Das neue Abenteuer 043
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Das neue Abenteuer 043
Horst H. Bernhardt Partisanen vom Moukata Dag Verlag Neues Leben, Berlin 1954 V 1.0 by Dumme Pute
Alle Rechte vorbehalten Lizenz Nr. 303 (305/107/54) Umschlagzeichnung: Fritz Ahlers, Prieros (Mark) Gestaltung und Typographie: Kollektiv Neues Leben Druck: Karl-Marx-Werk, Pößneck, V 15/30
Der Saumpfad, der durch das Gebirge führt, ist schmal und gefährlich. Nur wenige wagen, ihn bei Nacht zu gehen, denn die Abgründe sind tief, und man muß schon sehr genau hinhören, wenn man das Rauschen der Wildbäche auf dem steinigen Grund vernehmen will. Scharf und kalt streicht der Wind an den verkarsteten Felsen entlang, und die Hirten auf den Hochflächen wickeln sich fröstelnd in ihre weiten wollenen Decken. Hier und da flackern Feuer in der Dunkelheit, an denen sich die Männer und ihre langhaarigen Hunde wärmen. Ein Geräusch dringt durch die Nacht. Vorsichtige, aber sichere Schritte. Der nächtliche Gebirgsgänger scheint die Saumpfade gut zu kennen. Die Militärstreife am Zugang zum Talkessel horcht in das Dunkel. „Wer da?“ ruft einer der Männer und bringt die Maschinenpistole in Anschlag. Die Schritte verhallen. Nach einiger Zeit vernimmt man sie wieder. Jetzt aber kommt das Geräusch aus einer ganz anderen Richtung. „Wer da?“ ruft der Sergeant noch einmal. Doch seine Stimme klingt nun unsicher, beinahe furchtsam. Nach einigen Minuten Stille hasten die Sohlen erneut über das Geröll. Steine poltern zu Tal. Der Widerhall der Schritte klingt bald von hier, bald von dort. „Verdammt“, flucht der Sergeant. „Lieber möchte ich das Tor zur Unterwelt bewachen als diese schreckliche Steinwüste.“ „Es ist das dreifache Echo der thrazischen Berge“, flüstert sein Begleiter. „Man erzählt davon in ganz Griechenland. Früher kamen die Reisenden von weither, sogar aus dem Ausland, um es kennenzulernen.“ „Zum Teufel mit dem dreifachen Echo“, schimpft der
Sergeant in ohnmächtiger Wut. „Wenn wir es nur einmal so gut hätten, uns mit solchen Spielereien die Zeit vertreiben zu können. Wir sind nun schon seit Jahren hier. Aber nicht des Echos wegen. Wir sollen die Partisanen unschädlich machen. Sie tun uns aber nicht den Gefallen, sich fangen zu lassen.“ „Die Burschen kennen die Küste und kennen den Karst“, antwortete der andere halblaut. „Sie haben auch viele Freunde unter den Fischern und Bauern.“ Der Sergeant versucht aus dem Gesicht des Soldaten zu lesen. Aber es ist zu dunkel, viel zu dunkel. „Wenn es doch endlich Frieden gäbe!“ Der Sergeant packt die Maschinenpistole fester. Er fühlt sich von Gefahren umgeben. Kann er seinem Begleiter trauen? „Sie haben viele Freunde, die Partisanen“, hat der eben gesagt. Gehört er womöglich selber zu diesen heimlichen Parteigängern? Die faschistische Regierung preßt die Fischer und Bauern im nordgriechischen Grenzland, in Thrazien und Mazedonien, mit Gewalt in die Armee! Ist es da ein Wunder, wenn die Burschen sich den Partisanen anschließen, sobald sich eine Gelegenheit dazu bietet? Wieder hallen die Schritte an das Ohr der beiden Soldaten. Nicht einmal ihre Richtung läßt sich mit Sicherheit bestimmen. Für Augenblicke glaubt der Sergeant einen Schatten zu erkennen, der sich am Ende des Talweges vom Nachthimmel abhebt. Seine Maschinenpistole bellt auf! Zweimal – dreimal streichen die Feuerstöße an den kahlen Felsen entlang. Dann herrscht wieder Stille. Von fern antworten mehrere Salven. Diesmal aber ist es nicht das dreifache Echo der Berge. Es sind die Wachen
der Umgebung. Nervös und unsicher geworden, in ständiger Furcht vor den Partisanen vom Moukata Dag, dem unwirtlichen Gebirgszug an der Grenze zwischen Griechenland und Bulgarien, schießen sie blindlings ins Dunkel. Der weiche purpurne Schatten, dessen konturlose Formen für Sekunden den Sergeanten geschreckt haben, schmiegt sich noch immer gegen die Felsen. Der Stein ist spröde und eiskalt. Die Finger erstarren vor Kälte, und man fühlt, wie es bis in die Ellenbogen, bis in die Schultergelenke hinauf prickelt. Endlich verhallen die Schritte der Wache. Der Schatten löst sich vom Felsen und hastet den Saumpfad empor. Ein Wasserfall braust über das Geröll. Sein Gurgeln schluckt jedes Geräusch. Nun heißt es achtgeben! Je mehr man sich der Küste nähert, desto zahlreicher werden die Wachen und desto schwieriger wird es, sie zu umgehen. Ein Wegweiser steht an der Einmündung des Saumpfades. Der nächtliche Gebirgsgänger kennt ihn gut. Wendet man sich nun nach rechts, so kommt man nach Komotini, der größten Stadt des thrazischen Tabakanbaugebietes, geht man nach links, so ist es nicht mehr weit bis Dedeagatsch [heute: Alexandrupolis], dem letzten griechischen Hafen vor der türkischen Grenze. Hier wimmelt es von Soldaten der faschistischen Athener Regierung, aber auch von sogenannten „Instrukteuren“, die in Wirklichkeit umherlungern, um die Unruhe an der Grenze zu schüren. Sie tragen griechische Uniformen, aber aus ihrer Sprache hört man den englischen Akzent heraus. Ganz vorsichtig arbeitet sich der Schatten an die Straße heran.
Der Diesel eines schweren Kraftwagens dröhnt durch die Nacht. Zwei glühende Augen bohren sich in das trockene Knieholz. Der Fahrer schaltet sorglos und ungeschickt. Der Motor heult auf und scheint „bocken“ zu wollen. Dann aber schießt das Fahrzeug mit einem Ruck vorwärts, auf die Küstenstraße zu. Es ist ein Wagen der griechischen Armee auf dem Wege nach Dedeagatsch. Der Schatten wartet, bis das Fahrzeug in die nächste Kurve einbiegt. Dann schnellt er vor, huscht über die Straße hinweg, durch das Knieholz und entlang des Ödlandgürtels, bis zu den Tabakpflanzungen. Das Gelände steigt wieder an. Der Küstensaum von Makri erhebt sich wie eine Barriere bis zur Höhe von 500 Metern zwischen dem Inland und der Ägäis. Nach kaum zehn Minuten hat der späte Wanderer den Grat erreicht. Der Himmel wölbt sich sternenklar über dem Meer. Weit im Nordwesten blinken die Lichter von Komotini. Wie schön ist doch Thrazien, die griechische Grenzprovinz! Wie glücklich könnte seine Bevölkerung sein! Denn Thrazien ist ein reiches Tabakland. Aber das Leben hier ist hart geworden. Die Volksrepublik Bulgarien ist nahe, und an ihren Grenzen sammeln sich all die dunklen Existenzen, die dort eingeschleust werden sollen, um in dem Nachbarland Unruhe zu stiften. Ihre Auftraggeber sitzen in den Städten, in Saloniki, in Kavalla, Xanthi und Dedeagatsch. Wieder hält der Wanderer inne. Nicht weit von ihm fällt das Mondlicht in die Talsenke. Er vernimmt ein Geräusch und glaubt das Schnauben eines Pferdes zu hören. Seine Augen suchen das Gelände ab. Sehr langsam, sehr sorgfältig.
Da bemerkt er Bewegung im Schatten einer einsamen, knorrigen Korkeiche! Ein Maultier! Nein, zwei – drei gesattelte Maultiere sind dort angebunden. Die Gefahr ist nahe. Vielleicht haben ihn die Soldaten längst erspäht und die Läufe ihrer Gewehre bereits auf ihn gerichtet. Aber er muß weiter. Wenn es nicht durch die Talsenke geht – dann hier, auf dem höchsten Grat. Langsam tastet er sich vorwärts, jeden Augenblick gewärtig, den Widerhall der Schüsse zu hören, den Feuerstrahl einer Maschinenpistole aufblitzen zu sehen. Doch nichts geschieht. Man hat ihn nicht bemerkt. Es ist alles noch einmal gut gegangen. Kein Weg führt durch diesen Teil des Gebirges, nicht einmal ein Saumpfad. Der Stein ist nackt und brüchig. Er leuchtet wie Schnee in der Nacht. Auf einem wilden, zerklüfteten Felsvorsprung hält der Wanderer endlich an. Er ist am Ziel. Eine Hütte aus rohen, unbehauenen Steinen, wie die Hirten vom Moukata Dag sie bewohnen, lehnt sich an die Bergwand. Schüsse peitschen irgendwo auf der fernen Küstenstraße. Die Kommandos der Faschisten machen Jagd! Jagd auf Menschen, die ihre Landsleute sind. Aus dem schmalen, verhängten Fenster an der Stirnseite der Hütte fällt Licht. Der nächtliche Gebirgsgänger geht ohne Zögern auf die Tür zu und hämmert mit den Fäusten gegen die Bohlen. Zweimal kurz, einmal lang –, und dann noch einmal: zweimal kurz, einmal lang. In der Hütte entsteht Bewegung. Ein Riegel fliegt zurück.
„Ja!“ ruft jemand. „Olympos!“ erwidert der Gebirgsgänger. Die Tür wird geöffnet, und der Wanderer tritt in die Hütte. Ein Mann schiebt den Riegel wieder vor. An einem Tisch stehen drei andere und blicken dem Eintretenden gespannt entgegen. „Geschafft! Wieder einmal geschafft!“ stößt der Ankömmling hervor und wirft den dunklen Wollumhang auf einen Stuhl. Dann streicht er die bestickte Kappe vom Kopf und atmet befreit auf. Der Lichtschein der blakenden Lampe flackert unruhig hin und her. Langes, seidig schimmerndes Haar fällt auf die Schultern des späten Besuchers. Der nächtliche Wanderer ist ein … Mädchen. Ein junges, etwa zwanzigjähriges Mädchen! „Nun!“ fragt einer der Männer am Tisch. „Was gibt es, Joanina?“ Er ist klein und schmal; seine Augen glühen, als verzehre ihn ein inneres Feuer. „Es ist alles, wie es uns berichtet wurde“, erwidert das Mädchen und schüttelt mit einer ungeduldigen Gebärde den Kopf mit dem dunklen Haar. „Morgen abend werden die Freunde in Dedeagatsch verladen. Man will sie auf eine der Sporadeninseln bringen, wahrscheinlich ins Todeslager von Panagia.“ „Sind deine Informationen zuverlässig?“ fragt der Mann. „Ich meine – kann man sich absolut darauf verlassen?“ Die Augen des Mädchens richten sich sinnend zur Decke. „Hört zu!“ beginnt sie. „An den Informationen ist nicht zu zweifeln. Ich habe sie von unseren Freunden in
der Stadt und von einem Matrosen am Hafen. Er gehört zum Begleitkommando und protzte nicht schlecht mit seinem Wissen. Wenn die Vorgesetzten es wüßten …“ „… bei ihrer Furcht vor den Partisanen vom Moukata Dag würden sie den Burschen gleich mit nach den Sporaden schicken.“ „Gepriesen sei unser guter Samos“, mischt sich nun auch der zweite der Männer ein. „Er lockert bei solchen Burschen die Zunge und macht sie gesprächig.“ „Man merkt, daß du von Limnos bist“, erwidert der Kleine. „Limnos liegt nicht weit von Samos, und jeder lobt, was ihm am nächsten ist.“ Die fünf lachen. Am meisten Leonid und Berno, zwei kräftige Fischer von der Insel Limnos. Nur Tsagezi – er war es, der Joanina vorhin die Tür öffnete – bleibt schweigsam. Er ist ein Mazedonier aus dem Grenzland, furchtlos und treu, und haßt nichts mehr als unnötige Worte. „Was hast du sonst noch erfahren?“ drängt Leonid, der Fischer, das Mädchen. „Alles, was wir an Informationen brauchen, um …“ „… um?“ „… um unsere Freunde zu befreien“, stößt Joanina trotzig hervor. Für Sekunden bleibt es totenstill im Raum. Dann spricht als erster Tsagezi, der schweigsame Tsagezi. „Ist Zatos unter den Verurteilten?“ Seine durchdringenden grauen Augen richten sich forschend auf das Mädchen. „Es sind zweiunddreißig Gefangene. Und Zatos ist unter ihnen“, antwortet Joanina. Ihre schönen großen Augen halten dem Blick Tsagezis stand, und die schlanke Gestalt
scheint sich zu straffen. Die Backenknochen im hageren Gesicht des kleinen Kolec zeichnen sich hart ab. Jeder von den Männern weiß, daß der immer lustige Zatos der beste Freund Kolec Chimettis ist, daß die beiden für unzertrennlich gelten und bereit sind, einander dem Teufel zu entreißen. Es ist aber auch bekannt, daß Joanina, Kolecs Schwester, mehr mit Zatos verbindet als nur die Freundschaft ihres Bruders. „Hast du überlegt, was du da sagst?“ fragt der Mazedonier unerbittlich. „Es ist gut, mutig zu sein, Joanina. Aber Mut wird zur Sinnlosigkeit, wenn das Vorhaben die Kräfte übersteigt, wenn man die Sicherheit von drei Dutzend Menschen aufs Spiel setzt, um einen …, er räuspert sich, „zu retten.“ Kolecs Blicke wandern zwischen Tsagezi und seiner Schwester hin und her. Was wird sie antworten? Joanina steht am Tisch, noch immer gestrafft und stolz. Sie hat die unzweideutigen Worte des Mazedoniers aufgenommen, und sie hat sie als das gewertet, was sie sein sollen: eine Warnung. Aber Joanina weiß auch, daß es Augenblicke gibt, in denen man handeln muß, in denen es einem Verbrechen gleichkommt, dieses Handeln aufzuschieben, nur der eigenen Sicherheit wegen. „Ich habe dich verstanden, Tsagezi“, antwortet sie ruhig. „Doch was heißt es schon: Das Vorhaben übersteigt unsere Kräfte! Übersteigt nicht im Grunde dieser ganze Kampf bei weitem unser aller Kräfte! Und doch führen wir ihn, weil wir ihn führen müssen. Ich denke“, ihre Augen richten sich wieder zur Decke, „hier darf es kein Überlegen geben. Es besteht eine Möglichkeit, die Freunde zu retten, und wir müssen sie wahrnehmen!“ Joanina Chimetti zuckt
die Schultern. „Es geht nicht allein um Zatos, es geht um das Leben von zweiunddreißig Freunden.“ Kolec Chimetti drückt der Schwester impulsiv die Hand. Die Fischer nicken Beifall. „Hm!“ macht der Mazedonier, senkt den Blick und hebt dann ganz plötzlich und ruckartig den Kopf. „Berichte!“ Er wirft das Wort hin, wie es stets seine Art ist, wenn er einen Entschluß gefaßt hat. Und Joanina berichtet. Sie erzählt alles, was sie in Dedeagatsch erfahren und auf dem Weg mit eigenen Augen gesehen hat. Vorn Gefecht am Ismaros, bei dem Zatos und seine Freunde den Häschern in die Hände fielen, von der panischen Furcht der sogenannten „Regierung“ vor den Partisanen, von den gelöschten Leuchttürmen und Feuerschiffen vor der Küste, von den Sperrgebieten, den Bluthunden und nächtlichen Schüssen… Joanina beschönigt nichts. Sie weiß, diese Männer kennen die Gefahren. Sie schrecken sie nicht. Und gerade in diesem Falle, da Zatos unter den Gepeinigten ist, da ihr Herz mitspricht –, darf sie um keinen Deut anders reden als sonst. Tsagezi schaut auf seine Stiefelspitzen und folgt aufmerksam jedem ihrer Worte. Ab und zu sieht er auf, und es scheint, als breite sich ein Zug tiefer Befriedigung über sein Gesicht. „Weiter!“ drängt er. „Weiter!“ „Am Abend – man spricht von acht Uhr – soll mit dem Verladen der Gefangenen begonnen werden. Anschließend sticht die ,Thessalia‛ in See und fährt an der Küste entlang nach Porto Lagos, um Kohle zu bunkern. Das wird etwa gegen Mitternacht sein. Nach dem Bunkern…“ Sie bricht ab. Das Sprechen scheint ihr schwer zu werden.
„… geht‛s mit Kurs Süd nach den Sporaden. Ins Todeslager!“ ergänzt Kolec, und man sieht, wie ihn dieser Gedanke erschüttert. Wieder liegt unheimliche Stille über dem Raum. „Auch das Losungswort für die kommende Nacht kenne ich“, fährt Joanina bedeutungsvoll fort. „Das Losungswort?“ Das hagere Gesicht des Bruders hat Farbe bekommen. Man erkennt das sogar im trüben Dämmerlicht der kleinen Lampe. „Die Losung lautet: Astropalia!“ „Astropalia“, wiederholt Tsagezi, und auch die Fischer formen das Wort auf den Lippen, als sei es der Schlüssel zu einem geheimen Tresor. Da wendet sich der Mazedonier an Joaninas Bruder. „Die Karte, Kolec! Die Karte vom Küstengebiet!“ Er ist wortkarg wie je, aber aus jeder seiner Bewegung spricht die verhaltene Erregung des Augenblicks. Kolec Chimetti kramt in seiner Kiste. Endlich hat er die Karte gefunden. Leonid rückt den Tisch ab, und die Landkarte von der thrazischen Küste wird ausgebreitet. Tsagezi und Kolec stützen sich schwer auf die Tischkante. Sie alle kennen das Gelände, sie kennen die Tücken der Ägäis. Doch man kann gar nicht sorgfältig genug vorgehen, wenn es sich darum handelt, zweiunddreißig Freunde aus den Klauen der faschistischen Miliz zu reißen. Berno überrechnet die Geschwindigkeit der „Thessalia“, eines uralten Kastens. Leonid prüft die Landungsmöglichkeiten östlich von Porto Lagos. Die anderen drei brüten über der bunten Karte mit ihren Vorgebirgen, Buchten und Inseln. Sie müssen einen Weg finden. Und – es wäre doch gelacht – sie werden ihn finden!
Eine knappe halbe Stunde später steht der Plan in seinen Grundzügen fest. Jeder hat das Seine dazu beigetragen. Jetzt kommt es darauf an, daß niemand versagt. In der Bucht westlich von Makri liegt eine Pinasse, ein großes Beiboot mit starken Motoren, welches das Kommando der Partisanen vor wenigen Wochen der faschistischen Flotte abgenommen hat. Man wird sich einige Seemeilen vor Porto Lagos auf die Lauer legen, dann warten, bis die „Thessalia“ herankommt, und sie unter Berufung auf das Losungswort ganz „offiziell“ kontrollieren. Ist man erst einmal an Bord des Küstenfrachters, dann sollte es den Wachen schwerfallen, den Partisanen zu widerstehen. Jeder weiß das. Am besten die faschistische Miliz. „Wenn nun aber die ,Thessalia‛ im Geleitschutz fährt?“ wendet Leonid ein. „Der Geleitschutz setzt erst in Porto Lagos ein. Auf der kurzen Strecke zwischen Dedeagatsch und Porto Lagos glaubt man sich sicher.“ Die Männer lachen grimmig. „Wir werden diese Herrschaften eines Besseren belehren.“ Joanina findet in dieser Nacht keine Ruhe. Sie steht auf dem planierten Platz vor der Hütte und blickt ins Dunkel, aus dem jetzt nur noch wenige Lichter von der Bucht herüberblinken. In Abständen hallen Schüsse aus dem Tal. So geht es jeden Tag, jede Nacht. Die Menschenjäger mit ihren Bluthunden sind am Werk! Zatos Bild steht wieder vor Joaninas Augen. Wie oft hat sie neben ihm gestanden – in Nächten wie dieser. Wie oft
haben sie so zur Bucht hinuntergeblickt, sich an den Händen gehalten und Kraft geschöpft für den harten Kampf dieser Tage. Ja, sie liebt ihn! Das hat sie niemals deutlicher gespürt als heute. Er darf nicht in den Händen der Unmenschen bleiben! Die Nacht breitet sich über das Felsmassiv. Zahllos stehen die Sterne am Himmel. Aus dem Tal schlägt es Mitternacht. Bald ist es soweit. Bald wird man aufbrechen. Zur Rettung Zatos, zur Rettung der Freunde. Der Tau liegt in feinen Perlen auf den vertrockneten Binsen am Fußpfad nach Makri. Das erste Licht kämpft mit den Schatten der Nacht. Es ist empfindlich kühl, und die fünf vor der Steinhütte werfen fröstelnd ihre Umhänge über die Schultern. „Der Nebel steht noch im Tal. Es ist eine gute Zeit“, flüstert Kolec. „In einer Stunde müssen wir unten sein. Niemals sind die Chancen günstiger als im Morgennebel.“ Joanina Chimetti antwortet nicht. Der in dieser Stunde zwischen Nacht und Tag aus den Tälern aufsteigende eiskalte Hauch scheint sie zu lahmen. Sie fühlt, wie alles an ihr erstarrt. Sie muß alle Kräfte zusammennehmen, um nicht zu sagen: Ich kann nicht, laßt mich, ich bin müde, nichts als müde. Doch Joanina sagt das nicht. Sie sieht in Gedanken die Freunde, zusammengepfercht in den Kerkern von Dedeagatsch. Sie sieht Zatos, den strahlenden, immer lustigen Zatos, der ihr gehört, ihr – Joanina Chimetti! In zwei Gruppen hat Tsagezi die fünf Freunde eingeteilt.
Man wird in kurzem Abstand hintereinandergehen. Das ist unauffälliger und sicherer, und man kann im Notfall versuchen zu helfen, wenn den Freunden Gefahr droht. Kolec und Joanina Chimetti, die Geschwister, bilden eine Gruppe. Sie kennen jeden Weg, jeden Steg. Vor ihnen aber werden Tsagezi, Berno und Leonid sich auf den Weg machen. Auch sie wissen gut Bescheid im Massiv von Makri. Besser ist es jedoch trotzdem, wenn Kolec und Joanina ihnen folgen. Dann kann eigentlich nichts schiefgehen. Die Nebelschwaden ballen sich an den kahlen Felswänden. Es ist jetzt ganz anders als am Abend. Gestern war jeder Schritt weithin hörbar, als spiele ein bösartiges Echo sich die Laute zu. Heute ist alles gedämpft, verschlungen von den schwefligen Schwaden des dichten Morgennebels. Das ist gut – und doch auch wieder gefährlich! Träfe man jetzt auf eine Streife – die Milizsoldaten würden ohne Warnung schießen. So lauten ihre Befehle. Wer hatte schon im Morgengrauen etwas auf den Pfaden nach Makri zu suchen? Mußten es nicht Partisanen sein? Zumindest Verdächtige? Die Fahne der Revolution weht über Thrazien, flattert auf den Gipfeln des Oros, des Ismaros und des Moukata Dag. „Alles Gute“, raunt Kolec den Freunden zu. Dann gehen die drei los. Nach einigen Metern schon hat sie der Nebel verschluckt, und Kolec und Joanina starren in das dichte Gebräu, das aus dem Tal emporsteigt. Genau zehn Minuten warten die beiden. Dann machen auch sie sich auf den Weg. Schweigsam gehen sie nebeneinander her. Die Augen suchen die dampfenden Schwaden zu durchdringen. Jedes
Geräusch muß beachtet werden, es kann Tod und Verderben bedeuten. Eine ganze Weile geht es so. Noch immer brodelt der Nebel im Tal. „Halt“, flüstert Kolec plötzlich und packt seine Schwester am Arm. Alles ringsum ist ruhig, und doch möchte der Thrazier schwören, ein Geräusch vernommen zu haben. Es klang wie ein drohender Anruf aus der Tiefe. Und nun glaubt Joanina etwas zu hören. Einzelne Stimmen, gedämpft durch den Nebel oder auch durch die Entfernung. „Komm, Kolec“, flüstert sie. „Wir müssen gehen, wir müssen helfen. Vielleicht braucht man uns!“ Der schlanke, bewegliche Thrazier reicht Joanina den Henkelkorb, den er bisher über dem Arm getragen hat, und das Mädchen setzt den geflochtenen Behälter nach Landessitte auf den Kopf. Eine kleine List! Schafskäse ist in dem Korb, ganz gewöhnlicher Schafskäse, den sie zum Markt nach Makri bringen wollen, falls man sie kontrollieren und danach fragen sollte. Auch Tsagezi und die Fischer aus Limnos haben zwei solcher Körbe bei sich. Einen mit Oliven und einen mit Schafskäse. Jetzt heißt es, die List zu erproben! Die beiden eilen den steilen Pfad hinab, jeden Augenblick darauf gefaßt, angerufen zu werden. Die Stimmen kommen näher, immer näher! Es kann keinen Zweifel mehr geben. Die Freunde sind einer Wache in die Arme gelaufen! Unmittelbar hinter einem Felsvorsprung zerreißt der Nebel. Seine Fetzen flattern regellos über dem Abhang.
Hier mündet der Pfad auf die Straße nach Makri. „Wer da?“ tönt es ihnen barsch entgegen, und fast augenblicklich peitscht eine Geschoßgarbe den Fels über ihren Köpfen. Ist der Feuerstoß gezielt, oder war er nur eine Warnung? Wer sollte das bei diesen Burschen mit Sicherheit sagen? Sechs Milizsoldaten und ein bärtiger Marinemaat stehen auf der Straße, die Maschinenpistole im Anschlag. Drei von ihnen kommen auf Joanina und Kolec zu. Die anderen treiben die Freunde an eine Felswand. „Wo kommt ihr her? Antwort!“ schreit der Bärtige und klopft mit einem Stöckchen böse auf die Schenkel. „Wir kommen aus Demenitsa, oben auf dem Plateau, und wollen zum Markt“, erwidert Kolec ruhig und blickt dem Maat treuherzig ins Gesicht. „Nach Makri?“ „Nach Makri!“ „Und aus Demenitsa seid ihr?“ Über das bärtige Gesicht des jungen schlaksigen Burschen mit der schlechtsitzenden Uniform zieht ein teuflisches Grinsen. „Es ist ganz, wie wir sagten“, antwortet Kolec wieder. „Und diese dort!“ Der Maat sticht mit seinem Stöckchen spielerisch auf Joaninas Brust. „Ist sie deine Frau?“ „Sie ist meine Frau.“ Was mag hinter der grinsenden Visage vorgehen? Welche Pläne hat der Bursche? Joaninas dunkle Augen blicken abweisend und stolz. „Nicht übel“, brummt der Bärtige, „gar nicht übel.“ Doch plötzlich, als fiele ihm ein, daß es jetzt darauf ankomme, seine Macht zu beweisen, seine uneingeschränkte Macht auf diesem ganzen Abschnitt, brüllt er wütend die
Milizsoldaten an: „Abführen, die Bande! Alle abführen! Und durchsuchen, daß keine Laus durch die Maschen schlüpft.“ Zwei der Soldaten bohren die Läufe ihrer Maschinenpistolen in den Rücken der Geschwister. Der dritte, ein langaufgeschossener Jüngling mit olivfarbener Haut, trottet mißmutig nebenher. „Halt!“ schreit der Maat wieder. Er eilt dem kleinen Zuge nach und baut sich drohend und mit blutunterlaufenen Augen vor Kolec und Joanina auf. Der Fuselgestank aus seiner Kehle weht den beiden widerlich entgegen. „Kennt ihr diese dort?“ Sein Finger weist auf Tsagezi, auf Leonid und Berno, die jetzt unten am Felsen stehen, einer neben dem anderen, die Henkelkörbe vor den Füßen. „Sie sind aus Demenitsa, wie wir“, antwortet Joanina als erste. „Und sie sind auf dem Wege zum Markt nach Makri, wie wir. Eine Viertelstunde vor uns verließen sie das Dorf. Noch in der ersten Dämmerung.“ Der langaufgeschossene Jüngling in der Uniform der Miliz lächelt Joanina zu. Es ist, als falle ihm ein Stein vom Herzen. „Durchsuchen! Alle fünf durchsuchen!“ befiehlt der Maat neuerlich, und die Prozedur beginnt. Die Milizsoldaten sind frech und brutal. Nur der augenscheinlich gegen seinen Willen zum Wehrdienst gepreßte Jüngling macht eine Ausnahme. Welches Glück, das Tsagezi davon abgeraten hatte, Waffen mitzunehmen. Fänden diese Burschen jetzt etwas, die letzte Stunde der fünf hätte geschlagen. Waffen hatte man überdies genug in Makri – und nur in Makri brauchte man sie!
Die Milizsoldaten aber finden nichts. Sie durchwühlen die Körbe; sie trennen die Nähte der Kittel und Hosen auf. Nichts! Gar nichts! Läßt der Maat die fünf nun laufen? Er denkt nicht daran. Er hat ja die Macht, und er gebraucht sie, er sonnt sich in ihr. Drei Kilometer führen die Milizsoldaten sie auf der Straße nach Osten. Dann gelangt man zu einem ebenerdigen, hellgetünchten Haus. Es ist das Wachlokal, und die hier umherlungernden Soldaten sehen nicht besser aus als jene, denen die fünf an der Mündung des Pfades begegneten. Der Maat sperrt sie allesamt in eine dunkle, feuchte Kammer. Asseln sitzen an den Wänden, und auf dem Boden steht brackiges Wasser. „Wie gut, daß wir alles abgesprochen hatten“, flüstert Tsagezi und denkt an die Vernehmungen. „Wir müssen durchhalten.“ „Wir müssen nicht nur durchhalten, wir müssen freikommen. Heute noch freikommen, wenn wir die Freunde retten wollen.“ Joanina hat es gesagt, und alle blicken sie dankbar an. Ach ja, die Freunde! Man darf die Verurteilten, die Verbannten über dem eigenen, viel leichteren Schicksal und über den Schikanen des betrunkenen Maats nicht vergessen. Als die dickwandige Tür endlich geöffnet wird, steht die Sonne schon hoch am Himmel. Wieder lächelt der baumlange Milizsoldat. Sein offenes Jungengesicht spiegelt die Genugtuung wider, den Eingekerkerten helfen zu können. Neben dem Jungen steht der bärtige Maat. Seine Augen sind trübe und übernächtigt, das Gesicht ist aufge-
schwemmt und von ungesunder Farbe. Der Alkohol zerstört diesen Menschen, er macht ihn zum hoffnungslosen Wrack. „Los! Haut ab! Ich will euch nicht mehr sehen“, knurrt er böse wie ein gereizter Köter. „Der dort“, er zeigt auf den langen Milizsoldaten, „kennt euch aus eurem Dorf. Das ist euer Glück!“ Nur einmal, als Joanina an ihm vorübergeht, beleben sich für Sekunden die trüben Augen des Maats. Seine Hand patscht plump nach ihrer Schulter. Aber sie schüttelt sie ab wie ein lästiges Insekt. Die fünf blicken den jungen Soldaten zu seiner Rechten dankbar an. Dann gehen sie, ohne sich umzusehen, auf der Straße nach Makri davon. „Ein Wunder!“ raunt Leonid seinem Landsmann Berno zu. „Ein Wunder?“ fragt Kolec zurück. Er schüttelt den Kopf. Der sonst so schweigsame Mazedonier Tsagezi hebt mahnend den Finger. „Dieser junge Soldat ist eine Lehre für uns. Man darf nicht alle über den gleichen Kamm scheren, Leonid. Sie haben den Jungen in die Uniform gezwungen, ohne Zweifel. Vielleicht ginge er schon jetzt mit uns – wüßte er, was wir für heute nacht geplant haben.“ Die Partisanen von Makri sind zahlreich, und sie haben einen guten Ruf. Man spricht von ihnen auf den Inseln vor der Küste. Man raunt sich ihre Namen zu, auch noch im fernen Samos. Die Pinasse am Hafen ist seeklar, und sobald die Dunkelheit hereinbricht, wird man sie bemannen. Soweit geht alles glatt. Auch Waffen sind vorhanden. Gute Waffen! Die „Thessalia“ hat zweifellos ein starkes, bis an die
Zähne bewaffnetes Kommando an Bord. Diese Aktion ist also keine Kleinigkeit. Sie verlangt ganze Kerle. Sie verlangt Männer, die ihr Herz entschlossen in beide Hände nehmen. Joanina aber wird unter diesen mutigen Burschen sein, wie sie es nun schon seit drei Jahren ist. In einem Schuppen am Hafen können sie alle noch ein Weilchen ausruhen. Gegen acht Uhr werden sie von den Freunden geweckt. Sie essen ein paar Scheiben Brot, einige Oliven und eine Schüssel saure Milch. Irgendwer bringt auch noch eine Kanne Samos. Er wird verdünnt, wie üblich, und die Männer trinken in langen genußvollen Zügen. Dann geht es los. Die Nacht sinkt hernieder. Der Hafen scheint ausgestorben, tot. Man könnte jetzt ein Motorboot nehmen, um zur Pinasse zu gelangen. Doch das wäre zu gefährlich. Zwar ist die Stellung der Miliz in Makri nicht stark, bei weitem nicht so stark wie im nur zwölf Kilometer entfernten Dedeagatsch, und nach Einbruch der Dunkelheit beherrschen die Partisanen ohnehin die Küste. Doch es hängt viel ab von diesem Unternehmen, und man darf weder sich selber, noch die zweiunddreißig Freunde gefährden, die wahrscheinlich jetzt in Dedeagatsch auf die alte „Thessalia“ verladen werden. So entscheidet Tsagezi sich für ein geräumiges Beiboot. Es wird zwar etwas länger dauern, bis es sich durch die Brandung zu der wartenden Pinasse durchgekämpft hat. Doch so viel Zeit muß man schon haben. Die Männer stemmen sich in die Riemen. Sie haben Erfahrung. Leonid und Berno kennen von Limnos her das
Anrudern gegen die Brandung. Im Takt tauchen die Blätter in das schaumige Wasser, und bald haben die Burschen die Barriere hinter sich gebracht. Die Ägäis liegt samtweich und ruhig wie ein Waschbecken unter dem nächtlichen Himmel. Niemand spricht ein Wort. Sie hassen überflüssige Reden, die Partisanen von der Küste und vom Moukata Dag. Sie haben es sich längst abgewöhnt, zu reden. Ihre Sprache ist eine andere, und die Kommandanturen der thrazischen Miliz wissen in ihren Akten davon zu berichten. Es ist kurz nach neun Uhr, als die Pinasse die fünf und dazu noch vier Leute aus Makri übernimmt. Der Kapitän, bis vor fünf Monaten selber noch Kommandierender auf einem Kasten der „Königlichen“ Flotte, dann aber, seit dem Gefecht vor Thasos, überzeugter Mitkämpfer der Partisanen, führt Tsagezi und seine Leute über das Deck. Die Pinasse ist ein Prachtkahn. Sie wurde vor einem Vierteljahr nagelneu von einer italienischen Werft für die Königliche Flotte geliefert, dann aber, beim ersten Zusammentreffen mit den Partisanen, von diesen gekapert. Auch die Bewaffnung ist gut. Die des Schiffes – und die der Leute! „Können wir es wagen, Kapitän?“ fragt Tsagezi besorgt. „Es ist ein tolles Stückchen, das wir da vorhaben, und wird hinter den Beispielen der an Kühnheit und Mut reichen Geschichte der griechischen Partisanen nicht zurückstehen.“ Der Kapitän schiebt die Mütze ins Genick und kratzt sich den ergrauten Schädel. „Wenn die ,Thessalia‛ ohne Geleitschutz fährt – und das sehen wir ja noch rechtzeitig, denn kurz vor Mitternacht
kommt der Mond heraus – wird es gutgehen.“ Die Zuversicht des alten Seebären, der alle Gewässer kennt, vom Piräus bis Tampico und von Port Said bis Brisbane, überträgt sich auf die anderen. Tsagezi, Kolec und Joanina stehen bei dem Kapitän auf der Brücke. Das ist eigentlich unerwünscht. Aber wer fragt schon danach in solcher Stunde und bei solchem Vorhaben? „Ist die Pinasse schneller als die ,Thessalia‛?“ fragt Tsagezi den Alten. Der Kapitän lacht grimmig vor sich hin. „Ich gebe der ,Thessalia‛ einen Vorsprung bis Malta und hole sie bis Gibraltar doch wieder ein.“ Das ist wohl übertrieben, denkt Tsagezi, aber es zeigt sein unbedingtes Vertrauen zu dem Schiff. „Wir lassen die ,Thessalia‛ auf der Höhe von Kap Lagos passieren“, fährt der Alte fort. „Dann folgen wir ihr und kommandieren ,halt‛. So ist es Brauch bei den ,Königlichen‛, und wenn‛s schon offiziell zugeht, warum sollen wir dann die Etikette verletzen?“ Er lacht belustigt auf, und dieses zuversichtliche Lachen ist so ansteckend, daß nun auch die anderen einstimmen. „Und die Besatzung? Was halten Sie von ihrer Besatzung?“ fragt Kolec, und seine Augen glühen. „Diese Jungen sind in Ordnung. Außerdem haben sie noch ein privates Konto mit den Faschisten auszugleichen – und sie brennen darauf.“ Zwei Matrosen machen auf Deck ihre Runde. „Seht sie euch an, diese Burschen. Wer sie kennenlernen will, soll‛s versuchen!“ Die Pinasse nimmt Kurs auf Samothraki, wendet sehr bald scharf nach Westen, dann nach Nordwesten und
schließlich wieder nach Süden. Der Alte läßt Zickzack steuern! „So ungefähr weiß ich ja, wo die ,Haie‛ von der Küstenwacht lauern“, brummt der Kapitän. „Es ist doch gut, daß man alles einmal kennengelernt hat.“ Joanina lehnt an den Deckaufbauten. Sie blickt nachdenklich in das aufgewühlte, gurgelnde Wasser. Ihre Gedanken weilen auf dem ausgedienten alten Frachter „Thessalia“, der jetzt irgendwo in der Ägäis, womöglich schon in nächster Nähe, mit seiner Fracht von Verurteilten und Verbannten dem Hafen von Porto Lagos zustrebt. Ihre Gedanken weilen bei den zweiunddreißig griechischen Patrioten, sie weilen bei Zatos, einem von ihnen … Die Pinasse liegt nun am Ausgang der weiten Bucht südlich von Porto Lagos. „Lagune“ nennen die Leute von der Küste das flache Gewässer, das nur für Schiffe mit geringem Tiefgang befahrbar ist. Wie der Kapitän vermutet hat, kommt gegen halb zwölf Uhr nachts der Mond heraus. Sein fahler Schein übergießt die Küste mit einem milchigen Licht und läßt die See leuchten wie flüssiges Metall. Die Männer sitzen am Zugang zur Kajüte. Sie sind nun uniformiert wie die Milizsoldaten an der Küste und halten ihre Gewehre zwischen den Schenkeln. Es wird nicht mehr geredet. Alles ist abgesprochen. Alles, was überhaupt bedacht werden muß, haben der Kapitän und der Mazedonier in ihre Überlegungen einbezogen. Vor einer Stunde hat man Kolec und Joanina ans Ufer gebracht. Hier werden sie nun gemeinsam mit zwei Dutzend Freunden aus der Umgebung von Porto Lagos war-
ten, werden das Ufer „rein“ halten, werden den Rückzug decken, wenn man mit den Verurteilten von Dedeagatsch an Land kommt. Acht Mann, dazu der Kapitän, bleiben auf dem Schiff. Die restlichen zwölf, darunter Tsagezi, Leonid und Berno gehören zum Enterkommando. In der Ferne heult eine Schiffssirene. „Die ,Thessalia‛?“ fragt einer. „Sie wird sich hüten“, knurrt der Kapitän. „Lieber setzen die Faschisten den Kasten auf die erstbeste Klippe, als daß sie sich bemerkbar machen.“ Die Uhr am Armaturenbrett der Pinasse zeigt zehn Minuten vor zwölf. Der Kapitän geht mit schweren Schritten auf und ab. Seine Pfeife qualmt wie ein Fabrikschlot. „Wenn‛s doch erst so weit wäre“, flüstert Tsagezi ihm zu. „Dieses Warten ist das Schlimmste!“ Der andere preßt irgendeinen Laut durch die Zähne. Es kann eine Bestätigung, es kann aber auch ein Fluch sein. „Zwölf! Zwölf Uhr!“ Ein Mann des Enterkommandos hat es gesagt. Er atmet tief und klopft mit dem Gewehrkolben auf die Planken. „Aufhören!“ tönt es von irgendwoher. Die Nerven der Männer sind zum Zerreißen gespannt. Zwölf Uhr zehn! Der Wachhabende jagt heran. „Kapitän! Ein Frachter mit gelöschten Lichtern auf Backbord. Es ist bestimmt die ,Thessalia‛!“ Die flache Pinasse drückt sich förmlich in den Schatten der Uferberge. Es ist, als werde sie kleiner und kleiner. Nun sehen es alle. Eine ebenholzschwarze Silhouette zieht über die schimmernde See. Kein Laut ist zu verneh-
men. Nicht einmal Rauch kommt aus dem schmalen, altmodischen Schornstein der „Thessalia“. Sekunden werden zu Minuten und Minuten zu Stunden. Unsäglich langsam zieht der Schatten vorüber und nimmt Kurs auf die Landzunge. Da ertönen auch schon verhalten die Befehle des Kapitäns. Die Maschinen fallen ein, beginnen zu mahlen, zu stampfen, und wie ein Ruck geht es durch das ganze Schiff. Die Jagd hat begonnen! Die Pinasse gewinnt rasch an Fahrt. Ihr Bug schneidet rücksichtslos die eben noch spiegelglatte See. Das Heck der „Thessalia“ kommt näher. „Aufblenden! Und Signal!“ ruft der Kapitän. Ein Scheinwerfer greift ins Dunkel, tastet für Sekunden unsicher über das Wasser und umfängt plötzlich das gesuchte Schiff. Es ist die „Thessalia“! Wer hätte auch im Ernst daran gezweifelt? Im gleichen Augenblick dröhnt ein dumpfer Böller vom Heck her. Eine Leuchtkugel platzt im Dunkel, genau in der Mitte zwischen der Pinasse und dem Küstendampfer. Sie ist blaßgrün, von der Signalfarbe der Faschisten für die drei Tage vom 20. bis 22. Juni. Für Augenblicke plagt den Kapitän ein Gefühl der Unsicherheit, denn auf dem anderen Schiff scheint sich nichts zu regen. Hat man Joanina in Dedeagatsch belogen? Hat man ihr eine bewußt falsche Auskunft gegeben? Jetzt würde es sich erweisen. Jetzt – in dieser Minute! Da zischt es mit feinem Saitenton erneut durch die Luft. Rums! Blaßgrün steht eine zweite Leuchtkugel über der See, indes die erste langsam und mit fiebrigem Flackern
verglüht. Die „Thessalia“ antwortet! Also war Joaninas Information richtig. Man hat drüben keinen Verdacht. Der Kapitän atmet auf. Wenn jetzt nur nicht die „Haie“, die Schnellboote der Faschisten, in der Nähe sind. Dreißig Minuten braucht man! Eine knappe halbe Stunde! Die Pinasse macht noch einen Viertelknoten. Die Partisanen lassen ihre zweite Leuchtkugel steigen und drosseln die Maschinen. Die Mannschaft an Bord der „Thessalia“ ist bereits zu erkennen. Sie lehnt an der Reling und harrt der Dinge, die nun kommen werden. Kontrolle durch die Flotte! Das ist an sich nichts Außergewöhnliches. Immerhin ziemlich merkwürdig, daß man die „Thessalia“ anhält. Ausgerechnet die „Thessalia“, deren Route doch bestimmt vorher allen Marinestationen gemeldet wurde. „Da weiß anscheinend die Rechte nicht mehr, was die Linke tut“, schimpft der Steuermann mißmutig. Nun schweigen auch die Maschinen der „Thessalia“, und alles ringsum ist totenstill, wie vorhin, ehe die Silhouette des Frachters am nächtlichen Horizont erschien. Von den kreischenden Winden der Pinasse wickeln sich die Haltetaue des Beibootes ab. „Langsam!“ befiehlt der Kapitän gedehnt. Das Boot setzt ins Wasser. Die Männer springen hinein, und schon legt die überladene Nußschale ab. „Wenn die drüben Verstand haben, müßte ihnen dieses Aufgebot in dem winzigen Kahn verdächtig vorkommen“, meint der Kapitän ahnungsvoll. Und sie haben Verstand! Der Kapitän der „Thessalia“ und sein Steuermann! „Ich zähle mindestens ein Dutzend Leute! Was soll das,
Kapitän?“ Der andere greift zum Fernglas. „Sie sind uniformiert.“ „Eben!“ „Also scheint alles zu stimmen.“ „Eine Unze Silber für jeden Partisanen, der ordnungsgemäß uniformiert ist, und wir alle auf dem Kahn brauchen nie mehr zu arbeiten, kalkuliere ich“, antwortet der Steuermann ironisch. Der Kapitän lacht ärgerlich auf. „Aber auch die Signalfarbe war richtig.“ „Wollen sehen, ob sie die Losung haben. Eher kommt mir niemand an Bord! Und sollten sie damit nicht dienen können, dann fressen sie die Fische, ehe sie ihr Boot wieder erreichen. So wahr ich hier Kapitän bin.“ Das Boot hat die „Thessalia“ erreicht. Die uniformierten Insassen hocken schweigsam nebeneinander, als erfüllten sie lediglich eine lästige Pflicht. Der Tiefgang ist beängstigend. Hatte der Verdacht des Kapitäns der „Thessalia“ sich gerade etwas gelegt, nun erwacht er von neuem. Umgeben von den Männern der Wache tritt er an die Reling. Im Boot erhebt sich ein Mann. „Wohin, Kameraden?“ „Das sollten Sie wissen, Leutnant. Die Fahrt ist den Marinestationen gemeldet. Sie erfolgt im Auftrag des Flottenkommandanten.“ Die Stimme des Kapitäns ist abweisend und kühl. Er lauert auf die Wirkung seiner Worte. Der junge Leutnant im Boot aber bleibt unbeeindruckt. „Das wissen wir. Sie kommen aus Dedeagatsch, wollen noch heute nacht in Porto Lagos Kohle bunkern und dann Kurs auf die Sporaden nehmen.“
Der Kapitän der „Thessalia“ atmet beruhigt auf. Wenn der Leutnant nun noch die Losung nennt… „Astropalia!“ schallt es da auch schon herauf. „Astropalia!“ ruft der Steuermann zurück, und die Strickleiter rutscht an der Bordwand hinab. Die Soldaten kommen nacheinander an Deck. Sie sind schweigsam, diese Burschen, und ihre Uniformen muten nun aus der Nähe reichlich abenteuerlich an. Doch das darf man nicht überbewerten. Die Männer sind zweifellos seit Wochen im Einsatz. Da bleibt keine Zeit für Äußerlichkeiten. Tsagezi – er ist der „Leutnant“ – reicht dem Kapitän die Hand. „Und die Fracht?“ Er kneift wissend ein Auge zu. „Darf nicht drüber gesprochen werden, wie?“ Der Kapitän lächelt säuerlich. So ganz geheuer ist ihm dies alles nicht. Sollte das Marinekommando wirklich jeden kleinen Leutnant der Schnellboote und Küstenwachschiffe von den streng geheimen Frachten der Militärverwaltung unterrichten? Tsagezi fühlt, daß er zu weit gegangen ist und rettet sich in den streng militärischen Ton. „Die Schiffspapiere bitte, Kapitän! Es ist nur eine Formsache, gewiß. Doch es muß sein.“ Der Kapitän der „Thessalia“ blickt den vor ihm Stehenden abschätzend an. Da erhellt ein matter, blaßgrüner Widerschein das kantige Gesicht des Kapitäns, und Tsagezi glaubt im selben Moment den Spott, den zynischen Spott in seinen Zügen zu erkennen. Er widersteht standhaft der Begierde, sich umzudrehen. Er weiß ohnehin, was geschehen ist. Irgendwo hat einer
der „Haie“ die eben gewechselten Leuchtkugeln wahrgenommen. Nun antwortet er! Nun sucht er nach den nächtlichen Schatten der Ägäis. Leonid und Berno stehen neben dem Mazedonier. Ihre Waffen sind urplötzlich auf den Kapitän des Schiffes gerichtet. „Schluß mit der Maskerade“, sagt Tsagezi kalt. „Geben Sie die Gefangenen heraus, Kapitän!“ Der Spott liegt weiter auf den Mienen seines Gegenübers. Er schüttelt langsam den Kopf. „Niemals, Herr Leutnant!“ Wieder huscht es blaßgrün über das Gesicht des Kapitäns. Tsagezi wendet sich nun doch um. Der „Hai“ liegt irgendwo vor der Mole von Porto Lagos. Nicht weit entfernt zwar, aber immerhin weit genug, die Aktion durchzuboxen, wenn keinen Augenblick lang gezögert wird. „Kapitän!“ nähert sich in diesem Augenblick ahnungslos der Steuermann der „Thessalia“. „Hände hoch!“ ruft Leonid ihm zu. Der Mann unterdrückt einen Fluch und hebt langsam und zögernd die Hände. Es ist, als sei der Ruf Leonids ein verabredetes Signal. Die kampferfahrenen Männer aus den Bergen und von der Küste stehen, wie vorher geplant, an allen wichtigen Punkten des Schiffes. „Befehlen Sie Ihren Leuten, die Waffen niederzulegen. Jeder Widerstand ist zwecklos.“ Das Grinsen auf dem Gesicht des Kapitäns der „Thessalia“ ist wie erstarrt; und doch fühlt Tsagezi, wie das Hirn des Mannes arbeitet, wie er kombiniert, wie er seine Chancen abwägt. In der Ferne heult eine Sirene auf. Ihr Klang scheint den
Kapitän in seinen Entschlüssen zu bestärken. „Niemals!“ erklärt er wieder. Es scheint, als wolle er sich umblicken, als wolle er sich zu seinen Leuten wenden. Plötzlich aber zuckt es aus seiner Hüfte hervor. Noch aus der Drehung heraus fällt der erste Schuß. „Freunde! Befreit die Gefangenen! Verlaßt das Schiff erst, wenn die letzten aus den Kerkern heraus sind!“ ruft der von dem Schuß des Kapitäns getroffene Tsagezi. Leonid und einer der Männer von der Küste packen zu. Der Mazedonier ruht in ihren Armen. Seine Hand krampft sich auf der Brust. Ein Dröhnen läßt den Schiffsleib erzittern. Sekunden später ein zweites: Blaßgrüne Alarmraketen schweben über dem Standort der „Thessalia“. MP-Salven peitschen über das Deck. Alle Vorsicht ist nun vergessen. Die Partisanen kämpfen um ihr Leben. Sie kämpfen für die Freiheit ihrer unglücklichen Gefährten im Schiffsrumpf der „Thessalia“. Eine Leuchtkugel nach der anderen steigt in die Luft empor. „Verdammt, wo kommen die nur her?“ Einer der Gefährten zeigt zum Heck hinüber. Ja, und nun erkennt es auch Leonid. Da hockt einer der Männer der „Thessalia“, die Lunte in der einen Hand, das Feuerzeug in der anderen. „Berno!“ ruft er dem Freunde zu. „Sieh! Dort!“ Und Berno begreift! Sorgfältig zielt er, bedächtig fast. Gerade leuchtet das Fahrzeug wieder auf, die Flamme züngelt nach der Lunte. Da schlägt der Mann getroffen hintenüber. Lärm erfüllt die Luft.
Die Leuchtkugeln ersterben. Nun ist es schon ganz dunkel, und nur von weither, von der Mole von Porto Lagos, leuchtet es blaßgrün auf. Zentimeter um Zentimeter, kämpfen die Partisanen sich vor. Die Aufbauten der „Thessalia“ sind arge Hindernisse. Hinter jedem Mast, jeder Treppe, jedem aufgerollten Schiffstau lauert der Tod. Leonid aber kennt nur noch ein Ziel: den Kapitän der „Thessalia“! Den Mann, der den Freund erschoß, der jetzt den Zugang zu den Kerkern verteidigt, als gelte es die Seligkeit. Die blaßgrünen Sturmsignale kommen wieder näher. „Es gilt die Kameraden“, ruft einer der Männer und stürzt vor. Eine Geschoßgarbe fegt über das Deck. Der Mann steht noch immer auf seinen starken Beinen und hebt die Faust. „… die Kameraden!“ Da preschen auch die anderen vor, todesmutig und der Gefahr spottend. Für Minuten vernimmt man nur den gepreßten Atem der Kämpfenden. Vereinzelt fallen noch Schüsse. Nun sprechen die Fäuste. Die nackten Fäuste. Ein mörderischer, erbitterter Nahkampf tobt auf dem Deck der „Thessalia“. Mann steht gegen Mann! So geht es bis zur Treppe – und dann die Treppe hinab! Die Beleuchtung auf dem dunklen Gang erlischt. „Kameraden! Männer vom Moukata Dag!“ gellt es durch das Dunkel. Und von irgendwoher kommt Antwort. Taschenlampen leuchten auf. Haßerfüllte, wutverzerrte Gesichter!
,,Kameraden!“ „Ja! Wir warten auf euch!“ Die Kräfte der Männer wollen erlahmen! Zehn Meter noch! Fünf vielleicht nur! Am Zugang zu den Verladeräumen stürzt Leonid. Schweißüberströmt ist das Antlitz. Aber ein Lächeln liegt um seinen Mund. Er wirft den wunden Körper gegen die eiserne Tür. „Freunde!“ Ein Aufschrei antwortet ihm. Die faschistischen Wachen der „Thessalia“ weichen. Doch jeder Widerstand kostet Zeit. Und nichts ist in diesen Augenblicken so kostbar wie Zeit. Schon reißen die eisernen Bänder der Tür. Scharniere brechen aus ihren Fassungen. Die Wachen müssen den Zugang zwar freigeben – der dunkle Flur aber deckt sie. Jedes weitere Vordringen kostet Opfer, immer neue Opfer. Tsagezi liegt auf dem Deck, Leonid vor der Tür zu den Verliesen. Auch zwei oder drei von den anderen Freunden sind ausgefallen. Soll man nun noch umkehren? So nahe dem Ziel! Der verwundete Leonid zieht sich mühsam an der eisernen Tür hoch. Er ergreift eine eiserne Stange und klemmt sie zwischen die Bohlen neben der Tür. Im Takt schwingen die Männer von innen dagegen. Die Tür gibt nach. Sie kracht! Sie bricht endlich aus den Angeln. Einer der befreiten Partisanen, zum Skelett abgemagert, zerschlagen und zerschunden, fängt den blutenden Leonid auf. Scharen von Menschen stürmen aus dem Verladeraum
der „Thessalia“. Der faschistische Kapitän hat die Lage längst übersehen. Er weiß: dieser Kampf ist verloren! Die Hilfe der Flotte kommt zu spät. Doch noch gibt es eine Chance! Zwei Boote hat die „Thessalia“. Er ruft drei Männer der Besatzung zu sich. „Wo ist der Steuermann?“ „Tot!“ „Egal! Macht die Winden auf Backbord los! Laßt das eine Boot voll Wasser schlagen! Das zweite nehmen wir uns! Mit ihrer Nußschale bringen die Banditen bestenfalls ein Dutzend Leute an Land. Die Restlichen saufen ab, wie sie es verdient haben.“ Triumphierend ruft er es aus, und Triumph malt sich auch auf seinem haßerfüllten Gesicht. Schon rasseln die Ketten der Bootswinden an der Bordwand hinab. „Das Boot!“ ruft Berno schreckerfüllt den Freunden zu. Da aber klatscht es auch schon aufs Meer, dreht sich ziellos um seine Achse und schlägt augenblicklich voll Wasser. Die Männer aus den Verliesen drängen ins Freie. Wer ist jetzt Freund? Wer ist Feind? Eine böse Ahnung überkommt Berno. Er wühlt sich durch die Schar der Befreiten. Seine Augen suchen das zweite Boot… Schlaff hängen die Trossen herunter. Und dort, auf der schimmernden See, flüchtet ein Boot im Schatten der Nacht. Die Signalraketen kommen näher, immer näher! Blaßgrün hängen die unheimlichen Bälle am nächtlichen Himmel. Dumpf tönt die Sirene der Pinasse. Einmal! Zweimal!
Dreimal! Es ist das verabredete Zeichen, daß sie abfährt. Zurück nach Makri! So wurde es vor dem Kampf vereinbart. Woher soll man drüben auch wissen, daß beide Boote ausfallen? War es nicht vorgesehen, vor allem die Boote zu sichern? Doch der Kampf war hart, und die Männer konnten nicht überall zugleich sein. Jetzt sind sie Herr der „Thessalia“ – und Gefangene zugleich! Zwölf Mann faßt das einzige Boot. Vier Fahrten wären zur Rettung aller notwendig, und nicht einmal zwei dürften möglich sein, ehe der Feind heran ist. Im Nu erkennen die Männer die Gefahr. Leonid schleppt sich herbei. Mehrmals schon ist er zusammengebrochen. An zwei Stellen ist seine Uniform blutgetränkt. „Setzt den Kasten auf Strand. Es ist die einzige Möglichkeit. Vielleicht gelingt‛s!“ Vier Mann hasten in den Maschinenraum. Berno eilt ans Steuer. Und da ist auch Zatos! Unrasiert und mißhandelt, aber energiegeladen wie je. Seine Finger klammern sich an der Takelage fest. „Etwas backbord, Berno! Hörst du? Etwas backbord!“ Die Maschinen stampfen müde und keuchend. Der Bug der „Thessalia“ richtet sich im rechten Winkel auf die Küste. „Es ist ein flacher Strand hier, Berno“, ruft Zatos dem Kameraden zu. „So flach wie nirgends sonst an der Ägäis.“ Ein trotziges Lied klingt auf. Sie singen, die Männer vom Moukata Dag. „Wo ist Tsagezi?“ fragt Zatos besorgt. Der Blick des Fischers aus Limnos bohrt sich starr in das Dunkel. „Er wird immer unter uns sein, Zatos. Immer!“
Der andere versteht. Sein Kopf senkt sich. Eine Leuchtkugel glüht am Himmel auf. Ihr fahler Schein fällt auf die Schar der gefangenen Faschisten, die an der Takelage hocken. „Verführt und verraten!“ murmelt Zatos vor sich hin. „Das ist euer Lohn!“ Aber noch ist die Gefahr nicht vorbei. Der Strand ist weit – und der Gegner näher, als die Partisanen ahnen. Heimlich und mit gelöschten Lichtern hat sich eines der Schnellboote genähert! Zwar glauben die Männer auf der eroberten „Thessalia“ zuweilen ein verdächtiges Geräusch zu vernehmen. Aber wenn sie auf das Meer hinaushorchen, hören sie nichts als das Schlagen der Wellen an die Schiffswand, das ächzende Schnaufen der eigenen Maschinen und das verhaltene Stimmengewirr auf Deck. „Wo ist Joanina?“ fragt Zatos den Freund. „Sie wartet. Sie wartet am Strand auf uns – auf dich!“ Berno sieht, wie ein Leuchten über das von Strapazen und Qualen gezeichnete Gesicht des Gefährten huscht. Doch sie haben keine Zeit, an etwas anderes zu denken als an die Gefahr, die überall in der Dunkelheit lauert. Da blendet plötzlich ein Scheinwerfer vor ihnen auf! Er tastet über das Meer, umfängt für kurze Augenblicke das fliehende Boot des Kapitäns und richtet sich dann voll auf die „Thessalia“. Das rote Signallicht flammt auf, und gleichzeitig hallt es mit hohler Stimme aus dem Lautsprecher: „Stop! Stop!“ „Verdammt!“ knurrt Berno und reißt das Steuer herum. Die Gesichter der gefangenen faschistischen Matrosen und Soldaten im Schatten der Kajütenaufbauten sind abwartend auf das Meer gerichtet.
„Paßt auf die Leute auf“, ruft Zatos den Wachen zu. „Und du bleibst am Steuer, Berno!“ Er eilt über das Deck nach hinten. „Wo sind Arro und Stefan?“ ruft er den Gefährten zu. Wortfetzen fliegen hinter ihm her. Zatos aber hastet weiter. Er muß Arro und Stefan finden. Sie können das Heckgeschütz bedienen, und nur, wenn sie es schaffen, das Schnellboot außer Gefecht zu setzen, besteht jetzt noch Hoffnung auf Entkommen. „Stop! Stop!“ tönt es einförmig aus dem Lautsprecher. Als Zatos wieder nach Arro und Stefan fragt, erzittert die Luft vom Donner eines Geschützes. Sie schießen, ist Zatos erster Gedanke. Aber dann besinnt er sich. Nein, das war kein Geschütz des Schnellbootes. So schwer bestückt ist das leichte Fahrzeug nicht. Das ist… Seine Augen versuchen das Dunkel zu durchdringen. Er zieht sich an der Takelage hoch und blickt zum Heck hinüber. Da hallt es wieder über das Wasser. Holz splittert, und der Rumpf der „Thessalia“ wankt unter der Gewalt des Einschlages. Das Schnellboot hat geantwortet! Seine Signallichter sind verloschen, und auch die Stimme ertönt nicht mehr. Der Kampfeseifer hat Zatos gepackt. Er sieht Arro und Stefan, am Geschütz stehen. Während er sie noch überall an Deck suchte, hatten sie längst den Platz eingenommen, auf den sie gehören. Am Geschütz! Am Heckgeschütz der „Thessalia“. „Volle Fahrt voraus!“ ruft Zatos den Kameraden zu. „Wir können jetzt nur noch siegen oder untergehen.“ Jeder einzelne weiß es. Weiß, wie die Faschisten ihre
Opfer foltern, wie sie immer neue Teufeleien ersinnen, den Widerstand der um ihre Freiheit kämpfenden Landsleute zu brechen. Zatos drängt sich durch die Schar der Gefährten. „Arro! Stefan!“ Im Mündungsfeuer des Heckgeschützes sieht Zatos für den Bruchteil einer Sekunde die nackten Oberkörper seiner Kameraden. Da schießt eine Feuergarbe auf dem Schnellboot hoch! Die Freunde haben getroffen! Ein Jubelschrei hallt über das Deck. Doch nun streichen Geschoßgarben aus den Maschinenpistolen der Schnellbootbesatzung über die „Thessalia“ hin. Man ist nahe genug an den Feind herangekommen, und die drohende Stimme des Befehlshabenden dringt deutlich aus dem Dunkel. Wieder fällt einer der Partisanen. Aber jedes Opfer steigert nur den Kampfesmut der Übrigbleibenden. Es ist wohl keiner unter ihnen, der auch nur für einen Augenblick daran denkt, zu kapitulieren. Sie kauern in jeder Ecke, hinter jeder Kabinentür – und nun sprechen auch ihre Waffen! Nicht nur das Heckgeschütz, dessen dumpfes Aufbellen zum drittenmal über dem Wasser liegt, von den Wellen fortgetragen wird und als schauerliches Echo zurückkommt. Der Einschlag sitzt unmittelbar über der Wasserlinie! Arro und Stefan verstehen es, mit dem Bordgeschütz umzugehen. Auch sie waren bei der Flotte und haben früher hinter den Kanonen der „Königlichen“ gestanden. Was sie dabei lernten, vergißt sich nicht so rasch. „Das war der Fangschuß!“ knurrt Stefan befriedigt und
duckt sich vor den Feuerstößen der Maschinenpistolen. Noch immer kauert die gefangene Mannschaft der „Thessalia“ in der Ecke. Sie sind bewacht, gewiß! Und doch hatten sie eben eine unwiederbringliche Gelegenheit, die Gunst der Stunde zu nutzen. Trauten sie es sich nicht – oder wollten sie etwa gar nicht? Die bleichen Gesichter der zum Militär gepreßten Jungen zeigen keine Trauer. Es ist eher, als bewege sie Erleichterung, als nun das Schnellboot im fahlen Aufleuchten des durch die Wolken brechenden Mondlichtes langsam abzusacken beginnt. „Das gibt noch ein paar Gefangene zusätzlich“, sagt Zatos und schüttelt den Freunden dankbar die Hände. „Das war der Durchbruch, Jungens! Der Durchbruch zur Küste.“ In einem felsigen Schlupfwinkel am Strande werden die Geschwister Chimetti und die Partisanen von der Küste Zeugen des Kampfes auf See. Vom Strande aus sehen sie die Signalraketen der Pinasse und die der „Thessalia“, erleben sie das unheimliche Feuerwerk, das auch dem Hoffnungsvollsten klar macht, was die Stunde geschlagen hat. Es hält Joanina nicht mehr in ihrem Versteck. „Das ist grausam, Kolec“, seufzt sie. „Das ist mehr als grausam. Dann schon lieber dabeisein. Mitmachen! Mitkämpfen!“ Der Bruder streicht über das volle Haar des Mädchens. „Jeder auf seinem Posten, Joanina! Jeder dort, wo er gebraucht wird. So hat es Zatos getan, und so werden wir es auch tun.“ Dann heulen die Sirenen der Pinasse.
„Was ist das? Was bedeutet das?“ fragt Joanina unsicher. Eine Feuersäule steigt zum Himmel empor. In ihrem Lichtschein steuert ein Boot dem Strande zu. „Ein Boot! Das erste Boot!“ ruft Joanina erfreut. Ihre guten Augen haben das Beiboot der „Thessalia“ erkannt. Sie läuft den Ankommenden entgegen. Da hält der Bruder sie plötzlich fest. „Joanina! Hier! Nimm! Man weiß nicht, wozu es gut ist.“ Das Mädchen fühlt das kalte Eisen einer Pistole in ihrer Hand und lächelt dankbar. Der Bruder hat recht. Vorsicht ist geboten. Und die Gefahr lauert überall. Der Kahn treibt mit der Brandung ans Ufer. Vier Mann sitzen darin. Vier Mann und keiner, den Kolec oder Joanina kennen! Die Fremden waten durch das knietiefe Wasser und treten nacheinander näher. Gelassen, wie es scheint. Selbstsicher. Mit der Pistole in der Hand geht Kolec auf den ersten zu. Der barhäuptige Mann senkt beschwichtigend die Hände, und tatsächlich läßt Kolec die Waffe sinken. Da wendet der andere sich plötzlich um. Zweimal kurz hintereinander zerreißt ein Knall die Luft. Doch während sich der schwarzlockige Kolec nur wie verwundert an den Oberarm faßt, bricht der andere zusammen. Joanina hat geschossen. Sie hat getroffen! Der Mazedonier Tsagezi ist gerächt! Und während die Partisanen die drei übrigen fortführen, setzt die alte „Thessalia“ in voller Fahrt auf den Strand. Rufe ertönen. Vertraute Rufe. Und diesmal gibt es keinen Zweifel. Das sind die Freunde! Die Männer aus dem Küstenmassiv und aus den Kellern von Dedeagatsch. Durchnäßt und abgekämpft kommen sie an Land. Berno! Der blutende Leonid! Tsagezi wird gebracht – im Tode
noch lächelnd über den errungenen Sieg. In ihrer Mitte führen sie die faschistischen Wachen mit sich, die nun selber zu Gefangenen geworden sind. Ein Aufschrei gellt über den Strand, bricht sich an den Felsen und wird fortgetragen im machtvollen Echo. „Zatos! Zatos!“ Ist das überhaupt noch ein Echo? Rufen es nicht Kolec und Joanina immer wieder von neuem über das Wasser? Nun watet Zatos an Land. Auf seinen Schultern trägt er einen Verwundeten. Behutsam bettet er den Kameraden in den weichen Sand. Dann richtet er sich auf. Aus seinen Augen spricht tiefes Glücksgefühl. Wie hat er auf diesen Augenblick gewartet! In den Kerkern von Dedeagatsch und im Verlies der „Thessalia“. Und dann, nach dem Kampf auf dem Schiffe, nach dem Sieg, schien mit einem Male alles hoffnungsloser denn je. In Sekunden rollen die Ereignisse der letzten halben Stunde noch einmal vor Zatos Augen ab. Die Blinkzeichen des Schnellboots! Das einförmige „Stop“! Der Widerschein des Mündungsfeuers. Auch das pfeifende Geräusch der Granaten, das donnernde Nachhalten der Geschütze glaubt er noch zu hören. Aber all dies ist nun vorbei. Dort stehen Joanina und Kolec. Das Mädchen strahlt ihm entgegen … und für Augenblicke ist alles ringsum vergessen. Die drei liegen sich in den Armen. Es ist ein Wiedersehen wie unter Totgeglaubten. Dann löst sich Kolec vorsichtig von dem Freund. Doch Zatos und Joanina merken es gar nicht. Der Kopf des Mädchens ruht noch immer an seiner Schulter, und was Zatos sagt, ist nur für sie bestimmt! Nur für sie!
Dämmerung graut über dem Küstengürtel. Auf einer der Paßstraßen bewegt sich ein ansehnlicher Zug. Vierzig Partisanen und zwei Dutzend gefangene Faschisten! Man hat auf Schleichwegen, die nur den Leuten aus den Bergen bekannt sind, die dichten Stellungen der faschistischen Wachen umgangen. Nun geht es dem Flußtal zu. Ist man erst einmal dort, so gibt es keine Gefahr mehr. Im Flußtal herrschen die Partisanen. Von hier aus erstreckt sich ihr Gebiet bis zu den Gebirgshängen des Moukata Dag und bis zur Grenze Bulgariens! Nun bleiben die ersten des Zuges stehen. Auch Joanina ist unter ihnen, und neben ihr Zatos. Ihre Augen suchen die Hänge der Berge ab, ehe man weiterzieht. Noch liegt der Nebel über den Gipfeln, und die Sicht ist schlecht. Aber Zatos hat die Sicherheit der Bergsöhne. „Weiter“, sagt er nur, und dieses ruhige, selbstsichere „weiter“ überträgt sich wohltuend auf den ganzen Zug. „Ich bewundere dich, Zatos“, flüstert Joanina. „Du bewunderst mich?“ fragt er überrascht. „Weil du so stark, so unerschrocken bist.“ Er lächelt ihr zu. „Und ich bin stolz auf dich, Joanina. Ich bin stolz, daß ich dich habe, und daß wir zusammengehören!“ Der Nebel zerreißt über den Berggipfeln zu wirren Fetzen, und die ersten Strahlen der Sonne fallen auf die weite Bucht. „Siehst du dort?“ fragt Zatos und legt den Arm um die Schultern des Mädchens. „Das ist Xanthi!“ „Richtig! Und dort?“ „Thasos?“ Zatos nickt, und seine Augen blicken in ferne Weiten.
„Das alles ist unsere Heimat, Joanina. Und sie wird eines Tages wirklich dem Volk gehören.“ Die beiden jungen Menschen blicken über die blaue Ägäis, und es ist, als könnten sie nun alles schauen: Athen und Korinth, die Hochflächen des Peleponnes und die thessalischen Felder. „Gehen wir!“ sagt Zatos endlich. „Bald werden wir wiederkommen. Bald!“ Das Massiv des Moukata Dag droht von ferne herüber. Kahl und feindselig liegen seine Felsen, in der Morgensonne. Aber auch der Moukata Dag ist Griechenland. Und der Moukata Dag ist schon frei!