadt erreicht hatten. Kerwin und die anderen wußten, daß es die Oberfläche war, weil sie frische Luft und wachsende Pflanzen riechen und über sich die Sterne erkennen konnten. Ein niedriges Schwebefahrzeug wartete auf sie. Es be förderte sie mit atemberaubender Geschwindigkeit eine geschlossene Röhre hinunter. Schon bald reisten sie durch die unterirdischen Ebenen einer anderen Stadt, die Kerwin ebensogroß wie Alvin vorkam. Die Maschine schoß abrupt in die Tiefe und bremste in einer unterirdi schen Transportröhre ab, um einmal kurz aufs neue zu beschleunigen. Als sie schließlich hielten, öffneten sich die Türen auf einen prächtigen freien Platz, der von hell erleuchteten Springbrunnen umsäumt war, die wie wäßri ger Löwenzahn mitten in der Luft schwebten. Obwohl sie direkt unter den kräftigen Sprühfontänen hindurchschrit ten, wurden sie von keinem einzigen Wassertropfen be netzt. »Alles zeitgeplant«, erklärte Rail. »So programmiert, daß es nach einer bestimmten Entfernung verdampft. Dann wird die Flüssigkeit durch diese Kegel, die von der Decke hängen, wieder eingesaugt, rekondensiert und erneut zu den Luftbrunnen gepumpt. Auf Prufillia haben wir ähnliche.« »Wirklich außergewöhnlich«, murmelte Seeth. »Psy chotischer Regen.« Ihre Neandertaler-Eskorte führte sie in einen Transport schacht. Die Mannschaft behielt die Hände immer in Nähe ihrer Faustfeuerwaffen, doch materialisierte sich kein Oomemianer, um ihnen den Durchgang streitig zu machen. Auf einer Ebene unweit der Oberfläche stiegen sie aus. 241
Zwei weitere Reisen durch horizontale Transportschächte brachten sie zu einem riesigen Raumhafen. Ein kleiner Wagen erwartete sie dort, um sie über den Landeplatz zu transportieren. Mit seinen sehr auffallenden Rädern und sehr gewöhnlichen Sitzen hätte er beinahe in Detroit her gestellt worden sein können. Sie hatten kaum Zeit, ihre neue Umgebung zu mustern, denn schon bald hielt der Wagen vor einer kugelförmi gen, silbrigen Hülle. Aus ihren Sitzen steigend, tauschten die Neandertaler hastige Begrüßungsformeln mit warten den Mannschaftskameraden aus. Während Izmir fügsam mitschwebte, brachte man die Flüchtlinge hastig ins Inne re. Allen wurden winzige Privatkabinen zugeteilt, die sich zu einem sehr viel größeren Gemeinschaftsraum hin öff neten. Andrucksessel waren im Kreis angeordnet, und Kerwin verlor keine Zeit, schleunigst in seinen zu schlüp fen. Kapitän Ganun versicherte ihnen, daß alles plange mäß verlaufe, dann verschwand er im Kommandozen trum. Wenige Augenblicke später begann der Boden zu beben. Es gab kein lautes Gerumpel, keine beeindrucken den chemischen Eruptionen. Nur ein leises Gefühl der Bewegung deutete den Start an. »Mann, die fackeln aber wirklich nicht lange«, bemerk te Seeth. »Als wenn sie schon auf den Abflug gewartet hätten, seit wir hier auf Nedsplen eingetroffen sind.« Kerwin inspizierte die Wände des Raums. Rail entspannte sich in einem der geräumigen Sessel. »Yirunta versteht etwas von seiner Arbeit. Das hier ist gut gelaufen. Es gab keine Verfolgungsjagd, und mögli cherweise sind wir unbemerkt entkommen. Die Reise nach Haus könnte sich als recht entspannend erweisen.« 242
In einer Ecke umarmte Izmir gerade die Decke. Als Yi runta sich wieder zu ihnen gesellte, wich er mühelos bei seite. »Bisher verläuft alles gut, meine Freunde. Ich habe Haus seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen, als meine Eltern nach Nedsplen emigrierten, deshalb freue ich mich auf diesen Besuch ebensosehr wie alle anderen. Es wird schön sein, einmal wieder ein richtiges Meer zu sehen anstelle dieser Teichflecken, die das einzige sind, das von den Meeren von Nedsplen übriggeblieben ist. Das meiste ist inzwischen von der Stadt oder von Maschinen über deckt.« »Ich bin beeindruckt davon gewesen, wie sauber alles war«, teilte Kerwin ihm mit. »Die Luft, das Wasser, all das eben.« »Man kann durchaus eine bewohnbare Stadt ohne Um weltverschmutzung und ohne Slums bauen. Das ist hauptsächlich eine Frage des Wollens und einer verant wortungsbewußten Regierung. Dazu bedarf es verantwor tungsbewußter Individuen. Leute, die bereit sind, das Gemeinwohl über persönliche Vorteile und Ziele zu stel len. Leute, die bereit sind, für andere zu arbeiten, die stolz auf ihre Errungenschaften sind und nicht auf ihre persönliche Karriere. Manchmal glaube ich, daß ihr Cro magnons überhaupt nichts habt erreichen können.« »Nur in Einzelfällen«, gestand Kerwin. »Das macht uns aber lange noch nicht zu ›Kampfaf fen‹«, murrte Seeth. »Ich fürchte, als solche seid ihr aber bekannt.« Rail wirbelte in seinem Sessel herum. »Während ich auf eu rem Planeten lebte, habe ich eine Sportart beobachtet, die wie so vieles, was ihr tut, zwar offiziell verboten ist, aber dennoch praktiziert wird. Da hat man zwei kleine Vögel 243
mit kurzen, scharfen Messern an den Beinen ausgerüstet, um sie in einem engen Gang einander gegenüberzustel len. Die Leute um sie herum wetteten, welches Tier den bevorstehenden Kampf überleben und welches den größ ten Schaden anrichten würde.« »Hahnenkampf, ja. Gibt es viel, in New Mexico.« »Man hat im allgemeinen den Eindruck«, fuhr Rail fort, »daß man zwei beliebige Cromagnons nur bewaffnen, ihre Federn ein wenig zerzausen und beide dicht vorein ander aufbauen muß, damit sie versuchen, sich gegensei tig umzubringen. Ich fürchte, daß es sehr viele Wetten geben wird, wenn ihr versuchen solltet, euch der galakti schen Gemeinschaft anzuschließen.« »Vielleicht sind wir bis dahin ja reif genug geworden.« Der Vergleich machte Kerwin verlegen. Rail zuckte die Schultern. »Es fällt schwer, eine Gele genheit auszulassen, etwas Geld zu machen. Allerdings müßten wir ohne die Messer auskommen. Die meisten zivilisierten Völker sind über blutige Sportarten längst hinausgewachsen.« Als er merkte, daß seine Freunde die fortgesetzte Diskussion dieses Themas als unangenehm empfanden, stand Rail auf und schritt zu der gegenüber liegenden Wand hinüber. »Möchtet ihr nicht mal sehen, wo ihr gewesen seid?« Er berührte einen verborgenen Schalter. Keine Vorhänge teilten sich, keine rollten sich auf. Es gab keine Jalousien, die der Decke entgegenschepperten. Statt dessen verschwand das gesamte Ende des Raums. Kerwin merkte, wie er hastig nach seinem Sitz grabschte. Sie befanden sich dreihundert Meter über der weitausge dehnten Vorstadtmetropole, die den Raumhafen beher bergte, den sie soeben verlassen hatten, und stiegen lang sam und beständig der Abflugumlaufbahn entgegen. 244
»Wir werden gleich beschleunigen«, informierte Rail sie. »In dieser Gegend ist sehr viel Verkehr. Wir befinden uns immer noch relativ nahe bei Alvin.« Ohne Schwindelsymptome zu zeigen, schritt Seeth prompt bis an die Kante des illusionären steilen Ab grunds. »He, das ist ja Klasse!« Er streckte eine Hand ins Nichts hinaus. »Fühlt sich irgendwie gummiartig an. Gar nicht wie Glas.« »Diesen Effekt erzielt man, indem man die Zusammen setzung der Schiffswand regelrecht verändert. Wenn man genug Geld auf die erforderliche Zusatzausrüstung ver wenden wollte, könnte man wohl ein gänzlich transparen tes Schiff bauen, aber das wäre unangenehm für jene Individuen, die Opfer von…« »… Höhenangst sind«, stöhnte Kerwin und beendete für Rail den Satz, während er sich matt an seinen Sessel klammerte. »Höhenangst?« Seeth blickte zu ihm zurück. »Macht dir das immer noch zu schaffen, mein Bruder, mein Jun ge? Mann, diese Wand hier ist doch fest. Gibt doch kei nen Grund, sich in die Hose zu machen. Komm rüber und schau es dir an. So einen Ausblick bekommst du nie wie der.« Während Kerwin ablehnte, schlenderte Miranda hin über und spähte hinaus. »Hübsch. Genau wie wenn Onkel Joe mich nach Hou ston fliegt.« Yirunta legte Kerwin eine beruhigende Hand auf die Schulter, während er ihm aus seinem Andruckfeld half. »Es ist alles in Ordnung, lieber Vetter. Es mag zwar so aussehen, als gäbe es dort nichts, aber es ist genauso soli de wie der Rest der Außenhülle.« »Ich weiß, ich weiß.« Kerwin wischte sich den 245
Schweiß von der Stirn. »Ich bilde mir das alles nur ein. Das weiß ich selbst.« »Dann hast du hier eine ausgezeichnete Gelegenheit, eine irrationale Furcht zu überwinden.« Kerwin zwang sich, die Augen zu öffnen. Da war Seeth, feixte ihn an. Miranda stand daneben, nach unten blickend, während sie Rail Fragen stellte. Alle drei stan den nur wenige Zentimeter vom Wolkenland entfernt. Was sollte er bloß machen, er, der seinen beiden Gefähr ten intellektuell doch überlegen war, wie angewurzelt dastehend, unfähig, sich zu bewegen? War er wegen ei ner reinen Illusion so durch und durch entsetzt? Mit Yiruntas Hilfe trat er, immer einen Schritt nach dem anderen nehmend, auf die Durchsichtigkeit zu. Schon bald war es an der Zeit, hinunterzublicken. Er tat es – und schluckte. Sie befanden sich dreitausend Meter über der Stadt. Bis auf das langsame Kriechen der Wolken gab es keinerlei Gefühl für Bewegung. Eine Sonne, die ein wenig röter war als jene, an die er gewohnt war, hob sich gerade am fernen Horizont, als der Tag auf diesen Teil Nedsplens zurückkehrte. Die fahlen, gespenstischen Sicheln der Zwillingsmonde verblaßten am blauen Himmel. Er zwang sich selbst dazu, stehen zu bleiben. Zu seiner Überraschung fiel er nicht in Ohnmacht. Das gewaltige Panorama bot ihm etwas, auf das er sich konzentrieren konnte. Die Stadt Nophia breitete sich in alle Richtungen aus, einzelne Gebäude glitzerten, als sie von den Strahlen der aufgehenden Sonne berührt wurden. Weitab im Osten trennte ein grüner Gürtel die kleinere Metropole vom größeren Alvin. Bis auf den Grüngürtel war nirgendwo auch nur ein einziger Flecken Boden zu sehen. Die meisten Parkanlagen, so informierte Rail sie, 246
befanden sich unter unterirdischen Kuppeln. Wie Luft und Wasser war auch das Sonnenlicht nur ein weiterer Rohstoff, der mit Röhren in die Tiefe befördert werden mußte. Eine schnelle Bewegung, nur flüchtig wahrgenommen, ließ ihn den Kopf heben. Es war keine Wolke. Es besaß lange, spitze Zähne und leuchtende kleine, bösartige Au gen, die sich auf ihn hefteten wie Kanonenmündungen, und eine Flügelspanne von der Größe einer Cessna, und es kam direkt auf ihn zu. Es war nicht der Schwindel, sondern eine andere Form der Sinnesüberreizung, die Kerwin schließlich in Ohn macht fallen ließ.
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X
»ICH GLAUBE, er kommt wieder zu sich.« Etwas Kühles auf seiner Stirn, begleitet von einem sanften Zischen. Kühler Nebel badete sein Gesicht. Als er die Augen öffnete, sah er Yirunta nicken, sah, wie er etwas in seine Tasche steckte und zurücktrat. Rail war ebenfalls da, auch Seeth. Von Miranda war nichts zu sehen. Die entdeckte er erst wieder, als er sich aufsetzte. Sie stand noch immer an der durchsichtigen Wand, ihr Umriß zeichnete sich vor dem Firmament ab. Der Raum war lebendig von sich bewegenden Farbstreifen, ein Gemälde von Jackson Pollock im Zeitlupentempo. Gleitsterne, überlegte Kerwin, oder irgendein anderer Effekt, für den er keinen Namen hatte. »Was ist passiert? Dieses Ding…?« »Ein Urvogel«, erklärte Yirunta. Seeths Miene war wie immer bewegt. »Mann, du hät test dir das Ende mitansehen sollen. Ist über die ganze Außenwand gespritzt, sie war auch für ihn durchsichtig. Du mußt für ihn ausgesehen haben, wie eine einzige ab gefahrene Abendmahlzeit, Bruder. Hat nicht mal ge bremst.« »Es war widerlich.« Miranda sprach, ohne sich von dem galaktischen Panorama zu lösen. »Absolut wider lich.« »Du mußt dich nicht schämen oder wütend auf dich sein«, sagte Yirunta sanft. »Gute Güte, du bist doch das Fliegen überhaupt nicht gewöhnt, und schon gar nicht 248
eine perfekte Transparenz. Es war einfach nur Pech, daß der Vogel niederging, während du herankamst.« Seeth klapperte noch immer vor sich hin. »Wie ein Insekt auf der Windschutzscheibe bei hundertdreißig Stundenkilometern. Keine Ahnung, ob der irgendwie abbiegen wollte oder so. Hätte nie gedacht, daß ein Vogel so viele Eingeweide hat.« »Das passiert ständig«, fuhr Yirunta fort. »Nedsplen besitzt noch immer zahlreiche sehr große Vogelarten. Die prallen leider öfter mit startenden Schiffen zu sammen.« Kerwin blickte blinzelnd zur gegenüberliegenden Wand. Sie zeigte keinerlei Anzeichen eines Aufpralls. »Was ist mit den…?« »Den Eingeweiden?« fragte Seeth fröhlich. »Die sind weggebrannt, als wir wirklich schnell wurden.« »Schade, daß es keine Oomemianer waren«, murmel te Rail. »Wo sind wir jetzt?« Kerwin stand auf. Vielleicht lag es ja daran, daß er immer noch benommen war, aber er mußte feststellen, daß die durchsichtige Wand ihm nichts mehr ausmachte. »Wo ist Nedsplen?« »Oh, schon weit hinter uns.« Yirunta wirkte zufrie den. »Wir sind schon ein gutes Stück weiter in Rich tung Haus. Du warst eine ganze Weile ohnmächtig, und da ich wenig von der Cromagnon-Physiologie weiß, außer, wie empfindlich das System ist, habe ich gezögert, dich der Krankenstation des Schiffs zu über geben. Deine Freunde haben mir versichert, daß du dich wieder erholen würdest, und das hast du ja auch getan. In einigen Tagen müßten wir ankommen. Bis dahin sollt ihr euch an Bord wohl fühlen. Kapitän Ganun hält 249
viel davon, seine Gäste gut zu behandeln.« »Ich nehme nicht an, daß das bedeutet…« fing Mi randa an. »Tut mir leid, Miranda, aber das hier ist ein reiner Frachttransporter. Es gibt keine Einkaufsgelegenheit an Bord.« »Verdammt. Na ja, wenigstens habe ich mein Zeug aus Alvin dabei.« »Ach ja?« brummte Kerwin. »Na klar doch. Ich meine, diese Pakete sind irgendwie heilig, weißt du.« »Heilig? Ein Witz! Du kannst das Zeug nicht mit zur Erde zurücknehmen. Was werden die Leute sagen?« »Daß sie gern die Schnitte kopieren würden.« »Ich meine doch nicht die Schnitte, verdammt! Was passiert, wenn jemand anfängt, das Material zu analysie ren?« »Dann erzähle ich ihnen, daß ich die Sachen in Alvin gekauft habe.« »Na klar doch.« »Du regst dich unnötig auf«, beschwichtigte ihn Rail. »Wenn es, soweit kommen sollte, werden deine Leute schon ihre eigenen Erklärungen erfinden. Alles, was da bei hilft, sich nicht der Realität stellen zu müssen. Ihr Cromagnons seid großartig im Wegerklären. Eure kollek tive Begriffsstutzigkeit hat schon richtig historische Ausmaße. Und wenn ihr euch auch an Bord frei bewegen könnt, rät euch Kapitän Ganun trotzdem, daß ihr euch wann immer möglich hier in diesem Versammlungsraum auf haltet. Es gibt individuelle Kabinen, die um diesen zen tralen Raum liegen. Solltet ihr aus diesem Bereich hin ausschlendern, besteht die Gefahr, daß ihr in Kontakt mit 250
Mitgliedern der regulären Mannschaft geratet. Obwohl Anweisung an alle ergangen ist, euch als Gäste respekt voll zu behandeln, könnte es dennoch zur einen oder anderen peinlichen Konfrontation kommen.« »Keine Sorge, Mann.« Seeth wirkte zuversichtlich. »Ich bin hier ganz zufrieden. Ich kann Musik machen, hab’ was zum Essen, habe sogar Bargeld.« Er klimperte mit einer Tasche voll interstellarer Währung. »Habe gar keinen Grund, herumzuschleichen. Werde mich hier hinhauen und auf meinem Spielzeug rumklampfen.« Er zeigte das kom pakte, zusammengeklappte Blumeninstrument vor. »Und was ist mit dir, mein Freund«, fragte Yirunta Ker win. »Du hast doch auch dein Instrument. Oder würdest du eine andere Form der Entspannung vorziehen?« »Wenn es hier ein paar Bücher gäbe«, fing Kerwin an, doch dann besann er sich eines Besseren. »Nö. Ich schätze, Bücher habt ihr nicht. Nur Computerschirme und so ‘n Zeug, stimmt’s?« Die Dolmetschmaschine kämpfte einen Augenblick, hat te das Gesagte aber schon bald begriffen. »Natürlich haben wir Bücher. Wir schätzen sie sehr hoch. Egal wieviel In formationen man in einen einzigen molekularen Speicher kubus packen kann, es ist doch nie dasselbe, wie ein Buch in die Hand zu nehmen. Allerdings könntest du keins da von lesen. Die Dolmetschmaschinen arbeiten mit dem Denken und mit den Ohren, nicht mit den Augen. Mit einem Kubus-Playback kannst du zwar immer noch nicht die Inschriften oder Untertitel lesen, aber dein Dol metschgerät kann die akustische Begleitung übertragen, und die Bilder werden dir ohnehin keine Schwierigkeiten machen. Was würdest du denn gern studieren?« »Galaktische Geschichte« erwiderte darauf Kerwin prompt. 251
»Ach du meine Güte! Das umspannt aber ein sehr wei tes Gebiet. Das bedeutet Millionen von Kuben. Irgend etwas im besonderen?« »Darauf kannst du wetten. Alles Neuere über die Isotat und alles über ihre Besuche auf der Erde. Alles über die Auswanderung der Neandertaler, über eure eigene Ge schichte, und wenn ich das alles durch habe, hätte ich auch gern eine aktuelle Zusammenfassung über den Krieg zwischen Prufilliern und Oomemianern.« Stolz drehte sich Rail zu seinem alten Freund um. »Siehst du? Die haben sich doch ein ganz schönes Stück entwickelt, seit man euch nach Haus verbracht hat. Sie interessieren sich tatsächlich auch noch für andere Sa chen als das Kämpfen.« »Sieht so aus. Ermutigend.« Yirunta klang traurig. »Welch eine Schande, daß sie nach wie vor soviel Zeit und Energie auf kleinliche Hausquerelen vergeuden.« Bis zum nächsten Tag hatte sich die Bordaktivität zur Routine entwickelt. Die Mannschaft gewöhnte sich an ihre prähistorischen Gäste, und trotz anfänglicher Beden ken flackerte die uralte Rivalität nicht wieder auf. Zwar machten die Neandertaler weiterhin ihre Bemerkungen über die Anwesenheit stinkender Kampfaffen an Bord, doch taten sie das nur untereinander, während die Cromagnon-Männer ihrerseits ihre Meinung über Affenfrau en für sich behielten. Kerwin konnte nicht ununterbrochen lesen. Wenn er und Seeth nicht gerade auf ihren neuerworbenen Alienin strumenten spielten, gelang es ihm, seinen jüngeren Bru der dazu zu überreden, sich an einem Spiel zu versuchen, das so ähnlich aussah wie Schach, mit Kinderbausteinen gespielt. Es ging darum, daß man vor dem anderen seinen eigenen architektonischen Bau fertigbekam. War dies zur 252
Zufriedenheit des Spielcomputers gelungen, blitzten Lichter auf, und es ertönte mehrfach eine Melodie. Sie hatten gerade die Hälfte eines solchen Wettkampfs hinter sich gebracht, als Yirunta plötzlich den Kopf in den Gemeinschaftsraum steckte. »Tut mir wahrhaftig leid, euch stören zu müssen, aber Ganun will, daß alle in der Kampfleitzentrale erscheinen.« »Kampfleitzentrale?« Rail legte das Miniatursichtgerät beiseite, das er an sein Kinn geheftet hatte. »Was ist denn los?« »Ist das nicht offensichtlich?« Seeth verließ seine Kon struktion, die daraufhin prompt zusammenbrach, und erhob sich. »Die Wasserleitungen des Schiffs sind defekt, und jetzt müssen wir eine Konferenz abhalten, um uns zu überlegen, was wir dagegen tun sollen.« Er ging auf und ab und wedelte dabei mit den Armen. »Mann, warum sollte man uns wohl in die Kampfleit zentrale rufen, wenn nicht jemand hinter uns her ist! Merkst du denn überhaupt nicht, wenn jemand hinter uns her ist? Funktionieren hier denn alle Gehirne außer mei nem nur im Zeitlupentempo?« »Jetzt verstehe ich, woher du deinen Namen hast«, sag te Rail steif. »Er stammt von dem englischen Wort, das die Bedeutung ›rauchen, qualmen‹ hat. Du bist ständig wütend, stimmt das?« »Das bin ich, Mann! Wenn ich mir die ganze Dumm heit und Käuflichkeit auf der Welt anschaue, kann ich mich nicht einfach ruhig hinsetzen und alles gelassen hinnehmen. Hart, wie? Ich bin eben ein schwerer Fall, na und?« »Tatsächlich«, sagte Kerwin ruhig, »lautet sein wirkli cher Name gar nicht Seeth. Er heißt Seth. Er wurde nach einem Onkel benannt, der in Iowa lebte.« 253
Seeth-Seth funkelte seinen Bruder böse an. »Das soll test du eigentlich für dich behalten, Mann. Du hast es versprochen.« »Das hier ist nicht Albuquerque. Ich glaube kaum, daß du dir Sorgen machen mußt, daß es sich herumsprechen könnte.« »Hm, vielleicht. Aber paß bloß auf, klar?« Yirunta beobachtete diesen Austausch verunsichert, dann entschied er, ihn zu ignorieren. »Hört mir zu, liebe Vettern. Dieses Schiff befindet sich nun im Gefechtszu stand. Ganun hat mich nach hinten geschickt, um euch darüber zu informieren, weil er der Auffassung ist, daß ihr ein Recht darauf habt zu erfahren, was los ist.« Er blickte an ihnen vorbei. »Wo ist die Frau?« Kerwin seufzte. »Die stolziert gerade in einer ihrer neuen Ausrüstungen durchs Schiff. Sie scheint unter dem Eindruck zu leiden, daß ein paar Mitglieder der Mann schaft das vielleicht interessant fänden. Sie hat nicht be griffen, daß sie sie hinter ihrem Rücken auslachen wer den.« »Das werden sie vielleicht nicht tun. Kleidung ist Klei dung, egal wer sie trägt. Stil ist alles.« Seeth kam näher. »Wer jagt uns denn?« Rail war verzweifelt. »Ich hatte doch so sehr gehofft, daß die Oomemianer uns nicht würden orten können.« »Das hat der Kapitän auch getan«, gestand Yirunta. »Wir sind uns gar nicht sicher, daß es die Oomemianer sind. Genaugenommen weiß ich überhaupt nicht, was hier los ist. Es ist alles sehr verwirrend, und ihr dürft nicht vergessen, daß ich nicht zu dieser Mannschaft gehö re. Ich bin hier an Bord ebenso ein Gast wie ihr. Es könn te sein, daß Ganun bei seinem Versuch, der Aufmerk samkeit der Oomemianer zu entgehen, ungewollt den 254
Flugraum anderer verletzt hat. Bitte folgt mir, auf daß wir gemeinsam erleuchtet werden.« Er führte sie durch das Schiff. Unterwegs begegneten sie nur wenigen Mannschaftsmitgliedern. Die waren wahrscheinlich schon alle auf Gefechtsstation, dachte Kerwin beunruhigt. Sie gelangten in einen luxuriösen ovalen Raum. Die in direkte Beleuchtung warf ein sanftes Licht. Holographi sche Skulpturen trieben ungehindert umher, während dreidimensionale Wandgemälde die gewölbten Wände bedeckten. An der Decke hüpften leuchtende Blasen. Tiefe, bequeme Sessel waren willkürlich im Raum ver teilt. Zwischen ihnen bewegten sich automatische Kellner und verteilten Mahlzeiten und große, kühle Drinks. Yirunta blickte grimmig drein. »Da sind wir.« »Einen Augenblick mal.« Kopfschüttelnd trat Kerwin zusammen mit den anderen in den Raum. »Das hier ist die Kampfleitzentrale?« »Natürlich. Was hast du denn gedacht?« »Ich weiß nicht. Ich schätze, ich habe irgend etwas… ein bißchen Spartanischeres erwartet.« Ganun saß in dem größten, weichsten Sessel mitten im Raum. Weitere Mannschaftsmitglieder nahmen ähnliche Sitzgelegenheiten ein. Eine Wand war von einer durch gehenden gebogenen Transparenz beherrscht, durch die man einen weiten Blick auf Sterne und Nebel hatte. An einer Seite scharten sich mehrere Mitglieder der Mann schaft um einen türgroßen Bildschirm. Seine Tiefenschär fe war erstaunlich. »He, so eine Kampfleitzentrale lob ich mir!« Seeth warf sich in einen leeren Sessel und kuschelte sich in seine Kissentiefen. Dabei wurde er von dem Möbel fast verschlungen, da es für viel größere Rücken und Hinter 255
teile gebaut worden war. Er ließ die Finger über die Schaltungen in der Sessellehne fahren, worauf sofort ein automatischer Kellner vor ihm erschien. Kerwin studierte die Leute im Raum. »Sieht ja keiner sonderlich angespannt aus. Wo sind denn die Gefechtsschirme und die Kanonentürme? Hat alles eher den An schein, als würde sich jeder gerade auf eine Party vorbe reiten und nicht auf eine Schlacht.« »Mir gefällt es«, sagte Miranda, nicht ganz unerwarte terweise. Sie schritt zu einem Turm aus reinem weißen Glas hinüber, um ihn zu betrachten, während Kerwin halblaut vor sich hinmurmelte. »Das ist hübsch. Weißt du, wo ich so einen bekommen kann?« fragte sie Yirunta. »Wir stehen kurz vor einer Schlacht, werden mögli cherweise ins Vakuum hinausgeschleudert werden, und alles, woran du denken kannst, ist die Inneneinrichtung?« fauchte der sie an. »Na ja, ich meine ja nur, weißt du.« Sie ließ ihre voll kommenen Finger über den pyramidenförmigen Turm gleiten. »Ich glaube, das ist ein mobiler, vollautomatischer, vollspektraler Radioniksensor«, informierte Yirunta sie. »Mann! So einer würde einfach großartig vor dem Haus unserer Studentinnenverbindung aussehen.« »Zweifellos anstelle eines laternenhaltenden Jockeys«, knurrte Kerwin, den die Situation mehr aufregte als Mi randas unbesiegbare Indifferenz gegenüber der Realität. Sie schritt um das Gerät herum. Dabei blickte sie zu Seeth hinüber, der bequem in seinem übergroßen Sessel saß. »Dein Bruder sagt, dein wirklicher Name sei Seth.« Seeths Augen verengten sich, und er setzte sich ruckar tig auf, stellte seinen Drink beiseite. »Ich habe dich ge warnt, Mann. Ich werde dich umbringen!« 256
»Das wirst du möglicherweise gar nicht müssen.« Yi runta trat zwischen die beiden Brüder. »Auf jeden Fall bitte ich euch, euch beim Spiel etwas zurückzuhalten. Die Lage ist sehr ernst.« »Vielleicht hältst du mich ja nur zum Narren.« Kerwin blickte zu der gekrümmten Sichtscheibe hinüber. »Wie, zum Teufel, willst du wissen, ob das hier der Ernstfall ist?« »Ganun hat es gesagt. Ganun übertreibt nicht.« »Keine Sorge.« Miranda lächelte zu Seeth hinunter. »Ich mache mir keine Sorgen. Wir werden schon Raumstaub aus denen machen, wer immer sie auch sein mögen.« »Ach, das habe ich gar nicht gemeint. Ich meinte dei nen Namen. Ich finde, Seth, das hat irgendwie Klasse.« »Wirklich? Ohne Scheiß?« »Na klar. Ich meine, das ist doch ein richtiger solider, altmodischer amerikanischer Name. So richtig pio nierhaft. Schick. Soziologisch einfach geil.« Sie seufzte. »Ich meine, heutzutage denkt doch jeder, er wäre cool, wenn er Jake, oder Jules, oder Brock oder Matt oder so ähnlich heißt. Alles Namen ohne Wärme, ohne Natür lichkeit. Es ist, als ob die meinten, daß sie irgendwie in Granit eingehauen wären oder so, weißt du.« Ihre Augen nahmen einen verträumten Ausdruck an. »Ich habe mir in der Phantasie immer wieder vorge stellt, wie ich mal einem richtigen Kerl begegne. Irgend jemandem, der Ezra oder Isaiah oder so heißt.« Was Seeth nun sagte, lautete: »Ohne Flachs?« Was sei ne Augen sagten, lautete: »Mann, diese Tussi ist viel leicht ausgeklinkt!« Was er als nächstes sagte, immer noch nicht ganz sicher, ob sie ihn veralberte oder nicht, lautete: »Mein Onkel hat auch Schweine gezüchtet.« 257
»Ehrlich?« Mirandas Augen weiteten sich. Sie kniete neben seinem Sessel auf dem Teppich nieder und beugte einen Arm dicht an seinen. »Wirklich? Das ist ja einfach superhyper. Ich meine, hat der wirklich Schweine mit Wasser abgespritzt und den Boden umgegraben und lau ter so ein biodynamisches Zeug?« »Äh, klar, richtig biodynamisch.« Seeth hatte den Ge sichtsausdruck eines Freizeitreisenden, der unerwartet über den Weg gestolpert war, der zum großen Goldschatz führte, sich der Anzeichen aber noch nicht sicher war. »Und, äh, wir standen uns auch echt nahe, Onkel Seth und ich.« Kerwin warf ihm schmutzige Blicke zu. »Das ist aber komisch. Irgendwie kann ich mich noch daran erinnern, wie du mal gesagt hast, daß Onkel Seeth die einzige Per son gewesen sei, die du jemals gekannt hast, die einen Beruf daraus gemacht hat, mit der Schaufel Schwei nesch…« »Halt’s Maul, Mann! Ich meine, halt einfach die Klap pe!« Er lächelte Miranda wieder warm an. »Wie ich schon sagte, Zimtlippe, deshalb hat man mich auch nach ihm benannt.« »Ein Farmer.« Der verträumte Augenausdruck vertiefte sich. »Ich meine, das ist einfach so, weißt du, so echt.« »Richtig echt, ja. Kannst du mich gut verstehen? Ich meine, hier drin ist es ja ziemlich laut, von wegen Kriegspfad und so. Klimpernde Eiswürfel und Videore corder. Komm ein bißchen näher, dann erzähle ich dir alles über Iowa.« Miranda setzte sich neben ihn in den Sessel. Der war groß genug, um beiden Platz zu bieten, aber doch nicht so sehr, als daß Seeths Blutdruck nicht langsam dreistellige Werte anzunehmen begonnen hätte. Die Tatsache, daß sie 258
jeden Augenblick von einem bisher unbekannten Feind vernichtet werden konnten, schien den beiden nicht das geringste auszumachen. Das war zuviel für Kerwin, daher wandte er sich ab und schritt auf den Kommandantensessel Ganuns zu. Mit Sicherheit führte sie sie alle nur an der Nase herum. Die ses ganze hingehauchte Getue über Ursprünglichkeit und Naturdünger und Landerde paßte überhaupt nicht zu dem gewundenen, silbrigen, offenschultrigen, fremdartigen Umhang, den sie trug, ebensowenig wie zu den Luftkis senschuhen, die es ihr gestatten, ein Hundertstel Zentime ter über dem Teppich zu schweben, oder zu dem Hals band, das nicht etwa einfach nur von ihrem Hals herun terhing, sondern vielmehr in einer Reihe gewundener Regenbögen ausladend links von ihrem Kopf emporstieg, sich im Einklang mit ihrer Stimmung hob und senkte, und auf vollkommenste Weise ihre… Er zwang sich dazu, sich auf den Kapitän zu konzen trieren, der die Beine über eine Lehne seines Komman dantensessels geworfen hatte und auf etwas Süßem her umkaute, während er den kleinen Bildschirm musterte, der auf einer biegsamen Röhre aus der anderen Sessel lehne emporragte. Yirunta und Rail standen bereits neben ihm. »Gut«, bemerkte der Kapitän, als er Kerwin erblickte. »Wo sind deine Gefährten?« »Die sind anderweitig beschäftigt«, gestand er zögernd. »Nun, du kannst ihnen die erforderlichen Informationen weitergeben. Kurz zusammengefaßt, befinden wir uns in einer sehr gefährlichen Lage.« Er schob sich ein paar weitere Stücke seiner Undefinierten Leckereien in den breiten Mund. »Ja, das sehe ich«, murmelte Kerwin. »Ich verstehe nur 259
nicht eure Einstellung dazu.« Gewaltige Augenbrauen zogen sich zusammen. »Unse re Einstellung? Was ist denn an unserer Einstellung ver kehrt?« »Ich meine ja nur, daß es überhaupt nicht so aussieht, als würdet ihr euch darauf vorbereiten, gegen irgend jemanden zu kämpfen.« »Wir bereiten uns auch nicht aufs Kämpfen vor. Wir kämpfen bereits.« Kerwin blickte zu der Panoramascheibe hinüber. »Ich sehe aber gar keine umherflitzenden Schiffe. Ich sehe keine Laserstrahlen oder Raketen, die abgeschossen wür den. Ich sehe keine Explosionen. Und das hier sieht auch nicht wie eine Kampfleitzentrale aus.« »Ach du liebe Güte, ich begreife dein Problem nicht, junger Vetter. Alle sind auf ihrem Posten und tun ihre Arbeit.« Doch plötzlich begriff er. »Ach, jetzt verstehe ich! Du sprichst von einem primitiven Konflikt, bei dem man seinen Gegner tatsächlich sieht und ihn physisch angreift.« »Ist das etwa nicht die übliche Methode?« erwiderte Kerwin verwirrt. »Gute Güte, nein. Nicht im interstellaren Raum. Wir sprechen hier von einzelnen Raumfahrzeugen, die sich mit Geschwindigkeiten bewegen, die man in Lichtminu ten mißt. Man kann seinen Gegner nicht nur nicht sehen, ja selbst wenn man die schnellsten biologischen Kompo nenten besäße, die es gibt, und eine Waffe abfeuerte, die lichtschnell wäre, hätte der Gegner sich bereits eine Mil lion Amrits weiterbewegt, bis dein Strahl die Stelle er reicht hätte, wo er zuvor noch war. Interstellare Schlach ten sind viel zu kompliziert, um sie bloßen organischen Wesen wie dir und mir zu überlassen. Das ist ausschließ 260
lich die Aufgabe von Maschinen.« »Unser Computer gegen ihren Computer«, fügte Rail erklärend hinzu. »Ich verstehe. Die Computer berechnen, wann ihr in der Lage seid zu schießen, und dann feuert ihr auf der Grundlage ihrer Prognosen.« »Nein, nein, nein. Gute Güte, nein. Du verstehst über haupt nichts.« Ganun drehte sich in seinem Sessel nach ihm um und stellte seinen Drink beiseite. »Wir versu chen, von Punkt A nach Punkt B zu reisen. Unsere Ver folger versuchen, das zu verhindern. Entsprechend instru ieren sie ihren Gefechtscomputer. Daraufhin versucht unser Computer vorherzusagen, was ihr Computer tun wird, und programmiert seinerseits unsere Ausweichma növer. Anstelle eines hochgradig verschwenderischen Austausches destruktiver Energien wird aus dem tatsäch lichen Konflikt eine Art, na ja, gewaltiger Tanz über das Firmament. Es werden keine Schüsse abgefeuert. Irgendwann erlangt ein Fahrzeug dann eine Position, die dem anderen taktisch überlegen ist.« »Und dann eröffnet ihr das Feuer«, meinte Kerwin. Ganun schüttelte traurig den Kopf. »Nicht die geringste Vorstellung davon, worum es bei der modernen Kriegs führung geht, überhaupt keine!« »Sei nicht so streng mit ihm«, riet Rail. »Vergiß nicht, auf seinem Planeten gibt es immer noch den Nahkampf von Mann zu Mann.« »Ja, das hatte ich vergessen.« Der Kapitän blickte Ker win von unten an. »Bevor irgend jemand feuern kann, haben die jeweiligen Gefechtscomputer die taktische Position analysiert, Schiffsgröße, Bewaffnung, wahr scheinliche Besatzungsstärke und tausend andere Fakto ren. Dann nehmen sie Kontakt miteinander auf und tau 261
schen diese Informationen aus. Bekommen unsere Ver folger die höhere Punktzahl, ergeben wir uns. Wenn nicht, entkommen wir. Es besteht also kein Bedarf für tatsächlichen Tod und Vernichtung.« »Was soll denn das für eine Schlacht sein?« »Eine zivilisierte, praktische und ökonomische. Das ist nämlich das Problem bei den Konflikten zwischen euch primitiven Typen: Sie machen ungeheuer viel Schmutz und sind vergeuderisch.« Er nippte an seinem Drink. »Es gibt also wirklich keinen Grund, den eigenen Blutdruck ansteigen zu lassen. Es wird keine Schießerei geben. Gewiß, gelegentlich kommt schon mal eine vor, wenn nämlich die Prognosen der Gegner allzu eng beieinander liegen, um vernünftig entschieden zu werden. Aber das ist selten.« »Was, wenn das verfolgende Schiff die Oberhand ge winnt und sich dazu entschließt, euch trotzdem wegzupu sten?« »Dagegen könnten wir nichts unternehmen. Aber so werden solche Dinge nicht gehandhabt. Verstehst du, wenn es sich nämlich herausstellen sollte, daß so etwas passiert ist, könnten wir nächstes Mal eines ihrer Schiffe wegpusten. Niemand, nicht einmal ein Oomemianer, fährt durch die Gegend und sprengt Schiffe, die sich be reits ergeben haben. Interstellare Raumfahrzeuge sind teuer.« »Und wie steht es damit, daß Leute das einfach nur zur persönlichen Genugtuung tun, weil sie ihren Feind in Rauch aufgehen sehen wollen?« Ganun lächelte und wackelte mit dem Finger vor ihm. »Ihr solltet eure eigenen soziokulturellen Verirrungen nicht auf höherentwickelte Völker projizieren. Was du da meinst, ist ausschließlich das Vergnügen von Primitiven. 262
Mag sein, daß wir noch nicht über Konflikte hinausge wachsen sind, aber auf jeden Fall haben wir unsere Adre nalindrüsen unter Kontrolle.« »Und wenn wer immer uns auch verfolgen mag diese Schlacht der computerisierten Zahlenfresserei gewinnen sollte…?« Ganun zuckte die Schultern. »Dann bremsen wir ab und übergeben dich und deine Freunde und dieses Izmirding an sie.« Er runzelte die Stirn und musterte aufmerksam die Kampfleitzentrale. »Da wir schon davon reden, wo ist denn überhaupt unser kostbares Naturwunder?« Kerwin entdeckte das unverkennbare blaue Auge hoch oben zwischen den schwebenden Lampen und zeigte darauf. »Ach ja«, sagte Ganun, »jetzt sehe ich es auch. Nun, jedenfalls wird die Sache auf diese Weise entschieden werden. Wir hoffen, daß unser Computer siegen wird. Immerhin haben wir einen Vorsprung und ein gutes Schiff.« »Ich kann nicht behaupten, daß ich überrascht wäre«, brummte Rail. »Es müssen die Oomemianer sein. Die haben mich bisher auf jeden Planeten verfolgt, den ich aufgesucht habe.« Ein Subalterner nahte sich, reichte dem Kapitän einen Computerausdruck. Ganuns Blicke fuhren über das Skript. Als er damit fertig war, sah er grimmig auf. »Ich fürchte, diesmal bist du im Irrtum, alter Freund. Es sind nicht die Oomemianer, die hinter uns her sind. Wir werden von Prufilliern verfolgt.« Rails drei Augen weiteten sich so sehr, daß sie den größten Teil seines Gesichts einzunehmen schienen. »Warum fliehen wir dann noch? Das sind doch meine Leute.« 263
»Vergiß nicht die Abmachung, die wir haben.« Ganun sprach ruhig und sachlich. »Izmir soll in der Nähe von Haus von menschlichen Wissenschaftlern studiert wer den. Das war die Abmachung. Wir sollten dich vor den Oomemianern retten. Das haben wir getan.« »Ja, das weiß ich natürlich.« Kerwin dachte, daß Rails Unruhe verständlich war. »Aber ich habe doch nur unter der Annahme eingewilligt, daß wir auf keine andere Wei se vor den Oomemianern fliehen könnten. Das bedeutet doch nicht, daß wir gegen mein eigenes Volk kämpfen müssen.« »Wir kämpfen bereits dagegen, wie ich meinem jungen Vetter hier gerade eben zu Ende erklärt habe. Beide Ge fechtssysteme sind schon seit mehreren Stunden aktiv.« Er blickte auf den Ausdruck. »Vergiß nicht, daß ich diese Information ebensogut für mich hätte behalten können, um dir statt dessen vorzulügen, daß wir von Oomemia nern verfolgt würden. Dennoch habe ich es vorgezogen, dir die Wahrheit mitzuteilen. Ich war der Meinung, daß du einen moralischen Anspruch darauf hast.« »Na ja, dafür bin ich ja dankbar, ich weiß das zu schät zen, gewiß, aber…« Kerwin unterbrach den niedergeschlagenen Prufillier. »Und wie steht es mit unseren moralischen Ansprü chen? Es ist uns völlig egal, wer Izmir unter die Lupe nimmt, ihr, die Oomemianer oder Arthwits Leute. Wir wollen einfach nur nach Hause und uns um unsere eige nen Angelegenheiten kümmern. Es ist schon schlimm genug, mitten in einem interstellaren Konflikt festzusit zen. Da wollen wir nicht auch noch in die Anfänge eines weiteren geraten.« »Ihr habt meine volle Sympathie, gute Güte, ja«, mur melte Ganun entschuldigend. »Ihr habt euch in eine pre 264
käre Situation gebracht, und nun wißt ihr nicht, wie ihr euch daraus wieder befreien sollt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann ich leider nichts unternehmen. Würde ich mich in die Arbeit der Gefechtscomputer einmischen, wäre es äußerst wahrscheinlich, daß wir das Gefecht schon bald verlieren würden. Das würde bedeuten, daß ich euch alle den Prufilliern übergeben muß. Das möchte ich nicht.« »Aber was ist denn mit mir?« Rail sah völlig verloren aus. »Wenn ihr den Wettbewerb doch verliert und sie mich an Bord eures Schiffs finden, werden sie mich als Hochverräter einäschern. Ganun, das kannst du unmög lich tun! Ich habe fast ein ganzes Jahr mein Leben im Interesse meines Volks riskiert, aber das wird mir nie mand glauben, wenn sie mich auf einem Menschenschiff vorfinden, das sie erst mit kriegerischen Mitteln aufbrin gen mußten.« »Ach, Unfug! Nun werde nicht so emotional. Du hörst dich ja schon an wie einer von diesen Cromagnons. Ihr seid meine Gäste. Gäste können mit einer einzigen Silbe zu Gefangenen gemacht werden. Wenn wir verlieren sollten, versichere ich dir, daß ich den prufillianischen Offizieren ausdrücklich mitteilen werde, daß du dich gegen deinen Willen an Bord befindest.« Er hob den Blick zu Kerwin. »Das gilt für euch alle. Ihr seht also, daß wir nichts zu verlieren haben. Ob wir dieses Gefecht nun verlieren oder gewinnen, ihr jedenfalls werdet von den Siegern auf jeden Fall als Helden behandelt werden.« »Na ja, das leuchtet ein. Jetzt fühle ich mich schon bes ser. Danke.« »Nicht der Rede wert. Übrigens scheinen wir von mehr als nur einem Raumfahrzeug verfolgt zu werden. Sogar von einer erheblichen Anzahl, obwohl wir noch keine 265
genaue Zählung haben. Es scheinen unentwegt neue ein zutreffen.« Er schüttelte unglücklich den Kopf. »Es scheint, als hätte dein Volk davon erfahren, daß du dich in diesem Gebiet aufhältst, und als hätte es sich dazu entschlossen, nach dir zu suchen. Möglicherweise geht dein Wunsch noch in Erfüllung, dich deinen Leuten wie der anzuschließen. Und was dich angeht, junger Mensch, so geht möglicher weise auch dein Wunsch noch in Erfüllung, indem nämlich die Prognosen so scharf beieinanderliegen, daß es doch noch zu echten Kampfhandlungen kommt. Dann wirst du all die hübschen Explosionen und Lichtblitze und das Blut und die verstümmelten Gliedmaßen sehen können, die deine Rasse so liebt.« »Du hast mich völlig falsch verstanden. Wir mögen über haupt keinen Krieg. Wir hassen Kämpfe. Es ist nur, daß wir unsere Probleme manchmal anscheinend nicht anders lösen können.« »Dummes Gefasel«, sagte Ganun barsch. »Wahrheit bleibt Wahrheit, Tatsache bleibt Tatsache, Natur bleibt Na tur, und ihr könnt eben nicht anders sein, als ihr seid, warum also versuchen, es zu leugnen? Außerdem wird es wahr scheinlich gar nicht soweit kommen.« »Und wenn es doch soweit kommen sollte«, erkundigte sich Kerwin, »zieht ihr dann in eine echte Kampfleitzentrale um?« Ganun schienen diese dummen Fragen langsam zu lang weilen. »Zum letzten Mal, Vetter, das hier ist die Kampf leitzentrale. Du glaubst doch wohl nicht, daß wir die Opera tion gewaltigster Raumwaffen unseren eigenen, lächerlich langsamen Reaktionen überlassen würden, oder? Wenn es zu echten Kampfhandlungen kommen sollte, werden die Computer auch unsere Kampfsysteme steuern.« 266
»Ich kann nur eins sagen – das ist wirklich eine ver dammt merkwürdige Art, einen Krieg zu führen!« »Ihr Cromagnons.« Ganun sah ihn verständnisvoll an. »Bei euch muß immer alles gleich auf handfester Erfah rung beruhen, nicht wahr? Ihr könnt euch nicht einmal beim Kämpfen entspannen.« Der Subalterne kehrte zurück, um dem Kapitän etwas zu reichen, das so aussah wie eine Stange Kirschkau gummi. Anstatt sie jedoch in den Mund zu schieben, ließ Ganun sie in eine kleine Röhre an der Seite des Sessels gleiten. Die Stange verschwand. Sofort erschien vor sei nen Beinen mitten in der Luft eine holographische Kugel. Sie pulsierte nur so von Punkten und Linien und chiffrier ten Symbolen, die Kerwin vor Erstaunen hätten japsen lassen, wäre er nicht im Laufe der letzten zwei Tage mit Dutzenden ähnlicher Halluzinationen konfrontiert wor den. Ganun musterte die Kugel und drehte sie langsam. »Nun, die Sache wird kompliziert.« Er klang nicht son derlich erregt. Diese Projektion entpuppte sich als weit aus hochentwickelter als jene, die Kerwin und seine Freunde bisher zu Gesicht bekommen hatten, als der Ka pitän sie nun vorführte. Er steckte einen dicken Finger in die schwebende Ge stirnsmasse, und er mußte auch mit etwas in ihrem Inne ren Kontakt geschlossen haben, denn sofort gab die An sicht einen winzigen, kugeligen Abschnitt in Großauf nahme wieder, obwohl die Außenkugel ihre Größe bei behielt. Nun bestand die Kugel nur noch aus wenigen Sternen. Dazwischen bewegten sich glühende Lichtpunk te. Ganuns Finger berührte einen davon. Der hellte sich kurz auf. »Das sind wir.« Seine Finger zogen sich an den Rand 267
der Kugel zurück, doch für Kerwins Geschmack leider nicht weit genug. »Da kommen deine Freunde und Ver wandten«, sagte er zu Rail. Die Kieferlade des Prufilliers klappte herunter, als er zwölf zählte, dreizehn… »Das müssen ja zwei Dutzend Schiffe sein!« »Ungefähr.« Ganun nickte weise. »Aber das ist ja eine komplette Flotte! Wie konnten sie so schnell in diesem Gebiet eine ganze Flotte mobil machen?« »Offensichtlich wollen deine Leute diesen Izmir ebenso begierig haben wie die Oomemianer.« »Sie sind nahe dran. Viel zu nahe. Ihr werdet ihnen nicht entkommen können. Warum nicht sofort aufgeben und der Gefahr eines bewaffneten Konflikts aus dem Weg gehen?« »Das würde ich ja auch, nur daß die Lage nicht so ein fach ist. Schau einmal hier.« Wieder bewegte er seinen Finger im Inneren der Kugel. Das Gesichtsfeld dehnte sich leicht aus. In der Nähe ihrer Nordachse erschien plötzlich ein Schwarm von Lichtpunkten in der Projektion. »Oome mianer«, erklärte der Kapitän unnötigerweise. »Eine gan ze Menge Oomemianer. Sie haben uns verfolgt, wie du es auch erwartet hattest. Sie haben nur ein wenig länger gebraucht, um aus einer anderen Richtung kommend aufzuschließen. Unsere Computer müssen das recht inter essant finden. Dreifrontenschlachten sind selten.« Kerwin blickte in die Kugel, fasziniert von den sich bewegenden Punkten. »Werden die Prufillier und die Oomemianer jetzt nicht gegeneinander kämpfen, so daß wir fliehen können?« »Sei nicht naiv, Vetter. Entschuldige, Vetter, vielleicht bin ich ja unfair. Es ist unwahrscheinlich, daß du häufiger 268
dazu gezwungen bist, über sämtliche Probleme nachzu denken, die eine interstellare Schlacht innerhalb des Gleitraums und außerhalb davon aufwirft.« »Genaugenommen macht mich alles, was komplizierter ist als das Einmaleins, völlig konfus. Seeth war derjenige von uns beiden, der immer gut in Mathematik war, ob wohl er lieber sterben würde, als es zuzugeben.« »Dennoch mußt auch du die Komplikationen erkennen. Die oomemianischen Computer müssen nicht nur ent scheiden, ob sie uns einholen und besiegen können, son dern auch, ob ihnen dies gelingt, ohne von den Prufilliern vernichtet zu werden, die vor demselben Problem stehen. Selbst hochentwickelte Computer werden einige Zeit brauchen, um alle Möglichkeiten zu berechnen und um zu Entscheidungen zu gelangen. Bis dahin können wir uns entspannen und dankbar sein.« »Warum?« »Weil das beide Flotten aufhalten wird. In der Zwi schenzeit gelangen wir möglicherweise nahe genug an Haus, so daß von dort einige Schiffe zu unserem Schutz losgeschickt werden könnten. Ich glaube, daß weder Pru fillier noch Oomemianer in den von Haus beherrschten Raum eindringen würden, und sei es nur deswegen, weil wir in unmittelbarer Nähe unseres Heimatplaneten mehr Feuerkraft aufbringen könnten als sie.« »Du denkst jetzt völlig logisch. Tu es nicht«, warnte ihn Rail. »Das hier ist keine gewöhnliche Konfrontation im leeren Raum. Izmir bringt sämtliche Gleichungen durcheinander. Beide Seiten wollen ihn allzu dringend haben. Irgend jemand könnte etwas Verrücktes unter nehmen, beispielsweise die Empfehlungen seines Com puters ignorieren. Es könnte durchaus sein, daß sie trotz dem irgendwie versuchen zu schießen.« 269
Alle Augen richteten sich auf den Astarach, der, atona len Unsinn vor sich hinträllernd, zwischen den Beleuch tungskugeln umherschwebte, in fröhlicher Indifferenz gegenüber der Tatsache, daß soeben drei große galakti sche Lebensformen grauenerregende Kräfte mobilisier ten, um seiner habhaft zu werden. »Wartet, ich habe eine Idee!« Kerwin blickte aufgeregt von Ganun zu Rail hinüber. »Warum erzählen wir nicht einfach allen, daß Izmir uns gehört und daß wir ihn zu rück auf die Erde mitnehmen?« »Weil niemand auch nur im geringsten auf euch achten wird, junger Vetter, mich selbst eingeschlossen. In dieser Angelegenheit zählen die Erde und ihre Wünsche sehr wenig.« Kerwin versuchte, nicht niedergeschmettert auszuse hen. »War ja nur eine Idee.« Er blickte durch den Raum hinüber zu dem Sessel, wo Seeth und Miranda ins Ge spräch vertieft waren: zumindest so tief, wie Miranda jemals kam. Seeth war es, der den größten Teil des Re dens bestritt. Kerwin hob die Stimme. »He! Wollt ihr gar nicht wissen, was hier los ist?« Seeth gönnte ihm kaum einen Blick. »Nö! Kümmere du dich ruhig darum, Bruder. Halt mich auf dem laufenden. Und wenn wir nicht gerade in den nächsten zehn Minuten ausgelöscht werden, dann hör auf mich zu stören, in Ord nung?« Izmir schwebte über die Decke, eine Kollektion glasi ger, glühender Blasen. Während die unten Stehenden zusahen, verdichteten die Blasen sich zu einer festen Kugel, aus deren einer Seite das blaue Auge herausragte. »Beachtenswert«, meinte Ganun ruhig. »Die gestalt wandlerische Fähigkeit, die Levitation und das den Transportschachtfeldern ohne Reibungswärme Widerste 270
hen, diese gewaltigen und doch schwachen Strahlungs impulse – meine Herren, hinter diesem blauen Auge dort verbergen sich Geheimnisse, Geheimnisse sage ich! Ich frage mich, was er wirklich ist.« »Vielleicht ist er ja nur ein Haustier«, bemerkte Ker win. »Jedenfalls benimmt er sich so, wie er den Leuten folgt.« »Was hat diese dunkle Kugelgestalt zu bedeuten? Ver sucht er, die Projektion der Gefechtsfeldzone zu imitie ren?« »Entweder das, oder er möchte wieder zum Bowling gehen«, murmelte Rail. Als er Ganuns verständnislosen Blick sah, fügte er hinzu: »Ein Sport der Cromagnons. Hängt zusammen mit Geschwindigkeits- und Massepro blemen.« »Masse«, murmelte Ganun. »Ich frage mich, wieviel Masse er wirklich hat. Ich nehme an, du hast es nie ge messen?« »Nicht genau. Das kann er nämlich auch variieren. Als wir bei diesem Bowling waren, besaß er ein erträgliches Gewicht, aber es gibt auch Zeiten, da kann man ihn nicht fortbewegen. Und zu wiederum anderen Gelegenheiten wird er so leicht wie Luft, so wie vor einem Augenblick noch.« »Die Levitation und den ganzen Rest kann ich ja noch akzeptieren.« Der Kapitän lehnte sich in seinem Kom mandosessel zurück und blickte das schwebende Myste rium an. »Eine Veränderung der Körpermasse jedoch ist etwas völlig anderes. Er kann seine Masse nicht wirklich verändern. Es muß also eine andere Erklärung für dieses Phänomen geben. Vielleicht verschiebt er Mengen seiner selbst zwischen dem Hier-und-Jetzt und irgendeinem anderen Ort.« 271
»So etwas Verrücktes habe ich ja noch nie gehört«, ent fuhr es Kerwin, bevor er es verhindern konnte. Doch das verärgerte Ganun nicht. »So etwas Verrück tes habe ich auch noch nie gesehen. Wir wissen so gut wie gar nichts darüber, trotz meiner oberflächlichen Un tersuchung. Bedenkt doch, daß wir nicht einmal auf eine so grundlegende Frage eine Antwort wissen wie jene, ob er ein Lebewesen ist oder einfach nur eine raffinierte Maschine.« »Ich neige zur Maschinentheorie«, sagte Rail. »Warum?« »Wegen einiger Dinge, zu denen nicht einmal eine ein zigartige Lebensform fähig wäre.« »Gute Güte, du verschweigst etwas. Erkläre dich. Ich werde gerade angegriffen, und das nicht etwa nur von einer, nein gleich von zwei verschiedenen Kriegsflotten. Ich habe nicht viel Zeit für Ratespiele.« »Es ist nur, daß… na ja, schau mal.« Rail trat unter die Bowlingkugel. »Izmir, mach einen Ausflug. Nur einen kurzen.« Ohne einen Laut zu erwidern, dehnte die Seifenblase sich zu einer glitzernden Kugel aus, die von hellgelben Streifen durchschossen war. »Das ist beeindruckend«, sagte Ganun. »Nein, das ist überhaupt nicht beeindruckend«, wider sprach Rail. »Was als nächstes passieren müßte, das soll te beeindruckend sein.« Das war es auch. Es ließ sogar die dezidiertesten Mannschaftsmitglieder ihre Köpfe von den Geräten he ben und hinsehen. Die blauäugige glühende Sphäre, die Izmir war, schwebte langsam zur Panoramascheibe hinüber. Ohne zu zögern, bewegte sie sich durch die Transparenz, um 272
drei Meter jenseits der Schiffsaußenwand in der Schwebe zu bleiben. Dort hing sie im Vakuum, ohne jede erkenn bare Beeinträchtigung, und schwebte neben dem Schiff. »Du hast recht«, flüsterte Ganun. »Das ist wirklich sehr beeindruckend.« »Ich habe nicht die leiseste Vorstellung, wie er das schafft«, sagte Rail, »aber irgendwie scheint mir das nicht die Art von Fähigkeit zu sein, die ein Lebewesen – egal wie bizarr oder anpassungsfähig es auch sein mag – beherrschen dürfte. Es ist offensichtlich, daß er keine Atmosphäre braucht. Das weiß ich schon seit einiger Zeit.« Er schritt zu der Panoramascheibe hinüber. »Das genügt, Izmir. Komm wieder rein.« Gehorsam wiederholte die Blase ihren Trick, schwebte in die Kampfleitzentrale – durch die feste Panorama scheibe hindurch. Zwei Mannschaftsmitglieder erhoben sich, um das Fenster zur Unendlichkeit zu überprüfen. »Nicht einmal ein Kratzer«, meldete einer von ihnen. »Keine Verzerrung, überhaupt keine Veränderung.« »Er ist einfach hindurchgeschwebt, wie durch eine of fene Tür.« Ganun konnte den Blick nicht mehr von Izmir abwenden. »Ja, das macht er ständig.« Rail klang ebenso gelang weilt wie nachdenklich. »Feste Wände, Böden, alles. Ich bin sicher, daß es mit seinem Gestaltwandlertalent zu tun haben muß. Offensichtlich ist er auf molekularer Ebene verformbar, vielleicht sogar auf atomarer. Er kann seinen eigenen Raum anpassen. Einmal ist er sogar durch mei nen Körper hindurchgeschlüpft. Ich habe überhaupt nichts gespürt, aber mir war mehr als nur mulmig zumu te. Das macht er mit Feldern genauso wie mit festen Hin dernissen.« Ganun nickte. »Unmöglich, ihn einzusperren oder fest 273
zuhalten. Ebenso unmöglich, ihn auszusperren. Unsere Waffenexperten werden sich sehr für ihn interessieren.« »Glücklicherweise hat er keinerlei Neigung gezeigt, ir gend jemandem oder irgend etwas Schaden zuzufügen«, fuhr Rail fort. »Glaub mir, ich habe wirklich versucht, ihn dazu zu bringen, uns gegen die Oomemianer zu ver teidigen, aber das tut er nicht. Ob das eine bewußte Ent scheidung ist oder nicht, kann ich nicht sagen, obwohl er tatsächlich einmal die Gestalt eines smaragdenen Trape zes angenommen hat und durch den Kopf eines oome mianischen Angreifers geschwebt ist, was diesen so sehr aus der Fassung brachte, daß er vergaß, auf mich zu schießen.« »Das übersteigt völlig mein Fassungsvermögen. Es ist eindeutig, daß wir es hier mit völlig neuen physikalischen Gesetzen und Möglichkeiten zu tun haben, an die nie jemand bisher gedacht hat. Kein Wunder, daß dein Volk ebenso bereit ist wie die Oomemianer, ganze Flotten hinter ihm herzujagen. Wie behältst du ihn unter Kontrol le?« »Er scheint bereit so ziemlich auf jeden zu hören, aber ich glaube, daß er für mich etwas Besonderes empfindet. Frag mich nicht, warum. Ich habe versucht, sein Geplap per zu entziffern, aber ich bezweifle langsam, daß es irgend etwas mit Sprache zu tun hat. Möglicherweise ist es nur irgendeine Form unwillkürlicher elektronischer Strahlung.« »Ich würde dich ja gerne zum Bowling mitnehmen«, sagte Kerwin zu der leuchtenden Kugel, »aber wir haben leider keine Kegel.« Das blaue Auge rutschte herum, um auf ihn hinunter zublicken. Es war äußerst beunruhigend, und Kerwin empfand dieses Gefühl selbst wiederum beunruhigend, 274
weil es eigentlich gar keinen Grund für ihn gab, beunru higt zu sein. Dennoch verlor er ein wenig die Fassung, vielleicht wegen der Fähigkeit, die Izmir soeben vorge führt hatte. »Dieses Bowling mag er also, wie du sagst.« Ganun sah nachdenklich aus. »Und er schwebt auch gerne durch feste Oberflächen. Was mag er noch gern? Vielleicht Planeten aus ihrer Umlaufbahn werfen?« Er musterte Rail. »Ich frage mich, ob du auch nur die geringste Vor stellung davon hast, mit was du im vergangenen Jahr umhergewandert bist. Ich frage mich, ob irgendeiner von uns wirklich eine Ahnung davon hat, mit was wir es hier zu tun haben.« Kerwin hatte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Ge fechtszonenkugel gerichtet. »Wenn die Oomemianer am Schluß gewinnen, werden wir nie mehr Gelegenheit ha ben, es herauszubekommen.« »Das stimmt allerdings, junger Vetter. Die Oomemia ner können sehr unangenehm werden. Aber wir sind ja neutral.« »Das bedeutet überhaupt nichts, wenn es um Izmir geht«, erinnerte Rail ihn. »Ich glaube wirklich, daß sie einen offenen Krieg mit Haus und seinen Verbündeten riskieren würden, um ihn zurückzubekommen.« »Nach dieser kleinen Vorführung zweifle ich an nichts mehr.« Der Kapitän wies mit einem Nicken auf die Pan oramascheibe, die noch immer von den ungläubigen Be satzungsmitgliedern studiert wurde. »Im Augenblick würde mich überhaupt nichts mehr überraschen.« Natürlich irrte er sich, aber nicht aus den Gründen, die er annahm.
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XI
DAS ERSCHEINEN der oomemianischen Flotte verkompli zierte das Verfolgungsmanöver der Prufillier, genau wie Ganun es erwartet hatte. Als ein weiterer Tag verstrichen war, hatten sich beide Flotten dem fliehenden Schiff von Haus zwar genähert, doch konnte keine von ihnen auf Feuerweite herankommen, weil dies das empfindliche taktische Gleichgewicht gestört hätte, das zwischen ihnen bestand. Sie waren dazu gezwungen, Distanz zueinander zu halten. Die Zahl der beteiligten Raumschiffe und die Geschwindigkeiten, mit denen sie manövrierten, ließ Kerwin schon schwindeln, wenn er nur daran dachte. Langsam begann er zu verstehen, weshalb ein Raumkrieg zu kompliziert war, um ihn schlichten organischen Ge hirnen zu überlassen. In der Zwischenzeit kämpften die Computer klaglos im erhabenen Zahlenland. Ganuns Besatzung beschäftigte sich mit Spielen und aufgezeichneten Unterhaltungssendungen, mit Lesen und verschiedenen anderen Freizeitaktivitäten, während sie auf den Ausgang der mechanischen Schlacht warteten. Die Sache erschien Kerwin noch immer als unvernünftig, und das teilte er auch Rail mit, denn er wollte kein zwei tes Mal Ganuns Verachtung riskieren. »So werden solche Dinge eben gemacht«, erklärte der Prufillier. »Was für eine Methode, einen Krieg zu führen!« »Die typische Denkweise eines Cromagnon.« Kerwin sprach etwas leiser und versuchte, dabei nicht so zu klingen, als würde er ihn anflehen. »Hör mal, könntest du mich und 276
meine Freunde nicht auch Menschen nennen? Bitte? Ich meine, ich will ja deswegen nicht gleich in eine Prügelei geraten, nicht mit diesen Leuten hier. Das ist schließlich ihr Schiff, und außerdem sind sie alle größer als ich, aber ich bin es langsam leid, ständig wie etwas angeredet zu werden, das aus einer anthropologischen Abhandlung stammt.« »Es tut mir leid, Kerwin, aber bedenke bitte, daß diese Sache für mich ebenso seltsam und verwirrend ist. Ich möchte mich nicht in irgendwelche interrevolutionäre Plänkeleien einmischen.« »Was, meinst du, wird geschehen?« »Wenn nicht bald etwas geschieht« – Rail zeigte mit einem dünnen grünen Arm über den Boden des Gemein schaftsraums zu der Stelle hinüber, wo Miranda gerade zwei verschiedene Paar Schuhe anprobierte – »wird deine weibliche Begleiterin bald an Langeweile sterben.« »Ja, es muß schlimm für sie sein. Niemand beachtet sie außer Seeth, und das ist schon übel genug.« Er erblickte nirgends seinen jüngeren Bruder und argwöhnte, daß er wahrscheinlich in der Abgeschiedenheit seiner kleinen Kabine auf seinem Alieninstrument übte. Die Schalliso lierung an Bord war hervorragend. »Aber ich meinte eigentlich, was mit uns geschieht.« »Die Möglichkeiten sind begrenzt«, sagte Rail nach denklich. »Wenn die Oomemianer siegen, werden sie Izmir mitnehmen und den Rest von uns hinrichten. Wenn die Prufillier siegen, glaube ich nicht, daß einem von uns Schaden zugefügt wird. Prufillia hat strenge Gesetze, was den Umgang mit Ureinwohnern angeht.« »Ich glaube, die Bezeichnung Cromagnons war mir da noch lieber.« »Entschuldigung. Was mich betrifft, so werde ich entweder vor Gericht gestellt und exekutiert, oder 277
weder vor Gericht gestellt und exekutiert, oder dekoriert und mit Reichtümern überhäuft, egal wie sehr sich Ganun meinetwegen bemühen mag. Sehr viel wird von der ge sellschaftlichen Stellung und der persönlichen politischen Einstellung des Flottenkommandanten abhängen. Wenn wir in die Einflußsphäre von Haus geraten, wird man von dort zweifellos, wie Ganun ja bereits erklärt hat, eine eigene Flotte aussenden. Dann werden wir uns mitten in einer Vielflottenschlacht befinden, weil ich zumindest von den Oomemianern nicht glaube, daß sie aufgeben werden.« »Und alles seinetwegen.« Kerwin seufzte und zeigte zu Izmir hinüber, der sich in drei miteinander verbundene, durchsichtige Pfähle verwandelt hatte, in deren Inneren Lichtblitze wie Markierungen in einem Videospiel auf und ab strömten. »Ja. Seinetwegen. Weil er Dinge tun kann, die unmög lich sind, beispielsweise unbeschädigt durch die Außen wand eines Fahrzeugs im Gleitraum zu dringen.« »Weißt du, was komisch wäre? Wenn nach alledem derjenige, der ihn zum Schluß erhält, nicht die geringste brauchbare Information aus ihm herausbekäme.« »An diese Möglichkeit habe ich auch schon gedacht. Wie ich schon sagte, mein Hauptmotiv, ihn an mich zu nehmen, lag nicht darin, etwas von ihm zu erfahren, son dern den Oomemianern solches Wissen zu entziehen.« In diesem Augenblick gingen im ganzen Schiff die Alarmanlagen los. Zum ersten Mal seit Tagen gab es nun oben und unten etwas echte Aktivität, die über einen entzückten Aufschrei hinausging, wenn jemand gerade mal ein Spiel gewonnen hatte. Ganuns Leute konnten sich sehr schnell bewegen, wenn es sein mußte. Kerwin und seine Gefährten rannten in die Kampfleitzentrale. 278
Ganun selbst war überall – Befehle erteilend, Stationen überprüfend, Informationen empfangend und weiterge bend, Statistiken bestätigend. Sie fanden ihn vor, wie er sich gerade über eine komplizierte gebogene Konsole beugte, an der drei hochrangige Besatzungsmitglieder saßen. »Gute Güte, nein, das ist unmöglich! Überprüft es noch einmal. Seid ihr sicher?« »Jawohl, Kapitän.« Kerwin drehte sich um, als Seeth schreiend in die Kampfleitzentrale platzte. »He, meine haarige Sipp schaft! Ich komme gerade von der oberen Beobachtungs kuppel zurück, und ihr werdet nie erraten, was ich da gesehen habe!« »Nicht jetzt, Seeth!« Kerwin versuchte zu verstehen, was hier passierte, während sein Gehirn und der Dol metschkopfhörer Überstunden machten, um aus den ver schiedenen Gesprächen, die um ihn herum stattfanden, so etwas wie einen Sinn herauszufiltern. »Niemand interes siert sich dafür, was du gesehen hast.« Doch er irrte. Alle interessierten sich dafür. Und schon eine Minute später sahen sie es selbst, wie es draußen vor der Hauptluke ins Sichtfeld schwebte. In der Kampfleitzentrale wurde es plötzlich sehr still. Stiller, als Kerwin es jemals zuvor erlebt hatte. Niemand bewegte sich außer Izmir, der die Decke entlangschweb te, so gleichgültig wie eh und je. Endlich stemmte Miranda die Fäuste in die Hüften und starrte hinaus wie alle anderen. »Oh, großartig! Und jetzt? Das bedeutet wohl, daß es jetzt irgendwie noch ein bißchen länger dauern wird, bis wir nach Hause kommen, richtig?« Draußen vor der Panoramascheibe war ein Raumschiff. 279
Seine Annäherung war von keinem der ultrahochentwik kelten Spürgeräte bemerkt worden, mit denen Ganuns Schiff ausgerüstet war. Es war einfach erschienen, ohne ihnen Zeit für ein Ausweichmanöver zu lassen, obwohl Kerwin tief in seinem Innern ohnehin spürte, daß jede Flucht unmöglich gewesen wäre. Was immer es für einen Antrieb verwenden mochte, so unterschied er sich offen sichtlich ganz wesentlich von dem Antrieb der Prufillier und der anderen. Vielleicht bewegte es sich gar nicht einmal so sehr, sondern erschien einfach. Kerwin fielen hundert Fragen dazu ein, und damit stand er nicht allein da. »Wie groß ist das Ding?« Ganun flüsterte mit seinen Technikern. Der Chefingenieur spulte Zahlen ab, die mehr als nur ein bißchen aus der Luft gegriffen schienen. Der Besu cher ließ sich nicht leicht erfassen. Begriffe wie riesig, monströs und gewaltig trafen die Sache einfach nicht. Seeths Kommentare beruhten eher auf Beobachtung als auf Statistik. »Ich würde sagen, es ist ungefähr so groß wie China, Mann. Oder vielleicht Brasilien. Geographie war nicht gerade meine Stärke. Ich verstand mehr vom Autoreparieren.« Die Seiten des uneben geformten Objekts pulsierten von Lichtern. Es gab keine sichtbaren Waffen oder Ma schinen, nichts, was die glatte Metalloberfläche hätte stören können. Es war einfach nur eine große graue Ge stalt, die im Raum trieb; ein beleuchteter Mond. »Ich wußte es.« Miranda stieß ein müdes Seufzen aus, sie wirkte resigniert. »Na ja, ist ja irgendwie meine eige ne Schuld, wenn ich mich mit Leuten zusammentue, die aber auch nichts richtig machen können.« »Honighüfte, niemand ist dafür verantwortlich, daß wir 280
gerade hier sind«, teilte Seeth ihr mit. »Weißt du, norma lerweise verbringe ich meine Nächte auch nicht damit, Kriege zwischen Aliens zu beobachten.« »Lügner.« Kerwin blickte wieder in die Kampfleitzen trale, sah auf die holographische Gefechtszonensphäre, die vor Ganuns Kommandantensessel schwebte. Die umständlich manövrierenden prufillianischen und oomemianischen Flotten zogen sich schnell zusammen, um ihre strategische Anordnung zugunsten kompakter, leichter zu verteidigender Formationen aufzugeben. Das unerwartete Auftauchen des gigantischen fremden Schiffs hatte ganze Tage raffiniertester Manöver zunichte ge macht. »Meinst du, daß wir gleich angegriffen werden?« Rail wies mit einem Nicken auf das neu dazu gekommene Schiff. Ganun starrte das gigantische Raumfahrzeug an. Ohne erkennbaren Energieverlust blieb es dicht an ihrem Schiff. »Weder deine Leute noch die Oomemianer sind Nar ren. Sie werden uns weiterhin verfolgen, aber sie werden nicht näher kommen, solange das da noch da ist. Ich glaube nicht, daß sie angreifen werden, es sei denn, daß sie eine Vorstellung haben, wen oder was sie dabei an greifen.« »Ich glaube kaum, daß sie allzu nahe kommen werden, Kapitän. Schauen Sie sich das einmal an.« Der Cheftech niker stellte seine Instrumente ein. Nun drehte sich alles zu der Gefechtszonenkugel um. Um den winzigen grünen Punkt herum, der das Schiff von Haus darstellte, befanden sich sechs der riesigen grauen Gestalten, einschließlich jener, die durch die Pan oramascheibe zu sehen war. Zusammengenommen um 281
faßten die sechs Schiffe soviel Masse wie die Erde selbst. Rail schluckte. »Wer könnte solche Schiffe bauen, noch dazu gleich sechs Stück davon?« »Nur ein einziges Volk. Ich habe niemals damit ge rechnet, zu Lebzeiten eines ihrer Schiffe zu Gesicht zu bekommen. Nie hat man mehr als eins davon gesehen. Und doch haben wir hier sechs Stück: die Isotat.« Die Lichter in der Kampfleitzentrale begannen zu flak kern, und einen Augenblick war sich Kerwin sicher, daß sie angegriffen wurden. Er kauerte hinter einem Tisch nieder. Miranda schüttelte ihr Haar aus und durchwühlte gelangweilt ihre Handtasche, bis sie ihre Sonnenbrille gefunden hatte. Mitten im Raum schwebend und soviel Licht abstrah lend wie mehrere große Scheinwerfer, erschienen plötz lich zwei Kugeln – jede von ihnen von zwei Meter Durchmesser. Matte rosa Linien kreuzten sich auf ihrer Oberfläche und schienen sich in ihrem Inneren zu bewe gen. Jede Kugel wies an ihrer cremefarbenen Unterseite zwei Dutzend ein Meter lange rosa Tentakel auf. Sie besaßen keine Augen, Münder oder andere sichtbare Außenorgane. Und doch konnte man spüren, was vorne und hinten war, was oben und unten ausmachte. »Entschuldigt die Störung«, sagte die nähergelegene Kugel mit einer Stentorstimme. Alles in der Kampfleit zentrale warf klatschend die Hände auf die schmerzenden Ohren. »Entschuldigt die Lautstärke«, rief die andere Kugel etwas leiser. »Du mußt behutsamer sein«, informierte sie ihren kugelförmigen Gefährten. »Das hier sind schlichte Gemüter, die mit den allereinfachsten Detektoren ausge rüstet sind.« »Das hatte ich in der Aufregung vergessen. Ich ent 282
schuldige mich.« Zu aller Erstaunen vollführte die erste Kugel eine leichte Verneigung. Es war eine rein telepathische Kommunikation, erkann te Kerwin, aber sie war nur in eine Richtung aktiv. Der erste Stoß mentaler Energie hatte alle überwältigt. Na ja, fast alle. Seeths Gehirn war vom Besuch zu vieler Kon zerte abgestumpft. Er hatte schon allzuviel Zeit unter riesigen Lautsprechern zugebracht. Seine Rezeptoren waren bereits betäubt. »Wahnsinn«, murmelte er gerade. »Riesige Christbaumkugeln aus dem Weltall!« »Halt’s Maul!« sagte Kerwin warnend. »Möglicherwei se lassen sie sich nicht gerne beleidigen.« »He, Mann, wieso glaubst du, daß das eine Beleidigung war? Ich dachte, es wäre eher ein Kompliment gewesen. Und außerdem werden sie Ungeziefer wie dich und mich ohnehin kaum beachten, nicht wahr?« Eine der Kugeln wandte sich um und kam auf sie zu, langsam über den Teppich schwebend, die Tentakelspit zen baumelten etwa dreißig Zentimeter über dem Boden. Sie blieb einen Meter vor Seeth stehen, der in die Hellig keit hineinblinzelte. »War nicht böse gemeint, Dickerchen, okay?« Zwei Tentakel griffen nach ihm. Sie schlangen sich um Seeths Hüfte und hoben ihn vom Boden. Kerwin machte einen Schritt auf seinen Bruder zu, doch Rail hielt ihn zurück. »Tu es nicht, mein Freund. Du kannst nichts dagegen tun. Niemand kann noch irgend etwas tun.« Der Isotat untersuchte gemütlich seinen Gefangenen. »Ziemlich einfache Lebensform auf Wasserbasis.« Er steckte einen weiteren Tentakel in Seeths linkes Ohr. Seeth krümmte sich, dann erschlaffte er, seine Kieferlade 283
fiel herab, und Speichel troff ihm aus dem Mund. Bis auf die Gegenwart des Alien wäre es für ihn eine völlig nor male Körperhaltung gewesen. »Ein faszinierendes, unentwickeltes Neuronenpotenti al«, fuhr die Kugel fort, während Kerwin die Zähne zu sammenbiß und stehenblieb. »Das meiste davon aller dings fehlgeleitet, wie ich fürchte.« Der Greifarm löste sich von ihm, und das Wesen setzte Seeth wieder am Boden ab. Seine Beine zitterten, und er wäre wohl umgestürzt, hätten ihm Rail und Kerwin nicht unter die Arme gegriffen. Mißtrauisch behielten sie die unweit vor ihnen stehenden Kugeln im Auge. »Bist du in Ordnung, Junge?« »He, ich bin schon okay«, erwiderte Seeth schleppend. »Ich habe mal ein paar Pillen genommen, da habe ich mich genauso gefühlt, Mann. Wie wenn dein Kopf ein Kugellager ist und der Rest von dir eine Radkappe aus Chrom.« Die Kugeln bewegten sich weiterhin durch den Raum, untersuchten einen von Ganuns Technikern und wandten sich dann plötzlich abrupt Arthwit Rail zu. Der Prufillier stieß ein Stöhnen aus und jagte dem Ausgang zu. Ein leises, knisterndes Geräusch, und er brach auf dem Deck zusammen, vorübergehend gelähmt. Die Isotat wiederholten ihre Inspektionsprozedur, bevor sie sich wieder zurückzogen und ihn stöhnend, aber offensichtlich unbeschädigt zurückließen. »Verwandte Arten. Ein ähnlicher Aufbau«, verkündete die zweite Kugel. Nun bewegten sie sich auf Izmir zu. »Oh, oh. Freitag abends beim Schaukampf«, murmelte Seeth, während er und seine Freunde sich der Mehrzahl der Besatzungsmitglieder darin anschlossen, auf die ge 284
genüberliegenden Ecken zuzulaufen. Die prufillianische und die oomemianische Flotte hätte sich jetzt auf sie stür zen können, doch niemand widmete der Gefechtszonen kugel auch nur einen einzigen Blick. Der Astarach hatte seine miteinander verbundenen Pfähle gegen ein paar verschlungene schwarze Rechtecke eingetauscht, die von silbernen Funken durchschossen waren. Kerwin hielt die Luft an. Darin hatte er jede Menge Gesellschaft. Eine der Kugeln griff mit den Tentakeln nach Izmir. »Erstaunlich, daß wir sie so deutlich hören können«, flüsterte Kerwin. »Mann, benutz doch mal deinen Kopf«, sagte Seeth laut. »Die reden nicht mit uns. Wir fangen hier bloß ein paar verirrte Übertragungen ab. Für die sind wir nur Ameisen. Das einzige an Bord dieses Schiffs, das Auf merksamkeit verdient hat, ist der alte Izmir da.« In diesem Augenblick schlang der erste Isotat mehrere Greifarme um Izmir und zog an ihm. Das sah man daran, daß sich die muskulösen rosa Gliedmaßen anspannten. Izmir jedoch blieb völlig ungerührt in der Schwebe. Nachdem einige Minuten auf diese Weise verstrichen waren, gesellte sich der zweite Isotat zum ersten. Ihre gemeinsamen Anstrengungen konnten den Astarach nicht von der Stelle bewegen, der beobachtete sie statt dessen schweigend mit seinem hellblauen Auge. Während sie an ihm rissen, summte er vor sich hin. Kerwin meinte, darin deutlich eine Melodie zu erkennen, wagte es aber nicht, eine solche Häresie in Hörweite eines anderen anzudeu ten. Schließlich gaben die Isotat auf und ließen Izmir los, nachdem sie ihn nicht einmal einen Zentimeter von der Stelle hatten bewegen können. Sie drängten sich dicht aneinander, und im Raum war ein leises Wimmern zu 285
hören. War das vielleicht Hochgeschwindigkeitskommu nikation, oder etwas anderes? »Warum tut Ganun nicht irgend etwas, anstatt einfach nur zuzusehen?« Kerwin sprach mit Rail, der sich inzwi schen vom Trauma seiner Untersuchung durch die Aliens wieder vollkommen erholt hatte. »Was soll er tun? Das sind die Isotat. Noch nie hat je mand einen von ihnen gesehen. Immer nur ihre Schiffe, weißt du noch? Es zeigt, wie wichtig Izmir ihnen sein muß, daß sie zum ersten Mal in der Geschichte persön lich erscheinen.« »So besonders beeindruckend sind sie eigentlich gar nicht.« »Das brauchen sie auch nicht zu sein.« Der Prufillier zeigte auf die Sichtscheibe, hinter der der Rest des Kos mos von der gigantischen Gestalt des Isotatschiffs ver deckt wurde. »Die haben das dort, das ist beeindruckend genug.« »Trotzdem sollten wir irgend etwas unternehmen.« »Was soll Ganun deiner Meinung nach denn tun? Sie festnehmen? Sie sind an Bord teleportiert oder wurden auf eine mechanische Weise projiziert, von der wir keine Vorstellung haben. Sie können ebenso schnell wieder verschwinden. Du kannst keine Wesen bedrohen, die teleportieren können. Willst du sie mit Waffen bedrohen? Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, mein Freund, aber ich für meinen Teil hege nicht den geringsten Zweifel daran, daß sie dich bloß anzuschauen brauchen, damit du zu Staub zerfällst. Außerdem tut Ganun durchaus etwas.« Kerwin blickte zum Kommandantensessel hinüber. Ganun trank beständig und in großen Mengen aus einem langen, grünen Behältnis. Aha – im Zweifelsfalle: sich besaufen! 286
Nun, er jedenfalls würde schon dafür Sorge tragen, daß er bei Sinnen blieb. Er war der erste Mensch, der solche Wunderwesen zu Gesicht bekam, und er wollte nichts davon vergessen, auch wenn ihm niemand zu Hause nach seiner Rückkehr glauben würde. Er würde diese Ereignis se in seinem Gedächtnis einfrieren – vorausgesetzt, daß die Isotat sich nicht dazu entschieden, sie auszumerzen wie Bakterien, die ein Tablett mit medizinischen Instru menten kontaminierten. Sie waren noch immer viel zu sehr mit Izmir beschäf tigt, um sich um die bedeutungslosen organischen Le bensformen zu kümmern, die die Kommandoleitzentrale bevölkerten. Ein Blick auf die Gefechtszonenkugel zeig te, daß die prufillianischen und oomemianischen Flotten unmittelbar innerhalb des Außenrands des Erfassungs felds der Kugel schwebten, dicht um ihre jeweiligen Flaggschiffe gedrängt. Er hielt es für unwahrscheinlich, daß eine von beiden angreifen würde. Sie konnten kaum etwas anderes tun, als in der Nähe zu bleiben und abzu warten, bis sie erfuhren, was die Isotat vorhatten. In diesem Augenblick näherten sich diese unbegreifli chen Kreaturen Izmir aufs neue. Der Astarach hatte die Gestalt einer umgekehrten schwarze Pyramide ange nommen. Seine Seiten und der Pyramidenbogen flacker ten von rotem und purpurnem Licht. Eine der Kugeln streckte einen langen Greifarm vor. Kerwin glaubte, daß es derselbe war, mit dem sie Seeth untersucht hatte, doch er war sich nicht ganz sicher. Was seinen Bruder anbelangte, so schien der keinerlei schädli che Nachwirkungen durch das Eindringen des Aliens davongetragen zu haben, doch nach jahrelangen pharma kologischen Experimenten und unentwegter Beschallung mit Rockmusik bei einhundertvierzig Dezibel ließ sich 287
dies ohnehin nur schwer feststellen. Zu jedermanns Überraschung gelang es dem Isotat, den Tentakel etwa zwei Zentimeter in Izmirs Oberfläche ein zuführen. Dem folgte ein gewaltiger Lichtblitz, der alles in der Kampfleitzentrale vorübergehend blendete. Der andere Isotat wich zurück und schlang seine Tentakel eng gegen seine Unterseite, während er sich bis zur Panora mascheibe zurückzog. Alle anderen versuchten, sich hin ter den nächstbesten festen Gegenstand zu ducken. Die Zentrale wurde von scharfem Ozongestank ausgefüllt, wie auch von einem anderen Geruch, den Kerwin nicht identifzieren konnte. Es war, als wäre plötzlich mitten unter ihnen die größte Blitzlichtbirne der Welt geplatzt. Er hatte sich hinter eine Konsole geworfen. Gemeinsam mit Rail erhob er sich nun wieder, noch immer blinkten Punkte vor seinen Augen. Izmir hing nach wie vor an derselben Stelle, offensichtlich unberührt. Von dem untersuchenden Isotat war nur noch ein rau chender Haufen Tentakel übrig, die etwas abstützten, das aussah wie ein zusammengesackter Schmalzkringel. Überall in der Zentrale konnte man die Überreste zischen hören. Der Alien war geröstet worden wie eine Käsewaf fel. Das merkwürdige zweite Aroma, das Kerwin nicht hatte ausmachen können, stammte vom verbrannten Alienfleisch. Izmir verwandelte sich in eine Reihe miteinander ver schlungener Ringe, wobei das Auge sich mühelos von einem Ring zum anderen bewegte, während diese sich in der Luft verbogen, um schließlich eine einzige rotierende, rohrähnliche Gestalt zu bilden, aus der völlig unerwartet ein halbes Dutzend blauer Flügelschwingen hervorwuch sen. Diese flappten im Zeitlupentempo, ohne Izmir voroder zurückzubewegen. 288
Alle hielten die Luft an, als der überlebende Isotat zu seinem vernichteten Gefährten durch den Raum schwebte. Diesmal bewegte er sich sehr viel langsa mer, bemerkte Kerwin. Sie waren nicht nur die ersten Menschen, die einen leibhaftigen Isotat vor sich sahen, sie waren auch die ersten, die einen toten zu Gesicht bekommen hatten. »Meinst du, sie können ihn wiederherstellen?« flü sterte Kerwin. »Nur wenn sie eine vollkommene Wiederauferste hung vollbringen.« Rail sah zu, während der intakte Isotat vorsichtig den immer noch rauchenden Leich nam seines Gefährten in seine Tentakel nahm. »Sie werden uns doch hoffentlich nicht die Schuld für das zuschieben, was passiert ist, oder? Ich meine, wir haben doch gar nichts damit zu tun gehabt.« »Offensichtlich nicht.« Rail war ebenso nervös wie sein menschlicher Freund. »Aber wer weiß schon, wie die Isotat denken?« »Meinst du, daß die an Bord des großen Schiffes wissen, was hier passiert ist?« »Wenn sie telepathisch kommunizieren und sich te leportieren können, fällt es mir schwer zu glauben, daß sie nicht in ständigem Kontakt mit ihren Gefährten gewesen sind. Sie müssen gerade beschließen, was sie tun sollen, während wir noch darüber reden.« »Kapitän?« Eine neue Stimme, zögernd, aber entschieden. Ganun musterte seinen Navigator scharf. »Was ist los, Irana?« Der Navigator blickte nicht auf seine Instrumente, sondern hinüber zur Sichtscheibe. »Kapitän, das Isotat schiff – schauen Sie einmal!« 289
Ganun folgte der Aufforderung. Alle anderen taten es ihm gleich. An der Außenwand des Monsterfahrzeugs passierte et was. Teile seiner grauen Hülle entwickelten silbrige Bla sen. Dann stieß jemand einen Schrei aus und zeigte voller Panik auf die Gefechtszonenkugel. Von Osten drangen Gegenstände ein. Sie sahen aus wie eine Handvoll metallener Zahnstocher. Kerwin hatte ge rade acht Stück gezählt, als ein weiterer Blitz plötzlich die Zentrale erhellte. Diesmal fand es außerhalb des Schiffs statt, und die Kompensatoren der Panoramaschei be dämpften automatisch das grelle Aufleuchten, damit die Raumschiffinsassen nicht von dem gewaltigen Ener giestoß auf alle Zeiten geblendet wurden. Der überleben de Isotat drehte sich schnell herum, noch immer den Leichnam seines Gefährten haltend. An der gegenüberliegenden Seite des Isotatgefährts brach eine Art olympischer Vulkan aus und schleuderte eine Energiekugel von gut fünfzig Kilometern Durch messern ins All. Als er wieder auf die Gefechtszonenku gel blickte, sah Kerwin, wie mehrere ähnliche Lichtpunk te von den anderen fünf Isotatschiffen in Richtung der sich nähernden Zahnstocher abgeschossen wurden. Doch als sei dies nicht genug, ließ ihn ein Stöhnen hinter ihm sich umdrehen. Die unerschütterliche, nie aus der Ruhe zu bringende, desinteressierte Miranda saß neben einem Sessel. Sie war umgeben von halboffenen Paketen, ihr exotisches Kleid hing schlaff von ihrem zusammengesackten Leib herab, und sie weinte. »Ich will nach Hause! Ich… ich habe Aaaaangst! Ich will zu Mami!« »Wir wollen alle zu unseren Mamis«, teilte Kerwin ihr 290
sanft mit, »aber Mami ist am anderen Ende der Galaxis. Von hier aus können wir nicht einmal unsere Sonne se hen.« Da erschütterte etwas das Schiff, und alle griffen nach Halt, während das Deck zu hallen begann wie ein Gong. Die Lichter flackerten. »Das ist mir egal!« Sie erhob sich und stampfte zornig auf dem Deck auf. »Ich habe das alles satt! Ich habe das Einkaufen satt, ich habe es satt, mich mit euch beiden Schlappschwänzen abzugeben, und ich bin auch diese ganzen dämlich aussehenden Leute satt! Ich will, daß ihr alle abhaut!« Angesichts der Prozession von Unmöglichkeiten, denen sie in den vergangenen Tagen ausgesetzt gewesen waren, wäre Kerwin für einen kurzen Augenblick gar nicht über rascht gewesen, wenn plötzlich alles im Universum außer Miranda verschwunden wäre. Doch obwohl das Univer sum ganz eindeutig einen kosmischen Sinn für Humor hatte, war es anscheinend nicht bereit, bei einem solch allumspannenden Witz mitzumachen. Alle und alles blie ben intakt. »Hör mal, Zuckerschnute«, sagte Seeth in seinem übli chen, keinen Unfug duldenden Ton, »wir hocken alle mit dem Arsch in der Mangel, klar? Hier hat keiner Zeit, dich zu bemitleiden. Was war das noch für ein dämliches Ge dicht, mit dem du mich immer gefoltert hast, Kerwin? ›Klage am Olymp‹ oder irgendsoeine ähnliche Eselei? So sieht das hier gerade aus.« Das Schiff erzitterte. Ganun stellte seinen Drink beisei te und schrie: »Schadensüberprüfung!« »Alles nur geringfügige Schäden, Kapitän«, ertönte ei ne Meldung von der gegenüberliegenden Seite der Zen trale. »Sie feuern nicht auf uns.« »Das sehe ich selbst, du inkompetenter Trottel! Gute 291
Güte, wenn sie auf uns feuerten, dann würden wir jetzt nicht hier sitzen und über die Lage diskutieren. Aber auf wen feuern sie? Doch bestimmt nicht auf die Prufillier oder die Oomemianer.« »Nein, Kapitän. Wir haben nichtidentifizierte Fahrzeu ge im Quadranten 46. Die greifen die Isotatschiffe an, und die Isotat geben Gegenfeuer.« »Und wir stecken mitten in ihrer Formation fest. Köst lich!« Er nahm wieder einen tiefen Zug. Ungefähr zur gleichen Zeit meldete die Navigation, daß das Schiff sich bewegte. Das war hochinteressant, da der Antrieb blockiert worden war, als die Isotat sie umhüllt hatten. Ganun machte eine Bemerkung über dieses Phä nomen, ohne so etwas wie eine Antwort zu erwarten. Er bekam trotzdem eine. Alle hörten sie: »Ihr bewegt euch. Ihr reist innerhalb unseres Traktorfelds und habt daher denselben Kurs und dieselbe Geschwindigkeit wie wir.« Kerwin sah die Kugel mit ihren fahlen rosa Linien an, die die cremige Oberfläche wie ein Gitter umgaben. Die Stimme war, wie schon zuvor, in ihren Köpfen erschol len. Es war das erste Mal, daß die Isotat ihnen geantwor tet hatten. »Hört mal, meine Freunde und ich«, und er zeigte auf Seeth und Miranda, »wir gehören hier eigentlich nicht her. Wir sind nur so ein paar primitive Typen. Wir sind rein zufällig in diesen Konflikt hineingezogen worden, versteht ihr? Wir haben bisher noch nicht einmal Raum fahrt entwickelt. Wir waren nur ein paar Male auf unse rem Mond, und unsere kleinen chemischen Raketen ex plodieren immer noch ständig, und wir wissen wirklich nicht, worum es hier eigentlich geht. Wir wollen nichts damit zu tun haben. Wir wollen keinen Ärger. Wir wollen 292
einfach nur nach Hause.« »Eine verständliche, ehrliche, primitive Reaktion«, er widerte der Isotat. »Pech. Ihr besitzt nämlich das da.« Der Greifarm, der gerade nicht den gerösteten Isotat fest hielt, gestikulierte in Izmirs Richtung. Der Astarach hatte sich in eine vollkommen funktionstüchtige Couch ver wandelt, auf der zu sitzen sich allerdings niemand dräng te. »So wird eine erzwungene Beziehung zwischen Un gleichen bestehenbleiben, bis wir eine Möglichkeit ge funden haben, das da aus eurem Schiff auf unseres zu befördern. Erst dann werden wir euch in Frieden lassen.« Wieder erbebte das Schiff. Diesmal gingen die Lichter aus, bis schließlich die Notbeleuchtung aktiviert wurde. »Wer schießt denn da auf uns?« fragte Kerwin mit un sicherer Stimme. »Was ist da los?« »Die Sikan«, sagte der Isotat. »Anscheinend haben auch sie die Existenz dieses Dings entdeckt. Ihr nennt es beim Namen. Izmir. Interessant. Sie sind gekommen, um ihn zu holen. Das muß um jeden Preis verhindert werden. Ihr werdet feststellen, daß die Sikan nicht annähernd so mitfühlend sind wie die Isotat. Wir wünschen euren Izmir nur mitzunehmen, um ihn zu studieren. Die Sikan werden ihn nehmen und alles andere vernichten: uns, unsere Schiffe, euch, euer Schiff, jene der anderen kleinen orga nischen Lebensformen, die sich unklugerweise noch im mer in der Nähe aufhalten, während sie sich überlegen, was sie als nächstes tun sollen – alles. Das können sie tun, weil sie wissen, daß Izmir jede Schlacht überleben wird, so daß sie ihn untersuchen können, selbst wenn alles einschließlich dieses Schiffs hier vernichtet würde.« »Sie… sie werden doch wohl keinen Erfolg damit ha ben, oder?« stammelte Rail. 293
Die Antwort des Isotat verriet keinerlei Emotionen. »Im Augenblick verläuft die Schlacht ausgewogen. Sie sind zwar mit mehr Schiffen gekommen, dafür sind unse re etwas besser ausgerüstet.« »Ich möchte ja nicht impertinent erscheinen«, fuhr Rail fort, »aber wir haben zwar von den Isotat gehört, doch ich glaube nicht, jemals etwas von diesen Sikan gehört zu haben.« »Die Sikan sind Aliens. Echte Aliens. Sie sind für uns ebenso fremdartig wie wir für euch. Ihr habt noch nicht von ihnen gehört, weil sie aus einer Gegend stammen«, und plötzlich hatte Kerwin das Gefühl, daß der Isotat ihn anblickte, »die dein Volk als Magellansche Wolke be zeichnet. Sie müssen schon eine ganze Weile unterwegs sein. Sogar bei den beachtlichen Geschwindigkeiten, die ihre Schiffe erreichen, braucht es recht lange, um eine interga laktische Kluft zu überqueren. Wir haben bisher erst hun dert Jahre nach eurem Izmir gesucht. Sie müssen ihm schon seit Tausenden von Jahren nachspüren. Es ist ein deutig, daß sie nicht so weit gekommen sind, um schließ lich ohne das Objekt zurückkehren zu wollen, welches das Ziel ihrer Suche ist.« Ein Blick auf die Gefechtszonenkugel offenbarte, daß sowohl die oomemianische als auch die prufillianische Flotte klug genug gewesen war, das Gefechtsfeld zu ver lassen. Es war schon schlimm genug gewesen, als die Schiffe dieser beiden miteinander im Wettstreit stehen den Mächte erschienen waren, überlegte Kerwin er schöpft. Dann waren die legendären, allmächtigen Isotat gekommen, nicht etwa nur mit einem großen Schiff, son dern gleich mit einem halben Dutzend. Und nun kamen die Sikan, deren Schiffe fast ebenso beeindruckend wirk 294
ten wie jene der Isotat, und die die offensichtlich doch unmögliche Aufgabe bewältigt hatten, von einer Galaxis zur anderen zu gelangen. Da war es kaum überraschend, daß die oomemiani schen und prufillianischen Kommandanten sich zu einem schnellen Rückzug entschlossen hatten. Während die Isotat und die Sikan sich im freien Weltraum bekämpften, spien sie genug Zerstörungsenergie hervor, um ganze Planeten zu vernichten. Jedes bloße oomemianische oder purfillianische Schiff, das das Unglück haben sollte, ei nem Stoß der schier unvorstellbaren eingesetzten Waffen zu begegnen, würde verdampfen wie ein Eiswürfel, den man auf eine Form mit geschmolzenem Eisen gab. Of fensichtlich hatte nur der ausgedehnte Schutzschirm der Isotat Kapitän Ganuns Schiff vor einem ähnlichen Schicksal bewahrt. »Es tut uns leid, das mit deinen Kameraden.« Kerwin zeigte nickend auf den getöteten Isotat. »Irgend jemand mußte eine Sonde einführen. Instru mente allein geben uns nur sehr begrenzte Informatio nen.« Der Isotat schaukelte sanft in der Luft. »Wir haben zuerst versucht, Izmir aus eurem Schiff auf unseres zu transferieren. Das ist gescheitert. Ein solcher Transfer ist noch nie gescheitert. Dann sind wir persönlich herüber gekommen, um einen Transfer mit physischem Kontakt zu versuchen. Der ist ebenfalls gescheitert.« »Er kann sich in einem Transportschachtfeld frei bewe gen«, teilte Rail dem Wesen mit. »Er kann sogar nach Belieben das Schiff verlassen und wieder eintreten.« »Wir haben eine Ahnung davon, was er darstellt. Ich kann euch versichern, daß wir bereits Kräfte eingesetzt haben, die alles, dem er in eurer Gesellschaft ausgesetzt worden ist, um ein Mehrfaches übersteigen. Aber die 295
Größenordnung scheint keine Rolle zu spielen. Nichts kann ihm etwas anhaben. Du weißt von dem Impulsfeld, das er in unregelmäßigen Abständen erzeugt?« Rail nick te. »Die Sikan leider auch.« Was für ein Glück er doch wieder hatte, dachte Kerwin. Hätten die nicht noch hundert Jahre warten können? Oder hundert Jahre früher kommen können, bevor er geboren wurde? Nein, sie mußten unbedingt jetzt hier sein. Böse blitzte er seinen jüngeren Bruder an. »Das ist alles deine Schuld, verdammt.« Seeth knurrte zurück. »Meine Schuld? Was soll das heißen, meine Schuld?« »Wenn du mich in diesem dämlichen Bowlingzentrum in Ruhe gelassen hättest, wäre nichts davon passiert. Dann wären wir noch immer sicher in Albuquerque. Ich würde meine Zwischenprüfungen machen, du würdest fröhlich dein Leben verpfuschen, wir hätten mit alledem nichts zu tun. Wir wüßten nicht einmal das geringste von allem, was hier vor sich geht.« »Du weißt auch sonst nie, was vor sich geht, Dumpf backe.« Die Brüder tauschten so lange Verbalinjurien aus, bis sogar der Isotat auf sie aufmerksam wurde. »Wir haben die Entwicklung anderer, vernunftbegabter Rassen in der ganzen Galaxis überwacht, seit wir die Raumfahrt haben. Wir haben ganze Zivilisationen gese hen, die sich selbst vernichteten, bevor sie dazu fähig waren, ihren Heimatplaneten zu verlassen, und wir haben zugesehen, wie andere wiederum große Reiche erschu fen, nur um nach Tausenden von Jahren der Trägheit und der Unmoral unter ihrer eigenen degenerierten Last zu sammenzubrechen. Wir haben mitangesehen, wie neue Spezies darum kämpften, sich über ihre körperlichen oder 296
geistigen Beschränkungen zu erheben, um nach den Ster nen greifen zu können, haben gesehen, wie andere heran reiften, bis sie es fast wert gewesen wären, daß man sich mit ihnen wie mit seinesgleichen unterhielt. Manchen haben wir geholfen. Manche haben wir be hindert. Die meisten haben wir ignoriert. Aber in den Millionen von Jahren, in denen wir Isotat solche Entwicklungen schon beobachten, sind wir noch niemals einer Rasse begegnet, die in einer derart kurzen Zeitspan ne soviele Kriege unter sich hat austragen können, ohne sich dabei völlig auszurotten.« »Ich weiß«, stimmte Rail ihm bereitwillig zu. »Das ist auch ihr einziger Anspruch auf Einzigartigkeit. Nicht viel, um damit zu prahlen. Ich glaube nicht einmal, daß sie selbst sonderlich stolz darauf sind. All diese vergeudete Energie! Wenn sie doch nur lernen könnten, sie zu beherrschen, sie zu kanalisieren.« »Vielleicht werden sie das eines Tages tun«, meinte der Isotat. »Sofern es noch dazu kommen sollte. Ihr müßt nämlich erkennen, daß vom Erfolg unserer Studie das Schicksal vieler Welten abhängt.« »Können wir irgend etwas tun, um euch zu helfen?« fragte Ganun das Wesen. »Alle Waffen, die du und dein Volk ins Gefecht führen könnten, würden die Detektoren der Sikan kaum einmal kitzeln. Ihr könnt überhaupt nichts tun.« »Gar nicht wahr.« Ganun wedelte mit seiner seltsamen Flasche. »Ich kann mich ordentlich betrinken, bei aller guten Güte!« »Bewußtlosigkeit ist ein armseliger Schutz«, bemerkte der Isotat zerstreut. Er fuhr fort zu reden, fast so, als wür de ihm die Gesellschaft eindeutig unterlegener Kreaturen Vergnügen bereiten. 297
Als Kerwin und Seeth schließlich mit ihrer Streiterei aufgehört hatten, fiel dem älteren der beiden Brüder ein, daß der Isotat möglicherweise unfähig war, an Bord sei nes eigenen Schiffs zurückzukehren, weil die Schutzschirme und die Angriffswaffen soviel Energie benötig ten. Möglicherweise war er jetzt hier gestrandet. Viel leicht fühlte er sich sogar einsam. Er trat ein paar Schritte auf die schwebende Kugel zu. »Es tut mir wirklich leid, wie sich alles entwickelt hat. Ich schätze, wir sitzen wohl alle in einem Boot, wie? Wir, du, alle. Wir alle gegen die Sikan, richtig?« Da gab es einen Lichtblitz. Kerwin spürte einen Hitzestoß dicht an seinem Gesicht und stolperte zurück. »Falsch. Bilde dir nicht zuviel ein, du widerliche kleine Kohlenstoffverbindung!« Seeth fing Kerwin auf, bevor der zu Boden fiel, feixte ihn an. »Soviel zum Thema Kameradschaft zwischen verschiedenen Spezies, Junge.« »Ich dachte doch nur…« Kerwin war benommen, be täubt und emotional gehörig verletzt. »Ich dachte, da wir doch alle aus dem gleichen Grund gegen diese Eindring linge kämpfen…« »Wer sagt denn, daß es aus dem gleichen Grund ist?« Seeth half ihm, sich wieder aufzurichten. »Hast du etwa geglaubt, du könntest mit der großen Knolle da auf gleichberechtigter Basis reden? Du solltest es wirklich besser wissen, Mann. Nimm’s nicht so schwer. Solche Reaktionen erlebe ich auch immer, wenn ich mit Iggy und Slop durch die West-Valley-Einkaufsstraße gehe.« Der Isotat bot keine Entschuldigung an, und Kerwin dachte gewiß nicht daran, ihm eine abzuverlangen. Es könnte ja sein, daß er beim nächsten Mal etwas mehr abbekam als nur einen vorübergehenden Sonnenbrand. 298
Der Alien fuhr fort zu reden, als sei überhaupt nichts passiert, was in seinem Denksystem wahrscheinlich auch stimmte. »Was allerdings einen Unterschied machen könnte, das wäre die Fähigkeit, Izmir zu benutzen.« »Ihn zu benutzen?« Kerwin konnte den Sarkasmus in seiner Stimme nicht verbergen. Er war wütend, wie unge rechtfertigt das auch sein mochte. »Ihn wofür benutzen?« »Diese Frage ergibt sich aus sich selbst. Ein Kreispro blem. Ich werde über seine Implikationen nachdenken.« Es war entsetzlich, nichts zu tun. Ganun setzte sein Trinken fort, und einige ebenso fatalistische höhere Offi ziere leisteten ihm Gesellschaft. Die Schiffsgäste saßen abseits in einer Ecke beisammen. Der Isotat überlegte schweigend. Und immer wieder erzitterte das Schiff, wenn einer der planetenvernichtenden Energiestöße der Sikan hinreichend kräftig durch den Schutzschirm der Isotat sickerte, um sie daran zu erinnern, welch fürchter liche Schlacht gerade um diese winzige Nische der Exi stenz tobte. Izmir trieb an der Decke umher und ignorierte fröhlich die Sorgen gewöhnlicher denkender Lebewesen. »Ich frage mich etwas.« Seeth blickte zu dem unglück lichen Rail hinüber, der dürrer aussah denn je. »Izmir hört doch auf dich.« »Ich weiß nicht, ob er wirklich auf mich hört«, erwider te der Prufillier, »oder ob es ihm einfach nur gefällt, mei nen Anweisungen zu folgen.« »Na ja, was, wenn du ihm sagen würdest, er soll sich in eine Kanone verwandeln? Er hat doch schon Kanonen gesehen. Er kann sich in alles verwandeln. Vielleicht könnte er diesen Isotatburschen hier verschrecken und verjagen.« 299
Rail schüttelte den Kopf. »Die Isotat sind alles, was noch zwischen uns und diesen Sikan steht. Sie bekämp fen sie auch in unserem Interesse, vergiß das nicht.« »Ja, behaupten die! Alles, was wir von den Sikan wis sen, ist das, was uns dieser Isotat erzählt hat. Ich weiß ja nicht, wie ihr Burschen das normalerweise handhabt, aber ich glaube jedenfalls nicht immer alles, was mir jemand erzählt. Das ist nämlich eine prima Methode, um aufge schlitzt zu werden.« »Er hätte mich schon töten können, als ich versuchte, zu ihm hinüberzugehen. Ich meine, ich habe genug ge spürt, um das zu erkennen.« Kerwin spielte mit den Schuhriemen seiner Turnschuhe. »Man konnte die Kraft richtig spüren.« Miranda fuhr ihm mit den Fingern über die Wange. Seine Haut prickelte. »Hast eine hübsche Bräune.« »Immer noch besser als ein Sarg. Ihr habt doch gehört, was er gesagt hat. Du, ich, wir alle, wir bedeuten gar nichts. Er interessiert sich nur für Izmir. Trotzdem hat er es vermieden, mich zu töten. Davon abgesehen, hätte er bereits jeden an Bord töten können. Aber er hat es nicht getan. Deshalb glaube ich, daß die Isotat vielleicht wirk lich die Guten sind, auch wenn sie nicht besonders freundlich sein mögen.« »Vielleicht.« Seeth klang noch immer zweifelnd. »Aber nur, weil es ihnen nützt, freundlich zu sein. Ich traue ihnen immer noch nicht.« Das Schiff erbebte erneut, nur daß es diesmal sehr viel schlimmer war. Es war ein scharfes, zerrendes Rucken. Kurz bevor er das Bewußtsein verlor, meinte Kerwin den Isotat explodieren zu sehen wie eine riesige schwebende Qualle, aber er war sich nicht sicher. Vielleicht war es ja nur ein weiterer schützender Lichtstoß. 300
Das ist es also, dachte er und fühlte sich merkwürdig gelassen. Die Sikan haben die Schutzschirme der Isotat zerschmettert. Nun ist alles vorbei, zu Ende. Er stellte fest, daß er sich nicht vor der Dunkelheit fürchtete, und das machte ihn außerordentlich stolz.
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XII
ALS ER WIEDER ZU SICH KAM, lag sein Kopf auf Rails Bein. Das knochige Gestell gab kein sonderlich weiches Kissen ab, und er setzte sich schnell auf, zitternd. Er hatte ein Gefühl, als wäre ein gewaltiger elektrischer Stoß durch seinen Körper geschossen. Blinzelnd sah er, wie sich Seeth ganz in der Nähe aufsetzte und sich den Kopf rieb. Vor ihm war Miranda. In zwei Metern Entfernung schwebte eine Reihe unend lich verwobener Metallstreifen mit einem einzelnen blau en Auge in der Mitte. Kerwin stand auf, musterte ihre neue Umgebung. Sie waren allein in der Mitte eines großen, schmucklosen, hell erleuchteten Raums. Die Decke befand sich viele Stockwerke über ihnen. Immer noch zittrig, wollte er nach links gehen und wäre fast schon wieder von einem unsichtbaren Energiefeld umgeworfen worden. Schnell hatten er und Seeth sich davon überzeugt, daß das Käfig feld einen Durchmesser von fünf Metern hatte und hoch über ihre Köpfe hinausragte. »Wo sind wir?« Rail wirkte benommen. »Jedenfalls nicht in Kansas, Mann, das kann ich dir sa gen. He, paßt auf. Wir kriegen Gesellschaft.« Eine Tür öffnete sich – oder, genauer: Ein Loch er schien in der gegenüberliegenden Wand. Vier Dinger, die in erster Linie aussahen wie riesige, levitierende Tintenfi sche, kamen in den Raum geschwebt. Ihre Körper waren kurz und gedrungen. Anders als der Isotat, besaßen sie Augen. Diese waren groß, von feuriger, orangeroter Far 302
be, und besaßen winzige, tiefdunkelrote Pupillen. Die Körper waren blau und gelb gestreift. Anstelle von Ten takeln hatten sie vier krallenännliche Greifer in der Nähe des Kopfs, zwei über und zwei unter den zornigen Au gen. Das größte Wesen war an die zwölf Meter lang und mochte vielleicht zwanzig Tonnen wiegen. Daher war es nur natürlich, daß die Gefangenen bis an die Rückseite ihres Käfigs zurückwichen, als diese be eindruckenden Kreaturen näher kamen und zu ihnen her einblickten. »Sikan?« flüsterte Kerwin furchtsam. Ihm gefiel kein einziger Millimeter an ihren Wärtern. »Muß wohl«, erwiderte Seeth murmelnd. »Nichts ande res könnte so häßlich sein.« »Um Gottes willen, zügle deine Zunge! Vielleicht kön nen sie unsere Gedanken lesen.« »Na und? Wenn sie uns hätten umbringen wollen, hät ten sie uns nicht in einem Stück hierher befördert.« Herausfordernd blickte er das nächststehende Ungeheuer an. »Habe ich nicht recht, Mann?« »Richtig.« Der Sikan, der ihm geantwortet hatte, sprach nun mit seinen Gefährten. »Seht ihr? Trotz seiner kleinen Größe und seiner primitiven Struktur ist es mit rudimen tärer Vernunft begabt.« »Warum habt ihr uns dann nicht umgebracht? Warum bringt ihr uns nicht jetzt sofort um?« »Ssst!« Kerwin sah aus, als wäre er in Panik. »Bring es nicht noch auf dumme Ideen!« »Wir haben euch wegen der Aura, die euch umgibt, nicht beseitigt.« »Aura? Was für eine Aura?« Seeth blickte an sich hin unter. »Habe keine Aura an mir.« »Irgendwie verbindet sie euch miteinander«, fuhr der 303
Sikan fort. »Wir können sie nicht genau analysieren, deshalb haben wir uns dazu entschieden, vorläufig nicht in sie einzugreifen.« Rail richtete sich ein wenig auf. »Laßt mich raten. Iz mir!« »Ja, das Ziel unserer langen Reise. Irgendwie seid ihr mit ihm verbunden. Daher besteht die Möglichkeit, daß ihr einen gewissen Einfluß auf ihn habt. Wir vernichten nicht das, was wir nicht verstehen, das kann später kom men.« »Dann habt ihr die Isotat also vernichtend geschlagen?« fragte Rail zögernd. »Nein. Die Schlacht wird fortgesetzt. Die Isotat lassen nicht locker, aber mit Hilfe eines einzigen geschickten Manövers ist es uns gelungen, lange genug zu entschlüp fen, um euch hierher zu transferieren. Als sie das bemerk ten, haben sie wütend zurückgeschlagen. Wir haben zwei Schiffe der Großen Kreuzung verloren.« »Nun erwartet bloß nicht, daß wir auch noch um euch weinen«, sagte Seeth. »Die Isotat haben auch eins verloren. Das ist ein Kon flikt, der so lange toben wird, bis die eine oder andere Seite vollkommen besiegt ist. Wenn ihr noch irgendwel che Hoffnungen hegen solltet, euer nutzloses Leben zu retten, und wenn ihr irgendeinen Einfluß auf das habt, was ihr Izmir nennt, solltet ihr es euch ernsthaft überle gen, diesen zu nutzen. Wenn ihr auch nicht der Ausrot tung wert seid, wissen wir doch, daß für manche kleinere organische Lebewesen das Leben einen gewissen Wert besitzt, und sei es auch nur für sie selbst. Wenn ihr uns zeigen könnt, wie wir diesen Izmir auf irgendeine nützli che Weise beeinflussen können, würden wir es uns über legen, euch unversehrt auf einem Planeten auszusetzen, 304
auf dem ihr überleben könntet.« »Soll das ein Verspre chen sein, Euer Häßlichkeit?« fragte Seeth. »Betrachtet es als förmliches Angebot.« »Ich will nach Hause!« Miranda hatte zwar aufgehört zu weinen, war aber immer noch wütend. »Wir haben mit alledem nichts zu tun«, teilte Kerwin dem Wesen mit und versuchte es noch einmal. »Das habe ich schon den Isotat erzählt, und jetzt sage ich es euch. Ihr…« Seeth klatschte eine Handfläche auf den Mund seines Bruders. »Hört nicht auf ihn, Jungs. Er macht nur immer eine Menge blöder Mundgeräusche, aber sagen tut er eigentlich nichts. Er hört sich einfach nur gern reden.« »Ihr werdet Bedenkzeit bekommen.« Ein leises Beben erschütterte den Boden, und die Sikan schienen sich ein wenig enger zusammenzuscharen. »Die Isotat greifen mit großer Gewalt an. Ihr habt noch etwas Zeit, aber nicht sehr viel.« Mit diesen Worten drehten sie sich mitten in der Luft um, so elegant wie vier Kampfflugzeuge im Formations flug, und verschwanden wieder durch das Loch in der gegenüberliegenden Wand. Das schloß sich hinter ihnen so säuberlich, als hätte jemand es übermalt. Kerwin musterte die Decke und die Wände. Es gab zwar keine Anzeichen für ein Fenster oder eine Kamera, doch zweifelte er keinen Augenblick daran, daß sie unter ständiger Bewachung standen. Nicht, daß sie unbewacht irgend etwas hätten unternehmen können. Sie waren le diglich Treibgut, willkürlich an einen Strand ange schwemmt, nur um von der Ebbe wieder abgesaugt und gegen ihren Willen woanders erneut abgelegt zu werden. Sie hatten schon lange die Kontrolle über ihr Schicksal verloren. 305
»Sie lassen uns also am Leben, weil sie sich davon ver sprechen, daß wir irgendeine Gewalt über Izmir hätten.« Müde setzte er sich, »Wie Flöhe auf einem Hund.« »Komm schon, Bruder.« Seeth versuchte, ermutigend zu klingen. »Noch sind wir nicht tot, Mann. Jedenfalls glaube ich nicht, daß wir es sind.« Er runzelte die Stirn, als wäre er plötzlich mit einer ungemütlichen Möglich keit konfrontiert worden. »Nein, wir sind noch am Leben«, versicherte Rail ihm. »Solange wir leben, dürfen wir noch hoffen. Verzweif lung nützt niemandem.« »Du hast gut reden«, murmelte Kerwin. »Aber wenn ich in Verzweiflung versinken will, werde ich es jeden falls auch tun.« »Möglicherweise entwenden uns die Isotat wieder.« »Vielleicht, obwohl sie Izmir nicht von Ganuns Schiff schaffen konnten. Das haben die Sikan immerhin voll bracht.« »Ich frage mich etwas«, brummte Rail laut. »Könnte es sein, daß die Isotat daran gescheitert sind, Izmir an Bord ihres Schiffes zu befördern, weil sie versucht haben, nur ihn allein zu bewegen und uns nicht mitzunehmen? Viel leicht gibt es da doch irgendeine Form von Verbindung.« »Nun bleib mal realistisch.« Mit einem Nicken zeigte Kerwin auf Izmir, der gerade die Gestalt eines Haufens Kupferkristalle angenommen hatte. »Wir haben keinen Einfluß auf ihn. Den hat niemand. Der tut, was er will. Wir können überhaupt nichts unternehmen. Wie sollten wir ihn da beeinflussen?« »Vielleicht«, sagte Miranda und wischte den Rest einer letzten Träne fort, »vielleicht mag er uns.« Seeth ließ ein höhnisches Geheul los. »Na klar, sicher, ist gebongt! Das Ding mag uns! Wenn es da nicht dieses 306
gespenstische blaue Auge gäbe, würdest du doch nicht mal von einem ›Er‹ reden. Da gibt’s keine Gefühle. Scheiße, da ist überhaupt nichts drin! Nur Zeug.« »Woher willst du das wissen?« fauchte sie. »Ich hatte einmal einen Rennmäuserich. Sein Name war Snuffels. Die Leute haben auch nicht geglaubt, daß Snuffels Ge fühle hatte, hatte er aber. Snuffels hat mich geliebt, und ich habe ihn geliebt, und es spielte überhaupt keine Rolle, was irgend jemand anders darüber dachte.« Kerwin starrte sie einfach nur an, so daß es Seeth ob lag, zu antworten. Das tat er auch. »Honighüfte, Izmir kann seine Gestalt verändern und durch Wände gehen. Er kann mit Raumschiffen Ringel reihen spielen. Gerade eben ist ein Isotat bei ihm drauf gegangen. Zwei Banden, für die die Erde weniger wert ist als eine Zigarrenkippe in einem Aschenbecher, wollen ihn so dringend haben, daß sie sich seinetwegen Kämpfe bis zum letzten Blutstropfen oder so liefern, und dabei wissen sie noch nicht einmal, ob er zu irgendwas gut ist. Das ist wahrlich kein bloßer Rennmäuserich.« »Na ja, ich denke, ihr seid alle nur… ihr wißt schon, gemein.« Sie schritt zu Izmir hinüber, blieb stehen und blickte zu ihm empor. »Ich finde, ihr seid die ganze Zeit ganz gemein gewesen, weil ihr nicht an seine Gefühle gedacht habt, sofern er welche hat. Nicht nur die Isotat und die Sikan, auch die Prufillier und die Oomemianer und die Neandertaler und ihr beiden Burschen auch. Ich meine, niemand hat sich jemals gefragt, was er vielleicht gerne hätte.« »Izmir will nichts haben«, versuchte Rail ihr ruhig zu erklären. »Er reagiert nicht, es sei denn, wenn er mal der einen Anweisung gehorcht oder einer anderen. Er… ist einfach.« 307
»Klar, du bist ja auch so ein riesengroßer Experte, Grüngesicht Schlauhose.« Sie wandte sich ihnen zu. »Ihr glaubt alle, daß ihr so schlau wärt! Woher wollt ihr denn wissen, daß er keine Gefühle hat?« Izmir wurde zu einer gewundenen Kurve, die eine Seite spiegelhell, die andere tief schwarz. Wie die Stoßstange eines ‘57er Eldorado, dachte Seeth, bis auf das immer anwesende blaue Auge. Bevor irgend jemand sie aufhalten konnte, griff Miran da nach oben und ließ ihre Hand über die verspiegelte Oberfläche gleiten. Nichts passierte, als sie sie langsam streichelte. »Wie fühlt er sich an?« fragte Kerwin atemlos und war tete darauf, daß um sie herum die Luft in Flammen auf gehen würde. »Wie Metall, wie Plastik?« »Ich weiß nicht. Ein bißchen kitzelig.« »Herrje.« Seeth machte daraus ein Stöhnen der Enttäu schung. »Da versuche ich schon seit Tagen, sie dazu zu bringen, so zu empfinden, und was törnt sie dann an? Eine fliegende Bowlingkugel!« Angewidert sagte sie: »Dein Verstand suhlt sich doch ständig in der Gosse.« »Zusammen mit dem Rest von mir.« Seeth klang nicht sonderlich beleidigt. »Da halten ich und meine Freunde uns gerne auf. Da sind die Mieten niedrig, die Bullen plagen einen nicht so sehr, und niemand macht sich dar über Gedanken, ob man seine letzte Einkommensteuerer klärung abgegeben hat.« Miranda schlang nun beide Arme eng um die glühende, funkelnde Stoßstangengestalt. »Ich finde, er ist süß. Viel leicht ist er einfach nur einsam oder verunsichert. Selbst einzigartige Typen können unsicher sein. Da haben wir ihn durch die ganze Galaxis geschleppt, und niemand ist 308
auch nur auf den Gedanken gekommen, ihn zu fragen, was er will.« »Er will nicht kommunizieren, oder er kann es nicht«, versicherte Rail ihr. »Ich habe es versucht.« »Ach ja? Und was ist dann mit der ganzen Strahlung, die er von sich gibt, he, was ist damit?« »Ich weiß nicht sicher, was es ist, aber ich bezweifle, daß es eine Form der Kommunikation sein soll. Deswe gen war ich ja auch so begierig darauf, ihn mit zurück nach Prufillia zu nehmen, wo solche Phänomene richtig studiert werden können.« Er wirkte düster. »Und jetzt sieht es so aus, als würde ich meine geliebte Heimat nie mals wiedersehen.« »Die Sache sieht für keinen von uns sonderlich rosig aus«, stimmte Kerwin zu. »Wenigstens wissen wir jetzt, daß die Isotat die Wahrheit gesagt haben, als sie behaup teten, daß sie die Guten seien. Die haben uns auf jeden Fall besser behandelt als diese Sikan.« »Das kann man auf zweierlei Weise betrachten«, wand te Rail ein. »Man könnte sagen, daß die Isotat uns einfach nur ignoriert haben. Ignorieren tun die Sikan uns aller dings nicht.« Kerwin blickte zu der kahlen Wand hinüber, die sich zuvor geöffnet hatte, um ihre Wärter zu verschlingen. »Ich weiß ja nicht, aber nach allem, was ich bisher von den Sikan gesehen habe, glaube ich, daß ich mich sehr viel lieber ignorieren lasse.« »Natürlich hat doch keiner von euch diesen Mist ge glaubt, daß sie uns freilassen würden, wenn wir ihnen helfen, Izmir zu bekommen.« Kerwin wandte sich an seinen Bruder. »Warum sollten sie es nicht tun?« »Komm schon, Mann! Diese Burschen sind so mächtig, 309
denen müssen wir doch erscheinen wie Bakterien. Nie mand reißt sich den Arsch auf, um ein paar Bakterien glücklich zu machen. Wenn man damit fertig ist, sie zu studieren, beseitigt man sie einfach.« »Wenigstens scheint Izmir zufrieden zu sein«, bemerk te Rail, »sofern das ein Zeichen von Zufriedenheit sein sollte.« In Mirandas Umarmung war der Astarach zu einer Ket te aus kleinen, wirbelnden, miteinander verschlungen Schlaufen geworden. Locker wickelten sie sich um ihren Körper. Jede Schlaufe war von einer anderen fluoreszie renden Farbe: Rot, Orange, Grün, Gold, Silber. Sie trug ihn wie ein Kleid. »Bist du in Ordnung?« fragte Kerwin sie, besorgt, daß die Kette aus leuchtenden Schlaufen sich unerwartet zu sammenziehen könnte. Miranda wirkte nicht im geringsten bekümmert. »Mir geht es prima. Ist er nicht schön so?« Sie vollführte eine langsame Pirouette, führte das Izmirkleid vor, als wäre sie auf einer Mittagsmodenschau für Karrierefrauen. »Er wiegt überhaupt nichts. Tatsächlich glaube ich, daß er mich nirgendwo berührt, obwohl ich noch immer dieses prickelnde Gefühl habe.« Seeth stöhnte erneut auf. »Ich schätze, er muß mich wohl mögen«, fügte sie hin zu. »Oh, na klar«, grollte Kerwins jüngerer Bruder. »Schließlich projizierst du ihm ja auch nichts. Keine Feindseligkeit, keine Angst, keine Neugier, nichts. Viel leicht ist er neugierig auf die einzige Kreatur in seiner Nähe, die im Oberstübchen nichts hat als Luft. So eine Art unerforschtes Gebiet.« »Nun laß sie mal in Frieden, Musiker«, warnte ihn Ker 310
Kerwin. »Du ziehst hier auch nicht gerade eine tolle Nummer ab.« »Das tut wohl keiner von uns.« Kerwin wandte sich wieder Rail zu und deutete auf die gegenüberliegende Wand. »Was meinst du, wie lange sie uns noch geben?« »Keine Ahnung. Ich schätze, sehr viel hängt davon ab, wie die Schlacht sich entwickelt. Im Augenblick müssen sie voll damit beschäftigt sein, die Isotat zu besiegen. Ich wünschte, wir wüßten, welche Wendung der Konflikt gerade nimmt.« »Klar.« Nervös schritt Seeth auf und ab. »In diesem Loch kann man überhaupt nichts sehen.« »Unsere Aussichten sind gewiß alles andere als rosig«, erklärte der Prufillier. »Wenn die Sikan siegen, sind wir verloren. Wenn es sich abzeichnet, daß sie verlieren, werden sie versuchen, alles zu vernichten, damit es nicht in die Tentakel der Isotat gerät.« Ein leises Lächeln er schien auf seinem gepflegten Gesicht. »Ich wäre gern dabei, wenn sie versuchen, Izmir zu vernichten. Ich glau be nicht, daß man ihm mit gewöhnlichen Mitteln etwas anhaben kann.« »Da sei dir mal nicht so sicher«, meinte Seeth. »Diese Schnecken haben noch ein bißchen mehr auf Lager als ein paar Kleinkaliber und Wasserpistolen.« Izmir war immer dünner geworden, schmiegte sich en ger an Mirandas Gestalt an, während er gleichzeitig jeden richtigen Körperkontakt mied. »Er gibt ein hübsches Kleid ab«, bemerkte sie, an sich selbst herabblickend. »Ich meine, solche Farben findet man nicht einmal in allerbesten Stoffen. Es ist so, als würde man überhaupt nichts tragen, weil man ja auch nichts trägt.« »Genaugenommen«, bemerkte Seeth nachdenklich, 311
»trägst du Izmir auch gar nicht. Er trägt dich.« »Na ja, wie auch immer. Jedenfalls ist er sehr kühl und bequem.« »Ihr Menschen.« Rail schüttelte den Kopf. »Eines der Naturwunder des Universums, und sie sieht darin nur ein Stück Kleidung!« »Das ist nur konsequent«, warf Kerwin ein. »Sie sieht in allem nur Kleidung. Du glaubst also, was immer auch geschehen mag, wir müssen den Löffel abgeben?« »Mit Kulinarik hat das nichts zu tun, Freund Kerwin. Oh, ich glaube schon, daß die Isotat eine Möglichkeit finden können, um uns zurückzuholen, obwohl ihr Trans portsystem nicht so effizient zu sein scheint wie das der Sikan. Aber die Chance existiert, wenn auch nicht die Wahrscheinlichkeit. Immerhin stammen sie wenigstens aus unserer eigenen Galaxis. Die Sikan sind echte Au ßenseiter, in der extremsten Bedeutung des Wortes. Ich kann kaum glauben, daß eine Rasse Izmir derart interes sant finden könnte, um sich all die Mühe und den Zeit aufwand zu machen, von einer Galaxis zur anderen zu reisen, nur weil sie darauf hofft, ihn studieren zu dürfen.« Kerwin sah zu, wie Izmir sich träge um Miranda ver schob, dabei Farbe und Gestalt verändernd. »Vielleicht wissen die Sikan irgend etwas, was wir nicht wissen. Vielleicht besitzt Izmir Talente und Fähigkeiten, die er noch nicht offenbart hat.« »Ihr kennt nicht einmal die Hälfte der Geschichte«, sagte völlig unerwartet eine neue Stimme. Ebenso unerwartet wie die Anwesenheit einer kleinen, humanoiden Gestalt, die plötzlich in der gegenüberlie genden Ecke ihres Käfigs materialisiert war. Zu beiden Seiten des männlichen Wesens standen zwei Begleiter, keiner von ihnen größer als ein Meter. Sie wirkten kräf 312
tig, aber nicht gedrungen. Der eine trug einen grünen Dreiteiler, der zweite kurze Hosen und ein langärmeliges blaubraunes Hemd, der dritte einen scheußlich schreien den Karo-Anzug samt einer breiten Krawatte, die das Bild einer nackten Frau vor einem grellen, purpurnen Hintergrund zeigte. Über Kerwins Gesicht zog sich ein zufriedenes Grin sen. »Das ist prima. Es spielt nun gar keine Rolle mehr, was die Sikan tun werden, weil ich nämlich gerade den Verstand verloren habe.« »Dann haben wir das wohl alle getan«, sagte Rail zu ihm, »denn ich sehe sie auch.« Die drei kleinen Männer kamen auf sie zugeschritten und der mittlere streckte die Hand vor. »Gestattet mir, mich vorzustellen. Ich bin Brittle.« Da er nicht wußte, was er sonst tun sollte, schüttelte Kerwin die kleine Hand. Ihr Griff war fest, ohne ganz normal zu wirken. Als er die eigene Hand zurückzog, kitzelte ein sanftes Prickeln die Haut. »Sind sie nicht süß?« bemerkte Miranda, während Iz mir sich weiterhin um sie wand wie ein Barber-pole auf Urlaub. »Süß? Zum Teufel auch!« Seeth schnüffelte. »Was für ein Stoff! Wo hast du denn den Clownsanzug her, Mann?« Der Mann in dem Karo-Anzug, dessen Name Odenaw war, erwiderte: »Wir wollten so harmlos und vertraut wie möglich aussehen, um euch keinen Schrecken einzuja gen. Ihr habt schon zu viele Schrecken erleiden müssen.« Kerwins Augen verengten sich. »Woher wollt ihr wis sen, wieviel Schrecken wir durchgemacht haben?« »Oh, wir haben eure Lage von Anfang an beobachtet. Eigentlich haben wir gehofft, daß sich die Dinge beruhi 313
gen würden, damit wir uns euch auf andere Weise nähern könnten.« Der dritte kleine Mann sagte gar nichts. Er starrte un entwegt Miranda an. Nein, nicht Miranda, begriff Ker win, sondern die Art und Weise, wie Izmir sich um sie gehüllt hatte. »Alles ist ein bißchen außer Kontrolle geraten«, schloß Odenaw. »Das kannst du wohl laut sagen«, stimmte Kerwin zu. »Angefangen hat es mit zwei Oomemianern, die eine Bowlingkugel verhaften wollten. Und jetzt konkurrieren gleich zwei Galaxien um ihren Besitz.« »Oh, es geht um einiges mehr als das«, meinte Brittle. »Ihr habt ja gar keine Vorstellung, um wieviel mehr.« »Ich hätte nicht gedacht, daß es noch mehr geben könn te.« Kerwin begriff, daß er sagen konnte, was er wollte, denn er war offensichtlich völlig übergeschnappt. »Ihr wißt alles über die Sikan, stimmt’s?« »Ach ja, wir sind herumgekommen«, erwiderte Ode naw. Er zupfte am Revers seiner Karo-Jacke. »Keine große Sache. Kennt man eine Galaxis, kennt man alle. Also, massive Quasare dagegen – die lohnen nun wirk lich einen Abstecher, aber gewöhnliche Galaxien sind so verbreitet wie Wasserstoff. Sogar das Essen ist so ziem lich das gleiche.« »Wie seid ihr hierhergekommen? Ich meine, hier her ein, zu uns?« wollte Rail wissen. »Ich habe mich fast zu der Annahme entschieden, daß ihr wirklich seid und ich mir euch nicht einbilde, obwohl ihr auch ein Trick der Sikan sein könntet, um uns aus der Fassung zu bringen. Massenillusionen sind ja nicht unbekannt.« »Wir sind aber keine«, versicherte ihm Brittle. »Euer Verstand scheint recht gut durchzuhalten, wenn man 314
bedenkt, was ihr durchgemacht habt.« Etwas abseits unterhielt sich Miranda gerade mit dem dritten kleinen Mann. »Ja, er kann recht schmuck sein, wenn er will.« »Zumindest das von ihm, was du erkennen kannst.« Der Name des dritten kleinen Mannes lautete Riztivetha riamalian, aber er hörte auch auf Rizz. »Soll das heißen, daß es noch mehr von ihm gibt und daß wir es nicht sehen können?« Rizz nickte düster. »Wir sind Haleter«, sagte Brittle. »Wie Odenaw schon sagte, wir wissen uns umzutun.« Kerwin sah erst ihn an, dann warf er Rail einen Blick zu, der daraufhin den Kopf schüttelte. »Nie davon gehört«, gestand der Prufillier. »Na ja, darum geht es ja auch eigentlich«, meinte Britt le. »Ihr sollt auch gar nicht von uns hören. Anonymität wird bei uns großgeschrieben.« »Bei euch müssen wohl auch ein paar andere Sachen ziemlich großgeschrieben werden.« Seeth wies mit einer Geste auf die unsichtbaren Mauern ihres Gefängnisses. »Ich meine, ihr seid an Bord dieses Schiffes gelangt, das ja wahrscheinlich außerordentlich gut überwacht und verteidigt wird, und bisher ist noch niemand aufgetaucht, um euch zu überprüfen.« »Oh, ich glaube nicht, daß die Sikan schon wissen, daß wir hier sind, obwohl ihre internen Sensoren wahrschein lich irgendwann unsere Auras aufspüren werden, egal wie sehr wir versuchen mögen, unsere Ausstrahlung zu dämpfen.« Brittle sah an sich herab. »Selbstredend sind das nicht unsere natürlichen Gestalten. Es war etwas, das wir schnell zusammengestellt haben, um euch nicht zu beunruhigen.« Er musterte Rail. »War nicht abwertend 315
gemeint, Prufillier.« »Was ist denn ein Haleter?« fragte Kerwin. »Wir. Ich.« »Ich wette«, sagte Odenaw plötzlich, »daß ihr gerne von hier fort wollt.« Kerwin gaffte ihn an. »Ihr seid gar nicht wirklich hier. Ihr seid nur Ausgeburten meiner Einbildungskraft. Oo memianer, Prufillier, Isotat, Sikan, und jetzt ihr Burschen – das ist einfach zuviel. Mehr halte ich nicht aus. Wenn Gott hier auftauchte, damit käme ich ja vielleicht noch zurecht, aber nicht mit Tick, Trick und Track.« »Nein, nein.« Brittle musterte ihn mit gefurchter Stirn. »Ich bin Brittle, das ist Odenaw und der andere ist…« »Egal, vergiß es, Schwamm drüber«, stöhnte Kerwin und setzte sich aufs Deck, den Kopf zwischen die Hände pressend. »Ach so, ich verstehe.« Odenaw grinste. »Ich habe die Anspielung nachgeschlagen, und sie ist wirklich sehr amüsant. Aber unzutreffend. Ich muß euch daran erin nern, daß dies nicht unsere natürliche Gestalt ist.« »Was ist denn eure natürliche Gestalt?« Kerwin spähte zwischen seinen Fingern hervor. »Ich fürchte, die kann ich euch nicht zeigen«, sagte Odenaw feierlich. »Ihr wäret nicht dazu in der Lage, eine Beziehung dazu herzustellen.« »Ich wüßte nicht, warum nicht. Wir haben zu allem an deren schon eine Beziehung hergestellt, und einiges da von war schon reichlich komisch. Das einzige Ding, zu dem ich keine Beziehung herstellen kann, ist mein Bru der.« »Ganz meinerseits«, knurrte Seeth. »Das ist etwas anderes.« Brittle beugte sich vor und sag te in beiläufigem Tonfall zu Seeth: »Wie deine Musik.« 316
»Ach ja? Ohne Scheiß?« Seine Miene erhellte sich be achtlich. »Ohne Scheiß. Wie ich schon sagte, wir haben euch ei ne ganze Weile in der Hoffnung beobachtet, daß sich die Ereignisse um euch herum wieder beruhigen würden, tatsächlich scheint aber das genaue Gegenteil eingetreten zu sein. Wir könnten auch warten, bis die Schlacht been det ist, um Izmir einfach dem Sieger zu entreißen.« »So etwas könnt ihr?« murmelte Rail ehrfurchtsvoll. »O ja, aber das würde bedeuten, erst auf Tod und Ver nichtung warten zu müssen, und wir sehen es nicht gerne, wenn jemand unnötig stirbt, nicht einmal wenn es Mit glieder von solch unwichtigen und unreifen Arten sind wie euren. Deshalb haben wir uns entschieden, jetzt ein zugreifen, bevor alles noch schlimmer wird.« »Gibt es denn noch Schlimmeres als das hier?« fragte Kerwin. »Und außerdem«, warf Odenaw ein, »macht es auf eine primitive, schlichte Art Spaß, die Energiefelder der Sikan zu umgehen.« Rizz drehte sich um, um seinen Gefährten etwas zuzu flüstern. Schließlich löste die Konferenz sich wieder auf, und sie wandten sich erneut den Gefangenen zu. »Wir sind jetzt bereit«, informierte Brittle sie. »Ihr seid zwar nicht richtig dafür angezogen, wohin wir gehen, aber das sind wir auch nicht.« Er lachte über einen heim lichen Witz. »Werden die Sikan denn keinen Widerstand leisten?« wollte Kerwin von ihm wissen. »Ich meine, ihr könnt uns doch nicht einfach…« Seine Stimme verebbte. »… so mir nichts dir nichts wegholen.« Das Kriegsschiff der Sikan war verschwunden. Ebenso 317
ihr unsichtbares Gefängnis. Sie standen auf einer festen, haltbaren Oberfläche, die zudem ziemlich warm war. Sand rieselte zwischen seinen Füßen. Monolithe aus Sandstein erhoben sich im Norden in einen klaren blauen Himmel, ebenso im Osten, einen Dünenozean eingren zend. Der Sand unter ihm war weiß wie Zucker. Der ste chende Schmerz des Heimwehs durchzuckte ihn. Es war genau wie das White Sands National Monument, unweit südlich von Albuquerque. Der Doppelstern, der über ihren Köpfen schwebte, strafte diese Einbildung jedoch Lügen. Immer noch Izmir am Leibe tragend, breitete Miranda die Arme aus und tänzelte in einem kleinen Kreis umher. »Stellt euch das mal vor! Und dabei habe ich überhaupt kein Sonnenöl mit.« Seeth begann bereits leicht zu schwitzen. Er machte sich daran, den Reißverschluß seiner Lederjacke zu öff nen. »Ja, stellt euch vor. Eine Stunde später, und deine Ein geweide wären wahrscheinlich von fremdem Schlamm zerfressen worden. Da würde ich mir über Sonnenbrand keine Gedanken machen, Honighaut.« »Oh, das muß ich aber. Ich meine, weil ich doch so hellhäutig bin und so. Ich kann ja nicht einmal einen Ta gesausflug nach Galveston machen, ohne wenigstens irgendeinen Schutz zu verwenden.« Sie blickte zu Brittle hinüber. »Ihr Burschen habt wohl nicht zufällig etwas Sonnenöl dabei, oder?« »Es tut mir leid«, teilte Brittle ihr mit. »Wir sind nicht auf alle möglichen Unbequemlichkeiten vorbereitet.« »Wir sind alle da«, bemerkte Rail staunend. »Sogar Izmir. Den habt ihr auch mitgenommen.« »Es war nicht leicht, genaugenommen sogar sehr an 318
strengend. Ich mag gar nicht daran denken, was wohl geschehen wäre, wenn er sich etwas stärker widersetzt hätte, aber anscheinend hat er eine richtige Vorliebe für eure einzige Frau entwickelt. Das ist an sich schon sehr interessant. Wir hätten nicht gedacht, daß er auf der Ge fühlsebene zu einer derartigen Strahlung fähig ist. Doch andererseits geht es hier um so viel Energie, daß alles möglich sein kann. Emotion ist eine Form von Strahlung, von Energie. Wenn Superstränge sich zu verzerren be ginnen, wer kann dann schon sagen, zu welchen Ergeb nissen das führt?« »Na also, seht ihr?« meinte Miranda. »Ich habe es euch doch gesagt. Ich meine, wenn der diese ganzen Energie felder hat, die um ihn herumkreisen, warum dann nicht auch emotionale? Nur weil man Gefühle nicht aufspüren kann, muß das noch lange nicht heißen, daß sie nicht da sind.« »Wo sind wir?« Kerwin atmete schnell und heftig. Die Luft war dünner als gewöhnlich, doch abgesehen davon, daß er ein bißchen atmen mußte und ihm etwas warm war, fühlte er sich ziemlich gut. »Tatsächlich nicht sehr weit vom Ort des Konflikts ent fernt.« Brittle blickte gen Himmel, ohne seine Augen abzuschirmen. »Inzwischen werden die Sikan gemerkt haben, daß ihr fort seid, nicht wegen eures Fehlens, son dern wegen Izmirs. Sie werden beinah durchdrehen bei dem Versuch, ihn wieder zu orten.« Er kicherte. »Die werden sehr verwirrt sein, wenn es ihnen gelingen sollte, ihn tatsächlich wieder aufzuspüren. Das ist nicht unmög lich. Für eine derart primitive Rasse sind die Sikan doch ziemlich einfallsreich, und nicht einmal wir können Iz mirs erratisches Pulsieren vollständig nach außen ab schirmen.« 319
»Ich bin mir nicht sicher, daß mir das hier sonderlich gefällt.« Seeth warf jedem der kleinen Männer scharfe Blicke zu. »Ich meine, da taucht ihr Burschen auf und seht aus wie die Zirkusflüchtlinge, und dann holt ihr uns einfach so«, er schnappte mit beiden Fingern, »aus einem Energiekäfig und von einem fremden Raumschiff hierher, an einen Ort, der fast so aussieht wie unser Zuhause. Und das Ganze ohne Zauberformeln, ohne Knöpfe, ja nicht einmal mit einem Ferngespräch. Wie macht ihr das?« »Nun«, erwiderte Brittle leise, »es ist nicht sehr schwierig, wenn man weiß, was man tut. Auf eurem Pla neten habt ihr eine Kunstform entwickelt, das sich Ori gami nennt. Dabei geht es darum, Papier zu interessanten Formen zu falten. Wir Haleter praktizieren auch eine Art von Origami, nur daß wir anstelle des Papiers das Gewe be des Raums benutzen. Wir haben gewissermaßen alles so zusammengefaltet, bis der Punkt, an dem ihr euch befandet, auf den Punkt traf, wo wir euch hinhaben woll ten, und jetzt sind wir hier.« »Ohne Flachs? Das ist ja wahnsinnig, Mann!« »In gewissem Sinne ja.« Kerwin wählte seine Worte sehr sorgfältig. »Ihr habt die Sikan als primitiv bezeichnet.« Er genoß das Gefühl einer ech ten Brise, die sein Gesicht streichelte. »Habt ihr hier ir gendwo auch so ein Schiff?« »Wir geben uns nicht mit plumpen, mechanischen Kon struktionen ab«, informierte Odenaw ihn. »Solche Geräte haben wir schon vor Äonen aufgegeben. Sie sind unprak tisch, und ständig stolpert man über das Zeug. Machen mehr Ärger, als sie wert sind.« »Eigentlich finde ich, daß ihr für einen Haufen Zwerge ganz gute Arbeit geleistet habt. Ich schätze, ich sollte euch wohl dafür danken, daß ihr uns heimlich aus den Fängen der Sikan befreit habt, anstatt mißtrauisch zu 320
sein. Aber ich kann nichts dagegen tun, so bin ich eben.« »Wenn ihr so überaus mächtig seid«, fragte Rail, »war um hat man euch dann nicht schon früher bemerkt?« »Betrachtet doch mal euren eigenen Wissensschatz«, riet ihm Brittle. »Bis vor kurzem hatte noch keiner von euch jemals einen Isotat zu Gesicht bekommen. Von den Sikan wußtet ihr überhaupt nichts. Aber die Haleter gibt es schon eine ganze Weile. Es ist nur so, daß wir nicht sehr viele sind und verschiedene Gestalten annehmen und zahlreiche Gebiete abdecken.« Lächelnd sah er Kerwin an. »Übrigens ist das Universum endlich. Es ist nur ver dammt groß.« »Du meinst, ihr bewegt euch fort wie Izmir?« fragte Miranda ihn. »Nicht ganz wie Izmir. Ähnlich, ja, aber auf andere Art. Wir beobachten gerne, behalten die Dinge im Auge, ähn lich wie die Isotat diese Galaxis und ihre Bewohner im Auge behalten. Daher sind wir der Meinung, daß uns wohl die Aufgabe zukommt, Rassen wie die Isotat und die Sikan im Visier zu halten, um sicherzugehen, damit sie nicht zu groß für ihre hypothetischen Schuhe wer den.« »Seid ihr wie Gott?« gelang es Kerwin hervorzukeu chen. »Nein, nein!« Brittle furchte die Stirn. »Wir sind ein fach nur Leute, genau wie ihr. Nur, daß wir ein bißchen länger zur Schule gegangen sind, das ist alles.« »Wenn man schon so lange existiert wie wir, dann gibt es nur noch eins, gegen das man kämpfen muß.« Odenaw blickte zu Kerwin empor. »Das ist die Langeweile. Aber ab und zu, sagen wir einmal alle fünf bis zehn Millionen Jahre, passiert etwas, das wirklich interessant ist. So et 321
was zieht uns an.« »Wie Izmir?« Brittle nickte und wurde nachdenklich. »Wir reisen inkognito. Habe sogar einmal eure Erde besucht. Dort habe ich eine Weile als Baum verbracht. Eine sehr schöne Lebensform. Da hat man genug Zeit, um herumzustehen und nachzudenken. Wenn ich ein organisches Wesen sein müßte, ich glaube, ich würde gerne »Es ein warBaum Izmir,werden.« der uns hierher geführt hat«, fuhr Ode naw fort. »Genauso wie er die Aufmerksamkeit der Pru fillier und der Oomemianer und all der anderen erweckt hat. Er hat uns angezogen, weil er Nicht Langweilig war.« »Ich komme immer noch nicht ganz mit. Wollt ihr Bur schen etwa damit sagen, daß ihr Millionen von Jahren alt seid?« »Ist das nicht offensichtlich?« fragte Brittle. »Komisch, ihr seht keinen Tag älter als zweitausend aus«, scherzte Seeth. Brittle lächelte wieder. »Das ist es, was euch Menschen unter allen anderen primitiven organischen Rassen in diesem Teil des Raums herausragen läßt.« »Ich dachte, das wäre unsere ständige Kampfwut«, sag te Kerwin. »O nein, die ist leider gar nicht so selten. Aber ihr seid anders. Ihr besitzt die Fähigkeit, selbst vor eurer mögli chen Auslöschung euren festen Griff auf das Absurde nicht preiszugeben. Auf diesem kleinen, aber wichtigen Gebiet habt ihr tatsächlich technologisch viel höher ent wickelte Völker wie die Oomemianer weit überflügelt. Ihr seid instinktiv über etwas gestolpert, das man als Große Kosmische Albernheit bezeichnen könnte, was wiederum der erste Schritt auf dem Weg zur Universalen 322
Wahrheit ist. Wenn ihr es noch eine Million Jahre oder so aushaltet, ohne euch selbst wegzupusten, könnte aus euch wirklich noch etwas werden.« Er blickte an Kerwin vor bei, und sein Ton wurde düster. »Was den armen, verwirrten Izmir angeht, so versuchen wir schon seit ungefähr drei Millionen Jahre eurer Zeit rechnung, plusminus ein paar hunderttausend, ihn aufzu spüren. Er war immer sehr flüchtig.« Kerwin drehte sich um und musterte das Izmirkleid, das um Mirandas üppige Gestalt waberte. »Wollt ihr damit sagen, daß Izmir auch über drei Millionen Jahre alt ist?« »Oh, sehr viel älter sogar«, antwortete Odenaw begei stert. »Sehr viel älter als alle von uns. Er reicht bis zu den Anfängen zurück, aber nicht in dieser Form. Es hat eine Menge früher Entwicklungsstadien gegeben, Verände rungen, Wechsel der Feldstärke und der Haltung. Wenn er nicht wäre, was er jetzt ist, wäre er als solcher gar nicht zu erkennen.« »Hört mal, könntet ihr uns nicht einfach nach Hause bringen? Ich hätte gern eine Cola und einen Hamburger und möchte rausfinden, ob ich das Examen noch nachho len kann, das ich verpaßt habe. Ich möchte, daß das hier alles verschwindet. Ich möchte, daß ihr alle verschwin det.« Kerwin schloß fest die Augen. »Ich werde bis zehn zählen, dann seid ihr alle weg. Ein, zwei, drei…« Als er bis zehn gekommen war, öffnete er langsam wie der die Augen. Die Sonne strahlte noch immer heiß, die Luft war noch immer dünn. Odenaw und Brittle mu sterten ihn interessiert. »Seht ihr«, sagte Brittle, »ein echtes Verständnis für die Kosmische Albernheit!« »Gar keine Frage«, bemerkte Odenaw. »Echtes Poten tial.« 323
»Kosmisch ist er zwar nicht, aber albern war er schon, als er zehn war«, fügte Seeth hinzu. »Nimm dich zusammen«, riet Brittle dem älteren Bru der. »Mit dir ist alles in Ordnung. Du hast es bis jetzt ausgehalten, du wirst es noch ein bißchen länger aushal ten. Wir hoffen, in Kürze alles, was passiert ist, zu je dermanns Befriedigung zu lösen.« Scharf hob er den Blick gen Himmel. Kerwin tat es ihm gleich, konnte aber nichts erkennen. Nicht einmal eine Wolke. Dann sah der Haleter ihn wieder an. »Möchtest du nicht erfahren, was Izmir wirklich ist?« »Nein, möchte ich nicht.« Kerwin zögerte. »Du meinst, ihr wißt es? Ihr wißt es wirklich?« »Wirklich und wahrhaftig.« »Es hat eine Weile gebraucht, bis wir dahinterkamen«, warf Odenaw ein. »Wir hatten nicht viel Datenmaterial zur Verfügung, obwohl unter den Haletern die logische Ableitung schon seit geraumer Zeit das Niveau einer exakten Wissenschaft erreicht hat. Das ist auch eines der Dinge, die Izmir so interessant gemacht haben. Interes sant genug, daß drei von uns auszogen, ihn zu studieren. Ihr müßt nämlich wissen, daß drei die höchste Zahl von Haletern ist, die sich an einer Stelle auf derselben festen Oberfläche befinden können. Sonst bringen wir nämlich das Orbitale Equilibrium durcheinander.« Brittle blickte gerade auf das einzelne blaue Auge, das zwischen den Wirbeln hervorspähte, die Miranda nun in einem strahlenden, kreisenden Umhang umgaben. »Izmir ist die physische Manifestation, das einzige konkrete Beispiel von etwas, das eure eigenen Wissen schaftler eben erst zu überdenken beginnen. Ihr seid doch mit der universalen Materietheorie vertraut?« »Ich habe erst letzte Woche davon gelesen«, sagte 324
Seeth. »War das nicht im Rolling Stone, in der Ausgabe mit Dylan auf dem Titelblatt?« »Von welcher Materie reden wir hier?« fragte Kerwin zögernd. »Von der fehlenden.« »Ach, du meinst die dreißig oder vierzig Prozent, die mit herkömmlichen Messungen nicht erklärt werden kön nen?« Brittle lächelte ihn an. »Wovon redet der?« wollte Seeth wissen. »Wenn man alle Sonnen und Planeten und allen inter stellaren Wasserstoff und alles, was schätzbar ist, zu sammenaddiert, fehlen dem Universum noch immer drei ßig bis vierzig Prozent der Materie, die es nach allen anerkannten Theorien eigentlich geben müßte.« »Sehr gut.« Odenaw klang lobend. »Deine Prozentwer te sind ein bißchen hoch gesteckt, aber das liegt nur dar an, daß dein Volk noch keine hinreichend empfindlichen Instrumente besitzt, um vieles von dem nachzuweisen, was noch übrigbleibt. Tatsächlich fehlen nur ungefähr zwölf Prozent. Den ganzen Rest haben wir ziemlich ge nau nachweisen können.« Wieder blickte er zu Izmir. Kerwin drehte sich um, um mit den Augen seinem Blick zu folgen. »Du meinst damit, daß Izmir irgendwie den Schlüssel zur ganzen fehlenden Materie im Universum darstellt?« »Nein, nicht den Schlüssel, jedenfalls nicht in dem Sin ne, wie du das Wort gebrauchst«, berichtigte ihn Brittle. »Wir wissen jetzt, wo die fehlenden zwölf Prozent sind.« »Das ist richtig«, sagte Rizz, der die meiste Zeit damit verbracht hatte, Miranda und ihre einzigartige, wenn auch flüchtige Oberbekleidung anzustarren. Zwölf Prozent. Izmir. »Er ist es.« 325
XIII
KERWIN DACHTE SEHR, sehr sorgfältig über diese Mittei lung nach. Als er schließlich antwortete, geschah es mit außerordentlicher Vorsicht. »In den letzten paar Tagen habe ich sehr viel hingenommen. Prufillier und Oome mianer, die Isotat und die Sikan, Hunderte von anderen vernunftbegabten Rassen, eine Zivilisation in galakti schem Maßstab, intergalaktisches Reisen und vielleicht sogar euch Haleter, trotz eurer Kleidung. Nun will ich zugeben, daß Izmir ziemlich unverständ lich ist und einen Haufen erstaunlicher Dinge vollbringen kann, aber zu glauben, daß er zwölf Prozent der Gesamt materie des Universums darstellt, ist einfach zuviel ver langt. Das könnte ich nicht einmal glauben, wenn ich verrückt wäre.« »Du weißt doch, wie es heißt, Bruder«, bemerkte Seeth. »›Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, Ollie, als eure Schulweisheit sich träumen läßt.‹« »Prima, nur daß es Horatio war.« Seeth zuckte die Achseln. »Muß ich wohl eine andere Fassung gesehen haben.« »Klar. Die Cartoonfassung.« »Tut mir leid, Leute«, sagte Seeth zu den drei Haletern, »aber diesmal muß ich meinem Bruder beipflichten. Ich meine, ich bin ja nicht gerade der größte Schlaumeier der Welt, und vielleicht interessiere ich mich ein bißchen mehr für Kunst als für Naturwissenschaft, aber«, und er blickte Miranda an, die sich gerade in den Sand legte, während Izmir sie beschildete. Tatsächlich blickte er sie 326
solange an, daß er fast vergaß, was er hatte sagen wollen. »Izmir? Der ist auch nicht größer als wir anderen. Schön, ich sag es ja, ich bin kein Physiker, aber ich ha be doch den Eindruck, wenn wir zwölf oder zehn oder auch nur ein Prozent der Gesamtmasse des Universums nehmen und sie zusammenrollen und den ganzen Zwi schenraum zwischen Elektronen und Atomkernen und subatomaren Partikeln wegnehmen, würde immer noch etwas verdammt Großes übrigbleiben. Wie so eine Art riesiges schwarzes Loch, stimmt’s?« »Oh, sehr viel massiger als das«, versicherte ihm Ode naw. »Größer als eine ganze Galaxis, vorausgesetzt, die Naturgesetze würden eingehalten. Izmir jedoch handelt nicht nach den Naturgesetzen. Weshalb er auch Dinge vollbringen kann wie die willentliche Gestalt- und Positi onswandlung, und weshalb er allen möglichen kleinen Kraftfeldern widerstehen kann. Der einzige Grund, wes halb er überhaupt in dieser Form existiert, ist der, daß Bewußtsein eine Form der Energie ist, und Energie ist nur veränderte Materie, und irgendwie hat ein Teil der fehlenden zwölf Prozent, die in das Universum von dort eingeschleust wurden, wo sie sich gegenwärtig befinden, eine Art Bewußtsein angenommen.« »In das Universum eingeschleust?« Der Sinn des von den Haletern Gesagten war wie eine Möwe, die ganz schnell in der Ferne verschwand. »Eure Wissenschaftler mögen zwar primitiv sein, aber dumm sind sie nicht«, meinte Odenaw. »Ihre Prozent schätzungen sind zwar falsch, aber ihre Beobachtungs grundlagen sind richtig. Der Grund, weshalb ein beachtli cher Teil der Materie, aus der das Universum bestehen sollte, nicht aufzufinden ist, ist der, daß er nicht mehr in diesem Universum existiert. Manchmal gibt es für große 327
Probleme eben ganz einfache Lösungen.« »Was ist denn damit passiert?« fragte Seeth. »Hat ir gend jemand das Zeug geklaut?« Brittle lächelte nicht. »Irgendwann, sehr bald nach der eigentlichen Erschaffung des Universums, war die ur sprüngliche Ausdehnungskraft groß genug, um unsere fehlenden zwölf Prozent direkt in die siebte Dimension fortzuschieben.« »Hoppla, warte mal«, sagte Kerwin benommen. »Spre chen wir hier jetzt von multiplen Universen?« »Nein, von einem Universum von multiplen Dimensio nen. Es ist eigentlich sehr poetisch. Nun kommen wir Haleter zwar ziemlich viel herum, aber das Reisen zwi schen Dimensionen ist eine Form des Pendelverkehrs, die wir bisher noch nicht geschafft haben.« Brittle vertiefte sich in seine Erinnerungen. »Wie ich mich entsinne, hin gen wir gerade in jener Gegend herum, die ihr NGC 286 nennt, als jemand plötzlich eine merkwürdige Verschie bung im Raumzeitgefüge witterte. Seit einigen Millionen Jahren versuchen wir, sie aufzuspüren. Unsere Aufgabe wurde erheblich durch die Tatsache erschwert, daß die Verschiebung sich nicht immer ankündigt und sie sich ständig durch die Gegend fortbewegt.« Kerwin blickte nach links. »Izmir?« »Izmir«, meinte Brittle nickend. »Als wir sie schließ lich geortet hatten, richteten wir uns auf eine sehr langfri stige Untersuchung ein. Wir hatten ja keine Ahnung von dem Potential, mit dem wir es zu tun hatten, und wir wollten keine überstürzten Schritte unternehmen.« »Eine vernünftige Taktik, Mann«, meinte Seeth weise. »Wir haben es hier mit einem Eindringen aus der sieb ten Dimension zu tun, mit einem Riß im Raumzeitgefüge, der einer winzigen Portion jener fehlenden Materie die 328
Rückkehr in ihr Ursprungsuniversum ermöglicht hat. Angesichts der schieren Energiemengen, die damit zu sammenhingen, ist es eigentlich nicht weiter verwunder lich, daß sie ein rudimentäres Bewußtsein entwickelt hat. Was es übrigens auch so heikel für uns macht, mit ihm umzugehen. Es ist nämlich so: Sollte Izmir plötzlich wie der in seine normale Dimension zurückschnellen, würde sich die darauf folgende Reaktion innerhalb dieser Di mension als Freisetzung einer erheblichen Energiemenge manifestieren. Genug, um ein ganzes Gebiet, ja ein Ge biet von der Größe dessen zu zerstören, was euer Volk als nahe Galaxenhaufen bezeichnet.« »Ein galaktischer Rückstoß«, murmelte Kerwin. »Mehr oder weniger. Man kann keine Materie, die der Masse von mehreren Millionen Sonnen entspricht, auf einen kleinen Punkt konzentrieren und dann erwarten, daß dieser seine Umgebung nicht beeinflussen würde.« Kerwin blickte wieder zu Izmir hinüber, der harmloser aussah denn je, ebenso zu Miranda. »Und können wir überhaupt nichts tun? Ich habe mich irgendwie an diese Galaxis gewöhnt. Könnt ihr ihn nicht einfach wieder dahin zurückschieben, wo er hingehört?« »Man ›schiebt‹ nicht mal eben ›einfach‹ zwölf Prozent der existierenden Gesamtmasse umher«, erwiderte Ode naw. »Und abgesehen davon besitzen wir auch gar nichts, womit wir ihn schieben könnten.« »Was ich nicht verstehe, ist, warum er uns ständig folgt.« Brittle zuckte die Schultern. Ausschließlich, um ihnen zu gefallen, wie Kerwin vermutete. Er bezweifelte, daß Haleter normalerweise mit den Schultern zuckten, er wußte gar nicht, ob sie überhaupt irgend etwas zum Zuk ken hatten. 329
»Vielleicht mag er euch. An eurer Gegenwart muß et was sein, das er anziehend findet. Er mag dich, er mag deinen prufillianischen Freund Rail, und ganz gewiß mag er jene, die ihr Miranda nennt.« Die fragliche Dame rollte herum und blinzelte Men schen wie Aliens gleichermaßen an. »Ich möchte nur was sagen, ich meine, ich habe zugehört, und das kaufe ich euch überhaupt nicht ab. ›Zwölf Prozent der Gesamt masse des ganzen Universums‹, daß ich nicht lache! Mensch, der ist doch federleicht. Der wiegt überhaupt nichts.« Und sie ließ die Finger über Izmir fahren, wobei winzige Lichtblitze ihren Kuppen folgten. »Wir sollten eigentlich wirklich nicht hier herumstehen und so mit euch reden«, meinte Brittle müde. »Wir sind nur mitgekommen, um unsere Messungen durchzuführen und aufzuzeichnen. Aber die Isotat haben sich sehr unge schickt verhalten. Wir wollten uns eigentlich nicht einmi schen, da wir hofften, daß dieses Izmirphänomen sich irgendwann zurückziehen und den Riß im Raumzeitgefü ge wieder versiegeln würde. Vielleicht in eine andere Dimension. Sollen sie sich doch dort über ihn Sorgen machen. Dann würde alles wieder normal werden.« »Wie viele gibt es? Dimensionen, meine ich?« fragte Kerwin den Haleter. »Elf, wie wir glauben. Selbst eure Wissenschaftler haben das herausbekommen. Die meisten davon schienen ziem lich leer zu sein, aber möglicherweise haben wir einfach nicht die Mittel, um wahrzunehmen, was es dort gibt. Jedenfalls gelangten wir zu dem Schluß, daß die Dinge langsam außer Kontrolle gerieten und daß es Zeit sei, daß wir uns einschalteten, bevor solche tolpatschigen Typen wie die Isotat irgendwelchen echten Schaden anrichteten.« »Nun hört mir mal zu«, sagte Seeth gelassen, »ich ge 330
stehe euch ja zu, daß das eine raffinierte Nummer war, wie ihr uns aus diesem Sikanschiff geholt und hierherge bracht habt. Aber woher sollen wir wissen, daß dieses ganze Gerede über fehlende Materie und mehrfache Di mensionen nicht einfach nur ein Haufen Blödsinn ist? Ich meine, schaut euch Jungs doch mal an. Ihr seid wirklich nur ganz stinknormale Zwerge. Bei uns zu Hause würde sich auf der Straße niemand auch nur nach euch umdre hen.« »Wenn man groß und mächtig ist, ist es sehr leicht, auch groß und mächtig zu erscheinen«, erwiderte Brittle. »Dagegen klein und unwichtig zu erscheinen, das ist wirklich schwierig. Dazu braucht man eine Menge Ge dankenkraft und Energie.« »Ihr seid also wirklich groß und mächtig.« Kerwin schoß seinem Bruder einen warnenden Blick zu, den Seeth wie gewöhnlich ignorierte. »Wenn ich also zu euch rüberkäme, um euch eine zu knallen, dann würde ich in Wirklichkeit auf ein großes, mächtiges Ding eindre schen?« »Du würdest es gar nicht tun können. Nicht, daß es un sere tatsächlichen Körper überhaupt beeinflußte«, erklär te Brittle. »Wir könnten deine Hand einfach abbremsen, bevor der Kontakt hergestellt ist. Oder sie auflösen. Oder dich auflösen. Das wäre einfach. Schwierig wäre es da gegen, die tatsächliche Reaktion eines simplen Wesens, wie du eines bist, zu simulieren, komplett mit gebroche nen Knochen, Blut und Wunden.« »Ich verstehe. Ihr würdet wahrscheinlich sogar versu chen, euch vor Schmerzen am Boden zu wälzen, stimmt’s?« »Ganz genau«, erwiderte Brittle entzückt. »Das wäre eine echte Herausforderung.« 331
»Wie können wir dann sicher sein, daß ihr uns doch nicht nur irgendeinen Bären aufbinden wollt?« Brittle blickte nachdenklich drein. »Du könntest herü berkommen und es versuchen. Oder ich könnte uns Zeit ersparen, indem ich deinen rechten Arm sofort auflöse.« Seeth machte einen halben Schritt vor, dann blieb er zögernd stehen. »Mann, und ich dachte immer, ich hätte auf der Straße jede Menge Leute kennengelernt, die ei nem echt einen Bären hätten aufbinden können.« »Wenn ihr euch nicht einmischen wollt, warum habt ihr es dann getan? Doch bestimmt nicht unseretwegen«, warf Kerwin ein. »Ihr wärt überrascht. Intelligentes Leben ist uns heilig. Da draußen ist es ziemlich einsam, vor allem, wenn man zwischen Galaxien hin und her pendelt. Wenngleich wir Haleter unsere gegenseitige Gesellschaft genießen, gibt es doch nicht mehr sehr viele von uns. Deshalb sind wir immer erfreut, wenn wir auf eine neue vernunftbegabte Rasse treffen. Da gibt es immer die Möglichkeit einer späteren Beziehung, obwohl wir natürlich keine Freunde auf gleichberechtigter Basis sein können.« »Ich weiß nicht.« Etwas von dem Grünzeug, das Rails Hinterkopf bedeckte, begann langsam braun zu werden, und Kerwin fragte sich, ob die Sonne wohl zu heiß für ihn war. Vielleicht mußte er begossen werden. »Wir scheinen eigentlich ziemlich gut zurechtzukommen.« »Diese humanoide Gestalt aufrechtzuhalten, ist ziem lich anstrengend für uns. Wir tun es, weil wir die Heraus forderung genießen und weil uns nicht mehr viele Her ausforderungen geblieben sind. Unser wirkliches Selbst wäre für euch sehr viel schwerer zu verstehen.« Brittle zeigte an dem Prufillier vorbei. »Izmir ist eine weitere Herausforderung. Und zwar eine gefährliche.« »Wieso?« 332
fragte Kerwin beunruhigt. »Meinst du, daß bald noch mehr von ihm in unser Universum überwechseln wird?« »Oh, das würde uns nichts ausmachen«, erklärte Ode naw. »Dann fliehen wir einfach schnell an einen abgele generen Ort. Es wäre zwar vom ästhetischen Gesichts punkt unangenehm zugeben zu müssen, wie mehrere tausend Galaxien mit ihren Milliarden Sonnen und dazu gehörigen Sonnensystemen alle gewissermaßen in Rauch aufgingen, aber es würde uns nichts anhaben. Nein, die eigentliche Gefahr besteht in der Möglichkeit, daß es jemandem gelingen könnte, Izmir irgendwie zu beherr schen, indem er an sein rudimentäres Bewußtsein appel liert.« »Du meinst, wenn er selektiv eingesetzt werden könnte, bespielsweise als Waffe.« »Genau. Wenn das geschähe, hätten selbst wir keine si chere Zuflucht mehr. Wenn man soviel Materie zwischen der siebten Dimension und unserer hin und her bewegen kann, dann kann man so gut wie alles. Das wäre die ulti mate Waffe. Die absolute Macht. Nennt es, wie ihr wollt, aber nennt es auch Izmir. Die Situation ist labil und kom pliziert.« »Hört mal«, teilte Kerwin ihm ermüdet mit, »ich muß da noch ein Examen bestehen. Mehr will ich ja gar nicht. Ich interessiere mich nicht für absolute Macht und ulti mate Waffen und für Typen, die zwischen Galaxien hin und her flippen können und…« Er nahm abrupt wieder Platz und legte den Kopf zwischen die Hände. »Und ich glaube, meine Fähigkeit, all das zu verstehen, ist mittler weile reichlich überstrapaziert.« Rizz lehnte sich zu Odenaw hinüber. »Das habe ich be fürchtet. Die Ereignisse haben die Aufnahmefähigkeit ihres geringen Verstands überfordert. Jetzt beginnen sie 333
zusammenzubrechen.« »Ihr müßt versuchen, uns zu helfen«, teilte Brittle Ker win mit. Kerwin hob den Blick und legte die Stirn in Falten. »Wir? Euch helfen?« »Ja. Versteht ihr, Izmir reagiert auf euch. Auf alle vier von euch. Auf uns reagiert er nicht. Oh, wir haben es versucht, das könnt ihr uns glauben. Aber es gab keinerlei Reaktion. Warum dieses seltsame Wesen die Gesellschaft unterentwickelter Formen bevorzugt, wissen wir nicht, aber es ist eine Tatsache, mit der wir uns abfinden müs sen.« »Vielleicht sind wir ja doch nicht so viel tieferstehende Formen wie ihr denkt«, meinte Seeth kampflustig. »Klar doch«, bemerkte Kerwin sarkastisch. »Ich meine, da brauchen wir ja nur dich anzuschauen.« »Wenn ihr einzigartige Fähigkeiten besitzen solltet, so ist es uns jedenfalls nicht gelungen, sie zu entdecken.« Brittle zuckte wieder die Schultern. »Aber immerhin – in einem mehrdimensionalen Kosmos mit fehlender Materie ist alles möglich.« »Was können wir tun?« Kerwin sah zu Izmir und Mi randa zurück. »Wenn ihr ihn nicht dorthin zurückschie ben könnt, wo er hingehört, wie können wir da etwas ausrichten?« »Indem ihr ihn überzeugt, damit er sich freiwillig zu rückzieht. Das bedeutet, Kontakt zu ihm herzustellen. Eine Vorstellung, die den Geist fast in den Wahnsinn treiben würde.« »Ganz und gar nicht«, meinte Kerwin heftig. »Mein Geist ist nämlich schon längst in den Wahnsinn getrieben worden.« »Gib nicht so schnell auf.« Die drei Haleter konferier 334
ten miteinander. »Warum kommt ihr nicht mit in unsere heimische Umgebung, während ihr euch die Sache über legt? Sie wird euch möglicherweise recht bequem vor kommen, und für uns ist sie es ganz gewiß.« Kerwin musterte die Sanddünen und den leeren Him mel. »Heimische Umgebung? Wo denn?« »Ihr steht gerade darauf«, sagte Odenaw. »Wir könnten euch einfach hineinschieben, wie wir euch vom Fahrzeug der Sikan verschoben haben, aber wir haben uns sehr viel Mühe gegeben, um dieses Außendekor hier genau richtig hinzubekommen, und es wäre nett, wenn wir die künstle rische Konsistenz aufrechterhalten könnten. Wenn ihr uns folgen wollt?« Er machte kehrt und führte sie auf eine Höhle zu, die in den Fuß eines der aufragenden Sandsteinmonolithen gehauen worden war. Kerwin und die anderen folgten. Rail musterte die dunkle Öffnung, als sie eintraten. »Ich verstehe das nicht. Soll das bedeuten, daß all das hier nicht wirklich ist?« »Es ist sehr wirklich.« Odenaw klang ein wenig pikiert. »Mit künstlichen Dingen geben wir uns nicht ab. Das wäre zu einfach.« »Vielleicht sollten wir nächste Woche einmal Meere machen«, meinte Brittle nachdenklich. »Ich bin die Wü sten langsam leid.« »Na klar, warum nicht. Wir werden eine Abstimmung durchführen.« Kerwin beäugte mißtrauisch die Tunnelwände. Alles sah aus wie eine ganz normale Höhle. Trocken, kühl, dunkel. Dann war die Höhle plötzlich nicht mehr da. Ebenso wenig die Dunkelheit, wenngleich es noch immer kühl und trocken blieb. 335
Sie schwebten, trieben dahin wie gewichtslos, obwohl Kerwin nach wie vor ein normales Gewichtsempfinden hatte. Er bezweifelte, daß es irgend etwas mit Gravitation zu tun haben mochte. Sie befanden sich in einem endlo sen offenen Raum ohne erkennbare Grenzen. Er entdeck te, daß er sich durch Gehen fortbewegen konnte, obwohl es nichts gab, auf dem er hätte gehen können. Rail und Seeth schwebten in seiner Nähe. Ebenso Mi randa. Izmir hatte sich von ihr gelöst, um die Gestalt einer großen, silbernen Eiform anzunehmen. Möglicher weise lag es nur an Kerwins Unruhe, doch er meinte, daß das blaue Auge aktiver wirkte als gewöhnlich. Brittle bestätigte diese Annahme. Die Haleter kamen herbeigeschwebt. »Seht ihr, endlich haben wir bei ihm eine Reaktion auslösen können.« Lebhaft flüsterte er mit Rizz und Odenaw. In der Ferne meinte Kerwin, große, wolkenähnliche Formen auszumachen. Das Licht krümmte sich und lief durch sie hindurch. Sie vermittelten ein Gefühl immenser Größe und Festigkeit. Odenaw bemerkte seinen Blick. »Einige unserer Ver wandten, abgedämpft, um euch keine geistigen Traumata zu verursachen. Alle sind außerordentlich neugierig auf euch und Izmir. Es gelingt ihnen nur mit Mühe, sich zu beherrschen, genau wie uns.« »Es sind schließlich keine Götter«, murmelte Kerwin bei sich. »Es sind ja nur ganz einfache Leute wie du und ich.« »Du hast es erfaßt.« Brittle klang lobend. »Wir Haleter sind einfach nur Leute. Vielleicht ein bißchen größer, ein bißchen mächtiger, aber mit Gedanken und Gefühlen wie alle anderen. Manche Dinge verändern sich nicht, egal wie sehr man sich weiterentwickelt.« 336
Es gab so viele Fragen. Wie konnten sie alle in etwas existieren, das so aussah wie ein formloses, endloses Nichts, gefüllt mit leicht perlender Luft? Wie war er dazu in der Lage, zu gehen und zu sprechen und zu denken? Es war wohl besser, einfach zu akzeptieren, was er nicht verstehen konnte, sich damit so gut abzufinden, wie er konnte. »Richtig«, sagte Odenaw, als hätte Kerwin laut gespro chen. »Könnt ihr auch Gedanken lesen?« »Das ist nicht schwierig.« Der Haleter kratzte sich am Schopf. »Nichts als eine Sammlung raffiniert angeordne ter elektrischer Entladungen. Wenn wir doch nur dasselbe mit ihm tun könnten.« Er zeigte auf Izmir. »Glaube nicht, daß wir es nicht versucht hätten. Wenn dort drin irgend etwas Rationales vorgehen sollte, so bekommen wir je denfalls keinen Kontakt dazu.« Seeth vollführte gerade einen langsamen Purzelbaum. »Das ist also euer Schiff, wie? Innenarchitektur ist wohl nicht gerade eure Stärke.« »Es verändert sich von Zeit zu Zeit. Das ist hauptsäch lich zu eurem Vorteil«, informierte ihn Rizz. »Wir wollen euch nicht allzusehr überwältigen.« »Die Farben gefallen mir«, erklärte Miranda. »Richtig gedämpft. Hübsch.« »Danke«, erwiderte Brittle feierlich. »Ich bin über rascht, daß du noch genug Beherrschung hast, um deine Umgebung bewundern zu können.« »Sie ist anders als die anderen«, teilte Seeth ihm mit. »Ich meine, ihr Verstand, jedenfalls das, was sie davon hat, verläuft nicht in den gleichen Bahnen wie bei norma len Leuten.« »Das ist aber eine reichlich komische Aussage, ich mei 337
meine, ausgerechnet von dir, du Freak«, erwiderte sie kühl. »Eure Neigung zu persönlichen Streitereien ist uns be kannt«, sagte Brittle. »Bitte nicht jetzt. Im Augenblick gibt es wichtigere Probleme, die eurer Aufmerksamkeit bedürfen.« »He, vielleicht wären wir alle besser dran, wenn ihr Burschen euch einfach nur um euren Kram kümmern würdet, ich meine, so ist es doch.« Kerwin erstarrte, doch die Haleter reagierten nicht auf diesen Vorschlag oder auf die darin enthaltene Kritik. »Genau das haben wir auch vor, Miranda«, teilte Brittle ihr mit. »Und zwar sobald wir sicher sein können, daß Izmir weder für uns noch für euch noch für sonst jeman den eine Gefahr darstellt.« »Also ich finde, ihr seid einfach widerlich, wie ihr da ständig auf ihm rumhackt und ihn für Sachen verantwort lich macht, die gar nicht passiert sind, und so.« »Miranda, hast du denn nicht zugehört?« fragte Ker win. »Izmir ist keine Person, er ist ein Ding. Teil einer unvorstellbaren Masse.« »Person, Massenbestandteil – pah! Das sagen die doch bloß, weil sie ihn nicht rumschubsen können wie alle anderen.« Odenaw blickte Seeth an. »Möglicherweise hast du recht, Mensch. Ich glaube, ihr Verstand funktioniert tat sächlich anders als eurer. Vielleicht fühlt sich Izmir des halb zu ihr hingezogen.« »Na klar«, meinte Seeth. »Ist der Masse nicht jedes Vakuum zuwider?« Er vollführte einen weiteren trägen Purzelbaum. »Das ist also euer Schiff, wie? Wie groß ist diese Höhle überhaupt?« »Es ist keine Höhle«, erwiderte Odenaw. »Ihr wurdet 338
auf die behauene Außenhaut unseres Wohnraums gesetzt. Wir wollten euch nicht zu stark schockieren.« »Du meinst, euer Schiff befindet sich innerhalb dieses Planeten?« Odenaw und Rizz tauschten Blicke aus. »Wir wollen es noch einmal versuchen«, sagte Rizz geduldig. »Es gibt kein Schiff. Es gibt nur den Wohnraum, den wir im Au genblick alle bewohnen.« »Ach so, okay, kapiert, Mann. Du meinst, diese ganze Welt hier ist euer Schiff, richtig?« »Unser Wohnraum«, berichtigte ihn Rizz. »Der Begriff Schiff ist überholt, er würde die Verwendung physikali scher Instrumente implizieren. Solche klobigen, stinken den Dinger benutzen wir schon seit Jahrmillionen nicht mehr. Wir bewegen uns durch Denken fort, was eine sehr wirkungsvolle Antriebsmethode ist, sobald man erst ein mal gelernt hat, richtig zu denken.« »Und du meinst, daß wir das eines Tages vielleicht auch mal könnten?« fragte Kerwin begierig. »Ein solcher Gedanke ist noch verfrüht. Euer Volk hat nicht einmal das Stadium erreicht, da es einen Spiel zeugwohnraum durch ein Zimmer bewegen könnte.« Plötzlich wurden alle drei Aliens – er hatte beinahe auf gehört, Arthwit Rail noch als Alien zu betrachten – stumm und verhielten sich wie erstarrt. »Was ist los, was gibt es denn?« Brittle zuckte mit den Augen, dann blickte er zu ihm zurück. »Die Sikan. Sie bereiten den Angriff vor. Sie können uns zwar nichts anhaben, können sich selbst aber erheblichen Schaden zufügen. Sogar die Sikan haben das Recht, vor sich selbst geschützt zu werden. Wir diskutie ren gerade, wie wir mit diesem neuen Problem am besten zurechtkommen.« 339
»He, schaut euch mal Izmir an!« schrie Seeth. Der Astarach wurde größer, schwoll an, bis die Eiform ein Mehrfaches ihrer gewöhnlichen Größe erreicht hatte. Mit hoher Geschwindigkeit liefen Energieströme über die glatte Oberfläche. Am beunruhigendsten war aber, daß das blaue Auge wild in alle Richtungen umherschoß. »Irgend etwas stimmt nicht.« Brittle konzentrierte sich angestrengt auf etwas Unsichtbares. »Kommt er durch?« Seeth begann vor Izmir zurückzu weichen. »Vielleicht sollten wir lieber von hier ver schwinden.« »Wir können nirgendwo verschwinden«, sagte Odenaw ruhig. »Wenn irgend etwas passieren sollte, müßten wir schon zehn Milliarden Lichtjahre von hier entfernt sein, um noch in Sicherheit zu sein. Das übersteigt selbst unse re Fähigkeiten.« »Was tut er gerade?« fragte Kerwin. »Wir sind uns nicht sicher.« Da Brittle sich nicht von der Stelle bewegt hatte, sah Kerwin auch keinen Grund darin, einen Fluchtversuch zu starten. »Wir haben keine Ahnung, was hier geschieht.« »Also, ich schon.« Alle, einschließlich der Haleter, starrten Miranda an. Sie erwiderte den Blick, als wären alle taub, stumm und blind. »Ich meine, was ist denn mit euch allen los? Seht ihr denn nicht, daß er Angst hat? Er hat auch keinen Ort, wo er sich verstecken kann. Ich meine, bei diesem ganzen Herumgeziehe, da muß er ja unglücklich werden.« »Bist du dir dessen sicher?« fragte Odenaw sie. »Sicher, sicher! Was heißt das schon! Es ist nur, weißt du, irgendwie ein Gefühl.« »Was wird er tun?« Brittle war davon fasziniert, daß ein Wesen, das nicht sehr viel entwickelter war als eine 340
Amöbe, offensichtlich als Mitteilungskanal für etwas so Kompliziertes und so Unbegreifliches wie Izmir funktio nierte. »Na ja, ich weiß es ja nicht wirklich.« Sie lächelte zö gernd. »Ich habe nur irgendwie dieses komische Gefühl, daß er gleich niesen wird oder so was.« Da passierte etwas. Kerwin litt einen Augenblick lang an völliger Desorientierung, die noch viel schlimmer war als beim Transfer der Haleter von dem Sikanfahrzeug. Als es vorüber war, war alles wieder wie vorher. Nur daß Miranda Izmir wieder am Körper trug. Ein Umhang, ein Kleid, man konnte es nennen, wie man wollte, jedenfalls strahlte es unbeschreiblich. Ein Strömen von Farbe und Energie, das beinahe zu intensiv war, um es direkt anblicken zu können. Kerwin mußte blinzeln, und selbst die schwebenden Haleter schirmten sich die Augen ab. Miranda machte es nicht die geringsten Schwierigkei ten. »He, das könnte zu einem echten Trend werden. Ich meine, das ist doch absolut spitze! Nur daß es das nur einmal gibt.« »Das stimmt nicht ganz«, murmelte Odenaw. »Es gibt genug von Izmir, um ein paar Exemplare mehr als nur eines abzugeben.« »Was für ein Fummel!« Seeth blinzelte zwischen den Fingern hindurch zu ihr hinüber. »Mann, was wäre das für eine Clubbeleuchtung!« »Was ist passiert?« fragte Kerwin laut. »Er hat wieder seine Gestalt verändert, du trübe Fun zel«, erklärte ihm sein jüngerer Bruder. »Quatsch, Wichser. Ich meine vorher, als alles für eine Sekunde durchdrehte.« »Er hat sich bewegt.« Odenaw war näher herange 341
schwebt. »Ich würde es nicht niesen nennen. An der Re aktion war nichts Biologisches.« »Eher eine Art Rülpsen«, meinte Rizz. »Ein vorüberge hendes, inzwischen wieder berichtigtes Eindringen eines weiteren Stücks von Izmirs Selbst in unsere Dimension, mit dem Ergebnis, daß die Sonne, in deren Nähe wir vo rübergehend unseren Wohnort aufgeschlagen haben, sich in eine Nova verwandelt hat. Zum Glück war es ein Stern, der nicht von bewohnbaren Welten umkreist wur de.« »Es wäre äußerst unangenehm gewesen«, bemerkte Brittle unnötigerweise, »wenn dies noch auf eurem Planeten geschehen wäre.« »Unangenehm, na klar«, hauchte Kerwin. »Ich hoffe, daß das nicht der Anfang eines labilen Zy klus ist. Dann würde es nämlich zu zahllosen Katastro phen kommen. Sehr unangenehm. Tatsächlich könnte es an eurer beruhigenden Gegenwart liegen, daß dies noch nicht geschehen ist, vor allem jener des weiblichen Ex emplars, zu dem sich Izmir hingezogen fühlt.« »Wenn das ein Niesen war, Mann, dann möchte ich aber nicht in der Nähe sein, wenn der sich mal ordentlich erkältet.« »Wir können nur wenig tun«, verkündete Brittle klage voll. »Wir haben zwar gewaltige Möglichkeiten, aber selbst die haben ihre Grenzen. Wie einer eurer Philoso phen es einmal ausdrückte, können wir ganze Welten umherschieben wie Kekskrümel. Aber das hier ist etwas viel, viel Größeres. Hier sind auch wir überfordert.« Kerwin blickte nachdenklich drein. »Wißt ihr, als Arthwit sich uns vorgestellt hat, dachten wir, daß er und seine Prufillier übermächtig seien. Dann begannen wir uns zu fragen, ob das nicht möglicherweise eher auf die 342
Oomemianer zutrifft. Als nächstes tauchten die Isotat auf und danach die Sikan. Und jetzt redet ihr davon, Welten zu verschieben wie Kekskrümel, zwischen Galaxien hin und her zu pendeln und elf Dimensionen zu studieren. Ich habe mich nur gerade gefragt, was wohl die nächste Stufe der Leiter sein mag. Ich meine, die Prufillier haben die Oomemianer im Auge behalten und die Oomemianer alles in ihrer Nachbarschaft, die Isotat haben alles zu sammen beobachtet, und die Sikan wiederum sind rüber gekommen, um sie zu beobachten. Wer beobachtet denn dann euch? Gibt es noch andere über den Haletern, oder befindet ihr euch auf der obersten Sprosse der Intelligenzleiter?« »Das wissen wir nicht«, meinte Brittle und spreizte die Hände. »Wir haben zwar einen Verdacht, aber beweisen können wir nichts. Wenn es dort draußen irgend etwas oder irgend jemanden gibt, von dem wir mit scharfem Auge beobachtet werden, so ist dieses Wesen jedenfalls überlegen genug, um sich inkognito umherzubewegen. Aber wir vermuten tatsächlich, daß es noch etwas anderes gibt.« »Du meinst, so etwas wie eine Gottheit?« »He, ich kenne zu Hause eine ganz wilde Gottheit.« »Keine Mieze, Blödmann.« Kerwin schüttelte traurig den Kopf. »Das Schicksal ganzer Rassen, ja ganzer Gala xien steht hier auf dem Spiel, und du machst nur Witze!« »Das ist so ziemlich das Beste, was man tatsächlich tun kann«, erklärte Odenaw, »jedenfalls nach allem, was wir bisher feststellen konnten.« Plötzlich begannen in der prickelnden Atmosphäre Symbole zu erscheinen. »Ihr habt euer e = mc2. Die Prufillier und die Oome mianer haben ihre reine Katastrophentheorie. Die Isotat und die Sikan kennen die dimensionale Kausalität. Wir 343
sind ein bißchen darüber hinausgelangt. Unsere brillante sten und innovativsten Denker haben es im Laufe der Äonen geschafft, dies hier zu produzieren.« Kerwin musterte die aufgereihten, unentzifferbaren Symbole, die vor ihm leuchteten. »Was bedeutet das?« Brittle klang stolz. »Das ist ein eindeutiger mathemati scher Beweis dafür, daß alles, was auf der von uns aus gesehen nächsthöheren Intelligenzebene existiert, einen gewaltigen Sinn für Humor haben muß. Man könnte es die Amüsiergleichung nennen. Oder Ontologie für Lufti kusse. Der Beweis liegt im Gelächter. Schau dir einmal diesen Teil hier an…«, er fing an, einen Teil der Glei chung zu beschreiben, doch Kerwin schnitt ihm das Wort ab. »Ist egal. Tut mir leid, daß ich gefragt habe. Als näch stes wirst du mir noch erzählen, daß Situationskomödien der höchste Ausdruck zivilisatorischer Kunst sind.« »Das hängt von der Situation ab«, meinte Rizz völlig ernst, »und von der Komödie.« »Ich möchte nur wissen, wann wir nach Hause können und ob es überhaupt noch ein Zuhause geben wird, zu dem wir zurückkehren können.« »Alles hängt davon ab, ob wir irgend etwas mit Izmir und dem, wofür er steht, anfangen können«, erwiderte Brittle. Er beobachtete den Astarach, wie dieser Miranda umwirbelte. »Es ist unwahrscheinlich, daß er auf alle Zeiten damit zufrieden sein wird, als Kleidungsstück zu dienen. Der nächste kosmische Rülpser könnte umfang reicher und sehr viel heftiger werden.« Er hob die Stim me, während er Miranda ansprach: »Kannst du irgend etwas spüren, Frau?« »Ungewißheit«, erwiderte Miranda, ohne zu zögern. »Verwirrung, Erstaunen, Desorientiertheit.« 344
Odenaw nickte. »Verständlich. Zweifellos hat er keine Vorstellung davon, was er ist oder wie er in diese Dimen sion gekommen sein mag. Es muß schnell etwas unter nommen werden, bevor diese Gefühle sich wieder phy sisch manifestieren.« Rizz schwebte Miranda entgegen und achtete dabei darauf, ihr nicht zu nahe zu kommen, wie Kerwin be merkte. »Er scheint in deiner Gegenwart zufrieden zu sein. Vielleicht könntest du ihn davon überzeugen, daß er sich wieder in die siebte Dimension zurückziehen soll? Möglicherweise hat das nur noch niemand versucht, weil niemand darauf gekommen ist. Möglicherweise könnten wir den Schaden im Raumzeitgefüge wieder beheben, wenn du mit ihm gingest.« »Ich? Mit Izmir gehen?« Sie zögerte und musterte Rizz dabei mißtrauisch. »Ich wette, in der siebten Dimension kann man nicht einkaufen, nicht wahr?« »Das weiß niemand so genau«, meinte Odenaw aus weichend. »Tut mir leid. Ich meine, Izmir ist zwar süß und so, aber er ist nicht gerade das, was ich einen lebhaften Ren dezvouspartner nennen würde. Er sagt überhaupt nichts, gibt immer nur undeutliche Schwingungen von sich. Ich glaube nicht, ich meine, daß es mir in der siebten Dimen sion gefallen würde. Manchmal fühle ich mich in dieser hier zwar auch nicht so richtig wohl, aber auf radikale Veränderungen bin ich eigentlich auch nicht eingestellt.« »Du könntest damit das ganze bekannte Universum ret ten«, sagte Rizz. »He, das ist aber nicht mein Job! Ich meine, vielleicht wäre eine Stippvisite in der siebten Dimension ja ganz nett und so, aber ich glaube nicht, daß ich dort leben wollte.« Während sie sprach, begann das strahlende 345
Tuch, das Izmir war, heller zu leuchten denn je. »Es ist zwar verrückt«, brummte Kerwin, während er zusah, »aber da gibt es irgendeine Form von Verbin dung.« »Warum soll das verrückt sein?« wollte Seeth wissen. »Du fühlst dich von ihr angezogen, ich fühle mich von ihr angezogen, warum nicht alles andere auch?« »Und außerdem«, sagte sie gerade, »ist mein Verabre dungskalender für die nächsten Monate irgendwie voll. Ich kann doch nicht all diese Jungs im Stich lassen. Mein Papi hat mir immer beigebracht, wenn man etwas ver spricht, dann soll man es auch halten, egal was passiert. So ist das eben bei uns Texanern.« »Miranda«, teilte Kerwin ihr mit, »möglicherweise exi stiert deine Familie in Kürze nicht mehr. Vielleicht exi stiert Texas nicht mehr. Das ganze Universum könnte möglicherweise zermalmt und von Izmir aufgesaugt wer den.« »Ach, Gewäsch! So etwas würde Izmir nie tun. Der will niemandem weh tun. Er ist nur verwirrt, das arme Ding.« Als Nachgedanken fügte sie hinzu: »Und Texas wird immer existieren.« »Meinst du, daß du möglicherweise mit ihm reden könntest? Darüber, daß er in seine eigene Dimension zurückkehrt? Sag ihm doch, daß diese hier sowieso ziem lich mies ist, richtig schlampig, voller Schwarzer Löcher und Quasaren und allem möglichen unangenehmen Zeug.« »Ja«, meinte Seeth. »Sag ihm, wenn er noch mal zu rückkommen und ein bißchen rocken will, dann könnten wir die Sache vielleicht irgendwie hinbiegen, aber daß er im Augenblick allen Leuten sozusagen den Raum stiehlt.« 346
Miranda blickte zweifelnd drein. »Ich will es versu chen, aber ich kann nichts versprechen.« Sie blickte an sich herab. »Seid ihr sicher, daß ich nicht wenigstens ein kleines Stückchen für eine Bluse behalten könnte?« »NEIN!!!« sagten Kerwin, Seeth, Arthwit Rail und die drei Haleter gleichzeitig. »Also wirklich, ihr Männer! Ihr seid immer so humor los.« Schweigen setzte ein. Die fernen Gewitterwolken nä herten sich den schwebenden Figuren, ließen die Men schen im Vergleich winzig erscheinen. Die gewaltigen, allwissenden Gestalten kamen näher. Kerwin hätte einge schüchtert reagiert, wäre er nicht so müde gewesen. Die Nähe von soviel reinem Intellekt war wie etwas Physi sches, ein Gewicht, das schwer auf ihm lastete. Seeth wirkte nicht so beschwert, vielleicht weil auf ihm auch nicht soviel lasten konnte. Plötzlich begann Mirandas Haut zu leuchten, als ein blendendes Strahlen sie durchströmte. Kerwin dachte, daß er ihren Namen gerufen hätte, aber er war sich nicht sicher. Alles geschah so schnell, viel schneller als irgend jemand für möglich gehalten hätte. Izmir löste sich von der ruhigen Miranda, wobei er iso lierte, indifferente Energiestöße von sich gab, von denen jeder mächtig genug gewesen wäre, um ein Raumschiff durch den Gleitraum zu befördern. Die Haleter waren so aufmerksam, Schutzschirme zu errichten, damit ihre Gä ste nicht verkohlt wurden. Miranda blieb davon unbe rührt. Aus dem inzwischen kugelförmigen Izmir strömte weiterhin das Licht. Es durchflutete das gewaltige Innere des Haleterwohnraums, zwang die Gewitterwolkengestal ten dazu, zurückzuweichen. Ein tiefes Summen erfüllte Kerwins Schädel, doch drang es nicht durch seine Ohren 347
ein, sondern entstand unmittelbar in seinem Kopfinnern. Ganz weit entfernt sagte Miranda: »Ach du lieber Gott, ich glaube, er wird jetzt gleich irgendwie wieder niesen oder so, wißt ihr?« Irgendwie. Völlige Desorientiertheit, Hitze- und Lichtstöße. Alles verblaßte ebensoschnell, wie es gekommen war. Dann schwebten sie wieder geräuschlos dahin. Die Wolken verzogen sich in die Ferne, sanfte, melodische Klänge erfüllten die leere Luft zwischen ihnen. »Nun«, verkündete Brittle in das Schweigen hinein, »das war aber wirklich etwas!« »Allerdings«, pflichtete Odenaw ihm bei. »Wir haben uns gerade noch rechtzeitig davonbewegt.« Kerwin vollführte einen langsamen Purzelbaum. Mi randa trug keinen leuchtenden Umhang mehr. Keine schwebende Pyramide, keine verbogene Trapezgestalt, nichts hing mehr an ihr, kein Wasserfall aus Farben oder kalten Flammen. Izmir war verschwunden. Die Haleter bestätigten es. Miranda versuchte, ein Schluchzen zu unterdrücken. »Er hat es für uns getan, wißt ihr. Für uns alle. Nicht nur für mich. Das war das letzte Gefühl, das ich von ihm empfing. Es war für ihn auch nicht einfach, aber er hat einen Weg gefunden, um es zu tun. Um dorthin zurück zukehren, woher er kam. Wißt ihr, warum er überhaupt hier hineingekommen ist? Weil er einsam war. Er wollte einfach nur ein bißchen Gesellschaft haben, weil er nicht wußte, was er mit sich allein anfangen sollte. Ich meine, wenn ihr zwölf Prozent der Gesamtmasse des Univer sums wärt und drüben in irgendeiner fremden Dimension festhängen würdet, würdet ihr euch dann nicht auch fra gen, wie es wohl dort ist, wo ihr hergekommen seid?« 348
»Heavy«, murmelte Seeth und nickte zustimmend. »Als ich mit ihm darüber sprach, entschied er schließ lich, daß er irgendwie wohl nicht mehr auf derselben Wellenlänge liegt wie diese Dimension. Das ist wie man che Leute, die lieber Nikes als Karhu tragen, wißt ihr?« »Wovon redet sie da?« wollte Brittle wissen. »Von Schuhwerk«, erklärte Kerwin. Nun waren die Haleter an der Reihe, verwirrt dreinzu sehen. Miranda fuhr fort. »Ich habe versucht, ihn davon zu überzeugen, daß er, wenn er bliebe und ständig nieste oder rülpste oder was immer er da tat, daß er dann sehr viel Schaden anrichten und einer Menge unschuldiger Wesen Schmerzen zufügen würde. Da ist es ihm gelun gen, sich wieder durch die Ritze zu quetschen und sie hinter sich zu versiegeln.« »Das hast du gut gemacht«, sagte Rizz feierlich. »Das ganze Universum ist dir mehr schuldig, als es jemals zurückzahlen kann.« Sie zuckte die Schultern. »He, ich meine, war doch nicht sonderlich schwierig, nicht wahr?« »Wo sind wir?« fragte Kerwin. »Es hat sich angefühlt, als hätten wir uns wieder bewegt.« »Wir haben eine beachtliche Entfernung übersprungen, als Izmir in seine eigentliche Dimension zurückgekehrt ist, weil wir mögliche Nebenwirkungen befürchteten«, erklärte Brittle. »Wir befinden uns jetzt in einem Raum sektor, den deine Leute… tatsächlich glaube ich, daß sie gar keinen Namen dafür haben. Wir haben ein paar neue Quasare zurückgelassen, die eure Astronomen vor gewal tige Rätsel stellen werden, wenn sie sie entdecken. Sie haben nämlich keine normale Rotverschiebung. Ihr könnt ihnen mitteilen, daß sie das Ergebnis von Izmirs Heimrei 349
se sind. Es gibt auch eine einzigartige Supermasse, deren Antriebsprinzip sie nicht werden erklären können. So etwas entsteht eben, wenn man die Raumzeitflüge ein renkt.« »Na klar, wir werden ihnen alles erzählen«, sagte Seeth ungeduldig. »Soll das heißen, daß wir jetzt nach Hause kommen?« »Der arme Izmir«, sagte Miranda gerade. »Er war so einsam. Aber ich glaube, er hat es verstanden.« »Das muß er wohl«, meinte Odenaw, »sonst wäre er nicht gegangen. Vielleicht kann er ja sein Bewußtsein hereinprojizieren, ohne daß seine Masse erst eindringen muß. Eine Art Mentalbesuch.« »O nein«, teilte sie dem Haleter mit. »Das kann er nicht, weil er gar nicht mehr existiert.« Alle gafften sie an. »Ich meine, die Konsequenzen müssen doch jedem offensichtlich sein. Als er zurück in die siebte Dimension geschnappt ist, da hat er sich gewis sermaßen zusammengefaltet. Die ganze Masse hat sich einfach überladen. Irgendwie war da nämlich eine Rie senexplosion. Ich glaube, so was nennt man einen Ur knall. Jedenfalls ist die siebte Dimension nicht mehr leer. Sie ist voller Izmir.« Sie blickte nachdenklich drein. »Meint ihr, daß diese Dimension vielleicht auch irgend wann mal leer war, bis auf etwas wie Izmir, das sich ge langweilt hat, ständig allein zu sein, und das dann be schloß, sich zusammenzufalten, zusammenzustürzen und alles andere explosionsartig Gestalt annehmen zu las sen?« »Kann man nicht sagen«, meinte Rizz ruhig. »Ich glau be nicht, daß irgend jemand bisher ernsthaft eine Theorie aufgestellt hat, die besagt, daß das Universum aus selbstmörderischer Langeweile entstanden sei.« 350
»Warum nicht, Mann?« fragte sie. »Warum sollte Masse nicht ebenso einen Psychiater brauchen wie alle anderen auch? Ich meine, die ganze Existenz ist doch sowieso völlig plemplem.« »Da gibt es vieles, worüber wir nachdenken müssen«, meinte Brittle. »Im Augenblick bleibt da die geringere Frage, wie wir euch am besten nach Hause bekommen. Das können wir nicht selbst tun. Selbst unsere abge schirmte Anwesenheit würde sich auf den Spürgeräten eures Volks als ein bißchen zu kräftig wahrnehmbar ma chen. Aber wir können euch auf das Raumschiff zurück bringen, mit dem ihr zuletzt gereist seid.« »Ganun wird es zwar nicht verstehen, aber er wird schon mitmachen«, sagte Rail. Er lächelte seine mensch lichen Freunde an, alle drei Augen zwinkerten simultan. »Ich bin sicher, daß er euch ohne großes Aufsehen nach Hause bringen kann.« »Was ist denn mit den Isotat und den Sikan?« wunderte sich Kerwin. »Beide werden weiterhin die Region absuchen, die wir so eilig verlassen haben. Wenn sie dort nichts als undis ziplinierte, rohe Energie vorfinden, werden die Isotat ihre Reise fortsetzen. Da ihre Chance, eine ultimate Waffe zu ergattern, zunichte gemacht wurde, werden die Sikan sich wieder auf die lange Reise zurück in ihre Heimatgalaxis begeben. Es hat keinen Sinn, einen Konflikt weiterzuver folgen, wenn sich die Ursache dafür in Nichts auflöst. So etwas tut nur ihr Menschen.«
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XIV
GANUN UND DER REST seiner Besatzung waren viel zu schockiert vom plötzlichen Wiedererscheinen ihrer ver schwundenen Gäste in ihrer Mitte, um noch Einwände gegen die phantastische Erzählung vorzubringen, die sie ihnen auftischten. Es gab sehr viel Geflüster und Seiten blicke, bevor die Mannschaft wieder auf ihre Posten ging. Da er selbst ein Bordgast war, konnte Yirunta mehr Zeit mit seinen fernen Vettern verbringen als jedes Mit glied der normalen Besatzung. Der Neandertaler lehnte sich in seinem Sessel im Gemeinschaftsraum zurück und musterte sie nachdenklich. »Das Universum ist also das Resultat einer selbstmör derischen Einsamkeit?« »Vielleicht«, antwortete Kerwin. »Das ist Mirandas Theorie. Möglicherweise ist alles nur ein großer Scherz.« Seeth kam in den Gemeinschaftsraum geplatzt. Im Arm hielt er sein Blütenblattinstrument. Dicht gedrängt schar ten sich einige Besatzungsmitglieder um ihn, die gerade frei hatten. Kerwin erblickte weitere fremdartige Formen in ihren riesigen, behaarten Händen. »He, gib der Mutter einen Kuß von mir, großer Bruder, und dem Vater auch, wenn er ihn annimmt. Ich komme nicht mit nach Hause.« Kerwin gaffte ihn an. »Wovon redest du da?« Die Besatzungsmitglieder drängten in den Raum. »Ich habe mit einigen von diesen Burschen hier gejammt, verstehst du? Es sind alles Amateure, genau wie ich. Wir haben gejammt und uns unterhalten, und ihnen gefällt
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mein Zeug. Sie sagen, es ist gerade primitiv genug, um auf Haus ein richtiger Heuler zu werden. Bimuri hier meint, daß er für uns ein paar gute Gigs in einer Stadt namens Asaria organisieren kann.« Der größte der Neuankömmlinge nickte. »Mit Sicher heit das große Geld.« »Das kannst du doch nicht machen!« japste Kerwin. »Was sollen denn deine Freunde sagen?« »He, ich bin schließlich unabhängig, Mann. Wenn ich einfach verschwinde und in zehn Jahren wieder auftau che, wird man zu mir allerhöchstens sagen: ›Hi, Seeth, was war denn los, Mann?‹ Dann werde ich ihnen einfach sagen, daß ich mit meiner Gruppe auf Tournee war, was ja auch die Wahrheit sein wird. Die Jungs haben mir ver sichert, daß es Möglichkeiten gibt, gelegentlich eine klei ne Stippvisite auf die Erde einzurichten, ohne dadurch gleich die Bullen auf Trab zu bringen.« Er grinste gewal tig. »Habe dir doch gesagt, daß bei mir langsam der Durchbruch fällig ist. Das lasse ich mir nicht entgehen.« »So wird ein Star geboren«, murmelte Kerwin. »Prima. Dann geh schon, wenn du willst. Was mich betrifft, ich muß noch ein Examen nachholen.« »Kein Problem, Mann. Erzähl den Prof’s einfach, was du so gemacht hast.« »Na klar.« »Gute Güte, du hast ja nun wirklich jede Menge Ge schichten zu erzählen«, sagte Yirunta. »Diese ganze Sa che mit den Sikan und den Isotat und mit dem überwin den intergalaktischen Raums und diesen mysteriösen Haletern ist wirklich ein bißchen arg viel, um es zu glau ben. Und doch ist die Gefahr vorüber. Unsere Instrumen te haben keine Spur mehr von Izmirs Feld entdeckt. Selbst Ganun hat eure Geschichte im Kern inzwischen 353
akzeptiert, wenn auch nicht alle Einzelheiten.« »Das macht nichts«, meinte Rail. »Was mich betrifft, so werde ich meinen Posten als Espialer an den Nagel hängen und in die Innendekoration gehen. Ich habe ge nug.« Kerwin blickte durch den Raum. »Was ist mit dir, Mi randa? Du hast gerade das ganze Universum gerettet. Du mußt doch erschöpft sein. Wahrscheinlich hast du Sams tagabend keine Zeit?« »Tut mir leid.« »Und Sonntag?« »Geht leider nicht.« »Und den Samstag drauf?« Kerwin fiel ein, daß er sie möglicherweise gerade anflehte, aber es war ihm egal. »Na ja… da muß ich erst mal in meinen Terminkalen der gucken, weißt du? Vielleicht.« Vielleicht. Kerwin fühlte sich besser als jemals, seit er und Seeth Rail dabei beobachtet hatten, wie er in Albu querque auf der Bowlingbahn spielte. Das war lange, lange her. Miranda streckte ihre vollkommenen Beine aus und lä chelte zur Decke empor. »Irgendwie fühle ich mich mies, wegen Izmir. Aber wahrscheinlich ist es so besser für ihn. Und es ist ja auch nicht so, als hätte ich irgendeine echte Wahl gehabt. Ich meine, ich habe dieses Wochenende ja schließlich wirklich was vor, und wenn Izmir hiergeblie ben und ständig geniest hätte, dann hätte das meinen Partner möglicherweise verschreckt. Und außerdem hätte es irgendwie meine Frisur rui niert.«
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