Al Capone Nr. 14
Party des Todes von AL CANN Als G...
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Al Capone Nr. 14
Party des Todes von AL CANN Als Gary Royster seine Wohnung in der 69. Straße betrat, war es wenige Minuten nach Mitternacht. Er ging auf leisen Sohlen zur Küche und hatte da kaum die Tür geöffnet, als sich gegenüber die Schlafzimmertür öffnete. Eine kleine Frau mit rundlichem Gesicht blickte ihn aus großen, fragenden Augen an. »Ja, entschuldige, Mary«, sagte der Mann, »aber ich hatte noch eine ziemlich lange Sitzung.« Die Frau nickte, ging an ihm vorbei in die Küche und nahm die Milch aus dem Kühlschrank. »Das ist lieb von dir«, sagte er, goß sich ein großes Glas voll ein und trank es in einem Zug aus. Royster war ein Mann von neununddreißig Jahren, dunkelhaarig, einssechsundsiebzig groß, mit einem schlanken Körper und einem etwas bläßlichen Gesicht. Erst jetzt nahm er seinen Sommerhut ab, zog die ungefütterte Jacke aus, hängte sie über den Stuhl und ging dann hinüber ins Bad. Als er sich eben entkleidet hatte und unter die Dusche stellen wollte, verspürte er plötzlich einen dumpfen Schmerz in der Magengrube. Er drehte das heiße Wasser auf und ließ es sich über den Körper rinnen. Aber es half nichts. Auch nicht, als er 2
den Leib direkt unter die heiße Brause hielt. Der Schmerz nahm von Sekunde zu Sekunde rapide zu. Plötzlich fiel sein Blick auf die halbgeleerte Milchflasche. Jähe Angst zuckte in ihm hoch. Hatte Mary ihn vergiftet? Mary – die kleine Frau mit dem kurzen, krausen Haar, dem rundlichen Gesicht und den Kinderaugen? Sie war der Typ des Unschuldslammes, eines Menschen, der all das auf sich nahm, was ihm das Leben brachte. Sie erzog die beiden Kinder Tom und Mia ordentlich und sorgte dafür, daß im Haus alles stimmte. In Sekundenschnelle zog an dem Mann, der mit verkrümmtem Körper hinter dem Küchentisch saß, ein Leben vorbei, das ganz alltäglich gewesen war. War es das wirklich? Gary Royster konnte sich in diesen Minuten kein klares Bild darüber machen. Stärker und stärker wurde der Schmerz und grub sich in seine Nervenbahnen, krampfte seine Sehnen zusammen und ließ seine Muskeln versteinern. Plötzlich brach ein heiserer Laut über seine Lippen. Er fiel nach vorn und lag mit dem Kopf auf dem Tisch. Die Tür sprang auf. Mary Royster stand da und blickte auf ihren Mann. »Gary!« Sie lief auf ihn zu und nahm seinen Kopf in ihre Hände. Mit geweiteten Augen blickte sie in sein Gesicht. Die Augen des Mannes hatten eine gelbliche Färbung angenommen, und die Iris schwamm darin. Übergroß 3
waren die Pupillen. So groß, wie sie sie noch niemals bei einem Menschen gesehen hatte. »Mary«, keuchte er, »Mary –«, und dann suchten seine Augen die Milchflasche. »Du – mußt sofort den Arzt rufen!« Dr. Glenn war in wenigen Minuten da. Er wohnte gleich nebenan und war mit den Roysters bekannt. Er war ein Mann von zweiundfünfzig Jahren, groß, wuchtig und berufserfahren. Er hatte die Frau hinausgeschickt und untersuchte den Mann gründlich. Das Mittel, das er ihm gab, half jedoch nicht. »Was, zum Teufel, haben Sie denn bloß gegessen?« »Nichts. Es wird nicht am Essen liegen, sondern da – da an der Milch«, ächzte der Mann in seinem fürchterlichen Krampf. Der Arzt gab ihm eine stärkere Spritze, und der Krampf schien nachzulassen. Dennoch verfärbte sich Roysters Gesicht mehr und mehr. »Sie müssen sofort ins Krankenhaus«, erklärte der Arzt. »Es hat keinen Zweck mehr«, stöhnte Royster. »Sie hat mich vergiftet.« Plötzlich fiel sein Kopf mit einem harten Ruck auf die Tischplatte und stieß die Milchflasche um. Der Arzt, der sofort nach ihm gegriffen hatte und ihn hochzog, sah, daß der Mann tot war. * 4
Gary Royster war vergiftet worden. Darüber gab es nicht den mindesten Zweifel. Aber die Giftmischung machte den Experten zu schaffen. Noch im Morgengrauen war man im Laboratorium der Polizei mit der Untersuchung des Mageninhalts des Toten beschäftigt. »Wahrscheinlich ist es eine Art Benzolid«, meinte der Leiter des Laboratoriums kopfschüttelnd zu dem Chef der Mordkommission. Zwanzig Minuten später stand Polizeileutnant James Geoffrey vor der Wohnungstür von Mrs. Mary Royster. Die Frau, die noch nicht lange aus dem Krankenhaus zurück war, wohin sie ihren toten Mann begleitet hatte, stand mit kalkigem Gesicht da und blickte den grauhaarigen Polizeileutnant aus erschrockenen Augen an. »Mrs. Royster, ich muß Sie mitnehmen.« Die Frau schrak zusammen. »Mitnehmen? Was soll das heißen?« »Sie sind des Mordes an Ihrem Mann, Gary Royster, verdächtig.« Die Frau stammelte: »Aber – das ist doch nicht Ihr Ernst?« »Bitte, kommen Sie mit!« »Aber das geht nicht. Ich habe zwei Kinder.« »Tja«, meinte der Polizist, »dann müssen eben die Nachbarn darauf aufpassen.« Der sechsjährige Tom und die vierjährige Mia, die weinend hinter der Mutter im Flur aufgetaucht waren, wurden zur Nachbarin nebenan gebracht, einer Frau in 5
den Vierzigern mit aufgedunsenem Gesicht und kleinen Augen. Die zog die Schultern hoch und sagte: »Na ja, hoffentlich nicht allzu lange.« Mrs. Royster bat sie flehentlich: »Bitte, die Kleinen werden bestimmt von meinem Bruder geholt werden.« »Ja, um Himmels willen, was ist denn los?« wollte die Frau wissen. »Das kann ich Ihnen jetzt nicht erklären.« »Sie erhalten Nachricht«, meldete sich der Polizist. Mary Royster war verhaftet worden. Sie saß im Polizeigefängnis und hatte nach der ersten Vernehmung, die nichts erbracht hatte, ihre Zelle wieder aufsuchen müssen. Gegen halb zehn am Vormittag tauchte eine Frau von etwa fünfundvierzig Jahren in der Polizeistation auf und verlangte, mit Mr. Geoffrey zu sprechen. Der grauhaarige Leiter der Mordkommission blickte die Eintretende an. Es war eine große, hagere Frau mit scharfen Gesichtszügen und graugrünen Augen. Sie stellte sich als Mrs. Plebstone vor und erklärte, daß sie eine Nachbarin von den Roysters wäre. »Um was geht es, Mrs. Plebstone?« erkundigte sich der Leiter der Mordkommission. »Ich habe gehört, was sich bei den Roysters abgespielt hat. Ich möchte dazu nur sagen, daß mir Mrs. Royster verdächtig ist.«
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»Aha. Und weshalb?« fragte der Polizist sehr ruhig, denn er war im Laufe von neunzehn Dienstjahren an mancherlei gewöhnt. »Sie ist mir deshalb verdächtig, weil sie so still ist, so heimlich, wissen Sie?« »Aber das ist doch kein Grund, einen Menschen zu verdächtigen. Außerdem möchte ich Sie fragen, wessen Sie Mrs. Royster verdächtigen.« »Nun, daß sie ihren Mann umgebracht hat.« »Aha. Woher wissen Sie, daß er umgebracht worden ist?« »Weil ich es weiß –« »Woher wissen Sie es? Würden Sie mir bitte meine Frage beantworten, Mrs. Plebstone?« Die Frau zog wieder die Schultern hoch, nestelte dann in ihrer Handtasche und nahm ein Taschentüchlein heraus, womit sie ihre spitze Nase betupfte. »Na, ich hab’ doch gesehen, wie sie den Toten im Morgengrauen weggebracht haben.« »Woher wissen Sie, daß es ein Toter war?« »Na, hören Sie: Das dürfte doch wohl nicht schwer zu erraten gewesen sein. Schließlich war dem Mann die Decke über die Nase gezogen, und das macht man ja wohl bei einem Lebenden nicht.« Sie war zweifelsohne eine scharfe Beobachterin, die Nachbarin der Roysters. Aber sie machte keineswegs einen guten Eindruck auf Geoffrey.
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»Es tut mir leid, Mrs. Plebstone, aber ich muß Ihre Beschuldigung zu Protokoll nehmen, und ich muß Sie bitten, nähere Angaben zu machen.« Mrs. Plebstone wußte jedoch keine näheren Angaben zu machen. Sie war der Typ der ekelhaften Nachbarin. Alleinstehend, klatschsüchtig, hager, neugierig und mit jedermann verfeindet. Ehe sie ging, fragte sie noch: »Kommt sie jetzt auf den Stuhl?« Geoffrey zog die Brauen zusammen. »Wie meinen Sie das?« »Na ja, ich meine, ob sie nun auch ihre gerechte Strafe bekommt, oder ob das wieder unter dem Tisch verschwinden wird.« »Was soll das denn heißen, Mrs. Plebstone?« »Ach, lassen Sie mich doch zufrieden«, meinte die Frau, »ich sehe schon, daß bei der Polizei keine Gerechtigkeit herrscht.« Damit verließ sie das Gebäude. Nicht etwa, um nach Hause zu gehen, sondern um genau dreiundvierzig Minuten später in der 71. Straße aufzutauchen, und zwar im Dienstgebäude des Federal Bureau of Investigation, das dort seit anderthalb Jahren eingerichtet war. Der riesige alte Bau grenzte mit seiner Rückfront an den Oakwood Cemetery (Friedhof). Mrs. Plebstone verlangte den Chef‐Inspektor zu sprechen, hatte aber keinen Erfolg, denn der war nicht im Dienstgebäude. Dafür wurde sie zu seinem Vertreter hinaufgeschickt, mußte aber da erfahren, daß auch Inspektor Cassedy, der Vertreter des Chefs, nicht im 8
Haus war. Da führte sie einer der G‐men zu Inspektor O’Keefe. Ted O’Keefe war ein Mann Anfang der Dreißig, groß, hager, drahtig, mit dunklem Haar, dichten Brauen und einem ernsten Gesicht. »Madam«, sagte er, sich erhebend und auf einen Stuhl deutend. Die Frau blickte ihn mit gerunzelten Brauen an. »So ein junger Mann?« »Es tut mir leid, Madam, daß ich nicht älter bin. Aber das wird ganz bestimmt noch werden.« »Davon bin ich überzeugt«, entgegnete die Frau, »ich hätte mir jedoch einen reiferen Beamten gewünscht.« »Würden Sie trotzdem die Güte haben, mir zu sagen, was Sie zu mir führt?« »Na ja, ich hoffe nur, daß Sie es dann dem Chef‐ Inspektor weiterleiten. Mr. Ness ist doch der Chef‐ Inspektor?« O’Keefe nickte. »Ja, das ist richtig. Er ist leider nicht im Haus, aber Sie können mir ganz sicher auch sagen, was Sie hergeführt hat.« »Na ja. Also, es handelt sich hier um den Mord an Mr. Royster.« Wie Inspektor O’Keefe nach ihrem Fortgang durch ein Telefonat mit Lieutenant Geoffrey feststellte, hatte sie hier beim FBI das gleiche gesagt wie auch schon bei der Mordkommission der Stadtpolizei. Trotzdem waren ihre Darlegungen zu Protokoll genommen worden. 9
Mary Royster saß nun schon anderthalb Tage im Polizeigefängnis, als gegen Montagmittag ein Mann von etwa vierzig Jahren ebenfalls das FBI‐Gebäude am Oakwood Cemetery aufsuchte. Es war der einundvierzigjährige Ben Collins. Er erklärte freimütig, daß er sich von Gelegenheitsarbeiten den Lebensunterhalt verdiente und häufig im Haus Nr. 14 in der 69. Straße gearbeitet hätte. »Vor allem hat mir Mrs. Royster immer Arbeit gegeben«, sagte er. »Ich habe gehört, als ich heute morgen ins Haus kam, daß sie ihren Mann ermordet haben soll.« Der rundliche Inspektor Pinkas Cassedy, der den Chef vertrat, blickte Collins forschend an. »Was möchten Sie aussagen, Mr. Collins?« fragte er ruhig. »Ich möchte sagen, daß ich es nicht glauben kann, daß Mrs. Royster ihren Mann ermordet hat.« »Und weshalb glauben Sie es nicht?« Der Gelegenheitsarbeiter zog die Schultern hoch. »Ich kann es schwer begründen. Nur eben – weil sie eine so gute Frau war. Sie hatte ein Gemüt wie ein Engel. Zu Weihnachten hat sie mir zwei Dollar geschenkt, obgleich ich gar nicht dazu kam, ihren Teppich zu klopfen; und sie läßt mich den Teppich auch klopfen, wenn er eigentlich noch gar nicht schmutzig ist, denn sie ist eine so saubere Frau; und dann schusterte sie mir so häufig Botengänge zu, von denen ich weiß, daß sie auch 10
sehr gut von ihrem Sohn Tom erledigt werden könnten. Nur, weil sie mich nicht beschämen will mit den Cents, die sie mir immer zusteckt.« Der rundliche Inspektor Cassedy beobachtete Collins mit schmalen Augen. Kam der Mann etwa für eine Liebschaft mit Mrs. Royster in Frage? Schwerlich. Er wirkte kränklich, war aber sauber gekleidet. Seine Kleidung war ärmlich. Die Ellbogen seiner Jacke, die für diese Sommerzeit viel zu warm war, waren blank, ebenso seine Knie und sein Hosenboden. Aber seine Schuhe waren sauber und auch sein Hemd. Ganz sicher war dieser Mensch kein Liebhaber für eine Frau wie die junge, verhältnismäßig gutaussehende Mary Royster. Aber wer konnte hinter die Gesichter der Menschen blicken? Der Gelegenheitsarbeiter wurde, ohne daß er davon spürte, durchleuchtet, sein Leben durchforscht. Aber es fand sich kein dunkler Punkt darin. Collins hatte eben das Zimmer des Inspektors verlassen, als ihm auf dem Korridor ein hochgewachsener, schlanker Mann begegnete. Er war sicher einsneunzig hoch, hatte ein kantig geschnittenes Gesicht, in dem ein eisblaues Augenpaar stand. Collins ahnte nicht, wem er da eben begegnet war. Der hochgewachsene Mann trat in das Zimmer Cassedys. »Ah, Boß, da sind Sie ja. Gut, daß Sie kommen. Ich glaube, wir müssen gleich nach Cicero hinüber«, meinte
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Cassedy, während er sofort aufstand und zum Schrank ging. Der hochgewachsene Mann trat ans Fenster und blickte auf die Straße hinunter. Es war Eliot Ness. Der neue Chef der Spezial‐ Abteilung des FBI hier am Oakwood Cemetery. Seit anderthalb Jahren hatte er den Job hier inne, und es gab eine Menge Leute, die sich darüber gewundert hatten, daß man drüben in Washington keinen reiferen und keinen bekannteren Mann hergeschickt hatte. Schließlich war Chicago die schlimmste Stadt, die es in ganz Amerika gab – was die Anhäufung von Verbrechen anbetraf. Aber dann hatte sich erwiesen, daß der FBI‐ Direktor Edgar Hoover doch einen guten Griff getan hatte, denn der einunddreißigjährige Sohn norwegischer Eltern, Eliot Ness, hatte sich als ein so überaus begabter Kriminalist erwiesen, daß nicht nur die Leute das Kopfschütteln über seine Nominierung eingestellt hatten, sondern daß eine Weltstadt auf ihn aufmerksam wurde. Chicago hatte einen großen Polizeioffizier bekommen. Obgleich er in den neunzehn Monaten, die er jetzt beim FBI war, schon eine Reihe aufsehenerregender Morde aufgeklärt hatte, ahnte doch noch niemand, wie steil der Weg des Eliot Ness sein würde, daß er der größte Kriminalist sein würde, den Amerika jemals haben sollte. Dennoch hatte er immer noch eine Reihe von Feinden: vor allem den bekannten Zeitungsmann Rufus Matherley. Weshalb der Chefredakteur der »Chicago News« so sehr gegen den neuen Mann am Oakwood 12
Cemetery eingestellt war, wußte niemand, aber man vermutete, daß er selbst einen anderen Mann für diesen Posten vorgeschlagen hatte. O ja, ein Zeitungsmann von seiner Gewichtigkeit hatte eine schwerwiegende Stimme im Senat, und vor allem hier in der Stadt. Schleuderte er doch mit seiner Millionenauflage eine Meinung in die Weltstadt Chicago, die nicht zu übersehen war. Natürlich gab es noch andere große Blätter, aber die »Chicago News« zwar durch ihn zu einer der meistgekauften Zeitungen gemacht worden. Edgar Hoover hatte große Sorgen wegen Chicago, weil sich die Verbrecherbanden da im letzten Jahrzehnt derartig gehäuft hatten, daß die Polizei fast schon resignierte. Vor allem war es der seit sieben Jahren in Chicago ansässige Italo‐Amerikaner Alfonso Capone, der eine Gang gegründet hatte, die schon als einTrust, als ein Imperium angesehen werden mußte. Al Capone, der in die Zeitgeschichte als der größte Verbrecher aller Zeiten eingehen sollte, und da selbst heutzutage einem gewissen »Staatsmann« neuerer Zeit noch schärfere Konkurrenz machen würde. Er besaß einige große Fabriken, war Vorstandsmitglied mehrerer gewaltiger Konzerne, hatte selbst mehrere Dutzend Geschäfte – Großwäschereien und andere – und hielt in seinen olivfarbenen Händen eine Macht, die bisher ein einzelner Mann in Chicago noch nicht besessen hatte. Aber nicht Al Capone allein war es, der die Stadt in Fieberschauer und Panik versetzte. Es gab noch andere große Gangs, wie die des Donald Woost, Carel Borgast und vor allem 13
seit einiger Zeit die gefürchtete Dillinger‐Gang. Die Bande Ric Dillingers machte mehr und mehr von sich reden. Immer wieder geschahen Kapitalverbrechen in der Stadt, und es war für Chicago nur die Frage, ob Capone oder Dillinger dahinterstand. Aber beweisen – beweisen ließ sich nie etwas! Und wurde einmal einer der Leute gegriffen, von dem man annehmen konnte, daß er zu einer dieser beiden Gangs gehörte, so stellte der Verbrecher sich stumm wie ein Fisch im Lake Michigan – nach dem Gesetz der Unterwelt: Wer sitzt, schweigt; wer redet, stirbt. Rufus Matherley selbst hatte Eliot Ness einen Spottnamen angehängt, und zwar die Bezeichnung »MR. CHICAGO«. Er ahnte nicht, daß er damit dem FBI‐man einen Namen gegeben hatte, den die Unterwelt sofort aufgriff, allerdings respektvoll aufgriff. Es gab keinen Mann, der in Chicagoer Verbrecherkreisen mehr gefürchtet wurde als der MR. CHICAGO. Eliot Ness blickte gedankenvoll aus dem Fenster, verfolgte den Verkehr, der sich unten durch die 71. Straße schob, und wandte sich dann langsam um. »Ich glaube, wir haben uns getäuscht, Pink«, sagte er nur. »Wie meinen Sie das?« »Follow gehört nicht zu Capone.« »Aha –?« Das Gesicht des dicken Cassedy war ein einziges Fragezeichen. »Ich vermute, daß er zu Dillinger gehört.« 14
»Dillinger? Sagen Sie bloß, die Bande mischt tatsächlich wieder mit?« »Leider habe ich begründete Befürchtungen in dieser Hinsicht. – Übrigens, wer war der Mann, der eben aus Ihrem Zimmer kam?« »Ach, ein gewisser Collins. Er kam wegen einer Giftgeschichte, die sich drüben in der neunundsechzigsten abgespielt hat.« »Und wo sollte das sein?« »In Burr Ridge. Ich glaube, Nummer 14. Da ist am Samstagabend der neununddreißigjährige Gary Royster vergiftet worden. Seine Frau wird verdächtigt. Am Samstag war schon eine Frau hier, eine Nachbarin, die die Ehefrau beschuldigte, eine gewisse Laura Plebstone, ein scheußliches Weib; und jetzt kam dieser Collins.« »Wollte er sie auch belasten?« »Im Gegenteil. Er ist Gelegenheitsarbeiter und«, Cassedy hob die Schultern hoch, »na ja, ich hab’s hier mitgeschnitten.« Er nahm das Spezial‐Aufnahmegerät aus der Schublade und ließ die Unterhaltung mit Collins ablaufen. Eliot Ness rieb sich das Kinn. Dann sagte er: »Wir wollen noch heute vormittag nach Hinsdale.« »Was wollen wir da?« »Follow soll gestern in der Walnut Street aufgetaucht sein, und zwar nicht weit von der Grant Street. In einem Möbelgeschäft.«
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Es war wenige Minuten nach elf, als die beiden FBI‐ Agenten vor dem Möbelgeschäft erschienen. Eliot Ness betrat es von vorn, während Pinkas Cassedy in den Hof ging und den rückwärtigen Eingang sowie die Rückfront des Hauses im Auge behielt; der Dicke machte das ausgezeichnet und keineswegs einseitig: Diesmal beschäftigte er sich als Stadtreinigungsbeamter in Zivil, der die Mülltonnenabstellplätze kontrollierte. Eliot Ness betrat das Möbellager und erkundigte sich nach dem Inhaber, Mr. Gurres. Dieser war ein Mann in den Fünfzigern, grauhaarig, mit einem Gesicht, das aufgeschwemmt und kränklich wirkte. »Mr. Gurres, ich interessiere mich für eine Bettcouch. Was könnten Sie mir da vorschlagen?« Er kam mit dem Geschäftsinhaber ins Gespräch und dann nach wenigen Minuten auch auf Follow zu sprechen. Gurres nahm mit einem Ruck den Kopf herum und blickte in Eliots Gesicht. Seine opalfarbenen Augen suchten in den hellen Augen des Norwegers zu lesen. »Was ist denn?« meinte Eliot erstaunt. »Ist etwas nicht in Ordnung mit Ihnen?« Gurres griff sich an den Magen. »Ach, ich bin nicht ganz gesund. Sie sollten mich nicht länger aufhalten.« »Augenblick, Gurres. Was ist mit Follow geschehen? Ich will nicht hoffen, daß ihm etwas passiert ist.« »Wer redet denn davon?«
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Es war einen Augenblick still. Dann knurrte Gurres, der sich in einem seiner selbstgefertigten Sessel niederließ: »Wo kommen Sie her?« »Aus Stickney.« Es war ein Bluff, den Eliot Ness da losließ, denn er kam ja nicht aus Stickney. Und er hatte das nur gesagt, weil er vermutete, daß Dillinger in Stickney saß. Wo sich diese raffinierte Gang, die da seit einigen Wochen durch Chicago geisterte, tatsächlich aufhielt, wo sie ihr Quartier hatte, wußte niemand. Überhaupt war niemand von der Gang in der Stadt wirklich bekannt. Seit Frank Dillinger und einer seiner Vettern durch die Kugeln der Capone‐ Gang nach ihrem unerhörten Coup gegen Capones Buchmacherei gefallen waren, hatte man nie wieder einen der Dillingers zu Gesicht bekommen. Und doch war bei allen Verbrechen, die seither verübt worden waren, eine Handschrift deutlich zu lesen gewesen: die Handschrift des Richard Dillinger, jenes Mannes, der aus einer Vorstadtstraße von St. Louis nach Chicago gekommen war und sich nicht gescheut hatte, diesen unglaublichen Überfall auf Capones Buchmacherei durchzuführen. Gesehen hatte ihn niemand, jedenfalls konnte ihn niemand beschreiben. Unten im Zentrum des Stadtteils Blue Island in der Prairie Street, an der Ecke Western Avenue, gab es eine junge Frau, die den Namen Dillinger trug und mit dem toten Frank Dillinger verwandt war. Sie war eine Kusine von ihm; und da der Bandenführer ein Vetter von Frank 17
gewesen war, war er natürlich auch mit Ruth Dillinger verwandt. Diese Ruth Dillinger, eine vierundzwanzigjährige Chemiestudentin, war eine bildschöne Frau, die schönste, die Eliot Ness jemals gesehen hatte, wie er sich hatte eingestehen müssen. Er hatte sie dreimal aufgesucht und mit ihr gesprochen, damals, als die Jagd nach Richard Dillinger lief. Aber sie hatte keinerlei Kontakte mit der Gang. Wochenlang war sie beobachtet worden. Nichts deutete auf eine Verbindung mit der Verbrecherbande hin. Dennoch war sie eine Frau, die nicht ohne Seltsamkeiten war. Oder sollte man ihren eigenartigen Hang zu Friedhöfen nicht für eine Seltsamkeit halten? Immer wieder suchte sie die verschiedensten Friedhöfe der Weltstadt auf. Einmal steckte sie draußen auf dem St. Joseph’s Cemetery, dann wieder war sie am Elm Lawn Cemetery, dann auf dem Mt. Emblem Friedhof, sie scheute sich sogar nicht, weit hinaus in die Vororte zu fahren, um dort die Friedhöfe aufzusuchen. Was sie da suchte, wußte niemand mit Sicherheit. Eliot Ness, der sie sehr vorsichtig danach gefragt hatte, hatte sie erklärt, daß sie Bekannte und Verwandte aufsuchte, die da unter dem grünen Rasen lägen. Auch Kindergräber hatte sie aufgesucht, und Eliot hatte sie in Verdacht, daß es Kinder waren, die sie gar nicht gekannt hatte. In zwei Fällen allerdings hatte er festgestellt, daß es Kinder waren, die keine Eltern und keine Angehörigen hatten und deren Gräber vor ihrem Besuch verkommen wirkten. Es war
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ein etwas makabres Hobby, dem die bildschöne Ruth Dillinger anhing. »Also, was ist mit Follow?« drängte der FBI‐Agent den Möbelhändler. »Keine Ahnung. Ich weiß nicht, wo er ist. Wenn Sie zu den D‐Leuten gehören, dann muß ich sowieso sagen –« »Was müssen Sie sagen, Mr. Gurres?« Der Möbelhändler erhob sich, zündete sich eine Zigarette an und erklärte dann mit nicht ganz sicherer Stimme: »Es tut mir leid, Mister. Aber ich glaube, daß Sie von Borgast sind.« »Wie kommen Sie denn darauf? Sie wissen genau, daß ich zu den D‐Leuten gehöre.« »Da bräuchte ich einen Beweis.« »Tut mir leid. Sie wissen, daß es keine Beweise geben kann. Kein Mitglied einer Crew (so nannten die Banditen ihre Banden selbst) trägt irgendein Zeichen mit sich herum.« »Kennen Sie irgendeinen Verwandten des Boß’?« »Natürlich. Sollten Sie von der Frau in Blue Island sprechen – so möchte ich Sie darauf hinweisen, daß Sie sie nicht zu kennen haben.« Das schien Gurres zu genügen. Er nickte sofort, ging dann zu einem Tisch, zog eine Lade auf und reichte Eliot ein Foto. Es war das Bild des Gangsters Tony Follow. »Was ist mit ihm?« »Sehen Sie es nicht?« 19
Es war deutlich zu sehen, daß Follow in einer Blutlache auf einer dunklen Straße lag. »Wann?« »Gestern nacht.« »Um wieviel Uhr?« »Gegen halb zwölf.« »Wo?« »Nicht weit von hier.« »Und wer?« »Keine Ahnung. Wahrscheinlich Cap‐Leute.« Wenn irgend etwas in dieser Stadt geschah, dann waren es immer Cap‐Leute – ob Capone nun tatsächlich dahintersteckte oder nicht. Alles, was nicht aufzudecken war, mußte auf Capones Rechnung gehen. Er selbst tat nichts, um diesen Umstand zu ändern. Wahrscheinlich gefiel er sich sogar in der Rolle, in die er hineingeraten war. Anfangs hatte er sich noch sehr dagegen gewehrt, als der verfemte Verbrecher angesehen zu werden, aber das hatte sich rasch gegeben. Heute sonnte er sich offensichtlich in der unheimlichen Popularität, die er genoß. Popularität war wohl nicht der richtige Ausdruck: Al Capone war berüchtigt, berüchtigter als sonst irgendein Gangster in ganz Amerika. Eliot Ness suchte das Leichenschauhaus auf; und da fand er den Gesuchten. Follow war der dritte in der zweiten Reihe. Zwei greise Selbstmörder, eine Frau, die nach einer Abtreibung gestorben war, ein alter Mann, der unter einer Brücke im Schnapsrausch ins Jenseits 20
gerutscht war, und wieder eine blutjunge Selbstmörderin. In der zweiten Reihe lag er dann: Tony Follow, der Bandit. Er hatte zwei Einschüsse im Rücken. »Ein Glück, daß die Boys untereinander aufräumen, sie nehmen uns damit eine Menge Arbeit ab«, meinte Cassedy, während er sich draußen eine seiner hellen Zigarren anzündete und nach allen Seiten Ausschau hielt. »Was suchen Sie eigentlich?« fragte Eliot, während sie zu ihrem Wagen gingen. »Was schon? Ein Restaurant. Was glauben Sie wohl, was ich für einen Hunger habe! Ich werde jetzt mindestens sieben Knödel verdrücken, wenn nicht neun.« Eliot sah, daß er ein bayrisches Speiserestaurant im Blickfeld hatte. »Gehen Sie hinein, ich komme nach.« »O nein, nicht allein. Wo wollen Sie denn noch hin?« »Ich möchte ins Gefängnis.« »Wohin wollen Sie? Ins Gefängnis?« »Hinüber nach Burr Ridge.« Eine halbe Stunde später standen sie im oberen Zellengang des Frauen‐Untersuchungsgefängnisses von Burr Ridge. Eliot Ness hatte sich beim Gefängnisdirektor gemeldet und ließ sich dann zu der Untersuchungsgefangenen Mary Royster führen. Die junge Frau blickte den Inspektor verstört an, als er in die Zelle trat. Sie glaubte, daß sie wieder zu einer der endlosen Vernehmungen abgeholt wurde. 21
»Mein Name ist Ness«, sagte der Norweger mit seiner dunklen Stimme und deutete dann auf seinen Begleiter. »Das ist Inspektor Cassedy. Wir sind vom FBI.« Die Frau hob ihren Kopf. Ihre Augen waren trocken. Hoffend glitten sie über das Gesicht des Chef‐Inspektors. »Sind Sie – Eliot Ness?« »Ja, Mrs. Royster.« Hoffnung stand plötzlich in den Augen der Frau – aber nur klein wie ein Funke. »Ich bin für den Fall noch nicht zuständig. Nur, wir hatten zwei Besucher bei uns draußen im Dienstgebäude in der 71. Straße, die wegen dieser Sache kamen. Dann habe ich durch ein Telefonat bei Leutnant Geoffrey erfahren, daß eine Mrs. Godwill heute morgen dagewesen ist und angab, Sie hätten ihr einmal erzählt, daß Ihr Mann eine Freundin hätte.« Mary Royster hatte den Atem angehalten. Dann sagte sie mit ruhiger Stimme: »Das ist nicht wahr.« Eliot sprach eine halbe Stunde mit ihr. Aber es erbrachte nichts. Diese Frau war trotz allem ungebrochen. Entweder trug sie die Schuld ungerührt mit sich herum, oder ihr Vertrauen auf die Gerechtigkeit dieser Welt war größer, als man hätte annehmen sollen. Eine Viertelstunde später stand Eliot Ness vor Marion Godwill. Sie wohnte im gleichen Haus wie die Roysters, nur eine Etage höher. Sie war Anfang der Dreißiger, mit aufgedunsenem Körper und einem Gesicht, das verriet, daß sie das Leben in vollen Zügen genossen hatte. Als sie 22
hörte, daß der Mann, der da vor der Tür stand, von der Polizei war, ließ sie ihn sofort eintreten. »Es handelt sich sicher um die Roysters, nicht wahr? Ist es nicht schrecklich, Mister? Die Frau hat den Mann umgebracht. Aber man muß versuchen, es zu verstehen…« »Wie kommen Sie zu der Auffassung, Mrs. Godwill?« »Bitte: Miß Godwill. Ich bin unverheiratet«, sagte sie. »Ja, dann sagen Sie mir bitte, wie Sie zu dieser Ansicht kommen.« »Zu welcher Ansicht?« »Sie haben doch behauptet, daß Mrs. Royster ihren Mann umgebracht hätte.« »Aber das kann doch gar nicht anders sein«, erklärte die Frau, während sie das Geschmeide am linken Arm hin und her schob und immer wieder nach ihrer falschen Perlenkette griff. »Sehen Sie, wenn eine Frau weiß, daß ihr Mann eine Freundin hat, dann ist es ganz schlecht. Es ist doch klar, daß sie sich dadurch zutiefst gekränkt fühlt. Aber Männer können das natürlich nicht verstehen. Doch ich als Frau, ich weiß – ach, was habe ich nicht alles erlebt!« Sie arbeitete als Friseuse drüben im 38. Bezirk. Sie war sicher vor Jahren einmal hübsch gewesen, aber durch ein zu üppiges Leben hatte sie sich selbst ihre Figur verdorben. Ihr Gesicht allerdings zeigte noch deutlich, daß sie wirklich einmal gut ausgesehen hatte. Was brachte diese Frau nur zu einer so furchtbaren Beschuldigung? 23
»Sie würden uns beiden die Aufgabe erleichtern, Miß Godwill«, sagte der Inspektor, als er sich schon von ihr verabschiedet hatte und an der Haustür stand, »wenn Sie sich bequemen würden, mir die Wahrheit zu sagen.« Die Frau zuckte wie unter einem Peitschenschlag zusammen. Flammende Röte übergoß ihr Gesicht. »Was soll das heißen, Mister –« »Ness ist mein Name.« »Was soll das heißen, Mr. Ness?« Da wandte Eliot sich um, drückte die Tür hinter sich zu, kam noch einmal zurück und blieb ganz dicht vor ihr stehen. Er senkte seine eisblauen Augen in die zuckenden braunen Lichter der Frau. »Sie haben Gary Royster doch gekannt, nicht wahr?« War das eine Frage oder war das keine Frage? Fieberhaft zuckten die Gedanken im Schädel der Frau hin und her. Sie sah den Mann nur an, suchte in seinen Augen zu forschen, vermochte aber die Eiseskälte, die ihr aus ihnen entgegenstrahlte, nicht zu ertragen. Sie senkte den Kopf. »Weshalb antworten Sie nicht, Marion Godwill?« Die Frau hatte plötzlich eine schreckliche Vision. Die Stimme des Mannes schien zehnfach laut geworden zu sein und durch einen großen Saal zu dringen: durch einen Gerichtssaal. Und sie schien aus dem Mund eines Staatsanwalts zu kommen. »Nein –«, stammelte sie, »ich kannte ihn gar nicht. Das heißt – er stieg mir doch nach…« »Sie waren also seine Freundin?« 24
»Nein!« »Weshalb lügen Sie, Marion Godwill?« Da sackte die Frau auf einen Kamelhocker, der neben ihr stand, und stützte den Kopf in beide Hände. Ein Schluchzen erschütterte ihren Körper. Fünf Minuten später hatte Eliot Ness ihr Geständnis: Sie war mit Gary Royster befreundet gewesen, anderthalb Jahre hatte sie die Frau, die sie jetzt mit einer so furchtbaren Beschuldigung belastete, betrogen. Aber seit drei Jahren kümmerte sich Royster nicht mehr um sie, und das hatte sie nie verwunden. Als er jetzt so elendig ums Leben gekommen war, richtete sich ihr Haß voll gegen die Ehefrau des Toten. Hatte sie doch vermutet, daß Mary Royster ihren Mann wieder zurückerobert hatte. Seitdem hatte sie sie mit ihrem Haß verfolgt. Da sie jedoch keine Angriffsfläche fand, hatte sie den Haß in sich hineinschlucken müssen. Aber in der letzten Samstagnacht hatte sich dann die Gelegenheit gefunden! Gary Royster war ermordet worden. Am Montagvormittag fand sie sich bei der Polizei ein und belastete seine Ehefrau. »Sie werden sich für Ihre schwere Verleumdung verantworten müssen, Mrs. Godwill«, sagte der Inspektor, ehe er ging. »Na?« fragte Cassedy, der unten im Hausgang gewartet hatte. Eliot berichtete kurz. Dann fuhren sie zusammen zum Oakwood Cemetery zurück. Neue Aufgaben warteten 25
auf sie. Im 56. Bezirk in einer kleinen Seitenstraße war ein Schuhhändler niedergeschossen worden. Vor der Haustür war ein großes rotes C auf die Schwelle gemalt, in einer Farbe, die aussah wie Blut. Es war das C der Capone‐Gang. Natürlich war es durchaus möglich, daß sich jetzt auch andere Banden dieses gefürchteten Zeichens bedienten; aber zweifellos hatten Cap‐Leute es erfunden. Es sollte nicht etwa die Polizei auf ihre Spur locken, sondern die Furchtlosigkeit der Bande zeigen, und vor allem hatte es den Zweck, die Leute in der Umgebung einzuschüchtern. Die Spuren waren bereits von Inspektor Lock und Inspektor O’Connor von der Mordkommission des FBI gesichert worden. Als Eliot Ness am Tatort eintraf, sah er nur eine gebrochene Frau und zwei Mädchen da stehen, die noch nicht vernehmungsfähig waren. Es war halb drei, als sie das Haus verließen und zu ihrem Wagen gingen. »Wie wär’s jetzt mit einem Kaffee, nachdem die Knödel ausgefallen sind?« brummte Cassedy. »Kann gleich erledigt werden«, entgegnete Eliot, hielt dann aber auf eine Telefonzelle zu und rief Leutnant Geoffrey an, der den Giftfall in Burr Ridge behandelte. Als der Stadtpolizist hörte, daß sich das FBI für die Sache interessierte, wurde er hellhörig. »Ist da irgendeine Sache, die die Bundesgesetze angeht, Mr. Ness?« fragte er, nicht ohne Arger in der Stimme.
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»Das ist noch nicht klar, Mr. Geoffrey. Ich wollte nur fragen, ob es etwas Neues in dem Fall gibt.« »Nichts Besonderes. Vorhin war eine Julia Rankin hier und hat eine Aussage gemacht.« »Gut, ich komme kurz bei Ihnen vorbei«, erklärte der G‐man und hängte ein, um weitere Fragen des Polizisten abzuschneiden. Auf der Polizeistation erfuhr er dann, daß die neunundzwanzigjährige Julia Rankin die Ehefrau des Vergifteten ebenfalls des Mordes beschuldigt hatte. Miß Rankin, die in der Wood Avenue in Bensenville wohnte, hatte jedoch eine Bemerkung fallen lassen, die Eliot Ness stutzen ließ. Und zwar stand da im Vernehmungsprotokoll: »Mrs. Royster muß gewußt haben, daß er mit dieser Blonden seit einiger Zeit geht.« Eliot fuhr sofort nach Bensenville hinaus, traf aber Miß Rankin nicht an. Ihre Mutter sagte, daß sie in der Austin Avenue in der Stadt arbeite, und zwar bei der Firma Belmont in der Nähe der Fullerton Avenue. Julia Rankin war eine hochgewachsene, gutaussehende Frau, die blondes Haar hatte und große dunkle Augen. Sie hatte die Hände zusammengelegt und blickte den Inspektor unsicher an. »Vom FBI sind Sie?« fragte sie mißtrauisch. »Ja, mein Name ist Ness, und das ist Inspektor Cassedy. Ich habe nur einige Fragen, Miß Rankin.« »Ich habe schon alles bei der Polizei gesagt.«
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»Davon bin ich nicht überzeugt«, entgegnete Eliot Ness mit der gleichen Schroffheit, mit der die Frau ihn abzuweisen suchte. »Ach, was soll das heißen?« zischte sie, und dabei huschte ein Schatten über ihr Gesicht. »Miß Rankin, ich glaube, daß Sie noch etwas Wesentliches bei Ihrer Aussage vergessen haben.« »Und das wäre?« »Daß Sie selbst mit Mr. Royster bekannt waren.« »Ich? Wie kommen Sie denn darauf?« »Ich weiß es.« »Das – das ist – nicht wahr!« »Geben Sie sich keine Mühe, Miß Rankin. Ich wüßte nur noch gern, weshalb Sie seine Frau beschuldigen.« »Weil sie es gewesen ist!« stieß Julia Rankin plötzlich hervor, »weil sie es gewesen sein muß!« »Und weshalb?« entgegnete der FBI‐Agent völlig ruhig. »Weil ich weiß, daß sie von der blonden Frau wissen muß, mit der er seit einiger Zeit zu tun hatte.« »Und wer ist die blonde Frau?« »Keine Ahnung. Aber ich habe ihn mehrmals mit ihr gesehen.« »Wie sah sie aus?« »Wie eben solche Puppen aussehen: mit einer hübschen Larve und ganz gut gekleidet natürlich. Arme suchte er sich ja nie aus, der Gauner!« Aha, es war also der Haß, der aus ihr sprach. Trotzdem mußte der Inspektor weiterforschen. 28
»Ich muß wissen, weshalb Sie die Frau beschuldigen.« »Weil sie eine dumme – weil sie –« »Hat Mrs. Royster Sie einmal mit ihrem Mann gesehen?« Plötzlich fiel alle Härte von ihr ab. Sie nickte und brach in Tränen aus. Eliot versuchte, noch etwas über die mysteriöse Blonde zu erfahren, mit der Royster angeblich zu tun gehabt haben sollte, aber die Frau wußte auch nichts Näheres. Wenige Minuten nach vier war er in der Franklin Avenue, wo er die Firma aufsuchte, in der Royster gearbeitet hatte. Er fand sowohl bei den Vorgesetzten als auch bei den Mitarbeitern des Vergifteten nur ratloses Kopfschütteln. Niemand begriff, was sich da abgespielt hatte; und niemand brachte ein schlechtes Wort gegen den Toten über die Lippen. Als Eliot Ness kurz vor fünf das Gebäude verließ, sah er Cassedy schon mit gerunzelten Brauen im Wagen sitzen. Er nickte ihm zu, deutete ihm an, daß er sofort käme, und ging dann noch einmal auf die Pförtnerloge zu. Der Mann mit den dicken Backentaschen und den grauen Koteletten schob seine Brille etwas höher und richtete sich sofort auf, als der Mann vom FBI noch einmal auf seine Loge zukam. »Sagen Sie, Mister«, forschte der Inspektor, »haben Sie Mr. Royster nie mit einer Frau gesehen?« 29
»Meinen Sie jetzt: mit seiner Frau? Die habe ich nämlich ein paarmal hier gesehen.« »Nein, ich meine mit einer anderen Frau.« Da kratzte sich der Alte im Genick und meinte: »Ja, ich weiß nicht, ob das sehr fein ist, einem Toten jetzt so etwas nachzusagen.« »Sie müssen alles sagen, was Sie wissen, Mister.« »Mein Name ist Brown.« »Also, Mr. Brown?« »Ja, also –« Es fiel dem Mann sichtlich schwer, das, was er jetzt zu sagen hatte, herauszubringen. »Da war mehrmals dieser Mercedes hier.« »Ein Mercedes?« »Ja, ein blauer Mercedes. Sie müssen nämlich wissen, daß ich ein großer Autofan bin. Ich kenne jede Marke, sagen wir, jede bekannte Marke. Und ein Mercedes ist ja nun etwas Seltenes hier bei uns.« »Und was ist mit dem Mercedes gewesen?« »Er war blau. Ein wunderbares Car, sage ich Ihnen. So etwas habe ich wirklich noch nie gesehen. Er hielt immer ein Stück hier die Straße hinauf; weil ich ihn mir mal näher ansehen wollte, ließ ich mich von Webster, der unten im Lager arbeitet, einmal ablösen, ging an dem Wagen vorbei – tja, also, ich muß sagen, die Frau, die darin saß, paßte zu dem Fahrzeug.« »Eine Frau?« »Ja.« »Können Sie sich an ihre Haarfarbe erinnern?« »Nein.« 30
»Hübsch?« »Hübsch und – ja, sie war elegant, das muß man auch sagen.« »Die Autonummer wissen Sie nicht zufällig?« »Nein, für die Nummern interessiere ich mich nicht. Ich bin schließlich kein Polizist – oh, entschuldigen Sie!« »Macht nichts«, winkte Eliot ab und sprach dann noch ein paar Minuten mit ihm. Aber es war nichts weiter aus dem Pförtner herauszubringen. Sein Interesse hatte wohl doch nur dem Wagen gegolten. * Aus dem Kaffee wurde nichts, sie fuhren zum Verkehrsamt, und nach kürzester Zeit wurde herausgefunden, daß es einunddreißig Mercedes‐Wagen in Chicago gab. Das war selbst für Eliot Ness eine Überraschung, denn dieses deutsche Fabrikat war ja damals noch eine große Seltenheit in der Stadt, nicht nur, weil es teuer war. Einunddreißig Menschen fuhren also einen Mercedes Benz in Chicago! Das hieß, da die Farbe der Fahrzeuge nicht registriert war, einunddreißig Recherchengänge. Eliot Ness ließ Inspektor Lock im Amt und nahm alle anderen verfügbaren Inspektoren und die G‐men zur Seite und schickte sie los. Er selbst hatte sich auch vier Adressen mitgenommen. Der erste Wagen gehörte einem Mann, der ein großes Kaufhaus in der Central Avenue hatte. Eliot sah sofort, 31
daß der Wagen schwarz war, fuhr hinüber zum Schiller Park und fand in der Soring Avenue ein wohlhabendes Ehepaar, das ebenfalls einen Mercedes hatte. Die Frau war schrecklich wortreich und hielt ihn eine unnötige Viertelstunde auf, ehe er endlich die Fahrzeugfarbe erfahren konnte. Der Wagen war weiß. Der nächste Mercedes gehörte einem Fabrikbesitzer aus dem Stadtteil Elmhurst. Er wohnte in der Church Road und – sein Wagen war schwarz. Eliot Ness fuhr hinaus nach Elk Grove zu seiner vierten Adresse. Da wohnte in der Cosman Road unweit vom großen Park ein ganz sicher sehr wohlhabender Mann namens Bedford. Eliot hatte kaum den großen, phantastisch angelegten Park betreten, als er drüben ein offenes überbreites Garagentor sah, unter dem er zwei Fahrzeuge entdeckte. Einen feuerroten italienischen Sportwagen und die unverkennbare Kühlerfront eines schweren blauschimmernden Mercedes‐Wagens. Er kam mit dem Chauffeur, der den Mercedes gerade polierte, ins Gespräch und erfuhr, daß der Hausherr nicht zu sprechen wäre. »Und weshalb nicht?« »Seit das Furchtbare geschehen ist, ist er selbst todelend. Sie müssen das verstehen.« »Was ist denn geschehen?« »Na, seine Tochter! Sie ist doch vor ein paar Tagen gestorben.« »Wann?« »Vorgestern, in der Samstagnacht.« 32
»Wie ist denn das passiert?« »Das weiß ja eben niemand. Das ist es ja. Sie kam nach Hause, bekam Krämpfe und nach ein paar Stunden war sie tot.« »Krämpfe?« »Ja, Magenkrämpfe.« »Aber daran stirbt doch so schnell kein Mensch.« »Wenn er vergiftet worden ist, schon.« »Vergiftet worden? Was soll das heißen?« Da blickte der Chauffeur auf und forschte argwöhnisch: »Sind Sie etwa von der Polizei?« Eliot zog seinen Ausweis. »FBI?« stotterte der Chauffeur und nahm unwillkürlich seine graue Fahrermütze ab. »Es tut mir leid, was ich da eben gesagt habe. Das ist natürlich bestimmt Blödsinn.« »Vielleicht ist es kein Blödsinn, Mister –« »Mein Name ist Rander.« »Wie kommen Sie darauf, daß Miß Bedford vergiftet worden sein könnte?« »Ich weiß es nicht; sie war aus an dem Abend – in der Stadt.« »Wo war sie?« »Das weiß ja eben niemand. Mr. Bedford hat schon alles versucht, aber niemand weiß, wo sie war.« Als Eliot zehn Minuten später vor dem grauhaarigen Vater der Toten stand, erfuhr er nicht viel mehr, als er schon von dessen Chauffeur erfahren hatte.
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»Und nun, Inspektor, möchte ich Sie bitten, mich nicht weiter zu behelligen. Ich bin vollkommen erledigt. Ich habe einen Nervenschock erlitten. Meine Frau mußte in eine Klinik gebracht werden. Wir sind am Ende.« »Es tut mir leid, daß ich Sie gestört habe, Mr. Bedford. Aber Sie werden verstehen, daß wir den Dingen nachgehen müssen.« Die tote Angela Bedford war noch nicht beerdigt worden. Sie lag, wie auch der Leichnam Gary Roysters, im Leichenschauhaus, und der Inhalt ihres Magens war schon mehrfach untersucht worden. Er hatte das gleiche Ergebnis zutage gefördert wie bei Royster. Beide waren durch dieselbe, nicht in allen Einzelheiten bekannte Giftzusammensetzung ums Leben gekommen. »Wahrscheinlich eine Vergiftung durch Lebensmittel«, meinte der Chefchemiker des FBI, der alles noch einmal überprüft hatte, nachdem Eliot Ness ihn aufgesucht hatte. Kurz nach sechs tauchte der G‐man noch einmal bei dem alten Pförtner auf, in dessen Firma Gary Royster gearbeitet hatte. Er hielt ihm das Foto der Angelika Bedford hin. »Haben Sie diese Frau schon einmal gesehen?« »Ja, das ist sie!« kam es sofort über die Lippen des Mannes, »genau das ist sie…« Eine Spur war entdeckt worden. Als Ness kurz vor sieben noch einmal bei Bedford vorsprach, meinte der: »Das Ärgste ist, daß ihr sogenannter Freund sich nicht 34
einmal gemeldet hat.« »Wer ist ihr Freund?« Bedford winkte ab. »Verheirateter Mann«, knurrte er. »Ich will auch gar nichts mit ihm zu tun haben. Nur – Liebe kann das ja kaum gewesen sein.« »Kennen Sie seinen Namen?« Bedford schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.« »Haben Sie ihn denn einmal gesehen?« Bedford zog die Schultern hoch. »Na ja.« Und dann gestand er, daß er seiner Tochter einmal nachgefahren war. »Also kennen Sie ihn?« »Natürlich. Ich habe ihn vom Chauffeur bis zu seiner Haustür verfolgen lassen. Er heißt Gary Royster und ist verheiratet. Ich will es ihr nicht übelnehmen. Jeder soll sich sein Leben so einrichten, wie er will. Sie ist gestorben und hat kaum etwas von ihrem Leben gehabt. Genauer gesagt: eigentlich gar nichts. Denn den Mann kannte sie ja noch nicht lange. Ich finde es nur abscheulich von ihm, daß er sich nicht wenigstens einmal meldet.« Da nahm der G‐man ein Foto des Toten aus der Tasche und hielt es dem Millionär hin. »Kennen Sie diesen Mann?« »Aber das ist er ja. Das ist… Was ist denn mit ihm, wie liegt er denn da?« »Es ist ein Foto aus dem Leichenschauhaus von Burr Ridge, Mr. Bedford.« 35
»Was soll das heißen?« »Sie haben keinen Grund, sich über Mr. Royster noch zu ärgern. Er konnte sich nicht mehr nach Ihrer Tochter erkundigen, denn auch er ist tot.« »Tot –«, stammelte Bedford erbleichend. »Ja, vergiftet, wie Ihre Tochter Angela.« Also hatte Gary Royster doch eine Freundin gehabt! Hatte Mary Royster es gewußt? Hatten Angela Bedford und Gary Royster sich selbst vergiftet, oder waren sie vergiftet worden? Fragen über Fragen. Während die Frau des Toten pausenlose strapaziöse Verhöre über sich ergehen lassen mußte, ging der Norweger, der jetzt wußte, daß ihr Mann also doch eine Freundin hatte, den Spuren des Gary Royster nach. Vor Einbruch der Dunkelheit traf er noch einmal bei den Bedfords ein, besichtigte das Zimmer des toten Mädchens und blickte nachdenklich auf den Tennisschläger, der neben ihrem Bett an der Wand hing. »Sie war im Race Club«, erklärte Bedford mit müder Stimme. Im Race Club war niemand. Heute wurde nicht gespielt. Dafür aber fand der Inspektor auf einem Platz neben dem Club zwei Jungen, die mit schäbigen Tennisschlägern ein Spiel zu machen versuchten. »Gehört ihr zum Club?« »Ja, wir sind bei den Junioren. Aber heute ist geschlossen, Mister, heute können Sie nicht rein. Einen 36
Tag in der Woche wollen sich die Rasenkratzer ausruhen; dabei tun sie ohnehin nicht viel, stecken nur Trinkgelder ein.« »Kennt einer von euch eine Miß Bedford?« Einer der beiden, ein rothaariger, sommersprossiger Bursche, fuhr sich durch seinen kurzgeschorenen Schopf und meinte: »Natürlich. Angela Bedford war eine gute Tennisspielerin. Was ist mir ihr?« »Sie ist tot.« »Tot?« »Ja. Ich wüßte gern, ob einer von euch sie am Samstag gesehen hat.« Der Rothaarige schüttelte den Kopf. »Aber – ich hätte da vielleicht einen Tip für Sie, Inspektor. Sie sollten mal mit Donald Bell sprechen. Der war doch so scharf auf sie.« Donald Bell wohnte im Stadtteil North Lake, und zwar in der Hayes Street. Er war ein geschniegelter junger Mann, der den Inspektor sofort freundlich begrüßte. Als er hörte, um was es sich handelte, erschrak er sichtlich und erklärte, Angela sei ein »süßes Girl« gewesen und hätte ihm wirklich sehr gut gefallen. Er konnte gar nicht begreifen, daß sie tot sein sollte. »Übrigens«, erklärte er dann, »ich habe sie am Samstag ganz zufällig gesehen, das heißt, genauer gesagt, nicht sie, sondern ihren Wagen.« »Wo war das?« »In Des Plaines, in der Forest Avenue. Er stand vor 37
einem der letzten Häuser, da, wo die Straße nicht weitergeht. Es ist eine feine Ecke da drüben. Da paßte sie hin.« »Wissen Sie genau, daß es ihr Wagen war?« »Natürlich. Erstens würde ich den Mercedes auf dreihundert Schritt erkennen, und zweitens war es die Nummer.« Cassedy war in den Beifahrersitz förmlich hineingesunken, als Eliot auf die Straße zurückkam. »Wenn wir jetzt nicht bald irgendwo etwas zwischen unsere Zähne schieben können, dann starte ich einen Überfall auf eine Würstchen‐Bude.« Sie nahmen an einem Kiosk eine Frankfurter Wurst (in Amerika Hot Dog – Heißer Hund genannt), und dann ging’s weiter. Des Plaines war ein Stadtteil, der zu dieser Zeit sicher zu den besten Gegenden Chicagos überhaupt gehörte. Während Eliot Ness den rechten Teil der Forest Avenue nahm, suchte Cassedy die Leute auf, die auf der linken Straßenseite wohnten. Es waren eigentlich nur fünf Häuser. Eliot sprach mit jedem der Hauseigentümer selbst, doch keiner kannte Angela Bedford. Als er mit Cassedy wieder zusammentraf, schüttelte er den Kopf. »Merkwürdig«, meinte der Chef‐Inspektor, »das paßt gar nicht zu ihr, daß sie ihren Wagen hier abgestellt hat, um irgendwo anders hinzugehen. Sie hatte das doch gar nicht nötig.« 38
»Immerhin war der Mann, der bei ihr war, verheiratet.« »Was hat das mit dem Abstellen des Wagens zu tun?« »Tja, das ist es natürlich…« Von der nächsten Telefonzelle aus rief Ness im Dienstgebäude an. Joseph Lock berichtete ihm, es sei festgestellt worden, daß in der Sonntagnacht noch eine Frau an einer Vergiftung gestorben wäre, eine gewisse Sarah Bilman, eine junge Dame aus Hill Side. Aber es schien keine Verbindung von ihr zu Gary Royster zu geben, auch nicht zu Angela Bedford. Jedenfalls war keine zu entdecken. Eliot ließ sich die Totenliste der vergangenen drei Tage vorlesen. Unter den zweihundert (!) Toten dieses kurzen Zeitraumes waren insgesamt sieben Vergiftete. Einmal diese Sarah Bilman, dann eine Milly Heeley, ein Dr. Louis Gord, ein Billy Celler, eine Ireen Roon, eine Peggy Thetcher und ein Richard Leester. »Leester«, murmelte der Inspektor vor sich hin. Dann wandte er den Wagen, fuhr in die Forest Avenue zurück und läutete noch einmal am vorletzten Haus, das er erst vor einer Viertelstunde verlassen hatte. Der grauhaarige Butler öffnete ihm wieder und blickte ihn ungnädig an. »Was gibt’s?« erkundigte er sich unfreundlich. »Ich muß noch einmal mit Mr. Leester sprechen.« »Er hat das Haus verlassen.« 39
»Geben Sie sich keine Mühe«, sagte Eliot und schob ihn zur Seite. Oben auf der mit einem roten Läufer belegten weißen Marmortreppe stand der Mann, der ihn vorhin abgewiesen hatte. »Was wollen Sie noch?« »Mr. Leester, Sie haben mich belogen.« , Der Hausherr maß höchstens einsfünfzig, war elegant gekleidet in einen grauen, leichten Sommeranzug, trug einen gelben Schal unter dem beigefarbenen Hemd und hatte ein bläßliches, von Falten zerschnittenes Gesicht. Sein schütteres Haar klebte an seinem hohen Schädel, und die Ohren waren weiß und lang. »Was fällt Ihnen ein, Inspektor!« rief er mit seiner hohen Stimme und kam dann mit hastigen, podagrischen Schritten die Treppe herunter, um allerdings auf der dritten Stufe stehenzubleiben, denn wenn er noch tiefer ging, war er schon sehr viel kleiner als der Inspektor, der jetzt unten vor der Treppe stand. »Was soll das, Inspektor? Was erlauben Sie sich? Ich werde mich bei Ihrer vorgesetzten Dienststelle über Sie beschweren.« »Tun Sie das, Mr. Leester. Inzwischen überlegen Sie sich, was Sie mir jetzt erzählen wollen.« »Was nehmen Sie sich heraus!« »Sie haben mir gesagt, daß Sie Angela Bedford nicht kennen.« »Das stimmt auch.«
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»Sie haben mir aber nicht gesagt, daß Ihr Sohn Richard in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag an einer Vergiftung gestorben ist, Mr. Leester« Eine jähe kalkige Blässe bedeckte Leesters Gesicht. Er starrte aus grauen, glasigen Augen in das Gesicht des Inspektors und kam dann langsam die Treppe herunter, um sich unten in einen der schweren Klubsessel in der Halle niederzulassen. »James, bringen Sie uns einen Brandy.« Der FBI‐Agent trank nicht. Leester kippte den Drink allein, spannte dann beide Hände um die Flasche und sagte, ohne den Kopf zu heben: »Ja, er ist tot. Es tut mir leid, daß ich Sie vorhin angelogen habe.« »Und weshalb haben Sie es getan?« »Weil ich nicht wollte, daß die Bedfords etwas davon erfahren.« »Ich hatte Sie nur gefragt, ob Sie Angela Bedford kennen, Mr. Leester, und da haben Sie erklärt, daß Sie den Namen nie gehört hätten.« »Natürlich habe ich das. Habe ich nicht selbst Elend genug? Mein Sohn ist tot. Er hat sich umgebracht.« »Wie kommen Sie darauf, daß er sich umgebracht haben soll?« »Ich weiß es nicht. Aber – er ist tot.« »Und wo ist er?« »Morgen wird er beerdigt.« »Er wird nicht beerdigt, Mr. Leester.« »Weshalb nicht?« Der Mann warf den Kopf hoch und 41
blickte den FBI‐Mann erschrocken an. »Weil seine Leiche untersucht werden wird.« »Von wem?« »Von uns.« »Und weshalb?« »Weil die Todesursache geklärt werden muß.« »Aber – das ist doch alles ganz klar. Er hat sich vergiftet. Glauben Sie, daß es da noch etwas rumzurätseln gibt?« »Ja, das glaube ich.« »Und warum?« »Weil auch Angela Bedford in der Samstagnacht gestorben ist.« »Was?« Leester schnellte hoch, seine Unterlippe zitterte. »Das ist nicht wahr!« »Es ist wahr.« »Also – dann hat sie doch etwas mit ihm gehabt?« »Darum geht es im Augenblick nicht, Mr. Leester, sondern es geht darum, daß Angela Bedford am Samstagabend bei Ihnen gewesen ist.« »Ja.« »Und zwar in Begleitung eines Mannes.« »Stimmt. Sie hatte diesen – wie hieß er doch noch?« »Gary Royster war bei ihr.« »Richtig, Gary Royster. Er war schon einmal hier. Ein unangenehmer Bursche. Ich hätte ihn niemals eingeladen. Ich kann Ric da nicht verstehen, was er an dem Kerl fand.«
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»Gary Royster ist ebenfalls tot, Mr. Leester«, sagte Eliot sehr langsam und beobachtete dabei das Gesicht des anderen. »Sagt Ihnen das vielleicht etwas, Mr. Leester?« Der kleine Mann war völlig in sich zusammengesunken. Er saß in dem großen Ledersessel und hatte den Kopf in die Hände gestützt. »Das ist ja ganz entsetzlich! Wie kann denn so etwas passieren?« »Ihr Sohn, Angela Bedford und Gary Royster waren zuletzt hier auf der Party.« Da warf Leester den Kopf hoch. »Was soll das heißen?« »Das soll heißen, daß der Verdacht naheliegt, daß sie alle drei hier durch Lebensmittel vergiftet wurden.« »Das ist doch nicht Ihr Ernst!« keuchte Leester. »Leider doch.« »Aber Sie glauben doch nicht vielleicht, daß ich –« Leester war aufgesprungen und preßte beide Hände auf seine Brust. »Davon ist jetzt keine Rede, Mr. Leester. Ich habe im Moment nur festzustellen, was es hier auf der Party zu essen und zu trinken gab.« »Es gab Whisky und – ja, was gab’s zu essen? Da müßte ich meine Köchin fragen.« Eliot Ness beauftragte den Butler, die Köchin zu holen. Es war eine Frau in den Vierzigern, mit blassem Gesicht und schwerem Leib. Ihr Name war Sarah Pine.
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»Mrs. Pine, würden Sie mir wohl sagen, was es am Samstag bei der Party gab, die Mr. Richard Leester veranstaltet hat?« Die Köchin stammelte: »Ja, also, erst gab es Hummercocktail, dann Filetsteak, Pommes frites und grünen Salat. Anschließend Karamel‐ Pudding.« »Sind die Speisen ausschließlich in Ihrer Küche zubereitet worden?« »Natürlich.« »Arbeiten Sie allein in der Küche?« »Ja.« Sarah Pines Leben wurde vom FBI in fieberhafter Eile durchleuchtet. Ebenso wie das Leben von vier Personen, die auf der Party waren und sie lebend überstanden hatten. Da war zunächst der siebenunddreißigjährige Rechtsanwalt James Dooley. Er wohnte in Rosemont, war verheiratet und hatte zwei Kinder. Eliot Ness suchte ihn sofort in seiner Praxis auf und sprach mit ihm. Dooley machte einen verhältnismäßig guten Eindruck, trug sich sportlich und war offensichtlich sehr bemüht, jünger zu erscheinen als er war. Er hatte, wie er erklärte, keinen Karamelpudding gegessen. Als er hörte, was geschehen war, wollte er es nicht glauben. Sein Schreck schien echt zu sein. Der zweite Mensch, der die Party überlebt hatte, war eine junge Frau namens Meta Lowell. Sie war sechsundzwanzig Jahre alt und die Tochter eines 44
wohlhabenden Mannes unten aus Elmwood Park. Auch sie hatte, wie sie erklärte, keinen Karamelpudding gegessen. Ebenso wie Dooley war sie über die drei Toten von der Party entsetzt. Der dritte Überlebende war ein Mann namens Ferry Green. Es war verhältnismäßig schwer gewesen, ihn zu finden, denn wenn Eliot geglaubt hatte, auch in ihm einen wohlhabenden Mann zu finden, dann sah er sich getäuscht. Green war Friseur; er wohnte in Wood Dale in einer kleinen Seitenstraße und blickte verstört drein, als der Polizeioffizier ihn zu sprechen wünschte. Als er dann noch hörte, daß es das FBI war, schrak er zusammen. Er war ein Mann von vierunddreißig Jahren mit hagerem Gesicht, gefärbtem blondem Haar, dunklen Brauen und dunklen Augen. Sein Wesen wirkte seltsam süßlich und gekünstelt. Eliot Ness täuschte sich nicht, als er vermutete, daß er hier einen Mann vor sich hatte, der sich nicht für Frauen interessierte. Aber der Chef‐ Inspektor war ein Mensch, der weit davon entfernt war, sich in dieser Hinsicht Vorurteile zu bilden. Hatte er doch auch genügend Menschen kennengelernt, die die gleiche Veranlagung hatten wie dieser Friseur und deswegen nicht schlechter waren als andere Menschen. Aber dieser Ferry Green machte doch einen ziemlich seltsamen Eindruck: Verstört, huschig und unstet gingen seine Augen; seine Bewegungen waren fahrig, und er erklärte, nachdem er von dem dreifachen Tod, der der Party gefolgt war, erfahren hätte, daß er keinen Hummercocktail zu sich genommen hätte. 45
Der vierte Überlebende der Todesparty von Des Plaines war wieder eine Frau, ihr Name war Ginger Astor. Sie wohnte oben in Buffalo Grove. Als Eliot Ness und Pinkas Cassedy das Anwesen der Astors betraten und sich nach einer Sprechfunk‐Rückfrage das große schmiedeeiserne Tor öffnete, meinte Cassedy: »Na also, da komme ich doch wenigstens auch mal zu den Astors.« Ginger Astor war nur entfernt mit den Milliardären aus New York verwandt; aber was sie mit ihnen gemein hatte, war höchstwahrscheinlich das Geld. In der offenen Garage sahen die beiden G‐men ein halbes Dutzend eleganter Automobile stehen; zwei Männer in Overalls waren damit beschäftigt, sie auf Hochglanz zu bringen. Der Butler war hager, steif und ganz und gar britisch. Als er hörte, wer die beiden Männer waren, führte er sie sofort in die Halle und bat sie, Platz zu nehmen. Rechts in der Halle führte eine breite Marmortreppe, ähnlich wie bei Leester, nur viel ausladender, ins Obergeschoß. Ein geschwungener Messinghandlauf führte über kunstgeschmiedeten Geländestäben nach oben. Auf dem dunkelgrünen Läufer tauchte jetzt fast lautlos eine Frau auf. Bei ihrem Anblick erhoben sich die beiden G‐men. Es war eine junge Frau Anfang der Zwanzig mit einem blonden Bubikopf und blauen Augen. Sie war so hübsch, daß Cassedy unwillkürlich schluckte. Ihre wohlgeformte Figur steckte in einem modischen Hosenanzug von dunkelroter Farbe, der ihre Erscheinung noch betonte. Leichtfüßig trat sie auf den großen Chinateppich und 46
blieb vor den beiden Männern stehen. »Guten Tag, ich bin Ginger Astor. Sie wollten mich sprechen?« Eliot blickte sie forschend an. »Es tut mir leid, Miß Astor, daß wir Sie stören müssen. Mein Name ist Ness, ich bin vom FBI, und das ist Inspektor Cassedy.« »Ness?« sagte die Frau, während sie ihre geschwungenen Brauen etwas zusammenzog. »Sind Sie Eliot Ness?« »Ja.« Es war dem FBI‐Agenten absolut nicht angenehm, daß er in Chicago bereits so populär war. Sein Gegner Matherley hatte dafür gesorgt, und zwar, ohne es eigentlich zu wollen. »Miß Astor, es handelt sich um die Party vom vergangenen Samstag –«, absichtlich legte Eliot hier eine Pause ein, aber im Gesicht der Frau rührte sich kein Muskel. »Es gab auf der Party Hummercocktail, Filetsteak, Pommes frites, grünen Salat und Karamelpudding. Ich wollte Sie fragen, ob Sie von all diesen Speisen gegessen haben.« »Weshalb? War irgend etwas nicht in Ordnung?« »Das eben wird untersucht.« »Warten Sie – ich habe von dem Hummercocktail gegessen, ja, Pommes frites nicht sehr viel. Filetsteak? Ja, ich habe ein Filetsteak gegessen. Grünen Salat habe ich
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auch gegessen, und natürlich den Karamelpudding. Ich liebe Pudding, müssen Sie wissen.« Sie war hinreißend schön, und Cassedy war begeistert von ihr. »Was ist denn nur geschehen«, fragte sie, »daß das FBI wegen eines Party‐Menüs zu mir kommt?« »Nur vier der Leute, die die Party besucht haben, Miß Astor, leben noch.« Da wich sie einen Schritt zurück, preßte beide Hände vor ihr Gesicht und blickte den Chef‐Inspektor aus zutiefst erschrockenen Augen an. »Wie soll ich das verstehen?« »Nur Sie, Miß Lowell, ein Mr. Green und der Anwalt Dooley haben die Party überlebt.« Sie nahm die Hände herunter und legte den Kopf auf die Seite. »Aber ich begreife nicht. Es waren doch noch mehr Leute da, zum Beispiel Miß Bedford und ihr Freund und –« »Sie sind beide tot, ebenso wie Richard Leester selbst.« »Nein«, stammelte sie entgeistert, »das kann doch nicht wahr sein.« * Die Auskunft Ginger Astors machte die Kalkulation des FBI zunichte: Sie hatte von allem gegessen. Demnach konnte das Essen kaum vergiftet gewesen sein. Oder Ginger Astor irrte sich. 48
Oder sie log. Jeder von ihnen konnte lügen. Vielleicht hatten sie alle nichts von dem Karamelpudding gegessen. »Weshalb versteifen wir uns eigentlich so auf diesen verdammten Pudding?« knurrte Cassedy, als sie im Labor des FBI waren, wo die Ergebnisse der Untersuchungen der Speisereste aus den Mägen der Toten vorlagen. »Weil eben Pudding eine Speise ist, die am leichtesten zu vergiften wäre.« »Weil der Geschmack mit Zucker zugedeckt ist?« »Richtig.« Sie konnten alle vier lügen. Jeder von ihnen konnte der Täter sein. Demgegenüber aber stand die Behauptung der Köchin und auch des Butlers, daß keiner von ihnen Zugang zur Küche hatte und daß auch niemand von ihnen in der Küche gesehen worden war. Noch einmal nahm sich Eliot Ness die Köchin vor. Ihr Leben war vollkommen durchleuchtet worden und lag wie ein aufgeschlagenes Buch vor dem FBI. Es war das Leben einer einfachen Frau, die aus dem kleinen Vorort Pascal am Westrand der Stadt stammte, schon in früher Jugend in die Kochlehre geschickt worden war und dann in fünf Haushalten gearbeitet hatte. Es waren nur ausgezeichnete Zeugnisse, die man ihr hatte ausstellen können, und seit sieben Jahren arbeitete sie für die Familie Leester. Sie war eine stille Frau, die ihr Geld für einen Neffen sparte, der drüben im Westen lebte und 49
hoffte, eines Tages in Chicago aufs College gehen zu können. Mrs. Pine war seit neunzehn Jahren Witwe. Ihr Mann war sehr früh bei einem Unfall ums Leben gekommen. Mr. Randolph Leester selbst ließ sich niemals in der Küche sehen, wie die Köchin und auch der Butler erklärten. Natürlich war auch sein Leben durchforscht worden, aber auch da gab es nicht einmal einen grauen Punkt, ähnlich verhielt es sich mit dem Butler, der einen untadeligen Leumund hatte. * Es war gegen Abend, als Eliot Ness in der Privatwohnung des Anwalts Dooley in der Nähe der großen Rosemont‐Kreuzung, und zwar in der Norwood Street, auftauchte. Die Frau des Anwalts, Mrs. Lena Dooley, war eine untersetzte Frau Mitte oder Ende der Dreißig, mit aufgeschwemmtem Gesicht, großporiger Haut und großen dunklen Augen, unter denen bereits Tränensäcke lagen. Sie hatte eine Figur, die längst aus der Form geraten war, und schwere Beine; ein Schweißgeruch schlug dem Besucher entgegen, als sie ihm die Tür öffnete. Ihr Haar war nicht sonderlich gepflegt, und auch sonst wirkte sie bis auf ihre Kleidung ungepflegt. Das Kleid war schwarz und elegant gearbeitet, und die Schuhe aus Krokoleder. Mrs. Dooley führte den Polizeioffizier in den 50
Wohnraum, der nach dem Zeitgeschmack etwas überladen eingerichtet war. Er hatte englische Stilmöbel, dazu unpassend moderne Bilder an den Wänden; auf einem olivgrünen Bodenbelag lagen blaurote Teppiche und aus mehreren versteckten Lautsprechern drang eine fürchterlich aufdringliche moderne Musik. Es dauerte eine ganze Weile, bis es der Frau einfiel, die Lautsprecher abzustellen. Dann blieb sie vor dem Inspektor stehen. »Ja?« »Ich hätte mich gern einen Augenblick mit Ihnen unterhalten, Mrs. Dooley« »Ja – was ist denn los?« erkundigte sie sich, ohne jedoch allzu großes Interesse zu bekunden. Sie hatte keine Ahnung von den Wegen ihres Mannes, und daß er am Samstagabend auf einer Party war, wußte sie gar nicht. Eliot hielt es im Moment nicht für notwendig, es ihr mitzuteilen. Er wollte sie nur kennenlernen und einen Blick in das Heim des Anwalts werfen; so etwas konnte zuweilen sehr aufschlußreich sein. Von den Bekannten ihres Mannes wußte sie nichts, und der Name Leester war ihr nicht einmal bekannt. Eliot kam trotzdem nicht zu der Feststellung, daß er es hier mit einer bedauernswerten Ehefrau, sondern vielmehr mit einer Egoistin zu tun hatte, die nur an sich selbst dachte und die ihre Ehe längst abgeschrieben hatte. Sie hatte zwei Kinder, die beide völlig unerzogen waren, einen Höllenlärm veranstalteten, den Besucher nicht einmal grüßten und ständig im Treppenhaus hin und her 51
liefen. Er war froh, als er wieder draußen war. Wenige Minuten nach halb neun war Eliot Ness wieder drüben in Wood Dale in der Hillcrest Avenue. Es war ein dreigeschossiges Haus modernerer Bauweise, in dem sich unten das Friseurgeschäft von Ferry Green befand. Der G‐man ging in das unverschlossene Treppenhaus und vermied es, das Flurlicht anzuzünden. Im Obergeschoß ließ er den scharfen Strahl seiner kleinen Stablampe auf das große Messingschild mit dem Namen Ferdinand Green fallen. Hinter den Ornamentglasscheiben brannte Licht. Eliot drückte auf die Glocke. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann wurde ihm geöffnet. Ferry Green wich vor Schreck einen Schritt zurück, als er sah, wer da vor ihm stand. »Sie schon wieder, Inspektor? Ja, was wollen Sie denn?« »Ich möchte noch einmal mit Ihnen sprechen, Mr. Green.« »So? Dann wüßte ich gern, was Sie berechtigt, mich zu so später Stunde noch aufzusuchen.« »Es handelt sich um Mord, Mr. Green«, sagte Eliot mit rauher Stimme. Der Friseur ging mit wedelnden Hüften vor ihm her in sein Wohnzimmer und ließ das Licht des Kronleuchters verlöschen.
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Dafür machte er zwei kleine Wandlampen an, die ein magisches Licht auf den mit allerlei Nippessachen vollgestopften Raum warfen. Die Luft war mit Parfüm geschwängert; an der Wand hing ein lebensgroßer männlicher Akt. Als Green den raschen Blick des Inspektors bemerkte, hüstelte er gekünstelt. »Sie sind unverheiratet, Mr. Green?« »Soll das etwa ein Vorwurf sein?« Das rasche Gekränktsein dieses Mannes gefiel ihm nicht. Andererseits wußte er aus Erfahrung, daß Menschen wie dieser Ferry Green dazu neigten, in jeder Frage bereits eine Kränkung zu erblicken. »Natürlich nicht, Mr. Green. Ich wüßte nur gern, wer Sie zu der Party am Samstag eingeladen hat.« »Ric natürlich. Ich meine, Mr. Richard Leester.« »Aha.« »Wieso? Ist daran auch etwas nicht in Ordnung?« Die angehobene Stimme konnte wieder den Vorwurf nicht unterdrücken. »Sie sind also mit Mr. Leester befreundet gewesen?« »Ist etwas dabei?« »Dabei nicht«, entgegnete Eliot, setzte seinen Hut auf, murmelte eine Entschuldigung und verließ das Haus. Wenige Minuten nach zehn stand er in dem Park, der zu dem Anwesen der Lowells gehörte. Er hatte absichtlich nicht geklingelt und ging vom offenen Tor auf das Haus zu, als er plötzlich neben sich im Gebüsch ein Geräusch 53
hörte. Er blieb stehen, ging zurück und schritt um das Gebüsch herum. Wenige Schritte von ihm entfernt stand ein Mann. Die Hand des Inspektors hatte sich um die fünfundvierziger Colt‐Automatic gespannt. »Guten Abend«, sagte er. Da wandte sich der Mann um und wollte flüchten. Der FBI‐Agent hatte ihn nach vier Sätzen eingeholt und zerrte ihn von einem Rasenstück auf den Weg, wo das Sternenlicht durch eine Baumlichtung fiel. Er hatte einen höchstens sechzehnjährigen Burschen vor sich, der einen Overall trug und in Turnschuhen war. »Wer sind Sie?« »Das gleiche könnte ich Sie fragen.« »FBI«, sagte der Inspektor, während er seinen Ausweis hervornahm und die Lampe kurz darauf leuchten ließ. Der Bursche schluckte. »Damned, was soll das bedeuten? Hat sie mir etwa die Polente auf den Hals gehetzt?« »Von wem sprechen Sie?« »Von wem schon? Von Meta.« »Sie sind bei Miß Lowell angestellt?« »Angestellt? Haha, das war ich mal. Aber sie kann mich nicht brauchen. Ich bin ihr wahrscheinlich nicht fein genug.« »Was soll das heißen?« »Was weiß denn ich? Sie hat mich entlassen.« »Wann?« »Heute morgen.« 54
»Weshalb?« »Keine Ahnung.« »Und was suchen Sie jetzt hier?« »Ich bin hergekommen und wollte ihr ein paar Scheiben einschmeißen, damit Sie es wissen.« »Wem wollen Sie das erzählen, Freund?« »Nennen Sie mich nicht Freund, Inspektor. Ich weiß genau, daß die Polizei nicht mein Freund ist.« »Kommen Sie mit«, sagte Eliot und zog ihn mit sich auf den breiten Kiesweg, der zum Haus führte. Meta Lowell war nicht daheim. Ihr Bruder, ein Mann in den Vierzigern, der offensichtlich mit einer schriftlichen Arbeit beschäftigt gewesen war, kam noch mit einem Manuskriptblatt in die Diele. »Meta müßte eigentlich jeden Augenblick kommen.« »Ist es möglich, daß unser junger Freund das gewußt hat?« »Ach, Ben. Was suchen Sie denn hier?« meinte Metas Bruder. Der Bursche schwieg. »Ich habe gehört, daß meine Schwester ihn entlassen hat. Er soll ziemlich aufsässig gewesen sein.« »Sind Sie auch der Ansicht, daß er aufsässig ist, Mr. Lowell?« »Ich weiß nicht. Ich habe fast nichts mit ihm zu tun. Außerdem leitet meine Schwester hier alles. Sie müssen wissen, ich bin Schriftsteller. Ich lebe nur in meiner Arbeit.« »Dann möchte ich Sie auch nicht weiter stören.« 55
In diesem Augenblick drang von draußen das Geräusch eines stoppenden Wagens in die Diele. Eliot blieb im Türwinkel mit dem Jungen stehen. Es war Meta Lowell, die hereinkam. Sie warf einen Schlüsselbund auf den Garderobentisch und zog ihren weißen Sommermantel aus. Im selben Moment hatte sie im Spiegel die beiden im Türwinkel entdeckt. Auch ihren Bruder sah sie in der halboffenen Tür zu seinem Arbeitszimmer stehen. »Was soll das bedeuten?« fragte sie, während sie den Inspektor anblickte. »Sie haben den jungen Mann hier entlassen, Miß Lowell?« »Ja. Ist etwas dabei?« »Würden Sie mir sagen, weshalb Sie ihn entlassen haben?« »Das will ich Ihnen sogar ganz genau sagen«, erklärte sie, während sie mit federnden Schritten näher kam. »Er ist aufdringlich und – er stellt mir nach.« »Das ist nicht wahr!« empörte sich der Bursche. »Sei still!« fuhr sie ihn an. »Wie oft habe ich beobachtet, daß du mir nachgeschlichen bist, sowohl hier im Park als auch im Haus, und sogar schon unterwegs in der Stadt. Ich habe ihn beobachtet, wie er mit unserem Ford hinter mir herfuhr.« Der Bursche schwieg jetzt. »Ich habe ihn vorhin hier im Park aufgegriffen«, sagte der Polizeioffizier. »Er erklärte mir, daß er Ihnen ein paar Scheiben einwerfen wollte. Was mir weniger gefällt, ist 56
die Tatsache, daß er ein Stilett in der Tasche hat.« Ben war so erschrocken, daß er sich nicht zu rühren vermochte. Woher wußte der G‐man, daß er ein Stilett in der Tasche hatte? Konnte der einem etwa durch die Kleidung sehen? Meta Lowell blickte den Jungen aus ärgerlichen Augen an. »Wenn du nicht sofort zusiehst, daß du verschwindest, werde ich dich anzeigen.« Eliot, der die Personalien des Jungen aufgenommen hatte, forderte ihn auf, in der Diele zu warten, während er mit Meta Lowell in den Salon ging. »Sie sind doch nicht wegen des Jungen gekommen?« forschte die Frau, während sie ihn aus fragenden Augen anblickte. »Nein, ich wollte Sie noch einmal wegen der Party befragen, Miß Lowell.« »Bestehen da noch Unklarheiten?« »Ja, und zwar eine ganze Menge. Irgend jemand muß Zutritt zur Küche gehabt haben.« »Aber da war doch die Köchin.« »Natürlich. Aber sie hat das Haus nicht verlassen, und zwar seit Tagen nicht. Die Lebensmittel wurden ihr von den Firmen ins Haus gebracht. Ich habe sowohl von den Zutaten des Hummercocktails wie von dem Karamelpudding und den anderen Speisen Proben untersuchen lassen. Die Sachen waren alle einwandfrei.« »Vielleicht hat die Köchin da irgend etwas unternommen.« 57
»Miß Lowell, ich möchte Ihnen eine Frage stellen: Überlegen Sie genau, ob Sie am Samstagabend vor oder während der Party irgend jemanden beobachtet haben, der sich vielleicht in der Nähe des Hauses aufhielt und der nicht zu den Partygästen gehörte; oder der vielleicht doch zu den Partygästen gehörte, und den Sie in der Nähe der Küche gesehen haben, sei es im Haus oder sei es draußen im Garten vor der zweiten Küchentür.« Die Frau blickte ihn schweigend an und rührte sich nicht. Eliot spürte, daß es hier etwas gab, das vielleicht nicht uninteressant war. Sekundenlang war es still. Als die Stille schon drückend wurde, öffnete die Frau die Lippen, und zwar in einer Weise, die typisch für sie war. Meta Lowell war ein sportlicher, schlanker Typ, sehr gut aussehend, vielleicht ein wenig zu streng, aber doch interessant genug, um einen Mann wie Richard Leester zu verlassen, sie zu dem Kreis seiner Partygäste zu bitten. »Ja«, sagte sie jetzt mit leiser Stimme, »ich habe jemanden gesehen.« Stille. Nur das harte Schlagen des Perpendikels der antiken Wanduhr zerschnitt die Zeit. »Eine Frau?« Meta Lowell nickte. »Wo?« »Draußen.« »Also im Garten?« 58
»Ja. Ich habe sie an der Hausecke gesehen, wo der große Jasminstrauch steht.« »Das wäre also ziemlich nah an der Küchentür gewesen.« »Ja, sehr nah sogar.« »Können Sie sie beschreiben?« »Das ist ziemlich schwer –« »Wie alt war sie?« »Auch das ist nicht leicht zu sagen.« »Eine jüngere oder eine ältere Frau?« »Ich würde sagen: eine jüngere Frau, vielleicht an die Vierzig.« »Wie sah sie aus?« »Sie trug einen dunklen dünnen Mantel und – tja, ihr Haar war nicht sonderlich ordentlich.« Da griff Eliot Ness in die Tasche und nahm das Foto heraus, das Joseph Lock mit der deutschen Spezialkamera heimlich von der Frau des Anwalts Dooley aufgenommen hatte, und hielt es ihr hin. »Ist sie das?« Verblüfft starrte Meta Lowell auf das Foto. Dann nickte sie. »Ja, das ist sie!« * Als Eliot Ness vor dem Haus in der Norwood Street stand, sah er nur noch im Obergeschoß Licht brennen. Er drückte auf die Klingel und wartete. Es dauerte eine 59
ganze Weile, bis unten in der Tür ein kleines Fenster geöffnet wurde. Lena Dooley sah den Polizeioffizier befremdet an. »Mr. Ness? So spät?« »Ich bedaure, daß ich Sie stören muß, Mrs. Dooley. Ich muß noch einen kurzen Augenblick mit Ihnen sprechen.« »Jetzt um diese Zeit?« »Es läßt sich leider nicht ändern.« Sie öffnete und ließ ihn eintreten. Sie war keineswegs in einem Morgenmantel oder vielleicht in einem Nachtgewand, sondern sie war noch vollkommen angekleidet. »Mrs. Dooley, würden Sie mir wohl sagen, wo Sie am Samstagabend gegen neun Uhr gewesen sind?« Die Frau blickte ihn erschrocken an. »Natürlich hier daheim, wo sonst?« »Ja, wo sonst. Eben das wüßte ich gern, Mrs. Dooley.« »Aber ich habe es Ihnen ja gesagt: ich war hier zu Hause.« »Sind Sie dessen sicher?« »Ganz sicher.« Sie versuchte ein dünnes Lächeln und fuhr sich dann mit einer fahrigen Geste durch ihr ungepflegtes Haar. »Ich kann doch meine Kinder nicht allein lassen. Glauben Sie, ich laufe nachts allein draußen herum?« »Mrs. Dooley, wissen Sie genau, daß Sie um die angegebene Zeit nicht drüben in Des Plaines in der Forest Avenue gewesen sind?« »Forest Avenue? Die kenne ich gar nicht.« 60
»Und Sie kennen auch nicht das Haus von Mr. Leester? Sind Sie nicht zufällig Ihrem Mann gefolgt, der da eingeladen war?« »Nein, ich habe keine Ahnung, wo mein Mann eingeladen war. Ich glaube, er hatte eine Besprechung mit einem Klienten unten in River Grove.« Der G‐man blickte die Frau forschend an und schüttelte dann den Kopf. »Ich bedaure, Mrs. Dooley, daß Sie es mir so schwer machen.« »Was soll denn das heißen?« versuchte es die Frau jetzt mit Entrüstung, während sie sich wieder nervös durchs Haar fuhr und einen Schritt rückwärts machte. »Sie sind am Samstagabend in der Forest Avenue gewesen, Mrs. Dooley.« »Das ist eine Verleumdung!« »Sie brauchen nicht zu schreien. Das macht auf mich nicht den geringsten Eindruck.« »Wie wollen Sie denn beweisen, daß ich in der Villa gewesen bin?« »Ich habe ja nicht behauptet, daß Sie in der Villa gewesen sind, sondern auf dem Anwesen, und zwar im Garten. Sie sind nämlich gesehen worden.« »Das ist ein Bluff!« Eliot setzte seinen Hut auf und erklärte: »In Anbetracht der Möglichkeit, daß Sie vielleicht nur Ihrem Mann gefolgt sind, um festzustellen, wohin seine Wege führen, bringen Sie sich selbst in Ungemach, Mrs.
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Dooley. Auf der Party, die Ihr Mann da aufgesucht hatte, sind drei Menschen ums Leben gekommen.« »Waas –?« Sie starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Wieder schlug ihm ihr unangenehmer Körpergeruch entgegen, als sie jetzt die Arme hochriß. Wie konnte ein Mann diese ungepflegte Frau noch lieben? Ein Mann wie dieser junge James Dooley beispielsweise. Eliot, der Tag für Tag immer wieder neue Menschen kennenlernte, fragte sich oft verwundert, wieso Frauen nicht selbst auf den Gedanken kamen, den Grund bei sich selbst zu suchen, der ihre Männer aus den Häusern trieb. Aber das waren Dinge, die hier keine Rolle spielten. »Würden Sie sich jetzt zu einer Erklärung bequemen, Mrs. Dooley?« Die Frau, die er nur für schlampig und selbstsüchtig gehalten hatte, bewies jetzt mit ihrer raschen, scharf hervorgebrachten Antwort, daß sie doch sehr viel härter war, als er vermutet hatte. »Sie drücken es geschickt aus: Erklärung, um mich unsicher zu machen. Aber statt einer Erklärung erwarten Sie natürlich ein Geständnis von mir. Aber da irren Sie sich, Inspektor Ness. Ich habe damit nichts zu tun.« »Von einem Geständnis habe ich nicht gesprochen, und ich habe auch keines gemeint. Ich erwartete eine Erklärung, Mrs. Dooley. Da Sie nicht gewillt sind, sie mir zu geben, muß ich Sie bitten, mich zu begleiten.« »Zu begleiten? Wohin?« »Ins Untersuchungsgefängnis.« 62
»Das ist doch ungeheuerlich, unmöglich ist das! Ich habe zwei Kinder im Haus.« »Für die Kinder wird gesorgt. Ich werde eine unserer Beamtinnen herschicken.« »Das werde ich auf keinen Fall dulden.« »Mrs. Dooley, ich erkläre Ihnen hiermit, daß ich Sie im Namen des Gesetzes verhaften muß.« Leichenblässe überzog das Gesicht der Frau. Sie zuckte zusammen wie unter einem Nervenstoß, schüttelte den Kopf und stammelte: »O Gott, o Gott…« Aber zu einer Erklärung fand sie sich nicht bereit. Eliot brachte sie zum Oakwood Cemetery und unterzog sie da einem einstündigen Verhör, an dem Pinkas Cassedy, Joseph Lock, Daniel O’Connor und Teodore O’Keefe teilnahmen. Lena Dooley war aus härterem Holz geschnitzt, als man es ihrem weichlichen, aufgeschwemmten Äußeren hätte ansehen können. Unter dieser Hülle verbarg sich der zählederne Charakter eines Weibes, das ebenso viel List wie Selbstsucht, Hysterie und Kaltblütigkeit besaß. Ihre Antworten bewiesen es. Beharrlich versuchte sie, den Fragen der G‐men mit Raffinesse auszuweichen und auf ihrer Behauptung, nicht in der Forest Avenue gewesen zu sein, zu bestehen. Es war schon spät in der Nacht, als der Chef‐Inspektor sich plötzlich erhob. Er beugte sich weit über den Tisch und sagte mit dumpfer Stimme: 63
»Mrs. Dooley, es hat keinen Zweck. Sie haben sich jetzt mehrfach in Widersprüche verwickelt.« Das stimmte zwar nicht, aber es gehörte zur Taktik des Polizeioffiziers. »Wieso?« kam es wie aus der Pistole geschossen zurück. »Ich weiß jetzt genau, daß Sie im Garten der Leesters gewesen sind – und zwar in der Nähe der Küche. In dieser Küche aber waren die Speisen, die drei Menschen den Tod gebracht haben.« Da sackte die Frau plötzlich lautlos zusammen. Ihr Gesicht war wächsern, gelb und ihre Lippen standen offen. Sie sah jetzt, als sie ohnmächtig in ihrem Sessel hing, noch häßlicher aus als sonst. Eliot Ness ließ sie sofort ins Gefängnishospital überweisen. »Na also, da sind wir der Sache ja auf den Nabel gerückt«, meinte Cassedy, »vielmehr Sie sind ihr auf den Nabel gerückt.« »Wer weiß, Pink.« * Am anderen Morgen war der Norweger schon gegen sieben Uhr im Park, der das Haus der Lowells umgab. Er fand die Hintertür offen und sah einen alten Mann, der damit beschäftigt war, Gartengeräte in einen Schuppen zurückzubringen. Es gelang Eliot, unbemerkt ins Haus zu kommen. Er 64
blieb in der Diele stehen und wandte sich dann der Tür zu, die gleich neben der Garderobe war. Er klopfte an, hörte ein schläfriges »Ja« und öffnete die Tür einen Spalt. Meta Lowell lag auf ihrem diwanähnlichen Bett und las. Sie zog erschrocken die Decke hoch bis ans Kinn, als sie sah, wer da in der Tür stand. »Das ist ja eine Ungeheuerlichkeit!« entfuhr es ihr. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie so früh störe, Miß Lowell, aber die Frage, die ich an Sie richten muß, duldet keinen Aufschub.« »Konnten Sie mich nicht anrufen?« »Das habe ich versucht, aber niemand nimmt den Hörer auf.« »Ach, dann hat mein Bruder wahrscheinlich das Telefon wieder herausgezogen.« »Das ist nicht gut möglich, da Ihr Bruder das Haus gestern vor Mitternacht verlassen hat. Sie selbst aber haben noch nach Mitternacht telefoniert.« »Ich –?« »Haben Sie mir nichts zu sagen, Miß Lowell?« »Nein, was sollte ich Ihnen zu sagen haben, Inspektor?« »Dann werde ich Ihnen etwas sagen: Ich habe gestern abend Lena Dooley festgenommen.« »Und?« »Sie sagten mir, daß Sie nicht wüßten, wer die Frau ist, die Sie im Park gesehen haben.« »Ich verstehe Sie nicht«
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»Die Frau war Lena Dooley, die Frau Ihres Freundes James Dooley.« Sie fuhr entgeistert zurück, schluckte vor Schreck und stotterte: »Das ist ja eine –« Die Stimme versagte ihr. »Beruhigen Sie sich, Miß Lowell.« »Ich muß mir auf das Energischste verbitten, daß Sie es wagen, mir eine solche Unterstellung –« »Miß Lowell, Sie wissen, daß Mr. Dooley verheiratet ist.« »Möglich, aber was geht das mich an?« »Sie sind seine Geliebte.« Da sprang sie hoch, ungeachtet der Tatsache, daß sie nur einen sehr kurzen Pyjama trug, der mehr von ihrer Gestalt zeigte, als ihr lieb sein konnte. Sie machte ein paar hastige Schritte vorwärts und riß eine Haarbürste von ihrem Toilettentisch. »Ich muß Sie bitten, Inspektor, mein Schlafzimmer zu verlassen!« stieß sie mit bebender Stimme hervor. »Ich werde draußen auf Sie warten.« Da flog ihr Kopf herum. »Was soll das heißen?«. »Das soll heißen, daß Sie genau gewußt haben, wer die Frau ist, die Sie beschuldigt haben.« Erst nach Sekunden preßte sie heiser hervor: »Ja, ich wußte es. Aber es ist die Wahrheit.« »Wie soll ich Ihnen das jetzt noch glauben? Sie sind die Geliebte von James Dooley, und Sie haben seine Frau in einen schweren Verdacht gebracht.« 66
»Hören Sie, Eliot Ness«, sagte sie dann mit einer Ruhe, die er ihr nicht zugetraut hätte, »ich bin seine Freundin, gut – weil er mit dieser verdammten Schlampe nicht leben kann, und weil sie ihn nicht freigibt. Sie weiß ganz genau, daß er mit mir befreundet ist, schon seit zwei Jahren. Als ich sie am Samstagabend im Garten der Leesters sah, erschrak ich selbst zu Tode und habe seitdem nichts als Angst ausgestanden. Als ich dann von Ihnen hörte, was geschehen war, wußte ich genau, daß nur sie das Rattengift in den Pudding gemischt haben konnte.« »Wie interessant, Miß Lowell, daß Sie wissen, daß es Rattengift war. Und fast noch interessanter ist die Bemerkung von Ihnen, daß das Gift im Pudding war.« »Habe ich das gesagt?« »Das haben Sie gesagt.« »Na ja, ist doch auch ganz logisch.« »Logisch ist es nicht. Es sind etliche Speisen aufgetragen worden, in denen es ebenso gewesen sein könnte.« »Ich weiß es auch nicht. Man ist ja schon völlig durcheinander.« In diesem Augenblick schrillte draußen das Telefon. »Ich dachte, Ihr Bruder hatte es herausgezogen?« »Ach«, sagte sie da plötzlich mit einer müden Bewegung, ging an ihm vorbei und nahm in der Diele den Telefonhörer auf.
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»Na, warte nur«, preßte sie nach kurzem Horchen in die Muschel, »ich werde dich schon kriegen, und dann kannst du was erleben.« Mit einem Ruck warf sie den Hörer auf. Eliot blickte sie nur an. Da zog sie die Schultern hoch, ging an ihm vorbei in ihr Schlafzimmer und sagte wie zu sich selbst: »Es war Ben.« »Was wollte er?« »Es ist immer das gleiche: er verfolgt mich mit Obszönitäten.« »Würden Sie mir das etwas genauer erklären?« Da blieb sie stehen, wandte den Kopf um und blickte ihn aus großen, erstaunten Augen an. »Er sagt mir irgendeine Schweinerei, irgend etwas, das jeder Frau das Blut ins Gesicht treiben muß.« Ihr Gesicht war jedoch völlig normal, fast etwas zu blaß. Da schrillte draußen wieder das Telefon. Meta Lowell wandte sich mit einem Ruck um, preßte die Zähne aufeinander, stürmte dann hinaus, nahm den Hörer auf und schrie: »Jetzt reicht es mir! Ich werde dich verklagen, Ben, und dann kannst du was erleben!« Plötzlich zog sie die Brauen zusammen. »Wie bitte?« Sie nahm den Hörer vom Ohr und hielt ihn dem Inspektor hin. »Es ist für Sie.«
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Es war Cassedys Baßstimme, die da an das Ohr des Inspektors drang. »Eine üble Nachricht, Chef. Lena Dooley ist tot.« »Was –?« »Sie hat sich umgebracht.« »Wie war denn das möglich?« »Sie muß Gift bei sich gehabt haben…« * Lena Dooley hatte Selbstmord begangen. War das die Lösung des Rätsels? Hatte sie eine der Speisen auf der Leester‐Party vergiftet? Wollte sie ihren Mann und seine Freundin damit strafen? Hatte sie bedenkenlos das Leben einer Reihe anderer Menschen dabei aufs Spiel gesetzt? Die Frau des Anwalts hatte das, was sie wußte, mit in den Tod genommen. War es wirklich die Schuld, die sie zu ihrer Verzweiflung getrieben hatte? James Dooley saß zusammengesunken hinter seinem Schreibtisch, als er es erfahren hatte, und blickte düster vor sich hin. »Ja, ich bin schon seit zwei Jahren mit ihr auseinander. Daß ich ab und zu noch nach Hause kam, war nur wegen der Kinder. Sie war so eine nette Frau, als ich sie damals kennenlernte. Aber im Laufe der Zeit wurde sie ekelhaft. Sie pflegte sich nicht, obgleich ich sie darum bat, und sie verschleuderte unser Geld derartig, daß mir vor ihr graute.« 69
»Halten Sie es für möglich, Mr. Dooley, daß Ihre Frau in die Küche des Leester‐Hauses gekommen ist, um sich da über die Speisen für die Party herzumachen?« Der Anwalt hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Ich weiß es nicht. Ich kenne sie eigentlich gar nicht. Sie hatte sich in den letzten Jahren zu sehr verändert. Früher hätte ich ihr so etwas nie zugetraut.« Das FBI hatte gründliche Untersuchungen auch über die Person der Lena Dooley angestellt und war dabei zu dem Resultat gekommen, daß der Frau ihrem Wesen, ihrem Charakter und ihren Lebensgewohnheiten nach eine solche Tat eigentlich nicht zuzutrauen war. Aber wer konnte schon in die Seele einer betrogenen Frau blicken? Wahrscheinlich war sie von rasender Eifersucht geplagt worden, als sie in der Samstagnacht ihrem Mann zu den Leesters folgte. Sie hatte es nicht geleugnet, dagewesen zu sein. Aber sie hatte die Tat auch nicht gestanden. * Es gab einen Berg von Arbeit, der den Inspektor von seinem Fall ablenken wollte. In der 58. Straße war ein Wurstfabrikant ermordet worden. Die Demolierung seiner Wohnung und das große rote C auf seiner Haustürschwelle schienen auf eine Täterschaft der Capone‐Bande hinzudeuten. Wieder war der gesamte Polizeiapparat der Stadt in Bewegung. Das FBI hatte 70
seine Spezialisten hingeschickt, und Eliot Ness hatte stundenlang am Tatort zu tun, verhörte Dutzende von Leuten, und als er gegen sieben Uhr zum Oakwood Cemetery zurückkam, fühlte er sich erschöpft. Als er vor Cassedy her durch das Zimmer seiner Sekretärin ging, sah die kleine schwarzhaarige Ruth Everett besorgt zu dem dicken Inspektor auf. Die Tür hatte sich hinter dem Chef‐Inspektor geschlossen, als Ruth Everett aufstand. »Was ist mit ihm? Er sieht ja todelend aus.« »Na, hören Sie, wenn einer den ganzen Tag nichts ißt und auch noch die halbe Nacht unterwegs ist, da wundere ich mich nicht, wenn er plötzlich zusammenbricht. Er ist zwar zäh wie ein Schlittenhund aus seiner Heimat drüben in Norwegen, aber ohne Sprit läuft auch das beste Auto nicht.« »Er hat den ganzen Tag nichts gegessen?« »Solange ich bei ihm war jedenfalls nicht. Ich habe mir zweimal einen ›Hot Dog‹ und einen ›Hamburger‹ (Frikadelle) zwischen die Zähne gestopft. Aber meinen Sie, er wäre auch nur auf den Gedanken gekommen, etwas Ähnliches zu tun? Ich sage Ihnen, dieser Job frißt ihn auf, und genau das wünschen sich einige Leute. Ich denke da vor allem an unseren lieben Freund Matherley.« Ruth Everett blickte auf ein Zeitungsblatt, das neben ihr auf dem Tisch lag. Und schon hatte Pinkas Cassedy ihren Blick bemerkt, trat auf den Schreibtisch zu und nahm das Blatt auf. 71
Es war die »Chicago News«. Auf roten Balken schlugen ihm die Schlagzeilen entgegen: PARTYMORDE IMMER NOCH UNAUFGEKLÄRT. SCHLÄFT DAS FBI? Cassedy knüllte das Blatt zusammen und warf es in den Papierkorb. »Sehen Sie zu, daß er es nicht findet.« »Er hat es ganz bestimmt schon gelesen.« »Wie kommen Sie darauf?« »Weil die Zeitung so lag, daß er es im Vorbeigehen lesen konnte, leider«, sagte das Mädchen betrübt. Dann verließ es den Raum, kam nach ein paar Minuten zurück und hatte zwei Brötchen und eine Tasse Kaffee auf einem kleinen Tablett. Eliot Ness saß bereits wieder hinter seinem Aktenberg, seiner »Peitsche«, wie er es bei sich nannte. Es war ständig ein ganzer Wust von Akten durchzuarbeiten. Einmal die roten Akten, in denen die jüngsten Morde verzeichnet waren, die sich im Bezirk Chicago und in der Stadt selbst ereignet hatten. Dazu waren stets neue Kommentare von seinen Mitarbeitern angefertigt worden, in denen alles, was die Fälle betraf, aufgezeichnet war. Der Chef‐Inspektor hatte herausgefunden, wie wichtig es war, daß er vor allem immer über die neuesten Morde und über alle anderen Kapitalverbrechen unterrichtet wurde. Ferner war in einem grünen Aktenband alles Wissenswerte aus der jüngsten Zeit über die großen Gangs aufgezeichnet, und 72
zwar so kurz und prägnant wie möglich. Eliot Ness hatte mit dieser Aufgabe eigens seinen Mitarbeiter Inspektor O’Connor beauftragt. In einer dritten blauen Mappe waren die Verbrechen aufgezeichnet, die harmloser erschienen. Aber alles mußte durchgearbeitet werden. Dann gab es noch eine schwarze Mappe, in der die neuesten Recherchen speziell über Al Capone zusammengetragen wurden, und eine weiße Mappe, in der die unheimliche Dillinger‐Gang »festgehalten« wurde und alles, was mit ihr zusammenhing. In der letzten, einer braunen Mappe, die sehr dickleibig war, wurden alle neuen Recherchen, die über die anderen großen Gangs zusammengetragen werden konnte, abgeheftet. Selbstverständlich hatte auch der Ness‐ Vertreter Cassedy die gleichen Mappen, um ebenfalls über alles im Bilde zu sein, und auch die Inspektoren Lock und O’Keefe hatten sich über das gleiche Material stets auf dem laufenden zu halten. Eliot Ness hatte ein eigenes System herausgearbeitet, sich auf eine unglaublich rasche Art die notwendigsten Informationen zu verschaffen. Er verstand das Diagonal‐Lesen also schon zu einer Zeit, als es noch längst nicht zum Allgemeinwissen gehörte. Es blieb ihm ja gar nichts anderes übrig, sonst hätte er nämlich allein für diese Arbeit täglich fünfundzwanzig Stunden benötigt. Als die kleine Ruth Everett mit ihrem Tablett an der Tür stand, hob er nur kurz den Kopf, und ein müdes Lächeln stand in seinem Gesicht.
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»Das ist ein glänzender Einfall, Ruth. Kommen Sie her. Ich glaube, ich sollte wirklich etwas essen.« Als die Sekretärin ihm das Tablett auf den Tisch stellen wollte, schüttelte er den Kopf und deutete hinter sich auf die Fensterbank. Befremdet blickte Ruth Everett auf die grauen Gräberreihen des Friedhofes hinunter. Der Oakwood‐ Friedhof schloß gleich hier ans Haus an. Einen scheußlicheren Platz hätte das Dienstgebäude des FBI gar nicht bekommen können. Das schlimmste war, daß an den Fenstern nicht einmal Vorhänge oder Gardinen waren. Der Blick hinaus auf die Grabreihen war gar nicht zu vermeiden. Aber der Norweger blickte lieber über die wenigen Bäume des Friedhofs hinweg zu den Wolkenkratzern hinüber als auf seine Peiniger, die Aktenstapel. Es hätte ja auch nichts genützt, wenn er einen seiner Mitarbeiter damit betraute, alles für ihn durchzuackern, denn er mußte es selbst wissen. Wie ein Arzt, der immer um den neuesten Stand der Medizin, um die neuesten Erkenntnisse der Arzneiwissenschaft unterrichtet sein muß, wenn er auf dem laufenden bleiben will. Kurz vor sieben erhob er sich, nahm seinen Staubmantel und seinen grauen Hut und verließ das Haus. Er hatte Cassedy vorher kurz informiert und mit ihm verabredet, sich abends gegen neun vor dem Waterloo‐ Kino in der Western Avenue zu treffen. Es ging ihnen weniger um die große Filmpremiere, die da stattfand, als 74
um das Publikum, das sich dazu einfand. Bei so etwas mußte man einfach zugegen sein, um festzustellen, wer noch alles aktuell war. Zwar hätte Eliot sich damit begnügen können, daß der dicke Cassedy hinging, denn dann erfuhr er auch alles, aber andererseits sahen vier Augen immer mehr als zwei. Es waren sogar acht Augen da, denn Eliot Ness hatte noch zwei weitere G‐men zu der Premiere »abkommandiert«. Eine solche Premiere war für Chicago immer äußerst interessant und für die Polizei von größter Wichtigkeit; denn seit einigen Jahren tauchte dazu nicht etwa nur die Prominenz auf, die zum Film selbst gehörte oder zum Sport und zur Politik, sondern auch die Prominenz aus der Unterwelt. Al Capone selbst kam zwar nicht, aber sonst alles, was »Rang und Namen« hatte. * Der Norweger hatte sich Zeit gelassen, nach Wood Dale zu kommen. Es war ein trüber, regnerischer Abend. In Chicago wechselte die Witterung sehr rasch, auch im Sommer konnte es an solchen trüben Tagen empfindlich kühl gegen Abend werden. Eliot Ness stand schräg gegenüber von dem Haus, in dem Ferdinand Green seinen Friseurladen hatte. Er sah nur wenige Kunden zu Fuß kommen, die meisten kamen in eleganten Wagen vorgefahren. Der sonderbare Figaro hatte also tatsächlich eine exklusive Kundschaft, die man 75
ihm in dieser Gegend gar nicht zugetraut hätte. Kurz nach acht verloschen unten im Geschäft die meisten Lichter. Eliot wartete noch einen Augenblick und überquerte dann die Straße. Er klopfte an die Tür und hörte rasche Schritte. »Es ist geschlossen«, war im Hintergrund des Ladens die Stimme Greens zu hören. »Aufmachen, Polizei!« Die Tür wurde rasch geöffnet und ein etwa siebzehnjähriger Schlaks mit langem blondem Haar und wässerigen Augen blickte ihn an. Er hatte ein Mädchengesicht, und ebenso wie der Friseur selbst war er in eine Duftwolke gehüllt. Sein Gesicht war erhitzt. Hinten an einer der Frisierhauben stand Green, der den Inspektor aus weit aufgerissenen Augen anblickte. »Was gibt es?« »Schicken Sie den jungen Mann weg, Mr. Green. Wir haben etwas miteinander zu besprechen.« »Ja, Randes, Sie können gehen.« »Ist gut, Boß«, meinte der süßliche Junge, zog seinen Arbeitskittel aus, zog die Schultern hoch und schlenderte davon. »Ein Freund von Ihnen?« erkundigte sich Ness, während er sich auf einen der Frisiertische niederließ und den Barbier scharf fixierte. »Was soll das heißen?« »Seien Sie nicht so empfindlich. Ich habe nur gefragt, ob der junge Mann auch einer Ihrer Freunde ist.« »Wie meinen Sie das?« 76
»Hören Sie, Mr. Green, wir wollen diesen scharfen Ton gar nicht erst in unsere Unterhaltung bringen.« »Ich verstehe überhaupt nicht, was Sie immer bei mir suchen. Sie sind jetzt schon zum drittenmal hier.« »Ich hoffe, zum letztenmal, Mr. Green. Ich möchte Sie nämlich heute etwas fragen, das ich schon längst wissen wollte.« »Ja?« »Waren Sie mit Richard Leester befreundet?« Flammende Zornesröte übergoß das fahle Gesicht des Friseurs. »Was soll das heißen?« »Schießen Sie nicht dauernd die gleiche giftige Frage auf mich ab«, entgegnete der G‐man, ohne aus seiner lässigen Ruhe herauszufallen. »Dann sagen Sie mir, wie Sie dazu kommen, mich mit Verleumdungen –« Eliot hob den Kopf. »Augenblick, Mr. Green. Ich habe Sie nicht verleumdet. Ich habe eine vernünftige Frage an Sie gerichtet. Eine vernünftige und ganz klar verständliche Frage.« »Ja, natürlich, ich verstehe schon. Sie wollten wissen, ob wir beide etwas miteinander hatten.« »Wenn Sie es so ausdrücken wollen, Mr. Green.« Da versetzte der Barbier plötzlich dem Kopf der Frisierhaube einen Stoß, daß sie durch die ganze Länge des Raumes polterte. Glas splitterte, und die Schnüre schlugen hinter dem Geschoß drein. 77
»Na und? Wenn es wirklich so wäre? Wenn wir einander geschätzt hätten?« »So wäre das durchaus Ihre Sache gewesen, Mr. Green, Ihre – und die Sache von Richard Leester.« »Na also.« »Es war also so.« »Und wenn?!« kam es wie aus der Pistole geschossen. Da stand der Inspektor auf und ging auf den Friseur zu. Dicht vor ihm blieb er stehen. »Sie waren also mit ihm befreundet?« »Ja. Sie wissen es ja jetzt«, fauchte Green und konnte den Blick der eisblauen Augen des Polizeioffiziers nicht ertragen. Er wandte den Kopf zur Seite, und seine schmalen Lippen bebten. Eliot sah jetzt aus der Nähe, daß er nicht nur parfümiert, sondern auch geschminkt war. Er hatte sich ein feines Make‐up aufgetragen, das jedoch unten an seinem Hals nicht allzu sauber verrieben war. Es gab eine Menge unglücklicher Leute unter den Menschen, die die gleiche Veranlagung hatten wie dieser Ferdinand Green. Eliot Ness wußte es. Es waren Leute, die schwer unter ihrer Veranlagung trugen, denen das Anderssein enorm zu schaffen machte, und die zeitlebens nicht damit fertig wurden. Viele von ihnen zerbrachen an ihrem Geschick. »Niemand kann etwas dafür, daß er so ist, wie ich bin«, kam es heiser über die Lippen des Barbiers. »Und so, wie Richard Leester war«, kam es ebenso leise über die Lippen des Polizeioffiziers. 78
Green mußte zu dem Mann, der ihn um halbe Haupteslänge überragte, aufblicken. Ein Glimmen war in seinen dunklen Augen. »Wir waren Freunde, verstehen Sie. Eine innige Freundschaft verband uns.« »Waren Sie wirklich Freunde –?« Es war ein Schuß ins Dunkel, ein Schlagen auf den Busch. Und die Wirkung war enorm. Der Friseur wich blitzschnell zwei Schritte zurück, zog mit dem Fuß eine zweite Frisierhaube heran und stieß sie dem Inspektor entgegen. Eliot Ness, der sonst über ein ganz enormes Reaktionsvermögen verfügte, war auf diesen Angriff nicht vorbereitet. Die schwere Haube traf ihn voll an der Stirn und ließ ihn zurücktaumeln. Mit der Linken hatte er den fünfundvierziger Revolver aus der Manteltasche gezogen. Aber da fiel schon eine Tapetentür zu, und draußen wurde ein Riegel vorgeschoben. Eliot war sofort an der Tür, versetzte ihr einen Tritt und brachte sie damit zwar nicht aus dem Schloß, aber hinten aus einer der Angeln. Es bedurfte fünf weiterer Fußtritte, bis er sie auch aus der zweiten Angel herausgeworfen hatte. Vor ihm führte eine steile hölzerne Stiege nach oben. Er nahm den Hut ab und schob ihn langsam in den Gang. Ein dumpfer Laut ließ die Luft in dem schmalen Treppenhaus erzittern. Ein Schuß aus einer 79
Schalldämpferpistole! Dieser blondgefärbte und geschminkte Parfüm‐Mensch war also bewaffnet und feuerte scharf; und er mußte doch wissen, daß er auf einen Polizisten schoß! Die Kugel hatte die Hutkrempe des Inspektors aufgerissen. Wenn er selbst unter dem Hut gewesen wäre, hätte ihn die Kugel in die Brust treffen müssen, links in die Brust, genau da, wo das Herz saß. Und das hatte der Mann oben am Treppenende nicht gescheut. Sein Gewissen mußte also bleischwer sein. Eliot ging ein paar Schritte zurück, nahm die Haube, die der Friseur auf ihn geworfen hatte, hoch und schleuderte sie in den Treppengang. Im gleichen Moment nahm er den Telefonhörer auf und hatte damit das Klingeln übertönt. Auch die wenigen Nummern, die er jetzt rasch wählte, gingen in dem Getöse, das den Scherbensplittern folgte, noch unter. Dann nahm er einen der Stühle, versetzte ihm einen Stoß und beförderte ihn ebenfalls in den Treppengang. »Rasch, geben Sie mir Cassedy!« flüsterte er in die Muschel. Es dauerte nur zwei Sekunden und die Baßstimme des Dicken war an seinem Ohr. In diesem Augenblick drang von oben wieder der dumpfe Plopp‐Laut der Schalldämpferpistole herunter. »Gehört?« flüsterte Eliot in die Muschel. »Na klar. Doch nicht etwa bei dem Schaumschläger?« »Genau.« »Soll ich die kleine Crew mitbringen?« 80
»Ja.« »Ich fliege!« Cassedy hatte eingehängt. Jetzt kam es nur darauf an, den Mann hinzuhalten, daß er nicht auf den Gedanken kam, das Haus durch irgendeine Seitentür oder sonst einen Ausschlupf zu verlassen. Was hatte dieser eigenartige Mann auf dem Gewissen? Was verband ihn mit Ric Leester? War es die Freundschaft zu diesem Mann gewesen, die zu dieser fürchterlichen Todesparty geführt hatte? Eliot Ness hatte keineswegs die Möglichkeit ausgeschlossen, daß es der ziemlich sonderbare Richard Leester selbst gewesen sein könnte, der das Gift unter die Speisen gemischt hatte. Denn der junge Leester war in der Tat ein recht merkwürdiger Mensch gewesen. Er war ein sehr guter Tennisspieler, bis er sich vor zwei Jahren bei einem Verkehrsunfall den linken Arm verletzt hatte, so daß er als Linkshänder das Racket nicht mehr handhaben konnte wie früher. Das hatte dem sensiblen Menschen einen so schweren Schock versetzt, daß er zum Alkoholiker geworden war. Auch alles andere, was über ihn vom FBI zusammengetragen worden war, hatte das Bild eines leicht kränkelnden, sensiblen und charakterschwachen Menschen ergeben. Er war, wie Ferdinand Green, homosexuell veranlagt, hatte aber keine festen Freunde, wie das FBI ermittelt hatte. Green, den er durch seine häufigen Friseurbesuche kannte, konnte nach den Ermittlungen des FBI eigentlich gar kein 81
so intimer Freund von ihm gewesen sein. Aber wer sollte das mit Sicherheit sagen, denn der lebende Ric Leester war ja nicht von der Polizei beobachtet worden. Es bestand also durchaus die Möglichkeit, daß er einen näheren Kontakt zu dem merkwürdigen Friseur unterhalten hatte. Es war ermittelt worden, daß er sich ebenfalls die Haare hatte färben lassen, wahrscheinlich hier bei Green, und daß er auch ähnlichen Gewohnheiten frönte wie der Figaro aus Wood Dale. Es war still geworden. Nicht der leiseste Laut war zu vernehmen. Draußen fuhr jetzt ein schwerer Lastwagen über den unebenen Asphalt und erfüllte das Haus wieder mit Lärm. Da glaubte der Norweger ein Geräusch zu vernehmen, das sich anhörte wie das Knarren einer Diele. Sollte Green etwa versuchen, herunterzukommen? Glaubte er, daß er mit der Schalldämpferpistole im Vorteil war? Hielt er etwa den Polizeioffizier für unbewaffnet? Eliot schlich über den mit Linoleum ausgelegten Boden auf die andere Seite des länglichen Geschäftslokals, um hinter der Tapetentür stehenzubleiben. Es war allerdings nicht ganz ungefährlich, denn wenn Green etwa durch die eingebrochene Tür feuerte, war es nicht unmöglich, daß er ihn hier noch traf. Eliot mußte wohl oder übel noch zwei Schritte zurück. Das hinderte ihn aber daran, einen Blick in den schmalen, steilen Seitengang zu werfen. Und das sollte sich noch als verhängnisvoll erweisen. 82
In dem Augenblick nämlich, in dem er versuchte, sich am Boden vorwärtszuschieben, um vielleicht doch einen Blick in den düsteren Raum werfen zu können, fiel ein harter Gegenstand, der so aussah wie eine große Glasmurmel, mit der Kinder spielen, vor ihm auf den Boden. Instinktiv versetzte der FBI‐Agent dem Gegenstand einen Stoß; er rollte davon – und war noch nicht ganz drei Yards entfernt, als er mit einem fürchterlichen Knall explodierte. Das war also das sogenannte Capone‐Ei; eine Art Miniatur‐Eierhandgranate, wie sie von den Capone‐ Gangstern in der Stadt eingeführt worden waren. Der G‐man hatte sich platt hinter die Tür geworfen und war glücklicherweise unverletzt geblieben. Er federte hoch, preßte sich dicht gegen die Wand, denn in diesem Augenblick kam der Friseur zurück. Er machte einen Sprung nach vorn, stand mit eingeknickten Knien da und hatte die Schalldämpferpistole in der Hand. In diesem Augenblick schlug Eliot zu. Der Karateschlag traf Greens rechten Arm und entriß ihm die Waffe, die polternd durch den Salon schepperte und vor einem der Stühle liegenblieb. Green war so überrascht, daß er aus weit aufgerissenen Augen fassungslos auf den G‐man starrte. »Zum Teufel, was wollen Sie eigentlich?« »Das wüßte ich gern von Ihnen, Mr. Green«, entgegnete Eliot. »Ich habe nichts mit Ihnen zu tun. Weshalb stellen Sie mir nach? Ich weiß gar nicht, was Sie wollen. Ich habe 83
nichts mit der Polizei zu tun. Ich werde Beschwerde gegen Sie einreichen. Wie kommen Sie dazu, einem unbescholtenen, vollkommen friedlichen Bürger –« »Ich fange gleich an zu weinen, Green. Ein Mann, der mit Schalldämpferpistolen feuert und mit Capone‐Eiern nach der Polizei wirft, hat höchstwahrscheinlich einen sehr triftigen Grund, das zu tun.« »Ach was. Ich habe gar nichts gemacht. Das Ding ist da oben von der Treppe heruntergefallen.« »Ich weiß, direkt vom Weihnachtsbaum, wie auch die Schalldämpferpistole.« »Ach, erwähnen Sie doch die Schalldämpferpistole nicht fünfmal. Jeder hat heute so eine Kanone im Haus, vor allem jeder Geschäftsmann. Wo kämen wir denn in diesen Zeiten ohne Waffe hin. Das dürften Sie doch selbst am besten wissen, G‐man.« »Mr. Green, ich muß Sie bitten, mitzukommen.« »Was soll das heißen?« »Das soll heißen, daß ich Sie mitnehmen muß.« »Das ist nicht Ihr Ernst.« »Mein voller Ernst.« Eliot Ness stand jetzt in der Mitte des länglichen Barbierraumes vor einem der sechs Stühle, und neben ihm lag die von Green selbst heruntergerissene Haube. Green stand drei Schritt vor ihm, beide Hände hinter sich auf eine Stuhllehne gestützt. Und da Green jetzt einen wahren Wasserfall von Vorwürfen über ihn ausschüttete, war es unmöglich, daß der FBI‐Agent das Geräusch in seinem Rücken hörte. 84
Hinter ihm nämlich, in dem schmalen Stiegengang, hatte sich eine Tür geöffnet, die er noch gar nicht gesehen hatte. Eine Tür, die in den Hof führte. Eine mittelgroße Gestalt schob sich vorsichtig an der Stiege vorbei auf die Tapetentür zu, die in den Salon führte. Es war eine Frau. Sie mochte etwa fünfunddreißig sein, hatte ein nicht unschönes, aber fast männliches Gesicht, trug einen Bubikopf und eine Baskenmütze. Ihre kräftigen Beine steckten in Schuhen mit flachen Absätzen. Sie trug ein leichtes Sommerkostüm, hatte eine brustlose Figur und breite Schultern. Aus weit geöffneten Augen beobachtete sie die Szene. Als Green sie entdeckt hatte, war er geschickt genug, sich nichts davon anmerken zu lassen. »Sie werden es bereuen, einen harmlosen Bürger zu überfallen. Bei mir ist nichts zu holen. Sie werden es bereuen, das kann ich Ihnen sagen!« Eliot, der seinen Revolver ins Halfter zurückgeschoben hatte, blickte Green stirnrunzelnd an. Plötzlich hatte er ein merkwürdiges Gefühl, wandte den Kopf um – und blickte in den Lauf eines Derringers. Die Frau an der Tapetentür hielt ihn in ihrer rechten Hand. Aus harten Augen blickte sie den Fremden an. »Los, Peggy!« kreischte Green. »Knall ihn ab!« »Augenblick«, meinte die Frau da mit einer harten Stimme, und Eliot Ness sah in ein grünlich schimmerndes Augenpaar. Welch ein merkwürdiges Gesicht hatte diese Frau, die da so plötzlich wie aus dem Boden gestampft aufgetaucht war. Der Leiter der 85
Spezialabteilung des FBI sah Tag für Tag in immer neue menschliche Gesichter, und er hatte sie gründlich studiert. Dieses harte Frauengesicht war scharf von den Runen des Lebens gezeichnet. Außerdem trug es deutlich die Züge des Mannweibes. Und dann war noch etwas in diesem Gesicht, das er in diesem Moment noch nicht zu deuten wußte. Aber er sollte nicht lange daran herumrätseln müssen. Es standen ihm die übelsten zehn Minuten bevor, die er jemals erleben sollte. Peggy Wooster hatte sich mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt und schlug die Füße übereinander. Immer noch hatte sie den Derringer in der Hand. »Los, nimm die Arme hoch, Junge«, preßte sie mit einer heiseren Stimme hervor, in der etwas mitschwang, das zu dem seltsamen Zug in ihrem Gesicht paßte. Eliot, der einen Schritt zur Seite gemacht hatte, hielt es für richtig, dieser Aufforderung nachzukommen. Da hörte er seitlich hinter sich ein Geräusch, wandte den Kopf und sah, daß sich Green an den Boden gebückt hatte. Er kniete vor einem der Frisiertische, die fast bis an den Boden reichten, und versuchte offensichtlich, seine Schalldämpferpistole wieder an sich zu bringen, die da heruntergerutscht war. »Was suchst du denn da, Green?« schnarrte die Frau. Da wandte der Friseur den Kopf. »Weshalb schießt du nicht, Peggy?« rief er mit verzerrten Zügen.
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»Eins nach dem anderen, Green. Ich will doch hoffen, daß du mir eine kleine Freude gönnst.« »Peg«, stieß der Mann heiser hervor, »knall den Hund ab, und ich beschaff dir noch heute nacht die blonde Jenny und einen Teelöffel voll Koks.« Die steinerne Härte schien aus dem Gesicht der Frau zu schwinden. »Jenny?« Leise kam es über ihre Lippen, und in ihre Augen trat ein unnatürlicher Glanz. »Du hast doch gesagt, daß mit der nichts zu machen ist?« »Ja, habe ich gesagt, weil du nicht genug ausspucken wolltest. Aber es ist doch in diesem Fall natürlich etwas anderes.« Ein winziges Lächeln stahl sich in die Augenwinkel der Frau. Green redete ununterbrochen auf sie ein. »Hör zu, erst wirst du mir den Gefallen tun und den Kerl da abknallen. Er ist nämlich ein G‐man.« Da schrak die Frau zurück. Steif stand sie vor der Wand und hatte den Revolver immer noch in der vorgestreckten Hand. »Ein G‐man?« brach es heiser über ihre Lippen. »Bist du des Teufels?« »Was heißt das schon! Ein G‐man? Der Kerl ist hinter meine Schliche gekommen. Glaubst du vielleicht, daß er hier noch lebend rauskommen darf?« »Aber ich – was habe ich denn damit zu tun?« »Du wirst ihn wegputzen.« »Wieso denn ich?« »Weil du auch mit drinhängst. Oder glaubst du 87
vielleicht, er weiß jetzt nicht von dir das gleiche wie von mir? Er weiß, daß du kokst und daß du hinter kleinen Girls her bist, daß du nicht alle Neune oben unter deinem Pony hast –« »Lassen Sie sich nicht von ihm verwirren, Miß«, unterbrach der FBI‐Agent den Banditen mit scharfer Stimme. »Sie haben sich nichts zuschulden kommen lassen und –« »Knall ihn ab, Peg!« Eliot sah, daß die Frau den Revolver weiter anhob. Die Mündung zeigte jetzt auf sein Gesicht. Ein Zittern war in ihrer Hand und übertrug sich auf die Waffe. Jeden Augenblick konnte sie den Stecher durchziehen. Nur etwa fünf Inches lag die Frisierhaube vor ihm am Boden. Wenn er sie nur erreichen könnte. Und dann war es noch eine Frage, ob es ihm gelang, sie hochzureißen. »Los, Peg, mach ihn doch fertig! Knall ihn ab!« hetzte der Friseur schreiend weiter. »Aber ich kann doch keinen G‐man abknallen, Ferry. Du mußt ja wahnsinnig sein. Dafür kommt man auf den Stuhl.« »Du kommst nicht auf den Stuhl. Du wirst dir höchstens ein paar Jahre hinter schwedischen Gardinen einhandeln, wenn du noch länger zauderst. Und daß es nicht unter zehn sind, ist wohl klar. Dann interessiert sich kein Girl mehr für dich, und auch sonst niemand, das ist ja wohl logisch! Du bist gezwungen –«
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»Lassen Sie sich nicht von diesem Menschen verrückt machen, Peggy«, forderte Eliot sie mit ruhiger Stimme auf. Da schüttelte die Frau den Kopf. »Du kannst mich nicht dumm machen, G‐man. Ich weiß, daß ich verloren bin. Er hat nämlich recht, ich stehe auf der Liste, und wenn mich einer von denen im 13. Revier erwischt, bin ich sowieso hinüber. Ein G‐man ist noch viel schlimmer. Du weißt schon zuviel!« »Also, Peg, knall ihn ab!« In diesem Augenblick geschah es. Eliot hatte den Fuß ein Stück vorgeschoben und gleichzeitig hochgerissen. Das schwere Geschoß prallte mitten in den Schuß der Frau hinein. In diesem Augenblick hatte sich Ferry Green fallenlassen, streckte den linken Arm aus und hatte die Schalldämpferpistole an sich gebracht. Eliot Ness hatte sich auf die Frau geworfen, die von der Frisierhaube am Kinn getroffen worden war, und riß sie nieder. Sie aber sprang sofort wieder auf. »Plopp«, machte es da. Peggy Wooster griff mit beiden Händen an ihre Kehle, aus der ein fingerdicker Blutstrahl spritzte, Eliot, der durch ihren taumelnden Körper geschützt wurde, zog die Colt‐Automatic. Der zweite »Plopp« schlug durch den Raum, und der Körper der Frau wurde erneut wie von einem harten
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Stockschlag getroffen, zuckte zusammen. Aber immer noch stand Peggy Wooster auf beiden Beinen. Da brüllte die Colt‐Automatic des FBI‐Agenten auf. Der Schalldämpferrevolver wurde hochgestoßen, und ein Schrei brach von den Lippen des Barbiers. Das Geschoß hatte ihn zwar nur schwach an der Hand verletzt, aber die Blutspur, die über seinen Handrücken rann, erschreckte Green zutiefst. Eliot schob den Revolver ins Schulterhalfter zurück und fing die Frau auf, die jetzt gegen ihn stürzte. Langsam ließ er sie zu Boden gleiten. Die bitteren zehn Minuten, die er in dem höllischen Salon zu verbringen hatte, waren noch nicht zu Ende. Lautlos war ein zweites Mal die Tür im Stiegengang geöffnet worden. Der Mann, der jetzt in der aufgebrochenen Tapetentür auftauchte, war groß, hatte breite Schultern und trug einen schwarzen Anzug. Der Borsalino saß schräg auf seinem rechten Ohr. Er hatte ein massiges Gesicht, ein Doppelkinn und eine gekrümmte Nase. Die Augen blickten scharf wie Falkenaugen aus diesem Gesicht. Im linken Mundwinkel hatte er eine unangezündete Zigarette stecken. Blitzschnell hatte er die Szene erfaßt, zerrte eine 32er Luger aus der Tasche und zog sie hoch. »Los, schieß, Lou!« schrie Green. Eliot wirbelte herum. Der Mann an der Tür blickte ihn verblüfft an. »He«, entfuhr es ihm dann.
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»Weshalb schießt du nicht, es ist ein G‐man!« schrie der Friseur. Es war eine schreckliche Sekunde. Eliot kauerte neben der Frau am Boden und blickte auf sie nieder. Ein qualvolles Röcheln brach über ihre Lippen. Sie starb. Fünf Schritt von ihm entfernt stand Green in verkrampfter Haltung vor einem der Frisierstühle, und seitlich hinter ihm hielt der schwarzgekleidete Mann in der Tapetentür die Luger auf ihn gerichtet. »Schade«, röchelte die Frau, »ich kratze ab… Ich hätte ihn zu gern mit ins Loch genommen – den Kokshändler da –« Der Schwarzgekleidete in der Tür blickte nur auf Eliot Ness. »Schieß doch, Borgast!« schrie Green heiser. Borgast?! Wie ein Hammerschlag hatte der Name den Inspektor getroffen. Sollte dieser Mann etwa der Gangsterführer Borgast sein? Das war nicht gut möglich, denn Borgast mußte erstens älter sein, und zweitens war er schlanker und kleiner. Eliot kannte ihn von Fotos. »Ja, ja. Jetzt kannst du ruhig kariert dreinschauen, Lou. Jetzt weiß er, wer du bist, und jetzt bist du gezwungen zu feuern. Laß dir doch keine Zeit, der Kerl ist gefährlich. Jede Sekunde, die er länger lebt, ist für uns beide eine Gefahr.« Aber Borgast rührte sich nicht. Da bellte Green: »Mensch, du hast keine Chance. Er weiß, daß du Eds 91
Bruder bist. Sieh dir die Wooster an. Die hat er erledigt. Jetzt möchte er mir das Ding in die Schuhe schieben.« Der Bandit an der Tür öffnete langsam die Lippen. »Ein G‐man? Du Idiot.« »Du glaubst mir wohl nicht.« »O doch, Ferry, ich glaube dir. Und ich glaube dir auch, daß er sterben muß. Aber diese Arbeit wirst du übernehmen.« »Weshalb denn ich?« »Weil es nicht in Frage kommt, daß irgend jemand sagen kann, ein Borgast hätte den MR. CHICAGO ausgepustet.« »MR. CHICAGO –?« stotterte der Friseur. »Ja, er ist Eliot Ness!« Damit nahm Borgast eine zweite Waffe aus der Tasche und warf sie Green zu. Aber sie prallte gegen den Stuhl und rutschte zurück. Bis auf anderthalb Yards an den G‐man heran. Als Green vorwärtsspringen wollte, um sich auf die Waffe zu stürzen, bellte Borgast: »Nicht so hastig, Junge. Der Vogel wird erst noch singen.« Green hielt inne. »Was soll das heißen?« keuchte er. Borgast trat zur Seite, behielt aber die Luger in der Hand. Immer noch war die Zigarette zwischen seinen Lippen unangezündet. »So, Ness, jetzt werden Sie uns einen kleinen Vortrag halten.« »Und worüber?« »Darüber, was gegen die Borgast‐Crew geplant ist.« 92
»Das ist doch nicht Ihr Ernst.« »Laß ihn mich doch abknallen«, hechelte Green, der seine Schalldämpferpistole wieder an sich gebracht hatte, »wenn er tatsächlich MR. CHICAGO ist, kann er gar nicht früh genug ins Gras beißen. Diese perverse Vettel da hat auch zu lange gewartet. Fast hätte ich ihn erwischt, aber leider lief diese Hexe mir ins Schußfeld.« »Aha, du hast sie also gekillt?« »Ich?« »Du sagtest doch gerade, daß du es warst.« »Zum Teufel, er soll abdampfen! Ich drücke jetzt ab, Borgast.« »Du wartest noch. Ich muß erst erfahren, was beim FBI gegen uns geplant wird. Es ist eine Sache im Gange, und die muß ich aus ihm herausschneiden; das dürfte dir wohl klar sein.« Eliot Ness hatte Green mit dem Revolver neben sich stehen. Knapp drei Schritte vor ihm stand Borgast; und der war jetzt gefährlicher. »All right, Ness. Dann spuck also aus, was du mit Borgast im Schilde führst.« Eliot hob etwas die Hände, machte einen halben Schritt zurück, wandte sich um, und in dem Augenblick, in dem er die linke Hand fallenließ, hatte er sie auch schon an der Colt‐Automatic und wirbelte herum. Borgast starrte ihn aus geweiteten Augen an. Er hatte immer noch die Luger in der Hand. »Lassen Sie die Kanone fallen!« herrschte der G‐man den Gangster an. 93
»Nein, Lou!« schrie Green. Da hob Eliot die linke Hand in einer Finte und stieß die Rechte mit dem Revolver ein Stück nach vorn, wobei er urplötzlich das linke Bein hochriß. Die Schuhspitze traf den Unterarm des Gangsters. Die Luger flog gegen die Decke und lag nur eine Handbreit von der Waffe entfernt, die Borgast dem Komplicen hatte zuwerfen wollen. Green zog den Stecher durch. Klick machte es, Ladehemmung! Da hechtete Borgast dem FBI‐Mann entgegen. Eliot fing ihn mit einem Konterschlag auf und trieb ihn zur Seite. Borgast kam zu Fall und schnappte nach dem Revolver. Eliot trieb die Waffe mit einem Schuß zur Seite. Aber das Unglück wollte es, daß der eine Revolver den anderen traf und ihn dem Gangster zuschob wie eine Billardkugel. Borgast hatte sofort zugegriffen. In diesem Augenblick aber peitschte ein Schuß durch den Raum, der Eliot herumfahren ließ. Vorn in der Tür zur Straße stand die hochgewachsene, breitschultrige Gestalt des FBI‐Inspektors Pinkas Cassedy. Er hatte den rauchenden Revolver in der rechten Hand. »Ich komme etwas spät, Boß.« »Durchaus nicht, Pink«, sagte Eliot, während er die beiden entwaffnete.
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»Tut mir leid, Chef. Hat etwas länger gedauert, weil wir über ein Nagelfeld rollten. Hab’ da ein Taxi genommen und dieser Kerl fuhr wie eine Schnecke. Er wollte mich partout nicht ans Steuer lassen. Aber dann hatte er doch etwas gegen Ohrfeigen und gab nach.« Als sie die beiden Banditen in Handschellen geschlagen hatten, meinte Cassedy auf Lou Borgast zeigend: »He, der kommt mir aber bekannt vor. Wem gleicht der bloß?« »Vielleicht Ed Borgast?« forschte der Norweger. »Ja, Borgast! So sieht er aus. Vielleicht ist es ein Verwandter von ihm?« »Sein Bruder.« Der Fall schien gelöst. Aber es schien nur so, denn dem verbrecherischen Haarschneider war nicht nachzuweisen, daß er das Gift in die Speisen der Leester‐ Party geschafft hatte. Er konnte im Gegenteil beweisen, daß er ziemlich spät gekommen war und die Gäste schon bei der Vorspeise waren. Könnte so ein Mann handeln, der das Gift in das Essen praktizieren wollte? Außerdem schien es dem Inspektor doch sehr unwahrscheinlich, daß die Speisen so lange vor dem Verzehr vergiftet worden waren. Aber Ferdinand Green war dennoch erledigt. Er war ein Mann, der abartig veranlagte Kunden erpreßte und zudem mit Rauschgift versorgte. Er war ein Unterhändler, der nicht nur einzelne Leute wie die merkwürdige Peggy Wooster, 95
sondern auch Männer aus der Borgast‐Gang mit seinem »Stoff« bediente. Hatte auch Richard Leester zu seinen Kunden gezählt? * Eliot Ness hatte dafür gesorgt, daß Mrs. Royster entlassen wurde. Als sie aus dem Tor des Gefängnisses trat, sah sie den G‐man schon vor dem wartenden Wagen stehen. Sie machte ein paar unschlüssige Schritte auf ihn zu und verhielt dann den Schritt. Eliot ging zu ihr, zog den Hut und führte sie zum Wagen. »Wo darf ich Sie hinbringen?« »Bitte nicht nach Hause. Ich muß erst etwas finden, wo wir hin können. Es wird sehr schwer sein«, sagte sie. »Wie sieht es mit Geld aus?« erkundigte er sich. Sie zog die Schultern hoch. »Mein Mann war nicht versichert.« »Dann freut es mich um so mehr, Ihnen mitteilen zu können, daß sein Leben mit fünfundzwanzigtausend Dollar versichert war.« »Ist das wahr?« Sie blickte ihn fassungslos an. »Ja.« Er reichte ihr die Police, und dann hörte er sie sagen: »Aber das nützt ja alles nichts. Man wird es als Selbstmord auslegen, und dann bekomme ich nichts.« »Auch bei Selbstmord wird ausgezahlt. Allerdings etwas später. Aber es war kein Selbstmord. Ihr Mann ist 96
ermordet worden.« »Aber wer sollte denn ein Interesse an seinem Tod gehabt haben?« »Ich bin eben dabei, das festzustellen, Mrs. Royster.« »Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, wer ein Interesse an seinem Tod gehabt haben sollte.« »Der Mörder hat vielleicht gar kein Interesse am Tod Ihres Mannes gehabt.« »Sie meinen –« »Ja, ich meine, daß Gary Royster zufällig mit gestorben ist. Der Mörder hat einen anderen treffen wollen.« Es war spät in der Nacht, als Eliot Ness nach Hause ging. Er hatte seine Wohnung drüben in Westchester aufgesucht, stand am Wohnzimmerfenster und blickte auf das Gewirr der niedrigen Dächer, die hier vor ihm lagen. Vergeblich hielt er Ausschau nach seinem Freund, dem schwarzen Kater vom Hinterhof, der ihn sonst um diese Nachtstunde zuweilen besuchte und auf sein Schälchen Milch wartete. Da läutete es an der Tür. Eliot ging in den Flur und blickte in die raffiniert angebrachte Spiegelanlage. Wie groß war seine Überraschung, als er Meta Lowell erkannte. Er öffnete die Tür einen Spalt, blickte in den Korridor und ließ die Frau dann eintreten. »Entschuldigen Sie, Mr. Ness, daß ich so spät störe«, stieß die junge Frau hastig hervor. 97
»Würden Sie mir wohl sagen, woher Sie meine Adresse haben?« »Nein, das kann ich nicht sagen. Es hat mich hundert Dollar gekostet.« »Donnerwetter, wer verdient denn so gut an mir?« »Ich kann es Ihnen nicht sagen. – Ich bin gekommen, weil ich in Todesangst lebe.« »Ach, und weshalb?« »Weil ich weiß, daß man mir nach dem Leben trachtet.« Eliot ließ sie vorbei in die Wohnstube und bot ihr einen Sessel an. Aber Meta Lowell blieb stehen. Sie hatte beide Hände ineinandergekrallt, und ihre Augen hingen in fiebrigem Glanz an dem kantigen Gesicht des Mannes. »Ich werde verfolgt!« ächzte sie. »Und wissen Sie auch, von wem?« Da nickte sie hastig. »Sie müßten mir schon seinen Namen nennen.« »Sie kennen ihn?« »Dooley?« »Ja, Dooley.« »Aber ich dachte – er wäre Ihr Freund.« »Das war einmal, und zwar nur, um sich durch mich ein paar zusätzliche Dollars zusammenzukratzen. Er verdient doch nicht genug. Er ist ein ganz unfähiger Anwalt. Die drei Sachen, die er für mich hatte durchboxen sollen, sind alle in die Brüche gegangen. Und dann habe ich ihm eine Menge Aufträge von
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Bekannten zugeschustert, die er sämtlich verloren hat. Er taugt überhaupt nichts.« »Aber wie kommen Sie dazu, daß er Ihnen plötzlich nach dem Leben trachten soll, wo er doch eigentlich allen Grund haben müßte, froh zu sein, eine wohlhabende Frau zu kennen?« »Das ist es ja eben. Er hat von Anfang an vorgehabt, mich umzubringen.« »Weshalb denn?« »Das weiß ich nicht. Vielleicht – vielleicht bin ich ihm im Weg.« »Wieso hat es für ihn irgendwelche Vorteile, wenn Sie sterben würden?« »Das weiß ich ja eben nicht«, hechelte die Frau erregt. »Glauben Sie nicht, Miß Lowell, daß Sie sich da etwas einbilden?« »Dooley ist eine Bestie«, stieß sie mit belegter Stimme hervor. »Merkwürdig«, versetzte Ness, »daß Sie das plötzlich entdecken.« »Ich weiß es schon lange.« »Und weshalb waren Sie hinter ihm her?« »Ich war nicht hinter ihm her. Er war hinter mir her.« »Eigenartig. Wenn ich so etwas weiß, dann hüte ich mich doch, einen Mann seiner Frau wegzunehmen.« »Pah, ich habe ihn doch seiner Frau nicht wegnehmen müssen. Er hat ja überhaupt kein Interesse mehr an ihr. Das war doch keine Ehe.«
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»Meistens ist das für einen Außenstehenden ziemlich schwer zu beurteilen.« »Es geht jetzt ja um etwas ganz anderes. Ich habe Ihnen gesagt, daß ich mich durch ihn bedroht fühle. Sie müssen ihn festnehmen.« »Das ist nicht so einfach, Miß Lowell.« »Ich verlange es aber!« »Da verlangen Sie zuviel.« »Na, hören Sie! Wozu ist denn die Polizei da, wenn sie einen nicht schützen kann? Ich möchte bloß wissen, weshalb wir die vielen Steuern zahlen, und doch wird niemals etwas getan, wenn ein Bürger in Gefahr ist. Müssen wir denn erst alle sterben, bis ihr wach werdet?« Diese Beleidigung prallte von dem Inspektor ab wie Wasser von einer Ölhaut. Er war es nachgerade gewohnt, solche Kränkungen hinzunehmen. Um so verblüffter war er, als sie plötzlich dicht an ihn herantrat, ihren Kopf hob und ihm ihr zweifellos hübsches Gesicht entgegenhielt. »Der Preis, den Sie für Ihre Hilfe fordern, soll mir nicht zu hoch sein«, flüsterte, sie, Sanft schob er sie von sich. »Geben Sie sich keine Mühe, Miß Lowell. Es wird ohnehin alles getan, was für Ihre Sicherheit erforderlich ist.« »Ich kann jeden Preis bezahlen«, entgegnete sie giftig, »ich bin wohlhabend genug, glücklicherweise. Und wenn das Geld nicht genügt, so werde ich auch –« »Ich habe Sie schon verstanden«, unterbrach er sie schroff. »Aber Sie überschätzen sich da.« Flammende Zornesröte übergoß ihr Gesicht. 100
»Was denn? Wollen Sie armseliger G‐man etwa behaupten, daß Sie eine so große Auswahl in Frauen hätten? Das können Sie mir doch wohl nicht im Ernst erzählen. Wer wird sich denn schon um einen Mörderjäger reißen, der lumpige tausend Bucks im Monat zusammenschustert?« Eliot Ness senkte den Kopf. Diese Kränkung war wirklich etwas hart. Ganz von der Tatsache abgesehen, daß er nur einen Bruchteil dessen verdiente, was sie da eben erwähnt hatte. Dieses Luxusweibchen hatte ja nicht die mindeste Ahnung von seinem Job und von dessen Bezahlung. »Tun Sie mir den Gefallen, Miß Lowell, und lassen Sie mich jetzt allein. Ich habe noch zu arbeiten.« »Ich denke nicht daran. Erst will ich von Ihnen die Versicherung, daß Dooley festgenommen wird.« »Ich habe Ihnen schon auseinandergesetzt, daß das nicht so einfach ist. Ich brauche einen Grund, um irgend jemanden festzunehmen. Ich kann keine willkürlichen Verhaftungen vornehmen.« »Ach, ihr verhaftet doch sonst Gott und die Welt. Nun haben Sie sich bloß nicht so.« Da entgegnete er mit schneidender Schärfe: »Sie irren, Miß Lowell! Niemand wird ohne triftigen Grund verhaftet. Und jetzt muß ich Sie bitten, zu gehen!« »Soll das ein Rausschmiß sein?« »Es ist mir egal, wie Sie es auffassen. Ich habe jetzt keine Zeit mehr für Sie.« »Das werde ich mir merken. Aber Sie können sich 101
darauf verlassen, daß ich schon anderwärts Hilfe finden werde. Schließlich bin ich nicht auf Sie angewiesen. Ich habe ja letztlich…« »… etwas zu bieten, ich weiß«, unterbrach er sie kühl und führte sie zur Tür. * Ein neuer Tag war über der Millionenstadt heraufgezogen. Ein Tag, der wie aus buntem Seidenpapier geschnitten zu sein schien. Wolkenlos und azurfarben schimmerte der Himmel, und die Sonne warf ein rotgoldenes Licht in die morgendlichen Straßen. Eliot Ness, der schon sehr früh aufgestanden war, hatte nur kurz sein Bureau aufgesucht, um die notwendigsten Akten und die Post zu sichten. Dann hatte er sich seinen Wagen geholt und war nach Buffalo Grove gefahren. Er hielt vor dem Parktor der Astors und wartete, bis ihm geöffnet wurde. Der Butler trat ihm am Haus entgegen und blickte ihn aus schiefergrauen Augen an. »Sie wünschen?« »Ich möchte mit Miß Astor sprechen.« »Das geht nicht. Miß Astor spielt Tennis.« »Ich muß Sie trotzdem bitten, sie für ein paar Minuten herzuholen.« »Das ist nicht möglich. Sie ist in einem Match.« »Und wo spielt sie?«
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»Hinterm Haus auf dem Platz. Aber da können Sie nicht hin.« Eliot wandte sich ab, ging um das Haus herum, hatte kaum die erste Ecke erreicht, als plötzlich ein großer Schäferhund vor ihm auftauchte. Wenn es einen Hund gab, den der Inspektor schätzte, und der ihm auch Respekt einzuflößen vermochte, dann war es diese Sorte deutscher Schäferhunde. Das Tier war groß, hatte einen dunklen Rücken, einen dunklen Kopf und einen dunklen Schwanz. Hoch waren die großen Ohren aufgestellt, und seine Augen blickten dem Mann wach entgegen. Eliot hatte kein Glied gerührt. Als er jetzt die rechte Hand etwas anhob, begann der Hund leise zu knurren. Da hörte der G‐man Schritte hinter sich, wandte sich um und sah den Diener auftauchen. »Ich habe Sie ja gewarnt.« »Nehmen Sie das Tier zurück.« »Ich denke nicht daran.« »Nehmen Sie das Tier zurück! Sonst muß ich mir meinen Weg mit Gewalt bahnen.« »Was fällt Ihnen ein, Inspektor, wie kommen Sie dazu –« Da setzte der Hund plötzlich zum Sprung an. Er flog förmlich in die Luft und wäre ganz sicher gegen den Inspektor geprallt, wenn der stehengeblieben wäre. Statt dessen prallte das Tier gegen den Butler, der hinter Eliot Ness gestanden hatte. Sofort warf sich der Hund herum. 103
Eliot hatte die Schußwaffe gezogen, aber er wußte den Hund auch so abzuwehren. Nicht umsonst hatte er in Denver mehrere Jahre auf der FBI‐High School alle Abwehrarten gründlich erlernt. Aber mit diesem Hund war es schwer. Er hatte offensichtlich die allerbeste Dressur genossen. »Bill!« kam da eine Frauenstimme von der Rückseite des Hauses her. Eliot sah Ginger Astor auftauchen. Sie trug den weißen Tennisdreß; das kurze, enganliegende Polohemd, den sehr kurzen weißen Faltenrock, weiße Socken mit roten und blauen Ringen und weiße Tennisschuhe. In der linken Hand hielt sie noch das Racket. Mit federndem Schritt kam sie auf das Tier zu, nahm es am Halsband und winkte dem Diener. »George, führen Sie Bill weg.« Solange sie den Hund hielt, war er still. Als der Diener ihn aber am Halsband hatte, begann er wieder gefährlich zu knurren. George hatte alle Mühe, das Tier wegzubringen. Ginger Astor lehnte sich gegen die Holzkaros, die das Spalierobst am Haus stützten, nahm den linken Fuß hoch und setzte ihn auf eine der grün gestrichenen Holzleisten. »Na, Inspektor, hatten Sie Sehnsucht nach mir?« Eliot blickte sie nachdenklich an. Sie war wirklich eine hübsche junge Dame, gut gewachsen, besser noch als Meta Lowell, und ihr Gesicht war noch eine Spur herausfordernder. Die Stirn war glatt, und das Haar 104
sprang in messerscharfem Ansatz daraus hervor. Es sah sehr hübsch aus. Ihre Augen waren groß, und die Lider wirkten etwas schwer, was ihrem Gesicht einen leicht melancholischen Ausdruck gab und ihre Schönheit noch unterstrich. Feingeformt war die Nase, und die Lippen schienen von einem griechischen Bildhauer geformt worden zu sein. Das Kinn war nicht zu stark ausgeprägt und ließ das Gesicht nicht zu rund aussehen. Wie sie jetzt da stand in ihrem Tennisdreß, hätte sie hübscher gar nicht aussehen können. Ob sie es wußte? Zweifellos wußte sie es. Es war ihr ja direkt anzusehen, daß sie sich der Wirkung bewußt war, die sie auf Männer ausübte. »Sind Sie immer noch nicht weitergekommen?« »Leider nicht.« Plötzlich stieß sie sich von den Spalierobsthölzern ab und ging an ihm vorbei, machte ein paar Schritte vorwärts, federnde, leichte, sportliche Schritte, blieb dann stehen und wandte den Kopf über die Schulter zurück. »Kommen Sie mit? Ich möchte Sie auf ein Glas Tee einladen.« Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie vorn ums Haus, drückte dem verblüfften Butler das Racket in die Hand und ging quer durch die Diele auf eine große Tür zu, die sie öffnete. »Kommen Sie«, sagte sie und deutete auf eine elegante französische Couch, »setzen Sie sich. Ich werde den Tee bestellen.«
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Sie zog an einer altmodischen Klingelschnur und meinte lachend: »Ich hasse den neumodischen Kram, wissen Sie. Mein Vater auch, wir hätten das sonst abgeschafft.« Ein blondgelocktes, puppiges Mädchen tauchte im Türspalt auf. Ginger Astor gab ihm den Auftrag, Tee zu bringen. Sie selbst kam zurück und setzte sich auf die Armlehne eines der mit olivfarbenem Plüsch bezogenen schweren Sessel. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, stützte die Ellbogen hinten auf die Sessellehne auf und blickte den Mann mit ihren großen Augen, die eine ganz kleine Spur traurig wirkten, forschend an. »Ist es nicht langweilig?« »Was?« »Beim FBI.« »Weshalb?« »Ich weiß nicht. Ich stelle es mir furchtbar langweilig vor.« »Weshalb denn?« »Das kann ich nicht erklären. Sagen Sie mir, weshalb Sie gekommen sind?« »Ich dachte, daß Sie mir vielleicht etwas zu sagen hätten?« »Ich?« Sie beugte sich vor, nahm ihre feingeformten elfenbeinfarbenen Hände zusammen und blickte ihn mit etwas schräggelegtem Kopf lächelnd an. »Wie meinen Sie das?« 106
»Es hätte ja sein können, daß Sie etwas Neues erfahren haben.« »Ich habe überhaupt nichts erfahren. Alles, was ich weiß, weiß ich von Ihnen.« »Sie sind also von Richard Leester eingeladen worden?« »Ja.« »Sie kannten ihn vom Tennisspiel?« »Nein. Ich kannte ihn durch Meta Lowell.« »Und Meta Lowell kennen Sie vom Tennisspiel?« »Nein.« Sie lächelte, »ich kenne sie aus dem Ruderclub Chicago East.« Womit sich die jungen Damen der sogenannten besseren Gesellschaft die Zeit nicht alles vertrieben! Tennis, Rudern, Reiten. Denn daß sie ritt, sah er an dem Foto, das links über dem Sekretär aus uraltem Wurzelholz in einem ausgetrockneten Eichenkranz hing. Es zeigte sie im Sattel eines schwarzen Pferdes. Als der Tee gebracht worden war, nahm Eliot nur ein paar Schlucke und erhob sich dann. Die Frau blieb sitzen, Eliot ging auf sie zu und deutete eine Verbeugung an. »Vielen Dank für den Tee.« Als er sich abwenden wollte, hielt sie ihn am Arm fest. Eliot hatte das Gefühl, von einem elektrischen Stromschlag berührt worden zu sein. Er blickte über die Schulter zurück in ihr Gesicht. Sie hatte die Augen jetzt voll geöffnet und sah ihn aus den unergründlichen Tiefen ihrer Iris an. »Weshalb sind Sie gekommen, Eliot Ness?« 107
Wie genau sie seinen Namen kannte. »Ich dachte, Sie hätten vielleicht Angst.« »Angst –?« kam es verwundert zurück. »Hätte das nicht sein können?« »Weshalb sollte ich Angst haben?« »Weil mehrere Menschen, die auf der Party waren, gestorben sind.« »Was habe ich damit zu tun?« »Ist es nicht möglich, daß der Mensch, der diese Leute umgebracht hat, eigentlich ganz jemanden anders treffen wollte?« Plötzlich wich die Farbe aus ihrem Gesicht. Sie rutschte von der Sessellehne und richtete sich auf. Als sie jetzt vor ihm stand, fiel ihm zum erstenmal auf, daß sie sehr groß war. Aber er überragte sie immer noch um Haupteslänge. Ganz dicht trat sie an ihn heran. »Sie meinen«, sagte sie, »daß derjenige, der das getan hat, gar nicht den Richtigen getroffen hat, ich meine, den, den er treffen wollte?« »Ist das nicht denkbar?« »Doch. Sie haben recht.« Unverwandt blickte sie ihn an. »Und weil Sie glaubten, daß ich vielleicht Angst hätte –« Der Mann schwieg. Er senkte seinen Blick in diese merkwürdigen, schönen Frauenaugen, die eine Mischung von Grün und Grau waren, mit bernsteinfarbenen Pünktchen gesprenkelt. 108
Plötzlich richtete Ginger Astor sich auf die Zehen auf, und Eliot fühlte ihre kühlen Lippen auf seinem Mund. Nur einen Herzschlag lang, dann ging sie auf die Absätze zurück, wandte sich um und ging mit ihrem federnden Schritt um den Sessel herum, blieb hinter der großen Couch stehen, zog ihren Zeigefinger über den weichen olivfarbenen Stoff und sagte, während sie auf die Tür zum Nebenzimmer zuging: »Heute abend gehe ich zu Hidegota. Nichts für Sie, nicht wahr?« Er zog die Schultern hoch. »Ich weiß nicht. Ich bin auch schon dagewesen, aber ich habe wenig Zeit.« »Das kann ich verstehen. Es muß fürchterlich anstrengend sein, dauernd hinter all den Capones herzulaufen. Wie ist das eigentlich mit Richard Dillinger?« »Wie soll es mit ihm sein?« Ein winziges Lachen stahl sich um seine Mundwinkel. Er schüttelte den Kopf. Wie gut sie doch unterrichtet war, diese Ginger Astor. Aber die Leute in der Stadt kannten ja alle die Stories von Al Capone und den Dillingers. Man hatte ja mehr als genug darüber in den Zeitungen veröffentlicht. Nicht zuletzt war es Matherley, der die Menschheit damit unterhielt, als wäre es das Ergötzlichste, was es mitzuteilen gäbe. »Nur eines noch, Miß Astor«, sagte er, als er schon an der Tür zur Diele stand. Sie stand drüben an der gegenüberliegenden Tür und blickte zu ihm hinüber. Das 109
Zimmer war sehr groß, und auf diese Entfernung wirkte sie auf einmal fast klein. »Wenn Sie irgend etwas in Erfahrung bringen, möchte ich Sie bitten, mich anzurufen.« »Das werde ich ganz bestimmt tun«, sagte sie. »Ich hoffe, Sie bald wiederzusehen, Eliot Ness. So long.« Sie hatte etwas Männliches in ihrer Art, jetzt wurde es ihm deutlich. Irgendeine Spur von angenehmer Herbheit. Er saß schon längst wieder in seinem Wagen und kutschierte der City zu, als er immer noch den Hauch des seltsamen Parfüms verspürte, der ihm entgegengeströmt war, als sie ihn küßte. »Schiaparelli«, flüsterte er vor sich hin. Er hatte fast ein Dreivierteljahr dazu verwandt, um die Hautduftrichtungen kennenzulernen. Eigentlich weniger, um seiner damaligen Freundin Gil einen Gefallen zu tun, die in der Parfümerie arbeitete, sondern weil es niemals schaden konnte, wenn ein FBI‐Mann sich da auskannte. Man hatte schon auf der High School oben in Denver wöchentlich mehrere Stunden Unterricht in den verschiedensten Gerüchen durchzustehen, so daß jeder G‐man sofort die verschiedensten Gerüche möglichst gut zu unterscheiden wußte. Unter Umständen konnte es nämlich sehr wichtig sein, sich an einen bestimmten Geruch zu erinnern; wenn man ihn dann nur in etwa beschreiben konnte, so half das niemandem. Es gab verschiedene Gasgerüche, verschiedene Gerüche von Pulverarten; auch Brandgerüche konnten sehr verschiedenartig sein und auf die Ursache des Brandes 110
und auf den verbrannten Stoff hinweisen. Eine interessante Frau, diese Ginger Astor. Wie viele millionenschwere Töchter von reichen Vätern gab es doch in dieser großen Stadt. Bedauerlich, daß man selbst niemals eine solche Frau kennenlernte, und wenn es einmal geschah, dann nur auf Fahndungen. Diese Ginger Astor – so etwas hätte man sich schon gefallen lassen können. Wie hinreißend sie den flüchtigen Kuß verschenkt hatte, spielerisch wie einen ganzen Strauß von Teerosen. Schade, das Burschikose, etwas Männliche gefiel ihm nicht so gut. Aber sie gewöhnten es sich ja heute alle an, die wohlhabenden jungen Damen, die nichts als Zerstreuungen suchten, keine Arbeit kannten und nur den Freuden des Lebens nachjagten. Es war offenbar eine Mode, sich herb zu geben. Wie anders war doch die Frau, deren Gesicht jetzt plötzlich, als er in die 71. Straße einfuhr, vor ihm auftauchte. Es war ein etwas blasses Gesicht, nicht ganz oval, aber auch nicht rund, in dem ein wundervoll schimmerndes großes Augenpaar stand. Es war das schönste Frauengesicht, das der Norweger jemals gesehen hatte. Umrahmt von vollen schwarzblau schimmernden Locken und verzaubert von einem Lächeln, das permanent in den Winkel dieser herrlichen Augen zu stehen schien. Es war das Gesicht einer Frau, die einen Namen trug, den niemand ohne Scheu in dieser Stadt mehr aussprechen mochte: Dillinger. 111
Ruth Dillinger, vierundzwanzig Jahre alt, Chemielaborantin, die einmal einen Doktortitel haben würde. Sie hatte mit den gefurchteren Dillingers bis auf ihren Namen wenig zu tun, das wußte er. Jedenfalls hatte er nichts anderes herausbringen können, und das FBI hatte sie ziemlich gründlich untersucht. Auch sie hatte ihm einmal im Treppenhaus unten in der Prairie Street einen Kuß gegeben. Wie anders hatte es ihn damals erfaßt. Glühende Hitze war durch seinen Körper geströmt. Diese faszinierende Frau vermochte er einfach nicht aus seinem Gedächtnis herauszubringen. Im übrigen sorgten die Dillingers dafür, daß er ihren Namen nicht vergaß. Immer und immer wieder war irgend etwas von ihnen zu hören. Zwar wußte niemand genau, ob sie tatsächlich hinter dieser oder jener Sache steckten, aber ganz ähnlich wie bei Capone waren auch sie ständig im Mund der Bevölkerung. Wenn man sicher war, daß es kein Coup der Capone‐Gang war, der da oder dort stattgefunden hatte, dann tippte man sicher nicht falsch, wenn man sich an die Dillingers hielt. Eliot stieg aus dem Wagen und ging ins Haus der FBI‐ Zentrale. Unten in der Vorhalle kam ihm Cassedy entgegen. »Ich dachte, Sie wollten nach Buffalo Grove?« »Da komme ich eben her.« »Interessant. Ginger Astor hat eben angerufen.« »Wann?« »Vor fünf Minuten.« »Und?« 112
»Sie wollte sich für Ihren Besuch bedanken. – Wahrscheinlich vermutet sie, daß Sie durch die Stadt fliegen. Tja, ein G‐man muß eben vielseitig sein.« Eliot ging hinauf in sein Arbeitszimmer, und Cassedy folgte ihm. Während der Dicke in Hut und Mantel auf einem Hocker neben dem Schreibtisch Platz nahm, machte sich Eliot daran, die zweite Post durchzusehen. Dann griff er nach der roten Akte und zog die Brauen zusammen. Giftmord in Cicero!, Eine zweiunddreißigjährige Frau war in ihrer Wohnung vergiftet worden, genauer gesagt, in ihrem Apartment. Es handelte sich um eine Juwelierin, eine Frau, die ihren Mann schon vor zehn Jahren verloren und seine große Edelsteinschleiferei geerbt hatte. Ihr Mann, ein Holländer, war damals in dunkle Geschichten verwickelt gewesen, aus deren Verstrickungen ihn der Tod gelöst hatte. Cassedy, der seinen Chef eine Weile beobachtet hatte, meinte: »Die Mordkommission hat schon angerufen, ob wir uns darum kümmern wollten.« »Wir lassen die Finger davon«, sagte Eliot, »noch ist das ja nichts für uns.« »Eben, das habe ich auch gesagt. Wir haben genug mit unserem eigenen Gift zu tun.« Es war einen Augenblick still, dann meinte der Dicke: »Ich soll Ihnen übrigens noch einen Gruß bestellen.« »Von wem?« 113
»Von Ihrem Freund Capone.« Da blickte der Inspektor, der an allerlei Scherze des Dicken gewöhnt war, denn nun doch auf. Cassedy zog die Schultern hoch. »Ja, er rief an.« »Sind Sie sicher, daß er es war?« »Ich kenne doch seine Stimme. Schließlich ist die Schallplatte uralt, die wir da drüben haben.« »Das ist doch nicht Ihr Ernst, Pink«, meinte Eliot, während er sich erhob. »Kommen Sie mit«, brummelte Cassedy und stapfte voran. Eliot folgte ihm in sein Zimmer, und dann hörte er die mitgeschnittene Aufnahme. »Hallo, sind Sie’s, Cass?« »Ja. Wer ist denn da?« »Capone.« Es war ganz unzweifelhaft die Stimme des großen Gangsters. »Ist Eliot im Haus?« »Nein. Um was geht’s?« »Ich wollte ihm nur sagen, er solle dafür sorgen, daß die Dillingers nicht so laut werden. Sonst muß ich es tun.« »Hören Sie, Mr. Capone, vielleicht sollten Sie das mal schriftlich einreichen.« »Sie sind ein Spaßvogel, Cass. Bestellen Sie Ihrem Boß einen Gruß. Könnte sein, daß es sonst wieder großen Ärger gibt.«
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»Wenn’s Ärger gibt, Mr. Capone, dann verursacht ihn meistens der gleiche Mann in Chicago.« »Geht das auf mich?« »Sie merken aber auch alles.« »Ach, hol Sie der Teufel!« Ein hartes Knacken beendete das Gespräch. Cassedy blickte seinen Chef von der Seite an. Der fuhr sich nachdenklich mit dem Handrücken über das Kinn und warf dann einen Blick auf die Wanduhr. Wenige Minuten nach halb elf. Was hatte dieser Anruf zu bedeuten? Ein Mann wie Capone tat nichts ohne Grund. »Da steckt irgendeine Schweinerei hinter«, meinte Cassedy, während er sich eine Zigarre anzündete und seinen Mantel auszog. »Wo wollten Sie übrigens hin, Pink?« »Wohin schon? In die Silver Street!« »Und?« »Mit den Boys sprechen. Ich möchte wissen, ob Leute von der Leibgarde Capones abrücken.« »Das ist gut. Vielleicht hätte man mit George oder Fregers telefonieren können.« »Habe ich schon getan. Fregers ist nicht da, und George weiß noch nichts.« »Das ist auch eigentlich noch etwas früh. Es ist gut, gehen Sie los. Sie können mich anrufen.« »Sie sind also hier?« »Vorerst ja.«
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»Das dauert bei Ihnen doch nicht allzulange. Aber da Sie so wenig wie ich wissen, wo wir unseren Freund Richard Dillinger finden können, werden Sie wohl oder übel heute hier angeleimt bleiben.« »Da bin ich noch gar nicht so sicher, Pink.« Cassedy blickte seinem Boß hinterher und machte sich dann auf den Weg in die sogenannte Silver Street, wo der große Block lag, der allgemein als Al Capones Residenz angesehen wurde. Er wurde Tag und Nacht von neun sich ständig abwechselnden G‐men bewacht. Was hatte der Anruf Capones zu bedeuten? Zweifellos steckte irgend etwas dahinter. Vielleicht wollte der Banden‐Chef sich schon vorher rückversichern und die Sache den Dillingers in die Schuhe schieben. Damned, wenn man nur irgendeinen greifbaren Faden in der Hand hätte, der zu diesem Richard Dillinger hinführte. Warum war es nicht möglich, selbst die Verbrecherbanden gegeneinander auszuspielen, um am Ende über die Dillinger‐Gang auch den berüchtigten Syndikatchef Alfonso Capone zu stellen? Er müßte ihnen irgendwie auf den Leim und dann ins Netz gehen, aber statt dessen zog Al Capone die Fäden und hetzte geschickt FBI und Dillinger‐Gang aufeinander. Nun gut, das FBI würde bei der Auseinandersetzung nicht den Kürzeren ziehen, aber es war irgendwie beunruhigend zu wissen, selbst nur ein Spielball im teuflischen Geheimplan des größten der Verbrecher zu sein. Was mochte Al Capone wirklich im Schilde führen? Das war 116
die eigentliche Frage, die ihn bewegte, aber er mußte sich jetzt auf Dillinger konzentrieren. Ruth! Wieder stieg ihr Gesicht vor ihm auf. Er mußte sich hart auf seine Arbeit konzentrieren, um nicht der Versuchung nachzugeben, Hut und Mantel zu nehmen und zu ihr zu fahren. Mit ihr zu sprechen. Aber war er denn sicher, ob es nicht nur ein Vorwand war, sie wiederzusehen? Sie wußte doch nichts von Ric, das hatte sie ihm mehrfach gesagt. Well, sie war weitläufig mit ihm verwandt, aber sie wußte nicht, wo er sich aufhielt. Eine Dreiviertelstunde später schlenderte er über die linke Straßenseite der breiten Harlem Avenue am Rand des Lyons Park entlang und machte in der Nähe eines Kiosks halt, der noch vor einigen Tagen geschlossen war. Hier hatte er vor Wochen den Hehler gestellt, der an einem schweren Verbrechen beteiligt gewesen war. Und in diesem Kiosk hatte auf einem leeren Limonadenkasten ein Mann gesessen, den er für Richard Dillinger hielt. Es war sinnlos, den Weg hier heraus zu machen, denn damals war alles aufgeflogen, und selbst wenn der Anführer der Dillinger‐Gang hier in der Gegend gelebt hatte, würde er sich hüten, sich noch einmal hier blicken zu lassen. Der FBI‐Agent hatte den Kiosk jetzt erreicht, warf einen Blick auf die vielen bunten Zeitschriften, die mit Klammern in langen Reihen ausgehängt waren und bis zur Erde hinunterreichten, blickte dann auf die etwas intimere Literatur, die vorn unter Glas lag, und stützte sich auf das Rahmenholz auf, um einen Blick in das 117
Gesicht des Mannes zu werfen, der mit qualmendem Zigarrenstrunk hinter dem Glas stand und damit beschäftigt war, einen Zeitungspacken aufzuschnüren. »Ich hätte gern eine ›Chicago Post‹.« »Die ist ausverkauft, Mister. Da müssen Sie heute abend wiederkommen. Nehmen Sie die ›News‹, die kommt immer in größerer Auflage, und es steht bestimmt auch alles drin.« Das war Matherleys Zeitung. Er würde den Teufel tun, dem Kerl auch noch sein Geld in den Rachen zu werfen. Er wußte jedoch genau, daß er wieder rückfällig werden würde, wenn es darauf ankam, denn wenn man gut informiert sein wollte in Chicago, dann mußte man die »Chicago News« lesen. »Nein, danke. – Sind Sie der neue Pächter?« »Sind Sie von der Polizei?« entgegnete der Mann mit seinem Zigarrenstrunk, während er den Kopf hob und Eliot aus verschleierten grauen Augen anblickte. Der Inspektor nickte. Da schob der andere den Strunk von einem Mundwinkel in den anderen und krächzte: »Ja, ich bin der neue Pächter. Was ist los?« »Haben Sie keine andere frische Zeitung als den ›News‹?« »Doch, aber nur das Käseblatt von Steen. Den ›Chronicle‹, diese Großmutterzeitung, und dann natürlich noch das andere Geschmiere. Elf sind’s im ganzen. Jedenfalls um diese Tageszeit, später kriegen Sie mehr.« 118
Ein Mann hatte sich neben Eliot aufgestützt und meinte, auf einem Kaugummi herumkauend: »Man sollte die ›News‹ lesen. Es ist die Zeitung der unteren Millionen. Jeder, der informiert sein will, der liest die ›News‹. Auch, wenn er nicht zur Unterwelt gehört.« Eliot lächelte, wandte dann den Kopf – und glaubte, nicht richtig zu sehen. Der Mann, der da nur eine Elle entfernt von ihm auf der schrägen Holzauflage des Kioskes lehnte, hatte ein scharfgezeichnetes Profil, dunkles schwarzblaues Haar und ein quittenfarbenes Gesicht. Seine Augen waren dunkelblau und von langen Wimpern umschattet. Mephistophelisch zog sich die linke Braue, die er ja nur sehen konnte, da er den Mann vom linken Profil sah, in die Stirn. Das Haar wucherte weit über die Schläfe vor und zog sich bis zur Ohrmitte hinunter. Der Mann trug einen schwarzen Sommermantel, dessen Kragen er hochgeschlagen hatte. Scharf geschnitten war der Mund, der einen harten Willen andeutete, und vor allem das Kinn war sehr stark ausgeprägt und in der Mitte gespalten. Es war ein gutgezeichnetes Männergesicht, das eindrucksvoll wirkte. Es war das Gesicht jenes jungen Mannes, den er damals hier im Kiosk hinten auf der Kiste hatte sitzen sehen. Das Gesicht des Mannes, den er für Richard Dillinger gehalten hatte. Der andere wandte den Kopf und blickte ihn an. Man konnte erschrecken, wenn man in diese Augen blickte. Die Iris war von einem dunklen Rand umgeben 119
und wurde zur Mitte hin auf eine seltsame Weise heller, so hell, daß sie am Schluß wie ein Aquamarin um den dunklen schwarzen Punkt flimmerte. Es war etwas von dem Blick eines Raubtieres in diesen eindrucksvollen Augen. Der Mann öffnete die Lippen, und eine ebenmäßig gewachsene weiße Zahnreihe kam zum Vorschein. »Hallo, haben wir uns nicht schon gesehen? Richtig, Sie sind der G‐man, der damals den Alten hier hochgenommen hat, stimmt’s?« Eliot blickte unverwandt in diese Augen, dann hörte er sich wie mit einer Stimme, die aus weiter Ferne kam, sagen: »Und Sie sind Richard Dillinger.« Da lachte der andere. »Wie wäre es, wenn ich Sie für Eliot Ness hielte?« »Das wäre nicht einmal falsch.« Da fuhr sich der andere mit dem Rücken der linken Hand über seine linke Gesichtsseite bis zur Schläfe hin, führte die Fingerkuppen der gleichen Hand dann langsam über die Stirn. »Ja, ich bin Richard Dillinger. Sind Sie jetzt sehr erstaunt?« Eliot schüttelte den Kopf. »Nein.« »Und? Haben Sie einen Grund, mich zu verhaften?« »Wahrscheinlich wird es mehr als ein Dutzend Gründe geben, Richard Dillinger.«
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»Nur leider haben Sie nicht einen einzigen, der eine Festnahme rechtfertigen würde.« Es stimmte leider, leider Gottes! Eliot hatte die Zähne fest aufeinandergepreßt und blickte gebannt in das Gesicht des anderen. Das war also der junge Mann, der aus dem Wilden Westen gekommen war, wie es in den Zeitungen hieß. Matherley war auf diesen Dreh verfallen. Stimmte ja auch, denn er kam aus St. Louis, war hier nach Chicago gefahren, und hatte sich auf irgend eine Weise mit jenem Frank Dillinger zusammengetan, der sein Vetter war, und der nach dem Überfall auf die Bank Capones ums Leben gekommen war. Richard Dillinger öffnete seinen Mantel, griff in die Reverstasche und zog eine lange Zigarette heraus, die ein Pappmundstück hatte, das er zweimal kniff und sich dann zwischen die Zähne schob. Das Zündholz riß er unter dem Holz der Kioskbank an, brachte es vor die Zigarette und sog die Flamme in die Fäden. »Ist eine russische. Feine Sorte. Wollen Sie auch eine?« Der Inspektor schüttelte den Kopf. Da warf Dillinger ein Zehncentstück auf das leicht gebogene, abgewetzte Glas, das vor dem kleinen Fenster des Kiosk lag: »Die ›Chicago News‹.« Der Pächter nahm ein Exemplar von dem neuen Stapel herunter und reichte ihm die druckfeuchte Ausgabe mit zitternder Hand. Das, was sich da vor seinem Kiosk abspielte, benahm einem den Atem. 121
Eliot Ness und Ric Dillinger! Das war brisant. Wie ruhig die beiden miteinander sprachen, direkt unheimlich. Ric Dillinger schob die Zeitung zusammengefaltet in die Manteltasche. Dann paffte er eine große Wolke vor sein Gesicht und machte ein paar Schritte auf die Straße zu. Da blieb er noch einmal stehen, schob die Hände tief in seine Manteltaschen und wandte den Kopf dem Inspektor zu. »Hat mich gefreut, Eliot Ness. Wenn ich mal Sorgen habe, werde ich mich an Sie wenden.« »Augenblick«, meinte der Inspektor und kam auf ihn zu. Er war ziemlich groß, der Mann aus dem Wilden Westen, nur knapp anderthalb Inches kleiner als der riesige Norweger selbst. Eliot blieb vor ihm stehen und heftete seinen Blick fest auf die Chamäleonaugen des anderen, deren Farbe sich unentwegt zu ändern schien. »Ich weiß nicht, was Sie vorhaben, Ric, und ich möchte Ihnen auch keine Ratschläge geben –« »Das habe ich auch nicht von Ihnen erwartet. Weil Sie nämlich genau wissen, daß es nichts nützen würde. Ich bin nicht der Mann, für den Sie mich halten.« »Ich halte Sie für gar nichts, Richard Dillinger. Ich wollte Ihnen nur etwas sagen: Es wäre für Ihre Gesundheit ganz bestimmt sehr viel besser, wenn Sie Ihren kleinen Koffer wieder packen würden, um zurück nach St. Louis zu fahren.« »Ah, und weshalb?« 122
»Weil es sein könnte, daß es hier in der Stadt einen Mann gibt, dem Sie nicht gefallen.« »Ah, etwa ein gewisser Eliot Ness?« fragte er und hatte ein zynisches Lächeln um die Mundwinkel. Eliot schüttelte den Kopf. »Ich würde mich an zweiter Stelle nennen, Ric.« »Ah, dann bin ich im Bilde. Vielen Dank auch für den Tip«, sagte er rauh und hob grüßend zwei Finger der rechten Hand. Dann schlenderte er davon, mit einem federnden Raubtierschritt, der typisch für ihn war. Eine lange Tabakwolke zog über seine schwarze Schulter wie ein Nebelschal hinter ihm her. Eliot blickte ihm eine Weile nach, wandte sich dann zurück zum Kiosk und fragte den Händler, der zitternd versuchte, noch einen letzten Zug aus seinem Zigarrenstrunk zu machen: »Kommt der öfter?« »Es geht. Ich habe ihn erst ein paarmal gesehen. Ein Spaßvogel. Er ist natürlich nicht Ric Dillinger.« »Wissen Sie, wo er wohnt?« »Keine Ahnung.« Eliot Ness folgte dem unheimlichen Mann im schwarzen Mantel. Und er merkte bald, daß der andere wußte, daß er beobachtet wurde. Von diesem Augenblick an war es Eliot Ness klar, daß es keinen Sinn hatte, ihn zu beschatten. Der Bursche, würde ihn kreuz und quer durch die ganze Stadt führen, und höchstwahrscheinlich machte es diesem diabolischen Menschen das größte
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Vergnügen, seinen schärfsten Widersacher an der Nase herumzuführen. »Den Spaß werde ich dir nicht machen, Junge.« Der Inspektor ging zurück zum Lyons Park, blieb auf der anderen Seite der Harlem Avenue stehen und fixierte nachdenklich den Kiosk. Plötzlich setzte er sich in Bewegung, überquerte den Fahrdamm und stand einen Augenblick später vor dem Kioskpächter. Erschrocken blickte der in das Gesicht des Polizeioffiziers. »Schließen Sie den Laden.« »Weshalb denn?« »Weil ich es Ihnen sage.« »Verdammt, ich habe wohl gehört, wer Sie sind, Inspektor, aber trotzdem brauchen Sie sich nicht einzubilden, daß wir hier alles tun müssen, was Sie sagen. Well, ich weiß, daß Sie ein scharfer Wolf sind und –« »Halten Sie keine Vorträge, Mann. Schließen Sie den Laden!« Der Händler zerquetschte einen Fluch zwischen den Zähnen und machte sich dann daran, die Rolläden herunterzulassen. Er holte die Zeitungen herein, stellte die Stangen mit den Auslagen nebeneinander an die Rückwand des Kiosks und schob dann die Kasse in eine rindslederne Aktentasche. »Und was jetzt?« »Sie werden jetzt mit zur nächsten Polizeiwache kommen.«
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»Das ist doch nicht Ihr Ernst. Was habe ich denn getan?« »Es geht um Ihre eigene Sicherheit.« »Das ist doch wohl ein Witz. Was haben Sie vor?« Eliot brachte ihn zur nächsten Polizeiwache. Dann rief er George an, der in der Silver Street Telefonwache hatte. »Hallo, Boß, was ist?« kam die Stimme des G‐man zurück. »Sagen Sie Inspektor Cassedy, daß ich ihn am Lyons Park erwarte. Sagen Sie ihm, vor dem Kiosk. Dann weiß er Bescheid.« »In Ordnung, Boß.« Eliot Ness rief am Oakwood Cemetery an und forderte Joseph Lock auf, das »Sonderkommando« mitzubringen. Es dauerte nur zwölf Minuten, und der schwere Wagen mit Cassedy hielt vor dem Kiosk. Dann dauerte es nur weitere siebzehn Minuten, bis auch das Sonderkommando auftauchte. Cassedy blickte den Inspektor aus fragenden Augen an. »Was gibt’s?« Eliot berichtete von seinem Zusammentreffen mit dem Mann, den er für Richard Dillinger hielt. »Und? Haben Sie ihn laufen lassen?« Eliot zog die Schultern hoch. »Was hätten Sie getan?« »Ja, natürlich. Ich hätte mir wahrscheinlich von ihm auch nicht die Schönheiten unserer Stadt zeigen lassen. 125
Dieser Schurke weiß schon, daß er nicht zu packen ist. Aber es kommt die Stunde, dann –« »Überlegen Sie doch mal, Pink. Was sucht er hier?« »Wenn ich das wüßte. Sie haben doch damals alles hier auf den Kopf gestellt.« »Das ist richtig. Aber vielleicht haben wir noch nicht genug auf den Kopf gestellt.« »Was soll das heißen?« »Ich will die Leute auffordern, den ganzen Boden da rauszureißen.« »Das ist doch nicht Ihr Ernst?« Eliot schob sich den Hut aus der Stirn und nickte. »Doch. Es ist mein Ernst.« »Aber hören Sie, das wird einen Mordsskandal geben. Denken Sie nur an unseren Freund Matherley…« Das war es eben in diesem verfluchten Chicago: Wenn man irgend etwas versuchte, das nicht zum Erfolg führte, dann mußte man mit einem Riesentumult rechnen. Wenn anderwärts die Polizei einen ganzen Park oder ein Feld umgrub oder ein Haus auf den Kopf stellte, dann sagte niemand etwas, wenn nichts dabei herauskam. Aber hier in Chicago war man gleich am Schwarzen Brett, am Pranger sozusagen. Matherley würde nicht mit seinem Spott hinterm Berg halten. »Trotzdem«, sagte Eliot wie zu sich selbst und gab dann Inspektor Lock seine Anweisungen. Joseph Lock machte sich daran, seine Leute genau einzuteilen! Das Sonderkommando hatte Eliot ihm unterstellt, weil er wußte, daß er sich auf Lock genauso 126
verlassen konnte wie auf seinen Vertreter Cassedy. Der ganze Boden des Kiosks wurde herausgenommen. Es war eine Arbeit von einer vollen Stunde. Doch der Erfolg war gleich Null. Die Spezialisten machten sich bereits daran, die Bretter wieder einzusetzen, als Eliot sich an einen älteren Beamten namens Stone wandte, der Geologie studiert hatte, »Ist hier alles in Ordnung mit dem Boden?« »Wie meinen Sie das, Mr. Ness?« »Ich meine, kann hier nichts im Boden drin sein?« »Es kann überall etwas im Boden sein.« »Ist der Boden hier genauso wie draußen im Park?« »Nein, natürlich nicht.« »Wieso nicht?« »Na, da wird immer Humus aufgeschüttet, damit die Pflanzen und die Blumen in Ordnung sind. Hier drin ist der typische harte, schiefrige Sandboden, den man auch überall anderwärts in der Stadt findet, wenn man in kellerlosen Häusern den Boden herausreißt. Sie werden sich vielleicht an die Leiche drüben in der Reeter Street erinnern –« »Ja.« Eliot erinnerte sich noch an den grausigen Leichenfund in der Reeter Street, wo man aus dem schiefrigen Sandboden nur zwei Fuß unter dem Kellerzement die Leiche einer Frau herausgeholt hatte, die da schon monatelang gelegen haben mußte. In diesem Augenblick zog der G‐man Bret Stone die Brauen zusammen. 127
»Aber«, sagte er dann wie zu sich selbst – um wieder abzubrechen. »Was meinen Sie, Mr. Stone?« »Ja, ich weiß nicht, merkwürdig ist dieser schwarze Schimmer da schon.« Eliot blickte ihn fragend an. Da bückte sich der G‐man und nahm eine Handvoll Erde hoch, zerrieb sie zwischen den Fingern und ließ sie wieder fallen. »Das ist der quarzige Boden, der eigentlich ganze anderthalb Yard tiefer steckt.« »Wollen Sie damit sagen, daß hier anderthalb Yard unter dieser schiefrig‐gelblichen Schicht schwarzer Boden ist?« »Ja. Das ist fast in ganz Chicago so, bis unten zum See hin. Da wird es dann anders. Die Gesteinsformationen kommen ja sowieso tiefer.« »Graben!« Es war nur ein einziges Wort, das von den Lippen des Chef‐Inspektors kam, und sofort stemmten sich die Männer hinter ihre Kurzspaten. Sie schaufelten eine halbe Stunde, drei Mann waren schon bis auf den schwarzen Boden gekommen, aber ohne Erfolg. Da griff Eliot nach einer der Stichsonden, die draußen im Spezialwagen lagen, und führte sie an mehreren Stellen in den Boden. Stone schüttelte den Kopf. »Da ist nichts.« »Tiefer graben«, befahl der Norweger. Sie gruben noch drei, vier Spaten tiefer. Wieder ohne Erfolg. 128
»Ich könnte natürlich die Sonde auch schräg ansetzen, Inspektor«, meinte Stone da und schob die Sonde, aus der ein Stahlstift durch einen Draht weit vorgetrieben werden konnte, am Rand des Kiosk so in die Erde, daß er praktisch jetzt schon nicht mehr unter dem Fundament der Bude war. »Wie tief kann das Fundament sein?« erkundigte sich Eliot. »Einen Yard höchstens. Meistens wurden diese Dinger früher auf noch kürzere Sockel gestellt. Der Boden hält das schon. Er ist ja fest und –« Jäh unterbrach sich Stone. Er senkte den Kopf, schob den Stahlstift noch einmal durch die röhrenartige Sonde, und dann warf er den Kopf herum. Eliot blickte ihn gespannt an. Tiefe Stille herrschte in dem engen Raum. Alles sah gebannt auf den Geologen. »Was ist los?« knurrte Cassedy endlich, der in der offenen Tür stand. »Da ist irgend etwas – wie Metall!« Es dauerte noch vierzig Minuten, bis die metallene Wand eines Kastens von den Spaten freigelegt worden war und unten in dem tunnelartigen, etwas abgestützten Gang im Licht der Stablampen auftauchte. Es war eine schwarz geteerte Kiste, die dort unten im Boden lag. Mit Mühe nur konnte sie hochgezurrt werden. Vorsichtshalber ließ Eliot Ness die Scharniere aufbrechen, da man mit Schlössern schon die unerfreulichsten Überraschungen erlebt hatte: Zwei G‐ 129
men waren erst vor anderthalb Jahren beim Aufbrechen von solchen Schlössern in die Luft gegangen. Ihre Gräber drüben auf dem Waldfriedhof zeugten davon. Es war eine schwere Arbeit, die starken Scharniere zu öffnen. Als das geschehen war, sahen sie schwarzes Ölpapier durchschimmern. Es wurde herausgenommen, und als Eliot Ness das Paket aufmachte, lagen vor ihm Stapel von Banknoten. Banknoten mit großen Zahlen! Cassedy griff sofort zu, und er hatte noch schneller als Joseph Lock die Zahlenanfänge gefunden. »Die Beute aus Capones Buchmacherei!« preßte der Dicke erregt durch die Zähne. Also das war es, was Richard Dillinger immer wieder hierhertrieb. Er hatte damals bei dem Hehler, der jetzt saß, seine Beute hier vergraben können. Und zwar so, daß sie so leicht niemand fand. Er hatte saubere Arbeit geleistet, einen kleinen Tunnel in den Boden getrieben, damit der Kasten mit der großen Beute nicht direkt unter dem Kiosk lag, sondern mehr daneben. Falls also irgend jemand mit Sonden senkrecht in den Boden stach, würde er niemals etwas entdeckt haben. Wäre nicht die winzige schwarze Schimmerspur auf dem gelbgrauen Sand gewesen, so hätte man die Kiste wohl niemals entdeckt. Cassedy schüttelte den Kopf und ging hinaus. Joseph Lock war neben ihm. »Es ist nicht der schwarze Sand, der uns da hinunter geführt hat«, sagte er, während er sich eine Zigarre anzündete. »Er ist es: seine unheimliche Nase. Was sagen Sie überhaupt dazu, Joe?« 130
Joseph Lock, ein Mann von dreißig Jahren, ernst, hager und drahtig, nicht allzu groß gewachsen, eher untersetzt, meinte: »Was soll ich dazu sagen, Mr. Cassedy? Er ist einfach ein Phänomen.« * Es war fast unfaßlich. So mal eben im Vorbeigehen hatte der unheimliche Norweger die große Beute der Dillingers entdeckt! Die vielen Banknotenbündel, die die neugegründete Dillinger‐Gang damals vor Monaten bei dem unerhörten Coup in der Cicero Avenue aus Al Capones Buchmacherei gestohlen hatte. »Das Tollste ist, daß wir diesem Gauner jetzt noch das Geld zurückgeben müssen«, meinte Cassedy. »Vielleicht ist es gar nicht das Dümmste«, meinte Eliot Ness, der den Kasten in seinem Wagen stehen hatte und mit Cassedy in die Stadt gefahren war. In der Nähe der Silver Street ging er in eine Telefonzelle und rief die Nummer an, unter der er Capones Sekretär erreichen konnte. Der war sofort am Apparat. »Was, Eliot Ness?« kam es stockend aus der Muschel. Die Stimme des Italo‐Amerikaners vibrierte leise. Eliot spürte, daß er die Sonde ein zweites Mal richtig angesetzt hatte. Es tat sich irgend etwas in der Capone‐Gang – und zwar heute. Nicht umsonst hatte Capone angerufen. »Ich hätte gern mal Ihren Boß gesprochen.« 131
»Der ist nicht zu sprechen.« »Vielleicht ist er doch zu sprechen, wenn Sie ihm sagen, daß ich ihm eine Freude machen kann.« »Das ist nicht Ihr Ernst, Ness.« »Sagen Sie ihm, daß es sich um Geld und Wertpapiere im Wert von fast einer Million Dollar handelt.« Zwar war Capone ein steinreicher Mann, dem sicherlich nichts fehlte, aber eine Million war doch immerhin eine Summe, für die sich auch ein Al Capone noch einmal umdrehte. Er war sofort am Apparat. »Was gibt’s, Eliot?« fragte er ohne Gruß. »Ich dachte, daß Sie sich vielleicht für Ihr Geld interessieren würden, Al.« »Für welches Geld?« »Für die Bucks, die Ihnen Ihr lieber Freund Dillinger neulich aus der Kasse geholt hat.« »Wieso? Was ist mit dem Geld?« »Ich hab’ es.« »Wo?« »Hier bei mir.« »Sind Sie etwa verrückt?« »Noch nicht.« »Was soll denn das heißen? Wollen Sie mir vielleicht erzählen, daß Ric Dillinger Sie zu dem Geld geführt hat?« »Genauso ist es.« »Hahahaha! Er schickt mir also meine Dollars zurück! Machen Sie sich doch nicht lächerlich. Ich werde einhängen.« 132
»Augenblick noch, Al. Ich steige jetzt wieder in meinen Karren und komme zu Ihnen hinausgefahren. Wir treffen uns an der gleichen Stelle wie damals, an dem kleinen Laden, wo ich Sie mit Ihrem lieben Vetter aus Iowa begrüßen konnte.« »Sagen Sie bloß, Sie bringen mir dann den Koffer mit dem Geld mit.« »Es ist eine schöne handliche Kiste aus geteertem Eisenblech. Zwar ist sie etwas schwer, aber Sie sind ja ein ziemlich starker Mann. Kommen Sie also?« »Und ob ich komme! Aber wehe Ihnen, wenn Sie sich da eine Finte haben einfallen lassen!« Er kam. Schnaubend stand er da und starrte auf die Geldkiste. Er bückte sich nieder, griff mit beiden Händen hinein, wühlte das Geld durch und sprang dann wieder hoch. »Wo kommt das her?« »Meine Sache.« »He, ich könnte Sie verklagen! Vielleicht haben Sie den Kram an sich gebracht.« Der Norweger blickte ihn aus eisigen Augen an, »Ich will Ihnen etwas sagen, Al: Wir beide haben jetzt ein Geschäft gemacht.« »Wieso?« »Sie hatten ein Ding vor, und das ist jetzt hier die Bezahlung.« »Moment mal. Ich bin nicht schwer von Begriff«, meinte der Gangster‐Chief, während er mit dem Finger 133
seiner linken Hand der ekelhaften Narbe nachfuhr, die sich von seinem Mundwinkel bis zur Schläfe hochzog. Es ging etwas Unheimliches von diesem Mann aus, der selbst noch nach vielen Jahren als der gefährlichste und infamste Verbrecher aller Zeiten angesehen werden sollte. »Wir haben uns schon verstanden, Capone: Hier ist das Geld – und Sie werden nichts unternehmen.« Es war ein glatter Schuß ins Schwarze. Dabei war es doch nur ein kalter Bluff gewesen. Eliot Ness wußte gar nichts von dem, was Capone vorhatte. Er war zwar durch den Telefonanruf auf irgend etwas aufmerksam gemacht worden, aber er hätte höchstwahrscheinlich alle Hebel in Bewegung setzen können, ohne auch nur eine Spur von dem zu entdecken, was der gerissene Italo‐Amerikaner vorhatte. Die vier Helfershelfer, die jetzt hinter Capone in der Tür auftauchten, bauten sich neben ihm auf, und einer von ihnen, ein riesiger Mensch mit einem Gorillagesicht, griff nach der Kiste und nahm sie unter den Arm. »Ganz schön schwer, das Ding«, meinte er feixend. »Halt’s Maul«, rief ihm Capone zu, »verschwindet! Los!« Dann nagte er, wie es seine Art war, auf der linken Seite seiner Unterlippe herum, kniff das linke Auge dabei zu, legte den Kopf etwas auf die Seite und nickte schließlich. »Gut, Eliot Ness, diese Runde geht an Sie. Aber noch ist nicht aller Tage Abend. Ich werde ihn schon greifen, 134
verlassen Sie sich drauf. Hier in der Stadt regiert nur einer, und das bin ich!« »Irrtum, Capone, Sie regieren nicht in dieser Stadt. Sie sind weder Statthalter, noch sind Sie ein Hunnenfürst. Sie sind ein Bürger Chicagos, und Sie sollten für jeden Tag froh sein, an dem Sie sich noch als ein freier Bürger dieser Stadt bezeichnen können.« »Ist das etwa eine Drohung?« fauchte der Gangster. »Nur ein klarer Hinweis, Mr. Capone. Leben Sie wohl.« Der Italo‐Amerikaner blieb einen Augenblick stehen, lief dann vorwärts und hielt den Inspektor mit beiden Händen am linken Arm fest. Er hob das Gesicht etwas an und meinte: »Mit der Sache da drüben – ich meine, in der Forest Avenue – habe ich nichts zu tun.« Eliot schrak zusammen. Woher wußte dieser Mann denn, daß Eliot Ness sich so sehr mit der Gift‐Party in Des Plaines beschäftigte? Natürlich hatten die Zeitungen darüber berichtet, aber die berichteten doch über alle möglichen Verbrechen, waren täglich voll davon. »Das soll meine Bezahlung an Sie sein. Aber Dillinger – den kaufe ich mir doch noch. Wenn auch nicht heute, so doch ein andermal. Aber ich greife ihn mir.« »Ich warne Sie, Capone«, preßte der FBI‐Agent durch die zusammengebissenen Zähne. »Eines Tages greife ich auch Sie…« * 135
Die Nacht hatte ihren schwarzen Mantel über die Weltstadt gebreitet. Am Sommerhimmel flimmerten nur wenige Sterne. Der Tag, der so sonnig und kristallen begonnen hatte, hatte sich gegen Nachmittag verschleiert. Eliot Ness stand in der Cicero Avenue vor Geiger’s Café und beobachtete die nebenan liegende Einfahrt zum »Hidegota«. Das Varieté war erst seit einiger Zeit hier, und es würde auch nicht mehr allzu lange dort sein. Eine fürchterliche Familientragödie sollte es wieder untergehen lassen. Aber noch erstrahlte es im Lichterglanz und zog um diese Abendstunde viele Besucher an. Wagen nach Wagen fuhr an der Straße vor. Damen in den elegantesten Abendkleidern stiegen aus. Eliot Ness hatte den Mantelkragen hochgeschlagen, um sich gegen den unangenehmen Wind zu schützen, der seit einer Stunde aufgekommen war und hart durch die Straßen strich. Das war der Sommer von Chicago. Einmal ein richtiger San‐Remo‐Frühling, dann wieder ein englischer Herbsttag. »Chicago ist der Puter Amerikas«, hatte Mark Twain nicht umsonst gesagt, »eine Stadt, die alle Fleischsorten aufzuweisen hat. Und auch sonst alles. Ihr Klima ist der reinste Scherz der Natur.« Eben jetzt fuhr ein schwerer dunkler englischer Wagen vor, in dessen Fond nur eine einzelne Person saß. Der Chauffeur stieg aus, ging gemessenen Schrittes hinten um den Wagen herum und wollte eben den 136
Schlag öffnen, als er von selbst aufsprang und eine junge Dame ausstieg. Sie trug einen hocheleganten weißen Breitschwanzmantel und einen weißen Hut. Mit federndem Schritt trat sie auf den Bürgersteig, blieb dann stehen und blickte auf den nächsten Wagen, der eben mit pfeifenden Pneus hinter dem anderen stehenblieb. Eliot Ness hatte Ginger Astor sofort erkannt. Er hoffte, daß sie ihn hier an dem Café nicht sehen konnte. Der zweite Wagen war jetzt zum Stehen gekommen; vier Herren in Abendanzügen stiegen aus und folgten der Frau. Sie war in ihrer Mitte, blieb dann plötzlich stehen, brach aus ihrer Reihe aus und ging mitten auf die Leute zu, die allabendlich die Passage bis zur Straße säumten; fand eine Gasse durch die Menschen und stand plötzlich vor Eliot Ness. Ganz dicht trat sie an ihn heran. Eliot spürte wieder den berauschenden Duft des italienischen Parfüms und blickte in ihre Augen, die nah vor ihm schimmerten. Rasch erhob sie sich auf ihren Zehenspitzen und flüsterte dicht vor seinem Gesicht: »Wie geht’s?« Der Mann hatte einen Herzschlag lang den Atem angehalten. »Gut, danke. Und wie geht es Ihnen?« »Na, so lala.« Dann lachte sie hellauf, wandte sich um und konnte sich eben noch rechtzeitig so von ihm entfernen, daß die Männer, die ihr gefolgt waren, nicht mehr herausfinden konnten, mit wem sie gesprochen hatte. 137
Als sie im Eingang des Varietés verschwunden war, blickte Eliot zum Wagen hinüber. Der war ein Stück weitergefahren und parkte drüben bei den anderen Fahrzeugen. Genau neunundzwanzig Minuten waren vergangen, als der weiße Breitschwanz plötzlich wieder im grell erleuchteten Eingang des Varietes auftauchte. Ginger Astor hatte die Handtasche in beiden Händen, blickte zum Café hinüber, und als sie die Gestalt des Mannes da nicht mehr entdecken konnte, machte sie mißmutig ein paar Schritte vorwärts, blieb wieder stehen – und dann sah sie ihn links am Gehsteigrand. Langsam schlenderte sie auf ihn zu. Der Bürgersteig war jetzt leerer geworden, da sich die Neugierigen allabendlich nach Beginn der Vorstellung wieder verzogen. Es war das tägliche Vergnügen des kleinen Mannes, so hatte Matherley es jedenfalls in seiner Zeitung einmal gezeichnet. Wer kein Geld hatte, den großen Veranstaltungen beizuwohnen, der wohnte dem Ein‐ und Aussteigen des Großen bei, die diese Veranstaltungen besuchten. Und da hatte Chicago allabendlich etwas zu bieten, es konnte sich also niemand beschweren. Nur mit dem Unterschied, daß die einen eben vor der Tür blieben und die anderen hindurchgingen. Ob die letzteren die Glücklicheren waren, war noch die Frage. Und damit hatte Matherley ja recht.
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Ginger Astor war neben dem Norweger angekommen. Sie schob die Spitze ihres kleinen weißen Lacklederschuhs an seinen großen schwarzen Schuh heran und lächelte. »Sie passen gar nicht zueinander«, sagte sie. »Müssen sie das denn?« Da hob sie den Kopf und blickte in seine Augen. »Gehen wir«, sagte sie. Schweigend gingen sie nebeneinanderher. »Ich habe darüber nachgedacht«, sagte sie nach einer Weile. »Ich habe keine Angst.« Erst als rechts neben ihnen der große Laramie Park (heute der Howthorne Race Track) auftauchte, blieb sie stehen und blickte in einen Parkweg, der lockend vor ihnen lag. Ohne sich darum zu kümmern, ob der Mann ihr folgte, ging sie darauf zu. Eliot war stehengeblieben. Da verhielt auch sie den Schritt. »Na«, meinte er, »doch Angst?« Langsam gingen sie durch die Parkanlagen der Laramie Avenue zu. Noch ehe sie sie erreicht hatten, blieb die Frau plötzlich stehen, trat rasch vor den Mann hin und legte beide Hände auf seine Schultern. »Weshalb sind Sie gekommen?« kam es leise über ihre Lippen. »Ich weiß es nicht.« »Ich wüßte es aber gern.« Da schüttelte er den Kopf. 139
Wieder erhob sie sich auf ihre Zehenspitzen und küßte ihn sanft. Eine Glutwelle schlug durch den Körper des Mannes. Da spürte er schon die Fäuste der Frau auf seiner Brust, hart stieß sie ihn zurück. Eliot machte einen Schritt nach rückwärts, stemmte sich da gegen den Boden und blieb stehen. Unverwandt sah er sie an. Wie sie da auf der Mitte des Parkweges stand, ganz in Weiß, mit schimmernden Augen unter dem flimmernden Himmel Chicagos, schwach beleuchtet von einer fernen Parklampe, schien sie nicht nur seltsam schön, sondern die begehrenswerteste Frau der Welt zu sein. Dennoch ließ der Mann seine Hände in den Manteltaschen. Sekundenlang standen sie einander schweigend gegenüber, dann kam sie wieder auf ihn zu, warf plötzlich ihre Hände um seinen Hals und küßte ihn leidenschaftlich. Völlig benommen stand der Norweger da und blickte auf sie nieder. »Was haben Sie?« fragte sie, etwas zurückweichend und nach Atem ringend, Er schwieg. Sein Schweigen hatte schon andere Menschen zur Verzweiflung gebracht. Und jetzt ließ er auch noch ein Lächeln folgen. Da stieß sie plötzlich die nächsten Worte hervor: »Sie lieben Ruth Dillinger?« Er zog die Brauen zusammen. 140
»Wie kommen Sie denn darauf?« »Ich hasse alle Gangster. Auch Ruth Dillinger hasse ich.« »Weshalb? Was hat sie mit den Gangstern zu tun?« »Weil sie – weil sie die Schwester eines Gangsters ist.« »Aha.« »Kennen Sie etwa nicht ihren Bruder Joe?« Zum ersten Mal wurde der Name John Dillinger erwähnt. Der Name jenes Mannes, der Chicago eines Tages in eine Panik ohnegleichen versetzen würde. »Ich wußte nicht, daß sie einen Bruder hat, der diesen Namen trägt.« »Dann wissen Sie noch einiges nicht. Aber Ric, den kennen Sie doch?« »Kennen? Das ist übertrieben.« Wie kam sie bloß heute auf Ric zu sprechen? »Alle Zeitungen sind doch voll von ihm.« Eliot erschrak. Es konnte doch nicht möglich sein, daß irgend jemand Wind von der Sache mit dem Kiosk bekommen hatte. Da öffnete sie ihre kleine Tasche, nahm ein Zeitungsblatt heraus, zog ihr Feuerzeug an und ließ den zuckenden Lichtschein auf die Schlagzeilen fallen. Eliot Ness als Schatzsucher! Darunter in der Schlagzeile: Der Chef‐Inspektor hat Capones Geld bei Richard Dillinger aus der Erde gegraben. Darunter folgte ein fast authentischer Bericht dessen, was sich in der Vormittagsstunde drüben am Lyons Park 141
zugetragen hatte. Und der Verfasser des Berichtes war niemand anders als der Redakteur Rufus Matherley. Eliot Ness hatte es sich abgewöhnt, sich über diesen Mann zu wundern, oder gar, sich über ihn zu ärgern. Aber jetzt vermochte er ein Erstaunen doch nicht zu unterdrücken. Wie hatte Matherley das bloß herausbekommen? Sicher, es gab immer Mittel und Wege, solche Dinge auszugraben, aber die Wege des Rufus Matherley wurden allmählich interessant fürs FBI. Die Frau schleuderte die Zeitung von sich. »Ich hasse sie!« Es war eine ganze Zeitlang still. Dann sagte sie, während sie wieder auf ihn zuging und neben ihm stehenblieb: »Sie ist hübsch, nicht wahr?« Er nickte. Da warf sie den Kopf hoch. »Na also. Ich wußte es doch: Sie lieben sie.« »Wie kommen Sie nur darauf? Steht das etwa auch in dem Artikel?« »Nein, aber ich weiß es.« »Woher?« »Weil es in einer anderen Zeitung gestanden hat.« Sie griff noch einmal in ihre Tasche und nahm einen älteren Artikel aus einer Illustrierten heraus, auf den sie wieder das Licht ihres Feuerzeugs fallen ließ. Im zuckenden Lichtschein las der Inspektor: Die hübsche Ruth Dillinger dürfte ihren Eindruck auch auf einen so harten Mann wie den Polizeioffizier Ness kaum 142
verfehlt haben. Sie ist ja auch zweifellos eine der schönsten Frauen in Chicago… Und dann befaßte sich der Artikel weiter mit dem Coup der Dillingers in der Cicero Avenue. Als Verfasser des Artikels hatte ein Mann mit M gezeichnet, ein M, vor dem das große R fehlte. »Sollte das nicht auch Ihr Freund Matherley geschrieben haben?« fragte sie. »Möglich«, entgegnete er. Dann hielt sie die Flamme unter das Papier. Für einen Augenblick zischte sie gelbrot hoch und warf ein gespenstisches Licht auf das kantige Gesicht des Mannes. Die Frau sah es vor sich, als sie den Park längst verlassen hatten. »Entschuldigen Sie, Inspektor. Es ist alles Unsinn«, sagte sie dann. »Wie kommen Sie eigentlich an den Artikel?« »Ich habe ihn vor einiger Zeit gefunden und ihn mir dann ausgeschnitten.« »Was nennen Sie: vor einiger Zeit?« »Vor etlichen Wochen.« Was konnte sie vor etlichen Wochen an dem FBI‐ Inspektor Eliot Ness interessiert haben? Sie hatte den Artikel heute gefunden und aus einer alten Zeitung ausgeschnitten. Sie waren auf einem Umweg über die Laramie Avenue durch die 29. Straße gegangen und näherten sich eben der Cicero Avenue, waren noch etwa zwanzig Schritt von der Straßenecke entfernt, als plötzlich zwei Männer vor ihnen auftauchten. 143
Instinktiv riß Eliot Ness die Frau hinter sich und preßte sie in einen Türgang. Und dann schlugen die Schüsse ihm schon brüllend entgegen. Er selbst war in den Türgang zurückgestürzt und feuerte mit der linken Hand. Dreimal bellte der schwere fünfundvierziger Colt in seiner Faust auf. Dann gellte ein röhrender Todesschrei durch die Nacht. Eliot rannte vorwärts, sah einen Mann am Boden liegen, beugte sich über ihn, stieß einen Revolver mit dem Fuß weg, lief dann weiter bis zur Straßenecke. Im Gedränge der Menschen, die da eben aus einem Kino herauskamen, hatte der andere Schütze leichtes Untertauchen. Eliot kam zurück und sah Ginger Astor bei dem Mann stehen. »Er ist tot«, sagte sie leise. »Sie haben ihn bestimmt ins Herz getroffen.« »Kommen Sie«, sagte er und führte sie auf die Straße zurück. Dann zog er eine Pfeife aus der Tasche und stieß einen scharfen Trillerpfiff aus. Es dauerte nur wenige Augenblicke, da tauchte an der Ecke in dem Menschenstrom vorm Kino ein baumlanger Polizist auf. Eliot zeigte ihm seine Marke und deutete auf die leblose Gestalt auf dem Trottoir. »Lassen Sie ihn zum nächsten Revier schaffen. Ich komme selbst hin.«
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Der Mann hieß Jory Granger, ein ehemaliger Strumpfwirker, über den im Laufe der Nacht lediglich herausgebracht wurde, daß er einmal wegen eines Einbruchs in ein Pelzgeschäft festgenommen worden war und daß er dann einmal eine falsche Aussage vor Gericht gemacht hatte und deswegen ebenfalls bestraft worden war. Es wurde vermutet, daß er zu einer Gang gehörte. Weshalb er auf den Inspektor geschossen hatte, dieses Wissen hatte er mit ins Grab genommen. Sein Kumpan war entkommen. Als Eliot Ness das Polizeirevier verließ, sah er den schweren englischen Wagen Ginger Astors am Bürgersteig stehen. Sie hatte ihn also inzwischen hergeholt. Sonderbarerweise saß sie nicht hinten im Fond, sondern vorn hinterm Steuerrad. Der Chauffeur war nicht zu sehen. Eliot beugte sich zu dem heruntergekurbelten Fenster nieder. »Steigen Sie ein.« »Wo ist der Fahrer?« »Den habe ich weggeschickt.« Er nahm neben ihr Platz. Langsam fuhr sie an. Sie chauffierte gut. Alles, was sie tat, tat sie sicher und selbstverständlich. Sie fuhren ein Stück die Cicero Avenue hinauf und bogen dann über die Busse Avenue nach Nordwesten zum Stadtrand hinaus. An einem der großen Parks, die sich von River Grove hinauf nach Norden zogen, hielt 145
Ginger Astor den Wagen an einer Brücke des East River an. Sie hatte das automatische Verdeck vorn über der Fahrerkabine zurückgelassen und stieg aus. Eliot folgte ihr. Schwaches Sternenlicht fiel auf ihr Gesicht. Sie sah wirklich sehr hübsch und begehrenswert aus. Nur ganz wenig öffnete sie die Lippen und sagte leise: »Eliot Ness.« Dann schüttelte sie den Kopf, wandte sich um und ging langsam vorwärts. Der Mann blieb schweigend neben ihr. »Ich hätte mir nie träumen lassen, daß ich Sie einmal kennenlernen würde«, sagte sie. »Damals, als Sie diesen ekelhaften Menschen jagten, der die Frauen im Nebel am Washington Park würgte, habe ich zum erstenmal von Ihnen gehört. Jeden Artikel, den die Zeitungen darüber brachten und jeden Bericht, der darüber gesendet wurde – alles habe ich in mich aufgesogen. Weil ich es phantastisch fand, daß ein Mann, der doch eigentlich ganz allein und auf sich selbst gestellt ist, einen so gefährlichen Verbrecher jagt. Und dann die Geschichte mit diesem gräßlichen Aufschlitzer, der den Frauen die Leiber aufriß wie ein Raubtier…« Sie schüttelte sich und schloß den Kragen ihres weißen Mantels. »Verrückt, nicht wahr? Eine Frau sollte sich mit diesen Dingen nicht befassen. Aber wenn man allein ist…« War sie allein? Sie hob den Kopf und blickte ihn von der Seite an. 146
»Ich bin allein. Trotz allem. Sie werden es vielleicht nicht verstehen, aber ich bin allein. Mit all den Menschen, die sich oft bereits morgens nach dem Frühstück zum Tennis oder zu irgendeiner anderen Unterhaltung einfinden. Und auch abends, wenn sie zu Dutzenden durch die Räume meiner Villa spazieren: Ich bin allein.« Sie blieb stehen und lehnte sich gegen ihn. »Der große Eliot Ness. Unfaßlich. Wissen Sie was, meine Tante Meg – sie ist eine verschrobene alte Dame, steinreich und sehr klug –, sie sagte im vergangenen Winter einmal in ihrem Teekränzchen, das ich leider zuweilen aufsuchen muß: er wird einer der ganz Großen sein, wenn diese schreckliche Zeit einmal vorbei ist.« »Wer?« fragte der Mann neben ihr. »Dreimal dürfen Sie raten. Es war doch von Ihnen die Rede. – Aber sicher wissen Sie das selbst. Tante Meg hat ganz recht: Sie werden eines Tages ganz bestimmt einmal verehrt werden wie ein Halbgott. Chicago wird Sie niemals vergessen. Natürlich auch Al Capone nicht. Aber der Mann, der die Kraft und den Nerv besessen hat, ihn aufzusuchen, sich ihm entgegenzustellen, der wird niemals von den Menschen in diesem Land vergessen werden. – Ich weiß noch gut den Abend, als ich in der Zeitung von Ihrem Besuch in Capones Villa las. Es war ungeheuerlich. Am hellichten Tag drang ein Mann namens Ness in die Villa der toten Opernsängerin ein und stand plötzlich vor Al Capone –« Sie schwieg.
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Langsam gingen sie weiter. Die ganze Länge des Parks hinunter und wieder zurück. Sie sprach nur wenig. Der Norweger schwieg. Er war ein großer Zuhörer – und es war interessant, der Frau zuzuhören. Sie hatte eine rauchdunkle Stimme, in der ein leises Vibrieren war, das ihn fesselte. Als sich der Park jetzt vor ihnen lichtete, blieb Ginger Astor stehen und sagte: »Haben Sie eine Zigarette für mich?« Er nickte, nahm die Schachtel heraus und hielt sie ihr hin. Da schüttelte sie lächelnd den Kopf. »Ich wollte nur sehen, was Sie sagen. Ich hatte gedacht, daß Sie Frauen, die rauchen, nicht mögen.« »Kommt darauf an.« Sie blickte forschend in sein Gesicht. »Passiert Ihnen das öfter?« »Was?« »Daß Sie plötzlich auf offener Straße angeschossen werden?« »Hin und wieder.« »Wie unterhaltsam.« Langsam gingen sie weiter. Als sie wieder bei dem Wagen waren, meinte sie: »Wollen Sie fahren?« »Nicht unbedingt. Ich sehe Ihnen gern zu. Man hat nicht alle Tage eine Astor als Chauffeur.«
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»Frechheit.« Sie stieg lächelnd ein und wartete, bis er neben ihr Platz genommen hatte. Langsam rollte der Wagen der Stadtmitte zu. »Biegen Sie doch bitte da vorn rechts ab.« »Wie der Herr wünschen.« Er dirigierte sie nach Des Plaines. »He, wo geht denn das hin?« fragte sie, als er den Wagen in die Forest Avenue leitete. Sie brachte den Fuß auf die Bremse und blickte ihn an. Alle Fröhlichkeit war aus ihrem Gesicht gewichen. Das grelle Licht einer großen Bogenlampe warf einen harten Schein auf ihr Profil. »Das ist doch – die Forest Avenue.« Er nickte. »Was wollen wir denn hier?« »Ich habe noch einen Besuch hier zu machen.« »Ach, und da lassen Sie sich von mir herfahren? Nicht schlecht!« Eliot griff nach der Tür. Da legte sie ihre rechte Hand auf seinen linken Unterarm. »Sie wollen gehen?« »Wollen? Nicht unbedingt.« »Sie müssen also?« »Leider.« »Beruflich natürlich.« Er nickte. »Ich sage ja, ein scheußlich langweiliger Beruf.« Es war einen Augenblick still; ein junges Paar ging eng 149
aneinandergeschmiegt am Wagen vorbei. Da hörte Eliot die Frau neben sich sagen: »Kann ich noch etwas fragen – ehe Sie gehen?« »Sicher.« »Sie lieben sie?« »Wen?« »Muß ich ihren Namen schon wieder aussprechen?« »Falls Sie von Miß Dillinger sprechen sollten, Miß Astor, dann muß ich Sie enttäuschen.« »Miß Astor –«, äffte sie ihm nach. »Wie sich das anhört! – Ach, Männer sind schon merkwürdig.« Ein großer Wagen surrte fast lautlos an ihnen vorbei und hielt vor einem der Parks auf der rechten Straßenseite. Ein Mann stieg aus und verschwand in einem der Gärten. »Sind Sie wegen der Party hier?« fragte Ginger Astor halblaut. »Ja.« »Weitergekommen?« Er zog die Schultern hoch. »Das Ganze ist doch ein Spuk. Drei Menschen vergiftet. Wie soll man das begreifen?« »Der Täter wird es wissen.« »Sind Sie sicher?« »Nicht völlig.« »Ach –« Da löste sich vorn aus dem Dunkel der Zäune eine Gestalt. Es war ein Mann. Langsam und mit schleppendem Schritt kam er näher. 150
Es war ein kleiner Mensch. Mit hängendem Kopf kam er auf den Wagen zu. Eliot behielt ihn scharf im Auge. »Das ist doch Rics Vater – Mr. Leester!« stieß Ginger hervor. »Ja, sieht so aus.« »Ist er betrunken?« Eliot kurbelte das Fenster herunter. »Hallo, Mr. Leester.« Der Fuß des anderen stockte. Er blickte auf, kam dann auf den Wagen zu und blieb jäh wieder stehen. »Eliot Ness!« »Guten Abend.« »Abend –? Ist es nicht schon Morgen?« »Das dauert noch ein paar Stunden. Aber wenn es Ihnen lieber ist –« »Eliot Ness!« Der Mann hatte zweifellos getrunken. Er schwankte leicht hin und her und lachte dann heiser auf. »Der große Wolf ist also schon wieder hier. Was suchen Sie eigentlich, Inspektor?« »Einen Mörder.« Leester schluckte schwer. Dann schob er den Strohhut aus der Stirn und lehnte sich gegen den Wagen. »Oh, Sie sind in Damenbeglei… Hallo, Miß Astor!« Er deutete eine Verbeugung an, richtete sich dann wieder auf und sagte leise: »Ginger Astor. Sie war mein Traum gewesen. Ich meine für Ric. Für meinen Jungen. Aber leider war dieser blinde Bursche…« Er wandte sich ab. 151
Eliot war ausgestiegen und blieb hinter ihm stehen. Ein Schluchzen erschütterte den Körper des kleinen Mannes, der vor ihm stand. »Er war ein Dummkopf. Leider war er das. Er hat sein ganzes Leben verspielt. Das da, das wär’ die Frau für ihn gewesen! Statt dessen hängte er sich an einen – an einen Haarschneider. An einen Schurken, an einen Erpresser!« Eliot wandte sich um und winkte der Frau. Sie stieg aus und trat zu ihm. »Wir bringen ihn ins Haus zurück.« Als sie den Park betreten hatten, blieb Randolph Leester stehen. Er sah den Inspektor an und schien ihn erst jetzt zu bemerken. »Ah, die Polizei – ist immer – immer dabei.« Er ging ums Haus herum und tastete sich da an der Wand entlang. Ginger Astor schob die Küchentür auf und machte Licht. Leester schwankte auf die Bank unterm Fenster zu und ließ sich darauf nieder. »Es wird nichts aufgedeckt«, stammelte er, »gar nichts! Der arme Bursche – mußte dran glauben. Weil… er ein Versager war. Nur deshalb…« Die beiden standen in der offenen Tür und blickten auf ihn nieder. »Wollen wir gehen?« fragte Eliot. Ginger Astor nickte. Als sie ums Haus herumgingen und die Vorderfront erreicht hatten, blieb Eliot plötzlich stehen, drang in 152
einen Haselstrauch – und gleich darauf war ein keuchender Laut zu hören. Ginger Astor sah zu ihrem Schrecken, daß er einen Mann aus den Sträuchern zog. Es war der Butler der Familie Leester. »Na, Malcolm, was suchen Sie denn hier?« forschte der G‐man. »Ich –« »Na, überlegen Sie es sich in aller Ruhe. Ich habe Geduld.« »Ich sah den Herrn kommen. In Begleitung.« »Und?« »Plötzlich bekam ich Angst. Ich dachte an…« »An Gangster, nicht wahr?« »Ja.« Eliot nickte. »Dann sehen Sie mal nach Ihrem Herrn. Er hockt in der Küche. Ich glaube, er fühlt sich nicht sehr wohl.« Die beiden verließen den Park. Die Frau drehte sich noch ein paarmal voller Unbehagen um. »Der war ja unheimlich.« »Finden Sie?« »Wie – ein Mörder.« Als sie den Wagen erreicht hatten, sog Ginger die Luft tief in die Lungen. »Sie sind mir unheimlich, Eliot Ness. Fährt der Mann hierher in diese dunkle Straße, und da kommt Mr. 153
Leester schwer angetrunken aus dem Haus. Und der Butler, dieser Totenschädel, steckt hinter dem Gebüsch…« Sie öffnete ihre Handtasche und nahm ein Parfümfläschchen heraus. »Es wird nichts aufgedeckt«, murmelte sie. Dann nahm sie den Kopf herum und blickte den Inspektor an. »Haben Sie gehört, was Leester gesagt hat?« »Natürlich.« »Und?« Wieder zog er die Schultern hoch. »Wieviel Prozent der Morde kann das FBI aufdecken?« »Schwer zu sagen.« »Wie viele haben Sie nicht aufgedeckt?« »Bis jetzt noch jeden«, sagte er leise. Sie hatte den Wagen angelassen. »Wo wollen Sie hin?« »Ich muß leider noch mal in die 71. Straße.« »Ich fahre Sie hin.« Die Fahrt verlief schweigend. Als sie vorm Dienstgebäude des Federal Bureau of Investigation hielt, blickte der Inspektor gedankenvoll durch die Windschutzscheibe. Schweigend saßen sie nebeneinander. »Macht es nichts, wenn Ihre Leute Sie hier mit einer Frau sehen?« »Nein.« Da nahm sie den Kopf herum und brachte ihr Gesicht dicht an das seine. 154
»Sehen wir uns wieder?« »Ich weiß nicht.« »He!« Sie stieß ihn ärgerlich an, weil sie glaubte, sich bereits zuviel vergeben zu haben. Sie war es nicht gewohnt, jemanden um etwas zu bitten. »Dann suchen Sie erstmal Ihren Mörder.« »Den habe ich schon.« »Ach –« »Ja.« »Und – wer war es?« »Eine gewisse Ginger Astor.« Stille. Die Frau schluckte. Ihre Hand glitt über den Parfümflakon in die Handtasche zurück. »Sie scherzen wohl?« Der G‐man blieb ruhig sitzen und blickte weiter durch die große Windschutzscheibe hinaus auf die menschenleere Straße, die tagsüber so verkehrs‐ und lebenerfüllt war. »Leider nicht, Ginger Astor.« »Was soll das heißen?« stieß sie heiser hervor. Ganz fremd und rauh klang ihre Stimme plötzlich. »Das soll heißen, daß ich Sie wegen dreifachen Mordes festnehmen muß.« Sie starrte ihn aus glimmenden Augen an. Dann lachte sie hellauf. »Sie können einem wirklich Angst machen. Ich sagte ja, Sie sind unheimlich. Wenn ich Sie nicht kennen würde, wäre ich jetzt versucht, Ihre Worte ernst zu nehmen.« 155
»Sie sind ernst, Ginger Astor.« Er hatte sich zu ihr gewandt und sah sie an. Totenstille herrschte in dem Fahrzeug. Die Frau spannte die Rechte um den Perlmuttknauf eines zweiundzwanziger Revolvers. »Seit – wann wissen Sie es?« »Von Anfang an.« »Sie lügen.« Er zog wieder die Schultern hoch. Lautlos hatte sie mit dem Daumen den vernickelten Hahn der Miniaturwaffe gespannt. »Nur eines würde mich interessieren«, sagte er wie zu sich selbst, während er seine Zigaretten aus der Tasche holte und sich ohne Hast eine anzündete, »weshalb Sie einen solchen Umweg gewählt haben.« »Umweg?« kam es belegt über ihre Lippen. »Das Gift im Karamelpudding war doch ein irrsinniger Umweg. Und da Sie als einziger Gast, der überlebte, von allem gegessen haben wollten, schoben Sie sich selbst in den Vordergrund.« Da lachte sie leise. »Wollen Sie nicht wissen, wem es galt?« »Ich weiß es.« »Ach – da bin ich aber gespannt.« »Sie haßten den Anwalt Dooley.« »Stimmt. Aber weshalb?« »Weil er Ihnen die Frau wegnahm, die Sie – liebten.« Ein röchelnder Laut kam von den Lippen der Frau. Ganz weit hatte sie ihre Augen aufgerissen. 156
Auch ihr Mund war geöffnet. Plötzlich zog sie den Revolver aus der Tasche und richtete ihn auf den Mann. »Stimmt, Eliot Ness. Sie sind wirklich ein Genie. Und ein Wolf! Leester hatte recht. Wie habe ich Sie unterschätzt. – Ja, ich war verrückt nach Meta Lowell – und er hat sie mir genommen.« Völlig ruhig blickte der Polizei‐Offizier sie an. »Machen Sie sich keine Hoffnungen. Ich weiß, daß Sie auf das Haus da rechnen. Aber das ist noch dreißig Schritte weit. Und meine Scheiben sind aus kugelsicherem Glas. Weil ich Angst vor den Dillingers habe. Und vor Capone. Sie haben eine Menge geleistet, seit Sie hier in der Stadt sind. Schade, Sie waren wirklich ein interessanter Mann. Nur eben nicht…« »… für eine Frau, die sich aus Männern nichts macht.« Da stieß sie den kleinen Revolver vor. »Sie werden sterben. Hier vor Ihrem Haus. Ihre Wolfsnase hat Sie diesmal in die Hölle gestoßen!« »Sagen Sie bitte nur noch eines: Wußte Meta Lowell von Ihrer – sagen wir Zuneigung?« Sie starrte ihn fassungslos an. »Natürlich nicht.« »Aber wie dachten Sie sich das denn?« »Wie ich mir das dachte? So kann nur ein Mann fragen. Ich wollte sie ansehen, weiter ansehen, anbeten, heimlich natürlich, so wie früher, als sie allein war und immer Zeit hatte, wenn ich sie sehen wollte.« Welch ein Irrsinn! 157
Da hatte diese Frau drei Menschen vergiftet, um einen vierten zu treffen – der dem Tod entging. Und alles nur, weil sie eine Frau weiter heimlich anbeten wollte. »Übrigens hätten Sie ohnehin keine Mörderin hängen können, die Astor heißt«, zischelte sie. »Ich weiß.« »Was wissen Sie? Nichts mehr, Eliot Ness. Hier ist Ihr Wissen zu Ende! Ich war es nämlich nicht, die den Mord ausführte.« »Ich weiß.« »Prahler!« »Sie haben gar nichts damit zu tun. Sie waren nie in der Küche, obgleich Sie vorhin die Tür geöffnet haben, als ich Sie vorgehen ließ. Sie waren trotzdem nicht drin. Dafür fanden Sie eine andere. Eine betrogene Ehefrau, die sich leicht aufhetzen ließ: Lena Dooley.« Ginger Astor wich zurück. »Sie sind ein – Teufel!« Sie bog den rechten Zeigefinger um den Stecher und zog den Metallbügel mit einem Ruck durch. Klick! Ganz erbärmlich, nüchtern und nichtssagend machte es lediglich klick! Ginger Astor starrte auf die Waffe. Eliot nahm sie ihr ohne Kraftaufwand aus der Hand. »Wenn Sie gestatten, habe ich eine ziemlich nützliche Angewohnheit: Ich pflege die Handtaschen der Damen, die mich nachts durch dunkle Parks begleiten, nach Waffen zu untersuchen und die Munition an mich zu 158
nehmen.« Er griff in die Tasche und nahm eine Handvoll Patronen daraus hervor. Fassungslos und entsetzt zugleich starrte Ginger Astor ihn an. »Wann… haben Sie das getan?« »Mein Geheimnis!« »Ich weiß, vorhin im Wagen, als Sie aus dem Revier kamen.« »Richtig! Als ich den Mann abgeliefert hatte, den Sie mir mit seinem Freund auf den Hals gehetzt hatten.« Sie wandte sich ab und blickte auf den Bürgersteig. Ein riesiger G‐man trat aus dem Portal des FBI‐ Gebäudes. Er kam auf den Wagen zu und öffnete den Schlag. »Hallo, Boß.« »Hallo, Dan.« »Mr. Cassedy wartet oben.« Eliot blickte auf die Frau. »Wollen wir gehen, Miß Astor?« Langsam stieg sie aus. Als sie auf dem Gehsteig stand, schwankte sie. Sie hatte das Gefühl, daß der Boden unter ihren Füßen weichen wollte. Eine Mörderin war am Ende. Eine unheilvolle Leidenschaft für das gleiche Geschlecht, für eine Frau, von der sie nichts weiter wollte, als sie heimlich anzubeten, hatte sie ins Verbrechen getrieben. Sie war ein Opfer ihres eigenen Wohllebens geworden, übersättigt von den Gütern, die sie ererbt hatte, überdrüssig der Dinge des Lebens, hatte sie die Frau des 159
ehebrecherischen James Dooley zum Mord angetrieben und mußte jetzt dafür büßen. Als sie abgeführt war, meinte Cassedy, der allein bei dem Chef‐Inspektor im Zimmer stand: »Ich kapiere das ja noch nicht ganz.« »Ist auch nicht mehr nötig.« »Das sagen Sie so. Damned, das ist mir einfach zu hoch! So ein blendend schönes Weib –!« Der dicke Cassedy ahnte ja nicht, wie unfaßlich das alles dem Norweger selbst noch bis vor anderthalb Stunden war. Da hätte er nämlich außer einem leisen, hauchdünnen Verdacht noch gar nichts von den Zusammenhängen gewußt. Es hatte ihm nur während des Spazierganges mit der Frau einiges gedämmert. Stein hatte sich zu Stein gefügt, und als sich das Mosaik abzeichnete, führte er die Mörderin in die Forest Avenue. Sie war an der Küchentür gewesen und fand die Klinke – trotz der Dunkelheit, die da herrschte – mühelos. Ein Beweis war das natürlich nicht. Aber der Verdacht des Inspektors war jetzt siedend heiß geworden. »Tja, zu allem gehört eben ein bißchen Glück«, meinte der bescheidene Mann, während er Hut und Mantel nahm und zur Tür wollte. Da schrillte der rote Apparat auf seinem Schreibtisch. Cassedy nahm den Hörer für den Boß ab. Sein Gesicht verzog sich plötzlich. »Was ist los?« Er legte den Hörer auf die Gabel. Mit heiserer Stimme krächzte er: 160
»Es wird noch nichts mit dem Schlafen, Boß. Ric Dillinger hat Capones Buchmacherei in der Cicero Avenue wieder überfallen und siebenhunderttausend Dollar mitgehen lassen…« Alfonso Capone würde den Diebstahl verkraften können. Vielleicht hatte er sogar gewollt, daß Dillinger auf diese Weise aktiv werden würde. Man konnte Mutmaßungen darüber anstellen, die einen nicht weiterbrachten. In Chicago war die Hölle los, gerade wenn man einen Fall gelöst hatte. Al Capone würde mit Sicherheit bald wieder von sich reden machen. – E N D E –
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In 14 Tagen erscheint
Erdrosselt! Roman von Al Cann Er hatte sich vorgenommen zu töten. Noch heute würde er ein Menschenleben auslöschen. Nichts auf der Welt sollte ihn davon abhalten. Joe McBain blickte durch das schmale Bürofenster in den parkähnlichen Garten hinunter, wo eben eine junge Frau leichtfüßig über den weißen Kies schritt, die Anfang zwanzig sein mochte. McBains Augen waren schmal geworden, und durch die zusammengepreßten Zähne stieß er die Worte hervor: »Ich werde sie töten, töten, töten…« Einer der schlimmsten, abscheulichsten Fälle wartet auf Eliot Ness. Einmal mehr beschäftigt den Norweger ein Kapitalverbrechen, das ihn von seinem schwierigen Kampf gegen Alfonso Capone ablenkt. Sein großer Widersacher, der berüchtigte Syndikatchef, kann frohlocken. Eliot Ness hat andere Sorgen: Wer hat das schöne Mädchen kaltblütig
Erdrosselt? Bei Ihrem Zeitschriftenhändler erhältlich 162